m]
" "Eronct^ Taf<^en-H«^^a^<{^
mm
KRONERS TASCHENAUSGABE
ERNST HAECKEL: Die Welträtsel
Haeckels „Welträtsel" sind für die denkenden, ehrlich die Wahrheit
suchendtin Gebildeten aller Stände bestimmt; sie enthalten den AbriS einer
zeitgemäßen, naturwissenschaftlichen Wellauschauung.
Band 1 Gebunden M 80.—
Epihtets Handbüchlein der Moral
Das Handbiichlein Epiktets ist ein Buch, das zu allen Zeilen Kraft und
Trost gespendet hat: es könnte und sollte auch heute volkst Umi ich sein
Bands
Gebunden M 40.
B. CARNERI: Der moderne Mensch
Das vortreffliche Buch erfüllt in wahrhaft klassischer Form seinen Zweck,
das sittliche Leben des Menschen auf der Grundlage monistischer Weltan-
schauung auszugestalten. Es ergänzt Haeckels Welträtsel aufs glück ichste.
Band 3 Gebunden M 40.—
Marc Aureis Selbstbetrachtungen
Das Tagebuch des Kaisers Markus Aurelius Antonius ergänzt
Epiktets Handbiichlein. Der innere Adel des Verlassers verleiht dem Buche
seinen ewigen Wert-
Band 4
Gebunden M 40.
I SENECA: Vom glückseligen Leben
Die Großartigkeit seiner Weltanschauung, die Erhabenheit seiner sittlichen
Forderungen machen den Stoizismus an sich anziehend genug; in Senecas
Darstellung wird sein Studmm zu einem ästhetischen Genuß
= Band 5
Gebunden M 40.
1 SAMUEL SMILES: Der Charakter
Smiles bietet eine gesunde Kost, die wohl geeignet erscheint, den Geist
zu kräftigen. Seine Lebensweisheit steht fest auf der Erde und lehrt die
Aufgaben, die das Leben dem Menschen stellt, energisch u. zielbewußt anpacken.
Band 7 Gebunden M 40. —
J Gracians Handorahel u. Kunst d.Welthlugheit
Deutsdi von Ä. Sdiopenhauer. Hrsg. von Dr. H. Sdimidt
GraciansHandorakelist geeignet, das Handbuch aller derer zu werden,
die ihr Glück zu mehren bemiiht sind, denen es mit einem Male und zum voraus
die Belehrung gibt, die sie sonst erst durch lange Erfahrung erhalten.
Band 8 Gebunden M 40.—
"Dlliill
,t 19 2 2
Preisveränderungen vorbehalten
/CH-&PAPIERHAND
II!III!11=
KRONERS TASCHENAUSGABE 1
HERBERT SPENCER: Die Erziehung |
Die Erziehung der kommenden Generation ist eine der wichtigsten Hn-
gelcgenheiten eines Kulturvolkes. Das klassische Büchlein Spencers soll
die weitesten Kreise mit den Zielen einer richtigen Erziehung bekannt machen.
Band 9 Gebunden M 40. —
K. HEINEMANN: Die deutsdie Dichtung
Eine vollständige Literaturgeschichte, von den ältesten Zeiten bis
auf die Gegenwart, ein vortreffliches Büchlein, das dazu angetan ist, die Freude
an der deutschen Dichtung zu vertiefen und ihr Verständnis zu fördern.
Band 10 Gebunden M 80.—
Epikurs Philosophie der Lebensfreude
Epikur war ein Lcbenskün stier, dessen Lehre eine Philosophie der
Güte, Schönheit und Fr e ude bleibt. Die vielfach vorhandene falschcYor-
stellung von Epikurs Lehre wird durch diese Publikation gründlich zerstört.
Band 11 Gebunden M 40.—
Goethes Faust Erster und zweiter Teil
Goethes unsterbliches Meisterwerk in dieser neuen Ausgabe ist in der
Rocktasche bequem unterzubringen, und geeignet, denen, welche es dauernd
zur Hand haben wollen, ein ständiger Begleiter zu werden.
Band 12 Gebunden M 65. —
H. SCHMIDT: Philosophisdies Wörterbudi
Dieses Wörterbuch der philosophischen Begriffe und Husdriicke ist als
Nachschlagewerk bei der Lektüre, aber auch als philosophisches
Taschenbuch gedacht, in welchem eine zusammenhängende, einheitliche
Philosophie geboten wird.
Band 15 Gebunden M 80.—
K. HEINEMANN: Diditung der Griedien
Dieser Führer durch di6 klassische Dichtung der Griechen wird den Vielen,
die des Griechischen unkundig sind, eine Welt von Schönheit erschließen; mit
Interesse wird man der geistvollen und liebenswürdigen Darstellung folgen.
Band 14 Gebunden M 65.—
I K. HEINEMANN: Diditung der Römer
Dies Buch wendet sich an die, welche durch ihren Bildungsgang Freunde
der römischen Dichtung geworden sind, aber auch an alle, die ohne die
Sprache der Römer zu verstehen, sich mit ihicr Poesie befreunden wollen.
g Band 15 Gebunden M 65.—
W ilMll!illi!llllllll!!!lliii!ll!!ilillllll!lllllillllllliillllllillliy^
August 192 2 Preisveränderungen vorbehalten
^^..^^f-:
f0mmmm^^m
',;/.- --^
Sanb 1
iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii^
®emelnt)er(ldnbtid}e (Sfubien
über monijTifd}e p^ilofopl?ie
361,-390. Soufenb
19 2 2
Slffreb ^roner :23cr(ag in -Celpslg
g3ottt)ort äur erffen Sluffage*
(1899).
Die oorlicgenbcn Stubicn über tnont[tif(^e ^l)iIo[opl)ie
iixii) für bie ben!enben, t\)xli(i) bie 2Ba^rl)ctt fud^enben ©ebtibetcn
aller Stäube beftimmt. 3u ^^^ I)ert)orragenben SOlerfmalen bes
19. 3tt^it)unberts, an beffen (£nbe rotr jtel)en, gel)ört bas lebenbige
2Barf)5tum bes Strebens narf) (Erlenntnts ber 2BaI)rbeit in
tDeitejten 5lrei[en. Das[elbe erflärt [irf) etnerfeits burd^ bie un=
ge!)euren gortf(f)ritte ber rt)ir!lid)en SRaturerfenntnis in biefem
merftöürbigjten ^bfd)nitte ber men[rf)Iicf)en ©e[(i)i(f)te, anberer=
feits burcf) hm offenhinbigen 2Biber[prucf), in htn biefelbe jur
gelel)rten Xrabition ber „Offenbarung" geraten ijt, unb enbli^
bur(i bit cutfpre(i)enbe Ausbreitung unb 93erjtärlung bes t)er=
nünftigcn SBebürfni[[es nad). SSerjtänbnis ber un3äf)Itgen neu ent«
bedten 3^at[ac^en, nad) flarer (Srfenntnis it)rer Ur[arf)en.
Den getoaltigen i5ort[(t)ritten ber empiri[(^en Äenntniffe in
unferem „3al)tf)unbert ber 9laturroi[[enfrf)aft" entfpric^t
feinestüegs eine gleicf)e 5^Iärung i^res tI)eoreti[c^en 93erftänbni[fcs
unb jene l)ol)ere (£r!enntnis bes faufalen 3wfammenl)anges aller
einseinen (£r[c^einungen, bie toir mit einem SCBorte ^l)iIofopbie
nennen. 33ielmel)r [e^en toir, bafe bie abjtra!te unb größtenteils
metapl)i)fi[d)e 2Bi[[enf(i)aft, tDeI(f)e auf unteren Unit)er[itätcn feit
3af)rbunberten als „^bilofopt)ie" gele!)rt toirb, toeit baoon entfernt
{jt, jene neu crtDorbcnen Sc^ä^e ber (£rfabrung5tDif[en[d)aft in
|id^ aufsunc^men. Unb mit gleid)em Sebaucm muffen tuir auf
ber anberen Seite 3ugejtcl)cn, bafe bie meijten Vertreter ber
[ogenannten „ciaften Sflaturtoifienjd^aft" [ic^ mit ber [pejiellen
Pflege ibres engeren ©ebictes ber 33eobaci^tung unb bes 93er[ud)5
begnügen unb bie tiefere (Srfenntnis bes allgemeinen 3uföTnmen*
l)angcs ber beobachteten (£r[d)einungen — b. \). eben ^biIofopl)ie !
— für übcrflülfig galten. 3Bäl)renb bie[c reinen (£mpirifer „ben
SBalb oor Säumen ni^t [eben", begnügen |id) jene 9Ketapbi)[ifer
mit bem bloßen Segriffe bes 2BaIbes, o^ne [eine Säume 3U [eben.
Der Segriff ber „SRaturp^ilojopbie", in tDeld)em ganj natur-
IV 95ortDort.
gemäfe jene bclben 2Bcgc ber 2Baf)rl)clt5forf(f)ung, bic cmpid[cf)e
unb bie [pctulattoe 9J?ct^obc, jufammcnlaufcn, roirb [ogar no^
l)eutc in toeltcn 5^rci|cn bclbcr 9?td)tungcn mit 5lb[d)eu surütf«
gecoicfen.
Dicfer unnatürliche unb DerbcrbUcf)c (5cgcnfo^ äioifc^en 9latur»
tDi[fcn|d()aft unb ^^ilo[opt)ie, äCDifc^cn hm (Ergebniffen bcr (£rfal)=
rung unb bcs 3)enfcn5, roirb unjtrcitig in ujciten gcbilbctcn Streifen
immer lebf)after unb [d)mer3Ud)er empfunben. Das bcjeugt fc^on
ber U5od)[enbe Umfang ber ungcl)curen populären „naturpf)ilo[o*
p^ifc^cn" Literatur, bic im fiaufe bes legten f)alben 3al)^l)iinbcrts
cntjtanbcn ijt. Das bejeugt aud) bie erfreulid)e Zai\ad)t, bafe
troi jener gegenfcitigen ^(bneigung ber beobacf)tenben 9flaturfor[(i)er
unb ber bcnfenbcn ^i)ilofop^en bennod) ^erüorragenbc 9Jiänncr
ber 2Bif|en[d)oft aus beiben fiagem fid) gegenfeitig bic ^ant) gum
Sunbe reiben unb oereinigt nad) bcr £ö[ung jener f)öc^jten ^uf*
gäbe bcr Ororfc^ung jtreben, bic roir fur3 mit einem 2Bortc als
„Die aBcIträtfcI" bC5eid)nen.
I)ic Unterfuc^ungen über biefe „SBclträtfel", tocl^c i^ in bcr
öorlicgenbcn (5d)rift gebe, fönnen DcrnünftigertDcifc ni(^t ben
^Infprud) crl)eben, eine üolljtänbigc ßöfung bcrfclbcn 3U bringen;
melmcf)r Jollen [ic nur eine !riti[cf)c Sclcuc{)tung berlelbcn für
Docitcrc gebilbetc Slreifc geben unb bic S^age su beantworten
fuc^cn, iDie toeit mir uns gcgenroärtig bereu £ö[ung genäl)ert
I)abcn. 2Bcl(^e Stufe in bcr (£r!enntnis ber 2Bal)rl)eit
^abcn o)ir am (£nbc bcs 19. 3a^r^unberts roirflid) er*
rcid)t? Unb tocld^e gort[c^ritte nad) biejem unenblid) entfernten
3ielc l)abcn mir im fiaufe besfclbcn cDirflid) gcmad)t?
Die ^nttöort auf biefe grofecn S^agen, bic id) I)icr gebe, fann
naturgemäß nur [ubieftio unb nur tcilujcife rid)tig [ein; benn
meine 5\enntni[[e bcr toirflic^cn S^latur unb meine 93ernunft 3ur
Beurteilung il)re5 objcftiücn 2Bc|cns [inb bejd)ron!t, ebenfo u)ie
bicicnigcn alter anbcren 9Jien[c^cn. Das ©ingigc, roas id) für
bicjelben coli in ^njprud) ncl)me, unb was aud) meine cnt=
[d)iebenjtcn ©egner anerfennen muffen, ijt, ba^ meine monijtifd)c
^f)ilofopl)ic Don Anfang bis 3U f&nbz tf)xlid) ijt, b. f). bcr ooll»
jtänbige ^usbrud bcr Uberseugung, tDcld)e id) burd) Dicljäl)rige5
eifriges (5orfd)cn in bcr Statur unb burd) unabläffigcs 9lad)ben!en
über ben U3al)ren (Srunb il)rer (£rfd) einungen crtuorbcn l)abe.
Dicfc naturpl)ilo[opl)ifd)e ©ebanfcnarbcit erjtrcdt fic^ je^t über
ein oolles ijalbcs 3al)r^unbcrt, unb ic^'barf jc^t, in meinem
66. ßeben5ial)re, rootil anncl)mcn, bafe fic reif im mcnfd)lid)en
Sinne ijt; ic^ bin aud) uöllig getoife, bafebicfe „reife grud^t"
öom IBaume ber (Erfcnntnis für bic hirsc Spönne bcs Dafeins,
Sorroort.
bic mir nodf) bef^tcben ift, fctne bcbcutenbe SBcrooIHommnung
unb feine prinäipiellen SBeränberungen crfal)ren roirb.
5ine toelentlic^en unb entjdieibenben ^n[(i)ouungen ntehtet
monijti|d)en unb genetifrf)en ^t)ilo|opt)ie t)abc ic^ [(f)on oor
33 5al)ren in meiner „©enerellen 9Korpf)oIogie ber Drga*
nismen" niebergelegt, einem toeitj(f)tüeifig unb [c^tDerfällig ge=
fd)riebenen 9Berfe, tDeId)e5 nur fel)r roenig fie[er gefunben l)at
(£5 wax ber erjte 93er[u^, bie ncubcgrünbetc (£nttDicfeIung5lel)re
für bas ganje (Sebiet ber organi|d)en 3rormentDiifen|(^aft burd)=
3ufül)ren. Hm toenigitens einen 3;eil ber neuen, barin entl)altenen
©ebanfen 3ur ©eltung 3U bringen unb um 3uglei^ einen toeiteren
Äreis Don ®ebilbeten für bie größten (£rfenntni5fort|rf)ritte unseres
3al)rt)unbert5 3U intereffieren, oeröffentlic^te id) stoei Sa^re fpäter
(1868) meine „Sflaiürlic^e S(^öpfung5gefd)id)te". T>a biefes
Ieid)ter ge|rf)ür5tc 2Ber! tro^ feiner großen SlRängel in neun ftarfen
Auflagen unb ätoölf Der[d)iebenen Hberfe^ungen er[d)ien, l)at es
nic^t roenig jur 93erbreitung ber monijtifrfien 2ßeltan[d)auung
beigetragen. Dasfelbe gilt aud^ toot)! oon ber tocniger gelefenen
„^ntl)ropogenic", in roeId)er id) (1874) bic fd)tüierige Wgobe
3U löfen Der[ud)te, bie tDid)tigiten 3:ot[aci^en ber menfd)Ii(^en (£nt=
EDidelung5gefd)id)tc einem größeren Ärei[e oon (Sebilbeten 3U=
gänglid) unb Derjtänblid) 3U mad)en; bie oierte, umgearbeitete
Auflage berfelben er[d)ien 1891. (Einige bebeutenbe unb bejonbers
toertooUe gfortfc^ritte, tDeId)e neuerbings biefer n)id)tigfte ieil ber
^ntl)ropoIog^e gemacht l)at, {)abe id) in bem 93ortrage beleu^tet,
hin id) 1898 „Über unjere gegenwärtige 5^cnntnis Dom Ursprung
bes 90'ien[d)en" auf bem oierten internationalen 3oologenfongreJ5
in dambribge gei)alten \)abt (fiebente Auflage 1899). 9inel)rere
ein3elne örtögeu unferer mobernen 9laturpl)iIo[opt)ie, bic ein be«
fonberes 3"^ci^^lfß bieten, l)aht id) be^anbelt in meinen „(5e=
fammelten populären 93orträgen aus bem ©ebiete ber (Enttoide*
lungslef)re" (1878). (gnblid) l)abc id) bie allgemeinjten (5runb=
[ä^e meiner monijtifdien ^l)ilofopl)ie unb i\)xt be[onbere Se3ie^ung
3u ben l)errfd)enben (5laubenslei)ren fur3 sufammengefafet in bem
„®loubensbefenntnis eines 9laturfor[(^ers: „DerSJlonismus als
<Banb 3U)i[d)cn «Religion unb 2Bi[[en[d)aft" (1892, ad)te
«Kuflage 1899).
Die oorliegenbe Sd)rift über bie „SBelträtfel" ift bie toeitere
^usfüt)rung, Segrünbung unb (£rgän3ung ber Ö[ber3eugungen,
u)eld)e id) In ben Dorjtet)enb angefül)rten Sd)riften bereit» ein
9Jlen[d)enolter ^inburd) oertreten ^abc. 3d) gebenfe bamit meine
Stubien auf bem (Bebietc ber monlitifd)cn acßeltan[d)auun8 ah*
Sujc^liefeen.
VI Sorcoort.
Der oltc, olcle 5a!)rc f)tnbutcf) gcl)egtc ^lan, ein ganges
„St)ftem ber moniftifc^en ^^tlofop^ie" auf ©runb ber
(£nttDlcfeIung5leI)re ausgubauen, roirb md)t mt\)x jur 5lu5füt>rung
gelangen. SOJeine 5^räfte ret(f)en boju nic^t mel)r aus, unb
ntancf)crlci 9JlaI)nungen bes l)crannal)cnben alters brängen gum
?tb[d) lujg. 5luc^ bin ic^ ganj unb gar ein 5^inb bes neun3el)nten
3al)rl)unbert5 unb tüill mit be^en (Snbe einen Strid) unter
meine fiebensarbeit madien.
Die unermefelid^e ^U5bet)nung, roelc^e bas men[c^Iid)e SBiffen
infolge fortge[d)rittener ^Irbeitsteilung in unferem 5al)rl)unbert
erlangt l)at, läfet es [ct)on l)eute unmöglich erfd)einen, alle 3^^^Q^
besfelben mit gleid)er (5rünblid)!eit 3U umfafjen unb il)ren inneren
3u[ammenl)ang ein^eitlid) barjuftellen. Selbjt ein ©enius erjten
IRanges, ber alle Gebiete ber 2Bi[fenfd)aft gleii^mäfeig bcl)errf(f)te,
unb ber bie !ünjtlerif(f)e (5abe il)rer eint)eitlicf)en Darstellung in
üollem 9Jlafee befäfee, roürbe bod) nid)t imjtanbe fein, im 5?aume
eines mäßigen Sanbes ein umfaffenbes allgemeines Silb bes
gangen „Äosmos" au53ufül)ren. 9Jiir [elbjt, beffen 5lenntniffe in
^tn oerf^iebenen ©ebicten fel)r unglei(^ unb lü(fenl)aft [inb, fonnte
l)ter nur bie Aufgabe gufallen, htn allgemeinen ^lan eines [olc^en
SBeltbilbes 3U entruerfen unb bie burd)gel)enbe (£inl)eit [einer
3:eile nacl)3uu)ei[en, tco^ [el)r ungleid)er ^usfüt)rung berfelben.
Das üorliegenbe 5Bud) über bie 2Belträt[el trägt bal)er aud) nur ben
(£l)ara!ter eines „S!i33enbu(f)es", in tDelcl)em Stubien von [el)r
ungleicl)em 3Berte 3U einem ®an3en 3u[ammengefügt [inb. Da
bie lRieber[(l)rift berfelben 3um 3:eil [^on in frül)eren Sofien, 3um
anberen 3:eil aber erjt in ber legten 3eit erfolgte, ijt bie Sel)anblung
leiber oft ungleid)mäJ5ig; aud) [inb mef)rfad)e 2Bieberf)olungen nic^t
3U oermeiben geroe[en; id) bitte bie[elben 3U ent[d)ulbigen.
3nbem id^ l)iermit oon meinen fie[em mid) t)erob[d)iebe, [prcc^c
i^ bie Hoffnung aus, hoüs id) burd) meine cl)rli^e unb geö)i[[enl)afte
?lrbeit — tro^ il)rer mir tDol)l beroufeten SDlängcl — ein fleines
Sd)erflein 3ur fiö[ung ber „2Belträt[el" beigetragen l)abe, unb bafe
i(i) im Äampfe ber 3Beltan[^auungen mand)cm el)rlid)en unb naä)
reiner 93emunfter!enntnis ringenben ßefer benfenigen SBeg ge3eigt
l)abe, ber nad) meiner fejten llber3eugung allein 3ur 9Bat)r^eit
fül)rt, ben 2Beg ber empiri[d)en 9laturfor[d)ung unb ber
barauf gegrünbeten moni[ti[d)en ^l)ilo[opI>ic.
3ena, 2. ^pril 1899.
93ortt>ort jur ^afc^enauggabe.
5luf 5tmegunö bcs Verlegers bcr „SBelträtfcl", $crm 5llfrcb
Äröner, unb auf SBunfc^ oicicr ßcfcr bicfcs Su(f)C5, l)abc i<i) mi^
entf^Ioffcn, eine neue unb bequeme 3:afd)enou5gabc booon 3u
oeranjtolten. (£s !am babel befonbcrs in Setrarf)t, ben Zn\)ali
einem größeren Ärelfc burc^ leistete iDarjtellung unb gefälligere
Ororm gugänglic^ 3U moc^en, überflüffige 3u9öben ju entfernen
unb SBieber^oIungen 0U53u[(i)aIten, fotoie oiele f^rembiDörter unb
oenDidelte ^lusfü^rungen bur(f) leichter t)crftänblid)e gu erfe^en.
Sfemer finb oiele Sä§c entfernt toorben, mcld)e teils ferner liegenbe,
teils ätöeifel^afte Srtagen bebanbelten; bos Sud) i)at baburc^ an
ÄIarl)eit unb Si(f)erbeit, xoie aud) an einl)eitlid)cr Durd)fül)rung
gexDonnen.
Der 9?aumer[i?amis \)alhtt [inb audf) alle fiiteraturf)iniDei[e
unb 5tnmer!unlgen toeggef allen, meiere in ber erjten großen
Slusgabe entl)alten finb, [oujie bas 91 ad) to ort 3u ber fpäter
erschienenen SJolfsausgabe („Das ©laubensbefenntnis ber reinen
SBemunft"). Diejenigen fiefcr, tDcId)e biefe meitcren Sufä^e unb
(Erläuterungen fennen ju lernen tDÜnfd)en, finben fie in ber in
ilürse er|d)cinenbcn brei3et)ntcn Auflage ber grofeen 3lusgabe.
aOlöge au^ biefe neue 3:a[c^enausgabe b03U bienen,
Das £id)t ber ^ufflärung in immer weitere Greife 3u tragen unb
üiele benfenbe fiefer anregen, fid) felbjttätig an ber Jßöfung ber
großen „SBelträtfel" 3u beteiligen.
3ena, 29. September 1908.
Sn^alt
I. *2lnt|)ropoIogifd)er ^eil
Der ärienfd)
1. StcTtung bcr SBelträtfcI 1
2. Unfcr Körperbau . 14
3. Unfcr fiebcn 24
4. Unferc ÄclmesgcFc^tc^te 32
6. Unjerc Stammcßgef(^ic^tc 42
II. ^f^^oroöif^et 5:eil
Dfc Seele
6. Das 5Bcfen bet Seele 64
7. Stufenleiter ber Seele 68
8. Äetmesiicfd)i(^te ber Seele 80
9. Stamm C5.gef(^i(f)te ber Seele 90
10. »etDufetlcfn bcr Seele 101
11. UnjterbUdE)!ett ber Seele 113
III. ^o^motogifc^er ^eit
Die SBcIt
12. Da» Subftan^gcfe^ 127
13. enttDldcIung&nfftfltcä^te ber äBelt 140
14. (Einheit ber siotur 154
16. ©Ott unb SBcIt 168
IV. ^^eotogif^er ^eil
Der (&ott
16. SBiffen «nb (glauben 180
17. aBiffenfd)aft unb (^^riftentum 191
18. Unferc moniftlfct)e «Reagion 206
19. Unfere moniftifd)e Sittenlehre 217
20. fiöfung ber äBcItrötfcl 229
etettuttö ber SöelMtfel.
allgemeinem ^ulturbilb be^ neun5e5)nten Sa^r^unbert^. 0eit
^am^f ber QOßeltanfc|)auungem 9)Zonimmum unb ©uali^mu^,
^m Sd)Iu|[c bes neun3cf)ntcn 3a^rl)unberts bietet ftc^ bem
ben!enbcn^eobad)ter eines bermerftDürbigjtenSd^aufpiele bar. ^Ile
©ebtlbeten [inb barüber einig, bafe btefes grofeorttge Söb^bunbert
in üieler Seäiebung alle [eine 33orgänger unenbli^ überflügelt
unb 5lufgaben gelöjt bot, bie in feinem anfange unlösbar er»
[cbienen. t)ie überra[(i)enben tbeoretifc^en i5ott[(f)ritte in ber
Sflaturerlenntnis unb i^re fru^tbare pra!ti[d)e SJermertung in
Xedjnü, 3"buftrie,' 93erfebr ufto. baben unferem mobernen Äultur=
leben ein oöllig neues ©epräge gegeben. Dagegen b^ben uiir
auf tDtd)tigen ©ebieten bes geijtigen fiebens unb ber ®efell[d)afts=
^ejiebungen roenige ober gar !eine 3rort[dE)ritte gegen frübere
3abrbunberte aufsutoeifen, oielfad) [ogar leiber bebenüid^e 9?üd*
[d)ritte. ^us biefem offenfunbigen 3i»icfpalt entfpringt nicbt nur
ein unbebaglid)es ®efübl innerer 3ci^ii[f^"beit unb Unroabrbeit,
[onbern aud) bie (Sefabr [d)toerer Äatajtropben auf politifcbem
unb [osialem ©ebiete. (£s ijt baber nicbt nur bas gute 9{ecbt,
fonbern aud) bie beilige ^flid)t jebes ebrli^en unb üon 9Jlen[cben=
liebe be[eelten 5or[d)ers, nacb bejtem 2Bi[[en 3ur 3lufbebung jenes
3tDie[paItes unb 3ur 33ermeibung ber baraus entfpringenben (5e=
fabren beijutragen. Dies fann aber naä) unferer ttberßeugung
nur burd) mutiges Streben nad) (Srfenntnis ber 3Babrbeit
ge[d)eben unb burd) (öeroinnung einer Haren, fejt gegrünbeten,
naturgemäßen 2Beltan[d)auung.
5ottf(^ritte ber 9laturerfenntnis. 3Benn toir uns htn un*
ooIÜommenen 3ujtanb ber 9flaturer!enntnis im Einfang bes
19. Sabrbunberts Dergegenroärtigen unb ibn mit ber glängenben
(Erjtes i^apitcl.
$öl)e an beffcn Sd)Iu[fc Dergleid)en, [o mufe jcbcTn 8a(I)funbigcn
ber 5ort[(i)ritt erjtaunltd) grofe erfd^einert. ^thtt einzelne 3roetg
ber 3^aturix»i[fen[(i)aft barf [id) rül)men, bafe er tnTierI)aIb btefes
3ol)rl)unbert5 ©etDtnne von größter Xragtoette cr3telt ^aht. ^n ber
rrttfro[!opi[d)en i^enntnis bes 5^Ietnjten tote in ber teIe[!optf(i)en (£r*
for[d)ung bes ©rösten l)abeTt toir un[d)ä^bare (£tn[td^ten getoonnen,
bte no(f) Dor I)unbert 5al)ren unbenfbar er[d)tenen. 93erbefferte
Unter[ud)ung5metl)oben \)abtn uns im 9ietd)e ber emselligeTi
fiebetoefen eine „un[id)tbare 2BeIt" üoII unenblid)en (5ormenreid)=
tums offenbart, fotoie in ber toingigen fleinen 3^ne htn gemein*
[amen „Slementar^Organismus" !ennen gelel)rt, aus beffen [ojialen
3enDerbänben, ben ©etoeben, ber i^örper aller oielgelligen ^flanjen
unb Üiere ebenfo tüie ber bes 9Jlenfd)en ^ufammengefe^t ijt. Diefe
anatomif(i)en ilenntniffe \ini> von größter 3:ragtDeite; [ie toerben
ergän3t burd) h^n embrr)oIogi[c^en SRorf)toeis, ha^ jeber l)öf)ere
üielaellige Organismus fid) aus einer einsigen einfad)en 3^ne
enttoicfelt, ber „befru(i)teten (giselle". t)ie beb eutungsDoIIe, !)ierauf
gegrünbete 3enentl)eorie l)at uns erjt bas mai)xt 33erftänbnis
für bic get)eimnist>onen £ebenserf(i)einungen eröffnet, 3u beren
(£r!Iärung man früt)er eine übernatürlid^e „fiebens!raft" ober ein
„unjterbli^es Seelentoefen" annar)m. ^uc^ bas eigentlid)e 2Be[en
ber 5^ran!{)eit ijt bem ^rgte erjt burd) bie bamit oerfnüpfte
3enuIar=^att)oIogie !Iar unb oerjtänbIi(^ getoorben.
9lid^t minber geroaltig finb aber bie (Sntbedungen bes 19. ^ai)X'
l)unberts im ®ereid)e ber anorgani[(^en Sf^atur. Die ^l)t)[i! \)ai
in allen 3:eilen il^res ©ebietes bie erftaunlid)jten O^ortf(i)ritte ge«
mact)t; unb roas tDicf)tiger ijt, [ie l)at bie (£inl)eit ber 5Ratur*
fräfte im gansen Itnioerjum nai)getDie[en. Die med^ani[c^e
2BärmetI)eorie I)at geseigt, toie eng bie[elben 3u[amment)ängen
unb u)ie jebe unter bejtimmten Sebingungen [i^ bire!t in bie
anbere oertoanbeln !ann. Die Spe!tralanalr)[e l)at uns gelel)rt,
bafe bie[elben Stoffe, tDeId)e unferen (£rb!örper unb [eine lebenbigen
$BetDol)ner aufbauen, aud) bie 5[Ra[[e ber übrigen Planeten, ber
Sonne unb ber entferntejten griijterne 3u[ammen[e^en. Die ^[tro=
pl)r)[i! \)ai un[ere 2BeItan[^auung im grofeartigjten SJlafejtabe er=
roeitert, inbem [ie uns im unenblid)en 2BeItraum SiJiinionen oon
frei[enben SBeltförpern na^getüie[en I)at, größer als un[ere (Erbe,
unb glei^ bie[er in bejtänbiger Umbilbung begriffen, in einem
etöigen 2Be(i)[eI oon „SBerben unb 93erge^en". Die (i\)zmh f)at
uns mit einer 9Jlenge von neuen, frül)er unbefannten Stoffen
befannt gemad^t, bie alle aus 23erbinbungen oon xoenigen un=
serlegbaren (Elementen (ungefäl)r ad)t3ig) bejtel)en. Sie f)ai ge-
geigt, bafe eines oon biefen (Elementen, ber 5lol)lenjtoff, ber tounber»
Stellung bcr 2BeIträt[eI.
bare 5lörper x]i, tDeId)cr bie ^Btlbung ber uncnbltc^ mannigfaltigen
orgamfc^cn 33erbtnbungen betoirft unb [omit bie „d)enti[(f)e Söafis
bes Bebens" barftellt. ^tlle einjelnen gort[d)ritte ber ^l)r)yif unb
(£l)emie ]Wi)tn jebod) an tI)eoreti[c^er Sebeutung ber (Brfenntnis
bes getoaltigen ©efe^es nad^, iüeld)es alle in einem gemeinfamen
©rennpunft vereinigt, bes Sub[tan3ge[e^es. Snbem biefes
„fosmoIogi[d)e ©runbgefe^" hk etoige (£r{)altung ber 5^raft
unb bes Stoffes, bie allgemeine i^onjtans ber (Energie unb ber
9Katerie im gansen SBeltall na(i)tDeijt, ift es ber [i(^ere fieitjtern
geiDorben, ber unfere monijti[(f)e ^l)iIo[op!)ie burd) bas geroaltige
£abr)rintf) ber 9ßelträt[el ^u beren fiöfung fül)rt.
X)a es unfere Aufgabe [ein toirb, in t)tn folgenben ilapiteln
eine allgemeine llberfidjt über ben je^igen Stanb unferer Sflatur^
erfenntnis unb über il)re (5Drt[d)ritte in unferem Sß^^^^iinbert 5U
geiDinnen, tüollen toir l)ier nid)t toeiter auf eine SJlujterung ber
einseinen ©ebiete eingeben. 9lur einen gröjgten 3^ortfd)ritt tDolten
tüir nod) l)ert)ort)eben, ber bem Subftanjgefe^ ebenbürtig i|t unb
ber es ergänjt: bie 5Begrünbung ber (£ntrüi(ielung5let)re. 3^(^^
!)aben ein3elne benfenbe 3^orfd)er [(t)on feit ^a^rtaufenben üon
„(£ntiDideIung" ber Dinge ge[prod)en; "bal^ aber biefer 23egriff
bas Unit) er [um bel)err[^t, unb bafe bie 2BeIt [elbjt weiter nid)ts
ift als eine etüige „(Enttoidelung ber Subftans", bie[er getoaltige
(Bebaute i|t ein 5linbJbes 19. 3öt)rf)unberts. (£r[t in [einer groeiten
§älfte gelangte er 3U ooller 5^Iarl)eit unb ju allgemeiner ^ntoen^
bung. Das unfterbli(i)e 93erbien[t, bie[en t)öd)jten pf)iIo[op{)i[cf)en
Sße^riff empiriid) begrünbet unb gu umfa[[enber (Seltung ge=
bra(f)t 3U I)aben, gebül)rt bem großen engli[(^en 91aturfor[(^er
(£l)arles Dartoin; er legte 1859 htn feften (Srunb für jene ^b=
jtammungslel)re, tDeId)e ber geniale fran3ö[i[(i)e 9laturpt)iIo[opl)
3ean 2amaxd [d)on 1809 in il)ren ^auptsügen erfannt, unb
beren ©runbgebanfen un[er größter beut[c^er Dichter unb Denfer,
2BoIfgang (5oetl)e, ]ä)on 1790 propf)eti[(^ erfaßt l)atte. Damit
rourbe uns 3uglei(^ ber Sd)lü[[el 3ur „Srage aller fragen" ge[(^en!t,
3u bem großen 2BeIträt[e( oon ber „Stellung bes 95len[cf)en in ber
91atur" unb oon [einer natürlid)en (£ntitet)ung. 2ßenn tüir r)eute
imjtanbe [inb, bie §err[(i)aft bes (£ntröicfelungsge[e^e5 im
©e[amtgebiete ber ^Zatur !Iar 3U erfennen unb [ie in 33erbinbung
mit bem Sub[tan3ge[e^c 3ur eint)eitlict)en (£r!Iärung aller
91aturer[d^einungen 3U benu^en, [o »erbanfen roir bies in erfter
fiinie jenen brei genialen, toeitblicfenben 91aturpt)iIo[opt)en, brei
Sternen erjter ©rö^e unter allen anberen großen Scannern bes
ncun3el)nten 3ol)rl)unberts.
. 1*
(Srjtes Kapitel.
Diefen crjtaunli(f)cn (5ort[(^rtttcn unfcrer tl)corcti[^en
9laturer!cnntnt5 ent[prt(f)t beren mannigfaltige prattif^e ^n^
töcnbung auf allen ©ebieten bes men[(f)Iid)en ilulturlebens. SBenn
tüir l)eute im „3ßitalter bes 93erfel)rs" \it'i)tn, toenn ber intern
nationale §anbel unb bas ^Keifen eine frü{)er nicf)t geal)nte Se=
beutung erlangt l)aben, toenn xoix mittels 3:elegrap^ unb 3:eIepl)on
bic S(I)ran!en öon 9?aum unb 3ßit übertounben ^aben, [o oer*
banfen toir bas in erfter £inie tm gort[d)ritten ber ted)ni[d)en
^f)t)[i!, befonbers in ber ^ntoenbung ber Dampffraft unb ber
(£Ieftri3ität. SBenn toir burd) bie ^l)otograpl)ie bas SonnenIid)t
Stoingen, uns in einem ^lugenblid naturgetreue ©über üon jebem
beliebigen ©egenjtanbe 3U t)erf(f)affen, toenn toir in ber JÖanbtoirt«
[d)aft unb in ttn t)er[(f)iebenjten ©etoerben erjtaunlid)e pra!ti[d)e
gortf^ritte gema(f)t l)aben, roenn roir in ber 9Jlebi3in bur^ (If)Ioro*
form unb 9Jiorpt)ium, bur^ antifcptif^e unb (5erumtt)erapie bie
£eiben ber 9Ken[c^l)eit unenblicf) gemilbert f)aben, [o oerbanfen
loir bies ber angetoonbten (r{)emie. Durd^ biefe unb anbere C£r=
finbungen ber ^ec^ni! l)aben toir olle frül)eren S^^^^^unbertc roeit
überflügelt.
gortfc^ritte bet foatalen ©inrlc^tunöcn. So bürfen toir l)eute
mit gere(l)tem Stolje auf bie getoaltigen 5oit[cf)ntte bes 19. t^ai)x=
l)unbert5 in ber SflaturerJenntnis unb beren pra!tifd)e 33ertüertung
gurüdblicfen. fieiber bietet fiel) uns ein gan3 anberes unb toenig
erfreulid)es 5Bilb, roenn toir anbere, nid)t minber toi^tige ©ebiete
bes mobernen ilulturlebens ins ^uge f äffen. 3^ unferem ©e=
bauern muffen toir ha ben Sa^ oon 5llfreb 9Ballace untere
fcl)reiben: „93ergli^en mit unferen erjtaunlic^en gortfd)ritten in
ben pl)t3fi!alif(f)en 2Biffenfd)aften unb il)rer pra!tifrf)en ^nioenbung,
bleibt unfer Sriftem ber ^Regierung, ber abminiftratioen 3^1% ber
9lationaleräiel)ung unb unfere ganse fosiale unb moralifd)e Organi^
fation in einem 3uftanbe ber Barbarei. " Um uns oon ber
2ßal)rl)eit biefer f(f)toeren Sßortoürfe gu überaeugen, braud)en
toir nur einen unbefangenen ©lic! in unfer öffentlicf)es 2thtn
3U toerfen, ober in ttn Spiegel 3U blicfen, ben uns täglirf) unfere
3eitung, als bas Organ ber öffentlid)en 9Jieinung, oorf)ält.
ttnfete Jlet^tspflege. beginnen toir unfere 9iunbfd)au mit
ber 5ufti3, bem „Fimdamentum regnorum". ^Riemanb toirb
bel)aupten .!önnen, bafe beren l)eutiger 3ujtanb mit unferer fort*
gefcl)rittenen (£rfenntnis bes 9Jlenfd)en unb ber äBelt in (£in!lang
fei. Äeine 2ßo(i)e Dergel)t, in ber toir nic^t oon ricf)terlid)en Ur=
teilen lefen, toel^e bem gefunben aRenfcl)enoeritanb toiber*
fpredien; oiele (£ntfcl)eibungen unferer f)öl)eren unb nieberen (5e«
ricl)tsl)öfe erf^einen öcrabe3u unbcgrciflid). 3Bir fel)en gans baoon
Stellung ber 2BeIträtfeI.
ah, ha% in melen mobcmen Staaten — tro^ ber auf Rapier ge=
brudten 95erfa[[ung — noc^ tatfädjltd) ber ^Ibfoluttsmus l)err[d)t
unb bafe manche „Scanner bes 9{ed)t5" n{d)t nad) el)rltcf)er ilbcr=
^eugung urteUen, [onbem entfpre(i)cnb bem „t)öl)eren 2Bun[d)e
t)on mafegebenber Stelle". 2Btr nef)men vitlmt\)v an, bafe bie
meijten 9li^ter unb Staatsantoälte nact) bejtem (5eu)i[[en urteilen
unb nur men[(^n(^ irren. I)ann crflärcn fic^ wolfl bie meijten
Irrtümer burcf) mangel{)afte 93orbübung unb burd^ bie oeraltetc
©e[c^gebung. SfreiK^ I)crr[(i)t oielfad) bie 5ln[i(^t, bafe gerabe
bie ^urijten bie \)'öd)]U Silbung beji^en; gerabe [ie toerben bei
ber Se[e^ung ber oerfd^iebcnjten ^mter oorgesogen. allein
biefc t)ielgerüt)mte „juriftifdie Silbung" ift größtenteils eine rein
formale, feine reale: Den men[(i)IicJ)en Organismus unb feine
u)i(f)tigfte gunftion, bie Seele, lernen unfere ^uriften nur ober=
fläc^Iicf) fennen; bas betoeifen 3. 23. bie rDunberIid)en ^n[irf)ten
über „2ßinensfreil)ett, 93erantu)ortung" ufto., benen toir täglich
begegnen. Den meiften Stubierenben ber ^witsprubens fällt es
gar nid)t ein, [id) um ^ntI)ropologie, ^fi)(i)oIogie unb (£nt =
toideIung5ge[d^id)te ju beüimmern, bie erften 93orbebingungen
für rid)tige Beurteilung bes SJienf^entoefens. ^^reili^ bleibt ba3u
au(^ „feine 3^it"; biefc roirb Iciber nur ju [e!)r burct) bas grünbli^e
Stubium von Bier unb 2Bein in ^nfpru^ genommen, [otoie bas
„oerebeinbe" 9Jlen[urentoefen; ber 9lejt ber fojtbaren Stubicnjeit
aber ijt noüoenbig, un^ bie ^unberte oon ^aragrapt)en ber (5e[e^=
bücf)er 3U erlernen, bcren ilenntnis bcn Surijten 3U allen möglid)en
Stellungen im f)eutigen Äulturjtaate befät)igt.
Unfere Stoatsorbnunö. Das leibigc ©ebict ber ^olitif toollen
toir I)ier nur ganj flü(^tig jtreifen. Die unerfreuli^en 3iiltänbe
bes mobemen Staatslebens [inb ja allbefannt unb iebermann
tägli^ füt)lbar. 3wm großen 3^eile erfidren ]id) beren SJiängel
baraus, ha'ii bie meijten Staatsbeamten eben ^urijten finb, SJlönner
von f)ot)er formaler Bilbung, aber ot)nc jene grünblicf)e 5^enntnis
ber SJienjd^ennatur, bie nur burcf) oergleic^enbe ^ntl)ropoIogic unb
^ji)d)oIogie enoorben ujerben fann. „Bau unb Qtbm bes [ogialen
5^örpers", b. l). bes Staates, lernen xoir nur bann rid^tig Dcr=
jtet)en, toenn roir naturtDi[[enjd)aftlid)e ilenntnis com „Bau unb
£eben" ber ^erfonen befi^en, i»el(i)e ben Staat jujammenfe^en,
unb ber 3 eilen, roelc^e jene ^erjonen äujammenfe^en. 2Benn
unfere „Staatslenfer" unb „Bolfsoertreter" bicfe unf(t)äParen
bioIogifrf)en unb antf)ropoIogifct)en Borfenntniffc be=
fäßen, fo toürbc unmöglirf) in bcn 3eitungen täglich jene entfe^Iid^e
SrüIIe von foaiologifc^cn 3i^itü"tem. unb oon poIitif(t)er 5lanne^
gießerei 3U lefcn fein, toeli^c unfcrc ^arlamentsberi^te unb oud)
(grjtes 5^apitel.
üiele 9legterungserla[[c md)t gerabc erfreultd^ au53etd)ncn. ^m
metjten 3U beflagen tft es, ha^ bcr moberne i^ulturftaat fid) ber
fulturfeinblid^en Rxxd)^ in bic ^rme uoirft, unb bafe ber bornierte
(Egoismus ber Parteien, bie 23erblenbung ber !ur3^i(i)tigen ^artei=
fül)rer bie ^ierarc^ie unterftü^t. Daburd) entjtef)en [0 traurige
Silber, toie fie uns am S(i)Iu[[e bes 19. 3a^rf)unbert5 ber Deut[d)e
9?eid)5tag cor ^ugen fül)rte: bie (5e[d)icfe bes gebilbeten beutfc^en
5öoI!es in ber §anb bes ultramontanen 3entrum5, unter ber
Leitung bes römifd^en ^apismus, ber [ein ärgjter unb gefäl)r=
li(f)jter geinb ijt. Statt 9?ecl)t unb 33ernunft regiert 9lberglaube
unb 33erbummung. Hn[ere Staatsorbnung !ann nur bann beffer
werben, raenn [ie \id) üon 'Otn geffeln ber Rixd)t befreit unb
toenn [ie t>mä) allgemeine naturu)i[[en[cl)aftli(i)e Silbung
bie 2Belt= unb 5Ren[d^enfenntnis ber Staatsbürger auf eine l)öl)ere
Stufe I)ebt. Dabei fommt es gar nid)t auf bie be[onbere Staats =
form an. Ob SOionar(f)ie ober 9lepublif, ob ari[tofrati[d)e ober
bemo!rati[cf)e 3Serfa[[ung, bas [inb untergeorbnete ^^ragen gcgen=
über ber großen Hauptfrage : Soll ber moberne i^ulturjtaat geijtlict)
ober roeltlic^ \tin? Soll er tI)eo!rati[c^, burc^ unoernünftige
©laubens[ä^e unb llerifale 2Bill!ür, ober [oll er nomo!rati[cf),
burd) oernünftige ©e[e^e unb bürgerlid)es 9?e(^t geleitet loerben?
Unsere 6(^ule. (£ben[o toie un[ere 9?ec^tspflege unb Staats*
orbnung ent[pri(^t au^ un[ere 5ugenber3iel)ung burdf)au5 nic^t
titn ^nforberungen, U)eld)e bie toi[[en[(i)aftlid)en 5ort[d)ritte bes
19. 3öI)i^I)UTtberts an bie moberne Silbung [teilen. Die 91atur =
u)i[[en[d)aft, bie alle anberen 2Bi[[en[d^aften [0 toeit überflügelt
unb tDelct)e, hd 2iä)i betrai^tet, aud^ alle [ogenannten (5ei[tes=
ir»i[[en[d)aften in [id) aufgenommen l)at, loirb in un[eren Schulen
immer nod) als ^[d)enbröbel in bie (^de ge[tellt. Un[eren mei[ten
£el)rern er[d)eint immer nod) als Hauptaufgabe jene tote (5elel)r=
[am!eit, bie aus "bm illo[ter[(^ulen bes äRittelalters übernommen
i[t; im SSorbergrunbe [tel)t ber grammati!ali[(^e Sport unb bie
Seitraubenbe „grünblid)e ilenntnis" ber !la[[i[d)en Sprad)en, [oroie
ber äufeerlid^en 23öl!erge[.d)id)te. Die Sittenlel)re, ber i»id)tig[te
(5egen[tanb ber pra!ti[d)en TOIo[opl)ie, toirb oernad)lä[[igt unb
an il)re Stelle bie !ird)lic^e ilonfe[[ion geje^t. Der ©laube [oll bem
2Bi[[en oorangel)en; nid)t jener tDi[[en[d)aftlid)e (ölaube, toeldier
uns 3U einer moni[ti[d)en 9^eligion fül)rt, [onbern jener unt)er=
nünftige Aberglaube, ber bie (5runblage eines r)erun[talteten
(£l)ri[tentums bilbet. 3Bäl)renb t>it großartigen (£r!enntni[[e ber
mobemen i^osmologie unb Anthropologie, ber l^eutigen Biologie
unb (£ntiDidelungslef)re auf .un[eren l)öl)eren Sd)ulen gar feine
ober nur ganj ungenügenbe 23ertoertung finben, toirb bas (5ebäd)t=
Stellung ber SBelträtfel.
nis mit einer Unmaffe oon p^ilologtfcfien unb {)ij'ton[ d^en 2:at=
\ad)tn überlaben, bte toeber für hit ©eijtesbilbung, nod) für bas
pra!tt[cf)e 2thtn üon 91u^en [inb. ^uc^ bie ueralteten ©inrid^tungen
unb 3ra!ultät5t)ert)ältm[fe ber Umoerfitäten entfpred^en ber t)eu=
ttgen (Entcöidelungsjtufe ber natürli(i)en 2BeItan[c^auung eben[o=
roentg rote ber Unterrid)t in ben ©i)mna[ien unb in htn nieberen
Schulen.
Unfere Äirj^e. 3m [(f)ärfften ©egenfa^e 3U ber mobernen
Silbung unb 3U beren ©runblage, ber üorgefc^rittenen lRatur=
erfenntnis, |tef)t unftreitig bie ilird^e. 2Bir sollen I)ier garni(f)t
t)om ultramontanen ^apismus [pre^en, ober oon ben ortl)oboien
eDangeIif(f)en 9?id^tungen, roeId)e biefem in bejug auf fra[[eften
5(berglauben unb Knfenntnis ber 9!Bir!Iid)!eit nid^ts nad^geben.
23ielmef)r oerfe^en toir uns in bie ^rebigt eines liberalen protejtan*
tifd^en . Pfarrers, ber gute Durrfjfc^nittsbilbung befi^t unb ber
23ernunft neben bem ©lauben it)r gutes 9ie(f)t einräumt. 3)a
I)ören coir neben oortrefflid^en Sittenlehren, bie mit unserer
monijti[rf)en (£tf)i! (im 19. 5^apitel) oolltommen l)armonieren,
33orftenungen über bas 2Be[en oon ©ott unb 3BeIt, von 9Jien[c^
unb fieben, tDeld)e allen (£r!enntni[[en ber 9Zaturfor[(i)ung bireft
roiberfprcd^en. (£s ift !ein SBunber, toenn Zt^nittt unb (Il)emifer,
^r3te unb ^l)ilo[opl)en, bie grünblid) über bie 5Ratur beobad)tet
unb nacf)gebarf)t l)aben, [olrfien ^rebigten fein (5el)ör [d)en!en
roollen. (£s f e^lt eben unferen 3;l)eologen unb ^l)ilologen, ebenfo
toie unferen ^olitifern unjö Suriften, an jener unentbehrlichen
5Raturer!enntnis, auf tüel(t)e[id) hit monijti[(^e (£nttDidelungs=
lel)re grünbet.
Äonflift 5tDif(^en ©ernunft uttb !Dogina. ^us biefen bebauer=«
licf)en (5egen[ä^en ergeben [id) für unfer mobernes .Kulturleben
f(f)tüere 5^onfli!te, beren (5efal)r bringenb 3ur Sefeitigung auf=
forbert. Unfere t)eutige ^ilbung »erlangt \\)X gutes 9?edE)t auf
allen ©ebieten bes öffentlid)en unb privaten £ebens; [ie roünfc^t
bie 9Jlen[c^^eit mittels ber 33ernunft auf jene l)öl)cre Stufe ber
(Erfenntnis unb bamit gugleid^ auf jenen befferen 9Beg gum ©lücf
erl)oben ju [el)en, wtl<i)t roir unferer \)od) enttoidelten 5Ratur=
iDi[[en[d)aft oerbanfcn. Dagegen fträuben [i^ mit aller SKac^t
bie jenigen einflufereid)en 5lrei[e, tDeld)e unfere (Seijtesbilbung in
t)tn überrounbenen 5tn[c^auungen bes SOlittelalters 3uriidt)alten
tüollen; [ie Derl)arren im SBanne ber trabitionellen !t)ogmen unb
»erlangen, ha^ bie 23ernunft [id^ unter bie[e „f)öl)ere Offenba*
rung" beuge. X)as ijt ber göll in toeiten Greifen ber 3:^eologie
unb ^^ilologie, ber So3iologie unb 3iiri5pruben3. X)iefe 9tücf=
jtänbigfeit beruht 3um größten 3;eile getüife nic^t auf eigennü^igem
8 (grjtes Kapitel.
Streben, fonbern teils auf Hnfenntnis ber realen ^^atfa^en, teils
auf ber bequemen (5etüot)nI)eit ber 3:rabition. Die gefä^rlid)jte
(5reinbin ber 93emunft unb 2Bi[[en[d)aft ift nic^t bie $Bo6t)eit, [onbern
bie HntDif[enI)eit unb üielleid)t nod) mel)r bie !Irägl)eit. (Segen
biefe beiben 9Jiäd)te fampfen bie ©ötter [elbft bann noc^ t)er=
gebens, loenn fie bie erjtere glücflid) überrounben l)aben.
^IntJ^toptsntus. &nt ber mäct)tigjten Stufen geu)äl)rt jener
rüdjtänbigen Sßeltanfd^auung ber 5lntt)ropi5mus ober bie
„S3ermenfd^Ii(^ung". Hnter biefem ^Begriffe t)erftel)e id) jenen
ntä(f)tigen unb toeit verbreiteten 5^mplei von irrtümlid)en S3or=
ftellungcn, toeldier htn menfcl)lid)en Organismus in ®egenfa^
3u ber gangen übrigen 9latur ftellt, il)n als üorbebacfites (Enbjiel
ber organifcf)en Scf)öpfung unb als ein üon biefer t)erfct)iebenes,
gottät)nUct)es 2Be[en auffafet. $Bei genauerer i^riti! biefes einflufe=
reichen S3orjteIlungs!reifes ergibt fic^, bafe er eigentlidE) aus brei
t)er[d)iebenen I)ogmen bejtel)t, bie roir als ben antI)ropo3en =
trifd^en, antf)ropomorp^i[cf)en unb antl)ropoIatri[cl^en
Srrtum unter[(i)eiben. I. Das antt)ropo3entri[ct)e Dogma
rul)t auf ber SJorjtellung, bafe ber 9Jten[d) ber t)orbebact)te Spfüttel^
pun!t unb (SnbstoedE alles (Srbenlebens — ober in toeiterer Raffung
ber gangen SBelt — [ei. Da biefer 3i^rtum bem menf^Iid^en
(£igenbün!el äufeerft eru)ün[ct)t, unb tta er mit "ütn S(i)öpfungs=
mr)tt)en unb mit ben Dogmen ber mofaifc^en, ^riftlirfien unb
mol)ammebani[d)en 9?eIigion innig oertoa^fen ijt, bef)err[^t
er aud) l)eute noct) ben größten 3^eil ber 5luIturroeIt. — II. Das
antI)ropomorp!)ifcf)e Dogma fnüpft ebenfalls an bie <Bä)'öip=
fungsfagen ber brei genannten, foroie oieler anberen 9?eligionen
an. (£5 r)ergleicf)t bie 2Belt[d)öpfung unb SBeltregierung ©ottes
mit ^tn 5^unjtfd)öpfungen eines [innreid^cn ^^c^nifers unb mit
ber Staatsregierung eines roeifen §err[d)ers. „(Sott ber §err"
als Sd^öpfer, (£rl)alter unb 9?egierer ber 2Belt roirb babei in
[einem Denfen unb ^anbeln biird^aus men[^enäl)nlicf) cor»
gejtellt. Daraus folgt bann lieber umge!el)rt, bafe ber iRen[d^
gottäl)nlid) ift. „®ott [(^uf titn 5lRen[cf)en nad) [einem Silbe."
Die ältere naioe 9[)li)tl)ologie Derleit)t i^ren (ööttern 9Jien[d)en=
geftalt, 'i^Ui^d) unb Slut. SBeniger materiali[ti[d^ [inb bie 2)or=
[tellungen ber neueren mi)[ti[d)en 3:^eo[opl)ie , tDeld)e ben per=
[önlid^en (Sott als „un[id)tbares" 2Be[en »ere^rt unb il)n bod)
gleid)3eittg nad^ 9Jlen[(^enart benfen, [pred)en unb l)anbeln lä^t. —
III. Das antt)ropolatri[dE)e Dogma ergibt [id^ aus bie[er
23erglei(t)ung ber men[cl)lic^en unb göttlid)en Seelentätigfeit oon
[clbjt; es fül)rt 3u ber göttlid^en 33erel)rung bes men[cf)ltd)en
Organismus, 3um „antljropijtifc^en (Sröfeentoa^n". Daraus folgt
Stellung ber SBcIträtfel.
tDtebcr ber {)odf)ge[(f)ä^te „©laubc an bte pcrfönlid^e ltnfterbUd)=
feit ber Seele", fotote bas bualtjttfd)c !t5ogma von ber t)oppeI=
natur bes 50Zen[c^en, beffen „unfterbIicE)e Seele" htn jterbltd^en
5^örper nur jetttoeife betoo^nt. Dte[e bret antf)roptjttfd)en Dogmen,
manmgfai^ ausgebilbet unb ber roec^felnben ©laubensform ber
üerfc^tebenen ^Religionen angepaßt, tourben 5ur ^Quelle ber ge*
fäl)rltd)ftcn Irrtümer. Die antl)ropifti[(f)e S!BeItan[d)auung,
hk baraus entfprang, jtel)t in unoer[ö^nIid)em (Segenfa^ 3U unferer
monijtifd^en ^laturerfenntnis; [te rotrb 3unä(i)jt [c^on burd) beren
fosmologifc^e ^erfpcfttoe u)iberlegt.
itosmologifc^e ^erfpeftioe. Die Hnf)altbarfeit. biefer brei
antl)ropiftif(^cn Dogmen, tote auct) oieler anberer ^nfd)auungen
ber bualijti[i)en ^l)iIo[opl)ie unb ber ort^oboxen ^Religion, offen»
bart [ict), [obalb mx [te aus ber !o5moIogtfct)cn ^erfpeltioc
unferes SJionismus fritifc^ betrad)ten. 2Bir t)erjtel)en barunter
jene umfaffenbe ^nfc^auung bes äßeltgansen, wtlä)t uns
ber l)ö(i)|te Stanbpunft ber moniftifd^en 9laturer!enntnis getoä^rt.
Da überseugen toir uns oon ber 9[ßal)rl)eit ber folgenben toid^»
tigen „!o5moIogi[rf)en £et)r[ä^e":
1. Das SBeltall (Unioerfum ober ilosmos) ijt etoig, unenblic^
unb unbegrengt. 2. Die Subftans besfelben mit x\)xtn htihtn
5lttributen (StRaterie unb (Energie) erfüllt htn unenblid)en 9?oum
unb befinbet [ic^ in etoiger Setoegung. 3. Diefc Setoegung oer=
läuft in ber unenblirf)en 3^it als eine eint)eitlidE)e ©nttoicfelung,
mit periobi[d)em 2Be(i)feI :pon SBerben unb 93erge{)en, üon gort=
bilbung unb 9iüctbilbung. U. Die unjä^ligen SBeltförper, tüelct)e
im raumcrfüllenben ^t^er oerteilt [inb, unterliegen [ämtlic^ bem
Subftansgefe^. 5. Hnfere Sonne ift einer oon hk]tn un3ä{)Iigen
t)ergänglid)en 3Beltförpern, unb un[ere (£rbe ijt einer oon ben
3af)Ireid)en oergänglid^en Planeten, tDeId)e biefe umfreifen.
6. Hnfere (£rbe t)at einen langen ^b!üf)Iungspro3efe buri^gemai^t,
el)e auf berfelben tropfbar flüffiges 2Ba[[er unb bamit bie erfte
33orbebingung organi[d)en £ebens entjte^en tonnte. 7. Der barauf
folgenbe biogenetifc^e ^ro3efe, bie langfame (£ntiöidfelung unb
Hmbilbung 3al)no[er organifct)er ^formen, t)at oiele StRillionen
3al)re (toeit über l)unbert !) in ^nfprud) genommen. 8. Unter
hzn Derf(f)iebenen 3;ierftämmen, toeld^e \id) im [päteren 93erlaufe
bes biogeneti[ct)en ^ro3effe5 auf unferer (Erbe enttoidelten, l)at
ber Stamm ber SBirbeltiere im Sßettlaufe ber (Snttoicfelung neuer»
bings alle anberen toeit überflügelt. 9. ^Is ber bebeutenbjtc
3roeig bes SBirbeltierjtammes l^at fid) erjt fpät (ioäI)renb ber 3^ria5»
periobe) aus ^mpl)ibien bie Rla\\z ber Säugetiere entmidelt.
10. Der ooIHommenjte unb l)ö^jt enttoidelte 3^ßi9 ^i^f^^ Älaffc
10 (£rjte5 5lapitel.
ijt bte Drbnung bcr §errentierc ober ^rtniatert, bic erft im $8e=
ginne ber ^^ertiärgeit burd^ Hmbilbung aus nieberjten 3otten=
tieren entjtanben ijt. 11. X)as iüngfte unb üollfommenfte ^jt(i)en
bes ^rimaten3iBetge5 ijt ber 9[)len[d), ber erjt in [päterer 3:ertiär=
3eit aus einer 9leil)e von 9Jlen[^enaffen l)ert)orging. 12. Demnacf)
ift bie [ogenannte „2BeItge[(^id)te" eine t)er[(^u)inbenb fur3e
(gpifobe in bem langen 23erlaufe ber organif(i)en (£rbge[d)ic^te,
eben[o toie bie[e [elbjt ein Keines Siüd von ber ©e[(^id)te unferes
^Ianetenfi)ftems; unb toie un[ere SOlutter (£rbe ein oergänglii^es
(5onnenftäubd)en im unenblicf)en SBeltall, [o ijt ber einselne
StRenfd) eine t)orüberget)enbe (Erjd^einung in ber oergänglii^en
organi j(i)en Statur.
Sflid^ts jd) eint mir geeigneter als bieje großartige !osmoIo =
gifc^e ^erjpeltioe, um oon t)ornl)erein titn ri(i)tigen SJlafejtab
unb htn toeitjid)tigen Stanbpunft fejtguje^en, toeld^en toir jur
£öjung ber äBelträtjel eint)alten muffen. Denn babur^ roirb nic^t
nur bie mafegebenbe „Stellung bes 9PZenf(i)en in ber 9latur" !Iar
be3eid)net, fonbernaud^ bert)errfd^enbeantt)ropijtif(i)e (5röfeen =
t»al)n toiberlegt, bie Anmaßung, mit toeId)er ber 9Jlenf(f) fid) bem
unenblici)en Unioerfum gegenüberjtellt unb als tDi(f)tigjten 3:eil
bes SBeltalls i)ert)errli(^t. Diefe gren3enIofe Selbjtüber^ebung
bes eiteln SD^ienfcfien I)at it)n ba3U Derfüt)rt, fid) als „(Ebenbilb
(5ottes" 3U betrad)ten, für feine Dergängli(f)e ^erfon dn „etoiges
£eben" in ^nfprud) 3U net)men unb fid) ein3ubilben, bafe er un*
befd)rän!te „3rreit)eit bes SBillens" befi^t. I)er lää)txli6)t (£äfaren=
toa^n bes (Taligula ijt eine fpe3iene ^^orm biefer l)od^mütigen
Selbjtoergötterung bes 50lenfd^en. (£rjt roenn toir biefen unf)alt»
baren ©röfeentüat)n aufgeben unb bie naturgemäße fosmologifc^e
^erfpeftioe einne{)men, fönnen toir" 3ur £öfung ber „SBelträtfel"
gelangen.
3a^I bcr 2BeIträtfeI. Der ungebilbete i^ulturmenfd^ ijt nod)
ebenfo loie ber roI)e 9laturmenfcE) auf S(f)ritt unb 3:ritt oon un=
3ät)Iigen SBelträtfeln umgeben. 5e toeiter bic 5lultur fortf(f)reitet
unb bie 2Biffenfd)aft fid) enttoidelt, bejto met)r roirb tl)re 3af)I
befd)rän!t. Die moniftifd)e ^f)iIofopt)ie toirb fd)IiePc^ nur
ein ein3ige5, allumfaffenbes 2BeIträtfeI anerfennen, bas „Sub =
ftan3probIem". ^n ber berüt)mten 9^ebe, ioeId)e (Emil bu
Sois = 9?er)monb 1880 in ber £eibni3*(5i^ung ber berliner
^fabemie bcr 2Biffenfd)aften f)iclt, untcrfd)cibet er „ficben
SBcIträtfel"; er fül)rt bicfclben in nad)jtel)cnber 9?cif)cnfoIge
auf: I. bas 2ßefen oon StRatcrie unb ilraft, II. bcr Urfprung bcr
^ctoegung, III. bie erjte (£ntjtet)ung bes JÖcbens, IV. bie (an»
[d)eincnb abfidjtsooll) stocdmöfeige (Sinrt^tung bcr IRatur, V. bas
etellung ber 2BeIttätfeI. 11
(£ntjtcl)en ber einfa^en Sinnesempftnbung unb bes ^BctDufetfeins,
VI. bas oernünfttge Denfen unb ber Urfprung ber bamit eng t)er=
bunbenen Sprad)e, VII. bte ^rage nacf) ber 2BiIlenöfretI)eit. 93on
t>k\m fieben 3BeIträt[eIn erflärt ber 9?l)etor ber berliner ^fabemie
brei für ganj tranfgenbent unb unlösbar (bas crjte, jtDeite unb
fünfte); brei anbere I)ält er %voax für [^tDtertg, aber für lösbar
(bas britte, oterte unb [ed)jte); besügltcJ) bes [iebenten unb legten
„2BeIträt[eIs", roelc^es pra!tt[d) bas röi^ttgjte ijt, nämlirf) ber
2B{nensfretf)ett, x)ert)ält er ficf) unentfc^ieben.
9lacf) meiner ^n[id^t toerben bie brei „tranfjenbenten" 9?ät[el
(I, II, V) burd) un[ere ^uffa[[ung ber Sub [tanj erlebigt {Ra=
piten2); bie brei anberen, fd)tüierigen, aber lösbaren Probleme
(III, IV, VI) [inb bur(^ unfere moberne (£ntu)i(JeIungsIel)re
enbgültig gelöjt; bas [iebente unb le^te 2Belträtj'eI, bie 2BiIlens=
freil)eit, ijt gar fein Objeft !riti[ct)er toif[en[d)aftlict)er (Erüärung,
\)a [ie als reines Dogma auf blofeer Xäu[(f)ung berut)t unb in
2Bir!Ii(f)feit gar ni^t eiijtiert.
ßöfung ber SBelträtfel. Die 9J?itteI unb 2Bege 3ur £ö[ung
ber 2ßelträt[el [inb biejenigen ber reinen Boi[[en[(f)aftIid)en (£r=
fenntnis überl)aupt: (Erfahrung unb S(i)IufefoIgerung . Die
Eoi[[en[c^aftIid)e (£rfaf)rung ertoerben toir uns burd) Seoba(i)tung
unb (Siperiment, tüobei in erjter fiinie unfere Sinnesorgane, in
gcoeiter bie „inneren Sinnesl)erbe" unferer (5rofel)irnrinbe tätig
[inb. Die mift:o[!opi[(^en (SIementarorgane ber erjteren [inb bie
Sinnesjellen, bie ber letj^eren ©ruppen oon (Sanglienäellen.
Die (£rfat)rungen, roeI(i)e toir oon ber ^ufeentoelt burc^ bie[e un=
fd)äparjten Organe unferes ©eijteslebens er{)alten t)aben, toerben
bann burd) anbere (5et)irnteile in SSorjtellungen umgefe^t unb
biefe roieberum buri^ 5l[[o3iation ju Sd)Iü[[en oerfnüpft. Die
SBilbung bie[er Scf)IufefoIgerungen erfolgt auf gtoei oeri(i)iebenen
äßegen, bie nad) meiner Xlberjeugung gleich roertooll unb unent=
bet)rlid) [inb: ^Ttbuftion unb Debuftion. Die weiteren oer=
roidelten (5et)irnoperationen, bie Silbung oon 3ufamment)ängen=
ben iletten[c^Iü[[en, bie 5lbjtra!tion unb ©egriffsbilbung, bie (£r=
gänjung bes erfennenben 33erjtanbes burd) bie plajti[d)e ^I)anta[ie,
[d)UefeIid) bas Setoufetf^tTi, bas Denfen unb.^l)iIo[opt)ieren, [inb
eben[o 3^un!tionen ber ©angliengellen ber (5rofet)irnrinbc toie
bie i)orl)ergel)enben einfacheren Seelentätigfeiten. ^Ile 3u[ammen
oereinigen loir in bem l)öd)jten Segriffe ber 33ernunft.
IBernunft, ©etnüt unb Offenbarung. Durd) bie 93ernunft
allein tonnen toir pix tüaf)ren S^laturertenntnis unb 3ur fiö[ung
ber 2ßelträt[el gelangen. 3nbe[[en f)at bie 33ernunft it)ren l)ol)en
3Bert erjt burd) bie fort[d)reitenbe Äultur unb (5ei[tesbilbung, burd)
12 (Erjtes 5lapitel.
bic (SnttDtcfelung ber 2Btffcnfd)aft erl^alten. Der ungcbilbete
9Jien[d) unb ber rol^e 9Iaturmen[cf) ^int) ebenfotoentg (ober ebenfo=
[ef)r) „t)ernünftig" rote bte nädijtüercoanbten Säugetiere (Riffen,
§unbe, (Elefanten ufro.). 9^un ijt nod) I)eute in toeiten Greifen
bie 5ln[td)t oerbreitet, bafe es aujger ber 33ernunft nod) gtoei toeitere
(ja [ogar tüid) tigere !) CrlenntnistDege gebe: ®emüt unb JOffen=
barung. X)ie[em gefät)rlic^en 3trtum muffen roir ent[(i)ieben ent=
gegentreten. Das ®emüt l)at mit ber (£r!enntnis ber
2Baf)rf)eit garni^ts ju tun. 2Bas roir „Oemüt" nennen unb
t)od)[d)ä^en, i|t eine oerioidelte 3:ätigfeit bes (5el)irn5, roeIcf)e fidf)
aus (5efüt)Ien ber fiujt unb Hnlujt, aus SSorftellungen ber 3u=
neigung unb Abneigung, aus ©trebungen bes Segel)rens unb
0:liel)ens 3u[ammen[e^t. T)abti fönnen bie oerfd^iebenjten anberen
3:ätig!eiten bes Organismus mitfpielen, ^Bebürfntffe ber Sinne
unb ber 9Jius!eIn, bes 50Jagens unb ber (5e[(i)Ied)tsorgane uft».
Die (grfenntnis ber 2Bat)r()eit förbern olle biefe (Semütsäuftänbe
unb ©emütsbeujegungen in feiner SBeife; im ©egenteil jtören
fie oft bie allein ba3U befäf)igte S3ernunft. ?lod) fein „SBelträtfel"
ijt burd) bie ®ef)irnfunftion bes (Semüts gelöjt ober aud^ nur ge=
förbert toorben. Dasfelbe gilt aber aud) oon ber [ogenannten
„Offenbarung" unb hm angeblid)en, baburc^ errei(f)ten
„(5Iaubcn5tDaf)rt)eiten"; biefe berufen fämtlicf) auf betouißter
ober unbetoufeter 3:äufd^ung (oergl. bas 16. 5^apitel).
^^tlofop^ie unb 9lattti;t»iffenf#aft. ^Is einen ber erfreu=
lid^ften 5ortfcf)ritte jur £ö[ung ber SBelträtfel muffen u)ir es be=
grüben, bafe in neuerer 3eit immer mef)r t>h beiben einzigen
baju füf)renben 2Bege: (£rfaf)rung unb Denfen (ober (£m =
piric unb Spefulation) als glei(f)bere^tigte unb ficf) gegen=
feitig ergängenbe (£rfenntnfsmett)oben anerfannt roorben finb.
Die ^^iIofopf)en \)abtn allmä^Iid^ eingefel)en, bafe bie reine Spefu=
lation 3ur u)af)ren (Erfenntnis ni(i)t au5rei(i)t. ttnb ebenfo f)aben
fid) anberfeits W 9^aturforfd^er überseugt, ha^ bie blofee (Erfahrung
für bie Silbung einer realen 2Beitanf(f)auung ungenügenb i\t
Die jtoei großen (Srfenntnistoege, bie finnlicf)e (£rfaf)rung unb bas
Dcrnünftige Denfen, finb stoei r)erfd)iebene ©ef)irnfunf =
tionen; bie erftere toirb burd) bie Sinnesorgane unb bie jentralen
Sinnesl^erbe, bie le^tere burc^ bie ba3tDifcf)en liegenben Denf=
l)erbe, bie großen „^ffo3tons3entren ber (5rofef)irnnnbe" Der=
mittelt. (33ergl. 5lapitel 7 unb 10.) (£rjt burc^ bie oereinigte
^Xätigfeit beiber entjtef)t rx)af)xt (Erfenntnis. ^lllerbings gibt es
aud^ f)eute nod^ ^^iIofopf)en, tüeld^e bie 2BeIt blojg aus if)rem
Äopfe fonjtruieren toollen, unb toelc^e bie empirifd^e ^Raturerfennt»
nis fd)on besl)alb ocrf(^mät)en, toeil fie t)h tDirfIi(f)e 9Belt nic^t
Stellung bcr SBclträtfcl. 13
fenncn. ^nberfetts bcl)aupten aud) l)cute noc^ mand^c 9Iatur=
for[(i)er, bafe btc einzige 5lufgabe bcr 2Btf[en[(f)aft bas „tat[ad)It(i)e
2Bi[fcn, btc objcfttoc (£rforf(f)ung bcr cinäclncn 9laturcrfd)cmungcn
fei"; bas „3eitaltcr bcr ^l)tlo[opl)tc" [ei vorüber, unb an il)re
Stelle [ei bie 9laturtoi[[en[^aft getreten (23tr(^otü_1893). t)ie[e
einfeitige Über[d)ä^ung ber (Empirie ijt ein ebenfo gefäl)rlid)er
Irrtum toie jene entgegengefc^tc ber Spefulation. SBeibe ^r=
tenntnistDcgc [inb [td) gcgcnfcitig unentbel)rli(i). Die größten
;triumpl)e ber mobemen .91aturfor[(l)ung, bie 3ßnent^eoric unb
bie 2Bärmetl)eorie, bie (£ntrt)idclung5tf)coric unb bas Subftans»
gefe^, [inb p^ilo[opl)i[d)e Xaten, aber nicf)t (£rgebni[[e ber
reinen Spefulation, [onbern ber oorausgegangencn, aus=
gcbel)nte[ten unb grünbli(f)[tcn (Empirie.
IDualtsmus unb äUonismus. ^llc üer[df)iebenen iRicl)tungen
ber ^I)ilo[opl)ie la[[cn [i^, üom l)eutigen Stanbpunfte ber 9latur=
ix)i[[en[d)aft beurteilt, in ^tüci entgegengc[e^te 9?eil)en bringen,
einer[eits bie buali[ti[(i)e ober 3rüie[pältige, anber[eits bie moni =
[ti[(i)c ober einl)eitlid)e 2Beltan[(f)auung. Der Dualismus (im
toeiteften Sinne !) acrlegt bas Hniüer[um in stoei gans i)er[(J)iebcne
Subjtangcn, bie materielle SBclt unb htn immateriellen ©ott,
ber U)x als S(f)öpfer, (£rl)oltcr unb 9legierer gegcnübcrftel)t. Der
Simonis mus l)ingegen (ebenfalls im tücitcjtcn Sinne begriffen!)
erfennt im HniDer[um nur eine cinjige Sub[tan3, bie „(Sott unb
Statur" 3ugleid) ift; Körper unb (5ei[t (ober 9Kateric unb (Energie)
[inb für [ie untrennbar oerbt^nben. Der aufeerroeltlid)e „per[önli(^e"
(Sott b es Dualismus fül)rt gum Xl)eismus. ber innertDeltlicl)e
®ott bes SJionismus gum ^an tl)eismus
äRaterialistnus unb S|)irltttoU$mus. Sel)r bäufig ujcrben
aud) l)eutc nod) bie Der[(i)iebenen begriffe SKonismus unb
9)?aterialismus unb eben[o bie toe[entli(^ r)cr[(i)icbcnen 9{id)tun-
gen bes tl)eorcti[(l)en unb bes pra!ti[d^cn SJlaterialismus t)cr=
tDe(i)[elt. Da bie[e unb äl)nli(j^c SegriffsoertDirrungen 3al)lreirf)e
Irrtümer üeranla[[en, tDollen toir 3ur 23ermeibung aller 50tife=
i)erjtänbni[[c nur fürs no^ folgenbes bemerten: I. Un[er reiner
9Jionismus ift toeber mit jenem 9Jlaterialismus ibcnti[(^,
roel<^er ben (Seift leugnet unb bie 2Belt in eine Summe oon toten
Atomen auflöft, nod) mit bem tl)eoreti[(i)en Spiritualismus
(neuerbings als (Encrgetil be3ei(^nct), tDeld)er bie SJlaterie
leugnet unb bie 2Belt nur als eine räumlid) georbnetc ©ruppe
Don blofeen (Empfinbungen unb 33orftellungen (ober oon (£ner«
gien ober immateriellen S^aturfräften) betra(i)tet. II. 93ielmel)r
[inb tuir mit (öoetbe ber feften ll[ber3eugung, bafe „bie 9Ka*
terie nie ol)ne (Seift, bcr (Scijt nie ol)nc äRaterie exiftiert unb loir!»
14 3töeitcs Äopitel.
[am [ein !ann". 3Btr galten fejt an bcr ntont[tt[(i)cn ^uffa[[ung
0011 Sptnosa: I)tcä)latcrie, als bte unenMid^ au5gebcl)ntc Sub=
[tans, unb ber (öetft (ober bte (£nergie), als bie empfinbenbc ober
benfenbe 8ub[tan3, [inb bte betben Attribute ober ©runbeigen»
[d)aften bes anuntfa[[enben göttli^en 9[BeIttDe[en5, ber unber[alen
Sub [tana. (33ergl. i^apttel 12.)
3n>eite^ ^apxt^L
Slttfet ^ötr^jetrbau.
9}^oniftifc^e 6tubien über menfc^lic^e unb t)er9lcicj)enbe
Anatomie. Übercinftimmung in ber gröberen unb feineren
Organifation be^ ^enfc^en unb ber 6äugetiere.
3ine bioIogi[d)en Unter[uc^ungen, alle 5or[(^ungen über hk
(5e[taltung unb £ebenstätig!eit ber Organismen I)ab'en 3unä(i)[t
"ütn [id)tbaren Rörper ins 5luge 3U fa[[en, an tüeld)em uns bie
betreffenben morp!)oIogi[cf)en unb pf)r)[ioIogi[(i)en (£r[d)einungen
entgegentreten. Die[er ©runb[a^ gilt eben[o für htn 9Jlen[(^en
roie für alle anberen belebten S^aturförper. Dabei barf [id) bie
Hnter[ud^ung nid)t mit ber ®etrad)tung ber äußeren ©eftalt be=
gnügen, [onbern [ie mufe in bas innere ber[elben einbringen unb
it)re 3u[ammen[e^ung aus htn gröberen unb feineren Se[tanb=
teilen erfor[c^en. Die 2Bi[[en[df)aft, usel^e bie[e grunblegenbe
Unter[u(i)ung im u)eite[ten Umfange au53ufül)ren \)ai, t[t bie
Anatomie.
SRenfd^Uc^e Slnatomie. Die er[te Anregung 3ur (Erfenntnis
bes men[c^Ii(^en ilörperbaues ging naturgemäß oon ber ^eilfunbe
aus. Da biefe bei htn älte[ten ilulturoölfern geu)öl)nlid) oon ben
^rieftern ausgeübt rourbe, bürfen voix annel)men, ba^ bie[e l)ö(f)[ten
33ertreter ber bamaligen $BiIbung [d^on im gtoeiten 3ö^i^tau[enb
Dor (£I)ri[to unb früt)er über ein geu)i[[es 9Jiaß oon anatomi[d^en
5^enntni[[en oerfügten. ^ber genauere (£rfal)rungen, geroonnen
burd) bie 3ßi^9K^öerung oon Säugetieren unb oon bie[en über=
tragen auf ben 9Jien[^en, finben toir erjt hd ben ©ried)en, oon
benen $ippo!rates lange als oor3ügli<^[te 5lutorität galt. 9la(t)
it)m er[d)eint nur nod) ein bebeutenber 5lnatom im 5lltertum,
ber ^rst (£laubius ©alenus. ^llle biefc älteren 5lnatomen er-
Hnfer Körperbau. i;
roarben tt)re 5^enntni[[c 3um größten 3:etlc nid)t burcf) hk Unter*
[ud)ung bes rrten[d)Itd)en ilörpers felbft — bie bamals no^ jtreng
oerboten toar ! — , [onbern burd) fetejenige ber men[d)enäl)nli(i)[ten
Säugetiere, befonbers ber Riffen; fie roaren alfo alle eigentlich
[(f)on „t)ergleid)enbe Utnatonten".
X)a5 (£mporbIüt)en bes (£t)ri[tentum5 unb ber bamit oer«
!nüpften mT)jti[df)en 2BeItan[d)auung bereitete ber 5lnatomie, toie
allen anberen 9iaturtDi[[en[d)aften, t)zn 9liebergang. T)k rö=
mif(f)en ^äpfte töaren t)or allem bejtrebt, bie 9Jlen[(^l)eit in
ltnu)i[[ent)eit unb in blinbem Aberglauben 3U erl)alten; [ie I)ielten
bie ilenntnis bes nien[dt)IidE)en Organismus mit 9?ed^t für ein
gefät)rli(t)e5 9[RitteI ber Aufflärung über unfer voa\)Xt5 2Be[en.
3Bäl)renb bes langen 3eitraums von brei3el)n 3öl)rl)unberten blieben
bie (5(f)rif ten bes (Salenus fajt bie einsige £iuelle für bie men[cf)=
Iid)e 5lnatomie, ebenfo roie biejenigen bes Ariftoteles für bie
gefamte 9^aturge[d)icf)te. (£rjt als im fe^3ef)nten 3a^rt)unbert
n. (£t)r. burd) bie ^Reformation bie geiftige 2ßeltl)err[^aft bes
^apismus gebrod>en unb burc^ bas neue 2ßelt[r)jtem bes Äoper«
nüus bie eng bamit oerfnüpfte geo3entri[d)e 3[BeItan[c^auung 3er«
jtört iDurbe, begann audE) für bie (£r!enntnis bes men[d)Iid)en
Körpers eine neue ^eriobe bes 3luf[d)U)ung5. X^ie großen 5Ina*
tomen 33e[alius, (£u[tad)ius unb göHopius förberten huxd)
eigene grünblid)e Unter[ud)ungen bie genaue Kenntnis unseres
Körperbaues [0 [e^r, bafe il)ren 3a]^Irei<^en 9^a(i)foIgern besüglid)
ber gröberen 33erl)ältni[f^ l)aupt[ä(f)Ii(^ nur (£in3ell)eiten feft*
3ujteIIen übrigblieben. 3)er ebenfo !üt)ne toie geijtreid^e 5lnbreas
33efalius ging bat)nbred)enb allen öoran; er oollenbete ^d)on
in feinem 28. fiebensial)re bas grofee, ein!)eitlid^ burd)gefüt)rte
2Ber! „De humani corporis fabrica" (1543) unb gab ber gan3en
men[d)Iirf)en Anatomie eine neue, [elbftänbige 9?i(^tung unb [idE)ere
©runblage.
©ergleic^enbe ^Inatomte. Die 93erbienjte, mdd}t bas neun»
3el)nte 5<i^i^iiTi^ßi^t [icJ) um bie (Ertenntnis bes men[d)Iid^en
Körperbaues ertoorben l^at, bejtel)en oor allem in bem Ausbau
oon 3tDei neuen, überaus t»id)tigen ö^orfd)ungsxt(f)tungen, ber
„oergIeicf)enben Anatomie" unb ber „(5etöebelel)re" ober
ber „mi!ro[!opi[d)en Anatomie". I)ie erjtere roar allerbings [cf)on
Don Anfang an mit ber men[d)Ii(i)en Anatomie eng oerfnüpft ge=
roefen; benn biefe rourbe folange burd) bie erjtere crfe^t, als bie
Settion men[d)lid)er £eid)en für ein tobesroürbiges 23erbred)en
galt — unb bas toar [elbjt nod) im 15. 3ül)rf)unbert ber O^all!
Aber bie 3at)Ireid)en Anatomen ber folgenben brci 3<il)r^unberte
be[d)ränften fid) größtenteils auf bie genaue Xlnter[ud)ung bes
16 3tt>ettc5 5lapitel.
menfd)ltd)cn Drgantsmus. Diejenige ^od)enttDidEeIte Dif^iplin,
bie toir l)eute t)erglei(f)enbe 5tnatomie nennen, rüurbe erjt im
Saläre 1803 geboren, als ber gro^e fran3öfi[dE)e 3ooIoge ©eorge
(£uöier [eine grunblegenben ,,Le9ons sur l'Anatomie compar6e"
l)erau5gab unb barin jum erften SOlale bejtirrtmte ©efe^e über ben
Körperbau bes ^m]d)m unb ber 3:iere fejtäujtellen [ud)te. 2Bäl)=
renb [eine 93orIaufer — unter il)nen aud) ®oeti)e 1790 — l)aupt*
[ä(i)Iid) nur bas 5lno(i)engerü[t bes 9[Ren[d)en mit bemjenigen ber
übrigen Säugetiere eingel)enb tterglid^en l)atten, umfaßte (Euoiers
toeiter ^M bie ©e[amtl)eit ber tieri[d)en Organi[ation; er unter*
[d)ieb in ber[elben oier grofee, ooneinanber unabl)ängige §aupt=
formen ober 3:i)pen: SBirbeltiere, ©liebertiere, 2Beid)tiere unb
Strat)Itiere. gür bie „grage aller fragen" roar bie[er i5fort[d)ritt
in[ofem epod^emadienb, als bamit Aar bie 3ugel)örig!eit bes
9Jlen[d)en gum %x)pu5 ber 2BirbeItiere — [otoie [eine ©runb*
üer[(^iebenj)eit oon allen anberen Xx)ptn — ausge[pro(i)en toar.
^Ilerbings l)atte [(t)on ber [cf)arfbli(fenbe £inn6 in [einem erjten
„Systema naturae" (1735) bem 9Jlen[d)en befinitio [einen ^la^
in ber 5^Ia[[e ber Säugetiere angetDie[en; er »ereinigte [ogar
in ber Drbnung ber ^errentiere bie brei ©ruppen ber §alb=
äffen, ^ffen unb äRen[c^en. ^ber es fel)lte bie[em !ü^nen [t)jte=
mati[d)en (griffe noc^ jene tiefere empiri[d)e ©egrünbung burd)
bie i)erglei(i)enbe Anatomie, bie erjt (Tuoier l)erbeifül)rte. I)ie[e
fanb il)re loeitere 5lusfüt)rung burd) bie großen oergIei(^enben
5lnatomen bes 19. 3al)rf)unberts, burd^ ^friebrid) SJiedel,
5ol)annes WüUtx, 9?i^arb Otoen, 3:i)omas ^uilet) unb
(£arl ©egenbaur. S^J^^'^rt bie[er le^tere in [einen ©runbsügen
ber üergleid)enben Anatomie (1870) gum erjten äRoIe bie bur^
Dartoin neu begrünbete ^b[tammungslel)re auf jene 2Bi[[en[d)aft
anroanbte, erI)ob er [ie gum erjten 5Range unter ben bioIogi[d)en
Di[3iplinen. Seine „S3ergleic^enbe Anatomie ber SBirbeltiere"
(1898) legte ben uner[d)ütterlid)en ©runb fejt, auf roeldiem [id)
un[ere Überjeugung üon ber SBirbeltiernatur bes 9Plen[^en nac^
allen 9lid)tungen l)in Har betoei[en läfet.
©eroebelel)re (Histologie) unb 3^II^^I^^i^^ (Cytologie).
3n gang anberer 9{id)tung als hk oergleid^enbe enttoidelte [id^
im £aufe bes 19. 3öl)r^unbert5 bie mifro[!opi[d)e 5tnotomie.
S^on im 5tnfange bes[elben (1802) untemal)m tin fran3ö[i[d)cr
5lr3t, Sid)at, htn 23er[ud), mittels bes 9JJi!ro[fops bie Organe
bes men[d)lid)en ilörpers in ii^re ein3elnen feineren ©ejtanbteile
3U 3erlegen unt> t>h ©e3iel)ungen biejer oer[d)iebenen ©etoebe
fejt3ujtellen. ^ber biejer erjte 33er[ud) fül)rte nic^t toeit, ha \f)m
bas gcmcinjamc Clement für bie 3al)lreid)en, »er[d)iebcnen (5c«
Unfcr Äörpcrbau. 17
tDcbc unbcfannt blieb. Dies tourbe crjt 1838 für btc ^flanscn
in ber 3^11^ von 9Kattf)ia5 Sd)Icibcn cntbccft unb gictd) barauf
aud) für bie Xterc oon 3:i)cobor Sd)a)ann nad^getüiefcn. Gilbert
i^öllüer unb 9?uboIf 93ir(^ou) fül)rten bann im [c(i)jtcn Dejcn^
nium bcs 19. 3öl)r^unbcrts bie 3cncntl)eorie unb bie barauf
gegrünbetc ©ett)ebelel)re für bcn gefunben unb franfen Organis»
mus bes S[Renfc^cn im einjelnen bur^; [ic tüiefcn nad), ta^i aud)
imäRcnfc^en, Q)icinancnanberen3:ieren, allcöetocbc [id) aus bcn
gleid)en mi!ro[!opi[d)en gormbcjtanbteilen, bcn einfachen 3ßncn,
3u[ammcn[c^cn, unb bafebicfc „C£Icmcntar»Organismcn" bie toa^rcn,
[clbjttätigcn Staatsbürger [inb, bie, ju 9[RiIIiarben Bereinigt, unfercn
Äörper, iitn „3enenjtaat", aufbauen. ^Ile biefe S^^^^^ entjte^en
burd^ oft toieber^oltc 3:eilung aus einer einsigen, einfad)en 3ene,
aus ber „Stammselle" ober „befrud)teten CBi^elle" (Cytula).
Die allgemeine Struftur unb 3u[ammenfe^ung ber ©etoebe ijt
beim S[Ren[d)en biefelbe tote hti t)tn übrigen 9BirbeItieren. Unter
'ök]tn 3eid)nen fid) t>h Säugetiere, bie jüngjte unb pd)jt ent*
roidelte Älaffe, burd) getoiffe befonbere, [pät erroorbcne CSigen»
tümlid)!eiten aus. So ijt 3. S. hit müroffopif^c Silbung ber
§aare, ber §autbrü[en, ber 9KiId)brü[en, ber Slutsellen bei hin
Söugetieren gan3 eigentümlich unb oerfd^ieben oon berjenigen
ber übrigen 2Birbeltiere; ber 9Jienfd) ijt aud) in allen bicjen
feinjten t)ijtoIogijd)en Se3iet)ungen ein ed)te5 Säugetier.
aBirbelttetnatur bcs SWenft^cn. Unjer gefamter Körperbau
3eigt [otooI)I in ber gröberen als in ber feineren 3u[ammen[eöung
ben d^arafterijtij^en 3:t)pus ber SBirbeltierc (Vertebrata).
Dieje I)öd)jt entroidelte ^auptgruppe bes 3:ierreid)s tourbe in
il)rer natürlid)en (£inl)eit 3uerjt 1801 oon bem großen fiamard
erfannt; er fafete unter biejem ©egriffe bie oier l)öl)eren 3:ier!Ia[[en
Don 2inne 3ujammen: Säugetiere, 93ögel, ^mpl)ibien unb 3fijci^c.
Die beiben nieberen Älajjen: 3n[e!ten unb 2Bürmer, jtellte er
jenen als „SBirbellofe" (Invertebrata) gegenüber. Guoier
bejtätigte (1812) bie (£inl)eit bes 23ertebratenti)pus unb begrünbetc
[ie fejter burd) jeine oergleic^enbe Anatomie. 3n ber Xat jtimmen
alle SBirbeltiere, oon htn giften aufwärts bis 3um 9Jlenfd)cn,
in allen roejentlidien §auptmer!malen übercin; [ie beji^en alle
ein fejtes inneres Sfelett, Änorpet unb Änod)engerüjt, unb biejes
bejtel)t überall aus einer SBirbeljäuIe unb einem Sc^äbel; bie
oerroidelte 3u[ammen[e^ung bes le^teren ijt ^voax im einseinen
jel)r mannigfaltig, aber im allgemeinen jtets auf biefelbe Urform
3urüd3ufü^ren. ferner liegt bei allen Sßirbeltieren auf ber 9tüden=
feite biefes 3Id)fenf!eletts bas „Scelenorgan", bas sentrale S^eroen»
[pjtcm, in ©cjtalt eines 9lüdenmorfg unb eines ©el)im5. ^uc^
J5oe(fel, QBetträtfet, 2
18 3toeitc5 Äapitcl.
oon btc[cm tot^ttgcn (5c!)trn gilt basfclbc toie Don bcr es um»
|d)Itcfecnben Rnod)tntap]ü, bcm Sd^äbcl; im einjclncn ijt feine
^lusbilbung unb (Sröfec l)öd)jt mannigfaltig abgcjtuft; im grojgen
unb gansen bleibt bic c^ara!terijtif(^e 3ii[ammen[c^ung biefelbc.
I)ie gleid^e (£r[c^einung jeigt fid) aud^, loenn xdIx bie übrigen
Drgane unferes ^^örpcrs mit benen ber anbeten SBirbelticre Ber=
gleid^en: überall bleibt infolge Don 33 ererbung bie urfprünglid)e
Einlage unb bie relatioe fiagerung ber Organe biefelbe, obgleirf)
bie (Sröfee unb 3lusbilbung ber einseinen 3:eile l)öd)|t mannigfaltig
[ic^ [onbert, entfpre^enb ber 3lnpa[[ung an fe!)r t)erfcf)iebent
fiebensbebingungen. So [et)en toir, ha^ überall bas $BIut in
3toei $auptröl)ren freijt, üon benen bie eine (^orta) über bcm
Darm, bie anbere (^rinjipabene) unter bem Darm »erläuft, unb
bafe burd) (£rtt)eiterung ber legieren an einer ganj bejtimmten
©teile bas §er3 entjtel)t; biefes „93entralf)er3" ijt für alle 2BirbeI=
ticre ebenfo (f)ara!terijti[(i) toie umge!ef)rt bas ^lücfengefäfe ober
„Dor[al^er3" für t)k ©liebertiere unb 2Beid)tierc. 9ZidE)t minber
eigentümlirf) ift bei allen 93ertebraten bie frül)3eitige ©Reibung
bes Darmrotires in einen 3ur 3ltmung bienenben 5lopfbarm
(ober „5^iemenbarm") unb einen bie 2?erbauung betoirfenben
9iumpfbarm mit ber ßeber {bal)er „fieberbarm"); ferner bie
©lieberung bes 9}iusfelfr)jtems, bie befonbere ©ilbung ber $arn=
unb ©e[d)Ie(t)t5organe ufro. 3^ öHen biefen anatomi[rf)en ^t'
3iet)ungen ijt ber SJZenfd) ein e({)tes SBirbeltier.
Xetrapobeitttatur bes aRenfd^en. 9}lit ber Sc3ei(f)nung 93ier*
füfeler (Tetrapoda) l)atte [dE)on ^riftoteles alle jene l)öl)eren,
blutfül)renben !tiere belegt, u)eld^e fid) burd^ hm 93efi^ oon sroei
Seinpaaren aus3ei(i)nen. Später tourbe bicfer ^Begriff ertoeitert,
nad)bem (£uoier geseigt I)atte, bafe aud) bie „stoeibcinigen" 93ögel
unb SJlenf^en eigentlid^ 33ierfüfeler finb; er toies nad), t)a^ bas
innere Änod)engerüft ber oier Seine bei allen l)ö!)cren Ianb=
beu)ol)nenben SBirbeltieren, oon htn 3tmpl)ibien auftoärts bis 3um
9Jlen[^en, urfprüngli^ in gleid^er SBeife aus einer bejtimmten
3aI)I t)on ©liebern 3u[ammenge[e^t ijt. 3lud^ bie „3trme" bes
9Jien[d)en, Ut „t^Iügel" ber ^^Icbermäufe unb Söget 3eigen "ötn^
[elben tppifc^en Sfelettbau toie bie „Sorberbeine" ber laufenben,
eigentlid^ oierfüfeigen 3:iere.
Diefe anatomi[d)e (£inl)eit bes ©ertoidelten i^nod)ei>
gerüjtes in htn r»ier ©liebmafeen aller ^^etrapoben ift [el)r tüid)tig.
Um fid) roirtlid) baüon 3U überscugen, braud)t man blofe bas Sfelett
eines Salamanbers ober gro[d)es mit bemjenigen eines Riffen
ober SJtenf^en aufmertfam 3u t)erglei(^cn. X)a [iel)t man [ofort,
baf3 Dorn ber S^ultergürtel unb I)inten bcr Scdengürtcl aus ben=
Unfer Äörpcrbou. 19
fclbcn §auptjtüdcn 3u[amTncngc[e^t ift tüte bei ben übrigen „93ter=
füfelem". ilberoll [c^en mix, bafe bos erjte ©lieb bes etgentltd)en
©eines nur einen einsigen jtarfen 9?öl)renfnod^en entl)ält (oorn
ben Oberarm, l)inten t>tn Ober[d)en!el); bogegen roirb bas ^tüette
©lieb urfprünglic^ jtets burcf) ^wd Rnod)tn geftü^t (oorn (Ellbogen
unb Speise, l)inten SBabenbein unb Sd)ienbein). 23ergleid)en roir
hann toeiter ben Derxoicfelten ©au bes eigentlichen S^ufees, [o über«
ra[d)t uns bie 2Bal)rne!)mung, bafe bie 3aI)Ireid)en, benfelben ju*
[ammenfe^enben, üeinen Rnodjtn ebenfalls überall äf)nlid) an«
georbnet unb gefonbert [inb; oorn entfpred)en \id) in allen illaffen
ber Stetrapoben bie brei.5^no^engruppen bes ©orberfufees (ober
ber „§anb"): I. §anbröur3el, II. äRitteII)anb unb III. fünf S^inger;
eben[o hinten bie brei Änod^engruppen bes Hinterfußes: I. e^^ujg-
toursei, II. SJlittelfufe unb III. fünf !St\)tn. (3el)r fc^toierig max
bie Aufgabe, alle biefe 3al)lrei(^en Üeinen 5lnod)en, th int eingelncn
\)'öd)\t mannigfaltig geftaltet unb umgebilbet, teiltoeife oft oer=
[d)mol3en ober oerfdfirounben [inb, auf eine unb biefelbe Urform
3urüdf3ufüt)ren, [oroie bie ©Iei(^tDertig!eit ber einseinen 3:eile
überall feftsujtellen. ^iefe tüici)tige ^ufgobe tourbe erft oolljtänbig
üon (£arl ©egenbaur gelöjt. (£r seigte in feinen „Unter*
[ud)ungen 3ur oergIeict)enben ?lnatomie ber SBirbeltiere" (1864),
toie biefe ^ara!teriftifcl)e „fünf3el)ige ©einform" ber IanbbetDo^=
nenben ©ierfüfeler urfprünglii) (erft in ber ®teinfoI)Ienperiobe)
aus ber t)ielftral)ligen „5Ioffe<^^ (©ruftfloffe ober ©au^floffe) ber
ölteren, n)afferbetool)nenben 5if<^e entftanben ift. ^n gleid)er
2Beife leitete er in feinen „Unterfud)ungen über bas Äopfffelett
ber 2BirbeItiere" (1872) htn jüngeren Sc^äbel ber 3:etrapoben
aus ber älteren Sd^äbelform ber ^i]d)t ab.
©efonbers berner!enstüert ift nod), tio.^ bie urfprünglicl)e, suerft
bei ben alten 5(mpl)ibien ber 6tein!oI)Ien3eit entftanbene (5^ünf*
3aI)Iber3ß^cnan allen oier S^üfeen fid) infolge ftrenger 23 er*
erbung nod^ beim SÖlenfd)en bis auf t>tn I)eutigen XaQ ert)alten
l)at. ©elbftoerftänblid) ift bementfpre(i)enb aud) bie tripifdie
©ilbung ber ©elen!e unb ©änber, ber 9Jlus!eIn unb SReroen ber
3töei ©einpaare, in ber ^auptfai^e biefelbe geblieben toie bei htn
übrigen „©ierfüfelern"; auci) in biefen roi(i)tigen©e3ieI)ungen
ift ber 9Jlenfd) ein ed)ter 3^etrapobe.
Söugetietnatut bes 9Renf(^en. t)ie Säugetiere (Mammalia)
bilben t>it jüngfte unb I)öd)ft enttoidelte 5^la[fe ber SBirbeltiere. Sie
[inb 3tüar ebenfo toie bie ©ögcl unb 9{eptilien aus ber älteren
5^laffe ber ^mpl)ibien absuleiten; fie unterf(i)eiben fi(^ aber oon
allen biefen anberen 3:etrapoben burd) eine ^nsa^I »on fel)r auf*
fallenben anatomifd)en SRerfmalen. ^ufeerlid) tritt cor allem bie
2*
20 SöJeitcs Rapiitl
^aarbcbedung bcr §aut t)erDor, [orotc Der Scfi^ Don jtDeicrIct
§autbrü[cn: (5(^u)eifebrüjcn unb 3:algbrü|cn. 3lus einer lotalen
Hmbilbung biefer Drü|en an ber Saud)t)aut entjtanb basjenigc
Organ, tDeIcf)e5 für hh 5^Ia[[e befonbers ^ara!terijtt[d) ijt unb tt)r
bcn 5Ramen gegeben l)ai, bas „(Befäuge" Diefes Doi(i)ttge 2Berf=
Beug ber Brutpflege ift sujammengefe^t aus htn 9JiiI(i)brüfcn
(Mammae) unb ben „9Kantmar»3:aj(i)en" ((galten ber Saud)I)aut);
burd) t^re gortbtlbung entjtanben bte 3t^^Tx ober „9}itl^u3ar3en"
aus benen bas junge Säugetier bie 5[RiId) [einer 9Jiutter fangt.
3m inneren 5^örperbau ijt befonbers bemerfenstoert ber Befi^
eines oollftänbigen 3i»cr(^fells, einer musfulöfen Sd)eibetoanb,
melci)e bei allen Säugetieren bie 93ruftI)öf)Ie oon ber ^aucf)f)ö^Ie
gänglii^ abj(^liefet; bei allen übrigen SBirbeltieren fel)It biefe
3:rennung. Durcf) eine ^naa^I oon merfioürbigen Hmbilbungen
3ei(^net \iä) aud) ber Sd)äbel ber 9JlammaIien aus, befonbers ber
Sau bes i^ieferapparates (Obcrüefer, Unterfiefer unb (Se^ör^
fnod^en). ^ber aud) bas (5et)irn, bas (5erud)sorgan, bas §er3, bie
JÖungen, bie inneren unb äußeren (5ef(^Ied)tsorgone, bie Spieren
unb anberc Körperteile geigen bei ben Säugetieren befonbere (Sigen*
tümlid)!eiten im gröberen unb feineren 5Bau; biefe alle oereinigt
roeifen unstoeibeutig auf eine frü^3eitige Trennung berfelben
üon ben älteren Stammgruppen ber ^Reptilien unb 5lmp^ibien
I)in, tDeId)e fpätcftens in ber 2;rias=^eriobe ftattgefunben
i)at 5n allen biefen toic^tigen lBe3iet)ungen ift ber S[Renfd)
ein echtes Säugetier.
^locentaliennotui: bes 9Renf(^en. Die 3at)Ireid)en Orbnungen,
toelc^e bie moberne fi)jtematifd)e 3ooIogie in ber 5^Iaffe bcr Säuge=
ttere unterf (Reibet, roerben |d)on feit 1816 in brei natürlicf)e §aupt^
gruppen georbnct, roeldien man ben IslBert oon Hnterflaffen 3U=
fpric^t: 1. ©abeltiere (Monotrema), II. Beuteltiere (Mar-
supialia) unb III. ^ottenttere (Placentalia). Diefe brei Hnter-
flaffen unterfdieibtr! ftd) nid)t nur in mistigen 33erl)ältnif|en bes
5^örperbaue£ unt bei Gntioiclelung, fonbern entfpre(f)en aud) brei
r)er|d)tebenen I;iftDti|d)en Bilbungsftufen ber i^Iaffe, mie mir
fpäter fef)en merben. ^uf bie ältefte ©ruppe, bie StRonotremen
bex 3;riasperiobe, finb in bei 3ura3eit bie äRaifuptalien gefolgt,
unb auf biefe erft in ber i^reibeperiobe bie ^^lacentalien. 3"
biefer jüngften HnterÜaffe gel)ört aud) ber JJienfd); benn er seigt
in feiner Organifation alle bie (£igentümUd)teiten, burd) meld)e fid)
fämtli^e 3ottentiere oon ben Beuteltieren unb ben nod) älteren
©abeltieren unterfd)eiben. 3« «rftei ßinie geprt ba^in Das
eigentümlid)e Organ, mcld)es ber ^lacentaliengruppe i^ren
S^omcn ö^ö^^en ^ot, bei äRuttectud)en (Placenta). Dasfelbc
Unfcr Körperbau. 21
bient bcm fungcn, im WuttttUiht norf) ctngcfc^Ioffencn Säugetier»
(£mbrr)o längere 3^** 3ur(£rnäf)rung; es beitel)t in blutfüt)renben
3otten, tDeIcf)e oon ber 3otten^aut ber Äeiml)üne austDad)fen
unb in ent[pre(i)enbe ©rubelen ber S(i)Ieimf)aut bes mütterli^en
5rud)tbel)älter5 einbringen; f)ier roirb bie sarte §aut 3EDi[cf)en
beiben ©ebilben fo [el)r oerbünnt, bafe unmittelbar bie ernäf)renben
Stoffe aus bem mütterlid^en 33Iute burd) biefelbe t)inbur(^ in bas
finblirf)c Slut übertreten tonnen. t)ie[c üortref flicke, crjt fpät
entjtanbene (£rnät)rung$art bes Reimes ermöglicf)t bemfelben
einen längeren ^ufentl)alt unb eine toeitere ?lusbilbung in ber
[c^ü^enben ©ebärmutter; [ie fe!)It noc^ htn beiben älteren Unter»
flaffen ber Beuteltiere unb ©abeltiere. 5(ber ou^ burct) anberc
anatomif(t)e 9Ker!maIe, insbefonbere bie t)öt)ere ^usbilbung bes
(5et)ims unb tm 23erlujt ber ©euteIfno(t)en, erf)eben ficf) t>k
3ottentierc über bie legieren. 5^ allen biefen tDict)tigen f&^k»
t)ungen ift ber 3Jlzn\di ein ed^tes 3ottenticr.
^timaUnnaint bes äRenfc^eti. Die formenreirf)e Subtiaffe
ber ^lacentaltiere roirb neuerbings in eine gro[}e 3<i^I oon C)rb =
nungen geteilt. ^Is i{)re roid)tigjten S3ertreter in ber (Begenroart
füt)ren roir t)ier nur bie 9lagetiere, Huftiere, 9?aubtiere unb Ferren»
tiere an. ßm ßegion ber ^errentierc (Primates) gel)ören hk
brei Orbnungen ber Halbaffen, ber e(f)ten ^ffen unb ber 9feen[(f)en.
^Ile ^nget)örigen biefer brei Orbnu^igen ftimmen in oielen roid^tigen
©igentümlic^feiten überein unb unferfdEjeiben ficf) babur^ von b^n
übrigen Orbnungen ber3ottentiere. Sefonbers 3cid)nen [ie [id) bur^
lange Seine aus, me.lä)t urfprünglid) ber üetternben ßebensioeife
auf Säumen angepaßt [inb. $änbe unb ^üfee [inb fünf3ef)ig unb
bie langen t^inQtx oortrefflic^ 3um ©reifen unb 3um Umfaffen
ber $Baum3tDeige geeignet; [ie tragen entroeber teila)ci[e ober
[ämtlicf) 9lägel (feine i^rallen). Das ©ebife i[t oolljtänbig, aus
allen oier 3al)ngruppen 3u[ammenge[eöt (S(t)neibe3äl)ne, (£cf«
3ä^ne, £üden3ät)ne, ^Badtn^älim). %u(i) burcf) toic^tige (Eigen»
tümlid^teiten im be[onberen Sau bes Scf)äbels unb bes (5el)irn5
unter[d^eiben [ic^ bie §errentiere oon ben übrigen 3ottentieren,
unb 3tDar um [o auffälliger, je l)öl)er [ie ausgebilbet, je [päter [ie
in ber (£rbge[(f)id)te aufgetreten [inb. ^n allen biefen tDicf)tigen
anatomi[d)en Se3iel)ungen jtimmt un[er men[(^li(i^er Organismus
mit bemjenigen ber übrigen Primaten überein: ber 9Jlen[d)
ift ein ect)tes §errentier.
3tffettnatut bes aKenf(^en. (£ine unbefangene grünbli^e 93er=
gleid)ung bes Körperbaues ber Primaten \ä%t 3unäd)[t in biefer
^öd^ft enttöicfelten Säugetierlegion 3roei Orbnungen unter[^eiben:
Halbaffen (Prosimiae) unb Riffen (Simiae). Die erjteren er-
22 3a)cite5 5lapitel.
[d^cincn in jcbcr ®e3tel)ung als btc nicberc unb ältere, bte leiteten
als bte ^öl)ere unb jüngere Orbnung. Die ©ebärmutter ber §alb=
äffen ijt nod) boppelt ober jtoeiprnig, tüie bei allen übrigen
Säugetieren; bei ttn ^ffen bagegen \m'ö regier unb lin!er ^^rudjt^
bel)älter oöllig Derfd)mol3en; [ie bilben einen birnförmigen
Uterus, loie il)n aufeerbem nur ber 9Jlen[d) befi^t. 2Bie bei
biefem, fo ijt aud) bei ben ^ffen am Sd)äbel bie ^ugen^öt)le oon
ber Sd)läfengrube burd) eine !nö^erne Sd)eibetDanb üolljtänbig
getrennt; bei htn Halbaffen ijt bieje nod) gar nid)t ober nur un=
üolljtänbig ausgebilbet. (Snblid) ijt bei hm Halbaffen bas grofee
®el)im noä) glatt ober nur jd^toad) gefurcht unb Derl)ältni5mäfeig
flein; bei ben ^ffen ijt es oiel größer, unb befonbers ber graue §irn=
mantel, bas Organ ber l)öl)eren Seelentätigfeiten, ijt t)iel bejfer
enttoicfelt; an feiner £)berfläd)e jinb bie d)ara!terijtifc^en SBinbungen
unb 5urd)en um fo meljr ausgeprägt, je mel)r er fid^ bem 9Jlenfcf)en
näl)ert. ^n biejen unb anberen tDid)tigen ^e3iei)ungen, befonbers
aud^ in ber ©ilbung bes ©eficl)ts unb ber §änbe, jeigt ber SiJlenfd)
alle anatomifcben 9Jler!male ber ed)ten ^ffen.
Äatatr^inennatur bes 3Jlenf(^en. Die formenreic^e Orbnung
ber ^ffen tourbe fd)on 1812 oon ©eoffrot) in jtoei natürlid)e
Hnterorbnungen geteilt, bie no(^ l)eute allgemein in ber fi)jtemati=
fd^en 3oologie angenommen finb: SBejtaffen unb Ojtaffen; erjtere
beroolinen ausfd)liefelicl) bie toejtlic^e, le^tere bie öjtlic^e (£rbl)älfte.
Die amerifanifd)en 2Bejtaffen l)eifeen „^lattnafen" (Platyr-
rhinae), toeil il)re 91afe plattgebrüdt, bie 9lafenlödE)er feitlid) ge=
richtet unb beren Srf)eibetoanb breit ijt. Dagegen jinb bie Oft»
äffen, toeldie bte ^Ite 9Belt betDol)nen, fämtlic^ „Sd)malnajen"
(Catarrhinae); il)re ^lafenlödier finb toie beim SCJlenfd)en nad)
unten gerid)tet, ha il)re (3d)eibeBoanb fd)mal ijt. (Sin toeiterer
Unterfd)ieb beiber ©ruppen bejtel)t barin, bafe bas ^Trommelfell
bei h^n 3Bejtaffen oberfläd)lic^, bagegen bei htn Ojtaffen tiefer,
im Innern bes ^^elfenbeins liegt; l)ier l)at jid) ein langer unb enger
fnöd)erner ®el)örgang entroidelt, toäl)renb biejer bei htn 2Bejtaffen
nod) !ur3 unb toeit ijt ober [elbjt ganj fel)lt. (Enblic^ geigt jid) ein
jel)r u)id)tiger unb burd)greifenber ©egenfa^ beiber ©ruppen barin,
bafe alle 5latarrl)inen bie ©ebifebilbung bes 9Jlenjd^en beji^en,
nämlid) 20 9Jlild)3äl)ne unb 32 bleibenbe 3äl)ne (in jeber 5liefer=
^älfte 2 Sd)neibe3äl)ne, 1 (Sdgal^n, 2 £üden3äl)ne unb 3 9J^al)l=
3äl)ne). Die ^latt)rrl)inen bagegen 3eigen in jeber 5lieferl)älfte
einen £üden3a^n mel)r, alfo im gan3en 36 3iit)ne. Da bieje ana=
tomi jd)en Unter j(^iebe beiber ^ffengruppen gan3 allgemein unb
bur^greifenb jinb, unb ba jie mit ber geograpl)ijd)en ^Verbreitung
in htn bciben getrennten $emijpl)ären ber (£rbc gujammen«
Itnfer i^örperbau. 23
ftimmen, ergibt [lä) baraus btc $Bcrc(i)ttgung tt)rcr fd)arfcTt fpjtc«
matifc^cn Trennung; toeiter^in fnüpft \id) haxan bie p^i)Iogcne=
tt[d)c (Folgerung, bafe [eit ^e^r langer 3ßtt fi<^ ^^tbe Unterorbnungen
in ber tDejtIid)en unb öjtli(i)en §emifpl)äre getrennt von einanber
enttoicfelt l)aben. ^as ijt für bie Stamme5ge[c^i(i)te unferes
(5efd)Iecl^t5 überaus rotc^tig; benn ber 'iS(ltn\d) teilt alle S^lerfmale
ber ecf)ten 5latarr:^inen; er t)at [id) aus älteren ausgejtorbenen
^ilffen biefer Hnterorbnung in ber Eliten 3BeIt enttoidEelt.
Slttt^ro^jomorp^engruppe. Die 3at)Ireid)en ^rormen ber Ojt=
äffen, toelc^e nod) ^eute in ^[ien unb 5lfri!a leben, toerben [d)on
[eit langer 3^it in stoei natürlid)e Seftionen geteilt: hit ge=
id)U)än3ten ^unbsaffen (Cynopitheca) unb bie [(f)toan3lofen
95len[d)enaffen (Anthropomorpha). J)iefe legieren ftelien bem
9Jienf(^en oiel nätier als bie erfteren, ni(i)t nur in bem SJlangel bes
(Bd)man^t5 unb in ber allgemeinen (Sejtaltung bes Körpers (be=
fonbers bes Äopfes), [onbem auc^ bur^ befonbere 9Ker!male, bie
an [i(i) unbebcutenb, aber toegen i^rer ©eftänbigfeit toi^tig finb.
Das ilreujbein ijt bei t)tn 9Ken[d)enaffen, tx>ie beim 9Jlen[d^en,
aus fünf t)er[d)mol3enen SBirbeln 3u[ammenge[e^t, bogegen bei
titn ^unbsaffen nur aus brei ([eltener cier) 5^reu3toirbeln. 3m
®ebife ber (£t)nopitt)e!en [inb bie £üden3äl)ne länger als breit,
in bemjenigen ber 5lntl)ropomorpl)en breiter als lang; unb ber
erfte 93^al)l3al)n 3eigt bei ben erfteren viet) bei ben legieren bagegen
fünf ^öcfer. Seiner ijt im Unterüefer jeberfeits bei ben 9Jien[c^en*
äffen, toie beim 9Jlen[d)en, ber äußere Sd)neibe3al)n breiter als
ber innere, bei ben ^unbsaffen umge!e{)rt [rf)mäler. CBnblid) ijt
von bejonberer Sebeutung bie toid^tige 3^atjact)e, bajg bie 9Jienjd)en=
äffen mit bem 9Jlenfcf)en aud^ bie eigentümlid)en feineren Silbungs=
Derl)ältnijje [einer [(i)eibenförmigen Placenta, ber Decidua reflexa
unb bes $Bau(f)jtiels teilen (oergl. Rap. 4). Übrigens ergibt [d)on
bie oberfläd)lid)e 33ergleid)ung ber 5lörperform ber l^eute nod)
lebenben 9Jlen[df)enaffen, ha^ [otool)l bie a[iati[(f)en 23ertreter
biejer ©ruppe (Drang unb ©ibbon), als bie afri!ani[(i)en 23ertreter
(©orilla unb (5d)impan[e) bem 3Jlen[(f)en im ge[amten 5lörperbau
nät)er jtet)en als [ämtli(i)e ^unbsaffen. Unter biefen legieren
jte^en namentlid) bie l)unbs!öpfigen ^apjtaffen (Papiomorpha),
bie ^aoiane unb 9Jleerfa^en, auf einer [el)r tiefen 93ilbungsjtufe.
Der anatomijd)e l[nter[(^ieb 3tDi[d)en bie[en rol)en ^apjtaffen unb
ben l)ö(i)jt enttoicfelten 5[Ren[d)enaffen ijt in jeber Se3iel)ung größer
als berjenige 3ii)i[cl)en t)tn legieren unb bem 9Jlen[d)en.
Die D ergleid) enbe Anatomie ergibt [omit für ben unbefangenen
unb fritijd^en (Jo^f^^^^ öiß bebeutungsuolle 3^at[ad)c, bafe ber
Körperbau bes 9}len[d)cn unb ber 9Jten[d)enaffen niifi nur im
24 Drittes ftapttcl.
l)öd)jtcn (grabe äl)nli(^, fonbem in dien Doe|entItd)en ©e3tcl)ungen
bcrfelbe tft. I)tc[elben 200 5lnod)en, in ber gleid)en ^norbnung
unb 3u[antmen[e^ung, bilbcn un[er inneres 5^no(^engerüjt; bte^
[elben 300 95lus!eln beroirfen unferc Setoegungen; bie|elben §aarc
bebecfen unfere §aut; btefelben ©ruppen oon Seelenjellen [e^cn
bcn funjtDoIIcn SBunberbau unseres (5e{)ims sufammen; basfelbe
üterfammerige ^ers ift bas centrale ^umpioerf unferes Slutfreis*
laufs; biefelben 32 3ät)ne [e^en in ber gleid)en ^norbnung unfer
©ebi^ 3ufammen; bie[ elben Spetd)elbrüfen, fiebere unb Darm=
brüfen vermitteln un[erc 33erbauung; biefelben Organe ber (Jort*
pflan3ung ermöglid)en bie (Erhaltung un[eres (5e[(^Ie(f)ts.
^Ilerbings finben toir bei genauer 93erglei(i)ung gemiffc Unter=
[d^iebe in ber ®röfee unb ©eftalt ber meijten Organe 3roi[d)en bem
9}len[(i)en unb 93^en[(^enaffen; allein biefelben ober ä{)nlid)e Unter»
fd)iebe entbedfen toir aui) bei ber forgfältigen 93ergleicf)ung ber
f)öl)eren unb nieberen 9Jien[d)enra[|'en, ja [ogar bei ber eiaJten 33er=
glei(i)ung aller einjelnen ^nbioibuen unferer eigenen 5Raf[e. 2ßir
finben nid)t äcoei $er[onen, tDel(f)e gan3 genau biefelbe ©röfee unb
gform ber iRafe, ber 0\)xm, ber ^ugen u\w. \)abtn. 9Jlan braucht
blofe aufmerlfam in einer größeren ©e[ell[d)aft bie[e ein3elnen
3:eite ber menf(^li(i)cn (5e[icf)tsbilbungbei 3al)lreid)en ^erfonen
3U t)erglei(i)en, um ficf) oon ber erjtaunltc^en SJlannigfaltigfeit in
beren [pe3ieller ©ejtaltung 3U über3eugen. Oftjinb ja befanntlic^
[elbjt (5e[c^mijter oon \o t)er[d)iebener Äörperbilbung, bafe if)re
^bjtammung Don einem unb bem[elben CEltempaare !aum glaub»
lid^ er[d)eint. 3llle biefe inbioibuellen Unter[cf)iebe beeinträd)»
tigen aber nid)t bas (5etDid)t ber funbamentalen (5lei(l)l)eit
im i^örp erbau; benn [ie [inb nur bebingt burcf) geringe a3er=
[d)iebenl)eiten im 3Ba(l)stum ber ein3elnen Steile.
dritte« Mapxt^U
Unfet ßeben,
9)^onifttWe 6tubien über menfd^lic^c unb öergletc^cnbe
^t;pfiologie. Öbcreinftimmung in aUcn ßeben^funftionen
btß 9)^cnfcf)en unb ber Säugetiere»
Unfere 5lenntnis oom men[rf)lid)en 2th<tn l)at \xd) erjt innerl)alb
bes 19. 3al)rbunbert5 3um 5?ange einer felbjtanbigen, tDirfli(i)cn
533i[[en[cf)aft erl^oben. l>ie(e „£el)re oon ben ßebenstäti^tcitcn",
Unfer ßcbcn. 25
bic ^f)p|iologtc, l)at f!^ jtDor frül)3cttig bcr $ctlfunbc als eine
tDünjd)enstDertc, ja nottoenblge 93orbebtngung für erfoIgreicf)e
äx^ili(i)(i 3^ätigfett füf)Ibat gemacht, in engem 3ii|<i^Tneni)ang mit
ber Anatomie, bet ßel)tc com 5lörperbau. ^ber fie !onnte erjt
oiel [päter unb langjamer als leitete grünbliiJ) erfor|dE)t üoerben,
ha fie auf vh\ größere Sd)tDierig!eiten jtiefe.
!Der Segriff bes fiebens, im (Segenfa^ 3um Xoht, tjt natürlid)
|d)on |el)r früf)3eitig ©egenjtanb bes 9^a(f)ben!en5 gea)e|en. SO^lan
beoba^tete am lebenben 9Jlen}d)en toie an ben lebenbigen 2:ieren
eine ^injal)! üon eigentümli(f)en S3eränberungen, oorjugstDeife
SetDegungen, toeIcf)e ben „toten" 9latur!örpern fel)Iten: [elb»
jtänbige Ortsberoegung, ^ergflopfen, ^temsügc, Spra(^e ufto.
allein bie Unter|d)eibung |oIc|er „organi|ct)en JBeioegungen" von
äf)nli(^en (£r|dE) einungen bei anorgani|(f)en 91atur!örpern töar nid)t
Ieicf)t unb oft Derfel)It; bas fliefeenbe SBajfer, bie fladernbe glamme,
ber tDel)enbc 2ßinb, ber jtüraenbe ^t\s seigten bcm StRenfc^en gana
äf)nli(f)e 93eränberungen, unb es roar |et)r natürlid), ha^ bcr naioe
9laturmen[d) aud) biefen ^,toten 5lörpern" ein lelbjtänbtges Jßeben
3uj(f)rieb. SBon i>m betoirfenben Urjac^en tonnte man [id^ bei hm
festeren ebenfotoenig befriebigenbe 9^e(f)en|(^aft geben als bei
t)tn erjteren.
aRenf(^U(^e ^^tifiologie. Die ältejtcn toi|fen[^oftItd^en SBe-
trad)tungen über bas 2Be|en ber mcltf(i)Iicl^en fiebenstätigfeiten
treffen toir (ebenfö toie biefenigen über ben 5lörperbau bes
9Jlen[c^en) bei ben gried)i|(^en 9laturp()iIo[opt)en unb ^Irgten im
[ec^jten unb fünften 3at)rl)UTtbert o. (il)x. Die reid^fte Sammlung
üon be3ügli(i)en, bamals befannten 3:at|a(t)en finbcn toir in ber
9^aturge[c^i(^tc bes ^ri[toteIcs.
Der 9{ut)m, bie oortjanbenen 5^enntni[[c einl)eitlic^ 3u[ammen=
gefafet unb htn erjten 33er|u^ 3U einem Si)jtem ber ^l)r)fioIogie
gema(i)t 3U l)aben, gebül)rt bem großen grie(f)i[d^en ?lr3te ©alenus ,
htn mit aud) als ben erjten großen Anatomen bes Altertums fennen
gelernt t)aben. ©ei [einen Hnterfu^ungen über bie Organe bes
men[d)Iicf)en 5lörpers ftellte er [id) bejtänbig au^ bie O^rage naä)
\\)xtn £ebenstätig!eiten ober gunftionen, unb au^ l)ierbei
t)erfut)r er t)ergleid)enb unb unter[u(f)te oor allem bic menfc^en^
ä^nlid)jten stiere, bie ^ffen. Die (£rfal)rungen, bie er {)ier ge»
tDonnen, übertrug er bire!t auf htn SJlenfc^en. (£r erfanntc aucf)
bereits ben l)ol)en SBert bes pt)i)[ioIogifd)en (Experimentes: bei
23tt)i[e!tion oon Riffen, §unben unb Scf)rDeinen ftclltc er t)er=
[(t)iebene tntcre[[ante 33er[uct)e an. Die 93it)i[e!tioncn [mb
neuerbings ntd)t nur oon untüiffenbcn unb be[(i)rän!ten Beuten,
[onbern au^ ©on tDi[|en5feinbIi(t)cn 3:i)coIogen unb oon öcfüt)l5*
26 :Dr{tte5 Rapihl
[cligcn ©emütsmenf(i)cn oielfad^ ouf bas l)efitgftc ongcgriff-n
tDorben; [tc get)ören aber 3U ben unentbcf)rnd)en 9Jlctl)oben
ber fiebensforfi^ung unb ^aben uns unfd)ä^bare ^uffd)Iüf[c über
bie tDid)ttgjten fragen gegeben.
