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Full text of "Die Wissenschaften im neunzehnten Jahrhundert, ihr Standpunkt und die Resultate ihrer Forschungen : eine Rundschau zur Belehrung fuer das gebildete Publikum"

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Wilfenfcaften 


im 
neunzednten Jadrhundert, 
ihr Standpunft und die Refultate ihrer Forſchungen. 


Eine Rundſchau 


zur 
Belehrung für das gebildete Publikum. 


Herausgegeben 
non einem Verein von Belchrten, Künflern und Cechnikern 


unter der Redaction 


von 


Dr. 9. A. Romderg. 


Fünfter Band, 


-... —msß HER .— 


Sondershanfen. 
Verlag von ©. Neuſe. 
1860. 






BIBLIITRUCH 
ALTENBLEG. 





Inhaltöverzeihniß des erſten Bandes, 





Beberkät Der Bilowagtmittet in der @efäiäte 
DR —— * A — — Künpler und ihre aeg 



























— — EEE von nie —* 3 

8 —S— 3 
D ——e— ùY — Hat erde unter vo Asieren ui die ariathelen der Culture 

sflanyen, vom Dr. Fr} 

Die Eonne, Dr. 2 

Bas ans Barten, Sau, a. Side, HH 

4 

Leiung’s Berdienfe un 4 sehe Bram, von, Ki 37 

Drer bi f Bin % € si 

4 

va Sa, m = 

Die groben dad —— 8* 

'befeftigun Hauptmann vi . 512 

‚Soft: . 52 

566 

00: 

62 

6 

8. 

7 

7105 


Inhaltöverzeihniß des zweiten Bandes, 


55* — ‚fe Sun Fl rung, von Mbendroth. oo. 
19 Dr. Gräke, : 





Der Rens, fein Ginfnb auf Die Erde. von-Dr. @. a. 
De Beier. unp Geivenferglauben im Maflie ılihum won Sofedig Dr. De 2: 
— der Gar Sofrath Dr. ! 
Bose Eirablung und Yeltung der Wärme, von Lrof, Di. &,"göfde. 
jr Gef@icte Deo eiroväll@en Drbenameiend, vum —5* 9 
— der Oper feit Mozart, von 8. Dei en 
Die bon Abenbrot — 
oo. 
Das Rei und feine Quellen, von Prof. Dr. 9. Ho. 
Bene Seweife für Die tägliche Umdrehung der Grde um ihre #ge, von Dr. ed, ‚Stade. 
— der meldet teratur ded 19. —— zn dr * Shut 
ben: von 








akut 














Die umd Prapis der allgemeinen Kohkunft, +. 417 
Das 2 Blutarmutd und Blutreihthum, von Dr. 3 
—— el —— Nauch und u ᷣc gie der erzeugten ss 
ne von a — 

Uber den fluß der — Natur auf die torverliche und geifige venüiaua ve weilte, 
ven But Dr. M. Bilt: . 5 
ie Standpunkt der "Besio, ie, von —8 Suo Bolger. . 5 
Die Exefal Tr Zu Riebour. it 14 Holyfänitten, . . . . 612 
Dan auge im gefunden und ranfen Bufanpe von Dr. DR. Öikayet R 2 
— — ide dr Br, 2. aD Dr. @. wörde, . . oo. 5 
Die Enaheitl dr Gpeikehan, vom Gofaid Dr. Grüße! . Is 





ISnhaltsverzeihniß des dritten Bandes, 


Seite 

Die Taubſtummen, von Dr. M. Flinzer.. | 
Das Tönen der Stiegranben- Drähte, von 9. Birnbaum, . . . . . . . 3 
Afterismuß, von Dr. H. Dito Bolger. . . . . . . . . 2 
Beränderungen der Aufiteniperatur. von Dr. €. Loͤſche. .. 29 
Vom Magnetismus, von H Bolze.. 31 
Bauberei bei Gricchen und Römern, von Dr. Bräße. . 0. . . . . . . 71 
Ueber Tüngung und Düngmittel, von Dr. Scharlau. . . . . . . . . 89 
Die mifroefopiihe Pflanzenwelt I., von Prof. Willfonm. . . . . . . . . 110 
Die Hühnerzudt. von R. Tened. . . . . . . . . . . . 129 
Elrorbein und Tuberfeln. von Dr. Flinzer. . . . . . . ‚ . . . 131 
Geſchichte der Märchen, von 2. Bechſtein. . . . . . . . . . 139 
Erzeugung und Eigenſchaften der Perlen, von Dr. Moͤbius. . . . . . 15 
Symbolik der Blumen und Pflanzen, von Dr. Bräße . . . . . . . . . 174 
Vom Bernftein, von H. Volze. . 19 
Autonranbeniammlungen, von 2, Bräein. . . . . . . .. . 215 
Die Haut, von Dr. Sliner. . . . . . . . . . . . . . 2»; 
Dir Tiamant, von GC. Rad. . . . . .. . 2 
Die Sinionie und ihre Form, von J ESchuch t . 2394 
flanzen- und Thierleben Der Polarwelt, von Dr. 8. Müller. . . . . . 311 
eihichte Der Fraum, von Dr. DO. Borfter. . . . . . . . . . 343 
Geſchichte des chineſiſchen Porzellans, von Dr. Bräf . . . . . . . . . 375 
Natlonalökonomie und Soeialismus von Dr. Kim . . . . . . . . 389 
Behandlung der deutſchen Bolksjage, von v. Vechfiein. . .. .408 
Materialiauius und Idealismus, von J. Ehudt. . . . 7° 
Der Etoffmehfel, nad Iobnfon. . . . . . . . . 467 
Bürgertbum und Erädteweien im Mittelalter, von Walther. .. 42487 
gyubolt der Tbiere. von Dr. Grüße. . . . . . . . . 515 
te mitrostopiſche Pflanzenwelt I., von Dr. Biltomm. . . . . . . . . 526 
fe Rarteien in der Kunſtkritik, von J. esuht. . . . . . . . . . 553 
chwaben während der Juraperiode, von I. voökle. . . . . . . . . . 59 
Dos Weltall ein Bernunftreich, von Deriteh. . . . . . . . . . 600 
Das deutſche Schulweſen, von Prof. Ebrbardt. . . . . . . . . . 63 
le Einnorgane, von Brof. Dr. Weber. ... .Gs9 
le Getränfe, die wir durch Einwaſſerun bereiten 1. . 709 
Geograrbie und Geologie des Amuzonenihales, von Wailace... 1233 
Der Regen, von Jenſſen⸗Tufch. 78 

Inhaltsverzgeihniß des vierten Bandes, 

Seite 

Geſchichte, Geiſt und Muebreitung ber | Bretmaurerei, von B. Behflein. » O2 1 
Deutfblante Bankweſen J., von Körpe. . . . . . 9% 
Die Korallen bildenden Polopen und die Korallen-Mifte, "von Dr. Karl Müller. . . . . 2 
Die Berbreining der Würme auf der Oberfläche der Erde, von Prof. Dr. koͤſche.. . . . ..62 
Die deuriche Philologie, von Dr. R. Lechſtein. . . . . . . . 82 
Geift und Gbaratter in der Zonfunft, von I. Echucht.. . . . . . . . . 117 
Drutihlande Banfmweien H., von Dr. 2. Köwe. . 0.20.19 
Der Kreislauf des Blutes und die Kranfheiten des Herzens, von Dr. m. Btinger, . . . 187 
Der Raraſitiamus im Tbierreib, von Dr. ©. Elumenba. . . . . . 212 
Entwidelungegang der deutihen Sprache, von Dr. M. Bechſtein.. . . . . . . 230 
Kreislauf Ted Waſſers, von Prof. Dr. vöſche.. ee 26 
a8 teutihe Drama, feine Geiicte und Aufgabe, vom detran Dr. Größe. . . . . 279 
te Waſſerheillunde. von Dr. I. Putzar. . . . 306 


Einfluß ter Naturwiſſenſchaften auf die —RR von 1 Dr. aari Bader. . . . . 3918 


Die deutſchen Laute, von Dr. R. Behftein. : 
Die Wohlgerühe und uͤblen 2— von Johnſton. 
rien. 


Der Tabak und fein Anbau, von Iohnflon. . . . . . . 323 
Die Pocken und die Impfung, von Dr. Flinzer.. rn . 34 
Di Nahrungemittel, vom Sofratb Klemm. > oe. 372 
Ateralante und Unglaube, von Derſted.. . . . . . . . 4156 
otation der Betüroen, von I, W. St, en . 44 

Bi Quartettmuſik, von 3. Schucht. . . oe... 41 
erlenfiiherei und Perlenhandel.. . . . . . . . 484 
tamı und die Siameſen. . . . . . . . 492 
te Roie und ibre Arten, von Bf v. en. . . . . 507 


ge oe .oo0 0 ® 
ee 8 Vf 08. 0. 0 
® 
“ .. . 0 ® * . ® “ 3 4— 49 0 


Aegvotens Dentmale, von Dr. & . . . . 

Die deutſche Flotte, vom Hanpimann von Abendroth. . . . . 600 

Dagie und Alchemie des Altertbums un» Mittelalters, von Dr. Sharlan - 2». . 641 
üdflavifhe Wilder, von Dr. Klun. . . . . . . . . . + 6% 
ie gebeimen Geſellichaften. von 2, Bechftein. .. ee... oo. . 687 

art Hopfen und feine Eurrogate. . . . . . . . . 708 
te Heraldik und ihre Quellen, von L. v. Alvensleben. . . . . . .’ 719 

Die Geheimniffe der deuiſchen Sprade, von Dr. A. Sehen. . . ea . . 7933 


— 


Alegander von Humboldt und fein Einfluß 
auf die Haturwiffenfchaften. 
Dr. ——— 


J hehunderie, in benen die Geiſter gewaltig ſich vegen, zeichnen fich durch 
ein unwanbelbares Streben nach einem beftimmten Biele aus; es iſt bie raftlofe 





2 Biographie. 


Energie dieſes Strebens, was ihnen Größe und Glanz verleiht.” Man kann 
dieſe Worte Humboldts, die fich zunächft auf das funfzehnte Jahrhundert bee 
ziehen, mit vollen Recht auch auf unfere Zeit anwenden. Bei aller Verjchies 
denheit und Mannigfaltigkeit der modernen Geiftesbeftrebungen gibt es doch 
eine Zeitrichtung, die alle übrigen fo zu jagen umfaßt und beberricht, und vers 
möge teren unjer Jahrhundert, das in einigen Punkten. hinter der Vergangen⸗ 
heit zurückftehen mag, berufen fcheint, Die Macht des menfchlichen Geiftes in 
einer früher faum geahnten Ausdehnung zu offenbaren. Diejer mächtige Zug 
der Zeit, den wahrjcheinlich fommende Gejchlechter für das charafteriftiiche 
Kennzeichen unſeres Zeitalter8 erklären werten, es ift die Richtung auf das 
Meale, Die Tendenz tes Mäterialismus, die mit fletd wachfenter Gewalt das 
Menfchengefchlecht zum praktiſchen Studium der Naturwifjenfchaften hinführt. 
In feiner der früheren Epochen find fo Teidenfchaftliche und erfolgreiche Anſtren⸗ 
gungen gemacht worden, um das Weltall wiffenfchaftlich zu begreifen, Die ges 
heimnißvollen Gejege der Ratur zu ergründen, ihre Rieſenkräfte dem Menſchen⸗ 
geift dienftbar zu machen. Im Pefige aller Brüchte und Errungenfchaften der 
vergangenen Jahrhunderte arbeitet unjere Zeit darauf bin, die verfchiedenen 
Zweige der Naturwiffenfchaft ebenmäßig zu entwideln und zu einem harmoni⸗ 
jchen Ganzen zufammenzufügen, das ihr als Werkzeug dient, um die Menjchheit 
auf eine höhere Stufe der Bildung und Gefittung zu erheben. So verfolgt 
unjer Jahrhundert gleichfall8 ein beſtimmtes Ziel, aber dieſes Ziel ift nicht wie 
im funfzehnten Jahrhundert die Entdefung unbekannter Gegenden oder Welt- 
theile: es ift mehr als dies, es ift die vollfländige Unterwerfung ber Materie, 
die Erforfchung, die Ausbeutung, ter Beſitz des ganzen Erdballs, Die Ueber⸗ 
wintung von Naun und Zeit, die unbejchränfte Herrichaft über die gefammten 
Naturfräfte, was ihm als Ziel feiner Eühnen Beftrebungen vorjchwebt. 

In Zeiten von fo ausgeprägter wilfenfchaftlicher Thätigfeit, die aus aller 
Kraft an der Löſung einer großen Aufgabe arbeiten, jind univerjelle Geifter von⸗ 
nöthen, welche Die gefammte Bewegung zu nberbliden, die vorhandenen zahllofen 
Kenntniffe in ein überfichtliches Bild zufammenzufaflen, die gewonnenen Reſul⸗ 
tate für das praftifche Leben nugbar zu machen und mit ihrer genialen Kraft 
überall einzugreifen vermögen. Die Gejchichte nennt vielleicht nur drei Namen, 
in denen dieſer Univerſalismus vollftändig fich ausprägt: Ariſtoteles, Leibnig 
und Humboltt. Wie jene den philofophifchen und hiſtoriſchen Gehalt ihrer 
Epochen repräfentiren, fo ftellt ſich Gumboldt als die vollkommenſte Perjonifi« 
cation der neueſten natunwiffenfchaftlichen Entwidelung auf der Grundlage dee 
Humanismus dar, Mit ihm beginnt eine neue Epoche der Welt- und Natur⸗ 
anjchauung, ein neuer Abſchnitt in der Befchichte des menſchlichen Geiſtes. Cr 
war ed, der zuerſt das Weltall als ein gefehmäßiges Ganze zu umfaflen, alle 
Naturerfcheinungen auf pofitiver Grundlage zu erklären verfuchte. Und wie 
herrlich ift ihm Diefes große Unternehmen gelungen! Alle Zweige des Willens, 
alle Gebiete der Forſchung hat er geeint, fle alle als zufammengehörige Theile, 
die ſich gegenfeitig fügen und ergänzen, Elar und bündig nachgewiejen. Ex Hat 
tie Maile der lofen Baufteine, die er vorfand, geordnet und geſichtet, zahlreiche 


Alerander: von -Bumboldt. 3 


neue hinzugefügt und einen großen Bau daraus aufgeführt, den er mit vollem 
Necht den „Kosmos“, die begriffene Welt nannte. 

HSHumboldis ganzes Biel und Streben war von Aubeginn weſentlich von der 
Richtung verſchieden, welche die Naturwiſſenſchaften zur Zeit feines erſten Auf⸗ 
tretens verfolgten. Damals war eine innige Verkettung der Raturwiſſenſchaften 
mit dem Leben noch ebenſowenig als eine Verbindung der einzelnen Gebiete un⸗ 
tereinander möglich. Die verfchiedenen phyſiſchen Disciplinen gingen ihren 
ruhigen Entwidelungögang, und von einer Theilnahme des Publicums an ihren 
Entdeckungen war eigentlich noch nirgends die Rede. Diefes fehlende Band ges 
ſchaffen, dieſer Theilnahme die erfte, gleichfam ideelle Grundlage gegeben zu 
haben, Died ift weſentlich Humboldt Werl, Sein ganzes Streben ging darauf 
hinaus, die Raturwiffenfchaften zu gemeinfamen Zielen zu vereinigen, den Ein⸗ 
fluß der großen Tosmifchen und telluriichen Kräfte aufeinander, wie auf das 
organische Leben der Erde zu unterfuchen, in ber Mannigfaltigkeit der Erſchei⸗ 
nungen die Geſetze des Seind und des Werdens zu erfennen, und fo, um ein 
von ihm gern gebrauchtes Wort. Schiller zu wiederholen, „in der Erjcheinun« 
gen Flucht den ruhenden Bol’ zu fuchen. Auf diefem Wege ward er ber Schd« 
pfer und Begründer ganz neuer Wilfenfchaften, und e8 gelang ihm, die Ratur 
dem Bildungsbewußtfein der Menfchheit näher zu bringen, und für die eröffnete 
Perſpective auf das lebendige Ganze ein Interefie zu erweden, das man den 
getrennten Theilen niemals geſchenkt hatte, 

Der uns fnapp zugeneflene Raum diefer Blätter und das Gefühl der eige- 
nen Unzulänglichkeit geftatten uns nicht, auf den unendlich reichen Inhalt der 
Humboldtfchen Echriften Hier näher einzugehen. Wir werden uns daher begnü- 
gen, zunächft in einem kurzen Lebensabriß an dad fegendreiche Wirken des großen 
Ranned zu erinnern, und fodann in einem zweiten Artikel nachzuweiſen, welch 
ungeheueren Einfluß feine Arbeiten auf die gejammten Raturwifienfchaften AUS 
geubt haben. 

Friedrich Heinrich Aleranter von Humboldt, geboren zu Berlin am 
14. September 1769, verlebte die Jahre feiner. Kindheit auf dem väterlichen 
Gute, dem drei Stunden nordweftlich von Berlin an der Havel gelegenen Tegel. 
Hier erhielt er mit feinem um zwei Jahre älteren Bruder Wilhelm die erfte Ju⸗ 
gendbildung durch den fpäter fo berühmt gewordenen Joachim Friedrich Campe, 
der bekanntlich zu ben Männern gehörte, die in jener Zeit e8 ſich angelegen fein 
ließen, den Unterricht mach neuen, naturgemäßen Principien zu fördern, 
Campes Einfluß auf den fechsjährigen Knaben ift nicht zu verfennen und mag 
Rh befonders nach zwei Richtungen hin entwidelt haben. Einmal war Campe 
einer der hervorragendſten Sprachtheoretifer feiner Zeit, fowie ein beſonders er- 
fahrener Kenner des deutfchen Styls, und dann mochte er, ber Erzähler der 
großen Entdeckungsreiſen, der Bearbeiter des Robinſon Erufve, durch feine war⸗ 
men Schilderungen ferner Länder und fremder Völker überaus anregend auf die 
jugendliche Bhantafle ſeines Zöglings einwirten. Von Einfluß auf deſſen Nei⸗ 
gungen und geiftige Richtung war ohne Zweifel auch ber freundjchaftliche Ver⸗ 
kehr, in welchem Ernft Ludwig Heim, feit 1776 Phyſikus in dem nahe gelege- 

1* 


4  : Biographie, 

nen Spandau, mit der Bamilie Humboldt fand. Diefer durchaus praftifche 
Mann, mit allen Gegenfländen der Natur vertraut, bewandert in allen Reiſebe⸗ 
ſchreibungen, die feine Lieblingsleetüre bildeten, babei lebendig, munter und 
anregenb, gewann, wie wir aus einer Stelle feines Tagebuch willen, auch bie 
Brüder Humboldt für die Raturwiffenfchaften und beſonders für fein Lieblings 
ſtudium, die Botanif. Schon unterm 30. Juli 1781 notirte er in fein Tages 
buch: „Nach Tegel geritten und bei ber Frau Majorin von Humboldt zu Mit- 
tag gefpeift; den jungen von Humboldts die 24 Claſſen des Linne’ichen Pflan⸗ 
zenſyſtems erklärt, welches der Aeltere jehr leicht faßte und die Namen gleich bes 
hielt.“ Eigenſhümlicher Weife ift alfo dieſe Bemerkung über Wilhelm von 
Humboldt, nicht über Alexander gemacht, wie man hätte erwarten follen. 

Schon im Sabre 1777 verließ Campe, einem Rufe ald Director des Phi⸗ 
Ianthropins in Defjau folgend, das Humboldt'ſche Haus, und die Erziehung der 
beiden Knaben ward nun dem damals zwanzigjährigen G. 3. Chriſtian Kunth 
anvertraut. Selten dürfte ber Erfolg wohlgegründete Erwartungen vollfländi- 
ger beftätigt Haben. Es war eine höhere Sorgfalt, als bie des treuen Lehrers, 
der nur eigene Kenntniſſe auf den Geiſt reichbegabter Schüler überträgt; e8 war 
ein eben fo thaͤtiges als wohlgeordnete® Beftreben, Allee, was Berlin von ech⸗ 
ten Bildungsmitteln befaß, für die Entwickelung großer Anlagen fruchtbar zu 
machen, was den jugendlichen Erzieher, nad) dem frühen Tode des Kammer- 
herrn Major von Sumboldt, der ſchon im Januar 1779 erfolgte, von dem edel- 
muͤthigen Vertrauen und ber hoben Gefinnung der Mutter unterflügt, unauf- 
Löslich mit feinen Zöglingen verband. Nach elf Jahren war die Erziehung voll- 
endet; aber was auch Wirkſamkeit im Reiche der Wiffenichaften und im öffent« 
lichen Leben, Rang unter den Geiftern und Ehrenftellen im Staate feitbem in 
vierzig Iahren umwandeln mußten, die alte Sorgfalt, die alte Treue, die alte 
Buneigung blieb unwandelbar. Dauernd bewahrten bie Heiden Humboldt bie 
Breundfchaft und Verehrung für den Lehrer ihrer Jugend, und gaben ihm u. N. 
in fpäterer Zeit dadurch einen Beweis ihres unbegrenzten Zutrauens, daß ſie 
ihm während der Tangen Beit ibrer Reifen die Verwaltung ihred Eigentbums im 
‚Baterlande übertrugen. 

Betrachten wir einen Augenblid dad innere Weſen des Unterrichts und der 
Erziehung, fo finden wir bei beiden Brüdern zwei oft genug fich ausfchließende 
geiftige Eigenſchaften in glüclichfter Bereinigung : eine wunderbare Univerfalität 
des Geiſtes umd eine feltene Gründlichkeit des Wiſſens und der Forſchung. Ob⸗ 
ſchon wir die Grundlagen zu alle dem, was die beiden Brüder fpäter in den 
Rang der Großmeifter deutfcher Wiflenfchaft und Literatur erhoben Hat, in der 
ihnen angeborenen. genialen Naturbegabung erbliden, fo mußte Doch der von ber 
Hand der Gottheit in ihre Bruft geſenkte Keim jorgfältig gehegt und gepflegt 
werden. Dies mit treuer Liebe und wahrhaft väterlicher Bürforge gethan zu 
haben, iſt das große Verdienft Kunths, ein Verdienſt, das um fo höher anzu⸗ 
fchlagen ift, wenn man erwägt, daß die Hanptrichtungen der beiden Brüder nach 
zwei entgegengefegten geiftigen Polen auseinandergingen. Während ber ältere 
Kunft und Sprache, Philoſophie und Elafftfched Alterthum mit eifrigftem Stu⸗ 


Alerander von Humboldt. 5 


dium erfaßte, trieb es den Jüngeren mit Teibenfchaftlichem Berlangen zur Kenntniß 
der Raturwiffenfchaften im weiteften Sinne des Wortes, Wenngleich Beide im 
ihrem Studium fich Bin und wieder berührten, fo Tagen doch bie Endpunkte 
deſſelben ziemlich weit von einander, und es war gewiß für den Erzieher nicht 
leicht, paſſende Lehrer für den Unterricht in den einzelnen Wiflenfchaften zu 
wählen. Der befcheidene Kunth nahm fpäter von dem Ruhme feiner Böglinge ' 
nur bie neidlofefte Freude als feinen eigenen Antheil in Anfpruch; wir wiflen 
aber, daß er die Bildungsmittel,, welche Berlin damals bot, fämmtlich für feine 
Grzicherzwede fruchtbar zu machen fuchte, befonders feitbem er dort mit den 
beiden Brüdern bauerud fich aufhielt. Beide wurden non Privatlehrern unter 
rigtet, und zwar batten fie die Unterrichtöftunden gemeinfchaftlih. Als eine 
eigenthumliche Erſcheinung in dem Jugendleben Aleranders verdient erwähnt 
zu werden, daß ihm das Lernen ungleich ſchwerer warb, als feinem Bruder 
Schon Helm machte, wie oben erwähnt wurde, eine hierauf bezügliche Bemer. 
tung; ſelbſt die Mutter und der Hofmeifter befürchteten eine Zeitlang, daß 
Alezander fi „wohl gar nicht zum Stubiren eigene.” Nach diefen Beobach⸗ 
tungen darf man wohl annehmen, daß es feinerfeits eined eifernen Fleißes und 
mermüdlichen Studiums bedurfte, fich der unermeßlicyen Schäbe des menſch⸗ 
lichen Wiſſens zu bemächtigen, und die Univerfalität feines Geiſtes erfcheint 
eher um fo größer und erhabener. Ueberdies hatte ex feit dem Jahre 1785 
vielfach mit Kränflichkeit zu kaͤmpfen, und feine damaligen Freunde verfihern, 
daß dieſe Kränklichkeit ihre Urſache in zu eifrigem Hingeben an das Studium 
gehabt habe. Roc fünfIahre fpäter fchreibt Georg Forſter nach jener beruhmten 
Neiſe, auf welcher Humboldt ihn begleitete, an Heyne, fein Heifegefährte habe 
ih unterwegs wenigften® ziemlich gut gehalten. „Er fagt zwar,“ führt der 
Brieffteller fort, „daß er feit Jahren immer krank fei, und nur unmittelbar nach 
einer großen Krankheit fich etwas befier befinde, dann aber immer wieder ſchlech⸗ 
tes würde, bis der Ausbruch einer neuen Krankheit ihn von Reuem von dem 
Uebermaß verdorbener Säfte auf einige Zeit befreit. Ich bin aber feft überzeugt, 
daß bei ihm der Körper leidet, weil der Geiſt zu thätig ift, und weil die logische 
Erziehung der Herren Berliner feinen Kopf gar zu fehr eingenommen bat.‘ 
Der kraͤnkliche Jüngling erwuchs indefien zum Präftigen Manne und es ift bes 
fannt, daß Humboldt, obwohl er fich fein ganzes Leben hindurch den größten 
tirperlichen und geiftigen Anftrengungen ausgefegt, noch im hoben Sreifenalter 
einer faR ungetrübten Geſundheit fich erfreute, und daß er wie Leibnig und Na⸗ 
polesn täglich nur Drei Stunden Schlafs bedurfte. Was die von Korfler ſpot⸗ 
tend erwähnte „logiſche Erziehung” betrifft, fo Hatte es damit freilich in Ber⸗ 
Im, ver „Metropole der Bildung und Intelligenz,“ ſeine volle Richtigkeit; 
allein gegen den duͤrren Formaliomus einer einfeitigen Bildungaform Hatte Hum⸗ 
beſdt in feiner Ichendigen und fchöpferifchen Phantafle ein mächtigeö Gegen» 


Ben den Lehrern, deren Unterricht bie Brüder In Berlin genoflen, nennen 
wir mer don Feldprediger Eiffier, der fie in der Sprache und Literatur ber 
alten Grirchen unterwieh, Gpäter ward diefer Unterricht von Fiſcher fortges 


6 2.2: Blograpbie: :ir .-.: 


feßt, der, obſchon Mathematiker von Fach, doch ein tüchtiger Kenner des Gries 
Hifchen war. Mehrere andere Männer von großem literariichen Ruf, wie 
Dom, Engel und Klein, hielten den Brüdern Brivatsorträge aber Philoſophie, 
Rechts⸗ und Staatswifienfchaft. Auf den Wunfch der Mutter: nahmen fie auch 
- an: dem’ politifch«Ratiftifchen Borlefungen Theil; welche Ch. W. Dobm vom 
Herbſt 1785 bis zum Juni des folgenden Jahred bei dem jungen Grafen von 
Arnim hielt. 

Im Herbſt 1787 bedoen die beiden Bruͤder in Begleitung Kunths die 
Univerſitaͤt Frankfurt, wo ſte in dem Haufe ihres früheren Lehrers Löffler, der 
inzwiſchen Profeſſor geworden war, die freundlichſte Aufnahme fanden. Der: 
ältere Bruder widmete ſich dem Rechtsſtudium, während AUlerander die Gameral- 
wiſſenſchaften wählte, nebenbei aber auch Botanik und Archäologie tried. Doch 
finden wir ihn in folgenden Sommer wieder in Berlin, mo er ſich vorzugsweiſe 
mit det Technologie und dem Fabrikweſen praftifch befannt machte, zum Theil 
auch fich ernſthafter mit der griechiſchen Sprache beichäftigte. Der Ältere Bru⸗ 
der war indeflen mit dem Hofmeifter nach Göttingen vorausgegangen, wohin 
ihm Alexander im Fruͤhjahr 1789 folgte. | 

Die Grorgia Augufta war zu jener Zeit dem Range nach bie erſte der. deut⸗ 
ſchen Univerfltäten: bier Ichrte Blumenbach, der weit über Die. Grenzen feines 
PBaterlandes bin berühmte Raturforfcher, bier docirten Hehne, Eichhorn, Schloͤ⸗ 
zer und andere Gelehrte von Ruf und Bedeutung. Den Mittelpunkt und bie 
Seele der Univerfltät bildete damals Chriftian Gottlob Heyne, der eigentliche 
Pater und Begründer der deutfchen Philologie. Welche Anregung Humboldt 
von diefem genialen Manne empfing, mag man daraus fchließen, Daß er bald 
darauf eine ausführliche Abhandlung über die Weberei im Alterthume verfaßte, 
in der er Die Ausbildung biefer Kunft bis auf ihre Anfänge in Aſien verfolgte. 

Neben Henne, zu dem die Brüder in befonderer freundfchaftlicher Beziehung 
ftanden, zog beſonders Blumenbach ald Lehrer der allgemeinen Raturgefchichte 
ten erwachenden Korfchergeift Aleranderd mächtig an. Wichtiger indeß und von 
Einfluß auf feine ganze fpätere Lebensrichtung ward für ihn Die jchon Damals 
gefnüpfte und fpäter fo eifrig gehegte Sreundfchaft mit Georg Korfter, dem 
Schwiegerſohne Heynes, der fih im. Sommer 1789 gleihfalld in Göttingen 
aufhielt. Diefer originelle Naturforfcher und Meifebeichreiber war fchon früh⸗ 
zeitig von der Ueberzengung durchdrungen, daß das Reich ber Natur innig in 
das Sebiet einer jeden anderen Wiffenfchaft eingreife, DaB es unmöglich fei, jenes 
zu überfeben, oßne in das andere hineinzubliden. Diefer neue und fchöpferifche 
Gedanke, der auch Sömmering und Goethe befeelte, ward von den Brüdern Hum⸗ 
boldt mit Teidenfchaftlichem Eifer erfaßt und von dem jüngeren in genialfter Weife 
durchgeführt. Auch mit Sömmering trat. Alexander von Humboldt während ſei⸗ 
ned Aufenthalte ie Mainz in dauernde amd fruchtreiche Verbindung. Die Briefe, 
welche er mit dem großen Anatomen wechfelte, haben bleibende gejchichtliche Bes 
deutung, da fie die wichtige Entwidelungsperiobe der Phyflologte betreffen. Die 
Widmung der Schrift über die gereizte Musdkel⸗ und Nerpenfafer gibt Beugniß 
von der Achtung und Liebe, Die Humboldt zu. dem berühmten: Gelehrten hegte. 


Alerander von. Humboldt. 7 


— Von den übrigen Freunden aus der Göttinger Studienzeit nennen wir nur 
noch Johan Stieglig,, -Oelöner und A. W. Schlegel. 

Nach Beendigung feiner Univerfitätsftubien machte Humboldt mit Sorfter 
und einem ‚Herrn von Bruns jene berühmt gewordene Reiſe an den Riederrhein 
und nad) England, beren Refultat das Fleine Erſtlingswerk: „Bineralogifche 
Beobachtungen über einige Bafalte am Rhein‘ war. Der Anblick der See und 
der großartigen englifchen Rhederei, noch mehr aber bie Mittheilungen und: 
Reifeerinnerungen der Begleiter des berühmten Cool, Banks, Solanter und 
Forſter felbft wedten in ihm die Sehnſucht nach fernen Ländern auf3 Neue, 
Zunächft aber Drängte es ihn, ſich zu ben beabfichtigten größeren wiſſenſchaftlichen 
Reifen allfeitig theoretifch und praftifch vorzubereiten. Bu dem Ende bejuchte 
er nach feiner Rüdfehr von England im Jahre 1790 kurze Zeit die von Buͤſch 
und Ebeling geleitete, damals hochberühmte Handelsakademie in Hamburg, 
machte ſich hier, ohne feine wiſſenſchaftlichen Studien bei Seite zu feßen, mit 
dem Braftifchen des Comtoirweſens befannt, und begab fich 1791 nach einem: 
kurzen Aufenthalt in feiner Vaterſtadt nach Freiberg auf die Bergakademie, dem 
Gentrum der geognoftifhen Beftrebungen in jener Bei. Was ihn dahin z0—; 
war nicht allein der große Muf Wernerd, bed damaligen Directors der Academie, 
iondern bauptfächlich der Umfland, daß Leopold von Buch, mit dem er fchow 
fraber ein Freundſchaftsverhältniß angefnüpft hatte, dort gleichfalls ftubirte, 
Berner war einer ber. größten Mineralogen jener Zeit, und in ihm fand Hums 
boldt einen vortrefflichen Lehrer der. Geognofle, für bie er fich befonders inter⸗ 
ciirte. Leopold von Buch hatte unter allen Schülern Werner unftreitig am 
meiften von feiner Beobachtungsgabe und feiner Schärfe in der Auffaffung des 
Einzelnen, jener Aufmerkjamfeit auf alle, felbft die Eleinften Rebendinge, Waͤh⸗ 
end er aber fich mehr und mehr dem Ausbau ber Geologie in der Folge zus 
wandte, war Humboldts Streben bauptiächlich auf das Allgemeine gerichtet. 
Beide wurden ipäter, indem fie von Wernerd Grundſaͤtzen ausgingen, feine Lehre 
nach allen Richtungen hin fortbildeten und feine theoretiichen Irrthuͤmer beriche 
tisten, Die Begründer der. heutigen Geologie. Nicht ohne Bedeutung für 
Humboldt war ferner der Verkehr mit dem trefflichen Freiesleben, fpäterem Berg« 
bauptmann in Freiberg, der ihn recht eigentlich in das praktifche Bergweſen ein« 
fübrte. Auf einer Reife, die fle zufammen im Frühjahr 1792 in die Schweiz 
machten, gewann Humboldt fchon eine jpäter durchgeführte Anſicht über dem 
Barallelismus in dem Streichen und Fallen der Gebirgdarten. Uebrigens bes 
ſchraͤnkte ſich Humboldt auch in Yreiberg feinedwegs auf ein einfeitige® Studium; 
neben dem Bergweſen waren es die Chemie und Botanif, waren es Unterfuchuns 
gen über verfchiedene Auftarten und deren Einfluß auf das Pflanzen⸗ und Thier⸗ 
leben, sowie Beriuche über das Leuchten verſchiedener Körper unb verwandte 
Gegenflände, die ihn hier vielfach beichäftigten. Die Refultate feiner Forſchun⸗ 
gen legte er in den naturwifjenjchaftlihen Journalen jener Beit nieder, z. B. in 
Rolls ‚„‚Bergmännifchem Journal”, in Köhlers. und Hoffmanns, Crells, Gchs 
lers Poggendorfs.unb Anderer Sournalen.: : Auch für franzöftiche Zeitfchriften, 
wie für dad „Jonrnal de physique“ uud die. „Annales de chimie‘‘ lieferte er 


8 . Biographie, 


Beiträge. Als Hauptfrucht feiner bisherigen Arbeiten if aber bie 1793 in 
Berlin erfchienene „Flora der kryptogamiſchen Bewächfe der Breiberger Gegend‘ 
zu betrachten, welcher „Aphorismen aus der chemiichen Phyſtologie der Pflan⸗ 
zen“ angehängt find. Dieſes Werk enthält außer zahlveichen Höchft intereffanten 
Beobachtungtn über die Rilze, welche in den Freiberger Minen gefunden werben, 
Mittheilungen über Ernaͤhrungoproceß, Farbe und Meizbarkeit deu Pflan⸗ 
u. |. w. ' 

“ Nach feiner Ruͤckkehr aus dee Schweiz wurde Alerander von Humboldt im 
März; 1792 vom Miniftet von Heinig als Aflefior beim Berg» und Hättenwefen 
in Berlin angeftellt. Noch in demfelben Jahre ward er ald Oberbergmeißber nach 
Baireuth verfeht, wo er bald zu dem Freiherrn von Hardenberg, damaligem Pro⸗ 
vinzialminiſter und fpäterem Staatskanzier, in ein vertrauliches Verhaͤltniß trat. 
In dem neuen Beruföfreife enifaltete er eine ebenfo mannigfaltige als erfolge 
reihe Wirkſamkeit, die jedoch Durch wiſſenſchaftliche und biplomatifche Netfen 
vielfach unterbrochen wurde. Schon im Herbft 1792 bereifte ex das baitiſche 
Salzgedirge und begab ſich nad Wien, wo er zuerfi mit Galvanis epoche⸗ 
machender Entdeckung befannt und dadurch zu feinen Verſuchen über bie: Reize 
des Nervenſyſtems veranlapt wurde. Im Herbfl 1793 finden wir ihn in Breußen 
und Polen, wo er im Aufteage ber Regierung eine Reihe von Salzbohrverfuchen 
leitete. Im folgenden Jahre befucht er den Bruder in Jena und „nothigt“ bier, 
nach Goethes charakteriftifchem Ausſpruch, „die Freunde ind Allgemeine der 
Raturwifienfchaften.” Dann begleitet er jeinen Freund Hardenberg an ben 
Rhein, um im englifchen Zager für die frankifchen Fürſtenthümer zu unterhan⸗ 
dein. 1795 befucht er aufs Neue den Bruder in Jena und reift dann nach der 
Schweiz, die er größtentheild von Schaffbaufen bis ind Ghamounithak mit 
Freiesleben zu Buße durchwandert. 

Während diefer unrubigen Periode feiner amtlichen Thätigfeit gab Hum- 
boltt die glänzendflen Beweiſe für feine praktiſche Befähigung. Er orgami- 
firte in unglaublich Eurzer Zeit den völlig hesuntergefommenen Bergbau in 
Franken, und zwar mit jo glüdlicyem Erfolg, daß ſchon nach wenigen Jahren 
die Ausbeute an Eifen, Kupfer, Gold und Vitriol 300,000 Gulden betrug 
Die Anerkennung, Diefer verdienftlichen Wirkfamfeit blieb nicht aus; ſchon 1794 
wurde Humboldt die Divection der ſchleſiſchen Bergwerfe von der Heglerung an⸗ 
getragen und im folgenden Jahre warb er zum Oberbergrath in Berlin er 
nannt. Gr blieb jedoch in Baireuth, wo er bis zu feinem freiwilligen Ruͤcktritt 
die von ihm eingeführten Neuerungen überwachte. 

Mockte diefe amtliche Stellung auch noch jo angenehm für. ihn fein, fo 
grriügte fie doch nicht dem Streben feines gewaltigen Geiſtes. Gr konnte fich 
auf den fo Heinen, ihm und feinen Korfchungen angewiejenen Raum nicht bes 
ſchraͤnken; mehr und meßr warb ex von dem Verlangen erfülkt, fich ehten großen, 
bedeutenden und wo möglich noch wenig betretenen Wirkungskreis zu ſchaffen. 
Er ſelbſt befchreibt dieſes ſehnſuͤchtige Verlangen, fremde, unbelannte, für Die 
Wißſenſchaft Intereſſe bietende Länder zu ſchauen, in folgenden Werten: Ich 
Hatte von meiner erſten Jugend an eine brentteude Begierde erpfunden, im. ent⸗ 


Ylerander von Humboldt. 9 
fernte, von Europäern wenig befuchte Länder. zus zeifen. Diefe Begierde cha⸗ 
rakterifirt einen Zeitpunkt unſeres Lebens, in welchem uns dieſes wie ein. Hori⸗ 
zont ohne Grenzen erfcheint, wo nichts größeren Weiz für und bat, als bie ſtar⸗ 
ten Bewegungen unferer Seele und das Bild phyſtſcher Befahren. — In einem 
Lande erzogen, welches feine unmittelbare Verbindung mit ben Eolonien beiter 
Indien unterhält — und nachher ein Bewohner von Sebirgen, bie, entfernt 
von den Küſten, durch ausgebreiteten Bergbau berühmt: find, fühlte ich in mir 
die lebhafte Leidenfchaft für das Meer und für lange Schifffahrten fortichreitend 
ſich entwickeln. Die Gegenftände, die wir nur durch die belchten Schilderun⸗ 
gen der Reiſenden kennen, haben einen befonbern Meiz; unfere Einbildungskraft 
gefällt fich in Allen, was unendlich und unbegrenzt iſt; die Genuͤſſe, welche wir 
entbehren müflen, fcheinen und größere Borzüge zu haben, als die, welche und 
thglic, im engen Kreiſe einer figenden Lebensweiſe zu Theil werden.” 

Diefem Verlangen nach großen Reifen zu genügen, legte er im Jahre 1795 
ſrin Amt als Oberbergureiſter nieder und begab ſich nach Wien, wo er ſich mit 
Botanik und befonderd mit dem Studium einer Sammlung erotifcher Pflanzen 
beichäftigte.. Ein Ereigniß von fchmerzlicher Bedeutung hielt ihn noch eine 
Beitlang von weiterer Verfolgung feiner großartigen Weifepläne zuruͤck — dee 
Ind feiner Mutter, der am 20. November 1796 erfolgte. In Folge diefes Er⸗ 
eigniſſes bejuchte er zu Anfang des folgenden Jahres feinen Bruder Wilhelm, 
ber fich mittlerweile verheiratbet und in Iena feinen Wohnflg genommen hatte. 
$ier verliebte er, ganz erfüllt von den Borbereitungen zu einer Reife nach Weſt⸗ 
imdien, mehrere Monate, hörte mit dem Bruder eine Privatvorlefung über Ana⸗ 
temie bei dem Brofeffor Loder und arbeitete täglich noch ſechs bis fieben Stun⸗ 
den auf dem anatomifchen Theater. Daneben fehte er feine bereitd früher be⸗ 
gonnenen Experimente über Balvanismud fort und verwandte große Aufmerk- 
famfeit auf die Geſetze des Muskelreizes. Das Mefultat dieſes Studiums legte 
er in der ſchon erwähnten Schrift: ‚Ueber die gereiste Muskel» und Rerven- 
ſaſer“ nieder, deren Herausgabe er Blumenbach in Böttingen übertrug. Die 
Bedeutung diefes erſten größeren Werkes beruht Hauptfächlich auf den entfcheis 
denden Berfuchen, welche Humboldt zu Gunſten ber thierifchen Electrieitaͤt an⸗ 
Rellte, und dusch die er dem ſchwankenden Streit zwifchen Galvani und deſſen 
Gegner Bolta unwiderruflich entſchied. Galvani glaubte Alles auf die thieriſche 
Eleririeität zurücführen zu Pönnen, während Volta zu weit ging, indem er, diefe 
ganz verwerfend, nur Erfcheinungen metallifcher Electrieität in den wunder⸗ 
baren Wiederbelebungen anſcheinend todter Thelle erblidtee Durch die eracte- 
fen Verfuche, die Humboldt au Thieren und Inſecten, zum Theil fogar an ſich 
fabR anfkete, wies ex nach, wie man nicht blos mit Hülfe eined ganz reinen 
Nctallis, ſondern auch ohne Me Anwendung eines verunreinigenden Metalls und 
she jeden mechaniſchen Reiz Mustel-Zudungen hervorrufen kͤnne. Uebrigens 
beraten. ſich feine Forſchuagen weit über das Gebiet ber galvaniichen Electrichtät 
hinaus; ex unterfachte, wie ſchon erwihnt, den Magnetiemus, das Licht, bie 
Birne un deren. Eimfinfi auf das Rervenſyſtem. So warb er ber Begrüne 
Dex der Rervenphyſiologie, wie er der Erſte war, ber einen wiſſenſchaft⸗ 


10 1052 Bisgrapbie. Be 


lidyen Weg in der Arzneimittellehre betrat, indem er die Luft, das Waſſer, 
die verſchiedenen Gaſe, bie mannigfaltigften Arzneimittel der Unalyfe un⸗ 
terwarf. 
Waͤhrend ſeines Aufenthaltes in Jena, wo er auch Freiesleben wiederfand, 
hatte er freundſchaftliche Beziehung zu Goethe, von deſſen Hand wir in einem 
Briefe an Schiller folgende Notiz darüber befigen: „Mit Humiboldt habe ich 
die Zeit fehr angenehm und nüglich zugebracht, meine naturhiftorifchen Arbeiten 
find auch durch ihn wieder aus ihrem Winterfchlafe geweckt worden.“ 

Mittlerweile war der Blan, nach Weftindien zu reifen, bei Alexander zur 
Weife gediehen, und auch ber ältere Bruder empfand eine große Sehnfucht nach 
fernen Zändern, ohne daß diefelbe durch mancherlei Krankheitöfälle, Die fein 
Haus betrafen, im Geringſten gefchwächt wurde. Diefe Uebereinftimmung ber 
beiden Brüder führte endlich zu dem Plane, vorläufig zur Regulirung der Erb⸗ 
Tchaftöverhäftnifie nach Berlin zu gehen und ſodann gemeinfchaftlich nach Italien 
zu reiſen, son wo Alerander feine größere Tour durch Spanien nach Amerika 
antreten wollte. | 

Ende April begaben fich Die beiden Brüder nach Berlin, wo fie die Hins 
terlaffenfchaft ihrer Mutter orbneten. Der ältere Bruder erhielt Tegel, der jün⸗ 
gere dad Gut Ringenwalde in der Neumark, das er indeß, um die beabfichtigte 
große Reife jofort antreten. zu können, an den Dichter Franz von Kleift verfaufte, 
Kunth, ihr Iugenderzieher, warb von den Brüdern mit der Verwaltung ihres 
Dermögend während ihrer Abweſenheit betraut. Die Reife nach Italien follte 
uunmehr ohne weiteren Beitverluft angetreten werben; doch es fchien, als walte 
ein unfreundliches Geſchick ͤber dem Vorhaben der Brüder. Bereitö in Dres⸗ 
den wurden Die Neifenden durch einen Fieberanfall ber Frau von Humboldt 
Lange aufgehalten, und als fie endlich in Wien anlangten, hatte der Krieg zwi⸗ 
schen Sranfreich und Oefterreich eine folche Ausdehnung gewonnen, daß an eine 
Fortſetzung der Meife nicht zu benfen war. Die Brüder verließen zu Anfang 
October 1797 Wien, um fich nach der Schweiz zu begeben. Alexander blich 
indeß in Salzburg zurüd, wo er feinen alten Breund und Studiengenofjen Leo⸗ 
pold von Buch wiederfand, mit dem er die Salzburger und jteierifchen Alpen zu 
durchwandern und willenfchaftlich zu unterfuchen beſchloß. Nach dem Friedens⸗ 
fchluffe von Campo Zormio begab ſich Wilhelm fofort nach Paris; Alerander 
blieb bi8 zum Fruͤhjahr des folgenden Jahres in Salzburg und folgte dann fei« 
nem Bruder nach Paris. 

Ehe wir über feinen Aufenthalt in Paris und deſſen folgenreiche Reſultate 
berichten, haben wir noch zu erwähnen, daß er auch in Salzburg verjucht hatte, 
feinem Drange nach großen wiflenfchaftlichen Reifen zu genügen. Er machte hier 
die Bekanntfchaft des Lord Briſtol, eined wielgereiften Banned, ber die Abficht 
hatte, eine wifienfchaftliche Expedition nad) Aeghpten zu unternehmen. Hum⸗ 
boldt wollte ich ihm anfchliegen, doch auch bier traten bie politiichen Verhälte 
niſſe der Ausführung bindernd in den Weg: Da erhielt er bie Nachricht, daB 
som franzöflichen Rational-Mufeum eine Entdeckungsreiſe nach ber füblichen 
Hemiſphaͤre unter Bührung des. Sapitain Baudin. beichlofien worden ſei, und 


Alerander: von Humboldt. 11 


biefer Grpedition fich anzufchließen, war ber Hauptzweck jeher Reife nach 
Varis. 

Sier war inzwiſchen das Haus feines Bruders der Sanmelpunkt Gebeutens 
ber Männer, Deutfcher ſowohl ald Branzofen geworden. Er nahm an der geifle 
zeichen Geſelligkeit dieſes Kreiſes Theil, ohne darüber ben Hauptzweck feiner 
Anwejenbeit in Paris aus den Augen zu verlieren. - Als Raturforfcher der er⸗ 
wähnten Erpedition waren die Herren Michaur und Bonpland außerfehen, und. 
ihre Bekanntſchaft fuchte natürli Humboldt zuerſt, beſonders des letzteren, 
Aimé Bondlands, ber einer der beſten Zoͤglinge ber Parifer Arzneiſchule war. 
Rit ihm hatte er bald einen lebhaften perſönlichen Verkehr, und fo wurde da⸗ 
mals das berühmte Freundſchaftsverhaͤltniß zwiſchen den beiden Männern ges 
knüpft, das ſpäter jo bedeutende und folgenreiche Reſultate fir die Wiſſenſchaft 
baben ſollte. Huniboldt warb als Theilnehmer an der Expedition herzlich will⸗ 
kommen geheißen; um ſich auf dieſelbe vorzubereiten, lernte er arabiſch und gab 
id mit erneuetem Gifer naturwiſſenſchaftlichen Studien hin. So nahm er u. A. 
ieine früher begonnenen „Forſchungen über die Bufammenfegung ber Atmo⸗ 
ipbäre” in Verbindung mit dem berühmten Phyſiker Gay⸗Luſſac wieder auf und 
ihon zu Anfang des folgenden Jahres (1799) erfchien feine Schrift: „uͤber bie 
unterirdifchen Gasarten.“ Mit tiefen Arbeiten befchäftigt, erwartete Humboldt 
ten Abgang der Erpebttion ; doch follte er auch hier die Ungunft des Schickſals 
erfahren. Der bevorſtehende Wiederausbruch des Krieges in Deutfchland und 
alien nöthigte Lie Unternehmer, die benbfichtigte Expedition aufzugeben: 
Obne den Muth zu verlieren, faßte nun Humboldt den Entihluß, an einer Er- 
edition franzöfticher Gelehrien nach Aegypten Theil zu nehmen. Allein bie 
für die franzöfliche Flotte fo verberbliche Schlacht von Abufir, welche jede Ver⸗ 
bindung mit Aegypten zerftörte, ließ auch dieſe Erpedition nicht zur Ausfüh⸗ 
rung fommen. Nicht: befier erging ed Humboldt, als er ſich an den fchwebifchen 
Conſul Eciöldebrand zu einer Reiſe nach Nordafrika anichließen wollte, Ver⸗ 
geblidy wartete er mit feinem Freunde Bonpland in Marfeille; er ſah fich wiede⸗ 
rum getäujcht und befchloß nun, nach Spanien zu geben und dort eine andere, 
Schiifögelegenheit zu erwarten. Bu Anfang des Jahres 1799 reifte er mit deme- 
neugewonnenen Breunde nach Madrid. Bonpland benugte Diefe Reife haupt⸗ 
ſächlich zu botanijchen Borfchungen, während Humboldt mit Hülfe feiner vor» 
trefflichen Inftrumente die Höhe und die aftronomifche Lage vieler Punkte bes 
fimmte und De wahre Höhe der Eaftiliichen Gentralebene ermittelte. In Ma⸗ 
drid am Hofe eingeführt, wußte Humboldt ben ganzen Zauber feiner Perſönlich⸗ 
feit fo glücklich geltend zu machen, daß ihm die Erlaubniß, alle fpanifchen Pros’ 
“ringen obne die geringfte Befchränfung befuchen zu türfen, und zugleich bie 
Zaſicherung der ausgedehnteſten Beihülfe von Seiten der Megierung ertheilt 
ward. So fland denn Humboldt endlich am Ziele feiner heißeiten Wuͤnſche. „Er 
iollre das feiner. Wiſſenſchaft faft noch völlig fremde Südamerika, das Land ſei⸗ 
ner Sehnſucht, kennen fernen. Seine und feines Freundes Meijeluft war fo 
groß, daß fie fo ſchnell als moͤglich Madrid verließen und durch Altkaſtilien, 
Leon und: Galizien nach Corunna eilten, wo fle ſich einaufchiifen gedachten. Bu 


13 rlisgrayhie. 


ihrem großen Verdruß fanden fle ben dortigen Hafen von engliſchen Schiffen 
blodirt. Doch waren fle jo glüdlich, auf dem Pizarro, einer jpanifchen Fre⸗ 
gatte, die nach der Havana beſtimmt war und keck bie Blodade durchbrach, aus 
dem Hafen zu entlommen. Am 5. Juni 1799 erreichten fie die offene See. 

In den Tagen, die jener gefahrvollen Einfchiffung unmittelbar vorhergin⸗ 
gen, hatte Humboldt eine Entdeckung gemacht, die für die Schifffahrt von ber 
groͤßten Bedentung war, bie nämlich, daß bie Nähe eine Sandbank viel früher, 
als das Senkblei gebraucht werden Tann, fich durch die fchnelle Abnahme der 
Temperatur des Waflerd an ber Oberfläche anfündigt. Dank diefer Entdeckung 
sermag der Schiffer die ihm drohende Gefahr früher und ſchneller durch das 
Thermometer als durch das Senkblei zu erkennen. 

Ray neun Yahren vergeblichen Hoffend und Harrens war es alfo Hum⸗ 
boldt gelungen, den Weg nach Amerika, dem Lande feiner Schnfucht zu finden, 
das er noch einmal für die Wiffenfchaft entdecken, deſſen Inneres er zuerfl ber 
MWelt erfchließen follte. Die Fahrt ging glücklich von Statten, und ſchon auf 
dem Schiffe hatten die Reiſenden Gelegenheit genug zu intereffanten Beobachtun⸗ 
gen und Forſchungen. Rad) kurzem Aufenthalte auf den kanariſchen Infeln, der 
zur Befteigung des berühmten Piks von Teneriffa Benugt warb, begaben bie 
Heifenden fih nach Gumana in Süd-Amerita. Bon hier aus machte Humboldt 
am 9. Auguft 1799 feinen erften Ausflug nach der Halbinſel Araya und zu 
ben. Ehaymad-Indianern. Am 18. November verlieh er Eumana von Neuem, 
um zunächft mach den weftlich an der Küfte gelegenen Guayra und Caracas zu 
gehen, dann aber die weiten Ebenen und Steppen des Orinokogebietes zu durch⸗ 
wandern und über Guyana nach dem Ausgangspunkte feiner Reife, Cumana, 
zuruͤckzukehren. Es war dies ein Weg von ungebeuerer Ausdehnung in bisher 
noch faſt völlig unbelannte Ränder, und ein weniger ausdauernder, energifcher 
und Eraftvoller Geiſt als der Humboldts wäre wohl durch die Schilderung der 
zahlloſen Schwierigkeiten und Gefahren, die man von dieſen Gegenden entwarf, 
zurüdtgeichreedt worden. Humboldt Tieß fich nicht ſchrecken. Während Bon⸗ 
pland zu Schiffe bis Barcelona fuhr und bier den Landıreg nach Caracas wählte, 
um neue Pflanzen zu fammeln, fegelte Humboldt nach Guayra und von ba nad 
kurzem Aufenthalt nach Caracas, wo er am 21. November eintraf. Rachdem 
die Reifgnden unter den botanifchen Schägen der herrlichen Umgebungen dieſer 
Stadt reichliche Ernte gehalten und eine Menge Punkte geographifch und aſtro⸗ 
nomiſch beſtimmt Hatten, feten fe im Februar 1800 ihre Reife Durch die Thaͤ⸗ 
ler von Aragua fort, nahmen den Weg von Rueva⸗Valencia durch Villa de 
Eura, gelangten in das Becken der Llanos, jener ungeheuren Steppen, die nur 
felten der Fuß civilifirtee Menfchen betritt, und erreichten am 17.März die Billa 
de San Fernando, das Ziel ihrer Reife auf dem flachen Rande. Die drei Mo» 
nate April, Rai und Juni brachten fie auf dem Orinoko, dem Rio Negro und 
dem Gafflquiare zu. Mitte Juni trafen fie in Angoflura, der Hauptſtadt des 
fpanifchen Guiana ein, nachdem fie in fuͤnfundfiebzig Tagen einen Weg von vier« 
hundert Wellen zurücgelegt hatten. In Angoflura warb Sumboldt ſowohl wie 
Bonpland in Folge der gewaltigen Reiſeſtrapazen von einer heftigen Krankheit 


Alerander son Humboldt. 13 


befallen, Die bei Bonpland ben Charakter eines bösartigen Fiebers annahm. 
Bibrend Humboldt die Krankheit ziemlich Leicht und ſchnell überfland , ſchwebte 
das Leben feines Neijegefährten wochenlang in Gefahr. Kaum genefen, traten 
Die kühnen Reifenden die Rückreife nach Cumana an, indem fie Den Weg mitten 
Durch Die Karaiben-Miffionen in den Steppen son Benezuela nahmen. Nah 
farzer Raſt in der Hafenſtadt Rueva-Barcelona langten fie im. dem vor fleben 
Monaten verlafienen Cumana glüdlicy wieder an. Sie perweilten hier einige 
Monate und begaben fi) dann auf einem ameritaniichen Fahrzeuge nach 
Gabe. 
Gegen Ende April 1801 wollte Humboldt mit dem Geſchwader des Admi⸗ 
rals Ariztizabal nach Deracruz reifen, ba famen ihm irrige Nachrichten über bie 
früher beabfichtigte Expedition des Capitain Banbin zu, an welcher er unter 
allen Umſtaͤnden theilzunehmen verfprochen hatte. Rordamerikaniſche Blätter 
meldeten nämlich, zwei franzöfliche Gorvetten feien nach dem Gay Horn unter 
Segel gegangen und würden ihre Fahrt längs den Küften von Chili und Peru 
schmen, um fich von da nad) Neuholland zu wenden. Durch diefes Gerücht 
werd Humboldt bewogen, bie beabfichtigte Reife nach Mexiko aufzugeben und 
den Berfuch zur Erreichung jener beiden Schiffe zu manchen. Das neue Reife 
unternehmen erforderte indeß viele Vorbereitungen und fließ auf bedeutende 
Schwierigfeiten. Endlich fand Humboldt auf ber Rhede von Batabano eine 
kataloniſche Goelette, die er miethete, um ſich auf ihr nach Carthagena einzu⸗ 
ſchiffen. Am 9. März gingen bie Reiſenden unter Segel, wenig erbaut von der 
Kleinbeit und unbequemen Einrichtung des Fahrzeugs. Bald wurbe daſſelbe 
durch heftigen Sturm zu weit nady Welten getrieben, und die Neifenden ſahen 
ih fogar genöthigt, am Rio Sinu in Südamerika zu landen. Am 27. März 
Ra man von Reuem in See und erreichte endlich glüdlich den Hafen von Gar» 
ihagena. 

Hier war Humboldt gendthigt, feinen Reiſeplan wiederum weientlich zu 
ändern. Er mußte die Idee, den Iſthmus von Panama zu burchforfchen, deshalb 
aufgeben, weil die Jahreszeit bereitö zu weit vorgeruckt war, um noch eine Fahrt 
anf der Suͤdſee von Panama nach Buapyaquil unternehmen zu können. Die Reifene 
den beichloffen nun, auf dem Magdalenenfirome bis zum Orte Honda zu fahren, 
und von da aufMaulefeln den Weg nach Santa Be de Bogota fortzufegen, deſſen 
Umgebungen ben Reifenden vielfachen Stoff zu naturwiffenichaftlichen Forſchun- 
gen darboten. Don Bogota gingen fie über den Pag der Anden von Duindiu 
nach Popayan; nach viermonntlicher Meile und den furchtbarflen Anftrengungen 
erreichten fe enblid,) am 6. Januar 1802 Quito. Neun Monate verweilten die 
Reifenden an diefem Orte, beffen vorzügliched Klima ihre angegriffene Geſund⸗ 
beit wieder herftellte. Humboldt befuchte von bier aus den Krater ded Vulkans 
Vichincha, die Schneefuppen bed Antifana, des Cotopari, des Tunguragua, 
und am 23. Juni beftieg er mit Bonpland ben Chimborazo bis zu einer Höhe 
von 3036 Toiſen, einer Höhe, bie bis dahin noch nie war erreicht worden. 

In Duito erfuhr Humboldt, daß der Capitain Baudin nach Neu⸗-Holland 
geiegelt fei und feinen Weg oſtwaͤrts um das Kap der guten Hoffnung genam- 


:14 23.421. Biographie: nl 


mein babe: : Eine Vereinigung mit ibm war alfo unmöglich, und fo ward denn 
befchlofien, eine große Fahrt auf den Amazonenflrons' zu unternehmen und nach 
Bima zu geben, um Dajelbft den Durchgang des Planeten Merkur durch die Son⸗ 
nenſcheibe zu beobachten. Ahr Weg führte bie-Reifenden durch die Schneege⸗ 
filde von Aſſuay und Guenca: nach Zora, und von da nach dem Amazonenſtrom, 
‘den fie bis zu den WBafferfällen von Retama befuhren. Dann :überfttegen fle bie 
Anden zum fünften Mal, Echrten ‚nach ‘Peru zurüd, wo fie unter Anderem. die 
Bilberbergwerke von Hualguayok und die heißen Quellen von Caxamarca bes 
fuchten, gingen über Die weftlichen Gorbdilleren der Andenkette nach Trupillo 
zurück, and erreichten endlich Lima, die Hauptftadt von Peru. - Gier ver- 
weilten fle mehrere Monate, die den umfangreichiten Forſchungen gewidmet 
waren. - . 

Im Jahre 1803 fegelten die beiden Meifenden nach Guyaquil, erreichten 
nach einer Kahrt von dreißig Tagen Acapulco und waren ſomit endlich in Mexiko 
angelömmen. Nach einem längeren Aufenthalte in Acapulco fegten fe die Meife 
nach der Hauptſtadt fort; von bier aus machten fie einen größeren Ausflug in 
den nördlichen Theil des Landes. Im Jahre 1804 jchifften fie fich in Veracruz 
nach der Havana ein, um ihre vor vier Jahren bort zurüdgelafienen Samm⸗ 
Iungen in Empfang zu nehmen. Zwei Monate nach ihrer Ankunft auf Cuba 
reiten: fle nach ben norbamerifanifchen Staaten ab. Nach einer Fahrt von 
zwelunddreißig Tagen kamen fie in Philadelphia an, befuchten Wafhington, ver 
weilten zwei Monate im Gebiete .der Union und fehrten im Auguſt 1804, nach 
fünfjähriger Abwefenpeit, mit den Eoftbaren Krüchten ihrer Forſchungen nach 
Europa zuruͤcke. 

Wir verdanken dieſen Korfchungen eine weientliche Erweiterung der Erd⸗ 
tunde, die wichtigften Verbeſſerungen der alten zum Theil ganz unrichtigen Kar⸗ 
ten von Südamerifa. Genaue Darftellungen der Oberflächengeftaltung bes 
neuen Gontinents find erft möglich geworben, feitdem Humboldt mit Hülfe des 
Baronieters die Erhebung der Gebirgsmaſſen, der Hochebenen und das Gefälle ber 
Ströme genau feftgeftellt Hat. Durch feine gründlichen Unterfuchungen der Ges 
birgamaffen, der Hochebenen, der Gebirgsarten und ihrer Lagerung, ber 
Bulkane, des DBerhältniffes der Reaction des Erbferns gegen die Oberfläche, 
durch feine forgfältigen Meffungen der Neigung, der Abweichung der Magnet- 
nabel und der Intenfltät ber magnetifchen Kraft der Erde, durch feine wieder- 
holten Beobachtungen der Erdbeben, wie über die Electricitaͤt, die Temperatur, 
die Feuchtigkeit und Dichtigkeit der. Luft find die Naturwiffenfchaften im Allges 
meinen und insbejondere die Geologie und Geognoſte, die Phyſik und Phyſto⸗ 
logie mit einer Menge wichtiger Enideckungen bereichert worden. Doch nicht 
allein die anorganifche Natur, auch das organiſche Leben bat er in allen jeinen 
Bedingungen durchforicht und als harmouiſches Ganze geſchildert. 

Das ungeheure Material, welches er auf der fünfjährigen Reife gefammelt 
hatte, verarbeitete er zunächft in umfaflenden Monographien, die nach und nach 
als Theile eines großen Werkes veröffentlicht wurden. Buerft erfchienen bie 
„Anſichten ver Natur“, jene großartigen Raturjchilderungen, Die das bunte, viel 


Alerandee von Bumboldt. 15 


geftaltige Leben ber Tropen in ergreifender Welle vergegenmärtigen und am mei⸗ 
ken dazu beigetragen haben, dem Ramen Humboldts auch in den weiteiten Krei⸗ 
jen Bopularität zu verichaffen. Dann folgte die eigentliche Neifebefchreibung in 
franzöfifcher Sprache, von der gleichzeitig auch eine beutfche, freilich nichts we⸗ 
niger als gelungene Ueberſetzung unter dem Zitel: „Reife in bie Aequinoctial« 
gegenden des neuen Gontinents in den Jahren: 1799 bis 1804 im ſechs Thei⸗ 
len erſchien. Diefe leider unvollendet gebliebene Arbeit, das bisher unüber- 
troffene Mufter einer wifienfchaftlichen Reiſebeſchreibung, bildet. indefien nur 
einen fpäter verfaßten Theil des großen Gefammtwerts, welches den Titel 
führt: ,‚Voyage aux regions &quinocliales du nouveau continent.“ Auf bie 
einzelnen Theile dieſes Werkes hier näher einzugehen, geflattet weder deren Aus- 
dehnung noch der Umfang ber Bereicherungen, ben die Naturwiflenfchaften durch 
fie erfahren Haben. Im Ganzen bilden alle dieſe theils wifjenfchaftlichen, theils 
erzählenden Schriften 29 Bände in Kolio, 12 Bände in Ouart und 23 in Oo 
tan. Dazıs gehört ein geographiſch⸗phyſtkaliſcher Atlas, fomwie eine Sammlung, 
von zum Theil farbigen Kupfertafeln. Das Rieſenwerk zerfällt in ſechs Abthei⸗ 
lungen, beren erfte außer der „Pflanzengeographie“ und dem „Atlas pitto- 
resque‘‘ den eigentlichen Neifebericht enthält. Im der zweiten Ab⸗ 
teilung, an der fich namentlich Cuvier und Latreille betheiligten, find die 30 o⸗ 
logie und Anatomie in Bezug auf die von den Reiſenden gemachten Erfah» 
rungen und Borfchungen bearbeitet. Die dritte Abtheilung befteht aus dem 
„Essai politique sur le royaume de la nouvelle Espagne avec atlas“‘ und dem 
„Essai politique sur l'isle de Cuba.“ Das erfigenannte Werk enthält eine 
Menge geiſtvoller Betrachtungen über den Umfang und die natürliche Beſchaffen⸗ 
beit Mexikos, über die Sitten ſeiner Bewohner und ihre uralte Ginilifation; es 
umfagt den Aderbau, ten Mineralreichthum, den Handel und die Gewerbe, die 
Finanzen und das Heerweſen jened Landes. In der vierten Abtheilung find 
die aftronomifchen Beobachtungen Humboldts unter Oltmanns Beihülfe für die 
Wiffenfchaft nupbar gemacht. Die fünfte Abtheilung enthält den „Essai sur 
la pasigraphie göologique.“ Die ferhfte Abtheilung befteht aus drei botani⸗ 
ihen Werfen Bonplands, welche betitelt find: „Plantes &quinoxiales au Me- 
ige, dans l'isle de Cuba, dans les provinces de Caracas, Cumana etc.‘“, „Mi- 
moses et autres plantes l&gumineuses,‘ „Monographie des melastomes“‘, fowie 
aus der von dem Botaniker Profeſſor Kunth in Berlin nad den Weilungen 
Humboldts verfaßten Schrift: „Nova genera et species plantarum.“ Dazu 
fonmen ferner: „Synopsis plantarum ab Al. de Humboldt et Bonpland in iti- 
nere collectarum,“ gleichfalls von Kunth herausgegeben; die „Anfichten der 
Ratur,“ auch in franzöftfcher Sprache erfchienen; und „Examen critique sur 
Ihistoire de la g&ographie du nouveau continent,‘““ Parid 1836, 5 Theile. Die 
son Humboldt mitgebrachten Verfteinerungen endlich wurden von Xeopold von 
Buch (Berlin 1839, 1 Band in Folio) beichrieben. 

Wenn wir die ungeheuren Refultate betrachten, welche die fünfjährige Reife 
Sumboldts gehabt hat, fo finden wir ben Antheil fehr erflärlich, den die ganze 
gebildete Welt an dieſer Reife genommen. In allen Kreifen gab ſich die freute 


D 


16 | Biographie. 

bigfte Erregung fund, als man den bereitß tobtgefagten Fühnen Forſcher mit 
feinen für die Wiſſenſchaft unberechenbaren Schägen in Europa antommen ſah. 
‚Ein neuer Columbus hatte er ganz unbekannte und unzugängliche Länder durch⸗ 
forſcht, fein Leben, feine Geſundheit unzählige Male auf das Spiel gefeht, Eein 
Tag war ihm ohne Mühe und Beichwerde vergangen. Und diefem unendlichen 
Drange ded Forſchens, dieſem hohen wiflenfchaftlichen Streben hatte er nur 
Folge Teiften können, indem er mit einem Heldenmuth und einer Ausdauer ohne 
Gleichen die größte Oenügiamfeit und Beſcheidenheit, die höchfte Aufopferungs⸗ 
fähigkeit verband. Nidyt allein fein Amt, fein Vaterland, feine Familie und 
feine Freunde Hatte er verlaſſen, ſondern er hatte die koſtſpielige große Meife 
auch aus feinen eigenen Mitteln, ohne die geringfte fremde Unterflügung ge 
madıt. Und nun fehrte diefer Held der Wifjenfchaft, der für dieſelbe oftmals 
fein Leben den größten Gefahren preißgegeben hatte, als ruhmgefrönter Sieger 
nal) Europa zurüd, getrieben von der Sehnfucht nach der Heimath, erfüllt von 
dem Verlangen nach dem geliebten Bruder und ihren gemeinfchaftlichen Freun⸗ 
den, erfüllt endlich nicht minder von dem Berlangen, das geſammelte reiche Ma⸗ 
tertal für die Wiflenfchaft nugbringend zu machen. 

Sin glückliches Beſchick fügte ed, daß Humboldt bei jeiner Ankunft in 
Paris feine Schwägerin vorfand, mit welcher er den Winter über hier verweilte, 
um feine Sammlungen zu ordnen und die VBorbeseitungen zur Veröffentlichung 
feiner Forſchungen zu treffen. Erſt im Frühjahr 1805 Eonnte er den Bruder 
in Rom befuchen. Hier traf er auch mit Zeopold von Buch, feinem alten Ju⸗ 
gendfreunde, wieder zufammen, und in.Begleitung Gay⸗Luſſaes reiften fle am 
15. Juli nach Neapel, wo fie einen der großartigften Ausbrüche des Veſuvs bes 
obachteten und Zeugen bes furchtbarften Erdbebens wurden, welches Neapel 
jemals erfchütterte. Ueber Rom und Florenz kehrten fie auf ber Gotthard⸗ 
ſtraße nach Deutfchland:zurüd, um Blumenbach in Göttingen zu begrüßen und 
in Berlin ein Jahr vor der Kataftrophe von 1806 einzutreffen. «Hier begann 
Alerander von Humboldt eines der wenigen Werfe, die er in deutfcher Sprache 
gefchrieben, die fchon erwähnten „Anſichten der Natur‘, welche zuerſt 1808 im 
Berlage der Cottaſchen Buchhandlung in Stuttgart erfchienen. Im Spätherbft 
1807 begleitete er ben Prinzen Wilhelm von Preußen auf feiner fehwierigen 
diplomatijchen Mifflon nad Branfreih. Da der damalige Zufland Deutfch- 
lands die Herausgabe umfangreicher wiffenfchaftlicher Werfe nicht geftattete, jo 
erhielt Humboldt vom Könige Die Erlaubniß in Paris zu bleiben, wo er dann 
bi8 zum Jahre 1827 feinen Aufenthalt.hatte. Hier, im Mittelpunfte des wiſſen⸗ 
ſchaftlichen Verkehrs, in Berührung mit den hervorragendften Naturforfchern der 
Zeit begann er die Bearbeitung und Herausgabe feined großen Reiſewerks. Die 
mitgebrachten Materialien waren jedoch jo umfangreich, daß er, um Die einzel- 
nen Theile in möglichfter Vollendung der Oeffentlichfeit übergeben zu Eönnen, 
fih zunächft mit den Parifer Gelehrten in Verbindung fegte, die es ald ein 
Glück, als eine Verpflichtung gegen die Wiffenfchaft und ihren großen Iünger 
betrachteten, bei der Herausgabe fich mit allen ihnen zu Gebote flehenden geiftie 
gen Kräften zu betheiligen. Jabbo Oltmannd, der ‚„unermüdliche Pechner,“ 


Alerander von Humboldt. 17 


übernahm es, Die aftsondmifchen und geodätifchen Beobachtungen, welche 700 
geographiſche Ortsbeſtimmungen mit 459 Höhenmeſſungen umfaflen, nochmals 
durchzurechnen und zu vergleichen. An den zoologiſchen Unterſuchungen ber 
theiligten fich, wie fchon erwähnt, namentlich Cuvier und Latreille. Die Her⸗ 
barien, durch Bonplande Eifer gefammelt, wurden von diefem mit Humboldt 
und Kunth bearbeitet. Mit den mineralogifchen und chemifchen Beftimmungen 
der mitgebrachten Gefteine und vegetabilijchen Droguen bejchäftigten ſich nament« 
lich Maproth und Vauquelin, während Gay⸗Luſſac und fpäter Arago die Ente 
wielung ber großartigen Anſichten von dem Zufammenwirfen der tellurifchen 
Kräfte wefentlic, förberten. ine befondere Erwähnung verdient auch der ver⸗ 
traute Umgang Humboldts mit Laplace, dem genialen Verfaſſer der M&canique 
celeste, der durch die Fülle feiner Kenntniffe und ſeines Geiſtes den belebend⸗ 
Ren Einfluß auf feine Umgebung ausübte. Auch mit Carnot, Lagrange und 
Berthollet ward ein eifriger Verkehr gepflogen. Auf dem Landſitze des Letzteren 
zu Arcueil machte Humboldt die Befanntfchaft Gay⸗Lufſaes, der bald aus einem 
Gegner fein eifrigfter Freund und Mitarbeiter werben jollte. Die von Beiden 
gemeinfchaftlich unternommene Prüfung der chemifchen Beitandtheile der Luft 
führte zu der richtigen Erkenntniß des Verhältniffed des Sauerftoffgehaltes zum 
Stickſtoffgehalt und zu der noch wichtigeren Entdeckung, daß fich der Sauerftoff 
mit dem Waſſerſtoff ſtets in dem DVerhältniffe von 100 zu 200 Volumtheilen 
verbindet. 

Trotz dieſer mannigfaltigen und überaus anſtrengenden Arbeiten fand 
Sumboldt noch Zeit, die glänzenden Salons der franzöftfchen Hauptſtadt zu bes 
jüchen und bier den ganzen Zauber feiner geiftreichen und Tichenswürdigen Per- 
Iönlichfeit zu entfalten, Ludwig Robert fchreibt 1826 an feine Schwefter Nabel 
(drau von Barnhagen): er begreife, wie ein Gelehrter Paris zu feinem Aufs 
enthalt wählen könne, er begreife ed von einem Humboldt, „dem die Salons Die 
ihönfte Natur, die Ratur und bie Naturen Cabinette find, der Morgend um 
zehn fchon auf den Beinen, Abends um ein Uhr noch in Gefellfchaft ift, taujend 
Dinge verrichtet, jedem Bekannten pünftlich und dienjtfertig zu Gefallen lebt, 
eine immenfe Billeteorrefpondenz unterhält, dabei doch Alles Licht und Vieles 
ihreibt, und alfo höchſtens drei Stunden Schlafs bedarf.’ 

Wilhelm von Humboldt, der unterdeffen zur Mitwirfung an der Meorga- 
nitation des tief zerütteten preußifchen Staates war berufen worden, erfannte ſehr 
bald die Nothwendigkeit, zunächft durch eine Verbefferung des Unterrichtsweſens 
die geiftige und fittliche Wiedergeburt der Nation zu fördern. Als wirkfames 
Mittel Hierzu empfahl er die Errichtung einer Univerfität in Berlin, und er 
batte tie Genugthuung zu fehen, dap fein Plan trog der Bedenflichfeiten Steins 
zur Ausführung Fam. Noch blieb ihm der Wunſch übrig, den berühmten Brus 
der für das große nationale Anliegen zu gewinnen, und ald er furz darauf in 
außerordentlicher diplomatifcher Sendung nach Wien ging, ward auf feine Ver⸗ 
anlafjung die Leitung der Section des Unterrichts Alerander von Humboldt an« 
geboten. Diefer lehnte jedoch den chrenvollen Ruf ab, denn ſchon war er mit 
dem Plane lebhaft beichäftigt, das Innere Aftens, insbejondere die Hochlande 

v. 2 


18 Biographie. 


von Tübet und Kafchemir zu bereifen. Die rufflfche Regierung hatte ihn naͤm⸗ 
Jich eingeladen, eine Erpedition, die über Kafchphor und Yarkand nach Tübet 
gehen jollte, zu begleiten. Indeß fcheiterte da8 Unternehmen an dem Auöbruche 
des franzöflfcherufftfchen Krieges, und Humboldt Eehrte von Wien, wohin er fich 
im November 1811 begeben hatte, um von feinem Bruder Abfchied zu nehmen, 
zur weiteren Förderung feines amerikanifchen Meifewerfed nach Paris zurüd, 
ohne jedoch die Reife nach Centralaſien aus dem Auge zu verlieren. Mit großem 
Eifer ging er an dad Studium der aftatifchen Gebirge, trieb daneben Arabiſch 
und Perſiſch, und bereitete ſich überhaupt nach allen Richtungen bin zu ber 
Reiſe vor, die er auf eigene Koſten auszuführen gedachte. Don einem Ausflug 
nach London mit Biot und Arago zurüdgefehrt, lehnte cr es im Iahre 1814 ab, 
die Vertretung des preußijchen Hofes in Paris zu übernehmen. Doch begleitete 
er fpäter den König nach Aachen, wo er, wie auf den beiden Friedendcongrefien 
in Paris hin und wieder ald Diplomat thätig war. Im Jahre 1817 überreichte 
er der Pariſer Akademie der Wiſſenſchaften eine treffliche Karte des Flußgebiets 
des Orinoko. Nachdem er Die fchmerzliche Trennung von feinem treuen Freund 
und Neifegefährten Bonpland, den Unzufriedenheit mit den politifchen Zuftän- 
den der Reftauration und Sehnjucht nach den Tropen eine Stelle als Profeflor 
der Naturgejchichte in Buenos⸗Ayres anzunehmen trieb, überftanden hatte, reifte 
er im folgenden Jahre nad) London, um feinen Bruder, der dort als preußijcher 
Gefandter reftdirte, zu befuchen und daſelbſt im Auftrag der verbündeten Mächte 
eine Meberficht der fübamerifanifchen Golonien zu verfaffen. Doch verließ er 
England im October wieder, von Friedrich Wilhelm III., wie ſchon erwähnt, zum 
Congreß nach Aachen berufen. Hier verweilte er bi8 zum 26. November und 
hatte die Freude, daß ihm der König, der ein großes Intereffes für feinen Plan, 
Gentralaften zu befuchen, an den Tag legte, eine jährliche Unterſtützung von 
12,000 Thalern zujicherte. Indeß follte die Erpedition auch jegt nicht zu 
Stande kommen, und Ulerander von Humboldt kehrte nach Parid zurüd, wo er 
wiederum mehrere Jahre feinen Studien lebte, während fein Bruder, den Intris 
guen der Reactionspartei weichend, aud dem Staatsleben fchied und auf dem 
neugefchaffenen Landſitze zu Tegel feine Muße mit wiffenfchaftlichen und poetis 
fchen Arbeiten ausfuͤllte. 

Im Herbft 1822 begleitete Alerander von Humboldt ven König zum Gon- 
greffe nach Verona und von da auf einer Reife durch Italien, die ihm Gelegen- 
heit gab, von Neuem die vulfanifchen Phänomene des Vefun zu unterfuchen. Zu 
Anfang des Jahres 1823 begab er fich nach Berlin, verlebte hier wie auf dem 
lieblichen Landſitze feined Bruders zu Tegel einige glückliche Monate und brachte 
während derjelben feine wichtige Schrift: „über die Lagerung der Gebirgsarten 
in beiden Hemiſphaͤren“*) zum Abſchluß. Dann Fehrte er nach Paris zurüd. 
Bald indeß regte fich in ihm der Gedanke, Paris zu verlaflen und feinen Wohn« 
fig dauernd in Berlin zu nehmen, ein Entjchluß, zu dem wohl eben fo fehr der 





*) Sur le gisement des roches dans les deux hemispheres. Paris 1823. Deutfch 
von K. v. Leonhardt. 


Alerander von Humboldt. . 19 


ausdrückliche Wunfch feined Königs, wie dad Verlangen, in der Nähe des Altern 
Bruders und feiner Familie zu leben, beitragen mochte. Vor feiner endlichen 
Ueberfiedelung im Jahre 1827 nad) wieterholtem vorübergehenden Aufenthalte 
hielt er noch in Paris, alfo zuerft in franzöfticher Sprache, feine fo berühmt ges 
wordenen Borlefungen über phyſiſche Weltbefchreibung, jenes ‚‚prächtig reiche 
Raturwundercollegium”, wie Zelter fchreibt, das er kurz darauf in Berlin vor 
einer ungemein großen und glänzenden Zuhörerjchaft wiederholte, und. das die 
Grundlage feines erft 1845 erfchienenen „Kosmos“ bildet. Diefe Vorträge 
hatten einen fo außerorbentlichen Erfolg, daß Wilhelm von Humboldt am 
1. Rai 1828 an einen Freund berichtete: „Alexander ift wirklich eine „‚Buife 
ſance“ und bat durch jeine Vorlefungen eine neue Art des Ruhmes erworben. 
Sie find unübertrefflih.” Zum Andenken an dieſe berühmten Borlefungen 
ward in Berlin eine Denkmünze mit dem Bilde des Helios und der Injchrift: 
„Ilustrans totum radiis splendentibus orbem“ auf den gemeinfamen Wunjch 
feiner Zuhörer geprägt. 

Im Jahre 1828 übernahm Humboldt mit Lichtenftein die Gefchäftöführung 
der iebenten Berfammlung deuticher Naturforfcher und Aerzte in Berlin. Cr 
eröffnete diefe Verſammlung durch eine Rede über den Geift und den Nugen 
derartiger Zufammenfünfte. Auf feinen Rath fand eine Theilung des vorlies 
genden wifienfchaftlichen Materiald in bejondere Fächer ftatt, e8 wurden für Die 
einzelnen Zweige der Naturwiflenichaften Sectionen eingerichtet, in denen bie 
fpeciellen Kachgegenftände zur Verhandlung Famen, während Die der Gejammt- 
wiffenichaft angebörenden allgemeinen Etoffe den Plenarverfammlungen über- 
wiefen wurden. 

In demielben Jahre fanden auf Humboldt's Veranlaflung in allen preußi« 
ihen Bergwerfen Temperaturbeobachtungen ftatt, deren Mefultate von ihm im 
Intereſſe der Wiſſenſchaft geprüft und vielfach benutzt wurden. 

Im folgenden Jahre verwirflichte fich endlich auch, wenigftens zum Theil, 
der längft gebegte Licblingsplan einer Reife in das Innere Aſiens, indem 
der Kaiſer Nicolaus, unter vollftändiger Sreiftellung des Zieles der Meife, die 
Erpedition auf das Großartigfte ausſtattete und ihr alle möglichen Erleichte 
tungen gewährte. Zu Gefährten erfor ſich Humboldt aus der großen Zahl 
derer, Die fih ihm zur Mitreife anboten, den Mineralogen Guſtav Rofe und den 
Geologen Ehrenberg. Tie drei Reiſenden theilten fich in die Arbeiten, Die ihrer 
harrten: Roſe übernahm die Führung und fpätere Bearbeitung des Neifetages 
buchs, Ehrenberg die botaniichen und geologifchen Unterjuchungen, während 
Humboldt die Beobadhtungen des Erdmagnetismus, die aſtronomiſch⸗geographi⸗ 
hen Arbeiten, fowie Die Geſammtdarſtellung der geognoftifchen und phnflfali» 
fen Zuftände des nordweitlichen Afiens für fich wählte. 

Am 12. April 1829 verliehen Die Reifenden Berlin, um fidy zunächft nach 
Peteroburg zu begeben. Don hier gingen fie in Begleitung des Bergbeamten 
d. Ranfchenin, der ihnen von der Regierung beigegeben war, über Moskau nach 
Riſhnei⸗Nowgorod, fchifften fich bier auf der Wolga ein und feßten die Reiie 
obne Unterbrechung bis Iefatharinenburg fort, wo fie einige Wochen verweilten. 

2% 


0 Biographie. 


Der Ural, deſſen höchſte Spitzen ſich beinahe 5000 Fuß über dem Meeresſpiegel 
erheben, bot Humboldt Gelegenheit zu den intereſſanteſten und wichtigſten For⸗ 
ſchungen uͤber die Entſtehung und Zuſammenſetzung des Alluvionsbodens, ſo 
wie über die Mineralien, welche ſich dort finden. Außerdem beſuchte er bie 
Malachitgruben von Zumelcheföfoi, den magnetischen Berg Blagodad, die 
Topas⸗-⸗ und Barytlager von Murzindf. Dann ging die Reife über Tjumen 
nach Toboldf, von da über Tara durch die Borabinski'ſche Steppe; und dieſe 
höchſt befchwerliche Reife, die mit nicht geringeren Anftrengungen und Gefahren 
verbunden war, al8 die früheren Wanderungen am Orinofo, ward von Hum⸗ 
boldt in einem Alter von ſechszig Jahren gemacht! 

Am 2. Auguft trafen die Reijenden in Barnaul an den Ufern des Obi 
ein ; fle befuchten den Kolywanfee und die Silberbergwerfe des Schlangenberges 
von Riddersk und Zyrianowsfoi am füdweftlichen Abhang des Altai; von da 
gingen ſie nach der füdlich gelegenen Feſtung Uſt⸗Kamenoigorsk und über 
Buchtorminsk an die Grenzen der chineflfchen Dhungarei. in Beſuch bei dem 
mongolifchen Boften Bati führte fte faft bis in den Mittelpunkt von Aften. 
Der Rüdweg wurde durch die Steppe Ifchim nach dem jüdlichen Ural ges 
nommen. Am 21. September trafen die Reifenden in Orenburg ein, von da 
gingen fie nach Ilezk, dem Hauptort der Uralski'ſchen Kofafen, wo das berühmte 
Steinfalzbergwerf bejucht wurde, dann weiter zu den deutichen Colonien an der 
Wolga im Gouvernement Saratow, an den Salzjee Elton, zu der Anftedlung 
der mährifchen Brüder zu Sarepta. Mitte Dctober gelangten fie nach Aftra= 
han. Hier bejchäftigten fte fid mit der chemijchen Unterjuchung des Waflers 
aus dem Faßpifchen Meere, ftellten barometrifche Beobachtungen an und er 
weiterten dad Gebiet der zoologijchen Borichungen durch reichliche Ausbeute der 
fiichreichen Meereögewäller. Am 13. November trafen die Neifenden in Peters⸗ 
burg, und am 28. December endlich in Berlin wieder ein, nad) einer Abweſen⸗ 
heit von acht und einem halben Monat, in welcher Zeit fle die ungeheuere 
Strecke von 2500 Meilen zu Rande zurüdgelegt hatten. 

Von nicht geringer Bedeutung für die Wiffenfchaft waren wiederum bie 
Nefultate diefer aflatifchen Reife, Die in verfchiedenen größeren Werfen nieder« 
gelegt wurden. *) Zunächft war es auch bier wieder die Topographie, die 
durch Berichtigung zahlreicher Ortöbeflimmungen, durch wichtige Auffchlüffe 
über die Richtung der Bergzüge des Ural, fo wie der Ketten des Altai und 
Kuenlün wejentliche Erweiterungen erfuhr. Die ausgedehnten Steppengebtete 
ded fühlichen Sibiriens wurden erft Durch die metcorologifchen Beobachtungen 
Humboldts, durch feine Unterfuchungen über die Trockenheit der Luft und den 


—,—— 





*) Hierher gehören zuerit die von Humboldt herausgegebenen „Fragmens de 
geologie et de climatologie asiatique“, 2 Bände; fodann das größere Werk „Asie 
centrale, recherches sur les chemines des montagnes et la climatologie comparee“, 
3 Bände. Bon dem erfteren erfchien eine deutfche Bearbeitung von Löwenberg, das 
legtere hat Mahlmann überfegt. Die Refultate der Untertuchungen auf dem Gebiete 
der Mineralogie und Geognoſie veröffentlichte Rofe unter dem Titel: ‚„‚Mineralogiichs 
geognoftifcher Theil und hiſtoriſcher Bericht der Reiſe“, 2 Bände. 


Alerander von Humboldt. 21 


Bang der Ifothermen der Kenninig der Europäer erſchloſſen. Wichtiger no 
waren zahlreiche magnetifche Beobachtungen, die fih unmittelbar an bie in 
Amerika begonnenen, dann im Berein mit Gay =»Luffac und Arago fortgefegten 
Unterfuchungen anfchlofen. Im einer größeren Vollfländigkeit wurte das 
Geſez erfannt, nach welchem die Intenfitaͤt des Erdmagnetismus von dem 
magnetifchen Aequator gegen Rorden und Süden zunimmt. Auf Humboldts 
Antrag beichloß 1829 die Faiferliche Akademie der Wiffenfchaften zu St. Peters⸗ 
burg die Errichtuug magnetijcher und meteorologifcher Stationen in den ver- 
ſchiedenen Elimatifchen Zonen des europälfchen und aftatifchen Rußland, fo wie 
die Erbauung eined phyſikaliſchen Central⸗Obſervatoriums in der Hauptftabt 
des Reichs. Berühmt ift außerdem die aflatijche. Reife durch die Auffindung 
der Lagerflätten des Goldes und Platinad geworben, fo wie durch das Eintreffen 
des von Humboldt vorhergefagten Vorkommens von Diamanten, deren Anwefen- 
beit er aus der Achnlichkeit des gold- und platinareichen Alluvionsbodens mit 
den Gegenden von Ehoco und Sonora folgerte. 

Die Bearbeitung des gefanmelten Materiald nahm begreiflicher Weife 
Humboldts Zeit am meiften in Anſpruch. Indeß wurde fchon die Herausgabe 
der Schriften, die fich auf die aflatifche Neife bezogen, mehrfach durch diploma⸗ 
tiſche Sendungen und Aufträge unterbrochen. So begleitete Humboldt im 
Rai 1830 den damaligen Kronprinzen nach Warfchau zum polnischen Reichs⸗ 
tage, bald darauf den König nach Teplig, und im September ward er nach 
Baris gefandt, den neugewählten Beherricher Frankreichs zu begrüßen. 

In diefe Zeit fällt auch Die ‚„‚Reftauration‘‘, wie Alerander von Humboldt 
felhft e8 nennt, feines Bruders Wilhelm. Derfelbe ward in den Staatsrath 
berufen und ihm der ſchwarze Ablerorden verliehen. In den folgenden Jahren 
war es endlich den beiden Brüdern vergönnt, für und miteinander zu leben. 
Doch nicht Tange follte dieſer glückliche Zuftand dauern; fchon am 8. April 1835 
Rarb Wilhelm von Humboldt auf feinem Landfige zu Tegel in den Armen des 
geliebten Brudere. Wer möchte verjuchen, den bitteren Schmerz zu fchildern, 
den Alerander von Humboldt über den Verluft eines folchen Bruderd empfand ? 
„Ich habe das Unglück gehabt,‘ fehreibt er unterm 10. April an Arago, „vor⸗ 
geftern Abend meinen Bruder zu verlieren — ich bin in tieffter Trauer. Wenn 
wir den größten Schmerz empfinden, erinnern wir und an diejenigen, welche 
und die Iheuerften find, und ich fühle mic, ein wenig erleichtert, indem ich an 
Eie fhreibe .. .” Und in einem Briefe an Barnhagen entichlüpft ihm das 
wehmütbige Geſtaͤndniß: „Ich glaubte nicht, daß meine alten Augen fo viel 
Thränen bätten.’ 

In dem Schooße feiner zweiten Mutter, der Wifjenjchaft, ſuchte und fand 
Humboldt Troft für den herben Verluſt. Die Hinterlaffenfchaft feines Bruders 
gab ihm zugleich Gelegenheit zu umfangreichen literarifchen Arbeiten. Er bes 
auffichtigte unter Anderem bie Herausgabe der gefammelten Werke Wilhelms 
con Humboldt und widmete insbefondere dem berühmten Werke über die Kawi⸗ 
Eyrache, deſſen Veröffentlichung die Eönigliche Academie der Wiffenfchaften zu 
Berlin übernahm, einen großen Iheil feiner Muße. Außerdem war er uielfach 


22 Biographie, 


mit feinem aftatiichen Neifewerfe befchäftigt, ſowie mit der Forſetzung einer 
großen in franzöftfcher Sprache erfchienenen Schrift, den „‚Eritifchen Unterfuchun« 
gen über bie biftorifche Entwidelung der geographifchen Kenntniffe von der 
neuen Welt und die Kortfchritte der nautifchen Aftronomie im 15. und 16. Jahr⸗ 
hundert,’ welche Werk von Ideler deutjch bearbeitet wurde. 1838 ſchrieb er 
für die deutfche Vierteljahrfchrift einen höchſt anziehenden und geiftvollen Arti« 
fel „über die Schwankungen der Goldprobuction, und in den beiden folgenden 
Jahren zeichnete er eine bygrometrifche Karte von den Gebirgen Mittelaflend. Im 
Jahre 1840 vollendete er ſeine „Akademiſchen Abhandlungen über die Befleigung 
des Chimborazo und über die mittlere Höhe des neuen Continents,“ fowie ein 
„kritiſches Memoire über einige wichtige Pofttionen von Guyana“ für den Drud, 
Ferner nahm er die Arbeiten wieder auf, deren Kern den Inhalt feiner im Jahre 
1828 gehaltenen Vorlefungen bildete. Hatte er fchon in diefen Vorträgen begon« 
nen, der Mitwelt einen Entwurf der phyſiſchen Weltbefchreibung zu 
überliefern, fo jollte diefer Entwurf nunmehr zum vollftändigen Gemälde ausgeführt 
werden. Er ſchrieb den „Kosmos,“ in deffen erfiem Bande (1845) die gefammte 
Ratur in der reinen Objectivität äußerer Erfcheinumg bargeftellt iſt. Ueber dieſes 
allumfafjente Hauptwerk des großen Todten werden wir in unferem nächften Artie 
fel ausführlich fprechen, Hier fei nur noch erwähnt, daß es faft in alle lebenden 
Sprachen überjegt worden iſt. Unter den zahlreichen franzöjtfchen Bearbeitun- 
gen wird die von Galusky, unter den englifchen die von Sabina für die befte 
gehalten. — Endlich wurde Humboldt noch zum Mitgliede der Commiffion er« 
nannt, welche die Herausgabe der Werke Friedrichs des Großen bejorgte. 
Während die dankbare Mitwelt wetteiferte, dem Lebenden zu geben, was 
großen Männern erft die Nachwelt zu gewähren pflegt, wurde die Freude, welche 
der Greis empfand, wenn er auf die überall emporfprießenve Saat feiner Ideen 
hinblidte, durch eine Reihe fchmerzlicher Ereigniffe getrübt. Noch nicht lange 
war ber geliebte Bruder dahingegangen, fo forderte der Tod Friedrich Wil« 
helms II. feinen ‚alten Augen‘ neue Thränen ab. Dem Tote feined Königs 
reihte fich der Verluft Uragod, Leopolds von Buch und Bonplants an. Eini⸗ 
gen Erfag für die herben Verluſte, die ihn in der legten Epoche feines Lebens 
trafen, fand Humboldt in dem innigen Verfehr mit dem neuen König Friedrich 
Milhelm IV. Diejer Monarch, ſchon als Kronprinz dem größten Gelehrten 
feines Landes mit aufrichtiger Huld zugethan, ließ ihn nun in ein naͤheres Vers 
bältniß zu fich treten. Humboldt ward des Königs Vertrauter und Gefellfchafe 
ter, und beide fchloffen einen Freundſchaftsbund, der für den Kürften wie für 
den Gelehrten gleich chrenvoll war. Im Jahre 1842 begleitete Humboldt ten 
König auf der Reife nach England zur Taufe des Prinzen von Wales, und in 
demielben Jahre empfing er die größte Auszeichnung von der Hand feined Fünige 
lichen Freundes: er wurde zum Kanzler der neugeftifteten Friedensclaſſe des 
Ordens pour le merite ernannt. 

Bis in das höchſte Greifenalter bewahrte fih Alerander von Humboldt, 
das zeigt feine letzte Arbeit, der „Kosmos“, auf. jeder Seite, jene glüdliche und 
wunderbare Geifteöfrjfche, von der er feit den Blüthentagen feiner Jugend bes 


Alerander von Humboldt, 23 


jeelt war. Als es ihm nicht mehr möglich war, ſelbſt große Reiſen zu unter 
nehmen, begleitete ex mit umfaſſenden Inftructionen die wifjenfchaftlichen Expe⸗ 
bittonen alles Völker, und verfolgte mit ihnen die Förderung der Naturwiſſen⸗ 
ſchaften in allen Richtungen. Bon dem erheblichiten Einfluß auf deren Korte 
entwidelung war außerdem die perfünliche Verwendung, die er ihren Vertretern, 
wo er nur konnte, zu Theil werden lieg. Nicht blos in Deutichland, auch im 
Auslande find zahlreiche Uinterfuchungen auf feinen Betrieb angeftellt worden. 
Hm verdankt die Wiffenfchaft, wie ſchon oben angedeutet wurde, die Errichtung 
jener großartigen phyſikaliſchen Obfervatorien , die fich jegt auf der ganzen Erde 
befinden. Man Hat ihn mit Recht den großen „internationalen Vermittler“ 
genannt, denn er war wirklich der geiftige Mittelpunkt für die Raturforfcher 
aller Rationen, wie er zuerft die getrennten Theile der Raturwiflenjchaft zu einem 
Ganzen vereint und die großen Aufgaben derfelben dem allgemeinen Dildunge- 
bewußtjein näher gebracht hat. 

Beinahe neunzig Jahre lang hat er raſtlos beobachtet und gefammelt, bie 
Welt durchwandert und durchforfcht, auf der Oberfläche der Erde, wie in den 
tiefften Schachten der Bergwerfe. Und obwohl diefe Zeit kaum genügt bat zu 
dem großen Werke jeined Lebens, war es ihm doch vergönnt, das begonnene 
Weltallgemälde zu vollenden. Der Iegte Pinfelftrih daran war fein letztes 
Birken. Als feine Arbeit getban, die Aufgabe feines Dafeins erfüllt war, 
trat er ab vom Schauplaß, vielleicht ohne zu ahnen, welch unermeßlichen Segen 
er über alle kommenden Gefchlechter gebreitet. Am 6. Mai d. I. fchloffen ſich 
für immer feine Augen, die mehr vom Weltall erfannt, die tiefer e8 durchforfcht 
und begriffen haben, als je ein Menfchengeift vor und neben ihm. 


Die Blinden, 


ihe Unterricht und die zu ihrer Ausbildung 
beftimmten Anftalten, 


Don 
Dr. $. Scherr. 


Einleitung. Urfachen der Blindheit; ihre Verbreitung. Die Blinden⸗ 
anftalten, Geſchichte ifrer Entftehung und Ausbreitung; ihre @inrid- 
tung und Bedeutung. Phyſiologiſche und pſychologiſche Bemerkungen 
über die Blinden. Die Erziehung ded Blinden in der Familie. Die 
Bildung des Blinden in der Anftalt; Hülfsmittel für den Unterricht. 
Sociale Stellung des Blinden. | 


Das Auge ift dad Drgan der Weltanſchauung. 
N. von Humboldt. 


Eine Zeit gabres — und ſie liegt uns leider nicht fo fern, als es zu wims 
fchen wäre — wo man alle jene Unglüdflichen, die mit einem Gebrechen behäf- 
tet zur Welt kamen, oder ſich cin ſolches frühzeitig zu zogen, mit fcheelen, miß⸗ 
trauifchen Augen anfah. Man hielt, ja man Hält leider Gottes diefelben ſelbſt 
heutzutage noch für „gezeichnet“, ficht in dieſen Gefchöpfen Kinder des Böfen 
und in den Gchrechen Werke des Satand, Oft genug hörfman noch Heutzu- 
tage bie, tiefe NRoheit an ten Tag legende Aeußerung: zu was denn Gott nur 
folche nuglofe Weſen erfchaffe. Derartige Anfchauungen brachten ed mit fich, 
dag dieſe Unglücklichen die Ausgeftoßenen der menschlichen Gefellfchaft waren, 
die man unbarmherzig, ja oft mit wohl berechneter Abſicht ihrem ohnehin trau⸗ 
rigen Schidjale überlich. Schon von Weitem ging man ihnen aus dem Lege, 
um nicht in eine Berührung mit ihnen zu kommen; fie ftanden unter dem Vich, 
denen man als nugbringenden Geſchöpfen die forgfältigfte Aufmerkſamkeit wit- 
mete. Auch die Blinden, die fo geboren, oder in früherer oder fpäterer Zeit des 
Augenlichted beraubt wurden, zählten zu diefen Unglüdlichen, ja noch mehr die 
Beraubung des Gefichtes war einftens ein fürchterliche® Strafmittel; wir erin- 
nern bier an Ocdipus, Das freiwillige Opfer jchwerer Verfchuldung, an den 
treuen unglücklichen Belifar, der ſchuldlos giftigem Neide zum Opfer fiel. 

Die veränderten Anfchauungen, die fich im Laufe der Zeit, vornehmlich 
feit der erſten franzöſiſchen Revolution mit ihren die meiften Nationen der Erde 
tief erfchütternden und weithin wirkenden Folgen, über Die Nechte des einzelnen 


Die Blinden, ihr Unterricht ꝛc. 235 


Menſchen gebildet haben und die hieraus entfpringenden und Hand in Hand 
gehenden Beftrebungen der Individuen, fich ald Individuen Geltung zu ver⸗ 
ſchaffen, wirften in der erfolgreichften Weile für das Verbreiten menfchenfreund- 
licher Grundjäge, wie für dad Streben, diefelben auszuführen, praftifch zu ver⸗ 
werten. Die Humanität Einzelner war es, welche die Thaͤtigkeit ind Leben rief, 
den Uinglüdlichen und Gebrechlichen Linderung zu verfchaffen, rüftig Hand an 
ihre Bildung zu legen, fie nicht zu verftoßen, fondern aufzurichten und empor⸗ 
zuziehen. Ban erkannte bald, daß auch Die Bierfinnigen bildungsfähig und 
eines Unterrichts bebürftig feien, daß fle, wenn auch meift in etwas beſchraͤnk⸗ 
ter Weiſe, auf diefelbe Stufe der Bildung mit ihren glüdlicheren Mitmenjchen 
erhoben werten könnten. Wit großem Eifer und einer bewundernäwerthen 
Ausdauer bat man fich alsbald der Erziehung der Bierfinnigen gewidmet, zu 
dieſem Zwede eigene Anftalten errichtet, Lehrer gebildet und mit einem rühm⸗ 
lichen Aufwande von Scharfiinn die Mittel zu ihrer Bildung erfunden. So 
jehen wir denn jeßt Die reifen Krüchte diejer humanen Beftrebungen, fehen bie 
Rehrzahl diefer Ungludlichen zu nüglicyen Gliedern der menfchlichen Gefellfchaft 
werten, die, während fie früher der Demoralifirung anheimfielen, dem Bettel 
fröhndeten und eine trüdende Laft der Gemeinde waren, ſich felbfiftändig ernä« 
bern und frei und unabhängig bewegen. Es iſt Died einer der ſchön⸗ 
fen Zriumphe, den die Menjchheit gefeiert, ein fortwirfendes und Ichendiges 
Denkmal für alle Zeiten, unauslöfchlidy eingegraben in die Tafeln der Ges 
ſchichte. 

Rach dieſen kurzen einleitenden Betrachtungen wenden wir uns zu dem 
Gegenſtande unferer Aufgabe, zu den Blinden, indem wir in kurzen Zügen das 
geiftige Leben derfelben, die Methoden ihres Unterrichted und die Anftalten, die 
für ihre Ausbildung thätig find, unferen Lefern vorzuführen verfuchen. 

Blind nennt man diejenigen Menfchen, die das Sehvermögen fo vollftän- 
dig entbehren, Da. Re von den umgebenden Segenftänden feinerlei Bilder wahre 
nehmen. In, eimtlnen Faͤllen finden wohl allgemeine Kichtempfindungen ftatt, 
jo daß Dick Meniglduen ganz deutlich hell und dunkel zu unterfcheiten vermd« 
gen; gleichwohl find auch dieſe den ganz Blinden gleichzuftellen, da ihnen dieſe 
ſchwache Lichtempfindung nur geringen, für ihre Ausbildung jo gut wie gar 
keinen Rugen gewährt. Man unterfcheidet zunächft die Blindgeborenen von 
denen, Die im fpäteren Lebensalter erblinden; den Bhindgeborenen ganz gleich 
And Die, welche in früheiter Jugend und namentlich vor Vollendung ihrer Bil« 
dung erblinden. Wenn wir im Kolgenten von Blinden ſprechen, Daben wir 
aur Die Blindgeborenen und die ihnen gleichftchenden, im früheften Lebensalter 
Erblindeten vor Augen, da deren Erziehung und Ausbildung, jelbft wenn fle 
Erinnerung an dad Sehvermögen haben, Diefelbe ift, wie die derer, welche nie 
Geſichtsanſchauungen hatten. Bälle von mit Blindheit verbundenen Bloödſinnes 
fliegen wir hier, al8 einem anderen Belde der Erziehung angehörig, aus. 

Zu allen Zeiten und unter allen Völkern hat e8 Blinde gegeben ; thre Zahl ift 
noch jet, nach den ftatiftifchen Unterfuchungen der neueren Zeit eine bedeutende. 
Es iſt nõthig und von großer praftifcher Wichtigkeit, zunächft einen Blick auf die 


26 f Pädagogik, 


Urfachen der Blindheit zu werfen und die Wahrnehmungen, die fich daran knuͤ⸗ 
pfen, hervorzuheben. 

Die Blindheit it angeboren. Sie beruht dann entweder auf einer 
mangelhaften Befchaffenheit des äußeren Sinnedorganed, des Auges, welches 
entweder unvollkoumen entwicelt, oder Durch eine Trübung der brechenden Mite 
tel (Hornhaut, Linfe) oder Krankheiten der Rervenhaut u, ſ. w. zur Vermitte⸗ 
lung von Sinnedeindrüden ungeeignet if. Oder aber, der Augapfel ift zwar 
regelmäßig gebildet, hingegen der die Sinnedeindrüde zum Gehirn Teitende 
Nerv, der Sehnerv, in Folge Erankhafter Veränderungen unfähig zu dieſer 
Function. Oder endlich das innere Sinnedorgan, d. 5. die Theile des Gehir⸗ 
ned, durch welche die Seele die Bilder der Außenwelt wahrnimmt, ift krankhaft 
gebildet. Wir müfjen hervorheben, daß angeborene Blindheit im Ganzen fel« 
ten ift, fich um vieles feltener findet, ald die nach der Geburt entftandene Blind⸗ 
heit; eine Thatfache, in der die tüchtigften Beobachter übercinftimmen. Zieht 
man vollends die Fälle ab, wo Durch eine tiefe angeborene Erfrankung des 
- Gehirns neben der Blindheit Trübung der Geiftesthätigfeit, Blödfinn fich finder, 
andererfeitd die Fälle, wo nur eine Trübung der Linſe (grauer Staar) befteht und 
fomit gegründete Hoffnung auf Heilung vorhanden ift, jo mindern fich die Fälle 
angeborener Blindheit noch mehr. Natürlich fehlt e8 auch nicht an Beobachtun« 
gen, daß mehrere Kinder einer Familie blind geboren wurden. So berichtet Zeune 
von drei Brüdern Wahn zu Jüterbog, drei Geſchwiſtern Krug zu Sorau, ja fogar 
von vier blinden Bejchwiltern Zimmermann aus Pommern und vier blinden 
Brüdern Rumpel aus Mühlhaufen. In den genannten Familien fanden fich zwi⸗ 
fchen den blind geborenen Kindern auch fehende, ohne eine beftimmte Regel in 
der Abwechjelung. In der Blindenanftalt zu Breiburg im Breisgau wurden 
zwei blinde Zwillingöpaare, in jevem Kalle ein Mädchen und ein Knabe, aufges 
nommen. — Gegen die angeborenen Bälle von Blindheit hat uns die Wiſſen⸗ 
fchaft bis jet Fein wirffames Mittel der Hülfe an die Hand gegeben, ja wir 
können diefe traurigen Vorkommniſſe nicht einmal verhüten, da wir über deren 
Urfachen noch ganz im Unklaren find. — Einer kurzen Erwähnung würbig ift 
die befannte Thatfache, daß viele unferer Säugethiere blindgeboren werden und 
erft fürzere oder längere Zeit nach der Geburt den vollfommenen freien Gebrauch 
der Augen erlangen. So werden bie Jungen aller grabenden Ragethiere, wie 
Kaninchen, Mäufe, auch die meiften Raubthiere blind geboren. Es beruht diefe 
Blindheit auf einen noch zur Zeit der Geburt vorhandenen Verjchluß der Augen« 
lider, wie derfelbe auch bein Menfchen bi8 zu einem gewiflen Zeitpunfte des 
Lebens im Mutterleibe fich findet. Bei Fifchottern und Wiefeln dauert es neun 
Tage, bei Raten zehn, bei Füchfen vierzehn, bei Hunden neun bis elf Tage, bis 
die Augenlider fich öffnen und die Thiere jehen. — Ein analoges Berhältnig 
findet fich bisweilen beim Menfchen, indem hier die die Pupille verfchliegende 
Haut, die fonft während des Lebens im Mutterleibe noch verfchwindet, zur 
Zeit der Geburt befteht und erft fpäter aufgefaugt wird. 

Entſchieden am Häufigften find die Fälle, wo die Blindheit erft nach der 
Geburt entftanden, alfo erworben ift. Unter allen Urfachen der nach ber 


Die Blinden, ihr Unterricht ıc. | 237 


Geburt entflandenen Erblindung müflen wir vorzüglich jener gefährlichen 
Augenentzünbung ber Neugeborenen (Ophthalmia neonatorum) ges 
denlen. Wenn man einige Blindenanftalten befucht, die einzelnen Blinden 
naͤher unterfucht und befragt, gelangt man al8bald zu der überrafchenden, trau⸗ 
rigen Thatſache, daß wenigftend zwei Dritttheife diefer Unglüdlichen in Folge 
jener gefährlichen, in ber früheften Kindheit aufgetretenen Augenkranfheit des 
Geſichtsſinnes beraubt worden find. Um dies mit Zahlen zu belegen, erwaͤh⸗ 
nen wir, dag von 192 Blinden, welche in einem Beitraume von zehn Jahren in . 
dad Dresdner Blindeninftitut aufgenommen wurden, 94 durch die fogenannte 
Augenentzündung der Neugeborenen erblindet waren. Geht man der Sache 
säber auf den Grund, fo wird man — und auch hierfür liegen von allen Sei⸗ 
ten die überzeugendften Beweife vor — bald inne, daß in den meiften Faͤllen die 
Erfranfung der Augen im Anfang entweder ganz und gar unbeachtet geblieben, 
oder nur mit an fi) zwar unfchuldigen, aber auch nuglojen Haudmitteln, ja 
häufig genug nach den Rathichlägen einer unwifienden Hebamme behandelt wor« 
den if; einen Arzt hat man entweder gar nicht oder erft dann zu Rathe gezogen, 
wenn alle Hülfe der Kunft zu fpät war. Die Erfahrung der Augenärzte hat 
nun gelehrt, daß die fogenannte Augenentzündung der Neugeborenen eine jehr 
gefährliche, in vielen Fällen zum Verluſt des Sehvermögend führende Krank⸗ 
heit iſt, andererſeits aber gezeigt, daß eine jachgemäße, rechtzeitige Behand« 
lung in ter überwiegenden Mehrzahl der Yälle dieſen unglüdlichen Ausgang zu 
erhindern vermag. inzelne Regierungen haben in Folge diefer traurigen Er⸗ 
fahrungen, ſich veranlaßt gejehen, durch befondere, namentlich auch den Hebam⸗ 
men ertheilte Belehrungen, auf das Gefährliche der Krankheit und die Race 
theile der Bernachläffignng aufmerkjam zu machen. Es verdient dieſe That⸗ 
jache die weiteſte Verbreitung in allen Schichten ter Benölferung, damit alle 
Glieder derfelben auf das Eifrigfte fich bemühen, in jedem einzelnen Falle, wie 
überhaupt dahin zu wirken, daß rechtzeitig die Hülfe des Sachverfländigen in 
Anfpruch genommen werde. Auf diefe Weife allein wird es möglich werben, 
den vielen höchſt betrübenden Erblindungen in Zukunft vorzubeugen. Dahin 
aber zu wirken, ift jedes Menfchen heiligſte Aufgabe. 

Eine in früheren Zeiten Häufige, auch jet noch, doch mehr vereinzelt fich 
findende Urfache der Blindheit, waren die Menſchenblattern, die durch die 
Boden, die fi auf den Augen bildeten, zur Vereiterung und Zerftörung des 
Augapfels die Veranlaffung gaben. Seitdem die Schußpodenimpfung eine all« 
gemein verbreitete geworden ift und ihre fegensreiche Folge allenthalben zur Gel⸗ 
tung gebracht hat, find Diefe Bälle um Vieles feltener geworden. — Auch andere 
fieberhafte Augenkrankheiten, wie die Mafern und das Scharlachfieber haben hin 
und wieber bösartige Augeneützundungen und den Verfuft des Sehvermögens 
zur Folge. 

Auch die unter dem Ramen der ferophulöfen Augenentzündungen zuſam⸗ 
mengefaßten, bie verfchiebenen Theile des Augapfeld ergreifenden Krankheits⸗ 
proceſſe rufen in einzelnen bösartigen Faͤllen eine Zerftörung der Augen hervor. 
Beiter müffen wir die felbfifländigen Entzündungen des Auges, der Regenbogen⸗ 


28 Pädagogik. 


und Aderhaut, der Netzhaut, krankhafte Geſchwuͤlſte des Auges, Krebs u.f.w. 
erwähnen, durch welche das Scehvermögen vernichtet werden kann. 

Wie oft durch traurige Unglücksfälle und durch eigenen oder Anderer Muth⸗ 
willen ein Menfch feines Augenlichteß beraubt wird, iſt genugfam befannt, es 
bedarf einer eingehenderen Erwähnung diefer Bälle um fo weniger, al8 diefelben 
auch bei der größten Vorficht Doch niemals zu verhüten find und für die Hülfe 
der Kunft feinen Spielraum gewähren. Wir erwähnen Hier zum theilmeifen 
Belege des Geſagten eine flatiftiiche Nachricht über die Wiener Blindenanftalt, 
in welcher von Jahre 1804 bis zum Jahre 1835 127 blinde Kinder aufges 
nommen worden waren, von denen 87 Knaben und 40 Mädchen. Don diefen 
waren von Geburt oder in den erften Lebenstagen erblindet 54, durch bie 
natürlichen Blattern Hatten 23 das Sehvermögen verloren, 42 waren durch 
Krankheit um das Augenlicht gefommen und nur acht Individuen waren in fpä« 
teren Lebensjahren durch unglüdliche Zufälle erblindet. 

In Kürze müflen wir noch derjenigen gebenfen, die zwar blind geboren 
find, bei denen aber auf eine Befeitigung des das Sehen verhindernden Uebels 
mittelft Hülfe Der Kunft gerechnet werden kann; es gehört Hierher der angebos 
rene graue Staar. In vielen Fällen muß der die Befeitigung dieſes Leidens 
erzielende operative Eingriff, theils weil die Eltern fich nicht dazu entjchließen 
fönnen, oder weil der Arzt aus irgend welchen Gründen einen Aufſchub für 
nothwendig erachtet, bis in bie fpäteren Jahre des Lebens verfchoben werden. 
Auch diefe Menfchen find, wie wir hier ganz ausdrüdlich betonen müſſen, ftets, 
fo lange fie nicht mit Erfolg operirt worden find, als Blinde zu betrachten und 
bemgemäß zu behanteln. ine geeignete Erziehung derfelben darf um fo weni⸗ 
ger vernachläffigt werden, als das dadurch Grreichte nach erfolgter Operation 
dem Kinde auf alle Fälle zu ftatten fommt und die weitere Ausbildung erfeich- 
tert, andererfeitö niemals dafür Garantie geleiftet werden kann, daß die Opera 
tion son einem günftigen Erfolge begleitet fein werde. Aus dieſem Grunde 
allein fchon ift e8 rathfam, derartigen blinden Kindern gleiche Aufmerfjamfeit 
zu ichenfen, da bei einer erfolglofen Operation dieje Verfäumniß fich in der bit 
terften Weife rächen würde. 

Die Zahl der Blinden ift eine bedeutende, größer ald man gewöhnlich 
glaubt und enthält in fprechenden Ziffern die Aufforderung zur Abhülfe. Manche 
Handwerke und Fabrikzweige find befonders häufig der Erblindung ausgeſetzt, fo 
namentlich die Arbeiter in den Schmelzhütten, die Schmiede, Schlofler u. f. w. 
Klimatifche und örtliche Verhäliniſſe bedingen nicht minder beträchtliche Unter 
jchiede in der Zahl der Blinden. So ift befanntlich Aegypten durch eine große 
Anzahl Blinder ausgezeichnet, fo dag auf 100 Sehende ein Richtjehender kommt. 
Die Blindheit nimmt im Allgemeinen von den Wendefreijen nach den gemäßige 
ten Zonen ab, von da nach dem Norden wieder zu. In Afrifa follen unter den 
hellfarbigen Menichen fünfmal mehr Blinde, als unter einer gleichen Anzahl 
ſchwarzer Menfchen fich finden. Auch fonft zeigen fich in Bezug auf Die Anzahl 
der Blinden nach den einzelnen Rändern wefentliche Berfchiedenheiten , ohne daß 
man die Urfache davon mit Sicherheit erörtert hätte. In ganz Deutfchland 


Die Blinden, ihr Unterricht ıc, | 29 


finden fidy annähernd 30,000 Blinde, doch zeigen bie einzelnen Diftrikte eine 
beträchtliche, einer Eurzen Erwähnung verbienende Differenz, So kamen nach 
frageren Zählungen in Preußen 1 Blinder auf 1415 Einwohner, in der Pro⸗ 
vinz Sachjen aber fchon auf 1251 Einwohner. In Preußen Famen im Sabre 
1821 auf 11 Millionen Einwohner 13,000 Blinde, im Jahre 1837 bei nahezu 
14 Billionen nur 10,000 Blinde und 10,700 Taubftumme. Ungünftiger ges 
Raltete ſich dad Verhältniß in Braunjchweig, wo unter 1127 Einwohnern ein 
Blinder war. In Dänemark und Rorwegen famen im Jahre 1811 auf 1025 
Einwohner ein Blinder. In Wien waren im Sahre 1804 unter 37,552 armen 
Berfonen 42 blinde Kinder zwifchen ſechs und fünfzehn Jahren; in Baris waren 
unter 68,986 armen Bewohnern 494 Blinde. Böhmen zählte 586 arme 
Blinde, die über 20 Jahre alt waren. Nach früheren Mittheilungen des um bie 
Errihtung von Blindenanftalten verdienten Dr. Hirzel kamen im Kanton Züri 
auf 747 Sehende ein Nichtiehender; nach fpäteren Bählungen hatte fich dieſes 
Berhältniß jedoch weit gunfliger geftaltet, indem erft unter 1410 Einwohnern 
1 Blinder war. Don Solowin rührt die faft unglaubliche Angabe her, daß in 
Jeddo, der Hauptfladt Japan's, fich 36,000 Blinde finden follen. Nach ben 
Mittheilungen von Düfau joll ed in Frankreich bei 33 Millionen Bewohnern 
gegen 20,000 junge Blinde geben, eine Anzahl, die jedoch wohl zu hoch gegriffen 
it, wenn man die Verhältnifie anderer benachbarten Staaten damit vergleicht. — 
Eine allgemeine Durchfchnittözahl der Blinden laͤßt fich bei den zahlreichen Dife 
ferenzen nicht mit Sicherheit aufftellen. 

Intereffant ift eine Vergleihung der Blinden mit den Taubftummen. In 
den meiften Ländern gibt ed mehr Menfchen, die des Sefichts, als die des Ge⸗ 
börs vollftändig beraubt find. Es rührt dies zum Theil wenigftend daher, daß 
Berlegungen, welche das Geſichtsorgan treffen, felbftverftändlich viel häufiger 
ſind, als Verlegungen bed verborgen liegenden Gehörorganed. Andererſeits 
Meint die Blindheit häufig von gewiſſen phyſiſchen Urfachen abzuhängen, bie 
mei denen, welche Taubſtummheit bedingen, entgegengefegt jind. So finden 
Rh in Ländern, wie Sardinien, wo die Taubſtummen Häufig find, fo daß fchon 
ein Taubſtummer auf 500 Bewohner kommt, nur erft unter 1800 Einwohnern 
ein Blinder. 

Nach der Volkszählung vom 3. December 1858 waren im ganzen König» 
reihe Sachjen unter 2,122,148 Bewohnern 1317 Blinde, von denen 628 
männlichen und 689 weiblichen Gejchlechtd waren; 129 Blinde waren unter 
rierzehn, 1188 über vierzehn Jahre alt. Zu derfelben Zeit gab ed im ganzen 
Königreiche 1268 Taubſtumme, von denen 639 männlicyen und 629 weiblichen 
Geſchlechts. Es kommen fonach in Sachfen im Durchfchnitt ein Blinder auf 3000 
und ein Zaubflummer auf 3350 Einwohner. — Vergleicht man Hiermit die 
Ergebniſſe früherer Zählungen, fo gab ed im Jahre 1840 nur 1199 Blinde, 
ron denen 579 Männer, 620 Weiber waren, im Jahre 1849 dagegen 1563 
Blinte, die mit 773 dem männlichen, mit 790 dem weiblichen Gefchlechte ange⸗ 
hörten. Letztere Zahl iſt eine fo ungewöhnliche, daß mit Beſtimmtheit zahlreiche 
Imhümer dabei unterlaufen fein müfen. Taubſtumme zählte man im Jahre 


30 Pädagogik. 


1840 1172, von denen 658 männlichen, 514 weiblichen Gefchlechts, im Jahre 
1849 aber 1215, von denen 662 männlichen und 553 weiblichen Gefchlechts. 
Es zeigte fi daher ein Abnehmen der Taubſtummen im Großen, indem mit 
der Bevölferungdzahl verglichen im Jahre 1840 ein Taubftummer auf 2950 
Seelen, im Sahre 1858 ein Taubflummer auf 3350 Seelen Fam. Im fpeciellen 
zeigte fich hierbei eine Abnahme der männlichen und eine Zunahme der weib« 
lichen Taubſtummen. 

Noch lehrreicher iſt es, die Veribeilung der Blinden und Taubftummen 
nach den einzelnen Kreisdirectionsbezirken und im Verhaͤltniß zu deren Bewoh⸗ 
nerzahl zu vergleichen, wie dies bie folgende Tabelle veranichaulicht. 


