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Full text of "Die welträthsel : Gemeinverständliche studien über monistische philosophie"

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KRONERS  TASCHENAUSGABE 


ERNST  HAECKEL:    Die  Welträtsel 

Haeckels  „Welträtsel"  sind  für  die  denkenden,  ehrlich  die  Wahrheit 
suchendtin  Gebildeten  aller  Stände  bestimmt;  sie  enthalten  den  AbriS  einer 
zeitgemäßen,  naturwissenschaftlichen  Wellauschauung. 

Band  1  Gebunden  M  80.— 


Epihtets  Handbüchlein    der  Moral 

Das  Handbiichlein  Epiktets  ist  ein  Buch,  das  zu  allen  Zeilen  Kraft  und 
Trost  gespendet  hat:  es  könnte  und  sollte  auch  heute  volkst  Umi  ich  sein 


Bands 


Gebunden  M  40. 


B.  CARNERI:  Der  moderne  Mensch 

Das  vortreffliche  Buch  erfüllt  in  wahrhaft  klassischer  Form  seinen  Zweck, 
das  sittliche  Leben  des  Menschen  auf  der  Grundlage  monistischer  Weltan- 
schauung auszugestalten.    Es  ergänzt  Haeckels  Welträtsel  aufs  glück  ichste. 

Band  3  Gebunden  M  40.— 


Marc  Aureis  Selbstbetrachtungen 

Das  Tagebuch  des  Kaisers  Markus  Aurelius  Antonius  ergänzt 
Epiktets  Handbiichlein.  Der  innere  Adel  des  Verlassers  verleiht  dem  Buche 
seinen  ewigen  Wert- 


Band  4 


Gebunden  M  40. 


I    SENECA:  Vom  glückseligen  Leben 

Die  Großartigkeit  seiner  Weltanschauung,  die  Erhabenheit  seiner  sittlichen 
Forderungen  machen  den  Stoizismus  an  sich  anziehend  genug;  in  Senecas 
Darstellung  wird  sein  Studmm  zu  einem  ästhetischen  Genuß 


=       Band  5 


Gebunden  M  40. 


1    SAMUEL  SMILES:     Der   Charakter 

Smiles  bietet  eine  gesunde  Kost,  die  wohl  geeignet  erscheint,  den  Geist 
zu  kräftigen.  Seine  Lebensweisheit  steht  fest  auf  der  Erde  und  lehrt  die 
Aufgaben,  die  das  Leben  dem  Menschen  stellt,  energisch  u.  zielbewußt  anpacken. 

Band  7  Gebunden  M  40. — 


J  Gracians  Handorahel  u. Kunst  d.Welthlugheit 

Deutsdi  von  Ä.  Sdiopenhauer.     Hrsg.  von  Dr.  H.  Sdimidt 

GraciansHandorakelist  geeignet,  das  Handbuch  aller  derer  zu  werden, 
die  ihr  Glück  zu  mehren  bemiiht  sind,  denen  es  mit  einem  Male  und  zum  voraus 
die  Belehrung  gibt,  die  sie  sonst  erst  durch  lange  Erfahrung  erhalten. 

Band  8  Gebunden  M  40.— 

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Preisveränderungen  vorbehalten 


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II!III!11= 


KRONERS  TASCHENAUSGABE    1 


HERBERT  SPENCER:   Die  Erziehung  | 

Die  Erziehung  der  kommenden  Generation  ist  eine  der  wichtigsten  Hn- 
gelcgenheiten  eines  Kulturvolkes.  Das  klassische  Büchlein  Spencers  soll 
die  weitesten  Kreise  mit  den  Zielen  einer  richtigen  Erziehung  bekannt  machen. 

Band  9  Gebunden  M  40. — 


K.  HEINEMANN:  Die  deutsdie  Dichtung 

Eine  vollständige  Literaturgeschichte,  von  den  ältesten  Zeiten  bis 
auf  die  Gegenwart,  ein  vortreffliches  Büchlein,  das  dazu  angetan  ist,  die  Freude 
an  der  deutschen  Dichtung  zu  vertiefen  und  ihr  Verständnis  zu  fördern. 

Band  10  Gebunden  M  80.— 


Epikurs  Philosophie  der  Lebensfreude 

Epikur  war  ein  Lcbenskün stier,  dessen  Lehre  eine  Philosophie  der 
Güte,  Schönheit  und  Fr  e  ude  bleibt.  Die  vielfach  vorhandene  falschcYor- 
stellung  von  Epikurs  Lehre  wird  durch  diese  Publikation  gründlich  zerstört. 

Band  11  Gebunden  M  40.— 


Goethes  Faust    Erster  und  zweiter  Teil 

Goethes  unsterbliches  Meisterwerk  in  dieser  neuen  Ausgabe  ist  in  der 
Rocktasche  bequem  unterzubringen,  und  geeignet,  denen,  welche  es  dauernd 
zur  Hand  haben  wollen,  ein  ständiger  Begleiter  zu  werden. 

Band  12  Gebunden  M  65. — 


H.  SCHMIDT:  Philosophisdies  Wörterbudi 

Dieses  Wörterbuch  der  philosophischen  Begriffe  und  Husdriicke  ist  als 
Nachschlagewerk  bei  der  Lektüre,  aber  auch  als  philosophisches 
Taschenbuch  gedacht,  in  welchem  eine  zusammenhängende,  einheitliche 
Philosophie  geboten  wird. 

Band  15  Gebunden  M  80.— 


K.  HEINEMANN:  Diditung  der  Griedien 

Dieser  Führer  durch  di6  klassische  Dichtung  der  Griechen  wird  den  Vielen, 
die  des  Griechischen  unkundig  sind,  eine  Welt  von  Schönheit  erschließen;  mit 
Interesse  wird  man  der  geistvollen  und  liebenswürdigen  Darstellung  folgen. 

Band  14  Gebunden  M  65.— 


I  K.  HEINEMANN:  Diditung  der  Römer 

Dies  Buch  wendet  sich  an  die,  welche  durch  ihren  Bildungsgang  Freunde 
der  römischen  Dichtung  geworden  sind,  aber  auch  an  alle,  die  ohne  die 
Sprache  der  Römer  zu  verstehen,  sich  mit  ihicr  Poesie  befreunden  wollen. 

g       Band  15  Gebunden  M  65.— 

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August     192  2  Preisveränderungen  vorbehalten 


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Sanb  1 

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®emelnt)er(ldnbtid}e  (Sfubien 
über  monijTifd}e  p^ilofopl?ie 

361,-390.  Soufenb 


19     2     2 

Slffreb  ^roner  :23cr(ag  in  -Celpslg 


g3ottt)ort  äur  erffen  Sluffage* 

(1899). 


Die  oorlicgenbcn  Stubicn  über  tnont[tif(^e  ^l)iIo[opl)ie 
iixii)  für  bie  ben!enben,  t\)xli(i)  bie  2Ba^rl)ctt  fud^enben  ©ebtibetcn 
aller  Stäube  beftimmt.  3u  ^^^  I)ert)orragenben  SOlerfmalen  bes 
19.  3tt^it)unberts,  an  beffen  (£nbe  rotr  jtel)en,  gel)ört  bas  lebenbige 
2Barf)5tum  bes  Strebens  narf)  (Erlenntnts  ber  2BaI)rbeit  in 
tDeitejten  5lrei[en.  Das[elbe  erflärt  [irf)  etnerfeits  burd^  bie  un= 
ge!)euren  gortf(f)ritte  ber  rt)ir!lid)en  SRaturerfenntnis  in  biefem 
merftöürbigjten  ^bfd)nitte  ber  men[rf)Iicf)en  ©e[(i)i(f)te,  anberer= 
feits  burcf)  hm  offenhinbigen  2Biber[prucf),  in  htn  biefelbe  jur 
gelel)rten  Xrabition  ber  „Offenbarung"  geraten  ijt,  unb  enbli^ 
bur(i  bit  cutfpre(i)enbe  Ausbreitung  unb  93erjtärlung  bes  t)er= 
nünftigcn  SBebürfni[[es  nad).  SSerjtänbnis  ber  un3äf)Itgen  neu  ent« 
bedten  3^at[ac^en,  nad)  flarer  (Srfenntnis  it)rer  Ur[arf)en. 

Den  getoaltigen  i5ort[(t)ritten  ber  empiri[(^en  Äenntniffe  in 
unferem  „3al)tf)unbert  ber  9laturroi[[enfrf)aft"  entfpric^t 
feinestüegs  eine  gleicf)e  5^Iärung  i^res  tI)eoreti[c^en  93erftänbni[fcs 
unb  jene  l)ol)ere  (£r!enntnis  bes  faufalen  3wfammenl)anges  aller 
einseinen  (£r[c^einungen,  bie  toir  mit  einem  SCBorte  ^l)iIofopbie 
nennen.  33ielmel)r  [e^en  toir,  bafe  bie  abjtra!te  unb  größtenteils 
metapl)i)fi[d)e  2Bi[[enf(i)aft,  tDeI(f)e  auf  unteren  Unit)er[itätcn  feit 
3af)rbunberten  als  „^bilofopt)ie"  gele!)rt  toirb,  toeit  baoon  entfernt 
{jt,  jene  neu  crtDorbcnen  Sc^ä^e  ber  (£rfabrung5tDif[en[d)aft  in 
|id^  aufsunc^men.  Unb  mit  gleid)em  Sebaucm  muffen  tuir  auf 
ber  anberen  Seite  3ugejtcl)cn,  bafe  bie  meijten  Vertreter  ber 
[ogenannten  „ciaften  Sflaturtoifienjd^aft"  [ic^  mit  ber  [pejiellen 
Pflege  ibres  engeren  ©ebictes  ber  33eobaci^tung  unb  bes  93er[ud)5 
begnügen  unb  bie  tiefere  (Srfenntnis  bes  allgemeinen  3uföTnmen* 
l)angcs  ber  beobachteten  (£r[d)einungen  —  b.  \).  eben  ^biIofopl)ie ! 
—  für  übcrflülfig  galten.  3Bäl)renb  bie[c  reinen  (£mpirifer  „ben 
SBalb  oor  Säumen  ni^t  [eben",  begnügen  |id)  jene  9Ketapbi)[ifer 
mit  bem  bloßen  Segriffe  bes  2BaIbes,  o^ne  [eine  Säume  3U  [eben. 
Der  Segriff  ber  „SRaturp^ilojopbie",  in  tDeld)em  ganj  natur- 


IV  95ortDort. 


gemäfe  jene  bclben  2Bcgc  ber  2Baf)rl)clt5forf(f)ung,  bic  cmpid[cf)e 
unb  bie  [pctulattoe  9J?ct^obc,  jufammcnlaufcn,  roirb  [ogar  no^ 
l)eutc  in  toeltcn  5^rci|cn  bclbcr  9?td)tungcn  mit  5lb[d)eu  surütf« 
gecoicfen. 

Dicfer  unnatürliche  unb  DerbcrbUcf)c  (5cgcnfo^  äioifc^en  9latur» 
tDi[fcn|d()aft  unb  ^^ilo[opt)ie,  äCDifc^cn  hm  (Ergebniffen  bcr  (£rfal)= 
rung  unb  bcs  3)enfcn5,  roirb  unjtrcitig  in  ujciten  gcbilbctcn  Streifen 
immer  lebf)after  unb  [d)mer3Ud)er  empfunben.  Das  bcjeugt  fc^on 
ber  U5od)[enbe  Umfang  ber  ungcl)curen  populären  „naturpf)ilo[o* 
p^ifc^cn"  Literatur,  bic  im  fiaufe  bes  legten  f)alben  3al)^l)iinbcrts 
cntjtanbcn  ijt.  Das  bejeugt  aud)  bie  erfreulid)e  Zai\ad)t,  bafe 
troi  jener  gegenfcitigen  ^(bneigung  ber  beobacf)tenben  9flaturfor[(i)er 
unb  ber  bcnfenbcn  ^i)ilofop^en  bennod)  ^erüorragenbc  9Jiänncr 
ber  2Bif|en[d)oft  aus  beiben  fiagem  fid)  gegenfeitig  bic  ^ant)  gum 
Sunbe  reiben  unb  oereinigt  nad)  bcr  £ö[ung  jener  f)öc^jten  ^uf* 
gäbe  bcr  Ororfc^ung  jtreben,  bic  roir  fur3  mit  einem  2Bortc  als 
„Die  aBcIträtfcI"  bC5eid)nen. 

I)ic  Unterfuc^ungen  über  biefe  „SBclträtfel",  tocl^c  i^  in  bcr 
öorlicgenbcn  (5d)rift  gebe,  fönnen  DcrnünftigertDcifc  ni(^t  ben 
^Infprud)  crl)eben,  eine  üolljtänbigc  ßöfung  bcrfclbcn  3U  bringen; 
melmcf)r  Jollen  [ic  nur  eine  !riti[cf)c  Sclcuc{)tung  berlelbcn  für 
Docitcrc  gebilbetc  Slreifc  geben  unb  bic  S^age  su  beantworten 
fuc^cn,  iDie  toeit  mir  uns  gcgenroärtig  bereu  £ö[ung  genäl)ert 
I)abcn.  2Bcl(^e  Stufe  in  bcr  (£r!enntnis  ber  2Bal)rl)eit 
^abcn  o)ir  am  (£nbc  bcs  19.  3a^r^unberts  roirflid)  er* 
rcid)t?  Unb  tocld^e  gort[c^ritte  nad)  biejem  unenblid)  entfernten 
3ielc  l)abcn  mir  im  fiaufe  besfclbcn  cDirflid)  gcmad)t? 

Die  ^nttöort  auf  biefe  grofecn  S^agen,  bic  id)  I)icr  gebe,  fann 
naturgemäß  nur  [ubieftio  unb  nur  tcilujcife  rid)tig  [ein;  benn 
meine  5\enntni[[e  bcr  toirflic^cn  S^latur  unb  meine  93ernunft  3ur 
Beurteilung  il)re5  objcftiücn  2Bc|cns  [inb  bejd)ron!t,  ebenfo  u)ie 
bicicnigcn  alter  anbcren  9Jien[c^cn.  Das  ©ingigc,  roas  id)  für 
bicjelben  coli  in  ^njprud)  ncl)me,  unb  was  aud)  meine  cnt= 
[d)iebenjtcn  ©egner  anerfennen  muffen,  ijt,  ba^  meine  monijtifd)c 
^f)ilofopl)ic  Don  Anfang  bis  3U  f&nbz  tf)xlid)  ijt,  b.  f).  bcr  ooll» 
jtänbige  ^usbrud  bcr  Uberseugung,  tDcld)e  id)  burd)  Dicljäl)rige5 
eifriges  (5orfd)cn  in  bcr  Statur  unb  burd)  unabläffigcs  9lad)ben!en 
über  ben  U3al)ren  (Srunb  il)rer  (£rfd) einungen  crtuorbcn  l)abe. 
Dicfc  naturpl)ilo[opl)ifd)e  ©ebanfcnarbcit  erjtrcdt  fic^  je^t  über 
ein  oolles  ijalbcs  3al)r^unbcrt,  unb  ic^'barf  jc^t,  in  meinem 
66.  ßeben5ial)re,  rootil  anncl)mcn,  bafe  fic  reif  im  mcnfd)lid)en 
Sinne  ijt;  ic^  bin  aud)  uöllig  getoife,  bafebicfe  „reife  grud^t" 
öom  IBaume  ber  (Erfcnntnis  für  bic  hirsc  Spönne  bcs  Dafeins, 


Sorroort. 


bic  mir  nodf)  bef^tcben  ift,  fctne  bcbcutenbe  SBcrooIHommnung 
unb  feine  prinäipiellen  SBeränberungen  crfal)ren  roirb. 

5ine  toelentlic^en  unb  entjdieibenben  ^n[(i)ouungen  ntehtet 
monijti|d)en  unb  genetifrf)en  ^t)ilo|opt)ie  t)abc  ic^  [(f)on  oor 
33  5al)ren  in  meiner  „©enerellen  9Korpf)oIogie  ber  Drga* 
nismen"  niebergelegt,  einem  toeitj(f)tüeifig  unb  [c^tDerfällig  ge= 
fd)riebenen  9Berfe,  tDeId)e5  nur  fel)r  roenig  fie[er  gefunben  l)at 
(£5  wax  ber  erjte  93er[u^,  bie  ncubcgrünbetc  (£nttDicfeIung5lel)re 
für  bas  ganje  (Sebiet  ber  organi|d)en  3rormentDiifen|(^aft  burd)= 
3ufül)ren.  Hm  toenigitens  einen  3;eil  ber  neuen,  barin  entl)altenen 
©ebanfen  3ur  ©eltung  3U  bringen  unb  um  3uglei^  einen  toeiteren 
Äreis  Don  ®ebilbeten  für  bie  größten  (£rfenntni5fort|rf)ritte  unseres 
3al)rt)unbert5  3U  intereffieren,  oeröffentlic^te  id)  stoei  Sa^re  fpäter 
(1868)  meine  „Sflaiürlic^e  S(^öpfung5gefd)id)te".  T>a  biefes 
Ieid)ter  ge|rf)ür5tc  2Ber!  tro^  feiner  großen  SlRängel  in  neun  ftarfen 
Auflagen  unb  ätoölf  Der[d)iebenen  Hberfe^ungen  er[d)ien,  l)at  es 
nic^t  roenig  jur  93erbreitung  ber  monijtifrfien  2ßeltan[d)auung 
beigetragen.  Dasfelbe  gilt  aud^  toot)!  oon  ber  tocniger  gelefenen 
„^ntl)ropogenic",  in  roeId)er  id)  (1874)  bic  fd)tüierige  Wgobe 
3U  löfen  Der[ud)te,  bie  tDid)tigiten  3:ot[aci^en  ber  menfd)Ii(^en  (£nt= 
EDidelung5gefd)id)tc  einem  größeren  Ärei[e  oon  (Sebilbeten  3U= 
gänglid)  unb  Derjtänblid)  3U  mad)en;  bie  oierte,  umgearbeitete 
Auflage  berfelben  er[d)ien  1891.  (Einige  bebeutenbe  unb  bejonbers 
toertooUe  gfortfc^ritte,  tDeId)e  neuerbings  biefer  n)id)tigfte  ieil  ber 
^ntl)ropoIog^e  gemacht  l)at,  {)abe  id)  in  bem  93ortrage  beleu^tet, 
hin  id)  1898  „Über  unjere  gegenwärtige  5^cnntnis  Dom  Ursprung 
bes  90'ien[d)en"  auf  bem  oierten  internationalen  3oologenfongreJ5 
in  dambribge  gei)alten  \)abt  (fiebente  Auflage  1899).  9inel)rere 
ein3elne  örtögeu  unferer  mobernen  9laturpl)iIo[opt)ie,  bic  ein  be« 
fonberes  3"^ci^^lfß  bieten,  l)aht  id)  be^anbelt  in  meinen  „(5e= 
fammelten  populären  93orträgen  aus  bem  ©ebiete  ber  (Enttoide* 
lungslef)re"  (1878).  (gnblid)  l)abc  id)  bie  allgemeinjten  (5runb= 
[ä^e  meiner  monijtifdien  ^l)ilofopl)ie  unb  i\)xt  be[onbere  Se3ie^ung 
3u  ben  l)errfd)enben  (5laubenslei)ren  fur3  sufammengefafet  in  bem 
„®loubensbefenntnis  eines  9laturfor[(^ers:  „DerSJlonismus  als 
<Banb  3U)i[d)cn  «Religion  unb  2Bi[[en[d)aft"  (1892,  ad)te 
«Kuflage  1899). 

Die  oorliegenbe  Sd)rift  über  bie  „SBelträtfel"  ift  bie  toeitere 
^usfüt)rung,  Segrünbung  unb  (£rgän3ung  ber  Ö[ber3eugungen, 
u)eld)e  id)  In  ben  Dorjtet)enb  angefül)rten  Sd)riften  bereit»  ein 
9Jlen[d)enolter  ^inburd)  oertreten  ^abc.  3d)  gebenfe  bamit  meine 
Stubien  auf  bem  (Bebietc  ber  monlitifd)cn  acßeltan[d)auun8  ah* 
Sujc^liefeen. 


VI  Sorcoort. 


Der  oltc,  olcle  5a!)rc  f)tnbutcf)  gcl)egtc  ^lan,  ein  ganges 
„St)ftem  ber  moniftifc^en  ^^tlofop^ie"  auf  ©runb  ber 
(£nttDlcfeIung5leI)re  ausgubauen,  roirb  md)t  mt\)x  jur  5lu5füt>rung 
gelangen.  SOJeine  5^räfte  ret(f)en  boju  nic^t  mel)r  aus,  unb 
ntancf)crlci  9JlaI)nungen  bes  l)crannal)cnben  alters  brängen  gum 
?tb[d) lujg.  5luc^  bin  ic^  ganj  unb  gar  ein  5^inb  bes  neun3el)nten 
3al)rl)unbert5  unb  tüill  mit  be^en  (Snbe  einen  Strid)  unter 
meine  fiebensarbeit  madien. 

Die  unermefelid^e  ^U5bet)nung,  roelc^e  bas  men[c^Iid)e  SBiffen 
infolge  fortge[d)rittener  ^Irbeitsteilung  in  unferem  5al)rl)unbert 
erlangt  l)at,  läfet  es  [ct)on  l)eute  unmöglich  erfd)einen,  alle  3^^^Q^ 
besfelben  mit  gleid)er  (5rünblid)!eit  3U  umfafjen  unb  il)ren  inneren 
3u[ammenl)ang  ein^eitlid)  barjuftellen.  Selbjt  ein  ©enius  erjten 
IRanges,  ber  alle  Gebiete  ber  2Bi[fenfd)aft  gleii^mäfeig  bcl)errf(f)te, 
unb  ber  bie  !ünjtlerif(f)e  (5abe  il)rer  eint)eitlicf)en  Darstellung  in 
üollem  9Jlafee  befäfee,  roürbe  bod)  nid)t  imjtanbe  fein,  im  5?aume 
eines  mäßigen  Sanbes  ein  umfaffenbes  allgemeines  Silb  bes 
gangen  „Äosmos"  au53ufül)ren.  9Jiir  [elbjt,  beffen  5lenntniffe  in 
^tn  oerf^iebenen  ©ebicten  fel)r  unglei(^  unb  lü(fenl)aft  [inb,  fonnte 
l)ter  nur  bie  Aufgabe  gufallen,  htn  allgemeinen  ^lan  eines  [olc^en 
SBeltbilbes  3U  entruerfen  unb  bie  burd)gel)enbe  (£inl)eit  [einer 
3:eile  nacl)3uu)ei[en,  tco^  [el)r  ungleid)er  ^usfüt)rung  berfelben. 
Das  üorliegenbe  5Bud)  über  bie  2Belträt[el  trägt  bal)er  aud)  nur  ben 
(£l)ara!ter  eines  „S!i33enbu(f)es",  in  tDelcl)em  Stubien  von  [el)r 
ungleicl)em  3Berte  3U  einem  ®an3en  3u[ammengefügt  [inb.  Da 
bie  lRieber[(l)rift  berfelben  3um  3:eil  [^on  in  frül)eren  Sofien,  3um 
anberen  3:eil  aber  erjt  in  ber  legten  3eit  erfolgte,  ijt  bie  Sel)anblung 
leiber  oft  ungleid)mäJ5ig;  aud)  [inb  mef)rfad)e  2Bieberf)olungen  nic^t 
3U  oermeiben  geroe[en;  id)  bitte  bie[elben  3U  ent[d)ulbigen. 

3nbem  id^  l)iermit  oon  meinen  fie[em  mid)  t)erob[d)iebe,  [prcc^c 
i^  bie  Hoffnung  aus,  hoüs  id)  burd)  meine  cl)rli^e  unb  geö)i[[enl)afte 
?lrbeit  —  tro^  il)rer  mir  tDol)l  beroufeten  SDlängcl  —  ein  fleines 
Sd)erflein  3ur  fiö[ung  ber  „2Belträt[el"  beigetragen  l)abe,  unb  bafe 
i(i)  im  Äampfe  ber  3Beltan[^auungen  mand)cm  el)rlid)en  unb  naä) 
reiner  93emunfter!enntnis  ringenben  ßefer  benfenigen  SBeg  ge3eigt 
l)abe,  ber  nad)  meiner  fejten  llber3eugung  allein  3ur  9Bat)r^eit 
fül)rt,  ben  2Beg  ber  empiri[d)en  9laturfor[d)ung  unb  ber 
barauf  gegrünbeten  moni[ti[d)en  ^l)ilo[opI>ic. 

3ena,  2.  ^pril  1899. 


93ortt>ort  jur  ^afc^enauggabe. 


5luf  5tmegunö  bcs  Verlegers  bcr  „SBelträtfcl",  $crm  5llfrcb 
Äröner,  unb  auf  SBunfc^  oicicr  ßcfcr  bicfcs  Su(f)C5,  l)abc  i<i)  mi^ 
entf^Ioffcn,  eine  neue  unb  bequeme  3:afd)enou5gabc  booon  3u 
oeranjtolten.  (£s  !am  babel  befonbcrs  in  Setrarf)t,  ben  Zn\)ali 
einem  größeren  Ärelfc  burc^  leistete  iDarjtellung  unb  gefälligere 
Ororm  gugänglic^  3U  moc^en,  überflüffige  3u9öben  ju  entfernen 
unb  SBieber^oIungen  0U53u[(i)aIten,  fotoie  oiele  f^rembiDörter  unb 
oenDidelte  ^lusfü^rungen  bur(f)  leichter  t)crftänblid)e  gu  erfe^en. 
Sfemer  finb  oiele  Sä§c  entfernt  toorben,  mcld)e  teils  ferner  liegenbe, 
teils  ätöeifel^afte  Srtagen  bebanbelten;  bos  Sud)  i)at  baburc^  an 
ÄIarl)eit  unb  Si(f)erbeit,  xoie  aud)  an  einl)eitlid)cr  Durd)fül)rung 
gexDonnen. 

Der  9?aumer[i?amis  \)alhtt  [inb  audf)  alle  fiiteraturf)iniDei[e 
unb  5tnmer!unlgen  toeggef allen,  meiere  in  ber  erjten  großen 
Slusgabe  entl)alten  finb,  [oujie  bas  91  ad) to ort  3u  ber  fpäter 
erschienenen  SJolfsausgabe  („Das  ©laubensbefenntnis  ber  reinen 
SBemunft").  Diejenigen  fiefcr,  tDcId)e  biefe  meitcren  Sufä^e  unb 
(Erläuterungen  fennen  ju  lernen  tDÜnfd)en,  finben  fie  in  ber  in 
ilürse  er|d)cinenbcn  brei3et)ntcn  Auflage  ber  grofeen  3lusgabe. 

aOlöge  au^  biefe  neue  3:a[c^enausgabe  b03U  bienen, 
Das  £id)t  ber  ^ufflärung  in  immer  weitere  Greife  3u  tragen  unb 
üiele  benfenbe  fiefer  anregen,  fid)  felbjttätig  an  ber  Jßöfung  ber 
großen  „SBelträtfel"  3u  beteiligen. 

3ena,  29.  September  1908. 


Sn^alt 


I.  *2lnt|)ropoIogifd)er  ^eil 
Der  ärienfd) 

1.  StcTtung  bcr  SBelträtfcI 1 

2.  Unfcr  Körperbau    . 14 

3.  Unfcr  fiebcn 24 

4.  Unferc  ÄclmesgcFc^tc^te 32 

6.  Unjerc  Stammcßgef(^ic^tc 42 

II.  ^f^^oroöif^et  5:eil 

Dfc  Seele 

6.  Das  5Bcfen  bet  Seele 64 

7.  Stufenleiter  ber  Seele 68 

8.  Äetmesiicfd)i(^te  ber  Seele 80 

9.  Stamm C5.gef(^i(f)te  ber  Seele 90 

10.  »etDufetlcfn  bcr  Seele 101 

11.  UnjterbUdE)!ett  ber  Seele 113 

III.  ^o^motogifc^er  ^eit 

Die  SBcIt 

12.  Da»  Subftan^gcfe^ 127 

13.  enttDldcIung&nfftfltcä^te  ber  äBelt     140 

14.  (Einheit  ber  siotur 154 

16.  ©Ott  unb  SBcIt 168 

IV.  ^^eotogif^er  ^eil 

Der  (&ott 

16.  SBiffen  «nb  (glauben 180 

17.  aBiffenfd)aft  unb  (^^riftentum 191 

18.  Unferc  moniftlfct)e  «Reagion 206 

19.  Unfere  moniftifd)e  Sittenlehre     217 

20.  fiöfung  ber  äBcItrötfcl 229 


etettuttö  ber  SöelMtfel. 

allgemeinem  ^ulturbilb  be^  neun5e5)nten  Sa^r^unbert^.  0eit 
^am^f  ber  QOßeltanfc|)auungem  9)Zonimmum  unb  ©uali^mu^, 

^m  Sd)Iu|[c  bes  neun3cf)ntcn  3a^rl)unberts  bietet  ftc^  bem 
ben!enbcn^eobad)ter  eines  bermerftDürbigjtenSd^aufpiele  bar.  ^Ile 
©ebtlbeten  [inb  barüber  einig,  bafe  btefes  grofeorttge  Söb^bunbert 
in  üieler  Seäiebung  alle  [eine  33orgänger  unenbli^  überflügelt 
unb  5lufgaben  gelöjt  bot,  bie  in  feinem  anfange  unlösbar  er» 
[cbienen.  t)ie  überra[(i)enben  tbeoretifc^en  i5ott[(f)ritte  in  ber 
Sflaturerlenntnis  unb  i^re  fru^tbare  pra!ti[d)e  SJermertung  in 
Xedjnü,  3"buftrie,'  93erfebr  ufto.  baben  unferem  mobernen  Äultur= 
leben  ein  oöllig  neues  ©epräge  gegeben.  Dagegen  b^ben  uiir 
auf  tDtd)tigen  ©ebieten  bes  geijtigen  fiebens  unb  ber  ®efell[d)afts= 
^ejiebungen  roenige  ober  gar  !eine  3rort[dE)ritte  gegen  frübere 
3abrbunberte  aufsutoeifen,  oielfad)  [ogar  leiber  bebenüid^e  9?üd* 
[d)ritte.  ^us  biefem  offenfunbigen  3i»icfpalt  entfpringt  nicbt  nur 
ein  unbebaglid)es  ®efübl  innerer  3ci^ii[f^"beit  unb  Unroabrbeit, 
[onbern  aud)  bie  (Sefabr  [d)toerer  Äatajtropben  auf  politifcbem 
unb  [osialem  ©ebiete.  (£s  ijt  baber  nicbt  nur  bas  gute  9{ecbt, 
fonbern  aud)  bie  beilige  ^flid)t  jebes  ebrli^en  unb  üon  9Jlen[cben= 
liebe  be[eelten  5or[d)ers,  nacb  bejtem  2Bi[[en  3ur  3lufbebung  jenes 
3tDie[paItes  unb  3ur  33ermeibung  ber  baraus  entfpringenben  (5e= 
fabren  beijutragen.  Dies  fann  aber  naä)  unferer  ttberßeugung 
nur  burd)  mutiges  Streben  nad)  (Srfenntnis  ber  3Babrbeit 
ge[d)eben  unb  burd)  (öeroinnung  einer  Haren,  fejt  gegrünbeten, 
naturgemäßen  2Beltan[d)auung. 

5ottf(^ritte  ber  9laturerfenntnis.  3Benn  toir  uns  htn  un* 
ooIÜommenen  3ujtanb  ber  9flaturer!enntnis  im  Einfang  bes 
19.  Sabrbunberts  Dergegenroärtigen  unb  ibn  mit  ber  glängenben 


(Erjtes  i^apitcl. 


$öl)e  an  beffcn  Sd)Iu[fc  Dergleid)en,  [o  mufe  jcbcTn  8a(I)funbigcn 
ber  5ort[(i)ritt  erjtaunltd)  grofe  erfd^einert.  ^thtt  einzelne  3roetg 
ber  3^aturix»i[fen[(i)aft  barf  [id)  rül)men,  bafe  er  tnTierI)aIb  btefes 
3ol)rl)unbert5  ©etDtnne  von  größter  Xragtoette  cr3telt  ^aht.  ^n  ber 
rrttfro[!opi[d)en  i^enntnis  bes  5^Ietnjten  tote  in  ber  teIe[!optf(i)en  (£r* 
for[d)ung  bes  ©rösten  l)abeTt  toir  un[d)ä^bare  (£tn[td^ten  getoonnen, 
bte  no(f)  Dor  I)unbert  5al)ren  unbenfbar  er[d)tenen.  93erbefferte 
Unter[ud)ung5metl)oben  \)abtn  uns  im  9ietd)e  ber  emselligeTi 
fiebetoefen  eine  „un[id)tbare  2BeIt"  üoII  unenblid)en  (5ormenreid)= 
tums  offenbart,  fotoie  in  ber  toingigen  fleinen  3^ne  htn  gemein* 
[amen  „Slementar^Organismus"  !ennen  gelel)rt,  aus  beffen  [ojialen 
3enDerbänben,  ben  ©etoeben,  ber  i^örper  aller  oielgelligen  ^flanjen 
unb  Üiere  ebenfo  tüie  ber  bes  9Jlenfd)en  ^ufammengefe^t  ijt.  Diefe 
anatomif(i)en  ilenntniffe  \ini>  von  größter  3:ragtDeite;  [ie  toerben 
ergän3t  burd)  h^n  embrr)oIogi[c^en  SRorf)toeis,  ha^  jeber  l)öf)ere 
üielaellige  Organismus  fid)  aus  einer  einsigen  einfad)en  3^ne 
enttoicfelt,  ber  „befru(i)teten  (giselle".  t)ie  beb eutungsDoIIe,  !)ierauf 
gegrünbete  3enentl)eorie  l)at  uns  erjt  bas  mai)xt  33erftänbnis 
für  bic  get)eimnist>onen  £ebenserf(i)einungen  eröffnet,  3u  beren 
(£r!Iärung  man  früt)er  eine  übernatürlid^e  „fiebens!raft"  ober  ein 
„unjterbli^es  Seelentoefen"  annar)m.  ^uc^  bas  eigentlid)e  2Be[en 
ber  5^ran!{)eit  ijt  bem  ^rgte  erjt  burd)  bie  bamit  oerfnüpfte 
3enuIar=^att)oIogie  !Iar  unb  oerjtänbIi(^  getoorben. 

9lid^t  minber  geroaltig  finb  aber  bie  (Sntbedungen  bes  19.  ^ai)X' 
l)unberts  im  ®ereid)e  ber  anorgani[(^en  Sf^atur.  Die  ^l)t)[i!  \)ai 
in  allen  3:eilen  il^res  ©ebietes  bie  erftaunlid)jten  O^ortf(i)ritte  ge« 
mact)t;  unb  roas  tDicf)tiger  ijt,  [ie  l)at  bie  (£inl)eit  ber  5Ratur* 
fräfte  im  gansen  Itnioerjum  nai)getDie[en.  Die  med^ani[c^e 
2BärmetI)eorie  I)at  geseigt,  toie  eng  bie[elben  3u[amment)ängen 
unb  u)ie  jebe  unter  bejtimmten  Sebingungen  [i^  bire!t  in  bie 
anbere  oertoanbeln  !ann.  Die  Spe!tralanalr)[e  l)at  uns  gelel)rt, 
bafe  bie[elben  Stoffe,  tDeId)e  unferen  (£rb!örper  unb  [eine  lebenbigen 
$BetDol)ner  aufbauen,  aud)  bie  5[Ra[[e  ber  übrigen  Planeten,  ber 
Sonne  unb  ber  entferntejten  griijterne  3u[ammen[e^en.  Die  ^[tro= 
pl)r)[i!  \)ai  un[ere  2BeItan[^auung  im  grofeartigjten  SJlafejtabe  er= 
roeitert,  inbem  [ie  uns  im  unenblid)en  2BeItraum  SiJiinionen  oon 
frei[enben  SBeltförpern  na^getüie[en  I)at,  größer  als  un[ere  (Erbe, 
unb  glei^  bie[er  in  bejtänbiger  Umbilbung  begriffen,  in  einem 
etöigen  2Be(i)[eI  oon  „SBerben  unb  93erge^en".  Die  (i\)zmh  f)at 
uns  mit  einer  9Jlenge  von  neuen,  frül)er  unbefannten  Stoffen 
befannt  gemad^t,  bie  alle  aus  23erbinbungen  oon  xoenigen  un= 
serlegbaren  (Elementen  (ungefäl)r  ad)t3ig)  bejtel)en.  Sie  f)ai  ge- 
geigt, bafe  eines  oon  biefen  (Elementen,  ber  5lol)lenjtoff,  ber  tounber» 


Stellung  bcr  2BeIträt[eI. 


bare  5lörper  x]i,  tDeId)cr  bie  ^Btlbung  ber  uncnbltc^  mannigfaltigen 
orgamfc^cn  33erbtnbungen  betoirft  unb  [omit  bie  „d)enti[(f)e  Söafis 
bes  Bebens"  barftellt.  ^tlle  einjelnen  gort[d)ritte  ber  ^l)r)yif  unb 
(£l)emie  ]Wi)tn  jebod)  an  tI)eoreti[c^er  Sebeutung  ber  (Brfenntnis 
bes  getoaltigen  ©efe^es  nad^,  iüeld)es  alle  in  einem  gemeinfamen 
©rennpunft  vereinigt,  bes  Sub[tan3ge[e^es.  Snbem  biefes 
„fosmoIogi[d)e  ©runbgefe^"  hk  etoige  (£r{)altung  ber  5^raft 
unb  bes  Stoffes,  bie  allgemeine  i^onjtans  ber  (Energie  unb  ber 
9Katerie  im  gansen  SBeltall  na(i)tDeijt,  ift  es  ber  [i(^ere  fieitjtern 
geiDorben,  ber  unfere  monijti[(f)e  ^l)iIo[op!)ie  burd)  bas  geroaltige 
£abr)rintf)  ber  9ßelträt[el  ^u  beren  fiöfung  fül)rt. 

X)a  es  unfere  Aufgabe  [ein  toirb,  in  t)tn  folgenben  ilapiteln 
eine  allgemeine  llberfidjt  über  ben  je^igen  Stanb  unferer  Sflatur^ 
erfenntnis  unb  über  il)re  (5Drt[d)ritte  in  unferem  Sß^^^^iinbert  5U 
geiDinnen,  tüollen  toir  l)ier  nid)t  toeiter  auf  eine  SJlujterung  ber 
einseinen  ©ebiete  eingeben.  9lur  einen  gröjgten  3^ortfd)ritt  tDolten 
tüir  nod)  l)ert)ort)eben,  ber  bem  Subftanjgefe^  ebenbürtig  i|t  unb 
ber  es  ergänjt:  bie  5Begrünbung  ber  (£ntrüi(ielung5let)re.  3^(^^ 
!)aben  ein3elne  benfenbe  3^orfd)er  [(t)on  feit  ^a^rtaufenben  üon 
„(£ntiDideIung"  ber  Dinge  ge[prod)en;  "bal^  aber  biefer  23egriff 
bas  Unit)  er  [um  bel)err[^t,  unb  bafe  bie  2BeIt  [elbjt  weiter  nid)ts 
ift  als  eine  etüige  „(Enttoidelung  ber  Subftans",  bie[er  getoaltige 
(Bebaute  i|t  ein  5linbJbes  19.  3öt)rf)unberts.  (£r[t  in  [einer  groeiten 
§älfte  gelangte  er  3U  ooller  5^Iarl)eit  unb  ju  allgemeiner  ^ntoen^ 
bung.  Das  unfterbli(i)e  93erbien[t,  bie[en  t)öd)jten  pf)iIo[op{)i[cf)en 
Sße^riff  empiriid)  begrünbet  unb  gu  umfa[[enber  (Seltung  ge= 
bra(f)t  3U  I)aben,  gebül)rt  bem  großen  engli[(^en  91aturfor[(^er 
(£l)arles  Dartoin;  er  legte  1859  htn  feften  (Srunb  für  jene  ^b= 
jtammungslel)re,  tDeId)e  ber  geniale  fran3ö[i[(i)e  9laturpt)iIo[opl) 
3ean  2amaxd  [d)on  1809  in  il)ren  ^auptsügen  erfannt,  unb 
beren  ©runbgebanfen  un[er  größter  beut[c^er  Dichter  unb  Denfer, 
2BoIfgang  (5oetl)e,  ]ä)on  1790  propf)eti[(^  erfaßt  l)atte.  Damit 
rourbe  uns  3uglei(^  ber  Sd)lü[[el  3ur  „Srage  aller  fragen"  ge[(^en!t, 
3u  bem  großen  2BeIträt[e(  oon  ber  „Stellung  bes  95len[cf)en  in  ber 
91atur"  unb  oon  [einer  natürlid)en  (£ntitet)ung.  2ßenn  tüir  r)eute 
imjtanbe  [inb,  bie  §err[(i)aft  bes  (£ntröicfelungsge[e^e5  im 
©e[amtgebiete  ber  ^Zatur  !Iar  3U  erfennen  unb  [ie  in  33erbinbung 
mit  bem  Sub[tan3ge[e^c  3ur  eint)eitlict)en  (£r!Iärung  aller 
91aturer[d^einungen  3U  benu^en,  [o  »erbanfen  roir  bies  in  erfter 
fiinie  jenen  brei  genialen,  toeitblicfenben  91aturpt)iIo[opt)en,  brei 
Sternen  erjter  ©rö^e  unter  allen  anberen  großen  Scannern  bes 
ncun3el)nten  3ol)rl)unberts. 

.  1* 


(Srjtes  Kapitel. 


Diefen  crjtaunli(f)cn  (5ort[(^rtttcn  unfcrer  tl)corcti[^en 
9laturer!cnntnt5  ent[prt(f)t  beren  mannigfaltige  prattif^e  ^n^ 
töcnbung  auf  allen  ©ebieten  bes  men[(f)Iid)en  ilulturlebens.  SBenn 
tüir  l)eute  im  „3ßitalter  bes  93erfel)rs"  \it'i)tn,  toenn  ber  intern 
nationale  §anbel  unb  bas  ^Keifen  eine  frü{)er  nicf)t  geal)nte  Se= 
beutung  erlangt  l)aben,  toenn  xoix  mittels  3:elegrap^  unb  3:eIepl)on 
bic  S(I)ran!en  öon  9?aum  unb  3ßit  übertounben  ^aben,  [o  oer* 
banfen  toir  bas  in  erfter  £inie  tm  gort[d)ritten  ber  ted)ni[d)en 
^f)t)[i!,  befonbers  in  ber  ^ntoenbung  ber  Dampffraft  unb  ber 
(£Ieftri3ität.  SBenn  toir  burd)  bie  ^l)otograpl)ie  bas  SonnenIid)t 
Stoingen,  uns  in  einem  ^lugenblid  naturgetreue  ©über  üon  jebem 
beliebigen  ©egenjtanbe  3U  t)erf(f)affen,  toenn  toir  in  ber  JÖanbtoirt« 
[d)aft  unb  in  ttn  t)er[(f)iebenjten  ©etoerben  erjtaunlid)e  pra!ti[d)e 
gortf^ritte  gema(f)t  l)aben,  roenn  roir  in  ber  9Jlebi3in  bur^  (If)Ioro* 
form  unb  9Jiorpt)ium,  bur^  antifcptif^e  unb  (5erumtt)erapie  bie 
£eiben  ber  9Ken[c^l)eit  unenblicf)  gemilbert  f)aben,  [o  oerbanfen 
loir  bies  ber  angetoonbten  (r{)emie.  Durd^  biefe  unb  anbere  C£r= 
finbungen  ber  ^ec^ni!  l)aben  toir  olle  frül)eren  S^^^^^unbertc  roeit 
überflügelt. 

gortfc^ritte  bet  foatalen  ©inrlc^tunöcn.  So  bürfen  toir  l)eute 
mit  gere(l)tem  Stolje  auf  bie  getoaltigen  5oit[cf)ntte  bes  19.  t^ai)x= 
l)unbert5  in  ber  SflaturerJenntnis  unb  beren  pra!tifd)e  33ertüertung 
gurüdblicfen.  fieiber  bietet  fiel)  uns  ein  gan3  anberes  unb  toenig 
erfreulid)es  5Bilb,  roenn  toir  anbere,  nid)t  minber  toi^tige  ©ebiete 
bes  mobernen  ilulturlebens  ins  ^uge  f äffen.  3^  unferem  ©e= 
bauern  muffen  toir  ha  ben  Sa^  oon  5llfreb  9Ballace  untere 
fcl)reiben:  „93ergli^en  mit  unferen  erjtaunlic^en  gortfd)ritten  in 
ben  pl)t3fi!alif(f)en  2Biffenfd)aften  unb  il)rer  pra!tifrf)en  ^nioenbung, 
bleibt  unfer  Sriftem  ber  ^Regierung,  ber  abminiftratioen  3^1%  ber 
9lationaleräiel)ung  unb  unfere  ganse  fosiale  unb  moralifd)e  Organi^ 
fation  in  einem  3uftanbe  ber  Barbarei. "  Um  uns  oon  ber 
2ßal)rl)eit  biefer  f(f)toeren  Sßortoürfe  gu  überaeugen,  braud)en 
toir  nur  einen  unbefangenen  ©lic!  in  unfer  öffentlicf)es  2thtn 
3U  toerfen,  ober  in  ttn  Spiegel  3U  blicfen,  ben  uns  täglirf)  unfere 
3eitung,  als  bas  Organ  ber  öffentlid)en  9Jieinung,  oorf)ält. 

ttnfete  Jlet^tspflege.  beginnen  toir  unfere  9iunbfd)au  mit 
ber  5ufti3,  bem  „Fimdamentum  regnorum".  ^Riemanb  toirb 
bel)aupten  .!önnen,  bafe  beren  l)eutiger  3ujtanb  mit  unferer  fort* 
gefcl)rittenen  (£rfenntnis  bes  9Jlenfd)en  unb  ber  äBelt  in  (£in!lang 
fei.  Äeine  2ßo(i)e  Dergel)t,  in  ber  toir  nic^t  oon  ricf)terlid)en  Ur= 
teilen  lefen,  toel^e  bem  gefunben  aRenfcl)enoeritanb  toiber* 
fpredien;  oiele  (£ntfcl)eibungen  unferer  f)öl)eren  unb  nieberen  (5e« 
ricl)tsl)öfe  erf^einen  öcrabe3u  unbcgrciflid).  3Bir  fel)en  gans  baoon 


Stellung  ber  2BeIträtfeI. 


ah,  ha%  in  melen  mobcmen  Staaten  —  tro^  ber  auf  Rapier  ge= 
brudten  95erfa[[ung  —  noc^  tatfädjltd)  ber  ^Ibfoluttsmus  l)err[d)t 
unb  bafe  manche  „Scanner  bes  9{ed)t5"  n{d)t  nad)  el)rltcf)er  ilbcr= 
^eugung  urteUen,  [onbem  entfpre(i)cnb  bem  „t)öl)eren  2Bun[d)e 
t)on  mafegebenber  Stelle".  2Btr  nef)men  vitlmt\)v  an,  bafe  bie 
meijten  9li^ter  unb  Staatsantoälte  nact)  bejtem  (5eu)i[[en  urteilen 
unb  nur  men[(^n(^  irren.  I)ann  crflärcn  fic^  wolfl  bie  meijten 
Irrtümer  burcf)  mangel{)afte  93orbübung  unb  burd^  bie  oeraltetc 
©e[c^gebung.  SfreiK^  I)crr[(i)t  oielfad)  bie  5ln[i(^t,  bafe  gerabe 
bie  ^urijten  bie  \)'öd)]U  Silbung  beji^en;  gerabe  [ie  toerben  bei 
ber  Se[e^ung  ber  oerfd^iebcnjten  ^mter  oorgesogen.  allein 
biefc  t)ielgerüt)mte  „juriftifdie  Silbung"  ift  größtenteils  eine  rein 
formale,  feine  reale:  Den  men[(i)IicJ)en  Organismus  unb  feine 
u)i(f)tigfte  gunftion,  bie  Seele,  lernen  unfere  ^uriften  nur  ober= 
fläc^Iicf)  fennen;  bas  betoeifen  3.  23.  bie  rDunberIid)en  ^n[irf)ten 
über  „2ßinensfreil)ett,  93erantu)ortung"  ufto.,  benen  toir  täglich 
begegnen.  Den  meiften  Stubierenben  ber  ^witsprubens  fällt  es 
gar  nid)t  ein,  [id)  um  ^ntI)ropologie,  ^fi)(i)oIogie  unb  (£nt  = 
toideIung5ge[d^id)te  ju  beüimmern,  bie  erften  93orbebingungen 
für  rid)tige  Beurteilung  bes  SJienf^entoefens.  ^^reili^  bleibt  ba3u 
au(^  „feine  3^it";  biefc  roirb  Iciber  nur  ju  [e!)r  burct)  bas  grünbli^e 
Stubium  von  Bier  unb  2Bein  in  ^nfpru^  genommen,  [otoie  bas 
„oerebeinbe"  9Jlen[urentoefen;  ber  9lejt  ber  fojtbaren  Stubicnjeit 
aber  ijt  noüoenbig,  un^  bie  ^unberte  oon  ^aragrapt)en  ber  (5e[e^= 
bücf)er  3U  erlernen,  bcren  ilenntnis  bcn  Surijten  3U  allen  möglid)en 
Stellungen  im  f)eutigen  Äulturjtaate  befät)igt. 

Unfere  Stoatsorbnunö.  Das  leibigc  ©ebict  ber  ^olitif  toollen 
toir  I)ier  nur  ganj  flü(^tig  jtreifen.  Die  unerfreuli^en  3iiltänbe 
bes  mobemen  Staatslebens  [inb  ja  allbefannt  unb  iebermann 
tägli^  füt)lbar.  3wm  großen  3^eile  erfidren  ]id)  beren  SJiängel 
baraus,  ha'ii  bie  meijten  Staatsbeamten  eben  ^urijten  finb,  SJlönner 
von  f)ot)er  formaler  Bilbung,  aber  ot)nc  jene  grünblicf)e  5^enntnis 
ber  SJienjd^ennatur,  bie  nur  burcf)  oergleic^enbe  ^ntl)ropoIogic  unb 
^ji)d)oIogie  enoorben  ujerben  fann.  „Bau  unb  Qtbm  bes  [ogialen 
5^örpers",  b.  l).  bes  Staates,  lernen  xoir  nur  bann  rid^tig  Dcr= 
jtet)en,  toenn  roir  naturtDi[[enjd)aftlid)e  ilenntnis  com  „Bau  unb 
£eben"  ber  ^erfonen  befi^en,  i»el(i)e  ben  Staat  jujammenfe^en, 
unb  ber  3 eilen,  roelc^e  jene  ^erjonen  äujammenfe^en.  2Benn 
unfere  „Staatslenfer"  unb  „Bolfsoertreter"  bicfe  unf(t)äParen 
bioIogifrf)en  unb  antf)ropoIogifct)en  Borfenntniffc  be= 
fäßen,  fo  toürbc  unmöglirf)  in  bcn  3eitungen  täglich  jene  entfe^Iid^e 
SrüIIe  von  foaiologifc^cn  3i^itü"tem.  unb  oon  poIitif(t)er  5lanne^ 
gießerei  3U  lefcn  fein,  toeli^c  unfcrc  ^arlamentsberi^te  unb  oud) 


(grjtes  5^apitel. 


üiele  9legterungserla[[c  md)t  gerabc  erfreultd^  au53etd)ncn.  ^m 
metjten  3U  beflagen  tft  es,  ha^  bcr  moberne  i^ulturftaat  fid)  ber 
fulturfeinblid^en  Rxxd)^  in  bic  ^rme  uoirft,  unb  bafe  ber  bornierte 
(Egoismus  ber  Parteien,  bie  23erblenbung  ber  !ur3^i(i)tigen  ^artei= 
fül)rer  bie  ^ierarc^ie  unterftü^t.  Daburd)  entjtef)en  [0  traurige 
Silber,  toie  fie  uns  am  S(i)Iu[[e  bes  19. 3a^rf)unbert5  ber  Deut[d)e 
9?eid)5tag  cor  ^ugen  fül)rte:  bie  (5e[d)icfe  bes  gebilbeten  beutfc^en 
5öoI!es  in  ber  §anb  bes  ultramontanen  3entrum5,  unter  ber 
Leitung  bes  römifd^en  ^apismus,  ber  [ein  ärgjter  unb  gefäl)r= 
li(f)jter  geinb  ijt.  Statt  9?ecl)t  unb  33ernunft  regiert  9lberglaube 
unb  33erbummung.  Hn[ere  Staatsorbnung  !ann  nur  bann  beffer 
werben,  raenn  [ie  \id)  üon  'Otn  geffeln  ber  Rixd)t  befreit  unb 
toenn  [ie  t>mä)  allgemeine  naturu)i[[en[cl)aftli(i)e  Silbung 
bie  2Belt=  unb  5Ren[d^enfenntnis  ber  Staatsbürger  auf  eine  l)öl)ere 
Stufe  I)ebt.  Dabei  fommt  es  gar  nid)t  auf  bie  be[onbere  Staats  = 
form  an.  Ob  SOionar(f)ie  ober  9lepublif,  ob  ari[tofrati[d)e  ober 
bemo!rati[cf)e  3Serfa[[ung,  bas  [inb  untergeorbnete  ^^ragen  gcgen= 
über  ber  großen  Hauptfrage :  Soll  ber  moberne  i^ulturjtaat  geijtlict) 
ober  roeltlic^  \tin?  Soll  er  tI)eo!rati[c^,  burc^  unoernünftige 
©laubens[ä^e  unb  llerifale  2Bill!ür,  ober  [oll  er  nomo!rati[cf), 
burd)  oernünftige  ©e[e^e  unb  bürgerlid)es  9?e(^t  geleitet  loerben? 
Unsere  6(^ule.  (£ben[o  toie  un[ere  9?ec^tspflege  unb  Staats* 
orbnung  ent[pri(^t  au^  un[ere  5ugenber3iel)ung  burdf)au5  nic^t 
titn  ^nforberungen,  U)eld)e  bie  toi[[en[(i)aftlid)en  5ort[d)ritte  bes 
19.  3öI)i^I)UTtberts  an  bie  moberne  Silbung  [teilen.  Die  91atur  = 
u)i[[en[d)aft,  bie  alle  anberen  2Bi[[en[d^aften  [0  toeit  überflügelt 
unb  tDelct)e,  hd  2iä)i  betrai^tet,  aud^  alle  [ogenannten  (5ei[tes= 
ir»i[[en[d)aften  in  [id)  aufgenommen  l)at,  loirb  in  un[eren  Schulen 
immer  nod)  als  ^[d)enbröbel  in  bie  (^de  ge[tellt.  Un[eren  mei[ten 
£el)rern  er[d)eint  immer  nod)  als  Hauptaufgabe  jene  tote  (5elel)r= 
[am!eit,  bie  aus  "bm  illo[ter[(^ulen  bes  äRittelalters  übernommen 
i[t;  im  SSorbergrunbe  [tel)t  ber  grammati!ali[(^e  Sport  unb  bie 
Seitraubenbe  „grünblid)e  ilenntnis"  ber  !la[[i[d)en  Sprad)en,  [oroie 
ber  äufeerlid^en  23öl!erge[.d)id)te.  Die  Sittenlel)re,  ber  i»id)tig[te 
(5egen[tanb  ber  pra!ti[d)en  TOIo[opl)ie,  toirb  oernad)lä[[igt  unb 
an  il)re  Stelle  bie  !ird)lic^e  ilonfe[[ion  geje^t.  Der  ©laube  [oll  bem 
2Bi[[en  oorangel)en;  nid)t  jener  tDi[[en[d)aftlid)e  (ölaube,  toeldier 
uns  3U  einer  moni[ti[d)en  9^eligion  fül)rt,  [onbern  jener  unt)er= 
nünftige  Aberglaube,  ber  bie  (5runblage  eines  r)erun[talteten 
(£l)ri[tentums  bilbet.  3Bäl)renb  t>it  großartigen  (£r!enntni[[e  ber 
mobemen  i^osmologie  unb  Anthropologie,  ber  l^eutigen  Biologie 
unb  (£ntiDidelungslef)re  auf  .un[eren  l)öl)eren  Sd)ulen  gar  feine 
ober  nur  ganj  ungenügenbe  23ertoertung  finben,  toirb  bas  (5ebäd)t= 


Stellung  ber  SBelträtfel. 


nis  mit  einer  Unmaffe  oon  p^ilologtfcfien  unb  {)ij'ton[ d^en  2:at= 
\ad)tn  überlaben,  bte  toeber  für  hit  ©eijtesbilbung,  nod)  für  bas 
pra!tt[cf)e  2thtn  üon  91u^en  [inb.  ^uc^  bie  ueralteten  ©inrid^tungen 
unb  3ra!ultät5t)ert)ältm[fe  ber  Umoerfitäten  entfpred^en  ber  t)eu= 
ttgen  (Entcöidelungsjtufe  ber  natürli(i)en  2BeItan[c^auung  eben[o= 
roentg  rote  ber  Unterrid)t  in  ben  ©i)mna[ien  unb  in  htn  nieberen 
Schulen. 

Unfere  Äirj^e.  3m  [(f)ärfften  ©egenfa^e  3U  ber  mobernen 
Silbung  unb  3U  beren  ©runblage,  ber  üorgefc^rittenen  lRatur= 
erfenntnis,  |tef)t  unftreitig  bie  ilird^e.  2Bir  sollen  I)ier  garni(f)t 
t)om  ultramontanen  ^apismus  [pre^en,  ober  oon  ben  ortl)oboien 
eDangeIif(f)en  9?id^tungen,  roeId)e  biefem  in  bejug  auf  fra[[eften 
5(berglauben  unb  Knfenntnis  ber  9!Bir!Iid)!eit  nid^ts  nad^geben. 
23ielmef)r  oerfe^en  toir  uns  in  bie  ^rebigt  eines  liberalen  protejtan* 
tifd^en  .  Pfarrers,  ber  gute  Durrfjfc^nittsbilbung  befi^t  unb  ber 
23ernunft  neben  bem  ©lauben  it)r  gutes  9ie(f)t  einräumt.  3)a 
I)ören  coir  neben  oortrefflid^en  Sittenlehren,  bie  mit  unserer 
monijti[rf)en  (£tf)i!  (im  19.  5^apitel)  oolltommen  l)armonieren, 
33orftenungen  über  bas  2Be[en  oon  ©ott  unb  3BeIt,  von  9Jien[c^ 
unb  fieben,  tDeld)e  allen  (£r!enntni[[en  ber  9Zaturfor[(i)ung  bireft 
roiberfprcd^en.  (£s  ift  !ein  SBunber,  toenn  Zt^nittt  unb  (Il)emifer, 
^r3te  unb  ^l)ilo[opl)en,  bie  grünblid)  über  bie  5Ratur  beobad)tet 
unb  nacf)gebarf)t  l)aben,  [olrfien  ^rebigten  fein  (5el)ör  [d)en!en 
roollen.  (£s  f e^lt  eben  unferen  3;l)eologen  unb  ^l)ilologen,  ebenfo 
toie  unferen  ^olitifern  unjö  Suriften,  an  jener  unentbehrlichen 
5Raturer!enntnis,  auf  tüel(t)e[id)  hit  monijti[(^e  (£nttDidelungs= 
lel)re  grünbet. 

Äonflift  5tDif(^en  ©ernunft  uttb  !Dogina.  ^us  biefen  bebauer=« 
licf)en  (5egen[ä^en  ergeben  [id)  für  unfer  mobernes  .Kulturleben 
f(f)tüere  5^onfli!te,  beren  (5efal)r  bringenb  3ur  Sefeitigung  auf= 
forbert.  Unfere  t)eutige  ^ilbung  »erlangt  \\)X  gutes  9?edE)t  auf 
allen  ©ebieten  bes  öffentlid)en  unb  privaten  £ebens;  [ie  roünfc^t 
bie  9Jlen[c^^eit  mittels  ber  33ernunft  auf  jene  l)öl)cre  Stufe  ber 
(Erfenntnis  unb  bamit  gugleid^  auf  jenen  befferen  9Beg  gum  ©lücf 
erl)oben  ju  [el)en,  wtl<i)t  roir  unferer  \)od)  enttoidelten  5Ratur= 
iDi[[en[d)aft  oerbanfcn.  Dagegen  fträuben  [i^  mit  aller  SKac^t 
bie  jenigen  einflufereid)en  5lrei[e,  tDeld)e  unfere  (Seijtesbilbung  in 
t)tn  überrounbenen  5tn[c^auungen  bes  SOlittelalters  3uriidt)alten 
tüollen;  [ie  Derl)arren  im  SBanne  ber  trabitionellen  !t)ogmen  unb 
»erlangen,  ha^  bie  23ernunft  [id^  unter  bie[e  „f)öl)ere  Offenba* 
rung"  beuge.  X)as  ijt  ber  göll  in  toeiten  Greifen  ber  3:^eologie 
unb  ^^ilologie,  ber  So3iologie  unb  3iiri5pruben3.  X)iefe  9tücf= 
jtänbigfeit  beruht  3um  größten  3;eile  getüife  nic^t  auf  eigennü^igem 


8  (grjtes  Kapitel. 


Streben,  fonbern  teils  auf  Hnfenntnis  ber  realen  ^^atfa^en,  teils 
auf  ber  bequemen  (5etüot)nI)eit  ber  3:rabition.  Die  gefä^rlid)jte 
(5reinbin  ber  93emunft  unb  2Bi[[en[d)aft  ift  nic^t  bie  $Bo6t)eit,  [onbern 
bie  HntDif[enI)eit  unb  üielleid)t  nod)  mel)r  bie  !Irägl)eit.  (Segen 
biefe  beiben  9Jiäd)te  fampfen  bie  ©ötter  [elbft  bann  noc^  t)er= 
gebens,  loenn  fie  bie  erjtere  glücflid)  überrounben  l)aben. 

^IntJ^toptsntus.  &nt  ber  mäct)tigjten  Stufen  geu)äl)rt  jener 
rüdjtänbigen  Sßeltanfd^auung  ber  5lntt)ropi5mus  ober  bie 
„S3ermenfd^Ii(^ung".  Hnter  biefem  ^Begriffe  t)erftel)e  id)  jenen 
ntä(f)tigen  unb  toeit  verbreiteten  5^mplei  von  irrtümlid)en  S3or= 
ftellungcn,  toeldier  htn  menfcl)lid)en  Organismus  in  ®egenfa^ 
3u  ber  gangen  übrigen  9latur  ftellt,  il)n  als  üorbebacfites  (Enbjiel 
ber  organifcf)en  Scf)öpfung  unb  als  ein  üon  biefer  t)erfct)iebenes, 
gottät)nUct)es  2Be[en  auffafet.  $Bei  genauerer  i^riti!  biefes  einflufe= 
reichen  S3orjteIlungs!reifes  ergibt  fic^,  bafe  er  eigentlidE)  aus  brei 
t)er[d)iebenen  I)ogmen  bejtel)t,  bie  roir  als  ben  antI)ropo3en  = 
trifd^en,  antf)ropomorp^i[cf)en  unb  antl)ropoIatri[cl^en 
Srrtum  unter[(i)eiben.  I.  Das  antt)ropo3entri[ct)e  Dogma 
rul)t  auf  ber  SJorjtellung,  bafe  ber  9Jten[d)  ber  t)orbebact)te  Spfüttel^ 
pun!t  unb  (SnbstoedE  alles  (Srbenlebens  —  ober  in  toeiterer  Raffung 
ber  gangen  SBelt  —  [ei.  Da  biefer  3i^rtum  bem  menf^Iid^en 
(£igenbün!el  äufeerft  eru)ün[ct)t,  unb  tta  er  mit  "ütn  S(i)öpfungs= 
mr)tt)en  unb  mit  ben  Dogmen  ber  mofaifc^en,  ^riftlirfien  unb 
mol)ammebani[d)en  9?eIigion  innig  oertoa^fen  ijt,  bef)err[^t 
er  aud)  l)eute  noct)  ben  größten  3^eil  ber  5luIturroeIt.  —  II.  Das 
antI)ropomorp!)ifcf)e  Dogma  fnüpft  ebenfalls  an  bie  <Bä)'öip= 
fungsfagen  ber  brei  genannten,  foroie  oieler  anberen  9?eligionen 
an.  (£5  r)ergleicf)t  bie  2Belt[d)öpfung  unb  SBeltregierung  ©ottes 
mit  ^tn  5^unjtfd)öpfungen  eines  [innreid^cn  ^^c^nifers  unb  mit 
ber  Staatsregierung  eines  roeifen  §err[d)ers.  „(Sott  ber  §err" 
als  Sd^öpfer,  (£rl)alter  unb  9?egierer  ber  2Belt  roirb  babei  in 
[einem  Denfen  unb  ^anbeln  biird^aus  men[^enäl)nlicf)  cor» 
gejtellt.  Daraus  folgt  bann  lieber  umge!el)rt,  bafe  ber  iRen[d^ 
gottäl)nlid)  ift.  „®ott  [(^uf  titn  5lRen[cf)en  nad)  [einem  Silbe." 
Die  ältere  naioe  9[)li)tl)ologie  Derleit)t  i^ren  (ööttern  9Jien[d)en= 
geftalt,  'i^Ui^d)  unb  Slut.  SBeniger  materiali[ti[d^  [inb  bie  2)or= 
[tellungen  ber  neueren  mi)[ti[d)en  3:^eo[opl)ie ,  tDeld)e  ben  per= 
[önlid^en  (Sott  als  „un[id)tbares"  2Be[en  »ere^rt  unb  il)n  bod) 
gleid)3eittg  nad^  9Jlen[(^enart  benfen,  [pred)en  unb  l)anbeln  lä^t.  — 
III.  Das  antt)ropolatri[dE)e  Dogma  ergibt  [id^  aus  bie[er 
23erglei(t)ung  ber  men[cl)lic^en  unb  göttlid)en  Seelentätigfeit  oon 
[clbjt;  es  fül)rt  3u  ber  göttlid^en  33erel)rung  bes  men[cf)ltd)en 
Organismus,  3um  „antljropijtifc^en  (Sröfeentoa^n".    Daraus  folgt 


Stellung  ber  SBcIträtfel. 


tDtebcr  ber  {)odf)ge[(f)ä^te  „©laubc  an  bte  pcrfönlid^e  ltnfterbUd)= 
feit  ber  Seele",  fotote  bas  bualtjttfd)c  !t5ogma  von  ber  t)oppeI= 
natur  bes  50Zen[c^en,  beffen  „unfterbIicE)e  Seele"  htn  jterbltd^en 
5^örper  nur  jetttoeife  betoo^nt.  Dte[e  bret  antf)roptjttfd)en  Dogmen, 
manmgfai^  ausgebilbet  unb  ber  roec^felnben  ©laubensform  ber 
üerfc^tebenen  ^Religionen  angepaßt,  tourben  5ur  ^Quelle  ber  ge* 
fäl)rltd)ftcn  Irrtümer.  Die  antl)ropifti[(f)e  S!BeItan[d)auung, 
hk  baraus  entfprang,  jtel)t  in  unoer[ö^nIid)em  (Segenfa^  3U  unferer 
monijtifd^en  ^laturerfenntnis;  [te  rotrb  3unä(i)jt  [c^on  burd)  beren 
fosmologifc^e  ^erfpcfttoe  u)iberlegt. 

itosmologifc^e  ^erfpeftioe.  Die  Hnf)altbarfeit.  biefer  brei 
antl)ropiftif(^cn  Dogmen,  tote  auct)  oieler  anberer  ^nfd)auungen 
ber  bualijti[i)en  ^l)iIo[opl)ie  unb  ber  ort^oboxen  ^Religion,  offen» 
bart  [ict),  [obalb  mx  [te  aus  ber  !o5moIogtfct)cn  ^erfpeltioc 
unferes  SJionismus  fritifc^  betrad)ten.  2Bir  t)erjtel)en  barunter 
jene  umfaffenbe  ^nfc^auung  bes  äßeltgansen,  wtlä)t  uns 
ber  l)ö(i)|te  Stanbpunft  ber  moniftifd^en  9laturer!enntnis  getoä^rt. 
Da  überseugen  toir  uns  oon  ber  9[ßal)rl)eit  ber  folgenben  toid^» 
tigen  „!o5moIogi[rf)en  £et)r[ä^e": 

1.  Das  SBeltall  (Unioerfum  ober  ilosmos)  ijt  etoig,  unenblic^ 
unb  unbegrengt.  2.  Die  Subftans  besfelben  mit  x\)xtn  htihtn 
5lttributen  (StRaterie  unb  (Energie)  erfüllt  htn  unenblid)en  9?oum 
unb  befinbet  [ic^  in  etoiger  Setoegung.  3.  Diefc  Setoegung  oer= 
läuft  in  ber  unenblirf)en  3^it  als  eine  eint)eitlidE)e  ©nttoicfelung, 
mit  periobi[d)em  2Be(i)feI  :pon  SBerben  unb  93erge{)en,  üon  gort= 
bilbung  unb  9iüctbilbung.  U.  Die  unjä^ligen  SBeltförper,  tüelct)e 
im  raumcrfüllenben  ^t^er  oerteilt  [inb,  unterliegen  [ämtlic^  bem 
Subftansgefe^.  5.  Hnfere  Sonne  ift  einer  oon  hk]tn  un3ä{)Iigen 
t)ergänglid)en  3Beltförpern,  unb  un[ere  (£rbe  ijt  einer  oon  ben 
3af)Ireid)en  oergänglid^en  Planeten,  tDeId)e  biefe  umfreifen. 
6.  Hnfere  (£rbe  t)at  einen  langen  ^b!üf)Iungspro3efe  buri^gemai^t, 
el)e  auf  berfelben  tropfbar  flüffiges  2Ba[[er  unb  bamit  bie  erfte 
33orbebingung  organi[d)en  £ebens  entjte^en  tonnte.  7.  Der  barauf 
folgenbe  biogenetifc^e  ^ro3efe,  bie  langfame  (£ntiöidfelung  unb 
Hmbilbung  3al)no[er  organifct)er  ^formen,  t)at  oiele  StRillionen 
3al)re  (toeit  über  l)unbert !)  in  ^nfprud)  genommen.  8.  Unter 
hzn  Derf(f)iebenen  3;ierftämmen,  toeld^e  \id)  im  [päteren  93erlaufe 
bes  biogeneti[ct)en  ^ro3effe5  auf  unferer  (Erbe  enttoidelten,  l)at 
ber  Stamm  ber  SBirbeltiere  im  Sßettlaufe  ber  (Snttoicfelung  neuer» 
bings  alle  anberen  toeit  überflügelt.  9.  ^Is  ber  bebeutenbjtc 
3roeig  bes  SBirbeltierjtammes  l^at  fid)  erjt  fpät  (ioäI)renb  ber  3^ria5» 
periobe)  aus  ^mpl)ibien  bie  Rla\\z  ber  Säugetiere  entmidelt. 
10.  Der  ooIHommenjte  unb  l)ö^jt  enttoidelte  3^ßi9  ^i^f^^  Älaffc 


10  (£rjte5  5lapitel. 


ijt  bte  Drbnung  bcr  §errentierc  ober  ^rtniatert,  bic  erft  im  $8e= 
ginne  ber  ^^ertiärgeit  burd^  Hmbilbung  aus  nieberjten  3otten= 
tieren  entjtanben  ijt.  11.  X)as  iüngfte  unb  üollfommenfte  ^jt(i)en 
bes  ^rimaten3iBetge5  ijt  ber  9[)len[d),  ber  erjt  in  [päterer  3:ertiär= 
3eit  aus  einer  9leil)e  von  9Jlen[^enaffen  l)ert)orging.  12.  Demnacf) 
ift  bie  [ogenannte  „2BeItge[(^id)te"  eine  t)er[(^u)inbenb  fur3e 
(gpifobe  in  bem  langen  23erlaufe  ber  organif(i)en  (£rbge[d)ic^te, 
eben[o  toie  bie[e  [elbjt  ein  Keines  Siüd  von  ber  ©e[(^id)te  unferes 
^Ianetenfi)ftems;  unb  toie  un[ere  SOlutter  (£rbe  ein  oergänglii^es 
(5onnenftäubd)en  im  unenblicf)en  SBeltall,  [o  ijt  ber  einselne 
StRenfd)  eine  t)orüberget)enbe  (Erjd^einung  in  ber  oergänglii^en 
organi j(i)en  Statur. 

Sflid^ts  jd) eint  mir  geeigneter  als  bieje  großartige  !osmoIo  = 
gifc^e  ^erjpeltioe,  um  oon  t)ornl)erein  titn  ri(i)tigen  SJlafejtab 
unb  htn  toeitjid)tigen  Stanbpunft  fejtguje^en,  toeld^en  toir  jur 
£öjung  ber  äBelträtjel  eint)alten  muffen.  Denn  babur^  roirb  nic^t 
nur  bie  mafegebenbe  „Stellung  bes  9PZenf(i)en  in  ber  9latur"  !Iar 
be3eid)net,  fonbernaud^  bert)errfd^enbeantt)ropijtif(i)e  (5röfeen  = 
t»al)n  toiberlegt,  bie  Anmaßung,  mit  toeId)er  ber  9Jlenf(f)  fid)  bem 
unenblici)en  Unioerfum  gegenüberjtellt  unb  als  tDi(f)tigjten  3:eil 
bes  SBeltalls  i)ert)errli(^t.  Diefe  gren3enIofe  Selbjtüber^ebung 
bes  eiteln  SD^ienfcfien  I)at  it)n  ba3U  Derfüt)rt,  fid)  als  „(Ebenbilb 
(5ottes"  3U  betrad)ten,  für  feine  Dergängli(f)e  ^erfon  dn  „etoiges 
£eben"  in  ^nfprud)  3U  net)men  unb  fid)  ein3ubilben,  bafe  er  un* 
befd)rän!te  „3rreit)eit  bes  SBillens"  befi^t.  I)er  lää)txli6)t  (£äfaren= 
toa^n  bes  (Taligula  ijt  eine  fpe3iene  ^^orm  biefer  l)od^mütigen 
Selbjtoergötterung  bes  50lenfd^en.  (£rjt  roenn  toir  biefen  unf)alt» 
baren  ©röfeentüat)n  aufgeben  unb  bie  naturgemäße  fosmologifc^e 
^erfpeftioe  einne{)men,  fönnen  toir"  3ur  £öfung  ber  „SBelträtfel" 
gelangen. 

3a^I  bcr  2BeIträtfeI.  Der  ungebilbete  i^ulturmenfd^  ijt  nod) 
ebenfo  loie  ber  roI)e  9laturmenfcE)  auf  S(f)ritt  unb  3:ritt  oon  un= 
3ät)Iigen  SBelträtfeln  umgeben.  5e  toeiter  bic  5lultur  fortf(f)reitet 
unb  bie  2Biffenfd)aft  fid)  enttoidelt,  bejto  met)r  roirb  tl)re  3af)I 
befd)rän!t.  Die  moniftifd)e  ^f)iIofopt)ie  toirb  fd)IiePc^  nur 
ein  ein3ige5,  allumfaffenbes  2BeIträtfeI  anerfennen,  bas  „Sub  = 
ftan3probIem".  ^n  ber  berüt)mten  9^ebe,  ioeId)e  (Emil  bu 
Sois  =  9?er)monb  1880  in  ber  £eibni3*(5i^ung  ber  berliner 
^fabemie  bcr  2Biffenfd)aften  f)iclt,  untcrfd)cibet  er  „ficben 
SBcIträtfel";  er  fül)rt  bicfclben  in  nad)jtel)cnber  9?cif)cnfoIge 
auf:  I.  bas  2ßefen  oon  StRatcrie  unb  ilraft,  II.  bcr  Urfprung  bcr 
^ctoegung,  III.  bie  erjte  (£ntjtet)ung  bes  JÖcbens,  IV.  bie  (an» 
[d)eincnb  abfidjtsooll)  stocdmöfeige  (Sinrt^tung  bcr  IRatur,  V.  bas 


etellung  ber  2BeIttätfeI.  11 


(£ntjtcl)en  ber  einfa^en  Sinnesempftnbung  unb  bes  ^BctDufetfeins, 
VI.  bas  oernünfttge  Denfen  unb  ber  Urfprung  ber  bamit  eng  t)er= 
bunbenen  Sprad)e,  VII.  bte  ^rage  nacf)  ber  2BiIlenöfretI)eit.  93on 
t>k\m  fieben  3BeIträt[eIn  erflärt  ber  9?l)etor  ber  berliner  ^fabemie 
brei  für  ganj  tranfgenbent  unb  unlösbar  (bas  crjte,  jtDeite  unb 
fünfte);  brei  anbere  I)ält  er  %voax  für  [^tDtertg,  aber  für  lösbar 
(bas  britte,  oterte  unb  [ed)jte);  besügltcJ)  bes  [iebenten  unb  legten 
„2BeIträt[eIs",  roelc^es  pra!tt[d)  bas  röi^ttgjte  ijt,  nämlirf)  ber 
2B{nensfretf)ett,  x)ert)ält  er  ficf)  unentfc^ieben. 

9lacf)  meiner  ^n[id^t  toerben  bie  brei  „tranfjenbenten"  9?ät[el 
(I,  II,  V)  burd)  un[ere  ^uffa[[ung  ber  Sub  [tanj  erlebigt  {Ra= 
piten2);  bie  brei  anberen,  fd)tüierigen,  aber  lösbaren  Probleme 
(III,  IV,  VI)  [inb  bur(^  unfere  moberne  (£ntu)i(JeIungsIel)re 
enbgültig  gelöjt;  bas  [iebente  unb  le^te  2Belträtj'eI,  bie  2BiIlens= 
freil)eit,  ijt  gar  fein  Objeft  !riti[ct)er  toif[en[d)aftlict)er  (Erüärung, 
\)a  [ie  als  reines  Dogma  auf  blofeer  Xäu[(f)ung  berut)t  unb  in 
2Bir!Ii(f)feit  gar  ni^t  eiijtiert. 

ßöfung  ber  SBelträtfel.  Die  9J?itteI  unb  2Bege  3ur  £ö[ung 
ber  2ßelträt[el  [inb  biejenigen  ber  reinen  Boi[[en[(f)aftIid)en  (£r= 
fenntnis  überl)aupt:  (Erfahrung  unb  S(i)IufefoIgerung .  Die 
Eoi[[en[c^aftIid)e  (£rfaf)rung  ertoerben  toir  uns  burd)  Seoba(i)tung 
unb  (Siperiment,  tüobei  in  erjter  fiinie  unfere  Sinnesorgane,  in 
gcoeiter  bie  „inneren  Sinnesl)erbe"  unferer  (5rofel)irnrinbe  tätig 
[inb.  Die  mift:o[!opi[(^en  (SIementarorgane  ber  erjteren  [inb  bie 
Sinnesjellen,  bie  ber  letj^eren  ©ruppen  oon  (Sanglienäellen. 
Die  (£rfat)rungen,  roeI(i)e  toir  oon  ber  ^ufeentoelt  burc^  bie[e  un= 
fd)äparjten  Organe  unferes  ©eijteslebens  er{)alten  t)aben,  toerben 
bann  burd)  anbere  (5et)irnteile  in  SSorjtellungen  umgefe^t  unb 
biefe  roieberum  buri^  5l[[o3iation  ju  Sd)Iü[[en  oerfnüpft.  Die 
SBilbung  bie[er  Scf)IufefoIgerungen  erfolgt  auf  gtoei  oeri(i)iebenen 
äßegen,  bie  nad)  meiner  Xlberjeugung  gleich  roertooll  unb  unent= 
bet)rlid)  [inb:  ^Ttbuftion  unb  Debuftion.  Die  weiteren  oer= 
roidelten  (5et)irnoperationen,  bie  Silbung  oon  3ufamment)ängen= 
ben  iletten[c^Iü[[en,  bie  5lbjtra!tion  unb  ©egriffsbilbung,  bie  (£r= 
gänjung  bes  erfennenben  33erjtanbes  burd)  bie  plajti[d)e  ^I)anta[ie, 
[d)UefeIid)  bas  Setoufetf^tTi,  bas  Denfen  unb.^l)iIo[opt)ieren,  [inb 
eben[o  3^un!tionen  ber  ©angliengellen  ber  (5rofet)irnrinbc  toie 
bie  i)orl)ergel)enben  einfacheren  Seelentätigfeiten.  ^Ile  3u[ammen 
oereinigen  loir  in  bem  l)öd)jten  Segriffe  ber  33ernunft. 

IBernunft,  ©etnüt  unb  Offenbarung.  Durd)  bie  93ernunft 
allein  tonnen  toir  pix  tüaf)ren  S^laturertenntnis  unb  3ur  fiö[ung 
ber  2ßelträt[el  gelangen.  3nbe[[en  f)at  bie  33ernunft  it)ren  l)ol)en 
3Bert  erjt  burd)  bie  fort[d)reitenbe  Äultur  unb  (5ei[tesbilbung,  burd) 


12  (Erjtes  5lapitel. 


bic  (SnttDtcfelung  ber  2Btffcnfd)aft  erl^alten.  Der  ungcbilbete 
9Jien[d)  unb  ber  rol^e  9Iaturmen[cf)  ^int)  ebenfotoentg  (ober  ebenfo= 
[ef)r)  „t)ernünftig"  rote  bte  nädijtüercoanbten  Säugetiere  (Riffen, 
§unbe,  (Elefanten  ufro.).  9^un  ijt  nod)  I)eute  in  toeiten  Greifen 
bie  5ln[td)t  oerbreitet,  bafe  es  aujger  ber  33ernunft  nod)  gtoei  toeitere 
(ja  [ogar  tüid) tigere !)  CrlenntnistDege  gebe:  ®emüt  unb  JOffen= 
barung.  X)ie[em  gefät)rlic^en  3trtum  muffen  roir  ent[(i)ieben  ent= 
gegentreten.  Das  ®emüt  l)at  mit  ber  (£r!enntnis  ber 
2Baf)rf)eit  garni^ts  ju  tun.  2Bas  roir  „Oemüt"  nennen  unb 
t)od)[d)ä^en,  i|t  eine  oerioidelte  3:ätigfeit  bes  (5el)irn5,  roeIcf)e  fidf) 
aus  (5efüt)Ien  ber  fiujt  unb  Hnlujt,  aus  SSorftellungen  ber  3u= 
neigung  unb  Abneigung,  aus  ©trebungen  bes  Segel)rens  unb 
0:liel)ens  3u[ammen[e^t.  T)abti  fönnen  bie  oerfd^iebenjten  anberen 
3:ätig!eiten  bes  Organismus  mitfpielen,  ^Bebürfntffe  ber  Sinne 
unb  ber  9Jius!eIn,  bes  50Jagens  unb  ber  (5e[(i)Ied)tsorgane  uft». 
Die  (grfenntnis  ber  2Bat)r()eit  förbern  olle  biefe  (Semütsäuftänbe 
unb  ©emütsbeujegungen  in  feiner  SBeife;  im  ©egenteil  jtören 
fie  oft  bie  allein  ba3U  befäf)igte  S3ernunft.  ?lod)  fein  „SBelträtfel" 
ijt  burd)  bie  ®ef)irnfunftion  bes  (Semüts  gelöjt  ober  aud^  nur  ge= 
förbert  toorben.  Dasfelbe  gilt  aber  aud)  oon  ber  [ogenannten 
„Offenbarung"  unb  hm  angeblid)en,  baburc^  errei(f)ten 
„(5Iaubcn5tDaf)rt)eiten";  biefe  berufen  fämtlicf)  auf  betouißter 
ober  unbetoufeter  3:äufd^ung  (oergl.  bas  16.  5^apitel). 

^^tlofop^ie  unb  9lattti;t»iffenf#aft.  ^Is  einen  ber  erfreu= 
lid^ften  5ortfcf)ritte  jur  £ö[ung  ber  SBelträtfel  muffen  u)ir  es  be= 
grüben,  bafe  in  neuerer  3eit  immer  mef)r  t>h  beiben  einzigen 
baju  füf)renben  2Bege:  (£rfaf)rung  unb  Denfen  (ober  (£m  = 
piric  unb  Spefulation)  als  glei(f)bere^tigte  unb  ficf)  gegen= 
feitig  ergängenbe  (£rfenntnfsmett)oben  anerfannt  roorben  finb. 
Die  ^^iIofopf)en  \)abtn  allmä^Iid^  eingefel)en,  bafe  bie  reine  Spefu= 
lation  3ur  u)af)ren  (Erfenntnis  ni(i)t  au5rei(i)t.  ttnb  ebenfo  f)aben 
fid)  anberfeits  W  9^aturforfd^er  überseugt,  ha^  bie  blofee  (Erfahrung 
für  bie  Silbung  einer  realen  2Beitanf(f)auung  ungenügenb  i\t 
Die  jtoei  großen  (Srfenntnistoege,  bie  finnlicf)e  (£rfaf)rung  unb  bas 
Dcrnünftige  Denfen,  finb  stoei  r)erfd)iebene  ©ef)irnfunf  = 
tionen;  bie  erftere  toirb  burd)  bie  Sinnesorgane  unb  bie  jentralen 
Sinnesl^erbe,  bie  le^tere  burc^  bie  ba3tDifcf)en  liegenben  Denf= 
l)erbe,  bie  großen  „^ffo3tons3entren  ber  (5rofef)irnnnbe"  Der= 
mittelt.  (33ergl.  5lapitel  7  unb  10.)  (£rjt  burc^  bie  oereinigte 
^Xätigfeit  beiber  entjtef)t  rx)af)xt  (Erfenntnis.  ^lllerbings  gibt  es 
aud^  f)eute  nod^  ^^iIofopf)en,  tüeld^e  bie  2BeIt  blojg  aus  if)rem 
Äopfe  fonjtruieren  toollen,  unb  toelc^e  bie  empirifd^e  ^Raturerfennt» 
nis  fd)on  besl)alb  ocrf(^mät)en,  toeil  fie  t)h  tDirfIi(f)e  9Belt  nic^t 


Stellung  bcr  SBclträtfcl.  13 

fenncn.  ^nberfetts  bcl)aupten  aud)  l)cute  noc^  mand^c  9Iatur= 
for[(i)er,  bafe  btc  einzige  5lufgabe  bcr  2Btf[en[(f)aft  bas  „tat[ad)It(i)e 
2Bi[fcn,  btc  objcfttoc  (£rforf(f)ung  bcr  cinäclncn  9laturcrfd)cmungcn 
fei";  bas  „3eitaltcr  bcr  ^l)tlo[opl)tc"  [ei  vorüber,  unb  an  il)re 
Stelle  [ei  bie  9laturtoi[[en[^aft  getreten  (23tr(^otü_1893).  t)ie[e 
einfeitige  Über[d)ä^ung  ber  (Empirie  ijt  ein  ebenfo  gefäl)rlid)er 
Irrtum  toie  jene  entgegengefc^tc  ber  Spefulation.  SBeibe  ^r= 
tenntnistDcgc  [inb  [td)  gcgcnfcitig  unentbel)rli(i).  Die  größten 
;triumpl)e  ber  mobemen  .91aturfor[(l)ung,  bie  3ßnent^eoric  unb 
bie  2Bärmetl)eorie,  bie  (£ntrt)idclung5tf)coric  unb  bas  Subftans» 
gefe^,  [inb  p^ilo[opl)i[d)e  Xaten,  aber  nicf)t  (£rgebni[[e  ber 
reinen  Spefulation,  [onbern  ber  oorausgegangencn,  aus= 
gcbel)nte[ten  unb  grünbli(f)[tcn  (Empirie. 

IDualtsmus  unb  äUonismus.  ^llc  üer[df)iebenen  iRicl)tungen 
ber  ^I)ilo[opl)ie  la[[cn  [i^,  üom  l)eutigen  Stanbpunfte  ber  9latur= 
ix)i[[en[d)aft  beurteilt,  in  ^tüci  entgegengc[e^te  9?eil)en  bringen, 
einer[eits  bie  buali[ti[(i)e  ober  3rüie[pältige,  anber[eits  bie  moni  = 
[ti[(i)c  ober  einl)eitlid)e  2Beltan[(f)auung.  Der  Dualismus  (im 
toeiteften  Sinne  !)  acrlegt  bas  Hniüer[um  in  stoei  gans  i)er[(J)iebcne 
Subjtangcn,  bie  materielle  SBclt  unb  htn  immateriellen  ©ott, 
ber  U)x  als  S(f)öpfer,  (£rl)oltcr  unb  9legierer  gegcnübcrftel)t.  Der 
Simonis mus  l)ingegen  (ebenfalls  im  tücitcjtcn  Sinne  begriffen!) 
erfennt  im  HniDer[um  nur  eine  cinjige  Sub[tan3,  bie  „(Sott  unb 
Statur"  3ugleid)  ift;  Körper  unb  (5ei[t  (ober  9Kateric  unb  (Energie) 
[inb  für  [ie  untrennbar  oerbt^nben.  Der  aufeerroeltlid)e  „per[önli(^e" 
(Sott  b es  Dualismus  fül)rt  gum  Xl)eismus.  ber  innertDeltlicl)e 
®ott  bes  SJionismus  gum  ^an tl)eismus 

äRaterialistnus  unb  S|)irltttoU$mus.  Sel)r  bäufig  ujcrben 
aud)  l)eutc  nod)  bie  Der[(i)iebenen  begriffe  SKonismus  unb 
9)?aterialismus  unb  eben[o  bie  toe[entli(^  r)cr[(i)icbcnen  9{id)tun- 
gen  bes  tl)eorcti[(l)en  unb  bes  pra!ti[d^cn  SJlaterialismus  t)cr= 
tDe(i)[elt.  Da  bie[e  unb  äl)nli(j^c  SegriffsoertDirrungen  3al)lreirf)e 
Irrtümer  üeranla[[en,  tDollen  toir  3ur  23ermeibung  aller  50tife= 
i)erjtänbni[[c  nur  fürs  no^  folgenbes  bemerten:  I.  Un[er  reiner 
9Jionismus  ift  toeber  mit  jenem  9Jlaterialismus  ibcnti[(^, 
roel<^er  ben  (Seift  leugnet  unb  bie  2Belt  in  eine  Summe  oon  toten 
Atomen  auflöft,  nod)  mit  bem  tl)eoreti[(i)en  Spiritualismus 
(neuerbings  als  (Encrgetil  be3ei(^nct),  tDeld)er  bie  SJlaterie 
leugnet  unb  bie  2Belt  nur  als  eine  räumlid)  georbnetc  ©ruppe 
Don  blofeen  (Empfinbungen  unb  33orftellungen  (ober  oon  (£ner« 
gien  ober  immateriellen  S^aturfräften)  betra(i)tet.  II.  93ielmel)r 
[inb  tuir  mit  (öoetbe  ber  feften  ll[ber3eugung,  bafe  „bie  9Ka* 
terie  nie  ol)ne  (Seift,  bcr  (Scijt  nie  ol)nc  äRaterie  exiftiert  unb  loir!» 


14  3töeitcs  Äopitel. 


[am  [ein  !ann".  3Btr  galten  fejt  an  bcr  ntont[tt[(i)cn  ^uffa[[ung 
0011  Sptnosa:  I)tcä)latcrie,  als  bte  unenMid^  au5gebcl)ntc  Sub= 
[tans,  unb  ber  (öetft  (ober  bte  (£nergie),  als  bie  empfinbenbc  ober 
benfenbe  8ub[tan3,  [inb  bte  betben  Attribute  ober  ©runbeigen» 
[d)aften  bes  anuntfa[[enben  göttli^en  9[BeIttDe[en5,  ber  unber[alen 
Sub  [tana.    (33ergl.  i^apttel  12.) 


3n>eite^  ^apxt^L 
Slttfet  ^ötr^jetrbau. 

9}^oniftifc^e    6tubien    über    menfc^lic^e    unb   t)er9lcicj)enbe 

Anatomie.    Übercinftimmung  in  ber  gröberen  unb  feineren 

Organifation  be^  ^enfc^en  unb  ber  6äugetiere. 

3ine  bioIogi[d)en  Unter[uc^ungen,  alle  5or[(^ungen  über  hk 
(5e[taltung  unb  £ebenstätig!eit  ber  Organismen  I)ab'en  3unä(i)[t 
"ütn  [id)tbaren  Rörper  ins  5luge  3U  fa[[en,  an  tüeld)em  uns  bie 
betreffenben  morp!)oIogi[cf)en  unb  pf)r)[ioIogi[(i)en  (£r[d)einungen 
entgegentreten.  Die[er  ©runb[a^  gilt  eben[o  für  htn  9Jlen[(^en 
roie  für  alle  anberen  belebten  S^aturförper.  Dabei  barf  [id)  bie 
Hnter[ud^ung  nid)t  mit  ber  ®etrad)tung  ber  äußeren  ©eftalt  be= 
gnügen,  [onbern  [ie  mufe  in  bas  innere  ber[elben  einbringen  unb 
it)re  3u[ammen[e^ung  aus  htn  gröberen  unb  feineren  Se[tanb= 
teilen  erfor[c^en.  Die  2Bi[[en[df)aft,  usel^e  bie[e  grunblegenbe 
Unter[u(i)ung  im  u)eite[ten  Umfange  au53ufül)ren  \)ai,  t[t  bie 
Anatomie. 

SRenfd^Uc^e  Slnatomie.  Die  er[te  Anregung  3ur  (Erfenntnis 
bes  men[c^Ii(^en  ilörperbaues  ging  naturgemäß  oon  ber  ^eilfunbe 
aus.  Da  biefe  bei  htn  älte[ten  ilulturoölfern  geu)öl)nlid)  oon  ben 
^rieftern  ausgeübt  rourbe,  bürfen  voix  annel)men,  ba^  bie[e  l)ö(f)[ten 
33ertreter  ber  bamaligen  $BiIbung  [d^on  im  gtoeiten  3ö^i^tau[enb 
Dor  (£I)ri[to  unb  früt)er  über  ein  geu)i[[es  9Jiaß  oon  anatomi[d^en 
5^enntni[[en  oerfügten.  ^ber  genauere  (£rfal)rungen,  geroonnen 
burd)  bie  3ßi^9K^öerung  oon  Säugetieren  unb  oon  bie[en  über= 
tragen  auf  ben  9Jien[^en,  finben  toir  erjt  hd  ben  ©ried)en,  oon 
benen  $ippo!rates  lange  als  oor3ügli<^[te  5lutorität  galt.  9la(t) 
it)m  er[d)eint  nur  nod)  ein  bebeutenber  5lnatom  im  5lltertum, 
ber  ^rst  (£laubius  ©alenus.    ^llle  biefc  älteren  5lnatomen  er- 


Hnfer  Körperbau.  i; 


roarben  tt)re  5^enntni[[c  3um  größten  3:etlc  nid)t  burcf)  hk  Unter* 
[ud)ung  bes  rrten[d)Itd)en  ilörpers  felbft  —  bie  bamals  no^  jtreng 
oerboten  toar  !  — ,  [onbern  burd)  fetejenige  ber  men[d)enäl)nli(i)[ten 
Säugetiere,  befonbers  ber  Riffen;  fie  roaren  alfo  alle  eigentlich 
[(f)on  „t)ergleid)enbe  Utnatonten". 

X)a5  (£mporbIüt)en  bes  (£t)ri[tentum5  unb  ber  bamit  oer« 
!nüpften  mT)jti[df)en  2BeItan[d)auung  bereitete  ber  5lnatomie,  toie 
allen  anberen  9iaturtDi[[en[d)aften,  t)zn  9liebergang.  T)k  rö= 
mif(f)en  ^äpfte  töaren  t)or  allem  bejtrebt,  bie  9Jlen[(^l)eit  in 
ltnu)i[[ent)eit  unb  in  blinbem Aberglauben  3U  erl)alten;  [ie  I)ielten 
bie  ilenntnis  bes  nien[dt)IidE)en  Organismus  mit  9?ed^t  für  ein 
gefät)rli(t)e5  9[RitteI  ber  Aufflärung  über  unfer  voa\)Xt5  2Be[en. 
3Bäl)renb  bes  langen  3eitraums  von  brei3el)n  3öl)rl)unberten  blieben 
bie  (5(f)rif ten  bes  (Salenus  fajt  bie  einsige  £iuelle  für  bie  men[cf)= 
Iid)e  5lnatomie,  ebenfo  roie  biejenigen  bes  Ariftoteles  für  bie 
gefamte  9^aturge[d)icf)te.  (£rjt  als  im  fe^3ef)nten  3a^rt)unbert 
n.  (£t)r.  burd)  bie  ^Reformation  bie  geiftige  2ßeltl)err[^aft  bes 
^apismus  gebrod>en  unb  burc^  bas  neue  2ßelt[r)jtem  bes  Äoper« 
nüus  bie  eng  bamit  oerfnüpfte  geo3entri[d)e  3[BeItan[c^auung  3er« 
jtört  iDurbe,  begann  audE)  für  bie  (£r!enntnis  bes  men[d)Iid)en 
Körpers  eine  neue  ^eriobe  bes  3luf[d)U)ung5.  X^ie  großen  5Ina* 
tomen  33e[alius,  (£u[tad)ius  unb  göHopius  förberten  huxd) 
eigene  grünblid)e  Unter[ud)ungen  bie  genaue  Kenntnis  unseres 
Körperbaues  [0  [e^r,  bafe  il)ren  3a]^Irei<^en  9^a(i)foIgern  besüglid) 
ber  gröberen  33erl)ältni[f^  l)aupt[ä(f)Ii(^  nur  (£in3ell)eiten  feft* 
3ujteIIen  übrigblieben.  3)er  ebenfo  !üt)ne  toie  geijtreid^e  5lnbreas 
33efalius  ging  bat)nbred)enb  allen  öoran;  er  oollenbete  ^d)on 
in  feinem  28.  fiebensial)re  bas  grofee,  ein!)eitlid^  burd)gefüt)rte 
2Ber!  „De  humani  corporis  fabrica"  (1543)  unb  gab  ber  gan3en 
men[d)Iirf)en  Anatomie  eine  neue,  [elbftänbige  9?i(^tung  unb  [idE)ere 
©runblage. 

©ergleic^enbe  ^Inatomte.  Die  93erbienjte,  mdd}t  bas  neun» 
3el)nte  5<i^i^iiTi^ßi^t  [icJ)  um  bie  (Ertenntnis  bes  men[d)Iid^en 
Körperbaues  ertoorben  l^at,  bejtel)en  oor  allem  in  bem  Ausbau 
oon  3tDei  neuen,  überaus  t»id)tigen  ö^orfd)ungsxt(f)tungen,  ber 
„oergIeicf)enben  Anatomie"  unb  ber  „(5etöebelel)re"  ober 
ber  „mi!ro[!opi[d)en  Anatomie".  I)ie  erjtere  roar  allerbings  [cf)on 
Don  Anfang  an  mit  ber  men[d)Ii(i)en  Anatomie  eng  oerfnüpft  ge= 
roefen;  benn  biefe  rourbe  folange  burd)  bie  erjtere  crfe^t,  als  bie 
Settion  men[d)lid)er  £eid)en  für  ein  tobesroürbiges  23erbred)en 
galt  —  unb  bas  toar  [elbjt  nod)  im  15.  3ül)rf)unbert  ber  O^all! 
Aber  bie  3at)Ireid)en  Anatomen  ber  folgenben  brci  3<il)r^unberte 
be[d)ränften  fid)  größtenteils  auf  bie  genaue  Xlnter[ud)ung  bes 


16  3tt>ettc5  5lapitel. 


menfd)ltd)cn  Drgantsmus.  Diejenige  ^od)enttDidEeIte  Dif^iplin, 
bie  toir  l)eute  t)erglei(f)enbe  5tnatomie  nennen,  rüurbe  erjt  im 
Saläre  1803  geboren,  als  ber  gro^e  fran3öfi[dE)e  3ooIoge  ©eorge 
(£uöier  [eine  grunblegenben  ,,Le9ons  sur  l'Anatomie  compar6e" 
l)erau5gab  unb  barin  jum  erften  SOlale  bejtirrtmte  ©efe^e  über  ben 
Körperbau  bes  ^m]d)m  unb  ber  3:iere  fejtäujtellen  [ud)te.  2Bäl)= 
renb  [eine  93orIaufer  —  unter  il)nen  aud)  ®oeti)e  1790  —  l)aupt* 
[ä(i)Iid)  nur  bas  5lno(i)engerü[t  bes  9[Ren[d)en  mit  bemjenigen  ber 
übrigen  Säugetiere  eingel)enb  tterglid^en  l)atten,  umfaßte  (Euoiers 
toeiter  ^M  bie  ©e[amtl)eit  ber  tieri[d)en  Organi[ation;  er  unter* 
[d)ieb  in  ber[elben  oier  grofee,  ooneinanber  unabl)ängige  §aupt= 
formen  ober  3:i)pen:  SBirbeltiere,  ©liebertiere,  2Beid)tiere  unb 
Strat)Itiere.  gür  bie  „grage  aller  fragen"  roar  bie[er  i5fort[d)ritt 
in[ofem  epod^emadienb,  als  bamit  Aar  bie  3ugel)örig!eit  bes 
9Jlen[d)en  gum  %x)pu5  ber  2BirbeItiere  —  [otoie  [eine  ©runb* 
üer[(^iebenj)eit  oon  allen  anberen  Xx)ptn  —  ausge[pro(i)en  toar. 
^Ilerbings  l)atte  [(t)on  ber  [cf)arfbli(fenbe  £inn6  in  [einem  erjten 
„Systema  naturae"  (1735)  bem  9Jlen[d)en  befinitio  [einen  ^la^ 
in  ber  5^Ia[[e  ber  Säugetiere  angetDie[en;  er  »ereinigte  [ogar 
in  ber  Drbnung  ber  ^errentiere  bie  brei  ©ruppen  ber  §alb= 
äffen,  ^ffen  unb  äRen[c^en.  ^ber  es  fel)lte  bie[em  !ü^nen  [t)jte= 
mati[d)en  (griffe  noc^  jene  tiefere  empiri[d)e  ©egrünbung  burd) 
bie  i)erglei(i)enbe  Anatomie,  bie  erjt  (Tuoier  l)erbeifül)rte.  I)ie[e 
fanb  il)re  loeitere  5lusfüt)rung  burd)  bie  großen  oergIei(^enben 
5lnatomen  bes  19.  3al)rf)unberts,  burd^  ^friebrid)  SJiedel, 
5ol)annes  WüUtx,  9?i^arb  Otoen,  3:i)omas  ^uilet)  unb 
(£arl  ©egenbaur.  S^J^^'^rt  bie[er  le^tere  in  [einen  ©runbsügen 
ber  üergleid)enben  Anatomie  (1870)  gum  erjten  äRoIe  bie  bur^ 
Dartoin  neu  begrünbete  ^b[tammungslel)re  auf  jene  2Bi[[en[d)aft 
anroanbte,  erI)ob  er  [ie  gum  erjten  5Range  unter  ben  bioIogi[d)en 
Di[3iplinen.  Seine  „S3ergleic^enbe  Anatomie  ber  SBirbeltiere" 
(1898)  legte  ben  uner[d)ütterlid)en  ©runb  fejt,  auf  roeldiem  [id) 
un[ere  Überjeugung  üon  ber  SBirbeltiernatur  bes  9Plen[^en  nac^ 
allen  9lid)tungen  l)in  Har  betoei[en  läfet. 

©eroebelel)re  (Histologie)  unb  3^II^^I^^i^^  (Cytologie). 
3n  gang  anberer  9{id)tung  als  hk  oergleid^enbe  enttoidelte  [id^ 
im  £aufe  bes  19.  3öl)r^unbert5  bie  mifro[!opi[d)e  5tnotomie. 
S^on  im  5tnfange  bes[elben  (1802)  untemal)m  tin  fran3ö[i[d)cr 
5lr3t,  Sid)at,  htn  23er[ud),  mittels  bes  9JJi!ro[fops  bie  Organe 
bes  men[d)lid)en  ilörpers  in  ii^re  ein3elnen  feineren  ©ejtanbteile 
3U  3erlegen  unt>  t>h  ©e3iel)ungen  biejer  oer[d)iebenen  ©etoebe 
fejt3ujtellen.  ^ber  biejer  erjte  33er[ud)  fül)rte  nic^t  toeit,  ha  \f)m 
bas  gcmcinjamc  Clement  für  bie  3al)lreid)en,  »er[d)iebcnen  (5c« 


Unfcr  Äörpcrbau.  17 

tDcbc  unbcfannt  blieb.  Dies  tourbe  crjt  1838  für  btc  ^flanscn 
in  ber  3^11^  von  9Kattf)ia5  Sd)Icibcn  cntbccft  unb  gictd)  barauf 
aud)  für  bie  Xterc  oon  3:i)cobor  Sd)a)ann  nad^getüiefcn.  Gilbert 
i^öllüer  unb  9?uboIf  93ir(^ou)  fül)rten  bann  im  [c(i)jtcn  Dejcn^ 
nium  bcs  19.  3öl)r^unbcrts  bie  3cncntl)eorie  unb  bie  barauf 
gegrünbetc  ©ett)ebelel)re  für  bcn  gefunben  unb  franfen  Organis» 
mus  bes  S[Renfc^cn  im  einjelnen  bur^;  [ic  tüiefcn  nad),  ta^i  aud) 
imäRcnfc^en,  Q)icinancnanberen3:ieren,  allcöetocbc  [id)  aus  bcn 
gleid)en  mi!ro[!opi[d)en  gormbcjtanbteilen,  bcn  einfachen  3ßncn, 
3u[ammcn[c^cn,  unb  bafebicfc  „C£Icmcntar»Organismcn"  bie  toa^rcn, 
[clbjttätigcn  Staatsbürger  [inb,  bie,  ju  9[RiIIiarben  Bereinigt,  unfercn 
Äörper,  iitn  „3enenjtaat",  aufbauen.  ^Ile  biefe  S^^^^^  entjte^en 
burd^  oft  toieber^oltc  3:eilung  aus  einer  einsigen,  einfad)en  3ene, 
aus  ber  „Stammselle"  ober  „befrud)teten  CBi^elle"  (Cytula). 
Die  allgemeine  Struftur  unb  3u[ammenfe^ung  ber  ©etoebe  ijt 
beim  S[Ren[d)en  biefelbe  tote  hti  t)tn  übrigen  9BirbeItieren.  Unter 
'ök]tn  3eid)nen  fid)  t>h  Säugetiere,  bie  jüngjte  unb  pd)jt  ent* 
roidelte  Älaffe,  burd)  getoiffe  befonbere,  [pät  erroorbcne  CSigen» 
tümlid)!eiten  aus.  So  ijt  3.  S.  hit  müroffopif^c  Silbung  ber 
§aare,  ber  §autbrü[en,  ber  9KiId)brü[en,  ber  Slutsellen  bei  hin 
Söugetieren  gan3  eigentümlich  unb  oerfd^ieben  oon  berjenigen 
ber  übrigen  2Birbeltiere;  ber  9Jienfd)  ijt  aud)  in  allen  bicjen 
feinjten  t)ijtoIogijd)en  Se3iet)ungen  ein  ed)te5  Säugetier. 

aBirbelttetnatur  bcs  SWenft^cn.  Unjer  gefamter  Körperbau 
3eigt  [otooI)I  in  ber  gröberen  als  in  ber  feineren  3u[ammen[eöung 
ben  d^arafterijtij^en  3:t)pus  ber  SBirbeltierc  (Vertebrata). 
Dieje  I)öd)jt  entroidelte  ^auptgruppe  bes  3:ierreid)s  tourbe  in 
il)rer  natürlid)en  (£inl)eit  3uerjt  1801  oon  bem  großen  fiamard 
erfannt;  er  fafete  unter  biejem  ©egriffe  bie  oier  l)öl)eren  3:ier!Ia[[en 
Don  2inne  3ujammen:  Säugetiere,  93ögel,  ^mpl)ibien  unb  3fijci^c. 
Die  beiben  nieberen  Älajjen:  3n[e!ten  unb  2Bürmer,  jtellte  er 
jenen  als  „SBirbellofe"  (Invertebrata)  gegenüber.  Guoier 
bejtätigte  (1812)  bie  (£inl)eit  bes  23ertebratenti)pus  unb  begrünbetc 
[ie  fejter  burd)  jeine  oergleic^enbe  Anatomie.  3n  ber  Xat  jtimmen 
alle  SBirbeltiere,  oon  htn  giften  aufwärts  bis  3um  9Jlenfd)cn, 
in  allen  roejentlidien  §auptmer!malen  übercin;  [ie  beji^en  alle 
ein  fejtes  inneres  Sfelett,  Änorpet  unb  Änod)engerüjt,  unb  biejes 
bejtel)t  überall  aus  einer  SBirbeljäuIe  unb  einem  Sc^äbel;  bie 
oerroidelte  3u[ammen[e^ung  bes  le^teren  ijt  ^voax  im  einseinen 
jel)r  mannigfaltig,  aber  im  allgemeinen  jtets  auf  biefelbe  Urform 
3urüd3ufü^ren.  ferner  liegt  bei  allen  Sßirbeltieren  auf  ber  9tüden= 
feite  biefes  3Id)fenf!eletts  bas  „Scelenorgan",  bas  sentrale  S^eroen» 
[pjtcm,  in  ©cjtalt  eines  9lüdenmorfg  unb  eines  ©el)im5.    ^uc^ 

J5oe(fel,  QBetträtfet,  2 


18  3toeitc5  Äapitcl. 


oon  btc[cm  tot^ttgcn  (5c!)trn  gilt  basfclbc  toie  Don  bcr  es  um» 
|d)Itcfecnben  Rnod)tntap]ü,  bcm  Sd^äbcl;  im  einjclncn  ijt  feine 
^lusbilbung  unb  (Sröfec  l)öd)jt  mannigfaltig  abgcjtuft;  im  grojgen 
unb  gansen  bleibt  bic  c^ara!terijtif(^e  3ii[ammen[c^ung  biefelbc. 

I)ie  gleid^e  (£r[c^einung  jeigt  fid)  aud^,  loenn  xdIx  bie  übrigen 
Drgane  unferes  ^^örpcrs  mit  benen  ber  anbeten  SBirbelticre  Ber= 
gleid^en:  überall  bleibt  infolge  Don  33 ererbung  bie  urfprünglid)e 
Einlage  unb  bie  relatioe  fiagerung  ber  Organe  biefelbe,  obgleirf) 
bie  (Sröfee  unb  3lusbilbung  ber  einseinen  3:eile  l)öd)|t  mannigfaltig 
[ic^  [onbert,  entfpre^enb  ber  3lnpa[[ung  an  fe!)r  t)erfcf)iebent 
fiebensbebingungen.  So  [et)en  toir,  ha^  überall  bas  $BIut  in 
3toei  $auptröl)ren  freijt,  üon  benen  bie  eine  (^orta)  über  bcm 
Darm,  bie  anbere  (^rinjipabene)  unter  bem  Darm  »erläuft,  unb 
bafe  burd)  (£rtt)eiterung  ber  legieren  an  einer  ganj  bejtimmten 
©teile  bas  §er3  entjtel)t;  biefes  „93entralf)er3"  ijt  für  alle  2BirbeI= 
ticre  ebenfo  (f)ara!terijti[(i)  toie  umge!ef)rt  bas  ^lücfengefäfe  ober 
„Dor[al^er3"  für  t)k  ©liebertiere  unb  2Beid)tierc.  9ZidE)t  minber 
eigentümlirf)  ift  bei  allen  93ertebraten  bie  frül)3eitige  ©Reibung 
bes  Darmrotires  in  einen  3ur  3ltmung  bienenben  5lopfbarm 
(ober  „5^iemenbarm")  unb  einen  bie  2?erbauung  betoirfenben 
9iumpfbarm  mit  ber  ßeber  {bal)er  „fieberbarm");  ferner  bie 
©lieberung  bes  9}iusfelfr)jtems,  bie  befonbere  ©ilbung  ber  $arn= 
unb  ©e[d)Ie(t)t5organe  ufro.  3^  öHen  biefen  anatomi[rf)en  ^t' 
3iet)ungen  ijt  ber  SJZenfd)  ein  e({)tes  SBirbeltier. 

Xetrapobeitttatur  bes  aRenfd^en.  9}lit  ber  Sc3ei(f)nung  93ier* 
füfeler  (Tetrapoda)  l)atte  [dE)on  ^riftoteles  alle  jene  l)öl)eren, 
blutfül)renben  !tiere  belegt,  u)eld^e  fid)  burd^  hm  93efi^  oon  sroei 
Seinpaaren  aus3ei(i)nen.  Später  tourbe  bicfer  ^Begriff  ertoeitert, 
nad)bem  (£uoier  geseigt  I)atte,  bafe  aud)  bie  „stoeibcinigen"  93ögel 
unb  SJlenf^en  eigentlid^  33ierfüfeler  finb;  er  toies  nad),  t)a^  bas 
innere  Änod)engerüft  ber  oier  Seine  bei  allen  l)ö!)cren  Ianb= 
beu)ol)nenben  SBirbeltieren,  oon  htn  3tmpl)ibien  auftoärts  bis  3um 
9Jlen[^en,  urfprüngli^  in  gleid^er  SBeife  aus  einer  bejtimmten 
3aI)I  t)on  ©liebern  3u[ammenge[e^t  ijt.  3lud^  bie  „3trme"  bes 
9Jien[d)en,  Ut  „t^Iügel"  ber  ^^Icbermäufe  unb  Söget  3eigen  "ötn^ 
[elben  tppifc^en  Sfelettbau  toie  bie  „Sorberbeine"  ber  laufenben, 
eigentlid^  oierfüfeigen  3:iere. 

Diefe  anatomi[d)e  (£inl)eit  bes  ©ertoidelten  i^nod)ei> 
gerüjtes  in  htn  r»ier  ©liebmafeen  aller  ^^etrapoben  ift  [el)r  tüid)tig. 
Um  fid)  roirtlid)  baüon  3U  überscugen,  braud)t  man  blofe  bas  Sfelett 
eines  Salamanbers  ober  gro[d)es  mit  bemjenigen  eines  Riffen 
ober  SJtenf^en  aufmertfam  3u  t)erglei(^cn.  X)a  [iel)t  man  [ofort, 
baf3  Dorn  ber  S^ultergürtel  unb  I)inten  bcr  Scdengürtcl  aus  ben= 


Unfer  Äörpcrbou.  19 


fclbcn  §auptjtüdcn  3u[amTncngc[e^t  ift  tüte  bei  ben  übrigen  „93ter= 
füfelem".  ilberoll  [c^en  mix,  bafe  bos  erjte  ©lieb  bes  etgentltd)en 
©eines  nur  einen  einsigen  jtarfen  9?öl)renfnod^en  entl)ält  (oorn 
ben  Oberarm,  l)inten  t>tn  Ober[d)en!el);  bogegen  roirb  bas  ^tüette 
©lieb  urfprünglic^  jtets  burcf)  ^wd  Rnod)tn  geftü^t  (oorn  (Ellbogen 
unb  Speise,  l)inten  SBabenbein  unb  Sd)ienbein).  23ergleid)en  roir 
hann  toeiter  ben  Derxoicfelten  ©au  bes  eigentlichen  S^ufees,  [o  über« 
ra[d)t  uns  bie  2Bal)rne!)mung,  bafe  bie  3aI)Ireid)en,  benfelben  ju* 
[ammenfe^enben,  üeinen  Rnodjtn  ebenfalls  überall  äf)nlid)  an« 
georbnet  unb  gefonbert  [inb;  oorn  entfpred)en  \id)  in  allen  illaffen 
ber  Stetrapoben  bie  brei.5^no^engruppen  bes  ©orberfufees  (ober 
ber  „§anb"):  I.  §anbröur3el,  II.  äRitteII)anb  unb  III.  fünf  S^inger; 
eben[o  hinten  bie  brei  Änod^engruppen  bes  Hinterfußes:  I.  e^^ujg- 
toursei,  II.  SJlittelfufe  unb  III.  fünf  !St\)tn.  (3el)r  fc^toierig  max 
bie  Aufgabe,  alle  biefe  3al)lrei(^en  Üeinen  5lnod)en,  th  int  eingelncn 
\)'öd)\t  mannigfaltig  geftaltet  unb  umgebilbet,  teiltoeife  oft  oer= 
[d)mol3en  ober  oerfdfirounben  [inb,  auf  eine  unb  biefelbe  Urform 
3urüdf3ufüt)ren,  [oroie  bie  ©Iei(^tDertig!eit  ber  einseinen  3:eile 
überall  feftsujtellen.  ^iefe  tüici)tige  ^ufgobe  tourbe  erft  oolljtänbig 
üon  (£arl  ©egenbaur  gelöjt.  (£r  seigte  in  feinen  „Unter* 
[ud)ungen  3ur  oergIeict)enben  ?lnatomie  ber  SBirbeltiere"  (1864), 
toie  biefe  ^ara!teriftifcl)e  „fünf3el)ige  ©einform"  ber  IanbbetDo^= 
nenben  ©ierfüfeler  urfprünglii)  (erft  in  ber  ®teinfoI)Ienperiobe) 
aus  ber  t)ielftral)ligen  „5Ioffe<^^  (©ruftfloffe  ober  ©au^floffe)  ber 
ölteren,  n)afferbetool)nenben  5if<^e  entftanben  ift.  ^n  gleid)er 
2Beife  leitete  er  in  feinen  „Unterfud)ungen  über  bas  Äopfffelett 
ber  2BirbeItiere"  (1872)  htn  jüngeren  Sc^äbel  ber  3:etrapoben 
aus  ber  älteren  Sd^äbelform  ber  ^i]d)t  ab. 

©efonbers  berner!enstüert  ift  nod),  tio.^  bie  urfprünglicl)e,  suerft 
bei  ben  alten  5(mpl)ibien  ber  6tein!oI)Ien3eit  entftanbene  (5^ünf* 
3aI)Iber3ß^cnan  allen  oier  S^üfeen  fid)  infolge  ftrenger  23  er* 
erbung  nod^  beim  SÖlenfd)en  bis  auf  t>tn  I)eutigen  XaQ  ert)alten 
l)at.  ©elbftoerftänblid)  ift  bementfpre(i)enb  aud)  bie  tripifdie 
©ilbung  ber  ©elen!e  unb  ©änber,  ber  9Jlus!eIn  unb  SReroen  ber 
3töei  ©einpaare,  in  ber  ^auptfai^e  biefelbe  geblieben  toie  bei  htn 
übrigen  „©ierfüfelern";  auci)  in  biefen  roi(i)tigen©e3ieI)ungen 
ift  ber  9Jlenfd)  ein  ed)ter  3^etrapobe. 

Söugetietnatut  bes  9Renf(^en.  t)ie  Säugetiere  (Mammalia) 
bilben  t>it  jüngfte  unb  I)öd)ft  enttoidelte  5^la[fe  ber  SBirbeltiere.  Sie 
[inb  3tüar  ebenfo  toie  bie  ©ögcl  unb  9{eptilien  aus  ber  älteren 
5^laffe  ber  ^mpl)ibien  absuleiten;  fie  unterf(i)eiben  fi(^  aber  oon 
allen  biefen  anberen  3:etrapoben  burd)  eine  ^nsa^I  »on  fel)r  auf* 
fallenben  anatomifd)en  SRerfmalen.     ^ufeerlid)  tritt  cor  allem  bie 

2* 


20  SöJeitcs  Rapiitl 


^aarbcbedung  bcr  §aut  t)erDor,  [orotc  Der  Scfi^  Don  jtDeicrIct 
§autbrü[cn:  (5(^u)eifebrüjcn  unb  3:algbrü|cn.  3lus  einer  lotalen 
Hmbilbung  biefer  Drü|en  an  ber  Saud)t)aut  entjtanb  basjenigc 
Organ,  tDeIcf)e5  für  hh  5^Ia[[e  befonbers  ^ara!terijtt[d)  ijt  unb  tt)r 
bcn  5Ramen  gegeben  l)ai,  bas  „(Befäuge"  Diefes  Doi(i)ttge  2Berf= 
Beug  ber  Brutpflege  ift  sujammengefe^t  aus  htn  9JiiI(i)brüfcn 
(Mammae)  unb  ben  „9Kantmar»3:aj(i)en"  ((galten  ber  Saud)I)aut); 
burd)  t^re  gortbtlbung  entjtanben  bte  3t^^Tx  ober  „9}itl^u3ar3en" 
aus  benen  bas  junge  Säugetier  bie  5[RiId)  [einer  9Jiutter  fangt. 
3m  inneren  5^örperbau  ijt  befonbers  bemerfenstoert  ber  Befi^ 
eines  oollftänbigen  3i»cr(^fells,  einer  musfulöfen  Sd)eibetoanb, 
melci)e  bei  allen  Säugetieren  bie  93ruftI)öf)Ie  oon  ber  ^aucf)f)ö^Ie 
gänglii^  abj(^liefet;  bei  allen  übrigen  SBirbeltieren  fel)It  biefe 
3:rennung.  Durcf)  eine  ^naa^I  oon  merfioürbigen  Hmbilbungen 
3ei(^net  \iä)  aud)  ber  Sd)äbel  ber  9JlammaIien  aus,  befonbers  ber 
Sau  bes  i^ieferapparates  (Obcrüefer,  Unterfiefer  unb  (Se^ör^ 
fnod^en).  ^ber  aud)  bas  (5et)irn,  bas  (5erud)sorgan,  bas  §er3,  bie 
JÖungen,  bie  inneren  unb  äußeren  (5ef(^Ied)tsorgone,  bie  Spieren 
unb  anberc  Körperteile  geigen  bei  ben  Säugetieren  befonbere  (Sigen* 
tümlid)!eiten  im  gröberen  unb  feineren  5Bau;  biefe  alle  oereinigt 
roeifen  unstoeibeutig  auf  eine  frü^3eitige  Trennung  berfelben 
üon  ben  älteren  Stammgruppen  ber  ^Reptilien  unb  5lmp^ibien 
I)in,  tDeId)e  fpätcftens  in  ber  2;rias=^eriobe  ftattgefunben 
i)at  5n  allen  biefen  toic^tigen  lBe3iet)ungen  ift  ber  S[Renfd) 
ein  echtes  Säugetier. 

^locentaliennotui:  bes  9Renf(^en.  Die  3at)Ireid)en  Orbnungen, 
toelc^e  bie  moberne  fi)jtematifd)e  3ooIogie  in  ber  5^Iaffe  bcr  Säuge= 
ttere  unterf (Reibet,  roerben  |d)on  feit  1816  in  brei  natürlicf)e  §aupt^ 
gruppen  georbnct,  roeldien  man  ben  IslBert  oon  Hnterflaffen  3U= 
fpric^t:  1.  ©abeltiere  (Monotrema),  II.  Beuteltiere  (Mar- 
supialia)  unb  III.  ^ottenttere  (Placentalia).  Diefe  brei  Hnter- 
flaffen unterfdieibtr!  ftd)  nid)t  nur  in  mistigen  33erl)ältnif|en  bes 
5^örperbaue£  unt  bei  Gntioiclelung,  fonbern  entfpre(f)en  aud)  brei 
r)er|d)tebenen  I;iftDti|d)en  Bilbungsftufen  ber  i^Iaffe,  mie  mir 
fpäter  fef)en  merben.  ^uf  bie  ältefte  ©ruppe,  bie  StRonotremen 
bex  3;riasperiobe,  finb  in  bei  3ura3eit  bie  äRaifuptalien  gefolgt, 
unb  auf  biefe  erft  in  ber  i^reibeperiobe  bie  ^^lacentalien.  3" 
biefer  jüngften  HnterÜaffe  gel)ört  aud)  ber  JJienfd);  benn  er  seigt 
in  feiner  Organifation  alle  bie  (£igentümUd)teiten,  burd)  meld)e  fid) 
fämtli^e  3ottentiere  oon  ben  Beuteltieren  unb  ben  nod)  älteren 
©abeltieren  unterfd)eiben.  3«  «rftei  ßinie  geprt  ba^in  Das 
eigentümlid)e  Organ,  mcld)es  ber  ^lacentaliengruppe  i^ren 
S^omcn  ö^ö^^en  ^ot,  bei  äRuttectud)en  (Placenta).     Dasfelbc 


Unfcr  Körperbau.  21 


bient  bcm  fungcn,  im  WuttttUiht  norf)  ctngcfc^Ioffencn  Säugetier» 
(£mbrr)o  längere  3^**  3ur(£rnäf)rung;  es  beitel)t  in  blutfüt)renben 
3otten,  tDeIcf)e  oon  ber  3otten^aut  ber  Äeiml)üne  austDad)fen 
unb  in  ent[pre(i)enbe  ©rubelen  ber  S(i)Ieimf)aut  bes  mütterli^en 
5rud)tbel)älter5  einbringen;  f)ier  roirb  bie  sarte  §aut  3EDi[cf)en 
beiben  ©ebilben  fo  [el)r  oerbünnt,  bafe  unmittelbar  bie  ernäf)renben 
Stoffe  aus  bem  mütterlid^en  33Iute  burd)  biefelbe  t)inbur(^  in  bas 
finblirf)c  Slut  übertreten  tonnen.  t)ie[c  üortref flicke,  crjt  fpät 
entjtanbene  (£rnät)rung$art  bes  Reimes  ermöglicf)t  bemfelben 
einen  längeren  ^ufentl)alt  unb  eine  toeitere  ?lusbilbung  in  ber 
[c^ü^enben  ©ebärmutter;  [ie  fe!)It  noc^  htn  beiben  älteren  Unter» 
flaffen  ber  Beuteltiere  unb  ©abeltiere.  5(ber  ou^  burct)  anberc 
anatomif(t)e  9Ker!maIe,  insbefonbere  bie  t)öt)ere  ^usbilbung  bes 
(5et)ims  unb  tm  23erlujt  ber  ©euteIfno(t)en,  erf)eben  ficf)  t>k 
3ottentierc  über  bie  legieren.  5^  allen  biefen  tDict)tigen  f&^k» 
t)ungen  ift  ber  3Jlzn\di  ein  ed^tes  3ottenticr. 

^timaUnnaint  bes  äRenfc^eti.  Die  formenreirf)e  Subtiaffe 
ber  ^lacentaltiere  roirb  neuerbings  in  eine  gro[}e  3<i^I  oon  C)rb  = 
nungen  geteilt.  ^Is  i{)re  roid)tigjten  S3ertreter  in  ber  (Begenroart 
füt)ren  roir  t)ier  nur  bie  9lagetiere,  Huftiere,  9?aubtiere  unb  Ferren» 
tiere  an.  ßm  ßegion  ber  ^errentierc  (Primates)  gel)ören  hk 
brei  Orbnungen  ber  Halbaffen,  ber  e(f)ten  ^ffen  unb  ber  9feen[(f)en. 
^Ile  ^nget)örigen  biefer  brei  Orbnu^igen  ftimmen  in  oielen  roid^tigen 
©igentümlic^feiten  überein  unb  unferfdEjeiben  ficf)  babur^  von  b^n 
übrigen  Orbnungen  ber3ottentiere.  Sefonbers  3cid)nen  [ie  [id)  bur^ 
lange  Seine  aus,  me.lä)t  urfprünglid)  ber  üetternben  ßebensioeife 
auf  Säumen  angepaßt  [inb.  $änbe  unb  ^üfee  [inb  fünf3ef)ig  unb 
bie  langen  t^inQtx  oortrefflic^  3um  ©reifen  unb  3um  Umfaffen 
ber  $Baum3tDeige  geeignet;  [ie  tragen  entroeber  teila)ci[e  ober 
[ämtlicf)  9lägel  (feine  i^rallen).  Das  ©ebife  i[t  oolljtänbig,  aus 
allen  oier  3al)ngruppen  3u[ammenge[eöt  (S(t)neibe3äl)ne,  (£cf« 
3ä^ne,  £üden3ät)ne,  ^Badtn^älim).  %u(i)  burcf)  toic^tige  (Eigen» 
tümlid^teiten  im  be[onberen  Sau  bes  Scf)äbels  unb  bes  (5el)irn5 
unter[d^eiben  [ic^  bie  §errentiere  oon  ben  übrigen  3ottentieren, 
unb  3tDar  um  [o  auffälliger,  je  l)öl)er  [ie  ausgebilbet,  je  [päter  [ie 
in  ber  (£rbge[(f)id)te  aufgetreten  [inb.  ^n  allen  biefen  tDicf)tigen 
anatomi[d)en  Se3iel)ungen  jtimmt  un[er  men[(^li(i^er  Organismus 
mit  bemjenigen  ber  übrigen  Primaten  überein:  ber  9Jlen[d) 
ift  ein  ect)tes  §errentier. 

3tffettnatut  bes  aKenf(^en.  (£ine  unbefangene  grünbli^e  93er= 
gleid)ung  bes  Körperbaues  ber  Primaten  \ä%t  3unäd)[t  in  biefer 
^öd^ft  enttöicfelten  Säugetierlegion  3roei  Orbnungen  unter[^eiben: 
Halbaffen  (Prosimiae)  unb  Riffen  (Simiae).    Die  erjteren  er- 


22  3a)cite5  5lapitel. 


[d^cincn  in  jcbcr  ®e3tel)ung  als  btc  nicberc  unb  ältere,  bte  leiteten 
als  bte  ^öl)ere  unb  jüngere  Orbnung.  Die  ©ebärmutter  ber  §alb= 
äffen  ijt  nod)  boppelt  ober  jtoeiprnig,  tüie  bei  allen  übrigen 
Säugetieren;  bei  ttn  ^ffen  bagegen  \m'ö  regier  unb  lin!er  ^^rudjt^ 
bel)älter  oöllig  Derfd)mol3en;  [ie  bilben  einen  birnförmigen 
Uterus,  loie  il)n  aufeerbem  nur  ber  9Jlen[d)  befi^t.  2Bie  bei 
biefem,  fo  ijt  aud)  bei  ben  ^ffen  am  Sd)äbel  bie  ^ugen^öt)le  oon 
ber  Sd)läfengrube  burd)  eine  !nö^erne  Sd)eibetDanb  üolljtänbig 
getrennt;  bei  htn  Halbaffen  ijt  bieje  nod)  gar  nid)t  ober  nur  un= 
üolljtänbig  ausgebilbet.  (Snblid)  ijt  bei  hm  Halbaffen  bas  grofee 
®el)im  noä)  glatt  ober  nur  jd^toad)  gefurcht  unb  Derl)ältni5mäfeig 
flein;  bei  ben  ^ffen  ijt  es  oiel  größer,  unb  befonbers  ber  graue  §irn= 
mantel,  bas  Organ  ber  l)öl)eren  Seelentätigfeiten,  ijt  t)iel  bejfer 
enttoicfelt;  an  feiner  £)berfläd)e  jinb  bie  d)ara!terijtifc^en  SBinbungen 
unb  5urd)en  um  fo  meljr  ausgeprägt,  je  mel)r  er  fid^  bem  9Jlenfcf)en 
näl)ert.  ^n  biejen  unb  anberen  tDid)tigen  ^e3iei)ungen,  befonbers 
aud^  in  ber  ©ilbung  bes  ©eficl)ts  unb  ber  §änbe,  jeigt  ber  SiJlenfd) 
alle  anatomifcben  9Jler!male  ber  ed)ten  ^ffen. 

Äatatr^inennatur  bes  3Jlenf(^en.  Die  formenreic^e  Orbnung 
ber  ^ffen  tourbe  fd)on  1812  oon  ©eoffrot)  in  jtoei  natürlid)e 
Hnterorbnungen  geteilt,  bie  no(^  l)eute  allgemein  in  ber  fi)jtemati= 
fd^en  3oologie  angenommen  finb:  SBejtaffen  unb  Ojtaffen;  erjtere 
beroolinen  ausfd)liefelicl)  bie  toejtlic^e,  le^tere  bie  öjtlic^e  (£rbl)älfte. 
Die  amerifanifd)en  2Bejtaffen  l)eifeen  „^lattnafen"  (Platyr- 
rhinae),  toeil  il)re  91afe  plattgebrüdt,  bie  9lafenlödE)er  feitlid)  ge= 
richtet  unb  beren  Srf)eibetoanb  breit  ijt.  Dagegen  jinb  bie  Oft» 
äffen,  toeldie  bte  ^Ite  9Belt  betDol)nen,  fämtlic^  „Sd)malnajen" 
(Catarrhinae);  il)re  ^lafenlödier  finb  toie  beim  SCJlenfd)en  nad) 
unten  gerid)tet,  ha  il)re  (3d)eibeBoanb  fd)mal  ijt.  (Sin  toeiterer 
Unterfd)ieb  beiber  ©ruppen  bejtel)t  barin,  bafe  bas  ^Trommelfell 
bei  h^n  3Bejtaffen  oberfläd)lic^,  bagegen  bei  htn  Ojtaffen  tiefer, 
im  Innern  bes  ^^elfenbeins  liegt;  l)ier  l)at  jid)  ein  langer  unb  enger 
fnöd)erner  ®el)örgang  entroidelt,  toäl)renb  biejer  bei  htn  2Bejtaffen 
nod)  !ur3  unb  toeit  ijt  ober  [elbjt  ganj  fel)lt.  (Enblic^  geigt  jid)  ein 
jel)r  u)id)tiger  unb  burd)greifenber  ©egenfa^  beiber  ©ruppen  barin, 
bafe  alle  5latarrl)inen  bie  ©ebifebilbung  bes  9Jlenjd^en  beji^en, 
nämlid)  20  9Jlild)3äl)ne  unb  32  bleibenbe  3äl)ne  (in  jeber  5liefer= 
^älfte  2  Sd)neibe3äl)ne,  1  (Sdgal^n,  2  £üden3äl)ne  unb  3  9J^al)l= 
3äl)ne).  Die  ^latt)rrl)inen  bagegen  3eigen  in  jeber  5lieferl)älfte 
einen  £üden3a^n  mel)r,  alfo  im  gan3en  36  3iit)ne.  Da  bieje  ana= 
tomi jd)en  Unter j(^iebe  beiber  ^ffengruppen  gan3  allgemein  unb 
bur^greifenb  jinb,  unb  ba  jie  mit  ber  geograpl)ijd)en  ^Verbreitung 
in  htn  bciben   getrennten  $emijpl)ären  ber  (£rbc  gujammen« 


Itnfer  i^örperbau.  23 


ftimmen,  ergibt  [lä)  baraus  btc  $Bcrc(i)ttgung  tt)rcr  fd)arfcTt  fpjtc« 
matifc^cn  Trennung;  toeiter^in  fnüpft  \id)  haxan  bie  p^i)Iogcne= 
tt[d)c  (Folgerung,  bafe  [eit  ^e^r  langer  3ßtt  fi<^  ^^tbe  Unterorbnungen 
in  ber  tDejtIid)en  unb  öjtli(i)en  §emifpl)äre  getrennt  von  einanber 
enttoicfelt  l)aben.  ^as  ijt  für  bie  Stamme5ge[c^i(i)te  unferes 
(5efd)Iecl^t5  überaus  rotc^tig;  benn  ber  'iS(ltn\d)  teilt  alle  S^lerfmale 
ber  ecf)ten  5latarr:^inen;  er  t)at  [id)  aus  älteren  ausgejtorbenen 
^ilffen  biefer  Hnterorbnung  in  ber  Eliten  3BeIt  enttoidEelt. 

Slttt^ro^jomorp^engruppe.  Die  3at)Ireid)en  ^rormen  ber  Ojt= 
äffen,  toelc^e  nod)  ^eute  in  ^[ien  unb  5lfri!a  leben,  toerben  [d)on 
[eit  langer  3^it  in  stoei  natürlid)e  Seftionen  geteilt:  hit  ge= 
id)U)än3ten  ^unbsaffen  (Cynopitheca)  unb  bie  [(f)toan3lofen 
95len[d)enaffen  (Anthropomorpha).  J)iefe  legieren  ftelien  bem 
9Jienf(^en  oiel  nätier  als  bie  erfteren,  ni(i)t  nur  in  bem  SJlangel  bes 
(Bd)man^t5  unb  in  ber  allgemeinen  (Sejtaltung  bes  Körpers  (be= 
fonbers  bes  Äopfes),  [onbem  auc^  bur^  befonbere  9Ker!male,  bie 
an  [i(i)  unbebcutenb,  aber  toegen  i^rer  ©eftänbigfeit  toi^tig  finb. 
Das  ilreujbein  ijt  bei  t)tn  9Ken[d)enaffen,  tx>ie  beim  9Jlen[d^en, 
aus  fünf  t)er[d)mol3enen  SBirbeln  3u[ammenge[e^t,  bogegen  bei 
titn  ^unbsaffen  nur  aus  brei  ([eltener  cier)  5^reu3toirbeln.  3m 
®ebife  ber  (£t)nopitt)e!en  [inb  bie  £üden3äl)ne  länger  als  breit, 
in  bemjenigen  ber  5lntl)ropomorpl)en  breiter  als  lang;  unb  ber 
erfte  93^al)l3al)n  3eigt  bei  ben  erfteren  viet)  bei  ben  legieren  bagegen 
fünf  ^öcfer.  Seiner  ijt  im  Unterüefer  jeberfeits  bei  ben  9Jien[c^en* 
äffen,  toie  beim  9Jlen[d)en,  ber  äußere  Sd)neibe3al)n  breiter  als 
ber  innere,  bei  ben  ^unbsaffen  umge!e{)rt  [rf)mäler.  CBnblid)  ijt 
von  bejonberer  Sebeutung  bie  toid^tige  3^atjact)e,  bajg  bie  9Jienjd)en= 
äffen  mit  bem  9Jlenfcf)en  aud^  bie  eigentümlid)en  feineren  Silbungs= 
Derl)ältnijje  [einer  [(i)eibenförmigen  Placenta,  ber  Decidua  reflexa 
unb  bes  $Bau(f)jtiels  teilen  (oergl.  Rap.  4).  Übrigens  ergibt  [d)on 
bie  oberfläd)lid)e  33ergleid)ung  ber  5lörperform  ber  l^eute  nod) 
lebenben  9Jlen[df)enaffen,  ha^  [otool)l  bie  a[iati[(f)en  23ertreter 
biejer  ©ruppe  (Drang  unb  ©ibbon),  als  bie  afri!ani[(i)en  23ertreter 
(©orilla  unb  (5d)impan[e)  bem  3Jlen[(f)en  im  ge[amten  5lörperbau 
nät)er  jtet)en  als  [ämtli(i)e  ^unbsaffen.  Unter  biefen  legieren 
jte^en  namentlid)  bie  l)unbs!öpfigen  ^apjtaffen  (Papiomorpha), 
bie  ^aoiane  unb  9Jleerfa^en,  auf  einer  [el)r  tiefen  93ilbungsjtufe. 
Der  anatomijd)e  l[nter[(^ieb  3tDi[d)en  bie[en  rol)en  ^apjtaffen  unb 
ben  l)ö(i)jt  enttoicfelten  5[Ren[d)enaffen  ijt  in  jeber  Se3iel)ung  größer 
als  berjenige  3ii)i[cl)en  t)tn  legieren  unb  bem  9Jlen[d)en. 

Die  D ergleid) enbe  Anatomie  ergibt  [omit  für  ben  unbefangenen 
unb  fritijd^en  (Jo^f^^^^  öiß  bebeutungsuolle  3^at[ad)c,  bafe  ber 
Körperbau  bes  9}len[d)cn  unb  ber  9Jten[d)enaffen  niifi  nur  im 


24  Drittes  ftapttcl. 


l)öd)jtcn  (grabe  äl)nli(^,  fonbem  in  dien  Doe|entItd)en  ©e3tcl)ungen 
bcrfelbe  tft.  I)tc[elben  200  5lnod)en,  in  ber  gleid)en  ^norbnung 
unb  3u[antmen[e^ung,  bilbcn  un[er  inneres  5^no(^engerüjt;  bte^ 
[elben  300  95lus!eln  beroirfen  unferc  Setoegungen;  bie|elben  §aarc 
bebecfen  unfere  §aut;  btefelben  ©ruppen  oon  Seelenjellen  [e^cn 
bcn  funjtDoIIcn  SBunberbau  unseres  (5e{)ims  sufammen;  basfelbe 
üterfammerige  ^ers  ift  bas  centrale  ^umpioerf  unferes  Slutfreis* 
laufs;  biefelben  32  3ät)ne  [e^en  in  ber  gleid)en  ^norbnung  unfer 
©ebi^  3ufammen;  bie[ elben  Spetd)elbrüfen,  fiebere  unb  Darm= 
brüfen  vermitteln  un[erc  33erbauung;  biefelben  Organe  ber  (Jort* 
pflan3ung  ermöglid)en  bie  (Erhaltung  un[eres  (5e[(^Ie(f)ts. 

^Ilerbings  finben  toir  bei  genauer  93erglei(i)ung  gemiffc  Unter= 
[d^iebe  in  ber  ®röfee  unb  ©eftalt  ber  meijten  Organe  3roi[d)en  bem 
9}len[(i)en  unb  93^en[(^enaffen;  allein  biefelben  ober  ä{)nlid)e  Unter» 
fd)iebe  entbedfen  toir  aui)  bei  ber  forgfältigen  93ergleicf)ung  ber 
f)öl)eren  unb  nieberen  9Jien[d)enra[|'en,  ja  [ogar  bei  ber  eiaJten  33er= 
glei(i)ung  aller  einjelnen  ^nbioibuen  unferer  eigenen  5Raf[e.  2ßir 
finben  nid)t  äcoei  $er[onen,  tDel(f)e  gan3  genau  biefelbe  ©röfee  unb 
gform  ber  iRafe,  ber  0\)xm,  ber  ^ugen  u\w.  \)abtn.  9Jlan  braucht 
blofe  aufmerlfam  in  einer  größeren  ©e[ell[d)aft  bie[e  ein3elnen 
3:eite  ber  menf(^li(i)cn  (5e[icf)tsbilbungbei  3al)lreid)en  ^erfonen 
3U  t)erglei(i)en,  um  ficf)  oon  ber  erjtaunltc^en  SJlannigfaltigfeit  in 
beren  [pe3ieller  ©ejtaltung  3U  über3eugen.  Oftjinb  ja  befanntlic^ 
[elbjt  (5e[c^mijter  oon  \o  t)er[d)iebener  Äörperbilbung,  bafe  if)re 
^bjtammung  Don  einem  unb  bem[elben  CEltempaare  !aum  glaub» 
lid^  er[d)eint.  3llle  biefe  inbioibuellen  Unter[cf)iebe  beeinträd)» 
tigen  aber  nid)t  bas  (5etDid)t  ber  funbamentalen  (5lei(l)l)eit 
im  i^örp erbau;  benn  [ie  [inb  nur  bebingt  burcf)  geringe  a3er= 
[d)iebenl)eiten  im  3Ba(l)stum  ber  ein3elnen  Steile. 


dritte«  Mapxt^U 
Unfet  ßeben, 

9)^onifttWe   6tubien    über   menfd^lic^c    unb    öergletc^cnbe 

^t;pfiologie.     Öbcreinftimmung   in   aUcn  ßeben^funftionen 

btß  9)^cnfcf)en  unb  ber  Säugetiere» 

Unfere  5lenntnis  oom  men[rf)lid)en  2th<tn  l)at  \xd)  erjt  innerl)alb 
bes  19.  3al)rbunbert5  3um  5?ange  einer  felbjtanbigen,  tDirfli(i)cn 
533i[[en[cf)aft  erl^oben.    l>ie(e  „£el)re  oon  ben  ßebenstäti^tcitcn", 


Unfer  ßcbcn.  25 


bic  ^f)p|iologtc,  l)at  f!^  jtDor  frül)3cttig  bcr  $ctlfunbc  als  eine 
tDünjd)enstDertc,  ja  nottoenblge  93orbebtngung  für  erfoIgreicf)e 
äx^ili(i)(i  3^ätigfett  füf)Ibat  gemacht,  in  engem  3ii|<i^Tneni)ang  mit 
ber  Anatomie,  bet  ßel)tc  com  5lörperbau.  ^ber  fie  !onnte  erjt 
oiel  [päter  unb  langjamer  als  leitete  grünbliiJ)  erfor|dE)t  üoerben, 
ha  fie  auf  vh\  größere  Sd)tDierig!eiten  jtiefe. 

!Der  Segriff  bes  fiebens,  im  (Segenfa^  3um  Xoht,  tjt  natürlid) 
|d)on  |el)r  früf)3eitig  ©egenjtanb  bes  9^a(f)ben!en5  gea)e|en.  SO^lan 
beoba^tete  am  lebenben  9Jlen}d)en  toie  an  ben  lebenbigen  2:ieren 
eine  ^injal)!  üon  eigentümli(f)en  S3eränberungen,  oorjugstDeife 
SetDegungen,  toeIcf)e  ben  „toten"  9latur!örpern  fel)Iten:  [elb» 
jtänbige  Ortsberoegung,  ^ergflopfen,  ^temsügc,  Spra(^e  ufto. 
allein  bie  Unter|d)eibung  |oIc|er  „organi|ct)en  JBeioegungen"  von 
äf)nli(^en  (£r|dE) einungen  bei  anorgani|(f)en  91atur!örpern  töar  nid)t 
Ieicf)t  unb  oft  Derfel)It;  bas  fliefeenbe  SBajfer,  bie  fladernbe  glamme, 
ber  tDel)enbc  2ßinb,  ber  jtüraenbe  ^t\s  seigten  bcm  StRenfc^en  gana 
äf)nli(f)e  93eränberungen,  unb  es  roar  |et)r  natürlid),  ha^  bcr  naioe 
9laturmen[d)  aud)  biefen  ^,toten  5lörpern"  ein  lelbjtänbtges  Jßeben 
3uj(f)rieb.  SBon  i>m  betoirfenben  Urjac^en  tonnte  man  [id^  bei  hm 
festeren  ebenfotoenig  befriebigenbe  9^e(f)en|(^aft  geben  als  bei 
t)tn  erjteren. 

aRenf(^U(^e  ^^tifiologie.  Die  ältejtcn  toi|fen[^oftItd^en  SBe- 
trad)tungen  über  bas  2Be|en  ber  mcltf(i)Iicl^en  fiebenstätigfeiten 
treffen  toir  (ebenfö  toie  biefenigen  über  ben  5lörperbau  bes 
9Jlen[c^en)  bei  ben  gried)i|(^en  9laturp()iIo[opt)en  unb  ^Irgten  im 
[ec^jten  unb  fünften  3at)rl)UTtbert  o.  (il)x.  Die  reid^fte  Sammlung 
üon  be3ügli(i)en,  bamals  befannten  3:at|a(t)en  finbcn  toir  in  ber 
9^aturge[c^i(^tc  bes  ^ri[toteIcs. 

Der  9{ut)m,  bie  oortjanbenen  5^enntni[[c  einl)eitlic^  3u[ammen= 
gefafet  unb  htn  erjten  33er|u^  3U  einem  Si)jtem  ber  ^l)r)fioIogie 
gema(i)t  3U  l)aben,  gebül)rt  bem  großen  grie(f)i[d^en  ?lr3te  ©alenus , 
htn  mit  aud)  als  ben  erjten  großen  Anatomen  bes  Altertums  fennen 
gelernt  t)aben.  ©ei  [einen  Hnterfu^ungen  über  bie  Organe  bes 
men[d)Iicf)en  5lörpers  ftellte  er  [id)  bejtänbig  au^  bie  O^rage  naä) 
\\)xtn  £ebenstätig!eiten  ober  gunftionen,  unb  au^  l)ierbei 
t)erfut)r  er  t)ergleid)enb  unb  unter[u(f)te  oor  allem  bic  menfc^en^ 
ä^nlid)jten  stiere,  bie  ^ffen.  Die  (£rfal)rungen,  bie  er  {)ier  ge» 
tDonnen,  übertrug  er  bire!t  auf  htn  SJlenfc^en.  (£r  erfanntc  aucf) 
bereits  ben  l)ol)en  SBert  bes  pt)i)[ioIogifd)en  (Experimentes:  bei 
23tt)i[e!tion  oon  Riffen,  §unben  unb  Scf)rDeinen  ftclltc  er  t)er= 
[(t)iebene  tntcre[[ante  33er[uct)e  an.  Die  93it)i[e!tioncn  [mb 
neuerbings  ntd)t  nur  oon  untüiffenbcn  unb  be[(i)rän!ten  Beuten, 
[onbern  au^  ©on  tDi[|en5feinbIi(t)cn  3:i)coIogen  unb  oon  öcfüt)l5* 


26  :Dr{tte5  Rapihl 


[cligcn  ©emütsmenf(i)cn  oielfad^  ouf  bas  l)efitgftc  ongcgriff-n 
tDorben;  [tc  get)ören  aber  3U  ben  unentbcf)rnd)en  9Jlctl)oben 
ber  fiebensforfi^ung  unb  ^aben  uns  unfd)ä^bare  ^uffd)Iüf[c  über 
bie  tDid)ttgjten  fragen  gegeben. 