(£ben[o rote für hit 5lnatomic bes 9Ken[d)en, [0 blieb aud) für
[eine ^t)t)[ioIogie bas Si)jtem bes (Salenus töäl)renb bes langen
3eitraums t)on brei3el)n 3ö^rf)unberten bie unantajtbare Quelle
aller 5lenntni[[e. Der fulturfeinblid)e (Einfluß bes (£f)rijtentums
bereitete aucf) auf biefem, toie auf allen anberen ©ebieten, ber
9flaturerfenntnt5 bie unübertöittbli^jten §inberni[[e. 33om britten
bis 3um [e(^3el)nten 5al)rt)unbert trat fein ein3{ger (5or[d)er auf,
ber gewagt t)ätte, [elbftänbig u)ieber bie £ebenstätigfeiten ber
9Jlen[d)en 3U unter[ud)en unb über bas (5i)jtent von (Salenus
]^inaus3ugei^en. (£rjt im 16. 5cil)J^I)iinbert tourben ba3U mel)rerc
befd)eibene 23er[ud)e von ange[el)enen 3lr3ten unb Anatomen
gemacf)t. ^ber erjt im 5al)re 1628 t)eröffentli(f)te ber engli[cf)e
^r3t ^axvtx) [eine grofee (Sntbedfung bes JBIutlreisIaufs unb
roies nad), bafe bas $er3 ein ^umproerf ijt, tüel^es burdE) regel»
mäßige, unbetoufete 3ii[ammen3ie!)ung feiner 9Jlus!eIn bie ®Iut=
toelle unablä[[ig burd) bas fommunisierenbc 9löl)ren[i)jtem ber
^bern ober Slutgefäfee treibt. SRid)t minber toii^tig toaren
§arüer)s Unter[u(^ungen über bie 3cugung ber 3^iere, infolge
beren er htn berühmten Sa^ aufjtellte: „Dilles üebenbige ent*
toidEelt [i(f) aus einem (£i" (omne vivum ex ovo).
X)ie mäd)tige 9lnregung 3U pl)r)[ioIogi[(t)en 5Beobad)tungen unb
S3er[u(i)en, roeldie ^axvtv) gegeben t)atte, führte im 16. unb
17. 3öt)rt)unbert 3U einer großen ^n3a!)I oon (Sntbetfungen. Die[e
fafete ber (5elel)rte ^Ibrec^t Malier um bie mith bes 18. 3af)r=
t)unberts 3um erften 9JlaIe 3u[ammen; in [einem großen 2Ber!e
„Elementa physiologiae" begrünbete er ben [elbftänbigen SBert
bie[er 2Bi[[en[d)aft unb nid)t nur in il)rer SBe3iel)ung 3ur pra!ti[d)en
9Jlebi3in. 3nbem aber Malier für bie ^Reroentätigfeit eine be*
[onbere „(£mpfinbungs!raft ober Sen[ibiUtät" unb eben[o für hit
StRusfelbetoegung eine befonbere „^ei3bar!eit ober S^ritabilität"
als Ur[a(^e annat)m, lieferte, er mäcf)tige Stufen für bie irrtümli(i)e
£e^re oon einer eigentümlid^en „£ebens!raft".
£eben9ftaft (IBitalismus). Ober ein oolles 5at)rt)unbert
l)inbur(f), oon ber 9[Ritte bes 18. bis 3ur 9[Ritte bes 19. 3cif)rl)unberts,
blieb in ber 9Jlebi3in, unb [pe3ien in ber ^^i)[ioIogie, bie alte ^n«
[d)auung l)err[^enb, "öa^^ ^wax ein 3^eil ber £ebenser[(^einungen
auf pl)i)[i!ali[d^e unb (f)emi[d)e 33orgänge 3urü(J3ufüf)ren [ei, ha)i
aber ein anberer 3:eil ber[elben burd) eine be[onbere, baoon un»
abhängige ßcbensfraft (Vis vitalis) beujirft roerbe. 60 oer»
Hnfer 2thtn. 27
fd^tebenarttg oud) bic bcfonbcren 93orftenungen oom 2Be[en bcr=
[elbcn unb bcfonbcrs oon tl)rcm 3ii[öTnmenI)ang mit ber „Seele"
ficf) au5btlbcten, [o jttmmtcn bo^ alle barin überein, bafe bie Qthtns'
fraft Don ben pI)i)[t!aU[(f)=(i)emi[d)en Gräften ber öeu)ö]^nltd)en
„9[Raterte" unabpngtg unb tüefentitdf) oerf (Rieben [et; als eine
felbftänbtge, ber anorganif^en ?latur fel)Ienbe „Ur!raft" [ollte
[ie bie erjteren in it)ren Dienjt neljmen. S^lic^t allein bic Seelen»
tätigfeit [elbjt, bie Sen[ibilität ber Sf^ertjen unb bie Irritabilität
ber 9Jlu5!eIn, [onbern aud) bie 33orgänge ber Sinnestätigfeit, ber
5DrtpfIan3ung unb (£ntu)ic!elung erfc^ienen allgemein \o tounberbar
unb in i^ren Urfai^en [o rätfelt)aft, bafe es unmöglidf) [ei, [ie auf
einfädle pt)t)[ifali[d)e unb d^emi[cf)e 9Zaturpro3e[[e 3urüc!3ufüt)ren.
!Det 9Red^ant$mu$ bes Qthms (3Ronifttf(^e ^l^tifiologte).
S(i)on in ber erjten ^älfte bes 17. 3af)rl)unberts t)atte ber berüt)mte
^I)iIo[op^ I)e5carte5, fufeenb auf §faxv)tx)5 (£ntbeching bes
Slutfreislaufs, ben (Sebanfen ausge[pro^en, ba^ ber Äörper bes
93?en[d)en eben[o toie ber Xiere eine fompIi3ierte StRa[ct)ine [ei,
unb bafe il)re Setoegungen nac^ ben[elben me^ani[d^en (5e[e^en
erfolgen u)ie bei ben fünjtlid^en, Dom 9Kcn[c^en für einen be=
[timmten ^votä gebauten 9Ka[d)inen. ^Ilerbings nat)m Descartes
tro^bem für ben 9Jlen[d)en allein eine »ollfommene Selbjtänbigfeit
ber immateriellen Seele an unb erflärte [ogar beren [ubjeftiüe
(Empfinbung, bas Denfen, für bas ein3ige in ber 2Belt, von bem
roir unmittelbar gan3 [i(i)ere Rennfwis be[i^en („Cogito, ergo
sum !"). allein bie[er I)ualismus l)inberte it)n nid)t, im einseinen
bie C£r!enntnis . ber me(i)ai..,cf)en £ebenstätigfeiten t)iel[eitig 3U
förbern. 5m 5ln[cl)lufe baran fül)rte Sorelli (1660) bie Se=
toegungen bes Xierförpers auf rein pl)t)[i!ali[d)e (5e[e^e 3urücf,
unb gleichseitig Der[u(^te Si)lDiu$, bie 33orgänge hti ber 33er=
bauung unb Uttmung als rein cl)emi[cl)e ^ro3e[[e 3U erllären. allein
bie[e vernünftigen ^nfä^e 3U einer naturgemäßen, me(^ani[d)en
(£r!lärung ber fieben5er[^einungen Dermo(f)ten feine allgemeine
^ntoenbung unb ©eltung 3U erringen; unb im Jßaufe bes 18.
5al)rl)unberts traten [ie gans surücf, je mef)r [id) ber 33ita=
lismus entroidelte. (£ine enbgültige SBiberlegung bes le^teren unb
9?ü(Jfel)r 3ur erjteren tourbe erjt vorbereitet, als im oierten De=
3ennium bes 19. 3al)rl)unberts bic neue 0 er gl cid) enb c ^l)i)[iologie
[id) 3u fruchtbarer Ocltung erl)ob.
©crglcid^enbc qi^tjftologte. 9Bic un[erc 5lenntni[[c 00m
Körperbau bes 93ien[cf)en, [0 tourben and) bieienigen oon [einer
fiebenstätigfeit ur[prünglicf) größtenteils nid)t burcf) bircftc Sc«
obac^tung am men[d)licf)en Organismus [clbjt getoonncn, [onbern
an ttn näcf)[toertöanbtcn l)öt)eren Sßirbcltiercn, oor ollem ben
28 Drittes Äapitcl.
Säugetieren. 5Iber btc e{gentirrf)e „t)erglei(f)enbe ^I)i)ftoIogte",
wtl6)t bos gansc ©ebtet ber fiebenserf^etnungcn von ben nteberjten
Xtcren bis 3um 9Jlen[d)en l^inauf im 3iifamTnenl)ang erfaßt, ift erjt
eine (£rrungen[d)aft bes 19. 5al)rl)unberts; ii)r großer S^öpfer
iDar 3ol)annes aRüIIer in ^Berlin (1801—1858). Urfprüngli^
ausgef)enb von ber Anatomie unb ^I)r)fioIogie bes SKenfdien, 30g
berfelbe balb alle §auptgruppen ber t)öl)eren unb nieberen 3:iere
in tttn ilreis feiner 33ergleid)ung. Snbem er sugleid) bie Silbung
ber ausgejtorbenen ^Xiere mit htn lebenben, ben gefunben £)rga=
nismus bes 9Jlen[d)en mit bem franfen oerglid^, inbem er tDal)ri)aft
pI)iIo[opl)i[d) alle (£rf(f)einungen bes organifc^en JÖebens 3u[ammen=
3ufa[[en jtrebte, ert)ob er [icf) gu einer bis t>ai)\n unerreid)ten $öl)e
ber biologi[ct)en (Srfenntnis.
^Ilerbings toar aRüIIer urfprünglic^, gleich allen ^l)t)fiologen
[einer 3^it; 23italift. 5lllein bie l)err|d)enbe £e^re oon ber fiebens«
fraft nal)m bei il)m eine neue grotm an unb oerioanbelte fid) all*
mäl)li(l) in il)r prinsipielles Gegenteil. Denn auf allen ©ebieten
ber ^f)r)fiologie toar SJlüller bejtrebt, bie £ebenser[(J)einungen
meclianifd) 3U erflären; [eine reformierte fiebensiraft jtel)t nirfit
über ben pl)t)[i!ali[(f)en unb (i)emi[c^en ®e[e^en ber übrigen Statur,
[onbern [ie i[t jtreng an bie[elben gebunben; [ie ijt [d)liefelid) roeiter
ni(^ts als bas „ßebcn" [elbjt, b. l). bie Summe aller SetDegungs=
er[dE)einungen; bie toir am lebenbigen Organismus u)al)mel)men.
überall toar er bejtrebt, bie[elben med)ani[(l) 3U erflären, in bem
Sinnes» unb Seelenleben toie in ber 3:ätig!eit ber 9Jlus!eln, in
htn 93orgängen bes ^Blutfreislaufs, ber Atmung unb 93erbauung
uoie in htn (£r[d) einungen ber gortpflanjung unb ©nttoicfelung.
Die größten (5ort[d)ritte fül)rte l)ier äUüller baburcl) l)erbci, t>a^
er überall von htn einfad)ften £ebettser[cf)einungen ber nieberen
3:iere ausging unb Sd)ritt für Bd)xxü i\)xt allmäl)li(i)e ^usbilbung
3U t)tn l)öl)eren, bis 3unrl)öd^ften, 3um 9Jlen[d)en, l)inauf oerfolgte.
§ier benjäl)rte [id) [eine äRetl)obe ber !riti[(^en a3erglei(l)ung
eben[o in ber ^l)i)[iologie, toie in ber Anatomie.
3enuIarp^t)fij>Iogte. Unter ben 3al)lrei(f)en Sd^ülern oon
So^annes SKüller, tDeld)e teils [d)on bei [einen £eb3eiten, teils
nad) [einem 3:obe bie Der[d)iebenen 3QJeige ber ^Biologie mäd)tig.
förberten, tuar einer ber glüdlirf)ften 3:i)eobor Sd^roann. ^Is.
1838 ber geniale Sotanüer Sd) leiben in 3^na bie ä^^e als bas.
gemein[ame (£lementarorgan ber ^flan3en erfannt unb alle uer»
[d)iebenen ©eroebe bes ^flan3en!örpers als 3u[ammenge[e^t aus
3ellen na(l^getDie[en !)atte, erfannte 5ol)annes 9Küller [ofort
bie aufecrorbentlid)c 3^ragtDeite bie[er bcbcutungsoollen C£nt==
betfung; er ocrfuc^te [elbjt, in oerjc^icbencn ©ctocbcn bes 3:ier=
Httfct fiebert. 29
f örpers bic gletd)e 3u[amntenf e^ung nad)3ua)ct[cn, unb oeranla^tc
fobann [einen Sd^üler Sd)tDann , biefcn 9Zad)iDets auf alle tterUd)en
(Setoebe au53ubel)nen. Diefc |cf)U)ierige Aufgabe löjtc bcr leitete
glüdflid) in [einen „9J?i!to[!opi[(i)en Unter[u(f)ungen über bic tlber*
ein[timniung in ber Struftur unb bem 2Bad)5lum ber 3:iere unb
Wanden" (1839). 2)amit wax ber ©runbjtein für t)it Seilen =
il)eorie gelegt, beren ©ebeutung eben[o für bie ^I)r)fioIogie toic
für bie Anatomie [eitbem von ^a\)x %u ^a\)x gugenommen unb [id)
immer allgemeiner betoQt)rt \)at Dafe aurf) bie £ebenstätig!eit
aller Organismen auf biejenige il)rer Cöeroebeteile, ber mi!ro=
[fopi[cf)en 3ellen, gurüdgefü^rt werben mü[fe, fül)rlen namentlich
3röei anbere sifühx von Scljannes 9J?üller aus, ber fd^arf»
[innige ^^p[iqloge (£rn[t Sßrüde in 2Bien unb ber berühmte
§i[tologe albert 5^öllif er in SCürgburg. t)er erftere be3eid)nete
bie3encttri^tigaIs„(£lementar=Organi5men"unb seigte, t>a^
[ie eben[o imilörper bes$0len|d)entoie aller onberen 3:iere bie [elb=
ftänbig tätigen Saroten besJÖebens [inb. i^öllüer erroarb |ic^ be[on=
bere 33erbien[te nic^tnurum bie ^usbilbung ber ge[amten ©etoebe»
Iel)re, [onbern aud) burdE) ben Si^adjtDeis, ha^ bas (£i ber 3;iere, [otöie
i)ie baraus ent[te^enben „5urd)ungs!ugeln" einfa^e 3^11^^ [inb.
<Bo allgemein aber audE) bic f)ol)C Sebeutung ber 3enentl)eoric
für alle biologi[(^en 5lufgaben erfannt tourbe, [o XDurbc Dod) bic
barauf gegrünbetc 3cnular»^l)r)fiologic cr[t in ncue[ter 3eit
[elbjtänbig ausgebaut. $ier \)ai nantcntlid) SJlax 93ertoorn fid)
ein boppcltes 95erbicn[t ertDorben. 3^1 [einen „^[r)^o=pf)t)[iolo=
gi[d)en ^roti[tcn=(5tubien" (1889) l)at ber[elbc auf (Srunb [innreid)er
eiperimcntellcr Kntcr[ud)ungen geseigt, ha^ bic oon mir (1866)
aufge[tclltc „3:i)eoric bcr 3ell[cclc" burc^ bas genaue Stubium
bcr cin3clligcn ^rotogocn Dollfommcn gerechtfertigt toirb, unb
bafe „bie p[t)d)i[d)cn S3orgängc im ^rotijtcnreic^c bic ©rüde bilben,
tt)clcl)c bic d)cmi[^en ^ro3e[[e in ber unorgani[cf)en 91atur mit bem
Seelenleben ber l)öd)ftcn 3:iere oerbinbct". SBcitcr ausgefül)rt
unb geftü^t auf bic moberne (£nttDidclungslel)re \)ai 33crtt)orn
bie[c ^n[icf)ten in [einer „allgemeinen ^t)t)[iologie". Die[es aus*
gcäcid^nctc 2Ber! gel)t gum cr[ten9Jlalc toieber auf ben umfa|[enben
(3tanbpun!t von 3oI)annes XRüllcr gurüd, im (5egen[a^e 3U
•ben cin[eitigen unb be[d)rän!ten 50ietl)oben jener mobernen ^l)r)[io=
logen, toclc^c glauben, au5[d)liefelicf) burcl) pl)r)[i!ali[^e unb
^cmi[d)c (giperimcntc bas 2Be[cn bcr £ebcnser[^ einungen er=
•grünben ju fönnen. SBcrtoorn geigte, bafe nur burd) bic ocr*
fllcicl)cnbc S[Retl)obc SJlüllcrs unb burd^ >as 23crticfcn in bic
ip]^i)[ioIogic bcr S^He jener l)öl)crc Stanbpunft gewonnen to^rbcn
iann, ber uns einen cinl)citli(f)cn tlbcrblid über bas tDunberoolIe
30 T>x\iit5 i^apitcl.
©cfamtgebtct bcr ficben5er[d)ctnungen gctDäl)rt; nur baburd) ge»
langen toir ju bcr Überzeugung, t>a}i aud) bie [omtItd)en ficbcns»
tätigfetten bes äRenfd)en benfelben ©efe^en ber ^^t)[i! unb (£f)emic
unterliegen, toie biejenigen aller anberen ^^iere.
Senulorpatl^oloöie. Die grunblegenbe ^ebeutung ber 3ellen=
tl)eorie für alle S^^^Q^ ^^^ Biologie betüä^rte [id) in ber ^toeiten
§älfte bes 19. 5a^rl)unbcrts nid)t allein in htn grojgartigen ^oxU
fd)ritten ber gefamten 5ülorpl)ologie unb ^l)i)[iologie, [onbem auc^
befonbers in ber totalen 9?efornt berjenigen biologifc^en 2Bi[[en=
[d)aft, xDeld)e vermöge il)rer Se3iel)ungen 3ur praftifd^en §eil!unjt
von \t\)tx bie größte Sebeutung in ^nfprud) nal)m, ber ^atl)ologie
ober ilran!l)eit5lel)re. Dafe bie 5^ranfi)eiten bes aRen[d)en toie aller
übrigen £ebetöe[en 9laturer[(f)einungen [inb unb al[o gleid) ben
übrigen üebensfunftionen nur naturtoiffenf^aftlid) erfor[d)t roerben
fönnen, toar ja [d)on oielen älteren ^Irjten jur fejten Überzeugung
getDorben. ^ud) l)atten [d)on im 17. 3öl)rl)unbert einzelne mebi3i=
nifd^e Sd)ulen ben 93erfu^ geniad)t, bie Urfa^en ber 5lran!l)eiten
auf bejtimmte pl)t)[i!alif^e ober d)emi[d)e 23eränberungen 3urüd=
3ufül)ren. allein ber bantalige niebere 3ujtanb ber 9^aturtoif[en=
fd)aften oerl)inberte einen bleibenben (Erfolg biefer berechtigten !öe=
jtrebungen. Dal)er blieben mel)rere ältere 3:i)eorien, bie bas 2Be[en
ber Äran!l)eit in übernatürlid)en ober nir)jti[d)en Ur[ad)en [ud)ten,
bis zur SOlitte bes 19. 3ciT()rl)unberts in faft allgemeiner ©eltung.
(£rjtumbiefe3ettl)atte9lubolf 93ird^ou), ebenfalls ein ©^üler
Don 3o^önnes StRüllcr, htn glüdlid)en (^thanUn, bie 3enen=
tl)eorie oom gefunben aud) auf htn !ran!en -Organismus zu über=
tragen; er fud)te in htn feinen 93eränberungen ber fran!en 3enen
unb ber aus il)nen zufammengefe^ten ©etoebe bie rt)al)re Hr[ad)e
jener gröberen 33eränberungen, tDeld)e als beftimmtc „Äran!l)eit$*
bilber" ben lebenben iDrganismus mit ©efal)r unb Xoh bebrol)en.
58e[onber5 tDäl)renb ber [ieben ^ai)xt feiner £el)rtätigfeit in 2Bürz=
bürg (1849—1856) füt)rte 93irc^on) biefe grofee Aufgabe mit [o
glänzenbem (Erfolge burd), bafe feine 3ßnular*^atl)ologie mit
einem 8d)lage bie ganze ^atl)ologie unb bie oon i\)x gejtü^te
pra!ti[d)e SKebizin in neue, l)öd)jt frud^tbare ©al)nen lenfte. ^ür
unfere Aufgabe ijt biefe ^Reform ber äRebizin besl)alb fo bebeutungs»
ooll, toeil fie uns zu einer moniftifd)en, rein rüiffenfd)aftlid)en Se*
urteilung ber i^ranfl)eit fül)rt. 5lud) ber franfe äRenfc^, ebenfo toie
ber gefunbe, unterliegt benfelben „eroigen el)ernen (Sefe^en",
toie bie ganze übrige organifd)e 2Belt.
<|3^t)ftolQdte bet Säugetiere. Unter hm zal)lreid)en Xierflaffen,
toeld)e bie neuere 3oologie unterfd)eibet, nel)men bie Säugetiere
nid)t allein in morpl)ologifd)cr, fonbern aud) in pl)t)fiologifd)er ©e«
Unfcr fiebcn. 31
3iel)ung eine Qan^ befonbcre Stellung ein. T>a nun aud) ber
SKenfd) [einem ganjen ilörp erbau naä) 3ur illaffe ber Säugetiere
gel)ört, rrtufe er ourf) ben befonberen (Il)aro!ter feiner £ebens=
tätig!etten mit htn übrigen Säugetieren teilen. Der Slutf reislauf
unb bie Atmung t)on3iel)en [id) beim 9Jten[(i)en genau nad^ benfelben
®e[e^en unb in berfelben eigentümlicf)en i5^orm, tDeIcf)e auc^ allen
anberen Säugetieren jutommt; [ie ijt bebingt huxd) htn befonberen,
feineren $8au i{)re5 ^ergens unb if)rer Bungen. 5Rur bei titn
Säugetieren toirb alles ^rterienblut aus ber linfen ^ersfammer
burd) ttn Iin!en Aortenbogen in hm Äörper gefül)rt, roäfirenb bies
bei t)tn 33ögeln burd^ htn redeten unb bei ben ^Reptilien burd^ beibc
5Iortenbogen betoirft toirb. Das ^lut ber Säugetiere 3eid)net [i^
cor bemjenigen aller anberen SBirbeltiere baburc^ aus, ha^ aus
il)ren roten SIut3eIIen ber Äern üer[dE)tounben ijt. Die 5ltem«
betoegungen roerben nur in biefer 3^ier!Ia[[e Dor3ugstDeife burd^
bas 3tDerd)f eil »ermittelt, toeil basfelbe nur t)ier eine oolljtänbige
Sd)eibetDanb 3tDi[d)en Sruftt)öl)Ie unb Sau(f)t)öI)Ie bilbet. ©an3
befonbers tDid)tig aber ift für hk^t pc^jt enttoidelte 3:ier!Ia[[e bie
^robuftion ber 9JiiI(^ in 'ötn $Brujtbrü[en (Mammae) unb bie be*
fonbere gorm ber ^Brutpflege, tüeld)e bie (£rnät)rung bes jungen
burd) bie SDlilc^ ber SHutter mit fid) bringt. Da biefes Säugegefd)äft
auc^ anbere fiebenstätigfeiten in ber eingreifenbften 2Bei[e be=
einflufet, ba bie SKutterliebe ber Säugetiere aus biefer innigen
3rorm ber ^Brutpflege it)ren Itrfprung genommen t)at, erinnert uns
ber S^lame ber i^Iaffe mit 9led^t anü^re t)ol)e Sebeutung. 5n
SKillionen oon ^Bilbern, 3um großen 3:eil oon i^ünjtlern erften
Klanges, roirb „bie SJiabonna mit bem (i;i)riftu6!inbe" oer»
{)errlirf)t als bas reinfte unb er^abenfte Urbilb ber SRutterliebe;
besfelben 5^jtin!tes, beffen eitremfte ^form bie übertriebene 3<^^i'
Ii(f)!eit ber Affenmutter barjtellt.
^^t)ftoloöte ber «ffen. Da unter allen Säugetieren bie
Affen im gefamten 5lörperbau bem SJlenfc^en am nä(f)lten ftel)en,
läfet [id) oon DomI)erein ertoarten, ha^ basfelbe aud) uon if)ren
fiebenstätigfeiten gilt; unb bas ift in 2BaI)rt)eit ber Srall. 2ßie fel)r
bie fiebensgetDol)nl)eiten, bie ^Betoegungen, bie Sinnesfunftioncn,
ha^ Seelenleben, bie ^Brutpflege ber Affen fid^ benjenigen bes
9Jienfd)en näl)ern, loeife jebermann. Aber bie toiffenfc^aftlid)e
^^f)i)fiologie roeift biefelbe bebeutungsoolle Hbereinftimmung aud^
für anbere, roeniger befannte CBrfd) einungen nad), befonbers bie
§er3tätigfeit, bie Drüfenabfonberung unb bas (5efd)led^tsleben.
3n le^terer $Be3iel)ung ift befonbers merftoürbig, t)a^ bie gefc^le^ts=
reifen 2Beibc^en bei oielen Affenarten einen regelmäßigen Slut=
obgang aus bem 5rud)tbel)älter erleibcn, entfpred)enb ber S[Ren*
32 »tcrtcs Hopitcl.
^truatton (ober „ttRonatsrcgel") bcs mcn[(^Ud)en SBctbcs. %uä)
btc 9Jlild)abfonbcrung ous ber 93rujtbrü|c unb bas (5äugegefrf)äft
ge[cf)tct)t bei ^tn mtxUid)tn ^ffen genau ebenfo tote bei ben
grauen.
Sefonbers intereffant tjt enblicf) bie 3^at[ad^e, tia^^ bie fiaut =
[pro(i)c ber Riffen, plipfiologifd) oergIid)en, als Sorjtufe ju ber
artifulierten menfd)Ii(i)en Sprad)e erfdieint. Unter ben fieute nod)
lebenben 9J?en[d)enaffen gibt es eine inbifd)e ^rt, toelc^e mufüalifc^
ijt: ber Hylobates syndactylus auf Sumatra fingt in oolüommen
reinen unb flangoollen, l)alben Xönen eine ganje £)!taoe. gür
t>m unbefangenen (5pra(i)for[(^er fann es l)eute feinem 3rocifel
me{)r unterliegen, bafe unfere i)0(^entroi(!elte Segriffsfprai^e fid)
langfam unb ftufentoeife aus ber unoolltommenen £aut[prad)e
unferer 5lffenaf)nen enttoicfelt I)at.
93ierte« ^apittU
Httfere ÄeimeSgefd^id^fe*
QiJ^oniftifc^e 6tubien über menfcj)(ic&e unb oeröleic^enbc
Ontogenie. £lbereinftimmung in ber ^eimbilbung unb
^ntipicfelung be^ 9?ienfc^en unb ber Wirbeltiere,
5n nodt) böf)erem SOIafee als bie oergletd)enbe 5lnatomie unb
^f)i3[ioIogie ijt bie oergIeid)enbe Ontogenie, bie (£nttDicte =
Iungsgcfd)i^te bes ©injeltieres ober S^tbioibnums, ein Äinb
bes neunjebnten Sa^^^unberts. 2Bie entjtebt ber 95?enfd^ im
äRutterleibe? 2Bie entjtel)en bie Xiere aus t>tn (Siern? SBie entitet)t
bie ^flanje aus bem Samen!orn? Diefe inl)altsfd)tDere (5rage bot
audE) id)on feit ^ßb^taufenben htn htnUnitn 9Jlen[cf)engeijt be=
fd^äftigt; aber erjt fel)r fpät, 1828, geigte uns ber (£mbri)oIoge
Sa er bie rechten SlRittel unb SBege, um tiefer in bie Kenntnis ber
gebeimnisoollen Xai\aä)tn ber Äeimesgefc^icbte eingubringen;
unb crjt 1859 lieferte uns X)aro3in bur^ feine 9?eform ber
I)e[3enben3tl)eorie ben Scblüffel, mit beffen §ülfe roir 3ur C£r-
fenntnis i\)xtx Urfad)en gelangen fönnen. !Da tcb biefe boctjinter*
effanten, aber [d)tDierig'3u Derftel)enben 33erbältni[fe in meiner
Äetmesgefd)id)te bes 9Jlen[(i)en (im crjten 3;eile ber ^ntl)ro»
pogenle) einer ausfül)rlid)en, popuIär*tDi[[enfd)aftIid)en Dor«
Hn[crc i^eimesgejc^iditc. 33
Stellung untersogen \)abt, be[d^rän!e td) mid) l)ier auf eine furjc
3u[amnienfa[[ung unb Deutung ber tDtd)tigjten (£rfd)etnungen.
2Bir toollen babei 3unäd)ft einen l)i|tori[c^en 9iüdblid auf bie ältere
Ontogenie raerfen.
^röformattonslc^re. ältere 5^eimesge[(i)id)te. (Söergl.
ben 2. 33ortrag -meiner „^ntt)ropogenie".) 2Bie für bie t)er=
gleid)enbe 5tnatomie, [o [inb aud) für bie (£ntu)idelung5ge[d)ic^te
bie fla[[i[(i)en 2Ber!e bes ^riftoteles, bes oielfeitigen „33ater5
ber 9'laturge[d)id)te", bie ältejte uns befannte roi[fen[d)aftIi(^e
Quelle (im 4. 3cil)rt)unbert v. (l\)X.). SRic^t allein in [einer großen
3:ierge[(i)id^te, fonbern aud^ in einer befonberen !I einen Sd)rift:
„günf $Büd)er Don ber 3^11911^9 ii^i> (Snttüidelung ber 3^iere"
er3äl)lt uns ber grofee ^l)iIo[opl) eine SJlenge von intere[[anten
3:at[ad)en unb ftellt 5ßetrad)tungen über beren Sebeutung an;
»iele baüon finb erjt in unferer 3ßtt roieber jur ©eltung gefommen
unb eigentlich er^t toieber neu entbecft toorben. 9^atürlid) [inb
aber baneben au^ oiele gabeln unb ^i-^tümer 3U finben, unb von
ber oerborgenen (£ntjtet)ung bes 9Jlen[d)en!eimes roar nocf) nid)ts
'^ä\)txt5 befannt. ^u^ in bem langen folgenben 3^ttiöume von
3tDei 3ö^itau[enben machte bie [d)lummernbe 2ßi[[en[d)aft feine
toeiteren (^ort[d)ritte. (£r[t im ^Infange bes 17. 3öl)rl)unberts
fing man röieber an, [id) bamit ju be[d)äftigen; ber italieni[d)e
Anatom göbricius ab ^quapenbente oeröffentlic^te 1600
bie älteften ^bbilbun^en unb Se[d)reibungen oon (£mbri)onen bes
9Ken[d)en imb einiger ]^öl)erenXiere; linb ber berül)mte XRarcello
9J?alpig^i in 93ologna, gleid) bal)nbred)enb in ber 3oologie roie
in ber ^otanü, gab 1687 bie erfte 3u[ammenl)ängenbe Darjtellung
von ber (£nt[tel)ung bes $ül)nc^ens im bebrüteten (£i.
^lle bie[e älteren $ßeobad)ter toaren oon ber 23or[tellung be=
l)err[d)t, ha^ im (£i ber Xiere, äl)nli(^ tüie im Samen ber l)5l)eren
^flansen, ber gan3e i^örper mit allen [einen 3:eilen bereits fertig
üor^anben [ei, nur in einem [0 feinen unb [0 burd)[id)tigen S^'
[tanbe, ha^ man [ie nic^t erfetirten !önne; bie ganse (Enttoidelung
[ei bemnad) nid)ts toeiter, als äBad)stum ober „^usroidelung"
(Evolutio) ber eingetoidelten Xeile. I)ie[e fal[(^e ßel)re, bie bis 3um
Anfang bes 19, 3öl)rt)unbert5 fa[t allgemein in Geltung blieb,
nennen roir am bejten bie 23orbilbungslel)re ober ^räformations*
tljeorie.
(£in[d)ad)telungslel)re. ^n engem 3ii[<immenl)ange mit
ber ^räformation5let)re entjtanb im 17^ 3cil)rt)unbert eine toeitere
3;i)eorie, toelc^e bie benfenben ^Biologen lebl)aft be[d)äf tigte : bie
[onberbare .(£in[d)ad)telungslel)re". Da man annal)m, bafj im
(£i bereits bte Einlage bes gansen Organismus mit allen [einen
joaccfct, «ZBetfrätfct. 3
34 SSicrtcs Äapitel.
3^ctlcn t»orl)ant>cn [ci, mufetc aud) ber (Sierjtotf bes jungen 5^cimc5
mit htn (£icm ber folgenben ©eneration barin oorgebilbet [ein,
unb in biefen toieberum bie (Eier ber näcf)jtfolgenben, ufto. in
infinitum ! X)araufl)in bere(f)nete bei berüi)mte ^!)t)[iologc
Malier, bafe ber liebe ©ott oor 6000 3af)ren — am [ed)nen Xage
[eines Sc^öpfungstoerfes — bie Äeime oon 200 000 SJiillionen
9J?en[d)en gleid^seitig er[(f)affen unb [ie im (Sierjtod ber e^rroürbigen
Urmutter (£pa fun[tgered)t einge[(i)ad)telt f)abe. 5^ein (geringerer
al5 ber l)od^ange[eI)ene ^l)ilo[op^ fieibnij [d)Iofe [i^ bie[en^u5=
füf)rungen an unb oerroertete [ie für [eine 95ZonabenIel)re; unb ba
bie[er 3ufoIge [icf) Seele unb £eib in etoig un3ertrennli(^er ©e=
mein[rf)aft befinben, übertrug er [ie aud) auf bie Seele; — „bie
Seelen ber 9!Ren[c^en l)aben in beren 23oreItern bis auf ^bam,
al[o [eit bem Ittnfang ber Dinge (! !), immer in ber (^orm organi[ierter
5lörper eiiftiert".
C^pigenefisle^re. ^m 5Rbt)ember 1759 oerteibigte in ^allc
ein junger, 26jäl)riger 9Jlebi3iner, 5^a[par gfriebrid) SBoIff,
[eine :t)o!torbi[[ertation unter bem 3:itel: „Theoria generationis".
©ejtü^t auf eine 9?eil)e ber mül)[amjten unb [orgfältigften Se=
oba(f)tungen toies er naä), bafe bie ganje l)err[(^enbe ^räformations^
3:^eorie fal[d) [ei. 5m bebrüteten §ü^nerei i[t anfangs nod) feine
Spur Dom [päteren 23ogeI!örper unb [einen Xdltn Dort)anben;
Dielmel)r finben toir [tatt tiz\\tn oben auf ber httannitn gelben
I)otter!ugeI eine fleine, !reisrunbe, uoeifee Sd)eibe. I)ie[e bünne
„5^eim[c{)eibe" toirb länglid^ runb unbaerfällt bann in Dierüber=
einanberliegenbe Sd)id)ten, bie Anlagen ber oier rDict)tig[ten Organ*
[rijteme: suerjt t)k oberjte, bas 5RerDen[t)[tem, barunter bie i5Iei[d)=
ma[[e (äRus!eI[i)[tem), bann bas ©efäfe[i)[tem mit bem $er3en
unb 3ule^t ber Darmfanal. ^I[o, [agt Sßolff richtig, beftet)t bie
5^eimbilbung nid)t in einer ^usmidelung üorgebilbeter Organe,
[onbern in einer 5^ette von 9ZeubiIbungen, einer wdi)xtn
„Epigenesis"; ein Xeil ent[te^t nad) bem anbern, unb alle er[d)einen
3uer[t in einer einfad)en gorm, toeld)e von ber [päter ausgebilbeten
gan3 Der[c^ieben ijt; bie[e ent[tef)t erjt burd) eine 9^eif)e ber merf--
iȟrbig[ten Umbilbungen. Obgleid) nun bie[e grofee Gntbedung
[ic^ unmittelbar burd) 9flad)unter[uc^ung ber beobad)teten 3:at[ac^en
l)ätte be[tätigen la[[en, unb obgleich bie barauf gegrünbete „3:i)e orie
ber ©eneration" eigentlid) gar feine 3:i)eorie, [onbern eine
nadte 3:at[ad)e toar, fanb [ie bennoc^ ein l)albe5 5al)rf)unbert
l)inburd) nic^tbie minbejte ^nerfennung. ®e[onbers l)inberlic^
u)ar bie mä^tige Autorität von Malier, ber [ie f)artnädig be=
tämpfte mit bem Dogma: „(£5 gibt fein SBerben I 5lein 3:eil im
tierförper i[t cor bem anbcren gemad)t tDorbcn, unb alle finb
V'
e
■
Hnjcrc Äcimc5gc|d)id)tc. 35
Sugleid) erfc^affcn." SBolff, bcr nod) Petersburg getien mufete,
war \d)on lange tot, ah hw oergeffenen, oon {l)Tn beobact)teten
Xatfai^en öon fiorenj O^ertin ^ena (1806) aufs neue entbedt
unb rid^tig gebeutet rourben.
5letmblätterle^re. 5Rad^bem bur^ 0!enbte (£ptgene[is =
ttieorte üon 2BoIf f beftättgt roorben coar, coarfen [tc^ in Deut[d)Ianb
mel^rere junge 9flaturforf(^er mit grofeem (Eifer auf bie genauere
Hnter[uc^ung ber 5^eimesge[cf)t(i)te. Der bebeutenbjte voax Raxl
(Srnjt Saer; [ein berül)mte5 ^auptroer! er[d)ien 1828 unter beut
Xitel: „(£nttDidfelungsge[d)id)te ber 3:iere, ©eoba^tung unb 9{e=
fleiion". SRi(i)t allein [inb barin bie 33orgänge ber 5leimbilbung
ausge3eid)net !Iar unb DoIIjtänbig be[d)rieben, [onbern aud) 3al)l=
reirfie geijtoolle Spehilationen baran gefnüpft. Die ätoei blatt=
förmigen S(^i(t)ten, tDeId)e in ber runben 5^eimf(t)eibe ber t)öl)eren
SBirbeltiere 3uerjt auftreten, serf allen narf) 5Baer 3unä(^jt in je
groei ^Blätter, unb biefe oier Keimblätter üertoanbeln [xä) in oier
9?ö!)ren. Durct) [et)r oertoidelte ^ro3e[[e ber (£pigene[is entjtet)en
baraus bie [päteren Organe, unb 3rüar bei bem 9Jien[d)en unb bei
allen SBirbeltieren in toefentlid) glei(i)er 2Bei[e. Unter ben Dielen
ein3elnen (£ntberfungen von Sa er roar eine ber tDid)tigjten bas
men[(i)li(^e (£i. ^Bis bal)in l)atte man beim 9Jien[d)en, loie bei allen
anberen Säugetieren, für (£ier fleine ©laschen gel)alten, bie [id)
3al)lreic^ im (£ierftod finben. (£rjt $Baer 3eigte (1827), "öa^ bie
tt)al)ren Gier in biefen SBläscf)en, ben ,pSraaf[d)en ^^ollüeln", ein=
ge[d)lo[[en unb oiel fleiner [inb, kügeld)en won nur 0,2 mm Durc^=
me[[er, unter günjtigen 93erpltni[[en eben als ^ün!td)en mit
bloßem 5luge 3U [el)en. ^ud^ entbecfte er 3uer[t, t>a^ aus bie[er
f leinen (£i3elle ber Säugetiere [id) 3unäd)[t eine d)ara!teri[ti[d)e
5^eimbla[e entmidelt, eine §ol)l!ugel mit flü[[igem 5nl)alt, beren
Sßanb bie bünne 5^eimt)aut bilbet.
(&xitlU unb Samenselle. 3et)u ^al}Xt, nad)bem $Baer ber
(£mbrt)ologie burd) [eine Äeimblätterlel)re eine fejte ©runblage
gegeben, entftanb für bie[elbe eine neue toid)tige Aufgabe burd) bie
Segrünbung ber 3ßnentl)eorie (1838). 2Bie Derl)alten [ic^ bas
(£i ber Xiere unb bie baraus entfte^enben 5leimblätter 3U htn ®e=
ojeben unb !^z\Un, tüeld)e "ütn entmidelten 3:ierförper 3u[ammen=
^en? Die rid)tige SBeanttoortung bie[er inl)alt[d)töeren S^rage
elang um bie 9Jiitte bes 19. 3ö^i^l)unberts 3mei Sd)ülern oon
ol)annes SJiüller: 9?obert 9?ema! unb Gilbert 5^ölli!er.
Sie tDie[en nad), ha^ bas (£i ur[prüngli^ nichts anberes i[t als
eine einfad)e 3^^!^» unb ta^ aud) bie 3a^lrei(^en 5^eim!örner ober
„gurc^ungsfugeln", rDeld)e burd) u)ieberl)olte Teilung baraus
ntftel)en, einfad)e 3ßnen [inb. 5(u5 biejen „(5rurd)ungs3ellen"
3*
36 ajicttes Äopltel.
bauen ]\ä) 3unad)ft blc 5leimblättcr ouf, unb tDeitcrl)tn burd)
Arbeitsteilung ober I)ifferen3ierung ber[elben bie oer[d)iebenen
Organe. ÄöIIifer enoarb \xö) bas grofee 93erbienjt, auc^ bie
fd)Ieimarttge Satnenflü[[ig!eit ber männli(i)en 3:iere als An=
t)äufung »on mi!ro[!opi[(f)en üeinen 3^nen nad)3un)ei[en. Die
bct)oeöiid)en jtednabclförmigen „Samentierd)en" (Spermatozoen)
Hnb md)ts anberes als eigentümlid)e „©eifeeljellen", toie ic^
(1866) 3uerjt an ben Samenfäben ber Srf)tDämme na(i)geioie[en
^abe. Damit. roar für beibe roic^tige 3^iigungsftoffe ber 3:iere,
bas männli(i)e Sperma unb bas ü3eiblid)e (£i, beojiefen, ha^ oud)
[ie ber 3^nent^eorie [id) fügen.
(5afträat^eorte. ^llle älteren Unterfuc^ungen über 5^eim=
bilbung betrafen ben 9J?en[d)en unb bie l)ö^eren 2BirbeItiere,
üor allem aber ben 23ogel!eim: benn bas §ül)nerei ijt bas größte
unb bequemjte Objeü bafür unb jtel)t jeberseit in beliebiger 9J?enge
5ur 93erfügung; man !ann in ber Srutma[cl)ine [el)r bequem bas
(£i ausbrüten unb bobei jtünbli^ hit ganse 9?eil)e ber Umbilbungen,
Don ber einfad)en (Siselle bis 3um fertigen 33ogelförper innerl)alb
breier 2Borf)en beobad)ten. Aud) Sa er l)atte nur für bie t)er[d)ie=
benen 5^la[[en ber 3Birbeltiere bie-Hbereinjtimmung in ber d)araften=
jti[cl)en Silbung ber 5leimblätter unb in ber (£ntjtel)ung ber einjelnen
Organe aus berfelben nac^toeifen tonnen. Dagegen in htn ^ai)h
reichen 5llaf[en ber 2Birbello[en — al[o ber großen $0lel)r3al)l ber
Xiere — [d)ien bie i^eimung in töefentli^ t)er)d)iebener 2Bei[e
abgulaufen, unb ben meijten [d)ienen tDir!lid)e i^eimblätter ganj ju
fel)len. (£rjt um bie SJlitte bes 19. ^a^r^unberts rourben [old)e au(^
bei einseinen 2Birbello[en na^geiDie[en, [o von 5^ölli!er 1844
bei ben (£epl)alopoben unb üon §uiler) 1849 bei t>tn 9J?ebu[en.
53e[onbers tDid)tig ujurbe [cbann bie (£ntbec!ung von Äotoaleüsfi)
(1866), bafe bas nieberjte SBirbeltier, ber Ban^elot ober Amphioxus,
]\d) genau in berfelben, unb 3U3ar in einer fel)r ur[prüngli(^en 2Bei[e
entiöicfelt roie ein roirbellofes, an[d)einenb gans entferntes SÖJantel*
tier, bie Seefd)eibe ober Ascidia. 'ütuä) bei t)er[d)iebenen
SBürmern, Sterntieren unb (Sliebertieren toies Rowahvstx) eine
äl)nlid)e Silbung ber 5leimblätter na^. 5d) [elbjt toar bamals
([eit 1866) mit ber (£nttöidelung5gefd)id^te ber Spongien, i^orallen,
9Jlebu[en unb Sipl)onopt)oren be[d)äftigt, unb t>a id) aud) bei biefen
nieberjten Rla[[en ber oielselligen Xiere überall biefelbe ©ilbung
üon 3tDei primären 5^eimblättern fanb, gelangte id) 3U ber Hber=
seugung, bafe biefer bebeutungsoolle i^eimungsoorgang im gansen
3;ierreid)e berfelbe ift.
$ße[onbers tDtd)tig erfd)ien mir babei ber Umjtanb, bafe bei t>tn
Sd)tDommtieren unb bei ben niebcren 9fle[[eltieren (^olppen,
Unfcrc ileimesgcfc^t^te. 37
9}Zebu[en) bcr Äörpcr lange 3ßtt I)mbur^ ober fcrbjt jeftlebens nur
aus stoei etnfad)en 3^nenf(i)t(i)ten befielt. Sc^on ^uilei) f)atte
[ie bei ben 9JJebu[en mit ben beiben primären 5leimblättern ber
SBirbeltiere t)erglid)en. ©cftü^t auf bte[e ©eobad^tungen unb
93erglei(^ungen, jtellte id) bann 1872 in meiner „Biologie ber
i^aI![d)roämme" bie „(5a[träatI)eorie" auf, beren tDefentlic^jte
fiel)r[ä^e folgenbe [inb: I. Dos gange 3:ierreid) jerfällt in jtoei
ujefentlic^ t)er[d)iebene $auptgruppen: bie einhelligen Urtiere
(Protozoa) unb bie oiclgelligen (Setoebtiere (Metazoa); ber gange
Organismus ber ^rotogoen bleibt zeitlebens eine einfad)e 3^ne
(feltener ein loderer 3ßlfoerein oI)ne ©etoebebilbung, ein Coeno-
bium). II. Dagegen ijt ber Organismus ber SJletagoen nur im
erjten ^Beginn eingellig, [päter aus oielen 3enen gufammengefe^t,
toelc^e ©eroebe bilben. III. 9lur bei tm SJietagoen entjtel)en
u)ir!Ii(i)e 5^eimblätter, unb aus biefen ©etoebe, bie htn
^rotogoen noc^ gang fel)len. IV. ©ei allen SJZetagoen ent^en
3unäd)jt nur groei primäre J^eimblätter , bie überall biefelbe
tDe[entIirf)e Sebeutung f)aben: aus bem äußeren ^autblatt
entu)icfelt fid^ bie äufeere §autbede unb bas ^Reroenfpjtem, aus
bem inneren Darmblatt l)ingegen ber Darmfanal unb alle
übrigen Organe. V. Die i^eimform, tDelcf)e überall gunäd)jt aus bem
befrud)teten (£i ()erDorgel)t, unb rDelrf)e allein aus biefen beiben
primären 5^eimblättem bejtel)t, ijt bie Darmlaroe ober ber
Sec^erfeim (Gastrula); it)r bed) erförmiger, giDeifd)id)tiger Äörper
um[(i)liefet urfprünglid) eine einfacl)e oerbauenbe §ö^le, "bzn
Urbarm, unb beffen einfache Üffnung ijt ber Urmunb. Dies
finb bie ältejten Organe bes oielgelligen 3:ier!örpers , unb bie
beiben 3ellen[(i)id)ten [einer 2ßanb [inb [eine ältejten (Seroebe;
alle anbcren Organe unb (Setoebe [inb erjt [päter ([efunbär)
baraus l)ert)orgegangen. VI. 3lus bie[er ©leic^artigfeit ober
Homologie ber (5a[trula in [ämtli^en Stämmen unb i^la[[en
ber (Beroebtiere gog ic^ nad) bem ©iogeneti[c^en (5runbge[e^e htn
Sd)lu^, baJ5 alle äRetagoen ur[prünglid) oon einer ge =
mcin[amcn Stammform abftamttien, ©a[träa, unb t)a^
bie[e uralte, längjt ausgejtorbene Stammform im roejentlic^en bie
Rörperform unb 3iif<iTnmen[e^ung ber l)eutigen, burc^ 93er*
erbung crl)altenen ©ajtrula ht^a^. VII. Die[er pl)i)logeneti[(^e
Sd)lufe aus ber 93ergleid)ung ber ontogeneti[(^en !Iat[ad)cn loirb
aud) baburd) gered)tfertigt, tia^ noc^ f)eute eingelne ©a[träaben
eiijtieren, [oroie ältejte (formen anbercr 3:ierjtämme, beren
Organijation [id) nur [el)r ujenig über bie[e legieren ert)ebt.
VIII. <Bei ber weiteren (£nttoidelung ber oer[d)icbenen ©etoebtiere
aus ber (Sajtrula [inb gtoei oer[c^iebene .^auptgruppen 5u unter=
38 S3icrtc5 Kapitel.
[cf)cibcn: Die älteren Sf^iebcrtiere (Coelenteria) bilben nocf) feine
£eibe5l)öt)Ie unb befi^en loeber ^lut noc^ Alfter; bas ijt ber gall
bei htn ©afträaben, Spongien, ?le[[eltieren unb ^lattentieren.
X)ie jüngeren Obertiere (Coelomaria) I)ingegen befi^en eine ed)te
£eibe5l)öl)Ie unb meijtens aud) Slut unb ^fter; bal)in get)ören
bie SBurmtiere (Vermalia) unb bie l)öl)eren tr)pi[c^en Xier»
jtämme, tDeId)e fid) aus biefen enttoicfelt t)aben, bie Sterntiere,
2Bei(i)tiere, ©liebertiere, SJlanteltiere unb SBirbeltiere.
©tjelle unb Samenselle bes SRenfc^en. Das (£i bes StRenfc^en
ift, toie bas aller anberen ©ecoebtiere, eine einfädle 3^ne, unb
biefe fleine fugelige (Siaelle (oon nur 0,2 mm Durd)me[[er) l)at
biefelbe ct)ara!terifti[(^e $Be[cI)affen!)eit mie bie aller anberen,
lebenbig gebärenben Säugetiere. Dasfelbe gilt oon t)tn betoeg*
liefen Spermien ober Samenf äben bes SJiannes, ttn toingig
Heinen, fabenförmigen ©eifeelsellen, wtld)t [ict) 3U SJJillionen in
jebem Xröpfd^en bes [<^Ieimartigen männli^en Samens
(Sperma) finben; [ie mürben frül)er megen il)rer Iebf)aften ^Be*
megung für befonbere „Samentierd)en" (Spermatozoa) gel)alten.
^lud^ bie (£ntftel)ung bie[er beiben rotct)tigen (5e[d)Ie(i)ts3enen in
ber ©efdiled^tsbrüfe ijt biefelbe beim 9Jlen[(^en unb htn
übrigen Säugetieren; fomol)l bie (Eier im (£ierftod bes 2Beibes,
als bie Samenfäben im ^oben ober Samenjtoc! bes SJlannes
entftel^en überall auf biefelbe 2Bei[e, aus ber 3ßnen[cf)ic^t, meiere
bie fieibes^öl)Ie ausfleibet.
©ittpfängnis ober IBefru^tung. Der roi(f)tigfte ^lugenblid
im £eben eines jeben SJienfc^en, mie jebes anberen (Setoebtieres,
ijt ber Womtni, in melc^em [eine inbioibuelle (Siijtens beginnt;
es ift ber ^ugenblicf, in meld)em bie ©efc^Ied^tssellen ber beiben
(Eltern 3ufammentreffen unb 3ur 5BiIbung einer einjigen, einfad^en
3eIIe Derf(^mel3en. Diefe neue 3ßne, bie „befrud)tete (£i3ene",
ift bie inbioibuelle Stamm3ene (Cytula), aus beren mieberI)oIter
3:eilung bie 3^^^^^ öer i^eimblätter unb bie (öaftrula l)ert)orgel)en.
(£rft mit ber ©ilbung biefer Stammselle, alfo mit bem 33organge
ber Sefru(^tung felbft, beginnt bie (£iiften3 ber ^erfon,
bes felbftänbigen (£in3elmefens. Diefe ontogenetifd)e SXatfac^e ift
überaus U5id)tig, benn aus x\)X allein fd)on laffen fid) bie meiteft*
reid^enben Sd)Iüffe ableiten. 3uTtäd)ft folgt baraus hit flare
(grfenntnis, ta^ ber 9Jienf(^, gleii^ allen anberen ©emebtiereti,
alle perfönlic^en C£igenfd)aften, !örperlid)e unb geiftige, oon feinen
beiben (£Itern burc^ 23 ererbung erl)alten \)at; unb meiterl)in bie
tnf)altfd)mere Überseugung, ha^ bie neue, fo entftanbene ^erfon
unmöglid) ^nfpruc^ \)ahtn lann, „unfterblid)" 3U fein.
Die feineren 93orgänge bei ber (Empfängnis unb ber gefd)led)t-
Un[erc 5leimc5gc[(^td^tc. 39
\\6)tn 3eugung übcr!)aupt [inb bat)cr oon allcrl)öd^jtcr 2Btd)ttg!ett;
fie [inb uns in i^ren (£in3elt)eitcn erjt [eit 1875 befannt getoorben.
t)a5 cinsigc roefentlidjc Ereignis bei ber Sefrud^tung ijt bie 33er=
fd)mel3ung ber beiben ®e[^led)t53ellen unb il)rer Äerne. 33on ben
SKillionen ntännli(f)er (Seifeeljellen, a)el(f)e bie toeiblirfie (£i3elle
um[c^o)ännen, bringt nur eine ein3ige in beren ^lasmaförper ein.
I)ie Äerne beiber 3^IIen, ber Spermafern unb ber (Eifern, t)er=
[d)mel3en miteinanber. So entjtef)t eine neue 3^ne, coeli^e bie
erblid^en C£igen[d)aften beiber (Sltern in fid) oereinigt; ber Sperma»
fern überträgt bie oäterlirfien, ber (Eifern bie mütterli(f)en (£f)arafter=
3üge auf bie Stamm3ene, aus ber \id) nun bas i^inb entroicfelt;
bas gilt ebenfo von t)tn förperlid)en uoie oon ben geijtigen (£igen=
[(^aften.
iletmanlage bes 9Renf(^en. Die Silbung ber i^eimblätter
burd) roieber^olte 3:eilung ber Stamm3ene, bie (£ntjtef)ung ber
(Saftrula unb ber tDeitert)in aus il)r f)erDorge!)enben ileimformen
gef(^ief)t beim 9Jien[d)en genau [o u)ie bei titn übrigen l)öt)eren
Säugetieren, unter benfelben eigentümli(i)en ©e[onberf)eiten,
tt)cld)e bie[e ©ruppe cor htn nieberen 3BirbeItieren au53ei(f)nen.
X)ie bebeutungsDolIe Reimform ber (E^orbula ober „(Ef)orbaIarr)e",
bie 3unäd)ft aus ber (Sajtrula entjte^t, 3eigt bei allen 2ßirbeltteren
im tDe|entIid)en bie gIei(i)e5SiIbung: ein einfacher geraber^d)[enjtab,
bie (If)orba, gel)t ber fiänge nad) burd) bie $auptad)[e bes Iängli(^=
runben, [d)ilbförmigen 5lörpers (bes „5leimid)ilbe5"); oberhalb
ber (£f)orba enttoidelt [id) aus bem äußeren 5leimblatt bas 9tüden=
marf, unterl)alb bas Darmrot)r. Dann erft erfc^einen 3U beiben
Seiten, red)t5 unb linfs com ^d)[enftab, bie 5^etten ber „ÜrtDirbel",
bie Anlagen ber SJlusfelpIatten, mit benen bie (Slieberung bes
3BirbeItierförpers beginnt. 33orn am Darm treten beiberfeits bie
5^iemen[p alten auf, bie Öffnungen bes S(^Iunbes, burc^ töeld)e
urfprünglid) bei unfercn gi[d)af)nen bas vom 9Plunbe aufgenommene
^temtoaffer an ben Seiten bes 5^opfes nad) aufeen trat, ^n 3ät)er
23ererbung treten biefe 5liemenfpalten, bie nur bei ben fi[d)=
artigen, im 2Ba[fer lebenben 23orfat)renft)on ^ebeutung toaren,
auc^ I)eute nod) beim JIRenfc^en roie bei allen übrigen 2ßirbeltieren
auf; [ie oerfc^roinben [päter. Selbjt nac^bem [d)on am i^opfe bie
fünf $irnbla[en, [eitttd) bie Anfänge ber ^ugen unb Ol)ren [id)tbar
getöorben, nad)bem om ^Rumpfe bie Anlagen ber beiben Seinpaare
in i^orm runblic^er platter 5^no[pen aus bem fifd)artigen 9Jien[(^en-
feim l)ert>orge[profet finb, ift t>t\\zn Silbung berjemgen anberer
SBirbeltiere noc^ [o ä^nlid), bafe man [ie nid)t unter[d)eiben fann.
itt^nlt^feit ber aBttbelttcrfetme. Die tDe[entlid)e Über*
cin^timmung in ber äußeren Äörperform unb bem inneren ©au,
40 33ierte5 Äapitel.
tDcld^c bie (Embryonen bes 9Jlen[cf)cn unb ber übrigen 23ertebraten
in bic[er frül)cren JBilbungsperiobe aeigen, ijt eine embrriolo*
gi[d)e Xatfa^e erften Klanges; aus i^r Ia[[en [ic^ nad) bem
Siogenetifd)en ©mnbgefe^e bie roic^tigjten Sd)lü[fe ableiten.
:Denn es gibt bafür feine anbete (Srüärung als bie 5lnnal)me einer
33ererbung von einer gemeinfamen Stammform. 2Bcnn toir
[ef)en, t^a^ in einem bestimmten Stabium bie i^eime bes 9J?en[d)en
unb bes ^ffen, bes $unbes unb bes i^anind)ens, bes Sd)roeines
unb bes Sd)afes scoar als l)öl)ere SBirbeltiere erfennbar, aber [onjt
nid)t 3U unter[(^eiben [inb, [o !ann biefe Zat]ad)t nur burcf) ge=
meinfame ^bjtammung erflärt toerben. Diefe (Erflärung erfc^eint
um [o [id)erer, toenn roir bie [päter eintretenbe Sonberung ober
X)it)ergen3 jener i^eimformen oerfolgen. 3^ näl)er [id) 3tDei 2:ier=
formen in ber gefamten 5lörperbilbung ftel)en, bejto länger bleiben
[ic^ aud) if)re (£mbrt)onen äl)nlid), unb bejto enger l)ängen fie audf)
im Stammbaum ber betreffenben (Sruppe gufammen, bejto näl)er
[inb [ie „jtammüertoanbt". !Dal)er erfd) einen bie (£mbn)onen bes
9Jlen[cl)en unb ber 9Kenfd)enaffen auc^ [päter nod) \)'öä)\i ä^nlid),
auf einer l)od^ enttoicfelten Silbungsjtufe, auf toel^er il)re Unter*
[c^iebe üon ben (£mbrr)onen anberer Säugetiere [ofort er!enn=
bar [inb.
2)te aetiti^üneit bes SWcnfci^ett. Die l)of)e Sebeutung ber
^hm be[pro(i)enen 5ll)nlid)!eit tritt nii^t nur bei 93erglei(l)ung
ber 2Birbeltier*C£mbri)onen [elbjt f)erDor, [onbern au^ bei ber=
jenigen il)rer 5leimpllen. (Es 3eic^nen [id) nämlid) alle SBirbel»
tiere ber brei f)öl)eren Rla[[en, ^Reptilien, 33ögel unb Säuge«
tiere, vox ben nietferen 5^la[[en bur(^ bie JBilbung eigentümli(^er
(£mbrr)onan)üllen aus, bes Amnion (2Ba[[erl)aut) unb bis Sero-
lemma {[erö[e §aut). 3^ bie[en mit 2Ba[[er gefüllten Säden iegt
ber (£mbrr)o einge[d)lo[[en unb i[t baburd^ gegen Drud unb Stofe
ge[d)ü^t. Die[e aroedmäfeige Sd)U^einrid)tung ijt tDal)r[c^einli^
erjt entjtanben, als bie ältejten Reptilien (^roreptilien), bie ge»
mein[amen Stammformen aller ^mniontiere, oolljtänbig an
bas £anbleben [id) anpaßten. Sei i^ren bireften 33orfal)ren, \)^n
^mp^ibien, fel)lt bie[e ^üllenbilbung nod) eben[o mie bei ben
gi[d)en; [ie toar bei bie[en 2Ba[[erbetöol)nern überflü[[ig. SJJit ber
(Srmerbung bie[er Sc^u^pllen jte!)en hti allen ^mnioten noc^
3toei anbere 33eränberungen in engem 3ii[oTnmenl)ang, erjtcrs
ber gän3lid)e S3erlu[t ber i^iemen (tt)äl)renb bie 5^iemenbogen unb
bie Spalten ba3tDi[d)en als „rubimentäre Organe" [id) forterben),
unb 3meitens bie ^Bilbung ber ^llantois. Die[er bla[enförmige,
mit ^a[[er gefüllte Sad mäd)[t bei bem (£mbri)o aller ^mniontiere
aus bem (Snbbarm l}cnjor unb ijt md)ts anberes als bie uergrö^erle
Unfcrc Äcimc5gcf^td)tc. 41
$ambla[cber^mp^tbtcn=^^nen. 5lu5tl)rem innersten unb untersten
3:exle bilbct [td) fpäter bte bletbenbc §arnbla[c ber ^mntotcn,
toäbrenb bcr gröfeerc äufeerc Xcil rüdgcbilbct toirb. (5ctoöf)nIi(^
[ptelt btefer eine 3ßilIöTtg eine u)id)tige 5ioIIe als ^ttmungsorgan
bes (£mbn)o, inbem [id) mächtige ©lutgefäfee auf [einer 2Banb
ausbreiten. Sorool)! bie (Sntjte^ung ber 5leintpIIen, als auc^ ber
^Ilantois ge[(^iel)t beim 9Jlen[d)en genau eben[o wie bei allen
anberen ^Imnioten unb burd^ biefelben oertöidelten ^rojeffe bes
2ßad)stums; ber 9Jlen[(^ i[t ein ed)tes ^mriiontier.
ÜJte ^lacenta bes URenfd^en. Die (£mäf)rung bes menfc^Iic^en
5^eimes im SOlutterleibe ge[d)ief)t burrf) ein eigentümli(i)es, äufeerft
blutreid)e5 Organ, bie [ogenannte Placenta, ben ^berfuc^en ober
93lutgefäfefu(f)en. Sie rairb nacf) erfolgter ©eburt bes 5linbes
abgelöjt unb als [ogenannte „91acl)geburt" ausgeftofeen. Die
placenta bejtel)t aus 3U)ei tDe[entli(^ r>er[c^iebenen 3^eilen, bem
|^rud)t!ud)en ober ber ünblid^en placenta unb bem 9}luttcr =
!ud)cn ober bem mütterli(i)en (5efäfe!u(f)en. Dicfer le^tere entt)ält
reic^ enttüicfelte ^Bluträume, xDel(l)e i\)x Slut buri) hk ©efäfee ber
(Gebärmutter 3ugefül)rt erl)alten. Der i5rud)tfuc^en bagegen loirb
aus 3al)lrei(i)en oeräjtelten 3otten gebilbet, tDeld)e oon ber ^ujgen*
flä(i)e ber !inbli(i)en ^llantois t)eroortoad)[en unb i\)x Slut oon
beren 9?abelgefäfeen be3iel)en. Die l)ol)len, blutgefüllten 3otten
bes iJru(i)t!u(f)ens toaci^fen in bie ©luträume bes 2)iutter!ud)ens
l)inein, unb bie sarte. Sd)eibetDanb 3tDi[(f)en beiben toirb [o [el)r
oerbünnt, ^io.'iß tiuxd) [ie l)inburcl) ein unmittelbarer Stoffaustaufd^
ber ernäbrenben ®lutflü[[ig!eit erfolgen !ann.
3n 'i>^n einseinen ©ruppen ber 3ottentiere ift bie ^usbilbung
bes 9Jiutter!ucl)ens toefentlic^ oer[cl)ieben. $örf)jt tDicl)tig ijt nun
bie erjt 1890 tjon (£mil Selenfa entbedte Üatfai^e, bafe gerabe
bie 9Jlen[d)enaffen, befonbers ber Drang (Satyrus), mit bem
9[Ren[^en getoiffe (£igentümlicf)feiten, bie \id) [onjt nirgenbs finben,
gemeinfam I)aben (Siel)e ben 23. 93ortrag meiner ^ntt)ropogenie).
9n[o bejtätigt fiel) aucl) l)ier toieber ber ^itl)ecometra[a^ oon
$uilei): „Die Unterf^iebe 3tDi[cl)en b«m S[Ren[d)en unb 'ütn
90?enfrf)enaffen finb geringer als biejenigen 3tDi[c^en "ötn le^teren
unb t)tn nieberen ?lffcn." Die angeblicl)en „$Beroeife gegen bie
nol)e ©lut6DcrtDanbt[d)aft bes 9Jlen[c^en unb ber ^ffen" ergaben
fid) bei genauer Unter[ud)ung ber tat[äd)lic^en 93erl)ältni[fe aud)
bier iDieber umge!el)rt als tüid)tige ©rünbe 3ugun[ten berfelben.
3eber 9flaturforfd)er, ber mit offenen ^ugen in biefe bunfeln,
ober böd)ft intereffanten fiabi)rintl)gänge unferer 5leimesge[(^ic^tc
einbringt, unb ber imjtanbe ijt, [ie fritifd) mit berjenigen bcr
übrigen Säugetiere 3u t)ergleid)cn, toirb in benjclben bie bebeutungs*
42 fünftes Äapitel.
üolljten fii(^tträger für bas 23er|tänbm5 unferer Stammesgefi^tc^te
finben. Denn bte t)cr[d)tcbenen Stufen ber 5letmbtlbung toerfen
als 33ererbung5 = ^l)änomene ein I)elle5 £id)t auf bie entfpre=
6:)tnt>tn Stufen unferer ^t)nenreit)e, gemäfe bem ®togenettfd)en
©runbgefe^e. (i^ap. 5.) 5tber auc^ bie ^npaf[ung5erfd)ei=
nungen, bie Silbung ber oergänglii^en (£mbri)onaIorgane —
ber (i)arafterifti[d)en 5^eiml)üIIen, unb cor allem ber ^lacenta —
geben uns ganj bejtimmte ^uffd)Iüf[e über unferena^e Stamm =
t)ertüanbt[d)afi mit htn Primaten.
fünfte« Kapitel.
ünfere Sfatnmeögefcj^id^fe*
9}^oniftifc^c 6tubien über Itrfprung unb 'i^bftammimg
be^ 9!ReufcI;cn oon ben QBirbeltieren, gunäc^ft oon bcn
Äerrentieren.
Der jüngste unter htn grojgen 3ioeigen am lebenbigen $Baumc
ber Biologie ijt biejenige 9laturtoi[[en[d^aft, roelc^e roir Stammes =
ge[d)id)te ober ^I)i)Iogenie nennen. Sie l)at fict) nod) roeit
[päter unb unter üiel größeren Sct)röierig!eiten enttoidelt als il)rc
natürlid)e Sd)tDejter, bie 5leimcsge[d^id)te ober Ontogenie. Diefe
l)atte 3ur Aufgabe bie (£r!enntnis ber gel)eimnist)onen 3Sor=
gänge, burd) U3el(i)e [i^ bie organifd^en ^^J^^oibuen, bie CBinjel«
loefen ber Xiere unb ^flansen, aus bem (£i enttoicfeln. Die
Stamme5ge[d)i(^te t)ingegen l)at bie oiel bunüere unb [cf)tDierigere
grage 3U beantworten : „2Bie [inb bie organi[d)en Speaies ent=
jtanben, bie einseinen ^rten ber 3:iere unb ^flanjen?"
Die Ontogenie !onnte 3ur £ö[ung it)rer nat)e liegenben ^uf=
gab« 3unäd)ft unmittelbar ben empiri[(i)en 2ßeg ber ^Beobachtung
betreten; [ie brau(i)te nur Xüq für 3^ag unb Stunbe für Stunbe
bie [id)tbaren Umbilbungen 3U »erfolgen, tDeId)e ber organif^e
5leim innert)alb furser 3ett roät)renb ber (Sntroicfelung aus bem
(£i erfät)rt. 23iel f(i)röieriger toar oon i)orn{)erein bie ^uf=
gäbe ber ^^i)Iogenie; benn bie langfamen ^ro3e[[e ber
allmählichen Hmbilbung, roelc^e bie (Entjte^ung ber 3:ier= unb
^^flansenarten betoirfen, ooll3iel)en [ic^ unmer!U(^ im 33erlaufe
Urilcre Stammc5gc[d)td)tc. 43
Don 3öf)ttau[enbcn unb ^a^rmillioncn; tf)rc unmittelbare 23 c=
oba(i)tung tjt nur in [el)r engen ©renken möglich, unb ber roeitous
größte 2eil bie[er t)ijtori[d)en 23orgänge !ann nur inbireft er[d)Io[f en
©erben : bur^ t)ergleid)enbe Senu^ung üon entptrt[d)en Urfunben,
bie [c!)r Der[d)iebenen (Gebieten anget)ören, ber Paläontologie,
Ontogcnie unb 9[Rorpl)oIogie. Da3U fam noc^ bas getoaltige
§inberni5, toelc^es ber natürlid)en Stamme5ge[d)id)te burd^ bie
enge 23er!nüpfung ber „S(^öpfung5ge[d)id^te" mit übernatürli(t)en
9Jli)tf)en unb religiöfen Dogmen bereitet tourbe; es ijt bal)er be*
greiflief), bafe bie u)inenf(i)aftlid)e ßiijtenj ber tDat)ren Stammes»
ge[(f)id)te erft unter oiclen 9Jlüf)en unb [d)tüeren 5lämpfen er=
rungen unb ge[i(^ert toerben mufete.
aRt)t^if(J^e 6d^öpfund$9ef(^i(^te. ^Ile ernjtlid)en 33er[uci^e,
roelc^e bis 3um ^Beginne bes 19. 5al)rl)unbert5 jur ^Beanttoortung
bes Problems oon ber (£ntjtef)ung ber Organismen unternommen
iDurben, blieben in bem mt)tf)oIogi[(^en £abi)rint^e ber über=
natürlid)en Sd)öpfungs[agen fteden. (Sinselne SBemüt)ungen
t)erüorragenber X)en!er, [ic^ oon biefem gu befreien unb ju einer
natürlid)en ^ffaffung gu gelangen, blieben erfolglos. Die
mannigfaltigjten S(^öpfungsmT)tf)en entroidelten fid) bei allen
älteren 5^ulturDöI!em im 3ii[<i^Tnen^ang mit ber 9leIigion, unb
roäl)renb bes SJlittelalters toar es naturgemäß bas gur §err[d)aft
gelangte (£:t)riftcntum, tDeld)es bie Seanttoortung ber S(i)öpfung5=
frage für fid) in ^nfprud^ nat)m. Da bie $BibeI als bie uner[d)ütter=
lic^c ©runblage bes d)rijtlid)en 9leIigionsgebäubes galt, lourbe bie
ganse (5d)öpfungsgefci^ic^te bem erjten 5Bud)e SJtofes entnommen,
^uf biefes jtü^te [ic^ aud) nod) ber grofee fd)tt)ebifd)e 9^aturfor[d)er
C£arl £inne, als er 1735 in [einem grunblegenben „Systema
Naturae" ben erjten 93er[ud) ju einer fi)jtemati[d)en Orbnung,
Benennung unb 5^laf[ifi!ation ber un3ät)Iigen Derfd)iebenen 91atur=
förper unternat)m. ^Is bejtes, praftifc^es Hilfsmittel berfelben
füf)rte er bie befannte boppelte 91amengebung ein; jeber cinjelnen
^rt öon Vieren unb ^flansen gab er einen befonberen 5lrtnamen
unb ftellte biefem einen allgemeinen (S^ttungsnamen ooran.
3n einer ©attung (Genus) rourben bie nä'(t)|tt)eru)anbten ^rtcn
(Species) sufammengejtellt.
§öd)it oertjängnisDoII tourbe für bie SBiffenf^aft bas tt)eoreti[c^e
Dogma, tDeId)es [d)on üon £inne [elbjt mit [einem prafti[d)en
Spe3iesbegriffc oer!nüpft tourbe. Die er[te S^age, roelc^e [ic^ bem
bentenben Sr)[temati!er aufbrängen mußte, toar natürlid) bie ^xüqz
nad) bem eigentlichen 9Be[enbes Spejies'^egriff es, nad) 5nl)alt
unb Umfang besfelben. Unb gerabe bie[e ©runbfrage beanttoortete
[ein Sd)öpfer in noio^ter 2Bci[c, in ^nlei)nung an ben allgemein
44 tJünftes Äapitcl.
gültigen 2Ro[ai[cf)cn®(i)öpfung5mi)tt)U5: „(Ss gibt fo oicl Dcrfdiicbcne
^rtcn, als im anfange oom unenblid^en ^t\zn Der[cf)iebcnc formen
crfc^affen coorbcn finb". SERit bicfcm Dogma mar jcbc natürlicf)c
(£r!Iärung ber ^rtcntjte{)urtg abgcfc^nittcn. fiinn^ !anntc nur bie
gegcntDärtig eiijtierenbc 3:ier= unb ^flanjcntDcIt; er f)atte feine
^l)nung von t)tn t)iel 3at)Irei(i)eren ausgejtorbenen ^rten, roeId)e
in t>tn früt)eren ^erioben bcr (£rbge[d)id^te unferen Crbball in
toec^felnber ©ejtaltung beoöüert I)aben.
(£rjt im anfange bes 19. 3at)rl)unberts tourben bie[e foffilen
3:iere burd) duoier nät)er befannt. (£r gab in [einem berüt)mten
2Ber!e über hk foffilen 5^noct)en ber oierfüfeigen 2BirbeItierc (1812)
bie erjte genaue 5Befd)reibung unb richtige Deutung 3al)Ireict)er
S3erjteinerungen. 3uglei(^ coies er nad), bafe in ben oerfc^lebenen
^erioben ber (£rbgefd)i(i)te eine 9?ei^e oon ganj oerfd^iebenen
Xierbeoölferungen aufeinanber gefolgt toar. Da nun (luoicr
l)artnädig an fiinn^s ßel)re oon ber abfoluten 93ejtänbig!eit ber
Spe3ie5 fejtf)ielt, glaubte er il)re (£ntjtet)ung nur burct) bie 5ln=
nal)me erüären gu !önnen, ha^ eine 5teit)e oon großen 5^atajtropt)en
unb Don coieberl)oIten ^Reufc^öpfungen in ber (£rbgef(t)i(^te auf
einanber gefolgt [ei; im beginne jeber großen (Srbreoolution [ollten
alle lebenben ©e[cf)öpfe t)emid)tet unb am (^ntt berfelben eine
neue Seoölferung er[d^affen toorben [ein. £)bglei<^ biefe 5^ata*
jtropl)entl)eorie oon (£uoier gu ben ab[urbe[ten (Folgerungen
fül)rte unb auf t>tn nadften SBunberglauben l)inau5lief, geroann [ie
borf) balb allgemeine ©eltung unb blieb bis auf Dartoin (1859)
^err[d)enb.
Iransformtsmus. (5oetl)e. Dafe bie l)errf(^enben 23or=
[tellungen oon ber ab[oluten Sejtänbigfeit unb übematürli(i)en
Sd)öpfung ber organifc^en ^rten tiefer benfenbe ^ox\d)tx nic^t
befriebigen !onnten, ift leicht einjufe^en. Datier finben toir benn
[^on in ber jtoeiten ^älfte bes a(^t3el)nten 3al)rl)unberts einselne
^eroorragenbe (Seifter mit 93er[ud)en be[ct)äftigt, ju einer natur=
gemäßen £ö[ung bes großen „Sd^öpfungsproblems" 3u gelangen.
Tillen Doran ujar unfer größter Did)ter unb Denfer SBolfgang
©oet^c bur^ [eine t)ieliäl)rigen unb eifrigen morpl)ologi[c^en
Stubien [(t)on am (£nbe bes 18. 3al)r^unberts ju ber tlaren (£in[id)t
in iitn inneren 3ii[<iTnmenl)ang aller organi[d)en formen unb 3U
bcr fejten Hberseugung eines gemeinfamen natürlid)en Ur[prungs
gelangt. 3n [einer berül)mten „5Retamorpl)o[e ber ^flansen"
(1790) leitete er alle Der[d^iebenen formen ber ©etüäct)[e oon einer
Urpflanse ab, unb alle oer[(i)iebenen Organe ber[elben oon einem
Hrorganc, bem ^latt. 3n [einer 3Birbcltl)eorie bes Sd^öbels oer*
[uc^te er ju seigcn, bafe bie (5d)äbel aller ocrjc^iebenen SBirbeltierc
Unfcrc Stammcs9e|d)l(I)te. 45
— mit S^^CQnff bes 9Kcn[(f)en ! — in glci(i)cr 2Bci[c aus bestimmt
georbnctcn 5^no(i)engruppen jufammengefe^t [cien, unb bafe bie[e
leiteten nid^ts onbercs [cien als umgcbilbete SBirbcl. ©rabc
feine eingel)enben Stubien über üergleid^enbe 5lnod)enIeI)re l)atten
(5 0 e tf) e 3U ber f ejten Übergeugung von ber (£inl)eit ber Drganifation
gefül)rt; er f)atte erfannt, t)a^ bas 5lnocf)engerüjt bes 9Jlen[cf)en nad)
bemfelben 3^t)pus 3u[ammenge[e^t [ci toie bas aller übrigen
2BirbeItiere — „geformt nad) einem Urbilbe, bas nur in [einen
fel)r bejtänbigen 3^eilen mel)r ober toeniger t)in= unb {)ertDeid)t unb
[icf) nod) tägli(i) burcf) gortpflanjung aus* unb umbilbet" — . Die[e
Hmbilbung ober Transformation läfet ©oeti^e burd) t^ie bejtänbige
2Becf)[eIrDir!ung üon jtoei geftaltenben ©ilbungsfräften ge[d)et)en,
einer inneren 3^^tripetalfraft bes Organismus, bem „Spesififa«
tionstrieb", unb einer äußeren 3ß^trifugal!raft, bem SSariations*
trieb ober ber „5bee ber 9JletamorpI)o[e"; erjtere ent[prid)t bem,
roas toir l^eute 93ererbung, le^tere bem, toas roir ^npaffung
nennen. 3ßie tief © o e tt) e burd) biefe naturp]E)ilo[opt)i[c^en Stubien
über „©Übung unb Umbilbung organi[d)cr 9laturen" in beren
2Be[en eingebrungen toar, unb inroiefern er bemnad) als ber be=
beutenbjte 33orIäufer oon Darroin unb £amard betrad)tet
werben fann, ijt aus htn intere[[anten Stellen [einer 2Berfe ju
er[et)en, rDeId)e id) im oierten S3ortrage meiner 9ZatürIi(^en
Sd)öpfungsge[d)id)te 3u[ammenge[tent t)abe. 3^1 meinem 33ortrage
über „Die9'^aturan[d)auungt)onDartDin, ©oett)eunbfiamard"
((£i[enad) 1882) l)aht id) bics näl)er begrünbet. I)od) famen bie[e
naturgemäßen (gnttoidelungsibeen oon ©oetI)e, eben[o roie ät)n=
Iid)e 33or[tenungen oon 5lant, D!cn, 3:retjiranus unb anberen
9^aturpl)iIo[opt)en im ^Beginne bes 19. 3öt)rt)unberts ni^t über
getDi[[e allgemeine Überzeugungen l)inaus. (£s fehlte it)nen nod)
ber große §ebel, be[[en txt „natürliche Sd)öpfungsge[c^id)te" 3U
it)rer ©egrünbung bur^ bie Äriti! bes Spejiesbogma beburfte,
unb biefe oerbanfen U3ir erjt £amard.
2)efäettbett5t^eone ober tWbftamtnuttgsle^rc. £amard(1809).
Den erften eingel)enben 93er[u^ ju ein^ u)i[[en^d)aftlid)en ©e=
grünbung bes 3^ransformismus unternäl)m im beginne bes
19. 3at)rl)unberts ber große fran3ö[i[d)e 91aturpt)iIo[op^ ^tan
Jßamard, ber bebeutenbfte ©egner [eines i^ollegen (i^uoier in
^aris. S^on 1802 I)atte ber[elbe in [einen „^Betra^tungen über
bie lebenben S^laturförper" bie ba^nbredjenben 5bcen über bie
Unbeftänbigfeit unb Umbilbung ber Wirten ausge[prod)en, bie er
bann 1809 in htn 3toei Sänben [eines tieffinnigften 3!Ber!es, ber
Philosophie zoologique, einget)enb begrünbete. $ier fül)rte
ß a m ar d 3um crjtcn SJlale — gegenüber bem l)err[d)cnbcn Speaies*
46 fünftes Äopitcl.
X)ogma — bcn rid^tigcn ©ebanfen aus, bafe bie orgam[d)c „^rt
ober Spezies" eine !ün[tltd)e ^bftraftion [et, tin ©egriff
üon relatioem 3Berte, ebenfo tote bie übergeorbneten ^Begriffe ber
©attung, O^ömilte, Orbnung unb i^laffe. (£r bel)auptete ferner,
ba^ alle Wirten ceränberlid) unb im £aufe [ef)r langer 3ßiträume
aus älteren ^rten burd) Hmbilbung entftanben [eien. X)ie ge=
meinfamen Stammformen, »on benen biefelben abjtammen, roaren
urfprünglid) ganj einfalle unb niebere Organismen; bie erjten unb
ältejten entjtanben burd) Urseugung. 3Bäf)renb burd) 93 ererbung
ber 3:i)pus [ic^ bejtänbig ertjält, roerben anberfeits burd) ^n =
paffung, burc^ ©etool)nf)eit unb Hbung ber Organe, bie ^rten
allmäl)lid) umgebilbet. %u<i) unfer menfcl^Iid)er Organismus ijt
auf biefelbe na1ürUd)e SBeife burd) Hmbilbung aus einer 5Reit)e oon
affenartigen Säugetieren entjtanben. ^ür alle biefe 33orgänge,
toie überl)aupt für alle (£rfd) einungen in ber 9latur unb im ©eiftes*
leben, nimmt ßamard ausfd)liefelid) mec^anifd)e, pl)r)fi!alifd)e
unb d)emifc^e 93orgänge als toa^re, beu)ir!enbe Urfad^en an. Sein
Sßerf entt)ält bie (Elemente für ein rein moniftif^es 9latur[i)ftem
auf ©runb ber (SnttDidelungsIeI)re.
^Ran ^ätte erroarten f ollen, b"afe biefer großartige 33erfud), bie
^Ibjtammungslel^re ober X)ef3enben3tl)eorie toiffenfc^aftlid) ju be=
grünben, alsbalb ben t)errfd)enben9Jlt)tl)Us oon ber Spe3ies[d)öpfung
erfd)üttert unb einer natürlid)en (£nttDidelungslel)re ^a\)n gebrod)en
l)ätte. S^ö'iff^^ oermoi^te £amard gegenüber ber tonferoatioen
Autorität feines großen (Segners (i^uoier ebenfotoenig burd)=
3ubringen, toie jtoansig ^a\)xt fpäter fein 5^ollege unb ©efinnungs»
genoffe (56offrot) St. §ilaire. Die berül)mten Äämpfe, roelc^er
biefer 9'laturpi)ilofopl) 1830 im Sd)oße ber ^arifer ^fabemie mit
duüier 3U beftel)en l)atte, enbigten mit einem üollftänbigen Siege
bes le^teren. Die mäd)tige (Entfaltung, tDeld)e 3U jener 3eit bas
empirif^e Stubium ber Biologie fanb, bie gülle üon intereffanten
(Sntbedungen auf bem (Sebiete ber t)ergleid)enben Anatomie unb
^t)r)fiologie, bie Segrünbung ber 3ellentl)eorie unb bie (5rortfd)rittc
ber Ontogenie gaben ben 3ooIogen unb Sotanüem einen fold)en
Überfluß oon bantbarem ^rbeitsmaterial, baß barüber bie fd)U)ierige
unb bunfle S^rage nad) ber (£ntftel)ung ber Wirten gans oergeffen
Bourbe. 'SRan berul)igte fid) bei bem alt^ergebrad)ten Sd)öpfungs=
Dogma. Selbjt nac^bem ber große englifd)e 9fiaturforfd)er (£l)arle5
2x)tU 1830 in feinen ^rinsipien ber ©eologie t>it abenteuerlid)e
5^atajtropI)entl)eorie oon (tuoier roiberlegt unb für bie anorganifd)e
5Ratur unferes Planeten einen natürlichen unb !ontinuierli(^en
(Sntioidelungsgang nac^getoiefen l)atte, fanb fein einfad)cs Äon=
tinuität5prin3ip feine ^Inroenbung auf bie organifd)e 9lotur. Die
Unferc Stammc5gc|d)i^tc. 47
Anfänge bcr natürltd)en ^l)r)Iogcntc, roeId)c in ßamarcfs 3Ber!e
Dcrborgen lagen, tourben cbcnfo ücrgcffcn, tote bie Reime 3U einer
natürlichen Ontogenie, mtlä)t 50 ^ai)xt frül)er (1759) Ö^afp ar
3friebri(^2ßolffin [einer 3^eorie ber ©eneration gegeben f)atte.
§ier toie bort oerflofe ein. tjolles l)albes 3flf)i^^unbert, el)e bie be=
beutenbjten ^httn über natürliche (Enttoicfelung bie gebül)renbe
^ner!ennung fanben. (£rjt na(i)bem Dartöin 1859 bie ßöfung bes
Sd()öpfung5problem5 von einer gan3 anberen Seite angefajgt unb
ben reicf)en, in3tt)i[d)en angefainmelten <B6:)ai^ von etnpiri[cf)en
Renntniffen glüdlic^ ba3u üerroertet ^atte, fing man an, [ic^ auf
fiamar df, als feinen bebeirtenbjten 33orgänger, tüieber 3U befinnen.
Selefttonsl^eorte. Dartüin (1859). Der beifpiellofe (Erfolg
von (£l)arles I)artx»in ift allbe!annt. Rein anberer von ben 3at)l=
md)tn grojgen (5eiite5l)elben unferer 3ett l)at mit einem ein3igen
!la[[ifcf)en 2Ber!e einen [o getoaltigen, [o tiefgel)enben unb fo um=
faffenben (Erfolg er3ielt, toie t)artDin 1859 mit feinem berüt)mten
Öaupttoerl: „Über bie (£ntjtel)ung ber ^rten im 3:ier= unb ^flan3en=
reid) burd^natürli(^e3ücl)tung ober(£rl)altung ber oeroolKommneten
9?affen imRampfe ums T)afein." ©etoife l)at bie5?eform ber t)er=
gleicf)enben Anatomie unb ^l)i)fiologie burc^ ^o^^anms 9Jiüller
ber gan3en ^Biologie eine neue, frud)tbare (£pocl)e eröffnet, getoife
toaren bie 93egrünbung ber 3ßnentl)eorie burd) Scf)letbe,n unb
Scf)tDann, bie 9?eform ber Ontogenie burd) Saer , bie $Begrünbung
bes Subjtansgefe^es burcf) ^Robert 'Max)tx unb $elml)ol^
tt)iffenfcl^aftli(^e ©rofetaten erften Ülanges; aber feine oon il)nen
l)at nad) 3^iefe unb ^lusbel^nung eine fo getoaltige, unfer gan3e5
menfcf)lic^es 3Biffen umgejtaltenbe 9Bir!ung ausgeübt, toie
I)artDins !tf)eorie von ber natürlichen (£ntftel)ung ber ^rten.
Denn bamit toar ja bas mt)jtifcl)e „Scf)öpfungsproblem" gelöjt,
unb mit il^m bie int)altsfd)toere „^i^age aller (5^agen", bas Problem
Dom wa\)xtn 3Befen unb oon ber CEntjte^ung bes 9Jlenfd)en felbjt.
93erglei^en toir bie beiben großen SBegrünber bes 3^ran5=
formismus, fo finben toir bei ßamard übertoiegenbe Steigung 3ur
Debuftion unb 3um (Snttourfe eines t)olljtänbigen 5Raturbilbes,
bei Dartöin f)ingegen Dort)errfci)enfce ^ntüfenbung ber ^Ttbuftion
unb bas t)orfict)tige 95emü^en, bie ein3elnen 3:eile ber X)ef3enben3=
tl)eorie burcf) 5Beobacl)tung unb (Experiment möglid)ft fieser 3U be=
grünben. 2Bäl)renb ber fran3öfifcl)e 9iaturpl)ilofopl) ben bamaligen
Rreis bes empirifd)en SBiffens toeit überfcf)ritt unb eigentlicf) bas
Programm ber 3ufünftigen 5orfcf)ung entt»arf, l)atte ber englifcf)e
(Experimentator umge!el)rt ben großen 33orteil, bas einigenbe
(£r!lärungsprin3ip für eine 9Jlaffe von empirifcf)en Renntniffett 3U
begrünben, bie bis bal)in unt)erjtanben ftcf) angel)äuft l)atten. So
48 fünftes aapitcl.
crflärt CS [id), bofe ber (Erfolg oon t)artDin cbcnfo übcrtDälttgcnb,
lüic bcrjentge von Qamaxd Dcr[d)tDmbenb toar. Dariöin I)attc
aber nid)i allein bas grofee 3Serbtenjt, bie allgemeinen CBrgebntffe
ber oerfc^iebenen biologi[ci)en gor[d)ung5!rei[e in bem gemein=
[amen $ßrennpun!te bes Defsenbensprinaips 5U [ammeln unb
babur(^ einl)eitlid) gu erflären, [onbern er entbedte aud) in
bem Sele!tionöprtn3ip jenen tt)id)tigen ga!tor ber Umbilbung,
töeld^er ß a mar d nocf) gef el)lt ^atte. S^tbem D arto in als pra!ti[d)er
!i:ier3ü(^ter bie (£rfal)rungen ber !ünftlicl)en 3ud)tt»af)l auf bie
Organismen im freien 91atur3ujtanbe antoenbete unb in bem
„i^ampf ums "t)a[ein" bas auslefenbe ^rinjip ber natürlid^en
3ud)tu)al)l entbedfte, [c^uf er [eine bebeutungsoolle Sele!tions=
tl)eoric, htn eigerttlid)en !r)artDini5mus.
Stammesgefc^it^te (^^^logente) (1866). Unter bcn ^al)U
reid^en unb roid^tigen Aufgaben, tDeld)e D arte in ber mobernen
Biologie [teilte, er[d^ien als eine ber näd)[ten bie 9ieform bes
30ologi[d)en unb botani[d)en St) [tems . 2Benn bie un3äl)ligen 3:ier=
unb ^flan3enarten ni(^t burd) übernatürlid)e SBunber „er[d)affen",
[onbern burd) natürlid)e Hmbilbung „enttoidelt" roaren, [0 ergab
[id) bas „natürlid)e Sr)[tem" ber[elben als il)r Stammbaum.
I)en er[tcn 3)er[ud), bas Sr)[tem in bie[em Sinne um3uge[talten,
unternal)m id) [elb[t (1866) in meiner „Generellen 9Jiorpl)ologie
ber Organismen". ®is bal)in l)atte man unter „(£nttDide =
lungsge[d)id)te" [otöol)l in ber 3oologie als in ber Sotani!
aus[d)liefelid) biejenige ber organi[d)en 3^^toi^ußn t)er[tanben.
3d) begrünbete bagegen bie 5ln[id)t, ba^ bie[er 5leime5ge[d)id)te
(Ontogenie) als 3iDciter, gleic^bered)tigter unb eng oerbunbener
3t»eig bie Stammesge[d)id)te (Phylogenie) gegenüberjtel)e.
Seibe 3tDeige ber (£nttDidelung5ge[d)id)te [tel)en nad) meiner ^uf=
fa[[ung im eng[ten !au[alen 3ii[ammenl)ang ; bie[er berul)t auf ber
2Be(^fela)ir!ung ber iöererbungs^ unb ^npa[[ung5ge[e^c; er fanb
[einen prä3i[en unb umfa[[enbcn ^usbrud in meinem allgemein
gültigen „^iogeneti[d)en (5runbge[e^".
IRatürlid^e Sc^öpfunösgefi^t^tc (1868). Da bie neuen, in
ber „(Generellen 9JiorpI)ologie" niebergelegten 5(n[(^auungen tro^
i^rer [treng tt)i[[en[d)aftlid)en iya[[ung bei "ötn [ad)funbigen ^ad)=
geno[[en [el)r töenig $ßea(^tung unb no(^ toeniger Beifall fanben,
t)er[u(^te ic^, htn tx)id)tig[ten 3:eil ber[elben in einem Heineren,
mcl)r populär gel)altenen 2Ber!e einem größeren, gebilbeten £e[er=
trei[e sugänglid) 3u mad)en. Dies ge[d)al) 1868 in ber „91atürlid)en
S(^öpfungsge[d^id)te" ((5emeini)er[tänblid)e tt)i[[en[d)aftlic^e 3Sor=
träge über bie (£nttoidelungslel)re im allgemeinen unb biejenige oon
Dartoin, (5oetl)e unb fiamard im be[onberen). SBcnn ber get)offtc
Unfere StaTnmc5gefd)id)tc. 49
(Erfolg ber „Ocncrellen 9Jlorpl)oIogie" tocit unter meiner bere(^=
ttgten CBrtDartung blieb, [o ging umgefe^rt berjenige ber „5Ratür=
Iid)en Sd)öpfungsgefdE)i(i)te" roeit über biefelbe l)inaus. %xo^
[einer großen SO^ängel \)ai biefes Sud) toä) oiel baju beigetragen,
bie ©runbgebanfen unferer mobernen (£nttDic!eIung5lel)re in
uoeiteren 5^rei[en 5U oerbreiten. ^Ilerbings fonnte id) meinen
^auptstoetf, bie pI)r)Iogeneti[^e Itmbilbung bes natürlid)en
Si)jtems, bort nur in allgemeinen Umri[[en anbeuten. ^^tbeffen
I)abe icf) bie au5fül)rlirf)e, bort oermifete Segrünbung bes pl)r)Io=
geneti[d)en Si)jtem5 [päter in einem größeren 2Berfe nad)get)olt,
in ber „©pftematifc^en ^^i)Iogenie" ((Entcourf eines natür«
Iicf)en Si)item5 ber Organismen auf ©runb it)rer Stammes»
gefc^i^te). Der erfte Sanb berfelben (1894) bet)anbelt bie ^ro-
tijten unb ^flanjen, ber jroeite (1896) bie toirbellofen Xiere, ber
britte (1895) bie Sßitbeltiere. Die Stammbäume ber Heineren
unb gröjgeren ©ruppen [inb f)ier [o loeit au'sgefüt)rt, als es mir
meine 5^enntnis ber brei großen „3tammesur!unben" geftattete,
ber Paläontologie, Ontogenie unb S[Rorpt)oIogie.
Siogenetift^es ©runbgefe^. Den engen, urfärf)lid)en 3"'
[ammenl)ang, u)eld)er nad) meiner Xlber^eugung 5töi[(^en beiben
3töeigen ber organifc^en (Entxöi(lelungsge[ct)td)te bejtel)t, l)atte id)
f^on in ber ©enerellen 9Jiorpt)oIogie als einen ber xoid)tigjten
^Begriffe bes Xransformismus l)erDorget)oben unb einen präjifen
^lusbrud bafür in met)reren „Xt)e[en oon bem 5lau[alneius ber
biontifd^en unb ber pt)i)Ieti)(^en (Snttoidelung" gegeben: „Die
Ontogenefis ijt eine furge unb [d)nene 9lefapituIation
ber ^I)pIogene[is, bebingt burd) bie pI)t)[iologifd)en ^runWionen
ber 33ererbung (gortpflansung) unb ^npaffung ((£rnät)rung)".
Sd)on Darroin l)atte (1859) bie grofee ^Bebeutimg [einer Xt)eorie
für h\t (Srüärung ber (£mbri)oIogie betont, unb S^ife SD^üIIer
I)atte bie[elbe (1864) an bem 5Bei[pieIe einer einseinen !Iier!Ia[[e,
ber 5lrebstiere, erläutert, in ber geijtoollen üeinen Schrift: „Srür
Dario in" (1864). ^d) [elb[t l)aht bann bie allgemeine ©eltung
unb bie funbamentale ©ebeutung jenes 5Biogeneti[d)en (5runb=
ge[e^es in einer 5?eit)e üon arbeiten nad53utDei[en üer[ud)t, ins=
be[onbere in ber Biologie ber 5^al![d)töämme (1872) unb in "ötn
„Stubien 3ur ©a[träatI)eorie" (1873—1884). Die bort aufgejtellte
fiet)re oon ber Homologie ber Reimblätter, [otoie oon ben 23er*
|l)ältni[[en ber ^alingeme (^us3ugsge[^id)te) unb ber 3cwos
fienie (Störungsge[d)id)te) ijt [eitbem burd) 3al)lrei(^e arbeiten
onberer 3oologcn bejtätigt toorben; bur^ [ie ijt es mögli(^ ge=
toorben, bie natürlid)en (5e[e^e ber (£inl)eit in ber mannigfaltigen
J^eimesge[d)id)te ber 3^iere nad)5uroei[en; für il)re Stammes*
Äocdel, QBctträffct. 4
50 (fünftes Äopitcl.
ge)d)id)te ergibt [ic^ baraus bic gemeinfame Ableitung von einer
einfad)jten ur[prünglid)ett Stammform.
i^ntl^topodeme (1874). Der toeitfd^auenbe SBegrünber ber
^bjtammung5lel)re, Qamaxä, l)atte [d)on 1809 rii^tig erfannt,
"üa^ [ie allgemeine ©eltung be[i^e, unb bafe al[o aud) ber SJienfc^,
oIs bas l)öä)\i enttoidelte Säugetier, von bemfelben Stamme ab=
5uleiten [ei, roie alle anberen Säugetiere, unb biefe löeiter l)inauf
Don bemfelben älteren 3^^W «^^s Stammbaums, roie bie übrigen
SBirbeltiere. (£r I)atte aud) [c^on auf bie 33orgänge I)ingetDie[en,
burd) toeId)e hit ^bftammung bes äJlenfd)en oom ^ffen,
als bem näd)jtDen»anbten Säugetiere, töi[fenfd)aftlid) erflärt
u)erben !önne. Dartoin, ber naturgemäß ju berfelben Überseu*
gung gelangt toar, ging in feinem ^aupttoer! (1859) über biefe
anftöfeigfte Folgerung [einer ßet)re ab[id)tlid) l)inu)eg unb \)ai
bie[elbe erft [päter (1871) in [einem 2Berfe über „i)ie Ulbftammung
bes 9pf?enfd)en unb bie ge[d)led)tlid)e 3ii<^ttüai)r' geijtreic^ aus=
geführt. 3Tt3toi[c^en f)atte aber fd)on fein ^^reunb öuilei) (1863)
jenen tDid)tigjten 3folge[c^lufe ber ^bjtammungslel)re [e^r [d)arf=
[innig erörtert in [einer berül)mten fleinen Sd)rift über bie „3ßiig=
ni[[e für bie Stellung bes 9Jien[d)en in ber 9latur". ^n ber §anb
ber t)ergleid)enben Anatomie unb Ontogenie unb gejtü^t auf bie
3;at[ad)en ber Paläontologie seigte §uxler), ^a^ bie „^bjtammung
bes 9Jlen[d)en oom ^ffen" eine notioenbige 5lon[equen3 bes
T)artoinismus [ei, unb ha^ eine anbere tDi[[en[d)aftlic^e (£r!lärung
Don ber (Sntfte^ung bes 9Kenfc^enge[c^le^ts überf)aupt ni(^t ge=
geben toerben !önne.
^Is roeitere (Folgerung bie[er toic^tigen (£r!enntnis ergab fid)
bie [d)rDierige ^lufgabe, nid)t nur bie näc^ftoerroanbten Säugetier*
5lt)nen bes SOUn[d)en in ber Xertiärßeit gu erfor[d)en, [onbem
aud) bie lange 5ReiI)e ber älteren tieri[^en 33orfa]^ren, roeldie in
früheren 3eiträum,en ber (£rbge[d)id)te gelebt unb tDät)renb un=
ge3äl)lter 5at)rmillionen [i^ enttoidelt l)atten. t)ie l)i)potl)eti[d)e
£ö[ung bie[er großen l)i[tori[d)en Aufgabe liatte \ä) \d)on 1866 in
ber (Öenerellen äRorpl)ologie Derfud)t; roeiter ausgeführt l)abe id)
bie[elbe 1874 in meiner ^ntl)ropogenie (I. Xeil: i^eimesge*
[d)ic^te; II. Xeil: Stammesge[d)id)te). 3)ie fünfte umgearbeitete
Auflage bie[e5 $Bud)es (1903) entl)ält biejenige Darjtellung ber
(£ntrDidelung5ge[d)id)te bes 9Jien[d)en, u)eld)e bei bem gegen=
toärtigen 3u[tanbe un[erer Ur!unben!enntnis [id) bem fernen 3iel^
ber 2Bal)rl)eit nad) meiner per[önlic^n 3luffa[[ung am meijten
näl)ert; id) toar babei [tets bemüht, alle brei empiri[d)en Hrfunben,
bie Paläontologie, Ontogenie unb äRorp^ologie (ober üer=
glei^enbe Anatomie), möglid)jt gleid)mäßig unb im 3u[ammcn«=
Unfere Stamme5ge[(i)i^tc. öl
^ange 3U benu^cn. Std)er iDerbcn btc l)ier gegebenen 'X)t\^tnhtn^='
^i)potf)e[en im einzelnen burd) fpätere pI)i)logenettfcf)e (5or[d)ungen
melfa^ ergänzt unb bend)tigt toerben; aber thtn [o [ic^er jtel)t für
mid) bte Überzeugung, tta'^ ber bort enttöorfene Stufengang ber
men[d)It(i)en (5tamme5ge[^td)te im großen unb ganzen ber 2Bol)rI)eit
ent[prid)t. "^zrin bie f)i[tori[d)e 9?eiI)enfoIge ber 2ßirbel =
tieroerfteinerungen ent[prid)t oolljtänbig ber morpt)oIogif(i)en
(SntxDidelungsreil^e, toeldie uns bie Dergleict)enbe Anatomie unb
Ontogenie entf)ünt: auf bie [iluri[c^en ^i\d)t folgen bie beoonifc^en
fiurd)fi[(^e, bie farboni[d)en ^mpl)ibien, bie permifd^en 5?eptilien
unb bie mefozoifd^en Säugetiere; oon biefen er[d)einen roieberum
3unäd)jt in ber Xrias bie nieberjten grormen, bie ©abeltiere (Mono-
tremen), bann im ^ma bie Beuteltiere (Marsupialien) unb barauf
in ber ilreibc bie ältejten 3ottentierc (Piacentalien). 23on biefen
legieren treten toieber junäd^ft in ber älteften 3:ertiär3eit bie nieber=
jten ^rimatenal)nen auf, bie Halbaffen, barauf bie eckten ^ffen,
unb scoar oon hzn Catarrhinen 3uerjt bie $unbsaffen (Cynopi-
theken), [päter bie 9P'ien[d)enaffen (Anthropomorphen); aus einem
3tDeigc biefer legieren ift toä^renb ber ^liozänseit ber [praci)Io[e
5lffenmen[d) entjtanben (Pithecanthropus alalus), unb aus
biefem enblicf) ber [pred)enbe 9}len[rf).
23icl fd)ix»ieriger unb unfid)erer als biefe i^ette unserer 2BirbeI =
tier = 5l^nen ijt biejenige ber Dort)ergel)enben toirbellofen ^l)nen
3U erfor[d)en; benn oon ii)ren roeid^en [!eIettIo[en i^örpern fennen
coir4eine oerjteinerten Hberrejte; bie Paläontologie fann uns ^ier
feinerlei 3^U9Tii5 liefern. Hm [o tDid)tiger toerben f)ier bie Ur=
tunben ber oergIei(f)enben Anatomie unb Ontogenie. Da ber
menfd)li(f)e 5leim benfelben Chordula-3uftanb burd)Iäuft roie ber
(£mbrr)o aller anberen SBirbeltiere, ha er [id) ebenfo aus 3ix)ei 5^eim=
blättern einer Gastrula enttoidelt, fc^Iiefeen wix nad) bem 23io=
geneti[d)en ©runbgefe^e auf bie frül)ere (£iiften3 ent[pred)enber
^^nenformen (Vermalien, Gastraeaden). Soor allem toid^tig aber
ijt bie funbamentale 3:at[ad)e, bafe and) ber i^eim bes 9JZeti[d)en,
glei^ bemjenigen aller anberen Stiere, [ic^ urfprünglirf) aus einer
einfachen ä^lle entroidelt; benn biefe Stamm3elle (Cytula) —
bie „befrud)tete (£i3elle" — üoeijt 3iBeifenos auf eine ent[precl)enbe
ein3ellige Stammform l)in, ein uraltes Protozoon.
Orür unfere moni[ti[d)e $t)ilo[opl)ie ift es übrigens 3unäd)jt
3iemlid) gleid) gültig, roie fid) im ein3elnen bie Stufenreil)e unferer
üßorfal)ren nod) [id)erer fejtjtellen la[[en toirb. ^üx [ie bleibt als
fiebere l)iftori[d)e Xat[ad)e bie folgen[dE)U)ere (Srtenntnis be=
fte^en, bal3 ber STieufd) 3unäd)jt oom ^ffen abstammt,
tDeiterl)in oon einer langen 9?eil)e nieberer SBirbeltiere. Die
4*
62 fünftes Äapitcl.
Iogi[d)c a3cgrünbung biefcs Sa^es l)abc i^ [d)on 1866 im [iebcnten
5ßud)c ber „©cnerellcn 9Jlürpf)ologie" betont (S. 427): „I)er
Sa^, bafe ber 95Ien[(^ ]i(i) aus nieberen SBirbeltieren, unb stoar
5unäd)jt aus ed)tcn ^ffen, entroidelt \)a\, \\i ein [pesieller X)ebu!*
tion5[(i)Iufe, ber ficf) aus bem generellen 3^öu!tionsge[e^e ber
!De|3enben3tt)eorie mit abfoluter 9^otiDenbig!eit ergibt."
93on größter ^ebeutung für bie befinitiüe gejtjtellung unb
^nerfennung biefes funbam entölen Sa^es [inb bie paläonto*
Iogi[(f)en (Sntbcdungen ber legten Dejennien geworben;
insbefonbere I)oben uns bie überrafc^enben ^'U^ibe oon 3aI)Ireid^en
ausgeftorbenen Säugetieren ber Xertiärseit in t)tn Stanb gefegt,
bie 6tammesge[d)i^te biefer rDi(i)tigften 3:ier!Ia[[e, oon ben
nieberjten, eierlegenben 9Jlonotremen bis jum 9Jien|d)en I)inauf,
in it)ren (5runb3ügen !Iar3uIegen. X)ie oier §auptgruppen ber
3ottcntiere, bie formenreic^en fiegionen ber ^Raubtiere, 9lage^
iiere, Huftiere unb §errentiere, erfd)einen burd) tiefe Älüfte ge=
trennt, roenn toir nur bie t)eute nod) lebenben (Epigonen als 3Ser=
treter berfelben ins 5luge fa[[en. Diefe illüfte toerben aber ooll^
fommcn ausgefüllt unb bie [d)arfen Unter[(^iebe ber oier £egionen
9än3li(^ oerroifc^t, üoenn roir if)re tertiären, ausgestorbenen 25or*
fat)ren oergIeid)en, unb toenn toir bis in bie eo3äne (5e[d)id)ts=
bämmerung ber ältejten 3:ertiär3eit I)inabjteigen. X)a finben toir
bie grofee Unterflaffe ber 3ottentiere, bie l)eute mel)r als 2500 ^rten
umf afet, nur burd) eine geringe 3ö^I »on Heinen unb unbebeutenben
„Ur3ottentieren" oertreten; unb in biefen Prochoriaten er[cf)efnen
bie (It)ara!tere jener oier bioergenten fiegionen [o gemi[ct)t unb
oertDifc^t, bafe toir fie oernünftigertDeife nur als. gemeinfame
S3orfal)ren berfelben beuten fönnen. Sie befi^en alle im
u)efentli(i)en biefelbe 58ilbung bes i^no^engerüftes unb basfelbe
tr)pi[d)e ©ebijj ber ur[prünglic^en ^Ia3entalien mit 44 3ät)nen;
[ie 3eid)nen fid) alle burd) bie geringe ©rö^e unb bie unoollfommene
33ilbung it)res (5el)irns aus; [ie l)aben alle !ur3e Seine unb fünf=
3el)ige ^iX^t, bie mit ber flad)en Sol)le auftreten. Sei mand)en
biefer ältejten 3ottentiere ber (£o3än3eit roar es anfangs 3roeif ell)aft,
ob man [ie 3U ben ^Raubtieren ober ^Ragetieren, 3U htn Huftieren
ober §errentieren [teilen [ollte; [o [et)r näl)ern [xd) l)ier unten
bie[e oier großen, [päter [o [el)r Der[d)iebenen fiegionen ber ^la=
3entalien. Un3U)eifell)aft folgt baraus i\)x gemeinfamer Ur=
[prung aus einer ein3igen Stammgruppe. X)ie[e Ursottentiere
lebten [d)on in ber t)orl)ergel)enben 5lreibeperiobe unb [inb tüal)r=
[d)einlid) aus einer ©ruppe oon tn[eftenfre[[enben Beuteltieren
l)erDorgegangen.
Die tDid)tig[tcn oon allen neueren paläontologi[d)en (^nt^
Un[crc Stamme5gef(i)t(f)tc. 53
bccfungen, tDcId)e bic (5tamTnesgefd)tcf)tc bcr 3ottcntterc aufgcüärt
l)abcrt, betreffen unferen eigenen Stamm, bte ßegton ber ^erren^
ttere (Primates). grüt)er roaren oerjitemerte 9?efte berfelben
äufeerjt [elten. 9^od) (£ut)ter , ber grofee ©rünber ber Paläontologie,
bel)auptete bis gu [einem 3:obe (1832), ha^ es !eine 93erfteinerungen
oon Primaten gäbe; gtoar l)atte er [elbjt [d)on ben Sd)äbel eines
eo3änen Halbaffen (Adapis) befd^rieben, il^n aber irrtümlicf) für
ein §uftier gel)alten. 5n 'ütn legten Desennien [inb aber gut
ert)altene, oerjteinerte Sfelette oon Halbaffen unb 5(ffen in
3iemlid)er 3«^^ entbedt morben; barunter befinben [id) alle bie
tDid)tigen 3tDi[<^ß"9lteber, roel^e eine 3u[ammenl)ängenbe ^l^nen*
fette üon ben ältejten §oIbaffen bis 3um 9Jten[^en t)inauf bar*
jtellen.
I)er berüt)mtejte unb intere[[antejte von biefen foffileti S^unben
ift ber ocrfteinerte ^ffenmenfcf) oon ^a^ö, töel(i)en ber
t)onänbifd)C 9JiiIitärar3t (Eugen Dubois 1891 entbecft ^at, ber
üielbefproc^ene Pithecanthropus erectus. (£r i[t in ber iat bas
oieIge[ud)te „Missing link", bas angeblich „fet)Ienbe ©lieb" in ber
^rimatenfette, rDeIcI)c fid) ununterbro(^en oom nieberjten ^ffen
bis 3um i)öd)jt entmidelten 9Jlen[(^en I)inauf3iel)t. 5<i) l)ö'E>e i>ie
f)ot)e SBebeutung, roeld)e bie[er merftoürbige ^uni) befi^t, aus=
fü^rlid) erörtert in bem 93ortrage „Xlber unjere gegentoärtige
5lenntnis oom Urfprung bes SOIen[d)en", toelc^en id) am 26. ^ugujt
1898 auf bem oierten internationalen 3oologen!ongrefe in dam*
bribge get)alten liaht. I)er Paläontologe, rDeId)er bie $Bebingungen
für ©Übung unb (£rt)aitung oon 23erjteinerungen fennt, roirb bie
(Sntbedung bes ^itt)e!antt)ropu5 als einen be[onbers glücfli(f)en
3ufan betrauten. Denn als 5BaumbetDot)ner fommen bie Riffen
nac^ it)rem 2obe (menn [ie nid)t sufällig ins 2Ba[fer fallen) nur
[elten unter 93ert)ältni[[e, tDeld)e bie C£rl)altung unb 23er[teinerung
il)res Änod)engerüjtes gejtatten. Durd) htn ^unh bie[es fo[[ilcn
iÜffenmen[d)en oon ^axia i[t al[o aud) oon [eiten ber ^aläonto =
logie bie „^bftammung bes 9Plen[d)en oom ^ffen" ebenfo flar unb
[id)er beiDie[en, toie es frül)er [d)on burc^ bie llrfunben ber Der =
gleid)enben Anatomie unb Ontogenie ge[d)et)en roar; toir
be[i^en je^t in ber Xat alle roe[entlid)en Urfunben un[erer Stammes*
ge[c^id)te. '*
3u[a^ (1908). Die breifeig §aupt[tufen, bie [id) gegentoärtig in
ber Stammesfette un[ercr tieri[d)en 23orfa^ren unter[d)eiben unb
auf [ec^s Streden oerteilen la[[en, l)abe ic^ über[id)tlid) 3u[ammen*
ge[tellt in meiner ge[t[c^rift über: „Unfere 5tl)nenreil)e (Prognotaxis
hominis)". 3ena 1908.
54 Se(^jtes Äapitel.
®a^ QBefett &er Seele*
9}Zon{ff{f(^e 6tubien über hm 93egriff bcr ^fi)c|)c. ^uf--
gabcn unb 9}^et^obcn ber n>iffcnfc^aftlic^en ^fpc|)o(ogie.
^f^c^o(ogifc^e 9}^etamorp|)ofctt.
T)ie fiebenstätigfeiten, tüelcl)c man allgemein unter bcm ®e=
griffe bes (Seelenlebens ober ber p[i)d)ifc^en 3^un!tionen 3U=
fammenfa^t, |inb unter allen uns befannten ^rfc^einungen einer=
[eits bie rt)id)tigjten unb intereffantejten, anbererfeits bie t)er=
tDicfeltjten unb rätfelbaftejten. X)a bie 5Raturer!enntnt5 felbjt ein
Xeil bes Seelenlebens ift, unb ha mitbin aucf) bie ?IntbropoIogie,
ebenfo roie bie Kosmologie, eine ri^tige (£r!enntnis ber „^fr)d)e"
3ur S3orausfe^ung \)ai, [o !ann man bie ^[i)(^oIogie, bie Eoirflid)
iDi[[en[d)aftlidt)e Seelenlebre, aud) als bas ^unbament unb als
bie 93oraus[e^ung aller anberen 2Bi[[enfcbaften an[eben; oon ber
anberen Seite betrachtet, ijt [ie roieber ein Xeil ber ^b^Iofopbie,
ober ber ^b^fiologie, ober ber ^ntbropologie.
T)ie grofee Scbroierigteit ibrer naturgemäßen SBegrünbung
liegt nun aber barin, hal^ bie ^[i)cbologie röieberum bie genaue
5lenntnis bes men[^lid)en Organismus oorausfe^t unb tjor allem
bes ©ebirns, als bes toicbtigften Organs bes Seelenlebens.
Die große SJlebrgabl ber Sogenannten „^[i)d)ologen" befi^t jebocf)
t)on biefen anatomi[d)en ©runblagen ber ^fr)cbe nur [ebr unooll»
jtänbige ober gar feine 5^enntnis, unb fo erflärt Yid) bie bebauerlicbe
3:atfad)e, baß in feiner anberen 2ßif[enfd)aft [o toiberfprecbenbc
unb unbaltbare 23orjtellungen über ibren eigenen begriff unb
ibre toefentlid)e Aufgabe berr[d)en, roie in ber ^[t)(i)ologie. Diefe
S^ertDirrung ijt in ben legten X)e3ennien um [o füblbarer beroor»
getreten, je mebr bie großartigen i5^ort[cbritte ber 5lnatomie unb
^bi)[iologie unfere 5lenntnis oom 5Bau unb oon htn gunftionen
bes roicbtigjten Seelenorgans ertoeitert b<iben.
aRetboben ber 6eelenforf(^un0. ^ad) meiner ilberseugung
ift bas, roas man hit „Seele" nennt, in SBabrbeit eine 91atur»
erfcb einung; xd) betrad)te baber bie ^fi)cbologie als einen S^^^Q
ber 91aturtDi[[enfd)aft — unb sroar ber ^b^fiologie. Demsufolge
muß id) üon oomberein betonen, baß toir für biefelbe feine anberen
grorfrfjungsroege ^ulaffen fönnen als in allen übrigen 9laturtDi[[en*
Das 2Be|cn ber Seele. 55
f^aften; b. \). in erfter £tme bte Seobad^tung unb bas (£iperi =
ment, in jroeiter £inie bie (Enttoidelungsgcfcfiirfite unb in
britter £inie bie tl)eoretifd^e Spefulation, tDeld)e burd) inbuftiöe
unb bebuftioe S(i)Iü[[e ntöglicfijt bem unbefannten „2B c[en"
ber (£r[d)einung [id) 3U nät)ern [u(^t. 3)?it ®e3ug auf feine prinji*
pielle Beurteilung aber muffen loir junäi^jt gerabe I)ier ben (5egen=
fa^ ber bualijtif(f)en unb ber monijtifd)en 5(nfid)t f(i)arf ins 5luge
faffen.
©ualtfttfd^e ^ft)(^oI09ie. ;Die allgemein I)errfd^enbc ^uf=
faffung bes Seelenlebens, toeId)e roir befämpfen, betrachtet Seele
unb £eib als gtoei t)erfd)iebene „2Befen". X)iefe beiben 2Befen
fönuen unabl)ängig ooneinanber eiijtieren unb finb nid)t not=
toenbig aneinanber gebunben. !Der organifd)e £eib ift ein fterb=
\\d)t5 materielles SBefen, d)emifd) jufammengefe^t aus lebenbi*
gem ^lasma unb ben Don biefem er3 engten 23erbinbungen. Die
Seele I)ingegen ijt ein unjterblii^es, immaterielles SBefen,
ein fpirituelles ^gens, beffen rätfel{)afte 3:ätig!eit uns oöllig un*
befannt ift. Diefe übli(i)e ^iTuffaffung ift als foId)e rein fpiritualiftifrf)
unb if)r prinzipielles ©egenteil im getoiffen Sinne materialiftifd).
Sie ift jugleic^ tranfjenbent unb fupranaturaliftifi^; benn
fie bel)auptet bie (Siiftenj von i^räften, roeIct)e ot)ne materielle
93afis eiiftieren unb toirffam finb; fie fufet auf ber 5tnnat)me,
ha^ aufeer unb über ber 91atur nodf) eine „geiftige 2BeIt" eiiftiert,
eine immaterielle SBelt, von ber toir buri^ (Erfahrung nid)ts toiffen
unb unferer ^atm nad) nict)ts tüiffen fönnen.
Diefe I)i3pott)etifd)e „©eiftestoelt", bie t>on ber materiellen
Äörperojelt ganj unab{)angig fein foll, unb auf beren ^nnal)me
bas ganje fünftlid)e ©ebäube ber bualiftifd)en 2Beltanfcl)auung
rul)t, ift lebigli(i) ein ^robuft ber bi(J)tenben ^l)antafie; unb bas=
felbe gilt von bem mi)ft»fd)en, eng mit il)r üerfnüpften ©lauben
an bie „ltnfterblid)!eit ber Seele", beffen tt)iffenfd)aftli(i)e Unl)alt=
bar!eit roir nad)l)tx nod) befonbers bartun muffen (im 11. 5^apitel).
2Benn bie in biefem Sagen!reifc lierrfd^enben ©laubensDorftel«
lungen roirüic^ begrünbet roären, fo müjgten bie betreffenben
(£rfd) einungen nid)t bem Subftanggefe^e üntertDorfen fein;
biefe einjige ^usnal)me »on bem l)ö(i)ften !osmologif(l)en (5runb=
gefe^e müfete aber erft fel)r fpät.im £aufe ber organifcf)en (£rb=
gefd)icf)te eingetreten fein, ha fie nur bie „Seele" bes 9Jlenfd)en
unb ber I)öl)eren Xiere betrifft, ^ud) bas Dogma bes „freien
2Billens", ein anberes toefentlic^es Stüd ber bualiftif(l)en ^fi)d)o=
logie, ift mit bem Subftanggefe^e ganj unocreinbar.
äRont|tif(^e $ft)^i)Iogte. Unfere natürli(^e 3luffaffung bes
Seelenlebens crblidt bagegen in il)m eine Summe oon £ebens=
56 Sei^jtes 5lapitel.
crf(f)etnungen, tDeIcf)e glet(^ allen anbeten an ein bejtimnttes
matertclles Subjtrat gebunben [tnb. 2Bir coollen btefe materielle
Safis aller pfr)rf)ifd)en Xätigfeit, oI)ne coeli^e biefelbe nid)t benf=
bar ift, oorläufig als ^[i)(^opla5ma be3eid)nen, unb groar bes^
t)alb, tüeil fie burcf) bie d)emi[d)e ^nali)[e überall als ein 5^örper
nadigecoiejen ijt, reeller gur ©ruppe ber ^lasmaförper gel)ört,
b. t). jener eitoeifeartigen 5^of)lenjtoffüerbinbungen, coelc^e fämt=
li(^en ßebensüorgöngen sugrunbe liegen. $8ei ben l)öl)eren Xieren,
rDeld)e ein 9fZert)enfi)jtem unb Sinnesorgane befi^en, ijt aus bem
^fr)(f)oplasma burd) Differensierung bas 9leuroplasma, bie
9^ert)enfubjtan3, entftanben. Un[ere ^uffa[[ung ijt in biefeni
Sinne materialiftijcl). Sie ijt aber 3ugleic^ empirijti[cl),unb
naturalijtifd); benn unfere tt)i[[en[d)aftlidE)e (£rfaf)rung i)at uns
nocf) feine 5^räfte fennen gelet)rt, toel^e ber materiellen ©runb=
läge entbel)ren, unb feine „geijtige 2ßelt", toelc^c aufeer ber 9latur
unb über ber Statur jtünbe.
©leic^ allen anberen 5Raturer[(f) einungen [inb aud) biejenigen
bes Seelenlebens bem alles bel)err[(f)enben Subjtanjgefe^e
unterworfen; es gibt aud) in biejem ©ebiete feine ^usnal)me
oon biejem f)öd)jten fosmologij(f)en (Srunbgeje^e. Die (£rj(l)ei=
nungen bes nieberen Seelenlebens bei htn ein3elligen ^ro*
tijten unb bei ben ^flan3en — aber ebenjo aud) bei btn nieberen
Vieren — , if)rc 9?ei3barfeit, if)re 9?efleibeu)egurtgen, il)rc (£mpfinb=
li(^feit unb il)r Streben nad) Selbjterf)altung berul)en auf pf)t)jio=
logijd)en 93orgängen im Plasma il)rer 3'^^^'^^f ouf pf)r)[ifali[d)en
unb d)emij(^en 93eränberungen, toeldie teils auf 23 ererbung,
teils auf ^npajjung 3urüd3ufüf)ren jinb. ^ber gan3 basjelbe
müjfen toir aud) für bie f)ö^eren Seelentätigfeiten ber f)öf)eren
!Xiere unb bes 9J?enj(^en bef)aupten, für bie ^Bilbung ber 23orjtel=
lungen unb Segriffe, für bie tounberbaren ^pnomene ber 93er*
nunft unb bes Seroufetjeins; benn bieje l)abtn jid) pf)i)logenetifd)
aus jenen entroidelt, unb nur ber l)öf)ere ©rab ber 3^^traIijation,
burc^ innige unb mannigfaltige 93erbinbung ber ein3elnen 'i^unh
tionen, erl)ebt jie 3U biejer erjtaunlid)en $öf)e.
»egriffe ber ^ftx^oloöie. 3n jeber SBijjenj^aft gilt mit
9?e^t als erjte ^tufgabe bie flare Segriffsbejtimmung bes
(Segenjtanbes, htn jie 3U erforjc^en l)at. 5n feiner 2Bijjenjd)aft
aber ijt bie fiöjung biejer erjten 5lufgabe jo jd^toierig als in, ber
Seelenle^re, unb bieje Xatja^e ijt um jo merfu)ürbiger, als bie
£ogif, bie £el)re oon ber Segriffsbilbung, jelbjt nur ein 3:eil ber
^jr)(^ologie ijt. SBenn loir alles t)ergleid)en, loas über bie ©runb«
begriffe ber Seelenfunbe oon ttn angejel)enjten ^l)ilojopl)en unb
SRaturforjd^crn aller S^ittn gejagt roorben ijt, jo erjtiden toir in
Dos 2ße[cn bcr Seele. 57
einem (If)ao5 ber rotberfpredienbften 9ln|t(i)tcn. Sßas tjt benn
eigentltd) bte „Seele"? 2Bie t)erf)ält fte [icf) jum „©etft"? SBelc^e
^ßebeutung f)at eigentltd) bas „SetDufetfein"? 2Bte unterfc^etben
[ic^ „(gmpfinbung" mib „©efüf)!"? SBas ijt ber „^nftinft"?
2Bte üerl)ält fid) ber „freie SBiUe"? 2ßas ijt „SBorftellung"?
3BeId) er Unter [cf)ieb bejtel)t 3roi}d)en „33er[tanb unb 93ernunft"?
Unb tDOs ijt eigentlid) „©emüt"? 2ßeld)e $Be3iel)ung beftet)t
3tDif(^en allen biefen „Seelenerjd) einungen unb bem i^örper"?