Ueberficht über die am 3. Dec. 1858 im 8. Sachfen vorhan- 
denen Blinden und Taubftummen: 










Name des Taubftumme 
Kreis 

directions⸗ unter 14 | über 14 in 

Bezirkes Sahre | Jahre | Summe 
Dresden 553946 51 301 352 360 
Leipzig 484225 17 225 242 265 
Zwickau 782824 48 448 496 456 
Bautzen 301153 13 214 297 187 





Im Königreih| 2122148 129 1188 1317 306 962 | 1268 


Es fonımen aljo die meiften Blinden (0,07..) auf den Bezirk der Kreis 
direction Baugen; die Kreißdirectiondbezirfe Dresden und Zwicau ftehen fich in 
Bezug auf die Blinden ziemlich gleich (0,063..), die geringfte Procentzahl 
(0,049...) weift der Leipziger Bezirl nah. Was die Taubftunmen betrifft, jo 
geht ebenfalld der Kreißdireftionsbezirf Leipzig mit der niedrigften Verhältniß- 
zahl (0,054...) voran, diejen folgt der Bezirf Zwidau (0,058..), weiter der 
Bezirk Baugen (0,62..) und ald der Icgte mit der höchften Ziffer (0,064...) der 
Dresdner Kreis. — Zu der nämlichen Zeit befanden ſich in der Blindenanftalt 
zu Dreöden 88 Blinde, während in den Taubftummenanftalten 195 Zöglinge 
untergebracht waren, fo daß dad Verhaͤltniß der Ichteren ein bedeutend günfti- 
geres war. 

Bei allen dieſen Zahlenwerthen darf man jedoch deren große Unzuverläfftg- 
feit nicht außer Acht Tafien und auch aus manchen anderen Gründen ihren Werth 
nicht zu hoch anfchlagen. Ein Blick auf die Zunahme der Blinden von neun zu 
neun Jahren zeigt z. B., wie bereitd erwähnt, für Sacıfen ein auffallendes, ganz 
unerwarteted Zunehmen der Blinden im Jahre 1849, ohne daß für dieſes außer- 
gewöhnliche Zunehmen aud nur ein einziger genügender Grund aufzufinden 
wäre. Gier müffen beträchtliche Irrtümer vorgefommen fein; wer einigermaßen 
mit flatiftifchen Erhebungen vertraut ift, weiß, daß viele für blind ausgegeben 
werden, die e8 nicht find, Aus den Aufnahmen geht ferner nicht hervor, wie 
viele von früpefter Kindheit an erblindet find, wie viele im Laufe der jpÄteren 


Die Blinden, ihr Unterricht ꝛc. 31 


Jahre nach Bollendung der Erziehung es geworden; über fo manche anderen 
Berhältniffe, namentlich über die Urfachen, u. |. w. bleibt man ohne Aufſchluß. 
Die emſigen flatiftifchen Beftrebungen ter Gegenwart werden hoffentlich in nicht 
allzuferner Zeit hier Licht fchaffen. 

Ein Bli auf die Gefchichte Ichrt ung, daß es feit den Älteften Zeiten bis 
zum beutigen Tage unter den Blinden Hervorragende geiftige Größen gegeben 
bat, Wenn follten Hier nicht zunächft einige blinde Dichter ind Gedächtnig kom⸗ 
men? Wer Eennt nicht den nach Jahrtaufenden noch hochgefeierten blinten 
Eänger der Odyſſee und Iliade, den Barden Oſſian, den Schöpfer des verlore- 
nen Paradieſes Milton, ten blinden Pfeffel? Auch unter den Minnefängern 
waren manche blind. Un zahlreichen anderen Beifpielen, die davon Zeugniß 
ablegen, DaB Blinde oft einen in der That bewunderndwürdigen Grab der Aus⸗ 
bildung, fowohl in geiftiger als technifcher Bezichung zu erlangen vermögen, 
fehlt e8 nicht. Iamed Holmann, feit dem 11.Iahre blind, bereifte nicht nur den 
größten Theil von Europa, auch einen Theil Afiens, Afrika’s, Amerifa’d und 
Auftraliens, fo daß er den ganzen Erdball umichiffte. Er hatte keinen beſtaͤndi⸗ 
gen Führer, fondern nahm von einer Stadt zur anderen einen mit der Grgend 
vertrauten Mann mit fi. Die Beichreibung feiner Neife bat er zu London 
beraußgegeben, fie füllt vier Theile und foll ſehr intereffant und Iehrreich fein. 
Beteutenden Ruf unter den Blinden hat ter Profeflor Saunterfon in Cam⸗ 
bridge erlangt, der am dortigen College Mathematif vortrug, felbft über Optik 
Borlefungen hielt und mit großem Erfolge wirkte. Saunderfon an Bedeutung 
erreichend verdienen Heinrich Mojes und Thomas Bladlod Erwähnung. Der 
erftere war Lehrer der Chemie zu Pittenween in Schottland, trug Erperimentals 
york vor und beichäftigte fich namentlich mit Eleftricität und dem Galvanis⸗ 
mut. Blacklock ftudirte Theologie, erwarb fich den Doctorgrad und war ein 
fehr beliebter Prediger. Der blinde Ingenieur John Metcalf bei Manchefter 
legte neue Straßen an, zu denen er die Pläne und Berechnungen felbft entwarf, 
and beauffichtigte deren Ausführung. NR. Smith in Dorf und Williamfon in 
Edinburg, beide Blinde, gehören zu ven eifrigften Botanifern und waren im 
Ertennen der Bilanzen durdy das Gefühl in hohem Grade geübt. — Schon im 
Jahre 1667 lehrte 3. Bernouilli zu Genf ein blinded Mädchen nach einer von 
ihm erfundenen Methode fchreiben. Auch in Deutfchland fehlte ed nicht an aud« 
gezeichneten, wenn ſchon vereinzelten Berjuchen, diefelben zu unterrichten. Kempe⸗ 
Im, der berühmte Erfinder der Schachmajchine, unterrichtete Das blinde Fräulein 
Thereſe Paradid zu Wien; Nieſen in Mannheim wurde der Lehrer des blinden 
Feißenburg. Die beiden genannten Blinden erreichten einen hohen Grad gei⸗ 
figer Ausbildung und correjpondirten miteinander. Beide hatten fich eigene 
Mrparate zum Rechnen, Lefen, Schreiben und zum Notenfegen erdacht. — Der 
blinde Vorftcher der Breslauer Blindenanftalt, Johann Knie, ein Schuler von 
Beune, tem Gründer ber Berliner Anftalt, ein in wiflenfchaftlicher, wie tech⸗ 
niſcher Hinficht ausgezeichneter Mann, machte ohne alle Begleitung cine Reife 
durch Deutſchland, auf welcher er namentlich die Blindenanftalten befuchte; er 
bat dieſe Reife unter dem Titel „‚pädagogijche Meife durch Deutichland im Som⸗ 


32 ' Pädagogik. 


mer 1835, Stuttgart bei Gotta, 1837.’ herausgegeben. In vielen Blinden⸗ 
anftalten find die Xehrer der blinden Zöglinge felbft Blinde und verrichten ihr 
Amt mit großem Eifer und dem beften Erfolge. Blinde Mufifer find in ziem- 
Ticher Anzahl befannt, wir erinnern Hier an bie bereits erwähnte Paradis, an 
Dulon, den Blötenvirtuojen Friebe; daß Blinde e8 auch in der Technik weit 
bringen können, beweiſt der in der Inftrunentenfabrifation tüchtige Kaeferle in 
Ludwigsburg; ja im Schwarzwalde foll es felbft einen blinden, ſehr gefchickten 
Uhrmacher gegeben haben. Auch als Schriftfteller Haben fich Blinde Hervorges 
than, fo von Baczfo, der unter anderem auch ein Werk: ‚Leber mich und meine 
Unglücksgefährten die Blinden“ herausgegeben hat. 

Obſchon aus den bisher angeführten Beiſpielen, die wir noch anſehnlich 
vermehren Eönnten, unwiderleglich hervorgeht, daß die Blinden nicht nur der 
Bildung und Erziehung fähig find, fondern bei glücklichen, natürlichen Anlagen 
felbft einen hohen Grad von Bildung erreichen können, hat es doch lange ges 
währt, bis man diefe Thatjache in fruchtbringender Weiſe ausbeutete. Man 
hegte allgemein in früherer Zeit die Anftcht, dab die Blinden einer Bildung 
nicht fähig feien; Die einzelnen Beweiſe vom Gegentheil, die man bemerkte, hielt 
man eben für Ausnahmen, für außergewöhnliche Greignifle, die nur bei ganz 
befonders günftigen natürlichen Anlagen in Verbindung mit glüdlichen äußeren 
Umftänden zu erreichen wären. 

Trog der hohen Stufe geiftiger Eultur, auf welcher die hervorragenden 
Völker ded Alterthums ftanden, findet man bei ihnen feine Andeutung weder von 
Unterricht, noch von Fürſorge für die Blinden. In diefer Hinficht may wohl die 
Anftcht, die z. B. Lie Griechen hatten, daß durch das Verſchließen des in bie 
Ferne wirkenden Auges ſich die Sehfraft des inneren, geiftigen Auges fleigere, 
von Einfluß geweien fein. Die Mythologie verfinnlicht Died in der Sage von 
Tireſias, der nach feiner Erblindung zum geiftigen Seher wird. Aehnliche 
Anichauungen mögen wohl auch ber nordifchen Sage zu Grunde liegen, nad 
welcher Odin ein Auge hingiebt, um aus Mimerd Quelle Weisheit zu fchöpfen. 
Auch im Buddhismus ift Die Anficht vertreten, daß die Sinne ftörend auf Die 
Entwidelung der höheren geiftigen Kräfte einwirken, wie denn Die Buddhiſten, 
wenn fie fich ihren tiefen Betrachtungen überlaffen, alle äußeren Eindrüde durch 
eine fauernde Stellung, die man Mafchkuli nennt, hemmen, bei welcher fie Mund, 
Naſe, Ohren und Augen verichliegen. — Nach den Mittheilungen des Pater 
Gharlevoir wird in den mit Blinden reich verfebenen Japan die Seichichte des 
Reiches und die Tafeln der Gefchlechter dem Bedächtniß der Blinden anvertraut; 
diejelben bilden dort einen befonderen Orden, dem jehr beträchtliche Einkünfte 
zugewiejen find "und gelten für unverletzlich. Auch die Mufif bei den Schaus 
ipielen wird allein von Blinden beforgt. 

Den erften Gedanfen zur Errichtung einer Erziehungsanftalt für Blinde 
faßte in Jahre 1784 Valentin Hauy zu Paris, ter Bruder des berühmten Mis 
neralogen gleichen Namend. Man erzählt, Hauy Habe auf einem Spaziergange 
zehn Blinde an einem öffentlichen Orte gejehen, die auf eine phantaftifche Weiſe 
angepugt, der eine als Midas mit Ejeldohren und einem Pfauenjchwange, die 


Die Blinden, ihr Muterricht ee. 33 


anderen in ähnlicher abgeſchmackter Weiſe gekleidet, alle mit Brillen von Pappe 
ohne Bläfer auf der Rafe, vor Pulten ftehend, auf dem die Muſikſtücke verkehrt 
gelegen, auf der Geige fpielten; die umſtehende zahlreiche Menfchenmenge habe 
tiefem Schaufpiele unter großen Heiterkeitsausbruͤchen zugefehen. Alsbald 
tauchte in Hauy der Gedanke auf, ob dieſe Menfchen nicht in einer nüglicheren, 
nicht jo entwürbdigeiden Weile zu verwenden fein follten, fo daß fie nicht mehr 
gezwungen wären, durch Beluftigung der rohen Volksmaſſe ſich ihr kümmerliches 
Bettelbrod zu verdienen. Hauy hielt diejen Gedanken feſt. Noch in demfelben 
Jahre Fam die blinde Thereſe Paradis aus Wien nad Paris und erregte zur 
Saftenzeit durch ihre ausgezeichneten Orgelconcerte das allgemeinfte Aufjehen 
und eine ungetheilte Bewunderung. Hauy lernte fie und ihre bedeutende geiftige 
Ausbildung Fennen, erfuhr, in welcher Weife fie fich ausgebildet habe, daß fie 
mit ihrem Lehrer und einem blinden,- auf gleicher Stufe der Bildung ftehenden 
Steunde im Briefmechjel ſtehe und überzeugte fich aufs Genaueſte von den Hülfes 
mitteln, die theils für fle.erfunden, theild ihr von ihrem blinden Freunde mit» 
geheilt worden waren. — Somit hatte Hauy den jprechendften Beweis, daß 
feine Idee eines Unterrichtd der Blinden fich recht wohl ausführen laffe und von 
tem beften Erfolge begleitet jein könne. Noch in demjelben Jahre ging er an 
Bert und machte mit einem Blinden einen Verſuch. Dieier fiel glänzend aus, und 
fo konnte er, mit Hülfe der Unterftügung der philanthropiſchen Gefellichaft, bie 
für zwölf Zöglinge Die Koften bezahlte, bald feinen Unterricht in größerem Manß- 
Rabe ausführen. Theils durch die Gunft des Minijteriums, theild durch eine 
öffentliche, fehr günftig ausgefallene Brüfung vor den Mitgliedern der Königlis 
hen Akademie der Wiffenjchaften, erwarb fich das Unternehmen im hohen Grabe 
die Theilnahme des gebildeten Publikums, und wenn auch die bald nachher aus⸗ 
brechente franzöfliche Revolution die weitere Entwidelung der Anitalt etwas 
aufbielt, fo war doch ihr Beſtehen binlänglich gefichert. Bald, jchon im Jahre 
1785 konnte. Hauy ein eigenes Gebäude auf der Straße Notre Dame des Victoires 
errichten, welches die würdige Infchrift trug: „Der leidenden Menſchheit zum 
Beten. Im Jahre 1791 wurde die Anftalt zur Staatsanftalt erhoben und 
mit dem Zaubftummeninflitute vereinigt, jedoch fchon im Jahre 1795 wieder 
von Derjelben getrennt. Im Jahre 1801 wurde das Blindeninftitut mit dem 
berühmten Blindenhospitale der Quinze-vingt vereinigt, welches im Jahre 1260 
von Ludwig dem Heiligen zur Unterbringung feiner im aͤgyptiſchen Kreuzzuge 
erblindeten Krieger errichtet worden war. In Bolge Diefer Verſetzung verwil⸗ 
derten die Zöglinge der Blindenanftalt, die Unordnung nahm überhand und 
Hauy legte aus Aerger hierüber die Direction nieder. Erſt im Jahre 1816 
wurte die Blindenerziehungsanftalt wieder von dem Hospitale getrennt und in 
ein eigened Gebäude verlegt. Nachdem Hauy von der Leitung der Blintenanftalt 
jurüdgetreten war, gründete er ein Privatinftitut. Als er im Jahre 1806 
eine Ginladung des Kaiſers Alerander von Rußland nad) St. Petersburg 
erhielt, folgte er diefer. Sein Privatinftitut ging in die Hände eines feiner 
Elinden Schüler, des Johann Heilmann aus Mühlhaufen über, der ed bis zum 


Jahre 1816, bis zur Trennung der Blindenanftali von dem Hoöpitale, forte 
V. 3 


34 ꝓidagogik. 


führte. Hauy errang durch die Leiſtungen feines berühmten Zoͤglinges Fournier 
allgemeinen Beifall in St. Petersburg und errichtete im Sabre 1807 dort eine 
eigene Anftalt, bie er Teitete, Bid er aus zunehmender Altersfchwäche fein Amt 
nieberlegte, und im Jahre 1816 nach Paris zurückkehrte, wo er im Jahre 
1822 ſtarb. 

Am eifrigften und fehnellften griff England die Idee des Blindenunter⸗ 
richts auf. Und zwar waren es meift Privatleute, die entweder allein, ober mit 
Hülfe von Gemeinden thätig and Werk gingen und Inftitute zur Erziehung 
Blinder gründeten. Während anfangs in den englifchen Anftalten die Blinden 
vorzugäweife in den mechanifchen Befchäftigungen ausgebildet wurben, hat man 
jeit den dreißiger Jahren auch dem wifienfchaftlichen Unterrichte eine größere 
Aufmerkfamfeit zugewendet und das in diefer Hinficht Verſäumte bald nachges 
holt. Die erfte Anftalt wurde 1791 in Liverpool errichtet. Auf diefe folgte im 
Jahre 1792 die Blindenanftalt zu Edinburg, deren Gründung hauprfächlich den 
Bemühungen des blinden Thomas Blacklock zu verdanken ifl. Weiter wurde 
1793 in Briftol, 1799 in London ein Blindeninftitut errichtet, 1805 wurde 
zu Rorwich, 1828 zu Glasgow, dort durch den blinden Tawel, Esquire, bier 
durch den blinden Leitch eine Anftalt für Blinde gegründet. In der fpäteren 
Zeit find mehr und mehr Inftirute für Blinde in allen drei Theilen Großbritan⸗ 
niend errichtet worden. 

In Deutfchland gingen die erften Verfuche eined methodifchen linden» 
unterricht8 von dem damaligen Armendirector Wilhelm Klein in Wien aus, der 
im Jahre 1804 zuerft einen Verfuch mit einem neunjährigen Knaben unter 
nahm, der vollftändig glüdte. Klein's aufopfernde, uneigennügige Bemühungen 
fanden Anerkennung, er erhielt einige Jahre darauf acht blinde Kinder, die er 
anf öffentliche Koften erzog. Im Jahre 1816 wurbe daß von ihm geleitete Ins 
ftitut aus einer Privatanftalt zu einer Staatsanflalt erhoben und erfreute fich 
bon da unter feiner gediegenen Leitung eines regen Blühens und Gebeihen®, 
Das Vermögen des Inftitutes ift durch zahlreiche Wermächtniffe zu einer anſehn⸗ 
lichen Höhe gedichen. 

Als Hauy von Paris nad) Petersburg reife, wurde er in Berlin dem 
König Friedrich Wilhelm III. vorgeftellt und wußte diefen durch die Proben, die 
fein Schüler Fournier ablegte, zur Errichtung einer Anftalt zu gewinnen, 
die im Jahre 1806 mit vier Zöglingen unter Leitung des verdienftvollen Zeune 
eröffnet wurde. Trotz des bald ausbrechenden Krieges, der die Eriftenz der An⸗ 
ftalt gefährtete, wurde diefelbe durch Zeune mit beträchtlichen Opfern erhalten 
und nach Rückkehr des Friedens bedeutend erweitert. — In den deutfchen Ber 
freiungdfriegen waren Hunderte von Soldaten erblindet und fomit dem Elende 
Preis gegeben. Man fammelte deshalb für diejelben milde Beiträge, die in fo 
reichlicher Anzahl flofien, daß man von denfelben zur Bildung Diefer erblindeten 
Soldaten fünf Werffcyulen zu Königsberg, Breslau, Marienwerder, Berlin und 
Münfter errichten Fonnte. Nachdem der Zweck diefer Anftalten erreicht war, 
‚gingen drei von ihnen wicder ein; zwei aber, bie zu Breslau und Königsberg 
blieben, wurden durch thätige Hülfe edler Menfchenfreumde zu dauernden 


Die Blinden, ihr Unterricht ıc. 35 


Blindenanflalten; an der Breslauer Anftalt wurde ber blinde Johann Knie, 
ein Schüler Zeune's, Director und erfter Lehrer. 

Die beiden Anflalten zu Wien und Berlin wurden die Mufteranftalten für 
die bald in allen deutfchen Ländern errichteten Blindeninftitute, deren Entflehung 
im Einzelnen zu verfolgen bier zu weit führen würde. Nach dem Mufter der Wiener 
wurden vorwiegend die Blindenanftalten Süd» Deutfchlands, nach der Berliner die 
in Rorden Deutichlands errichteten Anftalten gebildet. Im Jahre 1808 wurden 
inPrag, 1809 in Dresden, 1823 in®münd, 1824 in Linz, 1825 in Weimar, 
1826 in München, 1827 in Stuttgart, 1828 in Bruchfal, 1830 in Hamburg 
u, f. w. Anflalten gegründet. Eine erfprießliche Frucht der deutfchen flaatlichen 
Zerriſſenheit! 

Andere Staaten blieben nicht zurück. Der Petersburger Anſtalt haben 
wir bereits gedacht. In der Schweiz entſtand die erſte Anſtalt im Jahre 1809 
durch die Bemühung und thätige Hülfe des menſchenfreundlichen Dr. Hirzel. In 
den nordifchen Königreichen wurden 1808 in Stodholm, 1811 in Kopenhagen 
eine Anftalt eröffnet. In Amfterbam errichteten 1808 die Breimauer ein Blin- 
deninſtitut. Auch Reapel blieb nicht zurüd und felbft in Spanien wurden durch 
den Nönch Joachim Gatala im Jahre 1820 Verſuche gemacht, eine Blinden» 
anfalt zu begründen, 

In Rord-Amerifa gelangte man erft ſpät zur Errichtung von Blindenan- 
Ralten, Hat aber in dieſer kurzen Beit eine nicht unbeträchlliche Anzahl trefflicher 
Juſtitute gegründet, die in vieler Hinficht wahrhafte Mufteranftalten fein follen, 
Außerorbentliches, namentlich auch in Bezug auf Druckereien, leiſten und durch 
Legate und fonftige Beihülfen von Privaten fehr reich an Geldmitteln find. Die 
erſte Anftalt in Rords Amerika wurde von einem Deutfchen, Ramens Friedländer 
errichtet, der fich in ber Blindenanftalt zu Bruchfal ald Blindenichrer ausge⸗ 
bildet hatte, 1832 nach Amerifa ausgewandert war und dort bald nach feiner 
Ankunft eine Blindenanftalt in Philadelphia errichtete. Zwar war fchon vorher 
in Bofton eine Anftalt gegründet und reich beſchenkt worden, fte litt jedoch 
Rangel an einer zweckmaͤßigen Unterrichts- und Behandlungsmethode und gedich 
deehalb nicht. Erſt ald im Jahre 1833 diefe Anftalt von Dr. Howe, ber fich 
in Teutfchland audgebilbet, übernommen wurbe, kam fie in zwedimäßigere Hände 
und trug von da an reiche Früchte. Seit dieſer Zeit find in den verfchiedenen 
Etaaten der vereinigten Staaten Nord⸗Amerika's Anftalten entftanden. 

Die zahlreichen Blindenanftalten, bie in der Jetztzeit über die Erbe ver 
freitet find, laſſen fich in der Hauptfache nach drei verſchiedenen Gefichtöpunften 
Betrachten. Einmal find ed Anftalten, die zur Heilung Blinder beſtimmt find, 
Blindenbeilanftalten; wir haben diefelben, als unferer Aufgabe fern liegend, 
ganz außer Acht gelaffen. ine zweite, für uns zugleich Die wichtigfte Klaffe, 
find die Anftalten, die im weiteften Sinne des Wortes der Bildung und Ers 
zichung Blinder beflimmt find; wir haben deren Gefchichte fo eben in Eurzen 
Umriffen dargeftellt; ihrer Einrichtung und Bedeutung wollen wir im Folgenden 
alsbald noch einige Worte widmen. Cinzelne diefer Anftalten find zugleich mit 
Zaubftummenanftalten verbunden. — Die dritte Claſſe gehört ihrem Charakter 

3% 


36 2, Yadagagik. 


nach den Verforganftalten an; fle nimmt unheilbare, bejahrte ober erwerbö- 
unfähige Blinde zur Pflege und Lebensunterhaltung auf und unterfcheibet fich 
nicht weſentlich von anderen dem Zwede ber Verſorgung preßhafter Perſonen 
dienenden Anftalten. 

In Bezug auf die baulichen Einrichtungen unterfcheiden ſich die Blinden⸗ 
anftalten nicht weentlich von anderen Gebäuben; ſie müflen wie dieje hell und ges 
räumig fein, fonnig liegen, überhaupt den Anforderungen der Gefundheitäpflege 
entfprechen. If in Anftalten überhaupt firenge Ordnung nöthig, fo ift fle in 
Blindenanftalten in erhöhtem Grade erforderlich, damit die Blinden ſich nicht 
verlegen und befchädigen Fünnen. Zum Schuge der Blinden, wie zu deren Teiche 
teren Zurechtfinden im Haufe, find Geländer u. f. w. da, wo ed nöthig ange 
bracht. In allen Anftalten müflen die Schulräume, Arbeitöftuben, Werkftätten 
und Schlaffäle getrennt fein und in Größe, wie Einrichtung der Anzahl der 
BZöglinge, die eine ſehr verfchicdene in ben einzelnen Anftalten iſt, entiprechen, 
Große, freundliche Gartenräume mit Spagiergängen bürfen nicht fehlen. Eine 
befondere Hausordnung regelt dad Anftaltöleben im Ganzen, ein Schulplan 
leitet den Gang des Unterrichts; nach dieſen Beflimmungen müflen ſich alle in 
der Anftalt befindliche Perjonen richten. Meift hat die Anftalt ihren eigenen 
Arzt, der über das Wohl der Kinder in Bezug auf ihre Gefundheit wacht. Die 
Lehrer haben namentlich auch auf Die trog der Blindheit Häufig vorkommenden 
Augenfrankheiten ein aufmerffamed Auge zu richten. 

Sauptaufgabe der Anftalt ift die möglichft vollfländige Erziehung des Zög- 
lings. Wir müflen hierbei daran erinnern, daß die Fähigkeiten und natürlichen 
Anlagen der Zöglinge, welche der Anftalt übergeben werben, jehr verfchieden find; 
es ift Daher eine gleichmäßige Ausbildung der Blinden ebenfowenig wie in unferen 
Volksſchulen zu erreihen. Es ift nur Aufgabe der Anflalt, aus dem Blinden 
einen moralijch tüchtigen und brauchbaren Menfchen zu erziehen; eine höhere 
geiftige Ausbildung foll und fann man in den Anſtalten ihrer Ratur nach nicht 
erreichen. Sind unter den Zöglingen einzelne hervorragende Talente, fü werden 
fie den Lehrer nicht entgehen und diefer Hat zu erwägen, wie in ſolchen Einzel 
fällen die Entwidelung der Talente in ergiebiger Weije zu erreichen ift. Nichts 
ift verderblicher, ald den Blinden zu Eitelfeiten und unverflandenen Anfprücyen zu 
verleiten, zu denen er ohnehin feiner Natur nach fehr geneigt ift: eine Warnung 
namentlich für Eltern. — Ein fo erfreuliched Zeichen der andauernden Humas 
nitätöbeftrebungen auch ein Blick auf die Geſchichte der Blindenanftalten gibt, 
jo müffen wir doc, hervorheben, daß Alles, wad bis jegt für die Blinden ges 
ſchehen, trog der jcheinbar großen Anzahl von Anftalten, doch nur unvollfom- 
men iſt und noch Vieles zu thun bleibt, um der Roth und dem Elende diefer 
zahlreichen Klaſſe von Unglüdlichen zu fteuern. Man darf fich in diefer Bes 
ziehung nur daran erinnern, daß die Anzahl der Blinden in Deutfchland in 
runder Zahl 30,000 betragen mag, von denen ficher 6000 noch im bildungs« 
fähigen Alter find, während faum ber zehnte Theil derfelben in Anftalten Unter⸗ 
richt genießt. 

Ueber den Werth der Blindenanftalten brauchen wir nicht viel zu fagen, 


Die Blinden, ihr Unterricht ıc. 37 


er liegt Har zu Tage. Wie jeder Unterricht, beruht der Blindenunterricht in 
noch Höherem Grade auf einer reichen praktifchen Uebung und Erfahrung des 
Lehrers. Aus diefem Grunde empfehlen fich eigene Anftalten zum Unterrichte 
der Blinden, wie der nur mit vier Sinnen begabten Menfchen überhaupt. Ein 
einzelner Lehrer Tann fich nur in fehr feltenen Fällen die Bähigfelt, Blinde er⸗ 
folgreich zu unterrichten, erwerben und hat überdem auch mit den gefunden Kin⸗ 
dern, deren Erziehung fa feine Hauptaufgabe ift, zu viel zu thun, um nöthige Zeit 
und Aufmerkiamfeit dem blinden Kinde widmen zu Fönnen. 

Reben der Blindenerziehung iſt e8 aber auch Aufgabe der Blindenanftalten, 
Lehrer für Blinde zu bilden, da auch dies, wie fich aus dem fo eben Gefagten 
ergibt, erfolgreich nur in einer Anſtalt möglich if. Ein ein= bis zweljähriger 
Aufenthalt in einer Blindenanftalt genügt bei einigem Fleiße, um fich bie zum 
Blinderiunterrichte erforderlichen Fähigkeiten zu erwerben. In den meiften An⸗ 
Ralten werben junge Leute zu dem gedachten Zwecke aufgenommen. Ueber bie 
nöthigen Eigenfchaften der Erzieher und Lehrer Blinder fagt Klein in feinem 
tmefflichen Lehrbuch für Blinde: „Meine Sittlichfeit und innerer Trieb, ohne 
Rüdficht auf Mühe und Belohnung, etwas Gutes zu fliften und das Uebel zu 
mildern; Neigung zu Kindern und zur Erziehung; Sanftmuth und Geduld; 
vorzüglich aber ein Geift der Ordnung und Regelmäßigkeit in allen Unterneh« 
mungen und Handlungen: bies find die moralifchen Eigenfchaften, welche einem 
Ranne erforderlich find, der zur Erzichung und Bildung blinder Kinder Beruf 
in fih fühlet.“ Diefe Worte charakterifiren trefflich die Eigenfchaften eines 
guten Blindenlehrers. 

Vortheilhaft wirken die Blindenanftalten auch noch in der Richtung ein, 
daß fle der Welt zeigen, wie weit e8 Blinde in Erlangung nüglicher Kenninifie 
bringen Tönnen und dem Borurtheile, Blinde für bildungsunfähig zu halten, In 
erfolgreicher Weife entgegenarbeiten. Ramentlich mögen die Gemeinden ſich dies 
ya Herzen nehmen, die in ihrer Engherzigfeit und Kurzfichtigkeit oft fich ſcheuen, 
die geringen Beiträge an eine Blindenanftalt für einen ihnen angebörigen Zög- 
ling zu bezahlen und nicht bebenfen, daß dieſes Geld reiche Zinfen trägt, daß 
ihnen eine für alle Zeiten dauernde Laft gänzlich daburdy abgenommen wird. 

Einer Hülfe, welcher die Blindenanftalten nicht entbehren können, müffen wir 
bier gedenken: e8 find die Frauen. Ihnen erwächft die wichtige Aufgabe, an den 
Zöglingen Mutterftelle zu vertreten, fle unter ihre Aufficht und Leitung zu nehe 
men und namentlich die weiblichen Zöglinge in jenen zahlreichen, Elcinen Bes 
ihäftigungen und GHülfen, die für das Leben fo nothwendig find, zu unterweis 
ien, wozu es nicht minder einer aufopfernden Xiebe, großer Sorgfalt und Gebufd 
bedarf; Eigenfchaften, die man bei der dienenden Klaffe in der Regel nicht an⸗ 
nehmen darf. Hier müfjen die rauen den Blindenlehrern thätige und bereite 
Helferinnen fein und ihren Einfluß geltend machen. Daß fie das Fönnen und 
tbun, davon gibt Die Gefchichte des Blindenunterrichts erhebente Beiſpiele, die 
der Nachahmung würdig find. — 

Bald nachdem das Kind den Schooß der Mutter verlafien, öffnet c8, wenn 
auch nur auf Augenblide, feine Augen und fo dringt das Licht zum erften Male 


38 Padagogik. 


in dieſelben ein. Nur kurze Zeit währt dieſes erſte Empfinden des Lichtes, bald 
ſchließen ftch die Augen wieder, um von da an immer öfter und immer länger 
fich zu öffnen. Die erften Lichteindrüde, die dad Kind empfängt, find ficher nur 
allgemeine und können noch nicht ein Sehen in dem gewöhnlichen Sinne des 
Wortes, d. h. ein mit Bewußtiein verbundened Wahrnehmen der Objecte der 
Außenwelt genannt werden. Phyſikaliſchen Gefegen zu Folge müflen zwar von 
dem erften Oeffnen der Augen an auf der Rervenhaut des Auges fich die Bilder 
der umgebenden Gegenftände abbilden, aber das Bewußtfein vermag fich noch 
nicht in den Beſitz derfelben zu fegen, das geiftige Auge fieht noch nicht. Erſt 
allmälig mit der fortfchreitenden Entwidelung bed Gehirns und der übrigen 
Sinnesorgane, ja in vieler Beriehung unter hauptfächlicher Vermittelung und 
berichtigender Ergänzung derfelben, erlangt der Menſch den vollftändigen Ges 
brauch des Sehvermögens; fo ift beifpieläweije das Urtheil über die Entfernung 
der Gegenftände ein durch Erfahrung erworbened, wie denn Kinder nach dem 
Monde fo gut, ald nach dem vorgehaltenen Spielzeuge greifen. Das Schen muß 
alfo nach und nach erlernt werden, und daß Menjchen auch in den fpäteren Jah⸗ 
ren bei vollftändiger Entwidelung der geiftigen Kähigfeiten oft doch nicht ordent⸗ 
lich feben Eönnen, davon kann man fich Teicht Tag für Tag die Ueberzeuguhg 
verfchaffen. Blindgeborene, die in fpäteren Jahren Durch eine Operation das 
Licht der Augen wieder erhalten, zeigen, wenn auch dieſe Bälle mannigfache 
Zweifel erlauben, doch teutlich, daß ein bewußtes Sehen ein fehr complicirter 
Vorgang iſt, der nur durch die Hülfe und Correction anderer Sinnesorgane, wie 
durch Urtheil und Erfahrung ausgebildet wird. Der berühmtefte, in diefer Art 
merfiwürdigfte Ball ift der von Chefelden erzählte. Diefer operirte das Auge 
eines Knaben von 13 Jahren, welcher bei ſtarkem Lichte Die Karben ber Körper, 
aber nie ihre Geftalt unterſcheiden konnte. Nach der Operation vermochte er 
indeſſen die Farben nicht mehr zu unterjcheiden und Hielt fle nicht mehr für dies 
jenigen, welche er unter dieſem Namen gefannt hatte. Die Iehhafteften Karben 
gefielen ihm am beiten, Scharlach fchien ihm am fchönften, Schwarz dagegen 
mißftel ihm fehr und ed bedurfte lange Zeit, bis er fich daran gewöhnte. Don 
Entfernungen wußte er fo wenig, daß er vielmehr glaubte, alles was er fähe, 
berühre feine Augen, fo wie das, was er fühlte, die Haut. Glatte und regel« 
mäßige Formen waren ihn zwar anı angenehmften, allein er unterjchied Feinen 
Gegenftand ohne Mühe und ohne wiederholte aufmerfjame Betrachtung. Bon 
den vielen Namen und Dingen, die er an einem Tage Fennen lernte, vergaß er 
die Verbindung der Bilder mit den Ramen; es dauerte Iange, bis er durch 
bloßes Sehen Hund und Kate von einander unterjcheiden fonnte. Er wunderte 
fich jehr, dag die Gegenflände, welche feinem Gefühle am angenehmften waren, 
nicht auch jeinem Geſichte am beften gefielen, jo hatte er 3. B. erwartet, daß die 
von ihm geliebten Perſonen am jchönften ausſehen und die vorgezogenen Speifen 
fein Geſicht am meiften reizen jollten. Gemälde fohienen ihm anfangs bunte 
Flaͤchen, als er aber nach zwei Monaten entdedte, daß fie Körper mit erhabenen 
und vertieften Theilen vorftellten, war er erſtaunt, daß fle fich eben anfühlten, 
und fragte, welcher feiner Sinne ihn täufche. Anfangs bielt er alle Sachen für 


Die Blinden, ihr Unterricht ꝛc. 39 


fehr groß; als er aber größere ſah, fchienen ihm bie früheren jehr Elein und er 
glaubte nicht, daß es größere oder Eleinere gäbe. So wußte er, daß das Zim⸗ 
mer ein Theil des Hauſes fei, begriff aber nicht, Daß das Haus größer ausſehen 
könne, al8 der Theil. Vor der Operation verſprach er fich nicht viel von den 
Eindrüden durch das Geſicht, nachher aber war feine Freude über bie fletö neuen 
Gegenflände unbegrenzt. Ein Jahr nach der Operation brachte man ihn auf bie 
Höhen von Epfom, wo ihn die Anflcht ungemein ergögte, die er eine ganz neue 
Art von Sehen nannte.” — Aehnlich und ebenjo intereffant ift der von 
Dr. Franz mitgetbeilte Kal, welcher einem blindgeborenen, aber intelligenten 
jungen Dann von 18 Jahren das Geſicht Durch eine Operation ſchenkte. Der 
junge Dann erkannte zwar gewiſſe einfache Formen, wie Vierecke und Kreife, 
obne vorläufige Betaftung, aber er erkannte fe nicht augenblicklich, fondern 
mußte erſt nachdenken. Er gab an, daß er bei feinen Urtheilen ein gewiſſes Ges 
fühl, welches gleichzeitig in den Fingerſpitzen entflche, mit zu Rathe ziehe. Bet 
einer etwas feitlichen Anficht eines Würfeld und einer Pyramide fagte er, daß 
er dieſe Figuren nicht verfiehe. Er Eonnte eine Kugel von einer Scheibe und 
einen Würfel von einem Vierecke nicht unterjcheiden. Gntfernte Gegenftände 
ihienen ihm jo nahe, daß er vorfichtig vermied, an fle anzufloßen; auch wun⸗ 
derte ex fich, Die Objecte viel größer zu fehen, ald er dem Gefühle nach erwartet 
hätte. — 

Es ift eine bekannte Erfahrung, daß die in früher Jugend Erblindeten, 
felo wenn ſie bis zur Zeit der Erblindung ein gutes Sehvermögen bejaßen, 
griflig rege waren und Anſchauungen aus biejer Zeit behielten, doch in Bezug 
auf ihre weitere Ausbildung den von Geburt an Blinden vollfommen gleichge- 
Rellt werden müffen. 

Die Objerte der Außenwelt find es, die durch Vermittelung der Sinne 
son und wahrgenommen und welche in und durch eine Neihe und unbefanne 
ter Vorgänge zu Vorftellungen auögebildet werden. Vorwiegend die durch bad 
Geſicht vermittelten Empfindungen find es, die in den Kreis unferer Vorftellun« 
gen eingehen und beftimmend einwirken; Beweis hierfür find die zahlreichen von 
Geſichtseindruͤcken abgeleiteten Worte unferer Sprache. Man darf jedoch nicht 
glauben, Daß man beim Unterrichte der Blinden alle nach Geſichtseindrücken 
gebilteten Wörter zu verwenden habe, eine Anficht, die mehrfach ausgefprochen 
worben iſt. Es würde dadurch Die Sprache und Schreibweife der Blinden eine 
Schwerfälligfeit und Unbeholfenheit erlangen, Die im Umgange für fle und An⸗ 
dere fich in unangenehmer Weiſe geltend machen würbe. — Dabei brauchen bie 
Borftellungen nicht flet8 unmittelbar durch Wahrnehmungen entjtanden zu fein, 
wir fönnen und z. B. ganz gut einen Kichtenwald vorftellen, ohne einen folchen 
zu ſehen. Es muß einen gewaltigen Einfluß auf den geiftigen Anſchauungskreis 
ausüben, wenn ein jo wichtiger und fo vielfültige, wie wejentliche Vorftellungen 
vermittelnder Sinn, als es der Geſichtsſinn ift, von frühefter Jugend an fehlt, 
und tie Entwickelung des Seelenlebens diejer Unglüdlichen hat daher eine be= 
deutende pfochologijche Wichtigkeit. Gleichwohl vermögen, wie wir bereitd ges 
fehen, geiftig gefunde Blinde — denn nur foldye haben wir im Auge — dieſen 


40 . Padagogik. BL 


Mangel bis zu einen gewiffen Grade zu erfegen, ja blinde Kinder Haben {m Als 
gemeinen gute Fähigkeiten und fernen gut. 

Oft Hört man jagen, daß die Natur den Bierfinnigen ven Verluft des einen 
Sinnes durch größere Schärfe des anderen erſetze. Es iſt diefe Anflcht nur 
theifweife wahr; denn angeboren tft dieſe Schärfe nicht, fondern fe wird erft 
in Folge der nothwendigen größeren Uebung diefer Sinne allmälig erworben; 
diefe Hebung bedingt die größere Vorzüglichkeit. Den nächften Erfag für den 
Geſichtsſinn muß dem Blinden das Gefühl, fpeciell der Taftfinn gewähren, ber, 
wie wir ſchon gejehen, auch von den ſehenden Kindern mit zu Hülfe genommen 
wird. Nächft dem Taftfinn ift es das Gehör, welches infofern das wichtigfte 
Organ für den Blindenunterricht ift, als mit feiner Hülfe vorzüglich der Geiſt 
geweckt und eine Erziehung überhaupt ermöglicht wird. 

Eine Borftellung können Blinde ntemals erlangen, das tft die Vorftellung 
der Farben. Man hört gar oft die gegentheilige Behauptung, die man darauf 
flügt und zu begründen ſucht, daß Blinde durch das Gefühl recht wohl im 
Stande find, die ihnen vorgelegten Tuchſtuͤcke, Papiere, Zeuge nach ihrer Farbe 
zu unterfcheiden. Doch ift dieſes nicht Karben fehen, fondern Farben fühlen, durch 
das Gefühl kann man aber eine Anfchauung einer Barbe niemals erlangen. Gebil⸗ 
dete Blinde bringen e8 in der Unterfcheidung der Karben durch das Gefühl weit, 
haben aber, und fle fehen dies ſelbſt ein, niemals eine Idee der Karben. So ſchreibt 
der blinde Weiffendurg an die blinde Paradis, 26. Juli 1779 unterandern: „Bor 
Kurzem habe ich einen Berfuch gemacht, nämlich ich habe 26 wollene Lappen, deren 
Farbe ich, fo oft man will, fagen kann. Einen grauen habe ich in ſechs Thell- 
ſtuͤcke theilen laſſen, fünf davon find gefärbt worden, tch Eenne fle auch, find aber 
ſchwer. Es ift irrig, daß Blinde Farben fchon unterfchleden haben; Saun⸗ 
derfon hielt e3 für unmöglich und ich auch u. ſ. w.“ — Aehnlich fpricht fich 
Zeune aus, der namentlich auch darauf aufmerkfam macht, daß bei einzelnen 
Blinden noch ein Barbenfchimmer befteht, bei anderen eine abfichtliche Täufchung 
des Fragenden erzielt wird, — Annäherungsweife vermögen Dagegen einzelne 
Blinde fich doch eine Idee der Farbe zu verfchaffen. Es tft eine befannte Eigen- 
thumlichkeit vieler Blinden, daß ſte immer an ihren Augen herumbohren und 
fo den Sehnerven mittelbar drüden und reizen, fo Lichtempfindungen, ja farbige 
Erfcheinungen hervorzurufen mögen. 

Wir erwähnten fchon, dag der Taftfinn dem Blinden einen wefentlichen 
Erfag gewährt. Während wir nun durch das Geftcht zahlreiche, maflenhafte 
Eindrüde auf einmal erhalten, find die durch den Taftfinn vermittelten Eindrüde 
auf den Blinden nur vereinzelt. Wir überſehen einen Gegenftand in feiner Geo 
fammtheit und eilen ſchnell und flüchtig zu neuen; der Blinde muß jich länger 
und bauernd mit einem Körper befchäftigen, er geht genauer und umftändlicher 
zu Werfe und lernt ihm daher auch genauer kennen. Unſer flüchtig über die 
Objecte hinwegeilendes Auge täufcht und, den Blinden wird fein Taftfinn zu 
einem fichereren Bührer feines Urtheiles. Durch den befchränften Kreis feiner 
jedesmaligen Wahrnehmungen entfteht eine größere Concentration jeiner Ideen 
und jeine geichärfie Aufmerkfamkelt wird ein vortheilhaftes Mittel zu feiner 


Die Blinden, ihr Unterricht ıc. 41 


Sildung. In Folge feiner ununterbrochenen, von Rüden und Sprüngen freien 
Berftandesoperationen erwirbt er fich meiſt ein gutes Gedächtniß; feine Phan- 
tale It aber nicht minder rege und thätig al8 bei Sehenden. 

Wenn man hin und wieder von einzelnen Seiten, felbft von großen Ge« 
lehrten, den Blinden Sraufamfeit, Selbftfüchtigfeit, Unglauben und Mangel an 
Echamhaftigkeit vorgeworfen bat, jo mag bied bei einzelnen derfelben wohl bes 
gründete Beltung haben, ihnen aber diefe Gefühle im Allgemeinen und unter 
allen Verhältnifien abftreiten zu wollen, iſt unlogiſch und durch gegentheilige 
Erfahrungen genugjam widerlegt. Wie unter den Sehenden fo verfchiedene 
Gharaftere fich finden, eben fo findet dies bei den Blinden ftatt. 

Es ift fiher, daß die Mehrzahl der Blinden ein tiefes Gemüth beflgt und 
von gutmüthigem Charakter ift, wenn fie auch Spuren von Eigenfinn und Bes 
harrlichkeit öfter an den /Rag legen. Die Thatjache, daß Blinde im Allgemei- 
zen die Theilnahme ihrer Ritmenfihen in fehr hohem Grade genießen, ift hierbei 
von großem Einfluſſe; der Blinde füllt feiner Umgebung weniger zur Laſt und diefe 
widmet ihm daher auch mehr Aufmerkſamkeit und Liebe; dieſe Ticbevolle Theil« 
nahme aber übt wieberum einen günftigen milternden Einfluß auf feinen Cha- 
rakter aus. 

Vielfach hört man darüber ſtreiten, ob die Blinden oder die Taubſtummen 
unglüdlicher jeien. Daß tie Blinden beſſer fituirt find und eine größere Theil 
nahme genießen, iſt befannt. Auch find fle der Bildung und Erziehung Teichter 
mänglich, da das beredte Wort durch das Ohr in dad Innere, in die Werkftatt 
des Geiftes bringt. Worte aber wirken auf den Menjchen weit tiefer ein als ein 
Bild. Ein erfchürternder Anblick fteht in Beziehung auf die Nachhaltigkeit und 
Richtigkeit feiner Einwirkung weit unter den Einfluffe des Wortes, welches 
einen um vieles bedeutenderen Einfluß auf die Seele des Menfchen ausübt. Die 
ſchrecklichſten Bilder verwiſchen fich Teicht aus der Seele, ihre tägliche Wiederkehr 
fumpft gegen das Graufenhafte ab. Den Anblick des fterbenden Vaters jehen 
wir allmälig aus unferem Gedaͤchtniß verwiſcht, der Fluch, den jeine Lippen über 
uns außiprachen, er hängt ald bleierned Gewicht beftändig an und. Wie wären 
bie traurigen Autodafe'8 vergangener Jahrhunderte, wie wäre das Blutbad der 
franzöflichen Revolution möglic; gewefen? Nur der Macht des Worted, dem 
beredten, unwiderftehlichen Appellanten an die Intelligenz gelingt, was fein 
noch jo lebendiges, abſchreckendes Bild zu erreichen vermag. 

Ein Blinder ift auch in der Beziehung glüdlicher daran, daß er fein Un⸗ 
glüc nicht fortwährend ficht und Die Unterhaltung tröfter ihn wefentlich über 
feinen Berluft. Ueberhaupt wird der Mangel eined Sinnes meift nicht jo ſchwer 
ertragen, als man gewöhnlich glaubt. Ein ganz verwerfliches Gebahren, welches 
man leiter noch fchr Häufig findet, ift daher ein ſalbungsvolles Bemitleiden der 
unglücklichen Blinden, jenes zubehngliche, Teilnahme erheuchelnde Kragen, ob 
fe ſich unglücklich fühlen. Der bekannte blinde Echriftfteller Baczko erzählt in 
jeinem Werfe über die Blinden von fich, Daß er einft auf einer Banf in einem 
Öffentlichen Garten gefeffen Habe, als ein Bekannter zu ibm getreten und ihn 
wegen feines Unglüdes auf eine zubringliche Weife bedauert und getröftet, auch 


42 Pädagogik, 


troß der Verſicherung Baczko's, daß er ſich ganz glüdlich fühle, nicht aufgehört 
habe, ihn zu beflagen. Als nun Barzko, der gewußt, daß jener einen Budel 
habe, ihn über dieſes Gebrechen zu bemitleiden angefangen habe, jei derſelbe voll 
Aerger davon gelaufen und Habe ihn ſeitdem in Ruhe gelafien. — Zeune erzäßlt 
von einem feiner blinden Zöglinge, dieſer laſſe ſich bei kleinen Ungeſchicklichkeiten 
lieber auslachen, als bedauern, weil ein gutmüthiges Lachen ihm verrathe, daß 
man ihn für ſchwach, ein Bedauern aber, daß man ihn unfähig halte, Aus diefem 
Grunde hatte Klein in der Wiener Anftalt in den Zimmern eine Warntafel mit fol« 
gendem Inhalte aufgehängt: „Es wird Jedermann erfucht, alle lauten Mitleids- 
bezeugungen über das Schickſal ber blinden Zöglinge zu unterlaffen, um fie dadurch 
nicht an den unerfeglichen Verluft eines Gutes zu erinnern, deſſen Größe fie zu 
ihrem Gluͤcke nicht Eennen, und der Ruhe und Inneren Zufriedenheit, Die fle genies 
Ben, wovon man fich durch kurze Beobachtung und Umgang mit ihnen leicht über- 
zeugen Tann, feinen Abbruch zu thun.“ Aehnlich ift es in anderen Inftituten. 

Wir wenden und nunmehr zu der Erziehung blinder Kinder im elterlichen 
Haufe 618 zu der Zeit der Aufnahme in eine Blindenanftalt, die, mit Ausnahme 
jener feltenen Källe, wo äußere Umſtaͤnde e8 erlauben, einen eigenen Lehrer zu 
balten, unter allen Umftänden zu einem gewifien Zeitpunfte zu erfolgen hat, um 
bie Erziehung und Ausbildung in geeigneter Weiſe zu vollenden, 

Es ift eine bedeutende, in jeder Anftalt nur zu häufig gemachte Erfahrung, 
daß die den Inflituten zum Unterrichte übergebenen Zöglinge ſich oft in einem 
förperlich, wie geiftig höchſt vernachläfftgten Zuftande, den man nicht anders als 
Rohheit und Verwilderung bezeichnen kann, befinden. Diefer Uebelftand hindert 
nicht blos die Ausbildung des einzelnen Zöglinges in ſehr empfindlicher Weife, 
auch die anderen Zöglinge müſſen mit darunter leiden und ebenfo die Geſammt⸗ 
heit, da durch bie längere Zeit der Ausbildung, die nothwendig auf ein folches 
Kind verwendet werden muß, deſſen Platz einem Nachfolger entzogen wird; ein 
bei der ohnehin befchränften Aufnahme der Zöglinge ſchwer in die Wagfchaale 
fallender Verluſt. Ja oft find Blinde fo verwildert und geiftig verfümmert, daß 
fie ihren Angehörigen als nicht mehr bildungsfähig zurüdgegeben werden müffen. 
So erzählt Georgi, daß der Dresdner Blindenanftalt nicht felten dreißigjährige 
Blinde zugeführt wurden, die nicht gelernt hatten, einen Xöffel zum Munde zu 
führen!! Die Urfache diejer traurigen Wahrnehmungen liegt einfach darin, daß 
die Eltern oder Angehörigen es unterlaffen haben, dem blinden Kinde ihre Aufe 
merffamfeit zu fchenfen und demfelben bei feiner Ausbildung Hülfreich die Hand 
zu bieten. Und doch kann hier fo Vieles gefchchen, jo fegendreich gewirkt werben. 
Manches läßt fich nur Durch einen von Geburt an forgfältig geleiteten Unterricht 
erreichen, ja, wenn ber geeignete Zeitpunft verfäumt, nicht oder nur ſehr unvolls 
fommen nachholen. Es iſt daher von der größten Wichtigkeit, Eltern und Er⸗ 
zieher darauf aufmerffam zu machen, daß blinde Kinder von frühefter Jugend 
an im Kreije der Ihrigen zwedmäßig behandelt und gebildet werten müffen. 
Wir haben und bemüht, in Folgenden die Hauptpunfte, auf welche man hierbei 
fein Augenmerf zu richten bat, hervorzuheben. Wegen der Einzelheiten verwei⸗ 
jen wir auf die treffliche Schrift de8 um das Blindenwefen in Sachjen hochver⸗ 


Die Blinden, ihr Unterricht x. 43 


dienten Georgi, derzeitigen Directord der Dresdner Blindenanftalt: ‚Anleitung 
zur zwedimäßigen Behandlung blinder Kinder im Kreife ihrer Familien von 
frähefter Kindheit an bis zu ihrer Aufnahme in die Blindenanftalt. ‚Auf Ver⸗ 
alaſſung des K. Minifteriums verfaßt.“, die alles hierher Gehörige ebenfo Elar 
als verftänblich darlegt und in einem befonderen Anhange, der von dem Ganzen 
getrennt und beraud zu nehmen ift, Die wichtigften Punfte in kurze Säge zufam« 
mengefaßt enthält. Ramentlich find es die Geiftlichen, Xehrer und Aerzte, bie 
iht Beruf mit diejen Uinglüdlichen und ihren Angehörigen zufammenführt und 
die hier in ſegensreichſter Weiſe durch Belehrung und Aufmerkſammachen der 
meift ungebildeten Eltern wirken £önnen. 

Bei der Erziehung eines Blinden im elterlichen Haufe vergegenwärtige man 
ſich ſtets, daß das blinde Kind in berfelben Weile behandelt werden muß, wie 
ein jehendes, daß es nahezu deſſelben Bildungsgrades fähig werden kann, wie 
biejeß, daß mit kurzen Worten der Zwed der Erziehung, das Auffinden, Ans 
tegen und die Bervollfommnung der dem Kinde imvohnenden Kräfte zu einem 
wöglichfi Harmonifchen Ganzen, bei demfelben in gleicher Weife, nur durch in 
mancher Beziehung verjchiebene Mittel zu erzielen iſt. Hat ber Blinde auch einen 
großen Fehler zu tragen, fo wird doch dieſer Verluft in mancher Hinficht coms 
penſirt. Charakteriftiich if in diefer Beziehung eine Aeußerung des blinden 
Gaunderfon, der, als ihm mitgetheilt wurbe, es ſei ihm eine Tochter mit ganz 
geiunten Augen geboren worden, den Zweifel ausſprach, ob wohl ihre Bildung 
nicht dadurch nur eine mittelmäßige werden werde. 

Stets vergegenwärtige man fich, daß namentlich im Anfange die Erziehung 
eined blinden Kindes feines Fehlers wegen viele Mühe, Geduld, Ausdauer und 
Zeit in Anſpruch nimmt. Man ermübe daher nicht, wenn eines ober das Untere 
nicht jo fchnell, ald es gewünfcht wird, von Statten geben will, man laſſe dem 
armen Kinde Eein Zeichen von Ungeduld merken und fidh nicht zu übereilten 
Ausbrüchen von Aerger und Mißmuth hinreifen, um fo mehr, ald der Blinde 
ſelbſt zur Ucberwindung zahlreicher Schwierigkeiten Getuld und Beharrlichkeit 
im hoben Grade bedarf. 

Andererſeits vermeide man ed ebenfo ftreng, das Kind aus faljchem Mitleid 
und einem unzeitigen Erbarmen mit feiner Lage zu verhätfcheln. Man fchüge es 
wohl vor Gefahren, denen e8 in Folge der Blindheit nicht audzumeichen vermag, 
aber man jei auch Hierin nicht zu ängftlih und beforgt, und muthe dem Kinde 
etwaß zu. 

Schon in der früheften Zeit muß die Erziehung beginnen. Bid zum erften 
Lebensjahre richte man fein Augenmerk darauf, dem Kinde durch fortwährende 
Ausbiltung des Taſtſinnes und Gchöred Anregungen zu verichaffen. Namentlich 
iſt es die Sprache, die Vermittlerin alles geiftigen Lebens und Wechſelverkehres, 
bie der Ausbildung bedarf, man fpreche daher dem Kleinen fleipig vor, wobel 
man fich jetoch einer befonderd deutlichen und richtigen Ausſprache befleißigen 
mug. Auch finge man dem blinden Kinde täglich einfache, fanfte Melodien vor. 
Nach tem erften Jahre wird es Hauptaufgabe, dem Kleinen gehen zu Iernen. Es 
muß das blinde dazu mit derſelben Sorgfalt und Mühe wie ein ſehendes Kind 


44 Pabaggoik. 


angeleitet werden; man macht es auf ben Gebrauch ber einzelnen Glieder auf⸗ 
nterffam und zugleich mit den in feiner Umgebung befindlichen Gegenflände ver⸗ 
traut. Nichts wäre verfehrter, als das Rind zum Stillfigen zu verbammen ober 
daſſelbe, ſobald es Fräftig genug, noch zu tragen. Auch des Fuͤhrens, obſchon 
dies Tängere Zeit nöthig, als bei Sehenden, muß man daſſelbe allmälig ent- 
wöhnen. Man achte namentlich darauf, dag das Kleine die Füße nicht zu hoch 
hebe und nicht elnwärtd gehe, daß es mit dem Kopfe und dem Oberkörper nicht 
fich vorwärts beuge, fondern flatt deffen den einen Arm vorftredle, um ſich vor 
Schaden zu bewahren. Man führe e8 erft in ber Stube, dann im Haufe herum 
und laſſe das Kind dabei alle Gegenftände berühren und Eläre es über deren 
Bedeutung auf. Späterhin Iaffe man ſich von dem Kinde zeigen, wo biefer oder 
jener Gegenftand fteht und daflelbe darauf zugehen. Man macht fie mit dem 
Treppenfteigen bekannt. Bei größeren Spaziergängen läßt man den Blinden 
feine Hand in die des Führers legen, damit er deffen Bewegungen empfinde und 
flet3 einen Btertelfchritt Hinter dem Führenden zurüdbleibe. Bor dem Rieder 
figen gewößne man den Blinden daran, ſtets den Sig zuvor mit der Hand zu 
überftreichen. Beim Bücken Iehre man ihm, daß er dad Knie beuge und nicht . 
den Oberkörper allein. 

Eine der wichtigften Aufgaben tft der Unterricht im geeigneten Gebrauche 
der Hände; eine VBernachläffigung in diefer Beziehung rächt fich in der bitterften 
Weiſe. Die Hände folcher ungeübter Blinder hängen fchlaff herunter, fle bleiben 
flein und kraftlos, es fehlt ihnen an jeder Clafticität und ihre Muskelkraft tft 
auf ein Minimum reducirt. Dadurch ift der Blinde zu jeder Arbeit unfähig und 
auch der Taftfinn, für ihn fo wichtig, gelangt nicht zu jener Feinheit der Aus⸗ 
Hildung, deren er zu einem guten Kortfommen bedarf. Deshalb gebe man dem 
Kinde ſchon frühzeitig Spielzeug in die Sand, Taffe e8 Alles befühlen und untere 
richte e8 methodijch hierin, indem man ein fogenanntes Allerlei”, eine Samm- 
lung von hölzernen, fleinernen Kugeln, Glas, Würfel, Tafeln, Ringe, Zeuge, 
Leder, Tuch, Samen u. f. w. anlegt. Dabei belehrt man das Kind über Ent⸗ 
ftehung, Bereitung und Nugen diefer Gegenftände, laͤßt die Gegenftände theils 
nach der Form, theild nach der Größe, dem dazu verwendeten Materiale, nach 
den Klange u. f. w. ordnen und übt fie dabei zugleich im Zählen vorwärts und 
rückwaͤrts. In ähnlicher Weife übe inan den Geruch und Geſchmack. Fruͤhzeitig 
übe man das Gehör, Iehre die Kinder das Geld am Klange unterfcheiden, bie 
Perfonen am Tritte; mache fie aufmerkſam, bei entfernten Geräufchen von Wa⸗ 
gen u. ſ. w. rechtzeitig zur Seite zu treten. 

In allen Dingen gewöhne man von frühefter Kindheit an die Eleinen Blin⸗ 
den an ftrenge Ordnung und Neinlichkeit. Man übt dies zunächft beim Anfleis 
den, was Blinde ehenfo wie Schende allein verrichten Fünnen. Im Amfang 
foftet dic einige Mühe und man würde fchneller zu Statten fommen, wenn man 
es felbft verrichtet, aber für fpäter tft dic8 eine große Erleichterung und bezahlt 
bie anfängliche Mühe doppelt. Auf Ordnung im Unzuge muß man um fo forg- 
fültiger Bedacht nehmen, als den Blinden feine äußere Erfcheinung, die er nicht 
fteht, meift ganz gleichgültig laͤßt. Ebenfo verfährt man beim Efien. Wenn man 


Die Blinden, ihr Unterricht x. 45 


fon, wie bei ſehenden Kindern, anfänglich den Gebrauch der Finger als ber 
natürlichen Eßwerkzeuge geftatten Tann und muß, fo ift es doch dringend 
‚ söthig, mit der zunehmenden Reife des Kindes, daffelbe mit den Gebrauch uns 
ſerer Mefier, Gabeln und Löffeln vertraut zu machen, was einige Gebuld und 
jorgfältige Unterweifung erfordert. Ueberhaupt fei man ſtets Darauf bebacht, 
dad blinde Kind von der Hülfeleiftung Anderer möglichſt unabhängig zu machen, 
ba eben jeine Hülflofigkeit jein größtes Linglü ausmacht. 

Blinde haben viel mehr ald Schende eine Menge übler Angewohnheiten an 
ſich, fie machen fo eine Unzahl unzweckmaͤßiger Geften mit den Händen, fpielen 
und treten mit den Fuͤßen, wiegen den ganzen Körper befländig von rechts nach 
liaks, zeigen eine grimafienhafte Verzerrung der Befichtözüge u. f.w. Auf folche 
Angavohnheiten muß man fie aufmerkſam machen, da das, was von den Sehenden 
für unanfländig gehalten wird, ihnen nicht als folches erfcheint. Und wenn 
man auch alled in Güte zu erreichen fuchen muß und fol, ann man doch milde und 
vernünftige Strafen nicht entbehren. Aber auch an Vergnügen darf man ed dem 
Heinen Blinden, der fo durch fein Unglüd ifolirt dafteht, nicht fehlen laſſen und 
muß auf eine zweckmaͤßige Erheiterung bedacht jein. Auf das Lafter der Selbſt⸗ 
beſleckung, welches man bei Blinden, die nicht gehörig beauffichtigt und gehütet 
werden, Häufig findet, müflen wir noch ganz beſonders aufmerkjam machen. Die 
Angehörigen trifft bier, wenn fie nachläffig find, ein harter und begründeter 
Vorwurf. Das befle Gegenmittel ift eine ftete, zweckmaͤßige Beichäftigung; ein 
ſtilles Hinbrüten und Sigen darf nicht geftattet werden. Berirrungen in diefer 
Sinficht rächen fich gemeinlich Durch frübzeitigen Verfall der Törperlichen und 
geiigen Kräfte. 

In der angedeuteten Weife wird nicht allein die Ausbildung der Sinne 
gefördert, ſondern e8 wird, da eben die Sinne ohne Hülfe des Geiſtes, des in» 
neren Sinned, nicht thätig fein können, zugleich der Verſtand geübt und gebils 
det. Auch hierbei gehe man methodiſch zu Werke, man nehme nicht mehr als 
einen Begenftand auf einmal vor, aber diefen gründlich, wieberhole ihn öfter 
und laſſe fich von dem Kinde das Gejagte wiederholen in veränderter Weile, um 
das bloße Rachplappern zu vermeiden und das Kind zum felbitfländigen Denken 
ja gewöhnen. 

Kommt das Kind in das fchulfähige Alter, jo muß es unerläßlich zum 
Schulbeſuche angehalten werden. Kann es auch namentlich in einer Volkd« 
ſchule nicht eine allen feinen Bezichungen angemeſſene Ausbildungen erlangen, 
fo kann es doch auch hier in jeder Unterrichtöftunne, felbft in jolchen, bei denen 
das Geſicht nothwendig, Vortheil ziehen, um jo mehr, wenn ihm zugleich der 
Rehrer und feine Angehörigen feinem Zuftande entfprechend hülfreich beiftehen. 

Wenn dad Kind fo bis zum zehnten Jahre herangewachſen, dann macht 
ſich zu feiner vollftändigeren und ſchnelleren Ausbildung allerdings die Aufnahme 
in eine Blindenanflalt nothwendig, die in der von dem betreffenden Staate vor⸗ 
geichriebenen Weije nachzufuchen ifl. Die bisher erlangte Vorbereitung wird 
bier dem Kinde in der trefflichften Weife zu flatten kommen und feine weitere 
Ausbildung in förderlichſter Weife unterflügen, 


46 Padagogik. 


Nachdem wir jept die Erziehung des Blinden in der Familie betrachtet 
haben, wenden wir und nunmehr zu der Bildung, die derfelbe in eigend dazu 
beftimmten Anftalten erhält. Der Hauptzweck einer jeden Blindenanflalt ift die 
Erziehung und Ausbildung des blinden Böglings bis zur Erwerböfähigfeit. 
Diefem Zwecke gemäß ift der Unterricht ein doppelter; man erftrebt einmal eine 
wifienfchaftlicye Ausbildung, wie Diefe in den Schulen erreicht wird, wobel man 
felbftverftändlich auch auf Befeftigung der Sittlichkeit ein Hauptaugenmerk rich 
tet; dann aber bezweckt man, die Zöglinge in technifchen Fertigkeiten auszubil» 
den, durch welche fich dieſelben ihren Lebensunterhalt verfchaffen können. Um 
diefes Ziel erreichen zu koͤnnen, darf der Zögling ein gewiffes Alter nicht über 
ſchritten Haben, aber auch nicht unter einem beftimmten Alter fein, gewöhnlich 
wird daher von Anftalten die Alterögrenze, innerhalb welcher die Aufnahme er⸗ 
folgen kann, beftimmt angegeben; das zur Aufnahme geeignetfte Alter iſt das 
zehnte bis zwölfte Lebensjahr. Unter allen Umftänden muß der geiftige Zu- 
ftand des Aufzunehmenden fo fein, daß derfelbe als bildungsfähig erſcheint, 
von ſchweren Eörperlichen Bebrechen befreit, auch bereits ſoweit erzogen tft, daß er 
einer fpeciellen Wartung nicht mehr bedarf, d. h., dag er allein berumgehen, bie 
Treppen ſteigen, fich beim Ans und Ausziehen, beim Wafchen, beim Efien und 
bei Verrichtung der natürlichen Bebürfniffe fich felbft zu helfen vermag, und an 
Reinlichfeit und Sauberhaltung feiner Perfon gewöhnt tft. 

Wir befprechen in Folgendem zunächft den Unterricht in den verſchiedenen 
EC &hulfächern, wobei wir zugleich die dazu erforderlichen, eigenthümlichen Huͤlfs⸗ 
nrittel betrachten. 

Der erfte Unterricht in ber Anſtalt ift im Wefentlichen ein Anſchauungs⸗, 
oder richtiger geſagt, ein Anfühlungdunterricht, indem man die Zöglinge tn der 
Unterfcheitung von Gegenfländen durch die gefunden Sinne übt, Gefühl und 
Gehör fpielen hierbei die Hauptrolle, und es zieht fich Die Uebung diefer Sinnes⸗ 
organe durch die ganze Zeit des Unterrichtes hindurch, wie wir im weiteren Ders 
Taufe unferer Betrachtungen inne werben. 

2 efen können Blinde nur mittelft des Taftfinned. Bei dem gewöhnlichen 
Drude ift e8 den Blinden, felbft bei noch fo vorzüglicher Ausbildung des Gefühe 
les in den Fingerfpigen, doch nicht möglich, die einzelnen Buchſtaben mit gehd« 
riger Schärfe wahrnehmen zu Eönnen. Ban bat daher zu befonderen Hülfe« 
mitteln feine Zuflucht nehmen müffen. Am einpfehlenswertheften, weil am 
billigften und leichteften berzuftellen, ift die von dem verdienten Klein in Wien 
erfundene, fogenannte Stichmanier. Die einzelnen Lettern beftchen hierbei 
aus in Blei eingegoffenen Spiten, welche die Umriffe des Buchſtabens dar» 
ftellen. Diefelben werden zufammengefeßt und in ftarfe3 Papier geftochen, wo⸗ 
durch auf der Mückfeite fühlbare Erhöhungen, die die Buchftaben repräfentiren, 
entfiehen. Eine andere Manier, nad der man Blinde Iefen lehrt, ift die 
Preßſchrift; es find Hierzu ebenfalls gegoffene Letiern, ganz wie die zu unfes 
rer gewöhnlichen Drudjchrift verwendeten, nöthig, nur find fie erhabener und 
mit fehärferen Kanten verfehen und nicht verkehrt, fondern jo gegoſſen, wie fie 
beim Lefen dem Auge und dem Taftfinne erfcheinen. Mit diefen Lettern druckt 


Die Blinden, ihr Unterricht 1. 47 


man Bücher, die die Blinden ſelbſt verfertigen; in einzelnen Anſtalten hat man 
förmliche Druckereien angelegt: Die Bücher find natürlich von großem Um⸗ 
fange und immer nur auf einer Seite bedruckt. Man hat fo Eleine Kefebücher, 
Spruchbũcher, Kalender, die Evangelien gedruckt. Im Jahre 1843 bewilligte 
man in England 400 Pfund Sterling zu einer Bibel für Blinde, die funfzehn 
Binde in größtem Format, jeden Band von 2470 Blättern umfaßt und von der 
Slaegower Bibelgefellichaft herausgegeben wurde. — Wan gibt dem blinden 
Kinde anfangs einzelne Buchflaben, die in Holz oder Metall gefchnitten find, 
md an der unteren Seite ein Zeichen tragen, damit die Lage nicht verwechfelt 
wird, in Die Hand und läßt fle fich im Erkennen berfelben üben. Nach und nach 
geht man von größeren zu immer Fleineren Lettern über. Später geht man zum 
Duchſtabiren über und fährt methodifch fort; fo gelingt e8 in meift fehr kurzer 
Zeit, den Blinden faft eben fo fchnell wie einen Schenden im Leſen zu unterrich- 
tim. — Zwei blinde Engländer, Robert Milne und David Macheath erfanten 
1822 ein Knotenalphabet für Blinde, Es befteht daffelbe in einer mäßig dicken 
Schnur, in welcher in beftimmten Entfernungen Knoten und Schlingen von 
rerſchiedener Geſtalt, die Buchftaben beteutend, eingefnüpft werden. Diefed 
erfahren hat fich wegen vieler Unzutraͤglichkeiten nirgends eine allgemeine Gel⸗ 
tung verfchafft ; e8 geht died zur Genüge daraus hervor, daß ein Sat von ſechs 
Beilen gewöhnlichen Octavformats eine Länge von 4 Wiener Klaftern ein⸗ 
nimmt. 

Der Unterricht im Schreiben ift ein fehr muͤhevoller und befchiwerlicher. 
Ein Hauptübelftand dabei ift namentlich, daß die Blinden dad Geſchriebene nicht 
wieder Iefen können. Den Ucbergang zum Schreiben macht man meift damit, 
daß man die einzelnen Buchflabentopen in einen Kaften mit Fächern einlegen, 
und fo Wörter und ganze Säge zufammenfegen läßt. Dan bedient fich zum 
Unterricht einer Menge von Vorrichtungen: der Echreibfäften, wo Rahmen mit 
feinen Drähten auf das Papier gelegt werben, Tafeln von Holz mit vertieften 
Buchſtaben, an denen ber Blinde fich die Führung der Hand beim Bilden der 
Buchſtaben einübt; des gefalteten Papieres; des abfärbenten Papieres; mehre⸗ 
ter ſeht finnreicher zufanımengefegter Schreibmaſchinen. Um das Geſchriebene 
für Blinde wieder lesbar zu machen, bedient man ſich der Gummilöſung, die 
man mit Sand beſtreut und ähnlicher, zu dieſem Zwecke ausgedachter Miſchungen. 
Zum vorübergehenden Gebrauch, wie auch zur nüglichen Uebung ſticht man die 
Figuren der Buchftaben mit Stecknadeln in Nadeltiffen ein. Weit überaus die 
beſte Manier zum Schreiben befteht in ber ſchon erwähnten Stichſchrift. Ein 
Binder, der eine Eleine Derartige Sammlung von Buchftaben befigt, kann fo fowohl 
mit Schenden, wie mit Blinden ohne Hülfe Anderer correfpontiren. Dabei 
iſt das Verfahren ein fehr einfaches, nicht Eoftipielig und haltbar. — Bet den 
Urbungen im Schreiben gebraucht man vorzugsweiſe lateinifche Schrift, weil 
diefelbe einfacher ift und weniger verbindender Striche bedarf, als unfere Eure 
tentichrift. . 

Das Rechnen ift wie für jeden Menfchen, fo ganz bejonberd für Blinde 
kon großer Wichtigfeit,. theils in Bezug auf bie Bildung des Geiftes, theils 


48 Pabagogil, 

wegen des formmihrenten Betürfnifjes im praftiichen Lehen. Der Unterricht im 
Rechnen muß bei Blinten vorzugöweije in Anleirung zum Kopfrechnen beſtehen; 
es wird dadurch nich nur ter Geiſt am meiſten gebilter, ſondern auch bie einzig 
mögliche Verwerihung für bad Lchen geboren. Es if eine befannte Erfahrung, 
dag einzelne Blinde im Kopfrechnen Außerordentliches zu leiflen vermögen, faſt 
alle aber jo viel darin lernen, daß fe fi in den gewöhnlidyen Lchendrorfonm- 
nijſen allein zu recht zu finden wijfen. Außerdem bedient man jich beim Unter⸗ 
richte verjchiedener Hulfämitel, jo des befannten mongolijchen Rechenbrettes, 
welches dad Decimalſyftem verfinnlidht, ter Rechnerjchnur, wodurch man das 
WRultipliciren und Tividiren veranjchaulicht, ter von Tem blinten Saunderſon er⸗ 
fundenen Rechentafel, einem Brette wir vielen Löchern, in weldye Lie Zahlen ges 
fledft werden, die man durch Fleine Holzpflödchen mit Spigen bezeichnet; jede 
Spige bedeutet eine Ginheit. Immer bleibt der Unterricht im Kopfrechnen bie 
Hauptſache; das Rechnen mit Den angegebenen Hülfdmitteln if nicht nur Tange 
weilig, jontern audy für dad jpätere Zeben unbrauchbar, Da die Blinden Die dazu 
nöthigen Apparate jelbitverfiändlich nicht immer bei ſich führen fünnen. Gin 
zu häufiger Unterricht im Rechnen mit mechaniichen Hülfsmitteln verleitet Die 
Blinten auch, dem Kopfrechnen nicht Lie jo norhwendige Aufmerkſamkeit zuzu⸗ 
wenten, 

An das Rechnen ſchließi ſich Die eben fo wichtige Formlehre an. Dan 
benugt hierzu Körper aus Holz, Draht, Bley, an denen man den Kindern ben 
Würfel, die Kugel, Pyramite u, j. w. deutlich und ihnen die Entſtehung dieſer 
Körper aus Punkten, Linien und Flächen begreiflid macht. Auch läßt man 
die Körper aud Seife, Wachs und anderen leicht knet- und formbaren Stoffen 
nachbilden. Auch Dieje Art des Unterrichtes ſtößt auf Feine Schwierigkeiten 
und bietet der Beziehung auf die Erjcheinungen in der Ratur und Kunſt einen 
ergiebigen Spielraum. 

Die in neuefter Zeit mit erflaunlicher Kunftfertigfeit gearbeiteten Reliefs 
farten und Reliefgloben, die man jo vielfach auch beim Unterrichte Schender 
verwendet, bieten dem Blindenlehrer Die trefflichite Grundlage für den geo⸗ 
grapbifchen Unterricht und ermöglichen es in einer früher nicht gekann⸗ 
ten Weije, den Zöglingen die befte Anſchauung von ter Geſtalt der Erbober- 
fläche u. |. w. zu geben. Das blinde Bräulein Paradis hatte ſich Landkarten 
in der Weiſe hergeftellt, daß fle auf Zeug Die Grenzen der Länder und den Lauf 
der Fluͤſſe mit verjchiedenen Biden aufnähte, Die Stätte mit Perlen von ver» 
fhiedener Größe u. ſ. w. bezeichnete. 

In gleicher Weife wird der Unterricht in den Hauptzweigen der Ratur- 
wiſſenſchaft durch jene Eunftvollen Rachbiltungen aus Pappmaſſe unterflügt, 
Wo ed die Verhältniffe erlauben, führt man die Blinden in große Sammlungen 
audgeftopfter Thiere oder legt eine folche im Kleinen an. Manche Anftalten 
befigen jehenswertbe Sammlungen von gepreßten Thierformen. Nicht minder 
wichtig ift der Unterricht in der Phoſik, wo man in gleicher Weife den Kindern 
die Geſetze uber Wärme, Magnetismus, Electricität ü. ſ. w. beibringt. 

Der Unterricht in der Sprachlehre Hat zunächft eine tüchtige Ausbil⸗ 


Die Blinden, ihr Unterricht ıc. € 


dung in ber Mutterfprache vor Augen. Die Art des Unterrichtes unterfcheidet 
fh nur injofern von der bei Sehenden gebräuchlichen, als es hier hauptfächlich 
auf das Borlefen und einen beſonders deutlichen Vortrag in der Ausſprache an« 
kommt. Bei einzelnen Zöglingen, die eine befondere Anlage in diefer Beziehung 
an den Tag legen, Tann man zu dem Unterricht in fremden Sprachen um fo 
eher übergeben, als fle fpäter recht wohl jelbft Unterricht hierin geben und ſich 
erhalten können. Selbit Schente Fönnen von Blinden recht wohl in Sprachen 
uterrichtet werben. — Oefters ift die Behauptung audgefprochen worden, 
Blinde Hätten meift einen jchmwerfälligen Ausdruck, da viele unferer Worte auf 
Geſichtsanſchauungen berubten. Dieje Behauptung wird durch die Erfahrung 
gmügendb widerlegt, und es ift bei dem Unterricht nicht nöthig, alle Worte, die 
af Seficht8eindrüde baftrt find, zu vermeiden; der Unterricht wird dadurch wohl 
ftwerfälliger, aber nicht unfruchtbarer. 

Geſchichte kann ebenfalld nur mündlich vorgetragen werden. Zu Mes 
peitionen benugt man häufig und mit großem Nutzen Tabellen, die mit Stech⸗ 
frift Dargeftellt find. Das meift jehr gute Gedächtniß der Plinden erleichtert 
den Unterricht in der Geſchichte weientlih. Dan verfährt bier methodiſch wie 
in den Schulen, indem man von Fleineren und engeren Kreifen, dent Wohnorte, 
jun weiteren und größeren, dem Baterlande, der Erde übergeht. Beſonders 
lehrreich und empfehlendwerth ift dad Vortragen von Lebenöbefchreibungen. 

Die geringften Schwierigkeiten bereitet der NReligionsunterricht. 
Die ganzen Grundlagen deſſelben beruhen auf unfichtbaren Anfchauungen und 
And dem bildungsfähigen Blinden in gleicher Weife zugänglich zu machen, wie 
im Sehenden. Die öfterd auögeiprochenen Anflchten, die Blinden feien fühllos 
und ungläubig, find ganz irrthümliche, vielmehr haben gerade Die Kehren Der 
Religion auf Blinde den beften Einfluß. Bei den Taubftummen flößt bekannt» 
lich diefer Unterricht auf die größten Schwierigkeiten. 

Wir haben jo in furzen Zügen die wichtigften Wiflenfchaftözweige betrach- 
set, in welchen die Blinden in den für fie beftimmten Anftalten unterrichtet wers 
den ; wir kommen nun zu ber praftifchen Seite, zu ber Ausbildung in den me⸗ 
chaniſchen Fertigkeiten, die den Blinden geſchickt machen follen, ſich im fpäteren 
Leben feinen Unterhalt felbit zu verdienen. Es iſt diefe Art der Ausbildung 
eine nicht minder wichtigere und wird daher mit dem Eintritte in die Anftalt ſo⸗ 
gleich Bedacht darauf genommen, die Kleinen in dem Gebrauch der Hände zu 
üben; es find deshalb zwijchen den Unterrichtäftunden auch Arbeitäftunden in 
den Schulplan von Anfang an aufgenommen. — Die Mädchen hält man je 
nach ihrem Kräftezuftand zur Vorrichtung von häuslichen Arbeiten an, fie müſſen 
Gemliſe zupugen, die Geſchirre aufwafchen, Garn wideln, Betten machen u. ſ. w., 
man übt fie im Flechten von Schnüren, Bändern, Stroh. Die Knaben läßt 
man raſpeln, feilen, fchnigen, hämmern u. ſ. w., ohne daß dadurch im Anfang 
ein beftimmtes Ziel verfolgt wird; allein der Gebrauch der Hände und Inftru- 
mente ift e8, in dem man die Zöglinge übt und diefe Uebung Fonınıt fpäter treffe 
li zu Ratten. 

Was von der wiffenjchaftlichen Ausbildung des Blinden bemerkt wurde, 

V. 4 


50 Mãdagogik. 


gilt auch von ber techniſchen; die Anſtalt iR nur bei den Befaͤhigteren im 
Stande, etwas Außerordentlicheg zu erreichen, bei vielen ift die Stufe, die fie auch 
in diefer Hinftcht erlangen, nur die der Mittelmäpigkeit, und einzelue bringen 
es nur zu den allexeinfachfken Bertigkeiten. Bei der Wahl des Gewerbes, das man 
einen Blinden lernen laſſen will, muß man jebed Mal alle diejenigen Gewerbs⸗ 
zweige ausfchließen, die der Blinde feined Zuftandes halber nicht ohne große 
Gefahr erlernen kann. Es find deshalb 3.8. alle Beuerarbeiten von dem Blin- 
denunterrichte auszufchliegen, Weiter oben hat man die Anlagen und Faͤhig⸗ 
feiten des Zöglings bei der Wahl des Berufes zu berüdfichtigen. Einzelne 
Blinde bringen es zu einer erftaunlichen Yertigfeit, wie die großen Induſtrie⸗ 
ausftellungen der neueren Zeit zeigten, unter denen audgezeichnete Arbeiten 
Blinder fich befanden. 

Die Gewerbe, in denen man die Blinden unterrichtet, find theils foldye, 
bie von diefen ganz allein betrieben werden Tönnen, theils ſolche, zu 
deren Ausübung fle gleichzeitig mehr oder weniger der Hülfe Sehender ber 
dürfen. 

Zu den erfteren Arbeitäzweigen gehört das Striden, entweder mit fünf, 
oder mit drei Nadeln, dad Striden von Regen, das Spinnen, entweder an einer 
gewöhnlichen oder für Blinde befonderd zweckmaͤßig eingerichteten Spindel. 
Auch Rähen, wenn fchon in bejchränfter Weife lernen die Blinden. Weiter 
lernen fie dad Verfertigen von Branjen, Schnüren, das Flechten von Tuch, na⸗ 
mentlich auch von Stroh, Schilf, indiihem Rohr, von Weidenruthen. Auch 
bie einfacheren Pofamentiererarbeiten verrichten Blinde ganz wohl, wenn ſchon 
fie wegen der Schwierigfeit,, die ihnen das Aufziehen der Kette verurfackt, mit 
jebenden Arbeitern fich nicht meflen können. Cine fehr beliebte Arbeit für 
Blinde find die Papparbeiten, Die in ihren mannigfaltigen Formen hinreichend 
Gelegenheit zur Beichäftigung gewähren. In Bezug auf die Handwerke im 
engeren Sinne unterweift man die Blinden in den Schuhmacherarbeiten, in der 
Seilerei, im Tiſchlern, Drechſeln, im Binden der Bürften, im Flechten von 
Drahtgeweben u, ſ. w. Der Unterricht in diefen Arbeiten wird meift mit Hülfe 
von Meiftern der einzelnen Handwerke getrieben und die Blinden bringen es faR 
ſtets fo weit, daß fie gleich einem Sehenden brauchbare Arbeit liefern. 

Meber die Art und Weiſe diefed Unterrichts können wir uns bier im Gin« 
zelnen nicht ausbreiten, fondern bemerken nur im Allgemeinen, daß diejer Theil 
des Unterrichtö ber ſchwierigſte ift, bie meifte Geduld und das größte Nachden« 
fen erfordert. Da Blinde nicht, wie bei Sehenden der Ball, Die Arbeit und die 
einzelnen dabei flattfindenden Handgriffe von ihrem Lehrherrn abjehen können, 
fo müffen fie in jeder einzelnen Berrichtung methodifch unteriwiefen und jeder 
Handgriff, jedes Werkzeug, defien Bedeutung und Gebrauch, das Rohmaterial 
in feiner verfchiedenen Veränderung, die es bis zur vollendeten Arbeit durch- 
macht, dem Blinden einzeln und in einer zwecdmäßigen Ordnung vor⸗ 
gezeigt werden. Zweckmaͤßig ift eö, wenn ber Blinde mit der Hand auf den 
Händen ded fehenden Arbeiters Liegt und deſſen Bewegungen folgt. In vielen 
Fällen Hat man eigene Infirumente für ben Gebrauch Blinder erbacht; viele In« 


Die Blinden, ige Meterricht ıc. 51 


frumente jedoch find die nämlichen,, wie die, weiche Sehende gebrauchen. — In 
manchen Staaten befteht die fehr zweckmaͤßige Einrichtung, daß Handwerksmeiſter, 
welche blinde Lehrlinge aufnehmen, eine Gratification befommen, vorausgeſetzt, 
daß fie den Lehrling tüchtig ausgebildet und gut behandelt haben. — Wer Blin- 
denanſtalten Gefucht, wird in den wmeiften einen kleinen Vorrath von Arbeiten 
faden, welche blinde Rinder der Anſtalt verfertigt haben und die durch Zierlich- 
kit, wie Sauberkeit der Ausführung bei einem billigen Preiſe ſich vortheilhaft 
anzeichnen. 

Aber auch Erheiterung und Vergnügen kann man Blinden gewähren, in⸗ 
tem man fle in einzelnen Spielen unterrichtet. So im Domino, wo man bie - 
Steine berandfchneibet, daß die Punkte erhöht fliehen. Auch Damenziehen lernen 
Blinde leicht; man bedient ſich dazu eines Bretes mit abwechfelnd hoben und 
tiefen Feldern, die Steine erhalten Löcher und Plöde zum Aufdamen. Richt 
ninder kann man mit blinden Schach fpielen, indem man die Figuren kenntlich 
macht. Huch im Kegel- und KRartenfpiele, letzteres mit eigenthümlichen Bezeich- 
nungen für die Karben und für den Werth, finden Blinde eine angemeflene 
uud liebe Erheiterung und Zerftreuung. 

Einen Zweig des Unterrichts haben wir bisher abftchtlich nicht erwähnt, 
um denjelben jegt etwas ausführlicher zu betrachten, wir meinen den Untere 
riht in der Kunſt. Es verſteht fich von felbft, daß man neben der Bil⸗ 
dung für das Wahre, Bute und Zweckmaͤßige, auch den Sinn für das Schöne 
zu wecken fucht. Die Freude am Schönen ift bei den Blinden auf das Gehör, 
alſo auf einen gefühlvollen Vortrag, auf Wohllaut der Rede und vor allem auf 
die Freude an der Muſik befchräntt. 

Man hat fich in neuerer Zeit ziemlich einftimmig gegen die vorzugsweiſe 
Ausbildung der Blinden in der Muſik ausgefprochen. Und gewiß mit Recht! 
Es iſt gar nicht zu leugnen, daß einzelne Blinde, wie da8 mehrfach erwähnte 
dräulein Paradise, dann die Kirchgehner, ferner Dülon u. ſ. w. es zu einer 
großen, allgemeinen Anerkennung findenden Kunftfertigfeit gebracht und ſich mit 
Sülfe ihrer Kunſt anfländig genährt haben. Dies find aber eben nur Ausnah⸗ 
mn. Die meiften Blinden haben zwar gute Anlagen für Muſik und werden im 
kernen durch ihr meiſt fehr geübtes Gehör unterflügt, wobei man ſich jedoch 
daran zu erinnern bat, daf ein ſcharfes Gehör nicht immer auch ein muſikaliſch 
gutes iſt, trotzdem erheben fich ihre Leiſtungen kaum über ein befcheidened Maaß, 
wie man an den einzelnen berumreifenden Künftlern bald inne wird, und dad 
Bablitum tft daher von vornherein des Glaubens, mehr aus Mitleid, als in 
Creartung eines KRunftgenuffes dem blinden Künfller Gehör zu fchenfen. Das 
Seramyiehen an öffentlichen Orten, wie ein ſolches nothwentig mit der Aus⸗ 
übung der Muſik verfnüpft ift, untergräbt meift ſchnell das fittliche Gefühl und 
diefe Leute gewöhnen fich fo leicht einen Hang zum Herumflreichen und zum 
Trinken an, der auf andere Blinde ein ungünftiges Licht wirft. Ueberdem be= 
darf ein blinder veifender Künftler eines ſehenden Kührers, der dadurch zum 
Aichtothun verleitet, ja gezwungen ift. 

Was wir hier gefagt, hat nur auf das Lernen ber Mufll zum Zwecke des 

4* 


52 Pübagogik. 


ausſchließlichen Erwerbes Bezug. Daß ein tüchtiger Muſtkunterricht bei den 
Blinden nicht fehlen darf, verſteht ſich bei der Wichtigkeit des Muſikunterrichts 
und ſeinem großen Einfluſſe auf Veredelung des Geiſtes und Gemuͤthes von 
ſelbſt, abgeſehen davon, daß die Muſik dem blinden Schüler eine Erheiterung 
in feiner fo troftlofen Lage gewährt. Die Hauptgrundlage für den Muſikunter⸗ 
richt bildet dev Gefang. Man bedient fich Hierzu, wie überhaupt zum Linterricht 
in der Muſik erhaben gedrudter Roten oder folcher, die mit durchflochener 
Schrift gebildet find. Schon die Paradis Hatte fich koſtbarer Hülfsmittel zum 
Notenfegen erdacht und in Gebrauch. Naͤchſt dem Gefange ift das Pianoforte 
und die Orgel am beften zur Ausbildung für Blinde geeignet. Der Unterricht 
auf anderen Inftrumenten ift natürlich nicht ausgeſchloſſen, fleht jedoch ben bis⸗ 
ber genannten an Bedeutung nach. Bemerkt man an einem Zöglinge befondere 
Fähigkeiten für Muſik, fo wird der Lehrer, dem dies bei ber nahen Berührung, 
in welcher er ununterbrochen mit feinen Schülern ſteht, nicht verborgen bleiben 
kann, diefe Anlagen befonders auszubilden, Gelegenheit nehmen und fo einzelne 
tüchtige Kräfte fo weit bilden, daß ſie Durch Die Muſik allein fich anftändig zu er⸗ 
nähren vermögen. So find aus dem Parifer Inflitute nach und nach 30 Zög⸗ 
linge hervorgegangen, die Organiftenftellen befleideten und ihrem Amte in jeder 
Beziehung gehörig vorflanden. Ebenſo waren im Jahre 1820 in Amfterbam 
die Organiften an den vier Sauptfirchen Blinde. Auch aus der Berliner An⸗ 
ftalt gingen einige tüchtige Muſiker hervor. Mit einem vierftimmigen Poſau⸗ 
nenchor Teitete Zeune, ber verdienftvolle Director der Berliner Anſtalt, waͤh⸗ 
rend eines Orgelbaues den Kirchengefang. 

Auch in Sefellfchaften, einzelnen gefelligen Brivatkreifen Eönnen blinde 
Mufiker recht wohl benugt werden und an Sonntagen bei anderen Muſik⸗ 
hören mit thätig fein, um einen Fleinen Rebenverbienft zu erzielen. Nur gegen 
das gewerbmäßige Treiben der Muſik, welches im Grunde genommen, nichte 
weiter als eine verblümte Bettelei ift, muß man ſich entfchieden ausfprechen und 
dies nach Möglichfeit zu verhindern fuchen. — Selbft Blinde, die von Ratur 
fein gute& muſikaliſches Gehör haben, bilden und verfeinern daſſelbe bei einer 
zwertmäßigen Behandlung und fleißigen Uebung ſehr; man darf daher auch ſolche 
von dem Unterrichte in der Muſik nicht ausſchließen. Da die meiften Blinden 
nach dem Gehör fpielen, fo verfallen fie leicht in eine allzugroße Schnelligkeit, 
fie fliegen über ein Stüd Bin; aus diefem Grunde muß man von Anfang an, auf 
ein ſtrenges Innebalten des Tactes bedacht fein. — In den meiften Blindenan«e 
ftalten werden alljährlich an gewiflen Tagen, fo zu Ehren des Geburtstages des 
Königs, zu Ehren des Stifter& oder eines Wohlihäter8 größere muflkalifche Pro« 
ductionen der blinden Zöglinge veranftaltet, bei denen dem Publikum Gelegen⸗ 
heit geboten ift, fih von den Bortfchritten der Zöglinge überzeugen zu 
fönnen. 

Sobald der Zwed der Anftalt von den blinden Zöglinge erreicht, d. h. ſo⸗ 
bald derfelbe eine feinen Bähigkeiten und Anlagen entfprechende Ausbildung er⸗ 
langt hat, wird berfelbe aus der Anftalt entlaffen, um neuen Zöglingen Plag 
zu machen. Der Blinde tritt ſodann felbfifländig in das Leben ein und es 


Die Blinden, ihr Unterricht ꝛc. 53 


erübrigt und Hier, noch einige Blicke auf die gefammte bürgerliche Stellung der 
uns beichäftigenden Unglücklichen zu werfen. 

Thatfache, eine fehr betrübente Thatfache ift e8, daß viele der in den An⸗ 
falten unterrichteten Blinden, nach ber Ruͤckkehr in die Heimath, die erlangten 
Fertigkeiten brach Liegen Iafien und fich dem Betteln bingeben. Andererſeits ift 
nicht zu läugnen, daß auch fähige, gut unterrichtete und fleißige Blinde nur ganz 
ausnahmsweiſe im Stande find, flch durch ihrer Hände Arbeit vollfländig zu 
erhalten. Man darf dabei nur daran denfen, daß eine fleißige Striderin, wenn 
fe unausgeſetzt Arbeit hat, jährlich Faum mehr als zwanzig bis fünfundzwanzig 
Thaler verdient und ein blinder Seiler, eines der beften und einträglichften 
handwerke für Blinde ed doch nur auf einen Wochenlohn von 2 Thalern zu 
bringen vermag, wobei er jedoch ein ausgezeichneter und fehr fleißiger Arbeiter 
fin muß. Diefem Uebelftande abzuhelfen, ift man, da die meiften Blinden der 
irmeren Glaffe angehören und ohne alles Vermögen find, fchon lange bemüht 
geweſen. Meiſt beginnen die Blinden fchon in den Anftalten, wenn fte fleißig 
find, fich aus dem Erlös ihrer Arbeiten, von deren Ertrag ihnen ein Theil gut 
gefchrieben wird, fich einen Fleinen Fond anzufanımeln, der von Seiten der An⸗ 
Raltsdirection verwaltet, ihnen beim Audtritte entweder eingehändigt ober beffer 
anf Anfchaffung der nöthigen Werkzeuge zum Betreiben ihres Gewerbed oder 
fonfligee unumgänglicher Lebensbebürfniffe verwendet wird. Wenn hiermit 
auch nicht viel, fo wird Doch immer etwas erreicht. 

Man Hat fi) nun auch bemühet, eigene Beichäftigungsanftalten für Blinde 
zu errichten, in welche die aus den Erziehungsanftalten entlaffenen Zöglinge 
verfegt werden. Sie erhalten hier freie Verpflegung und einen Theil ihres Ver⸗ 
dienſtes, deflen anderer Theil zur Erhaltung der Anftalt verwendet wird. Die 
Schattenjeiten einer derartigen Anflalt liegen am Tage. Es kann dieſelbe ohne 
tinen großen Fond zu ihrer Erhaltung zu befigen, auf Die Dauer nicht beflehen, 
da die Arbeit der Blinden nicht, wie fchon angedeutet, den Koftenaufwand zu 
besten vermag. Anftalten find an fich fchon durch den nothwendig damit ver⸗ 
näpfıen Berwaltungsaufwand theurer. Alle Blinde in folche Anftalten aufzu⸗ 
nehmen, geht ſchwerlich, man wird aljo auf die beften und moralifch tüchtigften 
Arbeiter fich vorzüglich befchränfen, und die unfähigeren, die gerade am meiften 
der Unterftügung beburften, fallen den Gemeinden und der Verarmung anheim. 
Ueberdem iſt nicht ein jeder Blinde gewillt, in einer Anftali feine ganze Lebens» 
zeit zu verbringen, da bekanntlich dad Leben in einer Anftalt jedem Bewohner 
gewiſſe, nothwendige Beichränfungen auferlegt und auch der möglichft freien 
Entwidelung der Individualität manche Hindernifje entgegen fliehen. Wo der- 
artige Anftalten beftehen oder eingerichtet werden können, find diefelben ein fehr 
ihägenswerthes Unterflügungsmittel dev Verſorgung Blinder, aber ausreichend 
tönnen fie auf feinen Ball fein. 

Für arme, arbeitsunfähige oder jonft ſchwerkranke und alte Blinde gibt es 
noch eigene Berforgungsanftalten ; fie unterfcheiden ſich in nichts von den ge⸗ 
wöhnlichen dieſen Zwecken dienenden Verforgungsanftalten. 

In Sachfen ift durch die unermübliche und fehr erfolgreiche Thaͤtigkeit des 


54 RPadagogik. 

wackeren Georgi, derzeitigen Directors der Dresdener Blindenanſtalt, ein ande⸗ 
rer Weg zur Verſorgung Blinder nach der Entlaſſung aus der Anſtalt vorge⸗ 
ſchlagen worden; ein Weg, der in jeder Hinſicht der empfehlenswerthe und beſte 
zu fein feheint und in nicht allzuferner Zeit zur vollftändigen Verforgung ber 
Blinden in der geeignetften Weife führen wird. Georgi hat naͤmlich bei der 
Anftalt, an der er wirkt, in der uneigennügigften Weife und mit einem glüd- 
lichen, geichäftlichen Tacte einen Unterftügungsfond für aus der Anftalt ehren- 
voll Entlaflene begründet, der fchon jegt zu einer beträchtlichen Höhe gediehen 
ift und unter der väterlichen Obbhut feined Gründers fich des beften Wachs⸗ 
thumß erfreut. Aus diefem Bond enthalten nur die einzelnen, einer Unter 
ftügung bedürftigen Blinden eine verfchieden hohe Beihülfe ausgezahlt, Die jedoch 
eben nur eine Beihülfe fein foll; die Blinden müſſen, dabei um leben zu können, 
auch noch arbeiten und das follen fie auch. In der Megel findet ſich in der un⸗ 
mittelbaren Umgebung der Blinden ein zuwerläfftger, bereitwilliger Mann, Geiſt⸗ 
licher, Lehrer u. f. w., der den Blinden unter feine Obhut nimmt, fein Beftes 
wahrt, die Beldbeträge außzahlt, in Krantheitöfällen Mittheilungen macht u. ſ. w., 
fo daß der Blinde auch nad) feiner Entlaſſung immer noch mit der Anfalt in 
einem gewiſſen Zufammenhange fleht. Auf feinen fpeciell gu dieſem Zwecke 
jaͤhrlich unternommenen Meifen zieht der Director unmittelbare Etfundigungen 
ein. Dieſes Verfahren vereinigt alle VBortheile in ſich; es gelangt der Blinde 
zu einer gewiſſen, ziemlich bedeutenden Selbftftändigfeit, bewegt ſich unter feinen 
Mitbürgern ganz ebenbürtig, das Beichämende und in gewifler Hinficht immer 
Niederdrückende einer öffentlichen Unterflügung wird ihm erfpart, fein fittliche® 
Wohl feitens feiner Pfleger und Erzieher innerhalb der von den Verbältniffen 
gezogenen Grenzen wahrgenommen, ohne den Einzelnen in irgend einer Weiſe 
zu befchränfen, wie dies in den Beichäftigungsanftalten der Fall, die überdem 
allen mit dem Babrifbetriebe verbundenen Nachtheilen in gleicher Weile ausge⸗ 
fegt find. — Erreicht ein Blinder ein hohes Alter und nehmen feine Kräfte ab, 
fo hat er vor allen Anderen, um fo mehr, wenn er Zeit ſeines Lebens thätig 
und rechtichaffen geweien, darauf Anſpruch in einer Berforganftalt den Neft 
ſeines Lebens zu beichließen. 

Die Brage, ob Blinde heirathen follen, ift einfach bejahend zu beantwor- 
ten. Die Sorge, es möchten aus einer jolchen Ehe wiederum blinde Kinder 
hervorgehen, ift Durch die Erfahrung genugfam widerlegt. Ein blinder Mann, 
der im feinem Fache geſchickt ift, wird durch die Hülfe einer fehenden Frau in 
räftigfter Weife unterftügt werben und ſich ganz wohl mit feiner Familie ernäh- 
ren Eönnen. Yür Blinde weiblichen Geſchlechts find die Verbältniffe meift un⸗ 
günftiger, obſchon auch dieſe in einer Ehe nüglich und förderlich find, meift 
fehlt es jedoch an Gelegenheit fich zu verheirathen, während ein blinder Mann 
viel eher eine fehende Frau erhält. Chen zwifchen zwei Blinden find wegen der 
bülflofen Zage leider ganz unzwedmäßig. 

In rechtlicher Hinficht ſtehen gut erzogene und geiftige gefunde Blinde dem 
Sehenden vollfommen gleich, wenn fie auch manche Handlungen nad) der Natur 
ihres Fehlersd nicht vornehmen können. Auch in Beziehung auf die Zurechnungs⸗ 


Die Blinden, ihre Unterricht ꝛc. 55 


fähigkeit bei begangenen verhrecherifchen Handlungen genießen Blinde, wenn fie 
nicht vollſtaͤndig verwahrloft oder gfeichzeitig geiftesfchwach find, Feines Vorzu⸗ 
96; für jolche Handlungen jedoch, die fe in Folge ihres Gebrechens nicht ver⸗ 
meiden fonnten, Fönnen fle natürlich nicht verantwortlich gemacht werben. 

Werfen wir zum Schluffe einen Blick rüdwärts auf das, was bisher zum 
Sehen der Blinden gefchehen, fo müflen wir mit Hochachtung und Bewundes 
rung auf das in fo Eurzer Zeit Geleiſtete blicken und den Männern, die mit jo 
großer Uneigennüßigfeit aus Liebe zu den Ungluͤcklichen fich des ſchweren und 
mübenollen Berufed ihrer Erziehung in ſo erfolgreicher Weile gewidmet haben, 
unfere dankbate Ancerkenaung ſchenken, zugleich den Wohlthaͤtigkeitsſinn aller 
derer preiſen, die in anderer, nicht minder kraͤftiger Weiſe, das humane Stres 
ken lügten und fördern. Gin Blick in die Zukunft läßt und nur Erfreuliches 
ſchen; bleiben auch noch viele und ſchwete Aufgaben zu erreichen, bi8 allen Blin- 
ven eine geficherte Stellung gewährt werden fann, fo find wir doch auf dem 
beſten Wege dieſes Ziel zu erreichen und was biöher erlangt wurde, enthält zu⸗ 
gleich Die Garantien für die Zukunft in ſich. 


- Die Kometen 
und ihr Verhaͤltniß zum Sonneniuftem. 


Don 
Dr. Go W. Scharlan in Stettin. 





Bevor das vorſtehende Verhaͤltniß beſprochen werden kann, muͤſſen Erörterungen 
ſtattfinden, welche ſich beziehen auf das Verhaͤltniß der Planeten zur Sonne, des 
Sonnenſyſtems, dem die Erde angehört, zu den übrigen Welten, der Entſtehungs⸗ 
weiſe der Sonnenſyſteme, ihrer Form, der Urſachen, weldye Die Bewegung der Planes 
ten um die Sonne, in der Bahn einer Ellipfe, d. h. einer fi der Eiform mehr- 
oder weniger annähernden Bahn bewirken. Durch die Ergebniffe der phyſikali⸗ 
ichen Forfchung ergibt ſich, daß eine fchnell umſchwingende Kugel von weicher, 
oder flüfftger, oder gadförmiger Beichaffenheit , nicht eine Kugel bleibt, fondern 
eine Kine wird, dadurch, daß ein großer Theil der Maſſe, von den Polen der 
Kugel nach der Michtung einer Ebene Hingefchleudert wird, welche mit der Lim- 
drehungsachſe der Kugel einen rechten Winfel bildet. Da nun aber die Um⸗ 
lagerung der Maſſe von den Polen nach der Richtung der Ebene gleichzeitig er. 
folgt, jo muß die größte Menge an der Stelle angehäuft fein, welche in der 
Mitte zwijchen beiden Polen, in Umfange der veränderten Kugel liegt. Diefe 
Gegend nennt man den Gleicher, Aequator, 

Je Teichter beweglich die Mafje der Kugel und je größer die Umſchwungs⸗ 
geichwindigfeit, defto flacher wird die ſich bildende Linfe, deſto größer der Um⸗ 
fang und defto Eleiner der Pol⸗Durchmeſſer. 

Es ftellt Hier die Richtung a. b die 
Umdrehungsachfe, d. e den Gleicher der 
Kugel dar, die punttirten Linien die Ver⸗ 
fürzung der polaren Durchmefjer und bie 
Vergrößerung des Gleichen Durchmeflers. 
Im Verhältnig der Maſſe findet die Ver⸗ 
größerung des einen Durchmeflerd auf 
Koften des anderen Statt. 

Aus vielfältigen Beobachtungen und 
unabweisbaren Schlupfolgen weiß man, daß unfer Sonnenſyſtem eine Linſen⸗ 
form hat und Daß es nur ein Fleines Einfchiebfel in das Weltall darftellt,; wir 





Die Kometen und das. Sonnenfyftem. 57 


find berechtigt anzunehmen, daß unfere Sonne, von einem anderen Firftern 
(Sonne) aus betrachtet, nur als ein Fleiner Stern ericheinen würde. Diele 
Beweife, welche bier nicht erörtert werben Tonnen, fprechen dafür, daß bie 
Velten nicht fo au8 der Hand der Schöpfung entrollt find, wie wir fic jegt 
ſehen, ſondern daß fie ſich erft aus dem erften Produkt der Schöpfung, dem Ur« 
Roff in atomiftijcher Form, durch gegenfeitige Anziehung ber Stofftheilchen 
(Atome) gebildet und dann erft die Achfendrehung erlangt haben. Die werdenden 
Velten und Sonnenfyfteme, die Nebelflede, Rebelringe, Nebelfterne , die Ko« 
neten, die Trabanten unferer Blaneten, die Ringe des Saturns, die von ber 
Sonne an abnehmende Eigenfchwere unferer Planeten und ihre zunehmende 
Größe, die Umwandlung, welche unfere Erde felbft im Berlaufe von Millionen 
von Jahren erlitten bat, die Eintwidelung ber Geſchöpfe der Erde nad) bes 
fimmten Gefegen, geben uns die unabweisbaren Veweiſe für die obige Annahme. 
Bir kennen als fernſten Planeten den Neptun; er iſt 744 Millionen Meilen 
von der Sonne entfernt. Cine Kugel, deren Halbmeſſer von der Sonne alſo 
dieſe Entfernung bat, würde einen Durchmeſſer pon 1488 Millionen Meilen 
hallen. — Diefe Entfernungen erfcheinen und ungeheuer, da wir immer den 
Naaßſtab unferer Körpergröße und der Entfernungen auf der Erde anlegen. — 
Das Ungeheure ber Entfernungen mäßigt fi} aber, wenn wir die Größe ber 
Reltkarper und die Beichwindigfeit ihrer Bewegung in Betracht ziehen. Rechnen 
wir den Durchmeſſer ber Erbe zu 1700 Meilen, fo beträgt die Entfernung ber 
Erde von der Sonne nur 11764 Erd⸗Durchmeſſer. 

Wenn aller Stoff in der Lirform als Gas vorhanden war, wie die heute 
sicht mehr bezweifelt werden Fann, — denn der zurüdbleibende Stoff, nady der 
Ausigeidung der Weltkörper aus der Urmaſſe, ift heute noch als Gas vor« 
handen (Atmosphäre, Aether) und faft alle feften, metallifhen Körper Fönnen 
in a8 verwandelt werden , und wenn, wie ed fpäter bewieſen werben foll, die 
Eonne mit ihren Planeten in der Urzeit der Körperbildung, einen großen Gas⸗ 
ball bildete, der aus ber Urmaſſe durch gegenfeitige Anziehung um einen ſich 
bildenden Anziehungspunft abgejchleden wurde, — fo mußte diefer, wenn Neptun 
ber fernſte Planet unferes Syſtems ift, einen Durchmefler von 869411 Erd⸗ 
Durchmeſſern haben. — Rechnet man den Durchmeffer der Sonne zu 190000 
Briten, fo ift alfo der Neptun um 7835 Eonnendurchmeifer von der Sonne 
satfernt. 

Wenn ein ſolcher Gasball ſich in der Achfendrehung befand, fo mußte fich 
an dem äußeriten Rande ber fich nach dem früher angeführten Gejeße bildenden 
Linfe eine ſolche Geſchwindigkeit erzeugen, daß die Anziehungsmächtigfeit des 
Bittelpunftes dieſes Gasballs, nämlich ded Mittelpunftes unjerer Sonne, nicht 
binreichte, der Schwungbewegung dad Gleichgewicht zu halten. Es mußte alfo 
eine Ärennung der umſchwingenden Maffe an dem limfange erfolgen, welcher 
Vorgang bei der gasfürmigen Beichaffenheit des ganzen Balld feine Schwierig« 
keiten hatte. Daß ſolche Orts⸗Veraͤnderungen der Mafle und folche Umände- 
sungen des Mittelpuntiftrebend der Maſſe durch die Fall⸗ und Gentrifugalbes 
wegung mit Leichtigkeit bewirkt wird, zeigt mit unumftößlicher Gewißheit, bie 


58 — Afronomie. 


Form⸗Veraͤnderung ber Kometen in der Sonnennähe, und die dadurch bewirkte 
Umwandlung einer Kugel in einen Ianggeftrediten Kegel von gefrummter Form, 
zeigt die Theilung des Kometen von Biela am 14. Febr. 1846. Die Trennung 
der an dem Außerften Umfang der Linfe befindlichen Maſſe konnte nun entweder 
in der Korm eines Ringes gejchehen, und es zeigte fih dann die Form der Kör⸗ 
perbildung, welche wir heute noch am Ring des Saturn oder im Rebelfleck der 
Andromeda beobachten, oder aber der Wing zerriß und mußte, da nach ber 
Trennung deſſelben vom Mutterkörper ein beirächtliches Zurückweichen des jet 
äußerfter Umfang gewordenen Theild der Linfe, wegen der Verſtaͤrkung ber 
Mittelpunfts-Anziehung eintreten, ſich felbftftändig aufrollen und nach dem An⸗ 
ziehungdgefeg, eine Kugel bilden. Die Achjendrehung der Kugel und die Fort⸗ 
bewegung berfelben in ber Richtung, in welcher fich bie Maſſe früher um ben 
Mittelpunkt bewegte, war die unausbleibliche Folge des Geſetzes, daß ein 
Körper fo lange in der ihm mitgetheilten Bewegung verharrt, bis eine andere 
Bewegung die erftere hemmt. Es folgt daraus, daß die Nichtung der Bes 
wegung des erſten abgetrennten Planeten, die des ganzen Gasballes, nämlich 
von Weften nad) Oſten bleiben mußte, und daß die Ebene in welcher diefe Be - 


wegung zu erfolgen bat, gleich einer, durch den Aequator des umſchwingenden 
Mutterkörpers gelegten ſein mußte. 


Es iſt hier der ab⸗ 
getrennte Ring e, #8, 
gs, hum den Mut—⸗ 
terförper a, b, c, d 
Ichwingend gedacht; die 
Michtung der Ebene gebt 
durch den Gleicher bes 
Gasballs. 


Westen. 





In der dritten Abbildung ſtellt 

die Richtung a, b die der Umdre⸗ 

un hungd-Achfe und c, d den Gleicher 

oder Aequator dar. Die mit r bes 

zeichneten Kreife bezeichnen den durch⸗ 

gefchnittenen, zuerſt abgetrennten ing. 

Der, zu einem felbftftändigen Körper aufgerollte Ring, umjchwingend um feine 
Ach ſe, machte einen gleichen Entwidelungsgang durch und die erfte Trennung 
der zu äußert gelegenen Maſſe bildete Monde oder Ringe. Die Zahl der Monde 
und Ringe mußte um fo größer fein, je ferner von dem Mittelpunkte der Planet 
ſich befand, je größer fein Umfang und je gejchwinder fein Umfchwung von 
Statten ging. Wenn unfere Erde ihren Umfchwung in 24 Stunden, dagegen 
Iupiter denfelben Akt in 9 Stunden 55 Minuten und Saturn in 10 Stunden 
29 Minuten vollendet, fo ift mit Berüdfichtigung der größeren Maffe beider, 
in Bezug zur Waffe der Erde; und ber größeren Entfernung von der Sonne, 
Durch welche ſchon eine Verminderung der Fallgeſchwindigkeit zur Sonne hin, 


Die Kometen und dad Sonnenſyſtem. 59 


bedingt iſt, die Umfchwungsgeichwindigkeit des Jupiter und Saturn bedeutend 
größer als die der Erde. Der Grund diefer Ericheinung hängt genau mir ber 
abnehmenden, peripherifchen Gejchwindigkeit zufammen, welche mit der Ver 
Neinerung des Gasballs eintreten mußte. Die acht Monde des Saturn und - 
feine drei Ringe zeigen daſſelbe Syſtem der Entwidelung, wie ed bei dem Some 
nenſyſtem beobachtet wird; die Ringe liegen dem Hauptball zunächft, alfo inner 
halb der dem Balle zunächfi liegenden Mondbahn. 

Als Die Abtrennung des erften Ringes erfolgt war, trat das gleiche Ver⸗ 
haltniß wieder ein; eine weitere Abplattung des Urballs erfolgte, um bie durch 
Ve Abtrennung ded Auferften Theils der Linfe in der Gegend des Gleichers er⸗ 
felgte Abſtumpfung des zurüdbleibenden Gasballs wieder auszugleichen, und 
eine neue Abtrennung mußte wieder die Folge jein. Im diefer Weiſe ift bie 
Bildung der Planeten und bei diefen wieder die Bildung der Monde und Ringe 
zu denten. 

Da das Mittelpunftöbeftreben die Atome nach dem Mittelpunkt drängt, 
Ve Unſchwungsbewegung den Atomen ihre Richtung nach der Peripherie und 
verzugöweiie nach der Ebene des Gleichers der Kugel oder Linje anweift, io 
mäßte überall in der Gaskugel eine gleiche Dichtigkeit fein, wenn nicht zur Ver⸗ 
mittelung der Körperbildung das Mittelpunftöftreben vorwaltend wäre. Das 
Ergebnig dieſes Verhaͤltniſſes ift eine zunehmende Dichtigfeit der Maſſe, von 
em Umfange nach dem Mittelpunkte bin; dieſe Dichtigfeit nimmt nicht gleiche 
wißig, jondern im Berhältmiß des Quadrats zu. Die notwendige Folge dieſes 
Berganges ift für die abgetrennten Ringe in die aus ihnen gebildeten Körper 
diejenige, Daß diefelben um jo weniger Dicht find, je ferner fie von der Sonne 
Degen. Diefe Schlußfolge hat fidy denn auch als wahr bewiefen, und während 

der Mercur, als der nächfle Planet der Sonne, um */s dichter iſt als die Erde 
iR der Jupiter nur °/a, ber Saturn nur !/ı fo Dicht, als dieſe. Man hat die 
Dichtigkeit der Sonne auf "/a der der Erde berechnet; dieſes Ergebniß ift nur 
dadurch zu erklären, daß die Hülle der Sonne, welche ein dunkler Körper ift, 
sasförmig iſt und dag man nur die mittlere Dichtigkeit der Hülle und des Kerns 
«ld Dichtigkeits⸗Maaß beider Hat annehmen können. Es iſt wahrfcheinlich, da 
auch von der Sonnenhülle noch einmal ein oder mehrere Blaneten ſich abtrennen 
werden, wenigftend laſſen die Riffe und Löcher in der leuchtenden Sonnenhülle, 
De fogenannten Sonnenflede und die faltige und gerunzelte Befchaffenheit ber 
Gonaenbülle dies vermuthen, um fo mehr, ba die Abtrennung ber bis jeßt bes 
kaunten Plautten biefe Bermuthung unterflügen und daß dann die Dichtigfeit 
der Sonne größer, als die des Mercur gefunden werden muß und wird. | 

Das bisher Geſagte war nothwendig, um feftzuftelln: 1) alle Planeten 
der Sonne Liegen mit dem ®leicher in einer Ebene. Diefe nennt man bie 
ECliptit a, c. 


Fig. 4. 





60 Aſtronomie. 


In dem beigegebenen Schema konnten weder die Brößen-, noch Entfer⸗ 
nungs⸗Verhaͤltnifſſe entſprechend angegeben werben, da es jedoch nur zur Ver⸗ 
finnlicyung ber Lage dienen foll, jo genügt diefe Darftellung. 

Der Sonne zunähft 1) liegt der Mercur, dann 2) folgt die Benus, 3) bie 
Erde mit ihrem Monde; zwifchen 4) dem Mars und 5) dem Jupiter liegen funfjig 
Heine Blaneten, welche aus einem Zerreigen ded Ringes in viele Theile ihr 
Entftehen gefunden haben. Ihre Bahn bildet zum Eleinjten Theile mit ber 
Ebene der übrigen Planeten einen merklihen Winkel. Dieje Erjcheinung darf 
aber nicht befremden, da ſchon bei dem Entflehen der großen Zahl von Pla- 
neten aus einem Ringe, eine Uinregelmäpigfeit eintrat, außerdem aber eine 
Ablenkung der kleinen Körper durch größere Weltkörper jehr leicht eintreten 
fonnte und mußte. Aus der Mächtigfeit der Schwungbewegung des zerreißenden 
Ringes ift auch die große Ercentricität der Bahnen dieſer Fleinen Planeten zu 
erklären. Dan hat die Bildung diejer Planetoiden aus dem Zerfpringen eines 
großen Planeten, der feine Stellung zwiichen Mars und Jupiter gehabt haben 
fol, möglich gedacht, allein abgefehen davon, daß ein Zeripringen zu den Un⸗ 
möglidskeiten gehören möchte, ba dies aber nur möglich ift, wenn ein gasfär- 
miger Körper von einer feflen Rinde, aljo von einem dichteren Körper um⸗ 
ſchloſſen ift, und da die Verdichtung des Planeten im Mittelpunfte am größten 
ift, die gasförmigen Körper aber nad) Außen liegen, jo würde, felbft wenn ein 
Berjpringen flattgefunden hätte, Die Vereinigung der Stüde durch Maflen-An- 
ziehung fogleich wieder erfolgt jein. 

Bei dem Jupiter jehen wir 4 Monde, welche gleichfalld mit dem Gleicher deb- 
felben in einer Ebene liegen ; auf diefen folgt Dann der Saturn mit jeinen Ringen 
und 8 Monden, von denen nur der eine eine ftarfe Reigung feiner Bahn zeigt. 

In dem Schema ftellt a, b den Sonnengleicher dar. 

Wenn nun Weltförper eine Bahn um die Sonne bejchreiben, welche in 
einem zu bedeutenden Gegenfag zur Ebene der Planetenbahn fliehen, jo muß 
diefe Erjcheinung ſchon Wiptrauen erweden bei der Brage: ob dieſe Körper 
unjerem Sonnenſyſtem urfprünglicdy angehören oder nicht? In dem nachfol⸗ 
genten Schema iſt eine verfpeftivifche Anficht der Ebene der Planetenbahnen 
und der Ebene eined Kometen dargeftellt. 


Die elliptiich gezeich⸗ 


Fig. nete Ebene a, c, b, d 
⸗ ſtellt die Bahn eines Pla⸗ 
neten dar; die Sonne ſteht 





nicht im Mittelpunkte der» 
felben, ſondern, wie in 
ber Wirklichkeit, außerhalb. 
f ift ein Planet in ber Be 

_ wegung von Welten nadh 
Often, um die Sonne; 


die Linie c, g, e flellt den 
Abſchnitt einer Kometen⸗ 


Die Kometen und bad Sonnenſyſtem. 61 


bahn dar; h, i bezeichnet eine durch Die Sonne gelegte Achſe, beren oberen 
Bunkt h man Zenith, deren unteren Nadir nennt. Die durch den Bleicher der 
Sonne gelegte Ebene, deren weitefter Durchmeffer in a, b fällt, bildet mit der 
Bolarachfe der Sonne einen rechten Winkel. In dieſem Verhaͤltniſſe befinder 
ſich alfo auch die Richtung der Planetenbahn zur Sonnenachſe. Cine Kleine 
Differenz ſoll hier nicht in Betracht gezogen werden. Wenn nun ein Weltförper 
die Ebenen der Planetenbahnen durchichneidet und zwar den Ort, daß bie 
durch dieje Bewegung begränzte Ebene nicht in bie ber Planetenbahn fällt, ſon⸗ 
dern fih der Sonnenachſen⸗Richtung zuneigt, fo bilden die beiden Ebenen einen 
Binkel mit einander, ber hier durch den Radius k g, ald der Bahn des bie 
Blanetenbahn fchneidenden Weltkörpers und k b ald Radius der Planetenbahn, 
gebildet wird. Man nennt biefen Winkel den Reigungswintel und die beiden 
Bunkte wo die Bahn des Weltkörpers die Planetenbahn fohneidet, die Knoten 
eund c. Wenn bie Richtung des Pfeils bier die Richtung der Bewegung des 
Beltförpers angibt, fo geht daraus hervor, daß wenn man den Zenith als 
Oben bezeichnet, die Richtung eine auffteigende ift, hier e, g und daß die Nich- 
tung g, c die abfleigende darſtellt. Man nennt deshalb den Punkt e den auf: 
frigenden Knoten, den Punkt c den abfleigenden. Wäre die Bewegungoͤrichtung 
eine umgefehrte, jo würde fid) auch die Benennung ändern. Man hat nun ges 
funden,, daß alle Kometen die Ebene ber Planetenbahn fchneiden und daß die 
Kehrzahl derſelben mit jener berrächtliche Winkel bilden, ja daß einige in 
ihren Bahnen fich faft dem Zenith nähern, alſo faft rechtwinklig auf_ber Pla« 
wienbahn ſtehen. Hieraus folgt, daß die Kometen um fo weniger als urjprüngs 
liche Körper unſeres Sonnenſyſtems zu betrachten find, je mehr ihre Reigungd« 
winfel fich dem rechten nähern. 

2) Alle Planeten bewegen fih rehtläufig um die Sonne, d. h. in der 
Mchrung von Weften nach Often. Die Urfachen find erörtert. Wenn nun 
ein Weltförper die Sonne in der entgegengefegten Richtung umfreift, fo gehört 
nicht, als urfprünglicher Theil, dem Sonnenfpfteme an. Run aber zeigt die 
Veobachtung, daß ein großer Theil der Kometen fich in der Richtung von Often 
sah Weften, alſo rüudläufig um die Sonne bewegt; demnach gehören diefe 
Kometen unferem Sonnenſyſteme mit Beftimmtheit nur als Fremdlinge an. 