(£ben[o  rote  für  hit  5lnatomic  bes  9Ken[d)en,  [0  blieb  aud)  für 
[eine  ^t)t)[ioIogie  bas  Si)jtem  bes  (Salenus  töäl)renb  bes  langen 
3eitraums  t)on  brei3el)n  3ö^rf)unberten  bie  unantajtbare  Quelle 
aller  5lenntni[[e.  Der  fulturfeinblid)e  (Einfluß  bes  (£f)rijtentums 
bereitete  aucf)  auf  biefem,  toie  auf  allen  anberen  ©ebieten,  ber 
9flaturerfenntnt5  bie  unübertöittbli^jten  §inberni[[e.  33om  britten 
bis  3um  [e(^3el)nten  5al)rt)unbert  trat  fein  ein3{ger  (5or[d)er  auf, 
ber  gewagt  t)ätte,  [elbftänbig  u)ieber  bie  £ebenstätigfeiten  ber 
9Jlen[d)en  3U  unter[ud)en  unb  über  bas  (5i)jtent  von  (Salenus 
]^inaus3ugei^en.  (£rjt  im  16.  5cil)J^I)iinbert  tourben  ba3U  mel)rerc 
befd)eibene  23er[ud)e  von  ange[el)enen  3lr3ten  unb  Anatomen 
gemacf)t.  ^ber  erjt  im  5al)re  1628  t)eröffentli(f)te  ber  engli[cf)e 
^r3t  ^axvtx)  [eine  grofee  (Sntbedfung  bes  JBIutlreisIaufs  unb 
roies  nad),  bafe  bas  $er3  ein  ^umproerf  ijt,  tüel^es  burdE)  regel» 
mäßige,  unbetoufete  3ii[ammen3ie!)ung  feiner  9Jlus!eIn  bie  ®Iut= 
toelle  unablä[[ig  burd)  bas  fommunisierenbc  9löl)ren[i)jtem  ber 
^bern  ober  Slutgefäfee  treibt.  SRid)t  minber  toii^tig  toaren 
§arüer)s  Unter[u(^ungen  über  bie  3cugung  ber  3^iere,  infolge 
beren  er  htn  berühmten  Sa^  aufjtellte:  „Dilles  üebenbige  ent* 
toidEelt  [i(f)  aus  einem  (£i"  (omne  vivum  ex  ovo). 

X)ie  mäd)tige  9lnregung  3U  pl)r)[ioIogi[(t)en  5Beobad)tungen  unb 
S3er[u(i)en,  roeldie  ^axvtv)  gegeben  t)atte,  führte  im  16.  unb 
17.  3öt)rt)unbert  3U  einer  großen  ^n3a!)I  oon  (Sntbetfungen.  Die[e 
fafete  ber  (5elel)rte  ^Ibrec^t  Malier  um  bie  mith  bes  18.  3af)r= 
t)unberts  3um  erften  9JlaIe  3u[ammen;  in  [einem  großen  2Ber!e 
„Elementa  physiologiae"  begrünbete  er  ben  [elbftänbigen  SBert 
bie[er  2Bi[[en[d)aft  unb  nid)t  nur  in  il)rer  SBe3iel)ung  3ur  pra!ti[d)en 
9Jlebi3in.  3nbem  aber  Malier  für  bie  ^Reroentätigfeit  eine  be* 
[onbere  „(£mpfinbungs!raft  ober  Sen[ibiUtät"  unb  eben[o  für  hit 
StRusfelbetoegung  eine  befonbere  „^ei3bar!eit  ober  S^ritabilität" 
als  Ur[a(^e  annat)m,  lieferte,  er  mäcf)tige  Stufen  für  bie  irrtümli(i)e 
£e^re  oon  einer  eigentümlid^en  „£ebens!raft". 

£eben9ftaft  (IBitalismus).  Ober  ein  oolles  5at)rt)unbert 
l)inbur(f),  oon  ber  9[Ritte  bes  18.  bis  3ur  9[Ritte  bes  19.  3cif)rl)unberts, 
blieb  in  ber  9Jlebi3in,  unb  [pe3ien  in  ber  ^^i)[ioIogie,  bie  alte  ^n« 
[d)auung  l)err[^enb,  "öa^^  ^wax  ein  3^eil  ber  £ebenser[(^einungen 
auf  pl)i)[i!ali[d^e  unb  (f)emi[d)e  33orgänge  3urü(J3ufüf)ren  [ei,  ha)i 
aber  ein  anberer  3:eil  ber[elben  burd)  eine  be[onbere,  baoon  un» 
abhängige  ßcbensfraft  (Vis  vitalis)  beujirft  roerbe.    60  oer» 


Hnfer  2thtn.  27 


fd^tebenarttg  oud)  bic  bcfonbcren  93orftenungen  oom  2Be[en  bcr= 
[elbcn  unb  bcfonbcrs  oon  tl)rcm  3ii[öTnmenI)ang  mit  ber  „Seele" 
ficf)  au5btlbcten,  [o  jttmmtcn  bo^  alle  barin  überein,  bafe  bie  Qthtns' 
fraft  Don  ben  pI)i)[t!aU[(f)=(i)emi[d)en  Gräften  ber  öeu)ö]^nltd)en 
„9[Raterte"  unabpngtg  unb  tüefentitdf)  oerf (Rieben  [et;  als  eine 
felbftänbtge,  ber  anorganif^en  ?latur  fel)Ienbe  „Ur!raft"  [ollte 
[ie  bie  erjteren  in  it)ren  Dienjt  neljmen.  S^lic^t  allein  bic  Seelen» 
tätigfeit  [elbjt,  bie  Sen[ibilität  ber  Sf^ertjen  unb  bie  Irritabilität 
ber  9Jlu5!eIn,  [onbern  aud)  bie  33orgänge  ber  Sinnestätigfeit,  ber 
5DrtpfIan3ung  unb  (£ntu)ic!elung  erfc^ienen  allgemein  \o  tounberbar 
unb  in  i^ren  Urfai^en  [o  rätfelt)aft,  bafe  es  unmöglidf)  [ei,  [ie  auf 
einfädle  pt)t)[ifali[d)e  unb  d^emi[cf)e  9Zaturpro3e[[e  3urüc!3ufüt)ren. 

!Det  9Red^ant$mu$  bes  Qthms  (3Ronifttf(^e  ^l^tifiologte). 
S(i)on  in  ber  erjten  ^älfte  bes  17.  3af)rl)unberts  t)atte  ber  berüt)mte 
^I)iIo[op^  I)e5carte5,  fufeenb  auf  §faxv)tx)5  (£ntbeching  bes 
Slutfreislaufs,  ben  (Sebanfen  ausge[pro^en,  ba^  ber  Äörper  bes 
93?en[d)en  eben[o  toie  ber  Xiere  eine  fompIi3ierte  StRa[ct)ine  [ei, 
unb  bafe  il)re  Setoegungen  nac^  ben[elben  me^ani[d^en  (5e[e^en 
erfolgen  u)ie  bei  ben  fünjtlid^en,  Dom  9Kcn[c^en  für  einen  be= 
[timmten ^votä gebauten 9Ka[d)inen.  ^Ilerbings nat)m  Descartes 
tro^bem  für  ben  9Jlen[d)en  allein  eine  »ollfommene  Selbjtänbigfeit 
ber  immateriellen  Seele  an  unb  erflärte  [ogar  beren  [ubjeftiüe 
(Empfinbung,  bas  Denfen,  für  bas  ein3ige  in  ber  2Belt,  von  bem 
roir  unmittelbar  gan3  [i(i)ere  Rennfwis  be[i^en  („Cogito,  ergo 
sum  !").  allein  bie[er  I)ualismus  l)inberte  it)n  nid)t,  im  einseinen 
bie  C£r!enntnis .  ber  me(i)ai..,cf)en  £ebenstätigfeiten  t)iel[eitig  3U 
förbern.  5m  5ln[cl)lufe  baran  fül)rte  Sorelli  (1660)  bie  Se= 
toegungen  bes  Xierförpers  auf  rein  pl)t)[i!ali[d)e  (5e[e^e  3urücf, 
unb  gleichseitig  Der[u(^te  Si)lDiu$,  bie  33orgänge  hti  ber  33er= 
bauung  unb  Uttmung  als  rein  cl)emi[cl)e  ^ro3e[[e  3U  erllären.  allein 
bie[e  vernünftigen  ^nfä^e  3U  einer  naturgemäßen,  me(^ani[d)en 
(£r!lärung  ber  fieben5er[^einungen  Dermo(f)ten  feine  allgemeine 
^ntoenbung  unb  ©eltung  3U  erringen;  unb  im  Jßaufe  bes  18. 
5al)rl)unberts  traten  [ie  gans  surücf,  je  mef)r  [id)  ber  33ita= 
lismus  entroidelte.  (£ine  enbgültige  SBiberlegung  bes  le^teren  unb 
9?ü(Jfel)r  3ur  erjteren  tourbe  erjt  vorbereitet,  als  im  oierten  De= 
3ennium  bes  19. 3al)rl)unberts  bic  neue  0  er  gl  cid)  enb  c  ^l)i)[iologie 
[id)  3u  fruchtbarer  Ocltung  erl)ob. 

©crglcid^enbc  qi^tjftologte.  9Bic  un[erc  5lenntni[[c  00m 
Körperbau  bes  93ien[cf)en,  [0  tourben  and)  bieienigen  oon  [einer 
fiebenstätigfeit  ur[prünglicf)  größtenteils  nid)t  burcf)  bircftc  Sc« 
obac^tung  am  men[d)licf)en  Organismus  [clbjt  getoonncn,  [onbern 
an  ttn  näcf)[toertöanbtcn  l)öt)eren  Sßirbcltiercn,  oor  ollem  ben 


28  Drittes  Äapitcl. 


Säugetieren.  5Iber  btc  e{gentirrf)e  „t)erglei(f)enbe  ^I)i)ftoIogte", 
wtl6)t  bos  gansc  ©ebtet  ber  fiebenserf^etnungcn  von  ben  nteberjten 
Xtcren  bis  3um  9Jlen[d)en  l^inauf  im  3iifamTnenl)ang  erfaßt,  ift  erjt 
eine  (£rrungen[d)aft  bes  19.  5al)rl)unberts;  ii)r  großer  S^öpfer 
iDar  3ol)annes  aRüIIer  in  ^Berlin  (1801—1858).  Urfprüngli^ 
ausgef)enb  von  ber  Anatomie  unb  ^I)r)fioIogie  bes  SKenfdien,  30g 
berfelbe  balb  alle  §auptgruppen  ber  t)öl)eren  unb  nieberen  3:iere 
in  tttn  ilreis  feiner  33ergleid)ung.  Snbem  er  sugleid)  bie  Silbung 
ber  ausgejtorbenen  ^Xiere  mit  htn  lebenben,  ben  gefunben  £)rga= 
nismus  bes  9Jlen[d)en  mit  bem  franfen  oerglid^,  inbem  er  tDal)ri)aft 
pI)iIo[opl)i[d)  alle  (£rf(f)einungen  bes  organifc^en  JÖebens  3u[ammen= 
3ufa[[en  jtrebte,  ert)ob  er  [icf)  gu  einer  bis  t>ai)\n  unerreid)ten  $öl)e 
ber  biologi[ct)en  (Srfenntnis. 

^Ilerbings  toar  aRüIIer  urfprünglic^,  gleich  allen  ^l)t)fiologen 
[einer  3^it;  23italift.  5lllein  bie  l)err|d)enbe  £e^re  oon  ber  fiebens« 
fraft  nal)m  bei  il)m  eine  neue  grotm  an  unb  oerioanbelte  fid)  all* 
mäl)li(l)  in  il)r  prinsipielles  Gegenteil.  Denn  auf  allen  ©ebieten 
ber  ^f)r)fiologie  toar  SJlüller  bejtrebt,  bie  £ebenser[(J)einungen 
meclianifd)  3U  erflären;  [eine  reformierte  fiebensiraft  jtel)t  nirfit 
über  ben  pl)t)[i!ali[(f)en  unb  (i)emi[c^en  ®e[e^en  ber  übrigen  Statur, 
[onbern  [ie  i[t  jtreng  an  bie[elben  gebunben;  [ie  ijt  [d)liefelid)  roeiter 
ni(^ts  als  bas  „ßebcn"  [elbjt,  b.  l).  bie  Summe  aller  SetDegungs= 
er[dE)einungen;  bie  toir  am  lebenbigen  Organismus  u)al)mel)men. 
überall  toar  er  bejtrebt,  bie[elben  med)ani[(l)  3U  erflären,  in  bem 
Sinnes»  unb  Seelenleben  toie  in  ber  3:ätig!eit  ber  9Jlus!eln,  in 
htn  93orgängen  bes  ^Blutfreislaufs,  ber  Atmung  unb  93erbauung 
uoie  in  htn  (£r[d) einungen  ber  gortpflanjung  unb  ©nttoicfelung. 
Die  größten  (5ort[d)ritte  fül)rte  l)ier  äUüller  baburcl)  l)erbci,  t>a^ 
er  überall  von  htn  einfad)ften  £ebettser[cf)einungen  ber  nieberen 
3:iere  ausging  unb  Sd)ritt  für  Bd)xxü  i\)xt  allmäl)li(i)e  ^usbilbung 
3U  t)tn  l)öl)eren,  bis  3unrl)öd^ften,  3um  9Jlen[d)en,  l)inauf  oerfolgte. 
§ier  benjäl)rte  [id)  [eine  äRetl)obe  ber  !riti[(^en  a3erglei(l)ung 
eben[o  in  ber  ^l)i)[iologie,  toie  in  ber  Anatomie. 

3enuIarp^t)fij>Iogte.  Unter  ben  3al)lrei(f)en  Sd^ülern  oon 
So^annes  SKüller,  tDeld)e  teils  [d)on  bei  [einen  £eb3eiten,  teils 
nad)  [einem  3:obe  bie  Der[d)iebenen  3QJeige  ber  ^Biologie  mäd)tig. 
förberten,  tuar  einer  ber  glüdlirf)ften  3:i)eobor  Sd^roann.  ^Is. 
1838  ber  geniale  Sotanüer  Sd) leiben  in  3^na  bie  ä^^e  als  bas. 
gemein[ame  (£lementarorgan  ber  ^flan3en  erfannt  unb  alle  uer» 
[d)iebenen  ©eroebe  bes  ^flan3en!örpers  als  3u[ammenge[e^t  aus 
3ellen  na(l^getDie[en  !)atte,  erfannte  5ol)annes  9Küller  [ofort 
bie  aufecrorbentlid)c  3^ragtDeite  bie[er  bcbcutungsoollen  C£nt== 
betfung;  er  ocrfuc^te  [elbjt,  in  oerjc^icbencn  ©ctocbcn  bes  3:ier= 


Httfct  fiebert.  29 


f örpers  bic  gletd)e  3u[amntenf e^ung  nad)3ua)ct[cn,  unb  oeranla^tc 
fobann  [einen  Sd^üler  Sd)tDann ,  biefcn  9Zad)iDets  auf  alle  tterUd)en 
(Setoebe  au53ubel)nen.  Diefc  |cf)U)ierige  Aufgabe  löjtc  bcr  leitete 
glüdflid)  in  [einen  „9J?i!to[!opi[(i)en  Unter[u(f)ungen  über  bic  tlber* 
ein[timniung  in  ber  Struftur  unb  bem  2Bad)5lum  ber  3:iere  unb 
Wanden"  (1839).  2)amit  wax  ber  ©runbjtein  für  t)it  Seilen  = 
il)eorie  gelegt,  beren  ©ebeutung  eben[o  für  bie  ^I)r)fioIogie  toic 
für  bie  Anatomie  [eitbem  von  ^a\)x  %u  ^a\)x  gugenommen  unb  [id) 
immer  allgemeiner  betoQt)rt  \)at  Dafe  aurf)  bie  £ebenstätig!eit 
aller  Organismen  auf  biejenige  il)rer  Cöeroebeteile,  ber  mi!ro= 
[fopi[cf)en  3ellen,  gurüdgefü^rt  werben  mü[fe,  fül)rlen  namentlich 
3röei  anbere  sifühx  von  Scljannes  9J?üller  aus,  ber  fd^arf» 
[innige  ^^p[iqloge  (£rn[t  Sßrüde  in  2Bien  unb  ber  berühmte 
§i[tologe  albert  5^öllif  er  in  SCürgburg.  t)er  erftere  be3eid)nete 
bie3encttri^tigaIs„(£lementar=Organi5men"unb  seigte,  t>a^ 
[ie  eben[o  imilörper  bes$0len|d)entoie  aller  onberen  3:iere  bie  [elb= 
ftänbig  tätigen  Saroten  besJÖebens  [inb.  i^öllüer  erroarb  |ic^  be[on= 
bere  33erbien[te  nic^tnurum  bie  ^usbilbung  ber  ge[amten  ©etoebe» 
Iel)re,  [onbern  aud)  burdE)  ben  Si^adjtDeis,  ha^  bas  (£i  ber  3;iere,  [otöie 
i)ie  baraus  ent[te^enben  „5urd)ungs!ugeln"  einfa^e  3^11^^  [inb. 
<Bo  allgemein  aber  audE)  bic  f)ol)C  Sebeutung  ber  3enentl)eoric 
für  alle  biologi[(^en  5lufgaben  erfannt  tourbe,  [o  XDurbc  Dod)  bic 
barauf  gegrünbetc  3cnular»^l)r)fiologic  cr[t  in  ncue[ter  3eit 
[elbjtänbig  ausgebaut.  $ier  \)ai  nantcntlid)  SJlax  93ertoorn  fid) 
ein  boppcltes  95erbicn[t  ertDorben.  3^1  [einen  „^[r)^o=pf)t)[iolo= 
gi[d)en  ^roti[tcn=(5tubien"  (1889)  l)at  ber[elbc  auf  (Srunb  [innreid)er 
eiperimcntellcr  Kntcr[ud)ungen  geseigt,  ha^  bic  oon  mir  (1866) 
aufge[tclltc  „3:i)eoric  bcr  3ell[cclc"  burc^  bas  genaue  Stubium 
bcr  cin3clligcn  ^rotogocn  Dollfommcn  gerechtfertigt  toirb,  unb 
bafe  „bie  p[t)d)i[d)cn  S3orgängc  im  ^rotijtcnreic^c  bic  ©rüde  bilben, 
tt)clcl)c  bic  d)cmi[^en  ^ro3e[[e  in  ber  unorgani[cf)en  91atur  mit  bem 
Seelenleben  ber  l)öd)ftcn  3:iere  oerbinbct".  SBcitcr  ausgefül)rt 
unb  geftü^t  auf  bic  moberne  (£nttDidclungslel)re  \)ai  33crtt)orn 
bie[c  ^n[icf)ten  in  [einer  „allgemeinen  ^t)t)[iologie".  Die[es  aus* 
gcäcid^nctc  2Ber!  gel)t  gum  cr[ten9Jlalc  toieber  auf  ben  umfa|[enben 
(3tanbpun!t  von  3oI)annes  XRüllcr  gurüd,  im  (5egen[a^e  3U 
•ben  cin[eitigen  unb  be[d)rän!ten  50ietl)oben  jener  mobernen  ^l)r)[io= 
logen,  toclc^c  glauben,  au5[d)liefelicf)  burcl)  pl)r)[i!ali[^e  unb 
^cmi[d)c  (giperimcntc  bas  2Be[cn  bcr  £ebcnser[^ einungen  er= 
•grünben  ju  fönnen.  SBcrtoorn  geigte,  bafe  nur  burd)  bic  ocr* 
fllcicl)cnbc  S[Retl)obc  SJlüllcrs  unb  burd^  >as  23crticfcn  in  bic 
ip]^i)[ioIogic  bcr  S^He  jener l)öl)crc  Stanbpunft  gewonnen  to^rbcn 
iann,  ber  uns  einen  cinl)citli(f)cn  tlbcrblid  über  bas  tDunberoolIe 


30  T>x\iit5  i^apitcl. 


©cfamtgebtct  bcr  ficben5er[d)ctnungen  gctDäl)rt;  nur  baburd)  ge» 
langen  toir  ju  bcr  Überzeugung,  t>a}i  aud)  bie  [omtItd)en  ficbcns» 
tätigfetten  bes  äRenfd)en  benfelben  ©efe^en  ber  ^^t)[i!  unb  (£f)emic 
unterliegen,  toie  biejenigen  aller  anberen  ^^iere. 

Senulorpatl^oloöie.  Die  grunblegenbe  ^ebeutung  ber  3ellen= 
tl)eorie  für  alle  S^^^Q^  ^^^  Biologie  betüä^rte  [id)  in  ber  ^toeiten 
§älfte  bes  19.  5a^rl)unbcrts  nid)t  allein  in  htn  grojgartigen  ^oxU 
fd)ritten  ber  gefamten  5ülorpl)ologie  unb  ^l)i)[iologie,  [onbem  auc^ 
befonbers  in  ber  totalen  9?efornt  berjenigen  biologifc^en  2Bi[[en= 
[d)aft,  xDeld)e  vermöge  il)rer  Se3iel)ungen  3ur  praftifd^en  §eil!unjt 
von  \t\)tx  bie  größte  Sebeutung  in  ^nfprud)  nal)m,  ber  ^atl)ologie 
ober  ilran!l)eit5lel)re.  Dafe  bie  5^ranfi)eiten  bes  aRen[d)en  toie  aller 
übrigen  £ebetöe[en  9laturer[(f)einungen  [inb  unb  al[o  gleid)  ben 
übrigen  üebensfunftionen  nur  naturtoiffenf^aftlid)  erfor[d)t  roerben 
fönnen,  toar  ja  [d)on  oielen  älteren  ^Irjten  jur  fejten  Überzeugung 
getDorben.  ^ud)  l)atten  [d)on  im  17.  3öl)rl)unbert  einzelne  mebi3i= 
nifd^e  Sd)ulen  ben  93erfu^  geniad)t,  bie  Urfa^en  ber  5lran!l)eiten 
auf  bejtimmte  pl)t)[i!alif^e  ober  d)emi[d)e  23eränberungen  3urüd= 
3ufül)ren.  allein  ber  bantalige  niebere  3ujtanb  ber  9^aturtoif[en= 
fd)aften  oerl)inberte  einen  bleibenben  (Erfolg  biefer  berechtigten  !öe= 
jtrebungen.  Dal)er  blieben  mel)rere  ältere  3:i)eorien,  bie  bas  2Be[en 
ber  Äran!l)eit  in  übernatürlid)en  ober  nir)jti[d)en  Ur[ad)en  [ud)ten, 
bis  zur  SOlitte  bes  19.  3ciT()rl)unberts  in  faft  allgemeiner  ©eltung. 

(£rjtumbiefe3ettl)atte9lubolf  93ird^ou),  ebenfalls  ein  ©^üler 
Don  3o^önnes  StRüllcr,  htn  glüdlid)en  (^thanUn,  bie  3enen= 
tl)eorie  oom  gefunben  aud)  auf  htn  !ran!en  -Organismus  zu  über= 
tragen;  er  fud)te  in  htn  feinen  93eränberungen  ber  fran!en  3enen 
unb  ber  aus  il)nen  zufammengefe^ten  ©etoebe  bie  rt)al)re  Hr[ad)e 
jener  gröberen  33eränberungen,  tDeld)e  als  beftimmtc  „Äran!l)eit$* 
bilber"  ben  lebenben  iDrganismus  mit  ©efal)r  unb  Xoh  bebrol)en. 
58e[onber5  tDäl)renb  ber  [ieben  ^ai)xt  feiner  £el)rtätigfeit  in  2Bürz= 
bürg  (1849—1856)  füt)rte  93irc^on)  biefe  grofee  Aufgabe  mit  [o 
glänzenbem  (Erfolge  burd),  bafe  feine  3ßnular*^atl)ologie  mit 
einem  8d)lage  bie  ganze  ^atl)ologie  unb  bie  oon  i\)x  gejtü^te 
pra!ti[d)e  SKebizin  in  neue,  l)öd)jt  frud^tbare  ©al)nen  lenfte.  ^ür 
unfere  Aufgabe  ijt  biefe  ^Reform  ber  äRebizin  besl)alb  fo  bebeutungs» 
ooll,  toeil  fie  uns  zu  einer  moniftifd)en,  rein  rüiffenfd)aftlid)en  Se* 
urteilung  ber  i^ranfl)eit  fül)rt.  5lud)  ber  franfe  äRenfc^,  ebenfo  toie 
ber  gefunbe,  unterliegt  benfelben  „eroigen  el)ernen  (Sefe^en", 
toie  bie  ganze  übrige  organifd)e  2Belt. 

<|3^t)ftolQdte  bet  Säugetiere.  Unter  hm  zal)lreid)en  Xierflaffen, 
toeld)e  bie  neuere  3oologie  unterfd)eibet,  nel)men  bie  Säugetiere 
nid)t  allein  in  morpl)ologifd)cr,  fonbern  aud)  in  pl)t)fiologifd)er  ©e« 


Unfcr  fiebcn.  31 


3iel)ung  eine  Qan^  befonbcre  Stellung  ein.  T>a  nun  aud)  ber 
SKenfd)  [einem  ganjen  ilörp erbau  naä)  3ur  illaffe  ber  Säugetiere 
gel)ört,  rrtufe  er  ourf)  ben  befonberen  (Il)aro!ter  feiner  £ebens= 
tätig!etten  mit  htn  übrigen  Säugetieren  teilen.  Der  Slutf reislauf 
unb  bie  Atmung  t)on3iel)en  [id)  beim  9Jten[(i)en  genau  nad^  benfelben 
®e[e^en  unb  in  berfelben  eigentümlicf)en  i5^orm,  tDeIcf)e  auc^  allen 
anberen  Säugetieren  jutommt;  [ie  ijt  bebingt  huxd)  htn  befonberen, 
feineren  $8au  i{)re5  ^ergens  unb  if)rer  Bungen.  5Rur  bei  titn 
Säugetieren  toirb  alles  ^rterienblut  aus  ber  linfen  ^ersfammer 
burd)  ttn  Iin!en  Aortenbogen  in  hm  Äörper  gefül)rt,  roäfirenb  bies 
bei  t)tn  33ögeln  burd^  htn  redeten  unb  bei  ben  ^Reptilien  burd^  beibc 
5Iortenbogen  betoirft  toirb.  Das  ^lut  ber  Säugetiere  3eid)net  [i^ 
cor  bemjenigen  aller  anberen  SBirbeltiere  baburc^  aus,  ha^  aus 
il)ren  roten  SIut3eIIen  ber  Äern  üer[dE)tounben  ijt.  Die  5ltem« 
betoegungen  roerben  nur  in  biefer  3^ier!Ia[[e  Dor3ugstDeife  burd^ 
bas  3tDerd)f  eil  »ermittelt,  toeil  basfelbe  nur  t)ier  eine  oolljtänbige 
Sd)eibetDanb  3tDi[d)en  Sruftt)öl)Ie  unb  Sau(f)t)öI)Ie  bilbet.  ©an3 
befonbers  tDid)tig  aber  ift  für  hk^t  pc^jt  enttoidelte  3:ier!Ia[[e  bie 
^robuftion  ber  9JiiI(^  in  'ötn  $Brujtbrü[en  (Mammae)  unb  bie  be* 
fonbere  gorm  ber  ^Brutpflege,  tüeld)e  bie  (£rnät)rung  bes  jungen 
burd)  bie  SDlilc^  ber  SHutter  mit  fid)  bringt.  Da  biefes  Säugegefd)äft 
auc^  anbere  fiebenstätigfeiten  in  ber  eingreifenbften  2Bei[e  be= 
einflufet,  ba  bie  SKutterliebe  ber  Säugetiere  aus  biefer  innigen 
3rorm  ber  ^Brutpflege  it)ren  Itrfprung  genommen  t)at,  erinnert  uns 
ber  S^lame  ber  i^Iaffe  mit  9led^t  anü^re  t)ol)e  Sebeutung.  5n 
SKillionen  oon  ^Bilbern,  3um  großen  3:eil  oon  i^ünjtlern  erften 
Klanges,  roirb  „bie  SJiabonna  mit  bem  (i;i)riftu6!inbe"  oer» 
{)errlirf)t  als  bas  reinfte  unb  er^abenfte  Urbilb  ber  SRutterliebe; 
besfelben  5^jtin!tes,  beffen  eitremfte  ^form  bie  übertriebene  3<^^i' 
Ii(f)!eit  ber  Affenmutter  barjtellt. 

^^t)ftoloöte  ber  «ffen.  Da  unter  allen  Säugetieren  bie 
Affen  im  gefamten  5lörperbau  bem  SJlenfc^en  am  nä(f)lten  ftel)en, 
läfet  [id)  oon  DomI)erein  ertoarten,  ha^  basfelbe  aud)  uon  if)ren 
fiebenstätigfeiten  gilt;  unb  bas  ift  in  2BaI)rt)eit  ber  Srall.  2ßie  fel)r 
bie  fiebensgetDol)nl)eiten,  bie  ^Betoegungen,  bie  Sinnesfunftioncn, 
ha^  Seelenleben,  bie  ^Brutpflege  ber  Affen  fid^  benjenigen  bes 
9Jienfd)en  näl)ern,  loeife  jebermann.  Aber  bie  toiffenfc^aftlid)e 
^^f)i)fiologie  roeift  biefelbe  bebeutungsoolle  Hbereinftimmung  aud^ 
für  anbere,  roeniger  befannte  CBrfd) einungen  nad),  befonbers  bie 
§er3tätigfeit,  bie  Drüfenabfonberung  unb  bas  (5efd)led^tsleben. 
3n  le^terer  $Be3iel)ung  ift  befonbers  merftoürbig,  t)a^  bie  gefc^le^ts= 
reifen  2Beibc^en  bei  oielen  Affenarten  einen  regelmäßigen  Slut= 
obgang  aus  bem  5rud)tbel)älter  erleibcn,  entfpred)enb  ber  S[Ren* 


32  »tcrtcs  Hopitcl. 


^truatton  (ober  „ttRonatsrcgel")  bcs  mcn[(^Ud)en  SBctbcs.  %uä) 
btc  9Jlild)abfonbcrung  ous  ber  93rujtbrü|c  unb  bas  (5äugegefrf)äft 
ge[cf)tct)t  bei  ^tn  mtxUid)tn  ^ffen  genau  ebenfo  tote  bei  ben 
grauen. 

Sefonbers  intereffant  tjt  enblicf)  bie  3^at[ad^e,  tia^^  bie  fiaut  = 
[pro(i)c  ber  Riffen,  plipfiologifd)  oergIid)en,  als  Sorjtufe  ju  ber 
artifulierten  menfd)Ii(i)en  Sprad)e  erfdieint.  Unter  ben  fieute  nod) 
lebenben  9J?en[d)enaffen  gibt  es  eine  inbifd)e  ^rt,  toelc^e  mufüalifc^ 
ijt:  ber  Hylobates  syndactylus  auf  Sumatra  fingt  in  oolüommen 
reinen  unb  flangoollen,  l)alben  Xönen  eine  ganje  £)!taoe.  gür 
t>m  unbefangenen  (5pra(i)for[(^er  fann  es  l)eute  feinem  3rocifel 
me{)r  unterliegen,  bafe  unfere  i)0(^entroi(!elte  Segriffsfprai^e  fid) 
langfam  unb  ftufentoeife  aus  ber  unoolltommenen  £aut[prad)e 
unferer  5lffenaf)nen  enttoicfelt  I)at. 


93ierte«  ^apittU 
Httfere  ÄeimeSgefd^id^fe* 

QiJ^oniftifc^e   6tubien  über    menfcj)(ic&e    unb    oeröleic^enbc 

Ontogenie.     £lbereinftimmung    in    ber    ^eimbilbung    unb 

^ntipicfelung  be^  9?ienfc^en  unb  ber  Wirbeltiere, 

5n  nodt)  böf)erem  SOIafee  als  bie  oergletd)enbe  5lnatomie  unb 
^f)i3[ioIogie  ijt  bie  oergIeid)enbe  Ontogenie,  bie  (£nttDicte  = 
Iungsgcfd)i^te  bes  ©injeltieres  ober  S^tbioibnums,  ein  Äinb 
bes  neunjebnten  Sa^^^unberts.  2Bie  entjtebt  ber  95?enfd^  im 
äRutterleibe?  2Bie  entjtel)en  bie  Xiere  aus  t>tn  (Siern?  SBie  entitet)t 
bie  ^flanje  aus  bem  Samen!orn?  Diefe  inl)altsfd)tDere  (5rage  bot 
audE)  id)on  feit  ^ßb^taufenben  htn  htnUnitn  9Jlen[cf)engeijt  be= 
fd^äftigt;  aber  erjt  fel)r  fpät,  1828,  geigte  uns  ber  (£mbri)oIoge 
Sa  er  bie  rechten  SlRittel  unb  SBege,  um  tiefer  in  bie  Kenntnis  ber 
gebeimnisoollen  Xai\aä)tn  ber  Äeimesgefc^icbte  eingubringen; 
unb  crjt  1859  lieferte  uns  X)aro3in  bur^  feine  9?eform  ber 
I)e[3enben3tl)eorie  ben  Scblüffel,  mit  beffen  §ülfe  roir  3ur  C£r- 
fenntnis  i\)xtx  Urfad)en  gelangen  fönnen.  !Da  tcb  biefe  boctjinter* 
effanten,  aber  [d)tDierig'3u  Derftel)enben  33erbältni[fe  in  meiner 
Äetmesgefd)id)te  bes  9Jlen[(i)en  (im  crjten  3;eile  ber  ^ntl)ro» 
pogenle)    einer    ausfül)rlid)en,    popuIär*tDi[[enfd)aftIid)en    Dor« 


Hn[crc  i^eimesgejc^iditc.  33 


Stellung  untersogen  \)abt,  be[d^rän!e  td)  mid)  l)ier  auf  eine  furjc 
3u[amnienfa[[ung  unb  Deutung  ber  tDtd)tigjten  (£rfd)etnungen. 
2Bir  toollen  babei  3unäd)ft  einen  l)i|tori[c^en  9iüdblid  auf  bie  ältere 
Ontogenie  raerfen. 

^röformattonslc^re.  ältere  5^eimesge[(i)id)te.  (Söergl. 
ben  2.  33ortrag  -meiner  „^ntt)ropogenie".)  2Bie  für  bie  t)er= 
gleid)enbe  5tnatomie,  [o  [inb  aud)  für  bie  (£ntu)idelung5ge[d)ic^te 
bie  fla[[i[(i)en  2Ber!e  bes  ^riftoteles,  bes  oielfeitigen  „33ater5 
ber  9'laturge[d)id)te",  bie  ältejte  uns  befannte  roi[fen[d)aftIi(^e 
Quelle  (im  4.  3cil)rt)unbert  v.  (l\)X.).  SRic^t  allein  in  [einer  großen 
3:ierge[(i)id^te,  fonbern  aud^  in  einer  befonberen  !I einen  Sd)rift: 
„günf  $Büd)er  Don  ber  3^11911^9  ii^i>  (Snttüidelung  ber  3^iere" 
er3äl)lt  uns  ber  grofee  ^l)iIo[opl)  eine  SJlenge  von  intere[[anten 
3:at[ad)en  unb  ftellt  5ßetrad)tungen  über  beren  Sebeutung  an; 
»iele  baüon  finb  erjt  in  unferer  3ßtt  roieber  jur  ©eltung  gefommen 
unb  eigentlich  er^t  toieber  neu  entbecft  toorben.  9^atürlid)  [inb 
aber  baneben  au^  oiele  gabeln  unb  ^i-^tümer  3U  finben,  unb  von 
ber  oerborgenen  (£ntjtet)ung  bes  9Jlen[d)en!eimes  roar  nocf)  nid)ts 
'^ä\)txt5  befannt.  ^u^  in  bem  langen  folgenben  3^ttiöume  von 
3tDei  3ö^itau[enben  machte  bie  [d)lummernbe  2ßi[[en[d)aft  feine 
toeiteren  (^ort[d)ritte.  (£r[t  im  ^Infange  bes  17.  3öl)rl)unberts 
fing  man  röieber  an,  [id)  bamit  ju  be[d)äftigen;  ber  italieni[d)e 
Anatom  göbricius  ab  ^quapenbente  oeröffentlic^te  1600 
bie  älteften  ^bbilbun^en  unb  Se[d)reibungen  oon  (£mbri)onen  bes 
9Ken[d)en  imb  einiger  ]^öl)erenXiere;  linb  ber  berül)mte  XRarcello 
9J?alpig^i  in  93ologna,  gleid)  bal)nbred)enb  in  ber  3oologie  roie 
in  ber  ^otanü,  gab  1687  bie  erfte  3u[ammenl)ängenbe  Darjtellung 
von  ber  (£nt[tel)ung  bes  $ül)nc^ens  im  bebrüteten  (£i. 

^lle  bie[e  älteren  $ßeobad)ter  toaren  oon  ber  23or[tellung  be= 
l)err[d)t,  ha^  im  (£i  ber  Xiere,  äl)nli(^  tüie  im  Samen  ber  l)5l)eren 
^flansen,  ber  gan3e  i^örper  mit  allen  [einen  3:eilen  bereits  fertig 
üor^anben  [ei,  nur  in  einem  [0  feinen  unb  [0  burd)[id)tigen  S^' 
[tanbe,  ha^  man  [ie  nic^t  erfetirten  !önne;  bie  ganse  (Enttoidelung 
[ei  bemnad)  nid)ts  toeiter,  als  äBad)stum  ober  „^usroidelung" 
(Evolutio)  ber  eingetoidelten  Xeile.  I)ie[e  fal[(^e  ßel)re,  bie  bis  3um 
Anfang  bes  19,  3öl)rt)unbert5  fa[t  allgemein  in  Geltung  blieb, 
nennen  roir  am  bejten  bie  23orbilbungslel)re  ober  ^räformations* 
tljeorie. 

(£in[d)ad)telungslel)re.  ^n  engem  3ii[<immenl)ange  mit 
ber  ^räformation5let)re  entjtanb  im  17^  3cil)rt)unbert  eine  toeitere 
3;i)eorie,  toelc^e  bie  benfenben  ^Biologen  lebl)aft  be[d)äf tigte :  bie 
[onberbare  .(£in[d)ad)telungslel)re".  Da  man  annal)m,  bafj  im 
(£i  bereits  bte  Einlage  bes  gansen  Organismus  mit  allen  [einen 

joaccfct,  «ZBetfrätfct.  3 


34  SSicrtcs  Äapitel. 

3^ctlcn  t»orl)ant>cn  [ci,  mufetc  aud)  ber  (Sierjtotf  bes  jungen  5^cimc5 
mit  htn  (£icm  ber  folgenben  ©eneration  barin  oorgebilbet  [ein, 
unb  in  biefen  toieberum  bie  (Eier  ber  näcf)jtfolgenben,  ufto.  in 
infinitum !  X)araufl)in  bere(f)nete  bei  berüi)mte  ^!)t)[iologc 
Malier,  bafe  ber  liebe  ©ott  oor  6000  3af)ren  —  am  [ed)nen  Xage 
[eines  Sc^öpfungstoerfes  —  bie  Äeime  oon  200  000  SJiillionen 
9J?en[d)en  gleid^seitig  er[(f)affen  unb  [ie  im  (Sierjtod  ber  e^rroürbigen 
Urmutter  (£pa  fun[tgered)t  einge[(i)ad)telt  f)abe.  5^ein  (geringerer 
al5  ber  l)od^ange[eI)ene  ^l)ilo[op^  fieibnij  [d)Iofe  [i^  bie[en^u5= 
füf)rungen  an  unb  oerroertete  [ie  für  [eine  95ZonabenIel)re;  unb  ba 
bie[er  3ufoIge  [icf)  Seele  unb  £eib  in  etoig  un3ertrennli(^er  ©e= 
mein[rf)aft  befinben,  übertrug  er  [ie  aud)  auf  bie  Seele;  —  „bie 
Seelen  ber  9!Ren[c^en  l)aben  in  beren  23oreItern  bis  auf  ^bam, 
al[o  [eit  bem  Ittnfang  ber  Dinge  (! !),  immer  in  ber  (^orm  organi[ierter 
5lörper  eiiftiert". 

C^pigenefisle^re.  ^m  5Rbt)ember  1759  oerteibigte  in  ^allc 
ein  junger,  26jäl)riger  9Jlebi3iner,  5^a[par  gfriebrid)  SBoIff, 
[eine  :t)o!torbi[[ertation  unter  bem  3:itel:  „Theoria  generationis". 
©ejtü^t  auf  eine  9?eil)e  ber  mül)[amjten  unb  [orgfältigften  Se= 
oba(f)tungen  toies  er  naä),  bafe  bie  ganje  l)err[(^enbe  ^räformations^ 
3:^eorie  fal[d)  [ei.  5m  bebrüteten  §ü^nerei  i[t  anfangs  nod)  feine 
Spur  Dom  [päteren  23ogeI!örper  unb  [einen  Xdltn  Dort)anben; 
Dielmel)r  finben  toir  [tatt  tiz\\tn  oben  auf  ber  httannitn  gelben 
I)otter!ugeI  eine  fleine,  !reisrunbe,  uoeifee  Sd)eibe.  I)ie[e  bünne 
„5^eim[c{)eibe"  toirb  länglid^  runb  unbaerfällt  bann  in  Dierüber= 
einanberliegenbe  Sd)id)ten,  bie  Anlagen  ber  oier  rDict)tig[ten  Organ* 
[rijteme:  suerjt  t)k  oberjte,  bas  5RerDen[t)[tem,  barunter  bie  i5Iei[d)= 
ma[[e  (äRus!eI[i)[tem),  bann  bas  ©efäfe[i)[tem  mit  bem  $er3en 
unb  3ule^t  ber  Darmfanal.  ^I[o,  [agt  Sßolff  richtig,  beftet)t  bie 
5^eimbilbung  nid)t  in  einer  ^usmidelung  üorgebilbeter  Organe, 
[onbern  in  einer  5^ette  von  9ZeubiIbungen,  einer  wdi)xtn 
„Epigenesis";  ein  Xeil  ent[te^t  nad)  bem  anbern,  unb  alle  er[d)einen 
3uer[t  in  einer  einfad)en  gorm,  toeld)e  von  ber  [päter  ausgebilbeten 
gan3  Der[c^ieben  ijt;  bie[e  ent[tef)t  erjt  burd)  eine  9^eif)e  ber  merf-- 
iȟrbig[ten  Umbilbungen.  Obgleid)  nun  bie[e  grofee  Gntbedung 
[ic^  unmittelbar  burd)  9flad)unter[uc^ung  ber  beobad)teten  3:at[ac^en 
l)ätte  be[tätigen  la[[en,  unb  obgleich  bie  barauf  gegrünbete  „3:i)e orie 
ber  ©eneration"  eigentlid)  gar  feine  3:i)eorie,  [onbern  eine 
nadte  3:at[ad)e  toar,  fanb  [ie  bennoc^  ein  l)albe5  5al)rf)unbert 
l)inburd)  nic^tbie  minbejte  ^nerfennung.  ®e[onbers  l)inberlic^ 
u)ar  bie  mä^tige  Autorität  von  Malier,  ber  [ie  f)artnädig  be= 
tämpfte  mit  bem  Dogma:  „(£5  gibt  fein  SBerben  I  5lein  3:eil  im 
tierförper  i[t  cor  bem  anbcren  gemad)t  tDorbcn,  unb  alle  finb 


V' 

e 

■ 


Hnjcrc  Äcimc5gc|d)id)tc.  35 

Sugleid)  erfc^affcn."  SBolff,  bcr  nod)  Petersburg  getien  mufete, 
war  \d)on  lange  tot,  ah  hw  oergeffenen,  oon  {l)Tn  beobact)teten 
Xatfai^en  öon  fiorenj  O^ertin  ^ena  (1806)  aufs  neue  entbedt 
unb  rid^tig  gebeutet  rourben. 

5letmblätterle^re.  5Rad^bem  bur^  0!enbte  (£ptgene[is  = 
ttieorte  üon  2BoIf  f  beftättgt  roorben  coar,  coarfen  [tc^  in Deut[d)Ianb 
mel^rere  junge  9flaturforf(^er  mit  grofeem  (Eifer  auf  bie  genauere 
Hnter[uc^ung  ber  5^eimesge[cf)t(i)te.  Der  bebeutenbjte  voax  Raxl 
(Srnjt  Saer;  [ein  berül)mte5  ^auptroer!  er[d)ien  1828  unter  beut 
Xitel:  „(£nttDidfelungsge[d)id)te  ber  3:iere,  ©eoba^tung  unb  9{e= 
fleiion".  SRi(i)t  allein  [inb  barin  bie  33orgänge  ber  5leimbilbung 
ausge3eid)net  !Iar  unb  DoIIjtänbig  be[d)rieben,  [onbern  aud)  3al)l= 
reirfie  geijtoolle  Spehilationen  baran  gefnüpft.  Die  ätoei  blatt= 
förmigen  S(^i(t)ten,  tDeId)e  in  ber  runben  5^eimf(t)eibe  ber  t)öl)eren 
SBirbeltiere  3uerjt  auftreten,  serf allen  narf)  5Baer  3unä(^jt  in  je 
groei  ^Blätter,  unb  biefe  oier  Keimblätter  üertoanbeln  [xä)  in  oier 
9?ö!)ren.  Durct)  [et)r  oertoidelte  ^ro3e[[e  ber  (£pigene[is  entjtet)en 
baraus  bie  [päteren  Organe,  unb  3rüar  bei  bem  9Jien[d)en  unb  bei 
allen  SBirbeltieren  in  toefentlid)  glei(i)er  2Bei[e.  Unter  ben  Dielen 
ein3elnen  (£ntberfungen  von  Sa  er  roar  eine  ber  tDid)tigjten  bas 
men[(i)li(^e  (£i.  ^Bis  bal)in  l)atte  man  beim  9Jien[d)en,  loie  bei  allen 
anberen  Säugetieren,  für  (£ier  fleine  ©laschen  gel)alten,  bie  [id) 
3al)lreic^  im  (£ierftod  finben.  (£rjt  $Baer  3eigte  (1827),  "öa^  bie 
tt)al)ren  Gier  in  biefen  SBläscf)en,  ben  ,pSraaf[d)en  ^^ollüeln",  ein= 
ge[d)lo[[en  unb  oiel  fleiner  [inb,  kügeld)en  won  nur  0,2  mm  Durc^= 
me[[er,  unter  günjtigen  93erpltni[[en  eben  als  ^ün!td)en  mit 
bloßem  5luge  3U  [el)en.  ^ud^  entbecfte  er  3uer[t,  t>a^  aus  bie[er 
f leinen  (£i3elle  ber  Säugetiere  [id)  3unäd)[t  eine  d)ara!teri[ti[d)e 
5^eimbla[e  entmidelt,  eine  §ol)l!ugel  mit  flü[[igem  5nl)alt,  beren 
Sßanb  bie  bünne  5^eimt)aut  bilbet. 

(&xitlU  unb  Samenselle.  3et)u  ^al}Xt,  nad)bem  $Baer  ber 
(£mbrt)ologie  burd)  [eine  Äeimblätterlel)re  eine  fejte  ©runblage 
gegeben,  entftanb  für  bie[elbe  eine  neue  toid)tige  Aufgabe  burd)  bie 
Segrünbung  ber  3ßnentl)eorie  (1838).  2Bie  Derl)alten  [ic^  bas 
(£i  ber  Xiere  unb  bie  baraus  entfte^enben  5leimblätter  3U  htn  ®e= 
ojeben  unb  !^z\Un,  tüeld)e  "ütn  entmidelten  3:ierförper  3u[ammen= 
^en?  Die  rid)tige  SBeanttoortung  bie[er  inl)alt[d)töeren  S^rage 
elang  um  bie  9Jiitte  bes  19.  3ö^i^l)unberts  3mei  Sd)ülern  oon 
ol)annes  SJiüller:  9?obert  9?ema!  unb  Gilbert  5^ölli!er. 
Sie  tDie[en  nad),  ha^  bas  (£i  ur[prüngli^  nichts  anberes  i[t  als 
eine  einfad)e  3^^!^»  unb  ta^  aud)  bie  3a^lrei(^en  5^eim!örner  ober 
„gurc^ungsfugeln",  rDeld)e  burd)  u)ieberl)olte  Teilung  baraus 
ntftel)en,   einfad)e  3ßnen  [inb.     5(u5  biejen  „(5rurd)ungs3ellen" 

3* 


36  ajicttes  Äopltel. 


bauen  ]\ä)  3unad)ft  blc  5leimblättcr  ouf,  unb  tDeitcrl)tn  burd) 
Arbeitsteilung  ober  I)ifferen3ierung  ber[elben  bie  oer[d)iebenen 
Organe.  ÄöIIifer  enoarb  \xö)  bas  grofee  93erbienjt,  auc^  bie 
fd)Ieimarttge  Satnenflü[[ig!eit  ber  männli(i)en  3:iere  als  An= 
t)äufung  »on  mi!ro[!opi[(f)en  üeinen  3^nen  nad)3un)ei[en.  Die 
bct)oeöiid)en  jtednabclförmigen  „Samentierd)en"  (Spermatozoen) 
Hnb  md)ts  anberes  als  eigentümlid)e  „©eifeeljellen",  toie  ic^ 
(1866)  3uerjt  an  ben  Samenfäben  ber  Srf)tDämme  na(i)geioie[en 
^abe.  Damit. roar  für  beibe  roic^tige  3^iigungsftoffe  ber  3:iere, 
bas  männli(i)e  Sperma  unb  bas  ü3eiblid)e  (£i,  beojiefen,  ha^  oud) 
[ie  ber  3^nent^eorie  [id)  fügen. 

(5afträat^eorte.  ^llle  älteren  Unterfuc^ungen  über  5^eim= 
bilbung  betrafen  ben  9J?en[d)en  unb  bie  l)ö^eren  2BirbeItiere, 
üor  allem  aber  ben  23ogel!eim:  benn  bas  §ül)nerei  ijt  bas  größte 
unb  bequemjte  Objeü  bafür  unb  jtel)t  jeberseit  in  beliebiger  9J?enge 
5ur  93erfügung;  man  !ann  in  ber  Srutma[cl)ine  [el)r  bequem  bas 
(£i  ausbrüten  unb  bobei  jtünbli^  hit  ganse  9?eil)e  ber  Umbilbungen, 
Don  ber  einfad)en  (Siselle  bis  3um  fertigen  33ogelförper  innerl)alb 
breier  2Borf)en  beobad)ten.  Aud)  Sa  er  l)atte  nur  für  bie  t)er[d)ie= 
benen  5^la[[en  ber  3Birbeltiere  bie-Hbereinjtimmung  in  ber  d)araften= 
jti[cl)en  Silbung  ber  5leimblätter  unb  in  ber  (£ntjtel)ung  ber  einjelnen 
Organe  aus  berfelben  nac^toeifen  tonnen.  Dagegen  in  htn  ^ai)h 
reichen  5llaf[en  ber  2Birbello[en  — al[o  ber  großen  $0lel)r3al)l  ber 
Xiere  —  [d)ien  bie  i^eimung  in  töefentli^  t)er)d)iebener  2Bei[e 
abgulaufen,  unb  ben  meijten  [d)ienen  tDir!lid)e  i^eimblätter  ganj  ju 
fel)len.  (£rjt  um  bie  SJlitte  bes  19.  ^a^r^unberts  rourben  [old)e  au(^ 
bei  einseinen  2Birbello[en  na^geiDie[en,  [o  von  5^ölli!er  1844 
bei  ben  (£epl)alopoben  unb  üon  §uiler)  1849  bei  t>tn  9J?ebu[en. 
53e[onbers  tDid)tig  ujurbe  [cbann  bie  (£ntbec!ung  von  Äotoaleüsfi) 
(1866),  bafe  bas  nieberjte  SBirbeltier,  ber  Ban^elot  ober  Amphioxus, 
]\d)  genau  in  berfelben,  unb  3U3ar  in  einer  fel)r  ur[prüngli(^en  2Bei[e 
entiöicfelt  roie  ein  roirbellofes,  an[d)einenb  gans  entferntes  SÖJantel* 
tier,  bie  Seefd)eibe  ober  Ascidia.  'ütuä)  bei  t)er[d)iebenen 
SBürmern,  Sterntieren  unb  (Sliebertieren  toies  Rowahvstx)  eine 
äl)nlid)e  Silbung  ber  5leimblätter  na^.  5d)  [elbjt  toar  bamals 
([eit  1866)  mit  ber  (£nttöidelung5gefd)id^te  ber  Spongien,  i^orallen, 
9Jlebu[en  unb  Sipl)onopt)oren  be[d)äftigt,  unb  t>a  id)  aud)  bei  biefen 
nieberjten  Rla[[en  ber  oielselligen  Xiere  überall  biefelbe  ©ilbung 
üon  3tDei  primären  5^eimblättern  fanb,  gelangte  id)  3U  ber  Hber= 
seugung,  bafe  biefer  bebeutungsoolle  i^eimungsoorgang  im  gansen 
3;ierreid)e  berfelbe  ift. 

$ße[onbers  tDtd)tig  erfd)ien  mir  babei  ber  Umjtanb,  bafe  bei  t>tn 
Sd)tDommtieren  unb  bei  ben  niebcren  9fle[[eltieren   (^olppen, 


Unfcrc  ileimesgcfc^t^te.  37 

9}Zebu[en)  bcr  Äörpcr  lange  3ßtt  I)mbur^  ober  fcrbjt  jeftlebens  nur 
aus  stoei  etnfad)en  3^nenf(i)t(i)ten  befielt.  Sc^on  ^uilei)  f)atte 
[ie  bei  ben  9JJebu[en  mit  ben  beiben  primären  5leimblättern  ber 
SBirbeltiere  t)erglid)en.  ©cftü^t  auf  bte[e  ©eobad^tungen  unb 
93erglei(^ungen,  jtellte  id)  bann  1872  in  meiner  „Biologie  ber 
i^aI![d)roämme"  bie  „(5a[träatI)eorie"  auf,  beren  tDefentlic^jte 
fiel)r[ä^e  folgenbe  [inb:  I.  Dos  gange  3:ierreid)  jerfällt  in  jtoei 
ujefentlic^  t)er[d)iebene  $auptgruppen:  bie  einhelligen  Urtiere 
(Protozoa)  unb  bie  oiclgelligen  (Setoebtiere  (Metazoa);  ber  gange 
Organismus  ber  ^rotogoen  bleibt  zeitlebens  eine  einfad)e  3^ne 
(feltener  ein  loderer  3ßlfoerein  oI)ne  ©etoebebilbung,  ein  Coeno- 
bium).  II.  Dagegen  ijt  ber  Organismus  ber  SJletagoen  nur  im 
erjten  ^Beginn  eingellig,  [päter  aus  oielen  3enen  gufammengefe^t, 
toelc^e  ©eroebe  bilben.  III.  9lur  bei  tm  SJietagoen  entjtel)en 
u)ir!Ii(i)e  5^eimblätter,  unb  aus  biefen  ©etoebe,  bie  htn 
^rotogoen  noc^  gang  fel)len.  IV.  ©ei  allen  SJZetagoen  ent^en 
3unäd)jt  nur  groei  primäre  J^eimblätter ,  bie  überall  biefelbe 
tDe[entIirf)e  Sebeutung  f)aben:  aus  bem  äußeren  ^autblatt 
entu)icfelt  fid^  bie  äufeere  §autbede  unb  bas  ^Reroenfpjtem,  aus 
bem  inneren  Darmblatt  l)ingegen  ber  Darmfanal  unb  alle 
übrigen  Organe.  V.  Die  i^eimform,  tDelcf)e  überall  gunäd)jt  aus  bem 
befrud)teten  (£i  ()erDorgel)t,  unb  rDelrf)e  allein  aus  biefen  beiben 
primären  5^eimblättem  bejtel)t,  ijt  bie  Darmlaroe  ober  ber 
Sec^erfeim  (Gastrula);  it)r  bed) erförmiger,  giDeifd)id)tiger  Äörper 
um[(i)liefet  urfprünglid)  eine  einfacl)e  oerbauenbe  §ö^le,  "bzn 
Urbarm,  unb  beffen  einfache  Üffnung  ijt  ber  Urmunb.  Dies 
finb  bie  ältejten  Organe  bes  oielgelligen  3:ier!örpers ,  unb  bie 
beiben  3ellen[(i)id)ten  [einer  2ßanb  [inb  [eine  ältejten  (Seroebe; 
alle  anbcren  Organe  unb  (Setoebe  [inb  erjt  [päter  ([efunbär) 
baraus  l)ert)orgegangen.  VI.  3lus  bie[er  ©leic^artigfeit  ober 
Homologie  ber  (5a[trula  in  [ämtli^en  Stämmen  unb  i^la[[en 
ber  (Beroebtiere  gog  ic^  nad)  bem  ©iogeneti[c^en  (5runbge[e^e  htn 
Sd)lu^,  baJ5  alle  äRetagoen  ur[prünglid)  oon  einer  ge  = 
mcin[amcn  Stammform  abftamttien,  ©a[träa,  unb  t)a^ 
bie[e  uralte,  längjt  ausgejtorbene  Stammform  im  roejentlic^en  bie 
Rörperform  unb  3iif<iTnmen[e^ung  ber  l)eutigen,  burc^  93er* 
erbung  crl)altenen  ©ajtrula  ht^a^.  VII.  Die[er  pl)i)logeneti[(^e 
Sd)lufe  aus  ber  93ergleid)ung  ber  ontogeneti[(^en  !Iat[ad)cn  loirb 
aud)  baburd)  gered)tfertigt,  tia^  noc^  f)eute  eingelne  ©a[träaben 
eiijtieren,  [oroie  ältejte  (formen  anbercr  3:ierjtämme,  beren 
Organijation  [id)  nur  [el)r  ujenig  über  bie[e  legieren  ert)ebt. 
VIII.  <Bei  ber  weiteren  (£nttoidelung  ber  oer[d)icbenen  ©etoebtiere 
aus  ber  (Sajtrula  [inb  gtoei  oer[c^iebene  .^auptgruppen  5u  unter= 


38  S3icrtc5  Kapitel. 


[cf)cibcn:  Die  älteren  Sf^iebcrtiere  (Coelenteria)  bilben  nocf)  feine 
£eibe5l)öt)Ie  unb  befi^en  loeber  ^lut  noc^  Alfter;  bas  ijt  ber  gall 
bei  htn  ©afträaben,  Spongien,  ?le[[eltieren  unb  ^lattentieren. 
X)ie  jüngeren  Obertiere  (Coelomaria)  I)ingegen  befi^en  eine  ed)te 
£eibe5l)öl)Ie  unb  meijtens  aud)  Slut  unb  ^fter;  bal)in  get)ören 
bie  SBurmtiere  (Vermalia)  unb  bie  l)öl)eren  tr)pi[c^en  Xier» 
jtämme,  tDeId)e  fid)  aus  biefen  enttoicfelt  t)aben,  bie  Sterntiere, 
2Bei(i)tiere,  ©liebertiere,  SJlanteltiere  unb  SBirbeltiere. 

©tjelle  unb  Samenselle  bes  SRenfc^en.  Das  (£i  bes  StRenfc^en 
ift,  toie  bas  aller  anberen  ©ecoebtiere,  eine  einfädle  3^ne,  unb 
biefe  fleine  fugelige  (Siaelle  (oon  nur  0,2  mm  Durd)me[[er)  l)at 
biefelbe  ct)ara!terifti[(^e  $Be[cI)affen!)eit  mie  bie  aller  anberen, 
lebenbig  gebärenben  Säugetiere.  Dasfelbe  gilt  oon  t)tn  betoeg* 
liefen  Spermien  ober  Samenf äben  bes  SJiannes,  ttn  toingig 
Heinen,  fabenförmigen  ©eifeelsellen,  wtld)t  [ict)  3U  SJJillionen  in 
jebem  Xröpfd^en  bes  [<^Ieimartigen  männli^en  Samens 
(Sperma)  finben;  [ie  mürben  frül)er  megen  il)rer  Iebf)aften  ^Be* 
megung für befonbere  „Samentierd)en"  (Spermatozoa)  gel)alten. 
^lud^  bie  (£ntftel)ung  bie[er  beiben  rotct)tigen  (5e[d)Ie(i)ts3enen  in 
ber  ©efdiled^tsbrüfe  ijt  biefelbe  beim  9Jlen[(^en  unb  htn 
übrigen  Säugetieren;  fomol)l  bie  (Eier  im  (£ierftod  bes  2Beibes, 
als  bie  Samenfäben  im  ^oben  ober  Samenjtoc!  bes  SJlannes 
entftel^en  überall  auf  biefelbe  2Bei[e,  aus  ber  3ßnen[cf)ic^t,  meiere 
bie  fieibes^öl)Ie  ausfleibet. 

©ittpfängnis  ober  IBefru^tung.  Der  roi(f)tigfte  ^lugenblid 
im  £eben  eines  jeben  SJienfc^en,  mie  jebes  anberen  (Setoebtieres, 
ijt  ber  Womtni,  in  melc^em  [eine  inbioibuelle  (Siijtens  beginnt; 
es  ift  ber  ^ugenblicf,  in  meld)em  bie  ©efc^Ied^tssellen  ber  beiben 
(Eltern  3ufammentreffen  unb  3ur  5BiIbung  einer  einjigen,  einfad^en 
3eIIe  Derf(^mel3en.  Diefe  neue  3ßne,  bie  „befrud)tete  (£i3ene", 
ift  bie  inbioibuelle  Stamm3ene  (Cytula),  aus  beren  mieberI)oIter 
3:eilung  bie  3^^^^^  öer  i^eimblätter  unb  bie  (öaftrula  l)ert)orgel)en. 
(£rft  mit  ber  ©ilbung  biefer  Stammselle,  alfo  mit  bem  33organge 
ber  Sefru(^tung  felbft,  beginnt  bie  (£iiften3  ber  ^erfon, 
bes  felbftänbigen  (£in3elmefens.  Diefe  ontogenetifd)e  SXatfac^e  ift 
überaus  U5id)tig,  benn  aus  x\)X  allein  fd)on  laffen  fid)  bie  meiteft* 
reid^enben  Sd)Iüffe  ableiten.  3uTtäd)ft  folgt  baraus  hit  flare 
(grfenntnis,  ta^  ber  9Jienf(^,  gleii^  allen  anberen  ©emebtiereti, 
alle  perfönlic^en  C£igenfd)aften,  !örperlid)e  unb  geiftige,  oon  feinen 
beiben  (£Itern  burc^  23 ererbung  erl)alten  \)at;  unb  meiterl)in  bie 
tnf)altfd)mere  Überseugung,  ha^  bie  neue,  fo  entftanbene  ^erfon 
unmöglid)  ^nfpruc^  \)ahtn  lann,  „unfterblid)"  3U  fein. 

Die  feineren  93orgänge  bei  ber  (Empfängnis  unb  ber  gefd)led)t- 


Un[erc  5leimc5gc[(^td^tc.  39 

\\6)tn  3eugung  übcr!)aupt  [inb  bat)cr  oon  allcrl)öd^jtcr  2Btd)ttg!ett; 
fie  [inb  uns  in  i^ren  (£in3elt)eitcn  erjt  [eit  1875  befannt  getoorben. 
t)a5  cinsigc  roefentlidjc  Ereignis  bei  ber  Sefrud^tung  ijt  bie  33er= 
fd)mel3ung  ber  beiben  ®e[^led)t53ellen  unb  il)rer  Äerne.  33on  ben 
SKillionen  ntännli(f)er  (Seifeeljellen,  a)el(f)e  bie  toeiblirfie  (£i3elle 
um[c^o)ännen,  bringt  nur  eine  ein3ige  in  beren  ^lasmaförper  ein. 
I)ie  Äerne  beiber  3^IIen,  ber  Spermafern  unb  ber  (Eifern,  t)er= 
[d)mel3en  miteinanber.  So  entjtef)t  eine  neue  3^ne,  coeli^e  bie 
erblid^en  C£igen[d)aften  beiber  (Sltern  in  fid)  oereinigt;  ber  Sperma» 
fern  überträgt  bie  oäterlirfien,  ber  (Eifern  bie  mütterli(f)en  (£f)arafter= 
3üge  auf  bie  Stamm3ene,  aus  ber  \id)  nun  bas  i^inb  entroicfelt; 
bas  gilt  ebenfo  von  t)tn  förperlid)en  uoie  oon  ben  geijtigen  (£igen= 
[(^aften. 

iletmanlage  bes  9Renf(^en.  Die  Silbung  ber  i^eimblätter 
burd)  roieber^olte  3:eilung  ber  Stamm3ene,  bie  (£ntjtef)ung  ber 
(Saftrula  unb  ber  tDeitert)in  aus  il)r  f)erDorge!)enben  ileimformen 
gef(^ief)t  beim  9Jien[d)en  genau  [o  u)ie  bei  titn  übrigen  l)öt)eren 
Säugetieren,  unter  benfelben  eigentümli(i)en  ©e[onberf)eiten, 
tt)cld)e  bie[e  ©ruppe  cor  htn  nieberen  3BirbeItieren  au53ei(f)nen. 
X)ie  bebeutungsDolIe  Reimform  ber  (E^orbula  ober  „(Ef)orbaIarr)e", 
bie  3unäd)ft  aus  ber  (Sajtrula  entjte^t,  3eigt  bei  allen  2ßirbeltteren 
im  tDe|entIid)en  bie  gIei(i)e5SiIbung:  ein  einfacher  geraber^d)[enjtab, 
bie  (If)orba,  gel)t  ber  fiänge  nad)  burd)  bie  $auptad)[e  bes  Iängli(^= 
runben,  [d)ilbförmigen  5lörpers  (bes  „5leimid)ilbe5");  oberhalb 
ber  (£f)orba  enttoidelt  [id)  aus  bem  äußeren  5leimblatt  bas  9tüden= 
marf,  unterl)alb  bas  Darmrot)r.  Dann  erft  erfc^einen  3U  beiben 
Seiten,  red)t5  unb  linfs  com  ^d)[enftab,  bie  5^etten  ber  „ÜrtDirbel", 
bie  Anlagen  ber  SJlusfelpIatten,  mit  benen  bie  (Slieberung  bes 
3BirbeItierförpers  beginnt.  33orn  am  Darm  treten  beiberfeits  bie 
5^iemen[p alten  auf,  bie  Öffnungen  bes  S(^Iunbes,  burc^  töeld)e 
urfprünglid)  bei  unfercn  gi[d)af)nen  bas  vom  9Plunbe  aufgenommene 
^temtoaffer  an  ben  Seiten  bes  5^opfes  nad)  aufeen  trat,  ^n  3ät)er 
23ererbung  treten  biefe  5liemenfpalten,  bie  nur  bei  ben  fi[d)= 
artigen,  im  2Ba[fer  lebenben  23orfat)renft)on  ^ebeutung  toaren, 
auc^  I)eute  nod)  beim  JIRenfc^en  roie  bei  allen  übrigen  2ßirbeltieren 
auf;  [ie  oerfc^roinben  [päter.  Selbjt  nac^bem  [d)on  am  i^opfe  bie 
fünf  $irnbla[en,  [eitttd)  bie  Anfänge  ber  ^ugen  unb  Ol)ren  [id)tbar 
getöorben,  nad)bem  om  ^Rumpfe  bie  Anlagen  ber  beiben  Seinpaare 
in  i^orm  runblic^er  platter  5^no[pen  aus  bem  fifd)artigen  9Jien[(^en- 
feim  l)ert>orge[profet  finb,  ift  t>t\\zn  Silbung  berjemgen  anberer 
SBirbeltiere  noc^  [o  ä^nlid),  bafe  man  [ie  nid)t  unter[d)eiben  fann. 

itt^nlt^feit  ber  aBttbelttcrfetme.  Die  tDe[entlid)e  Über* 
cin^timmung  in  ber  äußeren  Äörperform  unb  bem  inneren  ©au, 


40  33ierte5  Äapitel. 


tDcld^c  bie  (Embryonen  bes  9Jlen[cf)cn  unb  ber  übrigen  23ertebraten 
in  bic[er  frül)cren  JBilbungsperiobe  aeigen,  ijt  eine  embrriolo* 
gi[d)e  Xatfa^e  erften  Klanges;  aus  i^r  Ia[[en  [ic^  nad)  bem 
Siogenetifd)en  ©mnbgefe^e  bie  roic^tigjten  Sd)lü[fe  ableiten. 
:Denn  es  gibt  bafür  feine  anbete  (Srüärung  als  bie  5lnnal)me  einer 
33ererbung  von  einer  gemeinfamen  Stammform.  2Bcnn  toir 
[ef)en,  t^a^  in  einem  bestimmten  Stabium  bie  i^eime  bes  9J?en[d)en 
unb  bes  ^ffen,  bes  $unbes  unb  bes  i^anind)ens,  bes  Sd)roeines 
unb  bes  Sd)afes  scoar  als  l)öl)ere  SBirbeltiere  erfennbar,  aber  [onjt 
nid)t  3U  unter[(^eiben  [inb,  [o  !ann  biefe  Zat]ad)t  nur  burcf)  ge= 
meinfame  ^bjtammung  erflärt  toerben.  Diefe  (Erflärung  erfc^eint 
um  [o  [id)erer,  toenn  roir  bie  [päter  eintretenbe  Sonberung  ober 
X)it)ergen3  jener  i^eimformen  oerfolgen.  3^  näl)er  [id)  3tDei  2:ier= 
formen  in  ber  gefamten  5lörperbilbung  ftel)en,  bejto  länger  bleiben 
[ic^  aud)  if)re  (£mbrt)onen  äl)nlid),  unb  bejto  enger  l)ängen  fie  audf) 
im  Stammbaum  ber  betreffenben  (Sruppe  gufammen,  bejto  näl)er 
[inb  [ie  „jtammüertoanbt".  !Dal)er  erfd) einen  bie  (£mbn)onen  bes 
9Jlen[cl)en  unb  ber  9Kenfd)enaffen  auc^  [päter  nod)  \)'öä)\i  ä^nlid), 
auf  einer  l)od^  enttoicfelten  Silbungsjtufe,  auf  toel^er  il)re  Unter* 
[c^iebe  üon  ben  (£mbrr)onen  anberer  Säugetiere  [ofort  er!enn= 
bar  [inb. 

2)te  aetiti^üneit  bes  SWcnfci^ett.  Die  l)of)e  Sebeutung  ber 
^hm  be[pro(i)enen  5ll)nlid)!eit  tritt  nii^t  nur  bei  93erglei(l)ung 
ber  2Birbeltier*C£mbri)onen  [elbjt  f)erDor,  [onbern  au^  bei  ber= 
jenigen  il)rer  5leimpllen.  (Es  3eic^nen  [id)  nämlid)  alle  SBirbel» 
tiere  ber  brei  f)öl)eren  Rla[[en,  ^Reptilien,  33ögel  unb  Säuge« 
tiere,  vox  ben  nietferen  5^la[[en  bur(^  bie  JBilbung  eigentümli(^er 
(£mbrr)onan)üllen  aus,  bes  Amnion  (2Ba[[erl)aut)  unb  bis  Sero- 
lemma {[erö[e  §aut).  3^  bie[en  mit  2Ba[[er  gefüllten  Säden  iegt 
ber  (£mbrr)o  einge[d)lo[[en  unb  i[t  baburd^  gegen  Drud  unb  Stofe 
ge[d)ü^t.  Die[e  aroedmäfeige  Sd)U^einrid)tung  ijt  tDal)r[c^einli^ 
erjt  entjtanben,  als  bie  ältejten  Reptilien  (^roreptilien),  bie  ge» 
mein[amen  Stammformen  aller  ^mniontiere,  oolljtänbig  an 
bas  £anbleben  [id)  anpaßten.  Sei  i^ren  bireften  33orfal)ren,  \)^n 
^mp^ibien,  fel)lt  bie[e  ^üllenbilbung  nod)  eben[o  mie  bei  ben 
gi[d)en;  [ie  toar  bei  bie[en  2Ba[[erbetöol)nern  überflü[[ig.  SJJit  ber 
(Srmerbung  bie[er  Sc^u^pllen  jte!)en  hti  allen  ^mnioten  noc^ 
3toei  anbere  33eränberungen  in  engem  3ii[oTnmenl)ang,  erjtcrs 
ber  gän3lid)e  S3erlu[t  ber  i^iemen  (tt)äl)renb  bie  5^iemenbogen  unb 
bie  Spalten  ba3tDi[d)en  als  „rubimentäre  Organe"  [id)  forterben), 
unb  3meitens  bie  ^Bilbung  ber  ^llantois.  Die[er  bla[enförmige, 
mit  ^a[[er  gefüllte  Sad  mäd)[t  bei  bem  (£mbri)o  aller  ^mniontiere 
aus  bem  (Snbbarm  l}cnjor  unb  ijt  md)ts  anberes  als  bie  uergrö^erle 


Unfcrc  Äcimc5gcf^td)tc.  41 


$ambla[cber^mp^tbtcn=^^nen.  5lu5tl)rem  innersten  unb  untersten 
3:exle  bilbct  [td)  fpäter  bte  bletbenbc  §arnbla[c  ber  ^mntotcn, 
toäbrenb  bcr  gröfeerc  äufeerc  Xcil  rüdgcbilbct  toirb.  (5ctoöf)nIi(^ 
[ptelt  btefer  eine  3ßilIöTtg  eine  u)id)tige  5ioIIe  als  ^ttmungsorgan 
bes  (£mbn)o,  inbem  [id)  mächtige  ©lutgefäfee  auf  [einer  2Banb 
ausbreiten.  Sorool)!  bie  (Sntjte^ung  ber  5leintpIIen,  als  auc^  ber 
^Ilantois  ge[(^iel)t  beim  9Jlen[d)en  genau  eben[o  wie  bei  allen 
anberen  ^Imnioten  unb  burd^  biefelben  oertöidelten  ^rojeffe  bes 
2ßad)stums;  ber  9Jlen[(^  i[t  ein  ed)tes  ^mriiontier. 

ÜJte  ^lacenta  bes  URenfd^en.  Die  (£mäf)rung  bes  menfc^Iic^en 
5^eimes  im  SOlutterleibe  ge[d)ief)t  burrf)  ein  eigentümli(i)es,  äufeerft 
blutreid)e5  Organ,  bie  [ogenannte  Placenta,  ben  ^berfuc^en  ober 
93lutgefäfefu(f)en.  Sie  rairb  nacf)  erfolgter  ©eburt  bes  5linbes 
abgelöjt  unb  als  [ogenannte  „91acl)geburt"  ausgeftofeen.  Die 
placenta  bejtel)t  aus  3U)ei  tDe[entli(^  r>er[c^iebenen  3^eilen,  bem 
|^rud)t!ud)en  ober  ber  ünblid^en  placenta  unb  bem  9}luttcr  = 
!ud)cn  ober  bem  mütterli(i)en  (5efäfe!u(f)en.  Dicfer  le^tere  entt)ält 
reic^  enttüicfelte  ^Bluträume,  xDel(l)e  i\)x  Slut  buri)  hk  ©efäfee  ber 
(Gebärmutter  3ugefül)rt  erl)alten.  Der  i5rud)tfuc^en  bagegen  loirb 
aus  3al)lrei(i)en  oeräjtelten  3otten  gebilbet,  tDeld)e  oon  ber  ^ujgen* 
flä(i)e  ber  !inbli(i)en  ^llantois  t)eroortoad)[en  unb  i\)x  Slut  oon 
beren  9?abelgefäfeen  be3iel)en.  Die  l)ol)len,  blutgefüllten  3otten 
bes  iJru(i)t!u(f)ens  toaci^fen  in  bie  ©luträume  bes  2)iutter!ud)ens 
l)inein,  unb  bie  sarte.  Sd)eibetDanb  3tDi[(f)en  beiben  toirb  [o  [el)r 
oerbünnt,  ^io.'iß  tiuxd)  [ie  l)inburcl)  ein  unmittelbarer  Stoffaustaufd^ 
ber  ernäbrenben  ®lutflü[[ig!eit  erfolgen  !ann. 

3n  'i>^n  einseinen  ©ruppen  ber  3ottentiere  ift  bie  ^usbilbung 
bes  9Jiutter!ucl)ens  toefentlic^  oer[cl)ieben.  $örf)jt  tDicl)tig  ijt  nun 
bie  erjt  1890  tjon  (£mil  Selenfa  entbedte  Üatfai^e,  bafe  gerabe 
bie  9Jlen[d)enaffen,  befonbers  ber  Drang  (Satyrus),  mit  bem 
9[Ren[^en  getoiffe  (£igentümlicf)feiten,  bie  \id)  [onjt  nirgenbs  finben, 
gemeinfam  I)aben  (Siel)e  ben  23.  93ortrag  meiner  ^ntt)ropogenie). 
9n[o  bejtätigt  fiel)  aucl)  l)ier  toieber  ber  ^itl)ecometra[a^  oon 
$uilei):  „Die  Unterf^iebe  3tDi[cl)en  b«m  S[Ren[d)en  unb  'ütn 
90?enfrf)enaffen  finb  geringer  als  biejenigen  3tDi[c^en  "ötn  le^teren 
unb  t)tn  nieberen  ?lffcn."  Die  angeblicl)en  „$Beroeife  gegen  bie 
nol)e  ©lut6DcrtDanbt[d)aft  bes  9Jlen[c^en  unb  ber  ^ffen"  ergaben 
fid)  bei  genauer  Unter[ud)ung  ber  tat[äd)lic^en  93erl)ältni[fe  aud) 
bier  iDieber  umge!el)rt  als  tüid)tige  ©rünbe  3ugun[ten  berfelben. 

3eber  9flaturforfd)er,  ber  mit  offenen  ^ugen  in  biefe  bunfeln, 
ober  böd)ft  intereffanten  fiabi)rintl)gänge  unferer  5leimesge[(^ic^tc 
einbringt,  unb  ber  imjtanbe  ijt,  [ie  fritifd)  mit  berjenigen  bcr 
übrigen  Säugetiere  3u  t)ergleid)cn,  toirb  in  benjclben  bie  bebeutungs* 


42  fünftes  Äapitel. 


üolljten  fii(^tträger  für  bas  23er|tänbm5  unferer  Stammesgefi^tc^te 
finben.  Denn  bte  t)cr[d)tcbenen  Stufen  ber  5letmbtlbung  toerfen 
als  33ererbung5  =  ^l)änomene  ein  I)elle5  £id)t  auf  bie  entfpre= 
6:)tnt>tn  Stufen  unferer  ^t)nenreit)e,  gemäfe  bem  ®togenettfd)en 
©runbgefe^e.  (i^ap.  5.)  5tber  auc^  bie  ^npaf[ung5erfd)ei= 
nungen,  bie  Silbung  ber  oergänglii^en  (£mbri)onaIorgane  — 
ber  (i)arafterifti[d)en  5^eiml)üIIen,  unb  cor  allem  ber  ^lacenta  — 
geben  uns  ganj  bejtimmte  ^uffd)Iüf[e  über  unferena^e  Stamm  = 
t)ertüanbt[d)afi  mit   htn   Primaten. 


fünfte«  Kapitel. 

ünfere  Sfatnmeögefcj^id^fe* 

9}^oniftifc^c    6tubien    über    Itrfprung    unb    'i^bftammimg 

be^  9!ReufcI;cn   oon   ben  QBirbeltieren,   gunäc^ft   oon   bcn 

Äerrentieren. 

Der  jüngste  unter  htn  grojgen  3ioeigen  am  lebenbigen  $Baumc 
ber  Biologie  ijt  biejenige  9laturtoi[[en[d^aft,  roelc^e  roir  Stammes  = 
ge[d)id)te  ober  ^I)i)Iogenie  nennen.  Sie  l)at  fict)  nod)  roeit 
[päter  unb  unter  üiel  größeren  Sct)röierig!eiten  enttoidelt  als  il)rc 
natürlid)e  Sd)tDejter,  bie  5leimcsge[d^id)te  ober  Ontogenie.  Diefe 
l)atte  3ur  Aufgabe  bie  (£r!enntnis  ber  gel)eimnist)onen  3Sor= 
gänge,  burd)  U3el(i)e  [i^  bie  organifd^en  ^^J^^oibuen,  bie  CBinjel« 
loefen  ber  Xiere  unb  ^flansen,  aus  bem  (£i  enttoicfeln.  Die 
Stamme5ge[d)i(^te  t)ingegen  l)at  bie  oiel  bunüere  unb  [cf)tDierigere 
grage  3U  beantworten :  „2Bie  [inb  bie  organi[d)en  Speaies  ent= 
jtanben,  bie  einseinen  ^rten  ber  3:iere  unb  ^flanjen?" 

Die  Ontogenie  !onnte  3ur  £ö[ung  it)rer  nat)e  liegenben  ^uf= 
gab«  3unäd)ft  unmittelbar  ben  empiri[(i)en  2ßeg  ber  ^Beobachtung 
betreten;  [ie  brau(i)te  nur  Xüq  für  3^ag  unb  Stunbe  für  Stunbe 
bie  [id)tbaren  Umbilbungen  3U  »erfolgen,  tDeId)e  ber  organif^e 
5leim  innert)alb  furser  3ett  roät)renb  ber  (Sntroicfelung  aus  bem 
(£i  erfät)rt.  23iel  f(i)röieriger  toar  oon  i)orn{)erein  bie  ^uf= 
gäbe  ber  ^^i)Iogenie;  benn  bie  langfamen  ^ro3e[[e  ber 
allmählichen  Hmbilbung,  roelc^e  bie  (Entjte^ung  ber  3:ier=  unb 
^^flansenarten  betoirfen,  ooll3iel)en  [ic^  unmer!U(^  im  33erlaufe 


Urilcre  Stammc5gc[d)td)tc.  43 

Don  3öf)ttau[enbcn  unb  ^a^rmillioncn;  tf)rc  unmittelbare  23 c= 
oba(i)tung  tjt  nur  in  [el)r  engen  ©renken  möglich,  unb  ber  roeitous 
größte  2eil  bie[er  t)ijtori[d)en  23orgänge  !ann  nur  inbireft  er[d)Io[f en 
©erben :  bur^  t)ergleid)enbe  Senu^ung  üon  entptrt[d)en  Urfunben, 
bie  [c!)r  Der[d)iebenen  (Gebieten  anget)ören,  ber  Paläontologie, 
Ontogcnie  unb  9[Rorpl)oIogie.  Da3U  fam  noc^  bas  getoaltige 
§inberni5,  toelc^es  ber  natürlid)en  Stamme5ge[d)id)te  burd^  bie 
enge  23er!nüpfung  ber  „S(^öpfung5ge[d)id^te"  mit  übernatürli(t)en 
9Jli)tf)en  unb  religiöfen  Dogmen  bereitet  tourbe;  es  ijt  bal)er  be* 
greiflief),  bafe  bie  u)inenf(i)aftlid)e  ßiijtenj  ber  tDat)ren  Stammes» 
ge[(f)id)te  erft  unter  oiclen  9Jlüf)en  unb  [d)tüeren  5lämpfen  er= 
rungen  unb  ge[i(^ert  toerben  mufete. 

aRt)t^if(J^e  6d^öpfund$9ef(^i(^te.  ^Ile  ernjtlid)en  33er[uci^e, 
roelc^e  bis  3um  ^Beginne  bes  19.  5al)rl)unbert5  jur  ^Beanttoortung 
bes  Problems  oon  ber  (£ntjtef)ung  ber  Organismen  unternommen 
iDurben,  blieben  in  bem  mt)tf)oIogi[(^en  £abi)rint^e  ber  über= 
natürlid)en  Sd)öpfungs[agen  fteden.  (Sinselne  SBemüt)ungen 
t)erüorragenber  X)en!er,  [ic^  oon  biefem  gu  befreien  unb  ju  einer 
natürlid)en  ^ffaffung  gu  gelangen,  blieben  erfolglos.  Die 
mannigfaltigjten  S(^öpfungsmT)tf)en  entroidelten  fid)  bei  allen 
älteren  5^ulturDöI!em  im  3ii[<i^Tnen^ang  mit  ber  9leIigion,  unb 
roäl)renb  bes  SJlittelalters  toar  es  naturgemäß  bas  gur  §err[d)aft 
gelangte  (£:t)riftcntum,  tDeld)es  bie  Seanttoortung  ber  S(i)öpfung5= 
frage  für  fid)  in  ^nfprud^  nat)m.  Da  bie  $BibeI  als  bie  uner[d)ütter= 
lic^c  ©runblage  bes  d)rijtlid)en  9leIigionsgebäubes  galt,  lourbe  bie 
ganse  (5d)öpfungsgefci^ic^te  bem  erjten  5Bud)e  SJtofes  entnommen, 
^uf  biefes  jtü^te  [ic^  aud)  nod)  ber  grofee  fd)tt)ebifd)e  9^aturfor[d)er 
C£arl  £inne,  als  er  1735  in  [einem  grunblegenben  „Systema 
Naturae"  ben  erjten  93er[ud)  ju  einer  fi)jtemati[d)en  Orbnung, 
Benennung  unb  5^laf[ifi!ation  ber  un3ät)Iigen  Derfd)iebenen  91atur= 
förper  unternat)m.  ^Is  bejtes,  praftifc^es  Hilfsmittel  berfelben 
füf)rte  er  bie  befannte  boppelte  91amengebung  ein;  jeber  cinjelnen 
^rt  öon  Vieren  unb  ^flansen  gab  er  einen  befonberen  5lrtnamen 
unb  ftellte  biefem  einen  allgemeinen  (S^ttungsnamen  ooran. 
3n  einer  ©attung  (Genus)  rourben  bie  nä'(t)|tt)eru)anbten  ^rtcn 
(Species)  sufammengejtellt. 

§öd)it  oertjängnisDoII  tourbe  für  bie  SBiffenf^aft  bas  tt)eoreti[c^e 
Dogma,  tDeId)es  [d)on  üon  £inne  [elbjt  mit  [einem  prafti[d)en 
Spe3iesbegriffc  oer!nüpft  tourbe.  Die  er[te  S^age,  roelc^e  [ic^  bem 
bentenben  Sr)[temati!er  aufbrängen  mußte,  toar  natürlid)  bie  ^xüqz 
nad)  bem  eigentlichen  9Be[enbes  Spejies'^egriff  es,  nad)  5nl)alt 
unb  Umfang  besfelben.  Unb  gerabe  bie[e  ©runbfrage  beanttoortete 
[ein  Sd)öpfer  in  noio^ter  2Bci[c,  in  ^nlei)nung  an  ben  allgemein 


44  tJünftes  Äapitcl. 


gültigen  2Ro[ai[cf)cn®(i)öpfung5mi)tt)U5:  „(Ss  gibt  fo  oicl  Dcrfdiicbcne 
^rtcn,  als  im  anfange  oom  unenblid^en  ^t\zn  Der[cf)iebcnc  formen 
crfc^affen  coorbcn  finb".  SERit  bicfcm  Dogma  mar  jcbc  natürlicf)c 
(£r!Iärung  ber  ^rtcntjte{)urtg  abgcfc^nittcn.  fiinn^  !anntc  nur  bie 
gegcntDärtig  eiijtierenbc  3:ier=  unb  ^flanjcntDcIt;  er  f)atte  feine 
^l)nung  von  t)tn  t)iel  3at)Irei(i)eren  ausgejtorbenen  ^rten,  roeId)e 
in  t>tn  früt)eren  ^erioben  bcr  (£rbge[d)id^te  unferen  Crbball  in 
toec^felnber  ©ejtaltung  beoöüert  I)aben. 

(£rjt  im  anfange  bes  19.  3at)rl)unberts  tourben  bie[e  foffilen 
3:iere  burd)  duoier  nät)er  befannt.  (£r  gab  in  [einem  berüt)mten 
2Ber!e  über  hk  foffilen  5^noct)en  ber  oierfüfeigen  2BirbeItierc  (1812) 
bie  erjte  genaue  5Befd)reibung  unb  richtige  Deutung  3al)Ireict)er 
S3erjteinerungen.  3uglei(^  coies  er  nad),  bafe  in  ben  oerfc^lebenen 
^erioben  ber  (£rbgefd)i(i)te  eine  9?ei^e  oon  ganj  oerfd^iebenen 
Xierbeoölferungen  aufeinanber  gefolgt  toar.  Da  nun  (luoicr 
l)artnädig  an  fiinn^s  ßel)re  oon  ber  abfoluten  93ejtänbig!eit  ber 
Spe3ie5  fejtf)ielt,  glaubte  er  il)re  (£ntjtet)ung  nur  burct)  bie  5ln= 
nal)me  erüären  gu  !önnen,  ha^  eine  5teit)e  oon  großen  5^atajtropt)en 
unb  Don  coieberl)oIten  ^Reufc^öpfungen  in  ber  (£rbgef(t)i(^te  auf 
einanber  gefolgt  [ei;  im  beginne  jeber  großen  (Srbreoolution  [ollten 
alle  lebenben  ©e[cf)öpfe  t)emid)tet  unb  am  (^ntt  berfelben  eine 
neue  Seoölferung  er[d^affen  toorben  [ein.  £)bglei<^  biefe  5^ata* 
jtropl)entl)eorie  oon  (£uoier  gu  ben  ab[urbe[ten  (Folgerungen 
fül)rte  unb  auf  t>tn  nadften  SBunberglauben  l)inau5lief,  geroann  [ie 
borf)  balb  allgemeine  ©eltung  unb  blieb  bis  auf  Dartoin  (1859) 
^err[d)enb. 

Iransformtsmus.  (5oetl)e.  Dafe  bie  l)errf(^enben  23or= 
[tellungen  oon  ber  ab[oluten  Sejtänbigfeit  unb  übematürli(i)en 
Sd)öpfung  ber  organifc^en  ^rten  tiefer  benfenbe  ^ox\d)tx  nic^t 
befriebigen  !onnten,  ift  leicht  einjufe^en.  Datier  finben  toir  benn 
[^on  in  ber  jtoeiten  ^älfte  bes  a(^t3el)nten  3al)rl)unberts  einselne 
^eroorragenbe  (Seifter  mit  93er[ud)en  be[ct)äftigt,  ju  einer  natur= 
gemäßen  £ö[ung  bes  großen  „Sd^öpfungsproblems"  3u  gelangen. 
Tillen  Doran  ujar  unfer  größter  Did)ter  unb  Denfer  SBolfgang 
©oet^c  bur^  [eine  t)ieliäl)rigen  unb  eifrigen  morpl)ologi[c^en 
Stubien  [(t)on  am  (£nbe  bes  18.  3al)r^unberts  ju  ber  tlaren  (£in[id)t 
in  iitn  inneren  3ii[<iTnmenl)ang  aller  organi[d)en  formen  unb  3U 
bcr  fejten  Hberseugung  eines  gemeinfamen  natürlid)en  Ur[prungs 
gelangt.  3n  [einer  berül)mten  „5Retamorpl)o[e  ber  ^flansen" 
(1790)  leitete  er  alle  Der[d^iebenen  formen  ber  ©etüäct)[e  oon  einer 
Urpflanse  ab,  unb  alle  oer[(i)iebenen  Organe  ber[elben  oon  einem 
Hrorganc,  bem  ^latt.  3n  [einer  3Birbcltl)eorie  bes  Sd^öbels  oer* 
[uc^te  er  ju  seigcn,  bafe  bie  (5d)äbel  aller  ocrjc^iebenen  SBirbeltierc 


Unfcrc  Stammcs9e|d)l(I)te.  45 

—  mit  S^^CQnff  bes  9Kcn[(f)en  !  —  in  glci(i)cr  2Bci[c  aus  bestimmt 
georbnctcn  5^no(i)engruppen  jufammengefe^t  [cien,  unb  bafe  bie[e 
leiteten  nid^ts  onbercs  [cien  als  umgcbilbete  SBirbcl.  ©rabc 
feine  eingel)enben  Stubien  über  üergleid^enbe  5lnod)enIeI)re  l)atten 
(5  0  e  tf)  e  3U  ber  f ejten  Übergeugung  von  ber  (£inl)eit  ber  Drganifation 
gefül)rt;  er  f)atte  erfannt,  t)a^  bas  5lnocf)engerüjt  bes  9Jlen[cf)en  nad) 
bemfelben  3^t)pus  3u[ammenge[e^t  [ci  toie  bas  aller  übrigen 
2BirbeItiere  —  „geformt  nad)  einem  Urbilbe,  bas  nur  in  [einen 
fel)r  bejtänbigen  3^eilen  mel)r  ober  toeniger  t)in=  unb  {)ertDeid)t  unb 
[icf)  nod)  tägli(i)  burcf)  gortpflanjung  aus*  unb  umbilbet"  — .  Die[e 
Hmbilbung  ober  Transformation  läfet  ©oeti^e  burd)  t^ie  bejtänbige 
2Becf)[eIrDir!ung  üon  jtoei  geftaltenben  ©ilbungsfräften  ge[d)et)en, 
einer  inneren  3^^tripetalfraft  bes  Organismus,  bem  „Spesififa« 
tionstrieb",  unb  einer  äußeren  3ß^trifugal!raft,  bem  SSariations* 
trieb  ober  ber  „5bee  ber  9JletamorpI)o[e";  erjtere  ent[prid)t  bem, 
roas  toir  l^eute  93ererbung,  le^tere  bem,  toas  roir  ^npaffung 
nennen.  3ßie  tief  ©  o  e  tt)  e  burd)  biefe  naturp]E)ilo[opt)i[c^en  Stubien 
über  „©Übung  unb  Umbilbung  organi[d)cr  9laturen"  in  beren 
2Be[en  eingebrungen  toar,  unb  inroiefern  er  bemnad)  als  ber  be= 
beutenbjte  33orIäufer  oon  Darroin  unb  £amard  betrad)tet 
werben  fann,  ijt  aus  htn  intere[[anten  Stellen  [einer  2Berfe  ju 
er[et)en,  rDeId)e  id)  im  oierten  S3ortrage  meiner  9ZatürIi(^en 
Sd)öpfungsge[d)id)te  3u[ammenge[tent  t)abe.  3^1  meinem  33ortrage 
über  „Die9'^aturan[d)auungt)onDartDin,  ©oett)eunbfiamard" 
((£i[enad)  1882)  l)aht  id)  bics  näl)er  begrünbet.  I)od)  famen  bie[e 
naturgemäßen  (gnttoidelungsibeen  oon  ©oetI)e,  eben[o  roie  ät)n= 
Iid)e  33or[tenungen  oon  5lant,  D!cn,  3:retjiranus  unb  anberen 
9^aturpl)iIo[opt)en  im  ^Beginne  bes  19.  3öt)rt)unberts  ni^t  über 
getDi[[e  allgemeine  Überzeugungen  l)inaus.  (£s  fehlte  it)nen  nod) 
ber  große  §ebel,  be[[en  txt  „natürliche  Sd)öpfungsge[c^id)te"  3U 
it)rer  ©egrünbung  bur^  bie  Äriti!  bes  Spejiesbogma  beburfte, 
unb  biefe  oerbanfen  U3ir  erjt  £amard. 

2)efäettbett5t^eone  ober  tWbftamtnuttgsle^rc.  £amard(1809). 
Den  erften  eingel)enben  93er[u^  ju  ein^  u)i[[en^d)aftlid)en  ©e= 
grünbung  bes  3^ransformismus  unternäl)m  im  beginne  bes 
19.  3at)rl)unberts  ber  große  fran3ö[i[d)e  91aturpt)iIo[op^  ^tan 
Jßamard,  ber  bebeutenbfte  ©egner  [eines  i^ollegen  (i^uoier  in 
^aris.  S^on  1802  I)atte  ber[elbe  in  [einen  „^Betra^tungen  über 
bie  lebenben  S^laturförper"  bie  ba^nbredjenben  5bcen  über  bie 
Unbeftänbigfeit  unb  Umbilbung  ber  Wirten  ausge[prod)en,  bie  er 
bann  1809  in  htn  3toei  Sänben  [eines  tieffinnigften  3!Ber!es,  ber 
Philosophie  zoologique,  einget)enb  begrünbete.  $ier  fül)rte 
ß a  m  ar  d  3um  crjtcn  SJlale  —  gegenüber  bem  l)err[d)cnbcn  Speaies* 


46  fünftes  Äopitcl. 


X)ogma  —  bcn  rid^tigcn  ©ebanfen  aus,  bafe  bie  orgam[d)c  „^rt 
ober  Spezies"  eine  !ün[tltd)e  ^bftraftion  [et,  tin  ©egriff 
üon  relatioem  3Berte,  ebenfo  tote  bie  übergeorbneten  ^Begriffe  ber 
©attung,  O^ömilte,  Orbnung  unb  i^laffe.  (£r  bel)auptete  ferner, 
ba^  alle  Wirten  ceränberlid)  unb  im  £aufe  [ef)r  langer  3ßiträume 
aus  älteren  ^rten  burd)  Hmbilbung  entftanben  [eien.  X)ie  ge= 
meinfamen  Stammformen,  »on  benen  biefelben  abjtammen,  roaren 
urfprünglid)  ganj  einfalle  unb  niebere  Organismen;  bie  erjten  unb 
ältejten  entjtanben  burd)  Urseugung.  3Bäf)renb  burd)  93 ererbung 
ber  3:i)pus  [ic^  bejtänbig  ertjält,  roerben  anberfeits  burd)  ^n  = 
paffung,  burc^  ©etool)nf)eit  unb  Hbung  ber  Organe,  bie  ^rten 
allmäl)lid)  umgebilbet.  %u<i)  unfer  menfcl^Iid)er  Organismus  ijt 
auf  biefelbe  na1ürUd)e  SBeife  burd)  Hmbilbung  aus  einer  5Reit)e  oon 
affenartigen  Säugetieren  entjtanben.  ^ür  alle  biefe  33orgänge, 
toie  überl)aupt  für  alle  (£rfd) einungen  in  ber  9latur  unb  im  ©eiftes* 
leben,  nimmt  ßamard  ausfd)liefelid)  mec^anifd)e,  pl)r)fi!alifd)e 
unb  d)emifc^e  93orgänge  als  toa^re,  beu)ir!enbe  Urfad^en  an.  Sein 
Sßerf  entt)ält  bie  (Elemente  für  ein  rein  moniftif^es  9latur[i)ftem 
auf  ©runb  ber  (SnttDidelungsIeI)re. 

^Ran  ^ätte  erroarten  f ollen,  b"afe  biefer  großartige  33erfud),  bie 
^Ibjtammungslel^re  ober  X)ef3enben3tl)eorie  toiffenfc^aftlid)  ju  be= 
grünben,  alsbalb  ben  t)errfd)enben9Jlt)tl)Us  oon  ber  Spe3ies[d)öpfung 
erfd)üttert  unb  einer  natürlid)en  (£nttDidelungslel)re  ^a\)n  gebrod)en 
l)ätte.  S^ö'iff^^  oermoi^te  £amard  gegenüber  ber  tonferoatioen 
Autorität  feines  großen  (Segners  (i^uoier  ebenfotoenig  burd)= 
3ubringen,  toie  jtoansig  ^a\)xt  fpäter  fein  5^ollege  unb  ©efinnungs» 
genoffe  (56offrot)  St.  §ilaire.  Die  berül)mten  Äämpfe,  roelc^er 
biefer  9'laturpi)ilofopl)  1830  im  Sd)oße  ber  ^arifer  ^fabemie  mit 
duüier  3U  beftel)en  l)atte,  enbigten  mit  einem  üollftänbigen  Siege 
bes  le^teren.  Die  mäd)tige  (Entfaltung,  tDeld)e  3U  jener  3eit  bas 
empirif^e  Stubium  ber  Biologie  fanb,  bie  gülle  üon  intereffanten 
(Sntbedungen  auf  bem  (Sebiete  ber  t)ergleid)enben  Anatomie  unb 
^t)r)fiologie,  bie  Segrünbung  ber  3ellentl)eorie  unb  bie  (5rortfd)rittc 
ber  Ontogenie  gaben  ben  3ooIogen  unb  Sotanüem  einen  fold)en 
Überfluß  oon  bantbarem  ^rbeitsmaterial,  baß  barüber  bie  fd)U)ierige 
unb  bunfle  S^rage  nad)  ber  (£ntftel)ung  ber  Wirten  gans  oergeffen 
Bourbe.  'SRan  berul)igte  fid)  bei  bem  alt^ergebrad)ten  Sd)öpfungs= 
Dogma.  Selbjt  nac^bem  ber  große  englifd)e  9fiaturforfd)er  (£l)arle5 
2x)tU  1830  in  feinen  ^rinsipien  ber  ©eologie  t>it  abenteuerlid)e 
5^atajtropI)entl)eorie  oon  (tuoier  roiberlegt  unb  für  bie  anorganifd)e 
5Ratur  unferes  Planeten  einen  natürlichen  unb  !ontinuierli(^en 
(Sntioidelungsgang  nac^getoiefen  l)atte,  fanb  fein  einfad)cs  Äon= 
tinuität5prin3ip  feine  ^Inroenbung  auf  bie  organifd)e  9lotur.    Die 


Unferc  Stammc5gc|d)i^tc.  47 

Anfänge  bcr  natürltd)en  ^l)r)Iogcntc,  roeId)c  in  ßamarcfs  3Ber!e 
Dcrborgen  lagen,  tourben  cbcnfo  ücrgcffcn,  tote  bie  Reime  3U  einer 
natürlichen  Ontogenie,  mtlä)t  50  ^ai)xt  frül)er  (1759)  Ö^afp ar 
3friebri(^2ßolffin  [einer  3^eorie  ber  ©eneration  gegeben  f)atte. 
§ier  toie  bort  oerflofe  ein.  tjolles  l)albes  3flf)i^^unbert,  el)e  bie  be= 
beutenbjten  ^httn  über  natürliche  (Enttoicfelung  bie  gebül)renbe 
^ner!ennung  fanben.  (£rjt  na(i)bem  Dartöin  1859  bie  ßöfung  bes 
Sd()öpfung5problem5  von  einer  gan3  anberen  Seite  angefajgt  unb 
ben  reicf)en,  in3tt)i[d)en  angefainmelten  <B6:)ai^  von  etnpiri[cf)en 
Renntniffen  glüdlic^  ba3u  üerroertet  ^atte,  fing  man  an,  [ic^  auf 
fiamar  df,  als  feinen  bebeirtenbjten  33orgänger,  tüieber  3U  befinnen. 

Selefttonsl^eorte.  Dartüin  (1859).  Der  beifpiellofe  (Erfolg 
von  (£l)arles  I)artx»in  ift  allbe!annt.  Rein  anberer  von  ben  3at)l= 
md)tn  grojgen  (5eiite5l)elben  unferer  3ett  l)at  mit  einem  ein3igen 
!la[[ifcf)en  2Ber!e  einen  [o  getoaltigen,  [o  tiefgel)enben  unb  fo  um= 
faffenben  (Erfolg  er3ielt,  toie  t)artDin  1859  mit  feinem  berüt)mten 
Öaupttoerl:  „Über  bie  (£ntjtel)ung  ber  ^rten  im  3:ier=  unb  ^flan3en= 
reid)  burd^natürli(^e3ücl)tung  ober(£rl)altung  ber  oeroolKommneten 
9?affen  imRampfe  ums  T)afein."  ©etoife  l)at  bie5?eform  ber  t)er= 
gleicf)enben  Anatomie  unb  ^l)i)fiologie  burc^  ^o^^anms  9Jiüller 
ber  gan3en  ^Biologie  eine  neue,  frud)tbare  (£pocl)e  eröffnet,  getoife 
toaren  bie  93egrünbung  ber  3ßnentl)eorie  burd)  Scf)letbe,n  unb 
Scf)tDann,  bie 9?eform ber  Ontogenie  burd)  Saer ,  bie  $Begrünbung 
bes  Subjtansgefe^es  burcf)  ^Robert  'Max)tx  unb  $elml)ol^ 
tt)iffenfcl^aftli(^e  ©rofetaten  erften  Ülanges;  aber  feine  oon  il)nen 
l)at  nad)  3^iefe  unb  ^lusbel^nung  eine  fo  getoaltige,  unfer  gan3e5 
menfcf)lic^es  3Biffen  umgejtaltenbe  9Bir!ung  ausgeübt,  toie 
I)artDins  !tf)eorie  von  ber  natürlichen  (£ntftel)ung  ber  ^rten. 
Denn  bamit  toar  ja  bas  mt)jtifcl)e  „Scf)öpfungsproblem"  gelöjt, 
unb  mit  il^m  bie  int)altsfd)toere  „^i^age  aller  (5^agen",  bas  Problem 
Dom  wa\)xtn  3Befen  unb  oon  ber  CEntjte^ung  bes  9Jlenfd)en  felbjt. 

93erglei^en  toir  bie  beiben  großen  SBegrünber  bes  3^ran5= 
formismus,  fo  finben  toir  bei  ßamard  übertoiegenbe  Steigung  3ur 
Debuftion  unb  3um  (Snttourfe  eines  t)olljtänbigen  5Raturbilbes, 
bei  Dartöin  f)ingegen  Dort)errfci)enfce  ^ntüfenbung  ber  ^Ttbuftion 
unb  bas  t)orfict)tige  95emü^en,  bie  ein3elnen  3:eile  ber  X)ef3enben3= 
tl)eorie  burcf)  5Beobacl)tung  unb  (Experiment  möglid)ft  fieser  3U  be= 
grünben.  2Bäl)renb  ber  fran3öfifcl)e  9iaturpl)ilofopl)  ben  bamaligen 
Rreis  bes  empirifd)en  SBiffens  toeit  überfcf)ritt  unb  eigentlicf)  bas 
Programm  ber  3ufünftigen  5orfcf)ung  entt»arf,  l)atte  ber  englifcf)e 
(Experimentator  umge!el)rt  ben  großen  33orteil,  bas  einigenbe 
(£r!lärungsprin3ip  für  eine  9Jlaffe  von  empirifcf)en  Renntniffett  3U 
begrünben,  bie  bis  bal)in  unt)erjtanben  ftcf)  angel)äuft  l)atten.    So 


48  fünftes  aapitcl. 


crflärt  CS  [id),  bofe  ber  (Erfolg  oon  t)artDin  cbcnfo  übcrtDälttgcnb, 
lüic  bcrjentge  von  Qamaxd  Dcr[d)tDmbenb  toar.  Dariöin  I)attc 
aber  nid)i  allein  bas  grofee  3Serbtenjt,  bie  allgemeinen  CBrgebntffe 
ber  oerfc^iebenen  biologi[ci)en  gor[d)ung5!rei[e  in  bem  gemein= 
[amen  $ßrennpun!te  bes  Defsenbensprinaips  5U  [ammeln  unb 
babur(^  einl)eitlid)  gu  erflären,  [onbern  er  entbedte  aud)  in 
bem  Sele!tionöprtn3ip  jenen  tt)id)tigen  ga!tor  ber  Umbilbung, 
töeld^er  ß a  mar  d  nocf)  gef el)lt  ^atte.  S^tbem  D arto in  als  pra!ti[d)er 
!i:ier3ü(^ter  bie  (£rfal)rungen  ber  !ünftlicl)en  3ud)tt»af)l  auf  bie 
Organismen  im  freien  91atur3ujtanbe  antoenbete  unb  in  bem 
„i^ampf  ums  "t)a[ein"  bas  auslefenbe  ^rinjip  ber  natürlid^en 
3ud)tu)al)l  entbedfte,  [c^uf  er  [eine  bebeutungsoolle  Sele!tions= 
tl)eoric,  htn  eigerttlid)en  !r)artDini5mus. 

Stammesgefc^it^te  (^^^logente)  (1866).  Unter  bcn  ^al)U 
reid^en  unb  roid^tigen  Aufgaben,  tDeld)e  D  arte  in  ber  mobernen 
Biologie  [teilte,  er[d^ien  als  eine  ber  näd)[ten  bie  9ieform  bes 
30ologi[d)en  unb  botani[d)en  St)  [tems .  2Benn  bie  un3äl)ligen  3:ier= 
unb  ^flan3enarten  ni(^t  burd)  übernatürlid)e  SBunber  „er[d)affen", 
[onbern  burd)  natürlid)e  Hmbilbung  „enttoidelt"  roaren,  [0  ergab 
[id)  bas  „natürlid)e  Sr)[tem"  ber[elben  als  il)r  Stammbaum. 
I)en  er[tcn  3)er[ud),  bas  Sr)[tem  in  bie[em  Sinne  um3uge[talten, 
unternal)m  id)  [elb[t  (1866)  in  meiner  „Generellen 9Jiorpl)ologie 
ber  Organismen".  ®is  bal)in  l)atte  man  unter  „(£nttDide  = 
lungsge[d)id)te"  [otöol)l  in  ber  3oologie  als  in  ber  Sotani! 
aus[d)liefelid)  biejenige  ber  organi[d)en  3^^toi^ußn  t)er[tanben. 
3d)  begrünbete  bagegen  bie  5ln[id)t,  ba^  bie[er  5leime5ge[d)id)te 
(Ontogenie)  als  3iDciter,  gleic^bered)tigter  unb  eng  oerbunbener 
3t»eig  bie  Stammesge[d)id)te  (Phylogenie)  gegenüberjtel)e. 
Seibe  3tDeige  ber  (£nttDidelung5ge[d)id)te  [tel)en  nad)  meiner  ^uf= 
fa[[ung  im  eng[ten  !au[alen  3ii[ammenl)ang ;  bie[er  berul)t  auf  ber 
2Be(^fela)ir!ung  ber  iöererbungs^  unb  ^npa[[ung5ge[e^c;  er  fanb 
[einen  prä3i[en  unb  umfa[[enbcn  ^usbrud  in  meinem  allgemein 
gültigen  „^iogeneti[d)en  (5runbge[e^". 

IRatürlid^e  Sc^öpfunösgefi^t^tc  (1868).  Da  bie  neuen,  in 
ber  „(Generellen  9JiorpI)ologie"  niebergelegten  5(n[(^auungen  tro^ 
i^rer  [treng  tt)i[[en[d)aftlid)en  iya[[ung  bei  "ötn  [ad)funbigen  ^ad)= 
geno[[en  [el)r  töenig  $ßea(^tung  unb  no(^  toeniger  Beifall  fanben, 
t)er[u(^te  ic^,  htn  tx)id)tig[ten  3:eil  ber[elben  in  einem  Heineren, 
mcl)r  populär  gel)altenen  2Ber!e  einem  größeren,  gebilbeten  £e[er= 
trei[e  sugänglid)  3u  mad)en.  Dies  ge[d)al)  1868  in  ber  „91atürlid)en 
S(^öpfungsge[d^id)te"  ((5emeini)er[tänblid)e  tt)i[[en[d)aftlic^e  3Sor= 
träge  über  bie  (£nttoidelungslel)re  im  allgemeinen  unb  biejenige  oon 
Dartoin,  (5oetl)e  unb  fiamard  im  be[onberen).   SBcnn  ber  get)offtc 


Unfere  StaTnmc5gefd)id)tc.  49 

(Erfolg  ber  „Ocncrellen  9Jlorpl)oIogie"  tocit  unter  meiner  bere(^= 
ttgten  CBrtDartung  blieb,  [o  ging  umgefe^rt  berjenige  ber  „5Ratür= 
Iid)en  Sd)öpfungsgefdE)i(i)te"  roeit  über  biefelbe  l)inaus.  %xo^ 
[einer  großen  SO^ängel  \)ai  biefes  Sud)  toä)  oiel  baju  beigetragen, 
bie  ©runbgebanfen  unferer  mobernen  (£nttDic!eIung5lel)re  in 
uoeiteren  5^rei[en  5U  oerbreiten.  ^Ilerbings  fonnte  id)  meinen 
^auptstoetf,  bie  pI)r)Iogeneti[^e  Itmbilbung  bes  natürlid)en 
Si)jtems,  bort  nur  in  allgemeinen  Umri[[en  anbeuten.  ^^tbeffen 
I)abe  icf)  bie  au5fül)rlirf)e,  bort  oermifete  Segrünbung  bes  pl)r)Io= 
geneti[d)en  Si)jtem5  [päter  in  einem  größeren  2Berfe  nad)get)olt, 
in  ber  „©pftematifc^en  ^^i)Iogenie"  ((Entcourf  eines  natür« 
Iicf)en  Si)item5  ber  Organismen  auf  ©runb  it)rer  Stammes» 
gefc^i^te).  Der  erfte  Sanb  berfelben  (1894)  bet)anbelt  bie  ^ro- 
tijten  unb  ^flanjen,  ber  jroeite  (1896)  bie  toirbellofen  Xiere,  ber 
britte  (1895)  bie  Sßitbeltiere.  Die  Stammbäume  ber  Heineren 
unb  gröjgeren  ©ruppen  [inb  f)ier  [o  loeit  au'sgefüt)rt,  als  es  mir 
meine  5^enntnis  ber  brei  großen  „3tammesur!unben"  geftattete, 
ber  Paläontologie,  Ontogenie  unb  S[Rorpt)oIogie. 

Siogenetift^es  ©runbgefe^.  Den  engen,  urfärf)lid)en  3"' 
[ammenl)ang,  u)eld)er  nad)  meiner  Xlber^eugung  5töi[(^en  beiben 
3töeigen  ber  organifc^en  (Entxöi(lelungsge[ct)td)te  bejtel)t,  l)atte  id) 
f^on  in  ber  ©enerellen  9Jiorpt)oIogie  als  einen  ber  xoid)tigjten 
^Begriffe  bes  Xransformismus  l)erDorget)oben  unb  einen  präjifen 
^lusbrud  bafür  in  met)reren  „Xt)e[en  oon  bem  5lau[alneius  ber 
biontifd^en  unb  ber  pt)i)Ieti)(^en  (Snttoidelung"  gegeben:  „Die 
Ontogenefis  ijt  eine  furge  unb  [d)nene  9lefapituIation 
ber  ^I)pIogene[is,  bebingt  burd)  bie  pI)t)[iologifd)en  ^runWionen 
ber  33ererbung  (gortpflansung)  unb  ^npaffung  ((£rnät)rung)". 
Sd)on  Darroin  l)atte  (1859)  bie  grofee  ^Bebeutimg  [einer  Xt)eorie 
für  h\t  (Srüärung  ber  (£mbri)oIogie  betont,  unb  S^ife  SD^üIIer 
I)atte  bie[elbe  (1864)  an  bem  5Bei[pieIe  einer  einseinen  !Iier!Ia[[e, 
ber  5lrebstiere,  erläutert,  in  ber  geijtoollen  üeinen  Schrift:  „Srür 
Dario  in"  (1864).  ^d)  [elb[t  l)aht  bann  bie  allgemeine  ©eltung 
unb  bie  funbamentale  ©ebeutung  jenes  5Biogeneti[d)en  (5runb= 
ge[e^es  in  einer  5?eit)e  üon  arbeiten  nad53utDei[en  üer[ud)t,  ins= 
be[onbere  in  ber  Biologie  ber  5^al![d)töämme  (1872)  unb  in  "ötn 
„Stubien  3ur  ©a[träatI)eorie"  (1873—1884).  Die  bort  aufgejtellte 
fiet)re  oon  ber  Homologie  ber  Reimblätter,  [otoie  oon  ben  23er* 

|l)ältni[[en  ber  ^alingeme  (^us3ugsge[^id)te)  unb  ber  3cwos 
fienie  (Störungsge[d)id)te)  ijt  [eitbem  burd)  3al)lrei(^e  arbeiten 
onberer  3oologcn  bejtätigt  toorben;  bur^  [ie  ijt  es  mögli(^  ge= 
toorben,  bie  natürlid)en  (5e[e^e  ber  (£inl)eit  in  ber  mannigfaltigen 
J^eimesge[d)id)te  ber  3^iere  nad)5uroei[en;  für  il)re  Stammes* 
Äocdel,  QBctträffct.  4 


50  (fünftes  Äopitcl. 


ge)d)id)te  ergibt  [ic^  baraus  bic  gemeinfame  Ableitung  von  einer 
einfad)jten  ur[prünglid)ett  Stammform. 

i^ntl^topodeme  (1874).  Der  toeitfd^auenbe  SBegrünber  ber 
^bjtammung5lel)re,  Qamaxä,  l)atte  [d)on  1809  rii^tig  erfannt, 
"üa^  [ie  allgemeine  ©eltung  be[i^e,  unb  bafe  al[o  aud)  ber  SJienfc^, 
oIs  bas  l)öä)\i  enttoidelte  Säugetier,  von  bemfelben  Stamme  ab= 
5uleiten  [ei,  roie  alle  anberen  Säugetiere,  unb  biefe  löeiter  l)inauf 
Don  bemfelben  älteren  3^^W  «^^s  Stammbaums,  roie  bie  übrigen 
SBirbeltiere.  (£r  I)atte  aud)  [c^on  auf  bie  33orgänge  I)ingetDie[en, 
burd)  toeId)e  hit  ^bftammung  bes  äJlenfd)en  oom  ^ffen, 
als  bem  näd)jtDen»anbten  Säugetiere,  töi[fenfd)aftlid)  erflärt 
u)erben  !önne.  Dartoin,  ber  naturgemäß  ju  berfelben  Überseu* 
gung  gelangt  toar,  ging  in  feinem  ^aupttoer!  (1859)  über  biefe 
anftöfeigfte  Folgerung  [einer  ßet)re  ab[id)tlid)  l)inu)eg  unb  \)ai 
bie[elbe  erft  [päter  (1871)  in  [einem  2Berfe  über  „i)ie  Ulbftammung 
bes  9pf?enfd)en  unb  bie  ge[d)led)tlid)e  3ii<^ttüai)r'  geijtreic^  aus= 
geführt.  3Tt3toi[c^en  f)atte  aber  fd)on  fein  ^^reunb  öuilei)  (1863) 
jenen  tDid)tigjten  3folge[c^lufe  ber  ^bjtammungslel)re  [e^r  [d)arf= 
[innig  erörtert  in  [einer  berül)mten  fleinen  Sd)rift  über  bie  „3ßiig= 
ni[[e  für  bie  Stellung  bes  9Jien[d)en  in  ber  9latur".  ^n  ber  §anb 
ber  t)ergleid)enben  Anatomie  unb  Ontogenie  unb  gejtü^t  auf  bie 
3;at[ad)en  ber  Paläontologie  seigte  §uxler),  ^a^  bie  „^bjtammung 
bes  9Jlen[d)en  oom  ^ffen"  eine  notioenbige  5lon[equen3  bes 
T)artoinismus  [ei,  unb  ha^  eine  anbere  tDi[[en[d)aftlic^e  (£r!lärung 
Don  ber  (Sntfte^ung  bes  9Kenfc^enge[c^le^ts  überf)aupt  ni(^t  ge= 
geben  toerben  !önne. 

^Is  roeitere  (Folgerung  bie[er  toic^tigen  (£r!enntnis  ergab  fid) 
bie  [d)rDierige  ^lufgabe,  nid)t  nur  bie  näc^ftoerroanbten  Säugetier* 
5lt)nen  bes  SOUn[d)en  in  ber  Xertiärßeit  gu  erfor[d)en,  [onbem 
aud)  bie  lange  5ReiI)e  ber  älteren  tieri[^en  33orfa]^ren,  roeldie  in 
früheren  3eiträum,en  ber  (£rbge[d)id)te  gelebt  unb  tDät)renb  un= 
ge3äl)lter  5at)rmillionen  [i^  enttoidelt  l)atten.  t)ie  l)i)potl)eti[d)e 
£ö[ung  bie[er  großen  l)i[tori[d)en  Aufgabe  liatte  \ä)  \d)on  1866  in 
ber  (Öenerellen  äRorpl)ologie  Derfud)t;  roeiter  ausgeführt  l)abe  id) 
bie[elbe  1874  in  meiner  ^ntl)ropogenie  (I.  Xeil:  i^eimesge* 
[d)ic^te;  II.  Xeil:  Stammesge[d)id)te).  3)ie  fünfte  umgearbeitete 
Auflage  bie[e5  $Bud)es  (1903)  entl)ält  biejenige  Darjtellung  ber 
(£ntrDidelung5ge[d)id)te  bes  9Jien[d)en,  u)eld)e  bei  bem  gegen= 
toärtigen  3u[tanbe  un[erer  Ur!unben!enntnis  [id)  bem  fernen  3iel^ 
ber  2Bal)rl)eit  nad)  meiner  per[önlic^n  3luffa[[ung  am  meijten 
näl)ert;  id)  toar  babei  [tets  bemüht,  alle  brei  empiri[d)en  Hrfunben, 
bie  Paläontologie,  Ontogenie  unb  äRorp^ologie  (ober  üer= 
glei^enbe  Anatomie),  möglid)jt  gleid)mäßig  unb  im  3u[ammcn«= 


Unfere  Stamme5ge[(i)i^tc.  öl 

^ange  3U  benu^cn.  Std)er  iDerbcn  btc  l)ier  gegebenen  'X)t\^tnhtn^=' 
^i)potf)e[en  im  einzelnen  burd)  fpätere  pI)i)logenettfcf)e  (5or[d)ungen 
melfa^  ergänzt  unb  bend)tigt  toerben;  aber  thtn  [o  [ic^er  jtel)t  für 
mid)  bte  Überzeugung,  tta'^  ber  bort  enttöorfene  Stufengang  ber 
men[d)It(i)en  (5tamme5ge[^td)te  im  großen  unb  ganzen  ber  2Bol)rI)eit 
ent[prid)t.  "^zrin  bie  f)i[tori[d)e  9?eiI)enfoIge  ber  2ßirbel  = 
tieroerfteinerungen  ent[prid)t  oolljtänbig  ber  morpt)oIogif(i)en 
(SntxDidelungsreil^e,  toeldie  uns  bie  Dergleict)enbe  Anatomie  unb 
Ontogenie  entf)ünt:  auf  bie  [iluri[c^en  ^i\d)t  folgen  bie  beoonifc^en 
fiurd)fi[(^e,  bie  farboni[d)en  ^mpl)ibien,  bie  permifd^en  5?eptilien 
unb  bie  mefozoifd^en  Säugetiere;  oon  biefen  er[d)einen  roieberum 
3unäd)jt  in  ber  Xrias  bie  nieberjten  grormen,  bie  ©abeltiere  (Mono- 
tremen),  bann  im  ^ma  bie  Beuteltiere  (Marsupialien)  unb  barauf 
in  ber  ilreibc  bie  ältejten  3ottentierc  (Piacentalien).  23on  biefen 
legieren  treten  toieber  junäd^ft  in  ber  älteften  3:ertiär3eit  bie  nieber= 
jten  ^rimatenal)nen  auf,  bie  Halbaffen,  barauf  bie  eckten  ^ffen, 
unb  scoar  oon  hzn  Catarrhinen  3uerjt  bie  $unbsaffen  (Cynopi- 
theken),  [päter  bie  9P'ien[d)enaffen  (Anthropomorphen);  aus  einem 
3tDeigc  biefer  legieren  ift  toä^renb  ber  ^liozänseit  ber  [praci)Io[e 
5lffenmen[d)  entjtanben  (Pithecanthropus  alalus),  unb  aus 
biefem  enblicf)  ber  [pred)enbe  9}len[rf). 

23icl  fd)ix»ieriger  unb  unfid)erer  als  biefe  i^ette  unserer  2BirbeI  = 
tier  =  5l^nen  ijt  biejenige  ber  Dort)ergel)enben  toirbellofen  ^l)nen 
3U  erfor[d)en;  benn  oon  ii)ren  roeid^en  [!eIettIo[en  i^örpern  fennen 
coir4eine  oerjteinerten  Hberrejte;  bie  Paläontologie  fann  uns  ^ier 
feinerlei  3^U9Tii5  liefern.  Hm  [o  tDid)tiger  toerben  f)ier  bie  Ur= 
tunben  ber  oergIei(f)enben  Anatomie  unb  Ontogenie.  Da  ber 
menfd)li(f)e  5leim  benfelben  Chordula-3uftanb  burd)Iäuft  roie  ber 
(£mbrr)o  aller  anberen  SBirbeltiere,  ha  er  [id)  ebenfo  aus  3ix)ei  5^eim= 
blättern  einer  Gastrula  enttoidelt,  fc^Iiefeen  wix  nad)  bem  23io= 
geneti[d)en  ©runbgefe^e  auf  bie  frül)ere  (£iiften3  ent[pred)enber 
^^nenformen  (Vermalien,  Gastraeaden).  Soor  allem  toid^tig  aber 
ijt  bie  funbamentale  3:at[ad)e,  bafe  and)  ber  i^eim  bes  9JZeti[d)en, 
glei^  bemjenigen  aller  anberen  Stiere,  [ic^  urfprünglirf)  aus  einer 
einfachen  ä^lle  entroidelt;  benn  biefe  Stamm3elle  (Cytula)  — 
bie  „befrud)tete  (£i3elle"  —  üoeijt  3iBeifenos  auf  eine  ent[precl)enbe 
ein3ellige  Stammform  l)in,  ein  uraltes  Protozoon. 

Orür  unfere  moni[ti[d)e  $t)ilo[opl)ie  ift  es  übrigens  3unäd)jt 
3iemlid)  gleid) gültig,  roie  fid)  im  ein3elnen  bie  Stufenreil)e  unferer 
üßorfal)ren  nod)  [id)erer  fejtjtellen  la[[en  toirb.  ^üx  [ie  bleibt  als 
fiebere  l)iftori[d)e  Xat[ad)e  bie  folgen[dE)U)ere  (Srtenntnis  be= 
fte^en,  bal3  ber  STieufd)  3unäd)jt  oom  ^ffen  abstammt, 
tDeiterl)in  oon   einer  langen  9?eil)e  nieberer  SBirbeltiere.     Die 

4* 


62  fünftes  Äapitcl. 


Iogi[d)c  a3cgrünbung  biefcs  Sa^es  l)abc  i^  [d)on  1866  im  [iebcnten 
5ßud)c  ber  „©cnerellcn  9Jlürpf)ologie"  betont  (S.  427):  „I)er 
Sa^,  bafe  ber  95Ien[(^  ]i(i)  aus  nieberen  SBirbeltieren,  unb  stoar 
5unäd)jt  aus  ed)tcn  ^ffen,  entroidelt  \)a\,  \\i  ein  [pesieller  X)ebu!* 
tion5[(i)Iufe,  ber  ficf)  aus  bem  generellen  3^öu!tionsge[e^e  ber 
!De|3enben3tt)eorie  mit  abfoluter  9^otiDenbig!eit  ergibt." 

93on  größter  ^ebeutung  für  bie  befinitiüe  gejtjtellung  unb 
^nerfennung  biefes  funbam entölen  Sa^es  [inb  bie  paläonto* 
Iogi[(f)en  (Sntbcdungen  ber  legten  Dejennien  geworben; 
insbefonbere  I)oben  uns  bie  überrafc^enben  ^'U^ibe  oon  3aI)Ireid^en 
ausgeftorbenen  Säugetieren  ber  Xertiärseit  in  t)tn  Stanb  gefegt, 
bie  6tammesge[d)i^te  biefer  rDi(i)tigften  3:ier!Ia[[e,  oon  ben 
nieberjten,  eierlegenben  9Jlonotremen  bis  jum  9Jien|d)en  I)inauf, 
in  it)ren  (5runb3ügen  !Iar3uIegen.  X)ie  oier  §auptgruppen  ber 
3ottcntiere,  bie  formenreic^en  fiegionen  ber  ^Raubtiere,  9lage^ 
iiere,  Huftiere  unb  §errentiere,  erfd)einen  burd)  tiefe  Älüfte  ge= 
trennt,  roenn  toir  nur  bie  t)eute  nod)  lebenben  (Epigonen  als  3Ser= 
treter  berfelben  ins  5luge  fa[[en.  Diefe  illüfte  toerben  aber  ooll^ 
fommcn  ausgefüllt  unb  bie  [d)arfen  Unter[(^iebe  ber  oier  £egionen 
9än3li(^  oerroifc^t,  üoenn  roir  if)re  tertiären,  ausgestorbenen  25or* 
fat)ren  oergIeid)en,  unb  toenn  toir  bis  in  bie  eo3äne  (5e[d)id)ts= 
bämmerung  ber  ältejten  3:ertiär3eit  I)inabjteigen.  X)a  finben  toir 
bie  grofee  Unterflaffe  ber  3ottentiere,  bie  l)eute  mel)r  als  2500  ^rten 
umf  afet,  nur  burd)  eine  geringe  3ö^I  »on  Heinen  unb  unbebeutenben 
„Ur3ottentieren"  oertreten;  unb  in  biefen  Prochoriaten  er[cf)efnen 
bie  (It)ara!tere  jener  oier  bioergenten  fiegionen  [o  gemi[ct)t  unb 
oertDifc^t,  bafe  toir  fie  oernünftigertDeife  nur  als.  gemeinfame 
S3orfal)ren  berfelben  beuten  fönnen.  Sie  befi^en  alle  im 
u)efentli(i)en  biefelbe  58ilbung  bes  i^no^engerüftes  unb  basfelbe 
tr)pi[d)e  ©ebijj  ber  ur[prünglic^en  ^Ia3entalien  mit  44  3ät)nen; 
[ie  3eid)nen  fid)  alle  burd)  bie  geringe  ©rö^e  unb  bie  unoollfommene 
33ilbung  it)res  (5el)irns  aus;  [ie  l)aben  alle  !ur3e  Seine  unb  fünf= 
3el)ige  ^iX^t,  bie  mit  ber  flad)en  Sol)le  auftreten.  Sei  mand)en 
biefer  ältejten  3ottentiere  ber  (£o3än3eit  roar  es  anfangs  3roeif ell)aft, 
ob  man  [ie  3U  ben  ^Raubtieren  ober  ^Ragetieren,  3U  htn  Huftieren 
ober  §errentieren  [teilen  [ollte;  [o  [et)r  näl)ern  [xd)  l)ier  unten 
bie[e  oier  großen,  [päter  [o  [el)r  Der[d)iebenen  fiegionen  ber  ^la= 
3entalien.  Un3U)eifell)aft  folgt  baraus  i\)x  gemeinfamer  Ur= 
[prung  aus  einer  ein3igen  Stammgruppe.  X)ie[e  Ursottentiere 
lebten  [d)on  in  ber  t)orl)ergel)enben  5lreibeperiobe  unb  [inb  tüal)r= 
[d)einlid)  aus  einer  ©ruppe  oon  tn[eftenfre[[enben  Beuteltieren 
l)erDorgegangen. 

Die   tDid)tig[tcn   oon   allen   neueren   paläontologi[d)en   (^nt^ 


Un[crc  Stamme5gef(i)t(f)tc.  53 


bccfungen,  tDcId)e  bic  (5tamTnesgefd)tcf)tc  bcr  3ottcntterc  aufgcüärt 
l)abcrt,  betreffen  unferen  eigenen  Stamm,  bte  ßegton  ber  ^erren^ 
ttere  (Primates).  grüt)er  roaren  oerjitemerte  9?efte  berfelben 
äufeerjt  [elten.  9^od)  (£ut)ter ,  ber  grofee  ©rünber  ber  Paläontologie, 
bel)auptete  bis  gu  [einem  3:obe  (1832),  ha^  es  !eine  93erfteinerungen 
oon  Primaten  gäbe;  gtoar  l)atte  er  [elbjt  [d)on  ben  Sd)äbel  eines 
eo3änen  Halbaffen  (Adapis)  befd^rieben,  il^n  aber  irrtümlicf)  für 
ein  §uftier  gel)alten.  5n  'ütn  legten  Desennien  [inb  aber  gut 
ert)altene,  oerjteinerte  Sfelette  oon  Halbaffen  unb  5(ffen  in 
3iemlid)er  3«^^  entbedt  morben;  barunter  befinben  [id)  alle  bie 
tDid)tigen  3tDi[<^ß"9lteber,  roel^e  eine  3u[ammenl)ängenbe  ^l^nen* 
fette  üon  ben  ältejten  §oIbaffen  bis  3um  9Jten[^en  t)inauf  bar* 
jtellen. 

I)er  berüt)mtejte  unb  intere[[antejte  von  biefen  foffileti  S^unben 
ift  ber  ocrfteinerte  ^ffenmenfcf)  oon  ^a^ö,  töel(i)en  ber 
t)onänbifd)C  9JiiIitärar3t  (Eugen  Dubois  1891  entbecft  ^at,  ber 
üielbefproc^ene  Pithecanthropus  erectus.  (£r  i[t  in  ber  iat  bas 
oieIge[ud)te  „Missing  link",  bas  angeblich  „fet)Ienbe  ©lieb"  in  ber 
^rimatenfette,  rDeIcI)c  fid)  ununterbro(^en  oom  nieberjten  ^ffen 
bis  3um  i)öd)jt  entmidelten  9Jlen[(^en  I)inauf3iel)t.  5<i)  l)ö'E>e  i>ie 
f)ot)e  SBebeutung,  roeld)e  bie[er  merftoürbige  ^uni)  befi^t,  aus= 
fü^rlid)  erörtert  in  bem  93ortrage  „Xlber  unjere  gegentoärtige 
5lenntnis  oom  Urfprung  bes  SOIen[d)en",  toelc^en  id)  am  26.  ^ugujt 
1898  auf  bem  oierten  internationalen  3oologen!ongrefe  in  dam* 
bribge  get)alten  liaht.  I)er  Paläontologe,  rDeId)er  bie  $Bebingungen 
für  ©Übung  unb  (£rt)aitung  oon  23erjteinerungen  fennt,  roirb  bie 
(Sntbedung  bes  ^itt)e!antt)ropu5  als  einen  be[onbers  glücfli(f)en 
3ufan  betrauten.  Denn  als  5BaumbetDot)ner  fommen  bie  Riffen 
nac^  it)rem  2obe  (menn  [ie  nid)t  sufällig  ins  2Ba[fer  fallen)  nur 
[elten  unter  93ert)ältni[[e,  tDeld)e  bie  C£rl)altung  unb  23er[teinerung 
il)res  Änod)engerüjtes  gejtatten.  Durd)  htn  ^unh  bie[es  fo[[ilcn 
iÜffenmen[d)en  oon  ^axia  i[t  al[o  aud)  oon  [eiten  ber  ^aläonto  = 
logie  bie  „^bftammung  bes  9Plen[d)en  oom  ^ffen"  ebenfo  flar  unb 
[id)er  beiDie[en,  toie  es  frül)er  [d)on  burc^  bie  llrfunben  ber  Der  = 
gleid)enben  Anatomie  unb  Ontogenie  ge[d)et)en  roar;  toir 
be[i^en  je^t  in  ber  Xat  alle  roe[entlid)en  Urfunben  un[erer  Stammes* 
ge[c^id)te.  '* 

3u[a^  (1908).  Die  breifeig  §aupt[tufen,  bie  [id)  gegentoärtig  in 
ber  Stammesfette  un[ercr  tieri[d)en  23orfa^ren  unter[d)eiben  unb 
auf  [ec^s  Streden  oerteilen  la[[en,  l)abe  ic^  über[id)tlid)  3u[ammen* 
ge[tellt  in  meiner  ge[t[c^rift  über:  „Unfere  5tl)nenreil)e  (Prognotaxis 
hominis)".    3ena  1908. 


54  Se(^jtes  Äapitel. 


®a^  QBefett  &er  Seele* 

9}Zon{ff{f(^e  6tubien  über  hm  93egriff  bcr  ^fi)c|)c.    ^uf-- 

gabcn   unb   9}^et^obcn   ber   n>iffcnfc^aftlic^en  ^fpc|)o(ogie. 

^f^c^o(ogifc^e  9}^etamorp|)ofctt. 

T)ie  fiebenstätigfeiten,  tüelcl)c  man  allgemein  unter  bcm  ®e= 
griffe  bes  (Seelenlebens  ober  ber  p[i)d)ifc^en  3^un!tionen  3U= 
fammenfa^t,  |inb  unter  allen  uns  befannten  ^rfc^einungen  einer= 
[eits  bie  rt)id)tigjten  unb  intereffantejten,  anbererfeits  bie  t)er= 
tDicfeltjten  unb  rätfelbaftejten.  X)a  bie  5Raturer!enntnt5  felbjt  ein 
Xeil  bes  Seelenlebens  ift,  unb  ha  mitbin  aucf)  bie  ?IntbropoIogie, 
ebenfo  roie  bie  Kosmologie,  eine  ri^tige  (£r!enntnis  ber  „^fr)d)e" 
3ur  S3orausfe^ung  \)ai,  [o  !ann  man  bie  ^[i)(^oIogie,  bie  Eoirflid) 
iDi[[en[d)aftlidt)e  Seelenlebre,  aud)  als  bas  ^unbament  unb  als 
bie  93oraus[e^ung  aller  anberen  2Bi[[enfcbaften  an[eben;  oon  ber 
anberen  Seite  betrachtet,  ijt  [ie  roieber  ein  Xeil  ber  ^b^Iofopbie, 
ober  ber  ^b^fiologie,  ober  ber  ^ntbropologie. 

T)ie  grofee  Scbroierigteit  ibrer  naturgemäßen  SBegrünbung 
liegt  nun  aber  barin,  hal^  bie  ^[i)cbologie  röieberum  bie  genaue 
5lenntnis  bes  men[^lid)en  Organismus  oorausfe^t  unb  tjor  allem 
bes  ©ebirns,  als  bes  toicbtigften  Organs  bes  Seelenlebens. 
Die  große  SJlebrgabl  ber  Sogenannten  „^[i)d)ologen"  befi^t  jebocf) 
t)on  biefen  anatomi[d)en  ©runblagen  ber  ^fr)cbe  nur  [ebr  unooll» 
jtänbige  ober  gar  feine  5^enntnis,  unb  fo  erflärt  Yid)  bie  bebauerlicbe 
3:atfad)e,  baß  in  feiner  anberen  2ßif[enfd)aft  [o  toiberfprecbenbc 
unb  unbaltbare  23orjtellungen  über  ibren  eigenen  begriff  unb 
ibre  toefentlid)e  Aufgabe  berr[d)en,  roie  in  ber  ^[t)(i)ologie.  Diefe 
S^ertDirrung  ijt  in  ben  legten  X)e3ennien  um  [o  füblbarer  beroor» 
getreten,  je  mebr  bie  großartigen  i5^ort[cbritte  ber  5lnatomie  unb 
^bi)[iologie  unfere  5lenntnis  oom  5Bau  unb  oon  htn  gunftionen 
bes  roicbtigjten  Seelenorgans  ertoeitert  b<iben. 

aRetboben  ber  6eelenforf(^un0.  ^ad)  meiner  ilberseugung 
ift  bas,  roas  man  hit  „Seele"  nennt,  in  SBabrbeit  eine  91atur» 
erfcb einung;  xd)  betrad)te  baber  bie  ^fi)cbologie  als  einen  S^^^Q 
ber  91aturtDi[[enfd)aft  —  unb  sroar  ber  ^b^fiologie.  Demsufolge 
muß  id)  üon  oomberein  betonen,  baß  toir  für  biefelbe  feine  anberen 
grorfrfjungsroege  ^ulaffen  fönnen  als  in  allen  übrigen  9laturtDi[[en* 


Das  2Be|cn  ber  Seele.  55 

f^aften;  b.  \).  in  erfter  £tme  bte  Seobad^tung  unb  bas  (£iperi  = 
ment,  in  jroeiter  £inie  bie  (Enttoidelungsgcfcfiirfite  unb  in 
britter  £inie  bie  tl)eoretifd^e  Spefulation,  tDeld)e  burd)  inbuftiöe 
unb  bebuftioe  S(i)Iü[[e  ntöglicfijt  bem  unbefannten  „2B c[en" 
ber  (£r[d)einung  [id)  3U  nät)ern  [u(^t.  3)?it  ®e3ug  auf  feine  prinji* 
pielle  Beurteilung  aber  muffen  loir  junäi^jt  gerabe  I)ier  ben  (5egen= 
fa^  ber  bualijtif(f)en  unb  ber  monijtifd)en  5(nfid)t  f(i)arf  ins  5luge 
faffen. 

©ualtfttfd^e  ^ft)(^oI09ie.  ;Die  allgemein  I)errfd^enbc  ^uf= 
faffung  bes  Seelenlebens,  toeId)e  roir  befämpfen,  betrachtet  Seele 
unb  £eib  als  gtoei  t)erfd)iebene  „2Befen".  X)iefe  beiben  2Befen 
fönuen  unabl)ängig  ooneinanber  eiijtieren  unb  finb  nid)t  not= 
toenbig  aneinanber  gebunben.  !Der  organifd)e  £eib  ift  ein  fterb= 
\\d)t5  materielles  SBefen,  d)emifd)  jufammengefe^t  aus  lebenbi* 
gem  ^lasma  unb  ben  Don  biefem  er3 engten  23erbinbungen.  Die 
Seele  I)ingegen  ijt  ein  unjterblii^es,  immaterielles  SBefen, 
ein  fpirituelles  ^gens,  beffen  rätfel{)afte  3:ätig!eit  uns  oöllig  un* 
befannt  ift.  Diefe  übli(i)e  ^iTuffaffung  ift  als  foId)e  rein  fpiritualiftifrf) 
unb  if)r  prinzipielles  ©egenteil  im  getoiffen  Sinne  materialiftifd). 
Sie  ift  jugleic^  tranfjenbent  unb  fupranaturaliftifi^;  benn 
fie  bel)auptet  bie  (Siiftenj  von  i^räften,  roeIct)e  ot)ne  materielle 
93afis  eiiftieren  unb  toirffam  finb;  fie  fufet  auf  ber  5tnnat)me, 
ha^  aufeer  unb  über  ber  91atur  nodf)  eine  „geiftige  2BeIt"  eiiftiert, 
eine  immaterielle  SBelt,  von  ber  toir  buri^  (Erfahrung  nid)ts  toiffen 
unb  unferer  ^atm  nad)  nict)ts  tüiffen  fönnen. 

Diefe  I)i3pott)etifd)e  „©eiftestoelt",  bie  t>on  ber  materiellen 
Äörperojelt  ganj  unab{)angig  fein  foll,  unb  auf  beren  ^nnal)me 
bas  ganje  fünftlid)e  ©ebäube  ber  bualiftifd)en  2Beltanfcl)auung 
rul)t,  ift  lebigli(i)  ein  ^robuft  ber  bi(J)tenben  ^l)antafie;  unb  bas= 
felbe  gilt  von  bem  mi)ft»fd)en,  eng  mit  il)r  üerfnüpften  ©lauben 
an  bie  „ltnfterblid)!eit  ber  Seele",  beffen  tt)iffenfd)aftli(i)e  Unl)alt= 
bar!eit  roir  nad)l)tx  nod)  befonbers  bartun  muffen  (im  11.  5^apitel). 
2Benn  bie  in  biefem  Sagen!reifc  lierrfd^enben  ©laubensDorftel« 
lungen  roirüic^  begrünbet  roären,  fo  müjgten  bie  betreffenben 
(£rfd) einungen  nid)t  bem  Subftanggefe^e  üntertDorfen  fein; 
biefe  einjige  ^usnal)me  »on  bem  l)ö(i)ften  !osmologif(l)en  (5runb= 
gefe^e  müfete  aber  erft  fel)r  fpät.im  £aufe  ber  organifcf)en  (£rb= 
gefd)icf)te  eingetreten  fein,  ha  fie  nur  bie  „Seele"  bes  9Jlenfd)en 
unb  ber  I)öl)eren  Xiere  betrifft,  ^ud)  bas  Dogma  bes  „freien 
2Billens",  ein  anberes  toefentlic^es  Stüd  ber  bualiftif(l)en  ^fi)d)o= 
logie,  ift  mit  bem  Subftanggefe^e  ganj  unocreinbar. 

äRont|tif(^e  $ft)^i)Iogte.  Unfere  natürli(^e  3luffaffung  bes 
Seelenlebens  crblidt  bagegen  in  il)m  eine  Summe  oon  £ebens= 


56  Sei^jtes  5lapitel. 

crf(f)etnungen,  tDeIcf)e  glet(^  allen  anbeten  an  ein  bejtimnttes 
matertclles  Subjtrat  gebunben  [tnb.  2Bir  coollen  btefe  materielle 
Safis  aller  pfr)rf)ifd)en  Xätigfeit,  oI)ne  coeli^e  biefelbe  nid)t  benf= 
bar  ift,  oorläufig  als  ^[i)(^opla5ma  be3eid)nen,  unb  groar  bes^ 
t)alb,  tüeil  fie  burcf)  bie  d)emi[d)e  ^nali)[e  überall  als  ein  5^örper 
nadigecoiejen  ijt,  reeller  gur  ©ruppe  ber  ^lasmaförper  gel)ört, 
b.  t).  jener  eitoeifeartigen  5^of)lenjtoffüerbinbungen,  coelc^e  fämt= 
li(^en  ßebensüorgöngen  sugrunbe  liegen.  $8ei  ben  l)öl)eren  Xieren, 
rDeld)e  ein  9fZert)enfi)jtem  unb  Sinnesorgane  befi^en,  ijt  aus  bem 
^fr)(f)oplasma  burd)  Differensierung  bas  9leuroplasma,  bie 
9^ert)enfubjtan3,  entftanben.  Un[ere  ^uffa[[ung  ijt  in  biefeni 
Sinne  materialiftijcl).  Sie  ijt  aber  3ugleic^  empirijti[cl),unb 
naturalijtifd);  benn  unfere  tt)i[[en[d)aftlidE)e  (£rfaf)rung  i)at  uns 
nocf)  feine  5^räfte  fennen  gelet)rt,  toel^e  ber  materiellen  ©runb= 
läge  entbel)ren,  unb  feine  „geijtige  2ßelt",  toelc^c  aufeer  ber  9latur 
unb  über  ber  Statur  jtünbe. 

©leic^  allen  anberen  5Raturer[(f) einungen  [inb  aud)  biejenigen 
bes  Seelenlebens  bem  alles  bel)err[(f)enben  Subjtanjgefe^e 
unterworfen;  es  gibt  aud)  in  biejem  ©ebiete  feine  ^usnal)me 
oon  biejem  f)öd)jten  fosmologij(f)en  (Srunbgeje^e.  Die  (£rj(l)ei= 
nungen  bes  nieberen  Seelenlebens  bei  htn  ein3elligen  ^ro* 
tijten  unb  bei  ben  ^flan3en  —  aber  ebenjo  aud)  bei  btn  nieberen 
Vieren  — ,  if)rc  9?ei3barfeit,  if)re  9?efleibeu)egurtgen,  il)rc  (£mpfinb= 
li(^feit  unb  il)r  Streben  nad)  Selbjterf)altung  berul)en  auf  pf)t)jio= 
logijd)en  93orgängen  im  Plasma  il)rer  3'^^^'^^f  ouf  pf)r)[ifali[d)en 
unb  d)emij(^en  93eränberungen,  toeldie  teils  auf  23 ererbung, 
teils  auf  ^npajjung  3urüd3ufüf)ren  jinb.  ^ber  gan3  basjelbe 
müjfen  toir  aud)  für  bie  f)ö^eren  Seelentätigfeiten  ber  f)öf)eren 
!Xiere  unb  bes  9J?enj(^en  bef)aupten,  für  bie  ^Bilbung  ber  23orjtel= 
lungen  unb  Segriffe,  für  bie  tounberbaren  ^pnomene  ber  93er* 
nunft  unb  bes  Seroufetjeins;  benn  bieje  l)abtn  jid)  pf)i)logenetifd) 
aus  jenen  entroidelt,  unb  nur  ber  l)öf)ere  ©rab  ber  3^^traIijation, 
burc^  innige  unb  mannigfaltige  93erbinbung  ber  ein3elnen  'i^unh 
tionen,  erl)ebt  jie  3U  biejer  erjtaunlid)en  $öf)e. 

»egriffe  ber  ^ftx^oloöie.  3n  jeber  SBijjenj^aft  gilt  mit 
9?e^t  als  erjte  ^tufgabe  bie  flare  Segriffsbejtimmung  bes 
(Segenjtanbes,  htn  jie  3U  erforjc^en  l)at.  5n  feiner  2Bijjenjd)aft 
aber  ijt  bie  fiöjung  biejer  erjten  5lufgabe  jo  jd^toierig  als  in, ber 
Seelenle^re,  unb  bieje  Xatja^e  ijt  um  jo  merfu)ürbiger,  als  bie 
£ogif,  bie  £el)re  oon  ber  Segriffsbilbung,  jelbjt  nur  ein  3:eil  ber 
^jr)(^ologie  ijt.  SBenn  loir  alles  t)ergleid)en,  loas  über  bie  ©runb« 
begriffe  ber  Seelenfunbe  oon  ttn  angejel)enjten  ^l)ilojopl)en  unb 
SRaturforjd^crn  aller  S^ittn  gejagt  roorben  ijt,  jo  erjtiden  toir  in 


Dos  2ße[cn  bcr  Seele.  57 

einem  (If)ao5  ber  rotberfpredienbften  9ln|t(i)tcn.  Sßas  tjt  benn 
eigentltd)  bte  „Seele"?  2Bie  t)erf)ält  fte  [icf)  jum  „©etft"?  SBelc^e 
^ßebeutung  f)at  eigentltd)  bas  „SetDufetfein"?  2Bte  unterfc^etben 
[ic^  „(gmpfinbung"  mib  „©efüf)!"?  SBas  ijt  ber  „^nftinft"? 
2Bte  üerl)ält  fid)  ber  „freie  SBiUe"?  2ßas  ijt  „SBorftellung"? 
3BeId) er  Unter [cf)ieb  bejtel)t  3roi}d)en  „33er[tanb  unb  93ernunft"? 
Unb  tDOs  ijt  eigentlid)  „©emüt"?  2ßeld)e  $Be3iel)ung  beftet)t 
3tDif(^en  allen  biefen  „Seelenerjd) einungen  unb  bem  i^örper"? 
Die  5InttDorten  auf  biefe  unb  oiele  anbere,  fic^  baran  anfd^Iie^en» 
ben  S^ragen  lauten  [o  Derjcf)ieben  als  möglich;  nic^t  allein  gelten 
bie  5Inficf)ten  ber  angefe{)enften  ^utontäten  barüber  toeit  aus= 
einanber,  [onbern  auii)  eine  unb  biefelbe  rüiffenfcfiaftlic^e 
Autorität  t)at  oft  im  £aufe  it)rer  eigenen  p[r)(^oIogifd)en  (£nt= 
toicfelung  i^re  ^.?lnjid)ten  pöllig  oeränbert.  Si(f)er  f)at  biefe  „p  f  t)(f)  o  = 
logifc^e  9JJetamorpI)o[e"  oieler  Deuter  (bie  roir  nod)  am  S(f)Iu[fe 
biefes  6.  i^apitels  beleud)ten  tDoIIen)  nid)t  menig  gu  ber  !olo[[aIen 
Ronfufion  ber  ^Begriffe  beigetragen,  roelc^e  in  ber  ®eelen= 
lel)re  met)r  als  in  jebem  anberen  ©ebiete  ber  (Srfenntnis  l)errfc^t. 