Die 5InttDorten auf biefe unb oiele anbere, fic^ baran anfd^Iie^en»
ben S^ragen lauten [o Derjcf)ieben als möglich; nic^t allein gelten
bie 5Inficf)ten ber angefe{)enften ^utontäten barüber toeit aus=
einanber, [onbern auii) eine unb biefelbe rüiffenfcfiaftlic^e
Autorität t)at oft im £aufe it)rer eigenen p[r)(^oIogifd)en (£nt=
toicfelung i^re ^.?lnjid)ten pöllig oeränbert. Si(f)er f)at biefe „p f t)(f) o =
logifc^e 9JJetamorpI)o[e" oieler Deuter (bie roir nod) am S(f)Iu[fe
biefes 6. i^apitels beleud)ten tDoIIen) nid)t menig gu ber !olo[[aIen
Ronfufion ber ^Begriffe beigetragen, roelc^e in ber ®eelen=
lel)re met)r als in jebem anberen ©ebiete ber (Srfenntnis l)errfc^t.
Obiefttoe unb fubicfttoe ^ft)c^ol09tc. Die ganj eigentüm=
Iicf)e 5Ratur oieler Seelener[d^einungen, unb öor allem bes Semu^t^
[eins bebingt getüiffe ^bänberungen unb SJiobifüationen unferer
naturtD{ffen[d)aftlift)en Unter[uc^ungsmetI)oben. Sefonbers tDici)tig
i]t ^ier ber Umjlanb, bafe gu bcr geu)öl)nli(f)en, objeftiüen,
äufeerern$8eobad)tungnoct)bie introfpeftioe 9Ket^obe treten
mu^, bie [ubjeftioe, innere 23eobad)tung, tüeld)e bie Spiegelung
unferes „^d)" im ^Becoujgtlein bebingt. 33on bie[er „unmitt^I=
baren ©eu3i^t)eit bes 3<^" gingen bie meijten ^ft)d)oIogen aus:
„Cogi t o , ergo SU m !" „3<i) "^enfe, alfo bin id)." 2Bir
toerben bal)er 3unäd)ft auf biefen (Erfenntnistoeg unb bann erjt
auf bie anberen, it)n ergänsenben SRett)obcn einen $BIicf tocrfen.
Znixo^pttüvt ^ft)(^oIogte (Selbstbeobachtung bet Seele).
Der roeitaus größte Xeil aller berjenigen 5^enntni[[e, toelcfie feit
3al)rtaufenben in un3äl)ligen Sd)riften über bas men[cf)li(^e
Seelenleben niebergelegt [inb, beruht auf introfpeftioer Seelen*
for[d)ung, b. f). auf Selb[tbeobacl)tung, unb auf Sc^lüffen,
u)elcl)e wir aus ber ^|[o3ion unb 5^ritif biefer fubjeftioen, „inneren
(£rfal)rungen" 3iel)en. ^ür einen tDid)tigen 3^eil ber Seelenlel)re
ijt biefer introfpeftioe 2Beg überl)a{ipt ber einsig mögliche, oor
allem für bie (£rforfd)ung bes ^Beioufetfeins; biefe (5el)irnfun!=
tion nimmt bal)er eine gan3 eigentümli^e Stellung tin unb i|t
mel)r als jebe anbere bie Quelle un3äl)liger pf)ilofopl)ifcf)er 3tt*
tümer gecoorben (oergl. Rap. 10). (£s ijt aber gans ungenügenb
unb fül)rt 3u ganj unoolHommenen unb fal[(t)cn SJorjtellungen,
58 Scd)fte5 Äapitcl.
toenn man btcfe ScIbftbeobad)tung unfcrcs ©cijtes als btc rDid)ttgjtc
ober übert)aupt als bic einjigc Ciuellc [einer (£r!enntnis betrad)tet,
iDie es von 3al)Irei(f)en unb ange[ef)enen ^{)iIo[opl)en gef(^el)en tjt.
Titnn ein großer Xeil ber tDt(f)tigjten (£r[d)etnungen im Seelen»
leben, cor allem bie Sinnesfunüionen (6el)en, §ören, 5?ie=
d)en u\w.), ferner bie Sprad)e, fann nur auf bemfelben SBege
erfor[d)t toerben toie jebe anbere fiebenstätigfeit bes Organismus,
nämlid) erftens burd) grünblid)e anatomi[cf)e Knter[ud)ung il)rer
Organe, unb groeitens burd) eia!te pl)r)[ioIogi[d)e ^nalr)[e ber
baoon abi)ängigen grunftionen. Um biefe „äufeere Seobad)tung"
ber Seelentätigfeit aus3Üfül)ren unb baburc^ bie (Ergebniffe ber
„inneren ©eobad)tung" gu ergangen, bebarf es aber grünbli(i)er
5^enntni[fe in ^Inatomie unb §ijtoIogie, Ontogenie unb ^f)i)[io=
logie bes 9J?en[d)en. 23on biefen unentbel)rli^en ©runblagen
ber 5lntI)ropoIogie I)aben nun bie meiften [»genannten „^[r)c^o =
logen" gar feine ober nur l)öd()[t unoollfommene Kenntnis; [ie
[inb ba!)er nid)t imjtanbe, aui) nur oon il)rer eigenen Seele eine
genügenbe S3or[teIIung gu erroerben. X)agu !ommt nod) ber [c^Iimme
Umftanb, bafe bie eigene Seele bie[er ^[r)d)oIogen geroöfinlic^ bic
ein[eitig ausgebilbete (roenn aud^ in il)rem [pcfulatioen Sport
[e^r I)od) enttöidelte!) ^[r)(f)e eines i^ulturmen[(i)en l)öd)jter
9?a[[e barjtellt, al[o bas le^te ©nbglieb einer langen pl)r)leti[ct)en
(£nttDideIungsreiI)e, beren 3al)lreid)e ältere unb niebere 3)orIäufer
für il)r ri(i)tiges 93er[tänbnis unentbet)rli^ [inb. So erüärt es [id),
tal^ ber größte 3:eil ber geroaltigen p[t)d)ologi[d)en Literatur I)cute
toertlo[e 9J?a!uIatur ijt. Die intro[pe!tiDe 9Jietl)obe ift getoife ^öc^[t
roertooll unb unentbel)rlid^, [ie bebarf aber burd)aus ber 9Jlit=
roirfung unb (Ergängung timd) bie übrigen SDletI)oben.
(&xatit ipft)d[)0l09te. 3^ reid)er im £aufe bes 19. 5a^r!)unberts
[id) bie Der[(^iebenen S^J^iö^ «^es men[d)Iic^en (Erfenntnisbaumes
enttoidelt, je mel^r [id) bie Der[^iebenen 9JletI)oben ber eingelnen
2Bi[[en[d)aften oeroolüommnet f)aben, befto mt\)x ift bas 58e[treben
getDad)[en, bie[elben eia!t gu gejtalten, b. t). bie (£r[(^ einungen
möglid)[t genau empiri[d) gu unter[ud^cn unb bie baraus ab=
guleitenben (5e[e^e tunlid)[t [c^arf, roomöglid^ matl)emati[c^
gu formulieren. Jße^teres ift aber nur bei einem fleinen 3:eile bes
men[c^Iid)en 2Bi[[ens erreid)bar, oorgüglid) in jenen 2Bi[[en[d)aften,
bei htntn es [tc^ in ber $aupt[ad)e um meßbare (5röfeenbe[tim=
mungen I)anbelt: in erfter £inie ber 9JJatt)emati!, [obann ber 5l[tro*
nomie, ber 9Ked)ani!, überl)aupt einem großen Xdh ber ^^i)[if
unb (II)emie. Die[e 2Bi[[en[d)aften toerben baf)er aud) als eia!te
Di[gtplinen im engeren Sinne begeic^net. i)agegen ijt es nic^t
ric^ti^ unb fü^rt nur irre, toenn man oft alle 91aturtDi[[en[c^aften
t)a5 2Be[cn bcr 6eele. 59
als „cia!tc" bctrad)tet unb onbcrcn, namentltd) htn I)t|tortf(f)en
unb ben „®etite5tDiffen[d)aften" gegenüberjtellt. Denn eben[o=
loenig als btc[e leiteten !ann auc^ ber größere 3:etl ber 9latur=
iöiffen[(^aft roirflid) exa!t bel)anbelt toerbcn; gan3 befonbers gilt
bies Don ber ^Biologie unb in biefer roieber »on ber ^fpi^ologic.
X)a bie[e le^tere nur ein 3:eil ber ^I)r)[ioIogie ijt, mufe [ie im a\U
gemeinen beren funbamentale (^rfenntnistoege teilen. Sie mufe
bie tatfäct)lid)en C£rf (Meinungen bes Seelenlebens möglicf)ft genau
empirifd) ergrünben, bur<^ ^Beobad^tung unb bur^ (Experiment;
unb [ie mufe bann "bit (5e[e^e ber ^fr)c^e aus biefen burc^ inbuftioe
unb bebuftiüe S^Iü[[e ableiten unb möglid)jt [cf)arf formulieren.
Mein i^re matl)emati[(^e ^Formulierung ijt aus Iei(i)t begreif»
Ii(j^en ©rünben nur \ti)x [elten mögli^; [ie i[t mit großem (Sr=
folge nur bei einem Üeile ber Sinnespl)i)[iologie ausgefül)rt;
für ^tn roeitaus größten Xeil ber (5el)irnp^t)[iologie i[t [ie ha^
gegen nid)t antoenbbar.
*Pft)^op^t)fi!. (Ein fleiner 3:eil ber ^r)d)ologie, vot\d)tx ber
erjtrebtcn „eiaften" Unter[ucl)ung jugänglii^ er[d^eint, ijt [eit
3al)ren mit großer Sorgfalt [tubiert unb 3um 5Range einer be=
[onberen Di[3iplin erl)oben toorben unter ber Sejeic^nung ^[i)(^o =
pl)r)[i!. Die Segrünber ber[elben, bie ^l)t)[iologen X\)tot>ox
<5ed)ner unb (£rn[t $einrid) SBeber, unter[ucl)ten 3unäd)jt
genau bie 3lbl)ängig!eit ber (Empfinbungen oon ben äußeren,
auf bie Sinnesorgane toirfenben 9?ei3en unb be[onbers bas quanti»
tatioe 23erl)ältnis 3tDi[d)en 9?ei3[tärfe unb (£mpfinbungsinten[ität.
Sie fanben, bafe 3ur (Erregung einer (Empfinbung eine be[timmte
minimale 9?ei3[tärfe erforberlid) i[t (bie „9lei3[d)tDclle), unb bafe
ein gegebener 9?ei3 immer um einen getDi[[cn ©etrag (tit „Unter*
[(f)iebs[d)tDelle") geänbert toerben mufe, el)e bie ^mpfinbung
[id) merflid) ceränbert. ^^ür bie u)icl^tig[tcn Sinnesempfinbungen
((5e[id)t, (5el)ör, Drudempfinbung) gilt bas (5e[e^, ha^ it)re
^nberung berjenigen ber Üteisjtärfe proportional i[t. Ulus bie[em
empiri[(f)en - „2Beber[(^en ®e[e^" leitete ^z^ntx [ein „p[i)d)o=
pl)i)[i[d)e5 (5runbge[e^" ab, toonad) bie (Empfinbungsinten[itäten
in aritl)meti[d)er ^rogre[[ion tDad)[en [ollen, l)ingegen bie 5?ei3=
[tär!en in geometri[cf)er ^rogre[[ion. 5nbe[[en ^aben [pätere
gor[rf)cr geseigt, hai^ bie[e5 ge(^ner[d)e ©e[c^ eiaft nur für mitt=
lere 5nten[itäten gilt, al[o nid)t bk allgemeine Sebeutung \)ai,
bie man il)m frül)er 3u[d)rieb.
Sergleit^enbe ^ftx^ologte. Die auffällige $tl)nlid)feit, roeldE)e
im Seelenleben bes 9Jlen[cf)en unb ber I)öl)eren 3:iere — be[onbers
ber näc^jtoerroanbten Säugetiere — be[tel)t, i[t eine altbefannte
2^at[a(^c. Die mei[ten 5Raturoöl!cr mad)en no(^ l)eute 3tx)i[(^en
60 Scd)ltcs Äapitel.
bctbcn pft)(j^tf(i)en (£r[d^cmung5retf)en feinen toefentlid^en Unter*
[d)teb, tote [(f)on bie allgemein oerbreiteten Xierfabeln, bie alten
Sagen unb bie SSorjtellungen Don ber Seelentuanberung betoeifen.
^ud) bie meijten ^t)ilofopt)en bes Üaffifd^en Altertums toaren
baoon übergeugt unb entbecften stotfd^en ber men[cf)li(i)en unb
tierifd)en ^fi)d)e feine tDe[entIi(i)en llnter[ct)iebe. Selbjt ^lato,
ber 3uerjt h^n funbamentalen Unter[d)ieb von £eib unb Seele
bef)auptete, liefe in [einer Seelentuanberung eine unb bie[elbe
Seele (ober „3^ee") burc^ t>erfd)iebene 3:ier= unb 93?en[(^enleiber
I)inburc^toanbern. (£rjt bas (£I)rijtentum , bas hm Unfterblid)»
feitsglauben auf bas engjte mit bem (öottesglauben oerfnüpfte,
füf)rte bie prinsipielle S(i)eibung 3tDi[c^en ber unjterbli(i)en
^enfd)en[eele unb ber fterilic^en 3:ier[eele burd^. 5n ber bualijti^
[(f)en ^I)iIo[opl)ie gelangte [ie cor allem burd) t)tn (£influfe uon
Descartes (1643) 3ur ©eltung; er behauptete, bafe nur ber
3[Ren[d) eine u}at)re „Seele" unb [omit (£mpfinbung unb freien
2Billen befi^e, "iya^ l)ingegen bie Xiere Automaten, 9Jla[ci^inen
of)ne SBillen unb C£mpfinbung feien. Seitbem ojurbe von htn
meijten ^[i>d)ologen — namentlid) auc^ oon Rani — bas Seelen^
leben ber 3:iere gang t)ernad)lä[[igt unb bas p[i)cl^ologi[(f)e Stubium
auf hzn 9}Ien[d)en be[d)ränft; bie men[cl)licf)e, meistens rein intro=
fpeftiüe ^[i)d)ologie entbel)rte ber befrud)tenben 33ergleid)ung
unb blieb bai)er auf bemfelben niebercn Stanbpunft ftel)en, roelc^en
bie men[d)lid)e 9[Rorpf)ologie einnal)m, el)e [ie (Euüier burcf) bie
Segrünbung ber r»ergleic{)enben Anatomie 3ur §öl)e einer pl)ilo*
[op^ifc^en 91aturu)i[[en[d)aft erl)ob.
Xierpft)(^olo0te. Das a)i[[en[cl)aftli(^e 5ntere[[e für bas
Seelenleben ber Üiere rourbe erjt in ber 3tüeiten §älfte bes 18. 5al)r=
t)unberts neu belebt, im 3ii[ö^^ß"^fl"9 Tnit htn gort[cl)ritten
ber [i)[temati[cl)en 3oologie unb ^f)T)[iologie. Se[onbers anregenb
u)irfte tih Scj)rift oon 9teimarus: eiligem eine 58etracf)tungen
über bie triebe ber 3:!)iere (Hamburg 1760). (£ine tiefere tüi[[en=
[d)aftlid)e (£rfor[d)ung tourbe erft möglich bur^ So^annes
9}lüllers 9^eform ber ^l)i)[iologie. Die[er gei[töolte Biologe,
bas ganse (Sebiet ber organifd^en 9latur, 9Jtorpl)ologie unb ^^r)[io=
logie, gleicl)mäfeig umfa[[enb, fül)rte 3uer[t bie exaftenSO^etl) oben
ber Seoba^tung unb bes S3er[uc^s im gefamien ©ebiete ber
^l)r)[iologie burc^ unb oerfnüpfte [ie 3ugleici^ in genialer 2Bei[e
mit hzn oergleid^enben 9J?etl)oben; er roenbete [ie eben[o
auf bas Seelenleben im toeitejten Sinne an (auf Spradje, Sinne,
©el)irntätigfeit) mit auf alle übrigen £eben5er[d)einungen. Das
[ed)[te Sud) [eines „$anbbud)s ber ^l)t)[iologie bes aRen[(^en"
(1840) ^anbelt [pe3iell „33om Seelenleben" unb entl)ält auf
2)05 SBefcn ber 6ccle. 61
80 Seiten eine g^ülle ber iDid)ttgjten p[r)(^oIogi[d)en Setrad)=
tungcn.
9}öIfetpft)(^ologte. gür bie fru(i)tbare ^usbilbung ber üer=
glet(f)enben 8eelenlel)re \\i es l)'6d)]i tDid)ttg, bie friti[cf)e 23er=
gleic^ung ni(i)t auf 3^ier unb XRenfc^ im allgemeinen ju beic^iänfen,
fonbern aud) bie mannigfaltigen ^bftufungen in it)rem Seelen=
leben nebeneinanber 3U jtellen. (£rjt baburc^ gelangen toir jur
Haren (Erfenntnis ber langen Stufenleiter p[i)(^if^er (£nt=
iDidelung, rüeld)e ununterbro(i)en oon ben nieberjten, einjellioen
Lebensformen bis 3U ben Säugetieren unb an beren Spi^e bis
3um 9}ten[d)en I)inauf füt)rt. ^ucf) innerl)alb bes 9J?en[ct)enge=
fd)Ied)ts [elbjt [inb jene ^bjtufungen [e^r beträd)tlid) unb bie 33erf
3tDeigungen bes „Seelenjtammbaums" \)öd)\i mannigfaltig. Der
p[i)(f)i[d)e Unter[d)ieb 3tDi[ct)en bem ro^ejten IRaturmenf^en ber
nieberjten Stufe unb bem oollfommenften 5^ulturmen[d)en ber
l^öd)|ten Stufe ift- !oIo[[aI, tjiel gröjger, als gemeint)in angenommen
toirb. 3" ber richtigen (£r!enntnis biefer 3:at[ad)e l)ai befonbers
in ber 3tDeiten §älfte bes 19. 3af)rl)unberts bie „^ntf)ropoIogie
ber S^laturoölfer" (2Bai^) einen Iebt)aften 5tuf[(f)töung ge=
nommen unb bie t>erglei(f)enbe (£tl)nograpl^ie eine t)oI)e 5Bebeu=
tung für bie ^[pc^ologie getoonnen. £eiber ijt nur bas maf[enf)aft
ge[ammelte 5Rol^materiaI biefer 9Bi[[en[d)aft nod) ni^t genügenb
fritifd) burcf)gearbeitet.
Dnt09cnettf(^e ^ftx^ologte. 5lm meijten üernad)Iä[[igt unb
am roenigjten angeioenbet unter allen 93]etl)oben ber Seelen'
for[d)ung toar bis auf bie le^te 3eit bie (£nttöi(felungsge =
id)id)te ber Seele; unb bod) ijt gerabe biefer [elten betretene
^fab berjenige, ber uns am !ür3ejtenunb [id)erjten burd) ben bunüen
Urioalb ber p[pd)oIogifd)en 23orurteiIe, T)ogmen unb S^'i^tü^ter
3U ber flaren C£in[id)t in oiele ber tüi<^tigjten „Seelenfragen"
fül^rt. 2Bie in jebem anberen ©ebiete ber organi[d)en (Sntioide^
lung5ge[cl^id)te, [o ftelle id) auc^ l)ier 3unäd)ft bie beiben $aupt=
3tDeige ber[elben gegenüber, bie id^ suerjt 1866 unter[d)ieben l)abe:
bie i^eimesgefc^ic^te (Ontogenie) unb bie Stammesge[d)id)te
(Phylogenie). Die ileimesge[d)id)te ber Seele unter[ud)t
bie allmäpd)e unb jtufentoeife (Bnttoidelung ber Seele in ber
ein3elnen ^er[on unb jtrebt nad) (Srfenntnis ber ©e[e^e, tDeld)e
fie ur[äc^li(^ bebingen. gür einen- tüid)tigen ^b[d)nitt bes menfd)*
li^en Seelenlebens ijt l)ier [c^on [eit 5al)rtaujenben jel)r oiel
ge[d)el)en; benn bie rationelle ^äbagogi! mufete [id) ja fd)on
frül)3eitig bie ^^ufgabe jtellen, tl)eoretij^ bie jtufentoeije (£nt=
toidelung unb 33ilbung5fäl)ig!eit ber finblid)en Seele fennen 3u
lernen, bercn l)armoni[^e ^usbilbung unb Leitung [ie praftifd)
Sc^jtcs ilapitcl.
burd)3ufül)ren ^atte. 5lIIcin bic metjten ^äbagogen roaren ibeali=
fttfc^e unb bualtjtt[d)c ^f)tIo[opI)en unb gingen bal)er an il)re
5tufgabe oon Dorn{)eretn mit htn oItI)ergcbra(f)tcn 33orurteiIcn
bcr [piritnalijtifd^ cn ^fi)d)oIogie. (£rft [eit toenigen :De3enmen
ift btefer bogmatifc^en 5ltd)tung gegenüber aucf) in ber (5d)ule
bie naturtoi[[en[cf)aftIid)e äRetl)obe ju größerer (Seltung gelangt;
man bemüt)t [td) je^t mef)r, au^ in ber Beurteilung ber i^inbes^
feele bie ©runbfä^e ber (£ntu)i(felungslef)re 3ur ^Intoenbung 3U
bringen. X)a5 inbiüibuelle 9?ol)materiaI ber finblid)en Seele ijt
ja bereits bur^ 23ererbung oon (Eltern unb S3oreltern oon t)orn=
I)erein gegeben; bie (Srsie^ung f)at bie [d)öne ^lufgabe, basfelbe
burd) intelleftuelle ®elel)rung unb moraIi[d)e (£r3iet)ung, alfo
öur^ 5lnpa[[ung, 3ur reichen Blüte 3U cnttoideln. gür bic
5lenntnis unferer früt)ejten p[i)d)i[d)en (SnttDidfelung l)at erjt
SBill^elm ^reper (1882) bcn ©runb gelegt in [einer intereffanten
Schrift „Die Seele bes ilinbes, $Beobacf)tungen über bie gcijtige
(Entcoicfelung bes äRenfc^en in htn erften £ebensial)ren". ^üx bic
(£r!enntnis bcr Späteren Stufen unb 9Ketamorp^o[en ber inbi=
üibuellen ^[i)d)e bleibt nod) [el)r oiel 3U tun; bie rid)tige, fritifc^e
^ntöcnbung bes S3iogeneti[d)en ®runbgefc^cs beginnt auct) i)icr
fid) als flarcr fieitjtern bes ii>i[[cn[d)aftlid)en 23erjtänbnif[es 3U
beroäl)ren. (Bergl. ^ermann i^rocll, Der Aufbau ber men[d)=
lid)en Seele, 1900.)
$^t)lQgenetif(^e lßft)(^oIoöie. (Eine neue, frud)tbare ^eriobe
l)öf)erer (Entcoidelung begann für bic ^[i)(^ologie, toie für alle
anberen biologi[d)en SBiffcnfd^aftcn , als (£f)arles Darroin
bic (Srunbfä^c bcr (EnttDtdclungslc^re auf [ic antocnbetc. Das
[icbcnt« 5tapitcl [eines cpod)cmad)cnben 2Bcr!cs über bic (Ent*
[tcl)ung bcr ^rtcn (1859) i[t bem 3Tt[tintt getüibmet; es ent»
l)ält bcn tücrtDollcn 9lad)U)cis, 'Oa^ bic 3Tt[tin!te ber 3:iere, gleich
allen anberen £ebcnstätig!citcn, bcn allgemeinen (5e[c^en ber
l)ijtori[c^cn (Entiüidclung unterliegen. Die [pc3icllen 3ii[^itt^tc
bcr cin3elnen Tierarten loerbcn burc^ ^npa[[ung umgebilbet,
unb bic[c „erroorbenen ^bänberungen" Doerben burc^ Vererbung
auf bic ?la(^!ommcn übertragen; bei it)rer (£rl)altung unb 5Ius=
bilbung [pielt bic natürlid^c Sclcftion "burd) bcn „5lampf ums
Da[ein" cben[o eine 3üd)tcnbc 9?ollc tüic bei bcr ^Transformation
jcbcr anberen pl)t)[iologi[^en 3:ätigfeit. Später l)at Dartoin
in met)rcrcn 3Bcr!en bie[c funbamentalc ^n[id^t toeiter ausgeführt
unb ge3eigt, bafe bic[elben (5e[e^e „geiftiger (Entcoidelung" burc^
bic gansc organi[(^c SBclt l)inbur(^ malten, beim 50lcn[c]^cn cbcn[o
u)ie bei bcn 3:ieren unb bei bie[cn eben[o u)ic bei bcn ^flan3en.
Die (£inl)eit bcr organi[d)cn SBclt, bic [id) aus if)rem gemein«
t)a5 2Bcfcn ber Seele. 63
lomen Urfprung erflärt, gilt olfo aud) für bas gefamte ©ebtet
bes Seelenlebens, oom emfacf)ften, etnselligen iDrganismus bis
I)inauf 3um 3Ren[cl^en.
X)te toettere ^usfül)rung oon I)artDtns ^[t)rf)oIogte unb t{)re
befonbere ^ntoenbung auf alle einseinen ©ebiete bes Seelen-
lebens oerbanfen toir einem ausgejeic^neten engli[d)en 5Ratur=
for[d)er, ©eorge Ütomanes. fieiber töurbe er bur^ [einen allßu
frül)en Xoh an ber 23ollenbung bes großen 2Ber!es gef)inbert,
coeli^es alle Xeile ber t)ergleid)enben Seelen!unbe gleid^mäjgig
im Sinne ber monijti[cl)en (Sntroicfelungsle^re ausbauen [ollte.
Die beiben Xeile biefes SBerfes, tr)eld)e erfd)ienen [inb, gel)ören
3U ben xüertüolljten (Ergeugniffen ber gefamten pfi)(i)ologif(^en
Literatur. X)enn getreu ben ^rinsipien unferer mobernen monijti=
[(f)en 9laturforfd)ung [inb barin erjtens bie roi^tigjten Xat[ac^en
3u[ammengefafet unb georbnet, tDeld)e [eit 3öl)rtau[enben burrf)
^Beobachtung unb (Srperiment auf bem ©ebiete ber t)ergleid)enben
Seelenlel)re empiri[cl) feftgejtellt rourben; groeitens [inb bie[elbe
mit objeftioer 5^riti! geprüft unb jroecfmäfeig gruppiert; unb
brittens ergeben [ic^ baraus biejenigen 23ernunft[d)lü[[e über
bie XDid)tigjten allgemeinen (fragen ber ^[t)cl)ologie, tDeld)e allein
mit htn (5runb[ä^en un[erer mobernen moni[ti[(i)en 2Beltan[d)au*
ung oereinbar [inb. !Der erfte Sanb oon 51 o man es' 2Ber! (ßeip3ig
1885) fül)rt ben Xitel: „Die geijtige (Enttoidelung im 3:ierreid)"
mb [teilt bie gange lange Stufenreil)e ber p[i)(i)i[(^en (Snttoidelung
2;ierreici^e oon ben einfa(f)[ten (Smpfinbungen unb 3#t^ftß^
[ber nieber[ten Xiere bis 3U ben i)oll!ommen[ten (£r[cl) einungen bes
ffictDufet[eins unb ber 35ernunft bei ben l)ö(f)jt[tel)enben 3:ieren im
natürlicl)en 3u[ammenl)ang bar. (£5 [inb barin aud) oiele S[Rit=
teilungen aus l)interla[[enen 9Jianu[!ripten „über htn 5n[tin!t"
t)on Darroin mitgeteilt, unb 3uglei(^ ijt eine „t»oll[tänbige Samm=
lung oon allem, toas er auf bem ©ebiete ber ^[r)d)ologie ge[(f)rieben
\)ai", gegeben.
Der 3U)eite 3:eil oon ^Romanes' 2Ber! bel)anbelt „bie gei[tige
(Enttoicfelung beim 9Jien[d)en unb hzn Ur[prung ber men[cf)lid)en
Sefäl)igung" (£eip3ig 1893). Der [d)arf[innige ^[i)d)ologe fül)rt
barin ben überseugenben ^etoeis, „tia^ bie p[r)d)ologi[(f)e
Scf)ran!e 3töi[d)en Xi^x unb 9J?en[d) überrounben i[t";
bas begriffliche Denfen unb ^b[traTtionsüermögen bes 9J?en[(^en
l)at [id) allmäl)licl) aus ben nicl)t begrifflicl)en 3Sorjtuf en bes Denfens
unb SSorjtellens bei ben näd)[toerrDanbten Säugetieren entroidelt.
Die l)öd)[ten (5eijtestätig!eiten bes 5lRen[c^en, 33ernunft, Sprad)e
unb 93etDufet[ein, [inb aus ben niebetm 33or[tufen ber[elben in
ber 5icil)e ber ^rimatenol)nen (^ffeu unb Halbaffen) l)erDor»
64 Sc^jtes Äapitcl.
gegangen. X)er 93len|d) befi^t feine eingige „(5etjtestätig!ett",
rDeId)e it)m ou5[(i)ItefeIt^ eigentümlich ijt; [ein ganjes Seelenleben ijt
üon bemjenigen ber näc^jberiDanbten Säugetiere nur bem (Srabe,
ni<^t ber 3Irt na<i), nur quantitativ, md)t qualitatiü oerf^ieben.
^ftji^ologift^e aRetamorptjofen. 9lid)t unertöäf)nt [oll eine
meriiDürbige ^r[(f)einung bleiben, bie uns niand)e bebeutenbe
9'laturfor[(f)er unb ^I)iIofopl)en tDai)r3uneI)men ©elegenl)eit gaben.
Sie beftet)t in einem eigentümli(i)en pt)iIo[opt)if d)en ^rinsipien»
tDe(i)[el, in ber 9Sertau[(i)ung bes ur[prünglid)en moniftifc^en
Stanbpunftes mit einem [päteren buali[tifd)en. ^as intere[=
[antefte JBeifpiel [oI(i)er 3Serxx)anbIung liefert S^wanuel 5lant.
^Is !riti[(i)er ^f)iIo[opt) toar er 3ur Überseugung gelangt, bafe bie
brei (5rofemä(f)te bes 9Jit)[ti3ismus: „(Sott, i5^reif)eit unb Un=
jterblidjfeit" — als !Dogmen ber „reinen SSernunft" — unl)altbar
erfc^einen. Der bogmatif(i)e 5lant bagegen fanb [päter, ha^
biefe brei ^auptgefpenjter „^oftulate ber praftifd^en S3ernunft"
unb als [old)e unentbel)rlid^ [eien. ^t mel)r neuerbings bie an=
ge[el)ene Sd)ule ber 9leo!antianer 'btn „9lü(Jgang auf 5^ant"
als einzige 9iettung aus bem ent[e^lid)en SBirrroarr ber mobernen
9[Retapl)i)[if prebigt, befto flarer offenbart [id^ ber unleugbare unb
un^eiluolle SBiberfprud) ber beiben (Srunbanfc^auungen, 5ii)i[d)en
benen 5^ant l)in unb ^er [(^tüan!te.
3n t)eut[cf)lanb gilt gegentoärtig als einer ber bebeutenbjten
^[i)c^ologen 2Bill)elm SBunbt in £eip3ig; er befi^t Dor h^n
meijtcn anberen ^l)ilo[opl)en ben unfc^ä^baren 95or3ug einer
grünblid)en 30ologifd)en, anatomifc^en unb pl)r)[tologifd)en
©ilbung. grül)er ^[[ijtent unb S(^üler »on §elml)ol^, l)atte
fi^ äBunbt früt)3eitig baran geroöl)nt, bie ©runbgefe^e ber ^l)r)[i!
unb (£l)emie im gefamten (gebiete ber ^l)i)[iologie geltenb 3u
mad)en, al[o au^ (im Sinne von ^o\)anm5 'tSUüUtx) in ber
^fi)d)ologie, als einem 3:eilgebiete ber le^teren. 33on biefen
(5e[i(l)tspun!ten geleitet, oeröffentlid^te 2Bunbt 1863 tüertoolle
„S3ovle[ungen über bie ällenfc^en- urio 3^ier[eele". (£r liefert barin,
luie er [elbjt in ber 23orrebe [agt, ben 9^a(^toeis, t>a^ ber Sd)au=
pla^ ber tüid)tigften Seelenüorgänge in ber unberou^ten Seele
liegt, unb er eröffnet uns „einen (Binblicf in jenen 9Jie(^anismus,
ber im unberou^ten §intergrunb ber Seele bie 5lnregungen t)er=
arbeitet, bie aus htn äujgeren (Sinbrüden jtammen". Sßas mir aber
befonbers roi^tig unb toertooll an SBunbts 2Ber! er[rf)eint, ijt,
^ofe er „l)ier 3um erjten SJJale bas (5e[e^ ber (£rl)altung ber
5^raft auf bas p[r)cl)i[d)e ©ebiet ausbel)nt unb babei eine
9ieil)e üon 3:at[aien ber (£le!tropi)i)fiologie 3ur Seu)eisfül)runo
benu^t" (a. a. O. S. VIII).
T)a5 Scfcn ber (»eele. 65
^letfeig 3al)re Ipäter Deröffcntlid)le SBunbt (1892) eine stoeite,
tre|entltd) r>er!ür3tc unb gänslid^ umgearbeitete Auflage feiner
„23orIe[uTigen über bie 50len[^en= unb 3^ier[eele". I)ie toic^tigjten
^rin3ipien ber erjten Auflage finb in biefer 3U)eiten Döirig auf=
gegeben, unb ber ntonifttfd) e Stanbpunft ber erjteren ijt mit einem
rein buali[ti[d)en »ertaufd^t. 2ßunbt [elbjt [agt in ber 33orrebe
3ur 3tDeiten ^luflage, bafe er firf) erjt allmäf)licl) von htn funba*
mentalen 3trtümern ber erften befreit f}abt, unb bafe er „biefe
^trbeit f(^on feit 3al)i^cTt als eine ^ugenbfünbe betrad)ten lernte";
fie „laftete auf it)m als eine 5lrt (5(^ulb, ber er, fo gut es get)en
mo^te, lebig 3U roerben toünfd)te". ^n ber 3:at finb bie töidf)tigjten
©runbanfd)auungen ber Seelenlet)re in ben beiben Auflagen
üon 3Bunbts toeit oerbreiteten „33orIefungen" oöllig entgegen*
gefegte; in ber erften Auflage rein moniftifd) unb materialijtifd),
in ber 3töeiten ^luflage rein bualijtifd) unb fpiritualiftifd). Dort
ujirb bie ^ft)d)oIogie als 5Raturu)iffenf^aft bel)anbelt, nad)
benfelben ©runbfä^en roie bie gefamte ^l)r)fioIogie, oon ber fie
nur ein ^eil ift; breifeig 5at)re fpäter ift für it)n bie (5eelenlel)re
eine reine (5eiftesu)iffenf(i)aft getoorben, beren ^rin3ipien
unb Dbjefte Don benjenigen ber 9laturtDiffenf(i)aft »öllig »er*
fd)ieben finb. Den fcf)ärfften ^usbrud finbet biefe ^e!et)rung in
feinem ^rinsip bes pfi)^opl)r)fifd)en ^arallelismus, töonad)
3tt)ar einem „jeben pft)d)if(^en (5efcf)el)en irgenbü;)el(f)e pt)r)fif(i)e
23orgänge entfprec^en", beibe aber üöllig unabt)ängig ooneinanber
finb unb nict)t in natürlid)em 5^aufal3ufammen{)ang
ftel)en. Diefer oolüommene Dualismus oon £eib unb Seele,
von 9latur unb ©eijt l)at begreiflirf)ertüeife "bm Iebl)aften Seifall
ber I)errfct)enben 6cl^uIpl)iIofopl)ie gefunben unb toirb von \\)x
als ein bebcutungsDoIIer S^ortfi^ritt geprief en, um fo xm\)x, als er oon
einem angefet)enen 9^aturforf(i)er befannt toirb, ber frül)er bie ent=
gegengef e^ten ^nf c^auungen unf eres mobernen 9P^ o n i s m u s oertrat.
Da id) felbjt auf biefem le^teren, „befd)rän!ten" Stanbpunft feit
me^r als fünf3ig 3al)ren jtet)e unb mid) tro^ aller beftgemeinten ^n=
ftrengungen nid)tt)on il)m I)abe losmachen fönnen, mufe id) natürlich
bie „Sugenbfünben" bes jungen ^I)r)fioIogen SBunbt für bie rid)tige
9^aturer!enntnis t)alten unb fie gegen bie entgegengefe^ten (5runb=
anfc^auungen bes alten ^Pofopl)en3Bunbt energifi) oerteibigen.
(Bin intereffantes Seifpiel äl)nl{d)er tiefgel)enber SBanblung
bieten 3tDei ber berüt)mteften ?laturforfd)er, 5?. 93ird)ou) unb
(£. Du$Bois*9?et)monb;bie 95tetamorpl)ofe i^rer pfi)d)oIogifd)en
©runbanf(f)auungen barf um fo toeniger überfel)en toerben, ' als
beibe ^Berliner Biologen met)r als 40 3at)te t)inburd) an ber größten
Unioerfität Deutfd)Ianbs eine \)öä)\i bebeutenbe 9^ olle gcfpielt unb
Äaerfet, ^ettr^.ffet. 5
66 Sed)jte5 Äapttel.
forool)! btrcft tote tnbtrelt einen tiefgreifenben CEinflufe auf bas
moberne ©etjtesleben geübt \)ahtn. 9^uboIf 33ird)otD, ber Der=
btenjtoolle Segrünber ber 3eIIuIarpatI)oIogte, wax in ber bejten
3eit [einer tüi[[enfd)aftlic^en 3:ätig!eit, um bie SRitte bes 19. 5al)r=
l)unberts (unb befonbers tDäf)renb [eines SBürjburger ^ufent=
l^alts, Don 1849—1856) reiner aRoni[t; er galt bamals als einer
ber i)ert)orragenb[ten 33ertreter jenes neu ertDad)enben „9Jlate =
rialismus", ber im 5at)re 1855 be[onbers burd) sroei berütimte,
fajt glei(f)3eitig er[d)ienene 2Ber!e eingefüt)rt tüurbe: fiubtüig
S üd)n er si^raft unb Stoff, unb darl 33ogts 5löl)lerglaube unb
2Bi[[en[d)aft. Seine allgemeinen bioIogi[d)en ^n[d)auungen von
ben £ebensüorgängen im 9Jlen[dE)en — [ämtlicf) als med)ani[d)e
9laturer[d)einungen aufgefaßt! — legte bamals 23ircf)ou) in einer
5Reil)e ausge3eid)neter ^rtifel in ben er[ten 93cinben bes üon if)m
t)erausgegebenen ^rd^iüs für patt)oIogi[c^e Anatomie nieber.
2Bot)I bie bebeutenbjte unter bie[en 5lbf)anblungen unb bie jenige,
in ber er [eine bamatige moni[ti[d^e 2BeItan[d)auung am
üarjten 3u[ammenfafete, ijt bie 9?ebe über „T)ie (£inl)eitsbe[tre=
bungen in ber u)i[[en[d)aftlid)en SOlebisin" (1849). (£s ge[c^a'^
geröife mit 5Bebad)t unb mit ber Uberjeugung it)re5 pPo[opI)i[d)en
Sßertes, ^al^ ^ixd)om 1856 bie[es „mebi3ini[(i)e (5Iauben5be!ennt=
nis" an bie Spi^e [einer „®e[ammelten ^bl)anblungen 3ur tDi[[en=
[(f)aftlid)en SJZebisin" [teilte. (£r üertritt barin eben[o !Iar als be=
[timmt bie funbamentalen ^rinsipien un[eres f)eutigen 9[Roni6mus,
toie id) [ie l)ier mit be3ug auf bie £ö[ung ber „9[BeIträt[er' bar[tene;
er üerteibigt bie alleinige ©ered)tigung ber (£rfa!)rungstDi[[en[(^aft,
beren ein3ige 3UDerIä[[ige Quellen Sinnestätigfeit unb (5el)irn=
funüion [inb; er befämpft eben[o ent[d)ieben htn antI)ropoIogi[d)en
t)ualismus, jebe [ogenannte £)ffenbarung unb jebe „3:ran[3enben3"
mit if)ren 3tDei SBegen: „©lauben unb ^nttiropomorpl^ismus".
S3or allem betont er titn moni[ti[(i)en (£I)ara!ter ber 5lntt)ropoIogte,
tttn untrennbaren 3ii[ömmenl)ang oon ©ei[t unb Körper, oott
5^raft unb SPlaterie; am Sd)Iu[[e [eines 93ortoorts [prict)t er (S. 4)
htn Sa^ aus: „^ä) l)aht bie Überseugung, ha!^ id) miä) niemals
in ber £age befinben roerbe, ben Sa^ oon ber (£inl)eit bes men[c^ *
Iid)en 2Be[ens unb [eine 5lon[equen3en 3U r»erleugnen." fieiber
roar bie[e „Hberseugung" ein [d)t»erer ^^rtum; benn 28 ^al)xz
[päter oertrat 33ird)otD gans entgegenge[e^te prin3ipiene 5ln=
[(^auungen; es ge[d)at) bies in jener meIbe[prod)enen 9?ebe über
„X)h greil)eit ber 2Bi[[en[d)aft im mobernen Staate", bie er 1877
auf ber 9laturfor[(^erDer[ammIung in 9[Ründ)en I)ielt, unb beren
Angriffe id) in meiner S^rift „t^xtit 2ßi[[en[d)aft unb freie £el)re"
(1878) 3urüdgetDie[en I)abe.
t)05 3ßc[en ber Seele. 67
$ll)nlid)e 2Biber[prüd)e in bejug auf bte röid^tigften pI)tlo[opl)t*
\d)tn ®runb[ä^e tote 33ir(^otD \)ai auä) (£mil X)u So{s = 5tet) =
monb gegeigt unb bamit ben lauten SBeifall ber bualijtifcfien
od)uIen unb cor allem ber Ecclesia militans errungen. 3^ me^r
biefer berüf)mte 9?t)etor ber SBerltner 5l!abemie im allgemeinen
bie ©runbfä^e unferes SJionismus oertrat, je met)r er [elbft gur
SBiberlegung bes 23itali5mu5 unb ber tranfjenbenten fiebens»
auffaffung betgetragen l)atte, bejto lauter roar bas !Xriumpl)ge[d)rei
ber ©egner, als er 1872 in [einer roirfungst) ollen ^gnorabismus*
9lebe bas „SetDufet[ein" als ein unlösbares 2BeIträt[eI f)ingejtellt-
unb als eine übernatürlid)e (£r[^einung ben anberen ©el)irn*
funftionen gegenübergeftellt I)atte.
I)er totale pt)iIofopf)i[(^e ^rin3ipientDe(i)[eI, ber uns in hzn
„p[t)cf)oIogi[(t)en 5[Retamorpf)ofen" bie[er unb anberer berül)mter
X)en!er entgegentritt, ijt [el)r merftoürbig. 5n il)rer Sugenb umf äffen
biefe !üt)nen unb talentüollen 9flaturforf^er bas ganje (Sebiet ifirer
bioIogifd)en (5orfd)ung mit toeitem ®Iidf unb jtreben eifrig nad)
einem einlieitli^en, natürli(i)en (£r!enntnisgrunbe; in ü^rem ^Iter
l^ahtn fie eingefet)en, bafe biefer ni(f)t ooIHommen txxddfhat ijt,
unb bes^alb geben fie it)n lieber ganj auf. S^x (£ntf(^ulbigung
biefer pft)d)oIogifd)en äRetamorpt)ofe !önnen fie natürlid) anfül)ren,
ha^ fie in ber Sugenb 'i>xt S(^roierig!eiten ber großen Aufgabe
überfef)en unb tit xoa\)xzn 3iele oerfannt I)ätten; erft mit ber
reiferen (£infid)t bes Filters unb ber Sammlung oieler (£rfat)rungen
l^ätten fie fid) oon il)ren ^ti^tümern übergeugt unb ben toa^ren
2Beg gur £)uelle ber 2Bat)r^eit gefunben. 9Äan !ann aber audf) um=
ge!el)rt bel)aupten, ha^ bie großen SRänner ber 2Biffenf^aft in
jüngeren ^ai)xtn unbefangener unb mutiger an it)re fd^toierige
Aufgabe lierantreten, bafe i^r ^licf freier unb it)re Hrteilsfraft
reiner ijt; bie (£rfal)rungen fpäterer 5af)re füt)ren melfact) nic^t
nur 3ur Bereicherung, fonbern au(f) 5ur 2;rübung ber (£infi(^t, unb
mit bem ©reifenalter tritt anmäl)lic^e 9^ü(fbilbung ebenfo im
®el)irn roie in anberen iDrganen ein. ^ebenfalls ift biefe 9Jietamor=
pI)ofe an fidE) eine Iet)rrei^e pfr)ct)oIogif(i)e Xai\aä)t; benn fie be=
loeift mit oielen anberen formen bes „öefinnungsroec^fels", ha^
bie I)öd)ften Seelenfunftionen ebenfo toefentlic^en inbioibuellen
35eränberungen im Saufe bes £ebens unterliegen u)ie alle anberen
fiebenstätigleiten. ->
68 Siebentes Äapitel.
6iebettteö ^apxtti.
©fufettleiter bet Seele*
9)Zoniftifcj)e <5fubicn über i[)er9(eicbenbe ^fpc^ologie.
^fpcboloöifcbe 6tufen(eifer, 3nftin!t unb Q3ernunft.
T>k grofearticjcn 3^ort[d)nttc, XDtld)t bie ^fr)d)oIogie in ber
3toeiten ^älfte bes 19. 3öi)rl)unbert5 mit §ilfe ber (£ntröi(!elung5=
Ie{)re gemad)! \)ai, gipfeln in ber ^nerfennung ber p[r)ci)oIogi»
[c^en (£inl)eit ber organi[cf)en 2Belt. Die oergleirf) enbe
Seelenlel)re, im 33ereine mit ber Ontogenie unb ^l)i)Iogenie ber
^[i)d)e, I)at uns 3U ber Hberjeugung gefüt)rt, bafe bas organif^e
£eben in allen ^bjtufungen, oom einfac^jten, einjelligen ^rotijten
bis 3um 9Jtenfd)en t)inauf, aus benfelben elementaren 9iatur=
träften [ic^ entroidelt, aus ben 3^un!tionen ber (Smpfinbung unb
^öeroegung. Die Hauptaufgabe ber n)i[[enfd)aftli(i)en ^[r)d)oIogie
osirb bat)er fünftig nicE)t, roie h\5i)tx, bie aus[ct)Iiefeli(f) [ubjeJtiue
unb introfpeftioe 3ci^9lieberung ber pd^ftentroidfelten ^l)ilo«
fopl)en[eeIe [ein, fonbern bie objeftioe unb oergleicfienbe Unter*
iud)ung ber langen Stufenleiter, auf mtld)tx ]iä) ber menfi^ltc^e
(öeijt allmät)lid) aus einer langen 9leit)e Don nieberen tieri[cl)en
3ujtanben enttoidelt l)at. Die [cf)öne Aufgabe, bie einseinen
Stufen biefer p[i)d)ologi[d)en Äette 3U unter[d)eiben unb il)ren
ununterbro(i)etten pl)r)logenetifd)en 3u[ammenl)ang nad^jutöcifen,
ijt erjt in ben legten X)e3ennien bes 19. 5a^rl)unberts ernftlid) in
Angriff genommen roörben.
SRaterieUe Safts ber $ft)(^e. 5llle (£rfd)einungcn bes Seelen*
lebens ol)ne ^usna^me finb oerfnüpft mit materiellen Söorgängen
in ber lebenbigen Subjtan3 bes 5lörpers, im Plasma ober
Protoplasma. 2Bir \)ahtn jenen 3:eil bes le^teren, ber als ber
3:räger ber ^[i)(f)e er[d)eint, als ^[t)d)oplasma beseic^net;
roir erbliden barin fein befonberes „2Be[en", [onbern toir be=
trad)ten bie ^fi)d^e ols Aolleftiobegriff für bie ge[am =
ten p[i)(f)i[ct)en ^^runftionen bes Plasma. „Seele" ijt in
biefem Sinne ebenjo eine pl)t)[iologi[d)e 5tbjtra!tion toie ber
Segriff „ Stoff U)e(f)[er' ober „3cugung". Seim äRen[cf)en unb
ben l)öl)eren !Iieren ift bas ^[i)(f)oplasma, 3ufolge ber t)orge[(i)rit=
tenen 5lrbeitsteilung ber Organe unb ©eroebe, ein bifferensierter
93ejtanbteil bes 9lerocn|i)|tem5, bas 9leuroplasmo ber ©onglien»
Siufenleiter ber 6eele. 69
gellen unb \i)xtt leitcnben Ausläufer, ber Sf^eröenfafern. Set hzn
nieberen Spieren bagegert, bie noc^ feine gefonberten 9lert)en unb
Sinnesorgane befi^en, ijt bas ^fr)c^opla5ma nocf) ni(^t jur [elb=
jtänbigen 2)ifferen5ierung gelangt, ebenfotoenig bei iitn ^flangen.
Sei ben einseitigen ^roti^ten ijt has ^[i)c^opIa5ma ibentifd^ mit
bem ganzen lebenbigen Protoplasma besjelben. ^n allen
gällen, ebenfo auf biefer nieberjten toie auf jener I)öd)jten Stufe
ber p[T)(^oIogi[d)en (Enttoicf elung5rei{)e , ift eine getoiffe d^emi[rf)e
3u[ammen[e^ung bes ^[rjc^oplasma unb eine getüiffe pl)t)fi!a^
Ii[(t)c Se[c^affen^eit besfelben unentbe!)rlid), u)enn bie „Seele"
arbeiten [oH. ias gilt ebenfo oon ber elementaren Seelentätigfeit
ber plasmatifc^en (Empfinbung unb Setoegung bei ten ^roto3oen,
roie oon t>tn 3u[ammenge[e^ten gfunftionen ber Sinnesorgane
unb bes ©et)irns bei htn I)öt)eren Xieren unb bem 95len[(f)cn.
Die Arbeit bes ^[r)(^opIasma, bie toir „Seele" nennen, ijt jtets
mit Stofftüed)feI oerfnüpft.
Stufenleiter ber C^mpftnbungen. ^Ile lebenbigen 9latur=
törper ot)ne 5(u5nat)me jinb empfinblid); fie unter[cf)eiben bie
3ujtänbe ber umgebenben ^ufeentoelt unb reagieren barauf burc^
geroijje Scränberungen in il)rem ^Ttnern. £id)t unb 3Bärme,
Sd)roer!raft unb (£le!tri3ität, me(f)ani[ct)e ^roaeffe unb (f)emi[(i)e
Vorgänge in ber Umgebung roirlen als „9lei3e" auf bas empfinb=
Ii(f)e ^[i)c^opIasma unb rufen Seränberungen in [einer moIe=
Maren 3ujammen[e^ung t)eröor. 5(ls §auptjtufen feiner (£mp =
finblirf)!eit unterjc^eiben toir folgenbe fünf ©rabe:
I. ^uf htn unterjten Stufen ber Drganifation ijt bas ganje
^ji)(i)opIasma als [ol(i)es empfinblict) unb reagiert auf bie ein==
löirfenben ^lei^e, jo bei ben nieberen ^rotijten, bei oielen ^flanjen
unb einem 3:eire ber unoolüommenjten 3:iere. 11. ^uf ber
30)eiten Stufe beginnen [ic^ an ber Oberfläche bes i^örpers ein=
fact)jte Sinne sto er faeugc^u enttoideln, in ^form oon ^lasma=
i)aaren unb ^igmentflecfen, als Vorläufer oon 3:ajtorganen unb
^ugen; [o bei einem Steile ber l)öl)eren ^rotijten, aber auc^ bei
oielen nieberen 3:ieren unb ^flanjen. III. 5luf ber britten Stufe
I)aben [id) aus biejen cinfact)en ©runblagen burc^ Differenjie^
rung [pe3ififrf)e Sinnesorgane entioicfelt, mit eigentümlirf)er
;5tnpaf[ung: bie ^emij(f)en äßerfseuge bes ®erud)s unb (Sejc^macfs,
^bie pi)i)[ifali[cl^en Organe bes Xajifinnes unb SBärmefinnes, bes
;®el)örs unb ©efid^ts. Die „[pe3ifij(^e (Energie" biejer l)öf)eren
Sinnesorgane ijt feine urjprüngli(i)e (£igen[d)aft, [onbern burc^
funftionelle 5lnpa[jung unb progrejjioe 23ererbung ertoorben.
JV. 5luf ber oierten Stufe tritt bie 3entrali[ation bes 5RerDen =
|f9ftems unb bamit 3uglei(^ biejenige ber ©mpfinbung ein; burd)
70 Siebentes 5^apttel.
^[[ogton ber frül)eren i[oIterten ober IofaIt[ierten (gmpfinbungen
entjtel)en 23orjtenungen, bte ^unäc^jt nod) unbetDufet bleiben, [o
bei üielen nieberen unb I>öl)eren Xieren. V. ^uf ber fünften 6tufe
bilbet [id) im 3eiitralteil bes ^leroenfi^jtems eine befonbere Sammel=
ftelle für bie empfangenen (£inbrüde unb bie aus it)nen 3u[ammen=
gefegten (Srlebniffe aus. Z^xt S^unttion fennen roir bei uns [elbft
als betoufete CBmpfinbung; ät)nlid^e Drgane befi^en alle I)öl)eren
äßirbeltiere unb unter ben 2BirbeIIo[en [inb [ie befonbers bei ben
©liebertieren befannt.
Stufenleiter ber löetoegutigen. ^Ile lebenbigen ?latur!örper
Dl)ne 5Iusnat)me [inb [pontan betoeglid), im ©egenfa^e ju ben
jtarren unb unbett)egli(^en ^Inorganen (5^ri)ftaIIen), b. \). es finben
im lebenbigen ^[i)d)opIasma fiageüeränberungen ber Xeilc^en
aus inneren llr[a(i)en jtatt, toeId)e in beffcn d)emi[(f)er i^onjtitution
felbjt begrünbet [inb. Diefe aftiüen üitalen ©etoegungen [inb 3um
Xtxl bire!t burd) ©eoba^tung iDal)r3unet)men, 3um anberen Xeil
aber nur inbire!t aus il)ren 2Bir!ungen 3U er[ct)Iiefeen. 2Bir unter=
[ct)eiben fünf Abstufungen ber[elben.
I. 5(uf ber unterjten Stufe bes organi[^en fiebens nel)men
xöir nur jene 2Ba(i)stumsbeu3egungen u)at)r, roeldie allen Orga=
nismen gemein[am 3u!ümmen. Sie ge[(i)el)en getDöl)nIi(^ [0 Iang=
[am, bafe man [ie nid)t unmittelbar beobad)ten, [onbem nur in=
bire!t aus itirem 9le[ultate er[d^Iiefeen !ann, aus ber 33eränberung
in (Sröfee unb ©ejtalt bes XDa(^[enben .Körpers. 11. 93iele ^roti[ten,
namentli^ ein3ellige Algen aus ben ©ruppen ber I)iatomeen
unb X)esmibiaceen, beroegen [id) fried)enb ober [d^toimmenb burc^
Seiretion fort, burc^ ein[eitige Aus[d)eibung einer [d)Ieimigen
9Ka[[e. III. Anbere, im 3ßa[[er [d)iDebenbe Organismen, 3. S. oiele
9tabioIarien, Sipt)onopl)oren, 5ltenopt)oren u. a., [teigen auf unb
nieber, inbem [ie it)r [pe3ifi[d)es (5zwid)i oeränbern, balb buri^
Osmo[e, balb burd) Abjonberung ober Aus[tofeung oon £uft.
IV. 33iele ^flansen, be[onbers bie empfinblid)en Sinnpflan3en
(9Jlimo[en) unb anbere ^apilionaceen, fül)ren Setoegungen oon
^Blättern ober anberen !leilen mittels 3^urgortDed)[el5 aus,
b. t). es oeränbert [ic^ bie Spannung bes Protoplasmas unb bamit
auc^ be[[en I)rud auf bie um[d)Iiefeenbe ela[ti[cl^e 3^IIenu)anb.
V. Die roid)tig[ten oon allen organi[d)en Seroegungen [inb "bit
5^ontra!tionser[d^ einungen, b. l). ©e[taltsDeränberungen ber
5lörperoberfläd)e, u)eld)e mit gegen[eitigen jßageoer[d)iebungen
il)rer 3:eild^en oerbunben [inb; [ie »erlaufen [tets in 3toei oer=
[d)iebenen 3#änben ober ^l)a[en ber ©eioegung: ber i^ontra!^
tionspI)a[e (3u[ammen3ie]^ung) unb ber (£ipan[ionspl)a[e
(Ausbel)nung). Als oier »er[d)iebene grormen ber ^lasmafontraf»
Stufenleiter ber Seele. 71
ttort iDerben unterf(^teben Va: bie amöboiben Setoegungen
(bei 9?^t3opoben, Slutsellert, ^tgTnent3ellen u[tD.); Vb: bie ät)n=
lid^en ^lasmoftröTnungen im Seinern con abge[(^lo[[enen
3enen; Vc: bie glimmcrbetoegung {©eifeelberoegung unb
SBimperbetDegung) bei ^Tifuforien, Samensellen, 0^limmerepitt)el=
seilen, unb enbli(^ Vd: bie 9Jiu5felbetDegung (bei t)tn meiften
2:ieren).
IReflcxe. 2)ie elementare Seelentätigfeit, votld)t burc^ bie
93er!nüpfung oon (Smpfinbung unb Setoegung entjtel)t, nennen
roir S^eflei. X)te Seroegung — gletd)Dtel toelcl)er 5trt — er=
[d)etnt l)ier als hh unmittelbare golge bes 9^ei3es, tDeld)er bie
(Empfinbung l)ert)orgerufen l)at; man l)ai [ie ba^er aui^'im ein=
fa(^jten galle (bei ^rotijten) furj als „5?ei3beu)egung" be=
3eicE)net. ^lles lebenbe Plasma befi^t 9lei3bar!eit (Irritabilität).
3ebe pl)r)[ifalifcf)e ober ct)emifd)e 93eränberung ber umgebenben
5Iufeentüelt !ann unter Kmjtänben auf bas ^ft)cl)oplasma als 5Rei3
toirfen unb eine ©etoegung l)erDorrufen ober „auslöfen". 2ßir
roerben fpäter [el)en, toie ber XDtcl)tige pl)r)[ifali[d)e Segriff ber
^uslöfung bie einfa^jten organif(i)en 9?efleitaten unmittelbar
an[(^liefet an äl)nlid)e mec^anifi^e ^Betoegungsoorgänge in ber
anorganif(t)en Statur (3. ©. bei ber (Sxplofion oon ^uloer burd)
einen ö^unfen, oon Di)namit burc^ einen Stofe).
einfache unb sufammengefe^te 9leflexc. Der tt)i(i)tige ltnter=
f^ieb, ben xoxx in morpl)ologi[(^er unb pl)r)[iologi[^er ^infii^t
3tDi[(i)en ben einselligen Organismen (Protisten) unb ben uiel=
Selligen (Histonen) mad)en, gilt au^ für beren elementare Seelen=
tätigfeit, für bie 9iefleitat. 5Bei ttn einselligen ^rotiften
läuft ber ganse ^rosefe bes ^tefleies innerl)alb bes Protoplasma
einer einsigen 3ßne ah; bie „3^n[eele" berfelben er[(^eint nod)
als eine- einl)eitlid)e (Munition bes ^fr)(^oplasma, beren einselne
^l)a[en [id) erjt mit ber Differensierung befonberer Organe 3U
[onbern beginnen. Sd)on bei 3cnüereinen beginnt bie stoeite
Stufe ber Seelentätig!eit, ber sufammengefe^te 9{eflei.
Die 3al)lrei(^en [osialen 3^11^", toelc^e biefe 3ßnoereine 3ufammen=
fe^en, jtet)en immer in mef)r ober roeniger enger 33erbinbung, oft
bireft burd^ fabenförmtge ^lasmabrücfen. (£in 9t eis, roelc^er
eine ober melirere 3ßnen bes 33erbanbes trifft, toirb burd) Ut
23erbinbungsbrüden ben übrigen mitgeteilt unb !ann alle su ge=
mein[amer ilontraftion oeranlaffen. Diefer 3u[ammenl)ang be=
|tel)t aud) in hzn (Seroeben ber oielselligen ^flansen unb Xiere.
2Bäl)renb man frülier intümlic^ annal)m, bafe bie 3ellen ber
^flansengetoebe gans ifoliert nebeneinanber ftet)en, [inb je^t
überoll feine ^lasmafäben nad)getüte[en, roeli^e bie biden 3^11=
79
Siebentes 5^apitel.
membranen bur(f)fe^en unb il)re lebenbtgen ^lasmaförper in
materiellem unb p|i)C^ologi[d)em 3iif<immenf)ang erl)alten. So
ertlärt es fid), ha^ bie (Erfc^ütterung ber empfinbli(f)en 2Bur3el
von Mimosa, coelc^e ber Xritt bes SBanberers auf ttn Soben Der=
ur[ad)t, fofort ^tn 9?ei3 auf alle 3^nen bes ^ftanjenftodes über=
trägt unb il)re jarten gieberblätter 3um 3w[ammenlegen, bie
Slattjtiele 3um §erab[in!en ueranlafet.
9lcflei unb ©etr>uBtfetn. ^uf bie O^rage, tnroietoeit bem
Organismus [eine 9teaftionen auf bie 9?ei3e ber Umtoelt betüu^t
roerben, fann eine allgemeine ^ntroort nid)t gegeben roerben.
23om Seroufetfein roiffen mir eigentlirf) nur infofern, als es bie
unmittelbare ®rfal)rung unferes eigenen Erlebens ift. 23erglei=
c^enbe ^Betrachtung ber 9^efleie [elbft unb befonbers audf) il)rer
anatomt[cE)en ®runblagen bere(f)tigen uns aber 3u ber Wnnal)me,
t)Q^ biejenigen Xiere, hit einen äl)nlid^en ^f)03ionsapparat in
i^ren 5lefleibogen eingefrfialtet \)ahtn toie toir, aud^ in äf)nlic^er
äbeife erleben, al[o ein bem unferen analoges Setou^tioerben
tt)rer pfT)d)i[^en (Junftionen befi^en. ^Is [olc^e Xiere !ommen
bie uns jtammesgefc^i(i)tlid^ nal)e jtel)enben SBirbelticre unb üon
ben Sßirbellofen oielletcf)t bie [osiaten (Sliebertiere unb bie 5lopf=
füjger (Cephalopoden) in ^etrad)t.
Stufenleiter ber ©orftellungen. Der S^aupla^ Haren ^e=
coufetfeins [inb beim 9J?en[(i)en oor allem bie 33orftellungen. Dod)
ift bas Seroufetfein !ein töe[entli(i)es 9Jier!mal ber 33orftellungen;
roir nel)men [ol(^e r>ielmel)r bei allen Organismen an, oI)ne ha^
mir it)nen ein bem un[eren ät)nlicl^es !lar beroufetes (Erleben 3u=
[(^reiben, ^m allgemeinen erfd^eint bie 23orjtellung als bas innere
JBilb bes äußeren Objeftes, tüeld)e5 bur(^ bie ßmpfinbung über=
mittelt ijt.
I. 3^IIulare 23orftenung. ^uf htn nieberjten Stufen be=
gegnet uns bie 93orjtellung als eine allgemeine pl)i)[iologi[(^e
gunftion bes ^[r)ct)oplasma; |(f)on bei t^n einfa(i)jten einseitigen
^rotijten tonnen (Empfinbungen bleibenbe Spuren im ^[r)(^o=
Plasma l)interla[[en, unb biefe fönnen oom (5ebäd)tnis reprobu3iert
ujerben. 5Bei mel)r als oiertau[enb Jlabiolarienarten, roeld^e irf)
be[cf)rteben t)abe, ijt jebe einselne Spesies burd) eine bejonbere
erblid)e Sfelettform ausgesei^nei X)ie ^robu!tion biefes [pe3i-
fi[c^en, oft \)öd)]t oerBoidelt gebauten Steletts burd) eine i)'öd)\t
einfad) gestaltete (meift tugelige) 3^\lt ijt nur bann erflärlid), toenn
roir bem bauenben Plasma bie (5äl)ig!eit ber 33orjtellung %u\d)xzU
ben, unb stoar ber bejonberen 9?eprobuftion bes „plajtifc^cn
Dtjtan3gefül)ls", roie ic^ in meiner ^ft)d)ologie ber 9^abiolarien
geaeigt l)abe (1887, S. 121).
Stufenleiter ber 6eele. 73
IL §t[tonaIe S^orftellung. Schott bei ben (Sönobien ober
3enDereinen ber gefelligen ^rotijten, nocf) met)r aber in htn ©e=
roeben ber ^flan^en unb ber nieberen, neroenlofen 3:iere ((5pon=
gien, ^oli)pen) begegnen loir ber jcoeiten Stufe ber 33orjtenung,
tt)el(i)e auf bem gemeinfamen Seelenleben 3at)Irei(f)er, eng oer«
bunbener Sollen berut)t. Da einmalige 9tei3e nii)t blofe eine
oorüberge{)enbe ^Betoegung eines Drganes (3. ®. eines ^flansen*
blattes, eines ^oIr)penarme5) auslöfen, [onbern einen bleibenben
Sinbrutf l)interla[fen, ber von biefem [päter reprobusiert töerben
fann, fo muffen roir 3ur ©rflärung biefer (£rf(t)einung tim §ijtonal=
33orjtenung annet)men, gebunben an bas ^fijc^oplasma ber a[fo3i=
ierten (5ett)ebe3elien.
III. UnbetDufete Sßorftellung ber ©angliensellen.
Die britte, ^ö^ere Stufe ber 33orjtenung ift bie I)äufigfte gorm
biefer Seelentätigfeit im 3:ierreict); [ie erfc^eint als eine £ofalifa=
tion bes 33orftenens auf beftimmte „Seelen3enen" ober ©ruppen
oon 5Rert)en3enen. 9Kit ber auf jteigenben (gnttoicfelung bes 3entral=
nert)enfi)ftems im Xierrei^, feiner 3unet)menben Differen3ierung
unb Integration erl)ebt fid) au^ bie ^usbilbung biefer 3Sor|teI=
lungen 3U immer I)öt)eren Stufen,
IV. $8eu)ufete 23or[teIlung ber (5e{)irn3elten. (£rjt auf
ben t)öcf)jten Gnttoidfelungsftufen ber tierifd^en Crganifation ent=
toidelt fi^ bas Semufetfein als eine befonbere gun!tion eines
bestimmten 3entralorgans bes S^leroenfpltems. ^nbem bie 93or=
jtellungen betoufete roerben, unb inbem befonbere ®et)imteile [id)
3ur 5l[fo3ion ber betoufeten 33orjtellungen reid^ entfalten, toirb
ber Organismus 3U jenen l)öcl)jten p[r)cl)ifc^en Orun!tionen befäl)igt,
loeld^e tDir als Denfen unb überlegen, als S3erftanb unb 33er =
nunf t be3ei(f)nen. Obgleicf) bie ^bjtecfung ber pl)t)leti[(f)en ©rense
3töi[ci)en ben. älteren, unbetüufeten unb htn jüngeren, betoufeten
23orjtellungen l)ö(^ft frf)U)ierig ijt, fönnen roir boc^ mit 2Bal)rf(^ein=
li(f)feit annel)men, t>a^ bie le^teren aus htn erfteren poli)pf)t) =
letifcf) entjtanben finb. Denn toir bürfen betoufetes unb oer=
nünftiges Den!en nicl)t nur bei ben t)öcl)jten formen bes 2Birbel=
lierjtammes annel)men (SJJenfcl), Säugetiere, ein 2eil ber nieberen
33ertebraten), fonbern aurf) bei Un l)öc^jtenttDidelten SSertretern
anberer Xierjtämme (^meifen unb anbere 3nfe!ten, Spinnen unb
f)öl)ere 5^rebfe unter tizn ©liebertiexen, (£epl)alopoben unter ^tn
2Bei(f)tieren).
Stufenleiter bes ®ebö(^tniffe$. (Sng oertnüpft mit ber
Stufenleiter in ber (£ntroidfelung ber 93 or jtellungen ift biejenige
bes ©cbäc^tniffes; biefe l)ö(^ft tDid)tige grunttion bes ^[r)(^o=
Plasma — bie Sebingung aller fort[(l)reitenben Seelenenttoicfelung
74 Siebentes Kapitel.
— x\i \a im tDe[entIi(^en 9Ieprobu!tion von Sßorjtellungen.
Die (£inbrü(Je im ^lasma, roeI(i)e ber 9?ei3 als (Empfinburtg be=
toirtt t)atte, unb roeId)e bleibenb gu 23orfteIIungen geroorben
toaren, toerben neu belebt; [ie ge:^en aus bem potentiellen in
t)tn a!tu eilen 3wjtanb über. (£ntfprect)enb hzn mer Stufen
ber S3orfteIIung fönnen toir aud) beim (5ebäd)tni5 üier §aupt|tufen
ber aufjteigenben (£ntiDi(Jelung unter[d)eiben.
I. 3enular0ebä^tm5. mt 9?e(f)t l)atte ber ^f)i)[ioIoge (Sioalb
gering in einer gebanfenreicfien ^Ib^anblung „bas ©ebäc^tnis als
eine allgemeine ^^runttion ber organifierten SJiaterie" bcseic^net
unb bie t)ot)e ©ebeutung biefer Seelentätigfeit t)ert)orgel)oben,
^,ber toir fajt altes cerbanten, lüas coir [inb unb l)aben" (1870).
3d) t)abe [päter (1876) biefen ©ebanten roeiter ausgefül)rt unb in
[einer fru^tbaren ^nroenbung auf bie (£ntroic!elungsle^re gu be=
grünben t)er[ud)t, in meiner ^bl)anblung über ,,X)ie ^erigenefis
ber ^lajtibule ober bie SBellengeugung ber ßebensteild)en; ein
33er[ud) jur med)ani[cf)en (£rflärung ber elementaren (Bnttoidelungs«
üorgänge". 5d) l)abe bort bas „unberoufete (5ebä(^tnis" als eine
allgemeine, \)ö6)]i toi^tige ^unttion aller ^laftibule nad)^U'
toeifen ge[u^t, b. \). jener l)r)potl)etifd^en 9Jlole!üle ober 'MoUfüU
gruppen, roeld^e »on 9^aegeli als 5[Ricellen, xfon anberen als
$Biopla[ten u]w. be3eict)net toorben [inb. 5Rur bie lebenbigen
^la[tibule, als bie inbioibuellen 9Jlole!eln bes aftioen Plasma,
[inb reprobuftio unb be[i^en [omit ©ebä^tnis; bas i[t ber §aupt=
unter[(f)ieb ber organi[(^en Statur oon ber anorgani[(i)en. 'SJlan
!ann [agen: „Die (£rbltct)!eit i[t bas ©ebäc^tnis ber ^la[ti =
bule, I)ingegen bie 33ariabilität ijt bie e^a[[ungs!raft ber ^la[ti=
bule". Das elementare ©ebä(i)tnis ber einselligen ^rotiften [e^t
[id) 3u[ammen aus bem moletularen (5ebä(i)tni5 ber ^lajtibule
ober SJlicellen, aus roel^en il)r lebenbiger S^Henleib [idf) aufbaut,
gür bie erjtaunlid)en £ei[tungen bes unbetoufeten (5ebä(f)tni[[es
bei bie[en einselligen ^rotijten i[t mo\)l feine Xat\a^t Iet)rreidf)er
als bie unenblid^ mannigfaltige unb regelmäßige Silbung il)rer
(5ct)u^apparate, ber Schalen unb Stelette; be[onbers bie Dia*
tomeen unter t>tn ^rotopl)i)ten, bie 9labiolarien unter t>tn SJßxo^
to3oen liefern bafür eine O^ülle oon intere[[anten S8ei[pielen. 3^
üielen tau[enb ^rten bie[er ^rottjten oererbt [ic^ th [pe3ifi[(^e
Sfelettform relatio fon[tant. (23ergl. bie toic^tige Sd)rift oon
9li^arb ©emon, 1904: „Die ^neme als erl)altenbe5 ^rinsip
im 2Be(^[el bes organi[cl^en (5e[d)e^ens").
II. |>ifti>nal0ebä(^tni$. (£ben[o intere[[ante Setoei[c für bie
gtoeite Stufe ber (Erinnerung, für bas unberoufete ©ebäc^tnis ber
©eroebe, liefert hh 23ercrbung ber einzelnen Organe unb (5e«)ebe
k
Stufenleiter ber Seele. 75
im i^örper ber ^flansen unb ber nieberert, nerüenlofen ^Xiere
(Spongien u[tD.). ^tefe 3toette Stufe erf(^eint als 9{eprobu! =
tion ber ^iftonalöorftelluTigeTi, jener ^ffogion von S^lMax=
üorjtellungen, bie [cf)on mit ber Silbung Don dönobien bei i5en
fojialen ^rotiften beginnt.
III. (5Iei(f)eru)ei[e ijt bie britte Stufe, ba« „unbetöufete (5e =
bäd)tni5" berjenigen Xiere, bie bereits ein 9lert)en[i)jtem befi^en,
als 9?eprobu!tion ber ent[pre(i)enben „unbexDufeten 93orftelIungen"
3U betrai^ten, toelc^e in getüiffen (öangliensellen aufge[pei(i)ert
[inb. ®ei ben meijten nieberen Stieren ijt tDot)I alles (Sebäc^tnis
unbetDufet. ^ber aud) beim $IRen[cf)en unb t>tn I)öl)eren Stieren,
benen toir Seroufetfein 3u[d)reiben muffen, finb bie täglict)en 3run!=
tionen bes unbetou^ten ©ebä(^tniffes ungleich f)äufiger unb
mannigfaltiger als biejenigen bes betoufeten; baoon überzeugt
uns leicl)t eine unbefangene Prüfung von taufenb unbetöufeten
SXätigfeiten, bie tüir aus (5eu)ot)nl)eit, ol)ne baran 3U benfen, beim
(5el)en, Spred)en, Scf)reiben, (£ffen ufro., täglirf) üolljie^en.
IV. Das beroufete (Sebäc^tnis, roeld)es burc^ bejtimmte (5e-
l)irn3ellen beim SJienfi^en unb htn l)öl)eren Xieren oermittelt
tüirb, erfc^eint ba^er nur als eine fpät entjtanbene „innere Spie =
gelung", als bie l)öd)jte 33lüte berfelben pfr)d)if(l^en 33orftellung5=
9?eprobu!tionen, tDeld)e bei unferen nieberen tierif(i)en 93orfat)ren
fi^ als unbetDufete 93orgänge in htn (5'anglien3ellen abfpielten.
?Mffo3ton ber JBorjtenungen. Die SSerfettung ber 93or=
jtellungen, wtl6)t man getoö^nlicl) als ^ffo3iation ber ^h^tn (ober
für3er ^ffo3ion) be3eid)net, burd)läuft ebenfalls eine lange Stufen*
leiter von htn nieberften bis 3U ben l)öd)jten Stufen. Die C£r3eug=
niffe biefer „5beenaffo3ion" finb äufeerft mannigfaltig; tro^bem aber
fül)rt eine fet)r lange, ununterbrocl)ene Stufenleiter allmäl)licf)er
GnttDicf elung von htn einf acf)ften 1ttffo3ionen ber nieberjten ^rotiften
bis 3U ben oollfommenften 3i)eent)er!ettungen bes 5lulturmenfd)en
l)inauf. ^lles l)öl)ere Seelenleben roirb um fo oollfommener, je
met)r fiel) bie normale ^ffo3ion unenbli(^ 3al)lreid)er 23orftel=
lungen ausbel)nt, unb je naturgemäßer biefelben burc^ bie
tritifd^e 33ernunft georbnct Boerben. ^tn Xraume, roo biefe
5lriti! fel)lt, erfolgt oft bie ^ffosion ber reprobujierten 93orftel=
lungen in ber fonfufeften ^omt. ^ber aud) im Schaffen ber
^t)antafie, tDeld)e burcf) mannigfaltige 33er!ettung Dorl)anbener
33orftellungen gans neue ©ruppen berfelben probusiert, ebenfo
in ben §allu3inationen ufto. roerben biefelben oft gan3 naturtoibrig
georbnet unb erfc^einen ba^er bei nürf)terner ^etra(f)tung un*
oernünftig. ®an3 befonbers gilt bies oon htn übernatürlid)en
„(öeftalten be-^ (Glaubens", bem (Seifterfpu! bes Spiritismus
76 Siebentes Kapitel.
unb Offultismus. ^ber gerabe biefe abnormen 5tf[o3ionen
bes „©laubens" unb ber angeblichen „Offenbarung" werben üiel*
fac^ als bie roertoolljten „(Seijtesgüter" bes 93kn[d)en I)od^ge[c^ä^t.
3tt)'tin!te. Die oeraltete ^fpc^ologie bes ^Rittelalters, bie
allerbings auc^ t)eute noc^ oiete ^nt)änger befi^t, betrad^tete bas
Seelenleben bes 9Jien[(f)en unb ber 3:iere als gänsli^ Derfct)iebene,
(£rfd) einungen; fie leitete bas erjtere von ber „Vernunft", bas
(entere von bem „3tt[tin!t" ah. Der trabitionellen Sci^öpfungs=
ge[(i)id)te entfprec^enb na!)m man an, bafe jeber 3:ierart bei il)rer
Sct)öpfung eine bestimmte, unbeioufete Seelenqualität com
Sd^öpfer eingepflanzt [ei, unb "00.)^ biefer „9la turtrieb" (In-
stinctus) einer jeben Species ebenfo unüeränberlid^ fei u^ie beren
!örperlirf)e Organifation. 9^ad)bem [(^on £amar(J (1809) bei
Segrünbung [einer De[5enben3t^eorte bie[en Irrtum als unt)altbar
ertüie[en, töurbe er burcf) Darwin (1859) t)oIl[tänbig roiberlegt;
er beroies an ber §anb [einer Seleftionst^eorie folgenbe tütd^tige
£e^r[ä^e: I. Die 3^[tinfte ber Spejies [inb inbioibuell t)er[cf)ieben
unb eben[o ber ^bänberung burd) ^npa[[ung unterworfen wie
bie morpl)oIogi[d^en 9Jler!male ber 5^örperbilbung. II. Die[e
93artationen (großenteils burd^ oeränberte ©ewot)nt)eiten ent=
[tauben) werben burdf) 33 ererbung teilweife auf bie 9Iad)!ommen
übertragen unb im fiaufe ber Generationen gepuft unb befeftigt.
III. Die SeIe!tion (ebenfo bie !ün[tlid)e wie t>xt natürlid)e)
trifft unter biefen erblichen ^Ibänberungen ber Seelentätigfeit eine
^uswat)!, [ie erpit bie jwedfmäfeigften unb entfernt bie weniger
pa[fenben aJlobifüationen. IV. Die babur^ bebingte Dioergeng
bes p[t)(i)i[d)en (Sl)ara!ters fül)rt [o im ßaufe ber (5enerations=
folgen ebenfo jur (£nt[tet)ung neuer 5n[tin!te, wie bie Dioergens bes
morpt)oIogif(^en (It)ara!ters 3ur (£nt[tet)ung neuer Spezies. Dies gilt
für [ämtlict)e ^roti[ten unb ^flanjen ebenfo wie für fämtlirfie
Xiere unb 9Jlenfd)en. Die 3#i"ttß treten aber bei le^teren um fo
met)r ^urüdf, je me^r [ict) auf ii)re 5lo[ten bie33ernunft entwicfelt.
Stufenleiter ber Vernunft. 5n jenen oberflä^Ii^en, mit bem
Seelenleben ber 3:iere unbefannten p[t)d)oIogif(i)en 93etrad)tungen,
welct)e nur im SJlenfc^en eine „wal)re Seele" anerfennen, wirb
autf) il)m allein als I)öcf)[tes ©ut bie „33ernunft" unb bas SBe*
wufetfein 3uge[(t)rieben. %ud) bie[er S^rtum i[t burd) bie oergIei=
c^enbe ^[i)(f)oIogie ber legten ^ai)X^ci)ntt grünblidf) wiberlegt.
Die t)öt)eren SBirbeltiere be[i^en ebenfogut Vernunft wie ber 9}ienfc^
[clbjt, unb innerl)alb ber 3:ierreil)e jeigt [ic^ ebenfo eine lange
Stufenleiter in ber anmäf)Iid)en (£ntwidelung ber 33ernunft wie
innert)oIb ber SD^en[(f)enreif)e. Der Unter[d)ieb 3wi[ct)en ber ^^er*
nunft eines (5oetl)e, 5lant, £amard, Darwin unb berjenigen
Stufenleiter ber (Seele. 77
bes nieberjten 9laturntenfd)en, eines SBebba, 5l!fa, ^Tujtrolnegers
unb ^atagoniers, ijt üiel größer als bie Differens 3töifd)en ber 33er»
nunft bie[er le^teren unb ber „üernünftigjten" Säugetiere, ber
äHen[d)enaffen, §unbe, Elefanten uftD.
€:pra^e. Der t)öl)ere ®rab von (gnttoidelung ber ^Begriffe, t>on
33erjtanb unb S3ernunft, tt)eIdE)er ben 9Jlen[(^en [o l)0(i) über bie
Xiere erl^ebt, ijt eng oerfnüpft mit ber ^usbilbung [einer Sprad)e.
^ber au^ l)ier, toie bort, ijt eine lange Stufenleiter ber (Sntro'tcte"
lung na(f)roeisbar, roeId)e ununterbrod)en t)on 'ötn nieberften gu
ben t)ö^jten ©ilbungsftufen l)inauffül)rt. Sprad)e ijt ebenfotoenig
als 93emunft ein ausf(i)liepd)e5 (Eigentum bes SRen[rf)en. 93ielmel)r
ijt Spraye im weiteren Sinne ein gemeinsamer 23or3ug aller
l)öl)eren [ojialen 3:iere, minbejtens aller (öltebertiere unb 2Birbel=
tiere, toeldie in (5efell[d)aften unb gerben üereinigt leben; [ie ijt
il)ncn nottoenbig 5ur 33erjtänbigung, 3ur SJiitteilung il)rer 23ors
Stellungen. Dieje !ann nun enttoeber burd) ^Berü^rung ober burd)
3eicl)engebung gej^el)en, ober burd) 3:öne, toeld)e bejtimmte
^Begriffe besei^nen. ^ud^ ber (Sefang ber Singoögel unb ber
[ingenben äRenj^enaffen (Hylobates) gel)ört gur £autjpra<f)e,
ebenjo toie bas Seilen ber §unbe unb bas 3ßiel)ern ber ^ferbe;
ferner bas 3ii^pc^ ber ©rillen unb bas ©ejd^rei ber 3i?ttben. ^ber
nur beim 9Jienj(i)en l)at jid) jene artüulierte Segriff5fpracf)e
enttoidelt, rDeld)e [eine S3ernunft 3U [o oiel l)öl)eren fieijtungen be=
fäl)igt. Die üerglei(i)enbe Sprai^forj^ung l^at gelel)rt, toie
bie 3al)lreid^en l)0(^enttr)idelten Sprad)en ber t)er[d)iebenen SSölfer
jid) aus roenigen einfa(^en Ur[prad)en lang[am unb allmäl)lid) ent=
u)idelt ^aben. 9tomanes (1893) l^at überseugenb bargetan,
ha^ bie Sprad)e bes 9Jlen[d)en nur bem (grabe ber (£ntrDide=
lung nad), nid)t bem 3Be[en unb ber ^rt nac^ oon berjenigen
ber l)öl)eren 2:iere üer[d)ieben ijt.
Stufenleiter ber ©emütsbewegunöcn ober ^ffefte. Die iDid^=
tige (Sruppe üon Seelentätigfeiten, u)eld)e toir unter bem Segriffe
„©emüt" 3u[ammenfa[[en, [pielt eine grofee 9iolle eben[o in ber
tl)eoreti[c^en roie in ber pra!ti[d)en S3ernunftlel)re. %üx un[ere Se=
trad)tung5rDei[e [inb [ie besl)alb be[onbers toic^tig, xoeil ^ier ber
.bire!te 3u[ammenl)ang ber (5el)irnfun!tion mit anberen pl)9[io=
logi[d)en gunftionen (^er3[d)lag, Sinnestätigteit, 9Jius!elbeu)egung)
unmittelbar einleud)tct; baburd^ roir^ ^ier J)e[onbers bas 2Biber=
natürlid)e unb Hnl)altbare jener $t)ilo[opl)ie flar, toeldie bie
''^[t)d)ologie prin3ipiell oon ber ^b^j^ologie trennen toill. Me bie
3al)lreid)en 3lufeerungen bes ©emütslebens, roelc^e toir beim
9Jien[d)en finben, fommen au^ bei ben l)öl)eren 3^ieren oor (be=
[onbcrs bei ben 95Jen[d)enoffen unb ^unben); [o Der[d)tebenartig
78 Siebentes ilapitel.
[ie aud) entrotdelt ftnb, fo laf[en \\ä) bod) alle töieber auf bie beiben
(£IeTnentarfun!tioneTt ber^[i)(^e 3urü(ffüI)reTt, auf (£mpftn==
bung unb Setoegung, unb auf h^xtn 33erbinbung im 9iefIe-E unb in
ber 33orjtenung. 3unt ©ebiete ber (£mpfinbung im toeiteren Sinne
ge!)ört t>a5 (5efül)I von £uft unb Unluft, toeld^es has ©emüt
bejtimmt, unb ebenfo ge!)ört auf ber anbeten Seite jum ©ebiete
ber Seroegung bie entfpred^enbe 3iiTieigung unb 9lbneigung
(„fiiebe unb $>a^"), bas Streben nad) (Erlangen ber fiujt unb nad^
93ermeiben ber Unlujt. „5ln3iet)ung unb ^bjto^ung" erfd)einen
't)ier sugleid) als bie Urquelle bes 2Billens. T)ie fieibenfcl)aften,
toeld^e eine \o grofee 9?olle im l)öl)eren Seelenleben bes 9Jlen[dE)en
fpielen, [inb nur Steigerungen ber „(Semütsbetoegungen" unb
^Iffefte. X)a^ aud) biefe ben 9[Ren[ d)en unb 3^ierett gemetnfam
[inb, l)at ^Romanes einleud)tenb gezeigt, ^uf ber tiefjten Stufe
bes organifc^en £ebens [d)on finben roir bei allen ^rotijten jene
elementaren (5efül)le von £uft unb Unlujt, u)eld)e fid) in il)ren [o=
genannten Xropismen äußern, in bem Streben nad) ßic^t ober
Dun!ell)eit, nad^ SBärme ober i^älte, in bem oerfi^iebenen 35er=
l)alten gegen pofitioe unb negatioe (EleÜrijitöt. ^uf ber t)öd)ften
Stufe bes Seelenlebens bagegen treffen roir beim 5lulturmenfd)en
jene feinjten (5efül)lstöne unb ^bjtufungen oon (Sntsüden unb 5lb=
[d)eu, Don £iebe unb $>a^, wz\d)t bie 3:riebfebern ber 5lultur=
ge[d)id)te unb bie unerfd)öpflid)e ^runbgrube ber ^oefie [inb. Hnb
bod) oerbinbet eine ^ufammen^angenbe 5lette oon allen benfbaren
Hbergangsftufen jene primitiojten Itrsujtänbe bes ©emüts im
^fi)d)oplasma ber einhelligen ^rotiften mit biefen I)öc^jten
(Snttöidelungsformen ber ßeibenf^aften beim 9[I?en[d)en, tDeld)e
[id) in ttn ©angliensellen ber (5ro^l)irnrinbe abfpielen.
Stufenleiter bes aBilletts. X)er.93egriff bes SBillens unterliegt
gleid) anberen p[r)d)ologi[d)en ®runbbegriffen ben oerfi^iebenjten
Deutungen unb Definitionen. $Balb toirb ber SBille im toeitejten
Sinne als !osmologi[d)es Attribut betrad)tet: „bie SBelt als
2Bille unb 25orjtellung" (Sd)openl)auer), balb im engjten Sinne
als ein antl)ropologifd^es 5Ittribut, als eine ausf^liepc^e
(£igen[d)aft bes aRenfd)en; le^teres gilt 3. SB. für Descartes,
für roeli^en bie 3:iere toillenlofe unb empfinbungslofe 9Jia[d)inen
finb. ^m geiDöl)nlid)en Spra^gebrau(^ loirb ber 2ßille oon ber
(£r[d)einung ber toilltürlii^en SBeraegung abgeleitet unb [omit als
eine Seelentätigfeit ber meisten Xiere betrad)tet. 2Benn toir t)m
2Billen im £ic^te ber t)ergleid)enben ^l)i)[iologie unb (gnttoidelungs^
ge[d)id)te unterfud[)en, fo tommen toir — ebenfo toie bei ber (£mp=
finbung — 3ur Überjeugung, ba^ er eine allgemeine (£igen[d)aft
bes lebenben ^[r)d)oplasmo ijt.
Stufenleiter ber 8eele. 79
SBiUensfret^ett. Das Problem von ber i5^reif)eit bes Trtenfd)=
ltd)en SBillens ift unter allen 2ßelträt[eln basjenige, tDeIrf)e5 htn
benfenben 9?len[d)en von iet)er am metjten be[(i)äftigt t)at, unb
jroar be5l)alb, töeil [id) l)ter mit bem l)o^en pt)iIo[opl)iid)en ^ntereffe
ber i^XüQt Bugleid) bie rotd^tigfien j^olö^i^iingen für bie praftifd^e
'!Pf)iIo[op^ie oerfnüpfen, für bie 9Jtoral, bie (Sr^iel^ung, bie 9tecf)t5=
pflege ufto. (S. Du Soi5 = 9iet)monb, toeli^er basfelbe als bas
fiebente unb le^te unter [einen „fieben SBelträtfeln" bet)anbelt,
lagt bat)er von bem Problem ber 2Binen5freiI)eit mit 5Re^t: „Seben
berül)renb, [d)einbar jebem jugänglid), innig oerflod^ten mit hm
©runbbebingungen ber menfc^Iid^en (5e[eII[d^aft, auf bas tiefjte
eingreifenb in bie religiösen Hberseugungen, t)at biefe ^i^age in
ber ©eiftes* unb 5^ulturgefd)i(^te eine Atolle von unermefelirf)er
2ßict)tig!eit gefpielt, unb in il)rer ^el)anblung fpiegeln [id) bie (£nt=
löidelungsjtabien bes 9J?en[(f)engeijtes beutlic^ ah. — Sßielleic^t
gibt es feinen ©egenjtanb men[d)Iic^en 9Za(i)ben!ens, über toeld^en
längere 9^ei{)en nie mel)r aufgeschlagener Orolianten im Staube ber
$BibIiotI)e!en mobern." — Die[e 2Bi^tig!eit ber ^rage tritt aud)
barin flar gutage, bafe Äant bie Uberäeugung ooit ber „3[BiIIensfrei=
I)eit" unmittelbar neben biejenige üon ber „Itnfterblid^feit ber
Seele" unb neben ben „(Stauben an ©ott" jtellte. (£r begeid^ncte
biefe brei großen fragen als bie brei unentbel)rlid)en „^oftulate
ber pra!ti[d)en 93ernunft", nad)bem er Dort)er in ber „5^riti!
ber reinen 93ernunft" flar bargelegt f)atte, bafe it)re ^nnal)mc
»öllig unbegrünbet ijt.
Das äJlerftDürbigjte in bem großartigen unb f)öcf)jt oerroorrenen
Streite über bie 3Billensfrei^eit ift oielleid)t bie Xatfa^e, ha^ bie=
[elbe tf)eoretifd) nidE)t nur t)on l)öd^jt fritifc^en ^l)ilo[opl)en, fonbern
aud) von ben eitremjten ©egen[ä^en oerneint unb tro^bem t>on
ttn meijten 9Jlen[d)en ols [elbjtoerftänblid) no(^ l)eute beial)t toirb.
^eroorragenbe fie^rer ber d)rijtlid)en 5lird)e, roie ber 5lird)ent)ater
^uguftin unb ber 9teformator (^aloin, leugnen bie 2Binensfrei=
l)eit eben[o bestimmt toie bie befannteften i^ü^xtx bes reinen
SJlaterialismus, §olba(^ im 18. unb ^üd)ner im 19. ^al)X'
l)unbert. Die d)riftlid)en Xf)eologen oerneinen [ie, roeil [ie mit
il)rem festen (Blauben an bie ^llmad)t ©ottes unb bie ^räbejtina=
tion unoereinbar ift; ©ott, ber ^llmäd)tige unb ^llroiffenbe, [al)
unb iDollte alles oon (Sroigfeit woraus; al[o bestimmte er aud) bas
mnbeln ber 9J?en[d)en. SBenn ber^ 9Jien[d) nad^ freiem 2Billen
)anbelte, anbers, als es ©ott oorausbejtimmt l)atte, [o roäre ©ott
ud)t allmäd)tig unb allroiffenb getoe[en. 3^^ bemjelben Sinne
)ar aud) £eibni3 unbebingter Determinift. Die monijtifd^en
iaturfor[d)er bes 18. 5fll)Tf)unberts, allen üoran fiaplacc, oer*
80 ^d)te5 Äapitel.
teibtgtcn htn Determinismus toieber auf ©tunb tl)rer einl)ctt=
l\(i)tn med^anifd)en 2BeItan[d)auung.
Der geioaltige 5^ampf 3roi[(f)en tm Determtniften unb 3n =
beterminiften, 3totfd)en ben ©egnern unb ben ^tnl^ängern ber
2Btnensfreit)Ctt, ijt ^eute, nad) me!)r als jtoei ^a^rtaufenben, enb=
gültig 3ugunften ber erjteren ent[d)ieben. Der men[ct)Ii^c SBille
ijt ebenfoujenig frei als berjenige ber l)öl)eren 3:iere, üon roelc^em
er fid) nur bem ©rabe, ni(^t ber 5Irt nad) unterfd)eibet. 2BäI)renb
nod) im 18. 5at)rl)unbert bas alte Dogma tjon ber SBillensfrei^eit
coefentlidE) mit allgemeinen, pI)iIo[opt)if(f)en unb fosmologifc^en
®rünben bestritten tourbe, i)at uns bagegen bas 19. 3al)rt)unbert
gan3 anbere 2Baffen ju beffen befinitioer 3BiberIegung ge[cf)en!t,
bie geioaltigen 9Baffen, XDdd)t voxx bem ^rfenal ber oergleid^en*
t>tn ^l)r)[ioIogie unb (£ntiDicfeIungsge[^t(i)te ©erbanfen.
2Bir toiffen je^t, ba^ jeber 2BiIIensa!t ebenfo bur^ bie Organi[ation
bes xDoIIenben ^nbiöibuums bejtimmt unb ebenfo oon htn jeroeiligen
23ebingungen ber umgebenben ^ufeemoelt abl)ängig ijt toie jebe
anbere Seelentätigfeit. Der (rt)ara!ter bes Strebens ijt üon »orn*
t)erein burd) bie 33 ererbung von (Altern unb 23oreItern bebingt;
ber (£ntjd)lufe gum jebesmaligen ^anbeln roirb burd^ bie ^npaj»
[ung an bie momentanen Itmjtänbe gegeben, toobei bas jtärtjte
9[Rotiö t}tn ^us[(f)Iag gibt, entjpred^enb t)zn ©eje^en, xoüä)t bie
Statt! ber ©emütsbeioegungen bejtimmen. Die Dntogenie Iel)rt
uns bie inbioibuelle (£ntt»icfelung bes SBillens beim 5linbe Derjtcl)en,
bi'i ?ßl)t)Iogenie aber bie I)ijtori[d)e ^usbilbung bes SBillens inner»
l)alb ber 9?eil)e unferer 3BirbeItier=^I)nen.
<2lc^te« Kapitel.
Äeitneggef(j^i(ä^te bet Seele*
9}^oniftifc^e 6tubien über ontogenetifc^e ^fi)c{)olo9ie.
(fnttpitfelung be^ (Seelenleben^ im inbioibueUen ßeben
ber ^erfon.
Unjere men[d)Ii(^e Seele — gleid)üiel, toie man i^r SBejen auf»
fafet — unterliegt im fiaufe unjeres inbioibuellen Gebens einer
jtetigen (gnttoidelung. Die je ontogeneti[d)e 3:atfad)e ijt für
unjere momjtijd)c ^ji)d)ologie üon funbamentaler ©ebeutung, ob=
Acimesge|d)id)tc ber Seele, 81
voo^:\ bie nteijtcn „^|t)d)oIogen von gö<i)" tl)r teils nur gerinöe,
teils gar feine Scrü(ffid)tigung fd)en!en. 2Bie nun bie inbioibuelle
(£nttDidelung5gefcf)id)te ber „wai)xt £id)tträger für alle Unter=
fu(i)ungen über organi[cf)e Äörper ijt", [o toirb [ie aud) über bie
rDi(f)tigften (5el)etmni[[e bes Seelenlebens uns erjt bas toa^re 2id)i
an3ünben.
Obgleicf) nun biefe „5leimesge[c^id)te ber S[Renf(f)enfeele" äufeerft
u)i(i)tig unb intere[[ant ijt, l)at [ie bod^ bisher nur in [el)r be[d)rän!=
tem Umfange bie oerbiente ©erütfjiicf)tigung gefunben. CBs toaren
bisl)er fajt au5fc!)liefeli(i) bie ^öbagogen, tüelcl)e [id) mit einem
3:eile berfelben be)d)äftigten; burd) it)ren prafti[d)en Seruf barauf
angecoiefen, bie ^usbilbung ber Seelentätigfeit beim 5^inbe 3u
leiten unb 3U übertDad)en, mußten fie aud) tl)eoreti[d)es S^ttereffe
an ben babei beobad)teten pfr)d)ogenetifd)en 2:at[ac^en finben.
3nbef[en jtanben bie ^äbagogen in ber 9leujeit toie im Altertum
größtenteils im ©anne ber l)err[(^enben bualijtifd)en^[t)d)ologie;
bagegen loaren [ie mit "ötn toid)tigjten Xai\a(i)tn ber Dergleid)enben
^[i)d)ologie, [owie mit ber Organijation unb gunftion bes ©ef)irns
meijtens nid)t befannt. ^ufeerbem aber betrafen il)re ^eobad)=
tungen größtenteils erjt bie 5^inber in fd)ulpflid^tigem 5llter ober
in t)tn unmittelbar t)orl)ergel)enben fiebensial)ren. X)ie mer!=
tDürbigen (£r[^ einungen, roel^e bie inbioibuelle ^[r)d)ogenie bes
5^inbes gerabe in ben erjten fiebensial)ren barbietet, unb iDeld)e
olle ben!enben (Eltern freubig beujunbern, tourben faft niemals
©egenjtanb eingel)enber tDi[[en[d)aftlic^er Stubien. ^ier l)at erft
2ßilt)elm ^rer)er (1881) ^Qi)n gebrod)en, in [einer Sd)rift über
„Die Seele bes i^inbes; Seobad)tungen über bie geijtige (£nttüide=
lung bes 9Jlen[d)en in ben erjten £ebensial)ren". 3^be[[en mü[[en
toir, um Dolle Älarl)eit gu geröinnen, nod) toeiter jurüdgelien, bis
auf bie erjte (£ntjtel)ung ber Seele im befrud)teten (£i.
©ntftc^ung ber inbtoibueUett Seele. Der Hrjprung unb bie
erjte C£ntjtel)ung bes men[d)lid)en S^^iolbuums galt nod) im
anfange bes 19. 3al)^^unberts für ein oollfommenes ©el)eimnis.
5tllerbings l)atte dafpar griebrid) Sßolff [d)on 1759 in [einer
Theoria generationis bas wai)xt 2Be[en ber embryonalen (£nt=
roidelung aufgebedt unb on ber [id)eren §anb friti[d)er SBeobad)=
tung gcseigt, baß bei ber (Entroidelung bes i^eimes aus bem ein*
fad)en (£i eine toa^re (£pigene[i5, b. l). eine 9?eil)e ber mer!=
roürbigjten 91eubilbungspro3e[[e jtattfinbe. allein bie bamalige
^l)t)[iologie lel)nte bie[e empiri[d)en/unmittelbar mi!ro[!opi[d)
3U bemonjtrierenben (£r!enntnif[e runbroeg ab unb l)ielt an bem
^ergcbrad)ten Dogma ber embri)onalen ^räformation fejt.
^ad) bie[em na^m man an, t)ali i"i ^i «^^r Organismus mit allen
Äacdel, QBetfräffft. 6
82 ^d)tc5 5lapitel.
feinen 3:eilen oorgebilbet ober präformtert fei; th „(gnttoitfelung"
bes Äeimes beftel)e eigentlich) nur in einer „^usioicfelung" ber ein«
getotdelten Xeile (Evolutio). ^Is notoenbiger 2fOlgef(f)lufe biefes 3rr=
tums ergab fid) baraus tt)eiterl)tn bie oben ertoäI)nte (£infd)ad)te-
lung5tt)eorie (8. 33). t)iefem Dogma ber „iDDuIiften"fd^uIe
ftanb gegenüber eine anbere, ebenfo irrtümli^e ^nfii)t, bie ber
„^nimaüuliften"; biefe glaubten, bafe ber eigentlid^e Steint
nid)t in ber toeibIid)en ©iselle ber 93Zutter, fonbern in ber ntänn»
Iid)en ©permaselle bes 93ater5 liege, unb ta^ in biefem „Samen=
tieri^en" bie <£infd^ad)telung ber ®enerationsreiI)en 3U fud^en fei.
£eibni3 übertrug biefe (£infct)a(f)telungslel)re gans foIgeric{)tig
aud) auf bie ntenfd)Ii(i)e Seele; er leugnete für fie eine waf)xt
(gntiöidelung ((Epigenefis) ebenfo roie für ben 5lörper unb fagte
in feiner 31)eobicee: „So follte ic^ meinen, bafe bie Seelen, tDeId)e
eines Xages menfcf)ftd)e Seelen fein roerben, im Samen, toie jene
Don anberen Spejies, bagetoefen finb; ta^ fie in htn 33oreItern
bis auf ^bam, alfo feit bem Einfang ber Dinge, immer in ber gorm
organifierter 5^örper exijtiert t)aben." $lf)nlic^e SJorftellungen er=
l)ielten fid) fou)oI)I in ber Biologie toie in ber ^I)iIofopI)ie nod) bis
in bas britte Deaennium bes 19. 3cit)rl)unberts, too i!)nen bie 9^e=
form ber Äcime5gefd)id)te burd) SBaer htn Xobesftofe oerfe^te.
3Wi)t^ol09te bes Seelenurfprungs. Die nä{)eren ^uffd)Iüffe,
toeId)e toir burc^ bie oergIei(^enbe (Ethnologie neuerbings über bie
mannigfaltigen 9JZr)tt)enbiIbungen ber älteren 5luIturoöIfer foxool)!
als ber f)eutigen 9laturoöI!er getoonnen t)aben, finb au(^ für bie
^fr)d)ogenie oon großem 3^tereffe. 93etreff5 ii)res toiffenfd)aft=
lid^en ober poetifc^en ®el)altes fönnen bie äRpt^en über "am
Seelenurfprung ettoa folgenbermafeen in fünf (Sruppen ge*
orbnet toerben: I. 931r)t^U5 ber Seelentoanberung: bie Seele
lebte f ruf) er im Körper eines anberen 3:ieres unb ijt erjt aus biefem
in ben menfd)Iid)en i^örper übergetreten; bie ägt)ptifd)en ^riefter
3. S. bel)aupteten, ta^ bie menfd)Iid)e Seele nad) bem Xobe bes
fieibes burd) alle 3:iergattungen l)inburd)tDanbere; na(^ 3000 3af)ten
aber roieber in einen 9Jtenfd)enIeib 3urüdfef)re. II. äRt)tl)us ber
Seeleneinpflansung: bie Seele eiijtierte felbftänbig an einem
anberen Drte, in einer Seelen = 33 orratsfamm er (ettoa in einer
^rt oon i^eimf^Iaf ober latentem £ eben); fie roirb oon einem
33ogeI (bisroeilen als ^bler, oft als „Älapperjtorc^" gebad)t) ge=
t)oIt unb in htn menfd)Iid)en 5^örper eingefe^t. III. 9}li)tf)us ber
Seelenfd)öpfung: ber göttli^e S(^öpfer, als perfönlic^er „©ott=
33ater" gebad)t, erfd)afft bie Seelen, i)ält fie oorrätig — balb in
einem Seelentei(^, balb an einem Seelenbaum; ber Sd)öpfer
nimmt biefelben l)eraus unb fe^t fie (U3äl)renb bes 3ßU9ung5a!te5)
Äeimc5öefd)id)te ber Seele. 83
bcm Tnen[d)Itd^en Rtirm ein. .IV. yjlv)il)us ber 6eelenetnfd)ad) =
telung (t)on £eibnt3, voxt)tx enüä^nt). V. Mx)ü)U5 ber Seelen»
tetlung (tjon 9luboIf 3ßagner, 1855); im 3^ugung5a!te [poltet
[icf) ein Xeil von beiben (immateriellen!) Seelen ab, bie t>tn
5^örper ber beiben fopulierenben (SItern betool^nen; ber mütterlid^e
Seelen!eim lebt in ber ©iselle, ber oäterlid^e in bem betoeg»
lid)en Samentier(f)en; inbem biefe beiben Äeimsellen oerfdimelaen,
tDad)[en au^ bie beiben [ie begleitenben Seelen 3ur ©ilbung einer
neuen immateriellen Seele gufammen.
^^Qftologte bcs Seelenurfprungs. £)btoof)l bie angefül)rten
X)id)tungen über bie (£ntftel)ung ber eingelnen S[FlenfcE)en[eele l)eute
nod) [el)r roeite 33erbreitung unb ^nerfennung befi^en, ijt bennodf)
il)r rein mi)tl)ologi[d)er (£l)ara!ter je^t [ic^er na(i)getoie[en. Die
bexDunberungstDürbigen Unter[ucf)ungen, n)eld)e im fiaufe ber
legten Desennien über bie feineren 33orgänge bei ber 58efru(i)=
tung unb ileimung bes (£ies ausgefül)rt roorben [inb, l)aben er»
geben, bafe bie[e mrijteriöfen (£rf (Meinungen fämtlid) in bas ©e»
biet ber 3^nenpl)t)[iologie gel)ören. Somo^l bie tüeiblid)e
i^eimanlage, bas (£i, als ber männli(f)e Sefru(i)tungs!örper, bas
Spermium ober Samentieri^en, [inb einfad)e 3^11^^- X)ie[e
lebenbigen 3ßnen be[i^en eine Summe von pl)t)[iologi[(l)en (£igen=
[d)aften, tüel^e toir unter bem ©egriff ber 3cn.[eele 3u[ammen»
fa[[en, eben[o toie hti htn permanent einjelligen ^rotiften (oergl.
S. 92). Seiberiet (5e[d^led)ts3ellen be[i^en bas 93ermögen ber
Seroegung unb (Empfinbung. Die iugenbli(i)e (£i3elle ober bas
„Urei" betoegt \iä) narf) 5Irt einer ^möbe; bie [el)r tleinen Samen»
förperd)en ober Spermien, oon toeld^en 50lillionen in jebem
!Xropfen bes [cl)leimartigen, männlicl)en Samens [id^ finben, finb
(5ei^el3ellen unb betoegen [icE) mittels il)rer [(f)tüingenben ©eifeet
ebenfo lebl)aft [d)toimmenb im Sperma uml)er toie bie getoö^nli(i)en
®eifeelinfu[or{en (Flagellaten).
2Benn nun bie beiberlei S^lUn hti ber Begattung 3u[ammen=
treffen, ober toenn [ie burd) fünjtlidje ^Befruchtung {3. S. bei
3ri[ci)en) in $8erül)rung gebrad)t toerben, 3iel)en [ie \iä) gegen[eitig
an unb legen [ic^ fe[t aneinanber. Die Ur[a(f)e bie[er 3ellularen
^ttraftion ijt eine (i)emi[d)e, bem (5eru(l)e ober (5e[d)made oer»
toanbte Sinnestätig!eit bes Plasma, bie roir als „eroti[(J^en
(£l)emotropismus" besei^nen. 9Jian fann [ie auci^ gerabesu
([otDol)l im Sinne ber 6^l)emie als im Sinne ber 9^omanliebe)
„36llenix)al)lDertüanbt[(i)aft" ober „[exuelle 3^llenliebe" nennen.
3ablreid)e ©eifeel3enen bes Sperma [c^toimmen auf bie rul)ige
(£i3elle lebl)aft l)in unb Der[urf)en in beren 5^örper ein3ubringen.
(£s gelingt aber normaleru)ei[e nur einem einsigen glüdlidicn Se*
6*
84 ^tt^tes Äapltcl.
xücrber, bas er[cl)ntc 3icl tDirtltd) ju erreichen. Sobalb [t(f) bicfes
bcoorjugtc „(5aTncntiercf)en" mit [einem „5lopfc" (b. l). bem 3^ncn»
!cm) in ben fieib ber (Si^elle eingebol)rt l)at, toirb von ber ©ijelle
eine bünne 6(i)Ieim[d)id^t abgefonbert, tDcId)e bas (Einbringen
anberer männlid)cr ß^Hen Derl)inbert. 9'lur loenn man burc^
niebere Temperatur bie (Siselle in Äältejtarre werfest ober [ie burc^
nar!oti[d)e ^ölittel ((£{)loroform, 9[Jlorpl)ium, 9li!otin) betäubt,
unterbleibt bie ^ilbung bie[er (3(i)U^^üne; bonn tritt „Über«
fruc^tung ober ^olrifpermie" ein, unb 3al)Ireid)e Samen»
fäben boI)ren fid^ in ben £eib ber betoufetlofen 3cne ein. Diefe
mer!tDürbige Xai]aä)t beseugt ebenfo einen nieberen (5rab oon
[pe3ifi[(i)er, [innlid)er, lebl^after (Empfinbung in ben beiberlei ©e*
id)Ied^t53enen toie bie tDid)tigen Sßorgänge, bie gleid) barauf fid)
in ii)rem Innern ab[pielen. Die beiberlei 3cnen!eme, ber tDeibIid)e
(Eifern unb ber männli(f)e Spermafern, gießen [id) gegenfeitig an,
nät)ern [id) unb t)er[d)mel5en bei ber ^erüf)rung oolljtänbig mit*
einanber. So ijt benn aus ber befrurf)teten (Eizelle jene tDid)tige
neue S^Wt entjtanben, toeldje toir Stamm^elle nennen, unb
aus beren roieberl^oltcr 3:eilung ber ganje üielaellige Organismus
^eroorget)!
X)ie pfi)d)oIogi[d)en (Er!enntni[[e, toeId)e [id) aus biefen merf==
roürbigen Xatfacf) en ber Befruchtung ergeben, [inb überaus tDid)tig
unb bisher nid)t entfernt in if)rer allgemeinen Bebeutung getDür=
bigt. 2Bir fa[fen bie tDe[entIid)jten ^rolgerungen in folgenben
fünf Sä^en sufammen: I. ^t'üts men[d)Iicf)e Snbioibuum ijt, toie
jebes anbere pf)ere 3:ier, im Beginne feiner (Eiijtenj eine einfädle
3eIIe. II. Diefe Stammje^'.e entfielt überall auf biefelbe 2Bei[e,
burd) 93erfd)mel5ung ober Kopulation oon gtoei getrennten 3^^^^^
üer[d)iebenen Hr[prungs, ber toeibli^en (Ei3eIIe unb ber mann»
Iid)en Spermajelle. III. Beibe (5efd)led)ts3enen befi^en eine
üer[d)iebene „3en[eele", b. ^. beibe [inb burd) eine be[onbcrc
gorm Don (Empfinbung unb oon Belegung ausge3ei^net. IV.
3n bem SJZomcnte ber Befru^tung ober (Empfängnis «er«
[d)mel3en nic^t nur bie ^lasmaförper ber beiben (5e[d)Ied)ts3eIIen
unb it)re Äerne, fonbern aud) il)re „Seelen"; b. f). bie ir
il)nen entl)altenen p[r)d)i[d)en Anlagen (ober „SpannMfte") vtt
einigen [id) 3um „Seelenfeim" ber neugebilbeten Stamm3eIIe.
V. Dal)er be[i^t jebc ^er[on Ieiblid)e unb geijtige (Eigen[d^aften
oon beiben (Eltern; ber 5^ern ber (Ei3ene überträgt einen 3:eil ber
mütterlid)en, ber Kern ber Sperma3elle einen Xtxl ber oäterltc^en
(Eigen[d)aften.
Durd) bie[c empiri[d) erfannten (Er[c^ einungen ber „(Empfang*
nis" ober Kon3eption toirb ferner bie l)öd)jt roid)tige 3:at[ac^c fejt*
5^etmc5gefd)i(^tc bcr 6celc. 85
gcltellt, bofe jcbcr SlHenfrf), tote fcbcs anbcrc 3:{cr, einen Scgtnn
ber inbioibuellen ßxijtens l)at; bie üöllige Kopulation ber
beiben [eiuellen 3ßn!erne begetiinet I)aar[(^arf \itn ^ugenbltrf,
in toelc^em mrf)t nur ber 5^örper ber neuen StammscIIe entftel)t,
[onbern auä) i^re „Seele". Durd^ biefe 3:at[a^e allein [d)on roirb
ber alte S[RT)tI)U5 oon ber Hnfterbltd)!eit ber (Seele töiberlegt,
auf hm mit [päter surüdfommen. ferner roirb baburc^ ber noc^
fel)r oerbreitete 5lberglaube toiberlegt, ba^ ber 9J?en[d) [eine inbioi^
buelle (£iiften3 ber „(Snabe bes liebenben ©ottes" oerbanü X)te
Urfac^e berfelben berul)t Dielmel)r einsig unb allein auf bem
„(Sros" [einer beiben ©Item, auf jenem mächtigen, allen oiel*
^eiligen 3;ieren unb ^flangen gemeinfamen (5ef^Ied)t5triebe,
roel^er 3U beren ©egattung fül^rt. Das 2Be[entIi(i)e bei biefem
pf)r)fiologi[rf)en ^roseffe ijt aber nicf)t, toie man frü{)er annai)m,
bie „Umarmung" ober bie bamit oerfnüpften Biebesfpiele, [onbern
einsig unb allein bie (£infül)rung bes männlichen Sperma in bie
toeibIidE)en (5e[cl^Iec^tsfanöle. ^lur baburd) roirb es hti htn Ianb=
betoo!)nenben Vieren möglid), bafe ber befruc^tenbe Samen mit
ber abgelöften CSiseUe 3u[ammen!ommt (toas beim 9Jlen[c^en ge=
toöI)nli^ inner?)alb bes Uterus ge[(^ie{)t). Sei nieberen, tDa[[er=
betoot)nenben Xieren (3. S. (5i[ct)en, äRu[d)eIn, 9Kebu[en) toerben
beiberlei reife (5e[^Ied^t5probu!te einfarf) in bas 2Ba[[er entleert,
unb l)ier bleibt il)r 3ii[ammentreffen bem SufoII überla[[en; t)ann
fel)lt eine eigentlicf)e Begattung, unb bamit fallen 3uglei(^ jene
3u[ammenge[e^ten p[i)dE)i[(^en Sfunftionen bes „fiiebeslebens" ^in=
roeg, hit bei f)ö{)eren 2;ieren eine [0 grofee 9?oIIe [pielen. Dat)er
fef)Ien aucf) allen nieberen, nic^t fopuUerenben a:ieren jene intere[=
[anten Organe, bie X)axxoin als „[efunbäre Sexualc^araftere"
be3cid)net I)at, bie ^robufte ber ge[d)le^tlid)en 3u(i)ttDaI)I: ber
$Bart bes Söflannes, bas (Setoeit) bes §ir[(f)es, bas prad^toolle (5e=
fieber ber ^arabiesoögel unb oieler ^üt)neroögeI, [oroic oiele anbere
^U53ei(f)nungen ber 9Jiännc^en, u)el(t)e bcn 2Beibd)en fet)Ien.
(33ergl. aBiIt)eIm <BöI[c^e, ßiebesleben ber S^latur, 3<Bänbc, 1901.)
JBeretbung bet Seele. Unter ben angefül)rten 3roIge[i)Iü[[en
ber Äon3eptionspI)i)[ioIogie ift für bie ^^[i)(f)oIogie gans be=
[onbers toi(i)tig bie 23ererbung ber Seelenqualitäten oon
beiben (Eltern. I)afe jebes 5^inb be[onbere (£igentümli(f)!eiten
bes (£l)ara!ters, 3:emperament, 3:alent, Sinnes[ct)ärfe, 2BiIlens=
energie oon beiben (Eltern erbt, ift allgemein befannt. (Ebenfo
befannt ijt bie Zai\aä)t, bafe auc^ p[i)d)i[a^e (£igen[(^aften oon
beiberlei ©rofeeltern burc^ 33ererbung übertragen u)erben; ja,
l)äufig jtimmt in einseinen Se3iet)ungcn ber SJienfc^ mel)r mit ben
(örofeeltern als mit ben CBItern überein. Me bie mcrftoürbiöen
86 ^dltes Äapitcl.
©cfe^c ber 95crcrbung bcft^cn cbenfo allgemeine ©ülttgfeit
für bte befonberen (£r[d)emungen ber Seelentätigfeit toie ber
Rörperbilbung; jo, [ie treten uns I)äuftg an ber erjteren nocf)t)tel
auffallenber unb flarer entgegen, als an ber le^teren.
9flun ijt \a an \iä) bas grofee ©ebict ber 93 er erb ung, für beffen
ungel)euere Sebeutung uns erjt Dario in bas rüiffenf^aftlic^e
33erftänbnis eröffnet \)ai, reid) an bunfeln 9?ät|eln unb pf)i)fioIo=
gifd)en 8d)txiierig!eiten; toir bürfen nid)t bean[prud)en, ttai^ uns
[d^on je^t alle Seiten besfelben !Iar t>or klugen liegen, ^ber [o üiel
lyaben toir bod) [c^on [i(l)er gewonnen, bafe roir bie 93 ererbung
als eine pl)i)[iologi[d)e ^unftion bes Organismus betrad)ten,
bie mit ber Xätigfeit [einer O^ortpflansung unmittelbar »er!nüpft
ijt; unb toie alle anberen fiebenstätigleiten muffen toir audf) biefc
fd)liefelid) auf pl)r)fi!alifd)e unb (i)emifcl)e ^rogeffe, auf SD^e^ani!
bes Plasma 3urü(!fül)ren. 9lun fennen toir aber je^t t)tn 93organg
ber ^efrud)tui;g felbjt genau; toir toiffen, bafe babei ebenfo ber
6perma!em bie t)äterli(f)en, toie ber (£i!ern bie mütterlid)en (£igen=
f(f)aften auf bie neugebilbete Stammselle überträgt. Die 93er=
mif(i)ung beiber 3^nferne ijt bas eigentlid)e §auptmoment ber
93ererbung; bur(^ [ie loerben ebenfo bie inbioibuellen (Sigenfd^aften
ber Seele toie bes fieibes auf bas neugebilbete ^^tbioibunm über=
tragen. Diefen ontogeneti[d)en 3:at[ad)en jtel)t bie bualijti[d)e unb
mt)jtijd)e ^[i)d)ologie ber nocf) I)eute ^err[(f)enben Sd)ulen ratlos
gegenüber, toötirenb [ie [id) burd) un[ere monijti[d)e ^[t)d)ogenie
in einfad)jter 2Bei[e erflären.
©eelenmifc^uttg (^ftjd^tfd^e ^Imp^tgonie). Die pl)i)[iologi[c^e
3:at[ad)e, auf toeld)e es für bie rid)tige Beurteilung ber inbioibuellen
^[r)d)ogenie oor allem an!ommt, ijtbie5^ontinuitätber^^fr)d)e
in ber (5enerationsreil)e. 9[Benn im 9Jloment ber (Empfängnis aud)
tatfäd)lid) ein neues Snbioibuum entjtel)t, fo ijt basfelbe bod) toeber
l)in[id)[tli^ [einer geijtigen nod) leiblid)en £)ualität dm unabl)ängige
9^eubilbung, [onbern lebiglic^ bas ^robuft aus ber 93er[d)mel3ung
ber beiben elterlid)en (^rattoren. Die 3ßn[eelen beiber ©e[d)led)ts=
seilen oer[(^mel3cn im Sefrud)tungsa!te eben[o oolljtänbig 3ur
Silbung einer neuen 3^II[csIc» ^^^ ^iß beiben 3ßnferne, 03eld)e
bie materiellen Präger biefer p[r)(^i[c^en Spannfräfte [inb, 3u einem
neuen 3ell!ern ]i(i) oerbinben. Da roir nun [el)en, t>a^ bie 5nbiüi=
buen einer unb berfelben 9lrt jtets geioiffe, toenn aud) geringfügige
Unterfd)iebe seigen, fo muffen toir annel^men, tta^ fold)e aud) fd)on
in ber d)emifd)en ®ef(^affenl)eit ber fopulierenben ileimsellen
[elbjt oorl)anben [inb.
^ft)(^i)Io9if(^er Atavismus. 2Benn bei ber Scelenmi[ci^ng
Im ^ugcnblide ber (Empfängnis gunäc^jt aud) nur bie befonberen
5^ctmcsgc[d^td)te bcr Seela. 87
(gtgcnf^aftcn bcr beibcn (Blterrtfcelen mittels 93erfd)mel3ung bcr
beiben croti[d)CTt !^tl\Uxnt txbliä) übertragen tocrben, [o !ann
bamit bo(f) suglctd) bcr erbliche p[t)d)if(i)e (Einfluß älterer, oft toett
3urü(iliegcnber ©enerattonen mit fortgepfIan3t roerbcn. T)tnn
aud) bic (5e[e^c ber latenten 23crerbung ober bes ^ttaoismus
gelten ebenfo für hit ^fr)ct)e roic für bic anatomi[d)e Drganifation.
(Scrabc in feineren 3ügen bes Seelenlebens, im Sefi^c bcjtimmtcr
fünftlcrifd^cr 3^alente ober 9leigungcn, in bcr (Energie bes (£;f)araf ters,
in bcr £ciben[(i)aft bcs 3:cmpcramcntc5 gleichen oft {)crDorragenbc
9Jicn[^cn mct)r i^rcn ©rofeeltern als htn (Eltern; nid)t feiten tritt
audf) ein auffälliger (£^ara!ter3ug t)erDor, htn toebcr biefe nod) jene
bc[afecn, bcr aber in einem älteren ®Iicbe bcr ^t)ncnreil)e oor
langer 3^^t \x<i) offenbart t)attc. ^ud) in bicfcn mcrftoürbigcn
^taoismcn gelten bicfclbcn S3crerbungsgcfc^e für bic ^fr)(f)c tote
für bic ^f)t)fiognomic, für bic inbioibuelle Qualität bcr Sinnes»
Organe, toie für bic bcr SJtusfcIn, bcs Sfclctts unb anberer 5lörpcr*
teile, ^m ouffälligften fönnen roir bicfclbcn in rcgicrcnbcn Di)na*
jtien unb in alten ^belsgefd)led)tcrn oerfolgcn, bcren l)crDor=
ragenbc Xätig!cit im Staatslebch 3ur genaueren l)iftorij'(^cn Dar=
jtcllung ber ^nbioibucn in bcr (5cnerations!ctte 23cranla[[ung ge=
geben I)at, [o 3. ©. bei htn $ol)en3ollern, §oI)enf taufen, Oraniern,
©ourboncn ufto., unb nicl)t minber bei htn römi[(f)en 3ä[aren.
5)a$ »togenetifi^e ©runböefe^ in ber ^ft)(^oI09te (1866).
Der ilau[al3u[ammcnl)ang bcr bionti[(f)en (inbioibuellcn)
unb bcr pi)T)lcti[d)cn (l)iftort[c^cn) (Enttoidclung, ben i^ [d^on in
bcr ©cncrellen 93?orp^ologic als oberstes ®cfc^ an bic Spi^c aller
biogcneti[d)en Hnter[ud)ungen gcjtellt Ijattc, befi^t cbenfo all=
gemeine ©eltung für bic ^[r)(i)ologic roic für bic SJlorpl^ologie.
2Bic hti allen anberen Organismen, [0 ijt aud) beim S[Rcn[(i)en „bic
ilcimesgc[(i)i(f)te ein 5lus3ug bcr Stamme5ge[d)icl)tc".
Diefc gebrängtc unb abge!ür3tc SRcfapitulation ift um [0 t)olljtän=
biger, je mel)r burd) bejtänbige 23ererbung bic ur[prüngli(f)e
^us3ugscnttDi(fclung (Palingenesis) beibcl)altcn toirb; l)in=
gcg^n toirb [ic um" [0 unoolljtänbiger, je mel)r burd) tDcd)[clnbc
5lnpa[[ung bic [päterc Störungscntroidclung (Cenogenesis)
eingefül)rt roirb (5lntl)ropogenie, 1. 33ortrag).
Snbem roir bicfcs (5runbgc[c^ auf bic (£ntii)idclungsge[c^id)tc
bcr Seele antocnbcn, müf[en toir gan3 befonbercn 5Rad)brud barauf
legen, bajg jtets htiht Seiten bcsfclben !riti[d) im ^ugc 3U bcl)alten
[inb. Denn beim 9Jtcn[(^en roic bei allcn^ l)öl)crcn iiercn unb
^flan3en l)aben im £aufc bcr pl)i)leti[d)cn 5öl)rmillionen [0 be=
träd)tlid)e Störungen ober 3cnogcnc[cn [id) ausgcbilbet, ba'iß
baburd) bas ur[prünglid)c reine ^ilb bcr Balingen cfc ober bcs
88 5tc^tc5 Rapihl
„(5c[d)tc^t5aus3ugc5" ftar! getrübt unb oeränbcrt erfct)cmt. 2Bä^=
rcnb cincrfcits burc^ bie ©efc^c ber glctd)3e{ttgcn unb gleich«
örtli(^ cn 23ercrbung bic palingcnctifi^c 5lcfapttuIatton crl^alten
bleibt, tDtrb fte anbererfetts burc^ bie ©efe^e ber abgefürsten unb
t)ereinfad)ten 33ererbung roefentlic^ jenogenetifd) oeränbert.