3) Es hat fich gezeigt, daß das fpecififche Gewicht, alfo die Dichtigfeit der 
Maffe der Planeten, mit ihrer Entfernung von der Sonne abnimmt. Wenn 
Beltkörper durdy unfer Planetenſyſtem hindurch gehen, welche nicht allein 
andere Bahnformen, ein anderes Verhältnig der Bahn in Bezug zur Gleicher- 
Ebene der Sonne wie die Planeten haben, welche ferner eine andere Bewegungs⸗ 
richtung beobachten laſſen, als Lie anderen Syitem-Körper, fondern auch in 
Bang auf ihre Dichtigfeit einen großen Unterſchied zeigen, fo find Died Welt- 
körper, welche‘ für unjer Sonnenfoftem als bleibende, oder zum größten Theil 
nur durchreijende Bremblinge zu betrachten find. Wenn ein Komet in jeiner 

Bahn zwifchen Jupiter und Mars oder Jupiter und Saturn hindurchgeht, jo 
muß er eine Dichtigfeit haben, welche zwifchen den Dichtigfeiten beider Planeten 
Rebt, deren Bahn er durchichneidet, wenn man nämlich ihn als einen Urerzeugten 


62 Aſtronomie. 

unſeres Blanetenipftems betrachten ſoll. Die körverliche Veichaffenheit ber 
Kometen iſt aber eine fo verbünte, daj man nicht einmal im Stande geweſen 
iR, die Dichtigfeit auch nur annähernd zu befliunmen. Die geringe Dichtigkeit 
ift denn auch die Urſache, daß in der Sonnennähe durch die Geſchwindigkeit 
der Bewegung bie Theilchen · Anziehung des Wittelpunfte® überwunden und die 
Gaskugel in einen Kegel verwandelt wird, beiien Form aber mit der Eutfer- 
nung von ber Sonne wieder in eine Kugel umändert. . 

4) Alle Blaneten bewegen ſich in ber Form von ſchwach eiförmigen, ſich 
der Kreisbahn annähernden Bahnen um die Sonne. Diejenigen Weltförper 
unſeres Sonnenfoftems, welche ſich zwar mit verjchiedenen Geſchwindigkeiten, 
in ben verſchiedenen Umlaufßzeiten, aljo in ber Sonnennähe und Sonnenferne 
bewegen, dennoch aber einein beftimmten Geſetze folgen und ſich ſtets durch dies 
felben Räumlichkeiten des Weltalls zu beftimmten Zeiten hindurch bewegen, ber 
Art, daß die Bahnen ber Planeten [ich niemals durchſchneiden, gehören 
dem Sonnenfufteme urfprünglih an. Weltförper, welche aber in mehr oder 
weniger Ianggeftrecften eiförmigen Bahnen unjere Sonne in höchſt veränderlicher 
Geſchwindigkeit umlaufen, die Bahnen ber übrigen Planeten aber durch⸗ 
ſchneiden, find Fremdlinge in unferem Sonnenſyſteme. 

5) Wenn alle Planeten geichloffene Bahnen haben, dagegen andere Welt« 
körper nicht allein bie erfleren ſchneiden, fondern auch mit offenen Bahnen, 
Parabeln genannt, unfer Sonnenfyftem durchlaufen, fo gehören diefe unter 
feiner Bedingung demſelben an. 

In beifolgendem Sche⸗ 
ma, welches auf mathes 
matifche Genauigkeit feinen 
Anſpruch macht, find die 
Bahnen des Merkur, der 
Venus und Grde dem 
zeichnet; ber Pfeil gibt 
die Michtung der Bewes 
gung um die Sonne an. 
Die Bahn 1, g, h, i, iR 
bie des Kometen von Ende 
mit einer Umlaufszeit von 
3 Jahren; fe durch- 
ſchneidet die Bahnen ber drei verzeichneten Planeten und die des Mars; bie 
rinie a, c, b flellt die Ianggeftredtte Ellipſe des Kometen von 1681 bar und bie 
Bahn d,c, e iſt eine micht gefchloffene parabolifche Bahn. Die Pfeile bes 
zeichnen die Rüctläufigkeit der Kometen. 

Schon auf den erſten Anblid fieht man, daß die Kometen in keiner Weife 
die Urergeugten unſeres Sonnenſyſtems find. 

6) Wenn man den Standpunkt und das Größen. und Entfernungd«Bers 
haͤltniß der Planeten unferes Sonnenſyſtems betrachtet, fo geht aus demſelben 
hervor, daß, wenn nicht an Gtelle des großen Planeten zwiſchen Mars und 





Die Kometen und dad Sonnenſyſtem. "63 


Jupiter, in viele zum Theil außerordentlich Fleine Weltkörper von ſehr verfchien 
ner Größe, deren Brößen-Unterjchied Tiberdied nach allgemeinen Fosmifchen 
Gefegen für unfer Sonnenſyſtem nicht gerechtfertigt fcheint, durch das Zerreißen 
des Gaſsringes entſtanden wären, jo würde bie Zahl der in concentrifchen 
Bahnen fich bewegenden Planeten 8 betragen. Die Entfernungen biefer Pla⸗ 
neten finden nach einem beflimmten Gefege flat. Wenn die Entfernung bes 
Rercurd von der Sonne mit der Zahl 4 bezeid;net und den übrigen Planeten 
ine Entfernung, diefer angenommenen Zahl entfprechend, Hinzugelegt wird, fo 


estfieht folgende Meibe: 

Rercur Venus Erde Mars die Planetoiden Jupiter Saturn 
4, 7, 10, 16, 28, 52, 100 
Uranus Reptun 
196, 300. - 


Wenn man nun, im Widerfpruch mit diefer Regelmäßigfeit und geringen 
dahl der Planeten, feit dem Beginne unferer Zeitrechnung in den verjchiedenften 
efchwindigkeiten und Sonnennähen, die beträchtliche Zahl von 607 Kometen 
unfer Sonnenſyſtem durchkreuzen ſah, fo Liegt ed wohl ſehr nahe, dieſelben 
a8 Fremdlinge in unferem Sonneniyftene zu betrachten, um jo mehr da die 
dahl derer, welche in ziemlich regelmäßigen Zeit⸗Abſchnitten wieberfehren, die 
dahl 8 nicht überjchreiten. 

7) Wenn man zwar bei den Planeten eine nicht £reiäförmige, fondern 
was gedehnte Bahn und demnach eine etwas verfchiedene Geichwindigfeit be= 
obachtet,, der Art, daß dennoch in gleichen Zeiten auch gleiche Klächenräume 
durchlaufen werben, fo iſt der Unterfchied der Halbmeſſer und der Gefchwindig- 
keiten ein verfchwindender, wenn man ihn mit diefen Verbältnifien der Kometen 
in Vergleich ftellt. Der Komet von 1680 zeigt in der Sonnenferne (Apbelium) 
eine Entfernung, welche zur Sonnennähe (Perihelium) ſich wie 140,000 zu 1 
verhält. Seine Umlaufszeit beträgt 8800 Jahre und die Gejchwindigfeit, welche 
im Apbel 10 Fuß in der Sefunde beträgt, wächft bis auf 53 Meilen, in gleicher 
det, in der Sennennähe, Schon dieſe Unterfchiede zeugen bafür, dap die Ko⸗ 
meten nicht unjerem Sonnenſyſteme angehören. 

Wenn nun der Beweis geführt ift, daß die Kometen Fremdlinge unjere& 
Eonnenſyſtems find, fo Rellt ſich Die Srage, woher die Kometen kommen und 
wie fie in unfer Sonnenjpfiem gelangen. Die Antwort iſt leicht. Es tft der 
Beweis geführt, daß ber Komet von Lexrell, welcher 1770 erichien und eine 
Umlaufzeit von 5° Jahren hatte und weder vor noch nad) diefer wieder be⸗ 
ebachtet wurde, Durch die Anziehung, welche der Jupiter auf ihn ausübte, 1767 
im feine Bahn Hineingelenft wurde, in welcher ee 1770 erjchien. Die Bahn, 
weiche diefer Komet vor 1767 befchrieb, alio vor der Einwirkung des Jupiter 
auf ihn, ift berecynet worden, mit einer Umlaufszeit von 50 Jahren und Die, 
nach dem Austritt aus der, durch Jupiter beftimmten Bahn eintretende Um⸗ 
laufözeit iſt auf mindefiens zwanzig Jahre berechnet. Die Berechnungen haben 
gezeigt, daß von 1767 die Entfernung des Kometen von der Sonne nie unter 
97 und nach 1779, nie unter 64 Millionen Meilen betrug. Im Jahre 1779 


64 Aſtronomie. 

ging der Komet ſo nahe dem Jupiter vorbei, daß er demſelben um 500 Mal 
naͤher war, als der Sonne, und daß die Anziehung der Sonne auf den Kometen 
nur /200 derjenigen betrug, welche ter Jupiter auf ihn ausübte. Der Komet 
wurte aljo jeines erften Anziehungsförpers wieder beraubt und aus feiner Bahn 
enifernt und nicht mehr ſichtbar. Es ſteht feſt, daß tie Sonne mit ihren Tra⸗ 
banten feinen feften Bunft im Weltenraume einnimmt, jondern fich in der Rich⸗ 
tung nad) Dem Sternbilte des Hercules, mit einer Geſchwindigkeit von einer 
Meile in der Sefunde fortbewegt. Es ſteht feft, daß überall im Weltenraume 
bereitö fertige Welten und werdende, in allen Gntwidelungdftufen vorhanden 
find, und daß fich Die abgetrennten Sphäroide, oft in fo beträchtlichen Fernen 
von ihrem GentralsKtörper befinden, daß die Anziehung, welche die Iegteren aus⸗ 
üben, fehr gering jein muß und dag deshalb die Ablenfung aus ihrer Urbahn 
leicht erfolgen kann. 

Aus diefem Gefagten folgt: 

1) die Anzichungsfähigfeit eines Körpers beftimmt Die Bahn eines in feiner 
Nähe befindlichen Weltkörpers und ift im Stande die urjprüngliche Bahn des⸗ 
felben zu ändern, ja unter Umftänden fich mit ihm zu vereinen; 

2) die Anziehungsfraft, welche die Sonne auf Weltförper ausübt, welche 
nicht ihrem Trabantenſyſteme angehören, ift nicht nur wahrfcheinlih, fondern 
gewiß, und die Kometen gehören ohne Ausnahme nicht unferem Sonnenſyſteme 
urfprüungli an. Die wenigen, welche man als wieberfchrende innerhalb der 
Jupitersbahn beobachtet hat, haben eine Bahn, welche fich ſchon mehr der Eis 
form nähert und welche allmälig Umänderungen erleiden. 

Rachtraͤglich will ich noch bemerken, daß man noch in neuefter Zeit die 
Frage geflellt Hat: 

1) ob ein Komet eine Achjendrehung mache oder nicht; 

2) ob ein Komet ein felbftleuchtender Weltkörper jei oder nicht; 

3) ob ein Komet Wärme babe und entwidle oder nicht. 

Ich gehe nicht auf die abentheuerlichen Anjichten namhafter Aftronomen 
ein, in Bezug auf die Schwanzbildung des Kometen, da dieſe Feiner Widerlegung 
betürfen, indem ſie mit den einfachen Gefegen dad Weltalld im Widerſpruch 
Reben und bemerfe zur erften Frage: 

jeder Weltkörper der fih um einen größeren bewegt, Fann dies nur mittelft 

ber Anziehung, welche von Seiten ded größeren ausgeht und mittelft der 

Achſendrehung. Demgemäß drehen jich aljo die Kometen um ihre Nchfe, 

fle würden fonft in die Sonne flürzgen. Außerdem flieht man die Bewe—⸗ 

gung im Schweife volljtändig. ' 

If das Licht daB Ergebniß der Aetherfchwingungen und gehen diefe hervor 
aus der Beziehung der Weltkörper zu einander, gibt es an und für fi nur 
Lichterfcheinungen aus der Beziehung zweier Körper zu einander, gibt es alfo 
In Wirklichkeit ſelbſtſtaͤndige Selbftleuchter nicht, fondern find alle Weltkörper 
Beziehungs-Leuchter, fo folgt daraus: der Komet iſt Fein Selbflleuchter, Was 
für das Licht gilt, gilt auch in diefer Beziehung für die Wärnıe, 


Die Hetränke, die wir gähren (allen. 


Zweiter Urtifel.*) 


Künftlide Getraͤnke: Biere, Weine. Branntwein. 


Die Spirituofen, welche wir gähren laſſen, gewinnen wir alle entweder aus 
den natürlichen Zuckerſtoffen, die wir aus Pflanzen ziehn, oder aus den Zucker⸗ 
offen, die wir auf kuͤnſtliche Weife zubereiten. Ich werde auf die intereffan= 
teften und wichtigften biefer Spirituofa, die jet in verfchiedenen Theilen der 
Welt in Gebrauch find, in der Kürze aufmerkfam machen. Die Art und Weife, 
auf welche dieſe Getränke zubereitet werben, ihre chemifche Zufammenfegung, 
umd ihre chemifch-phuftologiiche Einwirkung auf den Organismus flehen mit 
dem alltäglichen Leben faft jedes Volkes mehr oder weniger in Zuſammenhang. 


Die Biere 

Wenn Traubenzuder in Waller aufgelöft und zu der Auflöfung ein 
wenig Hefe hinzugethan wird, fo fängt fe fchnell an zu gähren. Während 
diefer Gaͤhrung zertheilt ſich der Zuder in drei verſchiedene Subftanzen, in Als 
kohol, Waſſer und Kohlenfäure. Die beiden erfteren bleiben in der Blüjftgfeit 
zurüd, während das Eohlenfaure Gas in Geftalt von Bläschen in die Luft ents 
weit. Wenn gewöhnlicher Rohrzucker in ähnlicher Weile in Waſſer aufgeläft 
und mit Hefe vermifcht wird, fo erfolgt gleichfall8 Gährung. Der Rohrzucker 
wird durch die Wirkung der Hefe zuerft in Traubenzuder verwandelt ; dann zers 
theilt ich diefer in Alkohol, Waſſer und Kohlenfäure, Diefe Verwandlungen 
erfolgen ſowohl in verfchloffenen wie in offenen Gefäßen, fo daß zu einer fchnellen 
und vollfländigen Vollziehung berfelben die Anweſenheit von Luft in feiner 
BWeife notwendig ift. 

Wenn Stärke durch die Wirfung von verbünnter Schwefeljäure, oder eine 
Ralzmifchung in Traubenzucder verwandelt, und dann zu der fügen Auflöfung 
Hefe hinzugethan wird, fo finden diefelben Verwandlungen und biefelbe Erzeus 
gung von Alkohol Statt. Auf diefe Weife werden aus Kartoffelftärfe große 
Duantitäten von Kartoffelbranntwein in Branfreich, Deutfchland und den nörd« 
Uchen Ländern Europa’& bereitet. 





*) Der erfle Artikel über Thee, Kaffee, Cacao befindet fih Bd. II. pag. 709 u.f. 
V. 6 


66 Chemie. 


Aber durch einen noch ſchoͤneren Proceß wird die Staärke ter Gerſte und 
anderer Gerraite, ehe jie von ten Samen getrennt iſt, in Traubenzucker ver⸗ 
wantelt, und dann gleichfalld vermittelit Here in Waſſer, Alkohol und Kohlen⸗ 
täure zerıheilt. 

Es iſt allgemein bekannt, daß dieſe Gerraite weientlih aud zwei 
Hauptiußftanzen befichen, aus Stärke und Kleber. Wird es angefeuchtet, 
jo fängt unter günftigen Umflänten das Korn zu feimen an. Tie Stärfe und 
ter Kleber, welche e8 enthält, find natürlich dazu beilinnnt , tie erfie Nahrung 
der jungen Pflanze zu bilden; aber dieſe Subſtanzen find in Waller unlöslidy, 
und können daher in ihrem natürlichen Zuflante von dem Samen nicht weiter 
dringen, um die Bebürfnifje des wachjenten Keimes zu befriedigen. Es ift daher 
bie ſchöne Ginrichtung getroffen, daß beite beim Fortſchritt des Keimend ches 
miiche Venwantlungen erleiten. Died gejchieht am unteren Ente des Keimeß, 
genau an Dem Orte wo, und zu Der Zeit, wann fie zur Ernährung nöthig find. 
Der Kleber wird unter anderem in eine weiße lödliche Subflanz, Die man als 
Diaſtas unterichieden hat, die Stärke in löslichen Zraubenzuder verwandelt. 
Daher tie Süßigfeit gefeimten Kornd. 

Stärfe kann, wie früher gezeigt, vermittelt einer ganz geringen Quantität 
von Schwefeljäure in Zuder verwandelt werden. Dieſelbe Verwandlung erfolgt 
auch durch dad Diaftad. In Berührung mit der Stärke im feimenden Samen 
erzeugt, verwandelt das Diaftas Ichtere in Zucker und macht fie in den Safte 
gerade jo, wie es erforderlich ift, löslich. So wird Die junge Pflanze ernährt, 
Der Mälzer, Brauer und Deitillateur benugen dieje natürliche Verwandlung in 
den Beitanttheilen keimenden Getraided und rufen den merkwürdigen chemijchen 
Einflup des Diaſtas in großartigem Maapftabe hervor. Dies erhellt zur Ges 
nüge aus Der cbemijchen Gefchichte der Kunft des Brauens. 

Malzbiere heißen jo, weil jle, entweder ganz oder zum Theil, aus Ein- 
waͤſſerungen gemalzter Gerſte bereitet werden. Die Zubereitung dieſer Getränfe 
ſchließt zwei von einander getrennte chemijche Proceſſe in ſich ein, 1) die Ver⸗ 
wantlung der Stärfe des Korns in Zuder, und 2) die Verwandlung des Zuckers 
in Weingeift oder Alkohol. Um den erften dieſer beiden Zwecke zu erreichen, 
wird Dad Korn zu Malz verarbeitet, um den zweiten, läßt man es vermittelk 
Hefe gähren. 

1) Das Malz. — Der Mälzer feuchtet feine Gerfte haufenweiſe an unb 
breitet fte auf dem Bußboden eined dunfeln Zimmers aus, damit fie fich erhitzt 
und feimt. Wenn der Keim im Begriff ift, aus der Hülle des Samens hervor» 
zubrechen, jo hält er das Wachien deffelben auf, indem er das Korn auf dem 
Boden jeiner Darre trodnet. Nun ift ed gemalzte Gerfte und bat einen fügen 
Geſchmack, zum Beweiſe, daß fie ſchon Zucker enthält. Andere Getraibe, wie 
Waizen, Hafer und Roggen, ann man gleichfalls durch einen ähnlichen Proceß . 
in Malz; verwandeln. In Rorbe- Amerika malzt man fogar Maid; und in Süd⸗ 
Amerika if Died Malz jeit den frübeften Zeiten zur Bereitung von Bier ans 
gewandt, In Europa aber hat man durch lange Erfahrung gefunten, daß 
Gerſte ſich zu dieſem Proceß am beften eignet, obwohl zur Zubereitung einiger 


Künſtliche Getränke, 67 


beionderen Bierjorten mit der Gerſte auch gemalzter Roggen und Waizen ge= 
braucht werden. 

2) Da8 Bier. — Der Brauer oder Deftillateur zermalmt das Malz, 
und bringt es zugleich mit bis zu 157° oder 160° Fahr. erhitztem Maffer in 
jeine Maiichkufe. Dieſes Wafler löſt zuerft den Zucker auf, der fich fchon im 
Samen gebildet hat, und dann das Diaftad. Letztere Subjtanz wirft dann auf 
die übrige Stärke des Samens, indem fie fich zuerft in eine Art lößlichen Gum⸗ 
mis und zulegt in Traubenzuder verwandelt. Wird der Proceß gut geleitet, 
ſo bleibt wenig mehr ald die Hülfe des Korns unaufgelöft zurüd und die Flüſ⸗ 
Rgfeit oder Würze hat einen entichieden jügen Geſchmack. 

Drei Umſtaͤnde find ruͤckſichtlich dieſes Diaſtas merkwürdig: 1) daß ſelbſt 
in gutem Malz ſich aus je 100 Pfund Staͤrke, die im Korn enthalten find, nur 
1VPfund Diaſtas bildet; 2) daß dies eine Pfund Diaſtas hinreicht, um 1000 
Pfund Stärfe in Traubenzuder zu verwandeln; 3) daß, wenn man bie daſſelbe 
enthaltende Auflöjung bis zum Siedepunft erhigt, das Diaftad gleichfan ges 
söbtet wird; feine Kraft, Stärfe in Zuder zu verwanteln, wird dadurch völlig 
gernichtet. 

Der erſte und zweite Umſtand jegen den Brauer in Stand, wenn er will, 
jeinem Malz eine beftimmte Duantität Etärfe oder ungemalsten Korns beizu⸗ 
miſchen. Dad Diaftäs der gemalzten Maſſe reicht Hin, um nicht allein Die ganze 
Stärke des Malzes, jondern aud) alle Stärfe des. rohen Kornd in Zuder zu vers 
wanteln. Co vermeidet er Koften und Verluft, welche mit dem Malzen des 
Iegßteren verbunden jein würden. Dei und zu Lande benutt der Brauer jelten 
biefe Gelegenheit, rohed Korn hinzuzutbun, Die Brauer bed Feſtlandes aber 
und unjere Deftillatenre thun e3 viel. Der dritte Umftand beflimmt die Zeit, 
in welcher man die Würze mit Eicherheit finden kann; — die nächfte Stufe in 
ter Zubereitung des Biere, Wenn die Verwandlung fänmtlicher Stärke in 
Zuder vollzogen ift, jo iſt das Diaftad von feinen Nugen mehr, und man fann 
tie Würze mit Vortheil bis zum Sieden erhigen. Durch diefe höhere Tempe— 
ratur wird die Wirkung des Tiaftad gehemmt, und zugleich gerinnt das Ei⸗ 
weis, welches das Waller aus dem Korn heraudgelöft hat, und fcheidet ſich 
ihaarenweife aus. Berner benugt man dieſes Sieden, um ben Hopfen berein« 
zabringen, und dieſer dient, außerdem, Daß er der Blüfftgkeit feine eigenthümliche 
Birterfeit und fein Aroma mittheilt, weiter noch Dazu, fle abzuflären. Wie 
lange man bad Sieden dauern läßt, und wie viel Hopfen man hinzuthut, ift je 
nach ter Menge des Zuderd, welche fie enthält, und nach ter Dualitär bes 
Bieres, welches fie geben foll, verichieten. 

Die Flüſſigkeit läßt man im flache Gefäße laufen, und jo jchnell als möglich 
bis zur beiten Bährungstemperatur zwijchen 54° und 64° Fahr. abkühlen. 
Dann wird fie in die Gaͤhrungskufe gebracht; man thut eine hinreichende Quan⸗ 
tität Hefe Hinzu, bie man wo möglich von derſelben Art Bier nimmt, welcye 
man gewinnen will, und läßt fie 6—8 Tage gähren. Während biejer Gaͤh⸗ 
rung zertheilt ſich ter Buder in den Alkohol und das Waſſer, welche im 
Biere zurüdbleiben, und in das kohlenfaure Gas, welches größtentheil® 

5% 


68 Epemie. 


von ker Oberfläche ber Flͤſſigkeit entweicht und fi mit der umgebenden Luft 
vermiſcht. 

Drei Dinge find bei dieſem Proceß merkwürdig: 1) daß die Quantität 

Hefe, welche man hinzuthut, und die Temperatur, in weldher man nachher Die 
Hlüjfigkeit gähren läßt, immer je nach der Art des Bieres verichieden find; 2) 
daß die Hefe darnach firebt, wieder ein Bier zu geben, welches in Geſchmack, 
Geruch u. |. w. dem gleicht, von welchem man fie genommen hat; 3) daß in ber 
Praris niemals der ganze in der Würze enthaltene Zuder in Alkohol verwandelt 
wird. Gutes Bier, wie Flar, ftark, hell und bitter es auch immer fein mag, 
behält immer einen angenehmen, füplichen Geſchmack. Bon dem in der Würze 
enthaltenen Zuder wird nur bie Hälfte bis zu *atel zerjegt. Würde die Gäh- 
rung nicht jo eingerichtet, daß diejed Reſiduum unzerfegten Zuckers übrig bliebe, 
jo würde fih das Bier nicht aufbewahren laſſen. Es würde im Kaffe jauer 
werden. 
44 Ich verfolge die Fabrikation diejes wichtigen Getränfed nicht weiter. Doch 
kann ich die fchöne Reihe von Operationen, aus welchen fte befteht, nicht ver» 
laflen, ohne die Aufmerkſamkeit meiner Lejer einen Augenblid auf die wichtige 
Stelle zu lenken, welche die Eleine Hefenpflanze unter den Yaftoren einnimmt, 
durch welche das Endrefultat erreicht wird. Wie Schwefeljäure und Diaſtas 
anjcheinend durch bloße Berührung mit Stärke dieje völlig in Zuder verwandeln, 
fo verwandelt Hefe durch eine Ähnliche Art von Berührung den Zuder völlig in 
Alkohol, Wafler und Kohfenfäure. Wie diefe beiden VBerwandlungen durch 
die angewandten Faktoren vollzogen werden, können wir nicht erklären. 

In der Art und Weije, in welcher dieje drei wichtigen Faktoren wirken, 
{ft dieſer intereſſante Unterfchied, DaB, während die Schwefelfäure, die zur Ver⸗ 
wandlung der Stärfe in Zucker gebraucht wird, ihrer Quantität nach unverän« 
dert bleibt, während das Diaſtas fich jelbft verwandelt und verfchwindet, bie 
Hefe Icht, fich vervielfältigt, wächlt, an Duantität zunimmt, und fi an Um⸗ 
fang und vegetabilifcher Entwidelung vermehrt. Die Winzigfeit der Hefen⸗ 
pflanze, die in ihrer einfachften Geftalt nur aus einer einzigen Zelle befteht, war 
lange Zeit Schuld daran, dag man fle nicht allgemein als eine Art lebendigen 
Stoffes anfah. Aber die Veränderungen, bie fie, wie man durch das Mikroſkop 
fieht, täglich in der Gährungäftufe erleidet, beweiſen, daß fle unzweifelhaft eine 

wachſende Pflanze iſt. 

Daß aber die Hefe in der gährenden Fluͤſſtgkeit lebt und an Duantität 
zunimmt, erEfärt ihre Einwirkung auf den Zuder nicht. Das Geheimniß bleibt 
nichts deſto weniger. Wie diefe Pflanze, während fie felbft raſch wächft, zugleich 
bewirkt, daß fich der Zuder, wie oben befchrieben, zertheilt, und zwar ohne ſich 
mit einer der neuen nun entflandenen Subflanzen zu verbinden, oder fie fich 
anderweitig anzueignen, das iſt noch immer völlig unerflärlih. Weber bie 
Chemie noch die Phyſiologie kann bis jetzt auch nur eine wahrfcheinliche, Licht 
verbreitende Dermuthung hierüber wagen. Doch iſt es immer ſchon etwas, wenn 
wir im Stande find, rüdfichtlich irgend eines Punktes, den wir erreicht haben, 
bie wirklichen Grenzen unferes pofltiven Wiſſens zu erfennen, 


Künftlide Getränke. 69 


Die Zufammenjegung des nach obiger Befchreibung gewonnenen Bieres ift 
faft bei jeder Probe verſchieden. 

a. Wenn Bier verdunftet oder bis zur Trodenheit abgedampft wird, fo 
läßt e8 eine gewiffe Quantität feften Stoffes zurück, von dem man gewöhnlich 
als von Malzertraft ſpricht. Diefer beſteht aus unzerſetztem Zuder, aus lös⸗ 
lichem Kleber vom Korn, aus bitteren vom Hopfen herrührenden Subftanzen 
und aus einer gewiſſen Quafitität von Mineralftoff. Seine Duantität ift ver⸗ 
ſchieden und wechfelt zwifchen weniger als 4 bis zu mehr als 8 Pfund auf je 
100 Pfund guten Biered. In feinen weinähnlichen Bieren, wie unfere neueren 
englifchen Bitterbiere find, ift bie Quantität bed Ertraftes gering. Im fchweren 
fügen Bieren ift fle bedeutend. Gutes Edinburger Ale enthält ungefähr 4 Pror., 
oder faft '/2 Pfund auf die Gallone. In Deutſchland find die Braunfchweiger 
Biere in diefer Hinficht merfwürdig. Ein ſüßes Dünnbier diefer Stadt enthält 
14 Proc. Extrakt und ein kaum Halb gegohrenes ſchwarzes Getränk, Braun⸗ 
ſchweiger Mumme genannt, enthält nicht weniger als 39 Proc., d. h. ungefähr 
5 Pfund auf die Gallone. Die nahrhaften Eigenfchaften des Bieres, welche 
oft beirächtlich find, hängen in hohem Grabe von dem Betrag und der Natur 

dieſes Ertraftes ab, 
| b. Aber Bier enthält auch Alkohol, das Mefultat der Gährung; feine 
Quantitaͤt ift ebenfo wie die des Eirtrafted verſchieden. Co enthält: 


an Alkohol 
Dünnbier 1—1!/2 ®ewichtöpror, 
Porter 31a —5 Na — 
Starkes Braunbier 5!2- 6/2 — 
Bitteres, ſtarkes Ale 592—-10 — 


Auf dieſem Alkohol beruht die rein berauſchende Wirkung von Malzge⸗ 
tränken. In dieſer Beziehung haben unſeres ſtarken Ale ungefähr dieſelbe Kraft 
und Wirkung wie die leichten franzöftfchen Weine, Außerdem aber, und zum 
Unterfchied von den Weinen enthalten fle: 

aa, Die nahrhaften Stoffe des Extraktes, welche vom Korn herrühren, 
Diefe wechſeln, wie fchon gejagt, zwiſchen 4 und 8 Proc. In Milch, der 
Mufterfpeife, beträgt der nahrhafte Stoff 12 Proc., und ift außerdem etwas 
seicher in geronnener Mil, dem Ingrebienz, welches dem Kleber der Pflanzen 
entfpricht. Bier ift alfo ebenfogut Speije als Getränk. Ein wenig Rindfleijch, 
das man dazu ißt, erſetzt den Kleber, welcher ihm, im Vergleich mit ber Milch, 
fehlt; fo das Rindfleifch, Bier und Brod — unfere charakteriftifche englifche 
Dikt, — in völlig philofophifcher Weife zufammengeftellt find, um die Kräfte 
des Körpers zu gleicher Beit zu flärfen, zu erhalten und anzufpornen. 

bb. Das bittere narkotifche Princip des Hopfens. — Hierdurch, wie durch 
feine Rahrhaftigkeit unterfcheidet fich Bier vom Wein. Don diefem Ingrebienz 
und feinen Wirkungen habe ich in einem früheren Artikel gefprochen. — 
(8b. IV., pag. 703.) 

Chica oder Maiabier. — Der Genuß von Malzbier iſt in Deutfchland 
uud wahricheinlich auch in England, jehr alt; nicht weniger fcheint ber von 


70 Chemie. 


Chica oder Maidbier in Suͤd-Amerika zu fein. Es war lange vor der ſpaniſchen 
Eroberung ein gewöhnliched Getränk der Indianer. 

Die gewöhnliche Art, Chica zugubereiten, ift Die, daß man Mais anfeuchtet, 
ihn jo Lange liegen läßt, bis er hinreichend Feimt, und ihn dann in ber Sonne 
trocknet. Run ift er Maismalz. Diejed Malz zermalnıt man, matfcht ed in 
warmem Waller und läßt es Dann fteben, bis tie Gährung eintritt. Das 
Getränk hat cine dunkelgelbe Barbe und einen angenehmen, ein wenig bittern, 
fauern Geſchmack. Ueber die ganze Weſtküſte Suͤd⸗Amerika's iſt es ein allge 
meined Bebürfnig und wird von ten Gebirgd-Indianern in ungeheuren Quan⸗ 
titäten verzehrt; Faum eine Hütte im Innern des Landes, die nicht ihren Krug 
mit dem Lieblingsgetränt hätte. 

In den Thälern der Sierra aber bereitet man das höchlichft gefchägte Chica 
auf eine etwas verichiedene Art. Alle Glieder der Kamilie, mit Einjchluß der 
Fremden , welche bei der Arbeit helfen wollen, jegen fldy ringd um den Flur in 
einen Kreis, deſſen Mittelpunkt eine große, von Haufen Maismalzes umgebene 
Kalabaffe if. Jede Perſon nimmt eine Handvoll von dem Korn und zerfaut 
e8 durch und durch. Dann wird e8 in die Kalabaſſe gelegt, und eine andere 
Handvoll alsbald demfelben Proceß unterworfen, fo daß die KRinnbaden der 
Geſellſchaft in beftändiger Thätigkeit bleiben, biß der ganze Kornhaufe zu einer 
Breimaſſe gemacht ift; diefe mifcht marı nun mit einigen weniger bedeutenden 
Ingredienzen in heißem Waller und gießt die Flüſſigkeit in Krüge, in welchen 
man ſie gähren läßt. In kurzer Beit ift fle zum Genuß fertig. Dann und 
wann vergräbt man auch wohl die Krüge in der Erde und Täßt fie bier ftehn, 
bis das Getränk durch fein Alter eine bedeutende Stärfe und ſtark beraufchende 
Kraft befommt. | 

So zubereiteted Chica heißt Chica mascada, oder gefauted Chica, und 
wird für weit beſſer gehalten al8 das in geivöhnlicher Weife aus zermalmtem 
Mais zubereitete. Der Bewohner der Sierra glaubt, daß er feinen Gafte keinen 
größeren Genuß bieten fann, als einen Trunk alten gefauten Chica’s, deſſen In« 
gredienzen zwiſchen feinen eigenen Zähnen zermalmt find. 

Efelhaft wie diefer Proceß dem Europäer erſcheint, hat er deſſenungeachtet 
einen vernünftigen Grund und zeigt eine Art von inflinktiver oder aus Er⸗ 
fahrung entftandener Anwendung eined fchönen chemifchphuflologifchen Princips. 

Wir haben geiehn, daß Korn gemalzt wird, damit fich Diaftad erzeugt, 
und daß e8 dann zermalmt und in warmem Waffer zerfegt wird, damit dieleß 
Diaftas die Stärke in Zuder verwandelt. Cine ähnlicge Kraft nun, Stärke im 
Zucker zu verwandeln, beflgt der Speichel des Mundes. Wenn man Stärke 
durch und durch mit Speichel vermifcht, und die Miſchung eine Zeitlang mäßlg 
warm bält, jo wird fich allmälig Zucker erzeugen. 

Died thut der Indianer bei der Bnbereitung feine® Chica mascada. @r 
zerfaut das Korn dur und durch, macht dies dadurch zu einem feinen Brei 
und vermifcht es zugleich gründlich mit Speichel. Im Verlauf einiger Belt 
wird diefer Brei füß und gührt. 

Der Mais, aus weldyem er fein Getränk bereitet, ifl ein großes Korn. 


Künſtliche Getränke. zr 


Das während des nicht immer gut geleiteten Malzens erzeugte Diaftas reicht oft 
nidyt bin, um die ganze Stärke in Zuder zu verwandeln, die Beimijchung bes 
Speicheld aber kommt dem Diaftad zu Hülfe, und macht die Berwandlung gewiß. 
Ebenſo trägt er Dazu bei, Die darauf erfolgende Gährung berborzubringen unt 
zu befördern. 

Es ift ſehr intereffant, für einen fo widerlichen und anfcheinend grunde 
Iojen Gebrauch einen fo fchönen chemiſch⸗phyſtologiſchen Grund zu finden. 

Boura, Murwa, oder Hirfenbier ift ein Lieblingdgetränf der Krimm⸗ 
Tartaren. Sie bereiten e8 aus gegohrenem Hirfefamen, wozu fle gewiſſe Bei⸗ 
miſchungen thun, die e8 in hohem Grade adflringirend machen. Sie nennen - 
e8 Boura. 

Die Araber, Abpifinier und viele afrifanijche Stämme nennen ebenjo ein 
gegohrenes Getränk, welches fie gewöhnlich aus Teff, dem Samen der Poa 
Abyssinica, bereiten. Doch gebrauchen fte gelegentlich dazu auch Hirſeſamen 
und felbft Gerfte. Ihr Boura wird ald ein ſaures, Dickes Getränk bejchrieben. 

In Siıkkim, an den füdlichen Abhängen der niederen Himalaia-Kette ift 
Hirfenbier unter den Namen Murwa in fehr allgemeinem Gebrauch. Man bes 
reitet ed, indem man den Hirjefumen anfeuchtet und einige Tage gühren läßt. 
Auf einen Theil dieſer Maffe, fo viel man für den beflimmten Zweck oder für 
Ten Berbraudh des Tages für hinreichend halt, gießt man dann heiße Wafler, 
Es wird gewöhnlich getrunfen, jo lange es noch warm iſt, wird in Bambus⸗ 
fragen aufgetragen und durch ein Mohr eingefogen. Wenn ed ganz frijch iſt, 
ſchmeckt e8 ziemlich fauer. Es ift jehr ſchwach, wird aber bei einem heißen Tas 
gemarſch als ein jehr angenehmes Getränk befchrieben. Mit den bejonderen 
chemiſchen Eigenfchaften diefer verfchiedenen Arten von Hirſenbier find wir bis 
jegt noch unbefannt. Das Eigenthümliche bei ihrer Zubereitung jcheint darin 
zu liegen, daß fle im Korn, und nicht, wie ed bei dem europdifchen Biere ber 
Sal if, in der Würze gegohren werden; und daß die Gaͤhrung nicht durch Hefe 
hervorgebracht wird, fondern von felbft erfolgt. Unter diejen Umſtaͤnden 
werden im feuchten Korn zu gleicher Zeit drei chemiſche Verwandlungen vor fich 

1) die Stärke des Kornd wird ſich durch die Einwirkung ded Diaftas, 
weiches fich während des nach Anfeuchtung des Korns erfolgenden Keimes bildet, 
in Zuder verwandeln, 

2) Diefer Zucker wird durch Die von felbft beginnende Gährung zum Theil 
in Alkohol verwandelt. 

8) Ein Theil des Zuckers wird durch die Wirkung des Klebers der Hirfe, 
der während ber freiwilligen Gaͤhrung dieſe eigenthuͤmliche Kraft beflgt, in Milch⸗ 
fäure verwandelt. Das Getränk, welches man erhält, wenn man diejed ver⸗ 
änderte Korn einwäflert, gleicht aljo unferen europätfchen Malggetränten darin, 
daß es nahrhafte Stoffe enthält, die von der Stärfe und dem Kleber des Kornd 
herrichren. Es unterfcheibet fih von ihm dadurch, daß es ſtatt Eſſtgſaͤure 
Nilchſaure enthaͤlt. Das indiſche Murwa unterjcheibet fich auch noch dadurch, 
daß es wie der Ahre bald nach ber Einwäſſerung getrunfen wird, und keinen 


72 Chemie, 


bitteren unferem Hopfen ähnlichen Zufag enthält. Die adfiringirende Kraft des 
Boura’s der Tartaren feheint darauf hinzuweiſen, daß dieſe bei der Zubereitung 
außer dem Hirfefamen noch etwas anderes gebrauchen. 

Es ift ein fonderbared Zufammentreffen, daß die Art und Weife, in heißem 
Waſſer einzumäflern und durch ein Rohr einzufaugen, wie fle auf dem Himalaia- 
Gebirge gebräuchlich, genau dieſelbe ift, wie in Süd⸗Amerika bei der Zuberei⸗ 
tung von Mate oder Paraguay Three. Haben wir Hierin mehr als ein bloß zu⸗ 
fälliges Zufammentreffen ? 

Quaß oder Roggenbier, ein Lieblingsgetränt der Muflen, tft ſcharf, 
ſauer, oft trübe, und hat in Gefehmad und Ausſehn mit einigen ber Boura- 
Arten Aehnlichkeit. Man ftellt e8 her, indem man Roggenmehl, zuweilen auch 
Gerftenmehl, mit Waſſer vermijcht und gähren läßt. Es kann möglicher Weife 
Milchfäure enthalten, doch ift mir nicht bewußt, Laß feine Zufammenfegung je 
zum Gegenſtand befonderer chemifcher Unterſuchung gemacht ifl. - 

Kumiß oder Milchbier. — Milch enthält, wie oben auseinandergefekt, 
eine bejondere Art Zuder, Milchzuder, der nicht fo jüß ift wie Rohrzucker. 
Löſt man diefen Zuder in Wafler auf, fo geht er, wenn man Hefe hinzuthut, 
nicht in Gährung über; löſt man ihn aber zugleich mit der geronnenen Milch 
und Butter in Milch auf, fo verwandelt er ſich in Alkohol und Kohlenfäure 
und gibt dem Getränk eine beraufchende Kraft; diefe Gährung erfolgt von felbft, 
wird aber durch die Buthat von Hefe oder ein wenig ſchon gegohrener Mild, be» 
fhleunigt. Die gegohrene Klüffigfeit ift der Kumiß der Tartaren. Stutenmilch 
ift reichhaltiger an Zuder als Kuhmilch und wird deshalb gewöhnlich zur Zu⸗ 
bereitung von Milchbier genommen. Man bereitet e8 auf folgende Weife: 

‚Man thut zu der mit !letel Gewichtötheil Waller verbünnten frifchen 
Milch eine Quantität fauren Kumiß und bedeckt dad Ganze an einen warmen 
Drte 24 Stunden; dann rührt und fchüttelt man e8 zufammen, bis die geronnene 
Milch und die Molken durch und durch mit einanter vermifcht find, und läßt es 
wieder 24 Stunden in Ruhe, Nach Verlauf diefer Zeit thut man ed in ein 
langes, dünnes Gefäß und fehüttelt es, bis es vollfommen homogen wird. Nun 
hat e8 einen angenehmen jäuerlihen Geſchmack und Fann an einen Fühlen Orte 
in verfchloffenen Gefäßen Monate lang aufbewahrt werden. Bor den Trinfen 
wird es immer erft gefehüttelt. Wegen des Käfes und der Butter, welche es ent⸗ 
hält, ift e8 ein ebenjo nährendes wie angenehned Getränk und hat nicht die ge= 
wöhnlichen böfen Wirkungen beraufchender Spirituofa. Ja ed wird fogar bei - 
geichwächter Berbauung oder allgemeiner Schwäche als heilfame Diät verorbnet.‘* . 

Durch Deftillation erhält man von diefem Kumiß Branntwein, und zwar 
gibt bei jorgfältiger Zubeseitung ein Nöfel dieſes Getränfes Ya Unze Spiritus, 
Dieſen Milhbranntwein nennen die Kalmüden, wenn er nur einmal beftillixt 
ft, Arraka, und machen aus dem im Kolben bleibenden Neflduum eine Art 
Pudding. “ 

Die Araber und Türken bereiten ein dem Kumiß ähnliches gegohrenes Ges . 
traͤnk oder Milchbier, welches erftere Leban, Iegtere Daourt nennen. Auf den 
Orkney Infeln und in einigen Theilen Irlands und des nördlichen Schottland : . 


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Künftlihe Getränke, 73 


bewahrt man zuweilen Buttermilch fo Tange auf, bis ſie in Gaͤhrung übergeht 
und beraufchende Eigenichaften befommt. 

Dies Milchbier ift, glaube ich, niemals chemifch unterfucht; doch wiſſen 
wir: 1) daß es wie die Malzbiere eine bedeutende Quantität Nahrungsftoffes 
enthält. Die Butter und ber Käfe der Milch bleiben als nahrhafte Ingres 
dienzen des Bieres zurück. 2) Daß es fich von den Malzbieren dadurch 
untericheibet,, daß es mehr Säure enthält, und feinen fauren Gefchmad nicht 
ber Eiflge, jontern der Milchiäure verbanft. 

Ava, Cava oder Arva — Tem Chica in der Art der Zubereitung ähnlich 
ift das Ava oder Cava der Suͤdſee⸗Inſeln. Dies Getränk ift über eine weite 
Strede des flillen Oceand und unter den Einwohnern fehr entlegener Inſeln 
verbreitet. In Tahiti foll der Genuß deſſelben viele von den Einwohnern forte 
gerafft haben. Auf den Sandwich⸗Inſeln wurde e8 vor einigen Jahren verboten, 
Auf ten Tonga-Infeln wird e8 bei jeder feftlichen Gelegenheit zubereitet und 
getrunfen. Auf den Feejel⸗Inſeln ift Die Zubereitung deſſelben als Morgentrunf 
für ten König eine der feierlichften und wichtigften Pflichten feines Hofes. 

Ava heißt tie Wurzel des beraujchenden Langpfefferd (Macropiper metlıysti- 
cum), welche in frifchem oder getrocneten Zuftande zerfaut wird, wie der In⸗ 
dianer feinen Mais zerfaut; Dann vermifcht man den Brei mit kaltem Waffer, 
welches nach kurzer Zwifchenzeit aus der zerfauten Faſer herausgepreßt wird 
und nun zum Genuß fertig if. Der Geſchmack ift für einen, der nicht baran 
gewöhnt ift, nicht angenehm. Es erinnerte den Capitain Wilfes an den Ges 
ſchmack von Rhabarber und Magnefla! Nach der Ausfage der weißen Menjchen, 
welche es gefoftet haben, beraufcht dies Getränk nicht in gleicher Weife wie 
Branntwein. Es gleicht in einigen feiner Wirkungen mehr Dem Opium, inden 
es eine Art von temporärer Lähmung, Zittern, Unficherheit und Verdrehung 
des Sefichtd und ein confuſes Gefühl in Kopf Hervorbringt. Die Anweſenheit 
eines narkotiſchen Ingredienzes in der Wurzel dieſer Pflanze ift fehr wahrſcheinlich. 
Ihr Blatt wird mit der wohlbefannten Betelnuß viel zum Kauen gebraucht, 
und trägt, wie man glaubt, mit dazu bei, Den angenehmen Buftand milder 
Aufregung Hervorzubringen, welcher das Entzücden des Betelfauend ift, Daraus, 
aß tiefe narfotiiche Subſtanz während des Proceſſes des Zerfauens und Her⸗ 
audprefiend audgezogen wird, erflärt fich die beraufchente Kraft, welche dieſes 
Getränk befonmt, che Die gewöhnliche Gährung und die Erzeugung von Alfohol 
Zeit gehabt hat anzufangen. Gleichwohl ift e8 auch an und für fich nach dem, 
was wir von den allgemeinen Gigenfchaften des Speichels wiflen, ſehr wahr« 
ſcheinlich, daß er in den Ingredienzen Der Wurzel eine chemifche Verwandlung 
bewirkt, auf welcher zum Theil ihre beraufchende Kraft beruft. Und die Wahre 
ſcheinlichkeit einer folchen Verwandlung wird noch größer, wenn wir bedenfen, 
Laß bie berauſchende Kraft des Blattes fich dem Betelfauer erft Dann bemerflich 
macht, wenn bie Rolle, welche er zerfaut, in feinen Munde erweicht und mit 
Epeichel gefättigt if. | 

Auf den Zonga-Infeln wird die Avawurzel, wenn fle troden iſt, mit einer 
Art oder einem anderen jcharfen Inſtrument in eine Stüde zerfpalten, rein 


74 Chemie. 


geichabt und dann der dienenden Begleitung zum BZerfauen übergeben. Nies 
mand bietet fich zum Zerfauen an als junge Leute, die gute Zähne, einen reinen 
Mund und feinen Schnupfen haben. Dft helfen die Weiber. 


Die Weine. 


Meine unterfcheiden fich von Bieren hauptfächlih durch drei Merkmale: 
1) enthalten fie wenig von jenem feften nahrhaften Stoff, welcher unjer einheis 
mifched Bier in Stand jegt, eben jo wohl den Körper zu ernähren, ald den 
Durft zu löſchen und die Lebendgeifter anzufrifchen. 2) find fie frei von jeder 
bitteren und narfotiichen Ingrebieng, wie der Hopfen, den wir zu fo vielen 
unjerer englifchen Ale thun. 3) gehen fie alle von ſelbſt ohne die Hinzuthat 
von Hefe in Gährung über; folglich enthalten fie außer der Eſſigſäure, von 
welcher der jaure Geſchmack fauren Bieres herrührt, noch andere Säuren. 

1) Uepfel- und Birnweine — Eider und Birnwein find wohlbe 
kannte gegohrene Getraͤnke. Erfterer wird befonders in England, Nord-Amerifa 
und Frankreich viel zubereitet und conjumirt. 

Der ausgepreßte Saft ded Apfeld und der Birne enthaͤlt fchon gebildeten 
Traubenzucker. Wenn man ihn fich jelbft überläßt, fängt er bald ohne Hinzu 
fügung von «Hefe zu gähren an; während diefer Gaͤhrung wird der Zuder in ber 
fhon beichriebenen Weiſe in Alkohol verwandelt. 

Cider it an Geſchmack, Säure, Stärfe und folglih an Dualität nad 
vielen Limftänden verfchieden. Die Aepfelforten, welche man zu diefem Zwed 
pflanzt und gebraucht, der Grad der Reife, welche man ſie erreichen Täßt, ehe 
man fie abpflüdt, Die Zeit, welche. man ihnen, che man fie zerqueticht, zum 
Mürbewerten oder Gähren läßt, die Geſchicklichkeit, mit welcher die verfchiedenen 
Arten gemijcht werden, ehe man fie in die Mühle bringt, die Befchaffenheit des 
Klima's und der Jahreszeit, die Qualität des Bodens, die Art und Weije, wie 
die Bäume behandelt werden, alle dieſe Umſtaͤnde afflciren die Qualität des aus⸗ 
gepreßten Saftes, wie er von der Quetjchmühle fließt, wefentlih; und dann 
kann die nachherige Behandlung des Saftes an hundert neue verſchiedene Schat⸗ 
tirungen unter den verfchiedenen reifen von demfelben Safte gewonnenen Gidern 
bervorbringen. 

Trot diefer Verfchiebenheiten in ber Qualität gibt es gewiffe allgemeine 
chemiſche Merkmale, in welchen alle Uepfelweine übereinfommen. Sie enthalten 
wenig Extractivs oder feften nahrhaften Stoff. Kein bitteres narkotiſches In⸗ 
gredienz wird ihnen hinzugefügt. Sie enthalten durchſchnittlich ungefähr 9 
Proc. Alkohol und gleichen fo den fchwächeren ChampagnersWeinen und unferen 
ftärferen Englifchen Alen. Bon Malzgetränfen unterfcheiden fte ſich chemiſch 
auch Dadurch, daß fle ftatt Eſſig⸗ Milchjäure enthalten. 

2) TZraubenweine. — Wein im eigentlichen Sinne nennen wir ges 
wöhnlich den gegohrenen Saft der Traube. Diefer Saft.enthält, wie ber des 
Apfels, fchon gebildeten Traubenzuder; und wie der Saft des Apfels, der Birne, 
der Stachelbeere und der meiften anderen Brüchte, gebt er Teicht und fchnell in 


Künftlide Getränke. 75 


freiwillige Gährung über. Bei gewöhnlichem Sommerwetter fängt Der Elarfte 
Traubenjaft innerhalb einer halben Stunde an, trübe auözufehen, Dick zu werden 
und Basbläschen von fich zu geben. Schon hat die Gaͤhrung begonnen; und 
innerhalb 3 Stunden bat fich deutlich eine gelbe Lagerung von Hefe an der 
Dberfläche angefammelt, und eine nicht unbedeutende Duantität von Alkohol 
in der Fluͤſſigkeit jelbft gebildet. Es ift noch ein Geheimniß, auf welche Weife 
der Keim der Hefenpflanze Zugang zu dem flüffigen Safte erlangt, und dies in 
folder Quantität, daß er eine faſt augenblidliche Gährung veranlaft. Traus 
benwein ift in Zufammenfegung und Qualität nach taufend Umſtaͤnden ver« 
ihieten. Das Klima des Landes, die Beichaffenheit der Jahreszeit, der Boden 
der Dertlichkeit, die Art der Traube, die Urt und Weile des Baues, die 
Zeit der Weinlefe, die Art und Weiſe, in welcher die Frucht nach Dein Eins 
jammeln behandelt und ausgepreßt ift; wie der Saft oder Moft gährt, die 
Aufmerfjamfeit, welche auf den jungen Wein verwandt wird, die Art, wie er 
behantelt und aufbewahrt wird, Die Temperatur, in welcher man ihn aufbes 
wahrt, die Ränge der Zeit, während welcher Died gefchieht, — diefe und noch 
viele andere Bedingungen entjcheiden über die Zufammenfegung und Qualität 
des MWeind. Doch enthalten alle Traubenweine: 

a. Eine beträchtliche Duantität von Alkohol oder reinem Weingeift. Dieje 
Duantität ift in verfchiedenen Weinarten verjchieden, und wechfelt fogar in 
Beinen von derjelben Art bedeutend. So beträgt die Quantität von abfolutem 
Alkohol tn unferen am beften befannten Weinen dem Maaße nach: 


Auf 100 Maag Auf 100 Maaß 
Portwein 21—23 Rheinwein 8—13 
Keres 15—25 Mofelwein 8— 9 
Madeira 18—22 Malvafter 16 
Marſaia 14—21 Tofayer 9 
Claret 9—15 Champagner 5—15 
Burgunder 7—13 


Die Weine, die man gewöhnlich bei und trinft, find alfo an Weingeift 
zwei⸗ oder dreimal flärfer ald die von Branfreich ober Deutfchland, 


b. Eine mehr oder weniger bedeutende Quantität Traubenzuder, welcher 
ber zerſegenden Wirkung der Gaͤhrung entgangen iſt. Diefer gibt den Weinen 
ihren füßen Beichmad. Die Stufenfolge der Süßigfeit von beflimmten Weinen, 
wie le auf den engliſchen Markt gebracht werden, ift folgende: 


Glaret, Burgunder, Rhein⸗ und Mofelwein enthalten feine merkbare 
Duantität Zuder. 


Xeres enthaͤlt A4—20 Gran in der Unze 
Madeira * 6—20 „ LT a 7 
Ghampagner „ 6-28 ,„ von 
Portwein „ 16-34 „ vorn 
Malvaiter » 5666 „ von 


Tokayer / 4 vv vum 


76 Chemie. 


Samoswein enthält 88 Gran in ber Unze 
Pararethe „ 94 „ [24 ” „ 


Die vier legten heißen füge Weine. Zu dem Saft der ChampagnersTraube 
thut der Pflanger Zucker hinzu. Dies ift nochwendig, nicht allein um ihm Kraft 
zu geben, fondern um ihn fchäumend zu erhalten und zu verhindern, daß er 
fauer wird, Merfwürdig ift, dag die Auswahl der Hinzugefügten Zuderart 
großen Einfluß auf den Geſchmack des Weines ausübt. Thut man zu demfelben 
Champagner, doppelt raffinirten Rohre oder Runfelrüben-Zuder, fo wird ber 
eine dem Getränk das Aroma und den lichlichen Gefchmad des Rohrſaftes, ber 
andere den unangenehmen Gejchmad der Aunfelrübenwurzel geben. Im Wein 
entdeckt der Geſchmacks- und Geruchsſinn vom Zuder berrührende Spuren von 
Unreinbeit, welche weber Auge, noch Nafe, noch Mund in dem gereinigten 
Zucker felbft entdecken kann. 


c. Eine wechſelnde Quantitaͤt von freier Säure, welche ihnen einen mehr 
oder weniger entfchieden jauren Geſchmack gibt. Wir haben gefehen, daß weder 
Malzbier, noch Cider jemals ganz frei von Eäure find; daſſelbe ift der Fall 
mit dent Wein, nur Daß ber Traubemwein durch Weinjäure faner wird. So ift: 

Eſſigſaͤure die EAure bes Malzbierg, 
Milhfäure „ „ „m BDirjenbiered, Milhbieres und Eiders, 
MWeinfäure „ u  .. Traubenweinß. 

In allen drei Getränken findet fich Eſſigſäure in größerer ober geringerer 
Duantität, da dieſe fich immer erzeugt, wenn man die Gährung alkoholifcher 
Getränfe zu weit vor fich gehen läßt. Aber Milchjäure findet fich weder im 
Malzbier, noch im Traubenwein in merfbarer Quantität; noch findet fich Wein⸗ 
fäure im Bier oder im Cider. Dieje Säuren charakterifiren alſo die Getränke, 
in welchen fie fpeciell fich vorfinden, und ergeben einen beftinnmten chemifchen 
Unterjchied zwijchen den drei Claſſen gegohrener Getränke, welcher eine jede 
angehört. 

Weinjäure findet fih in dem Saft der Traube in Verbindung mit Potafche, 
und bildet fo Cremor Tartari, eine Subftanz, welche einen wohlbefannten fauren 
Geſchmack hat. Wenn man den gegohrenen Saft in Ruhe Täßt, ſcheidet fich diefe 
Subftanz allmälig son der Flüffigkeit aus und fchlägt als eine Krufte oder 
MWeinftein an den Seiten der Faͤſſer und Wlafchen nieder. Deshalb werden 
gute Weine durch langes Aufbewahren weniger fauer, und jedes zu ihrem Alter 
binzufommende Jahr vermehrt nach Verhältnis ihren Marktwerth. 

Hinſichtlich der Säure reihen fih unfere gewöhnlichen Weine in folgender 
Ordnung: 

Am wenigften fauer ift Xeres. 
Dem nächit fommt Portwein, 
n „ „ Champagner, j 
vn „  Claret, 
„ „ „  Mabeira, 
nn » Burgunder, 


Künftlihe Getränke, 77 


Dem nächft kommt Rheinwein. 
Am fauerften ift Mofelwein. 

d. Eine ganz geringe Ouantität ätherifcher Subftanz, welcher man ben 
Ramen Weinäther gegeben bat, und welcher die Traubenweine den angenehmen . 
Weingeruch verdanken, der jte alle charakterifirt. In abgefondertem Zus 
Ranbe ift dieſer Aether ſehr flüffig, Hat einen fcharfen unangenehmen Geſchmack, 
dabei aber einen fo ausnehmend Eräftigen Weingeruch, daß er fat beraufchend 
wirkt. In dem Saft der Traube findet er fich noch nicht, ſondern erzeugt fich 
erft während ter Gaͤhrung. Auch fcheint er Durch Aufbewahren an Quantität 
zuzunehmen, da der Geruch von alten Weinen ftärker ift ald der von neuen. 
Doch ift der Geruch dieſer Subftanz fo Fräftig, daß wenig Weine mehr von ihr 

als ?/sone ihres Gewichts enthalten. 

e. Außer dem allgemeinen Weingeruch, der von dieſem Weinätber perrührt, 
enthalten alle Weine eine oder mehrere, mehr oder weniger duftige Subftangen, 


-  weldyen ein jeder feinen befondern Duft verdankt. Da diefe dem Wein feinen 


befonderen Charakter geben, fo find fle im jeber verfchiedenen Art mehr oder 
weniger verichieden. Sie finden fich in noch geringerer Quantität als felbft der 
Weinaͤther, und von ihrer chemifchen Befchaffenheit wiffen wir bis jegt noch 
jehr wenig. 

Traubenwein ift das bauptfächlichfle gegohrene Getränk der ſuͤdlichen 
Völker Europas. In Großbritannien betrug der Verbrauch im Sahr 1853 
über 7,000,000 ®allonen (7,197,572). Hauptfächlich confumiren Dies bie 
höheren Stände. Für den armen Mann fft in England Bier ein Surrogat, 
während in Schottland und Irland mehr oder weniger mit Wafler verbünnter 
Whisky feine Stelle vertritt. 

3) Balmwein oder Toddy. — Der Saft vieler Palmbäume iſt reich 
an Zucker. In einigen Ländern zieht man diefen Zuder aus, indem man den 
gefammelten Saft abdampft, in anderen läßt man ben Saft gähren, welches er 
freiwillig und in heißen Klimen in ſehr Eurzer Zeit thut. Dieſe Gährung ver⸗ 
wandelt den Zucker in Alkohol und den Saft, welcher ihn enthält, in ein be= 
raufchended Getraͤnk. Auf den Inſeln des Indischen Archipelagus, den Mo⸗ 
lukken und den Philippinen bereitet man auf dieſe Weije aus dem Saft ber 
Gommutipalme (Saguerus saccharifer) ein beraufchendes Getraͤnk. Dies heißt 
auf Sumatra Neva und der Batavifche Araf wird daraus deftillirt. Die Kos 
fospalme gibt den Palmwein, ber in Indien und dem ftillen Meer unter dem 
Ramen Toddy bekannt iſt. Die Art und Weife, wie man ihn auf den Inſeln 
des ftillen Oceans einfammelt, wird von Capitain Wilfes fo beichrieben: 

„Der Karaca oder Toddy wird aus der Blumenfcheide des Kokosnuß⸗ 
baumes gewonnen, welche gewöhnlich ungefähr 4 Fuß lang iſt und zwei Zoll 
im Durchmefier hat. Aus diefer Blumenjcheide erzeugt ſich Blüthe und Frucht; 
um fich aber den fo beliebten Toddy zu verfchaffen, ift ed nothwendig, die Ratur 
daran zu hindern, daß fie im Hervorbringen der Brucht ihren gewöhnlichen 
Lauf nimmt. Zu diefem Zweck verbindet man die Blumenfcheide dicht mit Plat⸗ 
ting, ſchneidet dann das Ende der Blumenfcheide ab und hängt eine Kokos⸗ 


78 Shemie. . 


ichugichaale Tarunter, um ten Saft beim Ausichtwigen aufzufangen. Gin Baum 
gibt 2—6 Rölel Karaca. Wenn er friih vom Baum kommt, it er der Mil - 
der jungen Kokosnuß ahnlich und ganz klar, jobald er aber wenige Stunden 
ſteht, gebt er in Sährung über und wird jauer. Wenn ter Saft abzutropfen 
aufbort, ichneitet man ein anderes Stück ter Blumenſcheide ab, unt je oft das 
Fliegen aufhört, wieterholt man tenjelben Proceß, bis die Blumenſcheide ganz 
Darauf gegangen ift. Bald tarauf bildet jich über diejer eine neue Blumenſcheide, 
welche man wachjen läßt, und wenn fie groß genug if, in terielben Weile 
behandelt.” 

Tiefe Art und Weije, die Blumenicheite abzujchneiten, it eine jehr ge 
wöhnliche, um fich Ten jüßen Safı der Palmbinme zu verjchaften. Doch ge 
winnt man ihn in einigen Käntern, wie ten des Zuderahornd und der Manna⸗ 
eicbe, intem man einfach nabe an der Epige des Baumes einen Einſchnitt 
macht. Dieſe Gewohnheit herrſcht beionterd im Innern Afrika's und in der 
indifchen Provinz Bahar, wo man Lie fruchtbare Dattelpalme des jo beliebten 
Toddoes halber jährlich bluten läßt. Dr. Hoofer beichreibt einen Hain von Dattel« 
palmen , in welchem er an ben Ufern des Soane⸗Stroms in jener Provinz fein 
Lager aufjchlug , folgendermaßen: 

„Alle waren fonderbar verwachien, da die Bäume durch tie Gewohnbeit, 
alljährlich eine Seite um tie andere um Toddy anzuzapfen, im Zidzad wuchjen. 
Der Einſchnitt geichieht gerade unter der Krone und geht nach oben und nach 
innen. Unter der Wunde hängt man ein Gefäß auf und leitet ten Saft durch 
ein Feines Stück Bambus binein. Diefe Operation ihut der Frucht jelbft 
Schaden; obwohl fle gegeifen wird, ift fie doch kleiner und weit jchlechter ale 
tie Afrikanische Dattel.“ 

In Indien Täpt man im Allgemeinen hauptſächlich Pie Zächerpalme des Tod⸗ 
298 halber binten. In Vahar zieht man aber ten Dartelbaum vor, weil jein Saft 
leichter in Gährung über geht. In ten fruchtbaren Dajen, welche über tie 
Wüſte Sahara in Rord-Afrifa verftreut find, wo Dattelwälter den Boden bes 
beten und die Huuptnabrung, wie den Hauptreichthum der Einwohner bilden, 
wird diefe Art Palme in ver Blürhezeit von den Arabern und anderen Muha⸗ 
medaniſchen Stimmen befländig angezapft. Den Saft nennen fie Lagmi, und 
jeder Baum gibt davon in einer einzigen Racht 2—3 Röſel. Wein von der 
beften Qualität aber jollen Die Delpalmen geben, welche an der weftafrifantichen 
Küfte wachien, während an Pruchtbarfeit wenige eine andere der Indiſchen 
Balmen übertreffen, welche oft in 24 Stunden an 100 Nöjel Toten gibt! 

In der Oaſe Zofar, die zu Tunis gehört, findet man den Dattelwein in 
jedem Hauſe und flieht in den Straßen ihrer Städte oft taumelnde Araber. 
Sie find firenge Muhamedaner; doch rechtfertigen fle ihren offenbaren Unge⸗ 
borjam gegen den Propheten, indem ſte fagen: „Lagmi ift fein Wein, und des 
Propheten Verbor bezieht fi nur auf Wein.” 

Der Safı ded Palmbaumes ift nach der Art der Palme und nach der 
Dertlichkeit, in welcher fle gewachſen ift, verichieden. ine chemiiche Unter⸗ 
fuchung beffelben ift, glaube ich, bis jegt noch nicht veröffentlicht. . Wenn er 


. Künſtliche Getränke, 79 


vom Baume fließt, ift er fü und ohne beraufchende Eigenfchaften, wenn man 
ihn aber kurze Zeit ſtehn läßt, gebt er gewöhnlich in Bährung über und wird 
zuerft berauſchend, dann jauer. 

Der Dattelfaft in der Sahara ſchmeckt, wenn man ihn auf der Stelle trinft, 
wie reine fette Milch; läßt man ihn aber eine Nacht oder höchſtens 24 Stunden 
ſtehn, jo geht er gewöhnlich in Gährung über und befommt, abgefehen davon, 
daß er ’veißlich bleibt, die fchäumende Qualität und den Gefchmad des Cham⸗ 
pagners. Dieſe Qualität ift unzweifelhaft nach der Art des Baumes und den 
Orte, wo er wächft, verfchieten. Wird er deftillirt, fo gibt der gegohrene 
Saft einen ftarfen Branntwein, der in Afrifa wie in Aflen faft überall aus ihm 
gezogen wird. 

In Chili bereitet man aus einer befonderen Art Palme Wein; in Indien 
und anderen Theilen Aflend wird Palmwein fehr bedeutend confumirt; in Afrika 
iR er faft das einzige gegohrene Getränf, welches in allgemeinem Gebrauch iſt. 
Obwohl wir alfo in Europa fo wenig von ihm wiffen, fo wird doch der Wein 
des Palmbaumes als erheiterndes Getraͤnk von einer weit größeren Menfchene 
menge getrunfen, als der Wein der Traube. 

4) Zuckerrohrwein oder Gnaracho. — Wie der Eaft ded Palın- 
baumes geht auch der des Zuderrohres von felbft in Gährung über und erzeugt 
ein beraufchendes Setränf, Diejen Rohrwein nennen die Reger Guaracho und 
Ihägen ihn ſehr. Er enthält natürlich alle Ingretienzen ded Rohrſaftes, aus⸗ 
genommen die, welche während der Gährung verwandelt werden oder durch na⸗ 
türliche Wetfe verfchwinden und die, welche nicberfchlagen, wenn er aufgeklärt 
wird. Doch ift mir nicht bekannt, daß dies Getränk ſchon einer beſonderen ches 
mischen Unterjuchung unterworfen ift. 

5) Pulque oder Alo&äwein ift das Lieblingsgetränf der niederen Stände 
im mittleren Theile der Hochebene von Mexico. Man gewinnt ihn, indem mar 
den Saft ter Maguli oder amerifagjjchen Aloe gähren läßt, welche zu dieſem 
Zwecke in den Pflanzungen gebaut wird. Diefe Pflanze wächft langfam; wenn 
fe aber audgewachien ift, erreichen ihre Blätter eine Höhe von 5— 8 Buß und 
noch darüber. Sie blüht durchfchnittlich in 10 Jahren nur einmal und der 
Saft wird, wie beim Palmwein, aus dem Blüthenftengel gezogen. In den 
Pflanzungen beobachtet der Indianer jede Pflanze, wenn die Zeit ihrer Blüthe 
naht, und gerade dann, wenn der Blüthenjchaft zu erfcheinen im Begriff if, 
macht er einen tiefen Schnitt und fchöpft dad ganze Herz oder den mittleren 
Theil des Schafted aus, indem er nur die äußere Ninde übrig läßt. Dieſe 
bildet ein natürliches Baffin oder einen Brunnen, ber ungefähr 2 Fuß tief 
und 1/2 breit ift. In biefen Brunnen fließt der Saft, der den Schaft ernähren 
follte, fo rafch ein, dag man ihn zweimal, zuweilen auch dreimal des Tages 
außgießen muß. Um dies zu erleichtern, werden die Blätter an einer Seite ab« 
geichnitten,, fo daß das mittlere Baſſin offen baliegt. Beim Herausfließen bat 
der Saft einen ſehr fügen Gefchmad und nichts von dem unangenehmen Geruch, 
welchen er nachher befommt. Man nengt ihn aguamiel oder Honigwaſſer. 
Er geht von ſelbſt in Bährung über, und eine Feine Quantitaͤt von altem 


80 Chemie, 


gegohrenem Saft erzeugt in dem frifchen fehr ſchnell Gaͤhrung, gerade wie Sauer- 
teig in frifchem Teig. Man pflegt daher gewöhnlich einen Theil des Saftes bei 
Seite zu fegen, damit er 8S—10 Tage für fich abgefondert in Gährung übergeht, 
und dann hiervon in jedes Gefäß voll friichen Saft eine kleine Quantität hinzu⸗ 
zuthun. Dann erfolgt die Gährung auf der Stelle und in 24 Stunden wird er 
Pulque, und am beften zum Trinken geeignet. Cine gute Maguli gibt täglich 
8—15 Nöfel, und zwar zwei, oft brei Monate hintereinander. j 

Die chemifchen Verhandlungen, welche während der Gährung dieſes Saftes 
Statt finden, find um fo intereffanter, als fle in einigen Beziehungen ganz eigens 
thümlicher Art find. 

1) erzeugt fich wie in anderen gegohrenen Getränken Alkohol, Dies zeigt 
fich in der ein wenig beraufchenden Kraft dieſes Getränkes, wie darin, daß es, 
wenn man e8 deitillirt, einen Branntwein gibt. Dieſer hat den Ramen aguar- 
diente de maguly. Die durchfchnittliche Quantität bes Alkohols im Pulque 
iſt noch nicht conftatirt. 

2) bildet fich auch eine Säure, da der Pulque als Getränf dem Gider 
ähnlich befchrieben wird. Don der Natur berfelben weiß man aber bis jegt 
noch nichts. " 

3) aber ift das merfwürbigfte Reſultat der Gaͤhrung, daß der faft geruchlofe 
Saft einen flinfenden und unangenehmen Geruch von verborbenem Fleifch bes 
fommt. Dies bewirkt, daß das Getränk, befonderd von Europäern, zuerft mit 
Ekel angejehen wird. Doc) ift es dabei jo Fühl, angenehm und erfrifchend, dag 
der Pulque, fobald der erfte Ekel überwunden ift, felbft von Europäern jedem 
anderen Getränf vorgezogen wird, 

Die Ratur diefes fchlecht riechenden Ingredienzes und die chemiſchen Ver⸗ 
wandlungen, durch welches es erzeugt wird, ſind noch nicht erforſcht. Doch 
ſinden ſich Subſtanzen dieſer Art zuweilen in der Iebenden Pflanze, 

Die Eingeborenen von Merico fchreibeg ihrem Nationalgetränf viele gute 
Eigenfchaften zu. Es ift ein ausgezeichneted Magenmittel, befördert die Vers 
dauung, führt Schlaf herbei und wird ald Arznei für viele" Krankheiten gefchägt. 
Die Magulge Pflanzungen finden ſich Hauptfächlich in der Nähe von großen 
Städten, wie Puebla und Merico, Der Pulque überfchreitet fobald den Zus 
ftand der Gährung, in welchem er am angenehmften zu trinfen ift, daß bie 
Fabrikation deffelben nur da Lohnt, wo ein fchneller Verfauf gewiß if. Der 
Branntiwein oder Aguardiete, welcher diefer Unbequemlichfeit nicht unterworfen 
ift, wird viel fabrieirt und in größerem Umfange confunirt, als ber Bulque ſelbſt. 


Die Branntweine, 


Wenn gegohrene Spirituofen, wie die oben befchriebenen, in ein offened 
Gefäß gethan und unter einem Feuer erhigt werden, bis fie anfangen zu fleben, 
fo feigt der Alkohol, den ſie enthalten, zugleich mit ein wenig Dampf als Dunft 
auf und entweidht in die Luft. Vollzieht man dies Sieden in einem verfchloffenen 
Gefäß, aus welchem die auffteigenden Dünfte durch ein Rohr in einen Eühlen 


Künftlide Getranfe, 81 


Recipienten geleitet werten, jo verdichten fie ſich wieber zu einem flüjfigen Zus 
Rand, Dies ift der, Deftillatien‘‘ genannte Proceß, und Das Gefäß, in welchem 
er vollzogen wird, beißt ein Kolben. 

Die Deftillation. — Eine mit einem NRecipienten verbundene Retorte, 
worüber man einen Strom Falten Waſſers fließen läßt, gibt Die einfachſte Ges 
Ralt eines jolchen Kolbend ; doch hat man viele complicirtere Apparate. erfunden, 
um den Proceß mit Erfparnig und Wirkjamfeit zu leiten. Der deſtillirende 
und fich verdichtende Spiritus ift mehr oder weniger mit Wafler vermilcht; 
man kann ihn aber vermittelſt aufeinander folgender Deftillationen, — joges 
nannte Rektififationen, — ganz waflerfrei befommen. Dann ift er das, was 
die Chemiker abjoluten Alkohol nennen. Diefer reine oder abfolute Alkohol 
bat einen eigenthümlichen jcharfen Geruch, einen heißen, feurigen und bren« 
nenden Geſchmack, ift ungefähr '/s Leichter al8 Wafler, brennt, wenn man ihn 
in der Luft anzundet, leicht, aber mit einer blaſſen Flamme, und ift in hohem 
Grade berauſchend. Man verwendet ihn nur zu chemiichen Zweden. Der 
Beingeift oder gewöhnliche Alkohol der Kaufläden, welchen wir in unſeren 
Lampen verbrennen und zu anderen häuslichen Zwecken gebrauchen, iſt immer 
mit einer bedeutenden Quantität Wafler verbünnt. 

In den verfchiedenen DBranntweinen, welche wir als erheiternde Getränke 
genießen, iſt der Alkohol noch mehr mit Waſſer verdünnt. 

So ift dad Verhaͤltniß des Alkohols nach Procenten in einigen unferer 
gewöhnlichen im Handel gangbaren Brannnweinarten folgendes: 


Alkohol. 
Nah Gewicht. Nah Maag. 
Britiicher Spiritus befter Eorte enthält 50 57 
Handels⸗Cognak „ — 50—54 
Aum n — 72—77 
Wachholderbranntwein n — 50 
Whisky F — 59 


ſo daß wir ſagen können, daß Die Branntweine, die wir genießen, Durch- 
ſchnitilich nur zur Hälfte oder zu °/s ihres Gewichtd aus abjoluten Alkohol ber 
feben. Sie find ungefähr zweimal jo ſtark, ald unjere Port⸗, Xeres⸗ und Mas 
deiraweine. 

Alle gegohrenen Spirituoſa geben, wenn man fie deſtillirt, einen Brannt⸗ 
wein, welcher einen eigenthüͤmlichen Geſchmack und gewöhnlich einen eigenen 
Ramen hat. Co gibt Wein Cognaf; gegohrene Melaffe Rum; Mais, Roggen 
und Kartoffeln Korn⸗, Roggen⸗ und Kurtoffelbranntweine; Malzgetränke unjeren 
ihottiichen und iriſchen Whisky u. ſ. w. 

Das Verfahren des Deitillateursd. Obwohl Malz ‚und andere 
in ber gemöhnlichen Weiſe gegohrene Spirituofa durch Deitillation Branntwein 
geben, jo leitet Doch der Deftillateur von PBrofejiton feine Gährungsoperationen 
in einer ewas anderen Weile ald der Brauer, deflen Zwed blos die Erzeugung 
von Bier ifl. 

So haben wir erfllich gefehen, daß während der Gährung ber Würze bei der. 

v, 6 


82 Chemie, 


Bereitung von Bier ein großer Theil des Zuderd unverändert in ber Flüſſigkeit 
bleibt. Die Gährung wird gehemmt, ehe diefer Zuder in Alkohol verwandelt 
ift, damit das Bier angenehm zu trinken ift und ſich im Kaffe Halt, ohne ſauer 
zu werden. Der Zwed des Deftillateurd aber ift, aus feinem Korn eine mög⸗ 
fihft große Quantität von Spiritus zu erhalten; er verlängert deshalb den Gaͤh⸗ 
rungsproceß, biß der ganze Zucker fo weit als möglich in Alkohol und Kohlen⸗ 
fäure verwandelt iſt. Etwas davon unverwandelt zu laſſen, würde nicht allein 
einen Verluft an Spiritus zur Folge haben, fondern fönnte auch während der 
darauf folgenden Beftillation den Geſchmack und die allgemeine Qualität bes 
Spiritus beeinträchtigen. Um in diefem Punkt fiher zu geben, bedarf es alſo 
von feiner Seite einer ſcharfen Aufmerkjamfeit auf mancherlei geringfügige 
Umftaͤnde. 

Ferner erhält man den angenehmſten und am meiſten geſchätzten Korn⸗ 
ſpiritus, wenn man bei der Fabrikation nur gemalzte Gerſte anwendet. Dieſe 
gibt in Schottland und Laland den beſten Malzwhisky. Doch wird der Vortheil 
des Deftillateurd oft Dadurch vermehrt, daß er eine größere oder geringere 
Duantität von ungemalztem Korn oder felbft von Kartoffelftärke mit dem Malz 
vermifcht. Den Grund habe ich fchon früher in der Kürze erwähnt, doch ver 
dient die Sache eine ausführlichere Erflärung. 

Mir haben gefehn, Daß es das während ter Reimung der Gerfte erzeugte 
Diaftas ift, welches die Stärfe des Korns in Zuder verwandelt. Diefes Diaftas 
ift im Stande, auf diefe Weife faft taufendmal mehr Stärfe, als fein eigenes 
Gewicht beträgt, zu verwandeln; doch enthält gutes Malz nur hundert Theile 
Stärfe auf einen Theil Diaſtas. Letzteres Ingredienz wird alfo zehnmal jo viel 
Stärfe, ald mit ihm im beften Malz verbunden ift, in Zuder verwandeln, 
Deshalb Fann man in der Maifchfufe eine große Quantität Stärke entweder in 
der Geſtalt von zermalmtem, ungemalztem Korn oder in der von Kartoffelftärfe 
mit gewöhnlichen Malz vermijchen, und doch gewiß fein, daß das Diaftas des 
Malzes fie alle in Zuder verwandeln wird. 

Dies ift das, was der Deftillateur bei der Zubereitung von Kornwhisky 
thut; und der Vortheil davon beſteht darin, daß er die Koften der Malzung 
jeined Korns und den Verluft an Stoff (gewöhnlich 8 Proc.) erfpart, welchen 
die Gerfte beim Malzen regelmäßig erleidet. Auch ift er im Stande, zu dieſem 
hinzuzufügenden Korn ein fchlechtered oder billigered Material zu nehmen, als 
gewöhnlich zur Verwandlung in Malz gebraucht wird. Die auf dieſe Weiſe 
gewonnene Würze gibt, wenn fie gegohren und deſtillirt ift, einen Spiritus 
von etwas flrengerem und wenig angenehmem Gefchmad, ald wenn man bloßes 
Malz; gebraucht. 

Zugleich mit dem Spiritus beftillirt immer während der Deftillation von 
gegohrenen Getränfen eine Eleine, aber veränderliche Quantität von einer oder 
mehreren flüchtigsöligen Flüffigkeiten über, weldye fi mit dem Spiritus ver⸗ 
mifchen und ihm einen befonderen Geſchmack geben. Dieie flüchtigen Oele 
find in Art, Zufammenfegung und merfbaren Eigenſchaften je nach der Quelle 
des Zuders, welchen man hat gähren laffen, und nach den Subftanzen, welche 


Künftlide Getränke, 83 


ſich zugleich mit ihm in der Würze befinden, verfchieben. Daher ift jeder 
Epiritus, den man von verfchietenen gegohrenen Getränken erhält, durch 
feinen eignen charakteriftifchen Geſchmack unterfchieden. So befommt Cognak 
feinen Weingeſchmack von dem Saft der Traube, und Cognaks von verfchiedenen 
Gegenden ihren befonderen Geſchmack von den Weinarten, welche in jedem 
deſtillirt And. Rum bekommt feinen Geruch und Gejchmad von der Meliffe, 
Bhisfy feinen vom Gerftenmalz oder von dem mit Demfelben vermifchten Korn, 
Karteffelbranntırein von der gemaiſchten Kartoffel oder ihrer Schale, Palm⸗ 
hranntwein vom gegohrenen Toddy, der Aguardiente Merico’® von dem ſtark 
siechenden Bulque, der Arraka der Kalmuden von der gegohrenen Milch u. f. w. 
Auf den britifchen Inieln, im nördlichen Europa und in den Rordamerikanifchen 
Staaten und Colonien werden Hauptfächlich aus gemalstem und rohem Korn 
verfchledener Art Branntweine beftillirt. In den Vereinigten Staaten wird zu 
diefem Zweck am meiften Maid genommen. Auf dem Feſtlande Europas werden 
dam Kartoffeln in bedeutendem Umfange verbraucht ; und in unferen eignen 
Derillationen nimmt man gelegentlich Zuder dazu. 

Berbraubh von Branntweinen. — Die Fabrifation und Con⸗ 
fumtion von Branntwein ift, beionders in nörblichen Klimen, ausnehmend groß. 
In Großbritannien betrug die Quantität, welche in dem mit dem 5. Januar 
1854 endigenden Jahr beftillirt und verbraucht war, ungefähr 25,000,000 
Sallonen , die fich folgendermaagen vertheilten: 

Deftillirt. Gonfumirt. 
England 10,729,243 ®allonen. 10,350,307 Gallonen. 
Schottland 6,557,839 „ 6,534,648 n 
Irland 8,136,362 „ 8,136,362 n 
25,423,444 Sallonen. 25,021,317 Gallonen. 

Dies it eine ungeheure Quantität von Branntweinen, wenn man bedenli, 
dej He von einer Bevölferung von weniger ald 30 Millionen vertilgt wird. Bes 
ſonders groß erichienen die Zahlen bei Schottland und Irland, und könnten 
auf den erſten Anblick zu dem Schluß verleiten, daß die Eonfumtion von Alkohol 
im biefen Rändern weit größer wäre ald in England. 

Über eine Anwendung chemilchen Wiflend verändert diefen erſten Schluß 
weientlich. a 

In dem mit dem 10. October 1852 endigenden Jahre betrug die Quan- 
titͤt Ralz, welche in jedem der drei Länder zur Zubereitung von Bicr 
verbraucht war, nach Scheffeln: 

England 30,636,240 
Schottland 1,127,224 
Irland 1,266,344 

33,029,808 

Aus diefen Zahlen erhellt, daß von den 33 Millionen Scheffeln Malz, die 
in den drei Ländern zur Zubereitung von Bier verbraucht wurden, 30/2 Mill. 
«ein auf England fallen. Run gibt nach jährlihem Durchfchnitt ein Scheffel 
Real; 2 Sallonen von probehaltigem Spiritus, fo daß man, wenn man das 

6* 


84 | Chemie. 


jährlich in England zu Bier verarbeitete Malz zur Zubereitung von Whisky ver⸗ 
wenden wollte, die ungeheure Quantität von 61 Millionen Öallonen erhalten würte. 

Doch habe ich ſchon früher erklärt, daß bei der Gaͤhrung der Würze in ber 
Bubereitung ded Bierd nicht der ganze Zuder in Alkohol verwandelt wird: ein 
Viertel, zuweilen die Hälfte des ganzen Zuckers bleibt unverwandelt im Bier 
zurüd. Die Quantität Malz aljo, welche in England zur Zubereitung biefes 
milderen Getränfes verbraucht wird, gibt in der Wirklichkeit nicht Die Conjumtion 
einer fo großen Zahl von Gallonen von Branntwein an, ald ber Deftillateur 
daraus ziehen würde. Wenn wir vom Ganzen für den Buder, ber unver 
wandelt im Bier zurückbleibt, */a abziehen, fo wird bie wirklich in den Drei 
Ländern confumirte Quantität von Branntwein in Oallonen ungefähr folgende fein: 

England. Schottland. Irland. 

Spiritus als folder conjumirt 10,350,307  6,534,648 8,136,362 
Spiritus in Bier confumirt . 45,954,360 1,790,836 1,899,516 
Sefammt-Eonjuntion von Spiritud 56,304,667 8,325,484 10,035,878 


Wenn wir nun Diefe verfchledenen Gefammtfunmen mit der Bevölkerung 
eines jeden der 3 Länder dividiren, jo erhalten wir für die in jedem Lande pro 
Kopf confumirte Quantität von Branntweinen folgende Zahlen: 

England. Schottland. Irland. 
Gejammt-Eonfuntion in Sallonen 56" Mill. 8" Mill. 10 Mill. 
Bevölferung - 2200. 18 „3 „ 6'2,, 
Conjumtion in Gallonen pro Kopf 31 „ 2 „ 1!e 

Mas aljo die reine Confumtion von Alfohol in der Geftalt von einheis 
mifchen Spirituofen betrifft, fo erhellt, dag Schottland in Wirklichkeit nicht 
mehr verbraucht als England. Im Gegentheil verbraucht England etwas mehr 
als Schottland, und beide bedeutend mehr als Irland. Pro Kopf feiner Be⸗ 
wölferung conjumirt Irland weniger ald die Hälfte von dem, was in England, 
und etwas mehr als die Hälfte von dem, was in Schottland conjumirt wird. 
Dieſe verhältnigmäßig fehr geringe Conſumtion in Irland ift nicht etwa einer 
durch die Anftrengungen von Vater Matthias und Anderen bewirkten größeren 
Maͤßigkeit zuzufchreiben. Im Gegentheil Hat jeit feiner Zeit die Confumtion 
pro Kopf bedeutend zugenommen, wie aus einem DVergleich der beiden Grenz 
punfte des letzten Jahrzehnts erhellt. So betrug: 

Im Jahr Die Bevölfrung Die Confumtion von Branntweinen 


Im Ganzen. pro Kopf. 
1842 8,175,124 5,289,650 5a Nöſel. 
1852 6,515,794 8,208,256 10 „ 


Die Eonfumtion pro Kopf nimmt alfo in Irland reißend fchnell zu, und 
es ift, meine ich, billiger und ficherer, Diefe Zunahme einem allgemeinen Fort⸗ 
jchritt im materiellen Wohlftande, ald der Vermehrung von Unmäßigfeit und 
Ausfchweifung zugujchreiben. 

Aber bei der Abſchätzung der wirklichen und relativen Gonjumtion von 
Alkohol in England und Echottland find noch zwei andere Punkte in Berech⸗ 
nung zu ziehen, Wein und fremde Branntweine werben bei und in bedeutenden 


Künſtliche Getränke. 85 


Duantitäten importirt und confumirt._ So wurden in dem mit dem 5. Januar 
1854 endigenden Jahre zur Conſumtion bei uns in Gallonen eingeführt: 
Behalt von echtem Spiritns. 


- Gallonen. Gallonen. 
Wen ...2... 7,197,572 1,440,000 
Fremde Branntweine 5,131,618 
6,571,618 


Aun ift in England die Conjumtion von Wein und fremden Brannt- 
weinen unter ben mittleren und höheren Stänten unzweifelhaft weit allgemeiner 
ald in Schottland. Don dem in der Geflalt von importirten Spirituofen 
confumirten 6'/2 Millionen Spiritus muß man alfo eine weit größere Quantität 
pro Kopf auf England rechnen. Angenommen, daß Alles in Schottland und 
England confumirt wird, indem wir Die unbedeutende Conſumtion von Irland 
aus dem Spiele laſſen, und daß jeder Engländer auf eine Flaſche bes Schoiten 
ſeine wei Flaſchen trinkt, ſo 

trinkt der Engländer 22/0 Nöſel 
der Schotte 11 „ 
Branntwein in der Geſtalt von importirten Spiritwofen. Addiren wir dieſes 
zu der Gonfumtion in der Geſtalt von einheimifchen Spirituojen, fo erhalten 
wir in Gallonen pro Kopf folgende Gcfammt-Conjumtion: 
England. Schottland. 


In einheimiſchen Spirituofen 31/8 218ıs 
In importirten Spirituojen 03,9 0318 
Geſammtſumme pro Kopf 3*/s 2llus 


ster in England beträgt die Gefammt-Conjumtion ungefähr 3/2, in Schottland 
ungefähr 3 Gallonen pro Kopf. Aus diefen Zahlen folgt an und für fich noch 
feine außergewöhnliche Unmäßigkeit in beiden Ländern. Würde die Gefanmt- 
Duantität von Branntweinen, die wir genießen, in der Wirklchkeit gleich ver⸗ 
theilt, und von der ganzen Bevölkerung nach oben angegebenem Berbältniß con« 
insirt, jo würden nicht nothwendig Bälle von Trunfenheit vorfommen. Nur 
weil Viele mehr, ald ihnen zufommt, genießen, zeigen flch Die Uebel der Un⸗ 
mäßigfeit ſo oft. 

wei mit diefem Gegenſtand zufammenhängende chemifch-phHftologifche 
Punkte verdienen unfere Beachtung. Man glaubt fehr allgemein, und es ift 
wenigſtens fehr oft behauptet (und, was am merfwürdigften ift, am nachdruͤck⸗ 
lichſten und ernfteften in Schottland felbft), daß in Schottland Unmäßigfeit ein 
weit gewöhnlicheres Laſter tft, als in England. Wie kanrı dies aber der Fall 
fein, da Loch die durchfchnittliche Confumtion an Alkohol auf das Individuum 
in England !/e mehr beträgt, ald in Schottland? Anderſeits hat man Irland 
nod mehr als Schottland aus feiner Linmäßigfeit und Liebe zum Whisky einen 
Bermurf gemacht, und doch beträgt hier die Confumtion von Alkohol in irgend 
welher Geſtalt auf das Individuum wahrfcheinlich weniger al8 in irgend einem 
nördlichen Lande, fei ed in Europa oder in Amerika. 

Kann diefe Behauptung wahr fein, oder was hat man dazu für Gründe? 


86 Ebemie, 


1) Was die angebliche größere Nüchternheit Englands betrifft, fo muß bes 
merkt werden, daß hier mehr als */a alles getrunfenen Alfohols in der Geftalt 
von Bier genofien wird. Dieſes Getränk nährt, wie wir gefehen haben, den 
Engländer, indem es ihn zugleich erheitert. Alles, was die gegohrene Würze 
des Deftillateurs außer dem Alkohol enthält, bleibt im Kolben zurüd und gebt 
als Rahrung für den Menjchen verloren. Alles, was die Würze des Brauers 
enthält, mit Ausnahme deſſen, was fich beim Abflären ausſcheidet, bleibt im 
Bier und wird getrunfen. Buder und Kleber fint im Malzgetränf im Betrage 
von 5—8 Procent jeines Gewichts vorhanden, und indem fle den Organismus 
flärfen , mobificiren und mildern fle die Einwirkung des Alkohols, mit welchem 
ſte vermifcht find. Sie geben Malzgetränfen bafjelbe Verbältniß zu Brannt- 
weinen, in welcyen Kakao zu Thee und Kaffee ſteht. 

Außerdem wird Bier, fo zu fagen, mit Hopfen verſetzt, deſſen flärfende, 
narkotifche und beruhigende Kraft die beraufchende Wirkung des Spiritus ein« 
fchränft, hemmt und moderirt. So bringt eine größere Duantilät von 
Branntwein, die durch die mit ihr vermifchten nabrhaften und narfotifchen In« 
gredienzen in ihrer Kraft beſchraͤnkt und gehemmt wird, eine geringere ſichtbare 
beraufchende Wirfung bervor, al8 wenn man fie allein genießt. Und fo kann 
ein Bolf mäßiger und nüchterner erfcheinen, während es in Wahrheit eine größere 
Duantitit von Branntweinen confumirt. 

2) Aber obwohl diefe Gründe Hinreichen, um tie Verfchiedenheit in der 
vermeintlichen Rüchternheit der beiden Enden unferer Infel zu erflären, fo erhellt 
doch aus ihnen faum, warum Irland, das pro Kopf fo wenig conſumirt, doch 
einer größeren Unmäßigfeit als felbft Schottland befchuldigt wird. Hier, glaube 
ich, fommen andere Urfachen ind Spiel. Bon diefen führe ich nur zwei an, Die 
weniger Fräftige Nahrung und das erregbare Temperament ber Irländer, Jeder⸗ 
mann weiß, wie leicht man beraufcht wird, wenn man Branntwein in einen 
leeren Magen gießt. Lind von dieſem Außerften Ball an wird Die Wirkung einer 
beftimmten Quantität Branntwein um fo geringer, je größer die Quantität 
guter gegeffener Speife wird. Sie ift bei dem gut genährten, musfulöfen, Rinde 
fleifch efjenden Arbeiter am geringften. 

Andererſeits find erregbare Leute, felbft wenn fle gut genährt find, dem 
Einfluß beraufchender Getränke mehr unterworfen, als andere. Man wird, denf’ 
ich, zugeben, daß als Volk die Irländer erregbarer find, als tie Engländer und 
Schottländer ; und daher ift e8 zu erwarten, daß fle eine Quantität Branntwein 
umwirft, welche Perfonen von weniger erregbarem Temperament unter Denfelben 
Umftänden ungeftraft trinfen dürfen. Es ift wahrfcheinlich, dag Die Quantität 
und Qualität der Rationalfpeife einen wefentlichen Einfluß auf das Nationale 
temperament bat. Wie Died auch immer fein mag, ich fche in den beiden ers 
wähnten Punkten eine Erklärung für die angebliche Unmäßigkeit eines Volkes, 
welches in-Wahrheit fo wenig beraufchendes Getränk conjumirt. 

4) Einfluß von Branntweinen. Branntweine jeder Art find wenig 
anders als Alfohol, der mit einer großen Quantität Wafler verdünnt und durch 
eine Fleine Beimifchung von flüchtigem Del burchbuftet ift, deſſen Ginwirkung 


Künftlide Getränke. . 87 


auf den Organismus wir noch nicht genau Eennen. Sie enthalten daher Feinen 
von den gewöhnlichen Rabrungsftoffen, welche in unferen gewöhnlichen Arten 
von animalifcher und vegetabiliicher Speije exiſtiren. Doch folgt daraus nicht, 
wie einige allzugewiß behauptet haben, daß ſie nicht im Stande find, zu irgend 
einem wüglichen Zwed im animalifchen Haushalt zu dienen. Im Gegentheil 
fieht es von Branntweinen feft: 

a. Daß fie den Körper direct erwärmen und durch die DVeränderungen, - 
welche fie im Blute erleiden, einen Theil der Kohlenfäure und des Wafler- 
dampfes erießen, welche befländig von den Lungen audgeflrömt werten. Go 
weit alfo erjegen fie die Stelle von gewöhnlicher Nahrung, 3. B. des Fetts und 
der Stärke. Daher gibt in Deutfchland ein Schnaps mit einem Etüc mageren 
trodinen Fleiſched eine Mifchung gleich der der Stärke und des Klebers in unſerem 
2rod, welche im Stande ift, den Körper zu ernähren. 

b. Daß fle den abjoluten Betrag der Materie, welche gewöhnlich von den 
Zungen und den Nieren abgegeben wird, vermindern. So verringern ſie ben 
Abgang des Fettes und der Gewebe wie Ihre und Kaffee und vermindern noth« 
wendig in gleichem Grade Die Duantität gewöhnlicher Nahrung, welche nöthig 
iR, um dad Gewicht des Körpers aufrecht zu erhalten, In anderen Worten, fte- 
baben die Kraft, einem beftimmten Gewicht Speife in der Erhaltung der Stärke 
des menichlichen Körpers größere Wirfung zu geben. Und außer der jo erreichten 
Erſparniß an Material erleichtern fie die Arbeit der Verdauungsorgane, was 
bei Schwäche des Magens oft ein ſehr wichtiges Mefultat ift. 

Daher üben gegohrene Getränfe, wenn fie anders der Gonftitution zuträglich 
And, einen wohlthätigen Einfluß auf alte Leute und andere ſchwaͤchliche Berfonen, 
deren Bett und Gewebe abzunehmen angefangen haben, d. h. in welchen ber 
Vroceß der Verdauung die Gewebe nicht fo fchnell erſetzt, ald fle von Ratur 
abnehmen. Diefe Verringerung an Gewicht oder Subftanz ift eine der gewöhn⸗ 
lichſten Folgen des berannahenden Alter. Sie ift ein gewöhnliched Symptom 
der Abnahme des Lebens. Der Magen ninmt entweder nicht genug. Speije auf 
oder verbaut nicht genug, um diejenige zu erſetzen, welche täglich aus der Sub⸗ 
Ranz des Körpers entfernt wird. Schwache alfoholifche Getränke hemmen den 
täglichen Betrag dieſes Verluſtes an Subflanz und verringern ihn demgemaͤß. 
Auch reizen fie die Berdauungsorgane fanft und fliehen ihnen darin bei, ihr 
Wert vollfländiger und treuer zu thun; und fo wird der Körper bis zu einer 
fpäteren Periode erhalten. Daher haben Dichter den Wein die Mildy der Alten 
genannt und die wifjenichaftliche Philoſophie erfennt die Richtigkeit des Aus⸗ 
drucks an. Wenn er die Alten nicht jo direct ernährt, wie Milch Die Jungen, 
fo trägt er doch jedenfalld Dazu bei, ihren zufammenfinfenden Körper aufrecht zu 
erhalten und voll zu machen. Und es ift eine der wohlthätigiten Folgen eines 
regelmäßigen Lebens in der Jugend und im Mannedalter, daß dieſe jpiritudie 
Rilch ihre guten Wirkungen nicht verfehlt, wenn das Gewicht der Jahre ſchwer 
auf und zu laſten beginnt. 

Alles Died rechtfertigt natürlich in keiner Weiſe den außfchweifenden Genuß 
von gegohrenen Getränfen irgend welcher Art, noch beſchönigt es die moralijchen 


88 &hemie. 


Uebel, welche aus diefem übermäßigen Genuß unvermeidlich entfpringen. Die 
guten Reſultate, von welchen ich gefprochen habe, erfolgen nur auf einen maͤ⸗ 
Figen Genuß berfelben. Aber die befontere Gefahr, welche den Genuß be⸗ 
raufchender Getränfe begleitet, liegt in ihrer außnehmend verführerifchen Eigen⸗ 
fchaft und in der faft unbefiegbaren Stärke der einmal angenonmenen Gewohn⸗ 
heit des Trinkens. Ihre” befontere Bösartigkeit zeigt fich darin, daß ſie, wo fle 
einmal Gewalt erlangt haben, Mutter und Amme jeder Art von Leiden und 
Verbrechen werden. 

„Wo ift Wehr‘ fpricht Salomo, „wo iſt Leid? wo ift Zank? wo ift 
Klagen? wo find Wunden ohne Urjache wo find rothe Augen? Rämlich wo 
man beim Wein liegt und fommt audzufaufen, was eingefchenft iſt. Siehe den 
Mein nicht an, daß er fo roth ift und im Glaſe fo ſchön ftehet. Er gehet glatt 
ein, aber danach beißt er wie eine Schlange, und fticht wie eine Otter.“ 

5) Berfälihung vongegohrenen Öetränfen. Die wahre Stärke 
reiner gegohrener Getränfe hängt, wie wir gejehen haben, von der Quantität 
des in ihnen enthaltenen Alkohole ab. Uber in manchen Ländern thut man 
verfälichende Subftanzen, hauptjächlicy narkotijcher Art hinzu, um ihnen eine 
falfche oder fcheinbare Stärke zu geben. 

Co thut man zum Malzbier in England Cocenlus indicus, Körner vom 
Paradiesapfel, die Wurzel des Kalmus und jelbft Tabadöhlätter; in Rord⸗ 
Deutjchland dad Ledum palustre und Ledum latifolium; in Darlefarlien bie 
Achillea millefolia oder Schafgarbe; und in Rußland, Indien, und früher in 
Ehina die Samenkörner von Datura stamonium. In Java läßt man aus Zwie- 
bein bereitete Ragikuchen, ſchwarzen Pfeffer und fpanifchen Pfeffer mit gekochtem 
Neid gähren, um dem Reisbier eine ähnliche Stärke zu geben. 

Zum Traubenwein thut man jegt in Perfien Mohnföpfe hinzu. Im alten 
Palaͤſtina that man befonders zu dem Verbrechern gegebenen Wein Weihrauch 
Hinzu, um fie vor der Hinrichtung zu betäuben; und im alten Griechenland 
Seewaſſer im Verhältnig von einem Theil Wafler auf fünfrig Theile Wein, um 
bie Berdauung zu befördern und eine böfe Einwirfung auf ten Kopf zu verbin« 
dern. Zu Branntwein thut man in Indien die Samenkörner des Stechapfels ; 
in England gebraucht man Malagueta-Pfeffer mit ſpaniſchem Pfeffer, Kalmus 
nnd Wachholderbeeren, um dem Londoner Branntwein (Gin) einen beißen, 
ftarfen Geſchmack zu geben. 

Alle diefe Subftanzen find der wahren Natur und Zuſammenſetzumg der 
Getraͤnke, die wir gähren laſſen, fremd. Sie fügen zu dem Betrag des in ihnen 
entbaltenen Alkohkls nichts Hinzu. Sie affteiren ihre Qualität im Allgemeinen 
dadurch, daß ſie narfotifche Ingredienzen hineinbringen. 


HAefchichte der Aftrologie. 


Bon 
Sudwig Fechſtein. 





Urſyrung. Geſtirnmythen. Aftronomie und Aftrologie Zwillingsſchweftern. 
Die Aftrologie eine ernfte Wiffenfchaft. Berühmte Träger derfelben. Die 
Kalen derwiſſenſchaft. Die Horoſscope und Nativitäten. Kalenderholz⸗ 
ſchnitte mit Kunſtcharakter. Practica, Prognoſtica aſtrologiea. Hundert⸗ 
jährige und immerwährende Kalender. Verfall der Aſtrologie und Ber: 
ſuche ihrer Wiedererweckung in der Neuzeit. Hofrath Pfaff. I. Karl Vogt. 


Aſtrologie! in einem Werke, das den Titel führt: Die Wiffenfhaften 
im neunzebnten Jahrhundert — follte das nicht Bedenken erregen, 
nicht an Rückjchrittönerfuche erinnern? Und wahrlich, es fehlt nicht an jolchen 
no in der Mitte dieſes neunzehnten Jahrhunderts. 8 fehrt alles wieder 
— es wird alles aus dem Staube hervorgefucht, in welchen e8 die Jahrhun⸗ 
terte begraben. Nicht immer blüht neues Leben aus den Ruinen — o nein, 
ter alte Moder mehrt ſich nur und wird durchwählt von den eifrigen Schatz⸗ 
gräßern , Die am neuen blühenden Leben Ecine Freude haben. 

Name und Begriff ver Aftrologie find allbefannt, wie Theologie Gott« 
beittunde, Philologie Sprachenkunde ift, fo war der urfprüngliche Bes 
griff der Aftrologie Geftirnkunde, die ſich zu einer Kehre, einer Wijien- 
ihaft in fehr frühen Zeiten erhob. Es ift daher immer chvad voreilig, über 
die Aftrologie als eine „eitle und betrügerijche” Kunft abzufprechen, denn fie 
erforderte ein ernftes, langes, tiefe Studium und hatte urfprünglich durchaus 
nicht den Zweck zu täufchen und eine Trägerin des Aberglaubens zu fein. 

Der Emporblid zum Sternenhinnmel mußte ja wohl fchon bei den frükeften 
Kulturvölkern, fo bald fie zum Nachdenfen über mehr als das bloße irbijche 
Bedürfniß erwacht waren, Beobachtungen hervorrufen, welche dauernd fortge- 
jegt wurden. Die erhabene Pracht der Sternennächte unter dem wolfenlojen 
Simmel des Morgenlandes, der fcheinbar ewig gleiche Wandel der Geftirne in 
lanılojer Stille, in heiliger Ordnung, die eben fo ewig gleichen und ewig wun⸗ 
terbaren Wechſel des Mondes — die Binfterniffe — die räthielhaften Erfcheis 
nungen der Kometen, und das mit jedem Morgen ncu die Welt mit Strahlen« 


90 Aftrologie 


grüßen umflutbende goldene Licht der Sonne, wie hätte das alled nicht Eindrud 
auf Geiſter und Seelen der Menfchen machen follen? 

Ueberall, wo Götterfunde fich entwickelte, wo ein Priefterthum fich bildete, 
blieben die Geftirne nicht ohne Verehrung, und Häufig waltete fogar der Ges 
ffirndienft mit Entjchiedenheit vor. Selbft die Juden zur Zeit bed Moſes trifft 
in der Apoftelgejchichte der Vorwurf: „Ihr nahmet die Hütten Moloch an und 
das Geftirn eures Gottes Remphan.“ 

Den Älteften Urfprung der Aftrologie glaubt die Korjchung in der. baby⸗ 
Ionifhen Provinz Chaldäſa gefunden zu haben, nächſtdem, daß ohne Zweifel 
gleichzeitig mit den Chaldäern die Aegyptier die Sternfunde pflegten, heilig 
hielten und mit ihrem Götterfult in unmittelbare Verbindung brachten, von 
welcher wunderfame Bilder und Baumerfe der Nachwelt Zeugniß gaben und zum 
Theil noch immer geben. Es fei nur ded Rieſenthurmes zu Babel, der Pyra⸗ 
miden, des Thierfreifed zu Denderah gedacht. Daß die Frühzeit fih in Vor⸗ 
außforfchung der Zufunft erging, daß fle dazu die Geftirnfunde ald Mittel mit 
gebrauchte und fie zur Geflirndeutung umwandelte, Ing nahe, und dieſe 
Reigung breitete fich weit und immer weiter aus; fie fchlug aus Aſten und Afrika 
tiefe Wurzeln nach Griechenland und Rom herüber, nachdem fle bereitd auch 
ganz Arabien überbreitet hatte. Zwar blieb fie nicht ohne Anfechtung. Die 
griechiiche Philoſophenſchule des Ariftdteles war ihr abhold, aber die chriftliche 
Katecherenfchule zu Alerandria verwarf ſte keineswegs. In Rom wurde die Aftro- 
logie nicht minder von mehreren Confuln und Kaijern hart verfolgt, von Anderen 
wieder begünftigt. Trotzdem, daß nach den Urkunden des Chriſtenthums ein 
wunderfamer Stern ed war, der den drei Weifen (Magiern, Aftrologen) aus 
dem Morgenlande zur Geburtöftätte ded Heilands den Weg gezeigt, verwarfen 
doch die Kirchenväter die Sterndeutefunft unbedingt. Dafür breitete Diefelbe 
fich, durch Araber herüber gebracht, in Spanien und Kranfreich auß und drang 
dann auch nach Deutfchland, wo ſie eifrige Vorliebe weckte und treue Pflege fand. 

Die Aftrologie wird die Mutter der Aſtronomie genannt, man follte lieber 
die Eine Zwillingsfchwefter der Anderen nennen, benn ihre Entitehung 
war eine gleichzeitige. Um Gang und Lauf und wechielnde Erfcheinung der Ges 
flirne zu Deuten, mußte man bie Geftirne kennen, mußte verftehen, ihren 
Zauf zu berechnen, und infofern würde fogar die Aftrononie den Vorzug der 
Erftgeburt in Anſpruch zu nehmen berechtigt fein. Beide trennten fi, und die 
Aftronomie wurde durch ihre Klarheit gleichfam die Lichtjeite, Die Aftrologie 
aber durch ihr geheimnißvolles Dunkel die Nachtjeite einer und derfelben Wiſſen⸗ 
Schaft. Beide erfordern genaue und gründliche mathematifche Kenntniß und 
Berechnungen, beide beruhen auf der Geftirnfunde, nur daß die Aftrologie 
mehr im Mittelpunfte des der Menjchheit befannten Sonnenſyſtems und im Bes 
treff der Birfterne — des Thierfreifes ftcht, die Aftronomie aber ihre Korfchungen 
dem großen Ganzen der Sternenwelt, bis zu den ferniten Nebelfternen und 
Sternennebeln zufenkt. Ihr iſt ewiger Bortichritt befchieden, der Aftrologie 
Stillſtand. Für Die legtere find alle Entdeckungen neuer Planeten nicht gemacht 
und nicht vorhanden. 


Geſchichte der Aſtrologie. 91 


Die Zeit, in welcher die Aftrologie feften Boden in den weiten und un⸗ 
überjehbaren Gebiete des Aberglaubens gewann, ift mit Jahrzahlen nicht 
nadweißbar , Iegtere ift aber gänzlich unaudtilgbar in das Volksleben und na- 
mentlih in das beutfche eingedrungen. Selbft den alten Germanen waren bie 
Eterne nicht unwichtig; fle wurden ald Götterfige betrachtet, man beugte ihnen 
das Haupt mit ebrfurchtvollem Gruße. Die drei Glanzgeſtirne im Gürtel de8 
Drion biegen Freias Noden; die Urgermanen fannten kein Sternbild eines 
Bären; Thorrs, des Gottes, Wagen, hieß ihnen das helle Bild ter Sie 
benfterne am nörtlichen Hinmel, und der Rame Wagen blich im Volksmunde 
haften; noch im 17. Jahrhundert und fpäter hieß jenes Sternbild der Heer- 
wagen. Die Milchſtraße hieß den alten Deutfchen Iringweg oder Irminweg u. ſ. w. 
Auch der fcandinavifche Mythos Fannte und nannte Geſtirne in Bötterverbindung. 
Rur allein über den deutſchen Mondaberglauben ließe fich ein eigenes Buch 
ſchreiben, obſchon wohl zu beachten ift, daß wejentliche Beziehungen des Mondes 
zum Erdplaneten ftattfinden, daher nicht alle dahin gehörenden und audges 
fprochenen Wahrnehmungen ald Aberglaube anzunehmen und zu verwerfen fint. 
Die Unkenntniß ganzer Zeiträume darf nicht ſtets geradezu gejcholten und ver- 
dammt werden. Wie lange galt die Erde für den feften Mittelpunft des Welt⸗ 
gebäude! Wie Lange hatten die Völfer der einen Hemiöphäre Feine Ahnung 
von Vorhandenſein eined großen antipodifchen Welttheils! Glaubten nicht 
durch Jahrhunderte Hindurch die Aerzte jeden Krankheitscharakter einzig und 
allein aus dem Urin erfennen zu Fönnen? Hat die Jehtzeit den Born des Alles- 
wiflend etwa ausgeſchöpft? Sproßt nicht friſch und munter das Zwiebelgewaͤchs 
des Zopfö ald wahres Allium magicum in der Gelehrtenwelt, wie in ftaatlichen 
Ginrichtungen immer fort, während der Nadenzopf längft nicht mehr mit An⸗ 
muth oder Grandezza baumelt? „Es iſt alles eitel!“ rief fchon der weile Sirach, 
und fo iſt es freilich auch die Aftrologie. 

Die Aftrologie fpaltete fih, nachdem fie fich von der Aftronomie gefondert, 
in zwei Aeſte. Der eine war und blieb Wiffenichaft, mit der e8 ihren 
Jüngern ein eifriger Ernft war, denn viele ihrer Jünger waren ja zugleich auch 
bochbegabte, hochiirebfame Mathematiker, Phyſiker und Aftronomen; es fei ftatt 
vieler, nur Kepplerd großer Nanıe genannt. Viele Diefer Jünger, und nament« 
li Keppler felbft, mußten zur Aftrologie greifen, die Durch Tange Zeit einträglich 
war; fie war gleichfam die aurea praxis, die Aftronomie aber die minter fohs 
nende ars theoretica. Dieſe Einträglichfeit aber war es, Die, wie fo häufig ge= 
ſchah und gefchieht, auf die Pfade abfichtvollee und unredlicher Täuſchung 
derlockte. Gaben ſich nicht Charlatane für Aerzte aus, und zu allen Zeiten? 
beichnitten die Juden neben Anderem nicht auch Gold und Eilber? Führten 
Kaufleute nicht falfche Gewichte? Prägte man nicht aus unedlen Metallen 
falſche Münzen, wie man in der Gegenwart Kaflenfcheine nachfabrizirt? So 
buldigten auch die Aftrologen dem werwerflichften aller Sprüchwörter: Mundus 
rult decipi, ergo decipiatur. 

Im deutfchen Mittelalter begann bie Aftrologie zeitig Sant in Sand mit 
dem Bauberwefen, der Nekromantik zu geben. Das wäre ein fchlechter und 


92 Altrologie- 


mißachteter Zauberer geivefen, der ſich nicht auf Deutung des Geftirnflandes 
verftanden Hätte. 
Hier wärene zahllofe Veifpiele aufzuführen, es fei aber nur zweier mittel» 
alterlicher Gedichte gedacht, 1) des Wartburgfrieges. Da fingt Klingsor: 
Nigiomanzie weiz ich gar. 
astronomie nem ich an dien Sternen war. 


Derſelbe fingt Wolfram entgegen: 
Die Kunst von Astromie ist dir gemeine. (eigen). 


Die Hauptfchulen für Aftronomie und Zauberfunft werden zum Theil 
nambaft gemacht; als folche galten Babylon, Bagdad, Bonftantinopel, Neapel, 
Paris, Madrid, Salamanca, Padua, Prag, Warfchau, Krafau u. A. De 
Teufel Rafton fragt Wolfram: 

Nu sage, hastn meisterschaft, 


wie das Firmamentum mit viel höher kraft 
gegen den planeten allen möge gelingen, 


Oder wie der pölus Articus 
stet, und der hohe meisterstern Antarcticus. 


Syturnus, swenne er östern (öftlich) stät 
waz diutet uns sin wunder? — 


Meiter führt das Gedicht an, indem es ein Zauberbuch nambaft macht: 
ein Jude, nach der Mutter, aber von beidnijchem Baterftamme, habe zuerft der 
Aſtronomie fich unterwunden, und eines Nachts in den Sternen geleien, daß in 
zwölfhundert Jahren ein Kind werde geboren werden, daß alle Juden von den 
Ehren ſtieß. Und diefer Jude fpricht, daß e8 ein wunderbarer Gott fei, der ihm 
die Sedanfen eingebe, und dag Aftronomie ihn über das Wunder auffläre. Ge⸗ 
wiß eine Hochpoetiiche Anfchauung von der Sterndeutefunft, die in jener Beit 
noch Aſtronomie hieß. 

2) Dad andere Gedicht von dem Thüringer Rothe, welches den Wartburg- 
frieg und das Leben der heiligen Eliſabeth befingt, läßt Kling ſSor die Ge 
burt der legteren aus den Sternen Iefen, und die Bermählung des neugeborenen, 
Kindes des Ungarnkönigd Andreas mit Ludwig, dem Sohne des Landgrafen 
Hermann von Thüringen, ded Sängerfreundes, im Voraus verkünden. 

Die Gebildeten der Reformationgzeit hingen treugläubig an der Aftrologie, 
und dieſe ſtand noch in hohem Anfehen. Sie durfte kaum einem Manne ganz 
fremd jein, der auf den Namen eines Gelehrten Anfpruch machte, wenn fich auch 
Stimmen, wie Die des jehr gelehrten SrafenI3obann Pico von Rirandola 
u. U. gegen ſie erhoben. Männer, bei deren Charakter fein Gedanke an bie 
Ahficht, täufchen zu wollen, auffommen kann: Luther, Melandhton, 
Spalatin, Wilibald Birdheimer, Johann Stoffler, Peutinger, 
Celtes, Copernikus, Peter Appian und andere Zeitgenoffen, waren zum 
Theil Mathematiker und verftanden fich auf das Nativitätftellen. Die Kürften 
begünftigten zum größeren Theile diefe Kunft und hielten eigene Hofaftrologen, 


Rh 


Geſchichte der Aftrologie, 93 


welche ihnen zu jeder beliebigen Stunde, über jedes vorbabende Unternehmen 
das Horoßfop, jedem neugeborenen Kinde die Nativität ftellen mußten. 

Die Horodcope waren theils einfache Schriftblättchen, ohne eine Bedeutung 
für tie Folge, theild eigentliche Taliämane von dauerndem Etoff, zum Anhängen 
und heimlichen Tragen. Daun jollten jie Schuß gegen alle Anfechtung, Teibliche 
wie geiſtige, gewähren, und wo möglich Hauptfächlih Schuß gegen feindliche 
Waffen, gegen gewaltfamen Tod, gegen Ueberwundenwerden u. ſ. w. 

Selbſt das Volksbuch vom Dr. Kauft unterläßt nicht, diefen Magus als 
einen „berühmten Aftrologus und Mathematicus“ feiner Zeit zu bezeichnen. Er 
habe „Brognoftica oder große Practica“, Almanache und Kalender alle 
jahrlich gefertigt, Darin Zufunftereigniffe Eundgegeben, und dafür Anerkennung 
und reichen Lohn geärntet, wie denn u. A. ein wälfcher Brälat aus dem Haufe 
Ayzolini, zu Pavia wohnhaft, von Kauft die Nativität fich ftellen laſſen, aus 
der die Prophezeihung baldiger Standederhöhung hervorgegangen. Und wirfe 
lich jei Azzolini bald darauf Cardinal geworden und babe den Dr. Kauft mit 
einem Geſchenk von 200 Kronen für jeine glüsflich eingetroffene Vorherſagung 
erfreut. 

Mollte man über Leben und Lebensgeichichten nahmbafter Aftrologen jener 
Zeit weitläufig werden, fo ließen ſich damit ganze Bände füllen. Hier jollen 
aus verjchiedenen Zeiträumen nur einige genannt werden, würbige Jünger ihrer 
Kunft und nicht unbedeutenden Männern mit derfelben dienend. 

Richt blos Fürſten und Prälaten waren es, die der Aftrologie Hultigten 
und Sternfundige bejoldeten, auch auf den Übel erſtreckte fich dieſe Vorliche. 
&o hatte Franz von Sidingen einen Mathematifer im Solde, Hand 

Virdung, gebürtig aus Hapfurt am Main, den Ernft Münch in feiner Ges 
fichte jenes berühmten Ritters einigemale ganz irrig Meifter Haßpurt nennt. 
(E. Ründ, Sickingen. 2 Bde. Urfunde CXCVII). Daß geftellte Horodcop war 
ſehr gründlich ausgearbeitet, und das Prognofticon ging in traurige Erfüllung. 

Diejer Virdung ftand bereits in den Jahren 1509 bis 1513 in den Dienften 
des Coadjiutors von Fulda, welcher wahrfcheinlich der nachherige Abt Hartmann 
war, und unter dem Orafen Johann von Genneberg fein Anıt verwaltete. 

Dieſer letztere Prälat war ein ſehr ritterlicher und mannlicher Herr, hatte 
zu Erfurt fludirt, wo ihn die Hochſchule die Würde des Rector magniflcentijjimus 
zugeteilt hatte, war ipäter Buldaer Stiftshauptmann geworden, hatte ein etwas 
abenteuerlich beiwegtes Leben geführt und Lie Frauen lieb gehabt. 1471 wurde 
Graf Johann Eoadjutor, 1472 Abt von Bulda, und regierte Dann fromm und 
lͤblich. Sein Coadjutor jcheint dieſes Abtes ritterlichen Sinn getheilt zu haben. 
Bei jeder Meije, die er antrat, und er reiſte gern und viel, war es das Geſchaͤft 
des Aftrologen, Magiſter Virdung, über die Neife das Horoscop zu ſtellen. 
Immer zeichnete Virdung auf: „den u. f. w. Tag ift mein Herr ausgeritten, 
oder reit't mein Herr Fein (gen) Erfurt, Ansbach u. ſ. w. Da weiter unten 
kon ber Horodcopie eingehender die Nede jein muß, foll ein ſolches Virdungſches 
Reiſe⸗Horoscop als noch ungebrucktes und gänzlich unbekanntes Original treulich 
wiedergegeben werben. 


94 Aſtrologie. 


Ein muthmaßlicher Nachkomme dieſes Aſtrologen, Paulus Virdung 
aus Kitzingen, ebenfalls Aſtronom und Mathematiker, war Kepplers Freund, 
und zugleich Reifebegleiter Wallenſteins nach Padua, ald defien Hofmeifter. 

In Coburg lebte ald Phyſiker, Arzt und Aftrolog der Doctor Stat hmius. 
Er jtellte Wilhelm von Grumbach das Horoscop, ald diefer Damit umging, 
feinem feindlichen Wiberfacher, den Biſchof Würzburge, Melchior Zobel 
von Biebelftadt, aus defien Nefidenz wegführen zu laſſen, und ihm bie 
Wiederherausgabe Grumbachifcher Güter, Die felbft gegen ded Kaiſers ausdrüd- 
liche Mandate vorenthalten wurden, perfönlich abzudringen. 

Die hochberuͤhmten Aftronomen, Copernikus, Tycho de Brabe und 
Keppler konnten ſich nicht völlig von der Aftrologie losſagen, trog aller großen 
Entderfungen, die fie machten, und aller neuem Syſteme, die fie erfanden. 
Keppler, der bereitd 1609 Wallenfteins Aftrolog zu Sagan war, und ihm eine 
noch vorhandene Rativität ftellte, jollte in Wallenfteing Dienfte treten, der 
feſt am aftrologifchen Wiffen hing, aber er gelangte nicht zum Eintritt in diefen 
Hofdienft, weil er 12,000 Gulden, welche die Kaifer Rudolph und Wat- 
thias ihm fehultig geblichen waren, verlangte, die Wallenftein ihm nicht aud« 
zahlen wollte oter lonnte. Dafür fland der Profeffor Giovan Battifta 
Zenno (von Khevenhüller Seno, von Schiller Seni genannt) ein Genuefe, 
als Hofaftrolog in Wallenfteind Dienften. Er hatte freie Tafel und Wohnung, 
eine fechöfpännig zu fahrende Kutfche zur Verfügung, und einen voraus zu er- 
hebenden Jahresgehalt von 2000 Thaler, fo dag man nicht blos von Galenus, 
fondern auch von der Aftrologie rühmen fonnte: ‚dat opes.“ 

Nach Wallenfteind 1634 erfolgten gewaltinmen Tode wurde Zenno ver 
haftet, verhört, in Wien gefangen gefet, aber 1635 wieder frei gelafien. Sehr 
anziehend ift, was im 5. Bante von Vulpius Euriofitäten, Heft 1, (Weimar 
1816) über Aftrologie überhaupt und über Wallenfteins Vorliebe für diefelbe 
ins Befondere mitgetheilt wird. Auch dort Heißt Zenno Seni. Gar nicht un« 
paflend find die vergleichenden Züge im Charafter Wallenfteins und Rapo 
leons 1. und fie laffen fich auch eben fo gut nach Rapoleon III. deuten. Vul⸗ 
pius jagt von Wallenftein: „Es war ihm unmöglich, fill zu figen, ſtets war er, 
wie fein Geift, in rafcher Bewegung. Er war fehr aktiv und verfchiwiegen und 
hatte allenthalben Spione. Er redete wenig, Dachte und fpefulirte viel. In der 
Einſamkeit brütete ex über feinen Planen. Gr hatte feine Freunde, aber feine 
Soldaten hingen an ihm.“ 

„Das treue Seitenftüd zu dieſer Originalgeichnurg haben unfere Zeiten 
und gegeben, und wir fennen e8 Alle.‘ Leider kennt man auch das jest lebende 
„treue Seitenftüäd.” Wallenſteins Horoscop, bad noch in der F. k. Kunſt⸗ 
fammer zu Wien gezeigt wird und von dem eine treue Copie nach Weimar kam, iſt 
in dem angegebenen Bande der Euriofitäten abgebildet. Daffelbe ift aber keines⸗ 
wegs cin eigentliched Horodcop, fondern eine talismanifche Platte, welche Wal» 
Ienftein auf der Bruft getragen haben foll. In einer mit 4 beringten Löwen⸗ 
£öpfen verzierten Goldkapſel ift eine Spiegelglasplatte befeftigt, auf deren Mitte 
ein goldener Löwe ruht. Um dieſen ftehen im Kreife auf das Glas gezeichnet 


Geſchichte der Aſtrologie. 95 


von der Linken zur Rechten die Kalenderzeichen des Thierkreiſes in verſchiedenen 
Farben. M. V. V. roth, X. grünblau, G. N. grün, mM. =. M. gold, 
. . ==. ſchwarz. Ueber dem nach rechts liegenden Loöwen ein grünes, letztes 
Nondviertel. Unter ihm ein rother Ball, darauf ein goldner Halbmond nach 
oben geöffnet ruht, außerdem noch am Rande über dem Thierfreißzeichen eine 
oben rothe, unten grüne, eine blaue, eine goldene und eine fchwarzge Sphäre 
Bor dem Köwenbilde fleht dieſes Zeichen 2 7 „ Hinter ihm dieſes 
beide in Goldfarbe. Das letztere wurde noch lange nachher als Talisman gegen 
denersbrũnfte gebraucht, ed wurde auf hoͤlzerne Teller gemalt, Die ein Reiter in 
die Feuerlohe brennender Häufer fehleudern, und dann wild davon fprengen 
mußte, weil nach dem allgemeinen Glauben die Flammen Hinter ihm verfolgend 
Serihlugen. Die Buchftaben bedeuteten: Allmächtiger Gott Löſch Aus. Web. 
halb juſt Diejed gewöhnliche monogrammatiiche Zeichen auf Wallenfteind Talis⸗ 
man gejegt wurde, ift jchwer zu begreifen, ja es könnte jogar Zweifel an der 
Wahrheit und Echtheit des talismaniſchen Kleinods wecken. 