Obiefttoe  unb  fubicfttoe  ^ft)c^ol09tc.  Die  ganj  eigentüm= 
Iicf)e  5Ratur  oieler  Seelener[d^einungen,  unb  öor  allem  bes  Semu^t^ 
[eins  bebingt  getüiffe  ^bänberungen  unb  SJiobifüationen  unferer 
naturtD{ffen[d)aftlift)en  Unter[uc^ungsmetI)oben.  Sefonbers  tDici)tig 
i]t  ^ier  ber  Umjlanb,  bafe  gu  bcr  geu)öl)nli(f)en,  objeftiüen, 
äufeerern$8eobad)tungnoct)bie  introfpeftioe  9Ket^obe  treten 
mu^,  bie  [ubjeftioe,  innere  23eobad)tung,  tüeld)e  bie  Spiegelung 
unferes  „^d)"  im  ^Becoujgtlein  bebingt.  33on  bie[er  „unmitt^I= 
baren  ©eu3i^t)eit  bes  3<^"  gingen  bie  meijten  ^ft)d)oIogen  aus: 
„Cogi  t  o  ,  ergo  SU  m  !"  „3<i)  "^enfe,  alfo  bin  id)."  2Bir 
toerben  bal)er  3unäd)ft  auf  biefen  (Erfenntnistoeg  unb  bann  erjt 
auf  bie  anberen,  it)n  ergänsenben  SRett)obcn  einen  $BIicf  tocrfen. 

Znixo^pttüvt  ^ft)(^oIogte  (Selbstbeobachtung  bet  Seele). 
Der  roeitaus  größte  Xeil  aller  berjenigen  5^enntni[[e,  toelcfie  feit 
3al)rtaufenben  in  un3äl)ligen  Sd)riften  über  bas  men[cf)li(^e 
Seelenleben  niebergelegt  [inb,  beruht  auf  introfpeftioer  Seelen* 
for[d)ung,  b.  f).  auf  Selb[tbeobacl)tung,  unb  auf  Sc^lüffen, 
u)elcl)e  wir  aus  ber  ^|[o3ion  unb  5^ritif  biefer  fubjeftioen,  „inneren 
(£rfal)rungen"  3iel)en.  ^ür  einen  tDid)tigen  3^eil  ber  Seelenlel)re 
ijt  biefer  introfpeftioe  2Beg  überl)a{ipt  ber  einsig  mögliche,  oor 
allem  für  bie  (£rforfd)ung  bes  ^Beioufetfeins;  biefe  (5el)irnfun!= 
tion  nimmt  bal)er  eine  gan3  eigentümli^e  Stellung  tin  unb  i|t 
mel)r  als  jebe  anbere  bie  Quelle  un3äl)liger  pf)ilofopl)ifcf)er  3tt* 
tümer  gecoorben  (oergl.  Rap.  10).  (£s  ijt  aber  gans  ungenügenb 
unb  fül)rt  3u  ganj  unoolHommenen  unb  fal[(t)cn  SJorjtellungen, 


58  Scd)fte5  Äapitcl. 


toenn  man  btcfe  ScIbftbeobad)tung  unfcrcs  ©cijtes  als  btc  rDid)ttgjtc 
ober  übert)aupt  als  bic  einjigc  Ciuellc  [einer  (£r!enntnis  betrad)tet, 
iDie  es  von  3al)Irei(f)en  unb  ange[ef)enen  ^{)iIo[opl)en  gef(^el)en  tjt. 
Titnn  ein  großer  Xeil  ber  tDt(f)tigjten  (£r[d)etnungen  im  Seelen» 
leben,  cor  allem  bie  Sinnesfunüionen  (6el)en,  §ören,  5?ie= 
d)en  u\w.),  ferner  bie  Sprad)e,  fann  nur  auf  bemfelben  SBege 
erfor[d)t  toerben  toie  jebe  anbere  fiebenstätigfeit  bes  Organismus, 
nämlid)  erftens  burd)  grünblid)e  anatomi[cf)e  Knter[ud)ung  il)rer 
Organe,  unb  groeitens  burd)  eia!te  pl)r)[ioIogi[d)e  ^nalr)[e  ber 
baoon  abi)ängigen  grunftionen.  Um  biefe  „äufeere  Seobad)tung" 
ber  Seelentätigfeit  aus3Üfül)ren  unb  baburc^  bie  (Ergebniffe  ber 
„inneren  ©eobad)tung"  gu  ergangen,  bebarf  es  aber  grünbli(i)er 
5^enntni[fe  in  ^Inatomie  unb  §ijtoIogie,  Ontogenie  unb  ^f)i)[io= 
logie  bes  9J?en[d)en.  23on  biefen  unentbel)rli^en  ©runblagen 
ber  5lntI)ropoIogie  I)aben  nun  bie  meiften  [»genannten  „^[r)c^o  = 
logen"  gar  feine  ober  nur  l)öd()[t  unoollfommene  Kenntnis;  [ie 
[inb  ba!)er  nid)t  imjtanbe,  aui)  nur  oon  il)rer  eigenen  Seele  eine 
genügenbe  S3or[teIIung  gu  erroerben.  X)agu  !ommt  nod)  ber  [c^Iimme 
Umftanb,  bafe  bie  eigene  Seele  bie[er  ^[r)d)oIogen  geroöfinlic^  bic 
ein[eitig  ausgebilbete  (roenn  aud^  in  il)rem  [pcfulatioen  Sport 
[e^r  I)od)  enttöidelte!)  ^[r)(f)e  eines  i^ulturmen[(i)en  l)öd)jter 
9?a[[e  barjtellt,  al[o  bas  le^te  ©nbglieb  einer  langen  pl)r)leti[ct)en 
(£nttDideIungsreiI)e,  beren  3al)lreid)e  ältere  unb  niebere  3)orIäufer 
für  il)r  ri(i)tiges  93er[tänbnis  unentbet)rli^  [inb.  So  erüärt  es  [id), 
tal^  ber  größte  3:eil  ber  geroaltigen  p[t)d)ologi[d)en  Literatur  I)cute 
toertlo[e  9J?a!uIatur  ijt.  Die  intro[pe!tiDe  9Jietl)obe  ift  getoife  ^öc^[t 
roertooll  unb  unentbel)rlid^,  [ie  bebarf  aber  burd)aus  ber  9Jlit= 
roirfung  unb  (Ergängung  timd)  bie  übrigen  SDletI)oben. 

(&xatit  ipft)d[)0l09te.  3^  reid)er  im  £aufe  bes  19.  5a^r!)unberts 
[id)  bie  Der[(^iebenen  S^J^iö^  «^es  men[d)Iic^en  (Erfenntnisbaumes 
enttoidelt,  je  mel^r  [id)  bie  Der[^iebenen  9JletI)oben  ber  eingelnen 
2Bi[[en[d)aften  oeroolüommnet  f)aben,  befto  mt\)x  ift  bas  58e[treben 
getDad)[en,  bie[elben  eia!t  gu  gejtalten,  b.  t).  bie  (£r[(^ einungen 
möglid)[t  genau  empiri[d)  gu  unter[ud^cn  unb  bie  baraus  ab= 
guleitenben  (5e[e^e  tunlid)[t  [c^arf,  roomöglid^  matl)emati[c^ 
gu  formulieren.  Jße^teres  ift  aber  nur  bei  einem  fleinen  3:eile  bes 
men[c^Iid)en  2Bi[[ens  erreid)bar,  oorgüglid)  in  jenen  2Bi[[en[d)aften, 
bei  htntn  es  [tc^  in  ber  $aupt[ad)e  um  meßbare  (5röfeenbe[tim= 
mungen  I)anbelt:  in  erfter  £inie  ber  9JJatt)emati!,  [obann  ber  5l[tro* 
nomie,  ber  9Ked)ani!,  überl)aupt  einem  großen  Xdh  ber  ^^i)[if 
unb  (II)emie.  Die[e  2Bi[[en[d)aften  toerben  baf)er  aud)  als  eia!te 
Di[gtplinen  im  engeren  Sinne  begeic^net.  i)agegen  ijt  es  nic^t 
ric^ti^  unb  fü^rt  nur  irre,  toenn  man  oft  alle  91aturtDi[[en[c^aften 


t)a5  2Be[cn  bcr  6eele.  59 

als  „cia!tc"  bctrad)tet  unb  onbcrcn,  namentltd)  htn  I)t|tortf(f)en 
unb  ben  „®etite5tDiffen[d)aften"  gegenüberjtellt.  Denn  eben[o= 
loenig  als  btc[e  leiteten  !ann  auc^  ber  größere  3:etl  ber  9latur= 
iöiffen[(^aft  roirflid)  exa!t  bel)anbelt  toerbcn;  gan3  befonbers  gilt 
bies  Don  ber  ^Biologie  unb  in  biefer  roieber  »on  ber  ^fpi^ologic. 
X)a  bie[e  le^tere  nur  ein  3:eil  ber  ^I)r)[ioIogie  ijt,  mufe  [ie  im  a\U 
gemeinen  beren  funbamentale  (^rfenntnistoege  teilen.  Sie  mufe 
bie  tatfäct)lid)en  C£rf (Meinungen  bes  Seelenlebens  möglicf)ft  genau 
empirifd)  ergrünben,  bur<^  ^Beobad^tung  unb  bur^  (Experiment; 
unb  [ie  mufe  bann  "bit  (5e[e^e  ber  ^fr)c^e  aus  biefen  burc^  inbuftioe 
unb  bebuftiüe  S^Iü[[e  ableiten  unb  möglid)jt  [cf)arf  formulieren. 
Mein  i^re  matl)emati[(^e  ^Formulierung  ijt  aus  Iei(i)t  begreif» 
Ii(j^en  ©rünben  nur  \ti)x  [elten  mögli^;  [ie  i[t  mit  großem  (Sr= 
folge  nur  bei  einem  Üeile  ber  Sinnespl)i)[iologie  ausgefül)rt; 
für  ^tn  roeitaus  größten  Xeil  ber  (5el)irnp^t)[iologie  i[t  [ie  ha^ 
gegen  nid)t  antoenbbar. 

*Pft)^op^t)fi!.  (Ein  fleiner  3:eil  ber  ^r)d)ologie,  vot\d)tx  ber 
erjtrebtcn  „eiaften"  Unter[ucl)ung  jugänglii^  er[d^eint,  ijt  [eit 
3al)ren  mit  großer  Sorgfalt  [tubiert  unb  3um  5Range  einer  be= 
[onberen  Di[3iplin  erl)oben  toorben  unter  ber  Sejeic^nung  ^[i)(^o  = 
pl)r)[i!.  Die  Segrünber  ber[elben,  bie  ^l)t)[iologen  X\)tot>ox 
<5ed)ner  unb  (£rn[t  $einrid)  SBeber,  unter[ucl)ten  3unäd)jt 
genau  bie  3lbl)ängig!eit  ber  (Empfinbungen  oon  ben  äußeren, 
auf  bie  Sinnesorgane  toirfenben  9?ei3en  unb  be[onbers  bas  quanti» 
tatioe  23erl)ältnis  3tDi[d)en  9?ei3[tärfe  unb  (£mpfinbungsinten[ität. 
Sie  fanben,  bafe  3ur  (Erregung  einer  (Empfinbung  eine  be[timmte 
minimale  9?ei3[tärfe  erforberlid)  i[t  (bie  „9lei3[d)tDclle),  unb  bafe 
ein  gegebener  9?ei3  immer  um  einen  getDi[[cn  ©etrag  (tit  „Unter* 
[(f)iebs[d)tDelle")  geänbert  toerben  mufe,  el)e  bie  ^mpfinbung 
[id)  merflid)  ceränbert.  ^^ür  bie  u)icl^tig[tcn  Sinnesempfinbungen 
((5e[id)t,  (5el)ör,  Drudempfinbung)  gilt  bas  (5e[e^,  ha^  it)re 
^nberung  berjenigen  ber  Üteisjtärfe  proportional  i[t.  Ulus  bie[em 
empiri[(f)en  -  „2Beber[(^en  ®e[e^"  leitete  ^z^ntx  [ein  „p[i)d)o= 
pl)i)[i[d)e5  (5runbge[e^"  ab,  toonad)  bie  (Empfinbungsinten[itäten 
in  aritl)meti[d)er  ^rogre[[ion  tDad)[en  [ollen,  l)ingegen  bie  5?ei3= 
[tär!en  in  geometri[cf)er  ^rogre[[ion.  5nbe[[en  ^aben  [pätere 
gor[rf)cr  geseigt,  hai^  bie[e5  ge(^ner[d)e  ©e[c^  eiaft  nur  für  mitt= 
lere  5nten[itäten  gilt,  al[o  nid)t  bk  allgemeine  Sebeutung  \)ai, 
bie  man  il)m  frül)er  3u[d)rieb. 

Sergleit^enbe  ^ftx^ologte.  Die  auffällige  $tl)nlid)feit,  roeldE)e 
im  Seelenleben  bes  9Jlen[cf)en  unb  ber  I)öl)eren  3:iere  —  be[onbers 
ber  näc^jtoerroanbten  Säugetiere  —  be[tel)t,  i[t  eine  altbefannte 
2^at[a(^c.     Die  mei[ten  5Raturoöl!cr  mad)en  no(^  l)eute  3tx)i[(^en 


60  Scd)ltcs  Äapitel. 


bctbcn  pft)(j^tf(i)en  (£r[d^cmung5retf)en  feinen  toefentlid^en  Unter* 
[d)teb,  tote  [(f)on  bie  allgemein  oerbreiteten  Xierfabeln,  bie  alten 
Sagen  unb  bie  SSorjtellungen  Don  ber  Seelentuanberung  betoeifen. 
^ud)  bie  meijten  ^t)ilofopt)en  bes  Üaffifd^en  Altertums  toaren 
baoon  übergeugt  unb  entbecften  stotfd^en  ber  men[cf)li(i)en  unb 
tierifd)en  ^fi)d)e  feine  tDe[entIi(i)en  llnter[ct)iebe.  Selbjt  ^lato, 
ber  3uerjt  h^n  funbamentalen  Unter[d)ieb  von  £eib  unb  Seele 
bef)auptete,  liefe  in  [einer  Seelentuanberung  eine  unb  bie[elbe 
Seele  (ober  „3^ee")  burc^  t>erfd)iebene  3:ier=  unb  93?en[(^enleiber 
I)inburc^toanbern.  (£rjt  bas  (£I)rijtentum ,  bas  hm  Unfterblid)» 
feitsglauben  auf  bas  engjte  mit  bem  (öottesglauben  oerfnüpfte, 
füf)rte  bie  prinsipielle  S(i)eibung  3tDi[c^en  ber  unjterbli(i)en 
^enfd)en[eele  unb  ber  fterilic^en  3:ier[eele  burd^.  5n  ber  bualijti^ 
[(f)en  ^I)iIo[opl)ie  gelangte  [ie  cor  allem  burd)  t)tn  (£influfe  uon 
Descartes  (1643)  3ur  ©eltung;  er  behauptete,  bafe  nur  ber 
3[Ren[d)  eine  u}at)re  „Seele"  unb  [omit  (£mpfinbung  unb  freien 
2Billen  befi^e,  "iya^  l)ingegen  bie  Xiere  Automaten,  9Jla[ci^inen 
of)ne  SBillen  unb  C£mpfinbung  feien.  Seitbem  ojurbe  von  htn 
meijten  ^[i>d)ologen  —  namentlid)  auc^  oon  Rani  —  bas  Seelen^ 
leben  ber  3:iere  gang  t)ernad)lä[[igt  unb  bas  p[i)cl^ologi[(f)e  Stubium 
auf  hzn  9}Ien[d)en  be[d)ränft;  bie  men[cl)licf)e,  meistens  rein  intro= 
fpeftiüe  ^[i)d)ologie  entbel)rte  ber  befrud)tenben  33ergleid)ung 
unb  blieb  bai)er  auf  bemfelben  niebercn  Stanbpunft  ftel)en,  roelc^en 
bie  men[d)lid)e  9[Rorpf)ologie  einnal)m,  el)e  [ie  (Euüier  burcf)  bie 
Segrünbung  ber  r»ergleic{)enben  Anatomie  3ur  §öl)e  einer  pl)ilo* 
[op^ifc^en  91aturu)i[[en[d)aft  erl)ob. 

Xierpft)(^olo0te.  Das  a)i[[en[cl)aftli(^e  5ntere[[e  für  bas 
Seelenleben  ber  Üiere  rourbe  erjt  in  ber  3tüeiten  §älfte  bes  18. 5al)r= 
t)unberts  neu  belebt,  im  3ii[ö^^ß"^fl"9  Tnit  htn  gort[cl)ritten 
ber  [i)[temati[cl)en  3oologie  unb  ^f)T)[iologie.  Se[onbers  anregenb 
u)irfte  tih  Scj)rift  oon  9teimarus:  eiligem  eine  58etracf)tungen 
über  bie  triebe  ber  3:!)iere  (Hamburg  1760).  (£ine  tiefere  tüi[[en= 
[d)aftlid)e  (£rfor[d)ung  tourbe  erft  möglich  bur^  So^annes 
9}lüllers  9^eform  ber  ^l)i)[iologie.  Die[er  gei[töolte  Biologe, 
bas  ganse  (Sebiet  ber  organifd^en  9latur,  9Jtorpl)ologie  unb  ^^r)[io= 
logie,  gleicl)mäfeig  umfa[[enb,  fül)rte  3uer[t  bie  exaftenSO^etl) oben 
ber  Seoba^tung  unb  bes  S3er[uc^s  im  gefamien  ©ebiete  ber 
^l)r)[iologie  burc^  unb  oerfnüpfte  [ie  3ugleici^  in  genialer  2Bei[e 
mit  hzn  oergleid^enben  9J?etl)oben;  er  roenbete  [ie  eben[o 
auf  bas  Seelenleben  im  toeitejten  Sinne  an  (auf  Spradje,  Sinne, 
©el)irntätigfeit)  mit  auf  alle  übrigen  £eben5er[d)einungen.  Das 
[ed)[te  Sud)  [eines  „$anbbud)s  ber  ^l)t)[iologie  bes  aRen[(^en" 
(1840)   ^anbelt   [pe3iell   „33om    Seelenleben"   unb   entl)ält   auf 


2)05  SBefcn  ber  6ccle.  61 

80  Seiten  eine  g^ülle  ber  iDid)ttgjten  p[r)(^oIogi[d)en  Setrad)= 
tungcn. 

9}öIfetpft)(^ologte.  gür  bie  fru(i)tbare  ^usbilbung  ber  üer= 
glet(f)enben  8eelenlel)re  \\i  es  l)'6d)]i  tDid)ttg,  bie  friti[cf)e  23er= 
gleic^ung  ni(i)t  auf  3^ier  unb  XRenfc^  im  allgemeinen  ju  beic^iänfen, 
fonbern  aud)  bie  mannigfaltigen  ^bftufungen  in  it)rem  Seelen= 
leben  nebeneinanber  3U  jtellen.  (£rjt  baburc^  gelangen  toir  jur 
Haren  (Erfenntnis  ber  langen  Stufenleiter  p[i)(^if^er  (£nt= 
iDidelung,  rüeld)e  ununterbro(i)en  oon  ben  nieberjten,  einjellioen 
Lebensformen  bis  3U  ben  Säugetieren  unb  an  beren  Spi^e  bis 
3um  9}ten[d)en  I)inauf  füt)rt.  ^ucf)  innerl)alb  bes  9J?en[ct)enge= 
fd)Ied)ts  [elbjt  [inb  jene  ^bjtufungen  [e^r  beträd)tlid)  unb  bie  33erf 
3tDeigungen  bes  „Seelenjtammbaums"  \)öd)\i  mannigfaltig.  Der 
p[i)(f)i[d)e  Unter[d)ieb  3tDi[ct)en  bem  ro^ejten  IRaturmenf^en  ber 
nieberjten  Stufe  unb  bem  oollfommenften  5^ulturmen[d)en  ber 
l^öd)|ten  Stufe  ift-  !oIo[[aI,  tjiel  gröjger,  als  gemeint)in  angenommen 
toirb.  3"  ber  richtigen  (£r!enntnis  biefer  3:at[ad)e  l)ai  befonbers 
in  ber  3tDeiten  §älfte  bes  19.  3af)rl)unberts  bie  „^ntf)ropoIogie 
ber  S^laturoölfer"  (2Bai^)  einen  Iebt)aften  5tuf[(f)töung  ge= 
nommen  unb  bie  t>erglei(f)enbe  (£tl)nograpl^ie  eine  t)oI)e  5Bebeu= 
tung  für  bie  ^[pc^ologie  getoonnen.  £eiber  ijt  nur  bas  maf[enf)aft 
ge[ammelte  5Rol^materiaI  biefer  9Bi[[en[d)aft  nod)  ni^t  genügenb 
fritifd)  burcf)gearbeitet. 

Dnt09cnettf(^e  ^ftx^ologte.  5lm  meijten  üernad)Iä[[igt  unb 
am  roenigjten  angeioenbet  unter  allen  93]etl)oben  ber  Seelen' 
for[d)ung  toar  bis  auf  bie  le^te  3eit  bie  (£nttöi(felungsge  = 
id)id)te  ber  Seele;  unb  bod)  ijt  gerabe  biefer  [elten  betretene 
^fab  berjenige,  ber  uns  am  !ür3ejtenunb  [id)erjten  burd)  ben  bunüen 
Urioalb  ber  p[pd)oIogifd)en  23orurteiIe,  T)ogmen  unb  S^'i^tü^ter 
3U  ber  flaren  C£in[id)t  in  oiele  ber  tüi<^tigjten  „Seelenfragen" 
fül^rt.  2Bie  in  jebem  anberen  ©ebiete  ber  organi[d)en  (Sntioide^ 
lung5ge[cl^id)te,  [o  ftelle  id)  auc^  l)ier  3unäd)ft  bie  beiben  $aupt= 
3tDeige  ber[elben  gegenüber,  bie  id^  suerjt  1866  unter[d)ieben  l)abe: 
bie  i^eimesgefc^ic^te  (Ontogenie)  unb  bie  Stammesge[d)id)te 
(Phylogenie).  Die  ileimesge[d)id)te  ber  Seele  unter[ud)t 
bie  allmäpd)e  unb  jtufentoeife  (Bnttoidelung  ber  Seele  in  ber 
ein3elnen  ^er[on  unb  jtrebt  nad)  (Srfenntnis  ber  ©e[e^e,  tDeld)e 
fie  ur[äc^li(^  bebingen.  gür  einen- tüid)tigen  ^b[d)nitt  bes  menfd)* 
li^en  Seelenlebens  ijt  l)ier  [c^on  [eit  5al)rtaujenben  jel)r  oiel 
ge[d)el)en;  benn  bie  rationelle  ^äbagogi!  mufete  [id)  ja  fd)on 
frül)3eitig  bie  ^^ufgabe  jtellen,  tl)eoretij^  bie  jtufentoeije  (£nt= 
toidelung  unb  33ilbung5fäl)ig!eit  ber  finblid)en  Seele  fennen  3u 
lernen,  bercn  l)armoni[^e  ^usbilbung  unb  Leitung  [ie  praftifd) 


Sc^jtcs  ilapitcl. 


burd)3ufül)ren  ^atte.  5lIIcin  bic  metjten  ^äbagogen  roaren  ibeali= 
fttfc^e  unb  bualtjtt[d)c  ^f)tIo[opI)en  unb  gingen  bal)er  an  il)re 
5tufgabe  oon  Dorn{)eretn  mit  htn  oItI)ergcbra(f)tcn  33orurteiIcn 
bcr  [piritnalijtifd^ cn  ^fi)d)oIogie.  (£rft  [eit  toenigen  :De3enmen 
ift  btefer  bogmatifc^en  5ltd)tung  gegenüber  aucf)  in  ber  (5d)ule 
bie  naturtoi[[en[cf)aftIid)e  äRetl)obe  ju  größerer  (Seltung  gelangt; 
man  bemüt)t  [td)  je^t  mef)r,  au^  in  ber  Beurteilung  ber  i^inbes^ 
feele  bie  ©runbfä^e  ber  (£ntu)i(felungslef)re  3ur  ^Intoenbung  3U 
bringen.  X)a5  inbiüibuelle  9?ol)materiaI  ber  finblid)en  Seele  ijt 
ja  bereits  bur^  23ererbung  oon  (Eltern  unb  S3oreltern  oon  t)orn= 
I)erein  gegeben;  bie  (Srsie^ung  f)at  bie  [d)öne  ^lufgabe,  basfelbe 
burd)  intelleftuelle  ®elel)rung  unb  moraIi[d)e  (£r3iet)ung,  alfo 
öur^  5lnpa[[ung,  3ur  reichen  Blüte  3U  cnttoideln.  gür  bic 
5lenntnis  unferer  früt)ejten  p[i)d)i[d)en  (SnttDidfelung  l)at  erjt 
SBill^elm  ^reper  (1882)  bcn  ©runb  gelegt  in  [einer  intereffanten 
Schrift  „Die  Seele  bes  ilinbes,  $Beobacf)tungen  über  bie  gcijtige 
(Entcoicfelung  bes  äRenfc^en  in  htn  erften  £ebensial)ren".  ^üx  bic 
(£r!enntnis  bcr  Späteren  Stufen  unb  9Ketamorp^o[en  ber  inbi= 
üibuellen  ^[i)d)e  bleibt  nod)  [el)r  oiel  3U  tun;  bie  rid)tige,  fritifc^e 
^ntöcnbung  bes  S3iogeneti[d)en  ®runbgefc^cs  beginnt  auct)  i)icr 
fid)  als  flarcr  fieitjtern  bes  ii>i[[cn[d)aftlid)en  23erjtänbnif[es  3U 
beroäl)ren.  (Bergl.  ^ermann  i^rocll,  Der  Aufbau  ber  men[d)= 
lid)en  Seele,  1900.) 

$^t)lQgenetif(^e  lßft)(^oIoöie.  (Eine  neue,  frud)tbare  ^eriobe 
l)öf)erer  (Entcoidelung  begann  für  bic  ^[i)(^ologie,  toie  für  alle 
anberen  biologi[d)en  SBiffcnfd^aftcn ,  als  (£f)arles  Darroin 
bic  (Srunbfä^c  bcr  (EnttDtdclungslc^re  auf  [ic  antocnbetc.  Das 
[icbcnt«  5tapitcl  [eines  cpod)cmad)cnben  2Bcr!cs  über  bic  (Ent* 
[tcl)ung  bcr  ^rtcn  (1859)  i[t  bem  3Tt[tintt  getüibmet;  es  ent» 
l)ält  bcn  tücrtDollcn  9lad)U)cis,  'Oa^  bic  3Tt[tin!te  ber  3:iere,  gleich 
allen  anberen  £ebcnstätig!citcn,  bcn  allgemeinen  (5e[c^en  ber 
l)ijtori[c^cn  (Entiüidclung  unterliegen.  Die  [pc3icllen  3ii[^itt^tc 
bcr  cin3elnen  Tierarten  loerbcn  burc^  ^npa[[ung  umgebilbet, 
unb  bic[c  „erroorbenen  ^bänberungen"  Doerben  burc^  Vererbung 
auf  bic  ?la(^!ommcn  übertragen;  bei  it)rer  (£rl)altung  unb  5Ius= 
bilbung  [pielt  bic  natürlid^c  Sclcftion  "burd)  bcn  „5lampf  ums 
Da[ein"  cben[o  eine  3üd)tcnbc  9?ollc  tüic  bei  bcr  ^Transformation 
jcbcr  anberen  pl)t)[iologi[^en  3:ätigfeit.  Später  l)at  Dartoin 
in  met)rcrcn  3Bcr!en  bie[c  funbamentalc  ^n[id^t  toeiter  ausgeführt 
unb  ge3eigt,  bafe  bic[elben  (5e[e^e  „geiftiger  (Entcoidelung"  burc^ 
bic  gansc  organi[(^c  SBclt  l)inbur(^  malten,  beim  50lcn[c]^cn  cbcn[o 
u)ie  bei  bcn  3:ieren  unb  bei  bie[cn  eben[o  u)ic  bei  bcn  ^flan3en. 
Die  (£inl)eit  bcr  organi[d)cn  SBclt,  bic  [id)  aus  if)rem  gemein« 


t)a5  2Bcfcn  ber  Seele.  63 


lomen  Urfprung  erflärt,  gilt  olfo  aud)  für  bas  gefamte  ©ebtet 
bes  Seelenlebens,  oom  emfacf)ften,  etnselligen  iDrganismus  bis 
I)inauf  3um  3Ren[cl^en. 

X)te  toettere  ^usfül)rung  oon  I)artDtns  ^[t)rf)oIogte  unb  t{)re 
befonbere  ^ntoenbung  auf  alle  einseinen  ©ebiete  bes  Seelen- 
lebens oerbanfen  toir  einem  ausgejeic^neten  engli[d)en  5Ratur= 
for[d)er,  ©eorge  Ütomanes.  fieiber  töurbe  er  bur^  [einen  allßu 
frül)en  Xoh  an  ber  23ollenbung  bes  großen  2Ber!es  gef)inbert, 
coeli^es  alle  Xeile  ber  t)ergleid)enben  Seelen!unbe  gleid^mäjgig 
im  Sinne  ber  monijti[cl)en  (Sntroicfelungsle^re  ausbauen  [ollte. 
Die  beiben  Xeile  biefes  SBerfes,  tr)eld)e  erfd)ienen  [inb,  gel)ören 
3U  ben  xüertüolljten  (Ergeugniffen  ber  gefamten  pfi)(i)ologif(^en 
Literatur.  X)enn  getreu  ben  ^rinsipien  unferer  mobernen  monijti= 
[(f)en  9laturforfd)ung  [inb  barin  erjtens  bie  roi^tigjten  Xat[ac^en 
3u[ammengefafet  unb  georbnet,  tDeld)e  [eit  3öl)rtau[enben  burrf) 
^Beobachtung  unb  (Srperiment  auf  bem  ©ebiete  ber  t)ergleid)enben 
Seelenlel)re  empiri[cl)  feftgejtellt  rourben;  groeitens  [inb  bie[elbe 
mit  objeftioer  5^riti!  geprüft  unb  jroecfmäfeig  gruppiert;  unb 
brittens  ergeben  [ic^  baraus  biejenigen  23ernunft[d)lü[[e  über 
bie  XDid)tigjten  allgemeinen  (fragen  ber  ^[t)cl)ologie,  tDeld)e  allein 
mit  htn  (5runb[ä^en  un[erer  mobernen  moni[ti[(i)en  2Beltan[d)au* 
ung  oereinbar  [inb.  !Der  erfte  Sanb  oon  51  o  man  es'  2Ber!  (ßeip3ig 
1885)  fül)rt  ben  Xitel:  „Die  geijtige  (Enttoidelung  im  3:ierreid)" 
mb  [teilt  bie  gange  lange  Stufenreil)e  ber  p[i)(i)i[(^en  (Snttoidelung 

2;ierreici^e  oon  ben  einfa(f)[ten  (Smpfinbungen  unb  3#t^ftß^ 
[ber  nieber[ten  Xiere  bis  3U  ben  i)oll!ommen[ten  (£r[cl) einungen  bes 
ffictDufet[eins  unb  ber  35ernunft  bei  ben  l)ö(f)jt[tel)enben  3:ieren  im 
natürlicl)en  3u[ammenl)ang  bar.  (£5  [inb  barin  aud)  oiele  S[Rit= 
teilungen  aus  l)interla[[enen  9Jianu[!ripten  „über  htn  5n[tin!t" 
t)on  Darroin  mitgeteilt,  unb  3uglei(^  ijt  eine  „t»oll[tänbige  Samm= 
lung  oon  allem,  toas  er  auf  bem  ©ebiete  ber  ^[r)d)ologie  ge[(f)rieben 
\)ai",  gegeben. 

Der  3U)eite  3:eil  oon  ^Romanes'  2Ber!  bel)anbelt  „bie  gei[tige 
(Enttoicfelung  beim  9Jien[d)en  unb  hzn  Ur[prung  ber  men[cf)lid)en 
Sefäl)igung"  (£eip3ig  1893).  Der  [d)arf[innige  ^[i)d)ologe  fül)rt 
barin  ben  überseugenben  ^etoeis,  „tia^  bie  p[r)d)ologi[(f)e 
Scf)ran!e  3töi[d)en  Xi^x  unb  9J?en[d)  überrounben  i[t"; 
bas  begriffliche  Denfen  unb  ^b[traTtionsüermögen  bes  9J?en[(^en 
l)at  [id)  allmäl)licl)  aus  ben  nicl)t  begrifflicl)en  3Sorjtuf en  bes  Denfens 
unb  SSorjtellens  bei  ben  näd)[toerrDanbten  Säugetieren  entroidelt. 
Die  l)öd)[ten  (5eijtestätig!eiten  bes  5lRen[c^en,  33ernunft,  Sprad)e 
unb  93etDufet[ein,  [inb  aus  ben  niebetm  33or[tufen  ber[elben  in 
ber  5icil)e  ber  ^rimatenol)nen  (^ffeu  unb  Halbaffen)  l)erDor» 


64  Sc^jtes  Äapitcl. 


gegangen.  X)er  93len|d)  befi^t  feine  eingige  „(5etjtestätig!ett", 
rDeId)e  it)m  ou5[(i)ItefeIt^  eigentümlich  ijt;  [ein  ganjes  Seelenleben  ijt 
üon  bemjenigen  ber  näc^jberiDanbten  Säugetiere  nur  bem  (Srabe, 
ni<^t  ber  3Irt  na<i),  nur  quantitativ,  md)t  qualitatiü  oerf^ieben. 

^ftji^ologift^e  aRetamorptjofen.  9lid)t  unertöäf)nt  [oll  eine 
meriiDürbige  ^r[(f)einung  bleiben,  bie  uns  niand)e  bebeutenbe 
9'laturfor[(f)er  unb  ^I)iIofopl)en  tDai)r3uneI)men  ©elegenl)eit  gaben. 
Sie  beftet)t  in  einem  eigentümli(i)en  pt)iIo[opt)if d)en  ^rinsipien» 
tDe(i)[el,  in  ber  9Sertau[(i)ung  bes  ur[prünglid)en  moniftifc^en 
Stanbpunftes  mit  einem  [päteren  buali[tifd)en.  ^as  intere[= 
[antefte  JBeifpiel  [oI(i)er  3Serxx)anbIung  liefert  S^wanuel  5lant. 
^Is  !riti[(i)er  ^f)iIo[opt)  toar  er  3ur  Überseugung  gelangt,  bafe  bie 
brei  (5rofemä(f)te  bes  9Jit)[ti3ismus:  „(Sott,  i5^reif)eit  unb  Un= 
jterblidjfeit"  —  als  !Dogmen  ber  „reinen  SSernunft"  —  unl)altbar 
erfc^einen.  Der  bogmatif(i)e  5lant  bagegen  fanb  [päter,  ha^ 
biefe  brei  ^auptgefpenjter  „^oftulate  ber  praftifd^en  S3ernunft" 
unb  als  [old)e  unentbel)rlid^  [eien.  ^t  mel)r  neuerbings  bie  an= 
ge[el)ene  Sd)ule  ber  9leo!antianer  'btn  „9lü(Jgang  auf  5^ant" 
als  einzige  9iettung  aus  bem  ent[e^lid)en  SBirrroarr  ber  mobernen 
9[Retapl)i)[if  prebigt,  befto  flarer  offenbart  [id^  ber  unleugbare  unb 
un^eiluolle  SBiberfprud)  ber  beiben  (Srunbanfc^auungen,  5ii)i[d)en 
benen  5^ant  l)in  unb  ^er  [(^tüan!te. 

3n  t)eut[cf)lanb  gilt  gegentoärtig  als  einer  ber  bebeutenbjten 
^[i)c^ologen  2Bill)elm  SBunbt  in  £eip3ig;  er  befi^t  Dor  h^n 
meijtcn  anberen  ^l)ilo[opl)en  ben  unfc^ä^baren  95or3ug  einer 
grünblid)en  30ologifd)en,  anatomifc^en  unb  pl)r)[tologifd)en 
©ilbung.  grül)er  ^[[ijtent  unb  S(^üler  »on  §elml)ol^,  l)atte 
fi^  äBunbt  früt)3eitig  baran  geroöl)nt,  bie  ©runbgefe^e  ber  ^l)r)[i! 
unb  (£l)emie  im  gefamten  (gebiete  ber  ^l)i)[iologie  geltenb  3u 
mad)en,  al[o  au^  (im  Sinne  von  ^o\)anm5  'tSUüUtx)  in  ber 
^fi)d)ologie,  als  einem  3:eilgebiete  ber  le^teren.  33on  biefen 
(5e[i(l)tspun!ten  geleitet,  oeröffentlid^te  2Bunbt  1863  tüertoolle 
„S3ovle[ungen  über  bie  ällenfc^en-  urio  3^ier[eele".  (£r  liefert  barin, 
luie  er  [elbjt  in  ber  23orrebe  [agt,  ben  9^a(^toeis,  t>a^  ber  Sd)au= 
pla^  ber  tüid)tigften  Seelenüorgänge  in  ber  unberou^ten  Seele 
liegt,  unb  er  eröffnet  uns  „einen  (Binblicf  in  jenen  9Jie(^anismus, 
ber  im  unberou^ten  §intergrunb  ber  Seele  bie  5lnregungen  t)er= 
arbeitet,  bie  aus  htn  äujgeren  (Sinbrüden  jtammen".  Sßas  mir  aber 
befonbers  roi^tig  unb  toertooll  an  SBunbts  2Ber!  er[rf)eint,  ijt, 
^ofe  er  „l)ier  3um  erjten  SJJale  bas  (5e[e^  ber  (£rl)altung  ber 
5^raft  auf  bas  p[r)cl)i[d)e  ©ebiet  ausbel)nt  unb  babei  eine 
9ieil)e  üon  3:at[aien  ber  (£le!tropi)i)fiologie  3ur  Seu)eisfül)runo 
benu^t"  (a.  a.  O.  S.  VIII). 


T)a5  Scfcn  ber  (»eele.  65 


^letfeig  3al)re  Ipäter  Deröffcntlid)le  SBunbt  (1892)  eine  stoeite, 
tre|entltd)  r>er!ür3tc  unb  gänslid^  umgearbeitete  Auflage  feiner 
„23orIe[uTigen  über  bie  50len[^en=  unb  3^ier[eele".  I)ie  toic^tigjten 
^rin3ipien  ber  erjten  Auflage  finb  in  biefer  3U)eiten  Döirig  auf= 
gegeben,  unb  ber  ntonifttfd) e  Stanbpunft  ber  erjteren  ijt  mit  einem 
rein  buali[ti[d)en  »ertaufd^t.  2ßunbt  [elbjt  [agt  in  ber  33orrebe 
3ur  3tDeiten  ^luflage,  bafe  er  firf)  erjt  allmäf)licl)  von  htn  funba* 
mentalen  3trtümern  ber  erften  befreit  f}abt,  unb  bafe  er  „biefe 
^trbeit  f(^on  feit  3al)i^cTt  als  eine  ^ugenbfünbe  betrad)ten  lernte"; 
fie  „laftete  auf  it)m  als  eine  5lrt  (5(^ulb,  ber  er,  fo  gut  es  get)en 
mo^te,  lebig  3U  roerben  toünfd)te".  ^n  ber  3:at  finb  bie  töidf)tigjten 
©runbanfd)auungen  ber  Seelenlet)re  in  ben  beiben  Auflagen 
üon  3Bunbts  toeit  oerbreiteten  „33orIefungen"  oöllig  entgegen* 
gefegte;  in  ber  erften  Auflage  rein  moniftifd)  unb  materialijtifd), 
in  ber  3töeiten  ^luflage  rein  bualijtifd)  unb  fpiritualiftifd).  Dort 
ujirb  bie  ^ft)d)oIogie  als  5Raturu)iffenf^aft  bel)anbelt,  nad) 
benfelben  ©runbfä^en  roie  bie  gefamte  ^l)r)fioIogie,  oon  ber  fie 
nur  ein  ^eil  ift;  breifeig  5at)re  fpäter  ift  für  it)n  bie  (5eelenlel)re 
eine  reine  (5eiftesu)iffenf(i)aft  getoorben,  beren  ^rin3ipien 
unb  Dbjefte  Don  benjenigen  ber  9laturtDiffenf(i)aft  »öllig  »er* 
fd)ieben  finb.  Den  fcf)ärfften  ^usbrud  finbet  biefe  ^e!et)rung  in 
feinem  ^rinsip  bes  pfi)^opl)r)fifd)en  ^arallelismus,  töonad) 
3tt)ar  einem  „jeben  pft)d)if(^en  (5efcf)el)en  irgenbü;)el(f)e  pt)r)fif(i)e 
23orgänge  entfprec^en",  beibe  aber  üöllig  unabt)ängig  ooneinanber 
finb  unb  nict)t  in  natürlid)em  5^aufal3ufammen{)ang 
ftel)en.  Diefer  oolüommene  Dualismus  oon  £eib  unb  Seele, 
von  9latur  unb  ©eijt  l)at  begreiflirf)ertüeife  "bm  Iebl)aften  Seifall 
ber  I)errfct)enben  6cl^uIpl)iIofopl)ie  gefunben  unb  toirb  von  \\)x 
als  ein  bebcutungsDoIIer  S^ortfi^ritt  geprief en,  um  fo  xm\)x,  als  er  oon 
einem  angefet)enen  9^aturforf(i)er  befannt  toirb,  ber  frül)er  bie  ent= 
gegengef  e^ten  ^nf  c^auungen  unf  eres  mobernen  9P^  o  n  i  s  m  u  s  oertrat. 
Da  id)  felbjt  auf  biefem  le^teren,  „befd)rän!ten"  Stanbpunft  feit 
me^r  als  fünf3ig  3al)ren  jtet)e  unb  mid)  tro^  aller  beftgemeinten  ^n= 
ftrengungen  nid)tt)on  il)m  I)abe  losmachen  fönnen,  mufe  id)  natürlich 
bie  „Sugenbfünben"  bes  jungen  ^I)r)fioIogen  SBunbt  für  bie  rid)tige 
9^aturer!enntnis  t)alten  unb  fie  gegen  bie  entgegengefe^ten  (5runb= 
anfc^auungen  bes  alten  ^Pofopl)en3Bunbt  energifi)  oerteibigen. 

(Bin  intereffantes  Seifpiel  äl)nl{d)er  tiefgel)enber  SBanblung 
bieten  3tDei  ber  berüt)mteften  ?laturforfd)er,  5?.  93ird)ou)  unb 
(£.  Du$Bois*9?et)monb;bie  95tetamorpl)ofe  i^rer  pfi)d)oIogifd)en 
©runbanf(f)auungen  barf  um  fo  toeniger  überfel)en  toerben, '  als 
beibe  ^Berliner  Biologen  met)r  als  40  3at)te  t)inburd)  an  ber  größten 
Unioerfität  Deutfd)Ianbs  eine  \)öä)\i  bebeutenbe  9^ olle  gcfpielt  unb 

Äaerfet,  ^ettr^.ffet.  5 


66  Sed)jte5  Äapttel. 


forool)!  btrcft  tote  tnbtrelt  einen  tiefgreifenben  CEinflufe  auf  bas 
moberne  ©etjtesleben  geübt  \)ahtn.  9^uboIf  33ird)otD,  ber  Der= 
btenjtoolle  Segrünber  ber  3eIIuIarpatI)oIogte,  wax  in  ber  bejten 
3eit  [einer  tüi[[enfd)aftlic^en  3:ätig!eit,  um  bie  SRitte  bes  19.  5al)r= 
l)unberts  (unb  befonbers  tDäf)renb  [eines  SBürjburger  ^ufent= 
l^alts,  Don  1849—1856)  reiner  aRoni[t;  er  galt  bamals  als  einer 
ber  i)ert)orragenb[ten  33ertreter  jenes  neu  ertDad)enben  „9Jlate  = 
rialismus",  ber  im  5at)re  1855  be[onbers  burd)  sroei  berütimte, 
fajt  glei(f)3eitig  er[d)ienene  2Ber!e  eingefüt)rt  tüurbe:  fiubtüig 
S üd)n er si^raft  unb  Stoff,  unb  darl  33ogts  5löl)lerglaube  unb 
2Bi[[en[d)aft.  Seine  allgemeinen  bioIogi[d)en  ^n[d)auungen  von 
ben  £ebensüorgängen  im  9Jlen[dE)en  —  [ämtlicf)  als  med)ani[d)e 
9laturer[d)einungen  aufgefaßt!  —  legte  bamals  23ircf)ou)  in  einer 
5Reil)e  ausge3eid)neter  ^rtifel  in  ben  er[ten  93cinben  bes  üon  if)m 
t)erausgegebenen  ^rd^iüs  für  patt)oIogi[c^e  Anatomie  nieber. 
2Bot)I  bie  bebeutenbjte  unter  bie[en  5lbf)anblungen  unb  bie  jenige, 
in  ber  er  [eine  bamatige  moni[ti[d^e  2BeItan[d)auung  am 
üarjten  3u[ammenfafete,  ijt  bie  9?ebe  über  „T)ie  (£inl)eitsbe[tre= 
bungen  in  ber  u)i[[en[d)aftlid)en  SOlebisin"  (1849).  (£s  ge[c^a'^ 
geröife  mit  5Bebad)t  unb  mit  ber  Uberjeugung  it)re5  pPo[opI)i[d)en 
Sßertes,  ^al^  ^ixd)om  1856  bie[es  „mebi3ini[(i)e  (5Iauben5be!ennt= 
nis"  an  bie  Spi^e  [einer  „®e[ammelten  ^bl)anblungen  3ur  tDi[[en= 
[(f)aftlid)en  SJZebisin"  [teilte.  (£r  üertritt  barin  eben[o  !Iar  als  be= 
[timmt  bie  funbamentalen  ^rinsipien  un[eres  f)eutigen  9[Roni6mus, 
toie  id)  [ie  l)ier  mit  be3ug  auf  bie  £ö[ung  ber  „9[BeIträt[er'  bar[tene; 
er  üerteibigt  bie  alleinige  ©ered)tigung  ber  (£rfa!)rungstDi[[en[(^aft, 
beren  ein3ige  3UDerIä[[ige  Quellen  Sinnestätigfeit  unb  (5el)irn= 
funüion  [inb;  er  befämpft  eben[o  ent[d)ieben  htn  antI)ropoIogi[d)en 
t)ualismus,  jebe  [ogenannte  £)ffenbarung  unb  jebe  „3:ran[3enben3" 
mit  if)ren  3tDei  SBegen:  „©lauben  unb  ^nttiropomorpl^ismus". 
S3or  allem  betont  er  titn  moni[ti[(i)en  (£I)ara!ter  ber  5lntt)ropoIogte, 
tttn  untrennbaren  3ii[ömmenl)ang  oon  ©ei[t  unb  Körper,  oott 
5^raft  unb  SPlaterie;  am  Sd)Iu[[e  [eines  93ortoorts  [prict)t  er  (S.  4) 
htn  Sa^  aus:  „^ä)  l)aht  bie  Überseugung,  ha!^  id)  miä)  niemals 
in  ber  £age  befinben  roerbe,  ben  Sa^  oon  ber  (£inl)eit  bes  men[c^  * 
Iid)en  2Be[ens  unb  [eine  5lon[equen3en  3U  r»erleugnen."  fieiber 
roar  bie[e  „Hberseugung"  ein  [d)t»erer  ^^rtum;  benn  28  ^al)xz 
[päter  oertrat  33ird)otD  gans  entgegenge[e^te  prin3ipiene  5ln= 
[(^auungen;  es  ge[d)at)  bies  in  jener  meIbe[prod)enen  9?ebe  über 
„X)h  greil)eit  ber  2Bi[[en[d)aft  im  mobernen  Staate",  bie  er  1877 
auf  ber  9laturfor[(^erDer[ammIung  in  9[Ründ)en  I)ielt,  unb  beren 
Angriffe  id)  in  meiner  S^rift  „t^xtit  2ßi[[en[d)aft  unb  freie  £el)re" 
(1878)  3urüdgetDie[en  I)abe. 


t)05  3ßc[en  ber  Seele.  67 

$ll)nlid)e  2Biber[prüd)e  in  bejug  auf  bte  röid^tigften  pI)tlo[opl)t* 
\d)tn  ®runb[ä^e  tote  33ir(^otD  \)ai  auä)  (£mil  X)u  So{s  =  5tet)  = 
monb  gegeigt  unb  bamit  ben  lauten  SBeifall  ber  bualijtifcfien 
od)uIen  unb  cor  allem  ber  Ecclesia  militans  errungen.  3^  me^r 
biefer  berüf)mte  9?t)etor  ber  SBerltner  5l!abemie  im  allgemeinen 
bie  ©runbfä^e  unferes  SJionismus  oertrat,  je  met)r  er  [elbft  gur 
SBiberlegung  bes  23itali5mu5  unb  ber  tranfjenbenten  fiebens» 
auffaffung  betgetragen  l)atte,  bejto  lauter  roar  bas  !Xriumpl)ge[d)rei 
ber  ©egner,  als  er  1872  in  [einer  roirfungst) ollen  ^gnorabismus* 
9lebe  bas  „SetDufet[ein"  als  ein  unlösbares  2BeIträt[eI  f)ingejtellt- 
unb  als  eine  übernatürlid)e  (£r[^einung  ben  anberen  ©el)irn* 
funftionen  gegenübergeftellt  I)atte. 

I)er  totale  pt)iIofopf)i[(^e  ^rin3ipientDe(i)[eI,  ber  uns  in  hzn 
„p[t)cf)oIogi[(t)en  5[Retamorpf)ofen"  bie[er  unb  anberer  berül)mter 
X)en!er  entgegentritt,  ijt  [el)r  merftoürbig.  5n  il)rer  Sugenb  umf äffen 
biefe  !üt)nen  unb  talentüollen  9flaturforf^er  bas  ganje  (Sebiet  ifirer 
bioIogifd)en  (5orfd)ung  mit  toeitem  ®Iidf  unb  jtreben  eifrig  nad) 
einem  einlieitli^en,  natürli(i)en  (£r!enntnisgrunbe;  in  ü^rem  ^Iter 
l^ahtn  fie  eingefet)en,  bafe  biefer  ni(f)t  ooIHommen  txxddfhat  ijt, 
unb  bes^alb  geben  fie  it)n  lieber  ganj  auf.  S^x  (£ntf(^ulbigung 
biefer  pft)d)oIogifd)en  äRetamorpt)ofe  !önnen  fie  natürlid)  anfül)ren, 
ha^  fie  in  ber  Sugenb  'i>xt  S(^roierig!eiten  ber  großen  Aufgabe 
überfef)en  unb  tit  xoa\)xzn  3iele  oerfannt  I)ätten;  erft  mit  ber 
reiferen  (£infid)t  bes  Filters  unb  ber  Sammlung  oieler  (£rfat)rungen 
l^ätten  fie  fid)  oon  il)ren  ^ti^tümern  übergeugt  unb  ben  toa^ren 
2Beg  gur  £)uelle  ber  2Bat)r^eit  gefunben.  9Äan  !ann  aber  audf)  um= 
ge!el)rt  bel)aupten,  ha^  bie  großen  SRänner  ber  2Biffenf^aft  in 
jüngeren  ^ai)xtn  unbefangener  unb  mutiger  an  it)re  fd^toierige 
Aufgabe  lierantreten,  bafe  i^r  ^licf  freier  unb  it)re  Hrteilsfraft 
reiner  ijt;  bie  (£rfal)rungen  fpäterer  5af)re  füt)ren  melfact)  nic^t 
nur  3ur  Bereicherung,  fonbern  au(f)  5ur  2;rübung  ber  (£infi(^t,  unb 
mit  bem  ©reifenalter  tritt  anmäl)lic^e  9^ü(fbilbung  ebenfo  im 
®el)irn  roie  in  anberen  iDrganen  ein.  ^ebenfalls  ift  biefe  9Jietamor= 
pI)ofe  an  fidE)  eine  Iet)rrei^e  pfr)ct)oIogif(i)e  Xai\aä)t;  benn  fie  be= 
loeift  mit  oielen  anberen  formen  bes  „öefinnungsroec^fels",  ha^ 
bie  I)öd)ften  Seelenfunftionen  ebenfo  toefentlic^en  inbioibuellen 
35eränberungen  im  Saufe  bes  £ebens  unterliegen  u)ie  alle  anberen 
fiebenstätigleiten.  -> 


68  Siebentes  Äapitel. 


6iebettteö  ^apxtti. 

©fufettleiter  bet  Seele* 

9)Zoniftifcj)e  <5fubicn  über  i[)er9(eicbenbe  ^fpc^ologie. 
^fpcboloöifcbe  6tufen(eifer,    3nftin!t  unb  Q3ernunft. 

T>k  grofearticjcn  3^ort[d)nttc,  XDtld)t  bie  ^fr)d)oIogie  in  ber 
3toeiten  ^älfte  bes  19.  3öi)rl)unbert5  mit  §ilfe  ber  (£ntröi(!elung5= 
Ie{)re  gemad)!  \)ai,  gipfeln  in  ber  ^nerfennung  ber  p[r)ci)oIogi» 
[c^en  (£inl)eit  ber  organi[cf)en  2Belt.  Die  oergleirf) enbe 
Seelenlel)re,  im  33ereine  mit  ber  Ontogenie  unb  ^l)i)Iogenie  ber 
^[i)d)e,  I)at  uns  3U  ber  Hberjeugung  gefüt)rt,  bafe  bas  organif^e 
£eben  in  allen  ^bjtufungen,  oom  einfac^jten,  einjelligen  ^rotijten 
bis  3um  9Jtenfd)en  t)inauf,  aus  benfelben  elementaren  9iatur= 
träften  [ic^  entroidelt,  aus  ben  3^un!tionen  ber  (Smpfinbung  unb 
^öeroegung.  Die  Hauptaufgabe  ber  n)i[[enfd)aftli(i)en  ^[r)d)oIogie 
osirb  bat)er  fünftig  nicE)t,  roie  h\5i)tx,  bie  aus[ct)Iiefeli(f)  [ubjeJtiue 
unb  introfpeftioe  3ci^9lieberung  ber  pd^ftentroidfelten  ^l)ilo« 
fopl)en[eeIe  [ein,  fonbern  bie  objeftioe  unb  oergleicfienbe  Unter* 
iud)ung  ber  langen  Stufenleiter,  auf  mtld)tx  ]iä)  ber  menfi^ltc^e 
(öeijt  allmät)lid)  aus  einer  langen  9leit)e  Don  nieberen  tieri[cl)en 
3ujtanben  enttoidelt  l)at.  Die  [cf)öne  Aufgabe,  bie  einseinen 
Stufen  biefer  p[i)d)ologi[d)en  Äette  3U  unter[d)eiben  unb  il)ren 
ununterbro(i)etten  pl)r)logenetifd)en  3u[ammenl)ang  nad^jutöcifen, 
ijt  erjt  in  ben  legten  X)e3ennien  bes  19.  5a^rl)unberts  ernftlid)  in 
Angriff  genommen  roörben. 

SRaterieUe  Safts  ber  $ft)(^e.  5llle  (£rfd)einungcn  bes  Seelen* 
lebens  ol)ne  ^usna^me  finb  oerfnüpft  mit  materiellen  Söorgängen 
in  ber  lebenbigen  Subjtan3  bes  5lörpers,  im  Plasma  ober 
Protoplasma.  2Bir  \)ahtn  jenen  3:eil  bes  le^teren,  ber  als  ber 
3:räger  ber  ^[i)(f)e  er[d)eint,  als  ^[t)d)oplasma  beseic^net; 
roir  erbliden  barin  fein  befonberes  „2Be[en",  [onbern  toir  be= 
trad)ten  bie  ^fi)d^e  ols  Aolleftiobegriff  für  bie  ge[am  = 
ten  p[i)(f)i[ct)en  ^^runftionen  bes  Plasma.  „Seele"  ijt  in 
biefem  Sinne  ebenjo  eine  pl)t)[iologi[d)e  5tbjtra!tion  toie  ber 
Segriff  „ Stoff U)e(f)[er'  ober  „3cugung".  Seim  äRen[cf)en  unb 
ben  l)öl)eren  !Iieren  ift  bas  ^[i)(f)oplasma,  3ufolge  ber  t)orge[(i)rit= 
tenen  5lrbeitsteilung  ber  Organe  unb  ©eroebe,  ein  bifferensierter 
93ejtanbteil  bes  9lerocn|i)|tem5,  bas  9leuroplasmo  ber  ©onglien» 


Siufenleiter  ber  6eele.  69 


gellen  unb  \i)xtt  leitcnben  Ausläufer,  ber  Sf^eröenfafern.  Set  hzn 
nieberen  Spieren  bagegert,  bie  noc^  feine  gefonberten  9lert)en  unb 
Sinnesorgane  befi^en,  ijt  bas  ^fr)c^opla5ma  nocf)  ni(^t  jur  [elb= 
jtänbigen  2)ifferen5ierung  gelangt,  ebenfotoenig  bei  iitn  ^flangen. 
Sei  ben  einseitigen  ^roti^ten  ijt  has  ^[i)c^opIa5ma  ibentifd^  mit 
bem  ganzen  lebenbigen  Protoplasma  besjelben.  ^n  allen 
gällen,  ebenfo  auf  biefer  nieberjten  toie  auf  jener  I)öd)jten  Stufe 
ber  p[T)(^oIogi[d)en  (Enttoicf elung5rei{)e ,  ift  eine  getoiffe  d^emi[rf)e 
3u[ammen[e^ung  bes  ^[rjc^oplasma  unb  eine  getüiffe  pl)t)fi!a^ 
Ii[(t)c  Se[c^affen^eit  besfelben  unentbe!)rlid),  u)enn  bie  „Seele" 
arbeiten  [oH.  ias  gilt  ebenfo  oon  ber  elementaren  Seelentätigfeit 
ber  plasmatifc^en  (Empfinbung  unb  Setoegung  bei  ten  ^roto3oen, 
roie  oon  t>tn  3u[ammenge[e^ten  gfunftionen  ber  Sinnesorgane 
unb  bes  ©et)irns  bei  htn  I)öt)eren  Xieren  unb  bem  95len[(f)cn. 
Die  Arbeit  bes  ^[r)(^opIasma,  bie  toir  „Seele"  nennen,  ijt  jtets 
mit  Stofftüed)feI  oerfnüpft. 

Stufenleiter  ber  C^mpftnbungen.  ^Ile  lebenbigen  9latur= 
törper  ot)ne  5(u5nat)me  jinb  empfinblid);  fie  unter[cf)eiben  bie 
3ujtänbe  ber  umgebenben  ^ufeentoelt  unb  reagieren  barauf  burc^ 
geroijje  Scränberungen  in  il)rem  ^Ttnern.  £id)t  unb  3Bärme, 
Sd)roer!raft  unb  (£le!tri3ität,  me(f)ani[ct)e  ^roaeffe  unb  (f)emi[(i)e 
Vorgänge  in  ber  Umgebung  roirlen  als  „9lei3e"  auf  bas  empfinb= 
Ii(f)e  ^[i)c^opIasma  unb  rufen  Seränberungen  in  [einer  moIe= 
Maren  3ujammen[e^ung  t)eröor.  5(ls  §auptjtufen  feiner  (£mp  = 
finblirf)!eit  unterjc^eiben  toir  folgenbe  fünf  ©rabe: 

I.  ^uf  htn  unterjten  Stufen  ber  Drganifation  ijt  bas  ganje 
^ji)(i)opIasma  als  [ol(i)es  empfinblict)  unb  reagiert  auf  bie  ein== 
löirfenben  ^lei^e,  jo  bei  ben  nieberen  ^rotijten,  bei  oielen  ^flanjen 
unb  einem  3:eire  ber  unoolüommenjten  3:iere.  11.  ^uf  ber 
30)eiten  Stufe  beginnen  [ic^  an  ber  Oberfläche  bes  i^örpers  ein= 
fact)jte  Sinne sto er faeugc^u  enttoideln,  in  ^form  oon  ^lasma= 
i)aaren  unb  ^igmentflecfen,  als  Vorläufer  oon  3:ajtorganen  unb 
^ugen;  [o  bei  einem  Steile  ber  l)öl)eren  ^rotijten,  aber  auc^  bei 
oielen  nieberen  3:ieren  unb  ^flanjen.  III.  5luf  ber  britten  Stufe 
I)aben  [id)  aus  biejen  cinfact)en  ©runblagen  burc^  Differenjie^ 
rung  [pe3ififrf)e  Sinnesorgane  entioicfelt,  mit  eigentümlirf)er 
;5tnpaf[ung:  bie  ^emij(f)en  äßerfseuge  bes  ®erud)s  unb  (Sejc^macfs, 
^bie  pi)i)[ifali[cl^en  Organe  bes  Xajifinnes  unb  SBärmefinnes,  bes 
;®el)örs  unb  ©efid^ts.  Die  „[pe3ifij(^e  (Energie"  biejer  l)öf)eren 
Sinnesorgane  ijt  feine  urjprüngli(i)e  (£igen[d)aft,  [onbern  burc^ 
funftionelle  5lnpa[jung  unb  progrejjioe  23ererbung  ertoorben. 
JV.  5luf  ber  oierten  Stufe  tritt  bie  3entrali[ation  bes  5RerDen  = 
|f9ftems  unb  bamit  3uglei(^  biejenige  ber  ©mpfinbung  ein;  burd) 


70  Siebentes  5^apttel. 


^[[ogton  ber  frül)eren  i[oIterten  ober  IofaIt[ierten  (gmpfinbungen 
entjtel)en  23orjtenungen,  bte  ^unäc^jt  nod)  unbetDufet  bleiben,  [o 
bei  üielen  nieberen  unb  I>öl)eren  Xieren.  V.  ^uf  ber  fünften  6tufe 
bilbet  [id)  im  3eiitralteil  bes  ^leroenfi^jtems  eine  befonbere  Sammel= 
ftelle  für  bie  empfangenen  (£inbrüde  unb  bie  aus  it)nen  3u[ammen= 
gefegten  (Srlebniffe  aus.  Z^xt  S^unttion  fennen  roir  bei  uns  [elbft 
als  betoufete  CBmpfinbung;  ät)nlid^e  Drgane  befi^en  alle  I)öl)eren 
äßirbeltiere  unb  unter  ben  2BirbeIIo[en  [inb  [ie  befonbers  bei  ben 
©liebertieren  befannt. 

Stufenleiter  ber  löetoegutigen.  ^Ile  lebenbigen  ?latur!örper 
Dl)ne  5Iusnat)me  [inb  [pontan  betoeglid),  im  ©egenfa^e  ju  ben 
jtarren  unb  unbett)egli(^en  ^Inorganen  (5^ri)ftaIIen),  b.  \).  es  finben 
im  lebenbigen  ^[i)d)opIasma  fiageüeränberungen  ber  Xeilc^en 
aus  inneren  llr[a(i)en  jtatt,  toeId)e  in  beffcn  d)emi[(f)er  i^onjtitution 
felbjt  begrünbet  [inb.  Diefe  aftiüen  üitalen  ©etoegungen  [inb  3um 
Xtxl  bire!t  burd)  ©eoba^tung  iDal)r3unet)men,  3um  anberen  Xeil 
aber  nur  inbire!t  aus  il)ren  2Bir!ungen  3U  er[ct)Iiefeen.  2Bir  unter= 
[ct)eiben  fünf  Abstufungen  ber[elben. 

I.  5(uf  ber  unterjten  Stufe  bes  organi[^en  fiebens  nel)men 
xöir  nur  jene  2Ba(i)stumsbeu3egungen  u)at)r,  roeldie  allen  Orga= 
nismen  gemein[am  3u!ümmen.  Sie  ge[(i)el)en  getDöl)nIi(^  [0  Iang= 
[am,  bafe  man  [ie  nid)t  unmittelbar  beobad)ten,  [onbem  nur  in= 
bire!t  aus  itirem  9le[ultate  er[d^Iiefeen  !ann,  aus  ber  33eränberung 
in  (Sröfee  unb  ©ejtalt  bes  XDa(^[enben  .Körpers.  11.  93iele  ^roti[ten, 
namentli^  ein3ellige  Algen  aus  ben  ©ruppen  ber  I)iatomeen 
unb  X)esmibiaceen,  beroegen  [id)  fried)enb  ober  [d^toimmenb  burc^ 
Seiretion  fort,  burc^  ein[eitige  Aus[d)eibung  einer  [d)Ieimigen 
9Ka[[e.  III.  Anbere,  im  3ßa[[er  [d)iDebenbe  Organismen,  3.  S.  oiele 
9tabioIarien,  Sipt)onopl)oren,  5ltenopt)oren  u.  a.,  [teigen  auf  unb 
nieber,  inbem  [ie  it)r  [pe3ifi[d)es  (5zwid)i  oeränbern,  balb  buri^ 
Osmo[e,   balb  burd)  Abjonberung  ober   Aus[tofeung  oon  £uft. 

IV.  33iele  ^flansen,  be[onbers  bie  empfinblid)en  Sinnpflan3en 
(9Jlimo[en)  unb  anbere  ^apilionaceen,  fül)ren  Setoegungen  oon 
^Blättern  ober  anberen  !leilen  mittels  3^urgortDed)[el5  aus, 
b.  t).  es  oeränbert  [ic^  bie  Spannung  bes  Protoplasmas  unb  bamit 
auc^  be[[en  I)rud  auf  bie  um[d)Iiefeenbe  ela[ti[cl^e  3^IIenu)anb. 

V.  Die  roid)tig[ten  oon  allen  organi[d)en  Seroegungen  [inb  "bit 
5^ontra!tionser[d^ einungen,  b.  l).  ©e[taltsDeränberungen  ber 
5lörperoberfläd)e,  u)eld)e  mit  gegen[eitigen  jßageoer[d)iebungen 
il)rer  3:eild^en  oerbunben  [inb;  [ie  »erlaufen  [tets  in  3toei  oer= 
[d)iebenen  3#änben  ober  ^l)a[en  ber  ©eioegung:  ber  i^ontra!^ 
tionspI)a[e  (3u[ammen3ie]^ung)  unb  ber  (£ipan[ionspl)a[e 
(Ausbel)nung).   Als  oier  »er[d)iebene  grormen  ber  ^lasmafontraf» 


Stufenleiter  ber  Seele.  71 


ttort  iDerben  unterf(^teben  Va:  bie  amöboiben  Setoegungen 
(bei  9?^t3opoben,  Slutsellert,  ^tgTnent3ellen  u[tD.);  Vb:  bie  ät)n= 
lid^en  ^lasmoftröTnungen  im  Seinern  con  abge[(^lo[[enen 
3enen;  Vc:  bie  glimmcrbetoegung  {©eifeelberoegung  unb 
SBimperbetDegung)  bei  ^Tifuforien,  Samensellen,  0^limmerepitt)el= 
seilen,  unb  enbli(^  Vd:  bie  9Jiu5felbetDegung  (bei  t)tn  meiften 
2:ieren). 

IReflcxe.  2)ie  elementare  Seelentätigfeit,  votld)t  burc^  bie 
93er!nüpfung  oon  (Smpfinbung  unb  Setoegung  entjtel)t,  nennen 
roir  S^eflei.  X)te  Seroegung  —  gletd)Dtel  toelcl)er  5trt  —  er= 
[d)etnt  l)ier  als  hh  unmittelbare  golge  bes  9^ei3es,  tDeld)er  bie 
(Empfinbung  l)ert)orgerufen  l)at;  man  l)ai  [ie  ba^er  aui^'im  ein= 
fa(^jten  galle  (bei  ^rotijten)  furj  als  „5?ei3beu)egung"  be= 
3eicE)net.  ^lles  lebenbe  Plasma  befi^t  9lei3bar!eit  (Irritabilität). 
3ebe  pl)r)[ifalifcf)e  ober  ct)emifd)e  93eränberung  ber  umgebenben 
5Iufeentüelt  !ann  unter  Kmjtänben  auf  bas  ^ft)cl)oplasma  als  5Rei3 
toirfen  unb  eine  ©etoegung  l)erDorrufen  ober  „auslöfen".  2ßir 
roerben  fpäter  [el)en,  toie  ber  XDtcl)tige  pl)r)[ifali[d)e  Segriff  ber 
^uslöfung  bie  einfa^jten  organif(i)en  9?efleitaten  unmittelbar 
an[(^liefet  an  äl)nlid)e  mec^anifi^e  ^Betoegungsoorgänge  in  ber 
anorganif(t)en  Statur  (3.  ©.  bei  ber  (Sxplofion  oon  ^uloer  burd) 
einen  ö^unfen,  oon  Di)namit  burc^  einen  Stofe). 

einfache  unb  sufammengefe^te  9leflexc.  Der  tt)i(i)tige  ltnter= 
f^ieb,  ben  xoxx  in  morpl)ologi[(^er  unb  pl)r)[iologi[^er  ^infii^t 
3tDi[(i)en  ben  einselligen  Organismen  (Protisten)  unb  ben  uiel= 
Selligen  (Histonen)  mad)en,  gilt  au^  für  beren  elementare  Seelen= 
tätigfeit,  für  bie  9iefleitat.  5Bei  ttn  einselligen  ^rotiften 
läuft  ber  ganse  ^rosefe  bes  ^tefleies  innerl)alb  bes  Protoplasma 
einer  einsigen  3ßne  ah;  bie  „3^n[eele"  berfelben  er[(^eint  nod) 
als  eine- einl)eitlid)e  (Munition  bes  ^fr)(^oplasma,  beren  einselne 
^l)a[en  [id)  erjt  mit  ber  Differensierung  befonberer  Organe  3U 
[onbern  beginnen.  Sd)on  bei  3cnüereinen  beginnt  bie  stoeite 
Stufe  ber  Seelentätig!eit,  ber  sufammengefe^te  9{eflei. 
Die  3al)lrei(^en  [osialen  3^11^",  toelc^e  biefe  3ßnoereine  3ufammen= 
fe^en,  jtet)en  immer  in  mef)r  ober  roeniger  enger  33erbinbung,  oft 
bireft  burd^  fabenförmtge  ^lasmabrücfen.  (£in  9t eis,  roelc^er 
eine  ober  melirere  3ßnen  bes  33erbanbes  trifft,  toirb  burd)  Ut 
23erbinbungsbrüden  ben  übrigen  mitgeteilt  unb  !ann  alle  su  ge= 
mein[amer  ilontraftion  oeranlaffen.  Diefer  3u[ammenl)ang  be= 
|tel)t  aud)  in  hzn  (Seroeben  ber  oielselligen  ^flansen  unb  Xiere. 
2Bäl)renb  man  frülier  intümlic^  annal)m,  bafe  bie  3ellen  ber 
^flansengetoebe  gans  ifoliert  nebeneinanber  ftet)en,  [inb  je^t 
überoll  feine  ^lasmafäben  nad)getüte[en,  roeli^e  bie  biden  3^11= 


79 


Siebentes  5^apitel. 


membranen  bur(f)fe^en  unb  il)re  lebenbtgen  ^lasmaförper  in 
materiellem  unb  p|i)C^ologi[d)em  3iif<immenf)ang  erl)alten.  So 
ertlärt  es  fid),  ha^  bie  (Erfc^ütterung  ber  empfinbli(f)en  2Bur3el 
von  Mimosa,  coelc^e  ber  Xritt  bes  SBanberers  auf  ttn  Soben  Der= 
ur[ad)t,  fofort  ^tn  9?ei3  auf  alle  3^nen  bes  ^ftanjenftodes  über= 
trägt  unb  il)re  jarten  gieberblätter  3um  3w[ammenlegen,  bie 
Slattjtiele  3um  §erab[in!en  ueranlafet. 

9lcflei  unb  ©etr>uBtfetn.  ^uf  bie  O^rage,  tnroietoeit  bem 
Organismus  [eine  9teaftionen  auf  bie  9?ei3e  ber  Umtoelt  betüu^t 
roerben,  fann  eine  allgemeine  ^ntroort  nid)t  gegeben  roerben. 
23om  Seroufetfein  roiffen  mir  eigentlirf)  nur  infofern,  als  es  bie 
unmittelbare  ®rfal)rung  unferes  eigenen  Erlebens  ift.  23erglei= 
c^enbe  ^Betrachtung  ber  9^efleie  [elbft  unb  befonbers  audf)  il)rer 
anatomt[cE)en  ®runblagen  bere(f)tigen  uns  aber  3u  ber  Wnnal)me, 
t)Q^  biejenigen  Xiere,  hit  einen  äl)nlid^en  ^f)03ionsapparat  in 
i^ren  5lefleibogen  eingefrfialtet  \)ahtn  toie  toir,  aud^  in  äf)nlic^er 
äbeife  erleben,  al[o  ein  bem  unferen  analoges  Setou^tioerben 
tt)rer  pfT)d)i[^en  (Junftionen  befi^en.  ^Is  [olc^e  Xiere  !ommen 
bie  uns  jtammesgefc^i(i)tlid^  nal)e  jtel)enben  SBirbelticre  unb  üon 
ben  Sßirbellofen  oielletcf)t  bie  [osiaten  (Sliebertiere  unb  bie  5lopf= 
füjger  (Cephalopoden)  in  ^etrad)t. 

Stufenleiter  ber  ©orftellungen.  Der  S^aupla^  Haren  ^e= 
coufetfeins  [inb  beim  9J?en[(i)en  oor  allem  bie  33orftellungen.  Dod) 
ift  bas  Seroufetfein  !ein  töe[entli(i)es  9Jier!mal  ber  33orftellungen; 
roir  nel)men  [ol(^e  r>ielmel)r  bei  allen  Organismen  an,  oI)ne  ha^ 
mir  it)nen  ein  bem  un[eren  ät)nlicl^es  !lar  beroufetes  (Erleben  3u= 
[(^reiben,  ^m  allgemeinen  erfd^eint  bie  23orjtellung  als  bas  innere 
JBilb  bes  äußeren  Objeftes,  tüeld)e5  bur(^  bie  ßmpfinbung  über= 
mittelt  ijt. 

I.  3^IIulare  23orftenung.  ^uf  htn  nieberjten  Stufen  be= 
gegnet  uns  bie  93orjtellung  als  eine  allgemeine  pl)i)[iologi[(^e 
gunftion  bes  ^[r)ct)oplasma;  |(f)on  bei  t^n  einfa(i)jten  einseitigen 
^rotijten  tonnen  (Empfinbungen  bleibenbe  Spuren  im  ^[r)(^o= 
Plasma  l)interla[[en,  unb  biefe  fönnen  oom  (5ebäd)tnis  reprobu3iert 
ujerben.  5Bei  mel)r  als  oiertau[enb  Jlabiolarienarten,  roeld^e  irf) 
be[cf)rteben  t)abe,  ijt  jebe  einselne  Spesies  burd)  eine  bejonbere 
erblid)e  Sfelettform  ausgesei^nei  X)ie  ^robu!tion  biefes  [pe3i- 
fi[c^en,  oft  \)öd)]t  oerBoidelt  gebauten  Steletts  burd)  eine  i)'öd)\t 
einfad)  gestaltete  (meift  tugelige)  3^\lt  ijt  nur  bann  erflärlid),  toenn 
roir  bem  bauenben  Plasma  bie  (5äl)ig!eit  ber  33orjtellung  %u\d)xzU 
ben,  unb  stoar  ber  bejonberen  9?eprobuftion  bes  „plajtifc^cn 
Dtjtan3gefül)ls",  roie  ic^  in  meiner  ^ft)d)ologie  ber  9^abiolarien 
geaeigt  l)abe  (1887,  S.  121). 


Stufenleiter  ber  6eele.  73 


IL  §t[tonaIe  S^orftellung.  Schott  bei  ben  (Sönobien  ober 
3enDereinen  ber  gefelligen  ^rotijten,  nocf)  met)r  aber  in  htn  ©e= 
roeben  ber  ^flan^en  unb  ber  nieberen,  neroenlofen  3:iere  ((5pon= 
gien,  ^oli)pen)  begegnen  loir  ber  jcoeiten  Stufe  ber  33orjtenung, 
tt)el(i)e  auf  bem  gemeinfamen  Seelenleben  3at)Irei(f)er,  eng  oer« 
bunbener  Sollen  berut)t.  Da  einmalige  9tei3e  nii)t  blofe  eine 
oorüberge{)enbe  ^Betoegung  eines  Drganes  (3.  ®.  eines  ^flansen* 
blattes,  eines  ^oIr)penarme5)  auslöfen,  [onbern  einen  bleibenben 
Sinbrutf  l)interla[fen,  ber  von  biefem  [päter  reprobusiert  töerben 
fann,  fo  muffen  roir  3ur  ©rflärung  biefer  (£rf(t)einung  tim  §ijtonal= 
33orjtenung  annet)men,  gebunben  an  bas  ^fijc^oplasma  ber  a[fo3i= 
ierten  (5ett)ebe3elien. 

III.  UnbetDufete  Sßorftellung  ber  ©angliensellen. 
Die  britte,  ^ö^ere  Stufe  ber  33orjtenung  ift  bie  I)äufigfte  gorm 
biefer  Seelentätigfeit  im  3:ierreict);  [ie  erfc^eint  als  eine  £ofalifa= 
tion  bes  33orftenens  auf  beftimmte  „Seelen3enen"  ober  ©ruppen 
oon  5Rert)en3enen.  9Kit  ber  auf jteigenben  (gnttoicfelung  bes  3entral= 
nert)enfi)ftems  im  Xierrei^,  feiner  3unet)menben  Differen3ierung 
unb  Integration  erl)ebt  fid)  au^  bie  ^usbilbung  biefer  3Sor|teI= 
lungen  3U  immer  I)öt)eren  Stufen, 

IV.  $8eu)ufete  23or[teIlung  ber  (5e{)irn3elten.  (£rjt  auf 
ben  t)öcf)jten  Gnttoidfelungsftufen  ber  tierifd^en  Crganifation  ent= 
toidelt  fi^  bas  Semufetfein  als  eine  befonbere  gun!tion  eines 
bestimmten  3entralorgans  bes  S^leroenfpltems.  ^nbem  bie  93or= 
jtellungen  betoufete  roerben,  unb  inbem  befonbere  ®et)imteile  [id) 
3ur  5l[fo3ion  ber  betoufeten  33orjtellungen  reid^  entfalten,  toirb 
ber  Organismus  3U  jenen  l)öcl)jten  p[r)cl)ifc^en  Orun!tionen  befäl)igt, 
loeld^e  tDir  als  Denfen  unb  überlegen,  als  S3erftanb  unb  33er  = 
nunf  t  be3ei(f)nen.  Obgleicf)  bie  ^bjtecfung  ber  pl)t)leti[(f)en  ©rense 
3töi[ci)en  ben. älteren,  unbetüufeten  unb  htn  jüngeren,  betoufeten 
23orjtellungen  l)ö(^ft  frf)U)ierig  ijt,  fönnen  roir  boc^  mit  2Bal)rf(^ein= 
li(f)feit  annel)men,  t>a^  bie  le^teren  aus  htn  erfteren  poli)pf)t)  = 
letifcf)  entjtanben  finb.  Denn  toir  bürfen  betoufetes  unb  oer= 
nünftiges  Den!en  nicl)t  nur  bei  ben  t)öcl)jten  formen  bes  2Birbel= 
lierjtammes  annel)men  (SJJenfcl),  Säugetiere,  ein  2eil  ber  nieberen 
33ertebraten),  fonbern  aurf)  bei  Un  l)öc^jtenttDidelten  SSertretern 
anberer  Xierjtämme  (^meifen  unb  anbere  3nfe!ten,  Spinnen  unb 
f)öl)ere  5^rebfe  unter  tizn  ©liebertiexen,  (£epl)alopoben  unter  ^tn 
2Bei(f)tieren). 

Stufenleiter  bes  ®ebö(^tniffe$.  (Sng  oertnüpft  mit  ber 
Stufenleiter  in  ber  (£ntroidfelung  ber  93 or jtellungen  ift  biejenige 
bes  ©cbäc^tniffes;  biefe  l)ö(^ft  tDid)tige  grunttion  bes  ^[r)(^o= 
Plasma  —  bie  Sebingung  aller  fort[(l)reitenben  Seelenenttoicfelung 


74  Siebentes  Kapitel. 


—  x\i  \a  im  tDe[entIi(^en  9Ieprobu!tion  von  Sßorjtellungen. 
Die  (£inbrü(Je  im  ^lasma,  roeI(i)e  ber  9?ei3  als  (Empfinburtg  be= 
toirtt  t)atte,  unb  roeId)e  bleibenb  gu  23orfteIIungen  geroorben 
toaren,  toerben  neu  belebt;  [ie  ge:^en  aus  bem  potentiellen  in 
t)tn  a!tu eilen  3wjtanb  über.  (£ntfprect)enb  hzn  mer  Stufen 
ber  S3orfteIIung  fönnen  toir  aud)  beim  (5ebäd)tni5  üier  §aupt|tufen 
ber  aufjteigenben  (£ntiDi(Jelung  unter[d)eiben. 

I.  3enular0ebä^tm5.  mt  9?e(f)t  l)atte  ber  ^f)i)[ioIoge  (Sioalb 
gering  in  einer  gebanfenreicfien  ^Ib^anblung  „bas  ©ebäc^tnis  als 
eine  allgemeine  ^^runttion  ber  organifierten  SJiaterie"  bcseic^net 
unb  bie  t)ot)e  ©ebeutung  biefer  Seelentätigfeit  t)ert)orgel)oben, 
^,ber  toir  fajt  altes  cerbanten,  lüas  coir  [inb  unb  l)aben"  (1870). 
3d)  t)abe  [päter  (1876)  biefen  ©ebanten  roeiter  ausgefül)rt  unb  in 
[einer  fru^tbaren  ^nroenbung  auf  bie  (£ntroic!elungsle^re  gu  be= 
grünben  t)er[ud)t,  in  meiner  ^bl)anblung  über  ,,X)ie  ^erigenefis 
ber  ^lajtibule  ober  bie  SBellengeugung  ber  ßebensteild)en;  ein 
33er[ud)  jur  med)ani[cf)en  (£rflärung  ber  elementaren  (Bnttoidelungs« 
üorgänge".  5d)  l)abe  bort  bas  „unberoufete  (5ebä(^tnis"  als  eine 
allgemeine,  \)ö6)]i  toi^tige  ^unttion  aller  ^laftibule  nad)^U' 
toeifen  ge[u^t,  b.  \).  jener  l)r)potl)etifd^en  9Jlole!üle  ober  'MoUfüU 
gruppen,  roeld^e  »on  9^aegeli  als  5[Ricellen,  xfon  anberen  als 
$Biopla[ten  u]w.  be3eict)net  toorben  [inb.  5Rur  bie  lebenbigen 
^la[tibule,  als  bie  inbioibuellen  9Jlole!eln  bes  aftioen  Plasma, 
[inb  reprobuftio  unb  be[i^en  [omit  ©ebä^tnis;  bas  i[t  ber  §aupt= 
unter[(f)ieb  ber  organi[(^en  Statur  oon  ber  anorgani[(i)en.  'SJlan 
!ann  [agen:  „Die  (£rbltct)!eit  i[t  bas  ©ebäc^tnis  ber  ^la[ti  = 
bule,  I)ingegen  bie  33ariabilität  ijt  bie  e^a[[ungs!raft  ber  ^la[ti= 
bule".  Das  elementare  ©ebä(i)tnis  ber  einselligen  ^rotiften  [e^t 
[id)  3u[ammen  aus  bem  moletularen  (5ebä(i)tni5  ber  ^lajtibule 
ober  SJlicellen,  aus  roel^en  il)r  lebenbiger  S^Henleib  [idf)  aufbaut, 
gür  bie  erjtaunlid)en  £ei[tungen  bes  unbetoufeten  (5ebä(f)tni[[es 
bei  bie[en  einselligen  ^rotijten  i[t  mo\)l  feine  Xat\a^t  Iet)rreidf)er 
als  bie  unenblid^  mannigfaltige  unb  regelmäßige  Silbung  il)rer 
(5ct)u^apparate,  ber  Schalen  unb  Stelette;  be[onbers  bie  Dia* 
tomeen  unter  t>tn  ^rotopl)i)ten,  bie  9labiolarien  unter  t>tn  SJßxo^ 
to3oen  liefern  bafür  eine  O^ülle  oon  intere[[anten  S8ei[pielen.  3^ 
üielen  tau[enb  ^rten  bie[er  ^rottjten  oererbt  [ic^  th  [pe3ifi[(^e 
Sfelettform  relatio  fon[tant.  (23ergl.  bie  toic^tige  Sd)rift  oon 
9li^arb  ©emon,  1904:  „Die  ^neme  als  erl)altenbe5  ^rinsip 
im  2Be(^[el  bes  organi[cl^en  (5e[d)e^ens"). 

II.  |>ifti>nal0ebä(^tni$.  (£ben[o  intere[[ante  Setoei[c  für  bie 
gtoeite  Stufe  ber  (Erinnerung,  für  bas  unberoufete  ©ebäc^tnis  ber 
©eroebe,  liefert  hh  23ercrbung  ber  einzelnen  Organe  unb  (5e«)ebe 


k 


Stufenleiter  ber  Seele.  75 

im  i^örper  ber  ^flansen  unb  ber  nieberert,  nerüenlofen  ^Xiere 
(Spongien  u[tD.).  ^tefe  3toette  Stufe  erf(^eint  als  9{eprobu!  = 
tion  ber  ^iftonalöorftelluTigeTi,  jener ^ffogion  von  S^lMax= 
üorjtellungen,  bie  [cf)on  mit  ber  Silbung  Don  dönobien  bei  i5en 
fojialen  ^rotiften  beginnt. 

III.  (5Iei(f)eru)ei[e  ijt  bie  britte  Stufe,  ba«  „unbetöufete  (5e  = 
bäd)tni5"  berjenigen  Xiere,  bie  bereits  ein  9lert)en[i)jtem  befi^en, 
als  9?eprobu!tion  ber  ent[pre(i)enben  „unbexDufeten  93orftelIungen" 
3U  betrai^ten,  toelc^e  in  getüiffen  (öangliensellen  aufge[pei(i)ert 
[inb.  ®ei  ben  meijten  nieberen  Stieren  ijt  tDot)I  alles  (Sebäc^tnis 
unbetDufet.  ^ber  aud)  beim  $IRen[cf)en  unb  t>tn  I)öl)eren  Stieren, 
benen  toir  Seroufetfein  3u[d)reiben  muffen,  finb  bie  täglict)en  3run!= 
tionen  bes  unbetou^ten  ©ebä(^tniffes  ungleich  f)äufiger  unb 
mannigfaltiger  als  biejenigen  bes  betoufeten;  baoon  überzeugt 
uns  leicl)t  eine  unbefangene  Prüfung  von  taufenb  unbetöufeten 
SXätigfeiten,  bie  tüir  aus  (5eu)ot)nl)eit,  ol)ne  baran  3U  benfen,  beim 
(5el)en,  Spred)en,  Scf)reiben,  (£ffen  ufro.,  täglirf)  üolljie^en. 

IV.  Das  beroufete  (Sebäc^tnis,  roeld)es  burc^  bejtimmte  (5e- 
l)irn3ellen  beim  SJienfi^en  unb  htn  l)öl)eren  Xieren  oermittelt 
tüirb,  erfc^eint  ba^er  nur  als  eine  fpät  entjtanbene  „innere  Spie  = 
gelung",  als  bie  l)öd)jte  33lüte  berfelben  pfr)d)if(l^en  33orftellung5= 
9?eprobu!tionen,  tDeld)e  bei  unferen  nieberen  tierif(i)en  93orfat)ren 
fi^  als  unbetDufete  93orgänge  in  htn  (5'anglien3ellen  abfpielten. 

?Mffo3ton  ber  JBorjtenungen.  Die  SSerfettung  ber  93or= 
jtellungen,  wtl6)t  man  getoö^nlicl)  als  ^ffo3iation  ber  ^h^tn  (ober 
für3er  ^ffo3ion)  be3eid)net,  burd)läuft  ebenfalls  eine  lange  Stufen* 
leiter  von  htn  nieberften  bis  3U  ben  l)öd)jten  Stufen.  Die  C£r3eug= 
niffe  biefer  „5beenaffo3ion"  finb  äufeerft  mannigfaltig;  tro^bem  aber 
fül)rt  eine  fet)r  lange,  ununterbrocl)ene  Stufenleiter  allmäl)licf)er 
GnttDicf  elung  von  htn  einf  acf)ften  1ttffo3ionen  ber  nieberjten  ^rotiften 
bis  3U  ben  oollfommenften  3i)eent)er!ettungen  bes  5lulturmenfd)en 
l)inauf.  ^lles  l)öl)ere  Seelenleben  roirb  um  fo  oollfommener,  je 
met)r  fiel)  bie  normale  ^ffo3ion  unenbli(^  3al)lreid)er  23orftel= 
lungen  ausbel)nt,  unb  je  naturgemäßer  biefelben  burc^  bie 
tritifd^e  33ernunft  georbnct  Boerben.  ^tn  Xraume,  roo  biefe 
5lriti!  fel)lt,  erfolgt  oft  bie  ^ffosion  ber  reprobujierten  93orftel= 
lungen  in  ber  fonfufeften  ^omt.  ^ber  aud)  im  Schaffen  ber 
^t)antafie,  tDeld)e  burcf)  mannigfaltige  33er!ettung  Dorl)anbener 
33orftellungen  gans  neue  ©ruppen  berfelben  probusiert,  ebenfo 
in  ben  §allu3inationen  ufto.  roerben  biefelben  oft  gan3  naturtoibrig 
georbnet  unb  erfc^einen  ba^er  bei  nürf)terner  ^etra(f)tung  un* 
oernünftig.  ®an3  befonbers  gilt  bies  oon  htn  übernatürlid)en 
„(öeftalten  be-^  (Glaubens",  bem  (Seifterfpu!  bes  Spiritismus 


76  Siebentes  Kapitel. 


unb  Offultismus.  ^ber  gerabe  biefe  abnormen  5tf[o3ionen 
bes  „©laubens"  unb  ber  angeblichen  „Offenbarung"  werben  üiel* 
fac^  als  bie  roertoolljten  „(Seijtesgüter"  bes  93kn[d)en  I)od^ge[c^ä^t. 

3tt)'tin!te.  Die  oeraltete  ^fpc^ologie  bes  ^Rittelalters,  bie 
allerbings  auc^  t)eute  noc^  oiete  ^nt)änger  befi^t,  betrad^tete  bas 
Seelenleben  bes  9Jien[(f)en  unb  ber  3:iere  als  gänsli^  Derfct)iebene, 
(£rfd) einungen;  fie  leitete  bas  erjtere  von  ber  „Vernunft",  bas 
(entere  von  bem  „3tt[tin!t"  ah.  Der  trabitionellen  Sci^öpfungs= 
ge[(i)id)te  entfprec^enb  na!)m  man  an,  bafe  jeber  3:ierart  bei  il)rer 
Sct)öpfung  eine  bestimmte,  unbeioufete  Seelenqualität  com 
Sd^öpfer  eingepflanzt  [ei,  unb  "00.)^  biefer  „9la turtrieb"  (In- 
stinctus)  einer  jeben  Species  ebenfo  unüeränberlid^  fei  u^ie  beren 
!örperlirf)e  Organifation.  9^ad)bem  [(^on  £amar(J  (1809)  bei 
Segrünbung  [einer  De[5enben3t^eorte  bie[en  Irrtum  als  unt)altbar 
ertüie[en,  töurbe  er  burcf)  Darwin  (1859)  t)oIl[tänbig  roiberlegt; 
er  beroies  an  ber  §anb  [einer  Seleftionst^eorie  folgenbe  tütd^tige 
£e^r[ä^e:  I.  Die  3^[tinfte  ber  Spejies  [inb  inbioibuell  t)er[cf)ieben 
unb  eben[o  ber  ^bänberung  burd)  ^npa[[ung  unterworfen  wie 
bie  morpl)oIogi[d^en  9Jler!male  ber  5^örperbilbung.  II.  Die[e 
93artationen  (großenteils  burd^  oeränberte  ©ewot)nt)eiten  ent= 
[tauben)  werben  burdf)  33 ererbung  teilweife  auf  bie  9Iad)!ommen 
übertragen  unb  im  fiaufe  ber  Generationen  gepuft  unb  befeftigt. 
III.  Die  SeIe!tion  (ebenfo  bie  !ün[tlid)e  wie  t>xt  natürlid)e) 
trifft  unter  biefen  erblichen  ^Ibänberungen  ber  Seelentätigfeit  eine 
^uswat)!,  [ie  erpit  bie  jwedfmäfeigften  unb  entfernt  bie  weniger 
pa[fenben  aJlobifüationen.  IV.  Die  babur^  bebingte  Dioergeng 
bes  p[t)(i)i[d)en  (Sl)ara!ters  fül)rt  [o  im  ßaufe  ber  (5enerations= 
folgen  ebenfo  jur  (£nt[tet)ung  neuer  5n[tin!te,  wie  bie  Dioergens  bes 
morpt)oIogif(^en  (It)ara!ters  3ur  (£nt[tet)ung  neuer  Spezies.  Dies  gilt 
für  [ämtlict)e  ^roti[ten  unb  ^flanjen  ebenfo  wie  für  fämtlirfie 
Xiere  unb  9Jlenfd)en.  Die  3#i"ttß  treten  aber  bei  le^teren  um  fo 
met)r  ^urüdf,  je  me^r  [ict)  auf  ii)re  5lo[ten  bie33ernunft  entwicfelt. 

Stufenleiter  ber  Vernunft.  5n  jenen  oberflä^Ii^en,  mit  bem 
Seelenleben  ber  3:iere  unbefannten  p[t)d)oIogif(i)en  93etrad)tungen, 
welct)e  nur  im  SJlenfc^en  eine  „wal)re  Seele"  anerfennen,  wirb 
autf)  il)m  allein  als  I)öcf)[tes  ©ut  bie  „33ernunft"  unb  bas  SBe* 
wufetfein  3uge[(t)rieben.  %ud)  bie[er  S^rtum  i[t  burd)  bie  oergIei= 
c^enbe  ^[i)(f)oIogie  ber  legten  ^ai)X^ci)ntt  grünblidf)  wiberlegt. 
Die  t)öt)eren  SBirbeltiere  be[i^en  ebenfogut  Vernunft  wie  ber  9}ienfc^ 
[clbjt,  unb  innerl)alb  ber  3:ierreil)e  jeigt  [ic^  ebenfo  eine  lange 
Stufenleiter  in  ber  anmäf)Iid)en  (£ntwidelung  ber  33ernunft  wie 
innert)oIb  ber  SD^en[(f)enreif)e.  Der  Unter[d)ieb  3wi[ct)en  ber  ^^er* 
nunft  eines  (5oetl)e,  5lant,  £amard,  Darwin  unb  berjenigen 


Stufenleiter  ber  (Seele.  77 

bes  nieberjten  9laturntenfd)en,  eines  SBebba,  5l!fa,  ^Tujtrolnegers 
unb  ^atagoniers,  ijt  üiel  größer  als  bie  Differens  3töifd)en  ber  33er» 
nunft  bie[er  le^teren  unb  ber  „üernünftigjten"  Säugetiere,  ber 
äHen[d)enaffen,  §unbe,  Elefanten  uftD. 

€:pra^e.  Der  t)öl)ere  ®rab  von  (gnttoidelung  ber  ^Begriffe,  t>on 
33erjtanb  unb  S3ernunft,  tt)eIdE)er  ben  9Jlen[(^en  [o  l)0(i)  über  bie 
Xiere  erl^ebt,  ijt  eng  oerfnüpft  mit  ber  ^usbilbung  [einer  Sprad)e. 
^ber  au^  l)ier,  toie  bort,  ijt  eine  lange  Stufenleiter  ber  (Sntro'tcte" 
lung  na(f)roeisbar,  roeId)e  ununterbrod)en  t)on  'ötn  nieberften  gu 
ben  t)ö^jten  ©ilbungsftufen  l)inauffül)rt.  Sprad)e  ijt  ebenfotoenig 
als  93emunft  ein  ausf(i)liepd)e5  (Eigentum  bes  SRen[rf)en.  93ielmel)r 
ijt  Spraye  im  weiteren  Sinne  ein  gemeinsamer  23or3ug  aller 
l)öl)eren  [ojialen  3:iere,  minbejtens  aller  (öltebertiere  unb  2Birbel= 
tiere,  toeldie  in  (5efell[d)aften  unb  gerben  üereinigt  leben;  [ie  ijt 
il)ncn  nottoenbig  5ur  33erjtänbigung,  3ur  SJiitteilung  il)rer  23ors 
Stellungen.  Dieje  !ann  nun  enttoeber  burd)  ^Berü^rung  ober  burd) 
3eicl)engebung  gej^el)en,  ober  burd)  3:öne,  toeld)e  bejtimmte 
^Begriffe  besei^nen.  ^ud^  ber  (Sefang  ber  Singoögel  unb  ber 
[ingenben  äRenj^enaffen  (Hylobates)  gel)ört  gur  £autjpra<f)e, 
ebenjo  toie  bas  Seilen  ber  §unbe  unb  bas  3ßiel)ern  ber  ^ferbe; 
ferner  bas  3ii^pc^  ber  ©rillen  unb  bas  ©ejd^rei  ber  3i?ttben.  ^ber 
nur  beim  9Jienj(i)en  l)at  jid)  jene  artüulierte  Segriff5fpracf)e 
enttoidelt,  rDeld)e  [eine  S3ernunft  3U  [o  oiel  l)öl)eren  fieijtungen  be= 
fäl)igt.  Die  üerglei(i)enbe  Sprai^forj^ung  l^at  gelel)rt,  toie 
bie  3al)lreid^en  l)0(^enttr)idelten  Sprad)en  ber  t)er[d)iebenen  SSölfer 
jid)  aus  roenigen  einfa(^en  Ur[prad)en  lang[am  unb  allmäl)lid)  ent= 
u)idelt  ^aben.  9tomanes  (1893)  l^at  überseugenb  bargetan, 
ha^  bie  Sprad)e  bes  9Jlen[d)en  nur  bem  (grabe  ber  (£ntrDide= 
lung  nad),  nid)t  bem  3Be[en  unb  ber  ^rt  nac^  oon  berjenigen 
ber  l)öl)eren  2:iere  üer[d)ieben  ijt. 

Stufenleiter  ber  ©emütsbewegunöcn  ober  ^ffefte.  Die  iDid^= 
tige  (Sruppe  üon  Seelentätigfeiten,  u)eld)e  toir  unter  bem  Segriffe 
„©emüt"  3u[ammenfa[[en,  [pielt  eine  grofee  9iolle  eben[o  in  ber 
tl)eoreti[c^en  roie  in  ber  pra!ti[d)en  S3ernunftlel)re.  %üx  un[ere  Se= 
trad)tung5rDei[e  [inb  [ie  besl)alb  be[onbers  toic^tig,  xoeil  ^ier  ber 
.bire!te  3u[ammenl)ang  ber  (5el)irnfun!tion  mit  anberen  pl)9[io= 
logi[d)en  gunftionen  (^er3[d)lag,  Sinnestätigteit,  9Jius!elbeu)egung) 
unmittelbar  einleud)tct;  baburd^  roir^  ^ier  J)e[onbers  bas  2Biber= 
natürlid)e  unb  Hnl)altbare  jener  $t)ilo[opl)ie  flar,  toeldie  bie 
''^[t)d)ologie  prin3ipiell  oon  ber  ^b^j^ologie  trennen  toill.  Me  bie 
3al)lreid)en  3lufeerungen  bes  ©emütslebens,  roelc^e  toir  beim 
9Jien[d)en  finben,  fommen  au^  bei  ben  l)öl)eren  3^ieren  oor  (be= 
[onbcrs  bei  ben  95Jen[d)enoffen  unb  ^unben);  [o  Der[d)tebenartig 


78  Siebentes  ilapitel. 


[ie  aud)  entrotdelt  ftnb,  fo  laf[en  \\ä)  bod)  alle  töieber  auf  bie  beiben 
(£IeTnentarfun!tioneTt  ber^[i)(^e  3urü(ffüI)reTt,  auf  (£mpftn== 
bung  unb  Setoegung,  unb  auf  h^xtn  33erbinbung  im  9iefIe-E  unb  in 
ber  33orjtenung.  3unt  ©ebiete  ber  (£mpfinbung  im  toeiteren  Sinne 
ge!)ört  t>a5  (5efül)I  von  £uft  unb  Unluft,  toeld^es  has  ©emüt 
bejtimmt,  unb  ebenfo  ge!)ört  auf  ber  anbeten  Seite  jum  ©ebiete 
ber  Seroegung  bie  entfpred^enbe  3iiTieigung  unb  9lbneigung 
(„fiiebe  unb  $>a^"),  bas  Streben  nad)  (Erlangen  ber  fiujt  unb  nad^ 
93ermeiben  ber  Unlujt.  „5ln3iet)ung  unb  ^bjto^ung"  erfd)einen 
't)ier  sugleid)  als  bie  Urquelle  bes  2Billens.  T)ie  fieibenfcl)aften, 
toeld^e  eine  \o  grofee  9?olle  im  l)öl)eren  Seelenleben  bes  9Jlen[dE)en 
fpielen,  [inb  nur  Steigerungen  ber  „(Semütsbetoegungen"  unb 
^Iffefte.  X)a^  aud)  biefe  ben  9[Ren[ d)en  unb  3^ierett  gemetnfam 
[inb,  l)at  ^Romanes  einleud)tenb  gezeigt,  ^uf  ber  tiefjten  Stufe 
bes  organifc^en  £ebens  [d)on  finben  roir  bei  allen  ^rotijten  jene 
elementaren  (5efül)le  von  £uft  unb  Unlujt,  u)eld)e  fid)  in  il)ren  [o= 
genannten  Xropismen  äußern,  in  bem  Streben  nad)  ßic^t  ober 
Dun!ell)eit,  nad^  SBärme  ober  i^älte,  in  bem  oerfi^iebenen  35er= 
l)alten  gegen  pofitioe  unb  negatioe  (EleÜrijitöt.  ^uf  ber  t)öd)ften 
Stufe  bes  Seelenlebens  bagegen  treffen  roir  beim  5lulturmenfd)en 
jene  feinjten  (5efül)lstöne  unb  ^bjtufungen  oon  (Sntsüden  unb  5lb= 
[d)eu,  Don  £iebe  unb  $>a^,  wz\d)t  bie  3:riebfebern  ber  5lultur= 
ge[d)id)te  unb  bie  unerfd)öpflid)e  ^runbgrube  ber  ^oefie  [inb.  Hnb 
bod)  oerbinbet  eine  ^ufammen^angenbe  5lette  oon  allen  benfbaren 
Hbergangsftufen  jene  primitiojten  Itrsujtänbe  bes  ©emüts  im 
^fi)d)oplasma  ber  einhelligen  ^rotiften  mit  biefen  I)öc^jten 
(Snttöidelungsformen  ber  ßeibenf^aften  beim  9[I?en[d)en,  tDeld)e 
[id)  in  ttn  ©angliensellen  ber  (5ro^l)irnrinbe  abfpielen. 

Stufenleiter  bes  aBilletts.  X)er.93egriff  bes  SBillens  unterliegt 
gleid)  anberen  p[r)d)ologi[d)en  ®runbbegriffen  ben  oerfi^iebenjten 
Deutungen  unb  Definitionen.  $Balb  toirb  ber  SBille  im  toeitejten 
Sinne  als  !osmologi[d)es  Attribut  betrad)tet:  „bie  SBelt  als 
2Bille  unb  25orjtellung"  (Sd)openl)auer),  balb  im  engjten  Sinne 
als  ein  antl)ropologifd^es  5Ittribut,  als  eine  ausf^liepc^e 
(£igen[d)aft  bes  aRenfd)en;  le^teres  gilt  3.  SB.  für  Descartes, 
für  roeli^en  bie  3:iere  toillenlofe  unb  empfinbungslofe  9Jia[d)inen 
finb.  ^m  geiDöl)nlid)en  Spra^gebrau(^  loirb  ber  2ßille  oon  ber 
(£r[d)einung  ber  toilltürlii^en  SBeraegung  abgeleitet  unb  [omit  als 
eine  Seelentätigfeit  ber  meisten  Xiere  betrad)tet.  2Benn  toir  t)m 
2Billen  im  £ic^te  ber  t)ergleid)enben  ^l)i)[iologie  unb  (gnttoidelungs^ 
ge[d)id)te  unterfud[)en,  fo  tommen  toir  —  ebenfo  toie  bei  ber  (£mp= 
finbung  —  3ur  Überjeugung,  ba^  er  eine  allgemeine  (£igen[d)aft 
bes  lebenben  ^[r)d)oplasmo  ijt. 


Stufenleiter  ber  8eele.  79 

SBiUensfret^ett.  Das  Problem  von  ber  i5^reif)eit  bes  Trtenfd)= 
ltd)en  SBillens  ift  unter  allen  2ßelträt[eln  basjenige,  tDeIrf)e5  htn 
benfenben  9?len[d)en  von  iet)er  am  metjten  be[(i)äftigt  t)at,  unb 
jroar  be5l)alb,  töeil  [id)  l)ter  mit  bem  l)o^en  pt)iIo[opl)iid)en  ^ntereffe 
ber  i^XüQt  Bugleid)  bie  rotd^tigfien  j^olö^i^iingen  für  bie  praftifd^e 
'!Pf)iIo[op^ie  oerfnüpfen,  für  bie  9Jtoral,  bie  (Sr^iel^ung,  bie  9tecf)t5= 
pflege  ufto.  (S.  Du  Soi5  =  9iet)monb,  toeli^er  basfelbe  als  bas 
fiebente  unb  le^te  unter  [einen  „fieben  SBelträtfeln"  bet)anbelt, 
lagt  bat)er  von  bem  Problem  ber  2Binen5freiI)eit  mit  5Re^t:  „Seben 
berül)renb,  [d)einbar  jebem  jugänglid),  innig  oerflod^ten  mit  hm 
©runbbebingungen  ber  menfc^Iid^en  (5e[eII[d^aft,  auf  bas  tiefjte 
eingreifenb  in  bie  religiösen  Hberseugungen,  t)at  biefe  ^i^age  in 
ber  ©eiftes*  unb  5^ulturgefd)i(^te  eine  Atolle  von  unermefelirf)er 
2ßict)tig!eit  gefpielt,  unb  in  il)rer  ^el)anblung  fpiegeln  [id)  bie  (£nt= 
löidelungsjtabien  bes  9J?en[(f)engeijtes  beutlic^  ah.  —  Sßielleic^t 
gibt  es  feinen  ©egenjtanb  men[d)Iic^en  9Za(i)ben!ens,  über  toeld^en 
längere  9^ei{)en  nie  mel)r  aufgeschlagener  Orolianten  im  Staube  ber 
$BibIiotI)e!en  mobern."  —  Die[e  2Bi^tig!eit  ber  ^rage  tritt  aud) 
barin  flar  gutage,  bafe  Äant  bie  Uberäeugung  ooit  ber  „3[BiIIensfrei= 
I)eit"  unmittelbar  neben  biejenige  üon  ber  „Itnfterblid^feit  ber 
Seele"  unb  neben  ben  „(Stauben  an  ©ott"  jtellte.  (£r  begeid^ncte 
biefe  brei  großen  fragen  als  bie  brei  unentbel)rlid)en  „^oftulate 
ber  pra!ti[d)en  93ernunft",  nad)bem  er  Dort)er  in  ber  „5^riti! 
ber  reinen  93ernunft"  flar  bargelegt  f)atte,  bafe  it)re  ^nnal)mc 
»öllig  unbegrünbet  ijt. 

Das  äJlerftDürbigjte  in  bem  großartigen  unb  f)öcf)jt  oerroorrenen 

Streite  über  bie  3Billensfrei^eit  ift  oielleid)t  bie  Xatfa^e,  ha^  bie= 

[elbe  tf)eoretifd)  nidE)t  nur  t)on  l)öd^jt  fritifc^en  ^l)ilo[opl)en,  fonbern 

aud)  von  ben  eitremjten  ©egen[ä^en  oerneint  unb  tro^bem  t>on 

ttn  meijten  9Jlen[d)en  ols  [elbjtoerftänblid)  no(^  l)eute  beial)t  toirb. 

^eroorragenbe  fie^rer  ber  d)rijtlid)en  5lird)e,  roie  ber  5lird)ent)ater 

^uguftin  unb  ber  9teformator  (^aloin,  leugnen  bie  2Binensfrei= 

l)eit  eben[o  bestimmt  toie  bie  befannteften   i^ü^xtx  bes  reinen 

SJlaterialismus,   §olba(^   im   18.  unb  ^üd)ner  im  19.  ^al)X' 

l)unbert.     Die  d)riftlid)en  Xf)eologen  oerneinen  [ie,  roeil  [ie  mit 

il)rem  festen  (Blauben  an  bie  ^llmad)t  ©ottes  unb  bie  ^räbejtina= 

tion  unoereinbar  ift;  ©ott,  ber  ^llmäd)tige  unb  ^llroiffenbe,  [al) 

unb  iDollte  alles  oon  (Sroigfeit  woraus;  al[o  bestimmte  er  aud)  bas 

mnbeln  ber  9J?en[d)en.     SBenn  ber^  9Jien[d)  nad^  freiem  2Billen 

)anbelte,  anbers,  als  es  ©ott  oorausbejtimmt  l)atte,  [o  roäre  ©ott 

ud)t  allmäd)tig  unb  allroiffenb  getoe[en.     3^^  bemjelben  Sinne 

)ar  aud)  £eibni3  unbebingter  Determinift.   Die  monijtifd^en 

iaturfor[d)er  bes  18.  5fll)Tf)unberts,  allen  üoran  fiaplacc,  oer* 


80  ^d)te5  Äapitel. 


teibtgtcn  htn  Determinismus  toieber  auf  ©tunb  tl)rer  einl)ctt= 
l\(i)tn  med^anifd)en  2BeItan[d)auung. 

Der  geioaltige  5^ampf  3roi[(f)en  tm  Determtniften  unb  3n  = 
beterminiften,  3totfd)en  ben  ©egnern  unb  ben  ^tnl^ängern  ber 
2Btnensfreit)Ctt,  ijt  ^eute,  nad)  me!)r  als  jtoei  ^a^rtaufenben,  enb= 
gültig  3ugunften  ber  erjteren  ent[d)ieben.  Der  men[ct)Ii^c  SBille 
ijt  ebenfoujenig  frei  als  berjenige  ber  l)öl)eren  3:iere,  üon  roelc^em 
er  fid)  nur  bem  ©rabe,  ni(^t  ber  5Irt  nad)  unterfd)eibet.  2BäI)renb 
nod)  im  18.  5at)rl)unbert  bas  alte  Dogma  tjon  ber  SBillensfrei^eit 
coefentlidE)  mit  allgemeinen,  pI)iIo[opt)if(f)en  unb  fosmologifc^en 
®rünben  bestritten  tourbe,  i)at  uns  bagegen  bas  19.  3al)rt)unbert 
gan3  anbere  2Baffen  ju  beffen  befinitioer  3BiberIegung  ge[cf)en!t, 
bie  geioaltigen  9Baffen,  XDdd)t  voxx  bem  ^rfenal  ber  oergleid^en* 
t>tn  ^l)r)[ioIogie  unb  (£ntiDicfeIungsge[^t(i)te  ©erbanfen. 
2Bir  toiffen  je^t,  ba^  jeber  2BiIIensa!t  ebenfo  bur^  bie  Organi[ation 
bes  xDoIIenben  ^nbiöibuums  bejtimmt  unb  ebenfo  oon  htn  jeroeiligen 
23ebingungen  ber  umgebenben  ^ufeemoelt  abl)ängig  ijt  toie  jebe 
anbere  Seelentätigfeit.  Der  (rt)ara!ter  bes  Strebens  ijt  üon  »orn* 
t)erein  burd)  bie  33 ererbung  von  (Altern  unb  23oreItern  bebingt; 
ber  (£ntjd)lufe  gum  jebesmaligen  ^anbeln  roirb  burd^  bie  ^npaj» 
[ung  an  bie  momentanen  Itmjtänbe  gegeben,  toobei  bas  jtärtjte 
9[Rotiö  t}tn  ^us[(f)Iag  gibt,  entjpred^enb  t)zn  ©eje^en,  xoüä)t  bie 
Statt!  ber  ©emütsbeioegungen  bejtimmen.  Die  Dntogenie  Iel)rt 
uns  bie  inbioibuelle  (£ntt»icfelung  bes  SBillens  beim  5linbe  Derjtcl)en, 
bi'i  ?ßl)t)Iogenie  aber  bie  I)ijtori[d)e  ^usbilbung  bes  SBillens  inner» 
l)alb  ber  9?eil)e  unferer  3BirbeItier=^I)nen. 


<2lc^te«  Kapitel. 
Äeitneggef(j^i(ä^te  bet  Seele* 

9}^oniftifc^e  6tubien  über  ontogenetifc^e  ^fi)c{)olo9ie. 

(fnttpitfelung  be^  (Seelenleben^  im  inbioibueUen  ßeben 

ber  ^erfon. 

Unjere  men[d)Ii(^e  Seele  —  gleid)üiel,  toie  man  i^r  SBejen  auf» 
fafet  —  unterliegt  im  fiaufe  unjeres  inbioibuellen  Gebens  einer 
jtetigen  (gnttoidelung.  Die  je  ontogeneti[d)e  3:atfad)e  ijt  für 
unjere  momjtijd)c  ^ji)d)ologie  üon  funbamentaler  ©ebeutung,  ob= 


Acimesge|d)id)tc  ber  Seele,  81 


voo^:\  bie  nteijtcn  „^|t)d)oIogen  von  gö<i)"  tl)r  teils  nur  gerinöe, 
teils  gar  feine  Scrü(ffid)tigung  fd)en!en.  2Bie  nun  bie  inbioibuelle 
(£nttDidelung5gefcf)id)te  ber  „wai)xt  £id)tträger  für  alle  Unter= 
fu(i)ungen  über  organi[cf)e  Äörper  ijt",  [o  toirb  [ie  aud)  über  bie 
rDi(f)tigften  (5el)etmni[[e  bes  Seelenlebens  uns  erjt  bas  toa^re  2id)i 
an3ünben. 

Obgleicf)  nun  biefe  „5leimesge[c^id)te  ber  S[Renf(f)enfeele"  äufeerft 
u)i(i)tig  unb  intere[[ant  ijt,  l)at  [ie  bod^  bisher  nur  in  [el)r  be[d)rän!= 
tem  Umfange  bie  oerbiente  ©erütfjiicf)tigung  gefunben.  CBs  toaren 
bisl)er  fajt  au5fc!)liefeli(i)  bie  ^öbagogen,  tüelcl)e  [id)  mit  einem 
3:eile  berfelben  be)d)äftigten;  burd)  it)ren  prafti[d)en  Seruf  barauf 
angecoiefen,  bie  ^usbilbung  ber  Seelentätigfeit  beim  5^inbe  3u 
leiten  unb  3U  übertDad)en,  mußten  fie  aud)  tl)eoreti[d)es  S^ttereffe 
an  ben  babei  beobad)teten  pfr)d)ogenetifd)en  2:at[ac^en  finben. 
3nbef[en  jtanben  bie  ^äbagogen  in  ber  9leujeit  toie  im  Altertum 
größtenteils  im  ©anne  ber  l)err[(^enben  bualijtifd)en^[t)d)ologie; 
bagegen  loaren  [ie  mit  "ötn  toid)tigjten  Xai\a(i)tn  ber  Dergleid)enben 
^[i)d)ologie,  [owie  mit  ber  Organijation  unb  gunftion  bes  ©ef)irns 
meijtens  nid)t  befannt.  ^ufeerbem  aber  betrafen  il)re  ^eobad)= 
tungen  größtenteils  erjt  bie  5^inber  in  fd)ulpflid^tigem  5llter  ober 
in  t)tn  unmittelbar  t)orl)ergel)enben  fiebensial)ren.  X)ie  mer!= 
tDürbigen  (£r[^ einungen,  roel^e  bie  inbioibuelle  ^[r)d)ogenie  bes 
5^inbes  gerabe  in  ben  erjten  fiebensial)ren  barbietet,  unb  iDeld)e 
olle  ben!enben  (Eltern  freubig  beujunbern,  tourben  faft  niemals 
©egenjtanb  eingel)enber  tDi[[en[d)aftlic^er  Stubien.  ^ier  l)at  erft 
2ßilt)elm  ^rer)er  (1881)  ^Qi)n  gebrod)en,  in  [einer  Sd)rift  über 
„Die  Seele  bes  i^inbes;  Seobad)tungen  über  bie  geijtige  (£nttüide= 
lung  bes  9Jlen[d)en  in  ben  erjten  £ebensial)ren".  3^be[[en  mü[[en 
toir,  um  Dolle  Älarl)eit  gu  geröinnen,  nod)  toeiter  jurüdgelien,  bis 
auf  bie  erjte  (£ntjtel)ung  ber  Seele  im  befrud)teten  (£i. 

©ntftc^ung  ber  inbtoibueUett  Seele.  Der  Hrjprung  unb  bie 
erjte  C£ntjtel)ung  bes  men[d)lid)en  S^^iolbuums  galt  nod)  im 
anfange  bes  19.  3al)^^unberts  für  ein  oollfommenes  ©el)eimnis. 
5tllerbings  l)atte  dafpar  griebrid)  Sßolff  [d)on  1759  in  [einer 
Theoria  generationis  bas  wai)xt  2Be[en  ber  embryonalen  (£nt= 
roidelung  aufgebedt  unb  on  ber  [id)eren  §anb  friti[d)er  SBeobad)= 
tung  gcseigt,  baß  bei  ber  (Entroidelung  bes  i^eimes  aus  bem  ein* 
fad)en  (£i  eine  toa^re  (£pigene[i5,  b.  l).  eine  9?eil)e  ber  mer!= 
roürbigjten  91eubilbungspro3e[[e  jtattfinbe.  allein  bie  bamalige 
^l)t)[iologie  lel)nte  bie[e  empiri[d)en/unmittelbar  mi!ro[!opi[d) 
3U  bemonjtrierenben  (£r!enntnif[e  runbroeg  ab  unb  l)ielt  an  bem 
^ergcbrad)ten  Dogma  ber  embri)onalen  ^räformation  fejt. 
^ad)  bie[em  na^m  man  an,  t)ali  i"i  ^i  «^^r  Organismus  mit  allen 

Äacdel,  QBetfräffft.  6 


82  ^d)tc5  5lapitel. 


feinen  3:eilen  oorgebilbet  ober  präformtert  fei;  th  „(gnttoitfelung" 
bes  Äeimes  beftel)e  eigentlich)  nur  in  einer  „^usioicfelung"  ber  ein« 
getotdelten  Xeile  (Evolutio).  ^Is  notoenbiger  2fOlgef(f)lufe  biefes  3rr= 
tums  ergab  fid)  baraus  tt)eiterl)tn  bie  oben  ertoäI)nte  (£infd)ad)te- 
lung5tt)eorie  (8.  33).  t)iefem  Dogma  ber  „iDDuIiften"fd^uIe 
ftanb  gegenüber  eine  anbere,  ebenfo  irrtümli^e  ^nfii)t,  bie  ber 
„^nimaüuliften";  biefe  glaubten,  bafe  ber  eigentlid^e  Steint 
nid)t  in  ber  toeibIid)en  ©iselle  ber  93Zutter,  fonbern  in  ber  ntänn» 
Iid)en  ©permaselle  bes  93ater5  liege,  unb  ta^  in  biefem  „Samen= 
tieri^en"  bie  <£infd^ad)telung  ber  ®enerationsreiI)en  3U  fud^en  fei. 

£eibni3  übertrug  biefe  (£infct)a(f)telungslel)re  gans  foIgeric{)tig 
aud)  auf  bie  ntenfd)Ii(i)e  Seele;  er  leugnete  für  fie  eine  waf)xt 
(gntiöidelung  ((Epigenefis)  ebenfo  roie  für  ben  5lörper  unb  fagte 
in  feiner  31)eobicee:  „So  follte  ic^  meinen,  bafe  bie  Seelen,  tDeId)e 
eines  Xages  menfcf)ftd)e  Seelen  fein  roerben,  im  Samen,  toie  jene 
Don  anberen  Spejies,  bagetoefen  finb;  ta^  fie  in  htn  33oreItern 
bis  auf  ^bam,  alfo  feit  bem  Einfang  ber  Dinge,  immer  in  ber  gorm 
organifierter  5^örper  exijtiert  t)aben."  $lf)nlic^e  SJorftellungen  er= 
l)ielten  fid)  fou)oI)I  in  ber  Biologie  toie  in  ber  ^I)iIofopI)ie  nod)  bis 
in  bas  britte  Deaennium  bes  19.  3cit)rl)unberts,  too  i!)nen  bie  9^e= 
form  ber  Äcime5gefd)id)te  burd)  SBaer  htn  Xobesftofe  oerfe^te. 

3Wi)t^ol09te  bes  Seelenurfprungs.  Die  nä{)eren  ^uffd)Iüffe, 
toeId)e  toir  burc^  bie  oergIei(^enbe  (Ethnologie  neuerbings  über  bie 
mannigfaltigen  9JZr)tt)enbiIbungen  ber  älteren  5luIturoöIfer  foxool)! 
als  ber  f)eutigen  9laturoöI!er  getoonnen  t)aben,  finb  au(^  für  bie 
^fr)d)ogenie  oon  großem  3^tereffe.  93etreff5  ii)res  toiffenfd)aft= 
lid^en  ober  poetifc^en  ®el)altes  fönnen  bie  äRpt^en  über  "am 
Seelenurfprung  ettoa  folgenbermafeen  in  fünf  (Sruppen  ge* 
orbnet  toerben:  I.  931r)t^U5  ber  Seelentoanberung:  bie  Seele 
lebte  f ruf) er  im  Körper  eines  anberen  3:ieres  unb  ijt  erjt  aus  biefem 
in  ben  menfd)Iid)en  i^örper  übergetreten;  bie  ägt)ptifd)en  ^riefter 
3.  S.  bel)aupteten,  ta^  bie  menfd)Iid)e  Seele  nad)  bem  Xobe  bes 
fieibes  burd)  alle  3:iergattungen  l)inburd)tDanbere;  na(^  3000  3af)ten 
aber  roieber  in  einen  9Jtenfd)enIeib  3urüdfef)re.  II.  äRt)tl)us  ber 
Seeleneinpflansung:  bie  Seele  eiijtierte  felbftänbig  an  einem 
anberen  Drte,  in  einer  Seelen  =  33 orratsfamm er  (ettoa  in  einer 
^rt  oon  i^eimf^Iaf  ober  latentem  £  eben);  fie  roirb  oon  einem 
33ogeI  (bisroeilen  als  ^bler,  oft  als  „Älapperjtorc^"  gebad)t)  ge= 
t)oIt  unb  in  htn  menfd)Iid)en  5^örper  eingefe^t.  III.  9}li)tf)us  ber 
Seelenfd)öpfung:  ber  göttli^e  S(^öpfer,  als  perfönlic^er  „©ott= 
33ater"  gebad)t,  erfd)afft  bie  Seelen,  i)ält  fie  oorrätig  —  balb  in 
einem  Seelentei(^,  balb  an  einem  Seelenbaum;  ber  Sd)öpfer 
nimmt  biefelben  l)eraus  unb  fe^t  fie  (U3äl)renb  bes  3ßU9ung5a!te5) 


Äeimc5öefd)id)te  ber  Seele.  83 

bcm  Tnen[d)Itd^en  Rtirm  ein.  .IV.  yjlv)il)us  ber  6eelenetnfd)ad)  = 
telung  (t)on  £eibnt3,  voxt)tx  enüä^nt).  V.  Mx)ü)U5  ber  Seelen» 
tetlung  (tjon  9luboIf  3ßagner,  1855);  im  3^ugung5a!te  [poltet 
[icf)  ein  Xeil  von  beiben  (immateriellen!)  Seelen  ab,  bie  t>tn 
5^örper  ber  beiben  fopulierenben  (SItern  betool^nen;  ber  mütterlid^e 
Seelen!eim  lebt  in  ber  ©iselle,  ber  oäterlid^e  in  bem  betoeg» 
lid)en  Samentier(f)en;  inbem  biefe  beiben  Äeimsellen  oerfdimelaen, 
tDad)[en  au^  bie  beiben  [ie  begleitenben  Seelen  3ur  ©ilbung  einer 
neuen  immateriellen  Seele  gufammen. 

^^Qftologte  bcs  Seelenurfprungs.  £)btoof)l  bie  angefül)rten 
X)id)tungen  über  bie  (£ntftel)ung  ber  eingelnen  S[FlenfcE)en[eele  l)eute 
nod)  [el)r  roeite  33erbreitung  unb  ^nerfennung  befi^en,  ijt  bennodf) 
il)r  rein  mi)tl)ologi[d)er  (£l)ara!ter  je^t  [ic^er  na(i)getoie[en.  Die 
bexDunberungstDürbigen  Unter[ucf)ungen,  n)eld)e  im  fiaufe  ber 
legten  Desennien  über  bie  feineren  33orgänge  bei  ber  58efru(i)= 
tung  unb  ileimung  bes  (£ies  ausgefül)rt  roorben  [inb,  l)aben  er» 
geben,  bafe  bie[e  mrijteriöfen  (£rf (Meinungen  fämtlid)  in  bas  ©e» 
biet  ber  3^nenpl)t)[iologie  gel)ören.  Somo^l  bie  tüeiblid)e 
i^eimanlage,  bas  (£i,  als  ber  männli(f)e  Sefru(i)tungs!örper,  bas 
Spermium  ober  Samentieri^en,  [inb  einfad)e  3^11^^-  X)ie[e 
lebenbigen  3ßnen  be[i^en  eine  Summe  von  pl)t)[iologi[(l)en  (£igen= 
[d)aften,  tüel^e  toir  unter  bem  ©egriff  ber  3cn.[eele  3u[ammen» 
fa[[en,  eben[o  toie  hti  htn  permanent  einjelligen  ^rotiften  (oergl. 
S.  92).  Seiberiet  (5e[d^led)ts3ellen  be[i^en  bas  93ermögen  ber 
Seroegung  unb  (Empfinbung.  Die  iugenbli(i)e  (£i3elle  ober  bas 
„Urei"  betoegt  \iä)  narf)  5Irt  einer  ^möbe;  bie  [el)r  tleinen  Samen» 
förperd)en  ober  Spermien,  oon  toeld^en  50lillionen  in  jebem 
!Xropfen  bes  [cl)leimartigen,  männlicl)en  Samens  [id^  finben,  finb 
(5ei^el3ellen  unb  betoegen  [icE)  mittels  il)rer  [(f)tüingenben  ©eifeet 
ebenfo  lebl)aft  [d)toimmenb  im  Sperma  uml)er  toie  bie  getoö^nli(i)en 
®eifeelinfu[or{en  (Flagellaten). 

2Benn  nun  bie  beiberlei  S^lUn  hti  ber  Begattung  3u[ammen= 
treffen,  ober  toenn  [ie  burd)  fünjtlidje  ^Befruchtung  {3.  S.  bei 
3ri[ci)en)  in  $8erül)rung  gebrad)t  toerben,  3iel)en  [ie  \iä)  gegen[eitig 
an  unb  legen  [ic^  fe[t  aneinanber.  Die  Ur[a(f)e  bie[er  3ellularen 
^ttraftion  ijt  eine  (i)emi[d)e,  bem  (5eru(l)e  ober  (5e[d)made  oer» 
toanbte  Sinnestätig!eit  bes  Plasma,  bie  roir  als  „eroti[(J^en 
(£l)emotropismus"  besei^nen.  9Jian  fann  [ie  auci^  gerabesu 
([otDol)l  im  Sinne  ber  6^l)emie  als  im  Sinne  ber  9^omanliebe) 
„36llenix)al)lDertüanbt[(i)aft"  ober  „[exuelle  3^llenliebe"  nennen. 
3ablreid)e  ©eifeel3enen  bes  Sperma  [c^toimmen  auf  bie  rul)ige 
(£i3elle  lebl)aft  l)in  unb  Der[urf)en  in  beren  5^örper  ein3ubringen. 
(£s  gelingt  aber  normaleru)ei[e  nur  einem  einsigen  glüdlidicn  Se* 

6* 


84  ^tt^tes  Äapltcl. 


xücrber,  bas  er[cl)ntc  3icl  tDirtltd)  ju  erreichen.  Sobalb  [t(f)  bicfes 
bcoorjugtc  „(5aTncntiercf)en"  mit  [einem  „5lopfc"  (b.  l).  bem  3^ncn» 
!cm)  in  ben  fieib  ber  (Si^elle  eingebol)rt  l)at,  toirb  von  ber  ©ijelle 
eine  bünne  6(i)Ieim[d)id^t  abgefonbert,  tDcId)e  bas  (Einbringen 
anberer  männlid)cr  ß^Hen  Derl)inbert.  9'lur  loenn  man  burc^ 
niebere  Temperatur  bie  (Siselle  in  Äältejtarre  werfest  ober  [ie  burc^ 
nar!oti[d)e  ^ölittel  ((£{)loroform,  9[Jlorpl)ium,  9li!otin)  betäubt, 
unterbleibt  bie  ^ilbung  bie[er  (3(i)U^^üne;  bonn  tritt  „Über« 
fruc^tung  ober  ^olrifpermie"  ein,  unb  3al)Ireid)e  Samen» 
fäben  boI)ren  fid^  in  ben  £eib  ber  betoufetlofen  3cne  ein.  Diefe 
mer!tDürbige  Xai]aä)t  beseugt  ebenfo  einen  nieberen  (5rab  oon 
[pe3ifi[(i)er,  [innlid)er,  lebl^after  (Empfinbung  in  ben  beiberlei  ©e* 
id)Ied^t53enen  toie  bie  tDid)tigen  Sßorgänge,  bie  gleid)  barauf  fid) 
in  ii)rem  Innern  ab[pielen.  Die  beiberlei  3cnen!eme,  ber  tDeibIid)e 
(Eifern  unb  ber  männli(f)e  Spermafern,  gießen  [id)  gegenfeitig  an, 
nät)ern  [id)  unb  t)er[d)mel5en  bei  ber  ^erüf)rung  oolljtänbig  mit* 
einanber.  So  ijt  benn  aus  ber  befrurf)teten  (Eizelle  jene  tDid)tige 
neue  S^Wt  entjtanben,  toeldje  toir  Stamm^elle  nennen,  unb 
aus  beren  roieberl^oltcr  3:eilung  ber  ganje  üielaellige  Organismus 
^eroorget)! 

X)ie  pfi)d)oIogi[d)en  (Er!enntni[[e,  toeId)e  [id)  aus  biefen  merf== 
roürbigen  Xatfacf) en  ber  Befruchtung  ergeben,  [inb  überaus  tDid)tig 
unb  bisher  nid)t  entfernt  in  if)rer  allgemeinen  Bebeutung  getDür= 
bigt.  2Bir  fa[fen  bie  tDe[entIid)jten  ^rolgerungen  in  folgenben 
fünf  Sä^en  sufammen:  I.  ^t'üts  men[d)Iicf)e  Snbioibuum  ijt,  toie 
jebes  anbere  pf)ere  3:ier,  im  Beginne  feiner  (Eiijtenj  eine  einfädle 
3eIIe.  II.  Diefe  Stammje^'.e  entfielt  überall  auf  biefelbe  2Bei[e, 
burd)  93erfd)mel5ung  ober  Kopulation  oon  gtoei  getrennten  3^^^^^ 
üer[d)iebenen  Hr[prungs,  ber  toeibli^en  (Ei3eIIe  unb  ber  mann» 
Iid)en  Spermajelle.  III.  Beibe  (5efd)led)ts3enen  befi^en  eine 
üer[d)iebene  „3en[eele",  b.  ^.  beibe  [inb  burd)  eine  be[onbcrc 
gorm  Don  (Empfinbung  unb  oon  Belegung  ausge3ei^net.  IV. 
3n  bem  SJZomcnte  ber  Befru^tung  ober  (Empfängnis  «er« 
[d)mel3en  nic^t  nur  bie  ^lasmaförper  ber  beiben  (5e[d)Ied)ts3eIIen 
unb  it)re  Äerne,  fonbern  aud)  il)re  „Seelen";  b.  f).  bie  ir 
il)nen  entl)altenen  p[r)d)i[d)en  Anlagen  (ober  „SpannMfte")  vtt 
einigen  [id)  3um  „Seelenfeim"  ber  neugebilbeten  Stamm3eIIe. 
V.  Dal)er  be[i^t  jebc  ^er[on  Ieiblid)e  unb  geijtige  (Eigen[d^aften 
oon  beiben  (Eltern;  ber  5^ern  ber  (Ei3ene  überträgt  einen  3:eil  ber 
mütterlid)en,  ber  Kern  ber  Sperma3elle  einen  Xtxl  ber  oäterltc^en 
(Eigen[d)aften. 

Durd)  bie[c  empiri[d)  erfannten  (Er[c^ einungen  ber  „(Empfang* 
nis"  ober  Kon3eption  toirb  ferner  bie  l)öd)jt  roid)tige  3:at[ac^c  fejt* 


5^etmc5gefd)i(^tc  bcr  6celc.  85 

gcltellt,  bofe  jcbcr  SlHenfrf),  tote  fcbcs  anbcrc  3:{cr,  einen  Scgtnn 
ber  inbioibuellen  ßxijtens  l)at;  bie  üöllige  Kopulation  ber 
beiben  [eiuellen  3ßn!erne  begetiinet  I)aar[(^arf  \itn  ^ugenbltrf, 
in  toelc^em  mrf)t  nur  ber  5^örper  ber  neuen  StammscIIe  entftel)t, 
[onbern  auä)  i^re  „Seele".  Durd^  biefe  3:at[a^e  allein  [d)on  roirb 
ber  alte  S[RT)tI)U5  oon  ber  Hnfterbltd)!eit  ber  (Seele  töiberlegt, 
auf  hm  mit  [päter  surüdfommen.  ferner  roirb  baburc^  ber  noc^ 
fel)r  oerbreitete  5lberglaube  toiberlegt,  ba^  ber  9J?en[d)  [eine  inbioi^ 
buelle  (£iiften3  ber  „(Snabe  bes  liebenben  ©ottes"  oerbanü  X)te 
Urfac^e  berfelben  berul)t  Dielmel)r  einsig  unb  allein  auf  bem 
„(Sros"  [einer  beiben  ©Item,  auf  jenem  mächtigen,  allen  oiel* 
^eiligen  3;ieren  unb  ^flangen  gemeinfamen  (5ef^Ied)t5triebe, 
roel^er  3U  beren  ©egattung  fül^rt.  Das  2Be[entIi(i)e  bei  biefem 
pf)r)fiologi[rf)en  ^roseffe  ijt  aber  nicf)t,  toie  man  frü{)er  annai)m, 
bie  „Umarmung"  ober  bie  bamit  oerfnüpften  Biebesfpiele,  [onbern 
einsig  unb  allein  bie  (£infül)rung  bes  männlichen  Sperma  in  bie 
toeibIidE)en  (5e[cl^Iec^tsfanöle.  ^lur  baburd)  roirb  es  hti  htn  Ianb= 
betoo!)nenben  Vieren  möglid),  bafe  ber  befruc^tenbe  Samen  mit 
ber  abgelöften  CSiseUe  3u[ammen!ommt  (toas  beim  9Jlen[c^en  ge= 
toöI)nli^  inner?)alb  bes  Uterus  ge[(^ie{)t).  Sei  nieberen,  tDa[[er= 
betoot)nenben  Xieren  (3.  S.  (5i[ct)en,  äRu[d)eIn,  9Kebu[en)  toerben 
beiberlei  reife  (5e[^Ied^t5probu!te  einfarf)  in  bas  2Ba[[er  entleert, 
unb  l)ier  bleibt  il)r  3ii[ammentreffen  bem  SufoII  überla[[en;  t)ann 
fel)lt  eine  eigentlicf)e  Begattung,  unb  bamit  fallen  3uglei(^  jene 
3u[ammenge[e^ten  p[i)dE)i[(^en  Sfunftionen  bes  „fiiebeslebens"  ^in= 
roeg,  hit  bei  f)ö{)eren  2;ieren  eine  [0  grofee  9?oIIe  [pielen.  Dat)er 
fef)Ien  aucf)  allen  nieberen,  nic^t  fopuUerenben  a:ieren  jene  intere[= 
[anten  Organe,  bie  X)axxoin  als  „[efunbäre  Sexualc^araftere" 
be3cid)net  I)at,  bie  ^robufte  ber  ge[d)le^tlid)en  3u(i)ttDaI)I:  ber 
$Bart  bes  Söflannes,  bas  (Setoeit)  bes  §ir[(f)es,  bas  prad^toolle  (5e= 
fieber  ber  ^arabiesoögel  unb  oieler  ^üt)neroögeI,  [oroic  oiele  anbere 
^U53ei(f)nungen  ber  9Jiännc^en,  u)el(t)e  bcn  2Beibd)en  fet)Ien. 
(33ergl.  aBiIt)eIm  <BöI[c^e,  ßiebesleben  ber  S^latur,  3<Bänbc,  1901.) 
JBeretbung  bet  Seele.  Unter  ben  angefül)rten  3roIge[i)Iü[[en 
ber  Äon3eptionspI)i)[ioIogie  ift  für  bie  ^^[i)(f)oIogie  gans  be= 
[onbers  toi(i)tig  bie  23ererbung  ber  Seelenqualitäten  oon 
beiben  (Eltern.  I)afe  jebes  5^inb  be[onbere  (£igentümli(f)!eiten 
bes  (£l)ara!ters,  3:emperament,  3:alent,  Sinnes[ct)ärfe,  2BiIlens= 
energie  oon  beiben  (Eltern  erbt,  ift  allgemein  befannt.  (Ebenfo 
befannt  ijt  bie  Zai\aä)t,  bafe  auc^  p[i)d)i[a^e  (£igen[(^aften  oon 
beiberlei  ©rofeeltern  burc^  33ererbung  übertragen  u)erben;  ja, 
l)äufig  jtimmt  in  einseinen  Se3iet)ungcn  ber  SJienfc^  mel)r  mit  ben 
(örofeeltern  als  mit  ben  CBItern  überein.    Me  bie  mcrftoürbiöen 


86  ^dltes  Äapitcl. 


©cfe^c  ber  95crcrbung  bcft^cn  cbenfo  allgemeine  ©ülttgfeit 
für  bte  befonberen  (£r[d)emungen  ber  Seelentätigfeit  toie  ber 
Rörperbilbung;  jo,  [ie  treten  uns  I)äuftg  an  ber  erjteren  nocf)t)tel 
auffallenber  unb  flarer  entgegen,  als  an  ber  le^teren. 

9flun  ijt  \a  an  \iä)  bas  grofee  ©ebict  ber  93  er  erb  ung,  für  beffen 
ungel)euere  Sebeutung  uns  erjt  Dario  in  bas  rüiffenf^aftlic^e 
33erftänbnis  eröffnet  \)ai,  reid)  an  bunfeln  9?ät|eln  unb  pf)i)fioIo= 
gifd)en  8d)txiierig!eiten;  toir  bürfen  nid)t  bean[prud)en,  ttai^  uns 
[d^on  je^t  alle  Seiten  besfelben  !Iar  t>or  klugen  liegen,  ^ber  [o  üiel 
lyaben  toir  bod)  [c^on  [i(l)er  gewonnen,  bafe  roir  bie  93 ererbung 
als  eine  pl)i)[iologi[d)e  ^unftion  bes  Organismus  betrad)ten, 
bie  mit  ber  Xätigfeit  [einer  O^ortpflansung  unmittelbar  »er!nüpft 
ijt;  unb  toie  alle  anberen  fiebenstätigleiten  muffen  toir  audf)  biefc 
fd)liefelid)  auf  pl)r)fi!alifd)e  unb  (i)emifcl)e  ^rogeffe,  auf  SD^e^ani! 
bes  Plasma  3urü(!fül)ren.  9lun  fennen  toir  aber  je^t  t)tn  93organg 
ber  ^efrud)tui;g  felbjt  genau;  toir  toiffen,  bafe  babei  ebenfo  ber 
6perma!em  bie  t)äterli(f)en,  toie  ber  (£i!ern  bie  mütterlid)en  (£igen= 
f(f)aften  auf  bie  neugebilbete  Stammselle  überträgt.  Die  93er= 
mif(i)ung  beiber  3^nferne  ijt  bas  eigentlid)e  §auptmoment  ber 
93ererbung;  bur(^  [ie  loerben  ebenfo  bie  inbioibuellen  (Sigenfd^aften 
ber  Seele  toie  bes  fieibes  auf  bas  neugebilbete  ^^tbioibunm  über= 
tragen.  Diefen  ontogeneti[d)en  3:at[ad)en  jtel)t  bie  bualijti[d)e  unb 
mt)jtijd)e  ^[i)d)ologie  ber  nocf)  I)eute  ^err[(f)enben  Sd)ulen  ratlos 
gegenüber,  toötirenb  [ie  [id)  burd)  un[ere  monijti[d)e  ^[t)d)ogenie 
in  einfad)jter  2Bei[e  erflären. 

©eelenmifc^uttg  (^ftjd^tfd^e  ^Imp^tgonie).  Die  pl)i)[iologi[c^e 
3:at[ad)e,  auf  toeld)e  es  für  bie  rid)tige  Beurteilung  ber  inbioibuellen 
^[r)d)ogenie  oor  allem  an!ommt,  ijtbie5^ontinuitätber^^fr)d)e 
in  ber  (5enerationsreil)e.  9[Benn  im  9Jloment  ber  (Empfängnis  aud) 
tatfäd)lid)  ein  neues  Snbioibuum  entjtel)t,  fo  ijt  basfelbe  bod)  toeber 
l)in[id)[tli^  [einer  geijtigen  nod)  leiblid)en  £)ualität  dm  unabl)ängige 
9^eubilbung,  [onbern  lebiglic^  bas  ^robuft  aus  ber  93er[d)mel3ung 
ber  beiben  elterlid)en  (^rattoren.  Die  3ßn[eelen  beiber  ©e[d)led)ts= 
seilen  oer[(^mel3cn  im  Sefrud)tungsa!te  eben[o  oolljtänbig  3ur 
Silbung  einer  neuen  3^II[csIc»  ^^^  ^iß  beiben  3ßnferne,  03eld)e 
bie  materiellen  Präger  biefer  p[r)(^i[c^en  Spannfräfte  [inb,  3u  einem 
neuen  3ell!ern  ]i(i)  oerbinben.  Da  roir  nun  [el)en,  t>a^  bie  5nbiüi= 
buen  einer  unb  berfelben  9lrt  jtets  geioiffe,  toenn  aud)  geringfügige 
Unterfd)iebe  seigen,  fo  muffen  toir  annel^men,  tta^  fold)e  aud)  fd)on 
in  ber  d)emifd)en  ®ef(^affenl)eit  ber  fopulierenben  ileimsellen 
[elbjt  oorl)anben  [inb. 

^ft)(^i)Io9if(^er  Atavismus.  2Benn  bei  ber  Scelenmi[ci^ng 
Im  ^ugcnblide  ber  (Empfängnis  gunäc^jt  aud)  nur  bie  befonberen 


5^ctmcsgc[d^td)te  bcr  Seela.  87 


(gtgcnf^aftcn  bcr  beibcn  (Blterrtfcelen  mittels  93erfd)mel3ung  bcr 
beiben  croti[d)CTt  !^tl\Uxnt  txbliä)  übertragen  tocrben,  [o  !ann 
bamit  bo(f)  suglctd)  bcr  erbliche  p[t)d)if(i)e  (Einfluß  älterer,  oft  toett 
3urü(iliegcnber  ©enerattonen  mit  fortgepfIan3t  roerbcn.  T)tnn 
aud)  bic  (5e[e^c  ber  latenten  23crerbung  ober  bes  ^ttaoismus 
gelten  ebenfo  für  hit  ^fr)ct)e  roic  für  bic  anatomi[d)e  Drganifation. 
(Scrabc  in  feineren  3ügen  bes  Seelenlebens,  im  Sefi^c  bcjtimmtcr 
fünftlcrifd^cr  3^alente  ober  9leigungcn,  in  bcr  (Energie  bes  (£;f)araf  ters, 
in  bcr  £ciben[(i)aft  bcs  3:cmpcramcntc5  gleichen  oft  {)crDorragenbc 
9Jicn[^cn  mct)r  i^rcn  ©rofeeltern  als  htn  (Eltern;  nid)t  feiten  tritt 
audf)  ein  auffälliger  (£^ara!ter3ug  t)erDor,  htn  toebcr  biefe  nod)  jene 
bc[afecn,  bcr  aber  in  einem  älteren  ®Iicbe  bcr  ^t)ncnreil)e  oor 
langer  3^^t  \x<i)  offenbart  t)attc.  ^ud)  in  bicfcn  mcrftoürbigcn 
^taoismcn  gelten  bicfclbcn  S3crerbungsgcfc^e  für  bic  ^fr)(f)c  tote 
für  bic  ^f)t)fiognomic,  für  bic  inbioibuelle  Qualität  bcr  Sinnes» 
Organe,  toie  für  bic  bcr  SJtusfcIn,  bcs  Sfclctts  unb  anberer  5lörpcr* 
teile,  ^m  ouffälligften  fönnen  roir  bicfclbcn  in  rcgicrcnbcn  Di)na* 
jtien  unb  in  alten  ^belsgefd)led)tcrn  oerfolgcn,  bcren  l)crDor= 
ragenbc  Xätig!cit  im  Staatslebch  3ur  genaueren  l)iftorij'(^cn  Dar= 
jtcllung  ber  ^nbioibucn  in  bcr  (5cnerations!ctte  23cranla[[ung  ge= 
geben  I)at,  [o  3.  ©.  bei  htn  $ol)en3ollern,  §oI)enf taufen,  Oraniern, 
©ourboncn  ufto.,  unb  nicl)t  minber  bei  htn  römi[(f)en  3ä[aren. 

5)a$  »togenetifi^e  ©runböefe^  in  ber  ^ft)(^oI09te  (1866). 
Der  ilau[al3u[ammcnl)ang  bcr  bionti[(f)en  (inbioibuellcn) 
unb  bcr  pi)T)lcti[d)cn  (l)iftort[c^cn)  (Enttoidclung,  ben  i^  [d^on  in 
bcr  ©cncrellen  93?orp^ologic  als  oberstes  ®cfc^  an  bic  Spi^c  aller 
biogcneti[d)en  Hnter[ud)ungen  gcjtellt  Ijattc,  befi^t  cbenfo  all= 
gemeine  ©eltung  für  bic  ^[r)(i)ologic  roic  für  bic  SJlorpl^ologie. 
2Bic  hti  allen  anberen  Organismen,  [0  ijt  aud)  beim  S[Rcn[(i)en  „bic 
ilcimesgc[(i)i(f)te  ein  5lus3ug  bcr  Stamme5ge[d)icl)tc". 
Diefc  gebrängtc  unb  abge!ür3tc  SRcfapitulation  ift  um  [0  t)olljtän= 
biger,  je  mel)r  burd)  bejtänbige  23ererbung  bic  ur[prüngli(f)e 
^us3ugscnttDi(fclung  (Palingenesis)  beibcl)altcn  toirb;  l)in= 
gcg^n  toirb  [ic  um"  [0  unoolljtänbiger,  je  mel)r  burd)  tDcd)[clnbc 
5lnpa[[ung  bic  [päterc  Störungscntroidclung  (Cenogenesis) 
eingefül)rt  roirb  (5lntl)ropogenie,  1.  33ortrag). 

Snbem  roir  bicfcs  (5runbgc[c^  auf  bic  (£ntii)idclungsge[c^id)tc 
bcr  Seele  antocnbcn,  müf[en  toir  gan3  befonbercn  5Rad)brud  barauf 
legen,  bajg  jtets  htiht  Seiten  bcsfclben  !riti[d)  im  ^ugc  3U  bcl)alten 
[inb.  Denn  beim  9Jtcn[(^en  roic  bei  allcn^  l)öl)crcn  iiercn  unb 
^flan3en  l)aben  im  £aufc  bcr  pl)i)leti[d)cn  5öl)rmillionen  [0  be= 
träd)tlid)e  Störungen  ober  3cnogcnc[cn  [id)  ausgcbilbet,  ba'iß 
baburd)  bas  ur[prünglid)c  reine  ^ilb  bcr  Balingen cfc  ober  bcs 


88  5tc^tc5  Rapihl 

„(5c[d)tc^t5aus3ugc5"  ftar!  getrübt  unb  oeränbcrt  erfct)cmt.  2Bä^= 
rcnb  cincrfcits  burc^  bie  ©efc^c  ber  glctd)3e{ttgcn  unb  gleich« 
örtli(^ cn  23ercrbung  bic  palingcnctifi^c  5lcfapttuIatton  crl^alten 
bleibt,  tDtrb  fte  anbererfetts  burc^  bie  ©efe^e  ber  abgefürsten  unb 
t)ereinfad)ten  33ererbung  roefentlic^  jenogenetifd)  oeränbert. 
3unäci)jt  ijt  bas  beutli^  erfennbar  in  ber  R«imesge[(^ict)te  ber 
Seelenorgane,  bes  9lert)en[i)jtems,  ber  9J?U5!eIn  unb  Sinnesorgane. 
3n  gan3  gleicher  2Beife  gilt  basfelbe  aber  aurf)  oon  ber  Seelentätig» 
feit,  bie  untrennbar  an  bie  normale  ^usbilbung  biefer  Organe 
gebunben  ift.  5I)re  i^eime5ge[(^ict)te  ijt  beim  9P^enf(f)en,  roie  bei 
allen  anberen  lebenbig  gebärenben  3:{eren,  fc^on  bes^alb  jtar! 
jenogenetif^  abgeänbert,  toeil  bie  oollc  5lusbilbung  bes  Reimes 
^ier  längere  3^tt  innerl)alb  bes  mütterlidE)en  5^örpers  jtattfinbet. 
2Bir  muffen  baf)er  als  sroei  §auptperioben  ber  inbioibuellen 
^[pc^ogenic  unterfd^eiben:  I.  bie  embrt)onale  unb  IL  bie  pojt= 
embryonale  (EnttoicfelungsgefcfiidEjte  ber  Seele. 