3unäci)jt ijt bas beutli^ erfennbar in ber R«imesge[(^ict)te ber
Seelenorgane, bes 9lert)en[i)jtems, ber 9J?U5!eIn unb Sinnesorgane.
3n gan3 gleicher 2Beife gilt basfelbe aber aurf) oon ber Seelentätig»
feit, bie untrennbar an bie normale ^usbilbung biefer Organe
gebunben ift. 5I)re i^eime5ge[(^ict)te ijt beim 9P^enf(f)en, roie bei
allen anberen lebenbig gebärenben 3:{eren, fc^on bes^alb jtar!
jenogenetif^ abgeänbert, toeil bie oollc 5lusbilbung bes Reimes
^ier längere 3^tt innerl)alb bes mütterlidE)en 5^örpers jtattfinbet.
2Bir muffen baf)er als sroei §auptperioben ber inbioibuellen
^[pc^ogenic unterfd^eiben: I. bie embrt)onale unb IL bie pojt=
embryonale (EnttoicfelungsgefcfiidEjte ber Seele.
©mbttjonale ^ftjc^ogente. Der menfd^li^e Äeim ober embrt)o
entroidelt [idE) normalem) ei[e im 9Kutterleibe toäl)renb bes 3^tt=
raumes oon neun 9J?onaten. 2ßäl)renb biefer 3cit ift er oollfommen
oon ber ^lufeentoelt abge[(i)lo[fen unb nii^t allein burd) bie bicfe
9}lus!elxDanb bes mütterlid)en 3^ruc^tbel)älter5 (Uterus) gc[d)üfet,
fonbern au^ burd) bie befonberen 0^ru(i)tl)üllen (Amnion unb
Serolemma) tDeld)e allen brei l)öl)eren 2Birbelticr!la[fen gemeinfam
5ufommen, ben 9{eptilien, SSögeln unb Säugetieren. (Es [inb bas
Sd)u^einri(l)tungen, melci)e oon htn älteften ^leptilien, htn ge=
meinfamen Stammformen aller ^mnioten, erjt in ber ^erm=
periobe (gegen (^ntt bes paläojoifclien 3citalters) ertoorben
tDurben, als bie[e l)öl)eren SBirbeltiere [ic^ an bas bejtänbige £anb=
leben unb bie £uftatmung geroöl)nten. 3^re Dorl)ergel)enben
^nen, bie 5lmpl)ibien ber Stein!ol)lenperiobe, lebten unb atmeten
nod) im 2Ba[[er, toie il)re älteren 93orfal)ren, bie O^ifc^e.
©ei biefen älteren unb niebercn toafferbetool)nenben 2Birbel=
tieren befajg bie Reimesge[(^icl)tc nocl) in oiel lnpl)erem (5rabe ttn
palingeneti[(i)en (It)ara!ter, toie es au6) no^ bei ^tn meijten
3fi[(i)en unb ^mpl)ibien ber ©egentoart ber ^^all ijt. Die be!annten
5^aulquappen, bie IJaroen ber Salamanber unb ^x'd\ä)t, betDal)ren
noc^ l^eute in ber crjten 3cit il)res freien 2Ba[[erlebens titn 5^örper=
bau il)rer gi[(^al)nen; fie gleirf)en it)nen au6) in ber fiebensroeifc,
in ber Äiemenatmung, in ber gunftion il)rer Sinnesorgane unb
il)rer anhtxtn Seelenorgane. (£rft menn bie intereffantc 9Ketamor=
p^ofe ber [(f)toimmenben ilaulquappen eintritt, unb u) nn fie fid)
an bas fianbleben getoö^nen, oertoahbelt fid) i^r fi|d)ät)nUc^er
5\örper in bas oierfüfeige, !riecl)enbc ^mp^ibium; an bie Stelle
i^eime5ge[c^id)tc ber Seele. .89
ber 5^temcnatmung im SBaffer tritt bte 0U5f(^UefeIi(i)c fiuftatmung
burc^ Bungen, unb mit ber oeränberten £eben5ujci[e erlangt anä)
ber Seclenapparat, 9'lerDen[i)jtem unb Sinnesorgane, einen
:^öt)eren ©rab ber ^usbilbung. Die [c^toimmenbe 5^aulquappe
befi^t nid)t nur bie Organifation, [onbern au6) bie fiebenstoeife
unb Seelentätigfeit bes gi[c{)e5 unb erlangt erft burd) it)rc 93er= ^
tüanblung biejenige bes (5ro[ct)es.
Seim StRenfc^en tote bei allen anberen ^mniontieren ift bas
nid^t ber (^rall; i\)X (£mbri)o ijt [rf)on burd) ben (Einfc^Iufe in bie
[d)ü^enben (Eipllen bem bire!ten (£influ[[e ber ^ujsenoielt gan3 ent=
3ogen unb jeber SBec^feltoirfung mit berfelben enttoöt)nt. ^ufeer=
bem aber bietet bie befonbere Brutpflege ber ^mniontiere it)rem
fteime t)iel günjtigere ©ebingungen für jenogenetifc^e ^bfürgung
ber palingeneti|ct)en (gnttoidelung. 33or allem gel)ört bal)in bie
öortrefflictie (£mäl)rung bes Reims; [ie ge[(i)iel)t bei ^zn 9?epti-
lien, 23ögeln unb StRonotremen (ben eierlegenben Säugetieren)
bur(f) htn großen gelben 9lal)rungsbotter, tDel(J)er bem (£i bei=
gegeben ijt, bei "ütn übrigen Säugetieren l){ngegen {t)tn lebenbig
gebärenben Beuteltieren unb 3ottentieren) burc^ bas Blut ber
SJiutter, tDelct)es bur^ bie Blutgefäße bes Dotterfades unb ber
^llantois bem ileimc 3Uöefüf)rt roirb. Bei htn f)öct)jtenttDicfelten
3ottentieren (Placentalia) l)at biefe sroetfmäfeige ©mä^rungs»
form burct) ^usbilbung bes 9Jlutter!u(i)ens (Placenta) ben ^ö(i)jten
®rab ber Boll!ommenl)eit errei(f)t; ba^er ijt ber (£mbri)o [c^on oor
ber ©eburt l)ier oollfommen ausgebilbet. Seine Seele aber be=
finbet \iä) voä\)tmh biejer ganzen 3^1* tm 3ujtanbe bes Äeim =
jct)lafe5, einem 9{ul)e3ujtanbe, coelctien ^reger mit 9tecl)t bem
2Binterfc^lafe ber Üiere oerglid)en ^at. (Einen glei(i)en, lange
bauemben Sd)laf ftnben toir aud) im ^uppenjujtanbe jener 3«=
Jetten, roeld)e eine oolHommene Berroanblung bur(i)mact)en
(Schmetterlinge, 3mmen, (fliegen, 5^äfer ujro.). §ier ijt ber
^uppenfc^laf, toäl)rcnb bejfen bie tDicf)tigjten Umbilbungen
ber iDrgane unb (Betuebe oor jid^ gel)en, um [o interejjanter, als
ber Dor^erge{)enbe 3ujtanb ber frei lebenben fiarce (9?aupe,
(Engerling ober SJiabe) ein [el)r entcoicfeltes Seelenleben befi^t,
unb als biefes bebeutenb unter berjenigen Stufe jtel)t, toelc^e
jpäter (nad) bem ^uppenjd^laf) bas oollenbete, geflügelte unb
gejd)led)tsreife Zn]tfi jetgt.
^ojtembtt)onaIe ^f^c^ogeme. Die Seelentätigfeit bes 9Jien=
\d)tn burd)läuft tDäl)renb [eines inbioibuellen ^ebens, ebenjo roie
bei "ötn meijten I)ö^eren 3^ieren, eine 5leil)e oon (Entroidelungs*
jtufen; als bie toic^tigjten berjelben fönnen toir toot)! folgenbe
fünf §auptabj(^mtte unicrj^cibcn: 1. bie Seele bes Sflcugeborencn
90 9Zeunte5 Äapitcl.
bis 3um (£rtDacf)CTt bcs SelbftbciDufetfems unb gum (Erlernen ber
(Bpxa&jt, 2. bte Seele bes Änaben unb bes 9Jläbd)ens bis gur
Pubertät (3um (Ertoad^en bes ©efd^Ieditstrtebes), 3. bte Seele
bes Sünglings unb ber Jungfrau bis 3um (Eintritt ber [eiuellen
35erbtnbung (bte ^eriobe ber „Sbeale"), 4. bie Seele bes erijoadf)[e=
nen SJJannes unb ber reifen grau (^eriobe ber t)onen 9letfe unb
ber Orötntitengrünbung), 5. bie Seele bes ©reifes unb ber ©retfin
(^eriobe ber 9tüdfbilbung). X)as Seelenleben bes 9Jlen[d^en burrf)^
läuft alfo biefelben (Entcoidelungsftufen ber aufjteigenben gort=
bilbung, ber oollen 5ieife unb ber abjteigenben 9tü(Jbilbung toie
jebe anbere £eben$tätig!eit bes Organismus.
9^euttte^ Kapitel.
©famme^gefd^iij^fe bet Seele*
^oniftif^e 6tubien über l^^^logenetifd^e ^f^c^ologtc. (inU
tpidelung btß Seelenleben^ in ber tiertfc|)en ^^nenrei^e be^
9}^enfc^en.
I)ie Def3enben3tI)eorie in 93erbinbung mit ber 5lntI)ropolDgie
f)at uns über3eugt, ta^ unfer men[d)Ii(i)er Organismus aus einer
langen 9ieit)e tierif^er 23orfal)ren burd^ allmät)lid)e Umbilbung
im £aufe oieler Sti^r^Wlio^^" langfam unb jtufenr»ei[e \iä) ent*
toidelt I)at. Da töir nun bas Seelenleben bes 9Jien[dE)en »on [einen
übrigen £ebenstättg!eiten niä)t trennen !önnen, t)ielmel)r 3u ber
Xlberseugung von ber einl)eitli(i)en (Entioidelung unferes gan3en
Rörpers unb ©elftes gelangt finb, fo ergibt \xä) au(i) für bie moberne
moniftif(^e ^[r)(i)ologie bie 5lufgabe, bie l)iftorifcl)e (£nttDi(Je=
lung ber 9JJenfd)enfeele aus ber Xierfeele ftufem»eife 3U »erfolgen.
Die £öfung biefer Aufgabe oerfud^t unfere „Stammesgef(i)i(^te
ber Seele" ober bie ^l)r)logenie ber ^fr)d)e. Obgleid^ biefe
neue 2Biffenf(^aft nod) !aum ernftlid) in Eingriff genommen ift;
obgleid) felbft il)re (£iiften3bere(i)tigung oon ben meiften ^ad)''
pfi)(i)ologen beftritten roirb, muffen roir für fie bennoc^ bie aller*
i)öd)jte SBic^tigfeit unb bas gröfete Sntereffe in ^nfprurf) nel)men.
Denn nad) unferer feften Hberseugung ift bie pf)i)letif(^e ^fr)dE)o-
logie oor allem berufen, uns bas grofje „SBelträtfel" t)om SBefen
unb ber (£ntjtel)ung unferer Seele äu löfen.
6tammc5gc[d)id)te ber Seele. 91
aUet^obeit ber p^tjletift^en ^ft)^oöettie. t)ie 9[RitteI unb
2Bege, wtl^t %u bem roeit entfernten, im Giebel ber 3u^Ttft für
Dtele nod) !aum erfennbaren3ißIßi>ß^P^pIogeneti[d)en^ft)(^o*
logie I)mfü{)ren [ollen, [inb von benjentgen anberer jtammes»
ge[ct)id)tlt(i)er ^rotfi^ungen md)t Derfd)teben. 23or allem tft aud)
^ter bte oergleic^enbe Anatomie, ^^r)[ioIogte unb £)ntogente oon
l^ö^ftem 2Berte. ^ber aud) bie Paläontologie liefert uns eine
^n3al)l Don [id)eren Stü^pun!ten; benn bie 9ieil)enfolge, in toeld^er
bie oeriteinerten llberrejte ber 2Birbeltier!la[[en nad)einanbcr in
htn ^erioben ber organi[d)en (£rbge[d)i(^te auftreten, offenbart
uns teiltoeife, gugleid) mit beren pl)r)leti[(i)em 3ufammenl)ang,
audE) bie ftufenroeife 5lusbitbung il)rer (5eelentätig!eit. g^reilic^
finb toir l)ier, loie überall bei pl)i3logeneti[d)en llnter[u(i)ungen,
5ur 93ilbung 3al)lreid)er $r)pott)e[en gejiDungen, um bie Äücfen
ber empiri[(^en Stammesurfunben ausjufüllen; aber bennod)
loerfen bie le^teren ein [o l)elles unb bebeutungsoolles fii(f)t auf
bie tDid)tigjten Abstufungen ber ge[cl)i(i)tlid)en (Enttoiclelung, "üa^
Eoir eine befriebigenbe (£in[id)t in beren allgemeinen 33erlauf ge=
roinnen !önnen.
^aupt|tttfen ber p^tiletifc^en ^ft^d^ogenie. Die Dergleid)enbe
^[i)(i)ologie bes 9Jlenf(i)en unb ber l)öl)eren Xiere läfet uns 3unäcl)jt
in ben l)öd)jten ©ruppen ber Säugetiere, bei ben ^errentieren,
bie u)id)tigften e5ort[d)ritte er!ennen, burd) iDel(i)e bie 9Jlen[c^en=
[eele aus ber ^[i)cl)e ber 50lenfd)enaffen l)erDorgegangen ijt. Die
^l)i)logenie ber Säugetiere unb toeiter^in ber nieberen 2Birbel=
tiere geigt uns bie lange 9lei^e ber älteren 93orfal)ren ber Primaten,
roeld)e tnnerl)alb biefes Stammes [eit ber Silurgeit \\<i) enttoicfelt
l)aben. Alle bie[e 2Birbeltiere jtimmen überein in ber Struftur
unb (Enttoidelung il)re5 d)ara!terijti[(i)en Seelenorgans, bes SJiarf «=
rol)rs. Dafe bie[es [id) aus einem bor[alen S(^eitell)irn oirbel*
lofer 23orfal)ren l)ert)orgebilbet l)at, [d)eint bie Dergleid)enbe Ana*
tomie ber SBurmtiere ober 33ermalien gu lel)ren. SBeiter ^uxü&
gel)enb erfal)ren roir burd) bie oerglei^enbe Ontogenie, bafe biefes
einfädle Seelenorgan aus ber 3ellcn[d^id)t bes äufeeren Keimblattes,
aus bem (£!tobcrm oon ^latobarien entjtanben ijt; bei biefen
älteften ^lattentieren, bie nod) fein gefonbertes Sleroenfrijtem
be[afeen, toir!t bie äußere §autbede als unit)er[ales Sinnes» unb
Seelenorgan. Durd) bie Dergleid)enbe ileimesge[d)id)te über=
zeugen roir uns enblid), bafe bie[e einfad^jten SJietajoen burd)
©aftrulation aus 93la[täaben entjtanben [inb, aus 5ol)l!ugcln,
beren Sßanb eine einfa^e 3enen[d)id)t bilbete, bas Sla[to»
berm. 3u9lßtd) lernen toir burd) bie[elbe mit ^ilfc bes 5Bio*
öeneti[(^en ®runbge[e^e5 t)erjtel)cn, toie biefc oieljelligen ©e^*
92 9leuntcs Rapiitl
btibc cinfac^jter 5Irt uifprünglid) aus einselligen Urtieren J^erDor«
gegangen [Inb.
I. 3«nfeele (39*ö|»M^); ^i^fte ^auptftufe ber pl)9lett=
f(^en ^[r)(^ogene[i5. Die älteften 93orfal)ren bes äRen[(^en,
toie aller übrigen stiere, roaren einjellige ^rotiften. Diefe
Orunbamental=§r)potl)e[e ber ^l)r)logenie ergibt fid) naä) bem ®io=
geneti[rf)en (Srunbgefelje aus ber embrpologifd^en Xatfac^e, bajj
jeber 95Zen[d^, toie jebes anbere 3^ier, im beginne feiner inbioi*
buellen (£3Eijten3 eine einfadie 3eIIe ijt, bie „Stammselle".
2Bie bie[e [(i)on t)on Anfang an „befeelt" roar, [o aud) jene ent=
fpred^enbe eingellige Stammform, tt)eld)e in ber ältejten
^^nenreil)e bes $ÖZen[(^en huxd) eine 5^ette von t)er[d)iebenen ^ro=
tiften oertreten toar.
Ober bie Seelentätigfeit biefer einhelligen Organismen unter*
rietet uns bie nergleicfienbe ^l)r)[iologie ber l)eute nod) lebenben ^ro^
tiften; [otDol)l genaue 93eoba^tung als [innreid^es (Experiment I)aben
uns ^ier ein neues ©ebiet ooll f)öcl)jt intereffanter CBrfd) einungen
eröffnet. Die bejte Darfteilung berfelben l)at 1889 9Jlax 93errDorn
gegeben, in [einen geban!enrei(^en, auf eigene originelle 33er=
[ud^e gejtü^ten „^|r)(IE)op]^r)[iologi[(i)en ^roti[ten[tubien".
?lu(^ bie roenigen älteren iBeobad)tungen über „bas Seelenleben
ber ^rotijten" [inb barin 3u[ammengejtellt. SSertoorn gelangte
3U ber fejten ilbergeugung, ha^ bei allen ^rotijten bie unbecoufeten
33orgänge ber (Smpfinbung unb SBetoegung noä) mit htn mole=
Maren £ebenspro3e[[en im Plasma [elbft 3u[ammenfallen, unb
t)a^ il)re legten llr[ad^en in htn (£i^en[i)aften ber^lasmamole =
!üle (ber pa[tibule) gu [u(i)en [inb. „Die p[i)d)i[(f)en 93orgänge
im ^rotiftenreid) [inb bal)er bie ©rüde, toel^e bie (|emi[d)en
^ro3e[[e in ber unorgani[(^en SRatur mit bem Seelenleben
ber l)öcl)jten stiere üerbinbet; [ie reprä[entieren ben Reim ber
^öd)[ten p[r)d)i[(^en (£r[^einungen bei ben 9[Reta3oen unb bem
9Jlen[d)en."
Die [orgfältigen $Beobad)tungen unb 3a^lreid)en (Experimente
oon 33eru)orn, im 33erein mit benjenigen von 2Bill)elm (£ngel =
mann, 2Bill)elm^ret)er, 5Rid)arb ^erttoig unb anberen
neueren ^roti[tenfor[(i)em, liefern bie bünbigen ©ett)ei[e für meine
moni[ti[ct)e „3:i)eorie ber 3ell[eele" (1866). (Sejtü^t auf eigene
langiät)rige Unter[u(^ungen von t)er[c^iebenen ^rotiften, be[onbers
üon 9^l)i3opoben unb 3nfu[orien, ^atte id^ ben Sa^ aufgeftellt,
"oa^ jebe lebenbige 3elle p[i)d)i[4e (£igen[(i)aften be[iöt, unb t>a^
al[o aud) bas Seelenleben ber »ielselligen 3:iere unb ^flansen
nid)ts anberes t[t als bas 5te[ultat ber p[i)c^i[(^en gunftionen ber
il)rcn ficib 3u[ommcn[eöenbcn Seilen, ©ei ben niebcren (Gruppen
(BiammtsQt\6)iä)it bcr 6eelc. 93
(3. f&. ^Igcn unb Spongien) ftnb oIIc 3ßncn bes Rorpcrs glei^=
mäfeig (ober mit geringen Hnter[(^ieben) baran beteiligt; in ben
^öl)eren ©ruppen bagegen, cntfpro^enb ben ©efe^en ber ^rbeits=
teilung, nur ein auserlesener Xeil berfelben, W .,Seelen3ellen".
Die bebeutungsDollen 5^on[equen3en bie[er„3enulor = ^^|i)dE)olo =
gie" l)atte icf) teils 1876 in meiner S(i)rift über bie „^erigenefis
ber ^labiftule" erörtert, teils 1877 in tneiner 9Künc^ner 9lebe „über
t)it l)eutige (£nttüic!elungslel)re im S3erl)ältnis 3ur 6e[amttoi[fen=
[d^aft". ©ine mel)r populäre Darstellung entt)alten meine beiben
2Biener 93orträge (1878) „über Hrfprung unb Gnttoidelung ber
Sinnestoerfseuge" unb „über S^Hfeelen unb eeelensellen".
Die einfacf)e S^Hfeele seigt übrigens \ä)on innertialb bes
^rotijtenreid)es eine lange ^eit)e oon (Enttoitfelungsftufen, oon
gan3 einfa^en, primitioen bis 3U \ti)x oollfommenen unb i)ol)en
Seelen3uftänben. 95ei ben ältejten unb einfad)ften ^rotijten ijt
bas 93ermögen ber Cmpfinbung unb ^Betoegung glei(i)mä]3ig ouf
bas gan3e Plasma bes l)omogenen 5^örperd)ens oerteilt; bei ben
^öl)eren (formen bagegen [onbern [id) als pl)r)[iologi[d)e Drgane
berfelben be[onbere „3elltt)erl3euge" ober Organelle. Derartige
motori[(f)e 3^nteile [inb bie ^[eubopobien ber 9?l)i3opoben, bie
(5limmerl)aare, (öeifeeln unb 2Bimpern ber S^tfuforien. 5tls ein
inneres 3entralorgan bes 3cIIeTilebens toirb ber S^llUxn betracf)tet,
u)el^er htn ältesten unb nieberften ^rotiften no(^ f e^lt. 5n pl)r)[io=
logi[^»dE)emifd)er 93e3iel)ung ijt befonbers l)erDor3uf)eben, bafe bie
urfprünglid)jten unb ältejten ^rotijten ^lasmobomen toaren,
mitpflan3lid)em Stoff tDed)[el, al[o ^rotopl)r)ten ober Urpflan3en;
aus il)nen entjtanben l'ehinbär, burd^ SCRetafitismus, bie erften
^lasmopl)agen mit tierifd)em Stofftt>ed)[el, al[o ^roto3oen
ober Urtiere. Diefer 9JZeta[itismus, bie „Um!el)rung bes Stoff=.
loedjfels", bebeutete einen löoicfitigen p[r)(f)ologi[d)cn (^ort[cl)ritt;
benn bamit begann bie ©ntroidelung jener ci)ara!terijti[d)en 95or»
3üge ber 3:ier[eele, wtlä)t ber ^flansenfeele no^ fel)ten.
II. 3^nt)etein$feele ober 3önobial * Seele (Coenopsyche);
gtoeite §aupt[tufe ber pl)t)leti[^en ^[t)d)ogenefis. Die
inbioibuelle (£nttDicfelung beginnt beim 9Jlen[(i)en roie bei allen
anberen oielselligen 3:ieren mit ber roieberl)olten 2:eilung einer
einfad)en 3cnc. Die Stamm3elle (Cytula) serföllt baburd^ in
einen maulbeeräl)nli(i)en 3ßni)aufen, titn 3JZaulbeer!eim (Morula).
3nbem fid) im Saueren bie[es foliben i^örpers (5lüf[ig!eit an[am=
melt, oertoanbelt er [id) in ein fugeliges ®läsd)en; alle 3ßnen
treten an be[fen £)berflä(i)e unb orbnen [i(^ in eine einfad)e 3enen=
|cf)id)t, bie 5^ ei ml) au t (Blastoderma). Die [0 entjtanbene $ol)l =
!ugel ift ber bebeutungsoolle 3ujtanb ber i^eimblafe (Blastula).
9lcuntc$ Äapitcl.
T)it SctDcgungcn, btc totr unmittelbar bei ber Silbung
ber ^Blajtulo beoba<f)ten formen, [inb ol)ne entfpred)enbe CBmpfin«
bungen rti^t ju benfen. Die ©etoegungcn ^erf allen in stoet
©ruppen: 1. bie inneren S3ea)egungen, roelc^e überall in t»e[entlic^
glcid)er 2Bei[e beim 33organge ber get)Dö^nIid)cn (inbire!tcn) ßtlU
teilung fid) roieber^olen (Silbung ber 5lernfpinbel, 9Kito[e, Rarr)o»
ünefe u[u).); 2. bie äußeren ^Beroegungen, tüel(i)e in ber ge[e^=
mäßigen ßageoeränberung ber gefelligen 3^^^^'^ unb if)rer (5rup=
pierung bei ©Übung bes ©lajtoberms 3utage treten. 2Bir faffen
biefe ©etüegungen als ererbte auf, toeil [ie überall in prin3ipien
gleid)er 3!Bei[e von ben ^f)nen übernommen raorben [inb. Die
(Empfinbungen fönnen ebenfalls in 3toei ©ruppen unter[d)ieben
toerben: 1. bie (Smpfinbungen ber einjelnen S^Hen, u)eld)e [idE) in
ber ©et)auptung xi)xtt inbioibuellen Selbftänbig!eit unb it)rem
93erl)alten gegett bie ^ladibaraellen äufeem (mit benen [ie in Se*
rüt)rung unb teilte ci[e burc^ ^lasmabrücfen in birefter 33erbinbung
jtef)en); 2. bie einl)eitlid)e (Empfinbung bes ganjen 3enDerein5 ober
3önobiums, iDeld)e in ber inbioibuellen ©ejtaltung ber ©Ia =
[tula als $ot)l!ugeI 3utage tritt.
Das fau[ale 23erjtänbnis ber ©lajtulabilbung liefert uns bas
Siogeneti[(i)e (5runbge[e^, inbem es bie unmittelbar ju be=
oba(^tenben (£r[ct) einungen ber[elben bur^ bie 33 ererbung erflärt
unb auf ent[pred)enbe l)ijtori[(f)e 33orgänge gurüdfül^rt, tDeId)c
[i(f) ur[prüngli<f) bei ber (£nt[tet)ung ber älteften ^rotijten=3önobien,
ber ©lajtäaben, oollsogen {)aben. Die pt)T)[iologi[(i)e unb p[i)rf)o»
logif^e (£in[id^t in biefe xoid)tigen ^ro3e[[c ber ältejten S^lUn^
^[[o3ion getoinnen toir aber bur^ ©eoba(f)tung unb C£i=
periment an 'ozn ^eute nod) Iebenben"3önobien. 8oI^e beftänbigc
,3^110 er eine ber ©egentoart [inb 3. ©. bie befannten „5^ugel»
tier(f)en" (Volvocina). ^xt [c^toimmenbe £)rtsbeu)egung toirb
burd) [cf)toingenbe ©eifeeln oermittelt, bie oon ben ein3elnen 3ßnen
an ber OberfIäd)e ber„3^1immer!ugel" ausgel)en. ^n allen biefen
3önobien fönnen toir bereits neben einanber 3tDei oer[d)iebene
(Stufen ber p[r)d)i[(f)en 2;ätigfeit unter[d)ciben: I. bie 3^n[eelc
ber ein3elnen 3eninbioibuen (als „(£Iementar*£)rganismen") unb
II. bie 3önobial[eele bes gansen 3ßnoereins.
III. ©etöebefeele (^iftopfg^e) ; britte $aupt[tufe ber
p!)t)leti[c^en ^[i)d^ogene[is. Sei allen Diel3enigen unb getoebe^
bilbenben ^flansen (Metaphyten) unb eben[o bei ben nieber[ten,
neroenIo[en Äla[[en ber ©eroebetiere (Metazoen) ^aben toir 3U=
nä(i)[t 3toei üer[^iebene formen ber Scelentätigfeit 3U unter[^eiben,
nämlid) A. bie ^[r)d)e ber einseinen 3 eilen, toelc^e bie ©etoebc
3u[ammen[eöen, unb B. bie ^[t)(l)e ber ©etocbe [elbjt ober bes
i
Stamntc5gc[d)i(f)tc bcr Seele. 95
„3cncnftaate5", tt)eld)er oon bte[en gcbilbet toirb. I)ie[c (5 c*
tDcbcfeele ijt überall bie l)öf)ere p[i)(i)oIogi[d)e gunftion, toelcfie
ben sufammengefe^ten t)iel3eIUgen Organismus als em!)ettlt(^es
fieberoefen ober „p^ijfiologifc^es 3nbtDibuum", als totr!lid)en
„3enenjtaat" erfd^einen lä^. Sie bel)err[rf)t alle bie einseinen
„3en[eelen" ber [osialen 3ßnen, u)elcf)e als abl)ängige „Staats*
bürger" ben einf)eitli^en 3^K^#öat fonjtituieren.
III. A. IDie ^flattsenfecle (<p^t)topft)(^e) ijt für uns ber 5n=
begriff ber gefamten p[i)rf)i[d)en !Xätig!eit ber geroebebilbenben, t)iel=
jelligen ^flanjen (Metaphyten); [ie ift ©egenftanb ber t>er[^ie=
benjten Beurteilung bis auf htn heutigen 3^ag geblieben. 5rül)er
fanb man geroö{)nIi^ einen §auptunterf(f)ieb 3iDi[(i)en ^flan3en unb
Vieren barin, bafe man htn le^teren allgemein eine „Seele" 3U=
[cfjrieb, htn erfteren bagegen nicf)t. Snbeffen fül)rte unbefangene
33erglei(i)ung ber ^leißbarfeit unb ber Setoegungen bei Der[(i)iebenen
f)öl)eren ^flangen unb nieberen 3:ieren [rf)on im anfange bes
19. 3ci^tl)unberts einzelne (5or[cf)er 3U ber Hberseugung, bafe beibe
gleid)mä^ig befeelt [ein müßten. Später traten namentlid)
(Jec^ner, £eitgeb u. a., neuerbings befonbers ^xance, Iebl)aft
für bie ^nnal)me einer „^flan3enfeele" ein. 3^ieferes S3er=
jtanbnis ber[elben tourbe erjt ermorben, na^bcm burc^ bie 3 eilen =
tt)eoric (1838) bie gleirf)e (£Iementarjtru!tur in ^flansen unb
3:ieren na(i)getDie[en, unb befonbers [eitbem burcf) bie ^Iasma =
tI)eorie oon Wax Sd)ul^c (1859) bas gleirf)e 93er^alten bes
aftioen, lebenbigen Protoplasma in beiben erfannt toorben toar.
Die neuere oergleid^enbe ^l)t)[ioIogie seigte fobann, "oa^ bas
pI)i)fioIogi[d)e 23erl)alten gegen Der[(f)iebene 9tei3e (£id)t, (£Ie!tri=
3ität, 2Bärme, Sd)iöere, ^Reibung, ^emi[(f)e (£inflü[[e ufro.) in ben
„empfinblic^en" ilörperteilen oieler ^flansen unb 3^iere gans
äl)nli^ ift, unb bajg aud) bie 9tefIeiberoegungen, bie jene Ü^eise
I)erDorrufen, gan3 äl)nlirf)en 33erlauf l)aben. SBenn man bal)er
biefe 3^ätig!eiten bei nieberen, neroenIo[en 9}^eta3oen (Sd)tt)ämmen,
^oIr)pen) einer befonberen „Seele" 3u[d)rieb, [o toar man be»
red)tigt, biefe au(^ bei ben 90letapl)i)ten an3unet)men, befonbers
bei ben [el)r „empfinblirf)en" Sinnpflansen (Mimosa), hzn fliegen*
fallen (Dionaea, Drosera) unb btn 3aI)Irei(i)en ran!enben Äletter*
unb Sc^Iingpflansen.
III. B. 2)ie Seele neroenlofer aWetasoeit. S3on gana be=
fonberem 3"tere[[e für bie Derglei(f)enbe ^I)t)[ioIogie im all=
gemeinen unb für bie ^t)i)Iogenie ber 3:ier[eele im befonberen ift
bie Seelentätigfeit jener nieberen 9Jleta3ocn, u)eld)e 3t»ar
Oeioebe unb oft bereits bifferensierte Organe befi^en, aber roeber
?leroen nod) fpe3ifi[d)c Sinnesorgane. Dal)in gcl)ören oier üer=
96 9lcuntc5 5lapitcl.
[d)tebenc ©ruppen von ältesten 3ölenterien ober 9flicbcrtiercn,
nämlid): 1. btc ©afträabcn, 2. bie ^latobaricn, 3. bic Spott«
gictt UTtb 4. bie $r)bropoIt)pen, bie ttieberjten t^otmen ber
9le[[eltiere.
2)ie ©afträabett obetr Urbmrtntteje bilbctt jetie fleine ©ruppe
oon ttieberjteTt 3öI^Ttterien, toelc^e als bie gemeitt[artte Stamm=
gruppe aller 9Jleta3oen tjon l)öd)jter 2Bid)ttg!eit tjt. I)er 5lörper
biefer Üeitten, [d)tDimmettben 3^ier(i)ett er[cl)eint als ein Heines
(meijt eiförtniges) ^Bläsd^en, u)elcl)e eine einfalle §öl)le tnit einer
Öffnung entl)ält (Urbarm unb Hrmunb). X)ie 2Banb ber t)er=
bauenben §öl)le toirb aus jroei einfa^en 3ßnenfd)icl^ten ober
(£pitf)elien gebilbet, oon benen bie innere (Dartnblatt) bie 3:ättg=
feiten ber C£rnät)rung, unb bie äußere (^autblatt) bie gunftionen
ber 23etDegung unb CBmpfinbung tjermittelt. l)ie gleidiartigen
[enfiblen 3snen biefes ^autblattes tragen garte ©eifeeln, lange
3:lintmerl)aare, beren 8d)roingungen bie rDill!ürli(i)e Sd)tDimm=
beüoegung betoirfen. Die roenigen nod) lebenben formen ber ©ajt=
räaben [inb besl)alb [o intereffant, toeil [ie geitlebens auf ber=
[elben '23ilbungsjtufe jtel)en bleiben, wü<i)t bie 5leime aller
übrigen SJietasoen (oon ben Spongien bis gum Spflenf^en Ijinauf)
im ^Beginne tl)rer ÄeimesenttoiiJelung bur einlaufen. 3Bie id) in
meiner ©afträatl)eorie (1872) gegeigt l)abe, entitel)t bei [ämt=
li^en ©etoebetieren 3unäcf)it aus ber Dorl)er betracf)teten Slaftula
eine I)öcl)jt d)ara!terijti[cl^e i^eimform, bie ©aftrula. Die i^eim*
l)aut (Blastoderma), roeli^e bie 2Banb ber §ol)l!ugel barftellt,
bilbet an einer Seite eine grubenförmige 35ertiefung, unb biefe
Boirb balb gu einer [o tiefen (Sinjtülpung, bafe ber innere $ol)lraum
ber ileimblafe t)erf(i)tDinbet. Die eingestülpte (innere) Hälfte ber
Reiml)aut legt [id) an bie äufeere (nid)t eiugejtülpte) §älfte innen
an; le^tere bilbet bas ^autblatt ober äußere 5^eimblatt (Ekto-
derm), erjtere bagegen bas Darmblatt ober innere 5leimblatt
(Entoderm). Der neu entjtanbene 5oI)liöum bes be(f)erförmigen
i^örpers tjt bie oerbauenbe 9Jlagenl)öl)le, ber Urbarm, [eine
JÖffnung ber Urmunb. Das ^autblatt ober (Sftoberm ift bei
allen ^IRetagoen bas urfprünglid)e „Seelenorgan"; benn aus
il^m enttoideln fid) bei fämtlicf)en iReroentieren nid)t nur bie äufeere
§autbcde unb bie Sinnesorgane, [onbern aud) bas 9Zeroen[i)jtem.
Sei htn ©ajträaben, ioeld)e le^teres nod) nid)t befi^en, [inb alle
3ellen, toeli^e bie einfad)e (£pitl)elfd)id)t bes (Eftoberm 3ufammen=
[e^en, gleid)mäfeig £)rgane ber (Empfinbung unb Setoegutig; bie
©etoebefeele geigt fid) l)ier in einfad)jter goi^^i-
Die Spongiett ober 6(§U)anttnttere jtellen einen felbitänbigen
Stamm bes 3:ierreid)5 bar, ber [id) oon allen artberen siRetagoen
(3tQmme5gcfd)idötc ber Seele. 97
burd) [eine eigentümliche Organifation unter[d)eibet; bie 3at)Irei(f)en
Wirten besfelben [i^en meijtens auf bem StReeresboben angeiDad)fen.
X)ie einfädelte gorm ber (Sd)tDämme, Olynthus, ijt eigentUd) nichts
tueiter als eine Gastraea, beren ilörperroanb [iebförmig t)on feinett
$oren bur^bro^en ijt, jum (Eintritt bes ernät)renben 2Baf[erftrome$.
SBei ben nteiften Spongien (aud) beim befannteften, bem Sabe*
f(i)tDomm) bilbet ber fnollenförmigc .Hörper einen Stod, töel(f)er
aus 3:aufenben ober 93liIIionen foI(^er ©afträaben {„©eifeel*
fammern") ^ufammengefe^t unb oon einem ernä^renben 5lanal*
[QJtem bur^3ogen ijt. (£mpfinbung unb ^eroegung [inb bei htn
S^roammtieren nur in äufeerjt geringem ©rabe enttoidelt; ^lernen,
Sinnesorgane unb 9Plus!eln fet)Ien. (£s toar ba^er [el)r natürlid),
bafe man bieje fejtfi^enben, unförmigen unb unempfinblid^en 3^iere
früf)er allgemein als „(5etDäd)[e" betra^tete. 5I)r Seelenleben
(für votlä)t5 feine befonberen Drgane bifferenäiert |inb) jtel)t tief
unter bem|enigenber9Jiimo[en unb anberer empfinblid)er ^flanjen.
^ie Seele bet 3leffeltiere (Cnidaria) ijt für bie oergleidienbe
unb |)I)r)Iogeneti[(^e ^[pi^ologie oon l)erDorragenber ^Bebeutung.
Denn in biejem formenreid)en Stamm ber 3ölenterien Don3iel)t
"fid) oor unjeren klugen bie t)ijtori[^e (£ntjtef)ung ber 9fleroen[eeIc
aus ber (Semebefeele. (£5 get)ören 3U biejem Stamnte bie mel=
gejtaltigen 5llaj[en ber fejtji^enben ^oIr)pen unb S^orallen, ber
fd)tDimmenben lölebujen unb Sipl)onop^oren. ^Is gemeinjame
l)i)potf)etijd)e Stammform aller 5Rej[eItiere läfet jid) mit ooller
Sid)ert)eit ein einfad)jter ^oIi)p er!ennen, toeId)er bem gemeinen,
*!)eute nod^ lebenben Süöu)afjerpolr)pen (Hydra) im roejentlic^en
gleid) gebaut toar. ^\xn heYii^tn aber bieje ^r)bra unb ebenjo bie
fejtji^enben, nal}t oertoanbten ^pbropolripen no^ feine ge=
[onberten 9ieroen unb l)öf)eren Sinnesorgane, obgleid) jie jef)r
empfinblid) jinb. Dagegen bie frei jd)tDimmenben 90Rebu[en,
tDeId)e ji^ aus Unteren entroideln (unb nod) I)eute mit il^nen burd)
(5enerationstDed)jeI oerfnüpft jinb), beji^en bereits ein jelbjtänbiges
^leroenjpjtem unb gejonberte Sinnesorgane. 2Bir fönnen aljo f)ier
ben I)ijtorijd)en Urjprung ber ^leroenjeele aus ber ©etoebejeele
^unmittelbar ontogenetijd) beobad)ten unb pt)i)Iogeneti jd) Derjtef)en
[llerjjen. Sef)r interejjant ijt für bie ^ji)d)oIogie aud) bie 5^Iajje ber
.-cSta-atsquallen (Siphonophorae)'. 9In biejen präd)tigen, frei=
(j;j(^tDimwenben Xierjtöden, tDeId)e oon §r)bromebujen abjtammen,
^!fönnen rsk eine Doppeljeele beobad)ten: bie (Sinseljeele (^er =
Hfonaljeele) )ber 3al)Ireid)en ^erjonen, bie il)n 3ujammenje^en,
mnb bie gemeinjante, ein^eitlid) tätige ^jpc^e-be^ gansen Stodes
((5lormaIjeeIe).
IV. IDie 9lert)enfe0ie (9leui;o|)ft)(^e) ; oierte $auptjtufe
3ae(iil, gBelträtfel. 7
98 «neuntes 5^QptteI.
ber pl)r)Ieti[d)en ^[i)d)ogene[t5. Das Seelenleben aller
l)öl)eren Xtere lüirb, ebenfo rote beim 9[Renfd)en, burd^ einen mt\)x
ober ntinber fomplisierten „Seelenapparat" üermittelt, unb
biefer beftel)t immer aus brei §auptbejtanbteilen: bie Sinnes*
Organe beroirfen bie t>erfd)iebenen (Smpfinbungen, bie 9Kus!eln
bagegen bie ©eroegungen; bie 91ert)en jtellen bie S3erbinbung
3toifct)en erfteren unb le^teren burd^ ein be[onberes 3^"tralorgan
l)er: (5el)irn ober Ganglion (S^Zeroenfnoten). Die (£inrid)tung
unb 3:ätig!eit bie[es Seelenapparates pflegt man mit einem
ele!tri[(^en Xelegrapl)en[r)jtem 3U t)erglei(i)en; bie ^leroen ^inb
bie £eitungsbräl)te, bas (5el)irn bie 3ßntral|tation, bie SJJusfeln
unb Sen[illen bie untergeorbneten fiofaljtationen. Die motorifd)en
9^err)enf afern leiten bie 9[Billensbefel)le ober 5mpul[e zentrifugal
üon bie[em 9^eroen3entrum %u ttn SJlusfeln unb beroir!en buri^
beren 5^ontra!tion SBetoegungen; bie [enfiblen 9^ert)enfa[ern ha^
gegen leiten bie r)erfd)iebenen (Smpfinbungen zentripetal oon 'ötn
peripl)eren Sinnesorganen zum (5el)irn unb jtatten SBerid)t ab von
htn empfangenen (£inbrüden ber ^lufeentöelt. Die ©anglienzellen
ober „Seelenzellen", toelc^e bas nerrtöfe 3^^tralorgan zufammen*
fe^en, finb bie oollfommenjten oon allen organifcl)en Glementar=
teilen; benn fie vermitteln nirfit nur ben 25er!el)r ztoi[ct)en ben
9Jlus!eln unb Sinnesorganen, [onbern aud) bie t)öd)ften oon allen
fieiftungen ber Xierfeele, bie ©Übung oon 33orjtellungen unb (5e=
bauten, an ber Spi^e von allem bas Seroufetfein.
Die großen ^^ortfd^ritte ber Anatomie unb ^l)t)fiologie, ber
^iftologie unb Dntogenie l)aben in ber Sf^euzeit unfere tiefere
i^enntnis bes Seelenapparates mit einer Ofülle ber intereffantejten
(Sntbedfungen bereicE)ert. SBenn bie [pefulatioe ^l)ilo[opf)ie aud)
nur bie toid)tigften von bie[en bebeutungsoollen (Srroerbungen ber
empirifd)en Biologie in [idj aufgenommen l)ätte, müfete [ie l)eute
[d)on eine ganz anbere ^l)r)[iognomie zeigen, als es leiber ber 'i^all ijt.
3eber ber l)öl)eren 2;ierjtämme befi^t fein eigentümlidjes
Seelenorgan; in jebem ift bas 3entralnert)enfi)jtem burd) feine
befonbere ©ejtalt, £age unb 3wfammenfe^ung ausgezeid^net.
Unter htn ftral)lig gebauten 9leffeltieren (Cnidaria) zeigen bie
SJlebufen einen ^Rercenring am Sd)irmranbe, meijtens mit »ier
ober ad)t ©anglien ausgejtattet. ©ei htn fünfjtra^gen Stern =
tieren (Echinoderma) ift ber SJiunb üon einem SIeroenring um=
geben, üon tt>eld)em fünf ^fleroenftämme ausftral)len. Die ^voti=
feitig=fr)mmetrifd)en ^lattentiere (Piatodes) unb SBurmtiere
(Vermalia) befi^en ein Sd)eitelt)irn ober ?l!roganglion, zufammen*
gefegt aus ein paar borfalen, oberI)alb bes 9Jlunbes gelegenen
©anglien; üon biefen „oberen Sd)lunb!noten" gel)en ztoei feitlid)e
Stammesge[(i)i(^te ber Seele. 99
Sflcrüenltämme an btc $aut unb bie 9J?U5!eIn. Sei einem Xetle
ber 23ermalien unb bei bcn SBeid^tieren (Mollusca) treten baju
nod) ein paar centrale „untere 6(^Iunb!noten", tDeId)e [id) mit ben
erjteren burd) einen ben S(i)Iunb umfaffenben 5?ing »erbinben,
Diefer „Sd)Iunbring" fel)rt aud) bei ben ©Itebertieren (Articu-
lata) TOieber, [e^t [id) aber l)ier auf ber 5Baud)feite bes langgeftredten
Rörpers in ein „lBaud)mar!" fort, einen ftridleiterförmigen X)oppel=
ftrang, roeId)er in jebem ©liebe gu einem X)oppeIganglion an^
fd)ii»int. ©anj entgegengefe^te Silbung bes Seelenorgans geigen
bie SBirbeltiere (Vertebrata); I)ier finbet fid) allgemein auf ber
9?üdenf eite bes innerlid) geglieberten i^örpers ein ^lüdenmar!
entujidelt; aus einer ^n[d)roenung [eines oorberen steiles ent|tel)t
[päter bas d)ara!teri|ti[d^e bla[enförmige ©el)irn.
Obgleid) nun [o bie Seelenorgane ber l)öt)eren 3:ierftämme in
Sage, gorm unb 3ii[öiii^^ii[^^ung [el)r d)ara!terijti[c^e 93er=
[d)iebent)eiten seigen, ijt boc^ bie t)ergleid)enbe 5lnatomie imftanbe
getoefen, für bie meijten einen gemeinsamen Urfprung nad)3U=
roeifen, aus bem Sd)eiteII)irn ber ^latoben unb S^ermalien;
unb allen gemeinfam ijt bie (£ntSte!)ung aus ber äufeerjten 3^nen=
fd)id)t bes 5leimes, aus bem „§aut[innesblatt" (Ektoderm).
Gbenfo finben toir in allen Srormen ber neroöfen 3^^traIorgane
bie[elbe roe[entIid)e Stru!tur lieber, bie 3u[ammen[e^ung aus
©anglienjellen ober „Seel eng eilen" (titn eigentlid^en aftioen
(Slementarorganen ber ^[r)d)e) unb aus ^Reroenfafern, tüeld)e
;ben 3u[ammenl)ang unb bie Leitung ber ^Iftion oermitteln.
Seelenorgait bet 2BtrbeIttere. Die erjte 3:at[ad^e, tDeId)e uns
l\n ber t)ergleid)enben ^[r)d)oIogie ber SBirbeltiere entgegentritt,
■ uni) tDeId)e ber empiri[d)e 5lusgangspun!t jeber roi[[enfd)aftIid)en
„Seelenle'^re bes 5[Ren[d)en [ein [ollte, ijt ber d)ara!teri[ti[d)e 58au
i!)res 3cTttraInerDen[r)jtems. 2Bie bie[es centrale Seelenorgan in
jebem ber l)5l)eren Xierftämme eine be[onbere, bie[em eigentümli^e
:£age, ©ejtalt unb 3u[ammen[e^ung geigt, [o ijt es aud) bei 1>m
:2BirbeItieren ber gall. Überall finben toir l)ier ein 9^üdenmar!
t)or, einen jtarfen jQlinbrij^en S^eroenjtrang, tDeId)er in ber 9JtitteI=
Knie bes 5?üdens werläuft, ober!)aIb ber 2BirbeI[äuIe (ober ber [ie
oertretenben (£^orba). Überall gel)en von bie[em 9^üdenmar!
3al)lreid)e 91erDenjtämme in regelmäßiger, [egmentaler 23erteilung
ab, je ein ^aar an jebem Segment ober SBirbelgliebe. Überall
entjtel)t biejes „SJiebullarro^r" im (£mbrr)o auf gleid)e 2Bei[e: in
:ber 93^itteUinie ber 9?üdenl)aut bilbet [id) eine feine 2rurd)e ober
9?inne; bie beiben parallelen 9tänber bie[er SJiarfrinne ober 9}ie =
bullarrinne erl)eben [id), frümmen [id) gegen einanber unb ocr»
0)a(^[en in ber SRittellinie 3U einem 9^ol)re.
7*
100 Dflevmies 5^apitel. Stamtnesge[d)icf)tc ber Seele.
1)05 lange borfale, [o entjtanbene, srilinbrifc^e 9lcrDenrol)r ober
9JlebuIlarrot)r tjt burd)au5 für bte 2ßtrb eitlere d)ara!tertjti[d),
in ber früt)eren (£mbrr)onaIanIage überall basfelbe unb bte ge=
Tnetn[ame (Srunblage aller ber Der[(i)tebenen ^rormen bes Seelen^
Organs, bte [id) [päter baraus entroicfeln. 9lur eine einsige ©ruppe
Don roirbellofen Xieren geigt eine äl)nlt(i)e Silbung; bas finb bie
[eltfamen meerbeu)ot)nenben SJianteltiere (Tunicata). Sie
gtei(i)en ^tn SBirbeltieren aud) im ©efi^e oon anberen d)ara!te=
riftifd)en Organen {(£t)orba, Äiemenbarm ufto.). 2Bir net)men
ba!)er an, ba^ bie ungeglieberten 9JianteItiere unb bie innerlid)
geglieberten 9ßirbeltiere ous einer gemeinsamen älteren Stamm»
gruppe oon 2Burmtieren ^eroorgegangen [inb (Prochordonia).
?ß^t)lettf(^e Silbuttgsftufeit J>e$ aRebulIarro^rs. I)ie lange
Stamme5ge[ct)id)te unferer „2ßirbeltier[eele" beginnt mit ber
93ilbung bes einfach jten SJlebuIIarrotirs bei ben ältejten S(f)äbenofen;
[ie fül)rt uns bur^ einen 3eitraum oon oielen SRillionen 3öl)ren
langfam unb anmäf)Ii(^ bis 3U jenem lompligicrten Sßunberbau bes
men[d)Iid)en ©ef)irns I)inauf, wdä)tx biefe I)öd)jt enttoidfelte
^rimatenform ju einer 5Iusnal)mejteIIung in ber Statur su bc«
red^tigen fd)eint. Da eine !Iare SSorjtellung oon biefem langfamen
imb jtetigen ©ange unferer pl)r)Ieti[rf)en ^[i)d^ogenie bie erjte 33or=
bebingung einer toirüid) naturgemäßen ^[t)dE)oIogie ift,
er[dE)eint es 3toec!mäfeig, jenen getoaltigen 3eitraum in eine 5ln3ai)I
oon Stufen ober §auptabfd)nitten einjuteilen; in jebem berfelben
l)at fid^ glci^mäfeig mit ber Struftur bes S^eroenjentrums oud) [eine
3run!tion, bie „^fi)(i)e", oeroolüommnet. 5(^ unterf^eibe ad)t
|oId)e ^erioben in ber ^I)r)Iogenie bes 9P^ebunarro!)rs
unb in ber jtufenojeifen SSerooIüommnung [eines oorberjten Xeiles,
bes ©e^irns; fic [inb d)ara!teri[iert burd) ad)t ocr[d)iebene $aupt=
gruppen ber 2BirbeItiere; nämlid) I. bie Sd)äbeno[en (Acrania),
II. bie 9?unbmäuler (Cyclostoma), III. bie ^x\d}t (Pisces), IV. bie
fiurd)e (Amphibia), V. bie implacentalen Säugetiere (Mono-
tremaunb Marsupialia), VI. bie älteren plasentalen Säugetiere,
be[onbers bie Halbaffen (Prosimiae), VII. bie jüngeren $erren=
tiere, bie ed)ten ^ffen (Simiae), VIII. bie 9Jien[d)enaffen unb ber
9Jlen[d) (Anthropomorpha).
Seelenöcf(^t(^te ber Säugetiere. Der Eoid)tig[te goIge[(^Iu|3,
ujeld)er fid) aus bem monopl)r)leti[d)en Ur[prung ber Säugetiere
ergibt, i[t bie nottoenbige 5lbleitung ber 9Jlen[d)en[eere aus einer
langen (£nt03idelungsreit)e oon anberen 9KammaIien[eeIen.
(Sine geojaltige anatomi[d)e unb pl)t)[ioIogi[d)e 5^raft trennt ben
©et)irnbau unb bas baoon abl)ängigc Seelenleben ber l)öd)jten unb
ber nieberjten Säugetiere, unb bennod) toirb biefe tiefe 5^Iuft burd)
3et)nte5 Rapitel. SciDu^tfem. 101
eine lange 9^eit)C üon Dermittcinben 3toi[<^enjiufen üolljtänbtg aus^
gefüllt. Die allgemcmjten (SrgebniHe ber tüid^tigen, neuerbings
l)ier tief eingebrutigenen gor[d)ungen [inb folgenbe:
I. Das ©e^irn ber Säugetiere entroidelt [id) ^wax in gleicf)er
äBeije, u)ie bas ber anberen 2Birbeltiere, aus brei I)intereinanber
gelegenen Olafen, bie burd) 3tDeifacf)e (£in[(^nürung ber anfangs
einfa(i)en §irnbla[e entjtel)en; es unter[(f)eibet [id) oon bemjenigen
ber übrigen 23ertebraten burd) geroilfe (Eigentum lid) feiten, roeld)e
allen ©liebern ber i^laffe gemeinfani [inb, üor allem bie über=
u)iegenbc ^usbilbung ber ersten unb brüten ©la[e, bes (5rofel)irn5
unb 5^leint)irns, tDät)renb bie stoeite $Bla[e, bas 5[Uittell)trn, ganj
surüdtritt. II. ^^ro^bent [d)liefet fid) bie ^imbilbung ber nieberjten
unb älteften SJlammalien nod) eng an biejenige il)rer paläosoifd^en
33orfal)ren an, ber 5lmpl)ibien in ber (5tein!ol)len=^eriobe. III.
(£rft tüäl)renb ber 3:ertiär5eit erfolgt bie ti)pi[d)e oolte 5tusbilbung
bes ©rofe^irns, uielc^c bie jüngeren Säugetiere [o auffallenb vov
ben älteren au53eid)net. IV. Die bcfonbere (quantitatiüe unb
qualitatioe) ^usbilbung bes (örofe^irns, iueld)e t>tn äRenfi^en [o
^od) erl)ebt, unb toelc^e il)n ju [einen Dor3üglid)en p[i)c^i[c^en
ßeijtungen befät)igt, finbet [id) aufeerbem nur bei einem 3:eile ber
^(^jtenttoidelten Säugetiere ber jüngeren 3:ertiäi3eit, cor allen
bei ti^n 9Jlen[d) enaffen. V. Die Unter[d)iebe, roeld)e im (Sel^irnbaii
unb Seelenleben bes 9J?en[c^en unb ber SO'?en[(^enaffen ejeijtieren,
[inb geringer als bie ent[precl^enben Unter[d)iebe 3t]Di[c^en bie[en
ie^teren unb ben nieberen Primaten (ben ältejten Riffen unb t)zn
Halbaffen). VI. Demnad) mufe bie I)i[tori[d)e [tufenroeife (£nt=
iDidelung ber 9Jlen[d)en[eele aus einer langen 5^ette oon i)öl)ercn
unb nieberen Säugetier[eelen als eine funbamentale, burc^ bie
oergteic^ enbe Anatomie unb Ontogenie U3i[[en[c^afilic^ beroiefene
itat[ac^c gelten.
93en>tt§tfeitt*
toniftifc^c ötubiett über bctou^teö unb unbett)ugte^ 6eclen--
(cbcn. (f nttpidelung^gefc^ic^te unb ^{)eorie be^ 93en>ugtfein^.
Unter allen ^ufeerungen bes Seelenlebens gibt es feine, bie [o
mnberbar crf^eint unb [o üer[d)ieben beurteilt töirb mit bas
ictDufetfein. 9li(^t allein über bos eigentliche 9Be[en biefer
102 3e^nte5 5lapitel.
Seelcntätig!cit unb über tl)r 2Serl)äItm6 ^um i^örper, [onbern auc^
über x\)x^ 23erbrettung in ber organifc^en 2ßelt, über i:^re (£ntjtef)ung
unb (£nttx)i(!elung fte!)en [t(^ no(i) ^eute, toie [eit 5al)rtau[enben,
bte t»tberfpre(i)enbjten ^nfi^ten gegenüber. SOle^r als jebe anbere
p[i)(i)t[(i)e (5ii"^tion t)at bas Seroufet[etn ju ber trrtüinli(f)en 33or=
ftellung eines „immateriellen Seelenrocfens" unb im 5tn[cf)Iufe
baran 3U bem Aberglauben ber „perfönlic^en Unjterbli(i)feit" 23er=
anla[[ung gegeben; oiele ber [d)toerjten Irrtümer, bie unfer mo=
bernes 5^ulturleben no^ I)eute bel)err[d)en, [inb barauf 3urücf=
3ufü!)ren. ^6) \)abt ba^er [d)on frü{)er bas Setüujgtfein als bas
„p[r)d)oIogi[(^e 3^tttralmi)[terium" be3ei(^net; es ijt bie fejte
3itabene aller mi)jti[(f)en unb bualijti[d^en ^^^i^tümer, an bereu
geroaltigen ^ßällen alle Eingriffe ber beftgerüjteten 33ernunft ju
[Reitern broI)en. S(f)on bie[e 3:at[ad^e allein reditfertigt es, bafe
lüir t)ier bem Setöufetfein eine be[onbere !riti[(^e Setra(i)tung oon
unferem monijti[d)en Stanbpunfte aus toibmen. 2Bir töerben
[el)en, bajg bas SetDufet[ein nic^t mel)r unb nid)t minber toie jebe
anbere Seelentätig!eit eine Statur erfc^ einung ijt, unb ba^ es
gleid) allen anberen Statur er[c^ einungen bem Subftan^gefe^
untertüorfen ijt.
tBegriff bes tBetoufetfetttS. Sd^on über hin elementaren
©egriff biefer Seelentätigfeit, über [einen 5Ttl)aIt unb Umfang,
get)en bie Anfid)ten ber ange[et)cnften ^l)iIo[opt)en unb 9latur=
for[(f)er toeit auseinanber. 3Sieneicf)t am bejten be3eid)net man htn
3ni)alt besSerouM^wö als innere 5ln[d^auung unb üergleid)t
bie[e einer Spiegelung. Als 3tDei $auptbe3ir!e besfelben
unter[c^eibet man t)äufig bas objeftiüe unb [ubjeüiüe $Betöufet[ein,
bas 2BeItbeu)ufet[ein unb SelbftbetDufetfein. ^ei toeitem ber größte
Xeil aller betöufeten Seelentütigfeit betrifft, toie [^on 8d)open =
I)auer I)ert)ort)ob, bas ^etoufetfein ber ÄujgentDelt, ber „anberen
I)inge"; biefes SBeltbemufetfein umfaßt alle möglicfien (£r=
[cf)einungen ber Aufeenroelt, tDeId)e überi)aupt unferer (£r!enntnis
3ugänglid) finb. 33iel be[(f)rän!ter ijt unfer Selb [tbetoufetf ein,
bie innere Spiegelung un[erer eigenen gefamten Seelentätigfeit,
aller 33orjteIIungen, ©mpfinbungen unb Strebungen ober 2BiIIens--
tätigfeiten.
tBetDufetfettt unb Seelenleben. 93iele unb ange[el)ene t)en!er,
namentlid) unter htn ^I)r)[ioIogen (3. SB. 2Bunbt unb 3tel)en),
f)alten bie Segriffe bes Sßetüufetfeins unb ber p[i)d)i[c^en ö^un!=
tionen für ibentifd): „alle Seelentätigfeit ift betoufete";
bas ©ebiet ber ^[r)(f)oIogie rei^t nur fo roeit als basjenige bes
5Betöufet[ein5. 9larf) unferer Anfi(f)t erweitert biefe t)efinition
bie JBebeutung bes legieren in ungebüt)rli(^er 2ßei[e unb gibt Sßer*
<Betüufet[ein. 103
anlaffung 3U 3al)Irci(^en ^i^rtümern unb 9DltfeDcrjtänbnif[en. 2Btr
teilen t)telmel)r bie 5ln[td)t anberer ^f)ilo[opt)en (3. S. 9t 0 man es
unb 3rriÖ S(f)ul^e), ba^ aud) bie unbecou^ten SSorftellungen,
(Smpfinbungen unb Strebungen gum Seelenleben get)ören; in
ber Xat tjt [ogar tia5 ©ebiet biefer unberoufeten p[i)d)i[(f)en ^ftionen
(ber 9tefleitätigfeit u\w.) üiel ausgebe!)nter als basjenige ber be=
toufeten. ^etbe ©ebiete fte^en übrigens im engjten 3u[amment)ang
unb [inb burd^ feine [c^arfe ©rense getrennt; iebergeit fann uns
eine unbetoufete SSorftellung plö^Iirf) betoufet töerben; roirb un[ere
^ufmer![am!eit barauf burcf) ein anberes Dbjeft gefe[[elt, [0 fann
[ie ebenfo xa]^ toieber unferem ©etoufetfein oöllig entfi^roinben.
IBetöufetj'eitt bes 9Kenf(^en. Die einsige Quelle un[erer C£r=
fenntnis bes Seujufetfeins ijt biefes [elbjt, unb f){erin liegt in erjter
£inie bie aufeerorbentIi(i)e S(i)tDierigfeit [einer ti)i[[en[(f)aftlid)en
Unterfui^ung unb Deutung. Subjeft unb Objeft fallen f)ier in
eins sufammen; bas erfennenbe Subjeft [piegelt [id) in feinem
eigenen inneren 2Be[en, rDeIcf)e5 Objeft ber (Srfenntnis [ein [oll.
^uf bas Seii»ufet[ein anberer 2ße[en fönnen toir aI[o niemals mit
Doller objeftioer Sid)erf)eit [d)liefeen, [onbern immer nur burd) S3er=
gleid)ung [einer ^ufeerungen mit un[eren eigenen. Soroeit biefe
S3ergleid)ung [id) nur auf normale 9Ken[d)en erjtredt, fönnen
coir allerbings auf beren Sea)u]3t[ein geröi[[e Sd)Iü[[e 3ie^en, beren
9?ic^tigfeit niemanb bestöeifelt. ^ber [c^on bei - abnormen
^er[önlid)feiten (bei genialen unb ex3entri[d)en, [tumpffinnigen
unb geijtesfranfen 931en[d)en) [inb bie[e ^nalogie[d)Iü[[e entroeber
un[id)er ober fal[(^. ^n nod) f)ö^erem ©rabe gilt bas, toenn toir
bas ^eix)ufet[ein bes 9Jlen[d)en mit bemjenigen ber Xiere in 33er=
gleid) [teilen. Da ergeben [i(^ alsbalb [0 grofee tat[äd)lic^e Sd)toierig=
feiten, bafe bie ^n[id)ten ber f)erüorragenbjten ^l)r)[iologen unb
^^f)ilo[opl)en f)immela)eit auseinanber gel)en. 2Bir toollen l)ier
nur bie rDid)tig[ten 1Kn[d)auungen barüber fürs einanber gegen=
über[tellen.
I. 2lnt^ro|jifttf(^e X^eorte bes IBetoufetfetits: es i[t bem
9Jlen[d)en eigentümlid). Die loeitoerbreitete ^n[c^auung,
ha^ Setoufet[ein unb Denfen aus[(^liep^es (Eigentum bes
9Jien[d)en [eien, unb bafe aud) il)m allein eine „un[terblid)e Seele"
jufomme, ijt auf Descartes 3urüd3ufü^ren (164*3). Die[er
gei[trei(^e fran3ö[i[d)e ^^ilo[opl) unb 9J?atl)ematifer errid)tete
eine oollfommene Sc^eibetoanb 3toi[d)en ber Seelentätigfeit bes
9Jlen[^en unb ber 3:iere. Die Seele bes 9Jlen[d)en, als benfenbes,
immaterielles 2Be[en, ijt nad) il)m oom ilörper, als ausgebel)ntem,
materiellem 2Be[en, oolljtänbig getrennt, ^^ro^bem-foll [ie an einem
fünfte bes ©ei)irn5 {an ber 3ii^^elbrü[e !) mit bem 5^örper oer=
104 3ef)nte5 Rapiitl
bunben [ein, um l^ter (SintDirfungcn ber ^ufeentoelt auf3unel)men
unb if)rer[cits auf ben Rbxptx ausjuüben. Die Xitxt bagegcn,
als md)t benfenbe 2Be[en, [ollen feine Seele befi^en unb reine
9(utomaten [ein, funjtDoU gebaute 9Jla[(f)inen, beren (£mpfinben,
23or)tenen unb 9BoIIen rein medf)ani[d) 3u[tanbe fommt unb nad)
pl)r)[ifali[d^en (5e[e^en oerläuft. ^ür bie ^[T)d)oIogie bes 9Jien[d^en
uertrat bemnad) D esc arte s t>^n Dualismus, für biejenige ber
liiere ben SJlonismus. Die[er offenhmbige 2Biber[pruc^ bei
einem [o flaren unb [c^arf[innigen Denfer mufe t)öd)[t auffallenb
cr[^einen; jur CBrflärung besfelben barf man root)! mit 9tect)t an=
net)men, bafe er [eine roat)re Hberjeugung t)er[(f)roieg unb beren
(£r!enntnis ben [elbjtänbigen Denfem überliefe. ^Is 3ögling ber
3e[uiten ujar Descartes [ct)on frü()3eitig baju ersogcn, ujiber
be[[ere (£in[id)t bie 2ßal)rt)eit 3U »erleugnen; Dienei(i)t fürd)tete
er auc^ bie 9J?acf)t ber i^irc^e unb il)re i5ct)eiterf)aufen. £)t)nel)in
f)atte if)m [eine [!epti[d)e grorberung, ta^ jebes reine (Srfenntnis^
[trcben tom Swd^tl am überlieferten Dogma ausgef)en mü[[e,
fanati[d)e ^Inflagen roegen Sfepti3i5mus unb ^t()ei5mus 3uge3ogen.
Die mä^tige SBirfung, töeld)e Descartes auf bie na^folgenbe
^I)iIo[opi)ie ausübte, toar [et)r merftoürbig unb [einer „boppelten
^uc^fü^rung" ent[prec^enb. Die 9JlateriaIi[ten bes 17. unb
18. 3al)r^unberts beriefen [id) für i^re monijti[(^e ^[i)d)oIogie auf
bie !arte[iani[d)e 3^eorie oon ber 3:ier[eele unb if)rer mecf)am[d)en
9Jia[(^inentätig!eit. Die Spirituali[ten umge!el)rt bet)aupteten,
bafe it)r Dogma oon ber Unjterblicf)!eit ber Seele unb i^rer Un=
abl)ängigfeit oom 5^örper bur(i) bie !arte[iani[ct)e 3:i)eorie ber
9JZen[d)en[eeIe unujiberleglid) begrünbet [ei. Die[e ^n[ii)t i[t aud)
{)eute nocf) im ßager ber 3:i)eoIogen unb ber buali[ti[(i)en 9Jieta*
pl)t)[i!er bie f)err[ct)enbe. Die naturu)i[[en[d)aftli(^e ^n[ct)auung
bes 19. 3af)rl)unberts t)at [ie mit §ülfe ber empiri[c^en 3rort[cf)ritte
im ©ebiete ber pI)i)[ioIogi[c^en, patI)oIogi[(^en unb oerglei^enben
^^[i)rf)oIogie oöllig überiounben.
II. 9leutoIo9tf(^e I^eotie bes ©etou&tfetns: es lommt
nur bem 95Ien[(f)en unb jenen I)öf)eren Xieren 3U, u)el(f)e
ein 3entrali[iertes 9leröen[i)jtem unb Sinnesorgane be[i^en. Die
Hberseugung, bafe ein großer Xeil ber Xiere — 3um minbe[ten
bie I)öl)eren 'Säugetiere — eben[o eine iftnUxibt Seele unb aI[o
aucf) Seu)ufet[ein be[i^t, roie ber a)len[d), be{)err[d)t bie 5^rei[e ber
mobernen 3ooIogie, ^f)i)[ioIogie unb monijti[d)en ^[r)(^oIogie.
Die großartigen 3^ort[cf)ritte ber 9^eu3eit in mef)reren ©ebieten
ber ^Biologie I)aben uns überein[timmenb ju ber ^ner!ennung
bie[er bebeutungsoollen (£r!enntnis gefüt)rt. 2Bir befcfiränfen uns
bei it)rer SBürbigung 3unäcf)it auf bie t)öt)eren 2BirbeItiere unb
Seiüufetfein. 105
Dor allem bic Säugettetc. X)afe bte intclltgcntcftcn 93crtrcter
biefer I)öcf)jt entmtdciten 2BirbeIttere — allen ooran bie ^ffen
unb $unbe — in tt)rer gefatnten Seel.entätigfeit [i^ bem 9Jlen[(f)en
^ö(f)jt ä^nlid) t)erl)alten, ijt fett 3al)rtau[enben befannt unb be==
rounbert. 5t)re SSorjtellungs^ unb Sinnestätigfeit, i\)x (Smpfinben
unb iBege{)ren ift bem älknfc^en |o äf)nUc^, ha^ wix feine Seu)ei[e
bafür an5ufül)ren braud)en. 5lber aud) bie ^öf)ere ^ffojiations^
tätigfeit \\)xt5 (Se^irns, bie ^Bilbung Don Urteilen unb beten 93er=
binbung 3U Sd)lü[[en, bas Denfen unb bas Secoufetfein im engeren
Sinne, [inb bei if)nen äf)nli(^ entroicfelt roie beim 9Jlen[cf)en — nur
bem ©rabe, nid)t ber 5lrt nad^ baoon perfc^ieben. Uberbies Ief)rt
uns bie t> ergleid) enbe Anatomie unb ^i|tologie, bafe bie Dertoicfelte
3u[ammen[e^ung bes (5el)im5 ([ott)oI)l bie feinere als bie gröbere
Struftur) bei biefen f)öf)eren Säugetieren im rüefentlicf)en bie-
felbe roie beim 9J?en[(^en ift. X)as[elbe ^eigt uns bie üergleic^enbe
Ontogenie be^üglic^ ber (£ntjtef)ung biefer Seelenorgane. Die
Dergleicf)enbe ^^i)[iologie lef)rt, bajg bie t)er[d)iebenen 3u!tänbe
bes ^etDufetfeins \xd) bei biefen f)öc^ft entruidelten ^la3entaltteren
gan3 ä^nli^ toie beim 9Jlenfrf)en üerl)alten, unb bas (Experiment
beroeift, bajg fie aud) auf äußere Gingriffe ebenfo reagieren. 9Jlan
fann i)öf)ere Xiere bur^ ^(Ifo^ol, (If)loroform, ^tf)er ufto. ebenfo
betäuben, burc^ geeignete Sef)anblung ebenfo f)i)pnotifieren ufu).
ü)ie t)tn aUenf d^en. Dagegen ift es ni^t mögli(^, bie (Srense
fc^arf 3U beftimmen, too auf htn nieberen Stufen bes 3:ierleben5
bas 5Ben)ufetfein juerft als fold)es erfennbar toirb. Die einen
3oologen fe^en biefelbe fef)r f)od) oben an, bie anberen fef)r tief
unten. Darm in, ber bie oerfd^iebenen ^bjtufungen bes Se*
ujufetfeins, ber ^ntelligens unb bes ©emüts bei titn f)ö^eren 3:ieren
fef)r genau unterfd)eibet unb burc^ 3unef)menbe (Snttoidelung
erflärt, toeift 3uglei^ barauf f)in, toie fd)toer ober eigentlid^ tote
unmögltd) es ift, bie erften ^tnfänge biefer ^öd)ften Seelentätigfeiten
hti ttn nieberen 3;ieren 3U beftimmen. 5lm rDaf)rf(^einIid)ften ift
bic ^nnaf)me, bafe biejenigen Xiere ein unferem eigenen äi)nlid)es
beiöufetes ©rieben f)aben, bie ein ^leroenfpftem oon annäl)ernb
fo feiner Struftur, f)iftologifd)er Differensierung unb 3^Titralifa»
tion befi^en.
IIL ^mmalif(^e I^eone bes IBetouBtfeins: es f inb et fid)
bei allen 3;ieren unb nur hti biefen. ^iernac^ Doürbe ein
f(^arfer Unterfc^icb im Seelenleben ber 3:iere unb ^^flan3en be=
fte{)en; einfol(^er tourbefc^on oon oielen alten Tutoren angenommen
unb oon fiinne fc^arf formuliert in feinem grunblegenben^„Systema
naturae" (1735); bie beiben großen 5leid)e ber organif3)en 9^atur
unterfd)ciben \\ä) nad) if)m baburd), tiQ.^ bie 3:iexe (Empfinbung unb
106 3e^nte5 5^apitel.
^BetDufetfein t)aben, btc ^flanjcn nid^t. Später t)at befonbers
S(f)openf)auer btefen Hnter[d)ieb [(f)arf betont: „X)as Setou^tfein
ijt uns [(^Ie(^tl)in nur als (£tgen[d)aft ani maier SBefen be=
fannt. ^ud) na(i)bem es [id) burrf) bie gan^e 3:terretf)e, bis 3um
93Zen[d)en unb [einer 23ernunft, gesteigert \)ai, bleibt bie ©etüufet»
Io[ig!eit ber ^flanse, von ber es ausging, nodE) immer bie (Srunb*
läge. Die unterjten Üiere t)aben blofe eine Dämmerung besfelben."
Die Unl)altbar!eit biefer 5tn[id)t tourbe [d)on um bie 9Kitte bes
neun5et)nten 3öt)rt)unberts flar, als man bas Seelenleben ber
nieberen Xierjtämme, be[onbers ber (Bä)xoämmt unb Sfleffeltiere,
nät)er fennen lernte: ed^te Xiere, bie ebenfo toenig Spuren oon
üarem SetDufetfein be[i^en, toie bie meijten ^flanjen. 5Ro(f) met)r
tDurbe ber llnter[(f)ieb 3rDiid)en beiben 5Reicf)en Dertt)i[d)t, als man
bie einjelligen fiebensformen berfelben genauer unterfuc^te. Die
Urtiere unb bie Urpflan^en s^igen feine p[i)^oIogiid)en Unter*
[(i)iebe, auc^ nid)t in Se3iet)ung auf it)r fraglid)es ^Beroufetfein.
IV. lBtoIo0tf(^e Z\)tom bes SetDuBtfeins: es i[t allen
Organismen gemeinfam, es finbet fi(^ bei allen Xieren unb
^flanjen, tDäf)renb es ben anorganifd)en 91atur!örpern (5^rr)jtanen
ufro.) fetilt. Die[e ^nna!)me toirb getDöt)nlid) mit ber ^tnfid^t oer»
fnüpft, ba|3 alle Organismen (im ©egenfa^e ju hm 5lnorganen)
befeelt [inb; bie brei ^Begriffe: £eben, Seele unb Setoufetfein,
fliegen bann geroöl)nli(f) 3u[ammen. (£ine anbere SJlobififation
bie[er ^n[d)auung ijt, hals hk]t brei (5runber[rf)einungen bes
organi[d)en fiebens sroar unsertrennbar oerfnüpft finb, ha% aber
bas SetDuM^iTi nur ein 3:eil ber p[i)^i[d)en Xätigfeit ijt, toie
bie[e [elbjt ein Xeil ber fiebcnstätigfeit. Dafe bie ^f lausen in
bem[elben Sinne roie bie Xiere eine „Seele" befi^en, l)at namentlicf)
g-ed)ner [id) ju geigen bemül)t, unb mand)e fc^reiben ber ^flan3en=
[eele ein SetDufetfein von äl)nlid)er %xi gu töie ber 3:ier[eele. 5n
ber Xat [inb ja bei \t\)x empfinblid)en „Sinnpflan3en" (Mimosa,
Drosera, Dionaea) bie auffallenben ^ReigbeiDegungen ber ^Blätter,
bei mancl)en anberen (Rlee unb Sauerflee, be[onbers aber Hedy-
sarum) bie autonomen ^Betoegungen, bei „fd)lafenben ^flansen"
(auä) üorsugsroeife Papilionaceen) bie Sd)lafbetpegungen ufro.
auffallenb äl)nli(i) benienigen oieler nieberen 3:iere; toer htn
le^teren ^etoufetfein 3u[d)reibt, barf es gans geroife auc^ ben erjteren
nicf)t abfpred)en.
V. 3enulare I^eorte bes »etoufetfeins: es i[t eine Bebens =
eigen[d)aft jeber 3elle. Die 5lntoenbung ber 3ellentf)eoric
auf alle 3roeige ber Biologie oerlangt aud) il)re 93er!nüpfung mit
ber ^fi)d^ologie. SRit bem[elben 9lecl)te, mit bem man in ber
Anatomie unb ^l)r)[iologte bie lebenbige 3elle als ben „(Elementar-
»ctDufetfein. 107
Organismus" bc^anbelt unb bas gansc 23erjtänbnts bes f)ö!)cren,
Dielselltgen Xter* unb ^flan5cn!örper5 baraus ableitet, mit bem=
[elben 9?e(i)te !ann man aud) bie „3eII[eeIe" als bas p[r)(i)oIogi|d)e
(Element betrad)ten unb bie 3u[ammengefe^te Seelentätigfeit ber
l)öf)eren Organismen als bas 9le[ultat aus bem üereinigten Seelen»
leben ber 3^nen, bie [ie 3u[ammenfe^en. o<^ l)obe bie ©runbsüge
bie[er 3^nular=^[t)d^ologie [(l)on 1866 in meiner „©enerellen
9JJorpl)ologie" enttüorfen unb [ie [päter toeiter ausgefüt)rt in meinem
^uffa^ über „3^Ilfß^l^Tt unb Seelen^ellen". 3^^ tieferen (£in=
bringen in biefe „(£lementarp[i)^ologie" xourbe irf) burd) meine
langiäl)rige $Be[d^äftigung mit ben eingelligen fiebensformen
gefül)rt. Stiele t>on bie[en f leinen (meift mi!ro[!opi[(^en) ^rotijten
seigen äl)nlicl)e ^ufeerungen von (Smpfinbung unb SBillen, äl)nli(f)e
5nftin!te unb Seroegungen toie l)öl)ere liiere; befonbers gilt bas
von ben [el)r empfinblic^en unb tebl^aft beroeglic^en 5nfu[orien.
(5otüol)l in bem 25erl)alten biefer reigbaren 3^ninge gegenüber
ber ^u^enroelt, roie in üielen anberen ßebensäu^erungen berfelben,
3. $B. in bem txtunberbaren (5el)äu[ebau ber 9?l)i3opoben, CZ^alü'
mopl)oren unb Otabiolarien) fönnte man beutlid)e Spuren be=
Eou^ter Seelentätigfeit 3U ertennen glauben. SBenn man nurt bie
biologi[cf)c 3:i)eorie bes Sßeu)ufet[eins afseptiert (9^r. IV), unb toenn
man jebe p[i)d)i[d^e ^^unftion mit einem Setoufetfeinsanteil aus=
jtattet, bann roirb man auc^ jeber [elbjtänbigen ^rotijten3elle SBe=
töufetfein 3u[(f)reiben muffen. X)ie materielle ©runblage besfelben
tDäre bann enttoeber gas ganse Plasma ber 3^11^; o^^^^ beren
5^ern, ober ein Zdl besfelben. Definitio miberlegen läfet [ic^ biefe
9lnnat)me, bie id) frül)er certrat, nid)t. ^6) mufe aber je^t Wax
23erroorn 3ujtimmen, tüel(^er in [einen ausgeseid^neten „^[r)d)o=
pl)t)[iologi[d)en ^rotijtenftubien" annimmt, "Oa^ wo\)l [amtlichen
^rotijten ein entroidettes „3'i)^^tt)iifet[ßi^" fel)lt, unb ha^ it)re
(£mpfinbungen unb Setoegungen burc^roeg t^tn (£t)arafter bes
„UnbetDufeten" tragen.
VI. 2ltomi[tif^e I^eorie bes SettJufetfeins: es i[t txm
(£lementareigen[d)aft aller ^tome. Unter allen Der=
[d)iebenen ^n[(^auungen über bie ^Verbreitung bes $BetDufet[eins
gel)t bie[e atomi[ti[(^e §i)potl)e[e am toeitejten. Sie ijt wo\)l l)aupt=
[äd)lic^ ber Sc^roierig!eit entfprungen, toelc^e man^e ^^l)ilo=
[opl)en unb Biologen bei ber ^i^age nac^ ber erften (£nt[tel)ung bes
Seu)U^t[eins empfinben. Die[e (£r[d)einung trägt ja einen [0
eigenartigen d^arafter, bafe it)re Ableitung aus anberen p[i)d)i[d)en
5un!tionen l)öd)[t bebenflid) er[d^eint; man glaubte ^al)er bie[es
§inbernis am leid)te[ten baburd) 3U übertoinben, ita^ man [ie als
eine (£lementareigen[d)aft aller 9Jlaterie annal)m, gleid) ber 9J?a[[en=
108 3el)ntes Kapitel.
art5tef)ung ober ber (^emifc^en 2Bat)IoerxDanbt[rf)aft. (£5 röürbe
hanad) [0 »tele (dornten bes (SlementarberDufetfetns geben, als es-
c^emifd^e Elemente gibt; jebes 5ltom 3Baf[erjtoff toürbe fein t)T)bro=
genes ^etüufetfein t)aben, jebes ^tom 5^ot)Ienjtoff [ein farbonifcfies
^eiöufetfein ufco.
^&) ^alte bie[e §i)pott)e[e für unbegrünbet unb bel)arre in ber
ilber3eugung, bafe bas Seiöufetfein an einen ^ot)en ©rab uoit
X)ifferen3ierung unb S^Titralifation bes ?lerDen[i)jtenis gebunben
ijt, tDie beim SJienfd^en unb einem 3^eile ber ^öt)eren SBirbeltiere.
SRoni)tif(^e nnh buali|lif(^e X^eone bes Setougtfetns.
Sotoeit aud^ bie oerfc^iebenen 5tn[i^ten über bie 9latur unb bie
(£ntjtel)ung bes $8eu)ufet[eins auseinanber get)en, [0 Ia[[en fid) bod)
alle [d)liefelic^ — bei flarer unb tonfequenter logifc^er 5Bel)anbIung
— auf sroei entgegengefe^te ©runban[ct)auungen 5urücffüf)ren,
auf bie tranfcenbente (übernatürli^e, bualtftifc^e) unb bie
p{)i)[toIogi[(^e (natürlidie, moni[ti[d)e). 3<i) [ctbjt f)abe von
ief)er biefe le^tere ^uffaffung, unb gtoar auf ®runb ber (Snttüi cf e -
Iungslet)re, üertreten, unb [ie roirb gegentoärtig von einer grojgen
^tnsa^I t)eroorragenber 5Raturfor[cE)er geteilt.
Iranfäenbens bes »euju&tfetns. 3n bem berül)mten Söortrag
„über bie ©rensen bes 5Raturerfennens", ujelc^en (£. Du Sois»
9lci)monb am 14, ^ugujt 1872 auf ber 9Zaturfor[d)ert)erfammIung
in £eip3ig f)ielt, ftelltc berfelbe jtoei üerfc^iebene „unbebingte
©rensen" unferes 9laturer!ennefis auf, tDelcf)e ber men[d)Iici^e
©eijt aud^ bei oorgefc^rittenfter 9laturer!enntnis niemals über^
[d)reiten tu erbe — niemals, tüie bas oft jitierte <5(^Iufetoort bes
33ortrags empf)atif^ betont: „Ignorabimus !" t)as eine abfolut
unlösbare „SBelträtfel" ift ber „3ufamment)ang oon 9}taterie unb
5lraft" unb bas eigentlid)e 2Befen biefer funbamentalen 3latur=
erfd) einungen; toir loerben btefes „8ub[tan3probIem" im Broölf»
ten i^apitel eingef)enb bet)anbeln. t)as ätoeite unüberjteiglidie
Öinbernis ber ^Po[opI)ie [oII bas Problem bes Setoufetfeins
bilben, bie Srittge: toie unfere (Seijtestätigfeit aus materiellen Se=
bingungen, bcjüglid) Setoegungen ju erflären ijt, toie bie (ber
SJiaterie unb 5\raft 5ugrunbe liegenbe) „Subjtanj unter bestimmten
©ebingungen empfinbet, beget)rt unb ben!t".
2Benn man biefe oielbefproi^ene „^guorabimusrebe" unbe^
fangen auf if)ren Äern unterfud^t, [0 mufe man barin bas ent[d)iebene
^^rogramm bes metl)apf)i)fi[d^en Dualismus finben; bie
2Belt ift „boppelt unbegreiflich": einmal bie materielle SBelt, in
u)el(f)er „9Jiaterie unb Rraft" if)r 2Befen treiben, unb gegenüber,
ganj getrennt, bie immaterielle 2BeIt bes „©eijtes", in toeldier
„Deuten unb Serou^tfein nict)t aus materiellen Sebingungen er=
©cu)ubt[cin. 109
flärbar finb", toie bei bcr erjtcren. (£5 war ganj naturgemäß,
ba^ ber I)err[(^enbc Dualismus unb 9Jli)[ti5t5mu5 biefc 5Iner!cnnung
ber 3U)et t)er[(i)iebenen SBcItcn mit JBcgicrbc ergriff, um bamit bie
Doppelnatur bes 9Jten[d)en unb bie Unfterbli(^!eit ber Seele 3U
beroeifen. Der ^ubtl ber Spiritualijten öarüber roar um |o l)tlhx
unb bered)tigter, als (£. Du 5ßois=9?et)monb bis baljin oIs ein
ibebeulenber prinsipieller 93ertreter bes tDi[fen[(^aftIid)en StRateri^
(olismus gegolten I)atte; unb bas roar unb blieb er aud) (tro^ [einer
Jd)öntn ^ttitn" !), «ben[o toie alle anberen [ad)funbigen, Haren
iinb !on[equent benfenben 5Raturfor[d)er ber ©egentoart.
Slllerbings l)at ber 93erfa[[er ber 39^orabimusrebe am Sd)Iu[[e
bctfelben fur^ auf bie ^xaQt l)ingerDie[en, ob ni^t jene beiben
gegcitübcrfte!)enben „^Belträtfel'V öas allgemeine Subjtanjproblem
unb bas befonbere ^Beroufetfeinsproblem, 3u[ammenfaIIen. (£r
Jagt: „gfreilid) ijt biefe SSorjtellung bie einfa^jte unb ber cor«
,^U5iel)en, wonad) bie 2BeIt boppelt unbegreiflid) erfd)eint. 5lber
(£5 liegt in ber Statur ber Dinge, bafe toir aud) in biefem fünfte
:ni^t 3ur i^Iarl)eit fommen, unb alles toeitere IReben barüber bleibt
müßig. " — Diefer le^teren 5ln[i^t bin \ä) von Einfang an ent=
ftf)ieben entgegengetreten unb l)abe mid) 3U 3eigen bemül)t, "üa^
jene beiben großen (Ji^agen nid)t 3toct oerf^iebene Sßelträtfel [inb.
„Das neuroIogt[(i)e Problem bes Seroußtfeins ift nur
ein bcfonberer Orall oon bem allumfaffenben fosmo^
Iogi[d)en Problem, ber Sub[tan3frage." (95?onismu5,
1892, S.23.)
jp^QftoIogie bes öetDußtfetns. Die eigenartige 9laturer[(i)ei*
maing bes ©etoußtfeins ijt ni(f)t, toie Du 5Bois=9?er)monb unb
imit i!)m bie bualtjtif^e ^l)iIo[opl)ie bef)auptet, ein oöllig unb
.„burc^aus tran[3enbentes Problem"; [onbern fie i[t, roie id) ]ä)on
feit 1S66 behauptet l)abe, ein pI)r)[ioIogifd)es Problem, unb
(ttls |oId)e5 auf bie (£rfd^ einungen im ©ebiete ber ^t)t)[i! unb (£i)emie
Surü(i3ufüt)ren. 5d) l)abe es [pater nod) bejtimmter als ein neu»
roIogi[d)es Problem be3eict)net, auf ber ^nnal)me fußenb,
baß ein bem menf(^Iid)en analoges Seroußtfein nur bei htn t)öl)eren
Xieren mit jtar! 3entrali[iertem 9'^err)en[r)jtem 3U [u(f)en ijt. 9Jiit
Dotier Sid)ert)eit läßt [id) bas für bie l)öl)eren SBirbeltiere bel)aupten,
unb cor allem für bie pla3entalen Säugetiere, aus beren Stamm
.rDas 9[Ren[d)enge[d)lec^t [elbjt entfproffen ijt. Das ^eioußtfein ber
li)Ö!jf)|tentrDideIten Riffen, §unbe, (£Iept)anten u[u). ift oon bem=
ijemgen bes 9Jienfd)en nur bem (Srabe, nid)t ber ^rt nad) oer*
i)d)ieben, unb bie grabuellen Unter[d)icbe im Seroußtfein biefer
,„r)emünftigjten" 3ottentiere unb ber nieberjten 9JJcnid)enra[[en
ilSBcbbas, 5lujtroInegcr u[u).) finb geringer als bie cnt[pred)cnben
110 3el)nte5 5^opitcI.
ltnterfd)tebc 3tt}l[(f)cn btefen leiteten unb ben I)öd)ft cntoidelten
23ernunftmenfd)en (Sptno3a, (5oetl)e, 2amaxd, Darcotn
ufro.). Das ©etcu^tfein ijt Tnitt)tn nur ein Xzi\ ber l)öt)eren
Seelcntätig!ett, unb als fold^c abt)ängtg »on ber normalen
Stru!tur bes betreffenben Seelenorgans, bes ©el)trn5.
^l)t)[toIogt[d)e $BeobadE)tung unb (£ipertment l)aben feit
3töan3ig 3öt)ren ben [idE)eren Seroeis gefü{)rt, tia)^ berjenige engere
5Be3ir! bes (5äugetierge{)irns, ben man in biefem Sinne als Organ
bes Seroufet[ßins be3ei(^net, ein Xeil bes ©rofel)irn5 ijt, unb
3toar ber fpät entftanbene „graue SJIantel"* ober bie „©rofeI)irn=
rinbe". ^ber aud^ bie morpI)oIogi[(f)e ^Begrünbung biefer pl)r)[io*
Iogifd)en (£r!enntnis ijt titn berounberungsroürbigen gort[d)ritten
ber mi!ro[!opt[(f)en (5el)irnanatomie gelungen, tDeId)e toir
"ütn »erooIÜommneten 3ror[(^ungsmett)oben ber neuesten 3eit üer=
ban!en.
2Bol)l bie toii^tigjte Don btefen (£rfenntniffen ift bie ©ntbecfung
ber Dentorgane burd) ^aul ^I^^ftS i" ^eip3ig; er loies 1894
nacf), bafe in ber grauen 5linben3one bes §irnmantels üier Gebiete
ber 3entralen Sinnesorgane ober oier „innere (£mpfinbungs=
fpl)ären" liegen, bie 5^örperfüI)IfpI)äre im Sd)eitenappen, bie
5?ie(^fpl)äre im Stirnlappen, bie Sel)fpf)äre im §interl)auptslappen,
bie §örfpt)äre im Si^Iäfenlappen. 3o5i['i)ßTi biefen üier „Sinnes =
I) erben" liegen bie üier grofeen „Den!I)erbe" ober 5Iffo3ions^
3entren, bie realen Organe bes ©eifteslebens; fie finb jene
t)öd)ften 2Ber!3euge ber Seelentätigteit, u)eld)e bas I)en!en unb
bas Seroujgtfein ü ermitteln: com bas Stirnt)irn ober bas frontale
^ffo3ion53entrum, t)inten oben bas Sd)eitelt)irn ober parietale
^ffo3ions3entrum, l)inten unten bas ^rin3ipall)im ober bas „grofee
occipito=temporaIe 5lffo3ions3entrum" (bas roid)tigjte r>on allen !)
unb enblid) tief unten, im 3^nern oerftecft, bas 3nfelt)irn ober „bie
9^eilfd)e ^n]z\", bas infulare 5lffo3ions3entrum. Diefe oier Den!=
t)erbe, burd) eigentümlid)e unb ^öc^ft oerroicfelte 9Zerüenftru!tur
Dor htn 3t»ifd)enliegenben Sinne5f)erben ausge3eid)net, finb bie
u)at)ren „I)en!organe", bie einsigen Organe unferes Setoufetfeins.
3n neuejter 3ßtt t)at 3rle<i)fig nad)geii)iefen, ha^ in einem 3:eile
berfelben fid) beim 9Jtenfd)en nod) gan3 befonbers oerroidelte
Strufturen finben, tDeId)e ben übrigen Säugetieren fel)Ien, unb
tDeId)e bie Uberlegenl)eit bes menfd)Iid)en ^Beroufetfeins erflären.
^at^ologte bes iBetDufetfeins. Die bebeutungsoolle ©rfenntnis
ber mobernen ^f)r)fioIogie, 'Oa^ bas ®rofef)irn beim 9?tenfd)en unb
"btu I)öt)eren Säugetieren bas Organ bes ©eifteslebens unb bes
Seroufetfeins ift, toirb einleud^tenb beftätigt bur(^ bie ^att)oIogie,
huxä) bie i^enntnis feiner (£r!ran!ungen. 2ßenn bie betreffenben
SetDufetfein. 111
Xeile ber (5rofe!)irnrmbc burd) ilronfljett gcrftört tüerben, erltfc^t
t{)re 5un!tton, unb ^wax läfet [id) I)tcr bie £o!aIifation ber
©c!)trnfurt!ttoncn [ogar partiell nad)iDet[en; töenn einselne Stellen
jenes ©ebtetes erfranfen, cerfiJ^tDmbet aud) ber Xetl bes I)en!en5
unb bes Serou^tfetns, tt)eld)er an bie betreffenbe Stelle gebunben
ijt. Dosfelbe (Ergebnis liefert bas patl)ologi[(^e (£iperiment; 3^1=
ftörung einer' [öligen befannten Stelle (3. 5B. im Spra(i)3entrum)
oerni(i)tet beren 3run!tion {hit Sprache). Übrigens genügt ja
ber ^inroeis auf bie befanntejten alltäglid)en (£r[d) einungen im
©ebiete bes SBetoufetfeins, um bie oöllige ^bf)ängig!eit besfelben
Don ben d)emifd^en 23eränberungen ber (5el)irn[ubjtan3 3U be=
roeifen. ä^iele ©enufemittel (5^affee, Xee) regen unfer 2)en!=
vermögen an; anbere (2Bein, ®ier) jtimmen unfer ©emüt l)eiter;
9Jtofc^us unb i^ampl)er als „Excitantia" beleben bas erlö[d)enbe
SBetDU^fein; 5][tl)er unb (£l)loroform betäuben basfelbe ufi». 2Bie
tüäre bas alles mögli(^, toenn bas SetDufetfein ein immaterielles
2Be[en, unabl)ängig r>on jenen anatomifd) nadjgeroiefenen Organen
roäre? Itnb toorin beHel)t bas ^Betoufetfein ber „unjterblidE)en
Seele", xoenn fie nid)t mei)r jene Drgane befi^t.
^lle bieje'unb anbere befannte 3:at[ad)en betoeifen, 'ba^ bas
©etDufetfein beim S[Ren[(f)en (genau eben[o toie bei ben näd)jt=
üertDanbten Säugetieren) oeränberlid) ijt, unb bafe [eine
Xätigfeit jeber3eit abgeänbert tberben fann burd) innere Ur[ad)en
{StofftDed)fel, ®lut!reislauf) unb äußere Ur[ad)en (33erle^ung bes
(5el)irns, 5Rei3ung u[to.)- Sel)r lel)rreid) finb aud) bie mer!tDürbigen
3ujtänbe bes alternierenben ober boppelten $BetDufet[eins;
ber[elbe 901en[d) seigt an t)er[d)iebenen 3:agen, unter »eränberten
Hmjtänben, ein gan3 t)er[d)iebenes Setoufetfein; er loeife f)eute nid)t
mel)r, toas er gejtern getan l)at, geftern fonnte er fagen: 3<^ ^i^t
id); — l)eute mufe er fagen: Z^ bin ein anberer. Sold)e 5i^ter=
mijfionen bes $Beroufet[eins !önnen ni^t blofe Xage, [onbern SJionate
unb Za\)xt bauern; [ie fönnen felbjt bleibenb toerben.
Ontogenie bes ^etDußtfeins. 2Bie jebermann toeife, tft bas
neugeborene Rinb nod) gans ol)ne ©ecoufetfein, unb tote ^rei)er
geseigt l)at, entxoidelt [id) bas[elbe erjt [pät, nad)bem bas Keine
5^inb 3U fpred)en angefangen l)at; es [prid)t oon [i^ lange 3ß^t in
ber britten ^er[on. (£rjt in bem bebeutungsoollen 9Jtomente, in
tDeld)em es 3um erjten SJiale „3^" [«^öt, in töeld)em bas „5^»
gefüf)r' !lar roirb, beginnt [ein Selb[tbetDufet[ein 3U feimen unb
bamit aud) ber (5egen[a^ 3ur ^ufeentoelt. Die [d)nenen
unb tiefgreifenben 3rort[d)ritte ber Grfenntnis, iüeld)e bas i^inb
burd) t>^n Hnterrid)t ber (Altern unb ber Sd)ulc in 'üzn erjten
3et)n £cbensial)ren mad)t, unb [päter lang[amer im stoeiten X)e*
112 3et)ntes Kapitel, «eujufetfcin.
Sennium bis ^ur DoIIcnbeten geistigen 9?cife, [tnb eng ücrfnüpft mit
un3ät)ligen ^^ortfc^ritten im 3Bad)5tum unb in ber (Enttoidelung
besSetoufetfcins unb mit berjcnigen [eines Drgans, bes® el)irn5.
mer aud), roenn ber Sd)üler bas „S'^UQnis bei 9?eife" erlangt l)ai,
ift in 2BaI)rI)eit [ein $8eroufet[ein noc^ lange nici)t reif, unb je^t
beginnt er[t rect)t, in Diel[eitiger ®erül)rimg mit ber ^lufeenroelt,
bas „2BeItbctDufet[ein" [id) 3u enttöideln. 3e^t erjt reift im
brüten 35e3ennium jene tfolle ^lusbilbung bes »ernünftigen Denfens
unb bamit bes ©eiüufet[eins, lücl^e bann bei normaler (Snttoicf elung
in t>tn folgenben brei 5at)r3e]^nten \\)tt reifen 3rrü(f)te trägt, ©e-
toöt)nIidi) mit ©eginn bes [iebenten I)e3ennium (balb früt)er, balb
[päter) beginnt bann jene Iang[ame unb allmät)ltd)e 9lücfbilbung ber
t)öf)eren ©eijtestätigfeit, xotld)t bas (5rei[enaltcr d)ara!teri[iert.
©ebad^tnis, 9ie3eptionsfäl)ig!eit unb 5ntere[[e an [pegiellen Ob=
je!ten nefimen mt\)x unb met)r ab; bagegen bleibt bie ^robu!tions=
fäl)ig!eit, bas gereifte SetDufet[ein unb bas p!)iIo[opl)i[d)e 3Tttere[[e
on allgemeinen SBe3iet)ungen oft nod) lange erl)alten. Die in=
bioibuelle CBntroidelung bes Seu)ufet[eins in frül)er S^isenb bemeift
bie allgemeine Oeltung bes S3iogeneti[d^en (5cunbge[e^e5;
aber aud) in [päteren 3öl)ren ijt bie[elbe nod) oielfa^ crfennbar.
^ebenfalls überseugt uns bie Ontogcne[e bes S8etöufet[eins aufs
flarfte oon ber 3:at[arf) e,bafe ba5[elbe fein „iTtimaterielles 2ße[en",
[onbern eine pI)r)[iologi[die 3^un!tion bes ®el)irns ijt, unb t>Q^ es
al[o au<i) feine 5lusnal)me com Sub[tan3ge[e^c bilbet.
?ß^t)Iogettie bes »ewu&tfeins. Die 3:at[a(f)e^ bafe bas Se=
roufet[ein, glei(^ allen anberen Seelentäügfeitcn, an bie normale
^ilusbilbung bejtimmter Organe gebunben i[t, unb bafe es [id) beim
5^inbe, in 3ii[ömmenl)ang mit bie[en (&ei)irnorganen, allmäl)lid)
enttoidelt, läfet [d)on oon t)ornl)erein [d)lie^en, ta^ es aud) innerf)alb
ber !Xierreil)e [id) [tufentoei[e l)i[tori[d) enttoidelt l)at. So [id)er
toir aber aud) eine [old)e natürlid)e Stamm,e5ge[^i(^te bes
©erDufet[eins im ^rinsip bel)aupten mü[[en, [o roenig [inb xok
bod) leiber imftanbe, tiefer in bie[elbe einsubringen unb [pegielle
§r)potl)e[en barüber aufäuftellen. 3^be[[en liefert uns bie ^alä^
ontologie bod) einige intere[[ante ^nl)alt5pun!te, bie nid)t ol)ne
^Bcbeutung [inb. 5luffallenb i[t 3. S. bie bebeutenbe, quantitatioe
unb qualitatioe (Snttoidelung bes ®el)irn5 ber pla3entalen (5äuge=
tiere innerl)alb ber 3:ertiär3eit. ^n oielen fo[[ilen 8d)äbeln ber=
[elben i[t bie innere Sd)äbell)öl)le genau belannt unb liefert uns
[id)ere ^uf[d)lü[[e über bie ©rö^e unb teiltDei[e auc^ über ben 5Bau
bes baoon um[c^lo[[enen ©et)irn5. Da seigt [id) benn innerl)alb
einer unb ber[elben £egion (3. ©. ber Huftiere, ber 9?aubtierc, ber
$crrcnttere) ein geroaltigcr gort[d)ritt oon hzn älteren eo3änen
(Elftes Äapitcl. UnjterbUd)!ctt bcr Seele. 113
unb oltgosänen ju ben jüngeren miosänen unb pliojänen 93er=
tretern besjelben Stammes; bei \)tn le^tercn ijt has (5e!)trn (im
5^ert)ältni5 %ux 5^örpergröfee) 6 — 8 mal [o grofe als bei ben erjteren.
^ud) jene ^öct)jte (EntDoidelungsjtufe bes $Betoufet[eins, tDeI(i)e
nur ber 5^ulturmen[d) erreid)t, \)ai [id^ erjt allmät)ltd) unb jtufen=
Doeife — thtn huxd) "ötn (^ort[d)ritt ber Äultur [elbjt — aus nieberen
3ujtänben entroicfelt, roie toir [ie no(f) I)eute bei primitioen 9latur=
oölfern antreffen. !Das jeigt uns [(i)on bie 33ergleid)ung il)rer
Spradien, tx)el(i)e mit berjenigen ber Segriffe eng oerfnüpft
ift. 3^ t)öi)er \xdf beim benfenben Ruiturmenfdien bie ©egriffs=
bilbung enttüic!elt, je met)r er fäf)ig roirb, aus 3at)Ireid)en oer^
fd)iebenen (ginjel^eiten bie gemeinfamen 5Öler!maIe 3u[ammen=
3ufa[fen unb. unter allgemeine ^Begriffe ju bringen, befto flarer
unb tiefer toirb bamit [ein Seroufetfein.
< u
■
(ftfte« ^apitcL
iln^UxUx^Uxt bet Seele*
9D^onift{fc()e 6tubtcn über ^^anati^mu^ unb ^ti)anxßmviß,
^o^mifc|)e unb perf5nli4)c llnfterblic^feit, 6ee(en=6ubftanä.
Selbem roir uns von ber genetifd)en Setracf)tung ber Seele ju
ber großen ^i^age il)rer „ltnfterblid)!eit" roenben, betreten mir jenes
l)öd)fte ©ebiet bes Aberglaubens, tr)el(f)es getoiffermafeen bie un=
3erjtörbare 3i^ö^cne aller mt)jtif(i)en unb bualiftif d()en 93orjtellungs=
freife bilbet. Denn bei bie|er 5^arbinalfrage fnüpft \\d) an bie rein
pt)ilo[opl)i[^en 9Sorjtellungen mel)r als bei jebem anberen Problem
bas egoijti[d)e Sntereffe ber men[(i)licf)en ^erfon, toelcfie um jeben
^reis il)re iniboibuelle gortbauer über ben Xoh l)inaus garantiert
^aben mill. - Diefes ,,l)öt)erc ©emütsbebürfnis" ijt [o mä(f)tig, ha^
es alle logi[(f)en Sd)lü[[e ber fritifc^en 93ernunft über ben Raufen
toirft. ©etoufet ober unbetou^t toerben bei ben meijten SJienftfien
alle übrigen allgemeinen 5tn[i(i)ten, al[o aud) bie gange SBelt*
anfd)auung, Don bem Dogma ber per[önlid)en Unjterblid)!eit be=
einflufet, unb an biefen tl)eoreti[cl)en 3i^i^tum fnüpfen [ic^ praftifc^e
Folgerungen oon roeitejtreid)enber 2Bir!ung. (Bs u)irb bal)er unfere
Aufgabe [ein, alle Seiten bic[es toic^tigen Dogma5jfriti[(^ ju prüfen
unb [eine Unl)altbarfeit gegenüber ttn empiri[ctfen (£r!enntni[[cn
er mobernen Biologie na^3uu)ei[en.
Äacdet, ^eWrätfet. 8
114 (Elftes Raviitl
5lt^attisittus uttb I^anatismus. Um einen furzen unb be«
quemen ^tusbnid für bie beiben entgegcnge[e^ten ©ninban«
[diauungen über bie Unjterbli(i)feitsfrage ju l)aben, be3eid)nen
roir ben ©lauben an bie „pcr[önlid)e Hnjterblid)!eit bes 9??en[4en"
als 5ltf)antsmus. I)agegen nennen tüir 3:i)anati6mu6 bie
Hber^eugung, bafe mit bem Xobe bes 9Jten[d)en nid)t nur alle übrigen
pt)i)[ioIogi[(^en ßebenstätigfeiten erlöfc^en, [onbem auc^ bi(
„Seele" oerfc^toinbet, b. t). jene Summe von ©e^imfunftionen,
tDeId)e ber p[r)^i[d)e Dualismus als ein eigenes „2Be[en", un=
abl)ängig von ttn übrigen £ebensäufeerungen bes lebenbigen
.Körpers, betrad)tet.
3nbem toir l)ier bas pl)i)fiologii'c^e Problem bes Xobes be=
rül)ren, betonen tüir norf)mals tttn tnbiüibuell.en (Sljarafter
biefer organi[d)en 9laturer[d^ einung. 2Bir t)erjtel)en unter Zoh aus=
[(^liefelid) bas befinitioe 5luft)ören ber £ebenstätigfeit bes organi[cl)en
^nbiüibuums, glei(i)Diel ii)el(f)er Kategorie ober toel^er Stufen^
folge ber ^^'^ioibualität bas betreffenbe (Einselroefen angeprt.
Der 9[Renf(^ ijt tot, roenn feine ^er[on ftirbt, gleid^oiel, ob er gar
feine 9lad)!ommenf(i)aft ^interlajfen l)at, ober ob er Rinber er*
jeugt I)at, beren 9la(i)!ommen fid) burd) oiele ©enerationen
frucl)tbar fortpflansen. 'Offlan fagt ja in getoiffem Sinne, hal^
ber „©eijt" großer äJiänner (3. ^. in einer Dr)najtie I)eroorragenber
§err[(i)er, in einer OrötTiilie talentooller ilünjtlcr) burd) ®enera=
tionen fortlebt; unb eben[o fagt man, ta^ bie „Seele" ausgeseid)^
neter grauen oft in tttn 5^inbern unb ilinbesünbern [id) forterl)ält.
hinein in biefen (fällen l)anbelt es fid) ftets um oerxoidelte SBor*
gänge ber 23 er erbung, bei toeld)en eine abgelöjte mifro[!o=
pif5)e 36ne (bie Spermajelle bes 23aters, bie (£i3elle ber Salutier)
getoiffe (£igen[d)aften ber Subjtans auf bie 91ad)fommen über«
trägt. Die ein3elnen ^erfonen, toeld)c jene ©e[(^te^ts3ellen
3U 3^au[enben probu3ieren, bleiben tro^bem jterblid), unb mit
il)rem 3^obe erlif^t if)re inbioibuelle Seelentätigfeit ebenfo roie
jebe anbere pl)t)[iologi[c^e gunftion.
Jlostntfd^e unb :perföttlt(^e Unjterblt^fett. SBenn man ben
begriff ber Unjterblid^jeit gan3 allgemein auffaßt unb auf bie
®e[amtl)eit ber ertennbaren 9latur ausbe!)nt, fo getoinnt er
Boi[[en[d)aftlid)e Sebeutung; er er[d)eint bann ber moni|ti[d)en
^l)ilo[opl)ie nid)t nur annehmbar, [onbem felbjtoerjtänblid). Denn
bie Xl)e[e oon ber Knserftörbarfeit unb etoigen Dauer alles Seienben
fällt bann 3ufammen mit unferem l)öd)jten 5Raturge[e^e, bem
Subftansgefe^ (12. 5lapttel). 2Bir werben biefe !osmifd)e Un»
jterblid)!eit [päter, bei ©egrünbung ber £el)re oon ber (£rl)altung
ber 5^raft unb bes Stoffes, ausfül)rlid) erörtern; je^t toenben roir
HnjtcrbUrfjtctt ber Seele. 115
■
uns [ogletd) jur Rriti! jenes „Unjterblt^feitsglaubens", ber ge=
tüöl)nlid) allein unter biefent Segriffe üerjtanben toirb, ber 3^=
mortalität ber'perfönlid^en Seele. isIBir unter[ud)en 3unäd)jt
bie 23erbreitung unb (£ntjtel)ung biefer mi)|ti[d)en unb bualijti[d)en
33orfteIIung unb betonen babei befonbers bie roeite 33erbreitung
itires ©egentetls, bes moni[ti[d)en, empirifd) begrünbeten
3:i)anatismu5. 3<^ unter[d)eibe t)ier als jtoei toefentlic^ üer=
[d)iebene (£rf (Meinungen besfelben ben primären unb ben [e!un =
baren Fanatismus; bei erjterem ijt ber SDiangel bes Unjterblid)=
feitsbogmas ein ur[prüngli^er (bei primitioen 5Raturt)öI!ern) ; ber
[efunbäre 3:t)anati5mus bagegen ift bas fpäte (Srseugnis »emunft*
gemäßer Sflaturerfenntnis bei f)0(f) enttoidelten Kulturcölfem.
primärer S^anclismus (HrfptüttöH^er SRangel ber Un«
jterblit^feitstbec). 3" fielen pI)iIofop^i[d)en unb befonbers
tt)eoIogi[^en S(i)riften lefen tüir nod) l)eute bie ©el)auptung, ha^
ber ©laube an bie per[önli(i)e Unjterblid^feit ber menfd)lid)en Seele
allen S[Ren[d)en urfprünglirf) gemeinfam [ei. Das ift falfd). Diefes
I)ogma ijt loeber eine urfprünglid)e 93orjtenung ber menfd)Ii<i)en
35ernunft, nod) I)at es jemals allgemeine ^Verbreitung gel)abt.
3n biefer 5Be3iet)ung ift cor allem tüid)tig bie [id)ere, erft neuerbings
burd) bie o ergleid) enbe (£tl)noIogie feftgeftellte 3:at[ad)e, tio^ mel)rere
iTlaturoöÜer ber ältejten unb primitiojten Stufe ebenforoenig t»on
einer Unjterblid)!eit als oon einem ©otte irgenb eine SSorjtellung
I)aben. Das gilt namentlid^ oon ben 2Bebbas auf (£er)Ion, jenen
primitioen ^i)gmäen, bie toir auf (Srunb ber ausge5eid)neten 3^or*
fd)ungen ber Ferren Sara [in für einen Hberrejt ber ältejten
inbi[d)en „Hrmen[d)en" l)alten; ferner üon mel)reren ältejten
Stämmen ber näd)jtDertDanbten Draoibas, oon htn inbifd^en
Seelongs unb einigen Stämmen ber ^uftralneger. (£ben[o !ennen
mel)rere ber primitiojten Uroöüer ber ameri!ani[d)en 9?a[[e, im
inneren ®ra[ilien, am oberen ^magonenjtrom ujro., toeber ©ötter
noc^ Unjterblid)!eit.
Se!unbörer S^anotismus (©rtöorbener JDlangel ber Hn«
fterbltt^ieitstbee). ^m ©egenja^e ju bem primären Xl)anatismus,
ber [id)er bei "ötn ältejten llrmen[d)en ur[prünglid) bejtanb unb nod)
l)eute bejtef)t, ijt ber [efunbäre SJiangel bes Unjterblid^feitsglaubens
erjt [pät entjtanben; er ijt erjt bie reife grud)t eingef)enben 9lad)=
benfens über „£eben unb Xob", alfo ein ^robutt ed)ter unb un=
abpngiger pt)iIo[opI)i[d)er 9?efIeiion. ^Is [old)er tritt er uns [d)on
im [ed)jten 3aif)Tl)iin'56i^t v. (£$r. bei einem 3:eile ber ioni[d)en
9'Iaturpt)ilo[opf)cn entgegen, [päter bei htn (Srünbern ber alten
materialijti[d)en '>^I)ilo[opl)ie, bei Demotritos unb (Srfipebotles,
erauc^beiSimonibesunb(£pi!ur,beiSenecaunb^linius,
116 (giftes ilapitel.
om melften burd^gebtlbct bei fiucrcttus daxus. ^Is bann narfi
bem Untergange bcs !la[fi[d)en Altertums bas (£l)rijtentum [id)
ausbreitete, geioann mit ii)m bcr 1Ätl)ani5ntU5, als einer feiner
u)icf)tigjten ©taubensartifel, bie I)öd)fte Sebeutung.
SBö^renb ber langen ©eiftesnad^t bes d)riftlict)en SJtittelalters
roagte begreif lief) ertoeife nur feiten ein fül)ner 5teiben!er, feine ab=
u)eicE)enbe Hberseugung ju äußern; bie Seifpiele von (Salilei,
Don ©iorbano 93runo unb anberen unabl)ängigen ^l)ilofopl)en,
iDel(f)e von ben „9'^a(i)folgern (£l)rijti" ber Xortur unb bem Sd)eiter=
baufen überliefert ujurben, fd)redten genügenb jebes freie Setenntnis
ab. Diefes rourbe erjt toieber möglid), nac^bem bie ^Deformation
unb bie 9lenaiffance bie Mmad)t bes ^apismus gebro^en l)atten.
X)ie (5efc^i(f)te ber neueren ^^ilofop^ie jeigt bie mannigfaltigen
2Bege, auf htntn bie gereifte menf(t)lid^e 93emunft bem 5lberglauben
ber Unjterblid)feit 3U entrinnen Derfud)te. 3mmerf)in oerliel) \\)m
bie enge 93erfnüpfung mit bem d)riftlicl)en I)Dgma aucl) in t>tn
freieren proteftant<f(l)en Greifen fold^e ^aä)t, bafe felbft bie melften
überzeugten 3rrciben!er il)re 9[Reinung ftill für fi(^ bel)ielten. 9lur
feiten toagten einzelne l)ert)orragenbe Scanner, il)re Überzeugung
oon ber Unmöglid)!eit ber Seelenfortbauer nad) bem 2obe frei
3U befennen. SBcfonbers gefi^al) bies in ber ztceiten Hälfte bcs
ad)t3el)nten ^^^^^unberts in ^xanfxtid) oon S3oltaire, Danton,
9Jlirabeau u. a., ferner oon htn ^auptoertretern bes bamaligen
93laterialismu5, Solbad), ßamettrie u. a. Diefelbe ilber=
jeugung oertrat aud) ber geiftreid)e i^i^eunb ber le^teren, ber größte
ber ^ol)en3ollemfürften, ber „^l)ilofopl) oon Sansfouci". 2Bas
mürbe Sri^ißiJictd) bcr ©rofec, biefer gefröntc 3:i)anatift unb
^tl)eift, fagen, roenn er f)cute feine moniftifc^en ttberäcugungcn
mit 'om mittelalterlid) = bualiftif(^en Runbgebungcn feiner lRad)=
folger Dergleid)en tonnte!
Unter ben ben!enbcn Kirsten ift bie Überzeugung, 'öa^
mit bem 3:obe bes 9Jlenf d)en aud) bie (Eiijtenz feiner Seele auft)öre,
mo\)l feit 5öl)ri)ii^ö^i^ten fel)r oerbreitet getoefen; aber auc^ fie
l)üteten fid) meijtens woi){, biefelbe aus3ufpred)en. 5lud) blieb
immerl)in nod) im 18. 3ttl)^l)unbert bie empirifd)e i^enntnis bes
(5el)irns fo unoollfommen, bafe bie „8eele" als ein rätfell)after
SBeu)ol)ner besfelben il)re freie (^lijtenz fortfrijten tonnte. (£nb=
gültig befeitigt rourbe fie erft burd) bie 5ortfd)ritte ber Biologie
in ber zcoeiten .^älfte bes 19. 3af)t^unberts. Die SBegrünbung ber
Def3enben3tt)eorie unb ber 3cnenfl)eorie, bie überrafc^cnben C£nt=
bedungen ber Ontogenie unb ber (£iperimentalpl)i)fiologie, »or
allem aber bie berounbemstoürbigen gortfd)ritte bcr müroffopifc^en
©cf>lrnanatomie entzogen bem ^tl)ani5mu5 allmäl)li^ jcbcn
ltnytcrbUd)!ctt bcr Seele. 117
©oben, fo ba^ je^t nur feiten ein [ad)!unbtger unb et)rU(i)er ^Biologe
nod) für bte Unjterbli(i)!eit ber Seele eintritt. I)ie monijti[d)en
WMopt)en bes 19. 3a^i^l)unbert5 (Strauß, Sreuerbac^,
©üd)ner, 5Rau, Spencer u[ro.) finb fämllid) 3:i)anati[ten.
^t^antsmus unb IReligion. Die roeitejte 33erbreitung unb
bie l)öc^jte ^Bebeutung \)ai bas Dogma ber per[önli(t)en Hnfterb=
lid)!eit erjt burd) [eine innige 23erbinbung mit ben (5Iaubenslet)ren
bes (£I)riftentum5 gefunben; unb bie|e ^at aud) 3U ber irrtüm=
Iid)en, ()eute nod) fe^r oerbreiteten 9ln[i(f)t gefüt)rt, ha^ jenes
Dogma überhaupt einen u)e[entlid)en (Srunbbejtanbteil jeber ge=
läuterten 9?eIigion Mibe. Das ijt burc^aus nirfjt ber %al\ ! Der
©laube an bie Unfterblid)feit ber Seele fel)lt oolljtänbig hm
meiften I)öl)er entroicfelten orientalifc^en Üteligionen; er fe^lt bem
©ubbl)i5mu5, ber nod) l)eute über 30 ^ro3ent ber gesamten
men[d)Iicl^en SeDöIferung ber (£rbe bel^errfc^t; er fetjlt eben[o ber
alten 33oIf5religion ber (i^f)ine[en toie ber reformierten, [päter an
beren Stelle getretenen 9teIigion bes (Sonfucius; unb, toas bas
2ßict)tigjte ijt, er fel)lt ber älteren unb reineren jübifc^en 9?eIigion;
loeber in titn fünf SBüd)ern StRofes' nod) in jenen älteren S(^riften
bes eilten 3:ejtamente5, ix)eld)e üor bem babi)loni[d)en (£iil ge=
[d)rieben tourben, ijt bie fiel)re t)on ber inbioibuellen Orortbauer
nad) bem 3^obe 3U finben.
©ntjtel^ttnö bes Hnfterbli<^feit50louben$. Die mpjti[d)e S3or=
ftellung, ha^ bie Seele bes 9Jien[d)en nad) [einem Xoht fortbauere
unb unjterblid) roeiterlebe, fel)lte bem ältesten, [d)on mit Sprad)e
begabten Urmen[d)en getoife eben[o toie [einen SSorfaI)ren unb
roie [einen mobernen, roenig enttoidelten 9lad)!ommen, hen
2Bebbas oon (£et)lon, htn Seelongs oon 3"i>ictt u^tb anberen primi=
tioeu 9laturt)öl!em. (Sr[t bei 3unel)menber 33ernunft, bei ein*
ge^enberem 9lad)benfen über £eben unb 3^ob, über Sd)laf unb
Xraum, entroidelten [id) bei t)er[d)iebenen älteren 9Jlen[(l^enra[[en
— unabl)ängig Doneinanber — mr)jti[d)e 33or[tellungen über bie bua^»
li[ti[d)e 3u[ammen[e^ung un[ere5 Organismus. Sel)r t)er[d)iebene
SJlotioe roerben bei bie[em S3organge 3u[ammengetoirft l)aben:
^l)nenfultus, 93ertDanbtenliebe, £ebenslu[t unb 2Bun[d) ber fiebens*
oerlängerung, Hoffnung auf be[[ere £ebensDer^ältni[[e im 3cTt[eit5,
Hoffnung auf $Belol)nung ber guten unb ©eftrafung ber [^led)ten
iaten u[id. Die oergleid^enbe ^l)t)[iologie l)at uns neuerbings
eine grofee ^n3al)l oon [et)r Der[d)iebenen berartigen ©laubens«
bid)tungen fennen gelel)rt; großenteils Rängen [ie eng 3u[ammen
mit 'bm ältejten formen bes ©ottesglaubens unb ber 9?eligion
überhaupt. 3n ben meijten mobernen 9?eligioncn tjt bcr ^tl)a =
nismus eng oerfnüpft mit bem 3:^ei5mus. Die 33or[tellung,
118 (Elftes Kapitel.
tDel(f)e |t(i) bte meisten ©laubigen von i\)xtx „perfönlid)en uw
fterblict)en 6eele" bilben, tjt ebenfo materialifti[(^, toie bas inbioibu»
eile 33ilb von il)rem „perfönlic^en lieben ©ott".
6;^rtftlt^er Unjterbltd^feitsglowbe. 2Bte allgemein befannt,
l)at bas Dogma Don ber llnjterbli(i)!eit ber Seele in ber d^rijtlict)en
9?eligion fcf)an lange biejenige fejte gorm angenommen, mtld)t
[id) in bem ©laubensartüel au5[pricf)t: „^d) glaube an bie ^uf=
erjtel)ung bes gleifc^es unb ein eroiges ßeben." 3Bie am Djterfejt
(£^riftus [elbft oon t>tn Xoitn auferjtanben ift unb nun in (Smigfeit
als „(Sottes Sol)n, fi^enb 3ur re(i)ten ^anti ©ottes", geba(i)t toirb,
oerfinnli^en uns un3äl)lige Silber 'unb JÖegenben. ^n gleicher
2Beife toirb aud) ber SKenfd) „am }üngjten Xage auferftel)en" unb
[einen ßol)n für bie 3rüt)rung feines einstigen (Erbenlebens emp=
fangen. Diefer gange d)riftlid)e 3Sorjtellungsfreis ijt bur^ unb
burd) materialiftifd) unb ant^ropijtifc^ ; er erl)ebt [id) nic^t oiel
über bie ent[pred)enben rol)en 23orftellungen oieler nieberer ^atur=
Dölfer. Dafe bie „^uferjte^ung bes ^I^iff^ßs" unmöglid) ift, toeife
eigentlid) jeber, ber einige Kenntniffe in Anatomie unb ^l)i)[iologie
befi^t. Die materielle ?tuferftel)ung (S;i)rijti, roel^e oon SJlillionen
gläubiger (Il)riften an jebem Dfterfejte gefeiert toirb, ijt ebenfo ein
reiner 9Jlr)tl)us toie bie „^ufertoedung oon titn Xoten", toelc^e er
mel)rfad^ ousgefül)rt ^aben [oll. ^ür bie reine 33emunft [inb bie[e
mi)[ti[^en ©laubensartifel eben[o unannel)mbar roie bie bamit
oerfnüpfte §r)potl)e[e eines „etüigen £ebens".
3Retap^t)fif(^er Mnftctbltc^fettsgloube. Gegenüber bem
materiali[ti[c^en ^tl)anismus, tDeld)er in ber (^ri[tlid)en unb mol)am=
mebani[d)en Rird)e l)err[(^enb i[t, oertritt [d^einbar eine reinere
unb l)öl)ere ©laubensform ber metapl)i)[i[d)e ^tl)ani5mus,
roie i^n bie mei[ten buali[ti[d)en unb [pirituali[tif^en ^l)ilo[opI)en
lel)ren. ^tls ber bebeutenb[te $Begrünber bes[elben i[t ^lato 3U
betrachten; er lel)rte \d)on im oierten 5öl)rTf)wnbert oor (i\)x. jenen
oolltommenen Dualismus groifc^en fieib unb Seele, roeld^er bann
in ber d)ri[tlid)en ©laubenslel)re ju einem ber tI)eoreti[d) toid)tigjten
unb pra!ti[d) roir!ungsooll[ten ^rtifel tourbe. Der fieib i[t [terblic^,
materiell (pl)i)[i[c^); bie Seele i[t un[terblid), immateriell (meta=
pl)r)[i[d)). 33eibe [inb nur roäI)renb bes inbioibuellen fiebens Dor=
übergel)enb üerbunben. Da ^lato ein eroiges Qtbtn ber [elb*
[tänbigen Seele [otDol)l cor als nad) bie[er geitro eiligen 93erbinbung
annimmt, ijt er aud) ^nl)änger ber „Seelentoanberung"; bie
Seelen eiijtierten als [old)e, als „eroige Sbeen", [d)on beoor [ie in
ben men[d)lid)en 5^örper eintraten. 5Rad)bem [ie ben[elben oer=
la[[en, [ud)en [ie [id) als 3Bol)nort einen anberen Äörper aus, ber
i^rer $Be[d)affent)eit am meijten angeme[[en ijt; bie Seelen oon
Unytcrblid)!e{t bcr Seele. 119
graufamen !Ir)rannen fd)lüpfen in ben Äörper oon Sßölfen unb
©eiern, biejcnigen t)on tugenbl)aften 5Irbeitern in htn fieib von
©ienen unb ^mei[en ufu). I)ie ünblic^en unb naioen 5tn[(i)auungen
biefer platonifcben (5eelenlel)re liegen ouf ber $anb; hti toeiterem
(Einbringen er[(i)einen [ie oöllig unvereinbar mit unferen feft=
gegrünbeten pI)i)[ioIogif(^en (£r!enntni[[en. 2Bir erroä!)nen [ie
I)ier nur, toeil fie tro^ il)rer ^bfurbität hm größten !uItur^ijtori[<^en
CBinflu^ erlangten. Xtnn einerfeits fnüpfte an bie platonifcfie
(5eelenlef)re bieSOIpfti! ber 9^eupIatoni!er an, üoeltfie in bas 6^{)riften=
tum (Eingang getoann; anbererfeits tourbe [ie [päter 3U einem
^auptpfeiler ber [pirituali[ti[c^en unb ibeali[ti[d)en ^]^iIo[opt)ie.
iie pIatoni[^e ,,5i5^^" »erroanbelte \\d) [päter in ben Segriff ber
6eelen[ub[tan3, bie allerbings eben[o unfaßbar unb meta=
pl)r)[i[^ i[t, aber bod) oft einen pt)r)[i!ali[d)en ^n[d)ein getoann.