Auch Theophraſtus Paracel ſus, der weit berufene Arzt und Wunder⸗ 
mann, beichäftigte fich fleigigft mit Aftrologie, Nativitätfielen, Horodcopean« 
fertigung und der Zubereitung talidmanifcher Platten und Medaillen, theils 
aus gemiichten Metallen, theils auch nur einfach aus Kupfer, Zinn oder Blei. 
Auf die Miſchung der 7 Metalle, deren Zeichen denen der 7 Planetengötter ent⸗ 


iprechen, wurte viel Werth gelegt. Es waren O on “ C Fo 


Nerkur. Venus. Mars. Jupiter Saturn. 
Quecffilber. ⸗ Kupfer. g Eijen. 4 Zinn. 5 Dei. 

Auf einer Paracelfifchen Medaille von einer quedfilberhaltigen Metall» 
Niſchung, da ſich Queckfilber für fich nicht feftmachen und ausprägen läßt, ftellt 
Ah Merkur dar, ald geflügelter Engel im Tangabwallenden Gewande auf 
Volfen ſtehend, in ber Iinfen Hand den Caduceus haltend; vor ihm find die 
Zwillinge als Fleine Figur angebracht, hinter ihm ruht die Jungfrau, 
jeine Käufer. Lieber ihm umfchließt ein Stern, zwijchen deffen Strahlen die 
Vuchſtaben: MERCVRIVS ſtehen, das Zeichen des Planetengottes 9 ein. Die 
Rädieite ift leer. 

Eine andere derartige Medaille aus Kupfer zeigt bad Bild der Venus 
ald nackte Frau; fie Hält in der rechten Hand einen Xiebeöpfeil, in der Tinfen 
einen Stern. Bor ihr ift das Bild der Wage; hinter ihr fleht Amor, und 
binter diefem ruht der Stier. Ueberm Haupte wie beim vorigen daB Zeichen 
2 und zwijchen den Sternzaden die Buchflaben: VENVS. Die Rüdjeite zeigt 
ein talismaniſches Zauberquadrat. 

Die Wiffenfchaft der Aftrologie war außerordentlich umfangreich, und ift 
es noch, jo bald man fie noch gelten laffen will, wa® man am Ende muß, weil 
Re aoch immer unaustilgbar fortlebt in den Kalendern, Die Aftrologie iſt die 
Kalenderwiifenfchaft und als ſolche drang fle fo tief in alle Volkskreiſe 
ein, daß es kaum denkbar ift, fie werde jemals völlig befeitigt werten Eönnen. 


96 Aſtrologie. 


Und ſie that alles, was ſie that, mit einem ſo großen Ernſt und ſo großen 
Eifer, mit jo vielem mühſamen Fleiße, daß ſogar von Einem, der grillenfänge— 
riſch und verdrofen. von der heitern Seite des Lebens abgewendet erjcheint, Das 
deutjche Sprichwort in Anwendung gebracht wird: „Er macht Kalender.’ Der 
große Keppler, der auch Kalender machen mußte, klagte, daß dieſes Gejchäft 
etwas weniger ehrlich als betteln ſei, indeſſen — es trug doch auch etwas mehr 
ein alö betteln. 

Der Falendermachende Mathematiker, Aftrolog und Phyſiker hatte die Auf⸗ 
gabe, fich vertraut zu machen mit allen theild beſtaͤndig wiederfehrenden, theils 
vorübergehenden Ericheinungen am Birmament, dem Simmeldgewölbe, ben 
Stand der Geftirne zu jeder Nachtftunde zu Fennen, Sonnen» und Mondfinfters 
niffe, deren Eintritt, Dauer und Austritt zu berechnen, ebenfo die Stellung ber 
Geftirne gegen einander (Gonftellation) und aus berjelben Vorherfagungen, 
glücklichen oder unglüdlichen Einfluß auf die Erde, auf Ausjaat und Aernte, 
auf die Witterung, auf Die ganze Natur, auf Erdbeben und Ueberſchwemmungen 
abzuleiten, nicht minder aber auch auf die Menfchenwelt, auf Krankheit und Ges 
fundheit, Krieg und Frieden, auf NRegenten und ganze Fürſtenhäuſer. Nicht 
nur Geſtirn⸗ und Raturfundiger, auch Bolitifer mußte der Aftrolog und Kalenders 
macher fein, die Gefchichte, Die Geographie durften ihn nicht im Stiche laſſen, fein 
Wiffen mußte, fo weit e8 möglich war, ein allumfaffended genannt werden bürfen. 

Die älteften Kalender mit ajtrologifchen Zeichen (ed gab auch andere, bie 
blos dem römischen (Julianijchen, nach Julins Cäfar) nachgebiltet waren, und 
nur neben den Monatdtagen die Namen der Heiligen oder Todtenregifter (Ne⸗ 
crologien) enthielten, wie ſie jich in alten gejchriebenen oder gedruckten Miſſa⸗ 
len, DBrevieren u. dergl. häufig finden) find freilich fehr ungefünftelt (naiv) 
bäufig mit Bilderſchmuck verjehen und mit zum Theil poctifchen Texten erläus 
tert. Gin Theil derfelben ift nur Handjchriftlich aufbewahrt, aber e8 gab auch 
fhon vor Erfintung der Buchdruckerkunſt aftrologifche Kalender in Holztafel⸗ 
druck, die ald Lie größten Seltenheiten in den Schagbehaltern offentlicher oder 
Privatbibliothefen aufbewahrt jind. 

Die Alten und infonderbeit auch die deutfchen Gelehrten des Mittelalters 
hatten eine ganz eigenthümliche Anjchauung des Weltſyſtems, zum Theil von 
den griechifchen Weltweijen überfommen, fortgepflanzt, fortgepflegt und feſt aus⸗ 
gebiltet. Es ift nöthig, von diefer Anfchauung Kenntniß zu haben, um mans 
ches in der Aftrologie und der Kalenderweißheit der fpäteren Jahrhunderte zu 
verftehen. Es ijt die Lehre von den Weltfreifen (Sphären). Dan dachte 
ſich zunächft die Planeten als große Weltfugeln und maß ihrer fchwingenden 
und rollenden ſcheinbaren Bahn um die Erde auf den Grund griehifcher Philo—⸗ 
fophensUeberlieferung einen Geſang, ein harmonifches Ineinanderflingen als Folge 
des geflügelten Umjchwunges zu. Daher in Goethes Fauſt die unausſprechlich 
ſchöne Stelle: 

Die Sonne tönt nah alter Weite 
In Bruteripbären Wettgeſang. 
Dann aber dachte man ſich große gefonderte Kreiſe des Weltganzen, um 


Geſchichte der Aſtrologie. 97 


die Erde als deſſen Mittelpunkt gezogen. Zunaͤchſt umgab den Erdball nach 
dieſer Lehre ein unterſter Luftkreis, dann ein hoher, der Aether. Um biefen zog 
ſich die Feuerſphaͤre. Dann. kamen die Sphaͤren der Planeten, aber nicht in 
der Ordnung, wie die Kalender fie aufſtellten, ſondern von unten aufwärts, erſt 
ver Rond, dann Merkur, Venus, Sol, Mars, Jupiter, Saturn. Diefe Kreife 
umihloß das fefte Gimmeldgewölbe, dad Kirmamentum mit den Sternen. 
Dann um dieſes floß-der „kryſtalliniſche Simmel”. Und erſt auf dieſen folgt 
endlich die unausiprechliche Klarheit Gotted, die Dreieinigfeit mit Erzengeln, 
Cherubim, Seraphim und Thronen mit Erzuätern und Batriarchen ‚- Pros 
pheten, Apofteln, Heiligen, Martprern und allen himmliſchen Heerfchaaren, wel- 
her Kreis das Primum mobile genannt wurde. 

Es war in diejem allen cine etwas theatralifche Gruppirung, aber es lagen 
dech hohe und poetiſche Gedanken zum Grunde, deren in ſolcher Weiſe die Jetzt⸗ 
welt durchaus nicht mehr fähig iſt. 

Diefe einer alten Handzeichnung entnommene Darftellung war aber nicht 
die allgemeine Anficht aller Mathematiker, ed gab auch anderweite Anfchauungen. 
Zur Zeit Albrecht Dürers 3. B. ald derſelbe noch bei Michel Wohlgemuth 
lernte, und Iegterer mit Pleydenwurf die reiche Holgfchnittzier zu Hartmann 
Ehideld Chronik zeichnete und fchnitt, verfinnlichte eine Tafel die nerjchiedenen 
Gimmelöfphären in folgender Reihe vom Mittelpunft an aufwärts. Den Mittel» 
vunft bildete die Erde, dann folgten die Sphären des Waffers, die der 
Luft, die des Keuerd (Empyräum). Darauf die Planetenfreife des Mondes, 
Nerkuts, der Venus, des Sol, Mars, Iupiterd, Saturnd. Hierauf das Fir⸗ 
mament mit den Thierkreiögeftirnen, der Kryſtallhimmel, das Primum mobile 

oder die Urkraft mit ihren Seraphim, Cherubim, Thronen, Divinationen, 
dürſtenthümern, Mächten, Tugenten, Erzengeln und Engeln. 

Die Aftrologie nahm nun an, daß der Thierkreis (ZJodiacus) zwölf 
däuſer bilde, in deren jedes im Iahreslaufe einmal die Sonne trete. Jedes 
Zeichen umfaßte 30 Grade des Himmelsgewölbes. Je 10 Grade hießen ein 
Angejicht, und jedes Angejlcht gab der Geburtöftunde eines Menfchen je nad) 
tem Sonnenftande in demfelben eine bejondere Borbeteutung. Gut und heil⸗ 
um war es für den Neugeborenen und deſſen Zufunft, wenn die Sonne im 
erſten Angeficht ftand, und bis jle zur Mitte des zweiten gelangte; von da flieg 
fe im Zeichen abwärts, und ihr glücfbringender Einfluß wurde jcywächer und 
kraftlofer. Außerdem verliehen die Ihierfreiszeichen an fich jedem unter ihrem 
Ginfluffe Geborenen bejondere Eigenschaften, Fähigfeiten, Talente u. |. w.; fo 
terlieben Löwe, Jungfrau und Schüße ftattliche Leibesgeſtalt, Fiſche, Krebs und 
Steinbo gaben Kleinheit. Taggeburten wurden für Eräftiger gehalten, als 
Rachtgeburten u. j. w. Die Thierkreis⸗ oder Hinmeldzeichen theilten ſich in Die 
4 Veltgegenden jo, daß fie Morgen, Mittag, Untergang und Mitternacht bes 
Errrichten. Das Herz des Morgens war der Widder, der Löwe jeine Linke, der 
Ehüge jeine Rechte. Des Mittags Herz war ber Steinbod, ter Stier feine 
Kinke, die Jungfrau feine Rechte u. j. w., das alles hatte feine Bedeutung. Die 
Aftrelogie behauptete fteten Cinfluß der Planeten und Xhierfreisgeftirne auf 

v. 7 


98 AAſtrologie. 


den Menſchen, deſſen Geſundheit und Krankheit, was vielen Glauben fand, da 
es nur eine Geſundheit gibt, die Krankheiten aber zahllos find. Alle 
Krankheiten und Suchten wurden durch den Geflirnfland bedingt, daher waren 
demielben aber auch Die Heilmittel unterftellt. Nur zu gewiffen Zeiten und 
Stunden durfte jenes Heilfraut geſucht und gepflüdt, jene Wurzel gegraben, 
jene Salbe bereitet werben. Das ging immer weiter. Allen Thieren wurden die 
Planeten und Thierfreisbilder zu Schuggättern oder Feinden, ja auch der ganze 
Menſch, jedes Einzelglied feines Leibes fland unter dem mächtigen Geftirnein- 
fluß. Haare zwagen (fänımen und wafchen) oder jcheeren, barbieren, fchröpfen, 
zur Aber laſſen, fäen, ärnten, ausgehen, reiten, fahren, baden, jagen, fifchen, 
effen, trinken, tanzen, lieben u. j. w., allem beftimmte die Aftrologie ihre guten 
und günftigen oder böfen und ungünftigen Stunden. Das alles zuſammen bil« 
dete ein überaus mannigfaltiges Syſtem, welches auf beichränftem Raume nur 
angedeutet, nicht aueführlicdy dargelegt werden kann, fonft gäbe es ein bogen⸗ 
reiched Buch für ſich. 

Zum Einfluß, den die Planeten und Thierkreidzeichen auf den Menfchen 
üben follten,, gefellte fich auch die Lehre von der fogenannten Gomplerion 
des Menfchen oder der 4 Temperamente, in Einklang gebradyt mit den 4 
Elemmten wie mit den 4 Iahredzeiten, und in feinem Kalenderbuche fehlten 
darüber bezügliche Mittheilungen, erbauliche Verfe. In einer fchönen Hand« 
fehrift aus dem 14. Jahrhundert in der Fürſt v. Kürftenbergifchen Bibliothek zu 
Donauefchingen gewahrt man als Melancholifer einen Mann und eine Frau, 
die einander fchweigfan und ohne Handlung gegenüber figen. Die Phlegmatiker 
. werden bargeftellt als Iüngling und Jungfrau, welche rubig auf Laute umd 
Harfe fpielen ; die Sanguiniker, ein junges Paar, find im Tanze begriffen, am 
Iuftigften aber find die Choleriker aufgefaßt. Ein zorniger Mann fchlägt feine 
Frau und zerrt fie am Saar. Darunter jteht gar erbaulidh : 

Unfer Eomplerion ift gar von fiure, 
Darum flaben kriegen ift unfer Aventiure. 

Die Abbildungen der Planeten waren flet3 mit den ihnen zugeordneten 
Thierkreiszeichen verjehen. Wie auf der oben erwähnten Paracelſiſchen Münze 
bei der Venus Stier und Wage befindlich, jo ftellte auch ein altes rylographi⸗ 
ſches Planetenbuch dieje zwifchen Stier und Wage tar, und läßt fte, gleich den 
übrigen Planeten, von fich felbft in Verfen fprechen: 

Venus der fünfte Planet fin, 

Haiß ich vnd bin der minne fchin, 
Fucht und kalt bin ich mitt kraft, 
Natürlich dif mit maifterfchaft. 

Zwey Häufer find mir vontertan, 

Der flier die wäge tarinn ih han 
Froͤliches leben und luſtes vil 

So mare mit mir nit friegen wil 
In ben vifchen erhöh ich mid) 

In der Maget (Jungfrau) vall ich ficherlich. 
In CCC tagen fünf und fechzig 
Durch lauff ich die zwelff zeichen dit. 


Geſchichte der Mftzologie. 99 


Suturn galt als der erfle und oberfte Planet, Jupiter folgte als zweiter, 
Rats als dritter, die Sonne war der Mittelpunft, auf fie folgte Venus, Liefer 
als ſechſter Merkur und der Mond vollendete als legter die Siebenzahl. In an« 
derer Folge berrichten die Planeten über Die Wochentage. Der Sonne ge- 
hörte der Sonntag, dem Mond der Mondtag, dem Mars der Dienftag, dem 
Rerkur die Mittwoche, dem Jupiter der Donnerdtag, der Venus der Freitag, 
dem Saturn der Sonnabend, 

Meift wurde dem alten Kalendern und auch noch bis in neuere Zeiten in 
manchen Ländern ein jogenannter Laßmann (Üderlagmann) beigefügt, eine 
völlig nadte Mannedfigur, an deren geöffnetem Leib und an fämmtlichen Glie- 
dern bie Thierfreißzeichen ftehen, unter deren Einfluß und zu deren Stunden 
gut Aber zu laffen, zu jchröpfen u. dergl. fei. | 

Durch alles dieſes, durch Stunden und Tagewächterei ſchlug nun bie 
Biffenjchaft der Aftrologie in den Aberglauben um, und mag durch diefen 
sieleß Unheil angerichtet haben, Denn bfind ward geglaubt, was die Aftrologen 
und ihre Kalender lehrten. Es ftand dem Volke jo unantaftbar feft, wie die 
heilige Schrift, daß Widder, Löwe und Schüge warm, dürr, feurig und 
Holerifch jeien, Stier, Jungfrau und Steinbod falt, dürr, ir diſch 
und melancholiſch; Krebs, Scorpion und Kifche kalt, feucht, wäfle- 
tig und phlegmatiich; Zwillinge, Wage und Waffermann warm, 
fencht, Iuftig und fanguinifch. Die 12 Thierfreiszeichen bildeten in fol 
gender Weife Die Häufer der Planeten: Widder und Scorpion waren die 
Däufer des Mars, Stier und Wage der Venus, Schüge und Fifche 
des Jupiter, Zwilling und Jungfrau des Merkur, Steinbod und 
Baffermann des Saturn. 

Damit die Zwölfzahl in die Sicbenzahl aufging, Hatten Sonne und 
Mont nur je 1 Haus, und zwar erftere den Löwen, legterer den Krebs. 

Die Herrſchaft der Thierfreidgeftirne über den Leib des Menfchen war fol« 
gendermaßen getheilt: Der Widder beherrichte das Haupt und Angeflcht; Stier 
Hals und Kehle; Zwillinge Achfeln, Arme und Hände, Krebs Bruſt, Herz, 
Magen, Rippen, Lunge und Milz; Löwe den unteren Theil des Magens, Rüden 
und Seiten; Jungfrau Bauch, Bauchfell und Eingeweide, Wage Lenten, Rabel 
und unteren Bauchtbeil; Scorpion die Schamtheile; Schüge den Hintertheil mit 
Umgegend ; Steinbod die Kniee; Waflermann die Schenkel; Fiſche Die Füße, 
Serien unt Zußfohlen. Sonne und Mond galten ald die Haupt- und vornehm⸗ 
fen Planeten, Saturnus und Mar wurden böfe genannt und ihre Einflüffe 
gefürchtet. Mit großer Ausführlichkeit fyildern die Blanetenbücher den Geſtirn⸗ 
einfluß auf die Geburt des Menjchen, männlidyer oder weiblicher Frucht, nach 
tem Stande des Thierkreiszeichens und nach dem Einfluffe der Planeten; fie 
bezeichnen die Fünftige Reibeögeftalt, Gemüthseigenſchaft, Gluͤck und Gefahren, 
die begegnen, den Stand, der erwählt wird, Lie Zahl der Ehegatten, bie der 
Reugeborene einft freit, ja wie die Fünftigen Kinter fi) arten. Unter welchem 
Zeichen Reiſeglück zu hoffen ift, welches mit Lebensgefahren droht, welchen 
Krankheitsanfällen er ausgeſetzt fein wird, unter weldyen er zu Glüd und An⸗ 

7 ® 


100 . .Aſtrologie. 


ſehen gelangt, unter welchen er in Angſt und Roth geräth, ſelbſt welche Far⸗ 
ben ihm glüdbringend, welche ihm ungünftig find. Daffelbe gilt von der Pla⸗ 
neten Einfluß je nach dem Stande in den zodiafalen Häufern. 


Auch die Länder waren dem Planeten- und Thierkreiseinfluß zugemwiefen 
und untergeordnet, nicht minder die Reiche der Natur. Manche Pflanzen hie 
gen vorzugdweife PBlanetenfräuter, weil fie ganz befonderd einem Planeten 
unterftellt waren. Auch die Stunden ded Tages, die der Naht, an jedem 
MWochentage, wurden von den Planeten regiert. Jedes Jahr beherrfchte ein 
Planetengott, oder ihrer drei. Don ganz befonderer nachhaltigſter Wichtigkeit 
im Kalenderweien wie im Volksglauben waren die fogenannten Aspecten, 
d. i. die Planetenftellungen zu und gegen einander am geftirnten Simmel, vie 
bildlich durch einfache Zeichen audgebrüct wurden, und deren Einfluß tbeils 
als günftig, theils als ungünftig galt. 


Diefe verjchiedenen Stellungen der Planeten unter beitimmten Winkeln 
des Geftchtäfreijes find die Zufammenfunft, Eonjunction, bei der gar Feine 
MWinfelentfernung Statt finden kann, durch das Zeichen dJ ausgedrüdt; der 
Gegenfhein, Oppofition, 180 Grade Abfland, 2 bezeichnet; der Ges 
drittfchein, Trigon, 120 Grade: A; der Geviertſchein, 90 Grabe 
Duadratur: D; der Geſechſtſchein, Hexagon: X. Keppler ging nody 
weiter, und jtellre der Aspekten noch mehrere auf, allein ſie fanden in der allge 
meinen Kalenderpraris Feinen Anklang. Als gute Aspekten galten Gedritt- 
und Gefehftichein, als üble Geviert- und Gegenichein, die einfache Conjuncz 
tion {ft gleichgültig oder mittehnäßig. Dazu geiellte die Aftrologie auch noch 
die zwei Knotenpunfte in der Mondbahn, wo fie die Sonnenbahn im Thierkreis 
(EEliptif) Durchfchneidet. Diefe Punkte bewegen fich rückwärts in etwa 19 Jah⸗ 
ren durch die ganze Sonnenbahn und biegen Drachenkopf und Drachen⸗ 
ſchwanz, Hund % bezeichnet. Welche Stofffülle war nicht zu verarbeiten, 
wenn nur jede mögliche Conjunction mit Planeten, jeder Gegenſchein, Gedritt⸗ 
Geviert⸗, Geſechſt⸗Schein prophetifch dargelegt werden mußte! Um nur ein 
Beifpiel anzuführen, jo hieß es u. A. beim Geviertichein der Venus zum Mond: 
„Iſt ein guter Tag, Sreundfchaft zu machen, mit Srauen und Jungfrauen han 
bein, jehr gut zu reifen. Es begegnet dir viel Gutes von Frauen und Jungs 
frauen, gut Jungfrauen etwas verchren und fchenfen; thuft Du das, fo wirft du 
von ihnen gelobet u. f. w., oder beim Gegenfchein der Venus zum Monde: 
Diefer Tag if fehr glüdlich zu reifen, micthe Knechte und Maͤgde, Hilf zur Ehe 
rathen, diene Frauen und Jungfrauen, fuche Gunſt bei ihnen; mache Freund⸗ 
Schaft und fuche Freud und Luft, zeuch neue Kleider an. — 

Ueber dergleichen wurden förmliche Tabellen verfertigt und gedrudt. 

Was nun bie Formen des Nativitätftellend und der Horoscope 
anlangt, jo hatten diefelben im Allgemeinen ein feftfichendes Schema, nämlich 
ein Quadrat, in welches Geburtsftunde, Monattag, Jahr und etwa auch bie 
Polhöhe eingefchrieben wurde, oder auch das Thierfreiszeichen, unter welchem 
ber Neugeborene zur Welt gefommen war, Um dieſes Quadrat waren 12 


Gefchichte der Aſtrologie. 101 


Winkel (Dreiecke) in eine quabratifche Figur geftellt, biefe verfinnbildeten bie 
12 himmliſchen Häuser, welche fich alfo darfteiten: 





Die Zahlen bedeuten 1. Leben. 2. Reichthum. 3. Gefhmwifter. 

4, Aeltern. 5. Rinder 6. Krankheit. 7. Ehegatten. 8. Tod. 
I. Wandlung. (Reifen). 10. Herrfhaft. 11. Glück. 12. Gefängniß. 
Ein ſehr ſchaͤtzbares Buch über alle diefe aſtrologiſchen Lehren fchrieb ein 
Carthäufermönch zu Erfurt, Johannes ab Indagine, eigentlih von Ha- 
gen, und bereitö 1475 geftorben. Er foll über 300 Bücher gefchrieben haben 
and war demnach ein Polyhiſtor. Seine Abhandlung wurde häufig gedrudt, und 
fin Abbild in gutem blattgroßem Holzfchnitt beigefügt. Er zeigt einen fehr 
charakteriftiſchen Kopf, der mit einem Bareti bedeckt ift, und trägt eine Schaube 
von geblümtem Damaftftoff. Der Holzfchnitt deutet ganz nach Dürer's Schule. 
(Dem Verfaſſer liegen Ausgaben mit der Jahrzahl 1523 und 1540 vor.) Jo⸗ 
hann von Indagine lehrt, daß die dem Mittelquadrat der Figur nächfiftehenden 
Binkel 1. A. 7. 10. die vier Winkel des Himmels heißen, und ftellt ten Stand 
der Thierkreiszeichen bildlich dar, fo daß z. B. bei der Geburtöftadt im Löwen 
der Nim Iſten, die m im Aten, der == im 7ten und der U im 10ten Haufe 
ſteht. Diefe Horoscäpifchen Bilder find mit erläuterndem Text durch alle 12° 
Zeichen beigebracht. Daran find unmittelbar gereiht die Tafeln der Sonnen- 
fände in den Thierfreidzeichen; wenn 3. B. Die Sonne im Stier fteht, fo ift ihr 
Zeichen mit dem des Stiers im 1ften Haufe vereinigt, im Aten fteht das des Lö⸗ 
wen, im Tten da8 der Jungfrau, im 10. das des Waflermannd. Zu jedem eine 
ziemlich ausführliche Erffärung, freilich nicht immer den Laien verſtaͤndlich. 
3.8. die Sonne im Schügen, (im 4. Haufe Die Fiſche, Im 7. die Zwillinge, im 
10. Die Jungfrau) Die Sonne im Schätzen ift nit böß; wem fie Glück ver- 
lenht, vnd rüßt den menfchen auff allerley zu verfuchen, vnn giebt ein Hertz 
darzu. Hatt (nämlich der unter dieſem Beichen Geborene) ein luft frembde 
lend wafler vnd meer, durchſtreyffen, vn kumpt mit gemwinn and heym. 
Macht im vil freind, durch die er an der Fürften höff gezogen fzu hohen 
dmptern erwölet würt, frembde güte vſſz zu trykn. Würt vil zn hoff fein vun 


102 Aſtrologie. 


werdt gehalten, von wegen feiner zuthätigen art und künheit, geſchiekt zum 
der Mütweg zum Scderfpyl, weydwerk, jagen, ringen, f[priugen, allerley 
ſchimpff (Scherz) unud kurtzweil n. ſ. w. Berner beißt es: Vn gemeynyklich 
fein diefe geburt des Schützen gerecht, ſtyll, heetshafft, getren, geſchwinde 
vernunfft, milt, ftandhaftig, fteiff (beharrlich) arbeitfam und hochrhümig (bes 
ruhmt). 

Nach diefer Lehre werben fich ſtets befannte Perfonen auffinten Iaflen, bei 
denen das ihnen bier vorbeftimmte Loos fo ziemlich eingetroffen. Im Zeichen 
des Schügen vom 12. November bis 12. December wurden 3. B. geboren der 
treue Seb. Nitinger, der unerfchütterlic an feinem Fürften und feinem Glauben 
hing, der große Herfchel, Dtto v. Guerife, Morig, Prinz von Oranien, Aler. 
Aſiljewitſch Suwaroff-Rimnigfoi, der beruhmte Wiffionär und Reifende Deviar 
Schmid, Melchior Graf v. Hatzfeld, der berühmte Held im dreißigjährigen Kriege; 
Theophil Latour d'Auvergne; ber berühmte Reiſende Rüppell, der Theolog 
Schleiermacher, der Diplomat Mabillon, der Weltumjegler ©. Borfter, die Mar⸗ 
quife de Maintenon,, der Schlachtenmaler G. Ph. Rugendes, Chladni, Konrad 
von Burgsdorf, der Schöpfer ber preußiichen Armee; ber Phyſiker Argand; 
Tycho de Brahe, Wilibald Pirkheimer, Lindpaintner, Guſtav Adolph, König 
von Schweden, Winkelmann, Jacquin u. A. 

Wenn ed nun galt, nicht die Rativität, d. i. die ſideriſche Beſtimmung der 
Lebenszukunft eined oder einer Neugeborenen aftrologifch vorherzufagen und ho⸗ 
roscopiſch feftzuftellen, fo wurde flatt der Geburtftunde diejenige in das innere 
Duadrat der horoscopiſchen Signatur eingezeichnet, welche maaßgebend war, 
und um biefe reihte fi) nun Sonnen- und Planetenftand nebft den Thierkreis⸗ 
zeichen in ihren Gonjuncturen, d. i. in ihren Zufammentreffungen am Him⸗ 
mel im Bezug auf die in Rede flehende Schickſalsfrage. Hier möge nun als ein 
Beifpiel für viele ein Ächtes horoscopifches Prognoſtikon des oben erwähnten 
Meifter Virding flehen, mehr die äußere Geftaltung zu erläutern, als die Deus 
tung in das Einzelne zu verfolgen, die hier von Feiner Wichtigkeit ift, und am 
Ende faum verfländlih. (Siehe nachflehende Figur.) 

Item: fo ſahen die Horoscope aus, fo gingen fie zu Tauſenden in bie 
Hände derer, die fie bezahlten, und wurden oft befier bezahlt, als die geiſtvollſte 
Schrift, das ſchönſte Gedicht, Die gediegenfte Forſcherarbeit, denn fie waren eine 
Modeſache, und die Herrſchaft der Mode war allmächtig, wie «8 bis zum heu⸗ 
tigen Tage if. Man wird immer eher und lieber ein fchönes Pferd, einen ele 
ganten Wagen oder Schlitten, ein Foftbares Zimmergeräth, einen theuern Affen 
oder Papaget u. vergl, kaufen und ſich mit allem dieſen ſchauderhaft anführen 
Iafien, als die Handfchrift eines werthvollen Gedichts oder fonftigen Wertes. 
De gustibus non disputandum! — Das unterfte Wort im Duadrat der Mitte 
if Polus zu leſen, und bezeichnet die Polhöhe von 57 Grad. Diefe Polhöhe 
durfte in der Regel auf einem Horoscope nicht fehlen; ob fie immer aſtrono⸗ 
miſch genau berechnet wurde, ift die Frage, indeffen fehlte e8 nicht an Vorſchrif⸗ 
ten und Unleitungen zu allen Diefen Künften felbft für Laien. 

Anziehend ift ed, wie die Deutfche Kunft die Planetengötter abbilbete; 


Geſchichte der Aftrologie. 103 





von der antiken Auffafſung derſelben blieb wenig übrig, nur bie und da ein 
Attribut. Man gewahrt, dag die Künftler ſelbſt in der Incunabelzeit der Zeich⸗ 
sung dahin firebten, felbfifländig zu fein. In den älteften Blanetenbüchern ift 
Saturn als ein Hinfälliger Greis dargeſtellt, der fich auf eine Krüde ſtuͤtzt. 
US Beizeichen Hält er eine Sichel, nicht wie auf fpäteren Darftellungen eine 
Senfe. Seine antike Auffaffung ald Zeitgott lag dem deutichen Mittelalter 
fern, doch deutete e8 in Bildern Mühe, Arbeit, Armuth und Trübfal an. Ju⸗ 
piter erjchien ald Fürſt, gekrönt, mit dem Scepterflabe der Macht, Pfeile in 
ter Hand (Nachklang der antiten Donnerfeile). Mare war meift als halbrö⸗ 
miſcher Krieger, im Panzer, bewaffnet, und mit Kriegdemblemen bargeftellt. 
Sol war faiferlich angethan, hielt ein Scepter in einer, ein Buch in der anderen 
Hand, andere Andentungen waren Gebet, Geſang und Saitenfpiel. Venus 
erjchien, wie ſchon oben gefagt, meift nadt, befränzt, Mofen in der Hand, auch 
wohl mit einem Spiegel, langes blondes Haar. Ihre Symbole deuteren auf 
Liebe und Schönheit. Merkur trug meift einen Geldbeutel, den Schlangenftab 


104 Aſtrologie. 


erſt auf ſpaͤteren Bildern. Beizeichen waren bei ihm noch Kunſt und Ge 
werbeübung, Madonnenmaler, Schreiber, auch Uebung der befonders fchönen 
Kunft des Efiend und Trinkens. Der Mond erichien als Luna fachgemäß 
weiblich, jungfräulich, mit einem gefrümmten Horn, (feine Form in den Vier⸗ 
teln) und einer die Racht burchleuchtenden Fackel. Sonftige Beizeichen Jagd, 
Fiſcherei, Spiele u. dergl. 

Roch audgeführter und poeftevoller ift eine Reihe von Holzfchnitten aufge 
faßt, die dem oben genannten Werke ded Johann ab Indagine einverleibt find, 
und nach Burgfmeier als ihrem Erfinder deuten. Hier find alle Planetengötter 
zu Wagen in Wolken fahrend dargeftellt, und an den 2 Rädern der einen Seite 
des Magens ift — mit Ausnahme von Sol und Luna, wo nur 1 Rab — 
jedesmal dad dem Planeten zugehörige Thierkreiszeichen bildlich angebracht. 

Saturn fährt als winterlicyer reis, einen Schellengurt um den Leib; 
er verfpeift gemüthlich ein Kind, das er in der linken Hand hält, und verwundet 
mit der Sichel in der Rechten ein vor ihm befindliches zweites; fein Befpann 
find 2 Drachen, die Rider Steinbod und Waffermann. 

Jupiter figt gemächlich, mit einem Federhut bedeckt, auf einem Seffel. 
Bor ihm Eniet ein Mann, und. reicht ihm eine Schale voll Münzen. Er Hält 
einen gefieberten Bolzenpfeil mit der Spige nach oben in der rechten Kant. 
Sein Gefpann find 2 Pfauen. Die Rider Schüge und Fiſche. 

Mars ift von feinem Sig aufgefprungen,, ſchwingt ein Schwert in ber 
"Tinten Sand und hält ein Schild in der Rechten. Sein Haupt ift behelmt; feine 
Rüftung barod, Seinen Wagen ziehen im geftrediten Lauf 2 Wölfe. Die Ri 
der Widder und Scorpion. Es folgt Venus, gekrönt, groß geflügelt, in 
der Linfen einen Pfeil, aufwärts baltend, mit der Rechten den vorn auf dem 
Wagen zielend ſtehenden Amor zügelnd, dem eine Binde die Augen fchließt. Er 
ſchießt nach brei geflügelten, in ber Luft ſchwebenden Herzen, von denen eins 
bereitd von einem. Pfeil durchbohrt if. Das Geſpann 2 Tauben. Die Räder 
Stierund Wage _ 

Merkur figt behäbig im Wagenſeſſel, wie ein Kaufherr, und ſtreckt mit 
der Rechten einen großen Caduceus vor ſich hin. Zwei Haͤhne ziehen ihn. Die 
Räder Jungfrau und Zwillinge. Sol thront in allem Eöniglich, Krome, 
Scepter, Sermelinpallium, Vor ihm noch zum Ueberfluß das menfchlich 
lächelnde Sonnenantlig. Sein Geſpann 2 Roffe, auf dem Handpferb - ein 
Meiter. Das Mad der Löwe. Ä 

Luna fchön gefleidete Jungfrau mit fllegendem Saar, in der Linken ben 
Halbmond, darüber ein Stern, in der Nechten ein Horn. Zwei Jungfrauen 
ziehen ihren Wagen. Das Rad der Krebs. 

Die Ausgabe dieſes Buches vom Jahr 1540 zeichnet fich auch noch das 
durch aus, daß fle eine Menge größere und Fleinere Todtentanz⸗Initia— 
len enthält, die den von Sans Lußelburger gefchnittenen nachgebifdet find. 

In vielen der alten, ſowohl aftrologifchen, als nicht aftrologifchen Kalen⸗ 
dern findet fich Häufig Holgfchnittzier von Meiiterhänten, und die Anzahl der alle 
jährlich erfcheinenden Kalender war Region. Sie treten theild ald Bücher, meift 


Geſchichte der Aſtrologie. 105 


in Quart, an das Licht, oder als große fliegende Blätter; die Bücher ſchrumpf⸗ 
ten fpäter bis zu den kleinſten Formaten zufammen, und die fliegenden Blätter 
nahmen Tafeltuchformat an, und erfchienen erft in Holzfchnitt, fpäter bisweilen 
in Kupferftich. ' 

Manche der alten Kalender führten den Titel: Practica, und ihr Inhalt 
befand aus aftrologifchen Weilfagungen, wunderbaren Gefchichten mit Gebeten 
untermifcht. So heißt e8 u. U. in einer Practica von 1502: . 

Gib mir Herr, kunſt und lör. Das ich auß leg, geftürrennes krafft. Noch 
rechtter art, vnn meiſterſchafft. So vil du denn verheegen wilt. Das ich mitt 
mynner red, nit ſchilt. Aftronomp, die bohe kunſt. Die du durch lieb’, und 
groſſen gunft dem menjchen haft, geoffenbart. u. ſ. w. Eine horoscopiſche Figur, 
abreichend von den gewöhnlichen, nämlich fo, 
enthält den Planeten- und Thierfreiszeichen-Stand in 
den 12 Feldern eingefchrieben, die von 4 Quadraten 
und 8 Dreiedlen gebildet werden. Die Bonjunctios 
nen der Planeten werden mit Worten befchrieben, mit 
holzſchnitten erläutert u. |. w. Auf ſolchem Grunde 
fuften noch 1550 Johannes Kichtenbergerd weitver⸗ 
breitete Weiffagungen, bie mit allerlei prophetifchen Bildern, welche zu⸗ 
gleich durch Holzſchnitte verfinnlicht find, vor Augen treten, im wunderlichen 
Gemiſch von Geſtirnkunde und politifchen Conjuncturen. 

In den Heiligencalendarien, welche den alten Horarien, (Heurd, Stun- 
denbrevieren) u. bergl. voranflanden, waren insgemein feine Planetenzeichen, 
aber boch ber Laßmann, und durch ihn manches auf erftere bezügliche. 

„Der Rew groß Roͤmiſch Calender für 1522, Folio, von Meifter Johann 
Stöffler von Juſtingen, gebrudt zu Oppenheim, war eine Arbeit, die auf den 
Holztafeldruck des Joh. Regiomontanus fich theilweife fügte, in 31. Gapiteln, 
in denen mit bedeutendem Fleiße von Ciklen, Cirkeln, Schlüfleln, Feſten, Römer⸗ 
Binszahl, Sonntagsbuchftaben, Sonnen» und Mondlauf, Finfterniffen, Thier⸗ 
kreis, nebft Sonnen» und Mondenſtand in demielben, Aderlaßlehre und dergl., 
Zag» und Rachtlänge, Planetenflunden und deren Regiment ıc. ıc. vielfach ge= 
handelt wurde, Königreicke und fonftige Länder nebft Infeln und Halbinfeln, 
waren aufgeführt nach ihrem Grade, und allerlichfte Holzfchnitte, Städte, Thier- 
freie und Monatbildchen zieren ihn. 

Mehr und mehr wurde nun die aftrologiiche Kalendermacherei ein Ge⸗ 
werbe, und einer der Kalendermacher fuchte es mit feinem Druder, der zu⸗ 
gleich ter Verleger war, den Anderen an Schmud und Reichhaltigfeit zuvorzu⸗ 
thun. Kin Magiſter Conrad von Nürnberg (Noricus) Tieß zu Leipzig zu 
Anfang des 16. Jahrhunderts eine „Aderlaßtafel“ mit roher Holzfchnittzier er⸗ 
ſcheinen. Da heißt es bei den guten Monatötagen: erwelt bad mit köpf — oder 
erwelt bab on köpf — d. h. Schröpfföpfe, und zwar waren bieje Natbichläge für 
die Kranken, nach ben verfchiedenen Temperamenten verſchieden. Simon 
Esffenmann von Dillingen, Wagifter und Aftrolog zu Leipzig, gab 
einen Almanach auf 1515 fowohl deutfch als Iateiniich Heraus, ein falt 3 Fuß 





106 Aſftrologie. 


langes und über 1 Fuß breites fliegendes Blatt, am Rande rechts wit Koͤnigen 
in Holzfchnittarabeöfen und oben einen. Kopf mit 4 biblijchden Sceuen und dem 
Monogramm Ja] (Hand Schäufelein). Darauf find die Tage der Heiligen, die 
Thierfreidnamen nebft den Zeichen für Aber laſſen, Arzneien, baden, entwöhnen 
und fen. Unten ſteht in Holzjchnitt ein Laßmann, von den Bildern des Zo⸗ 
diacus umgeben, von denen Linien auf die Glieder gehen, in deren Zeichen Blut 
gelaffen werden mußte. Der Wahn, zu gewiflen Zeiten, ohne alle Urſache und 
Krankheit zur Ader zu laſſen oder zu fchröpfen, beberrichte ſelbſt ald Krankheit 
das Volk durch Jahrhunderte und beberricht einen Theil des Landvolkes noch 
immer, füllt die Baderftuben und bereichert die Bartfcheerer. Ein ähnlicher 
Almanach erſchien von Konrad Lindacher, gedrudt durch Jacob Tha⸗ 
mer zu Leipzig auf das Jahr 1529. Auf einem Kalender gleicher Art und 
Zeit ſtanden auch die Anfänge der Sonntagsevangelien; ein Anderer hatte am 
Rande dad Vaterunfer, und zu jeder Bitte ein Holzſchnittbild; am Fuße die das 
Jahr regierenden Planeten. Diejer ging für 1539 zu Erfurt aus. Die Würz- 
burger waren betitelt Ordo divinorum, ber Druder war Balthaſar Rüller; 
fie waren umrandet von dem colorirten Wappen des Biſchofs, Propſtes und 
Domdechantd jenes Hochftiftd, nebfl, an den Seiten herunter, denen der Dome 
herren, Darunter die Mehrzahl edler Geſchlechter aus der fraͤnkiſchen Ritterfchaft 
erblickt wird. Diefe Kalender erichienen auch deutſch und Toreinifch zugleich, 
und fegten fich ſpaͤter, doch blos deutſch, noch lange fort unter dem Titel: All⸗ 
manach Würzburger Biſtums und Hertzogthums Franken, Viele der ſpä⸗ 
teren fertigte Johann Andreas Jäger aus Kigingen. 

Selbft Dr. Luther, der 1543 fein Enchiridium piarum precationum zu 
Wittenberg herausgab, verjchmähte es nicht, biefem Buche ein weitjchichtiges 
Calendarium novum, dad Erasmus Reinhold and Saalfeld. anfertigte, vor⸗ 
anzuftellen. Es war gleichjam ein geiitlicher Almanach. Er beginnt mit dem 
fogenannten Cisiojanus, dem alten Heiligenfalender, und was fonft dazu gehört, 
nebit erbaulichen Monatverdlein, 5. B. 

Aprilis patulae nucis sub umbra 
Post convivio dormi libenter. 

Dann folgen Ueberfichten der Tags and Nachtgleichen durch ganz Europa, 
eine Vorfchrift über den Gebrauch des Galendars nach jeder Nichtung hin u. A. 

Die Horae, wie Prognostica, oder audy Prognostica astrologica betitelt, 
fegten fich lange fort; Wunder» und Zornzeichen, erfchienene und kommende, 
bandelten die legteren ab; meift maten fle in Quartformat hervor. In Erfurt 
wirfte für deren Herausgabe Dr. Joh. Hebenftreit, Phyſiker und Lektor der 
Mebicin. In einem Prognofticum Hiftoricum Phyſicum defjelben if fchon ein 
Privilegium gegen den Nachdruck enthalten. 

In die unterften Volkskreiſe traten die B auerntale nder bereitö zu 
Ende des 16. Jahrhunderts, eine ganz eigenthünliche Kalenderform, faft ganz 
hieroglyphiſch; fie gewannen bauptjächlidy im deutſchen Süden, in der Schweiz, 
in Tirol allgemeine Verbreitung und jo feiten Boden, daß fie noch immer jedes 
Jahr als fliegende Blätter erjcheinen. Zuerſt erläuterte Tert bie Zeichen, bie 


Geſchichte der Aſtrologie. 107 


Thierkreisbiſder, dann folgten Monatbildchen mit Planeten und den 12 Beichen, 
und bie hohen Befltage waren und find durch ganz Kleine Holzitöde dargeftellt, 
. 28. Heil. Dreifönigstag 3 Kronen unter einem Sterne, Faſtnacht durch einen 
Rarrentopf, Bronfaften durch einen Häring, Apoſtel und Heilige durch Bruſt⸗ 
bilder ober Attribute. Die Tage der Woche bildeten ſchwarzgedruckte pyrami« 
dalgeſtellte Dreiede, die Sonntage waren durch eine bekreuzte Halbkugel audges 
zidmet und roth gedrudt, auf den neuen Kalendern diefer Art find die Monate, 
Vochen und Tage mit Zahlen bezeichnet. Ganz ähnliches findet fich in folcher hie 
voglopbifchen Weile auf ſchwe diſchen Nunenftäben oder Runenktalen- 
dern, Die nicht in fehr frühe Zeiten binaufreichen, aber Runenfchrift tragen. 
Die alten haben am Schluß auch noch ten Laßmann, 3. B. ein zu Zürich „in 
der Brojchoun‘ auf 1587 gedrudter in Elein Duodez Vor dem Titel ficht ein 
Helzihnitt, Darauf ein Bauer mit der Miftgabel die rechte. Hand gegen bie ſtrah⸗ 
Imde Sonne reckt, dabei die Schrift: DAS KAN GVT WATER SIN. 

Wie die aftrologijche Kalendertgätigkeit, die noch immer fortblüht, wenn 
an der neueren Zeit fo gut als möglich angepaßt ſchon zu Ente des 16. Jahr⸗ 
hunderts blühte, davon nur einige Beiſpiele aus den Jahren 1598 und 1599. 

Für 1598 gab ein Pfarrer im fränfijchen Orte Burgberuheim, M. Georg 
Gifius, ein Prognosticum Astrologieum oder Teutfche Practifa in 4. heraus 
and widmete es dem Markgrafen Georg Friedrich zu Brandenburg. 
Er handelte über die Jahreözeiten, die Monate mit allen Aspekten und Conſtel⸗ 
tionen, Finſterniſſen, Bruchtbarkeit und Krankheit ꝛc. Der Kalender wurde 
in Nürnberg gedrudt. Ebendaſelbſt ein ähnlicher von Andreas Mofa, ber 
Irzenei Doctor und Stadtmebicus zu Annaberg, und nicht minder dafelbft einer 

ton M. Joh. Paul Sutor. In diefer erwähnt der Verfafler im 51. Kapitel 
„Don Krieg und Blutvergiegen, daß bereit vor 50 Jahren Dr, Luther ein Ho⸗ 
tekcop an Die Wand feiner Stube gezeichnet habe, mit den Worten: Anno 1602 
Turca potentes dominabitur in Germanfa. Herner in Nürnberg ein P. A. von 
Natthias Fiſcher aus Annaberg, Studiofus der Aftronomie und Bürger in 
der Bergſtadt Schladenwalde, der auch 1599 wiederfam, ebenfo wie Krabbe 
on Münden. M. Albin Moller von Struppit Tieß zu Leipzig eine „große 
Praetica Astrologica‘’ erjcheinen, ein Progn. Astrol. Dr. Zucad Bathodiuß 
Pfalzgraͤfiſcher Medicus zu Simmern, in Straßburg. In Erfurt erfchien ferner 
ein P. A, durch Joh. Krabbe von Münden, zu Wolfenbüttel, ebendafelbit ein 
P.A. durch M. Burkhard Bictorin Schönfeld ausMarburg. Auch diejer 
war Arzt, wie die Mehrzahl der Kalendermacher jener Zeit. Derjelbe gab auch 
noch eine aftrologifche Deutung oder Practica Teutfch auf 1598 ebenfalls in 
Erfurt heraus. 

Bon dem berühmten Leonhardt Thurnheyſſer zum Thurn er 
ſchien ein Prognofticon als Practifa auch zu Erfurt u. f. w. 

Auf Dad Jahr 1599 brachte M. Georg Cäſius abermals jein Progn. 
Astrol. zu Markte; in Magdeburg erfihien ein ſolches durch M. Gadpar 
Bucha, Arzt in Quedlinburg. Georg Meder, ein Franke, Aſtronom zu 
Kipingen, ließ in Rürnberg ein Br. erfcheinen, und chendafelbit Der Pfarrer M. 


108 Aſtrologie. 


Joh. Schülin aus Crailsheim einen „Gründlichen Bericht und ausführliche 
Beſchreibung von den himmliſchen Conſtitutionen und Contingentiſchen Sachen. 
Die conſtitutionelle Geſinnung jener Zeit richtete ſich mehr nach den Thronen 
der Planetenfuͤrſten, als nach denen der irdiſchen. 

In Leipzig erſchien gleichzeitig ein Pr. Astr. von Joachim Tanckius aus 
Perleberg, Philoſoph, Arzt und Anatom, der Chirurgie Profefjor. Eine gräus 
liche Drachengeftalt trägt als Titelholzfchnitt die 4 Kinfterniffe des Jahres 1599 
im Bilde unter den Zeichen von ==, G, %, N. Bei demfelben Verleger, Ni⸗ 
col. Rorlich, erſchien trogdem noch eine große Pract. Astr. durch M. Albi« 
nus Moller aus Strupig gearbeitet. Wie beliebt und verbreitet mußten 
dieſe Prognoftifa fein, daß ein Verleger Deren 2 zugleich übernahm. 

Für Magdeburg forgte Heinrich Winand dur ein Prognofticon; für 
Nürnberg fernerweit Joh. Bau! Sutor, und der Doctor der Medicin Io. 
Berftenberger auch noch für Erfurt Durch eine Prognosticatio Astrologica; 
ebenfo für diefelbe Stadt auch M. David Pfeffer aus Suibus (Schwiebuß) 
in Schleflen. 

Georg Kreslin, Aftronom zu Onolsbach, gab ein Pr. Astr. in Leipzig 
heraus. Der Titel zeigt in Holzfchnitten die 3 Iahreöregenten Saturn, Jupiter 
und Mars, die zu den Füßen auf beiden Seiten ihre zodiacalen Bilder Haben. 
Darunter ficht: | 


Das Geſtirn viel böß zeiget an, | SR aber nun bei une fein buß 
Aber Bott es wol wenten fann. So denk daß es geichehen muß. 


Es war ein Hübfched Sprüchlein, jenes allbefannte: . 
Astra regunt homines, sed regit astra Deus. 


Trafen bie Prophezeihungen der Aftrologen nicht ein, fo hatte Gott e8 
anderd gelenkt. Schade, daß dieſem Spruche alle Logik fehlte! Lenkte Gott die 
Sterne nah feinem Willen, fo waren fle Feine felöftftändigen Mächte mehr, 
die Einfluß üben fonnıen. Wie man Gott abbifvete, fo dachte man fich Ihn, 
als einen guten alten Kaifer, ber bequem auf feinem Throne jaß und fortwähe 
rend in einer Hand das Scepter, in der anderen Hand den Keichsapfel halten 
mußte, derweil die anderen, himmlifchen und Erdengötter, nach ihren eigenen 
Gelüften dad Regiment führten. Solchen guten alten Kaiſer möchten Biele in 
der Neuzeit gern wieder haben, um auch ein wenig zu regieren, und wo möglich 
zu einigem Anſehen zu gelangen, denn die Anderen regieren ihnen nicht nad 
Wuniche. | 

Noch ein Prognoſtikon erfchien in Nürnberg, wo faft jeder Verleger feinen 
eigenen Kalender drudte, Durch Dr. Joſias Müller, Aftronom und Arzt zu 
Pergim (Parchim), und Joh. Andr. Wulhus forgte mit einer Practifa für 
Eöln, für Hannover Hector Mithobius, Arzt und Phyſtcus. 

Genug von dieſer raftlofen Thätigfeit! Da fle einträglich war, fo ver 
erbte fie jich auf die Rachfommen , wie „des durchlauchtigften Bundes fchüßende 
Privilegien,“ und gab e8 feine Enkel oder Urenfel jener Aftrologen mehr, fo 
jparten Verleger und Drucer die Koften für neue Bearbeitungen, ließen von 


Geſchichte der Aſtrologie. 109 


irgend einem armen Teufel von Schulmeiſter, der ein wenig Mathematik trieb, 
auf den Brund alter Bereihnungen und Ephemeriden die Kalender erneuern, 
tüchtig Wetter, Krieg, Krankheiten und Peitilenzen prophezeihen, und fegten 
fort und fort die alten Zugnamen darauf, ftreng auf ihre „Privilegien“ trotzend. 
So paradirt u. A. auf dem Sachſen⸗Meiningiſchen Kalender noch bis dato ber 
„Aftonomiebeflifiene‘ Joh. Ehriftian Neichardt, als Berfafler, von dem 
Niemand weiß, ob und wo er je gelcht bat? Dieſer volksthümlichen Induftrie 
dienen als willlommenfte Efelöbrüden die fogenannten Hundertjährigen 
Kalender, und die immerwährenden, die biöweilen auch zufammengeftellt 
find, und denen man nach und nach allerlei Hinzugefügt hat, ıva8 man gar nicht 
in ihnen jucht, 3. B. politifche Tagesgeichichte. Bei den immerwährenden Ka⸗ 
lendern find aber von dem aljo betitelten gedruckten jene wohl zu unterfchei« 
den, die man in Form von runden geprägten oder eingravirten Metallplate 
ten häufig hatte, mit Thierkreiszeichen und Monatnamen in allerlei Kreifen, 
welche Zahlenquadrate einfchließen, aus denen dann der Kundige Datum und 
vieled Andere herauslefen kann, wenn er dieſes Hexeneinmaleins verfteht und 
reiht gute Augen bat. 

Durch die gedrudten Hbundertjährigen und inmmerwährenden Salender 
ihleppen fich nach wie vor Planetendeutung, Wetterprophrzeibung, Yrüchteges 
teifung, Blanetenregentfchaften, Bauernregeln u. ſ. w. u. f. w. fort, nur bie 
und da ein wenig neuzeitlich civiliftrt, und dabei find die Wetterorafel fo belu⸗ 
figend, daß biöweilen ein folcher Kalender zum wahren Orillenvertreiber werden 
ln. 3.2. „In manchem Jahre ift der Mai fchön und warm.” — „Wenn 
ein dürrer Sommer ift, jo wird das Getreide theuer.” — ‚Der Winter ift ans 
finglich kalt und viel Schnee, Zu Ende gelinde, ohne Schnee, aber windig.” — 
„Sa Sommer gibt es viele Kröten und Heufchreden, und im Herbſt viele 
Rinie.” u. f. w. 

Den neueren Kalendern find häufig gefchichtliche Nachrichten in chronolo⸗ 
giicher oder fürftlich genealogifcher Folge vorangeftellt, Die Bezeichnung der Him⸗ 
melöförper fehlt nicht, ebenfowenig fehlen die zwilchen Mars und Jupiter krei⸗ 
ienden vier Fleinen Planeten, und die außer den Uranus fich bemegenten 42 
anteren, obichon auf dieje in den nicht fehlenden Gonftellationen Feine Rückſicht 
genommen ift, und nicht genommen werden fann. ber fie enthalten den ncu 
verbeflerten, den Sregorianifchen und den Julianiſchen Kalender mit allen Heilie 
gentagen, Aspekten und Wetter, Witterung nach den Mondesvierteln, Tages⸗ 
und Rachtlängen, Jahr⸗ und Viehmaͤrkte, Erzählungen und Anekdoten, hohe Ge⸗ 
burtötage, Raͤthſel und Charaden, auch Gedichte, Mondesläufte durch den Thier⸗ 
frei, Thierkreisbildchen größer oder Kleiner, öfonomijche Hausmittel, meift noch 
ein aftronomifches :Brognoftifon, mit ungefährer Witterungsverhaltung nach 
ten Jahredzeiten, die Binfterniffe, den Juden⸗Kalender u. ſ. w. und das alles 
mm Spottpreije von einigen Grofchen. 

Je mehr die neuere Zeit vorfchritt an Einſichtnahme und Kenntniß, um ſo 
mehr trat das aſtrologiſche Wiſſen zuruͤck, die Kunft der Aſtrologie gerieth in 
Verfall, und trat fo ziemlich auf die gleiche Stufe mit Chiromantie, Phy⸗ 


110 Aſftrologie. 


ſiognomik, Geomantie, Namendeutung, Traumdeutung und 
dergleichen Küniten, die keineswegs jo ganz brodloſe waren, denn jede Sinne 
und Köpfe betbörende Gaufelei findet ihre gläubigen Anhänger, dafür brachte 
die Reuzeit Mesmerismus, Somnambulisnus, Kartenfchlagen, Beifterfehen, Tanz⸗ 
tifche, Klopfgeifter, Schädellehre, Chirogramımantie, Phrenologie u. f.w., in das 
vornehme Publiftum, während das plebeje ſich auf Jahrmaͤrkten und Vogelſchie⸗ 
fen von der Sirene einen Planetenzettel voller Unſinn kauft, und an allen 
uralten Wahn, an Tagewählerei, an Mond» und Thierkreidgeftirn- Einfluß, an 
Baucrnregeln, an Thierpropbetien, Durch Ungang, durch Ueberdenweglaufen, 
an bezaubernde Anrcte bei Begegnung von Menjchen, indbefondere alten Weibern 
glaubt; an anhaben, berufen, Läufe und Mäufe auf Köpfe und ins Haus zau⸗ 
bern, und fort und fort taufendfachen Überglauben ausübt, bisweilen fogar uns 
bewußt. 

Da nun alles wiederfehrt, wie die heutige metallurgifche Kunſt es verfteht, 
aus alten Schlackenhalden noch mancherlei brauchbares Metall zu gewinnen, fo 
darf ed nicht wundern, wenn auch die Aftrologie nicht ewig fchlafen gegangen 
ift, fondern ihr Haupt wieder zu Tage zu heben verjucht und zwar wieder förm⸗ 
lich als Wiflenichaft. Gibt es doch auch noch Leute, die feft an die Kunft 
glauben, den Stein der Weifen endlich zu finden, und aus unedlen Metallen auf 
chemiſchem Wege Gold zu machen, und zwar gerate hin, nicht auf Umwegen, 
wie der Gold macht, der Ultramarin, oder andere theure Karbeitoffe bereitet, 
oder wie zulett jeder Arbeiter. Daher trat im Jahre 1816 ein Mann auf, der 
Hofrath Pfaff, welcher die Aftrologie auf's Neue zu Ehren und Anſehen zu 
bringen juchte, doch unter vernunftgemäßen Vorausfegungen. Er gab von 1816 
bis 1823 aftrologiiche Schriften, namentlich ein aſtrologiſches Tafchenbuch her⸗ 
aus, wurde aber ald Thor verlacht, und vermochte nicht, mit feiner Wieder- 
erweckungslehre jener entichlafenen Wiffenfchaft durchzudringen. Schon 1816 
erichien ſeine Aftrologie; auch in Zeitblättern juchte Pfaff feine Anfichten zu 
verbreiten, aber fle verflangen faft ipurlos, und es ging über die Zeit eined 
Menjchenalterd dahin, che Jemand den verlaffenen Schaus und Ranıpfplag wies 
ber zu bejchreiten unternahm. 

Auf einmal aber tauchte, und zwar in neucfter Zeit, ein Mann auf, 9. 
Karl Vogt, der Aftrolog und Seher zugleich heißen will, und Ludwig 
Hauff ließ über denjelben eine Schrift erjcheinen: ‚Der Aftrolog und Seher 
zu München, und fein Berfuch einer Wiederherftellung der Aftrologie, nebft An⸗ 
Deutungen über jein Betreiben berfelben und feine Wahrjagungen. Heilbronn 
und Leipzig bei Landherr 1858”, nachdem bereit3 vorher fchon in öffentlichen 
Blättern über den neuen Propheten einiger Lärm aufgefchlagen worden, und 
auch ein Schriftchen, betitelt! ‚Die erfüllten und noch zu erfüllenden Weiffa- 
gungen und Prophezeihungen des Aftrologen und Sehers K. V. in München ar. 
fowie Enthüllungen über den Propheten, Altona,” erjcyienen war. Diele 
Schrift joll vieles Unwahre enthalten, wie L. Hauff behauptet. Seiner erften 
Schrift hat Ludwig Hauff eine zweite folgen laffen: „Die in Erfüllung gegan« 
genen und weiteren Vorherſagungen des Sehers und Aftrologen zu München. 


Geſchichte der Aſtrologie. 111 


Ein Anhang x. Mit dem Horoocope des Kaiſers Alerander II.“ Dieſe kleine 
Schrift erlebte raſch vier Auflagen, und die vierte derſelben wurde mit Wahrſa⸗ 
gungen über den König War II. von Bayern vermehrt. Der Fiſch des wunder⸗ 
füchtigen Publitums biß willig an den neuen Köder an. 

Aus beiden Schriften geht hervor, daß die Prophezelungen polttifcher 
Natur find, darin hat der Seher freilich eine zahllofe Eollegenfchaar, denn 
kder politifche Kannegießer prophezeiht, wobel ſtets das alte Volksſprich⸗ 
wert zur Wahrheit wird: „Wenn's trifft, fo fehlt's nicht.” Es ift dies ein 
pottwohlfeiles Seherthum, zu welchem man feinen Sternenftand und feine Con⸗ 
Relationen zu beobachten, Eeine Blicke nach oben zu richten braucht. Oder 
iollte e8 wirflich großer Sehergaben bedürfen, um vorauszufagen, daß der ames 
ritanifche Schwindel und Betrugdgeift ehebalvigft wieder unheilvolle Geldkriſen 
hervorrufen werde? Daß es in Italien und namentlich im Kirchenftaate in kurs 
im große Veränderungen geben wird? Oper daß Rapoleous MI. Schieial in 
Erfüllung gehen wird ? wie der Prophet wirflich prophezett hat, aber fehr düfter 
and orafelhaft. Freilich wird e8 in Erfüllung gehen, aber wann? aber wie? 
aber wo? — Davon fchweigt die Münchner Prophetenweißheit. Eines jeden 
Amichen Schickſal erfüllt ſich. Dies zu wiſſen, bedarf e8 Feiner Horoscope und 
Rativitätfiellerei. 

Es kann nicht Abficht fein, Die Münchner Bropherien zu zergliedern, zu be⸗ 
hitteln, oder gar fchwächen zu wollen. München hat große und noch viel mehr 
fline Propheten ; e8 mag ſich an ihnen erbauen oder erfreuen. Nur auf einiges 
wahrhaft komiſch Wirkendes fei noch Hingedeutet. „Der Papſt wird nody viele 
Irubjale zu erleben haben.” Das vorauszuſehen, wird der Papft weder Pla- 
neten, noch Horodcope, noch Münchner Scher bedürfen. 

„Der Kaifer Alexander II. hat einen großen Beruf in Aſien.“ Außerors 
deuslich zutreffend. Der Kaifer hat den Beruf, in Aſten zu erobern, fo viel als 
möglich, und dort die Macht feines Reiches und die der Givilijation immer weiter 
zu begründen und auözubreiten. Das wird er wahrfcheinlich laͤngft willen — 
ohne Aftrologie. 

„Deutfchland wird noch eines Sinnes werden, wenn auch erft ſpäter.“ 

O weiler Daniel! Welch ein tief gefchöpfter Ausfpruch! Ganz gewiß wird 
Deutichland noch einig werden! das iſt mit Fug zu prophezeihen — aber wann? 
— Später: Gott gebe, nicht zu fpät! — 

„Preußen bat Rußland nicht zu fürchten, ebenfo wenig Deutfchland. Das 
Recht orafelhaft. — „Wann Cäfar über den Rubikon geht!" — Hat Preußen 
Rußland nicht zu fürchten, oder Rußland nicht Preußen? Hat Preußen 
Teutichlant nicht zu fürchten, oder Deutſchland nicht Preußen? Oder Rup- 
land nicht Deutfchland? Oder Deutichland nicht Rußland? in wahres 
beralpha prophetijcher Kunft. 

Eines gewiffen Pudels Kern, über den man jich aus Ehrfurcht gegen eine 
babe Berfon aller Aeußerungen am beften enthält, ift noch in den Anhange der 
Hauffichen Schrift zu Iefen. Die aftrologifchempitifche Sprache von Figuren 
und Gegenjchattungen, Geburten, Gedritte, Geviert⸗, Sextil⸗ u. j. w. Echeinen, 


112 . . : .Aſtrologie. 


Herren ber Zeit, und eine Menge von Fixſternnamen, auf welche bie alte Aſtro⸗ 
Iogie keine Rüdficht nahm, möge man für den Schleier nehmen, mit dem das 
neuzeitliche Saisbild ſich verhüllt. Cine Sprache, die den Laien, völlig unver- 
fländlich, und daher um fo mehr geeignet ift, maulauffperrendes Anflaunen ber 
vorzuzaubern bei ſolchen, die jo bornirt find, fich verblüffen zu Iafien. 

Es ift niederfchlagend, eingeftehen zu müflen, daß es in unferen Tagen eine 
Wiffenfhaft der Aftrologie nicht mehr gibt. Sie ift verfallen, verloren. 
Ihre Kunft wird nicht fo herrlich wieder aufleben in München, wie die ber Glas⸗ 
malerei. Politiſcher Humbug ift Feine Wiſſenſchaft. — 


Die deutſchen Landesgrenzen. 
Eine ftrategifche und fortififatorifhe Erörterung. 
Erfter Artitel: pie Weftgrenze. 


1. Borwort. 


N" einem früheren Artikel über die deutſche Flotte haben wir unfere Ans 

Fihten über bie politiſche Weltlage entwidelt und daran die Darlegung geknüpft: 
„ie politische Cinmüthigkeit Geſammtdeutſchlands und eine ſtarke Offenſiv⸗ 
macht auf dem Meere unerläßlich ferien, um Deutichland nicht blos in der 
ihm gebührenden Machtflellung zu erhalten, fondern um überhaupt feine, in 
ihren Grundfeften erfchütterte, wo nicht ſchon untergrabene, geſasnntſtaatliche 
Eriſtenz ſicher zu ſtellen.“ 

Wir konnten naturgemäß daran mit einigen firategifchen und fortififatori- 
den Grörterungen anfnüpfen, weil es ſich zugleich um die Gründung großer 
Küftenetabliffements und um deren Sicherflellung auch von der Kandfeite han- 
delte, und glauben damit nicht nur Alles erjchöpft zu haben, was fich nach der 
iigen Sachlage in allgemeinen Erörterungen geben läßt, fontern auch auf bie 
vielfach mitaufgenommenen wiffenichaftlichen Grundprincipien und beziehen zu 
dürfen — in ber Hoffnung, daß diefe Blätter der Kontinuität in ten Augen 
derjenigen Leſer nicht entbebren werben, die ihnen einmal ihre Aufmerkſamkeit 
geichenft haben. 

Es find und mehrfach Vorwürfe über den Stundpunft zu Ohren und 
Augen gefommen, den wir eingenommen haben. „Ideale Anfchauungen und 
itwärmerifche Hoffnungen‘ waren ungefähr der Extrakt diefer Bonwürfe, Wir 
türfen fie abwelfen. Ein Ziel kann nur genau aufgeftellt werben, wenn alle ein« 
wirfenten Faktoren nach ihrer Geltung im Kalkul aufgenommen werden. So 
ann die Machiftellung eines Staates und was zu ihr erforderlich ift, nur mit Ab⸗ 
wigung der allgemeinen politischen Weltlage gefunden werten ; denn der frayliche 
Staat ſteht innerhalb einer großen und nach allen Seiten Hin wirkenden Geſell⸗ 
ibaft anderer Staaten. Wir haben nicht blos für unjere Machtftellung zu lei 
Rem, was uns bequem iſt, fondern Las von Außen ber normirte Quantum wirkt 
ganz weientlich mit ein und nöthigt zu mitunter fehr unbequemen Leiftungen. — 
Ehmwärmereien hängen wir fehr wenig nach, fo wenig, daß wir bie Mejultate 
unfered Studiums der Blottenfrage nur des halb der Deffentlichkeit übers 

v. 80 


114 Kriegswiſſenſchaft. 


geben, weil-wir bedachten, daß auch Tropfen den Stein höhlen, und daß es ſo⸗ 
nach Verpflichtung eines jeden Einzelnen fei, durch jein Wort und Wert einen 
Beitrag zum Reſultate zu liefern. 

Unſere Ueberzeugung wie all' unſer Hoffen ruht auf der Grundkraft ger⸗ 
maniſcher Nationalität. Sie wird ſich emporarbeiten aus Racht und Rebel, aus 
Schutt und Trümmern, weil fie, wie feine andere, alle Eigenjchaften cdelfter Art 
in ſich vereinigt, wie Feine andere es berflanden hat, mitteg in den-Struteln der . 
Civiliſation · A. h. der Werfrinerung, des eurus, des äußeren-Olanzes und 
der äußeren Ehre — ſich Die edleren und kernhaften Fugenten ber Kraft und 
der Sitte zu erhalten. ” 

Wir werben auf denfelben Brundlagen fortfahren. 


2. Strategiſche Erörterung. 


Nach unferer jchon eitirten Erörterung war unfere Küfle und unjere Ste» 
macht als nächfter und dringentiter Gegenſtand unferer Aufmerkfamfeit empfoh⸗ 
In. Das biöpenflrt und aber nicht, unjer Augenmerf auch auf die Land» 
grenzen zu richten und prüfenden Blickes zu. erforichen, ob in dem verfloffenen 
langen Frieden dad Sehörige aller Orten gefchehen, ober wo es nicht gefchehen, 
was fich der jchaffenden Thätigfeit noch darbietet. 

Es handelt fih, wohlveritanden;, hierbei um: diejenigen paffiven 
Steritmittel, durch deren Benügung e8 uns erleichtert werben foll, mit ten 
aktiven — den Armeen — die Obermacht zu gewinnen, und wir glauben, bamit 
ben Westämefler für die Geltung beider Gattungen hinreichend Flar bezeichnet 
zu haben. — Für die Offenſive bedarf es fonady der Uebermacht an akti⸗ 
ven -Streitmitteln in erfter Linie, der paffiven Streitmittel dagegen in zweiter 
Zinie; für die Defenfine bedarf e8 einer Mereinigung beider, um hierdurch 
den aftiven Streitmitteln entweder abfoluten Schuß vor dem gewaltjamen 
Angriffe zu gewähren, während man ihnen doc bie Möglichkeit gibt, ſich im 
gegebenen Terrainſtrecken zu behaupten, oder um burch die Mithülfe der paſſi⸗ 
ben Streitmittel fo viel Elemente des Kampfes zu Fonzentriren, daß bie Defens 
five mit Ausſicht auf Erfolg fchlagen kann und nach der Offenſive fieeben mag, 
als derjenigen Form, die allein dem Kriegszwecke entipricht; die Frage nach der 
nothwendigen Summe defenſiver Huͤlfsmittel richtet ſich alfo in ‚ihrer Beant⸗ 
wortung vorzugsweiſe nach den offenflven oder den befenfiven Grundabſichten, 
die ihrerſeits wiederum von der politifchen Gonftellation und ber onfiguration 
bes Landes abhängen. 

Wir trennen fonach, außer In eine weftliche und öftliche Grenze, jede der. 
felben in verfchiedene Operationdfelder und zwar vorzugsweiſe darnach, in wels 
her Weile fie den großen Krieg bedingen, in Offenfinfelder un Defen⸗ 
ſivfel der. Je mehr Kraft die Dffenflve verlangt, um ihres Erfolges, ben 
materiellen Mitteln nach, ftcher zu fein, deſtoweniger tft es erlaubt, auf mehreren 
Feldern die große Offenflve zu führen, defto häufiger und audgebehnter werben 
die Defenfivfelder fein, denen man bie Mittel zur Offenfine abſparen muß. — 
Das find fehr einfache Grundbegriffe, und man dürfte billig. erwarten, daß es 

® 


Die deutfchen Kandeögrenzen. 115 


nicht nöthig jein jolle, fie auseinanderzujegen; leider aber laftet noch auf ber 

Theorie des Krieges von alten Zeiten ber eine übel begründete Mißachtung; 

man glaubt, die Kunft ohne ihre Willenfchaft ausüben zn können, weil falfche 
Viſſenſchaft Häufig in's Uebel geführt, vergißt aber dabei, daß der Menſch 
aur in den allerſeltenſten Bällen Das mit einiger Sicherheit 
kann, was er nicht weiß. In vieltaufendfältiger Mehrzahl kann er Das 
bejjer, was er weiß. Es fällt mir nicht ein, deshalb die Eharaktereigen- 
ſchaften unter den nothwendigen Faktoren des Soldaten wie bes Feldherrn, 
gering zu achten, ich befänpfe nicht deren echte, jondern fireite für die 
Gleihberehtigung der Wiſſenſchaft. Wie zu den Zeiten des erſten 
Ropoleon diejenigen jeiner Marjchälle auch ohne das Gängelband des Meiftere 
zu fegen verſtanden, die der Wiſſenſchaft Huldigten, und nur dieje, fo haben 
in dem legten italienijchen Kriege auch wiederum Feine anderen Generale fich 
ehten Lorbeer errungen, als tie eine willenjchaftliche Befähigung mit praftijcher 
keitungsfraft verbanten. 

Nächſt dem verhältnigmäßigen Werthe und dem gegenjeitigen Bedingen der 
verſchiedenen Streitmittel ifl von uns der Einflup des Terraind im Gro— 
Bea und Ganzen zu würdigen, ehe wir an der Hand der gewonnenen Grund» 
lagen an die Specialitäten herantreten. 

Ein Terrainabſchnitt bat eine gute Offenitvlage, wenn auf | jeinen Feldern die 
Aruppen gut ſich bewegen und fechten können, wenn Raum vorhanden ift zu Ent« 
widelung von Uchermacht und alle Bewegungen leicht im Fluſſe zu erhalten find — 
Shlagbarfeit — wenn ferner die Truppen zu leben finden und nicht ledig⸗ 
li auf dic Zufugren angewieien find, — Ernährungsfähigfeit — und 
wenn gute Kommunikntionen den großen Operationen fowie bequeme Lage 
den rajcben Zufanmienziehungen förderlich werden. Es tritt ferner von feind« 
licher Seite Hinzu, und zwar fördernd, wenn diefem Offenſivterrain nicht große 
Rrategijche Barrieren gegenüberliegen, Hochgebirge, Ströme, Eumpfzüge, oder 
wenn die dort befindlichen feindlichen Feſtungen ſchwach, falſch gelegen oder uns 
zaeckmaͤßig eingerichtet find. Je mehr aber ein feindliches Kriegätheater jolcher 
dinderniſſe zählt, deito wichtiger wird es, eine Möglichkeit aufzufinden, dieſe 
$indernifle ohne Gefährdung der übrigen Bedingungen zu vermeiden. Das 
Offenfivterrain muß endlich womöglich direkt auf das Herz der feindlichen Macht 
binführen, oder wenigftend zu einem Zwijchenhalte führen, von wo aus nach er⸗ 
reuter Vorbereitung der Gewaltſtoß auf den enticheidenden Punkt geführt wer⸗ 
ten könne. 

Defenftvlagen nehmen Alles für fi) in Aujpruch, was jo eben als gunftig 
für die Offenflve bezeichnet wurde, erfordern aber, daß dem Gegner die Bes 
rugung gleicher Vortheile verfagt fei oder wenigftend verjagt werden könne. Sie 
verlangen ferner, daß fie Da, wo fich dem Gegner im Terrain mindere Schwie⸗ 
figfeiten bieten, ſeine Offenjive nicht das Herz der eigenen Macht treife, daß alſo 
ein Luftſtoß erfolge, und daß da, wo eine größere Wichtigkeit für die Defenfive 
serliegt, eine große Summe von natürlichen Schwierigkeiten der gegnerijchen 
Effenflve Lie Tragweite abkürze. 

g* 


116 Kriegswiſſenſchaft. 


Es gibt kein Terrain, welches an ſich und ohne Weiteres bie gehörige 
Summe brauchbarer Eigenſchaften für den einen oder den anderen Zweck in ſich 
vereinigt. Es muß deshalb eine Fünftliche Nachhilfe erfolgen, die Potenzi« 
tung des Terrains, die ebenfowohl für die Offenfive als für die Defenflve 
erforderlich iſt und ihre Thätigfeit in zwei Richtungen äußert: in der Erf Sr 
fung und in der Befeitigung von Hinderniffen: 

Die Erfhaffung von Hindernifien konnte eine Zeit lang in der 
Erhaltung und in der Vermehrung der Unwegſamkeit beſtehen und die letzten 
Ausläufer dieſer Anſichten reichten in den Gegnern der ſtehenden Rheinbrücken 
bis in unfere Tage herein. Diefe der allgemeinen Landeskultur wie dem Ver⸗ 
Tehrsintereffe ſchnurſtracks widerftrebende Richtung ift in Kulturſtaaten eine Un⸗ 
möglichkeit, und es bleibt bier nichts als die Befefligung, die, in ihrer 
Eigenichaft als Potenzirung des Terraind, vorhandene Terrainhinberniffe zu 
fleigern, zu vervollftändigen bat. Die Befeftigung charakteriſtrt fich hiernach als 
eine Terrainumwandlung im Sinne und zum Zwede der Ber 
theidigung, und dieſes auf die Landeövertheidigung angewendet, erhebt fich bie 
einzelne Befefligung zu einem Landesvertheidigungoſyfſtem. Es find zwei Män- 
ner neuerer Schule, die diefe Ideen klar auögefprochen und zur Beltung gebradht 
haben. Gen. v. After, Chef des K. Preuß. Ingenieurforns, ber die Befeſti⸗ 
gung aus ihren ifolirten Zwecken losjchälte und aus ihr cin Stügmittel ber 
großen Defenflve erfchuf, und Gen, v. Willifen, der in feiner befannten Theorie 
des großen Krieges in dem Kapitel über die Kortififationen eines feiner Ticht- 
vollften und durch die Neuheit und zwingende Kraft des Gedanfenganges gläns 
zenbften Erpoj6d geliefert Hat. Während Willifen darlegte, wie in der Macht⸗ 
fülle, alfo in der Konzentrirung, die Hauptfraft Tiege, alfo konfequenterweife ein 
Gruppenfuftem den zerfplitterten Fortififationen — den Linien — überlegen 
fein müſſe, wie feine erfolgreiche Defenjive möglich ohne fie oder wenigſtens eine 
ihnen ähnliche Befeftigung, und wie die Befefligung eben auch nur als ein 
Streitmittel ſich den übrigen Streitmitteln folchergeftalt dienend anfchliege, gab 
After in den Befeftigungen von Coblenz und Cöln muflergiltige Beifpiele, wie 
man befeftigen könne ohne erichöpfende Koften, und wie man die Feſtungen hal⸗ 
ten könne, ohne durch die Maſſe der Iokalifirten Kräfte die Oyerationsarmee zur 
Null Herabzudrüden. Es waren Feine Punkte mehr, in ihrem ifolirten ober 
fubjeetiren Sinne, fondern Terraintheile, die nach ihrem Verhältniß zum Gan⸗ 
zen, objectiv,, befeftigt wurden. Das Dienen trat an die Stelle des Selbſt⸗ 
zweckes. 

Wenn man auf die Aſter'ſchen Ideen näher eingeht, fo ſtellt ſich als cha⸗ 

rakteriſtiſch auf: 

1., Das ganze Syſtem ſucht ſeine Staͤrke in der aͤußeren Umfaſſung, in der 
Linie Der Forts, der Kern iſt fchwächer gehalten und nur gegen ben gewaltfamen 
Angriff ſchuͤtzend disponirt. 

2., Die einzelnen Theile der äußeren Umfaffung haben eine folche Stärfe 
an fortififatorifchen Mitteln, daß fle im Bebarföfalle mit fehr wenig Befagung 
eine Zeitlang gehalten werden koͤnnen. 


Die deutfchen Landesgrenzen. 117 


3., Die Lage der Hauptvertheidigung iſt der Schlagbarfeit des Terrains 
beſtmoͤglichſt angepaßt, fie bietet der Armee Raum und Gelegenheit zum Schla- 
gen im freien Felde, wie zur Anlage weiterer fortifitatorifcher Hilfsmittel und 
wmöglicht bez. begünfligt ebenfowohl die entichiedenfte Offenflve wie eine abſo⸗ 
Inte und zaͤhe Defenfive. Dabei ift dem Keinde die Zerfplitterung feiner Kräfte 
beinahe zum Geſetz gemacht. 

IR eine Armee zur Defenflve genöthigt, jo kann fie alle ihre Kräfte in der 

werderen Widerftandslinie erichöpfen; vermag fie es im Laufe dieſes Kampfes 
nicht, einen Wendepunkt herbeizuführen, fo ijt ihre Riederlage entichieden. Es 
wird unnüg fein, die Widerflandsmittel in rückwaͤrtigen Linien aufzuhäufen, 
kan eine Armee, die ihre Kräfte in den vorderen Poſitionen verwertben kann, 
wärde die rüdwärtigen nur benugen koͤnnen, wenn fle die vorderen aufgäbe zu 
einer Zeit, da fle noch Kräfte hat, fie aljo noch halten könnte. Gewaͤhrt aber 
bie vordere Linie allein Die Möglichkeit der Offenfine, und wiederum die Offen- 
ſtee allein die Möglichkeit, den Kriegözwed zu erreichen, zu fliegen, fo folgt 
daraus, daß die Armeen ihre Iegten Kräfte an die Erhaltung der vor- 
heren Linien fegen müfjen, und der Kampf um die rüdwärtigen nichts ift, 
ald ein mehr oder weniger verlängertes Sterben, nicht mehr aber ein Ringen 
neh dem Siege. Den höheren Zweck vor Augen, foll aljo die Kortififation 
denjenigen Kampfplatz vorbereiten, auf dem die Armee ‚flegen foll oder wenig⸗ 
jens fann, und braucht für den letzten Akt der Eriftenz, den bes Sterbeng, 
richt eine Hülle von Mitteln, die ungenutt bleiben, — Was aber fortififatorijch 
uni ift, kann ſehr Leicht ſtrategiſch jchäblich werben dadurch, daß die Zahl der 
Idaliirten Truppen ungebührlich wächft, die Operationsarmee alfo finkt, ferner, 
daß der Widerftand aus dem Offenfluterrain weicht und nur mehr der Defenftve 
heldigt, womit aber dem Kriegszwecke, der nicht Aushalten, fondern Sieg vers 
langt, überhaupt jelten, nie aber vollftäntig und nie in befferer Weife gedient 
wird, als es der Widerftand an den vorderen Rinien auch thut. — Was aber 
fertififatorifch unnuͤtz, iſt ferner ffaatswirthfchaftlich falich, denn das 
Geld ift unnüp auögegeben, alfo weggeworfen, doppelt faljch aber dann, 
wenn wegen biefer unnügen Ausgaben man anderswo es fehlen laſſen mußte. 

Der Argumentation, wie wir ſte Hier für die einfachen und foliden aber 
inferen Widerflandslinien des After’fchen Syſtems aufgeführt, traten die neue⸗ 
von Chefs des Preuß. Ingenieurforps entgegen: die Generale v. Brefe und 
v. Brittwig. Diejes jog. neue Preußiſche Syflem erfennt an, daß bie 
Befeftigungdanlage der Kern der Defenfive fein müſſe, daß es alfo nicht eine iſo⸗ 
lite Bejagung, jondern die Armee fein werbe, welche den Kampf um fle, und 
year in der Hoffnung günfliger Momente zu offenfiven Ruͤckſchlägen, zu führen 
babe. Auch fle errichtet alfo eine äußere Vertheidigungslinie. Aber fie fagt: 
Eine Armee wird ſtets in die Defenfive geworfen, oder jo ſchwach jein, daß ſie 
nicht verſuchen darf, aus ihr Herauszutreten und dem Kriegszwecke, dem Siege 
nachzuſtreben; für eine folche Armee ift e8 nicht geeignet, fehr große Terrain« 
Areden, durch Terrainummwandlungen, In förmlich vorbereitete Terrainabfchnitte 
ummjchaffen; e8 würde über ihre Kräfte hinausgehen und dem Gegner ein 


118 Ariegdwiſſenſchaft. 


Leichtes werden, neue Siege zu erfechten. Die aͤußere Linie muß alſo wenig 
ausgedehnt fein, und e8 wird beſſer fein, fie vollfiänbig zur Vertheidigung vor⸗ 
zubereiten, als auf die Einrichtung im Momente des Bedarfes zu rechnen. Se 
weniger nun vorauszuſetzen iſt, Daß eine Feſtung flet 3 mit guten Truppen reich⸗ 
lich verfehen fei, je wahrfcheinlicher es vielmehr iſt, daß fle ihre Vertheibigung 
mit Depotbataillonen, Landwehren des — biöherigen — 2. Aufgebotes zu fühe 
ren haben wird, deſto ungeeigneter wird Diefe Befagung für den Kampf um des 
tachirte Werke oder in freien Felde fein, deſto eher wird die Notwendigkeit ein⸗ 
treten, die vorderen Linien aufzugeben, deſto fühlbarer wirb der Bebarf nach 
einem foltden Hauptwall und als weitere Schlußfolge, defto mehr wird man 
bedacht fein müflen, Durch eine nach Innen zu fich fleigernde Anhäufung der 
fortififatoriichen Widerſtandsmittel Die abnehmende Streitfraft der Beſatzung zu 
flärfen, damit immer ein annäherndes Gleichgewicht flattfinde zwifchen Angriff 
und Vertheidigung und in feinem Momente des Kampfes der Veriheibiger fi 
außer Stande fehe, über die Angriffsmittel einen Erfolg zu erringen. Man 
fortifiztete nun mit einem außerordentlich flarken Sauphrall und gab ſelbſt die 
fem noch, riefenhafte Reduits. Das Syſtem gipfelt in ben rufſiſchen Feſtungen 
in Bolen. 
Diefe Argumentationen, Indem fle feheinbar die Grundlagen der After 
Williſen'ſchen Ideen adoptiren, führen doch fchnurgerade auf die alte Befeſti⸗ 
gungäweife Io8 und man Pönnte nach ihren ebenfowohl eine Feſtung nach der 
Manier der alten Schule von Meziöred erbauen, wie eine nach neu-preußifchen 
Ideen; der Hauptunterfchied wäre nur der, daß während die alte Manier für 
einen großen Platz etwa 300 Geſchütze und 15 bis 20000 Mann brauchte, bie 
neue eine Artilleriemaffe von nicht unter 800 Gefchügen erforderte und ehva 
30000 Wann Iofalifirte, ohne deshalb die Garantie unbedingten Widerftandes 
zu geben — alfo mehr Mittel und nicht weientlich mehr Reſultat. Das if 
aber Fein Vortheil. — Wichtiger noch find die inneren Widerfprüche. Die 
Dffenflve und die Defenftve find niemals rein aufzufaflen, denn fie durchdringen 
fih gegenſeitig. Man kann zur unbedingten Offenflve zu ſchwach fein, aber 
nicht zur partiellen, zur bedingten in vorbereiteten Terrainabfchnitten, und es iſt 
gerade der wichtigfte Zweig der Thaͤtigkeit einer Fortifikation, daß fte ſolche bes 
dingte Offenflven ermöglicht, dadurch aber die Armeen vor dem Loofe bewahrt, 
in die Defenfive geworfen zu werden oder gar nichts thun zu können. Die 
Armee wird dann aber auch in der Lage fein, den Kampf in und um die vor 
deren Linien zu führen, denn fle tritt mit voller Schlagfertigkeit in den Kampf 
hinein. Es wird auch Feiner Großmacht an Truppen fehlen, um die zu folchem 
Kampfe beftimmten Armeen in die gehörige Stärke zu bringen, wenn fie nur die 
Vorſicht gebraucht, Feinen Mann unnüg zu lokaliſtren. Kat aber eine Armee 
den Kampf da durchgeführt bis zum Tegten Atom von Kraft, wo fle mit ihrer 
Kraft flegen konnte, und einen anderen Kampfplat Tann man ihr doch nicht zu» 
muthen, fo wird Feine Kortififation der Welt ihre Niederlage mehr aufhalten 
können, es iſt alfo auch Feine mehr nöthig. Wer den Kampf vom nicht mehr 
führen kann, der foll doch noch alle die komplizirten Hilfsmittel der inneren 


Die deusfchen Landesgrenzen. 119 


Fortifikation ausnutzen Fönnem, Die die neue Schule aufeinanderhäuft, foll Ab⸗ 
ſchnitt auf Abfchnitt mit dem Bajonurt fich. entreißen Infien und ben demoraliſt⸗ 
senden Wirkungen der bitteren Wahl widerftehen, die er zwijchen den immer 
konzentriſcher werdenden Dertilalfeuer und ker Kaſemattenluft bat, Es iſt ein 
Innerer Widerſpruch; man bat den Menfchen. vergeflen, der Doch auch im brav« 
fim Soldaten ſteckt — der Ingenieur hatte den Taktiker überfeben. Der Scha- 
den dieſes neu=preußifchen Syſtems iſt ein ſehr großer und eben fo intenflv wie 
umfaffend. Zuerſt warb ber Hauptakzent von dem Terrain weggelegt auf bie 
Sertififation ; es war Fein Kanıpf mehr um einen Terrainabfchnitt, der von der 
Armee mit Hilfe der Kortififation für die Defenſive und mit Hilfe der übrigen 
Elemente der. Eicherheit für die Offenfive, alfo .mit der Perſpektive auf 
Sieg, geführt werben follte; der Kanıpf im Außenterrain watd NRebenfache. 
Daraus folgt, daß entweder die Armee zur Befagung wird und als folche dem 
ſcheren Untergange im Kampfe gegen Lie Uebermacht entgegenfehen darf ohne 
weientlichen Ruten für ben Kriegszweck, oder daß die Armee ſich um die Be⸗ 
ſazung ſchwaͤcht und die Feſtung preisgibt, fich ſelbſt aber zurüdzieht, ein Zu« 
Rand, ter bie Frage geftattet, ob denn dad Opfer an Geld und Menichen, 
ſolchergeſtalt gebracht, gerechtfertigt fei? ein Zuftand ferner, ber das nicht ge 
mibhrt, wornach verlangt wird: Zuwachs an defenſiven Streitmitteln 
für die Armee, der der Armee nicht geftattet, das Feld zu halten, ohne doch 
gegen die Uebermacht fchlagen zu müflen, der ihr nicht geftattet, in der Defenflve 
mit Sicherheit fiehen zu fünnen. 

Schon vorher haben wir erwähnt, was fortififatorijch überflüffig fei, müfle 
Rearäwirthfchaftlicy ichädlich genannt werden. Wenn die neue preußifche Ber 
feſtigung Widerſtandsmittel aufeinanderhäuft, von denen ed zweifelhaft fein 
mag, ob die Befagung phyſiſch wie moraliich im Stande fein werde, auch nur 
Be Hälfte auszunutzen, fo ift das für dieſe Befeftigung nicht nothwendiger — 
aAwohl ſehr wahrfcheinlicher — Welfe ein Schade; Ver Staat aber, der nicht 
mit unbefchränkten Mitteln wirtbfchaftet, fondern meift ziemlich enge Grenzen 
in Finanzſachen Hat, verliert durch die Verſchwendung an Einer Stelle die Mög⸗ 
lichkeit anderen, vielleicht ebenſo berechtigten, Anſprüchen zu entfprechen, und 
weil man Ein Operationdfeld mit Ueberfülle verforgt, müffen andere darben. 

Wir müſſen und entjchieden gegen die neue preußifche Schule erflären, 
md zwar zu Bunften eines einfacheren, naturgemäßeren, wir möchten fagen: 
Rrategifheren Syſtems. Die äflerreichifchen Befeftigungen entfprechen 
der firategifchen Grundidee in demſelben Grade wie die After’fchen Feſtungen; 
fortififatorifch ſtehen fle unter ihnen, denn es iſt in ihnen nichts Großes und 
Ganzes, es iſt ein Wirken mit einen Mitteln und Chifanen, in Summa, Zer⸗ 
ſplitterung und Krafıluflgfeit. Weil aber die Ideen richtig find, auf beten fie 
raben, find die fortififatorifchen Mängel ohne erhebliche Rachtheile, Die Armee 
findet ein vorbereitetes Kampfterrain. Dabei find fle, den be 
(bränkten Mitteln des Kaiſerſtaates entfprechend, billig. 

Je mehr nun zu Tage tritt, daß es fich niemals darum handeln kann, den 
oder jenen Punkt feinetwegen zu befeftigen, fondern daß eine jebe Be» 


120 . .„Kriegöwiflenfchaft. 


feffigungsanlage nicht8 weiter jein könne noch dürfe, als ein 
Theil der Einrichtung auf einem Kriegötheater, um fo weniger 
wird ed nod eines weiteren Beweiſes dafür bedürfen. daß 
alle Befeftigungen auf einem Kriegötheater einer gemeinfamen Ober- 
leitung zu unterſtehen Haben, ſowohl in Bezug auf Gntwurfund 
Anlage, ale in Bezug auf Ausrüftung und Benugung. 

Dies eine der Grundbebingungen für ihre Zwedmäßigkelt und Wirkfams 
feit; für unfere deutfchen VBerbältniffe würde fich daraus ergeben, daß ein natur⸗ 
gemäßer Zuftand erſt dann vorhanden, wenn fämmtliche beutfche Kriegstheater, 
eben fo wie die Bundesarneen unter dem Bundesoberfeldherrn, fo auch fie unter 
ber oberften militairifchen Gentralbehörbe fliehen. Als Weg zu diefem — Teiter 
entfernten — Biele wäre feſtzuhalten: So viel Feſtungen an ben Bund zu wei 
fen, al8 möglich; namentlich da, wo ſchon Bundesfeftungen vorhanden, die Mit« 
wirkung des Bundes alfo nur mit defien Unnullirung befeitigt werden könnte. 
Wir wiederholen hiermit die Ausführung des ftrategifchen Lehrſatzes: Konzen- 
teirung ift Kraft. Jede Schwächung des Bundes iſt eine Schwächung Deutſch⸗ 
lands, jede Zerreißung des Bundes eine Vernichtung des Vaterlandes. 

Die zweite Art der Potenzirung des Terrains beftcht in der Wegfchafe 
fung vorhandener Hinderniffe, oder mit anderen Worten in der Er⸗ 
Öffnung von Kommunifationen, das wo fle lediglich oder vorzugäweife zu dem 
Zruppenbewegungen erforderlich find. 

Nach der Ratur der Hinderniffe find dieſe Kommunifationen entweder 
ftehende Brüden oder Straßenlinien oder Eifenbahnen. 

Die Bewegung der Truppen zum Zwecke flrategifcher Operationen, das 
Seranziehen verjelben (Boncentriren) oder das plögliche Verftärfen durch Wech⸗ 
feln der Operationslinien oder Kriegstheater wird. am meiften gefördert durch 
Eiſenbahnen. Leider muß man fagen, daß in Deutſchland die K. Preu⸗ 
Bifche Regierung fehr jpät erft den wahren Werth ber Eiſenbahnen erfannt und 
daß ihr Widerftreben der Feſthaltung militairifcher. Rückſichten bei Eifenbahn- 
anlagen in hervorragender Weiſe und weit über die preußifchen Grenzen hinaus 
geſchadet Hat. Noch Heute gibt es ſehr bedenkliche Luͤcken, noch heute fehlen die 
Anftalten zu ausgedehnter militairifcher Benugung, noch heute gebricht e8 an 
fortififatorifchem Schutze. . 

Die Eifenbahnen werden bauptfählich in zwei Richtungen fich geltend 
machen: ald Berbindungslinien im politiich-firategifchen Sinne, und ale bes 
ſchleunigtes Kommunifationsmittel im engeren operativen Sinne, Die Erfteren 
gehen vom Herzen des Landes aus nach den Grenzen und Manövrirplägen, die 
letzteren bilden ıheils die Transverfalverbindungen zwiſchen den Manövrirplägen, 
theils zwifchen den einzelnen Gliedern einer Feſtungsgruppe. | 

Zur Entfaltung der Wirkfamfeit der Eifenbahnen gehört jonach eine An⸗ 
Inge nach einheitlihem Plane, bamit-alle die durchgreifenden Rück⸗ 
fichten militairifcher Ratur zur Geltung fommen, und eine Detailfürforge 
in Betreff der lokalen Anftalten und Einrichtungen, wiefle der 


Die deutfchen Landesgrenzen. 121 


Sruppentransport erfordert. Je weiter auch in dieſer Iegteren Beziehung in ein« 
beitlichem Sinne vorgefchritten wird, defto ficherer wird ein fo plöglicher und 
maflenhafter Transport feine ordnungsmäßige Erledigung finden. 

Es iſt aber aus militairifchen Gründen zu fordern: . 

1., Eine durchgehend zweigeleifige Anlage der Bahnen. Der 
Gap bedarf feiner Rechtfertigung mehr, ſeitdem der Transport ded 1. öfterreichis 
iben Korps und einer Kavalleriediviſion Durch Sachſen und Bayern gezeigt bat, 
wie nicht nur die eingeleijigen Bahnen eine Maſſe planmäpiger Verzögerungen 
wegen bed Kreuzend der Züge. hervorrufen, jondern wie auch. die unvorherges 
ichenen Verzögerungen Dimenjlonen annehmen Fönnen, die gefährlich werben 
mögen, wenn der Feind in der Nähe ift. 

2., Sine durchgehends gute und unmittelbare Verbindung 
ber einzelnen Bahnſtrecken untereinander. Uebergänge mitteljt Dreh⸗ 
ſcheiben, Kopfftationen und dergleichen Hemmniſſe find unzuläfilg. 

3., Un gewiffen Gentralftationen, insbejondereanallen Mas 
nöpzisplägen, müfjen jo geräumige Bahnhofsanlagen fein, daß 
ver Verfehr zahlreicher Iruppenzüge, das Aus⸗ und Einladen von Artillerie 
und Reiterei, das Unterbringen von Material aller Art, das Austheilen und 
weitere Berführen von Bedürfniffen ordnungsgemäß und ohne Zeitverluft flatt« 
inden könne. 

4., Die Sicherheit der Bahnen muB ind Auge gefaßt und 
turhgeführt werden. Die Eifenbahnen müffen Durch die Plätze gehen 
und mindeftens der Theil der Bahnhöfe, der für die militairifche Benugung bes 
Kimt if, Reparatunverkftätten x. innerhalb der Enceinten oder wenigftens bes 
anmittelbaren Rayons liegen haben. Große Sentralitätionen im Binnenlande 
fünnen vielleicht frei gegeben werden, obwohl wir meinen es fei ftetö beſſer, die 
Motenpunkte eines fo wichtigen Berfehrsmitteld nicht von der Laune eines 
Pobelhaufens abhängen zu laſſen; jobald aber die Eiienbahnen ein Operations 
iheater betreten, müflen die Bahnhöfe vor Handfteichen ficher geftellt werten. 
Bir baben von den Details diejer Anlagen ſchon bei Gelegenheit der „deutſchen 
dlotie geiprochen. 

5., Es muß die Möglichkeit einer mafjenhbaften Beförde— 
sung gegeben jein, db. h. man foll nicht durch Bahnperfonal, Material, 
Baflerftationen sc. auf eine beflimmte, mäßige Unzahl von Truppenzügen be= 
Kränft fein, die fih in langen Paufen folgen, fondern man foll im Stande 
kin, größere Truppenförper auch in einer Art von Marjchkolonne zujammenzus 
halten, jonach eine Anzahl von 6 oder 8 Zügen mit Furzen Intervallen (etwa 
> Rinuten) zujammen geben zu lafjen. Wir weilen hierbei erneut darauf hin, 
wie wichtig es für eine Truppe ijt, in ihrer Mitte Cifenbahntechnifer zu befigen, 
nicht blos vom Bau⸗ jondern auch von Betriebs⸗Fache, theild um in feind⸗ 
lichen oder infurgirten Ländern feiner Sache ficher zu fein, theils um der Ueber- 
mädung des Perſonals durch Hilfäleiftungen vorzubeugen. 

Wie man Beftungen baut, um ber Sicherheit des Landes willen, fo fol 
men auch zu gleichem Zwecke Eiſenbahnen bauen oder umbauen oder mit mili« 


122 Aqegewiſſenſic . 


tairiſchen Anſtalten verſehen. Ihre Wichtigkeit iſt blos ſcheinbar geringer, als 
die der Feſtungen, dem Weſen nach ſteht fle mindeſtens eben fo hoch, vielleicht 
und in manchen Fällen gewiß, höher, denn fle befördern die Wirkſamkeit der 
aktiven Streitmittel, dienen der Offenfive, alfo dem direften Kriegszwecke und 
erhöhen die Wirkungsfraft der Kortififationen da, wo man zur Defenflve greift. 

Aber auch fie dienen nicht einem fpeziellen Striche, fondern dem Ganzen, 
und weilaud fie, im militairifhen Sinne, nichts weiter find, 
als ein Theil der Einrichtung anf einem Kriegätheater, müſſen aud 
fie auf dem gefammten Kriegötheater einer gemeinfamen Oberlei- 
tung unterfleßen, ſowohl im Entwurf und Anlage, als in Außs 
rüſtung und Benützung. 

Und für und Deutſche wuͤrde ein naturgemäßer Zuſtand erſt dann als eins 
getreten anzuſehen ſein, wenn die oberſte militairiſche Centralbehörde auch hier 
mit den weiteſten Vollmachten handelnd auftreten dürfte. Weil aber auch hier 
der Normalſtand leider erſt in der Ferne zu ſuchen, würde zur einflweiligen 
Beſſerung der Zerriſſenheit es weſentlich beitragen, wenn die oberſte Central⸗ 
behörde wenigſtens da handelnd auftreten und eingreifen dürfte, wo verſchiedene 
Landesgebiete und verſchiedene Specialintereſſen auf ein und demſelben Kriegs⸗ 
theater den Uebelſtand am praͤgnanteſten hervortreten laſſen. 

Nur in ſeltenen Faͤllen werden Stragenzüge die Aufmerkſamkeit ber 
Gentralbehörden beanſpruchen. Wenige Ausnahmsfaͤlle abgerechnet, ſtellte ber 
Verkehr und die Landeskultur die Straßen ber, die der Soldat braucht, und wo 
in cinem ſpeziellen Kalle wirklich ſtrategiſche Straßen nothwendig werden, 
wird deren Anlage feinen Schwierigkeiten unterliegen, die man jet noch al® 
erheblich bezeichnen dürfte. 

Wichtiger wiederum find die Brüden über große Ströme Man 
war troß ber Lehren der Gefchichte immer noch in allzuhoch binaufgehenden 
Preifen der Anftcht, daß große Ströme ftrategifche Barrieren von fo ziemlich 
abfolut ſchützender Art feien, und noch ift das Kopffchütieln nicht beruhigt, wels 
ches die Kehler Rheinbrüde erregt hatte. Es ift Freilich richtig: fo Lange 
Deutfchlands Großmächte Front gegeneinander machen, fo lange können fle 
nicht Front nach Außen bieten, ‚Tönnen nicht mit großer und entjchlofiener 
Dffenfive fremdländifche Anmaßung zurädweifen, können felbft nicht einmal Die 
Unverfchämtheiten Skandinaviens beftrafen. Wenn ter Löwe krank if, kann 
eben jeder Proletarier flch in feinen Iagdgründen vergnügen. Es if alſo ba6 
Gefühl fhupbedürftiger Schwäche, weldyes dahin firebt, jedes Sperrnittel, jede® 
natürliche Hinderniß forgfam zu nügen, ihm aber dabei einen Werth beizufegen, 
den ed nicht bat. Es muB aber darauf Hingewiefen werden, daß gegen ſolchen 
BZuftand nur allein der Eräftige Wille Hilft, und daß gegen nationale Schwäche 
alle Fünftlichen Hilfomittel volltommen wirfung3los bleiben. Unfer Schug 
« Tiegt allein im Riederwerfen des Gegners und was dazu bient, 
müffen wir betreiben. Nicht abwehren, nicht defenſiv Ten wollen — ver Steg 
allein, der blutige, entfcheidende Sieg allein kann und helfen. 

Die Unklarheit in der Frage über die großen ftebenden Brüden verſchwin⸗ 


Die beitstfihen Ranbeögrenzen. 133 


ben vor einer Betrachtung der Ratur der Dinge. Was verlangt Die Defenftoe 
von einer Hindernißlinie? Daß der Feind an ihr halten müſſe, während fle 
ſelbſt in jedem Augenblide, der ihr pafjend erfcheint und an geeigneten Stellen 
das Hinderniß überjchreiten, operativ frei fein will. Muß man-alfo auf einem 
oder dem anderen Kriegötheater in der Defenflue bleiben, fo foll der Gegner zum 
Stehen gezwungen werden, durch einen Strom z. B., man will aber in der Rage 
bleiben, jederzeit in beliebiger Michtung gegen einzelne Theile des Feindes die 
Dffenfloe zu ergreifen, man muß aljo eine große fiehende Brüde befigen, und 
damit man ihrer ficher fei, muß fie auf beiden Ufern befeftigt fein, und zwar 
sicht 6108 in unmittelbarer Berbindung mit der Brüde, fondern in einer Weife, 
bie das Hervorbrechen der Armee in Befechtöformation erleichtert, d. 5. in Ruüͤck⸗ 
ft auf das Terrain, — Es find eben tie großen Manöverpläpe, welche mit 
in Brücken in Verbindung zu treten haben, um flch gegenfeitig zu ergänzen. 

IR eine ſolche Befeftigung anf dem feindlichen Ufer flaatlicher Verhäftnifie 
wegen nicht möglich, fo muß man ſich begnügen, die Brüde im Kriegsfalle folid 
ſperren und bei herannahender Gefahr ficher zerflören zu können. 

Es bedarf wohl keines weiteren Beweiſes, Daß die Natur der Brücken 
als wichtige Verbindpungsdglieder in den Operationslinien e& 
eefordert, daß fie eben fo wie die Feſtungen und bie Operations. 
Inten ſelbſt unter der gemeinfamen oberiten militairifchen Eentral- 
helle ſtehen. 

Rekapituliren wir in der Kürze: 

Alle Einrichtung des Kriegsfhauplages muß darauf bes 
sechner fein, die aktiven Streitmittel in ihrem Kanpfe zu 
snterfiügen, fein Defenfiomittel ift fich ſelbſt Zweck, es ift nur dienendes, 
Died für Das Ganze, für den höheren Zweck. 

Richt die Defenfive ift Dae, was erfirebt wird, fondern 
daß eine gute Defonomie der Streitfräfte bie zur entfcheidens 
den Dffenfive nöthige Maffe erübrige, ohne Doch den Schug 
minder wichtiger Landestheile darum aufgeben zu müffen. 
Die Defenfive muß ftehen koͤnnen. 

Alle Arbeiten harakterifiren ſich ale Potenzirungen des 
Lerrains, in Erfchaffung oder Befeitigung von Hinderniffen. Um dem gro« 
fin Sanzen zu dienen und zum Siege mit zu helfen, müffen fie nach einbeit- 
Khem Plane audgeführt werben, folglich einer centralen Oberlei- 
Inte unterftehen. 


Sehen wir nun an die Detailbetrachtungen. 


Die deutſche WBeftgrenze. 
3. Matürlihe und politifche Scheidung in Zwei Kriegstheater. 


Das Rheinland ſtellt ſich dar al eine Reihe von füb-nörblich flreichenden 
Hindernißlinien, benen rechts des Rheines vom Nedar an abwärts transverjale 
Hinderniglinien ziemlich rechtwinklig aufftoßen. Es find mithin emwa drei Vier⸗ 


134 Kriegswiſſenſchaft. 


theile von Sehnenlinien und ein Viertheil von Radienlinien eingenommen, 
@ine einzige Linie, die Mofel, trägt wechfelnden Charakter; anfangs iſt fle 
Sehne, dann biegt fle fich oflwärts in eine radiale Richtung herein. Der oberfle 
Theil des Rheines, fein oſt⸗weſtlicher Lauf, würde eine Radiuslinie fein, wenn 
nicht die politifche Eintheilung ihn zu einer Schne gemacht. Wir bemerken, 
in Bezug auf die Lage der Hindernißlinien, daß e8 unnötbig, über ben mehreren 
oder minderen Werth der Lagen zu fireiten, da ein Staat ſehr felten die Wahl 
bat, daß es mehr darauf anfommt, zu willen, wie fie von der Kriegführung bee 
nugt werben, wie fle eingerichtet werden müflen. Sebnenlinien fordern zwar 
zur Eordonmäßigen, aljo fehlerhaften Bertheidigungsweife auf ; fie erleichtern gut 
eingerichtet der Defenfive dagegen das Stehen ohne Verluft an Land; find fle 
einmal überjchritten, jo find ſie werthlos für die eigene Offenfive. Radienlinien 
dienen der Defenfive nur dann, wenn diefe dad maflige Syſtem der neueren 
Schule zur Anwendung bringt, und wenn fle in diefem Sinne potenzirt find; 
fie bieten aber felbft dann noch feinen abſoluten Schuß; fle dienen der Offen 
five, wenn dieſe fich an ihnen ind feindliche Land hinein erſtrecken kann. 

Die deutfche Grenze folgt von Bafel ab der Sehne des Mheines bis an bie 
Pfalz, überjpringt dann die Linie und geht in nordweſtlicher Richtung gegen 
Belgien. Wollen wir Belgien zu Deutjchland rechnen, jo geht Die Brenze, etwas 
mehr weRlich werdend, dann bis zum Meere. . Bon dem Verlafien des Rheines 
an folgt die Grenze Feiner Sehnenlinie mehr, fondern wandelt die vorhandenen, 
fle überfpringend, in Rabdienlinien um. 

Auf deutfcher Seite liegen rechts der Sehnenlinie des Rheines die Sehne 
des Schwarzwaldes, auf die jpäter der radiale Zuuf der Donau folgt; auf fran⸗ 
zöftfcher Seite liegen parallel zum Rheine Die weiteren Schnenlinien ber Voge⸗ 
sen, der Mofel, der Maas, der Arbennen, denen fich dann erft die radialen 
Linien der Marne und Aisne anſchließen. Gegen Belgien würden nur die obere 
Schelde und die Dije ebenfalld als Radienlinien in Wirkfamkfeit kommen, ba 
die Sambre, obwohl eingerichtet, Doch zu unbedeutend iſt. 

Es würde hiernach entſchieden jein, daß eine zwar etwas monotone, aber 
anfehnliche defenſive Stärfe linf3 und eine etwas fchwächere, aber gut geglie⸗ 
derte Defenfielage rechtö an die Oberrhein⸗Grenze ftopen. ben fo entichieden 
ift, daß die nordweſtlich laufende Grenzlinie deutſcherſeits die franzöfifchen Des 
fenfislinien burchfchneidet, daß mindeſtens Eine, und rechnen wir Belgien Hinzu, 
zwei Radienlinien, der deutfchen Offenſive dienend, ind Land hineingehen. 

Es iſt ſöonach die Rheingrenzeunfer Defenfinfeld, bie 
gegen Nordweſt ſtreichende Grenze unſer Offenſivfeld, 
wenn man allein die großen Züge der Terrainkonfiguration betrachtet. Sehen 
wir, ob die politifchen Vrxhältniffe etwa — wie fle es wohl könnten — dieſes 
Verhaͤltniß umdrehen ober ob fie e8 beflätigen. 

Die gefammtdeutjche Macht — man wolle unferer patriotifchen Illuſton 
geitatten, daB fie flatt ſcheidet, jagt: — gliedert ſich in drei Gruppen, zwei große 
und eine ſchwaͤchere. Die eine große Gruppe, Preußen, den Norden umfaflend, 
findet ihr naturgemäßes Debouchee gegen Frankreich in den Landftricyen nörbfich 


Die deutſchen Landegrenzen. 125 


des Baralleld von Mainz; der ganzen flaatlichen Einrichtung nach ift Preußen 
auf einen lebhaften Offenfivfrieg, auf die Anwendung des Vernichtungsprincips 
hingewieſen. Es tritt plöglich mit großen Maflen auf, feine Heere ſind gefchickt 
und beweglich, aber es kann feine Hilfäquellen nicht anhaltend nach ſolchem 
Maapftabe außbeuten. Im Gefühle dieſes natürlichen Zwanges zur Offenflve 
ypilegte Preußen fich wohl das Schwert Deutfchlands zu nennen, und gern 
glaubte auch Deutfchland diefem Selbſtvertrauen. Es liegt Far, die Offenſiv⸗ 
wacht ſtößt an das Offenſivterrain, hier alfo Uebereinſtimmung. Die fchwächere 
Oruppe, ſchwaͤcher, weil weniger homogen in der Zufammenfegung und insbes 
fmdere weil weniger einheitlich in der Leitung, ift fchon Diefer ihrer Schwäche 
wegen nicht geeignet zur greßen, entjcheidenden Dffenfive. Sie muß aber ihr 
Lerrain in der Defenflve zu halten: juchen — Forderung der Politit — und je 
weniger dad Terrain ihr Hilfsmittel für die Defenflve bildet, deſto mehr ift fie 
auf die Potenzirung der vorhandenen verwiejen, damit fle das Auftreten der 
Written Gruppe, der öfterreichiichen Macht, abwarten Eönne, mit beren Hilfe 
an hier die Entfcheidung gefucht werten muß. Es entfpricht fonach auch bier 
die geringere aktive Kraft dem Hinweis auf tie Defenftve, der im Terrain liegt, 
ud gern würde man fagen mögen, es liegt hier ein, für und Deutfche ganz 
ucbenſaͤchliches Kriegätheater, wenn nicht die pofitifchen Verhaͤltniſſe einen ſehr 
entſcheidenden Drud zu Gunften feines Werthes ausübten. Sie find ed naͤm⸗ 
lich, welche das franzöfliche Offenflofeld hierher führen. Ohne eigene, durch⸗ 
grrifende militairifche Kraft, dagegen mit. nicht überall zufammengehenden In⸗ 
treffen pflegen folche vielgliedrige Kandftriche dem Feinde nicht allzulange zu 
wderfichen, und befigt er fie einmal, fo fallen fle ihm oft audy politifch zu. Der 
le Erfolg der Franzoſen mug — wenn ihnen nicht abermals tie Lofaliflrung 
eh Krieges gelingt — darin beftehen, daß fie mit der Eroberung Süd⸗Weſt⸗ 
Deutſchlands den Bund fprengen und bie offene Zwietracht wiederum zmwifchen 
fine Großmächte werfen. Damit ihnen Solches verwehrt fei, muß das Defenflv- 
fild hoch und heilig gehalten werben. 
Auch die politiichen VBerbältniffe ftimmen fonach mit den natürlichen und 
seben und im fühlichen Kriegstheater dad Defenfivfeld, im nördlichen 
bad Offenſivfeld. 


3. Pas nördliche Kriegstheater oder das Offenſiofeld. 


Wir werden unfere Betrachtungen in drei Richtungen zu erſtrecken haben: 
auf die Diegfeitige Offenfive, deren Baftrung und Fortführung, auf die Stügen 
ter diesſeitigen Defenflve, und auf Die zur beiden Zwecken dienenden Kommuni⸗ 
lationen. 


Die diesſeitige Offenfive, ihre Bafiruug und Fortführung. 

Bir befigen an Feſtungen, Die in diefem Landſtrich der Offenfive als Baſis 
dienen können, nur die Bundesfeftung Luremburg und die Fleine preupifche 
Schung Saarlouis, von denen erftere taktifch einen fehr guten Rayon Hat und 
frategifch als Blügeljubjekt von hohem Werthe ift, dagegen in defenſivem Sinne 


126 Kriegewißeuſchaft. 


keine unmittelbare Wirkſamkeit entfalten kann, weil entfernt von jeder Hinder⸗ 
nißlinie, — während Saarlouis einziger Nutzen in der Befchägung einer Saar⸗ 
bruͤcke beficht, deren Werth wiederum bei. ber geringen Wichtigfeit dieſes Neben⸗ 
fluffes nur jehr untergeorbneter Ratur if. Es fehlt Hier an einer Stüge für 
ben linfen Flügel ver Bald, den wir in bee Gegend von Saarbrüden, 
Zweibrüden ober Homburg fuchen, und es ift geradegu nothwendig 
in dieſer Gegend einen WManövrirplag erfier Orbnung anzu 
fegen. Nur unter biefen Ilmftänden kann die Offenflve vor einem Begenftoße 
auf ihre Baſis bewahrt werden und. kann fich mit enticheidender Gewalt zwi⸗ 
fen Maaß und Mojel entwicdeln und wird in ihrem Fübwärtigen Vorfchreiten 
gewiß fein, die Hauptkräfte des Gegners zu treffen, vielleicht allmälig und ver⸗ 
einzelt, je nach dem Grade von Einſicht und Geſchick, von Entſchloſſenheit und 
Sänelligteit, mit benen bie Operation angelegt und durchefuhrt wird. 


| Die Stügen der Defeniive, 

Wenn aber diefer Terrainabfchnitt auch vorzugsweife zur Offenflve gecignet 
esfcheint und in diefem Sinne vorbereitet werben muß, fo ift doch auch Die Des 
fenftve Rückſicht, das Fehlſchlagen des Offenſivherſuchs zu berückſichtigen. 
Luxemburg iſt fein Platz für die große Defenſive, Saarlouis noch weniger. Die 
Defenfive jucht die Hindernißlinien auf und deren gibt ed nur Eine, die Moſel. 
Sie bietet an ihrer Vereinigung mit der Sauer (Sure) und Saar, bei Konz und 
Wafſſer billig eine Ierraingeftaltung, bie der großen Defenflve um fo günftiger 
it, als die Feſtungen Luxemburg und Saarlouis daun in ein Gruppenverhaͤlt⸗ 
niß zu ihr treten und te ſich gegenfeitig unterflügen und ergänzen. Es iſt in 
der That nicht abzujchen, wie ſich eine feindliche Dffenfive Durch dieſes Gruppen⸗ 
foftem hindurch gegen ten Rhein entwideln will, ohne vorher die biedfeitige 
Operationdarmee vollftändig zertrümmert zu haben. 

"Wir bedürfen alfo auf dieſem Kriegötheater zweier Manönrirpläge, den 
einen an der Weltipige der Pfalz und den anderen bei Konz (Trier), und wir 
fügen ausdrüdlich hinzu, nicht im Stile von Poſen oder Königsberg, noch in 
dem von Ulm, jontern Bläge mit flarlen Außenſortß und ichmachem Kerne, wie 
fie mit 6 bis 8 Millionen gebaut werden. 

Wir haben Belgiens erwähnt und es einfhweilen auf deutſche Seite geftelkt, 
Iſt dies der Bau, fo würde das Offenfivfeld jo viel wie möglich in Belgien vor⸗ 
greifen, jchwerlich oftlidy Der Maaß fich erſtrecken und ten beftehenden zwei 
Kriegstheatern, die dann beide defenjlve Tendenzen erhielten, cin drittes beige⸗ 
jellt,, das feine Bafts in Mond fände und jeine Offenflvrichtung zwijchen Sambre 
und Schelde vorwärts gegen die Dife triebe. Wir brauchen die Eigenthümlich⸗ 
feiten dieſes Terrainabjchnitted nicht weiter zu erörtern. — Wichtiger dagegen 
und der Crörterung bebürftiger geflaltet fich das Verhältniß Velgiend, wenn es 
ſich auf franzöſiſche Seite ftellt. Die Vortheile, weldye der Yauf unjerer Grenze 
uns gibt, gehen alsdann verloren, weil unfere Offenſivbaſis vollig in den 
Rüden genoumen ijt, und wir haben die Öffenfive hinter einer jehr mangel⸗ 
Jajt befchugten und nur in einer kurzen Strede ihres Laufes beherrfchten Sehne 


Die deutſchen Landesgrenzen, 127 


zu bafiren, hinter der Maas und zwar zwifchen Maaftricht und Benloo, Se 
wenig Holland an fich ein Intereffe Daran haben mag, jo am Außerfien Ende ber 
weit vorgeftredtten ‚limburgiichen Landzunge eine große Feſtung zu beflgen, fo 
febr könnte es Deutfchland wichtig werden, in Maaſtricht 
fefen Sup auf dem linfen Maaßufer zu behalten, um von bier 
aus, wie 1793, feine Dffenjtve vorführen zu Eönnen. Je entichloffener Deutſch⸗ 
land feine Offenfiogebanfen vorbereitet, um fo weniger wird Belgien in die Vers 
fuhung gerathen, die Reihe der franzöſiſchen Clientelſtaaten zu vergrößern; es 
würde ſonach Maaſtricht nicht in die Reihe der Plaͤtze erfter Linie zu ſetzen, ſon⸗ 
dern nur in bejcheidenem Maaßſtabe, aber den großen Principien entjprechend, 
Herzuftellen fein. Die Linie der Roer ift wenig werth und Iülich demzufolge ein 
Platz, wie ohne Vergangenheit, fo ohne Zukunft; nach Der gegenwärtigen An⸗ 
nahme fönnte es aber doch ald Verbindungsglied zwiſchen Cöln und Maaftricht 
einigen Werth erhalten und’ es würde deshalb ald Place de moment mit möge 
lichſt geringen Unterhaltungsfoften in statu quo zu erhalten fein. 

Mir einiger Verwunderung wird der Leſer jehen, daß wir die großen Ma⸗ 
növrirpläge Coblenz und Eöln bis jegt ignorirten. Nicht etwa, weil wir ihren 
Werth anzweifelten, fondern weil wir biöher nur von der Defenflve innerhalb 
der Offenſivbaſis iprachen. Es jind recht gut. Verbältnifie denkbar, welche 
dahin führen können, das ganze Außenterrain ohne Weitered Preis zu geben 
und die Defenflve an den Rhein zu legen. Eine lofalifixter Krieg gegen Preu⸗ 
Ben, vielleicht gar im Bunde mit Belgien — nit Holland, warun nit? Man 
bat verlorene Andeutungen gelejen, von einem projeftirten Zaujchgefchäft zwi⸗ 
ichen Belgien und Holland, Luremburg und zinige nörbliche Kandftriche Bra- 
bants betreffent. Wenn die Zeit -gefommen fein wird, diefe Frage zu ſtudiren, 
wer will ſich vermefien, die politiichen Gonftellationen zu verfünden, zu denen 
fie — natürlidy zum Rachtheile Geſammtdeutſchlands Veranlaffung wird. Se 
mehr Breupen fich nur auf die eigenen und auf außerdeutiche Kräfte ftüßt, 
defto mehr hat ed Veranlaffung, den ſtets bereiten Offenfivfräften Frankreichs 
gegenüber die flärfite Defenfive aufzufuchen, um in ihr die zugeſagten Verſtäͤr⸗ 
kungen zu erwarten. Die Mheinlinie ift dann in ihrem vollen Werthe, Iefber 
jo weit rüdwärts, Daß mächtige Strecken deutfchen Landes ohne Weiteres preis⸗ 
gegeben find. 