©mbttjonale  ^ftjc^ogente.  Der  menfd^li^e  Äeim  ober  embrt)o 
entroidelt  [idE)  normalem) ei[e  im  9Kutterleibe  toäl)renb  bes  3^tt= 
raumes  oon  neun  9J?onaten.  2ßäl)renb  biefer  3cit  ift  er  oollfommen 
oon  ber  ^lufeentoelt  abge[(i)lo[fen  unb  nii^t  allein  burd)  bie  bicfe 
9}lus!elxDanb  bes  mütterlid)en  3^ruc^tbel)älter5  (Uterus)  gc[d)üfet, 
fonbern  au^  burd)  bie  befonberen  0^ru(i)tl)üllen  (Amnion  unb 
Serolemma)  tDeld)e  allen  brei  l)öl)eren  2Birbelticr!la[fen  gemeinfam 
5ufommen,  ben  9{eptilien,  SSögeln  unb  Säugetieren.  (Es  [inb  bas 
Sd)u^einri(l)tungen,  melci)e  oon  htn  älteften  ^leptilien,  htn  ge= 
meinfamen  Stammformen  aller  ^mnioten,  erjt  in  ber  ^erm= 
periobe  (gegen  (^ntt  bes  paläojoifclien  3citalters)  ertoorben 
tDurben,  als  bie[e  l)öl)eren  SBirbeltiere  [ic^  an  bas  bejtänbige  £anb= 
leben  unb  bie  £uftatmung  geroöl)nten.  3^re  Dorl)ergel)enben 
^nen,  bie  5lmpl)ibien  ber  Stein!ol)lenperiobe,  lebten  unb  atmeten 
nod)  im  2Ba[[er,  toie  il)re  älteren  93orfal)ren,  bie  O^ifc^e. 

©ei  biefen  älteren  unb  niebercn  toafferbetool)nenben  2Birbel= 
tieren  befajg  bie  Reimesge[(^icl)tc  nocl)  in  oiel  lnpl)erem  (5rabe  ttn 
palingeneti[(i)en  (It)ara!ter,  toie  es  au6)  no^  bei  ^tn  meijten 
3fi[(i)en  unb  ^mpl)ibien  ber  ©egentoart  ber  ^^all  ijt.  Die  be!annten 
5^aulquappen,  bie  IJaroen  ber  Salamanber  unb  ^x'd\ä)t,  betDal)ren 
noc^  l^eute  in  ber  crjten  3cit  il)res  freien  2Ba[[erlebens  titn  5^örper= 
bau  il)rer  gi[(^al)nen;  fie  gleirf)en  it)nen  au6)  in  ber  fiebensroeifc, 
in  ber  Äiemenatmung,  in  ber  gunftion  il)rer  Sinnesorgane  unb 
il)rer  anhtxtn  Seelenorgane.  (£rft  menn  bie  intereffantc  9Ketamor= 
p^ofe  ber  [(f)toimmenben  ilaulquappen  eintritt,  unb  u)  nn  fie  fid) 
an  bas  fianbleben  getoö^nen,  oertoahbelt  fid)  i^r  fi|d)ät)nUc^er 
5\örper  in  bas  oierfüfeige,  !riecl)enbc  ^mp^ibium;  an  bie  Stelle 


i^eime5ge[c^id)tc  ber  Seele.  .89 

ber  5^temcnatmung  im  SBaffer  tritt  bte  0U5f(^UefeIi(i)c  fiuftatmung 
burc^  Bungen,  unb  mit  ber  oeränberten  £eben5ujci[e  erlangt  anä) 
ber  Seclenapparat,  9'lerDen[i)jtem  unb  Sinnesorgane,  einen 
:^öt)eren  ©rab  ber  ^usbilbung.  Die  [c^toimmenbe  5^aulquappe 
befi^t  nid)t  nur  bie  Organifation,  [onbern  au6)  bie  fiebenstoeife 
unb  Seelentätigfeit  bes  gi[c{)e5  unb  erlangt  erft  burd)  it)rc  93er=  ^ 
tüanblung  biejenige  bes  (5ro[ct)es. 

Seim  StRenfc^en  tote  bei  allen  anberen  ^mniontieren  ift  bas 
nid^t  ber  (^rall;  i\)X  (£mbri)o  ijt  [rf)on  burd)  ben  (Einfc^Iufe  in  bie 
[d)ü^enben  (Eipllen  bem  bire!ten  (£influ[[e  ber  ^ujsenoielt  gan3  ent= 
3ogen  unb  jeber  SBec^feltoirfung  mit  berfelben  enttoöt)nt.  ^ufeer= 
bem  aber  bietet  bie  befonbere  Brutpflege  ber  ^mniontiere  it)rem 
fteime  t)iel  günjtigere  ©ebingungen  für  jenogenetifc^e  ^bfürgung 
ber  palingeneti|ct)en  (gnttoidelung.  33or  allem  gel)ört  bal)in  bie 
öortrefflictie  (£mäl)rung  bes  Reims;  [ie  ge[(i)iel)t  bei  ^zn  9?epti- 
lien,  23ögeln  unb  StRonotremen  (ben  eierlegenben  Säugetieren) 
bur(f)  htn  großen  gelben  9lal)rungsbotter,  tDel(J)er  bem  (£i  bei= 
gegeben  ijt,  bei  "ütn  übrigen  Säugetieren  l){ngegen  {t)tn  lebenbig 
gebärenben  Beuteltieren  unb  3ottentieren)  burc^  bas  Blut  ber 
SJiutter,  tDelct)es  bur^  bie  Blutgefäße  bes  Dotterfades  unb  ber 
^llantois  bem  ileimc  3Uöefüf)rt  roirb.  Bei  htn  f)öct)jtenttDicfelten 
3ottentieren  (Placentalia)  l)at  biefe  sroetfmäfeige  ©mä^rungs» 
form  burct)  ^usbilbung  bes  9Jlutter!u(i)ens  (Placenta)  ben  ^ö(i)jten 
®rab  ber  Boll!ommenl)eit  errei(f)t;  ba^er  ijt  ber  (£mbri)o  [c^on  oor 
ber  ©eburt  l)ier  oollfommen  ausgebilbet.  Seine  Seele  aber  be= 
finbet  \iä)  voä\)tmh  biejer  ganzen  3^1*  tm  3ujtanbe  bes  Äeim  = 
jct)lafe5,  einem  9{ul)e3ujtanbe,  coelctien  ^reger  mit  9tecl)t  bem 
2Binterfc^lafe  ber  Üiere  oerglid)en  ^at.  (Einen  glei(i)en,  lange 
bauemben  Sd)laf  ftnben  toir  aud)  im  ^uppenjujtanbe  jener  3«= 
Jetten,  roeld)e  eine  oolHommene  Berroanblung  bur(i)mact)en 
(Schmetterlinge,  3mmen,  (fliegen,  5^äfer  ujro.).  §ier  ijt  ber 
^uppenfc^laf,  toäl)rcnb  bejfen  bie  tDicf)tigjten  Umbilbungen 
ber  iDrgane  unb  (Betuebe  oor  jid^  gel)en,  um  [o  interejjanter,  als 
ber  Dor^erge{)enbe  3ujtanb  ber  frei  lebenben  fiarce  (9?aupe, 
(Engerling  ober  SJiabe)  ein  [el)r  entcoicfeltes  Seelenleben  befi^t, 
unb  als  biefes  bebeutenb  unter  berjenigen  Stufe  jtel)t,  toelc^e 
jpäter  (nad)  bem  ^uppenjd^laf)  bas  oollenbete,  geflügelte  unb 
gejd)led)tsreife  Zn]tfi  jetgt. 

^ojtembtt)onaIe  ^f^c^ogeme.  Die  Seelentätigfeit  bes  9Jien= 
\d)tn  burd)läuft  tDäl)renb  [eines  inbioibuellen  ^ebens,  ebenjo  roie 
bei  "ötn  meijten  I)ö^eren  3^ieren,  eine  5leil)e  oon  (Entroidelungs* 
jtufen;  als  bie  toic^tigjten  berjelben  fönnen  toir  toot)!  folgenbe 
fünf  §auptabj(^mtte  unicrj^cibcn:  1.  bie  Seele  bes  Sflcugeborencn 


90  9Zeunte5  Äapitcl. 


bis  3um  (£rtDacf)CTt  bcs  SelbftbciDufetfems  unb  gum  (Erlernen  ber 
(Bpxa&jt,  2.  bte  Seele  bes  Änaben  unb  bes  9Jläbd)ens  bis  gur 
Pubertät  (3um  (Ertoad^en  bes  ©efd^Ieditstrtebes),  3.  bte  Seele 
bes  Sünglings  unb  ber  Jungfrau  bis  3um  (Eintritt  ber  [eiuellen 
35erbtnbung  (bte  ^eriobe  ber  „Sbeale"),  4.  bie  Seele  bes  erijoadf)[e= 
nen  SJJannes  unb  ber  reifen  grau  (^eriobe  ber  t)onen  9letfe  unb 
ber  Orötntitengrünbung),  5.  bie  Seele  bes  ©reifes  unb  ber  ©retfin 
(^eriobe  ber  9tüdfbilbung).  X)as  Seelenleben  bes  9Jlen[d^en  burrf)^ 
läuft  alfo  biefelben  (Entcoidelungsftufen  ber  aufjteigenben  gort= 
bilbung,  ber  oollen  5ieife  unb  ber  abjteigenben  9tü(Jbilbung  toie 
jebe  anbere  £eben$tätig!eit  bes  Organismus. 


9^euttte^  Kapitel. 
©famme^gefd^iij^fe  bet  Seele* 

^oniftif^e  6tubien  über  l^^^logenetifd^e  ^f^c^ologtc.  (inU 

tpidelung  btß  Seelenleben^  in  ber  tiertfc|)en  ^^nenrei^e  be^ 

9}^enfc^en. 


I)ie  Def3enben3tI)eorie  in  93erbinbung  mit  ber  5lntI)ropolDgie 
f)at  uns  über3eugt,  ta^  unfer  men[d)Ii(i)er  Organismus  aus  einer 
langen  9ieit)e  tierif^er  23orfal)ren  burd^  allmät)lid)e  Umbilbung 
im  £aufe  oieler  Sti^r^Wlio^^"  langfam  unb  jtufenr»ei[e  \iä)  ent* 
toidelt  I)at.  Da  töir  nun  bas  Seelenleben  bes  9Jien[dE)en  »on  [einen 
übrigen  £ebenstättg!eiten  niä)t  trennen  !önnen,  t)ielmel)r  3u  ber 
Xlberseugung  von  ber  einl)eitli(i)en  (Entioidelung  unferes  gan3en 
Rörpers  unb  ©elftes  gelangt  finb,  fo  ergibt  \xä)  au(i)  für  bie  moberne 
moniftif(^e  ^[r)(i)ologie  bie  5lufgabe,  bie  l)iftorifcl)e  (£nttDi(Je= 
lung  ber  9JJenfd)enfeele  aus  ber  Xierfeele  ftufem»eife  3U  »erfolgen. 
Die  £öfung  biefer  Aufgabe  oerfud^t  unfere  „Stammesgef(i)i(^te 
ber  Seele"  ober  bie  ^l)r)logenie  ber  ^fr)d)e.  Obgleid^  biefe 
neue  2Biffenf(^aft  nod)  !aum  ernftlid)  in  Eingriff  genommen  ift; 
obgleid)  felbft  il)re  (£iiften3bere(i)tigung  oon  ben  meiften  ^ad)'' 
pfi)(i)ologen  beftritten  roirb,  muffen  roir  für  fie  bennoc^  bie  aller* 
i)öd)jte  SBic^tigfeit  unb  bas  gröfete  Sntereffe  in  ^nfprurf)  nel)men. 
Denn  nad)  unferer  feften  Hberseugung  ift  bie  pf)i)letif(^e  ^fr)dE)o- 
logie  oor  allem  berufen,  uns  bas  grofje  „SBelträtfel"  t)om  SBefen 
unb  ber  (£ntjtel)ung  unferer  Seele  äu  löfen. 


6tammc5gc[d)id)te  ber  Seele.  91 

aUet^obeit  ber  p^tjletift^en  ^ft)^oöettie.  t)ie  9[RitteI  unb 
2Bege,  wtl^t  %u  bem  roeit  entfernten,  im  Giebel  ber  3u^Ttft  für 
Dtele  nod)  !aum  erfennbaren3ißIßi>ß^P^pIogeneti[d)en^ft)(^o* 
logie  I)mfü{)ren  [ollen,  [inb  von  benjentgen  anberer  jtammes» 
ge[ct)id)tlt(i)er  ^rotfi^ungen  md)t  Derfd)teben.  23or  allem  tft  aud) 
^ter  bte  oergleic^enbe  Anatomie,  ^^r)[ioIogte  unb  £)ntogente  oon 
l^ö^ftem  2Berte.  ^ber  aud)  bie  Paläontologie  liefert  uns  eine 
^n3al)l  Don  [id)eren  Stü^pun!ten;  benn  bie  9ieil)enfolge,  in  toeld^er 
bie  oeriteinerten  llberrejte  ber  2Birbeltier!la[[en  nad)einanbcr  in 
htn  ^erioben  ber  organi[d)en  (£rbge[d)i(^te  auftreten,  offenbart 
uns  teiltoeife,  gugleid)  mit  beren  pl)r)leti[(i)em  3ufammenl)ang, 
audE)  bie  ftufenroeife  5lusbitbung  il)rer  (5eelentätig!eit.  g^reilic^ 
finb  toir  l)ier,  loie  überall  bei  pl)i3logeneti[d)en  llnter[u(i)ungen, 
5ur  93ilbung  3al)lreid)er  $r)pott)e[en  gejiDungen,  um  bie  Äücfen 
ber  empiri[(^en  Stammesurfunben  ausjufüllen;  aber  bennod) 
loerfen  bie  le^teren  ein  [o  l)elles  unb  bebeutungsoolles  fii(f)t  auf 
bie  tDid)tigjten  Abstufungen  ber  ge[cl)i(i)tlid)en  (Enttoiclelung,  "üa^ 
Eoir  eine  befriebigenbe  (£in[id)t  in  beren  allgemeinen  33erlauf  ge= 
roinnen  !önnen. 

^aupt|tttfen  ber  p^tiletifc^en  ^ft^d^ogenie.  Die  Dergleid)enbe 
^[i)(i)ologie  bes  9Jlenf(i)en  unb  ber  l)öl)eren  Xiere  läfet  uns  3unäcl)jt 
in  ben  l)öd)jten ©ruppen  ber  Säugetiere,  bei  ben  ^errentieren, 
bie  u)id)tigften  e5ort[d)ritte  er!ennen,  burd)  iDel(i)e  bie  9Jlen[c^en= 
[eele  aus  ber  ^[i)cl)e  ber  50lenfd)enaffen  l)erDorgegangen  ijt.  Die 
^l)i)logenie  ber  Säugetiere  unb  toeiter^in  ber  nieberen  2Birbel= 
tiere  geigt  uns  bie  lange  9lei^e  ber  älteren  93orfal)ren  ber  Primaten, 
roeld)e  tnnerl)alb  biefes  Stammes  [eit  ber  Silurgeit  \\<i)  enttoicfelt 
l)aben.  Alle  bie[e  2Birbeltiere  jtimmen  überein  in  ber  Struftur 
unb  (Enttoidelung  il)re5  d)ara!terijti[(i)en  Seelenorgans,  bes  SJiarf  «= 
rol)rs.  Dafe  bie[es  [id)  aus  einem  bor[alen  S(^eitell)irn  oirbel* 
lofer  23orfal)ren  l)ert)orgebilbet  l)at,  [d)eint  bie  Dergleid)enbe  Ana* 
tomie  ber  SBurmtiere  ober  33ermalien  gu  lel)ren.  SBeiter  ^uxü& 
gel)enb  erfal)ren  roir  burd)  bie  oerglei^enbe  Ontogenie,  bafe  biefes 
einfädle  Seelenorgan  aus  ber  3ellcn[d^id)t  bes  äufeeren  Keimblattes, 
aus  bem  (£!tobcrm  oon  ^latobarien  entjtanben  ijt;  bei  biefen 
älteften  ^lattentieren,  bie  nod)  fein  gefonbertes  Sleroenfrijtem 
be[afeen,  toir!t  bie  äußere  §autbede  als  unit)er[ales  Sinnes»  unb 
Seelenorgan.  Durd)  bie  Dergleid)enbe  ileimesge[d)id)te  über= 
zeugen  roir  uns  enblid),  bafe  bie[e  einfad^jten  SJietajoen  burd) 
©aftrulation  aus  93la[täaben  entjtanben  [inb,  aus  5ol)l!ugcln, 
beren  Sßanb  eine  einfa^e  3enen[d)id)t  bilbete,  bas  Sla[to» 
berm.  3u9lßtd)  lernen  toir  burd)  bie[elbe  mit  ^ilfc  bes  5Bio* 
öeneti[(^en  ®runbge[e^e5  t)erjtel)cn,  toie  biefc  oieljelligen   ©e^* 


92  9leuntcs  Rapiitl 


btibc  cinfac^jter  5Irt  uifprünglid)  aus  einselligen  Urtieren  J^erDor« 
gegangen  [Inb. 

I.  3«nfeele  (39*ö|»M^);  ^i^fte  ^auptftufe  ber  pl)9lett= 
f(^en  ^[r)(^ogene[i5.  Die  älteften  93orfal)ren  bes  äRen[(^en, 
toie  aller  übrigen  stiere,  roaren  einjellige  ^rotiften.  Diefe 
Orunbamental=§r)potl)e[e  ber  ^l)r)logenie  ergibt  fid)  naä)  bem  ®io= 
geneti[rf)en  (Srunbgefelje  aus  ber  embrpologifd^en  Xatfac^e,  bajj 
jeber  95Zen[d^,  toie  jebes  anbere  3^ier,  im  beginne  feiner  inbioi* 
buellen  (£3Eijten3  eine  einfadie  3eIIe  ijt,  bie  „Stammselle". 
2Bie  bie[e  [(i)on  t)on  Anfang  an  „befeelt"  roar,  [o  aud)  jene  ent= 
fpred^enbe  eingellige  Stammform,  tt)eld)e  in  ber  ältejten 
^^nenreil)e  bes  $ÖZen[(^en  huxd)  eine  5^ette  von  t)er[d)iebenen  ^ro= 
tiften  oertreten  toar. 

Ober  bie  Seelentätigfeit  biefer  einhelligen  Organismen  unter* 
rietet  uns  bie  nergleicfienbe  ^l)r)[iologie  ber  l)eute  nod)  lebenben  ^ro^ 
tiften;  [otDol)l  genaue  93eoba^tung  als  [innreid^es  (Experiment  I)aben 
uns  ^ier  ein  neues  ©ebiet  ooll  f)öcl)jt  intereffanter  CBrfd) einungen 
eröffnet.  Die  bejte  Darfteilung  berfelben  l)at  1889  9Jlax  93errDorn 
gegeben,  in  [einen  geban!enrei(^en,  auf  eigene  originelle  33er= 
[ud^e  gejtü^ten  „^|r)(IE)op]^r)[iologi[(i)en  ^roti[ten[tubien". 
?lu(^  bie  roenigen  älteren  iBeobad)tungen  über  „bas  Seelenleben 
ber  ^rotijten"  [inb  barin  3u[ammengejtellt.  SSertoorn  gelangte 
3U  ber  fejten  ilbergeugung,  ha^  bei  allen  ^rotijten  bie  unbecoufeten 
33orgänge  ber  (Smpfinbung  unb  SBetoegung  noä)  mit  htn  mole= 
Maren  £ebenspro3e[[en  im  Plasma  [elbft  3u[ammenfallen,  unb 
t)a^  il)re  legten  llr[ad^en  in  htn  (£i^en[i)aften  ber^lasmamole  = 
!üle  (ber  pa[tibule)  gu  [u(i)en  [inb.  „Die  p[i)d)i[(f)en  93orgänge 
im  ^rotiftenreid)  [inb  bal)er  bie  ©rüde,  toel^e  bie  (|emi[d)en 
^ro3e[[e  in  ber  unorgani[(^en  SRatur  mit  bem  Seelenleben 
ber  l)öcl)jten  stiere  üerbinbet;  [ie  reprä[entieren  ben  Reim  ber 
^öd)[ten  p[r)d)i[(^en  (£r[^einungen  bei  ben  9[Reta3oen  unb  bem 
9Jlen[d)en." 

Die  [orgfältigen  $Beobad)tungen  unb  3a^lreid)en  (Experimente 
oon  33eru)orn,  im  33erein  mit  benjenigen  von  2Bill)elm  (£ngel  = 
mann,  2Bill)elm^ret)er,  5Rid)arb  ^erttoig  unb  anberen 
neueren  ^roti[tenfor[(i)em,  liefern  bie  bünbigen  ©ett)ei[e  für  meine 
moni[ti[ct)e  „3:i)eorie  ber  3ell[eele"  (1866).  (Sejtü^t  auf  eigene 
langiät)rige  Unter[u(^ungen  von  t)er[c^iebenen  ^rotiften,  be[onbers 
üon  9^l)i3opoben  unb  3nfu[orien,  ^atte  id^  ben  Sa^  aufgeftellt, 
"oa^  jebe  lebenbige  3elle  p[i)d)i[4e  (£igen[(i)aften  be[iöt,  unb  t>a^ 
al[o  aud)  bas  Seelenleben  ber  »ielselligen  3:iere  unb  ^flansen 
nid)ts  anberes  t[t  als  bas  5te[ultat  ber  p[i)c^i[(^en  gunftionen  ber 
il)rcn  ficib  3u[ommcn[eöenbcn  Seilen,   ©ei  ben  niebcren  (Gruppen 


(BiammtsQt\6)iä)it  bcr  6eelc.  93 

(3.  f&.  ^Igcn  unb  Spongien)  ftnb  oIIc  3ßncn  bes  Rorpcrs  glei^= 
mäfeig  (ober  mit  geringen  Hnter[(^ieben)  baran  beteiligt;  in  ben 
^öl)eren  ©ruppen  bagegen,  cntfpro^enb  ben  ©efe^en  ber  ^rbeits= 
teilung,  nur  ein  auserlesener  Xeil  berfelben,  W  .,Seelen3ellen". 
Die  bebeutungsDollen 5^on[equen3en  bie[er„3enulor  =  ^^|i)dE)olo  = 
gie"  l)atte  icf)  teils  1876  in  meiner  S(i)rift  über  bie  „^erigenefis 
ber  ^labiftule"  erörtert,  teils  1877  in  tneiner  9Künc^ner  9lebe  „über 
t)it  l)eutige  (£nttüic!elungslel)re  im  S3erl)ältnis  3ur  6e[amttoi[fen= 
[d^aft".  ©ine  mel)r  populäre  Darstellung  entt)alten  meine  beiben 
2Biener  93orträge  (1878)  „über  Hrfprung  unb  Gnttoidelung  ber 
Sinnestoerfseuge"  unb  „über  S^Hfeelen  unb  eeelensellen". 

Die  einfacf)e  S^Hfeele  seigt  übrigens  \ä)on  innertialb  bes 
^rotijtenreid)es  eine  lange  ^eit)e  oon  (Enttoitfelungsftufen,  oon 
gan3  einfa^en,  primitioen  bis  3U  \ti)x  oollfommenen  unb  i)ol)en 
Seelen3uftänben.  95ei  ben  ältejten  unb  einfad)ften  ^rotijten  ijt 
bas  93ermögen  ber  Cmpfinbung  unb  ^Betoegung  glei(i)mä]3ig  ouf 
bas  gan3e  Plasma  bes  l)omogenen  5^örperd)ens  oerteilt;  bei  ben 
^öl)eren  (formen  bagegen  [onbern  [id)  als  pl)r)[iologi[d)e  Drgane 
berfelben  be[onbere  „3elltt)erl3euge"  ober  Organelle.  Derartige 
motori[(f)e  3^nteile  [inb  bie  ^[eubopobien  ber  9?l)i3opoben,  bie 
(5limmerl)aare,  (öeifeeln  unb  2Bimpern  ber  S^tfuforien.  5tls  ein 
inneres  3entralorgan  bes  3cIIeTilebens  toirb  ber  S^llUxn  betracf)tet, 
u)el^er  htn  ältesten  unb  nieberften  ^rotiften  no(^  f e^lt.  5n  pl)r)[io= 
logi[^»dE)emifd)er  93e3iel)ung  ijt  befonbers  l)erDor3uf)eben,  bafe  bie 
urfprünglid)jten  unb  ältejten  ^rotijten  ^lasmobomen  toaren, 
mitpflan3lid)em  Stoff  tDed)[el,  al[o  ^rotopl)r)ten  ober  Urpflan3en; 
aus  il)nen  entjtanben  l'ehinbär,  burd^  SCRetafitismus,  bie  erften 
^lasmopl)agen  mit  tierifd)em  Stofftt>ed)[el,  al[o  ^roto3oen 
ober  Urtiere.  Diefer  9JZeta[itismus,  bie  „Um!el)rung  bes  Stoff=. 
loedjfels",  bebeutete  einen  löoicfitigen  p[r)(f)ologi[d)cn  (^ort[cl)ritt; 
benn  bamit  begann  bie  ©ntroidelung  jener  ci)ara!terijti[d)en  95or» 
3üge  ber  3:ier[eele,  wtlä)t  ber  ^flansenfeele  no^  fel)ten. 

II.  3^nt)etein$feele  ober  3önobial  *  Seele  (Coenopsyche); 
gtoeite  §aupt[tufe  ber  pl)t)leti[^en  ^[t)d)ogenefis.  Die 
inbioibuelle  (£nttDicfelung  beginnt  beim  9Jlen[(i)en  roie  bei  allen 
anberen  oielselligen  3:ieren  mit  ber  roieberl)olten  2:eilung  einer 
einfad)en  3cnc.  Die  Stamm3elle  (Cytula)  serföllt  baburd^  in 
einen  maulbeeräl)nli(i)en  3ßni)aufen,  titn  3JZaulbeer!eim  (Morula). 
3nbem  fid)  im  Saueren  bie[es  foliben  i^örpers  (5lüf[ig!eit  an[am= 
melt,  oertoanbelt  er  [id)  in  ein  fugeliges  ®läsd)en;  alle  3ßnen 
treten  an  be[fen  £)berflä(i)e  unb  orbnen  [i(^  in  eine  einfad)e  3enen= 
|cf)id)t,  bie  5^  ei  ml)  au  t  (Blastoderma).  Die  [0  entjtanbene  $ol)l  = 
!ugel  ift  ber  bebeutungsoolle  3ujtanb  ber  i^eimblafe  (Blastula). 


9lcuntc$  Äapitcl. 


T)it  SctDcgungcn,  btc  totr  unmittelbar  bei  ber  Silbung 
ber  ^Blajtulo  beoba<f)ten  formen,  [inb  ol)ne  entfpred)enbe  CBmpfin« 
bungen  rti^t  ju  benfen.  Die  ©etoegungcn  ^erf allen  in  stoet 
©ruppen:  1.  bie  inneren  S3ea)egungen,  roelc^e  überall  in  t»e[entlic^ 
glcid)er  2Bei[e  beim  33organge  ber  get)Dö^nIid)cn  (inbire!tcn)  ßtlU 
teilung  fid)  roieber^olen  (Silbung  ber  5lernfpinbel,  9Kito[e,  Rarr)o» 
ünefe  u[u).);  2.  bie  äußeren  ^Beroegungen,  tüel(i)e  in  ber  ge[e^= 
mäßigen  ßageoeränberung  ber  gefelligen  3^^^^'^  unb  if)rer  (5rup= 
pierung  bei  ©Übung  bes  ©lajtoberms  3utage  treten.  2Bir  faffen 
biefe  ©etüegungen  als  ererbte  auf,  toeil  [ie  überall  in  prin3ipien 
gleid)er  3!Bei[e  von  ben  ^f)nen  übernommen  raorben  [inb.  Die 
(Empfinbungen  fönnen  ebenfalls  in  3toei  ©ruppen  unter[d)ieben 
toerben:  1.  bie  (Smpfinbungen  ber  einjelnen  S^Hen,  u)eld)e  [idE)  in 
ber  ©et)auptung  xi)xtt  inbioibuellen  Selbftänbig!eit  unb  it)rem 
93erl)alten  gegett  bie  ^ladibaraellen  äufeem  (mit  benen  [ie  in  Se* 
rüt)rung  unb  teilte ci[e  burc^  ^lasmabrücfen  in  birefter  33erbinbung 
jtef)en);  2.  bie  einl)eitlid)e  (Empfinbung  bes  ganjen  3enDerein5  ober 
3önobiums,  iDeld)e  in  ber  inbioibuellen  ©ejtaltung  ber  ©Ia  = 
[tula  als  $ot)l!ugeI  3utage  tritt. 

Das  fau[ale  23erjtänbnis  ber  ©lajtulabilbung  liefert  uns  bas 
Siogeneti[(i)e  (5runbge[e^,  inbem  es  bie  unmittelbar  ju  be= 
oba(^tenben  (£r[ct) einungen  ber[elben  bur^  bie  33 ererbung  erflärt 
unb  auf  ent[pred)enbe  l)ijtori[(f)e  33orgänge  gurüdfül^rt,  tDeId)c 
[i(f)  ur[prüngli<f)  bei  ber  (£nt[tet)ung  ber  älteften  ^rotijten=3önobien, 
ber  ©lajtäaben,  oollsogen  {)aben.  Die  pt)T)[iologi[(i)e  unb  p[i)rf)o» 
logif^e  (£in[id^t  in  biefe  xoid)tigen  ^ro3e[[c  ber  ältejten  S^lUn^ 
^[[o3ion  getoinnen  toir  aber  bur^  ©eoba(f)tung  unb  C£i= 
periment  an  'ozn  ^eute  nod)  Iebenben"3önobien.  8oI^e  beftänbigc 
,3^110  er  eine  ber  ©egentoart  [inb  3.  ©.  bie  befannten  „5^ugel» 
tier(f)en"  (Volvocina).  ^xt  [c^toimmenbe  £)rtsbeu)egung  toirb 
burd)  [cf)toingenbe  ©eifeeln  oermittelt,  bie  oon  ben  ein3elnen  3ßnen 
an  ber  OberfIäd)e  ber„3^1immer!ugel"  ausgel)en.  ^n  allen  biefen 
3önobien  fönnen  toir  bereits  neben  einanber  3tDei  oer[d)iebene 
(Stufen  ber  p[r)d)i[(f)en  2;ätigfeit  unter[d)ciben:  I.  bie  3^n[eelc 
ber  ein3elnen  3eninbioibuen  (als  „(£Iementar*£)rganismen")  unb 
II.  bie  3önobial[eele  bes  gansen  3ßnoereins. 

III.  ©etöebefeele  (^iftopfg^e) ;  britte  $aupt[tufe  ber 
p!)t)leti[c^en  ^[i)d^ogene[is.  Sei  allen  Diel3enigen unb  getoebe^ 
bilbenben  ^flansen  (Metaphyten)  unb  eben[o  bei  ben  nieber[ten, 
neroenIo[en  Äla[[en  ber  ©eroebetiere  (Metazoen)  ^aben  toir  3U= 
nä(i)[t  3toei  üer[^iebene  formen  ber  Scelentätigfeit  3U  unter[^eiben, 
nämlid)  A.  bie  ^[r)d)e  ber  einseinen  3 eilen,  toelc^e  bie  ©etoebc 
3u[ammen[eöen,  unb  B.  bie  ^[t)(l)e  ber  ©etocbe  [elbjt  ober  bes 


i 


Stamntc5gc[d)i(f)tc  bcr  Seele.  95 

„3cncnftaate5",  tt)eld)er  oon  bte[en  gcbilbet  toirb.  I)ie[c  (5  c* 
tDcbcfeele  ijt  überall  bie  l)öf)ere  p[i)(i)oIogi[d)e  gunftion,  toelcfie 
ben  sufammengefe^ten  t)iel3eIUgen  Organismus  als  em!)ettlt(^es 
fieberoefen  ober  „p^ijfiologifc^es  3nbtDibuum",  als  totr!lid)en 
„3enenjtaat"  erfd^einen  lä^.  Sie  bel)err[rf)t  alle  bie  einseinen 
„3en[eelen"  ber  [osialen  3ßnen,  u)elcf)e  als  abl)ängige  „Staats* 
bürger"  ben  einf)eitli^en  3^K^#öat  fonjtituieren. 

III.  A.  IDie  ^flattsenfecle  (<p^t)topft)(^e)  ijt  für  uns  ber  5n= 
begriff  ber  gefamten  p[i)rf)i[d)en  !Xätig!eit  ber  geroebebilbenben,  t)iel= 
jelligen  ^flanjen  (Metaphyten);  [ie ift  ©egenftanb  ber  t>er[^ie= 
benjten  Beurteilung  bis  auf  htn  heutigen  3^ag  geblieben.  5rül)er 
fanb  man  geroö{)nIi^  einen  §auptunterf(f)ieb  3iDi[(i)en  ^flan3en  unb 
Vieren  barin,  bafe  man  htn  le^teren  allgemein  eine  „Seele"  3U= 
[cfjrieb,  htn  erfteren  bagegen  nicf)t.  Snbeffen  fül)rte  unbefangene 
33erglei(i)ung  ber  ^leißbarfeit  unb  ber  Setoegungen  bei  Der[(i)iebenen 
f)öl)eren  ^flangen  unb  nieberen  3:ieren  [rf)on  im  anfange  bes 
19.  3ci^tl)unberts  einzelne  (5or[cf)er  3U  ber  Hberseugung,  bafe  beibe 
gleid)mä^ig  befeelt  [ein  müßten.  Später  traten  namentlid) 
(Jec^ner,  £eitgeb  u.  a.,  neuerbings  befonbers  ^xance,  Iebl)aft 
für  bie  ^nnal)me  einer  „^flan3enfeele"  ein.  3^ieferes  S3er= 
jtanbnis  ber[elben  tourbe  erjt  ermorben,  na^bcm  burc^  bie  3 eilen  = 
tt)eoric  (1838)  bie  gleirf)e  (£Iementarjtru!tur  in  ^flansen  unb 
3:ieren  na(i)getDie[en,  unb  befonbers  [eitbem  burcf)  bie  ^Iasma  = 
tI)eorie  oon  Wax  Sd)ul^c  (1859)  bas  gleirf)e  93er^alten  bes 
aftioen,  lebenbigen  Protoplasma  in  beiben  erfannt  toorben  toar. 
Die  neuere  oergleid^enbe  ^l)t)[ioIogie  seigte  fobann,  "oa^  bas 
pI)i)fioIogi[d)e  23erl)alten  gegen  Der[(f)iebene  9tei3e  (£id)t,  (£Ie!tri= 
3ität,  2Bärme,  Sd)iöere,  ^Reibung,  ^emi[(f)e  (£inflü[[e  ufro.)  in  ben 
„empfinblic^en"  ilörperteilen  oieler  ^flansen  unb  3^iere  gans 
äl)nli^  ift,  unb  bajg  aud)  bie  9tefIeiberoegungen,  bie  jene  Ü^eise 
I)erDorrufen,  gan3  äl)nlirf)en  33erlauf  l)aben.  SBenn  man  bal)er 
biefe  3^ätig!eiten  bei  nieberen,  neroenIo[en  9}^eta3oen  (Sd)tt)ämmen, 
^oIr)pen)  einer  befonberen  „Seele"  3u[d)rieb,  [o  toar  man  be» 
red)tigt,  biefe  au(^  bei  ben  90letapl)i)ten  an3unet)men,  befonbers 
bei  ben  [el)r  „empfinblirf)en"  Sinnpflansen  (Mimosa),  hzn  fliegen* 
fallen  (Dionaea,  Drosera)  unb  btn  3aI)Irei(i)en  ran!enben  Äletter* 
unb  Sc^Iingpflansen. 

III.  B.  2)ie  Seele  neroenlofer  aWetasoeit.  S3on  gana  be= 
fonberem  3"tere[[e  für  bie  Derglei(f)enbe  ^I)t)[ioIogie  im  all= 
gemeinen  unb  für  bie  ^t)i)Iogenie  ber  3:ier[eele  im  befonberen  ift 
bie  Seelentätigfeit  jener  nieberen  9Jleta3ocn,  u)eld)e  3t»ar 
Oeioebe  unb  oft  bereits  bifferensierte  Organe  befi^en,  aber  roeber 
?leroen  nod)  fpe3ifi[d)c  Sinnesorgane.    Dal)in  gcl)ören  oier  üer= 


96  9lcuntc5  5lapitcl. 


[d)tebenc  ©ruppen  von  ältesten  3ölenterien  ober  9flicbcrtiercn, 
nämlid):  1.  btc  ©afträabcn,  2.  bie  ^latobaricn,  3.  bic  Spott« 
gictt  UTtb  4.  bie  $r)bropoIt)pen,  bie  ttieberjten  t^otmen  ber 
9le[[eltiere. 

2)ie  ©afträabett  obetr  Urbmrtntteje  bilbctt  jetie  fleine  ©ruppe 
oon  ttieberjteTt  3öI^Ttterien,  toelc^e  als  bie  gemeitt[artte  Stamm= 
gruppe  aller  9Jleta3oen  tjon  l)öd)jter  2Bid)ttg!eit  tjt.  I)er  5lörper 
biefer  Üeitten,  [d)tDimmettben  3^ier(i)ett  er[cl)eint  als  ein  Heines 
(meijt  eiförtniges)  ^Bläsd^en,  u)elcl)e  eine  einfalle  §öl)le  tnit  einer 
Öffnung  entl)ält  (Urbarm  unb  Hrmunb).  X)ie  2Banb  ber  t)er= 
bauenben  §öl)le  toirb  aus  jroei  einfa^en  3ßnenfd)icl^ten  ober 
(£pitf)elien  gebilbet,  oon  benen  bie  innere  (Dartnblatt)  bie  3:ättg= 
feiten  ber  C£rnät)rung,  unb  bie  äußere  (^autblatt)  bie  gunftionen 
ber  23etDegung  unb  CBmpfinbung  tjermittelt.  l)ie  gleidiartigen 
[enfiblen  3snen  biefes  ^autblattes  tragen  garte  ©eifeeln,  lange 
3:lintmerl)aare,  beren  8d)roingungen  bie  rDill!ürli(i)e  Sd)tDimm= 
beüoegung  betoirfen.  Die  roenigen  nod)  lebenben  formen  ber  ©ajt= 
räaben  [inb  besl)alb  [o  intereffant,  toeil  [ie  geitlebens  auf  ber= 
[elben  '23ilbungsjtufe  jtel)en  bleiben,  wü<i)t  bie  5leime  aller 
übrigen  SJietasoen  (oon  ben  Spongien  bis  gum  Spflenf^en  Ijinauf) 
im  ^Beginne  tl)rer  ÄeimesenttoiiJelung  bur einlaufen.  3Bie  id)  in 
meiner  ©afträatl)eorie  (1872)  gegeigt  l)abe,  entitel)t  bei  [ämt= 
li^en  ©etoebetieren  3unäcf)it  aus  ber  Dorl)er  betracf)teten  Slaftula 
eine  I)öcl)jt  d)ara!terijti[cl^e  i^eimform,  bie  ©aftrula.  Die  i^eim* 
l)aut  (Blastoderma),  roeli^e  bie  2Banb  ber  §ol)l!ugel  barftellt, 
bilbet  an  einer  Seite  eine  grubenförmige  35ertiefung,  unb  biefe 
Boirb  balb  gu  einer  [o  tiefen  (Sinjtülpung,  bafe  ber  innere  $ol)lraum 
ber  ileimblafe  t)erf(i)tDinbet.  Die  eingestülpte  (innere)  Hälfte  ber 
Reiml)aut  legt  [id)  an  bie  äufeere  (nid)t  eiugejtülpte)  §älfte  innen 
an;  le^tere  bilbet  bas  ^autblatt  ober  äußere  5^eimblatt  (Ekto- 
derm),  erjtere  bagegen  bas  Darmblatt  ober  innere  5leimblatt 
(Entoderm).  Der  neu  entjtanbene  5oI)liöum  bes  be(f)erförmigen 
i^örpers  tjt  bie  oerbauenbe  9Jlagenl)öl)le,  ber  Urbarm,  [eine 
JÖffnung  ber  Urmunb.  Das  ^autblatt  ober  (Sftoberm  ift  bei 
allen  ^IRetagoen  bas  urfprünglid)e  „Seelenorgan";  benn  aus 
il^m  enttoideln  fid)  bei  fämtlicf)en  iReroentieren  nid)t  nur  bie  äufeere 
§autbcde  unb  bie  Sinnesorgane,  [onbern  aud)  bas  9Zeroen[i)jtem. 
Sei  htn  ©ajträaben,  ioeld)e  le^teres  nod)  nid)t  befi^en,  [inb  alle 
3ellen,  toeli^e  bie  einfad)e  (£pitl)elfd)id)t  bes  (Eftoberm  3ufammen= 
[e^en,  gleid)mäfeig  £)rgane  ber  (Empfinbung  unb  Setoegutig;  bie 
©etoebefeele  geigt  fid)  l)ier  in  einfad)jter  goi^^i- 

Die  Spongiett  ober  6(§U)anttnttere  jtellen  einen  felbitänbigen 
Stamm  bes  3:ierreid)5  bar,  ber  [id)  oon  allen  artberen  siRetagoen 


(3tQmme5gcfd)idötc  ber  Seele.  97 

burd)  [eine  eigentümliche  Organifation  unter[d)eibet;  bie  3at)Irei(f)en 
Wirten  besfelben  [i^en  meijtens  auf  bem  StReeresboben  angeiDad)fen. 
X)ie  einfädelte  gorm  ber  (Sd)tDämme,  Olynthus,  ijt  eigentUd)  nichts 
tueiter  als  eine  Gastraea,  beren  ilörperroanb  [iebförmig  t)on  feinett 
$oren  bur^bro^en  ijt,  jum  (Eintritt  bes  ernät)renben  2Baf[erftrome$. 
SBei  ben  nteiften  Spongien  (aud)  beim  befannteften,  bem  Sabe* 
f(i)tDomm)  bilbet  ber  fnollenförmigc  .Hörper  einen  Stod,  töel(f)er 
aus  3:aufenben  ober  93liIIionen  foI(^er  ©afträaben  {„©eifeel* 
fammern")  ^ufammengefe^t  unb  oon  einem  ernä^renben  5lanal* 
[QJtem  bur^3ogen  ijt.  (£mpfinbung  unb  ^eroegung  [inb  bei  htn 
S^roammtieren  nur  in  äufeerjt  geringem  ©rabe  enttoidelt;  ^lernen, 
Sinnesorgane  unb  9Plus!eln  fet)Ien.  (£s  toar  ba^er  [el)r  natürlid), 
bafe  man  bieje  fejtfi^enben,  unförmigen  unb  unempfinblid^en  3^iere 
früf)er  allgemein  als  „(5etDäd)[e"  betra^tete.  5I)r  Seelenleben 
(für  votlä)t5  feine  befonberen  Drgane  bifferenäiert  |inb)  jtel)t  tief 
unter  bem|enigenber9Jiimo[en  unb  anberer  empfinblid)er  ^flanjen. 
^ie  Seele  bet  3leffeltiere  (Cnidaria)  ijt  für  bie  oergleidienbe 
unb  |)I)r)Iogeneti[(^e  ^[pi^ologie  oon  l)erDorragenber  ^Bebeutung. 
Denn  in  biejem  formenreid)en  Stamm  ber  3ölenterien  Don3iel)t 
"fid)  oor  unjeren  klugen  bie  t)ijtori[^e  (£ntjtef)ung  ber  9fleroen[eeIc 
aus  ber  (Semebefeele.  (£5  get)ören  3U  biejem  Stamnte  bie  mel= 
gejtaltigen  5llaj[en  ber  fejtji^enben  ^oIr)pen  unb  S^orallen,  ber 
fd)tDimmenben  lölebujen  unb  Sipl)onop^oren.  ^Is  gemeinjame 
l)i)potf)etijd)e  Stammform  aller  5Rej[eItiere  läfet  jid)  mit  ooller 
Sid)ert)eit  ein  einfad)jter  ^oIi)p  er!ennen,  toeId)er  bem  gemeinen, 
*!)eute  nod^  lebenben  Süöu)afjerpolr)pen  (Hydra)  im  roejentlic^en 
gleid)  gebaut  toar.  ^\xn  heYii^tn  aber  bieje  ^r)bra  unb  ebenjo  bie 
fejtji^enben,  nal}t  oertoanbten  ^pbropolripen  no^  feine  ge= 
[onberten  9ieroen  unb  l)öf)eren  Sinnesorgane,  obgleid)  jie  jef)r 
empfinblid)  jinb.  Dagegen  bie  frei  jd)tDimmenben  90Rebu[en, 
tDeId)e  ji^  aus  Unteren  entroideln  (unb  nod)  I)eute  mit  il^nen  burd) 
(5enerationstDed)jeI  oerfnüpft  jinb),  beji^en  bereits  ein  jelbjtänbiges 
^leroenjpjtem  unb  gejonberte  Sinnesorgane.  2Bir  fönnen  aljo  f)ier 
ben  I)ijtorijd)en  Urjprung  ber  ^leroenjeele  aus  ber  ©etoebejeele 
^unmittelbar  ontogenetijd)  beobad)ten  unb  pt)i)Iogeneti jd)  Derjtef)en 
[llerjjen.  Sef)r  interejjant  ijt  für  bie  ^ji)d)oIogie  aud)  bie  5^Iajje  ber 
.-cSta-atsquallen  (Siphonophorae)'.  9In  biejen  präd)tigen,  frei= 
(j;j(^tDimwenben  Xierjtöden,  tDeId)e  oon  §r)bromebujen  abjtammen, 
^!fönnen  rsk  eine  Doppeljeele  beobad)ten:  bie  (Sinseljeele  (^er  = 
Hfonaljeele)  )ber  3al)Ireid)en  ^erjonen,  bie  il)n  3ujammenje^en, 
mnb  bie  gemeinjante,  ein^eitlid)  tätige  ^jpc^e-be^  gansen  Stodes 
((5lormaIjeeIe). 

IV.  IDie   9lert)enfe0ie  (9leui;o|)ft)(^e) ;   oierte  $auptjtufe 

3ae(iil,  gBelträtfel.  7 


98  «neuntes  5^QptteI. 


ber  pl)r)Ieti[d)en  ^[i)d)ogene[t5.  Das  Seelenleben  aller 
l)öl)eren  Xtere  lüirb,  ebenfo  rote  beim  9[Renfd)en,  burd^  einen  mt\)x 
ober  ntinber  fomplisierten  „Seelenapparat"  üermittelt,  unb 
biefer  beftel)t  immer  aus  brei  §auptbejtanbteilen:  bie  Sinnes* 
Organe  beroirfen  bie  t>erfd)iebenen  (Smpfinbungen,  bie  9Kus!eln 
bagegen  bie  ©eroegungen;  bie  91ert)en  jtellen  bie  S3erbinbung 
3toifct)en  erfteren  unb  le^teren  burd^  ein  be[onberes  3^"tralorgan 
l)er:  (5el)irn  ober  Ganglion  (S^Zeroenfnoten).  Die  (£inrid)tung 
unb  3:ätig!eit  bie[es  Seelenapparates  pflegt  man  mit  einem 
ele!tri[(^en  Xelegrapl)en[r)jtem  3U  t)erglei(i)en;  bie  ^leroen  ^inb 
bie  £eitungsbräl)te,  bas  (5el)irn  bie  3ßntral|tation,  bie  SJJusfeln 
unb  Sen[illen  bie  untergeorbneten  fiofaljtationen.  Die  motorifd)en 
9^err)enf afern  leiten  bie  9[Billensbefel)le  ober  5mpul[e  zentrifugal 
üon  bie[em  9^eroen3entrum  %u  ttn  SJlusfeln  unb  beroir!en  buri^ 
beren  5^ontra!tion  SBetoegungen;  bie  [enfiblen  9^ert)enfa[ern  ha^ 
gegen  leiten  bie  r)erfd)iebenen  (Smpfinbungen  zentripetal  oon  'ötn 
peripl)eren  Sinnesorganen  zum  (5el)irn  unb  jtatten  SBerid)t  ab  von 
htn  empfangenen  (£inbrüden  ber  ^lufeentöelt.  Die  ©anglienzellen 
ober  „Seelenzellen",  toelc^e  bas  nerrtöfe  3^^tralorgan  zufammen* 
fe^en,  finb  bie  oollfommenjten  oon  allen  organifcl)en  Glementar= 
teilen;  benn  fie  vermitteln  nirfit  nur  ben  25er!el)r  ztoi[ct)en  ben 
9Jlus!eln  unb  Sinnesorganen,  [onbern  aud)  bie  t)öd)ften  oon  allen 
fieiftungen  ber  Xierfeele,  bie  ©Übung  oon  33orjtellungen  unb  (5e= 
bauten,  an  ber  Spi^e  von  allem  bas  Seroufetfein. 

Die  großen  ^^ortfd^ritte  ber  Anatomie  unb  ^l)t)fiologie,  ber 
^iftologie  unb  Dntogenie  l)aben  in  ber  Sf^euzeit  unfere  tiefere 
i^enntnis  bes  Seelenapparates  mit  einer  Ofülle  ber  intereffantejten 
(Sntbedfungen  bereicE)ert.  SBenn  bie  [pefulatioe  ^l)ilo[opf)ie  aud) 
nur  bie  toid)tigften  von  bie[en  bebeutungsoollen  (Srroerbungen  ber 
empirifd)en  Biologie  in  [idj  aufgenommen  l)ätte,  müfete  [ie  l)eute 
[d)on  eine  ganz  anbere  ^l)r)[iognomie  zeigen,  als  es  leiber  ber  'i^all  ijt. 

3eber  ber  l)öl)eren  2;ierjtämme  befi^t  fein  eigentümlidjes 
Seelenorgan;  in  jebem  ift  bas  3entralnert)enfi)jtem  burd)  feine 
befonbere  ©ejtalt,  £age  unb  3wfammenfe^ung  ausgezeid^net. 
Unter  htn  ftral)lig  gebauten  9leffeltieren  (Cnidaria)  zeigen  bie 
SJlebufen  einen  ^Rercenring  am  Sd)irmranbe,  meijtens  mit  »ier 
ober  ad)t  ©anglien  ausgejtattet.  ©ei  htn  fünfjtra^gen  Stern  = 
tieren  (Echinoderma)  ift  ber  SJiunb  üon  einem  SIeroenring  um= 
geben,  üon  tt>eld)em  fünf  ^fleroenftämme  ausftral)len.  Die  ^voti= 
feitig=fr)mmetrifd)en  ^lattentiere  (Piatodes)  unb  SBurmtiere 
(Vermalia)  befi^en  ein  Sd)eitelt)irn  ober  ?l!roganglion,  zufammen* 
gefegt  aus  ein  paar  borfalen,  oberI)alb  bes  9Jlunbes  gelegenen 
©anglien;  üon  biefen  „oberen  Sd)lunb!noten"  gel)en  ztoei  feitlid)e 


Stammesge[(i)i(^te  ber  Seele.  99 


Sflcrüenltämme  an  btc  $aut  unb  bie  9J?U5!eIn.  Sei  einem  Xetle 
ber  23ermalien  unb  bei  bcn  SBeid^tieren  (Mollusca)  treten  baju 
nod)  ein  paar  centrale  „untere  6(^Iunb!noten",  tDeId)e  [id)  mit  ben 
erjteren  burd)  einen  ben  S(i)Iunb  umfaffenben  5?ing  »erbinben, 
Diefer  „Sd)Iunbring"  fel)rt  aud)  bei  ben  ©Itebertieren  (Articu- 
lata)  TOieber,  [e^t  [id)  aber  l)ier  auf  ber  5Baud)feite  bes  langgeftredten 
Rörpers  in  ein  „lBaud)mar!"  fort,  einen  ftridleiterförmigen  X)oppel= 
ftrang,  roeId)er  in  jebem  ©liebe  gu  einem  X)oppeIganglion  an^ 
fd)ii»int.  ©anj  entgegengefe^te  Silbung  bes  Seelenorgans  geigen 
bie  SBirbeltiere  (Vertebrata);  I)ier  finbet  fid)  allgemein  auf  ber 
9?üdenf eite  bes  innerlid)  geglieberten  i^örpers  ein  ^lüdenmar! 
entujidelt;  aus  einer  ^n[d)roenung  [eines  oorberen  steiles  ent|tel)t 
[päter  bas  d)ara!teri|ti[d^e  bla[enförmige  ©el)irn. 

Obgleid)  nun  [o  bie  Seelenorgane  ber  l)öt)eren  3:ierftämme  in 
Sage,  gorm  unb  3ii[öiii^^ii[^^ung  [el)r  d)ara!terijti[c^e  93er= 
[d)iebent)eiten  seigen,  ijt  boc^  bie  t)ergleid)enbe  5lnatomie  imftanbe 
getoefen,  für  bie  meijten  einen  gemeinsamen  Urfprung  nad)3U= 
roeifen,  aus  bem  Sd)eiteII)irn  ber  ^latoben  unb  S^ermalien; 
unb  allen  gemeinfam  ijt  bie  (£ntSte!)ung  aus  ber  äufeerjten  3^nen= 
fd)id)t  bes  5leimes,  aus  bem  „§aut[innesblatt"  (Ektoderm). 
Gbenfo  finben  toir  in  allen  Srormen  ber  neroöfen  3^^traIorgane 
bie[elbe  roe[entIid)e  Stru!tur  lieber,  bie  3u[ammen[e^ung  aus 
©anglienjellen  ober  „Seel  eng  eilen"  (titn  eigentlid^en  aftioen 
(Slementarorganen  ber  ^[r)d)e)  unb  aus  ^Reroenfafern,  tüeld)e 
;ben  3u[ammenl)ang  unb  bie  Leitung  ber  ^Iftion  oermitteln. 

Seelenorgait  bet  2BtrbeIttere.    Die  erjte  3:at[ad^e,  tDeId)e  uns 

l\n  ber  t)ergleid)enben  ^[r)d)oIogie  ber  SBirbeltiere   entgegentritt, 

■  uni)  tDeId)e  ber  empiri[d)e  5lusgangspun!t  jeber  roi[[enfd)aftIid)en 

„Seelenle'^re  bes  5[Ren[d)en  [ein  [ollte,  ijt  ber  d)ara!teri[ti[d)e  58au 

i!)res  3cTttraInerDen[r)jtems.    2Bie  bie[es  centrale  Seelenorgan  in 

jebem  ber  l)5l)eren  Xierftämme  eine  be[onbere,  bie[em  eigentümli^e 

:£age,  ©ejtalt  unb  3u[ammen[e^ung  geigt,  [o  ijt  es  aud)  bei  1>m 

:2BirbeItieren  ber  gall.    Überall  finben  toir  l)ier  ein  9^üdenmar! 

t)or,  einen  jtarfen  jQlinbrij^en  S^eroenjtrang,  tDeId)er  in  ber  9JtitteI= 

Knie  bes  5?üdens  werläuft,  ober!)aIb  ber  2BirbeI[äuIe  (ober  ber  [ie 

oertretenben  (£^orba).     Überall  gel)en  von  bie[em  9^üdenmar! 

3al)lreid)e  91erDenjtämme  in  regelmäßiger,  [egmentaler  23erteilung 

ab,  je  ein  ^aar  an  jebem  Segment  ober  SBirbelgliebe.     Überall 

entjtel)t  biejes  „SJiebullarro^r"  im  (£mbrr)o  auf  gleid)e  2Bei[e:  in 

:ber  93^itteUinie  ber  9?üdenl)aut  bilbet  [id)  eine  feine  2rurd)e  ober 

9?inne;  bie  beiben  parallelen  9tänber  bie[er  SJiarfrinne  ober  9}ie  = 

bullarrinne  erl)eben  [id),  frümmen  [id)  gegen  einanber  unb  ocr» 

0)a(^[en  in  ber  SRittellinie  3U  einem  9^ol)re. 

7* 


100       Dflevmies  5^apitel.    Stamtnesge[d)icf)tc  ber  Seele. 

1)05  lange  borfale,  [o  entjtanbene,  srilinbrifc^e  9lcrDenrol)r  ober 
9JlebuIlarrot)r  tjt  burd)au5  für  bte  2ßtrb eitlere  d)ara!tertjti[d), 
in  ber  früt)eren  (£mbrr)onaIanIage  überall  basfelbe  unb  bte  ge= 
Tnetn[ame  (Srunblage  aller  ber  Der[(i)tebenen  ^rormen  bes  Seelen^ 
Organs,  bte  [id)  [päter  baraus  entroicfeln.  9lur  eine  einsige  ©ruppe 
Don  roirbellofen  Xieren  geigt  eine  äl)nlt(i)e  Silbung;  bas  finb  bie 
[eltfamen  meerbeu)ot)nenben  SJianteltiere  (Tunicata).  Sie 
gtei(i)en  ^tn  SBirbeltieren  aud)  im  ©efi^e  oon  anberen  d)ara!te= 
riftifd)en  Organen  {(£t)orba,  Äiemenbarm  ufto.).  2Bir  net)men 
ba!)er  an,  ba^  bie  ungeglieberten  9JianteItiere  unb  bie  innerlid) 
geglieberten  9ßirbeltiere  ous  einer  gemeinsamen  älteren  Stamm» 
gruppe  oon  2Burmtieren  ^eroorgegangen   [inb    (Prochordonia). 

?ß^t)lettf(^e  Silbuttgsftufeit  J>e$  aRebulIarro^rs.  I)ie  lange 
Stamme5ge[ct)id)te  unferer  „2ßirbeltier[eele"  beginnt  mit  ber 
93ilbung  bes  einfach jten  SJlebuIIarrotirs  bei  ben  ältejten  S(f)äbenofen; 
[ie  fül)rt  uns  bur^  einen  3eitraum  oon  oielen  SRillionen  3öl)ren 
langfam  unb  anmäf)Ii(^  bis  3U  jenem  lompligicrten  Sßunberbau  bes 
men[d)Iid)en  ©ef)irns  I)inauf,  wdä)tx  biefe  I)öd)jt  enttoidfelte 
^rimatenform  ju  einer  5Iusnal)mejteIIung  in  ber  Statur  su  bc« 
red^tigen  fd)eint.  Da  eine  !Iare  SSorjtellung  oon  biefem  langfamen 
imb  jtetigen  ©ange  unferer  pl)r)Ieti[rf)en  ^[i)d^ogenie  bie  erjte  33or= 
bebingung  einer  toirüid)  naturgemäßen  ^[t)dE)oIogie  ift, 
er[dE)eint  es  3toec!mäfeig,  jenen  getoaltigen  3eitraum  in  eine  5ln3ai)I 
oon  Stufen  ober  §auptabfd)nitten  einjuteilen;  in  jebem  berfelben 
l)at  fid^  glci^mäfeig  mit  ber  Struftur  bes  S^eroenjentrums  oud)  [eine 
3run!tion,  bie  „^fi)(i)e",  oeroolüommnet.  5(^  unterf^eibe  ad)t 
|oId)e  ^erioben  in  ber  ^I)r)Iogenie  bes  9P^ebunarro!)rs 
unb  in  ber  jtufenojeifen  SSerooIüommnung  [eines  oorberjten  Xeiles, 
bes  ©e^irns;  fic  [inb  d)ara!teri[iert  burd)  ad)t  ocr[d)iebene  $aupt= 
gruppen  ber  2BirbeItiere;  nämlid)  I.  bie  Sd)äbeno[en  (Acrania), 
II.  bie  9?unbmäuler  (Cyclostoma),  III.  bie  ^x\d}t  (Pisces),  IV.  bie 
fiurd)e  (Amphibia),  V.  bie  implacentalen  Säugetiere  (Mono- 
tremaunb  Marsupialia),  VI.  bie  älteren  plasentalen  Säugetiere, 
be[onbers  bie  Halbaffen  (Prosimiae),  VII.  bie  jüngeren  $erren= 
tiere,  bie  ed)ten  ^ffen  (Simiae),  VIII.  bie  9Jien[d)enaffen  unb  ber 
9Jlen[d)  (Anthropomorpha). 

Seelenöcf(^t(^te  ber  Säugetiere.  Der  Eoid)tig[te  goIge[(^Iu|3, 
ujeld)er  fid)  aus  bem  monopl)r)leti[d)en  Ur[prung  ber  Säugetiere 
ergibt,  i[t  bie  nottoenbige  5lbleitung  ber  9Jlen[d)en[eere  aus  einer 
langen  (£nt03idelungsreit)e  oon  anberen  9KammaIien[eeIen. 
(Sine  geojaltige  anatomi[d)e  unb  pl)t)[ioIogi[d)e  5^raft  trennt  ben 
©et)irnbau  unb  bas  baoon  abl)ängigc  Seelenleben  ber  l)öd)jten  unb 
ber  nieberjten  Säugetiere,  unb  bennod)  toirb  biefe  tiefe  5^Iuft  burd) 


3et)nte5  Rapitel.    SciDu^tfem.  101 

eine  lange  9^eit)C  üon  Dermittcinben  3toi[<^enjiufen  üolljtänbtg  aus^ 
gefüllt.  Die  allgemcmjten  (SrgebniHe  ber  tüid^tigen,  neuerbings 
l)ier  tief  eingebrutigenen  gor[d)ungen  [inb  folgenbe: 

I.  Das  ©e^irn  ber  Säugetiere  entroidelt  [id)  ^wax  in  gleicf)er 
äBeije,  u)ie  bas  ber  anberen  2Birbeltiere,  aus  brei  I)intereinanber 
gelegenen  Olafen,  bie  burd)  3tDeifacf)e  (£in[(^nürung  ber  anfangs 
einfa(i)en  §irnbla[e  entjtel)en;  es  unter[(f)eibet  [id)  oon  bemjenigen 
ber  übrigen  23ertebraten  burd)  geroilfe  (Eigentum lid) feiten,  roeld)e 
allen  ©liebern  ber  i^laffe  gemeinfani  [inb,  üor  allem  bie  über= 
u)iegenbc  ^usbilbung  ber  ersten  unb  brüten  ©la[e,  bes  (5rofel)irn5 
unb  5^leint)irns,  tDät)renb  bie  stoeite  $Bla[e,  bas  5[Uittell)trn,  ganj 
surüdtritt.  II.  ^^ro^bent  [d)liefet  fid)  bie  ^imbilbung  ber  nieberjten 
unb  älteften  SJlammalien  nod)  eng  an  biejenige  il)rer  paläosoifd^en 
33orfal)ren  an,  ber  5lmpl)ibien  in  ber  (5tein!ol)len=^eriobe.  III. 
(£rft  tüäl)renb  ber  3:ertiär5eit  erfolgt  bie  ti)pi[d)e  oolte  5tusbilbung 
bes  ©rofe^irns,  uielc^c  bie  jüngeren  Säugetiere  [o  auffallenb  vov 
ben  älteren  au53eid)net.  IV.  Die  bcfonbere  (quantitatiüe  unb 
qualitatioe)  ^usbilbung  bes  (örofe^irns,  iueld)e  t>tn  äRenfi^en  [o 
^od)  erl)ebt,  unb  toelc^e  il)n  ju  [einen  Dor3üglid)en  p[i)c^i[c^en 
ßeijtungen  befät)igt,  finbet  [id)  aufeerbem  nur  bei  einem  3:eile  ber 
^(^jtenttoidelten  Säugetiere  ber  jüngeren  3:ertiäi3eit,  cor  allen 
bei  ti^n  9Jlen[d) enaffen.  V.  Die  Unter[d)iebe,  roeld)e  im  (Sel^irnbaii 
unb  Seelenleben  bes  9J?en[c^en  unb  ber  SO'?en[(^enaffen  ejeijtieren, 
[inb  geringer  als  bie  ent[precl^enben  Unter[d)iebe  3t]Di[c^en  bie[en 
ie^teren  unb  ben  nieberen  Primaten  (ben  ältejten  Riffen  unb  t)zn 
Halbaffen).  VI.  Demnad)  mufe  bie  I)i[tori[d)e  [tufenroeife  (£nt= 
iDidelung  ber  9Jlen[d)en[eele  aus  einer  langen  5^ette  oon  i)öl)ercn 
unb  nieberen  Säugetier[eelen  als  eine  funbamentale,  burc^  bie 
oergteic^ enbe  Anatomie  unb  Ontogenie  U3i[[en[c^afilic^  beroiefene 
itat[ac^c  gelten. 


93en>tt§tfeitt* 

toniftifc^c  ötubiett  über  bctou^teö  unb  unbett)ugte^  6eclen-- 
(cbcn.  (f  nttpidelung^gefc^ic^te  unb  ^{)eorie  be^  93en>ugtfein^. 

Unter  allen  ^ufeerungen  bes  Seelenlebens  gibt  es  feine,  bie  [o 
mnberbar  crf^eint  unb  [o  üer[d)ieben  beurteilt  töirb  mit  bas 
ictDufetfein.    9li(^t  allein  über  bos  eigentliche  9Be[en  biefer 


102  3e^nte5  5lapitel. 

Seelcntätig!cit  unb  über  tl)r  2Serl)äItm6  ^um  i^örper,  [onbern  auc^ 
über  x\)x^  23erbrettung  in  ber  organifc^en  2ßelt,  über  i:^re  (£ntjtef)ung 
unb  (£nttx)i(!elung  fte!)en  [t(^  no(i)  ^eute,  toie  [eit  5al)rtau[enben, 
bte  t»tberfpre(i)enbjten  ^nfi^ten  gegenüber.  SOle^r  als  jebe  anbere 
p[i)(i)t[(i)e  (5ii"^tion  t)at  bas  Seroufet[etn  ju  ber  trrtüinli(f)en  33or= 
ftellung  eines  „immateriellen  Seelenrocfens"  unb  im  5tn[cf)Iufe 
baran  3U  bem  Aberglauben  ber  „perfönlic^en  Unjterbli(i)feit"  23er= 
anla[[ung  gegeben;  oiele  ber  [d)toerjten  Irrtümer,  bie  unfer  mo= 
bernes  5^ulturleben  no^  I)eute  bel)err[d)en,  [inb  barauf  3urücf= 
3ufü!)ren.  ^6)  \)abt  ba^er  [d)on  frü{)er  bas  Setüujgtfein  als  bas 
„p[r)d)oIogi[(^e  3^tttralmi)[terium"  be3ei(^net;  es  ijt  bie  fejte 
3itabene  aller  mi)jti[(f)en  unb  bualijti[d^en  ^^^i^tümer,  an  bereu 
geroaltigen  ^ßällen  alle  Eingriffe  ber  beftgerüjteten  33ernunft  ju 
[Reitern  broI)en.  S(f)on  bie[e  3:at[ad^e  allein  reditfertigt  es,  bafe 
lüir  t)ier  bem  Setöufetfein  eine  be[onbere  !riti[(^e  Setra(i)tung  oon 
unferem  monijti[d)en  Stanbpunfte  aus  toibmen.  2Bir  töerben 
[el)en,  bajg  bas  SetDufet[ein  nic^t  mel)r  unb  nid)t  minber  toie  jebe 
anbere  Seelentätig!eit  eine  Statur erfc^ einung  ijt,  unb  ba^  es 
gleid)  allen  anberen  Statur er[c^ einungen  bem  Subftan^gefe^ 
untertüorfen  ijt. 

tBegriff  bes  tBetoufetfetttS.  Sd^on  über  hin  elementaren 
©egriff  biefer  Seelentätigfeit,  über  [einen  5Ttl)aIt  unb  Umfang, 
get)en  bie  Anfid)ten  ber  ange[et)cnften  ^l)iIo[opt)en  unb  9latur= 
for[(f)er  toeit  auseinanber.  3Sieneicf)t  am  bejten  be3eid)net  man  htn 
3ni)alt  besSerouM^wö  als  innere 5ln[d^auung  unb  üergleid)t 
bie[e  einer  Spiegelung.  Als  3tDei  $auptbe3ir!e  besfelben 
unter[c^eibet  man  t)äufig  bas  objeftiüe  unb  [ubjeüiüe  $Betöufet[ein, 
bas  2BeItbeu)ufet[ein  unb  SelbftbetDufetfein.  ^ei  toeitem  ber  größte 
Xeil  aller  betöufeten  Seelentütigfeit  betrifft,  toie  [^on  8d)open  = 
I)auer  I)ert)ort)ob,  bas  ^etoufetfein  ber  ÄujgentDelt,  ber  „anberen 
I)inge";  biefes  SBeltbemufetfein  umfaßt  alle  möglicfien  (£r= 
[cf)einungen  ber  Aufeenroelt,  tDeId)e  überi)aupt  unferer  (£r!enntnis 
3ugänglid)  finb.  33iel  be[(f)rän!ter  ijt  unfer  Selb [tbetoufetf ein, 
bie  innere  Spiegelung  un[erer  eigenen  gefamten  Seelentätigfeit, 
aller  33orjteIIungen,  ©mpfinbungen  unb  Strebungen  ober  2BiIIens-- 
tätigfeiten. 

tBetDufetfettt  unb  Seelenleben.  93iele  unb  ange[el)ene  t)en!er, 
namentlid)  unter  htn  ^I)r)[ioIogen  (3.  SB.  2Bunbt  unb  3tel)en), 
f)alten  bie  Segriffe  bes  Sßetüufetfeins  unb  ber  p[i)d)i[c^en  ö^un!= 
tionen  für  ibentifd):  „alle  Seelentätigfeit  ift  betoufete"; 
bas  ©ebiet  ber  ^[r)(f)oIogie  rei^t  nur  fo  roeit  als  basjenige  bes 
5Betöufet[ein5.  9larf)  unferer  Anfi(f)t  erweitert  biefe  t)efinition 
bie  JBebeutung  bes  legieren  in  ungebüt)rli(^er  2ßei[e  unb  gibt  Sßer* 


<Betüufet[ein.  103 


anlaffung  3U  3al)Irci(^en  ^i^rtümern  unb  9DltfeDcrjtänbnif[en.  2Btr 
teilen  t)telmel)r  bie  5ln[td)t  anberer  ^f)ilo[opt)en  (3.  S.  9t  0  man  es 
unb  3rriÖ  S(f)ul^e),  ba^  aud)  bie  unbecou^ten  SSorftellungen, 
(Smpfinbungen  unb  Strebungen  gum  Seelenleben  get)ören;  in 
ber  Xat  tjt  [ogar  tia5  ©ebiet  biefer  unberoufeten  p[i)d)i[(f)en  ^ftionen 
(ber  9tefleitätigfeit  u\w.)  üiel  ausgebe!)nter  als  basjenige  ber  be= 
toufeten.  ^etbe  ©ebiete  fte^en  übrigens  im  engjten  3u[amment)ang 
unb  [inb  burd^  feine  [c^arfe  ©rense  getrennt;  iebergeit  fann  uns 
eine  unbetoufete  SSorftellung  plö^Iirf)  betoufet  töerben;  roirb  un[ere 
^ufmer![am!eit  barauf  burcf)  ein  anberes  Dbjeft  gefe[[elt,  [0  fann 
[ie  ebenfo  xa]^  toieber  unferem  ©etoufetfein  oöllig  entfi^roinben. 

IBetöufetj'eitt  bes  9Kenf(^en.  Die  einsige  Quelle  un[erer  C£r= 
fenntnis  bes  Seujufetfeins  ijt  biefes  [elbjt,  unb  f){erin  liegt  in  erjter 
£inie  bie  aufeerorbentIi(i)e  S(i)tDierigfeit  [einer  ti)i[[en[(f)aftlid)en 
Unterfui^ung  unb  Deutung.  Subjeft  unb  Objeft  fallen  f)ier  in 
eins  sufammen;  bas  erfennenbe  Subjeft  [piegelt  [id)  in  feinem 
eigenen  inneren  2Be[en,  rDeIcf)e5  Objeft  ber  (Srfenntnis  [ein  [oll. 
^uf  bas  Seii»ufet[ein  anberer  2ße[en  fönnen  toir  aI[o  niemals  mit 
Doller  objeftioer  Sid)erf)eit  [d)liefeen,  [onbern  immer  nur  burd)  S3er= 
gleid)ung  [einer  ^ufeerungen  mit  un[eren  eigenen.  Soroeit  biefe 
S3ergleid)ung  [id)  nur  auf  normale  9Ken[d)en  erjtredt,  fönnen 
coir  allerbings  auf  beren  Sea)u]3t[ein  geröi[[e  Sd)Iü[[e  3ie^en,  beren 
9?ic^tigfeit  niemanb  bestöeifelt.  ^ber  [c^on  bei  -  abnormen 
^er[önlid)feiten  (bei  genialen  unb  ex3entri[d)en,  [tumpffinnigen 
unb  geijtesfranfen  931en[d)en)  [inb  bie[e  ^nalogie[d)Iü[[e  entroeber 
un[id)er  ober  fal[(^.  ^n  nod)  f)ö^erem  ©rabe  gilt  bas,  toenn  toir 
bas  ^eix)ufet[ein  bes  9Jlen[d)en  mit  bemjenigen  ber  Xiere  in  33er= 
gleid)  [teilen.  Da  ergeben  [i(^  alsbalb  [0  grofee  tat[äd)lic^e  Sd)toierig= 
feiten,  bafe  bie  ^n[id)ten  ber  f)erüorragenbjten  ^l)r)[iologen  unb 
^^f)ilo[opl)en  f)immela)eit  auseinanber  gel)en.  2Bir  toollen  l)ier 
nur  bie  rDid)tig[ten  1Kn[d)auungen  barüber  fürs  einanber  gegen= 
über[tellen. 

I.  2lnt^ro|jifttf(^e  X^eorte  bes  IBetoufetfetits:  es  i[t  bem 
9Jlen[d)en  eigentümlid).  Die  loeitoerbreitete  ^n[c^auung, 
ha^  Setoufet[ein  unb  Denfen  aus[(^liep^es  (Eigentum  bes 
9Jien[d)en  [eien,  unb  bafe  aud)  il)m  allein  eine  „un[terblid)e  Seele" 
jufomme,  ijt  auf  Descartes  3urüd3ufü^ren  (164*3).  Die[er 
gei[trei(^e  fran3ö[i[d)e  ^^ilo[opl)  unb  9J?atl)ematifer  errid)tete 
eine  oollfommene  Sc^eibetoanb  3toi[d)en  ber  Seelentätigfeit  bes 
9Jlen[^en  unb  ber  3:iere.  Die  Seele  bes  9Jlen[d)en,  als  benfenbes, 
immaterielles  2Be[en,  ijt  nad)  il)m  oom  ilörper,  als  ausgebel)ntem, 
materiellem  2Be[en,  oolljtänbig  getrennt,  ^^ro^bem-foll  [ie  an  einem 
fünfte  bes  ©ei)irn5  {an  ber  3ii^^elbrü[e !)  mit  bem  5^örper  oer= 


104  3ef)nte5  Rapiitl 


bunben  [ein,  um  l^ter  (SintDirfungcn  ber  ^ufeentoelt  auf3unel)men 
unb  if)rer[cits  auf  ben  Rbxptx  ausjuüben.  Die  Xitxt  bagegcn, 
als  md)t  benfenbe  2Be[en,  [ollen  feine  Seele  befi^en  unb  reine 
9(utomaten  [ein,  funjtDoU  gebaute  9Jla[(f)inen,  beren  (£mpfinben, 
23or)tenen  unb  9BoIIen  rein  medf)ani[d)  3u[tanbe  fommt  unb  nad) 
pl)r)[ifali[d^en  (5e[e^en  oerläuft.  ^ür  bie  ^[T)d)oIogie  bes  9Jien[d^en 
uertrat  bemnad)  D  esc  arte  s  t>^n  Dualismus,  für  biejenige  ber 
liiere  ben  SJlonismus.  Die[er  offenhmbige  2Biber[pruc^  bei 
einem  [o  flaren  unb  [c^arf[innigen  Denfer  mufe  t)öd)[t  auffallenb 
cr[^einen;  jur  CBrflärung  besfelben  barf  man  root)!  mit  9tect)t  an= 
net)men,  bafe  er  [eine  roat)re  Hberjeugung  t)er[(f)roieg  unb  beren 
(£r!enntnis  ben  [elbjtänbigen  Denfem  überliefe.  ^Is  3ögling  ber 
3e[uiten  ujar  Descartes  [ct)on  frü()3eitig  baju  ersogcn,  ujiber 
be[[ere  (£in[id)t  bie  2ßal)rt)eit  3U  »erleugnen;  Dienei(i)t  fürd)tete 
er  auc^  bie  9J?acf)t  ber  i^irc^e  unb  il)re  i5ct)eiterf)aufen.  £)t)nel)in 
f)atte  if)m  [eine  [!epti[d)e  grorberung,  ta^  jebes  reine  (Srfenntnis^ 
[trcben  tom  Swd^tl  am  überlieferten  Dogma  ausgef)en  mü[[e, 
fanati[d)e  ^Inflagen  roegen  Sfepti3i5mus  unb  ^t()ei5mus  3uge3ogen. 
Die  mä^tige  SBirfung,  töeld)e  Descartes  auf  bie  na^folgenbe 
^I)iIo[opi)ie  ausübte,  toar  [et)r  merftoürbig  unb  [einer  „boppelten 
^uc^fü^rung"  ent[prec^enb.  Die  9JlateriaIi[ten  bes  17.  unb 
18.  3al)r^unberts  beriefen  [id)  für  i^re  monijti[(^e  ^[i)d)oIogie  auf 
bie  !arte[iani[d)e  3^eorie  oon  ber  3:ier[eele  unb  if)rer  mecf)am[d)en 
9Jia[(^inentätig!eit.  Die  Spirituali[ten  umge!el)rt  bet)aupteten, 
bafe  it)r  Dogma  oon  ber  Unjterblicf)!eit  ber  Seele  unb  i^rer  Un= 
abl)ängigfeit  oom  5^örper  bur(i)  bie  !arte[iani[ct)e  3:i)eorie  ber 
9JZen[d)en[eeIe  unujiberleglid)  begrünbet  [ei.  Die[e  ^n[ii)t  i[t  aud) 
{)eute  nocf)  im  ßager  ber  3:i)eoIogen  unb  ber  buali[ti[(i)en  9Jieta* 
pl)t)[i!er  bie  f)err[ct)enbe.  Die  naturu)i[[en[d)aftli(^e  ^n[ct)auung 
bes  19.  3af)rl)unberts  t)at  [ie  mit  §ülfe  ber  empiri[c^en  3rort[cf)ritte 
im  ©ebiete  ber  pI)i)[ioIogi[c^en,  patI)oIogi[(^en  unb  oerglei^enben 
^^[i)rf)oIogie  oöllig  überiounben. 

II.  9leutoIo9tf(^e  I^eotie  bes  ©etou&tfetns:  es  lommt 
nur  bem  95Ien[(f)en  unb  jenen  I)öf)eren  Xieren  3U,  u)el(f)e 
ein  3entrali[iertes  9leröen[i)jtem  unb  Sinnesorgane  be[i^en.  Die 
Hberseugung,  bafe  ein  großer  Xeil  ber  Xiere  —  3um  minbe[ten 
bie  I)öl)eren 'Säugetiere  —  eben[o  eine  iftnUxibt  Seele  unb  aI[o 
aucf)  Seu)ufet[ein  be[i^t,  roie  ber  a)len[d),  be{)err[d)t  bie  5^rei[e  ber 
mobernen  3ooIogie,  ^f)i)[ioIogie  unb  monijti[d)en  ^[r)(^oIogie. 
Die  großartigen  3^ort[cf)ritte  ber  9^eu3eit  in  mef)reren  ©ebieten 
ber  ^Biologie  I)aben  uns  überein[timmenb  ju  ber  ^ner!ennung 
bie[er  bebeutungsoollen  (£r!enntnis  gefüt)rt.  2Bir  befcfiränfen  uns 
bei  it)rer  SBürbigung  3unäcf)it  auf  bie  t)öt)eren  2BirbeItiere  unb 


Seiüufetfein.  105 


Dor  allem  bic  Säugettetc.  X)afe  bte  intclltgcntcftcn  93crtrcter 
biefer  I)öcf)jt  entmtdciten  2BirbeIttere  —  allen  ooran  bie  ^ffen 
unb  $unbe  —  in  tt)rer  gefatnten  Seel.entätigfeit  [i^  bem  9Jlen[(f)en 
^ö(f)jt  ä^nlid)  t)erl)alten,  ijt  fett  3al)rtau[enben  befannt  unb  be== 
rounbert.  5t)re  SSorjtellungs^  unb  Sinnestätigfeit,  i\)x  (Smpfinben 
unb  iBege{)ren  ift  bem  älknfc^en  |o  äf)nUc^,  ha^  wix  feine  Seu)ei[e 
bafür  an5ufül)ren  braud)en.  5lber  aud)  bie  ^öf)ere  ^ffojiations^ 
tätigfeit  \\)xt5  (Se^irns,  bie  ^Bilbung  Don  Urteilen  unb  beten  93er= 
binbung  3U  Sd)lü[[en,  bas  Denfen  unb  bas  Secoufetfein  im  engeren 
Sinne,  [inb  bei  if)nen  äf)nli(^  entroicfelt  roie  beim  9Jlen[cf)en  —  nur 
bem  ©rabe,  nid)t  ber  5lrt  nad^  baoon  perfc^ieben.  Uberbies  Ief)rt 
uns  bie  t> ergleid) enbe  Anatomie  unb  ^i|tologie,  bafe  bie  Dertoicfelte 
3u[ammen[e^ung  bes  (5el)im5  ([ott)oI)l  bie  feinere  als  bie  gröbere 
Struftur)  bei  biefen  f)öf)eren  Säugetieren  im  rüefentlicf)en  bie- 
felbe  roie  beim  9J?en[(^en  ift.  X)as[elbe  ^eigt  uns  bie  üergleic^enbe 
Ontogenie  be^üglic^  ber  (£ntjtef)ung  biefer  Seelenorgane.  Die 
Dergleicf)enbe  ^^i)[iologie  lef)rt,  bajg  bie  t)er[d)iebenen  3u!tänbe 
bes  ^etDufetfeins  \xd)  bei  biefen  f)öc^ft  entruidelten  ^la3entaltteren 
gan3  ä^nli^  toie  beim  9Jlenfrf)en  üerl)alten,  unb  bas  (Experiment 
beroeift,  bajg  fie  aud)  auf  äußere  Gingriffe  ebenfo  reagieren.  9Jlan 
fann  i)öf)ere  Xiere  bur^  ^(Ifo^ol,  (If)loroform,  ^tf)er  ufto.  ebenfo 
betäuben,  burc^  geeignete  Sef)anblung  ebenfo  f)i)pnotifieren  ufu). 
ü)ie  t)tn  aUenf d^en.  Dagegen  ift  es  ni^t  mögli(^,  bie  (Srense 
fc^arf  3U  beftimmen,  too  auf  htn  nieberen  Stufen  bes  3:ierleben5 
bas  5Ben)ufetfein  juerft  als  fold)es  erfennbar  toirb.  Die  einen 
3oologen  fe^en  biefelbe  fef)r  f)od)  oben  an,  bie  anberen  fef)r  tief 
unten.  Darm  in,  ber  bie  oerfd^iebenen  ^bjtufungen  bes  Se* 
ujufetfeins,  ber  ^ntelligens  unb  bes  ©emüts  bei  titn  f)ö^eren  3:ieren 
fef)r  genau  unterfd)eibet  unb  burc^  3unef)menbe  (Snttoidelung 
erflärt,  toeift  3uglei^  barauf  f)in,  toie  fd)toer  ober  eigentlid^  tote 
unmögltd)  es  ift,  bie  erften  ^tnfänge  biefer  ^öd)ften  Seelentätigfeiten 
hti  ttn  nieberen  3;ieren  3U  beftimmen.  5lm  rDaf)rf(^einIid)ften  ift 
bic  ^nnaf)me,  bafe  biejenigen  Xiere  ein  unferem  eigenen  äi)nlid)es 
beiöufetes  ©rieben  f)aben,  bie  ein  ^leroenfpftem  oon  annäl)ernb 
fo  feiner  Struftur,  f)iftologifd)er  Differensierung  unb  3^Titralifa» 
tion  befi^en. 

IIL  ^mmalif(^e  I^eone  bes  IBetouBtfeins:  es  f  inb  et  fid) 
bei  allen  3;ieren  unb  nur  hti  biefen.  ^iernac^  Doürbe  ein 
f(^arfer  Unterfc^icb  im  Seelenleben  ber  3:iere  unb  ^^flan3en  be= 
fte{)en;  einfol(^er  tourbefc^on  oon  oielen  alten  Tutoren  angenommen 
unb  oon  fiinne  fc^arf  formuliert  in  feinem  grunblegenben^„Systema 
naturae"  (1735);  bie  beiben  großen  5leid)e  ber  organif3)en  9^atur 
unterfd)ciben  \\ä)  nad)  if)m  baburd),  tiQ.^  bie  3:iexe  (Empfinbung  unb 


106  3e^nte5  5^apitel. 


^BetDufetfein  t)aben,  btc  ^flanjcn  nid^t.  Später  t)at  befonbers 
S(f)openf)auer  btefen  Hnter[d)ieb  [(f)arf  betont:  „X)as  Setou^tfein 
ijt  uns  [(^Ie(^tl)in  nur  als  (£tgen[d)aft  ani maier  SBefen  be= 
fannt.  ^ud)  na(i)bem  es  [id)  burrf)  bie  gan^e  3:terretf)e,  bis  3um 
93Zen[d)en  unb  [einer  23ernunft,  gesteigert  \)ai,  bleibt  bie  ©etüufet» 
Io[ig!eit  ber  ^flanse,  von  ber  es  ausging,  nodE)  immer  bie  (Srunb* 
läge.  Die  unterjten  Üiere  t)aben  blofe  eine  Dämmerung  besfelben." 
Die  Unl)altbar!eit  biefer  5tn[id)t  tourbe  [d)on  um  bie  9Kitte  bes 
neun5et)nten  3öt)rt)unberts  flar,  als  man  bas  Seelenleben  ber 
nieberen  Xierjtämme,  be[onbers  ber  (Bä)xoämmt  unb  Sfleffeltiere, 
nät)er  fennen  lernte:  ed^te  Xiere,  bie  ebenfo  toenig  Spuren  oon 
üarem  SetDufetfein  be[i^en,  toie  bie  meijten  ^flanjen.  5Ro(f)  met)r 
tDurbe  ber  llnter[(f)ieb  3rDiid)en  beiben  5Reicf)en  Dertt)i[d)t,  als  man 
bie  einjelligen  fiebensformen  berfelben  genauer  unterfuc^te.  Die 
Urtiere  unb  bie  Urpflan^en  s^igen  feine  p[i)^oIogiid)en  Unter* 
[(i)iebe,  auc^  nid)t  in  Se3iet)ung  auf  it)r  fraglid)es  ^Beroufetfein. 

IV.  lBtoIo0tf(^e  Z\)tom  bes  SetDuBtfeins:  es  i[t  allen 
Organismen  gemeinfam,  es  finbet  fi(^  bei  allen  Xieren  unb 
^flanjen,  tDäf)renb  es  ben  anorganifd)en  91atur!örpern  (5^rr)jtanen 
ufro.)  fetilt.  Die[e  ^nna!)me  toirb  getDöt)nlid)  mit  ber  ^tnfid^t  oer» 
fnüpft,  ba|3  alle  Organismen  (im  ©egenfa^e  ju  hm  5lnorganen) 
befeelt  [inb;  bie  brei  ^Begriffe:  £eben,  Seele  unb  Setoufetfein, 
fliegen  bann  geroöl)nli(f)  3u[ammen.  (£ine  anbere  SJlobififation 
bie[er  ^n[d)auung  ijt,  hals  hk]t  brei  (5runber[rf)einungen  bes 
organi[d)en  fiebens  sroar  unsertrennbar  oerfnüpft  finb,  ha%  aber 
bas  SetDuM^iTi  nur  ein  3:eil  ber  p[i)^i[d)en  Xätigfeit  ijt,  toie 
bie[e  [elbjt  ein  Xeil  ber  fiebcnstätigfeit.  Dafe  bie  ^f lausen  in 
bem[elben  Sinne  roie  bie  Xiere  eine  „Seele"  befi^en,  l)at  namentlicf) 
g-ed)ner  [id)  ju  geigen  bemül)t,  unb  mand)e  fc^reiben  ber  ^flan3en= 
[eele  ein  SetDufetfein  von  äl)nlid)er  %xi  gu  töie  ber  3:ier[eele.  5n 
ber  Xat  [inb  ja  bei  \t\)x  empfinblid)en  „Sinnpflan3en"  (Mimosa, 
Drosera,  Dionaea)  bie  auffallenben  ^ReigbeiDegungen  ber  ^Blätter, 
bei  mancl)en  anberen  (Rlee  unb  Sauerflee,  be[onbers  aber  Hedy- 
sarum)  bie  autonomen  ^Betoegungen,  bei  „fd)lafenben  ^flansen" 
(auä)  üorsugsroeife  Papilionaceen)  bie  Sd)lafbetpegungen  ufro. 
auffallenb  äl)nli(i)  benienigen  oieler  nieberen  3:iere;  toer  htn 
le^teren  ^etoufetfein  3u[d)reibt,  barf  es  gans  geroife  auc^  ben  erjteren 
nicf)t  abfpred)en. 

V.  3enulare  I^eorte  bes  »etoufetfeins:  es  i[t  eine  Bebens  = 
eigen[d)aft  jeber  3elle.  Die  5lntoenbung  ber  3ellentf)eoric 
auf  alle  3roeige  ber  Biologie  oerlangt  aud)  il)re  93er!nüpfung  mit 
ber  ^fi)d^ologie.  SRit  bem[elben  9lecl)te,  mit  bem  man  in  ber 
Anatomie  unb  ^l)r)[iologte  bie  lebenbige  3elle  als  ben  „(Elementar- 


»ctDufetfein.  107 


Organismus"  bc^anbelt  unb  bas  gansc  23erjtänbnts  bes  f)ö!)cren, 
Dielselltgen  Xter*  unb  ^flan5cn!örper5  baraus  ableitet,  mit  bem= 
[elben  9?e(i)te  !ann  man  aud)  bie  „3eII[eeIe"  als  bas  p[r)(i)oIogi|d)e 
(Element  betrad)ten  unb  bie  3u[ammengefe^te  Seelentätigfeit  ber 
l)öf)eren  Organismen  als  bas  9le[ultat  aus  bem  üereinigten  Seelen» 
leben  ber  3^nen,  bie  [ie  3u[ammenfe^en.  o<^  l)obe  bie  ©runbsüge 
bie[er  3^nular=^[t)d^ologie  [(l)on  1866  in  meiner  „©enerellen 
9JJorpl)ologie"  enttüorfen  unb  [ie  [päter  toeiter  ausgefüt)rt  in  meinem 
^uffa^  über  „3^Ilfß^l^Tt  unb  Seelen^ellen".  3^^  tieferen  (£in= 
bringen  in  biefe  „(£lementarp[i)^ologie"  xourbe  irf)  burd)  meine 
langiäl)rige  $Be[d^äftigung  mit  ben  eingelligen  fiebensformen 
gefül)rt.  Stiele  t>on  bie[en  f leinen  (meift  mi!ro[!opi[(^en)  ^rotijten 
seigen  äl)nlicl)e  ^ufeerungen  von  (Smpfinbung  unb  SBillen,  äl)nli(f)e 
5nftin!te  unb  Seroegungen  toie  l)öl)ere  liiere;  befonbers  gilt  bas 
von  ben  [el)r  empfinblic^en  unb  tebl^aft  beroeglic^en  5nfu[orien. 
(5otüol)l  in  bem  25erl)alten  biefer  reigbaren  3^ninge  gegenüber 
ber  ^u^enroelt,  roie  in  üielen  anberen  ßebensäu^erungen  berfelben, 
3.  $B.  in  bem  txtunberbaren  (5el)äu[ebau  ber  9?l)i3opoben,  CZ^alü' 
mopl)oren  unb  Otabiolarien)  fönnte  man  beutlid)e  Spuren  be= 
Eou^ter  Seelentätigfeit  3U  ertennen  glauben.  SBenn  man  nurt  bie 
biologi[cf)c  3:i)eorie  bes  Sßeu)ufet[eins  afseptiert  (9^r.  IV),  unb  toenn 
man  jebe  p[i)d)i[d^e  ^^unftion  mit  einem  Setoufetfeinsanteil  aus= 
jtattet,  bann  roirb  man  auc^  jeber  [elbjtänbigen  ^rotijten3elle  SBe= 
töufetfein  3u[(f)reiben  muffen.  X)ie  materielle  ©runblage  besfelben 
tDäre  bann  enttoeber  gas  ganse  Plasma  ber  3^11^;  o^^^^  beren 
5^ern,  ober  ein  Zdl  besfelben.  Definitio  miberlegen  läfet  [ic^  biefe 
9lnnat)me,  bie  id)  frül)er  certrat,  nid)t.  ^6)  mufe  aber  je^t  Wax 
23erroorn  3ujtimmen,  tüel(^er  in  [einen  ausgeseid^neten  „^[r)d)o= 
pl)t)[iologi[d)en  ^rotijtenftubien"  annimmt,  "Oa^  wo\)l  [amtlichen 
^rotijten  ein  entroidettes  „3'i)^^tt)iifet[ßi^"  fel)lt,  unb  ha^  it)re 
(£mpfinbungen  unb  Setoegungen  burc^roeg  t^tn  (£t)arafter  bes 
„UnbetDufeten"  tragen. 

VI.  2ltomi[tif^e  I^eorie  bes  SettJufetfeins:  es  i[t  txm 
(£lementareigen[d)aft  aller  ^tome.  Unter  allen  Der= 
[d)iebenen  ^n[(^auungen  über  bie  ^Verbreitung  bes  $BetDufet[eins 
gel)t  bie[e  atomi[ti[(^e  §i)potl)e[e  am  toeitejten.  Sie  ijt  wo\)l  l)aupt= 
[äd)lic^  ber  Sc^roierig!eit  entfprungen,  toelc^e  man^e  ^^l)ilo= 
[opl)en  unb  Biologen  bei  ber  ^i^age  nac^  ber  erften  (£nt[tel)ung  bes 
Seu)U^t[eins  empfinben.  Die[e  (£r[d)einung  trägt  ja  einen  [0 
eigenartigen  d^arafter,  bafe  it)re  Ableitung  aus  anberen  p[i)d)i[d)en 
5un!tionen  l)öd)[t  bebenflid)  er[d^eint;  man  glaubte  ^al)er  bie[es 
§inbernis  am  leid)te[ten  baburd)  3U  übertoinben,  ita^  man  [ie  als 
eine  (£lementareigen[d)aft  aller  9Jlaterie  annal)m,  gleid)  ber  9J?a[[en= 


108  3el)ntes  Kapitel. 


art5tef)ung  ober  ber  (^emifc^en  2Bat)IoerxDanbt[rf)aft.  (£5  röürbe 
hanad)  [0  »tele  (dornten  bes  (SlementarberDufetfetns  geben,  als  es- 
c^emifd^e  Elemente  gibt;  jebes  5ltom  3Baf[erjtoff  toürbe  fein  t)T)bro= 
genes  ^etüufetfein  t)aben,  jebes  ^tom  5^ot)Ienjtoff  [ein  farbonifcfies 
^eiöufetfein  ufco. 

^&)  ^alte  bie[e  §i)pott)e[e  für  unbegrünbet  unb  bel)arre  in  ber 
ilber3eugung,  bafe  bas  Seiöufetfein  an  einen  ^ot)en  ©rab  uoit 
X)ifferen3ierung  unb  S^Titralifation  bes  ?lerDen[i)jtenis  gebunben 
ijt,  tDie  beim  SJienfd^en  unb  einem  3^eile  ber  ^öt)eren  SBirbeltiere. 

SRoni)tif(^e  nnh  buali|lif(^e  X^eone  bes  Setougtfetns. 
Sotoeit  aud^  bie  oerfc^iebenen  5tn[i^ten  über  bie  9latur  unb  bie 
(£ntjtel)ung  bes  $8eu)ufet[eins  auseinanber  get)en,  [0  Ia[[en  fid)  bod) 
alle  [d)liefelic^  —  bei  flarer  unb  tonfequenter  logifc^er  5Bel)anbIung 
—  auf  sroei  entgegengefe^te  ©runban[ct)auungen  5urücffüf)ren, 
auf  bie  tranfcenbente  (übernatürli^e,  bualtftifc^e)  unb  bie 
p{)i)[toIogi[(^e  (natürlidie,  moni[ti[d)e).  3<i)  [ctbjt  f)abe  von 
ief)er  biefe  le^tere  ^uffaffung,  unb  gtoar  auf  ®runb  ber  (Snttüi  cf  e  - 
Iungslet)re,  üertreten,  unb  [ie  roirb  gegentoärtig  von  einer  grojgen 
^tnsa^I  t)eroorragenber  5Raturfor[cE)er  geteilt. 

Iranfäenbens  bes  »euju&tfetns.  3n  bem  berül)mten  Söortrag 
„über  bie  ©rensen  bes  5Raturerfennens",  ujelc^en  (£.  Du  Sois» 
9lci)monb  am  14,  ^ugujt  1872  auf  ber  9Zaturfor[d)ert)erfammIung 
in  £eip3ig  f)ielt,  ftelltc  berfelbe  jtoei  üerfc^iebene  „unbebingte 
©rensen"  unferes  9laturer!ennefis  auf,  tDelcf)e  ber  men[d)Iici^e 
©eijt  aud^  bei  oorgefc^rittenfter  9laturer!enntnis  niemals  über^ 
[d)reiten  tu  erbe  —  niemals,  tüie  bas  oft  jitierte  <5(^Iufetoort  bes 
33ortrags  empf)atif^  betont:  „Ignorabimus !"  t)as  eine  abfolut 
unlösbare  „SBelträtfel"  ift  ber  „3ufamment)ang  oon  9}taterie  unb 
5lraft"  unb  bas  eigentlid)e  2Befen  biefer  funbamentalen  3latur= 
erfd) einungen;  toir  loerben  btefes  „8ub[tan3probIem"  im  Broölf» 
ten  i^apitel  eingef)enb  bet)anbeln.  t)as  ätoeite  unüberjteiglidie 
Öinbernis  ber  ^Po[opI)ie  [oII  bas  Problem  bes  Setoufetfeins 
bilben,  bie  Srittge:  toie  unfere  (Seijtestätigfeit  aus  materiellen  Se= 
bingungen,  bcjüglid)  Setoegungen  ju  erflären  ijt,  toie  bie  (ber 
SJiaterie  unb  5\raft  5ugrunbe  liegenbe)  „Subjtanj  unter  bestimmten 
©ebingungen  empfinbet,  beget)rt  unb  ben!t". 

2Benn  man  biefe  oielbefproi^ene  „^guorabimusrebe"  unbe^ 
fangen  auf  if)ren  Äern  unterfud^t,  [0  mufe  man  barin  bas  ent[d)iebene 
^^rogramm  bes  metl)apf)i)fi[d^en  Dualismus  finben;  bie 
2Belt  ift  „boppelt  unbegreiflich":  einmal  bie  materielle  SBelt,  in 
u)el(f)er  „9Jiaterie  unb  Rraft"  if)r  2Befen  treiben,  unb  gegenüber, 
ganj  getrennt,  bie  immaterielle  2BeIt  bes  „©eijtes",  in  toeldier 
„Deuten  unb  Serou^tfein  nict)t  aus  materiellen  Sebingungen  er= 


©cu)ubt[cin.  109 


flärbar  finb",  toie  bei  bcr  erjtcren.  (£5  war  ganj  naturgemäß, 
ba^  ber  I)err[(^enbc  Dualismus  unb  9Jli)[ti5t5mu5  biefc  5Iner!cnnung 
ber  3U)et  t)er[(i)iebenen  SBcItcn  mit  JBcgicrbc  ergriff,  um  bamit  bie 
Doppelnatur  bes  9Jten[d)en  unb  bie  Unfterbli(^!eit  ber  Seele  3U 
beroeifen.  Der  ^ubtl  ber  Spiritualijten  öarüber  roar  um  |o  l)tlhx 
unb  bered)tigter,  als  (£.  Du  5ßois=9?et)monb  bis  baljin  oIs  ein 
ibebeulenber  prinsipieller  93ertreter  bes  tDi[fen[(^aftIid)en  StRateri^ 
(olismus  gegolten  I)atte;  unb  bas  roar  unb  blieb  er  aud)  (tro^  [einer 
Jd)öntn  ^ttitn"  !),  «ben[o  toie  alle  anberen  [ad)funbigen,  Haren 
iinb  !on[equent  benfenben  5Raturfor[d)er  ber  ©egentoart. 

Slllerbings  l)at  ber  93erfa[[er  ber  39^orabimusrebe  am  Sd)Iu[[e 
bctfelben  fur^  auf  bie  ^xaQt  l)ingerDie[en,  ob  ni^t  jene  beiben 
gegcitübcrfte!)enben  „^Belträtfel'V  öas  allgemeine  Subjtanjproblem 
unb  bas  befonbere  ^Beroufetfeinsproblem,  3u[ammenfaIIen.  (£r 
Jagt:  „gfreilid)  ijt  biefe  SSorjtellung  bie  einfa^jte  unb  ber  cor« 
,^U5iel)en,  wonad)  bie  2BeIt  boppelt  unbegreiflid)  erfd)eint.  5lber 
(£5  liegt  in  ber  Statur  ber  Dinge,  bafe  toir  aud)  in  biefem  fünfte 
:ni^t  3ur  i^Iarl)eit  fommen,  unb  alles  toeitere  IReben  barüber  bleibt 
müßig. "  —  Diefer  le^teren  5ln[i^t  bin  \ä)  von  Einfang  an  ent= 
ftf)ieben  entgegengetreten  unb  l)abe  mid)  3U  3eigen  bemül)t,  "üa^ 
jene  beiben  großen  (Ji^agen  nid)t  3toct  oerf^iebene  Sßelträtfel  [inb. 
„Das  neuroIogt[(i)e  Problem  bes  Seroußtfeins  ift  nur 
ein  bcfonberer  Orall  oon  bem  allumfaffenben  fosmo^ 
Iogi[d)en  Problem,  ber  Sub[tan3frage."  (95?onismu5, 
1892,  S.23.) 

jp^QftoIogie  bes  öetDußtfetns.  Die  eigenartige  9laturer[(i)ei* 
maing  bes  ©etoußtfeins  ijt  ni(f)t,  toie  Du  5Bois=9?er)monb  unb 
imit  i!)m  bie  bualtjtif^e  ^l)iIo[opl)ie  bef)auptet,  ein  oöllig  unb 
.„burc^aus  tran[3enbentes  Problem";  [onbern  fie  i[t,  roie  id)  ]ä)on 
feit  1S66  behauptet  l)abe,  ein  pI)r)[ioIogifd)es  Problem,  unb 
(ttls  |oId)e5  auf  bie  (£rfd^ einungen  im  ©ebiete  ber  ^t)t)[i!  unb  (£i)emie 
Surü(i3ufüt)ren.  5d)  l)abe  es  [pater  nod)  bejtimmter  als  ein  neu» 
roIogi[d)es  Problem  be3eict)net,  auf  ber  ^nnal)me  fußenb, 
baß  ein  bem  menf(^Iid)en  analoges  Seroußtfein  nur  bei  htn  t)öl)eren 
Xieren  mit  jtar!  3entrali[iertem  9'^err)en[r)jtem  3U  [u(f)en  ijt.  9Jiit 
Dotier  Sid)ert)eit  läßt  [id)  bas  für  bie  l)öl)eren  SBirbeltiere  bel)aupten, 
unb  cor  allem  für  bie  pla3entalen  Säugetiere,  aus  beren  Stamm 
.rDas  9[Ren[d)enge[d)lec^t  [elbjt  entfproffen  ijt.  Das  ^eioußtfein  ber 
li)Ö!jf)|tentrDideIten  Riffen,  §unbe,  (£Iept)anten  u[u).  ift  oon  bem= 
ijemgen  bes  9Jienfd)en  nur  bem  (Srabe,  nid)t  ber  ^rt  nad)  oer* 
i)d)ieben,  unb  bie  grabuellen  Unter[d)icbe  im  Seroußtfein  biefer 
,„r)emünftigjten"  3ottentiere  unb  ber  nieberjten  9JJcnid)enra[[en 
ilSBcbbas,  5lujtroInegcr  u[u).)  finb  geringer  als  bie  cnt[pred)cnben 


110  3el)nte5  5^opitcI. 


ltnterfd)tebc  3tt}l[(f)cn  btefen  leiteten  unb  ben  I)öd)ft  cntoidelten 
23ernunftmenfd)en  (Sptno3a,  (5oetl)e,  2amaxd,  Darcotn 
ufro.).  Das  ©etcu^tfein  ijt  Tnitt)tn  nur  ein  Xzi\  ber  l)öt)eren 
Seelcntätig!ett,  unb  als  fold^c  abt)ängtg  »on  ber  normalen 
Stru!tur  bes  betreffenben  Seelenorgans,  bes  ©el)trn5. 

^l)t)[toIogt[d)e  $BeobadE)tung  unb  (£ipertment  l)aben  feit 
3töan3ig  3öt)ren  ben  [idE)eren  Seroeis  gefü{)rt,  tia)^  berjenige  engere 
5Be3ir!  bes  (5äugetierge{)irns,  ben  man  in  biefem  Sinne  als  Organ 
bes  Seroufet[ßins  be3ei(^net,  ein  Xeil  bes  ©rofel)irn5  ijt,  unb 
3toar  ber  fpät  entftanbene  „graue  SJIantel"*  ober  bie  „©rofeI)irn= 
rinbe".  ^ber  aud^  bie  morpI)oIogi[(f)e  ^Begrünbung  biefer  pl)r)[io* 
Iogifd)en  (£r!enntnis  ijt  titn  berounberungsroürbigen  gort[d)ritten 
ber  mi!ro[!opt[(f)en  (5el)irnanatomie  gelungen,  tDeId)e  toir 
"ütn  »erooIÜommneten  3ror[(^ungsmett)oben  ber  neuesten  3eit  üer= 
ban!en. 

2Bol)l  bie  toii^tigjte  Don  btefen  (£rfenntniffen  ift  bie  ©ntbecfung 
ber  Dentorgane  burd)  ^aul  ^I^^ftS  i"  ^eip3ig;  er  loies  1894 
nacf),  bafe  in  ber  grauen  5linben3one  bes  §irnmantels  üier  Gebiete 
ber  3entralen  Sinnesorgane  ober  oier  „innere  (£mpfinbungs= 
fpl)ären"  liegen,  bie  5^örperfüI)IfpI)äre  im  Sd)eitenappen,  bie 
5?ie(^fpl)äre  im  Stirnlappen,  bie  Sel)fpf)äre  im  §interl)auptslappen, 
bie  §örfpt)äre  im  Si^Iäfenlappen.  3o5i['i)ßTi  biefen  üier  „Sinnes  = 
I) erben"  liegen  bie  üier  grofeen  „Den!I)erbe"  ober  5Iffo3ions^ 
3entren,  bie  realen  Organe  bes  ©eifteslebens;  fie  finb  jene 
t)öd)ften  2Ber!3euge  ber  Seelentätigteit,  u)eld)e  bas  I)en!en  unb 
bas  Seroujgtfein  ü ermitteln:  com  bas  Stirnt)irn  ober  bas  frontale 
^ffo3ion53entrum,  t)inten  oben  bas  Sd)eitelt)irn  ober  parietale 
^ffo3ions3entrum,  l)inten  unten  bas  ^rin3ipall)im  ober  bas  „grofee 
occipito=temporaIe  5lffo3ions3entrum"  (bas  roid)tigjte  r>on  allen !) 
unb  enblid)  tief  unten,  im  3^nern  oerftecft,  bas  3nfelt)irn  ober  „bie 
9^eilfd)e  ^n]z\",  bas  infulare  5lffo3ions3entrum.  Diefe  oier  Den!= 
t)erbe,  burd)  eigentümlid)e  unb  ^öc^ft  oerroicfelte  9Zerüenftru!tur 
Dor  htn  3t»ifd)enliegenben  Sinne5f)erben  ausge3eid)net,  finb  bie 
u)at)ren  „I)en!organe",  bie  einsigen  Organe  unferes  Setoufetfeins. 
3n  neuejter  3ßtt  t)at  3rle<i)fig  nad)geii)iefen,  ha^  in  einem  3:eile 
berfelben  fid)  beim  9Jtenfd)en  nod)  gan3  befonbers  oerroidelte 
Strufturen  finben,  tDeId)e  ben  übrigen  Säugetieren  fel)Ien,  unb 
tDeId)e  bie  Uberlegenl)eit  bes  menfd)Iid)en  ^Beroufetfeins  erflären. 

^at^ologte  bes  iBetDufetfeins.  Die  bebeutungsoolle  ©rfenntnis 
ber  mobernen  ^f)r)fioIogie,  'Oa^  bas  ®rofef)irn  beim  9?tenfd)en  unb 
"btu  I)öt)eren  Säugetieren  bas  Organ  bes  ©eifteslebens  unb  bes 
Seroufetfeins  ift,  toirb  einleud^tenb  beftätigt  bur(^  bie  ^att)oIogie, 
huxä)  bie  i^enntnis  feiner  (£r!ran!ungen.   2ßenn  bie  betreffenben 


SetDufetfein.  111 


Xeile  ber  (5rofe!)irnrmbc  burd)  ilronfljett  gcrftört  tüerben,  erltfc^t 
t{)re  5un!tton,  unb  ^wax  läfet  [id)  I)tcr  bie  £o!aIifation  ber 
©c!)trnfurt!ttoncn  [ogar  partiell  nad)iDet[en;  töenn  einselne  Stellen 
jenes  ©ebtetes  erfranfen,  cerfiJ^tDmbet  aud)  ber  Xetl  bes  I)en!en5 
unb  bes  Serou^tfetns,  tt)eld)er  an  bie  betreffenbe  Stelle  gebunben 
ijt.  Dosfelbe  (Ergebnis  liefert  bas  patl)ologi[(^e  (£iperiment;  3^1= 
ftörung  einer'  [öligen  befannten  Stelle  (3.  5B.  im  Spra(i)3entrum) 
oerni(i)tet  beren  3run!tion  {hit  Sprache).  Übrigens  genügt  ja 
ber  ^inroeis  auf  bie  befanntejten  alltäglid)en  (£r[d) einungen  im 
©ebiete  bes  SBetoufetfeins,  um  bie  oöllige  ^bf)ängig!eit  besfelben 
Don  ben  d)emifd^en  23eränberungen  ber  (5el)irn[ubjtan3  3U  be= 
roeifen.  ä^iele  ©enufemittel  (5^affee,  Xee)  regen  unfer  2)en!= 
vermögen  an;  anbere  (2Bein,  ®ier)  jtimmen  unfer  ©emüt  l)eiter; 
9Jtofc^us  unb  i^ampl)er  als  „Excitantia"  beleben  bas  erlö[d)enbe 
SBetDU^fein;  5][tl)er  unb  (£l)loroform  betäuben  basfelbe  ufi».  2Bie 
tüäre  bas  alles  mögli(^,  toenn  bas  SetDufetfein  ein  immaterielles 
2Be[en,  unabl)ängig  r>on  jenen  anatomifd)  nadjgeroiefenen  Organen 
roäre?  Itnb  toorin  beHel)t  bas  ^Betoufetfein  ber  „unjterblidE)en 
Seele",  xoenn  fie  nid)t  mei)r  jene  Drgane  befi^t. 

^lle  bieje'unb  anbere  befannte  3:at[ad)en  betoeifen,  'ba^  bas 
©etDufetfein  beim  S[Ren[(f)en  (genau  eben[o  toie  bei  ben  näd)jt= 
üertDanbten  Säugetieren)  oeränberlid)  ijt,  unb  bafe  [eine 
Xätigfeit  jeber3eit  abgeänbert  tberben  fann  burd)  innere  Ur[ad)en 
{StofftDed)fel,  ®lut!reislauf)  unb  äußere  Ur[ad)en  (33erle^ung  bes 
(5el)irns,  5Rei3ung  u[to.)-  Sel)r  lel)rreid)  finb  aud)  bie  mer!tDürbigen 
3ujtänbe  bes  alternierenben  ober  boppelten  $BetDufet[eins; 
ber[elbe  901en[d)  seigt  an  t)er[d)iebenen  3:agen,  unter  »eränberten 
Hmjtänben,  ein  gan3  t)er[d)iebenes  Setoufetfein;  er  loeife  f)eute  nid)t 
mel)r,  toas  er  gejtern  getan  l)at,  geftern  fonnte  er  fagen:  3<^  ^i^t 
id);  —  l)eute  mufe  er  fagen:  Z^  bin  ein  anberer.  Sold)e  5i^ter= 
mijfionen  bes  $Beroufet[eins  !önnen  ni^t  blofe  Xage,  [onbern  SJionate 
unb  Za\)xt  bauern;  [ie  fönnen  felbjt  bleibenb  toerben. 

Ontogenie  bes  ^etDußtfeins.  2Bie  jebermann  toeife,  tft  bas 
neugeborene  Rinb  nod)  gans  ol)ne  ©ecoufetfein,  unb  tote  ^rei)er 
geseigt  l)at,  entxoidelt  [id)  bas[elbe  erjt  [pät,  nad)bem  bas  Keine 
5^inb  3U  fpred)en  angefangen  l)at;  es  [prid)t  oon  [i^  lange  3ß^t  in 
ber  britten  ^er[on.  (£rjt  in  bem  bebeutungsoollen  9Jtomente,  in 
tDeld)em  es  3um  erjten  SJiale  „3^"  [«^öt,  in  töeld)em  bas  „5^» 
gefüf)r'  !lar  roirb,  beginnt  [ein  Selb[tbetDufet[ein  3U  feimen  unb 
bamit  aud)  ber  (5egen[a^  3ur  ^ufeentoelt.  Die  [d)nenen 
unb  tiefgreifenben  3rort[d)ritte  ber  Grfenntnis,  iüeld)e  bas  i^inb 
burd)  t>^n  Hnterrid)t  ber  (Altern  unb  ber  Sd)ulc  in  'üzn  erjten 
3et)n  £cbensial)ren  mad)t,  unb  [päter  lang[amer  im  stoeiten  X)e* 


112 3et)ntes  Kapitel,    «eujufetfcin. 

Sennium  bis  ^ur  DoIIcnbeten  geistigen  9?cife,  [tnb  eng  ücrfnüpft  mit 
un3ät)ligen  ^^ortfc^ritten  im  3Bad)5tum  unb  in  ber  (Enttoidelung 
besSetoufetfcins  unb  mit  berjcnigen  [eines Drgans,  bes®  el)irn5. 
mer  aud),  roenn  ber  Sd)üler  bas  „S'^UQnis  bei  9?eife"  erlangt  l)ai, 
ift  in  2BaI)rI)eit  [ein  $8eroufet[ein  noc^  lange  nici)t  reif,  unb  je^t 
beginnt  er[t  rect)t,  in  Diel[eitiger  ®erül)rimg  mit  ber  ^lufeenroelt, 
bas  „2BeItbctDufet[ein"  [id)  3u  enttöideln.  3e^t  erjt  reift  im 
brüten  35e3ennium  jene  tfolle  ^lusbilbung  bes  »ernünftigen  Denfens 
unb  bamit  bes  ©eiüufet[eins,  lücl^e  bann  bei  normaler  (Snttoicf  elung 
in  t>tn  folgenben  brei  5at)r3e]^nten  \\)tt  reifen  3rrü(f)te  trägt,  ©e- 
toöt)nIidi)  mit  ©eginn  bes  [iebenten  I)e3ennium  (balb  früt)er,  balb 
[päter)  beginnt  bann  jene  Iang[ame  unb  allmät)ltd)e  9lücfbilbung  ber 
t)öf)eren  ©eijtestätigfeit,  xotld)t  bas  (5rei[enaltcr  d)ara!teri[iert. 
©ebad^tnis,  9ie3eptionsfäl)ig!eit  unb  5ntere[[e  an  [pegiellen  Ob= 
je!ten  nefimen  mt\)x  unb  met)r  ab;  bagegen  bleibt  bie  ^robu!tions= 
fäl)ig!eit,  bas  gereifte  SetDufet[ein  unb  bas  p!)iIo[opl)i[d)e  3Tttere[[e 
on  allgemeinen  SBe3iet)ungen  oft  nod)  lange  erl)alten.  Die  in= 
bioibuelle  CBntroidelung  bes  Seu)ufet[eins  in  frül)er  S^isenb  bemeift 
bie  allgemeine  Oeltung  bes  S3iogeneti[d^en  (5cunbge[e^e5; 
aber  aud)  in  [päteren  3öl)ren  ijt  bie[elbe  nod)  oielfa^  crfennbar. 
^ebenfalls  überseugt  uns  bie  Ontogcne[e  bes  S8etöufet[eins  aufs 
flarfte  oon  ber  3:at[arf) e,bafe  ba5[elbe  fein  „iTtimaterielles  2ße[en", 
[onbern  eine  pI)r)[iologi[die  3^un!tion  bes  ®el)irns  ijt,  unb  t>Q^  es 
al[o  au<i)  feine  5lusnal)me  com  Sub[tan3ge[e^c  bilbet. 

?ß^t)Iogettie  bes  »ewu&tfeins.  Die  3:at[a(f)e^  bafe  bas  Se= 
roufet[ein,  glei(^  allen  anberen  Seelentäügfeitcn,  an  bie  normale 
^ilusbilbung  bejtimmter  Organe  gebunben  i[t,  unb  bafe  es  [id)  beim 
5^inbe,  in  3ii[ömmenl)ang  mit  bie[en  (&ei)irnorganen,  allmäl)lid) 
enttoidelt,  läfet  [d)on  oon  t)ornl)erein  [d)lie^en,  ta^  es  aud)  innerf)alb 
ber  !Xierreil)e  [id)  [tufentoei[e  l)i[tori[d)  enttoidelt  l)at.  So  [id)er 
toir  aber  aud)  eine  [old)e  natürlid)e  Stamm,e5ge[^i(^te  bes 
©erDufet[eins  im  ^rinsip  bel)aupten  mü[[en,  [o  roenig  [inb  xok 
bod)  leiber  imftanbe,  tiefer  in  bie[elbe  einsubringen  unb  [pegielle 
§r)potl)e[en  barüber  aufäuftellen.  3^be[[en  liefert  uns  bie  ^alä^ 
ontologie  bod)  einige  intere[[ante  ^nl)alt5pun!te,  bie  nid)t  ol)ne 
^Bcbeutung  [inb.  5luffallenb  i[t  3.  S.  bie  bebeutenbe,  quantitatioe 
unb  qualitatioe  (Snttoidelung  bes  ®el)irn5  ber  pla3entalen  (5äuge= 
tiere  innerl)alb  ber  3:ertiär3eit.  ^n  oielen  fo[[ilen  8d)äbeln  ber= 
[elben  i[t  bie  innere  Sd)äbell)öl)le  genau  belannt  unb  liefert  uns 
[id)ere  ^uf[d)lü[[e  über  bie  ©rö^e  unb  teiltDei[e  auc^  über  ben  5Bau 
bes  baoon  um[c^lo[[enen  ©et)irn5.  Da  seigt  [id)  benn  innerl)alb 
einer  unb  ber[elben  £egion  (3.  ©.  ber  Huftiere,  ber  9?aubtierc,  ber 
$crrcnttere)  ein  geroaltigcr  gort[d)ritt  oon  hzn  älteren  eo3änen 


(Elftes  Äapitcl.    UnjterbUd)!ctt  bcr  Seele.  113 

unb  oltgosänen  ju  ben  jüngeren  miosänen  unb  pliojänen  93er= 
tretern  besjelben  Stammes;  bei  \)tn  le^tercn  ijt  has  (5e!)trn  (im 
5^ert)ältni5  %ux  5^örpergröfee)  6 — 8  mal  [o  grofe  als  bei  ben  erjteren. 
^ud)  jene  ^öct)jte  (EntDoidelungsjtufe  bes  $Betoufet[eins,  tDeI(i)e 
nur  ber  5^ulturmen[d)  erreid)t,  \)ai  [id^  erjt  allmät)ltd)  unb  jtufen= 
Doeife  —  thtn  huxd)  "ötn  (^ort[d)ritt  ber  Äultur  [elbjt  —  aus  nieberen 
3ujtänben  entroicfelt,  roie  toir  [ie  no(f)  I)eute  bei  primitioen  9latur= 
oölfern  antreffen.  !Das  jeigt  uns  [(i)on  bie  33ergleid)ung  il)rer 
Spradien,  tx)el(i)e  mit  berjenigen  ber  Segriffe  eng  oerfnüpft 
ift.  3^  t)öi)er  \xdf  beim  benfenben  Ruiturmenfdien  bie  ©egriffs= 
bilbung  enttüic!elt,  je  met)r  er  fäf)ig  roirb,  aus  3at)Ireid)en  oer^ 
fd)iebenen  (ginjel^eiten  bie  gemeinfamen  5Öler!maIe  3u[ammen= 
3ufa[fen  unb.  unter  allgemeine  ^Begriffe  ju  bringen,  befto  flarer 
unb  tiefer  toirb  bamit  [ein  Seroufetfein. 


< u 

■ 


(ftfte«  ^apitcL 

iln^UxUx^Uxt  bet  Seele* 

9D^onift{fc()e  6tubtcn  über  ^^anati^mu^  unb  ^ti)anxßmviß, 
^o^mifc|)e  unb  perf5nli4)c  llnfterblic^feit,    6ee(en=6ubftanä. 


Selbem  roir  uns  von  ber  genetifd)en  Setracf)tung  ber  Seele  ju 
ber  großen  ^i^age  il)rer  „ltnfterblid)!eit"  roenben,  betreten  mir  jenes 
l)öd)fte  ©ebiet  bes  Aberglaubens,  tr)el(f)es  getoiffermafeen  bie  un= 
3erjtörbare  3i^ö^cne  aller  mt)jtif(i)en  unb  bualiftif d()en  93orjtellungs= 
freife  bilbet.  Denn  bei  bie|er  5^arbinalfrage  fnüpft  \\d)  an  bie  rein 
pt)ilo[opl)i[^en  9Sorjtellungen  mel)r  als  bei  jebem  anberen  Problem 
bas  egoijti[d)e  Sntereffe  ber  men[(i)licf)en  ^erfon,  toelcfie  um  jeben 
^reis  il)re  iniboibuelle  gortbauer  über  ben  Xoh  l)inaus  garantiert 
^aben  mill.  -  Diefes  ,,l)öt)erc  ©emütsbebürfnis"  ijt  [o  mä(f)tig,  ha^ 
es  alle  logi[(f)en  Sd)lü[[e  ber  fritifc^en  93ernunft  über  ben  Raufen 
toirft.  ©etoufet  ober  unbetou^t  toerben  bei  ben  meijten  SJienftfien 
alle  übrigen  allgemeinen  5tn[i(i)ten,  al[o  aud)  bie  gange  SBelt* 
anfd)auung,  Don  bem  Dogma  ber  per[önlid)en  Unjterblid)!eit  be= 
einflufet,  unb  an  biefen  tl)eoreti[cl)en  3i^i^tum  fnüpfen  [ic^  praftifc^e 
Folgerungen  oon  roeitejtreid)enber  2Bir!ung.  (Bs  u)irb  bal)er  unfere 
Aufgabe  [ein,  alle  Seiten  bic[es  toic^tigen  Dogma5jfriti[(^  ju  prüfen 
unb  [eine  Unl)altbarfeit  gegenüber  ttn  empiri[ctfen  (£r!enntni[[cn 
er  mobernen  Biologie  na^3uu)ei[en. 

Äacdet,  ^eWrätfet.  8 


114  (Elftes  Raviitl 


5lt^attisittus  uttb  I^anatismus.  Um  einen  furzen  unb  be« 
quemen  ^tusbnid  für  bie  beiben  entgegcnge[e^ten  ©ninban« 
[diauungen  über  bie  Unjterbli(i)feitsfrage  ju  l)aben,  be3eid)nen 
roir  ben  ©lauben  an  bie  „pcr[önlid)e  Hnjterblid)!eit  bes  9??en[4en" 
als  5ltf)antsmus.  I)agegen  nennen  tüir  3:i)anati6mu6  bie 
Hber^eugung,  bafe  mit  bem  Xobe  bes  9Jten[d)en  nid)t  nur  alle  übrigen 
pt)i)[ioIogi[(^en  ßebenstätigfeiten  erlöfc^en,  [onbem  auc^  bi( 
„Seele"  oerfc^toinbet,  b.  t).  jene  Summe  von  ©e^imfunftionen, 
tDeId)e  ber  p[r)^i[d)e  Dualismus  als  ein  eigenes  „2Be[en",  un= 
abl)ängig  von  ttn  übrigen  £ebensäufeerungen  bes  lebenbigen 
.Körpers,  betrad)tet. 

3nbem  toir  l)ier  bas  pl)i)fiologii'c^e  Problem  bes  Xobes  be= 
rül)ren,  betonen  tüir  norf)mals  tttn  tnbiüibuell.en  (Sljarafter 
biefer  organi[d)en  9laturer[d^ einung.  2Bir  t)erjtel)en  unter  Zoh  aus= 
[(^liefelid)  bas  befinitioe  5luft)ören  ber  £ebenstätigfeit  bes  organi[cl)en 
^nbiüibuums,  glei(i)Diel  ii)el(f)er  Kategorie  ober  toel^er  Stufen^ 
folge  ber  ^^'^ioibualität  bas  betreffenbe  (Einselroefen  angeprt. 
Der  9[Renf(^  ijt  tot,  roenn  feine  ^er[on  ftirbt,  gleid^oiel,  ob  er  gar 
feine  9lad)!ommenf(i)aft  ^interlajfen  l)at,  ober  ob  er  Rinber  er* 
jeugt  I)at,  beren  9la(i)!ommen  fid)  burd)  oiele  ©enerationen 
frucl)tbar  fortpflansen.  'Offlan  fagt  ja  in  getoiffem  Sinne,  hal^ 
ber  „©eijt"  großer  äJiänner  (3.  ^.  in  einer  Dr)najtie  I)eroorragenber 
§err[(i)er,  in  einer  OrötTiilie  talentooller  ilünjtlcr)  burd)  ®enera= 
tionen  fortlebt;  unb  eben[o  fagt  man,  ta^  bie  „Seele"  ausgeseid)^ 
neter  grauen  oft  in  tttn  5^inbern  unb  ilinbesünbern  [id)  forterl)ält. 
hinein  in  biefen  (fällen  l)anbelt  es  fid)  ftets  um  oerxoidelte  SBor* 
gänge  ber  23  er  erbung,  bei  toeld)en  eine  abgelöjte  mifro[!o= 
pif5)e  36ne  (bie  Spermajelle  bes  23aters,  bie  (£i3elle  ber  Salutier) 
getoiffe  (£igen[d)aften  ber  Subjtans  auf  bie  91ad)fommen  über« 
trägt.  Die  ein3elnen  ^erfonen,  toeld)c  jene  ©e[(^te^ts3ellen 
3U  3^au[enben  probu3ieren,  bleiben  tro^bem  jterblid),  unb  mit 
il)rem  3^obe  erlif^t  if)re  inbioibuelle  Seelentätigfeit  ebenfo  roie 
jebe  anbere  pl)t)[iologi[c^e  gunftion. 

Jlostntfd^e  unb  :perföttlt(^e  Unjterblt^fett.  SBenn  man  ben 
begriff  ber  Unjterblid^jeit  gan3  allgemein  auffaßt  unb  auf  bie 
®e[amtl)eit  ber  ertennbaren  9latur  ausbe!)nt,  fo  getoinnt  er 
Boi[[en[d)aftlid)e  Sebeutung;  er  er[d)eint  bann  ber  moni|ti[d)en 
^l)ilo[opl)ie  nid)t  nur  annehmbar,  [onbem  felbjtoerjtänblid).  Denn 
bie  Xl)e[e  oon  ber  Knserftörbarfeit  unb  etoigen  Dauer  alles  Seienben 
fällt  bann  3ufammen  mit  unferem  l)öd)jten  5Raturge[e^e,  bem 
Subftansgefe^  (12.  5lapttel).  2Bir  werben  biefe  !osmifd)e  Un» 
jterblid)!eit  [päter,  bei  ©egrünbung  ber  £el)re  oon  ber  (£rl)altung 
ber  5^raft  unb  bes  Stoffes,  ausfül)rlid)  erörtern;  je^t  toenben  roir 


HnjtcrbUrfjtctt  ber  Seele.  115 


■ 


uns  [ogletd)  jur  Rriti!  jenes  „Unjterblt^feitsglaubens",  ber  ge= 
tüöl)nlid)  allein  unter  biefent  Segriffe  üerjtanben  toirb,  ber  3^= 
mortalität  ber'perfönlid^en  Seele.  isIBir  unter[ud)en  3unäd)jt 
bie  23erbreitung  unb  (£ntjtel)ung  biefer  mi)|ti[d)en  unb  bualijti[d)en 
33orfteIIung  unb  betonen  babei  befonbers  bie  roeite  33erbreitung 
itires  ©egentetls,  bes  moni[ti[d)en,  empirifd)  begrünbeten 
3:i)anatismu5.  3<^  unter[d)eibe  t)ier  als  jtoei  toefentlic^  üer= 
[d)iebene  (£rf (Meinungen  besfelben  ben  primären  unb  ben  [e!un  = 
baren  Fanatismus;  bei  erjterem  ijt  ber  SDiangel  bes  Unjterblid)= 
feitsbogmas  ein  ur[prüngli^er  (bei  primitioen  5Raturt)öI!ern) ;  ber 
[efunbäre  3:t)anati5mus  bagegen  ift  bas  fpäte  (Srseugnis  »emunft* 
gemäßer  Sflaturerfenntnis  bei  f)0(f)  enttoidelten  Kulturcölfem. 

primärer  S^anclismus  (HrfptüttöH^er  SRangel  ber  Un« 
jterblit^feitstbec).  3"  fielen  pI)iIofop^i[d)en  unb  befonbers 
tt)eoIogi[^en  S(i)riften  lefen  tüir  nod)  l)eute  bie  ©el)auptung,  ha^ 
ber  ©laube  an  bie  per[önli(i)e  Unjterblid^feit  ber  menfd)lid)en  Seele 
allen  S[Ren[d)en  urfprünglirf)  gemeinfam  [ei.  Das  ift  falfd).  Diefes 
I)ogma  ijt  loeber  eine  urfprünglid)e  93orjtenung  ber  menfd)Ii<i)en 
35ernunft,  nod)  I)at  es  jemals  allgemeine  ^Verbreitung  gel)abt. 
3n  biefer  5Be3iet)ung  ift  cor  allem  tüid)tig  bie  [id)ere,  erft  neuerbings 
burd)  bie  o ergleid) enbe  (£tl)noIogie  feftgeftellte  3:at[ad)e,  tio^  mel)rere 
iTlaturoöÜer  ber  ältejten  unb  primitiojten  Stufe  ebenforoenig  t»on 
einer  Unjterblid)!eit  als  oon  einem  ©otte  irgenb  eine  SSorjtellung 
I)aben.  Das  gilt  namentlid^  oon  ben  2Bebbas  auf  (£er)Ion,  jenen 
primitioen  ^i)gmäen,  bie  toir  auf  (Srunb  ber  ausge5eid)neten  3^or* 
fd)ungen  ber  Ferren  Sara  [in  für  einen  Hberrejt  ber  ältejten 
inbi[d)en  „Hrmen[d)en"  l)alten;  ferner  üon  mel)reren  ältejten 
Stämmen  ber  näd)jtDertDanbten  Draoibas,  oon  htn  inbifd^en 
Seelongs  unb  einigen  Stämmen  ber  ^uftralneger.  (£ben[o  !ennen 
mel)rere  ber  primitiojten  Uroöüer  ber  ameri!ani[d)en  9?a[[e,  im 
inneren  ®ra[ilien,  am  oberen  ^magonenjtrom  ujro.,  toeber  ©ötter 
noc^  Unjterblid)!eit. 

Se!unbörer  S^anotismus  (©rtöorbener  JDlangel  ber  Hn« 
fterbltt^ieitstbee).  ^m  ©egenja^e  ju  bem  primären  Xl)anatismus, 
ber  [id)er  bei  "ötn  ältejten  llrmen[d)en  ur[prünglid)  bejtanb  unb  nod) 
l)eute  bejtef)t,  ijt  ber  [efunbäre  SJiangel  bes  Unjterblid^feitsglaubens 
erjt  [pät  entjtanben;  er  ijt  erjt  bie  reife  grud)t  eingef)enben  9lad)= 
benfens  über  „£eben  unb  Xob",  alfo  ein  ^robutt  ed)ter  unb  un= 
abpngiger  pt)iIo[opI)i[d)er  9?efIeiion.  ^Is  [old)er  tritt  er  uns  [d)on 
im  [ed)jten  3aif)Tl)iin'56i^t  v.  (£$r.  bei  einem  3:eile  ber  ioni[d)en 
9'Iaturpt)ilo[opf)cn  entgegen,  [päter  bei  htn  (Srünbern  ber  alten 
materialijti[d)en  '>^I)ilo[opl)ie,  bei  Demotritos  unb  (Srfipebotles, 
erauc^beiSimonibesunb(£pi!ur,beiSenecaunb^linius, 


116  (giftes  ilapitel. 

om  melften  burd^gebtlbct  bei  fiucrcttus  daxus.  ^Is  bann  narfi 
bem  Untergange  bcs  !la[fi[d)en  Altertums  bas  (£l)rijtentum  [id) 
ausbreitete,  geioann  mit  ii)m  bcr  1Ätl)ani5ntU5,  als  einer  feiner 
u)icf)tigjten  ©taubensartifel,  bie  I)öd)fte  Sebeutung. 

SBö^renb  ber  langen  ©eiftesnad^t  bes  d)riftlict)en  SJtittelalters 
roagte  begreif  lief)  ertoeife  nur  feiten  ein  fül)ner  5teiben!er,  feine  ab= 
u)eicE)enbe  Hberseugung  ju  äußern;  bie  Seifpiele  von  (Salilei, 
Don  ©iorbano  93runo  unb  anberen  unabl)ängigen  ^l)ilofopl)en, 
iDel(f)e  von  ben  „9'^a(i)folgern  (£l)rijti"  ber  Xortur  unb  bem  Sd)eiter= 
baufen  überliefert  ujurben,  fd)redten  genügenb  jebes  freie  Setenntnis 
ab.  Diefes  rourbe  erjt  toieber  möglid),  nac^bem  bie  ^Deformation 
unb  bie  9lenaiffance  bie  Mmad)t  bes  ^apismus  gebro^en  l)atten. 
X)ie  (5efc^i(f)te  ber  neueren  ^^ilofop^ie  jeigt  bie  mannigfaltigen 
2Bege,  auf  htntn  bie  gereifte  menf(t)lid^e  93emunft  bem  5lberglauben 
ber  Unjterblid)feit  3U  entrinnen  Derfud)te.  3mmerf)in  oerliel)  \\)m 
bie  enge  93erfnüpfung  mit  bem  d)riftlicl)en  I)Dgma  aucl)  in  t>tn 
freieren  proteftant<f(l)en  Greifen  fold^e  ^aä)t,  bafe  felbft  bie  melften 
überzeugten  3rrciben!er  il)re  9[Reinung  ftill  für  fi(^  bel)ielten.  9lur 
feiten  toagten  einzelne  l)ert)orragenbe  Scanner,  il)re  Überzeugung 
oon  ber  Unmöglid)!eit  ber  Seelenfortbauer  nad)  bem  2obe  frei 
3U  befennen.  SBcfonbers  gefi^al)  bies  in  ber  ztceiten  Hälfte  bcs 
ad)t3el)nten  ^^^^^unberts  in  ^xanfxtid)  oon  S3oltaire,  Danton, 
9Jlirabeau  u.  a.,  ferner  oon  htn  ^auptoertretern  bes  bamaligen 
93laterialismu5,  Solbad),  ßamettrie  u.  a.  Diefelbe  ilber= 
jeugung  oertrat  aud)  ber  geiftreid)e  i^i^eunb  ber  le^teren,  ber  größte 
ber  ^ol)en3ollemfürften,  ber  „^l)ilofopl)  oon  Sansfouci".  2Bas 
mürbe  Sri^ißiJictd)  bcr  ©rofec,  biefer  gefröntc  3:i)anatift  unb 
^tl)eift,  fagen,  roenn  er  f)cute  feine  moniftifc^en  ttberäcugungcn 
mit  'om  mittelalterlid)  =  bualiftif(^en  Runbgebungcn  feiner  lRad)= 
folger  Dergleid)en  tonnte! 

Unter  ben  ben!enbcn  Kirsten  ift  bie  Überzeugung,  'öa^ 
mit  bem  3:obe  bes  9Jlenf d)en  aud)  bie  (Eiijtenz  feiner  Seele  auft)öre, 
mo\)l  feit  5öl)ri)ii^ö^i^ten  fel)r  oerbreitet  getoefen;  aber  auc^  fie 
l)üteten  fid)  meijtens  woi){,  biefelbe  aus3ufpred)en.  5lud)  blieb 
immerl)in  nod)  im  18.  3ttl)^l)unbert  bie  empirifd)e  i^enntnis  bes 
(5el)irns  fo  unoollfommen,  bafe  bie  „8eele"  als  ein  rätfell)after 
SBeu)ol)ner  besfelben  il)re  freie  (^lijtenz  fortfrijten  tonnte.  (£nb= 
gültig  befeitigt  rourbe  fie  erft  burd)  bie  5ortfd)ritte  ber  Biologie 
in  ber  zcoeiten  .^älfte  bes  19.  3af)t^unberts.  Die  SBegrünbung  ber 
Def3enben3tt)eorie  unb  ber  3cnenfl)eorie,  bie  überrafc^cnben  C£nt= 
bedungen  ber  Ontogenie  unb  ber  (£iperimentalpl)i)fiologie,  »or 
allem  aber  bie  berounbemstoürbigen  gortfd)ritte  bcr  müroffopifc^en 
©cf>lrnanatomie    entzogen    bem    ^tl)ani5mu5    allmäl)li^    jcbcn 


ltnytcrbUd)!ctt  bcr  Seele.  117 

©oben,  fo  ba^  je^t  nur  feiten  ein  [ad)!unbtger  unb  et)rU(i)er  ^Biologe 
nod)  für  bte  Unjterbli(i)!eit  ber  Seele  eintritt.  I)ie  monijti[d)en 
WMopt)en  bes  19.  3a^i^l)unbert5  (Strauß,  Sreuerbac^, 
©üd)ner,  5Rau,   Spencer  u[ro.)  finb  fämllid)   3:i)anati[ten. 

^t^antsmus  unb  IReligion.  Die  roeitejte  33erbreitung  unb 
bie  l)öc^jte  ^Bebeutung  \)ai  bas  Dogma  ber  per[önli(t)en  Hnfterb= 
lid)!eit  erjt  burd)  [eine  innige  23erbinbung  mit  ben  (5Iaubenslet)ren 
bes  (£I)riftentum5  gefunben;  unb  bie|e  ^at  aud)  3U  ber  irrtüm= 
Iid)en,  ()eute  nod)  fe^r  oerbreiteten  9ln[i(f)t  gefüt)rt,  ha^  jenes 
Dogma  überhaupt  einen  u)e[entlid)en  (Srunbbejtanbteil  jeber  ge= 
läuterten  9?eIigion  Mibe.  Das  ijt  burc^aus  nirfjt  ber  %al\ !  Der 
©laube  an  bie  Unfterblid)feit  ber  Seele  fel)lt  oolljtänbig  hm 
meiften  I)öl)er  entroicfelten  orientalifc^en  Üteligionen;  er  fe^lt  bem 
©ubbl)i5mu5,  ber  nod)  l)eute  über  30  ^ro3ent  ber  gesamten 
men[d)Iicl^en  SeDöIferung  ber  (£rbe  bel^errfc^t;  er  fetjlt  eben[o  ber 
alten  33oIf5religion  ber  (i^f)ine[en  toie  ber  reformierten,  [päter  an 
beren  Stelle  getretenen  9teIigion  bes  (Sonfucius;  unb,  toas  bas 
2ßict)tigjte  ijt,  er  fel)lt  ber  älteren  unb  reineren  jübifc^en  9?eIigion; 
loeber  in  titn  fünf  SBüd)ern  StRofes'  nod)  in  jenen  älteren  S(^riften 
bes  eilten  3:ejtamente5,  ix)eld)e  üor  bem  babi)loni[d)en  (£iil  ge= 
[d)rieben  tourben,  ijt  bie  fiel)re  t)on  ber  inbioibuellen  Orortbauer 
nad)  bem  3^obe  3U  finben. 

©ntjtel^ttnö  bes  Hnfterbli<^feit50louben$.  Die  mpjti[d)e  S3or= 
ftellung,  ha^  bie  Seele  bes  9Jien[d)en  nad)  [einem  Xoht  fortbauere 
unb  unjterblid)  roeiterlebe,  fel)lte  bem  ältesten,  [d)on  mit  Sprad)e 
begabten  Urmen[d)en  getoife  eben[o  toie  [einen  SSorfaI)ren  unb 
roie  [einen  mobernen,  roenig  enttoidelten  9lad)!ommen,  hen 
2Bebbas  oon  (£et)lon,  htn  Seelongs  oon  3"i>ictt  u^tb  anberen  primi= 
tioeu  9laturt)öl!em.  (Sr[t  bei  3unel)menber  33ernunft,  bei  ein* 
ge^enberem  9lad)benfen  über  £eben  unb  3^ob,  über  Sd)laf  unb 
Xraum,  entroidelten  [id)  bei  t)er[d)iebenen  älteren  9Jlen[(l^enra[[en 
—  unabl)ängig  Doneinanber  —  mr)jti[d)e  33or[tellungen  über  bie  bua^» 
li[ti[d)e  3u[ammen[e^ung  un[ere5  Organismus.  Sel)r  t)er[d)iebene 
SJlotioe  roerben  bei  bie[em  S3organge  3u[ammengetoirft  l)aben: 
^l)nenfultus,  93ertDanbtenliebe,  £ebenslu[t  unb  2Bun[d)  ber  fiebens* 
oerlängerung,  Hoffnung  auf  be[[ere  £ebensDer^ältni[[e  im  3cTt[eit5, 
Hoffnung  auf  $Belol)nung  ber  guten  unb  ©eftrafung  ber  [^led)ten 
iaten  u[id.  Die  oergleid^enbe  ^l)t)[iologie  l)at  uns  neuerbings 
eine  grofee  ^n3al)l  oon  [et)r  Der[d)iebenen  berartigen  ©laubens« 
bid)tungen  fennen  gelel)rt;  großenteils  Rängen  [ie  eng  3u[ammen 
mit  'bm  ältejten  formen  bes  ©ottesglaubens  unb  ber  9?eligion 
überhaupt.  3n  ben  meijten  mobernen  9?eligioncn  tjt  bcr  ^tl)a  = 
nismus  eng  oerfnüpft  mit  bem  3:^ei5mus.    Die  33or[tellung, 


118  (Elftes  Kapitel. 


tDel(f)e  |t(i)  bte  meisten  ©laubigen  von  i\)xtx  „perfönlid)en  uw 
fterblict)en  6eele"  bilben,  tjt  ebenfo  materialifti[(^,  toie  bas  inbioibu» 
eile  33ilb  von  il)rem  „perfönlic^en  lieben  ©ott". 

6;^rtftlt^er  Unjterbltd^feitsglowbe.  2Bte  allgemein  befannt, 
l)at  bas  Dogma  Don  ber  llnjterbli(i)!eit  ber  Seele  in  ber  d^rijtlict)en 
9?eligion  fcf)an  lange  biejenige  fejte  gorm  angenommen,  mtld)t 
[id)  in  bem  ©laubensartüel  au5[pricf)t:  „^d)  glaube  an  bie  ^uf= 
erjtel)ung  bes  gleifc^es  unb  ein  eroiges  ßeben."  3Bie  am  Djterfejt 
(£^riftus  [elbft  oon  t>tn  Xoitn  auferjtanben  ift  unb  nun  in  (Smigfeit 
als  „(Sottes  Sol)n,  fi^enb  3ur  re(i)ten  ^anti  ©ottes",  geba(i)t  toirb, 
oerfinnli^en  uns  un3äl)lige  Silber  'unb  JÖegenben.  ^n  gleicher 
2Beife  toirb  aud)  ber  SKenfd)  „am  }üngjten  Xage  auferftel)en"  unb 
[einen  ßol)n  für  bie  3rüt)rung  feines  einstigen  (Erbenlebens  emp= 
fangen.  Diefer  gange  d)riftlid)e  3Sorjtellungsfreis  ijt  bur^  unb 
burd)  materialiftifd)  unb  ant^ropijtifc^ ;  er  erl)ebt  [id)  nic^t  oiel 
über  bie  ent[pred)enben  rol)en  23orftellungen  oieler  nieberer  ^atur= 
Dölfer.  Dafe  bie  „^uferjte^ung  bes  ^I^iff^ßs"  unmöglid)  ift,  toeife 
eigentlid)  jeber,  ber  einige  Kenntniffe  in  Anatomie  unb  ^l)i)[iologie 
befi^t.  Die  materielle  ?tuferftel)ung  (S;i)rijti,  roel^e  oon  SJlillionen 
gläubiger  (Il)riften  an  jebem  Dfterfejte  gefeiert  toirb,  ijt  ebenfo  ein 
reiner  9Jlr)tl)us  toie  bie  „^ufertoedung  oon  titn  Xoten",  toelc^e  er 
mel)rfad^  ousgefül)rt  ^aben  [oll.  ^ür  bie  reine  33emunft  [inb  bie[e 
mi)[ti[^en  ©laubensartifel  eben[o  unannel)mbar  roie  bie  bamit 
oerfnüpfte  §r)potl)e[e  eines  „etüigen  £ebens". 

3Retap^t)fif(^er  Mnftctbltc^fettsgloube.  Gegenüber  bem 
materiali[ti[c^en  ^tl)anismus,  tDeld)er  in  ber  (^ri[tlid)en  unb  mol)am= 
mebani[d)en  Rird)e  l)err[(^enb  i[t,  oertritt  [d^einbar  eine  reinere 
unb  l)öl)ere  ©laubensform  ber  metapl)i)[i[d)e  ^tl)ani5mus, 
roie  i^n  bie  mei[ten  buali[ti[d)en  unb  [pirituali[tif^en  ^l)ilo[opI)en 
lel)ren.  ^tls  ber  bebeutenb[te  $Begrünber  bes[elben  i[t  ^lato  3U 
betrachten;  er  lel)rte  \d)on  im  oierten  5öl)rTf)wnbert  oor  (i\)x.  jenen 
oolltommenen  Dualismus  groifc^en  fieib  unb  Seele,  roeld^er  bann 
in  ber  d)ri[tlid)en  ©laubenslel)re  ju  einem  ber  tI)eoreti[d)  toid)tigjten 
unb  pra!ti[d)  roir!ungsooll[ten  ^rtifel  tourbe.  Der  fieib  i[t  [terblic^, 
materiell  (pl)i)[i[c^);  bie  Seele  i[t  un[terblid),  immateriell  (meta= 
pl)r)[i[d)).  33eibe  [inb  nur  roäI)renb  bes  inbioibuellen  fiebens  Dor= 
übergel)enb  üerbunben.  Da  ^lato  ein  eroiges  Qtbtn  ber  [elb* 
[tänbigen  Seele  [otDol)l  cor  als  nad)  bie[er  geitro eiligen  93erbinbung 
annimmt,  ijt  er  aud)  ^nl)änger  ber  „Seelentoanberung";  bie 
Seelen  eiijtierten  als  [old)e,  als  „eroige  Sbeen",  [d)on  beoor  [ie  in 
ben  men[d)lid)en  5^örper  eintraten.  5Rad)bem  [ie  ben[elben  oer= 
la[[en,  [ud)en  [ie  [id)  als  3Bol)nort  einen  anberen  Äörper  aus,  ber 
i^rer  $Be[d)affent)eit  am  meijten  angeme[[en  ijt;  bie  Seelen  oon 


Unytcrblid)!e{t  bcr  Seele.  119 

graufamen  !Ir)rannen  fd)lüpfen  in  ben  Äörper  oon  Sßölfen  unb 
©eiern,  biejcnigen  t)on  tugenbl)aften  5Irbeitern  in  htn  fieib  von 
©ienen  unb  ^mei[en  ufu).  I)ie  ünblic^en  unb  naioen  5tn[(i)auungen 
biefer  platonifcben  (5eelenlel)re  liegen  ouf  ber  $anb;  hti  toeiterem 
(Einbringen  er[(i)einen  [ie  oöllig  unvereinbar  mit  unferen  feft= 
gegrünbeten  pI)i)[ioIogif(^en  (£r!enntni[[en.  2Bir  erroä!)nen  [ie 
I)ier  nur,  toeil  fie  tro^  il)rer  ^bfurbität  hm  größten  !uItur^ijtori[<^en 
CBinflu^  erlangten.  Xtnn  einerfeits  fnüpfte  an  bie  platonifcfie 
(5eelenlef)re  bieSOIpfti!  ber  9^eupIatoni!er  an,  üoeltfie  in  bas  6^{)riften= 
tum  (Eingang  getoann;  anbererfeits  tourbe  [ie  [päter  3U  einem 
^auptpfeiler  ber  [pirituali[ti[c^en  unb  ibeali[ti[d)en  ^]^iIo[opt)ie. 
iie  pIatoni[^e  ,,5i5^^"  »erroanbelte  \\d)  [päter  in  ben  Segriff  ber 
6eelen[ub[tan3,  bie  allerbings  eben[o  unfaßbar  unb  meta= 
pl)r)[i[^  i[t,  aber  bod)  oft  einen  pt)r)[i!ali[d)en  ^n[d)ein  getoann. 