Seelenfubjtans. X)ie ^uffa[[ung ber Seele als „Sub[tan3"
i[t bei Dielen ^[r)(i)oIogen [et)r unflar; balb toirb bie[elbe in abjtraftem
unb ibeali[ti[c^em Sinne als ein „immaterielles 2ße[en" von gang
eigentümli(f)er ^rt betrautet, balb in fonfretem unb realiiti[(^em
Sinne, balb als ein unklares äRittelbing 3U)i[d)en beiben. galten
töir an bem moni[ti[cl)en Subjtansbegriffe fejt, toie toir il)n (im
12. 5^apitel) als einfa(i)jte (Srunblage un[erer ge[amten 2Belt=
an[cl)auung enttoideln, [0 i[t in bem[elben (Energie unb 9}?aterie
untrennbar cerbunben. Dann mü[[en toir an ber „Scelen[ubjtan3"
bie eigentlid^e, uns allein be!annte p[r)^i[(i)e (Energie unter=
[Reiben ((Empfinben, 33or[tellen, SBollen) unb bie pft)d)i[d)e
9[Raterie, burd) toel^e allein bie[elbe 3ur 2Bir!ung gelangen
fann, al[o bas lebenbige ^lasma. 23ei htn l)ö^eren 2^ieren bilbet
bann ber „Scelenftoff" einen !teil bes 9lert)en[r)[tems, bei "Otn
nieberen, nerr>enlo[en Vieren unb htn ^flan3en einen 3:eil il)res
t)iel3elligen ^lasmaförpers, bei ben ein3elligen ^rotijten einen
3:eil il)res plasmati[d)en 3enen!örpers. Somit fommen toir
mieber auf bie Seelenorgane unb gelangen 3U ber naturgemäßen
(Erfenntnis, ha^ bie[e materiellen Drgane für bie Seelentätigfeit
unentbebrli^ [inb; bie Seele [elbft aber i[t a!tuell, ift hit Summe
ibrer pl)i)[iologi[(^en (5^un!tionen.
Zubers ge[taltet [id^ ber .Segriff ber fpe3ifi[cl)en Seelen[ub[tan3
bei Dielen buali[ti[d)en ^po[opben unb 3:i)eologen. Die un=
jterblic^e „Seele" [oll bann 3ijoar materiell [ein, aber bod^ un[id)tbar
unb gan3 t)er[d)ieben oon bem [i(i)tbaren Körper, in toeld^em [ie
roobnt. Die Un[id^tbar!eit ber Seele toirb babei als ein [e:^r
toe[entli(^es Attribut ber[elben betra(l)tet. (Einige oergleid)en babei
bie Seele mit bem 5ltl)er unb betrachten [ie gleich bi^fem als einen
äufeerjt feinen unb leii^ten, \)öä)\t beioeglid)en Stoff ober ein
120 Giftes 5^apitel.
imponberabics ^gcns, tt»cld)cs überall 3tDt[d)en beh toägbaren
Xeilrf)en bes lebenbtgen Organismus [d)toebt. Rubere l)mgegen
Dergletd)en bte Seele mit bem roe^enben 2Binbe unb [(f)reiben il)r
aI[o einen gasförmigen 3ujtanb 3u; unb biefer 93ergleid) ijt ja aurf)
berjenige, tDeId)er juerjt bei ben 9laturüöl!ern ju ber [päter fo
allgemein geworbenen bualijtifd)en ^uffaffung füt)rte. SBenn ber
93len[d) ftarb, blieb ber Rörper als fieid)e 3urücf; bie unjterblid)e
Seele aber „cntflol) aus il)m mit bem legten ^temjugc".
^t^erfeete. Die 3Sergleicf)ung ber men[d)lic^en Seele mit bem
pt)i)[i!ali[ci)en 5][tl)er als qualitatio äl)nli(^em ®ebilbe I)at in neuerer
3eit eine fonfretere ©ejtalt gewonnen burd) bie großartigen (^rort*
[cl)ritte ber £)pti! unb ber (Sleftrijität (befonbers in ben legten
Desennien). Diefe l)aben uns mit ber (Energie bes ^tl)ers befannt
gemacl)t unb bamit sugleid) getoifle Sd)lü[fe auf bie materielle
9latur biefes raumerfüllenben 2Befens gejtattei Da id) biefe
tDicl)tigen 2Serl^ältni[fc [päter (im 12. 5lapitel) be[pre(l)en toerbc,
will id) nur !ur3 barauf i)intDeifen, bafe baburd) bie ^nnal)me einer
3ltl)erfeele Dollfommen unhaltbar geroorben ift. (Eine fol(^e
„ät]^erifd)e Seele", b. t). eine Seelenfubftanj, u)eld)e bem
pl)i)[i!aliid)en ^tl)er äl)nlid) ift unb gleid) il)m 3roi[d)en h^n wägbaren
!teild)en bes lebenbigen Plasma ober ben (5el)irnmole!eln fd)webt,
!ann unmöglid) inbioibuclles Seelenleben l)ert)orbringen. 2Beber
bie mr)jti[d)en ^n[d)auungen, weld)e barüber um bie 9Jiitte unferes
3at)rl)ünberts lebl)aft bisfutiert würben, no^ bie jßerfud)e bes
moberncn 9ZeoDitalismus, bie mt)jtifd)e „fiebensfraft" mit bem
pt)r)[i!alifc^en ^tt)er in 5Be3iet)ung ju [e^en, [inb l)eute mel)r ber
2Biberlegung bebürftig.
ßuftfeele. 93iel allgemeiner oerbreitct unb auc^ l)eute nod)
in l)ot)em ^n[el)en jtel)t jene ^n[d)auung, weld)e ber Seelenfubftanj
eine gasförmige ©e[d)affen^eit 3u[d)reibt. Uralt ijt bie 33er=
gleid)ung bes men[(^lid)en ^temsuges mit bem wel)enben 2Binb=
^au^e; beibc würben urfprünglid) für ibentifd) get)alten unb mit
bemfelben Flamen belegt, ^nemos unb ^[r)d)e ber ©riechen,
^nima unb Spiritus ber 5Römer [inb urfprünglid) Se3eid)nungen
für ben £uftl)aud) bes 2Binbes; [ie würben oon biefem auf 'ötn
^tem^aud) bes 9D'len[d)en übertragen. Später würbe bann bie[er
„lebenbige £)bem" mit ber „fiebenstraft" ibentifisiert unb gule^t
als bas 2Be[en ber Seele [elbjt ange[el)en ober in engerem Sinne
als beren l)öd)jte 5lußerung, ber „©eijt". Daoon leitete bann
weiterl)in wieber bie ^t)anta[ie bie mi)[ti[d)e 33or[tellung ber in»
biüibuellen (Seijter ab, ber „(5e[pen[ter" („Spirits"); aud) bie[e
werben ja l)eute noc^ meijtens als „luftfötmige 9Be[en" — aber
begabt mit ben p^t)[iologi[d)en gunttionem bes Organismus l —
I
Unjierba^feit bcr Seele. 121
üorgejtellt; in Tnand)en berüf)Tntert Spmttjten!ret[en tocrben bie*
felben freilief) tro^bem pf)otograpI)iert !
Sflüfftfi^ Uttb fefte Seele. I)er (£iperimentalpf)i)fi! ijt es in ben
legten Dezennien bes 19. 5af)rl)unbert5 gelungen, alle gasförmigen
5^örper in t>tn tropf bar^flüf [igen — unb t>k mcijten aud) in titn
fejten — ^ggregatjujtanb überjufü^ren. (£5 bebarf baju tneiter
nicbts als geeigneter Apparate, tDel(f)e unter fel)r l)ol)em i)rud unb
bei fef)r niebriger Temperatur bie ©afe [ef)r jtar! tomprimieren.
yii&)i allein bie luftförmigen (Elemente, Sauerftoff, 2Ba[[erjtoff,
«Sticfjtoff, [onbern aucl) jufammengefe^te (5afe (5^ol)len[äure) unb
©asgemenge (atmo[p]^äri[d)e £uft) [inb [0 aus beut luftförmigen
in ben flü[[igen 3ujtanb üerfe^t roorben. I)abur(l) finb aber jene
un[id)tbaren i^örper für jebermann [icf)tbar unb in getüiffem
Sinne „l)anbgreiflic^" getoorben. 9Jiit biefer $lnberung ber
Dic^tigfeit ift ber mr)jti[(i)e 9limbus per[cl)ix)unben, toel^er frül)er
bas 2ße[en ber (Safe in ber gemeinen ^n[rf)auung Der[d)leierte, als
unficf)tbare 5^örper, bie boc^ [i(^tbare 2Birfungen ausüben. 2Benn
nun bie Seelenfubjtans toirflid), toie oielc „(5ebilbete" noc^ f)eute
glauben, gasförmig ujäre, fo müfete man aud) imjtanbe [ein, [ie
burd) ^nioenbung von ^ol)em Xmd unb [el)r nieberer 3:emperatur
in ben flüf[igen 3#aTtb über3ufül)ren. SRann !önnte i)ann bie
Seele, rDeld)e im SUomente bes Xobes „ausgel^auc^t" toirb, auf=
fangen, unter [el)r l)ol)em !Drucf bei nieberer 3^cmperatur !onben=
[ieren unb in einer (5lasfla[d)e als „unjterblid^e 5lü[[ig!cit"
aufbetDal)ren (Fluidum animae immortale). Durd^ toeitere %h'
fü^lung unb i^onbenfation müfete es bann aud^ gelingen, bie flüffige
Seele in hm fejten 3ujtanb über3ufül)ren („Seelen[d)nee"). Sis
je^t ijt bas (Experiment nod) nid^t gelungen.
Unjterblid^feit bet Xierfeele. 2Benn ber ^tl)anismus toa^r
tt)äre, tocnn loirflid) bie „Seele" bes 3)'lenf(l)en in alle (£u3ig!eit
fortlebte, [0 müfete man gan3 basf elbc aud^ für bie Seele ber l)öl)eren
3:iere bel)aupten, minbejtens für biejenige ber il)m am näd)jten jtel)en=
ben Säugetiere (^ffen, §unbe ufu).). Denn ber9J?en[d) 3ei(f)net [id)
Dor biefen legieren nid^t burd) eine befonbere neue 5lrt ober eine
eigentümlid)e, nur il)m gufommenbe ^^unftion ber ^[i)c^e aus,
[onbern lebiglid) bur(^ einen l)öt)eren (5 r ab ber p[t)d^i[d)cn 3^ätig!eit,
burd) eine oolltommenere Stufe i^rer (Snttoidelung. SBefonbers
ijt bei Dielen 9Jienjd)en bas ©eroufetfein l)öl)er cntroidelt als hti
ben meijten Vieren, bie ^rä^ig^^it ber 3^eena[[o3iation, bes Deutens
unb ber 93emunft. ^Ttbejjen ijt biejer Unterfd)ieb bei toeitem nic^t
fo grofe, als man geu)öl)nlid) annimmt; unb er ijt in jeber Se3iel)ung
öiel geringer als ber entjpred^enbe Unterjd)ieb stoijc^en'ben ^öf)eren
nb nieberen Xierjeelen ober [elbjt als ber Hnterf^ieb 3U)i[(^en htn
122 elftes Äapitcl.
l)öd)jten unb ttefftcn Stufen ber 9[Ren[(f)en[eeIe. 2Benn man al\o
bcr leiteten „pcrfönltd)c XlnjterbUd^feit" 3ufcf)retbt, [o mufe man
[ie aud) htn f)ö^eren Vieren 3U9ejte!)en. I)te[e Hberseugung von
ber inbtotbuellen Unjterbltd)!ett ber Stiere ijt benn oud) ganj
naturgemäß bei üielen 23öl!ern alter unb neuer S^xi gu finbeu.
©etoeife für hm tHti^onismus. X)ie ©rünbe, toeIct)e man [eit
3U)eitau[enb 3(1^^^^ für bie Unjterblic^teit ber Seele anfül)rt, unb
roeld^e au^ t)eute noc^ bafür geltenb gemalt toerben, entspringen
3um größten Xeile nid)t bem Streben na^ (Srfenntnis ber äBat)rt)eit,
fonbem t)ielmet)r bem [ogenannten „Sebürfnis bes ©emütes",
b. t). bem ^f)anta[teleben unb ber I)icf)timg. Um mit 5^ant ju
reben, ijt bie Xtnjterbli^feit ber Seele ein unbegrünbetes I)ogma
für bie reine 93ermmft, ein bloßes „^ojtulat für hh prattifd^e
33emunft". X)ie[e le^tere unb bie mit it)r 3ufamment)ängenben
„^ebürfni[[e bes ©emütes, ber moraIi[cf)en (£r3iei)ung u[u)." muffen
toir aber gan3 aus bem Spiele laffen, toenn roir etirlid^ unb un=
befangen 3ur reinen (£r!enntnis ber 2BaI)rt)eit gelangen toollen;
benn biefe ijt einsig unb allein bur^ empirifcf) begrünbete unb
logifrf) flare Sd)lüffe ber reinen 93ernunft möglid^. (£s gilt alfo l)ier
Dom ^tt)ani5mus basfelbe, toie üom Xl^eismus; beibe finb nur
©egenjtänbe ber mpftifd^en Di(f)tung, bes tranfsenbcnten „(5Iau=
bens", ni(^t ber oemünftig fd)Iießenben 9[Biffenfct)aft.
2Bonten toir alle bie einseinen ©rünbe anali)fieren, toelctie für
'otn Xtnfterblid^feitsglauben geltenb gema(i)t toorben finb, fo roürbe
fid^ ergeben, t)a^ nid)t ein einsiger berfelben toirflid) roiffen^
fd)aftli(i) ijt; fein einsiger oerträgt \\d) mit htn Haren C£r!ennt=
niffen, roeldie njir burd) bie pl)T)fioIogifd)e ^fr)ct)oIogie unb bie
(£ntroidelung5tt)eorie in ben legten Desennien getoonnen ^dbtn.
Der tI)eoIogif<i)e Seroeis, baß ein perjönlid)er Sd)öpfer bem
9Jtenfct)en eine unjterbli(f)e Seele eingel)aud)t l)abe, ijt reiner
9[Rr)t^us. Der !osmoIogifd)e ^Betoeis, baß bie „fittlid)e 2ßelt=
orbnung" bie etoige gortbauer ber menfd)Ii(^en Seele erforbere,
ijt unbegrünbetes Dogma. Der teIeoIogifd)e iBetoeis, baß bie
„]^öt)ere Sejtimmung" bes SDknf^en eine oolle ^usbilbung feiner
mangelt)aften irbifd)en Seele im Senfeits erforbere, berul)t auf
einem falf(i)en ^ntl)ropismus. Der moralifd)e 23eröeis, ha^ bie
9Kängel unb bie unb ef riebigten 2Bünf(i)e bes irbif(f)en Dafeins burd^
eine „ausgleid)enbe ©ered)tig!eit" im ^enfeits befriebigt toerben
muffen, ijt ein frommer SBunfrf), toeiter nid)t5. Der etl)nologif(^e
^Betoeis, t>a^ ber ©laube an bie UnjterblidE)!eit ebenfo u)ie an (Sott
eine angeborene, allen 9JienfcE)en gemeinfame 2Bal)r^eit fei, ijt
tatfa(f)licf)er S^rtum. Der ontologif(i)e ißetöeis, ha^ bie Seele
als ein „einfact)e5, immaterielles unb unteilbores SBefen" unmöglid)
Unjterbltcf)!ett bcr 8ccle. 123
mit bem 3:obe Der[d)tümben fönne, berul)t auf einer 901x3 falfd)en
-Huffaffung ber pfi)cf)t[d)eTi (£r|rf)emungen; |te ijt ein [piritualijti[d)er
3rrtum. ^Ile biefe unb anbere äl)nlt(f)e „Setoeife für ben ^t^a=
iiismus" [inb l)infälltg getDorben; [ie [tnb burd) bie ix)i[fen[d)aftlid)e
5\riti! je^t befinitio toiberlegt.
©etoeife gegen ben ^It^atttstnus. (gegenüber htn angefül)rten,
|ämtli(^ rm!)altbaren (Srünben für bie Unjterblt(f)!eit ber Seele
iit es bei ber I)ol)en Sebeutung bie[er grage roof)I sroecEntäfeig, bie
ix)ol)Ibegrünbeten, tt)i[[en[d)aftlid)en ©etüeife gegen biefelbe l)ier
fürs 3u[ammen3ufa[[en. Der pf)t)[ioIogi[(^e ©eroeis lef)rt uns,
bafe bie ntenf(f)Iid)e Seele ebenfo roie bie ber ^ö{)eren Xiere fein
lelbftänbiges, immaterielles 2Be[en ijt, [onbern ber i^olleftitibegriff
für eine Summe von 6et)irnfun!tionen; biefe [inb ebenfo toie alle
anberen £ebenstätig!eiten bur^ pl)i)[ifali[(^e unb cl)emif(f)e ^ro3e[[e
bebingt, al[o aud) bem Subjtansgefe^ untertuorfen. Der ^i[tolo =
gi[d)e S3eijoeis grünbet [id) auf t>tn l)öc^jt oertöidelten müroffo^
pi[d)en SBau bes ©el)irns unb lel)rt uns in ttn ©angliensellen bes«
[elben bie toa^ren „CSlementarorgane ber Seele" tennen. Der
experimentelle ^eto eis übers engt uns, Ml^ bie einseinen
Seelentätig!eiten an einselne ©ejirfe bes (5el)irns gebunben unb
o^ne bereu normale $8e[d^affenl)eit unmöglii^ [inb; roerben bie[e
^e3ir!e serftört, [0 erli[d)t bamit au<i) beren 3^un!tion; insbefonbere
gilt bies von t>m „Denforganen", btn einsigen jentralen 2Ber!=
Seugen bes „(Öeijteslebens". Der patl)ologi[(i)e Seroeis ergänjt
ben pl)r)[iologi[c^en; toenn be[timmte ©e^irnbejirfe (Spra(^=
sentrum, Sel)[pl)äre, §ör[pt)äre) burd) 5lran!l)eit serjtört roerben,
[0 üer[(^iöinbet aud^ beren Arbeit (Spred^en, Sel)en, $ören);
bie yiatnt [elbjt fül)rt l)ier bas ent[c^eibenbe pl)i)[iologi[(^e (Ex=
perimentaus. Der ontogeneti[c^e Sero eis fül)rt uns unmittelbar
bie 3^at[ad)en ber inbioibuellen (gntroidelung ber Seele üor klugen;
uoir [el)en, roie bie 5linbes[eele il)re etnselnen (5äl)ig!eiten nad) unb
nad) enttoidelt; ber Jüngling bilbet [id) sur oollen Slüte, ber Wlann
3ur reifen grud)t aus; im ©reifenalter finbet allmä^li^e 9iüd=
bilbung ber Seele [tatt, ent[pred^enb ber [enilen Degeneration bes
(5el)irn5. Der pl)i)logeneti[d)e ^Betoeis [tü^t [ic^ auf bie ^alä=
ontologie, bie oergleid)enbe Anatomie unb ^l)t)[iologie bes (5el)irns;
in it)rer gegen[eitigen (Srgänsung begrünben bie[e 2Bi[[en[d)aften
bie (5eu)ifel)eii, bafe bas (5el)im bes 9[Ren[d)en (unb al[o aud)
'ütWtn 'i^unüion, bie Seele) [id) [tufentoe'i[e unb allmäl)lid) aus
bemjenigen ber Säugetiere unb roeiterl)tn ber nieberen äßirbeltiere
enttoidelt l)at.
3lt^ant|tif^e SHuftonen. Die Dorl)ergel)enben Unt^u^ungen,
bie bur^ oiele anbere (£rgebni[[e ber mobemcn 2Bi[[en[ci^aft ergänzt
124 (Elftes Äapttcl.
raerbcn fönntcn, f)aben bas alte Dogma oon ber „Unftcrbltc^feit:
bcr Seele" als oöllig unl)altbar na(i)gciDie[en; basfelbe !ann im
20. 3al)rl)unbert nicf)t mel)r ©egenjtanb ernjter u)tf[en[d)aftltc^er
gor[d)ung, fonbern nur nod^ bes tranfsenbenten ©laubens [ein.
Die „Rriti! ber reinen 25ernnnft" töeijt aber nacf), bafe biefer \)od)=
gef(^ä^te ©laube, bei £id)t betrautet, ber reine Aberglaube ijt,
ebenfo roie ber oft bamit oerfnüpfte ©laube an ben „per[öntid)en
©Ott". 9lun I)alten aber noct) t)eute SJiillionen oon „©laubigen"
— nid^t nur aus htn nieberen, ungebilbeten 23oIfsmaf[en, [onbern
aus htn t)öl)eren unb l)öcf)jten 5ßilbungs!rei[en — biefen Aberglauben
für il)r teuerjtes $Be[i^tum, für il)ren „foftbarjten S(i)a^". (£5 toirb
bal)er nötig [ein, in ben bamit oerfnüpften 93orjtenungs!rei5 nod)
ettoas tiefer ein3uget)en unb [einen tDirfIi(i)en 2Bert einer !riti-
[c^en Prüfung ju unter5iet)en. Do ergibt [idE) benn für benn
objeftioen 5lriti!er bie C£in[ii)t, t)a^ jener 2Bert 3um größten 5;eile
auf ©inbilbung berul)t, auf 9^angel an flarem Urteil unb an folge*
richtigem Denfen. Der befinitioe 33er3id)t auf biefe „atl)oni[ti =
[c^en 3IIu[ionen" roürbe nact) meiner fejten unb el)rlid)en Übet*
jeugung für bie 9Jlen[d)l)eit nid)t nur feinen [d)mer3li^en 33erlu[.t,
[onbern einen un[cf)ä^baren po[itioen ©etoinit bebeuten.
Das men[d)lirf)e „©emütsbebürfnis" l^ält ben Unfterblid)-
feitsglauben befonbers aus gtoei ©rünben fejt, erjtens in ber §off=
nung auf ein be[[eres 3u!ünftiges Qthtn im ^enfeits, unb groeitens
in ber Hoffnung auf 3Bieberiel)en ber teuren Sieben unb ä^i^eunbe,
tDelcf)e uns ber Xo'b l)ier entriffen l)at. Die erjte Hoffnung ent[prtd)t
einem natürlichen 23ergeltung5gefül)l, bas groar [ubieftio bere(i[)tigt,
aber objeftio ol)ne \tt>tn Anl)alt i[t. 2Bir erl)eben Anfprüc^e auf
(£nt[cl)äbigung für bie 3al)llo[en 9Jlängel unb traurigen (Erfahrungen
biefes irbi[d)en Da[eins, o^ne irgenb eine reale Ausfid^t ober
©arantie bafür 3U be[i^en. 2Bir »erlangen eine unbegrenzte Dauer
eines etoigen ßebens, in toelc^em roir nur £ujt unb ^^^eube, feine
Unlujt unb feinen Sd)mer3 erfal)ren toollen. Die 23or[tenungen
ber meijten SOlen[(^en über bie[e5 „[elige £eben im S^^f^^ts" [inb
l)öd)jt [eltfam unb um [0 [onberbarer, als barin bie „immaterielle
Seele" [ic^ an l)ö(^[t materiellen ©enü[[en erfreut. Die ^l)anta[ie
jeber gläubigen ^er[on gejtaltet ]iä) bie[e fortbauembe §errlid)feit
ent[precf)enb i^ren per[önlid)en 2Bün[(f)en. Der amerifani[d)e
3nbianer, be[[en Atl)anismus S(^iller in [einer naborDe[[i[(^en
Xotenflage [0 an[(f)aulid^ [d)ilbert; l)offt in [einem ^arabie[e bie
l)errli(f)ften 3a9t)grünbe gu finben, mit unermeßlich oielen ^Büffeln
unb Sären; ber (Ssfimo ertoartet bort [onnenbejtral)lte (Eisflächen
mit einer uner[dE)öpfli(^en gülle oon (Eisbären, 9?obben unb anberen
^olartieren; ber [anfte Sing^alefe gejtaltet fiel) [ein ienfeitigcs
Hnftcrblid)!cit ber Scetc. 125
^atabtcs entfprc^cnb bcm tounbcrbarcn 3"fclpttröi>tc[c Ceplon
mit feinen l)errlid)en ©ärien unb äßälbern; nur [c^t er üoraus^ ha)ß
ieberjeit unbcgrenste SJlcngen von 9lei5 unb (£urrt), von 5^o!o5=
nüffen unb anbcren grü(i)ten bereit jtel)cn; ber mo^ammebanif<f)e
Araber ijt überjeugt, bafe in feinem ^arabiefe blumenreid)e, fc^ottige
©arten fict) au5bel)nen, burrf)raufd)t von !üt)len Ciuellen unb be=
öölfert mit ben fd^önjten SOtäbc^en; ber !atl)oIifd^e ^if^er in (Sizilien
ercoartet bort täglict) einen llberflufe ber föjtlic^jten gifcf)e unb ber
feinjten SJiaffaroni, unb eroigen ^blafe für alle Sünben, bie er aud)
im etoigen £eben nod) täglid) 3U beget)en ^offt; ber euongelifrfie 9lorb=
europaer ^offt auf einen unermeßlichen goti)ifcf)en T)om, in toelc^em
„etoige £obgefänge auf t>m $errn ber ^eerfdiaren" ertönen. Rm^,
jeber ©laubige ercoartet oon feinem eroigen ßeben in 2Bat)rt)eit eine
birefte ^rottfe^ung feines inbioibuellen (£rbenbafeins, nur in einer
bebeutenb „üerme^rten unb oerbefferten Auflage".
Sefonbers mu^ f)ier nod^ bie burcf)aus materiali|tifct)e
©runbanfc^auung bes d)r{ftlid)en 5ltl)anismu5 betont toerbcn,
bie mit bem abfurben !X)ogma oon ber „^uferftet)ung bes gleif(f)es"
eng 3ufamment)ängt. 2Bie uns 3:aufenbe oon jOlgemälben bc=
rül)mter SKeifter t)erfinnlid)en, gel)en bie „auferjtanbenen fieiber"
mit tl)ren „roiebergeborenen Seelen" broben im ^immel gerabe
fo fpasieren, roie t)ier im Jammertal ber (Erbe; fie fd)auen ©ott
mit il)ren ^ugen, fie I)ören feine Stimme mit it)ren Df)ren, fie
fingen ßieber 3U feinen (£t)ttn mit if)rem 5^e!)I!opf uftü. Äur3,
bie mobemen $8erooI)ner bes djriftli^en ^arabiefes finb ebcnfo
Doppeltoefen üon fieib unb Seele, ebenfo mit allen Organen bes
trbifd)en £eibes ausgeftattet, toie unfere 5lltoorbem in Obins Saal
3U 2Balt)alla, toie bie „unjterbli(i)en" 3:ür!en unb Araber in XRo»
l)ammebs lieblid)en ^arabiesgärten, roie bie altgrie^tfcf)en §alb=
götter unb gelben an S^us' 3:afel im Oli)mp, im ©enuffe uon
^tttax unb ^mbrofia.
SP^ag man fid) biefes „etoige Beben" im ^arabiefe aber noc^ fo
t)errlirf) ausmalen, fo muß basfelbe auf bie ^auer unenblic^ lang=
roeilig toerben. Hnb nun gar: „(Stoig!" Ol)ne Hnterbre(i)ung,
ol)ne SBeiterentmitfelung biefe eroige inbioibuelle (giiftenj fort:»
führen! Der tief finnige 90'li)tl)U5 00m „(Steigen 3ui)^Tt", bas
oergeblid)e 9?ul)efud^en bes unfeligen ^asoerus füllte uns über ben
2Bert eines fol(i)en „eroigen fiebens" aufflären! Das bejte, roas
toir uns nad^ einem tücf)tigen, nac^ unferm bejten ©eroiffen gut
angetoonbten fieben u)ünfd)en tonnen, ift ber etoige gnebe bes
'©rabes: „§err, f(i)en!e i^nen bie eroige 9^u^e!"
3eber oernünftige ©ebilbete, ber bie gcologifcl)c 3ctt*
ted)nung tcnnt, unb ber über btc longc9^ci^e ber 3al)rminionen
126 (Elftes 5^apitcl. Unfterbli^feit bcr Seele.
in ber Drgani|d)en (£rbge[d^icf)te nod^gebac^t \)ai, mufe bet un*
befangenem Urteil jugeben, baf^ ber banale ©eban!e bes „etoigen
ßebens" aucf) für ben bejten 5CRenfd)en fein l)errli(^er Xroft, [onbern
eine furtfitbare 1)ro{)ung ijt. 9lur 9D^angel an flarem Urteil unb
folgerid)tigerrt DtnUn tann bies bestreiten.
X)en bejten unb ben am meijten bere(^tigten ©runb für ben
^ttjanismus gibt bie Hoffnung, im „ecoigen £eben" bie teueren
Angehörigen unb ^r^unbe tüieber 3U iet)en, von benen uns ^ier auf
CErben ein graufames 6d)idtfal früt) getrennt l)at. Aber aud) biefes
t)ermeintlict)e (5Iüd ertoeift \\d) bei näl)erer Setra^tung als Sllufion;
unb iebenfalls tüürbe es ftar! burd^ bie Au5[i(^t getrübt, bort aud)
allen htn roeniger angenef)men Sefannten unb ben löibertDärtigen
3reinben 3U begegnen, bie l)ier unfer Dafein getrübt I)aben.
Unlösbare ®(i)tDierig!eiten bereitet aud) ben gläubigen 5ltf)a=
nijten bie (^rage, in toeld^em ©tabium i\)x^x inbioibuellen
(Sntroidelung bie abge[d)iebene Seele il)r „etoiges Beben" fort=
führen foll? Sollen bie ^Neugeborenen erjt im $immel i^re Seele
entüoideln, unter bemfelben l)arten „5lampf ums X)a[ein", ber ben
9Jlenf(f)en l)ier auf ber (£rbe erziel) t? Soll ber talentüolle Jüngling,
ber bem 9J?affenmorbe bes 5lrieges gum Opfer fällt, erft in 2Ban)alla
[eine reichen, ungenu^ten ©eijtesgaben entroideln? Soll ber
alter5f(i)rDa(i)e, ünbifd) geiDorbene (Sreis, ber als reifer 'Xflann bie
2Belt mit bem 9tut)m feiner ^^aten erfüllte, eroig als rücfgebilbeter
©eijt fortleben? Dber foll er fid) gar in ein frül)ere6 Slüteftabium
3urüd entroideln? 2Benn aber bie unjterblid)en Seelen im £)lr)mp
als Dollfommene SBefen üerjüngt fortleben [ollen, bann ijt auc^
ber 9?ei3 unb bas 3Tttere[[e ber ^er[önlicl^!eit für [ie ganj
oerfd^rounben.
(£ben[o unl)altbar er[(^eint uns l)eute im £id^te ber reinen
23ernunft ber ant^ropijti[(^e SlRr)tl)Us com „jüngften (5erid)t",
Don ber Sd)eibung aller ä)len[d)en[eelen in stoei grofee Raufen, oon
benen ber eine 3U ben et» igen Orteuben bes ^arabiefes, ber anbere
3U t>tn eroigen dualen ber $ölle bejtimmt ijt — unb bas tton
einem per[önlid)en ©ott, tüeld)er „ber 23ater ber Jßiebe" ijt!
§at bod) biejer liebenbe Alloater [elbjt bie Sebingungen ber 93er=
erbung unb Anpafjung „ge[d)affen", unter benen \id) einer[eits bie
beoorjugten ©lüdlid^en nottöenbig 3U jtraflofen Seligen, anberer=
[eits bie unglüdlid)en Armen unb (Slenben eben[o nottoenbig 3U
jtrafroürbigen 93erbammten entroideln mußten.
(Sine !riti[d)e 35ergleid)ung ber un3äl)ligen bunten ^l)anta[ie=
gebilbe, toeld)e ber Unjterblid^teitsglaube ber t>er[d)iebenen 33öl!er
unb ^Religionen [eit 3oi)i^tau[enben erseugt \)at, geü)äl)rt bas mer!=
roürbigjte $ßilb; eine l)od)intere[[ante, auf ausgebel)nte Ciuellen*
3toöIftc5 Rapitel. X>(i5 Subjtanagtlc^. 127
jtubicn gcgrünbetfr X)arjicnung bcrfclben t)at ^balbcrt Sooboba
gegeben in [einen ausgejeid^neten 2Ber!en: „8celenix)al)n" (1886)
unb „©ejtalten bes ©laubens" (1897). 2Bie abjurb uns aud) bie
meijten biefer 9?lT)tl)en er[d)einen mögen, tüie unoereinbar [ie
[ämtlid) mit ber Dorge[d)nttenen IRaturerfenntnis ber ©egenioart
[inb, [o [pielen [ie benncx^ au(^ I)eute eine \)'öd)]i töid)tige 9?one unb
ühtn tro^bem als „^o[tuIate ber pra!ti[df)en 33ernunft" ben größten
CSinflufe auf bie fieben5an[c^auungen ber S^^^i'i^u^^ ii^"^ "^^^ ®ß=
[d)icfe ber 23öl!er.
Die ibeali[ti[d)e unb [piritualijti[(i)e ^I)iIo[op^ie ber (Begentoart
u)irb nun freilid^ 5ugeben, ta^ bie[e I)err[(f)enben materiali[ti[d)en
Orormen bes Hnjterblii^feitsglaubens unl)altbar [eien, unb [ie toirb
bel)aupten, ha)^ an it)re Stelle bie geläuterte 33or[teIIung t)on einem
immateriellen SeeIentDe[en, von einer pIatoni[^en 3i>ec ober einer
tran[3enbenten 3eelen[ub[tan3 treten mü[[e. ^tllein mit bie[en
unfaßbaren 23or[tenungen fonn bie reali[ti[d)e 91aturan[(^auung
ber ©cgenroart ab[oIut ni(f)ts anfangen; [ie befriebigen toeber bas
5^au[alitätsbebürfnis unferes 33eritanbe5, nod) bie 9Bün[d)e un[eres
©emütes. ^a\\tn toir alles 3u[ammen, toas t)orge[c^rittene ^ntf)ro=
pologie, ^[r)d)oIogie unb Kosmologie ber ©egenioart über ben
^tt)anismus ergrünbet l^aben, [o mü[[en roir 3U bem bejtimmten
S(^Iu[[e fommen: „Der ©loube an bie Un[terblid)!eit ber men[d)=
Iid)en Seele i[t ein Dogma, n)eld)es ben [id)er[ten (£rfal)rung5[ä^en
ber mobernen lRaturtX)i[[en[d)aft oöllig tt>iber[prici)t."
I
^oniftifc^e (Stubien über baß !o^mologifc^c ©runbgefe^.
^r^altung ber SQ^atcrie unb ber Energie, ^in^cit unb
^rinität ber 6ubftan3.
^Is bas oberjte unb anumfa[[enbe ?laturge[e^ betrad)te id) bas
Sub[tan3ge[e^, bas tDal)re unb einjige !osmoIogi[d)e ©runb =
ge[e^; [eine (Sntbedung unb S^ejtjtellung i[t bie größte (5ei[testat
bes 19. 3ö^rt)unberts, in[ofern alle anberen ernannten 9^aturge[et^e
[id) U)m unterorbnen. Unter bem ^Begriffe „Su6^tan3ge[ei"
fa[[e \(i) 3iDei {)ö(^[te* allgemeine ©e[eöe t)er[(^iebenen Kr[prungs
128 3a3ölftc5 Äapitel.
unb alters 3u[ammen, bas ältere d)emt[d)e ©efe^ oon bcr „(£r=
l)altung bes Stoffes" unb bas jüngere pl)r)[ifali[d)e ©efe^ t>on
ber „(£rl)altung ber 5lraft". Dafe btcfe betben (5runbge[e^e ber
eiaften ^aturtDi[[en[d)aft int 2Be[en unjertrennitct) ftnb, toirb oielen
fiefern wo^ felbjtüerjtänbltd) er[d)emen unb ijt üon "ötn meijten
9laturforf(f)ern ber ©egenroart onerfannt. 5^be[[en toirb biefe
funbatnentale Itberjeugung bocf) oon anberer Seite nod) l)eute
oielfad) bestritten unb ntufe jebenfalls erjt bctoiefen toerbcn. 2Bir
mü[[en ba!)er 3unäd)jt einen furaen ^M auf bcibe ©efe^e ge»
[onbert toerfen.
®efc^ oott ber C^t^altung bes Stoffes (ober ber „i^onjtanj ber
93Zaterie", Äaooifier, 1789). Die Summe bes Stoffes,
tDeId)er ben SBeltraum erfüllt, ift unoeränbcriid). 2Benn
ein Äörper 3U oerlc^toinben fd)eint, tüed)[elt er nur feine gorm;
toenn bie 5^ot)le oerbrcnnt, oertoanbelt [ie [id) burd) 93erbinbung
mit bem Sauerjtoff ber £uft in gasförmige 5lot)Ien[äure; toenn ein
3utferjtüd [i^ im 2Ba[fer löft, get)t [eine fejte ^oi^Tn in bie tropfbar
flüffige über. (£ben[o tDed)[eIt bie XRaterie nur it)re ^rorm, toenn
ein neuer 5Ratur!örper %n entjtet)en [d)eint; toenn es regnet, toirb
ber 2Ba[[erbampf ber ßuft in ^Tropfenform niebergef plagen; toenn
bas (£i[en rojtet, oerbinbet fid) bie oberfIäd)lid)e S(^id)t bes äRetalles
mit 2Ba[[er unb bem Sauerftoff ber £uft unb bilbet fo 9?ojt. 9lir-
genbs in ber Sflatur [et)en toir, "ba^ neue SJiaterie entfte!)t ober
„ge[(i)affen" toirb; nirgenbs finben toir, bafe üor!)anbene 95?aterie
oer[(i)U)inbet ober in 5Rid)ts serfallt. Diefer (£rfa!)rungsfa^ gilt I)eute
als erjter unb uner[d)ütterli(i)er ©runbfa^ ber (£l)emie unb !ann
jcberseit mittels ber 2Bage unmittelbar betoiefen toerben. (£s
toar aber bas un|terblid)e 93erbien|t bes großen franjöfifrfien
(£t)emi!ers ßaooifier, biefen Seroeis burd) bie 2Bage juerjt gefül)rt
3U \)ahtn. §eutc [inb alle 5Raturfor[^er, tDeId)e fid) ial)relang
mit bem ben!enben Stubium ber 9'laturer[(i)einungen be[(i)äftigt
f)aben, [o fejt oon bcr ab[oIuten Äonftanj ber SJlaterie überjeugt,
bafe [ie [id) bas ©cgenteil gar nid)t me!)r üor[tenen !önnen.
föefe^ von ber C^r^altung ber Äraft (ober ber „5ton[tan3 ber
(Energie", 9?obert 9JZat)er, 1842.) Die Summe ber Äraft
ober (Energie, roel(f)e im SBeltraum alle (£r[ct)einungen
betoirft, i[t unoeränberlic^. SBenn bie ßotomotioe ben (£i[en=
bal)n3ug fortfüt)rt, oertoanbelt [ic^ bie Spannfraft bes erl)i^ten
2ßa[[erbampfes in bie lebcnbige Äraft ber med)ani[(^en Setoegung;
toenn toir bie pfeife ber ßotomotioe l)ören, roerben bie Sd)an=
[d)rDingungen ber beu^egten ßuft burd) un[er Trommelfell 4mb bie
5^ette ber ®et)ör!nod)cn 3um ßabprintt) un[eres inneren O^res
fortgeleitet unb oon t)a burc^ htn ^ömcro 3U ben a!ujti[d)cn
^as Subitonjgcjei. 12Ö
(öangUcnjeUen, u)eld)e bie §ör[pl)Qre im Stt)Iäfenlappcn unferer
®rofef)irnrtnbc bilben. Die ganjc toünberbare ©ejtaltcnfülle,
xDtlä)t unfcren Krbball belebt, tjt in legtet Snjtarts umgetdanbelteö
SonnenIi(i)t. ^Ilbefannt ift, rote gegenioärttg bte beii)unbenings=
ujürbigen grorlfd^ritte ber 3:e(i)nt! baju gefül^rt I)öbert, bie »et*
[dE)iebenen S'laturfräfte tneinanber 3U oettöanbetn: 2Bät:me tbifb
in $0laffenbetüegung, biefe töieber in fiic^t ober <Bä)al\, biefe
Boieberum in (Eleftrisität übergefüt)rt ober umgefel)rt. t)ie genaue
SJleffung ber Ärafttnenge, roel^e bei biefer 33eru)anblung tätig
ijt, l)at ergeben, bafe auc^ [ie fonftant bleibt. t)er großen (httbetfung
biefer funbamentalen Xai\a^^ ^atte [ic^ [ct)on 1837 ^^^i^^ti^
'*fRo\)x in Sonn [et)r genät)ert; fie erfolgte 1842 bur(i) ben geijtrei(i)en
[d^tDäbi[d)en ^rgt stöbert $0lar)er in ^eilbronn; unobl)ängig oon
it)m tarn ^ermann .§elml)0l^ auf bie Grfenntnis 55es[elben
^rinjips; er toies fünf 5al)re [päter [eine allgemeine ^ntoenbbar^
feit unb giu^tbarfeit auf allen (Gebieten ber ^I)t)[i! nad). 2Bir
tpürben l)eute [agen muffen, bafe es aud) bas gefamte (Sebiet ber
ipi^Qfiologic — b. I). ber „organifcf)en ^l)t)fi!l" — bel)errfdf)e,
enn bagegen nid)t entf(i)iebener äßiberfpruc^ oon feiten ber
öitaliftifd)en Biologen, foroie ber bualiftifcf)en unb fpiritualiftifd^en
^t)ilofopl)en ti^ohm toütbe. Diefe erbliden in ben eigentümlid^en
„(Seiftesfträften" bes 9Kenfcf)en eine ©ruppe oon „freien", bem
©nergiegefe^ nid)t untertoerfenen 5lrafterfd^ einungen; befonbers
gejtü^t tüirb biefe bualiftifd)e ^uffaffung bur^ bas Dogma oon
ber 2Binensfreit)eit. 9Bir \)ahtn \ä)on bei beren Sefpre^ung ge«
fet)en, ha^i^ il)re ^nnal)me unl)altbar ift. ^n neuefter 3^i \)ai hk
^I)t)fif htn ^Begriff ber „Äraft" unb ber „(Energie" getrennt;
für unfere oorliegenbe allgemeine ©ctracf)tung ift biefe Unter?
fd)eibung gleichgültig.
ein^ett bes Suiftanagefe^es. 33on größter 9Bi(^tig!eit für
unfere monijtifd)e SBeltanf^auung ift bie fefte ttberjeugung, ba^
bie beiben grofeen !osmologifd)en ®runblel)ren, bas rf)emifcl^e (Srunb*
gefe^ oon ber (£rt)altung bes Stoffes unb bas pl)r)fi!alifcl^e (Srunb^
gcfe^ oon ber (Erhaltung ber 5lraft, untrennbar jufammenge^ören;
beibe ^toxxtn finb ebenfo innig oerfnüpft, toie i^re beiben Objcfte,
Btoff unb Äraft (ober 9Jlaterie unb Energie). 23ielen monijtifd^
,t)en!enben SRaturforfd)ern unb ^l^ilofop^en roirb biefe funba»
mentale C£inl)eit beiber (Sefe^e felbftoerftänblic^ erf(i)einen, ba
■ja beibe nur ^toei oerfd)iebene Seiten eines unb besfelben Objeftcs,
bes „5^05 mos", betreffen; inbeffen ift biefe naturgemäße Ober*
^eugung oeH entfernt, fid) allgemeiner ^nerfennung ju erfreuen.
Sie toirb t)ielmet)r energifd^ befämpft oon ber gefamten bualiftif(i)en
"^^^iIofopl)ie, oon ber pitalijtifd)en Biologie, ber paraneliftifd)en
ioaecfel, SBeltrötfet. 9
130 3t»ölfte5 Äapitel.
^[t)d)oIogie; \a [ogar t»on fielen (tn!on[equcnten!) SOflomjten,
tDeId)c im „93etDufet[etn" ober in ber f)öl)cren (5eiftestätig!eit bcs
9Jlenfd)cn, ober aud) in anbeten (£r[d)einunöen bes „freien ©eijtes»
lebens" einen (Segenbetoeis %u finben glauben.
3d) betone bat)er ganj bejonbers bie funbamentale Sebeutnng
bes einl)eitlid^en ©ubjtanjgefe^es als 5Iusbruc! bes untrennbaren
3u[amment)anges jener beiben begrifflid) getrennten ®e[e^e. Dafe
biefelben urfprünglid) nicf)t 3u[ammengefafet unb nid)t in biefer
(£int)eit erfannt tourben, ergibt fid) ja [d)on aus ber Xai\ad)t it)rer
t)er[ct)iebenen (Entbedungsseit. I)ie (lBint)eit beiber ©runbgefe^e,
t»eld)e nod) t)eute oielfaii) beftritten toirb, brüden oiele überseugte
5Raturfor[d)er in ber Benennung aus: „(5e[e^ oon ber (£rl)altung
ber ilraft unb bes Stoffes". Xlm einen fürgeren unb bequemeren
3tusbnfÖ für bie[en funbamentalen, aus neun 3Borten 3u[ammen=
gefegten ^Begriff ^u t)aben, \)abt id) [d)on üor längerer 3eit oor*
ge[d)Iagen, basfelbe bas „Subftanjgefe^" ober bas „!osmoIo=
gifc^e ©runbge[e^" 3U nennen (äRonismus, 1892, S. 14, 39). '
6ubftan5bedtiff. Der erjte Den!er, ber ben reinen monifti«»
[d)en „Subjtan^begriff" in bie 2Bi[fen[cf)aft einfüt)rte unb [eine
funbamentale Sebeutung erfannte, toar ber grofee ^t)iIo[opI)
^arud) Spinoja; [ein ^auptioert er[d)ien fürs nad) [einem
früf)3eitigen 3:obe, 1677. 5n [einer großartigen pant^ei[ti[<^en
2ßeltan[d)auung fällt ber Segriff ber 2BeIt (Unit)er[um, 5^osmos)
3u[ammen mit bem anumfa[[enbcn Segriff ©ott; [ie ijt gleid)3eitig
ber reinste unb oernünftigjte ^ötonismus, unb ber geflärtejte unb
abjtra!te[te 3nonott)eismus. Diefe Unioer[aI[ub[tan3 ober
bie[e5 göttli(^e 2BeIttüe[en 3eigt uns 3toei Der[d)iebene Seiten
[eines töal)ren 2Be[cns, stuei funbamentale Attribute: bie SJla»
terie {t>zn unenblid)en ausgebet)nten Sub[tan3[toff) unb ben
©eijt (bie allumfa[[enbe bentenbe Subjtan3energie). ^Ile 2ßan=
belungen, bie [päter ber Subjtan3begriff gemad)t l)at, !ommen
bei lonfequenter ^^Inali)[e auf bie[en l)öd)[ten (Srunbbegriff oon
Spino3a 3urüd, htn iä) mit (5oetI)e für einen ber ert)aben[ten
unb roa^rjten ©ebanfen aller 3^^^^^ i)alte. ^llle ein3elnen Objefte
ber 2Belt; bie un[erer (Srtenntnis 3ugänglid) [inb, alle inbioibuellen
gormen bes X)a[eins, [inb nur be[onbere oergängli^e grormen ber
Subjtan3, ^t!3iben3en ober SiRoben. I)ie[e SJlobi [inb !örper=
Iid)e Dinge, materielle 5^örper, toenn toir [ie unter bem Attribut
ber 5Iusbel)nung (ber „9laumerfüIIung") betrad)ten, bagegen
Gräfte ober Sbeen, toenn loir [ie unter bem ^Ittribut bes Deutens
(ber „(Energie") betrad)ten. ^uf bie[e ©runboorltellung üon
Spino3a fommt aud) un[er SJionismus je^t 3urüd; aüc^ für
uns [inb 9}la terie (ber raumerfüllenbe Stoff) unb (Energie
1)05 Subjtansgefc^. 131
(bie betoegcnbe 5^raft) nur stüei untrennbare Attribute bes ein«
l)eitUci^en SBelüoelens, ber einen Subjtanj.
2)et finetif^e Subfiansbegriff. (Hrprinjip ber 8d)tDtngung
ober 33tbratton.) Unter ben t)erid)tebenen Spornten, roel^e ber
funbamentale Subjtansbegriff in ber neueren ^^l)r)[i!, in 33er=
binbung mit ber i)err|(i)enben ^Itoniijtif, angenommen \)ai, über=
toog bisf)er bie 5lnnal)me, bafe allen (rrfd^ einungen eine [rfnoingenbe
^Betoegung ber üeinjten 50ia[fenteild)en 3ugrunbe liege, eine
33ibration ber ^tome. I)ie ^tome [elbft [inb bem gett)öl)n*
Ii(f)en „!ineti[d)en Subjtan3begriff" gufolge tote bisfrete 5lörper=
teil(i)en, toeId)e im leeren 5?aum f(i)toingen unb in bie Sterne roirfen.
Der eigentli(i)e Segrünber unb ange[el)enjte 33ertreter bieder
!ineti[d)en Subftanjt^corie ijt ber grofee 9JZatl)ematifer 9letoton,
ber berüt)mte (£ntbedter bes ©raoitationsgefe^es. ^n [einem
§aupttt)er!e „Principia philosophiae naturalis mathematica"
(1687) toies er nad), "ba^ im gan3en SBeltall ein unb basfelbe
(5runbge[e^ ber S[Ra[[enon3iel)ung, biefelbe uni)eränberlid)e
©raoitationstonftante i)err[^t; bie 5ln3iet)ung oon je stoei 9Jla[[en=
teueren jtet)t im geraben $ßerl)ältni5 it)rer 9Jlaf[en unb im um=
ge!ef)rten S3erl)ältni5 bes JQuabrats il)rer (Entfernungen. X)ie[c
allgemeine „Sd^ioerfraft" betoirft eben[o bie ^eioegung bes
fallenben Gipfels unb bie ö^Iuttoelle bes SPleeres, tote titn Umlauf
ber Planeten um bie Sonne unb bie !osmif(i)en Setoegungen
aller 2BeIt!örper. Das unjterbli(^e 33erbienft oon 5Retoton roar,
biefes ©raoitationsgefe^ enbgültig feftsuftellen utib bafür eine
unanfed)tbare matt)emati[d)e Formel 3U finben. ^ber bie[e tote
matl)emati[(i)e (Formel, auf roeld)e bie meijten ^laturforf^er
bier, toie in oielen anberen gälten, bas größte (5et»i(i)t legen,
gibt uns nur bie quantitatioe Seroeisfübrung für bie 3^eorie,
[ie getDät)rt uns ni(t)t bie minbejte (£in[id)t in bas qualitatioc
SBefen ber (£r[rf) einungen. Die unoermittelte i^^tnroirfung,
loel^e 9letDton aus feinem ©raoitationsgefe^ ableitete unb roeId)e
3U einem ber u)id)tigjten unb gefäl)rlicbften Dogmen ber fpäteren
^t)r)[i! tourbe, gibt uns nid) t ben minbeften ^uffd)lufe über bie
eigentlid)cn XIr[ad)en ber aRaffenan3iel)ung; melmet)r oerfperrt
[ie uns ben 2Beg gu beren (£r!enntnis.
3)cr tmitöre Subftansbeöriff. Die tiefer liegenben ltr[ad)en
ber 5lRa[[enan3iet)ung toerben üar, unb sugleicb werben mand)e
(Einxöänbe gegen un[ere monijtifd^e Subjtan3tl)eorie btnfällig,
roenn toir t>tn beiben (5ub[tan3attributen oon Sp'mo-^a nod) ein
brittes, baoon untrennbares 5lttribut I)in3ufügen, bie unberoufete
(Empfinbung (Psychoma). Die wa\)xtn „inneren Hr[a^en"
ber med)oni[d)cn Scrocgungen, tDeId)e bie bualijti[^c 9Plctapit)[i!
132 3tDöIftes Äopitcl.
als immaterielle .Gräfte, als ©eijtesMfte ober p[r)d)iid)e (Energie«
formen ben materiellen (Energieformen ber ^l)r)[i! gegenüberjtellt,
[inb glei^ ben legieren untrennbar an bie raumerfüllenbe Sölateric
gebunben. (5eu)öl)nIidE) toirb^ja oon ber neueren monijtifd)en
^{)iIo[opf)ie bie (Empfinbung [elbft als eine grorm ber (Energie auf=
gefafet; bas ge[d)iel)t foioot)! »on beren materialiftif^er 9li^tung
(„(Stoff unb Äraft" oon ®ü^ner), als üon ber [piritualijti[d)en,
i^r entgegengefe^ten 9li(f)tung („(Energetif" als „ttbertotnbung
bes SJiaterialismus" oon Oftmalb). Die (Einfeitigfeit beiber IHid)*
tungen toirb oermieben, unb augleirf) toerben mand)e irrefüt)renbe
9Jlifeoerjtänbnif[e befeitigt, roenn roir ben bisf)er Dort)errfci)enben
Segriff ber „(Energie" in gtoei gleid)tüertige Attribute ^erlegen, in
,,aftioe (Energie" — aUed)ani! („SBille" im Sinne oon (5(i)open=
I)auer) unb in „paffioe (Energie" — ^[i)d^oma („unbeujufete
(Empfinbung" im toeiteften Sinne). 5d) t)abe biefe i!)eorie oon
ber „X)reieinig!eit ber Subftans" (ober „Xrinität bes 5^osmos")
im 19. 5^apitel meiner „Äebenstounber" näl^er erläutert. ((Er=
gänjungsbanb 3U ben „SBelträtfeln", 1904; — SBoIfsausgabe 1906,
S. 184—188.) Vabti i)abe id) mid) befonbers auf bie gleid)geric^=
teten ^nfid)ten oon mel)reren unferer i)err)orragenbjten mobernen
9flaturpPo[opl)en besogen, (Earl ^Raegeli (1877), ^Ibred)t 9tau
(1896) unb (Ernft maä) (1901). Die brei funbamentalen Attribute
ber Subftans: A. ^tanmerfüllung ober „^usbel)nung", Stoff,
(= 9}laterie), B. ©eroegung ober „yRtd)arnt", Rxa^i {= (Euer«
gie), unb C. Empfinbung ober „Sßeltfeele", (Seijt (= ^[i)d)omj
[inb bemnac^ gan3 allgemeine (5runbeigenj'd)aften aller ilörper.
©efe^ von hn C^r^altuuö ber empfinbung. 2Benn biefe
„^rinitärt^eorte" ber Subjtan3 rid)tig ijt, bann mufe aurf) bas
grofee Ronjtanagefe^, bie £el)re oon ber „(Erl)altung" ber un=
3erftörbaren Subftan3, ebenfo auf bie (Empfinbung, roie auf „Stoff
nnb 5lraft" ^Intocnbung finben. Die nteberften unb einfad^ften
^fi)(f)pmformen (S[Raffenan3iel)ung in ber ^l)r)[if, 2Bal)loertDanbt=
f(i)aft in ber (El)emie) [inb bann nur jtufenroeife Der[d)ieben Don ben
TÜeberen unb f)öl)eren ^o^^en bes organif(i)en Seelenlebens,
uon ber Sinnestätigfeit ber nieberen Organismen, oon ber ©eiftes^
tätig!eit bes ällen[ci)en („Denfen"). 5ebe ^[r)cl)omform fann in
bie anbere übergeführt roerben. Die Summe ber (Empfinbung
im unenblid)en 2Beltraum ift unoeränberlid^.
!Der bualiftifc^e SuBjtanabegdff. Die beiben Subftan3=
tl)eorien, bie roir Dorftel)enb einanber gegenübergejtellt l)aben, finb
im ^rinsip moniftifd); beibe betrai^ten „Stoff unb i^raft" als un^
trennbar, bie gan3e SBelt ols einl)eitlid)e Subftans. ©ans onbers
oerl)ält es [id) mit ben buali[ti[d)en Subjtan3tl)corien, iDeld)e
Das 6ub|tan3gc[et?. 133
noc^ f)cute m ber ibealiftifc^cn unb [piritualtjiifd)en ^f)tIo[opl)ie
f)crr[(^enb [inb; biefe toerben au(^ üon ber emflu]sretd)en 3:i)eoIogie
geftü^t, [otüeit [t(^ bicfclbc übcrt)aupt auf [oId)e Tnctap!)r)[i[(j^e
Spefulationen einlädt, ^iernad) [inb ßtoei ganj t)cr[(f)iebenc
^auptbejtanbteile ber Subjtans 5U unter[d)eiben, Tttatertelle
unb immaterielle. !Die materielle Subftana bilbet bie
„5^örpertoeIt", beren (£rforfd^ung -Objeft ber ^i)i)[if unb (Sl^emie
ift; I)ier allein gilt bas ®e[e^ t»on ber (£rl)altung ber SDlaterie unb
(Energie ([oioeit man nid)t überl)aupt an beren „(£r[d)affung aus
^lid^ts" unb anbere SBunber glaubt!). Die immaterielle (5ub =
[tans I)ingegen bilbet bie „©eifterroelt", in tDeId)er jenes ©efe^
ni(f)t gilt; I)ier gelten bie (5e[e^e ber ^t)r)[i! unb (If)emie enttoeber
gar nid)t, ober [ie [inb ber „Bebensfraft" unterujorfen, ober bem
„freien SBillen", ober ber „göttli(i)en 3inma(i)t", ober anberen
\old)tn (5e[pen[tent, oon benen bie !riti[(l^e 2Bi[[en[(f)aft nid)ts
loeife. (Sigentlid^ bebürfen bie[e prinaipiellen S^rtümer ^eute
feiner 2BiberIegung met)r; benn bie (Erfal^rung t)at uns bis ouf ttn
f)eutigcn 2:ag feine einzige immaterielle (5ub[tan5 fennen
gelet)rt, feine einzige Kraft, toeld^e ni(^t an titn Stoff gebunben ift.
ajlaffe ober Äörperftoff (^onberable SJiaterie). Die (£r=
fenntnis biefes loägbaren 3^eile5 ber SJiaterie ift in erfter £inie
©egenftanb ber (£^emie. ^Ilbefannt [inb bie erftaunlid)en tt)eoreti=
[cf)en ^ort[d)rittc, toeld^e biefe 2Bi[[en[(f)aft im Baufe bes neun=
3et)nten 5at)rt)unberts gemacf)t ^at, unb ber unget)euere (Einfluß,
toelc^en [ie auf alle Seiten bes prafti[cf)en Kulturlebens getoonnen
I)at. 2Bir begnügen uns ba^er mit toenigen Semerfungen über bie
U3i(f)tigften prinsipiellen (5^09^" oon ber 9latur ber 9Pla[[e. Der
anali)ti[cf)en (£t)emie ift es befanntlict) gelungen, alle bie un3äl)ligen
üer[d)iebenen 5^aturförper burd) 3ei^lß9ung auf eine geringe 5ln=
3af)l Don Urftoffen ober (Elementen 3urüd3ufül)ren, b. l). auf ein=
fad)e Körper, tDel(i)c ni(i)t roeiter ^erlegt toerben fönnen. Die 3öl)l
biefer (Elemente beträgt ungefäl)r acf)t3ig. S^Zur ber fleinere Xeil
ber[elben (eigentlicl) nur oier3el)n) ift allgemein auf ber (Erbe oer«
breitet unb oon l)ol)er SBebeutung; bie größere Hälfte beftel)t aus
[eltenen unb toeniger toi^tigen (Elementen (meiftens äUetallen).
Die gruppenioeife 93 ertoanbtfd^aft biefer (Elemente unb bie
merftoürbigen $Be3iel)ungen il)rer ^tomgett)i(f)te, tDelrf)e fiotl)ar
9Jicr)er unb 9}tenbeleieff in i:^rem „^eriobi[cl^en St)[tem
ber (Elemente" nad)geroie[en t)aben, mad)tn es [el)r rDal)r[ci)ein=
lid), ita^ biefelben feine ab[oluten Spegies ber 95la[[e, feine
etoig unoeränberli^en (Bröjgen [inb. 9Jlan l)at na^ jenem (3i)ftem
bie 80 (Elemente auf a(i)t §auptgruppen »erteilt unb innerl)alb
berfelbcn nod) ber (Sröfec il)rer ^tomgctöid)te georbnet, [o bojs bie
134 3toöIftes Rapihl
(^emtfrf) ät)nlt(f)cn (SIcmentc i5omUtcnret{)en btiben. X)ic gruppen*
toeifen 5Be3te^ungen im natürlt(i)en Srijtcm ber (Elemente erinnern
einerfeits an äl)nli(f)c 23erl)ältni[[e ber mannigfad) 3u[ammen=
gefegten 5^of)IenjtoffDerbinbungen, anbererfeits an bie SBe3iet)ungcn
paralleler ©ruppen, roie [ie im natürlid^en 6i)jtem ber 3:ier= unb
^flongenarten [i^ seigen. 2ßte nun bei biefen bie „33ertoanbt=
[d)aft" ber ät)nlid)en ©eftalten auf ^bjtammung r»on gemeinsamen
einfad^en Stammformen berut)t, [o ijt es \ti)t tDal)r[(i)einIidE), "ba^
auä) basfelbe für bie j^familien unb Orbnungen ber Elemente
gilt. 2Bir bürfen ba!)er annel)men, t>a.^ bie j ewigen „empirif^en
(Elemente" feine u)irni(^ einfa^en unb unueränberlicä^en „Spesies
ber 3Jt äffe" [inb, fonbern urfprünglid^ ^ufammengefe^t aus gleid)=
artigen einfarf)en Uratomen in üerf(f)iebener 3^^^ ^'^'^ fiagerung.
9^euerbings [oll es tatfä(^Ii(^ gelungen [ein, ein (Element in ein
anberes 3U oertoanbeln, [0 3. S. 9?abium in ^elium. X)er alte Xraum
ber ^ld^r)mi[ten [^eint baburc^ teilu)ei[e in (Erfüllung 3U gel)en.
^tome unb (Elemente. Die moberne Wtomlel)re, toie [ie
l)eute ber (E^emie als unentbe]^rli(f)es Hilfsmittel er[cl)eint, i[t tool)l
3U unter[d^eiben oon bem alten pl)ilo[opl)i[(i)en ^tomismus, toie
er \d)on oor mel)r als 3roeitau[enb 3a^re^ »on l)erDorragenben
monijti[(^en ^l)ilo[opl)en bes Altertums gelef)rt lourbe, oon £eu =
üppos, Demofritos unb fiu!retius; [päter fanb ber[elbe eine
toeitere unb mannigfad) oer[d)iebene ^lusbilbung burrf) Descartes,
^obbes, fieibni3 unb anbere f)eroorragenbe ^l)ilo[opl)en. (Eine
beftimmte annel)mbare 3:a[[ung unb empiri[^c Segrünbung
fanb aber ber moberne ^tomismus erjt 1808 burd) ben engli[^en
(Et)emi!er Dalton, u)elcl)er bas „(5e[e^ ber einfa(i)en unb multiplen
Proportionen" bei ber Silbung d)emi[d)er 23erbinbungen aufftellte.
(Er bejitimmte 3uerjt bie 5(tomgetDid)te ber ein3elnen (Ele =
mente unb [(f)uf bamit bie uner[dE)ütterli(i)e eia!te ®a[is, auf
roeld)er bie neueren d)emi[cl)en 31)eorien rul)en; bie[e [inb [ämtlid^
atomi[ti[(f), in[ofern [ie bie (Elemente aus glei^artigen, flein[ten,
bisfreten Xtild)tn 3u[ammenge[e^t annel)men, bie nid)t toeiter
3erlegt loerben fönnen. ^thod) ^aben bie getoaltigen grort[d^ritte
ber neueren ^l)i)[if (be[onbers ber (Eleftri!) basu gefül)rt, bie Gliome
uiieber in oiel Heinere (!)i)potl)eti[cl)e!) SBejtanbteile t^eoreti[d^ 3U
3erlegen, bie (£le!tronen (3onentl)eorie). Dabei bleibt bie ^xaQt
naä) bem eigentli(i)en 3Be[en ber ^tome, it)rer (5e[talt, (Sröfee,
5ße[eelung ü[tD. gan3 aufeer Spiele; benn bie[e Qualitäten [inb
^i)potl)eti[(i) ; empiri[d) bagegen ijt ber (El)emismus ber ^tome
ober il)re „d)emi[cl)e Affinität", b. t). bie !on[tante Proportion,
in ber [ie [id) mit hm Atomen anberer (Elemente oerbinben (9Jioni5=
mus, 1892, S. 17, 41).
Das Subftansgefc^. 135
SBa^loertoanbtfd^aft ber ©letnente. Das oerfi^iebenc 23cr^
l)alten ber cinjelnen (Elemente gegenemanber, bas bie (E^emie als
„Affinität ober 23erti)anbt[d)aft" beseii^net, ijt eine ber tDtd)ttgjten
(£igenfcl)aften ber 9Jla[[e unb äußert [i(^ in ben oer[cf)iebenen9Jiengen^
Derl)ältnif[en ober Proportionen, in benen i!)re S^erbinbung jtatt»
finbet, unb in ber ^^ttenfität, mit ber bie[elbe erfolgt, ^lle (Srabe
ber 3iiTteigung, uon ber oollfommenen ®lei(^ gültigfeit bis 3ur
l)eftigjten £eiben[d)aft, finben [id^ in bem d)emi[d)en 33erl)alten
ber oerfd^iebenen (Elemente gegeneinanber ebenfo toieber, toie fie
in ber ^[tj^ologie bes 9Jlen[(^en unb namentli^ in ber 3vineigung
ber beiben (5e[d)lecl)ter bie größte 9?olle [pielen. (5oetl)e l)at be=
fanntlid) in [einem !laf[i[d^en 9toman „Die 2Bal)loertoanbt*
f chatten" bie 33erl)ältni[[e ber Liebespaare in eine 9?eil)e geftellt
mit ber glei(^namigen (£r[(i)einung bei ©ilbung (i)emif^er SJer»
binbungen. Die untüiberftel^lid^e £eiben[^aft, toelcf)e (Ebuarb
3u ber [r)mpatt)i[^en Ottilie, ^aris ^u Helena l)in5iel)t unb alle
§inberni[[e ber 23emunft unb SJloral übertoinbet, ift biefelbe
mä(^tige „unbetoufete" ^ttraftionsfraft, meldte bei ber $ßefrud)tung
ber 2ier= unb ^flangeneier "ötn lebenbigen Samenfaben jum
(Einbringen in bie (Eiselle (aber aud) jur 5lpfel[äure!) antreibt;
biefelbe l)efttge ^Beroegung, burd) tDeld)e gtoei 5ltome 2Ba[[erjtoff
unb ein 5ltom Sauerstoff [idf) gur ©ilbung üon einem 9Jiole!ül
SBaffer vereinigen. Diefe pringipielle (Ein{)eit ber 2ßal)lDers
tDanbt[d)aft in ber gansen 9latur, oom einfa(i)J!ten rf)emi[d)en
^ro3efe bis ju bem oerraideltjten ßiebesroman l)inauf, l)at [i^on
ber griecl)i[rf)c 91aturp]^ilo[opl) (Empebolles im fünften ^di)x=
l)unbert t). (El)r. erfannt, in [einer £el)re oom „ßieben unb $a[[en
ber (Elemente". Sie fijjbet il)re empiri[d)e ©eftätigung burd^
bie intere[[anten gort[d)ritte ber 3^nularp[r)cf)ologie, beren
l)ol)e SBebeutung tuir erjt im legten Drittel bes 19. 3öt)r^unberts
gecoürbigt l)aben. 2Bir grünben barauf un[ere Ubergeugung, ha^
audf) [rf)on btn Atomen bie einfacf)[te S^oi^ ber (Empfinbung unb
bes SBillens inneu)ol)nt — ober be[[er ge[agt: ber i5ül)lung
(Aesthesis) unb ber Strebung (Tropesis) — , alfo eine unioerfale
„Seele" oon primitio^ter 9Irt, bas „(Elementarp[t)d)om". Das[elbe
gilt aber aud^ oon ben Slloletülen ober 9Jia[[enteild)en, xöel(i)e aus
3U3ei ober mel)reren Atomen [id) 3u[ammen[e^en. 5lus ber toeiteren
33erbinbung Der[df)iebener [oltf)er 9Jlole!üle entjtel)en bann bie ein*
fachen unb Doeitert)in bie 3u[ammenge[e^ten d)emi[(^en 23er=
binbungen, in beren ^ftion [ic^ basfelbe Spiel in oertoidf elter er
gorm iDieberl)olt.
^t^er (Smponberable SJiaterie). Die (Erfenntnis bie[es
unwägbaren steiles ber SJJaterie ijt in erfter fiinie (Begenjtanb
136 3t»ötftes Äapitel.
bcr ^1)1) [tf. ^adjhtm man [c^on lange btc CBitjtcns eines äufeerjt
feinen, ben 9?aum aufeerl)alt) ber 9Jlaffe erfüllenben SO^lebiums an«
genommen unb biefen „ ^tt)er" 3ur (Srilärung oerfd^iebener (£r*
[(i)einungen (cor allem bes Äicfites) üerujenbet i)atte, ift uns bic
nöiftxt lBefannt[(i)aft' mit biefem ujunberbaren Stoffe erjt in bec
ätoeiten Hälfte bes neun3e!)nten ^^^^^iittöei^ts gelungen, unb jroar
im 3u[ammenf)ang mit tttn erftaunli^en empiri[d)en (Sntbecfungen
auf bem (Sebiete ber (Eleftrisität, mit il)rer experimentellen
(£r!enntni5, il)rem tt)eoreti[c^en 33erjtänbnis unb il)rer pra!ti[c^en
23ertüertung. 23or allem [inb l)ier bal)nbred)enb geroorben bie bc=
rü()mten Hnter[urf)ungen uon $einri(^ $er^ in Sonn (1888);
ber frül^seitige Xoh bie[e$ genialen jungen ^l)t)[i!ers, ber bas
©röfete 3U erreichen oerfprad), ift nid^t genug 3u beflagen; er gel)ört
eben[o roie ber allju früt)e Xob oon Spinoaa, üon 9laffael,
oon Set) üb er t unb Dielen anberen genialen Jünglingen ju jenen
brutalen 'Xai\aä)tn ber men[d)li(f)en (5e[d^id)te, ioelct)e für [id)
allein ]6)on "btn unl)altbaren 5Dlt)tl)us oon einer „roeifen 33or=
[el)ung" unb oon einem „alliebenben 93ater im ^immel" grünblic^
roiberlegen.
3)te exiftena bes ^t^ers ober „aBeltätl)ers", als realer „SKa«
terie", !ann [eit 1888 als 3:atfad)e ange[el)en toerben. aJian fann
allerbings aud) l)eute nod) üielfad) lefen, bafe ber 9ltf)er eine „blofee
5gpott)e[e" fei; biefe irrtümlid)e Sel)auptung toirb nid^t nur oon
unfunbigen ^l)ilo|opl)en unb populären Sc^riftftellem ti)ieberl)olt,
[onbern aud) oon ein3elnen „oor[id)tigen eiaften ^t)t)[i!ern". 9Jiit
bemfelben 9?ed)te mü^te man aber aud) bie (Siifteng ber ponberablen
9Jlaterie, ber StRaffe, leugnen, ^reilid) gibt es l)eute nod) SReta=
pl)i)[ifer, bie au(^ bie[es i^unjtftüd jujtanbe bringen, unb bereh
i)öd)fte 9[Beisl)eit barin bejtel)t, bie 9{ealität ber ^ujgentoelt gu
leugnen ober bod) gu bestoeifeln; nad) il)nen eiijtiert eigentlich
nur ein einziges reales SBefen, nämli(^ i^re eigene teure ^erfon,
ober Dielmel)r beren unjterblid)e Seele.
SBefen bes JHt^ers. 2Benn nun aud^ t)eute oon faft allen ^l)r)=
[ifern bie reale (£iijten3 bes 5ltl)ers als eine pofitioe 3:at[ad)e be=
trad)tet roirb, unb tuenn uns aud) oiele 2Bir!ungen biefer tounber^
baren SKaterie burc^ un3äl)lige (Erfahrungen, befonbers optifd)e
unb ele!trifd)e 35er[ud)e, genau befannt [inb, [o ijt es bod) bisl)er
nid)t gelungen, Rlarl)eit unb Sic^erl)eit über it)r eigentliches
2ße[en ju getoinnen. 33ielme^r gel)en aud) l)eute nod) bie ^n^
fiepten ber l)ert)orragenbften ^l)r)[i!er, bie fie fpe3iell jtubiert l)aben,
iel)r roeit auseinanber; ja [ie u)iber[pre(^en [i^ [ogar in hm tDid)tig=
jten fünften. (£s jtel)t bal)er jebem frei, [icf) bei ber 2Bal)l 3roi[cf)en
ben tDiber[precf)enben §r)potl)e[en feine eigene 95Zeinung 3U bilben,
Das Subjtansgcfe^. 137
entfprecf)enb bem ©rabe [einer Sa(i)fenntnt5 unb Itrteilsfraft (bte
ja betbe immer unoolüommen bleiben!). Die 9Jleinung, bie id)
perjönlicf) (als blofeer Dilettant auf bie[em ©ebiete !) mir bur^
reiflicf)e5 9lad)benfen gebilbet I)abe, fa[[e xd) in folgenben ac^t
Sä^en 5u[ammen:
I. Der ^tt)er erfüllt als eine !ontinuierlid)c SJlaterie "ütn
gansen SBeltraum, foxöeit bie|er ni^i von ber 9?la[[e (ober ber
ponberablen 93laterie). eingenommen ijt; er füllt aud} alle 3t»t[cl)en=
räume 3tDi[cE)en ben 5ltomen ber le^teren Dollftänbig aus. II. Der
^tt)er befi^t roal^rfc^einlicl) nocf) feinen (£l)emismus unb ift
nod) nicf)t aus Atomen ^ufantmengefe^t töie bie 9Jla[[e; (toenn man
annimmt, berfelbe [ei aus äufeerjt fleinett, gleid)artigen Atomen
3ufammenge[e^t [3. ^. unteilbaren ^lti)er!ugeln oon glei(^er
®röfee], [0 mufe man tüeiterl)in aud) annel)men, ta^ 3toi[d)en ben=
felben no<^ etroas anberes exijtiert, enttöeber ber „leere 9?aum"
ober ein brittes, gang unbefanntes 9Jiebium, ein oöllig l)i)po=
tl)eti[(l)er „^nttxäi\)tx"; bei ber (5rage nad) beffen 2Be[en toürbe
[id) bann biefelbe 8d)toierig!eit, roie beim 5ltl)er erl)eben [in in-
finitum!].) III. Da bie 5tnnal)me bes leeren ^Raumes unb ber
unoermittelten ^rerntDirfung beim je^igen Staube unferes 9^atur»=
fennens !aum mt\)X möglid) ift (roenigjtens bu feiner flaren 33or=
jtellung fül)rt), [0 nel)me id) eine eigentümlid)e (Struftur bes
^ttt)ers an, bie md)t atomifti[d) ijt, toie biejenige ber ponberab^
len 95Zaf[e, unb bie man oorläufig (ol)ne toeitere Sejttmmung)
als ätf)eri[d)e ober b9nämi[d)e Struftur bejei^nen fann.
IV. Der ^ggregat3u[tanb bes ^tl)ers ift, biefer §t)potl)e[e 3U=
folge, ebenfalls eigentümlid) unb oon bemjenigen ber StRaffe Der=
fd)ieben; er ift meber gasförmig, noc^ feft; bie befte 33orftellung
getoinnt man oielleid^t burd^ ben 33ergleid^ mit einer anwerft feinen
elaftif d)en unb leichten ©allerte. V. Der ^tl)er ift imponberable
9Jlaterie in bem Sinne, tia^ von fein SJiittel befi^en, fein (5etDid)t
eiperimentell 3U beftimmen; loenn er toirflid) (5eu)id^t befi^t, roas
fel)r roaf)rfd)einlid) ift, [0 ift basfelbe äu^erft gering unb für unfere
feinften 2Bagen uncoägbar. VI. Der ätl)erif^e ^Iggregat^uftanb
fann toafirfd) einlief) unter beftimmten Sebingungen burc^ fort=
[^reitenbe 33erbid)tung in htn gasförmigen 3wf^ö^^ ^^^ 9Jla[[e
übergef)en, ebenfo roie biefer le^tere burd) ^bfü^lung in t>tn
flüffigen unb rDeiterf)in in titn feften übergel)t. VII. Die[e 5lggre =
gatjuitänbe ber XRaterie orbnen \id) bemnad^ (toas für bie
moniftifd)e ilosmogenie fel)r toic^tig ift) in eine geneti[d)e,
fontinuierlid)e 9?ei^e; toir unterfd)eiben fünf Stufen berfelben:
1. ber ätf)eri[d)e, 2. ber gasförmige, 3. ber flüffige, 4. ber feft=
flüffige (im lebenben Plasma), 5. ber fefte 3uf^önb. VIII. Der
138 3a3ölftc5 Äapitel.
$ltl)er ijt ebenfo uncnblidf) unb uncrmefelid) tote ber 9{aum [clbff;
er bcfinbet [id) ctötg in ununterbro(f)cncr ^Bctoegung.
^if)n unb ORoffe. „Die genoaltige Hauptfrage nad^ bem 9Be[en
bes ^tl)er5", toie [ie §er^ mit 9?ecf)t nennt, [d)Iiefet aud) biejenige
[einer Se3ie!)ungen jur SOZaffe ein; benn beibe ^auptbeftanbteile
ber SJlaterie befinben [id) ni(^t nur überall in innigjter äußerer
$Berüt)rung, fonbern aud^ in etoiger br)nami[(^er 2Becl^[eltDir«=
!ung. 9}Zan fann bie allgemeinjten 9latureri(^einungen, toelc^e
bie ^bPft^ als IRaturfräfte ober als „gunftionen ber SKaterie"
unter[(^eibet, in 3toei ©ruppen teilen, von benen bie eine Dor-
3ugscoei[e (aber ni^t aus[cf)liefeli(^) gun!tion bes 5lt{)ers, bie
anbere ebenfo ^unftion ber SJlaffe ift. Die Grfd) einungen bes
£ic^tes, ber jtraf)Ienben SBärme, ber dBIeftrijität unb bes 9Jiagnetis=
mus roerben übero^iegenb burd) htn imponberablen ^tf)er oer*
ntittelt; bagegen bie (£rfd) einungen ber Sd^ioere, ber Xxagfyzii, ber
2Ba[fertx)ämte unb bes (If)emismus burd^ bie ponberable 5üla[[e.
Die[e ltnter[d)eibung bebeutet aber feine abfolute ^Trennung ber
beiben entgegenge[e^ten (Energiegruppen; t)ielme{)r bleiben beibe
tro^bem Bereinigt, bef)alten it)ren 3ii[ömmenl)ang unb jtel)en
überalt in bejtänbiger 2Bed)[eltDir!ung. 2Bie be!annt, [inb opti[(^e
unb ele!trifd)e 23orgänge bes $ltt)ers eng oerfnüpft mit me(f)ani[(i)en
unb ci^emi[d)en 93eränberungen ber 9Jlaf[e; bie jtrablenbe SBärme
bes erfteren ge{)t bire!t über in bie SJlaffenroärme ober medE)ani[d^e
SBärme ber le^teren; bie (Sraoitation !ann nid)t roirfen, o^ne ha^
ber ^tf)er bie 9Jla[fenan3ieI)ung ber getrennten ?ltome »ermittelt,
ba toir !eine gerntoirfung annef)men fönnen. Die S^ertoanblung
einer (Energieform in bie anbere, toie [ie bas (5e[e^ oon ber (&xi)ah
tung ber Äraft nad)tDeijt, bestätigt 3ugleid) bie beftänbige 2Bed)[el=
toirfung 3tDi[d)en ben beiben ^auptteilen ber Subjtan3, 3töi[c^en
^tber unb aRa[[e.
ilraft nnh Energie. Das grofee (Srunbgefe^ ber 91atur, u)eId)C5
wir als (5ubjtan3ge[e^ an bie Spi^e aller pl)t)[i!ali[d^en Setrad)=
tungen jtellen, tourbe ur[prüngli^ oon 5Robert9Jlai)er, ber es
aufjtellte (1842), unb oon öelml)0l^, ber es ausfüfjrte (1847), als
bas ©e[e^ oon ber (Ert)altung ber 5traft be3eid)net. Sc^on 3el)n
3al)re früf)er I)atte ein anberer beut[d)er 9laturfor[d)er, (Jriebrid)
9JloI)r in Sonn, bie tDe[entIi(^en (Srunbgebanfen bes[elben !Iar
entroidelt (1837). Später tourbe ber alte ^Begriff ber Rraf t burd)
bie moberne ^I)i)[i! oon bemjenigen ber (Energie getrennt, ber
urfprüngli^ gleic^bebeutenb roar. Demnad) toirb je^t ba5[elbe
(5e[e^ geu3öl)nlid) als bas „®e[e^ oon ber Ron[tan3 ber (Ener =
gie" be3eid)net. örür bie allgemeine SBetrad)tung bes[elben, mit
ber i^ mi(^ l)ier begnügen mufe, unb für bas grofee ^rinsip oon ber
1)05 Subftansgefe^ 139
„(£rl)altung ber 6ubjtan3" fornrnt bte[er feinere Unter[(f)teb ntd^t
in ®etta(i)t. Der £e[er, ber [irf) bafür intere[[iert, finbet eine fe^r
!Iare ^useinanberj'e^ung barüber 3. S. in bem au5ge3ei(f)neten
^uf[a^ bes englifc^en ^f)r)[i!er5 3:t)nban über „bas ©runbgefe^
ber 9^atur" (©raunfd^toeig 1898). Dort ift aud) eingel)enb bie
unioerfole ^Bebeutung biefes fosmologtfc^en (örunbgefe^es erläu=
tert, [otoie [eine ^Intoenbung auf bie tüid^tigften Probleme [el)r
t)er[d)iebener ©ebiete. 2Bir begnügen uns l)ier mit ber toicfjtigen
Xat[a(f)e, bajg gegentoärtig bas „(£nergieprin3ip" unb bie bamit
t)er!nüpfte Ilberseugung von ber CBinl^eit ber 9laturfräfte, üon
i^rem gemeinfamen Urfprung, burc^ alle fompetenten ^l)t)[ifer
anerfannt unb als ber toid^tigfte ^ortfci^ritt ber ^^x)\it im 19. 5af)r=
{)unbert geroürbigt roirb. 2Bir toiffen je^t, bafe SBärme ebenfogut
eine ^^orm ber ^Betoegung ift, toie <Bä)all, (£Ie!tri3ität ebenfo
roie £id)t, G;{)emi5mus ebenfo toie SJJagnetismus. 2Bir fönnen
burd^ geeignete 23orri(^tungen eine biefer Gräfte in hit anbere
oertoanbeln, unb überseugen uns babei burd^ genauefte SCReffung,
ba]3 oon if)rer ©efamtfumme niemals bas fleinfte Ztxl^tn Der=
loren ge^t.
Spannfraft unb Xrtebftaft (potentteile unb aftuelle
(Energie). Die ©efamtfumme ber 5lraft ober (Energie im SBelt*
all bleibt beftänbig, gIei(i)DieI, votlä)t 23eränberungen uns erfd)einen;
fie ift eiüig unb unenbli^, toie bie äRaterie, an bie fie untrennbar
gebunben ift. Das ganse ©piel ber $Ratur berul)t auf bem SBedfifel
Don fd^einbarer 5Ru!)e unb ©etoegung; bie ru^enben 5^örper be=
fi^en aber ebenfo eine unoerlierbare ©röfee üon i^raft, toie bie
betoegten. 5Bei ber ^etoegung felbft oertoanbelt fid) bie Spannfraft
ber erfteren in bie ^^riebtraft ber le^teren. „3ttbem bas ^rinsip
ber (Erhaltung ber Äraft forool)! bie ^bftojgung als bie 5tn3iel)ung
in $Betcad)t 3iet)t, bet)auptet es, t)a^ ber med^anifd)e 2Bert ber
Spannfräfte unb ber lebenbigen i^räfte in ber materiellen 9BeIt
eine tonftante Quantität ift. ilur3 gefagt, serfällt ber ilraftbefi^
bes Unioerfums in 3ioei 3^eile, bie nad) einem beftimmten 2Bert=
t)erl)ältnis ineinanber oertoanbelt roerben fönnen. Die 93ermin«
berung bes einen bringt bie 33ergröfeerung bes anberen mit fict);
ber ©efamtroert feines ©efi^es bleibt jeboc^ unoeränbert." Die
Spanntraft ober bie potentieIIe(£nergie unb bie lebenbigc
Rraft ober bie attuelle (Energie (= Xriebtraft) toerben beftänbig
ineinanber umgetoanbelt, ot)ne ha^ bie unenblictje ©efamtfumme
ber 5lraft im unenbli(^en SBeltall jemals ben geringften 33erluft
erleibet.
©in^cit ber Dtoturfräfte. 9^adE)bem bie moberne ^l)i)fi! bas
Subftansgefe^ 3unö^ft für bie einfa(^eren ^e3iet)ungen ber an»
140 Drctäe^ntes Rapitel.
organifd)en 5lörpcr feftgejtellt l)atte, totes bte ^l)r)[toIogte beffett
allgetTteme ©eltuttg auc^ im (5ejarrttberetd)e bcr orgartifd)ert Statur
Ttad). Sie geigte, ha^ alle fiebettstätigfeitett ber Organismen
ebenfo auf einem bejtänbigen „Äraftttjed^fel" unb einem bamit
oerfnüpften „StofftDcdf)[er' berul)en tote bie einfad) jten 3Sorgänge
in ber [ogenannten „leblofen 9latur". 9lid)t nur bas 2Ba(i)stum
unb bie (£rnäl)rung ber ^flangen unb 3^iere, [onbern aud) bie ^unh
tionen tf)rer (Empfinbung unb SBetoegung, il)rer 8innestätig!eit
unb it)res Seelenlebens berur)en auf ber 33ertDanbIung von Spann=
!raft in lebenbige i^raft unb umge!el)rt. X)ie[es f)ö^fte ©efe^
bel)err[(^t aud^ biejenigen oolüommenften fieijtungen bes 9Zert)en=
fi)jtems, töelc^e man bei ben f)öl)eren Jieren unb beim 9Jlen[d^en
als bas „©eiftesleben" begei^net Somit gilt basfelbe aud) für
bie gesamte ^[i)(^ologie. 2Bir fennen nur einerlei 5lrt von
^laturfräften in allen 9laturer[c^ einungen.
JWnmac^t bes SuBftanägcfetes. Hn[ere fejte monijtifdie Hbcr*
jeugung, bafe bas !osmoIogi[c^e ©runbgefe^ allgemeine ©eltung
für bie gefamtc 91atur befi^t, nimmt bie l^öi^jte $Jebeutung in
^nfprud^. ^enn baburd) ttjirb nid^t nur pofittt) bie pringipielle
(£inl)eit bes i^osmos unb ber faujalc 3it[ömment)ang aller uns
erfennbaren (£r[d) einungen betoiefen, [onbern es roirb baburd)
juglei^ ncgatit) ber l)öd)jte intelleftuelle grortf^ritt ergielt, ber
befinitit)e Sturj ber brei 3^^traIbogmen ber 9}letapl)r)[if:
„(Sott, greil)eit unb Hn|terblid)!eit". Snbem bas Sub^tanggefe^
überalt med^anifc^e Urfad)en in ben (£r[d)einungen nad)tDeift, oer»
fnüpft es [id) mit bem „allgemeinen Kau[alge[e^".
enflt>idetttttgööef(j^i(^fe bet 2Bett
9}Zoniftifc|)e (otu\)kn über bie emige ^ntU){c!etung be^ llnt=
t)erfum. 6c^ö|)fung, "Einfang unb (fttbe ber ^elt Entropie.
Unter allen Sßelträtfeln bas größte, umfaffenbjte unb [(^toerjte
ift basjenige tjon ber (£ntftel)ung unb (gnttüidelung ber 2Belt, furg
getDöl)nlid) bie „Sd)öpfungsfragc" genannt. 9lu^ gur üöfung
biefes [d)tDierigjten SBelträtfels I)at bas 19. 3öl)rl)unbert mel)r bei»
getragen als alle frül)eren, ja [ie ijt il)m fogar bis gu einem getüi[[en
©rabe gelungen. 2ßenigjtens [inb roir 3U ber Haren (£in[id)t gelangt,
CIBnttDt(Ielungsge[(^id)tc ber 2Bclt. 141
ba'ij alle öerfd)tcbenen cinäelnen Sd)öpfungsf ragen untrennbar
üerfnüpft [inb, bofe [te alle nur ein eingiges, allumfaffenbes „fos*
mt[(^es Uniüerfalproblem" bilben, unb htn Sd)Iüf[eI 3ur
ööfung btefer „Wlitfi^xaQz" gibt uns 'i)a5 eine 3öuberrDort: „(£nt*
loi delung" ! i)ie großen (fragen »on ber S(i)öpfung bes 9[Ren[(i)en,
oon ber Sd)öpfung ber 3:iere unb^flanjen, von ber Schöpfung
öer (£rbe unb ber Sonne ufto., [ie alle [inb nur Xeile jener Itnioerlal*
frage: 2Bie ift bie 'gange 2BeIt entjtanben? 3ft [ie auf übernatür^
iid)em 3Bege „er[d)aff en", ober t)at [ie [id) auf natürlid)em SBege
„enttoidelt"? 2BeIc()er ^rt [inb bie Ur[ad)en unb bie 2Bege bie[er
(£ntn)if!elung? ©elingt es uns, eine [icf)ere ^Inttoort auf bie[e
<5ragen für eines jener 3: eil= Probleme gu finben, [o l)aben mx
nad) un[erer einl)eitlid^en 91aturauffa[[ung bantit s^öle^rf) ein er=
l)eUenbes £id)t auf beren Seanttoortung für bas gange SBelt*
Problem geroorfen.
6(^ö|)fung (Creatio). Die l)err[(^enbe ^n[id)t über bie (£nt=
[tel)ung ber 2Belt toar in frü^^eren ^a^i^^unberten faft überall, ujo
benfenbe9Jlen[rf)entDol)nten, ber(Slaube an bie (5dE)öpfung. ^n
3:au[enben oon intere[[anten, ntel)r ober xoeniger fabelhaften Sagen
iint> Did)tungen, ilosmogonien unb S(i)öpfung5ntr)tl)en
{)at bie[er Sd)öpfungsglaubc [einen mannigfaltigen ^usbrudE ge«=
funben. grei baoon blieben nur toenige grojse ^l)ilo[opl)en unb
t)e[onbers jene beujunberungstoürbigen freien Den!er bes !la[[i[^en
'2lltertum5, bie guerft ben ©ebanfen ber natürlid)en (EnttoidEe»
lung erfaßten, ^m ©egen[a^ gu bie[em le^teren trugen alle jene
Sd)öpfungsmr)tl)en ben (S:i)ara!ter bes Xlbernatürli^en, SBunber«
baren ober 3:ran[5enbenten. Unfäl)ig, bas 2Be[en ber 2Belt [elbjt
3U erfennen unb il)re (£nt[tel)ung buri) natürlid^e Ur[ad)en gu er=
Hären, mufete bie unentroicfelte 93ernunft [elbftoerftänblid) gum
SBunber greifen. 5n t)tn meijten Sd)öpfungs[agen oer!nüpftc
fid) mit bem SBunber bie 93ermen[d^lid)ung (ber ^Int^ropismus).
2Bie ber ärien[cl) mit m[id^t unb burcl) 5^unjt [eine 2Ber!e [d)afft,
[o [ollte ber bilbenbe „®ott" planmäßig bie SBelt er[d)affen liabtn;
bie S3or[tellung bie[e5 Sd)öpfer5 toar meijtens gang men[^en=
äbnlid) (antt)ropomorpl)). Der „allmächtige Sd)öpfer Fimmels
unb ber ßrben", roie er im erjten ^ud) 9Jlo[es unb in un[erem l)eute
noc^ gültigen Äated)i5mus [d)afft, i[t eben[o gang men[c^lic^ ge=
:bad)t tote ber moberne Sd)öpfer oon Ulga[[i3 unb 9?ein!e.
6(^öpfung bes SBeltalls unb ber C^tngelbtnge (Äreation
t)et Sub[tan3 unb ber ^fgibenäen). Sei tieferem (£ingel)en in
Den SBunberbegriff ber i^reation fönnen roir als gtoei töe[entlid)
x>er[d)iebenc 5l!te bie totale Sd)öpfung bes SBeltolls unb bie partielle
Srf)öpfung ber eingelnen Dinge unter[cl)eiben, ent[pred)enb bem
142 2)rei3el)nte5 Äapitcl.
93egrtffe Spinozas Don bcr Subfiong (bem Universum) unb
ben ^f3ib engen (ober Modi, ben eingelnen „(Srfrfieinungsformen
ber Subjtan3"). Diefe UnterfdEieibung ijt prtn3tptell tDt(J)ttg; benn
es l)at ütele unb ange[e^ene ^t)Uofopl)en gegeben (unb es gibt
noc^ l)eute [oId)e), toeId)e bie erftere annel)men, bie leitete bagegen
üermerfen.
Sd^öpfung ber Subftonj (5^osmoIogt[d)er ilreatisntus).
^aä) bte[er (3d)öpfungslef)re f)at „©ott bie 2BeIt aus bem $Ri(^ts
ge[(^affen". 9[Ran jtellt [id) üor, bafe ber „eioige ©ott" (als oer*
nünftiges, aber immaterielles 2Be[en!) für [id^ allein von (£rDig=
feit l)er (im leeren 5Raum) ol)ne 9BeIt eiijiierte, bis er bann ein*
mal auf t>^n (5eban!en fam, „bie 2BeIt ju [(J)affen". 33iele ^n=
l)änger biefes ©laubens befc^ränfen bie S(^öpfungstätig!eit ©ottes
aufs ^ufeerfte, auf einen einjigen 5l!t; fte nel)men an, tia^ ber
aufeern)eltli(^e ©ott (be[[en übrige 3^ättg!eit rät[en)aft bleibt!) in
einem ^ugenblitf bie Subjtan3 er[(i)affen, tt)r bie gäl)ig!eit 3ur
toeiteftge^enben (Enttoicfelung beigelegt unb fid) pann nie tüeiter
um [ie be!ümmert f^aht. Diefe loeit »erbreitete 3lnfid)t ijt nament*
lid^ im englifc^en Deismus melfad^ ausgebilbet roorben; [ie näl)ert
Yiä) unferer monijtifd^en (£ntu3i(lelungslel)re unb gibt [ie nur in
bem einen 3lRomente preis, in rael^em ©ott auf ben (3(i)öpfung6=
gebauten fam. Rubere ^nt)änger bes fosmoIogi[(f)en Äreatismus
net)men bagegen an, ha^ „©ott ber $ert" bie (5ub[tan3 nid^t nur
einmal er[d)affen l)abe, [onbern als betoufeter „(£rl)alter unb 9?e*
gierer ber 30Selt" in beren ©e[d)id)te forttoirfe. 33iele 3Sariationen
bie[e5 ©laubens nät)em \xä) balb bem ^antl)etsmus, balb bem
!on[equenten X^eismus. ^lle bie[e unb äl)nlid)e (formen bes
Scf)öpfungsglaubens [inb unoereinbar mit bem ©e[e^ oon ber
(£rl)altung ber ilraft unb bes Stoffs; bie[e5 fennt feinen „Anfang
ber 9Belt".
S(^ö|jfutt9 ber Ginaelbinöe (Ontologi[d)er Äreatismus).
9^a^ bie[er inbioibuellen, nod^ je^t l)err[^enben S^öpfungslel)rc
f)at ©Ott ber $err nic^t nur bie 2ßelt im ©an3en („aus ^li^ts")
ge[cE)affen, [onbern aurf) alle einseinen Dinge, ^n ber d)riitli^en
i^ulturtoelt be[i^t no^ l)eute bie' uralte [emiti[d)e, aus bem erjten
^ud) yRo]t5 l)erüb ergenommene Sd)öpfungs[age bie toeitefte
©eltung; [elbjt unter htn mobernen SRaturfor[d^ern finbet [ie nod)
l)ier unb ba gläubige ^nljänger. 3^ I)o^^ meine friti[cf)e ^uffa[[ung
ber[elben im erften 5lapitel meiner „^latürlid^en 6d^öpfungsge=
[c^i^te" einge^enb bargelegt. ^Is intere[[ante SJZobififationen
bie[es ontologi[d)en 5^reatismus bürften folgenbe X^eorien ju
unter[(^eiben [ein: I. Duali[ti[d)e Äreation: ©ott l)at [id) auf
3U)ei Sdjöpfungsafte be[d)ränft; suerft [d)uf er bie anorgam[d)C
i
(£nttütdelung5gcfd^id)te ber 9BeIt. 143
2BcIt, bic tote Subjtanj, für btc allein bas ©e[e^ ber Energie gilt,
blinb unb ziellos toirfenb im äJiec^anismus ber 2BeIt!örper unb
ber ©ebirgsbilbung; [päter ertöarb ©ott Sntelligenj unb teilte
biefe ben X)ominanten mit, titn sieljtrebigen, intelligenten Gräften,
u)elcf)e bie (Sntroidelung ber Organismen beroirfen unb leiten
(3^ein!e). IL Xrialiftif^e 5lreation: ©ott l)at bie SBelt in
brei§aupta!tenge[ct)affen: A. Sd^öpfung bes Fimmels (b. I). ber
aufeerirbi[(^en SBelt); B. 6d^öpfung ber (£rbe (als äRittelpunft ber
2BeIt) unb il)rer Organismen; C. Sd)öpfung bes 9Jlen[c^en (als
(Ebenbilb ©ottes): biefes Dogma ift nod^ tieute toeit verbreitet
unter d)rijtlid)en ^^eologen unb anberen „©ebilbeten"; es roirb
in melen Sct)ulen als 2Bat)rt)eit gelet)rt. III. §eiamerale5^re =
ation: bie Sd)öpfung in [ed)s 2;agen (nad) 9Jlofes). Obgleirf) nur
tt)enige ©ebilbete ^eute nod) toirüirf) an bie[en mo[ai[(f)en 9Jlt)tl)us
glauben, roirb er benno(i) unferen kinbern [d)on in ber früliejten
3ugenb mit bem Sibelunterrid^t feft eingeprägt. Die Dielfact)en,
namentli^ in (Snglanb gemad)ten 33erfu^e, ben[elben mit ber
mobernen (£nti»ic!elung6let)re iij (EinÜang gu bringen, [inb oöllig
fet)Igefd)Iagen. ^üx bie 9flaturix)i[[en[d)aft getoann berfelbe baburd^
grofee Sebeutung, bafe £inne bei ©egrünbung [eines 9^atur=
[riftems (1735) it)n annatim unb 3ur $8egriffsbejtimmung ber
organifd^en (oon il)m für bejtänbig get)altenen) Spezies be=
nu^te: „(£s gibt [o oiele Derfrf)iebene ^rten oon Stieren unb ^flangen,
als im Anfang oer[d)iebene Srormen oon bem unenblid)en SBefen
erfc^affen xoorben [inb." X)ie[es Dogma rourbe siemlidf) allgemein
bis auf Dario in (1859) fejtgel)alten, obgIei(^ Qamaxä [d)on
1809 [eine llnl)altbar!eit bargelegt l)atte. IV. ^eriobi[dE)c i^rea*
tion: im Anfang jeber ^eriobe ber (£rbge[(i)irf)te tourbe bie ganse
3:ier= unb ^flanjenbeodüerung neu ge[(i)affen unb am CSnbe ber=
[elben burd) eine allgemeine Äata[tropt)e Dernirf)tet; es gibt [o oiele
©eneral'Sd^öpfungsafte, als getrennte geologi[^e ^erioben auf=
einanber folgten (bie 5^ata[tropl)entl)eorie oon (SSuoier, 1818, unb
oon ßouis 5Iga[[i3, 1858). Die Paläontologie, 03el(i)e in il)ren
unoollfommenen Anfängen biefe £el)re oon h^n toieberl)olten $Reu=
[(^öpfungen ber organi[d)en SBelt 3U [tü^en [(^ien, ^at biefelbe
[päter oolljtänbig toiberlegt. V. ^Tibioibuelle Äreation: jeber
einjelne 9Jien[d) — eben[o toie jebes einselne 2;ier unb jebes
^flanseninbioibuum — ijt ni(f)t burd) einen natürlid)en gort*
pflansungsaft entjtanben, [onbern burd) bie ©nabe ©ottes ge*
id)affen („ber alle Dinge fennt unb bie §aare auf un[erem Raupte
ge3äl)lt l)at")- äRcin liejt bie[e d)ri[tlid)e Sc^öpfungsan[id)t nod)
l)eute oft in htn 3^itungen, be[onbers bei ©eburtsanjeigen
{„©ejtern [d)en!tc uns ber gnäbigc ©ott einen ge[unben Änaben"
144 $)rei3etintcs Äapitel.
ufro.). ^ud) bie inbiüibuellen ZaUnit unb SSorjügc unfercr 5linber
tüerben oft oIs „bcfonbcre ©abcn ©ottcs" banfbar ancriannt (bie
erbitten (5cf)Icr gett>öl)nlid) md)tl).
enttDirfelttttö (Oeuesis, Evoliitio). 3)te Unt)altbar!ett ber
<3d)öpfungsfagen unb bcs bamit üerfmipften SBunberglaubens
mufetc [i(^ [d)on früf)3etttg benfenben Mtn\(i)tn aufbrängen; tüir
finben t>a\)tx \ä)on vox mt\)x ah 3roettau[enb 3ö^i^ß^ 3at)IreicE)e
$Jer[ud)c, bte[elben burd) eine oemünftige 3:i)eorie 3U erfe^en unb
bie (£ntjtet)ung ber 2BeIt mittels natürli(^er Hr[a(i)en 3U erflären.
Tillen voran jte^en l)ierin xüieber bie großen I)en!er ber ionifd^en
9laturp^tlo[opt)ie, ferner X)emD!rito5, ^eraflitos, (Smpebofles,
^rijtoteles, fiufretius unb anbere^^l)iIofopt)en bes Altertums. Die
erften unüollfontntenen 93er[u(i)e, tDeI(i)e [ie unternol)men, über=
ra[d)en uns 3um 3:eil burd) jtrol)lenbe £i(i)tbli(Je bes ©eijtes, bie
als 93orIäufer ntoberner Sbeen er[(i)einen. 3i^be[[en fef)Ite bem
!Iaf[if(f)en Altertum jener fiebere $Boben ber naturpl)iIo[opl)i[(I)en
Spefulation, ber erjt burd) un3äl)lige Beobachtungen unb 93erfu^e
ber 9leu3eit getoonnen iDurbe. 9JBät)renb bes SJlittelalters — unb
befonbers tüät)renb ber (5eroaItl)errfc^aft bes ^apismus — ru!)te
bie tt)i[[enfd)aftlirf)e 5orf(^ung auf biefem ©ebiete gans- Die Xortur
unb bie S(i)eiter^aufen ber S^tguifition forgten bafür, t^a^ ber un=
bebingte ©laube an bie l)ebräi|'(i)e 9Jlt)t!)ologie bes 9Plo[es als
befinitioe ^Tntnjort auf alle S(t)öpfungsfragen galt. Selbft bie=
jenigen (Erfd) einungen, bie unmittelbar 3ur Beobachtung ber
(£nttDicfelungs=3:at[a^en aufforberten, bie 5ldmesge[d)icE)te ber
Xiere unb ^flansen, bie (£mbrr)ologie bes 9[Renf<i^en, blieben un*
bead)tet ober erregten nur l)ie unb ba bas j^nterefft einselner toiJ3=
begieriger Beobad)ter; aber il)re (^ntbedimgen u?urtken ignoriert
unb oergeffen. ^ufeerbem tourbe ber UKifiren (£r!enntnis ber
natürlicl)en (Snttoidelung i\)x 2Beg üon t)ornl)erein butd^ bie
l)err[(^enbe ^räformationsle^re oerfperrt, bur^ bas Dogma,
bafe bie tf)ara!terijtifd)e gform unb Struftur jeber 3:ier= unt>
^flansenart ]d)on im 5^eime oorgebilbet fei (oergl. (5. 33).
©nttöitfelttttöslel^re {(Eoolutismus, (Eoolutionismus).
Die 3Bif[en[d)aft, bie toir ^eute (£ntt»idelur8gslel)re (im toeiteften
Sinne) nennen, ijt fDtt)ol)l im gan3en als in ä)ren ein3elnen 3:eilen
ein 5linb bes 19. 3ö^i^f)ii"^ßi^ts; [ie gel)ört 3U [einen toidE)tig[ten
unb glän3enb[ten (£r3eugni[[en. Xat[äd)lic^ ijt bie[er Begriff, ber
no(^ im 18. 5al)rl)unbert faft unbetannt toar, l)eute bereits ein
fejter ©runbftein un[erer gan3en 2Beltan[(^auung geroorben. 5^
i)abe bie ©runbsüge ber[elben in frül>eren S^riften ausfül)rli^
bel)anbelt, am cingel)enb[tcn in ber „©encrcllen SD'lorpl)ologic"
(1866), [obann mcl)r populär in ber „«Ratürlidjen Sd)öpfung5»
(£ntiDi(feIungsgcfd)i(^tc bcr SBcli 145
gcfd^id^te" (1868, elfte ^Auflage 1908) unb mit befonberer <Be=
3icl)ung auf ttn 9Jlcn[^en in bcr „^ntl)ropogenic" (1874, fünfte
51uflage 1903). ^ä) be[d)rön!e mid) ba^er l)ier auf eine furje
Überfi^t ber ijDirf)tigften öfort[d)rittc, iDeI(f)c bie CnttoidEelungsIc^rc
im fiaufe bes 19. 5at)rl)unbert5 gema(^t l)at; [ie serfällt nad^ i\)xtn
Dbj e!ten in üier §auptteile: bie natürlid^e (£ntjtel)ung 1. bes
i^osmos, 2. ber (£rbe, 3. ber irbi[d)en Osganismen unb 4. bes
9Jlen[ct)en.
I. SKoniftif^e Äosmogenie. Den erften „S3er[udE)", bie S3er=
faffung unb htn med)anif^en Urfprung bes gansen 2ßeltgebäubes
nad) „9letDton[d)en ©runbfä^en" — b. l). burd^ matt)emati[d)e
unb pi)r)[ifalifd)e (Sefe^e — in einfad)fter SBeife 3U erflären, unter*
nat)m Si^^nanuel Äant in [einem berüt)mten ^ugcnbioerfe, ber
„^lllgemeinen 9'laturge[d)i(i)te unb Zi)toxxt bes Fimmels" (1755).
£eiber blieb biefes großartige unb !ül)ne SBerf 90 ^ai)xt t)inbur(i)
faft unbe!annt; es rourbe erft 1845 bur(f) ?llcxanber oon ^um»
bolbt toieber I)en)orge3ogen , im erften Sanbe [eines „i^osmos".
3n3toi[(^en roar aber ber grofee fran3ö[i[dE)e 9Jlatl)emati!er ^ierre
ßaplace [elbjtänbig auf ät)nli(f)e 31^eorien toie 5lant gefommen
unb fül)rte [ie mit matl)emati[rf)er Segrünbung toeiter aus in [einer
„Exposition du Systeme du monde" (1796). Sein ^auptroer!
„Mecanique Celeste" er[(f)ien im ^ai)xt 1799. Die übereinftimmen»
htn ©runbjüge ber 5^osmogenie üon 5lant unb £aplace berut)en
befanntlid) auf einer me^ani[ci)en (£r!Iärung ber Planeten»
Semegungen unb ber baraus abgeleiteten ^nnat)me, baß alleSBelt*
törper ur[prüngli^ aus rotierenben ^lebelböllen burrf) 93erbid)tung
entjtanben [inb. X)ie[e „9'lebuIarI)i)pott)e[e" ift gtoar [päter
öielfad) t)erbe[[ert unb ergänzt toorben, [ie gilt aber noc^ f)eute als
ber bejte von allen 33er[u^en, bie (£ntjtel)ung bes äBeltgebäubes
einl)eitlic^ unb med)ani[ci) ju erflären (oergl. SBil^elm ®öl[d)c,
(£ntroicfelungsge[d)id)te ber 9latur. I. 93b. 1894). 3n [päterer
eit I)at [ie eine bebeutungsoolle (Ergänzung unb jugleicE) 93er*
tär!ung burd) bie 9lnnat)me geroonnen, bafe bie[er !osmogoni[(^e
^rojefe ni^t nur einmal [tattgefunben, [onbern [ict) periobi[(f)
iDieber^olt l)at. 9GBäl)renb in getoi[[en Xeilen bes unenblid^cn
eltraums aus rotierenben 9lebelbällen neue 3Belt!örper ent-
el)en unb [ic^ enttoideln, toerben in anberen teilen bes[elben
mge!el)rt alte, erfaltete unb abgejtorbene SBeltförper burd)
3u[ammcnjtofe roieber serjtäubt unb in biffufe 5nebelma[[en auf-
gelöjt.
^Tnfang tinh ®nbe ber SBelt. ^a]t alle älteren unb neueren
Äosmogenien unb [o aud) bie meijten, bie [id) on Äant unb
fiaplacc on[d)lo[[en, gingen oon ber l)err[d)enben 9ln[id)t ous.
146 !Drei3el)ntc5 Äapitel.
bafe bic 3Belt einen 5lnfong gel)abt l)abe. So ^ätte [id) „im
Einfang" nad> einer cieberbreiteten gorm ber „5^ebuIarl)i)potl)e[c"
urfprünglirf) ein ungeljeurer ^^ebelball aus äufeerjt bünner unb
Iei(i)ter SJiaterie gebilbet, unü in einem bestimmten 3ßitpun!te
(„cor unbentUd) langer 3cit") \)abt in biefem eine ^Rotations*
betoegung angefangen. ^\ ber „erfte Anfang" biefer fosmogenen
Seroegung erjt einmal gegeben, [o Ia[[en [ic^ bann nad^ jenen
me(i)ani[cf)en ^rinjipien bie roeiteren 23orgänge in ber ^Bilbung
ber SBeltförper, ber Sonberung ber ^lanetenfpjteme u]w. ftd)er
ableiten unb matl)ematif(f) begrünben. X)ie[er erjte „Urfprung
ber ^Betoegung" ift bas 3toeite „SBelträtfel" von Du $8ois =
9?er)monb; er erflärt es für tranfjenbent. 5lud) oiele anbere
^flaturforfc^er unb ^l)iIofopl)en fommen um bie[e Sd^toierigfeit
nid)t l)erum unb refignieren mit bem ©ejtänbnis, bafe man I)ier
einen erjten „übernatürli(f)en ^njtofe", alfo ein „SBunber", an«
net)men muffe.
'iflaä) unferer ^nfic^t coirb biefes „jroeite äBelträtfel" burd) bie
^nnat)me gelöjt, bafe bie Setoegung ebenfo eine immanente unb
urfprüngli(f)e (£igenfd)aft ber Subftanj ijt roie bie (£mpfinbung
(5^ap. 12). Die 5Bered)tigung 5U biefer monifttf(i)en 5lnna^me finben
ipir erjtens im Subftanjgefe^ unb stoeitens in ben großen 'i^oxU
fcf)ritten, töel<f)e bie ^Tftronomie unb ^l)r)fi! in ber ätoeiten Hälfte
bes 19. 3öt)rt)unbert5 gemai^t f)aben. Dur(f) bie 8p eltral*
anali)fe t>on 5Bunfen unb 5lird)I)off (1860) I)aben tüir nid)t
nur erfal)ren, "Da^ bie SJlillionen 2BeIt!örper, roeId)e t^n unenblid^en
Weltraum erfüllen, aus benfelben SJlaterien bejtelien toie unfere
Sonne unb (£rbe, fonbern aud), bafe fie fid) in oerfc^iebenen 3^'
ftänben ber (Snttoidelung befinben; toir Ijaben fogar mit il)rer
§ilfe Äenntniffe über bie ^Beuoegungen unb (Entfernungen ber
(Jiifterne getoonnen, u)eld)e tuxd} bas 5ernrol)r allein nid^t erfannt
toerben fonnten. ferner ijt bas 3^elef!op felbft feljfr bebeutenb
oerbeffert toorben unb t)at uns mit $ilfe ber ^l)otograpl)ie
eine 3^ülle oon aftronomifc^en (Entbedungen gefd)en!t, xDeld)e
im beginne bes 19. ^^^^^^unberts nod^ nid)t geal)nt roerben
!onnten. 3^5befonbere l)at bie beffere Jlenntnis ber Äometen
unb (5ternfd)nuppen, ber Sternt)auf cn unb ^Tlebelflede, uns bie
grofee SBebeutung ber fleinen 2Belt!örper lennen gelel)rt, u)eld)e
3U SOlilliarben stoifi^en htn größeren Sternen im 2Beltraum oer=
teilt finb.
2Bir roiffen je^t auä), bafe bie $ßal)nen ber SJiillionen oon
2Belt!örpern oeränberli^ unb jum Xeil unregelmäßig finb,
tt)äl)renb man frül)er bie ^lanetenfr)fteme als beftänbig betrad)tete
unb bie rotierenben ©ölle in etoiger (5leid)mä^ig!eit it)re i^reife
ebi
K
(£nttoidelung5öc|d)ic^tc hex SBelt. 147
bc[d)reiben lie^. 3Bid)tige ^uff(f)Iü[fc oerbanft btc ^jtrop^t)|i!
aud) bcn gctDaltigen 5ort[d)ritten in anbeten ©ebteten ber ^l)r)[if,
Dor allem in ber Opti! unb (Sleftrü, [otoie in ber baburd) geförberten
5Jtl)ert{)eorie. (Enblid) erröeift fi(^ auc^ I)ter loieber als größter
gortfc^ritt unferer 9laturer!enntni5 ha^ unioerfale Sub[tan3 =
gefe^. 2Bir toiffen je^t, 'öa^ es ebenfo überall in htn fernften
21ielträumen unbebingte Geltung l)at toie in unferent Planeten*
[i)jtem, eben[o in bem fleinften Xeild)en unferer (Erbe toie in ber
fleinjten 3ßne unseres men[d)Iid^en ilörpers. 2Bir [inb aber aud^
3U ber toic^tigen 5Innal)me bered)tigt unb logifc^ gegtoungen, bafe
bie (£r:^altung ber äRaterie unb ber (Energie ju allen S^^i^^ ebenfo
allgemein bejtanben l)at, toie fie l)eute ol)ne ^usnal)me bejtel)t.
3n alle (£t»ig!eit roar, ift unb bleibt bas unenblicf)e
Unioerfum bem Sub[tan3gefe^ unterroorfen.
^us biefen getoaltigen gortfi^ritten ber ^tronomie unb
^l)t)[if, bie fid) gegenfeittg erläutern unb ergänjen, ergibt [id) eine
9?eil)e von überaus tDid)tigen Sc^lüffen über bie 3iifflTnmen[e^ung
unb (Entroidelung bes 5^osmos, über bie Sel)arrung unb Umbilbung
ber Subjtanj. 2ßir fa[[en biefelben fürs in folgenben 3:i)ej'en
3u[ammen: I. I)er SBeltraum ift unenbli^ grofe unb unbegrenzt;
er ijt nirgenbs leer, fonbern allentl)alben mit 8ubftan3 erfüllt.
II. Die Sßeltseit ift ebenfaHs unenblid) unb unbegrenzt; [ie t)at
feinen Einfang unb fein (£nbe, fie ift (£tDig!eit. III. X)ie S üb [tanz
befinbet fid) überall unb jeber 3^it in ununterbrod^ener Setoegung
unb 33eränberung; nirgenbs f)errfd)t Dollfommene 9lu^e unb
Starre; babei bleibt aber bie unenblid)e Ciuantität ber 9Jiaterie
ebenfo unoeränbert toie biejenige ber etoig tDed)felnben (Energie.
V. Die Itniüerfalbetoegung ber Subftanz im SBeltraum ift ein
toiger i^reislauf mit periobifd) fid) toiebetl)olenben (Snttoide*
ungsjuf täuben. V. Diefe ^l)afen befte!)en in einem petiobif(^en
ed)fel bet 3^empetatut unb bet babutd) bebingten Di(^tig!eit5=
oer^ältniffe (^ggregatjuftänbe). VI. 3Bäl)renb in einem Xeile
bes SBeltraums burd) fortfd)reitenbe 23erbid)tung neue 2Belt!örpet
entftel)en, etfolgt gleid)zeitig in anbeten 3^eilen bet entgegengefe^te
^tojefe, bie 3c^^ftötung von SBelttötpetn, bie aufeinanbet ftofeen.
VII. Die unget)euten äBätmequantitäten, toeli^e butd) biefe
med)antfc^en ^tojeffe bei ben 3ufömmenftöfeen bet totietenben
SBeltfötpet etseugt toetben, ftellen bie neuen lebenbigen 5^räfte
bat, 03eld)e bie ^etöegung bet babei gebilbeten !osmifd)en Staub*
maffen unb bie 5Reubilbung totietenbet $Bälle betoitfen: bas
emige Spiel beginnt toiebet üon neuem, ^ud) unfete SJiuttet
^x'i>t, bie Dot 9Jlillionen oon 3cit)ttaufenben aus einem 2^eile bes
rotierenben Sonnenfr)ftem5 entftanben ift, toirb nad) 33erflufe
10*
148 Drel3Cl)ntc5 Äopitcl.
iDCtterer 50lintoncn erstarren unb, na^bcm il)rc ©al)n immer
flctncr gctDorbcn, in bie Sonne Itürjen.
Sefonbers tDi(^tig für bie flore (£in[i(^t in bcn umocrfalen
!o5mt[d)en (BnttDicfelunsprosefe [inb bie[e mobernen SSorftellungcn
über periobifd) rDed)|elnben Untergang unb Sfleubilbung ber 2Belt=
förper. Hn[ere SUutter „(£rbe" [d)rumpft babei auf ben SBert eines
Doin^igen „Sonnenjtäubd)ens" jufammen, toie beren unge3ät)Itc
93üIUonen im unenblid^en SPßeltenraum uml)eriagen. Hn[er eigenes
,,S[)flen[d)entoe[en", tDeId)es in [einem ant!)ropijti[c^en ©röfeen»
walfn iii) als „(Sbenbilb ®ottes" üerl)errli(i)t, [in!t 5ur ©ebeutung
eines plajentalen Säugetieres l)inab, toel(i)es ni^t mel)r 2ßert für
bas ganje Unioerfum befi^t als bie ^meife unb bie (Eintagsfliege,
als bas mi!ro[fopi[rf)e ^T^fuforium unb ber roinjig^te ©aäillus.
%uä) toir 9Ken[(i)en finb nur DDrübergef)enbe (£nttüidfelungs3ujtänbe
ber etüigen Subjtanj, inbioibuelle (£r[d)einungsformen ber äRaterie
unb (Energie, beren 9lirf)tig!eit toir begreifen, wtnn toir [ie bem
unenblid)en 9?aum unb ber croigen 3^^* gcgenüberjtellen.
IRautn unb 3^W» Seitbem 5lant bie Segriffe von 9?aum unb
3eit als blofee „^rormen ber ^n[d)auung" erüärt ^at — htn 5{aum
als (5oi^^ ber äußeren, bie 3^it ^Is ^^orm ber inneren 5ln[^auung
— l)at fid) über biefe u)id)tigen Probleme ber (Erfenntnis ein Streit
ert)oben, ber audf) I)eute nod) fortbauert. iBei einem großen 3:eile
ber mobernen 9Jletapbi)[tter I)at [id) bie ^nfid)t befeftigt, bafe biefer
„!r{tif(i)en 3^at'^ als ^usgangspun!t einer „rein ibealijti[d)en (£r=
fenntnistbeorie" bie größte ©ebeutung beizulegen [ei, unb "öa^i
bamit bie natürli(f)e ^n[ic^t bes ge[unben 9Jlen[d)enoerjtanbes vpn
ber ^Realität bes 5Haumes unb ber 3ßtt toiberlegt [ei. Die[e
ein[eitige ?luffa[[ung jener beiben ©runbbegriffc ijt bie Ciuelle
ber größten Irrtümer geujorben; [ie über[iel)t, t>a^ 5lant mit
jenem Sa^e nur bie eine Seite bes Problems, bie [ubje!tit)e,
jtreifte, baneben aber bie anbere, bie objettioe, als gleid^»
bered^tigt aner!annte; er [agte: „9?aum unb 3ßttl)aben empiri[(^e
^Realität, aber tran[3enbentale 3i>^ölität." 9Jlit bie[em
Sa^e 5^ant5 !ann ]id) un[er moberner SJlonismus wol)l ein«
oerjtanben erüären, ni^t aber mit jener ein[eitigen ©eltenb*
mac^ung ber [ubjettioen Seite bes Problems; benn bic[e fü^rt
in ibrer 5^on[equen3 3U jenem ab[urben S^^alismus, ber in
5Ber!eIei)5 Sa^e gipfelt: „Rörper [inb nur 23orjteIIungen, i^r
Da[ein beftebt im SBabrgenommentoerben". Die[er Sa^ [ollte
beiden: „Äörper [inb für mein per[önlid)es $BerDU^t[ein nur 23or*
jtellungen; ibr X5a[ein ijt eben[o real toie basjenige meiner Den!»
Organe, nämlid) ber (Sanglienzellen bes (5rofel)ims, ujeld)c bie
(Einbrüdfc ber Äörper auf meine Sinnesorgane aufnel)men unb
(Enttüidclungsgefd^i^tc bcr 2Bclt. 149
bur(i) ?lffo3tDn bcrfclbcn jene SSorjtcIIung bilbcn." (Sbcnfo gut,
iDie td) bic „^Realität oon 5taum unb 3^it" bestoctfle, ober gar
leugne, !ann i6) aud) btejemge metnes eigenen ^Betoufetfeins leugnen;
im (Jie^ßi^^ßlWum, in ^alluäinationen, im iXraum, im I)oppel=
betDufet[ein l)alte irf) 23orfteIIungen für xoafix, tüelrf)e nic^t real,
[onbem „(Einbilbungen" [inb; id) t)alte [ogar meine eigene ^erfon
für eine anbere (S. 111); bas berüt)mte „Cogito ergosum" gilt f)ier
nicf)t mel)r. Dagegen ift bie ^Realität oon 9?aum unb 3cit
je^t enbgültig beujtefen burd) bie Cnoeiterung unferer 2BeIt=
anf^auung, tüelc^e toir bem (Subjtansgefe^ unb ber monijtifdjen
Äosmogenie üerbanfen. 9la^bem toir bie unl)altbare SSorftellung
Dom „leeren 9taum" glüdlid) abgejtreift l)aben, bleibt uns oIs bas
unenblic^e, „raumerfüllenbe 9Kebium" bie S[Raterie, unb
jtoar in it)ren beiben (formen: ^t^er unb 9[Raffe. Itnb ebenfo
betrad^ten roir auf ber anberen Seite als bas ,t3eiterfünenbe
®efd)el)en" bie eroige Seroegung ober geneti[d)e (Energie,
tDeId)e [ic^ in ber ununterbrod)enen (Enttoidelung ber ©ubftanj
äufeert.
UniTersnm perpetnum mobile. Da jeber beroegte 5lörper
[eine 93etüegung fo lange fortfe^t, als i{)n nid)t äufeere Xlmjtänbe
baran I)inbern, !am ber Wtn\ä) [d)on t)or 3al)rtaufenben auf ben
©ebanfen, Apparate 3U bauen, bie fid), einmal in 93eroegung gefegt,
immerfort in ber[elben SBeife toeiter beujegen. SRan überfal) babei,
1)0.}^ jebe ^Bctoegung auf äufeere §inbenji[[e jtöfet unb anmäf)Iid)
auff)ört, roenn nic^t ein neuer ^nftofe Don aufeen erfolgt, roenn nid^t
eine neue ilraft 3ugefü!)rt toirb, bie jene §inbemi[[e überroinbet.