Die alte Feſte Mainz liegt an einem guten firategifchen Blage, und wird 
unentbehrlich fein und bleiben. Aber ihr Wirken ift wejentlich mehr defenfiver 
Ratur; fie vertheidigt das rechts rheinifche Land. Zum Schuge der Pfalz thut 
fle nichts. Hier ift Die Lage von Bingen bemerkenswert. Die franzöftiche 
Offenſive gegen Mainz findet ihre Flankendeckung gegen eine von Coblenz her zu 
führende Offenfive in den Hindernißlinien des Hundsrücks und jeinen weilwär« 
tigen Kortjegungen bis zur Saar, fo wie in der daran ſtoßenden Nahe, die in 
isrem mittleren und unteren Laufe wenigftens beachtenswerth if. Von Bingen 
ber beherrſcht man aber beite Hinderniplinien und legt fich das ganze Hügels 
land einem kurzen Offenfiuftoße offen. Wir würden es für fehr zweckmaͤßig fin« 
deu , wenn zwei bis drei Forts die beiden Dpesationsfekder rechts und links dee 


120 Kriegüwiſſenſchaft. 


feine unmittelbare Wirkſamkeit entfalten kann, weil entfernt von jeder Hinder⸗ 
nißlinie, — während Saarlouis einziger Rugen in der Beichügung einer Saare 
bruͤcke beftcht, deren Werth wiederum bei. der geringen Wichtigfeit dieſes Neben⸗ 
fluffes nur ſehr untergeorbneter Ratur if. ES fehlt Hier an einer Stüße für 
den linfen Flügel der Bald, den wir in dee Gegend von Saarbrüden, 
Zweibrüden oder Homburg juchen, und es ift geradegu nothwendig 
in dieſer Gegend einen Ranssprirplag erfier Ordnung anzu- 
legen. Nur unter dieſen Umſtaͤnden fann die Offenſive vor einem Begenftoße 
auf ihre Baſis bewahrt werden und Eann fich mit enticheidender Gewalt zwi⸗ 
chen. Maaß und Moſel entwideln und wird in ihrem jütwärtigen Vorfchreiten 
gewiß fein, die Hauptkräfte des Gegners zu treffen, vielleicht allmälig und ver⸗ 
einzelt, je nach dem Grade von Einſicht und Geſchick, von Entſchloſſenheit und 
Schnelligkeit, mit denen die Operation angelegt und durchgeführt wird. 


| Die Stügen der Defenfive. 

Wenn aber diefer Terrainabfchnitt auch vorzugsweife zur Offenflve geeignet 
ericheint und in diefem Sinne vorbereitet werben muß, fo ift doch auch Die Des 
fenfive Rückſicht, das Fehlſchlagen des Offenſivverſuchs zu berücjichtigen. 
Zuremburg ift fein Plag für die große Defenjtve, Saarlouid noch weniger. Die 
Defenflve jucht die Hindernißlinien auf und deren gibt es nur Eine, die Mofel. 
Sie bietet an ihrer Vereinigung mit der Sauer (Sure) und Saar, bei Konz und 
Waſſer billig eine Ierraingeftaltung, die der großen Defenflve um fo günftiger 
it, ald die Feſtungen Zuremburg und Saarlouis Daun in ein Gruppenverhält« 
niß zu ihr treten und tie fich gegenfeitig unterflügen und ergänzen. Es if in 
der That nicht abzuſehen, wie ſich cine feindliche Offenſive durch dieſes Gruppen⸗ 
ſyſtem hindurch gegen den Rhein entwickeln will, ohne vorher die biesfeitige 
Operationdarmee vollfländig zertrümmert zu haben. 

Wir bedürfen aljo auf dieſem Kriegätheater zweier Manörrirpläge, ben 
einen an der Weftfpige der Pfalz und den anderen bei Konz (Trier), und wir 
fügen ausdrücklich Hinzu, nicht im Stile von Poſen oder Königsberg, noch in 
dem von Ul, fontern Wläge mit ſtarken Außenſortß und ſchmachem Kerne, wie 
fle mit 6 bi8 8 Millionen gebaut werden. 

Wir haben Belgiens erwähnt und es einfhreilen auf deutſche Seite zeſtellt. 
If dies der Fall, fo würde das Offenſivfeld fo viel wie möglich in Belgien vor⸗ 
greifen, jchwerlich öſtlich der Maaß fich erfireden und ten beftehenden zwei 
Kriegöthentern, die dann beide defenſive Tendenzen erhielten, ein drittes beige 
jellt , das feine Bafls in Mond fände und jeine Offenflorichtung zwijchen Sambre 
und Schelde vorwärts gegen die Dife triebe. Wir brauchen die Eigenthümlich« 
feiten diejed Terrainabichnitted nicht weiter zu erörtern. — Wichtiger dagegen 
und der Erörterung bedürftiger geflaltet ſich das Verhältniß Belgiens, wenn es 
fich auf franzöftiche Seite ſtellt. Die Vortheile, welche der Yauf unferer Grenze 
und gibt, gehen alsdann verloren, weil unfere Offenſivbaſis vSllig in ben 
Rüden genommen ijt, und wir haben bie Offenjtve hinter einer fehr mangels 
daft beſchützten und nur in einer kurzen Strede ihres Laufes beberrfchten Sehne 


Die deutſchen Landeögrenzen, 127 


u baftren, hinter der Maas und zwar zwifchen Maaftricht und Venloo. Se 
wenig Holland an fich ein Interefle daran haben mag, fo am Außerfien Ende ber 
weit vorgeſtreckten limburgiſchen Landzunge eine große Feſtung zu beflgen, fo 
ehr Eönnte es Deutfhland wichtig werden, in Maaſtricht 
feſten Fuß auf bem linken Maaßufer zu bebalten, um von hier 
as, wie 1793, feine Dffenjtve vorführen zu Eönnen. Je entichloffener Deutſch⸗ 
land feine Offenflogebanfen vorbereitet, um fo weniger wird Belgien in die Vers 
fuhung gerathen, die Reihe der franzöſiſchen Slientelftanten zu vergrößern; es 
wirde jonach Manjtricht nicht in die Reihe der Plaͤtze erſter Linie zu ſetzen, ſon⸗ 
ven nur in beicheidenem Maapftabe, aber den großen Priucipien entfprechent, 
hetzuſtellen fein. Die Linie der Moer ift wenig werth und Iülich demzufolge ein 
Bag, wie ohne Vergangenheit, fo ohne Zukunft; nach der gegenwärtigen Ane . 
nahme Eönnte es aber doch als Verbindungsglied zwifchen Eöln und Maaftricht 
nigen Werth erhalten und es würde deshalb als Place de moment mit mög=- 
lift geringen Unterhaltungsfoften in statu quo zu erhalten fein. 

Mir einiger Berwunderung wird ber Leſer jehen, daß wir bie großen Ma⸗ 

zöprirpläge Goblenz und Eöln bis jegt innorirten. Nicht etwa, weil wir ihren 
Werth anzweifelten, fondern weil wir bisher nur von der Defenflve innerhalb 
der Offenſivbafis Iprachen. Es jind recht gut. Verbältniffe denkbar, welche 
dahin führen können, das ganze Außenterrain ohne Weiteres Preis zu geben 
und die Defenflve an den Rhein zu legen. Eine lofalifirter Krieg gegen Preu⸗ 
den, vielleicht gar im Bunde mit Belgien — mit Holland, warun nicht? Man 
bat verlorene Andeutungen gelejen, von einem projeftirten Taufchgefchäft zwi⸗ 
ihen Belgien und Holland, Luxemburg und einige nördliche Kandftriche Bra⸗ 
bants betreftent. Wenn die Zeit gefommen fein wird, diefe Frage zu ftudiren, 
wer will ſich vermeilen, die politijchen Gonftellationen zu verfünden, zu denen 
fie — natürlih zum NRachtheile Geſammtdeutſchlands Veranlafiung wird. Se 
mehr Breugen fich nur auf die eigenen und auf außerdeutiche Kräfte ſtuͤtzt, 
deſto mehr hat ed Veranlaffung, den flet8 bereiten Offenflufräften Frankreichs 
gegenüber die ftärfite Defenflve aufzufuchen, um in ihr bie zugefagten Verſtaͤr⸗ 
kungen zu erwarten. Die Mheinlinie ift dann in ihrem vollen Werthe, Iefber 
fo weit rückwärts, daß mächtige Strecken deutfchen Landes ohne Weiteres preid- 
gegeben find. 

Die alte Feſte Mainz liegt an einem guten firategifchen Plage, und wird 
unentbehrlich fein und bleiben. Uber ihr Wirken ift wejentlich mehr defenfiver 
Natur; fie vertheidigt das rechts rheinifche Land. Zum Schuge der Pfalz thut 
fle nichts. Hier ift die Lage von Bingen bemerfenswerth. Die franzöflicye 
Dffenfive gegen Mainz findet ihre Flankendeckung gegen eine von Coblenz ber zu 
führende Offenfive in den Hindernißlinien des Hundsrüds und feinen weftwär« 
tigen Bortiegungen bis zur Saar, fo wie in der daran Roßenden Nahe, die in 
ihrem mittleren und unteren Laufe wenigſtens beachtendwerth if. Von Bingen 
her beherrſcht man aber beite Hindernißlinien und legt ſich das ganze Hügel⸗ 
land einem furzen Offenfluftoße offen. Wir würden es für fehr zweckmaͤßig fine 
deu , wenn zwei biß drei Forts die beiden Dperationdfelder rechtd und links ber 


128 = BRelegbwilfenfcheft, - 


Nabe öffneten, und würden glauben, daß die Befagung von Mainz dadurch 
mehr gewänne, als ihr durch den Abzug der dafür nöthigen Befagungen an 
Streitmitteln abginge. Die Syſteme von Goblenz und Edln find in ihrer Art 
bollfommen, und was eva daran zu wünjchen wäre, daß nämlich die Goblenzer 
Forts auf beiden Mofeljeiten bid auf dad umgebende Rideau hinqufgerüdt fein 
möchten, ift ebenfo wenig entfcheidend als ſchwer zu erfüllen, wird aljo frommer 
Wunfch bleiben. Was die Wirkſamkeit von Wefel endlich betrifft, fo würde 
auch fie Durch eine weniger enge Begrenzung des Rahons wejentlich gewinnen. 
AL einziger Grenzplag gegen Holland fleigt fein Werth mit der Möglichkeit, 
auch in Holland einen Glientelftaat Srankreichd zu jehen — jedoch, Da bie 
Möglichkeit fehlt, fo viele Feſtungsbauten gleichzeitig zu betreiben, würben wir 
es erft nach Beendigung ber vorderen Linien vornehmen. 

. Wir Halten die binnenländiichen Feſtungen Deutichlands für ein Uebel, 
mag fein, daß fie dermalen noch ein nothwendiged. Mit der Vereinigung 
der deutſchen Broßmächte aber können fie wegfallen, und es follte dann von 
ihnen nichts bleiben, als ein einziger großer binnenländifcher Gentralplag für 
jede6 Kriegstheater, als Refervoir für alle Anftalten und Magazinirungen, ale 
Sammelplag bei Unglüdöfällen, wie fle nicht zu den bäufigeren gehören und wie 
fle bei guten flaatlihen Einrichtungen nach menſchlichen Anfihten un 
möglich genannt werben dürfen. Die folidere Vefeftigung unferer Grenzen 
würde dann nicht mehr an Unterhaltungskoſten und nicht mehr an lofalifirten 
Truppen erfordern, als jet auch aufgewendet werden. 


Die Kommunilationen. 

Der geneigte Lefer hat gewiß unſer Beftreben erfannt, überall den aftiven 
Streitmitteln die erften Rollen zuzutbeilen und die pajitven Hauptfächlich zum 
Bwede ausgiebigerer Dekonomie bei gewahrter Sicherheit zu verwenden. 6 
wird fonach auch Feines weiteren Beweiſes bedürfen, Daß wir Diejenigen Kom⸗ 
munifationsmittel, welche Die beflere Verwerthung der aktiven Streitmittel be= 
fördern, unbedingt in gleiche Linie ftellen mit den paſſiven, ja es möchte wohl 
Bälle geben, wo wir eine Anlage von ſtrategiſchen Bahnen dem Baue einer 
Feſtung vorziehen. 

Wir jcheiden das ganze Ne in die großen rüdwärtigen Verbindungs⸗ 
linien, in die Verbindungen zwijchen der Rheinlinie und der Offenflo-Bafld und 
in die Trandverfalen. 

Der deutiche Norden beftgt eine große Bahn, Magdeburg Eöln (Rr. 1.), 
das deutſche Mittelland befigt Deren zwei, Rieſa⸗Erfurt⸗Mainz (Nr. 2.) und 
Riefa-Bamberg- Mainz (Nr. 3.). Wir meinen, der Norden beitge ein Debouchee 
zu wenig, und e3 müßte eine weitere Linie von Wittenberg ab über Halle, Nord» 
baujen, Söttingen, Kaffel, Gießen nach Coblenz etablirt werden. Es würte 
hierzu Die Strecke Halle-Böttingen neu zu bauen und die Strecke Gießen-Coblenz 
durchzuführen fein. Um aber mit der Thüringer Bahn (Nr. 2) nicht zuſam⸗ 
menzutreifen, würde für Diefe da8 Muinzer Deboucyee von Bebra über Fulda 
nad) Hanau zu führen fen, Es würden Dann vier große Heerbahnen von ber 


Die deudſchen Landesgrenzen. 129 


Elblinie nach dem Rheine gehen, womit allem Konzentrationsbedürfnig Genüge 
geleifter wird, zumal fie ſich jchon jegt fo in einander verzweigen, daß die Abs 
flüſſe verjchieden gelegt werden können. Die Verbindungen von der Rheinlinie 
zu der Offenflobafts find in trübjeliger Armuth, gerate wie dieſe Bajts ſelbſt. 
ZuremburgsTrier wird gebaut, wäre rafch und allen militairifchen Erforberniffen 
auf das Umfaſſendſte entiprechend zu vollenden. Trier⸗Coblenz fehlt ganz, eben 
jo wie Die flehende Rheinbrüde bei Coblenz, wobei wir bemerfen, daß die 
Bahn von Lahnftein nach Ehrenbreitenftein entweder cinen fortififatorifchen 
Schug auf der Landzunge zwiichen Stolzenfeld und Winningen erhalten muß, 
oder aber von Emd ab durch das Gebirge in den Rayon von Goblenz einzu⸗ 
treten bat. Man kann fich ihrer Sperrung von Stolzenfel® aus nicht erponiren. 
Die Rahebahn niit dem Fußpunkte Bingen und dem Debouchee Reunfirchen (an 
der Saarbahn) ſteht dermalen militairisch in der Luft. Es fehlt die Befeftigung 
von Bingen und die dortige Rheinbrücke — wir begnügen und einftweilen mit - 
einer ſchwimmenden — fo wie der Offenfloplag bei Saarbrüd, welcher übrigens 
in derfelben Weiſe auch der Ludwigsbahn zu Gute kommen würde. Es würden 
dann dicht bei einander drei Bahnen zur Offenfiobafts führen, und nur noch zu 
wänichen fein, daß bie Kölner Linie, etwa über Aremberg und Adenau auch in 
direkter Weile mit Trier in Verbindung trite, Doch mag Died einer weiteren Zus 
kanft vorbehalten bleiben. 

Die Trandverjalen haben eine verhältnigmäpig gute Entwidelung gefun« 
ten, der Handel Hat viel von Dem gejchaffen, was Der Eoltat braucht. 

Die Saarbahn wird dereinft — wenn die Offenſiobaſis erft eingerichtet — 
fe in unmittelbare Verbindung bringen; fie ericheint etwas erponirt, da Die 
Saar ten Zerftörungsverfuchen Fein Hindernip bietet, und e8 wäre jchr zu wüns 
ſchen, daß eine Verbindung zwijchen der Nahebahn und Der zufünftigen Mojel« 
bahn, etwa zwijchen Birkenfeld und Trier hergejtellt würde. Die linksrheiniſche 
Bahn ron Mannheim bis Cöln iſt zweckmäßig, nur follte ihr Endpunkt Ger- 
meröheim ſein; doch kann fle nicht mehr gebraucht werden, wenn ber Beind ges 
gen ten Rhein vordringt, und es bedarf deshalb einer vollfländigeren rechtsrhei⸗ 
niſchen Verbindung , und zwar von Frankfurt, beffer Wiesbaten über Limburg 
oter Raflau gegen Cöln. 

Refapituliren wir: 

Es find von hervorragender Nothwendigfeit alſo in erfter Linie zu 
erledigen: 

A. Feſtungsbauten. Bei Konz (Trier) und bei Saarbrüd — Zmweibrüden. 

B Gifenbahnbauten. Die Verbindungsbahn Trier⸗Coblenz — Die ftehende 
Rheinbrüde bei Koblenz und die Linie Eoblenge Biegen, die 
Trandverfalen Birkenfeld-Trier und Wiesbaden⸗Cöln. 

Ferner find auf allen linksrheiniſchen Bahnen die zweigelcijtge 
Einrichtung, die militairiiche Sicherung und Regulirung der Bahnhöfe, fowie 
Die militairifche Einrichtung des Betriebsmaterials und die Kontrole des Per⸗ 
ſonals (bei Privatbahnen) vollftändig durchzuführen, Da6 auf den Trands 
port Dezügliche auch auf den großen Heerbahnen zwijchen Elbe und Rhein. 

V. 9 


130 ". Ktiegbiwiffenfihaft. -- - 


In die zweite Linie können geftellt werden, d. h. fle find zu 
beginnen, wenn die Arbeiten der erften Linie in der Hauptfache erledigt: 
A. Seftungsbauten: Bingen, Maaftricht. 
B. Eifenbahnbauten: Die Berbindungslinten Hanau⸗Bebra und Böttingen- 
Salle. 
Auf denjenigen rechtsrheiniſchen Bahnen, welde in den 
ftrategifchen Rahon der Stromlinie und ihrer Feſtungen fallen, find 
alle die sub erfter Linie angegebenen militairifchen Maaßregeln 
durchzuführen, das Rothwendige davon auch auf die Hauptfächli« 
cheren Trandverfalen zu erfireden. 
In die dritte Linie enblih Eönnen hinausgeſchoben werden: 
A. Feſtungsbauten: Weſel. 
B. Eiſenbahnbauten: Cöln⸗Trier. 

Die Koſten anlangend dürften für die Befeſtigungen der erſten und zweiten 
Linie etwa 12 Millionen anzuſetzen ſein, welche auf einen Zeitraum von 6 Jah⸗ 
ten zu vertheilen wären. Die Eiſenbahnbauten würden vielfach von der Private 
induftrie gebaut und verwaltet werden, wenn ihnen eine Binfengarantie und ein 
Zuſchuß zu den rein militairifchen Anlagen gewährt würde. Die Länge ber 
Bahnen erfter Linie beträgt 50 bis 55 Mellen, wovon eine große Zahl bereits 
im Bau oder wenigfteng im Projekt. Wir find der Anficht, daß die Gefammt- 
anftrengung fih, mit Einfchluß der ftratcgifchen Bahn von Birkenfeld nach 
Trier, auf 3 bis 4 Millionen belaufen können, deren Bertheilung allerdings 
kaum 3 Jahre in Anfpruch zu nehmen hätte. Die Linie Cöln⸗Wiesbaden 
könnte einige Zinfengarantie in Anjpruch nehmen; fonft wohl feine. Die Babe 
nen der zweiten Linie bebürfen nur geringer Zufchüffe und dürften auch nur in 
geringem Grabe der Zinfengarantie zur Laft fallen — es find feine Anftrengun- 
gen von befonderem Gewicht. — 


5. Das Befenfivfeld an der Rheingrenze. 

Die Rheingrenze umfaßt die ganze Strede vom Bodenſee bis zu dem 
Mainzer Syſtem. Wir befigen an ihr nur die Bundedfeftungen Raftadt und 
Landau, Die bayerische Beftung Germersheim und das Brüdenfort bei Kehl, 
welches aber nur Tofalen Zweden dient und deshalb für Die Folge aus der Be 
trachtung ausfällt. Die Bitadelle von Würzburg, die Bundesfeftung Ulm und 
Die bayerifche Feſtung Ingoljtadt Liegen in den rüdwärtigen Theile des Defen- 
fiufeldes. 

Die Richtungen, welche die feindliche Offenfive wahrfcheinlicher Weife neh⸗ 
men kann, find für die Befefligungsanlagen von großem Einfluffe und die be- 
treffende Erörterung muß den darauf zielenden Ideen zu Grunde gelegt werben. 

Die franzöfliche Bafis reicht vom Bitſch, das durch einige Kortö in einen 
recht zweckmaͤßigen Play verwandelt worden, über Straßburg und Neu-Breifach 
gegen Belfort; wir werden kaum irren, wenn wir Bafel In diefe Reihe hinein⸗ 
ſchieben, denn Die Achtung der fehweizerifchen Reutralität iſt eine Slluflon, ber 
man ſich nie hätte hingeben follen, die aber zur Thorheit jegt würde, wo das 


Die deutſchen Landeögrenzen, 131 


verfloffene Jahr den Flaren Beweis geliefert, daß fle felbft ihre Neutralität weder 
gertheitigen kann noch will — daß fle eingetzeten in die Reihe ber franzoͤfiſchen 
Klientelftaaten. 

Eine nördliche Richtung der Operationen fönnte von Straßburg gegen 
Naſtadt fich entwideln, die dortige Defenſtvarmee theils zu ſchlagen, theils ein« 
zuſchließen juchen, dann fich über Süddeutſchland ergießen und dort ſich ander- 
weit zu etabliren ſtreben. Es wäre ber Weg, den die franzöflfchen Offenfiven 
von 1796 und 1805 eingeichlagen. 

Eine mittlere Ricytung würbe ſich begnügen, Raſtadt zu neutralifiren und 
ſich direkt gegen Stuttgart und Nördlingen zu entwideln, mit denfelben End- 
zielen wie die nördliche und zum Iheil auch nach den für felbige vorliegenden 


Eine ſüdliche Richtung würde, unter Umgehung des Schwarzwaldes und 
mit Zugiehung der ſchweizeriſchen, clientelmäßigen Hilfe ſich über Baſel und 
Shaffhaufen vorfchieben, die Rheinlinie zur Deckung der Verbindung benugen, 
und fich gegen Ulm und München entwideln, unfere rheinifche Defenſive fich 
ſelbſt überlaflen und ihre Erfolge zunädhfi gegen ben Zuzug richten, gegen die 
Oeſterreicher. 

Die franzöflfchen Kommunikationen Liegen derart, daß fle unter dem Vor⸗ 
hange der beiegten mittleren Rheinlinie, ja ohne die der Beobachtung etwas zus 
gängige eljäffer Bahn zu benugen, ihre Maſſen aus Lothringen über Epinal 
und Veſoul, dann über Bafel bis Schaffhaufen durchaus per Eifenbahn befür- 
dern und daß ebenfo nach demſelben Debouchee bin die Lager von Chalons, 
Baris und Lyon fich ergießen können. Dabei find, die franzöftichen Bahnen 
vermöge einheitlicher Leitung und guten Vorkehrungen im Stande, große Mafien 
raſch und mit Ordnung zu befördern. 

Wir fönnen nicht anftehen, bie Schaffhauſener Operationslinie für die um« 
faſſendſte und enticheidendfte zu Halten, werden aber darum body nicht Davon 
tiepenfirt, die anderen Linien zu beachten und das um fo weniger, als es fehr 
ſchwer fein wird, genaue Rachrichten rechtzeitig über Das zu erhalten, was der 
Feind wirklich beabfichtigt. 


Die noͤrdliche Operationslinie, 

Die deutjche Defenfive findet ihre Stüge in Naftabt und ihre Verftärkun- 
gen, wenn fle zum direkten Wibderftande noch folcher bedarf, aus dem Mainzer 
Enftem und von Ulm her auf gut geleaten, aber meift noch cingeleifigen Bah⸗ 
nen. Wird der Kampf um Raſtadt mit aller Energie geführt, fo muß er fehr 
anfehnliche feindliche Streitkräfte abjorbiren und kann wohl eine Zeitlang die 
Dffenfive in’3 Stoden bringen. Cin wahrer Erfolg gegen ten feindlichen Ge⸗ 
waliſtoß Ift aber Loch nur dann zu erzielen, wenn er fich theilen muß, wenn eine 
diesfeitige Offenſive fich gegen feine Verbintungen entwideln kann. Auf diefe 
Weiſe würde die Hindernißlinie des Schwarzwaldes vor berjelben vertheidigt. 
Zur Stuͤtze dieſer Dffenflve, die natürlicher Weiſe ganz anſehnliche Kräfte ſofort 
auf fi zichen mußte, gehört aber ein großer Manövrirplatz am Oberrhein, ber 

9% 


132 Kriegs wiſſenſchaft. 


zugleich gute Verbindungen mit den rückwaͤrtigen Plaͤtzen beſizt, um aus Ihnen 
‘die disponiblen Kräfte beranziehen zu können, das Beſte wäre eine Eifenbahn- 
verbindung von Freiburg Durch das Gebirge gegen das obere Redars oder das 
obere Donauthal, via Donauefchingen. Es würde ſich dann der Zweck erreichen 
lafien, die feindliche Offenflve zum Stehen zu bringen. — Mehr ift vor der 
Hand nicht möglich, und da8 Weitere muß der eigenen Offenſtve auf dem eigen 
nen Offenitofelde überlafien bleiben. 


Die mittlere Operationdlinie. 

Nur dann Fann eine franzöſiſche Offenſive wagen, direkt in Deutichland 
einzubringen, wenn mindeſtens eine ihrer Flanken gefhügt if. Sobald aber 
von Raftadt und vom Oberrhein ber zwei Offenfloftöße jich gegen ihre Verbin 
dungen entwideln Eönnen, darf man dem Gegner ein ſolch ungerechtfertigtes 
Wagniß nicht zutrauen. Wir ſtoßen auf dafjelbe Hilfsmittel, welches wir ſchon 
bei der nördlichen Operationdlinie angezeigt fanden, und glauben fagen zu bürs 
fen, daß es auch in diejem Falle feine Schuldigfeit thun werde. 


Die füdliche Operationslinie, 

Mir nannten fie vorhin fchon die entjcheidendere, weil fle mit Umgehung 
beider Sehnenlinien der Defenfive fich jofort gegen Das Binnenland entwickelt 
und dort ihre Erfolge ſuchen und wohl auch finden kann. 

Sie tft alfo entfcheidenp, weil fie Die vorbereiteten Hinderniffe vermeidet 
und nur den auf Ulm bafirten frontalen Widerjtand zu übenvinden hat. Um 
fie zur nicht entjcheidenden Richtung herabzubräden, muß man ihr den 
Boden unter den Füßen wegzichen. 

Es gibt dazu zwei Wege, einen direften, ten man jedenfalls einjchla- 
gen muß, und einen indireften, den man feiner Zeit ebenfalld einfchlagen 
follte. Der direkte Weg wäre der, der beutfchen Defenſive einen anderweiten 
Stügpunft und zwar fo gelegen zu verfchaffen, daß die feindliche Operations 
Linie Schaffhaufen- Ulm dadurch in die Flanke gefaßt werde. In einer äußerft 
gründlichen Erörterung über diefe Verhältniffe hat man an maaßgebender Stelle 
die Wichtigkeit der Punkte Stockach und Donauefchingen in diefer Bezichung 
gegeneinander abgewogen, bat jedoch unfere® Erachtens das Wejen der Sache 
noch nicht ganz getroffen. Wir meinen, Stockach biete frontalen Widerftand 
und würde eine Feſtung alten Styles, beiten Falls ein verfchanztes Lager wer- 
ben, den Bweden der reinen Defenfive dienend; Donauefchingen Dagegen fei der 
anderfeitige Fußpunkt des Ucberganged über den Schwarzwald, und wie bie 
oberrheinifche Feſtung eine Offenjtve Liefer Armee gegen Kehl und bie von bost 
auöftrahlenden feindlichen DBerbindungslinien baftre, fo bafire Donau 
efhingen diefelbe Armee in ihren Operationen auf die feind- 
liche Berbindungslinie Schaffhbaujen-Ulm. Beide Feſtungen zu- 
fanımen jeien alſo Das, was eine Beherrſchung der Hindernißlinie berftelle, eine 
allein fei wie eine Stronfeftung ohne Brüdenkopf. Das Weſen der Sache ſu⸗ 
chen wir in dieſer doppelt bajirten Wirkfankeit ber Oberrheinarmee, in ber 


Die deutſchen Landebgrenzen. 133 


dadurch entwidelten größeren Macht gegen den Offenſioſtoß, 
in der dem Feinde aufgezwungenen Theilung. In kurzer Zeit 
kann dann auch die Raftadter Armee einen großen Theil ihrer Kraft gegen 
Donaueſchingen entfenden und von dort aus mit wirkſam werben laſſen. Auf 
jeten Fall kann der Wibderftand in dieſem Syſtem ohne großen Landverluſt fo 
lange dauern, bis unfere Gegenſtoͤße wirkſam werten und bis die noch zu erwar⸗ 
tenden Zuzüge aus Oeſterreich eintreffen. — Der indirefte Weg liegt vorn,. 
hart am Feinde. Wird man dem Muth haben, ihm rechtzeitig zu ergreifen, ober 
werden die Frauzoſen flet3 bie Vortheile dex Neutralitätöverlegung ernten und 
uns ſtets nur der magere Erjag non Klagen über Bertragöbruch beichieben fein? 
Baſel ift der Bunft, um ten e8 fi handelt. Baſel war bis vor Kurzem 
Feſtung; eine fchlechte, es ift wahr, aber es war doch vor einem gewaltfamen 
Angriffe jo ziemlich ficher*) und mit einem folchen Kerne hätte fich ſchon in 
wenig Tagen ein recht tüchtiger Manövrirplatz berftellen laſſen; Bafel rechtzeitig 
überrumpelt und befeftigt umd die Mündung der Aar in den Mhein zu einem 
zweiten Randorirpunfte umgeichaffen, und wir haben jofort die gar nicht ver⸗ 
theidigte Sehnenlinie dieſes Theiles vom Oberrhein in eine Radiuslinie umge⸗ 
wandelt, deren entjchloflene Benugung die feindliche Operation durch die Schweiz 
jo gus wie verbietet. Die Sache müßte freilich geichehen in Dem Augenblide, 
in welchem man. die Ueberzgeugung gewinnt, daß Branfreich niit dem Krleg um⸗ 
gehe, und auf das Geſchrei von Rerhtönerlegung und dergl. mehr dürfte man 
nicht Hören wollen. 

Haben wir jolchergeftalt die vordere Linie. im defenſtven Sinne abgehan⸗ 
delt, ſo wird hierzu noch der Hinweis auf die Offenſivanſtalten gehö— 
ren, die fa von der Defenftve unzertrennlich find, Sind wir jo ſtark, daß wir 
zu einer offenfiven Vertheidigung der Mheinlinie jchreiten Fönnen, was der Fall 
jein wärbe, wenn bie franzöfliche Hauptmacht Durch unjeren Stoß abgezogen, 
oder unjer öfterreichifcher Zuzug bereit8 eingetroffen wire, jo würde die Strede 
von Straßburg abwärts durch cine offenflve Drohung von Landau und Ger- 
meröbeim ber am zweckmaͤßigſten befchügt, und von Bafel her würte man Bel⸗ 
fort, Neu⸗Breiſach und Schlettftatt Front bieten. 

Wir beklagen hierbei dic ruchrärtige Kage von Germerdhein, denn wenn 
daſſelbe Lie Gegend von Langenfantel, Worth und Rimlingen eingenommen, 
wäre Raftabt ungöthig geworden. So muß man zwei Feſtungen flatt einer 
baum , unterhalten, ausrüſten und befegen, weil nicht Die gehörige Einheit und 
Kraft in der Oberleitung vorhanden war. Mon Landau würden wir vorjchla« 
gen, die Außenwerke und bie unbebeutenden vorgeichobenen Werke zu demoliren 
und mit ihrem Materiale einige detachirte Forts zu erbauen — wenn man fid) 
nicht entfchließen kann, den ziemlich unnügen Plag ganz zu demoliren. 

Der oberrheinifche Play würde unferes Erachtens nach in einem 
gut verſchanzten Lager auf dem Kaiſerſtuhle bei Breiburg beſtehen. Es 
müßten ba in einem foliten, aber nicht allzugroßen Kernwerfe ein gutes Brücken⸗ 


“le — — — 


Bergl. darüber: Mil. Briefe eines deutſchen Officiers Adorf. 184. 





134 Kriegswiſſenſchaft. 


material und der für Baſel beſtimmte Artilleriepark aufgeſtapelt fein. Ebenſo 
würde das Material für große Magazinirungsſchuppen vorzubereiten ſein. 

Donauefchingen endlich wäre nach denfelben Srundjägen zu erbauen, 
ein verfchanztes Lager als Hauptfache und ein mäßig großes, aber folides Kern- 
wert, ohne allen fortififatorifchen Lurus. 

Die rückwärtigen Vertheidigungélinien beginnen zuerjt mit ber 
radial gehenden oberen Donau, und den an ihr gelegenen Feflungen Ulm 
und Ingolftabt. Das ganze Terrain zwifchen der Donau und den Alpen ifl ein 
von zahllofen parallefen Wafferzügen durchfchnittenes Hügelland , das In den 
Thaͤlern Weichland, auf ten Höhenrüden Wald hat. Es iſt ſehr wegfam, aber 
außerhalb der gebauten Wege wenig pafftrbar. Die große Offenfive findet in 
diefen Eigenthümlichkeiten, wenn auch fein Hinderniß, fo doch eine arge Stö— 
rung, weil Zuſammenhang, Ueberblick, Truppengebrauch und Kraftentwidelung 
in gleicher Weife beeinträchtigt werten. 8 ift alfo. ein Truppengebraudy zu 
befenflven Zwecken, dem Laufe der Terrainfalten folgend, mehr begünfligt, als 
eine Richtung über fle hinweg, wie die feindliche Offenflve über Augsburg gegen 
München es mit fich bringt. Wir erkennen es für richtig, daß man tie frontale 
Verteidigung dieſes Terrains gänzlich aufgegeben und zu biefem Zwecke auch 
Augsburg feines Charafters als feften Platz entkleidet hat, e8 mußte aber an 
deren Stelle eine forgfame Vorbereitung der radialen Tonau eintreten, ohne 
deren Ueberwindung dann eine entjchiedene feindliche Offenflve nicht möglich. 
Ulm ift zu dieſem Zwede gebaut, allein theild hat man ungeheure Summen 
ohne Roth Hierher geworfen, und doch, freilich nur im Sinne des neu⸗ſpreußi⸗ 
ſchen Syſtems! — feine folide äußere Widerftantslinie erlangt, ja nicht ein- 
mal die Beberrfchung der anftoßenden Operationdfelder fi 
ſolid geſichert — — theils ift man bei dem einzigen Platze ſtehen geblichen, 
anftatt fich ein Gruppenſyſtem zu erfchaffen, wie mit Demfelben Gelbe reichlich 
möglich gewejen wire. Dafür war bayeriſcher Seits Ingolftadt gebaut worden, 
man fagt vorzugsweife aus Hiftorifchem Interefie, denn es ift noch nicht gelun« 
gen, ein militairifches nachzumeifen, und wenn dies auch, da fich über Anflchten 
flreiten laͤßt, der Fall werten follte, fo würde ed nur ein baheriſches, nicht ein 
deutſches fein. Da aber Ingolftadbt einmal fteht, jo war e8 wohl gerathen, bie 
20 Mill. Gulden, die es gefoftet, durch ein verſchanztes Lager nußbar zu 
machen, wie jet erft geſchieht. Es find ferner Lie Brüden von Günzburg und 
Neuburg als befeftigte Poften, Donauwörth dagegen als Fleine Feſtung herzu⸗ 
ftellen. Die Donaulinie ift dann im Stande, ihren Werth zu entwideln, ber 
Feind möge nördlich oder füblich vom ihr ind Land fallen. Sollte aber eine 
einmüthige und entichlofjene Haltung Deutichlands dahin ‚führen, daß die 
Schweiz aus der Reihe der franzöflichen Elienteljtaaten und der Gegner Deutſch⸗ 
lands heraudträte, jo würde ein Vuͤndniß mit ihr geflatten, die Oberrheinlinie 
ale Radiuslinie zu behandeln, und dann bedürfte e8 Feiner weiteren 
Anftalten in Bayern. Ulm würde der fühdeutjche große Waffenplag. 

Sranzöflichen Invaflonen, die als Richtpunfte Stuttgart und Nürnberg 
nähmen, {ft unſeres Grachtend nach in eineg wirfjamen Defenflve frontal faum 


Die deutſchen Randeögrenzen, 135 


enigegenzutreten, weil feine günjtigen Hindernißlinien eine Einrichtung geflatten. 
Dagegen iſt auch bier die flanfirende Wirkſamkeit vor Allem des rheinifchen 
(Mainzer) Syſtems von Werth und es fönnte fi) an fle die Benugung des ra- 
bialen Maines um fo cher anfchliegen, als eine gut gelegene Eifenbahn auf dem 
nördlichen Ufer gebt, Würzburg noch ſteht und Afchaffenburg fich leicht in einen 
Srauchbaren proviforiichen Plag umwandeln ließe. 


Die Eifenbapnen. | 

Es beichleicht und — wie jo manchen Andern ſchon vor und — ein trau» 
riges Gefühl, wenn wir die weiten Lücken betrachten, die ber öfterreichifche 
Kaiſerſtaat in feinen Verbindungen mit Deutjchland gelaffen hat. Sie zeigen, 
dag man dort jo wenig wie in ber Metropole der Intelligenz über den geogra⸗ 
phifchen Begriff „„Deurjchland” hinausgefommen, und dag man das verderbliche 
Softem der Zerfplitterung in die Nationalitäten höher fchäge, als die Vortheile, 
die das Einftrömen deutfcher Kultur, deutfchen Wiffens, Deutfchen Geiſtes, deut⸗ 
ſcher Strebfamfeit bieten und gewähren würde, wenn man. fich entfchließen 
könnte, Teutich werben zu wollen. Uber tröften wir und — Noth lehrt beten, 
und zur Noth find tie Anſaͤtze recht wader. 

Wir haben in Eüddeutſchland noch nicht eine einzige Bahn unter ber 
Gharafteriftit der großen oſt⸗weſtlichen VBerbindungsbuhnen aus 
tem ‚Herzen Oeſterreichs nach dem Rheine aufzuführen. 

Wir bedürfen aber: 

Ar. 1. Einer großen Berbindungdlinie zwijchen Prag, Nürnberg, Geidelberg 
und dem pfälziichen Feſtungsſyfteme. 

Ar. 2. Einer großen Verbindungdlinie von Wien ber über Linz, Regensburg, 
Ulm nach dem oberrheinifchen Feſtungsſyſteme. 

Ar. 3. Einer dergleichen aud Steyermarf (Ungarn) und Tyrol kommend über 
München nach Ulm und dem oberrheinifchen Syſteme. 

Kür die Linie Nr. 1 ift die ganze Arbeit bis an die WürzburgsHeidelberger 
Iransverjalbahn noch zu ıhun, Doch Manches im Projekte. 

Kür Rr. 2 haben die Kaijerin-Elifaberh-Weftbahn und die bayer. Oſtbah⸗ 
um viel gethan; von Regensburg ift aber Lüde bis Ulm. Wir würden den 
Bau auf dem linken Donauufer obligatorisch machen. 

Die dritte Linie ift von Innsbrud her fertig bis Ulm, die oflwärtigen Vers 
bindungen fehlen aber ganz. 

Die Berbindungen zwifchen der rudwärtigen Bafis und 
der vorderen Defenjivlinie find lückenhaft. Es fehlen der leitende Ge⸗ 
danke, die Einheit, der Fräftige Wille. 

Zuerſt liegt Germersheim iſolirt. Es brdarf einer ſtehenden Aheinbrüde, 
dann der Verbindung mit dem links⸗ und rechtsrheiniſchen Bahnſyſteme. 

Die Verbindungsbahn Heidelberg Würzburg, eine der zweckmäßigſten Li⸗ 
nien, um norbijche Kräfte auf das pfälzer oder obercheinifche Kriegätheater zu 
führen, ermangelt des Anjchluffes an das würtembergijche Syſtem, der bei 
Redar⸗Elz gegen Hrilbronn zu gewähren iſt. 


136 - Rriegbwintenfheft. 

Lie Lerbintun: zit Ilm umt Rakatı id serırerich, Loch fann man 
«8 nit anter als ırzmenled nennen. Tas tie Ciienbaßnruraüce um bie 
Sibiliie Raatıt net anmer krrammaet, and ter Kera ber Fritung nicht einen 
greien Ailitairbabuberf umfsär. sielmebr ein rzar clente Retouten ten 
EVabubo⸗ Feitiger, ter ieinericzis ner na dem Berfebräbetarfe, nicht nach 
tem Actariı nn: Rinicmimizges und einer Armce bemwrten ih. 

Tas serikanie Yazır zu? Lem Rarentmbi würte reine rüdwärrige Ver- 
Eintung über arakurı "atıen une mir Tenauefkingen sunien ankinten, von 
wo aus tun ter Ankblus an tie mürtemeeranidken Raben. und zwar will 
uns fckeinen, wemsafid aegen Reeislinzen Bin, zu ĩuchen wäre. 

Tie Babn zen Baicl bis Maltakar wirt ter Benugung dieſer Rbeinitraße 
als ratiale Linie äugertt nuglit werten. unt würde nur deren Hortieguny von 
da uber Scharrbawien gegen Biberach neh ünidenswerib tin, mir welder 
Linie dann zielleidt auch Tonaurikinzen in Zerkintung treten würte. 

AlE reine Militzirbabnen würten gelien: Tie Verbindung zwiichen Aue 
Sach unt Mergentheim, tie Anichlänle zen Germersbeim tie Linie Kaiterfiubl, 
Tonauricbingen-Rotnreil. 

Entli& baben wir neh beſenders für dad Mainzer Soſtem und für den 
Boteniee einer glortille Grwäfnung :u tbun. Selkige bar and Schraus 
benfanonenbooten zu keſteben und müßte für Ten Vedenite cerwa 50 Geſchütze 
ennrideln konnen. Wir würden Lindau für Ten keiten Statienérlag bulıen, 
weil er feine großen Landbefeſtigungen erfortert und würten darnach Areben, 
tag kei feintlickem Rortringen das Material per Eiſenbabn auf fie Denau ges 
ſchafff werten könnte. Sellte ich übrigens berausitcn, daß, bei ter Eiſen⸗ 
bahnrerbindung zwiſchen Winteribir und Rheineck, eine Tieerñon über Bre⸗ 
genz gegen Kaufbeuern, Memmingen oder Viberach in Ten Bereich der operati⸗ 
ven Wabrieinlichkeit rüdte, vo würde eine leichte Vefeſtigung von Bregenz 
kann auch tie Flottille Torıkin sieben. 

Refapituliren wir nunmehr Ten Bedarf tür das Derenfistheater. 

In erſter Linie, alio mit Beichleunigung, find audsurübren: 

A. Feſtungébauten: Ter Kaiſerſtubl, Tonaueikingen, ter Flotillenbafen. 

B. Eiſenbabnbauten: Tie erfte Linie und die zweite Linie der großen oſt⸗weſt⸗ 

lichen Berbintungöbabnen. 
Die Verbindung ton Germersbeim, die Schwarzwälter Militairs 
bahn und teren VBerbintung mit Tem würtembergiſchen Enfteme. 
Tie militairiſche Einrichtung des ganzen Eiſenbahnnetzes auf Tem 
Landſtriche öftlich bis Würzburg, Nürnberg, Lindau. 
In zweiter Linie fleben, nach Befinten in Dritter: 
A. Feſtungsbauten: Tie weitere Ginrichtung der Donaulinie, 
B. Eiſenbahnbauten: Tie rüdmwärtige Kortiegung der Baiel- Waldohuter 
Bahn. 

Die Vervollſtändigung der großen dritten Berbindungslinie. 

Kann man die Koſten für die Befeſtigungsanlagen hierbei als höchſtens 
10 Millionen Thaler anjegen, jo werden Dagegen die für die Eiſenbahnanlagen 


Die deutſchen Landesgrenzen. 137 


erforderlichen Zuſchuͤſſe weſentlich Höher fein, als auf dem Offenſivfelde, und 
außer den reinen Militairbahnen wird ftarfe Beihülfe befonderd noch nöthig 
werten auf den Linien Regensburg⸗Ulm, Reutlingen-Rottweil. Wir vermeffen 
un nicht, hier auch nur annähernde Zahlen zu geben; leicht aber Fann ſich der 
Beitrag auf 15 Mill. außer den Zinſengarantieen ſteigern. 

Mit dem fo hergeſtellten Defenflofelde kann aber, Das iſt unſere feſte 
Ueberzeugung , eine jchwächere Deutiche Truppenmacht hier die Aufgabe der Des 
fenfive lojen: zu ſtehen. ohne Gefahr, ohne großer Landverluſt, 
mit Ausſicht auf endlichen Steg. 

Rechnen wir Preußen mit 250,000 Mann zur Öffenfive verwendbarer 
Truppen und die Staaten der mittleren Gruppe unter Weglaffung des 10. Ars 
meekorps wegen der Küften ıc. auf eiwa 150,000 Mann, jo wie die zuerft 
verwendbaren öfterreichiichen Truppen nur auf 60 bis 80,000 Mann, jo würde 
daraus folgen, daß bei einer Befagung des Defenflvfeldes mit 150,000 Mann 
in den drei Syſtemen Pfalz-Raftadt, Kaiferftuhl und Ulm, nicht nur dieſes mit 
großer Wahrfcheinlichkeit gegen jehr überlegene Kräfte gehalten werden wird, 
ſondern daß auch für das Offenſivfeld dann circa 300,000 Mann übrig bleiben, 
und wenn wir bann nicht flegen, wird e8 weder an den Vorbereitungen noch an 
den Truppenaufgeboten Tiegen. 18: ° 


Alerander von Humboldt 
und fein Einfluß auf die Naturwiſſenſchaften. 


Bon 
Dr. Karl Wadler. 





n. 


Wenn es die Aufgabe der Naturwiſſenſchaften iſt, den Zuſammenhang zwiſchen 
den verſchiedenen Naturerſcheinungen zu ermitteln und ſie auf ihre Urſachen 
zurüdzuführen, fo muß das Streben des Raturforjcherd darauf gerichtet fein, 
Ordnung in das Chaos zu bringen, in den Einzelnheiten die allgemeinen Geſetze 
nachzuweifen, die jcheinbar ijolirten Tharfachen jo zufammenzuftellen, wie fte fich 
einander erläutern und bedingen. Der ächte Raturforjcher jucht in das Innere 
der Ratur zu dringen, um die Geſetze des Seind und des Werdend zu erkennen, 
um dem urfprünglichen Zujammenhange zwijchen den durch Vermittelung der 
Sinne zum Bewußtjein gebrachten Erjcheinungen nachzufpüren. Für ihn fleht 
fein Ding beſchraͤnkt und ijolirt da: er faßt fle alle als Theile eines harmoniſch 
geordneten und gegliederten Sanzen auf. Diener und Priefter der Ratur, offen» 
bart er ihre geheimften Kräfte, ihre verborgeniten Geſetze, und zeigt: 

Wie Alles fh zum Ganzen webt 

Eins in dem Antern wirft und lebt! 

Wie Himmelskräfte aufs und niederſteigen, 

Und fi die gold'nen Cimer reichen! 

Mit fegentuftenten Schwingen 

Dom Himmel dur die Erde dringen, 

Harmonifch all’ Das AU durchklingen! 

Die älteren Raturforfcher waren indeß noch zu ſehr mit den Einzelnheiten 
beſchaͤftigt, um ſich zur Höhe allgemeiner Anjchauungen zu erheben. Was heuts 
zutage für eine untergeordnete Thätigfeit gilt, das Ordnen, Sichten und Res 
giftriren des aufgejpeicherten Materiald, machte felbft noch am Ende bes vori⸗ 
gen Jahrhunderts die Hauptjache aus. Denn bei dem damaligen Zuſtande ber 
Naturwiſſenſchaften Fam es vor Allem darauf an, überall den Grund zu legen, 
eine gleichmäßige Benennung einzuführen, die Felsarten und Gefteine, die Thier⸗ 
und Pflanzengeſchlechter durch fichere Merkmale von einander zu unterjcheiden. 
Erft danach Durfte man daran denfen, die Uebereinanderlagerung und die Zeit⸗ 


Sumboldt und die Naturwiffenfchaften. 139 


folge ter Bebirgdarten und fomit die Gefchichte des Erdballs zu verfolgen, und 
zuletzt die Geſetze des Lebens der organifirten Weſen zu unterfuchen, 

Unter den neueren Raturforfchern war e8 Humboldt zuerft, der die Erbe 

als ein Ganzes und in Beziehung zu ihren Bewohnern zum Gegenftande feines 
Studiums machte, und vor Allem Thatfachen zur Erweiterung einer Wiſſen⸗ 
ſchaft fammelte, die man vor ihm bald Phyſik der Welt, bald Theorie der Erde, 
bald phyſiſche Geographie genannt hatte. Dadurch ward er zu allgemeiner Vers 
gleihung der hydrographiſchen, orographifchen und geognoftifchen Verbältniffe 
geführt. So wurde er der erfte „eigentlich wiflenfchaftliche Reiſende“ und zu⸗ 
gleich der Schöpfer dreier neuen Wiflenfchaften: der Geographie der Pflanzen, 
der Meteorologie, der geographifchen Statiftit im weiteflen Umfang. Die Er- 
forihung der erfteren führte ihn zu Eulturgefchichtlichen und Afthetiichen Betrach⸗ 
tungen über den Einfluß der Pflanzenwelt auf die Bildung der Völker, die Ver⸗ 
gleihung der Vertheilung der Wärme auf der Erdoberfläche zum NRachweife der 
Jiorhermen-Linien , die geographifche Statiftil zu den umfafjendften politiichen 
Bergleihungen. Wenn in unferen Tagen die Zahl derer, die über den Einzeln⸗ 
beiten die hohe Gefegmäßigfeit, die Ordnung nnd die lebensvolle Freiheit in 
den Ganzen ber Ratur nicht überfehen, erheblich zugenommen bat, wenn der 
Gedanke, dag von der Anjchauung der ung umgebenden Thatfachen und Erfihei« 
nungen, in deren Kette die Menjchheit, wie die einzelnen VBölfer und Individuen, 
mehr oder minder wichtige Glieder des Weltganzen bilden, die Auffafjung der 
fitlichen und folglich auch der religiöfen,, gefellfchaftlichen und politiſchen Ord⸗ 
nung abhängig fei, mehr und mehr in dad Bewußtjein der Naturforfcher über« 
gegangen ift, jo gebührt dieſes Verdienft vor Allen Alerander von Hum⸗ 
boldt. 

Einer der großen Geifteöheroen, die befähigt und berufen waren, bie 
Renichheit auf eine höhere Stufe der geifligen und fittlichen Kultur zu erheben, 
hat Humboldt eine für die Wiffenjchaft wie für das Leben wichtige Erweiterung 
der Weltanfchauung herbeigeführt. Es kam ihm vor Allem darauf an, in den 
Einzelnheiten die großen allgemeinen Gefege zu erfennen, den Einfluß der kos⸗ 
miihen und tellurijchen Kräfte auf einander, wie auf das organiiche Xeben der 
Erde zu unterjuchen, die getrennten Naturwiſſenſchaften zu gemeinfamen Zielen 
u vereinen und ihre Bedeutung für das Leben nachzuweijen. Alle Zweige der 
Wiffenichaft, Das ganze Weltall hat er durchforjcht und verglichen, das Wichs 
tige mit dem LUinbebeutenden, das Ganze mit dem Einzelnen zujanmengeftellt. 
Alles mit tem Blicke höherer Einjicht umfaſſend und die zahllofe Menge der 
einzelnen Thatſachen und Erfcheinungen unter dem höheren Gefichtöpunfte der 
gegenjeitigen Abbängigfeit anordnend, hat er wie durch Zauber das bunte Ges 
wirt der Raturericheinungen in nicht geahnter Einfachheit enchüllt. Unbeirrt 
durch die Maſſe der Thatſachen, die fich feinem allumfafienden Blicke darbor, hat 
er ſtets glücklich den Standpunft gefunden, von dem aus alle Ericheinungen in 
ihrem inneren, geieglichen Zujammenbhang überjehen werden können. Co bat 
er dem menschlichen Geiſt eine tiefe Einficht in das geheimnißvolle Walten und 
Schaffen der Ratur eröffnet, und zugleich in ten ſcheinbar regellojen Bewegungen 


140 | = Kultur. 


der Raturfräfte dad Geſetzliche und Geiftige auf eine ſo übergeugende Weiſe und 
mit einer jo großen Klarheit und Einfachheit der Sprache nachgeiviejen, daß 
auch dem Nichtgelehrten das Verſtändniß der von ihm angeregten oder audges 
iprochenen Gedanken nicht entgehen kann. Won der lleberzeugung durchdrun⸗ 
gen, daß die Natur ein Vorbild auch für die Wiſſenſchaft fein könne, bag in 
dem geiftigen und Teiblichen Dafein des Menfchen dieſelbe Ordnung fich offen« 
bare, welche das AU regiert, ift er aus allen Kräften beftrebt geweſen, die liches 
volle Betrachtung und Erkenntniß der Ratur, welche er ald Mittel zur fittlichen 
Erhebung des Menſchen anjah, zum Gemeingut aller Gebildeten zu machen. 
Ehen ſo jehr aber, als der geniale Forſcherblick, die unermüdliche Thätige 
feit und Ausdauer Humboldt's, ift auch der wahrhaft ftaunenswerthe Univer⸗ 
falismus ſeines Geifted zu bewundern. Er war, nach einem treffenden Aus⸗ 
ſpruche Böckh's, wie Keibnig „der wahrbaft afademijche Mann“, und wie 
fegterer für feine, fo er für unfere Zeit „das Ideal des afademiichen Mannes.‘ 
Aber er gehörte nicht einer, auch nicht blos allen Akademien, fondern der gan⸗ 
sen gebildeten Welt an. Um nur mit wenigen Worten auf feine Vieljeirigfeit 
hinzuweiſen, was hat er nicht Alles in allen Gebieten der Naturwiffenfchaft ans 
geregt und geleitet, in Zoologie, Phyſiologie und vergleichender Anatomie; in 
der Botanik durch monographijche Arbeiten, durch große Werfe über neue Gat⸗ 
tungen und Arten der Pflanzen, durch die Pilanzengeographie und Forſchungen 
über Verteilung der Gewaäͤchſe auf der Erbe nach Tenıperatur und Höhe; in der 
Mineralogie, Geologie und Geognofte nebit Berg. und Hüttenwefen ; in der 
Ghemie, Meteorologie und Klimatologie, Durch Beobachtungen über galvaniſche 
und elektrifche Verhäftniffe, über Erdmagnetismus, Wärme und Schal? Er 
hat den Luftfreis, Die Erde in den verichiedenften Zonen, auf den höchften Höhen 
und in den unterirdifchen Tiefen unterfucht, Amerifa und Aften unjerem Blicke 
nen eröffnet und die phyſiſche Erbbeichreibung im weiteften Umfange neu bes 
gründet. Uber er hat auch Die Gejchichte der Menichheit umfaßt, alles Kultur⸗ 
gefchichtliche, die politiſche Gejchichte entfernter Länder, die Verhältniffe der Be⸗ 
völferung und was man jonft noch unter Statiftif zu begreifen pflegt. Er hat 
mit edler und danfharer Liebe allen Ahnungen und Keimen fpäterer Kenntnifie 
des Kosmijchen und Tellurijchen durch das Flafitiche und morgenländifche Alter⸗ 
thum hindurch und in den mittleren Zeiten nachgeipürt, die Weltanfchauung 
aller Völker und Zeiten mit feinem Sinn und Gefühl verfolgt. Nach feinen 
eigenen Worten hat er „durch einen unwiberftehlichen Drang nach verfchichen« 
artigem Willen veranlagt” fidh dem @inzelften gewidmet, und doch niemals feine 
Hauptaufgabe aus den Augen verloren, „die Natur als ein durch innere Kräfte 
bewegtes und belebtes Ganzes aufzufaſſen,“ und überall allgemeine weithintra« 
gende Anfichten auf dem Grunde bes Beſonderen gebildet, nicht encyklopaͤdiſch 
oder polyhiſtoriſch aggregirt, fondern Fünftlerifch geichaffen, und alle Seiten 
durcheinander wechſelſeitig beleuchtet. Nicht geichredtt Durch Anderer jugend⸗ 
lichen Mißbrauch der Kräfte fpricht er auch dem Geiftigen in der Raturbetrache 
tung feine Bedeutung nicht ab, will nicht, daß durch den Gegenſatz des Phyſt⸗ 
ſchen und Intellektuellen „die Phoflt der Welt zu einer bloßen Anhäufung em⸗ 


Humboldt und die Naturwifienfchaften. 141 


piriſch geiammelter Einzelnheiten herabjinte,” Natur und Geiſt haben fich ihm 
durchdrungen. Wit poetiicher Kraft der Phantafle und allem Meiz der Sprache 
verbreitet er über dad Reale den Zauber des Idealen, der uns anweht wie ein 
erfriichender Hauch aus den fchönen Tagen unferer Elajjijchen LZiteraturperiobe, 
ald Alerander von Humboldt noch befreundet war mit Den Dichterkreilen von 
Jena und Weimar, Die feinem empfänglichen Gemüthe die letzte Weihe humani⸗ 
ſtiſcher Bildung verliehen, 

Nach dieſen flüchtigen Andeutungen zur Betrachtung des Einfluſſes über- 
gehend, den die Arbeiten des genialen Mannes indbejondere auf die Natunviflen- 
ſchaften ausgeübt Haben, Drüngt es und zuvörderfi zu befennen, daß wir c8 kaum 
für möglich Halten, in dem engen Rahmen dieſes Artikels auch nur die Haupt⸗ 
momente einer jo vieljeitigen reformatorijchen Thätigfeit bervorzubeben, von 
welcher Die Memoiren aller wiffenfchaftlichen Injtitute Der alten und neuen Welt, 
die Schriften aller jüngeren Naturforicher Zeugniß geben. Das erfte Auftreten 
Humboldt’ bezeichnete in der That ſchon einen Wendepunft in der Gefchichte 
ker Raturwiſſenſchaft. Das Eleine Eritlingöwerk ‚über die Baſalte“, ſowie die 
1793 erichienene „unterirdiſche Flora von Freiberg‘ zeigte bereitd Die Grund— 
zuge einer neuen Auffaſſungsweiſe, vor Allem Das entjchiedene Beſtreben, bie 
Raturerjcheinungen nicht vereinzelt zu betrachten, fondern jte in Die vielfältigften 
Beziehungen unter jich und mit der Geſchichte des menjchlichen Geiſtes zu fegen. 
In beiden Schriften finden wir jchon geiftvolle Verallgemeinerungen der Beobs 
achtung. Es wird 3.2. auf die Erjcheinung der gejellig lebenden Pflanzen 
aufinerkſam gemacht, auf Die Begründung einer Fünftigen Pflanzengeographie 
hingedeutet. In dieſen früheiten Produktionen tritt auch jchon jene hiſtoriſch 
kritijche Richtung hervor, die, in den fpäteren Werfen mit aller Entfchiedenheit 
feſtgehalten, den Nuturwiflenichaften zuerft die Bahn der allgemein humanen 
dortbildung eröffnet hat. 

Ein nicht geringeres Verbienft um die Wiſſenſchaft erwarb ſich Humboltt 
ftmer Turch fein großed Werk „über Die gereizte Muskel- und Rervenfajer‘‘, 
worin zum erften Mal eine fireng naturwifienfchaftliche Methode, 
der die Feſtſtellung der Thatjachen nächfter Zweck iſt, welche Theorie und Hypo⸗ 
ibeſe mit der Beobachtung nie vermijcht und auf dieſe Weije Die letztere für alle 
det nugbar erhält, mir dem glänzendften Erfolge durchgeführt if. Er trennt 
zuerſt Diejenigen Erjcheinungen, welche lediglich der thieriichen Elektricitaͤt ange⸗ 
hören, fcharf und entichieden von denen, welche durch einen eleftriichen Strom 
von augen, wie bei Anwendung ungleichartiger Metalle, hervorgerufen werden. 
Er weift auf das Beſtimmteſte die Faͤhigkeit thierifcher Theile, an und fir fich 
jme Gricheinungen hervorzubringen, nach, und feit feinen Verſuchen hat dieſe 
Fähigkeit bis zum unmittelbaren Rachweije des thieriichen Stromes am eleftris 
ſchen Rheoffop bei allen unbefangenen Borjchern als unbejtrittene Thatſache 

feſtgeſtanden, und fie ift burch die merkwürdigen Unterfuchungen feiner Rach- 
folger auf dieſem Gebiete und insbeſondere Durch Dubois⸗Reymon d's glän- 
ende Entdeckungen folgenreich für die Erklärung ber Erfcheinungen bed Rerven⸗ 
ſeſtemo geworden. 


142 Ze . Kultur, 


Es folgten tie Schriften ‚über die unterirdijchen Basarten und die Mittel, 
ihren Rachtheil zu vermindern,” fowie die „Verſuche über Die chemifche Zerle⸗ 
gung des Auftfreifes” nebit zahlreichen, in verjchiedenen naturwiflenfchaftlichen 
Beitfchriften zerſtreuten Auffägen, die auf's Reue nach allen Richtungen Hin den 
vereinzelt ſtehenden Wiffenfchaften die großartigften Perſpective eröffneten. 
Dur chemiſche, phyftfalifche und meteorologijche Beobachtungen wurden bie 
Urfachen der Entftehung irrefpirabler Gasarten erklärt. Es ward die auffal- 
lende Uebereinftimmung in der mittleren Temperatur der Erdſchichten mit ber 
Jahrestemperatur der Atmofphäre nachgewiejen, bie wunderbare Konſumtion 
des Sauerftoffes Durch verfchiedene Boden» und Gefteinarten gezeigt, der Einfluß 
der phyſiſchen und chemiſchen Bejchaffenheit des Bodens auf die Vegetation er⸗ 
vrtert. Bor Allem aber war es die Veränderlichkeit, der die Atmoſphaͤre unter 
worfen ift, was den Verfaſſer befchäftigte. Er unterfucht den Einfluß, den die 
Erde auf den Luftkreis, dieſer auf das organifche Leben ausübt, er bemüht fidh 
nach Kräften, das Verhältniß des Sauerftoffs zum Stiditoff, fowie zur Kohlen» 
fäure in der atmofphärifchen Luft zu beſtimmen. Er wirft die Frage auf, ob 
dieſes Verhaͤltniß auf allen Punkten der Erde, auf den Höhen, wie über tief ges 
legenen Ebenen fich gleich bleibe, und auf welche Weile das Gleichgewicht fich 
in der Atmofphäre erhalte und Herftelle. Er Eombinirt ſchon die mannigfady 
fien Beobachtungen über Wärme, Feuchtigkeit, eleftrifche Spannung, Drud der 
Zuft; er forfcht nadı den Bedingungen der Bildung von Regen, Schnee und 
Wind... Kurz, er wollte nicht mit Meinungen, jondern mit Thatſachen bie 
Wiffenfchaft bereichern, und wo er eine Hypotheſe wagte, da geichah ed auf 
Grund als feftftehend erfannter Geſetze. Er ſchloß aus dem, was gegenwärtig 
vorgeht, auf den früheren Zuftand der Erde. Die Materie ward ald vorhanden 
betrachtet, da die Lchre vom Kosmos nicht mit Dem Nichts beginnen darf. Was 
außerhalb dieſes Kreiſes liegt, gehört zu den Spekulationen der Raturphilofopbie 
und bleibt dem fubjektiven Glauben und Meinen überlafien. Aber erlaubt ifl 
ed, von richtig anerkannten Thatſachen der Welt, wie fle jegt it, auf Ähnliche 
Vorgänge in der Vorwelt zu ſchließen, und jo der Gefchichte unſeres Planeten 
näher zu kommen. Und wenngleich die geiftvolle Theorie, weldye Humboldt 
über die Gleichmaͤßigkeit des Klimas in früheren Exrdepochen aufgeftellt hat, daß 
fie nämlich die Folge der Niederichläge aus den Meeren jei, bei welchen Wärme 
frei würde, auf der unrichtigen Voraudfegung beruht, daß die vorweltlichen 
Sedimentbildungen auf chemifchem Wege erfolgt feien, während fie in der That 
vorzugsweiſe nur mechanische Riederfchläge find, jo ift doch nach dem Urtheil 
eined verdienftvollen jüngeren Phyſikers, des Prof. C. O. Weber in Bonn, 
defien Andeutungen über den Charakter und Inhalt ver früheren Schriften 
Humboldt's wir bier folgen — „eine ſolche Auffaflung geologifcher Fra⸗ 
gen, mit ihrer von der Gegenwart zurücichließenden Methodik höchſt fruchtbrin⸗ 
gend für die Entwidelung der Beologie geworden”. Denn ‚gerade durch dieſe 
Methode hat fich die genannte Wiffenfchaft von den Fühnen und gewagten Phan⸗ 
taflegebilden gewaltfaner Erdrevolutionen mehr und mehr zu befreien gewußt.‘ 

Wenn fchon die erften Schriften Humboldt's von hoher Bedeutung für die 


Sumboldt und die Raturwifienfchaften. 143 


Biſſenſchaft und das Leben waren, jo hatte doch feine große amerifanifche Ent» 
deckungsreiſe das ungleich wichtigere Mefultat, daß ſie für alle Zeiten eine innige 
Berbindung der Raturwiflenfchaften mit dem Leben, eine epochemachende und 
folgenreiche Erweiterung der Ratur- und Weltanſchauung herbeiführte. Es 
war die wiffenfchaftliche Wiederentbedung der neuen Welt, die dret Jahrhunderte 
nach feinem großen Vorgänger, mit dem eine neue Weltgefchichte für die ganze 
Renichheit begann, nun auch außerhalb der politifchen Sphäre ald eine neue 
Geſchichte für die Wiffenfchaft der Natur und der Völker ihren friedlichen, fer 
genBreichen Einfluß verbreitete, als wäre eine neue Sonne voll Leben und 
Wärme über der neuen Welt emporgeftiegen, um auf die alte Welt wohlthätig 
zurüdzuftrablen. Alles Schöne und Herrliche, was in und auf beiden Hemi⸗ 
iphären prangte oder vor dem Menjchen noch geheimnißvoll in dunfeln Schach⸗ 
ten verborgen lag, erhob ſich in neuem Lichte, in völlig entjchleierter Klarheit. 
Die Ratur in beiden Erdhaͤlften trat nun erft in ihrem Gegenfag, in ihrer In⸗ 
bieidualität, in ihrer harmonifchen Gefegmäßigfeit, in ihrer wahren Größe und 
Erhabenheit hervor. Die verwirrenten Zufälligfeiten de8 Dajeind der Dinge 
und ihrer unfeligen Vereinzelungen verfchwanden, und e8 trat ein vorher kaum 
geahnter Kauſalnexus von Erjcheinungen in allen Anfängen und Enden des 
Erdorganismus hervor, der alle Zweige der Wiffenfchaft und der Spekulation 
m einem höheren Selbfibewußtjein erhob, der alle Kulturvölfer ver Erde über 
die Beichaffenheit ihrer Heimath beichrte und fle dadurch mit materiellen und 
ideellen Gütern vielfach bereichert. Auch nur die Hauptmomente des fünfjäh- 
rigen Eroberungszuges, den Humboldt in der neuen Welt und gleichzeitig auf 
allen Gebieten der Wiffenfchaft unternahm und glüdlich zu Ente führte, bier 
u nennen, würde unmöglich fein; es genüge der Hinweis auf die neue Aera, 
die mit ihm für die Wiffenfchaft und das Leben aller Kulturvölker anbrach. 

Die Denkmale einer folchen Wirffamfeit haben fich Tängft, nach dem ſchö⸗ 
sen und finnigen Audfpruch feined nun ebenfalld verewigten Freundes Carl 
Ritter „vor den Augen der gebildeten Welt an allen Enden der Erde aufge ' 
baut.” Am Himmel ſelbſt find die Sternbilder der Süöhemifphäre in ihren 
Erſcheinungen feitbem erft beftimmter bervorgetreten und das ſuͤdliche Kreuz bat 
feinen Einfluß geübt auf das Verftändnig des Weltfoftems im größeften Epos 
eines Dante und des Mittelalter. Die richtige Karte von Amerifa, nach einer 
Anzahl der mühevollften aſtronomiſchen, geodätlichen und bypfometrifchen Meſ⸗ 
fungen glücklich zu Stande gebracht, bleibt wohl das großartigfie, unvergäng- 
liche Denkmal aus biejer Zeit für alle Zukunft. Die Kordilleren felbft haben 
dadurch erft ihre Klafflzität gewonnen. Die von Trachytmaflen auf die Müden 
ber Anden gehobenen Mufchel- und Steinfalzlager, die Rivellementd des Ama 
zenenſtroms in den Ebenen, die Durch die jüngften Wiederholuugen beflätigten 
genauen Orientirungen in den Urwäldern Guiana's, auf den Vulkanhöhen von 
Santa $% geben nur Zeugniß von der bewunderten Schärfe jener Auffaffungen 
eines Erd£olofles. 

Aber defien Geftaltung follte auch ruͤckwirkend werden und einer Reviſton 
aller Plaſtik der Erde überhaupt vorangeben, bie feitdem auch für Gentralaften 


144 rn Klar... 0.07 


und Europa durch die eigene Anfchauung und durch Ermittelung der mittleren 
Höhe der Kontinente gewonnen if. Die Erforichung der Entdeckungsgeſchichte 
der neuen Welt bat ebenſo rückwirkend alle früheren Entdedungen in der alten 
Melt bid in die älteſten Perioden der Wenſchengeſchlechter mit einem neuen 


Lichte durchſtrahlt. 


Die zahllofen neuen Entdeckungen in’ der Gäa, Flora und Sauna ber 
neuen Welt haben ſeitdem Die Wiffenfchaft mit ganz neuen, vorher nicht vorhan⸗ 
Denen Zweigen bereichert, die als dauerndes Denkmal ihres Begründers ſich im⸗ 
mer vergrößern und erweitern. Es iſt die geognoſtiſche Vergleichung beider 
Erdhaͤlften, es iſt die Geographie der Pflanzen, es iſt die Lehre von den Iſothet⸗ 
men, den Schneeregionen, den Luftſchichten, den Einflüſſen der Plaſtik auf die 
Meteorologie und beider auf die Organismen der Pflanzen, Thier- und Men- 
fehenwelt. Die Plateauſyſteme wurden Damals zuerft auf den Höhen Kaſtiliens 
und Amerikas entdeckt, und dann erft in den drei Erütheilen der alten Welt 
aufgefunden; fle, wie Die Bildingsgefege der Kordilleren und fpäter de8 Hima⸗ 
laya und des Altai, geben den großartigen Mapftab für alle anderen Erhebun⸗ 
gen der Erdoberfläche. Die vergleichende Geographie wurde hierdurch erft ges 
ſchaffen, tie vergleichende Statiftif folgte und die Monumentenfunde der Urbe⸗ 
wohner fchloß fih an. Die Nautif aller Nationen hat in der Suͤdſee die Hume 
bolptfirömung ald ein Denkmal des Entdeckers feftgeftellt; ſie, wie die all» 
gemeine Phyſik, Haben durch Die Serien der magnetifchen Stationen von Peking 
Durch Die ganze alte und neue Welt bis zu ihren Sütenden dem Begründer des 
erften magnetischen Häuschens in feiner Heimath Durch alle Zonen zahlreiche 
Denfmale feiner weitgreifenden Wirfjamfeit erbaut; der magnetifche Verein ift 
durch ihn am Äußerften Nord- wie am Südpol wirkſam geivorden. 


Die Samenkörner der fchöpferijchen Ideen, Die auf das gefammte Ratur- 
wiſſen jo mächtig eingerirft und dem Stamm ber Mutterwiſſenſchaft ganz neue 
Zweige entlodt haben, find ſchon in der 1808 erjchienenen Eöftlichen Fleinen 
Schrift: „Anftchten der Natur“ audgejtreut, Tritt auch Humboldt darin als 
Künftfer auf, indem er nach feiner eigenen Erflärung zunächft eine Ajthetifche 
Behandlung feiner Gegenftänte beabjichtigt, jo ift Doch auf jeder Seite das Be⸗ 
ftreben zu erfennen, Dem Leſer cine Anjchauung der gefchilderten Länder nach 
allen ihren Beziehungen zu verfchaffen. Noch deutlicher tritt dieſes Streben 
in dem eigentlichen Neifebericht bervor, der einerfeitö wahren Kunflge 
nup durch Die trefflichen Schilderungen einer gewaltigen Natur und der Menfch« 
heit in einem ihrer merkwürdigften Bruchtheile gevährt, andererfeitd Durch Die 
umfafendften Ideen, Durch geiftvolle Vergleichungen und fruchtbare Berallges 
meinerungen der Beobachtungen den Geiſt bildet und befreit. Kein Werk der 
neueften Zeit ift wie dieſes geeignet, Die Kenntniß ber Natur bis in bie weiteflen 
Kreife zu verbreiten, und Ten Naturwiſſenſchaften die Ichendigite Theilnahme des 
Publifumd zu ſichern. Während ver nichtgelehrte Xejer Neues in Menge ers 
fährt, währen? es keineswegs an den Fleinen und großen Vorfällen fehlt, welche 
die Einbildungsfraft befchäftigen und die Neugier veizen, ſieht und faßt er bei je- 


Sumboldt und die Raturwiffenfchaften. 145 


dem Echritt einen jener umfuffenden Gedanken, von denen die heutige Wiffenfchaft 
beherrfcht wird, entſtehen oder fich beflätigen, und ex lernt an hundert lebendigen 
Beifpielen, wie die wahre Raturwiffenfchuft zu Stande fommt. 

Wenn frühere Reifebefchreiber befonders darauf audgingen, die naive Reu- 
gierbe zu befriedigen und bie Einbildungsfraft zu entzünden, jo war e8 dagegen 
Humboldt vor Allem darum zu thun, Pie geiammte Ratur in den Beziehungen 
ihrer Reiche zu einander und mit Reter Vergleichung der verfchiedenen Gegenden 
ber Erbe als ein Ganzes barzuftelln. Die Entdeckung eines unbekannten 
Geſchlechts erichien ihm daher weit weniger wichtig, als genaue Beobachtungen 
über die geographiichen Verhältniffe der Thiere und Pflanzen, über bie Verbrei⸗ 
tung derfelben in der Ebene wie auf den verfchiedenen Stufen der Gebirge. Dice 
Ginzelbeobachtung galt ihm nur als Mittel, fich zur Erfenntniß der allgemeinen 
Grfepe zu erheben. Aber jelbft das Linbedeutendfte und Unfcheinbarfte weiß er 
auf geiſtvoll geſchickte Weile für die Verfolgung feiner allgemeinen Zwede nutz⸗ 
bar zu machen. An die geringfügigfte Notiz Enüpft er die weitefte Nüdficht auf 
ten Zuſammenhang der Erfcheinungen über den ganzen Ertfreis. Die Urt, mie 
de Ratur auf das Gemüͤth einwirft, wie wieterum der durch die Ratur ange 
regte Geiſt fich zu fittlichen Ideen erhebt, bildet den Mittelpunkt feiner For⸗ 
ungen. Nirgends bleibt die Geſchichte der Erde und tie Schilderung ihrer 
Erzeugniffe außer Beziehung zu dem menfchlichen Geſchlechte. Aber trog der 
Rannigfaltigkeit Der Intereffen, trog der Verbintung naturbiftoriicher,, geogra⸗ 
phiſcher und ftaatswiffenichaftlicher Zwecke, die ber Verfaffer verfolgt, hat die 
Einheit ter Tarftellung feine Einbuße erlitten. 

Tiefer Reijchericht,, in welchem Humboldt ein Allen zugängliches Meiſter⸗ 
werk geichaffen, das nach unferer Ueberzeugung recht eigentlich Dein Weſen und 
Pebürfnig der heutigen Kultur entfpricht, bildet inteß, wie der Leſer jich erin⸗ 
nern möge, nur einen fpäter verfaßten Theil de8 großen Geſammtwerkes 
über die amerifanifche Reife. Wir haben in unferem erften Artifel verfucht, in 
Kächtigen Umrifien ein Bild von dieſem Rieſenwerke zu zeichnen. Hier fei noch 
meihnt, daß die übrigen Theile dıffelben in biltender Kraft und meifterhafter 
Behandlung allgemein intercflanter Gegenftände Tem eigentlichen Reiſeberichte 
faum nadgfichen dürften. Eelbft da, wo man Nefchreibungen von Pflanzen 
und Thieren eder Darftellungen geographiſcher Verbältniffe lieft, wird man fich 
tigenthümlich angezogen fühlen. Wenn man eine trodene Zufanımenftellung 
von Daten und Ramen zu finten erwartet, wird man bald durch tie Fülle eins 
gewebter Raturfchilderungen, bald Turch die Höhe der Ideen und die Großartig⸗ 
keit ter Anfchauungen überrascht, zu denen der Verfafler jich von ten geringfüs 
sinken Einzelnheiten aus erhebt. Die zweibäntige Reifchefchreibung abgerechnet 
And leider die übrigen Theile des großen Geſammtwerkes Dem deutſchen Publi— 
kum wenig befannt, weil ſie in franzöflfcher Eprache und meift in einem ernften 
riſſenſchaftlichen Style abgefaßt find. Gleichwohl ſtehen wir nicht an zu ver⸗ 
ſichern, daß felbft die ſpeziell geologiſchen und botanifchen Abhandlungen völlig 
geeignet find, einem wahrhaft gebildeten Kefer hoben Genuß und geiftige Befrie⸗ 
Naung zu gewähren. 

v. 10 


146 &ultur, 


Aus den vorjiehenten Andeutungen, jo knapp wir fle auch Tem Umfange 
dieſes Aufſatzes entſprechend balten mußten, ergibt fich wenigftend jo viel, daß 
die große amerifaniiche Entdeckungsreiſe den Ausgangspunkt einer neuen Ent⸗ 
wickelungsphaſe ter Naturwiſſenſchaften und ihrer Rutzbarmachung für das 
Leben und ten Verkehr der Kulturvölfer bilder. Die Ergebnijle dieſer epoche⸗ 
machenden Reife zu Detailliren oder den wiſſenſchaftlichen Geſammtertrag auch 
nur annähernd zu zeigen, wäre an Tiefem Orte unmöglich; Tie Darlegung der 
Hauptmomente einer To viel umfaſſenden, in alle Gebiete des menſchlichen 
Wiſſiens mächtig eingreifenten Wirkſamkeit muß den Bachgelebrten überlaflen 
bleiben. Für unjeren bejonderen Zwed genügt e8, an ein paar jchlagenden Bei⸗ 
fpielen nachzumweijen, wie bie geiftwollen Beobachtungen des großen Reijenten To» 
fort zu einer wichtigen Erweiterung der Ratunviijenichaften geführt haben. Wir 
meinen die Geographie ter Pflanzen, die, wie jchon erwähnt, durch Humboldt 
zuerit als bejondere Wiſſenſchaft begründet worden ift, und Lie Damit in engitem 
Bujammenhange jtehenten Unterjuchungen über Die Verbreitung der Wärme auf 
Der Ertoberfläche, Die ihn zur Konſtruktion der Iſothermen veranlaßten. Schon 
in jeinen erften Schriften harte er Die von den Abbe Giraud Soulapie an⸗ 
geregie Idee einer Pflanzengeograpgie als wichtig bezeichnet. Die Ergebnifle 
feiner Forſchungen und Beobachtungen über tie Pflanzenwelt des neuen Kontie 
nents beſtimmten ihn, dieſe Idee zunächit in Dem Essai sur la g&ographie des 
plautes (1807) zu jfisgiren und ſte jpäter in dem Friedrich Auguſt Wolf gewid⸗ 
meten Werfe: De distributione plantarum geographica (1817) weiter auszu⸗ 
führen. Bon Decantolle bearbeiter, erſchien endlidy Die PBrlanzengeographie 
als bejondere Wilfenjchaft in Dem Levrault'ſchen Dictionnaire des sciences 
naturelles (1820, tom. XVIII.). In dieſen Schriften wird Elar und bundig eine 
beſtimmte, gejegmäpige Verbreitung der Brlanzenfamilien nad) Elimatifchen und 
Höhenverbältnijfen nachgewieſen. Es wird gezeigt, daß es gleichgültig für das 
Vorkommen einer Pflanze jei, ob die erforderliche Würmenenge in Folge der 
Nähe ihred Standorte zum Aequator oder in Folge Der geringeren Erhebung 
über Dad Niveau Led Meeres ihr zufomme, Die Erforichung Der Vegetations⸗ 
verhältnijfe in den Hochgebirgen der Uequinoftialgegenten, wo befanntlich die 
Schneeregion vom Meere am Weitejten zurückweicht, und wo die werjchiedenen 
Himatiihen Bedingungen gleichſam flufenweije übereinanderliegen,, führte noth⸗ 
wendig zu Den wichtigiten Rejultaten und Daneben zu neuen folgenreichen Unters 
ſuchungen über die Heimat, Lie Verbreitung und Die Wanderungen der Kultur⸗ 
gewächje wie ter Hausthiere. „Durch foldye Forſchungen — erklärt Humboldt 
ſelbſt — verbreitet die Geographie der Pflanzen Licht über den Urjprung bes 
Ackerbaues, deſſen Objekte jo verjchieden jind, als die Abſtammung der Völker, 
als ihr Kunitfleig und das Klima, unter welchem fie wohnen. In das Gebiet 
dieſer Wilfenichaft gehören Beobachtungen über den Einfluß einer mehr ober 
minder reizenden Nahrung auf Die Energie de3 Charakters, Betrachtungen über 
lange Seefahrten und Kriege, durch welche ferne Nationen vegetabilijche Pros 
dukte fich zu verichaffen oder zu verbreiten judyen. So greifen die Pflanzen 
gleichfam in die moraliſche und politiiche Gejchichte der Menſchen ein; denn 


Sumboldt und die Naturwiffenfchaften. 147 


wenn eine Sefchichte der Raturobjekte freilich nur ald Raturbefchreibung gedacht 
werden kann, jo nehmen dagegen jelbft Naturveränderungen einen echt hiſtori⸗ 
ihen Charakter an, wenn fle Einfluß auf menschliche Begebenheiten haben. Alle 
tieie Nerbältniffe find an und für fich jchon hinreichend, un den weiten Umfang 
einer Disciplin zu ſchildern, welche wir mit dem nicht ganz paſſenden Namen 
einer Pilanzengeographie belegen. Aber der Menich, der Gefühl für die Schön- 
keit Der Natur bat, freut fi, Darin zugleich auch die Löſung mancher moralis 
ihen und äftherijchen Probleme zu finden. Welchen Cinfluß bat die Verthei⸗ 
lung ter Bilanzen auf dem Erdboden und der Anblick derſelben auf die Phans 
tafte und den Kunfifinn Der Völker gehabt? Worin beftcht der Charakter der 
Vegetation dieſes oder jenes Landes? Wodurch wird der Eindruck heiterer oder 
emiter Stimmung modificirt, welchen die Pflanzenwelt in dem Beobachter er⸗ 
regt? Diefe Unterfuchungen find um jo intereffanter, als fle unmittelbar mit 
den geheimnißvollen Mitteln zuſammenzuhaͤngen, Durch welche Landſchaftsmalerei 
and sum Theil ſelbſt befchreibende Dichtkunft Ihre Wirkung bervorbringen,’ 
(Ideen zu einer Geographie der Prlanzen ©. 23.) 

Aus dieſer Stelle ift Deutlich zu jehen, auf welche Weile Humboldt dag 
Peobachtete zu verallgemeinern wußte, wie er die Ginzelericheinungen unter dem 
Kfchtspunfte der höheren Geſetzlichkeit und Megelmäpigfeit auffaßte, wie er den 
Weg bezeichnete, auf welchem die Mejultate der Wiſſenſchaft für Die materiellen 
Beduͤrfniſſe wie für Das geiftige Leben der Kulturwölfer Fönnen verwertbet were 
den. Mit Hülfe der von ihn neugefchaffenen Wiffenichaft kann aus ter Zahl 
der in einen Lande vorfommenden Phanerogamen auf die Menge Der Krypto⸗ 
gamen, oder aus der Anzahl der Schmetterlingsblumen (Erbien, Widen sc.) auf 
die Der Doldengewaͤchſe (Peterfilie, Kümmel ıc.) oder irgend einer anteren Plans 
senfamilie mit großer Zuverficht gefchloffen werden. Ebenſo neu ala anzichend 
in feine in den „Anſichten ter Natur” enthaltene Gejchichte Der Pflanzendecke 
ter Erbe, worin auf Bas Sinnigſte gezeigt wird, wie ber eigenthümliche Charakter 
ter Pflanzenwelt einer Gegend nicht bloß einen bejonderen vorübergehenden Eins 
druck auf das Gemüt des Menjchen macht, fondern auch mit Dem Volfscharakter, 
ter Gefchichte und Kultur des Menichengefchledhts in innigen Beziehungen fteht. 
Nabe verwandt damit find jeine Uinterfuchungen über Die geograpbiiche Verbreis 
tung der Thiere, Die ſich cbenjo durch die Geſchichte der Haustbiere eng mit der 
Gcichichte Der Menichbeit verfnüpft. 

In innigem Zufammenhange mit diefen Unterfuchungen fteben Humboldt's 
wichtige Forſchungen über die Flimatijchen Verhältniſſe, Die Vertheilung der 
Mirme und Feuchtigkeit auf der Erde, Vorfchungen, denen wir dad von ihm 
bereitd 1817 begrüntete Enftem der Iſothermen (Linien gleicher mittlerer Jah: 
rehrärme) verdanken. Die Vergleichungen der Barometerftinde mit den Wind⸗ 
richtungen batten bereitö einen tiefen Blid in den Zuiammenhang Der meteoro- 
logiſchen Gricheinungen gewährt. AUndererjeitd wußte man and Erfahrung, daß 
tie Temperatur in der Höhe abnimmt, ohne daß ed bisher gelungen war, das 
Vreblem zu löſen. Gauffure war der Erſte, der den Einfluß der Sonnenftraß- 
In näber zu beflimmen verfuchte, indem er zeigte, wie die Luft je nach den hö⸗— 

10* 


148 | Kultur. 


herem oder geringerem Grabe ihrer Durchfichtigfeit mehr oder weniger Strahlen 
durchlaͤßt. Da die oberen Luftfchichten dünner und durchfichtiger find als die 
unteren, fo haͤuft fich die Wärme auf der Erdoberfläche an und geht nur theil⸗ 
weife durch Strahlung und Mitteilung In die Atmofphäre zurüf. Am wärme 
ften müflen daher die unteren Luftjchichten fein, deren geringere Durchſichtigkeit 
und größere Dichtigfelt wiederum zur Vermehrung der Wärme auf ber Erd⸗ 
oberfläche beitragen. Der Temperaturunterfchled zwiſchen den verfchiedenen Res 
gionen der Atmofphäre ruft fofort Luftfirdämungen hervor, weldye die Anhäufung 
der Wärme vermindern. Außerdem fleigt regelmäßig die erhigte Luft am 
Aequator in die Höhe und fließt nach beiden Polen ab, während von den ‘Polen 
her nach dem Aequator zu die Lältere Luft in den unteren Regionen zuftrömt. 
Bon dem Kampfe diefer beiden Ströme, von dem abwechjelnden Verbrängen 
des einen Durch den anderen hängen bie Erjcheinungen bed Luftdrucks, der Er⸗ 
waͤrmung und Erfältung der Lufiſchichten, die wäflerigen Niederjchläge und jelbft 
die Bildung der Wolfen und ihre Geſtalt ab, Der größere oder geringere 
Wärmezuftand, dad Klima einer Gegend, wie man ſich gewöhnlich auddrüdt, 
ift demnach zum Theil durch die Winde bedingt. Wäre die Erde eine ebene 
und gleichartige Kugel, fo würbe die mittlere Temperatur ziemlich gleichmäßig 
von dem Acquator nach den Polen hin abnehmen. Da aber bie Erdoberfläche 
zum großen Theil mit Waſſer bededt if und bei Weitem ber größere Theil der 
Sonnenwärme bei der Verdunftung des Waffers gebunden wird, während das 
erwaͤrmte Feſtland die Waͤrme wieder ausſtrahlt, fo ergibt ſich fchon hieraus, 
daß innerhalb großer Känderfireden das Klima ein wärmeres jein muß als auf 
dem Meere oder in der Naͤbe des Meeres und ebenſo, daß auf der füblichen 
Halbkugel, welche Armer an Feſtland ift ale die nördliche, unter denfelben Brei⸗ 
tengraten das Klima Fühler jein muß als hier. Won nicht geringerem Gin- 
fluß aber auf das Klima eine Ortes iſt feine Erhebung über den Meeres⸗ 
fpiegel, welche, wie gelagt, zuerſt von Sauffure ald eine der Haupturfachen der 
örtlichen Temperaturverfchiedenbeit erfannt worden if. Er und Humboldt 
haben das Geſetz enwickelt, wonach ein Ort um jo älter it, je höher er ſich 
bei übrigend gleichen Verhältniffen über dem Meere befindet. In GBebirgen, 
die ſich bis zu einer gewiflen Höhe über dem Niveau des Meeres erheben, ſchmilzt 
Schnee und Eis während Des ganzen Jahres nicht. Humboldt hat nun nach⸗ 
gewiejen, wie die fogenannte Schneegrenze weder eine regelmäßig konſtruirte 
Fläche in ihrer Geſammtgeſtalt biltet, noch auch die Wärmeabnahme auf dem 
Beftlande vom Arquator nach den Polen zu gleichmaͤßig fortichreitet. Er hat 
ferner gezeigt, wie nothwendig es fei, Durch regelmäßige Beobachtung des Waͤrme⸗ 
zuftandes an verjchledenen Orten und zu verfchiedenen Taged- und Jahreszeiten 
die Jahredtemperaturen zu ermitteln. Gr bat die auf dieſem Wege gefundenen 
Durchſchnittszahlen zujammengeftellt und auf einer Erdkarte Die Orte gleicher 
mittlerer Jahreötemperaturen Durch Einen verbunden, Die von ihm, je nachdem 
entweber Die mittlere Wärme des ganzen Jahres, oder die des Sommers oder 
die des Winters zu Grunde gelegt iſt, Iſothermen, Iſotheren und Iſochimenen 
genannt worden find. Zu den Urſachen, welche In einer Gegend die Temperatur 


Sumboldt und die Naturwiſſenſchaften. 149 


erhöhen, rechnet Humboldt in der gemäßigten Zone die Nähe einer Weſtkuͤſte, 
die Gliederung des Landes in Halbinfeln, Meerbufen und Binnenmeeren , die 
Nähe eines großen Landes, welches zum Theil in der heißen Zone liegt, das’ 
Borherrichen Des Aequatorialluftitromes oder die Nähe eines Meerftromes aus 
wärmeren Gegenden, Schuß durch Gebirge gegen kalte Winde, Mangel an gro- 
fen Waldungen auf trodenem Sandboten und endlich Heiterkeit des Himmels 
während des Sommers; und er hat an zahlreichen Beilpielen erläutert, wie 
überall, wo Diefe Bedingungen nicht vorhanden find, oder gar die entgegengefegten 
Berhältniffe beſtehen, das Klima ein verhältnigmäßig Falted fein muß. Der 
Ausdrud Klima bezeichnet überhaupt bei Humboldt weit mehr, ald man gewöhn⸗ 
lich Darunter verſteht. Nicht blos Die Temperatur, die Veränderung des baros 
metrifchen Drucke, der eigentliche Zuftand der Luft und die Wirfung der Winde, 
woron oben die Rede war, find in diefem Ausdruck beyriffen, fondern auch der 
Fruchtigkeitszuſtand, Die Reinheit und Durchfichtigfeit der Atmofphäre, die nicht 
Mod auf das Leben der Pflanzen, fondern audy auf die Gemüthsſtimmung des 
Renſchen eine fo bedeutende Wirfung ausübt. Endlich Hat Humboldt noch 
nachgewieſen, wie zwifchen allen meteorologiſchen Erfcheinungen ein fo inniger 
Zufammenbang beſteht, daß die Störung der einen fofort eine Veränderung aller 
übrigen zur Folge hat, und es könnte demnach bei der großen Manniyfaltigfeit 
der Störungen von einer Vorausbeſtimmung der Veränderungen in dem Lufte 
fretfe, oder was daſſelbe ift, von einer Vorherbeftimmung des Wetterd gar nicht 
oder nur in ſehr bedingter Weife und unter Befchränfung auf verhältnipmäßig 
feine Räume die Rede fein. 

Die verfchicdenen hier berührten Unterfuchungen und Lehren, auf das 
Engſte untereinander verfnüpft, und mit der Orographie und Hydrographie 
sereinigt, bilden zufammen die phyſikaliſche Geographie, die fomit 
turch Humboldt begründet, durch die Arbeiten L. v. Buch's, Sauffure's, 
Vahlenberg's und namentlih Kaäͤmtz's weiterentwidelt, und zulegt in 
tem Atlas von Berghaus unter Humboldt’8 direkter Betheiligung über⸗ 
üchtlich Targeftellt worden if. Mit dem wiffenfchaftlichen Ausbau der vers 
gleidenten Klimatologie und der Meteorologie, die er gleichfalls 
durch eigene Beobachtungen, wie Durch weitgehende Anregungen zu ähnlichen 
Unseriuchungen begründet hat, ift der geniale Dove bejchäftigt. 

Auch Die Geognoſie, welche von ber Beichaffenheit, Form und Lagerung 
ter Gefteine und Gebirgsmaſſen, aus denen die Erdrinde beſteht, von den orgas 
michen Reften, die darin cingefchloffen find und das relative Alter der einzelnen 
Schichten anzeigen, und von ter Bildung der Erdrinde und den Berinderungen, 
die fle erleitet und erlitten hat, handelt, ift von Humboldt auf eine neue Bahn 
geführt worden. Nach feiner Anſicht umfchließt die Erdrinde einen feuerflüfft- 
gen Ren. Aus ihm haben fich in der alten und neuen Welt unter gleichen 
Vildungegefegen mächtige Gchirgäfetten und große Hochebenen, bie Erbiheile, 
emporgehoben. Durch Die eigenthümliche Befchaffenheit des Ertinnern iſt auch 
bie frähere Temperatur unjere® Planeten, welche, wie aus mancherlei Meften der 
Vorzeit gefolgert werben muß, eine beträchtlich höhere war, zu erfläten. Aus 


150 Kultur, 


midjrigen Spalten ergoffen fi auf die Ertoberfläche ungeheure Wärmemafien, 
welche Grund und Vedingung der tropiſchen Pftanzendecke wurten, teren licher» 
£leikjel in Eteins und Braunfohlenlagern audy in Ten von Ten Tropen entfernt 
liegenten Läntern ald eine reiche Wärmequelle aufbewabrt worden find. Aus 
ten noch jegt ſtatifindenden Einflüſſen des Ertinnern auf feine Rinde werten 
die Erdbeben, tie damit zufanımenhängenden und die mir den Ausbrüchen der 
feuerfpeienten Berge verwantten Ericheinungen überzeugent erklärt. Alle dieſe 
Anfichten fichen nicht als vereinzelte Annahme ba, ſondern find Turch einc Reihe 
von Thaiſachen und Beobachtungen, welche in drei verichiedenen Weltrheilen 
gejammelt wurten, bewieſen, fo tag man Humboldt mir Recht als den Begrün⸗ 
der Der neueren Geognojie betrachten kann. In jeiner wichtigen Echrift über 
die Ragerung ter Gebirgdarten in beiten Hemiſphären ıSur le gisement des 
roches dans les deux hemispheres, Paris 1823, teutih von K. v. Xeonbartt) 
hat er nachgewiefen, wie die Felsarten ber neuen Welt mit denen ber alten Welt 
nicht blos übereinflimmen, jontern wie auch die Reihenfolge, in weldyer 
biejelben im Laufe der Zeit auf der Ertoberfläcse ſich bildeten, überall dies 
felbe ift. 


Aber auch für Die übrigen Zeige der Naturwiſſenſchaft bat die amerifas 
nifche Reife einen reichen Stoff geliefert, der theils von Humbeltt ſelbſt, theils 
unter jeiner Leitung von ausgezeichneten Gelehrten verarbeitet worden if. Er 
ſelbſt Hat Die Rejultate feiner aftrenomijchen Peobachtungen in einem bejondes 
ren Werfe niedergelegt, welches auger vielen anderen wichtigen Thatſachen eine 
lange Reihe von geographijchen Ortsbeſtimmungen enthält, mit Deren Hülfe 
neben einer von ihm ſelbſt entworfenen Karte Les Orinoko- und Amazonen⸗ 
ſtromgebietes die früher jchr unvollkommenen und faljchen Karten des von 
Humboldt bereij’ten Theiles von Amerika vervolljtindigt und verbeſſert werden 
fonnten. Unter Unteren dit durch ihn tie Waſſerverbindung zwijchen Dem 
Amazonenſtrom und den Orinofo, Deren Beteutung fich erft bei größerer Bes 
völferung der angrenzenden Ränder zeigen wird, außer allen Zweifel gefegt wors 
ten. Endlich hat er wiederholt den wichtigen Plan angeregt, das atlantijche 
Meer mit den großen Ocean durch einen Kanal über Den Iſthmus von Panama, 
ber vor ihm für eine Unmöglichkeit gehalten wurte, zu verbinten und dadurch 
bie für den Welthandel jo förende Umiegelung des Kap Korn zu befeitigen. 
Bei Dem rafchen Emporblühen des goldreichen Kaliforniens und der ſchnell fort⸗ 
ichreitenten Koloniſtrung Auftraliens kann diefer großartige Plan, dem bereits 
durch Unterfuchungen und Verbejferungen vorgearbeitet worden ift, nicht lange 
mehr unausgeführt bleiben. 


Nicht minder wichtig und ergebnißreich für die Wiffenichaft war die zweite 
große Entdeckungsreiſe, welche Humboldt durch das rujfiiche Meich nach tem 
kaspiſchen Meere und nach dem Urale und Altaigebirge machte. Der hiſtoriſche 
Bericht über Diefe Reife wurde von Rofe verfaßt, während Humboldt zuerſt in 
ben „‚Bragmienten über die Klimatologie und Gevlogie von Aſien,“ ſowie fpäter 
in dem großen Werke „‚Gentralaflen” (Asie centrale, Paris 1843) die Ergebniffe 


Humboldt und die Raturwiffenfchaften, 151 


feiner Forſchungen niederlegte. Im dem erften Bande der „Fragmente“ werden 
alle Erſcheinungen, welche mit der Reaftion des flüſſigen Erdinneren gegen Die 
Erdrinde zujammenhängen, erörtert und mit den in Amerika gemachten Erfah 
sungen verglichen. Es stellt fich dabei heraus, daß Humboldt erft auf der afla= 
tiſchen Reife den inneren Zuſammenhang der tellurijchen Erfcheinungen ala das 
Ergebnig einer fortwährenden Eimwirfung der inneren Erdfräfte auf die äußere 
fehle Schale unjered Planeten klar und beſtimmt erfannt hat. Für den Bergs 
bau werden tie Gejege begründet, welche das Vorkommen der Metalle bedingeir, 
und ed wird indbejondere aus der Achnlichfeit der VBerhiltniffe in der Lagerung 
des Goldes und des Platind in Amerika und Sibirien auf Das Vorhandenſein 
von Tiamanten in dem Ural gefchlofjen, eine Kolgerung, deren Nichtiyfeit ſofort 
durch Thatſachen betätigt worden iſt. Der zweite Band enthält eine Darftel« 
lung der Elimatifchen Verbältniffe Aſtens. Es werden unter Anderem die ſchon 
oben angedeuteten Urſachen des auffallend großen Unterfchiedes zwijchen ber 
Sonmerwärme und der Winterfälte Nordaſiens unterfucht. An die klimatolo⸗ 
giſchen Beobachtungen Enüpfen fich Betrachtungen über die Pflanzen- und Thier⸗ 
weit, und es wird namentlich verſucht. die räthielhafte Erſcheinung vorweltlicher 
Ihiere in den Norden Aſiens, welche, wie 3. B. der vonveltliche Elephant 
(Rammuth), eigentlich einer tropifchen Zone angehören, zu erflären. Endlich 
emhält noch dieſer Band fehr werthvolle Beiträge zur geographiichen Beſtim⸗ 
mung des Landes und reiche Beobachtungen über die Iſothermen und Die magnes 
rigen Linien. 

In der Asie centrale, den großen Hauptreijewerfe über Gentralaften, bat 
Humboltt, geſtützt auf die zwölfjährigen Beobachtungen der auf jeinen Betrich 
in Rußland errichteten magnetijchen Stationen und nach umfaſſenden Studien 
in allen wichtigeren Werfen, bie über Aflen ſelbſt in indiſcher, chinefticher und 
perflicher Eprache erfchienen waren, Die geographiichen, geologijchen und Elis 
mariichen Verhaͤltniſſe Aſiens in einer viel großartigeren und audgebehnteren 
Weiſe behandelt, als Died in den „Fragmenten“ hatte geſchehen können. Auch 
einen ſchönen Schatz von geſchichtlichen und ſprachlichen Bemerkungen bietet 
und dieſes Werk tar. Vor Allem aber tritt Darin wieder das Beſtreben hervor, 
tad thatſaͤchlich Feſtſtehende, die vereinzelten Beobachtungen zufanımenzufaffen, 
und aus allgemeinen Geſichtspunkten zu erläutern. eine geographijchen Leis 
fungen bilden den Mittelpunkt feiner Beftrebungen. Die Karte von Central 
aflen, welche mit bewunderungswuͤrdiger Oenauigfeit von ihm jelbft nad den 
aeuchen Höhemeſſungen und aftronomijchen Beobachtungen gezeichnet ift, kann 
als eine reiche Fundquelle für die Kartographie betrachtet werten, Der er durch 
dieſe Arbeit eine neue Richtung angebahnt hat. 

Wie er in der Asie centrale das Getrennte und ſcheinbar Kernliegende 
vereinigt, fo bat er in bein feinen Sreunde Arago gewitmeten Werfe: „Examen 
eritique de I'histoire de la g&ographie du nouveau continent etc.“ (Paris 
1836— 1839, fünf Bände), aus jpanifchen Archiven fchöpfend und mit dem 
Etudium des neuaufgefundenen Dokumente die Kritit aller bereitö veröffentlicye 
ten werbindend, die Geſchichte des Beitalters ber großen geographiichen Ent“ 


152 Kultur, 


deckungen in ergreifender Darftellung niedergelegt. Nachdem er die vereinzelten 
Verſuche, welche der Entdedung Amerikas vorangingen, aufgeführt hat, ſchildert 
er dad große Ereigniß felbft in allen feinen Einzeinheiten, fegt ausführlich aus⸗ 
einander, wie e8 nach allen Richtungen bin bireft und indireft auf den menfch- 
lichen Geiſt eingewirft hat, und verfolgt es bis in feine letzten Folgen für bie 
Gisilifation der Völker des alten Kontinents, die durch diejed Ereigniß zu einer 
Gemeinſchaftlichkeit des Handelnd geführt wurden, Durch welche dad Uebergewicht 
ihrer Macht auf dem Erdball begründet if. Es wirt ferner nachgeiwiefen, wie 
die Entdedungsfahrten des Kolumbus unmittelbar ſich anſchließend an die geo⸗ 
graphifchen Anjchauungen der Alten, wefentlich von Ideen geleitete Aufiuchun« 
gen waren. Kolumbus felbft wird nicht ald glüclicher, von unbewußter Ein« 
gebung erfüllter Prophet, fondern als ein Mann geſchildert, der chen fo groß 
war durch Vernunft wie durch Phantafle, ebenjo weije wie kühn, ebenjo geſchickt 
in der Ausführung jeined Unternehmens, wie gewaltig in feinem Entfchluffe; 
als ein Mann, der, obfchon nicht frei von den Irrthüniern, den Borurtbeilen 
und dem Uberglauben feined Jahrhunderts, doch fchon weit über daffelbe hinaus—⸗ 
tagte durch den fcharfen und Elaren Blick, mit ben er die Erjcheinungen ber 
äußeren Welt burchfchaute; als ein Mann endlich, der ebenſo bewunderungs⸗ 
würdig als Beobachter der Natur wie als unerjchrodener Schiffer war, der fich 
mit ftaunenswertber,, in jenem Zeitalter faſt unerhörter Geiſteskühnheit von der 
Berrachtung eines fcheinbar ganz ijolirten Falles zur Entdeckung der allgemeinen 
Geſetze, welche die phyſiſche Welt regieren, emporfdavang. Ihm gebühret nach 
Humboldt die wichtige und folgenreihe Entdedung der Abweichung der 
Maynetnadel, und das noch größere Verdienſt, die Variationen Diejer Ab⸗ 
weichung zuerft erkannt zu haben, Entdeckungen, aus Denen er Kolgerungen 
zog, Die von einer außerordentlichen Verftandeskraft und ſeltener Beobachtungs⸗ 
gabe zeugen. 

Die Gefchichte der großen geographifchen Entwickelungsepoche ift indeß 
nur cine Hebenarbeit, aber fle bildet die Grundlage der eigenen Forſchungen 
Humboldt's auf dem Gebiete der Geographie. Don jeher mit Unterfuchungen 
über die Konfiguration der Kontinentalmaffen und den Gegenſatz zwifchen Hoch- 
und Tiefland vielfach befchäftigt, Hatte er fehon 1804 in der Bosquejo de una 
pasigrafia geognostica con tablas etc. verjucht, Die Geftaltung ganzer Laͤnder in 
geognoftijchen Profilen Darzuftellen. Durch die Betrachtung der geognoftifchen 
Epochen, Die Durch Das Tänderbildende und zerftörende Emporiteigen von Berg⸗ 
fetten und Hochebenen beſtimmt und begrenzt find, gewinnt er die Ueberzeugung, 
dag die heutige Form des Feſtlandes vornehmlich Durch das Ausbrechen der 
Quarzporphyre, welche Die Steinkohlenlager durchbrechen und dadurch bedeu⸗ 
tende Hochebenen über dem Meereöfpiegel gebildet haben, entftanden iſt. Er 
ſchließt flch der fehon von Baco von Verulam aufgeftellten, von Reinhold Korfler 
begründeten Anſicht an, wonach die pyramidal auslaufenden Kontinentalmaflen 
der füdlichen Halbfugel ihre gleichförmige Geftalt durch große Meeresſtrömun⸗ 
gen aus fühweftlicher Richtung her erhalten haben. Bon der Oberflächengeftalt 
bes Feſtlandes, tie cr nad dem Vorgange tes genialen Karl Ritter als Lie 


Humboldt und die Raturwifienfchaften. 153 


Grundbedingung für die Entwidelung des Menfchengeichlechtes betrachtet, wen⸗ 
ter er fich zu einer nicht minder wichtigen Erfcheinung, zu der inneren Gliede⸗ 
sung des Bodens in Bergketten und Hochebenen, und er hält Diejenigen Länder, 
welche ein Gemiſch von niedrigen, abgefonderten Gebirgsgliedern und Xieflän« 
dern, wie in dein weitlichen und füdlichen Europa, barbieten, für ganz befonders 
geeignet, die Produkte des Pflanzenreich® zu vermehren, die Bewohner zu viel⸗ 
feitiger energijcher Thätigkeit anzuregen und eine reiche Bildung zu erweden. 
Der Begriff der Gebirge und der Tiefländer, Die Geſetze der Oberflächengeftals 
tung des Erdbodens wurden von ihm und feinen berühmten Freunden, 2. v. 
Vuch und Nitter zuerft klar hingeftell. Die Grundlage dieſer Leiftungen aber 
bildet vor Allem eine richtige Anflcht von dem Bau und der Lagerung der Ges 
birgäjchichten,, teren Zeitfolge wiederum erft nach genauer Beſtimmung der cin- 
geichloffenen Thier⸗ und PBflanzenrefte feftgeftellt werden fonnte. Welche Bes 
deutung Diele Unterſuchungen haben, Ichrt ein Blick auf Die geognoftiichen Kar⸗ 
ten, mit deren Hülfe die Reichthümer und Hülfsquellen eines Landes in Voraus 
befimmt werden fönnen. 

Bei Weiten das wichtigfte Wert Humboldt's aber ift der „Kosmos“, 
teffen Bild dem Verfaſſer faft ein halbes Jahrhundert Hindurch vor der Seele 
geichwebt, und worin er Den ganzen Ertrag jeiner Lebenderfahrungen und Ar« 
beiten, jedem Gebildeten verfländlich, niedergelegt hat. ‚Wenn durch äußere 
Lebensverhaͤltniſſe — jo erklärt er fich felbjt Darüber — und durch einen unwis 
derfichlichen Drang nad) verfchiedenartigem Willen ich veranlaßt worden bin, 
mich mehrere Jahre jcheinbar ausfchlieglicy mit einzelnen Disciplinen: mit bes 
febreibender Botanik, mit Geognoſie, Chemie, aftronomijchen Ortöbeftinmungen 
und Grdmagnetiömus ald Vorbereitungen zu einer großen Reifeerpebition zu 
beidyäftigen ; fo war doch immer der eigentliche Zweck des Erlernens ein höherer. 
Was mir den Hauptuntrieb gewährte, war bad Beftreben, die Erfcheinungen der 
förperlichen Dinge in ihrem allgemeinen Zujammenhange, Die Natur als ein 
durch innere Kräfte bewegtes und belchted Ganze aufzufaflen.‘ Humboldt war 
aber auch mehr als irgend ein Anderer befähigt, ein Werk über den Kosmos zu 
ihreiben. Er war lange das Gebiet der einzelnen Wifjenichaften Durchwandert, 
hatte ſelbſt gemeflen, beobachtet und erperimentirt, ehe er fich an dad Bild eines 
Raturganzen wagte. Ihm war ferner Das Glück geworden, das wenige wifjen« 
ſchaftliche Reiſende in gleichem Maaße mit ihm getheilt haben: das Glück, nicht 
blos Küftenländer, wie auf den Erdumfegelungen, fondern das Innere zweier 
Kontinente in weiten Räumen und zwar da ˖ zu ſehen, wo dieſe Räume die aufs 
fallendſten Kontrafte der alpinijchen Tropenlandichaft von Südamerika mit der 
öden Steppennatur des nördlichen Aſtens darbieten. Solche Unternehmungen 
mußten, bei der vorherrſchenden Richtung Humboldt's, zu allgemeinen Anfichten 
aufmuntern und den Muth beleben, Die gewonnene Kenntnig der ſideriſchen und 
tellurijchen Erjchrinungen des Kosmos in ihrem empirischen Zufammenhange 
darzuftelln. Der bisher unbeftimmt aufgefaßte Begriff einer phyſiſchen 
Erdbeſchreibung ging jo durch erweiterte Betrachtung, durch das Umfaſſen 
alles Gefchaffenen im Erd» und Himmeldraume in den Begriff einer phiyſi⸗ 


154 . Kultur, 


fhen Weltbeſchreibung über. Es ift aber die Lchre vom Kodmos, wie 
Humboldt fie auffaßt, nicht etwa ein enchflopäbijcher Inbegriff der allgemeinften 
und wichtigften Nejultate, die einzelnen naturhiftorifchen, phyſikaliſchen und 
aftronomiichen Schriften entlchnt find. Solche Neiultate hat er im ‚„‚Kodmos‘ 
nur ald Materialien und injofern theihweije benußt, al8 fie das Zujanmenwirfen 
der Kräfte im Weltall, Dad ſich gegenjeitige Hervorrufen und Beichränfen der 
Naturgebilde erläutern. In der Lehre nom Kosmos wird das Einzelne 
nur in jeinem Verhaͤltniß zum Ganzen, als Theil der Welterfcheinungen bes 
trachtet. 


Der Charakter feiner früheren Schriften, wie der Art feiner Bejchäftiguns 
gen treu, welche VBerjuchen, Meffungen, Ergrüntung von Thatfachen gewidmet 
waren, bejchränft fih Humboldt auch im „Kosmos“ auf eine empiriſche Be— 
trachtung. Dieje Behandlung einer empirischen Wilfenfchaft, oder vielmehr 
eined Aggregats von Kenntniffen, fchlicht nicht aus Die Anortnung des Aufge- 
fundenen nad) leitenden Iteen, die Verallgemeinerung des Beionderen, daß flete 
Forjchen nach enpirifchen Naturgefegen. Neben dem ficheren Wiſſen 
findet überall ta8 Bermuthen und Meinen einen Plag. Denn eine philo— 
fophifche Naturkunde ftrebt fih über das enge Verhältniß einer bloßen Naturs 
beichreibung zu erheben. Sie beficht nicht in der unfruchtbaren Anhäufung 
vereinzelter Thatjachen. Den forichenden Geifte muß es erlaubt fein, aus der 
Gegenwart in die Vorzeit Hinüberzujchweifen, zu ahnen, was noch nicht klar er⸗ 
fannt werden kann. 


Das Grundprinzip des Werked über den Kosmos iſt, um ed mit den eiges 
nen Worten Humboldt's zu bezeichnen, in dem Streben enthalten, „die Welt« 
erfcheinungen ald ein Naturganzes aufzufaflen; zu zeigen, wie in einzelnen 
Gruppen diefer Erjcheinungen die ihnen gemeinjamen Bebingnifje, d. i. das 
Walten großer Geſetze, erfannt worden find; wie man von ben Gejegen zu ter 
Erforichung ihred urfachlichen Zufammendangs aufſteigi.“ in folcher Drang 
nach dem Verſtehen des Weltpland beginnt mit Verallgemeinerung des Be⸗ 
fonderen, mit Erkenntniß der Bedingungen, unter denen die phyitichen Verän⸗ 
derungen fich gleichmäßig wiederkehrend offenbaren; er leitet zu der denfenden 
Betrachtung deſſen, was die Empirie darbietet, nicht aber zu einer „Weltanſicht 
durch Spekulation und alleinige Gedankenentwickelung, nicht zu einer abfoluten 
Einheitölcehre in Abjonderung von der Erfahrung.” Der fichere Weg ift ein 
volles Jahrhundert vor Krancid Bacon ſchon von Leonardo da Vinci vorgeichlas« 
gen und mit den Worten bezeichnet worden: comminciare dall’ esperienza 
e piu mezzo di questa scroprirne la ragione. Dies ift der Weg, auf welchem 
Humboldt zum Berftäntniß der Weltordnung gelangt iſt. Zwar gefteht er mit 
ber Beſcheidenheit, die Den genialen Koricher ziert, daß „wir und freilich noch in 
vielen Gruppen der Erjcheinungen mit dein Auffinden von empirischen Geſetzen 
begnügen müflen; aber — ſetzt er Hinzu, — das höchfte, feltener erreichte Ziel 
aller Raturforfchung ift Dad Erfpäben des Kaufalzufammenhanges felbf. 
Die befriedigendfte Deutlichfeit und Evidenz berrfchen da, wo es möglich wird, 


Sumboldt und die Raturwiſſenſchaften. 155 


das Geſetzliche auf mathematijch beitimmbare Erflärungsgründe zurüdzuführen. 
Die phyſiſche Weltbeſchreibung fit nur in einzelnen Theilen .eine Welt» 
erflärung. Beide Ausdrüde jind noch nicht als identiſch zu betrachten. 
ad Der Seiftedarkeit, deren Schranfen bier bezeichnet werden, Großes und 
Seierliches innewohnt, ift das frohe Bewuftiein des Strebens nach dem Unend⸗ 
lichen, nach den Erfaffen deffen, was in ungemeffener, unerichöpflicher Fülle das 
Seiende, das Werdende, das Gefchaffene und offenbart.” 

Zu tem Ziele Hinftrebend, welches Humboldt jich bei den derzeitigen Zus 
Rande der Wiſſenſchaft als erreichbar gedacht, hat er im „Kosmos“ die Natur 
unter einem zwiefachen Geſichtspunkte betrachtet. Er Hat fle zuerft in der reis 
nen Objektivität äußerer Erjcheinung, dann in dem Mefler eines durch Die Sinne 
empfangenen Bilted auf das Innere des Menichen, auf feinen Ideenkreis und 
feine Gefühle Largeftellt. Die Außenwelt wird unter der wiffenfchaftlichen Form 
eined allgemeinen Naturgemäldes in ihren zwei großen Sphären, der ur a⸗ 
nologiichen und Der tellurijfchen, geichiltert. Es beginnt daffelbe mit 
ken Sternen, tie in den fernften Theilen des Weltraum zwiſchen Nebelflerken 
aufglimmen, und fleigt Durch unfer Planetenſyſtem bis zur irdifchen Pflanzen 
decke und zu Den Eleinften, oft von Der Luft getragenen, Dem unbewafineten Auge 
verborgenen Organismen berab. Es wird der Erdförper gefchildert in jeiner 
Geſtaltung, feiner mittleren Dichtigfeit, den Abftufungen feines mit der Tiefe 
zunchnenten Wärmegehalts, feinen eleftrosmagnetiichen Strömungen und pola« 
riſchen Lichtprozeſſe. Die Reaktion des Inneren des Planeten auf feine Äußere 
Hinte bedingt den Inbegriff vulkaniſcher Thätigkeit, die mehr oder minder ges 
ſchloſſenen Kreiſe von Erjchütterungswellen und ihre nicht immer blos dynami⸗ 
ihen Wirkungen, die Ausbrüche von Gas, von heißen Wafferquellen und 
Schlamm. Die Erhebung feueripeiender Berge wird ald die höchſte Kraft⸗ 
äußerung der inneren Erdmächte betrachtet. Es werden fo Die Gentrals und 
Reihen⸗Vulkane gejchildert, wie fle nicht blos zerftören, ſondern Stoffartiges 
erzeugen und unter unjeren Augen, meift periodiſch, fortfahren, Gebirgsarten 
(Gruptiondgeftein) zu bilden; es wird gezeigt, wie im Kontraft mit dieſer Bil« 
tung Scedimenigelteine fich ebenfalls noch aus Flüſſigkeiten niederjchlagen, in 
denen ihre Eleinften Theile aufgelöft oder Ichwebend enthalten waren. Eine 
ſolche Vergleichung des Werdenden, fich als Feſtes Geſtaltenden mit dem längft 
als Schichten der Erdrinde Erſtarrten leitet den Verfaſſer auf die Unterſcheidung 
geognoſtiſcher Epochen, auf eine ſichere Beſtimmung der Zeitfolge Dex Formatio⸗ 
nen, welche die untergegangenen Geſchlechter der Thiere und Pflanzen, die 
Fauna und Flora der Vorwelt, in chronologiſch erkennbaren Lebensreihen um⸗ 
hüllen. Entſtehung, Umwandlung und Hebung der Erdſchichten bedingen 
epochenweiſe wechſelnd alle Beſonderheiten der Naturgeſtaltung der Erdober⸗ 
fläche; ſie bedingen die räumliche Vertheilung des Feſten und Fluͤſſigen, die Aus⸗ 
dehnung und Gliederung der Kontinentalmaſſen in horizontaler und vertikaler 
Richtung. Don dieſen Verhaͤltniſſen hängen ab die thermiſchen Zuſtaͤnde ber 
Meeresſtröme, die meteorologiſchen Prozeſſe in der luftförmigen Umhüllung des 
Erdkörpers, die typiſche und geographiſche Verbreitung der Organismen. Die 


156 Kultur, 


Aneinanderreifung der tellurijchen Erfcheinungen , wie fle das im erften Bande 
enthaltene allgemeine Raturgemälde barbietet, genügt um zu beweifen, daß 
durch die bloße Zufammenftellung großer und verwickelt feheinender Refultate 
der Beobachtung die Einfiht in ihrem Kaufalzufammenbang gefür« 
dert wird. 

Der zweite Theil des „Kosmos“ ift dem Reflexe der Außeren Ratur auf 
da8 Innere des Menfchen gewidmet. Im diefem Theile find freilich die Grenzen 
der Darftellung enger gezogen, als in dem allgemeinen Raturgemälde; doch liegt 
e3 in der Natur des behandelten Gegenftanded, Daß er dem allgemeinen Ver⸗ 
ftändniffe zugänglicher if. Nur wenigen iſt es gegeben, felbft an der Hand 
eines Humboldt zu der idealen Höhe einer wiflenfchaftlichen Natur- und Welt 
anfchauung fich zu erheben; aber jeder gebildete Leſer verficht einen Autor, ber 
ihm zeigt, wie „die Menfchheit in ſich den Stoff verarbeitet, welchen die Sinne 
ihr darbieten. Die Erzeugniffe einer folchen Geiftedarbeit gehören ebenfo we⸗ 
fentlich zum Bereich des Kosmos als die Erfcheinungen, die ſich im Inneren 
abfpiegeln. Der Verfaſſer verführt eklektiſch, d. h. er begnügt fich bei den Ges 
genftänden zu verweilen, welche ber Richtung feiner Stutien näher lagen. Er 
zeigt zuvörderſt, wie fich in den verjchiedenen Menfchenragen und auf verfchiedes 
nen Stufen der Bildung bald eine heitere, bald eine trübe Stimmung des Ges 
müths, bald zarte Erregbarkeit und bald dumpfe Unempfindlichkeit für Das 
Raturfchöne kundgibt; wie der Sinn der Menjchen zunächft auf die Heiligung von 
Raturkräften und gewiſſen Oegenftinden der Körperwelt geleitet wird, und wie 
er fpäter religiöfen Anregungen höherer, rein geiftiger Art folgte. Er erörtert 
fotann die Bragnıente dichteriicher Raturbefchreibung und fchildert den Zauber 
ter Landſchaftsmalerei, welche ihm eine Nichtung auf größere Naturwahrheit ver« 
dankt. Gr beipricht endlich ausführlich die Gefchichte der phyſiſchen 
Weltanfhauung, weilt an ihr die im Laufe von zwei Jahrtaufenden ftufen- 
weije fortfihreitende Entwidelung der Erfenntnip des Weltganzen, die Einheit 
in den Erjcheinungen nach, und bier wieder ift ed dad Zeitalter der großen Ent« 
dectungen, bei welchem er mit bejonderer Vorliebe verweilt. Auf diefe wunder- 
bare Epoche folgt unmittelbar die Eroberung eined beträchtlichen Theiles ter 
Himmeldräume durch Das Fernrohr, von welcher Die neueſte Aera der phyſiſchen 
MWeltanfchauung datirt. Die Arbeiten in der Gedankenwelt geben von ta an 
ununterbrochen und fich gegenfeitig unterftügend fort; Feiner der früheren Keime 
wird erſtickt, und es nehmen gleiczeitig Die Fülle des zu verarbeitenden Mate 
rials, die Strenge und Zwedmäßigfeit der Methode und die Vervollfommnung 
der Werkzeuge in allen Wiffenfchaften zu. Dies zu erweijen, werden die Leis 
ftungen eines Kepler, Galilei, Baron, von Tycho, Descartes, Newton ıc. kurz 
erörtert. 

Die Unterſuchungen, Entdefungen und Erfindungen neuer Inſtru⸗ 
mente (3. B. ber Voltaiichen Säule und aller bis jet bekannten Erfcheinungen 
des Elektro⸗Magnetismus) ziehen fich bis in die neuefte Zeit hinein, und rufen 
beſonders das Beftreben hervor, den Blick nicht blos auf das Errungene zu 
bejchränfen, fontern auch das früher Berührte nad) Maaß und Gewicht fireng 


Sumboldt und die Ratnrwiffenfchaften. 157 


zu prüfen, das blos Gefchloffene von dem Gewiſſen zu trennen und alle Theile 
des Wiſſens einer fireng prüfenden Methode zu unterwerfen. 