Seelenfubjtans.  X)ie  ^uffa[[ung  ber  Seele  als  „Sub[tan3" 
i[t  bei  Dielen  ^[r)(i)oIogen  [et)r  unflar;  balb  toirb  bie[elbe  in  abjtraftem 
unb  ibeali[ti[c^em  Sinne  als  ein  „immaterielles  2ße[en"  von  gang 
eigentümli(f)er  ^rt  betrautet,  balb  in  fonfretem  unb  realiiti[(^em 
Sinne,  balb  als  ein  unklares  äRittelbing  3U)i[d)en  beiben.  galten 
töir  an  bem  moni[ti[cl)en  Subjtansbegriffe  fejt,  toie  toir  il)n  (im 
12.  5^apitel)  als  einfa(i)jte  (Srunblage  un[erer  ge[amten  2Belt= 
an[cl)auung  enttoideln,  [0  i[t  in  bem[elben  (Energie  unb  9}?aterie 
untrennbar  cerbunben.  Dann  mü[[en  toir  an  ber  „Scelen[ubjtan3" 
bie  eigentlid^e,  uns  allein  be!annte  p[r)^i[(i)e  (Energie  unter= 
[Reiben  ((Empfinben,  33or[tellen,  SBollen)  unb  bie  pft)d)i[d)e 
9[Raterie,  burd)  toel^e  allein  bie[elbe  3ur  2Bir!ung  gelangen 
fann,  al[o  bas  lebenbige  ^lasma.  23ei  htn  l)ö^eren  2^ieren  bilbet 
bann  ber  „Scelenftoff"  einen  !teil  bes  9lert)en[r)[tems,  bei  "Otn 
nieberen,  nerr>enlo[en  Vieren  unb  htn  ^flan3en  einen  3:eil  il)res 
t)iel3elligen  ^lasmaförpers,  bei  ben  ein3elligen  ^rotijten  einen 
3:eil  il)res  plasmati[d)en  3enen!örpers.  Somit  fommen  toir 
mieber  auf  bie  Seelenorgane  unb  gelangen  3U  ber  naturgemäßen 
(Erfenntnis,  ha^  bie[e  materiellen  Drgane  für  bie  Seelentätigfeit 
unentbebrli^  [inb;  bie  Seele  [elbft  aber  i[t  a!tuell,  ift  hit  Summe 
ibrer  pl)i)[iologi[(^en  (5^un!tionen. 

Zubers  ge[taltet  [id^  ber  .Segriff  ber  fpe3ifi[cl)en  Seelen[ub[tan3 
bei  Dielen  buali[ti[d)en  ^po[opben  unb  3:i)eologen.  Die  un= 
jterblic^e  „Seele"  [oll  bann  3ijoar  materiell  [ein,  aber  bod^  un[id)tbar 
unb  gan3  t)er[d)ieben  oon  bem  [i(i)tbaren  Körper,  in  toeld^em  [ie 
roobnt.  Die  Un[id^tbar!eit  ber  Seele  toirb  babei  als  ein  [e:^r 
toe[entli(^es  Attribut  ber[elben  betra(l)tet.  (Einige  oergleid)en  babei 
bie  Seele  mit  bem  5ltl)er  unb  betrachten  [ie  gleich  bi^fem  als  einen 
äufeerjt  feinen  unb  leii^ten,  \)öä)\t  beioeglid)en  Stoff  ober  ein 


120  Giftes  5^apitel. 


imponberabics  ^gcns,  tt»cld)cs  überall  3tDt[d)en  beh  toägbaren 
Xeilrf)en  bes  lebenbtgen  Organismus  [d)toebt.  Rubere  l)mgegen 
Dergletd)en  bte  Seele  mit  bem  roe^enben  2Binbe  unb  [(f)reiben  il)r 
aI[o  einen  gasförmigen  3ujtanb  3u;  unb  biefer  93ergleid)  ijt  ja  aurf) 
berjenige,  tDeId)er  juerjt  bei  ben  9laturüöl!ern  ju  ber  [päter  fo 
allgemein  geworbenen  bualijtifd)en  ^uffaffung  füt)rte.  SBenn  ber 
93len[d)  ftarb,  blieb  ber  Rörper  als  fieid)e  3urücf;  bie  unjterblid)e 
Seele  aber  „cntflol)  aus  il)m  mit  bem  legten  ^temjugc". 

^t^erfeete.  Die  3Sergleicf)ung  ber  men[d)lic^en  Seele  mit  bem 
pt)i)[i!ali[ci)en  5][tl)er  als  qualitatio  äl)nli(^em  ®ebilbe  I)at  in  neuerer 
3eit  eine  fonfretere  ©ejtalt  gewonnen  burd)  bie  großartigen  (^rort* 
[cl)ritte  ber  £)pti!  unb  ber  (Sleftrijität  (befonbers  in  ben  legten 
Desennien).  Diefe  l)aben  uns  mit  ber  (Energie  bes  ^tl)ers  befannt 
gemacl)t  unb  bamit  sugleid)  getoifle  Sd)lü[fe  auf  bie  materielle 
9latur  biefes  raumerfüllenben  2Befens  gejtattei  Da  id)  biefe 
tDicl)tigen  2Serl^ältni[fc  [päter  (im  12.  5lapitel)  be[pre(l)en  toerbc, 
will  id)  nur  !ur3  barauf  i)intDeifen,  bafe  baburd)  bie  ^nnal)me  einer 
3ltl)erfeele  Dollfommen  unhaltbar  geroorben  ift.  (Eine  fol(^e 
„ät]^erifd)e  Seele",  b.  t).  eine  Seelenfubftanj,  u)eld)e  bem 
pl)i)[i!aliid)en  ^tl)er  äl)nlid)  ift  unb  gleid)  il)m  3roi[d)en  h^n  wägbaren 
!teild)en  bes  lebenbigen  Plasma  ober  ben  (5el)irnmole!eln  fd)webt, 
!ann  unmöglid)  inbioibuclles  Seelenleben  l)ert)orbringen.  2Beber 
bie  mr)jti[d)en  ^n[d)auungen,  weld)e  barüber  um  bie  9Jiitte  unferes 
3at)rl)ünberts  lebl)aft  bisfutiert  würben,  no^  bie  jßerfud)e  bes 
moberncn  9ZeoDitalismus,  bie  mt)jtifd)e  „fiebensfraft"  mit  bem 
pt)r)[i!alifc^en  ^tt)er  in  5Be3iet)ung  ju  [e^en,  [inb  l)eute  mel)r  ber 
2Biberlegung  bebürftig. 

ßuftfeele.  93iel  allgemeiner  oerbreitct  unb  auc^  l)eute  nod) 
in  l)ot)em  ^n[el)en  jtel)t  jene  ^n[d)auung,  weld)e  ber  Seelenfubftanj 
eine  gasförmige  ©e[d)affen^eit  3u[d)reibt.  Uralt  ijt  bie  33er= 
gleid)ung  bes  men[(^lid)en  ^temsuges  mit  bem  wel)enben  2Binb= 
^au^e;  beibc  würben  urfprünglid)  für  ibentifd)  get)alten  unb  mit 
bemfelben  Flamen  belegt,  ^nemos  unb  ^[r)d)e  ber  ©riechen, 
^nima  unb  Spiritus  ber  5Römer  [inb  urfprünglid)  Se3eid)nungen 
für  ben  £uftl)aud)  bes  2Binbes;  [ie  würben  oon  biefem  auf  'ötn 
^tem^aud)  bes  9D'len[d)en  übertragen.  Später  würbe  bann  bie[er 
„lebenbige  £)bem"  mit  ber  „fiebenstraft"  ibentifisiert  unb  gule^t 
als  bas  2Be[en  ber  Seele  [elbjt  ange[el)en  ober  in  engerem  Sinne 
als  beren  l)öd)jte  5lußerung,  ber  „©eijt".  Daoon  leitete  bann 
weiterl)in  wieber  bie  ^t)anta[ie  bie  mi)[ti[d)e  33or[tellung  ber  in» 
biüibuellen  (Seijter  ab,  ber  „(5e[pen[ter"  („Spirits");  aud)  bie[e 
werben  ja  l)eute  noc^  meijtens  als  „luftfötmige  9Be[en"  —  aber 
begabt  mit  ben  p^t)[iologi[d)en  gunttionem  bes  Organismus  l  — 


I 


Unjierba^feit  bcr  Seele.  121 

üorgejtellt;  in  Tnand)en  berüf)Tntert  Spmttjten!ret[en  tocrben  bie* 
felben  freilief)  tro^bem  pf)otograpI)iert ! 

Sflüfftfi^  Uttb  fefte  Seele.  I)er  (£iperimentalpf)i)fi!  ijt  es  in  ben 
legten  Dezennien  bes  19.  5af)rl)unbert5  gelungen,  alle  gasförmigen 
5^örper  in  t>tn  tropf bar^flüf [igen  —  unb  t>k  mcijten  aud)  in  titn 
fejten  —  ^ggregatjujtanb  überjufü^ren.  (£5  bebarf  baju  tneiter 
nicbts  als  geeigneter  Apparate,  tDel(f)e  unter  fel)r  l)ol)em  i)rud  unb 
bei  fef)r  niebriger  Temperatur  bie  ©afe  [ef)r  jtar!  tomprimieren. 
yii&)i  allein  bie  luftförmigen  (Elemente,  Sauerftoff,  2Ba[[erjtoff, 
«Sticfjtoff,  [onbern  aucl)  jufammengefe^te  (5afe  (5^ol)len[äure)  unb 
©asgemenge  (atmo[p]^äri[d)e  £uft)  [inb  [0  aus  beut  luftförmigen 
in  ben  flü[[igen  3ujtanb  üerfe^t  roorben.  I)abur(l)  finb  aber  jene 
un[id)tbaren  i^örper  für  jebermann  [icf)tbar  unb  in  getüiffem 
Sinne  „l)anbgreiflic^"  getoorben.  9Jiit  biefer  $lnberung  ber 
Dic^tigfeit  ift  ber  mr)jti[(i)e  9limbus  per[cl)ix)unben,  toel^er  frül)er 
bas  2ße[en  ber  (Safe  in  ber  gemeinen  ^n[rf)auung  Der[d)leierte,  als 
unficf)tbare  5^örper,  bie  boc^  [i(^tbare  2Birfungen  ausüben.  2Benn 
nun  bie  Seelenfubjtans  toirflid),  toie  oielc  „(5ebilbete"  noc^  f)eute 
glauben,  gasförmig  ujäre,  fo  müfete  man  aud)  imjtanbe  [ein,  [ie 
burd)  ^nioenbung  von  ^ol)em  Xmd  unb  [el)r  nieberer  3:emperatur 
in  ben  flüf[igen  3#aTtb  über3ufül)ren.  SRann  !önnte  i)ann  bie 
Seele,  rDeld)e  im  SUomente  bes  Xobes  „ausgel^auc^t"  toirb,  auf= 
fangen,  unter  [el)r  l)ol)em  !Drucf  bei  nieberer  3^cmperatur  !onben= 
[ieren  unb  in  einer  (5lasfla[d)e  als  „unjterblid^e  5lü[[ig!cit" 
aufbetDal)ren  (Fluidum  animae  immortale).  Durd^  toeitere  %h' 
fü^lung  unb  i^onbenfation  müfete  es  bann  aud^  gelingen,  bie  flüffige 
Seele  in  hm  fejten  3ujtanb  über3ufül)ren  („Seelen[d)nee").  Sis 
je^t  ijt  bas  (Experiment  nod)  nid^t  gelungen. 

Unjterblid^feit  bet  Xierfeele.  2Benn  ber  ^tl)anismus  toa^r 
tt)äre,  tocnn  loirflid)  bie  „Seele"  bes  3)'lenf(l)en  in  alle  (£u3ig!eit 
fortlebte,  [0  müfete  man  gan3  basf elbc  aud^  für  bie  Seele  ber  l)öl)eren 
3:iere  bel)aupten,  minbejtens  für  biejenige  ber  il)m  am  näd)jten  jtel)en= 
ben  Säugetiere  (^ffen,  §unbe  ufu).).  Denn  ber9J?en[d)  3ei(f)net  [id) 
Dor  biefen  legieren  nid^t  burd)  eine  befonbere  neue  5lrt  ober  eine 
eigentümlid)e,  nur  il)m  gufommenbe  ^^unftion  ber  ^[i)c^e  aus, 
[onbern  lebiglid)  bur(^  einen l)öt)eren  (5 r ab  ber  p[t)d^i[d)cn  3^ätig!eit, 
burd)  eine  oolltommenere  Stufe  i^rer  (Snttoidelung.  SBefonbers 
ijt  bei  Dielen  9Jienjd)en  bas  ©eroufetfein  l)öl)er  cntroidelt  als  hti 
ben  meijten  Vieren,  bie  ^rä^ig^^it  ber  3^eena[[o3iation,  bes  Deutens 
unb  ber  93emunft.  ^Ttbejjen  ijt  biejer  Unterfd)ieb  bei  toeitem  nic^t 
fo  grofe,  als  man  geu)öl)nlid)  annimmt;  unb  er  ijt  in  jeber  Se3iel)ung 
öiel  geringer  als  ber  entjpred^enbe  Unterjd)ieb  stoijc^en'ben  ^öf)eren 
nb  nieberen  Xierjeelen  ober  [elbjt  als  ber  Hnterf^ieb  3U)i[(^en  htn 


122  elftes  Äapitcl. 


l)öd)jten  unb  ttefftcn  Stufen  ber  9[Ren[(f)en[eeIe.  2Benn  man  al\o 
bcr  leiteten  „pcrfönltd)c  XlnjterbUd^feit"  3ufcf)retbt,  [o  mufe  man 
[ie  aud)  htn  f)ö^eren  Vieren  3U9ejte!)en.  I)te[e  Hberseugung  von 
ber  inbtotbuellen  Unjterbltd)!ett  ber  Stiere  ijt  benn  oud)  ganj 
naturgemäß  bei  üielen  23öl!ern  alter  unb  neuer  S^xi  gu  finbeu. 

©etoeife  für  hm  tHti^onismus.  X)ie  ©rünbe,  toeIct)e  man  [eit 
3U)eitau[enb  3(1^^^^  für  bie  Unjterblic^teit  ber  Seele  anfül)rt,  unb 
roeld^e  au^  t)eute  noc^  bafür  geltenb  gemalt  toerben,  entspringen 
3um  größten  Xeile  nid)t  bem  Streben  na^  (Srfenntnis  ber  äBat)rt)eit, 
fonbem  t)ielmet)r  bem  [ogenannten  „Sebürfnis  bes  ©emütes", 
b.  t).  bem  ^f)anta[teleben  unb  ber  I)icf)timg.  Um  mit  5^ant  ju 
reben,  ijt  bie  Xtnjterbli^feit  ber  Seele  ein  unbegrünbetes  I)ogma 
für  bie  reine  93ermmft,  ein  bloßes  „^ojtulat  für  hh  prattifd^e 
33emunft".  X)ie[e  le^tere  unb  bie  mit  it)r  3ufamment)ängenben 
„^ebürfni[[e  bes  ©emütes,  ber  moraIi[cf)en  (£r3iei)ung  u[u)."  muffen 
toir  aber  gan3  aus  bem  Spiele  laffen,  toenn  roir  etirlid^  unb  un= 
befangen  3ur  reinen  (£r!enntnis  ber  2BaI)rt)eit  gelangen  toollen; 
benn  biefe  ijt  einsig  unb  allein  bur^  empirifcf)  begrünbete  unb 
logifrf)  flare  Sd)lüffe  ber  reinen  93ernunft  möglid^.  (£s  gilt  alfo  l)ier 
Dom  ^tt)ani5mus  basfelbe,  toie  üom  Xl^eismus;  beibe  finb  nur 
©egenjtänbe  ber  mpftifd^en  Di(f)tung,  bes  tranfsenbcnten  „(5Iau= 
bens",  ni(^t  ber  oemünftig  fd)Iießenben  9[Biffenfct)aft. 

2Bonten  toir  alle  bie  einseinen  ©rünbe  anali)fieren,  toelctie  für 
'otn  Xtnfterblid^feitsglauben  geltenb  gema(i)t  toorben  finb,  fo  roürbe 
fid^  ergeben,  t)a^  nid)t  ein  einsiger  berfelben  toirflid)  roiffen^ 
fd)aftli(i)  ijt;  fein  einsiger  oerträgt  \\d)  mit  htn  Haren  C£r!ennt= 
niffen,  roeldie  njir  burd)  bie  pl)T)fioIogifd)e  ^fr)ct)oIogie  unb  bie 
(£ntroidelung5tt)eorie  in  ben  legten  Desennien  getoonnen  ^dbtn. 
Der  tI)eoIogif<i)e  Seroeis,  baß  ein  perjönlid)er  Sd)öpfer  bem 
9Jtenfct)en  eine  unjterbli(f)e  Seele  eingel)aud)t  l)abe,  ijt  reiner 
9[Rr)t^us.  Der  !osmoIogifd)e  ^Betoeis,  baß  bie  „fittlid)e  2ßelt= 
orbnung"  bie  etoige  gortbauer  ber  menfd)Ii(^en  Seele  erforbere, 
ijt  unbegrünbetes  Dogma.  Der  teIeoIogifd)e  iBetoeis,  baß  bie 
„]^öt)ere  Sejtimmung"  bes  SDknf^en  eine  oolle  ^usbilbung  feiner 
mangelt)aften  irbifd)en  Seele  im  Senfeits  erforbere,  berul)t  auf 
einem  falf(i)en  ^ntl)ropismus.  Der  moralifd)e  23eröeis,  ha^  bie 
9Kängel  unb  bie  unb ef riebigten  2Bünf(i)e  bes  irbif(f)en  Dafeins  burd^ 
eine  „ausgleid)enbe  ©ered)tig!eit"  im  ^enfeits  befriebigt  toerben 
muffen,  ijt  ein  frommer  SBunfrf),  toeiter  nid)t5.  Der  etl)nologif(^e 
^Betoeis,  t>a^  ber  ©laube  an  bie  UnjterblidE)!eit  ebenfo  u)ie  an  (Sott 
eine  angeborene,  allen  9JienfcE)en  gemeinfame  2Bal)r^eit  fei,  ijt 
tatfa(f)licf)er  S^rtum.  Der  ontologif(i)e  ißetöeis,  ha^  bie  Seele 
als  ein  „einfact)e5,  immaterielles  unb  unteilbores  SBefen"  unmöglid) 


Unjterbltcf)!ett  bcr  8ccle.  123 


mit  bem  3:obe  Der[d)tümben  fönne,  berul)t  auf  einer  901x3  falfd)en 
-Huffaffung  ber  pfi)cf)t[d)eTi  (£r|rf)emungen;  |te  ijt  ein  [piritualijti[d)er 
3rrtum.  ^Ile  biefe  unb  anbere  äl)nlt(f)e  „Setoeife  für  ben  ^t^a= 
iiismus"  [inb  l)infälltg  getDorben;  [ie  [tnb  burd)  bie  ix)i[fen[d)aftlid)e 
5\riti!  je^t  befinitio  toiberlegt. 

©etoeife  gegen  ben  ^It^atttstnus.  (gegenüber  htn  angefül)rten, 
|ämtli(^  rm!)altbaren  (Srünben  für  bie  Unjterblt(f)!eit  ber  Seele 
iit  es  bei  ber  I)ol)en  Sebeutung  bie[er  grage  roof)I  sroecEntäfeig,  bie 
ix)ol)Ibegrünbeten,  tt)i[[en[d)aftlid)en  ©etüeife  gegen  biefelbe  l)ier 
fürs  3u[ammen3ufa[[en.  Der  pf)t)[ioIogi[(^e  ©eroeis  lef)rt  uns, 
bafe  bie  ntenf(f)Iid)e  Seele  ebenfo  roie  bie  ber  ^ö{)eren  Xiere  fein 
lelbftänbiges,  immaterielles  2Be[en  ijt,  [onbern  ber  i^olleftitibegriff 
für  eine  Summe  von  6et)irnfun!tionen;  biefe  [inb  ebenfo  toie  alle 
anberen  £ebenstätig!eiten  bur^  pl)i)[ifali[(^e  unb  cl)emif(f)e  ^ro3e[[e 
bebingt,  al[o  aud)  bem  Subjtansgefe^  untertuorfen.  Der  ^i[tolo  = 
gi[d)e  S3eijoeis  grünbet  [id)  auf  t>tn  l)öc^jt  oertöidelten  müroffo^ 
pi[d)en  SBau  bes  ©el)irns  unb  lel)rt  uns  in  ttn  ©angliensellen  bes« 
[elben  bie  toa^ren  „CSlementarorgane  ber  Seele"  tennen.  Der 
experimentelle  ^eto  eis  übers  engt  uns,  Ml^  bie  einseinen 
Seelentätig!eiten  an  einselne  ©ejirfe  bes  (5el)irns  gebunben  unb 
o^ne  bereu  normale  $8e[d^affenl)eit  unmöglii^  [inb;  roerben  bie[e 
^e3ir!e  serftört,  [0  erli[d)t  bamit  au<i)  beren  3^un!tion;  insbefonbere 
gilt  bies  von  t>m  „Denforganen",  btn  einsigen  jentralen  2Ber!= 
Seugen  bes  „(Öeijteslebens".  Der  patl)ologi[(i)e  Seroeis  ergänjt 
ben  pl)r)[iologi[c^en;  toenn  be[timmte  ©e^irnbejirfe  (Spra(^= 
sentrum,  Sel)[pl)äre,  §ör[pt)äre)  burd)  5lran!l)eit  serjtört  roerben, 
[0  üer[(^iöinbet  aud^  beren  Arbeit  (Spred^en,  Sel)en,  $ören); 
bie  yiatnt  [elbjt  fül)rt  l)ier  bas  ent[c^eibenbe  pl)i)[iologi[(^e  (Ex= 
perimentaus.  Der  ontogeneti[c^e  Sero  eis  fül)rt  uns  unmittelbar 
bie  3^at[ad)en  ber  inbioibuellen  (gntroidelung  ber  Seele  üor  klugen; 
uoir  [el)en,  roie  bie  5linbes[eele  il)re  etnselnen  (5äl)ig!eiten  nad)  unb 
nad)  enttoidelt;  ber  Jüngling  bilbet  [id)  sur  oollen  Slüte,  ber  Wlann 
3ur  reifen  grud)t  aus;  im  ©reifenalter  finbet  allmä^li^e  9iüd= 
bilbung  ber  Seele  [tatt,  ent[pred^enb  ber  [enilen  Degeneration  bes 
(5el)irn5.  Der  pl)i)logeneti[d)e  ^Betoeis  [tü^t  [ic^  auf  bie  ^alä= 
ontologie,  bie  oergleid)enbe  Anatomie  unb  ^l)t)[iologie  bes  (5el)irns; 
in  it)rer  gegen[eitigen  (Srgänsung  begrünben  bie[e  2Bi[[en[d)aften 
bie  (5eu)ifel)eii,  bafe  bas  (5el)im  bes  9[Ren[d)en  (unb  al[o  aud) 
'ütWtn  'i^unüion,  bie  Seele)  [id)  [tufentoe'i[e  unb  allmäl)lid)  aus 
bemjenigen  ber  Säugetiere  unb  roeiterl)tn  ber  nieberen  äßirbeltiere 
enttoidelt  l)at. 

3lt^ant|tif^e  SHuftonen.  Die  Dorl)ergel)enben  Unt^u^ungen, 
bie  bur^  oiele  anbere  (£rgebni[[e  ber  mobemcn  2Bi[[en[ci^aft  ergänzt 


124  (Elftes  Äapttcl. 


raerbcn  fönntcn,  f)aben  bas  alte  Dogma  oon  ber  „Unftcrbltc^feit: 
bcr  Seele"  als  oöllig  unl)altbar  na(i)gciDie[en;  basfelbe  !ann  im 
20.  3al)rl)unbert  nicf)t  mel)r  ©egenjtanb  ernjter  u)tf[en[d)aftltc^er 
gor[d)ung,  fonbern  nur  nod^  bes  tranfsenbenten  ©laubens  [ein. 
Die  „Rriti!  ber  reinen  25ernnnft"  töeijt  aber  nacf),  bafe  biefer  \)od)= 
gef(^ä^te  ©laube,  bei  £id)t  betrautet,  ber  reine  Aberglaube  ijt, 
ebenfo  roie  ber  oft  bamit  oerfnüpfte  ©laube  an  ben  „per[öntid)en 
©Ott".  9lun  I)alten  aber  noct)  t)eute  SJiillionen  oon  „©laubigen" 
—  nid^t  nur  aus  htn  nieberen,  ungebilbeten  23oIfsmaf[en,  [onbern 
aus  htn  t)öl)eren  unb  l)öcf)jten  5ßilbungs!rei[en  —  biefen  Aberglauben 
für  il)r  teuerjtes  $Be[i^tum,  für  il)ren  „foftbarjten  S(i)a^".  (£5  toirb 
bal)er  nötig  [ein,  in  ben  bamit  oerfnüpften  93orjtenungs!rei5  nod) 
ettoas  tiefer  ein3uget)en  unb  [einen  tDirfIi(i)en  2Bert  einer  !riti- 
[c^en  Prüfung  ju  unter5iet)en.  Do  ergibt  [idE)  benn  für  benn 
objeftioen  5lriti!er  bie  C£in[ii)t,  t)a^  jener  2Bert  3um  größten  5;eile 
auf  ©inbilbung  berul)t,  auf  9^angel  an  flarem  Urteil  unb  an  folge* 
richtigem  Denfen.  Der  befinitioe  33er3id)t  auf  biefe  „atl)oni[ti  = 
[c^en  3IIu[ionen"  roürbe  nact)  meiner  fejten  unb  el)rlid)en  Übet* 
jeugung  für  bie  9Jlen[d)l)eit  nid)t  nur  feinen  [d)mer3li^en  33erlu[.t, 
[onbern  einen  un[cf)ä^baren  po[itioen  ©etoinit  bebeuten. 

Das  men[d)lirf)e  „©emütsbebürfnis"  l^ält  ben  Unfterblid)- 
feitsglauben  befonbers  aus  gtoei  ©rünben  fejt,  erjtens  in  ber  §off= 
nung  auf  ein  be[[eres  3u!ünftiges  Qthtn  im  ^enfeits,  unb  groeitens 
in  ber  Hoffnung  auf  3Bieberiel)en  ber  teuren  Sieben  unb  ä^i^eunbe, 
tDelcf)e  uns  ber  Xo'b  l)ier  entriffen  l)at.  Die  erjte  Hoffnung  ent[prtd)t 
einem  natürlichen  23ergeltung5gefül)l,  bas  groar  [ubieftio  bere(i[)tigt, 
aber  objeftio  ol)ne  \tt>tn  Anl)alt  i[t.  2Bir  erl)eben  Anfprüc^e  auf 
(£nt[cl)äbigung  für  bie  3al)llo[en  9Jlängel  unb  traurigen  (Erfahrungen 
biefes  irbi[d)en  Da[eins,  o^ne  irgenb  eine  reale  Ausfid^t  ober 
©arantie  bafür  3U  be[i^en.  2Bir  »erlangen  eine  unbegrenzte  Dauer 
eines  etoigen  ßebens,  in  toelc^em  roir  nur  £ujt  unb  ^^^eube,  feine 
Unlujt  unb  feinen  Sd)mer3  erfal)ren  toollen.  Die  23or[tenungen 
ber  meijten  SOlen[(^en  über  bie[e5  „[elige  £eben  im  S^^f^^ts"  [inb 
l)öd)jt  [eltfam  unb  um  [0  [onberbarer,  als  barin  bie  „immaterielle 
Seele"  [ic^  an  l)ö(^[t  materiellen  ©enü[[en  erfreut.  Die  ^l)anta[ie 
jeber  gläubigen  ^er[on  gejtaltet  ]iä)  bie[e  fortbauembe  §errlid)feit 
ent[precf)enb  i^ren  per[önlid)en  2Bün[(f)en.  Der  amerifani[d)e 
3nbianer,  be[[en  Atl)anismus  S(^iller  in  [einer  naborDe[[i[(^en 
Xotenflage  [0  an[(f)aulid^  [d)ilbert;  l)offt  in  [einem  ^arabie[e  bie 
l)errli(f)ften  3a9t)grünbe  gu  finben,  mit  unermeßlich  oielen  ^Büffeln 
unb  Sären;  ber  (Ssfimo  ertoartet  bort  [onnenbejtral)lte  (Eisflächen 
mit  einer  uner[dE)öpfli(^en  gülle  oon  (Eisbären,  9?obben  unb  anberen 
^olartieren;  ber  [anfte  Sing^alefe  gejtaltet  fiel)  [ein  ienfeitigcs 


Hnftcrblid)!cit  ber  Scetc.  125 

^atabtcs  entfprc^cnb  bcm  tounbcrbarcn  3"fclpttröi>tc[c  Ceplon 
mit  feinen  l)errlid)en  ©ärien  unb  äßälbern;  nur  [c^t  er  üoraus^  ha)ß 
ieberjeit  unbcgrenste  SJlcngen  von  9lei5  unb  (£urrt),  von  5^o!o5= 
nüffen  unb  anbcren  grü(i)ten  bereit  jtel)cn;  ber  mo^ammebanif<f)e 
Araber  ijt  überjeugt,  bafe  in  feinem  ^arabiefe  blumenreid)e,  fc^ottige 
©arten  fict)  au5bel)nen,  burrf)raufd)t  von  !üt)len  Ciuellen  unb  be= 
öölfert  mit  ben  fd^önjten  SOtäbc^en;  ber  !atl)oIifd^e  ^if^er  in  (Sizilien 
ercoartet  bort  täglict)  einen  llberflufe  ber  föjtlic^jten  gifcf)e  unb  ber 
feinjten  SJiaffaroni,  unb  eroigen  ^blafe  für  alle  Sünben,  bie  er  aud) 
im  etoigen  £eben nod)  täglid)  3U  beget)en  ^offt;  ber  euongelifrfie  9lorb= 
europaer  ^offt  auf  einen  unermeßlichen  goti)ifcf)en  T)om,  in  toelc^em 
„etoige  £obgefänge  auf  t>m  $errn  ber  ^eerfdiaren"  ertönen.  Rm^, 
jeber  ©laubige  ercoartet  oon  feinem  eroigen  ßeben  in  2Bat)rt)eit  eine 
birefte  ^rottfe^ung  feines  inbioibuellen  (£rbenbafeins,  nur  in  einer 
bebeutenb  „üerme^rten  unb  oerbefferten  Auflage". 

Sefonbers  mu^  f)ier  nod^  bie  burcf)aus  materiali|tifct)e 
©runbanfc^auung  bes  d)r{ftlid)en  5ltl)anismu5  betont  toerbcn, 
bie  mit  bem  abfurben  !X)ogma  oon  ber  „^uferftet)ung  bes  gleif(f)es" 
eng  3ufamment)ängt.  2Bie  uns  3:aufenbe  oon  jOlgemälben  bc= 
rül)mter  SKeifter  t)erfinnlid)en,  gel)en  bie  „auferjtanbenen  fieiber" 
mit  tl)ren  „roiebergeborenen  Seelen"  broben  im  ^immel  gerabe 
fo  fpasieren,  roie  t)ier  im  Jammertal  ber  (Erbe;  fie  fd)auen  ©ott 
mit  il)ren  ^ugen,  fie  I)ören  feine  Stimme  mit  it)ren  Df)ren,  fie 
fingen  ßieber  3U  feinen  (£t)ttn  mit  if)rem  5^e!)I!opf  uftü.  Äur3, 
bie  mobemen  $8erooI)ner  bes  djriftli^en  ^arabiefes  finb  ebcnfo 
Doppeltoefen  üon  fieib  unb  Seele,  ebenfo  mit  allen  Organen  bes 
trbifd)en  £eibes  ausgeftattet,  toie  unfere  5lltoorbem  in  Obins  Saal 
3U  2Balt)alla,  toie  bie  „unjterbli(i)en"  3:ür!en  unb  Araber  in  XRo» 
l)ammebs  lieblid)en  ^arabiesgärten,  roie  bie  altgrie^tfcf)en  §alb= 
götter  unb  gelben  an  S^us'  3:afel  im  Oli)mp,  im  ©enuffe  uon 
^tttax  unb  ^mbrofia. 

SP^ag  man  fid)  biefes  „etoige  Beben"  im  ^arabiefe  aber  noc^  fo 
t)errlirf)  ausmalen,  fo  muß  basfelbe  auf  bie  ^auer  unenblic^  lang= 
roeilig  toerben.  Hnb  nun  gar:  „(Stoig!"  Ol)ne  Hnterbre(i)ung, 
ol)ne  SBeiterentmitfelung  biefe  eroige  inbioibuelle  (giiftenj  fort:» 
führen!  Der  tief  finnige  90'li)tl)U5  00m  „(Steigen  3ui)^Tt",  bas 
oergeblid)e  9?ul)efud^en  bes  unfeligen  ^asoerus  füllte  uns  über  ben 
2Bert  eines  fol(i)en  „eroigen  fiebens"  aufflären!  Das  bejte,  roas 
toir  uns  nad^  einem  tücf)tigen,  nac^  unferm  bejten  ©eroiffen  gut 
angetoonbten  fieben  u)ünfd)en  tonnen,  ift  ber  etoige  gnebe  bes 
'©rabes:  „§err,  f(i)en!e  i^nen  bie  eroige  9^u^e!" 

3eber  oernünftige  ©ebilbete,  ber  bie  gcologifcl)c  3ctt* 
ted)nung  tcnnt,  unb  ber  über  btc  longc9^ci^e  ber  3al)rminionen 


126  (Elftes  5^apitcl.    Unfterbli^feit  bcr  Seele. 

in  ber  Drgani|d)en  (£rbge[d^icf)te  nod^gebac^t  \)ai,  mufe  bet  un* 
befangenem  Urteil  jugeben,  baf^  ber  banale  ©eban!e  bes  „etoigen 
ßebens"  aucf)  für  ben  bejten  5CRenfd)en  fein  l)errli(^er  Xroft,  [onbern 
eine  furtfitbare  1)ro{)ung  ijt.  9lur  9D^angel  an  flarem  Urteil  unb 
folgerid)tigerrt  DtnUn  tann  bies  bestreiten. 

X)en  bejten  unb  ben  am  meijten  bere(^tigten  ©runb  für  ben 
^ttjanismus  gibt  bie  Hoffnung,  im  „ecoigen  £eben"  bie  teueren 
Angehörigen  unb  ^r^unbe  tüieber  3U  iet)en,  von  benen  uns  ^ier  auf 
CErben  ein  graufames  6d)idtfal  früt)  getrennt  l)at.  Aber  aud)  biefes 
t)ermeintlict)e  (5Iüd  ertoeift  \\d)  bei  näl)erer  Setra^tung  als  Sllufion; 
unb  iebenfalls  tüürbe  es  ftar!  burd^  bie  Au5[i(^t  getrübt,  bort  aud) 
allen  htn  roeniger  angenef)men  Sefannten  unb  ben  löibertDärtigen 
3reinben  3U  begegnen,  bie  l)ier  unfer  Dafein  getrübt  I)aben. 

Unlösbare  ®(i)tDierig!eiten  bereitet  aud)  ben  gläubigen  5ltf)a= 
nijten  bie  (^rage,  in  toeld^em  ©tabium  i\)x^x  inbioibuellen 
(Sntroidelung  bie  abge[d)iebene  Seele  il)r  „etoiges  Beben"  fort= 
führen  foll?  Sollen  bie  ^Neugeborenen  erjt  im  $immel  i^re  Seele 
entüoideln,  unter  bemfelben  l)arten  „5lampf  ums  X)a[ein",  ber  ben 
9Jlenf(f)en  l)ier  auf  ber  (£rbe  erziel) t?  Soll  ber  talentüolle  Jüngling, 
ber  bem  9J?affenmorbe  bes  5lrieges  gum  Opfer  fällt,  erft  in  2Ban)alla 
[eine  reichen,  ungenu^ten  ©eijtesgaben  entroideln?  Soll  ber 
alter5f(i)rDa(i)e,  ünbifd)  geiDorbene  (Sreis,  ber  als  reifer  'Xflann  bie 
2Belt  mit  bem  9tut)m  feiner  ^^aten  erfüllte,  eroig  als  rücfgebilbeter 
©eijt  fortleben?  Dber  foll  er  fid)  gar  in  ein  frül)ere6  Slüteftabium 
3urüd  entroideln?  2Benn  aber  bie  unjterblid)en  Seelen  im  £)lr)mp 
als  Dollfommene  SBefen  üerjüngt  fortleben  [ollen,  bann  ijt  auc^ 
ber  9?ei3  unb  bas  3Tttere[[e  ber  ^er[önlicl^!eit  für  [ie  ganj 
oerfd^rounben. 

(£ben[o  unl)altbar  er[(^eint  uns  l)eute  im  £id^te  ber  reinen 
23ernunft  ber  ant^ropijti[(^e  SlRr)tl)Us  com  „jüngften  (5erid)t", 
Don  ber  Sd)eibung  aller  ä)len[d)en[eelen  in  stoei  grofee  Raufen,  oon 
benen  ber  eine  3U  ben  et» igen  Orteuben  bes  ^arabiefes,  ber  anbere 
3U  t>tn  eroigen  dualen  ber  $ölle  bejtimmt  ijt  —  unb  bas  tton 
einem  per[önlid)en  ©ott,  tüeld)er  „ber  23ater  ber  Jßiebe"  ijt! 
§at  bod)  biejer  liebenbe  Alloater  [elbjt  bie  Sebingungen  ber  93er= 
erbung  unb  Anpafjung  „ge[d)affen",  unter  benen  \id)  einer[eits  bie 
beoorjugten  ©lüdlid^en  nottöenbig  3U  jtraflofen  Seligen,  anberer= 
[eits  bie  unglüdlid)en  Armen  unb  (Slenben  eben[o  nottoenbig  3U 
jtrafroürbigen  93erbammten  entroideln  mußten. 

(Sine  !riti[d)e  35ergleid)ung  ber  un3äl)ligen  bunten  ^l)anta[ie= 
gebilbe,  toeld)e  ber  Unjterblid^teitsglaube  ber  t>er[d)iebenen  33öl!er 
unb  ^Religionen  [eit  3oi)i^tau[enben  erseugt  \)at,  geü)äl)rt  bas  mer!= 
roürbigjte  $ßilb;  eine  l)od)intere[[ante,  auf  ausgebel)nte  Ciuellen* 


3toöIftc5  Rapitel.    X>(i5  Subjtanagtlc^.  127 

jtubicn  gcgrünbetfr  X)arjicnung  bcrfclben  t)at  ^balbcrt  Sooboba 
gegeben  in  [einen  ausgejeid^neten  2Ber!en:  „8celenix)al)n"  (1886) 
unb  „©ejtalten  bes  ©laubens"  (1897).  2Bie  abjurb  uns  aud)  bie 
meijten  biefer  9?lT)tl)en  er[d)einen  mögen,  tüie  unoereinbar  [ie 
[ämtlid)  mit  ber  Dorge[d)nttenen  IRaturerfenntnis  ber  ©egenioart 
[inb,  [o  [pielen  [ie  benncx^  au(^  I)eute  eine  \)'öd)]i  töid)tige  9?one  unb 
ühtn  tro^bem  als  „^o[tuIate  ber  pra!ti[df)en  33ernunft"  ben  größten 
CSinflufe  auf  bie  fieben5an[c^auungen  ber  S^^^i'i^u^^  ii^"^  "^^^  ®ß= 
[d)icfe  ber  23öl!er. 

Die  ibeali[ti[d)e  unb  [piritualijti[(i)e  ^I)iIo[op^ie  ber  (Begentoart 
u)irb  nun  freilid^  5ugeben,  ta^  bie[e  I)err[(f)enben  materiali[ti[d)en 
Orormen  bes  Hnjterblii^feitsglaubens  unl)altbar  [eien,  unb  [ie  toirb 
bel)aupten,  ha)^  an  it)re  Stelle  bie  geläuterte  33or[teIIung  t)on  einem 
immateriellen  SeeIentDe[en,  von  einer  pIatoni[^en  3i>ec  ober  einer 
tran[3enbenten  3eelen[ub[tan3  treten  mü[[e.  ^tllein  mit  bie[en 
unfaßbaren  23or[tenungen  fonn  bie  reali[ti[d)e  91aturan[(^auung 
ber  ©cgenroart  ab[oIut  ni(f)ts  anfangen;  [ie  befriebigen  toeber  bas 
5^au[alitätsbebürfnis  unferes  33eritanbe5,  nod)  bie  9Bün[d)e  un[eres 
©emütes.  ^a\\tn  toir  alles  3u[ammen,  toas  t)orge[c^rittene  ^ntf)ro= 
pologie,  ^[r)d)oIogie  unb  Kosmologie  ber  ©egenioart  über  ben 
^tt)anismus  ergrünbet  l^aben,  [o  mü[[en  roir  3U  bem  bejtimmten 
S(^Iu[[e  fommen:  „Der  ©loube  an  bie  Un[terblid)!eit  ber  men[d)= 
Iid)en  Seele  i[t  ein  Dogma,  n)eld)es  ben  [id)er[ten  (£rfal)rung5[ä^en 
ber   mobernen   lRaturtX)i[[en[d)aft  oöllig  tt>iber[prici)t." 


I 


^oniftifc^e  (Stubien  über  baß  !o^mologifc^c  ©runbgefe^. 

^r^altung   ber  SQ^atcrie   unb   ber   Energie,     ^in^cit  unb 

^rinität  ber  6ubftan3. 


^Is  bas  oberjte  unb  anumfa[[enbe  ?laturge[e^  betrad)te  id)  bas 
Sub[tan3ge[e^,  bas  tDal)re  unb  einjige  !osmoIogi[d)e  ©runb  = 
ge[e^;  [eine  (Sntbedung  unb  S^ejtjtellung  i[t  bie  größte  (5ei[testat 
bes  19.  3ö^rt)unberts,  in[ofern  alle  anberen  ernannten  9^aturge[et^e 
[id)  U)m  unterorbnen.  Unter  bem  ^Begriffe  „Su6^tan3ge[ei" 
fa[[e  \(i)  3iDei  {)ö(^[te*  allgemeine  ©e[eöe  t)er[(^iebenen  Kr[prungs 


128  3a3ölftc5  Äapitel. 


unb  alters  3u[ammen,  bas  ältere  d)emt[d)e  ©efe^  oon  bcr  „(£r= 
l)altung  bes  Stoffes"  unb  bas  jüngere  pl)r)[ifali[d)e  ©efe^  t>on 
ber  „(£rl)altung  ber  5lraft".  Dafe  btcfe  betben  (5runbge[e^e  ber 
eiaften  ^aturtDi[[en[d)aft  int  2Be[en  unjertrennitct)  ftnb,  toirb  oielen 
fiefern  wo^  felbjtüerjtänbltd)  er[d)emen  unb  ijt  üon  "ötn  meijten 
9laturforf(f)ern  ber  ©egenroart  onerfannt.  5^be[[en  toirb  biefe 
funbatnentale  Itberjeugung  bocf)  oon  anberer  Seite  nod)  l)eute 
oielfad)  bestritten  unb  ntufe  jebenfalls  erjt  bctoiefen  toerbcn.  2Bir 
mü[[en  ba!)er  3unäd)jt  einen  furaen  ^M  auf  bcibe  ©efe^e  ge» 
[onbert  toerfen. 

®efc^  oott  ber  C^t^altung  bes  Stoffes  (ober  ber  „i^onjtanj  ber 
93Zaterie",  Äaooifier,  1789).  Die  Summe  bes  Stoffes, 
tDeId)er  ben  SBeltraum  erfüllt,  ift  unoeränbcriid).  2Benn 
ein  Äörper  3U  oerlc^toinben  fd)eint,  tüed)[elt  er  nur  feine  gorm; 
toenn  bie  5^ot)le  oerbrcnnt,  oertoanbelt  [ie  [id)  burd)  93erbinbung 
mit  bem  Sauerjtoff  ber  £uft  in  gasförmige  5lot)Ien[äure;  toenn  ein 
3utferjtüd  [i^  im  2Ba[fer  löft,  get)t  [eine  fejte  ^oi^Tn  in  bie  tropfbar 
flüffige  über.  (£ben[o  tDed)[eIt  bie  XRaterie  nur  it)re  ^rorm,  toenn 
ein  neuer  5Ratur!örper  %n  entjtet)en  [d)eint;  toenn  es  regnet,  toirb 
ber  2Ba[[erbampf  ber  ßuft  in  ^Tropfenform  niebergef plagen;  toenn 
bas  (£i[en  rojtet,  oerbinbet  fid)  bie  oberfIäd)lid)e  S(^id)t  bes  äRetalles 
mit  2Ba[[er  unb  bem  Sauerftoff  ber  £uft  unb  bilbet  fo  9?ojt.  9lir- 
genbs  in  ber  Sflatur  [et)en  toir,  "ba^  neue  SJiaterie  entfte!)t  ober 
„ge[(i)affen"  toirb;  nirgenbs  finben  toir,  bafe  üor!)anbene  95?aterie 
oer[(i)U)inbet  ober  in  5Rid)ts  serfallt.  Diefer  (£rfa!)rungsfa^  gilt  I)eute 
als  erjter  unb  uner[d)ütterli(i)er  ©runbfa^  ber  (£l)emie  unb  !ann 
jcberseit  mittels  ber  2Bage  unmittelbar  betoiefen  toerben.  (£s 
toar  aber  bas  un|terblid)e  93erbien|t  bes  großen  franjöfifrfien 
(£t)emi!ers  ßaooifier,  biefen  Seroeis  burd)  bie  2Bage  juerjt  gefül)rt 
3U  \)ahtn.  §eutc  [inb  alle  5Raturfor[^er,  tDeId)e  fid)  ial)relang 
mit  bem  ben!enben  Stubium  ber  9'laturer[(i)einungen  be[(i)äftigt 
f)aben,  [o  fejt  oon  bcr  ab[oIuten  Äonftanj  ber  SJlaterie  überjeugt, 
bafe  [ie  [id)  bas  ©cgenteil  gar  nid)t  me!)r  üor[tenen  !önnen. 

föefe^  von  ber  C^r^altung  ber  Äraft  (ober  ber  „5ton[tan3  ber 
(Energie",  9?obert  9JZat)er,  1842.)  Die  Summe  ber  Äraft 
ober  (Energie,  roel(f)e  im  SBeltraum  alle  (£r[ct)einungen 
betoirft,  i[t  unoeränberlic^.  SBenn  bie  ßotomotioe  ben  (£i[en= 
bal)n3ug  fortfüt)rt,  oertoanbelt  [ic^  bie  Spannfraft  bes  erl)i^ten 
2ßa[[erbampfes  in  bie  lebcnbige  Äraft  ber  med)ani[(^en  Setoegung; 
toenn  toir  bie  pfeife  ber  ßotomotioe  l)ören,  roerben  bie  Sd)an= 
[d)rDingungen  ber  beu^egten  ßuft  burd)  un[er  Trommelfell  4mb  bie 
5^ette  ber  ®et)ör!nod)cn  3um  ßabprintt)  un[eres  inneren  O^res 
fortgeleitet  unb  oon  t)a  burc^  htn  ^ömcro  3U  ben  a!ujti[d)cn 


^as  Subitonjgcjei.  12Ö 

(öangUcnjeUen,  u)eld)e  bie  §ör[pl)Qre  im  Stt)Iäfenlappcn  unferer 
®rofef)irnrtnbc  bilben.  Die  ganjc  toünberbare  ©ejtaltcnfülle, 
xDtlä)t  unfcren  Krbball  belebt,  tjt  in  legtet  Snjtarts  umgetdanbelteö 
SonnenIi(i)t.  ^Ilbefannt  ift,  rote  gegenioärttg  bte  beii)unbenings= 
ujürbigen  grorlfd^ritte  ber  3:e(i)nt!  baju  gefül^rt  I)öbert,  bie  »et* 
[dE)iebenen  S'laturfräfte  tneinanber  3U  oettöanbetn:  2Bät:me  tbifb 
in  $0laffenbetüegung,  biefe  töieber  in  fiic^t  ober  <Bä)al\,  biefe 
Boieberum  in  (Eleftrisität  übergefüt)rt  ober  umgefel)rt.  t)ie  genaue 
SJleffung  ber  Ärafttnenge,  roel^e  bei  biefer  33eru)anblung  tätig 
ijt,  l)at  ergeben,  bafe  auc^  [ie  fonftant  bleibt.  t)er  großen  (httbetfung 
biefer  funbamentalen  Xai\a^^  ^atte  [ic^  [ct)on  1837  ^^^i^^ti^ 
'*fRo\)x  in  Sonn  [et)r  genät)ert;  fie  erfolgte  1842  bur(i)  ben  geijtrei(i)en 
[d^tDäbi[d)en  ^rgt  stöbert  $0lar)er  in  ^eilbronn;  unobl)ängig  oon 
it)m  tarn  ^ermann  .§elml)0l^  auf  bie  Grfenntnis  55es[elben 
^rinjips;  er  toies  fünf  5al)re  [päter  [eine  allgemeine  ^ntoenbbar^ 
feit  unb  giu^tbarfeit  auf  allen  (Gebieten  ber  ^I)t)[i!  nad).  2Bir 
tpürben  l)eute  [agen  muffen,  bafe  es  aud)  bas  gefamte  (Sebiet  ber 
ipi^Qfiologic  —  b.  I).  ber  „organifcf)en  ^l)t)fi!l"  —  bel)errfdf)e, 
enn  bagegen  nid)t  entf(i)iebener  äßiberfpruc^  oon  feiten  ber 
öitaliftifd)en  Biologen,  foroie  ber  bualiftifcf)en  unb  fpiritualiftifd^en 
^t)ilofopl)en  ti^ohm  toütbe.  Diefe  erbliden  in  ben  eigentümlid^en 
„(Seiftesfträften"  bes  9Kenfcf)en  eine  ©ruppe  oon  „freien",  bem 
©nergiegefe^  nid)t  untertoerfenen  5lrafterfd^ einungen;  befonbers 
gejtü^t  tüirb  biefe  bualiftifd)e  ^uffaffung  bur^  bas  Dogma  oon 
ber  2Binensfreit)eit.  9Bir  \)ahtn  \ä)on  bei  beren  Sefpre^ung  ge« 
fet)en,  ha^i^  il)re  ^nnal)me  unl)altbar  ift.  ^n  neuefter  3^i  \)ai  hk 
^I)t)fif  htn  ^Begriff  ber  „Äraft"  unb  ber  „(Energie"  getrennt; 
für  unfere  oorliegenbe  allgemeine  ©ctracf)tung  ift  biefe  Unter? 
fd)eibung  gleichgültig. 

ein^ett  bes  Suiftanagefe^es.  33on  größter  9Bi(^tig!eit  für 
unfere  monijtifd)e  SBeltanf^auung  ift  bie  fefte  ttberjeugung,  ba^ 
bie  beiben  grofeen  !osmologifd)en  ®runblel)ren,  bas  rf)emifcl^e  (Srunb* 
gefe^  oon  ber  (£rt)altung  bes  Stoffes  unb  bas  pl)r)fi!alifcl^e  (Srunb^ 
gcfe^  oon  ber  (Erhaltung  ber  5lraft,  untrennbar  jufammenge^ören; 
beibe  ^toxxtn  finb  ebenfo  innig  oerfnüpft,  toie  i^re  beiben  Objcfte, 
Btoff  unb  Äraft  (ober  9Jlaterie  unb  Energie).  23ielen  monijtifd^ 
,t)en!enben  SRaturforfd)ern  unb  ^l^ilofop^en  roirb  biefe  funba» 
mentale  C£inl)eit  beiber  (Sefe^e  felbftoerftänblic^  erf(i)einen,  ba 
■ja  beibe  nur  ^toei  oerfd)iebene  Seiten  eines  unb  besfelben  Objeftcs, 
bes  „5^05 mos",  betreffen;  inbeffen  ift  biefe  naturgemäße  Ober* 
^eugung  oeH  entfernt,  fid)  allgemeiner  ^nerfennung  ju  erfreuen. 
Sie  toirb  t)ielmet)r  energifd^  befämpft  oon  ber  gefamten  bualiftif(i)en 
"^^^iIofopl)ie,  oon  ber  pitalijtifd)en  Biologie,  ber  paraneliftifd)en 

ioaecfel,  SBeltrötfet.  9 


130  3t»ölfte5  Äapitel. 


^[t)d)oIogie;  \a  [ogar  t»on  fielen  (tn!on[equcnten!)  SOflomjten, 
tDeId)c  im  „93etDufet[etn"  ober  in  ber  f)öl)cren  (5eiftestätig!eit  bcs 
9Jlenfd)cn,  ober  aud)  in  anbeten  (£r[d)einunöen  bes  „freien  ©eijtes» 
lebens"  einen  (Segenbetoeis  %u  finben  glauben. 

3d)  betone  bat)er  ganj  bejonbers  bie  funbamentale  Sebeutnng 
bes  einl)eitlid^en  ©ubjtanjgefe^es  als  5Iusbruc!  bes  untrennbaren 
3u[amment)anges  jener  beiben  begrifflid)  getrennten  ®e[e^e.  Dafe 
biefelben  urfprünglid)  nicf)t  3u[ammengefafet  unb  nid)t  in  biefer 
(£int)eit  erfannt  tourben,  ergibt  fid)  ja  [d)on  aus  ber  Xai\ad)t  it)rer 
t)er[ct)iebenen  (Entbedungsseit.  I)ie  (lBint)eit  beiber  ©runbgefe^e, 
t»eld)e  nod)  t)eute  oielfaii)  beftritten  toirb,  brüden  oiele  überseugte 
5Raturfor[d)er  in  ber  Benennung  aus:  „(5e[e^  oon  ber  (£rl)altung 
ber  ilraft  unb  bes  Stoffes".  Xlm  einen  fürgeren  unb  bequemeren 
3tusbnfÖ  für  bie[en  funbamentalen,  aus  neun  3Borten  3u[ammen= 
gefegten  ^Begriff  ^u  t)aben,  \)abt  id)  [d)on  üor  längerer  3eit  oor* 
ge[d)Iagen,  basfelbe  bas  „Subftanjgefe^"  ober  bas  „!osmoIo= 
gifc^e  ©runbge[e^"  3U  nennen  (äRonismus,  1892,  S.  14,  39).   ' 

6ubftan5bedtiff.  Der  erjte  Den!er,  ber  ben  reinen  monifti«» 
[d)en  „Subjtan^begriff"  in  bie  2Bi[fen[cf)aft  einfüt)rte  unb  [eine 
funbamentale  Sebeutung  erfannte,  toar  ber  grofee  ^t)iIo[opI) 
^arud)  Spinoja;  [ein  ^auptioert  er[d)ien  fürs  nad)  [einem 
früf)3eitigen  3:obe,  1677.  5n  [einer  großartigen  pant^ei[ti[<^en 
2ßeltan[d)auung  fällt  ber  Segriff  ber  2BeIt  (Unit)er[um,  5^osmos) 
3u[ammen  mit  bem  anumfa[[enbcn  Segriff  ©ott;  [ie  ijt  gleid)3eitig 
ber  reinste  unb  oernünftigjte  ^ötonismus,  unb  ber  geflärtejte  unb 
abjtra!te[te  3nonott)eismus.  Diefe  Unioer[aI[ub[tan3  ober 
bie[e5  göttli(^e  2BeIttüe[en  3eigt  uns  3toei  Der[d)iebene  Seiten 
[eines  töal)ren  2Be[cns,  stuei  funbamentale  Attribute:  bie  SJla» 
terie  {t>zn  unenblid)en  ausgebet)nten  Sub[tan3[toff)  unb  ben 
©eijt  (bie  allumfa[[enbe  bentenbe  Subjtan3energie).  ^Ile  2ßan= 
belungen,  bie  [päter  ber  Subjtan3begriff  gemad)t  l)at,  !ommen 
bei  lonfequenter  ^^Inali)[e  auf  bie[en  l)öd)[ten  (Srunbbegriff  oon 
Spino3a  3urüd,  htn  iä)  mit  (5oetI)e  für  einen  ber  ert)aben[ten 
unb  roa^rjten  ©ebanfen  aller  3^^^^^  i)alte.  ^llle  ein3elnen  Objefte 
ber  2Belt;  bie  un[erer  (Srtenntnis  3ugänglid)  [inb,  alle  inbioibuellen 
gormen  bes  X)a[eins,  [inb  nur  be[onbere  oergängli^e  grormen  ber 
Subjtan3,  ^t!3iben3en  ober  SiRoben.  I)ie[e  SJlobi  [inb  !örper= 
Iid)e  Dinge,  materielle  5^örper,  toenn  toir  [ie  unter  bem  Attribut 
ber  5Iusbel)nung  (ber  „9laumerfüIIung")  betrad)ten,  bagegen 
Gräfte  ober  Sbeen,  toenn  loir  [ie  unter  bem  ^Ittribut  bes  Deutens 
(ber  „(Energie")  betrad)ten.  ^uf  bie[e  ©runboorltellung  üon 
Spino3a  fommt  aud)  un[er  SJionismus  je^t  3urüd;  aüc^  für 
uns  [inb  9}la terie    (ber  raumerfüllenbe  Stoff)  unb  (Energie 


1)05  Subjtansgefc^.  131 


(bie  betoegcnbe  5^raft)  nur  stüei  untrennbare  Attribute  bes  ein« 
l)eitUci^en  SBelüoelens,  ber  einen  Subjtanj. 

2)et  finetif^e  Subfiansbegriff.  (Hrprinjip  ber  8d)tDtngung 
ober  33tbratton.)  Unter  ben  t)erid)tebenen  Spornten,  roel^e  ber 
funbamentale  Subjtansbegriff  in  ber  neueren  ^^l)r)[i!,  in  33er= 
binbung  mit  ber  i)err|(i)enben  ^Itoniijtif,  angenommen  \)ai,  über= 
toog  bisf)er  bie  5lnnal)me,  bafe  allen  (rrfd^ einungen  eine  [rfnoingenbe 
^Betoegung  ber  üeinjten  50ia[fenteild)en  3ugrunbe  liege,  eine 
33ibration  ber  ^tome.  I)ie  ^tome  [elbft  [inb  bem  gett)öl)n* 
Ii(f)en  „!ineti[d)en  Subjtan3begriff"  gufolge  tote  bisfrete  5lörper= 
teil(i)en,  toeId)e  im  leeren  5?aum  f(i)toingen  unb  in  bie  Sterne  roirfen. 
Der  eigentli(i)e  Segrünber  unb  ange[el)enjte  33ertreter  bieder 
!ineti[d)en  Subftanjt^corie  ijt  ber  grofee  9JZatl)ematifer  9letoton, 
ber  berüt)mte  (£ntbedter  bes  ©raoitationsgefe^es.  ^n  [einem 
§aupttt)er!e  „Principia  philosophiae  naturalis  mathematica" 
(1687)  toies  er  nad),  "ba^  im  gan3en  SBeltall  ein  unb  basfelbe 
(5runbge[e^  ber  S[Ra[[enon3iel)ung,  biefelbe  uni)eränberlid)e 
©raoitationstonftante  i)err[^t;  bie  5ln3iet)ung  oon  je  stoei  9Jla[[en= 
teueren  jtet)t  im  geraben  $ßerl)ältni5  it)rer  9Jlaf[en  unb  im  um= 
ge!ef)rten  S3erl)ältni5  bes  JQuabrats  il)rer  (Entfernungen.  X)ie[c 
allgemeine  „Sd^ioerfraft"  betoirft  eben[o  bie  ^eioegung  bes 
fallenben  Gipfels  unb  bie  ö^Iuttoelle  bes  SPleeres,  tote  titn  Umlauf 
ber  Planeten  um  bie  Sonne  unb  bie  !osmif(i)en  Setoegungen 
aller  2BeIt!örper.  Das  unjterbli(^e  33erbienft  oon  5Retoton  roar, 
biefes  ©raoitationsgefe^  enbgültig  feftsuftellen  utib  bafür  eine 
unanfed)tbare  matt)emati[d)e  Formel  3U  finben.  ^ber  bie[e  tote 
matl)emati[(i)e  (Formel,  auf  roeld)e  bie  meijten  ^laturforf^er 
bier,  toie  in  oielen  anberen  gälten,  bas  größte  (5et»i(i)t  legen, 
gibt  uns  nur  bie  quantitatioe  Seroeisfübrung  für  bie  3^eorie, 
[ie  getDät)rt  uns  ni(t)t  bie  minbejte  (£in[id)t  in  bas  qualitatioc 
SBefen  ber  (£r[rf) einungen.  Die  unoermittelte  i^^tnroirfung, 
loel^e  9letDton  aus  feinem  ©raoitationsgefe^  ableitete  unb  roeId)e 
3U  einem  ber  u)id)tigjten  unb  gefäl)rlicbften  Dogmen  ber  fpäteren 
^t)r)[i!  tourbe,  gibt  uns  nid) t  ben  minbeften  ^uffd)lufe  über  bie 
eigentlid)cn  XIr[ad)en  ber  aRaffenan3iel)ung;  melmet)r  oerfperrt 
[ie  uns  ben  2Beg  gu  beren  (£r!enntnis. 

3)cr  tmitöre  Subftansbeöriff.  Die  tiefer  liegenben  ltr[ad)en 
ber  5lRa[[enan3iet)ung  toerben  üar,  unb  sugleicb  werben  mand)e 
(Einxöänbe  gegen  un[ere  monijtifd^e  Subjtan3tl)eorie  btnfällig, 
roenn  toir  t>tn  beiben  (5ub[tan3attributen  oon  Sp'mo-^a  nod)  ein 
brittes,  baoon  untrennbares  5lttribut  I)in3ufügen,  bie  unberoufete 
(Empfinbung  (Psychoma).  Die  wa\)xtn  „inneren  Hr[a^en" 
ber  med)oni[d)cn  Scrocgungen,  tDeId)e  bie  bualijti[^c  9Plctapit)[i! 


132  3tDöIftes  Äopitcl. 


als  immaterielle  .Gräfte,  als  ©eijtesMfte  ober  p[r)d)iid)e  (Energie« 
formen  ben  materiellen  (Energieformen  ber  ^l)r)[i!  gegenüberjtellt, 
[inb  glei^  ben  legieren  untrennbar  an  bie  raumerfüllenbe  Sölateric 
gebunben.  (5eu)öl)nIidE)  toirb^ja  oon  ber  neueren  monijtifd)en 
^{)iIo[opf)ie  bie  (Empfinbung  [elbft  als  eine  grorm  ber  (Energie  auf= 
gefafet;  bas  ge[d)iel)t  foioot)!  »on  beren  materialiftif^er  9li^tung 
(„(Stoff  unb  Äraft"  oon  ®ü^ner),  als  üon  ber  [piritualijti[d)en, 
i^r  entgegengefe^ten  9li(f)tung  („(Energetif"  als  „ttbertotnbung 
bes  SJiaterialismus"  oon  Oftmalb).  Die  (Einfeitigfeit  beiber  IHid)* 
tungen  toirb  oermieben,  unb  augleirf)  toerben  mand)e  irrefüt)renbe 
9Jlifeoerjtänbnif[e  befeitigt,  roenn  roir  ben  bisf)er  Dort)errfci)enben 
Segriff  ber  „(Energie"  in  gtoei  gleid)tüertige  Attribute  ^erlegen,  in 
,,aftioe  (Energie"  —  aUed)ani!  („SBille"  im  Sinne  oon  (5(i)open= 
I)auer)  unb  in  „paffioe  (Energie"  —  ^[i)d^oma  („unbeujufete 
(Empfinbung"  im  toeiteften  Sinne).  5d)  t)abe  biefe  i!)eorie  oon 
ber  „X)reieinig!eit  ber  Subftans"  (ober  „Xrinität  bes  5^osmos") 
im  19.  5^apitel  meiner  „Äebenstounber"  näl^er  erläutert.  ((Er= 
gänjungsbanb  3U  ben  „SBelträtfeln",  1904;  —  SBoIfsausgabe  1906, 
S.  184—188.)  Vabti  i)abe  id)  mid)  befonbers  auf  bie  gleid)geric^= 
teten  ^nfid)ten  oon  mel)reren  unferer  i)err)orragenbjten  mobernen 
9flaturpPo[opl)en  besogen,  (Earl  ^Raegeli  (1877),  ^Ibred)t  9tau 
(1896)  unb  (Ernft  maä)  (1901).  Die  brei  funbamentalen  Attribute 
ber  Subftans:  A.  ^tanmerfüllung  ober  „^usbel)nung",  Stoff, 
(=  9}laterie),  B.  ©eroegung  ober  „yRtd)arnt",  Rxa^i  {=  (Euer« 
gie),  unb  C.  Empfinbung  ober  „Sßeltfeele",  (Seijt  (=  ^[i)d)omj 
[inb  bemnac^  gan3  allgemeine  (5runbeigenj'd)aften  aller  ilörper. 

©efe^  von  hn  C^r^altuuö  ber  empfinbung.  2Benn  biefe 
„^rinitärt^eorte"  ber  Subjtan3  rid)tig  ijt,  bann  mufe  aurf)  bas 
grofee  Ronjtanagefe^,  bie  £el)re  oon  ber  „(Erl)altung"  ber  un= 
3erftörbaren  Subftan3,  ebenfo  auf  bie  (Empfinbung,  roie  auf  „Stoff 
nnb  5lraft"  ^Intocnbung  finben.  Die  nteberften  unb  einfad^ften 
^fi)(f)pmformen  (S[Raffenan3iel)ung  in  ber  ^l)r)[if,  2Bal)loertDanbt= 
f(i)aft  in  ber  (El)emie)  [inb  bann  nur  jtufenroeife  Der[d)ieben  Don  ben 
TÜeberen  unb  f)öl)eren  ^o^^en  bes  organif(i)en  Seelenlebens, 
uon  ber  Sinnestätigfeit  ber  nieberen  Organismen,  oon  ber  ©eiftes^ 
tätig!eit  bes  ällen[ci)en  („Denfen").  5ebe  ^[r)cl)omform  fann  in 
bie  anbere  übergeführt  roerben.  Die  Summe  ber  (Empfinbung 
im  unenblid)en  2Beltraum  ift  unoeränberlid^. 

!Der  bualiftifc^e  SuBjtanabegdff.  Die  beiben  Subftan3= 
tl)eorien,  bie  roir  Dorftel)enb  einanber  gegenübergejtellt  l)aben,  finb 
im  ^rinsip  moniftifd);  beibe  betrai^ten  „Stoff  unb  i^raft"  als  un^ 
trennbar,  bie  gan3e  SBelt  ols  einl)eitlid)e  Subftans.  ©ans  onbers 
oerl)ält  es  [id)  mit  ben  buali[ti[d)en  Subjtan3tl)corien,  iDeld)e 


Das  6ub|tan3gc[et?.  133 


noc^  f)cute  m  ber  ibealiftifc^cn  unb  [piritualtjiifd)en  ^f)tIo[opl)ie 
f)crr[(^enb  [inb;  biefe  toerben  au(^  üon  ber  emflu]sretd)en  3:i)eoIogie 
geftü^t,  [otüeit  [t(^  bicfclbc  übcrt)aupt  auf  [oId)e  Tnctap!)r)[i[(j^e 
Spefulationen  einlädt,  ^iernad)  [inb  ßtoei  ganj  t)cr[(f)iebenc 
^auptbejtanbteile  ber  Subjtans  5U  unter[d)eiben,  Tttatertelle 
unb  immaterielle.  !Die  materielle  Subftana  bilbet  bie 
„5^örpertoeIt",  beren  (£rforfd^ung  -Objeft  ber  ^i)i)[if  unb  (Sl^emie 
ift;  I)ier  allein  gilt  bas  ®e[e^  t»on  ber  (£rl)altung  ber  SDlaterie  unb 
(Energie  ([oioeit  man  nid)t  überl)aupt  an  beren  „(£r[d)affung  aus 
^lid^ts"  unb  anbere  SBunber  glaubt!).  Die  immaterielle  (5ub  = 
[tans  I)ingegen  bilbet  bie  „©eifterroelt",  in  tDeId)er  jenes  ©efe^ 
ni(f)t  gilt;  I)ier  gelten  bie  (5e[e^e  ber  ^t)r)[i!  unb  (If)emie  enttoeber 
gar  nid)t,  ober  [ie  [inb  ber  „Bebensfraft"  unterujorfen,  ober  bem 
„freien  SBillen",  ober  ber  „göttli(i)en  3inma(i)t",  ober  anberen 
\old)tn  (5e[pen[tent,  oon  benen  bie  !riti[(l^e  2Bi[[en[(f)aft  nid)ts 
loeife.  (Sigentlid^  bebürfen  bie[e  prinaipiellen  S^rtümer  ^eute 
feiner  2BiberIegung  met)r;  benn  bie  (Erfal^rung  t)at  uns  bis  ouf  ttn 
f)eutigcn  2:ag  feine  einzige  immaterielle  (5ub[tan5  fennen 
gelet)rt,  feine  einzige  Kraft,  toeld^e  ni(^t  an  titn  Stoff  gebunben  ift. 
ajlaffe  ober  Äörperftoff  (^onberable  SJiaterie).  Die  (£r= 
fenntnis  biefes  loägbaren  3^eile5  ber  SJiaterie  ift  in  erfter  £inie 
©egenftanb  ber  (£^emie.  ^Ilbefannt  [inb  bie  erftaunlid)en  tt)eoreti= 
[cf)en  ^ort[d)rittc,  toeld^e  biefe  2Bi[[en[(f)aft  im  Baufe  bes  neun= 
3et)nten  5at)rt)unberts  gemacf)t  ^at,  unb  ber  unget)euere  (Einfluß, 
toelc^en  [ie  auf  alle  Seiten  bes  prafti[cf)en  Kulturlebens  getoonnen 
I)at.  2Bir  begnügen  uns  ba^er  mit  toenigen  Semerfungen  über  bie 
U3i(f)tigften  prinsipiellen  (5^09^"  oon  ber  9latur  ber  9Pla[[e.  Der 
anali)ti[cf)en  (£t)emie  ift  es  befanntlict)  gelungen,  alle  bie  un3äl)ligen 
üer[d)iebenen  5^aturförper  burd)  3ei^lß9ung  auf  eine  geringe  5ln= 
3af)l  Don  Urftoffen  ober  (Elementen  3urüd3ufül)ren,  b.  l).  auf  ein= 
fad)e  Körper,  tDel(i)c  ni(i)t  roeiter  ^erlegt  toerben  fönnen.  Die  3öl)l 
biefer  (Elemente  beträgt  ungefäl)r  acf)t3ig.  S^Zur  ber  fleinere  Xeil 
ber[elben  (eigentlicl)  nur  oier3el)n)  ift  allgemein  auf  ber  (Erbe  oer« 
breitet  unb  oon  l)ol)er  SBebeutung;  bie  größere  Hälfte  beftel)t  aus 
[eltenen  unb  toeniger  toi^tigen  (Elementen  (meiftens  äUetallen). 
Die  gruppenioeife  93 ertoanbtfd^aft  biefer  (Elemente  unb  bie 
merftoürbigen  $Be3iel)ungen  il)rer  ^tomgett)i(f)te,  tDelrf)e  fiotl)ar 
9Jicr)er  unb  9}tenbeleieff  in  i:^rem  „^eriobi[cl^en  St)[tem 
ber  (Elemente"  nad)geroie[en  t)aben,  mad)tn  es  [el)r  rDal)r[ci)ein= 
lid),  ita^  biefelben  feine  ab[oluten  Spegies  ber  95la[[e,  feine 
etoig  unoeränberli^en  (Bröjgen  [inb.  9Jlan  l)at  na^  jenem  (3i)ftem 
bie  80  (Elemente  auf  a(i)t  §auptgruppen  »erteilt  unb  innerl)alb 
berfelbcn  nod)  ber  (Sröfec  il)rer  ^tomgctöid)te  georbnet,  [o  bojs  bie 


134  3toöIftes  Rapihl 


(^emtfrf)  ät)nlt(f)cn  (SIcmentc  i5omUtcnret{)en  btiben.  X)ic  gruppen* 
toeifen  5Be3te^ungen  im  natürlt(i)en  Srijtcm  ber  (Elemente  erinnern 
einerfeits  an  äl)nli(f)c  23erl)ältni[[e  ber  mannigfad)  3u[ammen= 
gefegten  5^of)IenjtoffDerbinbungen,  anbererfeits  an  bie  SBe3iet)ungcn 
paralleler  ©ruppen,  roie  [ie  im  natürlid^en  6i)jtem  ber  3:ier=  unb 
^flongenarten  [i^  seigen.  2ßte  nun  bei  biefen  bie  „33ertoanbt= 
[d)aft"  ber  ät)nlid)en  ©eftalten  auf  ^bjtammung  r»on  gemeinsamen 
einfad^en  Stammformen  berut)t,  [o  ijt  es  \ti)t  tDal)r[(i)einIidE),  "ba^ 
auä)  basfelbe  für  bie  j^familien  unb  Orbnungen  ber  Elemente 
gilt.  2Bir  bürfen  ba!)er  annel)men,  t>a.^  bie  j ewigen  „empirif^en 
(Elemente"  feine  u)irni(^  einfa^en  unb  unueränberlicä^en  „Spesies 
ber  3Jt äffe"  [inb,  fonbern  urfprünglid^  ^ufammengefe^t  aus  gleid)= 
artigen  einfarf)en  Uratomen  in  üerf(f)iebener  3^^^  ^'^'^  fiagerung. 
9^euerbings  [oll  es  tatfä(^Ii(^  gelungen  [ein,  ein  (Element  in  ein 
anberes  3U  oertoanbeln,  [0  3.  S.  9?abium  in  ^elium.  X)er  alte  Xraum 
ber  ^ld^r)mi[ten  [^eint  baburc^  teilu)ei[e  in  (Erfüllung  3U  gel)en. 
^tome  unb  (Elemente.  Die  moberne  Wtomlel)re,  toie  [ie 
l)eute  ber  (E^emie  als  unentbe]^rli(f)es  Hilfsmittel  er[cl)eint,  i[t  tool)l 
3U  unter[d^eiben  oon  bem  alten  pl)ilo[opl)i[(i)en  ^tomismus,  toie 
er  \d)on  oor  mel)r  als  3roeitau[enb  3a^re^  »on  l)erDorragenben 
monijti[(^en  ^l)ilo[opl)en  bes  Altertums  gelef)rt  lourbe,  oon  £eu  = 
üppos,  Demofritos  unb  fiu!retius;  [päter  fanb  ber[elbe  eine 
toeitere unb  mannigfad)  oer[d)iebene  ^lusbilbung  burrf)  Descartes, 
^obbes,  fieibni3  unb  anbere  f)eroorragenbe  ^l)ilo[opl)en.  (Eine 
beftimmte  annel)mbare  3:a[[ung  unb  empiri[^c  Segrünbung 
fanb  aber  ber  moberne  ^tomismus  erjt  1808  burd)  ben  engli[^en 
(Et)emi!er  Dalton,  u)elcl)er  bas  „(5e[e^  ber  einfa(i)en  unb  multiplen 
Proportionen"  bei  ber  Silbung  d)emi[d)er  23erbinbungen  aufftellte. 
(Er  bejitimmte  3uerjt  bie  5(tomgetDid)te  ber  ein3elnen  (Ele  = 
mente  unb  [(f)uf  bamit  bie  uner[dE)ütterli(i)e  eia!te  ®a[is,  auf 
roeld)er  bie  neueren  d)emi[cl)en  31)eorien  rul)en;  bie[e  [inb  [ämtlid^ 
atomi[ti[(f),  in[ofern  [ie  bie  (Elemente  aus  glei^artigen,  flein[ten, 
bisfreten  Xtild)tn  3u[ammenge[e^t  annel)men,  bie  nid)t  toeiter 
3erlegt  loerben  fönnen.  ^thod)  ^aben  bie  getoaltigen  grort[d^ritte 
ber  neueren  ^l)i)[if  (be[onbers  ber  (Eleftri!)  basu  gefül)rt,  bie  Gliome 
uiieber  in  oiel  Heinere  (!)i)potl)eti[cl)e!)  SBejtanbteile  t^eoreti[d^  3U 
3erlegen,  bie  (£le!tronen  (3onentl)eorie).  Dabei  bleibt  bie  ^xaQt 
naä)  bem  eigentli(i)en  3Be[en  ber  ^tome,  it)rer  (5e[talt,  (Sröfee, 
5ße[eelung  ü[tD.  gan3  aufeer  Spiele;  benn  bie[e  Qualitäten  [inb 
^i)potl)eti[(i) ;  empiri[d)  bagegen  ijt  ber  (El)emismus  ber  ^tome 
ober  il)re  „d)emi[cl)e  Affinität",  b.  t).  bie  !on[tante  Proportion, 
in  ber  [ie  [id)  mit  hm  Atomen  anberer  (Elemente  oerbinben  (9Jioni5= 
mus,  1892,  S.  17,  41). 


Das  Subftansgefc^.  135 


SBa^loertoanbtfd^aft  ber  ©letnente.  Das  oerfi^iebenc  23cr^ 
l)alten  ber  cinjelnen  (Elemente  gegenemanber,  bas  bie  (E^emie  als 
„Affinität  ober  23erti)anbt[d)aft"  beseii^net,  ijt  eine  ber  tDtd)ttgjten 
(£igenfcl)aften  ber  9Jla[[e  unb  äußert  [i(^  in  ben  oer[cf)iebenen9Jiengen^ 
Derl)ältnif[en  ober  Proportionen,  in  benen  i!)re  S^erbinbung  jtatt» 
finbet,  unb  in  ber  ^^ttenfität,  mit  ber  bie[elbe  erfolgt,  ^lle  (Srabe 
ber  3iiTteigung,  uon  ber  oollfommenen  ®lei(^ gültigfeit  bis  3ur 
l)eftigjten  £eiben[d)aft,  finben  [id^  in  bem  d)emi[d)en  33erl)alten 
ber  oerfd^iebenen  (Elemente  gegeneinanber  ebenfo  toieber,  toie  fie 
in  ber  ^[tj^ologie  bes  9Jlen[(^en  unb  namentli^  in  ber  3vineigung 
ber  beiben  (5e[d)lecl)ter  bie  größte  9?olle  [pielen.  (5oetl)e  l)at  be= 
fanntlid)  in  [einem  !laf[i[d^en  9toman  „Die  2Bal)loertoanbt* 
f chatten"  bie  33erl)ältni[[e  ber  Liebespaare  in  eine  9?eil)e  geftellt 
mit  ber  glei(^namigen  (£r[(i)einung  bei  ©ilbung  (i)emif^er  SJer» 
binbungen.  Die  untüiberftel^lid^e  £eiben[^aft,  toelcf)e  (Ebuarb 
3u  ber  [r)mpatt)i[^en  Ottilie,  ^aris  ^u  Helena  l)in5iel)t  unb  alle 
§inberni[[e  ber  23emunft  unb  SJloral  übertoinbet,  ift  biefelbe 
mä(^tige  „unbetoufete"  ^ttraftionsfraft,  meldte  bei  ber  $ßefrud)tung 
ber  2ier=  unb  ^flangeneier  "ötn  lebenbigen  Samenfaben  jum 
(Einbringen  in  bie  (Eiselle  (aber  aud)  jur  5lpfel[äure!)  antreibt; 
biefelbe  l)efttge  ^Beroegung,  burd)  tDeld)e  gtoei  5ltome  2Ba[[erjtoff 
unb  ein  5ltom  Sauerstoff  [idf)  gur  ©ilbung  üon  einem  9Jiole!ül 
SBaffer  vereinigen.  Diefe  pringipielle  (Ein{)eit  ber  2ßal)lDers 
tDanbt[d)aft  in  ber  gansen  9latur,  oom  einfa(i)J!ten  rf)emi[d)en 
^ro3efe  bis  ju  bem  oerraideltjten  ßiebesroman  l)inauf,  l)at  [i^on 
ber  griecl)i[rf)c  91aturp]^ilo[opl)  (Empebolles  im  fünften  ^di)x= 
l)unbert  t).  (El)r.  erfannt,  in  [einer  £el)re  oom  „ßieben  unb  $a[[en 
ber  (Elemente".  Sie  fijjbet  il)re  empiri[d)e  ©eftätigung  burd^ 
bie  intere[[anten  gort[d)ritte  ber  3^nularp[r)cf)ologie,  beren 
l)ol)e  SBebeutung  tuir  erjt  im  legten  Drittel  bes  19.  3öt)r^unberts 
gecoürbigt  l)aben.  2Bir  grünben  barauf  un[ere  Ubergeugung,  ha^ 
audf)  [rf)on  btn  Atomen  bie  einfacf)[te  S^oi^  ber  (Empfinbung  unb 
bes  SBillens  inneu)ol)nt  —  ober  be[[er  ge[agt:  ber  i5ül)lung 
(Aesthesis)  unb  ber  Strebung  (Tropesis)  — ,  alfo  eine  unioerfale 
„Seele"  oon  primitio^ter  9Irt,  bas  „(Elementarp[t)d)om".  Das[elbe 
gilt  aber  aud^  oon  ben  Slloletülen  ober  9Jia[[enteild)en,  xöel(i)e  aus 
3U3ei  ober  mel)reren  Atomen  [id)  3u[ammen[e^en.  5lus  ber  toeiteren 
33erbinbung  Der[df)iebener  [oltf)er  9Jlole!üle  entjtel)en  bann  bie  ein* 
fachen  unb  Doeitert)in  bie  3u[ammenge[e^ten  d)emi[(^en  23er= 
binbungen,  in  beren  ^ftion  [ic^  basfelbe  Spiel  in  oertoidf  elter  er 
gorm  iDieberl)olt. 

^t^er  (Smponberable  SJiaterie).  Die  (Erfenntnis  bie[es 
unwägbaren  steiles  ber  SJJaterie  ijt  in  erfter  fiinie  (Begenjtanb 


136  3t»ötftes  Äapitel. 


bcr  ^1)1)  [tf.  ^adjhtm  man  [c^on  lange  btc  CBitjtcns  eines  äufeerjt 
feinen,  ben  9?aum  aufeerl)alt)  ber  9Jlaffe  erfüllenben  SO^lebiums  an« 
genommen  unb  biefen  „  ^tt)er"  3ur  (Srilärung  oerfd^iebener  (£r* 
[(i)einungen  (cor  allem  bes  Äicfites)  üerujenbet  i)atte,  ift  uns  bic 
nöiftxt  lBefannt[(i)aft' mit  biefem  ujunberbaren  Stoffe  erjt  in  bec 
ätoeiten  Hälfte  bes  neun3e!)nten  ^^^^^iittöei^ts  gelungen,  unb  jroar 
im  3u[ammenf)ang  mit  tttn  erftaunli^en  empiri[d)en  (Sntbecfungen 
auf  bem  (Sebiete  ber  (Eleftrisität,  mit  il)rer  experimentellen 
(£r!enntni5,  il)rem  tt)eoreti[c^en  33erjtänbnis  unb  il)rer  pra!ti[c^en 
23ertüertung.  23or  allem  [inb  l)ier  bal)nbred)enb  geroorben  bie  bc= 
rü()mten  Hnter[urf)ungen  uon  $einri(^  $er^  in  Sonn  (1888); 
ber  frül^seitige  Xoh  bie[e$  genialen  jungen  ^l)t)[i!ers,  ber  bas 
©röfete  3U  erreichen  oerfprad),  ift  nid^t  genug  3u  beflagen;  er  gel)ört 
eben[o  roie  ber  allju  früt)e  Xob  oon  Spinoaa,  üon  9laffael, 
oon  Set)  üb  er t  unb  Dielen  anberen  genialen  Jünglingen  ju  jenen 
brutalen  'Xai\aä)tn  ber  men[d)li(f)en  (5e[d^id)te,  ioelct)e  für  [id) 
allein  ]6)on  "btn  unl)altbaren  5Dlt)tl)us  oon  einer  „roeifen  33or= 
[el)ung"  unb  oon  einem  „alliebenben  93ater  im  ^immel"  grünblic^ 
roiberlegen. 

3)te  exiftena  bes  ^t^ers  ober  „aBeltätl)ers",  als  realer  „SKa« 
terie",  !ann  [eit  1888  als  3:atfad)e  ange[el)en  toerben.  aJian  fann 
allerbings  aud)  l)eute  nod)  üielfad)  lefen,  bafe  ber  9ltf)er  eine  „blofee 
5gpott)e[e"  fei;  biefe  irrtümlid)e  Sel)auptung  toirb  nid^t  nur  oon 
unfunbigen  ^l)ilo|opl)en  unb  populären  Sc^riftftellem  ti)ieberl)olt, 
[onbern  aud)  oon  ein3elnen  „oor[id)tigen  eiaften  ^t)t)[i!ern".  9Jiit 
bemfelben  9?ed)te  mü^te  man  aber  aud)  bie  (Siifteng  ber  ponberablen 
9Jlaterie,  ber  StRaffe,  leugnen,  ^reilid)  gibt  es  l)eute  nod)  SReta= 
pl)i)[ifer,  bie  au(^  bie[es  i^unjtftüd  jujtanbe  bringen,  unb  bereh 
i)öd)fte  9[Beisl)eit  barin  bejtel)t,  bie  9{ealität  ber  ^ujgentoelt  gu 
leugnen  ober  bod)  gu  bestoeifeln;  nad)  il)nen  eiijtiert  eigentlich 
nur  ein  einziges  reales  SBefen,  nämli(^  i^re  eigene  teure  ^erfon, 
ober  Dielmel)r  beren  unjterblid)e  Seele. 

SBefen  bes  JHt^ers.  2Benn  nun  aud^  t)eute  oon  faft  allen  ^l)r)= 
[ifern  bie  reale  (£iijten3  bes  5ltl)ers  als  eine  pofitioe  3:at[ad)e  be= 
trad)tet  roirb,  unb  tuenn  uns  aud)  oiele  2Bir!ungen  biefer  tounber^ 
baren  SKaterie  burc^  un3äl)lige  (Erfahrungen,  befonbers  optifd)e 
unb  ele!trifd)e  35er[ud)e,  genau  befannt  [inb,  [o  ijt  es  bod)  bisl)er 
nid)t  gelungen,  Rlarl)eit  unb  Sic^erl)eit  über  it)r  eigentliches 
2ße[en  ju  getoinnen.  33ielme^r  gel)en  aud)  l)eute  nod)  bie  ^n^ 
fiepten  ber  l)ert)orragenbften  ^l)r)[i!er,  bie  fie  fpe3iell  jtubiert  l)aben, 
iel)r  roeit  auseinanber;  ja  [ie  u)iber[pre(^en  [i^  [ogar  in  hm  tDid)tig= 
jten  fünften.  (£s  jtel)t  bal)er  jebem  frei,  [icf)  bei  ber  2Bal)l  3roi[cf)en 
ben  tDiber[precf)enben  §r)potl)e[en  feine  eigene  95Zeinung  3U  bilben, 


Das  Subjtansgcfe^.  137 


entfprecf)enb  bem  ©rabe  [einer  Sa(i)fenntnt5  unb  Itrteilsfraft  (bte 
ja  betbe  immer  unoolüommen  bleiben!).  Die  9Jleinung,  bie  id) 
perjönlicf)  (als  blofeer  Dilettant  auf  bie[em  ©ebiete !)  mir  bur^ 
reiflicf)e5  9lad)benfen  gebilbet  I)abe,  fa[[e  xd)  in  folgenben  ac^t 
Sä^en  5u[ammen: 

I.  Der  ^tt)er  erfüllt  als  eine  !ontinuierlid)c  SJlaterie  "ütn 
gansen  SBeltraum,  foxöeit  bie|er  ni^i  von  ber  9?la[[e  (ober  ber 
ponberablen  93laterie).  eingenommen  ijt;  er  füllt  aud}  alle  3t»t[cl)en= 
räume  3tDi[cE)en  ben  5ltomen  ber  le^teren  Dollftänbig  aus.  II.  Der 
^tt)er  befi^t  roal^rfc^einlicl)  nocf)  feinen  (£l)emismus  unb  ift 
nod)  nicf)t  aus  Atomen  ^ufantmengefe^t  töie  bie  9Jla[[e;  (toenn  man 
annimmt,  berfelbe  [ei  aus  äufeerjt  fleinett,  gleid)artigen  Atomen 
3ufammenge[e^t  [3.  ^.  unteilbaren  ^lti)er!ugeln  oon  glei(^er 
®röfee],  [0  mufe  man  tüeiterl)in  aud)  annel)men,  ta^  3toi[d)en  ben= 
felben  no<^  etroas  anberes  exijtiert,  enttöeber  ber  „leere  9?aum" 
ober  ein  brittes,  gang  unbefanntes  9Jiebium,  ein  oöllig  l)i)po= 
tl)eti[(l)er  „^nttxäi\)tx";  bei  ber  (5rage  nad)  beffen  2Be[en  toürbe 
[id)  bann  biefelbe  8d)toierig!eit,  roie  beim  5ltl)er  erl)eben  [in  in- 
finitum!].)  III.  Da  bie  5tnnal)me  bes  leeren  ^Raumes  unb  ber 
unoermittelten  ^rerntDirfung  beim  je^igen  Staube  unferes  9^atur»= 
fennens  !aum  mt\)X  möglid)  ift  (roenigjtens  bu  feiner  flaren  33or= 
jtellung  fül)rt),  [0  nel)me  id)  eine  eigentümlid)e  (Struftur  bes 
^ttt)ers  an,  bie  md)t  atomifti[d)  ijt,  toie  biejenige  ber  ponberab^ 
len  95Zaf[e,  unb  bie  man  oorläufig  (ol)ne  toeitere  Sejttmmung) 
als  ätf)eri[d)e  ober  b9nämi[d)e  Struftur  bejei^nen  fann. 
IV.  Der  ^ggregat3u[tanb  bes  ^tl)ers  ift,  biefer  §t)potl)e[e  3U= 
folge,  ebenfalls  eigentümlid)  unb  oon  bemjenigen  ber  StRaffe  Der= 
fd)ieben;  er  ift  meber  gasförmig,  noc^  feft;  bie  befte  33orftellung 
getoinnt  man  oielleid^t  burd^  ben  33ergleid^  mit  einer  anwerft  feinen 
elaftif d)en  unb  leichten  ©allerte.  V.  Der  ^tl)er  ift  imponberable 
9Jlaterie  in  bem  Sinne,  tia^  von  fein  SJiittel  befi^en,  fein  (5etDid)t 
eiperimentell  3U  beftimmen;  loenn  er  toirflid)  (5eu)id^t  befi^t,  roas 
fel)r  roaf)rfd)einlid)  ift,  [0  ift  basfelbe  äu^erft  gering  unb  für  unfere 
feinften  2Bagen  uncoägbar.  VI.  Der  ätl)erif^e  ^Iggregat^uftanb 
fann  toafirfd) einlief)  unter  beftimmten  Sebingungen  burc^  fort= 
[^reitenbe  33erbid)tung  in  htn  gasförmigen  3wf^ö^^  ^^^  9Jla[[e 
übergef)en,  ebenfo  roie  biefer  le^tere  burd)  ^bfü^lung  in  t>tn 
flüffigen  unb  rDeiterf)in  in  titn  feften  übergel)t.  VII.  Die[e  5lggre  = 
gatjuitänbe  ber  XRaterie  orbnen  \id)  bemnad^  (toas  für  bie 
moniftifd)e  ilosmogenie  fel)r  toic^tig  ift)  in  eine  geneti[d)e, 
fontinuierlid)e  9?ei^e;  toir  unterfd)eiben  fünf  Stufen  berfelben: 
1.  ber  ätf)eri[d)e,  2.  ber  gasförmige,  3.  ber  flüffige,  4.  ber  feft= 
flüffige  (im  lebenben  Plasma),  5.  ber  fefte  3uf^önb.    VIII.  Der 


138  3a3ölftc5  Äapitel. 


$ltl)er  ijt  ebenfo  uncnblidf)  unb  uncrmefelid)  tote  ber  9{aum  [clbff; 
er  bcfinbet  [id)  ctötg  in  ununterbro(f)cncr  ^Bctoegung. 

^if)n  unb  ORoffe.  „Die  genoaltige  Hauptfrage  nad^  bem  9Be[en 
bes  ^tl)er5",  toie  [ie  §er^  mit  9?ecf)t  nennt,  [d)Iiefet  aud)  biejenige 
[einer  Se3ie!)ungen  jur  SOZaffe  ein;  benn  beibe  ^auptbeftanbteile 
ber  SJlaterie  befinben  [id)  ni(^t  nur  überall  in  innigjter  äußerer 
$Berüt)rung,  fonbern  aud^  in  etoiger  br)nami[(^er  2Becl^[eltDir«= 
!ung.  9}Zan  fann  bie  allgemeinjten  9latureri(^einungen,  toelc^e 
bie  ^bPft^  als  IRaturfräfte  ober  als  „gunftionen  ber  SKaterie" 
unter[(^eibet,  in  3toei  ©ruppen  teilen,  von  benen  bie  eine  Dor- 
3ugscoei[e  (aber  ni^t  aus[cf)liefeli(^)  gun!tion  bes  5lt{)ers,  bie 
anbere  ebenfo  ^unftion  ber  SJlaffe  ift.  Die  Grfd) einungen  bes 
£ic^tes,  ber  jtraf)Ienben  SBärme,  ber  dBIeftrijität  unb  bes  9Jiagnetis= 
mus  roerben  übero^iegenb  burd)  htn  imponberablen  ^tf)er  oer* 
ntittelt;  bagegen  bie  (£rfd) einungen  ber  Sd^ioere,  ber  Xxagfyzii,  ber 
2Ba[fertx)ämte  unb  bes  (If)emismus  burd^  bie  ponberable  5üla[[e. 
Die[e  ltnter[d)eibung  bebeutet  aber  feine  abfolute  ^Trennung  ber 
beiben  entgegenge[e^ten  (Energiegruppen;  t)ielme{)r  bleiben  beibe 
tro^bem  Bereinigt,  bef)alten  it)ren  3ii[ömmenl)ang  unb  jtel)en 
überalt  in  bejtänbiger  2Bed)[eltDir!ung.  2Bie  be!annt,  [inb  opti[(^e 
unb  ele!trifd)e  23orgänge  bes  $ltt)ers  eng  oerfnüpft  mit  me(f)ani[(i)en 
unb  ci^emi[d)en  93eränberungen  ber  9Jlaf[e;  bie  jtrablenbe  SBärme 
bes  erfteren  ge{)t  bire!t  über  in  bie  SJlaffenroärme  ober  medE)ani[d^e 
SBärme  ber  le^teren;  bie  (Sraoitation  !ann  nid)t  roirfen,  o^ne  ha^ 
ber  ^tf)er  bie  9Jla[fenan3ieI)ung  ber  getrennten  ?ltome  »ermittelt, 
ba  toir  !eine  gerntoirfung  annef)men  fönnen.  Die  S^ertoanblung 
einer  (Energieform  in  bie  anbere,  toie  [ie  bas  (5e[e^  oon  ber  (&xi)ah 
tung  ber  Äraft  nad)tDeijt,  bestätigt  3ugleid)  bie  beftänbige  2Bed)[el= 
toirfung  3tDi[d)en  ben  beiben  ^auptteilen  ber  Subjtan3,  3töi[c^en 
^tber  unb  aRa[[e. 

ilraft  nnh  Energie.  Das  grofee  (Srunbgefe^  ber  91atur,  u)eId)C5 
wir  als  (5ubjtan3ge[e^  an  bie  Spi^e  aller  pl)t)[i!ali[d^en  Setrad)= 
tungen  jtellen,  tourbe  ur[prüngli^  oon  5Robert9Jlai)er,  ber  es 
aufjtellte  (1842),  unb  oon  öelml)0l^,  ber  es  ausfüfjrte  (1847),  als 
bas  ©e[e^  oon  ber  (Ert)altung  ber  5traft  be3eid)net.  Sc^on  3el)n 
3al)re  früf)er  I)atte  ein  anberer  beut[d)er  9laturfor[d)er,  (Jriebrid) 
9JloI)r  in  Sonn,  bie  tDe[entIi(^en  (Srunbgebanfen  bes[elben  !Iar 
entroidelt  (1837).  Später  tourbe  ber  alte  ^Begriff  ber  Rraf t  burd) 
bie  moberne  ^I)i)[i!  oon  bemjenigen  ber  (Energie  getrennt,  ber 
urfprüngli^  gleic^bebeutenb  roar.  Demnad)  toirb  je^t  ba5[elbe 
(5e[e^  geu3öl)nlid)  als  bas  „®e[e^  oon  ber  Ron[tan3  ber  (Ener  = 
gie"  be3eid)net.  örür  bie  allgemeine  SBetrad)tung  bes[elben,  mit 
ber  i^  mi(^  l)ier  begnügen  mufe,  unb  für  bas  grofee  ^rinsip  oon  ber 


1)05  Subftansgefe^  139 

„(£rl)altung  ber  6ubjtan3"  fornrnt  bte[er  feinere  Unter[(f)teb  ntd^t 
in  ®etta(i)t.  Der  £e[er,  ber  [irf)  bafür  intere[[iert,  finbet  eine  fe^r 
!Iare  ^useinanberj'e^ung  barüber  3.  S.  in  bem  au5ge3ei(f)neten 
^uf[a^  bes  englifc^en  ^f)r)[i!er5  3:t)nban  über  „bas  ©runbgefe^ 
ber  9^atur"  (©raunfd^toeig  1898).  Dort  ift  aud)  eingel)enb  bie 
unioerfole  ^Bebeutung  biefes  fosmologtfc^en  (örunbgefe^es  erläu= 
tert,  [otoie  [eine  ^Intoenbung  auf  bie  tüid^tigften  Probleme  [el)r 
t)er[d)iebener  ©ebiete.  2Bir  begnügen  uns  l)ier  mit  ber  toicfjtigen 
Xat[a(f)e,  bajg  gegentoärtig  bas  „(£nergieprin3ip"  unb  bie  bamit 
t)er!nüpfte  Ilberseugung  von  ber  CBinl^eit  ber  9laturfräfte,  üon 
i^rem  gemeinfamen  Urfprung,  burc^  alle  fompetenten  ^l)t)[ifer 
anerfannt  unb  als  ber  toid^tigfte  ^ortfci^ritt  ber  ^^x)\it  im  19.  5af)r= 
{)unbert  geroürbigt  roirb.  2Bir  toiffen  je^t,  bafe  SBärme  ebenfogut 
eine  ^^orm  ber  ^Betoegung  ift,  toie  <Bä)all,  (£Ie!tri3ität  ebenfo 
roie  £id)t,  G;{)emi5mus  ebenfo  toie  SJJagnetismus.  2Bir  fönnen 
burd^  geeignete  23orri(^tungen  eine  biefer  Gräfte  in  hit  anbere 
oertoanbeln,  unb  überseugen  uns  babei  burd^  genauefte  SCReffung, 
ba]3  oon  if)rer  ©efamtfumme  niemals  bas  fleinfte  Ztxl^tn  Der= 
loren  ge^t. 

Spannfraft  unb  Xrtebftaft  (potentteile  unb  aftuelle 
(Energie).  Die  ©efamtfumme  ber  5lraft  ober  (Energie  im  SBelt* 
all  bleibt  beftänbig,  gIei(i)DieI,  votlä)t  23eränberungen  uns  erfd)einen; 
fie  ift  eiüig  unb  unenbli^,  toie  bie  äRaterie,  an  bie  fie  untrennbar 
gebunben  ift.  Das  ganse  ©piel  ber  $Ratur  berul)t  auf  bem  SBedfifel 
Don  fd^einbarer  5Ru!)e  unb  ©etoegung;  bie  ru^enben  5^örper  be= 
fi^en  aber  ebenfo  eine  unoerlierbare  ©röfee  üon  i^raft,  toie  bie 
betoegten.  5Bei  ber  ^etoegung  felbft  oertoanbelt  fid)  bie  Spannfraft 
ber  erfteren  in  bie  ^^riebtraft  ber  le^teren.  „3ttbem  bas  ^rinsip 
ber  (Erhaltung  ber  Äraft  forool)!  bie  ^bftojgung  als  bie  5tn3iel)ung 
in  $Betcad)t  3iet)t,  bet)auptet  es,  t)a^  ber  med^anifd)e  2Bert  ber 
Spannfräfte  unb  ber  lebenbigen  i^räfte  in  ber  materiellen  9BeIt 
eine  tonftante  Quantität  ift.  ilur3  gefagt,  serfällt  ber  ilraftbefi^ 
bes  Unioerfums  in  3ioei  3^eile,  bie  nad)  einem  beftimmten  2Bert= 
t)erl)ältnis  ineinanber  oertoanbelt  roerben  fönnen.  Die  93ermin« 
berung  bes  einen  bringt  bie  33ergröfeerung  bes  anberen  mit  fict); 
ber  ©efamtroert  feines  ©efi^es  bleibt  jeboc^  unoeränbert."  Die 
Spanntraft  ober  bie  potentieIIe(£nergie  unb  bie  lebenbigc 
Rraft  ober  bie  attuelle  (Energie  (=  Xriebtraft)  toerben  beftänbig 
ineinanber  umgetoanbelt,  ot)ne  ha^  bie  unenblictje  ©efamtfumme 
ber  5lraft  im  unenbli(^en  SBeltall  jemals  ben  geringften  33erluft 
erleibet. 

©in^cit  ber  Dtoturfräfte.  9^adE)bem  bie  moberne  ^l)i)fi!  bas 
Subftansgefe^  3unö^ft  für  bie  einfa(^eren  ^e3iet)ungen  ber  an» 


140  Drctäe^ntes  Rapitel. 


organifd)en  5lörpcr  feftgejtellt  l)atte,  totes  bte  ^l)r)[toIogte  beffett 
allgetTteme  ©eltuttg  auc^  im  (5ejarrttberetd)e  bcr  orgartifd)ert  Statur 
Ttad).  Sie  geigte,  ha^  alle  fiebettstätigfeitett  ber  Organismen 
ebenfo  auf  einem  bejtänbigen  „Äraftttjed^fel"  unb  einem  bamit 
oerfnüpften  „StofftDcdf)[er'  berul)en  tote  bie  einfad) jten  3Sorgänge 
in  ber  [ogenannten  „leblofen  9latur".  9lid)t  nur  bas  2Ba(i)stum 
unb  bie  (£rnäl)rung  ber  ^flangen  unb  3^iere,  [onbern  aud)  bie  ^unh 
tionen  tf)rer  (Empfinbung  unb  SBetoegung,  il)rer  8innestätig!eit 
unb  it)res  Seelenlebens  berur)en  auf  ber  33ertDanbIung  von  Spann= 
!raft  in  lebenbige  i^raft  unb  umge!el)rt.  X)ie[es  f)ö^fte  ©efe^ 
bel)err[(^t  aud^  biejenigen  oolüommenften  fieijtungen  bes  9Zert)en= 
fi)jtems,  töelc^e  man  bei  ben  f)öl)eren  Jieren  unb  beim  9Jlen[d^en 
als  bas  „©eiftesleben"  begei^net  Somit  gilt  basfelbe  aud)  für 
bie  gesamte  ^[i)(^ologie.  2Bir  fennen  nur  einerlei  5lrt  von 
^laturfräften  in  allen  9laturer[c^  einungen. 

JWnmac^t  bes  SuBftanägcfetes.  Hn[ere  fejte  monijtifdie  Hbcr* 
jeugung,  bafe  bas  !osmoIogi[c^e  ©runbgefe^  allgemeine  ©eltung 
für  bie  gefamtc  91atur  befi^t,  nimmt  bie  l^öi^jte  $Jebeutung  in 
^nfprud^.  ^enn  baburd)  ttjirb  nid^t  nur  pofittt)  bie  pringipielle 
(£inl)eit  bes  i^osmos  unb  ber  faujalc  3it[ömment)ang  aller  uns 
erfennbaren  (£r[d) einungen  betoiefen,  [onbern  es  roirb  baburd) 
juglei^  ncgatit)  ber  l)öd)jte  intelleftuelle  grortf^ritt  ergielt,  ber 
befinitit)e  Sturj  ber  brei  3^^traIbogmen  ber  9}letapl)r)[if: 
„(Sott,  greil)eit  unb  Hn|terblid)!eit".  Snbem  bas  Sub^tanggefe^ 
überalt  med^anifc^e  Urfad)en  in  ben  (£r[d)einungen  nad)tDeift,  oer» 
fnüpft  es  [id)  mit  bem  „allgemeinen  Kau[alge[e^". 


enflt>idetttttgööef(j^i(^fe  bet  2Bett 

9}Zoniftifc|)e  (otu\)kn  über  bie  emige  ^ntU){c!etung  be^  llnt= 
t)erfum.  6c^ö|)fung,  "Einfang  unb  (fttbe  ber  ^elt  Entropie. 

Unter  allen  Sßelträtfeln  bas  größte,  umfaffenbjte  unb  [(^toerjte 
ift  basjenige  tjon  ber  (£ntftel)ung  unb  (gnttüidelung  ber  2Belt,  furg 
getDöl)nlid)  bie  „Sd)öpfungsfragc"  genannt.  9lu^  gur  üöfung 
biefes  [d)tDierigjten  SBelträtfels  I)at  bas  19.  3öl)rl)unbert  mel)r  bei» 
getragen  als  alle  frül)eren,  ja  [ie  ijt  il)m  fogar  bis  gu  einem  getüi[[en 
©rabe  gelungen.  2ßenigjtens  [inb  roir  3U  ber  Haren  (£in[id)t  gelangt, 


CIBnttDt(Ielungsge[(^id)tc  ber  2Bclt.  141 

ba'ij  alle  öerfd)tcbenen  cinäelnen  Sd)öpfungsf ragen  untrennbar 
üerfnüpft  [inb,  bofe  [te  alle  nur  ein  eingiges,  allumfaffenbes  „fos* 
mt[(^es  Uniüerfalproblem"  bilben,  unb  htn  Sd)Iüf[eI  3ur 
ööfung  btefer  „Wlitfi^xaQz"  gibt  uns  'i)a5  eine  3öuberrDort:  „(£nt* 
loi delung"  !  i)ie  großen  (fragen  »on  ber  S(i)öpfung  bes  9[Ren[(i)en, 
oon  ber  Sd)öpfung  ber  3:iere  unb^flanjen,  von  ber  Schöpfung 
öer  (£rbe  unb  ber  Sonne  ufto.,  [ie  alle  [inb  nur  Xeile  jener  Itnioerlal* 
frage:  2Bie  ift  bie  'gange  2BeIt  entjtanben?  3ft  [ie  auf  übernatür^ 
iid)em  3Bege  „er[d)aff  en",  ober  t)at  [ie  [id)  auf  natürlid)em  SBege 
„enttoidelt"?  2BeIc()er  ^rt  [inb  bie  Ur[ad)en  unb  bie  2Bege  bie[er 
(£ntn)if!elung?  ©elingt  es  uns,  eine  [icf)ere  ^Inttoort  auf  bie[e 
<5ragen  für  eines  jener  3: eil= Probleme  gu  finben,  [o  l)aben  mx 
nad)  un[erer  einl)eitlid^en  91aturauffa[[ung  bantit  s^öle^rf)  ein  er= 
l)eUenbes  £id)t  auf  beren  Seanttoortung  für  bas  gange  SBelt* 
Problem  geroorfen. 

6(^ö|)fung  (Creatio).  Die  l)err[(^enbe  ^n[id)t  über  bie  (£nt= 
[tel)ung  ber  2Belt  toar  in  frü^^eren  ^a^i^^unberten  faft  überall,  ujo 
benfenbe9Jlen[rf)entDol)nten,  ber(Slaube  an  bie  (5dE)öpfung.  ^n 
3:au[enben  oon  intere[[anten,  ntel)r  ober  xoeniger  fabelhaften  Sagen 
iint>  Did)tungen,  ilosmogonien  unb  S(i)öpfung5ntr)tl)en 
{)at  bie[er  Sd)öpfungsglaubc  [einen  mannigfaltigen  ^usbrudE  ge«= 
funben.  grei  baoon  blieben  nur  toenige  grojse  ^l)ilo[opl)en  unb 
t)e[onbers  jene  beujunberungstoürbigen  freien  Den!er  bes  !la[[i[^en 
'2lltertum5,  bie  guerft  ben  ©ebanfen  ber  natürlid)en  (EnttoidEe» 
lung  erfaßten,  ^m  ©egen[a^  gu  bie[em  le^teren  trugen  alle  jene 
Sd)öpfungsmr)tl)en ben (S:i)ara!ter  bes  Xlbernatürli^en,  SBunber« 
baren  ober  3:ran[5enbenten.  Unfäl)ig,  bas  2Be[en  ber  2Belt  [elbjt 
3U  erfennen  unb  il)re  (£nt[tel)ung  buri)  natürlid^e  Ur[ad)en  gu  er= 
Hären,  mufete  bie  unentroicfelte  93ernunft  [elbftoerftänblid)  gum 
SBunber  greifen.  5n  t)tn  meijten  Sd)öpfungs[agen  oer!nüpftc 
fid)  mit  bem  SBunber  bie  93ermen[d^lid)ung  (ber  ^Int^ropismus). 
2Bie  ber  ärien[cl)  mit  m[id^t  unb  burcl)  5^unjt  [eine  2Ber!e  [d)afft, 
[o  [ollte  ber  bilbenbe  „®ott"  planmäßig  bie  SBelt  er[d)affen  liabtn; 
bie  S3or[tellung  bie[e5  Sd)öpfer5  toar  meijtens  gang  men[^en= 
äbnlid)  (antt)ropomorpl)).  Der  „allmächtige  Sd)öpfer  Fimmels 
unb  ber  ßrben",  roie  er  im  erjten  ^ud)  9Jlo[es  unb  in  un[erem  l)eute 
noc^  gültigen  Äated)i5mus  [d)afft,  i[t  eben[o  gang  men[c^lic^  ge= 
:bad)t  tote  ber  moberne  Sd)öpfer  oon  Ulga[[i3  unb  9?ein!e. 

6(^öpfung  bes  SBeltalls  unb  ber  C^tngelbtnge  (Äreation 
t)et  Sub[tan3  unb  ber  ^fgibenäen).  Sei  tieferem  (£ingel)en  in 
Den  SBunberbegriff  ber  i^reation  fönnen  roir  als  gtoei  töe[entlid) 
x>er[d)iebenc  5l!te  bie  totale  Sd)öpfung  bes  SBeltolls  unb  bie  partielle 
Srf)öpfung  ber  eingelnen  Dinge  unter[cl)eiben,  ent[pred)enb  bem 


142  2)rei3el)nte5  Äapitcl. 


93egrtffe  Spinozas  Don  bcr  Subfiong  (bem  Universum)  unb 
ben  ^f3ib engen  (ober  Modi,  ben  eingelnen  „(Srfrfieinungsformen 
ber  Subjtan3").  Diefe  UnterfdEieibung  ijt  prtn3tptell  tDt(J)ttg;  benn 
es  l)at  ütele  unb  ange[e^ene  ^t)Uofopl)en  gegeben  (unb  es  gibt 
noc^  l)eute  [oId)e),  toeId)e  bie  erftere  annel)men,  bie  leitete  bagegen 
üermerfen. 

Sd^öpfung  ber  Subftonj  (5^osmoIogt[d)er  ilreatisntus). 
^aä)  bte[er  (3d)öpfungslef)re  f)at  „©ott  bie  2BeIt  aus  bem  $Ri(^ts 
ge[(^affen".  9[Ran  jtellt  [id)  üor,  bafe  ber  „eioige  ©ott"  (als  oer* 
nünftiges,  aber  immaterielles  2Be[en!)  für  [id^  allein  von  (£rDig= 
feit  l)er  (im  leeren  5Raum)  ol)ne  9BeIt  eiijiierte,  bis  er  bann  ein* 
mal  auf  t>^n  (5eban!en  fam,  „bie  2BeIt  ju  [(J)affen".  33iele  ^n= 
l)änger  biefes  ©laubens  befc^ränfen  bie  S(^öpfungstätig!eit  ©ottes 
aufs  ^ufeerfte,  auf  einen  einjigen  5l!t;  fte  nel)men  an,  tia^  ber 
aufeern)eltli(^e  ©ott  (be[[en  übrige  3^ättg!eit  rät[en)aft  bleibt!)  in 
einem  ^ugenblitf  bie  Subjtan3  er[(i)affen,  tt)r  bie  gäl)ig!eit  3ur 
toeiteftge^enben  (Enttoicfelung  beigelegt  unb  fid)  pann  nie  tüeiter 
um  [ie  be!ümmert  f^aht.  Diefe  loeit  »erbreitete  3lnfid)t  ijt  nament* 
lid^  im  englifc^en  Deismus  melfad^  ausgebilbet  roorben;  [ie  näl)ert 
Yiä)  unferer  monijtifd^en  (£ntu3i(lelungslel)re  unb  gibt  [ie  nur  in 
bem  einen  3lRomente  preis,  in  rael^em  ©ott  auf  ben  (3(i)öpfung6= 
gebauten  fam.  Rubere  ^nt)änger  bes  fosmoIogi[(f)en  Äreatismus 
net)men  bagegen  an,  ha^  „©ott  ber  $ert"  bie  (5ub[tan3  nid^t  nur 
einmal  er[d)affen  l)abe,  [onbern  als  betoufeter  „(£rl)alter  unb  9?e* 
gierer  ber  30Selt"  in  beren  ©e[d)id)te  forttoirfe.  33iele  3Sariationen 
bie[e5  ©laubens  nät)em  \xä)  balb  bem  ^antl)etsmus,  balb  bem 
!on[equenten  X^eismus.  ^lle  bie[e  unb  äl)nlid)e  (formen  bes 
Scf)öpfungsglaubens  [inb  unoereinbar  mit  bem  ©e[e^  oon  ber 
(£rl)altung  ber  ilraft  unb  bes  Stoffs;  bie[e5  fennt  feinen  „Anfang 
ber  9Belt". 

S(^ö|jfutt9  ber  Ginaelbinöe  (Ontologi[d)er  Äreatismus). 
9^a^  bie[er  inbioibuellen,  nod^  je^t  l)err[^enben  S^öpfungslel)rc 
f)at  ©Ott  ber  $err  nic^t  nur  bie  2ßelt  im  ©an3en  („aus  ^li^ts") 
ge[cE)affen,  [onbern  aurf)  alle  einseinen  Dinge,  ^n  ber  d)riitli^en 
i^ulturtoelt  be[i^t  no^  l)eute  bie' uralte  [emiti[d)e,  aus  bem  erjten 
^ud)  yRo]t5  l)erüb ergenommene  Sd)öpfungs[age  bie  toeitefte 
©eltung;  [elbjt  unter  htn  mobernen  SRaturfor[d^ern  finbet  [ie  nod) 
l)ier  unb  ba  gläubige  ^nljänger.  3^  I)o^^  meine  friti[cf)e  ^uffa[[ung 
ber[elben  im  erften  5lapitel  meiner  „^latürlid^en  6d^öpfungsge= 
[c^i^te"  einge^enb  bargelegt.  ^Is  intere[[ante  SJZobififationen 
bie[es  ontologi[d)en  5^reatismus  bürften  folgenbe  X^eorien  ju 
unter[(^eiben  [ein:  I.  Duali[ti[d)e  Äreation:  ©ott  l)at  [id)  auf 
3U)ei  Sdjöpfungsafte  be[d)ränft;  suerft  [d)uf  er  bie  anorgam[d)C 


i 


(£nttütdelung5gcfd^id)te  ber  9BeIt.  143 

2BcIt,  bic  tote  Subjtanj,  für  btc  allein  bas  ©e[e^  ber  Energie  gilt, 
blinb  unb  ziellos  toirfenb  im  äJiec^anismus  ber  2BeIt!örper  unb 
ber  ©ebirgsbilbung;  [päter  ertöarb  ©ott  Sntelligenj  unb  teilte 
biefe  ben  X)ominanten  mit,  titn  sieljtrebigen,  intelligenten  Gräften, 
u)elcf)e  bie  (Sntroidelung  ber  Organismen  beroirfen  unb  leiten 
(3^ein!e).  IL  Xrialiftif^e  5lreation:  ©ott  l)at  bie  SBelt  in 
brei§aupta!tenge[ct)affen:  A.  Sd^öpfung  bes Fimmels  (b.  I).  ber 
aufeerirbi[(^en  SBelt);  B.  6d^öpfung  ber  (£rbe  (als  äRittelpunft  ber 
2BeIt)  unb  il)rer  Organismen;  C.  Sd)öpfung  bes  9Jlen[c^en  (als 
(Ebenbilb  ©ottes):  biefes  Dogma  ift  nod^  tieute  toeit  verbreitet 
unter  d)rijtlid)en  ^^eologen  unb  anberen  „©ebilbeten";  es  roirb 
in  melen  Sct)ulen  als  2Bat)rt)eit  gelet)rt.  III.  §eiamerale5^re  = 
ation:  bie  Sd)öpfung  in  [ed)s  2;agen  (nad)  9Jlofes).  Obgleirf)  nur 
tt)enige  ©ebilbete  ^eute  nod)  toirüirf)  an  bie[en  mo[ai[(f)en  9Jlt)tl)us 
glauben,  roirb  er  benno(i)  unferen  kinbern  [d)on  in  ber  früliejten 
3ugenb  mit  bem  Sibelunterrid^t  feft  eingeprägt.  Die  Dielfact)en, 
namentli^  in  (Snglanb  gemad)ten  33erfu^e,  ben[elben  mit  ber 
mobernen  (£nti»ic!elung6let)re  iij  (EinÜang  gu  bringen,  [inb  oöllig 
fet)Igefd)Iagen.  ^üx  bie  9flaturix)i[[en[d)aft  getoann  berfelbe  baburd^ 
grofee  Sebeutung,  bafe  £inne  bei  ©egrünbung  [eines  9^atur= 
[riftems  (1735)  it)n  annatim  unb  3ur  $8egriffsbejtimmung  ber 
organifd^en  (oon  il)m  für  bejtänbig  get)altenen)  Spezies  be= 
nu^te:  „(£s  gibt  [o  oiele  Derfrf)iebene  ^rten  oon  Stieren  unb  ^flangen, 
als  im  Anfang  oer[d)iebene  Srormen  oon  bem  unenblid)en  SBefen 
erfc^affen  xoorben  [inb."  X)ie[es  Dogma  rourbe  siemlidf)  allgemein 
bis  auf  Dario  in  (1859)  fejtgel)alten,  obgIei(^  Qamaxä  [d)on 
1809  [eine  llnl)altbar!eit  bargelegt  l)atte.  IV.  ^eriobi[dE)c  i^rea* 
tion:  im  Anfang  jeber  ^eriobe  ber  (£rbge[(i)irf)te  tourbe  bie  ganse 
3:ier=  unb  ^flanjenbeodüerung  neu  ge[(i)affen  unb  am  CSnbe  ber= 
[elben  burd)  eine  allgemeine  Äata[tropt)e  Dernirf)tet;  es  gibt  [o  oiele 
©eneral'Sd^öpfungsafte,  als  getrennte  geologi[^e  ^erioben  auf= 
einanber  folgten  (bie  5^ata[tropl)entl)eorie  oon  (SSuoier,  1818,  unb 
oon  ßouis  5Iga[[i3,  1858).  Die  Paläontologie,  03el(i)e  in  il)ren 
unoollfommenen  Anfängen  biefe  £el)re  oon  h^n  toieberl)olten  $Reu= 
[(^öpfungen  ber  organi[d)en  SBelt  3U  [tü^en  [(^ien,  ^at  biefelbe 
[päter  oolljtänbig  toiberlegt.  V.  ^Tibioibuelle  Äreation:  jeber 
einjelne  9Jien[d)  —  eben[o  toie  jebes  einselne  2;ier  unb  jebes 
^flanseninbioibuum  —  ijt  ni(f)t  burd)  einen  natürlid)en  gort* 
pflansungsaft  entjtanben,  [onbern  burd)  bie  ©nabe  ©ottes  ge* 
id)affen  („ber  alle  Dinge  fennt  unb  bie  §aare  auf  un[erem  Raupte 
ge3äl)lt  l)at")-  äRcin  liejt  bie[e  d)ri[tlid)e  Sc^öpfungsan[id)t  nod) 
l)eute  oft  in  htn  3^itungen,  be[onbers  bei  ©eburtsanjeigen 
{„©ejtern  [d)en!tc  uns  ber  gnäbigc  ©ott  einen  ge[unben  Änaben" 


144  $)rei3etintcs  Äapitel. 


ufro.).  ^ud)  bie  inbiüibuellen  ZaUnit  unb  SSorjügc  unfercr  5linber 
tüerben  oft  oIs  „bcfonbcre  ©abcn  ©ottcs"  banfbar  ancriannt  (bie 
erbitten  (5cf)Icr  gett>öl)nlid)  md)tl). 

enttDirfelttttö  (Oeuesis,  Evoliitio).  3)te  Unt)altbar!ett  ber 
<3d)öpfungsfagen  unb  bcs  bamit  üerfmipften  SBunberglaubens 
mufetc  [i(^  [d)on  früf)3etttg  benfenben  Mtn\(i)tn  aufbrängen;  tüir 
finben  t>a\)tx  \ä)on  vox  mt\)x  ah  3roettau[enb  3ö^i^ß^  3at)IreicE)e 
$Jer[ud)c,  bte[elben  burd)  eine  oemünftige  3:i)eorie  3U  erfe^en  unb 
bie  (£ntjtet)ung  ber  2BeIt  mittels  natürli(^er  Hr[a(i)en  3U  erflären. 
Tillen  voran  jte^en  l)ierin  xüieber  bie  großen  I)en!er  ber  ionifd^en 
9laturp^tlo[opt)ie,  ferner  X)emD!rito5,  ^eraflitos,  (Smpebofles, 
^rijtoteles,  fiufretius  unb  anbere^^l)iIofopt)en  bes  Altertums.  Die 
erften  unüollfontntenen  93er[u(i)e,  tDeI(i)e  [ie  unternol)men,  über= 
ra[d)en  uns  3um  3:eil  burd)  jtrol)lenbe  £i(i)tbli(Je  bes  ©eijtes,  bie 
als  93orIäufer  ntoberner  Sbeen  er[(i)einen.  3i^be[[en  fef)Ite  bem 
!Iaf[if(f)en  Altertum  jener  fiebere  $Boben  ber  naturpl)iIo[opl)i[(I)en 
Spefulation,  ber  erjt  burd)  un3äl)lige  Beobachtungen  unb  93erfu^e 
ber  9leu3eit  getoonnen  iDurbe.  9JBät)renb  bes  SJlittelalters  —  unb 
befonbers  tüät)renb  ber  (5eroaItl)errfc^aft  bes  ^apismus  —  ru!)te 
bie  tt)i[[enfd)aftlirf)e  5orf(^ung  auf  biefem  ©ebiete  gans-  Die  Xortur 
unb  bie  S(i)eiter^aufen  ber  S^tguifition  forgten  bafür,  t^a^  ber  un= 
bebingte  ©laube  an  bie  l)ebräi|'(i)e  9Jlt)t!)ologie  bes  9Plo[es  als 
befinitioe  ^Tntnjort  auf  alle  S(t)öpfungsfragen  galt.  Selbft  bie= 
jenigen  (Erfd) einungen,  bie  unmittelbar  3ur  Beobachtung  ber 
(£nttDicfelungs=3:at[a^en  aufforberten,  bie  5ldmesge[d)icE)te  ber 
Xiere  unb  ^flansen,  bie  (£mbrr)ologie  bes  9[Renf<i^en,  blieben  un* 
bead)tet  ober  erregten  nur  l)ie  unb  ba  bas  j^nterefft  einselner  toiJ3= 
begieriger  Beobad)ter;  aber  il)re  (^ntbedimgen  u?urtken  ignoriert 
unb  oergeffen.  ^ufeerbem  tourbe  ber  UKifiren  (£r!enntnis  ber 
natürlicl)en  (Snttoidelung  i\)x  2Beg  üon  t)ornl)erein  butd^  bie 
l)err[(^enbe  ^räformationsle^re  oerfperrt,  bur^  bas  Dogma, 
bafe  bie  tf)ara!terijtifd)e  gform  unb  Struftur  jeber  3:ier=  unt> 
^flansenart  ]d)on  im  5^eime  oorgebilbet  fei  (oergl.  (5.  33). 

©nttöitfelttttöslel^re  {(Eoolutismus,  (Eoolutionismus). 
Die  3Bif[en[d)aft,  bie  toir  ^eute  (£ntt»idelur8gslel)re  (im  toeiteften 
Sinne)  nennen,  ijt  fDtt)ol)l  im  gan3en  als  in  ä)ren  ein3elnen  3:eilen 
ein  5linb  bes  19.  3ö^i^f)ii"^ßi^ts;  [ie  gel)ört  3U  [einen  toidE)tig[ten 
unb  glän3enb[ten  (£r3eugni[[en.  Xat[äd)lic^  ijt  bie[er  Begriff,  ber 
no(^  im  18.  5al)rl)unbert  faft  unbetannt  toar,  l)eute  bereits  ein 
fejter  ©runbftein  un[erer  gan3en  2Beltan[(^auung  geroorben.  5^ 
i)abe  bie  ©runbsüge  ber[elben  in  frül>eren  S^riften  ausfül)rli^ 
bel)anbelt,  am  cingel)enb[tcn  in  ber  „©encrcllen  SD'lorpl)ologic" 
(1866),  [obann  mcl)r  populär  in  ber  „«Ratürlidjen  Sd)öpfung5» 


(£ntiDi(feIungsgcfd)i(^tc  bcr  SBcli  145 

gcfd^id^te"  (1868,  elfte  ^Auflage  1908)  unb  mit  befonberer  <Be= 
3icl)ung  auf  ttn  9Jlcn[^en  in  bcr  „^ntl)ropogenic"  (1874,  fünfte 
51uflage  1903).  ^ä)  be[d)rön!e  mid)  ba^er  l)ier  auf  eine  furje 
Überfi^t  ber  ijDirf)tigften  öfort[d)rittc,  iDeI(f)c  bie  CnttoidEelungsIc^rc 
im  fiaufe  bes  19.  5at)rl)unbert5  gema(^t  l)at;  [ie  serfällt  nad^  i\)xtn 
Dbj e!ten  in  üier  §auptteile:  bie  natürlid^e  (£ntjtel)ung  1.  bes 
i^osmos,  2.  ber  (£rbe,  3.  ber  irbi[d)en  Osganismen  unb  4.  bes 
9Jlen[ct)en. 

I.  SKoniftif^e  Äosmogenie.  Den  erften  „S3er[udE)",  bie  S3er= 
faffung  unb  htn  med)anif^en  Urfprung  bes  gansen  2ßeltgebäubes 
nad)  „9letDton[d)en  ©runbfä^en"  —  b.  l).  burd^  matt)emati[d)e 
unb  pi)r)[ifalifd)e  (Sefe^e  —  in  einfad)fter  SBeife  3U  erflären,  unter* 
nat)m  Si^^nanuel  Äant  in  [einem  berüt)mten  ^ugcnbioerfe,  ber 
„^lllgemeinen  9'laturge[d)i(i)te  unb  Zi)toxxt  bes  Fimmels"  (1755). 
£eiber  blieb  biefes  großartige  unb  !ül)ne  SBerf  90  ^ai)xt  t)inbur(i) 
faft  unbe!annt;  es  rourbe  erft  1845  bur(f)  ?llcxanber  oon  ^um» 
bolbt  toieber  I)en)orge3ogen ,  im  erften  Sanbe  [eines  „i^osmos". 
3n3toi[(^en  roar  aber  ber  grofee  fran3ö[i[dE)e  9Jlatl)emati!er  ^ierre 
ßaplace  [elbjtänbig  auf  ät)nli(f)e  31^eorien  toie  5lant  gefommen 
unb  fül)rte  [ie  mit  matl)emati[rf)er  Segrünbung  toeiter  aus  in  [einer 
„Exposition  du  Systeme  du  monde"  (1796).  Sein  ^auptroer! 
„Mecanique  Celeste"  er[(f)ien  im  ^ai)xt  1799.  Die  übereinftimmen» 
htn  ©runbjüge  ber  5^osmogenie  üon  5lant  unb  £aplace  berut)en 
befanntlid)  auf  einer  me^ani[ci)en  (£r!Iärung  ber  Planeten» 
Semegungen  unb  ber  baraus  abgeleiteten  ^nnat)me,  baß  alleSBelt* 
törper  ur[prüngli^  aus  rotierenben  ^lebelböllen  burrf)  93erbid)tung 
entjtanben  [inb.  X)ie[e  „9'lebuIarI)i)pott)e[e"  ift  gtoar  [päter 
öielfad)  t)erbe[[ert  unb  ergänzt  toorben,  [ie  gilt  aber  noc^  f)eute  als 
ber  bejte  von  allen  33er[u^en,  bie  (£ntjtel)ung  bes  äBeltgebäubes 
einl)eitlic^  unb  med)ani[ci)  ju  erflären  (oergl.  SBil^elm  ®öl[d)c, 
(£ntroicfelungsge[d)id)te  ber  9latur.  I.  93b.  1894).  3n  [päterer 
eit  I)at  [ie  eine  bebeutungsoolle  (Ergänzung  unb  jugleicE)  93er* 
tär!ung  burd)  bie  9lnnat)me  geroonnen,  bafe  bie[er  !osmogoni[(^e 
^rojefe  ni^t  nur  einmal  [tattgefunben,  [onbern  [ict)  periobi[(f) 
iDieber^olt  l)at.  9GBäl)renb  in  getoi[[en  Xeilen  bes  unenblid^cn 
eltraums  aus  rotierenben  9lebelbällen  neue  3Belt!örper  ent- 
el)en  unb  [ic^  enttoideln,  toerben  in  anberen  teilen  bes[elben 
mge!el)rt  alte,  erfaltete  unb  abgejtorbene  SBeltförper  burd) 
3u[ammcnjtofe  roieber  serjtäubt  unb  in  biffufe  5nebelma[[en  auf- 
gelöjt. 

^Tnfang  tinh  ®nbe  ber  SBelt.  ^a]t  alle  älteren  unb  neueren 
Äosmogenien  unb  [o  aud)  bie  meijten,  bie  [id)  on  Äant  unb 
fiaplacc  on[d)lo[[en,  gingen  oon  ber  l)err[d)enben  9ln[id)t  ous. 


146  !Drei3el)ntc5  Äapitel. 


bafe  bic  3Belt  einen  5lnfong  gel)abt  l)abe.  So  ^ätte  [id)  „im 
Einfang"  nad>  einer  cieberbreiteten  gorm  ber  „5^ebuIarl)i)potl)e[c" 
urfprünglirf)  ein  ungeljeurer  ^^ebelball  aus  äufeerjt  bünner  unb 
Iei(i)ter  SJiaterie  gebilbet,  unü  in  einem  bestimmten  3ßitpun!te 
(„cor  unbentUd)  langer  3cit")  \)abt  in  biefem  eine  ^Rotations* 
betoegung  angefangen.  ^\  ber  „erfte  Anfang"  biefer  fosmogenen 
Seroegung  erjt  einmal  gegeben,  [o  Ia[[en  [ic^  bann  nad^  jenen 
me(i)ani[cf)en  ^rinjipien  bie  roeiteren  23orgänge  in  ber  ^Bilbung 
ber  SBeltförper,  ber  Sonberung  ber  ^lanetenfpjteme  u]w.  ftd)er 
ableiten  unb  matl)ematif(f)  begrünben.  X)ie[er  erjte  „Urfprung 
ber  ^Betoegung"  ift  bas  3toeite  „SBelträtfel"  von  Du  $8ois  = 
9?er)monb;  er  erflärt  es  für  tranfjenbent.  5lud)  oiele  anbere 
^flaturforfc^er  unb  ^l)iIofopl)en  fommen  um  bie[e  Sd^toierigfeit 
nid)t  l)erum  unb  refignieren  mit  bem  ©ejtänbnis,  bafe  man  I)ier 
einen  erjten  „übernatürli(f)en  ^njtofe",  alfo  ein  „SBunber",  an« 
net)men  muffe. 

'iflaä)  unferer  ^nfic^t  coirb  biefes  „jroeite  äBelträtfel"  burd)  bie 
^nnat)me  gelöjt,  bafe  bie  Setoegung  ebenfo  eine  immanente  unb 
urfprüngli(f)e  (£igenfd)aft  ber  Subftanj  ijt  roie  bie  (£mpfinbung 
(5^ap.  12).  Die  5Bered)tigung  5U  biefer  monifttf(i)en  5lnna^me  finben 
ipir  erjtens  im  Subftanjgefe^  unb  stoeitens  in  ben  großen  'i^oxU 
fcf)ritten,  töel<f)e  bie  ^Tftronomie  unb  ^l)r)fi!  in  ber  ätoeiten  Hälfte 
bes  19.  3öt)rt)unbert5  gemai^t  f)aben.  Dur(f)  bie  8p eltral* 
anali)fe  t>on  5Bunfen  unb  5lird)I)off  (1860)  I)aben  tüir  nid)t 
nur  erfal)ren,  "Da^  bie  SJlillionen  2BeIt!örper,  roeId)e  t^n  unenblid^en 
Weltraum  erfüllen,  aus  benfelben  SJlaterien  bejtelien  toie  unfere 
Sonne  unb  (£rbe,  fonbern  aud),  bafe  fie  fid)  in  oerfc^iebenen  3^' 
ftänben  ber  (Snttoidelung  befinben;  toir  Ijaben  fogar  mit  il)rer 
§ilfe  Äenntniffe  über  bie  ^Beuoegungen  unb  (Entfernungen  ber 
(Jiifterne  getoonnen,  u)eld)e  tuxd}  bas  5ernrol)r  allein  nid^t  erfannt 
toerben  fonnten.  ferner  ijt  bas  3^elef!op  felbft  feljfr  bebeutenb 
oerbeffert  toorben  unb  t)at  uns  mit  $ilfe  ber  ^l)otograpl)ie 
eine  3^ülle  oon  aftronomifc^en  (Entbedungen  gefd)en!t,  xDeld)e 
im  beginne  bes  19.  ^^^^^^unberts  nod^  nid)t  geal)nt  roerben 
!onnten.  3^5befonbere  l)at  bie  beffere  Jlenntnis  ber  Äometen 
unb  (5ternfd)nuppen,  ber  Sternt)auf cn  unb  ^Tlebelflede,  uns  bie 
grofee  SBebeutung  ber  fleinen  2Belt!örper  lennen  gelel)rt,  u)eld)e 
3U  SOlilliarben  stoifi^en  htn  größeren  Sternen  im  2Beltraum  oer= 
teilt  finb. 

2Bir  roiffen  je^t  auä),  bafe  bie  $ßal)nen  ber  SJiillionen  oon 
2Belt!örpern  oeränberli^  unb  jum  Xeil  unregelmäßig  finb, 
tt)äl)renb  man  frül)er  bie  ^lanetenfr)fteme  als  beftänbig  betrad)tete 
unb  bie  rotierenben  ©ölle  in  etoiger  (5leid)mä^ig!eit  it)re  i^reife 


ebi 

K 


(£nttoidelung5öc|d)ic^tc  hex  SBelt.  147 

bc[d)reiben  lie^.  3Bid)tige  ^uff(f)Iü[fc  oerbanft  btc  ^jtrop^t)|i! 
aud)  bcn  gctDaltigen  5ort[d)ritten  in  anbeten  ©ebteten  ber  ^l)r)[if, 
Dor  allem  in  ber  Opti!  unb  (Sleftrü,  [otoie  in  ber  baburd)  geförberten 
5Jtl)ert{)eorie.  (Enblid)  erröeift  fi(^  auc^  I)ter  loieber  als  größter 
gortfc^ritt  unferer  9laturer!enntni5  ha^  unioerfale  Sub[tan3  = 
gefe^.  2Bir  toiffen  je^t,  'öa^  es  ebenfo  überall  in  htn  fernften 
21ielträumen  unbebingte  Geltung  l)at  toie  in  unferent  Planeten* 
[i)jtem,  eben[o  in  bem  fleinften  Xeild)en  unferer  (Erbe  toie  in  ber 
fleinjten  3ßne  unseres  men[d)Iid^en  ilörpers.  2Bir  [inb  aber  aud^ 
3U  ber  toic^tigen  5Innal)me  bered)tigt  unb  logifc^  gegtoungen,  bafe 
bie  (£r:^altung  ber  äRaterie  unb  ber  (Energie  ju  allen  S^^i^^  ebenfo 
allgemein  bejtanben  l)at,  toie  fie  l)eute  ol)ne  ^usnal)me  bejtel)t. 
3n  alle  (£t»ig!eit  roar,  ift  unb  bleibt  bas  unenblicf)e 
Unioerfum  bem  Sub[tan3gefe^  unterroorfen. 

^us  biefen  getoaltigen  gortfi^ritten  ber  ^tronomie  unb 
^l)t)[if,  bie  fid)  gegenfeittg  erläutern  unb  ergänjen,  ergibt  [id)  eine 
9?eil)e  von  überaus  tDid)tigen  Sc^lüffen  über  bie  3iifflTnmen[e^ung 
unb  (Entroidelung  bes  5^osmos,  über  bie  Sel)arrung  unb  Umbilbung 
ber  Subjtanj.  2ßir  fa[[en  biefelben  fürs  in  folgenben  3:i)ej'en 
3u[ammen:  I.  I)er  SBeltraum  ift  unenbli^  grofe  unb  unbegrenzt; 
er  ijt  nirgenbs  leer,  fonbern  allentl)alben  mit  8ubftan3  erfüllt. 
II.  Die  Sßeltseit  ift  ebenfaHs  unenblid)  unb  unbegrenzt;  [ie  t)at 
feinen  Einfang  unb  fein  (£nbe,  fie  ift  (£tDig!eit.  III.  X)ie  S  üb  [tanz 
befinbet  fid)  überall  unb  jeber  3^it  in  ununterbrod^ener  Setoegung 
unb  33eränberung;  nirgenbs  f)errfd)t  Dollfommene  9lu^e  unb 
Starre;  babei  bleibt  aber  bie  unenblid)e  Ciuantität  ber  9Jiaterie 
ebenfo  unoeränbert  toie  biejenige  ber  etoig  tDed)felnben  (Energie. 
V.  Die  Itniüerfalbetoegung  ber  Subftanz  im  SBeltraum  ift  ein 
toiger  i^reislauf  mit  periobifd)  fid)  toiebetl)olenben  (Snttoide* 
ungsjuf täuben.  V.  Diefe  ^l)afen  befte!)en  in  einem  petiobif(^en 
ed)fel  bet  3^empetatut  unb  bet  babutd)  bebingten  Di(^tig!eit5= 
oer^ältniffe  (^ggregatjuftänbe).  VI.  3Bäl)renb  in  einem  Xeile 
bes  SBeltraums  burd)  fortfd)reitenbe  23erbid)tung  neue  2Belt!örpet 
entftel)en,  etfolgt  gleid)zeitig  in  anbeten  3^eilen  bet  entgegengefe^te 
^tojefe,  bie  3c^^ftötung  von  SBelttötpetn,  bie  aufeinanbet  ftofeen. 
VII.  Die  unget)euten  äBätmequantitäten,  toeli^e  butd)  biefe 
med)antfc^en  ^tojeffe  bei  ben  3ufömmenftöfeen  bet  totietenben 
SBeltfötpet  etseugt  toetben,  ftellen  bie  neuen  lebenbigen  5^räfte 
bat,  03eld)e  bie  ^etöegung  bet  babei  gebilbeten  !osmifd)en  Staub* 
maffen  unb  bie  5Reubilbung  totietenbet  $Bälle  betoitfen:  bas 
emige  Spiel  beginnt  toiebet  üon  neuem,  ^ud)  unfete  SJiuttet 
^x'i>t,  bie  Dot  9Jlillionen  oon  3cit)ttaufenben  aus  einem  2^eile  bes 
rotierenben   Sonnenfr)ftem5   entftanben   ift,   toirb   nad)    33erflufe 

10* 


148  Drel3Cl)ntc5  Äopitcl. 


iDCtterer  50lintoncn  erstarren  unb,  na^bcm  il)rc  ©al)n  immer 
flctncr  gctDorbcn,  in  bie  Sonne  Itürjen. 

Sefonbers  tDi(^tig  für  bie  flore  (£in[i(^t  in  bcn  umocrfalen 
!o5mt[d)en  (BnttDicfelunsprosefe  [inb  bie[e  mobernen  SSorftellungcn 
über  periobifd)  rDed)|elnben  Untergang  unb  Sfleubilbung  ber  2Belt= 
förper.  Hn[ere  SUutter  „(£rbe"  [d)rumpft  babei  auf  ben  SBert  eines 
Doin^igen  „Sonnenjtäubd)ens"  jufammen,  toie  beren  unge3ät)Itc 
93üIUonen  im  unenblid^en  SPßeltenraum  uml)eriagen.  Hn[er  eigenes 
,,S[)flen[d)entoe[en",  tDeId)es  in  [einem  ant!)ropijti[c^en  ©röfeen» 
walfn  iii)  als  „(Sbenbilb  ®ottes"  üerl)errli(i)t,  [in!t  5ur  ©ebeutung 
eines  plajentalen  Säugetieres  l)inab,  toel(i)es  ni^t  mel)r  2ßert  für 
bas  ganje  Unioerfum  befi^t  als  bie  ^meife  unb  bie  (Eintagsfliege, 
als  bas  mi!ro[fopi[rf)e  ^T^fuforium  unb  ber  roinjig^te  ©aäillus. 
%uä)  toir  9Ken[(i)en  finb  nur  DDrübergef)enbe  (£nttüidfelungs3ujtänbe 
ber  etüigen  Subjtanj,  inbioibuelle  (£r[d)einungsformen  ber  äRaterie 
unb  (Energie,  beren  9lirf)tig!eit  toir  begreifen,  wtnn  toir  [ie  bem 
unenblid)en  9?aum  unb  ber  croigen  3^^*  gcgenüberjtellen. 

IRautn  unb  3^W»  Seitbem  5lant  bie  Segriffe  von  9?aum  unb 
3eit  als  blofee  „^rormen  ber  ^n[d)auung"  erüärt  ^at  —  htn  5{aum 
als  (5oi^^  ber  äußeren,  bie  3^it  ^Is  ^^orm  ber  inneren  5ln[^auung 
—  l)at  fid)  über  biefe  u)id)tigen  Probleme  ber  (Erfenntnis  ein  Streit 
ert)oben,  ber  audf)  I)eute  nod)  fortbauert.  iBei  einem  großen  3:eile 
ber  mobernen  9Jletapbi)[tter  I)at  [id)  bie  ^nfid)t  befeftigt,  bafe  biefer 
„!r{tif(i)en  3^at'^  als  ^usgangspun!t  einer  „rein  ibealijti[d)en  (£r= 
fenntnistbeorie"  bie  größte  ©ebeutung  beizulegen  [ei,  unb  "öa^i 
bamit  bie  natürli(f)e  ^n[ic^t  bes  ge[unben  9Jlen[d)enoerjtanbes  vpn 
ber  ^Realität  bes  5Haumes  unb  ber  3ßtt  toiberlegt  [ei.  Die[e 
ein[eitige  ?luffa[[ung  jener  beiben  ©runbbegriffc  ijt  bie  Ciuelle 
ber  größten  Irrtümer  geujorben;  [ie  über[iel)t,  t>a^  5lant  mit 
jenem  Sa^e  nur  bie  eine  Seite  bes  Problems,  bie  [ubje!tit)e, 
jtreifte,  baneben  aber  bie  anbere,  bie  objettioe,  als  gleid^» 
bered^tigt  aner!annte;  er  [agte:  „9?aum  unb  3ßttl)aben  empiri[(^e 
^Realität,  aber  tran[3enbentale  3i>^ölität."  9Jlit  bie[em 
Sa^e  5^ant5  !ann  ]id)  un[er  moberner  SJlonismus  wol)l  ein« 
oerjtanben  erüären,  ni^t  aber  mit  jener  ein[eitigen  ©eltenb* 
mac^ung  ber  [ubjettioen  Seite  bes  Problems;  benn  bic[e  fü^rt 
in  ibrer  5^on[equen3  3U  jenem  ab[urben  S^^alismus,  ber  in 
5Ber!eIei)5  Sa^e  gipfelt:  „Rörper  [inb  nur  23orjteIIungen,  i^r 
Da[ein  beftebt  im  SBabrgenommentoerben".  Die[er  Sa^  [ollte 
beiden:  „Äörper  [inb  für  mein  per[önlid)es  $BerDU^t[ein  nur  23or* 
jtellungen;  ibr  X5a[ein  ijt  eben[o  real  toie  basjenige  meiner  Den!» 
Organe,  nämlid)  ber  (Sanglienzellen  bes  (5rofel)ims,  ujeld)c  bie 
(Einbrüdfc  ber  Äörper  auf  meine  Sinnesorgane  aufnel)men  unb 


(Enttüidclungsgefd^i^tc  bcr  2Bclt.  149 

bur(i)  ?lffo3tDn  bcrfclbcn  jene  SSorjtcIIung  bilbcn."  (Sbcnfo  gut, 
iDie  td)  bic  „^Realität  oon  5taum  unb  3^it"  bestoctfle,  ober  gar 
leugne,  !ann  i6)  aud)  btejemge  metnes  eigenen  ^Betoufetfeins  leugnen; 
im  (Jie^ßi^^ßlWum,  in  ^alluäinationen,  im  iXraum,  im  I)oppel= 
betDufet[ein  l)alte  irf)  23orfteIIungen  für  xoafix,  tüelrf)e  nic^t  real, 
[onbem  „(Einbilbungen"  [inb;  id)  t)alte  [ogar  meine  eigene  ^erfon 
für  eine  anbere  (S.  111);  bas  berüt)mte  „Cogito  ergosum"  gilt  f)ier 
nicf)t  mel)r.  Dagegen  ift  bie  ^Realität  oon  9?aum  unb  3cit 
je^t  enbgültig  beujtefen  burd)  bie  Cnoeiterung  unferer  2BeIt= 
anf^auung,  tüelc^e  toir  bem  (Subjtansgefe^  unb  ber  monijtifdjen 
Äosmogenie  üerbanfen.  9la^bem  toir  bie  unl)altbare  SSorftellung 
Dom  „leeren  9taum"  glüdlid)  abgejtreift  l)aben,  bleibt  uns  oIs  bas 
unenblic^e,  „raumerfüllenbe  9Kebium"  bie  S[Raterie,  unb 
jtoar  in  it)ren  beiben  (formen:  ^t^er  unb  9[Raffe.  Itnb  ebenfo 
betrad^ten  roir  auf  ber  anberen  Seite  als  bas  ,t3eiterfünenbe 
®efd)el)en"  bie  eroige  Seroegung  ober  geneti[d)e  (Energie, 
tDeId)e  [ic^  in  ber  ununterbrod)enen  (Enttoidelung  ber  ©ubftanj 
äufeert. 

UniTersnm  perpetnum  mobile.  Da  jeber  beroegte  5lörper 
[eine  93etüegung  fo  lange  fortfe^t,  als  i{)n  nid)t  äufeere  Xlmjtänbe 
baran  I)inbern,  !am  ber  Wtn\ä)  [d)on  t)or  3al)rtaufenben  auf  ben 
©ebanfen,  Apparate  3U  bauen,  bie  fid),  einmal  in  93eroegung  gefegt, 
immerfort  in  ber[elben  SBeife  toeiter  beujegen.  SRan  überfal)  babei, 
1)0.}^  jebe  ^Bctoegung  auf  äufeere  §inbenji[[e  jtöfet  unb  anmäf)Iid) 
auff)ört,  roenn  nic^t  ein  neuer  ^nftofe  Don  aufeen  erfolgt,  roenn  nid^t 
eine  neue  ilraft  3ugefü!)rt  toirb,  bie  jene  §inbemi[[e  überroinbet. 
(5o  roürbe  3.  S.  ein  [d)U}ingenbes  ^enbel  in  (Stoigfeit  mit  berfelben 
©efd)tDinbig!eit  [id)  l)in  unb  l^er  betoegen,  roenn  nid)t  ber  SBiber* 
[tanb  ber  £uft  unb  bie  9?eibung  im  ^luf^ängungspunfte  bie  med)a' 
ni\ä)t  lebenbige  Rraft  [einer  JBetoegung  anmät)lid)  aufl)öben  unb 
in  SBärme  oertoanbelten.  2Bir  mü[[en  if)m  burd)  einen  neuen 
^njtofe  (ober  bei  ber  ^enbelut)r  burd)  5tuf3iet)en  bes  ©eroic^tes) 
neue  me(^ani[(^e  5kaft  3ufüt)ren.  Dal)er  ijt  bie  Äon[tru!tion  einer 
SOZa[d)ine,  tt)etd)c  ol)ne  äufeere  $ilfe  einen  ^rbeitsüberfc^ufe  erjeugt, 
burd)  ben  [ie  [id)  [elbjt  immerfort  im  (Sang  erl)ält,  unmöglid).  ^llle 
33er[u(^e,  ein  [oId)es  Perpetuum  mobile  3U  bauen,  mußten  fel)l= 
[d)Iagen;  bie  (£r!enntnis  bes  Subjtan3ge[e^es  betoies  [obann  aud) 
tf)eoreti[(^  bie  Unmöglid)feit  be5[elben. 