(5o roürbe 3. S. ein [d)U}ingenbes ^enbel in (Stoigfeit mit berfelben
©efd)tDinbig!eit [id) l)in unb l^er betoegen, roenn nid)t ber SBiber*
[tanb ber £uft unb bie 9?eibung im ^luf^ängungspunfte bie med)a'
ni\ä)t lebenbige Rraft [einer JBetoegung anmät)lid) aufl)öben unb
in SBärme oertoanbelten. 2Bir mü[[en if)m burd) einen neuen
^njtofe (ober bei ber ^enbelut)r burd) 5tuf3iet)en bes ©eroic^tes)
neue me(^ani[(^e 5kaft 3ufüt)ren. Dal)er ijt bie Äon[tru!tion einer
SOZa[d)ine, tt)etd)c ol)ne äufeere $ilfe einen ^rbeitsüberfc^ufe erjeugt,
burd) ben [ie [id) [elbjt immerfort im (Sang erl)ält, unmöglid). ^llle
33er[u(^e, ein [oId)es Perpetuum mobile 3U bauen, mußten fel)l=
[d)Iagen; bie (£r!enntnis bes Subjtan3ge[e^es betoies [obann aud)
tf)eoreti[(^ bie Unmöglid)feit be5[elben.
^nbers oerplt es [id) aber, toenn roir ben ilosmos als (Sanses
ins ^uge fa[[en, bas unenblic^e Sßeltall, toeId)es nad) un[erer
^n[d)auung in etoiger ^Betoegung begriffen ijt. Damit ijt aber
3ugleid) gefagt, ha^s bas ganse Unit) er [um [elbjt ein allum^
fa[[enbes Perpetuum mobile i^t. Die[e unenblic^c unb etoigc
150 35rei3cf)nte5 Äapitel.
„9Jla[(^inc bcs SBeltalls." crt)ölt fid) [clbjt in eu)igcr unb ununter»
brocf)ener Serocgung, toobet bic unenbltd) grofec Summe bcr
aftuellen unb potentiellen (Energie etoig biefelbe bleibt. 9flacf)
unferer ^uffaf[ung ijt alfo bie 23orjteIIung bes Perpetuum mobile
für tan ganjen Äosmos ebenfo wal)X unb funbamental be=
beutenb mie [ie. für bie ifolierte 5Htion eines Teiles besfelben
unmöglid) \]t Damit merben auä) bie S(f)IufefoIgerungen ah^
geler)nt, bie aus ber £el)re oon ber (Sntropie gejogen morben [inb.
©ntropte bes aßeltalls. Der [rf)arf[innige Segrünber ber
mec^anif^en 2BärmetI)eorie (1850), (S;iaufius, fafete ben
mic^tigften 3nt)alt biefer bebeutungsoollen £et)re in smei $aupt=
fä^en 3ufammen. Der erjte §aupt[a^ lautet: „Die (Energie
bes SBeltalls ift !on[tant"; er bilbet bie eine Hälfte unfcres
Subjtanjgefe^es, bas „(Snergieprinjip" (S. 28). Der gmeite
§aupt[a^ behauptet: „Die (Entropie bes Sßeltalls ftrebt
einem 5lRaiimum ju." 5Rad) ber ^n[i(^t oon (Elaufius ger*
fällt bie (Befamtenergie bes SBeltalls in gmei 3:eile, oon benen
ber eine (als 2Bärme oon I)öt)erer Temperatur, als mecf)ani[ct)e,
ele!trifdf)e, d^emifc^e (Energie ufm.) nod^ teiltoeife in 5lrbeit um»
fe^bar ijt, ber anbere bagegen nitf)t; biefe le^tere, bie bereits
in 2Bärme oermanbelte unb in folteren Äörpem angefammelte
(Energie, ijt für meitere ^rbeitsleijtung unmieberbringlicf) oer»
loren. Diefen gleid)fam „Derbrau(f)ten" (Energieteil, ber nid^t
met)r in med)ani[^e ^rb^it umgejegt merben !ann, nennt (Elauf ins
(Entropie (b. I). bie nac^ innen gemenbete 5lraft); er mä^jt be»
jtänbig auf 5^ojten bes erjten Weites. Da nun tagtägli(^ immer
mel)r med)ani[d)e (Energie bes SBeltalls in 2Bärme übergel)t unb
biefe nid)t in bie erjtere jurüdoermanbelt merben fann, mufe bie
gefamte Quantität ber arbeit5fät)igen (Energie immer met)r gerjtreut
unb l)erabge[e^t merben. ^Ile 3:emperaturunter[c^iebe müßten
3ule^t üerf^minben unb bie oöllig gebunbene 2ßärme gleid)mäfeig
in einem einjigen trägen i^Iumpen oon jtarrer SJiaterie verbreitet
fein; alles organif(i)e 2thtn unb alle organifc^e 93emegung mürbe
aufget)ört l)aben, menn biefes 9}iaiimum ber (Entropie erreict)t
märe; bas mal)re „(Enbe ber SBelt" märe ha. (95ergl. ^tUx
^uerbad). Die 2Beltl)errin unb if)r Sd)atten, 1902.)
2Benn biefe ^nmenbung ber fie^re oon ber (Entropie ri(i)tig
märe, fo müfete bem angenommenen „(Enbe ber 2Belt" aud) ein
urjprünglid)er „Anfang" berfelben entjpred^en; beibe 93orjtel=
lungen jinb nad) unferer monijtifc^en unb fonfequenten ^uffaffung
bes emigen fosmogenctijc^en ^rojejfes gleich unljaltbar. (Es gibt
einen Einfang ber 2Bclt ebenfomenig als ein ^nbe berfelben. 2Bie
bas Uniücrfum unenblid) ijt, |o bleibt es auc^ emig in ^cmcgung;
C£ntu3icfelung5gcfrf)i(i^tc ber SBelt. 151
ununterbrochen finbet eine S^ertoanblung ber lebenbtgen Äraft in
Spannfraft jtatt unb umge!el)rt; unb bie Summe biefer aftuellen
unb potentiellen (Energie bleibt immer bicfelbe.
Die 33erteibiger ber (Entropie behaupten biefelbe mit 9te(f)t,
[obalb fie ^rojeffe ins ^uge faffen, bie in einem ge[cf)Iof^enen St)jtem
ablaufen. 5m großen (5an3en bes Sßeltalls, roorauf wix ben
Segriff eines „gefd)lo[fenen S^ftems" nid)t antoenben fönnen,
t)err[(i)en aber jebenfalls 23ert)ältni[[e, bie eine Umfe^rung bes
energetifc^en Ablaufs möglich matf)en. 60 roerben 3. f&. beim
3u[ammenftofee oon stoei 2BeIt!örpern, bie mit ungeheurer (5e=
{■(^roinbigfeit aufeinanber treffen, foIo[[aIe SBärmemengen frei,
U3äl)renb bie serjtäubten 9Jta[[en in htn 2Beltraum I)inau5ge[d)Ieu=
bert unb ^erjtreut toerben. Das etüige Spiel ber rotierenben
SOtaffen mit 33crbicf)tung ber Xeile, ^Ballung neuer fleiner äReteo=
riten, ^Bereinigung berfelben 3U größeren ufto. beginnt bann oon
neuem.
Herbert Spencer f)at in feineti „©runbprin3ipien" über*
3eugenb bargelegt, iia^ [elbjt für ein gef et) I offenes Unioerfum ber
S^lufe unerlaubt toäre, es muffe, einmal in 9^ul)e, au^ unenb=
l{d)e 3ßit in 9?u^e bleiben. 95lan fönne fagen, ber je^ige 3uftanb
l)abe mit bem ^nbe einer frül)eren C£ntcoicfelung begonnen, unb
bas (Snbe ber gegentoärtigen fei 3uglei(i^ ber Anfang einer neuen;
in bem ^ugenblid, too bas SJlaiimum ber (Entropie erreirfjt fei,
fe^e gerabe tint tangfame (Sntroidelung im entgegengefe^ten
Sinne ein, unb fo mürbe \i6) bas Qibtn bes Unioerfums unauf*
I)örlid) fortfe^en. 2Bie ^oincarö (Die mobeme ^l)i)fi!. 1908)
bemertt, jtimmt biefe ^uffaffung mit ber oieler ^l)t)fi!er überein,
tt)eld)e 3. 93. nad) ber ünetif^en ©ast^eorie annel)men, bafe man
bei genügenb langer $Beobad)tung bie oerfd)iebenen 3uftänbe
iDieber!el)ren fel)en !ann, roenn eine (öasmaffe eine 9?eil)e oon 93er=
änberungen burct)gema(t)t l)at.
II. aRoniftifc^e ©cogente. Die (£nta)icfelungsgefcl)ic^te ber
(Erbe, auf bie roir je^t nod^ einen flü(t)tigen Slicf toerfen, bilbet nur
einen toinsig fleinen 3:eil oon berjenigen bes Rosmos. Sie ift 3tDar
aud) glei^ biefer feit mel)reren ^ö^i^taufenben (Segenftanb ber
p^ilofopl)ifd)en Spe!ulation unb nod^ mel)r ber mi)tl)ologif(i)en
Did)tung geroefen; aber il)re tDirflid) coiffenfd)aftlicl^e (£r!enntnis
ift üiel jünger unb ftammt 3um loeitaus größten Xeile aus bem
19. 5a^rl)unbert. 3^1 ^rinsip roar bie 9^atur ber (Erbe, als eines
Planeten, ber um bie Sonne freift, fcf)on burcf) bas 2Beltfi)ftem bes
5loperni!us (1543) beftimmt; burd) ©alilei, Repler unb
anbere grofee ^tftronomen loar il)r ^bftanb oon ber Sonne, i^r
Semegungsgefe^ ufoj. matl)cmati|(^ feftgejtcUt. 5luct) roar bereits
152 Drci5el)ntc5 Rapttcl.
burd) bic Äosmogentc oon 5lant unb £aplacc bcr 2Beg gc3ctgt,
auf tDcId)cm [td) bic ®rbc aus bcr 9[Rutteic 8onnc cntotdclt liattc.
5lbcr btc fpäterc ©cf(^td)tc unfcrcs Planeten, bic Hmbilbung [einer
Oberfläd^e, bic (£ntjtc!)ung bcr kontinente unb 9J?cerc, bcr ©ebirgc
unb SBüften roar nod) ju (£nbc bes 18. unb in hm crjten bciben
Dezennien bes 19. Sö^^^^^Ttberts nur toenig ©egenjtanb crnfter
n)i[[en[d)aftU(i)cr llntcr[ud)ungcn gctüc|cn; meistens begnügte man
]xä) mit sicmlid) un[i(t)eren 93ermutungen ober mit bcr 5Innal)mc
bcr trabitioncllcn (5d)öpfung5fagcn; insbc[onbcrc roar es auc^
^ier roieber bcr überlieferte ©laube an bic mo[ai[d)c Srf)öpfung5=
ge[d)id)te, mt\6)tx bcr [elbjtänbigcn i5ror[ct)ung von oornt)crein bcn
2Bcg 3ur tDat)ren (£r!enntnis ocrlegtc.
(£rjt im 5at)re 1822 cr[d)ien ein bcbeutenbes 2Ber!, roclc^cs jur
tDi[[enfd)aftIid)cn (£rfor[d)ung ber (£rbgc[(t)id)te biejenigc 9JlctI)obc
cinfc^Iug, bic [i^ balb als bic tocitaus fruc^tbarjte ertoies, bic
ontolo-gifd^c 9Jlet!)obc ober bas ^rinjip bes ^ftualismus.
Sie beftct)t barin, bafe mix bic (£r[d)cinungen bcr ©egentoart
genau jtubicren unb benu^cn, um baburct) bic ät)nli(i)cn gc[d)i^t*
liefen 93orgänge bcr 93crgangent)cit 3U crüär cn. 9lac^bem
3ucr|t Äarl §off {©otl)a) in [einer „©c[(t)i^tc bcr burct) Hber=
lieferung nad)gctDic[enen natürlid)cn 93eränberungen bcr (£rb=
obcrfläd)c" bie[e ontologi[^c aRetf)obe (1822) begrünbet \)aiit,
tüurbc [ic balb (1830) oon bem großen engli[(i)en ©eologcn
(£l)arlc5 £i)ell in [einen „^rinjipien bcr ©cologic" auf bic gange
(5c[cf)i(f)te bcr (£rbc erfolgrcid) angctDcnbct. 3n ncucjtcr 3cit \)ai
3ol)anne6 2Baltf)cr in [einer gcban!enrcid)en „®c[d)id)tc ber
(£rbc unb bes £ebcns" (1908) eine lic^tüollc populäre :j)ar=
jtcllung bcr[clbcn gegeben.
^Is 3tDei $auptab[d)nitte ber (£rbge[(f)id)te mü[[en roir cor
allem bic anorgani[d)c unb organi[d)c ©cogenie unter*
[d)eiben; bic Ic^tere beginnt mit bem crjten 5tuftrcten lebenber
SBcfcn auf unfcrcm (Srbball. t)ic anorgani[cf)c (5e[d)id)tc ber
(Erbe, ber ältere ^b[d^nitt, ocrlief in bcrfelbcn 2Bei[e roie biejenigc
ber übrigen Planeten un[crcs Sonncn[i)[tem5; [ic alle lö[ten [idl)
Dom 5Iquator bes rotiercnbcn ©onnenförpers als 9lcbelringc ab,
iDclcf)c [id) allmäl)lid) gu [clbftänbigcn 2Bclt!örpcrn t)crbid)tcten.
^U5 bem gasförmigen ^Icbclball tourbe bur^ 5lb!ül)lung ber glut^
flü[[igc ©rbball, unb u)eitcrl)in entftanb an bc[[en iDberflä^c burc^
fort[d)rcitenbe 3Bärmcausjtral)lung bic bünne fejtc 9tinbc, tDeld)e
toir bctDot)ncn. (£rit nad)bem bic Temperatur an bcr iDberfläd^e
bis 3u einem getDi[[cn ©rabe gc[un!cn toar, fonnte [ic^ aus bcr
umgebenben Dampfl)üllc bas crjtc tropfbar=flü[[igc 2Ba[[er niebcr=
|d)lagcn, unb bamit toor bic u)id)tigjte SJorbebingung für bic (£nt*
(gnttütdclungsgcf^tc^tc bcr 2BcIt. 153
ftel)ung bcs organifc^cn Bebens gegeben. S3tele SOlillionen 5af)re
finb t)erfIo[[en, [ettbem btefer bebeutungsoolle 33organg, bie erjte
2Ba[ferbilbung, eintrat unb bamit bie (Einleitung 3um britten
$auptab[rf)nitt ber Rosmogenie, jur ^Biogenie.
III. ORonifttfr^e JBtogenie. Der britte $auptab[cf)nitt ber
SBcItenttDicfelung beginnt mit ber erjten (Sntjte^ung ber Organis-
nten auf unferem ©rbbalt unb bauert [eitbem ununterbro(i)en bis
3ur (Segenujart fort. Die großen SBelträtfel, toeI(i)e biefer inter«
e[[ante|te 3^eil ber (£rbge[d)id)te uns oorlegt, galten noct) im ^n*
fange bes 19. 3öl)i^^unbert5 allgemein für unlösbar ober boc^ für
[o [^roierig, bafe if)re £ö[ung in tDettejter gerne gu liegen [^ien;
am (£nbe besfelben burften toir mit berect)tigtem Stolje [agen,
bafe fie burd) bie mobeme ^Biologie unb il)ren 3:ransf ormismus
im ^rinjip gelöjt [inb. 3uerjt jtellte (1809) 3ean Äamarcf
bie £el)re fejt, t>a^ alle bie un3äl)ligen gormen bes 3:ier= unb
^flan3enrei(t)es bur(^ allmäl)licf)e Umbilbung aus gemeinsamen
etnfa^jten (Stammformen l)erDorgegangen [inb, unb t>a^ bie all=
mäl)lii)e 93eränberung ber ©eftalten burcl) 5tnpa[fung, in
3Becf)[elroir!ung mit 35 er erbung, biefe langfame Transmutation
betoirft I)at. S^ünfjig ^ai)X^ [päter fül)rte (£^arles Dartoin bie
einjelnen Steile biefer „Def3enben5tl)eorie", geftü^t auf W grofe*
artigen, tn^toif^en erfolgten i5ort[rf)ritte ber ^Biologie, toeiter aus
unb füllte suglei^ burrf) feine neue „6ele!ttonstl)eorie" bie be»
ben!lid)jte £üde ber erjteren ous. (Er seigte, toic „bie natürliche
3u^ttoaf)l im 5^ampf ums Dafein" ber unbetoufete S^öpfer
ift, rDelct)er bie stoedEmafeige Organifotion ber fiebensformen
of)ne Dorbebadfiten 3^^^ w^b S(f)6pfungsplan l)ert)orbringt.
Daburcf) ijt Dartoin ber „5^opemi!us ber organif(l)en 3Belt"
geioorben.
IV. IDlonifiifi^e ^nt^topogenie. ^Is oierter unb le^ter $aupt=
abf(J)nitt ber SBeltenttoicfelung !ann für uns 9Kenfcf)en berjenige
jüngjte 3eitraum gelten, innerl)alb beffen fid) unfer eigenes (5e=
fd)le(^t entcoicfelt f)at. Scf)on fiamarcf (1809) I)atte tlar erfannt,
tio^ biefe (Enttoicfelung oemünftigertoeife nur auf einem natür«
li(t)en Sißege benfbar fei, burd) „^bftammung com 5lffen",
als von bem näd)jtoertD anbten Säugetiere. §uxlct) jeigtc fobann
(1863) in feiner berüf)mten ^bl)anblung über „bie Stellung bes
sijlenfdien in ber 9latur", bafe biefe bebeutungsoolle ^nnal)me ein
nottoenbiger gfolgefrf)lufe ber Def3enben3tt)eorie unb burd) anatomi«
fd)e, embrt)ologifd)e unb palaontologifd)e 3^atfad)en tool^lbegrünbet
fei; er erflärte biefe „grage aller (fragen" im ^rinjip für gelöft.
Dario in bel)anbelte fie in geiftreic^er SBeife oon Derfd)iebenen
Seiten in feinem 3Ber!e über „bie ^bjtammung bes äRenfd^en unb
154 23icr3ef)nte5 Äapitel.
bie gcfc^led)tlid)c 3u(^to?al)l" (1871). 5d) [elbjt ^attc [c^on in
meiner (generellen S(Rorpl)oIogie (1866) bie[em roic^tigften Spejial*
Problem ber 5lbftammung5let)re ein befonberes Rapitel gemibmet.
1874 üeröffentlic^te id) meine ^nt^ropogenie, als erjten 93er=
[u^, bie ^bjtammung bes 9[Ren[cf)en burd) feine ganse ^^ncn=
rei^e bis jur ältejten arc^igonen 9Jlonerenform t)inauf 3U Der*
folgen; id) jtü^te mi^ babei glei^mäjsig auf bie brei großen
Hrfunben ber Stammesge[d)t(^te, auf bie oergleic^enbe ^Inatomie,
Ontogenie unb Paläontologie (fünfte umgearbeitete Auflage 1903).
2Bie toeit roir [eitbem hmä) ga^lreid^e tDid)tige gortf(^ritte ber
antI)ropogeneti[d)en g^orfd^ung gefommen [inb, t)abe id) in bem
33ortrag gejeigt, t)tn id) 1898 auf bem internationalen 3oologen*
fongreffe in (^ambribge „über un[ere gegenwärtige 5^enntnis oom
Urfprung bes 90^en[d)en" gel)altcn t)abe. X)ie ausfül)rlid)ftc Dar*
jtellung berfelben, unter SBenu^ung ber neuejten gort[d)ritte ber
^Äntl)ropogenie, t)abe id) in meiner legten ^bt)anblung gegeben:
„Hnferc ^l)nenreil)e (Progonotaxis hominis), g-ejtf^rift gur
350iäf)rigen Jubelfeier ber Unioerfität Jena, am 30. Juli 1908."
90^omftifc^e 6tubicn über bie materielle xxnh energetifc^c
(fin^eit be^ ^o^mo^, — '3}^ec^ani^mu^ unb "^Jitali^mu^. —
Siel, Smd unb SufaK.
X)uxd) bas Subjtanjgefe^ ijt gunäd^jt bie funbamentale Xai\ad)t
eru)ie[en, bafe jebe 9latur!raft mittelbar ober unmittelbar in jebe
anbere umgetoanbelt toerben fann. 9[Red)anifd)e unb d)emifd)e
(Snergie, Sd)all unb 2Bärme, £i^t unb CBleftrijität tonnen in=
einanber übergefüt)rt roerben unb ertoeifen [id) nur als per[d)iebenc
(£r[d)einung5formen einer unb berfelben Urfraft, ber (Energie.
Daraus ergibt [ic^ ber bebeutungsttolle Sa^ von ber (£inf)ett
aller 9laturfräfte ober, toie roir aud^ [agen fönnen, bem
„SJtonismus ber Energie". 3^ gefamten (Sebiete ber ^I)i)[i!
unb (£t)emie ijt biefer Su^^omentalfa^ je^t allgemein anerfannt,
[oojcit er bie anorgamfd)en ^laturförper betrifft
(£inf)cit ber 9Zatur. 155
■
^Inbcrs ücrt)ält [trf) [d)ctnbar bie organif^e 2ßelt, bas bunte
unb formenrcic^c ©ebiet bes flebcns. 3toöi^ li^öt es au(^ I)ter auf
ber ^anb, ta^ ein großer 2 eil ber fiebenserfc^einungen un=
mittelbar auf med)anif(f)e unb d^emif(^e (Energie, auf eleftri[rf)e
unb £i(f)tu)ir!ungen 3urüc!3ufül)ren ift. ^üx einen anberen 3^eil
aber loirb bas auc^ l)eute nod) bestritten, [o cor allem für bas
3Belträt[eI bes Seelenlebens, insbefonbere bes ®erDufet[eins.
§ier ijt es nun bas t)ot)e 93erbienjt ber mobernen (£nttDicfeIungs =
Iel)re, bie $8rüde 3roi[cf)en ben beiben, [c^einbar getrennten (5e=
bieten gefc^Iagen 3U I)aben. 2Bir finb je^t ju ber üaren Uberjeugung
gelangt, bafe aud^ alle (£r)(i) einungen bes organi[d)en fiebens
ebenfo bem uniüerfalen (5ubjtan3ge[e^ untertDorfen [inb toie bie
anorganifd)en ^l)änomene im unenbli^en 5^osmos.
3)ie ein^eit ber JRatur, bie l)ierau5 folgt, bie ttberroinbung
bes frül)eren Dualismus, \\i [id)er eines ber toertoolljten (£rgebni[|e
unferer mobernen (£nttDi(Jetungslel)re. ^d) t)abe biefen „9Konis =
mus bes Äosmos", bie prinsipielle „(Einl^eit ber organifdE)en
unb anorganif^en S^latur" [cE)on 1866 [e^r eingel)enb 3U begründen
oer^uc^t, inbem id) bie Hbereinftimmung ber beiben großen 9latur=
reid^e in ^esie^ung auf Stoffe, ^rormen unb Gräfte einer ein*
gel)enben !riti[d)en Prüfung unb 2Serglei(^ung untersog (©enerelle
9Jlorpl)ologie, 5. Rap.). (Einen fursen ^us3ug it)rer (Srgebniffe
entl)ält ber fünf3el)nte Söortrag meiner „9^atürlid)en Sc^öpfungs=
gef^id)te". SBäl^renb bie l)ier enttoidelten 5ln[c^auungen oon ber
großen 9Jlel)r3al)l ber 5Raturfor[(^er gegentoärtig angenommen [inb,
ijt boc^ neuerbings oon mel^reren Seiten ber 95er[ucl) gemacht
ujorben, [ie 3U befämpfen unb htn alten (Segenfa^ oon 3roei gan3
Der[d)iebenen 9laturgebieten aufred)t 3U erl)alten. ^n ber §aupt=
fac^e l)anbelt es [id) aud) l)ier üoieber um titn uralten ©egenfa^ ber
med^ani[d)en unb ber teleologi[cf)en SBeltanf^auung. SBeoor
xoxx auf benfelben eingeben, toollen toir !ur3 auf 3roei anbere
3:t)eorien l)intDei[en, tDeld)e nac^ meiner Überseugung für bie
(£ntfcl)eibung biefer tDid)tigen Probleme [el)r toertüoll [inb, bie.
5^ot)len[tofftf)eorie unb bie Ur3eugungslel)re.
Äo^lenftofft^eoric. X)ie pl)i3[iotogi[d)e (£l)emie \)at im £aufc
ber legten Desennien burd) un3äl)lige ^nali)[en folgenbe fünf
Xat[ad)en fcftgeftellt: 1. 5n titn organi[cl^en 5Ratur!örpern fommen
feine anberen (Elemente oor als in t)zn anorgani[c^en. II. Die-
jenigen 23erbinbungen ber (Elemente, toeldie bem Organismus
eigentümlich [inb, unb tDeld)e it)re „fiebenser[d)einungen" be=
toirfen, [inb 3u[ammenge[e^te ^lasmaförper, aus- ber (Sruppc
ber ^Ibuminate ober (Eitoei^oerbinbungen. III. Das organi[(f)e
fieben jelbjt ijt ein d)emi[d)*p^i)[i!aU[(^cr ^rojefe, ber auf bem
166 93icr3cl)ntcs Äapitel.
®tofftDcd)[eI blcfcr tHIbummate bcru{)t. IV. T)a5icmge Clement,
ujeldies allein imjtünbe ijt, biefe 3u[ammenge[e^ten (Htoeife*
förper in 95erbinbung mit anbeten (Elementen (Sauerjtoff,
2Ba[[eritoff, Stidjtoff, S(t)tDefeI) aufzubauen, ijt ber Äol)Ienjtoff.
V. Diefe plasmatif dE)en 5lo^Ienjtofft)erbinbungen 3eic^nen [id^
oor t>tn meijten anbeten d)emi[d)en 93etbinbungen butd^ ii)ie
fef)t fompUsiette SJloIeftilatjttuftut aus, butd) if)te Unbejtänbig=
!eit unb it)ten gequollenen 5lggtegat3ujtanb. 5Iuf ©tunb biefet
fünf funbamentalen 3:at[ac^en jtellte id^ im ^a\)tt 1866 foI=
genbe 3:f)eotie auf: „£ebiglid) bie eigentümlichen, rf)emi[c^=
p!)i)[i!ali[cf)en (£igen[d^aften bes 5lof)Ienjtoffe5 — unb namentlid^
bet fejtflüffigc ^ggtegataujtanb unb bie leiste 3et[e^bat!eit bet
\)bd)\i 3u[ammenge[e^ten, eiroeifeattigen Äol)Ienjtofft)etbinbungen
— [inb bie me(f)ani[(^en ITtfacfien jenet eigentümli(i)en SBetöegungs*
(£t[(f)einungen, butrf) tDeli)e [ic^ bie Ctgan'smen von hm ^In»
otganen untet[c^eiben, unb bie man im engeten Sinne bas ßeben
nennt." Obrool)! biefe „Äol)Ienjtofftf)eotic" oon mel)teten Sio=
logen t)eftig angegtiffen tootben ijt, ^at bod^ bis{)et teinet eine
beffete monijti[d)e 3:t)eotie an beten Stelle gefegt. §eute, too mh
bie pl)r)[iologi[cl)en S3etl)ältni[[c bes 3ellenlebens, bie 6:i)emie unb
Sß\)X)\xt bes lebenbigen Plasma oiel beffet unb gtünblid)et fennen
als um bie SJiitte bes 19. 3a^rl)iinbetts, läfet [i(f) unfete Xi)toxk
cinge^enbet unb [icl)etet begtünben, als es bamals möglich toat.
^Itc^tflonie obet Umngnng, Det alte ©egtiff bet Itt«
3eugung (Generatio spontanea obet aequivoca) toitb l)eutc nocl)
in fel)t t)et[cf)iebenem Sinne oettoenbet; getabe bie Un!latl)eit ühtx
biefen ©egtiff unb bie roibetfpterfienbe ^tntoenbung besfelben
auf gan3 oetfc^iebene, alte unb neue §i)potl)e[en [inb [^ulb batan,
ba^ biefes tt)i(i)tige ^toblem 3U ben bejttittenjten unb fonfufejten
gtagen bet gan3en 9latunüi[[en[d)aft bis auf "btn heutigen Xaq
gel)ött. 5d) befc^tänfe ben ©egtiff bet Ut3eugung auf t)h et[te
(£ntftel)ung oon lebenbem Plasma aus anotgani[cl)en Äol)lenjtoff=
93etbinbungen unb untetfd^eibe als 3toei §auptpetioben in biefem
„Seginn bet Siogenefis": I. bie (£ntjtel)ung oon einfac^jten
^lasmafötpetn in einet anotganif^en SBilbungsflü[[ig!eit, unb
II. bie 3TtbiDibuali[ietung oon ptimitiojten Otganismen aus jenen
^lasmaoetbinbungen, in O^otm oon 95loneten. 5^ liabt biefe
coid)tigen, abet aud) fel)t fcl)toiengen ^tobleme im 15. 5^apitel
meinet ^^atütlic^en Sd)öpfungsgefd)i(^te fo eingel)enb bel)anbelt,
ba|3 i(f) l)iet batauf oetroeifen !ann. (£ine fel)t au5fül)tlid)e unb |tteng
toiffenfd)aftli(i)e (Stöttetung betfelben l)abe id) beteits 1866 in htx
„©enetellen 50lotpl)ologie" gegeben (^b. I, S. 167—190); fpätet
^at SflaegcU in [einet 3We^anifc^=p^9[ioloöi[cl)en 3:l)cotie bet
enl)cit bei Sriatur. 157
^jtammung5lel)rc (1884) bic §t)pott)c|e ber Urjeugung gam in
bcmfelbcn Sinne [c^r cingel)cnb bcfjanbcU unb oIs eine uncnt*
bel)rlirf)c ^nnai)nte ber natürltrfjen (£nttDic!eIung5ti)eorie be*
3eid)net. 5d) jtimme uollfommen feinem Sa^e bei: „Die Itr*
5eugung leugnen t)etfet bas SBunber üerfünben." (Eine fritif^e
Ittuseinanberfe^ung ber üerfd)iebenarttgen §i)potI)e[en , rpeld^e
neuerbings über „Itrjeugung" aufgeftellt toorben [inb, entl)ält bas
15. 5^opitel („fiebensurfprung") meines Su^es über bie „JCebens*
rounber" (SSoÜsausgabe 1906).
Xeleologie unb IDlec^anif. Sowoi)l bie §i)potl)e[e ber Ur*
3eugung als bie eng bamit üerfnüpfte 5lol)Ienjtofft^eorie befi^en
bie gröfete $8ebeutung für bie C£nt[(f)eibung bes alten ilampfes
3tDi[d)en ber teleologifd^en (buali[ti[cf)en) unb ber media»
ni[d)en (moniftif^en) Beurteilung ber (£rfd^ einungen. Seit
DartDin uns vox fünfsig 5a{)ren burd) [eine SeIe!tionstI)eorie
"ütn Sd^Iüffel 3ur moniftifd)en (SrÜärung ber Organifation in bie
§anb gab, finb roir in t>tn Stanb gefegt, bie bunte SJlannigfaltigfeit
ber 3iBedmäfeigen (£inrid)tungen in ber lebenbigen i^örpertoelt
ebenfo auf natürIidE)e me(^ani[(i)e Urfadien 3urüd3ufül)ren, toie
bies oor^er nur in ber anorgani[d)en 9flatur möglid) toar. 2)ie
übematürli(i)en 3roe(ftätigen Ux\aä)tn, 3U tDeId)en man frü!)er
[eine 3wflu(^t l)atte nel)men muffen, [inb baburd) überflüffig ge=
ujorben.
SBerltttfa^en (Causae efflcientes) unb ©nburfa^en (Causae
finales). I)en tiefen ®egenfa^ Sroif^en htn betoirfenben Urfac^en
(ober 2Ber!urfa^en) unb ben jroedtätigen Urfa^en (ober (&nb'
urfad)en) l)at mit $Be3ug auf bie (£r!Iärung ber ©efamtnatur fein
neuerer ^Pofopf) f^ärfer l)eroorgel)oben, als ^Tttmanuel 5lant.
3n„ [einem berühmten Sugenbtoerfe, ber „allgemeinen ^latur»
gefd)id)te unb ^toxk bes Fimmels", . I)atte er 1755 ben !ül)nen
S3er[ud) unternommen, „bie S3erfa[[ung unb ben med)ani[d)en
Hr[prung bes gansen 2BeItgebäubes nad) 9letöton[d)en (5runb=
[ä^en ab3ul)anbeln". C£r [tü^te [id) babei gans auf bie med)ani[d)en
SetDegungserfd)einungen ber ©raoitation; fie tourbe fpäter oon
£aplace toeiter ausgebilbet unb matl)ematifd) begrünbet. 3lls
biefer oon Slapoleon I. gefragt ojurbe, roeldie Stelle in feinem
Spjtem ©Ott, ber Sd)öpfer unb (£rt)alter bes SBeltalls, einnet)me,
antwortete er !Iar unb ei)rlid): „Sire, id) bebarf biefer §T)pott)efe
ni^t." Damit loar ber atl)eiftif^e (£;t)ara!ter biefer mec^a*
nifd)en Äosmogenie, t)tn fie mit allen anorganifd)en SBiffen«
[c^aften teilt, offen anerfannt. t)ies mufe um [o mti)x l)eroorge*
l)oben toerben, als bie 5lant*£aplacefd)e Xi)toxh nod) I)eute
in fajt ollöemciner ©eltung \iti)t SBcnn man "btn ^tl)eismus
158 SBier3cl)ntc5 Äopitel.
notf) l^eutc in tocitcn Ärei[en als einen |d)tDeren 3)ortDurf betrachtet,
[o ttifft biefer bie gefamte mobeme 9^aturtDi[[en[d)aft, infofern [ie
bie anorgani[d)e 2BeIt unbebingt med)ani[dE) erflärt.
t)er SRei^anismus allein gibt uns eine tDir!Iid)e (£r =
üärung ber 9laturer[d^ einungen, inbem er biefelben auf reale
2Ber!ur[ad)en 3urüdEfüi)rt, auf ©etoegungen, toelc^e burcf) bie
materielle ilonjtitution ber betreffenben 9latur!örper felbft bebingt
finb. 5lant felbjt betont, bafe es „ot)ne biefen 9Wed)anisnius ber
91atur feine $naturrDif[en[cf)aft geben !ann", unb bafe bie ©e*
fugnis ber men[cf)lid)en 33emunft ^ur med)ani[(^en (Erüärung
aller (£rfc^einungen unbe[(i)rän!t fei. 5tls er aber fpäter in feiner
5lriti! ber teleologifc^en Urteilsfraft bie (£r!lärung ber oertoidelten
(£rfd) einungen in ber organif(f)en 9^atur befprad), bel)auptete
er, ta^ bafür jene med)anif(f)en Urfad)en nid)t ausrei(i)enb feien;
l)ier muffe man stoedmäfeig toirfenbe (Enburfac^en 3U ^ilfe
nel)men. 3i»ar fei aud) ^ier bie ^Befugnis unferer S3ernunft jur
med)anifd)en (£r!lärung an3uer!ennen, aber i^r 93 er mögen fei
begrenzt. 5lllerbings geftanb er il)r teilcoeife biefes SSermögen 3U,
aber für ben größten Xeil ber fiebenserfd^einungen (unb befonbers
für bie 6eelenlätig!eit bes 9Jlenf(f)en) l)ielt er bie ^nna!)me »on
(£nburfad)en unentbel)rli(i). X)er merftoürbige § 79 ber 5^riti! ber
Urteilsfraft trägt bie ^arafteriftifd^e Hberfc^rift: „93on ber not=
roenbigen Hnterorbnung bes ^rinsips bes SlJZe^anismus unter
bas teleologifrfie in (£r!lärung eines Dinges als 'üHahix^mtä" . Die
jtüedfmäfeigen (Sinrid^tungen im 5lörperbau ber organifc^en SBefen
fd)ienen ilant ol)ne 3lnnal)me übernatürlid^^r (£nburfad)en
(b. l). alfo einer planmäßig toirfenben Sd)öpfer!raft) fo unertlärlid),
ha^ er fagte: „(Es ift ganj getoife, ha^ toir bie organifierten SBefen
unb beren innere 9[Röglicl)!eit nad^ blofe medE)anifct)en ^ringipien
ber 9^atur nid)t einmal 3ureidE)enb !ennen, t)iel roeniger uns erflären
fönnen, unb 3toar fo geroijg, bajg man breijt fagen !ann: (£s ift für
9Jlenfd)en ungereimt, aud) nur einen foldf)en ^nf(i)lag 3U faffen
ober 3U l)offen, "üa^ nod) etn)a bereinft ein ^leroton aufftef)en
tonnt, ber aud) nur bie (£r3eugung eines ©rasl)alm6 nad) 9Zatur=
gefe^en, bie feine ^bfid^t georbnet l)at, begreiflid) mad)en loerbe,
fonbern man mufe biefe (£infid)t bcm 9[Renfd)en fd^ledjterbings
abfpre^en." 3ieb3ig ^a\)tt fpäter ift biefer unmöglid)e „9UtDton
ber organif(^en 5Ratur" in Darroin toirflid^ erfd)ienen unb l)at bie
grofee Aufgabe gelöft, bie 5^ant für unlösbar erflärt f)atte.
2)et :S^ed in ber anorgamft^en Statut (5tnorgant|d)e
Xeleologie). Seitbem ^Retoton (1682) bas (Sraoitationsgefe^
aufgeftellt, unb feitbem 5lant (1755) „bie 33erfaffung unb iien
med)anifd)cn Hrfprung bes gan3en SBeltgebäubes nad) 5^ero.ton«
(£ml)ett bcr 9lotur. 159
1
f(f)en ©runb|ä^en" fejtgcjtcUt — feitbem cnblic^ fiaplacc (1796)
bicfes ©runbgc[e^ bcs Sßcltmei^anismus matt)CTnatt[(i) bc*
grünbet l)attc, [inb bic [ämtltcf)cn anorgam[d)cn 9'laturrDi[[en|(i)aften
rein mc(f)ani[d) unb bamit juglctd) rein atf)ci[tifd) geroorbcn.
3n ber ^jtronomie unb i^osmogenie, in ber ©cologie unb 3Reteo=
tologie, in ber anorganif^en ^l)r)fi! unb (£t)emie gilt [eitbem bie
abfolute ^err[d)aft merf)ani[rf)er ©efe^e auf matl)emati[d)er
©runblage als unbebingt feft|tel)enb. Seitbent ijt aber au^ ber
3u?edbegriff aus biefent ganjen grofeen ©ebiete t)erf(i)tDunben.
3e^t x\t bie[e monijtifd^e $Betrad)tung naä) l)arten kämpfen ju
allgemeiner ©eltung gelangt, unb fein 9laturfor[d)er fragt mel)r
im (£rnjte nad) bem 3^^^ irgenbeiner (£r[(^einung in biefem
ganjen unermefeli(i)en ©ebiete. Dber follte toirüid) nod) {)eute
im ^mjte ein ^ftronom nacf) bem 30?^^^ '^'^^ ^lanetenbetoegungen
ober ein SJlineraloge nad) bem 3^^<J^ i>ß^ cinjelnen Rriftallformen
fragen? Dber follte ein ^I)t)fifer über t^tn 3toed ber cleftri[rf)en
5^räfte ober ein (£f)emi!er über "ötn ßvotd ber 5ltomgetDi(f)te
grübeln? 2Bir bürfen getrojt anttüorten: 9^ein! Sid)er ni^t
in bem Sinne, bafe ber „liebe (Sott" ober eine aieljtrebige ^Raturfraft
biefe (Srunbgefe^e bes 2BeItmed)ani5mus einmal plö^Iid) „aus
nichts" 3u einem bestimmten 3^^^ erfd)affen I)at, unb ba]^ er
[ie naä) [einem oernünftigen SBillen tagtäglirf) toirfen lä^t.
X)ie[e antf)ropomorpl)e 93orftenung oon einem stoedtätigen
2BeItbaumeijter unb 2BeltI)err[d)er ijt l)ier oöllig überrounben;
an [eine Stelle [inb bie „etoigen, ehernen, grojgen 9^aturge[e^e"
getreten.
35ct: 3toecf in ber organtf^en ^aiux (©iologi[d)eXcleolo =
gie). (Eine gans anbere ^Bebeutung unb (Geltung als in ber an^
organi[^en be[i^t ber 3Q>cdbe griff no(^ l)eute in ber organi[(f)en
5Ratur. 3^ Körperbau unb in ber fiebenstätigfeit aller £)rganis=
men tritt ims bie 3aJedtätig!eit unleugbar entgegen, ^^^^e ^flanje
unb jebes 2ier er[(f)einen in ber 3w[ammen[e^ung aus einseinen
Xcilen eben[o für einen bestimmten ßebensstoecf eingeri(i)tet toie
bie !ün[tlid)en, t)om 9J?en[(^en erfunbenen unb fonftruierten
9Ka[d)inen; unb [olange il)r £eben fortbauert, i[t au(^ bie gunftion
ber einjelnen Organe eben[o auf be[timmte 3^^^^ gericl)tet coie
bie wirbelt in htn einjelnen Xeilen ber 95?a[(i)ine. (£s toar bal)er ganj
naturgemäß, bajg bie ältere naioe 9Zaturbetra(i)tung für bie -^nt=
[tel)ung unb bie fiebenstätigfeit ber organi[(^en 3Be[en einen
Schöpfer in ^n[prud^ nal)m, ber mit „9Bei5t)eit unb 93er[tanb alle
X)inge georbnet" l)atte, unb ber jebes Xier unb jebe ^flanse
it)rem be[onberen fiebensstoed ent[pre(f)enb organi[iert l)atte.
®eiDöI)nltd^ ujurbe bic[cr „allmä(i)tigc Sd)öpfer Fimmels unb ber
160 5Blcr3cf)ntes Kopitcl.
(Erben" burd)au5 ontI)ropotnorp!) gcba(f)t; er |d)uf „iegltd)es
2Be|en nad) feiner ^rt". Solange babei bem 9[Ren[^en ber ©d^öpfer
nod) in men[(f)Ii(f)er ©ejtolt er[d)ien, benfenb mit [einem ®el)im,
[e^enb mit [einen ^ugen, formenb mit [einen ^änben, fonnte man
[id) oon bie[em „göttlichen 9J?a[(f)inen]bauer" unb von [einer !ünjt=
leri[d)en Arbeit in ber großen (5df)öpfung5tDerl[tätte nod) eine
an[(i)aulid)e SSorjtellung mad)en. S3iel [d)rDieriger tourbe bies,
als [id) ber ©ottesbegriff läuterte unb man in bem „un[i(^tbaren
®ott" einen immateriellen- Sd)öpf er ol)ne Organe erblidte. 5Rod)
unbegreifli^er enbli(i) rourben bte[e antl)ropijti[cf)en SSorftellungen,
als bie ^l)p[iologie an bie Stelle bes betöufet bauenben ©ottes bie
unbetüufet [cl)affenbe „£ebcns!raft" [e^tc — eine unbefannte,
3toe(!möfeig tätige 9latur!raft, toeld)e von t)tn befannten pl)i)[i!a«
li[d)en unb d)emi[d)en Gräften t)er[d)ieben toar unb bie[e nur seit*
U5ei[e — auf fiebensseit — in I)ienft nal)m. Die[er 93italismus
blieb nod) bis um bie SJlitte bes 19. 3öt)rl)unberts \}tn]ä)tnh; er
fanb [eine tat[äd)li(^e SBiberlegung erft burd) titn großen ^l)r)[io«
logen 5ol)annc5 SJlüller. 3o)ar toar aud) bie[er gei[treid)e
33iologe im ©lauben an bie £ebens!raft aufgetoa^[en unb ^ielt
[ie für bie (£r!lärung ber „legten fiebensur[ad)en" für unentbel)rlid),
aber er fül)rte 3uglei(^ in [einem !la[[i[^en, no(^ l)eute unüber=
troff enen £el)rbud) ber ^l)t)[iologie (1833) ben Setoeis, bafe
eigentlid) nid)t5 mit il)r ansufangen ijt. StRüller [elbft seigte in
einer langen 9?eil)e oon au5gc3eid)neten iBeobad)tungen unb [d)arf=
[innigen (Experimenten, tia^ bie meijten £ebenstätig!eiten im
Organismus bes 901en[d)en eben[o toie ber übrigen stiere nad)
p^t)[i!ali[(^en unb d)emi[d)en (5e[e^en ge[d)el)en, t>a^ oiele oon
it)nen [ogar matl)emati[d) bejtimmbar [inb. ias gilt eben[otDol)i
oon ben Srunftionen ber 9Jlus!eln unb ^Reroen, ber nieberen unb
l)öl)eren Sinnesorgane, toie oon ben 93orgängen bei ber (£mäl)rung
unb bem StofftDe^[el, ber 23erbauung unb bem SBlutfreislauf.
5Rät[el^aft unb o^ne bie ^nnal)me einer £ebensfraft nid)t erflärbar
blieben eigentlid) nur äcoei ©ebiete, bas ber t)ö^eren Seelen»
tätig!eit ((Seijtesleben) unb bas ber (^ortpflansung (3eugung).
5lber aud^ auf bie[en ©ebieten rourben unmittelbar nad^ SDlüllers
2obe [o bebeutenbe CSntbedungen unb (5ort[d)ritte gemad)t, \)a^
bas unl)eimli^e „(5e[pen[t ber £ebens!raft" aud) aus bie[en
legten Sd)lupftDinfeln Der[d)tDanb. (£s roar ein merfroürbiger
d)ronologi[d)er 3iifall, bafe ^o\)annts^üUtx 1858 in bem[elben
5al)re [tarb, in roeld^em (E^arles X)artDin bie erjten SJiitteilungen
über [eine epod)emad)enbe 3^eorie oeröffentlic^te. Die Selef =
tion5tl)eorie bes legieren beantwortete bas grofee 9^ät[el, oor
u)eld)em ber erjtere jtel)en geblieben toor: bie ^xaQt oon ber (Ent*
(£inf)cit bcr 9lotur. 161
jtet)ung stDecfmäfeiger (£tnnd)tungen burd) rein merf)am[d)e Ur=
fachen, ol)nc t}orbebad)ten ^lan.
2)er 3«»^* in t>et Selefttonst^eotie (Dartüin 1859). Das
unftcrblicf)c pl)iIofopt)if(i)c 93erbtenjt Dartüins bleibt, toie toir
[d)on oft betont ^aben, ein boppeltes: erjtens bie 9?eform bet
älteren, 1809 oon fiamard begrünbeten i)e[3enben3tt)eorie,
it)re Segrünbung burd) bas geroaltige, im £aufe biefes I)alben ^ai)X'
l)unbert5 angefammelte 3^atfa^enmaterial — unb gtoeitens bie
^ufjtellung ber (3eIe!tion5tl)eorie, jener 3ud)ttüaf)net)re,
tüel(f)e uns erft eigentlid) bie tDal)ren betoirfenben ltrfod)en ber
anmät)licf)en ^rtumbilbung entpllt. I)artoin 3eigte 3uerft, roie
ber unerbittU(i)e „Äampf ums Dafein" ber unberoufet toirfenbc
9?eguIator ijt, wt{ä)tx bie 3ße(i)feliDir!ung ber 93ererbung unb
^npaffung bei ber allmäl)lict)en 3:ron5formotion ber Spesies leitet;
er ift ber grofee „3üd)tenbc C5ott", wtlä)tx of)ne ^bfid^t neue
^formen ebenfo burc^ „natürli(^e ^uslefe" betüir!t„ roie ber
3üd)tenbe 50kn[^ neue formen mit ^b[id)t bur^ „!ünftli(f)e ^U5=
lefe" ^eroorbringt. Damit rourbc bas grofee pt)iIo[opt)i[d^e 9?ät[el
gelöjt: „'$ßit fönnen 3U3e(fmäfeige (Einrichtungen rein mec^anifc^
entjtef)en, ot)ne 3töe(Jtätige Urfai^en?" ^leuerbings f)at fid) baraus
bas ^rin3ip ber „teleologifdien 93le^ani!" 3U immer größerer
Geltung enttoidelt unb !)at aud) bie feinften unb oerborgenften
(£inrid)tungen ber organi[d)en 2Be[en uns burd) bie „funftionelle
Selbftgejtaltung ber 3tüedmä^igen Struftur" med)ani[(^ erflärt.
Damit ijt aber ber tran[3enbente 3Do^<it)egriff un[erer teleotogifc^en
(5d)uIpf)iIo[opl)ie be[eitigt, bas größte ^inbernis einer oemünftigen
unb eint)eitli(^en 9laturauffa[[ung.
9leo0italtsmu$. 5n neuerer S^tt ijt bas alte ©ejpenjt ber
mi)jti[d)en ßebensfraft, bas grünblid) getötet j(^ien, roieber auf=
gelebt; üer[d)iebene ^Biologen l)aben oerju^t, basfelbe unter neuem
Flamen 3ur ©eltung 3U bringen. Die fonjequentejtc Darjtellung
besfelben f)at ber 5^ieler ©otanüer 3ot)annes 9tein!e in 3tt)ei
©ü^ern gegeben: „Die äBelt als Xai" (1899) unb „Einleitung
in bie t!)eoreti[d)e ^Biologie" (1901). (£r nennt [ie „Umrijje einer
2BeItan[id)t auf naturcoi[[en[d)aftIidier (Örunblage"; tat[äd)Iic^ ijt
aber biefe ©runblage ber d)rijtli^e 5lird)englaube. ^t^^^^ ^^ ^on
t)m Offenbarungen ber Sibel ausQzi)i unb SJiofes als I)ö(^jte
tDi[[enjd)aftIid)e Autorität betrautet, oerteibigt er 3uglei(^ ben
2BunbergIaubenunbbcn2i)eismus, bie 9Jtofai[c^e ®d)öpfungs =
ge[d^i4)te unb bie 5^onjtan3 ber ^rten; er nennt bie „ßebens»
Mfte", im ©egenja^c 3U ben pt)t)[i!ali[c^en Gräften, 9?id)t!räfte,
Oberfräfte ober Dominanten. 9?ein!c toenbet oergeblic^ alle
9Jlittel auf, um bie l)err[(^enben ®Iauben5let)ren ber d)rijtlid)en
Ä a c d c t , ^ctttätf el. 1 1
162 33tcr3el)ntes 5^apitel.
Rixd)t mit titn bireü tt)iber[prc(^enben C£rfal)rungs[ä^en ber (£nt=
tDt(JeIung5lel)re in (Sinüang ^u bringen. Diefen 2Bibcr[pru^ tüirb
aud) ber neue fogenannte „5^eplerbunb" nid)t löfen, tm er 1908
3ur Se!ämpfung unb S3ernid)tung bes 1905 gegrünbeten „SRoniften»
bunbes" ins fieben gerufen l^at. T)as SBiberfinnige unb irnt)altbare
biefes ^leoüitalismus (ber in ben mrijtifd^en i^reifen ber Spiritijten
unb Offultijten, 3:t)eo[opI)en unb 9Jletap]^i)[i!er »iel ^nflang finbet),
I)abe id) im 2. unb 3. 5^apitel meiner „fiebenstüunber" eingel)enb
nad)geu)ie[en.
llnjaerfmäötgleitsle^re {3:)i)steIeoIogie). Unter bie[em
^Begriffe I)abe ic^ ]d)on im 3al)re 1866 bie 2ßi[[en[d^aft t)on htn
überaus intereffanten unb u)ici)tigen bioIogi[ci)en 3:at[a(f)en be=
grünbet, tDeId)e in l)anbgreiflid)jter 2Bei[e bie ]^ergebrarf)te teleolo-
gifd)e 5luffa[[ung von ber „stoecfmäfeigen (£inri(f)tung ber Ieben=
bigen 91aturlörper" bire!t roiberlegen. Die[e 2Bi[fen[d)aft üon ben
„rubimentären, abortiüen, t)er!ümmerten, fel)Igef(f)Iagenen, otro=
pl)if d^en ober fataplajtif(i)en 3Ttbit)ibuen" jtü^t fid) auf eine un=
ermefelid)c gülle ber mer!tDürbigften CBrfd) einungen, voüä)t ^wax_
t^n 3ooIogen unb Sotanüern längjt befannt toaren, aber erjt burd)
:r)artöin ur[äd)Iid^ erflärt unb in il)rer \)6\)tn pl)iIo[opl)i[d)en Se*
beutung üoUjtänbig geroürbigt toorben [inb.
Me f)öl)eren 3:iere unb ^flan^en, überl)aupt alle biejenigen
Organismen, beren 5lörper nid)t gan3 einfach gebaut, fonbern aus
mel)reren, sroedmäfeig jufammenroirfenben Organen 3u[ammen=
gefegt ijt, Ia[[en bei aufmer![amer Hnterfud^ung eine ^Ingal)! üon
nu^Iofen ober untoirffamen, ja ^um 3:eil [ogar gefäf)rlid)en unb
[d)äblid)en (£inrid)tungen erfennen. 5n ben 23Iüten ber meiften
^flansen finben \\ä) neben ben roir!famen ©efd^Ie^tsblättern,
tt)eld)e bie ^rortpflanjung t» ermitteln, einzelne nu^Iofe ^lattorgane
o^ne Sebeutung (oerfümmerte ober „fet)Ige[d)Iagene" Staubfäben,
Fruchtblätter, 5lronen=, 5^eld)blätter ufto.)- 3Tt J^en beiben großen
unb formenreid)en klaffen ber fliegenben Xtere, SSögel unb 5nfe!ten,
gibt es neben ben getDöI)nIid^en, il)re grlügel tägli^ gebrdud)enben
Wirten eine ^njat)! oon O^ormen, beren gWgel oerfümmert finb,
unb bie nid)t fliegen tonnen, gfaft in allen 5^Ia[[en ber I)öt)eren
3:iere, bie il)re ^ugen jum Se^en gebrauten, eiijtieren einjelne
Wirten, n)eld)e im T)un!eln leben unb nid)t [et)en; tro^bem befi^en
aud) biefe meijtens nod) 5tugen; nur [inb [ie tjerfümmert, 3um
Se^en nid)t me^r tauglic^. ^n unferem eigenen men[(^Iid)en
5^örper befi^en toir [oId)e nu^Iofe !Rubimente in ben 5QJus!eIn
unferes £)^res, in ber 9lidl)aut unseres ^uges, in ber Sruitroarße
unb 9JiiId)brü[e bes 9[Rannes unb in anberen 5^örp erteilen; ja ber
öefürd)tete SBurmfortfa^ unferes ©linbbarmes ift ni(^t nur unnü^,
(Ein^ett htx 9latur. 163
oei
wt
[onbcrn fogar gcfät)rlid), unb alliöl)rlt(f) gct)t eine ^njal)! 50lenf(^en
burd) feine (£nt3ünbung ^ugninbe.
Die (ErÜärung bie[er unb oieler anberer 3tüedfIo[er (£in=
rid)tungen im Körperbau ber kliere unb ^flangen oermag töeber
ber alte nod) ber neue 23itali5mus 3U geben; bagegen finben toir
[ie [el)r einfach burc^ bie T)e[3enben3tf)eorie. Sie jeigt, bofe
biefe rubimentären Organe oerfümmert [inb, unb 3töar burd)
9lirf)tgebrau(^. (£ben[o, loie bie SJ^usfeln, bie ^Reroen, bie Sinnes^
Organe bur^ Übung unb l)äufigeren ©ebraucf) geftärft toerben,
ebenfo erleiben [ie umge!el)rt burc^ Untätigfeit unb unterlaffenen
föebraud) met)r ober toeniger 9?üdfbilbung. 5Iber obgleid) [o burd^
Hbung unb ^npa[[ung bie I)öl)ere ©nttoicfelung ber Organe ge=
förbert toirb, [o oerf^roinben [ie hoä) feinestoegs [ofort [purlos burcf)
9li(i)tübung; üielme^r roerben [ie burd) bie ^Jlad^t ber 33ererbung
nod^ u)ät)renb oieler ©enerationen ert)alten unb t»er[(i)U3inben erjt
anmäl)lid) nad) längerer 3eit. Der blinbe „5^ampf ums Da[ein
3toi[(^en ben Organen" bebingt eben[o il)ren t)i[tori[d)en ltnter=
gang, roie er ur[prüngli(^ i^re (£nt[tet)ung unb ^usbilbung oerur^
[a^te. (£in immanenter „S^'^'^" fpi^I^ babei überl)aupt feine Atolle.
HnooIKommenl^eit ber ^atut, 9Bie bas 3Jlen[c^enIeben [o
bleibt aud) ^as Xier« unb ^flan3enleben immer unb überall un«
üollfommen. Die[e 3^at[a(i)e ergibt [id) einfad^ aus ber (Erfenntnis,
bafe bie gan3e 5Ratur in einem beftänbigen 5lu[[e ber (£nttüi tfelung,
ber 33eränberung unb Itmbilbung begriffen i[t. Diefe (Entroidelung
er[d)eint uns im großen unb gan3en — roenigftens [otoeit toir bie
Stammesge[d)id)te ber organi[d)en ^latur auf un[erem Planeten
über[el)en fönnen — als eine fort[^reitenbe Umbilbung, als ein
l)ijtori[^er 5ort[d)ritt oom (£infad)en 3um 3ii[<immenge[e^ten,
Dom ^lieberen 3um §öl)eren, oom Itnooltfommenen 3um 3?oll=
fommneren. 3<i) I)ö^^ \ä)on in ber (generellen 9Jlorpl)ologie (1866)
htn 9flad)rDeis gefül)rt, bafe biefer ^ijtori[c^e 3rort[d)ritt — ober
ie allmäl)li^e S^eroollfommnung — bie notu»enbige
irfung ber Seleftion i[t, nic^t aber bie golge eines üor=
beba(^ten 3ö)edes. Das ergibt \id) au^ baraus, bafe fein Orga*
nismus gan3 oollfommen i[t; [elbjt roenn er in einem gegebenen
^lugenblide ben Umjtänben oollfommen angepaßt toäre, toürbe
bie[er .3u[tanb ni^t lange bauem; benn bie (£njten3bebingungen
ber ^ufeenroelt [inb [elbjt einem bejtänbigen 2Bed^[el untertoorfen
unb bebingen bamit eine ununterbrod)ene 5lnpa[[ung ber Orga^
nismen.
Sittliche aßeltorbnung. 3n ber ^l)ilo[op?)ie ber ©e[c^id)te,
in titn allgemeinen 5Betrad)tungen, tDeld)e bie (5e[d)id)t[c^reiber
über bie Sd)id[ale ber 33ölfer unb über ben Der[d)lungenen (Sang
11*
164 S8ier3et)ntes Kapitel.
ber StaatencnttDtdfelung anjtellen, I)errfd)t noc^ l)eutc bie ^n«
naf)mc einer „[ittlic^en 3Beltorbnung". Die Mtorüer fudE)en in
bem bunten 2Bed)[eI ber S3öl!ergefc{)ide einen leitenben Sroecf,
eine ibeale ^Ibfid^t, u)eld)e biefe ober jene 9?affe, biefen ober jenen
Staat 3U be[onberem (5ebeil)en auserlefen unb gur §err[^oft
über bie anberen bestimmt l)at. Diefe teleologif^c unb bualifti[rf)e
®efdE)id)t5betra^tung ift neuerbings um [o [d)ärfer in prinaipiellen
©egenfa^ gu unferer monijti[d)en 2BeItan[(i)auung getreten, je
fidlerer [irf) btefe le^tere im gefamten ©ebiete ber anorganifdf)en
9Zatur als bie allein bered)tigte l)erausgeftellt l)at. 5" öer gefamten
^Ijtronomle unb ©eologle, In bem roeiten ©ebiete ber ^l)r)[i! unb
(I^emie [priest I)eute nlemanb mel)r oon einer flttlli^en 2BeIt=
orbnung, ebenforoenlg als oon einem per[önlld)en ©otte, beffen
„§anb mit 2ßel5l)elt unb 33erftanb alle Dinge georbnet l^at".
Diefer Ijt aber aud^ In bem gefamten Oebiete ber Biologie md)i
5U flnben, In ber gansen 35erfa[fung unb ®ef^i(i)te ber organi[(f)en
9latur. Dario In l)at uns In [einer Sele!tion5tl)eorie nid^t nur
gegeigt, toie bie gtoedhnäfeigen (£lnri(f)tungcn im S-th^n unb im
.Körperbau ber 3:iere unb ^flanjen ol)ne oorbeba(l)ten 3töecf
medi)ani[(i) entjtanben flnb, fonbem er l)at uns aucf) in [einem
„Kampf ums D afein" bie geroaltlge 9laturma^t erfennen
gelel)rt, toelcf)e t)m gangen (Snttoldelungsgang ber organifd^en
SBelt feit ülelen 3öl)rmllllonen ununterbrod)en bef)errfdf)t unb
regelt. 'SRan fönnte frelliii) fagen: Der „Kampf ums Dafein" Ift
bas „Überleben bes ^affenbjten" ober ber „Sieg bes iBejten"; bas
!ann man aber nur, toenn man bas Stärfere ftets als bas befte (In
morallfd)em Sinne !) betrad^tet; unb überbies geigt uns bie gange
(5efrf)idE)te ber organif(i)en SBelt, t)a% neben bem überrolegenben
^ortfdE)rltt gum 93oll!ommenen jebergelt aud) eingelne 9?ütffcf)ritte
gu nieberen 3ui^änben oorfommen.
Sßerl)ält es fld) nun in ber 23öl!ergef(i)idf)te, bie ber SJJenfd) in
feinem antl)roprogentrif(i)en ©röfeentoalin bie „2Beltgef(f)id^te" gu
nennen liebt, etroa anbers? 3It ba überall unb jebergelt ein ^öi^jtes
moralifd)e5 ^ringip ober ein toeifer 2Beltregent gu entbeden, ber
bie (5efd)i(ie ber 33öl!er leitet? Die unbefangene ^nttoort fann
^eute, bei bem t)orgefcl)rittenen 3nftanbe unferer 9'laturgef(^i(^te
unb 33öl!ergefcl)id)te, nur lauten: 91 ein ! Die (5efrf)ic!e ber 3^)^19^
bes 9}lenfd)engefd)lerf)ts, bie als 9?affen unb 9lationen feit 5ö^r=
taufenben um il)re (Biifteng unb il)re ^rortbilbung gerungen l)aben,
unterliegen genau benfelben „etoigen, el)ernen, großen ©efe^en"
loie bie ®efc^id)tc ber gangen organif(i)en Sßelt, bie feit üielen
3al)rmillionen bie (£rbe beoölfert.
Die ©cologen unterfcf)etben in ber „organifc^en (£rbgefd;i(^te",
(£mt)eit ber Sflatur. 165
[otoeit [ie uns burc^ bie I)en!Trtälcr ber SSerjteinerungshmbe befannt
ijt, bret gro^c Venoben: bas primäre, fefunbäre unb tertiäre 3eit=
alter. 3l)re .3^itbauer ijt [d^toer absufc^ä^en, beträgt aber (3u=
fammengenommen) iebenfalls niet)r als ^unbert SJlillionen 3al)re.
Die (5e[(i)id)te bes SBirbeltierftammes, aus bem unfer eigenes
(5efc^led)t entfproffen ijt, liegt innerhalb biefes langen 3eitraümes
!Iar üor unferen ^ugen; bret t)erf(i)iebene (SnttDidelungsjtufen ber
23ertebraten toaren in jenen brei großen ^erioben na(i)einanber
entiüicEelt; in ber primären ^eriobe bie 3^i[(f)e, in ber fefunbären
bie 5teptilien, in ber tertiären bie Säugetiere. 23on biefen
brei ^auptgruppen ber 2ßirbeltiere nef)men bie ^■i\d)t htn nieberften,
bie 9leptilien einen mittleren, t>it Säugetiere htn f)ö^ften 9^ang
ber 33onfomment)eit ein. Sei tieferem (!cinget)en in hk ©efd^ii^te
ber brei illa[[en finben toir, bafe au^ bie einzelnen Orbnungen unb
^ramilien berfelben innerl)alb ber brei 3etträume [lä) fortf(i)reitenb
3u t)öf)erer 93oUfommenl)eit enttcicfelten. 5^ann man nun biefen
fortfc^reitenben (£nttDideIungsgang als ^usflufe einer beroufeten
3U)ecfmäfeigen 3telltrebigfeit ober einer [ittlid^en SBeltorbnung be=
5eid)nen? Durd)au5 ni(i)t ! Denn bie (5eIe!tionstI)eorie Iei)rt uns,
bafe ber organi[(i)e gort[(^ritt, ebenfo toie bie organi[ct)e Differenz
Sierung, eine nottoenbige Srolge bes Kampfes ums Dafcin ijt.
Xaufenbe von beiounberungstDürbigen ^rten bes 3:ier= unb
^flanjenreic^es [inb im fiaufe jener I)unbert SJlillionen 5a{)re 3u=
grunbe gegangen, roeil [ie anberen, ftärferen, ^la^ modfien mußten,
unb hh\t Sieger im 5lampfe ums Da[ein rooren nid)t immer bie
ebleren ober im moralifd^en Sinne oolüommneren formen.
©enau basfelbc gilt üon ber 23öl!erge[cf)i(^te. Die be=
ujunberungstDürbige 5^ultur bes fla[[i[(^en Rittertums ijt jugrunbc
gegangen, toeit bas (£l)rijtentum bem ringenben 9}lenfd)engeijte
bamals burd) titn ©lauben an einen liebenben ®ott unb bie ^off*
nung auf ein bejjeres jenjeitiges £eben einen gewaltigen neuen
5luf[d)roung üerliet). Der ^apismus tourbe gtoar balb 3ur [(^am*
lojen Äarifatur bes reinen (Il)rijtentums unb gertrat [d)onungslos
bie S(i)ä^e ber (Erlenntnis, tDeld)e bie f)elleni[(^e ^l)ilo[opl)ie jd)on
ertoorben l)atte; aber er getoann bie 2}3eltt)err[(^aft burd) bie lln=
tDij[en!)eit ber blinbgläubigen 9Ka[[en. (£rjt bk 9?enai[jance
gerrife bie 5^etten biejer ®eijtesfned)t[d)oft unb üerl)alf toieber ben
^njprü(^en ber 23emunft 3u tl)rem 9te(f)te. Rtber aucf) in biejer
neuen, toie in jenen frülieren ^erioben ber 5lulturgejd)i(i)te, roogt
euöig ber grofee 5^ampf ums Dajein l)in unb l)er, ol)ne jebe mora=
lijd^e Orbnung.
S^otfe^ung. So roenig bei unbefangener unb fritifd^er 93e»
tracl)tung eine „morali[(f)e SQBeltorbnung" im ©änge ber S3öl!er=
166 93ter5cl)nte5 Rapihl
gefd)trf)tc na(i)3uu)et[en tft, cbenforocnig lönneTr totr eine „tDetfe
33or[ef)ung" im S(i)tdE[oI ber etnselnen 9J?cn[(f)en anerfcnnen.
Die[cs löte jener tüirb mit eiferner Sflotroenbigfeit burd) bie med)a=
nifd)e i^aufalität bejtimmt, toeld^e jebe (£rfd)einung aus einer ober
mel)reren t)ürl)ergel)enben Hr[ad)en ableitet. Sd^on bie alten
Hellenen erfannten als I)öd)jte5 2BeItprin3ip bas blinbe g^atum
(bie ^nangte), bas „©ötter unb 9Jienjtci)en bel)err[d)t". ^n il)re
Stelle trat im (£t)rtftentum hit betoufete 33or[ef)ung eines ©ottes,
xot\d)tx nid)t blinb, fonbern [e()enb ift, unb tt)elct)er bie SBeltregie^
rung als patriard)alifd)er §err[(^er füt)rt. I)er antt)rüpomorpt)e
(£l)ara!ter biefer 33orjtenung liegt auf ber §anb. X)er ©laube an einen
,,Iiebenben SSater", ber bie (5efd)icfe Don 1500 SJlillionen 9Jlen[(i)en
auf unferem Planeten unabläffig lenft unb babei bie millionenfacf)
\id) freugenben ©ebete unb „frommen 2ßün[ct)e" berfelben jeber3eit
berü(ifid)tigt, ijt oollfommen unl)altbar: bas ergibt [ic^ [ofort, toenn
bie 93emunft beim 9la(i)ben!en barüber bie farbige 25riIIc bes
„(Glaubens" ablegt.
Sei bem unget)euren ^luffc^toung bes 23erfel)rs im 19. 5af)r=
I)unbert l)at nottoenbig bie 3öt)I J^er 33erbre(f)en unb Hnglücfsfälle
in einem früt)er nid)t geat)nten Wüa^t gugenommen; bas erfaf)ren
toir tagtäglid) burd^ bie 3eitungen. 3^^ jebem ^a\)Xt gelten 3:au[enbe
Don 93?en[d)en sugrunbe burd) Sd)iffbrürf)e, 3:au[enbe burd) (£i|en=
bal)nunglüde, 3:au[enbe bur^ SergtDer!s!ataftropt)en ufro. 33iele
Xaufenbe töten fid^ alle ^ai)xt gegenfeitig im Äriege, unb bie 3u=
rüjtung für biefen 9P^o[[enmorb nimmt hti t)tn l)öd)ftenttoidelten,
bie d)ri|tlid^e Siebe befennenben Äulturnationen t)tn toeitaus
größten 3:eil bes ^lationaloermögens in ^n[pru(^. Unb unter
jenen §unberttau[enben, bie alljäl)rlid^ als Opfer ber mobernen
3ioili[ation fallen, befinben fid) übertoiegenb tüd)tige, tatkräftige,
arbeit[ame SlJlenfd^en. Dabei rebet man nod) oon fittlic^er 2Belt=
orbnung ! (£s [oll burd)au5 nid)t bejtritten toerben, "öal^ ber l)eute
noc^ I)err[d)enbe unb in ben Spulen gelel)rte (Slaube an eine „[itt=
Iid)e ißeltorbnung" — ebenfo toie an eine „liebeoolle 23or[el)ung"
— einen l)ol)en ^^^ölto^it befi^t. (£r tröftet bie £eibenben, ftärft
hit S(^tDad)en, erl)ebt im Unglüd; er befriebigt unfer gtoeifelnbes
(öemüt unb oerfe^t uns in eine 3bealtx>elt bes „3en[eits", in voelc^er
bie 9Jiängel bes irbi)d)en Dafeins im „!Dies[eit5" übertounben [inb.
So lange ber 9Jlen[d) ünblid) unb unerfal)ren genug bleibt, mag er
[ic^ mit biefen ©ebilben ber X»id)tung begnügen. Mein bas fort=
gej^rittene i^ulturleben ber (Segentoart reifet i^n geroaltfam aus
jener fc^önen ^^ealtoelt l)eraus unb ftellt il)n oor 5luf gaben, 3U
beren £ö[ung il)n nur bie oernünftige (Srfenntnis ber 9Bir!lid)=
feit befäl)igt. Ün3tDeifelI)aft toirb bie frü^seitige ^npaffung an
(£mt)eit ber 5natur. 167
btc[c ÜlcaltDcIt, jtDecftnä^tg in ben Unterri<f)t cmgefüf)rt unb
auf bic moberne (£ntu)t(ielung5let)re geftü^t, htn t)öf)er gebil=
beten 9Jlen[^en ber 3ii^iTtf^ i^^(f)t allein vernünftiger unb r)or=
urteilöfreier, [onbern aud) beffer unb glüc!Iicf)er mad)en.
3t^J» 3w>^t^ wnb 3wfon. 2Benn uns unbefangene Prüfung ber
SBeltentroicfelung Iet)rt, ha^ 'i)ahd roeber ein beftimmtes 3tel nod^
ein befonberer 3^^^ (i^ Sinne ber nien[(^Ii(f)en 93emunft!)
nac^3Utoei[en ijt, [o [cf)eint nichts übrig ju bleiben, als alles bem
„blinben 3ufan" 3U überlaffen. I)ie[er 33oru)urf ijt in ber 3:at
ebenfo bem Xransformismus von 2amaxd unb Darcoin,
lüie früt)er ber i^osmogenie von Rani unb JÖapIace ent-
gegengehalten roorben; tjiele bualijti[d)e ^^iIo[opl)en legen gerabe
{)ierauf be[onberes ©eroid)! (Ss t)erIo!)nt [i(f) bat)er tool)! ber
ä)lül)e, I)ier norf) einen flüchtigen Slid barauf ^u tüerfen.
t)ie eine ©ruppe ber ^f)ilo[opl)en bel)auptet nad^ il)rer teleo*
logif^en 3luffaf[ung: bie gange 2Belt ift ein georbneter i^osmos,
in bem alle (£r[(^einungett 3tel unb 3tüed l)aben; es gibt feinen
3ufall ! Die anbere ©ruppe bagegen meint gemäfe il)rer med^a»
ni[tifd)en ^uffa[[ung: Die Cnttoidelung ber gangen pelt ift ein
einl)eitlid) med)ani[(i)er ^rogefe, in bem toir nirgenbs 3i^I iinb 3^^d
entbecfen fönnen; roas tüir im organi[(j^en fieben [o nennen, ijt
eine befonbere ^olge ber biologi[ci)en 33erl)ältni[[e; roeber in ber
(Sntraicfelung ber SBeltförper, nocf) in berjenigen unferer organi[cf)en
(Erbrinbe ijt ein leitenber 3^^^ na^3uroei[en; l)ier ijt alles
3uf all ! Seibe Parteien l)aben red^t, je nad) ber Definition bes
„3ufall5". Das allgemeine 5lau[algeje^, in 93erbinbung mit
bem Subjtanggeje^, übergeugt uns, ha)^ jebe (£rjd)einung il)re
me^ani[(^e Urjac^e ^at; in biejem Sinne gibt es feinen 3ufalt.
2Bo^l aber fönnen unb müjfen coir biejen unentbef)rlid)en Segriff
beibel)alten, um bamit bas 3u[ttmmentreffen von gtoei (£r-
[d) einungen gu bejeic^nen, bie ni(f)t unter jic^ !au[al oerfnüpft finb,
von hzntn aber natürli(^ jebe il)re ltr[ad)e l)at, unabl)ängig Don ber
anberen. 2Bie jebermann toeife, [pielt ber 3iifall in biejem monijti=
[(l)en Sinne bie größte 9?olle im £eben bes 9Jien[c^en tuie in bem*
jenigen aller anberen 9^atur!örper. Die u)id)tigjten (£ntf (Reibungen
im bunten 2Becl)[el unferer perjönlic^en Scl)i(J[ale toerben oft burc^
gufällige Begegnung mit anberen ^erjonen bejtimmt. Das ^inbert
aber nid)t, bafe toir in jebem eingelnen „Svi^cilV roie in ber
(Sntroidelung bes SBeltgangen bie unioerjale öerr[d)aft bes um=
fajfenbjten 9laturge[e^es onerfennen, bes Subftanggefe^es.
168 günf3c{)nte5 Äapilel.
©Oft mt> <müt
9}^oniftifc^c 6tubtcn über ^^ei^mu^ unt) ^antf)ei^mu^. 0cr
ant^ro^iftif(^e 9}Zonoti)et^mu^ ber brei großen 9D^cbiterran--
QReligioncn. ^ytramunbancr unb intramunbaner @ott.
^I5 legten unb I)ö elften Urgrunb aller (£r[d) einungen betrad)tet
bie 9Jlen[^t)eit [eit 3a^rtau[enben eine beroirfenbe llr[a(i)e unter
bem ^Begriffe ©ott (Deus, Theos). 3Bie alle anberen allgemeinen
^Begriffe, fo ijt aud) bie[er I)öd)fte ©runbbegriff im Saufe ber
33ernunftentiDi(JeIung ben bebeutenbjten Umbilbungen unb ben
mannigfaltigsten 5lbartungen unterworfen geroefen. ^a man !ann
[agen, ba^ !ein anberer Segriff [o fef)r umgestaltet unb abgecinbert
roorben ift; benn fein anberer berü{)rt in gleid) t)ot)em SJiafee [oool)l
bie f)ö(i)jten Aufgaben bes er!ennenben SSerjtanbes unb ber Der=
nünftigen 2Bi[fen[(l^aft als auc^ 3uglei^ bie tiefften Sntereffen
bes gläubigen ©emütes unb ber bid)tenben ^f)antafie.
(Sine t)ergleid)enbe 5^riti! ber 3al)Irei(i)en Derfd)iebenen ^aupt*
formen ber ©ottesoorjtellung ijt sroar f)öcf)jt intereffant unb Iel)rreid),
toürbe uns I)ier aber oiel gu roeit füt)ren; toir muffen uns bamit
begnügen, nur auf bie roid)tigften ©ejtaltungen ber (öottesibee
unb auf i^re Se3iet)ung 3U unferer f)eutigen, burd) bie reine
9flaturer!enntnis bebingten 2BeItanf(i)auung einen flüd^tigen Slicf
5U werfen.
2Benn toir oon allen feineren Abtönungen unb bunten ©e*
roanbungen bes ©ottesbilbes abfel)en, fönnen coir füglic^ — mit
33e[(f)ränfung auf bm tief jten 3nl)alt besfelben — alle oerfrfiiebenen
23orfteUungen barüber in 3U)ei entgegengefe^te §auptgruppen
orbnen, in bie tt)eifti[(^e unb bie pantl)eiftifd)e ®ruppe.
Die le^tere ijt eng oerfnüpft mit ber monifti[d)en ober rationellen,
bie erjtere mit ber buali[ti[d)en ober mi)jtifd^en 2BeItan[(^auung.
I. I^eistnus: ©Ott unb 2BeIt \inh atoci oerfc^tebene SBefen.
©Ott ftel)t ber 2SeIt gegenüber als beren Schöpfer, (£rl)alter unb
9tegierer. t)abei toirb ©ott jtets mel)r ober roeniger men[d)en=
ät)nlid^ geba(i)t, als ein Organismus, tDeId)er bem ^UZenfc^en
ä^nlid) (wenn aud^ in I)öd)ft oollfommener 3rorm) benft unb
^anbelt. Diefer antt)ropomorpI)e ©ott, ben bie i)er[d)iebenen
Slaturoölfer offenbar unabt)ängig ooneinanbet mehrmals erbad)t
©Ott unb 2BeIt. 169
i
^abcn, unterliegt in il)rer ^f)anta[ie bereits ben mannigfaltigjten
Abstufungen, Dom i5^ettfd)i5mu5 aufroärts bis 3U htn geläuterten
monotI)eijtif(f)en 9?eItgionen ber ©egenroart. ^Is tDicf)tigjte Unter*
arten ber t^eijti[(i)en Segriffsbilbung untcr[d)eiben toir ^olr)=
tt)etsmu5, 2;ripIotf)ei5mus, 5lmpf)itl)ei5mu5 unb 9Jtonot^ei6mu5.
^Pol^t^etsmus (S3ielgötterei). Die 2BeIt ijt oon oielen »er»
[d)iebenen ©öttem beoölfert, roelc^e mefir ober toeniger [elbftänbig
in beren ©etriebe eingreifen. Der geti[d)ismus finbet ber=
gleichen untergeorbnete ©ötter in ben t)er[(i)tebenjten leblof en 9^atur=
förpern, in htn Steinen, im 2Ba[[er, in ber £uft, in menfcl^Iict)en
Kunjtprobuften einfa(i)fter ^rt. Der Dämonismus erblidt
©Otter in lebenbigen Organismen, in Säumen, 3:ieren unb
9Jien[(i)en. Diefc S3ielgötterei nimmt fd)on in ben nieberften
9?eIigion5formen ber roI)en 5Raturt)öIfer [el)r mannigfaltige formen
an. Sie erf^eint auf ber t)öd)ften Stufe geläutert im f)eneni[(^en
^oIt)tt)eismus, in jenen I)errlid)en ©ötterfagen bes alten
(5ried)enlanbs, toeIct)e noc^ fieute un[erer mobernen 5^unjt bie
[c^önjten 93orbiIber für ^oefie unb Silbnerei liefern, ^uf oiel
tieferer Stufe ftef)t ber !att)oIif(i)e ^oIr)tt)eismus, in bem
5a]^Ireid)e „^eilige" als untergeorbnete ©ottI)eiten angebetet unb
um gütige 93ermittelung beim oberjten ©ottiöber bei ber „3ung=
frau SOZaria" er[ud)t toerben.
Xriplot^etsmus (Dreigötter ei, 3:rinität6let)re). Die ßet)re von
ber „Dreieinig!eit ©ottes", u)eld)e l)eute nod) im ©laubens*
befenntnis ber ^rijtlid)en Äulturoöüer bie grunblegenben „brei
©laubensartüel" bilbet, gipfelt befanntlid) in ber Söorftellung, ha^
ber (Sine ©ott bes (£l)rijtentums eigentlirf) in 2Ba^rl)eit aus
brei ^erfonen von oerfd^iebenem 2Befen fid) sufammenfe^t:
I. ©Ott ber SSater ijt ber „anmäd)tige S^öpfer Fimmels unb ber
(£rbe" (biefer un!)altbare 9Jlt)tl)us ift burd) bie n)i[[enfd)aftlid)e
5losmogenie, ^jtronomie unb ©eologie längjt toiberlegt). II. 3c[iis
(£f)riftus ijt ber „eingeborene Soljn ©ottes bes S3aters" (unb
3ugleicf) ber britten ^erfon, bes „^eiligen ©eijtesü), erseugt
burc^ unbefledEte (Empfängnis ber Jungfrau SJlaria. III. Der
^eilige ©eift, ein mr)fti[ct)es 2Be[en, über 'i>^^^n unbegreiflict)es
33erl)ältnis gum „So!)ne" unb jum 33ater fid) oiele cE)rtjtIicf)e
X^eologen feit 1900 3<i^i^^" ^^Ti Äopf gans umfonft 3erbro(f)en
l)abtn. Die (Soangelien, bie bod) bie einsigen lauteren Ciuellen
biefes d)ri[tlic^en Üriplot^eismus [inb, Iaf|en uns über bie
eigentlichen Se5iet)ungen biefer brei ^erfonen 5U einanber oöllig
im Dunfeln unb geben auf bie grage nact) \\)xtx rätfef^aften (£int)eit
feine irgenbtoie befriebigenbe ^nttoort. Dagegen mü[fen toir befon«
bers barauf ^inroeifen, tDeld)e 33ertoirrung biefe untlare unb mpftifc^e
170 5ünf5ef)nte5 5^apitet,
3:rtnxtätslct)rc in htn köpfen unfercr 5lmber f^on beim erjten
Sd)uluntcrrid)t nottüenbig anrid)teTt mufe. StRontag morgens
in ber erjten Hnterri(i)t5Jtunbe (5leIigion) lernen [ie: Dreimal eins
ift eins! — unb gleid^ barauf in ber sroeiten Stunbe (5?ed)nen):
Dreimal eins ijt brei ! 3^ erinnere mid) [elbjt fet)r xdoI^I nocf) ber
Sebenfen, tüeld)e bie[er auffällige äBiberfprud^ in mir [elbjt beim
erften Unterri(i)t erregte. — Übrigens ijt bie ,,Dreieinig!eit"
im G^f)riftentum feinesroegs orginell, [onbem gleich "um meijten
anberen ßef)ren besjelben aus älteren 9?eligionen übernommen.
5lus Dem Sonnenbienjte ber df)albäi[rf)en SJlagier entroicfelt ficE)
bie 3:rinität ber ^lu, ber gef)eimnisDollen Urquelle ber 2ßelt; \\)xt
brei Offenbarungen roaren ^nu, bas urfprünglicf)e 6;i)aos, $Bel,
ber Oröner ber SBelt, unb ^o, bas t)immlifcf)e £i^t, bie alles
erteu(i)tenbe 2Bei6l)eit. — ^n ber ^ral)manenreligion toirb bie
3^rimurti als „©ottesein^eit" ebenfalls aus brei ^erfonen
jufammengefe^t, aus Bxa^ma (bem S^öpfer), 2Bi[c^nu (bem
(£rt)alter) unb Sd^itoa (bem 3^iltörer).
9(tnp^it^et$inu$ (3töeigötterei). Die 2Belt roirb oon jtDei oer*
|d)iebenen (Söttern regiert, einem guten unb einem böfen 2Befen,
©Ott unb 3^eufel. IBeibe SBeltregenten befinben firf) in einem
be|tänbigen i^ampfe, toie 5^aifer unb ©egenfaifer, ^apjt unb ©egen=
papft. Das (Ergebnis biefes Kampfes ijt jeberseit ber gegenioärtige
3ujtanb.ber 2Belt. Der liebe ©ott, als bas gute 2Be[en, ijt ber
Urquell bes ©uten unb Scl)önen, ber £ujt unb ^t^ube. Die SBelt
toürbe üolHommen fein, loenn [ein 2Bir!en ni(i)t bejtänbig burd^=
!reu3t toürbe üon bem hö^zn Sßejen, bem Xeuf el; biefer jd)limme
Satanas ijt bie llr[acl)e alles 5Böfen unb ^äfelic^en, ber Unlujt unb
bes Sd)mer3es.
Diefer ^mpl)itl)eismus ijt unter allen t)erfcf)iebenen ^rormen
bes ©ötterglaubens infofern ber oernünftigjte, als jid) feine X{)toxh
am erjten mit einer iDif[enf(^aftli(i)en 2Belter!lärung oerträgt.
äBir finben it)n bal)er fc^on mel)rere 3a^i^tau[enbe cor (£I)rijtus
bei oerf(i)iebenen 5^ulturt)öl!ern bes 9Iltertums ausgebilbet. ^m
alten ^^^i^i^ !ämpft 2Bi[(f)nu, ber (£rl)alter, mit ©d^iroa, bem
3erjtörer. ^m alten %ppten jtel)t bem guten Cfiris ber böfe
Zr)plfon gegenüber, ^n ber 3ßTxbreligion ber alten ^erfer, son
3oroajter 2000 3al)re oor (£l)rijtus gegrünbet, l)crrfd)t bejtänbiger
5lampf 3toifcl)en Ormubj, bem guten ©ott bes £id)tes, unb
^'^riman, bem böfen ©ott ber ginjternis.
Sleine geringere 9lolle fpielt ber 3:eufel als ©egner bes guten
©ottes in ber 9?lr)tl)ologie bes (£l)rijtentums als ber 23erfud)er unb
93erfül)rer, ber gürjt ber $ölle unb §err ber griujtemis. ^Is perfön*
li(l)er Satanas löar er aud) nod) im anfange bes 19. 3al)rf)unberts
©Ott unb 9Bett. 171
ein toefentUc^es (Element im (Stauben her meiften (S^riften; erft
gegen bie 93?itte besfelben rourbe er mit 3unel)menber ^ufflärung
allmät)licf) abgefegt, ober er mufete [ic^ mit jener 9^oIle b,egnügen,
tüel(f)e il)m (5oetI)e in ber größten aller bramati[(^en X)i(f)tungen,
im „Sauft", als 9Jlepf)iftopf)eIes juteilt. ©egenroärtig gilt in
ben befferen gebilbeten i^reifen ber „(Slaube an hzn per[önlid)en
Xeuf el" als ein überrounbener Aberglaube bes ^ölittelalters, tx)ä!)renb
gleid)3eitig ber „(ölaube an ©ott" (b. I). htn perfönlid)en, guten
unb lieben ©ott) als ein unentbel)rlicf)er Sejtanbteil ber 9?eligion
fejtgel)alten toirb. Unb bocf) ijt ber erjtere ©laube ebenfo ooll be*
re(f)tigt (Dtelmel)r eben[o I)altlos!) roie ber le^tere! ^ebenfalls erflärt
fict) bie üielbellagte „lInt)oll!ommenl)eit bes (£rbenlebens" oiel
einfad)er unb natürli(f)er burd) bie[en 5lampf bes guten unb böfen
©ottes als burd^ irgenb toeld)e anbere ^orm bes ©ottesglaubens.
aRonot^etsmus ((Singötterei). Die £el)re oon ber (£inl)eit
©ottes !ann in üieler ^e3iel)ung als bie einfad)jte unb natürli(^fte
Ororm ber ©ottest)erel)rung gelten. 9lad) ber allgemeinen SJleinung
ijt [ie bie toeiteft oerbreitete ©runblage ber 9^eligion unb bel)err[(^t
namentlid^ htn 5lir(i)englauben ber i^ulturoölfer. Xatfäd^lid) ift
bies |ebo4 nid)t ber gall; ttnn ber angebli(i)e ä)ionotl)eismu5
ertoeijt [idf) bei näl)erer ^etrad)tung meistens als eine ber voxi)u
angefül)rten S^ormen bes Zi)tx5mu5, inbem neben bem oberjten
„$auptgotte" uoä) einer ober mel)rere S^lebengötter angebetet
roerben. Aud^ [inb ^ie meijten 9?eligionen, toeld^e einen rein
monott)eifti[(l)en Ausgangspunft l)aben, im £aufe ber 3^^t mel)r
ober minber polr)tl)eijti[d) geioorben. Allerbings bel)auptet bie
moberne Statijtü, bafe unter titn 1500 StRillionen 9Jlen[(f)en, töel(f)e
un[ere (rrbe beoölfern, bie grofee 'Md)x^a\)l 9Jlonotl)eiften [eien;
angeblid) [ollen baoon ungefäl)r 600 SRillionen Sral)ma=
^ubbl)ijten [ein, öOO XRillionen ([ogenannte!) (£J)rijten, 200 millu
onen Reiben (t)er[c^ieben[ter Sorte), 180 9Jlillionen Pol)amme=
baner, 10 9Jlillionen Israeliten unb 10 Spflillionen ganj religionslos.
Allein bie grofee 9Jiel)r3al)l ber angebli^en SJlonotl^eijten \)ai ganj
untlare ©ottesDorftellungen ober glaubt mhtn bem einen §aupt=
gott aud) nod) an oiele 9lebengötter, als ha [inb: (Engel, Xeufel,
Dämonen u[id. Die t)er[cl)iebenen O^ormen, in benen [id^ ber
5Ronotl)ei5mus polr)pl)i)letiF£^ enttoidelt t)at, !önnen roir in
3töei §auptgruppen bringen: naturali[ti[ct)e unb antl)ropi|ti[cl)e
(Eingötterei.
3latutaltfttf(^er Sllonot^eismus. Die[e alte (^ornt ber
9?cligion erblidft bie 93er!örperung ©ottes in einer erl)abenen,
alles be^err[cl)enben 5Uaturer[c^einung. , Als [old)e imponierte
fc^on cor melen 3ö^rtau[cnben ben 9Jien[(f)en cor allem bie
172 5ünf3et)nte5 Kapitel.
Sonne, btc Ieud)tenbc unb enoärmenbc ®ottI)ett, »on beren (£in=
flufe \iä)il\(i) alles organi[d)e 2tUn unmittelbar abl)cingtg ijt.
Der Sonnenlultus ober Solarismus fann für htn mobernen
9flaturfor|d)er toof)! unter allen t^eijti[d)en ©laubensformen als
bie roürbigjte er[cf)einen. X)enn unfere moberne ^jtropf)r)[i! unb
©eogenie ^at uns überjeugt, bafe bie (Erbe ein abgelöfter a:eU ber
Sonne ijt unb fpäter toieber in it)ren Scfiofe 3urücffel)ren roirb.
Die moberne ^i)i)[ioIogie le!)rt uns, ha^ ber erjte Urquell bes
organi[d)en £ebens auf ber ©rbe bie ^lasmabilbung ijt unb baJ3
bieje St)ntl)eje oon einfachen anorganijc^cn 33erbinbungen, oon
SBajjer, Äo^lenjäure unb ^mmonia! nur unter bem (£influ[[e bes
Sonnen tid^tes erfolgt. 5tuf bie primäre (gntrottfelung ber
^f langen ijt erjt nad)träglid^, [efunbär, biejenige ber 3:ierc gefolgt,
bie \i(S) bire!t ober inbire!t oon if)nen nät)ren; unb bie (£ntjtel)ung
bes 9}lenfd^enge[cl)le(^te5 [elbjt ijt toieberum nur ein jpäterer 23or=
gang in ber Stammesgej^ic^te bes 3:ierreid)s. ^ud) unjer ge*
[amtes !örperlid)es unb geijtiges 9Jlenjcf)enleben ijt cbenjo toie alles
anbere organijc^e Q^htn im legten ©runbe auf bie jtral)lenbe, £id)t
unb SBärme [penbenbe Sonne 3urüd3ufül)ren. Unbefangen
unb oernünftig betrad^tet, er[cl)eint bal)er ber Sonnenfultus
als naturali[tijcf)er 9Jlonotl)ei5mus beffer begrünbet als ber
antl)ropijtijd^e ©ottesbienjt ber (S;i)rijten unb anberer Äulturoölfer,
toelc^c ®ott in SRen jd) enge jtalt jid) oorjtellen. 3:at[ä(l)lid^ l)aben
aud) fd)on oor 5at)rtaufenben bie Sonnenanbeter jid) auf eine
^öl)ere intellektuelle unb moralifc^e ©ilbungsjtufe erl^oben als bie
meijten anberen 3:i)eijten. ^Is id) im lUooember 1881 in 33ombat)
war, betrad)tete id) mit ber größten ^eilna^me bie erl)ebenben
^nbac^tsübungen ber frommen ^arfi, toeli^e beim Aufgang unb
Untergang ber Sonne, am SJ^eeresjtranbe jtel)enb ober auf aus«
gebreitetem XtJppi^ fnienb, bem fommenben unb jd)eibenben
2:agesgejtirn il)re 33erel)rung begeugten (^nbijd^e IReijebriefe,
IV. ^ufl., S. 56).
3rnt^ri)ptfttf(^eir aWonot^eismus. Die 23ermen[d)lic^ung
(Sottes, bie 93orjtellung, ha^ bas „l)öd)jte 2Be[en" bem äRenjd^en
gleid^ empfinbet, ben!t unb l)anbelt (toenn and) in erl)abcnjter
5orm), [pieltals antl)ropomorpl)er9Jlonotl)eismus bie größte
9{olle in ber 5^ulturgej(^i(^te. 23or allen anberen treten l)ier in
htn 33orbergrunb bie bret großen 9{eligionen ber mebiterranen
SJlenjd^enart, bie ältere mojaij^e, bie mittlere d)rijtlid)e unb bie
jüngere mo^ammebanifc^e. ' Dicfc brei großen SOlittelmeer^»
91 e l i g i 0 n e n , alle bret an ber gejegneten £) jt!ü jte bes intere [[ante jten
aller 9}leerc entjtanben, alle brei in äl)nlid^er SBeife oon einem
pl)anta[iereid)en S^xoärmer [emitifc^er 5Raj[e gejtiftet, l)ängeu
©Ott unb SBcIt. 173
nid)t nur öujgerltd) burc^ btcfcn gemeinsamen Ursprung innig
3u[ammen, [onbern audt) burd) 3al)Iretc^e gemetn[ame 3üge il)rcr
inneren ©laubensDorjtellungen. 2Bie bas (£f)rijtentum einen großen
XetI [einer $0?r)tl)ologie ous bem älteren 3wbentum bireft über*
nommen !)at, |o ^at ber jüngere ^slam toieberum von biefen beiben
^Religionen oiele (Srbfd^aften beibet)alten. ?llle brei SJlebiterran*
5leIigionen roaren uriprünglid) rein monotf)ei[tifd); olle brei
[inb [päter!)in htn mannigfaltigften poIr)tI)ei[tiidf)en Hmbilbun=
gen unterlegen, je toeiter [ie [icf) 5unäd)ft an "ötn oielteiligen i^üften
bes mannigfad) beoölferten SJlittelmeers unb [obann in ben übrigen
(Erbteilen ausbreiteten. ~
!Der SKofaismus. Der iübi[d)e 9Jlonott)ei5mu5, raie lf)n
ällofes (1600 Dor (£t)r.) begrünbete, gilt getDö{)nIid) als biejenige
(Slaubensform bes Altertums, toel(f)e bie t)ö(f)fte ^ebeutung für
bie roeitere ett)if(^e unb religiö[e CSntroidelung ber 93Ienj'd)f)eit
be[i^t. Hn3iDeifeIf)aft ijt i^r biefer \)o\)z l)iftori[d)e SBert f^on
be5t)alb 3U3ugeftel)en, toeil bie beiben anberen tDeItbef)crrfd)enben
9Jiebiterran=9teIigionen aus iljr l)erDorgegangen [inb; (£l)rijtus jtel)t
ebenfo auf h^n Sd^ultern von SJZofes, loie [päter 9iRot)ammeb auf
ben Sd)ultem üon beiben. (Ebenfo ru!)t bas 9leue 3^ejtament,
iDeld)es in ber !ur3en 3^it[panne üon 1900 5a!)ren bas (5lauben5=
gunbament ber l)öd)jtenttDi(feIten5^ulturDöI!er gebilbet f)at, auf
ber Sa[is bes ^Iten ^^eftaments. Seibe ^ufammengenommen
^aben als ©ibel einen (Einfluß unb eine ^Verbreitung getoonnen
roie fein anbcres Sud) in ber Sßelt. SBenn toir aber bie[e mer!*
roürbige (5efd)id)tsquene unbefangen unb üorurteilslos prüfen, [o
jtellen |id) üiele toi^tige ®e5iei)ungen gan3 anbers bar, als gelel)rt
töirb. ^ud) l)ier I)at bie tiefer einbringenbc moberne Äriti! unb
Äulturgefd)ic^te tDid)tige ^uffd)Iü[|e geliefert, toeId)e*bie geltenbe
3:rabition in ii)ren O^unbamenten erfd)üttern.
2)er S[Ronott)eismu5, toie il)n SJiofes im 3^^ox»a!)bienfte %u ht-
grünben [ud)te, unb roie il)n [päter mit großem (Erfolge bie
^ropl)eten ausbilbeten, l)atte ur[prünglid) l)arte unb lange
kämpfe mit bem t)err[d)enben älteren ^olT)tt)eismus 3U beftet)en.
Hrfprünglid) roar 5el)0Dal) ober 3apl)e^ aus jenem §immeIsgotte
abgeleitet, ber als 5)loIod) ober 5BaaI eine ber meijtDereI)rten
Drientali[d)en (5ott{)eiten roar. Die t)ieIbe[prod)enen 5or[d)ungen
ber mobernen ?l[[r)rioIogen über „5BibeI unb ©abel" (Deli^[d)
u. a.) tiaben gelel)rt, ta^ ber monotI)ei[ti[^e ^ap\)t})Q\aubt [d)on
lange cor SOlojes in $Babi)Ion l)eimi[d) toar. Daneben aber blieben
anbere (Sötter oielfad) in l)ot)em Uln[et)en, unb ber Äampf mit ber
„Abgötterei" bejtanb im jübi[d)en S3oI!e immer fort. 3:ro^bem
blieb im ^rinsipe ^zl)ovdi) ber alleinige (Sott, ber im erjten ber
174 i5ünf3el)ntcs Äapitel.
3el)n ©cbotc 9Jlo[t5 ausbrücHid) [agt: „^d) bin ber §err bein ©ott,
bu [ollft md)t anbete ©ötter I)aben neben mtf"
2)a0 (S^riftentum. Der ^rtjtltd)e 901onott)et5mu5 teilte bas
Sd^icffal [einer SCRutter, bes SJ^ofaismus, unb blieb roal^re (£in=
götterei meijtens nur tl^eoretifc^ im ^rinjip, u)äl)renb er pra!ti[d^
in bie mannigfaltigjten Srormen bes ^olt)t^eismu5 [id) oerroanbelte.
(£igentli(i) toar ja \<i)on in ber 3:rinität6let)re felbft, bie bod) als ein
unentbet)rlt(f)e5 ^^unbament ber dE)rijtIid)en 9?eIigion gilt, ber
SPlonottjeismus logif^ercoeife aufgegeben. X>k brei ^erfonen,
bie als SSater, SoI)n unb ^eiliger (Seijt unter[^ieben töerben, [inb
unb bleiben eben[o brei t»er[d)iebene 3^i>tDibuen (unb ^roax
antt)ropomorpI)e ^erfonen!) roie bie brei inbi[d)en (5ottt)eiten
ber 3:rimurti (Sraf)ma, 2Bi[(f)nu, 6df)iiDa). Daju !ommt nodf), ha^
in ben töeiteftüerbreiteten Abarten bes (£t)rijtiani5mus als oierte
(5ottf)eit bie Jungfrau 9J?aria, als unbefledte 5[Rutter (ü)x\]i\, eine
grofee ^lolle fpielt; in toeiten !atI)oIi[d^en 5^rei[en gilt [ie [ogar als
üiel tx)id)tiger unb einflufereid)er als bie brei ntännlid)en ^erfonen
ber ^immetsregierung. Der äRabonnen!uItus ^at i)ier tat=
[ä^Iirf) eine [oId)e ©ebeutung getoonnen, bafe man it)n als einen
tt>eiblid)en 50lonotl)eismu5 ber getx)öt)nlid()en männli^en gorm
ber (Singötterei gegenüberftellen fann. Die „l)et)re ^immels»
fönigin" erfd)eint l)ier [o [e^r im 93orbergrunb aller 33orjtellungen
(lüie es au^ un5äl)lige 9Jiabonnenbilber unb Sagen beseugen),
ha"^ bie brei männlid)en ^er[onen bagegen ganj jurüdtreten.
9lun l)at \xä) aber au^erbem [rf)on frül)3eitig in ber ^l)antafie
ber gläubigen (£t)riften eine 3al)lreic^e ©e[ell[d)aft uon „§ eiligen"
aller ^rt gu biefer oberften ^immelsregierung gefeilt, unb mu[ifa=
li[(i)e (Engel [orgen bafür, tia^ es im „etoigen fieben" an 5^on3ert=
genüffen nid^t fel)lt. Die römifd)en ^äpjte — bie größten
(£l)arlatans, bie jemals eine ^Religion l)ert)orgebra(i)t l)at! — [inb
bejtänbig befliffen, burd) neue §eilig[pred^ungen bie 3(^)1 biefer
antl)ropomorpl)en §immelstrabanten 3U i)ermel)ren. Den reid^jten
unb intereffantejten 3uwad)5 l)at aber biefe [eltfame ^arabies=
ge[ell[(^aft am 13. ^uli 1870 baburd) befommen, ba^ bas üati!anifd)e
Kon3il bie ^äpfte als Stellt) ertreter (£t)rifti für unfel)lbar erflärt
unb fie bamit [elbjt 3um 5Range von © öttcrn erl)oben l)at. klimmt
man ba3U nod^ htn üon it)nen anerfannten „per[önlid)en Xeufel"
unb bie „böfen (Engel", töeld)e feinen §ofjtaat bilben, fo gen)äl)rt
uns ber ^apismus, bie l)eute nod) m ei jto erbreitete 3rorm bes
mobernen (£l)rijtentums, ein [o buntes Silb bes rei^jten antl)ro=
pijtifd)en ^oli)tl)eismus, ^a^ ber ]^elleni[d)e Oltjmp im 93er=
gleid)e ba3U flein unb bürftig er[d)eint.
!Der3$lotn (ober ber moI)ommebani[d)e äRonot^eismus)
©Ott unb SBelt. 175
tjt bic iüngjte t^orm ber (£mgötteret. ^Is ber junge SD^ol)amTneb
(geb. 570) frül)3exttg hm poIi)tI)etjtt[(i)en ©ö^enbtenjt [einer arabt*
[d)en Stamntesgenoffen oerad^ten unb bas (Il)tijtentum ber
9lejtorianer fenncn lernte, eignete er fid^ gtoar il)re (5runbIeJ)ren
im ollgemeinen an; er !onnte ]id) ober nic^t ent[(i)Iiefeen, in (£()rijtus
ettDos onberes 3U erbliden oIs timn ^ropf)eten, glei^ SJlofes.
3m Dogmo ber Dreieinig!eit fonb er bos, toos bei unbefangenem
9lod^ben!en jeber Dorurteitsfreie 9Jlen[d^ borin finben mufe, einen
toiberfinnigen ©loubensfo^, ber toeber mit htn ©runbfä^en unferer
23ernunft oereinbor nod) für unfere religiöfe (£rl)ebung üon irgenb
toel^em 2Berte ijt. Die Anbetung ber unbefledten Jungfrau
SJlorio aU ber „SiRutter ©ottes" betrod^tete er ebenfo oIs eitle
©ö^enbienerei roie bie 33erel)rung oon Silbern unb- Silbfäulen.
3e länger er borüber nod)bod)te, unb je me^r er nod^ einer reineren
©ottesDorjtellung l)injtrebte, befto florer rourbe it)m bie ©eEoifel)eit
[eines ^ouptfo^es: „©ott ift ber olleinige ©ott"; es gibt feine
onberen ©ötter neben it)m.
^Illerbings !onnte oud) 3)lol)ommeb [id) t)on bem ^ntl)ropo=
morpl)ismus ber ©ottesüorftellung nid)t frei macl)eti. ^ud) [ein
alleiniger ©ott blieb ein ibeali[ierter, ollmädfitiger $lUen[d), eben[o
roie ber jtrenge, [trofenbe ©ott bes 9[Ro[es, eben[o roie ber milbe,
liebenbe ©ott bes (£l)ri[tus. ^ber tro^bem fonn man ber mol)amme=
bonif^en ^Religion hm Sorjug la[[en, bofe [ie oud^ im Verlaufe
il)rer l)i[tori[d)en ©nttoidelung unb unoermeibli^en ^bortung ben
ur[prünglid)en reinen 6^l)aro!ter jtrenger betDal)rte als bie mo[ai[(i)e
unb bie d)ri[tlid)e 9^eligion. Das geigt [id) aud) l)eute nod^ äufeerlid)
in htn ©ebetsformen unb ^rebigttöei[en {l)res ilultus, loie in ber
^rd^iteüur unb ^us[^müdung it)rer ©ot.tesl)äu[er. ^Is idf) 1873
3um erften 93Zale htn Orient be[ud)te unb bie ]^errlid)en 9[Ro[(^een
in i^airo unb Smprna, in Sru[[a unb ilonftantinopel berounberte,
erfüllten mid) mit roa^rer 5Inbad)t bie einfad)e unb ge[d)madoolle
De!oration bes Innern, ber erl)abene unb 3uglei(^ präd)tige
ar(^ite!toni[d)e Sd)mud bes 3lu^ern. 2Bie ebel unb erl)aben
er[d)einen bie[e 9Jlo[d)een im S3ergleid)e 3U ber 9Jlel)r3al)l ber
!atl)oli[d)en Äird)en, toel^e innen mit bunten Silbern unb
golbenem glitterfram überlaben, aufeen burd) übermäßige gülle
oon 9}?en[d)en= unb 3:ierfiguren oerunjtaltet [inb! ^\ä)i minber
\d)ön er[d)einen bie jtillen ©ebete unb bie einfa^en ^nbad)ts=
Übungen bes 5^oran im 33ergleid)e mit bem lauten, unoerftanbenen
Sßortgeplapper ber !atl)oli[d)en äRe[[en unb ber lärmenben Mu\\t
il)rer t^eatrali[d)en ^ro3e[[ionen.
aWixotl)ei5mu5 (SD^i[^götterei). Unter bie[em Segriffe !ann
mon füglid) olle biejenigcn formen bes ©öttergloubens 3u[ommen'
176 Öfünf3el)ntcs 5^apitcl.
foffen, tjoelc^c SRif^ungen oon reltgiöfcn SSorftellungen üer=
[c^iebcncr unb 3um 3:cU bircft tDiber[prccf)enbcr ^rt cntl)alten.
3:T)Corcttf(f) tjt bie[c tocttcftuerbrcttctc 9teltötonsfonn bisl^cr nirgenbs
onerfannt. ^ra!tt[cf) aber ijt [ie bic tot^tigfte unb mcrftüütbtgjtc
Don allen. Denn bie grofee 9Ket)r3af)l ber 9Jienfd)en, bte [i^ über*
I)aupt religiöfe SSorjtellungen bilbeten, roarcn von \t\)tx unb [inb
noä) f)eute 9Jlixotf)ci[ten; i^re ©ottesüorjtellung ijt bunt gemi[d)t
aus hzn frii^settig in ber 5linbl)eit eingeprägten ©laubensfä^en
if)rer [pe^iellen i^onfeffion unb aus oieleri Derfct)iebenen (£in»
brücfen, toel^e [päter bei ber $Berüt)rung mit anbcren ©laubens*
formen empfangen toerbcn, unb u)eld)e bie erjtcren mobifiäieren.
Sei Dielen ©ebilbeten fommen ba3U no(i) ber umgeftaltenbe (Sinflufe
pl)iIofopl)i[d)er Stubien im reiferen Filter unb »or ollem bie un*
befangene ^e[(i)äftigung mit ben (Srfd) einungen ber 9latur, toel^e
bie 9lic^tig!eit ber tt)eifti[cf)en ©laubensbilber bartun. Der 5^ampf
biefer rDiber[precf)enben S3orftenungen, tt)elcf)er für feiner emp=
finbenbe ©emüter äufeerft fd)mer3licf) ijt unb oft bas ganse Qthtn
i)inburc^ unent[(^ieben bleibt, offenbart flar bie ungel)eure 9Jtact)t
ber S3ererbung alter ©laubensfä^e einerfeits unb ber frü^=
seittgen ^tnpa[[ung an irrtümlid)e fiel)ren anbererfeits. Die
befonbere 5^onfe[[ion, in toelc^e bos 5^inb oon frül)ejter 3ugenb
an burd) bie (Eltern eingestoängt tourbe, bleibt meijtens in ber
$aupt[ad)e mafegebenb, falls ni^t [päter burd) t)m ftär!eren (Einfluß
eines anberen ®laubensbe!enntni[fcs eine ilonoerfion eintritt,
^ber audE) bei biefem Übertritt oon einer ©laubensform gur anberen
i|t oft ber neue ^lame, ebenfo ix)te ber alte aufgegebene, nur eine
äußere (£ti!ette, unter toeld^er bei näl)erer Unterfud)ung bie aller*
oer[d)iebenjten Überzeugungen unb Sertürner [id) bunt gemi[d)t
oerjteden. Die grofee SJiel^raabl ber [ogenannten (£;i)rijten [inb nic^t
ä)lonotl)ei[ten (roie [ie glauben), [onbern ^mp^itl)ei[ten, Xriplo*
tl)ei[ten ober ^oli)tl)ei[ten. Dasselbe gilt aber aud() oon ben Se*
!ennem bes ^slam unb bes S[Ro[aismus, toie oon anberen mono*
tl)ei[ti[(^en ^Religionen. Überall ge[ellen [ic^ 5U ber ur[prünglid)en
33or[tellung bes „alleinigen ober breieinigen ©ottes" [päter er-
worbene ©laubensbilber oon untergeorbneten (5ottl)eiten: (Engeln,
Xeufeln, § eiligen unb anberen Dämonen, eine bunte 93^i[d)ung
ber üer[c^ieben[ten t^ei[ti[d^en (Seftalten.
SBefen bes S^etsmus. 5Ille l)ier angefüt)rten ^^ormen bes
3:i)ei5mus im eigentli(^en Sinne l)aben gemein[am bie 33or[tellung
(Sottes als bes ^ufeertoeltlic^en ober llbernatürlid)en.
Smmer [tel)t (Sott als [elb[tänbiges 2Be[en ber 2Belt ober ber 9latur
gegenüber, meijtens als Sd)öpfer, (£rl)alter unb 9?egierer ber Sßelt.
5n ben allermeijten 9teligionen !ommt baau noc^ ber (£l)ara!ter
©Ott unb 3BcIt. 177
bcs^cr[önn(f)cn unb bejlintnxtcr norf) bic SJorftcIIung, bafe ©ott
als ^crfon bcm 9Jlcn[d)cn äl)nlid) tjt. „5n feinen ©öttem malet
fid) ber 95lcn[d)." Diefer ^ntI)ropomorpf)ismus ©ottcs,
bie SBorjtellung eines 2Be[ens, t»elrf)es glei^ bent 93Zenfcf)en ben!t,
empfinbet unb l)anbclt, ijt bei ber großen ^t\)X^ai)\ ber ©ottes«
gläubigen mafegebenb, balb in ntel)r rotier unb naioer, balb in mel)r
feiner unb abftrafter gorm. ^Ilerbings toirbr bie fortgef^rittenjte
gorm ber 2:{|eo[opI)ie bel)aupten, ha)^ ©ott als t)öd)|tes SBefen
oon abfoluter 23oII!ommenl)eit unb bat)er gänjUct) oon bem un*
DoIIfonimenen 3Be[en bes 9}len[(i)en oerfd^ieben fei. allein bei
genauerer Unter[ud)ung bleibt immer bas ©emeinfame beiber
i^re Seelen» ober ©eijtestätigfeit.
©et |)erfönlt(^e Slnt^roptsmus ©ottes ijt bei ber großen
9Jlet)r3af)I ber ©laubigen 3U einer [o geläufigen 93orjtenung ge*
roorben, t>a)s [ie feinen ^nftofe an ber mfenf(t)Ii^en ^er[onifi»
fation ©ottes in ^Bilbern unb Statuen net)men, unb an ben
mannigfaltigen Dii^tungen ber ^I)anta[ie, in mtlä)tn ©ott
mcn[d)li(i)e ©ejtalt annimmt. 3^1 oielen 9Kr)tf)en erfc^eint hk
^erfon ©ottes auä) in ©ejtalt anberer Säugetiere (^ffen, fiötoen,
Stiere ujto.), [eltener in ©ejtalt oon 93ögeln (^bler, stauben,
S(^rDäne) ober in gorm oon anberen 3Birbeltieren (Scf)Iangen,
Ärofobile, Dra(f)en).
3n htn f)öi)eren unb abjtrafteren 9?eIigion5formen toirb biejc
f5rperUcf)e (£r[(^einung aufgegeben unb ©ott nur als „reiner
©eift" ot)ne i^örper t)eret)rt. „©ott ijt ein ©eijt, unb toer ii)n
anbetet, joll il)n im ©eijt unb in ber 9[Ba^rt)eit anbeten." 3^ro^bem
bleibt aber bie Seelentätig!eit biefes reinen ©eijtes gang biejelfee
roie biejenige ber antI)ropomorpt)en ©ottesperjon. 5n 9[Bir!Iid)feit
xoirb aud) biejer immaterielle ©eijt nicf)t unförperlid), fonbern
un[i(f)tbar gebacf)t, gasförmig.
IL «pant^etsmus (^n=(£ins»fiet)re) : ©ott unb 2ßelt [inb
ein cinjiges 2Be[en. Der ^Begriff ©ottes fällt mit bemjenigen
ber Statur ober ber Subjtanj jujammen. Dieje pantl)eijti[(f)e
2BeItanjrf)auung jtet)t im ^rinaip fämtlid)en angefüt)rten unb allen
[onjt nocf) möglichen gormen bes 2;i)eismus [d)roff gegenüber,
toenngleic^ man burd) ©ntgegentommen oon beiben Seiten bie
tiefe 5^Iuft 3U)i[d)en beiben ju übcrbrücfen, jid) oielfad) bemül)t I)at.
Smmer bleibt 5tt)i[cf)en beiben ber funbamentale ©egenja^ bejtet)en,
bafe im 21) eismus ©Ott als aufeerroeltlic^es ober eitramunbanes
2Be[en ber 9latur [c^affenb unb erl)altenb gegenüberjtel)t unb oon
oufeen auf [ie einroirtt, u)äl)renb im ^antl)eismus ©ott als
innertDeItIid)es ober intramunbanes SBefen anentt)alben bic
9latur [elbjt ijt unb als bcnfenbc Subjtana, oIs „Äraft ober
Äoedct, 5ßelträtfct. 12
178 Sünf3cl)nte5 RapiM.
(Energie" tätig ijt. Diefe leitete ^n[id)t allein ijt üereinbar mit
bcm Sub[tan3ge[e^e. X)at)er ijt nottDenbigertDei[e bcr ^an =
tl)ei5mu5 bie 2BeItan[d)auung unferer mobernen 9lotur*
rDif[en[(i)aft.
T)a ber ^antl)ei5mu5 erjt aus ber geläuterten 9^aturbetrad)=
tung bes benfenben 5^ulturmen[(i)en l)erDorget)en tonnte, ijt er
begreif li^ertDeife ütel jünger als ber 3:^eismus, bejfen rol)ejte
formen ji(f)er j(i)on üor mel)r als 3el)ntau[enb 3öt)ren bei ben
primitioen 9latun)öl!ern in mannigfaltigen S3ariationen ausgebilbet
tt)urben. 2Benn aucf) in ben erjten Anfängen ber ^I)iIojopf)ie bei
'ütn ältejten Rulturcölfern (in ^Ttbien unb ^gppten, in (£t)ina unb
5apan) jd)on met)rere 3öl)rtaujenbe vor (£t)rijtus 5^eime bes
^antt)eismus in üer[d)iebenen 9ieIigionsformen eingejtreut jid)
finben, [o tritt bod) eine bejtimmte pl)ilojopt)ijd)e Raffung besjelben
erjt in bem ^rilogöismus ber ioni[(^en 9laturpl)iIojopf)en
auf, in ber erjten Hälfte bes 6. 5at)rl)unbert5 vox (£t)r. ^llle großen
Den!er biejer 93Iüteperiobe bes l)enenif(l^en (5eijtes überragt ber
getoaltige 5lnaiimanber »on SJiilet, ber bie pringipielle (£int)eit
bes unenblid)en 2BeItgan3en tief unb !Iar erfaßte. 9lic^t nur
t>tn großen ©ebanten ber urjprüngli(i)en (£inl)eit bes i^osmos,
ber (Sntroi (feiung aller Grjd) einungen aus ber alles burd)=
bringenben Urmaterie, l)atte ^naiimanber bereits aus-»
gejprod)en, [onbern aud) bie !ül)ne SSorjtellung Don 3at)no[en, in
periobijd)em 2Bed)[eI entjtetienben unb t)erget)enben 3BeIt=
bilbungen.
^ud) üiele von ben folgenben grofeen ipi)iIo[opI)en bes !Ia[[ijd)en
^lltertums, oor allen Demofritos, ^eratlitos unb (£mpe =
bofles, l)atten in gleid)em ober ä^nlid)em Sinne tief einbringenb
bereits jene (£inl)eit oon 9^atur unb (Sott, »on i^örper unb (Seijt
erfaßt, U)eld)c im Subjtansgeje^e unferes heutigen SJIonismus
ben bejtimmtejten ^usbrud getoonnen l)at. Der grofee römijd)e
X)id)ter unb 9ZaturpI)ilojopl) ßucretius (Earus I)at il)n in [einem
berül)mten fiel)rgebid)te „De rerum natura" in l)od)poetijd^er
5orm bargejtellt. 3lllein biejer naturtt)al)re pantl)eijtlj^e ?Jtonis=
mus töurbe balb gan3 3urüdgebrängt burd) ben mr)jti[d)en Dualis=
mus von ^lato unb bejonbers burd) htn getoaltigen (Einfluß,
ben [eine ibealijtij^e ^l)ilo[op!)ie burd) bie 23er[d)mel3ung mit ben
(^rijtlid)en ®laubenslel)ren getoann. 5lls [obann beren mäd)tigjter
^niDalt, ber römijd)e ^apjt, bie geijtige 2ßeltl)errjd)aft getoann,
xüurbe ber Pantheismus geujaltjam unterbrüdt; (Siorbano
©runo, [ein geijtoolljter 23ertreter, tourbe am 17. gebruar 1600
auf bem (Sampo giori in 9?om öon bem „Stelloertreter (Sottes"
lebenbig oerbrannt.
©Ott unb SBcIt. 179
(£rjt in ber stociten §älftc bcs 17. 3öl)rT^unbcrts tourbc burrf)
bcn großen ^arud) (5pino3a bas Sr)ftem bes ^antl)etsTnus in
rcinjtcr gomt ausgebilbet; er jtellte für bie ®e[amtl)eit ber Dinge
t>tn reinen Subftanjbegriff auf, in u)eld)em ,,(5ott unb 2BeIt"
untrennbar »ereinigt [inb. 2Btr muffen bie 5llart)eit, Sid)ert)eit
unb golgerict)tig!eit bes monijti[d)en 6i)jtems von Spinoza l)eute
urrt [o niet)r beujunbern, als biefem getoaltigen t)en!er oor
250 3at)ren nod) alle bie fict)eren empirifd^en gunbamente fel)lten,
bie tüir erjt in ber groeiten ^älfte bes 19. 3a^rl)unberts getoonnen
I)aben. Das 23ert)ältni5 von (5pino3a 3um [päteren aJiateria =
lisrrtus im 18. unb 3U unferem l)eutigen Spflonismus im 19. 3öl)r=
l)unbcrt I)aben toir bereits im erjten Äapitel be[proct)en. 3^^
weiteren 33erbreitung bes[elben, be[onbers im beutfd^en ©eijtes^
leben, I)aben oor allem bie unfterblirf)en 2Ber!e un[eres größten
Dicf)ters unb Denfers beigetragen, SBoIfgang (5oetf)e. Seine
l)errlid)en Dicf)tungen „(Sott unb 2BeIt", „^rometI)eus", „gaujt"
u[u). pllen bie ®runbgeban!en bes ^antt)eismus in bie volU
tommenjte unb fd)önjte bi(j^teri[d^e i^oxm.
Die ©e3iel)ungen un[eres l)eutigen SJlonismus 3u htn frü=
I)eren pf)ilo[opl)i[(i)en Spftemen, [otoie bie u)id)tigiten ®runb=
3üge oon beren l)ijtori[dE)er (Sntroicfelung, [inb in bem „(5runb=
rife ber ®e[d)icf)te ber ^f)iIofopl)ie" oon O^riebrid^ Xlbertoeg
eingel)enb bargejtellt (10. Auflage, bearbeitet oon 9Jlai ^ein3e,
»erlin 1906). (Sine oortreffli^e !Iare Überfid)t berfelben —
getöiffermajgen eine „Stammesgefd^ic^te ber 2BeIträt[eI unb
ber 33erfud)e 3U it)rer £ö[ung" — i)at Ofri^ Sd)ul^e (Bresben)
in [einem „Stammbaum ber ^I)iIo[opl)ie" gegeben; ein
„3:abenari[d) = (5d)emati[d^er ©runbrife ber (5e[d)icf)te ber ^t)ilo=
[opt)ie Don ben ©rieben bis 3ur ©egenwart" (£eip3ig, 2. ^uf=
läge, 1899).
tMt^etsmus („Die entgötterte 9BeItan[rf)auung"). (£s gibt
feinen ©ott unb feine ©ötter, falls man unter bie[em Segriff
per[önli(i)e, aufeerl)alb ber ^Ratur [tet)enbe 2Be[en oerjtet)t. Die[e
„gottIo[e 2Belton[d)auung" fällt im ii)e[entlirf)en mit bem
93ionismu5 ober ^an tl)eismus un[erer mobernen SRatur=
u)i[[en[(i)aft 3u[ammen; [ie gibt nur einen anberen ^usbruc! bafür,
inbem [ie eine negatioe Seite bes[elben l)erDorl)ebt, bie 9Ii(^t=
eii[ten3 einer aufeertoeltlic^en unb übernatürli^en ©ottt)eit. 5ri
bie[em Sinne [agt Sct)opent)auer gan3 rid)tig: „^antf)eismu5
ijt nur ein I)öflid)er ^tl)eismus. Die 2BaI)rf)eit bes ^antt)eismus
be[tel)t in ber ^uf^ebung bes buali[ti[d)en ©egenfa^es 3tüi[^en
©Ott unb 3BeIt, in ber (Erfenntnis, "üa^i bie 2Belt aus if)rer inneren
Rraft unb bur^ [i^ [elbjt ba ijt. Der Sa^ bes ^antf)cismu5 :
12*
180 Se^5el)ntc5 5^apitcl.
,©ott unb btc SBelt t|t eins* ijt blofe eine I)öflid)e SBenbung, bem
.^crrgott ben 3lb|d)ieb ju geben."
2Bä!)renb bcs gongen SKittelalters, unter ber blutigen Zr)xanmi
bes ^apismus, tourbe ber ^It^eismus als bie ent[e^Itd)jte gorm
ber 2BeItan[(i)auung mit treuer unb <5d)roert verfolgt. Da ber
„©ottlofe" im (goangelium mit bem „Sojen" [d)Ied)troeg ibentifisiert
unb it)m im etoigen S,tbm bie ^öllenjtrafe ber etoigen 93erbammnis
angebroI)t «)irb, ijt es begreiflidf), t>a^ jeber gute (£f)rift [elbjt t>tn
entfernten 93erbad^t bes 5ltt)ei5mus ängjtli(i) mieb. Leiber be|tel)t
aud) f)eute nod) biefe ^uffaffung in roeiten 5^rei[en fort. Dem
att)ei[tifd)en "jl^laturforfd^er, ber feine 5^raft unb [ein Qtbtn ber
(£rforf(^ung ber aBai)rt)eit roibmet, traut man t)on t)omi)erein
alles 93ö[e gu; ber tt)ei[ti[d)e 5^ird)gänger bagegen, ber bie leeren
3eremonien bes papijtifd)en 5lultus gebanfenlos mitmad)t, gilt
\ä)on besroegen als guter Staatsbürger, aud) roenn er ]iä) bei
[einem ©lau ben gar nid^ts ben!t unb nebent)er ber oertoerflid^ften
9KoraI I)ulbigt. Diefer 3i^tum toirb '[ict) erjt Üären, loenn im
20. 5al)rl)unbert ber l)err|(i)enbe Aberglaube mel)r ber vernünftigen
9^aturer!enntnis tocid^t unb ber monijti[(f)cn Hberseugung ber
(£inl)eit üon (5ott unb SBelt.
Riffen utti) ©tauften*
9}Zoniftifc|)e 6tubien über ^rfenntni^ ber 993a{)r^eit. 6inne^--
tätigfeit unb QSernunfttätigreit. ©lauben unb Aberglauben.
^rfa^rung unb Offenbarung.