In den erften beiden Bänden des Kosmos ift jomit. das Naturgemälbe in 
feinem objektiven Beftande, wie in feiner fubjektiven Rüdwirfung entworfen. 
Zur Erläuterung defielben werden in dem dritten Bande die Ergebniffe der 
Beobachtung mitgetheilt, auf welchen der jegige Zuftand der Wiffenfchaft beruht. 
Der Verfaffer Tegt dabei einen ganz befonderen Werth auf die genaue Angabe 
ber Zahlenverhältniſſe des Maaßes wie der Bewegung, da nur auß ihnen die 
höhere Geleglichkeit der Erjcheinungen erwiefen werden fann. Der uranolos 
giſche Theil der phyſiſchen Weltbefchreibung wird auf diefe Weile ausführlich 
behandelt und mit vielen Nachträgen vermehrt. Don der Betrachtung des 
Weltraumes, feiner Temperatur, dem Maaße feiner Durchfichtigkeit, und dem 
Widerſtand leiftenden Medium, welches ihn erfüllt, geht der Verfaffer über auf 
das natürliche und teleöfopifche Schen, die Grenzen der Sichtbarkeit, die Ges 
ſchwindigkeit des Lichts nach Verfchiedenbeit feiner Quellen, die unvollkommene 
Meffung der RichteIntenfltät, die neuen optifchen Mittel, direktes und reflefs 
tirtes Licht von einander zu unterjcheiden. Dann folgen: die Betrachtung des 
Firfternhimmeld; die numeriſche Angabe der an ihm jelbftleuchtenden Sonnen, 
foweit ihre Poſition beftimmt ift; ihre wahrfcheinliche Vertheilung; Die veräns 
derlichen Sterne, welche in wohlgemeffenen Perioden wiederfehren; Die eigene 
Bewegung der Birfterne; die Annahme dunkler Weltförper und ihr Einfluß 
auf Bewegung in Doppelfternen ; zuleßt Die Nebelflede, infoweit dieje nicht ferne 
und fehr dichte Sternenfchwärme ſind. Sodann von dem Univerfellen zu dem 
Pefonderen fich wendend, betrachtet er unfer Eonnenfuftem, in welchem Dunfle 
MWeltförper um einen felbftleuchtenden, oder vielmehr ganz wie bei dem Syſtem 
leuchtender Doppelfterne, um einen gemeinfchaftlichen Schwerpunft Freifen, und 
ſchildert die einzelnen fehr verfchiedenartigen Glieder beffelben, die aus den 
Hauptplaneten, von denen cin Theil eine Gruppe bildet, deren Bahnen einander 
turchfchneiden, den Nebenplaneten, einer ungezählten Schaar von Kometen, dem 
Ringe des Thierfreislichte8 und mit vieler Wahrfcheinlickeit den periodifchen 
Meteorafteroiden beſtehen. 


Der vierte Band ift gleichfall8, wie der dritte, nur als eine Erweiterung 
und jorgfältigere Ausführung des allgemeinen Raturgemälded zu be= 
trachten ; und wie von beiten Ephären des Kosmos die uranologifche oder 
fiderifche ausfchließlidy in Tem dritten, fo ift die telluriiche Sphäre in 
dem vierten Bande behandelt. Sie zerfällt in zwei Abthellungen, in das un« 
organifche und organische Gebiet. Das erftere umfaßt: Größe, Geftalt 
und Dichtigfeit des Erbförpers; innere Wärme ; elektro-magnetifche Thaͤtigkeit; 
mineralijcbe Konftitution der Erdrinde; Meaftion des Inneren des Planeten 
gegen jeine Oberfläche, dynamiſch wirfend durch Erfchütterung, chemifch wirkend 
durch fteinbildende und fleinumändernde Prozeſſe; theilweile Bedeckung der 
Oberfläche durch Tropfbar-Flüffiged, das Meer; Umrig und Gliederung ber 
gehobenen Feſte (Kontinent und Infeln); die allgemeine, Außerfte, gasförmige 


158 Kultur. 


Umhüllung (den Luftkreis). Die Darſtellung bricht jedoch mit den vulkani⸗ 
fchen Wirkungen ab, und e8 bleiben fomit die plutoniichen und die aus vor⸗ 
weltlichen Meere niedergejchlagenen Sedimentbildungen, wie das ganze Gebict 
des organifchen Lebens, d. h. bie räumlichen Beziehungen der einzelnen 
Lebendformen zu den fejten und flüſſigen Theilen ber Erdoberfläche, die Geo« 
graphie der Pflanzen und Thiere, die Abftufungen der fpecififch einigen Menfch« 
Heit nach Racen und Stämmen, dem fünften Bande vorbehalten. | 


Durch das ganze Werk zieht ich, parallel mit dem Haupttert, eine Reihe 
von Anmerkungen und Erläuterungen, welche nicht blo8 beweifen, mit welcher 
umfaſſenden Gelehrſamkeit und aus welcher großen Maffe von Material Hums 
bofdt immer gerate das Paſſende und Zweckmaͤßige gewählt hat, jondern auch 
vielfache Anregung zu weiteren Forſchungen geben, 


Der „Kosmos“, das literariiche Teftament, welched der große Mann ung 
zurückließ, wird für alle Zeiten einen Markitein in der Gejchichte der Willen 
ichaft bilden. Denn er hat darin Die ganze Summe der räumlichen Erfenntniß 
der modernen Kulturcölfer zugleich mit ten eigenen Forſchungen und den Er⸗ 
gebniffen einer reichen und langen Thätigkeit gleichjam ald ein Bild ſeines 
geiftigen Lebens niedergelegt. Wenn nach ihm das Beſtreben und die Aufgabe 
der jegigen Zeit, da Durch großartige Laͤnderentdeckungen ber Geſichtskreis des 
tellurifchen Wiffend nicht mehr bedeutend erweitert werden kann, Dauptjüchlich 
darin beſteht, das ſchon Erforſchte forgfältig zu prüfen, vergleichend zufammens 
zujtellen, das Allgemeine in den Ericyeinungen aufzujuchen und den inneren 
Zuſammenhang aller Kräfte und Wirkungen nachzuweiſen; jo hat ſich Hum⸗ 
boldt, wie wohl kein Anderer, dieſem Ziele genäbert, indem er ſowohl felbjt 
Durch feine denkende Auffaffung die Rejultate vieler einzelnen Dieeiplinen zu 
einer wilfenichaftlichen Anſchauung verschmolzen, und dieſe Höhere Anſicht der 
Naturerjcheinungen einem großen, früber von Liefer Weltortnung wenig ahnen 
den Theile der Menjchheit aufgeichloffen hat, als auch indem er durch Anre⸗ 
gungen, welche wegen ſeines wilfenjchaftlichen und literariſchen Einfluſſes 
überall erfolgreich waren, ähnliche Beitrebungen in den gelehrten Kreifen ge« 
wert hat. Keiner aber war durch feine geiftige Richtung, Durch jeine ideale 
Borbildung, durch Die Univerfalität feiner Studien fo befähigt als Humboftt, 
in das Verftändnig, in den Zuſammenhang jener entjcheitenden Phänomene 
einzudringen und jo das Stückwerk, das Die vereinzelten Borfchungen Tieferten, 
zu einem geiftdurchdrungenen Ganzen zu vereinen, Keiner ift fo mit den Na⸗ 
turwiſſenſchaften aufe und herangewachien, thätig auf allen ihren Gebieten, ftets 
den großen Kosmos vor Augen habend, ein Verbündeter, ein Helfer allen her⸗ 
sorragenden Forſchern, aller ihrer Unterfuchungen und Reſultate, flebzig Jahre 
lang mit bewunderungswürdiger geiftiger Energie wirkſam in jeder Michtung, 
und die Ergebniffe aller Borichungen Hinwendend auf Die Förderung Der allgea 
meinen Rultur der Menjchheit. Tenn auch darin hat er ed Allen vorgethan, 
daß er die Naturwijjenichaften mit dem Geſammtleben, mit 
der Geſchichte und Kulturder Menſchheit zu verfnüpfen wußte, 


Humboldt und die Naturwiſſenſchaften. 159 


daß er die Erforfchung der Natur nicht blos für die materiellen Verhältniffe, 
fontern auch für das geiftige Leben des Volks gewinnbringend machte. Co ift 
er nicht allein ein Schöpfer neuer Wiffenfchaften, er ift ein Förderer ter Kul⸗ 
tur, ein Lehrerder Menjchheit geworden. Wie jeine großen Zeitzenoffen 
tie Schiller, die Goethe, die Wolf, hat er mächtig dazu beigetragen, fein 
Volk auf jene höhere Stufe geiftiger und flttlicher Bildung zu erheben, die den 
Ausgangspunkt für unfere nationale Wiedergeburt bildet, Das ift Die Seite 
jeiner fegendreichen Wirffamfeit, wodurch er auch denen theuer geworden, bie 
nichtd wiffen von feinen Verdienften um die Raturwiffenfchaften, ihren Ausbau 
md ihre Vereinigung zu gemeinfanen Zielen. 


Die deutfchen Perfonennamen. 


Bon 
- Dr. Weinhold Bedftein. 


Derfonenname, Familienname. Pörftemanns altdentſches Ramenbuch. 
Beiſpiele alter Namen. Die Perſonennamen als Geheimnifle der 
Sprade. Einfache Namen. Zuſammengeſetzte Namen. Misverſtan⸗ 
dene Ramen. Unorganifche Bildungen, Entlehnuugen, Entſtellungen. 


Unier der großen Anzahl der Sprachgeheimniſſe in unſerer deutſchen Sprache 
bilden die Berfonennamen eine geſonderte Oruppe. Die Namen, deren 
Inhalt und Bedeutung in unferem Alterthume allgemein fühlbar war, find faft 
alle im Kaufe der Zeiten zu bloßen Klang und Schall Herabgeiunfen, an wels 
hen wir und gewöhnen und welcher faft nur dazu dient, und von einander zu 
unterfcheiten. Und diejenigen Ramen, welche eine beftimmte Vedeutung zu 
haben fcheinen, mit welchen wir einen gewiffen Sinn verbinden , werden zumelft 
mißverftanden,, weil ihre Geſtalt nach und nach verändert und verderbt wurde, 
Gewiß verdienen dieſe Sprachgeheimniſſe auch eine gejonderte Betrachtung: 
denn ber Rame bat trotz feiner Bedeutungsloſigkeit in Tprachlicher Beziehung 
Immer für den Menjchen den höchften Werth. Nichts können wir mehr unfer 
eigen nennen als gerade unjeren Namen; wir bejigen ihn von zarter Jugend bis 
an unfer Ende und nach Ben Tode Tebt unſer Gedächtniß in unierem Namen 
fort. Wir verbinden mit ten Ramen Tas Bild einer ganzen Perjönlichkelt. 
Die Namen, welche wir zu betrachten haben, waren in früherer Zeit bedeu⸗ 
tungkvoller ald Heute, weil fle für jich allein zur Bezeichnung der Perſon hin⸗ 
reichten. In unieren Tagen nennen wir fie TAufnamen, weil fle ung in ber 
Taufe gegeben werten, während wir den Bamiliennamen gleich auf die Welt 
mitbringen, und Vornamen, weil der Kamilienname nacharfegt zu werben 
pflegt, und fo nennen wir den Familiennamen auch manchmal Zunanıen. 
In der That iſt der Familienname au ein Zuname, denn er bildete fidh erfi 
fpäter; in unferem Alterthume gab es nur, Berfonennamen. Wie befannt führt 
ber Atel feine Ramen von beftimnten Dertlichfeiten, von feinen Beilgungen, 
von Burgen, Echlöffern und Dörfern. Nur fo hat das Woͤrtchen „von“ einen 
wirflihen Sinn und eine wirfliche Bedeutung, Adel und Grundbeſitz waren 


Die deutſcher Perſonennamen. 461 


unzertrennlich. Erſt nach und nach enwickelte ſich in dem Abel rin nomiueller 
Stand, und Das Wörtdhen „von’ wurbe zum Zitel, der fich jegt auf die ſprach⸗ 
widrigfte Art an jedes beliebige Wort, das ein Familienname ift, anhrften kann. 
Die bürgerlichen Bamiliennamen bildeten ſich erft. dann, als ber Bürgerfland 
als ſolcher gefchichtlich wichtig wurbe. CA Liegt in der Ratur der Sache, dab 
die bürgerlichen Ramen por den gewerflichen Befchäftigungen oder. von ben 
Acmtern herrühren, wie Schneider, Schufter, Müller, Schmidt ober 
Schulze, Schultheiß, Käftner, Kellner und Keller, Bogt u.a. 
In der Zeit; zu welcher ſich dieſe Familiennamen der Bürger bilden, Tann bei 
jolchen Benennungen gezweifelt werden, ob fie den Ramen oder dad Handwerk 
und dad Amt ausdrüden follen. Wenn in einer Urkunde Res dreisehnten Jahr⸗ 
bundertö ein Heinrich der Bogt vorkommt, fo wirb nicht ohne Weiteres 
entichieden werden Eönnen: iſt dieſer Heinrich ein Vogt nder heißt er Vogt. 
Eine Menge bürgerlicher Namen gibt es freilich, deren Bedeutung nicht jo Flar 
ift, wie bei den genannten. Es ift befannt, daß nicht blos Gewerk und Apit zur 
Namengebung dienten, jondern auch Gegenflände aus der Natur, Orte und 
Wohnungen. Vielfach wurden auch die urfprünglichen Namen in fpäterer Zeit 
zu Familiennamen benugt unb fo gefchieht e8 öfters, daß wir außer Gehrauch 
gekommenen Taufnamen noch als Zunamen begeguen; So wird der Name 
Dagen fchwerlich einem Knaben mehr in der Taufe gegeben werden, bagegen 
it er noch ein häufig vorfommender Bamilienname. Ebenſo waren unter un⸗ 
zäbligen anderen die Ramen Burfhard, Hartmann, Heerdegen, Hilde 
brand, Stillfried, Wiegand und Weigand chemald Taufnamen. 


Der Berfonenname hat heutigen Tages für das weibliche Geſchlecht noch 
tie meifte Bedeutung und den größten Werth. Für den Mann als Haupt der 
Familie wird immer der Familienname am wichtlaften fein. Schon die Knaben 
pflegen fit unter einander mehr mit dem Familiennamen zu nennen und zu rufen 
als mit dem Vornamen, umgefehrt die Mädchen. Bei bekannten und felbft be» 
freundeten Männern gilt die gegemfeitige Anwendung des Taufnamens als eine 
ganz befondere Zuneigung und Vertraulichkeit. Die Jungfrau ändert ihren 
Samiliennamen , ſobald ſie in die Ehe ti, ihren Taufnamen aber bebäft fe 
unveränderlich fort. 


Unter den jet noch gebräuchlichen Perfonennamen findet fich eine bedeu⸗ 
tende Anzahl, welche nicht von deutfchem Stamme ift. Sehr viele wurden durch 
das Chriſtenthum zu und gebracht und find aus der Bibel genommen, anbere 
find römijchen und griechifchen Urfprungs, andere flammen aus Sranfreich, ja 
auch flavifche und orientalifche Ramen find vertreten. Immerhin ift die Zahl 
der wirklich beutichen Namen eine beträchtliche; doch find diefe meift männliche, _ 
ton Brauennamen dagegen gibt es nur eine ganz geringe Anzahl deutfcher. 
Und alle unfere deutfchen Namen zufammengenommen verſchwinden faft gegen 
den gewaltigen Reichthum, welchen Die deutſche Vorzeit bejefien. Ein fehr ver» 
dienſtvoller Gelehrter, Ernft Förſtemann, bat fämmtliche deutfche Namen, 
Lie in gejchichtlichen und Titerarifchen Denkmalen unferes Alterthums ſich vor⸗ 


v. 11 


162 2. Errachwifſenſchaſft. 


finden, in einen deutſchen NRamenbuche gefammelt.*) Der zweite Theil 
des Werkes enthält: die Ortönanten. Wine derartige Bufammenftellung - war 
tim fo nothwendiger, als in den gewöhnlichen Wörterbüchern bie Ramen unbe- 
ruͤckſichtigt zu bleiben pflegen. Es iſt nöthig, näher auf das wichtige Werk ein- 
zugeben :und einzelne Beiſpiele anzuführen, welche darthun follen, wie reich 
unfere DBorfahren'::an- heimischen, kraftig und wohltlingenden Berionen« 
namen wären. 

Die nächſte Veranlaffung zu einem Namenbuche gab eine im Jahre 1846 
von der Alademie der Wiſſenſchaften zu Berlin geſtellte Preisaufgabe, welche fo 
gefaßt war: „Unſer Volk zeichnet fi) aus durch einen Reichthum von Eigen» 
namen, 'der für die Gefchichte der Sprache von größtem Belang, aber in den 
Denkmälern allenthalben verfizent if: Zu einer genauen und vollflindigen 
Sammlung derſelben, Die gegenwärtig‘ an der Beit zu fein ſcheint, öffentliche 
Anregung zu geben, hat. die Akademie einen Preis dafür audzufegen bejchlofien. 
Die Sammlung foll fi} von der älteften Zeit bis zum Jahre 1100, aber nur 
auf gothiſche (zugleich vandalifche), Iongobardifche, fraͤnkiſche, thüringifche , alas 
mannifche, burgumbifche, bairiſche, altfächfifche und frieſiſche Namen erftreden, 
mit Audſchluß der angeljächflichen imb altnorbifchen. Deutung der Eigen⸗ 
namen, "wie fle exit allmälich aus dem Studium des fämmtlichen Vorraths 
gründlicy hervorgehen kann, wird zwar nicht zur Bedingung gemacht, wo fie 
aber jegt ſchon mit Befonnenheit und: mit gebrängter Kürze vorgenommen wer⸗ 
ten kann, als willfonnnene und eimpfehlende Zugabe betrachtet werden.” Der 
Termin dir Einreichnag war auf den 1. März 1849 feſtgeſetzt. Förſtemann 
war ber einzige, ber fich bewarb. . Tropden er fich von.früher Jugend an für 
daB. Studium der Eigennamen in der von der Akademie angebenteten Weiſe in- 
terejjirt und viel Material zujammengebracht. hatte, war er im Verhältnig zur 
Größe und Schwierigkeit der Aufgabe doch nur, im Stande, einen Entwurf ein- 
zureichen, wie ex auch felbft auf. dem Titel angab und dadurch. befcheiden von 
vornherein auf Die Zuerfeunung bed. vollen Preiſes nerzichtete. . Zu. feiner nicht 
geringen Ueberraichung und Breude**) wurde ihn aber in Anbetracht Der 
Schwierigkeit des Begenflandes und in Nüdficht auf die ungünſtigen Zeitver⸗ 
hältniſſe doch der Geldeswerth des Preifes zuerkannt, ‚zugleich. als Aufmuntes 
rung zu weiterem ortarbeiten. Und io entftand Das jegt vorliegende altdeutjche 
Ramenbuch, eines ber bedeutendften Werke, welches in der deutſchen Philologie 
in jüngfter Zeit zü Tage gefoͤrdert wurde. — Der Verfaffer ſchloß fich in aͤußer⸗ 
licher Beziehung an Graffs althochdeutſchen Eprachſchatz in, da ih die That 
fein Werk eine nothwendige Ergänzung zu Diejem Wörterbuche bildet. Die 
Kamen find alphabetifch geordnet und zwar nach Stämmen, fo daß alſo die 
Ordnung nicht ſtreng alphabetiſch iſt. Die meiſten Namen ſind zuſammengeſetzte, 





—— | | — ——— 


*) Altdeutsches Namenbuch son Dr. Ernst Förstemann. gräfl. stolberg. bibliothe- 
kar und lehrer am Iyceum : zu.-Wernigerode. Erster Band. Personennamen. Nord- 
bausen 1856, 4. 1400 Spalten. 

*) S. die Vorrede ©. IV. 


Die dentſchen Perfonggpamen, | 168 


bei der Ordnung mußte der erfte Theil des Ramens maßgebend fein, doch hat 
Förftemann im Anfange jedes Artikels alle Namen alphabetifch zufanımengeftellt, 
in welchem ber betreffende Wortflamm ben zweiten Theil des Namend bildet. 
So find beim Stamme hildi, mit welchem eine große Anzahl Namen beginnen, 
eine bei weitem größere angeführt. von folcyen, welche hild, hilda, hildis an 
zweiter Stelle haben. Jeder diefer Namen findet ſich genauer behandelt an an⸗ 
derer Stelle nochmal& verzeichnet. Am Schluffe jedes Artikels find auch die 
neubochdeutfchen Formen berückſichtigt, wie fle fich meift in jegigen Familien⸗ 
namen vorfinden. Daß manchmal ein Rame, defien Eiymologie.nicht ficher ift, 
auf gut Glück einem Stamme untergeordnet wurde, dem er, wie fich vielleicht 
durch jpätere Forſchungen ergeben wird, eigentlich nicht zugehört, ließ ſich bei 
einem derartigen Werke nicht vermeiden, Jeder Name kann mit Hülfe des 
ſtreng alphabetifchen Regiſters leicht gefunden. werben. Der benugten Quellen 
find es jehr viele, das Hauptwerk waren die Monumenta Germaniae. 

Viele Ramen, die heutigen Tages nicht mehr im Gebrauche find, kennen 
wir aus der Geſchichte und aus der Literatur, z. B. Alarich, Hengiſt, 
Horja, Hagen, Dankwart, Amalaſuntha, Bru nhild, Chriem— 
bild, Gudrun, andere mögen ben meiften völlig unbekannt fein. 

Bon ben im Ramenbuche zuerft angefegten Stämmen ab, ebar, act, adra, 
af, ag, agil, agin, agir, agis, ala, alach, ald, alf haben wir Feine Bildungen 
mehr; der erfte noch heute gebräuchliche Name, der und begegnet, ift Alfred 
unter dem Stanıme ali und in den Kormen Alifred, Alefrid, Elifred. Andere 
mit ali zufammengefegte Ramen find 3. 8. Aliperht, Aliprand, Aligar, Alimer 
und bie weiblichen Namen Alitrud, Eligard, Aligund, Alihilt. — Mandje 
Stämme find nur wenig zu Namenbildungen denugt worden, andere Dagegen 
finden ſich in überrafchend großer Anzahl. Um ſich ein Bild von dem Meich- 
thume der beutfchen Ramen machen zu können, fcheint e8 nöthig, von den ain 
haͤufigſten vorkommenden Zufammenfegungen einzelne Beiſpiele anzuführen, da ja 
dad Werk Förſtemanns nur wenigen zu Geflchte Eonımen wird. Zuerſt ift es 
der Stamm beraht, der überaus Häufig vorfommt. Wir haben das einfache 
Wort noch in Bertha, und in der’ Bufammenfegung findet es fich in Adel 
bert, Albrecht, Albert, Hubert und ſtobert, auch in Berthold und 
Bertram. Die Ramen Adelbert, Albrecht. und Albert find im Grunde nur 
Rebenformen,. doch auch als ſelbſtſtaͤndige Worte angenommen, hätten wir jenen 
Stamm in. der Zufammenfegung nur flebenmal vertreten. Körflemann ver» 
zeichnet, einzelne Rebenformen mitgerechnet, 88.Ramen, die mit bert, beraht 
beginnen und gegen 300, in denen der Stamm ben zweiten Theil der Zuſam⸗ 
menfegung ausmacht.*) Als Beiſpiel den: erſten Klaffe ſeien angeführt: 

Perhto (ältefte Form) unter anderen in.Perht, Praht, . Perat; c8 ift der 
männliche Rame zu Bertha, Berhta, Berakta;. und findet fich in den neuhoch⸗ 
deutfchen Bamiliennamen Becht, Bert, werd, mas Brecht. Berner bie 
männlichen Namen: 

— —— 
*),a.a.D. Sp. 2335-254, 
11* 


164 N Odrachwiſſenſchaft. u 


Perhil.  : Bertegng.e °  Perahtland. 
Bertelin.  _ Perahtgar. Berahtmund. 
Bertin. - Bertigisil. Berhtrad (au) fem.) 
Bertening.  Berhthard. Berahtrich, 
Perahtfrid. Berchtheim, Perahtolf. 
und die Frauennanen u 
"Berlinga. Bertegildis. Beretrun. 
Bertedrudis. Perhthaid. Berahtswind. 
‚Berhtflat. Perahthilt. Bertovara. 
Bertfrida. .Bertramna., Bertoina. 
Berahigart. Bereihinda. Bertenildis. 


Von den wie Adelbert, Albrecht gebildeten Namen moͤgen folgende 
als Beiſpiele dienen (die Frauennamen ſind leicht zu erkennen): 


Amalberaht. Gamalbert. Nodpert. 
Amalberta. Hamalberta. Odalpert. 
Adalberta. Hainberi. Ragamberta. 
Baldibreht. Ingobert. Sigisbert. 
Chunibert. Knabert. Theudebert. 
Dagaperht. Liutberta. Undahret. 
Erlaprahıt. Landalbert. Wigberht. 
Frodobert. Madalberta. Winiberta. 


. . Im biefer Weife follen die am häufigften vorfommenden Bildungen durch 
Beifpiele anfchaulich gemacht werben. 
Der Stamm birg, in neuerer Zeit gar nicht. mehr vorfommend, ift felten 
im Anfange des Wortes, häufig Dagegen an zweiter Stelle und vorzugemelfe ie in 
Frauennamen: 


Agelberga. Heripirc. Swanebergh. 
Adalberga, Ingoberga. Theutbire. 
Amalabirga. Odalpirc. Teudelberga. 
Gisilberga. . Radaberga.  Wandalberga. 


Ihm reiht fi an der Stamm burg, der ausſchließlich, wenn er ben zwei» 
ten Theil bilder, zu Srauennamen verwendet wird. Ebenfalls felten ift er im 
Anfange. Wir befigen noch den Ramen Burkhard, der jedoch nur aus⸗ 
nahmöweife als Taufname gewählt wird. Solche Bildungen find: Burichine, 
Burgast, Burgilind, Burgarad, Burgwart, Burgolf. Frauennamen auf burg 
(burgis, lat. $orm) find zum Beifpiele: 


Awalburgis. Helmburg. Warburg. 
:Gerburg. Irminburg. Wigburg. 
Grimburg. Ortburg.. Wolfburga. 


"Stamm frith, frid, einfach im heutigen Srauennamen Frida und in ber 
Diminuttvform Fridolin noch erhalten, in der Zuſammenſetzung hauptfächlich 
in Griedrich, ferner in Gottfried, vielleicht auch in Alfred. Im Alt⸗ 
deutichen gab e8 eine große Anzahl mit frid gebildete Eigennamen: 


Die deutſchen Perſenczmamen. 165 


1. Fridubern. 
Fridubert. 
Frithigern. *) 
Fridegundis. 

1]. Amalfrid. 
Amalfrida. 
Baltfrida. 
Erinfrid. . 


Friduhelm. 


Fridehilt. 
Fridulind. 
Fridumar. 
Guntfrid. 

Helmfrid. 
Irminfrid. 
Landfrid. 


Fridurat. 
Fredesindis. 
Frithawar. 
Frithuward. 
Muotfrid. 
Nordirid. 
Odlalfrid. 
Winifrid. 


Stamm gar, ger: Im Reubhochdeutfchen noch in Gertrud, Gerhard, 
und rein erhalten z. B. in Edgar, Ottofaz, den Familiennamen Gerbert, 
Germar, in anderen Bamiliennamen verdunfelt wie in Göhring. Bekannt 
find aus der Literaturgefchichte die Namen Kero (fonft Gero) und Notker, 
aus dem Nibelungenliede Gernot, Rüdiger und. Volker, aus ber neueſten 
Iageögefchichte der Rame Baribaldt, ber mit italienifcher Endung verſehen 


wurde. Garibald hießen im 9.— 


I. Garibert. 
Gerbrand. 
Gerburg. 
Gerfrid. 

ll. Adregar. 
Alsker. 
Adalgar. 
Hildigar. 


Gerland. 
Garlint, 
Garimar.. 
Radiger. 
Rimiger, 

. Selbger. 
Stradegar. 


— 10. Jahrhundert mehrere Bifchöfe. 
. Gerhelm. 


Gerswind. 
Gerwin. 
Gervisa; 
Garulf. 
Theutegar. 
Wanegar. 


. Williger. 


Wolfgar. 


Stamm hard, heute noch in Hartmann (felten noch in Vornamen), im 
Samiliennamen Hartung; Häufig if Bernhard und Richard, feltener 
fhon Gotthard, Leonhard und Reinhard; Eberhard wirb Faum. 
mehr ald Taufname gewählt werben. 


1. Hartbald. 
Hartfrid. 
Hartgar. 
Hartigast. 

ll. Adalharl. 
Bernarda. 
Brunbard. 
Fridahard, 


Hartigildis. 
Hartmar. - 


. Hardarat. . 


Harderich, « 
Gisalhard. 
Helmhard, 
Irminhard. 
Linthart. 


Harduwieh. 


Hardwin. 


Hartvinc. 
Hardulf. 
Suanehard. 
Walhard. 
Werinhard, 


;Vulfhard. | 


Schließlich fei des Stammes heim gedacht, den wir nur · noch in Wil⸗ 
beim und Anſelm beſitzen und in dem ſelſenen Helmina. 


I. Helmbalt. 
Helmpreht. 
Helmberga. 
Helmdrud. 


Helmfrid. 
Helmhard. 


Helmerada. . 


Helmirich. 


Helmsinda. 
Helmold. 

Helmward. 
Helmwolf. 


®) Fritbigern zuerft vorfommender Rame mit Frith aus den 4. Ihd., Rame eines 


Gothenfuͤrſten. 


166 „nt Gprwchteifienfähaft,“ > = 


U. Altheim. Madalhelm. Walahelm. 
Adalhelm. Nothelm. Waldhelm. 
Frohelm. Rathelm. Windhelm. 
.Gerhelm. Sigihelm. Wolfhalm. 


Auf die Deutung’ der Ramen ift im Anfange jedes Artikel Rückſicht ges 
nommen, hauptfächlich im Anfchluffe an Grimms Grammatik und Graffe alt« 
hochbeutfchen Sprachſchaz. Bel folchen. Ranıenformen, welche verfchiebenen 
Stänmen zugetheilt werden Eönnen, ift der Sicherheit wegen unbefümmert um 
bie etymologifche Richtigkeit die Form bevorzugt worden vor ber Bebeutimg. 

Das Werk Förftemanns verfolgt ausfchlieglich gelehrte Zwecke; eine eigent⸗ 
liche Betrachtung der PBerfonennamen ift es nicht. Cine folche bietet und bie 
vortreffliche Fleine Schrift des zu früh verflorbenen Otto Abel: „die deutſchen 
Derfonennamen (Berlin 1853)", weldhe warn empfohlen werben faun. Der 
Berfafjer betrachtet bie Ramen von gefchichtlicher und beſonders von kultur⸗ 
gefchichtlicher Seite; aus ihrer Bedeutung fchließt er zurück auf die Denk» und 
Anſchauungsweiſe unferer Vorfahren und vertheidigt die beutichen Namen gegen 
die unfchönen Entflellungen, Die fie zum Theile erfahren, und gegen bie Deutiche 
Unfitte, mit fremden Namen zu prunfen. . In ähnlicher Weife benugte Wein- 
bold in feinem gelehrten und dabei höchſt anziehenden Buche über die deutſchen 
rauen im Mittelalter die fprachliche Seite der Frauennamen zu Schlüffen über 
bie Eulturhiftorifche Bedeutung des weiblichen Geſchlechtes in Zeiten, aus wel« 
chen keine fchriftlichen zufammenhängenden Beugniffe vorhanden find. Ein 
Merk, welches in ähnlicher Weife wie das von Yörftemann fämmtliche Ramen 
aus den verſchiedenen Jahrhunderten, gleichviel ob beutfch oder undeutſch, zu⸗ 
fammenftellte, ift meines Willens noch nicht unternommen. Die Ranıen find 
vielfach der Mode unterworfen, in der More aber: fprechen fich immer die Zeit⸗ 
richtungen aus, und deshalb würde ein derartiges Werk einen wichtigen Beitrag 
zur Kulturgejchichte liefern. 

Die Geſichtspunkte, von welchen aus eine Betrachtung der Perfonennamen 
gefchehen kann, find fomit verfchiedener Art. :Wir haben fie im Anfchluffe an 
ben Aufjag: „die Geheimniſſe der beutfchen Sprache‘ *) nur von ber fprach« 
lichen Seite aud zu betrachten. Und nur folche können: berüdfichtigt werben, 
welche noch heute im Gebrauche find. Richt zu vermeiden ift es freilich, daß 
wir auch auf ältere dahingeſtorbene geführt werden. — Wiederholt muß werben, 
was fchon früher **) bemerkt wurbe, daß der Sprachforſchung, welche die Worte 
zu deuten bat, tie Löjung nicht in allen Fällen gelingt, und bag flch öfter® zwei 
Etymologieen gegenüberfichen. Während Abel ‚und mit ibm Weinhold tie 
Sprache als Mittel anwenden zur Erreichung eines gefchichtlichen Zweckes 
möüffen wir den umgefehrten Weg verfolgend uns bisweilen pefchichtlicher That⸗ 
fachen bedienen, um die dunklen Bedeutungen der Perfonennamen aufzuhellen 
und den Werth dieſes Theiles unſeres Sprachichages vor Augen zu führen. 


*; Bd. IV, Seite 733. 
*“*) Dd. IV,, Seite 734, 


Die dentſchen Perfonefkamen. 467 


Die einfachen Namen, die wir .beute noch anwenden, find Bobo, 
Bruno, Eruft, Hugo, Karl, Kuno, Kunz, Otto, Ubo, Ralf, 
Wolf und bie weiblichen Amalie, Bertha und Brigitta. Emma; 
Frida, Gifela, Hulda, Idaund Ottilie Diele einfachen Namen find 
deshalb beſonders fchön, weil fich in den meiſten derfelben die urjprüngliche 
solle und wohlflingende Endung auf o.und a bewahrt hat, während dieſe in 
anderen Worten fowie auch in den. zufammengefegten Ramen in farblofeß e ge⸗ 
ſchwächt wurde. — Unter den männlidien Namen wird Ernft und unter ben 
weibliben Hulda noch am eheften im Sprachbewußtfein lebendig fein. 

Wahrjcheinlich ift der Rame Ernft und unſer Subflantivum Ernft 
(Strenge, Gewiſſenhaftigkeit) ein und dasſelbe Wort. Die Altefle Korm ift Ar- 
nusti, das mittelalterliche Latein bildete Ernestus.. j 

Bodo ericheint ganz vereinzelt, faft nur:in -adligen Familien ; fchon in 
älteren Büchern wird er durch Gebieter, Herr erflärt.: 

Bruno beißt, da der Vocal immer lang ift, wörtlich „der Braune“, Im 
Gigennamen bat ſich daB alte a erhalten, während das Adjectivum fich ſyſtem⸗ 
gemäß fortbildete.*) Die Bedeutung des Ramens Bruno ift aber nicht Außer» 
lih und förperlich aufzufaflen, da dies dem germaniichen Geiſte zuwider wäre, 
am wenigften darf hier an die Hautfarbe gedacht werden. Dad Abjectivum 
braun, brün, welches heute nur eine Farbe bezeichnet, . hieß in früherer Zeit 
auch glänzend, feurig, und es ift feinem Zweifel unterworfen, daß es mit 
brennen in Verbindung fleht. Eben zu brennen ſtellt fi) das alte brünne, 
hrunna, althochdeutſch brunja, welches den Bruftpanzer bedeutet, der aus (glätte 
senden) Eiſenplatten gefertigt wurde, Somit hätten wir die öfters vorkom⸗ 
mente Verbindung der Namen mit den Waffen, aber auch ohne dicje Verbin⸗ 
dung ift Die Bedeutung von Bruno als der Glänzende, Strahlenbe 
eine jehr fchöne und edle und. darum verdiente der nur felten angeirendete Rame 
häufiger gewählt zu werben, um fo mehr er auch wirklich einen Ichönen Klang 
beflgt. | 

Der Stamm hug, zu welchem Hugo gehört, ſtellt fich ohne Zweifel zu dem. 
althochdeutichen hugu, Geiſt, Verftand, Gedaͤchtniß. Hugo würde alio biefelbe: 
Grundbedeutung haben wie. Mann, das vernunftbegabte Weien**), melche® 
ebenfalls viel zu Perfonennamen: verwendet wurde, heute beſonders noch‘ in 
Hermann. 

Der Rame Karl ift im Grunde baßjelbe Wort. wie: unfer Kerl, welches 
ſich in Form und Bedeutung von dem alten karl getrennt hat, obgleich bie Form 
kerl bie und da auch ſchon früher vorkommt. Die Bedeutung von Karl, charl,. 
it „Mann, Ehemann“. Im Rorbifchen bebeuter das entiprechende caarl der. 
Gemeinfreie", in dem Ramen wird alſo nicht blod ber Begriff des Geſchlecht⸗ 
lichen, fondern audy der ber Freiheit, der freien Stellung enthalten. jein. 

Ob Kuno zu kuoni, küene, kühn zu flellen ift oder zu kunne, ktinne, 


*, Dal. Heiland und heiland IV. Br. Eeite 535 und 736. 
“+, Br. !Y, ©. 7411. 


168 ..@prachwilienfheft. 


chunne, Geſchlecht, kann fraglich fein. Im legteren alle könnte Kuno 
gleiche Bebeutung Haben wie kuning, ktnic, König, d. h. wörtlich der vom Ger 
ſchlecht, vom Abel, 

Der Rame Kunz fcheint auf den erſten Slick rine Diminutivform oder 
beſſer eine ſogenannte Koſeform zu fein, wie Dieg von Dietrih*), Fritz 
von Friedrich, Heinz von Heinrich gebildet find, doch fehlt ed an einem 
entiprechenden Stammnamen; ein Kunrich foheint nicht vorzufommen und von 
Konrad ift die Kojeform Kurt. Mit Hecht wird. baber Kunz einem Stamme 
als ſelbſtſtaͤndiges Wort zugeordnet, ob aber dem Stamme gund (d. 5. Kampf, 
Schlacht, 3.8. in Kunigunde) ober zu dem.bei Kuno erwähnten chun Ge⸗ 
ſchlecht), iſt zweifelhaft. 

Manigfaltig find die Formen unſeres Aamens Ottto, welcher in alter 
Zeit nicht jo häufig iſt als Odo; daneben erſcheinen unter anderen Otho, Hoto, 
Hotho, die älteſte Form iſt audo. Ohne Zweifel hängt der Rame zuſammen 
mit dem angelfächflichen Hauptworte ead, d. h. Beflg, Reichthum, und mit den 
gotbifchen Adjectiven audags, dem angelfächflichen eadag,. bem althochdeutſchen 
otag, d. h. rei. Dtto alfo wäre der Reiche, ber Mächtige. 

Das nur noch felten vorfommende Udo kann eine Rebenform von Otto, 
Ddo fein; eine befriedigende Etymologie‘ ift bis jet noch nicht gefunden. 

Der felten vorkommende Name Ralf fcheint eine Zufammenichung zu 
fein, vielleicht aus Radolf, Rablof oder aus Roolf entftanden. Die Form Ralf 
ift, wie e8 fcheint, bei Börcftemamn nicht verzeichnet, eine Deutung deshalb 
ſchwierig. 

Der einfache Name Wolf wird wie der vorhergehende Ralf zur Zeit in 
adligen Familien häufiger anzutreffen fein als in den bürgerlichen Kreiſen; be⸗ 
liebter ift in biefen die Zufammenfegung Wolfgang. Daß einem Menfchen 
ein Ihiername gegeben wird — denn dies if ja Wolf — darf nicht befremben. 
Unfere Ahnen fanden wie alle Völker in ihrer Kindheit in engerem Verkehre 
mit der Ratur und mit den Thieren des Waldes als das fpätere, durch Kultur 
verfeinerte Geſchlecht. Die Kraft, Schnelligkeit und die Schönheit der Thiere 
mußte ihnen, ‚wenn fle auch im Kampfe mit denfelben ald Sieger herborgingen, 
Bewunderung abnöthigen und fie als Borbild erfcheinen laſſen. Dazu fam, 
Daß einzelne Thiere für Heilig und ale. Lieblinge der Götter galten. So war 
der Storch der Böttin Freia heilig, ber Göttin ber Fruchtbarkeit, welche die 
Mütter und die Säuglinge in ihren befonderen Schug nahm. Sie war auch 
Küterin der Quellen und Brunnen. Daher ber Volköglaube, jekt nur noch 
Kinderglaube vom Story, daß er das Brüderchen und Schweſterchen bringt, 
und von dem Brunnenftübchen,, daß aus ihm bie Heinen Kinder geholt werben. 
— Die Ramen der Angelfachienführer Hengift und HSorſa find Moffedmamen, 
mit Eber gebildete Ramen find Eberhard, Ebernand, Eberwein. 
Auf andere Thiernamen werden wir im Laufe ber Betrachtungen noch geführt 
werden. — 


— 


*, Tösflemann ſtellt Dies unter Teuzo zum Stamme thiuda (d. h. BolN. 


Die dentſchen Perſonennamen. 169 


Unter den Frauennamen wird nur die VBeteutung von Hulda gefühlt 
werden. Unwillkürlich wird man an hold und Huld erinnert. Und in der 
That it Hulda die Holde, die Milde, die Gnädige, die Breundliche, es war 
auch ter Rame der Böttin Freia, der Gemahlin des oberften Gottes Odhin 
oder Wuodan. Wir haben den Ramen noch in der Sage von Sruu Holle. 
Vebrigend verdient bemerkt zu werben, daß der Rame Hulda, wie es auch bei 
einigen anderen der Ball if, in neuerer Zeit erft wieder zu Ehren gelangte, jeite 
dem eine beffere Anficht und eine genauere Kenntnig von unjerem deutfchen 
Alterthume die frühere Mißachtung verdrängt bat. 

Ueber die Bedentung von Bertba wurde ſchon früher *) gefprochen. 
Bertha, „die Glaͤnzende“, ift Hinfichtlich des Begriffs derjelbe Rame wie Klara, 
Auch Bertha, in älterer Form Berhta, Berachta, wird die Göttin Freia ges 
nannt. — Ter Rame Brigitta wirb von.den dorſchern als eine Rebenform 
von Bertha gehalten. 

In Frida haben wir bad einfache Wort, welches i in Sriedrich und Gott⸗ 
fried in der Zujammenjegung erſcheint. Frieda bängı höchſt wahrfcheinlich 
zufammen mit unferem Subſtantivum Friede, jedoch mit anderer Bedeutung; 
{ride bezeichnete ehemals auch Schug und Sicherheit, der Rame Frida wäre 
demgemäß die Schügente, die Beſchützerin, gewiß eine fchöne Bezeichnung 
für eine Frau, unter deren Obhut das Haus und die Familie ſteht. 

Richt fo klar wie bei den erwähnten drei Ramen ift die Eiymologie von 
Bijela und Ottilie. — Einige ftellen Giſela zu dem altdeutfchen gisel, 
unfer Geiſſel (perfönlicher Bürge), doch wird Dadurch Feine recht anfprechende 
Deutung erzielt. Eher ließe e8 fich mit dem altnordifchen gisli vereinen, welches 
Strap! bedeutet; Giſela Hätte demgemäs ben Sinn: die Strahlende, ähn- 
lich wie Bertha. 

Dttilie ſcheint fih an den männlichen Ramen Otto anzufchließen, als⸗ 
dann bedeutete der Name: die Reiche, Maͤchtige. Raͤher liegt es, den Namen, 
der früher auch in den Formen Odala, Odila, Otila, Udila vorfommt, zum 
Stamme othal zu flellen, althochdeutſch vodal mit der Bedeutung „Baterland, 

Heimath“. Ditilie wäre demnach die Geimif he, im erweiterten Begriff die 
Trauliche. 

Drei der einfachen Frauennamen beziehen ia wabricheinlich auf den Fleiß 
und bie Rührigfeit des weiblichen Geſchlechtes. — Amalie fcheint auf der 
erften Blick wegen der Endung auf ia fremden Urſprunges zu fein. Die ältere 
Form heißt gewöhnlich Amala und ift der einfache vom Stamme amal gebildete 
Rame, der ſich in Amalung, Amalberta, Amalgunda u. a. vorfindet. amal iſt 
mit dem norbifchen Torte aml in Verbindung zu bringen, welches „Mühe, Ars 
beit‘‘ bedeutet. Die früher beliebte Deutung: amala, „ohne Mal, ohne Kleden‘‘ 
iſt nicht ſtichhaltig. 

Auch Emma, früher Imma, läßt nicht ohne Weiteres eine Srelärung zu. 
In Hinficht der Form jowohl wie der Bedeutung wird es am beſten mit unferem 


*), Bd. IV. Eeite 747. 


170 Eyprachwiſſenſchaft. 


abch jetzt gebräuchlichen Worte Imme, die Biene, in Zuſammenhang gebracht. 
Die Biene, daB gefchäftige, arbeitiame, nimmer raftende Thier, gleichiam ein 
Symbol des Fleißes, kann zewiß den Menfchen ein Vorbild fein, zumal in jenen 
Zeiten, in welchen fie der Natur und dem Raturleben fo nahe fanden. Wir 
begegneten alfo Hier zuerft einem Ihiernamen unter den Srauennamen. 

Der Rame Ida ft nicht minder zweifelhaft. Es laͤßt ſich an das altnor- 
difche Zeitwort idhja denken, welches ‚arbeiten‘ bedeutet. Ida alfo wäre bie 
Arbeitfame, die Fleißige. — 

Die einftlbigen und darum für einfach geltenden Rofeformen wie Heinz, 
Brig, Diey find in Hinflcht der Bedeutung nicht für fich zu -befprechen. — 

Einzelne zufammengefegte Ramen gelten deshalb ald einfache, weil 
fich die Worttheile nicht mehr untericheiden laſſen, manchmal liegt es auch an der 
Ausiprache. Dahin gehören Günther, Walther, Anfelm, welches felten 
mehr wie Wilhelm mit h in der Mitte gefchrieben und gejprochen wird: An.t« 
helm. Auch werden Hubert und Robert nicht wie Alsbert mit Hoch» 
und Tiefton gefprochen: Hü-bört, Rö-bert, fondern das e in bert wird wie eine 
ſtumme Endungẽſilbe behandelt: Hübert, Robert. 

Noch fei ein einfacher Perſonenname erwähnt, der faft gar nicht nehr an⸗ 
gewendet wird, nämlich Freund. Der Herzog zu Sachſen⸗Meiningen fühet 
ihn gegenwärtig:. Bernhard Erich Freund. Die Bedeutung des Ramens iſt 
alten Elar.. Auch in ber alten Zeit findet er fich ſehr ſelten, in der Bufammen- 
fegung begegnen Friuadhard, Friunthelm. 

Die Stämme der beiprochenen infachen Namen finden wir zum Theile in 

den zufanımengejehten wieder. 

Während die Etymologie von Kuno nicht ganz ficher if, unterliegt die 
von Konrad feinem Zweifel.*) Der Rame hieß früher Kuonrat und müßte, 
wenn bie Fortbildung in fprachlicher und orthograpbifcher Beziehung eine ein« 
beitliche geweien wäre, KRühnrath lauten. Das din rad iſt unorganiſch, 
und e8 darf keineswegs an Rad, rota, gebacht. werben. Die Bedeutung von 
rat ift nicht blos in unferem Sinne „Rath”, consilium, fondern ‚Sorge, Hülfe, 
Unterflügung”. Konrad alfo gleih Kühnhülfe, perfönlich ausgedrückt 
„ver kühne Helfer”. — Mit rad find ferner unter anderen gebildet und zuſam⸗ 
mengefegt folgende noch gebräuchliche Bamiliennamen: Rettig, Reder, Rä- 
ber, Radewald, Radloff, Vollrath; der Iekte kommt auch hie und ba 
noch) als Zaufname vor und iſt eine Entftellung aus Volkrath. — In ber 

Kofeform Kurt bat fich der Bocal, gefichert durch Die Doppelconſonanz, nicht 
a“ o gewandelt. 

. Des Stamm hug findet fih, wenn auch berſtect, in Hubert, deſſen volle 
dor Hugubert Iautet. Dex zweite Theil enthält den Stamm beraht (auch 
in Bertha) und der Rame Hubert wäre etwa durch Geiſtesglanz zu uͤber⸗ 
tragen. 
Den Stamm, zu welchem Otto gehört, finden wir heute in den Zuſam⸗ 


*) Benn auch im altdeutfchen Namenbuche unter den Stamm chun geflellt. 


Die dentfeben Perfonennamen. 171 


menfegungen Otfried, Otmar, Ditofar. Otfried bedeutet der Schu tz⸗ 
mächtige, Otmar, ba'mar der Stamm zum altdeutſchen märi, maere, bes 
rühmt, ifl, den wir in verengerter Bedeutung noch in Märe, Märchen, ha⸗ 
ben, der Machtberühmte. In Ottokar ift der Stamm gar*) mit Ver⸗ 
bärtung ber anlautenden Media in die Tenuis enthalten. Am wahrfcheinlichften 
ift in ihm das alte ger, das germanifche Wurfgeſchoß, zu ſuchen, und Ottokar 
würde der Speermächtige bedeuten. 

Es iſt zweifelhaft, ob die Ramen Eduard (eigentlich Edward zu ſchrei⸗ 
ben), Edwin und Edgar zu Otto ober zu Udo oder zu einem Stamme ed 
gehören. Der zweite Theil von Eduard enthält den Stamm vard, wovon 
unfer warten, „hüten, wachen”. In Edwin gehört der zweite Theil win, 
ber noch in unferen Ramen Alwin, Balduin, eigentlih Baldewin, Er- 
win enthalten ift**), einem verloren gegangenen Stamme an; win hieß Sreund, 
Geliebter, winiscap Freundſchaft. In Edgar der eben erwähnte Stamm gar, 
ger, Wurfipich. ' 

Biele mit Wolf zufammengefegte Nanıen haben wir aufgegeben. Gelaͤufig 
iR und aus der Riteraturgefchichte der Name eines der größten Dichter des 
Mittelalters: Wolfram, welches, da ram Rabe bedeutet, Wolfrabe zu 
überfegen wäre. Ob Adolf hierher zu flellen ift, fcheint fraglich, eher ift es 
dem Stamme athal, adal (edel) unterzuordnen. Der noch beliebte Rame Wolfe 
gang bezeichnet nah Grimms Erklärung in der deutfchen Mythologie (S. 1093) 
einen Helden, dem der Wolf des Sieges vorangeht. 

Die zweifelhafte Etymologie von Kuno und Kunz führt auf Kunt« 
gunde, welched in beiden Theilen die Stammformen deutlich bewahrt hat. 
Kuni gehört zum Stamme chun (Geſchlecht) und gunde zum Stamme gund 
(Kampf), der Rame bedeutet alfo Volkeskampf, die Bolfsfämpferin. 

Mit Hulda in Zufammenhang ftcht der heutige Mannesname H ulbe 
reich, der eine fpätere Bildung zu fein fcheint, 

Den Stamm beraht, der in dem einfachen Bertha enthalten iſt, finden 
wir in dem ſchon gedeuteten Hubert, ferner in Robert, Adelbert, Al⸗ 
bert, Albrecht und in Berthold und Bertram. Ueber Berthold möge 
wegen des zweiten Worttbeiles Hold fpäter geiprochen werden. Die Namen 
Adelbert, Albert, Albrecht, von denen der erfte den erſten Stamm und der dritte‘ 
den zweiten in urfprünglicher Form erhalten bat, beteuten Edelglanz; 
Bertram ift wicder ein Thiername und müßte Glanzrabe übertragen wer⸗ 
den. Der Rame Robert, wahrfcheinlich vom Stamme hrod gebildet, welcher 
auf das norbifche hrödr, Ruhm, führt und welcher auch im Ramen Rudolf 
fowie in dem jet feltenen Rüdiger enthalten iſt, beteutet Ruhmesglanz. 

Die Namen Friedrich, Gottfried find Teicht zu deuten, wenigſtens 
Gottfried, bei welchem unmwillfürlich an Bott und an Friede gedacht wird. 





*, ©. oben Seite 165. 
**) Bekannt id aus der Geichichte, daß der Name tes bi. Benifacus Wins 
fried war (d. 5. der Freundfchug.) 


172 . r &prachwiflenfäaft. 


Die religiöſe Seite der alten Völker fpricht ſich zumeiſt in ihren Namen aus, 
Wir finden den Ramen Gott noch in Gotthard, Bottlieb und im Fami⸗ 
liennamen Gottſchalk. In Fried rich ift unfer Wort reich, ehemals rich, 
enthalten, wie auch in Heinrich, Erich, Dietrich; der lange Vocal wurde 
ſchon in der mittelhochdeutfchen Zeit gekürzt, fo daß fich das i erhielt, ähnlich 
wie in den Adjectiven auf — lich. In ber Baierifch - üfterreichifchen Mundart 
finden wir bie foftemgemäße Fortbildung des Laute: Heinreich, Friedreich. 
rich bedeutet nicht allein in unferem Sinne „reich, begütert”, fondern „‚mäcktig, 
einflußreich, gewaltig”, Friedr ich aljo der Schuggewaltige. Hier mögen 
bie anderen mit rich gebilteten angereiht werden. Heinrich, eigentlich Heim- 
rich, bedeutet dee Heimathbmächtige, Erich, ka &, Ehe, volle Form Ewa, 
urfprünglich Die Bedeutung hat: Zeit, Welt, der Zeitmächtige, vielleicht 
au) Geſetzesmächtige, denn ewa batte auch die Bedeutung „Beleg, Staat, 
Religion *). Dietrich, zufammengefegt mit diet, Voll, der Vol kes maͤch⸗ 
tige. Richard, zufammengejcgt aus rich und hard, bedeutet der Machtharte, 
Machtfeſte. 

Alle zuſammengeſetzten Perſonennamen, die noch heute im Gebrauche ſind, 
zu beſprechen, würde zu weit führen. Es genügt, nur noch bie haupiſaächlichſten 
zu nennen und zu deuten, Die zufammengefegten Srauennamen, deren ed nur 
wenige find, mögen aber ſämmtlich erwähnt werben, 

Nur zwei der noch üblichen zufammengefepten Brauennamen beziehen fich 
auf Wein und Eigenfchaften des weiblichen Geſchlechtes, nämlich Adelinde 
und Adelheid. Daß ber erfte Theil in beiden Ramen mit unferen noch jetzt 
gebräuchlichen Worten edel und Adel zufammenhängt, ift wohl feinem Zweifel 
unterworfen. _ Dagegen wird der zweite Theil Lind verſchieden gedeutet. lind 
begegnet in außerordentlich vielen Namen fowohl im Anfange ald zu Ende. 
Am befannteften dürfte noch der Rame Sigelinde fein. Bei lind kann an 
unfer lind, gelind gedacht werden, und dies wäre für unferen modernen Sinn 
ganz angemeſſen. Anfprechender jeboch fcheint die Zufammenftellung von lind 
in den Ramen mit dem alten Worte lint, die Schlange, zu fein, welches fidy 
noch in den Worten Linddrache, Lindwurm**) erhalten hat. Wie aber 
fann die Schlange zu einem Namen verwendet werden? Bei der Imme, bei ber 
fleißigen Biene mag dies angehen, aber bei der Schlange, die giftig iſt und une 
ein Bild einer böfen Gemüthsart dünkt? Heutigen Tages würde man keiner 
Frau etwas angenehmes fagen, wenn man ſie mit einer Schlange vergleichen 
wollte. Das deutfche Altertum aber dachte yon ber Schlange. anders als wir. 
Die Schlange galt als ein heiliges Thier; fle war ein Bild der Schönheit, der 
Weisheit und der Weiſſagung. Wer kennt nicht das Märchen von der weißen 
Schlange? Wer von der weißen Schlange ißt, verfteht die Sprache der Vögel. 
Die Schlange galt ald ein Schupgeift des Haufes und Riemand durfte fle töbten. 


*) Daher ewart, wörtlid ber Chewaͤrter, Sefeheshüter, der „Prieſter.“ 
+) Beide Worte gehören zu den Mißverkändniffen in der Sprache, f. Br. IV. 
Seite 7152, . 


Die deutfihen Perſoneüunamen. 173 


Bei folcher Anfchauungsweife Tann alfo recht wohl die Echlange zur Namenbe⸗ 
zeichnung dienen und vor allen zur Ramenbezeichnung des Weibes. Das 
ichöne, glänzende Ausfehen biefes Thieres, fein freundliches, anfchmiegendes 
Weſen — e3 iſt ein Bild des weiblichen Geſchlechtes. Dazu kommt, daß bei 
den alten Germanen die Frau als ein geheimnißvolles, der Gottheit naheſtehen⸗ 
des Weſen galt. Als durch das Ehriftenthum die alten Gottheiten, die aus 
dem Sinne des Volkes unmöglid, ohne Weiteres zu verdrängen waren, zu böfen 
und ſchaͤdlichen @eiftern wurden, die Götter zu Teufeln, die Göttinnen zu Hexen 
fi wandelten, da wurden auch viele heilige Ihiere herabgewürdigt. So wurde 
die Schlange zu einem unheimlichen Ihiere, zu einem Bilde des Boͤſen und ber 
Bösartigkeit. Wie innig übrigens zwifchen dem Weibe und der Schlange noch 
beute die Ideenverbindung ift, kann daraus erſehen werden, daß man fihwerlich 
einen Bann von heimtüdifchem Charakter eine „ Schlange” nennen wird... . 

Auch im Ramen Adelheid iſt der zweite Worttheil nicht ganz flcher zu 
erflären. Die einen halten das Wort heid für daflelbe, welches in unferen 
BZujanmenjeßungen wie Kühnbeit, Chriftenheit vielfach erfcheint; ehemals 
war dieſes heit ein felbfiftändiges Wort und hatte die Bedeutung „Geſchlecht, 
Volk“ oder auch ‚Art und Weiſe“. *). Demnach würte vielleicht Adelheid 
mit Edelart zu überjegen fein. Andere bringen heid mit heiter in der 
Bedeutung glänzend zufammen, und Adelheib würde fo viel bedeuten wie 
Edelglanz. 

Der Rame Bernhard enthält im erften Theile wieder einen Thiernamen.. 
bern gehört zu ber, althochdeutfch bero (mit Furzem Bofale), der Bär. Im 
jegigen Familiennamen Bärmann bat das Wort ſich mit dem Subftantivum 
einheitlich entwidelt. bern finden wir noch im Ortsnamen Bernburg. 
Bernhard könnte man mit Bärenfeft übertragen. Die Kofeform des Ras 
mens it Benno. 

Die Häufig vorkommenden Manndnamen Hermann, Ludwig umd 
Wilhelm deuten auf ten Krieg, befanntlich eine der Haupt» und Lieblings⸗ 
befchäftigung unferer Altvorbern. Hermann enthält im erflen Theile ben ” 
Stamm hari, die ältefle Form Tautet auch Hariman. hari wandelte ſich zu here, 
her (mit kurzem Vokale), fchlieglich zu Heer. Wir finden das Wort zum Bei⸗ 
fpiele in Heriftal und im letzten Theile in Gunther (gund-her), Walther 
und in Giſelher, ferner auch im Familiennamen Hering, den man gemöhn» 
lih vom Fiſche „Häring“ herleiten will. Diefe Deutung tes Namens Gere 
mann ift angemefiener, ald wenn man ihn von heri, har, hehr, ableiten 
wollte, da ja auch die Kürze des Vokals durd; die Gonfonantenpofttion geſchützt 
zu werden pflegt, wie im eben erwähnten Bernhard. Man thut deshalb auch 
wohl, Hermann und nicht Herrmann zu ſchreiben. 

LZudwig, in der fränfifchen Form Chlodwig, iſt wegen bed erſten Na⸗ 
mentheiles nicht ganz Flar. Der zweite Theil wig, welches wir jegt mit Eurzem 
Vocale zu fprechen pflegen und als felbftftändiges Wort verloren haben, bedeutet 


*) Bgl. Br. IV. Eeite 749, 


174 :.ır Sprechwiffenſchaft. 


Krieg, Schlacht. Es erſcheint heute noch in Hebwig und in den partici⸗ 
pialen Formen Wiegand und Weigand.e) Die fränfifche Form des erften 
Theiles Haben wir im Namen Chlothilde, auch Klotilbe gefchrieben,, der 
unjerer Sprache gemäß Ludhilde lauten müßte. lat, ehemals mit einer Aſpi⸗ 
rata im Anlaute hlät, unjer laut, bebeutet nicht allein den Laut, das Geten, 
fondern auch Auf, Ruhm, und Ludwig -würbe mit Ruhmes kampf zu über 
fegen ſein. Die Etymologie ift freilich nicht ganz ficher, indem die Namen mit 
ind auch zum Stamme liud (d. h. Voll, daher uujer pluralifche® Leute) gehö⸗ 
ren können, in diefem alle bedeutete LZubwig: Volkeskampf. — Bekannt 
iſt die latinifirte Form Ludovicus, aus weldher das franzöfliche Louis entſtand. 

Die volle Form unſeres Vamens Wilhelm lautet Willahal m. Das 
Wort, zuſammengeſetzt aus ben Stämmen vilja, unfer Wille, und heim, unjer 
Helm, deſſen Rebenform halm ift, Täßt fich ſchwer übertragen; wir begegnen 
bier wieder dem Gebrauche, Ramen von Waffen zu entnehmen. 

Auch die Frauennamen, Die noch zu, betrachten find, fcheinen fich, was in 
heutiger Zeit feltiam erfcheinen mag, auf den Krieg, auf Kanıpf, Waffen und 
Wehr zu beziehen: ein Beweis, daß unjere Ahnen bad Srauengefchlecht nicht als 
ein ſchwaches Geſchlecht betrachteten. Dieje Namen werben erſt dann recht ver⸗ 
ftanten und gewürdigt werben können, wenn das Eriegerifche Leben ter alten 
Deutfchen in's Auge gefaßt. wird. Wenn auch der Mann allein dem Feinde mit 

den Waffen in der Hand entgegenzog, Hatte Doch auch bad Weib Theil am 
Kriege. Beſonders einflußreidy waren. die Grauen vor ber Schlacht. Sie 

mußten, wie Tacitus erzählt, durch Loos und Weiſſagung entfcheiden, o& die 
Schlacht geliefert werden jolle oder nicht. Auch berichtet derſelbe Geſchichts⸗ 
fhreiber, daß die Frauen fich Hinter der Schlachtreihe aufzuftellen und die Käm⸗ 
pfenden durch ihren Buruf anzufeuern pflegten; fie verbanten die Berwundeten, 
begrüßten und belohnten bie Sieger. Ja ein anderer Schriftfteller der alten 
Beit, Plutarch, erzählt und, daß die Frauen in der Schlacht, in welcher Marius 
bie Cimbern beftegte, die Fliehenden tödteten, die Kinder erwürgten und ſich 
ſelbſt tödteten, um nicht in Die Gewalt der Sieger zu fallen. Die Göttin Freia, 
das Ideal ded Weibes, galt den Germanen nicht allein ala eine Böttin des Frie⸗ 
bene, jontern auch als eine Kriegsgöttin. Die Walfürien, die Schlachten« 
jungfrauen, find. nur Vervielfältigungen jener einen Gottheit. Die Walkürien 
brachten die auf. dem Schlachtfelde Erfchlagenen nach Walhalla. In unferem 
Roationalepos, im Nibelungenliede, tritt uns in Brumbild eine Schlachtenjung- 
frau entgegen, eine Sagengeftalt and uralter Zeit. Die Friegerifche Seite der 
Göttin, die dem Germanen. beionberd heilig ſein mußte, übertrug er durch die 
Ramen tbatfächlich auf die Frauen. : 

Das verloren gegaugene Wort gund, h 6. Kampf und Streit, fanden 
wir in den Srauennamen Abelgunde und Kunigunde, die beide ziemlich 
ein-und daſſelbe bedeuten. Adel hat in früherer Zeit zunächft einen weiteren 
Begriff als heute; es bedeutete überhaupt Geſchlecht, Volk. Adelgunde 


*, ©, Bb. IV. Seite 736. 








Die dentſchen Perſonenmamen. 175 


alſo Volkeskampf oder perſonifizirt die Volkskämpferin. kun in 
Kunigunde bezeichnet, wie ſchon bemerft,*) ebenfalls Bolt, Geſchlecht. 
Den Stamm gund haben wir.noch in Günther, Gunther, gund-her, | d. 9. 
„Rampfichaar”, nicht „Kampfherr’.**) | 

Der Rame Hilde, der. früher fehr häufig vorkommt, findet fich nur n06 
in Zujammenfegungen. Wir behielten ihn in Chlothilde, Mathilde, 
Hildegard und etwas verſteckt in Thusnelde. Namentlich der letztgenannte 
Name iſt erſt in neuerer Zeit wieder hervorgeſucht worden. Die Bedeutung von 
hd it Kampf. Ehlothilde bildet den weiblichen Ramen zu Thlothwig, 
ekndwig, denn wig bedeutet, wie bemerkt, ebenfalls Kampf. 

Mathilde, ober wie früher die volle Form lautete: Maht-hilde (vergl, 
Bertha und Berhta, Berchta) bedeutet Machtkampf, Gewaltkampf. 

Thusnelde ift eine etwas verflümmelte Form. Die volle lautet Tursin- 
hilde. Turse, fpäter türse, bis weit in's Mittelalter hinein befannt, heißt ber 
Rieſe. Thusnelde alfo übertragen wir durch Rieſenkampf. 

In Hildegard flieht Hilde allein zu Anfang. gart, garte iſt unjer " 
Wort Sarten, jeboch Hat es eine weitere Bedeutung. garte bezeichnet jeden 
eingebegten, umfchlofienen Play, darum au den Schug., Hildegard alſo 
bedeutet Kampfſchutz, Schlachten beſchützerin. 

Auch in einem weiblichen Namen finden wir das Wort ger, Spieß 6 
nämlich in Gertrud, Der zweite Worttheil hängt wahrſcheinlich mit Lrüt, uns 
jerem traut, zujammen. Gertrud Eönnte man aljo mit Speerfreundin 
überjegen. 
Vollſtaͤndig Eriegerifch ift der Rame.Hedwig, ehemals Haduwic. Wie 
bemerkt, bebeutet wig Kampf und hadı ebenfalld. Das Wort ift aljo eine. Tau⸗ 
tologie und etwa mit Streitfampf: zu übertragen. hadu begegnet noch in 
dem aus der Literaturgeichichte befannten Ramen Hadubrand. 

MWahrfcheinlicy gehört auh Rofamunde zu den Friegerifchen Namen, 
Mit Roje und Mund hat es gar nichts zu thun. Das Wort mund, welches wir 
noch in Bormund und in mündig erhalten haben, beteutet Schuß und 
Schirm. Dagegen iſt der erfte Theil des Namens nicht ganz klar. Anı Beften 
wird es mit unferem Mo 5 in Verbindung gebradht, was um fo weniger Bedenk⸗ 
liches bat, ald das Roß als eines der edelften Thiere bei den Germanen in hoher 
Achtung ftand, und auch fonft vom Roſſe Ramen herrühren.}) Nof amunbe 
würde alſo Rojjebejchügerin bezeichnen. 

Der allein noch übrige Srauenname ift Walburg, ber im Ganzen mtr 
wenig vorkommt. Der legte Theil ift unfer Wort Burg, d. 5. ein geborgener 
und bergendes Ort. Nicht fo Elar mag der erfte Theil des Namens fein. Das 
alte wal, das Heißt ‚die Todten auf dem Schlachtfelde”, wovon au Wahl 
Ratt, Walhalla, Wallfürien gebildet find, würde recht gut paflen. 
Balburg wäre demnach die Bejchügerin der Gefallenen. Dagegen 


*,©. oben Seite 171. **% ©. oben Eeite 173. ***) ©. oben Seite 171. 
+) ©. oben Eeite 168. 


176 ..: eracwilfenfäeft. . : 


wird es in Älterer Zeit auch vielfach. Waltburg gefchrieben und dann wäre ber 
Name mit Burgmwalterin wiederzugeben. 

Auch mißverftandene Perfonennamen finden. ſich. Zu ihnen kann Ro 
famunde gerechnet werden. Schon in. frliher Zeit verwiſchten fich bie Grundbe⸗ 
deutungen und faljche Etymologieen wurben aufgeftellt. Ss überjegte ber Abt 
Emaragdus zu St. Michael an der Maas (805— 824) die Silbe mir in einigen 
Ramen, welche Rebenforn von mar*) ift, durch mihi:. Akimir — vetolus mihi; 
Giltimir — debitus mihi; Richimir — potens mikhi; Uatmir — vestimentum 
mihi.. In neuerer Zeit ift ed der Name Gottlieb und die mit Hold zufaus 
mengefegten Namen, vor allen Reinhold, deren Bedeutung falſch verſtanden 
wird. Gottlieb enthält nach dem äußeren Schein unfer Wort lieb, und 
der Name würbe fomit dem griechifchen Theophilos .entiprechen. Gottlieb 
aber müßte fireng ‚genommen ®ottleib lauten; der letzte Theil. des Ramens 
ftammt von liben, welches wir in der neuhochdeutſchen Form und in der Zu⸗ 
fammenjegung mit be haben in bleiben; damit hängt Ib, unfer Leib, forte 

" Xeben zufammen, leib heißt der Hinterlafiene, Geborene, Gottlieb alfo ent- 
fpricht dem griechlichen Ramen Diogenes, der Gottesſohn., 
Der Name Reinhold Hat nichtö mit rein und Hold zu ıhun, wie ge 
wöhnlich geglaubt wird. Die Silbe rein, welche auch noch in Reinhard 
begegnet, ift eine Zufammenziehung: von ‚ragin, wie Maid auß.maget entſtand. 
ragin finden wir in Ulſilas' Bibelüberſetzung in der Bedeutung Rath. Hold 
ift eine Entftellung, bie freilich. ſchon in früher Zeit ‚vorkommt... Gewöhnlich 
beißt der Ranıe Raginald, Raginold. Wahrfcheinlih iſt auch die Silbe 
ald und old eine Gatftellung aus walt, wald, wie ber Rame Reinwald zeigt, 
der Somit DaBfelbe Wort wie Reinhold wäre. Der Stamm vald, der. nicht mit 
unferem. Wald, silva, zufammenhängt, iſt im unjerem walten, verwalten, 
und im Ramen Walther enthalten, d. h. „der Heerwalter”. Reinhold 
alfo der Rathwalter, Berthold ber Lichtwalter. 

Auch die mit Engel zufammengefegten Ramen, unter denen vielleicht nur 
noch Engelbert ald Taufname gewählt wird., können zu den mißverflandenen 
Namen gerechnet werden, indem man gewöhnlich im erften Theile das Wort 
Engel, angelus, vermuthet und dies geſchah ſchon in fehr früher Zeit. Bere 
fhiebene Eiymologieen wurden ſchon aufgeftellt; am wahrfcheinlichften tft, daß 
der Stamm ingo ſich mit dem griechifchen üyyelog. vermifcht hat. Dieſer im 
Dunfel urdeutfcher Sage wurzelnde Stamm trotzt bid jegt .noch aller etymologi« 
fhen Begründung. Möglicherweiſe iſt an einen Sufammenhang mit hung zu 
denen. **) 

Außer den von und betrachteten Frauennamen haben wir noch eine Aus 
zabl, die zwar deutſchen Stammes, aber von unorganifcher Bildung find. Rah 
dem Mufter Iateinifiher Namen wurben fle gebildet und von dem Femininum 
ber latinijirten Mannsnamen. Wie in JZufine, Fauſtine bängte man an 


*) ©. oben Seite 171 - 
*e, Körftemanns Namenbuch Seite 780. 


Die deutfchen Perfonennamen, 177 


die männlihen Namen die Endung — ine: Karoline, Wilhelmine. 
Friderike ift genommen von Friderica und dies von Fridericus, daſſelbe gilt 
von Karola. Auch franzöfiiche Ramen haben wir eingeführt, deren Stamm 
wie in faft allen Ramen, welche die romanijchen Völfer haben, gut beutjch iſt. 
In Charlotte, Henriette, Zouije. Der legtgenannte Name ift die weib⸗ 
liche Form von Louis, welche auß Ludovieus und dieſes aus Ludwig gebildet 
if. Der entfprechende deutſche Name zu Louiſe ift Ehlothilde.*) Die 
Berfleinerungdformen Charlotte und Henriette werden oft dadurch arg 
verflümmelt, da man die Endung, bie ſelbſtverſtaͤndlich für fich allein ganz finn⸗ 
108 ift, zu felbftftändigen Ramen macht: Lotte und Jette. Wer fieht diefen 
Formen an, daß fle Die weiblichen Namen zu unferem Karl und Heinrich find? 

Offenbar haben die von und betrachteten und nach Möglichkeit gebeuteten 
Perfonennamen einen höheren Werth ald fremdländiiche und verflümmelte, weil 
fie Durch ihr Alter ehrwürdig und auf felbitftändige Weile gebildet find. — 
Wenn auch ihre Bedeutung niemals iwieber in unferem Sprachbewußtſein Ichens 
dig werden kann, wenn auch ihr Inhalt in Anfchauungen und Lebenöverhälts 
niffen wurzelt, die längft entjchwunden find, jo hege ich doch die fefte Ueberzeu⸗ 
gung, baß alle die, welche einen ehrwürbigen deutjchen Namen führen, ihn mit 
um fo größerer Freude und mit gerechterem Stolze führen werden, wenn ihnen 
fund geworden ift, weld ein erhabener und erhebender Sinn in ihm verborgen 
liegt. 


*) S. oben Seite 174. 


u 


Die Accorde, 


ihre gefeglichen Bortichreitungen und ihr pſychologiſcher 
Charafter. 
Bon 
. I. Schucht. 





Die Dur: und Molldreiklänge, die verminderten und übergroßen Brei. 
länge; die Geptimen-, Monens und Undecimenaceorde. Die Borkalte, 
Untieipation und Modulation. Melodie und Harmonie in ihrem 
Wechſelverhaͤltniß zur pfychologifhen Darftelung des Geiſtes. 


Die logifch denfende und fehematifch ordnende Geiſtesrichtung der Neuzeit hat 
auch die Muftkwifienfchaft zu einer höheren jyftematifchen Ausbiltung gebracht. 
Sie wird eingetheilt in die Lehre ter Harmonie, Melodie, des Gontrapunfteß, 
der Inftrumentation, in die höhere Formenlehre und Aeſthetik. Cine Eurze 
Darftellung der Harmonielehre, welche die regelmäßigen und ausnahmsweiſen 
Aecordfortichreitungen fo klar verftänblich darlegt, daß auch Diejenigen, welche 
nicht Muſik ftudirt haben, einen Begriff und etwas Einflcht in dieſes Gebiet er- 
balten, bewirkt das Gute, daß die Kunftwerfe befier verftanden und gewürdigt 
werden und auch zugleich einen edleren Hochgenuß gewähren. Died ift der 
Hauptzwed meiner Abhandlung. Dabei will ich aber auch noch den Muflfge- 
lehrten und Tondichtern zeigen, was man unter gefeßlichen und ungejeglichen 
AUccordfortfchreitungen, unter poetifchen Licenzen und Freiheiten zu verſtehen 
bat, und wie und wodurch bie Harmoniegefege entflanden und welche Emancipa- 
tionen davon in der Reuzeit vorgefonmen find. Denn daß bierüber unzählige 
Streitigfeiten flatt fanden und fich noch täglich ereignen, habe ich ſchon in den 
früheren Abhandlungen dieſes Werkes dargelegt. Ich erwähne die verfchiebenen 
Anftchten Hier nicht, fondern gebe nur die rein wifjenfchaftliche Darftellung. 
Was Melodie jei, ift jedem befannt, weil man fie täglich Hört und auch 
wohl felbft fing. Will man eine kurze Definition darüber geben, fo würbe fie 
etwa fo lauten: 
Melotie ift eine gefegmäßige Racheinanderfolge von höheren und tieferen 
Tönen in wohlgeordneter Zeittheilung. 


Die Accorde. Ä 179 


Daß aber eine Racjeinanderfolge verſchiedener Töne in Yangjamer und 
ſchneller Bewegung nady Togifchen und grammatifchen Geſetzen flattfinden, und 
daB diefe wohlgeorbnete gefegliche Aufeinanderfolge — oder beſſer gefagt, Nach⸗ 
einanderfolge — ber Töne auch einen pfychologifchen Charakter darftellen muß, 
wenn fie Geift und Gefühl anregen und begeiftern foll, das ift bie abfolute 
Nothwendigkeit bei der Bildung neuer Melodien. Hieraus folgt aber auch, daß 
nicht jede Racheinanderfolge verfchiedener Töne im langſamen oder fchnellen 
Tempo eine fchöne Melodie bildet, ſondern nur diejenigen Tonfolgen, welche 
nach Llogifchen und grammatiichen Regeln conftruirt in einer tieferbewegten 
Beitesfituation gefchaffen find und den Geſetzen der Aeſthetik entfprechen. Aber 
wer bat dieſe Regeln und Geſetze aufgeftellt? — Wie und wodurch entflanden 
fie? — fo fragt der Eritifche Skeptifer! Aber die Antwort ift einfach; nur der 
benfend fchaffende @eift in feiner Autonomie Hat fie erzeugt und als Togijche 
Rormen aufgetellt. Denn in den Raturerfcheinungen findet ſich Fein Vorbild 
defür, wohl aber Analogien in ben mathematifchen Gefegen der Weltkörper und 
Organismen. Aber ſowie das pulfirende Leben felbft innerhalb der Geſetze des 
Organismus bie bewegende, regulirende und mobificirende Macht ift, welche als 
thätige® Prinzip dieſe Geſetze zu Selbftzweden verwendet, fo ift auch das Gei⸗ 
ſtesleben innerhalb der gefeglich nacheinanderfolgenden Töne das eigentliche 
Geiſt und Leben gebende Princip — die Seele — wodurch dieſe Tongeftalten 
Geift und Charakter zur Darftellung bringen. Ueber diefe Geſetze der Melodie 
zu reden, ift hier nicht die Aufgabe, wohl aber über die der Harmonie. 

Mad aber Harmonie fei, davon hat nicht jeder Laie eine Vorftellung, wie 
ich dies oft wahrnahın. Und doch läßt ſich auch über Harmonie eine leicht ver⸗ 
fändliche Definition geben, nur muß fle in zwei Saͤtzen außgefprochen werden: 

Das gleichzeitige Zufammenklingen verfchletener Töne bildet einen Ac⸗ 
eord, und die Rachrinanderfolge mehrerer Accorde eine Harmonie, welche 
aud) Harmonienfolge genannt wird. 

Wie diefe Akkorde im Verlauf der Zeit entflanten und zu wohlgeorbneten 
Sarmoniefolgen gebildet wurden, darüber habe ich ſchon im 4. Bd. dieſes Wer⸗ 
fe8 in „Geiſt und Eharafter in der Tonkunſt“ einige Andeutungen gegeben, 
Hier bemerfe ich noch, daß dad viele Jahrhunderte lange Euchen nach unferen 
heutigen Tonarten und Accorben hauptſaͤchlich dadurch entfland, daß man fich 
gar nicht über die beſtimmte Finthrilung der Klangverhältniffe. einigen fonnte. 
Die alten Griechen und viele andere Bölfer nahmen eine enharmonifche Ton- 
leiter an, fie theilten die Rlangverhältniffe in folch unbedeutend Eleine Unter⸗ 
ſchiede der höheren und tieferen Töne, daß hierdurch die fogenannten Biertels- 
töne entflanden. Gin ganzer Ton von c bid d nach unferer gegenwärtigen Ans 
nahme zerflel in folgende Tonunterfchiede: c — cis — des — d. Später fanb 
man aber, daß dieſe Fleinen Tonunterichiede fehr fchwierig, unbequem und zum 
Theil unausführlich feien; denn jedes Blasinfirument mußte für jeden Viertels⸗ 
ton ein entfprechendes Loch und die Taſteninſtrumente befondere Zaften haben, 
was nicht gut zu realifiren war. Da entfland der Gedanke, die Tonleitern zu 
vereinfachen, die Niertelötöne zu verbannen und die Tonfchritte nur in ganze 

12* 


und halbe Zöne einzutheilen, wie wir jle noch gegenwärtig beflgen; und jo Bil 
dete man unfere einfache Durtonart mit der natürlichen Stufenfolge: 

cedefgah c. 

1141111 

Durch Erhöhungs⸗ und Erniedrigungszeichen, Kreuze und b, erzeugten ſich Die 
halben Töne: c cis ddis effis ggis aais h, oder: chhaas ggesfees 
d des c. So enthält unfere Durtonleiter zwölf verſchiedene Tonftufen, halbe 
Töne genannt, wovon zwei — c bid cis und cis bis d — einen ganzen Ton 
bilden. Auf jedem diefer zwölf Töne wird eine Dur» und Molltonart gebilder, 
wodurch wir unjere 24 Tonarten erhalten. Tie Durtonleitern find in ihrer 
Stufenfolge jo natürlich und einfach, daß fe jedes Kind richtig Berfingen Fann ; 
nicht aber die Molltonarten, wenigftens einige Stufenfolgen, wie ich jpäter zei⸗ 
gen werde. 

Nach der Gründung dieſer Tonarten entſchwanden zwar die Vierteldtöne 
aus der Theorie, aber doch nicht ganz aus ter Prarid. Auf faft allen Blas⸗ 
und Streichinftrumenten laſſen fih durch tn die „Höhetreiben“ oder „Sinken⸗ 
laſſen“ der Töne auch bie Zwijchenftufen der Halbtöne, aljo die Viertelätöne 
erzeugen. Noch jchöner vermögen dies die Sänger und ganz bejonderd Die 
Sängerinnen. Sie wenden biefe Vortragsart bei binfchmachtenden und hin⸗ 
flerbenden Situationen an, z. B. e h b E, F; eine gute Sängerin trägt biefe 

lebt — wohl; 
Gtelle etwa fo vor: ce ceshhesbe, f£ Die verichiedenen Tonftufen müſſen 
lebt — — wohl! 

aber Hierbei fo fanft in einander gezogen werden, daß ber ruchveije Uebergang 
von einer Tonflufe zur anderen ganz verfchwintet und unhörbar wird. Das in 
bie „„Höhetreiben” der Töne findet bei fanften Grfuhlsfteigerungen ftatt, 5. B 
ce ccis d dis e f, würde gefungen werden: c c cisdes d dis es e eis. 

ich ie—— be di? ih lie — — — — be— bi! 
Daß aber diefe Vortragsweiſe nicht jo ofl, nur in Gadenzen angewendet und 
nicht in ein Heulen ausarten darf, verfteht ſich von felbfl. Welche wunderbar 
tiefergreifende Wirkungen unfere großen Birtuofen dadurch hervorbringen, wer⸗ 
ben unjere Leſer fchon oft erlebt Haben. Kchren wir wieder zur Harmonie zurüd. 

Rachdem unfere jegigen Tonarten aufgefunden und feitgeftellt waren, konn⸗ 
ten auch die Accorde nach vielerlei Verfuchen erzeugt werden. Ich fage abflcht« 
lich erzeugt und nicht gefunden oder entdedt; denn nur der denfend probuctive 
Geiſt Hat fle erzeugt, ohne in der Ratur ein Vorbild dafür zu haben. Aber 
diefe Erzeugung der Uccorde wurde durch bie Iogifche Natur des Geiſtes gere- 
gelt, denn e8 Herrfcht darin eine gleiche Logik, wie in der Mathematik. Alfo 
nicht blos das Wohlgefallen und Mißfallen an dem Zufammenflingen verfchiebe- 
ner Töne hat die Accorde hervorgebracht, denn auch Diffonanzen werden in jedem 
Kunftwerfe eingeführt — fondern das reine logiſche Denken unferes Geiſtes in 
innigfter Sarmonie mit dem Gefühlsleben producirte im Verlauf der Jahrhun⸗ 
derte alle unfere Accordgeſtalten, die diffonirenden wie die confonirenden. Den» 
fen wir und in diejen Bildungsproceß binein, wie er etwa ftatt fand. Gaben 





Die Accorde, 181 


wir bie Rormaltonart C-dur und verfuchen zu C einen zweiten Ton gleichzeitig 
erflingen zu laſſen, ber in und ein harmoniſches Gefühl des Wohlklangs und 
der Befriedigung erregen foll, jo können wir nicht den nächftfolgenden, die Se— 
cunde d, wählen — weil hierdurch eine leere Diffonanz und ein Mißbehagen 


in uns entfleht, — fondern die reine Terz e. Das Terzenverhältnif . gibt uns 


bie fchönfte Confonanz, den reinften Wohlklang und erzeugt in und das Gefühl 
ber Heiterfeit und Zufriedenheit. Es ift befannt, daß der kleine zweijährige 
Mozart oft am Elavier folche Terzen herausfuchte und fich ganz außerorbentlich 
freute, wenn er ein paar neue gefunden hatte. 


Zu’ der Terz j barmonirt nicht die Quarte f, jondern die Duinte g. 


8 
Das gleichzeitige Ertönen von e bildet ein folch ſchönes Tonverbältnif, das man 
e 


Stunden lang mit innigftem Wohlgefallen anhören kann, ohne zu ermüden. 
Heitere Ruhe und harmoniſche Zufriedenheit erfüllt da8 ganze Gemüth beim 
Anhören dieſes Teinen Durdreiklangs. Beſeligendes Dajein im heiteren Him⸗ 
melsblau der reinften ungetrübteften Freude ſpricht aus diefem Accorde und 
fimmt uns in die gleiche Situation. Durch ihn ertönt das edelfte Befriedigt⸗ 
jein des Lebens, das nichtd weiter bedarf und nichts Höheres erfehnt, weil e8 
Alles in jich birgt. Deshalb harmonirt auch Fein anderer Ton zu ihm; wollte 
a 


man noch a hinzufügen, oder g weglaffen und e wählen, fo würbe bie heitere 
C 


Gonjonanz dadurch getrübt werden. Noch weniger harmonirt die Septime h 
dazu, es entflände hierburch eine harte und ſchreiende Diffonanz h, aljo bleibt 


8 
e 


8 € 
und nur der Dreiflang e als Grunds und Stammaccord und als Hauptrepräfen« 
C 


tant bejeligender Zufriedenheit bed barmonijchen Dafeind der Freude. Diejer 
Durdreiklang mit großer Terz und großer Quinte findet fi in der natürlichen 
Turtonleiter nur noch zweimal, nämlich auf der vierten und fünften Stufe, aljo 
c d “ 

a und h; bie Dreiflinge auf den anderen Stufen enthalten Eleine Terzen und 
F gg 

trüben das Gefühl der heiteren Zufriedenheit In fanfte Wehmuth. 

Mit diefen drei Durbdreiflängen laſſen ſich fchon verfchledene Melodien har⸗ 
moniflren und viele Tongebilde enthalten nicht mehr Accorde als diefe Dreis 
zahl. Im vier und fünfftimmigen Sägen verdoppelt man gewöhnlich den 
Gruntton in der Octave, nächft ihm die Quinte; jeltener die Terz, weil fie zu 
ſtark Hervortönt, ihre Verdoppelung gefchicht nur in mehrflimmigen Sägen. 
Als Hauptregeln find hierbei zu beachten : jede Stimme muß — mit Ausnahme 
des Baſſes — in den ihr zunächft Tiegenden Accordton fortfchreiten; man vers 


* 


182 Muſik. 


meide die ſchlechtklingenden parallelen Quinten⸗ und Oktavenfortſchreitungen 
zweier Stimmen; auch Tann ber Dreiklang ber fünften Stufe nicht gut in ben 
Dreiklang ber vierten Stufe geführt werden. Fragt man auch hier warum? — 
fo ift die einfache Antwort: weil dieſe verbotenen Kortfchreitungen in Nro. 1 
fchlecht Flingen und in unferem ganzen Gemüthöleben eine Verſtimmung und ein 
Mißbehagen verurfachen. 

N N 





I 5 $ 

Baß und Tenor in Nr. 1 fchreiten in Oftaven; Baß und Sopran, fowie 
auch Tenor und Sopran gehen in Quinten. fort; auch fehreitet der Dreiflang 
ber fünften Stufe in den Dreiflang der vierten, was fchlecht Flingt, wohl aber 
ift die umgelehrte Folge zuläffig. In Nro. 2 find dieje fehlerhaften Kortfchreis 
tungen durch eine andere Accordwahl vermieden. Nro. 3 gibt und ein Beifpiel, 
wo eine einfache Melodie mit den leitereignen Dreiklängen harmonifirt ift. Der 
Baß bat hierbei jedesmal den Grundton des Dreiklangs; da aber dieſe Fort⸗ 
fohreitungen von Grundton zu Grundton etwas unbeholfen und fleif Flingen; 
fo find bei Nro. 4 die Umfehrungsaccorde eingeführt, wodurch der Baß eine 
befiere melodiſche Geſtalt erhält. 

Die Umfehrungsaccorde entftehen, wie erfichtlih, wenn man die anderen 
Töne der Dreiklänge, nämlich Terz und Quinte, auch gelegentlich zu Baßtönen 
verwendet, wie in Nro. 4 gejcheben iſt. Die erfte Umfehrung, wo die Terz im 
Baſſe Liegt, alfo c, wird Terzfertaccord genannt und jo bezeichnet 6. Die zweite 

8 3 


e 
Umfehrung mit der Quinte im Baſſe nennt man Quartfertaccord e und erhält 
C 


8 
bieje Bezifferung 6. Diefer Umkehrungsaccord kann nicht fo häufig eingeführt 
4 


werben, wie der Terzfextaccord; am fchönften Elingt der Duartfertaccord, wenn 


er in der Stufenfolge eingeführt wird, z. B. c de fu.f.w. Eben fo ſchön 
5665 
3433 


Flingt er, wenn der Baß Liegen bleibt und der Duartjertaccord fich in den Dreis 

Hang auflöft; dieſe Kortfchreitung wird fehr oft zu Eräftigen Schlüffen verwen» 

bet, z. B. FG GC. Diefe Ziffern gebraucht man als Abreviatur; wollte man 
5655 


3433 


Die Accorde. 183 


die beiden Beifpiele ausfüllen, jo würden folgende Tonreihen entfleben : 
edc und: ceche 


che eg gg 
E88 fede 
CDE FGGC. 
6 6 65 
43 4 3 


Beiläufig bemerfe ich, ba iman diefe, Die vorhergehenden und folgenden Accord⸗ 
folgen auf dem Piano anfchlagen muß, um das Gefagte zu verfichen. Um 
Raum zu erfparen, gebe ich die Rotenbeifpiele nur auf einem Linienſyſtem. 


Zwei verjchiedene Duartfertaccorde nacheinander eingeführt, Elingen fchlecht. 

Die bedenkliche Fortſchreitung des Dreiflangs der fünften zu dem der. vierten 

Stufe Harmonirt nur dann etwas beffer, wenn der Grundton eine Stufe aufwärts 

ſchreitet und einen Terzſextaccord bildet; dabei müͤſſen aber die übrigen Stimmen 

auch gut melodijch geführt werden; die einzig wohlflingende Kortfchreitung dieſer 

Accorde ift folgende: 8 f, mitunter hört man auch wohl diefe: g a aber doch 
c d 


hc HC 
GA 6 6 
6 34 
3 vw 
vV 


nur jelten. Alle weniger ſchön Elingenden Kortfchreitungen können aber durch 
eine gute Melodie und jorgfältige Führung der Mittelftimmen wohlflingender 
gemacht werben. 

Ich wende mich jegt zu der Betrachtung der übrigen Accorde auf Der Dur⸗ 
tonleiter. 

Wie ich fchon oben andeutete, laffen ſich auch auf Den anderen Stufen der 
Zonleiter Dreiflänge bilden. Auf der zweiten, dritten und fechflen Stufe ent⸗ 
itehen drei Dreiflänge mit Eleiner Terz und großer Quinte, fie werden Molldrei« 
flänge genannt; auf der flebenten erhalten wir einen mit Eleiner Terz und Elcie 
ner Quinte, den jogenannten verminderten Dreiflang. Alle diefe Dreiklänge 
können und müffen zur Sarmoniftrung der Melodien verwendet werden; theils 
in der urjprünglichen Geſtalt mit den Grundtone im Baſſe, theild als Umkeh⸗ 
sungsaccorte. Verſucht man aber, fie nach Willfür und Gutdünfen zu wählen, 
jo werden dadurch oft Harmoniefolgen entftehen, die jehr fad, unſchön und zus 
weilen ganz unhörbar find. Das Hauptgejeg hierfür ift: ſtets ſolche Accordfols 
gen zu wählen, welche miteinander verwandt find — d. h. zwei Accorde find 
gegenjeitig verwandt, wenn fe einen oder zwei gemeinjchaftliche Töne bejtgen, 
3-82. g 5 ; oft Elingen aber auch zwei Uccordfolgen fchön, obgleich fle keinen 

Ce 


ch 
gemeinfchaftlichen Ton befigen. Zwei unverwandie Accorde Taffen fich bei guter 
Stimmführung mit anhören, aber drei, oder wohl gar vier unverwanbte Uccorbe, 
unmittelbar nacheinander gehört, verurfachen ein großes Mißbehagen. Uber mit 
dieſem Allgemeingefeg ter Verwandtichaft reicht man doch nicht durchgehends 


184 Mufl. 


aus, viele Accorde find miteinander fehr nahe verwandt, beſitzen zwei Töne ge= 
meinjchaftlich und Flingen doch nicht jchön, z. B. a nach a geführt; ed gibt zwar 
f f 


d c 
D F 


zahlreiche Fälle, wo auch diefe Kortfchreitung fehr wirkungsvoll eingeführt wurde, 
„hierbei fam aber die Wirkung durch Rhythmik, Melodik und vorzugsweiſe durch 
die Cäfur oder den Abfchnitt des Gedankens; an ſich Elingt dieſe Accortfolge 
matt. Ich gebe hier die geſetzlichen Bälle an, welche Accordführungen wohl⸗ 
tiingend find. Der Dreiflang auf der erften Stufe kann in jämmtliche Dreis 
Hänge feiner Tonart geführt werden. Der Dreiflang der zweiten Stufe geht in 
die Dreiffänge der fünften, fechften und flebenten Stufe; auch kann er in den 
Terzfertaccord und Quartſextaccord ded Dreiklangs der erften Stufe geführt 
werden, und bei guter Stimmführung fchreitet auch wohl der Grundton wieder 
in den Grundton. Der Dreiflang der dritten Stufe geht in Die Dreiflänge der 
erften, vierten und fechften Stufe; weniger ichön Flingen die Kortfchreitungen in 
die Dreiflänge der zweiten, fünften und flebenten Stufe. Der Dreiflang der 
vierten Stufe kann in fämmtliche Dreiflänge jeiner Tonart geführt werben. Der 
Dreiflang der fünften Stufe geht in die Dreiflänge der erften, dritten und fech6 + 
ten Stufe; matt Flingen Kortführungen in die anderen Stufen. Der Treiflang 
ber fechften Stufe geht in die Dreiflänge der zweiten, Lritten, vierten, fünften 
und fichenten Stufe; die Auflöjung in den Dreiffang der erften Stufe Eingt 
matt. Der verminderte Dreiflang der flebenten Stufe Löft fi am ſchönſten in 
den Dreiflang der erften Stufe; Grundton und Duinte verboppelt man Label 
nicht gern, jondern feine Terz; die Fortführung des flebenten in die dritte, fünfte 
oder fechfte Stufe Flingt nicht bejonders ſchön. — Nach dieſem Schema kann 
man bie leitereigenen Dreiklänge der Durtonart einführen, ohne Disharmonieen 
zu fürchten. Cinige Fortfchreitungen davon harmoniren fchön, wenn der 
Brundton in den Grundton fehreitet, andere bei Umfehrungdaccorden ; das Zart⸗ 
gefühl des Gehörs ift Hier allein entfcheidende Stimme. Da die Molltreiflänge 
und verminderten Dreiflänge Trauer und Schmerz ausfprechen und dieſe Ge- 
müthöftimmung in dem Hörer erregen, fo können fle auch nur zu jolchen Situa- 
tionen gewählt werden. Die Abmechfelung mit Dur« und Mollaccorden erzeugt 
Ernft und Wehmuth; überhaupt prägt die Vorherrfchung der Dur⸗ oder Molle 
breiflinge den Charafter des Tonftüds aus. Daß dieſe Negeln über die Fort⸗ 
führung der Aecorde nicht immer genau befolgt werben, weiß jeder, welcher 
Partituren fudirt. Die Tondichter wählen oft fremtElingende mitunter fogar 
rauh tönende Harmonicfolgen, um dem entfprechende Seelenftimmungen darzu⸗ 
ftellen. So bat Liszt — meines Willens der Erſte — drei nebeneinander Ties 
gende unverwandte Dreiffinge in langſamer choralartiger Fortführung einge⸗ 
führt, nämlich: g a c. Um darzulegen, in welchen Auflöjungen die leitereige⸗ 
ß 


e 
h 
E 


u 2—2 


e 
C 
I 


Die Accorde. 185 


nen Treiflänge der Durtonart am ſchönſten harmoniren, gebe ich hier ein klei⸗ 
nes Notenbeiſpiel: 





2 Iv 1 


Ich Habe in Nro. 5 abfichtlich Feine intereffante Melodie gebildet, nur um 
zu zeigen, daß ſchon die gefegmüßige Kortfchreitung dieſer Uccorde eine wohle 
klingende Harmonie Hervorbringt. Die Grundaccorde walten hierin vor, weil 
die Harmonicfolge der Dur» und Mollaccorde am ſchoͤnſten Elingt, wenn der 
Grundton im Baffe liegt und wieder zum Orundtone jchreitet; doch müͤſſen hier⸗ 
bei Die UImfehrungdaccorte auch gelegentlich eingeführt werden, um Mannigfals 
tigfeit in der Harmonie zu erlangen. — 


Ich wende mich jegt zur Betrachtung der Molltonarten. Es wurde jchon 
oben erwähnt, daß auf jeden der zwölf Töne eine Molltonart gegründet wird. 
Um die Vorzeichnung zu vereinfachen, Haben jedesmal zwei Tonarten, eine Dur⸗ 
und eine Molltonart, gleiche VBorzeichnung ; nur wird bei der legteren die fiebente 
Stufe im Auffteigen erhöht, damit fie als Leitton in die Tonika führt. Die 
nächitverwantte Molltonart von der Durtonart — auch Paralleltonart ges 
nannt — liegt ftet3 eine Eleine Terz unter dem Grundtone der Durtonart und 
bat mit dieſer gleiche Vorzeichnung; aljo G dur und E moll, C dur und A moll, 
die Scala der legteren lautet; A hc de f gis a. Aus den Schema erfteht 

143114144 
man, daß der Schritt von der ſechſten zur ſiebenten Stufe aus einer übergroßen 
Secunde von 1% Tone beſteht; um diefen großen Schritt zu vermeiden , empfah⸗ 
fen einige Theoretiker, auch die jechfte Stufe um einen halben Ton zu erhöhen, 
was aber nicht allgemein angenommen wurte, Ich bemerke darüber, daß es 
beſſer Elingt und wünjchenswerth ift, wenn bei jchnellen Gängen auch die jechfte 
Stufe erhöht und in abjteigender Folge die flebente Stufe nicht erhöht wird, 
,B.Ahcdefiigsagfeuf.w. Aber wohlgemerkt, dies ift nur 
11111114114 
dann zuläſſig, wenn nicht jeder einzelne Ton harmoniſirt wird, ſondern bie 
ganze Ecala auf dem Stammaccorde ruht, welcher forttönt, während die ganze 
Tonleiter in fehnellem Tempo durchlaufen wird. Bel langſamer Tonfolge, wo 
jeter Ton der Scala mit einem angehörenden Uccorde begleitet wird, darf bie 
jechfte Stufe nicht erhöht werben, weil dadurch ein Widerfpruch in der Harmo⸗ 
niftrung entflände, indem auf die fechfte Stufe ein Durbreiflang gewählt würde, 
welcher dann nach Dur leiten will und nicht nach Moll. Uebrigens Hat einer 


186 Ruſik. 


unſerer größten Tondichter — Mozart — in der Einleitung zur Don Juan⸗ 
Duverture diefen übermäßigen Secundenjchritt fehr effeftvoll und pſychologiſch 
wahr eingeführt; durch die ſyncopirte Melodie e fgisafe u. f. w. wird das 
Zagen, Bangen und Gefühl der Furcht fehr treffend dargeftellt. 

Durchdenfen wir nun die A moll-Scala in ihrer zuerft angegebenen Geſtalt, 
um durch jeden ihrer fieben Töne einen leitereigenen Dreiflang zu bilden, jo 
entftehen und auf der erflen und vierten Stufe zwei Molltreiflänge mit Fleiner 
Terz und großer Quinte, auf der zweiten und flebenten Stufe zwei verminderte 
Dreiflänge mit kleiner Terz und Fleiner Quinte, bie dritte Stufe gibt ung einen 
Dreiflang mit großer Terz und übergroßer Quinte, welcher übergroßer Drei⸗ 
Flang genannt wird, auf der fünften und ſechſten Stufe erhalten wir zwei Dur 
dreiflänge mit großer Terz und großer Quinte. Bei ber Kortführung dieſer 
Accorde gelten die oben aufgeftellten Gejepe, nur der übergroße Dreiklang der 
dritten Stufe Hat, wegen feiner harten Diffonanz, noch bejondere Regeln. Er 
kann nur mit großer Sorgfalt bei guter Stimmführung erſcheinen und jein 
Gintritt muß vorbereitet werben, wenn und feine Diffonanz nicht zu rauh und 
bart berühren joll. Dieje Vorbereitung gefchieht dadurch, daß feine Duinte 
oder auch wohl fein Grundton in dem nächjtvorbergehenden Accorde liegt und 
beim Eintritt bed übergroßen Dreiklangs fortgehalten wird, ;. B. 

gis gis a oder: agis a 


e e f [ee 
h ec ecc 
E CF FCA 


Bei der Auflöjung muß die übergroße Quinte ſtets einen halben Ton aufwärts 
fhreiten; am beften Elingt er, wenn jle in der Oberflimme liegt, wie in den ges 
gebenen Beifpielen. Als Umfehrungsaccord, wenigftend als Duartjertaccord, 
ift er nicht gut zu verwenden. Ueber die anderen Dreikflänge der Molltonart 
find folgende Regeln zu beachten. Der Dreiflang auf der erften Stufe kann — 
wie bei der Durtonart — in jämmtliche Dreiflänge feiner Tonart geführt wer» 
den. Der Dreiflang der zweiten Stufe führt in die Dreiklänge der fünften und 
fiebenten Stufe und in den Duartfertaccord und gelegentlich auch wohl in den 
Zerziertaccord der erften Stufe. Der Dreiflang der dritten Stufe geht in die 
Dreiflänge der erſten und fechflen Stufe. Der Dreiflang der vierten Stufe 
führt in die Dreiflänge der erften, zweiten, fünften und flebenten Stufe, die Aufs 
löfung in die fechfte Stufe Elingt matt, wie jede Kortichreitung eines Molldrei- 
Fangs in dem eine Fleine Terz höher gelegenen Durbreiflang. Der Dreiflang 
der fünften Stufe leitet in die Dreiklänge der erften, dritten, jechflen und zumeis 
len auch wohl in die flebente Stufe, letztere Kortfchreitung Flingt aber nicht 
fräftig. Der Dreiklang der fechflen Stufe leitet in alle Dreiflänge der Tonart. 
Der Dreiflang der flebenten Stufe führt in die erſte Stufe, die Fortführung in 
die dritte und fünfte Stufe it nicht fchön. in Rotenbeijpiel möge dieſe Aufe 
löſungen veranjchaulichen. 


Die Accorde. 187 






VI IV II V II VI V I 





| ı TF Fr 
vuIvIrıavmmım ıvuıv IuıwWVv ı 


Auch Rro. 6 muß wie die vorhergehenden Beifpiele langfam und choral- 
artig gefpielt werden; auch Hierbei ift Feine Funftvolle Melodie gebildet, ſondern 
nur alle gefegmäßigen Kortfchreitungen bargelegt. Zu bemerken ift noch, daß 
ber übergroße Dreiflang ftetd auf den ſchweren Accent oder Takttheil fallen muß, 
wie im 4. Takte gejchehen if. Der Schluß Elingt am befriedigendften, wenn 
ter Dreiflang der fünften Stufe in die Tonika leitet und im Schlußaccorde der 
Grundton in der Oberſtimme liegt; jedoch wird auch zuweilen mit dem Drei« 
flang der vierten Stufe in den Schlußaccord eingeführt. — 


Nachdem fich der menichliche Geift Tange Zeit mit den Dreiflängen behol⸗ 
fen hatte, fam man auf den Gedanken, noch eine Terz hinzuzufügen, wodurch 
bie ſogenannten Septimen⸗Accorde erjtanden. Betrachten wir erft die Septimen« 
accorde der Durtonart. 


Auf der erflen Stufe der Durtonleiter entfteht uns ein Septimenaccord 
mit großer Terz, großer Quinte und großer Septime, daher großer Septimen« 
accord genannt. Er verurfacht eine fehr harte Diffonanz , welche nur etwas ges 
mildert wird, wenn er forgfältig vorbereitet und anfgelöft erfcheint. Die Vom 
bereitung gefchieht dadurch, daß die Septime oder mitunter auch der Grundton 
in dem vorhergehenden Accorde vorhanden ift und beim Eintritt des Septimen- 
accordes liegen bleibt; bei der Auflöfung muß die Septime ſtets eine Stufe ab⸗ 
waͤrts schreiten. Folgende Vorbereitungen und Auflöfungen find am gebräuch« 


— 


lichſten: c ha, oder: h’ha, oder: h ha. 
gef eh ggf 
e e, eee, dei 
CF, EUCH, GCD 


Dieſer Septimenaccord kann nur in die Dreiflänge der zweiten und vierten 
Stufe geführt werden. Der Septimenaccord der zweiten Stufe beiteht aus klei⸗ 
ner Terz, großer Quinte und kleiner Septime, und wird Mollfeptimenaccord ges 
nannt; er tönt zwar nicht fo hart und rauh wie ber der erften Stufe, Elingt aber 


Doch Schöner, wenn er vorbereitet auftritt, 3. B. ech, oder: c ch. Er fann 


aag aag 
[fg efg 
FDG ADG 


nur in den Dreiklang oder Septimenaccord ber fünften Stufe geführt werden; 
eine ansnahmsweiſe Kortleitung geht In den Duartfertaccord ber erſten Stufe, 


- 188 Muſik. 


wenn ſich dieſer ſodann beim Liegenbleiben des Baßtones in die fünfte auflöſt, 


z. B. ccche Der Septimenaccord der dritten Stufe beſteht, wie der vor⸗ 


aagB$8 
ffede 


FDGGC 
bergehende, aus Eleiner Terz, großer Quinte und Fleiner Septime und leitet in 


bie Dreiflänge der vierten und fechiten Stufe, z. B. d ddo,oder: dde. Der 


gge hha 
hha fga 
GEA HEF 


Septimenaceord der vierten Stufe befteht, wie der erfle, aud großer Terz, großer 
Duinte, großer Septime und leitet in Die Dreiklänge der fünften und flebenten 
Stufe; diefe Fortfchreitungen harmoniren, aber nicht bejonders ſchön, 3. B. 


e_e d, ode: e ed. 


cch cceh 
aaf gad 
AFH CFG 


Der Septimenaccord der fünften Stufe befteht aus großer Terz, großer Quinte 
und kleiner Septime; diefer Accord bildet gleichſam Die Tiebergangsftufe von 
den confontrenden zu den biffonirenden Uceorden, er fleht in der Mitte; man 
fann ihn weder als rein confonirend noch als biffonirend betrachten und er wird 
auch deshalb ſelbſt im flrengen Style ganz unvorbereitet eingeführt. Da er g« 
wöhnlich zur Einleitung in den Schlußaccord verwendet wird, fo heißt er Do⸗ 
minantfeptimenaccord. - Er führt in den Dreiflang — mitunter auch wohl in 
den Septimenaccord — der erften Stufe; ſehr oft wird er auch in den Dreis« 
klang der fechften Stufe geleitet, aber einen foldyen Kortfchritt nennt man Truge 
cadenz oder Trugfchluß, weil fi dad Ohr getäufcht findet, da man den Dreiflang 
ber erſten Stufe erwartet, nicht aber den ber jechften Stufe, z. B. h co. Die 


e 
dc 
GA 
regelmäßige Bortichreitung iſt: hc, bier fehlt zwar die Quinte g im legten 
le 
dc 
GC 


Accorde, was zuweilen gejchehen kann, niemals darf aber die Terz fehlen, weil 
fie anzeigt, ob Dur oder Moll und weil ohne fie der Accord leer und hohl Klingt. 
Der Septimenaccord ber fechiten Stufe befteht aus kleiner Terz, großer Quinte, 
Feiner Septime und leitet in die Dreiflänge der ;weiten und ſiebenten Stufe; 
da er, wie die anderen Septimenaccorde, eine Diffonanz verurfacht, fo Fann er 


nur nach einer Vorbereitung eintreten, 3. B. gg f, oder: F ſ. Der Sep⸗ 


eed eed 
eca hed 
CAD EAH 


timenaccord der flebenten Stufe beftcht aus Fleiner Terz, Eleiner Quinte, Eleiner 
Septime und wird Eleiner Septimenaccord genannt; er verurfacht zwar feine fo 


Die Accorde. 189 


harte Diffonanz wie die Mollfeptimenaccorde mit Fleiner Terz, großer Quinte 
und Fleiner Septime, difjonirt aber doch fchon etwas mehr als der Dominant« 
jeptimenaccord der fünften Stufe, und wird Deshalb auch vorbereitet, doch er⸗ 
icheint er auch nicht felten unvorbereitet. Seine natürliche Fortſchreitung iſt 
in ben Dreiklang der erflen Stufe, geht aber auch in ben der dritten, z. B. 


aag oder: aag 
ffe fie 
ede ddh . 
FHC DHE 


Tieje Septimenaccorde fünnen auch als Umfehrungsaccorde verwendet werden, 

jetoch Elingen die hart diffonirenden am beften, wenn der Grundton im Bafle 

und die Septime in der Oberftimme Tiegt. Nur der Dominantfeptimenaccorb 

der fünften Stufe kann in allen feinen Umfehrungen eingeführt werben. Die 

erfte Umkehrung, wo die Terz im Baſſe liegt, wird Terzquintfertaccorb genannt 

und jo beziffert: 6. Die zweite Umkehrung mit der Duinte im Baffe nennt man 
5 


3 
Zerzquartfertaccord und erhält folgende Bezifferung: 6. Die dritte Umkehrung, 
4 


3 6 
wo Die Septime als Baßton auftritt, heißt Seeundquartfertaccord und wird 
bezeichnet 6._ Sämmtliche Accordtöne find in der Umkehrung bdenjelben oben 
4 


2 
aufgeftellten Geſetzen unterworfen; die Septime muß ſtets eine Stufe abwaͤrts 
ſchreiten. 

Alle bisher erhaltenen Accorde, Stammaccorde wie Umkehrungsaccorde, 
fonnen nun nach der Wahl des Tondichters abwechfelnd eingeführt werben; bie 
Situationen des darzuftellenden Seelenzuftandes und das Afthetifche Gefühl 
haben Hier die Entfcheidung. Ich gebe wieder ein kleines Notenbeifpiel, um 
bie gefegmäßigen Kortleitungen der Septimenacceorbe darzulegen. 





Als Hauptregel ijt bei ter Einführung der Septimenaccorde noch zu bes 
achten: daß jeder diffonirende auf den jchweren Tafırheil fallen und im leichten 
fih aufldjen muß, wie in Rro. 7 geſchah. 


190 Muſik. 


Auch in der Molltonart laſſen ſich auf allen Stufen Septimenaccorde con⸗ 
ftruiren. 

Der Septimenaccord auf der erften Stufe beſteht aus Peiner Terz, großer 
Duinte und großer Septime, veruriacht aber eine ſehr harte Diffonanz und die 
Septime laͤßt fich nicht auflöfen, deshalb ift er gar nicht gebräuchlich. Der Eleine 
Septimenaccord auf der zweiten Stufe befteht aus Fleiner Terz, Fleiner Quinte, 
Fleiner Septime und leitet in den Dreiflang oder Septimenaccord der fünften 
Stufe. Der übergroße Septimenaccord der dritten Stufe beficht aus großer 
Terz, übergroßer Quinte und großer Septime; wegen feiner hart diffonirenden 
Eigenfchaft darf er nicht unvorbereitet eingeführt werden; am beften Elingt er, 
wenn Septime und Quinte in dem vorhergehenden Accorde liegen und bei fei- 
nem Eintritt fortgehalten werden, zJ. B. Z h a, er Tann nur in ben Drei 


gis gisa 
e ec 
E CF 


klang der fechften Stufe geführt werben. 

Der Septimenaccord ber vierten Stufe beftcht aus Fleiner Terz, großer 
Quinte und Fleiner Septime, er führt in den Dreiflang oder Septimenaccord 
der flebenten Stufe, z. B. cc h. 

aa d 
ef 4 
A D Gis 

Der Dominantfeptimenaccord der fünften Stufe leitet in die Dreiklänge 

ber erften und fechften Stufe, z. B. gis a oder: gis a er kann unvorbereitet 
d 


c dc 
ha ha 
E A E F 


erjcheinen. Der Septimenaccord der fechften Stufe beſteht aus großer Terz, 

großer Duinte, großer Septime und muß forgfältig vorbereitet werden; er leitet 

in die Dreiflänge oder Septimenaccorde der zweiten und flebenten Stufe, 3. 2. 
er ed oder: ee d 


ce ch ce ch 
a af a af 
AFH A P Gis 


letztere Fortſchreitung verurſacht eine harte Diſſonanz. 

Der Septimenaccord der ſiebenten Stufe beſteht aus kleiner Terz, kleiner 
Quinte und verminderter Septime; er wird vorbereitet und unvorbereitet einge⸗ 
führt und löſt ſich in den Dreiklang der erſten Stufe. Die Ouverture zur 
Stumme von Portict beginnt, ohne Vorbereitung fogleicy mit dem verminderten 
Septinenaccorde. Die regelmäßige Auflöjung dieſes Accordes ift: r a 


e 
d c 
Gis A 


Sämmtliche Septimenaccorbe der Mollicala Iafien fich auch als Umkthrungs⸗ 
aecorde verwenden, am beften Elingen aber nur die der fünften und fiebenten 
Stufe. Ueberhaupt find nur die Septimenacenrde der zweiten, vierten, fünften 


Die Accorde. 191 


und fichbenten Stufe gebräuchlich, die anderen werben wegen ihrer rauhen Diſſo⸗ 
nanz nur felten eingeführt. — 

Nach der Eonftruirung der Septimenaccorde fand man fidh bewogen, audy 
eine Terz auf den Septimenaceord zu legen, wodurch die Ronenaccorde gebildet 
wurden. Sie werden aber wegen ihrer zu vielen Uebereinanderhäufung von 
Zönen äußerft felten angewandt; am häufigften erfcheinen die Nonenaccorde der 
fünften Stufe in der Dur« und Molltonart, fie Elingen weniger hart und werden 
nicht felten unvorbereitet eingeführt: Am beften Flingen fle, wenn der Grund⸗ 
ton im Baſſe und die Rome in der Oberfimme liegt, bei der Auflöfung müflen 
Rone und Septime ſtets eine Stufe abwärts und der Baß eine Quarte aufwaͤrts 
oder Quinte abwaͤrts fehreiten. Da fämmtliche Ronenaccorde diffoniren, fo 
werben fie — mit Ausnahme des fünften — forgfältig vorbereitet und aufgelöft 
und zwar fo, daß Septime und Rone in dem vorhergehenden Accorde vorhanden 


find und beim Eintritt des Nonenaccordes liegen bleiben; 3.8. dd c. Ich 
h ha 


g 8,2 
f ef 


G CF 
gebe ein Fleined Rotenbeifpiel in der Molltonart, worin Septimen- und Ronens 
accorde abwechfelnd eingeführt werben. 





‚r,igFr 
vl 


IV VIVIII 


I 
vVvEıW Vo 


WNivivivnmvvmwmrıalveı 


Ich Habe in Nro. 8 eine fünfftimmige Sarmonienfolge gegeben, weil der 
Nonenaccord fünf Töne enthält; bei vierſtimmigen Sägen läßt man Im Nonen⸗ 
accorde die Quinte fehlen. Wie eine folche Anhäufung Piffonirender Accorde 
klingt, Tann jeder am Piano mit obigem Beifpiel vernehmen ; hierin find aber 
die härteften Ronenaccorde, wie der auf der britten Stufe u. a. gar nicht einge« 
führt. Nur in den fehmerzlichften verzweiflungsvollften Seelenſtimmungen find 
folche Accordfolgen zuläffig. Im dritten Takte finden auch zwei falſche Quinten⸗ 
fortfchreitungen a h ftatt, aber die harte Diffonanz und das Liegenbleiben zweier . 

d 


€ 
Töne verdeckt diefe falfche Duintenfolge. — 
Der fchöpferifche Geift der Neuzeit bat über diefe Nonenaecorde noch eine 
Terz gelegt und hierdurch die Undeeimenaccorbe erhalten, 3. B.: 


192 Mufit, 


Daß jolche Accorde nur Höchft felten, nur in gewiffen Ausnahmefällen vorübers 
gehend erjcheinen können, ift beim erften Anblick erfichtlich ; fle verurfachen noch 
härtere Diffonanzen und find mehr als Vorhalte denn als felbftfländige Accorde 
zu betrachten. Welcher äfthetiich gebildete Tondichter kann folche Accordfolgen 
einführen, wie die vorhergehende und folgende? ce” c h Und doch haben junge 
aa 
fg 
f de 
ce hh 
F GE 
Componiften fich fchon oft fo weit vergeſſen und Lergleichen ald originelle Ge⸗ 
Danfen in ihren Produften der Oeffentlichkeit übergeben. Aber folche bizarre 
Sonderbarkeiten werden niemals als originelle Schönheiten, fondern als bes 
.dauerliche Verirrungen betrachiet werten. Anders verhält es fich mit biejen 
Hecordgeftalten, wenn fie ald Vorhalte auftreten, wie ich hernach zeigen werde. 
Ueberjchaut man nun die biöher erhaltenen Accorde, jo bietet fh uns eine 
Stufenleiter in Hinficht des pfochologifchen Charakters dar. Die Durdreiflänge 
mit großer Terz und großer Quinte fprechen heitere Zufricdenheit auß; in den 
Molldreillängen trübt fich Die Breude und der Friede zu Leid und Schmerz, 
denn Fleine Terz und große Quinte athmen Kummer und der verminderte Dreis 
lang mit Fleiner Terz und Fleiner Quinte ift der Ausdruck fanfter Klage. Der 
Dominantjeptimenaccord mit großer Terz, großer Quinte und kleiner Septime 
ſpricht ſehnſuchtsvolles Verlangen aber ohne Leid und Klage aus; dieſes heitere 
ſehnſuchtsvolle Verlangen trübt fich zu Leid in den Mollieptimenaccorden mit klei⸗ 
ner Terz, Fleiner Quinte und Peiner Septime, aus ihnen ertönt wehmuthreiche 
Sehnfucht, die fich zum Schmerzendfchrei fleigert in den großen Septimenaccor« 
den mit großer Terz, großer Quinte und großer Septime. Der Eleine Septi- 
menaccord mit Feiner Terz, Fleiner Quinte und Feiner Septime fpricht ängft« 
liches Wollen und Streben, aber auch Furcht aus, wie und die Scene des Les 
porello vor dem Comthur zeigt, bei der Stelle: ach mein Herr! ꝛc. Durch ben 
übergroßen Septimenaccord mit großer Terz, übergroßer Quinte und großer 
Septime ertönt ein Wuthausbruch, der fich im verminderten Septimenaccorbe 
zu wahnſinniger Verzweiflung fleigert, wie die in der Stummen von Portici 
oft geſchieht. Der verminderte Septimenaccord mit Eleiner Terz, kleiner Quinte 
und Feiner Septime im Pianiffimo erregt zitterndes Grauen und Entjeßen, wie 
in Robert der Teufel. Durch den großen Nonenaccord mit großer Terz, großer 
Duinte, Feiner Septime und großer None — auf der fünften Stufe ſtehend — 
wird in uns heiße Schnjucht, glühendes Verlangen erregt, das fich im Eleinen 
Nonenaccorde mit großer Terz, großer Quinte, Eleiner Septime und kleiner 


Die: Accorde. 193 


Rone — auf ber fünften Stufe, ber Molltonleiter — zum Schmerzausfchrei der 
unsefriebigten Schnfucht fleigert.- Die anderen Noney⸗ und Undecimenaccorde 
Reigern bieje, Affeste noch mehr zum größten Wuthausbruche des perzweiflungs⸗ 
vollten Wahnftnns. Die Tondichter, welche hierbei nicht. Maß und Biel zu hal⸗ 
ten willen, geratben ſehr oft in das Fratzenhafte, und auch hier bewährt fich, 
dap vom ſchauerlich Erhabenen bis zum Laͤcherlichen nur ein- Schritt iſt. Dieſe 
gegebenen Andeutungen über ‚ven pischologifchen Eharakter find aber fehr un« 
vollſtaͤndig und ſkizzenhaft; vervollſtaͤndigt werben fie, wenn von bem Gharafıer 
der verfchiedenen Inſtrumente geredet wird, was einer-anderen Abhandlung vor« 
behalten bleibt; denn ganz, anders $lingt ein. Accord, wenn er yon Blasinftru« 
menten vorgetragen wird, ald wenn er vom Piano ertönt; noch anders modifi⸗ 
eirt ſich der Charakter durch die Verſchiedenheit der Blasinftrumente, ob Holz⸗ 
oder Blechinſtrumente und fogar innerhalb dieſer Arten 3. B. Hörner, Trompe⸗ 
ien und Pojaunen x. treten ‚ganz hetexegene Verſchiedenheiten auf. Die gei⸗ 
ſtexhaften Moll und die verminderten. Accorde werden im Don Juan bein 
Erſcheinen des jteinernen Gaſtes von Pojaunen vorgetragm, um den jündhaften 
MWollüftling an die ewige Gerechtigkeit und rächende Vergeltung zu mahnen. 
Zitternde Furcht und bebended Grauen fprechen diefe Accorde im Tremulando 
ber Streichinitrumente aus. Die größten Modifikationen erleiden alle dieſe 
Accorde noch durch die verichiedenen rhyuthmiſchen Bewegungen ; denn eine ganz 
andere Serlenfiinmung erregen Accorde im langſamen Choraltempo, ald in 
ſchneller hüpfender Bewegung: Aber tie wirkliche Scele und der ſprechende 
Gedanke erjcheint in ihnen erft durch die geiftig belchende Melodie. Wenn ein 
Gleichniß erlaubt. ift, fo ſpricht Die Melodie den Gedanken des Gefühle aus, 
während bie Harmonie das pulſtrende Herz und die ganzen Schwingungen der 
Nerven darftellt. Sage ich zur Geliebten: „laß mich vom roſigen Munde küſſen 
die Seele dir, aus meined Buſens Grunde nimm meine Seele dafür’, jo pocht 
doch ſicherlich das Herz jchneller und das ganze Senforium erbebt in mir; chen 
fo verhalten ſich Harmonie und Melodie zu einander. Alſo ſaͤmmtliche Accorde 
erhalten erft durch bie Melodie, Rhythmik und durch den Charakter der verfchies 
denen Inftrumente ihren eigenthümlichen pfochologijchen Ausdruck, welcher aber 
noch durch Takt und Zonart ind Unendliche varlirt. — 

Ob alle genannten Accorde vom kalten fpeculativen Denfen oder von der 
ſchöpferiſchen Phantafle im Acte der productiven Thätigfeit erzeugt find, läßt 
fi) Heutzutage nicht mehr feitftellen, weil wir feine jpecielle Geichichte über ihre 
Entſtehung baben. Das aber kann man zuverläffig behaupten, dag die producs 
tive Phantafle der Tondishter Die größte Anzahl der. Accordgeftalten im Verlauf 
des füntlerijchen Schaffens erzeugt hat, welche ſodann von Theoretifern in Lehr⸗ 
büchern ſyſtematiſch geordnet und nach ihren geicplicyen Fortſchreitungen aufges 
ſtellt wurden. Tenn von jeher haben fich pedantifche Muſikgelehrte geſcheut, 
neu erfundenen Harmoniefolgen das Heimathoͤrecht zu ertheilen und fie in ihren 
Werfen aufzunehmen; ſie polemiftzten lieber gegen Die fatalen Neuerungen und 
Iprachen ihren Bann über das fchlecht Elingende Zeug aus. So erging es Hins 
del, Bad, Gluck, Haydn, Mozart, Beethoven u. A. Erſt nachdem jte Jabre 

v. 13 


4194 Muſik. 


Yang hindurch geklungen, fand man Die neuen Aceordfolgen zulaͤſſig und zeichnete 
fie in Lehrbuͤchern der Gompofltion anf. In Mosart’8 Onarteften erklärte man 
die merkwürdigen Vorbalte fir Brucdfehler und ſuchte fle su corrigiren. Ich 
beſpreche jetzt dieſe Accordgeſtalten. 