^nbers  oerplt  es  [id)  aber,  toenn  roir  ben  ilosmos  als  (Sanses 
ins  ^uge  fa[[en,  bas  unenblic^e  Sßeltall,  toeId)es  nad)  un[erer 
^n[d)auung  in  etoiger  ^Betoegung  begriffen  ijt.  Damit  ijt  aber 
3ugleid)  gefagt,  ha^s  bas  ganse  Unit)  er  [um  [elbjt  ein  allum^ 
fa[[enbes   Perpetuum   mobile   i^t.    Die[e   unenblic^c   unb  etoigc 


150  35rei3cf)nte5  Äapitel. 


„9Jla[(^inc  bcs  SBeltalls."  crt)ölt  fid)  [clbjt  in  eu)igcr  unb  ununter» 
brocf)ener  Serocgung,  toobet  bic  unenbltd)  grofec  Summe  bcr 
aftuellen  unb  potentiellen  (Energie  etoig  biefelbe  bleibt.  9flacf) 
unferer  ^uffaf[ung  ijt  alfo  bie  23orjteIIung  bes  Perpetuum  mobile 
für  tan  ganjen  Äosmos  ebenfo  wal)X  unb  funbamental  be= 
beutenb  mie  [ie.  für  bie  ifolierte  5Htion  eines  Teiles  besfelben 
unmöglid)  \]t  Damit  merben  auä)  bie  S(f)IufefoIgerungen  ah^ 
geler)nt,  bie  aus  ber  £el)re  oon  ber  (Sntropie  gejogen  morben  [inb. 

©ntropte  bes  aßeltalls.  Der  [rf)arf[innige  Segrünber  ber 
mec^anif^en  2BärmetI)eorie  (1850),  (S;iaufius,  fafete  ben 
mic^tigften  3nt)alt  biefer  bebeutungsoollen  £et)re  in  smei  $aupt= 
fä^en  3ufammen.  Der  erjte  §aupt[a^  lautet:  „Die  (Energie 
bes  SBeltalls  ift  !on[tant";  er  bilbet  bie  eine  Hälfte  unfcres 
Subjtanjgefe^es,  bas  „(Snergieprinjip"  (S.  28).  Der  gmeite 
§aupt[a^  behauptet:  „Die  (Entropie  bes  Sßeltalls  ftrebt 
einem  5lRaiimum  ju."  5Rad)  ber  ^n[i(^t  oon  (Elaufius  ger* 
fällt  bie  (Befamtenergie  bes  SBeltalls  in  gmei  3:eile,  oon  benen 
ber  eine  (als  2Bärme  oon  I)öt)erer  Temperatur,  als  mecf)ani[ct)e, 
ele!trifdf)e,  d^emifc^e  (Energie  ufm.)  nod^  teiltoeife  in  5lrbeit  um» 
fe^bar  ijt,  ber  anbere  bagegen  nitf)t;  biefe  le^tere,  bie  bereits 
in  2Bärme  oermanbelte  unb  in  folteren  Äörpem  angefammelte 
(Energie,  ijt  für  meitere  ^rbeitsleijtung  unmieberbringlicf)  oer» 
loren.  Diefen  gleid)fam  „Derbrau(f)ten"  (Energieteil,  ber  nid^t 
met)r  in  med)ani[^e  ^rb^it  umgejegt  merben  !ann,  nennt  (Elauf ins 
(Entropie  (b.  I).  bie  nac^  innen  gemenbete  5lraft);  er  mä^jt  be» 
jtänbig  auf  5^ojten  bes  erjten  Weites.  Da  nun  tagtägli(^  immer 
mel)r  med)ani[d)e  (Energie  bes  SBeltalls  in  2Bärme  übergel)t  unb 
biefe  nid)t  in  bie  erjtere  jurüdoermanbelt  merben  fann,  mufe  bie 
gefamte  Quantität  ber  arbeit5fät)igen  (Energie  immer  met)r  gerjtreut 
unb  l)erabge[e^t  merben.  ^Ile  3:emperaturunter[c^iebe  müßten 
3ule^t  üerf^minben  unb  bie  oöllig  gebunbene  2ßärme  gleid)mäfeig 
in  einem  einjigen  trägen  i^Iumpen  oon  jtarrer  SJiaterie  verbreitet 
fein;  alles  organif(i)e  2thtn  unb  alle  organifc^e  93emegung  mürbe 
aufget)ört  l)aben,  menn  biefes  9}iaiimum  ber  (Entropie  erreict)t 
märe;  bas  mal)re  „(Enbe  ber  SBelt"  märe  ha.  (95ergl.  ^tUx 
^uerbad).  Die  2Beltl)errin  unb  if)r  Sd)atten,  1902.) 

2Benn  biefe  ^nmenbung  ber  fie^re  oon  ber  (Entropie  ri(i)tig 
märe,  fo  müfete  bem  angenommenen  „(Enbe  ber  2Belt"  aud)  ein 
urjprünglid)er  „Anfang"  berfelben  entjpred^en;  beibe  93orjtel= 
lungen  jinb  nad)  unferer  monijtifc^en  unb  fonfequenten  ^uffaffung 
bes  emigen  fosmogenctijc^en  ^rojejfes  gleich  unljaltbar.  (Es  gibt 
einen  Einfang  ber  2Bclt  ebenfomenig  als  ein  ^nbe  berfelben.  2Bie 
bas  Uniücrfum  unenblid)  ijt,  |o  bleibt  es  auc^  emig  in  ^cmcgung; 


C£ntu3icfelung5gcfrf)i(i^tc  ber  SBelt.  151 

ununterbrochen  finbet  eine  S^ertoanblung  ber  lebenbtgen  Äraft  in 
Spannfraft  jtatt  unb  umge!el)rt;  unb  bie  Summe  biefer  aftuellen 
unb  potentiellen  (Energie  bleibt  immer  bicfelbe. 

Die  33erteibiger  ber  (Entropie  behaupten  biefelbe  mit  9te(f)t, 
[obalb  fie  ^rojeffe  ins  ^uge  faffen,  bie  in  einem  ge[cf)Iof^enen  St)jtem 
ablaufen.  5m  großen  (5an3en  bes  Sßeltalls,  roorauf  wix  ben 
Segriff  eines  „gefd)lo[fenen  S^ftems"  nid)t  antoenben  fönnen, 
t)err[(i)en  aber  jebenfalls  23ert)ältni[[e,  bie  eine  Umfe^rung  bes 
energetifc^en  Ablaufs  möglich  matf)en.  60  roerben  3.  f&.  beim 
3u[ammenftofee  oon  stoei  2BeIt!örpern,  bie  mit  ungeheurer  (5e= 
{■(^roinbigfeit  aufeinanber  treffen,  foIo[[aIe  SBärmemengen  frei, 
U3äl)renb  bie  serjtäubten  9Jta[[en  in  htn  2Beltraum  I)inau5ge[d)Ieu= 
bert  unb  ^erjtreut  toerben.  Das  etüige  Spiel  ber  rotierenben 
SOtaffen  mit  33crbicf)tung  ber  Xeile,  ^Ballung  neuer  fleiner  äReteo= 
riten,  ^Bereinigung  berfelben  3U  größeren  ufto.  beginnt  bann  oon 
neuem. 

Herbert  Spencer  f)at  in  feineti  „©runbprin3ipien"  über* 
3eugenb  bargelegt,  iia^  [elbjt  für  ein  gef et) I offenes  Unioerfum  ber 
S^lufe  unerlaubt  toäre,  es  muffe,  einmal  in  9^ul)e,  au^  unenb= 
l{d)e  3ßit  in  9?u^e  bleiben.  95lan  fönne  fagen,  ber  je^ige  3uftanb 
l)abe  mit  bem  ^nbe  einer  frül)eren  C£ntcoicfelung  begonnen,  unb 
bas  (Snbe  ber  gegentoärtigen  fei  3uglei(i^  ber  Anfang  einer  neuen; 
in  bem  ^ugenblid,  too  bas  SJlaiimum  ber  (Entropie  erreirfjt  fei, 
fe^e  gerabe  tint  tangfame  (Sntroidelung  im  entgegengefe^ten 
Sinne  ein,  unb  fo  mürbe  \i6)  bas  Qibtn  bes  Unioerfums  unauf* 
I)örlid)  fortfe^en.  2Bie  ^oincarö  (Die  mobeme  ^l)i)fi!.  1908) 
bemertt,  jtimmt  biefe  ^uffaffung  mit  ber  oieler  ^l)t)fi!er  überein, 
tt)eld)e  3.  93.  nad)  ber  ünetif^en  ©ast^eorie  annel)men,  bafe  man 
bei  genügenb  langer  $Beobad)tung  bie  oerfd)iebenen  3uftänbe 
iDieber!el)ren  fel)en  !ann,  roenn  eine  (öasmaffe  eine  9?eil)e  oon  93er= 
änberungen  burct)gema(t)t  l)at. 

II.  aRoniftifc^e  ©cogente.  Die  (£nta)icfelungsgefcl)ic^te  ber 
(Erbe,  auf  bie  roir  je^t  nod^  einen  flü(t)tigen  Slicf  toerfen,  bilbet  nur 
einen  toinsig  fleinen  3:eil  oon  berjenigen  bes  Rosmos.  Sie  ift  3tDar 
aud)  glei^  biefer  feit  mel)reren  ^ö^i^taufenben  (Segenftanb  ber 
p^ilofopl)ifd)en  Spe!ulation  unb  nod^  mel)r  ber  mi)tl)ologif(i)en 
Did)tung  geroefen;  aber  il)re  tDirflid)  coiffenfd)aftlicl^e  (£r!enntnis 
ift  üiel  jünger  unb  ftammt  3um  loeitaus  größten  Xeile  aus  bem 
19.  5a^rl)unbert.  3^1  ^rinsip  roar  bie  9^atur  ber  (Erbe,  als  eines 
Planeten,  ber  um  bie  Sonne  freift,  fcf)on  burcf)  bas  2Beltfi)ftem  bes 
5loperni!us  (1543)  beftimmt;  burd)  ©alilei,  Repler  unb 
anbere  grofee  ^tftronomen  loar  il)r  ^bftanb  oon  ber  Sonne,  i^r 
Semegungsgefe^  ufoj.  matl)cmati|(^  feftgejtcUt.    5luct)  roar  bereits 


152  Drci5el)ntc5  Rapttcl. 


burd)  bic  Äosmogentc  oon  5lant  unb  £aplacc  bcr  2Beg  gc3ctgt, 
auf  tDcId)cm  [td)  bic  ®rbc  aus  bcr  9[Rutteic  8onnc  cntotdclt  liattc. 
5lbcr  btc  fpäterc  ©cf(^td)tc  unfcrcs  Planeten,  bic  Hmbilbung  [einer 
Oberfläd^e,  bic  (£ntjtc!)ung  bcr  kontinente  unb  9J?cerc,  bcr  ©ebirgc 
unb  SBüften  roar  nod)  ju  (£nbc  bes  18.  unb  in  hm  crjten  bciben 
Dezennien  bes  19.  Sö^^^^^Ttberts  nur  toenig  ©egenjtanb  crnfter 
n)i[[en[d)aftU(i)cr  llntcr[ud)ungcn  gctüc|cn;  meistens  begnügte  man 
]xä)  mit  sicmlid)  un[i(t)eren  93ermutungen  ober  mit  bcr  5Innal)mc 
bcr  trabitioncllcn  (5d)öpfung5fagcn;  insbc[onbcrc  roar  es  auc^ 
^ier  roieber  bcr  überlieferte  ©laube  an  bic  mo[ai[d)c  Srf)öpfung5= 
ge[d)id)te,  mt\6)tx  bcr  [elbjtänbigcn  i5ror[ct)ung  von  oornt)crein  bcn 
2Bcg  3ur  tDat)ren  (£r!enntnis  ocrlegtc. 

(£rjt  im  5at)re  1822  cr[d)ien  ein  bcbeutenbes  2Ber!,  roclc^cs  jur 
tDi[[enfd)aftIid)cn  (£rfor[d)ung  ber  (£rbgc[(t)id)te  biejenigc  9JlctI)obc 
cinfc^Iug,  bic  [i^  balb  als  bic  tocitaus  fruc^tbarjte  ertoies,  bic 
ontolo-gifd^c  9Jlet!)obc  ober  bas  ^rinjip  bes  ^ftualismus. 
Sie  beftct)t  barin,  bafe  mix  bic  (£r[d)cinungen  bcr  ©egentoart 
genau  jtubicren  unb  benu^cn,  um  baburct)  bic  ät)nli(i)cn  gc[d)i^t* 
liefen  93orgänge  bcr  93crgangent)cit  3U  crüär cn.  9lac^bem 
3ucr|t  Äarl  §off  {©otl)a)  in  [einer  „©c[(t)i^tc  bcr  burct)  Hber= 
lieferung  nad)gctDic[enen  natürlid)cn  93eränberungen  bcr  (£rb= 
obcrfläd)c"  bie[e  ontologi[^c  aRetf)obe  (1822)  begrünbet  \)aiit, 
tüurbc  [ic  balb  (1830)  oon  bem  großen  engli[(i)en  ©eologcn 
(£l)arlc5  £i)ell  in  [einen  „^rinjipien  bcr  ©cologic"  auf  bic  gange 
(5c[cf)i(f)te  bcr  (£rbc  erfolgrcid)  angctDcnbct.  3n  ncucjtcr  3cit  \)ai 
3ol)anne6  2Baltf)cr  in  [einer  gcban!enrcid)en  „®c[d)id)tc  ber 
(£rbc  unb  bes  £ebcns"  (1908)  eine  lic^tüollc  populäre  :j)ar= 
jtcllung  bcr[clbcn  gegeben. 

^Is  3tDei  $auptab[d)nitte  ber  (£rbge[(f)id)te  mü[[en  roir  cor 
allem  bic  anorgani[d)c  unb  organi[d)c  ©cogenie  unter* 
[d)eiben;  bic  Ic^tere  beginnt  mit  bem  crjten  5tuftrcten  lebenber 
SBcfcn  auf  unfcrcm  (Srbball.  t)ic  anorgani[cf)c  (5e[d)id)tc  ber 
(Erbe,  ber  ältere  ^b[d^nitt,  ocrlief  in  bcrfelbcn  2Bei[e  roie  biejenigc 
ber  übrigen  Planeten  un[crcs  Sonncn[i)[tem5;  [ic  alle  lö[ten  [idl) 
Dom  5Iquator  bes  rotiercnbcn  ©onnenförpers  als  9lcbelringc  ab, 
iDclcf)c  [id)  allmäl)lid)  gu  [clbftänbigcn  2Bclt!örpcrn  t)crbid)tcten. 
^U5  bem  gasförmigen  ^Icbclball  tourbe  bur^  5lb!ül)lung  ber  glut^ 
flü[[igc  ©rbball,  unb  u)eitcrl)in  entftanb  an  bc[[en  iDberflä^c  burc^ 
fort[d)rcitenbe  3Bärmcausjtral)lung  bic  bünne  fejtc  9tinbc,  tDeld)e 
toir  bctDot)ncn.  (£rit  nad)bem  bic  Temperatur  an  bcr  iDberfläd^e 
bis  3u  einem  getDi[[cn  ©rabe  gc[un!cn  toar,  fonnte  [ic^  aus  bcr 
umgebenben  Dampfl)üllc  bas  crjtc  tropfbar=flü[[igc  2Ba[[er  niebcr= 
|d)lagcn,  unb  bamit  toor  bic  u)id)tigjte  SJorbebingung  für  bic  (£nt* 


(gnttütdclungsgcf^tc^tc  bcr  2BcIt.  153 

ftel)ung  bcs  organifc^cn  Bebens  gegeben.  S3tele  SOlillionen  5af)re 
finb  t)erfIo[[en,  [ettbem  btefer  bebeutungsoolle  33organg,  bie  erjte 
2Ba[ferbilbung,  eintrat  unb  bamit  bie  (Einleitung  3um  britten 
$auptab[rf)nitt  ber  Rosmogenie,  jur  ^Biogenie. 

III.  ORonifttfr^e  JBtogenie.  Der  britte  $auptab[cf)nitt  ber 
SBcItenttDicfelung  beginnt  mit  ber  erjten  (Sntjte^ung  ber  Organis- 
nten  auf  unferem  ©rbbalt  unb  bauert  [eitbem  ununterbro(i)en  bis 
3ur  (Segenujart  fort.  Die  großen  SBelträtfel,  toeI(i)e  biefer  inter« 
e[[ante|te  3^eil  ber  (£rbge[d)id)te  uns  oorlegt,  galten  noct)  im  ^n* 
fange  bes  19.  3öl)i^^unbert5  allgemein  für  unlösbar  ober  boc^  für 
[o  [^roierig,  bafe  if)re  £ö[ung  in  tDettejter  gerne  gu  liegen  [^ien; 
am  (£nbe  besfelben  burften  toir  mit  berect)tigtem  Stolje  [agen, 
bafe  fie  burd)  bie  mobeme  ^Biologie  unb  il)ren  3:ransf ormismus 
im  ^rinjip  gelöjt  [inb.  3uerjt  jtellte  (1809)  3ean  Äamarcf 
bie  £el)re  fejt,  t>a^  alle  bie  un3äl)ligen  gormen  bes  3:ier=  unb 
^flan3enrei(t)es  bur(^  allmäl)licf)e  Umbilbung  aus  gemeinsamen 
etnfa^jten  (Stammformen  l)erDorgegangen  [inb,  unb  t>a^  bie  all= 
mäl)lii)e  93eränberung  ber  ©eftalten  burcl)  5tnpa[fung,  in 
3Becf)[elroir!ung  mit  35  er  erbung,  biefe  langfame  Transmutation 
betoirft  I)at.  S^ünfjig  ^ai)X^  [päter  fül)rte  (£^arles  Dartoin  bie 
einjelnen  Steile  biefer  „Def3enben5tl)eorie",  geftü^t  auf  W  grofe* 
artigen,  tn^toif^en  erfolgten  i5ort[rf)ritte  ber  ^Biologie,  toeiter  aus 
unb  füllte  suglei^  burrf)  feine  neue  „6ele!ttonstl)eorie"  bie  be» 
ben!lid)jte  £üde  ber  erjteren  ous.  (Er  seigte,  toic  „bie  natürliche 
3u^ttoaf)l  im  5^ampf  ums  Dafein"  ber  unbetoufete  S^öpfer 
ift,  rDelct)er  bie  stoedEmafeige  Organifotion  ber  fiebensformen 
of)ne  Dorbebadfiten  3^^^  w^b  S(f)6pfungsplan  l)ert)orbringt. 
Daburcf)  ijt  Dartoin  ber  „5^opemi!us  ber  organif(l)en  3Belt" 
geioorben. 

IV.  IDlonifiifi^e  ^nt^topogenie.  ^Is  oierter  unb  le^ter  $aupt= 
abf(J)nitt  ber  SBeltenttoicfelung  !ann  für  uns  9Kenfcf)en  berjenige 
jüngjte  3eitraum  gelten,  innerl)alb  beffen  fid)  unfer  eigenes  (5e= 
fd)le(^t  entcoicfelt  f)at.  Scf)on  fiamarcf  (1809)  I)atte  tlar  erfannt, 
tio^  biefe  (Enttoicfelung  oemünftigertoeife  nur  auf  einem  natür« 
li(t)en  Sißege  benfbar  fei,  burd)  „^bftammung  com  5lffen", 
als  von  bem  näd)jtoertD anbten  Säugetiere.  §uxlct)  jeigtc  fobann 
(1863)  in  feiner  berüf)mten  ^bl)anblung  über  „bie  Stellung  bes 
sijlenfdien  in  ber  9latur",  bafe  biefe  bebeutungsoolle  ^nnal)me  ein 
nottoenbiger  gfolgefrf)lufe  ber  Def3enben3tt)eorie  unb  burd)  anatomi« 
fd)e,  embrt)ologifd)e  unb  palaontologifd)e  3^atfad)en  tool^lbegrünbet 
fei;  er  erflärte  biefe  „grage  aller  (fragen"  im  ^rinjip  für  gelöft. 
Dario  in  bel)anbelte  fie  in  geiftreic^er  SBeife  oon  Derfd)iebenen 
Seiten  in  feinem  3Ber!e  über  „bie  ^bjtammung  bes  äRenfd^en  unb 


154  23icr3ef)nte5  Äapitel. 


bie  gcfc^led)tlid)c  3u(^to?al)l"  (1871).  5d)  [elbjt  ^attc  [c^on  in 
meiner  (generellen  S(Rorpl)oIogie  (1866)  bie[em  roic^tigften  Spejial* 
Problem  ber  5lbftammung5let)re  ein  befonberes  Rapitel  gemibmet. 
1874  üeröffentlic^te  id)  meine  ^nt^ropogenie,  als  erjten  93er= 
[u^,  bie  ^bjtammung  bes  9[Ren[cf)en  burd)  feine  ganse  ^^ncn= 
rei^e  bis  jur  ältejten  arc^igonen  9Jlonerenform  t)inauf  3U  Der* 
folgen;  id)  jtü^te  mi^  babei  glei^mäjsig  auf  bie  brei  großen 
Hrfunben  ber  Stammesge[d)t(^te,  auf  bie  oergleic^enbe  ^Inatomie, 
Ontogenie  unb  Paläontologie  (fünfte  umgearbeitete  Auflage  1903). 
2Bie  toeit  roir  [eitbem  hmä)  ga^lreid^e  tDid)tige  gortf(^ritte  ber 
antI)ropogeneti[d)en  g^orfd^ung  gefommen  [inb,  t)abe  id)  in  bem 
33ortrag  gejeigt,  t)tn  id)  1898  auf  bem  internationalen  3oologen* 
fongreffe  in  (^ambribge  „über  un[ere  gegenwärtige  5^enntnis  oom 
Urfprung  bes  90^en[d)en"  gel)altcn  t)abe.  X)ie  ausfül)rlid)ftc  Dar* 
jtellung  berfelben,  unter  SBenu^ung  ber  neuejten  gort[d)ritte  ber 
^Äntl)ropogenie,  t)abe  id)  in  meiner  legten  ^bt)anblung  gegeben: 
„Hnferc  ^l)nenreil)e  (Progonotaxis  hominis),  g-ejtf^rift  gur 
350iäf)rigen  Jubelfeier  ber  Unioerfität  Jena,  am  30.  Juli  1908." 


90^omftifc^e  6tubicn  über   bie   materielle  xxnh   energetifc^c 

(fin^eit  be^  ^o^mo^,  —  '3}^ec^ani^mu^  unb  "^Jitali^mu^.  — 

Siel,  Smd  unb  SufaK. 

X)uxd)  bas  Subjtanjgefe^  ijt  gunäd^jt  bie  funbamentale  Xai\ad)t 
eru)ie[en,  bafe  jebe  9latur!raft  mittelbar  ober  unmittelbar  in  jebe 
anbere  umgetoanbelt  toerben  fann.  9[Red)anifd)e  unb  d)emifd)e 
(Snergie,  Sd)all  unb  2Bärme,  £i^t  unb  CBleftrijität  tonnen  in= 
einanber  übergefüt)rt  roerben  unb  ertoeifen  [id)  nur  als  per[d)iebenc 
(£r[d)einung5formen  einer  unb  berfelben  Urfraft,  ber  (Energie. 
Daraus  ergibt  [ic^  ber  bebeutungsttolle  Sa^  von  ber  (£inf)ett 
aller  9laturfräfte  ober,  toie  roir  aud^  [agen  fönnen,  bem 
„SJtonismus  ber  Energie".  3^  gefamten  (Sebiete  ber  ^I)i)[i! 
unb  (£t)emie  ijt  biefer  Su^^omentalfa^  je^t  allgemein  anerfannt, 
[oojcit  er  bie  anorgamfd)en  ^laturförper  betrifft 


(£inf)cit  ber  9Zatur.  155 


■ 


^Inbcrs  ücrt)ält  [trf)  [d)ctnbar  bie  organif^e  2ßelt,  bas  bunte 
unb  formenrcic^c  ©ebiet  bes  flebcns.  3toöi^  li^öt  es  au(^  I)ter  auf 
ber  ^anb,  ta^  ein  großer  2 eil  ber  fiebenserfc^einungen  un= 
mittelbar  auf  med)anif(f)e  unb  d^emif(^e  (Energie,  auf  eleftri[rf)e 
unb  £i(f)tu)ir!ungen  3urüc!3ufül)ren  ift.  ^üx  einen  anberen  3^eil 
aber  loirb  bas  auc^  l)eute  nod)  bestritten,  [o  cor  allem  für  bas 
3Belträt[eI  bes  Seelenlebens,  insbefonbere  bes  ®erDufet[eins. 
§ier  ijt  es  nun  bas  t)ot)e  93erbienjt  ber  mobernen  (£nttDicfeIungs  = 
Iel)re,  bie  $8rüde  3roi[cf)en  ben  beiben,  [c^einbar  getrennten  (5e= 
bieten  gefc^Iagen  3U  I)aben.  2Bir  finb  je^t  ju  ber  üaren  Uberjeugung 
gelangt,  bafe  aud^  alle  (£r)(i) einungen  bes  organi[d)en  fiebens 
ebenfo  bem  uniüerfalen  (5ubjtan3ge[e^  untertDorfen  [inb  toie  bie 
anorganifd)en  ^l)änomene  im  unenbli^en  5^osmos. 

3)ie  ein^eit  ber  JRatur,  bie  l)ierau5  folgt,  bie  ttberroinbung 
bes  frül)eren  Dualismus,  \\i  [id)er  eines  ber  toertoolljten  (£rgebni[|e 
unferer  mobernen  (£nttDi(Jetungslel)re.  ^d)  t)abe  biefen  „9Konis  = 
mus  bes  Äosmos",  bie  prinsipielle  „(Einl^eit  ber  organifdE)en 
unb  anorganif^en  S^latur"  [cE)on  1866  [e^r  eingel)enb  3U  begründen 
oer^uc^t,  inbem  id)  bie  Hbereinftimmung  ber  beiben  großen  9latur= 
reid^e  in  ^esie^ung  auf  Stoffe,  ^rormen  unb  Gräfte  einer  ein* 
gel)enben  !riti[d)en  Prüfung  unb  2Serglei(^ung  untersog  (©enerelle 
9Jlorpl)ologie,  5.  Rap.).  (Einen  fursen  ^us3ug  it)rer  (Srgebniffe 
entl)ält  ber  fünf3el)nte  Söortrag  meiner  „9^atürlid)en  Sc^öpfungs= 
gef^id)te".  SBäl^renb  bie  l)ier  enttoidelten  5ln[c^auungen  oon  ber 
großen  9Jlel)r3al)l  ber  5Raturfor[(^er  gegentoärtig  angenommen  [inb, 
ijt  boc^  neuerbings  oon  mel^reren  Seiten  ber  95er[ucl)  gemacht 
ujorben,  [ie  3U  befämpfen  unb  htn  alten  (Segenfa^  oon  3roei  gan3 
Der[d)iebenen  9laturgebieten  aufred)t  3U  erl)alten.  ^n  ber  §aupt= 
fac^e  l)anbelt  es  [id)  aud)  l)ier  üoieber  um  titn  uralten  ©egenfa^  ber 
med^ani[d)en  unb  ber  teleologi[cf)en  SBeltanf^auung.  SBeoor 
xoxx  auf  benfelben  eingeben,  toollen  toir  !ur3  auf  3roei  anbere 
3:t)eorien  l)intDei[en,  tDeld)e  nac^  meiner  Überseugung  für  bie 
(£ntfcl)eibung  biefer  tDid)tigen  Probleme  [el)r  toertüoll  [inb,  bie. 
5^ot)len[tofftf)eorie  unb  bie  Ur3eugungslel)re. 

Äo^lenftofft^eoric.  X)ie  pl)i3[iotogi[d)e  (£l)emie  \)at  im  £aufc 
ber  legten  Desennien  burd)  un3äl)lige  ^nali)[en  folgenbe  fünf 
Xat[ad)en  fcftgeftellt:  1.  5n  titn  organi[cl^en  5Ratur!örpern  fommen 
feine  anberen  (Elemente  oor  als  in  t)zn  anorgani[c^en.  II.  Die- 
jenigen 23erbinbungen  ber  (Elemente,  toeldie  bem  Organismus 
eigentümlich  [inb,  unb  tDeld)e  it)re  „fiebenser[d)einungen"  be= 
toirfen,  [inb  3u[ammenge[e^te  ^lasmaförper,  aus-  ber  (Sruppc 
ber  ^Ibuminate  ober  (Eitoei^oerbinbungen.  III.  Das  organi[(f)e 
fieben  jelbjt  ijt  ein  d)emi[d)*p^i)[i!aU[(^cr  ^rojefe,  ber  auf  bem 


166  93icr3cl)ntcs  Äapitel. 


®tofftDcd)[eI  blcfcr  tHIbummate  bcru{)t.  IV.  T)a5icmge  Clement, 
ujeldies  allein  imjtünbe  ijt,  biefe  3u[ammenge[e^ten  (Htoeife* 
förper  in  95erbinbung  mit  anbeten  (Elementen  (Sauerjtoff, 
2Ba[[eritoff,  Stidjtoff,  S(t)tDefeI)  aufzubauen,  ijt  ber  Äol)Ienjtoff. 
V.  Diefe  plasmatif dE)en  5lo^Ienjtofft)erbinbungen  3eic^nen  [id^ 
oor  t>tn  meijten  anbeten  d)emi[d)en  93etbinbungen  butd^  ii)ie 
fef)t  fompUsiette  SJloIeftilatjttuftut  aus,  butd)  if)te  Unbejtänbig= 
!eit  unb  it)ten  gequollenen  5lggtegat3ujtanb.  5Iuf  ©tunb  biefet 
fünf  funbamentalen  3:at[ac^en  jtellte  id^  im  ^a\)tt  1866  foI= 
genbe  3:f)eotie  auf:  „£ebiglid)  bie  eigentümlichen,  rf)emi[c^= 
p!)i)[i!ali[cf)en  (£igen[d^aften  bes  5lof)Ienjtoffe5  —  unb  namentlid^ 
bet  fejtflüffigc  ^ggtegataujtanb  unb  bie  leiste  3et[e^bat!eit  bet 
\)bd)\i  3u[ammenge[e^ten,  eiroeifeattigen  Äol)Ienjtofft)etbinbungen 
—  [inb  bie  me(f)ani[(^en  ITtfacfien  jenet  eigentümli(i)en  SBetöegungs* 
(£t[(f)einungen,  butrf)  tDeli)e  [ic^  bie  Ctgan'smen  von  hm  ^In» 
otganen  untet[c^eiben,  unb  bie  man  im  engeten  Sinne  bas  ßeben 
nennt."  Obrool)!  biefe  „Äol)Ienjtofftf)eotic"  oon  mel)teten  Sio= 
logen  t)eftig  angegtiffen  tootben  ijt,  ^at  bod^  bis{)et  teinet  eine 
beffete  monijti[d)e  3:t)eotie  an  beten  Stelle  gefegt.  §eute,  too  mh 
bie  pl)r)[iologi[cl)en  S3etl)ältni[[c  bes  3ellenlebens,  bie  6:i)emie  unb 
Sß\)X)\xt  bes  lebenbigen  Plasma  oiel  beffet  unb  gtünblid)et  fennen 
als  um  bie  SJiitte  bes  19.  3a^rl)iinbetts,  läfet  [i(f)  unfete  Xi)toxk 
cinge^enbet  unb  [icl)etet  begtünben,  als  es  bamals  möglich  toat. 
^Itc^tflonie  obet  Umngnng,  Det  alte  ©egtiff  bet  Itt« 
3eugung  (Generatio  spontanea  obet  aequivoca)  toitb  l)eutc  nocl) 
in  fel)t  t)et[cf)iebenem  Sinne  oettoenbet;  getabe  bie  Un!latl)eit  ühtx 
biefen  ©egtiff  unb  bie  roibetfpterfienbe  ^tntoenbung  besfelben 
auf  gan3  oetfc^iebene,  alte  unb  neue  §i)potl)e[en  [inb  [^ulb  batan, 
ba^  biefes  tt)i(i)tige  ^toblem  3U  ben  bejttittenjten  unb  fonfufejten 
gtagen  bet  gan3en  9latunüi[[en[d)aft  bis  auf  "btn  heutigen  Xaq 
gel)ött.  5d)  befc^tänfe  ben  ©egtiff  bet  Ut3eugung  auf  t)h  et[te 
(£ntftel)ung  oon  lebenbem  Plasma  aus  anotgani[cl)en  Äol)lenjtoff= 
93etbinbungen  unb  untetfd^eibe  als  3toei  §auptpetioben  in  biefem 
„Seginn  bet  Siogenefis":  I.  bie  (£ntjtel)ung  oon  einfac^jten 
^lasmafötpetn  in  einet  anotganif^en  SBilbungsflü[[ig!eit,  unb 
II.  bie  3TtbiDibuali[ietung  oon  ptimitiojten  Otganismen  aus  jenen 
^lasmaoetbinbungen,  in  O^otm  oon  95loneten.  5^  liabt  biefe 
coid)tigen,  abet  aud)  fel)t  fcl)toiengen  ^tobleme  im  15.  5^apitel 
meinet  ^^atütlic^en  Sd)öpfungsgefd)i(^te  fo  eingel)enb  bel)anbelt, 
ba|3  i(f)  l)iet  batauf  oetroeifen  !ann.  (£ine  fel)t  au5fül)tlid)e  unb  |tteng 
toiffenfd)aftli(i)e  (Stöttetung  betfelben  l)abe  id)  beteits  1866  in  htx 
„©enetellen  50lotpl)ologie"  gegeben  (^b.  I,  S.  167—190);  fpätet 
^at  SflaegcU  in  [einet  3We^anifc^=p^9[ioloöi[cl)en  3:l)cotie  bet 


enl)cit  bei  Sriatur.  157 


^jtammung5lel)rc  (1884)  bic  §t)pott)c|e  ber  Urjeugung  gam  in 
bcmfelbcn  Sinne  [c^r  cingel)cnb  bcfjanbcU  unb  oIs  eine  uncnt* 
bel)rlirf)c  ^nnai)nte  ber  natürltrfjen  (£nttDic!eIung5ti)eorie  be* 
3eid)net.  5d)  jtimme  uollfommen  feinem  Sa^e  bei:  „Die  Itr* 
5eugung  leugnen  t)etfet  bas  SBunber  üerfünben."  (Eine  fritif^e 
Ittuseinanberfe^ung  ber  üerfd)iebenarttgen  §i)potI)e[en ,  rpeld^e 
neuerbings  über  „Itrjeugung"  aufgeftellt  toorben  [inb,  entl)ält  bas 
15.  5^opitel  („fiebensurfprung")  meines  Su^es  über  bie  „JCebens* 
rounber"   (SSoÜsausgabe  1906). 

Xeleologie  unb  IDlec^anif.  Sowoi)l  bie  §i)potl)e[e  ber  Ur* 
3eugung  als  bie  eng  bamit  üerfnüpfte  5lol)Ienjtofft^eorie  befi^en 
bie  gröfete  $8ebeutung  für  bie  C£nt[(f)eibung  bes  alten  ilampfes 
3tDi[d)en  ber  teleologifd^en  (buali[ti[cf)en)  unb  ber  media» 
ni[d)en  (moniftif^en)  Beurteilung  ber  (£rfd^ einungen.  Seit 
DartDin  uns  vox  fünfsig  5a{)ren  burd)  [eine  SeIe!tionstI)eorie 
"ütn  Sd^Iüffel  3ur  moniftifd)en  (SrÜärung  ber  Organifation  in  bie 
§anb  gab,  finb  roir  in  t>tn  Stanb  gefegt,  bie  bunte  SJlannigfaltigfeit 
ber  3iBedmäfeigen  (£inrid)tungen  in  ber  lebenbigen  i^örpertoelt 
ebenfo  auf  natürIidE)e  me(^ani[(i)e  Urfadien  3urüd3ufül)ren,  toie 
bies  oor^er  nur  in  ber  anorgani[d)en  9flatur  möglid)  toar.  2)ie 
übematürli(i)en  3roe(ftätigen  Ux\aä)tn,  3U  tDeId)en  man  frü!)er 
[eine  3wflu(^t  l)atte  nel)men  muffen,  [inb  baburd)  überflüffig  ge= 
ujorben. 

SBerltttfa^en  (Causae  efflcientes)  unb  ©nburfa^en  (Causae 
finales).  I)en  tiefen  ®egenfa^  Sroif^en  htn  betoirfenben  Urfac^en 
(ober  2Ber!urfa^en)  unb  ben  jroedtätigen  Urfa^en  (ober  (&nb' 
urfad)en)  l)at  mit  $Be3ug  auf  bie  (£r!Iärung  ber  ©efamtnatur  fein 
neuerer  ^Pofopf)  f^ärfer  l)eroorgel)oben,  als  ^Tttmanuel  5lant. 
3n„  [einem  berühmten  Sugenbtoerfe,  ber  „allgemeinen  ^latur» 
gefd)id)te  unb  ^toxk  bes  Fimmels", .  I)atte  er  1755  ben  !ül)nen 
S3er[ud)  unternommen,  „bie  S3erfa[[ung  unb  ben  med)ani[d)en 
Hr[prung  bes  gansen  2BeItgebäubes  nad)  9letöton[d)en  (5runb= 
[ä^en  ab3ul)anbeln".  C£r  [tü^te  [id)  babei  gans  auf  bie  med)ani[d)en 
SetDegungserfd)einungen  ber  ©raoitation;  fie  tourbe  fpäter  oon 
£aplace  toeiter  ausgebilbet  unb  matl)ematifd)  begrünbet.  3lls 
biefer  oon  Slapoleon  I.  gefragt  ojurbe,  roeldie  Stelle  in  feinem 
Spjtem  ©Ott,  ber  Sd)öpfer  unb  (£rt)alter  bes  SBeltalls,  einnet)me, 
antwortete  er  !Iar  unb  ei)rlid):  „Sire,  id)  bebarf  biefer  §T)pott)efe 
ni^t."  Damit  loar  ber  atl)eiftif^e  (£;t)ara!ter  biefer  mec^a* 
nifd)en  Äosmogenie,  t)tn  fie  mit  allen  anorganifd)en  SBiffen« 
[c^aften  teilt,  offen  anerfannt.  t)ies  mufe  um  [o  mti)x  l)eroorge* 
l)oben  toerben,  als  bie  5lant*£aplacefd)e  Xi)toxh  nod)  I)eute 
in  fajt  ollöemciner  ©eltung  \iti)t    SBcnn  man  "btn  ^tl)eismus 


158  SBier3cl)ntc5  Äopitel. 


notf)  l^eutc  in  tocitcn  Ärei[en  als  einen  |d)tDeren  3)ortDurf  betrachtet, 
[o  ttifft  biefer  bie  gefamte  mobeme  9^aturtDi[[en[d)aft,  infofern  [ie 
bie  anorgani[d)e  2BeIt  unbebingt  med)ani[dE)  erflärt. 

t)er  SRei^anismus  allein  gibt  uns  eine  tDir!Iid)e  (£r  = 
üärung  ber  9laturer[d^ einungen,  inbem  er  biefelben  auf  reale 
2Ber!ur[ad)en  3urüdEfüi)rt,  auf  ©etoegungen,  toelc^e  burcf)  bie 
materielle  ilonjtitution  ber  betreffenben  9latur!örper  felbft  bebingt 
finb.  5lant  felbjt  betont,  bafe  es  „ot)ne  biefen  9Wed)anisnius  ber 
91atur  feine  $naturrDif[en[cf)aft  geben  !ann",  unb  bafe  bie  ©e* 
fugnis  ber  men[cf)lid)en  33emunft  ^ur  med)ani[(^en  (Erüärung 
aller  (£rfc^einungen  unbe[(i)rän!t  fei.  5tls  er  aber  fpäter  in  feiner 
5lriti!  ber  teleologifc^en  Urteilsfraft  bie  (£r!lärung  ber  oertoidelten 
(£rfd) einungen  in  ber  organif(f)en  9^atur  befprad),  bel)auptete 
er,  ta^  bafür  jene  med)anif(f)en  Urfad)en  nid)t  ausrei(i)enb  feien; 
l)ier  muffe  man  stoedmäfeig  toirfenbe  (Enburfac^en  3U  ^ilfe 
nel)men.  3i»ar  fei  aud)  ^ier  bie  ^Befugnis  unferer  S3ernunft  jur 
med)anifd)en  (£r!lärung  an3uer!ennen,  aber  i^r  93  er  mögen  fei 
begrenzt.  5lllerbings  geftanb  er  il)r  teilcoeife  biefes  SSermögen  3U, 
aber  für  ben  größten  Xeil  ber  fiebenserfd^einungen  (unb  befonbers 
für  bie  6eelenlätig!eit  bes  9Jlenf(f)en)  l)ielt  er  bie  ^nna!)me  »on 
(£nburfad)en  unentbel)rli(i).  X)er  merftoürbige  §  79  ber  5^riti!  ber 
Urteilsfraft  trägt  bie  ^arafteriftifd^e  Hberfc^rift:  „93on  ber  not= 
roenbigen  Hnterorbnung  bes  ^rinsips  bes  SlJZe^anismus  unter 
bas  teleologifrfie  in  (£r!lärung  eines  Dinges  als  'üHahix^mtä" .  Die 
jtüedfmäfeigen  (Sinrid^tungen  im  5lörperbau  ber  organifc^en  SBefen 
fd)ienen  ilant  ol)ne  3lnnal)me  übernatürlid^^r  (£nburfad)en 
(b.  l).  alfo  einer  planmäßig  toirfenben  Sd)öpfer!raft)  fo  unertlärlid), 
ha^  er  fagte:  „(Es  ift  ganj  getoife,  ha^  toir  bie  organifierten  SBefen 
unb  beren  innere  9[Röglicl)!eit  nad^  blofe  medE)anifct)en  ^ringipien 
ber  9^atur  nid)t  einmal  3ureidE)enb  !ennen,  t)iel  roeniger  uns  erflären 
fönnen,  unb  3toar  fo  geroijg,  bajg  man  breijt  fagen  !ann:  (£s  ift  für 
9Jlenfd)en  ungereimt,  aud)  nur  einen  foldf)en  ^nf(i)lag  3U  faffen 
ober  3U  l)offen,  "üa^  nod)  etn)a  bereinft  ein  ^leroton  aufftef)en 
tonnt,  ber  aud)  nur  bie  (£r3eugung  eines  ©rasl)alm6  nad)  9Zatur= 
gefe^en,  bie  feine  ^bfid^t  georbnet  l)at,  begreiflid)  mad)en  loerbe, 
fonbern  man  mufe  biefe  (£infid)t  bcm  9[Renfd)en  fd^ledjterbings 
abfpre^en."  3ieb3ig  ^a\)tt  fpäter  ift  biefer  unmöglid)e  „9UtDton 
ber  organif(^en  5Ratur"  in  Darroin  toirflid^  erfd)ienen  unb  l)at  bie 
grofee  Aufgabe  gelöft,  bie  5^ant  für  unlösbar  erflärt  f)atte. 

2)et  :S^ed  in  ber  anorgamft^en  Statut  (5tnorgant|d)e 
Xeleologie).  Seitbem  ^Retoton  (1682)  bas  (Sraoitationsgefe^ 
aufgeftellt,  unb  feitbem  5lant  (1755)  „bie  33erfaffung  unb  iien 
med)anifd)cn  Hrfprung  bes  gan3en  SBeltgebäubes  nad)  5^ero.ton« 


(£ml)ett  bcr  9lotur.  159 


1 


f(f)en  ©runb|ä^en"  fejtgcjtcUt  —  feitbem  cnblic^  fiaplacc  (1796) 
bicfes  ©runbgc[e^  bcs  Sßcltmei^anismus  matt)CTnatt[(i)  bc* 
grünbet  l)attc,  [inb  bic  [ämtltcf)cn  anorgam[d)cn  9'laturrDi[[en|(i)aften 
rein  mc(f)ani[d)  unb  bamit  juglctd)  rein  atf)ci[tifd)  geroorbcn. 
3n  ber  ^jtronomie  unb  i^osmogenie,  in  ber  ©cologie  unb  3Reteo= 
tologie,  in  ber  anorganif^en  ^l)r)fi!  unb  (£t)emie  gilt  [eitbem  bie 
abfolute  ^err[d)aft  merf)ani[rf)er  ©efe^e  auf  matl)emati[d)er 
©runblage  als  unbebingt  feft|tel)enb.  Seitbent  ijt  aber  au^  ber 
3u?edbegriff  aus  biefent  ganjen  grofeen  ©ebiete  t)erf(i)tDunben. 
3e^t  x\t  bie[e  monijtifd^e  $Betrad)tung  naä)  l)arten  kämpfen  ju 
allgemeiner  ©eltung  gelangt,  unb  fein  9laturfor[d)er  fragt  mel)r 
im  (£rnjte  nad)  bem  3^^^  irgenbeiner  (£r[(^einung  in  biefem 
ganjen  unermefeli(i)en  ©ebiete.  Dber  follte  toirüid)  nod)  {)eute 
im  ^mjte  ein  ^ftronom  nacf)  bem  30?^^^  '^'^^  ^lanetenbetoegungen 
ober  ein  SJlineraloge  nad)  bem  3^^<J^  i>ß^  cinjelnen  Rriftallformen 
fragen?  Dber  follte  ein  ^I)t)fifer  über  t^tn  3toed  ber  cleftri[rf)en 
5^räfte  ober  ein  (£f)emi!er  über  "ötn  ßvotd  ber  5ltomgetDi(f)te 
grübeln?  2Bir  bürfen  getrojt  anttüorten:  9^ein!  Sid)er  ni^t 
in  bem  Sinne,  bafe  ber  „liebe  (Sott"  ober  eine  aieljtrebige  ^Raturfraft 
biefe  (Srunbgefe^e  bes  2BeItmed)ani5mus  einmal  plö^Iid)  „aus 
nichts"  3u  einem  bestimmten  3^^^  erfd)affen  I)at,  unb  ba]^  er 
[ie  naä)  [einem  oernünftigen  SBillen  tagtäglirf)  toirfen  lä^t. 
X)ie[e  antf)ropomorpl)e  93orftenung  oon  einem  stoedtätigen 
2BeItbaumeijter  unb  2BeltI)err[d)er  ijt  l)ier  oöllig  überrounben; 
an  [eine  Stelle  [inb  bie  „etoigen,  ehernen,  grojgen  9^aturge[e^e" 
getreten. 

35ct:  3toecf  in  ber  organtf^en  ^aiux  (©iologi[d)eXcleolo  = 
gie).  (Eine  gans  anbere  ^Bebeutung  unb  (Geltung  als  in  ber  an^ 
organi[^en  be[i^t  ber  3Q>cdbe griff  no(^  l)eute  in  ber  organi[(f)en 
5Ratur.  3^  Körperbau  unb  in  ber  fiebenstätigfeit  aller  £)rganis= 
men  tritt  ims  bie  3aJedtätig!eit  unleugbar  entgegen,  ^^^^e  ^flanje 
unb  jebes  2ier  er[(f)einen  in  ber  3w[ammen[e^ung  aus  einseinen 
Xcilen  eben[o  für  einen  bestimmten  ßebensstoecf  eingeri(i)tet  toie 
bie  !ün[tlid)en,  t)om  9J?en[(^en  erfunbenen  unb  fonftruierten 
9Ka[d)inen;  unb  [olange  il)r  £eben  fortbauert,  i[t  au(^  bie  gunftion 
ber  einjelnen  Organe  eben[o  auf  be[timmte  3^^^^  gericl)tet  coie 
bie  wirbelt  in  htn  einjelnen  Xeilen  ber  95?a[(i)ine.  (£s  toar  bal)er  ganj 
naturgemäß,  bajg  bie  ältere  naioe  9Zaturbetra(i)tung  für  bie  -^nt= 
[tel)ung  unb  bie  fiebenstätigfeit  ber  organi[(^en  3Be[en  einen 
Schöpfer  in  ^n[prud^  nal)m,  ber  mit  „9Bei5t)eit  unb  93er[tanb  alle 
X)inge  georbnet"  l)atte,  unb  ber  jebes  Xier  unb  jebe  ^flanse 
it)rem  be[onberen  fiebensstoed  ent[pre(f)enb  organi[iert  l)atte. 
®eiDöI)nltd^  ujurbe  bic[cr  „allmä(i)tigc  Sd)öpfer  Fimmels  unb  ber 


160  5Blcr3cf)ntes  Kopitcl. 

(Erben"  burd)au5  ontI)ropotnorp!)  gcba(f)t;  er  |d)uf  „iegltd)es 
2Be|en  nad)  feiner  ^rt".  Solange  babei  bem  9[Ren[^en  ber  ©d^öpfer 
nod)  in  men[(f)Ii(f)er  ©ejtolt  er[d)ien,  benfenb  mit  [einem  ®el)im, 
[e^enb  mit  [einen  ^ugen,  formenb  mit  [einen  ^änben,  fonnte  man 
[id)  oon  bie[em  „göttlichen  9J?a[(f)inen]bauer"  unb  von  [einer  !ünjt= 
leri[d)en  Arbeit  in  ber  großen  (5df)öpfung5tDerl[tätte  nod)  eine 
an[(i)aulid)e  SSorjtellung  mad)en.  S3iel  [d)rDieriger  tourbe  bies, 
als  [id)  ber  ©ottesbegriff  läuterte  unb  man  in  bem  „un[i(^tbaren 
®ott"  einen  immateriellen- Sd)öpf er  ol)ne  Organe  erblidte.  5Rod) 
unbegreifli^er  enbli(i)  rourben  bte[e  antl)ropijti[cf)en  SSorftellungen, 
als  bie  ^l)p[iologie  an  bie  Stelle  bes  betöufet  bauenben  ©ottes  bie 
unbetüufet  [cl)affenbe  „£ebcns!raft"  [e^tc  —  eine  unbefannte, 
3toe(!möfeig  tätige  9latur!raft,  toeld)e  von  t)tn  befannten  pl)i)[i!a« 
li[d)en  unb  d)emi[d)en  Gräften  t)er[d)ieben  toar  unb  bie[e  nur  seit* 
U5ei[e  —  auf  fiebensseit  —  in  I)ienft  nal)m.  Die[er  93italismus 
blieb  nod)  bis  um  bie  SJlitte  bes  19.  3öt)rl)unberts  \}tn]ä)tnh;  er 
fanb  [eine  tat[äd)li(^e  SBiberlegung  erft  burd)  titn  großen  ^l)r)[io« 
logen  5ol)annc5  SJlüller.  3o)ar  toar  aud)  bie[er  gei[treid)e 
33iologe  im  ©lauben  an  bie  £ebens!raft  aufgetoa^[en  unb  ^ielt 
[ie  für  bie  (£r!lärung  ber  „legten  fiebensur[ad)en"  für  unentbel)rlid), 
aber  er  fül)rte  3uglei(^  in  [einem  !la[[i[^en,  no(^  l)eute  unüber= 
troff enen  £el)rbud)  ber  ^l)t)[iologie  (1833)  ben  Setoeis,  bafe 
eigentlid)  nid)t5  mit  il)r  ansufangen  ijt.  StRüller  [elbft  seigte  in 
einer  langen  9?eil)e  oon  au5gc3eid)neten  iBeobad)tungen  unb  [d)arf= 
[innigen  (Experimenten,  tia^  bie  meijten  £ebenstätig!eiten  im 
Organismus  bes  901en[d)en  eben[o  toie  ber  übrigen  stiere  nad) 
p^t)[i!ali[(^en  unb  d)emi[d)en  (5e[e^en  ge[d)el)en,  t>a^  oiele  oon 
it)nen  [ogar  matl)emati[d)  bejtimmbar  [inb.  ias  gilt  eben[otDol)i 
oon  ben  Srunftionen  ber  9Jlus!eln  unb  ^Reroen,  ber  nieberen  unb 
l)öl)eren  Sinnesorgane,  toie  oon  ben  93orgängen  bei  ber  (£mäl)rung 
unb  bem  StofftDe^[el,  ber  23erbauung  unb  bem  SBlutfreislauf. 
5Rät[el^aft  unb  o^ne  bie  ^nnal)me  einer  £ebensfraft  nid)t  erflärbar 
blieben  eigentlid)  nur  äcoei  ©ebiete,  bas  ber  t)ö^eren  Seelen» 
tätig!eit  ((Seijtesleben)  unb  bas  ber  (^ortpflansung  (3eugung). 
5lber  aud^  auf  bie[en  ©ebieten  rourben  unmittelbar  nad^  SDlüllers 
2obe  [o  bebeutenbe  CSntbedungen  unb  (5ort[d)ritte  gemad)t,  \)a^ 
bas  unl)eimli^e  „(5e[pen[t  ber  £ebens!raft"  aud)  aus  bie[en 
legten  Sd)lupftDinfeln  Der[d)tDanb.  (£s  roar  ein  merfroürbiger 
d)ronologi[d)er  3iifall,  bafe  ^o\)annts^üUtx  1858  in  bem[elben 
5al)re  [tarb,  in  roeld^em  (E^arles  X)artDin  bie  erjten  SJiitteilungen 
über  [eine  epod)emad)enbe  3^eorie  oeröffentlic^te.  Die  Selef  = 
tion5tl)eorie  bes  legieren  beantwortete  bas  grofee  9^ät[el,  oor 
u)eld)em  ber  erjtere  jtel)en  geblieben  toor:  bie  ^xaQt  oon  ber  (Ent* 


(£inf)cit  bcr  9lotur.  161 


jtet)ung  stDecfmäfeiger  (£tnnd)tungen  burd)  rein  merf)am[d)e  Ur= 
fachen,  ol)nc  t}orbebad)ten  ^lan. 

2)er  3«»^*  in  t>et  Selefttonst^eotie  (Dartüin  1859).  Das 
unftcrblicf)c  pl)iIofopt)if(i)c  93erbtenjt  Dartüins  bleibt,  toie  toir 
[d)on  oft  betont  ^aben,  ein  boppeltes:  erjtens  bie  9?eform  bet 
älteren,  1809  oon  fiamard  begrünbeten  i)e[3enben3tt)eorie, 
it)re  Segrünbung  burd)  bas  geroaltige,  im  £aufe  biefes  I)alben  ^ai)X' 
l)unbert5  angefammelte  3^atfa^enmaterial  —  unb  gtoeitens  bie 
^ufjtellung  ber  (3eIe!tion5tl)eorie,  jener  3ud)ttüaf)net)re, 
tüel(f)e  uns  erft  eigentlid)  bie  tDal)ren  betoirfenben  ltrfod)en  ber 
anmät)licf)en  ^rtumbilbung  entpllt.  I)artoin  3eigte  3uerft,  roie 
ber  unerbittU(i)e  „Äampf  ums  Dafein"  ber  unberoufet  toirfenbc 
9?eguIator  ijt,  wt{ä)tx  bie  3ße(i)feliDir!ung  ber  93ererbung  unb 
^npaffung  bei  ber  allmäl)lict)en  3:ron5formotion  ber  Spesies  leitet; 
er  ift  ber  grofee  „3üd)tenbc  C5ott",  wtlä)tx  of)ne  ^bfid^t  neue 
^formen  ebenfo  burc^  „natürli(^e  ^uslefe"  betüir!t„  roie  ber 
3üd)tenbe  50kn[^  neue  formen  mit  ^b[id)t  bur^  „!ünftli(f)e  ^U5= 
lefe"  ^eroorbringt.  Damit  rourbc  bas  grofee  pt)iIo[opt)i[d^e  9?ät[el 
gelöjt:  „'$ßit  fönnen  3U3e(fmäfeige  (Einrichtungen  rein  mec^anifc^ 
entjtef)en,  ot)ne  3töe(Jtätige  Urfai^en?"  ^leuerbings  f)at  fid)  baraus 
bas  ^rin3ip  ber  „teleologifdien  93le^ani!"  3U  immer  größerer 
Geltung  enttoidelt  unb  !)at  aud)  bie  feinften  unb  oerborgenften 
(£inrid)tungen  ber  organi[d)en  2Be[en  uns  burd)  bie  „funftionelle 
Selbftgejtaltung  ber  3tüedmä^igen  Struftur"  med)ani[(^  erflärt. 
Damit  ijt  aber  ber  tran[3enbente  3Do^<it)egriff  un[erer  teleotogifc^en 
(5d)uIpf)iIo[opl)ie  be[eitigt,  bas  größte  ^inbernis  einer  oemünftigen 
unb  eint)eitli(^en  9laturauffa[[ung. 

9leo0italtsmu$.  5n  neuerer  S^tt  ijt  bas  alte  ©ejpenjt  ber 
mi)jti[d)en  ßebensfraft,  bas  grünblid)  getötet  j(^ien,  roieber  auf= 
gelebt;  üer[d)iebene  ^Biologen  l)aben  oerju^t,  basfelbe  unter  neuem 
Flamen  3ur  ©eltung  3U  bringen.  Die  fonjequentejtc  Darjtellung 
besfelben  f)at  ber  5^ieler  ©otanüer  3ot)annes  9tein!e  in  3tt)ei 
©ü^ern  gegeben:  „Die  äBelt  als  Xai"  (1899)  unb  „Einleitung 
in  bie  t!)eoreti[d)e  ^Biologie"  (1901).  (£r  nennt  [ie  „Umrijje  einer 
2BeItan[id)t  auf  naturcoi[[en[d)aftIidier  (Örunblage";  tat[äd)Iic^  ijt 
aber  biefe  ©runblage  ber  d)rijtli^e  5lird)englaube.  ^t^^^^  ^^  ^on 
t)m  Offenbarungen  ber  Sibel  ausQzi)i  unb  SJiofes  als  I)ö(^jte 
tDi[[enjd)aftIid)e  Autorität  betrautet,  oerteibigt  er  3uglei(^  ben 
2BunbergIaubenunbbcn2i)eismus,  bie  9Jtofai[c^e  ®d)öpfungs  = 
ge[d^i4)te  unb  bie  5^onjtan3  ber  ^rten;  er  nennt  bie  „ßebens» 
Mfte",  im  ©egenja^c  3U  ben  pt)t)[i!ali[c^en  Gräften,  9?id)t!räfte, 
Oberfräfte  ober  Dominanten.  9?ein!c  toenbet  oergeblic^  alle 
9Jlittel  auf,  um  bie  l)err[(^enben  ®Iauben5let)ren  ber  d)rijtlid)en 

Ä  a  c  d  c  t ,  ^ctttätf el.  1 1 


162  33tcr3el)ntes  5^apitel. 


Rixd)t  mit  titn  bireü  tt)iber[prc(^enben  C£rfal)rungs[ä^en  ber  (£nt= 
tDt(JeIung5lel)re  in  (Sinüang  ^u  bringen.  Diefen  2Bibcr[pru^  tüirb 
aud)  ber  neue  fogenannte  „5^eplerbunb"  nid)t  löfen,  tm  er  1908 
3ur  Se!ämpfung  unb  S3ernid)tung  bes  1905  gegrünbeten  „SRoniften» 
bunbes"  ins  fieben  gerufen  l^at.  T)as  SBiberfinnige  unb  irnt)altbare 
biefes  ^leoüitalismus  (ber  in  ben  mrijtifd^en  i^reifen  ber  Spiritijten 
unb  Offultijten,  3:t)eo[opI)en  unb  9Jletap]^i)[i!er  »iel  ^nflang  finbet), 
I)abe  id)  im  2.  unb  3.  5^apitel  meiner  „fiebenstüunber"  eingel)enb 
nad)geu)ie[en. 

llnjaerfmäötgleitsle^re  {3:)i)steIeoIogie).  Unter  bie[em 
^Begriffe  I)abe  ic^  ]d)on  im  3al)re  1866  bie  2ßi[[en[d^aft  t)on  htn 
überaus  intereffanten  unb  u)ici)tigen  bioIogi[ci)en  3:at[a(f)en  be= 
grünbet,  tDeId)e  in  l)anbgreiflid)jter  2Bei[e  bie  ]^ergebrarf)te  teleolo- 
gifd)e  5luffa[[ung  von  ber  „stoecfmäfeigen  (£inri(f)tung  ber  Ieben= 
bigen  91aturlörper"  bire!t  roiberlegen.  Die[e  2Bi[fen[d)aft  üon  ben 
„rubimentären,  abortiüen,  t)er!ümmerten,  fel)Igef(f)Iagenen,  otro= 
pl)if d^en  ober  fataplajtif(i)en  3Ttbit)ibuen"  jtü^t  fid)  auf  eine  un= 
ermefelid)c  gülle  ber  mer!tDürbigften  CBrfd) einungen,  voüä)t  ^wax_ 
t^n  3ooIogen  unb  Sotanüern  längjt  befannt  toaren,  aber  erjt  burd) 
:r)artöin  ur[äd)Iid^  erflärt  unb  in  il)rer  \)6\)tn  pl)iIo[opl)i[d)en  Se* 
beutung  üoUjtänbig  geroürbigt  toorben  [inb. 

Me  f)öl)eren  3:iere  unb  ^flan^en,  überl)aupt  alle  biejenigen 
Organismen,  beren  5lörper  nid)t  gan3  einfach  gebaut,  fonbern  aus 
mel)reren,  sroedmäfeig  jufammenroirfenben  Organen  3u[ammen= 
gefegt  ijt,  Ia[[en  bei  aufmer![amer  Hnterfud^ung  eine  ^Ingal)!  üon 
nu^Iofen  ober  untoirffamen,  ja  ^um  3:eil  [ogar  gefäf)rlid)en  unb 
[d)äblid)en  (£inrid)tungen  erfennen.  5n  ben  23Iüten  ber  meiften 
^flansen  finben  \\ä)  neben  ben  roir!famen  ©efd^Ie^tsblättern, 
tt)eld)e  bie  ^rortpflanjung  t» ermitteln,  einzelne  nu^Iofe  ^lattorgane 
o^ne  Sebeutung  (oerfümmerte  ober  „fet)Ige[d)Iagene"  Staubfäben, 
Fruchtblätter,  5lronen=,  5^eld)blätter  ufto.)-  3Tt  J^en  beiben  großen 
unb  formenreid)en  klaffen  ber  fliegenben  Xtere,  SSögel  unb  5nfe!ten, 
gibt  es  neben  ben  getDöI)nIid^en,  il)re  grlügel  tägli^  gebrdud)enben 
Wirten  eine  ^njat)!  oon  O^ormen,  beren  gWgel  oerfümmert  finb, 
unb  bie  nid)t  fliegen  tonnen,  gfaft  in  allen  5^Ia[[en  ber  I)öt)eren 
3:iere,  bie  il)re  ^ugen  jum  Se^en  gebrauten,  eiijtieren  einjelne 
Wirten,  n)eld)e  im  T)un!eln  leben  unb  nid)t  [et)en;  tro^bem  befi^en 
aud)  biefe  meijtens  nod)  5tugen;  nur  [inb  [ie  tjerfümmert,  3um 
Se^en  nid)t  me^r  tauglic^.  ^n  unferem  eigenen  men[(^Iid)en 
5^örper  befi^en  toir  [oId)e  nu^Iofe  !Rubimente  in  ben  5QJus!eIn 
unferes  £)^res,  in  ber  9lidl)aut  unseres  ^uges,  in  ber  Sruitroarße 
unb  9JiiId)brü[e  bes  9[Rannes  unb  in  anberen  5^örp erteilen;  ja  ber 
öefürd)tete  SBurmfortfa^  unferes  ©linbbarmes  ift  ni(^t  nur  unnü^, 


(Ein^ett  htx  9latur.  163 


oei 

wt 


[onbcrn  fogar  gcfät)rlid),  unb  alliöl)rlt(f)  gct)t  eine  ^njal)!  50lenf(^en 
burd)  feine  (£nt3ünbung  ^ugninbe. 

Die  (ErÜärung  bie[er  unb  oieler  anberer  3tüedfIo[er  (£in= 
rid)tungen  im  Körperbau  ber  kliere  unb  ^flangen  oermag  töeber 
ber  alte  nod)  ber  neue  23itali5mus  3U  geben;  bagegen  finben  toir 
[ie  [el)r  einfach  burc^  bie  T)e[3enben3tf)eorie.  Sie  jeigt,  bofe 
biefe  rubimentären  Organe  oerfümmert  [inb,  unb  3töar  burd) 
9lirf)tgebrau(^.  (£ben[o,  loie  bie  SJ^usfeln,  bie  ^Reroen,  bie  Sinnes^ 
Organe  bur^  Übung  unb  l)äufigeren  ©ebraucf)  geftärft  toerben, 
ebenfo  erleiben  [ie  umge!el)rt  burc^  Untätigfeit  unb  unterlaffenen 
föebraud)  met)r  ober  toeniger  9?üdfbilbung.  5Iber  obgleid)  [o  burd^ 
Hbung  unb  ^npa[[ung  bie  I)öl)ere  ©nttoicfelung  ber  Organe  ge= 
förbert  toirb,  [o  oerf^roinben  [ie  hoä)  feinestoegs  [ofort  [purlos  burcf) 
9li(i)tübung;  üielme^r  roerben  [ie  burd)  bie  ^Jlad^t  ber  33ererbung 
nod^  u)ät)renb  oieler  ©enerationen  ert)alten  unb  t»er[(i)U3inben  erjt 
anmäl)lid)  nad)  längerer  3eit.  Der  blinbe  „5^ampf  ums  Da[ein 
3toi[(^en  ben  Organen"  bebingt  eben[o  il)ren  t)i[tori[d)en  ltnter= 
gang,  roie  er  ur[prüngli(^  i^re  (£nt[tet)ung  unb  ^usbilbung  oerur^ 
[a^te.  (£in  immanenter  „S^'^'^"  fpi^I^  babei  überl)aupt  feine  Atolle. 

HnooIKommenl^eit  ber  ^atut,  9Bie  bas  3Jlen[c^enIeben  [o 
bleibt  aud)  ^as  Xier«  unb  ^flan3enleben  immer  unb  überall  un« 
üollfommen.  Die[e  3^at[a(i)e  ergibt  [id)  einfad^  aus  ber  (Erfenntnis, 
bafe  bie  gan3e  5Ratur  in  einem  beftänbigen  5lu[[e  ber  (£nttüi  tfelung, 
ber  33eränberung  unb  Itmbilbung  begriffen  i[t.  Diefe  (Entroidelung 
er[d)eint  uns  im  großen  unb  gan3en  —  roenigftens  [otoeit  toir  bie 
Stammesge[d)id)te  ber  organi[d)en  ^latur  auf  un[erem  Planeten 
über[el)en  fönnen  —  als  eine  fort[^reitenbe  Umbilbung,  als  ein 
l)ijtori[^er  5ort[d)ritt  oom  (£infad)en  3um  3ii[<immenge[e^ten, 
Dom  ^lieberen  3um  §öl)eren,  oom  Itnooltfommenen  3um  3?oll= 
fommneren.  3<i)  I)ö^^  \ä)on  in  ber  (generellen  9Jlorpl)ologie  (1866) 
htn  9flad)rDeis  gefül)rt,  bafe  biefer  ^ijtori[c^e  3rort[d)ritt  —  ober 
ie    allmäl)li^e    S^eroollfommnung    —    bie    notu»enbige 

irfung  ber  Seleftion  i[t,  nic^t  aber  bie  golge  eines  üor= 
beba(^ten  3ö)edes.  Das  ergibt  \id)  au^  baraus,  bafe  fein  Orga* 
nismus  gan3  oollfommen  i[t;  [elbjt  roenn  er  in  einem  gegebenen 
^lugenblide  ben  Umjtänben  oollfommen  angepaßt  toäre,  toürbe 
bie[er  .3u[tanb  ni^t  lange  bauem;  benn  bie  (£njten3bebingungen 
ber  ^ufeenroelt  [inb  [elbjt  einem  bejtänbigen  2Bed^[el  untertoorfen 
unb  bebingen  bamit  eine  ununterbrod)ene  5lnpa[[ung  ber  Orga^ 
nismen. 

Sittliche  aßeltorbnung.  3n  ber  ^l)ilo[op?)ie  ber  ©e[c^id)te, 
in  titn  allgemeinen  5Betrad)tungen,  tDeld)e  bie  (5e[d)id)t[c^reiber 
über  bie  Sd)id[ale  ber  33ölfer  unb  über  ben  Der[d)lungenen  (Sang 

11* 


164  S8ier3et)ntes  Kapitel. 


ber  StaatencnttDtdfelung  anjtellen,  I)errfd)t  noc^  l)eutc  bie  ^n« 
naf)mc  einer  „[ittlic^en  3Beltorbnung".  Die  Mtorüer  fudE)en  in 
bem  bunten  2Bed)[eI  ber  S3öl!ergefc{)ide  einen  leitenben  Sroecf, 
eine  ibeale  ^Ibfid^t,  u)eld)e  biefe  ober  jene  9?affe,  biefen  ober  jenen 
Staat  3U  be[onberem  (5ebeil)en  auserlefen  unb  gur  §err[^oft 
über  bie  anberen  bestimmt  l)at.  Diefe  teleologif^c  unb  bualifti[rf)e 
®efdE)id)t5betra^tung  ift  neuerbings  um  [o  [d)ärfer  in  prinaipiellen 
©egenfa^  gu  unferer  monijti[d)en  2BeItan[(i)auung  getreten,  je 
fidlerer  [irf)  btefe  le^tere  im  gefamten  ©ebiete  ber  anorganifdf)en 
9Zatur  als  bie  allein  bered)tigte  l)erausgeftellt  l)at.  5"  öer  gefamten 
^Ijtronomle  unb  ©eologle,  In  bem  roeiten  ©ebiete  ber  ^l)r)[i!  unb 
(I^emie  [priest  I)eute  nlemanb  mel)r  oon  einer  flttlli^en  2BeIt= 
orbnung,  ebenforoenlg  als  oon  einem  per[önlld)en  ©otte,  beffen 
„§anb  mit  2ßel5l)elt  unb  33erftanb  alle  Dinge  georbnet  l^at". 
Diefer  Ijt  aber  aud^  In  bem  gefamten  Oebiete  ber  Biologie  md)i 
5U  flnben,  In  ber  gansen  35erfa[fung  unb  ®ef^i(i)te  ber  organi[(f)en 
9latur.  Dario  In  l)at  uns  In  [einer  Sele!tion5tl)eorie  nid^t  nur 
gegeigt,  toie  bie  gtoedhnäfeigen  (£lnri(f)tungcn  im  S-th^n  unb  im 
.Körperbau  ber  3:iere  unb  ^flanjen  ol)ne  oorbeba(l)ten  3töecf 
medi)ani[(i)  entjtanben  flnb,  fonbem  er  l)at  uns  aucf)  in  [einem 
„Kampf  ums  D afein"  bie  geroaltlge  9laturma^t  erfennen 
gelel)rt,  toelcf)e  t)m  gangen  (Snttoldelungsgang  ber  organifd^en 
SBelt  feit  ülelen  3öl)rmllllonen  ununterbrod)en  bef)errfdf)t  unb 
regelt.  'SRan  fönnte  frelliii)  fagen:  Der  „Kampf  ums  Dafein"  Ift 
bas  „Überleben  bes  ^affenbjten"  ober  ber  „Sieg  bes  iBejten";  bas 
!ann  man  aber  nur,  toenn  man  bas  Stärfere  ftets  als  bas  befte  (In 
morallfd)em  Sinne !)  betrad^tet;  unb  überbies  geigt  uns  bie  gange 
(5efrf)idE)te  ber  organif(i)en  SBelt,  t)a%  neben  bem  überrolegenben 
^ortfdE)rltt  gum  93oll!ommenen  jebergelt  aud)  eingelne  9?ütffcf)ritte 
gu  nieberen  3ui^änben  oorfommen. 

Sßerl)ält  es  fld)  nun  in  ber  23öl!ergef(i)idf)te,  bie  ber  SJJenfd)  in 
feinem  antl)roprogentrif(i)en  ©röfeentoalin  bie  „2Beltgef(f)id^te"  gu 
nennen  liebt,  etroa  anbers?  3It  ba  überall  unb  jebergelt  ein  ^öi^jtes 
moralifd)e5  ^ringip  ober  ein  toeifer  2Beltregent  gu  entbeden,  ber 
bie  (5efd)i(ie  ber  33öl!er  leitet?  Die  unbefangene  ^nttoort  fann 
^eute,  bei  bem  t)orgefcl)rittenen  3nftanbe  unferer  9'laturgef(^i(^te 
unb  33öl!ergefcl)id)te,  nur  lauten:  91  ein  !  Die  (5efrf)ic!e  ber  3^)^19^ 
bes  9}lenfd)engefd)lerf)ts,  bie  als  9?affen  unb  9lationen  feit  5ö^r= 
taufenben  um  il)re  (Biifteng  unb  il)re  ^rortbilbung  gerungen  l)aben, 
unterliegen  genau  benfelben  „etoigen,  el)ernen,  großen  ©efe^en" 
loie  bie  ®efc^id)tc  ber  gangen  organif(i)en  Sßelt,  bie  feit  üielen 
3al)rmillionen  bie  (£rbe  beoölfert. 

Die  ©cologen  unterfcf)etben  in  ber  „organifc^en  (£rbgefd;i(^te", 


(£mt)eit  ber  Sflatur.  165 


[otoeit  [ie  uns  burc^  bie  I)en!Trtälcr  ber  SSerjteinerungshmbe  befannt 
ijt,  bret  gro^c  Venoben:  bas  primäre,  fefunbäre  unb  tertiäre  3eit= 
alter.  3l)re  .3^itbauer  ijt  [d^toer  absufc^ä^en,  beträgt  aber  (3u= 
fammengenommen)  iebenfalls  niet)r  als  ^unbert  SJlillionen  3al)re. 
Die  (5e[(i)id)te  bes  SBirbeltierftammes,  aus  bem  unfer  eigenes 
(5efc^led)t  entfproffen  ijt,  liegt  innerhalb  biefes  langen  3eitraümes 
!Iar  üor  unferen  ^ugen;  bret  t)erf(i)iebene  (SnttDidelungsjtufen  ber 
23ertebraten  toaren  in  jenen  brei  großen ^erioben  na(i)einanber 
entiüicEelt;  in  ber  primären  ^eriobe  bie  3^i[(f)e,  in  ber  fefunbären 
bie  5teptilien,  in  ber  tertiären  bie  Säugetiere.  23on  biefen 
brei  ^auptgruppen  ber  2ßirbeltiere  nef)men  bie  ^■i\d)t  htn  nieberften, 
bie  9leptilien  einen  mittleren,  t>it  Säugetiere  htn  f)ö^ften  9^ang 
ber  33onfomment)eit  ein.  Sei  tieferem  (!cinget)en  in  hk  ©efd^ii^te 
ber  brei  illa[[en  finben  toir,  bafe  au^  bie  einzelnen  Orbnungen  unb 
^ramilien  berfelben  innerl)alb  ber  brei  3etträume  [lä)  fortf(i)reitenb 
3u  t)öf)erer  93oUfommenl)eit  enttcicfelten.  5^ann  man  nun  biefen 
fortfc^reitenben  (£nttDideIungsgang  als  ^usflufe  einer  beroufeten 
3U)ecfmäfeigen  3telltrebigfeit  ober  einer  [ittlid^en  SBeltorbnung  be= 
5eid)nen?  Durd)au5  ni(i)t !  Denn  bie  (5eIe!tionstI)eorie  Iei)rt  uns, 
bafe  ber  organi[(i)e  gort[(^ritt,  ebenfo  toie  bie  organi[ct)e  Differenz 
Sierung,  eine  nottoenbige  Srolge  bes  Kampfes  ums  Dafcin  ijt. 
Xaufenbe  von  beiounberungstDürbigen  ^rten  bes  3:ier=  unb 
^flanjenreic^es  [inb  im  fiaufe  jener  I)unbert  SJlillionen  5a{)re  3u= 
grunbe  gegangen,  roeil  [ie  anberen,  ftärferen,  ^la^  modfien  mußten, 
unb  hh\t  Sieger  im  5lampfe  ums  Da[ein  rooren  nid)t  immer  bie 
ebleren  ober  im  moralifd^en  Sinne  oolüommneren  formen. 

©enau  basfelbc  gilt  üon  ber  23öl!erge[cf)i(^te.  Die  be= 
ujunberungstDürbige  5^ultur  bes  fla[[i[(^en  Rittertums  ijt  jugrunbc 
gegangen,  toeit  bas  (£l)rijtentum  bem  ringenben  9}lenfd)engeijte 
bamals  burd)  titn  ©lauben  an  einen  liebenben  ®ott  unb  bie  ^off* 
nung  auf  ein  bejjeres  jenjeitiges  £eben  einen  gewaltigen  neuen 
5luf[d)roung  üerliet).  Der  ^apismus  tourbe  gtoar  balb  3ur  [(^am* 
lojen  Äarifatur  bes  reinen  (Il)rijtentums  unb  gertrat  [d)onungslos 
bie  S(i)ä^e  ber  (Erlenntnis,  tDeld)e  bie  f)elleni[(^e  ^l)ilo[opl)ie  jd)on 
ertoorben  l)atte;  aber  er  getoann  bie  2}3eltt)err[(^aft  burd)  bie  lln= 
tDij[en!)eit  ber  blinbgläubigen  9Ka[[en.  (£rjt  bk  9?enai[jance 
gerrife  bie  5^etten  biejer  ®eijtesfned)t[d)oft  unb  üerl)alf  toieber  ben 
^njprü(^en  ber  23emunft  3u  tl)rem  9te(f)te.  Rtber  aucf)  in  biejer 
neuen,  toie  in  jenen  frülieren  ^erioben  ber  5lulturgejd)i(i)te,  roogt 
euöig  ber  grofee  5^ampf  ums  Dajein  l)in  unb  l)er,  ol)ne  jebe  mora= 
lijd^e  Orbnung. 

S^otfe^ung.  So  roenig  bei  unbefangener  unb  fritifd^er  93e» 
tracl)tung  eine  „morali[(f)e  SQBeltorbnung"  im  ©änge  ber  S3öl!er= 


166  93ter5cl)nte5  Rapihl 


gefd)trf)tc  na(i)3uu)et[en  tft,  cbenforocnig  lönneTr  totr  eine  „tDetfe 
33or[ef)ung"  im  S(i)tdE[oI  ber  etnselnen  9J?cn[(f)en  anerfcnnen. 
Die[cs  löte  jener  tüirb  mit  eiferner  Sflotroenbigfeit  burd)  bie  med)a= 
nifd)e  i^aufalität  bejtimmt,  toeld^e  jebe  (£rfd)einung  aus  einer  ober 
mel)reren  t)ürl)ergel)enben  Hr[ad)en  ableitet.  Sd^on  bie  alten 
Hellenen  erfannten  als  I)öd)jte5  2BeItprin3ip  bas  blinbe  g^atum 
(bie  ^nangte),  bas  „©ötter  unb  9Jienjtci)en  bel)err[d)t".  ^n  il)re 
Stelle  trat  im  (£t)rtftentum  hit  betoufete  33or[ef)ung  eines  ©ottes, 
xot\d)tx  nid)t  blinb,  fonbern  [e()enb  ift,  unb  tt)elct)er  bie  SBeltregie^ 
rung  als  patriard)alifd)er  §err[(^er  füt)rt.  I)er  antt)rüpomorpt)e 
(£l)ara!ter  biefer  33orjtenung  liegt  auf  ber  §anb.  X)er  ©laube  an  einen 
,,Iiebenben  SSater",  ber  bie  (5efd)icfe  Don  1500  SJlillionen  9Jlen[(i)en 
auf  unferem  Planeten  unabläffig  lenft  unb  babei  bie  millionenfacf) 
\id)  freugenben  ©ebete  unb  „frommen  2ßün[ct)e"  berfelben  jeber3eit 
berü(ifid)tigt,  ijt  oollfommen  unl)altbar:  bas  ergibt  [ic^  [ofort,  toenn 
bie  93emunft  beim  9la(i)ben!en  barüber  bie  farbige  25riIIc  bes 
„(Glaubens"  ablegt. 

Sei  bem  unget)euren  ^luffc^toung  bes  23erfel)rs  im  19.  5af)r= 
I)unbert  l)at  nottoenbig  bie  3öt)I  J^er  33erbre(f)en  unb  Hnglücfsfälle 
in  einem  früt)er  nid)t  geat)nten  Wüa^t  gugenommen;  bas  erfaf)ren 
toir  tagtäglid)  burd^  bie  3eitungen.  3^^  jebem  ^a\)Xt  gelten  3:au[enbe 
Don  93?en[d)en  sugrunbe  burd)  Sd)iffbrürf)e,  3:au[enbe  burd)  (£i|en= 
bal)nunglüde,  3:au[enbe  bur^  SergtDer!s!ataftropt)en  ufro.  33iele 
Xaufenbe  töten  fid^  alle  ^ai)xt  gegenfeitig  im  Äriege,  unb  bie  3u= 
rüjtung  für  biefen  9P^o[[enmorb  nimmt  hti  t)tn  l)öd)ftenttoidelten, 
bie  d)ri|tlid^e  Siebe  befennenben  Äulturnationen  t)tn  toeitaus 
größten  3:eil  bes  ^lationaloermögens  in  ^n[pru(^.  Unb  unter 
jenen  §unberttau[enben,  bie  alljäl)rlid^  als  Opfer  ber  mobernen 
3ioili[ation  fallen,  befinben  fid)  übertoiegenb  tüd)tige,  tatkräftige, 
arbeit[ame  SlJlenfd^en.  Dabei  rebet  man  nod)  oon  fittlic^er  2Belt= 
orbnung  !  (£s  [oll  burd)au5  nid)t  bejtritten  toerben,  "öal^  ber  l)eute 
noc^  I)err[d)enbe  unb  in  ben  Spulen  gelel)rte  (Slaube  an  eine  „[itt= 
Iid)e  ißeltorbnung"  —  ebenfo  toie  an  eine  „liebeoolle  23or[el)ung" 
—  einen  l)ol)en  ^^^ölto^it  befi^t.  (£r  tröftet  bie  £eibenben,  ftärft 
hit  S(^tDad)en,  erl)ebt  im  Unglüd;  er  befriebigt  unfer  gtoeifelnbes 
(öemüt  unb  oerfe^t  uns  in  eine  3bealtx>elt  bes  „3en[eits",  in  voelc^er 
bie  9Jiängel  bes  irbi)d)en  Dafeins  im  „!Dies[eit5"  übertounben  [inb. 
So  lange  ber  9Jlen[d)  ünblid)  unb  unerfal)ren  genug  bleibt,  mag  er 
[ic^  mit  biefen  ©ebilben  ber  X»id)tung  begnügen.  Mein  bas  fort= 
gej^rittene  i^ulturleben  ber  (Segentoart  reifet  i^n  geroaltfam  aus 
jener  fc^önen  ^^ealtoelt  l)eraus  unb  ftellt  il)n  oor  5luf gaben,  3U 
beren  £ö[ung  il)n  nur  bie  oernünftige  (Srfenntnis  ber  9Bir!lid)= 
feit  befäl)igt.    Ün3tDeifelI)aft  toirb  bie  frü^seitige  ^npaffung  an 


(£mt)eit  ber  5natur.  167 


btc[c  ÜlcaltDcIt,  jtDecftnä^tg  in  ben  Unterri<f)t  cmgefüf)rt  unb 
auf  bic  moberne  (£ntu)t(ielung5let)re  geftü^t,  htn  t)öf)er  gebil= 
beten  9Jlen[^en  ber  3ii^iTtf^  i^^(f)t  allein  vernünftiger  unb  r)or= 
urteilöfreier,  [onbern  aud)  beffer  unb  glüc!Iicf)er  mad)en. 

3t^J»  3w>^t^  wnb  3wfon.  2Benn  uns  unbefangene  Prüfung  ber 
SBeltentroicfelung  Iet)rt,  ha^  'i)ahd  roeber  ein  beftimmtes  3tel  nod^ 
ein  befonberer  3^^^  (i^  Sinne  ber  nien[(^Ii(f)en  93emunft!) 
nac^3Utoei[en  ijt,  [o  [cf)eint  nichts  übrig  ju  bleiben,  als  alles  bem 
„blinben  3ufan"  3U  überlaffen.  I)ie[er  33oru)urf  ijt  in  ber  3:at 
ebenfo  bem  Xransformismus  von  2amaxd  unb  Darcoin, 
lüie  früt)er  ber  i^osmogenie  von  Rani  unb  JÖapIace  ent- 
gegengehalten roorben;  tjiele  bualijti[d)e  ^^iIo[opl)en  legen  gerabe 
{)ierauf  be[onberes  ©eroid)!  (Ss  t)erIo!)nt  [i(f)  bat)er  tool)!  ber 
ä)lül)e,  I)ier  norf)  einen  flüchtigen  Slid  barauf  ^u  tüerfen. 

t)ie  eine  ©ruppe  ber  ^f)ilo[opl)en  bel)auptet  nad^  il)rer  teleo* 
logif^en  3luffaf[ung:  bie  gange  2Belt  ift  ein  georbneter  i^osmos, 
in  bem  alle  (£r[(^einungett  3tel  unb  3tüed  l)aben;  es  gibt  feinen 
3ufall !  Die  anbere  ©ruppe  bagegen  meint  gemäfe  il)rer  med^a» 
ni[tifd)en  ^uffa[[ung:  Die  Cnttoidelung  ber  gangen  pelt  ift  ein 
einl)eitlid)  med)ani[(i)er  ^rogefe,  in  bem  toir  nirgenbs  3i^I  iinb  3^^d 
entbecfen  fönnen;  roas  tüir  im  organi[(j^en  fieben  [o  nennen,  ijt 
eine  befonbere  ^olge  ber  biologi[ci)en  33erl)ältni[[e;  roeber  in  ber 
(Sntraicfelung  ber  SBeltförper,  nocf)  in  berjenigen  unferer  organi[cf)en 
(Erbrinbe  ijt  ein  leitenber  3^^^  na^3uroei[en;  l)ier  ijt  alles 
3uf  all !  Seibe  Parteien  l)aben  red^t,  je  nad)  ber  Definition  bes 
„3ufall5".  Das  allgemeine  5lau[algeje^,  in  93erbinbung  mit 
bem  Subjtanggeje^,  übergeugt  uns,  ha)^  jebe  (£rjd)einung  il)re 
me^ani[(^e  Urjac^e  ^at;  in  biejem  Sinne  gibt  es  feinen  3ufalt. 
2Bo^l  aber  fönnen  unb  müjfen  coir  biejen  unentbef)rlid)en  Segriff 
beibel)alten,  um  bamit  bas  3u[ttmmentreffen  von  gtoei  (£r- 
[d) einungen  gu  bejeic^nen,  bie  ni(f)t  unter  jic^  !au[al  oerfnüpft  finb, 
von  hzntn  aber  natürli(^  jebe  il)re  ltr[ad)e  l)at,  unabl)ängig  Don  ber 
anberen.  2Bie  jebermann  toeife,  [pielt  ber  3iifall  in  biejem  monijti= 
[(l)en  Sinne  bie  größte  9?olle  im  £eben  bes  9Jien[c^en  tuie  in  bem* 
jenigen  aller  anberen  9^atur!örper.  Die  u)id)tigjten  (£ntf (Reibungen 
im  bunten  2Becl)[el  unferer  perjönlic^en  Scl)i(J[ale  toerben  oft  burc^ 
gufällige  Begegnung  mit  anberen  ^erjonen  bejtimmt.  Das  ^inbert 
aber  nid)t,  bafe  toir  in  jebem  eingelnen  „Svi^cilV  roie  in  ber 
(Sntroidelung  bes  SBeltgangen  bie  unioerjale  öerr[d)aft  bes  um= 
fajfenbjten  9laturge[e^es   onerfennen,    bes   Subftanggefe^es. 


168  günf3c{)nte5  Äapilel. 


©Oft  mt>  <müt 

9}^oniftifc^c  6tubtcn  über  ^^ei^mu^  unt)  ^antf)ei^mu^.  0cr 

ant^ro^iftif(^e  9}Zonoti)et^mu^  ber  brei  großen  9D^cbiterran-- 

QReligioncn.     ^ytramunbancr  unb  intramunbaner  @ott. 

^I5  legten  unb  I)ö elften  Urgrunb  aller  (£r[d) einungen  betrad)tet 
bie  9Jlen[^t)eit  [eit  3a^rtau[enben  eine  beroirfenbe  llr[a(i)e  unter 
bem  ^Begriffe  ©ott  (Deus,  Theos).  3Bie  alle  anberen  allgemeinen 
^Begriffe,  fo  ijt  aud)  bie[er  I)öd)fte  ©runbbegriff  im  Saufe  ber 
33ernunftentiDi(JeIung  ben  bebeutenbjten  Umbilbungen  unb  ben 
mannigfaltigsten  5lbartungen  unterworfen  geroefen.  ^a  man  !ann 
[agen,  ba^  !ein  anberer  Segriff  [o  fef)r  umgestaltet  unb  abgecinbert 
roorben  ift;  benn  fein  anberer  berü{)rt  in  gleid)  t)ot)em  SJiafee  [oool)l 
bie  f)ö(i)jten  Aufgaben  bes  er!ennenben  SSerjtanbes  unb  ber  Der= 
nünftigen  2Bi[fen[(l^aft  als  auc^  3uglei^  bie  tiefften  Sntereffen 
bes  gläubigen  ©emütes  unb  ber  bid)tenben  ^f)antafie. 

(Sine  t)ergleid)enbe  5^riti!  ber  3al)Irei(i)en  Derfd)iebenen  ^aupt* 
formen  ber  ©ottesoorjtellung  ijt  sroar  f)öcf)jt  intereffant  unb  Iel)rreid), 
toürbe  uns  I)ier  aber  oiel  gu  roeit  füt)ren;  toir  muffen  uns  bamit 
begnügen,  nur  auf  bie  roid)tigften  ©ejtaltungen  ber  (öottesibee 
unb  auf  i^re  Se3iet)ung  3U  unferer  f)eutigen,  burd)  bie  reine 
9flaturer!enntnis  bebingten  2BeItanf(i)auung  einen  flüd^tigen  Slicf 
5U  werfen. 

2Benn  toir  oon  allen  feineren  Abtönungen  unb  bunten  ©e* 
roanbungen  bes  ©ottesbilbes  abfel)en,  fönnen  coir  füglic^  —  mit 
33e[(f)ränfung  auf  bm  tief jten  3nl)alt  besfelben  —  alle  oerfrfiiebenen 
23orfteUungen  barüber  in  3U)ei  entgegengefe^te  §auptgruppen 
orbnen,  in  bie  tt)eifti[(^e  unb  bie  pantl)eiftifd)e  ®ruppe. 
Die  le^tere  ijt  eng  oerfnüpft  mit  ber  monifti[d)en  ober  rationellen, 
bie  erjtere  mit  ber  buali[ti[d)en  ober  mi)jtifd^en  2BeItan[(^auung. 

I.  I^eistnus:  ©Ott  unb  2BeIt  \inh  atoci  oerfc^tebene  SBefen. 
©Ott  ftel)t  ber  2SeIt  gegenüber  als  beren  Schöpfer,  (£rl)alter  unb 
9tegierer.  t)abei  toirb  ©ott  jtets  mel)r  ober  roeniger  men[d)en= 
ät)nlid^  geba(i)t,  als  ein  Organismus,  tDeId)er  bem  ^UZenfc^en 
ä^nlid)  (wenn  aud^  in  I)öd)ft  oollfommener  3rorm)  benft  unb 
^anbelt.  Diefer  antt)ropomorpI)e  ©ott,  ben  bie  i)er[d)iebenen 
Slaturoölfer  offenbar  unabt)ängig  ooneinanbet  mehrmals  erbad)t 


©Ott  unb  2BeIt.  169 


i 


^abcn,  unterliegt  in  il)rer  ^f)anta[ie  bereits  ben  mannigfaltigjten 
Abstufungen,  Dom  i5^ettfd)i5mu5  aufroärts  bis  3U  htn  geläuterten 
monotI)eijtif(f)en  9?eItgionen  ber  ©egenroart.  ^Is  tDicf)tigjte  Unter* 
arten  ber  t^eijti[(i)en  Segriffsbilbung  untcr[d)eiben  toir  ^olr)= 
tt)etsmu5,   2;ripIotf)ei5mus,  5lmpf)itl)ei5mu5  unb  9Jtonot^ei6mu5. 

^Pol^t^etsmus  (S3ielgötterei).  Die  2BeIt  ijt  oon  oielen  »er» 
[d)iebenen  ©öttem  beoölfert,  roelc^e  mefir  ober  toeniger  [elbftänbig 
in  beren  ©etriebe  eingreifen.  Der  geti[d)ismus  finbet  ber= 
gleichen  untergeorbnete  ©ötter  in  ben  t)er[(i)tebenjten  leblof en  9^atur= 
förpern,  in  htn  Steinen,  im  2Ba[[er,  in  ber  £uft,  in  menfcl^Iict)en 
Kunjtprobuften  einfa(i)fter  ^rt.  Der  Dämonismus  erblidt 
©Otter  in  lebenbigen  Organismen,  in  Säumen,  3:ieren  unb 
9Jien[(i)en.  Diefc  S3ielgötterei  nimmt  fd)on  in  ben  nieberften 
9?eIigion5formen  ber  roI)en  5Raturt)öIfer  [el)r  mannigfaltige  formen 
an.  Sie  erf^eint  auf  ber  t)öd)ften  Stufe  geläutert  im  f)eneni[(^en 
^oIt)tt)eismus,  in  jenen  I)errlid)en  ©ötterfagen  bes  alten 
(5ried)enlanbs,  toeIct)e  noc^  fieute  un[erer  mobernen  5^unjt  bie 
[c^önjten  93orbiIber  für  ^oefie  unb  Silbnerei  liefern,  ^uf  oiel 
tieferer  Stufe  ftef)t  ber  !att)oIif(i)e  ^oIr)tt)eismus,  in  bem 
5a]^Ireid)e  „^eilige"  als  untergeorbnete  ©ottI)eiten  angebetet  unb 
um  gütige  93ermittelung  beim  oberjten  ©ottiöber  bei  ber  „3ung= 
frau  SOZaria"  er[ud)t  toerben. 

Xriplot^etsmus  (Dreigötter ei,  3:rinität6let)re).  Die  ßet)re  von 
ber  „Dreieinig!eit  ©ottes",  u)eld)e  l)eute  nod)  im  ©laubens* 
befenntnis  ber  ^rijtlid)en  Äulturoöüer  bie  grunblegenben  „brei 
©laubensartüel"  bilbet,  gipfelt  befanntlid)  in  ber  Söorftellung,  ha^ 
ber  (Sine  ©ott  bes  (£l)rijtentums  eigentlirf)  in  2Ba^rl)eit  aus 
brei  ^erfonen  von  oerfd^iebenem  2Befen  fid)  sufammenfe^t: 
I.  ©Ott  ber  SSater  ijt  ber  „anmäd)tige  S^öpfer  Fimmels  unb  ber 
(£rbe"  (biefer  un!)altbare  9Jlt)tl)us  ift  burd)  bie  n)i[[enfd)aftlid)e 
5losmogenie,  ^jtronomie  unb  ©eologie  längjt  toiberlegt).  II.  3c[iis 
(£f)riftus  ijt  ber  „eingeborene  Soljn  ©ottes  bes  S3aters"  (unb 
3ugleicf)  ber  britten  ^erfon,  bes  „^eiligen  ©eijtesü),  erseugt 
burc^  unbefledEte  (Empfängnis  ber  Jungfrau  SJlaria.  III.  Der 
^eilige  ©eift,  ein  mr)fti[ct)es  2Be[en,  über  'i>^^^n  unbegreiflict)es 
33erl)ältnis  gum  „So!)ne"  unb  jum  33ater  fid)  oiele  cE)rtjtIicf)e 
X^eologen  feit  1900  3<i^i^^"  ^^Ti  Äopf  gans  umfonft  3erbro(f)en 
l)abtn.  Die  (Soangelien,  bie  bod)  bie  einsigen  lauteren  Ciuellen 
biefes  d)ri[tlic^en  Üriplot^eismus  [inb,  Iaf|en  uns  über  bie 
eigentlichen  Se5iet)ungen  biefer  brei  ^erfonen  5U  einanber  oöllig 
im  Dunfeln  unb  geben  auf  bie  grage  nact)  \\)xtx  rätfef^aften  (£int)eit 
feine  irgenbtoie  befriebigenbe  ^nttoort.  Dagegen  mü[fen  toir  befon« 
bers  barauf  ^inroeifen,  tDeld)e  33ertoirrung  biefe  untlare  unb  mpftifc^e 


170  5ünf5ef)nte5  5^apitet, 

3:rtnxtätslct)rc  in  htn  köpfen  unfercr  5lmber  f^on  beim  erjten 
Sd)uluntcrrid)t  nottüenbig  anrid)teTt  mufe.  StRontag  morgens 
in  ber  erjten  Hnterri(i)t5Jtunbe  (5leIigion)  lernen  [ie:  Dreimal  eins 
ift  eins!  —  unb  gleid^  barauf  in  ber  sroeiten  Stunbe  (5?ed)nen): 
Dreimal  eins  ijt  brei !  3^  erinnere  mid)  [elbjt  fet)r  xdoI^I  nocf)  ber 
Sebenfen,  tüeld)e  bie[er  auffällige  äBiberfprud^  in  mir  [elbjt  beim 
erften  Unterri(i)t  erregte.  —  Übrigens  ijt  bie  ,,Dreieinig!eit" 
im  G^f)riftentum  feinesroegs  orginell,  [onbem  gleich  "um  meijten 
anberen  ßef)ren  besjelben  aus  älteren  9?eligionen  übernommen. 
5lus  Dem  Sonnenbienjte  ber  df)albäi[rf)en  SJlagier  entroicfelt  ficE) 
bie  3:rinität  ber  ^lu,  ber  gef)eimnisDollen  Urquelle  ber  2ßelt;  \\)xt 
brei  Offenbarungen  roaren  ^nu,  bas  urfprünglicf)e  6;i)aos,  $Bel, 
ber  Oröner  ber  SBelt,  unb  ^o,  bas  t)immlifcf)e  £i^t,  bie  alles 
erteu(i)tenbe  2Bei6l)eit.  —  ^n  ber  ^ral)manenreligion  toirb  bie 
3^rimurti  als  „©ottesein^eit"  ebenfalls  aus  brei  ^erfonen 
jufammengefe^t,  aus  Bxa^ma  (bem  S^öpfer),  2Bi[c^nu  (bem 
(£rt)alter)  unb  Sd^itoa  (bem  3^iltörer). 

9(tnp^it^et$inu$  (3töeigötterei).  Die  2Belt  roirb  oon  jtDei  oer* 
|d)iebenen  (Söttern  regiert,  einem  guten  unb  einem  böfen  2Befen, 
©Ott  unb  3^eufel.  IBeibe  SBeltregenten  befinben  firf)  in  einem 
be|tänbigen  i^ampfe,  toie  5^aifer  unb  ©egenfaifer,  ^apjt  unb  ©egen= 
papft.  Das  (Ergebnis  biefes  Kampfes  ijt  jeberseit  ber  gegenioärtige 
3ujtanb.ber  2Belt.  Der  liebe  ©ott,  als  bas  gute  2Be[en,  ijt  ber 
Urquell  bes  ©uten  unb  Scl)önen,  ber  £ujt  unb  ^t^ube.  Die  SBelt 
toürbe  üolHommen  fein,  loenn  [ein  2Bir!en  ni(i)t  bejtänbig  burd^= 
!reu3t  toürbe  üon  bem  hö^zn  Sßejen,  bem  Xeuf  el;  biefer  jd)limme 
Satanas  ijt  bie  llr[acl)e  alles  5Böfen  unb  ^äfelic^en,  ber  Unlujt  unb 
bes  Sd)mer3es. 

Diefer  ^mpl)itl)eismus  ijt  unter  allen  t)erfcf)iebenen  ^rormen 
bes  ©ötterglaubens  infofern  ber  oernünftigjte,  als  jid)  feine  X{)toxh 
am  erjten  mit  einer  iDif[enf(^aftli(i)en  2Belter!lärung  oerträgt. 
äBir  finben  it)n  bal)er  fc^on  mel)rere  3a^i^tau[enbe  cor  (£I)rijtus 
bei  oerf(i)iebenen  5^ulturt)öl!ern  bes  9Iltertums  ausgebilbet.  ^m 
alten  ^^^i^i^  !ämpft  2Bi[(f)nu,  ber  (£rl)alter,  mit  ©d^iroa,  bem 
3erjtörer.  ^m  alten  %ppten  jtel)t  bem  guten  Cfiris  ber  böfe 
Zr)plfon  gegenüber,  ^n  ber  3ßTxbreligion  ber  alten  ^erfer,  son 
3oroajter  2000  3al)re  oor  (£l)rijtus  gegrünbet,  l)crrfd)t  bejtänbiger 
5lampf  3toifcl)en  Ormubj,  bem  guten  ©ott  bes  £id)tes,  unb 
^'^riman,  bem  böfen  ©ott  ber  ginjternis. 

Sleine  geringere  9lolle  fpielt  ber  3:eufel  als  ©egner  bes  guten 
©ottes  in  ber  9?lr)tl)ologie  bes  (£l)rijtentums  als  ber  23erfud)er  unb 
93erfül)rer,  ber  gürjt  ber  $ölle  unb  §err  ber  griujtemis.  ^Is  perfön* 
li(l)er  Satanas  löar  er  aud)  nod)  im  anfange  bes  19.  3al)rf)unberts 


©Ott  unb  9Bett.  171 

ein  toefentUc^es  (Element  im  (Stauben  her  meiften  (S^riften;  erft 
gegen  bie  93?itte  besfelben  rourbe  er  mit  3unel)menber  ^ufflärung 
allmät)licf)  abgefegt,  ober  er  mufete  [ic^  mit  jener  9^oIle  b,egnügen, 
tüel(f)e  il)m  (5oetI)e  in  ber  größten  aller  bramati[(^en  X)i(f)tungen, 
im  „Sauft",  als  9Jlepf)iftopf)eIes  juteilt.  ©egenroärtig  gilt  in 
ben  befferen  gebilbeten  i^reifen  ber  „(Slaube  an  hzn  per[önlid)en 
Xeuf el"  als  ein  überrounbener  Aberglaube  bes  ^ölittelalters,  tx)ä!)renb 
gleid)3eitig  ber  „(ölaube  an  ©ott"  (b.  I).  htn  perfönlid)en,  guten 
unb  lieben  ©ott)  als  ein  unentbel)rlicf)er  Sejtanbteil  ber  9?eligion 
fejtgel)alten  toirb.  Unb  bocf)  ijt  ber  erjtere  ©laube  ebenfo  ooll  be* 
re(f)tigt  (Dtelmel)r  eben[o  I)altlos!)  roie  ber  le^tere!  ^ebenfalls  erflärt 
fict)  bie  üielbellagte  „lInt)oll!ommenl)eit  bes  (£rbenlebens"  oiel 
einfad)er  unb  natürli(f)er  burd)  bie[en  5lampf  bes  guten  unb  böfen 
©ottes  als  burd^  irgenb  toeld)e  anbere  ^orm  bes  ©ottesglaubens. 
aRonot^etsmus  ((Singötterei).  Die  £el)re  oon  ber  (£inl)eit 
©ottes  !ann  in  üieler  ^e3iel)ung  als  bie  einfad)jte  unb  natürli(^fte 
Ororm  ber  ©ottest)erel)rung  gelten.  9lad)  ber  allgemeinen  SJleinung 
ijt  [ie  bie  toeiteft  oerbreitete  ©runblage  ber  9^eligion  unb  bel)err[(^t 
namentlid^  htn  5lir(i)englauben  ber  i^ulturoölfer.  Xatfäd^lid)  ift 
bies  |ebo4  nid)t  ber  gall;  ttnn  ber  angebli(i)e  ä)ionotl)eismu5 
ertoeijt  [idf)  bei  näl)erer  ^etrad)tung  meistens  als  eine  ber  voxi)u 
angefül)rten  S^ormen  bes  Zi)tx5mu5,  inbem  neben  bem  oberjten 
„$auptgotte"  uoä)  einer  ober  mel)rere  S^lebengötter  angebetet 
roerben.  Aud^  [inb  ^ie  meijten  9?eligionen,  toeld^e  einen  rein 
monott)eifti[(l)en  Ausgangspunft  l)aben,  im  £aufe  ber  3^^t  mel)r 
ober  minber  polr)tl)eijti[d)  geioorben.  Allerbings  bel)auptet  bie 
moberne  Statijtü,  bafe  unter  titn  1500  StRillionen  9Jlen[(f)en,  töel(f)e 
un[ere  (rrbe  beoölfern,  bie  grofee  'Md)x^a\)l  9Jlonotl)eiften  [eien; 
angeblid)  [ollen  baoon  ungefäl)r  600  SRillionen  Sral)ma= 
^ubbl)ijten  [ein,  öOO  XRillionen  ([ogenannte!)  (£J)rijten,  200  millu 
onen  Reiben  (t)er[c^ieben[ter  Sorte),  180  9Jlillionen  Pol)amme= 
baner,  10  9Jlillionen  Israeliten  unb  10  Spflillionen  ganj  religionslos. 
Allein  bie  grofee  9Jiel)r3al)l  ber  angebli^en  SJlonotl^eijten  \)ai  ganj 
untlare  ©ottesDorftellungen  ober  glaubt  mhtn  bem  einen  §aupt= 
gott  aud)  nod)  an  oiele  9lebengötter,  als  ha  [inb:  (Engel,  Xeufel, 
Dämonen  u[id.  Die  t)er[cl)iebenen  O^ormen,  in  benen  [id^  ber 
5Ronotl)ei5mus  polr)pl)i)letiF£^  enttoidelt  t)at,  !önnen  roir  in 
3töei  §auptgruppen  bringen:  naturali[ti[ct)e  unb  antl)ropi|ti[cl)e 
(Eingötterei. 

3latutaltfttf(^er  Sllonot^eismus.  Die[e  alte  (^ornt  ber 
9?cligion  erblidft  bie  93er!örperung  ©ottes  in  einer  erl)abenen, 
alles  be^err[cl)enben  5Uaturer[c^einung. ,  Als  [old)e  imponierte 
fc^on  cor  melen  3ö^rtau[cnben  ben  9Jien[(f)en  cor    allem    bie 


172  5ünf3et)nte5  Kapitel. 

Sonne,  btc  Ieud)tenbc  unb  enoärmenbc  ®ottI)ett,  »on  beren  (£in= 
flufe  \iä)il\(i)  alles  organi[d)e  2tUn  unmittelbar  abl)cingtg  ijt. 
Der  Sonnenlultus  ober  Solarismus  fann  für  htn  mobernen 
9flaturfor|d)er  toof)!  unter  allen  t^eijti[d)en  ©laubensformen  als 
bie  roürbigjte  er[cf)einen.  X)enn  unfere  moberne  ^jtropf)r)[i!  unb 
©eogenie  ^at  uns  überjeugt,  bafe  bie  (Erbe  ein  abgelöfter  a:eU  ber 
Sonne  ijt  unb  fpäter  toieber  in  it)ren  Scfiofe  3urücffel)ren  roirb. 
Die  moberne  ^i)i)[ioIogie  le!)rt  uns,  ha^  ber  erjte  Urquell  bes 
organi[d)en  £ebens  auf  ber  ©rbe  bie  ^lasmabilbung  ijt  unb  baJ3 
bieje  St)ntl)eje  oon  einfachen  anorganijc^cn  33erbinbungen,  oon 
SBajjer,  Äo^lenjäure  unb  ^mmonia!  nur  unter  bem  (£influ[[e  bes 
Sonnen tid^tes  erfolgt.  5tuf  bie  primäre  (gntrottfelung  ber 
^f  langen  ijt  erjt nad)träglid^,  [efunbär,  biejenige  ber  3:ierc  gefolgt, 
bie  \i(S)  bire!t  ober  inbire!t  oon  if)nen  nät)ren;  unb  bie  (£ntjtel)ung 
bes  9}lenfd^enge[cl)le(^te5  [elbjt  ijt  toieberum  nur  ein  jpäterer  23or= 
gang  in  ber  Stammesgej^ic^te  bes  3:ierreid)s.  ^ud)  unjer  ge* 
[amtes  !örperlid)es  unb  geijtiges  9Jlenjcf)enleben  ijt  cbenjo  toie  alles 
anbere  organijc^e  Q^htn  im  legten  ©runbe  auf  bie  jtral)lenbe,  £id)t 
unb  SBärme  [penbenbe  Sonne  3urüd3ufül)ren.  Unbefangen 
unb  oernünftig  betrad^tet,  er[cl)eint  bal)er  ber  Sonnenfultus 
als  naturali[tijcf)er  9Jlonotl)ei5mus  beffer  begrünbet  als  ber 
antl)ropijtijd^e  ©ottesbienjt  ber  (S;i)rijten  unb  anberer  Äulturoölfer, 
toelc^c  ®ott  in  SRen jd) enge jtalt  jid)  oorjtellen.  3:at[ä(l)lid^  l)aben 
aud)  fd)on  oor  5at)rtaufenben  bie  Sonnenanbeter  jid)  auf  eine 
^öl)ere  intellektuelle  unb  moralifc^e  ©ilbungsjtufe  erl^oben  als  bie 
meijten  anberen  3:i)eijten.  ^Is  id)  im  lUooember  1881  in  33ombat) 
war,  betrad)tete  id)  mit  ber  größten  ^eilna^me  bie  erl)ebenben 
^nbac^tsübungen  ber  frommen  ^arfi,  toeli^e  beim  Aufgang  unb 
Untergang  ber  Sonne,  am  SJ^eeresjtranbe  jtel)enb  ober  auf  aus« 
gebreitetem  XtJppi^  fnienb,  bem  fommenben  unb  jd)eibenben 
2:agesgejtirn  il)re  33erel)rung  begeugten  (^nbijd^e  IReijebriefe, 
IV.  ^ufl.,  S.  56). 

3rnt^ri)ptfttf(^eir  aWonot^eismus.  Die  23ermen[d)lic^ung 
(Sottes,  bie  93orjtellung,  ha^  bas  „l)öd)jte  2Be[en"  bem  äRenjd^en 
gleid^  empfinbet,  ben!t  unb  l)anbelt  (toenn  and)  in  erl)abcnjter 
5orm),  [pieltals  antl)ropomorpl)er9Jlonotl)eismus  bie  größte 
9{olle  in  ber  5^ulturgej(^i(^te.  23or  allen  anberen  treten  l)ier  in 
htn  33orbergrunb  bie  bret  großen  9{eligionen  ber  mebiterranen 
SJlenjd^enart,  bie  ältere  mojaij^e,  bie  mittlere  d)rijtlid)e  unb  bie 
jüngere  mo^ammebanifc^e. '  Dicfc  brei  großen  SOlittelmeer^» 
91  e  l  i  g  i  0  n  e  n ,  alle  bret  an  ber  gejegneten  £) jt!ü jte  bes  intere [[ante jten 
aller  9}leerc  entjtanben,  alle  brei  in  äl)nlid^er  SBeife  oon  einem 
pl)anta[iereid)en  S^xoärmer  [emitifc^er  5Raj[e  gejtiftet,  l)ängeu 


©Ott  unb  SBcIt.  173 


nid)t  nur  öujgerltd)  burc^  btcfcn  gemeinsamen  Ursprung  innig 
3u[ammen,  [onbern  audt)  burd)  3al)Iretc^e  gemetn[ame  3üge  il)rcr 
inneren  ©laubensDorjtellungen.  2Bie  bas  (£f)rijtentum  einen  großen 
XetI  [einer  $0?r)tl)ologie  ous  bem  älteren  3wbentum  bireft  über* 
nommen  !)at,  |o  ^at  ber  jüngere  ^slam  toieberum  von  biefen  beiben 
^Religionen  oiele  (Srbfd^aften  beibet)alten.  ?llle  brei  SJlebiterran* 
5leIigionen  roaren  uriprünglid)  rein  monotf)ei[tifd);  olle  brei 
[inb  [päter!)in  htn  mannigfaltigften  poIr)tI)ei[tiidf)en  Hmbilbun= 
gen  unterlegen,  je  toeiter  [ie  [icf)  5unäd)ft  an  "ötn  oielteiligen  i^üften 
bes  mannigfad)  beoölferten  SJlittelmeers  unb  [obann  in  ben  übrigen 
(Erbteilen  ausbreiteten.    ~ 

!Der  SKofaismus.  Der  iübi[d)e  9Jlonott)ei5mu5,  raie  lf)n 
ällofes  (1600  Dor  (£t)r.)  begrünbete,  gilt  getDö{)nIid)  als  biejenige 
(Slaubensform  bes  Altertums,  toel(f)e  bie  t)ö(f)fte  ^ebeutung  für 
bie  roeitere  ett)if(^e  unb  religiö[e  CSntroidelung  ber  93Ienj'd)f)eit 
be[i^t.  Hn3iDeifeIf)aft  ijt  i^r  biefer  \)o\)z  l)iftori[d)e  SBert  f^on 
be5t)alb  3U3ugeftel)en,  toeil  bie  beiben  anberen  tDeItbef)crrfd)enben 
9Jiebiterran=9teIigionen  aus  iljr  l)erDorgegangen  [inb;  (£l)rijtus  jtel)t 
ebenfo  auf  h^n  Sd^ultern  von  SJZofes,  loie  [päter  9iRot)ammeb  auf 
ben  Sd)ultem  üon  beiben.  (Ebenfo  ru!)t  bas  9leue  3^ejtament, 
iDeld)es  in  ber  !ur3en  3^it[panne  üon  1900  5a!)ren  bas  (5lauben5= 
gunbament  ber  l)öd)jtenttDi(feIten5^ulturDöI!er  gebilbet  f)at,  auf 
ber  Sa[is  bes  ^Iten  ^^eftaments.  Seibe  ^ufammengenommen 
^aben  als  ©ibel  einen  (Einfluß  unb  eine  ^Verbreitung  getoonnen 
roie  fein  anbcres  Sud)  in  ber  Sßelt.  SBenn  toir  aber  bie[e  mer!* 
roürbige  (5efd)id)tsquene  unbefangen  unb  üorurteilslos  prüfen,  [o 
jtellen  |id)  üiele  toi^tige  ®e5iei)ungen  gan3  anbers  bar,  als  gelel)rt 
töirb.  ^ud)  l)ier  I)at  bie  tiefer  einbringenbc  moberne  Äriti!  unb 
Äulturgefd)ic^te  tDid)tige  ^uffd)Iü[|e  geliefert,  toeId)e*bie  geltenbe 
3:rabition  in  ii)ren  O^unbamenten  erfd)üttern. 

2)er  S[Ronott)eismu5,  toie  il)n  SJiofes  im  3^^ox»a!)bienfte  %u  ht- 
grünben  [ud)te,  unb  roie  il)n  [päter  mit  großem  (Erfolge  bie 
^ropl)eten  ausbilbeten,  l)atte  ur[prünglid)  l)arte  unb  lange 
kämpfe  mit  bem  t)err[d)enben  älteren  ^olT)tt)eismus  3U  beftet)en. 
Hrfprünglid)  roar  5el)0Dal)  ober  3apl)e^  aus  jenem  §immeIsgotte 
abgeleitet,  ber  als  5)loIod)  ober  5BaaI  eine  ber  meijtDereI)rten 
Drientali[d)en  (5ott{)eiten  roar.  Die  t)ieIbe[prod)enen  5or[d)ungen 
ber  mobernen  ?l[[r)rioIogen  über  „5BibeI  unb  ©abel"  (Deli^[d) 
u.  a.)  tiaben  gelel)rt,  ta^  ber  monotI)ei[ti[^e  ^ap\)t})Q\aubt  [d)on 
lange  cor  SOlojes  in  $Babi)Ion  l)eimi[d)  toar.  Daneben  aber  blieben 
anbere  (Sötter  oielfad)  in  l)ot)em  Uln[et)en,  unb  ber  Äampf  mit  ber 
„Abgötterei"  bejtanb  im  jübi[d)en  S3oI!e  immer  fort.  3:ro^bem 
blieb  im  ^rinsipe  ^zl)ovdi)  ber  alleinige  (Sott,  ber  im  erjten  ber 


174  i5ünf3el)ntcs  Äapitel. 

3el)n  ©cbotc  9Jlo[t5  ausbrücHid)  [agt:  „^d)  bin  ber  §err  bein  ©ott, 
bu  [ollft  md)t  anbete  ©ötter  I)aben  neben  mtf" 

2)a0  (S^riftentum.  Der  ^rtjtltd)e  901onott)et5mu5  teilte  bas 
Sd^icffal  [einer  SCRutter,  bes  SJ^ofaismus,  unb  blieb  roal^re  (£in= 
götterei  meijtens  nur  tl^eoretifc^  im  ^rinjip,  u)äl)renb  er  pra!ti[d^ 
in  bie  mannigfaltigjten  Srormen  bes  ^olt)t^eismu5  [id)  oerroanbelte. 
(£igentli(i)  toar  ja  \<i)on  in  ber  3:rinität6let)re  felbft,  bie  bod)  als  ein 
unentbet)rlt(f)e5  ^^unbament  ber  dE)rijtIid)en  9?eIigion  gilt,  ber 
SPlonottjeismus  logif^ercoeife  aufgegeben.  X>k  brei  ^erfonen, 
bie  als  SSater,  SoI)n  unb  ^eiliger  (Seijt  unter[^ieben  töerben,  [inb 
unb  bleiben  eben[o  brei  t»er[d)iebene  3^i>tDibuen  (unb  ^roax 
antt)ropomorpI)e  ^erfonen!)  roie  bie  brei  inbi[d)en  (5ottt)eiten 
ber  3:rimurti  (Sraf)ma,  2Bi[(f)nu,  6df)iiDa).  Daju  !ommt  nodf),  ha^ 
in  ben  töeiteftüerbreiteten  Abarten  bes  (£t)rijtiani5mus  als  oierte 
(5ottf)eit  bie  Jungfrau  9J?aria,  als  unbefledte  5[Rutter  (ü)x\]i\,  eine 
grofee  ^lolle  fpielt;  in  toeiten  !atI)oIi[d^en  5^rei[en  gilt  [ie  [ogar  als 
üiel  tx)id)tiger  unb  einflufereid)er  als  bie  brei  ntännlid)en  ^erfonen 
ber  ^immetsregierung.  Der  äRabonnen!uItus  ^at  i)ier  tat= 
[ä^Iirf)  eine  [oId)e  ©ebeutung  getoonnen,  bafe  man  it)n  als  einen 
tt>eiblid)en  50lonotl)eismu5  ber  getx)öt)nlid()en  männli^en  gorm 
ber  (Singötterei  gegenüberftellen  fann.  Die  „l)et)re  ^immels» 
fönigin"  erfd)eint  l)ier  [o  [e^r  im  93orbergrunb  aller  33orjtellungen 
(lüie  es  au^  un5äl)lige  9Jiabonnenbilber  unb  Sagen  beseugen), 
ha"^  bie  brei  männlid)en  ^er[onen  bagegen  ganj  jurüdtreten. 

9lun  l)at  \xä)  aber  au^erbem  [rf)on  frül)3eitig  in  ber  ^l)antafie 
ber  gläubigen  (£t)riften  eine  3al)lreic^e  ©e[ell[d)aft  uon  „§ eiligen" 
aller  ^rt  gu  biefer  oberften  ^immelsregierung  gefeilt,  unb  mu[ifa= 
li[(i)e  (Engel  [orgen  bafür,  tia^  es  im  „etoigen  fieben"  an  5^on3ert= 
genüffen  nid^t  fel)lt.  Die  römifd)en  ^äpjte  —  bie  größten 
(£l)arlatans,  bie  jemals  eine  ^Religion  l)ert)orgebra(i)t  l)at!  —  [inb 
bejtänbig  befliffen,  burd)  neue  §eilig[pred^ungen  bie  3(^)1  biefer 
antl)ropomorpl)en  §immelstrabanten  3U  i)ermel)ren.  Den  reid^jten 
unb  intereffantejten  3uwad)5  l)at  aber  biefe  [eltfame  ^arabies= 
ge[ell[(^aft  am  13.  ^uli  1870  baburd)  befommen,  ba^  bas  üati!anifd)e 
Kon3il  bie  ^äpfte  als  Stellt) ertreter  (£t)rifti  für  unfel)lbar  erflärt 
unb  fie  bamit  [elbjt  3um  5Range  von  © öttcrn  erl)oben  l)at.  klimmt 
man  ba3U  nod^  htn  üon  it)nen  anerfannten  „per[önlid)en  Xeufel" 
unb  bie  „böfen  (Engel",  töeld)e  feinen  §ofjtaat  bilben,  fo  gen)äl)rt 
uns  ber  ^apismus,  bie  l)eute  nod)  m ei jto erbreitete  3rorm  bes 
mobernen  (£l)rijtentums,  ein  [o  buntes  Silb  bes  rei^jten  antl)ro= 
pijtifd)en  ^oli)tl)eismus,  ^a^  ber  ]^elleni[d)e  Oltjmp  im  93er= 
gleid)e  ba3U  flein  unb  bürftig  er[d)eint. 

!Der3$lotn  (ober  ber  moI)ommebani[d)e  äRonot^eismus) 


©Ott  unb  SBelt.  175 


tjt  bic  iüngjte  t^orm  ber  (£mgötteret.  ^Is  ber  junge  SD^ol)amTneb 
(geb.  570)  frül)3exttg  hm  poIi)tI)etjtt[(i)en  ©ö^enbtenjt  [einer  arabt* 
[d)en  Stamntesgenoffen  oerad^ten  unb  bas  (Il)tijtentum  ber 
9lejtorianer  fenncn  lernte,  eignete  er  fid^  gtoar  il)re  (5runbIeJ)ren 
im  ollgemeinen  an;  er  !onnte  ]id)  ober  nic^t  ent[(i)Iiefeen,  in  (£()rijtus 
ettDos  onberes  3U  erbliden  oIs  timn  ^ropf)eten,  glei^  SJlofes. 
3m  Dogmo  ber  Dreieinig!eit  fonb  er  bos,  toos  bei  unbefangenem 
9lod^ben!en  jeber  Dorurteitsfreie  9Jlen[d^  borin  finben  mufe,  einen 
toiberfinnigen  ©loubensfo^,  ber  toeber  mit  htn  ©runbfä^en  unferer 
23ernunft  oereinbor  nod)  für  unfere  religiöfe  (£rl)ebung  üon  irgenb 
toel^em  2Berte  ijt.  Die  Anbetung  ber  unbefledten  Jungfrau 
SJlorio  aU  ber  „SiRutter  ©ottes"  betrod^tete  er  ebenfo  oIs  eitle 
©ö^enbienerei  roie  bie  33erel)rung  oon  Silbern  unb-  Silbfäulen. 
3e  länger  er  borüber  nod)bod)te,  unb  je  me^r  er  nod^  einer  reineren 
©ottesDorjtellung  l)injtrebte,  befto  florer  rourbe  it)m  bie  ©eEoifel)eit 
[eines  ^ouptfo^es:  „©ott  ift  ber  olleinige  ©ott";  es  gibt  feine 
onberen  ©ötter  neben  it)m. 

^Illerbings  !onnte  oud)  3)lol)ommeb  [id)  t)on  bem  ^ntl)ropo= 
morpl)ismus  ber  ©ottesüorftellung  nid)t  frei  macl)eti.  ^ud)  [ein 
alleiniger  ©ott  blieb  ein  ibeali[ierter,  ollmädfitiger  $lUen[d),  eben[o 
roie  ber  jtrenge,  [trofenbe  ©ott  bes  9[Ro[es,  eben[o  roie  ber  milbe, 
liebenbe  ©ott  bes  (£l)ri[tus.  ^ber  tro^bem  fonn  man  ber  mol)amme= 
bonif^en  ^Religion  hm  Sorjug  la[[en,  bofe  [ie  oud^  im  Verlaufe 
il)rer  l)i[tori[d)en  ©nttoidelung  unb  unoermeibli^en  ^bortung  ben 
ur[prünglid)en  reinen  6^l)aro!ter  jtrenger  betDal)rte  als  bie  mo[ai[(i)e 
unb  bie  d)ri[tlid)e  9^eligion.  Das  geigt  [id)  aud)  l)eute  nod^  äufeerlid) 
in  htn  ©ebetsformen  unb  ^rebigttöei[en  {l)res  ilultus,  loie  in  ber 
^rd^iteüur  unb  ^us[^müdung  it)rer  ©ot.tesl)äu[er.  ^Is  idf)  1873 
3um  erften  93Zale  htn  Orient  be[ud)te  unb  bie  ]^errlid)en  9[Ro[(^een 
in  i^airo  unb  Smprna,  in  Sru[[a  unb  ilonftantinopel  berounberte, 
erfüllten  mid)  mit  roa^rer  5Inbad)t  bie  einfad)e  unb  ge[d)madoolle 
De!oration  bes  Innern,  ber  erl)abene  unb  3uglei(^  präd)tige 
ar(^ite!toni[d)e  Sd)mud  bes  3lu^ern.  2Bie  ebel  unb  erl)aben 
er[d)einen  bie[e  9Jlo[d)een  im  S3ergleid)e  3U  ber  9Jlel)r3al)l  ber 
!atl)oli[d)en  Äird)en,  toel^e  innen  mit  bunten  Silbern  unb 
golbenem  glitterfram  überlaben,  aufeen  burd)  übermäßige  gülle 
oon  9}?en[d)en=  unb  3:ierfiguren  oerunjtaltet  [inb!  ^\ä)i  minber 
\d)ön  er[d)einen  bie  jtillen  ©ebete  unb  bie  einfa^en  ^nbad)ts= 
Übungen  bes  5^oran  im  33ergleid)e  mit  bem  lauten,  unoerftanbenen 
Sßortgeplapper  ber  !atl)oli[d)en  äRe[[en  unb  ber  lärmenben  Mu\\t 
il)rer  t^eatrali[d)en  ^ro3e[[ionen. 

aWixotl)ei5mu5  (SD^i[^götterei).  Unter  bie[em  Segriffe  !ann 
mon  füglid)  olle  biejenigcn  formen  bes  ©öttergloubens  3u[ommen' 


176  Öfünf3el)ntcs  5^apitcl. 

foffen,  tjoelc^c  SRif^ungen  oon  reltgiöfcn  SSorftellungen  üer= 
[c^iebcncr  unb  3um  3:cU  bircft  tDiber[prccf)enbcr  ^rt  cntl)alten. 
3:T)Corcttf(f)  tjt  bie[c  tocttcftuerbrcttctc  9teltötonsfonn  bisl^cr  nirgenbs 
onerfannt.  ^ra!tt[cf)  aber  ijt  [ie  bic  tot^tigfte  unb  mcrftüütbtgjtc 
Don  allen.  Denn  bie  grofee  9Ket)r3af)l  ber  9Jienfd)en,  bte  [i^  über* 
I)aupt  religiöfe  SSorjtellungen  bilbeten,  roarcn  von  \t\)tx  unb  [inb 
noä)  f)eute  9Jlixotf)ci[ten;  i^re  ©ottesüorjtellung  ijt  bunt  gemi[d)t 
aus  hzn  frii^settig  in  ber  5linbl)eit  eingeprägten  ©laubensfä^en 
if)rer  [pe^iellen  i^onfeffion  unb  aus  oieleri  Derfct)iebenen  (£in» 
brücfen,  toel^e  [päter  bei  ber  $Berüt)rung  mit  anbcren  ©laubens* 
formen  empfangen  toerbcn,  unb  u)eld)e  bie  erjtcren  mobifiäieren. 
Sei  Dielen  ©ebilbeten  fommen  ba3U  no(i)  ber  umgeftaltenbe  (Sinflufe 
pl)iIofopl)i[d)er  Stubien  im  reiferen  Filter  unb  »or  ollem  bie  un* 
befangene  ^e[(i)äftigung  mit  ben  (Srfd) einungen  ber  9latur,  toel^e 
bie  9lic^tig!eit  ber  tt)eifti[cf)en  ©laubensbilber  bartun.  Der  5^ampf 
biefer  rDiber[precf)enben  S3orftenungen,  tt)elcf)er  für  feiner  emp= 
finbenbe  ©emüter  äufeerft  fd)mer3licf)  ijt  unb  oft  bas  ganse  Qthtn 
i)inburc^  unent[(^ieben  bleibt,  offenbart  flar  bie  ungel)eure  9Jtact)t 
ber  S3ererbung  alter  ©laubensfä^e  einerfeits  unb  ber  frü^= 
seittgen  ^tnpa[[ung  an  irrtümlid)e  fiel)ren  anbererfeits.  Die 
befonbere  5^onfe[[ion,  in  toelc^e  bos  5^inb  oon  frül)ejter  3ugenb 
an  burd)  bie  (Eltern  eingestoängt  tourbe,  bleibt  meijtens  in  ber 
$aupt[ad)e  mafegebenb,  falls  ni^t  [päter  burd)  t)m  ftär!eren  (Einfluß 
eines  anberen  ®laubensbe!enntni[fcs  eine  ilonoerfion  eintritt, 
^ber  audE)  bei  biefem  Übertritt  oon  einer  ©laubensform  gur  anberen 
i|t  oft  ber  neue  ^lame,  ebenfo  ix)te  ber  alte  aufgegebene,  nur  eine 
äußere  (£ti!ette,  unter  toeld^er  bei  näl)erer  Unterfud)ung  bie  aller* 
oer[d)iebenjten  Überzeugungen  unb  Sertürner  [id)  bunt  gemi[d)t 
oerjteden.  Die  grofee  SJiel^raabl  ber  [ogenannten  (£;i)rijten  [inb  nic^t 
ä)lonotl)ei[ten  (roie  [ie  glauben),  [onbern  ^mp^itl)ei[ten,  Xriplo* 
tl)ei[ten  ober  ^oli)tl)ei[ten.  Dasselbe  gilt  aber  aud()  oon  ben  Se* 
!ennem  bes  ^slam  unb  bes  S[Ro[aismus,  toie  oon  anberen  mono* 
tl)ei[ti[(^en  ^Religionen.  Überall  ge[ellen  [ic^  5U  ber  ur[prünglid)en 
33or[tellung  bes  „alleinigen  ober  breieinigen  ©ottes"  [päter  er- 
worbene ©laubensbilber  oon  untergeorbneten  (5ottl)eiten:  (Engeln, 
Xeufeln,  §  eiligen  unb  anberen  Dämonen,  eine  bunte  93^i[d)ung 
ber  üer[c^ieben[ten  t^ei[ti[d^en  (Seftalten. 

SBefen  bes  S^etsmus.  5Ille  l)ier  angefüt)rten  ^^ormen  bes 
3:i)ei5mus  im  eigentli(^en  Sinne  l)aben  gemein[am  bie  33or[tellung 
(Sottes  als  bes  ^ufeertoeltlic^en  ober  llbernatürlid)en. 
Smmer  [tel)t  (Sott  als  [elb[tänbiges  2Be[en  ber  2Belt  ober  ber  9latur 
gegenüber,  meijtens  als  Sd)öpfer,  (£rl)alter  unb  9?egierer  ber  Sßelt. 
5n  ben  allermeijten  9teligionen  !ommt  baau  noc^  ber  (£l)ara!ter 


©Ott  unb  3BcIt.  177 


bcs^cr[önn(f)cn  unb  bejlintnxtcr  norf)  bic  SJorftcIIung,  bafe  ©ott 
als  ^crfon  bcm  9Jlcn[d)cn  äl)nlid)  tjt.  „5n  feinen  ©öttem  malet 
fid)  ber  95lcn[d)."  Diefer  ^ntI)ropomorpf)ismus  ©ottcs, 
bie  SBorjtellung  eines  2Be[ens,  t»elrf)es  glei^  bent  93Zenfcf)en  ben!t, 
empfinbet  unb  l)anbclt,  ijt  bei  ber  großen  ^t\)X^ai)\  ber  ©ottes« 
gläubigen  mafegebenb,  balb  in  ntel)r  rotier  unb  naioer,  balb  in  mel)r 
feiner  unb  abftrafter  gorm.  ^Ilerbings  toirbr  bie  fortgef^rittenjte 
gorm  ber  2:{|eo[opI)ie  bel)aupten,  ha)^  ©ott  als  t)öd)|tes  SBefen 
oon  abfoluter  23oII!ommenl)eit  unb  bat)er  gänjUct)  oon  bem  un* 
DoIIfonimenen  3Be[en  bes  9}len[(i)en  oerfd^ieben  fei.  allein  bei 
genauerer  Unter[ud)ung  bleibt  immer  bas  ©emeinfame  beiber 
i^re  Seelen»  ober  ©eijtestätigfeit. 

©et  |)erfönlt(^e  Slnt^roptsmus  ©ottes  ijt  bei  ber  großen 
9Jlet)r3af)I  ber  ©laubigen  3U  einer  [o  geläufigen  93orjtenung  ge* 
roorben,  t>a)s  [ie  feinen  ^nftofe  an  ber  mfenf(t)Ii^en  ^er[onifi» 
fation  ©ottes  in  ^Bilbern  unb  Statuen  net)men,  unb  an  ben 
mannigfaltigen  Dii^tungen  ber  ^I)anta[ie,  in  mtlä)tn  ©ott 
mcn[d)li(i)e  ©ejtalt  annimmt.  3^1  oielen  9Kr)tf)en  erfc^eint  hk 
^erfon  ©ottes  auä)  in  ©ejtalt  anberer  Säugetiere  (^ffen,  fiötoen, 
Stiere  ujto.),  [eltener  in  ©ejtalt  oon  93ögeln  (^bler,  stauben, 
S(^rDäne)  ober  in  gorm  oon  anberen  3Birbeltieren  (Scf)Iangen, 
Ärofobile,  Dra(f)en). 

3n  htn  f)öi)eren  unb  abjtrafteren  9?eIigion5formen  toirb  biejc 
f5rperUcf)e  (£r[(^einung  aufgegeben  unb  ©ott  nur  als  „reiner 
©eift"  ot)ne  i^örper  t)eret)rt.  „©ott  ijt  ein  ©eijt,  unb  toer  ii)n 
anbetet,  joll  il)n  im  ©eijt  unb  in  ber  9[Ba^rt)eit  anbeten."  3^ro^bem 
bleibt  aber  bie  Seelentätig!eit  biefes  reinen  ©eijtes  gang  biejelfee 
roie  biejenige  ber  antI)ropomorpt)en  ©ottesperjon.  5n  9[Bir!Iid)feit 
xoirb  aud)  biejer  immaterielle  ©eijt  nicf)t  unförperlid),  fonbern 
un[i(f)tbar  gebacf)t,  gasförmig. 

IL  «pant^etsmus  (^n=(£ins»fiet)re) :  ©ott  unb  2ßelt  [inb 
ein  cinjiges  2Be[en.  Der  ^Begriff  ©ottes  fällt  mit  bemjenigen 
ber  Statur  ober  ber  Subjtanj  jujammen.  Dieje  pantl)eijti[(f)e 
2BeItanjrf)auung  jtet)t  im  ^rinaip  fämtlid)en  angefüt)rten  unb  allen 
[onjt  nocf)  möglichen  gormen  bes  2;i)eismus  [d)roff  gegenüber, 
toenngleic^  man  burd)  ©ntgegentommen  oon  beiben  Seiten  bie 
tiefe  5^Iuft  3U)i[d)en  beiben  ju  übcrbrücfen,  jid)  oielfad)  bemül)t  I)at. 
Smmer  bleibt  5tt)i[cf)en  beiben  ber  funbamentale  ©egenja^  bejtet)en, 
bafe im  21) eismus  ©Ott  als  aufeerroeltlic^es  ober  eitramunbanes 
2Be[en  ber  9latur  [c^affenb  unb  erl)altenb  gegenüberjtel)t  unb  oon 
oufeen  auf  [ie  einroirtt,  u)äl)renb  im  ^antl)eismus  ©ott  als 
innertDeItIid)es  ober  intramunbanes  SBefen  anentt)alben  bic 
9latur   [elbjt  ijt  unb   als  bcnfenbc  Subjtana,   oIs   „Äraft   ober 

Äoedct,  5ßelträtfct.  12 


178  Sünf3cl)nte5  RapiM. 


(Energie"  tätig  ijt.  Diefe  leitete  ^n[id)t  allein  ijt  üereinbar  mit 
bcm  Sub[tan3ge[e^e.  X)at)er  ijt  nottDenbigertDei[e  bcr  ^an  = 
tl)ei5mu5  bie  2BeItan[d)auung  unferer  mobernen  9lotur* 
rDif[en[(i)aft. 

T)a  ber  ^antl)ei5mu5  erjt  aus  ber  geläuterten  9^aturbetrad)= 
tung  bes  benfenben  5^ulturmen[(i)en  l)erDorget)en  tonnte,  ijt  er 
begreif li^ertDeife  ütel  jünger  als  ber  3:^eismus,  bejfen  rol)ejte 
formen  ji(f)er  j(i)on  üor  mel)r  als  3el)ntau[enb  3öt)ren  bei  ben 
primitioen  9latun)öl!ern  in  mannigfaltigen  S3ariationen  ausgebilbet 
tt)urben.  2Benn  aucf)  in  ben  erjten  Anfängen  ber  ^I)iIojopf)ie  bei 
'ütn  ältejten  Rulturcölfern  (in  ^Ttbien  unb  ^gppten,  in  (£t)ina  unb 
5apan)  jd)on  met)rere  3öl)rtaujenbe  vor  (£t)rijtus  5^eime  bes 
^antt)eismus  in  üer[d)iebenen  9ieIigionsformen  eingejtreut  jid) 
finben,  [o  tritt  bod)  eine  bejtimmte  pl)ilojopt)ijd)e  Raffung  besjelben 
erjt  in  bem  ^rilogöismus  ber  ioni[(^en  9laturpl)iIojopf)en 
auf,  in  ber  erjten  Hälfte  bes  6.  5at)rl)unbert5  vox  (£t)r.  ^llle  großen 
Den!er  biejer  93Iüteperiobe  bes  l)enenif(l^en  (5eijtes  überragt  ber 
getoaltige  5lnaiimanber  »on  SJiilet,  ber  bie  pringipielle  (£int)eit 
bes  unenblid)en  2BeItgan3en  tief  unb  !Iar  erfaßte.  9lic^t  nur 
t>tn  großen  ©ebanten  ber  urjprüngli(i)en  (£inl)eit  bes  i^osmos, 
ber  (Sntroi (feiung  aller  Grjd) einungen  aus  ber  alles  burd)= 
bringenben  Urmaterie,  l)atte  ^naiimanber  bereits  aus-» 
gejprod)en,  [onbern  aud)  bie  !ül)ne  SSorjtellung  Don  3at)no[en,  in 
periobijd)em  2Bed)[eI  entjtetienben  unb  t)erget)enben  3BeIt= 
bilbungen. 

^ud)  üiele  von  ben  folgenben  grofeen  ipi)iIo[opI)en  bes  !Ia[[ijd)en 
^lltertums,  oor  allen  Demofritos,  ^eratlitos  unb  (£mpe  = 
bofles,  l)atten  in  gleid)em  ober  ä^nlid)em  Sinne  tief  einbringenb 
bereits  jene  (£inl)eit  oon  9^atur  unb  (Sott,  »on  i^örper  unb  (Seijt 
erfaßt,  U)eld)c  im  Subjtansgeje^e  unferes  heutigen  SJIonismus 
ben  bejtimmtejten  ^usbrud  getoonnen  l)at.  Der  grofee  römijd)e 
X)id)ter  unb  9ZaturpI)ilojopl)  ßucretius  (Earus  I)at  il)n  in  [einem 
berül)mten  fiel)rgebid)te  „De  rerum  natura"  in  l)od)poetijd^er 
5orm  bargejtellt.  3lllein  biejer  naturtt)al)re  pantl)eijtlj^e  ?Jtonis= 
mus  töurbe  balb  gan3  3urüdgebrängt  burd)  ben  mr)jti[d)en  Dualis= 
mus  von  ^lato  unb  bejonbers  burd)  htn  getoaltigen  (Einfluß, 
ben  [eine  ibealijtij^e  ^l)ilo[op!)ie  burd)  bie  23er[d)mel3ung  mit  ben 
(^rijtlid)en  ®laubenslel)ren  getoann.  5lls  [obann  beren  mäd)tigjter 
^niDalt,  ber  römijd)e  ^apjt,  bie  geijtige  2ßeltl)errjd)aft  getoann, 
xüurbe  ber  Pantheismus  geujaltjam  unterbrüdt;  (Siorbano 
©runo,  [ein  geijtoolljter  23ertreter,  tourbe  am  17.  gebruar  1600 
auf  bem  (Sampo  giori  in  9?om  öon  bem  „Stelloertreter  (Sottes" 
lebenbig  oerbrannt. 


©Ott  unb  SBcIt.  179 


(£rjt  in  ber  stociten  §älftc  bcs  17.  3öl)rT^unbcrts  tourbc  burrf) 
bcn  großen  ^arud)  (5pino3a  bas  Sr)ftem  bes  ^antl)etsTnus  in 
rcinjtcr  gomt  ausgebilbet;  er  jtellte  für  bie  ®e[amtl)eit  ber  Dinge 
t>tn  reinen  Subftanjbegriff  auf,  in  u)eld)em  ,,(5ott  unb  2BeIt" 
untrennbar  »ereinigt  [inb.  2Btr  muffen  bie  5llart)eit,  Sid)ert)eit 
unb  golgerict)tig!eit  bes  monijti[d)en  6i)jtems  von  Spinoza  l)eute 
urrt  [o  niet)r  beujunbern,  als  biefem  getoaltigen  t)en!er  oor 
250  3at)ren  nod)  alle  bie  fict)eren  empirifd^en  gunbamente  fel)lten, 
bie  tüir  erjt  in  ber  groeiten  ^älfte  bes  19.  3a^rl)unberts  getoonnen 
I)aben.  Das  23ert)ältni5  von  (5pino3a  3um  [päteren  aJiateria  = 
lisrrtus  im  18.  unb  3U  unferem  l)eutigen  Spflonismus  im  19.  3öl)r= 
l)unbcrt  I)aben  toir  bereits  im  erjten  Äapitel  be[proct)en.  3^^ 
weiteren  33erbreitung  bes[elben,  be[onbers  im  beutfd^en  ©eijtes^ 
leben,  I)aben  oor  allem  bie  unfterblirf)en  2Ber!e  un[eres  größten 
Dicf)ters  unb  Denfers  beigetragen,  SBoIfgang  (5oetf)e.  Seine 
l)errlid)en  Dicf)tungen  „(Sott  unb  2BeIt",  „^rometI)eus",  „gaujt" 
u[u).  pllen  bie  ®runbgeban!en  bes  ^antt)eismus  in  bie  volU 
tommenjte  unb  fd)önjte  bi(j^teri[d^e  i^oxm. 

Die  ©e3iel)ungen  un[eres  l)eutigen  SJlonismus  3u  htn  frü= 
I)eren  pf)ilo[opl)i[(i)en  Spftemen,  [otoie  bie  u)id)tigiten  ®runb= 
3üge  oon  beren  l)ijtori[dE)er  (Sntroicfelung,  [inb  in  bem  „(5runb= 
rife  ber  ®e[d)icf)te  ber  ^f)iIofopl)ie"  oon  O^riebrid^  Xlbertoeg 
eingel)enb  bargejtellt  (10.  Auflage,  bearbeitet  oon  9Jlai  ^ein3e, 
»erlin  1906).  (Sine  oortreffli^e  !Iare  Überfid)t  berfelben  — 
getöiffermajgen  eine  „Stammesgefd^ic^te  ber  2BeIträt[eI  unb 
ber  33erfud)e  3U  it)rer  £ö[ung"  —  i)at  Ofri^  Sd)ul^e  (Bresben) 
in  [einem  „Stammbaum  ber  ^I)iIo[opl)ie"  gegeben;  ein 
„3:abenari[d)  =  (5d)emati[d^er  ©runbrife  ber  (5e[d)icf)te  ber  ^t)ilo= 
[opt)ie  Don  ben  ©rieben  bis  3ur  ©egenwart"  (£eip3ig,  2.  ^uf= 
läge,  1899). 

tMt^etsmus  („Die  entgötterte  9BeItan[rf)auung").  (£s  gibt 
feinen  ©ott  unb  feine  ©ötter,  falls  man  unter  bie[em  Segriff 
per[önli(i)e,  aufeerl)alb  ber  ^Ratur  [tet)enbe  2Be[en  oerjtet)t.  Die[e 
„gottIo[e  2Belton[d)auung"  fällt  im  ii)e[entlirf)en  mit  bem 
93ionismu5  ober  ^an tl)eismus  un[erer  mobernen  SRatur= 
u)i[[en[(i)aft  3u[ammen;  [ie  gibt  nur  einen  anberen  ^usbruc!  bafür, 
inbem  [ie  eine  negatioe  Seite  bes[elben  l)erDorl)ebt,  bie  9Ii(^t= 
eii[ten3  einer  aufeertoeltlic^en  unb  übernatürli^en  ©ottt)eit.  5ri 
bie[em  Sinne  [agt  Sct)opent)auer  gan3  rid)tig:  „^antf)eismu5 
ijt  nur  ein  I)öflid)er  ^tl)eismus.  Die  2BaI)rf)eit  bes  ^antt)eismus 
be[tel)t  in  ber  ^uf^ebung  bes  buali[ti[d)en  ©egenfa^es  3tüi[^en 
©Ott  unb  3BeIt,  in  ber  (Erfenntnis,  "üa^i  bie  2Belt  aus  if)rer  inneren 
Rraft  unb  bur^  [i^  [elbjt  ba  ijt.     Der  Sa^  bes  ^antf)cismu5 : 

12* 


180  Se^5el)ntc5  5^apitcl. 


,©ott  unb  btc  SBelt  t|t  eins*  ijt  blofe  eine  I)öflid)e  SBenbung,  bem 
.^crrgott  ben  3lb|d)ieb  ju  geben." 

2Bä!)renb  bcs  gongen  SKittelalters,  unter  ber  blutigen  Zr)xanmi 
bes  ^apismus,  tourbe  ber  ^It^eismus  als  bie  ent[e^Itd)jte  gorm 
ber  2BeItan[(i)auung  mit  treuer  unb  <5d)roert  verfolgt.  Da  ber 
„©ottlofe"  im  (goangelium  mit  bem  „Sojen"  [d)Ied)troeg  ibentifisiert 
unb  it)m  im  etoigen  S,tbm  bie  ^öllenjtrafe  ber  etoigen  93erbammnis 
angebroI)t  «)irb,  ijt  es  begreiflidf),  t>a^  jeber  gute  (£f)rift  [elbjt  t>tn 
entfernten  93erbad^t  bes  5ltt)ei5mus  ängjtli(i)  mieb.  Leiber  be|tel)t 
aud)  f)eute  nod)  biefe  ^uffaffung  in  roeiten  5^rei[en  fort.  Dem 
att)ei[tifd)en  "jl^laturforfd^er,  ber  feine  5^raft  unb  [ein  Qtbtn  ber 
(£rforf(^ung  ber  aBai)rt)eit  roibmet,  traut  man  t)on  t)omi)erein 
alles  93ö[e  gu;  ber  tt)ei[ti[d)e  5^ird)gänger  bagegen,  ber  bie  leeren 
3eremonien  bes  papijtifd)en  5lultus  gebanfenlos  mitmad)t,  gilt 
\ä)on  besroegen  als  guter  Staatsbürger,  aud)  roenn  er  ]iä)  bei 
[einem  ©lau ben  gar  nid^ts  ben!t  unb  nebent)er  ber  oertoerflid^ften 
9KoraI  I)ulbigt.  Diefer  3i^tum  toirb  '[ict)  erjt  Üären,  loenn  im 
20.  5al)rl)unbert  ber  l)err|(i)enbe  Aberglaube  mel)r  ber  vernünftigen 
9^aturer!enntnis  tocid^t  unb  ber  monijti[(f)cn  Hberseugung  ber 
(£inl)eit  üon  (5ott  unb  SBelt. 


Riffen  utti)  ©tauften* 

9}Zoniftifc|)e  6tubien  über  ^rfenntni^  ber  993a{)r^eit.  6inne^-- 

tätigfeit  unb  QSernunfttätigreit.    ©lauben  unb  Aberglauben. 

^rfa^rung  unb  Offenbarung. 