Alle Arbeit wal)xtt 2ßi[[enfdE)aft gel)t auf (£r!enntnis ber
2Bal)rl)eit. Unfer ed)tes unb toertoolles SBijfen ijt realer IRatur
unb bejtel)t aus SSorjtellungen, u)elcf)e toirflic^ eiijtierenben Dingen
entjpred)en. 2Bir jinb groar unfähig, bas innerjte äBejen biejer
realen 2Belt — „bas Ding an jid)" — 3U erf ennen; aber unbefangene
unb fritij(i)e©eobacf)tung unb 93ergleid)ung überjeugt uns, bafe bei
normaler 5Bejcl)affenl)eit bes (5el)irns unb ber Sinnesorgane bie
(£inbrücfe ber Aufeentüelt auf bieje bei allen oemünftigen 9Kenjd)en
biejelben [inb, unb bofe bei normaler Munition ber Dentorgane be*
jtimmte, überoll glelrfie SSorjtellungen gebilbet werben; bieje
9Bi[[en unb ©lauben. 181
nennen totr tDa!)r unb [tnb babet übcrjeugt, bafe tt)r ^n^a\t bem
erfennbaren Xeile bcr Dinge ent[prid)t. 2Bir toiffen, ^a^ btefe
3^at[ad)en nicf)t eingebtlbet, [onbern tDirflid) [tnb.
©rfennttttsquellett. ^Ile ©rfenntnis ber 2ßal)rt)ett beruf)t auf
3tDet Derfc^tebcnen, aber innig 3u[ommenI)ängenben ©ruppen oon
pl)i)[ioIogi[d^en gunfttonen bes 9Jlen[d)en; erftens auf ber (£ntp*
finbung ber Objefte mittels ber Sinnestätigfeit, unb jtöeitens
auf ber 23erbinbung ber fo getoonnenen (ginbrüde burd) ^[fojion
3ur S^orftellung im Subjeü Die 2ßer!3euge ber (Smpfinbung
[inb bie Sinnesorgane; bie SBerfseuge, töeld)e bie SSorjtellungen
bilben unb oerfnüpfen, [inb bie Den!organe. Die[e le^teren
[inb 3:eile bes sentrolen, bie erjteren 2:eile bes peript)eren 9fleroen =
[r)[tems, jenes toiditigjten unb l)ö^[tenttüic!elten iDrgan[t)[tem6
ber I)öl)eren Üiere, be[[en gunftion eingig unb allein bie ge[amte
Seelentätigfeit i[t.
6inne$otgane (Sensilla). Die Sinnestätigfeit bes S[Ren[rf)en,
u)el(^e ber er[te ^usgangspunft aller (£r!enntnis ijt, l)at
[i(f) Iang[am unb anmäl)Iid) aus ber}enigen ber näc^ftoertoanbten
Säugetiere, ber Primaten, entroidelt. Die Organe ber[elben [inb
in bie[er l)ö(f)[tenttDi(Jelten 3:ier!Ia[[e überall von tDe[entIi^ gleichem
Sau, unb i!)re ^^unftion erfolgt überall nacf) ben[elben pl)r)[i!ali[d^en
unb d)emi[d)en ©e[e^en. Sie l)aben [id) allentl)alben in ber*
[elben l)ijtori[d)en 2Bei[e entroicfelt. 2Bie bei allen anberen 3:ieren,
[o [inb au(^ bei hm Säugetieren alle Sen[illen ur[prüngli(i) Steile
ber §autbecfe, unb bie empfinbli^en 3^nen ber £)berl)aut [inb
bie Ureltern aller ber t)er[cl)iebenen Sinnesorgane, tDel(l)C burd)
5Inpa[[ung an oer[d)iebene ^Reije (fiid)t, SBärme, S^all, d)emi[d)e
9?ei3e) il)re [pe3ifi[d)e (Energie erlangt l)aben. Sotüot)l bie Stäbd)en-
jellen ber 9tetina in un[erem ^uge unb bie §ör3ellen in ber Sd)nede
un[eres Ol)res, als aud) bie 9lied)3ellen in ber 9'la[e unb bie Sd)med==
seilen auf un[erer 3unge jtammen ur[prüngli^ oon jenen einfadjen
inbifferenten 3ßnen ber £)berl)aut ab, tDeld)e bie ganse iDberfläd)e
un[eres Körpers über3iel)en. Die[e bebeutungsoolle 3:at[aAe loirb
burd) bie unmittelbare 95eobad)tung am (£mbrr)o bes SOlen[d)en
eben[o u)ie aller anberen 3:iere bire!t beti)ie[en. ^us bie[er onto»
geneti[d)en 3:at[ad)e folgt aber na^ bem Siogeneti[d)en ®runb=
ge[e^ mit Sid)erl)eit ber pl)r)logeneti[(^e Sd)lufe, bafe aud) in ber
langen Stammesge[d)id)tc un[erer 23orfal)ren bie l)öl)eren Sinnes*
Organe mit il)ren [pesiellen (Energien ur[prünglid) aus ber Oberl)aut
nieberer Xiere entjtanben [inb, aus einer einfad)en 3ßnen[d)id)t,
bie nod) feine [old)en ge[onberten Sen[illen entl)ielt.
Spejiftft^e (gnetgie ber Senfillett. 33on größter Sebeutung
für bie men[d)lid)e (Erfenntnts i[t bie Xot[ad)c, ha^ ocr|(^tebcne
182 6cd)3el)tttc5 ilapitel.
5Rcrt)cn unfercs Körpers imjtanbc ftnb, ganj t)crf(i)tebenc €iuali=
täten bcr ^ufecntoelt unb nur biefc tDal)r3unc^mcn. Der <Bti)ntxv
bes ^uges üermittelt nur £i(f)tempfinbung, ber ^örnero bes £)l)re5
nur Sd)anempftnbung, ber ^lied^nerr) ber ?la[e nur (5erud)s=
empfmbung ufa). ©letd^otel, tüeliie 9^ei3e bas einjclne 6inne5=
toerfseug treffen unb erregen, it)re 9tea!tion bel)ält biefelbe Ciualität.
5Iu5 biefer [pe3tfi[d)en (Energie ber Sinnesneroen, wtlä)t Don
3ot)anne5 SJlüIIer guerjt in tl)rer roettreic^enben ©ebeutung
getDürbtgt tourbe, [inb fef)r irrtümliche Sd)Iü[fe gejogen toorben,
befonbers jugunften einer bualijtifd)en unb apriorif^en (£r!enntnis=
tf)eorie. ^an bef)auptete, bafe bas (5el)irn ober bie Seele nur einen
getöi[[en 3uftanb bes erregten ^leroen rüa^rnet)me, unb hal^ baraus
nidE)t5 auf bie (Siiftens unb ©e[d^affent)eit ber erregenben 5lufeen=
roelt gefd^Ioffen toerben tonnt. Die [!epti[d^e ^f)iIofopl)ie 30g baraus
ben ©ci)lufe, bafe biefe le^tere J'elbjt 3tDeifeII)aft [ei, unb ber eitremc
3bealismu5 be3n)eifelte nid)t nur biefe Ülealität, fonbern er negierte
fie einfa(^; er bel)auptete, ho^ bie SBelt nur in unferer SSorjtellung
eiijtiere.
Diefen 3i^tümern gegenüber muffen roir baran erinnern, ta)^
bie „fpe3ififcf)e (Energie" urfprünglid) nid)t eine anerfi^affene be=
fonbere Qualität ein3elner S^ercen, fonbern burd) ^Inpaffung
an bie befonbere 3:ätig!eit ber Ober^autsellen entftanben ijt, in
toeId)en fie enben. ^ad) ben grojgen ©efe^en ber Arbeitsteilung
nal)men bie urfprünglid) inbifferenten „§autfinnes3ellen" Der=
fct)iebene Aufgaben in Angriff, inbem bie einen ben 9tei3 ber
fiidE)tftral)Ien, bie anberen htn CBinbrurf ber (5d)aIIrDenen, eine britte
©ruppe bie d^emif^e (Sintoirfung rie^enber Subjtan3en ufro.
aufnal)men. ^m fiaufe langer 3^tträume betoirften biefe äußeren
Sinne5rei3e eine anmöt)Ii(^e 33eränberung ber pt)r)fioIogifct)en
unb toeitert)in aud) ber morpl)otogifd)en (£igenfd)aften biefer Ober*
^autftellen, unb bamit sugleic^ oeränberten fi^ bie fenfiblen
S^eroen, tDeId)e bie oon il)nen aufgenommenen (Einbrücfe 3um
(5et)im leiteten. Die 6eIe!tion oerbefferte S(i)ritt für S(f)ritt bie
befonberen Umbilbungen berfelben, mtldft fid) als nü^Iid^ ertoiefen;
fie f d)uf fo 3ule^t im fiauf e oieler Satirmillionen jene betounberungs»
toürbigen 3njtrumente, toel^e als Auge unb 0\)x unfere teuerften
©üter barftellen. 3^re (£inrid)tung ift fo tounberbar 3Coerfmäfeig,
t)a^ fie uns 3U ber irrtümli(f)en Annal)me einer „Sd)öpfung nac^
t)orbebad)tem Sauplan" führen !önnte. Die befonbere (Eigen*
tümlid^feit jebes Sinnesorganes unb feines fpe3ifif(^en 5Reroen
I)at ]xi) aber erft burd) (5etDof)nt)eit unb Ubung — b. t). burd)
Anpaffung — allmäpi^ cnttoidelt unb ift* bann huxd) 33er*
erbung oon (Generation 3U (Generation übertragen toorben.
2ßt[[en unb ©lauben. 183
©rensen ber SinnestDa^rne^mung. Die !rttifrf)c 93erglct(f)ung
bcr Sinnestätigfeit beim 9J?cnfrf)en unb bei ben übrigen 2BirbeI=
tieren ergibt eine ^nßa!)! überaus roid^tiger Zai]aä)tn. ©anj
befonbers gilt bies von ben beiben t)öd)ftentu)idelten, ben „äjtl)eii=
fd)en 8innestoer!3eugen", ^uge unb Dl)r. Sie 3eigen im Stamme
ber Sßirbeltiere einen anberen unb oertoidfelteren Sau als bei ben
übrigen 2:ieren unb enttoicfeln fid) auc^ im (£mbri)o berfelben auf
eigentümlidje 2ßei[e. Diefe tt)pi[d)e Ontogene[e unb Struüur
ber Senfillen bei [ämtlid^en äßirbeltieren ertlärt \xd) burcf) 23er =
erbung von einer gemeinfamen Stammform. 3"Tt^i^^öIb bes
Stammes aber jeigt fid) eine grofee 9J?annigfaItigfeit ber ^us-
bilbung im eingelnen, unb biefe ijt bebingt burcf) bie ^npaffung
an bie £ebensiüei[e ber einzelnen ^rten, hmä) ben gesteigerten
ober geminberten ©ebraud) ber einzelnen Xeile.
X)er 9Jienf(^ erfc^eint nun in bejug auf bie 5lusbilbung feiner
Sinne feinesroegs als bas oollfommenjte unb l)ö(i)jtentrDideIte
2Birbeltier. Das ^uge ber 33ögel ijt oiel [(i)ärfer unb unterfct)eibet
fleine ©egenftänbe auf toeite (Entfernung oiel beutlid)er als bas
men[d)Ii^e ^uge. Das (5et)ör oieler Säugetiere, befonbers ber
in SBüften lebenben 9^aubtiere, Huftiere, 9lagetiere u[to., ijt oiel
empfinbli(i)er als bas men[d)li(i)e unb nimmt lei[e (Seräufd^e auf
oiel toeitere (Entfernungen wai)x; barauf tüeijt [d^on il)re grofee unb
[el)r beroeglic^e £)l)rmu[(^el l)in. Die Singoögel offenbaren [elbft
in bejug auf mufifalifd^e Begabung eine l)öl)ere (Enttoidelungsftufe
als Diele 9Jlenfd)en. Der ©eruc^sfinn ijt bei htn meiften Säuge«
tieren, namentlich 9?aubtieren unb Huftieren, oiel mef)r ausgebilbet
als beim 9}len[(^en; toenn ber §unb feine eigene feine Spürnafc
mit ber bes 9}ten[(f)en Dergleichen tonnte, toürbe er mitleibig auf
le^tere l)erab[el)en. ^uc^ in bejug auf bie nieberen Sinne, hzn
(Sefd^macfsfinn, titn (5e[(^led)ts[inn, titn Xaftfinn unb ben 3^empe=
raturfinn, bel)auptet ber 9Jienf^ feinesu^egs in jeber Se3iet)ung
bie l)öd)jte (EnttDidelungsjtufe.
äßir felbjt fönnen natürlicl) nur über biejenigen Sinnes*
empfinbungen urteilen, bie toir [elbjt beji^en. 9lun toeift uns aber
bie Anatomie im 5lörper oieler Xiere noc^ anbere als un[ere be=
fannten Sinnesorgane na*^. So befi|en bie %i\d)t unb anbere
niebere, im SiBaffer lebenbe 2Birbeltiere eigentümliche Senfillen
in ber ^aut, u)eld)e mit befonberen Sinnesorganen in 33erbinbung
fielen. 5n htn Seiten bes (5ifd)!örpers oerläuft rect)ts unb linfs
ein langer Kanal, ber com am i^opfe in mel)rere Derstoeigte
5^anäle übergel)t. ^n biefen „Scf)leim!anälen" liegen SIeroen mit
3at)lrei^en ^jten, beren (£nben mit eigentümlid^en 9Zert)enl)ügeln
Derbunben ftnb. SBa^rfcl) einlief) bient biefes au5öebe!)ntc „$aut=
184 Sc(f)3cl)ntc5 Äopitcl.
finncsorgan" jur 2Baf)m€l)mung von Hntcrfd)tcben im 3Ba[[erbrudf
ober in d)cmi[cf)cn (£igcn[(f)aftcn bcs SCaffcrs. (Einige ©ruppen
[inb nod) burd) ben Sefi^ anberer eigentümlicher Senfillen aus*
ge3eicf)net, beren Scbeutung uns unbefannt ijt.
Sd)on aus bie[en Xat[a(f)en ergibt [id), ha'is unsere men[d)li(i)e
Sinnestätigfeit bej'd)rän!t ijt, unb stüar [otool)! in quantitatioer
als in qualitativer §in[i(i)t. 2Bir fönnen aI[o mit unferen Sinnen,
Dor allem bem 5luge unb bem 3:ajt[inn, immer nur einen 3:eil ber
(£igen[(i)aften erfennen, wt\6)t bie Objefte ber ^ufeentoelt befi^en.
^ber aud) biefe partielle 2Bal)me!)mung ift unDoIIjtänbig, infofern
unfere Sinnesxoerfjeuge unoollfommen [inb imb bie Sinnesneroen
als Dolmetf^er bem (5el)im nur bie Überfe^ung ber empfangenen:
(Binbrüde mitteilen.
Diefe anerfannte Unoon!ommenI)eit unferer Sinnestätigfeit
barf uns aber nid^t l)inbern, in i^ren SBerfjeugen, unb cor allem
im ^uge, bie ebeljten Drgane 3U erblicfen; im S^ereine mit htn
X)en!organen bes ©et)irn5 [inb [ie bas toertüollfte ®e[d)enf ber
SRatur für htn 9Plen[d)en. ^n ooller 2BaI)rl)eit [agt ^Ibred^t
5{au (a. a. £).): „^Ile 2ßi[[en[ct)aft ift in le^tcr £inie
Sinnesertenntnis; bie X)ata ber Sinne toerben barin nid)t
negiert, [onbern interpretiert. I)ie Sinne [inb un[ere erften unb
bejten ^^reunbe; lange beoor fi^ ber 33erjtanb cnttoidelt, fagen bie
Sinne bem 93^enfcl)en, loas er tun unb laffen foll. 2Ber bie Sinn*
li^feit übert)aupt cemeint, um it)ren ®efat)ren ju entgef)en,
ber I)anbelt ebenfo unbefonnen unb töri(t)t als ber, tDeIct)er [eine
^ugen ausreifet, loeil [ie einmal aud) [d)änblici)e Dinge [el)en
fönnten; ober ber, tDelcf)er [eine §anb abl)aut, toeil er fürd)tet,
[ie fönnte einmal aud) nad) frembem (5ute langen." 9Jiit oollem
9ied)te nennt besl)alb ^euerbod) alle ^l)ilo[opl)en, alle ^Religionen,
alle 3"[titute, bie bem ^rinjipe ber Sinnlid)!eit tDiber[pre(^en,
nid)t nur irrtümli^e, [onbern [ogar grunboerberblic^e. D^ne
Sinne feine (Srfenntnis! „Nihil est in intellectu, quod non
fuerit in sensu!" (£ode.)
.^tipot^efe unb erlaube. Der (Srfenntnistrieb bes l)od)=
cntojidelten Rulturmen[d)en begnügt [id) nid)t mit jener lüden*
haften 5lenntnis ber ^ufeentoelt, toelc^e er burd) [eine unoollfomme*
nen Sinnesorgane geminnt. (£r bemül)t [id) oielme^r, bie [innlic^en
(Sinbrüde, roeld^e er burd) bie[elben getoonnen l)at, in (Srfenntnis*
toerte um3u[e^en; er oertoanbelt [ie in htn Sinnes^erben ber
(5rofel)irnrinbe in [pe3ifi[c^e Sinnesempfinbungen unb oerbinbet
biefe burd) ^ffo3ion in beren Den!l)erben 3U 93or[t eilungen;
burd) toeitere 93er!ettung ber SSorftellungsgruppen gelangt er
enblic^ ju jufammenliängenbem SBiffen. ^bcr bicfcs 2ßi[[en bleibt
aBtffcn unb (Slaubcn. 185
immer Iü(fenl)aft unb unbcfrtcbigcnb, tocntt n{rf)t btc ^l)ontafic
btc ungenügcnbc ilombtnattonsfraft bcs crfennenbcn 33cr|tanbc5
ergärtät unb burd) ^[[o3ion vtn (5cbäd)tntsbilbcm entfernt Itegenbe
(£r!enntm[[e ju einem jufammenpngenben ©anjen oerfnüpft.
Dabei entjtef)en neue allgemeine ^ßorjtellungsgebilbe, lüelc^e erjt
bie tDal)rgenommenen Xatfacfien erflären unb bas „5^aufalitäts=
bebürfnis ber 23emunft befriebigen".
Die SSorftellungen, tüel(i)e bie fiüden bes 2Bi[[en5 ousfüllen
ober an be[[en Stelle treten, !ann man im toeiteren Sinne als
„©lauben" be3ei(^nen. So gef(i)iel)t es forttoäl)renb im all*
täglid^en fieben. SBenn mit irgenb eine 3:at[a^e nid)t [id)er roi[[en,
[o lagen toir: 3<i) glaube fie. 3" biefem Sinne [inb toir auc^ in ber
2Bi[[en[ct)aft felbft gum ©tauben geätoungen; toir oermuten ober
net)men an, bajs ein beftimmtes SSerpItnis 3tDi[d)en jtoei (£rf(^ei=
nungen bejtel)t, obiüol)! mir es ni(t)t fict)er fennen. SBir bilben eine
$r)pott)e(e. 5nbe[[en bürfen in ber 2Bif[en[^aft nur foIrf)e $i)po=
tl)e[en gugelaffen roerben, bie innerhalb bcs men[(f)Iicf)en (Erfenntnis*
oermögens liegen, unb bie nid)t befannten Xai\a(i)tn roiber[pre(i)en.
Sold^e ^ppot^efen [inb 3. ^. in ber ^f)t)[i! bie fie!)rc Don Sc^toin*
gungen bes 3i[ti)ers, in ber (S^emie bie 5lnnal)me ber ^tome unb
bercn 2Ba^lDeru)anbt[(^aft, in ber Biologie bie fiel)re von ber
SO?oIefuIarftru!tur bcs lebenbigcn Plasmas ufu).
X^eode unb Glaube. Die (£r!Iärung einer größeren 9leif)e
Don 3u[ammcnl)angenben (£r[(t)cinungcn bur^ ^nnat)me einer
gemein[amen Ur[act)C nennen toir 3:^eorie. 5Iu^ bei ber 31)eorie,
roie bei ber §r)potl)c[c, ijt ber ® laubc (in iDi[[cn[(f)aftIi(i)em Sinne!)
unentbcl)rli(i) ; benn aucf) l^icr ergän3t bie bid)tenbc ^I)anta[ie bie
ßücfc, tocI(f)e ber 33erftanb in ber (Srfenntnis bcs 3ii[ammcnl)ang5
ber Dinge offen läfet. Die 'Xi)toxk fann bat)er immer nur als eine
^nnäl)erung an bie 2Ba^rt)eit bctrod)tct toerben; es mufe 3ugcjtanben
Eocrbcn, ba^ [ie fpäter burc^ eine anbcre, beffer begrünbete 3^eorie
Derbrängt roerben !ann. iro^ bie[er eingeftanbenen Un[i(f)erl)eit
bleibt bie 3:^eoric für jebe toal^re 2Bi[fen[d)aft unentbet)rli^ ; benn
[ie erüärt erjt bie Xat[a^en bur^ 5lnnat)me üon Hr[a(J)en. 2Ber
auf bie 3^eorie gan3 oer3id)ten unb reine 2Bi[[en[(J)aft blofe aus
„fieberen 'Xai\aä)tn" aufbauen toill (toie es oft oon be[(i)rän!ten
5löpfen in ber mobernen [ogenannten „eiaften 5RaturtDi[[en[ct)aft"
ge[d)iel)t), ber Der3i^tet bamit auf bie (Srienntnis ber Ur[act)en
übert)aupt unb [omit auf bie JBcfriebigung bes Äau[alitätsbebürf=
ni[[es ber 23ernunft.
Die (5rat)itationstI)eoric in ber ^jtronomie (9lctüton), bie
91ebulartt)eorie in ber 5^osmogenie (Äant unb ßaplace), bas
(Snergieprinsip in ber ^t)i)[i! (9Kat)er unb ^elm^ol^), bie ^tom«
186 Sed)3el)nie5 Äapitel.
tf)eorie in ber (£f)emtc (Dalton), bie 3cnentt)eonc in ber (5e=
tüebele^re (Sdf)Ieibcn unb Sd)tüann), bic T)e[3enben3t^corie in
ber Biologie (ßamard unb t)arix)tn) finb getoaltigc 3:t)eorien
erjten 5?ange5; fie erflären eine ganse 2ßelt von großen 9latur=
erfd^einungen burrf) 5lnnal)me einer gemeinfarrten Urfac^e
für alle einseinen 3:at[ac^en il)re5 (Sebietes unb burcf) bert iRad)tüei6,
bafe alle (£rf (Meinungen in bemfelben 3u[ammenl)ängen unb burd)
fefte, t>on biefer einen Hrfa(f)e au5gef)enbe ©efe^e geregelt toerben.
I)abei !ann aber biefe Hrfac^e jelbft it)rem 2Be|'en nacf) unbe!annt
ober nur eine „prom[orifcf)e §!)pott)e[e" [ein. X)ie „6^coer!raft"
in ber (5raDitation5ti)eorie unb in ber Rosmogenie, bie „(Snergie"
[elbjt in il)rem 33erl)ältni5 ßur a^aterie, bas „^tom" in ber (£f)emie,
bas lebenbige „^lasma" in ber 3^nenle{)re, bie „33 ererbung"
in ber ^bftamntungsle^re — bie[e unb ä{)nlic^e (Srunbbegriffe in
anberen großen il^eorien fönnen oon ber [!epti[d)en ^^iIo[opf)ie
als „blofee §r)potf)e[en", als (Srjeugniffe bes tDi[[en[cf)aftli^en
©laubens betrad)tet loerben, ober [ie bleiben uns als [old^e
unentbet)rlid), [o lange, bis [ie burd) eine be[[ere §i)potl)e[e
er[e^t tüerben.
C&laube unb Aberglaube, ©anj anberer 9latur als bie[e
(formen bes Eoi[[en[(f)aftli(^en Cölaubens [inb biejenigen 93or=
jtellungen, tDeld)e in htn t)er[(^iebenen 9^eligionen gur (Srflärung
ber (£r[d) einungen benu^t unb [d)led)ttDeg als ©laube im engeren
(Sinne be3eid)net toerben. T)a aber bie[e beiben ©laubensformen,
ber „natürlid)e ©laube" ber 2ßi[[en[c^aft unb ber „übernatürlid)e
©laube" ber ^Religion, nid^t [elten oertoed^felt toerben unb [o 33er=
töirrung entjteljt, ijt es jtoeifmäfeig, ja nottoenbig, if)ren prin3i =
ptellen©egen[a^ f^atf 3u betonen. Der „religiö[e" ©laube ijt
jtets SBunberglaube unb [tet)t als [olrf)er mit bem natürlid^en
©lauben ber 33ernunft in unoer[öl)nli(f)em 2Biber[prud^. ^m
©egen[a^ 3U le^terem bel)auptet er übernatürli(^e 23orgänge unb
!ann [omit als „Hb er glaube" ober „Oberglaube" beseid^net
tüerben, bie ur[prünglicl)e gorm bes Sßortes 5lb er glaube. Der
toe[entlid)e Unter[d)ieb bie[es 5lberglaubens oon bem „oernünftigen
©lauben" bejte^t thtn borin, bofe er übernotürlirfie 5lröfte unb (£r=
[(Meinungen onnimmt, roelc^e bie2Bi[[en[cl)aft nic^t f ennt unb nid)t 3U*
löfet, tDel(i)e burd) irrtümlid)e 2Bal)rnel)mungen unb fal[d)e ^I)anta[ie=
bid)tungen erseugt [inb; ber Aberglaube toiber[prid)t mitl)in t)zn
flor erfonnten 9'laturge[e^en unb ijt als [old)er unoernünftig.
tMberglaube ber 0loturt)öIfer. Durd) bie moberne (£tt)nologie
ijt uns eine erjtaunlid)e %üUt von mannigfaltigen (formen unb
(£r3cugni[[en bes Aberglaubens bc!annt geworben, roie [ie nod»
l)cute unter bcn ro{)cn S'Zaturoöttern eitjtieren. 58ergleii^t man
SBtffcn unb ©laubcn. 187
biefclben unter ctnanb er unb mit ttn ent[pred)ertben mi)t!)oIogt[d)en
23orjtenungeTi früf)erer 3eiten, [o ergibt \id) eine t)ielfa(^e %taIogie,
oft ein gemeinjamer Urfprung unb [cf)liefeli(f) eine einfact)e Urquelle
für alle. Diefe finben roir in bem natürlichen 5^aufalität5 =
bebürfniffe ber S3ernunft, in bem (5ud)en nad) (£r!lärung
unbetannter (£rfd) einungen burct) ^uffinben i^rer Ur[ad)en. Se=
fonbers gilt bas von [ol(i)en ^Betoegungserfd^einungen, bie ®efal)r
bro^en unb 5urcl)t erregen, tüie $Bli^ unb Donner, (Srbbeben,
SJbnbfinfternis ufto. Das Sebürfnis nad) !au[aler (£r!lärung
jold)er 9laturerfcf) einungen beftel)t frf)on hti htn 9laturoöl!ern ber
nieberften Stufe unb ift bereits oon il)ren ^rimatenal)nen burd)
"öererbung übertragen. (£5 bejtel)t ebenfo bei oielen anberen
SBirbeltieren. 2Benn ein $unb htn 23ollmonb anbellt ober eine
tönenbe (5lode, beren 5^löppel er [id) betoegen [iel)t, ober eine
^a\)m, bie im 2Binbe toe^t, [0 äußert er babei nic^t nur 5urd)t,
fonbern aud^ "ütn bun!len Drang nad^ (Srfenntnis ber Hrfac^e
biefer unbefannten (£r[d)einung. Die rol)en 9{eligionsanfänge
ber primitioen 9laturoölfer l)aben if)re SBurjeln teiltoeife in fold)em
erblid)en Aberglauben il)rer ^rimatenal)nen, teiltoeife im 5ll)nen=
fultus, in oerfd)iebenen ©emütsbebürfniffen unb in trabitionell
getoorbenen (5etool)nl)eiten.
^Ibergloube ber Äulturt)öl!er. Die religiöfen ©laubens*
üorjtellungen ber mobernen i^ulturoölfer, bie it)nen als toertoollfter
geiftiger Sefi^ gelten, pflegen oon it)nen ^od) über "iitn „rol)en
Aberglauben" ber 9^aturoölfer geftellt gu loerben; man preift itn
großen 3rortfd)ritt, tDeld)en bie aufflärenbe 5^ultur burd) ^Befeitigung
bes le^teren l)erbeigefü^rt l)abe. Das ijt ein großer Srrtum!
®et unbefangener hitifc^er Prüfung unb S3erglei(^ung geigt fid),
ha^ beibe nur burd) bie befonbere „©ejtalt bes ©laubens" unb burd)
bie äußere §ülle ber 5lonfeffion ooneinanber oerfd^ieben finb.
3m tlaren £id)te ber 33ernunft erf(^eint ber beftillierte 2Bunber=
glaube ber frei[innigften i^iri^enreligionen — infofern er flar
erfannten unb feften 9laturge[e^en tDiberfprid)t — genau fo als
unoernünftiger Aberglaube, toie ber ro^e ©efpenjt erglaub e ber
primitioen 5etifd)religionen, auf toeld)en jene ftolg l)erabfel)en.
SBerfen toir oon biefem unbefangenen Stanbpuntte einen
fritif^en Slid auf bie gegenroärtig nod) l)errfc^enben (5laubens=
Dorftellungen ber l)eutigen Äulturoölter, fo finben toir fie allent=
falben oon trabitionellem Aberglauben burc^brungen. Der d)xi]U
lic^e ©laube an bie S^öpfung, bie Dreieinigfeit (Sottes, an bie
unbefledte (Empfängnis 9Jiariä, an bie (Erlöfung, bie Auferftef)ung
unb §immelfat)rt (£l)rifti uftD. ijt ebenfo reine Dtd)tung unb
!antt cbenfoüoenig mit ber oemünftigen ^Zaturerlenntnis in (£in=
188 Scd)3ef)nte5 Rapitcl.
flang gebraut tocrben, als bic ocr[cf)tebenen I)ogmcn bcr mo^amme»
bam|rf)en unb mo[at[(f)cn, bcr bubbl)ijtt[(f)en unb bral)mamf^cn
9lcItgion. ^ttit oon btcfen 9teIigtoncn ijt für bcn toa^rI)aft
„©laubigen" ctne stoeifellofc 2Baf)rt)eit, unb febc oon tl)nen bc=
trad)tct jcbc anberc (5Iauben5lcl)rc als Ackeret unb t)erberblicf)cn
3rrtum. 3^ mt\)X eine beftimnttc 5^onfe[[ion firf) für bic „allein
[eligmad)cnbc" pit — für bic „!at^oIifd)c" — , unb je inniger
biefe Öberseugung als !)ciligjte §er5ens[ad)e oerteibigt toirb, bejto
eifriger ntufe [ie naturgemäß alle anberen Äonfe[[ionen bcfämpfen,
unb befto fanati[d)cr gejtalten [id) bie fürcf)terlid) cn ©laubcnsfricgc,
roeI(^e bie traurigjten ^Blätter im Su^e bcr 5^uiturgefdE)i^tc bilbcn.
Unb bo(^ übergeugt uns bic unparteii[d)c „5lriti! ber reinen
23ernunft", bafe alle biefe Der[cl)iebenen (Slaubcnsformcn in
gleid)em 95?afee untDal)r unb unoemünftig [inb, ^robufte ber
bic^tenben ^l)anta[ic unb ber un!riti[(l)en 3:rabition. Die üer=
nünftige 2Bif[en[d)aft muß [ie famt unb fonbers als (£r3eugni[[e
bes ^Iberglaubens oerroerfen.
C&Iaubensbefenninis (5Vonfeffion). Der unermefelid)e S(^a=
t>tn, tüel(l)en ber unvernünftige 5Iberglaube feit 3öI)rtoufci^^c"
in ber gläubigen $0lenfd){)eit angerid)tet l)at, offenbart fid) tDol)l
nirgenbs auffälliger als in bem unauf^örlii^en „Kampfe ber
©laubensbefenntniffe". Unter allen 5^riegen, u)elcl)e bie 95öl!er
mit %tutx unb Scfitoert gegeneinanber gefül)rt l)aben, [inb bie
5teligions!riege bic blutigjten geroefen; unter allen O^ormen ber
3tDietrac^t, toclc^c bas ©lud ber gamilicn unb ber einsclncn ^cr«
[onen scrjtört l)abcn, [inb bie religiöfcn, bem (5laubensunter[(^iebc
cnt[prungenen, nod) ^eute bic gcp[[ig[tcn. 9Kan bcnfc nur an bic
Dielen SJlillioncn 901cn[(f)en, tDclcl)c in bcn (£I)rijtenbe!cl)rungcn unb
»93crfolgungen, in bcn ©laubcnsfämpfcn bes ^slam unb ber
^Reformation, burd) bie 5nqui[ition unb bic ^cienpro3c[[c il)r
£cben ocrlorcn l)abcn. Ober man bcnfc an bic nod^ größere
3a^l bcr Unglücflicl)cn, tDeld)e loegcn ©lauben5oer[d)iebenl)eitcn
in 3^ömilien3tDi[t geraten, il)r ?ln[cl)cn bei bcn gläubigen 9P^it*
bürgern unb if)re Stellung im Staate oerlorcn ober aus bem
93aterlanbc l)abcn austoanbern mü[[en. Die t)erbcrblid)[te SBir*
fung übt bas offi3iclle (5laubensbe!cnntnis bann, roenn es mit bcn
politifd^cn S^^^^^ ^^s i^ulturjtaatcs oerfttüpft unb als „!onfe[[io=
nellcr 9^cligion5untcrri(i)t" in bcn ScE)ulen 3U)angsrDei[c gelel)rt
roirb. Die 23ernunft ber 5linber toirb baburc^ [(l)on frül)3eitig
Don ber (Srfenntnis bcr 2Bal)rl)cit abgclcnft unb bem Aberglauben
3ugefül)rt. Seber 9Jlen[d)enfrcunb [ollte bal)cr bie !onfc[[ion5»
lo[c S<f)ule, als eine ber tocrtoollften Snjtititutionen bes
mobcmen SJcmunftjtaates, mit allen Söiitteln gu förbern iu(f)cn.
2Bt[fcn unb ©louben. 189
^tt C&laube unferer ©öter. 2)er l)of)c SBcrt, tDeId)cr tro|bem
nod) l)cute in bcn cocitcjicn 5^rei[cn bcm fonfcffioncllen 9?cIigion5=
untcrrid)t beigelegt toirb, ijt nid)t allein burcf) ben Ronf e[[ions3tDang
bes rüdfitänbigen Äulturftaates unb ht\\tn ^bl)ängig!eit »on
ficrüaler §err[d)aft bebingt, fonbern aud) burd) bas ©exoid^t oon
alten !trabitionen unb oon „(Semütsbebürfniffen" Der[ct)iebener
^rt. Unter biefen ift befonbers roirfunggüoll bie anbäd)tige ^er=
etirung, tDelct)e in roeiteiten 5lret[en ber fonfeffionellen
3:rabition gegollt toirb, bem „f)eiligen ©lauben unferer 93äter".
3n Xaufenben von (£r5äl)lungen unb ©ebid)ten toirb bas 5ejtt)alten
an bemjelben als ein geijtiger Sc^a^ unb als eine t)eilige ^fnd)t
gepriefen. Unb bod) genügt unbefangenes ?loct)benfen über bie
®efd)id)te bes Cölaubens, um uns von ber üölltgen Hn=
gereimtl)eit jener einflufereid)en Söorftellung gu über3eugen. X)er
l)errf(^enbe eoangelifd^e 5^irrf)englaube in ber stoeiten ^älfte bes
aufgeüärten 19. 3al)rt)unbert5 ijt toefentli^ tjerfd)ieben oon bem
in ber erjten Hälfte, unb biefer toieber von bem bes 18. 5at)r=
I)unberts. I)er le^tere roeid^t [et)r ab von bem „©lauben unferer
S3äter" im 17. unb nod) mel)r im 16. 5at)rl)unbert. Die 9?eforma»
tion, iDeId)e bie gefned)tete 23emunft »on ber Xt)rannei bes
^apismus befreite, toirb natürlid) von bie[er als ärgjte Äe^erei
oerfolgt; aber au^ ber ©laube bes ^apismus [elbjt t)atte [ic^ im
£aufe eines ^o^^taufenbs üöllig oeränbert. Unb roie t)erfd)ieben
ijt ber ©laube ber getauften (£l)rijten von bem il)rer I)eibni[d)en
23äter! Zttitx [elbjtänbig benfenbe SP^enfd) bilbet fid) ^htn feinen
eigenen, mel)r ober loeniger „per[önlid)en ©lauben", unb immer
ijt biejer Der[d)ieben oon bem [einer 93äter; benn er ijt abpngig
Don bem gefamten Silbungssujtanbe feiner 3eit. 3e toeiter roir
in ber 5^ulturge[d)id)te 3urüdget)en, bejto mel)r er[d)eint uns ber
gepriejene „©laube unjerer 23äter" als unt)altbarer ^Aberglaube,
bejfen formen fid) bejtänbig umbilben.
Spttittsmus. ©ine ber merftoürbigjten formen bes ^ber«
glaubens ijt biejenige, tDeId)e nod) t)eut3utage in unjerer mobernen
5luItunDeIt eine erjtaunlid)e ^RoIIe [pielt, ber Spiritismus unb
DHuItismus, ber moberne ®ei[terglaube. (Ss ijt eine ebenso
befrembenbe toie betrübenbe Xatjac^e, bafe nod) t)eute SCRillionen
gebilbeter 5^ulturmen[d)en oon biejem finjteren Aberglauben
DöIIig be^err[d)t [inb; ja jogar einselne berül)mte 5Raturforjd)er
l)aben [id) oon il)m nid)t Io5mad)en tonnen. 3öt)Ireid)e [piritijti[d)e
3eitjd)riften oerbreiten biejen ©ejpenjterglauben in toeitejten
5lrei[en, unb unjere „feinjten (5e[enjd)afts!rei[e" [d)ämen jid) nid)t,
„©eijter" er[(^einen gu lajjen, tDel(^e flopfen, jd)reiben, „9Jiit=
tcilungen aus bem 3en[eits" mod)en u]w. SJlan beruft [i^ in ben
190 <5c(f)3ct)ntcs i^apitel. 2Bi||en unb ©laubcn.
5lrci[en ber Sptntijtcn oft barauf, bafe [elbjt onge[el)ene 9latur=
forfd)er biefem ^Ibcrglaubcn l)ulbigen. Die bebauerlic^c Xat\aii)t,
bafe [elbft l)en)orragcnbe ^I)p[t!er unb Biologen [id) baburd) ijaben
irre fül)ren laffen, erllärt [i^ teils ous \\)xtm Hbermafe an ^I)an=
tafie unb i\riti!mangel, teils aus bem mäd)tigen Sinflufe jtarrer
Dogmen, toeId)e religiöse 93er3iel)ung bem ünbli^en (5ef)im in
trftl)ejter ^ugenb [cf)on einprägt. Übrigens ijt gerabe bei ben be=
rül)mten [piritijti[d)en 33orfteIIungen in £eip3ig, in iDeld)en bie
^I)#^et 3önner, ged)ner unb 2BiIl)eIm 2Beber burd) htn
fctilauen 3:a[d)en[pieler Slabe irre gefüf)rt tourben, beffen
(3d)rDinbeI nad)träglid) flar gutage gefommen; er rourbe als ge=
meiner Betrüger entlarot unb bejtraft. %ud) in allen anberen
örällen, in xod6)tn bie angeblichen „SBunber bes Spiritismus"
grünblic^ unter[ud)t toerben tonnten, I)at ]iä) als Urfac^e eine
gröbere ober feinere 3:äu[d)ung t)erausgeftellt; bie [ogenannten
„SFlebien" (meift tDeibIid)en ®e[d^Ied)ts) [inb teils als [d)Iaue
Sd)tDinbIer entlarot, teils als neroöfe ^erfonen oon ungetööl)n=
Iid)er ?{ei3bar!eit erfannt roorben. ^xt angebli^e Xelepat^ie
(ober „S^emtüirfung bes (5eban!ens obne materielle 3Sermitte=
lung") ejEijtiert ebenfotoenig als bie „Stimmen ber ®eijter", bie
„Seufser ber ©efpenfter" u[tD. Die Iebl)aften Sd)ilberungen,
n)elct)e (£arl bu ^rel unb anbere Spiritisten oon [oId)en „®eijter*
er[(f)einungen" geben, berul)en auf 3;ätig!eit ber freien ^i)anta[ie,
oerbunben mit SJiangel an 5^riti! unb an pl)r)[ioIogi[d)en i^enntniffen.
Offenbarung. Die meijten ^Religionen liabtn tro^ if)rer
mannigfaltigen 33er[^iebent)eit einen gemeinsamen (5runb3ug,
ber 3uglei(i) eine i^rer mäcf)tigften Stufen in- loeiten 5lrei[en
bilbet; [ie bet)aupten, bie 91ät[el bes Da[eins, bereu £ö[ung auf
natürlid)em 2ßege burcf) bie 33emunft nid)t möglid) ijt, auf
übernatürlid)em 2Bege burcf) Offenbarung geben 3U fönnen; 3U=
gleid) leiten [ie baraus bie (Bettung ber Dogmen ober (5Iaubens=
[ä^e ab, toeld^e als „göttlid)e Oefe^e" bie Sittenlel)re orbnen unb
bie fiebensfübrung bejtimmen [ollen. Derartige göttlid^e ^n=
[pirationen bilben bie ©runblage 3al)lreicE)er 9Kr)tf)en unb £egenben,
bereu antl)ropijti[d)er Hr[prung auf ber §anb liegt. 3tüör er[d)eint
ber (Sott, ber „[id) offenbart", oft ni(^t birett in men[d)lid)er
(Sejtalt, [onbern im Donner unb 231i^, im Sturm unb (Brbbeben,
im feurigen ^u[ci^ ober ber brobenben 2Bol!e. ^ber bie C)ffen=
barung [elbjt, u)eld)e er bem gläubigen 5[Ren[(^en!inbe gibt, toirb
in allen gällen antbropijtijd) gebad)t, als SJtitteilung oon 33or=
[tellungen ober $Befel)len, vodd)t genau [o formuliert unb au5=
ge[prod)en oerben, toie es normalertoei[e nur burd) bie (5ro^birn=
rinbe unb burd) 'btn 5^el)l!opf bes 9J?en'd)en ge[d)iel)t. 3" ttm
©teb3cl)nte5 Aapitel. 2Bi[|en|d^aft unb (B^rijtcntum. 191
inbtfcf)en unb ägi)pti[d)cn 9?eUgtonen, in ber l)eneni[cf)cn unb
römifd)en 9[Uptf)oIogie, im ^^almub toic im Äoran, im Eliten toic
im bleuen 'Xc|tament — benfen, [pred)en unb f)anbeln bie ©ötter
ganj t»ie bie 3nen[d)en, unb bic Offenbarungen, in benen [ie uns
bie @et)eimni[fe bes Dafeins entl)üllen, bie bunfeln SBelträtfel
löfen XDoIIen, [inb I)id)tungen ber menf(i)Ii(i)en ^f)anta[ie. X)ie
2BaI)rl)eit, tt)eld)e ber ©laubige barin finbet, ijt men[(f)Iid)e (£r=
finbung, unb ber „ünblid^e ©laube" an biefe unüernünftigen
Offenbarungen ijt 3lbcrglaube.
Die tDaf)re Offenbarung, b. !). bie tDa!)re Ouelle t)er=
nünftiger C^rJenntnis, ijt nur in ber S^latur 3U finben. Der reid)e
Qd)a^ töal)ren Sßiffens, ber htn tDertüoIIjten Xeil ber men[c^Ii(^en
5lultur barjtellt, ijt einaig unb allein htn (Erfahrungen entfprungen,
toelc^e ber for[dE)enbe 23erftanb burd) 9laturer!enntnts ge=
iDonnen l)at, unb htn 93ernunft[d)Iü[fen, tDeId)e er burd) rid)tige
^ffojion biefer empiri[df)en SSorftellungen gebilbet l)at. Seber
oernünftige SJienfcf) mit normalem (5el)im unb normalen Sinnen
f^öpft bei unbefangener iBetrad)tung aus ber 9latur biefe t»al)re
Offenbarung unb befreit [id) bamit oon bem 5lberglauben, tDeId)en
il)m bie Offenbarungen ber 9teIigion aufgebürbet f)aben.
Sieb^e^ntcö Kapitel,
5Biffettf(ä^aft nnt> e^nffenfum^
9[)^oniftifd)c 6tubicn über ben ^ampf 5n)ifc|)en ber n>iffen=
fc^aftlic^cn (frfa^vung unb ber c^riftlic^en Offenbarung.
93ier ^erioben in ber ]^iftorifc|)en ^iJ^etamorp^ofe ber d;rift--
(ic|)en ^^eligion. Q5ernunft unb ©ogma.
3u htn t)erDorragenben (£f)arafter3ügen bes 19. 3a]^rl)unberts
gel)ört bie rDad)fenbe Schärfe bes (Segenfa^es 3tDifd)en 2Biffen[d)aft
unb (£I)tijtentum. Das ijt gan3 natürlid) unb nottoenbig; benn in
bemfelben 9Jiafee, in roeId)em bie fiegrei^en 3rort[d)ritte ber mober=
nen 9laturer!enntnis alle rDi[fen[(^aftlid[)en (Eroberungen frü=
l)erer 3öf)rl)unberte überflügeln, ijt 3ugleid) bie Unl)altbar!eit aller
jener mr)jtijd)en 2Beltanfd)auungen offenbar geroorben, n)eld)e bie
S3ernunft unter bas 3ocf) ber fogenannten „Offenbarung"
beugen toollten, unb baju gcl)ört auct) bic d)rijtlid)c ^Religion.
192 etcb3cl)nte5 Äapitcl.
3e fi(i)crcr burd) bic mobemc 3ljtronotiüc, ^^r)[i! unb (Il)cmic bic
^ncml)crrfd)aft unbcugfamer 9laturgc[e^e im Unioerlum, burd)
bie mobemc Sotanif, 3ooIo9ic ii"^ ^ntl)ropoIogie bic ©ültigfeit
berfclben ©cfc^c im ©efamtbcrei^e ber organifd)en 9latur nad)=
gctoiefen ijt, bejto I)cftigcr jträubt fid) bie ^riftlid^c ^Religion, im
93ereine mit ber bualijti[cf)en 9Jietapf)i)[i!, bie ©eltung biefer 91atur»
gefc^c im 93creid)c bes [ogenannten „(Seiftcslebcns" anjuer*
fennen, b. ^. in einem ^Teilgebiete ber ©cI)impl)i)[ioIogie.
X>ie[en offenhinbigen unb unt)cr[öf)nlid)en ©egenfa^ 3tDi[cf)en
ber mobernen tt)i[[en[(^aftli(f)cn unb ber überlebten cf)rijtlid)en
2BeItan[d)auung I)at niemanb flarer, mutiger unb unroiberlcglic^er
betüiefcn, als ber gröfete 3:i)eoIogc bes 19. 3tt^rl)unbert5, Daoib
Sriebrid) Strauß. Sein le^tes ©efenntnis: „Der alte unb
ber neue ©laubc" 1872, (14. ^tuflage 1900) ijt ber all-
gemein gültige ^tusbrud ber cl)rlid)en llbergeugung aller ber»
jenigen ©cbilbeten ber (öcgenroart, wtlä)t bcn unoermeibIid)en
Äonflift 3tt)i[d)en bcn anerzogenen, l)err[d)enben ©Iauben5lcl)rcn
bes (£t)ri|tentums unb bcn einleuc^tenben, uernunftgemäfeen Offen*
barungen ber mobernen 9laturtüi[[cn[d)aft einiel)en; aller ber*
jenigen, toelc^c bcn SRut finben, bas 9?ec^t ber 33ernunft gegen*
über bcn ^n[prüd)en bes Aberglaubens 3U tDat)ren, unb ojelc^e
bas pI)iIo[opi)i[d)e Sebürfnis nad) einer einl)eitlic^en 9latur=
an[d)auung empfinben. Straufe ^at als el)rlid)er unb mutiger
greiben!er rocit bcffcr, als id) es oermag, bic tDid)tigjten (Segen*
[ä^e 3tDi[(i^en „altem unb neuem ©lauben" flargclegt. X)ic oollc
UnDcr[öI)nIid)!eit 3U)i[d)cn beiben ©egenfä^en, bic UnDermeibIid)!eit
bes (£nt[d)eibungs!ampfes 3toi[^cn beiben — „auf Xob unb fieben"
— t)at oon pl)ilo[opl)i[d^cr Seite namcntlid) (Ebuarb^artmann
nad)gexDiefen in [einer intcrc|[anten Sd)rift über bic Scibjtscr*
[c^ung bes (£t)rijtcntums (1874).
Unter bcn 3aI)Ireid)en SBcrfen, bie im fiaufe bes 19. 5al)r=
f)unbcrts bie u)i[[en[d)aftli<^c 5lriti! bes (£I)riftcntum5, [eines
2ßc[ens unb [einer ficl)rc geförbert I)abcn, [inb aufeerbem nament*
lid) folgenbc I)crt)or3u^cbcn: Daoib Straufe, Das £eben 5e[u
für bas beut[d)c 33oI!. 1864 (11. ^luflagc, «Bonn 1890). fiubtoig
Seuerbad), Das 2Be[en bes (i:i)rijtentums. 1841 (4. 5tufl. 1883).
^aul bc 9?egla (^. Desjarbin), 3c[us oon 91a3aretf), oom
tDi[[en[d)aftIid)en, gc[d)id)tlic^cn unb gc[ell[d)aftlid>cn Stanbpunfte
bargcjtcllt. £eip3ig 1894. S. (£. 23erus, 33erglcid)enbe Xlbcr*
[id)t ber oier (Soangclicn. fieip3ig 1897.
SBenn man bic 2Ber!e oon Straufe unb 3rcucrbad), [otoie
bic „©c[d)id)te ber i^onflifte 3iDi[d)cn 5?eligion unb 2Bi[[en[d)aft"
oon 3o^n2Biniam Draper (1876) gclc[en ^at, fönnte es übcr^
2Bi|fenld)att unb (S:i)rijtentum. 193
flüfjig erfrf)emen, biejem föegenjtanbe liier ein befonberes Äapitel
3U toibmen. Xro^bcm toirb es nü^Iid) unb nottoenbig [ein, l)ier
einen friti[(i)en f8M auf ben l)ijtori[d)en 93erlauf biefes großen
5lampfe5 3U toerfen, unb sroar ttsi)alh, tüeil bie Angriffe ber
ftreitenben 5lir(f)e auf bie 2Bi[[cnfdE)aft im allgemeinen unb auf bie
(£nta)itfelung5lel)re im befonberen in neuefter 3^it befonbers [d)arf
unb gefal)rbrol)enb getuorben [inb. 5lud) i|t leiber bie geijtige (£r=
[(f)Iaffung, roeId)e [i^ neuerbings geltenb ma^t, [otoie bie jteigenbe
5Iut ber 9?ea!tion auf politifc^em, [osialem unb !ird)Iid)em ®e«
biete nur 3U ]ti)X geeignet, jene ®efal)ren gu üerfc^ärfen. SBoIIte
jemanb baran aroeifeln, [0 brandet er nur bie 23er^anblungen ber
tf)rijtlid)en Srinoben unb bes Deut[d)en ^Reid^stags in ben legten
3al)ren 3U le[en. 3^ (£in!Iang bamit jtet)en bie Semül)ungen
üieler xDeItIidf)er 9legierungen, [i^ mit bem geijtlid)en IRegimente,
i{)rem natürlichen 3:obfeinbe, auf möglid)jt guten gufe 3U [e^en,
b. f). [id) beffen ^oä)t gu unterroerfen; als gemein[ames ßhl
fd)tüebt babci hm beiben S3erbünbeten bie Hnterbrüdung bes
freien (öebanfens unb ber freien toif[en[d)aftIi(i)en i5ror[d)ung cor,
mit bem S^^^^t |i^ öuf biefe 2Beife am Iei(f)teften bie ab [olute
J^errfc^aft 3U [id^ern.
2Bir mü[[en ausbrücHtcf) betonen, bafe es fid) \)m um not=
gebrungene S3erteibtgung ber 2Biffen[d)aft unb ber SSernunft
gegen bie [d)arfen Angriffe ber d)riftlidf)en Äird^e unb it)rer ge=
toaltigen §eer[ci)aren I)anbelt, unb nid)t ettoa um unbere(i)tigte
Angriffe ber erjteren gegen bie le^teren. 5n erjter fiinie mufe
babet un[ere ^btoet)r gegen htn ^apismus ober Ultramonto»
nismus gerid)tet [ein; benn biefe „allein [eligmad)enbe" unb
„für alle be[timmte" fat{)oIi[dE)e R\x6)^ ijt ni(f)t allein toeit gröfeer
unb toeit mächtiger als bie anberen (t)ri[tlid)en i^onfe[[ionen,
[onbern [ie be[i^t oor allem ben SSor^ug einer großartigen, sentra«
U[ierten Organi[ation unb einer unübertroffenen poIiti[c^en Sd)Iau»
f)eit. 9Jlan t)ört allerbings oft oon 9^aturfor[d)em unb oon anberen
ÜIRännern ber 2Bi[[en[(f)aft bie ^n[id)t äufeern, bafe ber !atl)oli[d)e
Aberglaube nid)t [d)limmer [ei als bie anberen O^ormen bes über*
natürlicl)en Glaubens, unb bafe bie[e trügeri[d)en „©eftalten bes
Glaubens" alle in glei(i)em 9pfiafee bie natürlid)en j^einbe ber
SSernunft unb 2Bi[[en[d)aft [eien. 3m allgemeinen t^eoreti[^en
^rin3ip ijt bie[e ©el)auptung rid^tig, aber in be^ug auf bie pra!ti=
[^en folgen irrtümlid); benn bie 3ielbetoufeten unb rüd[icf)tslo[en
Angriffe ber ultramontanen i^irclie auf bie 2Bi[[en[d)aft, geftü^t
f bie 3:rägl)eit unb Dumml)eit ber SBol!sma[[en, [inb oermöge
rcr mäd)tigen Organi[ation ungleid) [d)iDerer unb gefö^rli(^er
als bicjenigen aller anberen ^Religionen.
1Ö4 (Steb3el)nte5 i^apitcl.
(gnttoitfelung bes CT^riftentums. Hm bie ungcl)eure Sebeu*
hing bes (Il)rijtentum5 für bte ganse Äultiirge[(f)id)te, befonbers
aber, [einen prinsiptellen ®egen[a^ gegen 33ernunft unb SBiffen-
f(f)aft rid)ttg 3U töürbigen, muffen tütr einen flücf)tigen ^lic! auf
bie uji^tigjten ^bfd)nttte feiner gefrf)id)tlirf)en (gntoidelung toerfen.
2ßir unterfd)eiben in berfelbert üier ^auptperioben: I. bas Hr =
d)riftentum (bie brei erften 5al)rl)unberte), IL hm ^apismtis
(3öJöIf 3af)rt)unberte, com üierten bis fünf3el)nten), III. bie 5Re =
formation (brei 3a]^rl)unberte, Dom [ed)3el)nten bis ad)t3el)nten),
IV. Das moberne Sd)eind)riftentum (im neun3el)nten 3al)r=
I)unbert).
I. Das Hrd)riftentum umfafet bie crjten brei 3al)rl)unberte.
e:i)riftus felbft, ber eble, gan3 von aRenfd)enIiebe erfüllte ^ropf)et
unb Sc^roärmer, ftanb tief unter bem 9ZiDeau ber flaffifd)en ilultur-
bilbung; er fannte nur jübifc^e Xrabition; er l)at felbft feine ein3ige
3eile l)interlaffen. 5lud^ i)atte er t)on bem f)oi)en 3uftanbe ber
2BeIter!enntnis, 3U bem griec^ij^e ^I)iIofopI)ie unb 9^aturforfct)ung
fd)on ein I)albes ^a^rtaufenb früher fid) ert)oben I)atten, feine
^t)nung. Dilles, was roir von if)m unb feinen urfprünglid)en fie^ren
roiffen, ift hm ^auptbofumenten bes bleuen 3:eftamentes ent=
nommen — htn üier (Söangelien unb ben (Epifteln bes Paulus.
2Bas bie üier fanonifdfien (Bcangelien betrifft, fo roiffen roir, ha'ji
fie ousgetȊI)It finb aus einem Raufen von fid) roiberfpre^enben
unb gefälf(i)ten 9J?anuffripten aus bem 2. 3af)rf)unbert. X)tx
gültige kanon fcf)eint vor bem (£nbe bes 2. 3af)rt)unberts feftgefe^t
3U fein, obtoo!)! 3tüeifel unb 9Jieinungst)erf(f)ieben]^eiten bis U3eit
ins 4. 3a^i^^unbert ^ineinrei(^en. Das i^on3iIium Don Slicäa,
325, fügt nac^ bem f)I. $ieroni)mus ein getoiffes $ßu(f) in ben 5^anon
ein, roas auf eine HngeroifeI)eit bis 3U biefem Datum fc^Iiefeen läfet.
bleuere ©elef)rfamfeit fe^t ben 3eitpunft ber ^bfaffung ber brei
ft)noptifcf)en (Süangelien (S(RattI)äus, SJlarfus unb fiufas — bie
anerfanntermafeen nai^ unb nic^t von biefen SD^ännern gefd^rieben
töorben finb) auf 65 — 100 n. (il)x. unb bas (Soangelium von
3of)annes auf einige 3eit Dor 125 feft. ^ber es fommt babei in
$Betrad)t, bafe, roenn bie biblif^en (5elef)rten von biefen Daten
fpre(^en (im einseinen — 65 — 70 für SJiarfus, 70—75 für 9[Rattl)äus,
80—98 für £ufas, 80—120 für 3ot)annes), fie nic^t an bie ©Dan-
gelien benfen, tüie töir fie f)eute l)aben. JBis 3um $1. ^iif^^nus
minbeftens (unb felbft er fann ni(i)t als 3ßuge bes tüirflid)en
(Spangeliums von 3ot)annes angeführt roerben), bas ift alfo bis
3ur StRitte bes 2. 3ö^^t)unberts, finben mit nur (£rxx)äl)nungen
(oft fet)r fraglicf)e) üon Sagen angefüf)rt, bie in ben (goangelien
3U finben finb. 50itt onbern SBorten, roir l)aben feinerlei autl)en=
2Btf[enfd)aft unb (£I)rijtentum. 195
tifc^en iBeioeis für btc (£d)tt)cit trgenb einer ber (£t)angeltener3äl)=
lungen, bis Tnel)r als ein 5a^rl)unbert nad) bem Xobe (£i)rijti.
9Ziemanb, ber xoeife, in toelc^ent ©rabe JÖegenben in ber orienta=
Ii[(i)en ^tmo[pl)äre antoad)[en, fann Dofumenten [old) [päten
Datums nur ben geringften ©lauben [d)en!en. Selbjt toenn bas
früliefte [r)noptifdE)e (Soangeltunt 70 n. (n)X. batiert roäre (tüir
mü[[en immer bebenfen, talß fi^ bas nur auf „bie 5lus[agen 5e[u"
be3ie!)t), [o toäre nod) ber tüeite Spielraum oon üiersig 5al)ren
für bie 9J?r)tl)enbilbung gegeben.
Die brei3el)n (Spijteln bes ^poftels Paulus, von benen
nur »ier 5ln|pru(^ auf (£^t{)eit mad)en !önnen {9^ömer, Äo=
rintl)er 2, ©alater), oermel)ren un[ere ilenntnis über bie ^e=
gebenbeiten im Qthtn ^t\u nur \t\)x tüenig. <3o bleiben roir be=
[cf)rän!t auf [el)r färglicf)e unb unliebere 5Ra(i)forfd)ungen über bie
^anblungen unb bie ^erfönlici)!eit bes ©rünbers bes (irt)riftentums.
Der (Ölaube an bie tief eingetourselten unb beliebtesten Ürabi^
tionen mufe gänälic^ »erlaffen toerben. Die (5e[(f)id)te von ber
rounberbaren ©eburt (£;i)rifti loirb oerroorfen; biefer 90Ri)tt)us toirb
[otüol^I von htn fü^renben d)riftlicf)en (5elet)rten Deut[d^Ianbs als
aud) ^nglanbs für eine ber [päteften unb ber roenigft glaubtöürbigen
,,bibli[(i)en (5e[(^id)ten" erflärt, mit anberen 9Borten: für eine
[päter eingefd^obene uiertlofe 9fälj'd)ung. Die Sagen üon ber ^uf=
erjtebung unb von ber $immelfa!)rt (£l)ri)ti erfat)ren je^t ein gleid)e5
S(i)id[al. Das IReue Üeftament toirb gerftört roie bas ^Ite, unb bie
[c^öne SiQur von 3e[us löjt [id) 3u[et)enb5 in ein 5RebeIbiIb auf.
Die unbefangenen unb [d)arfjinnigen 3rot[ct)ungen ber beutfd^en
Xbeologen (Strauß, ^tmxhad), ^aur u. a.), benen [id) [päter
aud) engli[(f)e, fran3ö[i[d)e unb italieni[c^e WIo[op:^en an[d^Io[fen,
t)atten ]6)on um bie SO^iitte bes 19. 3cil)rt)unberts ge3eigt, ta^ bas
„£cben ^t]u" 3um größten Xeile ein (£r3eugnis ber religiöfen
.Did)tung, ät)nli(^ ber von ^Bubb^a ijt, unb bafe feine suoerläffigen
I)ijtori[(^en JQuellen barüber eiijtieren. S3iel flarer ergibt fid) bas
aus ben überrafd^enben !riti[d)en i^or[d)ungen ber t)ergleid)enben
5ReIigionsge[^id)te im beginne bes 20. 3öl)i^^unberts. Danad^
bleibt roeber von h^n ein3elnen 2Bunberge[d)i^ten unb Sagen,
nod) Don bem gansen bogmatifc^en fief)rgebäube bes (£f)rijtentum5
etroas Originelles oon Sebeutung mel)r bejtel)en. Denn fajt
alles, tDas uns bie (Evangelien baoon er3äl)len, ijt aus älteren
orientali[d)en Quellen 3u[ammengetragen unb entjtammt tm
babr)loni[(^en unb a[[t)ri[d)en, hm inbi[d)en unb l)elleni[d)en
Sagenfreifen. ^ercorragenbe Äritüer geben nod) toeiter unb
führen mit großer 2Bal)r[d)einlid)!eit tttn SBetoeis, t>a^ ber 5e[us
bes (Eoangcliums überhaupt niemals gelebt l)at, fonbern ein reines
13*
196 Stcb3cf)ntes Äopttel.
SbcalbilbberDi^tung tjt. S3ergl. bte mtctc[[antcn S^rtften
Don ilaItl)off unb ^romus über „bte (£ntfte!)ung bes 6:{)riiten=
tums" (1904) unb t)on5^arI Spoilers: f Die SBeltreligionen in i^rem
gc[^irf)tlid^en 3u[ammenl)ange" (1907), ferner bie [el)r f^arfe 5^riti!
bes engIi[d)enXl)eoIogenSaIabin{StetDart9lo^): „3e^ot)al)s ge*
[ammelte 2Ber!e, eine !riti[cf)e Unterfud)ung bes rf)rifili(^en 9?eli=
gionsgebäubes auf ©runb ber ^ibeIfor[d)ung" (Äeipsig 1896).
II. 3)er ^apismus, bas „Iateini[d)e (£I)ri[tentum" ober
^apfttum. J)er ^apismus ober bie „römi[d)*fatf)oIif(^e Äirc^e",
oft aud^ HItramontanismus ober nad) it)rer 5Re[iben3 93ati!a =
nismus genannt, ijt unter allen (£r[d) einungen ber men[cf)Iic^en
5^ulturgef(l^ict)tc eine ber grofearttgjten unb merftoürbigften, eine
„tDeItf)iitori[d^e ©röfee" erjten 9?anges. 3:ro^ aller ©turnte ber
3eit erfreut [ie [id) no^ i)eute bes mo(i)tigjten (Einfluffes. 93o]t
ben 500 9JlilIionen 6;i)riften, toeli^e bie (Srbe gegenroärtig berooI)nett,
befennt bie größere ^älfte, nämlicf) über 250 SJlillionen, hm xömU
[d)en, nur 75 SJlilUonen ben grie(t)i[c^en ÄatI)oIi3ismus, unb
120 aUillionen [inb ^rotef tauten. 2Ba()renb- eines 3eitraunte6
oon 1200 Sauren, ooni oierten bis gunt |e(f)3el)nten 5a^rl)unbert,
I)at ber ^apisntus bas geijtige £eben (Europas fajt t)on!omnten
bel)err[cf)t; bagegen l)at er "öm großen alten ^leligionsfpftemen in
^^([ien unb ^frifa nur [el)r roenig ©oben abgetoonnen. 5n 5l[ten
3ä^lt ber ©ubbt)isntus l)eute nod) ungefät)r 503 SKillionen, bie
33rat)ntareIigion 140 SJiillionen, ber ftetig oorbringenbe Sslam
mel)r als 120 SlRillionen ^nl)änger. Die 2BeItt)err[^aft bes ^api6=
mus prägt oor allem beut SÖlittelalter feinen finjteren ü\)axütizx
auf; [ie bebeutet ben Xo'i> alles freien (Seifteslebens, htn 9lücfgang
aller xoQi)xm 2Bif[en[d^aft, ben 93erfaII aller reinen Sittlid)!eit.
33on ber glänseitben ^lüte, gu toel^er [id) bas nten[d)Ii^e ©eiftes»
leben im fla[[i[(t)en 3lUertum erl)oben l)atte, im erjten 3ö^i^tau[enb
oor (£l)ri[tus unb in hm erjten 3ttl)tf)unberten nad) bem[elben,
[an! bas[elbe unter ber $err[d)aft bes ^apfttums balb gu einem
9lioeau l)erab, bas mit ©egug auf bie (£rf enntnis ber 2Bal)rI)eit
nur als ©arbarei be3ei(^net toerben fann. 50ian rü^mt iüot)l
am SJlittelalter, bafe anbere Seiten bes ©etfteslebens barin 3u
reid)er (Entfaltung gefommen [eien, Did)tfun[t unb bilbenbe 5lun[t,
[d)olajti[d)e (5elet)r[am!eit unb patri[ti[d)e ^I)iIo[opI)ie. ^Tber bie[e
i»^ulturtätig!eit ht^anh ]xd) im X)ienfte ber t)err[d)enben i^irc^e unb
tourbe nid)t 3ur Hebung, [onbern 3ur Hnterbrüdung ber freien
(5eijtesfor[d^ung oertoaubt. Die au5[d)liefeli^e 93orbereitung für
ein unbefanntes „eroiges Jßeben im 3en[eits", bie 93erad)tung ber
9^atur, bie ^btoenbung oon il^rem Stubium, tDeId)e im ^rinspi
ber d)rijtlid)en 5ieUgion innett)oI)nt, u)urbe oon ber römi[d)en
2Biffen[^aft unb (S:r)rtjtctttum. 197
Ötcrarcf){c ^ur I)etltgen ^fltrfjt gemarf)i (Eine burc^greifenbc
2ßanblung jum 5Bc[[crcn bra(i)te crft im 93cg{nn bes 16. ^ai)X'
f)unbert5 bic D^cformatton.
9lü<!f(^rttte hct Äultur im äUittcIalter. (£s toürbc uns oicl
3U löeit fü{)ren, töcnn totr f)ier bic iammerüollen 9tü(f[d)ritte
[d)ilbcm roollten, toeli^e mcn[^Iid)c 5^ultur unb ©cfittung tDaI)renb
3t3)ölf Sfl^i^iiTtberte unter ber gcijtigcn (5etDaItI)err[(^aft bes ^api6=
mus erlitten, ^m prägnantejten finb fie tüot)l burd) einen einzigen
Sa^ bes gröjgten unb geijtreic^jten $ot)en5onernfür|ten illustriert;
5riebri(^ ber ©ro^e fafete [ein Urteil in bem Sa^e sufammen,
man toerbe burcf) bas Stubium ber (5e[cf)id^te gu ber Hber=
jeugung gefüt)rt, ha^ oon 5^onftantin bem (5rofeen bis auf bie 3^1^
ber ^Deformation bie ganje 2Belt toal)n[innig getoefen [ei.
(£ine DortreffIid)e furse 8(f)ilberung bie[er „2ßal)n[innsperiobc" ^at
(1887) fi. ^üd^ner gegeben in [einer Sct)rift „Ober religiö[e unb
tDi[[en[(f)aftli(^e 2BeItan[(^auung".
Unter ben l)i[lori[ct)en 3^at[ad^en, toelc^c am einIeudE)tenb[ten bie
33ertDcrfIict)!eit ber ultramontanen (5ei[testt)rannei betDei[en, inter*
e[[iert uns cor allem i^re energ{[d)C unb fon[equente Sefämpfung
ber roa^ren 2Bi[[en[ct)aft als [old^er. Die[e toar ätoar [(^on oon
Anfang an prinsipiell im (£l)rijtentum baburd) beftimmt, t)a^ ba6=
[elbe ben ©lauben über bie 33emunft [teilte unb bie blinbe Hnter=
toerfung ber legieren unter htn er[teren forberte; nii^t minber
baburd), bafe es bas ganje CSrbenleben nur als eine 93orbereitung
für bas erbi(f)tete „3en[eits" betrad)tete, al[o au(i) ber tt)i[[en[(f)aft=
lidE)en gor[cf)ung an \\6) \thtn SBert i^b[prarf). allein bie planmäßige
unb erfolgrei(^e ©cfämpfung ber le^teren begann borf) er[t im
anfange bes oierten 3cil)rl)unberts, be[onbers [eit bem berüd)tigten
Ronsil von "Slic&a (325), toelcf)em 5^ai[er 5^on[tantin prä[ibicrte,
— „ber ®rofec" genannt, toeil er bas (£l)ri[tentum gur Staats»
religion erl)ob unb 5^on[tantinopel grünbete, babei ein nicfitstDürbiger
(£t)arafter, ein fal[cl)er §eu^ler unb Dielfa(f)er 9Körber. 2Bie erfolg=
reid) ber ^apismus in [einem 5^ampfe gegen jebes [elb[tänbige
toi[[en[d)aftli(i)e Denfen unb gor[d^en toar, betDei[t am bejten ber
jammerDolle 3iiHö^^ ^^^ S^laturerfenntnis unb il)rer Literatur im
SJiittelalter. 9li^t nur tourben bic reid)en (5ci[tes[d)ä^c, tDcld^c bas
!la[[i[(f)c 5lltertum l)interla[[en t)attc, jum gröjstcn 3^eile Dernid)tet
ober ber 23erbreitung entäogen, [onbern goltcrfnei^te unb S(f)eiter==
^ufen [orgten bafür, bafe icber „5^e^er", b. \). jeber [elb[tänbige
Den!er, [eine oemünftigen (Sebanfen für [id) bel)ielt. 3:at er bas
nid)t, [o mußte er [id) barauf gefaßt machen, lebenbig ocrbrannt
3U toerben, toie es bem großen moni[ti[(^en ^l)ilo[op^en ©iorbano
©runo, bem 5?cformator 5ol)ann $us unb mel^r als l)unbert=
198 Sieb3ef)ntcs 5^apttel.
taufenb anbeten „3eugen ber 9!Baf)rf)ett" ge[d)at). Die ©e[d)icf)te
ber 2Bi[[en[d)aften im 9J?itteIaIter bele{)rt uns auf jeber Seite, tya^
bas [elbjtänbige T)tnUn unb bie empiri[d)e tx)i[ien[(f)aftli(i)e ^ox=
f(f)ung unter bem X)ru(Je bes anmäd)tigen ^apismus burd) 3tx)ölf
traurige 3öl)rf)unberte roirflid^ DöIIig begraben blieben.
^apistnus unb ß^^riftentutn. Dilles bas, toas toir am tDa!)ren
(£{)riitentum im Sinne [eines Stifters unb feiner ebeljten 9ladf)foIger
I)oc^fcf)ä^en, unb roas toir aus bem unausbleiblichen Untergänge
biefer „2BeItreIigion" in unfere neue, monijti[(i)e ^Religion I)inüber
3U retten fu(i)en muffen, liegt auf feiner etl)ifd)en unb fosialen
Seite. Die ^rin3ipien ber xoa\)xtn Humanität, ber golbenen
5RegeI, ber 3:oIeran3, ber äRenfd)enIiebe im beften unb l)öd^jten
Sinne bes SBortes, alle biefe roatiren i}id)tfeiten bes (rf)rijtentum5
finb 3U)ar ni(f)t üon \\)m 3uerft erfunben unb aufgeftellt, aber hod)
erfolgreid) in jener !ritifd)en ^eriobe 3ur ©eltung gebrad)t toorben,
in ber bas flaffif(i)e Rittertum feiner 5tuflöfung entgegenging. Der
^apismus aber I)at es »erftanben, alle jene Xugenben in it)r bireftes
(Segenteil 3U t)erfel)ren unb babei bod) bie alte ^ii^^ö oIs
^U6l)ängef(^ilb 3U bett}al)ren. '$in bie Stelle ber (^rijtlic^en ßiebe
trat ber fanatifd^e §a^ gegen alle 5tnbersgläubigen; mit ^euer unb
Sd)tDert tDurben ni(i)t allein bie 5^tben ausgerottet, fonbern aud)
jene d^rijtlid)en Seften, toeld^e in befferer (£r!enntnis (Sintüenbungen
gegen bie aufge3tx)ungenen £el)rfä^e bes ultramontanen ^ber=
glaubens 3U erl)eben roagten. Xlberall in (hiropa blül)ten bie
5le^ergeri(^te unb forberten un3äl)lige Opfer, beren tJolterqualen
il)ren frommen, oon „d)riftli(^er S3ruberliebe" erfüllten Reinigern
befonberes 23ergnügen bereiteten. Die ^apftmac^t toütete auf
il)rer §öl)e burd) 3ö^r!)unberte erbarmungslos gegen alles, toas
i^rer ^errfd)aft im SBegc ftanb. Unter bem berü(^tigten ©rofe=
inquifitor Xorquemaba (1481 — 1498) tourben in Spanien allein
ad)ttaufenb 5^e^er lebenbig oerbrannt, neun3igtaufenb mit (£in=
3iel)ung bes 33ermögens unb ben empfinblic^jten 5^ircl)enbufeen
bejtraft, u)äf)renb in ^zn IRieberlanben unter ber ^errfd^aft Siaxl
bes O^ünften bem Ilerüalen Slutburft minbejtens fünf3igtaufenb
9Jienfd)en 3um Opfer fielen. Unb iDäl)renb bas ©el)eul gemarterter
9Kenf(^en bie fiuft erfüllte, jtrömten in 9?om, bem bie gan3e ä)xx]U
li(^e SBelt tributpflid^tig toar, bie 9lei(^tümer ber l)alben 2ßelt
3ufammen, unb u)äl3ten ficf) bie angebli(^en Stelloertreter ©ottes
auf (Srben unb il)re geiferst) elf er in £üjten unb fiajtem jeber 5trt.
„2ßeld)e33orteile," fagte ber frioole unb fpppitifd)e ^apft £eo X.
ironifc^, „l)atun6 bod^ biefe (Jabel oon^^fus (£]^riftus gebrad)t!"
Dabei toar ber 3#0Ttb ber europäifd)en ©efellfd)aft tro^ 5^ird)en=
3ud)t unb (5ottesfurd)t oon ber allerfd)limmften ^rt. geubalismus,
2Btf[en[d)aft unb (£f)rtjtentum. 109
£eibetgen[c^aft, ©ottesgnabentunt unb 1ölön(f)tum be{)crr[^tcn
bas fianb, unb bic armen §cIoten toarcn frol), toenn [te il)rc elenben
§ütten im SJiac^tberetc^e ber Schlöffet ober 5llöjter it)rer geijtlic^en
unb toeItIi(f)en KnterbrüdEer unb Ausbeuter erricf)ten burften.
Öeutjutage nod^ leiben toir unter htn 9lad)r»e{)en unb Über=
bleibfeln biefer traurigen 3iiltänbe unb 3^tten, in wtld)tn von
Pflege ber 2Bi[[en[(i)aft unb f)öt)erer ©eijtesbilbung nur ausnat)m5=
toeife unb im 23erborgenen bie 9lebe -[tin fonnte. „irntDi[[enI)eit,
^rmut unb Aberglaube oereinigten [itf) mit ber ent[ittli(i)enben
äßirfung bes im elften 3ö^rf)WTtbert eingefüt)rten 3ölibat5, um
bie abfolute ^apftmac^t immer jtärfer roerben ju laffen" ($Büd)ner
a. a. O.). SiRan t)at bered)net, bafe t»ät)renb biefer ©lansperiobe
bes ^apismus über 5e{)n SKillionen 9Jien[(f)en bem fanati[rf)en
(5Iauben5l)afe ber „d)riftli^en £iebe" jum Opfer fielen; unb
rote üiel mef)r 9JliIIionen betrugen bie ge!)eimen XRen[cf)enopfer;
toelrfie bas 3ölibat, bie O^renbeii^te unb ber ©eroiffenss
3tDang erforberten, hxt gemeinfd)äbli^ften unb flui^toürbigjten
Institutionen bes päpftlict)en 5lb[oIutismus ! Die „ungläubigen"
^I)iIo[op!)en, tDeld)e ^Betoeife gegen bas Dafein ©ottes [ammelten,
^aben einen ber jtär!ften ^eroeife bagegen über[et)en, hh 'Xat]a(i)c,
bafe bie römifd)en „Statthalter dl^rifti" sioölf 5<i^i^^iinberte
f)inbur(^ ungestraft bie greulid)jten 33erbred)en unb 8d)anbtaten
„im Flamen ©ottes" oerüben burften.
III. 35te JHeformation. Die (5e[(f)i^te ber 5^uIturoöI!er, toeId;e
u)ir „bie 2BeItgefrf)i(^te" %u nennen belieben, läfet beren britten
$auptdb[d)nitt, bie „9fleu5eit", mit ber 9?eformation ber (i)riftlid)en
^irrf)e beginnen, ebenfo toie htn gtoeiten, bas 9[RitteIaIter, mit ber
(Srünbung bes (r{)riftentum5, unb fie tut re^t baran. Denn mit
ber ^Deformation beginnt bie SBiebergeburt ber gefeffelten
33ernunft, bas 2Bieberertt)a(i)en ber SBiffenfc^aft, ii»eld)e bie
eiferne (^aujt bes ct)riftli(f)en ^apismus bur(f) 1200 ^a\)X(t getoaltfam
nieberge^alten I)atte. Allerbings t)atte bie SBerbreitung allgemeiner
Silbung burcf) bie ^udjbruderfunjt fd)on um bie 9Plitte bes fünf=
3ef)nten ^d^^^nTtberts begonnen, unb gegen (£nbe besfelben traten
mef)rere grojge (£reigni[[e ein, toeId)e im SSerein mit ber „9?e*
naiffance" ber 5lunjt aud) biejenige ber 9Bi[[enf^aft oorbereiteten,
oor altem bie (Sntbedung oon 5lmeri!a (1492). "üluä) tourben in
ber erften Hälfte bes fecl^3e!)nten 3<i^rt)unberts mel)rere \)'6^\i
0Did)tige gortfd)ritte in ber (Erfenntnis ber 5Ratur gemad)t, toelc^e
bie beftet)enbe äBeItan[d)auung in it)ren (5runbfe|ten erfd)ütterten;
fo bie erjte Umfc^iffung ber (£rbe burd) SJlagellan, toeld^c t)tn
empirif^en 5Betoeis für il)re 5^ugelgejtalt lieferte (1522); bie
(Srünbung bes neuen 2BeItfr)jtems burd) 5^operni!us (1543).
200 ®{eb3ef)nte5 RaplM.
%htx bcr 31. O!tober 1517, an toelc^cm SD^artin fiutf)er [eine
95 Xi)t]tn an bie I)öl3emc %m bcr 6d)Iofe!ird^c 3u SBittenberg
nagelte, bleibt baneben ein tDeItge[(f)i(i)tIi(^er Xüq; bcnn bamit
tDurbe bie eiferne 3:ür bes S^erfers gesprengt, in bem ber päpjttic^e
5tb[oIutismu5 burcf) 1200 ^a\)Xt bie gefeffelte 33ernunft einge*
[d)Io[[en get)alten fjatte. 9Jian f)ai bie 23erbienftc bes großen 9{e=
formators, ber auf ber SBartburg bie Sibel überfe^tc, teils über=
trieben, teils unter[c^ä^t; man I)at aud) mit 9terf)t barauf I)inge=
toiefen, xüie er glei(^ t)tn anttxtn 9ieformatoren nod) oielfad) im
tieflten Aberglauben befangen blieb. (5o fonnte fi^ £utf)er geit»
lebens nic^t von bem jtarren Su(i)ftobenglauben ber Sibel befreien;
er oerteibigte eifrig bie ßet)re t>on ber 5luferjtet)ung, ber Grbfünbe
unb ^räbejtination, ber 9lec^tfertigung burd^ ben ©lauben ufuj.
t)ie getoaltige ©eijtestat bes ^opernüus Dercoarf er als 9larrt)eit,
tüeil in ber Sibel „5o[ua bie Sonne jtinjtet)en t)ie^ unb ni^t bas
(Erbreid)". gür bie grofeen politifc^en Umt»äl3ungen [einer 3^tt,
befonbers bie großartige unb oollbere^tigtc Sauernberoegung, l)atte
er fein 93erjtänbnis. Sd^Iimmer noc^ toar ber fanatifdfie 9?eformator
(£alt)in in ©enf, tüeld)er (1553) ttn geijtrci(i)en fpanifd^en Arjt
Seroeto lebenbig verbrennen liefe, ujeil er ben unfinnigen (Slauben
an bie Dreieinig!eit befämpfte. äber{)aupt traten bie fanati[(i)en
„9?e(i^tgläubigen" ber reformierten Äirc^e nur 3U oft in bie blut=
befledten grufetapfen if)rer papijti[(f)en Xobfeinbe, toie [ie es aucf)
t)eutc nodE) tun. ßeiber folgten aud^ ungel)eurc ©reueltaten ber
9leformation ouf bem gufee: bie Sartt)oIomdusnac^t unb bie §uge=«
notteno erfolgung in ^xanfxtid), blutige Re^erjagben in Italien, lange
^ürgerlriege in (Snglanb, ber ^Dreifeigjä^rige i^rieg in Deutfd)Ianb.
Aber tro^ allebem bleibt bem fed^3e{)nten unb [ieb3et)nten ^a\)X'
l^unbert ber 9iu!)m, bem benfenben SJlenfdjengeifte jucrjt roiebcr
freie ^al)n gef^affen unb bie S3ernunft oon bem erftidenben Drude
ber papijti[d)en ^err[(^aft befreit 3U I)aben. (Srjt baburd) rourbe
bie mäd)tige (Entfaltung oerfd^iebcner 9?idf)tÜngen ber fritifc^en
^I)ilo[opl)ie unb neuer ^Ba^nen ber 9laturfor[d)ung möglid), loeldie
bann bem folgenben ad^t3et)nten 3ci^i^^iii^^^lt ben (Ehrentitel bes
„3al)rl)unbert5 ber Aufflärung" erroarb.
IV. !Da0 S(^etn(^rtftetttttm bes neunae^nten So^^^^unberts.
Als oierten unb legten §auptabfd^nitt in ber (5efd)i^te bes (£t)rijten=
tums jtellen roir bas 19. 3<il)^^unbert feinen 33orgängern gegen*
über. SBenn in biefen Ic^teren bereits bie „Aufflärung" nac^
allen 5?id)tungen l)in hit fritifc^e ^^iloj'opl)ie gcförbert, unb xotnn
\\)x bas Aufblül)en ber 9latunDi[fenfd)aften bie jtär!jten empiri[d)en
SBaffen in bie ^^änt^ gegeben l)atte, ■ fo erf(^eint uns bo^ ber
3rort[d)ritt na(^ beiben 9iid)tungen l)in in un[crem 19. 5ol)rl)unbcrt
2Btffen[d)aft unb (5:t)rt|tcntum. 201
ganj getooltig; es beginnt bamtt toieberum eine gang neue ^ertobe
in ber ®e[(^id^te bes S[Renfcf)engeijte5, ^orafterifiert burd) bie (£nt=
Eöicfelung ber ntoni[tifd)en 9laturpI)iIo[opl)ie. Sc^on im
beginne besfelben tourbe ber ©runb %u einer neuen 5Intl)ropotogie
gelegt (burc^ bie uergleic^enbe 5lnatomie von (Tuöier) unb 3U einer
neuen Biologie (burc^ bie Philosophie zoologique von fiamarcf).
Salb folgten Wjtn beiben großen ^^tansofen gtoei ebenbürtige
X)eut[(^e, Saer als ©egrünber ber (£nttoidelungsgef^icl)te (1828)
unb 3ol)annes9Jlüller (1834) als ber ber oergleic^ enben 9Jlorpl)o*
logie unb ^l)i)[iologie. (Sin Srf)üler bes legieren, 2;^eobor
(5cf)toann, [d^uf 1838, im 33erein mitSKatt^ias ScE) leiben, bie
grunblegenbc 3ßn^iitl)eorie. (Bd)on t)orl)er l)atte ßpell (1830) bie
(£nttDi(!elungsgefcf)i(f)te ber (£rbe auf natürli^e Ur[a(^en jurüd*
geführt unb bamit aurf) für unferen Planeten bie (Seltung ber med)a=
nif^enÄosmogenie beftätigt, roelclieRant bereits 1755 mit fül)ner
$anb entworfen l)atte. (£nblid) töurbe burd) ^Robert 9Kai)er unb
§elml)olö (1842) bas (Snergieprinsip fejtgejtellt unb bamit bie
3tDeite, ergän^enbe Hälfte bes großen Subftan3gefe^es gegeben,
it\^zn erjte Hälfte bie i^onjtanj ber SJlaterie, fd)on £aüoi[ier 1789
entbedt i)attc. ^llen biefen tiefen (£inbltden in bas innere 2Be[en
ber Sflatur [e^te bann 1859 (£f)arles I)arroin bie 5^rone auf burc^
\tim neue (£nttDi(!elungslef)re, bas größte naturp^ilo|'opl)if(f)e
(Ereignis bes 19. ^o^^^unberts.
9Bie Derl)ält fid^ nun ju biefen getoaltigen 5o^*[<^i^tten ber
SRaturerfenntnis bas moberne G^l)riftentum? *3unä^jt tourbe
naturgemäß bie tiefe 5^luft 3tDi[rf)en [einen beiben 5öuptri(f)tungen
immer größer, jroif^en bem fonferoatioen ^apismus unb bem
progreffiuen ^rotejtantismus. Der ultramontane i^lerus (— unb
im 33erein mit it)m bie ortl)oboxe „(Eoangelifd^e ^llians" — )
mußten naturgemäß jenen -mä^tigen (Eroberungen bes freien
(Seiftes ben l)eftigften SBiberftanb entgegengehen; [ie oerl)arrten
unbeirrt auf ii)rem jtrengen 5Bu(^jtabenglauben unb oerlangten bie
unbebingte ItntertDerfung ber 23emunft unter bas !Dogma. Der
liberale ;^rote[tantismus l)ingegen üerflü(f)tigte [i^ immer
mel)r gu einem moniftifc^en ^antt)eismus unb jtrebte nacE) 93er=
[öf)nung ber beiben entgegengefe^ten ^ringipien; er [ucf)te bie un*
üermeiblicl)e ^nerfennung ber empirifdE) betoiefenen 5Raturgefe^e
unb ber baraus gefolgerten pl)ilo[opl)ii(^en 6^lü[[e mit einer ge*
läuterten ^leligionsform 3U oerbinben, in ber freilid^ oon ber
eigentlichen (5laubcnslel)re faft nichts mef)r übrig blieb. 3^^[cf)e"
beiben (Extremen bewegten ]xä) %a})lxtxd)t ilompromißoerfurfie;
barübcr l)inaus aber brang in immer roeitere Greife bie Über*
3eugung, baß bas bogmati[c^e (£l)rijtc^itum überl)aupt l^ötn Soben
202 Sieb3ef)ntes Kapitel.
Dcriorcn l)ab^, unb )ia^ man nur [einen coertüollen et{)i[(^en 5nl)alt
in bie neue, monijti[d)e 9?eIigion bes 20. 3al)rt)unberts f)inüber=
retten tönm. Da jebod) gleid)3eitig bie gegebenen äußeren ^rormen
ber ^err[d)enben d)rijtlid)en ^Religion fortbcftanben, ^a [ie [ogar
tro^ ber fortge[d)rittenen poIiti[d)en (gnttoidelung mit t>tn praftif^en
$8ebürfni[fen bes Staates immer enger oerfnüpft töurben, ent=
tüitfelte [idf) jene tu eito erbreitete religiöfe 3Beltan[cf)auung ber ge=
bilbeten 5^rei[e, bie toir nur als Sd)etn(i)ri[tentum be3et(^nen
fönnen — im ©runbe eine „religiöfe £üge" bebeti!Iicf)jter ^rt.
Die großen ®efal)ren, XDeId)e biefer tiefe i^onflift 3U)i[cl^en ber
toat)ren Uberjeugung unb bem fal[(i)en ©efenntnis ber mobernen
8^ein(f)ri|ten mit \id) bringt, ^at u. a. trefflid^ 9Jiai ?lorbau
gef(^ilbert in feinem intereffanten 2Ber!e: „Die fonocntionellen
ßügen ber 5lulturmen[(f)l)eit."
inmitten biefer offenfunbigen llntüa{)r{)aftigfeit bes l)errj'c^en=
htn (3(f)eind)rijtentum5 ift es für htn (^ort[<^ritt ber t»ernunft=
gemäßen lRaturer!enntnis [e^r toertcoll, ba^ beffen mä^tigfter
unb entfc^ieben^ter ©egner, ber ^apismus, um bie 9Jlitte bes
19. 3a^rt)unberts bie alte 93?a$!e angeblid)er !^öl)erer ©eijtesbilbung
abgeworfen unb ber [elbjtänbigen 9Bi[[en[(i)aft als [olcl)er htn
ent[(i)eibenben „i^ampf auf Zo'o unb Beben" angefünbigt l)at. (£s
ge[df)al) bies in brei bebeutungsüollen i^riegserüärungen gegen bie
33ernunft, für beren UnstDeibeutigfeit unb (£nt[d^tebenl)eit bie
mobeme 2Bi[[enJ(^aft unb i^ultur bem römifcf)en „Stattl)alter
(tf)rifti" nur banfbar [ein fann: I. ^m De3ember 1854 oerfünbete
ber ^apjt bas Dogma oon ber unbefledten (Empfängnis
SKariä. II. 3^^" 5cil)re [päter, im Desember 1864, [pra(^ ber
„l)eilig^ 33ater" in ber berüd)tigten (£n3r)!li!a bas ab[olute
93erbammungsurteil über bie ganse moberne 3iüiH[a =
tion unb (5ei[tesbilbung aus; in bem begleitenben St)llabu5
gab er eine ^uf3äl)lung unb 33erflud)ung aller einjelnen 23emunft=
[ä^e unb pl)ilo[op^i[d)en ^rinaipien, toel(f)e oon un[erer mobernen
2Bi[[en[d)aft als [onnentlare 2Bal)rl)eit anerfannt [inb. III. d^nt^
licl) [e^te [ed)s Za\)tt [päter, am 13. 3uli 1870, ber [treitbare
5^ir(i)enfür[t im 93atifan [einem ^tbertoi^ bie i^rone auf, inbem er
für [id) unb alle [eine SSorgänger in ber ^apjtroürbe bie Un*
fel)lbar!eit in 5ln[prud) na\)m.
Unfe^lbarfett bes ^apftes. Diefe brei tDi(f)tig[ten ^!te bes
^apismus im 19. 3al)^^unbert roaren [o offenfunbige (5öu[t[cl^läge
in bas ^ntli^ ber 93ernunft, bafe [ie [elbjt innerl)alb ber ortl)DbojEen
!atl)oli[d)en krei[e oon Einfang an bas l)öcl)[te Seben!en erregten.
^Is man im t)atifani[d)en 5^on3il am 13. 5uli 1870 3ur ^bftimmung
über bas Dogma oon ber Unf el)lbar!eit [diritt, erllärten [id) nur
2Bt[[en[d)aft uub (i:i)rtftetitum. 203
brei 33tertel ber 5^{r(i)enfürften sugunftcn bes[clben, näTrtltc^ 451
oon 601 ^bltimmenbcn; baju fet)lten no^ 3af)Irct^c anbete 58tf(^öfe,
K)elcf)e [id^ ber gefäf)rlt(i)en ^bfttmmung entl)oIten toollten. 5rt*
be[[en geigte ]xd) balb, bafe ber fluge unb men[<f)en!unbtge ^apjt
rid)ttger gerecf)Tiet ^atte als bte 3ag!)aften „befonnenen 5^att)oIt!en";
i)tnn in titn Ietd)tgläubtgen unb ungebtlbeten 9Jla[[en fanb aud)
biefes ungeI)euerUd)e t)ogma tro^ aller ®eben!en bitnbe ^nnal)me.
Die gange (5e[d)td)te bes ^apfttunts, tote fie »on 3U=
üerläffigen Ciuellen unb f)anbgreifli(^en ]^ijtorif(i)en Dofumenten
uniüiberleglirf) fejtgenagelt ijt, er[(i)eint für 'ben unbefangenen
Renner als ein getüiffenlofes (Seroebe oon fing unb 3^rug, als ein
rüd[id)tsIofes Streben natf) abfoluter geijtli(f)er §err[(f)aft unb toelt^
lid^er SJia^t, als eine frioole 33erleugnung aller ber t)ot)en fittli(i)en
Gebote, toeId)e bas wa^xt (£t)rijtentum prebigt: 9Jlen[df)enIiebe,
unb Dulbung, 2Bat)rt)eit unb 5leuf(i)t)eit, ^rmut unb (£ntfagung.
2Benn man bie lange 9?ei^e ber ^äpjte unb ber römi[^en Rircf)en=»
fürften, aus benen [ie getöäl)lt lourben, narf) bem SJlafeftabe ber
reinen rf)rijtli(^en 93ZoraI niujtert, ergibt fi(^ flar, bafe bie grofee
5Utef)r3a!)l berfelben [d)antIo[e ©auüer unb 5Setrüger toaren, oiele
Don if)nen nid)t5toürbige 33erbred)er. Die[e allbefannten l)i[to =
ri[rf)en Xai\aä)tn f)inbern aber nid)t, hai^ nod) I)eute SOlillionen
■von „gebilbeten" gläubigen 5latt)oIi!en an bie „llnfei)Ibar!eit" biefes
„f)eiligen 23ater5" glauben unb bur(^ Spenben von „^eters=
Pfennigen" [ein ^Regiment ftü^en; fie l)inbem nid^t, ha^ nod) ^eute
proteftanti[d^e dürften nac^ 5Rom fat)ren unb bem „t)eiligen 23ater"
(il)rem gefät)rli(f)jten Oreinbe!) it)re 33eret)rung begeugen.
en5t)!ltfa unb St)nobu$. Unter htn angefül)rten brei großen
(SeDoalttaten, burd) tDeId)e ber mobeme ^apismus in ber stoeiten
$älfte bes 19. 5a^rt)unberts [eine ab[oIute §err[(^aft gu retten unb
3U befejtigen [u(i)te, i[t für uns am intere[[ante[ten bie 33er!ünbigung
ber (£n3t)!Iifa unb bes SpIIabus im Desember 1864; benn in
bie[en benftoürbigen ^ftenjtücfen toirb ber S3emunft unb 2Bi[[en*
[d)aft übert)aupt jebe [elbjtänbige Xätigfeit abge[prod)en unb \i)xc
ab[oIute Untertoerfung unter ttm „allein[eligmad^ enben ©lauben",
b. !). unter bie Defrete bes „unfet)Ibaren ^apjtes", geforbert. Die
unget)eure (Erregung, wdä)t bie[e mafelofe (5red)t)eit in allen ge=
bilbeten unb unabl)ängig benfenben 5^rei[en i)ert)orrief, ent[pra(f)
bem unge!)euerlid)en 3nf)alte ber C£n3i)!Ii!a; eine üortreffIid)e (£r=
örterung i^rer fulturellen unb poIiti[cf)en Sebeutung \)at u. a.
Drap er in [einer (5e[d)i(^te ber Ronflüte 3roi[cf)en 9^eIigion unb
2Bi[[en[ct)aft gegeben (1875).
UnbefleÄte ©mpfänönis ber Sungfrau aUaria. SBenigcr ein-
[c^neibenb unb bebeutungsooll als bie (Engpflüa unb als bas Dogma
204 Steb5e{)ntes 5^apitel.
ber S^fonibilität bcs ^apjtes crf(f)eint otcllcidit bas Dogma von
bcr unbcfledten (Empfängnis. 3Tii>c[[en legt nirfit nur bte römi[d^e
$tcrar(i)ic auf biegen ©laubensfa^ bas !)öd)jtc (5ctt)id)t, [onbern aucf)
ein 3:cU ber ort^oboien ^rotcjtanten (3. S. bte (£oangeIt[dt)e
mutans). Der [ogenannte „3ntma!ulatetb", b. ^. bte eibIt(J)e
33er[td)erung bes (Glaubens an bic unbefledte (Empfängnis ^IRariä,
gilt norf) t)eute SOlillionen t)on (£;i)rijten als I)eilige ^flid)t. 93iele
©laubige oerbinben bamit einen boppelten Segriff; [ie bel)aupten,
ba]3 bte SJlutter ber Jungfrau SOlaria ebenso burd^ titn „^eiligen
(öeijt"befrud)tettDorben[eitDiebiefe[elbjt. 5ebo(^ foll urfprünglic^
bas Dogma ber unbefledten (Empfängnis nur bebeuten, bajg SFJaria
[elbft eine 3:oci)ter bes ^eiligen (Seijtes, unb bat)er frei von (£rb[ünbe
[ei. Die Derglei(i)enbe uttb friti[d)e Zi)toloQh \)at neuerbings
nad)geijoiefen, bafe aud) bie[er 9Ki)tt)us, glei^ hm meijten anberen
£egenben ber d^rijtlicf)en 9Kr)tt)oIogie, feinestoegs originell, [onbern
aus älteren orientati[d)en ^Religionen, befonbers bem Subbf)is =
mus, übernommen ijt. 3n)nlic^e Sagen f)atten [c^on mehrere
3al)r^unberte oor (E!)rijti (Seburt eine loeite 93erbreitung in S^bien,
^er[ien, 5^Ieina[ien unb ®ried)enlanb. SBenn ilönigstö^ter ober
anbere Jungfrauen aus {)öl)eren Stäuben, oI)ne legitim üert)eiratet
3U [ein, burcf) bte (Seburt eines ilinbes erfreut rourben, [0 tourbe
als ber 93ater biefes illegitimen Sprößlings meijtens ein „(Sott"
ober „Halbgott" ausgegeben, in bie[em Spalte ber mr)jteriö[e
„^eilige ©eijt".
Die (Er3äi)lung ber beiben (Epangeliften 9JJatt^äus unb fiufas,
bafe aud) 9Jlaria [elbft com t)eilig'en ©eijtc befrud)tet unb bemnac^
bie[er rät[en)afte ®ott ber iöaf)re 23ater Don (£l)riitus [ei, u)irb
gegentDärtig tjon ben meijten !tt)eoIogen als eine [päter entjtanbenc
Sage ange[el)en; [ie bel)aupten, t)a^ ber iübi[^c 3iTrt^^^^ttnn
3o[ep^ ber tDir!li(^e 23ater getüe[en [ei. 5lnbere toteber erflären
bie unel)eli^e ©eburt (Ef)rifti burii) folgenbe Eingabe eines apo=
fri)pl)en (Eoangeltums, auf u)eld)e [id) aud^ (Eel[us (178 n. (E^r.)
be3iel)t: „Jof^P^ws ^anbera, ber römi[cf)e Hauptmann einer
!alabre[i[d)en £egion, toeli^e in Jubäa [tanb, t)erfül)rte SJlirjam
von Setl)lel)em, ein f)ebräi[cl)e5 93Zäbd)en, unb rourbe ber 93ater
von 3c[us." Die[c £egenbe fanb be[onbers bei jenen 3^eologen
Seifall, toeld^e bie übematürlid^e (Erseugung (El)rijti (burd) 'öm
I)eiligen (Seift) leugneten, aber als [einen natürlichen Sater ni^t
einen 3uben (ben 3tmmermann 3o[epl)), [onbern einen (5ried)en
(htn Hauptmann ^anbera ober ^antl)eras) anerfannt 3U [e^en
iDün[(^ten. $i[tori[c^e 3cii9Tti[[e, Ut tDi[[en[d)aftli(l^c Sebeutung
beon[prud)en, fönnen toeber für bic SBa^r^eit ber einen nod) ber
anberen Sage gefunben toerbcn.
2Bi[[enf^aft unb C^riltcntum. 205
3ntcrc[font ijt übrigens bie ocr|(f)tebcne ^uffa[[ung unb Se«
urtetlung, tDcId)c biefcr angcbltd)e fitebesroman ber SJlirjam oon
fetten ber uter großen d)riftli(f)en 5luItumattonen Chiropas erfof)ren
l)at. ^ad) ben jtrengeren äRoralbegriffen ber germani[(^en
9taffen toirb berfelbe [d)Ied)ttDeg oerroorfen; lieber glaubt ber et)rli(^e
T)eut[(i)e unb ber prübe Srite blinb an bie unmögli(i)e Sage t)on
ber (Srseugung burcf) ben „^eiligen ©eijt". 2ßie befannt, cntfpric^t
biefe ftrenge, [orgfältig gur S^au getragene ^rüberie ber feineren
(5e[en[(i)aft (befonbers in (Snglanb !) feinestoegs bem mai)xtn 3u»
jtanbe ber [eiuellen Sittlid)!eit in beut bortigen „High life". Die
(Enthüllungen 3. $ß., roelcfie barüber üor einigen 5at)ren bie „^all
9JiaII ©ajette" brad)te, erinnerten fet)r an bie3uftänbe t)onSabt)Ion
unb an bas 9?om ber 5lai[er3eit.
Die romani[d)en 9?a[[en, tDeId)e bie[e ^rüberie Derlact)en
unb bie [eiuellen 33erl)ältni[[e leichtfertiger beurteilen, finben jenen
„91 Oman ber S[Raria" recf)t an5iet)enb, unb ber be[onbere Äultus,
beffen gerabe in 5ran!rei^ unb Italien „Hnfere liebe gtau" [id)
erfreut, ijt oft in nterfroürbiger 9lait)etät rnit jener fiiebe5gefd)ii)te
uerfnüpft. So finbet 3. ©. ^aul be 5RegIa (Dr. Desjarbin),
iDeIcf)er (1894) „3e[us t)on 9^a3aretl) üom toi[[en[d)aftIid)en, ge[^id)t=
U(i)en unb gefellfc^aftlicfien Stanbpunfte aus bargejtellt" t)at, gerabe
in ber une{)eIidE)en ©eburt (S;t)ri[ti ein befonberes „^nrect)t
auf ^tn $eiligenfd)ein, ber feine \)tnl\d)t ©ejtalt umftra^It" !
Der Streit über biefe brei oerfi^iebenen 9Hi)tt)en oon ber 93ater«
f(^aft C£t)rijti, ber nod) 3U (£nbe bes 19. 3öl)t^unberts bie 3:t)eoIogen
Iebt)aft erregte, l)at gegentoärtig an ^ntereffe fel)r oerloren. Denn
bie überrafd^enben gortfd)ritte ber Dergleid)enben ^leligionsge*
]d)id)h \)abtn bas ganse orientaIif(i)e ^ra(i)tgebäube ber ^rif tlid) en
50li)tf)ologiein feinen ©runbfeften erf (füttert. Das reine S^^ttl'
bilb oon 3cfw5 (If)riftus, beffen ert)abene 3üge ber ©laubige aus
beut 5Reuen Xeftament fid^ 3ufammenfe^t, f)at als tüirnicf)er 9Plenfd)
(ober „(Sottntenfct)") in biefer 93oII!omnten]^eit niemals auf unferem
Planeten eiijtiert. Der t)o^e etl)ifd^e 2Bert bes urfprünglic^en
reinen (£t)riftentums, ber oerebelnbe (Einfluß biefer „^Religion ber
£iebe" auf bie 5^ulturgef(i)id)te, ijt gang unabpngig üon jenen
mr)tl)oIogifc^en Dogmen. Die angeblid^en „Offenbarungen", auf
toeli^e fid) biefe 9tRi)tl)en ftü^en, finb bagegen (— ebenfo toie fämt=
Iid)e 2Bunbergefc^i(f)ten bes ^Iten unb bes bleuen ^^eftaments — )
(Srseugniffe ber bid)tenben ^f)antafie; fie bleiben unoereinbar mit
ben fid)erjten (Ergebniffen unferer mobernen 9laturerlenntnis.
206 ^c^t3el)ntes Äapitcl.
Httfere tnottiftifij^e Sleligtott^
^oniftifc^c 6tubicn über bie 9^eligion ber Q3crttunft unb
i(;re Äormonie mit bcr ^iffenfcfjaft 0ie brei ^ultu^--
ibeoic be^ ^a^rcn, ©uten unb 6cf)5nett.
33iele unb [c^r angelesene ^Jaturforfc^er unb WIo[opI)en ber
(Begenroart, n)eld)e un[ere monijtifc^en itberseugungen teilen,
I)alten bie 5?eIigion übert)aupt für eine abgetane Sad)e. (»ie
meinen, bafe bie flare (£in[id)t in bie 2BeItentn>idfelung, bie mix ben
gexoalügen (£r!enntni5fort[(t)ritten bes 19. 5al)rl)unbert5 t)erban!en,
nid^t blofe t)a5 ilaufalitätsbebürfnis unferer Sßernunf t »ollfontmen
befriebige, [onbern au^ bie l)öd)jten ©efüblsbebürfniffe unseres
(öemütes. I)ie[e 5rn[td)t ijt in geraiffent Sinne ri^üg, infofern
bei einer »ollfornmen flaren unb foIgerid)tigen ^uffa[[ung bes
äFlonismus tat[ädE)Iicf) bie beiben ^Begriffe oon 9?eI{gion unb 3Bi[|en=
f^aft 3U einem mit einanber üer[cbmel5en. 3nbef[en nur ujenige ent=
f^Ioffene Denfer ringen [icb gu biefer I)öd)ften unb reinften ^uf=
fa[[ung von Spinoja unb ©oeti)e empor; t)ielmet)r oerbarren
bie meijten ©ebilbeten unferer 3eit bei ber Hbergeugung, bafe bie
9leIigion ein [elbjtänbiges, oon ber 2Bif[en[(i)aft unabbängiges
(Sebiet unferes ©eijteslebens barjtelle, nici)t minber loertooll unb
unentbebriid) oIs bie le^tere.
2Benn rair biefen Stanbpunft einnehmen, fönnen toir eine Sßer«
[öbnung 5tt)i[(i)en jenen beiben großen, anfd)einenb getrennten (5e=
bieten in ber ^uffaffung finben, roeI(i)e idf 1892 in meinem ^Iten=
burger 33ortrage niebergelegt i)abe: „Der SDZonismus als ©anb
3tDi[cben 9?eIigion unb 2Bi[[en[d)aft" (14. ^ttufl. 1908). 3n bem
33oru)ort gu biefem „©laubensbefenntnis eines 9flaturfor[(^ers"
I)abe id) mid) über ht]\tn boppelten 3^^^ ntit folgenben SBorten
geäujgert: „(£rjtens möd)te icf) bamit berjenigen oernünftigen
2ßeltan[d)auung ^usbrud geben, roeIcf)e uns burd) bie neueren
Sortfcbritte ber einbeitlicben 9flaturer!enntnis mit logif^er 9Zot=
ujenbigfeit aufgebrungen toirb; [te toobnt im 3nnerften oon fajt
allen unbefangenen unb ben!enben ?iaturfor[(i)ern, toenn aud) nur
roenige ben 9Jiut ober bas Sebürfnis l)abtn, [ie offen 5U befennen.
3u)eitens möd)te id) baburd) ein Sanb 3tDi[d)en 3?eltgion unb
2Bi[[en[d)aft fnüpfen unb [omit jur ^usgleid)ung bes ©egen»
Unferc momjtt[d)e ^Religion. 207
fa^cs beitragen, tDeId)er 3tDi[d)en biefen beiben (Gebieten ber I)öd)jten
men[d){td)en ©eiitestäügfeit unnötigerroeife aufred)t err)alten toirb;
i>a5 et^i[d^e SBebürfnis unferes ©etnütes XDirb burrf) "ttn StRomsmus
ebenfo befrtebigt rote bas Iogi[d)e ilaufaUtätsbebürfms unferes
33er[tanbc5."
Die jtarfe 2Bir!ung, tDeI(i)e biefer ^Itenburger 93orttag I)atte,
betoeijt, bafe id) mit bie[em Tnonijti[(i)en ©laubensbefenntnis nid^t
nur bas oieler 5Uaturforfd)er, [onbern auä) 3at)Ireid)er gebilbeter
9J?änner unb grauen aus oerfc^iebenen ®erufs!rei[en au5ge[procf)en
I)atte. ^d) burfte biefen unerroarteten (Erfolg um [o l)öi)er ari=
[cf)Iagen, als jenes C5Iaubensbe!enntnis urfprünglid) eine freie (5c=
Iegen!)eitsrebe toar, bie unvorbereitet am 9. Ottober 1892 in ^Iten=
bürg tDäf)renb bes Jubiläums ber 9^aturfor[d)enben (5efeU[(i)aft
bes Ojterlanbes entjtanb. 9ZatürIi(^ erfolgte au^ balb bie not=
roenbige ®egenioirfung nad) ber anberen 8ette; ic^ lourbe ni(i)t
nur Don ber ultramontanen treffe bes ^apismus auf bas ^ef=
tigfte angegriffen, üon ben gefc^toorenen 93erteibigern bes ^ber=
glaubens, [onbern auc^ oon „liberalen" 5^riegsmännern bes eoange^
Iifd)en (£t)riftentums, tDeId)e foroot)! bie u)i[fen[c^aftlict)e 2BaI)r^eit
als auc^ ttn aufgegärten ©lauben 3U vertreten bel)aupten. 9Zun
I)at [ic^ aber ber grofee 5lampf 3toi[d)en ber mobernen 9laturr»if[en=
[d)aft unb bem ortl)oboien (£f)rijtentum [eitbem immer brol)enber
gestaltet; er ijt für bie erjtere um [o gefäl)rlicf)er getoorben, je
mäd)tigere Unterftü^ung bas le^tere burd) bie roa(f)[enbe geijtige
unb politi[d)e 9lea!tion gefunben l)at. I)iefe ift in mand^en £änbern
[d)on \o toeit t)orge[cf)ritten, tal^ bie gefe^lid) garantierte X)tnh unb
®eroi[[ensfreil)eit praftifcl) f^toer gefäl)rbet roirb. ^n ber 3:at l)at
ber grofee rocltge[d)id)tlicf)e ®eijtes!ampf, toelc^en 3ol)n Drap er
in jeiner „®efd)id)te ber Äonflüte jroifd^en 9leligion unb 2Bi[ien=
fc^aft" üortrefflid) [rf)ilbert, l)eute eine Sd)ärfe unb Sebeutung
erlangt roie nie suoor; man be5eid)net it)n besl)alb feit 1872 mit
5Red)t als „5^ultur!ampf".
2)cr Äulturf ampf. X)ieberül)mte(£n3t)!li!anebjt SpUabus,
iDelcl)e ber streitbare ^apjt ^ius IX. 1864 in alle 2Belt ge[anbt I)atte,
erflärte in ber §aupt[a^e ber gansen mobernen äBi[[enfrf)aft h^n
i^rieg; [ie forberte blinbe Hnterroerfung ber Jßemunft unter bie
Dogmen bes „unfet)lbaren (5tattl)alters 6:i)rilti". Das Hngel^euer-
licf)e unb Hnerl^örte bies brutalen Attentates gegen bie l)ödE)jten
(Süter ber 5^ulturmen[d)f)eit rüttelte [elbft Diele tröge unb inbolente
(öemütcr aus it)rem geu)ol)nten ©laubensfd^lafe. 3^ 33ereine
mit ber nacf)folgenben 23ertünbung ber päpjtlid)en Unfe^lbarfeit
(1870) rief bie (£n3i)!li!a eine toeitgelienbe (Erregung ^eroor unb
eine energi[d)e AbtDel)r, ii)eld)e 3U ben bejten Hoffnungen bered^tigte.
208 5l(^t3Cf)nte5 kapxitl
5n bcm neuen Deut[d)en 9?eid)e, bas In ben 5^ämpfen pon 1866
unb 1871 unter fd)tDeren Opfern [eine nattonale (£ini)ett errungen
()atte, rourben bte frecf)en Attentate bes ^apismus befonbers [d)U)er
empfunben; benn einerfeits ift Deutfd)Ianb bie ©eburtsjtätte ber
^Deformation unb ber ntobernen ©eijtesbefreiung; anbererfeits ober
befi^t es leiber in [einen 20 äRillionen Kat^olüen ein ntäd)tige5
$eer oon jtreitbaren ©laubigen, tDeId)e5 an blinbent ©el)or[am
gegen bie ^efel)Ie [eines £)bert)irten von feinem anberen Kultur«
üolfe übertroffen roirb. (£l)ri[tU5 [agt 3U ^etrus: „SBeibe meine
Sd)ofe!" Die 9la^!ommen auf bem Stuhle ^etri l)aben bas
„SBeiben" in „8rf)eeren" über[e^t. Die f)ieraus ent[pringenben
(5efat)ren er!annte mit üarem ^M ber gewaltige Staatsmann, ber
bas •„poIiti[d^e 2BeIträt[eI" ber beut[^cn 9lational3erri[[enl)eit ge=
löft unb uns burd) [eine betounbenrngsroürbige Staats!un[t 3U bem
er[el)nten 3iele nationaler (Sinbeit unb 9Jlad)t gefül)rt l)atte. gürft
Sismard begann 1872 jenen benftoürbigen, oom 93ati!an auf=
gebrungenen Äulturfampf, ber oon bem ausge3eid)neten
.Hultusminijter O^al! bur^ bie „S[Raige[e^gebung" (1873) eben[o
flug als energi[d^ gefül)rt rourbe. £eiber mufete er [(f)on [e(^s 3al)re
[päter aufgegeben roerben. £)btüol)I un[er gröfeter Staatsmann
ein 0U5ge3eidE)neter 9Jten[(i)en!enner unb fluger 9?eaIpoIiti!er toar,
I)atte er bod) bie SO'Ja(i)t üon brei getoaltigen $inberni[[en unter*
[(i)ä^t: crjtens bie unübertroffene S(i)Iaul)eit unb gett)i[[enIo[e
^erfibie ber römi[d)en Äurie, stoeitens bie ent[pred)cnbe (5ebanfen=
Io[ig!eit unb £eid^tgläubig!eit ber ungebilbeten !ati^oIi[d^en 9Jia[[en,
auf tDel(i)e [i^ bie erjtere jtü^te, unb brittens bie 5öta^t ber 3:rägt)eit,
bes 5ortbe[tet)ens bes Hnoernünftigen, blofe toeil es ba i[t. So
mufete benn [d)on 1878, na(i)bem ber flügere ^apjt fieo XIII. [eine
9legierung angetreten l)atte, ber [d)tDere „(Sang nad) (£ano[[a"
tt)iebert)oIt toerben. Die neu gejtärfte 9Jiad)t bes 95ati!ans nai)m
[eitbem toieber mäd^tig 3U, einer[eits burcf) bie geroi[[enlo[en 9Dän!e
unb S(i)IangentDinbungen [einer aalglatten 5e[uitenpoIiti!, anberer=
[eits burd) bie fal[c^e i^ird)enpoIitif ber beut[d)en 9lei(^sregierung
unb bie merftoürbigc poIiti[d^e Hnfäf)ig!eit bes beut[d)en 93oI!es.
So mußten xoir benn am Sd)lu[[e bes 19. 3cil)rt)unberts bas be=
[d)ämenbe S^au[piel erleben, bafe bas [ogenannte „3entrum im
Deut[ci^en 5Reid)stage strumpf" toar, unb ha)^ bie ©ej^ide un[eres
gebemütigten 23aterlanbes oon einer papi[ti[d)en gartet geleitet
tDurben, beren 5^bpf3a^l no(^ nid)t ben britten 3:eil ber gansen ®e*
üölferung beträgt.
^Is ber beut[^e 5^ultur!ampf 1872 begann, tourbe er mit
pollcm^iec^tc üon allen frei bcnfenben 9J?önnem als eine poIiti[d)e
(Erneuerung ber ^Deformation begrüßt, als ein eneröi[d)er a)er[ud),
Unfcrc moniftifc^c «Religion. 209
bic möbcrne 5\ultur von bcm ^o^t bcr papijtifc^cn ®ctjtc5tt)rannei
3u befreien; bie gefamte liberale ^ref[e feierte gürjt IBismard als
„politi[ci)en fiutl)er", als ben geroaltigen gelben, ber ni(i)t nur bie
nationale (Einigung, [onbern aurf) bie geiftige ^Befreiung X)eut[d)=
lanbs erringe. 3^^^ S^^^^^ [päter, nacf)bem ber ^apismus gefiegt
l)atte, bef)auptete biefelbe „liberale ^re[[e" t>a5 (Segenteil unb er=
Härte titn 5lultur!ampf für einen großen ^t\)Ux; unb basfelbe tut
[ie nod) l)eute. X)ie[e Zai\ad)t betoeijt nur, toie furj bas ©ebäd)tni5
unserer 3ßitung5[(^reiber, tüie niangelt)aft i!)re i^enntnis ber (5e=
[c^ict)te unb ujie unt)oll!ontmen il)re pl)ilo[opf)i[(^e $Bilbung ift.
X>er [ogenannte „(^rieben5[cf)lufe 3tüi[c^en Staat unb 5lird)e" i|t
immer nur ein 2Baffenftillftanb- X)er moberne ^apismus, getreu
ittn ab[oluti|ti[cf)en, [eit 1600 3öl)ren befolgten ^rinsipien, toill
unb mufe bie ^neinl)err[d)aft über bie leicf)tgläubigen Seelen
bel^aupten; er mufe bie ab[olute Unterwerfung bes i^ulturjtaates
forbern, ber als [old)er bie 9led^te ber 33ernunft unb 3Binenf(f)aft
vertritt. 2Bir!lid)er (5fnebe !ann erft eintreten, toenn einer ber
beiben ringenben Kämpfer beroältigt am Soben liegt. (Enttoeber
[iegt bie „allemfeligmai^enbe ilird^e", unb bann l)ört „freie 2Bi[[en*
[c^aft unb freie £el)re" überl)aupt auf; bann toerben fiel) un[ere
UniDer[itäten in Ronvittt, unfere ©pmnafien in 5^lofter[cl)ulen »er*
toanbeln. Ober es [iegt ber moberne 33emunftftaat, unb bann
toirb fid) im 20. 3al)rt)vinbert bie men[(^lid)e Silbung, 5reil)eit unb
3Bol)ljtanb in nocl) roeit l)öl)erem SJlafee fort[d)reitenb enttoideln,
als es im 19. erfreulicl)ertDei[e ber gall getoefen ijt. (S3ergl. l)ierüber
(£buarb ^artmann, Die Selbftjerfe^ung bes (£l)rijtentums, 1874.)
®erabc jur göi^^^ung biefer l)ol)en 3icl^ er[d)eint es l)ö^jt
roid)tig, tia^ bie moberne 9latura)i[[en[(i)aft ni(i)t blofe bie 3Bal)n=
gcbilbe bes 5lberglaubens sertrümmert unb beren toüften Schutt
aus bem SBege räumt, [onbern bafe [ie audf) auf bem frei geu)orbenen
Saupla^e ein neues tDol)nli(t)e5 ©ebäube für bas men[c^lic^e
(Semüt I)erri(f)tet; einen ^ala[t ber SSernunft, in roel^em loir
mittels un[erer neu gewonnenen moni[ti[cf)en 2Beltan[d)auung bie
tr)at)re „I)reieinig!eit" bes 19. ^o^^^w^^J^erts anbäd)tig »ereljren,
bie 3:rinität bes 2ßaf)ren, (guten unb Sd)önen. Um t)tn
Rulins bie[er göttlid)en 3^eale greifbar gu gejtalten, er[(^eint es
Dor allem nottoenbig, uns mit "ütn t)err[(^enben ^teligionsformen
bes (ri)ri[tentums auseinanber3u[e^en unb bie 33eränberungen
ins ^uge 3U fa[[en, £oeld)e bei beren (£r[e^ung burd) erjtere gu er*
[treben [inb. Denn bie rf)ri[tli(f)e 9?eligion be[i^t (in il)rer ur*
[prünglid)en, reinen gorml) tro^ aller 3i^i^tümer unb StRängel
einen [o l)ol)en [ittli(t)en 2Bert, [te ift cor allem [eit anbertl)alb ^Qi)X'
tou[enben [o eng mit ben ojid)tig[ten [o3ialen unb politi[d)en (£in=
. Äacrtet, qOßelträtfet. 14
210 md)t3cf)ntcs Äapitcl.
rid)tungen unfcrcs Kulturlebens vtxwa(i)\tn, ita'ii coir uns bei SBe«
grünbung unferer monijttfcf)cn 9?eligion möglt^jt an bie bejtefycnbcn
^njittutionen anlel)nen muffen. 2Btr toollen feine getoaltforne
^Reoolution, Jonbern eine »ernünftige ^Reformation unferes
religiöfen ©eijteslebens.
I. 2)a5 3beol bet Söa^r^ett. 2Bir f)aben uns burd) bie t)orl)er=
gef)enben ^etrad)tungen (bejonbers im erjten unb britten ^b*
|d)nitt) überaeugt, bafe bie reine 2Bal)rl)eit nur in bem Stempel ber
9^aturer!enntnis 3U finben ift, unb ha^ bie einsigen brau(i)baren
Sßege gu bemjelben bie !ritifd)e „^eobad)tung unb ^Refleiion" [inb,
bie empiri[d)e (£rfor[d)ung ber 3:at|ad)en unb bie oernunftgemäfee
(£r!enntnis il)rer betoirfenben Hr[a(f)en. So gelangen loir mittels
ber reinen 93ernunft 3ur xoa^ren 2Bi[fen|^aft, bem !ojtbarften
S(i)a^e ber 5^ulturmen[(f)l)eit. Dagegen mü[[en toir aus ben ge=
rüirfjtigen, im 16. i^apitel erörterten Urfarf)en jebe [ogenanntc
„Offenbarung" ablel)nen, jebe (5laubensbid)tung, roeli^e be*
f)auptet, auf übernatürlid)em 3Bege 2Bal)rl)eiten ju er!ennen, ju
beren (Sntbedung unjere 23ernunft ni(i)t ausreicht. Da nun bas
ganse (Slaubensgebäube ber iübijd)*d)riftli(i)en 9?eligion, ebenfo
toie bas i5lamitijd)e unb mul)amebani|d)e, auf [old)en angeblidfen
Offenbarungen berul)t, "ba ferner bieje mi)jti[d)en ^l)antafieprobu!te
bire!t ber Haren empirifd^en 9^aturer!enntnis.iDiber[pred)en, [0 ijt
es fid)er, bafe toir bie 2ßal)rl)eit nur mittels ber 93ernunfttätig!eit
ber ed)ten 2Bi[fen|d)aft finben tonnen, nidE)t mittels ber ^l)an*
ta[iebid)tung bes mt)fti[d)en (Blaubens.
Die ©öttin ber aBal)rI)eit tDol)nt im Tempel ber S^latur, im
grünen 3Balbe, auf bem blauen äReere, auf ben [d)neebebecften
(5ebirgsl)öl)en; — aber nid)t in ben bumpfen fallen ber SHöjter,
in ben engen inertem ber 5^onoi!tfdE)ulen unb nid)t in t>^n toeil)raud)=
buftenben ^rijtli^en 5^ird)en. Die SBege, auf benen loir uns
biefer l)errli(^en ©öttin ber 9[Bal)rl)eit unb (£r!enntnis näf)em, finb
bie liebeoolle (£rforfd)ung ber ?iatur unb it)rer (5e[e^e, bie ^e=
pbacl)tung ber unenbli(^ großen Sternenroelt mittels bes üeleffops,
ber unenblicf) tleinen 3cHentr)elt mittels bes 9}?i!roffops; — aber
nic^t [innlofe 5lnbad)t5übungen unb geban!enlo[e ©ebete, nid)t bie
Dpf ergaben bes ^blaffes unb ber ^eterspfennige. Die tojtbaren
(5abm, mit benen uns bie ©öttin ber 9Bal)rl)eit befd^entt, [inb bie
l)errlid)en 5i^üd)te oom 5Baume ber (Erfenntnis unb-ber un[d)ä^bare
(öetüinn einer tlaren, .einl)eitlid)en 2Beltan[c^auung, — aber nic^t
ber ©laube an übernatürli(i)e „SBunber" unb bas 2Bal)ngeb{lbe
eines „etoigen fiebens".