Wenn der Ton eines Accordes noch einen geitmoment in dem folgenden 
Aecord fortgehalten wird und fich erſt Später in den neuen Accordton auflöft, fo 
nerint man dies einen Vorhalt. Da faft alle Vorhalte eine Diffonanz verurfa- 
“en, fo müflen fle vorbereitet, forgfältig aufgelöft werben und fletd auf den erften 
oder ſchweren Takttheil eintreten. Bel den Dreiklängen kann eigentlich nur der 
Grundton in der Okltave und die Terz; vorenthalten werben. Geſchieht Dies 
auch mit der Oninte, fo erhält man keinen Vorhalt, fondern einen Umkehrung 
accord. Der Ton, welcher vorenthalten wird, darf nicht zugleich in’einer anderen 
Rittelftimme vorhanden fein, wenigſtens nicht in vierftiimmigen Sägen, bei core 
recter Schreibart. Wird der Accordton von oben herab vorenthalten, fo heißt 
er ein Vorhalt von oben; in umgefehrter Tonfolge, ein Vorhalt von unten. Die 
Vorhalte von oben find bei den. Dreilängen folgende: co h, Hier iſt die 
& 


e 
C 


> Or m ER 
all 


4 3 
Zerz im Dreiflang der fünften Stufe vorenthalten, e wird als der Vorhaltoton 
benannt und h al8 der vorenthaltene; unter den Heinen Strichen — bat man ſich 
das Forttönen des Accordes zu denken. Wird die Duinte im Dreiflang vorent- 
Halten, fo entfteht, wie ſchon gefagt, fein Vorhalt, fondern folgender Umkeh⸗ 


rungdaccord: aa g. Das Vorenthalten des Grundtons in der Oftave, 
[fe — . 
ce c — 
FC— 
6 5 
3 3 
wie: d 'd c harmonirt am beften, wenn der Vorhalt in der Oberftimme oder 
ge 8 — 
Ile — 
H C— 
6 98 
b 556 
333 


auch in einer der Mittelſtimmen erfcheint, während der Brundton im Baffe 
liegt. In den Septimenarcorden kann außer Grundton und Terz auch die 
Duinte vorenthalten werden, weil hierdurch eine Diffonanz entfleht, welche alb 
bie weientliche Eigenſchaft des Vorhalts betrachtet wird. Folgende Vorhalte 


Die Aecorde. 195 
iind am gebräuchlichften : F 8, dieſe Vorhaltegeſtalt gleicht zwar dem Ab⸗ 


d— 
h— 


wu»aA- 


| 3 3 WB | 
nenaccorde, kann aber doch nicht ald folcher betrachtet werden, weil ſich die Rene 
als Vorhalt der Oltave beim Liegenbleiben des Stammacegrdes in den Grunde 
ton auflöfl. cc h und ee d. Die Geptime kann von oben herab 


ag — c h 

rt — g f — 

Id— CG6 6 

TG — 77 
17.7 6 5 
b 5 3 8 Ä 
4 3 . 


wicht vorenthalten werden, weil ber Grundton, wodurch fle vorenthalten würde, 
fein dem Septimenaccorbe fremder Ton ift und feine Diffonanz verurfacht. 
Auch bei den Ronenaccorben können Terz und Quinte vorenthalten werben, 
‚Ba a — und a 7 Daß ſaͤmmtliche Vorhaltsgeſtalten auch bei 


it — ee 
ech ch — 
fd — ef — 
FG— e 6 — 
9. — 9 — 
7 — 7 — 
5 — 6 5 
4 3 3 — 


den Umkehrungdaccorden eingeführt werden koͤnnen, verſteht ſich von ſelbſt; die 
Vorhalte im Baffe muͤſſen aber mit ganz beſonderer Sorgfalt vorbereitet und 
aufgelöft werden, weil fle am Härteften biffoniren. 


Betrachtet man die Vorhalte von unten hinauf, jo ergibt ſich, daß fle nur 
dann am beften Elingen, wenn der Secundenjchritt aus einem halben Tone bes 
ſteht. Daher wurde als Geſetz aufgeſtellt: daß die Vorhalte von unten nur 
aus halben Tönen beflehen müßten. BDemzifolge kann bei den Dur» und Moll 
dreiflängen der Grundton in ber Oktave vorenthalten werben, 3. B. 
hTh c und gis gis a, ebenfo die Terz: hTh c, und bie Septime: ee f, 


ge 8 —- e ee — gis a — ch— 
de— h c— e 8 — g;.6g- 
Gc— E A — E A— ee B— 
78 78 5 — 6 6 
2 3 4 — 

23 


aber auch Iegtere Vorhaltsgeftalt kann als Stammaccord auf E betrachtet wer⸗ 
den; ſolche mehrdeutige Accordverhaͤltniſſe erſcheinen ſehr oft. Ich will hier 
13* 


136 RUE .;: € 


wirt: alle möglichen Vorhalte herſchreiben, jeder mag :fle nach dieſer Augabe 
ſelbſt auffuchen. — 

Ueber den Charakter der Vorhalte bemerke ich noch, daß durch ihre diſſo⸗ 
nirende Eigenfchaft der Schmerz vom leifeften Weh bis zur herzbrechenden Ver⸗ 
zweiflung dargeftellt werden kann, je nach ber Wahl und Häufung diefer Accord⸗ 
gebilbe. Denn daß auch unter ihnen eine Stufenfolge des piychologifchen Cha⸗ 
rakters flattfindet, einige Vorhalte weniger hart Diffontren, ald die anderen, ges 
wahrt man beim erften Anfchlag auf dem Inſtrumente. Die Vorhalte in den 
Mollaetorden / ertönen: rauher und härter als die In den Durbreitlängen, : Man 
kann alſo die pſychologiſche Stufenfolge der Eharaktere nach: den: obigen Auden⸗ 
tungen bei-den Dreiflängen und Septimenaccorden Auffificiren. Die Vorhalte⸗ 
gebilde in Durdreiklängen deuten nur ein ſanftes Leid an, was in den Moll- 
dreiflängen und Septinenaccorden immer mehr verbüftert und zum jchneidenften 
Schmerze gefteigert werben Fan. Es verfteht jich, daß Hierbei noch Rhythmik 
und Melodik als die Seele mitwirken wüflen. Die Intention des Tondichters 
und Die gegebenen Situationen des Gefühldlebens find hier leitend bei der Wahl 
und Einführung aller Accordgebilde. So werden demnach die Vorhalte dann 
und wann berinatdet ‚gelegentlich von oben und ‚son unten; nicht ſelten erſchei⸗ 
weh'auch zwei⸗ und dreifache Vorhalte, thells von oben, theils von unteh ober 
auch in vereinigter Seftalt, naͤmlich von oben und unten zugleich. "Ein Nottu⸗ 
beiſpiel möge die Einführung dieſer Accordgebilde veranſchaulichen. 


No.y9. | | 


— — 


I 1Vv V 





im. | 1. 


| . i ' ıv f In 

Eine den Vorhalten Ähnliche Accordgeſtalt iſt die Anticipation, fe entſteht 

baburch, daß ein Tan des folgenden Accordes fchon im gegenwärtigen borauß 

ertönt, z. B. de, c, öfer von unten: he, e. Vor hundett Jahren gebrauchte 
2 8 g 4 g g a a .. on 


a Sr oe san 
H.C- de 
-i Gc 


vv ve ı ı 


J.! 
yri 


. fle Händel oft, am häufigften erſcheint fle in den Schlußaccorben. 

;; „Ueber die Vorhalte bemerfe ich noch, daß fle in der freien Schreibart auch 
nicht felten unvorbereitet eingeführt werden, ganz befonders die weniger hart 
biffionirenten. Auch geichieht es oft, daß die Töne, welche in den oberen Stim- 
men nach vorenthalten werden, in den unteren fchon eingetreten find. Hierdurch 
entfiehen die merfwürbigften Accorbgebilde und werben auch die Undecimenaccorde 


Die Werde, 197 
ats Borhalte eingeführt, 3 B. e; in den unteren Stimmen ertönt ber 


a [KA 


0 Rs 
.ru 


„oe I. 


oA Deeifang, mhende er An dm oberen an’ durch f.. vorenthalten wir: 3a 
N 


24 re 


e8 ap ſich ſogar auf ige Art. ein Zendtrinuenacrör item und’ ald Vorheſt 
einführen, wenn der Rongnacigrb ‚vorhergeht und feine oberen Töne als Vor⸗ 
halte liegen bleiben, während bie unteren Stimmen ſich in den Vreiklang aufe 
Iöjen, wie: aa g. Hiermit find wir nun an Die Grenze der Accordbil⸗ 


a, 


dung gelangt. Solche Tongeftalten möffen aber ſehr forgfältig vorbereitet und 
aufzelöft werden und harmoniren auch nur dann am beſten, wenn fle, wie hier 
geichehen iſt, Terzenweife übereinander gelegt find. Im firengen Kirchenftyl bei 
langſam fortfchreitenden choralartigen Harmonien Elingen ſie weniger qut und 
werden da auch gar nicht oder nur jelten eingeführt. Aber in der freien Schreib- 
art des weltlichen Styls erfcheinen fie öfter, ganz bejonders in den Opern und 
Sinfonien. Sie ertönen auch in den Beethoven'ſchen Trios. Als Vorhalts⸗ 
geftalt treten auch die verpönten Nonen- und Undecimenaccorde der Molltonart 
auf: h”ha oder: dA”Td cc, und: FT fe Auch Hier gibt der Terze 
gis "gis a hha dT de 


e e— gis 'gis a hhe 
d ce — 0. e— gis” gisa 5 

E A — h e— e ee — 

E A— h e— 

E A— 


deeimenaccord die ren der Necordgebilde ab, denn: eine höhere oder tiefere 
Zerzenzufügung bilder feinen: neuen Accord, fondern nur eine Tonverdoppelung. 

Neberblidten wir die. biöher erhaltenen WUccordgeftalten, jo finden wir; daß 
fte alle auf den Iettereigenen Tönen der Durs und Mollicala gebildet wurden, 
Hierdurch konnten die Melodien auch nur mit leitereigenen Accorden harmoni⸗ 
firt werden, ed war unmöglich, in andere Tonarten zu jchreiten. Es gibt zwar 
unzählige Tongebilte, welche fich alle nur in. einer Zonart bewegen, namentlich 
bie kleineren, aber größere Werke würden zu monoton und. langweilig, auch cha⸗ 
rakterlos werden, wonn fo ein paar hundert Tafte nur in ciuer Tonart jpielten. 
Da dies, wie wir täglich wahrnehmen, nicht geſchieht, fonbern alle großen Ton⸗ 
gebilde viele Tonarten, ja nicht felten alle 24 berühren, ſo fragt ſich's, wie ed 
möglich iſt, ‚dahin zw gelangen; wis'und auf: welche Art und Weiſe kaun mar 
3. 8. von C-dur nach Des-"oder 'B-dak: ſorrien, wi eine "raue; dad Gefühl 
verletzende Accordfolge zu dikben®, min: ot... Sur 


198 Ru: 


er die vorhergehenden Gnrmonien genau betrachtet und oft am Biene 
‚gefpielt hat, wird empfunden haben, daß die Schlußaccorde, welche durch den 
Septimenaccord der fünften Stufe eingeleitet wurden ‚- am hefriedigendften Flin- 
gen. Diefe Schlußfolge gewährt dad Gefühl der Ruhe und Befriedigung, nach 
ihr erwartet und erfehnt man nichts weiter, Daher entficht auch eine Täufchung, 
wenn dieſer Septimenaccord anftatt in bie erfle , in eine andere Stufe geführt, 
was aud) deshalb Irugradenz genannt wird. Durch keine andere Accordfolge 
fönnen wir einen folch befriedigenden Abfchluß erreichen, ald wenn der Septis 
menaccord der fünften in den Dreiflang ber erften Stufe ſchreitet, daher wird 
et auch Dominantfeptimenaccorb genannt, weil er das ganze Accordreich bes 
herrſcht. Aber feine Herrfchaft wird in der Folge noch augenfälliger werben, 
wie ſich fogleich ergeben wird. 


Hören wir zwei Uccorde, wie g a, jo läßt fich noch nicht beſtimmen, aus 
ee 
ec 
CA 


welcher Tonart das Mufifftüd geht; denn es kann C-dur,: G-dur, F-dur, oder 

auch, E moll fein, weil biefe zwei Dreiflänge den vier Tonarten leitereigen ange⸗ 

hören, ba fle auf ihren Tonleitern gebildet werden. Aber die fichere Entſchei⸗ 

dung tritt fogleich ein, wenn der Dominantfeptimenaccord einer Tonart erfcheint. 

Ertoͤnt a ‚ ſo folgt E-moll: g; erfcheint: a, fo erwartet mat G-dur: g; 
I 9 


fis d 
Jin, dis h c on h 
Fe H E . D W 6 
tritt h ein, jo erfolge C-dur: c; und käme b, fo müßte F-dur; a erfolgen, 

f e 8ß A 

d C e ‚ GC 
G g C F’ 


C 
Hierbei haben wir fogleich das Geheimniß der Modulation entdeckt, denn wir 
erfehen daraus, daß der Dominantjeptimenaccord der Leitftern ift, welcher ung in 
jede Zonart führt; durch ihn Eönnen wir in alle 24 Tonarten moduliren. Kann 
aber der Dominantjeptimenaccord nach jedem Accorde erfiheinen? — Nicht 
immer ; jelbft. wenn man bie nähere Verwandtſchaft zweier Accorde nicht fordert, 
ſo läßt doch nicht jede Befühlöfttuntion zu, fremde, rauh tönende Harmoniefol⸗ 
gen zu wählen. Schroffe Accorbfelgen find das Ausdrudsmittel wilder Leiben- 
fihaften, rubigere, harmoniſchere Seelenflimmungen fönnen auch nur durch analöge 
Garmonien dargeftellt werden. Alſo audy hier ift die Situation des Darzuftellen- 
den Seelenzuftandes das beflimmende Prinzip. Schreitet man aus einer extre⸗ 
men Stimmung in die andere, jo kann man auch in ganz entfernte Tonarten 
mebuliren, entfaltet fich aber. dad Gemuͤtholeben langſam und gebt vielfache 
WBandlungen Durch, jo muß dies anch durch allmälig fortführende Harmonie⸗ 
folgen geichehen; man kann dabei nicht gleich mit Sturmeseile Durch Gis-dur, 
D-moll, Es-dur, E-dur sc. moduliren, denn Died wurde ſich nur für aufgeregte 
Leidenfchaften eignen, fondern es wird allmällg in bie zu erſtrebenden Tonarten 
fortgegangen. Hierzu find alfo Vermittelungsaccorde nöthig, die uns in forte 


Die Accorde. 199 


währender Steigerung ober durch Ginfenlafjen zu dem gewünfchten Biele leiten. 
Bil man z. B, von C-dur nach E-dur nicht mit einem Schritt moduliren, fon« 
dern allmälig fanft ‚hineinführen, jo läßt man nach bem G-Dreiffange nicht 
gleich, den Dominantjeptimenascord von E-dur estönen, fondern durchgeht erft 
näher liegende Ascorbe, weldye zwiſchen C- und-E-dur liegen, 3. B. 

e, cis, d, dis, e; oder: c, h, h, cis, .cis, dis, e. 


ga ah bh g6 gu aa h Äh 
eg fs a gis ede e 5 a gs 
Ced GE CGE AFs ſis E 
:c AD HE H E 


Aber auch durch Rüdwärtsmoduliren in die Tonarten mit bb gelangt man n in 
die Tonarten mit , 4. B. 
C, c, des, cis, h. dis, e, oder: C, c, c, des, cis, eis, dis, e - 


gas as a gs kb. h gass sa. a h h 
eff oe. age . ev otif e fs a gis 
CFDes AH Ss E CAs FDes A Fs fs E 

HE | E 


H 
Bei der Wahl. aller diefer Accorde ift nur das Geſetz der Berwandtichaft 
und das äfthetifche Gefühl maßgebend. Hierbei Iaffen fich auch noch andere 
Aceosbe bilden; im Durdreiflange. und Septimenaccorde kann die Quinte ver⸗ 
kleinert werden, wodurch und folgende Accordgeſtalten entſtehen: d des c, 


8 — 8 
h— c 
g — 2 
oda: h— c, ber Wechfel kann auch ſo ſtattfinden: c, h, c, ſeltener: 
8 — 8 ee 688 
ſ— e e f e 
D Des C C Des G 
c des c. Auch die Oktave des Dreiflangs läßt ſich vergrößern, .Bccisd 
ee 8 8-8 
ef e 2 e —f 
c HG C—H 
ober: c eis d, wie im bare ber Don Juan Duserture geichieht; dort bleibt 
g—a 
e — d 


C—F 

aber der Baß als Orgelpunft Tiegen, während die anderen Stimmen verſchiedene 
Accorde durchwandeln. Hiermit habe ich zugleich das Weſen des Orgelpunktes 
angedeutet, will aber noch einige Worte darüber ſagen. Der Orgelpunkt wird 
fehr oft als Schlußcadenz eingeführt, am öfterften in Kirchenwerfen und befon« 
ders auf der Orgel, wo die Baßtöne fortgehalten werden, während die Oberftim- 
men noch viele Accorde bringen. Es kann dabei auch mobulirt und in die ent» 
fernteften Uccorde gefchritten werden, wie Spohr im erſten Sate ber Sinfonie 
„die Weihe der Töne“ thut, er ftellt einen Bewitterflurm dar: 


c, des,.d, es, e, ſ, fis, g, fs, f, e, es, d, des, c,h, c. 
g as abcecddddcchbaggg 
effisnıgbachahba f f efe 
e cc cg Ca ctccg ic c CCc 
— — —(i—t — — — 6 c — — — 


206 | u. 
= Man: denke ſich hierbei ben Baß in- Tremilandbo; ich Habe eine Kleine Aen⸗ 
derung gemacht, um an dieſem Beiſpiel die moͤglichen Faͤlle der Mecordfolgen: zu 
zetgen. Zuweilen erſcheint auch: der fortgehaltene Ton als Orgelpunkt in der 
Oberſtimme oder in einer der Mitreiſtimmen, jedoch ſeltener als im Baſſe. Als 
Hauptregeln find hierbei zu bealttten: daß der erſte Ton des Orgelpunktes mit 
einem Dreiklang oder Septimenaccord- beginnt und damit abfchließt; aber Diele 
Regel erleidet nach ber Intention des Tondichters manche Ausnahmen. Die 
zweite Regel ift: die diſſonirenden Töne dem ausgehaltenen Tone nicht zu nahe 
zu legen, wenigftend nicht zu oft und anhaltend wie des ober, ei am beften klingt 
+6. wer 
bie Seftaltung, wenn bie foetmodufienen Stimmen von dem Drgelpunftione 
etwas entfernt liegen. 
Bei diefen freien Podufationen. in alle Konatten geftatten. ſich die Ton⸗ 
dichter noch mancherlei Freiheiten in den Accordfortſchreitungen; der Dominant⸗ 
ſeptimenaccord bildet tnagfelgende Grugeadengen, wie: b, a, ober: b, as; zu⸗ 


a  3e" 
‘ee e es 
"Cs CC 
weilen auch: b, as, oder: b, B; und’ b, ss! oder: b, Us; und nicht fer 
7.50: /- EEE Zur Zu El. f 
e es ee e f e d 
cc C Cis CD CH 


tem: b, a; ebenjo: b, h; mitunter: b, h; hierbei, werben bie Duinten zwiſchen 


gs € Bis 
e es ( 9— 
CC 


Baß und Alt nicht —— ſondern als zulaͤſſig betrachtet. Noch zahlreiche 
andere Accordfortſchreltungen find möglich, mag ſie jeder in den Tonwerfen 
felbſt nachſuchen; ich will hier noch einige merkwürdige Fortſchreitungen bes ver- 
minderten Scptimenaccordes anführen. Er befteht nämlich aus lauter kleinen 
Terzen, welche durch enharmoniſche Berwandlungen andere verminderte Septi⸗ 
menaccorde bilden, d. 5. in der Benennung, nicht aber dem Klange nach. Hier⸗ 
burch kann auf die Fürzefte Art in viele Tonarten mobulirt werben, 3. B. as 


er 


ee nach C-moll 8; vermandet man abend das As an Gis, fe ehe € r und fi 


IT FRE Bu 6 u. ME Pe .. ’ nt h . 


bis 
ag. A-moll, e; wird dag h ing ces verwandelt , jo erſcheinte ces ind, feitet ‚nach 
C "as 
A: :u En ER 7 BEEeIT U 2 Be EEE DE SE Ze Eee :- 
U ww... ‘h FE Au ns i! ie En ee BE | „! D- .: 
Es-moll, bi wird in‘ eis ünd’as In gis verwankelt; fo erhält‘ man d und gelangt 
ges. 'h 
PP EL BEL Ban Ba ne are oa bis - 
oe a Eis 


Die Aceorde. 29 


nad) Fis-moll, cis; dies And die regelmäßigen Fortſchreitungen, es ſuid der 

a ⸗ 

Fis 

noch viele andere zulaͤſſig, die nicht weniger gut klingen und auch fehr oft ver 

wendet werden. Am fchönften klingt die Fortleitung, wenn. der verminderte 

Septimenaceord in den Duartjertaccord eines Durbreiflangs führt: as, a, wie 
wa f 


d ce. 

H C 
in bie finftere Nacht des kummer⸗ und thränenreichen Schmerzes ein troͤſtender 
Zichftrahl der Freude und des Friedens erſcheint, fo ertönt dieſe Accordfolge 
und ift auch unzähligemal in allen Tonwerfen eingeführt. . Erwägt man num, 
dag ſaͤmmtliche enharmoniſche VBerwandlungen des verminderten Septimenaccor- 
des auch in andere Quartfertaccorde feiten, fo bieten ſich hiermit die manigfal⸗ 
tigſten Modulationswege dar. Er löſt ſich aber auch in den Duartfertaccorb 
tes Molldreiflanged auf: f, — und hierdurch entſtehen wieder andere Accord⸗ 

d 


ha 
Gis A 
folgen. Oft führt er wieder in einen verminderten Septimenaccord: 
f, ges, g, as, ges. ges, ſ. ges. 
d. es e f e des des des 
he cas da bb ses bb 
Gs A .B U C De Des, Ges 
Ueberhaupt fann der ‚verminderte Septimenaccord in faſt alle Accorde leiten 
und aus allen Accordgeſtalten geht man zu ihm zuruͤck, wodurch die merfwürbig- 
ten Harmoniefolgen erzeugt werden, z. B.f, Ge, es, des, c, ces, b, as, 
ddec bb aa ges f 
hıhbaefff eo d 
Gs GCFs G CD EH 
u ge 6 es, d. des, sh h, e, e, f Im jämmtlichen Accordfolgen 
ee dscebb ass ac ce 
he bb age ff f foegba 
CA DB FsGE EDDscC EC HF 
fönnen auch alle möglichen Vorhalte eingeführt werden, wodurch noch viel zahl⸗ 
reichere Modulationsgaͤnge entſtehen. Jetzt kann man auf unzählige Arten in 
alle Tonarten moduliren; ich will bier nur einige Fälle citiren, wie man von 
G-dur aus in bie anderen Zonarten geht: c, c, h. — ce, ha, g. | 6,0, e, h. 
glg — g ſis d. KK fg 
edd—e den. —8373 
CDG.—cCDDE |C AD 6. 
„oh a, e!s h, h. aàa, a, g. ‚Hier habe ich auf fünf verfchiebene 
vaelkdlgegefiid- 
e ed ch|e de.edch 
GADDG.| CC GC EC DG . 
Mal von C-dur in die naͤchſt verwandte Tonart G-dur modulirt. Ich modulire 


nach E-moll: e, dis, e e.|eo,o h a, g. e, c, e, h, h. e, h. h, a, oe 


6a g. ga fſis e. 8 a 2a 2.8 886 fſis e. 
e fs e. Je ee dis h.ee e dis e. ed e dis h 
CHE|ICATMTE|CAFsS HE. CREI E 


202 Ru. 5 


bh, a, a, a, g. . Dies ind wieder fünf verſchiedene Mobulationsgänge 
ggge ee dse 
edecec hh 
CGEAFsS HE 


nad) Ermell; aber es ließen ſich noch zahlreiche Seiten vol fohreiben, fo viel 
Falle End dem fchöpferifchen Geiſte möglich. Je weiter aber die Xonarten von 
einander entfernt liegen, defto größere und zahlreichere Modulationen können er» 
funden werden, ich modulire jegt von C-dur nach Gis-moll: c. h, h, a 


er 
nr 
ms oR 
son 
mE 


eds e e.e de ds dis 
cisccsh h cs is .h ascas .h 
WEADHGE Dis Dis Gis 
fh 18 Bermittelungsaccorbe durchgangen, bevor der Dominantfeptimenaccord 
von Gis-moll erfcheint ; es laſſen fich aber Teicht viele Seiten voll Vermittelungs- 


accorde durchwandeln, bevor man vom Dominantfeptimenaccord cis nach Gis- 
ais 
fisis 
Dis 


moll fchreitet. Die großen Werte ‚aller Tondichter bieten uns bier unzählige 
Modulationdgänge der manigfaltigften Art dar; fle zu erſchöpfen ift faft gar 
nicht möglich, weil Rhythmus und Melodik noch zahlreichere Variationen und 
Mopififationen erzeugen. Durch Einführung aller zuläffigen Vorhalte wird bie 
Manigfaltigfeit noch größer. Ich gebe hier wieder ein Notenbeifpiel, um die 
Anwendung der Vorhalte in den Modulationsgängen zu zeigen. 


No 10.) 
’ ⸗ en | 
. — EZ —— _ 5 5 m nu 2* m — 3 
in ——— — —— — — * — — 


G⸗ gis, a, a, 4, gis, gis, gis, gis, fisis, gis. Hier 
0 e 
h 


4. 5 — —— 
er 
> 

| 

73 

Ext 

teſ 

Br 





. In den biöherigen einfachen Kongeftalten wurde jeber Melodieton mit 
einem entfprechenden Uccorde harmonifirt und die Kortfchreitungen der Ober- 
flmme mit durch die Qarmoniefolgen bedingt; eine ſelbſtſtaͤndige freie Entfal- 
tung irgend eines melodifchen Gedankens findet nicht ftatt, weil bier nur die 
möglichen Accordfolgen dargelegt werben follten. Wo mehrere Melobietöne auf 
einen Accord nach einander ertönen, find fie nur durch Die Vorhalte hervorges 
bracht. Solch einfache Tongebilde ohne melodijche Verzierungen werden nur 
zu choralartigen Muſikſtuͤcken des kirchlichen und weltlichen Styls angewandt. 
Dabei gefchieht es nicht felten, daß bei Iangausgehaltenen Melodietönen die 
Accorde zwei⸗, drei⸗ oder auch wohl viermal abwechfeln. Spohr's Werke find 
daran überreich, denn alle langſam fortfchreitenden Melodietöne harmoniſirt 


Die Accorde. 203 


diefer Tondichter mit mehreren Accorden. Diele italienische und franzoͤſiſche 
Eomponiften befolgen das Gegentheil, fle begleiten die möglichft größte Anzahl 
der Melodietöne nur mit einem einzigen oder ein paar Accorden. Wie ift dies 
möglich, werden viele Leſer fragen, denn nach der bißherigen Darftellung erfleht 
man nur, daß jeder Melodieton nur mit einem Accorde harmonifirt werden fann, 


Da jeder freie melodifche Aufichwung fich fehr oft in rafchen Tonfolgen 
bewegt, fo iſt e8 ganz unmöglich, daß alle fechözehntel und zweiunddreißigftel 
Roten mit Accorden begleitet werden können. Selbft wenn diefe fhnellen Har⸗ 
moniefolgen von den Inftrumenten mit Leichtigkeit und Präciflon ausge⸗ 
führt werden könnten, was aber bei vielen Stellen nicht möglich iſt, jo würbe 
das Ohr doch nicht gut zu folgen vermögen und die ganze Muſik fleif und unbe 
bolfen klingen, auch die Gemüthsſtimmung nicht zur angemeflenen Darftellung 
gebracht werten ; denn gar oft erfordert das Geiſtesleben den Wechfel mehrerer 
Melodietöne auf einen einzigen Accorde. Wir hören auf dem C-dur-Dreiflange 
etwa folgende Töne: ce dc, odr.cdec,auh:cefe,odr:chceg 


6 — :_ — 6 — 6 — 
ee — 8 — e — 1) 8 — 
— — e— e— 


und noch unzählig andere Tonfolgen, worin ſtets nur einige Töne dem Accorde 
angehören, die übrigen aber ihm fremd find. Die dem Accorde fremden Melo⸗ 
dietöne werden Durhgangstöne genannt. Auf diefe Art kann die Melodie 
eine ganze Scala über einen Accord durchlaufen; ja die chromatifche und enhar⸗ 
monijche Tonleiter läßt fich auf einem einzigen Dreiklang oder Septimenaccorde 
darchwanteln. Das Haupigejeh hierbei if: daß bie größte Zahl der Töne einer 
Paſſage dem unterliegenden Uccorde angehört, oder, wo dies nicht der Fall ifl, 
daß die melodijche Figur die dem Accorde angehörigen Töne mehr hervortreten 
läßt al8 die Durchgangstöne. Aber wie der einzelne Ton einer Melodie oft 
mehrere Accorde zuläßt, fo Fann auch eine ganze melodiſche Glaufel mit verſchie⸗ 
denen Accordgeftalten harmoniftrt werden, denn c e d c, oder: c.d e c md 
c e f e laſſen fih fomohl mit dem A-molls-Dreiflang als mit dem C-dur«Dreis 
Hange begleiteten; außerdem kann auch unter den zwei erfien Tonfolgen ber 
Dominanıfeptimenaccord auf D erfcheinen. Bei folchen zweifelhaften Hallen 
richter man fich nach den vorhergehenden und nachfolgenden Accorden und bie 
Situation ded darzuftellenden Seelenlebens gibt die fichere Entfcheidung für bie 
Wahl der Sarmonieen. Bei den erften drei Tonfolgen, wenn der C-dur- ober 
A-moll-Treiflang darauf ertönt, find d und f Durchgangstöne, die anderen ges 
hören den Accorden an; erfchiene aber unter den. erften beiden der Ronenaccorb 
auf D, fo wäre unter ihnen fein Durchgangston vorhanden, weil fle ſaͤmmtlich 
dem Ronenaccorde angehören. In dem vierten Beifpiel: e h c g, wird h als 
Durchgangston betrachtet. Aus Diefen Eleinen Beiſpielen erſieht ſchon Ieber, 
daß die Accorttöne auf den wichtigften Takttheilen ericheinen,, Die Mehrzahl bil⸗ 
den, Die Durchgangdtöne nur nebenbei berührt werden und auch — mit Aube 
nahme des dritten — auf dem leichten Takttheil eintreten. Um zu veranjchaus 
lichen, wie viel Töne auf einem einzigen Accord erfcheinen können, gebe ich noch 


204 Muſik. 


folgendes Beiſpiel mit der Melodie in der Oberſtimme: chceagfedch:.c 


EZ 

e , — e — 

om . . . C — c — 

hgahcdefgafh, cgeegfede. Hiermit iſt aber noch nicht die 
Il — df— e — 6 
d — hd — 0 — € 


Mrenze gegeben, denn « laſſen fh wohl 16, zuweilen 30 und noch mehr Takte 
mit der chromatiichen Scala über einem Accord durchwandeln. Nach Diefer 
Darlegung wird jeder Pianift die Verhältniffe der Melodie und Harmonie an 
den Zonwerfen fludiren und eine gründlichere Einjicht in das Weſen derfelben 
erlangen Fünnen.. 

Was den Röptkmus,i der Melodie betrifft, .jo ift zu bemerken, daß er gleich⸗ 
zeitig mit Der Melodie im Geiſte des Tondichters erzeugt wird. ‚Denn eine Me⸗ 
Iodie ohne Rhythmus ift nicht denkbar und würde noch chaotiſcher erfcheinen ald 
eine Seite Schrift ohne Interpunftiondgeichen und ohne Satz- und Periodencon⸗ 
ſtruction. Selbft Die einfache Choralmelodie ohne beftimmtes Tempo ftellt einen 
geordneten Rhythmus in halben oder ganzen Noten dar, wenn auch in der ein« 
fachften Geſtalt. Wie es:fich aber mit denv Rhythnuis der Begleitungsftimmen 
verhält, das iſt eine:anidere Frage. Schon oben wurde benierft, daß die Beglei⸗ 
tungsſtimmen nicht inner — ja nur äußerft jelten — mit der Melodie diefelben 
ſchnellen Tonbeimegungen machen können, fondern oft ein», zwei⸗, dreis und ges 
legentlich auch viermal langſamer einherſchreiten. Während die Melodie ſich in 
Achteln, Sechöschnteln, Zweiuinddreißigfteln oder Vierundſechdzigtheilen bewegt, 
können die Begleitungsſtimmen in Vierten, halben oder ganzen Roten fort 
gehen, und nicht felten fommt es vor, daß flc ruhig unter einem Salt liegen 
bleiben, während die Melodie die ſchnellften Pafjagen macht, wie das vorzüglich 
bei Gadenzen gebräuchlich it. Was aber beſtimmt nun den Rhythmus und Die 
Bavegungdformen ter Vegleitungsſtimmen? Daß dies audy-nur die Melobie, 
the. Geiſtesgehalt und dic Situation des bdarzuftellenden Seelenlebens vermag, 
:einleuchtend klar; denn auf eine Trauermelodie läßt fich Erin hüpfender Tanz⸗ 
rhothmus in die Begleitung wählen... Aber dennoch wird durch eine Melodie 
nüht beftimmt angegeben, was für eine rhynhmiſche Bewegung die Vegleitungs- 
flinnmen ausführen follen;. ja man findet oft, daß Melodien mit ganz verfchte- 
benartigen Bewegungen und Biguren in der Begleitung harmonifirt find; und 
Bei vielen ſteigt oft der Zweifel auf, mit was für Begleitungäfiguren, ob Trio⸗ 
fen, Achteln, Sechszehntheilen ze. fte fich harmoniſtren laſſen. Hierbei iſt der 
Tondichter ganz auf die innere fpezififche Ihätigkeit ſeines Geiſtes angewieſen, 
ir durchdenke die darzuftellende Situation des Seelenlebens und laſſe die Mes 
Iodie im Innern feiner Phantaſte ertönen, jo werden gewiß auch ihm die zu 
wählenden Begleitungsformen vorſchweben. Ie mehr dad Zarigefühl der Ton⸗ 
Lichter ausgebildet iſt, deſto ficherer werden fle dad Wahre und einzig Ange 
meſſene treffen. : Es laſſen: ſich hieruͤber nur wenige Regeln geben. Wenn man 
fagt, der Walzet muß einen walzenden, der Marich. einen marfchirenden, der 


Die Accorde. 205 


Galopp einen hüpfenden Rhythmus in den Begleitungsſtimmen haben, fo find 
dies nur allgemeine Andeutungen, die in der Aeſthetik tiefer erörtert und fpe« 
zieller mit Beiſpielen targeitellt werden müſſen. ber die Tanzbegleitungsfors 
men laffen fich leicht finden und fink auch ſchon längft aufgefunden worden, 
ſchwieriger ift aber die Begleitung in der Sinfonie, Oper. und nicht jelten im 
einfachen Liebe. Denn gar zu oft gewahren wir, daß die Zondichter einen an 
ſich guten und fchönen melodijchen Gedanken durch eine widerliche und ſchwül⸗ 
ftige Begleitung ganz verunjtaltet haben, beionderd wenn gewiſſe Biguren teren 
typ durchgeführt. werden, um mit Eontrapunftifcher: Gelehrſamkeit zu fchreiben. 
Lind diefer faljch gewürbigten und unrecht verfiandenen Fontrapunftifcyen Gelehr⸗ 
janıfeit wird dabei Die Schönheit des melodischen Gedankens und die Wahrheit 
der Idee geopfert. Daß dieſe trodene Gelehrienpedanterie die Zuhörer nicht 
elektriſch zu begeiftern vermag, wird ſchon Jeder in Eoncertfälen erlebt. Haben, 
Alle Xehrer follten ihre Schuler davor warnen, denn eine ſchöne Melodie mit 
der einfüachften Begleitung ergreift uns. tiefer und bringt eine begeiitertere Sees 
fenitimmung hervor, als wenn diejelbe mit zahlreichen fontrapunftiichen Figuren 
in ter Begleitung fo überladen wird, daß der Gedanke darunter ganz unterdrückt 
und erjtidt wird. Dieſe Worte jind aber nicht gegen tie hochbewunderungs⸗ 
würdigen polyphonijchen Meifterwerfe der. Klafjifer gerichtet, ſondern beziehen 
fich nur auf Diejenigen Tondichter, welchen dad gelehrte Wiſſen noch nicht zum 
Gigenihum des Lebens, zu Fleiſch und Blut geworben iſt, fondern ald tobser 
Schat im Gedaͤchtniß vergraben liegt, von dem gelegentlich Gebrauch gemacht 
wird, wo es gilt, eine gelchrte Phyſiognomie zu zeigen. Andererſeits hat man 
ſich aber auch zu hüten vor der gar zu trivialen Harmonifirung und Begleitung, 
wie fie viele jchnelljchreibende Italiener und Franzoſen in ihren leichtfertig gear- 
beiteten Opern darbringen. Hier ermüden oft die jchönften Melodien durch 
ihre langweilige Begleitung und monotone Harmonijirung: Ganze Seiten lang 
wechjeln oft nur mit zwei Accorden, Zonifa und Dominante, welche in gewöhn⸗ 
licher Viertels oder Achtelbewegung weiter ſchreiten. Das Studium der großen 
Meiiterwerke und das tiefe Durchdenfen der jebedmg! darzuſtellenden Situation 
des Geiſtes, führt auch hier zum hohen Biel und läßt dem Tondichter das einzig 
Wahre und Schöne finden. So vielfach auch die verjchiedenen Begleitungé⸗ 
formen uns ſcheinen und jo manigfaltiger Variationen fle fühig find, jo laſſen 
ſie jüch doch in zwei Hauptabtbeilungen Elajjificisen, welche Daun in untergeord⸗ 
nete Gruppen eingetheilt werden. 

Die zwei weſentlich verſchiedenen Vegleitungẽformien kann man als die har⸗ 
moniſche — auch homophoniſche — und. als figurative — oder polyphoniſche 
— Begleitung benennen. | 

Die eritere habe ich jchon oben in der einfachiten Geſtalt dargelegt. Auch 
ſie zerfällt in zwei Unterabtheilungen, wie ſchon gezeigt wurde. Die erſte und 
einfachſte Harmoniſirung iſt, wenn, wie oben geſchah, jeder Melodieton mit 
einem Accorde begleitet wird. Nur langſame, choralartig weiterſchreitende Mes 
lodien können auf dieſe Art harmoniſirt werden. Die zweite Begleitungsform 
in ter Homophonie beſtebt darin, daß mehrere Melodietöne mit einem einzigen 


206 Mill. 

Aecorde harmonifirt werden, wie bei den Durdigangbtönen gezeigt wurde. Hier⸗ 
bei bewegen fich die untergelegten Accorde theils in Ganzen, Halben, Bierteln, 
Adyteln und Gechäzehnteln, zuweilen auch beim Tremulando, in noch fchnelleren 
Roten, ober die Accorde werden nur einfach audgebalten. Alle diefe Bew 
gungsformen bedingt und beftimmt der Geiſt bes Touſtückes und die darzuſtel⸗ 
Iende Situation des Seelenlebens. Hierdurch wirb es auch erflärlich, wie eine 
Melodie im Verlauf des Werkes verfchiedenartig harmonifirt und begleitet wird. 
Treten neue Semürhöfituationen hinzu, werden tiefere und andere Beldenfchaften 
dabei erregt, fo müffen fle durch neu hinzutretende Begleitungsformen zur Dar» 
Rellung gebracht werden : wie Died 3. B. in Robert der Teufel in Raimbaur’s Lied: 
„In des Rormandie” geſchieht, welches erſt in einfacher Begleitung erfcheint, 
dann aber mit ſchauererregenden Baßpaflagen auftritt, weil während der Erzaͤh⸗ 
Iung von ber Teufelsverführung ber kochende Groll der Hölle in Bertram’s 
Bruft erwacht und in den grollenden tobenden Begleitungsfiguren zum Ausdrud 
gebracht wird. Daffelbe Beifpiel bietet und die Tannhäujer-Ouverture bar; 
auch hier beginnt eine einfach choralartige Melodie ohne jeden Schmud der Be⸗ 
gleltung; aber im Verlauf machen ſich andere Mächte geltend; der Kampf des 
chriſtlichen Glaubens und die feurige Wolluft des Venus beginnen zu ringen und 
zu ſtreiten; ſo ertönt einerfeltö ber fromme Pilgergefang und andererſeits 
ſchwirren die Klänge der Backhantenluft in faft unerichöpflichen PBaffagen ber 
Gelgen weiter. - Ebenfo verhält flch’6 in ben Gugenotten; ber Choral: „Eine 
feſte Burg iſt unjer Gott!“ iR das Geber und Beldgefchrei der Broteflanten, zu⸗ 
gleich ertönt aber auch nebenbei ber furchtbare blutige Kampf ber entfeffelten 
Blaubenszwietracht in einem Theil der Begleitungsflimmen. Dergleichen Beis 
fpiele aus großen Meifterwerten könnte man zu Taufenden auffinden. 

Um wieder auf die einfache, homophone Begleitung zurüdzufommen, bes 
merfe ich noch, daß fie bei einfachen Liedern, Tänzen, Märfchen und theilweiie 
ſelbſt In Ouverturen, Sinfonien, Opern und Oratorien angewandt wird. In 
folgen großen Werken erfcheint fie abwechfelnd mit der polhphonen Begleitung, 
je nach der darzuſtellenden Idee des Tondichters fich richtend. Jeder weiß aus 
Tanzen, Märichen x., daß. hierbei die Accorde in den verſchiedenſten Rhythmen 
ertönen, als Viertel, Achtel, Sechszehntel fich fort bewegen oder vor» oder nach⸗ 
gefchlagen werben. 

Auch die polyphoniſche Begleitung laͤßt ſich In zwei Unterabtheilungen 
flaifificiren, in die figurative und contrapunftifche. 

Die Begleitung der Figuration befteht darin, daß eine oder mehrere Stim- 
men Die Accorde nicht gleichzeitig erklingen laſſen, fondern fänmtliche Accorb« 
töne einzeln nacheinander vortragen. Durch diefe Zerlegung ber Aceorde in bie 
einzelnen Beſtandtheile wird ſtets eine etwas melobifche Geſtalt gebildet, wor 
durch die Begleitung an Intereffe gewinnt. Hierzu wird regelmäßig eine be 
flimmie rhythmiſche Figur gewählt, entiweber Achtel, Sechözehntel, Bweiunddrei- 
Bigftel oder Triolen in Vierten, Achteln, Sechszehnteln x. welche dann fo lange 
beibehalten wird, als das Tonwerk fich in derfelben Gemuͤthaſtimmung bewegt; 
ber Uebergang in eine andere Seelenſtimmung führt auch oft eine andere Be⸗ 


Die Aceorde. 207 


gleitungsſigur herbei, nicht jelten zieht fle fich aber in der neuen Geiftesfituation 
fort, je nachdem diefe mit der vorigen verwandt oder ihr entgegengeie: if, Ich 
Gilde Hier aus Accordfolgen eine figurative Begleitungsfigur, die man ſich aus 
Triolen beſtehend denken mag; das Komma deutet das Ende eined Taktes alfe 
einen Taktſtrich an; die erflen vier Töne fleigen aufwärts, die anderen zwei abe 
wird: Cacecg, Fadfda,Gcegec, Ghdfdh, Aceaec, 
Fefafc,Fscesaes,Gcegec Ghdfdh, Cegcge, C 
Der erſte Ton bed Accordes gibt jedesmal den Baßton, bie anderen bilden bie 
vollfändige Harmonie, woraus man erflcht, Daß auch unter ihnen eine regel⸗ 
mäßige Fortſchreitung und Auflöfung flattfindet und dies iſt das wichtigfie 
Hauptgeſetz bei der Figuration. Auch hierbei müflen die ſchlechtklingenden 
Quinten⸗ und Octapenfortichreitungen vermieden werden. Bebenft man nun, 
dag alle möglichen rhythmiſchen Geftalten zur Figuration verwendet werden 
können, jo bieten ſich auch hierdurch unzählige Begleitungdformen dar. Je mes 
Iodifcher dergleichen Figuren gebildet werben, deſto höher verichönert fidh der 
Werth des Tonſtücks. 

‚Um tie größte Manigfaltigkeit in der Figuration zu erzeugen und mög. 
lichft viele Begleitungdformen zu fchaffen, hat man dabei auch die Durchgangs⸗ 
töne angewandt; ich gebe auch von einer folchen Begleitungäfigur ein kleineß 
Beifpiel, bemerfe aber zuvor, daß die Durchgangstöne. hierbei nur ſparſam ein» 
geführt werden können, wenn ber Charakter der Begleitung nicht verwifcht und 
aufgehoben werden fol. Man denke fi die Bewegung in Achtelnoten: C g fis g 
egce,Hgfsgfhdg,Ggfsgegce,Fagsafadf,Ggfsgegce, 
Gefsgfhdg, Cgfsgecge, C. — Solche Begleitungsfiguren, bie 
gleichfam eine Rebenmelodie bilden, werden vorzugöweije bei getragenen Ge⸗ 
jangsmelodien mit lang aushaltenden Tönen angewandt. Mitunter ericheinen 
fie ganz allein, ohne jede andere Begleitung; die gegebenen zwei Beiſpiele eignen 
fich zur Baßbegleitung. Oft aber wird neben der figurativen Begleitung auch 
die homophone oder einfach harmoniſche eingeführt. Die anderen Stimmen 
tragen dabei die Accordtöne in einer einfach rhythmiſchen Geſtalt vor. Auch 
diefe Harmoniſtrung will ich Hier veranfchaulichen, die Oberflimme trägt die Fi⸗ 
gurarion vor und die unteren halten die Accordtͤne: egegecge®, 


c 
Die Striche — deuten auch bier dad Fortbalten der g — 


Tone an. 6 — 
fascasfe as ſ, f as des as f des as f, ges b des b ges des b ges, 
c — des — des — 
as — as — b — 

F — Des — Ges _ 


Die ausgebhaltenen Töne der unteren Stimmen können aber auch, wie ſchon 
gefagt, in Halben, Vierteln, Achteln ae. fortfchreiten, je nachdem es ber darzu⸗ 
ftellende Eharakter bedingt. Nach diefer Darlegung gebe ich noch ein Roten» 
beijpiel, enthaltend eine Melodie mit einfacher und figurativer Begleitung: 


208 EYE Mußk. 





Die Melodie in der Oberftimme bringt Borhalte und Durchgangstöne; die 
—** Begleitungsſtimme in Achteltriolen hat zur Verzirrung einen Durch⸗ 
gangston erhalten, alle anderen Stimmen dienen mehr zur Accordausfũſlung 
und bewegen ſich daher in halben und Viertelnoten. Welche außerordentlich 
große Manigfaltigkeit ‘nie geiſtreichen Tondichter aller Zeiten hierin entfaltet 
haben, Das möge man in ihren Werfen felbft nachiehen, da findet man bir merk: 
würbigften figurätiven und Homophonen Begleitumgeformen, wodurch ein Them 
auf unzählige Arten harmoniftrt werten kann. ©: 

Aus dem legten Notenbeiſpiel erffeht'man, daß die figurative Vegleitunge— 
ſtimme etwas melodiſch gehalten iſt. Wird ein ſolcher Nebengedanke zur wirk⸗ 
lichen Melodie ausgebildet und oftmals mit dem Hauptgedanken verbunden und 
auch wohl als ſelbſtſtaͤndiger für ſich beſtehender Gedanke im Verlauf des Ton- 
ſtuͤcks durchgebildet, jo nennt man ſie eine contrapunktiſche Melodie und hier- 
durch entſteht die contrapunktiſche Schreibart, welche auch als polyphoniſcher 
Styl benannt wirt. Außer dieſer contrapunktiſchen Melodiengeſtaltung tragen 
bie anderen Stimmen die Accorde in einfach rhythmiſcher Tonbewegung vor. 
Aber nicht felten werden mehrere Stlinmen melodifch ausgebildet und dadurch 
verſchiedene Nebengedanken erzeugt. Dieſe Nebenmelodien werden dann thema⸗ 
tiſch durchgeführt und "gelangen oft zu großer Herrſchaft über den Hauptgedan⸗ 
fen. Man denke hierbei an die Fugen und dergleichen Tonſtücke, welche im po⸗ 
lyphoniſchen Styl gehalten ſind. Beſonders zeichnen ſich hierin die Beethoven- 
ſchen Sinfonien aus, wo nicht ſelten alle Stimmen zur polyphoniſchen 
Begleitung verwendet find. Jedoch wird bei mehrſtimmigen Werken mitunter 
nur ein Theil der Stimmen zur Polyphonie ausgebildet und die übrigen zur 
Accordfüllung in einfacher Homophonie weitergeführt. Aber auch hierbei erfolgt 
dann wieder bie Abwechfelung von der Polyphonie zur Homophonie und umge- 
kehrt und dieſe Abwechſelung und Vereinigung der zahlreichen Begleitungsfor⸗ 
men in ihren manigfaltigen Variationen, erzeugt den hohen Werth des Ton- 
werkes. Die einfachfte Melotie kann burch Tchöne Begleitungsfiguren fo veredelt 
werden, daß eine ganz andere Geftalt daraus entftcht. Ich erinnere hier nur an 
Schubert's Lieder, welche Fr. Liszt für Pianoforte übertragen bat. Die ein« 


4a 


Die Accorde. | 209 


fachen Melobien find Hier mit einem wunderbaren Tongehalt des Begleitung 
auögeflattet; die künſtlichtten Arabeskenwindungen der Figuration bilden bie 
teizenditen Tonblumen. Auch die anderen Pianoforte-Gompofitionen dieſes 
Tondichters und bie Werke von Thalberg bieten dergleichen wundervolle Schoͤn⸗ 
beiten durch die figuratine und contrapunktiſche Begleitung dar. Beethoven hat 
im Adagio feiner B-dur- Sinfonie ein regelmäßig burchgeführtes Fugato im 
Streichquartett eingeführt, während die Blasinftrumente eine Tangfame getragene 
Melodie vortragen. Hierbei dient die contrapunftifche Durchführung der The⸗ 
mata nur als Begleitung, obgleich man leicht zweifelhaft werden Eönnte, welches 
der Hauptgedanke if, da beide von hoher Wichtigkeit find. Dies tft aber ſehr 
oft ber Ball beim polyphonifchen Styl, denn bei zahlreichen Sägen der contra⸗ 
punktiſchen Schreibart ift oft ein Thema fo wichtig als das andere, fo daß man 
feinem die Priorität zuerfennen und es als Hauptthema betrachten kann. Jedes 
ift Hier ein Glied im Organismus des großen Ganzen, ein felbftfländiger für 
fi beftehender Gedanke, aber doch auch zugleich Diener des ganzen Werkes, 
vergleichbar den Kreaturen des Weltalls, welche ald Individuen ein ſelbſtſtaͤndi⸗ 
ges Dafein leben, aber doch auch zugleich als dienende Glieder in der großen 
Weienkette des Univerfumd fungiren. In der polgphonifchen Schreibart vers 
ſchwinden alfo die Gegenſätze von Melodie und Begleitung, denn alle Stimmen 
bringen melodifche Gedanken, welche thematijch durchgeführt werden. Diefem 
Stol gebührt ein befonderer Artikel, der die darin gefchriebenen Kunftgatiungen 
betrachtet. Wir find bier an ber Grenze des vorgeſteckten Zieles angelangt; 
wollte ich fle überjchreiten und ffizzenhafte Streifzüge in das Gebiet der Kugatos, 
Canons und Fugen machen, fo würde nur Unverfländlichkeit für die Leſer ent 
fiehen, welche die Theorie der Eompofltion nicht ſtudirt haben. Sollte aber 
mancher geehrte Leſer, welcher in der Muflf nur Eurze Zeit Studien im Piano 
Ipiel machte, auch diefe Abhandlung nicht fogleich faplich finden, fo bitte ich um 
ein zweimaliged Durchftubiren, dann wird er fich gewiß belohnt fühlen, denn — 
wie ſchon gefagt — mein Hauptzweck bei der Ausarbeitung war: den Dilettan⸗ 
ten in der Tonkunft eine Elare Einficht und einen Begriff von den Harmonie 
folgen zu geben, weil ihnen hierdurch der Geift der Tonwerke verftändlicher und 
das praftiiche Erlernen eines Inſtrumentes erleichtert wird. 

Was nun die Bertheilung der Stimmen an die Inftrumente — die In⸗ 
firumentirung — betrifft, fo ift zu bemerken, daß dem höhergebildeten Tondichter 
fogfeich beim Erzeugen der Melodie auch-bie übrigen begleitenden Stimmen in 
feinem Geiſte mit ertönen. Während die Melodie in jeiner Phantafte vorüber 
gebt, Hört er auch zugleich die anderen Occhefterinftrumente in ihren Beglei⸗ 
tungöfiguren mitflingen. Und jeder Gedanke wird jchon im Entſtehen für fein 
beftimmtes Inftrument gedacht; fein pſychologiſcher Charakter eignet fih dann 
nur am beften für das Inftrument, wofür er gedacht wurde, das Gellofolo im 
Anfang der Sreiichüg-Ouverture würde feinen Gharafter verlieren, wollte man 
ed auf dem Piano vortragen; ebenfo ift das Hornſolo dieſer Ouverture nur für 
Die Hörner erbacht; Geigenfiguren eignen flch nicht für Blasinftrumente und une 
gekehrt. Es entfichen jedoch auch melodijche Gedanken, welche von verjchiedenen 

V. 14 


2160 NMuſik. 
Mſtrumenten gleichzeitig vorgetragen werben können, weil ſte ihrem Klang⸗ 
charakter nicht zuwider find; nur iſt dies nicht bei allen der Ball. Die bekann⸗ 
fen Xrompetenfanfaren erhalten ihren eigenthümlichen Gharakter nur anf ber 
Trompete, bei keinem anderen Inftrumente bleibt dieſe Eigenthümlichkeit, ſon⸗ 
dern wird mehr oder weniger geändert ober ganz verwifcht, je nachdem ihr Ton 
mehr oder weniger dem ber Trompete verwandt oder heterogen if. Als Weber 
feine Freifchüg-Ouverture ſchuf, hörte er gewiß bie angegebenen Soli zugleich 
son den beſtimmten Inftrumenten in feinem Geiſte ertönen. So ergeht es aber 
nicht immer den Schülern der Compoſition, fie find oft verlegen, welchem In⸗ 
ſtrumente fie eine Melodie geben follen und weldyem die Rebengedanten zu über- 
tragen find. Erſt durch vieljähriges Stublum des Charakters aller einzelnen 
Inſtrumente und durch dag ftete Bemühen, alle Gedanken fogleich im Entſtehen 
für die beftimmten Inftrumente zu denken, wird es ihnen möglich, charakteriſtiſch 
wahr für alle Inftrumente fchreiben zu Eönnen. 

Nach diefer Darftellung ift e8 nöthig, einen Rückblick auf den Entwicke⸗ 
. Iungögang der Tonfunft zu thun, um wahrzunehmen, wie die verfchiebenen Har⸗ 
moniſirungs⸗ und Begleitungsformen im Verlauf der Zeit von den Tondichtern 
erzeugt und in ihren Werfen angewandt wurden. — Nach dem fchönen Barten 
Europas müflen wir fchauen, in das füßduftende Land der Myrte und Orange; 
dort lebten und wirkten im 15. und 16. Jahrhundert edle Eenntnißreiche Fuͤr⸗ 
ſten, welche mit den einſichtsvollſten Männern ihres Landes beſtrebt waren, in 
allen Regionen der Geſellſchaft höhere Beiftesbildung zu befördern, Die Ge⸗ 
lehrten überfeßten und erläuterten die alten Elafflichen Schriftfteller von Grie⸗ 
Henland und Rom, welche verebelnd und begeifternd zu eigner Produktion an⸗ 
feuerten und jenes Blüthenzeitalter in Kunft und Wiffenfchaft erzeugten, das 
wegen feiner weltgefchichtlichen Bedeutung und Epoche machenden Wirfung al8 
das MenaifiancesBeitalter benannt wird. Ja e8 war eine geiſtige Wiedergeburt 
für die Völker Europa’8, welche in Italien begann und in furzer Zeit durch 
Branfreich, Deutfchland und England zog und überall die Menfchen neu belebend 
zu tiefen gelchrten Studien und zur produftiven Thätigkeit in Kunft und Wiſſen⸗ 
ſchaft antrieb. Die hoben Geiſtesſtimmungen jener Zeiten, welche die Dichter 
und Maler zu ihren Werken begeifterten und in ihnen zum höchſt vollendeten 
Kunftausdrud gelangten, belebten auch die Tondichter jener Epoche und erzeug⸗ 
ten bie unfterblichen Tondichtungen des Paleftrina, Allegri u. A. Nachdem alfo 
die Kulturvölker der Neuzeit Die großen Dichter der Hellenen und Römer aufge 
funden, die Gedanken und Ideen der antiken Welt geiftig in fly aufgenommen 
und ein Arioſt, Dante, Taffo, Petrarka u. v. A. ihre hochvortrefflichen Meifters 
werke reich an Gefühle und Ideenleben erzeugt Hatten, und nachdem die ehr- 
würdigen Maler M. Angelo, Eorregio, Raphael, Vinci, Romano, Rubens x. 
ihre unnachahmlichen Heiligenbilder den chriftlichen Völkern zur Schau ausge⸗ 
ſtellt: erſt nad diefem überreichen Entwidelungsgange bes geiftigen Lebens 
Tonnte die Heilige Tonkunft als Iautere Kirchenmuflt in verklärter Vollendung 
and dem menſchlichen Geiſte geboren werben. Jetzt war das ſubſektive Seelen- 
leben fo reich an tiefen Gefuͤhlen, Empfindungen und Gedanken geworden, daß 


Die Accoerde. 211 


es durch die innerft eigene Thaͤtigkeit des mächtigen Ideenlebens gebrungen 
wurde: in Tönen audzufingen, was Geiſt und Gefühl fo gewaltig ergriff und 
bewegte, in wunderbar ſchönen Tongebilden wurde e8 lautbar, was bie tieffühe 
lende Menfchenbruft von Luft und Leid durchbebte. — Wohl Hatten fchon bie - 
zartfühlenden Rinnefänger Wolfram von Eſchenbach u. A. auch zahlreiche Lies 
beögefänge und bacchantiſche Trinklieder geſchaffen, fowie auch die Meiferfänger 
Hans Sachs und Genoſſen Iuflige weltliche Melodien bildeten; aber alle dieſe 
Produkte waren mehr der Erguß einer augenblicklich erregten Seelenſtimmung, 
wurden oft nur ertemporirt und nur wenige Erzeugniffe an die kommenden Ges 
ſchlechter überliefert, was deshalb nicht gut möglich war, weil fle unfere gegen- 
wärtige einfache Rotenfchrift noch nicht befaßen, wodurch fle genau hätten copirt 
werden können, um fo der Rachwelt aufbewahrt zu werden. Auch wurbe bie 
auffladernde Weltluft gar zu bald wieder durch die fchwermüthig religiöfe Ge⸗ 
müthöftimmung verdüſtert. Daher Tonnte die weltliche Muſik in jener Zeit 
niemals herrfchend werden und zu hoher Vollendung gelangen, denn das ganze 
Geiſtesleben jener Völker war zu fehr von der düfteren Religionsanſchauung 
und deren fehmerzlichen Eeelenflimmungen umflort und abgewandt von aller ir⸗ 
difchen Luft des Heitern fchönen Menfchenlebens im Erdenthal. Da auch bie 
damallgen Staatöverhältniffe noch nicht fo wohl und gut organifirt waren, fon» 
dern fehr oft Durch blutig zerflörende Kriege und revolutionäre Aufftände ganz 
zerrüttet wurden, und das gefellige Leben durch Glaubensſpaltungen verbannt 
und die Menſchheit in viele Parteien und Secten zerfiel, wodurch der Glaubens⸗ 
zwift bis an ben heiligen Herb des traulicy häuslichen Familienlebens getragen 
und Hier die lichende Mutter von den Kindern trennte, dort ben forgenden Vater 
aus dem Bamilienfreife in den Kerfer und den Sohn auf den Scheiterhaufen 
führte, wo fle unjäglich büßen mußten für das ‚„‚Richtglauben” an einige For⸗ 
meln und Dogmenfäge, die oft nur durd) ein paar Worte von einander abwi⸗ 
hen ; da alfo bei foldyen Zuflänten das arme Menſchenherz nur in Schmerz 
und Leid erbebte, fo konnten dieſe thränenreichen Seelenftimmungen auch nur 
ſolch ſchauervolle Mollharmonicen erzeugen, wie fie und die Werke der damaligen 
Kirchentondichter der Meſſen, Miferere’8, Requiems x. darbieten. Denn in dieſen 
tiefen Nöthen des öffentlichen Jammers und haͤuslichen Schmerzes eilten bie 
frommgläubigen Chriften in die Heiligen Dome, warfen fich Dort vor den gött« 
lichen Bildern ihrer großen Maler nicber und fchauten empor zu dem Heiland 
der Welt, zu dem erhabenen Schmerzensdulder, wie er an's Kreuz geichlagen 
unfagbare Todesfchmerzen litt für fein göttliche® Beftreben: die Menjchheit aus 
ihrem alltäglichen Sündenleben zu erretten, fie zur Religion der ewigen Liebe 
und lichten Wahrheit zu führen und ihr die Erkenntniß des heilig gerechten 
Gottes zu offenbaren, welche den wahren Frieden gewährt im irbifchen wie im 
jenfeltigen Leben. Aber auch der weniger von Sorgen und Kummer belaftete 
Menſch mußte auf's tieffte erregt und bewegt werben, ſobald er fi in das 
Anfchauen der wunderbaren Helligenbilder verfenkte Hier mußte er ganz 
unwillkuͤrlich nachempfinten und ſympathiſch mitleiden jene furchtbaren Qua⸗ 
Ien, denen bie erhabenen Dulder und edlen Märtyrer für ihr heiliges Leben 
14° 


212 Muſik. 


und Wirken am Kreuze oder auf dem Scheiterhaufen erliegen mußten. — 
So war egs alſo zuerſt vorzugsweife die Poeſie und Malerei jener Zeit, worin 
ſich die religiöſe Anſchauung und Gemüthoſtimmung in der Totalitaͤt des Sees 
lenlebens manifeſtirte, wodurch das ſubjektive Geiſtesleben auf's tiefſte in Reſo⸗ 
nanz verſetzt und das ganze Gefühls⸗ und Empfindungsleben jo mächtig erweckt 
und erregt wurde, daß es ſich in Tönen, in fchönen rhythmiſirten Tonverhaͤlt⸗ 
niſſen und wohlgeordneten Accordfolgen ausſingen mußte. Betrachten wir nun 
biefe Geiſtesſtimmung der damaligen Ehriftusgemeinden, wie fie in den Werken 
der Poeſie und Malerei zur Erfcheinung kam, jo wird es Elar und einleuchtend, 
wie durch fie fo echt Firchliche Werke gefchaffen werben Eonnten. Ja biefer 
mächtige Geiſtesprozeß mußte urgewaltig und naturgemäß ſolche unfterbliche 
Kunftprodufte erzeugen, weil ex dadurch felbft zur objektiven Verwirklichung ges 
gelangte. Durch feine waltende Macht erflanden uns die großen italienischen 
Kirchencomponiften, deren Werfe noch heute als heilige Denkmäler des eifrigen 
Ghriftusglaubens bewundert werben. 
Orchefterwerke find und aus dem 15. und 16. Jahrhundert nicht überlie- 
fert worden, fondern nur die Heiligen Befänge der Kirchentondich:er. Sie bes 
wegen fich theilweiſe in Iangfamen choralartigen Melodieen mit einfacher Stim⸗ 
menführung, theils in etwas Tünftlicher contrapunftifcher Geſtalt, wo jede 
Stimme weientlichen Antheil an der Durchführung der Themata bat. In der 
Wahl der Accorde befchräntte man ſich vorzugswelfe nur auf die Dreiflänge und 
ganz bejonder3 vorberrichend waren die Molldreiflänge. Die Septimenaccorbe 
wurden noch nicht ober Außerft felten eingeführt und dann größtentheils ad 
Vorhaltsgeftalt. Ueberhaupt wurden die Vorhafte jehr häufig angewandt, bie 
haͤrteſten Diffonanzen, Eleine Secunden uud große Septimen erfchienen oft in 
jedem Takte. Die-Urfache diefer Sarmoniftrung habe ich ſchon im vierten Bande 
dieſes Werkes in Geift und Charakter in der Tonkunſt angedeutet. Baft alle 
religiöfen Gefänge wurden ohne Inftrumentalbegleitung aufgeführt, fpäter trat 
Drgelbegleitung Hinzu, welche aber Eeinen neuen Gedanken und auch Feine ans 
deren Begleitungsformen hinzubrachte, fondern nur die Singftimmen vortrug. 
Und ald am Ende des 16. Jahrhunderts Geigen und Blaßinftrumente mit zur 
Begleitung erwählt wurden, fo hatten auch biefe nur felten eine andere Figur 
audzuführen, fondern verboppelten nur die Singftimmen ganz fo wie die Orgel, 
Selbſtſtaͤndig traten die Inftrumente nur dann auf, wenn fie Vor⸗, BZwifchen- 
oder Rachipiele ausführen mußten, was aber jelten geſchah, weil bie Inſtrumen⸗ 
taliften zu wenig leiſteten und die Blasinſtrumente noch fehr unvollfommen 
waren ; Dagegen gab e8 aber fchon bewunderungswürdige Sänger, welche eine 
große Virtuoſitaͤt im Vortrag der Goloraturen entfalteten. Und als biefe 
Sängervirtuofttät immer höher flieg, wurden auch kunſtvollere Tongeftalten er⸗ 
zeugt, welche die glänzendften Baflagen zum Hauptinhalt Hatten. Der jüdliche 
Duft der Melodik blieb in den italienifchen Tondichtungen vorherrſchend, waͤh⸗ 
rend bie Niederländer und Deutfchen mehr im flrengen regelrechten Styl des 
Contrapunktes ſchrieben und das abſtracte Gedankenelement vorwalten ließen. 
Und alo ſich in dieſer Periode der größten Geiſtesthätigkeit des europaͤiſchen 


Die Accorbe. 213 


Lebens ſehr bald ein differenter Gegenfag in ber Denkungsart des chriftlicken 
Glaubens bildete, welcher nach langen Discuſſionen endlich die Reformation 
berbeiführte, wodurch Die chriftfiche Gemeinde in zwei mächtige Hauptparteien 
geipalten wurde, in bie der Proteftanten und Katholiken, welche weientlich diffe⸗ 
rirten in ihrer Blaubendanficht, Weltanfchauung, fowie in ihrem ganzen Denken 
und Empfinden; fo mußte ganz naturgemäß biefer große Geiſtesunterſchied fich 
auch in den Firchlichen Werken der Tonkunſt manifeſtiren und darlegen. Die 
füdlichen Volker Europas blieben mehr dem Katholicismus, während bie nörb» 
lichen ſich ihre proteftantifche Kirche und ihre eigene Kirchenmuſik gründeten. 

Bei diefem Erwachen des freien Geiſtes wurbe in Italien zuerft auch die 
weltliche Muſik durch die Singfpiele zu einer höheren Stufe der Vollkommen⸗ 
heit geführt. Da hierbei der vierftimmige Geſang nicht fo oft angewandt wurbe, 
wie in der Kirche, fondern die Spieler vereinzelt recitirten und fangen, wodurch 
Arten, Duelte und Terzette gebildet wurden, fo verlangten biefe weltlichen Ge⸗ 
fänge auch eine ganz eigenthümliche Inftrumentalbegleitung, welche fich mehr 
unterordnend, dienend und ergänzend verhielt, während die Soliften die Haupt» 
melobie vortrugen. Hierdurch entfland der einfache homophone StyI im Ge⸗ 
genfab zur polyphonen Schreibart der Kirchencomponiften. Die Inftrumente 
hatten hierbei nichts weiter auszuführen, als die Accordfolgen in der einfachften 
rhythmiſchen Geftalt, in Ganzen, Halben, Vierteln und Achteln ertönten fle 
ohne melodifche Abwechfelung unter der Hauptmelodie des Sängers fort; mit⸗ 
unter wurde dieſe auch von einem ober ein paar Inftrumenten im Unifono ober 
in der Oktave mitgefpielt. Und diefe einfache Begleitung dauerte im Singfpiel 
und in ber Oper fort bis zu Gluck's und Mozart’3 Beitalter; denn erft diefe 
großen Tondichter erfchufen geiftxeichere Begleitungsformen zu ihren Sologes 
fängen. Daß bie befieren Gomponiften der Vorzeit auch zuweilen die Beglei« 
tung aus ihrer dienenden Stellung erlöften und ihr einige Rebengedanfen zur 
Ausführung übergaben, Täßt fich denken, nur gefchah dies felten; Kaifer und 
feine ebenbürtigen Genoffen im Anfang bed 18. Jahrhunderts waren ed, bie 
auch die Begleitung intereffanter machten. Ba im 17. und 18. Jahrhundert 
nebft der Oper auch das Oratorium vorzugsweife durch Händel eine würdigere 
Geſtalt erhielt und Hierin ein großes Sujet dramatifch behandelt wurde, fo er 
Iangte die einfache Homophone Begleitung auch in ber Kirchenmuflf mehr Gel⸗ 
tung, weil nicht alle Situationen im polyphonen Styl componirt werden Fönnen, 
ohne die größten pihchologifchen Widerfprüche zu begeben. Demzufolge finden 
wir in Händeld Arten und Duetten die einfache homophone, während bie Chöre 
und auch andere Muftkftüde polyphoniſch gehalten find. 

Aber nicht alle Tondichter jener Zeiten thaten dies; Seb. Bach fchreitet 
niemal3 aus feiner Polyphonie heraus, er mag componiren, was er will, ob 
Melt» oder Kirchenmuſik. In feiner Pafflon und auch in den Pleineren Kir⸗ 
chenwerken mit Orchefterbegleltung find die Inftrumente flet6 polyphon gehalten, 
und dies von der erften Beige bis zum zweiten Horne herab. Diefer große Ton⸗ 
dichter Iebte und dachte nur In Tauter polyphonen Tongeftalten; die Kormen der 
Nachahmung, Canons und Fugen burchwalten alle feine Werke; ſelbſt die Tänze 


213 Dei. 


Fat ir kirem Ersl wirieben. Gb kerriäiren im jener Jex mer code Siegen- 
füge ın ter Germenikumg aut Beglernaa in ter Gemocheme zurten bie 
Geisusdmelstien mir einer zau; teretalen Vegleitaaa Sarmsmitrz: ’omakt Yrz- 
fiener, Aeımzoten une Tentiche Grichıen iz ihren Cvera rize Juürımentirumg, 
Rie RL 2/8 ein Gloßes Küllansızrist serfick: uud aur Die Accerde Ichieckrmeg ber 
muteite, ehme jete beſſere Ertusmführung Dagegen gaben ıber die zefehrten 
Gontrizunfriken und Lauter fagiere Turhfülruugen, mir ter commlicırreiken 
Dearkeitunꝗq aller Themata, une Erb. Bad erlangse bierin eisen Gierelvunf: 
ter Runfcollentung, ter von krinem 'einer Rachfelger Bid ınf ten bextiyen Iz; 
erseikt und noch weniger übertroren werten fonnre. Grit im ter zweien 
Hälrıe tes 19. Iabrkunteris erickienen jene Refsrmazeren, tie zu Die Begzlei⸗ 
tung mit grögerer Sorgfalt bebandelten umt fe zum zischelsgiiden Austruis- 
mittel erhoben. Sud, Hartn, Mozarı, Zinzarelli, Gretre u x. U wuren es. 
weiche in ibren Opern bie Begleinungsüimmen dbaratierifiiicher unt meletitcher 
füßrıen,, mwibrent früher jedes Auifitixt tie ganı gleiche Zonfallunz umt ein 
une kieielte Inirumentirung erhielt, wurten jegt dagegen mumizrılrize Beglei⸗ 
tunzsfizuren gerhaffen umd auch Rebenmelotien vorgetrijen, obne Ray id 
Hieraus tie einfacke Hemiephonie zur Bolschenie vermantelte. Der jogenannte 
esntrapunftiſche unt fugirre SEchwulit, iswie Lie einfsche trieiale Anivielunz 
Der Accorte wurten vermieden unt jetenm Mufiffind tie jeiner Eimation ent- 
fpredgente eigenthümlidye Begleitungstorm umntergelegt. Da auch von jegr an 
Denichlant, Frankreich und Italien große Epoche machende Tondichter erzeng⸗ 
ten, welche in ihren Werken ihren eigenthümlichen Rationalcharakter unt oft im 
der particulariſtiſchen Geflalt zur Eriiteinung brachten, weldyer ſich ſowobl in 
Melotie, Harmonie und Inftrumentirung fund gab und untericheitent abjon- 
kerse, fo bildeten fich hierdurch drei verichiebene Auſsdruckſweiſen, Die mau auch 
als teurichen, franzöflicden und italieniihen Styl benannt bat. Die Austrudes 
weile tes Gefühls⸗ und Getanfenlebend ter Italiener in ibren Tongebilden ift 
vorzugsweiſe auf tie Melodie befchränft, jelten erjcheint eine etwas eompliciriere 
Tongeſtalt mit manigfalrigeren Sarmonieen. Ihre fcywärmeriichen ſentimenta⸗ 
fen Relotieen, weiche ten Grundcharakter ihres Seelenlebens audfprechen , wer» 
ben theils einfach, theild mit Verzierungen ausgeſungen, wobei tie begleitenden 
Stimmen niytö weiter ausführen, als daß fe in der einfachften Rhothmik einige 
Accorde dazu fpielen; jelten haben fie einen ergänzenden Gedanken zu der Haupt⸗ 
ſtimme auszuführen. Aber auch wenn ihr elegiiched Empfinden ji zur heftige 
ften Leidenſchaft fleigert und in die wild erregteſte Wurh emporflammt, vie fidy 
wie ihr Vulkan im Tonner und Feuer entladen möchte, auch ba wird bie Ins» 
firumentirung größtentheild nur zum füllenden Material verwentet, um das 
Fortiſſimo heruorbringen zu fönnen. Dies ift Me ſchwache Seite ihrer Opern⸗ 
muſik; doch haben fle einen hochſchaͤtzbaren Vorzug durch den großen Reichthum 
ihrer wonnevollen Melodik erlangt. Die zarteften, innigften und tiefgefühlvoll⸗ 
ſten Melodien haben uns die Italiener erzeugt, weil fie Hierin ihr ganze Ge⸗ 
fühls- und Gedankenleben zur objektiven Geſtalt als Kunſtwerk realifirten. 
Auch fogar ihre graziöſen Paflagen und Goloraturen erfcheinen ſtets nur in ben 


Die Accorde. 215 


ihönfen melodiichen Formen. Mber fie find nicht immer gewilfenhaft in ber 
dramatifchen Schilderung ter Situationen; dies iſt oft nur bie Folge ihrer 


Geſchwindſchreiberei, weil fie ſich häufig contractlich verpflichten, eine Oper bin⸗ 


nen wenigen Wochen zu liefern. Auch fehlt ihnen bei ihrem jüdlichen Tempera⸗ 
mente die beharrliche Geduld und Ausdauer zur forgfältigen Arbeit; das tiefe 
Nachdenken über die darzuftellende Handlung und deren Bemüthözuftinde ift 
ihnen zu langweilig, fle wählen die erſte befte Melodie, welche in ihrem Geiſte 
entſteht, unbefümmert, ob fie fich zur Ausdrucksweiſe diefer Situation eignet 
oder nit. Die italienischen Tondichter mit echt natlonalem Sihl find in der 
Reuzeit Roffini, Bellini, Donizetti, Verdi und noch viele andere in Deutfchlanb 
weniger befannte Gomponiften. 

Die Selbſtſtaͤndigkeit der franzöflichen Nationalmuſik datirt erſt feit einem 
Jahrhundert, denn in der früheren Zeit hatten fie nur italienifche Tondichter 
und die Eingeborenen ahmten die Italiener nach; nur in ihren Volksliedern 
ſprach ſich ſchon jehr frühzeitig der eigenthümliche Charakter ihrer Rationalität 
aus. Auch noch ihre erſte Epoche machende Periode der Oper⸗ und Inſtru⸗ 
mentalmuſik im 17. und 18. Jahrhundert trägt noch immer zu jehr den Styl 
und die ganze Ausbrucdöweije ber Italiener an fih. Erf mit dem Beginn ber 
neueften Zeit erflanden unter ihnen eine größere Zahl Tonbichter, welche — ganz 
auf heimijchem Boden wurzelnd — auch den eigenthümlichen Charakter in feiner 
Ach von anderen’ Rationen unterfcheidenden Originalität in ihren Tonwerken 
zur Darftellung brachten. Mit dem Erjcheinen Auber’3 und Halevy's bekom⸗ 
men fie erſt wirfliche Hauptrepräfentanten ihrer Opernmuflf und durch F. Da⸗ 
vid und H. Berlioz Epoche machende Tondichter in der Inftrumentalmuflf, denn 
in den Werken diefer Männer manifefirt fich die Rationalität der Franzoſen im 
Gefühle» und Bedanfenleben. Ihr esprit national, wie er fich bisher fletö nur 
in ihrer belletriftifchen Literatur und im gefelligen Leben Eundgegeben hat, ges 
langt bier in der Tonfunft zus feiner Verwirklichung, wie in Eeiner ihrer Kunſt⸗ 
perioden der früheren Zeit. Diefe leichten flatterhaften Melodien, welche fi 
aus der heiter taͤndelnden Sinnenluft in wenig Momenten zum glühend bacchan« 
niſchen Taumel fleigern, aber auch eben fo bald wieder in das zarte Geliſpel ber 
innigen Liebe übergehen und in feliger Wonne dahinfließen, fprechen ja ganz treu 
und wahr das finnliche Sefühld- und Empfindungsleben der Franzoſen aus. 
Aber auch ihre Leidenfchaftlich auflodernde Kampfesluſt, die fl in wilden 
Kriegsliedern ausſingt und in mächtig mitfortreißenden Rhythmen in das blu⸗ 
tigfte Schlachtgetummel ſtürzt und mit Löwenmuth in unerfchrodener Beharr⸗ 
lichkeit den Sieg erringt, auch dieſe Seelenflimmungen finden wir oft meiſterhaft 
in ihren Tongebilden und vorzugäweije in Opernfcenen gejchildert und mit dra⸗ 
matijcher Wahrheit dargeſtellt. Und jene anmuthige Mebfeligfeit, die ſich gern 
in langer Oeiprächigfeit ergeht, iſt bis jegt faft nur von ben franzöftichen Ton⸗ 
bichtern in ihren fomijchen Opern durch das fogenannie Parlando mit unüber- 
treffliches Meifterichaft zum Ausdrud gebracht. So hat fi durch die Geiſtes⸗ 
manifeftation der Zranzojen in den Werken der Tonfunft cin nur ihnen ange 
hörender eigenthümlicher Styl gebildet, der fich wefentlih von dem Styl ber 


Seafiener unt Dentichen abtentert Turd, iein Originalgegräge ter frauıällüten 
Nationalität. Der irringende Rbrtbumd mir feiner üwyig Ireutelnten Siuneb- 
fu, welcher wir Zaubergewalt durch feine bloñe Korm ter Beweguns Act um 
kreiſenden Bedziel gringt, iR von Feiner Ratiom in ter Art ergenz. wie von den 
Sranzefen, unt bilder taber einen dherafseritiichen Veſtaudtheil ibres Stels 
Ebenfe gehören nur ibmen jene zwar ſtolz Infeitirenten aber doch ie Iuy amt 
Hieblich einſchmeichelnden Melodien eigentbumlich au, dieſe zarten Tengelalten, 
welche nur Srazie, Anmurh unt Liebenswurtigleit entfalten, int bie Ichdeilen 
Bierten ihrer Muflt. Ginficklich der Aodulation haralteriſtren fie ſich hazyt- 
ſochlich daturch — wenn fie nicht wie bie Italiener in ganz großen Beristen 
nur mit zwei ober Drei Accorten wechieln, mas bei ihnen audh ſebr oft geſchiebt — 
da fie mit ten befrembentflen Liebergängen auf wabrhaft abentewerliche Weiſe 
wechſeln; tie ichroffiten Rotulationen mir ten bärteiten Diſſonanzen, welche 
Häufig in den tiefen Echmerz ausichreienden terminterten Erptimenaccort füh- 
sen, werten ſehr zahlreich angewantı, um tie wiltempörte Buth einer leiten- 
ſchaftlichen ertraraganten Errlenftiimmung zu ichiltern. Tas Ausarten hierin 
md bie oft zu leichtſtrmige Bebandlung ter wichtigitien dramatiſchen Eituatio- 
nen bilten die Echattenfeite in ihren Zomwerfen. Toenn audh fle, vermöge ibres 
zu lebhaften Ramrelle, haben wie tie Italiener nicht immer Lie Luft ter aus- 
dauernten Geduld, um für eine Eiruation ter Dichtung Pie ibr nur einzia an⸗ 
gemeffene Tongeſtalt zu erzeugen. Demzufolge herrſcht ſehr häufig die größte 
Heterogenität zwiſchen Tert und Rufll. Doch if ihr Styl, in feiner Totalitaͤt 
Betrachtet, fließend, elegant und glänzend; Anmuth und Würde fine ihm in 
fhöner harmoniſcher Bereinigung zu eigen, und ten den Franzoſen angeborenen 
Ginn der äfthetiichen Schönheit vermißt man niemals. Tenn ter ureigentbüm- 
liche Geiſtesbcharakter ter Ration fpricht ſich auch in ter Muſik aus und bildet 
ben eigenthumlichen Styhl jedes Volkes. So verhält ſich's auch in Deutichland. 

Die deutfchen Tondichter bringen in ihren Produkten mehr das Gemüths- 
leben der Menſchheit zur Darſtellung und vorzugsweiſe das tiefinnige herzliche 
Gemüth, welches der Grundcharakter des deutſchen Geiſtes iſt. Hapdn gibt uns 
in ſeinen ſaͤmmtlichen Werken dieſe Seelenſtimmung in der Sondergeſtalt, wie 
fie fich gleichſam particulariſch abſondert von tem Allleben ter Nationen. 
Aber in ten Werken Mozart's gelangt ſchon mehr ein univerſales Geiſtesleben 
zum Austrud; ebenfo in den Produkten Beethoven's. Spohr und Mentele- 
ſohn geben und die elegijche Geiſtesſtimmung des Gemüths; in ihren Tondich⸗ 
tungen offenbart fich das tieffühlente deutiche Herz mit feinem Lieben, Hoffen 
und Schnen, aber in der kummervollen Echwermuth einer fhmerzerfüllten Seele, 
deren Ideale entſchwanden und fich in bitterer Täufchung enthüllten. Dagegen 
Hat und Weber in feinem Freifchüg die Gemüthöjeite des deutſchen Volktlebens 
in feiner Heiteren Art geſchildert. Diefe barmlofen Freuden ber reblichen 
Baueröleute mit ihrem fchauerlichen Aberglauben an bie Gefpenfter des wilden 
Jägers find unübertrefflich gezeichnet. Auch Marfchner bringt uns in feinem 
Sand Selling und im Bampyr ähnliche Schauerfceenen. So hat ſich die See⸗ 
Ienftimmung ber beutichen Ration in allen Liedern wie in ben größten Gompo- 


Die Aeccorde. 2317 


ktionen mantfeftirt: als das tiefinnige Gefuͤhlsleben des Herzens; an ben beit» 
ſchen Liedern erkennen wir das biedere und reblich Tiebende beutfche Herz mit 
feiner deutfchen Treue und Weblichkeit. Die Ausdrucks⸗ und Darftellungewelfe 
bes deutichen Tondichtungen , welche fich zu einem eigenthuͤmlich deutſchen Style 
geftaltet Hat, unterſcheidet ſich mun weientlich von dem Styl der Franzofen und 
Italiener. Dem tiefgefühluellen deutſchen Herzeu mit feinen weitumfaflenben 
Eituetionen bed Empfindens genügt die einfache Melodie noch nicht zur adaͤqua⸗ 
ten Darfiellung feines Inhalts; es bebarf der Garmonie mit ben: zahlreichen 
Accordgeſtalten und unerfchöpflichen Mobulationen, ſowie der Inſtrumentatisn 
mit allen möglichen Effekten. Um das ganze pulfizende wogenbe Meer der Ge⸗ 
fahle, Empfindungen und -Gedanfen auszufprechen,, die den beutichen @eift und 
fein. eble8 Gerz bewegen, werden alle. Regionen der Harmonie durchichifft und 
alle nur möglichen Accorbgebilde durchwandert. Die deutiche Gewiſſenhaftigkeit 
und Gruͤndlichkeit In der Arbeit Fennt hierin gar Feine Grenzen und überichzettet 
dadurch oft das Maß und bie Linie ber Afthetiichen Schänheit, wodurch nicht 
felten die Melodien mit Accorden gänzlich durch ein Chaos von Tönen erftidt 
werden, fo dap man keinen melobifchen Gedanken zu Gehör befommi. Dean 
da wird häufig faft jeder Melodieton mit einem Accorbe, zumellen auch wohl mit 
zwei oder drei Accorden und Vorhalten harmonifirt. Aber auch biefe zeichliche 
Accordanwendung iſt dem deutſchen Geifte immer noch nicht Hinreichend, um 
fein tiefes Empfinden und Denken in Tongebilden ausſprechen zu koͤnnen; um 
feine totale Subjectivität in den Kunſtprodukten zur Erfcheinung zu bringen, 
wendet er noch ‚die complicirteften Begleitungsformen an und läßt durch bie 
hierin niebergelegten Nebengebanten bie Sauptibee ergänzend ſchildern und dar⸗ 
fielen. Auch in ber Anwendung dieſes Mitteld — ber ausſchmückenden Be⸗ 
gleitung — wo oft jede Stimme noch einen Nebengedanken vorträgt, arten 
einige deutfche Somponiften nicht felten in eine pedantiſche Sucht in der Au⸗ 
bäufung folcher Rebenmelodien-aus und vernichten hierdurch die Wirfung ber 
urfpränglich ſchönen Hauptmelodie. — Aber auch noch eine andere bedeutende 
Geiftesrichtung offenbart fich in den deutfchen Tonbichtungen. Jener ſpeculative 
Geiſt, der über alles Sein, Empfinden und. Denten philofophirt, um es in feiner 
Geneſis und Weienheit zu ergründen und zu erkennen und ſodann als Gedan- 
Tenbefig geiftig in fich aufnehmen zu können, hat fich nicht nur durch die Philo⸗ 
fophie und Poeſie der Reuzeit Fund gegeben und baburch das ganze Geiſtesleben 
höher potenzirt; auch in ber Muſik hat er fi ausgeſprochen und in Tongebil« 
den feine denfende Natur offenbart. Die letzten Werke Beethovens find es vor⸗ 
zugöweife, in denen er zum Ausdruck gelangt iſt; wie ich ſchon In der Abhand⸗ 
fung über Quartettmuſik im 4. Bande biefe Werkes nachgewiefen babe. In 
ihnen reflectirt und fpeeulirt ber philofophirende Geiſt über fein ganzes Gefühle- 
und Empfindungsleben; in ihnen burchlebt er nicht mehr, wie in ber Jugendzeit 
Ziebesluft und Liebesleidb, fowie alle Genüffe und Freuden ber Erdenwelt, ſon⸗ 
bern er analhfirt fie gleichfam anatomifch und macht fie zum Inhalt des Den⸗ 
tens. Jede angebeutete Situation der Gefühle und Empfindungen wird den⸗ 
kend verfolgt bis in die geheimften und buntelften Regungen bes Möfteriums 


218 Muß. 


Ber One, zu fie Bars Ds ker Visgeuefiß zu eutenuen: tem alled Erin zu Brr- 
Den toll efannı mu verikanden werden ; Bicb ih Der ichaimıkeinedie Drang des 
Geis der Rcupa. 

sief innerlühen Ghasafırz ihres rigeuchiumlic anyhircuten Gerienichens im ben 
zu Gotmepslitea, indem fie uud; das Guyfiatungd- unt Getauftrnlchrn anterer 
Böker in ihren Berlen zur Dariellung fragten. Dep riet lchesidheriten Der 
engen Ratienalikt aber Dunham erforderlich if bei dem Schaffen einer großen 
Orer, weidge alö cin haudelndes Drama oft Die verjchizteniten Ratiensldheral- 
wre entweher and der Bergangenbeis oder Gegenwart tariielien muß, wire für 
Yerermann einleuchtend fein. Und bie hochgenialen Tondicheer aller Rasiouen 
Gaben Died auch vermocht. Im Italien war es Meiimi, ker im feinem Sell 
Deuticge Sharaltere geiduaiten Hat uud auch den Ratienalzeifi der Granzejen uud 
anderer Bölter in feinen !Berken zur Dasfiellung brachte, während Bellini nie 
mad ben Yenliener verleugnen fan und firtd nur von jener umfberbliden Piche 
des unglüdlichen Nomes und der Iulia fingt ; jeine elegiichen Melstien weinen 
über der Aſche des gebrochenen Gerzend and der tie Traurrblumen ter Griane- 
sung eutporblähen , auf deren Blättern dad cwig unvergehliche Bilt ter Gelich- 
su und entgegenfizaftt. Er if der Sänger jener ewig heiligen Biche, welche 
über dad Grab hinanoreicht und deren Sehniucdt und Geffuung nur über den 
Sternen ſich zu erfüllen vermag. Unter ben Franzoſen haben Auber, Halerh 
und Berliez die Schranten ihres Rationalichend überichritten und in Deutſch⸗ 
land Mozart, Deethoven und Neyerbeer; fie geben und in ihren Werfen bie 
Geificöcheraktere der Türken, Mobren, Italiener, Sranzojen nut Teurichen and 
den verichiedenften Zeiten ber Rulturgeſchichte. Daß dies and) noch autere bier 
wich genannte Tondichter zum Theil in ihren Werfen vollbrachten, Iäpt fi 
denken; nur zeichnen fich Die genannten Meifter ganz beienterö dadurch ams, 
bag fie vorzagoweiſe das Geiſtesleben aller Aufturvölfer in ihren Werken zur 
wahrteitägemäßen GEricheinung dargeſtellt Haben. Durch angeborene Geiſtes⸗ 
gaben und Durch fleigiges Studium des Rationalleben® aller Bölter wurde es 
ihnen möglich, das Gefühls- und Gedankenleben der- ganzen Menichheit in 
Aunftprobufiten zu objektiotren. 

Daß aber auch zahlreiche Tondichter von Epoche machenter Bedentung 
nicht aus ben Grenzen ihres Nationalgeiſtes herausſchreiten, Davon geben und 
Haydn und im neuefler Zeit Spohr evitente Beweiſe. Spohr vereinigt zwar 
mit Der sief innerlichen Gemüthlichkeit des edlen treuliebenden beutichen Herzens 
auch die italiemiiche Sentimentalität und Elegie, aber die framzöfliche Kechheit, 
Slatterhaftigkeit und die glänzende Eleganz fehlen ihm gänzlich; denn in feinem 
feiner Werke iR auch nur ein folcher Gharafterzug vorhanden. "Aber auch bad, 
was wir an ihm italieniſch benennen, jeine fentimentalen elegiſchen Melodien, 
welche mehr Zbränen weinen als Sterne am Himmel fleben, find auch aus deut 
fe Herzen harmonifirt- und in der lieberfülle des Gemuthölchbens mit zahl⸗ 


Die Meeorde, 219 


reichen Accorden begleites. Lind biefer echt beutfche Charakterzug des Tiebevollen 
deutfchen Herzens manifeflirt füch nicht nur in ſolchen Werken, welche in thrä- 
nenreidher Trauer das: Elend der armen hungernden Menſchheit fingend bekla⸗ 
gen, fordern fogar in den Produkten der Freude und Tanzluſt könmt diefes 
beutfähe Seelenleben zum Ausdruck. Ich erinnere bier nur an bie Taͤnze von 
Lanner , Strauß, Labigfy, Bungl u. v. A. Denn in ihnen find die hüpfend⸗ 
fen und jubelndflen Tanzmelodien mit der Ueberfülle des beutfchen Gemütht⸗ 
lebens und ſeines allliebenden Herzens durch zahlreiche und vielfagende Accord» 
folgen Harmonifirt. Während bie Italiener und Franzoſen — wie ſchon ges 
fagt — die größte. Wirkung durch bie Melodie zu erreichen fuchen und bie 
Yuflrumentation nur als Hälfämittel gebrauchen, betrachten die Deutfchen Die 
lodie, Harmonie und Inftrumentation ale gleich wichtig zur wahrbeitsgemäßen 
Darftellung des Serlenlebens. Bor einigen Jahren ging eine extravagante 
Bartel der Zukunftoͤmuſtker fo weit, in ber „Neuen Zeitfchrift für Mufil zu 
behaupten: die Melodie müfle aus tem Zulunftöbrama ganz und gar verbannt 
werden, weil fle das wahre dramatiſche Handeln nicht Darzuftellen vermöge, bie 
Sänger foliten und müßten nur reeitativifch declamiren x. Allgemeines Hohn⸗ 
gelächrer war die Folge diefer unvernänftigen Forderung. So viel bleibt aber 
wahr, dag nur im Verein von Melodie, Garmonte und Inftrumentation bie‘ 
Zondichter wahrhaft große dramatiſche Werke zu fchaffen vermögen. Der 
Sänger fpricht in meledifcher Geſtalt die Gedanken durch Worte aus und das 
Orcheſter bildet die Ergänzung durch das Autmalen aller Gefühle und Empfin- 
dungen; beide in vereinigter Wechſelwirkung ftellen uns jene großartigen Scenen 
der Menfchheit dar, wo ein ganzes Volk gegen feine ehrlofen und woribrüchigen 
Unterdrüder kaͤnpft, um feine geraubten Menjchenrechte wieder zu erringen. 
Ban denke an Tell, die Stumme, den Prophet und an zahlreiche andere Opern 
gleichen Inhalts, in denen ein Stud Weltgefchichte auf der Bühne vorüber 
raufcht. Daß aber auch bei der neueften Sarmonifirung und Inftrumentirung 
zahlreiche Mipgriffe und Uebertreibungen vorkommen, darüber werden fchen 
Diele gelefen und fich auch in der Oper ſelbſt überzeugt haben. Diefe Mißgriffe 
erfolgen einerfeit Dadurch, daß zur Begleitung der Befangftimmen eine zu große 
Zahl Inflrumente gewählt werben und dieſe oft ein Kortiffimo blajen müffen. 
Aber man begnügt fich hierbei nicht blos mit allen möglichen Blas⸗ und 
Streichinftrumenten und deren fechd» und achtfachen Verdoppelungen, ſondern 
fügt auch noch die fogenannten Schlaginftrumente, wie große und Eleine Trom⸗ 
mel, Becken, Triangel ac. hinzu, wodurch jene Laͤrmmuſik entfteht, aus der man 
weder Melodie noch Harmonie heraushört, fondern nur ein Ohr betäubenbed 
Tongeraͤuſch. Und dergleichen fchlagende Gffecte mit allen möglichen Knall» 
inftrumenten werden nicht etwa bloß in Schlachten und Aufruhrſcenen ange 
want, wo fle ganz angemefien und erforderlich find, ſondern auch in Arten und 
GHören mit leidenſchafilichem Inhalt. Diefe verkehrte Kärmmacherel haben fich 
ganz beſonders viele Sranzofen und Italiener zu Schulden kommen lafien. Die 
Sänger hört man babet nicht heraus, obgleich fie Durch dies Forciren und über» 
mäßige Schreien ihre Stimmen zu Grunde richten. Unter ben Deutichen ift 


220 Maſck. 


man in tie Fehler gefallen, welche ich oben jchem gerũgt babe, viele Gempeniften 
überlaten ihre Melsbien mit zn vielen Rebengedanfen und zahlreichen Accord⸗ 
felgen, wodurch ber Gaupigebanfe nicht jelten unflar und unserkändlich wirt. 

Mit dieſen Bemerkungen will ich aber Trinchweyd gegen Tie heutige Har⸗ 
monifirung und Iuflrumentatien im Allgemeinen polemiſtren und etwa bie 
frühere Einfachheit und Beichränfung zurädtwänfden; biefer Gedanke liegt mir 
ſehr fern; nur tie widerlichen Minbräuche mit unferen reichen Bitteln iollen 
nicht vorfommen. Denn daß wir hierin Riefenfortichritte gegem tie früheren 
Beiten gemacht haben, it Ichem Tlar; aber dadurch verlieren die Werke der gro⸗ 
fen Vorgänger nichts an Geifirögehalt, denn fie And im ihren eigenthämlihen 
Formen mit ihrer angemeflenen Sarmonifirung unt Infirumentirung erdacht 
und ihre Ideen haben bie ihrem Charakter gemäße Darſtellung erhalten. Uniere 
Gedanken und Iteen, welche unfer Geiſtesleben erregen unb bewegen, müflen 
auch im Eharafter der Reuzeit harmonifirt und infirumentirt werben. Wer ta 
noch mit den Mitteln früherer Meifter kömmt, ter if nur ein Kachahmer und 
Eklektiker, nicht aber ein ſelbſtſiändiger Tondichter. Wenn mar aber nun gar 
das Gefafel hört, dag Gluck und Rozart mit jo wenigen Iuflrumenten jo groß- 
artige Wirkungen erreicht haben und daß unfere Tonbichter daffelbe thun follen, 
ich fage, wenn dieſes norbdeutfche Hofgefchiräg von ber Umkehr ker Kunft und 
Wiſſenſchaft von ferwilen Dienern in Akademien und Schriſten auspofaunt wird, 
fo zeigt dies nur, daß man den frei denkenden productiven Geiſt der deutichen 
Ration lähmen und vernichten will, um, wie die Ghinefen, nur bie altoäterlichen 
Satzungen in blödfiuniger Weiſe zu verehren und zn befolgen. Auch Mozart 
fand ſchon zu jeiner Zeit Häntels Infirumentirung nicht mehr zeitgemäß und 
ausreichend, deshalb infirumentirte er den Meſſtas nach jeiner Art und Weile. 
Schaffen wir aus dem innerſten Drange unferer Seele Melodie, Harmonie und 
Inftrumentation gleichzeitig heraus, fo wirb auch Pie Itee ihre angemefiene 
Ausbrudäweife in Korm und Inhalt, in Melodie, Harmonie und Inſtrumenta⸗ 
tion erhalten, wie ber Körper feine Zweck entfprechente Kleidung. Wer aber 
Eine ohne das Andere fchafft, erft eine Melotie und dann bie Harmonie und 
Begleitungsform Herausfucht, fie Dann den verfchiedenen Infirumenten anpaßt, 
der wird niemald große Meifterwerke erzeugen, die das Publikum elektrifl- 
send begeiftern, nur Neflerionsprodufte find es, bie der kalt denkende Verſtand 
jufammengerechnet hat. Aber welche hochbewunderungswürdige Bolllommenheit 
die Oper als großed Drama durch alle melodiſchen, Harmonifchen und inftrus 
mentalen Mittel in der Neuzeit erreichte, und welche mächtige Stellung die Muſik 
Im Staatsleben der Gegenwart einnimmt, ift allgemein befannt. Die Tonkunſt 
wird mit Becht ald ein weientliches Bildungsmittel des menfchlichen Geiftes 
betrachtet, weil durch ihre geiftige Wirkung alle Disharmonien, in die ber 
Menſch fo oft durch unglückliche Lebensverhältniffe verfegt wird, aufgelöft wer⸗ 
den und daraus jene harmoniſche Bemüthöftimmung hervorgeht, welche ben 
Geiſt fo empfänglich macht für alles Wiſſenswuͤrdige. In biefer hohen Bedeu⸗ 
tung wurde fle nicht nur von den größten Denkern der Neuzeit anerkannt, ſon⸗ 
bern ſchon Pythagoras und noch ältere Philoföphen vindiciren ihr biefelbe Hofe 


Die Accorde. 221 


Stellung im Staaisleben der Kulturvolker. Es wird demnach Fein Mißbrauch 
mit der Kunfl getrieben, wie e8 einige Schriftfteller der Menfchheit vorseden, 
wenn wir nach vollbrachter Tagesarbeit in die Kunfttempel eilen und dort beim 
geifligen Genuß eines großen Werkes des Lebens drückende Sorgen und Rüben 
auf Augenblicke vergeſſen, weil wir in eine ideale Welt verfet werden, wo alle 
Gonflicte und Harten Widerfprüche in dem reinen Durdreiklang ber geiftigen 
Einheit aufgelöft werden und bie Harmonie und befellgende Zufriedenheit bes 
ganzen Gemuͤths wieder bergeftellt wird; abgejehen von der Erholung und Bes 
- Ichrung bes Menfchengeiftes zu eines geläuterten Weltanficht mit verebefter 
Moralität und erhabener Sittlichleit, was Alles durch die Kunſt bewirkt und 
erzeugt wird. Sehe thöricht iſt es auch, wenn eine einfeitige Verfiandesriche 
tung, bie fi in einigen Literaturwerfen bisher geltend zu machen fuchte, 
Kunft und Poefle ganz aus dem forialen Leben verbrängen will, indem fle bes 
hauptet: bie Dichter hätten ber Menfchheit mehr geſchadet als genügt, weil fle 
durch ihre zahliofen Schwankungen in unermeßlichen Gefühläfttuationen mit 
bem öfteren Wechjel ihrer Welt» und Lebensanfichten, nur ſtets Verwirrung 
und Unflasheit in das Denken fowie in den Glauben bed großen Publikums 
gebracht Hätten und dadurch negativ gegen die freie Bernunftforfchung und Auf⸗ 
!lärung der Philoſophie wirkten. Wohl ift ed wahr, daß eine große Zahl Halbe 
gebildeter Köpfe, die fich Dichter nannten, ſehr oft die Logik und Grammatif 
verfäljcht haben, wie Schiller in feinen Zenien bemerkt; und daß fo mancher 
tiefe Denker noch von dieſen bünfelhaften Menfchen verhöhnt und veripottet 
wurde, wegen auögeiprochenen Ideen, bie fie nicht zu verftehen und zu begreifen 
vermochten; und daß dieſe unklaren Köpfe und zwar von Ariſtophanes Zeit an 
bis herab zu den Pofien- und Barenfchreibern der Gegenwart ihre ganzen Waf⸗ 
fen des faden Wied und der geiftlofen Lächerlichkeit aufboten, um die chren« 
haften Charaktere jelbft, forwie ihre Kehren und Geiſtesthaten zu verläumbden, zu 
verkleinern und fehr Häufig als jchädlichen Unflnn zu verböhnen. Aber diefe 
demoralifirten Burfchen bilden ja nur die Schattenflede an der Lichtionne des 
Geiſtes in Kunft und Willenfchaft. Die wahrhaft großen Dichter Haben zu 
allen Zeiten belehrend und veredelnd auf die Nationen eingewirkt und zu großen 
und guten Thaten begeiftert. Auch kann und muß die noch weniger gebildete 
Bolksklaffe nur durch poetiſche Bilder, Gleichniffe und Allegorien in eine 
höhere Stufe des geifligen Lebens geführt werben, was nur burch die Kunfle 
werfe realifirt werden kann. Denn in den tiefen Entwidelungsgang des Ideen 
lebens, wie es fich in den Shftemen ber reinen Begriffsdialektik entfaltet und 
barlegt, können nur die fchon an der Wiffenfchaft gereifteren Geiſter eingeweiht 
werden. Während fich die große Volkoklaſſe noch mit dem Bilde der Wahrheit 
begnügt, hat ſchon ber Denker die Wahrheit in der Form des abflracten Begriffs 
erfaßt und erkannt. Uber auch felbft die Philofophie Hat die Kunft zu ihrer 
Borausfegung, wenn auch nicht im Mange bes denkenden Begriffs als Priorität, 
jo doch in der Entwidelung der Beitenfolge. Die Wahrheit wird erſt geahnt, 
und bildlich dargeftellt von den Völkern in Kunft und Poefle, che fle der den⸗ 
fende Geift in das fonnenflare Bewußtfein des logiſchen Begriffe zu erheben 


22 uf. 
vermag. llmt ie wirt, ber Rasur Ted Benüchengeiiied zurelze, auch miemald 


fein, iendern alle Blüchen werten neue Früchte une Die Sricher wieter verjäng- 
see Reime und ichömere Blüchen eruugen, auf Day jkh tie Menichheit daran 
zu erheßen und zu meurm ebieren Leben und Birken ;u begeinern vermag. 
Denn dad wahre Leben des Renichengeines beücht idee bie in dem abfiren 
Mernlariven Denken ber Begrifie , jontern dad geiammıe Grrufld- und Gmyin- 
Dungälchen im orgamiichen Rauialnerns mir bem logiichen Wegriffödenfen bilder 
Dad einzig wahre Erin und Leben der Benichheit: denn es iR ein umb berjelbe 
abfelute Geiſt aut in veridyietenen Votenzen, weicher ũch in tem Gefühlölchen 
des Zongebilte, ijowie im tieſſten Teufen des transicendentalen IVpealidnd 
offenbart und zur wirklichen Ericzeinung bringt. Daher Ichten und bie Kunfl- 
yrodutte aller Nationen und Zeiten den sftenbar und real gewordenen Ent- 
witelungögan; bes geifligen Lebens tiefer und wahrer erfennen als tie blos ge⸗ 
ſchichtlice Tarfiellung und Gererziblung ter Staatbactienen. Gift uns die 
Veltgeſchichte die Hikeriichen Facta, jo erhalten wir dagegen durch das Etudium 
der Aunfivrotutie aller Bölfer die Kenntnig von den sreibenten Motiven, weiche 
jene großen welthiftoriichen Handlungen nnd Ihaten erzeugten und berzorriefen. 
Dur Homer Iliade und Odyjſee befommen wir ein treueres und genauer be 
taiſlirtes Bild von ben Heltenthaten und dem häuslichen chen der Gellenen 
damaliger Beit, als durch tie bloße Geſchichtserzͤhlung. Ebenſo erichlichen 
und die griechiſchen Mefiker und Tragödiendichter das ganze Gefühls- und Em- 
pfintungsleben mit bem gejammten Denken unt Wollen ihrer Zeir fo riefianig 
wahr, da wir beim Durchlefen ihrer Werke ganz in ihr Enpfinten, Denfen 
und Leben verfegt werten, als wären wir von ihnen gar nicht geichieben durch 
Raum und Zeit. Eo geben und Lie Kunſtprodukte jeder Ration ſtets das treucile 
Spiegelbild des geiftigen Leben ihrer Zeit, wie eu die ebelften Menichen beſeelte, 
wie erhalten durch fle alfo bie verförperten obiektiv gewortenen Gebanfen und 
Gmyfindungen, an denen wir nun tie Grade ermefien können, wie hoch ihr Cul⸗ 
trieben des Geiſtes ſtand, denn bie Kunſtwerke find demnach bie real gewor- 
benen Gedanken der produftiven Subjeftivität des thätig wirkenden Geiſtes 
Der großartige Entwidelungsgang der Kunſtgeſchichte ift ſtets von ber 
größten Zahl der Kritiker falſch verſtanden worden. Jede Bereicherung bes 
Gedanken» und Ideenlebens erzeugte auch neue Ausdrudömittel zur angemefienen 
Darftellung derſelben; die Künftler aber, die fich der weuen Ausdrudömittel zur 
Realifirung ihres Ideengehalts bedienen, Tamen fletö mit den Beitgenoffen in 
Gonflicte, weil bie engherzigen Kunftrichter forderten , fle follten ihre Werte mit 
denfelben Ritteln darftellen, welche die Meifter früherer Zeiten anwandten. Die 
Dichter werben auf Homer und bie griechifchen Tragiker verwieſen; die Bild⸗ 
bauer auf Phydias, Prariteles und Skopas, ben Malern hält man Raphael vor 
und den Tondichtern Haydn und Mozart. Aber in ben Parteien der Kunfl- 
kritik im 3. Bd. d. W. wies ich nach, daß es Kunflfritifer gibt, weldye ſchon 
son Mozart an den Gündenfall der Mufll datiren und die höchſte Blüchenperiobe 


Die Yotarde, | 233 


der Vollendung nur in den Kitchenwerken des Paleſtrina, Allegri, Leo u. A. 
erblicken, alſo das goldene Beitalter der Tonkunſt in das 16. Jahrhundert ver⸗ 
legen. Daß aber da nur ein Zweig derfelben zur höheren Bollendung kam, 
nämlich die Kirchenmuſtk, die Weltmuflt aber auf der niedrigſten Stufe ber 
Kindheit blieb, Habe ich fchon vielmal nachgewiefen und auch die Gruͤnde biefer 
Erfcheinung angegeben. Hier bemerke ich noch, daß meine wifienfchaftliche Dar⸗ 
ſtellung der Accorde in ihrer ſyſtematiſchen Bolge, ganz ber Entſtehung im Ders 
lauf der Zeit analog ift. Denn zuerfi wurden nur die Dreiflänge confiruist 
und in den Tonwerken angewandt ; faft alle Kirchenwerke des 15. und 16. Jahr⸗ 
hinderte bewegen fih nur in Dreiflängen. Im 17. und 18. Jahrhundert ka⸗ 
men Me Septimenaccorde zur Anwendung und im 19. Jahrhundert Die Ronene 
und Undecimenaccorde. Roc zu Mozart’3 Zeit, in ber zweiten Hälfte bes 
sorigen Jahrhunderts, wurde nur jelten ein Ronenaccord eingeführt, während 
in heutiger Zeit faft kein Muſikſtück gefchrieben wird, mo nicht ein ober ein paar 
Nonenaccorde angewandt werden. Gelbft bie Undecimen⸗ und Terzdecimen⸗ 
Aecorde erfcheinen nicht felten, wenn auch in Vorhaltsgeſtalt. Ebenfo verhält 
ſich's mit den Vorhalten, auch fle wurden, wie fchon bemerkt, nur nach und nad 
tm Verlauf der Zeit erzeugt und angewandt. Buerf wurden nur. bie einfachen 
Vorhalte von oben herab eingeführt und größtentheild die Terz oder Oftane 
vorenthalten; fpäter wendete man auch die anteren an und ſchuf endlich hierin 
die complicirteften Geſtalten. Je reicher das fubjeftive Leben wurde, je maͤch⸗ 
tiger fich die colofjalen LZeidenfchaften zu wahnjtnniger Wuth fleigerten, deſto 
mehr rang ber Geift nach neuen Ausdrudsmitteln und ſchuf immer mehr Accord« 
geflalten mit neuen Sarmoniefolgen. So entftanden durch biefen Geiſtekprozeß 
nad) und nach alle und bekannten Accorde und Mobulationen. Denn auch 
diefe wurden zuerft nur fparjam angewandt, man modulirte auf die einfachfte 
Art in die nächftverwandten Tonarten. Als aber dad Völkerleben fich immer 
mehr an Gedanken und Ideen bereicherte, das Gefühlsleben der gefammten 
Nenſchheit fich tiefer verinnerlichte und mächtiger die Bruft durchftrömte, und 
ald immer neue Situationen des Geiſtes fich offenbarten und in Kunſtwerken 
realifixten und die Saiten der Gefühle und Empfindungen von Jahrhundert zu 
Jahrhundert ſtets zarter, liebreicher und milder tönten, woraus die Sumanität, 
die allbefeligende Bruderliebe aller Rationen hervorgeht und Hierdurch das 
wahre Gimmelreich des Geiſtes auf Erben gegründet wird: — ba wurden auch 
immer neue noch nicht gefannte Modulationen als Ausdrucksmittel diefer See⸗ 
lenſtimmungen erzeugt und in den Tondichtungen zur Grfcheinung gebracht. 
Der Geiſt der Reuzeit, der alle Sphären bes unendlichen Weltalld durchwandern 
möchte, durchſchifft auch alle möglichen Modulationen, geht mit Wiefenichritten 
in die entfernteften Tonarten ober modulirt allmälig in Iangfamer Entfaltung 
und Steigerung des Gefuͤhlslebens in fle hinein. Hierbei find aber auch Die 
Wirkungen der früheren Zeit nicht ausgefchloffen; jene Uniſono's und Oftaven- 
verbeppelungen ber Melodie ohne Aceordunterlagen und ohne Harmoniſtrung, 
wie fle in der antiten Tonkunſt flattfanden, werben auch noch heute in zahlrei⸗ 
hen Tonwerken theilweiſe angewandt. Und welche erhabene und ergreifende 


224 Bufl. 


Seellen tatuıch erzengg werden, wein jeder, der ſich nur eıwas mit Nuffk be⸗ 
fepäftigt. Ich erinnere Gier am ben Anfang der Sreingag-Uuverture, me Die 
Melstie im Uniſens mit der Ltareuverteppelung beginnt und erik Tpiter eine 
Art entfaltet ic im eriten heile des erſten Satzes von Beriherens B-der-Sim- 
fonie; and dem erſten Ibema in B-dur leise eime einfache Meletie im halben 
Aeten fortichreitent und in ter Ufsase verkeppelt, nach tem pweien Ihema in 
F-dur ; tabei wird durch tiefen in Ofiaven forticdrritenten Gang — ohne wei⸗ 
vese Gurmenifirung — eine allmälige Etreigerung ter Sitnation Serzerzebradke, 
bie cwig bewunterungdwärbiz bleibe. Auf tem büchiien Bunlıe gleihiem nach 
dem errungenen Ziele fällt das ganze Orcheñer in ein freutiges Bolktlied, we 
der Baß mir der oberſten Melstie in Terzen forringt, um tie gemeinichaftliche 
Zreude jubelad audzumprechen. Selb ein Operncomponikt wie Auber bringt 
durch Die Aumwentung kerzleichen Sıellen grogartige tramariiche Wirkungen 
hervor; man nehme zur ten Clavierauszug feiner Stummen zur Hund, zu ſich 
Dawon überzeugen zu können, nicht nur tie Queerture bringe umß toldye, auch 
Ghöre und Arien. Und weiche hohe Bedentung dieſe Uniſone's unt Dfrzven- 
gänge für dieſen Tondichıer haben, erfieht man Taraus, Daß er oft nur wenige 
Zafte, ja zuweilen nus einige Roten in der Oftaze fingen und jpielen läpt, ohne 
eine andere Harmoniftrung, 3. B. in ber erjien Rummer genannter Üper am 
Schlufſe tes Chors bei Den Zertworten: „und preiien tie Buhl‘ x. Auber 
bringt durch dieſe Stellen, wo alle Stimmen tie Relotie einkimmiy vertragen, 
die Ginwürhigfeit ter Sefinnung sum Austrud, 

Beiläufig erlaube ich mir folgende nõthig icheinende Bemerfung. Daß ich 
Bier und in allen anderen Zeirichriften, wo ich bisher über Mufif geichrieben 
habe, auch tie Berbienfle der franzöftihen und italieniichen Gomponiften würs 
dige und das Gute und Schöne ihrer Werke lobend beipreche, während es unter 
dem größten Theil der Mufifgelehrien allgemeiner Gebrauch iſt, geringichägig 
und veraͤchtlich von ihnen zu jchreiben, wird man mir hoffentlich nicht als Im⸗ 
yietät gegen Deutſchlands Tontichter anrechnen, weil jeter aus meinen Schrif- 
ten erficht, wie hoch ich Deutiche Zontichrungen jcbüge und verehre. Dabei muß 
ich aber auch das Erle und Große aller anteren Rarionen rühmlich anerkennen, 
und es zeigt von Inhumanitaͤt und Engherzigfeit, wenn die Werke ter Franzoſen 
umb Staliener ſtets nur ald Knalleffekte, Machwerke, Sinnenſtückt u. |. w. bes 
zeichnet werden. Hierüber babe ich mich ſchon 1855 in der Reuen Berliner 
Muftlzeitung” dahin audgejprochen, daß ter hochgebildete Küuftler und Kunfl- 
freund niemal® jo engherzig jein und nur eine Kunflgattung ober die Kunjl« 
producte Liefer ober jener Zeit, von dieſem oder jenem Volke Gesorzugen ober 
AH ihnen ausichlieglich bingeben wird und jle vorzugsweiſe genießen will 
mit gänzlicher Ignorirung aller auderen Werke, von anteren Gomponiften, aus 
anteren Zeiten und von anteren Völkern; jondern er wird das Gute und Schöne 
zu wärbigen wifien, von woher e8 kommen mag, ob von biejer oder jener dichtes 
riſchen Individualitaͤt, ob von diefem ober jenem Bolfe. Gr wirt das Bollfonı- 
mene und Edle in den Kunſtwerken der Italiener, Franzoſen und Deutſchen 


Die Acecorde. 225 


gleich hochachten, fhägend würdigen und in dankbarer Anerkennung gegen bie 
bochverehrungswürdigen Meifter geiftig genießen. Ebenfowenig wird er fle nach 
eonfefftonellen Religionsunterfchieben oder wohl gar vom politifchen Standpunfte 
aus Eritifiren und beurtheilen wollen; ihm ift e8 gleich lieb, ob dies Meifterwert 
ein Ghrift, ein Jude oder ein Muhamedaner gefchaffen hat, oder ob der Schöpfer 
ein Demofrat oder Abfolutift war; trägt nur das Werk die hohe Vollendung 
der Meifterichaft, daß es allen Gefeten der Nefthetif genügt, fo hat ed Die Bes 
rechtigung zur Eriftenz für alle Zeiten und muß von allen Völkern liebevoll aufs 
genommen werden, und große Thorheit ift es, wenn einfeitige Menichen e8 nicht 
Seachten und würdigen wollen. Wahrhaft edeldenfend zeichnet fich hierin bie 
fächfifhe Königsfanilie aus. R. Wagner’8 Opern werden auf der fächflfchen 
Hofbühne in Dreöden gegeben, obgleich er fich jehr ſchwer gegen den fächflfchen 
Staat und deſſen Königsfamilie durch jeine republifanifche, Schilderhebung 
vergangen bat. Tagegen erfchienen in Berlin Meyerbeer's Opern nur äuferft 
felten auf der Bühne, und warum?!! — wahrfcheinlich weil ihr hochgenialer 
Schöpfer ein Jude ift!!! In Berlin beanftandete man auch lange Zeit die Auf⸗ 
führung der Wagner'fchen Opern aus dem Grunde, weil er ſich als Republika⸗ 
ner gezeigt und im Dredtener Maiaufruhr thätig war, Doch auch da ift man jegt 
toleranter. 

Alfo gleiche Gerechtigkeit in der Beurtheilung aller Werke von allen 
Autoren aus allen Nationen der Erde! Died ift von jeher mein Wahlipruch 
und meine Richtſchnur gewelen und Toll c8 auch fernerhin bleiben und mein 
innigfter Wunſch ift, daß alle Schriftfteller fidy ihn zum Gefeg erwählen; dann 
wird jede gehälfige Verfleinerungd= und Verläumdungsfucht fchwinden. Jene 
elende VBerläumdungsfucht, die nicht nur die Werfe der Autoren jchmäht, fon» 
dern auch die edle Sittlichfeit des Charakterd durch dienftwillige Spione ans 
fhwärzen läßt, muß mit allen Waffen der freien Geiftesrichtung unerbittlich 
bekämpft und total vernichtet werden. Dann wird nicht mehr jo mancher edle 
Denker und Dichter in der Blürhe feiner Jugend verbluten müflen, wie jo uns 
zählige edle Männer in Deutfchlands Bauen, die den Zorn der Mächtigen reizten, 
weil fie e8 verfchmähten, ihre jervilen Werkzeuge zu werden. — Doch Echren wir 
von den Disharmonien des Lebens wieder zu den Harmonien der Tonkunſt zurüd. 

Daß die Accorde und überhaupt fümmtliche Sarmoniefolgen durch den 
Geifteächarakter der Eituation und vorzugsweije Durch die Melodie zur Beglei⸗ 
tung bedingt werten, habe ich fehon oftmald nachgewieſen und das ift auch fehr 
erflärlih. Uber wie tiefgreifend fich dieſes Geſetz erjtredt, Fann man aus dem 
Studium der echten Volkslieder aller Nationen erfehen, in denen ganz unmwillfürlich 
unt nur Durch das Gefühldleben die einzig angemeffenen Harmoniefolgen zur 
Begleitung der Melodie gewählt find; e8 verfteht jich nur bei den wahren Volks⸗ 
lietern, welche Charakterzuge vom Seelenleben de3 Volkes zum Ausdrud brine 
gen und daher auch aus Aller Munde ertönen. Die Eigenthünlichkeit dieſer 
Lieber ift auch fchon oft vom literariichen Standpunfte beiprochen worden, 
weniger vom muſikaliſchen, und doch könnten hierüber große Werke geichrieben 
werden, Ich muß mich hier nur auf einige Andeutungen über Melodie und 

V. 18 


226 Duft. 

Sarscaie beihränten. Es eriitiren eigentlich zwei zerickietene Ara von 
Volkslietern, Tie jogenamnıen Nuienalfemnen, wie tie rwiiche zen Kxon, 
tie ötterreichitche von Huptn, die enzlühe „Heil dit im Ziszerfran;‘’ em 
Kar: u. :. 4. Ticie Fat on funkzckilteren Genizcairten gegamın und 
wegen ihrer lieblichen Geialligkeit in ten Teiftmunt uterzegangen. Zu Amt 
im nenen Stel na ten Geregen ter Melodik unt Gurmionif veyimipig jibilter 
unt unserickeiten ſich hinfichtlich ibres Gbarafıerd nıtı weſenuich sem ter all- 
gemeinen wellihen Muñk. Tie anderen eigenlid wahren Xolfziieter Ant 
aber zom muitfaliich unzebilteren Wolfe jelbit erfunten. Gantwerfer, Bauern, 
Sicher u. U. tanzen in Luſt und Leit Tonweiien, wie jie ihnen das Gerz gekot, 
unbefümmer: um theoreriihe Regeirichrigkeir. Wir baben in neucher Zeit 
hierfür ein treñendes Beiiriel an ter allEeliebten Rolka, relche zuerũ ein bob 
miſches Bauernmätcdhen geiungen unt getanzt bar, gan; nad ibrer eigenen 
Erfntung. Eo war es ftets mir ter Bildung Tieier Volfdgelänge; bei ber 
Arbeis oter in Griolungsftunten und tes Sonniags beim Tan; jungen Dur» 
fdyen unt Rätchen in Worten und Zonen aus, was ibnen die Druft bewegte, 
Liebedluft und Lickesleit, Scheiten und Weiten, fröbliches Wicterichen und 
bitterer Trennungsichmer;, alle dieſe Gefüble unt Getanfen wurten in einfacher 
Herzergreitenter Spracke und gefühleolien Tonweiſen audgeirrochen und Trans 
gen wieder zum Herzen, weil jie vom Herzen famen. Aber audy Vaterlands⸗ 
lieder erianten, muthige Schlachigeſange, fröhliche Siegeölieter und preiiente 
Heltenlieter, Zot.engejänge, Elegien ter Srübentichlafenen und ſchmerzliche 
Klazın über das allgemeine Elend Ted Vaicrlandes. In Xietern fonnıe und 
durfte man verblumt ausſprechen, was Ter freien Mannesrede nicht geſtattet war. 
Es fam hierbei nicht gerate Darauf an, ob ein Veröfuß zu wenig oder zu viel 
unt ch die Beriote vollzäblig oter nicht; dabei finten wir auch Uebergänge aus 
einer Taftart in die andere, vom 2 zum 3 Takt und umgekehrt, ganz jo wie es bie 
Gefühlsſiimmung des Herzens dictirte. Daher kieje wunderbar ergreifende 
Macht aller jener echten Volfölicter, welche oft zu Ihränen rühren, wenn fie 
gefühleoll vorgetragen werten. Am merkwürtigiten ift hierbei tie eigenthüm⸗ 
liche Sarmonifirung. Wer nicht die urjprünglichen Harmoniefolgen fennt, Der 
geht gewiß oft jehr irre, wenn er fie nach unjerer heutigen modernen Muſik bes 
gleiten will. Bei zahlreichen alten Volksliedern folgen die Harmonicn ähnlich 
unferen antifen Kirchentonarten, aber jedes Volk har hierin jeine Eigenthüm⸗ 
lichkeiten. Am jchöniten find wohl tie alten ſchwediſchen Lieder von Lindblatt 
mit Glavierbegleitung veriehen ; die Harmonien bringen bier ten falten elegiſchen 
Ton des Nordens auf tiefergreifende Weile zum ſchönen Ausdruck und ergänzen 
damit die janftklagende Melotie. Ein ganz anderer Klageton durchzieht die 
Rationalgeiänge Der Moltauer und Walachen, denn bei ihnen macht fidy der 
fübliche Charakter geltend. Aus heiterer Lufligkeit geht das Gemuͤth plötzlich 
In Hagente Trauer über und jpringt aber auch chenjo jchnell wicter in bie 
vorige Weltluft, aber Elegie und weinender Schmerz find die vorberrichenden 
Seelenftimmungen aller ihrer Kieber und Tonwerke. Ich habe feinen Tanz der 
Rumänen Fennen gelernt, der durchgängig fich in der Durtonart bewegte, alle 


Die Meceorbe, 237 


fallen aus dem beiteren Dur in das Flagende Moll, Und was ift die Urjache 
biefer vorwaltend büfteren Seelenflimmung?! — ftudiren wir die Gefchichte 
ihres Landes, jo erhalten wir bie paflende Antwort darauf, BVielhundertjähriger 
Trud hat diefe genialen Völker zu Trauer und Kummer geftimmt; hoffentlich 
wird ihnen aus ihrer bis jetzt halberrungenen flaatlichen Selbftitändigfeit eine 
befiere Zukunft erblühen, Die Sarmonien der rumänijchen Volkslieder bewegen 
fi vorzugsweije in dem Molldreiflang der Tonika, alfo A-moll, und fchreiten 
oft in den Molldreiflang der Unterbominante nach D-moll; mit dieſem Accorde 
werden auch die Schlüfjje eingeleitet, nur felten wird son Donnantfeptimen- 
accord der fünften Stufe in den Schlußaccord gegangen, öfters wird auf dieſem 
Accord der fünften Stufe nicht die große, fondern die Fleine Terz genommen, 
wodurch die Flagende Trauer noch fchmerzlicher erfcheint. 