Alle  Arbeit  wal)xtt  2ßi[[enfdE)aft  gel)t  auf  (£r!enntnis  ber 
2Bal)rl)eit.  Unfer  ed)tes  unb  toertoolles  SBijfen  ijt  realer  IRatur 
unb  bejtel)t  aus  SSorjtellungen,  u)elcf)e  toirflic^  eiijtierenben  Dingen 
entjpred)en.  2Bir  jinb  groar  unfähig,  bas  innerjte  äBejen  biejer 
realen  2Belt  —  „bas  Ding  an  jid)"  —  3U  erf ennen;  aber  unbefangene 
unb  fritij(i)e©eobacf)tung  unb  93ergleid)ung  überjeugt  uns,  bafe  bei 
normaler  5Bejcl)affenl)eit  bes  (5el)irns  unb  ber  Sinnesorgane  bie 
(£inbrücfe  ber  Aufeentüelt  auf  bieje  bei  allen  oemünftigen  9Kenjd)en 
biejelben  [inb,  unb  bofe  bei  normaler  Munition  ber  Dentorgane  be* 
jtimmte,   überoll   glelrfie   SSorjtellungen   gebilbet  werben;   bieje 


9Bi[[en  unb  ©lauben.  181 

nennen  totr  tDa!)r  unb  [tnb  babet  übcrjeugt,  bafe  tt)r  ^n^a\t  bem 
erfennbaren  Xeile  bcr  Dinge  ent[prid)t.  2Bir  toiffen,  ^a^  btefe 
3^at[ad)en  nicf)t  eingebtlbet,  [onbern  tDirflid)  [tnb. 

©rfennttttsquellett.  ^Ile  ©rfenntnis  ber  2ßal)rt)ett  beruf)t  auf 
3tDet  Derfc^tebcnen,  aber  innig  3u[ommenI)ängenben  ©ruppen  oon 
pl)i)[ioIogi[d^en  gunfttonen  bes  9Jlen[d)en;  erftens  auf  ber  (£ntp* 
finbung  ber  Objefte  mittels  ber  Sinnestätigfeit,  unb  jtöeitens 
auf  ber  23erbinbung  ber  fo  getoonnenen  (ginbrüde  burd)  ^[fojion 
3ur  S^orftellung  im  Subjeü  Die  2ßer!3euge  ber  (Smpfinbung 
[inb  bie  Sinnesorgane;  bie  SBerfseuge,  töeld)e  bie  SSorjtellungen 
bilben  unb  oerfnüpfen,  [inb  bie  Den!organe.  Die[e  le^teren 
[inb  3:eile  bes  sentrolen,  bie  erjteren  2:eile  bes  peript)eren  9fleroen  = 
[r)[tems,  jenes  toiditigjten  unb  l)ö^[tenttüic!elten  iDrgan[t)[tem6 
ber  I)öl)eren  Üiere,  be[[en  gunftion  eingig  unb  allein  bie  ge[amte 
Seelentätigfeit  i[t. 

6inne$otgane  (Sensilla).  Die  Sinnestätigfeit  bes  S[Ren[rf)en, 
u)el(^e  ber  er[te  ^usgangspunft  aller  (£r!enntnis  ijt,  l)at 
[i(f)  Iang[am  unb  anmäl)Iid)  aus  ber}enigen  ber  näc^ftoertoanbten 
Säugetiere,  ber  Primaten,  entroidelt.  Die  Organe  ber[elben  [inb 
in  bie[er  l)ö(f)[tenttDi(Jelten  3:ier!Ia[[e  überall  von  tDe[entIi^  gleichem 
Sau,  unb  i!)re  ^^unftion  erfolgt  überall  nacf)  ben[elben  pl)r)[i!ali[d^en 
unb  d)emi[d)en  ©e[e^en.  Sie  l)aben  [id)  allentl)alben  in  ber* 
[elben  l)ijtori[d)en  2Bei[e  entroicfelt.  2Bie  bei  allen  anberen  3:ieren, 
[o  [inb  au(^  bei  hm  Säugetieren  alle  Sen[illen  ur[prüngli(i)  Steile 
ber  §autbecfe,  unb  bie  empfinbli^en  3^nen  ber  £)berl)aut  [inb 
bie  Ureltern  aller  ber  t)er[cl)iebenen  Sinnesorgane,  tDel(l)C  burd) 
5Inpa[[ung  an  oer[d)iebene  ^Reije  (fiid)t,  SBärme,  S^all,  d)emi[d)e 
9?ei3e)  il)re  [pe3ifi[d)e  (Energie  erlangt  l)aben.  Sotüot)l  bie  Stäbd)en- 
jellen  ber  9tetina  in  un[erem  ^uge  unb  bie  §ör3ellen  in  ber  Sd)nede 
un[eres  Ol)res,  als  aud)  bie  9lied)3ellen  in  ber  9'la[e  unb  bie  Sd)med== 
seilen  auf  un[erer  3unge  jtammen  ur[prüngli^  oon  jenen  einfadjen 
inbifferenten  3ßnen  ber  £)berl)aut  ab,  tDeld)e  bie  ganse  iDberfläd)e 
un[eres  Körpers  über3iel)en.  Die[e  bebeutungsoolle  3:at[aAe  loirb 
burd)  bie  unmittelbare  95eobad)tung  am  (£mbrr)o  bes  SOlen[d)en 
eben[o  u)ie  aller  anberen  3:iere  bire!t  beti)ie[en.  ^us  bie[er  onto» 
geneti[d)en  3:at[ad)e  folgt  aber  na^  bem  Siogeneti[d)en  ®runb= 
ge[e^  mit  Sid)erl)eit  ber  pl)r)logeneti[(^e  Sd)lufe,  bafe  aud)  in  ber 
langen  Stammesge[d)id)tc  un[erer  23orfal)ren  bie  l)öl)eren  Sinnes* 
Organe  mit  il)ren  [pesiellen  (Energien  ur[prünglid)  aus  ber  Oberl)aut 
nieberer  Xiere  entjtanben  [inb,  aus  einer  einfad)en  3ßnen[d)id)t, 
bie  nod)  feine  [old)en  ge[onberten  Sen[illen  entl)ielt. 

Spejiftft^e  (gnetgie  ber  Senfillett.  33on  größter  Sebeutung 
für  bie  men[d)lid)e  (Erfenntnts  i[t  bie  Xot[ad)c,  ha^  ocr|(^tebcne 


182  6cd)3el)tttc5  ilapitel. 

5Rcrt)cn  unfercs  Körpers  imjtanbc  ftnb,  ganj  t)crf(i)tebenc  €iuali= 
täten  bcr  ^ufecntoelt  unb  nur  biefc  tDal)r3unc^mcn.  Der  <Bti)ntxv 
bes  ^uges  üermittelt  nur  £i(f)tempfinbung,  ber  ^örnero  bes  £)l)re5 
nur  Sd)anempftnbung,  ber  ^lied^nerr)  ber  ?la[e  nur  (5erud)s= 
empfmbung  ufa).  ©letd^otel,  tüeliie  9^ei3e  bas  einjclne  6inne5= 
toerfseug  treffen  unb  erregen,  it)re  9tea!tion  bel)ält  biefelbe  Ciualität. 
5Iu5  biefer  [pe3tfi[d)en  (Energie  ber  Sinnesneroen,  wtlä)t  Don 
3ot)anne5  SJlüIIer  guerjt  in  tl)rer  roettreic^enben  ©ebeutung 
getDürbtgt  tourbe,  [inb  fef)r  irrtümliche  Sd)Iü[fe  gejogen  toorben, 
befonbers  jugunften  einer  bualijtifd)en  unb  apriorif^en  (£r!enntnis= 
tf)eorie.  ^an  bef)auptete,  bafe  bas  (5el)irn  ober  bie  Seele  nur  einen 
getöi[[en  3uftanb  bes  erregten  ^leroen  rüa^rnet)me,  unb  hal^  baraus 
nidE)t5  auf  bie  (Siiftens  unb  ©e[d^affent)eit  ber  erregenben  5lufeen= 
roelt  gefd^Ioffen  toerben  tonnt.  Die  [!epti[d^e  ^f)iIofopl)ie  30g  baraus 
ben  ©ci)lufe,  bafe  biefe  le^tere  J'elbjt  3tDeifeII)aft  [ei,  unb  ber  eitremc 
3bealismu5  be3n)eifelte  nid)t  nur  biefe  Ülealität,  fonbern  er  negierte 
fie  einfa(^;  er  bel)auptete,  ho^  bie  SBelt  nur  in  unferer  SSorjtellung 
eiijtiere. 

Diefen  3i^tümern  gegenüber  muffen  roir  baran  erinnern,  ta)^ 
bie  „fpe3ififcf)e  (Energie"  urfprünglid)  nid)t  eine  anerfi^affene  be= 
fonbere  Qualität  ein3elner  S^ercen,  fonbern  burd)  ^Inpaffung 
an  bie  befonbere  3:ätig!eit  ber  Ober^autsellen  entftanben  ijt,  in 
toeId)en  fie  enben.  ^ad)  ben  grojgen  ©efe^en  ber  Arbeitsteilung 
nal)men  bie  urfprünglid)  inbifferenten  „§autfinnes3ellen"  Der= 
fct)iebene  Aufgaben  in  Angriff,  inbem  bie  einen  ben  9tei3  ber 
fiidE)tftral)Ien,  bie  anberen  htn  CBinbrurf  ber  (5d)aIIrDenen,  eine  britte 
©ruppe  bie  d^emif^e  (Sintoirfung  rie^enber  Subjtan3en  ufro. 
aufnal)men.  ^m  fiaufe  langer  3^tträume  betoirften  biefe  äußeren 
Sinne5rei3e  eine  anmöt)Ii(^e  33eränberung  ber  pt)r)fioIogifct)en 
unb  toeitert)in  aud)  ber  morpl)otogifd)en  (£igenfd)aften  biefer  Ober* 
^autftellen,  unb  bamit  sugleic^  oeränberten  fi^  bie  fenfiblen 
S^eroen,  tDeId)e  bie  oon  il)nen  aufgenommenen  (Einbrücfe  3um 
(5et)im  leiteten.  Die  6eIe!tion  oerbefferte  S(i)ritt  für  S(f)ritt  bie 
befonberen  Umbilbungen  berfelben,  mtldft  fid)  als  nü^Iid^  ertoiefen; 
fie  f  d)uf  fo  3ule^t  im  fiauf  e  oieler  Satirmillionen  jene  betounberungs» 
toürbigen  3njtrumente,  toel^e  als  Auge  unb  0\)x  unfere  teuerften 
©üter  barftellen.  3^re  (£inrid)tung  ift  fo  tounberbar  3Coerfmäfeig, 
t)a^  fie  uns  3U  ber  irrtümli(f)en  Annal)me  einer  „Sd)öpfung  nac^ 
t)orbebad)tem  Sauplan"  führen  !önnte.  Die  befonbere  (Eigen* 
tümlid^feit  jebes  Sinnesorganes  unb  feines  fpe3ifif(^en  5Reroen 
I)at  ]xi)  aber  erft  burd)  (5etDof)nt)eit  unb  Ubung  —  b.  t).  burd) 
Anpaffung  —  allmäpi^  cnttoidelt  unb  ift*  bann  huxd)  33er* 
erbung    oon   (Generation   3U   (Generation   übertragen   toorben. 


2ßt[[en  unb  ©lauben.  183 

©rensen  ber  SinnestDa^rne^mung.  Die  !rttifrf)c  93erglct(f)ung 
bcr  Sinnestätigfeit  beim  9J?cnfrf)en  unb  bei  ben  übrigen  2BirbeI= 
tieren  ergibt  eine  ^nßa!)!  überaus  roid^tiger  Zai]aä)tn.  ©anj 
befonbers  gilt  bies  von  ben  beiben  t)öd)ftentu)idelten,  ben  „äjtl)eii= 
fd)en  8innestoer!3eugen",  ^uge  unb  Dl)r.  Sie  3eigen  im  Stamme 
ber  Sßirbeltiere  einen  anberen  unb  oertoidfelteren  Sau  als  bei  ben 
übrigen  2:ieren  unb  enttoicfeln  fid)  auc^  im  (£mbri)o  berfelben  auf 
eigentümlidje  2ßei[e.  Diefe  tt)pi[d)e  Ontogene[e  unb  Struüur 
ber  Senfillen  bei  [ämtlid^en  äßirbeltieren  ertlärt  \xd)  burcf)  23er  = 
erbung  von  einer  gemeinfamen  Stammform.  3"Tt^i^^öIb  bes 
Stammes  aber  jeigt  fid)  eine  grofee  9J?annigfaItigfeit  ber  ^us- 
bilbung  im  eingelnen,  unb  biefe  ijt  bebingt  burcf)  bie  ^npaffung 
an  bie  £ebensiüei[e  ber  einzelnen  ^rten,  hmä)  ben  gesteigerten 
ober  geminberten  ©ebraud)  ber  einzelnen  Xeile. 

X)er  9Jienf(^  erfc^eint  nun  in  bejug  auf  bie  5lusbilbung  feiner 
Sinne  feinesroegs  als  bas  oollfommenjte  unb  l)ö(i)jtentrDideIte 
2Birbeltier.  Das  ^uge  ber  33ögel  ijt  oiel  [(i)ärfer  unb  unterfct)eibet 
fleine  ©egenftänbe  auf  toeite  (Entfernung  oiel  beutlid)er  als  bas 
men[d)Ii^e  ^uge.  Das  (5et)ör  oieler  Säugetiere,  befonbers  ber 
in  SBüften  lebenben  9^aubtiere,  Huftiere,  9lagetiere  u[to.,  ijt  oiel 
empfinbli(i)er  als  bas  men[d)li(i)e  unb  nimmt  lei[e  (Seräufd^e  auf 
oiel  toeitere  (Entfernungen  wai)x;  barauf  tüeijt  [d^on  il)re  grofee  unb 
[el)r  beroeglic^e  £)l)rmu[(^el  l)in.  Die  Singoögel  offenbaren  [elbft 
in  bejug  auf  mufifalifd^e  Begabung  eine  l)öl)ere  (Enttoidelungsftufe 
als  Diele  9Jlenfd)en.  Der  ©eruc^sfinn  ijt  bei  htn  meiften  Säuge« 
tieren,  namentlich  9?aubtieren  unb  Huftieren,  oiel  mef)r  ausgebilbet 
als  beim  9}len[(^en;  toenn  ber  §unb  feine  eigene  feine  Spürnafc 
mit  ber  bes  9}ten[(f)en  Dergleichen  tonnte,  toürbe  er  mitleibig  auf 
le^tere  l)erab[el)en.  ^uc^  in  bejug  auf  bie  nieberen  Sinne,  hzn 
(Sefd^macfsfinn,  titn  (5e[(^led)ts[inn,  titn  Xaftfinn  unb  ben  3^empe= 
raturfinn,  bel)auptet  ber  9Jienf^  feinesu^egs  in  jeber  Se3iet)ung 
bie  l)öd)jte  (EnttDidelungsjtufe. 

äßir  felbjt  fönnen  natürlicl)  nur  über  biejenigen  Sinnes* 
empfinbungen  urteilen,  bie  toir  [elbjt  beji^en.  9lun  toeift  uns  aber 
bie  Anatomie  im  5lörper  oieler  Xiere  noc^  anbere  als  un[ere  be= 
fannten  Sinnesorgane  na*^.  So  befi|en  bie  %i\d)t  unb  anbere 
niebere,  im  SiBaffer  lebenbe  2Birbeltiere  eigentümliche  Senfillen 
in  ber  ^aut,  u)eld)e  mit  befonberen  Sinnesorganen  in  33erbinbung 
fielen.  5n  htn  Seiten  bes  (5ifd)!örpers  oerläuft  rect)ts  unb  linfs 
ein  langer  Kanal,  ber  com  am  i^opfe  in  mel)rere  Derstoeigte 
5^anäle  übergel)t.  ^n  biefen  „Scf)leim!anälen"  liegen  SIeroen  mit 
3at)lrei^en  ^jten,  beren  (£nben  mit  eigentümlid^en  9Zert)enl)ügeln 
Derbunben  ftnb.    SBa^rfcl) einlief)  bient  biefes  au5öebe!)ntc  „$aut= 


184  Sc(f)3cl)ntc5  Äopitcl. 


finncsorgan"  jur  2Baf)m€l)mung  von  Hntcrfd)tcben  im  3Ba[[erbrudf 
ober  in  d)cmi[cf)cn  (£igcn[(f)aftcn  bcs  SCaffcrs.  (Einige  ©ruppen 
[inb  nod)  burd)  ben  Sefi^  anberer  eigentümlicher  Senfillen  aus* 
ge3eicf)net,  beren  Scbeutung  uns  unbefannt  ijt. 

Sd)on  aus  bie[en  Xat[a(f)en  ergibt  [id),  ha'is  unsere  men[d)li(i)e 
Sinnestätigfeit  bej'd)rän!t  ijt,  unb  stüar  [otool)!  in  quantitatioer 
als  in  qualitativer  §in[i(i)t.  2Bir  fönnen  aI[o  mit  unferen  Sinnen, 
Dor  allem  bem  5luge  unb  bem  3:ajt[inn,  immer  nur  einen  3:eil  ber 
(£igen[(i)aften  erfennen,  wt\6)t  bie  Objefte  ber  ^ufeentoelt  befi^en. 
^ber  aud)  biefe  partielle  2Bal)me!)mung  ift  unDoIIjtänbig,  infofern 
unfere  Sinnesxoerfjeuge  unoollfommen  [inb  imb  bie  Sinnesneroen 
als  Dolmetf^er  bem  (5el)im  nur  bie  Überfe^ung  ber  empfangenen: 
(Binbrüde  mitteilen. 

Diefe  anerfannte  Unoon!ommenI)eit  unferer  Sinnestätigfeit 
barf  uns  aber  nid^t  l)inbern,  in  i^ren  SBerfjeugen,  unb  cor  allem 
im  ^uge,  bie  ebeljten  Drgane  3U  erblicfen;  im  S^ereine  mit  htn 
X)en!organen  bes  ©et)irn5  [inb  [ie  bas  toertüollfte  ®e[d)enf  ber 
SRatur  für  htn  9Plen[d)en.  ^n  ooller  2BaI)rl)eit  [agt  ^Ibred^t 
5{au  (a.  a.  £).):  „^Ile  2ßi[[en[ct)aft  ift  in  le^tcr  £inie 
Sinnesertenntnis;  bie  X)ata  ber  Sinne  toerben  barin  nid)t 
negiert,  [onbern  interpretiert.  I)ie  Sinne  [inb  un[ere  erften  unb 
bejten  ^^reunbe;  lange  beoor  fi^  ber  33erjtanb  cnttoidelt,  fagen  bie 
Sinne  bem  93^enfcl)en,  loas  er  tun  unb  laffen  foll.  2Ber  bie  Sinn* 
li^feit  übert)aupt  cemeint,  um  it)ren  ®efat)ren  ju  entgef)en, 
ber  I)anbelt  ebenfo  unbefonnen  unb  töri(t)t  als  ber,  tDeIct)er  [eine 
^ugen  ausreifet,  loeil  [ie  einmal  aud)  [d)änblici)e  Dinge  [el)en 
fönnten;  ober  ber,  tDelcf)er  [eine  §anb  abl)aut,  toeil  er  fürd)tet, 
[ie  fönnte  einmal  aud)  nad)  frembem  (5ute  langen."  9Jiit  oollem 
9ied)te  nennt  besl)alb  ^euerbod)  alle  ^l)ilo[opl)en,  alle  ^Religionen, 
alle  3"[titute,  bie  bem  ^rinjipe  ber  Sinnlid)!eit  tDiber[pre(^en, 
nid)t  nur  irrtümli^e,  [onbern  [ogar  grunboerberblic^e.  D^ne 
Sinne  feine  (Srfenntnis!  „Nihil  est  in  intellectu,  quod  non 
fuerit  in  sensu!"     (£ode.) 

.^tipot^efe  unb  erlaube.  Der  (Srfenntnistrieb  bes  l)od)= 
cntojidelten  Rulturmen[d)en  begnügt  [id)  nid)t  mit  jener  lüden* 
haften  5lenntnis  ber  ^ufeentoelt,  toelc^e  er  burd)  [eine  unoollfomme* 
nen  Sinnesorgane  geminnt.  (£r  bemül)t  [id)  oielme^r,  bie  [innlic^en 
(Sinbrüde,  roeld^e  er  burd)  bie[elben  getoonnen  l)at,  in  (Srfenntnis* 
toerte  um3u[e^en;  er  oertoanbelt  [ie  in  htn  Sinnes^erben  ber 
(5rofel)irnrinbe  in  [pe3ifi[c^e  Sinnesempfinbungen  unb  oerbinbet 
biefe  burd)  ^ffo3ion  in  beren  Den!l)erben  3U  93or[t eilungen; 
burd)  toeitere  93er!ettung  ber  SSorftellungsgruppen  gelangt  er 
enblic^  ju  jufammenliängenbem  SBiffen.   ^bcr  bicfcs  2ßi[[en  bleibt 


aBtffcn  unb  (Slaubcn.  185 

immer  Iü(fenl)aft  unb  unbcfrtcbigcnb,  tocntt  n{rf)t  btc  ^l)ontafic 
btc  ungenügcnbc  ilombtnattonsfraft  bcs  crfennenbcn  33cr|tanbc5 
ergärtät  unb  burd)  ^[[o3ion  vtn  (5cbäd)tntsbilbcm  entfernt  Itegenbe 
(£r!enntm[[e  ju  einem  jufammenpngenben  ©anjen  oerfnüpft. 
Dabei  entjtef)en  neue  allgemeine  ^ßorjtellungsgebilbe,  lüelc^e  erjt 
bie  tDal)rgenommenen  Xatfacfien  erflären  unb  bas  „5^aufalitäts= 
bebürfnis  ber  23emunft  befriebigen". 

Die  SSorftellungen,  tüel(i)e  bie  fiüden  bes  2Bi[[en5  ousfüllen 
ober  an  be[[en  Stelle  treten,  !ann  man  im  toeiteren  Sinne  als 
„©lauben"  be3ei(^nen.  So  gef(i)iel)t  es  forttoäl)renb  im  all* 
täglid^en  fieben.  SBenn  mit  irgenb  eine  3:at[a^e  nid)t  [id)er  roi[[en, 
[o  lagen  toir:  3<i)  glaube  fie.  3"  biefem  Sinne  [inb  toir  auc^  in  ber 
2Bi[[en[ct)aft  felbft  gum  ©tauben  geätoungen;  toir  oermuten  ober 
net)men  an,  bajs  ein  beftimmtes  SSerpItnis  3tDi[d)en  jtoei  (£rf(^ei= 
nungen  bejtel)t,  obiüol)!  mir  es  ni(t)t  fict)er  fennen.  SBir  bilben  eine 
$r)pott)e(e.  5nbe[[en  bürfen  in  ber  2Bif[en[^aft  nur  foIrf)e  $i)po= 
tl)e[en  gugelaffen  roerben,  bie  innerhalb  bcs  men[(f)Iicf)en  (Erfenntnis* 
oermögens  liegen,  unb  bie  nid)t  befannten  Xai\a(i)tn  roiber[pre(i)en. 
Sold^e  ^ppot^efen  [inb  3.  ^.  in  ber  ^f)t)[i!  bie  fie!)rc  Don  Sc^toin* 
gungen  bes  3i[ti)ers,  in  ber  (S^emie  bie  5lnnal)me  ber  ^tome  unb 
bercn  2Ba^lDeru)anbt[(^aft,  in  ber  Biologie  bie  fiel)re  von  ber 
SO?oIefuIarftru!tur  bcs  lebenbigcn  Plasmas  ufu). 

X^eode  unb  Glaube.  Die  (£r!Iärung  einer  größeren  9leif)e 
Don  3u[ammcnl)angenben  (£r[(t)cinungcn  bur^  ^nnat)me  einer 
gemein[amen  Ur[act)C  nennen  toir  3:^eorie.  5Iu^  bei  ber  31)eorie, 
roie  bei  ber  §r)potl)c[c,  ijt  ber  ®  laubc  (in  iDi[[cn[(f)aftIi(i)em  Sinne!) 
unentbcl)rli(i) ;  benn  aucf)  l^icr  ergän3t  bie  bid)tenbc  ^I)anta[ie  bie 
ßücfc,  tocI(f)e  ber  33erftanb  in  ber  (Srfenntnis  bcs  3ii[ammcnl)ang5 
ber  Dinge  offen  läfet.  Die  'Xi)toxk  fann  bat)er  immer  nur  als  eine 
^nnäl)erung  an  bie  2Ba^rt)eit  bctrod)tct  toerben;  es  mufe  3ugcjtanben 
Eocrbcn,  ba^  [ie  fpäter  burc^  eine  anbcre,  beffer  begrünbete  3^eorie 
Derbrängt  roerben  !ann.  iro^  bie[er  eingeftanbenen  Un[i(f)erl)eit 
bleibt  bie  3:^eoric  für  jebe  toal^re  2Bi[fen[d)aft  unentbet)rli^ ;  benn 
[ie  erüärt  erjt  bie  Xat[a^en  bur^  5lnnat)me  üon  Hr[a(J)en.  2Ber 
auf  bie  3^eorie  gan3  oer3id)ten  unb  reine  2Bi[[en[(J)aft  blofe  aus 
„fieberen  'Xai\aä)tn"  aufbauen  toill  (toie  es  oft  oon  be[(i)rän!ten 
5löpfen  in  ber  mobernen  [ogenannten  „eiaften  5RaturtDi[[en[ct)aft" 
ge[d)iel)t),  ber  Der3i^tet  bamit  auf  bie  (Srienntnis  ber  Ur[act)en 
übert)aupt  unb  [omit  auf  bie  JBcfriebigung  bes  Äau[alitätsbebürf= 
ni[[es  ber  23ernunft. 

Die  (5rat)itationstI)eoric  in  ber  ^jtronomie  (9lctüton),  bie 
91ebulartt)eorie  in  ber  5^osmogenie  (Äant  unb  ßaplace),  bas 
(Snergieprinsip  in  ber  ^t)i)[i!  (9Kat)er  unb  ^elm^ol^),  bie  ^tom« 


186  Sed)3el)nie5  Äapitel. 


tf)eorie  in  ber  (£f)emtc  (Dalton),  bie  3cnentt)eonc  in  ber  (5e= 
tüebele^re  (Sdf)Ieibcn  unb  Sd)tüann),  bic  T)e[3enben3t^corie  in 
ber  Biologie  (ßamard  unb  t)arix)tn)  finb  getoaltigc  3:t)eorien 
erjten  5?ange5;  fie  erflären  eine  ganse  2ßelt  von  großen  9latur= 
erfd^einungen  burrf)  5lnnal)me  einer  gemeinfarrten  Urfac^e 
für  alle  einseinen  3:at[ac^en  il)re5  (Sebietes  unb  burcf)  bert  iRad)tüei6, 
bafe  alle  (£rf (Meinungen  in  bemfelben  3u[ammenl)ängen  unb  burd) 
fefte,  t>on  biefer  einen  Hrfa(f)e  au5gef)enbe  ©efe^e  geregelt  toerben. 
I)abei  !ann  aber  biefe  Hrfac^e  jelbft  it)rem  2Be|'en  nacf)  unbe!annt 
ober  nur  eine  „prom[orifcf)e  §!)pott)e[e"  [ein.  X)ie  „6^coer!raft" 
in  ber  (5raDitation5ti)eorie  unb  in  ber  Rosmogenie,  bie  „(Snergie" 
[elbjt  in  il)rem  33erl)ältni5  ßur  a^aterie,  bas  „^tom"  in  ber  (£f)emie, 
bas  lebenbige  „^lasma"  in  ber  3^nenle{)re,  bie  „33 ererbung" 
in  ber  ^bftamntungsle^re  —  bie[e  unb  ä{)nlic^e  (Srunbbegriffe  in 
anberen  großen  il^eorien  fönnen  oon  ber  [!epti[d)en  ^^iIo[opf)ie 
als  „blofee  §r)potf)e[en",  als  (Srjeugniffe  bes  tDi[[en[cf)aftli^en 
©laubens  betrad)tet  loerben,  ober  [ie  bleiben  uns  als  [old^e 
unentbet)rlid),  [o  lange,  bis  [ie  burd)  eine  be[[ere  §i)potl)e[e 
er[e^t  tüerben. 

C&laube  unb  Aberglaube,  ©anj  anberer  9latur  als  bie[e 
(formen  bes  Eoi[[en[(f)aftli(^en  Cölaubens  [inb  biejenigen  93or= 
jtellungen,  tDeld)e  in  htn  t)er[(^iebenen  9^eligionen  gur  (Srflärung 
ber  (£r[d) einungen  benu^t  unb  [d)led)ttDeg  als  ©laube  im  engeren 
(Sinne  be3eid)net  toerben.  T)a  aber  bie[e  beiben  ©laubensformen, 
ber  „natürlid)e  ©laube"  ber  2ßi[[en[c^aft  unb  ber  „übernatürlid)e 
©laube"  ber  ^Religion,  nid^t  [elten  oertoed^felt  toerben  unb  [o  33er= 
töirrung  entjteljt,  ijt  es  jtoeifmäfeig,  ja  nottoenbig,  if)ren  prin3i  = 
ptellen©egen[a^  f^atf  3u  betonen.  Der  „religiö[e"  ©laube  ijt 
jtets  SBunberglaube  unb  [tet)t  als  [olrf)er  mit  bem  natürlid^en 
©lauben  ber  33ernunft  in  unoer[öl)nli(f)em  2Biber[prud^.  ^m 
©egen[a^  3U  le^terem  bel)auptet  er  übernatürli(^e  23orgänge  unb 
!ann  [omit  als  „Hb  er  glaube"  ober  „Oberglaube"  beseid^net 
tüerben,  bie  ur[prünglicl)e  gorm  bes  Sßortes  5lb  er  glaube.  Der 
toe[entlid)e  Unter[d)ieb  bie[es  5lberglaubens  oon  bem  „oernünftigen 
©lauben"  bejte^t  thtn  borin,  bofe  er  übernotürlirfie  5lröfte  unb  (£r= 
[(Meinungen  onnimmt,  roelc^e  bie2Bi[[en[cl)aft  nic^t  f  ennt  unb  nid)t  3U* 
löfet,  tDel(i)e  burd)  irrtümlid)e  2Bal)rnel)mungen  unb  fal[d)e  ^I)anta[ie= 
bid)tungen  erseugt  [inb;  ber  Aberglaube  toiber[prid)t  mitl)in  t)zn 
flor  erfonnten  9'laturge[e^en  unb  ijt  als  [old)er  unoernünftig. 

tMberglaube  ber  0loturt)öIfer.  Durd)  bie  moberne  (£tt)nologie 
ijt  uns  eine  erjtaunlid)e  %üUt  von  mannigfaltigen  (formen  unb 
(£r3cugni[[en  bes  Aberglaubens  bc!annt  geworben,  roie  [ie  nod» 
l)cute  unter  bcn  ro{)cn  S'Zaturoöttern  eitjtieren.    58ergleii^t  man 


SBtffcn  unb  ©laubcn.  187 

biefclben  unter ctnanb er  unb  mit  ttn  ent[pred)ertben  mi)t!)oIogt[d)en 
23orjtenungeTi  früf)erer  3eiten,  [o  ergibt  \id)  eine  t)ielfa(^e  %taIogie, 
oft  ein  gemeinjamer  Urfprung  unb  [cf)liefeli(f)  eine  einfact)e  Urquelle 
für  alle.  Diefe  finben  roir  in  bem  natürlichen  5^aufalität5  = 
bebürfniffe  ber  S3ernunft,  in  bem  (5ud)en  nad)  (£r!lärung 
unbetannter  (£rfd) einungen  burct)  ^uffinben  i^rer  Ur[ad)en.  Se= 
fonbers  gilt  bas  von  [ol(i)en  ^Betoegungserfd^einungen,  bie  ®efal)r 
bro^en  unb  5urcl)t  erregen,  tüie  $Bli^  unb  Donner,  (Srbbeben, 
SJbnbfinfternis  ufto.  Das  Sebürfnis  nad)  !au[aler  (£r!lärung 
jold)er  9laturerfcf) einungen  beftel)t  frf)on  hti  htn  9laturoöl!ern  ber 
nieberften  Stufe  unb  ift  bereits  oon  il)ren  ^rimatenal)nen  burd) 
"öererbung  übertragen.  (£5  bejtel)t  ebenfo  bei  oielen  anberen 
SBirbeltieren.  2Benn  ein  $unb  htn  23ollmonb  anbellt  ober  eine 
tönenbe  (5lode,  beren  5^löppel  er  [id)  betoegen  [iel)t,  ober  eine 
^a\)m,  bie  im  2Binbe  toe^t,  [0  äußert  er  babei  nic^t  nur  5urd)t, 
fonbern  aud^  "ütn  bun!len  Drang  nad^  (Srfenntnis  ber  Hrfac^e 
biefer  unbefannten  (£r[d)einung.  Die  rol)en  9{eligionsanfänge 
ber  primitioen  9laturoölfer  l)aben  if)re  SBurjeln  teiltoeife  in  fold)em 
erblid)en  Aberglauben  il)rer  ^rimatenal)nen,  teiltoeife  im  5ll)nen= 
fultus,  in  oerfd)iebenen  ©emütsbebürfniffen  unb  in  trabitionell 
getoorbenen  (5etool)nl)eiten. 

^Ibergloube  ber  Äulturt)öl!er.  Die  religiöfen  ©laubens* 
üorjtellungen  ber  mobernen  i^ulturoölfer,  bie  it)nen  als  toertoollfter 
geiftiger  Sefi^  gelten,  pflegen  oon  it)nen  ^od)  über  "iitn  „rol)en 
Aberglauben"  ber  9^aturoölfer  geftellt  gu  loerben;  man  preift  itn 
großen  3rortfd)ritt,  tDeld)en  bie  aufflärenbe  5^ultur  burd)  ^Befeitigung 
bes  le^teren  l)erbeigefü^rt  l)abe.  Das  ijt  ein  großer  Srrtum! 
®et  unbefangener  hitifc^er  Prüfung  unb  S3erglei(^ung  geigt  fid), 
ha^  beibe  nur  burd)  bie  befonbere  „©ejtalt  bes  ©laubens"  unb  burd) 
bie  äußere  §ülle  ber  5lonfeffion  ooneinanber  oerfd^ieben  finb. 
3m  tlaren  £id)te  ber  33ernunft  erf(^eint  ber  beftillierte  2Bunber= 
glaube  ber  frei[innigften  i^iri^enreligionen  —  infofern  er  flar 
erfannten  unb  feften  9laturge[e^en  tDiberfprid)t  —  genau  fo  als 
unoernünftiger  Aberglaube,  toie  ber  ro^e  ©efpenjt erglaub e  ber 
primitioen  5etifd)religionen,  auf  toeld)en  jene  ftolg  l)erabfel)en. 

SBerfen  toir  oon  biefem  unbefangenen  Stanbpuntte  einen 
fritif^en  Slid  auf  bie  gegenroärtig  nod)  l)errfc^enben  (5laubens= 
Dorftellungen  ber  l)eutigen  Äulturoölter,  fo  finben  toir  fie  allent= 
falben  oon  trabitionellem  Aberglauben  burc^brungen.  Der  d)xi]U 
lic^e  ©laube  an  bie  S^öpfung,  bie  Dreieinigfeit  (Sottes,  an  bie 
unbefledte  (Empfängnis  9Jiariä,  an  bie  (Erlöfung,  bie  Auferftef)ung 
unb  §immelfat)rt  (£l)rifti  uftD.  ijt  ebenfo  reine  Dtd)tung  unb 
!antt  cbenfoüoenig  mit  ber  oemünftigen  ^Zaturerlenntnis  in  (£in= 


188  Scd)3ef)nte5  Rapitcl. 


flang  gebraut  tocrben,  als  bic  ocr[cf)tebenen  I)ogmcn  bcr  mo^amme» 
bam|rf)en  unb  mo[at[(f)cn,  bcr  bubbl)ijtt[(f)en  unb  bral)mamf^cn 
9lcItgion.  ^ttit  oon  btcfen  9teIigtoncn  ijt  für  bcn  toa^rI)aft 
„©laubigen"  ctne  stoeifellofc  2Baf)rt)eit,  unb  febc  oon  tl)nen  bc= 
trad)tct  jcbc  anberc  (5Iauben5lcl)rc  als  Ackeret  unb  t)erberblicf)cn 
3rrtum.  3^  mt\)X  eine  beftimnttc  5^onfe[[ion  firf)  für  bic  „allein 
[eligmad)cnbc"  pit  —  für  bic  „!at^oIifd)c"  — ,  unb  je  inniger 
biefe  Öberseugung  als  !)ciligjte  §er5ens[ad)e  oerteibigt  toirb,  bejto 
eifriger  ntufe  [ie  naturgemäß  alle  anberen  Äonfe[[ionen  bcfämpfen, 
unb  befto  fanati[d)cr  gejtalten  [id)  bie  fürcf)terlid) cn  ©laubcnsfricgc, 
roeI(^e  bie  traurigjten  ^Blätter  im  Su^e  bcr  5^uiturgefdE)i^tc  bilbcn. 
Unb  bo(^  übergeugt  uns  bic  unparteii[d)c  „5lriti!  ber  reinen 
23ernunft",  bafe  alle  biefe  Der[cl)iebenen  (Slaubcnsformcn  in 
gleid)em  95?afee  untDal)r  unb  unoemünftig  [inb,  ^robufte  ber 
bic^tenben  ^l)anta[ic  unb  ber  un!riti[(l)en  3:rabition.  Die  üer= 
nünftige  2Bif[en[d)aft  muß  [ie  famt  unb  fonbers  als  (£r3eugni[[e 
bes  ^Iberglaubens  oerroerfen. 

C&Iaubensbefenninis  (5Vonfeffion).  Der  unermefelid)e  S(^a= 
t>tn,  tüel(l)en  ber  unvernünftige  5Iberglaube  feit  3öI)rtoufci^^c" 
in  ber  gläubigen  $0lenfd){)eit  angerid)tet  l)at,  offenbart  fid)  tDol)l 
nirgenbs  auffälliger  als  in  bem  unauf^örlii^en  „Kampfe  ber 
©laubensbefenntniffe".  Unter  allen  5^riegen,  u)elcl)e  bie  95öl!er 
mit  %tutx  unb  Scfitoert  gegeneinanber  gefül)rt  l)aben,  [inb  bie 
5teligions!riege  bic  blutigjten  geroefen;  unter  allen  O^ormen  ber 
3tDietrac^t,  toclc^c  bas  ©lud  ber  gamilicn  unb  ber  einsclncn  ^cr« 
[onen  scrjtört  l)abcn,  [inb  bie  religiöfcn,  bem  (5laubensunter[(^iebc 
cnt[prungenen,  nod)  ^eute  bic  gcp[[ig[tcn.  9Kan  bcnfc  nur  an  bic 
Dielen  SJlillioncn  901cn[(f)en,  tDclcl)c  in  bcn  (£I)rijtenbe!cl)rungcn  unb 
»93crfolgungen,  in  bcn  ©laubcnsfämpfcn  bes  ^slam  unb  ber 
^Reformation,  burd)  bie  5nqui[ition  unb  bic  ^cienpro3c[[c  il)r 
£cben  ocrlorcn  l)abcn.  Ober  man  bcnfc  an  bic  nod^  größere 
3a^l  bcr  Unglücflicl)cn,  tDeld)e  loegcn  ©lauben5oer[d)iebenl)eitcn 
in  3^ömilien3tDi[t  geraten,  il)r  ?ln[cl)cn  bei  bcn  gläubigen  9P^it* 
bürgern  unb  if)re  Stellung  im  Staate  oerlorcn  ober  aus  bem 
93aterlanbc  l)abcn  austoanbern  mü[[en.  Die  t)erbcrblid)[te  SBir* 
fung  übt  bas  offi3iclle  (5laubensbe!cnntnis  bann,  roenn  es  mit  bcn 
politifd^cn  S^^^^^  ^^s  i^ulturjtaatcs  oerfttüpft  unb  als  „!onfe[[io= 
nellcr  9^cligion5untcrri(i)t"  in  bcn  ScE)ulen  3U)angsrDei[c  gelel)rt 
roirb.  Die  23ernunft  ber  5linber  toirb  baburc^  [(l)on  frül)3eitig 
Don  ber  (Srfenntnis  bcr  2Bal)rl)cit  abgclcnft  unb  bem  Aberglauben 
3ugefül)rt.  Seber  9Jlen[d)enfrcunb  [ollte  bal)cr  bie  !onfc[[ion5» 
lo[c  S<f)ule,  als  eine  ber  tocrtoollften  Snjtititutionen  bes 
mobcmen  SJcmunftjtaates,  mit  allen  Söiitteln  gu  förbern  iu(f)cn. 


2Bt[fcn  unb  ©louben.  189 

^tt  C&laube  unferer  ©öter.  2)er  l)of)c  SBcrt,  tDeId)cr  tro|bem 
nod)  l)cute  in  bcn  cocitcjicn  5^rei[cn  bcm  fonfcffioncllen  9?cIigion5= 
untcrrid)t  beigelegt  toirb,  ijt  nid)t  allein  burcf)  ben  Ronf e[[ions3tDang 
bes  rüdfitänbigen  Äulturftaates  unb  ht\\tn  ^bl)ängig!eit  »on 
ficrüaler  §err[d)aft  bebingt,  fonbern  aud)  burd)  bas  ©exoid^t  oon 
alten  !trabitionen  unb  oon  „(Semütsbebürfniffen"  Der[ct)iebener 
^rt.  Unter  biefen  ift  befonbers  roirfunggüoll  bie  anbäd)tige  ^er= 
etirung,  tDelct)e  in  roeiteiten  5lret[en  ber  fonfeffionellen 
3:rabition  gegollt  toirb,  bem  „f)eiligen  ©lauben  unferer  93äter". 
3n  Xaufenben  von  (£r5äl)lungen  unb  ©ebid)ten  toirb  bas  5ejtt)alten 
an  bemjelben  als  ein  geijtiger  Sc^a^  unb  als  eine  t)eilige  ^fnd)t 
gepriefen.  Unb  bod)  genügt  unbefangenes  ?loct)benfen  über  bie 
®efd)id)te  bes  Cölaubens,  um  uns  von  ber  üölltgen  Hn= 
gereimtl)eit  jener  einflufereid)en  Söorftellung  gu  über3eugen.  X)er 
l)errf(^enbe  eoangelifd^e  5^irrf)englaube  in  ber  stoeiten  ^älfte  bes 
aufgeüärten  19.  3al)rt)unbert5  ijt  toefentli^  tjerfd)ieben  oon  bem 
in  ber  erjten  Hälfte,  unb  biefer  toieber  von  bem  bes  18.  5at)r= 
I)unberts.  I)er  le^tere  roeid^t  [et)r  ab  von  bem  „©lauben  unferer 
S3äter"  im  17.  unb  nod)  mel)r  im  16.  5at)rl)unbert.  Die  9?eforma» 
tion,  iDeId)e  bie  gefned)tete  23emunft  »on  ber  Xt)rannei  bes 
^apismus  befreite,  toirb  natürlid)  von  bie[er  als  ärgjte  Äe^erei 
oerfolgt;  aber  au^  ber  ©laube  bes  ^apismus  [elbjt  t)atte  [ic^  im 
£aufe  eines  ^o^^taufenbs  üöllig  oeränbert.  Unb  roie  t)erfd)ieben 
ijt  ber  ©laube  ber  getauften  (£l)rijten  von  bem  il)rer  I)eibni[d)en 
23äter!  Zttitx  [elbjtänbig  benfenbe  SP^enfd)  bilbet  fid)  ^htn  feinen 
eigenen,  mel)r  ober  loeniger  „per[önlid)en  ©lauben",  unb  immer 
ijt  biejer  Der[d)ieben  oon  bem  [einer  93äter;  benn  er  ijt  abpngig 
Don  bem  gefamten  Silbungssujtanbe  feiner  3eit.  3e  toeiter  roir 
in  ber  5^ulturge[d)id)te  3urüdget)en,  bejto  mel)r  er[d)eint  uns  ber 
gepriejene  „©laube  unjerer  23äter"  als  unt)altbarer  ^Aberglaube, 
bejfen  formen  fid)  bejtänbig  umbilben. 

Spttittsmus.  ©ine  ber  merftoürbigjten  formen  bes  ^ber« 
glaubens  ijt  biejenige,  tDeId)e  nod)  t)eut3utage  in  unjerer  mobernen 
5luItunDeIt  eine  erjtaunlid)e  ^RoIIe  [pielt,  ber  Spiritismus  unb 
DHuItismus,  ber  moberne  ®ei[terglaube.  (Ss  ijt  eine  ebenso 
befrembenbe  toie  betrübenbe  Xatjac^e,  bafe  nod)  t)eute  SCRillionen 
gebilbeter  5^ulturmen[d)en  oon  biejem  finjteren  Aberglauben 
DöIIig  be^err[d)t  [inb;  ja  jogar  einselne  berül)mte  5Raturforjd)er 
l)aben  [id)  oon  il)m  nid)t  Io5mad)en  tonnen.  3öt)Ireid)e  [piritijti[d)e 
3eitjd)riften  oerbreiten  biejen  ©ejpenjterglauben  in  toeitejten 
5lrei[en,  unb  unjere  „feinjten  (5e[enjd)afts!rei[e"  [d)ämen  jid)  nid)t, 
„©eijter"  er[(^einen  gu  lajjen,  tDel(^e  flopfen,  jd)reiben,  „9Jiit= 
tcilungen  aus  bem  3en[eits"  mod)en  u]w.    SJlan  beruft  [i^  in  ben 


190  <5c(f)3ct)ntcs  i^apitel.    2Bi||en  unb  ©laubcn. 

5lrci[en  ber  Sptntijtcn  oft  barauf,  bafe  [elbjt  onge[el)ene  9latur= 
forfd)er  biefem  ^Ibcrglaubcn  l)ulbigen.  Die  bebauerlic^c  Xat\aii)t, 
bafe  [elbft  l)en)orragcnbe  ^I)p[t!er  unb  Biologen  [id)  baburd)  ijaben 
irre  fül)ren  laffen,  erllärt  [i^  teils  ous  \\)xtm  Hbermafe  an  ^I)an= 
tafie  unb  i\riti!mangel,  teils  aus  bem  mäd)tigen  Sinflufe  jtarrer 
Dogmen,  toeId)e  religiöse  93er3iel)ung  bem  ünbli^en  (5ef)im  in 
trftl)ejter  ^ugenb  [cf)on  einprägt.  Übrigens  ijt  gerabe  bei  ben  be= 
rül)mten  [piritijti[d)en  33orfteIIungen  in  £eip3ig,  in  iDeld)en  bie 
^I)#^et  3önner,  ged)ner  unb  2BiIl)eIm  2Beber  burd)  htn 
fctilauen  3:a[d)en[pieler  Slabe  irre  gefüf)rt  tourben,  beffen 
(3d)rDinbeI  nad)träglid)  flar  gutage  gefommen;  er  rourbe  als  ge= 
meiner  Betrüger  entlarot  unb  bejtraft.  %ud)  in  allen  anberen 
örällen,  in  xod6)tn  bie  angeblichen  „SBunber  bes  Spiritismus" 
grünblic^  unter[ud)t  toerben  tonnten,  I)at  ]iä)  als  Urfac^e  eine 
gröbere  ober  feinere  3:äu[d)ung  t)erausgeftellt;  bie  [ogenannten 
„SFlebien"  (meift  tDeibIid)en  ®e[d^Ied)ts)  [inb  teils  als  [d)Iaue 
Sd)tDinbIer  entlarot,  teils  als  neroöfe  ^erfonen  oon  ungetööl)n= 
Iid)er  ?{ei3bar!eit  erfannt  roorben.  ^xt  angebli^e  Xelepat^ie 
(ober  „S^emtüirfung  bes  (5eban!ens  obne  materielle  3Sermitte= 
lung")  ejEijtiert  ebenfotoenig  als  bie  „Stimmen  ber  ®eijter",  bie 
„Seufser  ber  ©efpenfter"  u[tD.  Die  Iebl)aften  Sd)ilberungen, 
n)elct)e  (£arl  bu  ^rel  unb  anbere  Spiritisten  oon  [oId)en  „®eijter* 
er[(f)einungen"  geben,  berul)en  auf  3;ätig!eit  ber  freien  ^i)anta[ie, 
oerbunben  mit  SJiangel  an  5^riti!  unb  an  pl)r)[ioIogi[d)en  i^enntniffen. 
Offenbarung.  Die  meijten  ^Religionen  liabtn  tro^  if)rer 
mannigfaltigen  33er[^iebent)eit  einen  gemeinsamen  (5runb3ug, 
ber  3uglei(i)  eine  i^rer  mäcf)tigften  Stufen  in-  loeiten  5lrei[en 
bilbet;  [ie  bet)aupten,  bie  91ät[el  bes  Da[eins,  bereu  £ö[ung  auf 
natürlid)em  2ßege  burcf)  bie  33emunft  nid)t  möglid)  ijt,  auf 
übernatürlid)em  2Bege  burcf)  Offenbarung  geben  3U  fönnen;  3U= 
gleid)  leiten  [ie  baraus  bie  (Bettung  ber  Dogmen  ober  (5Iaubens= 
[ä^e  ab,  toeld^e  als  „göttlid)e  Oefe^e"  bie  Sittenlel)re  orbnen  unb 
bie  fiebensfübrung  bejtimmen  [ollen.  Derartige  göttlid^e  ^n= 
[pirationen  bilben  bie  ©runblage  3al)lreicE)er  9Kr)tf)en  unb  £egenben, 
bereu  antl)ropijti[d)er  Hr[prung  auf  ber  §anb  liegt.  3tüör  er[d)eint 
ber  (Sott,  ber  „[id)  offenbart",  oft  ni(^t  birett  in  men[d)lid)er 
(Sejtalt,  [onbern  im  Donner  unb  231i^,  im  Sturm  unb  (Brbbeben, 
im  feurigen  ^u[ci^  ober  ber  brobenben  2Bol!e.  ^ber  bie  C)ffen= 
barung  [elbjt,  u)eld)e  er  bem  gläubigen  5[Ren[(^en!inbe  gibt,  toirb 
in  allen  gällen  antbropijtijd)  gebad)t,  als  SJtitteilung  oon  33or= 
[tellungen  ober  $Befel)len,  vodd)t  genau  [o  formuliert  unb  au5= 
ge[prod)en  oerben,  toie  es  normalertoei[e  nur  burd)  bie  (5ro^birn= 
rinbe  unb  burd)  'btn  5^el)l!opf  bes  9J?en'd)en  ge[d)iel)t.    3"  ttm 


©teb3cl)nte5  Aapitel.    2Bi[|en|d^aft  unb  (B^rijtcntum.     191 

inbtfcf)en  unb  ägi)pti[d)cn  9?eUgtonen,  in  ber  l)eneni[cf)cn  unb 
römifd)en  9[Uptf)oIogie,  im  ^^almub  toic  im  Äoran,  im  Eliten  toic 
im  bleuen  'Xc|tament  —  benfen,  [pred)en  unb  f)anbeln  bie  ©ötter 
ganj  t»ie  bie  3nen[d)en,  unb  bic  Offenbarungen,  in  benen  [ie  uns 
bie  @et)eimni[fe  bes  Dafeins  entl)üllen,  bie  bunfeln  SBelträtfel 
löfen  XDoIIen,  [inb  I)id)tungen  ber  menf(i)Ii(i)en  ^f)anta[ie.  X)ie 
2BaI)rl)eit,  tt)eld)e  ber  ©laubige  barin  finbet,  ijt  men[(f)Iid)e  (£r= 
finbung,  unb  ber  „ünblid^e  ©laube"  an  biefe  unüernünftigen 
Offenbarungen  ijt  3lbcrglaube. 

Die  tDaf)re  Offenbarung,  b.  !).  bie  tDa!)re  Ouelle  t)er= 
nünftiger  C^rJenntnis,  ijt  nur  in  ber  S^latur  3U  finben.  Der  reid)e 
Qd)a^  töal)ren  Sßiffens,  ber  htn  tDertüoIIjten  Xeil  ber  men[c^Ii(^en 
5lultur  barjtellt,  ijt  einaig  unb  allein  htn  (Erfahrungen  entfprungen, 
toelc^e  ber  for[dE)enbe  23erftanb  burd)  9laturer!enntnts  ge= 
iDonnen  l)at,  unb  htn  93ernunft[d)Iü[fen,  tDeId)e  er  burd)  rid)tige 
^ffojion  biefer  empiri[df)en  SSorftellungen  gebilbet  l)at.  Seber 
oernünftige  SJienfcf)  mit  normalem  (5el)im  unb  normalen  Sinnen 
f^öpft  bei  unbefangener  iBetrad)tung  aus  ber  9latur  biefe  t»al)re 
Offenbarung  unb  befreit  [id)  bamit  oon  bem  5lberglauben,  tDeId)en 
il)m  bie  Offenbarungen  ber  9teIigion  aufgebürbet  f)aben. 


Sieb^e^ntcö  Kapitel, 

5Biffettf(ä^aft  nnt>  e^nffenfum^ 

9[)^oniftifd)c  6tubicn  über  ben  ^ampf  5n)ifc|)en  ber  n>iffen= 

fc^aftlic^cn   (frfa^vung   unb    ber   c^riftlic^en   Offenbarung. 

93ier  ^erioben  in  ber  ]^iftorifc|)en  ^iJ^etamorp^ofe  ber  d;rift-- 

(ic|)en  ^^eligion.     Q5ernunft  unb  ©ogma. 

3u  htn  t)erDorragenben  (£f)arafter3ügen  bes  19.  3a]^rl)unberts 
gel)ört  bie  rDad)fenbe  Schärfe  bes  (Segenfa^es  3tDifd)en  2Biffen[d)aft 
unb  (£I)tijtentum.  Das  ijt  gan3  natürlid)  unb  nottoenbig;  benn  in 
bemfelben  9Jiafee,  in  roeId)em  bie  fiegrei^en  3rort[d)ritte  ber  mober= 
nen  9laturer!enntnis  alle  rDi[fen[(^aftlid[)en  (Eroberungen  frü= 
l)erer  3öf)rl)unberte  überflügeln,  ijt  3ugleid)  bie  Unl)altbar!eit  aller 
jener  mr)jtijd)en  2Beltanfd)auungen  offenbar  geroorben,  n)eld)e  bie 
S3ernunft  unter  bas  3ocf)  ber  fogenannten  „Offenbarung" 
beugen  toollten,  unb  baju  gcl)ört  auct)  bic  d)rijtlid)c  ^Religion. 


192  etcb3cl)nte5  Äapitcl. 


3e  fi(i)crcr  burd)  bic  mobemc  3ljtronotiüc,  ^^r)[i!  unb  (Il)cmic  bic 
^ncml)crrfd)aft  unbcugfamer  9laturgc[e^e  im  Unioerlum,  burd) 
bie  mobemc  Sotanif,  3ooIo9ic  ii"^  ^ntl)ropoIogie  bic  ©ültigfeit 
berfclben  ©cfc^c  im  ©efamtbcrei^e  ber  organifd)en  9latur  nad)= 
gctoiefen  ijt,  bejto  I)cftigcr  jträubt  fid)  bie  ^riftlid^c  ^Religion,  im 
93ereine  mit  ber  bualijti[cf)en  9Jietapf)i)[i!,  bie  ©eltung  biefer  91atur» 
gefc^c  im  93creid)c  bes  [ogenannten  „(Seiftcslebcns"  anjuer* 
fennen,  b.  ^.  in  einem  ^Teilgebiete  ber  ©cI)impl)i)[ioIogie. 

X>ie[en  offenhinbigen  unb  unt)cr[öf)nlid)en  ©egenfa^  3tDi[cf)en 
ber  mobernen  tt)i[[en[(^aftli(f)cn  unb  ber  überlebten  cf)rijtlid)en 
2BeItan[d)auung  I)at  niemanb  flarer,  mutiger  unb  unroiberlcglic^er 
betüiefcn,  als  ber  gröfete  3:i)eoIogc  bes  19.  3tt^rl)unbert5,  Daoib 
Sriebrid)  Strauß.  Sein  le^tes  ©efenntnis:  „Der  alte  unb 
ber  neue  ©laubc"  1872,  (14.  ^tuflage  1900)  ijt  ber  all- 
gemein gültige  ^tusbrud  ber  cl)rlid)en  llbergeugung  aller  ber» 
jenigen  ©cbilbeten  ber  (öcgenroart,  wtlä)t  bcn  unoermeibIid)en 
Äonflift  3tt)i[d)en  bcn  anerzogenen,  l)err[d)enben  ©Iauben5lcl)rcn 
bes  (£t)ri|tentums  unb  bcn  einleuc^tenben,  uernunftgemäfeen  Offen* 
barungen  ber  mobernen  9laturtüi[[cn[d)aft  einiel)en;  aller  ber* 
jenigen,  toelc^c  bcn  SRut  finben,  bas  9?ec^t  ber  33ernunft  gegen* 
über  bcn  ^n[prüd)en  bes  Aberglaubens  3U  tDat)ren,  unb  ojelc^e 
bas  pI)iIo[opi)i[d)e  Sebürfnis  nad)  einer  einl)eitlic^en  9latur= 
an[d)auung  empfinben.  Straufe  ^at  als  el)rlid)er  unb  mutiger 
greiben!er  rocit  bcffcr,  als  id)  es  oermag,  bic  tDid)tigjten  (Segen* 
[ä^e  3tDi[(i^en  „altem  unb  neuem  ©lauben"  flargclegt.  X)ic  oollc 
UnDcr[öI)nIid)!eit  3U)i[d)cn  beiben  ©egenfä^en,  bic  UnDermeibIid)!eit 
bes  (£nt[d)eibungs!ampfes  3toi[^cn  beiben  —  „auf  Xob  unb  fieben" 
—  t)at  oon  pl)ilo[opl)i[d^cr  Seite  namcntlid)  (Ebuarb^artmann 
nad)gexDiefen  in  [einer  intcrc|[anten  Sd)rift  über  bic  Scibjtscr* 
[c^ung  bes  (£t)rijtcntums  (1874). 

Unter  bcn  3aI)Ireid)en  SBcrfen,  bie  im  fiaufe  bes  19.  5al)r= 
f)unbcrts  bie  u)i[[en[d)aftli<^c  5lriti!  bes  (£I)riftcntum5,  [eines 
2ßc[ens  unb  [einer  ficl)rc  geförbert  I)abcn,  [inb  aufeerbem  nament* 
lid)  folgenbc  I)crt)or3u^cbcn:  Daoib  Straufe,  Das  £eben  5e[u 
für  bas  beut[d)c  33oI!.  1864  (11.  ^luflagc,  «Bonn  1890).  fiubtoig 
Seuerbad),  Das  2Be[en  bes  (i:i)rijtentums.  1841  (4.  5tufl.  1883). 
^aul  bc  9?egla  (^.  Desjarbin),  3c[us  oon  91a3aretf),  oom 
tDi[[en[d)aftIid)en,  gc[d)id)tlic^cn  unb  gc[ell[d)aftlid>cn  Stanbpunfte 
bargcjtcllt.  £eip3ig  1894.  S.  (£.  23erus,  33erglcid)enbe  Xlbcr* 
[id)t  ber  oier  (Soangclicn.    fieip3ig  1897. 

SBenn  man  bic  2Ber!e  oon  Straufe  unb  3rcucrbad),  [otoie 
bic  „©c[d)id)te  ber  i^onflifte  3iDi[d)cn  5?eligion  unb  2Bi[[en[d)aft" 
oon  3o^n2Biniam  Draper  (1876)  gclc[en  ^at,  fönnte  es  übcr^ 


2Bi|fenld)att  unb  (S:i)rijtentum.  193 

flüfjig  erfrf)emen,  biejem  föegenjtanbe  liier  ein  befonberes  Äapitel 
3U  toibmen.  Xro^bcm  toirb  es  nü^Iid)  unb  nottoenbig  [ein,  l)ier 
einen  friti[(i)en  f8M  auf  ben  l)ijtori[d)en  93erlauf  biefes  großen 
5lampfe5  3U  toerfen,  unb  sroar  ttsi)alh,  tüeil  bie  Angriffe  ber 
ftreitenben  5lir(f)e  auf  bie  2Bi[[cnfdE)aft  im  allgemeinen  unb  auf  bie 
(£nta)itfelung5lel)re  im  befonberen  in  neuefter  3^it  befonbers  [d)arf 
unb  gefal)rbrol)enb  getuorben  [inb.  5lud)  i|t  leiber  bie  geijtige  (£r= 
[(f)Iaffung,  roeId)e  [i^  neuerbings  geltenb  ma^t,  [otoie  bie  jteigenbe 
5Iut  ber  9?ea!tion  auf  politifc^em,  [osialem  unb  !ird)Iid)em  ®e« 
biete  nur  3U  ]ti)X  geeignet,  jene  ®efal)ren  gu  üerfc^ärfen.  SBoIIte 
jemanb  baran  aroeifeln,  [0  brandet  er  nur  bie  23er^anblungen  ber 
tf)rijtlid)en  Srinoben  unb  bes  Deut[d)en  ^Reid^stags  in  ben  legten 
3al)ren  3U  le[en.  3^  (£in!Iang  bamit  jtet)en  bie  Semül)ungen 
üieler  xDeItIidf)er  9legierungen,  [i^  mit  bem  geijtlid)en  IRegimente, 
i{)rem  natürlichen  3:obfeinbe,  auf  möglid)jt  guten  gufe  3U  [e^en, 
b.  f).  [id)  beffen  ^oä)t  gu  unterroerfen;  als  gemein[ames  ßhl 
fd)tüebt  babci  hm  beiben  S3erbünbeten  bie  Hnterbrüdung  bes 
freien  (öebanfens  unb  ber  freien  toif[en[d)aftIi(i)en  i5ror[d)ung  cor, 
mit  bem  S^^^^t  |i^  öuf  biefe  2Beife  am  Iei(f)teften  bie  ab [olute 
J^errfc^aft  3U  [id^ern. 

2Bir  mü[[en  ausbrücHtcf)  betonen,  bafe  es  fid)  \)m  um  not= 
gebrungene  S3erteibtgung  ber  2Biffen[d)aft  unb  ber  SSernunft 
gegen  bie  [d)arfen  Angriffe  ber  d)riftlidf)en  Äird^e  unb  it)rer  ge= 
toaltigen  §eer[ci)aren  I)anbelt,  unb  nid)t  ettoa  um  unbere(i)tigte 
Angriffe  ber  erjteren  gegen  bie  le^teren.  5n  erjter  fiinie  mufe 
babet  un[ere  ^btoet)r  gegen  htn  ^apismus  ober  Ultramonto» 
nismus  gerid)tet  [ein;  benn  biefe  „allein  [eligmad)enbe"  unb 
„für  alle  be[timmte"  fat{)oIi[dE)e  R\x6)^  ijt  ni(f)t  allein  toeit  gröfeer 
unb  toeit  mächtiger  als  bie  anberen  (t)ri[tlid)en  i^onfe[[ionen, 
[onbern  [ie  be[i^t  oor  allem  ben  SSor^ug  einer  großartigen,  sentra« 
U[ierten  Organi[ation  unb  einer  unübertroffenen  poIiti[c^en  Sd)Iau» 
f)eit.  9Jlan  t)ört  allerbings  oft  oon  9^aturfor[d)em  unb  oon  anberen 
ÜIRännern  ber  2Bi[[en[(f)aft  bie  ^n[id)t  äufeern,  bafe  ber  !atl)oli[d)e 
Aberglaube  nid)t  [d)limmer  [ei  als  bie  anberen  O^ormen  bes  über* 
natürlicl)en  Glaubens,  unb  bafe  bie[e  trügeri[d)en  „©eftalten  bes 
Glaubens"  alle  in  glei(i)em  9pfiafee  bie  natürlid)en  j^einbe  ber 
SSernunft  unb  2Bi[[en[d)aft  [eien.  3m  allgemeinen  t^eoreti[^en 
^rin3ip  ijt  bie[e  ©el)auptung  rid^tig,  aber  in  be^ug  auf  bie  pra!ti= 
[^en  folgen  irrtümlid);  benn  bie  3ielbetoufeten  unb  rüd[icf)tslo[en 
Angriffe  ber  ultramontanen  i^irclie  auf  bie  2Bi[[en[d)aft,  geftü^t 
f  bie  3:rägl)eit  unb  Dumml)eit  ber  SBol!sma[[en,  [inb  oermöge 
rcr  mäd)tigen  Organi[ation  ungleid)  [d)iDerer  unb  gefö^rli(^er 
als  bicjenigen  aller  anberen  ^Religionen. 


1Ö4  (Steb3el)nte5  i^apitcl. 

(gnttoitfelung  bes  CT^riftentums.  Hm  bie  ungcl)eure  Sebeu* 
hing  bes  (Il)rijtentum5  für  bte  ganse  Äultiirge[(f)id)te,  befonbers 
aber,  [einen  prinsiptellen  ®egen[a^  gegen  33ernunft  unb  SBiffen- 
f(f)aft  rid)ttg  3U  töürbigen,  muffen  tütr  einen  flücf)tigen  ^lic!  auf 
bie  uji^tigjten  ^bfd)nttte  feiner  gefrf)id)tlirf)en  (gntoidelung  toerfen. 
2ßir  unterfd)eiben  in  berfelbert  üier  ^auptperioben:  I.  bas  Hr  = 
d)riftentum  (bie  brei  erften  5al)rl)unberte),  IL  hm  ^apismtis 
(3öJöIf  3af)rt)unberte,  com  üierten  bis  fünf3el)nten),  III.  bie  5Re  = 
formation  (brei  3a]^rl)unberte,  Dom  [ed)3el)nten  bis  ad)t3el)nten), 
IV.  Das  moberne  Sd)eind)riftentum  (im  neun3el)nten  3al)r= 
I)unbert). 

I.  Das  Hrd)riftentum  umfafet  bie  crjten  brei  3al)rl)unberte. 
e:i)riftus  felbft,  ber  eble,  gan3  von  aRenfd)enIiebe  erfüllte  ^ropf)et 
unb  Sc^roärmer,  ftanb  tief  unter  bem  9ZiDeau  ber  flaffifd)en  ilultur- 
bilbung;  er  fannte  nur  jübifc^e  Xrabition;  er  l)at  felbft  feine  ein3ige 
3eile  l)interlaffen.  5lud^  i)atte  er  t)on  bem  f)oi)en  3uftanbe  ber 
2BeIter!enntnis,  3U  bem  griec^ij^e  ^I)iIofopI)ie  unb  9^aturforfct)ung 
fd)on  ein  I)albes  ^a^rtaufenb  früher  fid)  ert)oben  I)atten,  feine 
^t)nung.  Dilles,  was  roir  von  if)m  unb  feinen  urfprünglid)en  fie^ren 
roiffen,  ift  hm  ^auptbofumenten  bes  bleuen  3:eftamentes  ent= 
nommen  —  htn  üier  (Söangelien  unb  ben  (Epifteln  bes  Paulus. 
2Bas  bie  üier  fanonifdfien  (Bcangelien  betrifft,  fo  roiffen  roir,  ha'ji 
fie  ousgetȊI)It  finb  aus  einem  Raufen  von  fid)  roiberfpre^enben 
unb  gefälf(i)ten  9J?anuffripten  aus  bem  2.  3af)rf)unbert.  X)tx 
gültige  kanon  fcf)eint  vor  bem  (£nbe  bes  2.  3af)rt)unberts  feftgefe^t 
3U  fein,  obtoo!)!  3tüeifel  unb  9Jieinungst)erf(f)ieben]^eiten  bis  U3eit 
ins  4.  3a^i^^unbert  ^ineinrei(^en.  Das  i^on3iIium  Don  Slicäa, 
325,  fügt  nac^  bem  f)I.  $ieroni)mus  ein  getoiffes  $ßu(f)  in  ben  5^anon 
ein,  roas  auf  eine  HngeroifeI)eit  bis  3U  biefem  Datum  fc^Iiefeen  läfet. 
bleuere  ©elef)rfamfeit  fe^t  ben  3eitpunft  ber  ^bfaffung  ber  brei 
ft)noptifcf)en  (Süangelien  (S(RattI)äus,  SJlarfus  unb  fiufas  —  bie 
anerfanntermafeen  nai^  unb  nic^t  von  biefen  SD^ännern  gefd^rieben 
töorben  finb)  auf  65 — 100  n.  (il)x.  unb  bas  (Soangelium  von 
3of)annes  auf  einige  3eit  Dor  125  feft.  ^ber  es  fommt  babei  in 
$Betrad)t,  bafe,  roenn  bie  biblif^en  (5elef)rten  von  biefen  Daten 
fpre(^en  (im  einseinen  —  65 — 70  für  SJiarfus,  70—75  für  9[Rattl)äus, 
80—98  für  £ufas,  80—120  für  3ot)annes),  fie  nic^t  an  bie  ©Dan- 
gelien  benfen,  tüie  töir  fie  f)eute  l)aben.  JBis  3um  $1.  ^iif^^nus 
minbeftens  (unb  felbft  er  fann  ni(i)t  als  3ßuge  bes  tüirflid)en 
(Spangeliums  von  3ot)annes  angeführt  roerben),  bas  ift  alfo  bis 
3ur  StRitte  bes  2.  3ö^^t)unberts,  finben  mit  nur  (£rxx)äl)nungen 
(oft  fet)r  fraglicf)e)  üon  Sagen  angefüf)rt,  bie  in  ben  (goangelien 
3U  finben  finb.    50itt  onbern  SBorten,  roir  l)aben  feinerlei  autl)en= 


2Btf[enfd)aft  unb  (£I)rijtentum.  195 

tifc^en  iBeioeis  für  btc  (£d)tt)cit  trgenb  einer  ber  (£t)angeltener3äl)= 
lungen,  bis  Tnel)r  als  ein  5a^rl)unbert  nad)  bem  Xobe  (£i)rijti. 
9Ziemanb,  ber  xoeife,  in  toelc^ent  ©rabe  JÖegenben  in  ber  orienta= 
Ii[(i)en  ^tmo[pl)äre  antoad)[en,  fann  Dofumenten  [old)  [päten 
Datums  nur  ben  geringften  ©lauben  [d)en!en.  Selbjt  toenn  bas 
früliefte  [r)noptifdE)e  (Soangeltunt  70  n.  (n)X.  batiert  roäre  (tüir 
mü[[en  immer  bebenfen,  talß  fi^  bas  nur  auf  „bie  5lus[agen  5e[u" 
be3ie!)t),  [o  toäre  nod)  ber  tüeite  Spielraum  oon  üiersig  5al)ren 
für  bie  9J?r)tl)enbilbung  gegeben. 

Die  brei3el)n  (Spijteln  bes  ^poftels  Paulus,  von  benen 
nur  »ier  5ln|pru(^  auf  (£^t{)eit  mad)en  !önnen  {9^ömer,  Äo= 
rintl)er  2,  ©alater),  oermel)ren  un[ere  ilenntnis  über  bie  ^e= 
gebenbeiten  im  Qthtn  ^t\u  nur  \t\)x  tüenig.  <3o  bleiben  roir  be= 
[cf)rän!t  auf  [el)r  färglicf)e  unb  unliebere  5Ra(i)forfd)ungen  über  bie 
^anblungen  unb  bie  ^erfönlici)!eit  bes  ©rünbers  bes  (irt)riftentums. 
Der  (Ölaube  an  bie  tief  eingetourselten  unb  beliebtesten  Ürabi^ 
tionen  mufe  gänälic^  »erlaffen  toerben.  Die  (5e[(f)id)te  von  ber 
rounberbaren  ©eburt  (£;i)rifti  loirb  oerroorfen;  biefer  90Ri)tt)us  toirb 
[otüol^I  von  htn  fü^renben  d)riftlicf)en  (5elet)rten  Deut[d^Ianbs  als 
aud)  ^nglanbs  für  eine  ber  [päteften  unb  ber  roenigft  glaubtöürbigen 
,,bibli[(i)en  (5e[(^id)ten"  erflärt,  mit  anberen  9Borten:  für  eine 
[päter  eingefd^obene  uiertlofe  9fälj'd)ung.  Die  Sagen  üon  ber  ^uf= 
erjtebung  unb  von  ber  $immelfa!)rt  (£l)ri)ti  erfat)ren  je^t  ein  gleid)e5 
S(i)id[al.  Das  IReue  Üeftament  toirb  gerftört  roie  bas  ^Ite,  unb  bie 
[c^öne  SiQur  von  3e[us  löjt  [id)  3u[et)enb5  in  ein  5RebeIbiIb  auf. 

Die  unbefangenen  unb  [d)arfjinnigen  3rot[ct)ungen  ber  beutfd^en 
Xbeologen  (Strauß,  ^tmxhad),  ^aur  u.  a.),  benen  [id)  [päter 
aud)  engli[(f)e,  fran3ö[i[d)e  unb  italieni[c^e  WIo[op:^en  an[d^Io[fen, 
t)atten  ]6)on  um  bie  SO^iitte  bes  19.  3cil)rt)unberts  ge3eigt,  ta^  bas 
„£cben  ^t]u"  3um  größten  Xeile  ein  (£r3eugnis  ber  religiöfen 
.Did)tung,  ät)nli(^  ber  von  ^Bubb^a  ijt,  unb  bafe  feine  suoerläffigen 
I)ijtori[(^en  JQuellen  barüber  eiijtieren.  S3iel  flarer  ergibt  fid)  bas 
aus  ben  überrafd^enben  !riti[d)en  i^or[d)ungen  ber  t)ergleid)enben 
5ReIigionsge[^id)te  im  beginne  bes  20.  3öl)i^^unberts.  Danad^ 
bleibt  roeber  von  h^n  ein3elnen  2Bunberge[d)i^ten  unb  Sagen, 
nod)  Don  bem  gansen  bogmatifc^en  fief)rgebäube  bes  (£f)rijtentum5 
etroas  Originelles  oon  Sebeutung  mel)r  bejtel)en.  Denn  fajt 
alles,  tDas  uns  bie  (Evangelien  baoon  er3äl)len,  ijt  aus  älteren 
orientali[d)en  Quellen  3u[ammengetragen  unb  entjtammt  tm 
babr)loni[(^en  unb  a[[t)ri[d)en,  hm  inbi[d)en  unb  l)elleni[d)en 
Sagenfreifen.  ^ercorragenbe  Äritüer  geben  nod)  toeiter  unb 
führen  mit  großer  2Bal)r[d)einlid)!eit  tttn  SBetoeis,  t>a^  ber  5e[us 
bes  (Eoangcliums  überhaupt  niemals  gelebt  l)at,  fonbern  ein  reines 

13* 


196  Stcb3cf)ntes  Äopttel. 


SbcalbilbberDi^tung  tjt.  S3ergl.  bte  mtctc[[antcn  S^rtften 
Don  ilaItl)off  unb  ^romus  über  „bte  (£ntfte!)ung  bes  6:{)riiten= 
tums"  (1904)  unb  t)on5^arI  Spoilers:  f Die SBeltreligionen  in  i^rem 
gc[^irf)tlid^en  3u[ammenl)ange"  (1907),  ferner  bie  [el)r  f^arfe  5^riti! 
bes  engIi[d)enXl)eoIogenSaIabin{StetDart9lo^):  „3e^ot)al)s  ge* 
[ammelte  2Ber!e,  eine  !riti[cf)e  Unterfud)ung  bes  rf)rifili(^en  9?eli= 
gionsgebäubes  auf  ©runb  ber  ^ibeIfor[d)ung"  (Äeipsig  1896). 
II.  3)er  ^apismus,  bas  „Iateini[d)e  (£I)ri[tentum"  ober 
^apfttum.  J)er  ^apismus  ober  bie  „römi[d)*fatf)oIif(^e  Äirc^e", 
oft  aud^  HItramontanismus  ober  nad)  it)rer  5Re[iben3  93ati!a  = 
nismus  genannt,  ijt  unter  allen  (£r[d) einungen  ber  men[cf)Iic^en 
5^ulturgef(l^ict)tc  eine  ber  grofearttgjten  unb  merftoürbigften,  eine 
„tDeItf)iitori[d^e  ©röfee"  erjten  9?anges.  3:ro^  aller  ©turnte  ber 
3eit  erfreut  [ie  [id)  no^  i)eute  bes  mo(i)tigjten  (Einfluffes.  93o]t 
ben  500  9JlilIionen  6;i)riften,  toeli^e  bie  (Srbe  gegenroärtig  berooI)nett, 
befennt  bie  größere  ^älfte,  nämlicf)  über  250  SJlillionen,  hm  xömU 
[d)en,  nur  75  SJlilUonen  ben  grie(t)i[c^en  ÄatI)oIi3ismus,  unb 
120  aUillionen  [inb  ^rotef tauten.  2Ba()renb-  eines  3eitraunte6 
oon  1200  Sauren,  ooni  oierten  bis  gunt  |e(f)3el)nten  5a^rl)unbert, 
I)at  ber  ^apisntus  bas  geijtige  £eben  (Europas  fajt  t)on!omnten 
bel)err[cf)t;  bagegen  l)at  er  "öm  großen  alten  ^leligionsfpftemen  in 
^^([ien  unb  ^frifa  nur  [el)r  roenig  ©oben  abgetoonnen.  5n  5l[ten 
3ä^lt  ber  ©ubbt)isntus  l)eute  nod)  ungefät)r  503  SKillionen,  bie 
33rat)ntareIigion  140  SJiillionen,  ber  ftetig  oorbringenbe  Sslam 
mel)r  als  120  SlRillionen  ^nl)änger.  Die  2BeItt)err[^aft  bes  ^api6= 
mus  prägt  oor  allem  beut  SÖlittelalter  feinen  finjteren  ü\)axütizx 
auf;  [ie  bebeutet  ben  Xo'i>  alles  freien  (Seifteslebens,  htn  9lücfgang 
aller  xoQi)xm  2Bif[en[d^aft,  ben  93erfaII  aller  reinen  Sittlid)!eit. 
33on  ber  glänseitben  ^lüte,  gu  toel^er  [id)  bas  nten[d)Ii^e  ©eiftes» 
leben  im  fla[[i[(t)en  3lUertum  erl)oben  l)atte,  im  erjten  3ö^i^tau[enb 
oor  (£l)ri[tus  unb  in  hm  erjten  3ttl)tf)unberten  nad)  bem[elben, 
[an!  bas[elbe  unter  ber  $err[d)aft  bes  ^apfttums  balb  gu  einem 
9lioeau  l)erab,  bas  mit  ©egug  auf  bie  (£rf  enntnis  ber  2Bal)rI)eit 
nur  als  ©arbarei  be3ei(^net  toerben  fann.  50ian  rü^mt  iüot)l 
am  SJlittelalter,  bafe  anbere  Seiten  bes  ©etfteslebens  barin  3u 
reid)er  (Entfaltung  gefommen  [eien,  Did)tfun[t  unb  bilbenbe  5lun[t, 
[d)olajti[d)e  (5elet)r[am!eit  unb  patri[ti[d)e  ^I)iIo[opI)ie.  ^Tber  bie[e 
i»^ulturtätig!eit  ht^anh  ]xd)  im  X)ienfte  ber  t)err[d)enben  i^irc^e  unb 
tourbe  nid)t  3ur  Hebung,  [onbern  3ur  Hnterbrüdung  ber  freien 
(5eijtesfor[d^ung  oertoaubt.  Die  au5[d)liefeli^e  93orbereitung  für 
ein  unbefanntes  „eroiges  Jßeben  im  3en[eits",  bie  93erad)tung  ber 
9^atur,  bie  ^btoenbung  oon  il^rem  Stubium,  tDeId)e  im  ^rinspi 
ber  d)rijtlid)en  5ieUgion  innett)oI)nt,   u)urbe  oon  ber  römi[d)en 


2Biffen[^aft  unb  (S:r)rtjtctttum.  197 


Ötcrarcf){c  ^ur  I)etltgen  ^fltrfjt  gemarf)i  (Eine  burc^greifenbc 
2ßanblung  jum  5Bc[[crcn  bra(i)te  crft  im  93cg{nn  bes  16.  ^ai)X' 
f)unbert5  bic  D^cformatton. 

9lü<!f(^rttte  hct  Äultur  im  äUittcIalter.  (£s  toürbc  uns  oicl 
3U  löeit  fü{)ren,  töcnn  totr  f)ier  bic  iammerüollen  9tü(f[d)ritte 
[d)ilbcm  roollten,  toeli^e  mcn[^Iid)c  5^ultur  unb  ©cfittung  tDaI)renb 
3t3)ölf  Sfl^i^iiTtberte  unter  ber  gcijtigcn  (5etDaItI)err[(^aft  bes  ^api6= 
mus  erlitten,  ^m  prägnantejten  finb  fie  tüot)l  burd)  einen  einzigen 
Sa^  bes  gröjgten  unb  geijtreic^jten  $ot)en5onernfür|ten  illustriert; 
5riebri(^  ber  ©ro^e  fafete  [ein  Urteil  in  bem  Sa^e  sufammen, 
man  toerbe  burcf)  bas  Stubium  ber  (5e[cf)id^te  gu  ber  Hber= 
jeugung  gefüt)rt,  ha^  oon  5^onftantin  bem  (5rofeen  bis  auf  bie  3^1^ 
ber  ^Deformation  bie  ganje  2Belt  toal)n[innig  getoefen  [ei. 
(£ine  DortreffIid)e  furse  8(f)ilberung  bie[er  „2ßal)n[innsperiobc"  ^at 
(1887)  fi.  ^üd^ner  gegeben  in  [einer  Sct)rift  „Ober  religiö[e  unb 
tDi[[en[(f)aftli(^e  2BeItan[(^auung". 

Unter  ben  l)i[lori[ct)en  3^at[ad^en,  toelc^c  am  einIeudE)tenb[ten  bie 
33ertDcrfIict)!eit  ber  ultramontanen  (5ei[testt)rannei  betDei[en,  inter* 
e[[iert  uns  cor  allem  i^re  energ{[d)C  unb  fon[equente  Sefämpfung 
ber  roa^ren  2Bi[[en[ct)aft  als  [old^er.  Die[e  toar  ätoar  [(^on  oon 
Anfang  an  prinsipiell  im  (£l)rijtentum  baburd)  beftimmt,  t)a^  ba6= 
[elbe  ben  ©lauben  über  bie  33emunft  [teilte  unb  bie  blinbe  Hnter= 
toerfung  ber  legieren  unter  htn  er[teren  forberte;  nii^t  minber 
baburd),  bafe  es  bas  ganje  CSrbenleben  nur  als  eine  93orbereitung 
für  bas  erbi(f)tete  „3en[eits"  betrad)tete,  al[o  au(i)  ber  tt)i[[en[(f)aft= 
lidE)en  gor[cf)ung  an  \\6)  \thtn  SBert  i^b[prarf).  allein  bie  planmäßige 
unb  erfolgrei(^e  ©cfämpfung  ber  le^teren  begann  borf)  er[t  im 
anfange  bes  oierten  3cil)rl)unberts,  be[onbers  [eit  bem  berüd)tigten 
Ronsil  von  "Slic&a  (325),  toelcf)em  5^ai[er  5^on[tantin  prä[ibicrte, 
—  „ber  ®rofec"  genannt,  toeil  er  bas  (£l)ri[tentum  gur  Staats» 
religion  erl)ob  unb  5^on[tantinopel  grünbete,  babei  ein  nicfitstDürbiger 
(£t)arafter,  ein  fal[cl)er  §eu^ler  unb  Dielfa(f)er  9Körber.  2Bie  erfolg= 
reid)  ber  ^apismus  in  [einem  5^ampfe  gegen  jebes  [elb[tänbige 
toi[[en[d)aftli(i)e  Denfen  unb  gor[d^en  toar,  betDei[t  am  bejten  ber 
jammerDolle  3iiHö^^  ^^^  S^laturerfenntnis  unb  il)rer  Literatur  im 
SJiittelalter.  9li^t  nur  tourben  bic  reid)en  (5ci[tes[d)ä^c,  tDcld^c  bas 
!la[[i[(f)c  5lltertum  l)interla[[en  t)attc,  jum  gröjstcn  3^eile  Dernid)tet 
ober  ber  23erbreitung  entäogen,  [onbern  goltcrfnei^te  unb  S(f)eiter== 
^ufen  [orgten  bafür,  bafe  icber  „5^e^er",  b.  \).  jeber  [elb[tänbige 
Den!er,  [eine  oemünftigen  (Sebanfen  für  [id)  bel)ielt.  3:at  er  bas 
nid)t,  [o  mußte  er  [id)  barauf  gefaßt  machen,  lebenbig  ocrbrannt 
3U  toerben,  toie  es  bem  großen  moni[ti[(^en  ^l)ilo[op^en  ©iorbano 
©runo,  bem  5?cformator  5ol)ann  $us  unb  mel^r  als  l)unbert= 


198  Sieb3ef)ntcs  5^apttel. 


taufenb  anbeten  „3eugen  ber  9!Baf)rf)ett"  ge[d)at).  Die  ©e[d)icf)te 
ber  2Bi[[en[d)aften  im  9J?itteIaIter  bele{)rt  uns  auf  jeber  Seite,  tya^ 
bas  [elbjtänbige  T)tnUn  unb  bie  empiri[d)e  tx)i[ien[(f)aftli(i)e  ^ox= 
f(f)ung  unter  bem  X)ru(Je  bes  anmäd)tigen  ^apismus  burd)  3tx)ölf 
traurige  3öl)rf)unberte  roirflid^  DöIIig  begraben  blieben. 

^apistnus  unb  ß^^riftentutn.  Dilles  bas,  toas  toir  am  tDa!)ren 
(£{)riitentum  im  Sinne  [eines  Stifters  unb  feiner  ebeljten  9ladf)foIger 
I)oc^fcf)ä^en,  unb  roas  toir  aus  bem  unausbleiblichen  Untergänge 
biefer  „2BeItreIigion"  in  unfere  neue,  monijti[(i)e  ^Religion  I)inüber 
3U  retten  fu(i)en  muffen,  liegt  auf  feiner  etl)ifd)en  unb  fosialen 
Seite.  Die  ^rin3ipien  ber  xoa\)xtn  Humanität,  ber  golbenen 
5RegeI,  ber  3:oIeran3,  ber  äRenfd)enIiebe  im  beften  unb  l)öd^jten 
Sinne  bes  SBortes,  alle  biefe  roatiren  i}id)tfeiten  bes  (rf)rijtentum5 
finb  3U)ar  ni(f)t  üon  \\)m  3uerft  erfunben  unb  aufgeftellt,  aber  hod) 
erfolgreid)  in  jener  !ritifd)en  ^eriobe  3ur  ©eltung  gebrad)t  toorben, 
in  ber  bas  flaffif(i)e  Rittertum  feiner  5tuflöfung  entgegenging.  Der 
^apismus  aber  I)at  es  »erftanben,  alle  jene  Xugenben  in  it)r  bireftes 
(Segenteil  3U  t)erfel)ren  unb  babei  bod)  bie  alte  ^ii^^ö  oIs 
^U6l)ängef(^ilb  3U  bett}al)ren.  '$in  bie  Stelle  ber  (^rijtlic^en  ßiebe 
trat  ber  fanatifd^e  §a^  gegen  alle  5tnbersgläubigen;  mit  ^euer  unb 
Sd)tDert  tDurben  ni(i)t  allein  bie  5^tben  ausgerottet,  fonbern  aud) 
jene  d^rijtlid)en  Seften,  toeld^e  in  befferer  (£r!enntnis  (Sintüenbungen 
gegen  bie  aufge3tx)ungenen  £el)rfä^e  bes  ultramontanen  ^ber= 
glaubens  3U  erl)eben  roagten.  Xlberall  in  (hiropa  blül)ten  bie 
5le^ergeri(^te  unb  forberten  un3äl)lige  Opfer,  beren  tJolterqualen 
il)ren  frommen,  oon  „d)riftli(^er  S3ruberliebe"  erfüllten  Reinigern 
befonberes  23ergnügen  bereiteten.  Die  ^apftmac^t  toütete  auf 
il)rer  §öl)e  burd)  3ö^r!)unberte  erbarmungslos  gegen  alles,  toas 
i^rer  ^errfd)aft  im  SBegc  ftanb.  Unter  bem  berü(^tigten  ©rofe= 
inquifitor  Xorquemaba  (1481 — 1498)  tourben  in  Spanien  allein 
ad)ttaufenb  5^e^er  lebenbig  oerbrannt,  neun3igtaufenb  mit  (£in= 
3iel)ung  bes  33ermögens  unb  ben  empfinblic^jten  5^ircl)enbufeen 
bejtraft,  u)äf)renb  in  ^zn  IRieberlanben  unter  ber  ^errfd^aft  Siaxl 
bes  O^ünften  bem  Ilerüalen  Slutburft  minbejtens  fünf3igtaufenb 
9Jienfd)en  3um  Opfer  fielen.  Unb  iDäl)renb  bas  ©el)eul  gemarterter 
9Kenf(^en  bie  fiuft  erfüllte,  jtrömten  in  9?om,  bem  bie  gan3e  ä)xx]U 
li(^e  SBelt  tributpflid^tig  toar,  bie  9lei(^tümer  ber  l)alben  2ßelt 
3ufammen,  unb  u)äl3ten  ficf)  bie  angebli(^en  Stelloertreter  ©ottes 
auf  (Srben  unb  il)re  geiferst)  elf  er  in  £üjten  unb  fiajtem  jeber  5trt. 
„2ßeld)e33orteile,"  fagte  ber  frioole  unb  fpppitifd)e ^apft  £eo  X. 
ironifc^,  „l)atun6  bod^  biefe  (Jabel  oon^^fus  (£]^riftus  gebrad)t!" 
Dabei  toar  ber  3#0Ttb  ber  europäifd)en  ©efellfd)aft  tro^  5^ird)en= 
3ud)t  unb  (5ottesfurd)t  oon  ber  allerfd)limmften  ^rt.    geubalismus, 


2Btf[en[d)aft  unb  (£f)rtjtentum.  109 

£eibetgen[c^aft,  ©ottesgnabentunt  unb  1ölön(f)tum  be{)crr[^tcn 
bas  fianb,  unb  bic  armen  §cIoten  toarcn  frol),  toenn  [te  il)rc  elenben 
§ütten  im  SJiac^tberetc^e  ber  Schlöffet  ober  5llöjter  it)rer  geijtlic^en 
unb  toeItIi(f)en  KnterbrüdEer  unb  Ausbeuter  erricf)ten  burften. 
Öeutjutage  nod^  leiben  toir  unter  htn  9lad)r»e{)en  unb  Über= 
bleibfeln  biefer  traurigen  3iiltänbe  unb  3^tten,  in  wtld)tn  von 
Pflege  ber  2Bi[[en[(i)aft  unb  f)öt)erer  ©eijtesbilbung  nur  ausnat)m5= 
toeife  unb  im  23erborgenen  bie  9lebe  -[tin  fonnte.  „irntDi[[enI)eit, 
^rmut  unb  Aberglaube  oereinigten  [itf)  mit  ber  ent[ittli(i)enben 
äßirfung  bes  im  elften  3ö^rf)WTtbert  eingefüt)rten  3ölibat5,  um 
bie  abfolute  ^apftmac^t  immer  jtärfer  roerben  ju  laffen"  ($Büd)ner 
a.  a.  O.).  SiRan  t)at  bered)net,  bafe  t»ät)renb  biefer  ©lansperiobe 
bes  ^apismus  über  5e{)n  SKillionen  9Jien[(f)en  bem  fanati[rf)en 
(5Iauben5l)afe  ber  „d)riftli^en  £iebe"  jum  Opfer  fielen;  unb 
rote  üiel  mef)r  9JliIIionen  betrugen  bie  ge!)eimen  XRen[cf)enopfer; 
toelrfie  bas  3ölibat,  bie  O^renbeii^te  unb  ber  ©eroiffenss 
3tDang  erforberten,  hxt  gemeinfd)äbli^ften  unb  flui^toürbigjten 
Institutionen  bes  päpftlict)en  5lb[oIutismus !  Die  „ungläubigen" 
^I)iIo[op!)en,  tDeld)e  ^Betoeife  gegen  bas  Dafein  ©ottes  [ammelten, 
^aben  einen  ber  jtär!ften  ^eroeife  bagegen  über[et)en,  hh  'Xat]a(i)c, 
bafe  bie  römifd)en  „Statthalter  dl^rifti"  sioölf  5<i^i^^iinberte 
f)inbur(^  ungestraft  bie  greulid)jten  33erbred)en  unb  8d)anbtaten 
„im  Flamen  ©ottes"  oerüben  burften. 

III.  35te  JHeformation.  Die  (5e[(f)i^te  ber  5^uIturoöI!er,  toeId;e 
u)ir  „bie  2BeItgefrf)i(^te"  %u  nennen  belieben,  läfet  beren  britten 
$auptdb[d)nitt,  bie  „9fleu5eit",  mit  ber  9?eformation  ber  (i)riftlid)en 
^irrf)e  beginnen,  ebenfo  toie  htn  gtoeiten,  bas  9[RitteIaIter,  mit  ber 
(Srünbung  bes  (r{)riftentum5,  unb  fie  tut  re^t  baran.  Denn  mit 
ber  ^Deformation  beginnt  bie  SBiebergeburt  ber  gefeffelten 
33ernunft,  bas  2Bieberertt)a(i)en  ber  SBiffenfc^aft,  ii»eld)e  bie 
eiferne  (^aujt  bes  ct)riftli(f)en  ^apismus  bur(f)  1200  ^a\)X(t  getoaltfam 
nieberge^alten  I)atte.  Allerbings  t)atte  bie  SBerbreitung  allgemeiner 
Silbung  burcf)  bie  ^udjbruderfunjt  fd)on  um  bie  9Plitte  bes  fünf= 
3ef)nten  ^d^^^nTtberts  begonnen,  unb  gegen  (£nbe  besfelben  traten 
mef)rere  grojge  (£reigni[[e  ein,  toeId)e  im  SSerein  mit  ber  „9?e* 
naiffance"  ber  5lunjt  aud)  biejenige  ber  9Bi[[enf^aft  oorbereiteten, 
oor  altem  bie  (Sntbedung  oon  5lmeri!a  (1492).  "üluä)  tourben  in 
ber  erften  Hälfte  bes  fecl^3e!)nten  3<i^rt)unberts  mel)rere  \)'6^\i 
0Did)tige  gortfd)ritte  in  ber  (Erfenntnis  ber  5Ratur  gemad)t,  toelc^e 
bie  beftet)enbe  äBeItan[d)auung  in  it)ren  (5runbfe|ten  erfd)ütterten; 
fo  bie  erjte  Umfc^iffung  ber  (£rbe  burd)  SJlagellan,  toeld^c  t)tn 
empirif^en  5Betoeis  für  il)re  5^ugelgejtalt  lieferte  (1522);  bie 
(Srünbung  bes  neuen  2BeItfr)jtems  burd)  5^operni!us   (1543). 


200  ®{eb3ef)nte5  RaplM. 


%htx  bcr  31.  O!tober  1517,  an  toelc^cm  SD^artin  fiutf)er  [eine 
95  Xi)t]tn  an  bie  I)öl3emc  %m  bcr  6d)Iofe!ird^c  3u  SBittenberg 
nagelte,  bleibt  baneben  ein  tDeItge[(f)i(i)tIi(^er  Xüq;  bcnn  bamit 
tDurbe  bie  eiferne  3:ür  bes  S^erfers  gesprengt,  in  bem  ber  päpjttic^e 
5tb[oIutismu5  burcf)  1200  ^a\)Xt  bie  gefeffelte  33ernunft  einge* 
[d)Io[[en  get)alten  fjatte.  9Jian  f)ai  bie  23erbienftc  bes  großen  9{e= 
formators,  ber  auf  ber  SBartburg  bie  Sibel  überfe^tc,  teils  über= 
trieben,  teils  unter[c^ä^t;  man  I)at  aud)  mit  9terf)t  barauf  I)inge= 
toiefen,  xüie  er  glei(^  t)tn  anttxtn  9ieformatoren  nod)  oielfad)  im 
tieflten  Aberglauben  befangen  blieb.  (5o  fonnte  fi^  £utf)er  geit» 
lebens  nic^t  von  bem  jtarren  Su(i)ftobenglauben  ber  Sibel  befreien; 
er  oerteibigte  eifrig  bie  ßet)re  t>on  ber  5luferjtet)ung,  ber  Grbfünbe 
unb  ^räbejtination,  ber  9lec^tfertigung  burd^  ben  ©lauben  ufuj. 
t)ie  getoaltige  ©eijtestat  bes  ^opernüus  Dercoarf  er  als  9larrt)eit, 
tüeil  in  ber  Sibel  „5o[ua  bie  Sonne  jtinjtet)en  t)ie^  unb  ni^t  bas 
(Erbreid)".  gür  bie  grofeen  politifc^en  Umt»äl3ungen  [einer  3^tt, 
befonbers  bie  großartige  unb  oollbere^tigtc  Sauernberoegung,  l)atte 
er  fein  93erjtänbnis.  Sd^Iimmer  noc^  toar  ber  fanatifdfie  9?eformator 
(£alt)in  in  ©enf,  tüeld)er  (1553)  ttn  geijtrci(i)en  fpanifd^en  Arjt 
Seroeto  lebenbig  verbrennen  liefe,  ujeil  er  ben  unfinnigen  (Slauben 
an  bie  Dreieinig!eit  befämpfte.  äber{)aupt  traten  bie  fanati[(i)en 
„9?e(i^tgläubigen"  ber  reformierten  Äirc^e  nur  3U  oft  in  bie  blut= 
befledten  grufetapfen  if)rer  papijti[(f)en  Xobfeinbe,  toie  [ie  es  aucf) 
t)eutc  nodE)  tun.  ßeiber  folgten  aud^  ungel)eurc  ©reueltaten  ber 
9leformation  ouf  bem  gufee:  bie  Sartt)oIomdusnac^t  unb  bie  §uge=« 
notteno erfolgung  in  ^xanfxtid),  blutige  Re^erjagben  in  Italien,  lange 
^ürgerlriege  in  (Snglanb,  ber  ^Dreifeigjä^rige  i^rieg  in  Deutfd)Ianb. 
Aber  tro^  allebem  bleibt  bem  fed^3e{)nten  unb  [ieb3et)nten  ^a\)X' 
l^unbert  ber  9iu!)m,  bem  benfenben  SJlenfdjengeifte  jucrjt  roiebcr 
freie  ^al)n  gef^affen  unb  bie  S3ernunft  oon  bem  erftidenben  Drude 
ber  papijti[d)en  ^err[(^aft  befreit  3U  I)aben.  (Srjt  baburd)  rourbe 
bie  mäd)tige  (Entfaltung  oerfd^iebcner  9?idf)tÜngen  ber  fritifc^en 
^I)ilo[opl)ie  unb  neuer  ^Ba^nen  ber  9laturfor[d)ung  möglid),  loeldie 
bann  bem  folgenben  ad^t3et)nten  3ci^i^^iii^^^lt  ben  (Ehrentitel  bes 
„3al)rl)unbert5  ber  Aufflärung"  erroarb. 

IV.  !Da0  S(^etn(^rtftetttttm  bes  neunae^nten  So^^^^unberts. 
Als  oierten  unb  legten  §auptabfd^nitt  in  ber  (5efd)i^te  bes  (£t)rijten= 
tums  jtellen  roir  bas  19.  3<il)^^unbert  feinen  33orgängern  gegen* 
über.  SBenn  in  biefen  Ic^teren  bereits  bie  „Aufflärung"  nac^ 
allen  5?id)tungen  l)in  hit  fritifc^e  ^^iloj'opl)ie  gcförbert,  unb  xotnn 
\\)x  bas  Aufblül)en  ber  9latunDi[fenfd)aften  bie  jtär!jten  empiri[d)en 
SBaffen  in  bie  ^^änt^  gegeben  l)atte,  ■  fo  erf(^eint  uns  bo^  ber 
3rort[d)ritt  na(^  beiben  9iid)tungen  l)in  in  un[crem  19.  5ol)rl)unbcrt 


2Btffen[d)aft  unb  (5:t)rt|tcntum.  201 

ganj  getooltig;  es  beginnt  bamtt  toieberum  eine  gang  neue  ^ertobe 
in  ber  ®e[(^id^te  bes  S[Renfcf)engeijte5,  ^orafterifiert  burd)  bie  (£nt= 
Eöicfelung  ber  ntoni[tifd)en  9laturpI)iIo[opl)ie.  Sc^on  im 
beginne  besfelben  tourbe  ber  ©runb  %u  einer  neuen  5Intl)ropotogie 
gelegt  (burc^  bie  uergleic^enbe  5lnatomie  von  (Tuöier)  unb  3U  einer 
neuen  Biologie  (burc^  bie  Philosophie  zoologique  von  fiamarcf). 
Salb  folgten  Wjtn  beiben  großen  ^^tansofen  gtoei  ebenbürtige 
X)eut[(^e,  Saer  als  ©egrünber  ber  (£nttoidelungsgef^icl)te  (1828) 
unb  3ol)annes9Jlüller  (1834)  als  ber  ber  oergleic^ enben  9Jlorpl)o* 
logie  unb  ^l)i)[iologie.  (Sin  Srf)üler  bes  legieren,  2;^eobor 
(5cf)toann,  [d^uf  1838,  im  33erein  mitSKatt^ias  ScE) leiben,  bie 
grunblegenbc  3ßn^iitl)eorie.  (Bd)on  t)orl)er  l)atte  ßpell  (1830)  bie 
(£nttDi(!elungsgefcf)i(f)te  ber  (£rbe  auf  natürli^e  Ur[a(^en  jurüd* 
geführt  unb  bamit  aurf)  für  unferen  Planeten  bie  (Seltung  ber  med)a= 
nif^enÄosmogenie  beftätigt,  roelclieRant  bereits  1755  mit  fül)ner 
$anb  entworfen l)atte.  (£nblid)  töurbe  burd)  ^Robert  9Kai)er  unb 
§elml)olö  (1842)  bas  (Snergieprinsip  fejtgejtellt  unb  bamit  bie 
3tDeite,  ergän^enbe  Hälfte  bes  großen  Subftan3gefe^es  gegeben, 
it\^zn  erjte  Hälfte  bie  i^onjtanj  ber  SJlaterie,  fd)on  £aüoi[ier  1789 
entbedt  i)attc.  ^llen  biefen  tiefen  (£inbltden  in  bas  innere  2Be[en 
ber  Sflatur  [e^te  bann  1859  (£f)arles  I)arroin  bie  5^rone  auf  burc^ 
\tim  neue  (£nttDi(!elungslef)re,  bas  größte  naturp^ilo|'opl)if(f)e 
(Ereignis  bes  19.  ^o^^^unberts. 

9Bie  Derl)ält  fid^  nun  ju  biefen  getoaltigen  5o^*[<^i^tten  ber 
SRaturerfenntnis  bas  moberne  G^l)riftentum?  *3unä^jt  tourbe 
naturgemäß  bie  tiefe  5^luft  3tDi[rf)en  [einen  beiben  5öuptri(f)tungen 
immer  größer,  jroif^en  bem  fonferoatioen  ^apismus  unb  bem 
progreffiuen  ^rotejtantismus.  Der  ultramontane  i^lerus  (—  unb 
im  33erein  mit  it)m  bie  ortl)oboxe  „(Eoangelifd^e  ^llians"  — ) 
mußten  naturgemäß  jenen  -mä^tigen  (Eroberungen  bes  freien 
(Seiftes  ben  l)eftigften  SBiberftanb  entgegengehen;  [ie  oerl)arrten 
unbeirrt  auf  ii)rem  jtrengen  5Bu(^jtabenglauben  unb  oerlangten  bie 
unbebingte  ItntertDerfung  ber  23emunft  unter  bas  !Dogma.  Der 
liberale  ;^rote[tantismus  l)ingegen  üerflü(f)tigte  [i^  immer 
mel)r  gu  einem  moniftifc^en  ^antt)eismus  unb  jtrebte  nacE)  93er= 
[öf)nung  ber  beiben  entgegengefe^ten  ^ringipien;  er  [ucf)te  bie  un* 
üermeiblicl)e  ^nerfennung  ber  empirifdE)  betoiefenen  5Raturgefe^e 
unb  ber  baraus  gefolgerten  pl)ilo[opl)ii(^en  6^lü[[e  mit  einer  ge* 
läuterten  ^leligionsform  3U  oerbinben,  in  ber  freilid^  oon  ber 
eigentlichen  (5laubcnslel)re  faft  nichts  mef)r  übrig  blieb.  3^^[cf)e" 
beiben  (Extremen  bewegten  ]xä)  %a})lxtxd)t  ilompromißoerfurfie; 
barübcr  l)inaus  aber  brang  in  immer  roeitere  Greife  bie  Über* 
3eugung,  baß  bas  bogmati[c^e  (£l)rijtc^itum  überl)aupt  l^ötn  Soben 


202  Sieb3ef)ntes  Kapitel. 

Dcriorcn  l)ab^,  unb  )ia^  man  nur  [einen  coertüollen  et{)i[(^en  5nl)alt 
in  bie  neue,  monijti[d)e  9?eIigion  bes  20.  3al)rt)unberts  f)inüber= 
retten  tönm.  Da  jebod)  gleid)3eitig  bie  gegebenen  äußeren  ^rormen 
ber  ^err[d)enben  d)rijtlid)en  ^Religion  fortbcftanben,  ^a  [ie  [ogar 
tro^  ber  fortge[d)rittenen  poIiti[d)en  (gnttoidelung  mit  t>tn  praftif^en 
$8ebürfni[fen  bes  Staates  immer  enger  oerfnüpft  töurben,  ent= 
tüitfelte  [idf)  jene  tu eito erbreitete  religiöfe  3Beltan[cf)auung  ber  ge= 
bilbeten  5^rei[e,  bie  toir  nur  als  Sd)etn(i)ri[tentum  be3et(^nen 
fönnen  —  im  ©runbe  eine  „religiöfe  £üge"  bebeti!Iicf)jter  ^rt. 
Die  großen  ®efal)ren,  XDeId)e  biefer  tiefe  i^onflift  3U)i[cl^en  ber 
toat)ren  Uberjeugung  unb  bem  fal[(i)en  ©efenntnis  ber  mobernen 
8^ein(f)ri|ten  mit  \id)  bringt,  ^at  u.  a.  trefflid^  9Jiai  ?lorbau 
gef(^ilbert  in  feinem  intereffanten  2Ber!e:  „Die  fonocntionellen 
ßügen  ber  5lulturmen[(f)l)eit." 

inmitten  biefer  offenfunbigen  llntüa{)r{)aftigfeit  bes  l)errj'c^en= 
htn  (3(f)eind)rijtentum5  ift  es  für  htn  (^ort[<^ritt  ber  t»ernunft= 
gemäßen  lRaturer!enntnis  [e^r  toertcoll,  ba^  beffen  mä^tigfter 
unb  entfc^ieben^ter  ©egner,  ber  ^apismus,  um  bie  9Jlitte  bes 
19.  3a^rt)unberts  bie  alte  93?a$!e  angeblid)er  !^öl)erer  ©eijtesbilbung 
abgeworfen  unb  ber  [elbjtänbigen  9Bi[[en[(i)aft  als  [olcl)er  htn 
ent[(i)eibenben  „i^ampf  auf  Zo'o  unb  Beben"  angefünbigt  l)at.  (£s 
ge[df)al)  bies  in  brei  bebeutungsüollen  i^riegserüärungen  gegen  bie 
33ernunft,  für  beren  UnstDeibeutigfeit  unb  (£nt[d^tebenl)eit  bie 
mobeme  2Bi[[enJ(^aft  unb  i^ultur  bem  römifcf)en  „Stattl)alter 
(tf)rifti"  nur  banfbar  [ein  fann:  I.  ^m  De3ember  1854  oerfünbete 
ber  ^apjt  bas  Dogma  oon  ber  unbefledten  (Empfängnis 
SKariä.  II.  3^^"  5cil)re  [päter,  im  Desember  1864,  [pra(^  ber 
„l)eilig^  33ater"  in  ber  berüd)tigten  (£n3r)!li!a  bas  ab[olute 
93erbammungsurteil  über  bie  ganse  moberne  3iüiH[a  = 
tion  unb  (5ei[tesbilbung  aus;  in  bem  begleitenben  St)llabu5 
gab  er  eine  ^uf3äl)lung  unb  33erflud)ung  aller  einjelnen  23emunft= 
[ä^e  unb  pl)ilo[op^i[d)en  ^rinaipien,  toel(f)e  oon  un[erer  mobernen 
2Bi[[en[d)aft  als  [onnentlare  2Bal)rl)eit  anerfannt  [inb.  III.  d^nt^ 
licl)  [e^te  [ed)s  Za\)tt  [päter,  am  13.  3uli  1870,  ber  [treitbare 
5^ir(i)enfür[t  im  93atifan  [einem  ^tbertoi^  bie  i^rone  auf,  inbem  er 
für  [id)  unb  alle  [eine  SSorgänger  in  ber  ^apjtroürbe  bie  Un* 
fel)lbar!eit  in  5ln[prud)  na\)m. 

Unfe^lbarfett  bes  ^apftes.  Diefe  brei  tDi(f)tig[ten  ^!te  bes 
^apismus  im  19.  3al)^^unbert  roaren  [o  offenfunbige  (5öu[t[cl^läge 
in  bas  ^ntli^  ber  93ernunft,  bafe  [ie  [elbjt  innerl)alb  ber  ortl)DbojEen 
!atl)oli[d)en  krei[e  oon  Einfang  an  bas  l)öcl)[te  Seben!en  erregten. 
^Is  man  im  t)atifani[d)en  5^on3il  am  13.  5uli  1870  3ur  ^bftimmung 
über  bas  Dogma  oon  ber  Unf  el)lbar!eit  [diritt,  erllärten  [id)  nur 


2Bt[[en[d)aft  uub  (i:i)rtftetitum.  203 


brei  33tertel  ber  5^{r(i)enfürften  sugunftcn  bes[clben,  näTrtltc^  451 
oon  601  ^bltimmenbcn;  baju  fet)lten  no^  3af)Irct^c  anbete  58tf(^öfe, 
K)elcf)e  [id^  ber  gefäf)rlt(i)en  ^bfttmmung  entl)oIten  toollten.  5rt* 
be[[en  geigte  ]xd)  balb,  bafe  ber  fluge  unb  men[<f)en!unbtge  ^apjt 
rid)ttger  gerecf)Tiet  ^atte  als  bte  3ag!)aften  „befonnenen  5^att)oIt!en"; 
i)tnn  in  titn  Ietd)tgläubtgen  unb  ungebtlbeten  9Jla[[en  fanb  aud) 
biefes  ungeI)euerUd)e  t)ogma  tro^  aller  ®eben!en  bitnbe  ^nnal)me. 

Die  gange  (5e[d)td)te  bes  ^apfttunts,  tote  fie  »on  3U= 
üerläffigen  Ciuellen  unb  f)anbgreifli(^en  ]^ijtorif(i)en  Dofumenten 
uniüiberleglirf)  fejtgenagelt  ijt,  er[(i)eint  für 'ben  unbefangenen 
Renner  als  ein  getüiffenlofes  (Seroebe  oon  fing  unb  3^rug,  als  ein 
rüd[id)tsIofes  Streben  natf)  abfoluter  geijtli(f)er  §err[(f)aft  unb  toelt^ 
lid^er  SJia^t,  als  eine  frioole  33erleugnung  aller  ber  t)ot)en  fittli(i)en 
Gebote,  toeId)e  bas  wa^xt  (£t)rijtentum  prebigt:  9Jlen[df)enIiebe, 
unb  Dulbung,  2Bat)rt)eit  unb  5leuf(i)t)eit,  ^rmut  unb  (£ntfagung. 
2Benn  man  bie  lange  9?ei^e  ber  ^äpjte  unb  ber  römi[^en  Rircf)en=» 
fürften,  aus  benen  [ie  getöäl)lt  lourben,  narf)  bem  SJlafeftabe  ber 
reinen  rf)rijtli(^en  93ZoraI  niujtert,  ergibt  fi(^  flar,  bafe  bie  grofee 
5Utef)r3a!)l  berfelben  [d)antIo[e  ©auüer  unb  5Setrüger  toaren,  oiele 
Don  if)nen  nid)t5toürbige  33erbred)er.  Die[e  allbefannten  l)i[to  = 
ri[rf)en  Xai\aä)tn  f)inbern  aber  nid)t,  hai^  nod)  I)eute  SOlillionen 
■von  „gebilbeten"  gläubigen  5latt)oIi!en  an  bie  „llnfei)Ibar!eit"  biefes 
„f)eiligen  23ater5"  glauben  unb  bur(^  Spenben  von  „^eters= 
Pfennigen"  [ein  ^Regiment  ftü^en;  fie  l)inbem  nid^t,  ha^  nod)  ^eute 
proteftanti[d^e  dürften  nac^  5Rom  fat)ren  unb  bem  „t)eiligen  23ater" 
(il)rem  gefät)rli(f)jten  Oreinbe!)  it)re  33eret)rung  begeugen. 

en5t)!ltfa  unb  St)nobu$.  Unter  htn  angefül)rten  brei  großen 
(SeDoalttaten,  burd)  tDeId)e  ber  mobeme  ^apismus  in  ber  stoeiten 
$älfte  bes  19.  5a^rt)unberts  [eine  ab[oIute  §err[(^aft  gu  retten  unb 
3U  befejtigen  [u(i)te,  i[t  für  uns  am  intere[[ante[ten  bie  33er!ünbigung 
ber  (£n3t)!Iifa  unb  bes  SpIIabus  im  Desember  1864;  benn  in 
bie[en  benftoürbigen  ^ftenjtücfen  toirb  ber  S3emunft  unb  2Bi[[en* 
[d)aft  übert)aupt  jebe  [elbjtänbige  Xätigfeit  abge[prod)en  unb  \i)xc 
ab[oIute  Untertoerfung  unter  ttm  „allein[eligmad^ enben  ©lauben", 
b. !).  unter  bie  Defrete  bes  „unfet)Ibaren  ^apjtes",  geforbert.  Die 
unget)eure  (Erregung,  wdä)t  bie[e  mafelofe  (5red)t)eit  in  allen  ge= 
bilbeten  unb  unabl)ängig  benfenben  5^rei[en  i)ert)orrief,  ent[pra(f) 
bem  unge!)euerlid)en  3nf)alte  ber  C£n3i)!Ii!a;  eine  üortreffIid)e  (£r= 
örterung  i^rer  fulturellen  unb  poIiti[cf)en  Sebeutung  \)at  u.  a. 
Drap  er  in  [einer  (5e[d)i(^te  ber  Ronflüte  3roi[cf)en  9^eIigion  unb 
2Bi[[en[ct)aft  gegeben  (1875). 

UnbefleÄte  ©mpfänönis  ber  Sungfrau  aUaria.  SBenigcr  ein- 
[c^neibenb  unb  bebeutungsooll  als  bie  (Engpflüa  unb  als  bas  Dogma 


204  Steb5e{)ntes  5^apitel. 


ber  S^fonibilität  bcs  ^apjtes  crf(f)eint  otcllcidit  bas  Dogma  von 
bcr  unbcfledten  (Empfängnis.  3Tii>c[[en  legt  nirfit  nur  bte  römi[d^e 
$tcrar(i)ic  auf  biegen  ©laubensfa^  bas  !)öd)jtc  (5ctt)id)t,  [onbern  aucf) 
ein  3:cU  ber  ort^oboien  ^rotcjtanten  (3.  S.  bte  (£oangeIt[dt)e 
mutans).  Der  [ogenannte  „3ntma!ulatetb",  b.  ^.  bte  eibIt(J)e 
33er[td)erung  bes  (Glaubens  an  bic  unbefledte  (Empfängnis  ^IRariä, 
gilt  norf)  t)eute  SOlillionen  t)on  (£;i)rijten  als  I)eilige  ^flid)t.  93iele 
©laubige  oerbinben  bamit  einen  boppelten  Segriff;  [ie  bel)aupten, 
ba]3  bte  SJlutter  ber  Jungfrau  SOlaria  ebenso  burd^  titn  „^eiligen 
(öeijt"befrud)tettDorben[eitDiebiefe[elbjt.  5ebo(^  foll  urfprünglic^ 
bas  Dogma  ber  unbefledten  (Empfängnis  nur  bebeuten,  bajg  SFJaria 
[elbft  eine  3:oci)ter  bes  ^eiligen  (Seijtes,  unb  bat)er  frei  von  (£rb[ünbe 
[ei.  Die  Derglei(i)enbe  uttb  friti[d)e  Zi)toloQh  \)at  neuerbings 
nad)geijoiefen,  bafe  aud)  bie[er  9Ki)tt)us,  glei^  hm  meijten  anberen 
£egenben  ber  d^rijtlicf)en  9Kr)tt)oIogie,  feinestoegs  originell,  [onbern 
aus  älteren  orientati[d)en  ^Religionen,  befonbers  bem  Subbf)is  = 
mus,  übernommen  ijt.  3n)nlic^e  Sagen  f)atten  [c^on  mehrere 
3al)r^unberte  oor  (E!)rijti  (Seburt  eine  loeite  93erbreitung  in  S^bien, 
^er[ien,  5^Ieina[ien  unb  ®ried)enlanb.  SBenn  ilönigstö^ter  ober 
anbere  Jungfrauen  aus  {)öl)eren  Stäuben,  oI)ne  legitim  üert)eiratet 
3U  [ein,  burcf)  bte  (Seburt  eines  ilinbes  erfreut  rourben,  [0  tourbe 
als  ber  93ater  biefes  illegitimen  Sprößlings  meijtens  ein  „(Sott" 
ober  „Halbgott"  ausgegeben,  in  bie[em  Spalte  ber  mr)jteriö[e 
„^eilige  ©eijt". 

Die  (Er3äi)lung  ber  beiben  (Epangeliften  9JJatt^äus  unb  fiufas, 
bafe  aud)  9Jlaria  [elbft  com  t)eilig'en  ©eijtc  befrud)tet  unb  bemnac^ 
bie[er  rät[en)afte  ®ott  ber  iöaf)re  23ater  Don  (£l)riitus  [ei,  u)irb 
gegentDärtig  tjon  ben  meijten  !tt)eoIogen  als  eine  [päter  entjtanbenc 
Sage  ange[el)en;  [ie  bel)aupten,  t)a^  ber  iübi[^c  3iTrt^^^^ttnn 
3o[ep^  ber  tDir!li(^e  23ater  getüe[en  [ei.  5lnbere  toteber  erflären 
bie  unel)eli^e  ©eburt  (Ef)rifti  burii)  folgenbe  Eingabe  eines  apo= 
fri)pl)en  (Eoangeltums,  auf  u)eld)e  [id)  aud^  (Eel[us  (178  n.  (E^r.) 
be3iel)t:  „Jof^P^ws  ^anbera,  ber  römi[cf)e  Hauptmann  einer 
!alabre[i[d)en  £egion,  toeli^e  in  Jubäa  [tanb,  t)erfül)rte  SJlirjam 
von  Setl)lel)em,  ein  f)ebräi[cl)e5  93Zäbd)en,  unb  rourbe  ber  93ater 
von  3c[us."  Die[c  £egenbe  fanb  be[onbers  bei  jenen  3^eologen 
Seifall,  toeld^e  bie  übematürlid^e  (Erseugung  (El)rijti  (burd)  'öm 
I)eiligen  (Seift)  leugneten,  aber  als  [einen  natürlichen  Sater  ni^t 
einen  3uben  (ben  3tmmermann  3o[epl)),  [onbern  einen  (5ried)en 
(htn  Hauptmann  ^anbera  ober  ^antl)eras)  anerfannt  3U  [e^en 
iDün[(^ten.  $i[tori[c^e  3cii9Tti[[e,  Ut  tDi[[en[d)aftli(l^c  Sebeutung 
beon[prud)en,  fönnen  toeber  für  bic  SBa^r^eit  ber  einen  nod)  ber 
anberen  Sage  gefunben  toerbcn. 


2Bi[[enf^aft  unb  C^riltcntum.  205 

3ntcrc[font  ijt  übrigens  bie  ocr|(f)tebcne  ^uffa[[ung  unb  Se« 
urtetlung,  tDcId)c  biefcr  angcbltd)e  fitebesroman  ber  SJlirjam  oon 
fetten  ber  uter  großen  d)riftli(f)en  5luItumattonen  Chiropas  erfof)ren 
l)at.  ^ad)  ben  jtrengeren  äRoralbegriffen  ber  germani[(^en 
9taffen  toirb  berfelbe  [d)Ied)ttDeg  oerroorfen;  lieber  glaubt  ber  et)rli(^e 
T)eut[(i)e  unb  ber  prübe  Srite  blinb  an  bie  unmögli(i)e  Sage  t)on 
ber  (Srseugung  burcf)  ben  „^eiligen  ©eijt".  2ßie  befannt,  cntfpric^t 
biefe  ftrenge,  [orgfältig  gur  S^au  getragene  ^rüberie  ber  feineren 
(5e[en[(i)aft  (befonbers  in  (Snglanb  !)  feinestoegs  bem  mai)xtn  3u» 
jtanbe  ber  [eiuellen  Sittlid)!eit  in  beut  bortigen  „High  life".  Die 
(Enthüllungen  3.  $ß.,  roelcfie  barüber  üor  einigen  5at)ren  bie  „^all 
9JiaII  ©ajette"  brad)te,  erinnerten  fet)r  an  bie3uftänbe  t)onSabt)Ion 
unb  an  bas  9?om  ber  5lai[er3eit. 

Die  romani[d)en  9?a[[en,  tDeId)e  bie[e  ^rüberie  Derlact)en 
unb  bie  [eiuellen  33erl)ältni[[e  leichtfertiger  beurteilen,  finben  jenen 
„91  Oman  ber  S[Raria"  recf)t  an5iet)enb,  unb  ber  be[onbere  Äultus, 
beffen  gerabe  in  5ran!rei^  unb  Italien  „Hnfere  liebe  gtau"  [id) 
erfreut,  ijt  oft  in  nterfroürbiger  9lait)etät  rnit  jener  fiiebe5gefd)ii)te 
uerfnüpft.  So  finbet  3.  ©.  ^aul  be  5RegIa  (Dr.  Desjarbin), 
iDeIcf)er  (1894)  „3e[us  t)on  9^a3aretl)  üom  toi[[en[d)aftIid)en,  ge[^id)t= 
U(i)en  unb  gefellfc^aftlicfien  Stanbpunfte  aus  bargejtellt"  t)at,  gerabe 
in  ber  une{)eIidE)en  ©eburt  (S;t)ri[ti  ein  befonberes  „^nrect)t 
auf  ^tn  $eiligenfd)ein,  ber  feine  \)tnl\d)t  ©ejtalt  umftra^It" ! 

Der  Streit  über  biefe  brei  oerfi^iebenen  9Hi)tt)en  oon  ber  93ater« 
f(^aft  C£t)rijti,  ber  nod)  3U  (£nbe  bes  19.  3öl)t^unberts  bie  3:t)eoIogen 
Iebt)aft  erregte,  l)at  gegentoärtig  an  ^ntereffe  fel)r  oerloren.  Denn 
bie  überrafd^enben  gortfd)ritte  ber  Dergleid)enben  ^leligionsge* 
]d)id)h  \)abtn  bas  ganse  orientaIif(i)e  ^ra(i)tgebäube  ber  ^rif  tlid)  en 
50li)tf)ologiein  feinen  ©runbfeften  erf (füttert.  Das  reine  S^^ttl' 
bilb  oon  3cfw5  (If)riftus,  beffen  ert)abene  3üge  ber  ©laubige  aus 
beut  5Reuen  Xeftament  fid^  3ufammenfe^t,  f)at  als  tüirnicf)er  9Plenfd) 
(ober  „(Sottntenfct)")  in  biefer  93oII!omnten]^eit  niemals  auf  unferem 
Planeten  eiijtiert.  Der  t)o^e  etl)ifd^e  2Bert  bes  urfprünglic^en 
reinen  (£t)riftentums,  ber  oerebelnbe  (Einfluß  biefer  „^Religion  ber 
£iebe"  auf  bie  5^ulturgef(i)id)te,  ijt  gang  unabpngig  üon  jenen 
mr)tl)oIogifc^en Dogmen.  Die angeblid^en „Offenbarungen",  auf 
toeli^e  fid)  biefe  9tRi)tl)en  ftü^en,  finb  bagegen  (— ebenfo  toie  fämt= 
Iid)e  2Bunbergefc^i(f)ten  bes  ^Iten  unb  bes  bleuen  ^^eftaments  — ) 
(Srseugniffe  ber  bid)tenben  ^f)antafie;  fie  bleiben  unoereinbar  mit 
ben  fid)erjten  (Ergebniffen  unferer  mobernen  9laturerlenntnis. 


206  ^c^t3el)ntes  Äapitcl. 


Httfere  tnottiftifij^e  Sleligtott^ 

^oniftifc^c  6tubicn  über  bie  9^eligion  ber  Q3crttunft  unb 

i(;re  Äormonie   mit   bcr  ^iffenfcfjaft     0ie   brei  ^ultu^-- 

ibeoic  be^  ^a^rcn,  ©uten  unb  6cf)5nett. 

33iele  unb  [c^r  angelesene  ^Jaturforfc^er  unb  WIo[opI)en  ber 
(Begenroart,  n)eld)e  un[ere  monijtifc^en  itberseugungen  teilen, 
I)alten  bie  5?eIigion  übert)aupt  für  eine  abgetane  Sad)e.  (»ie 
meinen,  bafe  bie  flare  (£in[id)t  in  bie  2BeItentn>idfelung,  bie  mix  ben 
gexoalügen  (£r!enntni5fort[(t)ritten  bes  19.  5al)rl)unbert5  t)erban!en, 
nid^t  blofe  t)a5  ilaufalitätsbebürfnis  unferer  Sßernunf  t  »ollfontmen 
befriebige,  [onbern  au^  bie  l)öd)jten  ©efüblsbebürfniffe  unseres 
(öemütes.  I)ie[e  5rn[td)t  ijt  in  geraiffent  Sinne  ri^üg,  infofern 
bei  einer  »ollfornmen  flaren  unb  foIgerid)tigen  ^uffa[[ung  bes 
äFlonismus  tat[ädE)Iicf)  bie  beiben  ^Begriffe  oon  9?eI{gion  unb  3Bi[|en= 
f^aft  3U  einem  mit  einanber  üer[cbmel5en.  3nbef[en  nur  ujenige  ent= 
f^Ioffene  Denfer  ringen  [icb  gu  biefer  I)öd)ften  unb  reinften  ^uf= 
fa[[ung  von  Spinoja  unb  ©oeti)e  empor;  t)ielmet)r  oerbarren 
bie  meijten  ©ebilbeten  unferer  3eit  bei  ber  Hbergeugung,  bafe  bie 
9leIigion  ein  [elbjtänbiges,  oon  ber  2Bif[en[(i)aft  unabbängiges 
(Sebiet  unferes  ©eijteslebens  barjtelle,  nici)t  minber  loertooll  unb 
unentbebriid)  oIs  bie  le^tere. 

2Benn  rair  biefen  Stanbpunft  einnehmen,  fönnen  toir  eine  Sßer« 
[öbnung  5tt)i[(i)en  jenen  beiben  großen,  anfd)einenb  getrennten  (5e= 
bieten  in  ber  ^uffaffung  finben,  roeI(i)e  idf  1892  in  meinem  ^Iten= 
burger  33ortrage  niebergelegt  i)abe:  „Der  SDZonismus  als  ©anb 
3tDi[cben  9?eIigion  unb  2Bi[[en[d)aft"  (14.  ^ttufl.  1908).  3n  bem 
33oru)ort  gu  biefem  „©laubensbefenntnis  eines  9flaturfor[(^ers" 
I)abe  id)  mid)  über  ht]\tn  boppelten  3^^^  ntit  folgenben  SBorten 
geäujgert:  „(£rjtens  möd)te  icf)  bamit  berjenigen  oernünftigen 
2ßeltan[d)auung  ^usbrud  geben,  roeIcf)e  uns  burd)  bie  neueren 
Sortfcbritte  ber  einbeitlicben  9flaturer!enntnis  mit  logif^er  9Zot= 
ujenbigfeit  aufgebrungen  toirb;  [te  toobnt  im  3nnerften  oon  fajt 
allen  unbefangenen  unb  ben!enben  ?iaturfor[(i)ern,  toenn  aud)  nur 
roenige  ben  9Jiut  ober  bas  Sebürfnis  l)abtn,  [ie  offen  5U  befennen. 
3u)eitens  möd)te  id)  baburd)  ein  Sanb  3tDi[d)en  3?eltgion  unb 
2Bi[[en[d)aft  fnüpfen  unb  [omit  jur  ^usgleid)ung  bes  ©egen» 


Unferc  momjtt[d)e  ^Religion.  207 

fa^cs  beitragen,  tDeId)er  3tDi[d)en  biefen  beiben  (Gebieten  ber  I)öd)jten 
men[d){td)en  ©eiitestäügfeit  unnötigerroeife  aufred)t  err)alten  toirb; 
i>a5  et^i[d^e  SBebürfnis  unferes  ©etnütes  XDirb  burrf)  "ttn  StRomsmus 
ebenfo  befrtebigt  rote  bas  Iogi[d)e  ilaufaUtätsbebürfms  unferes 
33er[tanbc5." 

Die  jtarfe  2Bir!ung,  tDeI(i)e  biefer  ^Itenburger  93orttag  I)atte, 
betoeijt,  bafe  id)  mit  bie[em  Tnonijti[(i)en  ©laubensbefenntnis  nid^t 
nur  bas  oieler  5Uaturforfd)er,  [onbern  auä)  3at)Ireid)er  gebilbeter 
9J?änner  unb  grauen  aus  oerfc^iebenen  ®erufs!rei[en  au5ge[procf)en 
I)atte.  ^d)  burfte  biefen  unerroarteten  (Erfolg  um  [o  l)öi)er  ari= 
[cf)Iagen,  als  jenes  C5Iaubensbe!enntnis  urfprünglid)  eine  freie  (5c= 
Iegen!)eitsrebe  toar,  bie  unvorbereitet  am  9.  Ottober  1892  in  ^Iten= 
bürg  tDäf)renb  bes  Jubiläums  ber  9^aturfor[d)enben  (5efeU[(i)aft 
bes  Ojterlanbes  entjtanb.  9ZatürIi(^  erfolgte  au^  balb  bie  not= 
roenbige  ®egenioirfung  nad)  ber  anberen  8ette;  ic^  lourbe  ni(i)t 
nur  Don  ber  ultramontanen  treffe  bes  ^apismus  auf  bas  ^ef= 
tigfte  angegriffen,  üon  ben  gefc^toorenen  93erteibigern  bes  ^ber= 
glaubens,  [onbern  auc^  oon  „liberalen"  5^riegsmännern  bes  eoange^ 
Iifd)en  (£t)riftentums,  tDeId)e  foroot)!  bie  u)i[fen[c^aftlict)e  2BaI)r^eit 
als  auc^  ttn  aufgegärten  ©lauben  3U  vertreten  bel)aupten.  9Zun 
I)at  [ic^  aber  ber  grofee  5lampf  3toi[d)en  ber  mobernen  9laturr»if[en= 
[d)aft  unb  bem  ortl)oboien  (£f)rijtentum  [eitbem  immer  brol)enber 
gestaltet;  er  ijt  für  bie  erjtere  um  [o  gefäl)rlicf)er  getoorben,  je 
mäd)tigere  Unterftü^ung  bas  le^tere  burd)  bie  roa(f)[enbe  geijtige 
unb  politi[d)e  9lea!tion  gefunben  l)at.  I)iefe  ift  in  mand^en  £änbern 
[d)on  \o  toeit  t)orge[cf)ritten,  tal^  bie  gefe^lid)  garantierte  X)tnh  unb 
®eroi[[ensfreil)eit  praftifcl)  f^toer  gefäl)rbet  roirb.  ^n  ber  3:at  l)at 
ber  grofee  rocltge[d)id)tlicf)e  ®eijtes!ampf,  toelc^en  3ol)n  Drap  er 
in  jeiner  „®efd)id)te  ber  Äonflüte  jroifd^en  9leligion  unb  2Bi[ien= 
fc^aft"  üortrefflid)  [rf)ilbert,  l)eute  eine  Sd)ärfe  unb  Sebeutung 
erlangt  roie  nie  suoor;  man  be5eid)net  it)n  besl)alb  feit  1872  mit 
5Red)t  als  „5^ultur!ampf". 

2)cr  Äulturf ampf.  X)ieberül)mte(£n3t)!li!anebjt  SpUabus, 
iDelcl)e  ber  streitbare  ^apjt  ^ius  IX.  1864  in  alle  2Belt  ge[anbt  I)atte, 
erflärte  in  ber  §aupt[a^e  ber  gansen  mobernen  äBi[[enfrf)aft  h^n 
i^rieg;  [ie  forberte  blinbe  Hnterroerfung  ber  Jßemunft  unter  bie 
Dogmen  bes  „unfet)lbaren  (5tattl)alters  6:i)rilti".  Das  Hngel^euer- 
licf)e  unb  Hnerl^örte  bies  brutalen  Attentates  gegen  bie  l)ödE)jten 
(Süter  ber  5^ulturmen[d)f)eit  rüttelte  [elbft  Diele  tröge  unb  inbolente 
(öemütcr  aus  it)rem  geu)ol)nten  ©laubensfd^lafe.  3^  33ereine 
mit  ber  nacf)folgenben  23ertünbung  ber  päpjtlid)en  Unfe^lbarfeit 
(1870)  rief  bie  (£n3i)!li!a  eine  toeitgelienbe  (Erregung  ^eroor  unb 
eine  energi[d)e  AbtDel)r,  ii)eld)e  3U  ben  bejten  Hoffnungen  bered^tigte. 


208  5l(^t3Cf)nte5  kapxitl 


5n  bcm  neuen  Deut[d)en  9?eid)e,  bas  In  ben  5^ämpfen  pon  1866 
unb  1871  unter  fd)tDeren  Opfern  [eine  nattonale  (£ini)ett  errungen 
()atte,  rourben  bte  frecf)en  Attentate  bes  ^apismus  befonbers  [d)U)er 
empfunben;  benn  einerfeits  ift  Deutfd)Ianb  bie  ©eburtsjtätte  ber 
^Deformation  unb  ber  ntobernen  ©eijtesbefreiung;  anbererfeits  ober 
befi^t  es  leiber  in  [einen  20  äRillionen  Kat^olüen  ein  ntäd)tige5 
$eer  oon  jtreitbaren  ©laubigen,  tDeId)e5  an  blinbent  ©el)or[am 
gegen  bie  ^efel)Ie  [eines  £)bert)irten  von  feinem  anberen  Kultur« 
üolfe  übertroffen  roirb.  (£l)ri[tU5  [agt  3U  ^etrus:  „SBeibe  meine 
Sd)ofe!"  Die  9la^!ommen  auf  bem  Stuhle  ^etri  l)aben  bas 
„SBeiben"  in  „8rf)eeren"  über[e^t.  Die  f)ieraus  ent[pringenben 
(5efat)ren  er!annte  mit  üarem  ^M  ber  gewaltige  Staatsmann,  ber 
bas  •„poIiti[d^e  2BeIträt[eI"  ber  beut[^cn  9lational3erri[[enl)eit  ge= 
löft  unb  uns  burd)  [eine  betounbenrngsroürbige  Staats!un[t  3U  bem 
er[el)nten  3iele  nationaler  (Sinbeit  unb  9Jlad)t  gefül)rt  l)atte.  gürft 
Sismard  begann  1872  jenen  benftoürbigen,  oom  93ati!an  auf= 
gebrungenen  Äulturfampf,  ber  oon  bem  ausge3eid)neten 
.Hultusminijter  O^al!  bur^  bie  „S[Raige[e^gebung"  (1873)  eben[o 
flug  als  energi[d^  gefül)rt  rourbe.  £eiber  mufete  er  [(f)on  [e(^s  3al)re 
[päter  aufgegeben  roerben.  £)btüol)I  un[er  gröfeter  Staatsmann 
ein  0U5ge3eidE)neter  9Jten[(i)en!enner  unb  fluger  9?eaIpoIiti!er  toar, 
I)atte  er  bod)  bie  SO'Ja(i)t  üon  brei  getoaltigen  $inberni[[en  unter* 
[(i)ä^t:  crjtens  bie  unübertroffene  S(i)Iaul)eit  unb  gett)i[[enIo[e 
^erfibie  ber  römi[d)en  Äurie,  stoeitens  bie  ent[pred)cnbe  (5ebanfen= 
Io[ig!eit  unb  £eid^tgläubig!eit  ber  ungebilbeten  !ati^oIi[d^en  9Jia[[en, 
auf  tDel(i)e  [i^  bie  erjtere  jtü^te,  unb  brittens  bie  5öta^t  ber  3:rägt)eit, 
bes  5ortbe[tet)ens  bes  Hnoernünftigen,  blofe  toeil  es  ba  i[t.  So 
mufete  benn  [d)on  1878,  na(i)bem  ber  flügere  ^apjt  fieo  XIII.  [eine 
9legierung  angetreten  l)atte,  ber  [d)tDere  „(Sang  nad)  (£ano[[a" 
tt)iebert)oIt  toerben.  Die  neu  gejtärfte  9Jiad)t  bes  95ati!ans  nai)m 
[eitbem  toieber  mäd^tig  3U,  einer[eits  burcf)  bie  geroi[[enlo[en  9Dän!e 
unb  S(i)IangentDinbungen  [einer  aalglatten  5e[uitenpoIiti!,  anberer= 
[eits  burd)  bie  fal[c^e  i^ird)enpoIitif  ber  beut[d)en  9lei(^sregierung 
unb  bie  merftoürbigc  poIiti[d^e  Hnfäf)ig!eit  bes  beut[d)en  93oI!es. 
So  mußten  xoir  benn  am  Sd)lu[[e  bes  19.  3cil)rt)unberts  bas  be= 
[d)ämenbe  S^au[piel  erleben,  bafe  bas  [ogenannte  „3entrum  im 
Deut[ci^en  5Reid)stage  strumpf"  toar,  unb  ha)^  bie  ©ej^ide  un[eres 
gebemütigten  23aterlanbes  oon  einer  papi[ti[d)en  gartet  geleitet 
tDurben,  beren  5^bpf3a^l  no(^  nid)t  ben  britten  3:eil  ber  gansen  ®e* 
üölferung  beträgt. 

^Is  ber  beut[^e  5^ultur!ampf  1872  begann,  tourbe  er  mit 
pollcm^iec^tc  üon  allen  frei  bcnfenben  9J?önnem  als  eine  poIiti[d)e 
(Erneuerung  ber  ^Deformation  begrüßt,  als  ein  eneröi[d)er  a)er[ud), 


Unfcrc  moniftifc^c  «Religion.  209 

bic  möbcrne  5\ultur  von  bcm  ^o^t  bcr  papijtifc^cn  ®ctjtc5tt)rannei 
3u  befreien;  bie  gefamte  liberale  ^ref[e  feierte  gürjt  IBismard  als 
„politi[ci)en  fiutl)er",  als  ben  geroaltigen  gelben,  ber  ni(i)t  nur  bie 
nationale  (Einigung,  [onbern  aurf)  bie  geiftige  ^Befreiung  X)eut[d)= 
lanbs  erringe.  3^^^  S^^^^^  [päter,  nacf)bem  ber  ^apismus  gefiegt 
l)atte,  bef)auptete  biefelbe  „liberale  ^re[[e"  t>a5  (Segenteil  unb  er= 
Härte  titn  5lultur!ampf  für  einen  großen  ^t\)Ux;  unb  basfelbe  tut 
[ie  nod)  l)eute.  X)ie[e  Zai\ad)t  betoeijt  nur,  toie  furj  bas  ©ebäd)tni5 
unserer  3ßitung5[(^reiber,  tüie  niangelt)aft  i!)re  i^enntnis  ber  (5e= 
[c^ict)te  unb  ujie  unt)oll!ontmen  il)re  pl)ilo[opf)i[(^e  $Bilbung  ift. 
X>er  [ogenannte  „(^rieben5[cf)lufe  3tüi[c^en  Staat  unb  5lird)e"  i|t 
immer  nur  ein  2Baffenftillftanb-  X)er  moberne  ^apismus,  getreu 
ittn  ab[oluti|ti[cf)en,  [eit  1600  3öl)ren  befolgten  ^rinsipien,  toill 
unb  mufe  bie  ^neinl)err[d)aft  über  bie  leicf)tgläubigen  Seelen 
bel^aupten;  er  mufe  bie  ab[olute  Unterwerfung  bes  i^ulturjtaates 
forbern,  ber  als  [old)er  bie  9led^te  ber  33ernunft  unb  3Binenf(f)aft 
vertritt.  2Bir!lid)er  (5fnebe  !ann  erft  eintreten,  toenn  einer  ber 
beiben  ringenben  Kämpfer  beroältigt  am  Soben  liegt.  (Enttoeber 
[iegt  bie  „allemfeligmai^enbe  ilird^e",  unb  bann  l)ört  „freie  2Bi[[en* 
[c^aft  unb  freie  £el)re"  überl)aupt  auf;  bann  toerben  fiel)  un[ere 
UniDer[itäten  in  Ronvittt,  unfere  ©pmnafien  in  5^lofter[cl)ulen  »er* 
toanbeln.  Ober  es  [iegt  ber  moberne  33emunftftaat,  unb  bann 
toirb  fid)  im  20.  3al)rt)vinbert  bie  men[(^lid)e  Silbung,  5reil)eit  unb 
3Bol)ljtanb  in  nocl)  roeit  l)öl)erem  SJlafee  fort[d)reitenb  enttoideln, 
als  es  im  19.  erfreulicl)ertDei[e  ber  gall  getoefen  ijt.  (S3ergl.  l)ierüber 
(£buarb  ^artmann,  Die Selbftjerfe^ung bes (£l)rijtentums,  1874.) 
®erabc  jur  göi^^^ung  biefer  l)ol)en  3icl^  er[d)eint  es  l)ö^jt 
roid)tig,  tia^  bie  moberne  9latura)i[[en[(i)aft  ni(i)t  blofe  bie  3Bal)n= 
gcbilbe  bes  5lberglaubens  sertrümmert  unb  beren  toüften  Schutt 
aus  bem  SBege  räumt,  [onbern  bafe  [ie  audf)  auf  bem  frei  geu)orbenen 
Saupla^e  ein  neues  tDol)nli(t)e5  ©ebäube  für  bas  men[c^lic^e 
(Semüt  I)erri(f)tet;  einen  ^ala[t  ber  SSernunft,  in  roel^em  loir 
mittels  un[erer  neu  gewonnenen  moni[ti[cf)en  2Beltan[d)auung  bie 
tr)at)re  „I)reieinig!eit"  bes  19.  ^o^^^w^^J^erts  anbäd)tig  »ereljren, 
bie  3:rinität  bes  2ßaf)ren,  (guten  unb  Sd)önen.  Um  t)tn 
Rulins  bie[er  göttlid)en  3^eale  greifbar  gu  gejtalten,  er[(^eint  es 
Dor  allem  nottoenbig,  uns  mit  "ütn  t)err[(^enben  ^teligionsformen 
bes  (ri)ri[tentums  auseinanber3u[e^en  unb  bie  33eränberungen 
ins  ^uge  3U  fa[[en,  £oeld)e  bei  beren  (£r[e^ung  burd)  erjtere  gu  er* 
[treben  [inb.  Denn  bie  rf)ri[tli(f)e  9?eligion  be[i^t  (in  il)rer  ur* 
[prünglid)en,  reinen  gorml)  tro^  aller  3i^i^tümer  unb  StRängel 
einen  [o  l)ol)en  [ittli(t)en  2Bert,  [te  ift  cor  allem  [eit  anbertl)alb  ^Qi)X' 
tou[enben  [o  eng  mit  ben  ojid)tig[ten  [o3ialen  unb  politi[d)en  (£in= 
.       Äacrtet,  qOßelträtfet.  14 


210  md)t3cf)ntcs  Äapitcl. 


rid)tungen  unfcrcs  Kulturlebens  vtxwa(i)\tn,  ita'ii  coir  uns  bei  SBe« 
grünbung  unferer  monijttfcf)cn  9?eligion  möglt^jt  an  bie  bejtefycnbcn 
^njittutionen  anlel)nen  muffen.  2Btr  toollen  feine  getoaltforne 
^Reoolution,  Jonbern  eine  »ernünftige  ^Reformation  unferes 
religiöfen  ©eijteslebens. 

I.  2)a5  3beol  bet  Söa^r^ett.  2Bir  f)aben  uns  burd)  bie  t)orl)er= 
gef)enben  ^etrad)tungen  (bejonbers  im  erjten  unb  britten  ^b* 
|d)nitt)  überaeugt,  bafe  bie  reine  2Bal)rl)eit  nur  in  bem  Stempel  ber 
9^aturer!enntnis  3U  finben  ift,  unb  ha^  bie  einsigen  brau(i)baren 
Sßege  gu  bemjelben  bie  !ritifd)e  „^eobad)tung  unb  ^Refleiion"  [inb, 
bie  empiri[d)e  (£rfor[d)ung  ber  3:at|ad)en  unb  bie  oernunftgemäfee 
(£r!enntnis  il)rer  betoirfenben  Hr[a(f)en.  So  gelangen  loir  mittels 
ber  reinen  93ernunft  3ur  xoa^ren  2Bi[fen|^aft,  bem  !ojtbarften 
S(i)a^e  ber  5^ulturmen[(f)l)eit.  Dagegen  mü[[en  toir  aus  ben  ge= 
rüirfjtigen,  im  16.  i^apitel  erörterten  Urfarf)en  jebe  [ogenanntc 
„Offenbarung"  ablel)nen,  jebe  (5laubensbid)tung,  roeli^e  be* 
f)auptet,  auf  übernatürlid)em  3Bege  2Bal)rl)eiten  ju  er!ennen,  ju 
beren  (Sntbedung  unjere  23ernunft  ni(i)t  ausreicht.  Da  nun  bas 
ganse  (Slaubensgebäube  ber  iübijd)*d)riftli(i)en  9?eligion,  ebenfo 
toie  bas  i5lamitijd)e  unb  mul)amebani|d)e,  auf  [old)en  angeblidfen 
Offenbarungen  berul)t,  "ba  ferner  bieje  mi)jti[d)en  ^l)antafieprobu!te 
bire!t  ber  Haren  empirifd^en  9^aturer!enntnis.iDiber[pred)en,  [0  ijt 
es  fid)er,  bafe  toir  bie  2ßal)rl)eit  nur  mittels  ber  93ernunfttätig!eit 
ber  ed)ten  2Bi[fen|d)aft  finben  tonnen,  nidE)t  mittels  ber  ^l)an* 
ta[iebid)tung  bes  mt)fti[d)en  (Blaubens. 

Die  ©öttin  ber  aBal)rI)eit  tDol)nt  im  Tempel  ber  S^latur,  im 
grünen  3Balbe,  auf  bem  blauen  äReere,  auf  ben  [d)neebebecften 
(5ebirgsl)öl)en;  —  aber  nid)t  in  ben  bumpfen  fallen  ber  SHöjter, 
in  ben  engen  inertem  ber  5^onoi!tfdE)ulen  unb  nid)t  in  t>^n  toeil)raud)= 
buftenben  ^rijtli^en  5^ird)en.  Die  SBege,  auf  benen  loir  uns 
biefer  l)errli(^en  ©öttin  ber  9[Bal)rl)eit  unb  (£r!enntnis  näf)em,  finb 
bie  liebeoolle  (£rforfd)ung  ber  ?iatur  unb  it)rer  (5e[e^e,  bie  ^e= 
pbacl)tung  ber  unenbli(^  großen  Sternenroelt  mittels  bes  üeleffops, 
ber  unenblicf)  tleinen  3cHentr)elt  mittels  bes  9}?i!roffops;  —  aber 
nic^t  [innlofe  5lnbad)t5übungen  unb  geban!enlo[e  ©ebete,  nid)t  bie 
Dpf ergaben  bes  ^blaffes  unb  ber  ^eterspfennige.  Die  tojtbaren 
(5abm,  mit  benen  uns  bie  ©öttin  ber  9Bal)rl)eit  befd^entt,  [inb  bie 
l)errlid)en  5i^üd)te  oom  5Baume  ber  (Erfenntnis  unb-ber  un[d)ä^bare 
(öetüinn  einer  tlaren,  .einl)eitlid)en  2Beltan[c^auung,  —  aber  nic^t 
ber  ©laube  an  übernatürli(i)e  „SBunber"  unb  bas  2Bal)ngeb{lbe 
eines  „etoigen  fiebens". 