II, !Do$ ^t>tal ber Xugenb. ^nbers als mit bem croig 3Bal)ren
oerplt es [xd) mit bem ©ottesibcal bes etoig (Buten. 2Bäl)renb bei
Hnfcrc monijtifdje 3?eItgion. 211
ber (£r!enntnis ber 2Bat)rl)ett bie Offenbarung ber Äird)e üöllig
au63u[(i)liefecn unb allein bie C£rfor[d)ung ber 9Zatur ^u befragen
ift, fällt bagegen ber Inbegriff bes ©uten, ben toir 3:ugenb nennen,
in unferer monijti[d)en ^Religion größtenteils mit ber dE)rijtlid)en
Xugenb ^ufammen; natürlid) gilt bas nur von bem ur[prünglid)en,
reinen (!Ll)rijtentum ber brei erjten ^ß^i^^unberte, toie beffen Jtugenb»
lel)ren in ben (Eoangelien unb in ben paulinifd^en ©riefen nieber=
gelegt [inb; — es gilt aber nicf)t von ber j)ati!ani[d)en 5lari!atur
jener reinen fief)re, toeld)e bie europäi[d)e 5lultur 3U il)rem unenb*
lid)en (Bä)a'i>tn burc^ 3tDölf 5al)r^unberte bel)errfcl)t \)at Den
bejten Xeil ber ^rijtlid^en SJloral, an bem roir feftl)alten, bilben bie
^umanitätsgebote ber Jßiebe unb Dulbung, bes SKitleibs unb ber
$ilfe. SRur jinb biefe eblen ^flicl)tgebote, bie man als „d)riftlid)e
SJioral" (im bejten Sinne!) sufammenfafet, feine neuen (Erfinbungen
bes (£l)riftentums, fonbern [ie [inb von bie[em aus älteren 9ieligions=
formen l)erübergenommen. ^n ber 3:at ijt ja bie „®olbene
Siegel", roeld)e biefe ©ebote in einem Sa^e 3u[ammenfaßt, 3öl)t=
l)unberte älter als bas (£l)rijtentum. ^n ber ^raiis bes £ebens
aber lüurbe biefes natürlid^e Sittengefe^ ebenfo oft üon 5ltl)eijten
unb 9flid)td^riften jorgfam befolgt als oon frommen, gläubigen
(£l)rijten außer ad^t gela[|en. 'äud) beging bie d)ri|tlid^e 3^ugenb=
lel)re einen großen i^ttjiht, inbem [ic einfeitig ben Altruismus
3um ©ebote erl)ob, ben (Egoismus bagegen oertoarf. Unfere
monifti[cf)c (£tl)if legtbeiben gleid)en SBert bei unb finbet bie
üollfommene 3^ugenb in bem ricl)tigen ©leid^geroidit oon SRäd^jten»
liebe unb (Eigenliebe. (33ergl.5^apitel 19. Das ett)ifcl)e ©runbgefe^.)
III. ^as 3i>col ber Si^önl^eit. 3" t)ielfad)en ©egen[a^ 3um
(£;i)rijtentum tritt unfer 9[Ronismu5 auf bem ©ebiete ber (Bä)öni)tit
Das urfprünglii^e, reine (£l)rijtentum prebigte bie 2Bertlofig!eit
bes irbiid)en Gebens unb betrad^tete basfelbe bloß als eine 33or=
bereitung für bas etoige 2tbtn im „3en[eits". Daraus folgt un=
mittelbar, ta)^ alles, toas bas men[(f)li(f)e Q^htn im „Diesfeits"
barbietet, alles SdE)öne in 5lunjt unb 3Bi[[en[d)aft, im öffentli(f)en
unb prioaten 2thtn, feinen SBert befi^t. Der töal)re (£l)rijt muß
[ic^ Don \\)m abtoenben unb nur baran benfen, fiel) für bas S^^fetts
toürbig Dor3ubereiten. Die S3eracl)tung ber STfatur, bie Abtoenbung
Don allen i^ren uner[d^öpflirf)en 9{ei3en, bie 93ertöerfung jcber Art
Don fcf)öner Runft [inb ecE)te (£l)ri[tenpflicl)ten; bie[e toürben am
Dolltommenjten erfüllt, roenn ber 9Jlen[df) [id) oon [einen 9Jiit=
men[(^en abfonberte, [id) fafteite unb in 5^lö[tern ober (£in[iebeleien
au5[d)ließlid) mit ber „Anbetung ©ottes" be[d)äftigte.
9lun leiert uns freilid) bie 9laturge[(f)i(i)te, t>a^ bie[e a[!eti[d)e
(£l)ri[tenmoral, bie oller S^latur $ol)n [prad), als natürliche golge
14*
212 5t(f)t3el)ntcs Äapitcl.
bo5 ©cgcntcil betöirftc. J)te Älöjter, btc 5l[r)le bcr 5lcu[(^l)ett unb
3u^t, tDurDcn balb bic Srutjtattcn bcr tolljtcn Orgien. Der i^ultus
bcr „Sd)önl)eit", bcr l)tcr getrieben rourbc, jtanb mit bcr geprebigten
„3BeItcnt[agung" in [d)neibenbcm SBibcrjprud). Dasfclbc gilt von
bcm fiuxus unb ber ^ra(i)t, wt\ä)t \xd) balb in bcm [ittenlofcn
^rioatlcbcn bes l)öl)eren !atI)oIi[(i)en Klerus unb in ber !ünjtlcri[d)cn
^us[(f)ntü(fung ber d)rijtli(^cn 5lird)en unb 5^Iöjtcr cntiüicfclten.
G:^rtftlt(^e Äunft. Solan toirb I)icr cintDcnbcn, bafe unfere
5ln[id^t burc^ bie Scf)önl)eit5fünc ber d)rijtlid^en ilunft toiberlcgt
roerbc, rocId)e befonbers in ber ©lüteseit bes 9}littclalter5 [o un«
üerganglid)c 3Bcrfe [c^uf. Die pra(J)tt)onen goti[ci)cn X)ome unb
bt)3antini[df)en ©afilüen, bie ^unberte üon präd)tigcn Kapellen, bie
3;aufcnbe üon SJlarmorftatucn (f)riftlidE)er ^eiliger unb 95lärtr)rer,
bic SJiiUionen von [(f)önen ^ciligcnbilbcrn, von ticfcmpfunbcnen
Darstellungen t)on (£l^rijtus unb bcr 931abonna — [ie sengen alle
von einer (£ntu)ic!elung ber fc^önen Künjte im 95?ittelalter, bie in
\\)xtx ^rt cinjig i|t. ^llc bicfc f)crrlid)cn Dcnfmälcr bcr bilbcnbcn
Kunjt, ebcn[o toie bic bcr Dic^tfunjt, behalten i^ren l)ol)cn äjtl)cti=
|d)cn SBcrt, glci^oicl, toie roir bic barin entl)altcne 9Hi[c^ung von
„9Bal)rI)cit unb Did)tung" beurteilen, ^ber toas l)at bas alles mit
ber reinen (£l)riStenlel)re gu tun, mit jener 9lcligion bcr (Sntfagung,
roel^c von allem irbi[(i)en ^run! unb ©lanj, von aller materiellen
Scf)önl)eit unb Kunjt fiel) abroenbetc, tDcld)c bas ^Familienleben
unb bic ^rraucnlicbc gering fd)ä^tc, tDcl(^c allein bic Sorge um bic
immateriellen (5ütcr bes „etoigen fiebens" prebigte? Der begriff
ber „(f)rijtli^en Run]i" x\i eigentlid) ein 3Biber[pru(f) in [icf). Die
reiben 5lir(i)cnfürjten frcili(i), votld)t bicfclbcn pflegten, »erfolgten
bamit ganj anbere 3^0^^^, unb fie erreichten fie aud^ oollftänbig.
3nbcm fie bas ganse Sntereffe unb Streben bes menf(f)li(^cn ©elftes
im SOlittclalter auf bie d)riftli^e R\x(i)t unb bereu cigcntümlicl)e
Kunft Icnftcn, toenbetcn fie basfclbc oon bcr 9latur ab un'ö oon
ber (grfenntnis bcr l)icr ocrborgencn Sd)ä^e, bic 3U felbftänbiger
2Biffcnfd)aft gefüf)rt ptten. ^ufecrbem aber erinnerte ber täg=
licE)C Public! ber überall maffenl)aft ausgeftelltcn §ciligcnbilbcr,
ber Darftellungcn aus ber „l^eiligen (5cf^i(f)tc", ttn gläubigen
(£l)riften icberseit an ben rcirf)cn Sagenfd)a|, bcn bie ^l)antafie
ber Kird)c angefammclt l)attc. Die £cgcnben bcrfelben tourben
für u)at)rc (£r3äi)lungcn, bie 2Bunbcrgcfd)id^ten für toirflid^c (£r=
eigniffe ausgegeben unb geglaubt. Xtnstocifcr^aft l)at in biefer
93e3ie^ung bic d)riftlic^c Kunft einen ungcl)curen (£influfe ouf bie
allgemeine ©Übung unb gan3 befonbers ouf bic geftigung bes
©laubens geübt, einen (Sinflufe, bcr fi^ in ber gansen Äulturroelt
bis auf bcn l)eutigcn Xüq geltcnb maä)t
Hnfcrc momjti[d)e 9tcltgion. 213
aRontftif^e Äunft. Den [^ärfftcn ©cgenfa^ 3U biefcr I)crr«
[(f)enbcn d)rijtltd)cn 5lunft btlbct btejcnigc neue i^otm ber btibenben
5^unjt, bte [ic^ erjt im 19. ^a^i^^unbert im 3uföii^TncnI)ang mit
ber 9iaturtDi[[en[c^aft enttoicfelt \)at X)ie überrafc^enbe ©r»
roeiterung unferer 2BeIt!enntnis, bie (Sntbeching von un3äl)Iigen
[(^önen fiebensformen, bie mix ber le^teren oerbonfen, l)at in
unferer 3eit einen gonj anberen äjtf)eti[(^en Sinn getüccft unb bamit
auä) ber bilbenben 5lunjt eine neue 9ii(i)tung gegeben. 3öI)Ireic^e
rDi|[en[d)aftIi(f)e ^Reifen unb grofee (Expebitionen jur (£rfor[cf)ung
unbe!annter £änber unb Speere förberten [c^on im 18., nocf) oiel
met)r aber im 19. 3cil)rl)unbert eine ungeal)nte ^ülle von unbe!ann=
ten organi[(^en ^formen 3utage. Die 3^1)1 ^^^ neuen 3:ier= unb
^flonjenarten toud)5 balb ins UnermefeUd)e, unb unter biefen
(befonbers unter t)tn früt)er oemadE)läffigten nieberen ©ruppen)
fanben [ic^ 3:au[enbe frf)öner unb intereffanter ©eftalten, gans neue
StRotioe für 9JJaterei unb Silbt)auerei, für 5lrd)ite!tur unb i^unft=
getoerbe. (£ine neue 2BeIt erfdE)Iofe in biefer Se3iet)ung befonbers
bie au5gebel)ntere milroftopifc^e (Jorf^ung in ber atoeiten
Öälfte bes 19. 5at)rl)unbert5 unb nomentlicf) bie (Sntbedhmg ber
faben)aften 3:ieffeebetDot)ner, bie crjt burdE) bie berül)mte drallem
ger^CBipebition (1872—1876) ans ßi(f)t gejogen tourben. 3:au[enbe
von 3ierlid)en 9?abioIarien unb 2^aIamop^oren, von präd^tigen
9Jlebu[en unb ilorallen, von abenteuerli(f)en äKollusten unb 5^rebfen
eröffneten uns t)a mit einem 95lale eine ungeahnte tjülle von oer-
borgenen örormen, beren eigenartige (5ct)ön^eit unb SJlannig»
faltigteit alle von ber menfd)Iici)en ^f)antafie ge[d)affenen Äunft=
probufte toeitaus übertrifft, allein [(f)on in ben fünf3ig großen
Sänben bes (£I)anengertüerfes ijt auf 3000 3:afeln eine 9J?a[fe
foIcf)er [cf)öner ©ejtalten abgebilbet; ober aud) in üielen anberen
großen ^radE)trDer!en, toeI(t)c bie mäcf)tig roa^fenbe 30oIogifct)e
unb botani[ct)e Biteratur ber legten Desennien entt)ält, finb SJlilli^
onen reisenber (formen bargejtellt. 5dE) \)abt üer[u(f)t, in meinen
„5^unjtformen ber S^latur" eine ^ustoal)! Don [oI(f)en [(^önen unb
reisüoUen ©ejtalten roeiteren Greifen 3ugänglid) 3u ma^en.
(100 3:afeln in 10 §eften. fieip3ig 1899—1903.)
3nbe[[en bebarf es nid)t toeiter 9?eifen unb fojtfpieliger 9Ber!e,
um jebem 9Ken[(^en bie §errlid^!eiten biefer 2BeIt 3U er[ct)liefeen.
93ielme{)r muffen Mür nur fetne ^ugen geöffnet unb fein Sinn
geübt roerben. überall bietet bie umgebenbe 9latur eine über*
reid)e (JüIIe von f(i)önen unb intereffanten Objetten aller 3lrt.
5n jebem 9Jloofe unb ®rasl)alme, in jebem Ääfer unb S^metterling
finbcn tuir bei genauer Unterfuc^ung S(^önf)eiten, an benen ber
'SJttn\ä) getDöl)nU(^ achtlos oorüberge^i iBoUenbs toenn toit bie>
214 5rd)t3ef)ntc5 Äapitel.
[elben mit einer fiupe bei fd)tDad)er 33ergröfeerung betro(^ten, ober
no^ mel)r, toenn mit bie jtärfere 93ergröfeerung eines guten 9Jli!ro=
[fopes antoenben, entbecfen toir überall in ber organi[ct)en Sflatur
eine neue 2BeIt doII uner[d)öpflid^er Gleise.
^ber nic^t nur für bie[e djtl)eti[^e Setrarf)tung bes 5lleinen
unb i^Ieinften, fonbern auä) für biejenige bes ©ro^en unb ©rösten
in ber ?latur l)at uns erjt bas 19. 3al)rl)unbert bie ^ugen geöffnet.
'Jlod) im beginne besfelben toar bie 5(n[i(f)t I)err[d)enb, bafe bie
§od)gebirgsnatur ^wax großartig, ober ab[ct)rerfenb, bas 9JJeer
3tDar geroaltig, ober furcf)tbor [ei. ^t^i, am (Snbe besfclben, finb
bie meijten ®ebilbeten — unb befonbers bie ®etDoI)ner ber ©rofe*
jtöbte — glücflic^, tuenn [ie ia!)rli(i) ouf ein paar 2Bodf)en bie §err=
lid^feit ber ^Ipen unb bie ÄrijtoIlprorf)t ber (Sletf^er genießen
!önnen; ober roenn [ie [ic^ on ber StRajeftöt bes blauen SCReeres,
on htn reisenben £onb[(^oftsbilbern [einer ilüjten erfreuen fönnen.
^lle bie[e Quellen bes ebelften $Roturgenu[[es ^int) uns erjt neuer=
bings in il)rer gonsen $errlid)f eit offenbor unb oerjtönblicf) getoorben,
unb bie erjtounlicf) gejteigerte £eici^tig!eit unb Sdf)nellig!eit bes 33ers
fet)rs l)ot [elbjt "ötn Unbemittelteren bie (Gelegenheit ju it)rer Rennt*
nis Der[(f)afft. ^lle biefe (5roi^t[(J)ritte im äjtt)eti[d)en 5Raturgenu[[c
— unb bomit gugkid) im t»i[[en[(i)aftli(^en ^loturüerjtänbnis — be«
beuten ebenfo oiele grort[d^ritte in ber l)ö{)eren men[c^lic^en (Seijtes«
bilbung un'b bomit jugleid^ in unferer moniftifrfien 9?eligion.
fianbf(^aft$maletei unb SnuftrattotistDerfe. Der (5egen[a^,
in tDeld)em unfer noturali[ti[d)e5 5al)rl)unbert gu ben t)orl)er*
gel)enben antl)ropi[ti[d)en [tel)t, prägt [icl) be[onber5 in ber oer»
[cl)iebenen 2Bert[(i)ä^ung unb ^Verbreitung oon 3nu[trotionen ber
monnigfoltigften Sfloturobjefte ous. (Ss l)ot \x6) in un[erer 3ßit
ein lebljoftes 3Titere[[e für il)re bilblid^en Dorjtellungen enttoicfelt,
bos frül)eren 3ßiten unbefonnt toor; es toirb unterjtü^t burct) bie
er[tounlicf)en gortfc^ritte ber Ztä)nif unb bes 23er!ef)rs, toeld^e eine
ollgemeine ^Verbreitung ber[elben in toeite[ten Ärei[en ge[tatten.
3o^lreic^c illujtriertc 3^tt[^^ift^Ti oerbreiten mit ber allgemeinen
Silbung 3uglei(^ t>m Sinn für bie unenblic^e Sdf)önl)eit ber 9^atur
in ollen ©ebieten. ^Befonbers i[t es bie £anb[(i)aftsmalerei,
bie l)ier eine frül)er nid)t geal)nte Sebeutung getoonnen l)ot. S(i)on
in ber erjten §älfte bes 19. 3öl)rl)unberts I)otte einer unferer
größten unb Diel[eitigjten SRaturfor[d)er, ^leionber Don§um =
bolbt, borouf l)ingeii)ie[en, toie bie (Snttoicfelung ber mobemen
£onb[d^aftsmalerei nid)t nur als „Anregungsmittel 3um SRatur=
jtubium" unb als geograpl)i[d)es ?ln[(^ouungsmittel oon l)o\)tt
Sebeutung [ei, [onbem tuic [ie ouc^ in onberer ^e3icl)ung als ein
cbles Silbungsmittel ^o(^3u[c^ä^en fei. Seitbcm ijt ber Sinn
Unjcre monifüj(^c 9?cItgton. 215
bafür nocf) bcbeutcnb toctter cnüDtdcU. (Ss jollte Aufgabe jeber
S(i)ule [ein, bic 5^mber frü{)3eittg ^um (5cnu[fe ber ßanb|d)aft
ansuletten unb 3U ber \)öd)\i banfbaren Run\i, jte tmä) 3et<i)neTi
unb ^quarellmalen tt)retn ®ebäd)tm« em3uprägen.*
aRoberner 9latutgenu&. t)er uncnbltd)e 9letd)tum ber 9Zatur
an Sd^önem unb (£rt)abenem btetel jebem 9J?en|(^en, ber offene
^ugen unb äjtf)eti[ci^en Sinn befi^t, eine unerf(i)öpflid)e gülle ber
I)errlid^jten ©aben. So xoertooll unb beglüdenb aber aucf) ber
unmittelbare ©enufe jeber einseinen ©abe ijt, [0 tüirb beren SBert
bocf) no<^ l)od) gesteigert burcf) bie CErfenntnis il)rer ^Bebeutung unb
it)re5 3u[amment)ange5 mit ber übrigen Statur. ^Is ^leianber
öon ^umbolbt (1845) in feinem großartigen „i^osmos"
htn „(gnttourf einer p^i)[i[(i)en SBeltbejd^reibung" gab, als er in
[einen muftergültigen „^nfid^ten ber 9^atur" tDi[[enfd)aftIidf)e
unb äjtl)etifcf)e i8etra(i)tung in glüdlid^jter 2Beifc oerbanb, t>a
I)at er mit 9te<^t f)erDorge!)oben, roie eng ber oerebelte SRaturgenufe
mit ber „toiffenfc^aftltd^en (£rgrünbung ber Sßeltgefe^e", oerfnüpft
iff, unb loie beibe oereinigt boju bienen, bas 9Jienfd)entDe[en auf
eine \)ö^txt Stufe ber 33olIenbung 3U erf)eben. X)ie ftaunenbe
5BexDunberung, mit ber toir ben geftimten §immel unb bas müro»
[!opi[(f)e Qtbtn in einem 2Ba[[ertropfen betrad)ten, bie (£I)rfurd)t,
mit ber toir bas u)unberbare SBirfen ber (Energie in ber betoegten
SRaterie unterfud^en, bie 5tnba(i)t, mit toeli^er toir bie (Geltung bes
allumfaffenben Subftansgefe^es im Unioerfum t)eret)ren, — jie
alle [inb ^Bejtanbteile unferes ©emütslebens, bie unter ben
^Begriff ber „natürlict)en ^leligion" fallen.
2)te$fett5 nnt> Senfetts. Die angebeuteten i5ort[(t)ritte ber
91eu3eit in ber (Erfenntnis bes 2Bal)ren unb im ©enuffe bes Sdjöntn
bilben cben[o einer[eits einen toertoollen 5nl)alt unferei moniftifd^en
9?eligion, als |ie anbererfeits in feinbli^em ®egen[a^e 3um
(£t)riftentum fte^en. Denn ber men[(t)licl)e ©eijt lebt bort in bem
befannten „Diesfeits", l)ier in einem unbe!annten „^tn^tÜB".
Un[er 9Jlonismus lel)rt, "00.^ mx fterblid)e 5linber ber (£rbe finb, bie
tin ober jtoei, l)ö(l)[tens brei „Sölen[(^enalter" l)inburd) bas ©lud
l)aben, im Diesfeits bie §errlid^!eiten biefes Planeten 3U genießen,
bie unerfd^öpflid^e ^ülle [einer S(i)ön]^eit 3U [cl)auen unb bie
ujunberbaren Spiele [einer 9flatur!räfte 3U erfennen. Das (£l)ri[ten=
tum bagegen lel)rt, baß bie (£rbe ein elenbes ^^i^^^^tal ijt, auf
toelc^em toir bloß eine !ur3e 3ßi^I<iTtg uns 3U fajteien unb ab-
3uquälen braud)en, um- [obann im „3en[eits" ein etoiges 2thtn
ooller 2Bonne 3U genießen. SBo bie[e5 „^^"[eits" liegt, unb toie
bie[c §errlidf)!eit bes ewigen fiebens eigentli^ be[rf)affen [ein [oll,
bas ^at uns no(^ feine „Offenbarung" ge[agt. Solange ber
216 5l^t3cl)ntc5 Rapitcl. Unfcrc moniftif^c 9?eUg{on.
„^tmmel" für ben SJlenf^cn ein blaues !^i\i war, ausgefpannt
über ber [(f)etbenförmigen (£rbe unb erleucf)tet burd) bos blmfenbe
fiampenli^t einiger tau[enb Sterne, fonnte \\ä) bie men[d)Ii(J)e
^l)anta[ie obeat in biefem §immels[aal allenfolls bas antbro[i[d)e
©ajtmal)! ber olpmpifd^en ©ötter ober bie Xafelfreuben ber 2Bat=
{)anobetDoI)ner üorjtellen. 9lun ijt aber für alle bie[e (5ottl)eiten
unb für bie mit it)nen tafeinben „unjterblid)en Seelen" bie offen«
funbige 2ßof)nung5not eingetreten. „§imntel5bilb unb Sbelt*
an[d)auung", toie [ie 3^roeIs=fiunb in i{)rem tiefen 3ii[cimmcn=
I)ange I)ijtori[d) bargejtellt f)at, l)aben burc^ bie berounberungs*
u)ürbigen (5ort[(f)ritte ber mobemen i^osmologie eine völlige
Hmroanblung erfaf)ren. 2ßir tüi[[en je^t bur^ bie ^[tropl)r)[i!,
bafe ber unenblid^e 9?aum mit [rf)toingenbem 5ltl)er erfüllt ijt, unb
ba]3 ajiillionen t)on SBeltförpern, naä) etoigen et)emen ©efe^en
betoegt, [id) raftlos barin umt)ertreiben, alle im eroigen großen
„SBerben unb 93ergel)en" begriffen.
SRontftifc^e Atrien. I)ie Stätten ber 9Inbad)t, in benen ber
9Ken[d) [ein religiö[es ©emütsbebürfnis befriebigt unb bie ©egen*
jtänbe [einer 5lnbetung üerel)rt, betrai^tet er als [eine gel)eiligten
„Siix6)tn". 2)ie ^agoben im bubbl)ijti[d^en ^[ien, bie grie^i[cf)en
Üempel im !la[[i[d)en Altertum, bie Synagogen in ^aläjtina, bie
9}lo[^een in 3tgi)pten, bie !atl)oli[d)en I)ome im [üblii^en unb bie
eüangeli[(f)en Hatl)ebralen im nörbli^en (Suropa — alle bie[e
„(5otte5l)äu[er" [ollen baju bienen, ben $Dlen[d)en über bie 9Jli[ere
unb ^ro[a bes realen Alltagslebens 3U erl)eben; [ie [ollen it)n in
bie 2Beil)e unb bie ^oe[ie einer l)öl)eren, ibealen SBelt Der[e^en.
Sie erfüllen bie[en 3tDed in oielen tau[enb r)er[d)iebenen ^rormen,
ent[pred)enb ben t)er[(f)iebenen ilulturformen unb 3ßitt)erl)ältni[[en.
33er mobeme 9Jlen[d^, tDeld)er „2Bi[[en[(^aft unb Äunjt" be[i^t —
unb bamit 3ugleid) auä) 5?eligion — , bebarf feiner befonberen
5lir(J)e, feines engen, einge[cl)lo[[enen 9?aumes. X)enn überall in
ber freien Statur, roo er [eine Slide auf bas unenblid^e Unioer[um
ober auf einen Xeil besfelben rid)tet, überall finbet er 3toar t>tn
f)arten „Rampf ums Da[ein", aber baneben aud) bas „2Bal)re,
Schöne unb (5ute"; überall finbet er [eine „ilird)e" in ber f)errlid)en
IRatur [elbjt. '
I
9lcun3cl)ntes Äapitcl. Unfcrc montjti[d)e Stttcnlcl)re. 217
anfere ntDulffifd^e Sittentci^te*
<3Ux(S)Qttt)\6)t stpiWcn 6elbfttiebe unb 9Zäc^ftenl.iebe. ©kic^--
bcrec^tigung be^ (fgoi^mu^ unb ^(trui^mu^. Segler bcr
c|)riftlic^en 9}ioraL ^taat, 6c^ulc unb ^irc^c.
tas pra!ti[(^e Jßebcn jtellt an bcn 9JZcn[c{)eh eine 9?etf)c von
Qan^ bcjtlmmtcn [ittll^en ^nforbcrungen, btc nur bann rt^tig
erfüllt rocrbcn !önnen, u)enn [ic in reinem Cinflang mit [einer
uemünftigen 2Beltanf(f)auung ftef)en. X)ie[em ©runbfa^e un[erer
moniftii(i)en ^t)iIo[opi^ie gufolge mufe unfere gefamte Sitten^
Iel)re ober (£tl)if in vernünftigem 3ufammen^ang mit ber ein=
l)eitlid)en ^uffaffung bes „ilosmos" ftel)en, toeId)e toir burd) unfere
fortgef^rittene CBrfenntnis ber 9loturgefe^e gewonnen \)abtn. 9Bie
bas ganse unenblidie Unit>er[um im £i(f)te unferes SJlonismus
ein eiuäiges großes ©anjes barjtellt, fo bilbet auct) bas geijtige unb
[ittli(i)e Qthtn bes 9Jlen[d)en nur einen ieil bie[es „Äosmos",
unb [o fann aucf) feine naturgemäße Orbnung nur eine einl)eitlid)e
[ein. (£5 gibt nid)t jroei oerfc^iebene, getrennte SBelten:
eine pl)i)[i[ct)e, materielle unb eine morali[cf)e, immateri*
eile 3Belt.
(öan^ entgegenge[e|ter ^n[id)t ift bie große $lRel)r3al)l ber
^f)ilo[opl)en unb 3:i)eologen nod) l^eute; [ie bel)aupten mit Sm«
manuel Äant, ta]^ bie [ittlid)e 3Belt oon ber pl)r)[i[(^en ganj
unabl)ängig [ei unb gan3 anberen (Sefe^en gel)orcf)e; al[o mü[[e
aud^ bas [ittlidie Seu)ußt[ein bes 9Jlen[(l)en; als bie Sajis
bes morali[d)en fiebens, ganj unabbangig oon ber u)i[[en[d)aft=«
liefen Sßelterlenntnis [ein unb [ic^ oielmebr auf htn religiöfen
©lauben [tü^en. t)ie (£r!enntnis ber [ittlicf)en SGBelt [oll banac^
burcl) bie gläubige pra!ti[(^e 93ernunft ge[(f)el)en, b^ngegen
bie ber 9latur ober ber pl)i)[i[cbcn SBelt burd) bie tl)eoreti[c^e
93ernunft. Die[er unstoeifelbafte unb beujußte Dualismus in
Rants ^l)iIo[opbie toar ibr größter unb [(^tDer[ter ^tliltx;
er bat unenblid)es Unbeil angeri(i)tet unb wixli no<i) beute mäcbtig
^ fort. 3uerjt b^tte ber !riti[d)e 5^ant in ber großartigen unb bc=
rounberungsroürbigen ilritif ber reinen 93ernunft einleucbtenb ge=
^eigt, ha^i bie brci großen 3cntralboömcn ber 93Zetopb9[t!:
ber perfönlicbc ©ott, ber freie äBille unb bie unjterblicbe Seele
218 Jlcun.^e^ntes ftapitcl.
Döllig unbegrünbct [inb unb immer unbegrünbct bleiben toerben.
Später aber fül)rte ber bogmatifd^eHant bas [d)immembe tbeale
£uft[d)Iofe ber pra!ti[c^en 33ernunft auf, in toelc^cm brei impo^
fante kird)en[d^iffe 3ur aBo^njtätte jener Drei mpjtifc^en ©ottt)eiten
I)ergeri(^tet tüurben. SRac^bem [ie burc^ bie 33orbertür mittels bes
oernünftigen 2Bi[[en5 ^inausgefd^afft Doaren, !et)rten fie nun burd)
bie Hintertür mittels bes unoernünftigen ©laubens toieber jurücf.
Obgleid) nun ber offenfunbige ©egenfa^ ber beiben 33ernünfte
von 5^ant, ber prinjipieüe ^(ntagonismus ber reinen unb ber
pra!ti[^en 33ernunft, [d)on im 5lnfange bes 19, 3öt)r]^unberts
erfdnnt unb töiberlegt rourbe, blieb er borf) bis t)eutc in toeiten
5^rei[en f)err[^enb. X)ie moberne S(i)ule ber 3leo!antianer
prebigt noc^ f)eute t>tn „5Rücfgang auf 5^ant" fo einbrtnglirf) gerabc
toegen biefes toilüommenen Dualismus, unb bie jtreitenbc
Rixä)t unterjtü^t [ie babei aufs tDärmjtc, toeil i^r eigener mpjtifc^er
©laube basu üortrefflic^ pafet. (Eine roirffame jRieberlage bereitete
bemfelben erft bie moberne 9laturu)i[[enfcf)aft in ber jtoeiten
Öälfte bes 19. ^o^i^^^i^^^i^ts; bie 93orausfe^ungen ber pra!ti[(^en
33ernunftlel)re tourben baburd) {)inf ällig* 5^osmologie unb ^Biologie,
bie auf bem Subjtanagefe^ ru{)en, bebürfen feines „pcr[önlid)en
(Sottes" me{)r; bie üergleicf)enbe unb genetifd^e ^[i)(i)oIogie geigte,
bafe eine „unjterblid)e Seele" md)t eiijtieren fann, unb bie ^I)i)[ioIogic
roies nac^, bafe bie ^nna^me bes „freien ÜBillens" auf 3:äu[d^ung
berul)t. Die ©nttoidelungsle^re enblid^ mad)te !Iar, bajg bie
„etötgen, el)ernen 9laturgefe^e" ber anorganifc^en 2BeIt
auc^ in ber organi[d)en unb moralif^en SBelt ©eltung l^aben.
Unfere moberne S^laturerlenntnis tüirft aber für bie praftifc^e
^t)iIo[opf)te unb (£tl)i! ni(f)t nur negatio, inbem [ie ben 5^anti[c^en
Dualismus gertrümmert, [onbem auc^ po[ttio, inbem [ie an be[[en
Stelle bas neue (Sebäube bes etl)i[d)en SJlonismus [e^i Sie
jeigt, bafe bas ^flid)tgefül)l bes 9Jten[(^en nid)t auf einem
eingeimpften „!ategori[d)en Smperatio" berul)t, [onbem auf
bem realen Soben ber [ojialen 5tt[tin!te, bie toir bei allen
ge[ellig lebenben l)öl)eren Xieren finben. Sie erfennt als l)öcf)fte5
3iel ber SJloral bie ^erftellung einer gefunben Harmonie 3roi[rf)en
Egoismus unb Altruismus, 3tt)i[d)en Selbjtliebe unb 91ärf)[ten*
liebe. 33or allen anberen toar es ber grofee engli[c^e ^t)ilo[opl)
Herbert Spencer, bem rotr bie Scgrünbung bie[er monijti[rf)en
(£tl)if burd^ bie (£nttDicfelungslet)re oerbanfen.
Egoismus unh ^lltrutsmus. Der aRen[d) geprt 3u ben
[o3ialen2Birbeltieren unb ^at bal)er, toie alle [osialen Xiere,
Sroeterlei ocr[d)tebene ^flid)ten, crjtens gegen [ic^ [elbjt unb gtoeitens
gegen bie ©efellfdjaft, ber er angcl)ört. (Erjtcrc finb ©cbote ber
Hnfcrc monijtifrfie <5ittcnlel)rc. 219
Selbjtitcbc ((Egoismus), Ic^tcrc Ocbotc bcr 5Rä(J)[tcnHebc
(Altruismus). Scibc ©ebote [inb gleich bcrecf)tigt, gicid) natürlich)
unb gicicf) uncntbe!)rlicf). 3BiII bcr 9Jlen[d) in gcorbneter ©e=
[cllfc^aft crijticrcn unb [ic^ rool)! bcfinben, fo mufe er ni(f)t nur [ein
eigenes ©lücf anftreben, [onbern aud^ basjenigc ber ©emeinfc^aft,
ber er qngel)ört, unb ber „^äd)\Un", roelc^e biefen [03ialen 33erein
bilben. (£r mu^ erfennen, ta^ il)x (5ebeit)en [ein C5ebeif)en ijt unb
i\)x ßeiben fein fieiben. Die[e [osiolen (5runbge[e^e [inb [o einfa^
unb [o naturnottöenbig, bafe man fd)Q)er begreift, toie if)nen tt)eore=
ti[d) unb praftifc^ tDiber[proct)en tüerben !ann; unb borf) gef(^tet)t
bas no^ i)eute, toic es [eit 3öl)rtaufenben ge[(f)e]^en ijt.
(glet(^gen)td^t bes (Egoismus unb 3llttut$mus. Die glei(f)e
<Bere(i)tigung biefer beiben ^Naturtriebe, bie moralifc^e (5Ieirf)=
roertigfeit ber Selbjtliebe unb ber 9lädf)jtenliebe ift bas toic^tigjtc
3runbamentalprin3ip unferer 9Koral. Das l)öct)jte ßhl
aller oernünftigen Sittenlel)re ijt bcmna^ [ef)r einfad), bie §er=
jtellung be5„naturgemäfecn©Iei(i)getDid)ts steiften (Eigen«
liebe unb 9^ ä duften liebe". Das <5olbene Sittengefe^ fagt:
„3Bas bu roillft, bafe bir bie ßeute tun [ollen, bas tue bu il)nen aud)."
Aus bie[em l)öd^jten ©ebot bes (E^rijtentums folgt pon [elbjt, bafe
töir eben[o ^eilige ^fli(^ten gegen uns [elb[t toie gegen un[ere
9Jlitmen[(i)en l^aben. 3^ l)öt)e meine 5luffa[[ung bie[es ©runb*
prinjips bereits 1892 in meinem „SJlonismus" auseinanber=
ge[e^t (S. 29, 45) unb babei be[onbers brei U)i(J)tigc Sä^e betont:
I. Seibc fonfurrierenbe 3^riebe [inb 9laturgc[e^e, bie 3um Se=
[tcl)en ber ^ciTnilie unb ber (5e[en[(^aft gleid) roiditig unb gleicl)
nottoenbig [inb; ber (Egoismus ermöglicht bie Selb[tert)altung bes
3nbit)ibuums, ber Altruismus biejenige ber (Sattung unb
Spcsies, bie [id^ aus ber i^ettc ber oergänglic^en ^Ttbioibuen
3u[ammen[e^t. IL Die [osialen ^flic^ten, tDeld)e bie (5e-
[ell[d)aft5bilbung ben a[[o3iierten 90'len[d)en auferlegt, unb burc^
roelc^e [icf) bie[c erl)ält, [inb nur l)ö^ere (Entroidelungsformcn
ber [ojialen 3Ttitin!te, toelc^c toir bei allen l)öf)eren, ge[ellig
lebenben 3:ieren finben. III. Seim i^ulturmen[c^en jtel)t alle
(£tl)i!, [otDol)l bie tl)eoreti[^e roie bie pra!ti[(f)e Sittenlel)re , als
„9'Normt»i[[en[cl)aft" in 3ii[ammen^ang mit ber2Beltan[(^auung
unb bemnacf) auc^ mit ber 9leligion.
^as et^tf(^e C^runbgefe^. (Das (Solbenc Sittenge[c^.)
Aus ber Anerfennung un[eres (5iitt^ömentalprin3ips ber äJioral
ergibt [icf) unmittelbar bas l)örf)jte ®ebot ber[elben, jenes ^flic^t»
gebot, bas man je^t oft als bas (Bolbene Sittengefe^ ober
fürs als bie „(Solbene 9^eger* be3eicf)net. (E^riftus [prac^ bas[elbe
i»ieberl)olt in bem dnfacl)cn (»a^e aus: „Du follft beinen
220 9leun3cl)ntcs Ätrpftcl.
9flä^ftcn lieben tote bi^ felbft" maii\). 19, 19; 22, 39, 40;
«Römer 13, 9 u[to.). 5n btefem XDt^tigften unb l)örf)jten ©ebote
jtimmt unsere montftt[(i)e (£tf)t! oollfommen mit ber (^rift =
Iid)en überein. 9lur muffen toir gleicf) bie I)iftorifd)e 3:atfadE)e
f)in3ufügen, bafe bie ^ufftcllung biefes oberjten ©runbgefe^es nicf)t
ein 93erbienft (i\)xi]ii ift, toic bie mciften d)rijtli^en 3:i)eoIogen be^
f)aupten unb il)re un!ritif(i)en ©laubigen unbefe!)en annel)men.
93ielmel)r ift biefe ©olbene 9tegel me^r als fünfl)unbert ^ai)xt
älter als (El^riftus unb oon oielen t)erfd)iebenen SBeifen ©rie(i)en«
lanbs unb bes Orients ols u)icf)tigftes Sittengefe^ anerfannt.
^ittafos oon 9Jlt)tiIene, einer ber fieben SBcifen (5ried)enlanbs,
fogte 620 ^ai^xt vox (SI)riftus: „Zut beinem 9'läd()ften nid)t, toas bu
if)m oerübeln toürbeft." — ilonfutfe, ber grofee (^inefif(f)e ^]^iIo=
fopf) unb ^Religionsftifter (ber bie Unfterbli(i)!eit ber Seele unb ben
perfönlid)en ©ott leugnete), fagte 500 ^ai)xt vox (S:t)r. : „3:ue jebem
anberen, toas bu toillft, bafe er bir tun foll; unb tue feinem anberen,
toas bu toillft, t>a)i er bir nict)t tun foII. Du braud^ft nur biefes
©ebot allein; es ift bie ©runblage aller anberen ©ebote."
^rif toteles Iel)rte um bie 9[Ritte bes merten ^aW^nberts oor (£f)r. :
„9Bir follen uns gegen anbere fo benel)men, als toir roünfd)en, t)a^
anbere gegen uns ^anbeln foIIen." 5n glci^em Sinne unb 3um
Xeil mit benfelben SBorten loirb aucf) bie golbene 9tegel oon Xf)alts,
3fo!rates, ^riftippus, bem ^r)tl)agoräer Sextus unb anberen
^Pofopl)en bes !Iaffifd)en 5lltertums — mel)rere 3ttf)r^unberte
oor (£l)riftus ! — ausgefprod)en. ^us biefer 3ufammenfteIIung
ge!)t I)eroor, ha^ bas ©olbene ©runbgefe^ 3U Derfd)iebenen 3citen
unb an oerfd)iebenen Orten oon met)reren ^I)iIofop!)en — un=
abpngig ooneinanber — aufgeftellt ojorben ift. ^nberenfalls
müfetc man annel)men, bafe Sefus es aus anberen orientalif^en
Quellen (aus älteren femitifc^en, inbifcf)en, cf)inefifd)en XxahU
tionen, befonbers bubbl^iftifc^en fiel)ren) übernommen I)abe, toie
es je^t für bie meiften anberen d)riftlid)en ©laubenslel)ren nac^*
geroicfen ift.
(i^^tiftlic^e Sittenlehre. X)a bas etf)if(^e ©runbgefe^ bemnad)
bereits feit 2500 3cil)ren beftet)t, unb ba bas (S;t)riftentum basfelbe
ausbrüdlicf) als l)öd)ftes, alle onberen umfaffenbes ©cbot an bie
Spi^e feiner Sittenlet)rc ftellt, toürbe unfere moniftif(^e (£tl)i!
in biefem toiditigften fünfte nid)t nur mit jenen älteren l)eibnifd^en
Sittenlel)ren, fonbem aud) mit htn cl)riftlic]^en in oollfommenem
(gintlang fein, ßeiber toirb aber biefe erfreulicl)e Harmonie baburdf);
gcftört, bafe bie (Eoangelien unb bie paulinifcf)en CBpifteln oiele
anbere Sittenlefjren cnt()alten, bie jenem erften unb obcrften ©e*
böte ö^^^ö^^ä" toiberfpredien. SBir muffen ba^ct fürs jene be*
Hnferc moni|tifd)C 6ittcnlcf)te. 221
bauerlt(f)cn 6ettcn ber d)nftU(^cn ficl)rc attbcutcn, tocld^c mit bcr
bcffcren 2BcItan[d)auung bcr ^Icujctt unDerträglid^ unb bc^üölic^
t!)rcr ptafti[d)en 5^on[equen3cn gerabcßu [(i)äblt^ [inb. Dal^in
gehört bte 33erad)tung bcr cf)riftlid)cn 9[RoraI gegen bas eigene
3nbit)tbuum, gegen bcn JÖcib, bie 9latur, bic i^nltur, bic gamilie
unb hiz (Jröu.
I. I)ie Sclb[tüerad)tung bcs (£I)ri[tcntuni5. ^Is oberjten
unb tDicf)tigjten 10li]3griff bcr d)rijtli(^cn (£tl)i!; tDeI(i)er bie ©olbcnc
Siegel gcrabcäu auff)cbt, muffen roir bie Übertreibung bcr
9fläct)ftenliebc auf 5loften ber Sclbftliebe betrauten. Das (£I)rijtcn=
tum bcMmpft unb oertoirft bcn (Egoismus im ^rinsip, unb bo^
ijt biefcr 9laturtricb 3ur (3clbitcrl)altung abfolut unentbel)rli^; ja,
man !ann fagen, bafe aud) ber Altruismus, fein fc^cinbarcs
©egcnteil, im ©runbc ein oerfeincrter (Egoismus ijt. 9li(^t5 (Srofecs,
nid^ts (Erl^abcncs ift jemals oI)ne (Egoismus gcf(j^et)cn unb ol)nc bic
£cibenf(f)aft, tüelä)e uns 3U großen Dpfem befähigt. 9lur bie
Ausf^rcitungen biefcr 3:ricbc finb ocrtocrflid). 3w bcnicnigcn
^riftU(i)en (geboten, rDcId)e uns in frül)efter 3ugenb als tDi(f)tigftc
eingeprägt unb toeld^e in 9Kinioncn oon ^rebigten t)ert)cnlid)t
tDcrbcn, gehört ber Sa^ (9P^attl)äus 5, 44): „fiiebet eure (^ci^^ß»
fegnet, bic cud) flu(f)en, tut too^I benen, bic cud^ t)affcn, bittet für
bie, fo eud) beleibigcn unb oerfolgen." Diefes ibealc (Scbot ijt
pra!tif(^ oon fel)r bebcnflid)em SBcrtc. (Ebenfo ocrt)äIt es fic^ mit
ber Antoeifung: „3Benn bir jcmanb bcn 9^ocf nimmt, bem gib oud)
bcn äUantel"; b. I). in bas mobeme JÖcbcn überfc^t: „SBcnn bi^
ein getoiffenlofcr <5(^uft um bie eine ^älftc beines 93crmögens
betrügt, bann f^enfe it)m aud) nod) bie anberc $älftc." Die oieI=
betounbertc 2BcItma(i)tspoIiti! bcr mobernen 5^ultur|taatcn jtcl)t
in fd)neibenbcm SBibcrfprud) ju allen ©runblet)ren ber d)rift=
Ii(f)en fiiebe, toel^e oon it)ncn im SKunbc gcfül)rt toirb. Ilbrigcns
ijt ja ber offen!unbige SBibcrfprud) ^o^ifc^en ber cmpfot)Ienen
ibcalcn, altruijtifrficn SJloral bes einäcincn 9}Zcnfd)en unb ber
rcalcUj rein cgoijtifrficn SJloral bcr mcnfd)Iicl^en (Semeinben,
unt) befonbers bcr ^rijtlid)cn 5^ulturjtaaten, eine allbe!anntc 3^at=
fadE)c. (Es toärc intereffant, mati)cmatifd) fejtäujtellcn, bei toclc^cr
3at)l oon Dcrcinigten 50lcnfd)en bas altruiftifd)c Sittenibeal
bcr einzelnen ^erfon ficE) in fein ©egcntcil oertoanbelt, in bic rein
egoiftifrf)c „9?eaIpoIiti!" ber Staaten unb Stationen.
II. Die £eibe50cra(f)tung bes (£I)riftentum5. Da ber
d)rijtlid)e ©laubc bcn Organismus bcs 9Jlenf(f)en ganj bualijtifc^
beurteilt unb bcr unjterblidjcn Seele nur einen oorübergel)enbcn
Aufentf)alt im jterblid)en fieibc anioeijt, ijt es gan3 natürlii), bofe
ber erjteren ein oicl !)ö^erer 3Bcrt beigcmeffcn u)irb oIs bem Unteren.
222 9lcun5el)nte5 Äopitel.
Daraus folgt jene 33crnad)Iäf[igung ber fieibespflege, ber förper«
Iid)en ^lusbilb^ng unb 5?emlidt)fe{t, toel^e bas Kulturleben bes
d)riftli^en 9KttteIaIter5 fel)r unt)ortetn)aft t>or bemjemgen ' bes
f)etbnl[(f)en !Ia[fifd)en Altertums aus3eid)net. 3n ber d)rijtltd)en
Sittenlel)re fel)Ien jene jtrengen ©ebote ber tägltd)en 2Ba[d)ungcn
unb ber [orgfälttgen 5lörperpflege, bie roir in ber mol)ammebani=
\(i)m, ben inbifd)en unb anberen ^Religionen ni(t)t nur tt)eoretifc^
fejtgefe^t, [onbern audf) prafti[(^ au5gefül)rt [ef)en. Das Sbeal bes
frommen (£;i)rijten ijt in oielen 5llöftern ber SDlenfd), ber firf) niemals
orbentlicf) xoäfd^t unb Üeibet, ber [eine [cfimu^ige Äutte niemals
toed)[eIt, unb ber jtatt orbentIid)er 5Irbeit [ein faules JÖeben mit
gebanfenlofen »etübungen, [innlofem grajten u[i». zubringt. 3lls
^usu)üd)[e biefer fieibesoerac^tung möge nodf) an bie toibertoärtigen
93ufeübungen ber ©eifeler unb anberer ^s!eti!er erinnert toerben.
III. Die 5RoturDerad)tung bes d^riftentums. (&mt
Quelle Don un5äl)ligen tI)eoreti[c^en Irrtümern unb praftif^en
gel)lern, »on gebulbeten 9?ol)l)eiten unb bebauerlid^en (£ntbel)rungen
liegt in bem fal[d)en 5tnt^ropismus bes (£t)ri[tentum5, in
ber ejEÜufioen Stellung, tDeld)e es bem 9Plen[(^en als „(Ebenbilb
©ottes" anroeijt, im ©egenfa^e 3U ber übrigen Statur. Daburd)
I)at es nidE)t allein gu einer \)öd)]i [c^äbli(l)en (Entfrembung oon
unferer I)errli(^en SDlutter „9Iatur" beigetragen, [onbern aud) 3U
einer bebauernstoerten 23erac^tung ber übrigen Organismen. Das
(£I)rijtentum !ennt nid^t jene rül)mlid)e fiiebe gu ben 3:ieren,
jenes 9J?itIeib mit htn näi^jtjtetienben, uns befreunbeten Säuge«
tieren ($unben, ^ferben, 5linbern u[rö.), u)eld)e 3U htn Sitten*
ge[e^n oieler anberer älterer 9teligionen Qzißxtn, oor allem ber
weitejtoerbreiteten, bes 5Bubbl)ismus. 2ßer längere 3cit im
fatI)oIi[(^en Sübeuropa gelebt I)at, ijt oftmals 3^uge jener ab'
[^eulid)en ^Tierquälereien getoe[en, bie uns 3:ierfreunben [otöol)I
bas tieffte 9JlitIeib als "ötn l)öd)[ten 3otn erregen; unb ujenn er
bann jenen rol)en „(£l)rijten" Sßortoürfe über il)re ©rau[am!eit
macf)t, erl)ält er jur lai)enben ^Inttoort: „5a, bie 3:iere [inb boc^
feine (£t)rijten !" £eiber lourbe bie[er 3i^tum aud) burd) Des*
cartes befejtigt, ber nur bem 9[Ren[d)en eine fül)lenbe Seele 3U=
[d)rieb, nid^t aber t>tn Xieren. 3!Bie erl)aben [tel)t in bie[er Se=
3iel)ung un[ere moni[ti[d)e (£tl)i! über ber d)ri[tlici^en ! Der Dartoi*
nismus lel)rt uns, 'i>a)ß roir 3unäd)jt oon Primaten unb u)eiterl)in
oon einer 5?eil)e älterer Säugetiere abjtammen, unb ha^ bie[e
„un[ere Sr üb er" [inb; bie ^f)i)[iologie betoeijt uns, bafe bie[e 3:iere
bie[elben 91eroen unb Sinnesorgane l)aben toie toir, ha^ [ie äl)nli(^
fiujt unb Sd)mer3 empfinben toie roir. 5^ein mitfül)lenber monijti=
[d)er 9laturfor[d)er wirb [id) jemals jener rol)en 9?Jifel)anblung ber
Unfcrc momjtifd)c eittcnlcl)rc. 223
Üiere |ci)ulbtg mad)en;' bic ber gläuWge (i\)n]i in [einem antl)ropijti»
Jtf)en (5xö^tnwai)r\ — als „5^inb bes ©ottes ber £iebe I" — ge=
ban!enl05 begcl)t. — 5Iufeerbem aber ent3iel)t Die prinsipielle
5RaturDerad)tung bes (£l)rijtentums bem 9Jienfcf)en eine gülle ber
ebeljten irbifd)en ^iceuben, cor allem btn i)errlid)en, u)a^rl)aft er=
l)ebenben 9laturgenufe.
IV. Die 5^uIturDera(i)tung bes (I{)ri|tentum5. T)a na^
(£I)ri|ti fiet)re unjere (Erbe ein 3<iTnmerti)al tjt, un[er irbi[ci)es fieben
toertlos unb nur eine 33orbereitung auf bas „ecoige fieben" im
befferen 5en[eits, [o »erlangt [ie foIgerid)tig, ha^ bem^emäfe ber
9J?en[(i) auf alles ©lud im X)ies[eits ju üergid^ten unb alle basu
erforberlic^en irbi|d)en (Süter gering gu ad)ten l)ai 3w liefen
„irbi[d)en ©ütern" gel)ören aber für ben mobernen 5^ulturmen[cf)en
bie unsä^ligen fleinen unb großen 'Hilfsmittel ber Ztdjnit, ber
§t)giene, bes 33er!el)rs, tDelcf)e unfer i)eutiges i^ulturleben an=
genel)m geftalten; — gu biejen „irbi|d)en ©ütern" gel)ören alle bie
l)of)en (Senüffe ber bilbenben 5^unjt, ber 3:on!unjt, ber ^oefie,
rDeld)e fc^on tDäI)renb bes (f)rijtlid)en S[Rittelalter5 (tro^ [einer
^rinjipien !) [id^ ßu l)ol)er ©lüte enttoidelten, unb votl&jt mix als
„ibeale ©üter" l)o^[d^ä^en; — 3U bie[en „irbi[d)en ©ütern" gel)ören
bie un[d)äparen gort[d)ritte ber 2Bi[[en[d)aft unb cor allem ber
9Zaturer!enntnis. ^lle biefe „irbi[d)en ©üter" ber oerfeinerten
Äultur, toeld^e nad) unferer moni[ti[d)en 2Beltan[(f)auung htn
l)ö(i)[ten SBert befi^en, [inb nac^ ber d)ri[tli(f)en Jöe^^re toertlos,
ja großenteils oercoerflid), unb bie [trenge ^ri[tlidE)e 9JJoral muj^
bas Streben nad) bie[en ©ütern mißbilligen. t)as (i;i)ri[tentum
seigt fiel) al[o aurf) auf bie[em pra!ti[c^en (Sebiete fulturf einbli(^ ;
ber i^ampf, roelc^en bie moberne ^Bilbung unb 2Bi[[en[rf)aft bagegen
3u führen gestoungen [inb, i[t auc^ in bief^ Sinne ein tüir!=
lieber ,,5^ultur!ampf".
V. I)ie 3^amilienüerad)tung bes (ri)ri[tentums. 3u i^en
bebauerlid)[ten Seiten ber d)ri[tlid)en 9Ploral gel)ört bie (5ering=
[d)ä^ung, rx>t\d)t bas[elbe gegen bas göTnilienleben be[i^t,
b. f). gegen jenes naturgemäße 3w[ammenleben mit ben näd)[ten
$Blut5Deru3anbten, ujelc^es für t)tn normalen SRenfc^en eben[o un=
entbel)rli(^ ijt wk für alle i)öl)eren [o3ialen 3;iere. Die „gramilie"
gilt uns ja mit 5Rei)t als bie „©runbtage ber (5e[ell[cf)aft" unb bas
gefunbe ^öTuilienleben als 93orbebingung für ein blül)enbes Staats^
leben, ©anj anberer ^Tnfid^t ujar (£J)ri[tus, bc[[en nad) bem „^tn^
[eits" gerid)teter 5Blid bie ^rau unb bie gamilie eben[o gering
[d)ä^te loie alle anberen ©üter bes „Dies[eits". 33on ben [eltenen
Serül)rungen mit [einen (Altern unb ®e[c^u)ijtern tDi[[en bie ^mn^
gelten nur [el)r xoenig 3U er3äl)len; bas 23erl)ältni5 3U [einer 9Kutter
224 9lcun3cf)Tttc5 Äopltcl.
SJiaria wax banad) fcincstDcgs Jo jart unb innig, toic es uns 3:au|'cnbc
von [(f)öncn Silbern in poetifcf)cr 23er!Iärung oorfül)ren; er
jelbjt mar nic^t t)crl)eiratet. Die (5e[d)led)t5liebe, bie bod) bie erjte
(Srunblage ber gamilienbilbung ijt, er[(^ien 3e[us el)er toie ein
nottoenbiges llbcl. ^o^ loeiter ging barin fein eifrigster ^poftel,
Paulus, ber es für beffer erüärte, nid)t 3u l)eiraten, als 3u I)eiraten.
„(£s ijt bem 9Jlen[d)en gut, ha^ er fein SBeib berülire" (1. i^orin-
t^er 7, 1, 28—38). 2Benn bie äRenfd^t)eit biefen guten 9tat befolgte,
tDürbe fie bamit allerbings balb alles irbifd^e fieib unb (SIenb Ios=
toerben; fie roürbc burd) biefc 9tabifalfur innerhalb eines ^a\)X'
I)unberts ausfterben.
VI. Die 2rrauenoerad)tung bes (S:i)riftentunts. Da
(T^riftus felbft bie grauenliebe nict)t !annte, blieb if)m perfönlirf) jene
feine 93erebelung bes u)al)ren SOlenf^entDefens fremb, töeld^e erft
aus bem innigen 3^fömmenlebcn bes SO^annes mit bem SBeibe
entfpringt. Der intime feiuelle 33er!e:^r, auf toel^em allein bie
(£rt)altung bes SJlenfc^engefc^Iec^ts berui)t, ift bafur ebenfo rot(^tig
xoh bie geiftige Dur^bringung beiber (5efc^Ied)ter unb bie gegen»
fettige (Ergänjung, bie ]i6) beibe gleirfiertoeifc in ben pra!tif(i)en
Sebürfniffen bes täglichen fiebens tote in ben !)öd)jten ibealen
i5un!tionen ber Seelentätigfeit geti)äl)ren. Denn SJiann unb SBeib
finb 3U)ei oerfc^iebene, aber glei(f)tDertige Organismen, jeber mit
feinen Cigentümlic^feiten, 93or3ügen unb 9J?ängeIn. 3^ i)ö^tx fici)
bie 5^ultur enttoicfelte, bejto mel)r tourbe biefer ibeale SBert ber
fexuellen fiiebc erfannt, unb bejto l)öl)er ftieg bie ^^tung ber i^xau,
befonbers in ber germanif(t)en 9?affe; ift fie bod) bie Quelle, aus
tDeI(i)er bie l)errlid)jten Blüten ber ^oefie unb ber 5^unft entfproffen
finb. (£t)riftu5 bagegen lag biefe ^nfcf)auung ebenfo fem roie faft
bem gansen Altertum; er teilte bie allgemein l)errfd)enbe ^n=
fd)auung bes Orients, haüß bas SBeib bem SJianne untergeorbnet
unb ber 93er!et)r mit il)m „unrein" fei. Die beleibigte 91atur l)at
fid) für biefe SJlifea^tung furd)tbar gerächt; if)re traurigen Orolgen
finb namentlid) in ber 5hilturgefd^id)tc bes papijtifd)en SKittelalters
mit blutiger Sd^rift oerseit^net.
$api)ttf(^e 9RoraI. Die betounberungsroürbige ^ierar^ie
bes römif^en ^apismus, bie fein 9JZittel 3ur abfoluten Se!)errf(^ung
ber (Seifter x)erfd)mäl)te, fanb ein ausgeaeid^netes Snftrument in
ber <5rortbilbung jener „unreinen" ^nfc^auung unb in ber Pflege
ber asfetifd)en SSorftellung, bafe bie (£ntl)altung r»om 5rciuenDerfel)r
an fid) eine 3:ugenb fei. Sd)on in t>tn erften 3al)tf)unberten nad)
(£l)riftus entl)ielten fi^ oiele ^riefter freitoillig ber (£^e, unb balb
ftieg ber Dermcintlid)e 2Bert biefes 3ölibats fo f)od), bofe basfelbc
für obligatorif^ crflätt iDutbe. Die Sittenlofigfeit, bie infolge
Hnferc müntjtt[rf)e Sittcnlcl)rc. 225
bef[en einriß, ijt burd) bic gor[d)ungen ber neueren Rulturge[d)id)te
allbefannt getoorben. Sd)on im SOlittelalter tourbe bie 23erfül)rung
ef)rbarer ^i^auen unb Xöd)tcr burd) !att)oIi[d)e ©etjtlidie (toobet
ber ^etd)jtu!)I eine tDi(^tige 9?one fpielte) ein öffentlid)e5 Ärgernis;
oiele ©emeinben brangen barauf, t)a^ 3ur 23erf)ütung berfelben
'am „!eu[(i)en" ^riejtern t>as 5^on!ubinat gejtattet toerbe ! ^uf
t>tn i)rijtlid)en Konsilien, auf roeld^en ungläubige 5le^er lebenbtg
öerbronnt tourben, tafelten bie oerfammelten 5larbinäle unb
©tf^öfe mit gansen Scharen »on ^reubenmäbd^en. I)ie gel)eimcn
unb öffentUd)en ^U5[d)toeifungen bes !att)oIi[^en i^Ierus rourben
fo [rf)aml05 unb gemeingefät)rli^, bafe [d)on cor £ut!)er bie (£m=
pörung barüber allgemein unb ber 9?uf nad) einer „^Deformation
ber 5ltrcE)c an §aupt unb ©liebern" überall laut tourbe. Dafe
tro^bem bie[e unfittlid^en 93erl)ältni[[e in !atl)oli[(t)en ßänbern
nod) ^eute fortbeHel)en (toenn aud) mei)r im (5el)eimen), ijt befannt.
3rrül)er EDieberl)olten [id) nod) immer oon 3cit ju 3^tt bie Anträge
ouf befinitioe 9tufl)ebung bes 3ölibats, [o in ben 5^ammern oon
33aben, $Bar)ern, ^e[[en, Sad)[en unb anberen ßänbem. £eiber
bisl)er oergebens ! ^m Deut|(^en 9Deid)5tage, in tDeld)em bas
ultramontane 3^ntrum bie läd)erlid^jten SJiittel jur 93ermeibung ber
feiuellen Unfittli^feit Dor[d)lägt, ben!tno^ l)eute feine Partei baran,
bie 5lb[d)affung bes 3ölibats im 5ntere[[e ber öffentlid^en 'Moxal ju
beantragen. (Sßergl. §oensbroe^, Das ^apfttum, fieipsig 1901).
I)er moberne Äulturftaat, ber nid)t blo^ bas pra!ti[d)e, fonbern
aud^ bas morali[(^e 93ol!sleben auf eine I)öl)ere Stufe l)eben [oll,
^at bas 5le^t unb bie ^fli(^t, [olc^e untoürbige unb gemein[d)äb*
Ii(^e 3iiftänbe auf3ul)eben. T)as Dbltgatori[d)e 3ölibat ber
!att)oli[d)en ©eijtli^en ijt ebenfo oerberblii^ unb unfittlid) toie bie
Ol)renbeid)te unb ber ^blajgfram; alle bret (£inri(^tungen
l)aben mit bem ur[prünglid)en (Il)ri[tentum nid)t5 ju tun;
alle brei [d)lagen ber reinen (£l)rijtenmoral ins (5e[id)t; alle bret
finb nid)tsi]öürbige (Srfinbungen bes ^apismus, barauf berechnet,
bie ab[olute §errfd)aft über bie leichtgläubigen 33ol!5ma[[en aufredet
3U erl)alten unb [ie nad) Straften materiell aussubeuten.
Die 9Zeme[is ber ©e[d)id)te coirb frül)er ober [päter über htn
römifd)en ^apismus ein furd)tbares Strafgerid)t galten, unb bie
9Jiillionen äRen[d)en, bie burc^ biefe entartete 9?eligion um il)r
£ebensglüd gebracht rourben, roerben bagu bienen, il)r im 3U)an=
Sigjten 3al)rl)unbert ben Xobesjtofe 3U oerfe^en — tüenigjtens in
htn roal)ren „Rulturftaaten". 9}tan l)at neuerbings beregnet,
bafe bie 3al)l ber 9Jien[^en, tDeld)e burd) bie papijtifd)en Äe^er*
oerfolgungen, bie 3nqui[ition, bie c^rijtli^en ©laubensfriegc ufio.
ums S,tbtn famen, roeit über 3el)n aftillionen beträgt, ^ber was
Äaecfel, Sßcrträtfet. 15
226 9lcun3cl)ntcs Äapitel.
bebeutet biefe 3ai)l gegen bie 3e^nfQ(f) größere 3,a\)\ bcr Un-
glücflid^en, ujel^e htn Sa^ungen unb ber ^rtejterf)err[d)aft ber
entorteten ö)riltltrf)en 5ltrct)e moraltfd) gum Opfer fielen? —
gegen bie Hn3a^I berjenigen, beren t)öl)ere5 (Beijtesleben burd) fie
getötet, beren naioes (Seroiffen gequält, beren Sfamilienleben Der=
nid)tet rourbe? $ier gilt bas tDa!)re Sßort aus (5oet()es ©ebic^t
„I)ie ^raut »on 5^orintf)":
„Opfer fallen I)ier, roeber £amm nodf) Stier,
5lber SP^lenf^enopf er unerhört!"
Staat unb Äir^e. 3n bem großen „5lulturfampfe", ber
infolge bieder traurigen 93er{)ältni[[e nod) immer geführt roerben
mufe, [ollte bas erfte3icl bie DoIIjtänbige 3;rennung oon Staat
unb Äirc^e [ein. X)ie „freie 5^ird)e [oII im freien Staate" be=
jtcf)en, b. J). jebe ilird^c foll frei [ein in ooller 5tusübung if)re5
5lultu5 unb it)rer 3cremonien, au^ im 5tu5bau il)rer pl)anta[ti[d)en
I)id^tungen unb abergläubigen Dogmen — jebod) unter ber
93oraus[c^ung, bafe [ie baburd^ nict)t bie öffentlid^e Orbnung
unb Sittli^feit gefät)rbet. Unb bann [oII gleiifies 9^ed)t für alle
gelten! I)ie freien ©emeinben unb bie moni[ti[^en 9?eIigion5=
(5e[eII[(^aften [ollen eben[o gebulbet unb eben[o frei in if)ren SBe«
toegungen [ein toie bie liberalen ^roteftantenoereine unb bie
ortl)oboxen ultramontanen ©emeinben. ^ber für olle bie[e
„©laubigen" ber Der[(f)ieben[ten 5lonfe[[ionen [oll bie ^Religion
^rtDat[od)e bleiben; ber Stoot [oll [ic nur beauf[i(^tigen unb
ettöoige ^us[d)reitungen Derl)üten, [ie ober roeber unterbrütfen,
noc^ unterjtü^en. 5lud) [ollen bie Steuerjo^ler nic^t mel)r gel)alten
toerben, \\)X ©elb für bie ^ufred)ter^altung unb ^rörberung eines
fremben „©loubens" l)er3ugeben, ber norf) il)rer el)rlid)en Öber-
geugung ein [d)äblid)er ^bergloube ijt. 3^ tizn ^Bereinigten
Stooten oon $Rorbameri!a, in §ollanb unb einigen fleineren £änbem
ijt in bie[em Sinne bie oolljtänbige „3^rennung oon Stoat unb
kxxd)^" längft burd)gefül)rt, unb stoor 3ur 3iifriebenl)eit oller
beteiligten, eben[o neuerbings in ^ranfrei^. X)amit ijt bort
3ugletc^ bie eben[o roi^tige 3^rennung oon ber S(i)ule bejtimmt,
un3tDeifell)aft ein tDe[entlid)er ©runb für ben 5luf[(f)tDung ber
2Bi[[en[(^aft unb bes l)ö^eren ©eijteslebens überhaupt.
ilirc^e unb Schule. (£s ijt [elbjtoerjtänbli(f), bofe bie (Entfernung
ber Rird)e aus ber Schule [id) blofe auf bie 5l0nfe[[ion be3iel)t,
ouf bie be[onbere ©loubensform, tDeld)e ber Sogenfreis jeber
einseinen Rix^t im £aufe ber 3cit entroicfelt l)at. X)ie[er „!on»
fe[[ionelle Unterricht" ijt reine ^riüat[ad)e unb 5lufgabe ber (Sltem
unb 93ormünber, ober berjeniger ^riejter ober £el)rer, benen
bie[c il)r per[önlirf)e5 S3ertraucn [(i)en!en. Dagegen treten on
Unfere tiionijti[d)c Stttcnlcl)rc. 227
I
Stelle ber ousgejrfiiebenen „Äonfeffion" sroei oerfc^iebene tDid)tige
Hnterrid)tsgegenjtänbe: erstens t>xt momjtifi^e Sittenlel)re unb
^toeitens bie t)erglet(i)enbe 9?eUgioTisge[d^id)te. ilber bie neue
mont[tt[d)e (£tt)i!, tDeId)e [td) auf ber fejten Safts ber mobernen
Sflaturerfenntnis — cor allem ber (£nttoidelung5leI)re — erl)ebt,
ift im fiaufe ber legten ^^a\)X%ti)ntt eine umfangretcf)c JÖtteratur
erfd^tenen. Un[ere neue Dergletd)enbe 9ieItgtonsge[^{cf)te
fnüpft naturgemäß an ben bejte{)enben (Elementarunterricht in
„bibli[d)er ©e[(f)t(i)te" unb in ber Sagentoelt bes gried)ifd)en unb
römi[ct)en Altertums an. $8eibe bleiben roie bisl)er tDe[entIi(i)e
©ilbungselemente. I)a5 ijt \6)on bes!)alb [elbjttjerjtänblicf), toeil
un[ere ganse bilbenbe 5lunft auf bas S^inigite mit ber iübi[d)en
unb (i)rijtlid)en, ber l)elleni[d)en unb römi[i)en äRi)tf)ologie »er^
u)ad)[en ijt. (Sin u)efentlid)er lCnter[d)ieb im Unterri^t toirb nur
ta eintreten, bafe bie ifraelitifc^cn unb d)rijtlic^en Sagen unb
ßegenben nxii)t als „9Ba^rt)eit" gelel)rt toerben, fonbem gleic!)
ben gried)i[d)en unb römif df)en als Di(i)tungen; toas [ie an
ett)i[^en unb ä|tl)etif(^en 9Berten entl)alten, uiirb baburd) ni(f)t
uerminbert, [onbem erl)ö!)t. — 2Bas bie Sibel betrifft, [o [ollte
biefes „33ud) ber $8ü^er" t)tn i^inbern nur in forgfältig geix)ät)Item
5tus3uge in bie §anb gegeben toerben (als „Sdiulbibel"); baburd)
ujürbe bie 93efledung ber ünblid)en ^t)anta[ie mit ben 3al)lrei(i)en
unfauberen ®e[(t)idE)ten unb unmoraIi[d)en (^3äl)Iungen Derl)ütet
werben, an "ötmn namentli(f) bas ^Ite !teftament fo reid^ ijt.
Stoat unb S^ule. 9la(i)bem unfer mobemer Äulturftaat [ic^
unb bie Scf)ule von ttn Sflaoenfeffeln ber Siixä)t befreit I)at,
u)irb er um [o me^r [eine ilraft unb (Jrürforge ber Pflege ber
(5d)ule toibmen fönnen. Der un[d)äpare SBert eines guten
Scl)ulunterrid)ts ift uns um fo mel)r 5um 33eiDufet[ein gefommen,
je reid)er fict) im ßaufe bes 19. ^ö^r^unberts alle 3tt>eige bes
mobernen ^Kulturlebens entfaltet l)aben. ^ber bie (SntrDicfelung
ber Unterri^tsmetl)oben l)at bamit feinestoegs gleichen S(^ritt
gel)alten. X>it 9IottDenbig!eit einer umfaffenben (5d)ulreform
brängt fid) uns immer ent[d)iebener auf. SBefonbers bürften babei
folgenbe 5ort[d)ritte 3U berüd[ic^tigen [ein: 1. ^m bisl)erigen
ltnterrid)t [pielte allgemein ber 9Jien[d) bie Hauptrolle unb be=
[onbers bas grammati[d)e Stubium [einer Spracj)e; bie 91atur=
funbe tourbe barüber ganj Demad)lä[[igt. 2. 3n ber neueren
S^ule muß bie 9latur bas ^auptobjeft toerben; ber 9J?en[(^ [oll
eine rid)tige S3orjtellung oon ber SBelt getoinnen, in ber er lebt;
er [oll nid)t aufeerl)alb ber 9^atur jtel)en ober gar im (5egen[a^ ju
i^r, [onbem [oll als x\)x ^öc^jtes unb ebel[tes (Srseugnis er[(^einen.
3. T)as Stubium ber !la[[i[cl)en (5prad)en (ßoteini[d) unb
15*
•228 !neun3e^ntes Äapilel. Hnfere monijtifc^c Sittcnlelirc.
®ric(i)t[d)), bas bi5l)er htn größten 3;eil bcr 3eit unb 5lrbeit in
^2ln[prurf) nal)m, bleibt gtüar [el)r toertüoll, mufe aber ftar! bef^ränft
unb auf bie (Elemente rebu3tert roerben (bas (5rtecf)if(i)e nur
faMtatir), bas üatemifd) obligatortf^). 4. Dafür ntüfftn bie m o b er =
ntn 5lultur[prad)en auf allen p{)eren S(f)ulen um [o mel)r
gepflegt roerben (Deutfrf), (Snglifd), ^rranjofifct), ^talienifc^). 5. Der
Hnterrid)t in ber ®efrf)i(^te mu^ mel)r bas innere (Beiftesleben,
bie 5^ulturgefd)i(^te berüdfi^tigen, roeniger bie äufeerlirf)e 3}ölfer=
ge[rf)id)te (bie <B6)xd\aU ber Drinajtien, 5lriege ufto.). 6. Die
(Srunbsüge ber (£nttDideIungsIel)re finb im 3iifammenf)ange
mit benjenigen ber ilosmologie gu Iel)ren, ©eologie im Ulnf^Iufe
an bie ©eograpl)ie, ^ntl)ropoIogie im U[nfd)luJ3 an bie Biologie.
7. Die ©runbjüge ber Biologie muffen (Semeingut jebes ge=
bilbeten 9JJenfd)en roerben; ber moberne „5tnfct)auungsunterrid)t"
förbert bie an3iel)enbe (£infüt)rung in bie bioIogi[d)en 9Bi[fenfrf)aften
('!jrntt)ropoIogie, 3ooIogic, ^otanü). ^m beginne ijt üon ber
be[ct)reibenben Si)ftematif aus3ugel)en (im 3ufammenf)ang mit
Cfologie ober Sionomie); fpäter [inb bie (Elemente ber Anatomie
unb ^l)r)fioIogie angufi^Iiefeen. 8. (Ebenfo mufe von ^t)r)fi! unb
(£f)cmie jeber (Sebilbete bie ©runbsüge fennen lernen. 9. 3^ber
®(f)üler mufe gut geid^nen lernen, unb groar nad) ber 9latur;
löomöglid) aud^ aquarellieren. Das (Enttoerfen von 3eirf)nungen
unb ^quarell[Ü33en naä) ber 9latur {von Slumen, 3:ieren, £anb=
[c^aften, 2Bol!en ufu).) toecft nict)t nur bas 3tttere[[e on ber 9Zatur
unb erl)ält bie (Erinnerung an il)ren ©enufe, fonbern bie Scl)üler
lernen baburd) überl)aupt erjt rid)tig fel)en unb bas ©efe^ene r)er=
[tel)en. 10. 33iel mef)r Sorgfalt unb 3eit als bisl)er ift auf bie !ör«
perlid)e ^usbilbung 3U »ertoenben, auf Blumen unb Sd^toim*
men; por3üglid) aber finb toö^entlid) gemeinfame (5pa3iergänge
unb iäl)rlicl) in ben 3rerienmel)rere 0^ unreifen 3U unternel)men;
ber I)ier gebotene ^nfd^auungsunterrirf)t ijt oon t)ö(^jtem 2Bert.
Das §aupt3iel ber l)ö^eren (5d)ulbilbung blieb bisl)er in htn
meijten ^ulturftaaten hit 23orbilbung für htn fpäteren Seruf,
(Ercoerbung eines geroiffen S[Rafees oon 5lenntni[fen unb ^bri(i)tung
für bie ^flid)ten bes Staatsbürgers. Die (3cf)ule bes 20. ^a\)x=
bunberts u)irb bagegen als §aupt3iel bie ^usbilbung bes felb-
ftänbigen Deutens »erfolgen, bas ftare 33erftänbnis ber er=
ujorbenen .Henntniffe unb bie (Einfid^t in t)tn natürlicl)en 3"*
[ammenl)ang ber (Erfrf) einungen. SBenn ber moberne Äulturjtaat
jebem Bürger bas allgemeine gleirf)e 2Bal)lre({)t 3ugejtel)t, mufe er
it)m aud) bie 95iittel geu)äl)ren, burdE) gute Sc^ulbilbung feinen
33erjtanb 3U enttoirfeln, um baoon 3um allgemeinen heften eine
oernünftige 5lntüenbung 3U marf)en.
3u)an3iglte5 5^apitel. £ö^ung bcr SBelträtfel. 229
eSfung bet gBetftäffeC
9lMbM auf bie ffortfc^ritte bcr tptffcnfc^aftlic^en ^clf--
erfcnntni^ im neunjc^ntcn Sa^r^unbert ^eanttportung bei'
Q33e(trätfc( burc|) bie moniftifcf)e 9^atur|)(;ilofop^ie.
^TTi (£nbc unferer pt)tIo[opI)i[d)en 8tubtcn über bie SBelträtfel
angelangt, bürfen toir getrojt 3ur ^eanttüortung ber ]d)xotx=
lotegenben grage [(f)retten: 2Bte roeit ift uns if)re ^öfung gelungen?
3ßeld)en 3Bert befi^en bie ungef)euren 3^ortfdf)rttte, tüelcf)e bas
t)erfIo[[ene 19. ^ö^^^unbert in ber toaljren ^RaturerJenntnis ge=
ma(f)t f)at? Unb toelc^e ^usfid^t eröffnen [te uns für bie 3u!unft,
für bie loeitere (gntcoicfelung unferer 2BeItanf(^auung im 20. ^a\)x=
i)unbert? 3eber unbefangene T)en!er, ber bie tatfäd^Iic^en O^ort=
[c^ritte unferer empiri[cf)en 5^enntiti[[e unb bie ein^eitli(i)e i^Iärung
unferes pI)iIo[op]^ifcf)en 33erftänbni[[es einigermaßen über[e!)en
fann, roirb unjere ^nfii^t teilen: bas 19. 5ö^r!)unbert \)ai größere
5ort[d)ritte in ber i^enntnis ber 5Ratur unb im 33erjtänbnis i^res
SBefens I)erbeigefüf)rt als alle frül)eren 3ö^rt)imberte; es \)ai otele
große „ißelträtfel" gelöjt, bie an [einem beginne für unlösbar
galten; e6l)atuns neue ©ebiete bes 2Bi[[ens unb (Erfennens auf=
gefc^loffen, üon beren (Sriftenj ber 9J?en[c^ not l)unbert 3cil)ren norf)
feine ^l)nung l)atte. 23or allem aber \)ai es uns bas erl)abene 3iel
ber moni[ti[^en Kosmologie llar oor ^ugen gestellt unb "Hzn
2Beg geaetgt, auf tDelcl)em allein u)tr uns il)m nähern fönnen, tizn
2Beg ber eiaften empiri[(i)en (£rfor[(f)ung ber 3:at[ac5en unb ber
fritif^en geneti[cf)en (Srlenntnis il)rer Urfadien. T)as abjtra!te
große (5e[e^ ber mec^anifc^en 5^au[alität, für bas un[er
tosmologifc^es ©runbgefe^, bas Subftanjgefe^, nur ein
anberer !on!reter ^usbruc! ijt, be^err[d)t je^t bas linioerfum
eben[o roie t)tn 9Jlen[d)engeift; es ijt ber [id)erc, unoerrüdbare £ett=
jtern gemorben, beffen flares £id)t uns burd) bas bunfle fiabprintl)
ber unjä^ligen einzelnen (£rfd) einungen lizn ^fab geigt. Um uns
baDon 3U übergeugen, toollen roir einen flüd)tigen "iHüdblicE auf bie
erjtaunltd)en ^ortfc^ritte roerfen, töeld)e bie ^auptgmeige ber
9laturroi[[enfd)aft in biefem benfcoürbigen 3eitraum gemad^t l)aben.
I. 5ortf(^ritte ber 5l)'tronomte. X)ie ioimmelsfunbe ijt
bie öltejte, bie äRenfdjenfunbc bie jüngjte 9^aturtDi|[en[(^aft.
230 3t»cin3i9ftes 5^opitel.
ÜUx ]x^ felbft unb [ein eigenes 2ße[en tarn ber 9Jtenfd^ erft in ber
Stoeiten ^älfte bes 19. 3cii)rl)unbert5 3ur KIart)eit, tüäl)renb er in
ber i^enntnis bes gejtirnten ^immels, ber ^lanetenbetoegungen
u[tD. \d)on Dor 5000 3öt)ren üiele 5^enntni[fe be[afe. Die alten
ö:i)ineien, 3nber, ^gt3pter unb (£l)albäer fannten im fernen
9J?orgenIanbe jd)on bantals bie [pl)äri[d)e ^tronontie genauer als
bie meijten „gebilbeten" (£t)riften bes ^benblanbes üiertau[enb 5al)re
[päter. (5(i)on im ^ai)xt 2697 vox (i\)x. tourbe in (iil)ina eine
Sonnenfinfternis aftronomifd) bered)net unb 1100 So^re Dor (£l)r.
mittels eines (Snomons bie Srf)iefe ber (£!Iipti! bestimmt; l)ingegen
be[afe (£I)rijtus felbjt (ber „So!)n ©ottes!") befanntlicf) gar feine
ajtronomi[dE)en Äenntniffe; er beurteilte Dielmel)r ^immel unb
(£rbe, 9latur unb 9Jlen[cf) von bem be[d)ränfteften geo3entri|(f)en
unb antf)ropo3entri[(^en Stanbpunfte aus. ^lls größter 3rort[(i)ritt
ber ^ftronomie roirb allgemein unb mit 9lecf)t bas l)elio3entrifrf)e
2Belt[i)jtem bes 5lopernilus betra(i)tet, beffen großartiges SPSerf:
„D e revolutionibus orbium coelestiu m" (1543)
[elbft bie größte ^leoolution in ben Stopfen ber benfenben 9Kenf(f)en
i)ert>orrief. 3nbem er bas l)err[^enbe geo3entri[(i)e 2Belt[r)ftem bes
^tolemäus ftür3te, entsog er 3ugleidE) ber l)err[(i)enben ct)riitli^en
2Beltanfd)auung ben Soben, u)elä)e bie (Srbe als SO^Zittelpunft ber 2ßelt
unb t>tn 9Jlen[d)en als gottglei(f)en Sel)errf(i)er ber (£rbe betrai^tete.
(£s toar ba^er nur folgefi(i)tig, baß ber d)rijtlid^e i^lerus, an [einer
Spi^e ber römi[cl)e ^ap[t, bie neue CBntbecfung bes 5^operni!us aufs
f)eftig[te belämpftc. Xro^bem hxad) [ie [ic^ balb Dolljtänbig 23al)n,
nad)bemi^epler unb (Salilei barauf bie xDa\)xt „3Red)anif bes$im=
mels" gegrünbet unb ^Retoton il)r bur^ [eine ©raDitationstl)eorie
bie uner[^ütterlicf)e matl)emati[(j^e Sa[is gegeben f)atte (1686).
(Ein ujeiterer getoaltiger unb bas gan3e irnit)er[um umfa[[enber
gort[^ritt lüar bie (£infül)rung ber (Snttoicfelungsibee in bie
§immelshinbe; er ge[d)a^ 1765 bur^ ben iugenblid)en 5^ant,
ber in [einer fü^nen 5lllgemeinen lRaturge[d)id)te unb 3^eorie
bes Fimmels ni(i)t nur bie „93erfa[[ung", [onbem au^ ben
„med)ani[(i)en Hr[prung bes gan3en SBeltgebäubes naii)
9leu)tons ©runb[ä^en" ab3ul)anbeln unternal)m. Durd) bas groß*
artige „Systeme du monde" oon £aplace, ber unab*
I)ängig von ilant auf bie[elben 93or[tellungen von ber SBeltbilbung
ge!ommen toar, tourbe bann 1796 bie[e neue „Mecanique
Celeste" [o fejt begrünbet, ha^^ es [cf)einen fonnte, un[erem
19. 3ö^i^^iiTtbert [ei auf bie[em größten (Erfenntnisgebi^tc nichts
xoe[entlic^ bleues von gleicl)er Sebeutung mel)r Dorbel)alten. Itnb
bod^ bleibt tf)m ber ^u^nx, aud) \)kx gans neue Sa!)ncn eröffnet
unb un[eren fBM ins Unioerfum uncnblirf) ertucitert ju l)abcn.
fiö[ung ber 2Belträt[eI. 231
Durd) bie (Erfinbung ber ^I)otograpl)ie utib ^I)otometrie, cor allem
aber ber ®pe!tralanalr)[e (burd) SBunfen unb Äir(f)l)off, 1860)
ujurben bie ^t)t)[if unb (£l)eTnte in bie ^Iftronomie eingeführt unb
babur(f) !osmoIogi[(^c 5tuf[d)lü[[e von größter ^Iragtoeite gewonnen.
(£s ergab [idf) nun mit SidE)erJ)eit, bafe bie SJiaterie im gansen
SBeltall loefenilid) btefelbe ift, unb t>a^ \\)xz pl)i)[i!ali[d)en unb
d)emi[d)en (£igen[d)aften auf titn fernjten (Jiiftemen nid)t cer^
[d[)ieben [inb oon benjenigen unferer (£rbe.
T)k monijtif^e Uberseugung von ber pl)r)[i!ali[(^en unb
d^emi[d)en (Einheit bes unenblicf)en 5tosmos, bie roir
baburd) getoonnen ^aben, gehört [id)erlid) gu ben tDertooIljten
allgemeinen (£r!enntni[[en, toeld)e roir ber ^[trop{)t)[if oerbanfen,
einem neuen t)öd)ft intere[[anten 3^etge ber ^jtronomie. ^\d)t
minber iDid)tig ift bie !lare, mit ^ilfe jener geroonnene Cgrfenntnis,
bafe aud) bie[elben ©e[e^e ber med^anifd)en (Enttoidelung im un=
enblid)en Hnioerfum ebenfo überall ^errf^en toie auf unferer (Erbe;
eine getoaltlge allumfaffenbe 9Jletamorpl)o[e bes Äosmos
üoll3iel)t fid) ebenfo ununterbrochen in allen Xeilen bes unenblid)en
Xlnioerlums roie in ber geologif^en (5e[(^id)te unferer (£rbe;
ebenfo in ber Stammesgefd)ic^te il)rer SBetoo^ner toie in ber 93ölfer=
gefd)id)te unb- im Qzhtn jebes einzelnen 9Kenf(^en. ^n einem
Xeile bes i^osmos erbliden roir mit unferem oeroolHommneten
5etnrol)re gecoaltige S^lebelflede, bie aus glü^enben, äufeerft bünnen
©asmaffen beftet)en; toir beuten fie als Reime oon 2Belt!örpern,
bie 93?illiarben t»on SOfleilen entfernt unb im erften Stabium ber
(SntiDidelung begriffen finb. Set einem 2;eile biefer „Sternfeime"
finb tDal)rfc^einlid) bie d)emifd^en Elemente nod) nid)t getrennt,
fonbem bei ungel)euer ]^ol)er 3^emperatur im Xlrelement oer*
einigt. 3n onberen teilen bes Unioerfums begegnen roir Sternen,
bie bereits burd) ^bfül)lung glutflüffig getoorben, anberen, bie
fd)on erftarrt'finb; toir fönnen il)re (Enttoidelungsftufe annä^ernb
aus il)rer t)erfd)iebenen t^örbe beftimmen. Xann toieber fel)en
roir Sterne, bie oon 9^ingen unb SJJonben umgeben finb loie unfer
Saturn; toir erfennen in bem Ieud)tenben 5Rebelring ben i^eim
eines neuen 9[Uonbes, ber fid^ oom 9}lutterplaneten ebenfo abgelöft
f)at roie biefer oon ber Sonne. Die moberne §immelspl)otograpl)ie
^at uns in ttn Stanb gefegt, mit §ilfe ber mäd)tigen, fel)r oerooll«
fommneten 9liefenfemrol)re, bie 3ö¥ '^^^ fid)tbarcn äßeltförper
in ben einzelnen ^immelsbesirten genau 3u beftimmen; fd)on je^t
finb mel)r als f)unbert 9}lillionen Sterne roirfli«^ ge3äl)lt u)orben,
bie meiften tDal)rfc^einlid) oiel größer als unfere (£rbe.
33on üielen „^ix]tttntn" , bcren 2\ä)i ^o^^^aufenbe braurf)t,
um 5u uns ju gelangen, bürfen toir mit Sid)er^eit onnel)men, bafe
232 3wö"3i9nes Äapitel.
[ie Sonnen [tnb, äl)n\\^ unferet äRuttcr Sonne, unb ha^ fte oon
"Planeten unb SRonben untfretjt tüerben, ä^nlid) htmn unferes
eigenen .Sonnen[t)|tems. 2Btx bürfen aud) u)etterl)tn oermuten,
t>a^ \i<S) 3:au[enbe oon btefen Planeten auf einer ä{)nli(f)cn (£nt=
toicfelungsjtufe toie unfere (£rbe befinben, b. l). in einem Bebens^
alter, in bem bie 3:emperatur ber OberfIä(i)e 3roi[rf)en bem ®efrier=
unb Siebepunft bes 2Ba[[er5 liegt, al[o bie (£xiften3 tropfbaren
flüffigen 2Ba[fer6 gejtattet. Damit tft bie 9JiögIi(^!eit gegeben, ha^
ber 5^of)Ien[toff audf) t)ier, roie auf ber (£rbe, mit anberen (£Ic=
menten [et)r oertoicfelte 23erbinbungen einget)t, unb ba^ aus [einen
■fticfjtofft)aItigen 33erbinbungen fi^ ^lasma entioidEelt \)ai, jene
rounberbare „lebenbige Subftanj", bie toir als alleinigen
(Eigentümer bes organi[(i)en ßebens lennen. X)ie äWoneren, bie
nur aus [ol(i)em primitioen "»Protoplasma beftel)en, unb bie burd)
Urzeugung (^r^ig0nie) aus jenen anorganifdien 5^ol)lenjtoff=
33erbinbungen entftanben, fönnen nun benfelben (Snttoidelungsgang
auf üielen anberen, roie auf unferem eigenen Planeten, einge=
f erlagen I)aben; 3unäd)jt bilbeten fid) aus it)rem l)omogenen ^lasma=
förper burd) Sonberung eines inneren 5^erns oom äußeren 3^^ =
förper einfad)fte lebenbige 3ßnen. Die 5tnalogie im 2tbtn aller
3ellen aber bered)tigt uns 3U bem Sd)luf[e, bafe aud) bie roeitere
Stammesge[d)i(^te [i(^ auf oielen Sternen äl)nlid^ toie auf unferer
(Erbe abfpielt — immer natürlid) bie gleid)en engen ©ren3en ber
3:emperatur oorausgefe^t, in 'otmn bas 2ßa[[er tropfbar=flü[[ig
bleibt; für glül)enbflüf[ige Sßeltförper, auf benen bas 2ßa[[er nur
in Dampfform, unb für erstarrte, auf benen es nur in (Eisform
beftet)t, ijt organifd)e5 2thtn in gleid)er SBeife unmöglid).
!^te $l^nU(^fett ber ip^tilogeme, bie Analogie ber jtammes^
ge[d)id)tlid)en (Entroidelung, bie toir bemna(^ bei oielen Sternen
auf gleid)er biogenetifd^er (Entioidelungsftufe annel)men bürfen,
bietet natürlid) ber fonftruftioen ^l)anta[ie ein roeites gelb für
farbenrei^e Spefulationen. (Ein fiieblingsgegenftanb berfelbcn ift
feit alter 3eit bie grage, ob aud) 95len[d)en ober uns äl)nlid)e,
oielleid^t l)öl)er enttoidelte Organismen auf anberen Sternen
u)ol)nen? Soweit toir gegentoärtig 3ur 93eanttt)ortung biefer
Örrage befäl)igt er[d)einen, fonnen toir uns etroa j^olgenbes üor=
jtellen: I. (Es ijt [el)r tDa]^r[d)einlid), bafe auf einigen Planeten
unseres St^ftems (5[Rars unb 33enus) unb oielen ^kneten anberer
Sonnenfr)jteme ber biogenetifc^e ^ro3efe fid) ät)nli(^ toie auf
un[erer (Erbe abfpielt; 3uerft entftanben burd) 5lrd)igonie ein=
fad)e SJioneren unb aus biefen einsellige ^^rotiftcn. II. (Es ift
fef)r roal)rf^einlid), t)a^ aus fold)en ein3elligen Hrtoefen fid) im
Boeiteren 33erlauf ber (Entroidelung 3unäcl^ft fosiale 3elloereine
£ö[ung ber 2BeIträt[el. 233
bilbeten, fpäter getoebebilbcnbc ^flanjen unb Stiere. III. (£5 tjt
aud) fernerhin töa^r[d)einlirf), bafe ttn ^flan5enreid)e ftd) 3unä(f)it
"iTioofe unb ^axm, [päter ^Igen, jule^t ^Blumenpflanaen enttütd elten.
IV. (£5 tjt ebenfo u)at)r[cf) einlief, bafe aud) im Xierrei^e ber bio=
genetifc^e ^rojefe einen ä{)nlid)en 93erlauf nal)m, bafe aus SIaftä=
aben fic^ 5unäd)jt ®ajträaben eniu)icfelten, unb aus biefen 9^ieber=
tieren [päter Obertiere. V. Dagegen ijt es [et)r fraglid), ob bie
eiuäelnen Stämme bie[er I)öl)eren Xiere (unb ebenfo ber t)öt)eren
^^flansen) ben[elben ober einen äf)nli(^en (Enttoidelungsgang auf
anberen Planeten burd)Iaufen toie auf unferer (Erbe. VI. ^ns*
befonberc ijt es un[id)er, ob SBirbeltiere aud) aufeerl)alb ber (Erbe
eiijtieren, unb ob aus beren p^pletifc^er 93ietamorpt)ofe [irf) im fiaufe
oieler 93?inionen ^ai^xt eben[o Säugetiere unb an beren Spi^e
ber 93ien[d) enttoidelt f)abtn toie auf unferer (£rbe; es müßten bann
äRillionen oon ^Transformationen \i(i) bort ganj ebenfo roie l)ier
ijoiebert)oIt t)aben. VII. Dagegen ift es rDaf)rf(i)einU(^er, ha^ auf
anberen Planeten fid) anbere Xx)p^n von {)öt)eren ^flan^en unb
Xieren enttoidelt t)aben, bie unferer (£rbe fremb finb; oielleic^t
aud) aus einem ^öt)eren Xierftamme, ber ben SBirbeltieren an
$ßilbungsfät)ig!eit überlegen ijt, I)öl)ere 2Befen, bie uns irbifc^e
9Jien[d)en an ^Tttelligens unb Denfoermögen toeit übertreffen.
VIII. Die 9JtögIid^!eit, bafe toir SO^lenfci^cn mit folc^en ^Beroo^nern
anberer Planeten jemals in bireften 93er!el)r treten fönnten, er*
fd^eint ausgefd)loffen burd) bie roeite (Entfernung unferer (Erbe
oon anberen 2Belt!örpem unb bie ^biDefen!)eit ber atmofpl)ärif(^en
£uft in bem ungel)euren, nur oon ^tl)er erfüllten 3^if<^^nraum.
3Bäl)renb nun oielc Sterne fid) toat)rfd)einli(^ in einem äl)n-
li(^en biogenetifi^en (Entroidelungsjtabium befinben roic unfere
(Erbe, finb anbere fc^on toeiter t)orgefd)ritten unb gel)en im „planc=
tarifd)en (Sreifenalter" il)rem (Enbe entgegen, bemfelben (Enbe, bas
au^ unferer (Erbe fid)er beoorjtel)t. Duri^ ^usjtral)lung ber SBärme
in ben talten 2Beltraum roirb bie 3^emperatur allmäl)lid) fo l)erab=
gefegt, ha^ alles tropfbar flüffige SBaffer gu (Eis erjtarrt; bamit
I)ört bie 9Jiöglid)!eit organifd)en Bebens auf. 3uglei(^ 3iel)t fid)
bie SJlaffe ber rotierenben 2Belt!örper immer jtärfer ^ufammen;
il)re Umlaufsgefd)toinbig!eit änbert fic^ langfam. Die Sat)nen
ber freifenben Planeten coerben immer enger, ebenfo biejenigen
ber fie umgebenben 9Jlonbe. 3iil?^t jtürjen bie XRonbe in bie
^^laneten unb biefe in bie Sonnen, aus htmn fie geboren finb.
Durd^ biefen 3iifflTnmenjto|3 toerben ojieber imgel)eure 2Bärme=
mengen er3eugt. Die 3erjtäubte SJlaffe ber serjtofeenen follibierten
5lßelt!örper »erteilt fic^ frei im unenblid)en 2Beltraum, unb bas
etoige Spiel ber Sonnenbilbung beginnt oon neuem.
234 3tDan3tgfie5 5tapitel.
Das großartige Silb, tDeId)cs fo vox unfcrcn geijttgcn ^ugen
btc mobemc ^jtrop^i)fi! aufrollt, offenbart uns ein eroiges (£ntfte{)en
unb 93erget)en ber un3äf)Iigen 2Beltförper, einen periobi[d)en 2Berf)[eI
ber r)er[d)iebenen !osmogeneti[cf)en 3uftänbe, welche roir im Unioer*
[um nebeneinanber beobad)ten. 2ßäl)renb an einem Orte bes
unenbli(i)en SBeltraums aus einem biffufen Sf^ebelflecf ein neuer
2Belt!eim |icf) enttoidett, l)at ein anberer an einem roeit entfernten
Orte \\ä) bereits ju einem rotierenben Salle oon glutflü[figer
9Jtaterie oerbi(i)tet; ein britter I)at bereits an [einem 5lquator
9iinge abge[cf)Ieubert, ^it [ict) 3u Planeten ballen; ein oierter ijt
[d^on 3ur mädf)tigen Sonne getoorben, beren Planeten [idE) mit
[ehinbären Trabanten umgeben f)aben, htn SJlonben u[ro. u[n).
Unt) ba3tDi[(^en treiben [ict) im 2BeItraum SJlilliarben üon Heineren
2Belt!örpem uml)er, oon SHeteoriten unb Stem[(^nuppen, bie als
[rfieinbar ge[e^Io[e 93agabunben bie Sal)n ber größeren burd^=
freusen, unb oon benen täglict) ein großer 3:eil in bie le^teren
f)ineinjtür3t. Dabei änbem [ic^ beftänbig Iang[am bie Umlaufs^
Seiten unb bie Sat)nen ber jagenben 2BeIt!örper. Die erfalteten
95lonbc [türaen in il)re Planeten xoie bie[e in i^re Sonnen. 3^^^
entfernte Sonnen, oielleic^t [c^on erftarrt, jtoßen mit ungel)eurer
Kraft aufeinanber unb 3er[täuben in nebelartige 9Jla[[cn. Dabei
enttoideln [ie [o !oIo[[aIe Sßärmemengen, hal^ ber IRebelfledf toieber
glü{)enb lüirb, unb nun tDiebert)oIt [ict) bas alte Spiel oon neuem.
Sei bie[er bejtänbigen Hmbilbung bleibt aber bie unenblid)e
Sub[tan3 bes Hnit)er[ums, bie Summe il)rer SRaterie unb (£Tiergie,
eu)ig unoeränbert, unb etoig tDieberI)olt [irf) in ber unenblidien
3eit ber periobi[(^e 2BecE)[el ber 2Beltbilbung, bie in [id)
[elbjt 3urüc!laufenbe 9J?etamorpl)o[e bes 5^osmos, bas „Per-
petuum mobile" bes irnioer[ums. ^llgetoaltig ]^err[d)t bas
Sub[tan3ge[eö.
II. 3fortf($ritte ber ©eologie. 23iel [pätet als ber §immel
rourbe hit (£rbe unb i^re (Snt[tef)ung ©egenftanb tDi[[en[c^aftli(l)er
gor[c^ung. Die 3al)lreicl)en Äosmogenien alter unb neuer 3ßit
roollten 3mar über bie (£ntjtel)ung ber (Erbe eben[ogut ^usfunft
geben mie über bie bes Fimmels; allein bas mr)tt)ologi[d)c ©etoanb,
in bas [ie [id) [ämtli^ f)üllten, oerriet [ofort il)ren Ur[prung aus
ber bid)tenben ^f)anta[ie. Unter all htn 3al)lreicl)en Sd^öpfungs»
[agen, oon t>tmn uns bie 9leligions= unb 5lulturge[d)irf)te iRunbe
gibt, getoann eine einsige balb allen übrigen htn 9?ang ab, bie
Scl)öpfungsge[d)irf)te bes äRo[es, toie [ie im erjten S8u(^e bes
^entoteudE) (Genesis) ersätjlt mirb. Sie entjtanb in ber befannten
gro[[ung erjt lange nac^ bem 3:obe bes aRo[e5; it)re Quellen [inb
aber größtenteils oiel ölter unb ouf a[[r)ri[(t)e; babr)lom[cl)e unb
fiöfung ber aBcIträtfcI. 235
inbi[d)c 8agen surütf^ufü^rcn. t)zn größten (Einfluß gctoann
biefe jübifd^e Scf)öpfungs[age babiirc^, tia^ [tc in bas (f)rtjtlt(^c
©laubcnsbefenntms I)tnübcrgenommcn unb als „2Bort ©ottes"
geheiligt rourbe. 3o3ar I)attcn [d)on 500 ^a^i^c vox (£3)r. bic
grted)t[^en $Ratiirpl)Uofopl)en bic natürlid)c (£ntjtcl)ung ber (£rbe
auf bicfelbe 2Bei[c toic bie ber anberen 3BeIt!örper erflärt. %ud)
I)atte [(J)on bamals Btenop^ancs t)on 5^olopt)on bie S3er[tcine =
rungen, bie [päter [o gro^e SBebeutung erlangten, in i\)xzx mat)Xtn
9^atur erfdnnt; ber grofee SJialer fieonarbo ba 33inci ^atte int
15. 5al)rl)unbert ebenfalls biefe ^etrefaften für bie fo[[iIen Über»
rejte Don 3:ieren erflärt, bie in frül)eren 3eiten ber (£rbge[d)icf)te
gelebt l)atten. allein bie 5tutorität ber SBibel, insbe[onbere ber
90'lt)tt)U5 öon ber Sintflut, t)ert)inberte jeben roeiteren (5ort[(i)ritt
ber tDal)ren (Srfenntnis unb [orgte bafür, bafe bie mo[ai[(f)en
(5d)öpfung5[agen noi^ bis in bie 93litte bes 18. 3a!)rt)unberts in
©eltung blieben. 3n htn 5lrei[en ber ortt)oboxen i()eoIogen be=
[i^en [ie biefelbc nod^ bis auf htn I)eutigen 3:ag. (£rjt in ber ätoeiten
§älfte bes 18. 3cil)rl)unberts begannen unabpngig baoon coiffen^
[c^aftlici)e (5otf(i)ungen über ben 93au ber ©rbrinbe, unb rourben
baraus Sd^Iüffe auf ilire (£ntftei)ung abgeleitet. Der SBegrünber
ber ©eognofie, SBerner in greiberg, liefe alle ©ejteinc aus bent
2ßa[[er entftel)en, tDä{)renb 93oigt unb Button (1788) ri(i)tig er*
lannten, bajg nur bie febimentären, ^etrefaften füf)renben ©ejteine
Ut\tn Ur[prung t)aben, bie t)ul!ani[(i)en unb pIutoni[d^en Oebirgs*
maffen bagegen burdf) (Erftarrung feurigflü[[iger ^Raffen ent»
jtanben [inb.
Der f)eftige 5iampf, ber 3U)t[(f)en jener neptuniftifrfjcn unb
biefer pIutonifti[d)en S^ule entjtanb, bauerte nod) tDä()renb
ber erjten brei Dejennien bes 19. 3öl)r^unbert5 fort; er rourbe erft
ge[rf)Ii(f)tet, nac^bem Äarl §off (1822) bas ^rinsip bes ^ftuolis^
mus begrünbet unb (£I)arIes äx)tU basfelbe mit größtem (Srfolge
für bie gan^e natürlich) e (SnttoidEelung ber (Srbe bur(t)gefül)rt ^atte.
Durc^ \tim „^rin^ipien ber ©eologie" (1830) ujurbe bie überaus
toic^tige £e!)re von ber ^Kontinuität ber (Erbuntbilbung enbgültig
3ur ^nerfennung gebrad)t, gegenüber ber 5Katajtropl)entt)eorie oon
(£ut)ier. Die Paläontologie, toelci^c le^terer bur^ [ein 2Ber!
über bie fo[[iIen 5lno(f)en (1812) begrünbet ^atte, tourbe nun balb
3ur tüi(i)tigften §iIfstDi[[en[d^aft ber (öeologie, unb f(^on um bie
SJlitte bes 19. 5a{)ri)unberts I)atte [ie \iä) [o toeit entu)idelt, bafe bie
§auptperioben in ber (5e[(^i(t)te ber (Erbe unb il)rer SetDoI)ner
feftgelegt toaren. Die bünne 9?inben[(i)i(f)t ber C£rbe tüar nun mit
Sid)ert)eit als bie (£r[tarrungs!ru[te bes feurigflü[[igen ^loneten
erfannt, be[[en lang[amc ^b!ül)lung unb 3w[ammen3iel)ung [ic^
236 3oJttTi3i9fte5 5^apitel.
ununterbrod^en fortfe^t. Die ^röltung ber erftarrcnben 9{mbe,
bic „9?ea!tton bes feurtgflüffigcn ©rbinnern gegen bte erfaltete
£)berfläcf)e", unb vox allem t)k ununterbrod^ene geologifc^e 3:ätxg!ett
bes 2Ba[[er5 [inb bte natürlid) tDtrfenben Ur[ad)en, toelcf)e tagtägltd)
an ber Iang[amen Kmbilbung ber (Srbrtnbe unb tt)rer ©ebtrge
mäd^ttg arbeiten.
X)ret überaus tüi(t)tige (£rgebnif[e von allgemeiner Sebeutung
perbanfen toir htn glänjenben (5ort[ct)ritten ber neueren (öeologie.
(grftens tDurben bamit aus ber (£rbge[cf)ici^te alle SBunber aus=
ge[(i)loffen, alle übernatürli(^en Urfeidjen beim Aufbau ber ©ebirge
unb ber Umbilbung ber i^ontinente. 3^^ttens tourbe un[er Segriff
von ber fiänge ber ungeheuren 3eiträume, bie [eit beren Silbung
Derfloffen [inb, erftaunlid) ertoeitert. 2ßir toiffen je^t, ba^ bie un=
gel)euren (5ebirgsma[[en ber paläojoifi^en, me[o3oifcl)en unb
3äno3oi[cl)en Formationen ni(f)t Diele 3o^i^tau[enbe, fonbern oiete
3a^rmillionen 3U tf)rem Aufbau brandeten. Drittens löiffen toir
je^i bafe alle bie 3at)lreic^en, in biefen ^rormationen eingef(^lo[fenen
äJerfteinerungen nic^t tounberbare „9^atur[piele" [inb, u)ie
man nod) vox 150 ^o^ren glaubte, [onbem bie oerjteinerten ltber=
refte uon Organismen, u)elcl)e in frül^eren ^erioben ber (£rb=
ge[(^i^te tuirflic^ lebten, unb roeldie burd) langfame Umbilbung
aus Dorl)ergegangenen 9lf)nenreif)en entjitanben [inb.
III. 3fortf^rttte ber ^^rjftf unh Cremte. Die 3al)llo[en
u)id)tigen (Entbecfungen, tDetd)e bie[e funbamentalen 2Bi[[en[d)aften
im 19. 3<il)r^iinbert gemad^t l)aben, [inb [o allbefannt unb il)re
pra!ti[d)e ^nroenbung in allen 3K>ßtgen bes men[d)li(f)en 5lultur=
lebens liegt [o flar cor aller ^ugen, ha^ roir t)ier ni(i)t (Sinselnes
l)erDor3ul)eben brauchen, ^llen Doran t)at bie ^nioenbung ber
Dampfiraft unb (£le!tri3ität bem 19. 5al)rl)unbert t)tn 6)axaiit=
rijti[cl)cn „SOZa[d)inen[temper' aufgebrüht, ^ber nic^t minber
toertüoll ]xn'i> bie !olo[[alen 3^ori[cf)ritte ber anorgani[^en unb orga=
ni[(i)en (Il)emie. 3llle ©ebiete un[erer mobernen i^ultur, 5ölebi3in
unb Xe(f)nologie, ^^i^uftrie unb fianbrDirt[^aft, Sergbau unb
3ror]!trDirt[(f)aft, fianbtransport unb 2Ba[[ert>erfel)r, [inb befanntlid)
im £aufe bes 19. 3ol)rt)unberts — unb befonbers in t)t]]tn stoeiter
§älfte — baburd^ [o geförbert u)orben, bafe unfere ©rofeüäter aus
bem 18. 3a^i^I)iiTtbert \iä) in bie[er fremben 2ßelt ni(^t ausfennen
roürben. ^ber roertooller unb tiefgreifenber no^ i[t Ut ungel)eure
t{)eoreti[rf)e (Srroeiterung un[erer 9laturer!enntnis, roelc^e toir ber
Segrünbung bes Sub[tan3ge[e^es oerbanfen. 9la(i)bem fia^
üoi[ier (1789) bas ©e[e^ t)on ber (£rl)altung ber 9Jiaterie aufgestellt
unb Dalton (1808) mittels bes[elben bie ^tomt^eorie neu be=
grünbet l)atte, toar ber mobernen (Il)emie bie Sat)n eröffnet,
JÖöfung ber ^elttätfcl. 237
auf öer |ie in rapibem Siegeslauf eine frül)er nid)t geahnte Se=
beutung getoann. Dasfelbe gilt für bie ^t)i)[i! betreffenb bas
(5e[e^ von ber (£rt)altung ber (Energie. Seine (SntbedEung burd)
Stöbert SRaper (1842) unb ^ermann ^eImf)oI^ (1847) be=
beutet au(^ für biefe 2Bi[[enfct)oft eine neue ^eriobe frucf)tbarjter
(gntroicfelung; benn nun erft wax bie ^I)r)[i! imjtanbe, bie unioer*
iale (£int)eit ber SRatur!räfte ju begreifen, unb bas etoige
Spiel ber un5ät)Iigen 9^aturpro5ef[e, bei xotlä)tn in jebent 5lugen=
blicf eine 5lraft in bie anbere untgefe^t toerben fann.
IV. Sfortfd^titte ber IBioIogte. Die großartigen unb für unfere
ganje 2Beltanfd)auung bebeutfamen (Entbetfungen, toeId)e bie
^:?lftronontie unb ©eologie int 19. 5öl)i^unbert gemad)t l)aben,
vüerben nod^ roeit übertroffen oon benjenigen ber Biologie; ja,
lüir bürfen fagen, ha^i oon hm 3at)lreic^en 3i»ei9ß"; i^ tDeI(i)en
biefe umfaffenbe 2Bif[en[d)aft oom organifc^en fieben fic^ neuer=
bings entfaltet \)ai, ber größere 3:eil übert)aupt erft im £aufe bes
19. 3al)rt)unberts entftanben ijt. 2Bie roir im erften 5Ib[d)nitte
ge[el)en I)aben, [inb innerlialb besfelben alle 3^^W ^^^ Anatomie
unb ^I)r)[ioIogie, ber ^otanifunb 3ooIogie, ber £)ntogenie unb
^:pi)t)Iogenie, burc^ un3äl)lige (Sntbetfungen unb (Srfinbungen [o
iebr bereid)ert toorben, baß ber t)eutige 3ujtanb unjeres biologifd^en
^Ißiffens benjenigen t)or l)unbert ^ö^i^^Tt um bas 23ielfa(f)e übertrifft.
Das gilt 3unäd)jt quantitatio oon bem foloffalen 2Bacl)5tum
unferes pofitioen SBiffens auf allen jenen Gebieten unb il)ren ein=
3elnen Steilen. CBs gilt aber ebenfo unb no^ mel)r qualitatio
oon ber 33ertiefung unferes 23erjtönbni[fes ber biologifcf)en (£r=
fd)einungen, oon unferer (Srtenntnis il)rer betoirienben Ur[ad)en.
§ier l)at oor allen anberen G^^arles Darroin (1859) bie ^alme
bes Sieges errungen; er l)at burc^ [eine Sele!tion5tl)eorie bas
große SPßelträtfel oon ber „organi[cf)en Sd)öpfung" gelöft, oon ber
natürlid)en (£ntjtel)ung ber un3äl)ligen Lebensformen burd) all=
mäl)licf)e Itmbilbung. S^<^^ t)ötte fd)on fünfsig ^oi^xt frül)er ber
große Bamarc! (1809) erfannt, ha^ ber 2Beg biefer 3:ransformation
auf ber 2Be(^fela)ir!ung oon 3Sererbung unb ^npa[[ung berul)e;
allein es fel)lte it)m bamals noc^ bas Seleftionsprinaip, unb es
fel)lte il)m oor allem bie tiefere (£in[i(i)t in bas wa\)xt 2Be[en ber
Drganifation, roelcl)e erjt fpäter burd) bie Segrünbung ber (£nt=
tüicfelungsge[d)i(f)te unb ber 3ellentl)eorie getoonnen rourbe. 3"^^Tn
u)ir allgemein bie (£rgebni[[e biefer unb anberer Difäiplinen 3U=
[ammenfaßten unb in ber Stammesge[cl)i(^te ber Organismen ben
S(f)lü[[el 3U il)rem einl)eitlicf)en 93erjtänbnis fanben, gelangten roii
3ur Segrünbung jener moni[ti[d)en Biologie, beren ^rin3ipien
id) (1866) in meiner „©cnerellcn 3Jlorpl)ologie" fejtsulegen Der[ud)t
238 3töan3t9Jte5 Äapttel. fiö|ung bcr 9Bclträt[cI.
l)abc. (35crgl. meine „9latürltd)e Sd^öpfung5gefd)td)te", 11. 5luf=
läge, 1908). Die ^ntoenbung ber (£nttDi(feIung5lel)re auf bie a\h
gemeinen Ori-Oö^^ '^er ^l)r)[iologie l)obe iä) 1904 in meinem SBud)e
über bie „fiebenstounbet" nerfu^t. ((5emeint)erjiänblicf)e
Stubien über $8ioIogi[d)e ^I)iIofopl)ie, C^rgänjungsbanb ju bem
Sud)e über bie „Sßelträtfel".)
V. 5ortf(^ritte bcr Slnt^ropologte. ^llen anberen 2ßi[fen=
[(J)aften ooran jtel)t in getoiffem Sinne bie tDaI)re 9}len[d)en =
funbe, bie tüirtlid) vernünftige 5lntf)ropoIogie. Das SBort bes
alten 2Bei[en: „SJlenfd), er!enne bicf) felbft" unb bas anbere
berüt)mte SBort: „Der SJienfd) ift bas 9Jia^ aller Dinge" [inb ja von
alters t)er anerfannt unb angeroenbet. Unb bennod) f)at biefe
2Bif[en[d^aft — im toeitcjten Sinne genommen — länger als alle
anberen in htn Rtiizn ber 3:rabition unb bes Aberglaubens ge=
[d)ma(f)tet. 2Bir liaben im erften Ab[d)nitt ge[el)en, toie langfam
unb [püt [id^ erft bie Kenntnis oom men[ct)lid)en Organismus ent=
iDicfelt \)at ßiner il)rer iDicf)tigjten 3o?eige, bie 5leimesgef(f)id)te,
rourbe crft 1828 (burd) So er) unb ein anberer, nid)t minber
ii)icl)tiger, bie 3^nenlel)re, erjt 1838 (burd) S(^roann) fidler be=
grünbet. 9lod) [päter aber rourbe bie „S^rage aller öri^agen" gelöjt,
bas geroaltige Ü^ätfel vom „Urfprung bes StRenf^en". Obgleid)
£amard [d)on 1809 ben eingigen 3Beg ju [einer rid)tigen Jßöfung
geseigt unb „bie Abjtammung bes 9Jlen[d)en com Affen" bel)auptet
l)atte, gelang es bod) Daruiin erjt fünfsig ^al)xt [päter, bie[e ©e*
^auptung [id)er 5U begrünben, unb erjt 1863 [teilte ^uxlep in
[einen „3eugni[[en für bie Stellung bes 9Ken[d)en in ber SRatur"
bie getDid)tigjten Seroeije hierfür 3u[ammen. Z^ [elbjt l)abe
[obann in meiner Antl)ropogenie (1874) ben erjten 93er[ud) gemacht,
bie ganse 9?ei^e ber A^nen, burd) toelc^e [id) un[er ©e[(^led)t im
£aufe oieler Sa^rmillionen aus bem Xierreid) lang[am entroidelt
l)at, im l^ijtori[d)en 3u[ammenl)ang bar3ujtellen. (£ine ausfüt)rlid)e
JBegrünbung ber gansen Stammesge[d)i(^te unb il)re Anroenbung
auf bas natürlid)e Spjtem ber Organismen l)abe id) in ben brei
Sänben meiner „Si)jtemati[d)en ^l)t)logenie" gegeben (1894).
Die [d)ärfere friti[d)e Unter[d)eibung ber [ed)s Streden unb breifeig
^auptjtufen un[erer men[c^lid^en Stammesge[d)id)te enthält meine
gejtj^rift über „Hn[ere Al)nenrei^e" (Progonotoxis hominis,
:^ma, 30. 3uli 1908).
6d^Iubbetrad)tung. 239
Die 3ai)l bcr 2ßclträt[el l)at ]\ä) bur<f) bic angeführten e^rort*
[rf)ritte ber wai)xtn SRaturertenntnis im £aufe bes 19. 5al)tl)unberts
itetig oermmbert; [ic Ijt [d)UefeItc^ ouf ein einjiges allumfalfenbes
Unioer[aIrät[eI gurüdEgefü^rt, auf bas 6ub[tan3probIem. SBas
ijt benn nun eigentlich) im tiefjten ©runbe biefes allgetoaltige
SBeltiounber, toeldies ber realijtifd^'e 5Raturforf^er als 5Ratur ober
Hnioerfum oer^errIid)t, ber ibealifti[d)e ^l)iIofop{) als Subftanj
ober Äosmos, ber fromme ©laubige als SBeltgeijt ober ©ott?
ilönnen toir l)eute behaupten, bafe bie tounberbaren 5ort[d)ritte
unferer mobemen Kosmologie biefes „©ubjtansrätfel" gelöjt ober
aud) nur, haü^ [ie uns beffen fiöjung fel)r üiel nä^er gebrad)t l)aben?
Die ^tntroort auf biefe Sd)Iufefrage fällt natürlid) fet)r t)er=
fd)ieben aus, cntfpred)enb bem Stanbpun!te bes fragenben ^po*
fopl)en unb feiner cmpiri[d)en Kenntnis ber tDir!lid)en 2BeIt. 9Bir
geben oon DornI)erein 5U, ta^ wxx bem innerften SBefen ber 9latur
^eute t)ieneid)t nod) ebenfo fremb unb oerftänbnislos gegenüber»
jte!)en, toie 5lnaximanber unb ©mpeboües oor 2400 ^o^ren,
u)ie Spinoza unb ^letoton oor 200 5al)ren, roie Kant unb
(5oett)e oor 100 3aI)rßTt. 5a, toir muffen fogar eingeftel)en, hal^
uns biefes eigentliche 3Befen ber Subjtans immer tounberbarer
unb rätfen)after toirb, je tiefer roir in bie (£r!enntnis it)rer IHttribute,
ber SJiaterie unb (Energie, einbringen, je grünblici)er roir it)re un«=
3äl)Iigen (£rfd)einungsformen unb beren (Enttoidelung fcnnen
lernen. SBas als „2)ing an fi(J)" t)inter htn erfennbaren (Er»
f^einungen ftedt, bas roiffen toir aud) l)eute no(i) nicf)t. ^ber
toas get)t uns biefes mpjtifd^e „t)ing an fict)" übert)aupt an, roenn
Boir feine 9JlitteI gu feiner (£rfürfct)ung befi^en, tüenn roir nicf)t
einmal flar roiffen, ob es eiijtiert ober nict)t? Überlaffen toir bat)er
bas unfruct)tbare ©rübeln über biefes ibeale ©efpenjt tm „reinen
aRetapbi)fifem" unb erfreuen roir uns ftatt beffen als „ed)te
^bPfi^cr" an ben getoaltigen realen gortf^ritten, tDeId)e unfere
moniftifrf)e 9laturpl)ilofopl)ie tatfäcf)li(i) errungen ^at.
Da überragt alle anberen t5ortfcf)ritte unb ©ntbecfungen bes
üerfloffenen „großen 5al)rl)unberts" bas allurafaffenbe Subftan^«.
gefe^, bas „©runbgefe^ oon ber (Erhaltung ber Kraft unb bes
Stoffes". Die Xatfac^e, t>a^ bie Subftanj überall einer eroigen
IBeroegung unb Umbilbung untenoorfen ijt, ftempelt es jugleid)
3um unioerfalen (Entroicfelungsgefe^. ^i^bem biefes \)'ö(i)\it
9^aturgefe^ feftgeftellt unb alle anberen x\)m untergeorbnet tourben,
gelangten xoir ju ber Überseugung oon ber unioerfalen (£inf)eit
240 3c^Iiifebetrad)tung.
ber 91atur unb ber eioigcn ©eltung ber IRaturgefc^e. ^2Iu5 bem
bunüen Subjtan3= Problem enttüidelte [td) bas flare Subjtanj»
(5c[c^. X)er SJlonismus bes 5^osmo5, ben totr barauf begrünbctt,
Iel)rt uns btc ausnal)m5lo[c ©eltung ber „eioigcn, el)ernen, großen
Oefe^c" im gan3cn Hnberfum. I)amit Dcrmd)tet er aber
gugleid) bie brei großen 3entralbogmen ber bi5l)erigen bualijti[d)en
^l)Uo[opl)ie, ben per[önlid)en ©ott, bie Hnfterblidifett ber Seele
unb bie grei!)eit bes äßillens.
3n ber oorliegenben 58el)anblung ber 2BeIträt[el \)aht id)
meinen lonfequenten monijti[rf)en Sianbpunft [(^arf betont unb
htn ©egenfa^ ju ber bualijtifc^en, l)eute nod) l)err[(f)enben SBelt*
on[d)auung !Iar l)ert)orgel)oben. ^ä) jtü^e mid) babei xiuf bie
3ujtimmung von fajt allen mobemen 9^aturfor[(^ern, toelc^e über==
!)aupt Steigung unb 9Jiut 3um ©efenntnis einer abgerunbeten
pPofop{)i[c^en Überjeugung befi^en. 3^ möd)te aber von meinen
fiefern ni(i)t ^b[d)ieb nef)men, oI)ne oerföl^nlid) barauf t)in3UtDei[en,
ba|i biefer [d)roffe (5egen[a^ bei !on[equentem unb flarem I)en!en
fid) bis 3U einem geroinen (Srabe milbert, ja [elbft bis 3U einer
erfreulid>en Harmonie gelöjt coerben fann. Sei »öllig folgerid)ti=
gem I)en!en, bei gleid)mafeiger 5tntoenbung ber I)öd)jten ^rinjipien
auf bas ©efamtgebiet bes i^osmos — ber ürganiid)en unb
onorganifc^en ^latur — , näf)em [i^ bie ©egenfä^e bes !tl)eismus
unb Pantheismus, bes 3SitaIismus unb äRed)ani5mus bis 3ur ©e*
rüt)rung. 5(ber freili^, !on[equentes X)en!en bleibt eine [eltene
9laturcr[^ einung ! t)ie grofee änel)r3at)I aller ^I)iIo[opI)en möd)te
mit ber red)ten ^anh bas reine, auf (£rfat)rung begrünbete SBiffen
ergreifen, !ann aber gleid)3eitig nid)t t)tn mr)jtifd)en, auf Cffen»
barung gejtü^ten ©lauben entbet)ren, ben [ie mit ber Iin!en
Öanb fejtl)ält.
Die alte 2BeItanfd)auung bes 3bealbualismus mit itiren
mi)fti[d)en unb antl)ropijti[(^en Dogmen ücrfinft in krümmer; aber
über biefem geroaltigen a:rümmerfelbe jteigt f)et)r unb \)tn\\d)
bie neue Sonne unfcres 9leaImonismu5 auf, roeld^e uns "otn
ujunberoollen Stempel ber 9latur in [einer gan3en ^ra^t erfennen
läfet. 3n bem reinen 5^ultus bes „2Bat)ren, ©uten unb Sd)önen",
roel^er ben5lem unferer neuen moni[ti[d)en 9{eligion bilbet,
.finben wix reiben (£r[a^ für bie verlorenen ontt)ropifti[d)en ^beale
üon „©Ott, grei^eit unb Unfterblid)feit".
|IIIIII!IIIIIIIIII1III!IIIIIIIIIIIIII!III!IIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIII1II|||!I!IIII1IIIIIIIIIIIHIIIIIIII^
I KR0NERSTASCHENAUSGABE
I SCHOPENHAUER: Aphorismen
Eur Lebensweisheit
M Grundsatz : Aller Genuß und alles Glück ist negativer, der Schmerz hin-
gegen positiver Natur; deshalb geht der Vernünftige auf Schmcrzlosigkeit,
nicht auf Genuß aus.
Band 16 Gebunden M 65.—
W. WUNDT: Die Nationen u. ihre Philosophie
Der berühmte Philosoph schildert die Geschichte der europäischen
Philosophie nach ihrem allgemeinen Gedankeninhalt von der Zeit der
Renaissance an bis zur Gegenwart.
Band 18 Gebunden M 65.—
KONRAD STURMHOEFEL:
Geschichte des Deutsdien Volkes, 2 Bände
Sturmhoefel kam es besonders darauf an, den bestimmenden Jinteil
der großen Persönlichkeiten am geschichtlichen Werden unseres Volkes
klar und scharf herauszuarbeiten.
Band 19 und 20 Gebunden je M 65. — M
I ni D r u c Je :
Nietzsche-Worte über Staaten und Völker
In diesem Bändchen ist eine treffliche Auswahl von Aphorismen von der
Schwester des Hutors zusammengestellt. Es ist erstaunlich, mit welcher
Sicherheit Nietzsche die Entwicklung der jetzigen Zeit vorausgesehen hat.
Band 21 Gebunden ca. M 60. —
ERNST HAECKEL: Die Lebenswunder 1
Es wird allgemein mit Freuden begrüßt werden, daß die „Lebenswunder"
nun auch als Ergänzung zu den „Welträtseln" zu einem wohlfäilen Preise
in Kröners Taschenausgabe aufgenommen wurden.
Band 22 Gebunden ca. M 80.—
K. HEINEMANN: Die Weisheit der Griedien 1
Der neue Band wird allen Freunden der griechischen Literatur im An-
schluß an flie Lektüre «Klassische Dichtung der Griechen" aus der Feder
des gleichen Verfassers ebenfalls »ehr willkommen sein
Band 23 Gebunden ca. M 70.—
Die Sammlung wird fortgeseijt
fiiillililllllllllllllllllililtllllilllllllllllllllillitliilllllillllll^
August 1922 PreisYcrändcrungcn vorbehalten
^11
i ALFRED KRQNER VERLAG IN LEIPZIG ■
Schriften von Ernst Haec^el
Die weltrathsel
Haeckel
Die weltrathsel
B
3263^
•W43
rmt iTrmtmjirg«ir— vurDcnai