II,  !Do$  ^t>tal  ber  Xugenb.  ^nbers  als  mit  bem  croig  3Bal)ren 
oerplt  es  [xd)  mit  bem  ©ottesibcal  bes  etoig  (Buten.    2Bäl)renb  bei 


Hnfcrc  monijtifdje  3?eItgion.  211 

ber  (£r!enntnis  ber  2Bat)rl)ett  bie  Offenbarung  ber  Äird)e  üöllig 
au63u[(i)liefecn  unb  allein  bie  C£rfor[d)ung  ber  9Zatur  ^u  befragen 
ift,  fällt  bagegen  ber  Inbegriff  bes  ©uten,  ben  toir  3:ugenb  nennen, 
in  unferer  monijti[d)en  ^Religion  größtenteils  mit  ber  dE)rijtlid)en 
Xugenb  ^ufammen;  natürlid)  gilt  bas  nur  von  bem  ur[prünglid)en, 
reinen  (!Ll)rijtentum  ber  brei  erjten  ^ß^i^^unberte,  toie  beffen  Jtugenb» 
lel)ren  in  ben  (Eoangelien  unb  in  ben  paulinifd^en  ©riefen  nieber= 
gelegt  [inb;  —  es  gilt  aber  nicf)t  von  ber  j)ati!ani[d)en  5lari!atur 
jener  reinen  fief)re,  toeld)e  bie  europäi[d)e  5lultur  3U  il)rem  unenb* 
lid)en  (Bä)a'i>tn  burc^  3tDölf  5al)r^unberte  bel)errfcl)t  \)at  Den 
bejten  Xeil  ber  ^rijtlid^en  SJloral,  an  bem  roir  feftl)alten,  bilben  bie 
^umanitätsgebote  ber  Jßiebe  unb  Dulbung,  bes  SKitleibs  unb  ber 
$ilfe.  SRur  jinb  biefe  eblen  ^flicl)tgebote,  bie  man  als  „d)riftlid)e 
SJioral"  (im  bejten  Sinne!)  sufammenfafet,  feine  neuen  (Erfinbungen 
bes  (£l)riftentums,  fonbern  [ie  [inb  von  bie[em  aus  älteren  9ieligions= 
formen  l)erübergenommen.  ^n  ber  3:at  ijt  ja  bie  „®olbene 
Siegel",  roeld)e  biefe  ©ebote  in  einem  Sa^e  3u[ammenfaßt,  3öl)t= 
l)unberte  älter  als  bas  (£l)rijtentum.  ^n  ber  ^raiis  bes  £ebens 
aber  lüurbe  biefes  natürlid^e  Sittengefe^  ebenfo  oft  üon  5ltl)eijten 
unb  9flid)td^riften  jorgfam  befolgt  als  oon  frommen,  gläubigen 
(£l)rijten  außer  ad^t  gela[|en.  'äud)  beging  bie  d)ri|tlid^e  3^ugenb= 
lel)re  einen  großen  i^ttjiht,  inbem  [ic  einfeitig  ben  Altruismus 
3um  ©ebote  erl)ob,  ben  (Egoismus  bagegen  oertoarf.  Unfere 
monifti[cf)c  (£tl)if  legtbeiben  gleid)en  SBert  bei  unb  finbet  bie 
üollfommene  3^ugenb  in  bem  ricl)tigen  ©leid^geroidit  oon  SRäd^jten» 
liebe  unb  (Eigenliebe.  (33ergl.5^apitel  19.  Das  ett)ifcl)e  ©runbgefe^.) 

III.  ^as  3i>col  ber  Si^önl^eit.  3"  t)ielfad)en  ©egen[a^  3um 
(£;i)rijtentum  tritt  unfer  9[Ronismu5  auf  bem  ©ebiete  ber  (Bä)öni)tit 
Das  urfprünglii^e,  reine  (£l)rijtentum  prebigte  bie  2Bertlofig!eit 
bes  irbiid)en  Gebens  unb  betrad^tete  basfelbe  bloß  als  eine  33or= 
bereitung  für  bas  etoige  2tbtn  im  „3en[eits".  Daraus  folgt  un= 
mittelbar,  ta)^  alles,  toas  bas  men[(f)li(f)e  Q^htn  im  „Diesfeits" 
barbietet,  alles  SdE)öne  in  5lunjt  unb  3Bi[[en[d)aft,  im  öffentli(f)en 
unb  prioaten  2thtn,  feinen  SBert  befi^t.  Der  töal)re  (£l)rijt  muß 
[ic^  Don  \\)m  abtoenben  unb  nur  baran  benfen,  fiel)  für  bas  S^^fetts 
toürbig  Dor3ubereiten.  Die  S3eracl)tung  ber  STfatur,  bie  Abtoenbung 
Don  allen  i^ren  uner[d^öpflirf)en  9{ei3en,  bie  93ertöerfung  jcber  Art 
Don  fcf)öner  Runft  [inb  ecE)te  (£l)ri[tenpflicl)ten;  bie[e  toürben  am 
Dolltommenjten  erfüllt,  roenn  ber  9Jlen[df)  [id)  oon  [einen  9Jiit= 
men[(^en  abfonberte,  [id)  fafteite  unb  in  5^lö[tern  ober  (£in[iebeleien 
au5[d)ließlid)  mit  ber  „Anbetung  ©ottes"  be[d)äftigte. 

9lun  leiert  uns  freilid)  bie  9laturge[(f)i(i)te,  t>a^  bie[e  a[!eti[d)e 
(£l)ri[tenmoral,  bie  oller  S^latur  $ol)n  [prad),  als  natürliche  golge 

14* 


212  5t(f)t3el)ntcs  Äapitcl. 


bo5  ©cgcntcil  betöirftc.  J)te  Älöjter,  btc  5l[r)le  bcr  5lcu[(^l)ett  unb 
3u^t,  tDurDcn  balb  bic  Srutjtattcn  bcr  tolljtcn  Orgien.  Der  i^ultus 
bcr  „Sd)önl)eit",  bcr  l)tcr  getrieben  rourbc,  jtanb  mit  bcr  geprebigten 
„3BeItcnt[agung"  in  [d)neibenbcm  SBibcrjprud).  Dasfclbc  gilt  von 
bcm  fiuxus  unb  ber  ^ra(i)t,  wt\ä)t  \xd)  balb  in  bcm  [ittenlofcn 
^rioatlcbcn  bes  l)öl)eren  !atI)oIi[(i)en  Klerus  unb  in  ber  !ünjtlcri[d)cn 
^us[(f)ntü(fung  ber  d)rijtli(^cn  5lird)en  unb  5^Iöjtcr  cntiüicfclten. 
G:^rtftlt(^e  Äunft.  Solan  toirb  I)icr  cintDcnbcn,  bafe  unfere 
5ln[id^t  burc^  bie  Scf)önl)eit5fünc  ber  d)rijtlid^en  ilunft  toiberlcgt 
roerbc,  rocId)e  befonbers  in  ber  ©lüteseit  bes  9}littclalter5  [o  un« 
üerganglid)c  3Bcrfe  [c^uf.  Die  pra(J)tt)onen  goti[ci)cn  X)ome  unb 
bt)3antini[df)en  ©afilüen,  bie  ^unberte  üon  präd)tigcn  Kapellen,  bie 
3;aufcnbe  üon  SJlarmorftatucn  (f)riftlidE)er  ^eiliger  unb  95lärtr)rer, 
bic  SJiiUionen  von  [(f)önen  ^ciligcnbilbcrn,  von  ticfcmpfunbcnen 
Darstellungen  t)on  (£l^rijtus  unb  bcr  931abonna  —  [ie  sengen  alle 
von  einer  (£ntu)ic!elung  ber  fc^önen  Künjte  im  95?ittelalter,  bie  in 
\\)xtx  ^rt  cinjig  i|t.  ^llc  bicfc  f)crrlid)cn  Dcnfmälcr  bcr  bilbcnbcn 
Kunjt,  ebcn[o  toie  bic  bcr  Dic^tfunjt,  behalten  i^ren  l)ol)cn  äjtl)cti= 
|d)cn  SBcrt,  glci^oicl,  toie  roir  bic  barin  entl)altcne  9Hi[c^ung  von 
„9Bal)rI)cit  unb  Did)tung"  beurteilen,  ^ber  toas  l)at  bas  alles  mit 
ber  reinen  (£l)riStenlel)re  gu  tun,  mit  jener  9lcligion  bcr  (Sntfagung, 
roel^c  von  allem  irbi[(i)en  ^run!  unb  ©lanj,  von  aller  materiellen 
Scf)önl)eit  unb  Kunjt  fiel)  abroenbetc,  tDcld)c  bas  ^Familienleben 
unb  bic  ^rraucnlicbc  gering  fd)ä^tc,  tDcl(^c  allein  bic  Sorge  um  bic 
immateriellen  (5ütcr  bes  „etoigen  fiebens"  prebigte?  Der  begriff 
ber  „(f)rijtli^en  Run]i"  x\i  eigentlid)  ein  3Biber[pru(f)  in  [icf).  Die 
reiben  5lir(i)cnfürjten  frcili(i),  votld)t  bicfclbcn  pflegten,  »erfolgten 
bamit  ganj  anbere  3^0^^^,  unb  fie  erreichten  fie  aud^  oollftänbig. 
3nbcm  fie  bas  ganse  Sntereffe  unb  Streben  bes  menf(f)li(^cn  ©elftes 
im  SOlittclalter  auf  bie  d)riftli^e  R\x(i)t  unb  bereu  cigcntümlicl)e 
Kunft  Icnftcn,  toenbetcn  fie  basfclbc  oon  bcr  9latur  ab  un'ö  oon 
ber  (grfenntnis  bcr  l)icr  ocrborgencn  Sd)ä^e,  bic  3U  felbftänbiger 
2Biffcnfd)aft  gefüf)rt  ptten.  ^ufecrbem  aber  erinnerte  ber  täg= 
licE)C  Public!  ber  überall  maffenl)aft  ausgeftelltcn  §ciligcnbilbcr, 
ber  Darftellungcn  aus  ber  „l^eiligen  (5cf^i(f)tc",  ttn  gläubigen 
(£l)riften  icberseit  an  ben  rcirf)cn  Sagenfd)a|,  bcn  bie  ^l)antafie 
ber  Kird)c  angefammclt  l)attc.  Die  £cgcnben  bcrfelben  tourben 
für  u)at)rc  (£r3äi)lungcn,  bie  2Bunbcrgcfd)id^ten  für  toirflid^c  (£r= 
eigniffe  ausgegeben  unb  geglaubt.  Xtnstocifcr^aft  l)at  in  biefer 
93e3ie^ung  bic  d)riftlic^c  Kunft  einen  ungcl)curen  (£influfe  ouf  bie 
allgemeine  ©Übung  unb  gan3  befonbers  ouf  bic  geftigung  bes 
©laubens  geübt,  einen  (Sinflufe,  bcr  fi^  in  ber  gansen  Äulturroelt 
bis  auf  bcn  l)eutigcn  Xüq  geltcnb  maä)t 


Hnfcrc  momjti[d)e  9tcltgion.  213 

aRontftif^e  Äunft.  Den  [^ärfftcn  ©cgenfa^  3U  biefcr  I)crr« 
[(f)enbcn  d)rijtltd)cn  5lunft  btlbct  btejcnigc  neue  i^otm  ber  btibenben 
5^unjt,  bte  [ic^  erjt  im  19.  ^a^i^^unbert  im  3uföii^TncnI)ang  mit 
ber  9iaturtDi[[en[c^aft  enttoicfelt  \)at  X)ie  überrafc^enbe  ©r» 
roeiterung  unferer  2BeIt!enntnis,  bie  (Sntbeching  von  un3äl)Iigen 
[(^önen  fiebensformen,  bie  mix  ber  le^teren  oerbonfen,  l)at  in 
unferer  3eit  einen  gonj  anberen  äjtf)eti[(^en  Sinn  getüccft  unb  bamit 
auä)  ber  bilbenben  5lunjt  eine  neue  9ii(i)tung  gegeben.  3öI)Ireic^e 
rDi|[en[d)aftIi(f)e  ^Reifen  unb  grofee  (Expebitionen  jur  (£rfor[cf)ung 
unbe!annter  £änber  unb  Speere  förberten  [c^on  im  18.,  nocf)  oiel 
met)r  aber  im  19.  3cil)rl)unbert  eine  ungeal)nte  ^ülle  von  unbe!ann= 
ten  organi[(^en  ^formen  3utage.  Die  3^1)1  ^^^  neuen  3:ier=  unb 
^flonjenarten  toud)5  balb  ins  UnermefeUd)e,  unb  unter  biefen 
(befonbers  unter  t)tn  früt)er  oemadE)läffigten  nieberen  ©ruppen) 
fanben  [ic^  3:au[enbe  frf)öner  unb  intereffanter  ©eftalten,  gans  neue 
StRotioe  für  9JJaterei  unb  Silbt)auerei,  für  5lrd)ite!tur  unb  i^unft= 
getoerbe.  (£ine  neue  2BeIt  erfdE)Iofe  in  biefer  Se3iet)ung  befonbers 
bie  au5gebel)ntere  milroftopifc^e  (Jorf^ung  in  ber  atoeiten 
Öälfte  bes  19.  5at)rl)unbert5  unb  nomentlicf)  bie  (Sntbedhmg  ber 
faben)aften  3:ieffeebetDot)ner,  bie  crjt  burdE)  bie  berül)mte  drallem 
ger^CBipebition  (1872—1876)  ans  ßi(f)t  gejogen  tourben.  3:au[enbe 
von  3ierlid)en  9?abioIarien  unb  2^aIamop^oren,  von  präd^tigen 
9Jlebu[en  unb  ilorallen,  von  abenteuerli(f)en  äKollusten  unb  5^rebfen 
eröffneten  uns  t)a  mit  einem  95lale  eine  ungeahnte  tjülle  von  oer- 
borgenen  örormen,  beren  eigenartige  (5ct)ön^eit  unb  SJlannig» 
faltigteit  alle  von  ber  menfd)Iici)en  ^f)antafie  ge[d)affenen  Äunft= 
probufte  toeitaus  übertrifft,  allein  [(f)on  in  ben  fünf3ig  großen 
Sänben  bes  (£I)anengertüerfes  ijt  auf  3000  3:afeln  eine  9J?a[fe 
foIcf)er  [cf)öner  ©ejtalten  abgebilbet;  ober  aud)  in  üielen  anberen 
großen  ^radE)trDer!en,  toeI(t)c  bie  mäcf)tig  roa^fenbe  30oIogifct)e 
unb  botani[ct)e  Biteratur  ber  legten  Desennien  entt)ält,  finb  SJlilli^ 
onen  reisenber  (formen  bargejtellt.  5dE)  \)abt  üer[u(f)t,  in  meinen 
„5^unjtformen  ber  S^latur"  eine  ^ustoal)!  Don  [oI(f)en  [(^önen  unb 
reisüoUen  ©ejtalten  roeiteren  Greifen  3ugänglid)  3u  ma^en. 
(100  3:afeln  in  10  §eften.    fieip3ig  1899—1903.) 

3nbe[[en  bebarf  es  nid)t  toeiter  9?eifen  unb  fojtfpieliger  9Ber!e, 
um  jebem  9Ken[(^en  bie  §errlid^!eiten  biefer  2BeIt  3U  er[ct)liefeen. 
93ielme{)r  muffen  Mür  nur  fetne  ^ugen  geöffnet  unb  fein  Sinn 
geübt  roerben.  überall  bietet  bie  umgebenbe  9latur  eine  über* 
reid)e  (JüIIe  von  f(i)önen  unb  intereffanten  Objetten  aller  3lrt. 
5n  jebem  9Jloofe  unb  ®rasl)alme,  in  jebem  Ääfer  unb  S^metterling 
finbcn  tuir  bei  genauer  Unterfuc^ung  S(^önf)eiten,  an  benen  ber 
'SJttn\ä)  getDöl)nU(^  achtlos  oorüberge^i    iBoUenbs  toenn  toit  bie> 


214  5rd)t3ef)ntc5  Äapitel. 


[elben  mit  einer  fiupe  bei  fd)tDad)er  33ergröfeerung  betro(^ten,  ober 
no^  mel)r,  toenn  mit  bie  jtärfere  93ergröfeerung  eines  guten  9Jli!ro= 
[fopes  antoenben,  entbecfen  toir  überall  in  ber  organi[ct)en  Sflatur 
eine  neue  2BeIt  doII  uner[d)öpflid^er  Gleise. 

^ber  nic^t  nur  für  bie[e  djtl)eti[^e  Setrarf)tung  bes  5lleinen 
unb  i^Ieinften,  fonbern  auä)  für  biejenige  bes  ©ro^en  unb  ©rösten 
in  ber  ?latur  l)at  uns  erjt  bas  19.  3al)rl)unbert  bie  ^ugen  geöffnet. 
'Jlod)  im  beginne  besfelben  toar  bie  5(n[i(f)t  I)err[d)enb,  bafe  bie 
§od)gebirgsnatur  ^wax  großartig,  ober  ab[ct)rerfenb,  bas  9JJeer 
3tDar  geroaltig,  ober  furcf)tbor  [ei.  ^t^i,  am  (Snbe  besfclben,  finb 
bie  meijten  ®ebilbeten  —  unb  befonbers  bie  ®etDoI)ner  ber  ©rofe* 
jtöbte  —  glücflic^,  tuenn  [ie  ia!)rli(i)  ouf  ein  paar  2Bodf)en  bie  §err= 
lid^feit  ber  ^Ipen  unb  bie  ÄrijtoIlprorf)t  ber  (Sletf^er  genießen 
!önnen;  ober  roenn  [ie  [ic^  on  ber  StRajeftöt  bes  blauen  SCReeres, 
on  htn  reisenben  £onb[(^oftsbilbern  [einer  ilüjten  erfreuen  fönnen. 
^lle  bie[e  Quellen  bes  ebelften  $Roturgenu[[es  ^int)  uns  erjt  neuer= 
bings  in  il)rer  gonsen  $errlid)f eit  offenbor  unb  oerjtönblicf)  getoorben, 
unb  bie  erjtounlicf)  gejteigerte  £eici^tig!eit  unb  Sdf)nellig!eit  bes  33ers 
fet)rs  l)ot  [elbjt  "ötn  Unbemittelteren  bie  (Gelegenheit  ju  it)rer  Rennt* 
nis  Der[(f)afft.  ^lle  biefe  (5roi^t[(J)ritte  im  äjtt)eti[d)en  5Raturgenu[[c 
—  unb  bomit  gugkid)  im  t»i[[en[(i)aftli(^en  ^loturüerjtänbnis  —  be« 
beuten  ebenfo  oiele  grort[d^ritte  in  ber  l)ö{)eren  men[c^lic^en  (Seijtes« 
bilbung  un'b  bomit  jugleid^  in  unferer  moniftifrfien  9?eligion. 

fianbf(^aft$maletei  unb  SnuftrattotistDerfe.  Der  (5egen[a^, 
in  tDeld)em  unfer  noturali[ti[d)e5  5al)rl)unbert  gu  ben  t)orl)er* 
gel)enben  antl)ropi[ti[d)en  [tel)t,  prägt  [icl)  be[onber5  in  ber  oer» 
[cl)iebenen  2Bert[(i)ä^ung  unb  ^Verbreitung  oon  3nu[trotionen  ber 
monnigfoltigften  Sfloturobjefte  ous.  (Ss  l)ot  \x6)  in  un[erer  3ßit 
ein  lebljoftes  3Titere[[e  für  il)re  bilblid^en  Dorjtellungen  enttoicfelt, 
bos  frül)eren  3ßiten  unbefonnt  toor;  es  toirb  unterjtü^t  burct)  bie 
er[tounlicf)en  gortfc^ritte  ber  Ztä)nif  unb  bes  23er!ef)rs,  toeld^e  eine 
ollgemeine  ^Verbreitung  ber[elben  in  toeite[ten  Ärei[en  ge[tatten. 
3o^lreic^c  illujtriertc  3^tt[^^ift^Ti  oerbreiten  mit  ber  allgemeinen 
Silbung  3uglei(^  t>m  Sinn  für  bie  unenblic^e  Sdf)önl)eit  ber  9^atur 
in  ollen  ©ebieten.  ^Befonbers  i[t  es  bie  £anb[(i)aftsmalerei, 
bie  l)ier  eine  frül)er  nid)t  geal)nte  Sebeutung  getoonnen  l)ot.  S(i)on 
in  ber  erjten  §älfte  bes  19.  3öl)rl)unberts  I)otte  einer  unferer 
größten  unb  Diel[eitigjten  SRaturfor[d)er,  ^leionber  Don§um  = 
bolbt,  borouf  l)ingeii)ie[en,  toie  bie  (Snttoicfelung  ber  mobemen 
£onb[d^aftsmalerei  nid)t  nur  als  „Anregungsmittel  3um  SRatur= 
jtubium"  unb  als  geograpl)i[d)es  ?ln[(^ouungsmittel  oon  l)o\)tt 
Sebeutung  [ei,  [onbem  tuic  [ie  ouc^  in  onberer  ^e3icl)ung  als  ein 
cbles  Silbungsmittel  ^o(^3u[c^ä^en  fei.     Seitbcm  ijt  ber  Sinn 


Unjcre  monifüj(^c  9?cItgton.  215 

bafür  nocf)  bcbeutcnb  toctter  cnüDtdcU.  (Ss  jollte  Aufgabe  jeber 
S(i)ule  [ein,  bic  5^mber  frü{)3eittg  ^um  (5cnu[fe  ber  ßanb|d)aft 
ansuletten  unb  3U  ber  \)öd)\i  banfbaren  Run\i,  jte  tmä)  3et<i)neTi 
unb  ^quarellmalen  tt)retn  ®ebäd)tm«  em3uprägen.* 

aRoberner  9latutgenu&.  t)er  uncnbltd)e  9letd)tum  ber  9Zatur 
an  Sd^önem  unb  (£rt)abenem  btetel  jebem  9J?en|(^en,  ber  offene 
^ugen  unb  äjtf)eti[ci^en  Sinn  befi^t,  eine  unerf(i)öpflid)e  gülle  ber 
I)errlid^jten  ©aben.  So  xoertooll  unb  beglüdenb  aber  aucf)  ber 
unmittelbare  ©enufe  jeber  einseinen  ©abe  ijt,  [0  tüirb  beren  SBert 
bocf)  no<^  l)od)  gesteigert  burcf)  bie  CErfenntnis  il)rer  ^Bebeutung  unb 
it)re5  3u[amment)ange5  mit  ber  übrigen  Statur.  ^Is  ^leianber 
öon  ^umbolbt  (1845)  in  feinem  großartigen  „i^osmos" 
htn  „(gnttourf  einer  p^i)[i[(i)en  SBeltbejd^reibung"  gab,  als  er  in 
[einen  muftergültigen  „^nfid^ten  ber  9^atur"  tDi[[enfd)aftIidf)e 
unb  äjtl)etifcf)e  i8etra(i)tung  in  glüdlid^jter  2Beifc  oerbanb,  t>a 
I)at  er  mit  9te<^t  f)erDorge!)oben,  roie  eng  ber  oerebelte  SRaturgenufe 
mit  ber  „toiffenfc^aftltd^en  (£rgrünbung  ber  Sßeltgefe^e",  oerfnüpft 
iff,  unb  loie  beibe  oereinigt  boju  bienen,  bas  9Jienfd)entDe[en  auf 
eine  \)ö^txt  Stufe  ber  33olIenbung  3U  erf)eben.  X)ie  ftaunenbe 
5BexDunberung,  mit  ber  toir  ben  geftimten  §immel  unb  bas  müro» 
[!opi[(f)e  Qtbtn  in  einem  2Ba[[ertropfen  betrad)ten,  bie  (£I)rfurd)t, 
mit  ber  toir  bas  u)unberbare  SBirfen  ber  (Energie  in  ber  betoegten 
SRaterie  unterfud^en,  bie  5tnba(i)t,  mit  toeli^er  toir  bie  (Geltung  bes 
allumfaffenben  Subftansgefe^es  im  Unioerfum  t)eret)ren,  —  jie 
alle  [inb  ^Bejtanbteile  unferes  ©emütslebens,  bie  unter  ben 
^Begriff  ber  „natürlict)en  ^leligion"  fallen. 

2)te$fett5  nnt>  Senfetts.  Die  angebeuteten  i5ort[(t)ritte  ber 
91eu3eit  in  ber  (Erfenntnis  bes  2Bal)ren  unb  im  ©enuffe  bes  Sdjöntn 
bilben  cben[o  einer[eits  einen  toertoollen  5nl)alt  unferei  moniftifd^en 
9?eligion,  als  |ie  anbererfeits  in  feinbli^em  ®egen[a^e  3um 
(£t)riftentum  fte^en.  Denn  ber  men[(t)licl)e  ©eijt  lebt  bort  in  bem 
befannten  „Diesfeits",  l)ier  in  einem  unbe!annten  „^tn^tÜB". 
Un[er  9Jlonismus  lel)rt,  "00.^  mx  fterblid)e  5linber  ber  (£rbe  finb,  bie 
tin  ober  jtoei,  l)ö(l)[tens  brei  „Sölen[(^enalter"  l)inburd)  bas  ©lud 
l)aben,  im  Diesfeits  bie  §errlid^!eiten  biefes  Planeten  3U  genießen, 
bie  unerfd^öpflid^e  ^ülle  [einer  S(i)ön]^eit  3U  [cl)auen  unb  bie 
ujunberbaren  Spiele  [einer  9flatur!räfte  3U  erfennen.  Das  (£l)ri[ten= 
tum  bagegen  lel)rt,  baß  bie  (£rbe  ein  elenbes  ^^i^^^^tal  ijt,  auf 
toelc^em  toir  bloß  eine  !ur3e  3ßi^I<iTtg  uns  3U  fajteien  unb  ab- 
3uquälen  braud)en,  um-  [obann  im  „3en[eits"  ein  etoiges  2thtn 
ooller  2Bonne  3U  genießen.  SBo  bie[e5  „^^"[eits"  liegt,  unb  toie 
bie[c  §errlidf)!eit  bes  ewigen  fiebens  eigentli^  be[rf)affen  [ein  [oll, 
bas  ^at  uns  no(^  feine  „Offenbarung"  ge[agt.     Solange  ber 


216       5l^t3cl)ntc5  Rapitcl.  Unfcrc  moniftif^c  9?eUg{on. 

„^tmmel"  für  ben  SJlenf^cn  ein  blaues  !^i\i  war,  ausgefpannt 
über  ber  [(f)etbenförmigen  (£rbe  unb  erleucf)tet  burd)  bos  blmfenbe 
fiampenli^t  einiger  tau[enb  Sterne,  fonnte  \\ä)  bie  men[d)Ii(J)e 
^l)anta[ie  obeat  in  biefem  §immels[aal  allenfolls  bas  antbro[i[d)e 
©ajtmal)!  ber  olpmpifd^en  ©ötter  ober  bie  Xafelfreuben  ber  2Bat= 
{)anobetDoI)ner  üorjtellen.  9lun  ijt  aber  für  alle  bie[e  (5ottl)eiten 
unb  für  bie  mit  it)nen  tafeinben  „unjterblid)en  Seelen"  bie  offen« 
funbige  2ßof)nung5not  eingetreten.  „§imntel5bilb  unb  Sbelt* 
an[d)auung",  toie  [ie  3^roeIs=fiunb  in  i{)rem  tiefen  3ii[cimmcn= 
I)ange  I)ijtori[d)  bargejtellt  f)at,  l)aben  burc^  bie  berounberungs* 
u)ürbigen  (5ort[(f)ritte  ber  mobemen  i^osmologie  eine  völlige 
Hmroanblung  erfaf)ren.  2ßir  tüi[[en  je^t  bur^  bie  ^[tropl)r)[i!, 
bafe  ber  unenblid^e  9?aum  mit  [rf)toingenbem  5ltl)er  erfüllt  ijt,  unb 
ba]3  ajiillionen  t)on  SBeltförpern,  naä)  etoigen  et)emen  ©efe^en 
betoegt,  [id)  raftlos  barin  umt)ertreiben,  alle  im  eroigen  großen 
„SBerben  unb  93ergel)en"  begriffen. 

SRontftifc^e  Atrien.  I)ie  Stätten  ber  9Inbad)t,  in  benen  ber 
9Ken[d)  [ein  religiö[es  ©emütsbebürfnis  befriebigt  unb  bie  ©egen* 
jtänbe  [einer  5lnbetung  üerel)rt,  betrai^tet  er  als  [eine  gel)eiligten 
„Siix6)tn".  2)ie  ^agoben  im  bubbl)ijti[d^en  ^[ien,  bie  grie^i[cf)en 
Üempel  im  !la[[i[d)en  Altertum,  bie  Synagogen  in  ^aläjtina,  bie 
9}lo[^een  in  3tgi)pten,  bie  !atl)oli[d)en  I)ome  im  [üblii^en  unb  bie 
eüangeli[(f)en  Hatl)ebralen  im  nörbli^en  (Suropa  —  alle  bie[e 
„(5otte5l)äu[er"  [ollen  baju  bienen,  ben  $Dlen[d)en  über  bie  9Jli[ere 
unb  ^ro[a  bes  realen  Alltagslebens  3U  erl)eben;  [ie  [ollen  it)n  in 
bie  2Beil)e  unb  bie  ^oe[ie  einer  l)öl)eren,  ibealen  SBelt  Der[e^en. 
Sie  erfüllen  bie[en  3tDed  in  oielen  tau[enb  r)er[d)iebenen  ^rormen, 
ent[pred)enb  ben  t)er[(f)iebenen  ilulturformen  unb  3ßitt)erl)ältni[[en. 
33er  mobeme  9Jlen[d^,  tDeld)er  „2Bi[[en[(^aft  unb  Äunjt"  be[i^t  — 
unb  bamit  3ugleid)  auä)  5?eligion  — ,  bebarf  feiner  befonberen 
5lir(J)e,  feines  engen,  einge[cl)lo[[enen  9?aumes.  X)enn  überall  in 
ber  freien  Statur,  roo  er  [eine  Slide  auf  bas  unenblid^e  Unioer[um 
ober  auf  einen  Xeil  besfelben  rid)tet,  überall  finbet  er  3toar  t>tn 
f)arten  „Rampf  ums  Da[ein",  aber  baneben  aud)  bas  „2Bal)re, 
Schöne  unb  (5ute";  überall  finbet  er  [eine  „ilird)e"  in  ber  f)errlid)en 
IRatur  [elbjt.    ' 


I 


9lcun3cl)ntes  Äapitcl.     Unfcrc  montjti[d)e  Stttcnlcl)re.   217 

anfere  ntDulffifd^e  Sittentci^te* 

<3Ux(S)Qttt)\6)t  stpiWcn  6elbfttiebe  unb  9Zäc^ftenl.iebe.  ©kic^-- 

bcrec^tigung  be^  (fgoi^mu^  unb  ^(trui^mu^.     Segler  bcr 

c|)riftlic^en  9}ioraL     ^taat,  6c^ulc  unb  ^irc^c. 

tas  pra!ti[(^e  Jßebcn  jtellt  an  bcn  9JZcn[c{)eh  eine  9?etf)c  von 
Qan^  bcjtlmmtcn  [ittll^en  ^nforbcrungen,  btc  nur  bann  rt^tig 
erfüllt  rocrbcn  !önnen,  u)enn  [ic  in  reinem  Cinflang  mit  [einer 
uemünftigen  2Beltanf(f)auung  ftef)en.  X)ie[em  ©runbfa^e  un[erer 
moniftii(i)en  ^t)iIo[opi^ie  gufolge  mufe  unfere  gefamte  Sitten^ 
Iel)re  ober  (£tl)if  in  vernünftigem  3ufammen^ang  mit  ber  ein= 
l)eitlid)en  ^uffaffung  bes  „ilosmos"  ftel)en,  toeId)e  toir  burd)  unfere 
fortgef^rittene  CBrfenntnis  ber  9loturgefe^e  gewonnen  \)abtn.  9Bie 
bas  ganse  unenblidie  Unit>er[um  im  £i(f)te  unferes  SJlonismus 
ein  eiuäiges  großes  ©anjes  barjtellt,  fo  bilbet  auct)  bas  geijtige  unb 
[ittli(i)e  Qthtn  bes  9Jlen[d)en  nur  einen  ieil  bie[es  „Äosmos", 
unb  [o  fann  aucf)  feine  naturgemäße  Orbnung  nur  eine  einl)eitlid)e 
[ein.  (£5  gibt  nid)t  jroei  oerfc^iebene,  getrennte  SBelten: 
eine  pl)i)[i[ct)e,  materielle  unb  eine  morali[cf)e,  immateri* 
eile  3Belt. 

(öan^  entgegenge[e|ter  ^n[id)t  ift  bie  große  $lRel)r3al)l  ber 
^f)ilo[opl)en  unb  3:i)eologen  nod)  l^eute;  [ie  bel)aupten  mit  Sm« 
manuel  Äant,  ta]^  bie  [ittlid)e  3Belt  oon  ber  pl)r)[i[(^en  ganj 
unabl)ängig  [ei  unb  gan3  anberen  (Sefe^en  gel)orcf)e;  al[o  mü[[e 
aud^  bas  [ittlidie  Seu)ußt[ein  bes  9Jlen[(l)en;  als  bie  Sajis 
bes  morali[d)en  fiebens,  ganj  unabbangig  oon  ber  u)i[[en[d)aft=« 
liefen  Sßelterlenntnis  [ein  unb  [ic^  oielmebr  auf  htn  religiöfen 
©lauben  [tü^en.  t)ie  (£r!enntnis  ber  [ittlicf)en  SGBelt  [oll  banac^ 
burcl)  bie  gläubige  pra!ti[(^e  93ernunft  ge[(f)el)en,  b^ngegen 
bie  ber  9latur  ober  ber  pl)i)[i[cbcn  SBelt  burd)  bie  tl)eoreti[c^e 
93ernunft.  Die[er  unstoeifelbafte  unb  beujußte  Dualismus  in 
Rants  ^l)iIo[opbie  toar  ibr  größter  unb  [(^tDer[ter  ^tliltx; 
er  bat  unenblid)es  Unbeil  angeri(i)tet  unb  wixli  no<i)  beute  mäcbtig 
^  fort.  3uerjt  b^tte  ber  !riti[d)e  5^ant  in  ber  großartigen  unb  bc= 
rounberungsroürbigen  ilritif  ber  reinen  93ernunft  einleucbtenb  ge= 
^eigt,  ha^i  bie  brci  großen  3cntralboömcn  ber  93Zetopb9[t!: 
ber  perfönlicbc  ©ott,  ber  freie  äBille  unb  bie  unjterblicbe  Seele 


218  Jlcun.^e^ntes  ftapitcl. 


Döllig  unbegrünbct  [inb  unb  immer  unbegrünbct  bleiben  toerben. 
Später  aber  fül)rte ber  bogmatifd^eHant  bas  [d)immembe tbeale 
£uft[d)Iofe  ber  pra!ti[c^en  33ernunft  auf,  in  toelc^cm  brei  impo^ 
fante  kird)en[d^iffe  3ur  aBo^njtätte  jener  Drei  mpjtifc^en  ©ottt)eiten 
I)ergeri(^tet  tüurben.  SRac^bem  [ie  burc^  bie  33orbertür  mittels  bes 
oernünftigen  2Bi[[en5  ^inausgefd^afft  Doaren,  !et)rten  fie  nun  burd) 
bie  Hintertür  mittels  bes  unoernünftigen  ©laubens  toieber  jurücf. 

Obgleid)  nun  ber  offenfunbige  ©egenfa^  ber  beiben  33ernünfte 
von  5^ant,  ber  prinjipieüe  ^(ntagonismus  ber  reinen  unb  ber 
pra!ti[^en  33ernunft,  [d)on  im  5lnfange  bes  19,  3öt)r]^unberts 
erfdnnt  unb  töiberlegt  rourbe,  blieb  er  borf)  bis  t)eutc  in  toeiten 
5^rei[en  f)err[^enb.  X)ie  moberne  S(i)ule  ber  3leo!antianer 
prebigt  noc^  f)eute  t>tn  „5Rücfgang  auf  5^ant"  fo  einbrtnglirf)  gerabc 
toegen  biefes  toilüommenen  Dualismus,  unb  bie  jtreitenbc 
Rixä)t  unterjtü^t  [ie  babei  aufs  tDärmjtc,  toeil  i^r  eigener  mpjtifc^er 
©laube  basu  üortrefflic^  pafet.  (Eine  roirffame  jRieberlage  bereitete 
bemfelben  erft  bie  moberne  9laturu)i[[enfcf)aft  in  ber  jtoeiten 
Öälfte  bes  19.  ^o^i^^^i^^^i^ts;  bie  93orausfe^ungen  ber  pra!ti[(^en 
33ernunftlel)re  tourben  baburd)  {)inf ällig*  5^osmologie  unb  ^Biologie, 
bie  auf  bem  Subjtanagefe^  ru{)en,  bebürfen  feines  „pcr[önlid)en 
(Sottes"  me{)r;  bie  üergleicf)enbe  unb  genetifd^e  ^[i)(i)oIogie  geigte, 
bafe  eine  „unjterblid)e  Seele"  md)t  eiijtieren  fann,  unb  bie  ^I)i)[ioIogic 
roies  nac^,  bafe  bie  ^nna^me  bes  „freien  ÜBillens"  auf  3:äu[d^ung 
berul)t.  Die  ©nttoidelungsle^re  enblid^  mad)te  !Iar,  bajg  bie 
„etötgen,  el)ernen  9laturgefe^e"  ber  anorganifc^en  2BeIt 
auc^  in  ber  organi[d)en  unb  moralif^en  SBelt  ©eltung  l^aben. 

Unfere  moberne  S^laturerlenntnis  tüirft  aber  für  bie  praftifc^e 
^t)iIo[opf)te  unb  (£tl)i!  ni(f)t  nur  negatio,  inbem  [ie  ben  5^anti[c^en 
Dualismus  gertrümmert,  [onbem  auc^  po[ttio,  inbem  [ie  an  be[[en 
Stelle  bas  neue  (Sebäube  bes  etl)i[d)en  SJlonismus  [e^i  Sie 
jeigt,  bafe  bas  ^flid)tgefül)l  bes  9Jten[(^en  nid)t  auf  einem 
eingeimpften  „!ategori[d)en  Smperatio"  berul)t,  [onbem  auf 
bem  realen  Soben  ber  [ojialen  5tt[tin!te,  bie  toir  bei  allen 
ge[ellig  lebenben  l)öl)eren  Xieren  finben.  Sie  erfennt  als  l)öcf)fte5 
3iel  ber  SJloral  bie  ^erftellung  einer  gefunben  Harmonie  3roi[rf)en 
Egoismus  unb  Altruismus,  3tt)i[d)en  Selbjtliebe  unb  91ärf)[ten* 
liebe.  33or  allen  anberen  toar  es  ber  grofee  engli[c^e  ^t)ilo[opl) 
Herbert  Spencer,  bem  rotr  bie  Scgrünbung  bie[er  monijti[rf)en 
(£tl)if  burd^  bie  (£nttDicfelungslet)re  oerbanfen. 

Egoismus  unh  ^lltrutsmus.  Der  aRen[d)  geprt  3u  ben 
[o3ialen2Birbeltieren  unb  ^at  bal)er,  toie  alle  [osialen  Xiere, 
Sroeterlei  ocr[d)tebene  ^flid)ten,  crjtens  gegen  [ic^  [elbjt  unb  gtoeitens 
gegen  bie  ©efellfdjaft,  ber  er  angcl)ört.    (Erjtcrc  finb  ©cbote  ber 


Hnfcrc  monijtifrfie  <5ittcnlel)rc.  219 

Selbjtitcbc  ((Egoismus),  Ic^tcrc  Ocbotc  bcr  5Rä(J)[tcnHebc 
(Altruismus).  Scibc  ©ebote  [inb  gleich  bcrecf)tigt,  gicid)  natürlich) 
unb  gicicf)  uncntbe!)rlicf).  3BiII  bcr  9Jlen[d)  in  gcorbneter  ©e= 
[cllfc^aft  crijticrcn  unb  [ic^  rool)!  bcfinben,  fo  mufe  er  ni(f)t  nur  [ein 
eigenes  ©lücf  anftreben,  [onbern  aud^  basjenigc  ber  ©emeinfc^aft, 
ber  er  qngel)ört,  unb  ber  „^äd)\Un",  roelc^e  biefen  [03ialen  33erein 
bilben.  (£r  mu^  erfennen,  ta^  il)x  (5ebeit)en  [ein  C5ebeif)en  ijt  unb 
i\)x  ßeiben  fein  fieiben.  Die[e  [osiolen  (5runbge[e^e  [inb  [o  einfa^ 
unb  [o  naturnottöenbig,  bafe  man  fd)Q)er  begreift,  toie  if)nen  tt)eore= 
ti[d)  unb  praftifc^  tDiber[proct)en  tüerben  !ann;  unb  borf)  gef(^tet)t 
bas  no^  i)eute,  toic  es  [eit  3öl)rtaufenben  ge[(f)e]^en  ijt. 

(glet(^gen)td^t  bes  (Egoismus  unb  3llttut$mus.  Die  glei(f)e 
<Bere(i)tigung  biefer  beiben  ^Naturtriebe,  bie  moralifc^e  (5Ieirf)= 
roertigfeit  ber  Selbjtliebe  unb  ber  9lädf)jtenliebe  ift  bas  toic^tigjtc 
3runbamentalprin3ip  unferer  9Koral.  Das  l)öct)jte  ßhl 
aller  oernünftigen  Sittenlel)re  ijt  bcmna^  [ef)r  einfad),  bie  §er= 
jtellung  be5„naturgemäfecn©Iei(i)getDid)ts  steiften  (Eigen« 
liebe  unb  9^  ä  duften  liebe".  Das  <5olbene  Sittengefe^  fagt: 
„3Bas  bu  roillft,  bafe  bir  bie  ßeute  tun  [ollen,  bas  tue  bu  il)nen  aud)." 
Aus  bie[em  l)öd^jten  ©ebot  bes  (E^rijtentums  folgt  pon  [elbjt,  bafe 
töir  eben[o  ^eilige  ^fli(^ten  gegen  uns  [elb[t  toie  gegen  un[ere 
9Jlitmen[(i)en  l^aben.  3^  l)öt)e  meine  5luffa[[ung  bie[es  ©runb* 
prinjips  bereits  1892  in  meinem  „SJlonismus"  auseinanber= 
ge[e^t  (S.  29,  45)  unb  babei  be[onbers  brei  U)i(J)tigc  Sä^e  betont: 
I.  Seibc  fonfurrierenbe  3^riebe  [inb  9laturgc[e^e,  bie  3um  Se= 
[tcl)en  ber  ^ciTnilie  unb  ber  (5e[en[(^aft  gleid)  roiditig  unb  gleicl) 
nottoenbig  [inb;  ber  (Egoismus  ermöglicht  bie  Selb[tert)altung  bes 
3nbit)ibuums,  ber  Altruismus  biejenige  ber  (Sattung  unb 
Spcsies,  bie  [id^  aus  ber  i^ettc  ber  oergänglic^en  ^Ttbioibuen 
3u[ammen[e^t.  IL  Die  [osialen  ^flic^ten,  tDeld)e  bie  (5e- 
[ell[d)aft5bilbung  ben  a[[o3iierten  90'len[d)en  auferlegt,  unb  burc^ 
roelc^e  [icf)  bie[c  erl)ält,  [inb  nur  l)ö^ere  (Entroidelungsformcn 
ber  [ojialen  3Ttitin!te,  toelc^c  toir  bei  allen  l)öf)eren,  ge[ellig 
lebenben  3:ieren  finben.  III.  Seim  i^ulturmen[c^en  jtel)t  alle 
(£tl)i!,  [otDol)l  bie  tl)eoreti[^e  roie  bie  pra!ti[(f)e  Sittenlel)re ,  als 
„9'Normt»i[[en[cl)aft"  in  3ii[ammen^ang  mit  ber2Beltan[(^auung 
unb  bemnacf)  auc^  mit  ber  9leligion. 

^as  et^tf(^e  C^runbgefe^.  (Das  (Solbenc  Sittenge[c^.) 
Aus  ber  Anerfennung  un[eres  (5iitt^ömentalprin3ips  ber  äJioral 
ergibt  [icf)  unmittelbar  bas  l)örf)jte  ®ebot  ber[elben,  jenes  ^flic^t» 
gebot,  bas  man  je^t  oft  als  bas  (Bolbene  Sittengefe^  ober 
fürs  als  bie  „(Solbene  9^eger*  be3eicf)net.  (E^riftus  [prac^  bas[elbe 
i»ieberl)olt  in  bem  dnfacl)cn  (»a^e  aus:  „Du   follft  beinen 


220  9leun3cl)ntcs  Ätrpftcl. 


9flä^ftcn  lieben  tote  bi^  felbft"  maii\).  19,  19;  22,  39,  40; 
«Römer  13,  9  u[to.).  5n  btefem  XDt^tigften  unb  l)örf)jten  ©ebote 
jtimmt  unsere  montftt[(i)e  (£tf)t!  oollfommen  mit  ber  (^rift  = 
Iid)en  überein.  9lur  muffen  toir  gleicf)  bie  I)iftorifd)e  3:atfadE)e 
f)in3ufügen,  bafe  bie  ^ufftcllung  biefes  oberjten  ©runbgefe^es  nicf)t 
ein  93erbienft  (i\)xi]ii  ift,  toic  bie  mciften  d)rijtli^en  3:i)eoIogen  be^ 
f)aupten  unb  il)re  un!ritif(i)en  ©laubigen  unbefe!)en  annel)men. 
93ielmel)r  ift  biefe  ©olbene  9tegel  me^r  als  fünfl)unbert  ^ai)xt 
älter  als  (El^riftus  unb  oon  oielen  t)erfd)iebenen  SBeifen  ©rie(i)en« 
lanbs  unb  bes  Orients  ols  u)icf)tigftes  Sittengefe^  anerfannt. 
^ittafos  oon  9Jlt)tiIene,  einer  ber  fieben  SBcifen  (5ried)enlanbs, 
fogte  620  ^ai^xt  vox  (SI)riftus:  „Zut  beinem  9'läd()ften  nid)t,  toas  bu 
if)m  oerübeln  toürbeft."  —  ilonfutfe,  ber  grofee  (^inefif(f)e  ^]^iIo= 
fopf)  unb  ^Religionsftifter  (ber  bie  Unfterbli(i)!eit  ber  Seele  unb  ben 
perfönlid)en  ©ott  leugnete),  fagte  500  ^ai)xt  vox  (S:t)r. :  „3:ue  jebem 
anberen,  toas  bu  toillft,  bafe  er  bir  tun  foll;  unb  tue  feinem  anberen, 
toas  bu  toillft,  t>a)i  er  bir  nict)t  tun  foII.  Du  braud^ft  nur  biefes 
©ebot  allein;  es  ift  bie  ©runblage  aller  anberen  ©ebote." 
^rif  toteles  Iel)rte  um  bie  9[Ritte  bes  merten  ^aW^nberts  oor  (£f)r. : 
„9Bir  follen  uns  gegen  anbere  fo  benel)men,  als  toir  roünfd)en,  t)a^ 
anbere  gegen  uns  ^anbeln  foIIen."  5n  glci^em  Sinne  unb  3um 
Xeil  mit  benfelben  SBorten  loirb  aucf)  bie  golbene  9tegel  oon  Xf)alts, 
3fo!rates,  ^riftippus,  bem  ^r)tl)agoräer  Sextus  unb  anberen 
^Pofopl)en  bes  !Iaffifd)en  5lltertums  —  mel)rere  3ttf)r^unberte 
oor  (£l)riftus !  —  ausgefprod)en.  ^us  biefer  3ufammenfteIIung 
ge!)t  I)eroor,  ha^  bas  ©olbene  ©runbgefe^  3U  Derfd)iebenen  3citen 
unb  an  oerfd)iebenen  Orten  oon  met)reren  ^I)iIofop!)en  —  un= 
abpngig  ooneinanber  —  aufgeftellt  ojorben  ift.  ^nberenfalls 
müfetc  man  annel)men,  bafe  Sefus  es  aus  anberen  orientalif^en 
Quellen  (aus  älteren  femitifc^en,  inbifcf)en,  cf)inefifd)en  XxahU 
tionen,  befonbers  bubbl^iftifc^en  fiel)ren)  übernommen  I)abe,  toie 
es  je^t  für  bie  meiften  anberen  d)riftlid)en  ©laubenslel)ren  nac^* 
geroicfen  ift. 

(i^^tiftlic^e  Sittenlehre.  X)a  bas  etf)if(^e  ©runbgefe^  bemnad) 
bereits  feit  2500  3cil)ren  beftet)t,  unb  ba  bas  (S;t)riftentum  basfelbe 
ausbrüdlicf)  als  l)öd)ftes,  alle  onberen  umfaffenbes  ©cbot  an  bie 
Spi^e  feiner  Sittenlet)rc  ftellt,  toürbe  unfere  moniftif(^e  (£tl)i! 
in  biefem  toiditigften  fünfte  nid)t  nur  mit  jenen  älteren  l)eibnifd^en 
Sittenlel)ren,  fonbem  aud)  mit  htn  cl)riftlic]^en  in  oollfommenem 
(gintlang  fein,  ßeiber  toirb  aber  biefe  erfreulicl)e  Harmonie  baburdf); 
gcftört,  bafe  bie  (Eoangelien  unb  bie  paulinifcf)en  CBpifteln  oiele 
anbere  Sittenlefjren  cnt()alten,  bie  jenem  erften  unb  obcrften  ©e* 
böte  ö^^^ö^^ä"  toiberfpredien.    SBir  muffen  ba^ct  fürs  jene  be* 


Hnferc  moni|tifd)C  6ittcnlcf)te.  221 

bauerlt(f)cn  6ettcn  ber  d)nftU(^cn  ficl)rc  attbcutcn,  tocld^c  mit  bcr 
bcffcren  2BcItan[d)auung  bcr  ^Icujctt  unDerträglid^  unb  bc^üölic^ 
t!)rcr  ptafti[d)en  5^on[equen3cn  gerabcßu  [(i)äblt^  [inb.  Dal^in 
gehört  bte  33erad)tung  bcr  cf)riftlid)cn  9[RoraI  gegen  bas  eigene 
3nbit)tbuum,  gegen  bcn  JÖcib,  bie  9latur,  bic  i^nltur,  bic  gamilie 
unb  hiz  (Jröu. 

I.  I)ie  Sclb[tüerad)tung  bcs  (£I)ri[tcntuni5.  ^Is  oberjten 
unb  tDicf)tigjten  10li]3griff  bcr  d)rijtli(^cn  (£tl)i!;  tDeI(i)er  bie  ©olbcnc 
Siegel  gcrabcäu  auff)cbt,  muffen  roir  bie  Übertreibung  bcr 
9fläct)ftenliebc  auf  5loften  ber  Sclbftliebe  betrauten.  Das  (£I)rijtcn= 
tum  bcMmpft  unb  oertoirft  bcn  (Egoismus  im  ^rinsip,  unb  bo^ 
ijt  biefcr  9laturtricb  3ur  (3clbitcrl)altung  abfolut  unentbel)rli^;  ja, 
man  !ann  fagen,  bafe  aud)  ber  Altruismus,  fein  fc^cinbarcs 
©egcnteil,  im  ©runbc  ein  oerfeincrter  (Egoismus  ijt.  9li(^t5  (Srofecs, 
nid^ts  (Erl^abcncs  ift  jemals  oI)ne  (Egoismus  gcf(j^et)cn  unb  ol)nc  bic 
£cibenf(f)aft,  tüelä)e  uns  3U  großen  Dpfem  befähigt.  9lur  bie 
Ausf^rcitungen  biefcr  3:ricbc  finb  ocrtocrflid).  3w  bcnicnigcn 
^riftU(i)en  (geboten,  rDcId)e  uns  in  frül)efter  3ugenb  als  tDi(f)tigftc 
eingeprägt  unb  toeld^e  in  9Kinioncn  oon  ^rebigten  t)ert)cnlid)t 
tDcrbcn,  gehört  ber  Sa^  (9P^attl)äus  5,  44):  „fiiebet  eure  (^ci^^ß» 
fegnet,  bic  cud)  flu(f)en,  tut  too^I  benen,  bic  cud^  t)affcn,  bittet  für 
bie,  fo  eud)  beleibigcn  unb  oerfolgen."  Diefes  ibealc  (Scbot  ijt 
pra!tif(^  oon  fel)r  bebcnflid)em  SBcrtc.  (Ebenfo  ocrt)äIt  es  fic^  mit 
ber  Antoeifung:  „3Benn  bir  jcmanb  bcn  9^ocf  nimmt,  bem  gib  oud) 
bcn  äUantel";  b.  I).  in  bas  mobeme  JÖcbcn  überfc^t:  „SBcnn  bi^ 
ein  getoiffenlofcr  <5(^uft  um  bie  eine  ^älftc  beines  93crmögens 
betrügt,  bann  f^enfe  it)m  aud)  nod)  bie  anberc  $älftc."  Die  oieI= 
betounbertc  2BcItma(i)tspoIiti!  bcr  mobernen  5^ultur|taatcn  jtcl)t 
in  fd)neibenbcm  SBibcrfprud)  ju  allen  ©runblet)ren  ber  d)rift= 
Ii(f)en  fiiebe,  toel^e  oon  it)ncn  im  SKunbc  gcfül)rt  toirb.  Ilbrigcns 
ijt  ja  ber  offen!unbige  SBibcrfprud)  ^o^ifc^en  ber  cmpfot)Ienen 
ibcalcn,  altruijtifrficn  SJloral  bes  einäcincn  9}Zcnfd)en  unb  ber 
rcalcUj  rein  cgoijtifrficn  SJloral  bcr  mcnfd)Iicl^en  (Semeinben, 
unt)  befonbers  bcr  ^rijtlid)cn  5^ulturjtaaten,  eine  allbe!anntc  3^at= 
fadE)c.  (Es  toärc  intereffant,  mati)cmatifd)  fejtäujtellcn,  bei  toclc^cr 
3at)l  oon  Dcrcinigten  50lcnfd)en  bas  altruiftifd)c  Sittenibeal 
bcr  einzelnen  ^erfon  ficE)  in  fein  ©egcntcil  oertoanbelt,  in  bic  rein 
egoiftifrf)c  „9?eaIpoIiti!"  ber  Staaten  unb  Stationen. 

II.  Die  £eibe50cra(f)tung  bes  (£I)riftentum5.  Da  ber 
d)rijtlid)e  ©laubc  bcn  Organismus  bcs  9Jlenf(f)en  ganj  bualijtifc^ 
beurteilt  unb  bcr  unjterblidjcn  Seele  nur  einen  oorübergel)enbcn 
Aufentf)alt  im  jterblid)en  fieibc  anioeijt,  ijt  es  gan3  natürlii),  bofe 
ber  erjteren  ein  oicl  !)ö^erer  3Bcrt  beigcmeffcn  u)irb  oIs  bem  Unteren. 


222  9lcun5el)nte5  Äopitel. 


Daraus  folgt  jene  33crnad)Iäf[igung  ber  fieibespflege,  ber  förper« 
Iid)en  ^lusbilb^ng  unb  5?emlidt)fe{t,  toel^e  bas  Kulturleben  bes 
d)riftli^en  9KttteIaIter5  fel)r  unt)ortetn)aft  t>or  bemjemgen '  bes 
f)etbnl[(f)en  !Ia[fifd)en  Altertums  aus3eid)net.  3n  ber  d)rijtltd)en 
Sittenlel)re  fel)Ien  jene  jtrengen  ©ebote  ber  tägltd)en  2Ba[d)ungcn 
unb  ber  [orgfälttgen  5lörperpflege,  bie  roir  in  ber  mol)ammebani= 
\(i)m,  ben  inbifd)en  unb  anberen  ^Religionen  ni(t)t  nur  tt)eoretifc^ 
fejtgefe^t,  [onbern  audf)  prafti[(^  au5gefül)rt  [ef)en.  Das  Sbeal  bes 
frommen  (£;i)rijten  ijt  in  oielen  5llöftern  ber  SDlenfd),  ber  firf)  niemals 
orbentlicf)  xoäfd^t  unb  Üeibet,  ber  [eine  [cfimu^ige  Äutte  niemals 
toed)[eIt,  unb  ber  jtatt  orbentIid)er  5Irbeit  [ein  faules  JÖeben  mit 
gebanfenlofen  »etübungen,  [innlofem  grajten  u[i».  zubringt.  3lls 
^usu)üd)[e  biefer  fieibesoerac^tung  möge  nodf)  an  bie  toibertoärtigen 
93ufeübungen  ber  ©eifeler  unb  anberer  ^s!eti!er  erinnert  toerben. 
III.  Die  5RoturDerad)tung  bes  d^riftentums.  (&mt 
Quelle  Don  un5äl)ligen  tI)eoreti[c^en  Irrtümern  unb  praftif^en 
gel)lern,  »on  gebulbeten  9?ol)l)eiten  unb  bebauerlid^en  (£ntbel)rungen 
liegt  in  bem  fal[d)en  5tnt^ropismus  bes  (£t)ri[tentum5,  in 
ber  ejEÜufioen  Stellung,  tDeld)e  es  bem  9Plen[(^en  als  „(Ebenbilb 
©ottes"  anroeijt,  im  ©egenfa^e  3U  ber  übrigen  Statur.  Daburd) 
I)at  es  nidE)t  allein  gu  einer  \)öd)]i  [c^äbli(l)en  (Entfrembung  oon 
unferer  I)errli(^en  SDlutter  „9Iatur"  beigetragen,  [onbern  aud)  3U 
einer  bebauernstoerten  23erac^tung  ber  übrigen  Organismen.  Das 
(£I)rijtentum  !ennt  nid^t  jene  rül)mlid)e  fiiebe  gu  ben  3:ieren, 
jenes  9J?itIeib  mit  htn  näi^jtjtetienben,  uns  befreunbeten  Säuge« 
tieren  ($unben,  ^ferben,  5linbern  u[rö.),  u)eld)e  3U  htn  Sitten* 
ge[e^n  oieler  anberer  älterer  9teligionen  Qzißxtn,  oor  allem  ber 
weitejtoerbreiteten,  bes  5Bubbl)ismus.  2ßer  längere  3cit  im 
fatI)oIi[(^en  Sübeuropa  gelebt  I)at,  ijt  oftmals  3^uge  jener  ab' 
[^eulid)en  ^Tierquälereien  getoe[en,  bie  uns  3:ierfreunben  [otöol)I 
bas  tieffte  9JlitIeib  als  "ötn  l)öd)[ten  3otn  erregen;  unb  ujenn  er 
bann  jenen  rol)en  „(£l)rijten"  Sßortoürfe  über  il)re  ©rau[am!eit 
macf)t,  erl)ält  er  jur  lai)enben  ^Inttoort:  „5a,  bie  3:iere  [inb  boc^ 
feine  (£t)rijten !"  £eiber  lourbe  bie[er  3i^tum  aud)  burd)  Des* 
cartes  befejtigt,  ber  nur  bem  9[Ren[d)en  eine  fül)lenbe  Seele  3U= 
[d)rieb,  nid^t  aber  t>tn  Xieren.  3!Bie  erl)aben  [tel)t  in  bie[er  Se= 
3iel)ung  un[ere  moni[ti[d)e  (£tl)i!  über  ber  d)ri[tlici^en  !  Der  Dartoi* 
nismus  lel)rt  uns,  'i>a)ß  roir  3unäd)jt  oon  Primaten  unb  u)eiterl)in 
oon  einer  5?eil)e  älterer  Säugetiere  abjtammen,  unb  ha^  bie[e 
„un[ere  Sr  üb  er"  [inb;  bie  ^f)i)[iologie  betoeijt  uns,  bafe  bie[e  3:iere 
bie[elben  91eroen  unb  Sinnesorgane  l)aben  toie  toir,  ha^  [ie  äl)nli(^ 
fiujt  unb  Sd)mer3  empfinben  toie  roir.  5^ein  mitfül)lenber  monijti= 
[d)er  9laturfor[d)er  wirb  [id)  jemals  jener  rol)en  9?Jifel)anblung  ber 


Unfcrc  momjtifd)c  eittcnlcl)rc.  223 

Üiere  |ci)ulbtg  mad)en;'  bic  ber  gläuWge  (i\)n]i  in  [einem  antl)ropijti» 
Jtf)en  (5xö^tnwai)r\  —  als  „5^inb  bes  ©ottes  ber  £iebe  I"  —  ge= 
ban!enl05  begcl)t.  —  5Iufeerbem  aber  ent3iel)t  Die  prinsipielle 
5RaturDerad)tung  bes  (£l)rijtentums  bem  9Jienfcf)en  eine  gülle  ber 
ebeljten  irbifd)en  ^iceuben,  cor  allem  btn  i)errlid)en,  u)a^rl)aft  er= 
l)ebenben  9laturgenufe. 

IV.  Die  5^uIturDera(i)tung  bes  (I{)ri|tentum5.  T)a  na^ 
(£I)ri|ti  fiet)re  unjere  (Erbe  ein  3<iTnmerti)al  tjt,  un[er  irbi[ci)es  fieben 
toertlos  unb  nur  eine  33orbereitung  auf  bas  „ecoige  fieben"  im 
befferen  5en[eits,  [o  »erlangt  [ie  foIgerid)tig,  ha^  bem^emäfe  ber 
9J?en[(i)  auf  alles  ©lud  im  X)ies[eits  ju  üergid^ten  unb  alle  basu 
erforberlic^en  irbi|d)en  (Süter  gering  gu  ad)ten  l)ai  3w  liefen 
„irbi[d)en  ©ütern"  gel)ören  aber  für  ben  mobernen  5^ulturmen[cf)en 
bie  unsä^ligen  fleinen  unb  großen  'Hilfsmittel  ber  Ztdjnit,  ber 
§t)giene,  bes  33er!el)rs,  tDelcf)e  unfer  i)eutiges  i^ulturleben  an= 
genel)m  geftalten;  —  gu  biejen  „irbi|d)en  ©ütern"  gel)ören  alle  bie 
l)of)en  (Senüffe  ber  bilbenben  5^unjt,  ber  3:on!unjt,  ber  ^oefie, 
rDeld)e  fc^on  tDäI)renb  bes  (f)rijtlid)en  S[Rittelalter5  (tro^  [einer 
^rinjipien !)  [id^  ßu  l)ol)er  ©lüte  enttoidelten,  unb  votl&jt  mix  als 
„ibeale  ©üter"  l)o^[d^ä^en;  —  3U  bie[en  „irbi[d)en  ©ütern"  gel)ören 
bie  un[d)äparen  gort[d)ritte  ber  2Bi[[en[d)aft  unb  cor  allem  ber 
9Zaturer!enntnis.  ^lle  biefe  „irbi[d)en  ©üter"  ber  oerfeinerten 
Äultur,  toeld^e  nad)  unferer  moni[ti[d)en  2Beltan[(f)auung  htn 
l)ö(i)[ten  SBert  befi^en,  [inb  nac^  ber  d)ri[tli(f)en  Jöe^^re  toertlos, 
ja  großenteils  oercoerflid),  unb  bie  [trenge  ^ri[tlidE)e  9JJoral  muj^ 
bas  Streben  nad)  bie[en  ©ütern  mißbilligen.  t)as  (i;i)ri[tentum 
seigt  fiel)  al[o  aurf)  auf  bie[em  pra!ti[c^en  (Sebiete  fulturf einbli(^  ; 
ber  i^ampf,  roelc^en  bie  moberne  ^Bilbung  unb  2Bi[[en[rf)aft  bagegen 
3u  führen  gestoungen  [inb,  i[t  auc^  in  bief^  Sinne  ein  tüir!= 
lieber  ,,5^ultur!ampf". 

V.  I)ie  3^amilienüerad)tung  bes  (ri)ri[tentums.  3u  i^en 
bebauerlid)[ten  Seiten  ber  d)ri[tlid)en  9Ploral  gel)ört  bie  (5ering= 
[d)ä^ung,  rx>t\d)t  bas[elbe  gegen  bas  göTnilienleben  be[i^t, 
b.  f).  gegen  jenes  naturgemäße  3w[ammenleben  mit  ben  näd)[ten 
$Blut5Deru3anbten,  ujelc^es  für  t)tn  normalen  SRenfc^en  eben[o  un= 
entbel)rli(^  ijt  wk  für  alle  i)öl)eren  [o3ialen  3;iere.  Die  „gramilie" 
gilt  uns  ja  mit  5Rei)t  als  bie  „©runbtage  ber  (5e[ell[cf)aft"  unb  bas 
gefunbe  ^öTuilienleben  als  93orbebingung  für  ein  blül)enbes  Staats^ 
leben,  ©anj  anberer  ^Tnfid^t  ujar  (£J)ri[tus,  bc[[en  nad)  bem  „^tn^ 
[eits"  gerid)teter  5Blid  bie  ^rau  unb  bie  gamilie  eben[o  gering 
[d)ä^te  loie  alle  anberen  ©üter  bes  „Dies[eits".  33on  ben  [eltenen 
Serül)rungen  mit  [einen  (Altern  unb  ®e[c^u)ijtern  tDi[[en  bie  ^mn^ 
gelten  nur  [el)r  xoenig  3U  er3äl)len;  bas  23erl)ältni5  3U  [einer  9Kutter 


224  9lcun3cf)Tttc5  Äopltcl. 


SJiaria  wax  banad)  fcincstDcgs  Jo  jart  unb  innig,  toic  es  uns  3:au|'cnbc 
von  [(f)öncn  Silbern  in  poetifcf)cr  23er!Iärung  oorfül)ren;  er 
jelbjt  mar  nic^t  t)crl)eiratet.  Die  (5e[d)led)t5liebe,  bie  bod)  bie  erjte 
(Srunblage  ber  gamilienbilbung  ijt,  er[(^ien  3e[us  el)er  toie  ein 
nottoenbiges  llbcl.  ^o^  loeiter  ging  barin  fein  eifrigster  ^poftel, 
Paulus,  ber  es  für  beffer  erüärte,  nid)t  3u  l)eiraten,  als  3u  I)eiraten. 
„(£s  ijt  bem  9Jlen[d)en  gut,  ha^  er  fein  SBeib  berülire"  (1.  i^orin- 
t^er  7, 1,  28—38).  2Benn  bie  äRenfd^t)eit  biefen  guten  9tat  befolgte, 
tDürbe  fie  bamit  allerbings  balb  alles  irbifd^e  fieib  unb  (SIenb  Ios= 
toerben;  fie  roürbc  burd)  biefc  9tabifalfur  innerhalb  eines  ^a\)X' 
I)unberts  ausfterben. 

VI.  Die  2rrauenoerad)tung  bes  (S:i)riftentunts.  Da 
(T^riftus  felbft  bie  grauenliebe  nict)t  !annte,  blieb  if)m  perfönlirf)  jene 
feine  93erebelung  bes  u)al)ren  SOlenf^entDefens  fremb,  töeld^e  erft 
aus  bem  innigen  3^fömmenlebcn  bes  SO^annes  mit  bem  SBeibe 
entfpringt.  Der  intime  feiuelle  33er!e:^r,  auf  toel^em  allein  bie 
(£rt)altung  bes  SJlenfc^engefc^Iec^ts  berui)t,  ift  bafur  ebenfo  rot(^tig 
xoh  bie  geiftige  Dur^bringung  beiber  (5efc^Ied)ter  unb  bie  gegen» 
fettige  (Ergänjung,  bie  ]i6)  beibe  gleirfiertoeifc  in  ben  pra!tif(i)en 
Sebürfniffen  bes  täglichen  fiebens  tote  in  ben  !)öd)jten  ibealen 
i5un!tionen  ber  Seelentätigfeit  geti)äl)ren.  Denn  SJiann  unb  SBeib 
finb  3U)ei  oerfc^iebene,  aber  glei(f)tDertige  Organismen,  jeber  mit 
feinen  Cigentümlic^feiten,  93or3ügen  unb  9J?ängeIn.  3^  i)ö^tx  fici) 
bie  5^ultur  enttoicfelte,  bejto  mel)r  tourbe  biefer  ibeale  SBert  ber 
fexuellen  fiiebc  erfannt,  unb  bejto  l)öl)er  ftieg  bie  ^^tung  ber  i^xau, 
befonbers  in  ber  germanif(t)en  9?affe;  ift  fie  bod)  bie  Quelle,  aus 
tDeI(i)er  bie  l)errlid)jten  Blüten  ber  ^oefie  unb  ber  5^unft  entfproffen 
finb.  (£t)riftu5  bagegen  lag  biefe  ^nfcf)auung  ebenfo  fem  roie  faft 
bem  gansen  Altertum;  er  teilte  bie  allgemein  l)errfd)enbe  ^n= 
fd)auung  bes  Orients,  haüß  bas  SBeib  bem  SJianne  untergeorbnet 
unb  ber  93er!et)r  mit  il)m  „unrein"  fei.  Die  beleibigte  91atur  l)at 
fid)  für  biefe  SJlifea^tung  furd)tbar  gerächt;  if)re  traurigen  Orolgen 
finb  namentlid)  in  ber  5hilturgefd^id)tc  bes  papijtifd)en  SKittelalters 
mit  blutiger  Sd^rift  oerseit^net. 

$api)ttf(^e  9RoraI.  Die  betounberungsroürbige  ^ierar^ie 
bes  römif^en  ^apismus,  bie  fein  9JZittel  3ur  abfoluten  Se!)errf(^ung 
ber  (Seifter  x)erfd)mäl)te,  fanb  ein  ausgeaeid^netes  Snftrument  in 
ber  <5rortbilbung  jener  „unreinen"  ^nfc^auung  unb  in  ber  Pflege 
ber  asfetifd)en  SSorftellung,  bafe  bie  (£ntl)altung  r»om  5rciuenDerfel)r 
an  fid)  eine  3:ugenb  fei.  Sd)on  in  t>tn  erften  3al)tf)unberten  nad) 
(£l)riftus  entl)ielten  fi^  oiele  ^riefter  freitoillig  ber  (£^e,  unb  balb 
ftieg  ber  Dermcintlid)e  2Bert  biefes  3ölibats  fo  f)od),  bofe  basfelbc 
für  obligatorif^  crflätt  iDutbe.    Die  Sittenlofigfeit,  bie  infolge 


Hnferc  müntjtt[rf)e  Sittcnlcl)rc.  225 


bef[en  einriß,  ijt  burd)  bic  gor[d)ungen  ber  neueren  Rulturge[d)id)te 
allbefannt  getoorben.  Sd)on  im  SOlittelalter  tourbe  bie  23erfül)rung 
ef)rbarer  ^i^auen  unb  Xöd)tcr  burd)  !att)oIi[d)e  ©etjtlidie  (toobet 
ber  ^etd)jtu!)I  eine  tDi(^tige  9?one  fpielte)  ein  öffentlid)e5  Ärgernis; 
oiele  ©emeinben  brangen  barauf,  t)a^  3ur  23erf)ütung  berfelben 
'am  „!eu[(i)en"  ^riejtern  t>as  5^on!ubinat  gejtattet  toerbe  !  ^uf 
t>tn  i)rijtlid)en  Konsilien,  auf  roeld^en  ungläubige  5le^er  lebenbtg 
öerbronnt  tourben,  tafelten  bie  oerfammelten  5larbinäle  unb 
©tf^öfe  mit  gansen  Scharen  »on  ^reubenmäbd^en.  I)ie  gel)eimcn 
unb  öffentUd)en  ^U5[d)toeifungen  bes  !att)oIi[^en  i^Ierus  rourben 
fo  [rf)aml05  unb  gemeingefät)rli^,  bafe  [d)on  cor  £ut!)er  bie  (£m= 
pörung  barüber  allgemein  unb  ber  9?uf  nad)  einer  „^Deformation 
ber  5ltrcE)c  an  §aupt  unb  ©liebern"  überall  laut  tourbe.  Dafe 
tro^bem  bie[e  unfittlid^en  93erl)ältni[[e  in  !atl)oli[(t)en  ßänbern 
nod)  ^eute  fortbeHel)en  (toenn  aud)  mei)r  im  (5el)eimen),  ijt  befannt. 
3rrül)er  EDieberl)olten  [id)  nod)  immer  oon  3cit  ju  3^tt  bie  Anträge 
ouf  befinitioe  9tufl)ebung  bes  3ölibats,  [o  in  ben  5^ammern  oon 
33aben,  $Bar)ern,  ^e[[en,  Sad)[en  unb  anberen  ßänbem.  £eiber 
bisl)er  oergebens !  ^m  Deut|(^en  9Deid)5tage,  in  tDeld)em  bas 
ultramontane  3^ntrum  bie  läd)erlid^jten  SJiittel  jur  93ermeibung  ber 
feiuellen  Unfittli^feit  Dor[d)lägt,  ben!tno^  l)eute  feine  Partei  baran, 
bie  5lb[d)affung  bes  3ölibats  im  5ntere[[e  ber  öffentlid^en  'Moxal  ju 
beantragen.  (Sßergl.  §oensbroe^,  Das  ^apfttum,  fieipsig  1901). 

I)er  moberne  Äulturftaat,  ber  nid)t  blo^  bas  pra!ti[d)e,  fonbern 
aud^  bas  morali[(^e  93ol!sleben  auf  eine  I)öl)ere  Stufe  l)eben  [oll, 
^at  bas  5le^t  unb  bie  ^fli(^t,  [olc^e  untoürbige  unb  gemein[d)äb* 
Ii(^e  3iiftänbe  auf3ul)eben.  T)as  Dbltgatori[d)e  3ölibat  ber 
!att)oli[d)en  ©eijtli^en  ijt  ebenfo  oerberblii^  unb  unfittlid)  toie  bie 
Ol)renbeid)te  unb  ber  ^blajgfram;  alle  bret  (£inri(^tungen 
l)aben  mit  bem  ur[prünglid)en  (Il)ri[tentum  nid)t5  ju  tun; 
alle  brei  [d)lagen  ber  reinen  (£l)rijtenmoral  ins  (5e[id)t;  alle  bret 
finb  nid)tsi]öürbige  (Srfinbungen  bes  ^apismus,  barauf  berechnet, 
bie  ab[olute  §errfd)aft  über  bie  leichtgläubigen  33ol!5ma[[en  aufredet 
3U  erl)alten  unb  [ie  nad)  Straften  materiell  aussubeuten. 

Die  9Zeme[is  ber  ©e[d)id)te  coirb  frül)er  ober  [päter  über  htn 
römifd)en  ^apismus  ein  furd)tbares  Strafgerid)t  galten,  unb  bie 
9Jiillionen  äRen[d)en,  bie  burc^  biefe  entartete  9?eligion  um  il)r 
£ebensglüd  gebracht  rourben,  roerben  bagu  bienen,  il)r  im  3U)an= 
Sigjten  3al)rl)unbert  ben  Xobesjtofe  3U  oerfe^en  —  tüenigjtens  in 
htn  roal)ren  „Rulturftaaten".  9}tan  l)at  neuerbings  beregnet, 
bafe  bie  3al)l  ber  9Jien[^en,  tDeld)e  burd)  bie  papijtifd)en  Äe^er* 
oerfolgungen,  bie  3nqui[ition,  bie  c^rijtli^en  ©laubensfriegc  ufio. 
ums  S,tbtn  famen,  roeit  über  3el)n  aftillionen  beträgt,    ^ber  was 

Äaecfel,  Sßcrträtfet.  15 


226  9lcun3cl)ntcs  Äapitel. 


bebeutet  biefe  3ai)l  gegen  bie  3e^nfQ(f)  größere  3,a\)\  bcr  Un- 
glücflid^en,  ujel^e  htn  Sa^ungen  unb  ber  ^rtejterf)err[d)aft  ber 
entorteten  ö)riltltrf)en  5ltrct)e  moraltfd)  gum  Opfer  fielen?  — 
gegen  bie  Hn3a^I  berjenigen,  beren  t)öl)ere5  (Beijtesleben  burd)  fie 
getötet,  beren  naioes  (Seroiffen  gequält,  beren  Sfamilienleben  Der= 
nid)tet  rourbe?  $ier  gilt  bas  tDa!)re  Sßort  aus  (5oet()es  ©ebic^t 
„I)ie  ^raut  »on  5^orintf)": 

„Opfer  fallen  I)ier,  roeber  £amm  nodf)  Stier, 
5lber  SP^lenf^enopf er  unerhört!" 

Staat  unb  Äir^e.  3n  bem  großen  „5lulturfampfe",  ber 
infolge  bieder  traurigen  93er{)ältni[[e  nod)  immer  geführt  roerben 
mufe,  [ollte  bas  erfte3icl  bie  DoIIjtänbige  3;rennung  oon  Staat 
unb  Äirc^e  [ein.  X)ie  „freie  5^ird)e  [oII  im  freien  Staate"  be= 
jtcf)en,  b.  J).  jebe  ilird^c  foll  frei  [ein  in  ooller  5tusübung  if)re5 
5lultu5  unb  it)rer  3cremonien,  au^  im  5tu5bau  il)rer  pl)anta[ti[d)en 
I)id^tungen  unb  abergläubigen  Dogmen  —  jebod)  unter  ber 
93oraus[c^ung,  bafe  [ie  baburd^  nict)t  bie  öffentlid^e  Orbnung 
unb  Sittli^feit  gefät)rbet.  Unb  bann  [oII  gleiifies  9^ed)t  für  alle 
gelten!  I)ie  freien  ©emeinben  unb  bie  moni[ti[^en  9?eIigion5= 
(5e[eII[(^aften  [ollen  eben[o  gebulbet  unb  eben[o  frei  in  if)ren  SBe« 
toegungen  [ein  toie  bie  liberalen  ^roteftantenoereine  unb  bie 
ortl)oboxen  ultramontanen  ©emeinben.  ^ber  für  olle  bie[e 
„©laubigen"  ber  Der[(f)ieben[ten  5lonfe[[ionen  [oll  bie  ^Religion 
^rtDat[od)e  bleiben;  ber  Stoot  [oll  [ic  nur  beauf[i(^tigen  unb 
ettöoige  ^us[d)reitungen  Derl)üten,  [ie  ober  roeber  unterbrütfen, 
noc^  unterjtü^en.  5lud)  [ollen  bie  Steuerjo^ler  nic^t  mel)r  gel)alten 
toerben,  \\)X  ©elb  für  bie  ^ufred)ter^altung  unb  ^rörberung  eines 
fremben  „©loubens"  l)er3ugeben,  ber  norf)  il)rer  el)rlid)en  Öber- 
geugung  ein  [d)äblid)er  ^bergloube  ijt.  3^  tizn  ^Bereinigten 
Stooten  oon  $Rorbameri!a,  in  §ollanb  unb  einigen  fleineren  £änbem 
ijt  in  bie[em  Sinne  bie  oolljtänbige  „3^rennung  oon  Stoat  unb 
kxxd)^"  längft  burd)gefül)rt,  unb  stoor  3ur  3iifriebenl)eit  oller 
beteiligten,  eben[o  neuerbings  in  ^ranfrei^.  X)amit  ijt  bort 
3ugletc^  bie  eben[o  roi^tige  3^rennung  oon  ber  S(i)ule  bejtimmt, 
un3tDeifell)aft  ein  tDe[entlid)er  ©runb  für  ben  5luf[(f)tDung  ber 
2Bi[[en[(^aft  unb  bes  l)ö^eren  ©eijteslebens  überhaupt. 

ilirc^e  unb  Schule.  (£s  ijt  [elbjtoerjtänbli(f),  bofe  bie  (Entfernung 
ber  Rird)e  aus  ber  Schule  [id)  blofe  auf  bie  5l0nfe[[ion  be3iel)t, 
ouf  bie  be[onbere  ©loubensform,  tDeld)e  ber  Sogenfreis  jeber 
einseinen  Rix^t  im  £aufe  ber  3cit  entroicfelt  l)at.  X)ie[er  „!on» 
fe[[ionelle  Unterricht"  ijt  reine  ^riüat[ad)e  unb  5lufgabe  ber  (Sltem 
unb  93ormünber,  ober  berjeniger  ^riejter  ober  £el)rer,  benen 
bie[c  il)r  per[önlirf)e5  S3ertraucn   [(i)en!en.     Dagegen   treten    on 


Unfere  tiionijti[d)c  Stttcnlcl)rc.  227 


I 


Stelle  ber  ousgejrfiiebenen  „Äonfeffion"  sroei  oerfc^iebene  tDid)tige 
Hnterrid)tsgegenjtänbe:  erstens  t>xt  momjtifi^e  Sittenlel)re  unb 
^toeitens  bie  t)erglet(i)enbe  9?eUgioTisge[d^id)te.  ilber  bie  neue 
mont[tt[d)e  (£tt)i!,  tDeId)e  [td)  auf  ber  fejten  Safts  ber  mobernen 
Sflaturerfenntnis  —  cor  allem  ber  (£nttoidelung5leI)re  —  erl)ebt, 
ift  im  fiaufe  ber  legten  ^^a\)X%ti)ntt  eine  umfangretcf)c  JÖtteratur 
erfd^tenen.  Un[ere  neue  Dergletd)enbe  9ieItgtonsge[^{cf)te 
fnüpft  naturgemäß  an  ben  bejte{)enben  (Elementarunterricht  in 
„bibli[d)er  ©e[(f)t(i)te"  unb  in  ber  Sagentoelt  bes  gried)ifd)en  unb 
römi[ct)en  Altertums  an.  $8eibe  bleiben  roie  bisl)er  tDe[entIi(i)e 
©ilbungselemente.  I)a5  ijt  \6)on  bes!)alb  [elbjttjerjtänblicf),  toeil 
un[ere  ganse  bilbenbe  5lunft  auf  bas  S^inigite  mit  ber  iübi[d)en 
unb  (i)rijtlid)en,  ber  l)elleni[d)en  unb  römi[i)en  äRi)tf)ologie  »er^ 
u)ad)[en  ijt.  (Sin  u)efentlid)er  lCnter[d)ieb  im  Unterri^t  toirb  nur 
ta  eintreten,  bafe  bie  ifraelitifc^cn  unb  d)rijtlic^en  Sagen  unb 
ßegenben  nxii)t  als  „9Ba^rt)eit"  gelel)rt  toerben,  fonbem  gleic!) 
ben  gried)i[d)en  unb  römif df)en  als  Di(i)tungen;  toas  [ie  an 
ett)i[^en  unb  ä|tl)etif(^en  9Berten  entl)alten,  uiirb  baburd)  ni(f)t 
uerminbert,  [onbem  erl)ö!)t.  —  2Bas  bie  Sibel  betrifft,  [o  [ollte 
biefes  „33ud)  ber  $8ü^er"  t)tn  i^inbern  nur  in  forgfältig  geix)ät)Item 
5tus3uge  in  bie  §anb  gegeben  toerben  (als  „Sdiulbibel");  baburd) 
ujürbe  bie  93efledung  ber  ünblid)en  ^t)anta[ie  mit  ben  3al)lrei(i)en 
unfauberen  ®e[(t)idE)ten  unb  unmoraIi[d)en  (^3äl)Iungen  Derl)ütet 
werben,  an  "ötmn  namentli(f)  bas  ^Ite  !teftament  fo  reid^  ijt. 

Stoat  unb  S^ule.  9la(i)bem  unfer  mobemer  Äulturftaat  [ic^ 
unb  bie  Scf)ule  von  ttn  Sflaoenfeffeln  ber  Siixä)t  befreit  I)at, 
u)irb  er  um  [o  me^r  [eine  ilraft  unb  (Jrürforge  ber  Pflege  ber 
(5d)ule  toibmen  fönnen.  Der  un[d)äpare  SBert  eines  guten 
Scl)ulunterrid)ts  ift  uns  um  fo  mel)r  5um  33eiDufet[ein  gefommen, 
je  reid)er  fict)  im  ßaufe  bes  19.  ^ö^r^unberts  alle  3tt>eige  bes 
mobernen  ^Kulturlebens  entfaltet  l)aben.  ^ber  bie  (SntrDicfelung 
ber  Unterri^tsmetl)oben  l)at  bamit  feinestoegs  gleichen  S(^ritt 
gel)alten.  X>it  9IottDenbig!eit  einer  umfaffenben  (5d)ulreform 
brängt  fid)  uns  immer  ent[d)iebener  auf.  SBefonbers  bürften  babei 
folgenbe  5ort[d)ritte  3U  berüd[ic^tigen  [ein:  1.  ^m  bisl)erigen 
ltnterrid)t  [pielte  allgemein  ber  9Jien[d)  bie  Hauptrolle  unb  be= 
[onbers  bas  grammati[d)e  Stubium  [einer  Spracj)e;  bie  91atur= 
funbe  tourbe  barüber  ganj  Demad)lä[[igt.  2.  3n  ber  neueren 
S^ule  muß  bie  9latur  bas  ^auptobjeft  toerben;  ber  9J?en[(^  [oll 
eine  rid)tige  S3orjtellung  oon  ber  SBelt  getoinnen,  in  ber  er  lebt; 
er  [oll  nid)t  aufeerl)alb  ber  9^atur  jtel)en  ober  gar  im  (5egen[a^  ju 
i^r,  [onbem  [oll  als  x\)x  ^öc^jtes  unb  ebel[tes  (Srseugnis  er[(^einen. 
3.   T)as   Stubium   ber   !la[[i[cl)en   (5prad)en    (ßoteini[d)  unb 

15* 


•228   !neun3e^ntes  Äapilel.     Hnfere  monijtifc^c  Sittcnlelirc. 

®ric(i)t[d)),  bas  bi5l)er  htn  größten  3;eil  bcr  3eit  unb  5lrbeit  in 
^2ln[prurf)  nal)m,  bleibt  gtüar  [el)r  toertüoll,  mufe  aber  ftar!  bef^ränft 
unb  auf  bie  (Elemente  rebu3tert  roerben  (bas  (5rtecf)if(i)e  nur 
faMtatir),  bas  üatemifd)  obligatortf^).  4.  Dafür  ntüfftn bie  m o b er  = 
ntn  5lultur[prad)en  auf  allen  p{)eren  S(f)ulen  um  [o  mel)r 
gepflegt  roerben  (Deutfrf),  (Snglifd),  ^rranjofifct),  ^talienifc^).  5.  Der 
Hnterrid)t  in  ber  ®efrf)i(^te  mu^  mel)r  bas  innere  (Beiftesleben, 
bie  5^ulturgefd)i(^te  berüdfi^tigen,  roeniger  bie  äufeerlirf)e  3}ölfer= 
ge[rf)id)te  (bie  <B6)xd\aU  ber  Drinajtien,  5lriege  ufto.).  6.  Die 
(Srunbsüge  ber  (£nttDideIungsIel)re  finb  im  3iifammenf)ange 
mit  benjenigen  ber  ilosmologie  gu  Iel)ren,  ©eologie  im  Ulnf^Iufe 
an  bie  ©eograpl)ie,  ^ntl)ropoIogie  im  U[nfd)luJ3  an  bie  Biologie. 
7.  Die  ©runbjüge  ber  Biologie  muffen  (Semeingut  jebes  ge= 
bilbeten  9JJenfd)en  roerben;  ber  moberne  „5tnfct)auungsunterrid)t" 
förbert  bie  an3iel)enbe  (£infüt)rung  in  bie  bioIogi[d)en  9Bi[fenfrf)aften 
('!jrntt)ropoIogie,  3ooIogic,  ^otanü).  ^m  beginne  ijt  üon  ber 
be[ct)reibenben  Si)ftematif  aus3ugel)en  (im  3ufammenf)ang  mit 
Cfologie  ober  Sionomie);  fpäter  [inb  bie  (Elemente  ber  Anatomie 
unb  ^l)r)fioIogie  angufi^Iiefeen.  8.  (Ebenfo  mufe  von  ^t)r)fi!  unb 
(£f)cmie  jeber  (Sebilbete  bie  ©runbsüge  fennen  lernen.  9.  3^ber 
®(f)üler  mufe  gut  geid^nen  lernen,  unb  groar  nad)  ber  9latur; 
löomöglid)  aud^  aquarellieren.  Das  (Enttoerfen  von  3eirf)nungen 
unb  ^quarell[Ü33en  naä)  ber  9latur  {von  Slumen,  3:ieren,  £anb= 
[c^aften,  2Bol!en  ufu).)  toecft  nict)t  nur  bas  3tttere[[e  on  ber  9Zatur 
unb  erl)ält  bie  (Erinnerung  an  il)ren  ©enufe,  fonbern  bie  Scl)üler 
lernen  baburd)  überl)aupt  erjt  rid)tig  fel)en  unb  bas  ©efe^ene  r)er= 
[tel)en.  10.  33iel  mef)r  Sorgfalt  unb  3eit  als  bisl)er  ift  auf  bie  !ör« 
perlid)e  ^usbilbung  3U  »ertoenben,  auf  Blumen  unb  Sd^toim* 
men;  por3üglid)  aber  finb  toö^entlid)  gemeinfame  (5pa3iergänge 
unb  iäl)rlicl)  in  ben  3rerienmel)rere  0^ unreifen  3U  unternel)men; 
ber  I)ier  gebotene  ^nfd^auungsunterrirf)t  ijt  oon  t)ö(^jtem  2Bert. 
Das  §aupt3iel  ber  l)ö^eren  (5d)ulbilbung  blieb  bisl)er  in  htn 
meijten  ^ulturftaaten  hit  23orbilbung  für  htn  fpäteren  Seruf, 
(Ercoerbung  eines  geroiffen  S[Rafees  oon  5lenntni[fen  unb  ^bri(i)tung 
für  bie  ^flid)ten  bes  Staatsbürgers.  Die  (3cf)ule  bes  20.  ^a\)x= 
bunberts  u)irb  bagegen  als  §aupt3iel  bie  ^usbilbung  bes  felb- 
ftänbigen  Deutens  »erfolgen,  bas  ftare  33erftänbnis  ber  er= 
ujorbenen  .Henntniffe  unb  bie  (Einfid^t  in  t)tn  natürlicl)en  3"* 
[ammenl)ang  ber  (Erfrf) einungen.  SBenn  ber  moberne  Äulturjtaat 
jebem  Bürger  bas  allgemeine  gleirf)e  2Bal)lre({)t  3ugejtel)t,  mufe  er 
it)m  aud)  bie  95iittel  geu)äl)ren,  burdE)  gute  Sc^ulbilbung  feinen 
33erjtanb  3U  enttoirfeln,  um  baoon  3um  allgemeinen  heften  eine 
oernünftige  5lntüenbung  3U  marf)en. 


3u)an3iglte5  5^apitel.     £ö^ung  bcr  SBelträtfel.  229 


eSfung  bet  gBetftäffeC 

9lMbM  auf  bie  ffortfc^ritte  bcr  tptffcnfc^aftlic^en  ^clf-- 

erfcnntni^  im  neunjc^ntcn  Sa^r^unbert    ^eanttportung  bei' 

Q33e(trätfc(  burc|)  bie  moniftifcf)e  9^atur|)(;ilofop^ie. 

^TTi  (£nbc  unferer  pt)tIo[opI)i[d)en  8tubtcn  über  bie  SBelträtfel 
angelangt,  bürfen  toir  getrojt  3ur  ^eanttüortung  ber  ]d)xotx= 
lotegenben  grage  [(f)retten:  2Bte  roeit  ift  uns  if)re  ^öfung  gelungen? 
3ßeld)en  3Bert  befi^en  bie  ungef)euren  3^ortfdf)rttte,  tüelcf)e  bas 
t)erfIo[[ene  19.  ^ö^^^unbert  in  ber  toaljren  ^RaturerJenntnis  ge= 
ma(f)t  f)at?  Unb  toelc^e  ^usfid^t  eröffnen  [te  uns  für  bie  3u!unft, 
für  bie  loeitere  (gntcoicfelung  unferer  2BeItanf(^auung  im  20.  ^a\)x= 
i)unbert?  3eber  unbefangene  T)en!er,  ber  bie  tatfäd^Iic^en  O^ort= 
[c^ritte  unferer  empiri[cf)en  5^enntiti[[e  unb  bie  ein^eitli(i)e  i^Iärung 
unferes  pI)iIo[op]^ifcf)en  33erftänbni[[es  einigermaßen  über[e!)en 
fann,  roirb  unjere  ^nfii^t  teilen:  bas  19.  5ö^r!)unbert  \)ai  größere 
5ort[d)ritte  in  ber  i^enntnis  ber  5Ratur  unb  im  33erjtänbnis  i^res 
SBefens  I)erbeigefüf)rt  als  alle  frül)eren  3ö^rt)imberte;  es  \)ai  otele 
große  „ißelträtfel"  gelöjt,  bie  an  [einem  beginne  für  unlösbar 
galten;  e6l)atuns  neue  ©ebiete  bes  2Bi[[ens  unb  (Erfennens  auf= 
gefc^loffen,  üon  beren  (Sriftenj  ber  9J?en[c^  not  l)unbert  3cil)ren  norf) 
feine  ^l)nung  l)atte.  23or  allem  aber  \)ai  es  uns  bas  erl)abene  3iel 
ber  moni[ti[^en  Kosmologie  llar  oor  ^ugen  gestellt  unb  "Hzn 
2Beg  geaetgt,  auf  tDelcl)em  allein  u)tr  uns  il)m  nähern  fönnen,  tizn 
2Beg  ber  eiaften  empiri[(i)en  (£rfor[(f)ung  ber  3:at[ac5en  unb  ber 
fritif^en  geneti[cf)en  (Srlenntnis  il)rer  Urfadien.  T)as  abjtra!te 
große  (5e[e^  ber  mec^anifc^en  5^au[alität,  für  bas  un[er 
tosmologifc^es  ©runbgefe^,  bas  Subftanjgefe^,  nur  ein 
anberer  !on!reter  ^usbruc!  ijt,  be^err[d)t  je^t  bas  linioerfum 
eben[o  roie  t)tn  9Jlen[d)engeift;  es  ijt  ber  [id)erc,  unoerrüdbare  £ett= 
jtern  gemorben,  beffen  flares  £id)t  uns  burd)  bas  bunfle  fiabprintl) 
ber  unjä^ligen  einzelnen  (£rfd) einungen  lizn  ^fab  geigt.  Um  uns 
baDon  3U  übergeugen,  toollen  roir  einen  flüd)tigen  "iHüdblicE  auf  bie 
erjtaunltd)en  ^ortfc^ritte  roerfen,  töeld)e  bie  ^auptgmeige  ber 
9laturroi[[enfd)aft  in  biefem  benfcoürbigen  3eitraum  gemad^t  l)aben. 
I.  5ortf(^ritte  ber  5l)'tronomte.  X)ie  ioimmelsfunbe  ijt 
bie   öltejte,    bie    äRenfdjenfunbc    bie    jüngjte    9^aturtDi|[en[(^aft. 


230  3t»cin3i9ftes  5^opitel. 


ÜUx  ]x^  felbft  unb  [ein  eigenes  2ße[en  tarn  ber  9Jtenfd^  erft  in  ber 
Stoeiten  ^älfte  bes  19.  3cii)rl)unbert5  3ur  KIart)eit,  tüäl)renb  er  in 
ber  i^enntnis  bes  gejtirnten  ^immels,  ber  ^lanetenbetoegungen 
u[tD.  \d)on  Dor  5000  3öt)ren  üiele  5^enntni[fe  be[afe.  Die  alten 
ö:i)ineien,  3nber,  ^gt3pter  unb  (£l)albäer  fannten  im  fernen 
9J?orgenIanbe  jd)on  bantals  bie  [pl)äri[d)e  ^tronontie  genauer  als 
bie  meijten  „gebilbeten"  (£t)riften  bes  ^benblanbes  üiertau[enb  5al)re 
[päter.  (5(i)on  im  ^ai)xt  2697  vox  (i\)x.  tourbe  in  (iil)ina  eine 
Sonnenfinfternis  aftronomifd)  bered)net  unb  1100  So^re  Dor  (£l)r. 
mittels  eines  (Snomons  bie  Srf)iefe  ber  (£!Iipti!  bestimmt;  l)ingegen 
be[afe  (£I)rijtus  felbjt  (ber  „So!)n  ©ottes!")  befanntlicf)  gar  feine 
ajtronomi[dE)en  Äenntniffe;  er  beurteilte  Dielmel)r  ^immel  unb 
(£rbe,  9latur  unb  9Jlen[cf)  von  bem  be[d)ränfteften  geo3entri|(f)en 
unb  antf)ropo3entri[(^en  Stanbpunfte  aus.  ^lls  größter  3rort[(i)ritt 
ber  ^ftronomie  roirb  allgemein  unb  mit  9lecf)t  bas  l)elio3entrifrf)e 
2Belt[i)jtem  bes  5lopernilus  betra(i)tet,  beffen  großartiges  SPSerf: 
„D  e  revolutionibus  orbium  coelestiu  m"  (1543) 
[elbft  bie  größte  ^leoolution  in  ben  Stopfen  ber  benfenben  9Kenf(f)en 
i)ert>orrief.  3nbem  er  bas  l)err[^enbe  geo3entri[(i)e  2Belt[r)ftem  bes 
^tolemäus  ftür3te,  entsog  er  3ugleidE)  ber  l)err[(i)enben  ct)riitli^en 
2Beltanfd)auung  ben  Soben,  u)elä)e  bie  (Srbe  als  SO^Zittelpunft  ber  2ßelt 
unb  t>tn  9Jlen[d)en  als  gottglei(f)en  Sel)errf(i)er  ber  (£rbe  betrai^tete. 
(£s  toar  ba^er  nur  folgefi(i)tig,  baß  ber  d)rijtlid^e  i^lerus,  an  [einer 
Spi^e  ber  römi[cl)e  ^ap[t,  bie  neue CBntbecfung  bes  5^operni!us  aufs 
f)eftig[te  belämpftc.  Xro^bem  hxad)  [ie  [ic^  balb  Dolljtänbig  23al)n, 
nad)bemi^epler  unb  (Salilei  barauf  bie  xDa\)xt  „3Red)anif  bes$im= 
mels"  gegrünbet  unb  ^Retoton  il)r  bur^  [eine  ©raDitationstl)eorie 
bie  uner[^ütterlicf)e  matl)emati[(j^e  Sa[is  gegeben  f)atte  (1686). 
(Ein  ujeiterer  getoaltiger  unb  bas  gan3e  irnit)er[um  umfa[[enber 
gort[^ritt  lüar  bie  (£infül)rung  ber  (Snttoicfelungsibee  in  bie 
§immelshinbe;  er  ge[d)a^  1765  bur^  ben  iugenblid)en  5^ant, 
ber  in  [einer  fü^nen  5lllgemeinen  lRaturge[d)id)te  unb  3^eorie 
bes  Fimmels  ni(i)t  nur  bie  „93erfa[[ung",  [onbem  au^  ben 
„med)ani[(i)en  Hr[prung  bes  gan3en  SBeltgebäubes  naii) 
9leu)tons  ©runb[ä^en"  ab3ul)anbeln  unternal)m.  Durd)  bas  groß* 
artige  „Systeme  du  monde"  oon  £aplace,  ber  unab* 
I)ängig  von  ilant  auf  bie[elben  93or[tellungen  von  ber  SBeltbilbung 
ge!ommen  toar,  tourbe  bann  1796  bie[e  neue  „Mecanique 
Celeste"  [o  fejt  begrünbet,  ha^^  es  [cf)einen  fonnte,  un[erem 
19.  3ö^i^^iiTtbert  [ei  auf  bie[em  größten  (Erfenntnisgebi^tc  nichts 
xoe[entlic^  bleues  von  gleicl)er  Sebeutung  mel)r  Dorbel)alten.  Itnb 
bod^  bleibt  tf)m  ber  ^u^nx,  aud)  \)kx  gans  neue  Sa!)ncn  eröffnet 
unb  un[eren  fBM  ins  Unioerfum  uncnblirf)  ertucitert  ju  l)abcn. 


fiö[ung  ber  2Belträt[eI.  231 

Durd)  bie  (Erfinbung  ber  ^I)otograpl)ie  utib  ^I)otometrie,  cor  allem 
aber  ber  ®pe!tralanalr)[e  (burd)  SBunfen  unb  Äir(f)l)off,  1860) 
ujurben  bie  ^t)t)[if  unb  (£l)eTnte  in  bie  ^Iftronomie  eingeführt  unb 
babur(f)  !osmoIogi[(^c  5tuf[d)lü[[e  von  größter  ^Iragtoeite  gewonnen. 
(£s  ergab  [idf)  nun  mit  SidE)erJ)eit,  bafe  bie  SJiaterie  im  gansen 
SBeltall  loefenilid)  btefelbe  ift,  unb  t>a^  \\)xz  pl)i)[i!ali[d)en  unb 
d)emi[d)en  (£igen[d)aften  auf  titn  fernjten  (Jiiftemen  nid)t  cer^ 
[d[)ieben  [inb  oon  benjenigen  unferer  (£rbe. 

T)k  monijtif^e  Uberseugung  von  ber  pl)r)[i!ali[(^en  unb 
d^emi[d)en  (Einheit  bes  unenblicf)en  5tosmos,  bie  roir 
baburd)  getoonnen  ^aben,  gehört  [id)erlid)  gu  ben  tDertooIljten 
allgemeinen  (£r!enntni[[en,  toeld)e  roir  ber  ^[trop{)t)[if  oerbanfen, 
einem  neuen  t)öd)ft  intere[[anten  3^etge  ber  ^jtronomie.  ^\d)t 
minber  iDid)tig  ift  bie  !lare,  mit  ^ilfe  jener  geroonnene  Cgrfenntnis, 
bafe  aud)  bie[elben  ©e[e^e  ber  med^anifd)en  (Enttoidelung  im  un= 
enblid)en  Hnioerfum  ebenfo  überall  ^errf^en  toie  auf  unferer  (Erbe; 
eine  getoaltlge  allumfaffenbe  9Jletamorpl)o[e  bes  Äosmos 
üoll3iel)t  fid)  ebenfo  ununterbrochen  in  allen  Xeilen  bes  unenblid)en 
Xlnioerlums  roie  in  ber  geologif^en  (5e[(^id)te  unferer  (£rbe; 
ebenfo  in  ber  Stammesgefd)ic^te  il)rer  SBetoo^ner  toie  in  ber  93ölfer= 
gefd)id)te  unb- im  Qzhtn  jebes  einzelnen  9Kenf(^en.  ^n  einem 
Xeile  bes  i^osmos  erbliden  roir  mit  unferem  oeroolHommneten 
5etnrol)re  gecoaltige  S^lebelflede,  bie  aus  glü^enben,  äufeerft  bünnen 
©asmaffen  beftet)en;  toir  beuten  fie  als  Reime  oon  2Belt!örpern, 
bie  93?illiarben  t»on  SOfleilen  entfernt  unb  im  erften  Stabium  ber 
(SntiDidelung  begriffen  finb.  Set  einem  2;eile  biefer  „Sternfeime" 
finb  tDal)rfc^einlid)  bie  d)emifd^en  Elemente  nod)  nid)t  getrennt, 
fonbem  bei  ungel)euer  ]^ol)er  3^emperatur  im  Xlrelement  oer* 
einigt.  3n  onberen  teilen  bes  Unioerfums  begegnen  roir  Sternen, 
bie  bereits  burd)  ^bfül)lung  glutflüffig  getoorben,  anberen,  bie 
fd)on  erftarrt'finb;  toir  fönnen  il)re  (Enttoidelungsftufe  annä^ernb 
aus  il)rer  t)erfd)iebenen  t^örbe  beftimmen.  Xann  toieber  fel)en 
roir  Sterne,  bie  oon  9^ingen  unb  SJJonben  umgeben  finb  loie  unfer 
Saturn;  toir  erfennen  in  bem  Ieud)tenben  5Rebelring  ben  i^eim 
eines  neuen  9[Uonbes,  ber  fid^  oom  9}lutterplaneten  ebenfo  abgelöft 
f)at  roie  biefer  oon  ber  Sonne.  Die  moberne  §immelspl)otograpl)ie 
^at  uns  in  ttn  Stanb  gefegt,  mit  §ilfe  ber  mäd)tigen,  fel)r  oerooll« 
fommneten  9liefenfemrol)re,  bie  3ö¥  '^^^  fid)tbarcn  äßeltförper 
in  ben  einzelnen  ^immelsbesirten  genau  3u  beftimmen;  fd)on  je^t 
finb  mel)r  als  f)unbert  9}lillionen  Sterne  roirfli«^  ge3äl)lt  u)orben, 
bie  meiften  tDal)rfc^einlid)  oiel  größer  als  unfere  (£rbe. 

33on  üielen  „^ix]tttntn" ,  bcren  2\ä)i  ^o^^^aufenbe  braurf)t, 
um  5u  uns  ju  gelangen,  bürfen  toir  mit  Sid)er^eit  onnel)men,  bafe 


232  3wö"3i9nes  Äapitel. 


[ie  Sonnen  [tnb,  äl)n\\^  unferet  äRuttcr  Sonne,  unb  ha^  fte  oon 
"Planeten  unb  SRonben  untfretjt  tüerben,  ä^nlid)  htmn  unferes 
eigenen  .Sonnen[t)|tems.  2Btx  bürfen  aud)  u)etterl)tn  oermuten, 
t>a^  \i<S)  3:au[enbe  oon  btefen  Planeten  auf  einer  ä{)nli(f)cn  (£nt= 
toicfelungsjtufe  toie  unfere  (£rbe  befinben,  b.  l).  in  einem  Bebens^ 
alter,  in  bem  bie  3:emperatur  ber  OberfIä(i)e  3roi[rf)en  bem  ®efrier= 
unb  Siebepunft  bes  2Ba[[er5  liegt,  al[o  bie  (£xiften3  tropfbaren 
flüffigen  2Ba[fer6  gejtattet.  Damit  tft  bie  9JiögIi(^!eit  gegeben,  ha^ 
ber  5^of)Ien[toff  audf)  t)ier,  roie  auf  ber  (£rbe,  mit  anberen  (£Ic= 
menten  [et)r  oertoicfelte  23erbinbungen  einget)t,  unb  ba^  aus  [einen 
■fticfjtofft)aItigen  33erbinbungen  fi^  ^lasma  entioidEelt  \)ai,  jene 
rounberbare  „lebenbige  Subftanj",  bie  toir  als  alleinigen 
(Eigentümer  bes  organi[(i)en  ßebens  lennen.  X)ie  äWoneren,  bie 
nur  aus  [ol(i)em  primitioen  "»Protoplasma  beftel)en,  unb  bie  burd) 
Urzeugung  (^r^ig0nie)  aus  jenen  anorganifdien  5^ol)lenjtoff= 
33erbinbungen  entftanben,  fönnen  nun  benfelben  (Snttoidelungsgang 
auf  üielen  anberen,  roie  auf  unferem  eigenen  Planeten,  einge= 
f erlagen  I)aben;  3unäd)jt  bilbeten  fid)  aus  it)rem  l)omogenen  ^lasma= 
förper  burd)  Sonberung  eines  inneren  5^erns  oom  äußeren  3^^  = 
förper  einfad)fte  lebenbige  3ßnen.  Die  5tnalogie  im  2tbtn  aller 
3ellen  aber  bered)tigt  uns  3U  bem  Sd)luf[e,  bafe  aud)  bie  roeitere 
Stammesge[d)i(^te  [i(^  auf  oielen  Sternen  äl)nlid^  toie  auf  unferer 
(Erbe  abfpielt  —  immer  natürlid)  bie  gleid)en  engen  ©ren3en  ber 
3:emperatur  oorausgefe^t,  in  'otmn  bas  2ßa[[er  tropfbar=flü[[ig 
bleibt;  für  glül)enbflüf[ige  Sßeltförper,  auf  benen  bas  2ßa[[er  nur 
in  Dampfform,  unb  für  erstarrte,  auf  benen  es  nur  in  (Eisform 
beftet)t,  ijt  organifd)e5  2thtn  in  gleid)er  SBeife  unmöglid). 

!^te  $l^nU(^fett  ber  ip^tilogeme,  bie  Analogie  ber  jtammes^ 
ge[d)id)tlid)en  (Entroidelung,  bie  toir  bemna(^  bei  oielen  Sternen 
auf  gleid)er  biogenetifd^er  (Entioidelungsftufe  annel)men  bürfen, 
bietet  natürlid)  ber  fonftruftioen  ^l)anta[ie  ein  roeites  gelb  für 
farbenrei^e  Spefulationen.  (Ein  fiieblingsgegenftanb  berfelbcn  ift 
feit  alter  3eit  bie  grage,  ob  aud)  95len[d)en  ober  uns  äl)nlid)e, 
oielleid^t  l)öl)er  enttoidelte  Organismen  auf  anberen  Sternen 
u)ol)nen?  Soweit  toir  gegentoärtig  3ur  93eanttt)ortung  biefer 
Örrage  befäl)igt  er[d)einen,  fonnen  toir  uns  etroa  j^olgenbes  üor= 
jtellen:  I.  (Es  ijt  [el)r  tDa]^r[d)einlid),  bafe  auf  einigen  Planeten 
unseres  St^ftems  (5[Rars  unb  33enus)  unb  oielen  ^kneten  anberer 
Sonnenfr)jteme  ber  biogenetifc^e  ^ro3efe  fid)  ät)nli(^  toie  auf 
un[erer  (Erbe  abfpielt;  3uerft  entftanben  burd)  5lrd)igonie  ein= 
fad)e  SJioneren  unb  aus  biefen  einsellige  ^^rotiftcn.  II.  (Es  ift 
fef)r  roal)rf^einlid),  t)a^  aus  fold)en  ein3elligen  Hrtoefen  fid)  im 
Boeiteren   33erlauf  ber  (Entroidelung  3unäcl^ft  fosiale  3elloereine 


£ö[ung  ber  2BeIträt[el.  233 


bilbeten,  fpäter  getoebebilbcnbc  ^flanjen  unb  Stiere.  III.  (£5  tjt 
aud)  fernerhin  töa^r[d)einlirf),  bafe  ttn  ^flan5enreid)e  ftd)  3unä(f)it 
"iTioofe  unb  ^axm,  [päter  ^Igen,  jule^t  ^Blumenpflanaen  enttütd  elten. 
IV.  (£5  tjt  ebenfo  u)at)r[cf) einlief,  bafe  aud)  im  Xierrei^e  ber  bio= 
genetifc^e  ^rojefe  einen  ä{)nlid)en  93erlauf  nal)m,  bafe  aus  SIaftä= 
aben  fic^  5unäd)jt  ®ajträaben  eniu)icfelten,  unb  aus  biefen  9^ieber= 
tieren  [päter  Obertiere.  V.  Dagegen  ijt  es  [et)r  fraglid),  ob  bie 
eiuäelnen  Stämme  bie[er  I)öl)eren  Xiere  (unb  ebenfo  ber  t)öt)eren 
^^flansen)  ben[elben  ober  einen  äf)nli(^en  (Enttoidelungsgang  auf 
anberen  Planeten  burd)Iaufen  toie  auf  unferer  (Erbe.  VI.  ^ns* 
befonberc  ijt  es  un[id)er,  ob  SBirbeltiere  aud)  aufeerl)alb  ber  (Erbe 
eiijtieren,  unb  ob  aus  beren  p^pletifc^er  93ietamorpt)ofe  [irf)  im  fiaufe 
oieler  93?inionen  ^ai^xt  eben[o  Säugetiere  unb  an  beren  Spi^e 
ber  93ien[d)  enttoidelt  f)abtn  toie  auf  unferer  (£rbe;  es  müßten  bann 
äRillionen  oon  ^Transformationen  \i(i)  bort  ganj  ebenfo  roie  l)ier 
ijoiebert)oIt  t)aben.  VII.  Dagegen  ift  es  rDaf)rf(i)einU(^er,  ha^  auf 
anberen  Planeten  fid)  anbere  Xx)p^n  von  {)öt)eren  ^flan^en  unb 
Xieren  enttoidelt  t)aben,  bie  unferer  (£rbe  fremb  finb;  oielleic^t 
aud)  aus  einem  ^öt)eren  Xierftamme,  ber  ben  SBirbeltieren  an 
$ßilbungsfät)ig!eit  überlegen  ijt,  I)öl)ere  2Befen,  bie  uns  irbifc^e 
9Jien[d)en  an  ^Tttelligens  unb  Denfoermögen  toeit  übertreffen. 
VIII.  Die  9JtögIid^!eit,  bafe  toir  SO^lenfci^cn  mit  folc^en  ^Beroo^nern 
anberer  Planeten  jemals  in  bireften  93er!el)r  treten  fönnten,  er* 
fd^eint  ausgefd)loffen  burd)  bie  roeite  (Entfernung  unferer  (Erbe 
oon  anberen  2Belt!örpem  unb  bie  ^biDefen!)eit  ber  atmofpl)ärif(^en 
£uft  in  bem  ungel)euren,  nur  oon  ^tl)er  erfüllten  3^if<^^nraum. 
3Bäl)renb  nun  oielc  Sterne  fid)  toat)rfd)einli(^  in  einem  äl)n- 
li(^en  biogenetifi^en  (Entroidelungsjtabium  befinben  roic  unfere 
(Erbe,  finb  anbere  fc^on  toeiter  t)orgefd)ritten  unb  gel)en  im  „planc= 
tarifd)en  (Sreifenalter"  il)rem  (Enbe  entgegen,  bemfelben  (Enbe,  bas 
au^  unferer  (Erbe  fid)er  beoorjtel)t.  Duri^  ^usjtral)lung  ber  SBärme 
in  ben  talten  2Beltraum  roirb  bie  3^emperatur  allmäl)lid)  fo  l)erab= 
gefegt,  ha^  alles  tropfbar  flüffige  SBaffer  gu  (Eis  erjtarrt;  bamit 
I)ört  bie  9Jiöglid)!eit  organifd)en  Bebens  auf.  3uglei(^  3iel)t  fid) 
bie  SJlaffe  ber  rotierenben  2Belt!örper  immer  jtärfer  ^ufammen; 
il)re  Umlaufsgefd)toinbig!eit  änbert  fic^  langfam.  Die  Sat)nen 
ber  freifenben  Planeten  coerben  immer  enger,  ebenfo  biejenigen 
ber  fie  umgebenben  9Jlonbe.  3iil?^t  jtürjen  bie  XRonbe  in  bie 
^^laneten  unb  biefe  in  bie  Sonnen,  aus  htmn  fie  geboren  finb. 
Durd^  biefen  3iifflTnmenjto|3  toerben  ojieber  imgel)eure  2Bärme= 
mengen  er3eugt.  Die  3erjtäubte  SJlaffe  ber  serjtofeenen  follibierten 
5lßelt!örper  »erteilt  fic^  frei  im  unenblid)en  2Beltraum,  unb  bas 
etoige  Spiel  ber  Sonnenbilbung  beginnt  oon  neuem. 


234  3tDan3tgfie5  5tapitel. 


Das  großartige  Silb,  tDeId)cs  fo  vox  unfcrcn  geijttgcn  ^ugen 
btc  mobemc  ^jtrop^i)fi!  aufrollt,  offenbart  uns  ein  eroiges  (£ntfte{)en 
unb  93erget)en  ber  un3äf)Iigen  2Beltförper,  einen  periobi[d)en  2Berf)[eI 
ber  r)er[d)iebenen  !osmogeneti[cf)en  3uftänbe,  welche  roir  im  Unioer* 
[um  nebeneinanber  beobad)ten.  2ßäl)renb  an  einem  Orte  bes 
unenbli(i)en  SBeltraums  aus  einem  biffufen  Sf^ebelflecf  ein  neuer 
2Belt!eim  |icf)  enttoidett,  l)at  ein  anberer  an  einem  roeit  entfernten 
Orte  \\ä)  bereits  ju  einem  rotierenben  Salle  oon  glutflü[figer 
9Jtaterie  oerbi(i)tet;  ein  britter  I)at  bereits  an  [einem  5lquator 
9iinge  abge[cf)Ieubert,  ^it  [ict)  3u  Planeten  ballen;  ein  oierter  ijt 
[d^on  3ur  mädf)tigen  Sonne  getoorben,  beren  Planeten  [idE)  mit 
[ehinbären  Trabanten  umgeben  f)aben,  htn  SJlonben  u[ro.  u[n). 
Unt)  ba3tDi[(^en  treiben  [ict)  im  2BeItraum  SJlilliarben  üon  Heineren 
2Belt!örpem  uml)er,  oon  SHeteoriten  unb  Stem[(^nuppen,  bie  als 
[rfieinbar  ge[e^Io[e  93agabunben  bie  Sal)n  ber  größeren  burd^= 
freusen,  unb  oon  benen  täglict)  ein  großer  3:eil  in  bie  le^teren 
f)ineinjtür3t.  Dabei  änbem  [ic^  beftänbig  Iang[am  bie  Umlaufs^ 
Seiten  unb  bie  Sat)nen  ber  jagenben  2BeIt!örper.  Die  erfalteten 
95lonbc  [türaen  in  il)re  Planeten  xoie  bie[e  in  i^re  Sonnen.  3^^^ 
entfernte  Sonnen,  oielleic^t  [c^on  erftarrt,  jtoßen  mit  ungel)eurer 
Kraft  aufeinanber  unb  3er[täuben  in  nebelartige  9Jla[[cn.  Dabei 
enttoideln  [ie  [o  !oIo[[aIe  Sßärmemengen,  hal^  ber  IRebelfledf  toieber 
glü{)enb  lüirb,  unb  nun  tDiebert)oIt  [ict)  bas  alte  Spiel  oon  neuem. 
Sei  bie[er  bejtänbigen  Hmbilbung  bleibt  aber  bie  unenblid)e 
Sub[tan3  bes  Hnit)er[ums,  bie  Summe  il)rer  SRaterie  unb  (£Tiergie, 
eu)ig  unoeränbert,  unb  etoig  tDieberI)olt  [irf)  in  ber  unenblidien 
3eit  ber  periobi[(^e  2BecE)[el  ber  2Beltbilbung,  bie  in  [id) 
[elbjt  3urüc!laufenbe  9J?etamorpl)o[e  bes  5^osmos,  bas  „Per- 
petuum mobile"  bes  irnioer[ums.  ^llgetoaltig  ]^err[d)t  bas 
Sub[tan3ge[eö. 

II.  3fortf($ritte  ber  ©eologie.  23iel  [pätet  als  ber  §immel 
rourbe  hit  (£rbe  unb  i^re  (Snt[tef)ung  ©egenftanb  tDi[[en[c^aftli(l)er 
gor[c^ung.  Die  3al)lreicl)en  Äosmogenien  alter  unb  neuer  3ßit 
roollten  3mar  über  bie  (£ntjtel)ung  ber  (Erbe  eben[ogut  ^usfunft 
geben  mie  über  bie  bes  Fimmels;  allein  bas  mr)tt)ologi[d)c  ©etoanb, 
in  bas  [ie  [id)  [ämtli^  f)üllten,  oerriet  [ofort  il)ren  Ur[prung  aus 
ber  bid)tenben  ^f)anta[ie.  Unter  all  htn  3al)lreicl)en  Sd^öpfungs» 
[agen,  oon  t>tmn  uns  bie  9leligions=  unb  5lulturge[d)irf)te  iRunbe 
gibt,  getoann  eine  einsige  balb  allen  übrigen  htn  9?ang  ab,  bie 
Scl)öpfungsge[d)irf)te  bes  äRo[es,  toie  [ie  im  erjten  S8u(^e  bes 
^entoteudE)  (Genesis)  ersätjlt  mirb.  Sie  entjtanb  in  ber  befannten 
gro[[ung  erjt  lange  nac^  bem  3:obe  bes  aRo[e5;  it)re  Quellen  [inb 
aber  größtenteils  oiel  ölter  unb  ouf  a[[r)ri[(t)e;  babr)lom[cl)e  unb 


fiöfung  ber  aBcIträtfcI.  235 

inbi[d)c  8agen  surütf^ufü^rcn.  t)zn  größten  (Einfluß  gctoann 
biefe  jübifd^e  Scf)öpfungs[age  babiirc^,  tia^  [tc  in  bas  (f)rtjtlt(^c 
©laubcnsbefenntms  I)tnübcrgenommcn  unb  als  „2Bort  ©ottes" 
geheiligt  rourbe.  3o3ar  I)attcn  [d)on  500  ^a^i^c  vox  (£3)r.  bic 
grted)t[^en  $Ratiirpl)Uofopl)en  bic  natürlid)c  (£ntjtcl)ung  ber  (£rbe 
auf  bicfelbe  2Bei[c  toic  bie  ber  anberen  3BeIt!örper  erflärt.  %ud) 
I)atte  [(J)on  bamals  Btenop^ancs  t)on  5^olopt)on  bie  S3er[tcine  = 
rungen,  bie  [päter  [o  gro^e  SBebeutung  erlangten,  in  i\)xzx  mat)Xtn 
9^atur  erfdnnt;  ber  grofee  SJialer  fieonarbo  ba  33inci  ^atte  int 
15.  5al)rl)unbert  ebenfalls  biefe  ^etrefaften  für  bie  fo[[iIen  Über» 
rejte  Don  3:ieren  erflärt,  bie  in  frül)eren  3eiten  ber  (£rbge[d)icf)te 
gelebt  l)atten.  allein  bie  5tutorität  ber  SBibel,  insbe[onbere  ber 
90'lt)tt)U5  öon  ber  Sintflut,  t)ert)inberte  jeben  roeiteren  (5ort[(i)ritt 
ber  tDal)ren  (Srfenntnis  unb  [orgte  bafür,  bafe  bie  mo[ai[(f)en 
(5d)öpfung5[agen  noi^  bis  in  bie  93litte  bes  18.  3a!)rt)unberts  in 
©eltung  blieben.  3n  htn  5lrei[en  ber  ortt)oboxen  i()eoIogen  be= 
[i^en  [ie  biefelbc  nod^  bis  auf  htn  I)eutigen  3:ag.  (£rjt  in  ber  ätoeiten 
§älfte  bes  18.  3cil)rl)unberts  begannen  unabpngig  baoon  coiffen^ 
[c^aftlici)e  (5otf(i)ungen  über  ben  93au  ber  ©rbrinbe,  unb  rourben 
baraus  Sd^Iüffe  auf  ilire  (£ntftei)ung  abgeleitet.  Der  SBegrünber 
ber  ©eognofie,  SBerner  in  greiberg,  liefe  alle  ©ejteinc  aus  bent 
2ßa[[er  entftel)en,  tDä{)renb  93oigt  unb  Button  (1788)  ri(i)tig  er* 
lannten,  bajg  nur  bie  febimentären,  ^etrefaften  füf)renben  ©ejteine 
Ut\tn  Ur[prung  t)aben,  bie  t)ul!ani[(i)en  unb  pIutoni[d^en  Oebirgs* 
maffen  bagegen  burdf)  (Erftarrung  feurigflü[[iger  ^Raffen  ent» 
jtanben  [inb. 

Der  f)eftige  5iampf,  ber  3U)t[(f)en  jener  neptuniftifrfjcn  unb 
biefer  pIutonifti[d)en  S^ule  entjtanb,  bauerte  nod)  tDä()renb 
ber  erjten  brei  Dejennien  bes  19.  3öl)r^unbert5  fort;  er  rourbe  erft 
ge[rf)Ii(f)tet,  nac^bem  Äarl  §off  (1822)  bas  ^rinsip  bes  ^ftuolis^ 
mus  begrünbet  unb  (£I)arIes  äx)tU  basfelbe  mit  größtem  (Srfolge 
für  bie  gan^e  natürlich) e  (SnttoidEelung  ber  (Srbe  bur(t)gefül)rt  ^atte. 
Durc^  \tim  „^rin^ipien  ber  ©eologie"  (1830)  ujurbe  bie  überaus 
toic^tige  £e!)re  von  ber  ^Kontinuität  ber  (Erbuntbilbung  enbgültig 
3ur  ^nerfennung  gebrad)t,  gegenüber  ber  5Katajtropl)entt)eorie  oon 
(£ut)ier.  Die  Paläontologie,  toelci^c  le^terer  bur^  [ein  2Ber! 
über  bie  fo[[iIen  5lno(f)en  (1812)  begrünbet  ^atte,  tourbe  nun  balb 
3ur  tüi(i)tigften  §iIfstDi[[en[d^aft  ber  (öeologie,  unb  f(^on  um  bie 
SJlitte  bes  19.  5a{)ri)unberts  I)atte  [ie  \iä)  [o  toeit  entu)idelt,  bafe  bie 
§auptperioben  in  ber  (5e[(^i(t)te  ber  (Erbe  unb  il)rer  SetDoI)ner 
feftgelegt  toaren.  Die  bünne  9?inben[(i)i(f)t  ber  C£rbe  tüar  nun  mit 
Sid)ert)eit  als  bie  (£r[tarrungs!ru[te  bes  feurigflü[[igen  ^loneten 
erfannt,  be[[en  lang[amc  ^b!ül)lung  unb  3w[ammen3iel)ung  [ic^ 


236  3oJttTi3i9fte5  5^apitel. 

ununterbrod^en  fortfe^t.  Die  ^röltung  ber  erftarrcnben  9{mbe, 
bic  „9?ea!tton  bes  feurtgflüffigcn  ©rbinnern  gegen  bte  erfaltete 
£)berfläcf)e",  unb  vox  allem  t)k  ununterbrod^ene  geologifc^e  3:ätxg!ett 
bes  2Ba[[er5  [inb  bte  natürlid)  tDtrfenben  Ur[ad)en,  toelcf)e  tagtägltd) 
an  ber  Iang[amen  Kmbilbung  ber  (Srbrtnbe  unb  tt)rer  ©ebtrge 
mäd^ttg  arbeiten. 

X)ret  überaus  tüi(t)tige  (£rgebnif[e  von  allgemeiner  Sebeutung 
perbanfen  toir  htn  glänjenben  (5ort[ct)ritten  ber  neueren  (öeologie. 
(grftens  tDurben  bamit  aus  ber  (£rbge[cf)ici^te  alle  SBunber  aus= 
ge[(i)loffen,  alle  übernatürli(^en  Urfeidjen  beim  Aufbau  ber  ©ebirge 
unb  ber  Umbilbung  ber  i^ontinente.  3^^ttens  tourbe  un[er  Segriff 
von  ber  fiänge  ber  ungeheuren  3eiträume,  bie  [eit  beren  Silbung 
Derfloffen  [inb,  erftaunlid)  ertoeitert.  2ßir  toiffen  je^t,  ba^  bie  un= 
gel)euren  (5ebirgsma[[en  ber  paläojoifi^en,  me[o3oifcl)en  unb 
3äno3oi[cl)en  Formationen  ni(f)t  Diele  3o^i^tau[enbe,  fonbern  oiete 
3a^rmillionen  3U  tf)rem  Aufbau  brandeten.  Drittens  löiffen  toir 
je^i  bafe  alle  bie  3at)lreic^en,  in  biefen  ^rormationen  eingef(^lo[fenen 
äJerfteinerungen  nic^t  tounberbare  „9^atur[piele"  [inb,  u)ie 
man  nod)  vox  150  ^o^ren  glaubte,  [onbem  bie  oerjteinerten  ltber= 
refte  uon  Organismen,  u)elcl)e  in  frül^eren  ^erioben  ber  (£rb= 
ge[(^i^te  tuirflic^  lebten,  unb  roeldie  burd)  langfame  Umbilbung 
aus  Dorl)ergegangenen  9lf)nenreif)en  entjitanben  [inb. 

III.  3fortf^rttte  ber  ^^rjftf  unh  Cremte.  Die  3al)llo[en 
u)id)tigen  (Entbecfungen,  tDetd)e  bie[e  funbamentalen  2Bi[[en[d)aften 
im  19.  3<il)r^iinbert  gemad^t  l)aben,  [inb  [o  allbefannt  unb  il)re 
pra!ti[d)e  ^nroenbung  in  allen  3K>ßtgen  bes  men[d)li(f)en  5lultur= 
lebens  liegt  [o  flar  cor  aller  ^ugen,  ha^  roir  t)ier  ni(i)t  (Sinselnes 
l)erDor3ul)eben  brauchen,  ^llen  Doran  t)at  bie  ^nioenbung  ber 
Dampfiraft  unb  (£le!tri3ität  bem  19.  5al)rl)unbert  t)tn  6)axaiit= 
rijti[cl)cn  „SOZa[d)inen[temper'  aufgebrüht,  ^ber  nic^t  minber 
toertüoll  ]xn'i>  bie  !olo[[alen  3^ori[cf)ritte  ber  anorgani[^en  unb  orga= 
ni[(i)en  (Il)emie.  3llle  ©ebiete  un[erer  mobernen  i^ultur,  5ölebi3in 
unb  Xe(f)nologie,  ^^i^uftrie  unb  fianbrDirt[^aft,  Sergbau  unb 
3ror]!trDirt[(f)aft,  fianbtransport  unb  2Ba[[ert>erfel)r,  [inb  befanntlid) 
im  £aufe  bes  19.  3ol)rt)unberts  —  unb  befonbers  in  t)t]]tn  stoeiter 
§älfte  —  baburd^  [o  geförbert  u)orben,  bafe  unfere  ©rofeüäter  aus 
bem  18.  3a^i^I)iiTtbert  \iä)  in  bie[er  fremben  2ßelt  ni(^t  ausfennen 
roürben.  ^ber  roertooller  unb  tiefgreifenber  no^  i[t  Ut  ungel)eure 
t{)eoreti[rf)e  (Srroeiterung  un[erer  9laturer!enntnis,  roelc^e  toir  ber 
Segrünbung  bes  Sub[tan3ge[e^es  oerbanfen.  9la(i)bem  fia^ 
üoi[ier  (1789)  bas  ©e[e^  t)on  ber  (£rl)altung  ber  9Jiaterie  aufgestellt 
unb  Dalton  (1808)  mittels  bes[elben  bie  ^tomt^eorie  neu  be= 
grünbet  l)atte,  toar  ber  mobernen  (Il)emie  bie  Sat)n  eröffnet, 


JÖöfung  ber  ^elttätfcl.  237 

auf  öer  |ie  in  rapibem  Siegeslauf  eine  frül)er  nid)t  geahnte  Se= 
beutung  getoann.  Dasfelbe  gilt  für  bie  ^t)i)[i!  betreffenb  bas 
(5e[e^  von  ber  (£rt)altung  ber  (Energie.  Seine  (SntbedEung  burd) 
Stöbert  SRaper  (1842)  unb  ^ermann  ^eImf)oI^  (1847)  be= 
beutet  au(^  für  biefe  2Bi[[enfct)oft  eine  neue  ^eriobe  frucf)tbarjter 
(gntroicfelung;  benn  nun  erft  wax  bie  ^I)r)[i!  imjtanbe,  bie  unioer* 
iale  (£int)eit  ber  SRatur!räfte  ju  begreifen,  unb  bas  etoige 
Spiel  ber  un5ät)Iigen  9^aturpro5ef[e,  bei  xotlä)tn  in  jebent  5lugen= 
blicf  eine  5lraft  in  bie  anbere  untgefe^t  toerben  fann. 

IV.  Sfortfd^titte  ber  IBioIogte.  Die  großartigen  unb  für  unfere 
ganje  2Beltanfd)auung  bebeutfamen  (Entbetfungen,  toeId)e  bie 
^:?lftronontie  unb  ©eologie  int  19.  5öl)i^unbert  gemad)t  l)aben, 
vüerben  nod^  roeit  übertroffen  oon  benjenigen  ber  Biologie;  ja, 
lüir  bürfen  fagen,  ha^i  oon  hm  3at)lreic^en  3i»ei9ß";  i^  tDeI(i)en 
biefe  umfaffenbe  2Bif[en[d)aft  oom  organifc^en  fieben  fic^  neuer= 
bings  entfaltet  \)ai,  ber  größere  3:eil  übert)aupt  erft  im  £aufe  bes 
19.  3al)rt)unberts  entftanben  ijt.  2Bie  roir  im  erften  5Ib[d)nitte 
ge[el)en  I)aben,  [inb  innerlialb  besfelben  alle  3^^W  ^^^  Anatomie 
unb  ^I)r)[ioIogie,  ber  ^otanifunb  3ooIogie,  ber  £)ntogenie  unb 
^:pi)t)Iogenie,  burc^  un3äl)lige  (Sntbetfungen  unb  (Srfinbungen  [o 
iebr  bereid)ert  toorben,  baß  ber  t)eutige  3ujtanb  unjeres  biologifd^en 
^Ißiffens  benjenigen  t)or  l)unbert  ^ö^i^^Tt  um  bas  23ielfa(f)e  übertrifft. 
Das  gilt  3unäd)jt  quantitatio  oon  bem  foloffalen  2Bacl)5tum 
unferes  pofitioen  SBiffens  auf  allen  jenen  Gebieten  unb  il)ren  ein= 
3elnen  Steilen.  CBs  gilt  aber  ebenfo  unb  no^  mel)r  qualitatio 
oon  ber  33ertiefung  unferes  23erjtönbni[fes  ber  biologifcf)en  (£r= 
fd)einungen,  oon  unferer  (Srtenntnis  il)rer  betoirienben  Ur[ad)en. 
§ier  l)at  oor  allen  anberen  G^^arles  Darroin  (1859)  bie  ^alme 
bes  Sieges  errungen;  er  l)at  burc^  [eine  Sele!tion5tl)eorie  bas 
große  SPßelträtfel  oon  ber  „organi[cf)en  Sd)öpfung"  gelöft,  oon  ber 
natürlid)en  (£ntjtel)ung  ber  un3äl)ligen  Lebensformen  burd)  all= 
mäl)licf)e  Itmbilbung.  S^<^^  t)ötte  fd)on  fünfsig  ^oi^xt  frül)er  ber 
große  Bamarc!  (1809)  erfannt,  ha^  ber  2Beg  biefer  3:ransformation 
auf  ber  2Be(^fela)ir!ung  oon  3Sererbung  unb  ^npa[[ung  berul)e; 
allein  es  fel)lte  it)m  bamals  noc^  bas  Seleftionsprinaip,  unb  es 
fel)lte  il)m  oor  allem  bie  tiefere  (£in[i(i)t  in  bas  wa\)xt  2Be[en  ber 
Drganifation,  roelcl)e  erjt  fpäter  burd)  bie  Segrünbung  ber  (£nt= 
tüicfelungsge[d)i(f)te  unb  ber  3ellentl)eorie  getoonnen  rourbe.  3"^^Tn 
u)ir  allgemein  bie  (£rgebni[[e  biefer  unb  anberer  Difäiplinen  3U= 
[ammenfaßten  unb  in  ber  Stammesge[cl)i(^te  ber  Organismen  ben 
S(f)lü[[el  3U  il)rem  einl)eitlicf)en  93erjtänbnis  fanben,  gelangten  roii 
3ur  Segrünbung  jener  moni[ti[d)en  Biologie,  beren  ^rin3ipien 
id)  (1866)  in  meiner  „©cnerellcn  3Jlorpl)ologie"  fejtsulegen  Der[ud)t 


238  3töan3t9Jte5  Äapttel.    fiö|ung  bcr  9Bclträt[cI. 

l)abc.  (35crgl.  meine  „9latürltd)e  Sd^öpfung5gefd)td)te",  11.  5luf= 
läge,  1908).  Die  ^ntoenbung  ber  (£nttDi(feIung5lel)re  auf  bie  a\h 
gemeinen  Ori-Oö^^  '^er  ^l)r)[iologie  l)obe  iä)  1904  in  meinem  SBud)e 
über  bie  „fiebenstounbet"  nerfu^t.  ((5emeint)erjiänblicf)e 
Stubien  über  $8ioIogi[d)e  ^I)iIofopl)ie,  C^rgänjungsbanb  ju  bem 
Sud)e  über  bie  „Sßelträtfel".) 

V.  5ortf(^ritte  bcr  Slnt^ropologte.  ^llen  anberen  2ßi[fen= 
[(J)aften  ooran  jtel)t  in  getoiffem  Sinne  bie  tDaI)re  9}len[d)en  = 
funbe,  bie  tüirtlid)  vernünftige  5lntf)ropoIogie.  Das  SBort  bes 
alten  2Bei[en:  „SJlenfd),  er!enne  bicf)  felbft"  unb  bas  anbere 
berüt)mte  SBort:  „Der  SJienfd)  ift  bas  9Jia^  aller  Dinge"  [inb  ja  von 
alters  t)er  anerfannt  unb  angeroenbet.  Unb  bennod)  f)at  biefe 
2Bif[en[d^aft  —  im  toeitcjten  Sinne  genommen  —  länger  als  alle 
anberen  in  htn  Rtiizn  ber  3:rabition  unb  bes  Aberglaubens  ge= 
[d)ma(f)tet.  2Bir  liaben  im  erften  Ab[d)nitt  ge[el)en,  toie  langfam 
unb  [püt  [id^  erft  bie  Kenntnis  oom  men[ct)lid)en  Organismus  ent= 
iDicfelt  \)at  ßiner  il)rer  iDicf)tigjten  3o?eige,  bie  5leimesgef(f)id)te, 
rourbe  crft  1828  (burd)  So  er)  unb  ein  anberer,  nid)t  minber 
ii)icl)tiger,  bie  3^nenlel)re,  erjt  1838  (burd)  S(^roann)  fidler  be= 
grünbet.  9lod)  [päter  aber  rourbe  bie  „S^rage  aller  öri^agen"  gelöjt, 
bas  geroaltige  Ü^ätfel  vom  „Urfprung  bes  StRenf^en".  Obgleid) 
£amard  [d)on  1809  ben  eingigen  3Beg  ju  [einer  rid)tigen  Jßöfung 
geseigt  unb  „bie  Abjtammung  bes  9Jlen[d)en  com  Affen"  bel)auptet 
l)atte,  gelang  es  bod)  Daruiin  erjt  fünfsig  ^al)xt  [päter,  bie[e  ©e* 
^auptung  [id)er  5U  begrünben,  unb  erjt  1863  [teilte  ^uxlep  in 
[einen  „3eugni[[en  für  bie  Stellung  bes  9Ken[d)en  in  ber  SRatur" 
bie  getDid)tigjten  Seroeije  hierfür  3u[ammen.  Z^  [elbjt  l)abe 
[obann  in  meiner  Antl)ropogenie  (1874)  ben  erjten  93er[ud)  gemacht, 
bie  ganse  9?ei^e  ber  A^nen,  burd)  toelc^e  [id)  un[er  ©e[(^led)t  im 
£aufe  oieler  Sa^rmillionen  aus  bem  Xierreid)  lang[am  entroidelt 
l)at,  im  l^ijtori[d)en  3u[ammenl)ang  bar3ujtellen.  (£ine  ausfüt)rlid)e 
JBegrünbung  ber  gansen  Stammesge[d)i(^te  unb  il)re  Anroenbung 
auf  bas  natürlid)e  Spjtem  ber  Organismen  l)abe  id)  in  ben  brei 
Sänben  meiner  „Si)jtemati[d)en  ^l)t)logenie"  gegeben  (1894). 
Die  [d)ärfere  friti[d)e  Unter[d)eibung  ber  [ed)s  Streden  unb  breifeig 
^auptjtufen  un[erer  men[c^lid^en  Stammesge[d)id)te  enthält  meine 
gejtj^rift  über  „Hn[ere  Al)nenrei^e"  (Progonotoxis  hominis, 
:^ma,  30.  3uli  1908). 


6d^Iubbetrad)tung.  239 


Die  3ai)l  bcr  2ßclträt[el  l)at  ]\ä)  bur<f)  bic  angeführten  e^rort* 
[rf)ritte  ber  wai)xtn  SRaturertenntnis  im  £aufe  bes  19.  5al)tl)unberts 
itetig  oermmbert;  [ic  Ijt  [d)UefeItc^  ouf  ein  einjiges  allumfalfenbes 
Unioer[aIrät[eI  gurüdEgefü^rt,  auf  bas  6ub[tan3probIem.  SBas 
ijt  benn  nun  eigentlich)  im  tiefjten  ©runbe  biefes  allgetoaltige 
SBeltiounber,  toeldies  ber  realijtifd^'e  5Raturforf^er  als  5Ratur  ober 
Hnioerfum  oer^errIid)t,  ber  ibealifti[d)e  ^l)iIofop{)  als  Subftanj 
ober  Äosmos,  ber  fromme  ©laubige  als  SBeltgeijt  ober  ©ott? 
ilönnen  toir  l)eute  behaupten,  bafe  bie  tounberbaren  5ort[d)ritte 
unferer  mobemen  Kosmologie  biefes  „©ubjtansrätfel"  gelöjt  ober 
aud)  nur,  haü^  [ie  uns  beffen  fiöjung  fel)r  üiel  nä^er  gebrad)t  l)aben? 

Die  ^tntroort  auf  biefe  Sd)Iufefrage  fällt  natürlid)  fet)r  t)er= 
fd)ieben  aus,  cntfpred)enb  bem  Stanbpun!te  bes  fragenben  ^po* 
fopl)en  unb  feiner  cmpiri[d)en  Kenntnis  ber  tDir!lid)en  2BeIt.  9Bir 
geben  oon  DornI)erein  5U,  ta^  wxx  bem  innerften  SBefen  ber  9latur 
^eute  t)ieneid)t  nod)  ebenfo  fremb  unb  oerftänbnislos  gegenüber» 
jte!)en,  toie  5lnaximanber  unb  ©mpeboües  oor  2400  ^o^ren, 
u)ie  Spinoza  unb  ^letoton  oor  200  5al)ren,  roie  Kant  unb 
(5oett)e  oor  100  3aI)rßTt.  5a,  toir  muffen  fogar  eingeftel)en,  hal^ 
uns  biefes  eigentliche  3Befen  ber  Subjtans  immer  tounberbarer 
unb  rätfen)after  toirb,  je  tiefer  roir  in  bie  (£r!enntnis  it)rer  IHttribute, 
ber  SJiaterie  unb  (Energie,  einbringen,  je  grünblici)er  roir  it)re  un«= 
3äl)Iigen  (£rfd)einungsformen  unb  beren  (Enttoidelung  fcnnen 
lernen.  SBas  als  „2)ing  an  fi(J)"  t)inter  htn  erfennbaren  (Er» 
f^einungen  ftedt,  bas  roiffen  toir  aud)  l)eute  no(i)  nicf)t.  ^ber 
toas  get)t  uns  biefes  mpjtifd^e  „t)ing  an  fict)"  übert)aupt  an,  roenn 
Boir  feine  9JlitteI  gu  feiner  (£rfürfct)ung  befi^en,  tüenn  roir  nicf)t 
einmal  flar  roiffen,  ob  es  eiijtiert  ober  nict)t?  Überlaffen  toir  bat)er 
bas  unfruct)tbare  ©rübeln  über  biefes  ibeale  ©efpenjt  tm  „reinen 
aRetapbi)fifem"  unb  erfreuen  roir  uns  ftatt  beffen  als  „ed)te 
^bPfi^cr"  an  ben  getoaltigen  realen  gortf^ritten,  tDeId)e  unfere 
moniftifrf)e  9laturpl)ilofopl)ie  tatfäcf)li(i)  errungen  ^at. 

Da  überragt  alle  anberen  t5ortfcf)ritte  unb  ©ntbecfungen  bes 
üerfloffenen  „großen  5al)rl)unberts"  bas  allurafaffenbe  Subftan^«. 
gefe^,  bas  „©runbgefe^  oon  ber  (Erhaltung  ber  Kraft  unb  bes 
Stoffes".  Die  Xatfac^e,  t>a^  bie  Subftanj  überall  einer  eroigen 
IBeroegung  unb  Umbilbung  untenoorfen  ijt,  ftempelt  es  jugleid) 
3um  unioerfalen  (Entroicfelungsgefe^.  ^i^bem  biefes  \)'ö(i)\it 
9^aturgefe^  feftgeftellt  unb  alle  anberen  x\)m  untergeorbnet  tourben, 
gelangten  xoir  ju  ber  Überseugung  oon  ber  unioerfalen  (£inf)eit 


240  3c^Iiifebetrad)tung. 


ber  91atur  unb  ber  eioigcn  ©eltung  ber  IRaturgefc^e.  ^2Iu5  bem 
bunüen  Subjtan3= Problem  enttüidelte  [td)  bas  flare  Subjtanj» 
(5c[c^.  X)er  SJlonismus  bes  5^osmo5,  ben  totr  barauf  begrünbctt, 
Iel)rt  uns  btc  ausnal)m5lo[c  ©eltung  ber  „eioigcn,  el)ernen,  großen 
Oefe^c"  im  gan3cn  Hnberfum.  I)amit  Dcrmd)tet  er  aber 
gugleid)  bie  brei  großen  3entralbogmen  ber  bi5l)erigen  bualijti[d)en 
^l)Uo[opl)ie,  ben  per[önlid)en  ©ott,  bie  Hnfterblidifett  ber  Seele 
unb  bie  grei!)eit  bes  äßillens. 

3n  ber  oorliegenben  58el)anblung  ber  2BeIträt[el  \)aht  id) 
meinen  lonfequenten  monijti[rf)en  Sianbpunft  [(^arf  betont  unb 
htn  ©egenfa^  ju  ber  bualijtifc^en,  l)eute  nod)  l)err[(f)enben  SBelt* 
on[d)auung  !Iar  l)ert)orgel)oben.  ^ä)  jtü^e  mid)  babei  xiuf  bie 
3ujtimmung  von  fajt  allen  mobemen  9^aturfor[(^ern,  toelc^e  über== 
!)aupt  Steigung  unb  9Jiut  3um  ©efenntnis  einer  abgerunbeten 
pPofop{)i[c^en  Überjeugung  befi^en.  3^  möd)te  aber  von  meinen 
fiefern  ni(i)t  ^b[d)ieb  nef)men,  oI)ne  oerföl^nlid)  barauf  t)in3UtDei[en, 
ba|i  biefer  [d)roffe  (5egen[a^  bei  !on[equentem  unb  flarem  I)en!en 
fid)  bis  3U  einem  geroinen  (Srabe  milbert,  ja  [elbft  bis  3U  einer 
erfreulid>en  Harmonie  gelöjt  coerben  fann.  Sei  »öllig  folgerid)ti= 
gem  I)en!en,  bei  gleid)mafeiger  5tntoenbung  ber  I)öd)jten  ^rinjipien 
auf  bas  ©efamtgebiet  bes  i^osmos  —  ber  ürganiid)en  unb 
onorganifc^en  ^latur  — ,  näf)em  [i^  bie  ©egenfä^e  bes  !tl)eismus 
unb  Pantheismus,  bes  3SitaIismus  unb  äRed)ani5mus  bis  3ur  ©e* 
rüt)rung.  5(ber  freili^,  !on[equentes  X)en!en  bleibt  eine  [eltene 
9laturcr[^ einung !  t)ie  grofee  änel)r3at)I  aller  ^I)iIo[opI)en  möd)te 
mit  ber  red)ten  ^anh  bas  reine,  auf  (£rfat)rung  begrünbete  SBiffen 
ergreifen,  !ann  aber  gleid)3eitig  nid)t  t)tn  mr)jtifd)en,  auf  Cffen» 
barung  gejtü^ten  ©lauben  entbet)ren,  ben  [ie  mit  ber  Iin!en 
Öanb  fejtl)ält. 

Die  alte  2BeItanfd)auung  bes  3bealbualismus  mit  itiren 
mi)fti[d)en  unb  antl)ropijti[(^en  Dogmen  ücrfinft  in  krümmer;  aber 
über  biefem  geroaltigen  a:rümmerfelbe  jteigt  f)et)r  unb  \)tn\\d) 
bie  neue  Sonne  unfcres  9leaImonismu5  auf,  roeld^e  uns  "otn 
ujunberoollen  Stempel  ber  9latur  in  [einer  gan3en  ^ra^t  erfennen 
läfet.  3n  bem  reinen  5^ultus  bes  „2Bat)ren,  ©uten  unb  Sd)önen", 
roel^er  ben5lem  unferer  neuen  moni[ti[d)en  9{eligion  bilbet, 
.finben  wix  reiben  (£r[a^  für  bie  verlorenen  ontt)ropifti[d)en  ^beale 
üon  „©Ott,  grei^eit  unb  Unfterblid)feit". 


|IIIIII!IIIIIIIIII1III!IIIIIIIIIIIIII!III!IIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIII1II|||!I!IIII1IIIIIIIIIIIHIIIIIIII^ 

I     KR0NERSTASCHENAUSGABE 


I        SCHOPENHAUER:  Aphorismen 
Eur  Lebensweisheit 

M  Grundsatz :  Aller  Genuß  und  alles  Glück  ist  negativer,  der  Schmerz  hin- 
gegen positiver  Natur;  deshalb  geht  der  Vernünftige  auf  Schmcrzlosigkeit, 
nicht  auf  Genuß  aus. 

Band  16  Gebunden  M  65.— 


W.  WUNDT:  Die  Nationen  u.  ihre  Philosophie 

Der  berühmte  Philosoph  schildert  die  Geschichte  der  europäischen 
Philosophie  nach  ihrem  allgemeinen  Gedankeninhalt  von  der  Zeit  der 
Renaissance  an  bis  zur  Gegenwart. 

Band  18  Gebunden  M  65.— 


KONRAD  STURMHOEFEL: 
Geschichte  des  Deutsdien  Volkes,  2  Bände 

Sturmhoefel  kam  es  besonders  darauf  an,  den  bestimmenden  Jinteil 
der  großen  Persönlichkeiten  am  geschichtlichen  Werden  unseres  Volkes 
klar  und  scharf  herauszuarbeiten. 

Band  19  und  20  Gebunden  je  M  65. —      M 


I  ni    D  r  u  c  Je  : 

Nietzsche-Worte  über  Staaten  und  Völker 

In  diesem  Bändchen  ist  eine  treffliche  Auswahl  von  Aphorismen  von  der 
Schwester  des  Hutors  zusammengestellt.  Es  ist  erstaunlich,  mit  welcher 
Sicherheit  Nietzsche  die  Entwicklung  der  jetzigen  Zeit  vorausgesehen  hat. 

Band  21  Gebunden  ca.  M  60. — 


ERNST  HAECKEL:    Die  Lebenswunder  1 

Es  wird  allgemein  mit  Freuden  begrüßt  werden,  daß  die  „Lebenswunder" 
nun  auch  als  Ergänzung  zu  den  „Welträtseln"  zu  einem  wohlfäilen  Preise 
in  Kröners  Taschenausgabe  aufgenommen  wurden. 

Band  22  Gebunden  ca.  M  80.— 


K.  HEINEMANN:  Die  Weisheit  der  Griedien  1 

Der  neue  Band  wird  allen  Freunden  der  griechischen  Literatur  im  An- 
schluß an  flie  Lektüre  «Klassische  Dichtung  der  Griechen"  aus  der  Feder 
des  gleichen  Verfassers  ebenfalls  »ehr  willkommen  sein 

Band  23  Gebunden  ca.  M  70.— 


Die  Sammlung  wird  fortgeseijt 

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August     1922  PreisYcrändcrungcn  vorbehalten 


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i  ALFRED  KRQNER  VERLAG  IN  LEIPZIG  ■ 


Schriften  von  Ernst  Haec^el 


Die  weltrathsel 


Haeckel 

Die  weltrathsel 


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