Auch bei den flavifchen und vorzugäweije ruſſiſchen Völkern berrichen die 
Mollbarmonien vor, während dagegen bei den Stalienern, Spaniern, Portugies 
jen und Franzoſen die Durtonarten vorwaltend find. Die Elegie und jchinerze 
lihe Trauer wird bei den jüdlichen Völkern ſtets durch fentimental klagende 
Melodien mit untermijchten Mollaccorden zum Ausdrud gebracht. Denn mös 
gen ſie auch noch fo viel Leid und Kummer erbulden, der im heitern Sonnen⸗ 
ichein erglühende füdliche Himmel mit feiner glänzenden Blumenpracht und den 
jüßtuftenden Wohlgerüuchen verfchönert das Dajein trog Kummer und Bram. 
Aber Die armen Völker ded rauhen Rordend, denen nur felten ein wärmenber 
Sonnenftrabl erjcheint, müflen bei ewigem Schnee und Eis die Laiten ihres 
freutenlofen Lebens tragen, ihnen erfrieren bie Thränen des Echmerzeö noch 
auf ter Eummervollen Wange zu Eid, daher vermögen fie audy nur in Klage 
liedern voller Mollbarmonien das Leid ihrer Seele auszuweinen. 

Was Deutſchlands Volkslieder betrifft, jo find und zwar viele alte Lieder 
erhalten, aber nur wenig Melodien. Aus ihnen vernehmen wir die harmloſe 
deutiche Semüthlichkeit, in der auch ein Weh zuweilen ertönt, aber fich doch nicht 
forheährend im Lamento ergeht. Schmerz und Entjagung fprechen ſich nur in 
Tanfter Klage aus; man denfe nur an das alte Volkslied über die Treulofigfeit 
der Selichten: D Tannenbaun, o Tannenbaum, wie grün find deine Blätter x. 
In Dielen und vielen ähnlichen Volksweiſen wechieln die Harmonien nur mit dem 
Treiflang der Tonika und Septimenaccord der Ober-Dominante; jelten erfcheis 
nen einmal die Molldreiflänge der dritten und jechften Stufe. Doch haben wir 
auch Lieder in der Molltonart; eines ter jchönften diefer Art iſt: „Es gibt 
nicht8 Schöneres in der Welt, ald fo man fällt im Schlachtentodt x. Spohr 
bat diefen altdeutichen Schlachtgeſang in jeiner Icgten Oper: „Die Kreuzfahrer” 
eingeführt, charakteriſtiſch harmoniſirt und treffend inftrumentirt; im büftern 
B-moll ertönt er und mobdulirt jubelnd nach Des-dur. Daß aber alle jene 
Volkslieder, deurfche, ſlaviſche, italienifche, jchottifche u. v. A. nicht urjprünglich 
mit vollen Harmonien begleitet und gejungen wurden, ift ar, wer ſtets auf die 
Geſänge der unteren Volksklaſſen hört, wird bald bemerfen, daß fle in Oftaven, 
Serien und Xerzenverdoppelungen ertönen. Am öfterften werden fie in zwei 


ftinnmigen Sornharmonien vorgetragen, mag die Anzahl der Sänger aud) noch 
15* 


228 Mufſik. 


ſo groß ſein. Jene leicht zu treffenden Hornharmonien hat man auch als 

Naturharmonie benannt, ſie bewegen ſich in folgenden Tonverhältniſſen: 

( defgfedc. Zuweilen ertönen aud einige Abweichungen hinein. 
egcededcege 

Dramatifch ſchreibende Operncomponiften haben fte auch in ihren Opern ange« 

wandt, wo fle von der Situation erfordert wurden; als Begleitung hört man fie 

von Hörnern und Trompeten in jedem Marfche und Zange. 


Ueber die Harmonifirung der alten Kirchenlieder Habe ich jchon in Geift 
und Charakter in der Tonfunft” 4. Bd. Andeutungen gegeben und beipreche fie 
deshalb Hier nicht weiter, um Wieberholungen zu vermeiden. Nur verweije ich 
noch einmal rückblickend auf das große Material, was dem Tondichter im Gebiet 
der Harmonie zur Verfügung fteht. Hierbei darf man aber nicht vom „Ver⸗ 
alten“ fprechen; die alten Kirchentonarten und ihre Molldarmonien find eigent- 
lich nicht veraltet, fondern fle Fönnen nur nicht in jedem Tonſtück verwendet 
werben. Wer aber ganz im Geifte der Kirchenmufik fchreiben will, d. h. der 
katholiſchen und proteftantifchen Kirchenmujtf der Neformationgzeit, der muß fle 
gründlich ftudiren und ſich in fle hineindenken, hineinempfinden und ganz darin 
leben und athmen, nur dann wird er ein ccht Eirchliched Tonwerk zu erzeugen 
vermögen, mag cd in der Oper oder Kirche aufgeführt werden. Auch jene 
Raturbarmonien der Landleute, Jäger und Fiſcher müflen da ertönen, wo fle von 
der Situation bedingt werden. Lind welche hochvortreffliche Wirkungen geniale 
Zondichter damit hervorbringen können, hat und Weber in feinem Jägerchor bed 
Breifchüg gezeigt. Erwägt man nun noch die zahlreichen Accorde und Vor⸗ 
baltögeftalten, welche die Tondichter der Neuzeit gefchaffen, und bedenkt man, 
wie unberechenbar groß die Modulationen find — denn es iſt hier gar Feine Grenze 
zu finden — fo muß jeder zu der ficheren Leberzeugung kommen, daß die Mittel zur 
pſychologiſchen Darftellung der Charaktere und aller möglichen Geiſtesſtimmun⸗ 
gen des Seelenlebens, fchon in der Harmonie ebenfo unbegrenzt groß find, ale 
die Situationen des Geiſtes felbft. Lind doch ift die Harmonie nur dad Secun« 
däre in der Tonfunft; das Primäre ift Die Melodie, fle ift die Secle als ausge⸗ 
fprochener Gedanke, Die Gebanfenfeele, welche ihr begleitendes Senforium in 
und an der Harmonie beſitzt. Aber wer vermag die unendlich manigfaltigen 
Geftaltungen der Melodik zu zählen! Und wer berechnet die möglichen Rhyth⸗ 
men! Hier iſt noch weniger eine Grenze zu finden, als in der Harmonie. Diefe 
vielfachen melodijchen Gedanfenwindungen find fo unzählbar wie die Blumen 
ber Erbe. Lind zu allen dieſen hervorblühenden Melodien noch die unendlich 
große Manigfaltigfeit der Harmonien und Begleitungsformen hinzugedacht, fo 
ergibt died einen Reichthum an muflkalifchen Darftellungsmitteln, der nicht 
Innerhalb Jahrtauſenden erfchöpft werden kann. Aber noch ein mächtiger Pro⸗ 
tens tritt hiuzu, welcher durch feine umgeftaltende Macht ebenfo unzählig viele 
Charakterifirungen bervorzußringen vermag und gar nicht verbraucht werben 
Tann, weil ſtets neue Mittel erfcheinen. Ich meine die Inftrumentation, von 
ber ich ſchon oben Andeutungen gab. Sie muß fich ſtets ncu gebären und von 
Jahrhundert zu Jahrhundert reichere Mittel zur pfpchologifchen Darftellung 


Die Accorde. 229 


gewähren. Denn die fortfchreitende Vervolllommnung der Inftrumente und 
die ſtets fich Höher fleigernde Virtuofttät nebft der Erfindung noch ganz neuer 
unbefannter Inftrumente, bieten dem Tondichter auch immer neue Effecte zu 
feinen verfchiedenen Charafteren und Gefühlöfituationen dar. Und fo ift das 
Meich der Tonkunft ebenfo unendlich und unermeßlich, ald die Region des Gel- 
ſtes; denn alle new erzeugten Gedanken und Ideen erzeugen auch ftetö neue 
Ausdrudömittel, in denen fle zur Darftellung kommen. Wer fich alfo unter 
fieht und wagt behauptend audzufprechen, die Tondichter der Gegenwart ver⸗ 
möchten nichts Neues und Schönes mehr zu ſchaffen, fie wären unfähig, wahre 
haft neue und originelle Ideen zu erzeugen, wer fo etwas keck ausjagt ober Im 
pedantifchen Lehrtone feinen Lefern bei allen Gelegenheiten vordbemonftrirt, wie 
jene bornirten Menfchen, die nur in und von den alten Satzungen vergangener 
Jahrhunderte leben und in biefem befchränkten Gefichtöfreife denken, — ich 
fage, ſolche Menſchen müflen nicht nur bemitleidet, fondern auch gehörig zurecht 
gewiefen werden. Denn es ift endlich nun an ber Zeit, daß biefe alten Zeis 
tungsflosfeln für immer verflunmen und einer geiftwolleren und Eenntnißreiche 
ten Kritik Plag machen, die nicht mehr ausfchließlich die Gedanken vergangener 
Generationen nachdenkungslos herſchwatzt, — wie gewiſſe Leute, die nur von 
den Thaten ihrer Vorfahren geiftlos zu reben wiſſen, weil ſie felbft weder eines 
neuen Gedankens noch einer edlen That fähig find, — fondern die auch jedes 
neue Werk anatomifch zu analyſtren und ihren Leſern die Schönheiten beffelben 
unparteilich aufzuweifen vermag. Alles dies muß im echt wiſſenſchaftlichen 
Tone gejchehen, nicht aber mit den millionenmal gebrauchten Schlagwörtern abs 
gefertigt werden. Wie wenig Kritifen unferer gelefenften Zeitungen biefer For⸗ 
derung entfprechen, das erleben wir zu unferem Leidweſen täglich ; wollte ich die 
Blätter nennen, bie fich hierin ehrenvoll auszeichnen, jo Fönnte ich nur eine kleine 
Anzahl namhaft machen. Aber fo verächtlich dieſe reactionaͤre Kritik if, 
fo Lächerlich erfcheint das Gebaren jener Zufunftsmuflfer, bie durch die Zu⸗ 
kunftsmuſik und vorzugdweife durch das Zufunftsdrama eine Muſik hervorzau⸗ 
bern wollen, die etwas ganz abfolut Neues, noch gar nicht Dagewefenes fein ſoll. 
In der Kulturgefchichte des Geiftes tritt oft die Erjcheinung auf, daß eine ex⸗ 
treme Richtung gerade die entgegengefegte hervorruft; die zurlimfchr predigenden 
reactionären Klaſſiker bewirkten, daß eine Partei auftrat, welche ganz mit ber 
Vergangenheit brach, ihre Werke geringfchäßte, und alles Erle und Schöne und 
überhaupt einen ganz neuen Geift erft von den Tondichtern der Zufunft erivars 
tete. Im 3. Bd. dieſes Werkes in den ‚Parteien in der Kunſtkritik“ habe ich diefe 
Fractionen befprochen, hier muß ich nur noch einige Worte für Die Tondichter 
ber Gegenwart und Zukunft bemerken, um über ihre Aufgabe das nöthige Ver⸗ 
ſtaͤndniß zu verbreiten. 

Wer bei jedem Tonſtück ausruft: Allee fchon dageweien, und dabei fort« 
während verlangt, es foll etwas ganz Neues, noch nicht Gehörtes producirt wer⸗ 
den, oder ſich zu den-fchon oben gerügten Ausfprüchen flüchtet: „daß die Ton⸗ 
dichter der Neuzeit überhaupt feine originellen Werke mit neuem Ideengehalt zu 
ichaffen vermöchten,“ — wer dies und vieles andere Gerede noch bruden läßt, 


230 Mufit, 


ber fteht ganz außerhalb des geiftigen Entwickelungsganges der Kufturgefchichte, 
der hat das Ideenleben nicht verſtanden, nicht begriffen und ift fich felbft über 
feine Forderung nicht Flar geworden. Sollen denn die Tondicdhter noch eine 
ganz neue Tonregion mit neuen Accorden entdecken, um etwas ganz abfolut 
Neues zu ſchaffen? Es wäre dies ebenfo unfinnig, als wenn man den PBoeten 
zumutbete, fie jollten eine ganz neue Sprache und eine abfolut neue Gedanken⸗ 
region erzeugen, um nicht mehr in ben biöherigen Redewendungen zu fchreiben. 
Es waltet hierbei Das größte Mißverſtaͤndniß ob; wer ſtets in Poefle und Kunft 
etwas ganz unerhört Fremdes fordert, der beginnt ſich wie die Kinder, welche 
ganz andere Spielzeuge verlangen. Shakespeare hat an die zwanzig Trauer-, 
Schau und Ruftfpiele gefchaffen, und doch Fonnten noch ein Schiller, Goethe und 
viele andere Dichter erftehen,, welche in denſelben Dramatifchen Formen des bri⸗ 
tifchen Heros neue Geiftesthaten zu erzeugen vermochten. Und wie groß war 
ſchon die Zahl Igriicher Gedichte zu Goethe's und Schiller's Zeit in Deutfchland 
und dennoch fonnten Heine, Geibel, Herwegh, Freiligrath u. v. A. noch ſolch 
f&höne Producte in der einfachften Form ber Lyrik erzeugen, daß ihre Gedichte 
fammlungen ein Gemeingut ber Nation wurden und zahlreiche Auflagen erfor 
derten. Und was ift es, wodurch fich diefe neuen Probucte von ben älteren 
unterfcheiden? — Sie haben andere Ideen erzeugt und neue Betrachtungen über 
bekannte und unbekannte Gegenflände audgefprochen; dann burchwanderten fie 
die unermeßlich große Scala der Gefühle und Empfindungen und brachten fie 
mit neuen Gedankenreflexionen zur Darftellung. Und obgleich ſie vielleicht zum 
millionftenmal auf „Herz“ den „Schmerz“ reimten, fo kann man fich doch hier⸗ 
über nicht Iuftig machen mit dem Ausruf: „Alles fchon dageweſen“, denn die 
Situationen des Herzens und des Schmerzes find fo unbegrenzt, Daß noch immer 
neue Gefühle und Gedanken innerhalb biefer Megion zum Ausdrud gebracht 
werben können, ohne in fade Wiederholungen zu verfallen. Weberhaupt muß 
man bedenken, daß das Geiftedleben fortwährend neue Ideen, Gedanken, Gefühle 
und Empfindungen durch jeinen Lebendgang aus fich heraudgebiert, und daß 
diefe Erzeugung neuer Seelenjituationen durch Die allbefannte Sprache In neuen 
Redewendungen berbortritt. Aber fo wenig wie man eine ganz andere Budh- 
ftabenfchrift zu jedem neuen Gedichte fordern kann, eben fo wenig kann man in 
neuen Wörtern reden wollen. Wir haben ganz dafjelbe Verhaͤltniß in der Ton⸗ 
kunſt. In ein und demfelben Formenſchema, 3. B. der Sonatenform, wurden 
zahlreiche originelle und ſchöne Werke gefchaffen, ohne dag man in Ihnen geiſt⸗ 
Iofe Wiederholungen und Reminiscenzen nachweifen konnte. Daturch, dag wir 
mit dem Dominantfeptimenaceord der fünften Stufe faft alle unfere Schlüffe 
einleiten, dadurch wird Diefe Gadenz nicht verbraucht und veraltet nicht, fo wenig 
als die Begrüßungereden beim Abfchied und beim Wieberfommen. Dan fann 
die geiftreichfte Unterhaltung führen und beim Abſchied iſt man doch genöthigt, 
biefelben Worte zu fagen, bie der ſtupideſte Kopf ausfpricht. Wenn Tondichter 
wie Kücken, Methfeſſel, Abt u. v. N. die einfachen Inrifchen Gedichte ebenfo eine 
fach in den natürlichften Tonformen herfangen, daß ihre Melodien in den Volks⸗ 
mund übergingen und auf allen Straßen ertönten, fo beftand ihre Neuheit und 


Die Accorde. 231 


Originalität darin, dag die einfachen Melodienwendungen vom Gefühlsichen 
des erregten Herzens gefchaffen wurden und demzufolge diefelben Seelenftimmuns« 
gen in allen anderen Serzen wieder hervorriefen. Die natürliche ungefünftelte 
Beifteöfituation Eonnte ſich auch nur in ſolch einfachen Tonformen ohne fünf» 
liche Begleitung zum Austrud bringen; wer aber diefe für jedes Lieb forbert, 
der bat fein Verfländnig für piychologifche Darftellung. Viele beurtheilen die 
Lieder nur nad) ihrer Begleitung, find darin zahlreiche Nachahmungen und 
funftvolle Bigurationen angebracht, mögen dieſe auch noch fo fehr der Seelen- 
flimmung widerfprechen und unangemeſſen fein, fo erhalten fie Beifall, gehen 
aber fpurlos an der Menge vorüber. Immer muß man bier wieberholen: nur 
was vom Herzen fümmt, nur was aus dem tiefinnerften Leben des Geiftes ges 
boren wird, das dringt auch wieder zum Herzen und bleibt ewig bewunderungs⸗ 
würdig jchön und neu. Wer zu den Worten: „Gut Racht, fahr wohl du treues 
Herz“ eine complicirte Melodie mit Funftooller Figuration der Begleitung 
ſchreibt, wird gewiß nicht erleben, daß fein Product viel gefungen wird ; nur in 
der Form, wie Kücken Died Gedicht in Tongebilden zur Darftellung brachte, ver⸗ 
may es Thränen der Wehmuth hervorzurufen; ebenfo verhält fich’8 mit: „Wo 
fill ein Herz in Liebe glüht”. Dagegen muß aber zu einer Arie, wie: „Du 
kennſt den Berräther, zur Rache ruft Liebe, ruft Ehre’ sc. auch eine in rollen» 
den Figuren flürmende Begleitung erzeugt werden, um ben tobenden Zorn zum 
Ausdruck zu bringen, der in der Serle der Betrogenen wählt; ebenfo müſſen 
hierzu wild aufregende Harmonicfolgen gewählt werden, während fie in einem 
Liede wie: „Freut euch des Lebens“ ganz unſchicklich und Tächerlich wären. Wie 
vorfichtig man in der Wahl aller diefer Mittel fein muß, Tann man nur durch 
ein dickbaͤndiges Buch lehren und beweijen. Wer einen Vers, wie folgenden: 
„Beh zur Ruh, du armes Herz, geh zur Ruh mit deinem Schmerz; laß das 
Hoffen, laß das Sehnen, ſtill' die blutigen Schmerzensthränen” ıc. in ganz 
tüftere Mollharmonien mit ganz complicirten Begleitungdformen hüllen wollte, 
würde ganz ficher einen Fehlgriff thun, obgleich in dieſen Worten eine troftlofe 
Reftgnation auf alles Lebensglüd ausgefprochen iſt. Hierbei die wahren Aus« 
drudsmittel zu treffen, vermag nur der Geift, in deſſen Seele fie das tieffte Mit« 
gefühl erregen. 

Neues, Originelles und wahrhaft Schönes fchafft alfo nur derjenige Ton⸗ 
dichter, der das empfänglichfte Senforium für alle Leiden und Freuden ber 
Menichheit hat und ganz von dem Strome des ſich ewig neu erzeugenden Gedan⸗ 
fen» und Ideenlebens getrieben wird. Wem in der innerften Region bed Geiſtes 
eigene Melodien und Sarmonien erklingen, ber fchreibe fle nieder; gewiß werben 
fie auch wohl neu und jchön fein und alle gefühlsollen Herzen zum Mitgefühl 
bewegen. Daß hierbei auch nicht felten Analogien und verwandte Gedanfen- 
wendungen unter verfchiebenen Tordichtern erfcheinen, beeinträchtigt ihre Werke 
nicht; Schon bei Haydn und Mozart Taffen fich dergleichen nachweifen, ebenfo 
bei Mozart und Spohr, Weber und Böhner, Wagner und Weber u. b. A. Rur 
wo ter Componift eine ganze Periode, oder auch nur bie Hälfte, einen Abſchnitt 
von der Melotie eines anderen bewußt oder unbewußt entlehnt hat, da kann 


232 Muſik. 


man von Gedankendiebſtahl reden; nicht aber bei Anklaͤngen von nur wenig 
Tönen. — Unter den Kulturnationen der Neuzeit haben Doch nur vorzugsweiſe 
die Deutjchen, Franzoſen und Italiener eine jchöpferiiche Ihätigkeit in der Ton⸗ 
kunſt entfaltet, und bie erfteren bis heute Die Priorität eingenommen. Denn 
die Deutichen producirten nicht nur eine große Zahl hochvortrefflicher Opern, 
fondern audy Sinfonien, Ouartetten, Sonaten, Xieder und viele andere große 
und Eleine Tonwerke. Franzoſen und Italiener cultivirten mehr Die Oper, das 
Lied und die Pianofortecompofttion. Nächft ihnen zeichneten fi auch bie 
Engländer aus; ihr Onslow, Balfe und Venett haben und Werfe gefchaifen, 
die auch von den Deutjchen geliebt und verchrt werden. Auch in Rupland tft 
in neuefter Zeit durch die eifrigen Bemühungen des Czaren die Muſik auf einen 
höheren Eulturftandpunft gehoben und die Werke des Generals Lwoff, ganz bes 
fonder3 feine wunderſchöne rufftfche Nationalhymne, werben fich nicht nur einen 
Ehrenplag in der Muflkliteratur erwerben, jondern auch manches muflfliebende 
Herz in Freude und Entzücken verfegen. Die Dänen gaben und Nield Gabe, 
einen Tondichter erften Ranges, deſſen Sinfonien und Duverturen in faft allen 
Goncertfälen Europa's ertönen und das Publikum begeiftern. Was Ungarn 
und Böhmen in der Muſik geleijtet haben, ift weniger befannt, nur ein Heros 
fam zu und aus dem Lande der Magyaren und producirte zahlreiche Werke für 
Piano und Orcheiter; feine finfonijchen Dichtungen wurden Epoche machend; 
brauche ich zu fagen, daß er Branz Liszt heißt? Die Böhmen ald die muſik⸗ 
liebendfte Nation Europa's haben und zwar viele ſchöne Tänze, Lieder und 
Ouverturen gegeben, auch zahlreiche Birtuojen ausgebildet, aber Doch noch Feine 
großen Opern« und Sinfoniecomponiften erzeugt; daſſelbe verhält fich auch mit 
den anderen flavifchen Völfern. Wer hiervon Die Urfachen nachlefen will, den 
verweiſe ich auf meine Abhandlung über „die Geiſteskultur der Slaven und ihre 
zufünftige Weltſtellung“, abgedrudt im „Magazin für die Literatur des Aus« 
landes“ 28. Jahrgang Nr. 74— 76. Dort gab ich auch einige Andeutungen 
über das Bolfölied der Ruſſen. Von den Spaniern und Portugiefen der Neu⸗ 
zeit haben wir nur einige jchöne Lieder erhalten, aber Feine größeren Werke. 
In Amerika und in allen anderen Ländern, wo Kulturvölfer ſich an Eunftvollen 
Tongebilden begeiftern und erfreuen, werden größtentheild nur Werfe europäi« 
ſcher Tondichter aufgeführt; nur einige Volkslieder von ihnen find zu ung über 
da8 Meer herübergedrungen. Doch haben in neuefter Zeit viele Nordamerifaner 
ihre Studien in der Compoſition bei deutfchen Lehrern gemacht, fie, im Verein 
mit den eingewanderten Künftleen werben hoffentlich auch dort die Tonkunft zu 
einer höheren Bluthenperiode bringen, Und fo möge Dieje göttliche Kunft in 
allen Ländern, unter allen Völkern fortwährend gehegt und gepflegt werden, daß 
fie mit dem Betrübten Klagen und mit Dem Leidenden Leides tragen Fann, mit 
dem Berenden beten und mit dem Sröhlichen heiter zu jauchzen vermag über die 
herrliche Schöpfung und Die ewige Harmonie des Weltalls. Muſik, du Tröſte⸗ 
rin des Himmeld, zwar in dem Geiſte der Sterblichen erzeugt und geboren, find 
doch die Geſetze deiner Sarmonien von Ewigkeit mit im harmonifchen Weltall 
begründet, fowie ja das Geiſtesleben der Menfchheit jelbft nur eine Emanation 
des abfoluten Weltgeiftes iſt. — 


Die Accorde. 233 


Ueber die Bildung ber Melodie und ihrer manigfaltigen Formen habe ich 
ſchon in allen meinen Abhandlungen gelegentlich einige Andeutungen gegeben, 
aber dies konnte nur ſkizzenhaft gefchehen. ine ausführliche Darftellung, 
welche die Rhythmik und Geſetze des Satz⸗- und Periodenbaues mit umfaßt, muß 
einer bejonderen Abhandlung vorbehalten bleiben, in der zahlreiche Notenbei⸗ 
fpiele zur Erläuterung gegeben werden fönnen. Alſo auch die Bildung der Me» 
lodie kann gelehrt werden, fo gut wie die gefeglichen Kortfchreitungen ber Har⸗ 
monie. Nach diefer Lehre wird man zwar befähigt, regelrechte Melodien zu 
eonftruiren , in denen fich Feine Fehler nachweifen lafien; ob fie aber die Hörer 
ergreifen und begeiftern, Dies ift eine andere Brage. Es Tann dies nur dann 
erfolgen, wenn fich in den regelrechten Bildungen ein tiefer geiftiger Gedanfen- 
inhalt Fund gibt, der vermöge feiner Gefühle und Empfindungen das gefühluolle 
Herz in Reſonanz zu fegen vermag. Die Bildung regelmäßiger Melodien kann 
jeber erlernen, aber mächtig bewegende Ideen barin auszufprechen, vermag nur 
der mit hohen Geiſtesgaben geborene productive Menſch. Nur der Menfch, den 
der geiftige Schöpferdrang gleichfam zur Production antreibt und der hierin 
jeine Höchite Seligfeit findet, wird wahrhaft weltbewegende Gedanken erzeugen 
und in jeinen Kunftwerfen zur objectiven Geftalt verherrlichen. 

Das Studium der Compoſition in allen ihren Zweigen ift und gibt dem 
Tondichter nur Das, was der Poet und Schriftfteller durch das Studium der 
Grammatif und Elementarlogik erhält: nämlich die Gewandtheit und Fertigkeit, 
alle im fchöpferifchen Beifte entftehenden Gedanfen und Ideen mit Leichtigfeit In 
regelrechten Bormen auöfprechen zu können, aljo allen Ideen eine Klarheit der 
Form zu verleihen, daß fle für jeden Menfchen verfländlich und geiftig genießbar 
werden. Wem aber bieje Geifteögaben und die drangende Schöpferthätigfeit 
nicht angeboren find, der wird, trog des Studiums der Grammatik und Logik 
und Dur das Studium der Compofttion doch nicht befähigt werden, große 
Epoche machende Werfe zu erzeugen, weil feinen Producten das ergreifende und 
begeifternde Ipeenleben fehlt, das allein die Menjchheit zu begeiftern vermag. Die 
Erzeugnifle ſolcher Männer find bloße Neflerionsproducte, zujammengerechnet 
vom Falten Denken, ohne Spur des Gefühlslebens. Und wenn auch wirflidh 
einmal ein Strahl des höheren Ipeenlebens zum Durchbruch kommt, fo tft Dies 
doch nur jo vorübergehend, daß die geiftige Wirkung nicht groß fein fann. Aber 
dennoch haben Diefe theoretifchen Studien das Gute, daß ein tiefered Verſtänd⸗ 
niß für Die Kunftwerfe erzielt und größere Hochgenüffe erreicht werden, wenn 
man auch nicht ſelbſt Ähnliche Werke zu erzeugen vermag. Doch hat aber auch 
der phantaflelofefte Kopf zuweilen Stunden, in denen er edlere Producte zu pro⸗ 
duciren vermag; wer dieſe günftigen Augenblide zu benugen weiß, wird auch 
gewiß manches beachtungswürdige Werk jchaffen, in dem ein begeifterntes Ge⸗ 
danfenleben zum Ausdrud gelangt. — Möge alfo Die herrliche Tonfunft ein 
Gemeingut aller Menfchen werden, auf daß ſie in allen Regionen edle Sittliche 
keit und höhere Geiftesbildung befördern kann. Und wie in den wonnevollen 
Sarmonien der Töne fich alle ſchmerzlichen Diffonanzen in bie berufigenden 
und Friede gemährenden Gonfonanzen auflöfen, fo mögen fich auch alle Ripflänge 


234 Mut. 


des Eummerreichen Menichenlebens in tem heiligen Friedensaccord ter Freund⸗ 
ſchaft und Liebe verwanteln. Sarmonien! Tone füßer Himmeldruh leiten 
den Eterblichen empor zu ten Sternen, auf daß er, tem Erdenſchmerz entrüdt, 
ein edleres Daſein zu Ichen vermag. Was noch feine Menichenzunge zu jagen 
vermochte unt Worte niemals vermögen, das irricht ſich in Tongebilten mit 
wunderbarer Nacht aus, denn fie ichildern nnd jene gönliche Liebe, die auch 
unter ben Ertenbewohnern jene beieligente Harmonie erzeugt, welche den ewigen 
Srieden gewährt, nach tem ter Menichengeift in verzebrenter Sehnſucht ringt 
und firebt. Harmonien der Töne erzeugen und die Harmonie des Lebens; o 
möge fle uns ſtets umichweben bis zum legten Hauch der Seele. Garmonien 
geleiten und aufwärts zu den Sphärenharmonien Ted Weltalld und gemäbren 
der Seele tie Ahnung und Hoffnung auf ein edlered und unſterbliches Leben im 
himmliſchen Aether des ewig gerechten und beiligen Gottesgeiſtes, wo alle kum⸗ 
mer= und jchmerzathmenden Diffonanzen aufgelöft nd in den ewigen Friedens⸗ 
accord der Heiligen Geiſtesliebe. — 


Die Turnkunft und die Wehrverfaflung 
im aterlande, 


Eine Denkfchrift des Berliner Turnrathes. 


— — — 


J. 


Das deutfche Volk zeichnete fich in alter und mittlerer Zeit, mehr ald man ge= 
wöhnlich anzunehmen geneigt ift, und nicht minder als einft die @riechen, Durch 
einen überaus regen Betrieb volfäthümlicher und gemeinfaner Leibesübungen 
aus. Die geiftige Wirkung diefer körperlichen Ausbildung in den weſentlichſten 
und wehrlichften Uebungen trat in ber bis zu Ende des Mittelalterd den Deut 
ichen eigenen Friſche und Thatenluft, fowie nicht minder ber darauf begründeten 
Gedanfengediegenheit deutlich hervor. 

Wie aber der treigigjährige Krieg fo viele Blüthen und Früchte ded deut⸗ 
ſchen Weſens abftreifte und vernichtete, fo zog er und was in feinem Gefolge 
war, auch den öffentlichen Leibesübungen mit der faft gänzlichden Ertödtung des 
volksthümlichen deutfchen Beiftes den Boden unter den Zügen weg. Statt hei⸗ 
mifcher, vaterländifcher Sitte war die Nachahmungsſucht des welfchen Weſens, 
flatt der väterlichen Einfalt unnatürliche Beziertheit In den Vordergrund getres 
ten und ftatt des einfachen Bebürfnifies hatte verbildeter Geſchmack und gefuchtes 
raffinirtes Vergnügen die Oberhand gewonnen. 

Unter foldyen Bedingungen mußte das ganze Volk in feiner Entwidelung 
rüdwärts geben. Auf geiftigem und Teiblichem Gebiete fanf die frühere Macht 
fülle zur fhmählichen Dürre eines erfchlafften Spießbürgerthumes herab. 

Einzelne Fräftigere Männer der Neuzeit aber erkannten ihres Zeitalter® 
Grundgebrechen und fahen die Nothwendigkeit einer Wiederbelebung aller Glie⸗ 
der des Volkes, wenn es nicht gänzlich in Erfchlaffung untergehen follte, Tchhaft 
ein. Auch das wurde erfannt, daß die gefammte Belebung vorzugsweiſe von 
ter Erfrifchung der Leiblichkeit als ber unentbehrlichen Grundlage alled 
wehrhaften und währhaften Lebens ausgehen müffe. Deshalb redeten fle ber 
Ausbildung, namentlich des jüngeren Geſchlechtes, durch geregelte Leibeb⸗ 
übungen und der dadurch erzielten Kräftigung und Nbhärtung dad mahnende 
Mort. 


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une Isrrerkeu ber Kate rzzeract or, some zer reiht getrũckt ve 
frematen Excherer, feunız Eur arceeı werten, zıan fie akt enismte und 
kurk einiti:iggeiñige Ver eabeit ñulich sertemmene Irzend in ibrer Ge 
ſammthei: HE ten Banden uraimlider Stwrite mis, ſich Kran und Ge 
wantiker, Mutb und Ausſdenct, Siebe unt Hirsekung an ein greßes Ziel wie 
ker aueignete. 


Tat erfannie ichorig Frietrich Lutwig Iabr, unt ibm gelany cB, 
Lurcy tie zlüfiıkite Feñelunz unt Begeiierung ter Iugent, ta Turnen 
wieter vosfärkümiich zu maden: und zwar war nic eine verũbergebende augens 
blickliche Kräftigung Ted Volkes, Eeburs giuklicker Turchübrung tes beror- 
fiebenten Ramyies unt Krieges seine Entabict, die er bei ter Aufnabme unt 
Audbreisung Ted Zurmene batte, tontern (weebalb er c@ ja auch nad; ten Frei⸗ 
heitöftiegen eifrig unt erit recht forriegie) eine auf alle Zeiten nachrirkende 
Durchtringung des ganzen Volkes und Staates von der Ueberzeugung ter Wich⸗ 
tigkeit des Turnené und ter Leiſtungéẽfäbigkeit dieſes Piltungemirtele, wie er fle 
ſelber hatte und in folgenten Worten audiprach: „Die Zurnfunft ioll Lie ver 
loren gegangene Gleihmäpigkeit ter menichlichen Biltung wicterberftellen,, der 
bloß einjeitigen Bergeiftigung bie wahre Leibhaftigkeit suortnen, ter Ueberver⸗ 
feinerung in ter wietergaronnenen Mannlichkeit das notbwendige Gegengewicht 


Die Turnkunſt und die Wehrverfaſſung. 237 


geben und im jugendlichen Zufammenleben den ganzen Menfchen umfaffen und 
ergreifen.‘ 

Der fo durch Jahn 1811, noch während die Beinde Berlin befett hielten, 
ind Leben geftellte Betrieb des Turnens befchränkte ſich daher nicht auf eine me⸗ 
chaniſche Ausübung leiblicher Thätigfeiten, fondern fuchte durch alljeitige und 
gegenfeitige Anregung eine Erfrifhyung und Belebung des ganzen Menjchen zu 
bewirken. Männliche Rüftigkeit an Leib und Geſinnung des Einzelnen und 
daraus entipringente volksthümliche Wehrhaftigkeit des Ganzen war Zweck und 
ſichtbarer Erfolg des Turnens. 

Es konnte daher nicht fehlen, daß ſich daſſelbe über die meiften höheren 
Schulen in größeren und Eleineren preußijchen Städten, ja ſelbſt in Dörfern 
ſchnell auäbreitete, auch in Mecklenburg, Hamburg und Bremen, in den thürins 
giichen Staaten, in Frankfurt a. M., in Würtemberg u. |. w. waren in Kürze 
200 Zurnpläge entftanden. Jahn hatte 1817 als Zeichen der Anerkennung 
von zwei deutſchen hoben Schulen, Jena und Kiel, das Doctor» Diplom zum 
Ehrengeſchenk erhalten. Die bald darauf von manchen Seiten auftauchende 
Beichyuldigung: das Turnen zerftöre Die Geſundheit der jungen Leute, war durch 
das amtliche Butachten des Königl. Ober⸗-Medicinal⸗Rathes Prof. Dr. v. Kö-⸗ 
nen („Leben und Turnen, Turnen und Lehen. Ein Verjuch durch höhere 
Beranlaffung.” Berlin, 1817) gründlich widerlegt und abgewiejen worden; 
aber dennoch wurde Jahn und dad Turnen damals ſelbſt von Männern, die ihm 
und jeiner Sache ſonſt in vieler Bezichung die Anerkennung ihrer Bedeutſam⸗ 
feit nicht verjagen konnten oder mochten, fortgejegt mit beforgten Augen ans 
geſehen. 

Wir meinen bier natürlich nicht die widerlichen Fehden, in welche Prof, 
Wadzeck und Wilhelm Scherer von Berlin aus die bid dahin harmlos 
reifende Angelegenheit hinein riffen, fondern Acußerungen und Angriffe, wie fle 
von Breslau aus vornehmlich Henrich Steffens in feinen „Karrifaturen des 
Heiligſten“ gegen die Sache richtete. Steffens fügt darüber: „Schon vor dem 
Kriege Hatte Jahn gewußt, in Berlin und früher jchon in Halle Jünglinge zu 
gewinnen; immermehr jüngere heranwachjende Knaben fchloffen ſich ihm an; die 
Eltern wurden nicht blog beruhigt, wenn die Kinder ihm anbingen, fle wurden 
jelbf für das boffnungsvolle, von allen tändelnden Verſuchen pädagogifcher 
Künfte befreite friiche Kinderleben gewonnen. Wie heiter erfchien es ihnen, 
wenn fle an die eigenen Kinderjahre zurüddachten, Die fle in der engen Stube, 
son matten moraliichen Kinderfchriften umgeben, bie Bilderbücher durchblät« 
ternd, zugebracht hatten. Wer darf leugnen, daß dieſe Lebensäußerung, wie fle 
zuerſt in Berlin hervortrat und mir freilich nur aus der Ferne bekannt ward, 
ein kühnes Element der Zeit war, welches das Volk durchdrang und im Kriege 
ten Sieg errang? Wer wagt ed, wenn wir jegt ruhig Die damalige Zeit über- 
ſchauen, Jahn jein entichiedened Verdienſt abzufprechen? Es war ein Moment 
des Volkslebens, welches nothwendig hervortreten mußte, um den einengenden 
Formaliemus der Schule, des ‚Heeres, der Regierungsmaſchine in den innerften 
Ziefen zu erſchüttern. So wurbe das Turnen, wie es fich im Innern in immer 


zu Zuuulani. _ 


ter serikarter Mizserr ters Sasr jece zent Sohn Serum 
Yet we Irzer Urı; Tie vumeze Umestiahere 12 suefinter gen Arcıı 


un: Ansben, te S£ dk srikisörz, 5n% Iez Kom nrorceee. Te SS TU TER 
im keffız,, amt, mw ı3 ir. itesarizcae Bruıı — — I zur Jar 


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hanz zıtstı warten un: eine iauge Heike Som ira αα m. DOCK LTR 
Untsrixunsen in ihrem Geroige baren, ibeinbat 1. Frtrı Beirz zeuchen zur, 
san au zb Masten zezen bie Tutaiacht ie.2U az 

Im Ausul 1515 waren erũ Die Ioreriig := Eredisz ut Yıazmig 
(wegen erılih enüantene ware Turnũreitiafteuea sertıa Sırızs, Brazil 
einerieiss x. unt antererieus Karl ©. Raumer, DB. Herutich, Scan: Dane, 
Karsler, SEchneiter, Zınz x., zeikishten werten, but taran’ ehr. ım Nic 
1519, tie Auftbeuenz Ted Turnens auf ken zınzca rremsiikrn Zıazr ausge 
Beine. Freilich tcilse Tieie Aurbebany nur eine zorliuüge 'am, nat fie Zur 
sche, nachdem fie gerrüft und dem geiammucn Unierrikiäoeen anjrıSı wire, 
wieter aufgenemmen werten. Bıt Lied zeſchab, zerzginzen aber mebr 
alö swanzız Jabre. — 

Was Tem Staate taturd an Kräftelleigerung, an innerer Ferttildung der 
Angelegenheit ielbſt, an Hreutigfeiz und vaterlintiich beicnigter Geñnnung ber 
Iugent verloren ging, dagegen an Unmurb unt Erlabmung zuruchs, fann nid 
genug geiagt und beflagı werten unt fam 1530 bei tem Vlenteichimmer ber 
Bariier Julisage, jowie bei ten inzwiſchen mit ſolcher talichen Jugentbegritterung 
Genäbrien 1545 überall ald Männerfrage zu Tage. — — 

In Lieier Zeit ter langen Türre unt Irre aber erbielt ich in Berlin tas 
Zurnen in ter allmälig vom S:aute wieter erlaubten Vrivatanſtalt Gruft 
Eiſelen's, eines ter älteften Schüler Jahn's. Giiclen erbielt nicht nur in 
Derlin tie Sache und ten Sinn für bielelbe, ſondern bildete fie auch im Srillen 
mit Liebe, Geſchick und Blick ald Kunfl immer weiter aus und jorgte zugleich 
nach Kräften für ihre Verbreitung durch Ausbiltung einiger ſehr tüchriger 
Lehrer. 

An anderen Orten war ed vornehmlich Prof. Dr. Maßmann in Mün⸗ 
hen, Ler unıer König Ludwigs von Bayern edler Begünſtigung des Turnweſens 
feine Erfahrungen in ter Sache auf einem allen Schulen Ter baycriichen Haupt⸗ 
ſtadt (audy ter hoben Schule und Künftlerwelt) gewidmeten öffentlichen 
Zurnplage während jeines fiebenzehnjäbrigen Aufenthaltes daſelbſt fortführte. 

Außerdem blieben beſtehen oder entftanden auch an anderen Orten Deutſch⸗ 
lando Turnanflalten, doch meift in unöffentlicher Zurückgezogenheit und Stille. 


Die Turnkunſt und die Wehrverfaffung. 239 


So in Stuttgart (unter Prof. Klumpp's Leitung und mit Uinterflügung ber 
Regierung), in Hamburg, Königsberg i. Pr., Magdeburg u. f. w. 

Diefe vereinzelten Anftalten dienten aber nur mehr dazu, die Sehnfucht 
nach vorenthaltener allgemeiner Befriedigung in Ausarbeitung ber jugendlichen 
Leiber, namentlich audy bei denjenigen jungen Männern wieder zu weden, welche 
der Schule entrathen, einen Erſatz für ihr vereinfamtes Sigleben wünfchten und 
wünjchen mußten, und wohl ihnen, daß fle es taten, flatt fich dem dumpfen 
Brüteleben in den Wirthöhäujern hinzugeben, das nie Gutes erzeugt. 

So bildeten fi) allmälig Ränner- Turnvereine, die zuerft vereinzelt, 
dann (ein Beweis ihres Bebürfnifjes!) in rafch zunehmender Zahl in größeren 
und Eleineren Städten Deutfchlands emporwuchien. — 

Inzwijchen hatte in der Schweiz Adolph Spieß (jeit 1833 in Burg 
dorf, feit 1844 in Baiel, und 1848 nah Darmſtadt berufen) auf den Grund 
ber biäher gewonnenen Erfahrungen ein nach der Bewegungsfähigkeit des menſch⸗ 
lihen Leibes und einer Sliederung geordnetes ſtreng ſchul⸗ und begriffemäßiges 
Uebungsſyſtem entwickelt, welches fich in fofern von der Art und Weiſe des 
früheren Turnen® unterfchied, als diejed, auf dem Turnplatze im Freien aus ber 
leiblichen Thätigfeit und ihrer unmittelbaren Anregung erwachien, urfprünglich 
Praris, erjt nachher der theoretifchen Ucberarbeitung verfiel, die übrigend nur 
durch die frühere Aufhebung des Turnend unterbrochen worden war; während 
Spieß bei der Aufftellung feines Syſtems (der Unterordnung der verjchiedenen 
Xeibesthätigkeiten unter wenige Orundbegriffe oder Zuflände, in denen ber 
menjchliche Körper fich befinden kann) umgekehrt von der theoretiichen Ausar⸗ 
Beitung beginnend, Dieje in die Praxis einführte. Hiermit foll keinesweges ges 
jagt ſein, Daß jener Jahn'ſche und Eifelen’fche Betrieb irgend wie des Sinnes 
für Ordnung und Aufeinanderfolge Der Uebungen entbehrt habe, vielmehr er⸗ 
firebte und erreichte dieſe Handhabung der Sache, infofern fle die Uebungen 
gleichzeitig von Vielen aller Alterd« und Bildungsftufen ausführen ließ, ein 
ungleich Höheres: die freudige, ſtets nach den Kräften ebenmäpig wechjelnde Bes 
thätigung und Bildung einer größeren Menge durch die in ihr felbit Tiegenden 
fittlichen und erzieberiichen Hebel. — 

Baft gleichzeitig mit dem deutfchen Turnen war in Schweden der Fecht⸗ 
meifter und Tichter Peter Ling Gründer eines eigenen Syſtems der Leibes⸗ 
übungen geworden, welches zwar aus der anatomiich- phyfiologifchen Betrachtung 
des menichlichen Körpers, nicht allzu logiſch, eine viergeglicderte Oymnaftif 
(„pädagogijche, militärijche, äftheriiche nnd medicinifche”‘) anftrebte, feine haupt⸗ 
ſaͤchlichſte Wirkjamfeit aber in der Heilung von Berbildungen des Körpers und 
anderer Krankheiten deſſelben fuchte. 

In Deutfchland war es übrigens der genannte Prof. Maßmann (1830) 
geweſen, der zuerft auf dad Ling'ſche Syſtem aufmerkſam gemacht hatte, wie er 
denn auch nachher deſſen Schriften aus dem Schweblichen überfegte; jpäter 
wurde durch Prof. Richter in Dresden das deutſche Ärztliche Publikum zur 
Beachtung der fchwedifchen Heilgymnaſtik angeregt und zulegt (1851) die ſchwe⸗ 
diſche Gymnaſtik felbft Durch den Hauptmann Hugp Rothſtein, der nur 


2 Zurafunf. 


Eurze Zeit in Echweden gemeien war, nad Breugen überızzgen,, wo #2 inteiten 
zog ihrer Firma „rasienelle Gammamif und nıeliäkier Bemühungen tes 
Legizenannien, towie des Dr. Alter: Reumınz m }.w., eins nur ichr uxter3es 
ostuete Bedentung eslanzt bar, intem He üch immer nur im ihrer zereinzelten 
Anwendung in einigen wenigen ärztlichen Brisar-Anttılen für idametiiche Heils 
gemnaflif gelsent gemacht und gehalten bar. — 

Während nun unter allen jenen Erickeinungen das Turnen nur ein fm» 
merliched D:atein friftete, war tennoch auch Eei und in Breugen das Aeturmis 
nad; temielben,, tie Einſicht son einer Retbrendigkeit wenizttens bei vielen 
Gebilteten niemals gan erloſchen. Aber erfi einer Schrift, wir mẽchten jagen 
einem Rorbichreie des R. Rezierunge unt Medicinal⸗Ratbes Lo rinſer zu 
Oppeln, gelang es 1836, Lie allgemeine Aurmerfismkeit zuf das Turnen zurück 
zu lenken, intem er tie Tringente Rorfrwentizfeit ter Leibesübuugen Berenterd 
bei ter Echnljugent , ald ein Gegengewicht gegen Tie übermigize geiltige An⸗ 
fpannung und rieſenmäßig darnach wachſente allyemeine Abſpannung Terielben 
darlegte. 

Durch Tiefe Schrift wurde denn auch tie Aufmerkiamkeit der Staatéregie⸗ 
rung dergeſtalt wieder tem Turnen zugewendet, daß ter Entichluß ter endlichen 
Wiedereinführung tefielben allmälig ſeiner Ausfübrung entgegen reifte. Durch 
die nicht genug anzuerkennende Kabinetsordre Sr. Majeſtät des Königs rom 
6. Juni 1842 wurden endlich „wohlgeordnete Leibesübungen für die ſümmtliche 
Schuljugend des Landes als ein nothwendiger Beſtandtheil der männlichen Er⸗ 
ziehung in den Königlichen Staaten“ förmlich wieder erkannt. 

In Folge dieſer Allerhöchſten Kabinetsordre berief der Staatsminiſter Dr. 
Eichhorn im Jahre 1843 den mehrgenannten K. Univerfitäts⸗Prof. Dr. Maß⸗ 
mann aus Nünchen zur Wiederbelebung der Turnkunſt in den preußiſchen 
Staaten nach ſeiner Vaterſtadt Berlin zurüd. Zugleich wurde Temielben ter 
Auftrag, neben der Einrihtung son Turnanftalten auch auf Rundreiſen in den 
Provinzen für tie weitere Ennvidelung und Belebung ter Zurnangelegenbeit 
dauernd zu wirfen. 

Unmittelbar darauf wurte in der Hajenhaide bei Berlin ein großer 
und neuer Zurnplag angelegt, einige Zeit jpäter ein zweiter bei Moabit und ein 
Dritter vor dem Schleſiſchen Thore, welcher legtere jedoch inzwijchen wicher eins 
gegangen ift. 

Auch die meiften Gymnaſien, höheren Bürgerjchulen und Seminare in 
Preußen erhielten bejondere Zurnpläge. Zugleich wurden zur Ausbildung von 
Turnlehrern Lehrgänge eingerichtet, welche, unter Maßmann's Oberleitung in 
der Eijelen’fchen Turnanftalt in Berlin abgehalten, den fie bejuchenden Lehrern 
„nicht nur eigene Kertigkeit in jünmtlichen Leibesübungen, jondern auch Die 
Kunft, von derſelben bei ihren Eünjtigen Schülern einen weijen Gebrauch zu 
machen, in gründlich ſtrenger Weiſe und innerhalb einer verhältnigmäßig kurzen 
Zeit zu erwerben‘ Gelegenheit geben jollten. 


Auch für dad Heer wurde gleichzeitig der Betrieb von Turnübungen ald 


Die Turnkunſt und bie Wehrverfaflung. 241 


wichtig anerkannt und durch Verfügung des Kriegsminifter® von Boyen, 
unterm erften April 1845, den General-Kommando’s anbefohlen. 

Die vom Prof. Maßmann ſeit dem Jahre 1846, neben feiner fortgefeiten 
Ahätigkeit für die um Berlin begründeten Zurnpläge, ſowie auf feinen Reifen 
durch Die. Provinzen, Hier geleitete beſondere Anſtalt zur weiteren Ausbildung 
ton Turnlehrern, weldye dazu nach Berlin famen, wurte ungeachtet der bald 
eintretenden unrubigen und zum Theil unfeligen Seit von 1848 ebenmäßig fort« 
geführt, bis die Königl. Regierung den Entſchluß faßte, jene vorher gefchilderte 
ſog. ſchwediſche Gomnaſtik an die Stelle des eigenen Turnweſens treten 
zu laſſen und nunmehr lediglich für jene, in Verbindung mit dem Königl. 
Kriegöminifterium, welches die weientlichen Mittel bergab, eine fogenannte Gen» 
tral-Turnanftalt zu begrünten, fo daß Prof. Maßmann und das auf preußifchem 
Boden geborene Turnen zurücdtreten mußten. — 

Wir fünnen uns hier des Gedankens nicht erwehren, daß es ohne Zweifel 
erfolge und erfahrungsreicher geweſen fein würde, der fremden Heilgymnaſtik 
(denn das iſt, wie jchon gefagt wurde, die Ling'ſche Lehre faſt allein geworden) 
immerhin die gaſtliche Stätte zu gewähren, Daneben aber dem num fchon jo lange 
Jahre, ſowohl von Spieß als von Jahn⸗Eiſelen betriebenen und bewährten deut⸗ 
ſchen Turnen feine fortgefegte Wirkſamkeit zu belaffen und jo die reiffte Abwä« 
gung beider zu gewinnen, während von Xehrern, welche deutfch eingeturnt, ſich 
plöglich der fchwedifchen Behandlung oder Handhabung bedienen oder bemächtls 
gen follten, durchweg keine Klare und wahre Einſicht und Durchführung zu ges 
wärtigen war. — 

So ſteht die große Angelegenheit dermalen in ihren äußeren Umriſſen, 
während die Schulen, an welchen noch geturnt wird, in ihrem Betriebe meift 
beirst oder erlahmt, meift auf engen und ungeſunden Plägen dicht oder nahe bei 
ihrer Schule oder doch mitten in der Stadt, ihre Schüler in lange nicht genüs 
gend vielen, fondern höchſtens zwei wöchentlichen Stunden bejchäftigen und 
„durchbilden“, fe fo nicht Hinlänglich ermüten und erquiden können, viel zu 
leicht geneigt zum Dispenfiren der Trägeren, Bequemeren und Baulen geworben 
find und für Iebendigeren, Eräftigeren Betrieb der Uebungen in größerer Menge 
zu frohen Anwendungsſpielen und erfrifchenden Wanterfahrten Faum mehr Zeit 
noch Neigung haben. 

So find es thatfächlich, auch über die Bewegungszeit von 1848 binauß, 
faſt nur die fchon genannten Turnvereine geblichen, welche, wie einjeitig fle 
(nach ihrer nothgedrungenen Fernſtellung vom Schulturnen) mehr ober minder 
dermalen nur das Juͤnglings⸗ und angehende Mannesalter umfaſſen, dennoch 
ſich eifrig einer allſeitigen Kunſt und Erkenntniß, Ausübung und Weiterbildung 
der Turnfunft, auch mit gewiffenhafter Prüfung und Verwendung bed von 
Spieß, zum Theil auch des von Ring dargebotenen Stoffed unterzogen haben, 
indem ſich unter ihren Mitgliedern nicht nur ehrenwerthe Handwerker der vers 
ſchiedenſten Sertigkeltsrichtung , fondern auch junge Aerzte, Stubirende, Kuͤnſt⸗ 
fer, Kaufleute, Beamte, Lehrer, ſelbſt Profeſſoren befinden. Wieviel dieſelben 
bei ber weiteren Einführung der Sache in alle Volkejchichten, und wahrlich nicht 

V. 16 


242 | : . Zurntunft, 


zum Rachtheile berfelben, ſchon jegt beigetragen haben, davon gibt das König« 
reich Sachen, namentlich Leipzig und Dresden, ein erfreuliches Beiſpiel. 

Gelten möchten als ſolches auch die an vielen Drten Deutfchlands , bejon- 
ders Sübbeutfchlands und Sachſens, und vor allen in Leipzig, aus den Turn⸗ 
vereinen hervorgewachſenen Turner⸗Feuerwehren, bie in ihrer Ausbil⸗ 
bung ber Königl. Muſter⸗Feuerwehr zu Berlin, dieſer Durch den Turn» 
lehrer H. O. Kluge turnerifch jo trefflich durchgebildeten Schaar, mehr oder 
minder ähnlich find. 


I. 


Waͤhrend nun ſeit etwa 16 Jahren die Turnkunſt in der angegebenen 

Weiſe in Breußen gelebt oder, man muß wohl ſagen, ihr Leben gefriſtet Hat, jo 
find die Brüchte dieſes ihres Lebens doch keinesweges fo bedeutend gewefen, wie 
Jeder, der die Zeiftungsfähigfeit bed Turnens Eennt, fle von ihm überhaupt zu 
fordern berechtigt ift. — 

Prüfen wir zunächfl, wenn auch nur in Kürze, Die Folgen, die ein gedeih⸗ 
liches Turnen zuerft auf den Einzelnen, fodann auf die gefammte Bevölkerung 
Haben fann und muß. 

Die ausdauernd und alterögemäß getriebenen Turnübungen verleihen 
durch alljeitige Körperliche Betätigung und Ausbildung dem gefammten Leibe 
bes Einzelnen unbezweifelt Kraft und Gewandtbeit, Beftigfeit und Fertigkeit, 
Friſche und Geſundheit und in Folge deifen Abhärtung und Miderftantäfraft 
gegen manigfache dem Körper jchäbliche Einflüffe. Eine unausbleibliche Folge 
iſt ein geiftiges Wohlbefinten, geiftige Regfamfeit und Friſche. Auch fichere 
Selpfiftändigfeit, Muth und Unternehmungsgeift werben durch dad Turnen er. 
wet und erworben, indem der Turner im Ueberwinten Außerer Schwierigfeiten, 
Hinderniffe und Gefahren die eigene Kraft Eennen, fie wägen und ihr vertrauen 
lernt. — Wenn aber Maffen von Turnern zufanımen turnen, To geht aus dem 
freien und doch fireng geregelten Ineinandergreifen des Lebens, Ringens und 
Erringend mit und unter Anderen, felbft im Spiele und gemeinfamen Wandern 
noch ein weiterer und höherer Nugen für den Einzelnen hervor: er fühlt fich als 
ein Glied einer großen Gemeinſchaft, der er fidh, um fie bei Scheiben zu erhal⸗ 
ten, unterordnen , zu deren Gedeihen er aber auch ſelbſt thärig mit helfen muß. 
„Da lernt die Jugend,’ fagt Iahn, -,‚gleiches Necht und Geſetz mit Anderen 
Halten. Da bat fie Brauch, Sitte, Ziem und Schie im Ichendigen Anfchauen 
vor Augen.” 

In Folge jolcher Wirkungen des Turnens auf den einzelnen Menfchen wird 
bafielbe ein bebeutfames Bildungsmittel für die Gefammtheit des Volfed und 
ber Menſchheit. Es wird zu einem der mächtigften Iugenderzichungsmittel, ja 
zu einem der Träftigiten Volfgerziehungähebel. Wenn jede Schule ihren Rutz⸗ 
und NRothturnplag hätte, auf dem fle den ſchul⸗ und kunſtmaͤßigen Betrieb des 
Turnens förderte oder wenigſtens bie Sreiftunden durch Turnen ober Spiel (je 


Die Turnkunft und bie Wehrverfaffnug. 243 


nach der Witterung) ausfüllte, wenn ferner jedes Städtchen ober Dorf, das doch 
jeine Kegelbahn und fein oft nur zu nahe bei der Kirche liegendes Wirthshaus 
bat, außerhalb des fitörenden Verkehrs, womöglich im ftillen Waldesjchatten, 
feinen Zuflturnplag, den Spiele und Tummelplag der Knaben und Juͤnglinge 
hätte, dann würde überall eine Stätte und Stelle gewonnen fein, wo unter weijer 
Aufficht Die vereinigte Jugend fich wohl fühlte und in Stille wohl gediehe, in 
Waldeinjankeit und Waldgemeinfamfeit. Dort lernte fie neben ‚Kräftigung 
ihrer ganzen Leiblichkeit auch Genügſamkeit und den Gemeinwefen förderliche Liebe. 
Der Leiblichkeit reiht ſich geſunde Geiftigfeit durch frifche Sinnenbildung an. 
Hier ift die nie verflegende Quelle unberechenbarer Schäße für den Staat und 
das Heer, ja jeder Mann würde fortan ſelbſt ein Heer an Kühnpeit, Entfchloffen- 
beit, Unverdroſſenheit, Laufausdauer, an Trag« und Springfertigfeit des Leibes, 
an allfeitiger Verwendbarkeit der Glieder, an Schärfe des Auges und des Ohres, 
an Geiftesgegenwart, an Erfindungdgabe und nüchtlicher Lift; fo ift er hinter 
dem Bajonett, mit dem er ja fechten gelernt, felbft eine ganze Welt. 

Aber nicht bloß der Knabe, der der Schule noch angehört, ringe in ernfler 
Arbeit, tummle fich in fröhficher Luft auf dem Turnplatze und ftähle die Glieder 
und Sinne und Geiſt bei Tag und Nacht, in Hige und Kälte, auf weiter Turn 
und Wanderfahrt; auch Die Jugend, die Der Schule entwachien, im bürgerlichen 
Leben, denn Erwerbe verfallen und zugewendet, in die Werfftatt gebannt, an den 
Arbeitstiich gebunden iſt, oder bei den Büchern der Wiſſenſchaft weilt, auch fle 
babe fortgeiegt Gelegenheit, ihr turneriſches Leben weiter zu führen, die gewon⸗ 
nene Kraft und Zertigfeit zu mehren und zu wahren ald Schuß gegen Verſtei⸗ 
fung und Verjigung und gegen das zahllofe Heer von unmerflich und täglich fich 
einjchleichenden, alle Lebenskraft früh untergrabenden Krankheiten, den Folgen 
des unnatürlichen Siglebend oder der Unterlafjung des gewohnten und nothe 
wentigen Rührelebens. Auch bier wird fortgejegted Thun und Turnen wohler 
thun und reinigender, einigender wirken als Das fortgejegte Sitzleben in Kneipen 
und jogenannten Erbolungen, die oft noch den Reſt der Kraft und Mannheit 
vauben, den die Arbeit gelaffen hat. Wenn überall öffentliche Turnpläge bes 
ſtünden, deren Benügung den Erwachlenen, Den Turnvereinen (wie den Vereins 
zelten) freigegeben wäre, fo würde bie Betheiligung an letzteren unfchlbar größer 
und endlich allgemein werden, während jegt in Abgefchloifenheit und bei bes 
fhränften Mitteln, Stunden und Räumen die Turnpereine nur mäßige Betheis 
ligung erringen können. 

Und wenn nun unter der ganzen männlichen Jugend, erwachiener und uns 
erwachjener, Turnen und turnerifche Ausbildung allgemein geworden, jo würs 
den jelbitverftändlich die täglich in den Weg tretenden Sinderniffe bei der Aufs 
nahme in tad Heer — fchwacher Körperbau, ſchwache Bruft, Sehichwäche, 
über bie man jetzt jo vielfach Flagt (vergl. „Preußiſche Militairärztliche Zeitung‘ 
Berlin, Hirſchwald 1860: Dr. Löffler „Schwacher Körperbau und fchwache 
Bruft ald Grund der Untauglichkeit zum Waffendienft‘‘) aufhören; aufhören 
würde die Rieſenzahl der Zurüdgeftellten und der Brillenträger im Heere: das 
Heer wuͤrde fich frijch quellend ergänzen. Erſt dann könnte von, einer wirklichen 

16* 


244 Turnkuuſt. 


Abkürzung der Dienſtzeit Die Rede fein, wenn der wehrhafte Jüngling turneriſch 
vor⸗ und burchgebildet in's Heer träte und rafch und leicht über die Zeit des 
Rekruten hinwegkaͤme, die bei Förperlich Unausgebildeten allein auf die Vorbe⸗ 
reitung zum Soldaten verwendet und verfehwendet werden muß. Schon jegt 
3. 8. ift Thatſache, daß, während Die zuvor unentwidelten Refruten mit den 
unterften Freiübungen beginnen müffen, um nur einigermaßen dem eigentlichen 
Waffendienfte entgegen zu reifen, die ſchon vorgebildet Sinzutretenden gleich zu 
ipren Lehrmeiftern benügt werden. Nicht minder ift Ihatfache, daß bei in 
Potsdam gemachten Berfuchen ded Königl. Lehrbataillond eine Schaar im 
Dauerlauf Geübter nad) einem folchen gerade fo gut und fiher, ja befler fchoß, 
als die im ruhigen Schritte Hinzugefommenen. 

Erft dann, wenn eine ſolche Vorbildung ſchon Hinzugeführt würde, wenn 
in größeren Gemeinübungen der Sinn für ineinander greifendes Handeln vor- 
bereitet wäre, könnten die Eurzen Jahre und Monden, von denen einen allzugros 
Ben Theil das fogen. Drillen in Anfpruch nimmt, für größere und wichtigere 
Theile der Eriegerijchen Ausbildung des Einzelnen und des Ganzen (jchnellere 
Schwenfungen, rafches Ausfchwärmen, nicht erfchöpfendes Traben bei den &e- 
fhügen u. f. w.), und eine überhaupt kurze Zeit für eine höhere Ausbiltung bes 
geſammten Heerweſens genügen. Dann Fönnte vielleicht eine Abkürzung ber 
Dienftzeit eintreten; aber nicht bei den einjährig Dienenden, nicht bei denen, die 
nur Latein und Griechifch gelernt haben (denn hier ſteckt gerade die getrübte 
Duelle oder der Sumpf einer größeren Berweichlichung), fondern bei denjenigen 
Dreijährigen, oder auch Einjährigen, welche Die ftreny bedingte turneriiche Vor⸗ 
bildung zum Heerbienfte erlangt haben. Denn Latein und Griechifch allein und 
Die ganze jo genannte höhere Bildung, jo achtenswerth und erwünſcht fie if, ge⸗ 
währen feine erhöhte, finnenfrifche Tüchtigkeit zum Soldaten, fondern einzig die 
leibliche und geiftige Rüftigfeit und Gewandtheit. Soll darum der turnerijch 
durchgebildete Handwerker, der zugleich jeine gute Schule durchgemacht hat, mit 
dreijährigem Dienfte (wir erlauben uns den Ausdruck) geftraft fein, weil er 
fein Latein gelernt hat, und weil er es gelernt bat, der jchwächliche Stu⸗ 
dent ꝛc., der auf jedem Marjche zufanımenbricht, mit einem Dienftjahre bevorzugt 
werden? 

Doc genug hiervon! So viel wird aber aus dem Bejagten hervorgehen, 
dag allgemeine Einführung des Turnens die Wehrhaftigfeit und Wehrkraft des 
Bolked und Staates unberechenbar erhöhen muß, ohne dem Staate ein ſchweres 
Dpfer aufzuerlegen ; denn was ev auf der einen Seite für allgemeine Durchfüh- 
rung der nüglichen und nothwendigen Einrichtung Hingibt, Das tragen bie 
Fruͤchte derfelben hundertfältig wieder ein. Nicht nur kompenſiren würden ſich 
in Kurzem Einnahme und Ausgabe, ber Werth der Einnahme würde bald die 
Ausgabe weit überwiegen. — 

Eine auf diefe Verhältniffe tief eingehende, fchon im Jahre 1819 gefchrie« 
bene Abhandlung des damaligen Königl. Pr. Majore v. Schmeling („Die Land⸗ 
wehr, gegründet auf die Turnkunſt“. Berlin bei Reimer 1819. gr. 8.) erfchien 
ſchon damald dem genannten Kriegöminifter v. Boyen, bem fle überreicht 


Die Turnkunft .und die Wehrverfafſung. 245 


wurbe, jo wichtig, daß er dem Verfaſſer eine 9 Bogen umfaſſende tief eingehende 
Antwort zugehen ließ. 

Weshalb nun das Turnen in Preußen die gejchilderten Exfolge biöher 
nicht erreicht Hat, Das dürfte zum größten Theil aus der Betrachtung des voran 
gefchickten gefchichtlichen Teiles diefer Denkfchrift und des unmittelbar Vorher⸗ 
gefagten hervorgehen. Das Turnen beftand allerdings, aber e8 wurde nur durch 
halbe Mafßregeln getragen; e8 beftand mehr nur dem Scheine nach (man könnte 
foft jagen, nur auf dem Papier), als in der Wirflichfeit. Diele höhere Schu⸗ 
Ien befaßen und befigen gar feinen Turnplag, entweder weil fie überhaupt Fels 
nen bejeffen hatten, oder weil berfelbe eingegangen war, nachdem der Betrieb 
auf demfelben den mit dem Turnen unbefannten Lehrern unbequem geworden 
und Nachfrage und Prüfungen in Bezug auf den Stand und die Berbältniffe 
des Turnend von den Behoörden nicht fireng eingehalten wurden, fo daß man 
demnach Die jedem verfteiften, in Pedantismus aufs oder untergegangenen Lehrer 
jo läflige Angelegenheit ruhig einjchlafen Taffen konnte. 

Diejenigen Lchranftalten, welche wirklich einen Zurnplag beiaßen, hatten 
meift nur einen engen und ungefunden Hofraum dazu verwendet, über den die 
verpeftenden Dünfte ter Senfgruben Hinzogen, auf dem zu verweilen mehr un« 
angenehm und nachtheilig, als Heiter belebend und erfrifchend wirken konnte. 
Roc, andere Hatten für ihr Schulturnen zwifchen Zäunen verftedte Kummerplaͤtze 
gemiethet. Große freie Turnpläge mit grünem Hafen, mit Baum und Buſch, 
mit Waldesichatten *) und Spieldidicht, mit freiem Ausblick in das Weite u. ſ. w. 
hatten nur fehr wenige Schulen. 

Und wenn ed nun jchon mit den Turneinrichtungen für den Sommer 
ichlecht Heftellt war, fo waren und find die Wintereinrichtungen im Gros 
fen und Ganzen in jo klaͤglichem Zuftande, dag man ihr Dafein überhaupt 
faum anerkennen Tann, und es iſt nicht zu viel behauptet, wenn man fügt, daß 
von allen höheren Unterrichtsanftalten im preußifchen Staate wenigſtens 50 °/o 
feinen paflenden Raum zum Winterturnen, Turnſaal oder Turnhalle, befigen. 

Bon dieſer Art find die Außeren Hülfsmittel des Turnens; nicht minder 
bebenflich fteht e8 mit ten Lehrern, ihnen, welche die innere Stüge, den fitt« 
lihen Halt der großen Sache bilden follen. An manchen Anftalten Hat man 
gar feinen Turnlehrer, man läßt die Schüler nach eigenem Belichen treiben, 
was ihnen einfällt; oder man hat einen Turnlehrer, der ſich ſchon darum für 
einen folchen hält, weil er einige Bodfprünge hat ausführen fehen, ober einen 





— — he—— 





*), Man fönnte Hier, wieder einwerfen: „Ja, wo Walvesfchatien iſt; aber 
wie 3. B. um Magdeburg?” Dagegen kann aber fo erwidert werden: „Das fchöne 
Deffauer Laͤndchen war gewiß doch auch einft Oftfees oder Elbſand und hat gezeigt, 
was befonnene Ausdauer daraus zu fhaffen vermochte, Nicht minder bie jetzt blühen: 
den Felder vor Berlin’s Hallifhem Thore bis zur Hafenhaide, wo vor 50 Jahren 
noch der tieffte und ödefte Sand lag. — Menihenhände fönnen überall und in wes 
nigen Iahrzehenden, wo nur Wafler und guter Wille vorhanden find, jede Sahara 
zu einem Paradieſe umſchaffen. Wo es aber durchaus nicht anders geht, fann man 
auch ohne „Waldesſchatten“ tunen. 

= 


216 Zurafant. 


Leitfaren für Beorıurmer turdhgeiciea ber Er ice bar riemals au © icſber 
ken Ickentigen Betrick, Die tier Wirken ter Eache femer aderm wie Die 
Glicter ter Uumz augenaät, er bar eigenzli zar feinen Peari? sen ter Exike: 
aber zum Iurnichrer, meinen tie Lene, zebere wide sick, tet zone am über 
Ratı im Echlafe werten: wenn man wur „Tilcelie” u halıım serürke, ĩo tdi 
Alles erreiht. — Tas darũber ter Segen tes Zurmen? umt tiere Veit m 
Oruute geben mitte, leuchtet ein. 

Lebrer, Die ſeit Antrin ibret Skullaufbafn widıs al Perauiiene fen» 
nen und ausüben gelernt, baben zu aleiben Riteln ter Torreki rrt Snake 
auälerei, zu blegem Trillen eter Erertieren eder gar Ediulüraten auf dem 
Surmlayg ihre Zuilucbht genemmen unt io ten Kintern tie erridunte Eache 
zerleiter und fe in enge Stiefeln gemänse. Wäbrent ter Iurarfag tem be 
fäbigten unt zon ter Gröge teinet Verufes Lurdtramaenen Lebrer, Durch veime 
freiere unt naͤbere Stellung zur Iugent, tur jein Mitleken und Rinkun umter 
terieken, wenn er Kein enges Gemink, keinen Auterisätätumfel im füch trägt, 
eine lebentige Theilnahme ter Mafle, eine freutige Hreiwilligfeit des Tbune aller 
Eckhüler in Aukſicht Rellt und ihm eine erzieberiiche Durchbiſdung des Einzelnen 
wie des Ganzen erötmet, fo tag er von Bier aus ſelbit für tie Geiſtesſchule eine 
freie une freutige Durktringung ikrer oft ırodenen Tiltungtitete, umt die 
felten Knaben in gleicher Weiſe auf ver Schulbank wie auf tem Zurnplage er⸗ 
zieben und bilten lerut; während alle tieie günitigen Grtelge tem rihigen umd 
eifrigen Lehrer erwadien, if Lem unfähigen und srägen ker Zummriag eine 
Zuelle ter Cual, ter Langenweile, des Unmuthes, ein Brekirftein ieiner eige⸗ 
nen Untüchtigkeit; Tenn der Turnplag untergräft Pie mübſam enworkene „Autos 
rität” und zeigı Dem Lebrer, daß er eben fein Lehrer iR oder bätte werten ſollen. 
Aber wer nur auf bie wenigen zorgeichriebenen Stunden ſich beichränkt, wer 
nad tem Blodenichlage Dad Turnen abmißt, wer feine Turnfabrten (tiele berr⸗ 
liche Duelle der Raturanichauung und Einnenihärfung, ſowie des gegenteirigen 
Erkennens, fih Findens und Gebens ineinander und aneinanter für Schüler 
und Lehrer) deshalb nicht machen will, weil er dafür nicht bezablt werte, wer 
alfo ein Miethling ift und nicht aus lauterer Reigung und inneritem Berufe ein 
Lehrer, ein Turnlehrer zu fein vermag, ber kann auch niemals Ta als rüchtig er» 
feinen, wo e8 Tarauf anfommt, den wahren Lebrerberuf zu zeigen. 

Gewiß iſt es nicht Leicht, ein tuüchtiger Lehrer, noch ſchwerer aber ein tichtiger 
Turnlehrer zu fein. „Unter allen Lehrern der Jugend”, ſagt Jahn ſehr wabr, 
„bat er den jchwerflen Stant. Bei anderen Lehrern berubt das Geichärt auf 
Wiſſen und Wiffenfchaft, in denen beim allftüntlicyen und alltäglichen Berreiben 
von Zeit zu Zeit weitere Fortichritte zu machen fint. Ted Aurnichrers Wirken 
ft unzertrennlih vom Kennen und Können. Gin anderer Lehrer wird dem 
größten Theile feiner Schüler immer voraus bleiben; einen Turnichrer müſſen 
aber Lie Knaben und Jünglinge bald in den Turnübungen einholen und können 
ihn dann leicht übertreffen. Dennod muß ein Turnichrer vor allen Dingen 
bemüht fein, fich in den Turnübungen jo viel Fertigkeit zu erwerben und zu er⸗ 
halten, als feine Zeibesbeſchaffenheit erlaubt. Rur eigenes Selbſtverſuchthaben 


Die Turnkunſt und die Wehrverfafſung. 247 


und Erproben geben ihm einen deutlichen und Elaren Begriff von der einzelnen 
Bewegung und Liebung und von ben Wirkungen , fo fie heruorbringen. Dabei 
muß er fich fehr hüten und jorgfältig in Acht nehmen, daß .er ten Eleineren Tur⸗ 
nern fein Bild der Lächerlichkeit und auffallender Ungeſchicklichkeit gibt. Grö—⸗ 
Gere ehren fchon den guten Willen und das mühevolle Beftreben. Geht ihm 
auch die Erwerbung einzelner Turnfertigfeiten nicht von Statten, jo muß er boch 
in alle Theile der Turnkunſt eindringen und in den Geiſt des Turnweſens. 
Die Turnſchuͤler müflen den Turnlehrer ald Mann von gleihmäßiger Bildung 
und Volksthümlichkeit achten Eönnen, der Zeit und Welt kennt und das Urbild, 
wonach. zu jtreben ift; fonft wird er bei aller turnerifchen Bertigfeit ihnen nur 
wie ein Faſelhans und Künftemacher vorkommen.“ — 

Aber. wie geichieht ed, dag wir fo wenige Turnlehrer, und unter den weni⸗ 
gen jo viele unbrauchbare haben? ES befteht ja fchon feit lange die Königl, 
GentralsZumanftalt zur Ausbildung von Turnlehrern. Freilich, aber dieſe 
Anftalt bildet jährlich, wenn e8 Hoch fommt, 12—18 Lehrer aud, eine für den 
ganzen preußifchen Staat auch nach Sahrzehenden noch in der Summirung der 
Einzelpoften verjchwindend Kleine Anzahl, Und außerdem, daß dieſe Anzahl 
nicht genügt, fo ift auch die Ausbildung durchaus eine ungenügende zu nennen, 
Ein balbjähriger Eurfud im Turnen, wie die Gentral-Turnanftalt ihn bietet, 
macht Riemanden, ber biäher von Geift und Weſen der Sache feinen Begriff 
gehabt, der leiblich gänzlich ungeubt gewefen, zum Turnlehrer; wer nicht fchon 
audgerüftet mit Vorbegriff und Vorübung zur Anftalt fommt, ber verläßt dies 
jelbe nur al& ein halber Zurnlehrer; und folche find Die meiften der dortigen 
Schüler, denn die meiften Eennen vom Turnen, wenn fie zur Anftalt kommen, 
böchflens den Namen. — 

Died ift nicht unfer Urtheil allein über die fogen. „rationelle ſchwediſche 
Heilgymnaſtik“, ſondern öffentliche Kritiken haben ſich gänzlich Ähnlich daruͤber 
ausgeſprochen. Man vergleiche Lion in der Zeitſchrift „Der Turner“, Keil 
in ſeinem Wehrturnbuche (Potsdam 1858) Seite 222—234 ıc;, die Lieut. x. 
v. Görne, Scherff, Mertens in der Sr. Königl. Hoh. dem Prinzen von 
Preußen gewidmeten Schrift „Die Gymnaſtik und die Fechtfunft in der Armee’ 
(Berlin, Mittler'ſche Buchh.) 

Ungeachtet des geringen Nutzens oder Austrages, den die beſagte Anſtalt 
gewährt, betrugen dennoch die Koſten für dieſelbe bisher 1) das Gebäude — 
18,500 Thlr. (amtl. Zeitung f. Bauweſen 1850. ©. 8.); 2) Lehrerbeſoldung, 
jährlid) 4046 Thlr. (Preuß. Schulfalender 1857, 2. Heft); Geſammter Jahres⸗ 
&tat 4766 Thlr., im Ganzen alfo durdy 9 Jahre 61,394 Thlr. — 

Mährend für die Turnverhältmifie der Gymnaſien und höheren Schulen, 
wie wir oben gefchildert haben, fo Färglich geſorgt ift, iſt bisher für Elemen- 
tar» und Volksſchulen, für Hod- und Kunſtſchulen und für die der 
Schule entwachfenen jungen Männer, alfo für den bei Weiten überwiegenden 
Theil der jungen männlichen Bevölkerung im Staate gar Feine Gelegenheit zum 
Turnen gegeben. Und doch ift Allen das Turnen gleich nothiwendig. Der 
Landmann, um es Furz zufammenzufaflen, muß turnen, un bie Geſchmeidigkeit 


248 Blur ' Turnkunſt. 


bed Körpers zu erlangen und zu erhalten, die ihm bei feiner ſchweren, einſeitig 
ermüdenden und verfrünnmenden Arbeit fo leicht verloren geht. Der Städter 
muß tunen, um der Verweichlichung und dem Sigleben durch Dauerbaftigfeit 
und Kraft entgegen zu arbeiten; der Handwerker indbefondere deshalb, um 
dem einfeitigen: Schrauche feined Leibes, ber verichiefenden Bevorzugung des 
rechten Armes und der rechten Schulter in der gleichmäßig beiderfeitigen Hebung 
des Turnens ein audgleichended Gegengewicht zu geben. 

Im preußiichen Heere wird geturnt, aber nicht minder mangelhaft, wie 
in den höheren Schulen. Ueber Einrichtungen und Lehrer Läßt ſich ähnliches 
wie dort jagen. Die Königl. Gentral-Turnanftalt bilder jährlid 18 Offlciere 
im Turnen und Fechten aus*), und giebt auf dieſe Weile alljährlich einige 
Tropfen in den ganzen Heeredocean. Außerdem aber befolgt die Ausbildungds 
weife der Offlciere in der GentralsZurnanftalt nicht durchaus die Worte bed 
Kriegsminiſters von Boyen fel., die er in feinem oben. erwähnten Befehle zur 
Ginführung des Turnend audfpricht: „Bei dem größeren Theile diefer Turn⸗ 
übungen ſowohl als bei dem Bajonettfechten fommt es überall auf Gewandtheit 
und Kräftigung ded einzelnen Mannes. an; diefelben find daher niemals zum 
Gegenſtande parabemäßiger Infpicirungen in größeren Maflen zu machen, indem 
dies jonft unvermeidlicdy dahin führt, dag die Gewandtheit und Kräftigung des 
einzelnen Mannes dabei weniger in Berüdfichtigung genommen und der Accent 
dagegen zum Nachtheil ber Sache auf die Gleihymäpigkeit der Bewegungen und 
Griffe gelegt wird.“ | 

Da nun der Maffenbetrieb und foldatifche Gleichmäßigkeit bei den Liebun« 
gen der Gentral- Turnanftalt leitender Srundfag ift, fo wäre es möglich, daß 
durch Uebertragung dieſes Orundfages auf die Heercätheile, in denen geturut 
wird, ber Rutzen des Turnens geringer audfiele, als er fein würde, wenn Die 
obige minifterielle Vorſchrift zur firengen @eltung gefommen wäre. 

Auch verlangen jene obengenannten Officiere nicht Maffenturnen, fondern 
Ausbildung der Soldaten in Niegen. 


III. 


In Folge der Leiſtungs⸗Unzulaͤnglichkeit des jetzigen Betriebes der Turn⸗ 
angelegenheit erlauben wir uns, um dieſe auf Die ihr gebüͤhrende Höhe zu Heben, 
auf welcher fle für Staat und Heer eine unbeftreitbare Wichtigkeit und heiljamen 
Einfluß erlangen muß, nunmehr zum Schluffe folgende aus den biäherigen Thei⸗ 
len dieſer Denkichrift hervorgehende und durch diefelben ſchon im Voraus be⸗ 
gruͤndete Vorſchlaͤge zu machen. 

1) Der Staat forge für die Einrichtung von genügenden Schulturnplägen 
für den Sommer und Turnfälen für den Winter. Jede Schule, von 
der Dorfſchule und der niederften Volksſchule in der Stadt an, Habe entweder 


*) Eiche Preußiſchen Schulkalender 1857, ©. 110. 


Die Turnkunſt und die Wehrverfafſung. 219 


ihren eigenen winterlichen und fommerlichen Turnraum, oder Gelegenheit 
zur Mitbenugung eined mehreren Schulen gemelnſchaftlich zukommenden, 
dann aber auch hinlanglich geräumigen. : 

2) Der Staat. jorge für die Anlegung von großen öff entlichen Turn⸗ 
plägen und Turnhallen an jedem Orte, die zur. Benüßung der ver⸗ 
einigten Schuljugend und vorzüglich dazu dienen follen, den der Schule nicht 
Angehörigen jüngeren und älteren Männern — Handwerkern, Künftlern, 
Studenten, Kaufleuten, Gelehrten x., überhaupt allen denen, aus welchen 
die Turnvereine fich zu bilden und zu ergänzen pflegen, zur Erwerbung und 
Erhaltung, körperlicher Nüftigkeit und deren allgemeinen heilſamen Folgen 
Gelegenheit zu geben. 

3) Der Staat verlange von jedem (auch bloß fachwilfenichaftlichen) Lehrer 
eine praftifche und theoretiihe Ausbildung im Turnen. Wer alß 
Fachlehrer des Turnens auftreten will, muß ein über das im Allgemeinen 
zu Kordernde hinaus geftedfted Ziel und Zeugniß erreichen. Wie man aber 

von den Sandidaten des höheren Schulamtes, .abgejehen von ihrer vorzugs⸗ 
weijen Befähigung in 2 Bachgegenftänden, eine allgemeine Ausbildung in 
allen von einen gebildeten Menjchen zu fordernden Kenntniflen verlangt, 
fo müßte dies auch mit der Turnkunſt gefchehen, deren praftifche und theores 
tiiche Kenntniß wenigitens in einem grundfäglich durch und Durch wehrhaf⸗ 
ten Staate, wie Preußen es ift, entjchieben zu den nothwendigen Erforder« 
niffen allgemeiner Bildung gezählt werden müßte. Aber auch Elementar« 
und Volfsfchullehrer müßten durchgängig befähigt fein, in gedeihlicher 
Weile Dad Turnen zu leiten. 

4) Der Staat berüdfichtige die turnierifche Ausbiltung der zum Heerespdienft 
Ausgehobenen anerkennend, entweder durch Verringerung ihrer Dienftzeit 
oder, um fie nicht fo fchnell für den Dienft einzubüßen,, durch fchnellere Bes 
förderung. Beides ift gerechtfertigt, denn wie der turneriſch Durchgebildete 
junge Mann alle jene Uebungen, bie den verfleiften Rekruten erſt zur weite⸗ 
ren foldatiichen Uebung fähig machen follen, gänzlich überfpringen und da⸗ 
durch einen Theil von jeiner Dienftzeit füglich abfürgen Tönnte, jo würde er, 
vorausgeſetzt daß er gleich Lange Zeit mit dem turnerifch nicht VBorgebildeten 
dient, fchmeller als Diefer zu einer Beförderung geeignet fein, weil er (der 
Zurner) fonft eigentlich in Bezug auf das zu Erlernende und im Verhaͤltniß 
zum Nichtturner ungerechter Weife zu lange dienen müßte. Keiner aber 
werde zu einjährigem Dienfte zugelaflen, der nicht darthun kann, dag 
er in feiner Jugend ſchon wirklich und ausdauernd geturnt habe. Aber auch 
ebenfo in Radettenbäufern, welche die Öfficiere für das flehende Heer 
zu bilden haben, muß Keiner entlaffen werden, der nicht Zeugniffe über feine 
Leiftung im Turnen und im Turnunterrichte vorlegen fann. — 

Durch eine folche Anerkennung des Turnens im Heere würde zugleich auch 
bewirft werden, daß die Einſicht von der Wichtigkeit und dem Nugen des Tur⸗ 
nend allgemeineren Eingang bei der Bevölkerung und den unteren Behörden 
fände, und daß Viele, vorläufig freilich wohl nur aus Rüdficht des Äußeren 


20 ü Zurnkunft. 


Vortheiles, fich bemühen würden, eine turneriiche Ausbildung zu erlangen und 
zu verbreiten. — — 

Durch ein geneigte Eingehen anf dieſe unfere Vorichläge, die aus beſtem 
Eifer für die Sache entfpringen, glauben wir, fönnte und müßte der Turn 
plag bie Stätte werden, wo das ganze Volksleben mit friſchem Oden angeweht, 
wo die Jugend, unangetaftet und unangefrefien von vorzeitiger oder frühreifer 
Erkenniniß, rein durchlebt, wo die Manneskraft dem Baterlande in ſtets gefteis 
gertem Buwach3 erworben, wo ber Greiſe Erinnerung noch vom Morgenhauche 
neuer Jugend und Zukunft des Baterlande® erquickt würde, 

Bei den Gefahren aber, von denen unfer gemeinjames Baterland, voran 
Preußen, jeden Augenblid und von allen Seiten umringt und bedroht ift; bei 
ten Verſuchen, welde namentlich die verführerifchen Scheinwahrheiten und 
macchiavelliftifchen Trugfchlüffe des Weftens in ihrem Gefolge haben, bleibt ohne 
alle Frage die leibliche wie geiflige Wehrhaftigkeit des gefammten Volkes 
die Höchfte, nächfte und dringendſte Aufgabe der Staaten. Zudem werden die 
Künfte des Friedens und die Früchte reiner Geiſtigkeit wie Frömmigkeit gewiß 
nur da wahrhaft gedeihen, wo fie von frifcher männlicher Rüftigfeit unb unwan« 
delbarer vaterländifcher Beftunung Aller fchirmend umhegt und getränft werben. 

Die Mittel für eine folge Erziehung zu allgemeiner Wehrbaftigfeit werben 
und müflen fich bei uns jo gut finden, wie einft zu Athen und Sparta, und 
würden fich in Kürze mit gefleigerten Zinfen an den Staatshaushalt eriparend 
und vergeiftigg zurüdzahlen. 


Die Deutfche Oſtgrenze. 


Einleitung. 


Diemlich hoch ſchon im Norden, jenſeits Memel, anſetzend zieht ſich die deutſche 
Grenze landeinwaͤrts, umfaßt das alte Stammland der deutſchen Ritter, greift 
weit vor nach Weſten, das Polenland durchſchneidend, folgt dann einer unge⸗ 
faͤhren Sprachgrenze bis zum „Dreiherrenſtein“ Hei Myslowiz und biegt Darauf 
wieder öſtlich aus bis zur Suͤdoſtſpitze Siebenbürgens, von der aus fie in ſüd⸗ 
weftlicher Hauptrichtung Siebenbürgen und Kroatien umklammert, „die ungarl- 
ſchen Rebenländer‘, wie die Magharen fagen. 

Treibt einerjeitd der einzige große Nachbar, den wir dort zu beruͤchichtigen 
haben, Rußland, einen Keil hinein in unſer Gebiet, jo umfaſſen wir ihn dafür 
mit einer gewaltigen Zange, und wollen wir diefes Bild weiter verfolgen, fo er⸗ 
icheint der Keil allein durch feine Mafle und die Kraft, welche ihn treibt, wirk⸗ 
fam, während die Zange mit ihrer Hebelmirfung die angewendete Kraft poten⸗ 
zirt — die Macht der Intelligenz darftellend in den Wibderftreite der Kräfte, 

Richt der Keil, nicht das Umflammern an fidh entfcheidet, fondern bie für 
beide Formen in Bewegung gefehte phyſiſche und geiftige Kraft; ihre vernichten- 
dere Wirkung aber findet die Kraft überall da im limflammern, wo es fih um 
Leben und Bewegung handel. Wir Iehnen hiermit von vornherein es ab, in 
diefem Keile ein angfterregendes Drohmittel erfennen zu follen, wenn es auch 
nicht verfannt werden mag, daß er und zu Eoftfpieligen Vorkehrungen nöthigt. 

Der ganzen Konftguration der Grenzlinie entipricht eine Dreitheilung der⸗ 
ſelben in einen nördlichen und einen füblichen Flügel und eine Mitte, eine Glie⸗ 
derung, die wir den nachfolgenden Erörterungen zu Grunde legen. Der nörd« 
liche Slügel reicht von der Küfte bis zur Weichjel, die Mitte von ber unteren 
Weichfel zur oberen, der rechte Klügel vom San, da wo die Grenze von ber 
Weichſel oftwärts abfpringt, bis an die Bukowina oder Siebenbürgen. 

Die politifche Grundlage unferer Betrachtungen ift aus ben früheren Auf⸗ 
fägen in d. BI. den Leſern derfelben genugfam befannt ; wir kennen Fein getheils 
ted Deutfchland, und fe drohender die Spaltungen auftreten, je verbifiener man 
fih auf Kleig-Deutfchland oder auf fich felber zurüdzieht, um deito mächtiger 


252 Kriegöwifienfchaft. 


wird fih, Das ift unjere unerfchütterliche Meberzeugung , das niedergehaltene 
Rationalgefühl Bahn brechen und mit ſich fortſchwemmen, Was ihn Feſſeln an⸗ 
zulegen gedachte. 

Die militairifhe Grundlage kann fonach auch nur eine einzige fein, der 
Krieg nämlich auf der ganzen Linie. Tagegen find Konjunfturen naheliegend, 
welche und nicht geftatten würden, auf irgend einem Theile diefer Grenze offenftu 
zu verfahren. Sind wir mit zweien unferer großen Fontinentalen Rachbarn im 
Streite, jo würde die alte Bauernregel „die ſchwerſte Fuhre zuerfl” unfere 
Dffenfiemacht zunächft nad) Weſten rufen und erft nachdem wir und dort Ruhe 
erzwungen, würde von der Benugung der öftlichen Offenflofelder die Rebe fein. 
Sind überhaupt auf allen Offenitofeldern Lie defenfiven Anftalten im Auge zu 
behalten, fo erbeijchen fle fomit bier doppelte Beachtung. 

Richt allein aus den eigenen Bedürfniffen und den aus der eigenen Natur 
folgenden Rothwentigfeiten fließt Das, was wir zu thun und zu erwarten haben, 
fondern wir haben dabei auch zu berückſichtigen, was der Gegner zwerfmäßiger 
Weife und jein Interefie fördernd, wie jeiner Ratur entiprechend,, thun dürfte. 

Rußland nimmt mit Hülfe des polnischen Keils eine Offenflolage gegen 
Deutichlands Mitte ein. Es fpringt über eine, zu Anfang dieſes Jahrhunderts 
deutſche Strombarridre vor und rüdt mit feinen Örenzen in der Richtung gegen 
Berlin bi8 auf 30, in der Richtung gegen Breslau bis faum 15 Meilen an bie 
Der heran. So günftige Berhältniffe forderten zur Einrichtung einer Bafis 
für den nach dem Herzen Teutichlands zu führenten Offenfivſtoß auf, während 
andererſeits dieje Offenſive Schug der bedrohten Flanken jowohl gegen Norden 
wie gegen Süden erforderte. — Zur Baſirung der Offenſive gegen Eentral- 
deutjchland wären einige Grenzpläge son großer Wichtigkeit geweien, und wir 
wüßten den ftrategiichen Grundprinzipien entiprechend, Feine zwedmäßigeren 
Lagen dafür anzugeben, als nörblich die Gegend Inowraclaw gegenüber und 
ſüdlich das über. die Prosna nad) Deutſchland hereinjpringente Kalijcher Gebiet. 
Es hätte feinen Zweifel unterliegen Fönnen, daß fo offen audgefprochene Inva⸗ 
fionsideen auch dem entjchiedenften Ruffomanen die Augen geöffnet haben wür⸗ 
den; nächftten ift Rußland noch weitaus nicht in der Lage, feine Kräfte zu einer 
nachdrüdklichen Offenjive fonzentriren zu können, und Klugheit alfo, wie Bes 
wußtfein des eigenen Zuflantes hielten e8 ab zu thun, was den übrigen natürs 
lichen Berhältniffen am beſten entiprochen hätte. Rußland 309 es vor, jeine 
Dffenfive einer ganz beionteren Gunft der Verhältniffe entfprechend einzurichten, 
für alle übrigen Bälle aber jeine Stärfe in einer Defenfive zu fuchen, welche bei 
Schonung und Aufiparung der eigenen Kräfte und Bewahrung des eigenen Lan⸗ 
des tem Feinde dad Geſetz großen und rafchen Kraͤftekonſumos ohne entjprechende 
Ausſicht auf Erfolg auflegen ſollte. Wir finden in diefen Friegspolitifchen Er⸗ 
wägungen eine richtige Schägung der Verbältniffe und eine Fuge Anordnung 
für die eigenen Schwächen und Stärfen. Rußland begnügte ſich mit einer de 
fenfiven Einrichtung auf feinem Offenfivfelde, Hat dieje vollendet — es thut, 
was ed thut, mit Energie — und Damit jeine etwaige Offenflve wenn auch nicht 
unmittel&ar, fo Doch mittelbar wefentlich geftügt. 


Die deutfche Ditgrenze. 253 


Der oftpreußifchen Seenplatte gegenüber erſtrecken fich in nahezu paralleler 
Richtung mit deren Hauptzuge die Sumpfzüge des Rarew und bed Bug, zweier 
Sindernißlinien gewichtigfter Art, durch deren Beherrichung man fich theils die 
Verbindung über Bialyſtok mit Grodno und dem ganzen Rorben des Meiches 
namentlich der Dünaländer, andererfeits über Brezesc Liteweki mit Smolenst, 
dem Inneren und Süden gegen alle Invaftonen dedt, die aus dem Gentrum von’ 
Oftpreußen gerade füdlich gerichtet würden. Man war preußifcherjeits nur an 
der Weichjel bafirt, ald Liefe Erwägungen zum Feſtungsbau in Polen führten. 
Die große, in faft überkoloſſalem Mapftabe ausgeführte Feſtung Novon Alerans 
drowok mit den Dependenzen diefer Gruppe, Sierozf und Warfchau, bewirken 
die Beherrichung der Flußlinien in ihren unteren Theilen, d. 5. da, von wos 
ber ein Angriff zu erwarten fand. Die etwa fünf Meilen unterhalb 
Warfchau auf dem linfen Ufer in die Weichfel mündende Bzura erfchien geeignet, 
die von Warfchau gegen Deutichland gerichteten Operationslinien vor Flanken⸗ 
bedrohungen von Thorn her zu ſchützen, und im Feldzuge von 1831 war ber 
damaligen ſehr bedächtigen Offenfive Paskjewitſch's die Bzura gerade hinderlich 
genug gewejen. Die Befeftigung von Lomifch foll die Beherrfchung diejer Linie 
vermitteln — doch jind wir außer Stande, anzugeben, welchen Charakters biefe 
Befeftigungen find. So viel gefchah gegen den Norden. — 


Die galizifche Flanke war nicht minder bedenklich, und wenn man die In⸗ 
terefien Oeſterreichs, Die Abfichten Rußlands und bie damaligen Sympatbien 
der Magyaren, wie fle 1831 fich geäußert, mit in Anjchlag bringen wollte, ges 
radezu die bedrohtere. Zwar befaß Defterreich damals Feinerlei feften Punft in 
Galizien — ein Sehler, von dem wir unentfchieden Taffen wollen, ob feine polls 
tifche oder jeine militairifche Seite fehwerer wiegen mag — allein da8 Land und 
die polnifhen Sympathieen Fonnten Ihm eine Baſis zu weitgehender Offenſive 
Ihaffen. &8 blieben dafür zunächft zwei Richtungen zu erwägen: bie links der 
Weichſel und Die zwifchen Weichfel und Bug. Erftere mußte fi näher am 
Strome zu halten fuchen, weil in der Mitte, im Gouvernement Radom ein wal« 
diges Hügelland Operationen wie Subfiftenz gleich fehr erfchwerten. Damit 
fam fte in den Bereich einer Weichfelfeftung, die zugleich zur Beherrſchung der 
beften der vorhandenen Wafferlinien des Wfegrz angelegt wurde — Ivangorod. 


Den Bug aber in feinem oberen Laufe und mit den Oſtfronten zugleich 
die Eübdjeite der Pinsker Moraftlinie beherrſchend, ift dort Die Beftung Brzesc 
Litewski entftanden, abermals ein Bollwerk erfter Größe. Man durfte glauben, 
auch hier gefichert zu fein. Weiter nad) Rußland hineingreifende Invaſionen 
glaubte man verlachen zu Türfen — hatte man doch Karl All. und Rapoleon 
gezeigt, welche Defenfiofraft in den weiten Räumen lag. 


Mit den gegen Norden und Süden geſtcherten Verbindungen fühlte man 
fi} in Polen ftark genug gegen Innen und Außen, und wenn man Damit auch 
nicht gerade „eine Weltkriegs⸗Politik“ trieb, fo mochte man wohl den Yall für 
möglich halten, daß die damalige Einigkeit Deuiſchlands, d. 5. feiner Große 
mächte, eine fefter begründete fei, als fidy in unferen Tagen auswies. Waren 


4 Sriegtwiäienidaft. 
denn einmal bie Berhälmifte gunttig, je lieg Ach ukerall hin tie Citenfixe ergrei⸗ 
fen unt man war üßerall Gaflıı, wenn auch nicht in nächſter Nike. 

Tie Feſtungen ſind nach „neurrengiidgen” teen zebsur, miı tem Prin⸗ 
zZive tes Hairelweiien Witerfianted , ibre terachirıen Werke Hat unbedentend, 
man konnte jagen, nicht rorhanten; ibr Bau wirt wenig gelobt, was tie Soli 
bität anlangt. 

An neuem Berbintungslinien iR in unjeren Tagen Tie Perersburg⸗War⸗ 
ſchauer Eiſenbahn yrojeftirt worten und fieht ter Bellentung binnen Kurzem 
entgegen. Eie zieht ji von Dünaburz über Wilna und Grotno nad Rur 
am Bug, überichreitet tenielben und geht links tes Flunñes nach Warſjchau. 
Die Wichtigkeit dieſer Bahn dürfte zu einigen Schugarkeiten für dieielbe ver- 
anlafıen. 

Bir müſſen anerfennen, taz tie ruifide Voſttion in Bolen namentlich 
gegen Breupen bin eine ganz gewaltig Harfe it, und ie mebr eine eingehente 
Erörterung ter operativen Möglichkeiten, dieſe Stärke herausſtellt, deſto Elarer 
wird und gleichzeitig werten, Daß hier mit halben Mapregeln nichts gethan wirt. 


Linfer oder preußiicher Flügel. 

Aller ſtarken und flärfiien Pofltionen ſchwache Seiten bleiben aber immer 
und ewig Lie Berkintungen. Tie Betürftigkeir der Armeen ift ter Wurm im 
Inneren, auf den fein Feind umſonſt ipekulirt, wenn jonit er nur jeine Wege 
geichidt wähle. Gaben tie Rufen ihre Berbintungen lediglich gefichert, jo weit 
fie im Königreiche Polen liegen und im Uebrigen auf die Geipeniter von 1512 
fpefulirt, jo werden wir ihre Bollwerfe vermeiten und jacken müjjen, ibnen den 
Hunger zum Wächter und Bezwinger zu ſetzen. 

Tie Gerichte lehrt und, daß der deutiche Boten und tie Hanja in und 
an ter Oſtſee mächtig waren und in ihrer jeebeherrichenten Flotte das verkin- 
dende Glied fanten, auch für tie einzelnen lanteinwärts getriebenen Kulturftriche. 
Mögen termalen die deutſchen Oſtſeeprovinzen ſich refignirt ihrer Ruififizirung 
unterwerfen, ja mögen teren Bewohner mit ruſſiſchem Glanze ji brüſten und 
auf ruſſiſche Macht pochen , wenn ter Teutjche Abrechnung balten wird mit ſei⸗ 
nen Feinden — und es ift und, als ob aud des alten Arntı Grabe Stimmen 
tönen, taß dieſe Zeit bald kommen fünne — werten dieſe Prorinzen janımt 
Zitthauerr der erfte Gegenftand eines Eräftigen Offenſivſtoßes ſin. Aber nur 
mit Hilfe einer die Oftfee wiederum beherrſchenden deutſchen 
Flotte fönnen wir Das zwedmäpiger Weite tbun. Darum meis 
nen wir, ganz Königdberg jei nicht jo wichtig, als der erfte Linientampfer mit 
deuticher Slagge. Immer und immer, wohin wir auch bliden, tönt und ber 
Ruf nach einer Flotte entgegen; er kann nicht ungehört verhallen. — Nüchfl der 
Flotte, in zweiter Linie, bedürfen wir dann zu den gegen Wilna und Dünaburg 
zu richtenden Stößen einer Zwijchenbafld, deren Etablirung aber füglich Dem 
Momente überlajfen werten mag und zu deren Armirung nur das Artillerie- 
material vorhanden jein mug. Solchergeftalt kann der in Polen etablirten ruſ⸗ 
ſiſchen Armee die Verbindung völlig genommen werden, und wenn wir voraus⸗ 


Die deutiche Oftgrenze. 255 


fegen, daß ein Gleiches auch von Süben her geichehe, fo wirb fich fehr Bald 
fragen, ob diefe Armee fich ohne der Außerften Gefahr entgegenzugehen, in ihren 
befeftigten Operationsfeldern länger aufhalten könne. Entweder fle gebt aus 
ihnen heraus und fucht und auf, — dann begibt fie fich der Mitwirkung ihrer 
Serrainpotenzirungen — ober fle geflattet uns, ihr eine Ifolirung zu bereiten, 
die wie jede Ifolirung, zum Berderben führen muß. 

So wenig wie für unfere entjchiedene Offenſive zu gefchehen hatte, fo viel 
erfordert Dagegen eine Kriegführung, die mit mangelhaften Kräften, nach dem 
Brincipe des Hinhaltens durch fehwere Zeiten hindurch geleitet wer⸗ 
den fol. 

Die Aufgabe iſt dann, mit wenig aktiven Streitmitteln der feindlichen Ge⸗ 
fammtfraft Widerftand zu Teiften, d. h. fein Land zu behaupten, ohne fich ber 
Gefahr des Geſchlagenwerdens in augenfälliger Weife auszufegen. 

Die Defenftve kann dieſe Aufgabe nur löſen, wenn ein gehörig potenzirte® 
Kerrain ihren ſchwachen aktiven Streitmitteln ftärfend zu Hilfe kommt, fte auf 
der einen Ceite ſchützt, während e8 auf der anderen Seite ihn eine Wirkungs⸗ 
ſphaͤre eröffnet. Wir haben früher (vergl. Heft 2 und 3 dieſes Bandes) aus⸗ 
führlich über die Art und Weife gefprochen, wie bie Wafferzige zu diefem Zwecke 
zu benugen find, müffen aber noch einige Worte beifügen: 

Es gibt hier Wald- und Sumpfzüge, Hinderniglinien alſo Doppel« 
ter Art, deren Werth von ihrer Wegſamkeit abhängt, und reine Wafferlinien, 
deren Werth außer von der Trodenheit und dem damit zufammenhängenden 
Waſſerreichthum ganz weſentlich von der Jahreszeit bedingt wird, 

Der Winter Herrjcht in feiner vollen Entwidelung mit faſt unfehlbarer 
Regelmäpigkeit von Anfang December bis Ende Maͤrz. November und April 
treten abwechſelnd wenigſtens theilweife noch hinzu. Der aljo fünfmonatliche 
Winter legt Eis über alle Wafferflächen und oft genug ift auch das Salzwafler 
werigftens ſchwer zugänglich. Die wege und ftegloien Waldwüſten bleiben dann die 
einzigen Terrainhinderniffe erheblicher, wenn auch überwindbarer Art. Faſſen wir 
dazu in's Auge, daß der Gegner gerade an diefes Klima noch viel mehr gewöhnt 
it, als wir es find, daß er aljo viel weniger gebunden ift durch Nüdfichten auf 
die Erhaltung der Truppen, und um fo viel leichter in einem Winterfeldzuge 
diefenige Entjcheitung juchen darf, die ihm der Sommer vielleicht verweigert, 
fo werden wir finden, daß hier VBerhältnifie der eigenthümlichiten Art vorliegen, 
die es nicht vertragen, mit gewöhnlichem Maapftabe genieflen zu werden. Die 
Kunft wird hier mehr als anderwärts auf eigenen Füßen fliehen 
müffen, fie wird die Hilfe der Natur nicht verichmähen, aber wenn eine 
Stüge jo lange Zeit im Jahre trügerifch iſt, kann fle nicht maaßgebend fein. 
Die Kunft, Die anderwärtd fi an tie Natur fehmiegt, und die Wifjenjchaft 
nur ald wegweiſenden oder unterflügenden Factor benupte, muß umgekehrt ver» 
fahren. Ihre ganze Stärke ruht in der Wiffenfhaft, d. $. 
in dem richtigen Erfennen der Prinzipien des großen Krieges und in ber um⸗ 
faffenten fonfequenten und burchgreifenden Anwendung berjelben auf die For⸗ 
tifikation. 


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Mär, weiße Ay an Lie vorgenunnte anſchließt. 


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Die denſche ‚fgrenze, 257. 


würde ſich in ber Beherrſchung ber unteren Weichjel geltend machen; der. 
tujfliche Frontalangriff würde, von der vorigen Gruppe aus, in die rechte Flanke 
genommen, nun auch ig Der Front aufgehalten. Es bafirt dieſe Gruppe aber. 
auch gegen ‚eine Invaflon von, der Rarem her oder auf dem linken Weichjelufer 
abwärts und geflattet der preußifchen Armee eine eben, jo mianigfache ald zu⸗ 
gleich Eee und gefahrloſe Operationdweije gegen alle ‚möglichen Angriffsweifen. 
von ten polnijchen Feſtungen her. Bei der über 30 Meilen betragenden Längen 
erſtreckung dieſer Oſtſee⸗Bafis if} in der That Außerordentliches zu Teiften. 

Wir befennen aber ganz offen, daß wir gewichtige Zweifel an der Zweck⸗ 
maßigkeit dieſer Balls äußern müffen, und dag es und möglich ſcheint, zu er⸗ 
weiten, dieſe Bafld tauge dermalen gar nichts und in der Zukunft nicht viel. 

Zuerſt ihren Zufammenbang. Die erfle Broſchüre nimmt an, dag man 
mit Hilfe einer leichten Flottille jich die Haffs und die Küftenfchifffahrt fichern 
fonne. Gen. v. Wiliſen erffärt eine Flotte, d. 5. eine preußiſche, Eleine und 
nicht jeemächtige, für unnüg und für eine beichwerliche Laſt; die Beherrfchung 
des Meeres müfle Hefreundeten Nationen überlafien werden. Unfere Meberzeus 
gung gibt Beiden unrecht. Fine leichte Blottilfe beherrſcht gar nichts, denn ſie 
it ſchwach; fie wirft nur, wo der Feind nicht hin kann, und dort braucht man 
auch Feine Kriegsichiffe; wo aber auf den Binnenwäflern der Feind fich bie 
Gegenwart erzwingen kann, da wird er erjcheinen. Sind die Nehrungen uns 
ducchfiechbar? oder Fann man Feine Rutſchbahnen auf ihmen anlegen und 
Kanouenboste Hinüberjchaffen? Es wird der feindlichen Flotte erjte Arbeit 
fein. Und befreundete Slotten? Wo hat denn Deutichland Freunde, oder da 
beide Brojchüren Deutjchland nur ald einen von Preußen zu realiftrenden 
geographiichen terminus technicus fennen, wo fihmeichelt ſich denn Preußen, 
Freunde zu finden in der Noch? In Rußland, deſſen Ohnmacht Flar gewors 
den, und das es nicht verfchmähte, im Tilfiter Frieden preußifched Land zu " 
nehmen, ein Verfahren, dag unser gleichen Umfländen Sachſen fehr Hoch, 
Kußland aber gar nicht angerechnet ward, daß es ferner verjuchte, im Winter 
1813 in Oſtpreußen zu annektiren und das jpäter und viel jpäter anfländige 
Anerbietungen für das „feiner Offenftve jo bloßliegende Königsberg“ geftellt? 
Oder England? Sollte fi Das anftrengen im unpartheiifchen Intereife für 
fremde Noch? — Nein, nein; der Schwache hat in der Politik nie Freunde, 
und dermalen ift Deutichland durch den „Gewinn Preußens“ in Italien fo. 
ſchwach und fo allgemein mißachtet im Auslande, daß jeder Kleinflaat es er⸗ 
hofft, einen Fetzen von diefem Eranfen Manne aud) für ſich zu erbajchen. 

Anftatt der dreifuchen Verbindung, von denen zwei angeblich) gar nicht 
genommen werden Fönnen, nämlich über die Haffs, über die Nehrungen und 
über die See, wird jehr bald gar feine mehr bejtehen, und wir können den 
nachfolgenden Betrachtungen dad Faktum der Trennung, ber Jjolircheit, zu 
runde legen. 

Memel, an der äußerften Norbfpige Deutjchlands gelegen, zugleich 
Hafen und Zeftung, hat einen eminenten Werth für eine Offenfive gegen Riga. 
Es iſt ein Slügeljubjeft wirkjamjter Art, aber dieſe Wirkſamkeit ift lediglich 

V. 17 


258 Kricgbwiſſen ſchaft. 


und allein an feine Verbindungen geknuͤpft und wegen der Eigenthümlichkeiten 
des Landſtrichs in höherem Grade noch, ald es bei andern Lagen der Fall iſt. 
Eine feindliche Feftfegung auf dem nörblichen Theile der Nehrung, und Feine 
leichte Klottille Tann ihm die Verbindung mehr erzwingen, während auf ber 
Landſeite der Lauf der Nimpe und die dem Haff Iateralen Sumpfzüge gleichfalls 
den Feind begünftigen. -Memeld Verbindungen ruhen auf der See und auf der 
Nehrung, d. 5. auf der Flotte und wieder anf der Flotte, und ehe wir nicht eine 
feemächtige Flotte haben, eher braucht von Memel überhaupt nicht die Rede zu 
fein. Willifen flebt Das auch ein, und mag deshalb von den Flottillen⸗ Spie 
Iereien der erften Broſchuͤre nichts wiflen; er begeht einen politifchen Sehlen, 
während fein Borgänger einen’ ftrategifchen beging. 

Auch für Die Verbindung der Samländifchen Gruppe mit der Weichſel⸗ 
gruppe wird erhofft, Daß fie eine Dreifache fein werde, See, Rehrung und Haff, 
und wir können bier wie dort nur anerkennen, daß es lediglich Am Belieben 
des Feindes liegen witd, fie und alle drei zu neßmen. Die Sanıländifche Gruppe 
hat eine Entwickelung von wenig unter 35 Meilen, von denen die Küften bei⸗ 
nahe ein Dritttheil einnehmen. Die Küjten find faft überall Den modernen Lan» 
dungsapparäten zugänglich, und nur ein Kleiner Theil der Flußlinien ift Durch 
das anftoßende Terrain vor entjchiederren-Angrifföoperationen des Feindes ges 
beit, Das Samland ift alfo überhaupt nur dann ein beachtenswerthes Volle 
werk, wenn 68 auf zweckmaͤßige Weife, d. H.-auf dem Waller, vertheidigt wer» 
den fann;' and alle an dieſes Bollwerk gefnüpften ftrategifchen Erörterungen 
bleiben unfundirt, fo Tange keine jeemächtige Flotte eriflirt. — Wir haben 
nicht8 gegen eine Befeftigung von Koͤnigsberg, fehr viel aber gegen die enorme 
Koftipieligfeit der dabei angewendeten Manier, mit der ein für lange Zeit un« 
nüßer Zuſtand zuſammenhängt, und noch mehr gegen Die ald Selbſtzweck 
auftretende gejchloffene Weiſe. Solche Befeitigungen ifoliren ſich, und während 
fie der Armee nicht den geforderten Zuwachs an defenfiven Streitmitteln bieten, 
abjorbiren fie einen flarfen Theil der aktiven, wirken jomit doppelt fchädlich. 

Natürliche Folge davon, daß fie auch ihren Selbſtzweck, den Schutz der umjchloje 
fenen Oertfichkeit, deshalb nicht erreichen. 

Es ift geradezu unbegreiflih, wie man doch fo wenig Einficht in die 
Grundprinzipien der Defenfive findet! Da bat die Gefchichte gefprochen in einer 
Ueberfülle von pofltiven und negativen Beifpielen, ta bat die perfünliche Er» 
fahrung gefprochen Durch den Mund großer Feldhern, da hat die Wiflenjchaft 
gefprochen und die frappante Uebereinftimmung ‚von Lehre und Gejchichte, von 
reiner Abjtraftion und Erfahrung darf Beweifesfraft in Unfpruch nehmen, da 
hat es Anleitungen gegeben, denen man nur folgen durfte — — Alles, Alles 
fruchtlos; man kehrt immer wieder in’d Alte zuruͤck, in da 8 Alte, welches von 
allen Inflanzen verurtheilt worden, und glaubt durch vie Abänderung elender 
Bormalien die Orundmängel zu vermeiden. 

Königsberg, bie Feſtung, har nur Werth als Reduit der janılänbifchen 
Vertheidigung gegen Landungen, und daß die Hauptſtadt gegen Infulten, Hand⸗ 
reihe, Plünderungen gejhägt fei. Der ruffifche Landangriff das 


Die deutſche Oftgronze. 259 


gegen entwidelt fich höchſt wahrſcheinlich von Tilſtt über Wehlau gegen Fried⸗ 
land Hin, und wenn man diefem mit einer zweckmaͤßigen Defenſive entgegen 
treten will,.fo dürften die Linien des Pregel und der. Alle, mithin die Oertlich⸗ 
feit um Wehlau von Wichtigkeit fein, das alſo ganz zwedmäßiger Weife mit 
in das Königsberger Syſtem hineingezogen würde; nur. bemerfen wir, daß es 
und wichtiger erjcheint, als Königsberg felbft, weil die Alle gerade dasjenige 
Terrainhindernig ift, an welches die Defenftve für Oftpreußen anzufchliehen 
haben wird, Bedenkt man, daß der Raum zwijchen der Seen» und Sumpfs 
platte und der aus ihr abfliegenten Alle hier faum 10 Meilen beträgt, fo wirb 
bie Flankenwirkung der auf Wehlau und die Alle geftügten Vertheidigung eine 
um fo entfchiebenere, ald auch für den oberen Flußlauf eine gleichzeitige Bafi⸗ 
rung auf Königsberg ausführbar iſt. 


Im Zufammenhange hiermit fteht auch die Befeftigung von Lötzen, 
mitten in ber Seenplatte, etwa 15 Meilen von Königsberg gelegen. 


Die Ideen, welche der Grbauung von Lötzen zu Grunde gelegen haben, 
wollten und nie in gewinnender Geftalt vor die Seele treten. Es Tiegt mitten 
in einer für den großen Krieg völlig ungeeigneten Zandftrede, fehr tjolirt und 
ohne Anfchluß.an das naturgemäße Defenftvfpftem Oftpreußend. Damit, daß 
die Feſtung Löten dem großen Kriege weder dienen noch fich ihm.anjchließen 
fann, ijt ihr Urtheil endgiltig geiprochen, und die anfehnlichen Summen, die 
darauf gewendet, wären fo gut wie ganz zu erfparen geweſen. Dagegen tritt hier 
doch ein Element zu Tage, das und anheimelt wie ein Nachhall ſchöner Zeiten, 
Man hat in den befeftigten Landwehrzeugbäujern Ofterode, Lyk und auch in 
Lögen Stügen ſchaffen wollen für einen Boltöfrieg, auf den man, Rußland 
gegenüber, bei der mannbaften oftpreußiichen Bevölkerung rechnen zu können 
geglaubt. Den großen Krieg ſekundirend und mit unnehmbar ficheren Verbin⸗ 
tungen fönnte bier ein Fleiner Krieg fich etabliren und gegen alle zufflfchen 
Kommunifationen fich richten, Der fühlbar werden Fann, Außerdem liegt Lügen 
den offeneren Landftrichen nördlich Zomza gegenüber, würde aljo dorthin ges 
richtete Unternehmungen zwedimäßig bafiren. Es würde und aber zmedmäßiger 
erichienen fein, zu ſolchem Dienfte mehrere Forts, namentlich auf ten Sees 
injeln oder Landzungen zu Disponiren und einige Trandportfchiffe mit Dampf⸗ 
remorkeuren dazu zu geben, Damit die Abtheilungen an mehreren Orten Raſt⸗ 
und Sammelpläge und Schuß vor der Uebermacht fünden. Bei weniger Koften 
bitte man Den Zwecke mehr gedient — und warum? infach, weil die Bes 
feftigung ald dienendes Glied fi) dem Ganzen, dem Kriege, anfchloß. Halten 
wir als Refume Liefer Betrachtungen fell: Die Bertheitigung 
von Oftpreußen rubt auf zwei Elementen: Erftend, auf einer 
arten, feemächtigen Flotte, und Zweitens auf der Feſtungsgruppe 
an Pregel und Alle; während d.e Eine den Hüden flchert, dient Die andere 
ter Armee, und wenn wir annehmen wollen, daß Rußland bier mit 100,000 M. 
zur Offenſive jchritte, was bei einer Annahme von 300,000 M. ald Geinmmte 
offenſlvmacht, gewiß viel angenommen if, fo würden preußiicher Seite 

17* 


\ 


260 Reiegöwilfenichaft. : 
50,000 M. jih mit Aussicht auf Erfolg behaupten und den: beflen Theil ber 
oftpreußifchen Gilfäquellen fih und dem Staate erhalten können. 

Wir tommen zur. Weichjelgruppe. Es iſt in ber That wahr, 
man Tann fich kaum eine fortiflfatorifch ftärfere Lage denken, als Danzig, Dir- 
ſchau und Marienburg; allein wir können und nicht entſchließen, diefer an fich 
fo fchönen Lage den firategifchen Werth einzuräumen, ber für jle in Anfpruch 
genommen wird, und faft ſcheint ed uns, als befände ſich auch der Gen. v. 
Williſſen bei der Anerfennung, die er diefer Lage zollt,. nicht ganz innerhalb 
der Eonfequenzen der von ihm fo treffend entwidelten unwiberlegbaren Prin⸗ 
zipien ber großen Defenſive. 

Laſſen wir einſtweilen den Werth von: Danzig, als Kriegshafen, bei 
Seite. — Die Wirkſamkeit der Weichſelgruppe kommt überhaupt nur 
in zwei Bällen in Frage, nämlich 

entweder: ift Oftpreußen mit feiner Zeflungöpruppe bereits verloren, 
und Rußland entwidelt einen frontalen Angriff gegen die Weichſel, 

oder: der.zuff. Angriff entwidelt fich gegen Weſtpreußen und Pommern auf 
bem linken Ufer der Weichſel. 

Im erſteren Kalle, dem Verluſte von Oftpreußen, haben wir zu bemerken, 
daß wir von der Defenfive verlangen, fie folle uns dad Land fchügen, und die 
Hilfäguellen zur Fortiegung ded Kampfes erhalten, alſo niemals vordere Pofi⸗ 
tionen aufgeben, fo lange noch Kraft zum Kriegführen vorhanden if. Wenn 
die Defenfive ihre Schuldigfeit gethan hat, kann fie nach dem Verluſte der vor⸗ 
deren Pofltionen Feine Kraft mehr haben, rüdwärtige zu benugen. Sehen wir 
ſogleich Hinzu, wie e8 eben Sache ber Bortififation fei, die Defenſive jo zu flärs 
Tem, daß es nur der etwa dreifachen Uebermacht und auch diefer erſt nach längerer 
Zeit gelingen darf, den -Widerfland zu brechen. Was wir aber mittlerweile an 
Streitkräften und fonftigem Rüſtzeuge auftreiben Tonnen, das follen wir zur 
Stärfung dedjenigen Widerftanded anwenden, der.allein den Korderungen ber 
Defenflve entipricht, aljo vorwärts damit. Wollte man die vorderen Pofltionen 
aufgeben, fo wären damit Berlufte vom Provinzen, von Kriegdmaterial, von 
BZuverficht und Selbflvertrauen verbunden, bie bei dem ferneren, rückwaͤrtigen 
Widerflande und zu Schaden, dem Feinde zu Gute kämen. Warum ficy freis 
willig in ein um fo viel fehlechtered Verhaͤltniß fegen? Auch auf dieſem Ge= 
biete der Defenftve wirkt cine alte Tradition, vielleicht zu ihrer Zeit und an 
manchen Orten wohlbegründet,, jegt aber jedenfalls ohne reelle wie ohne 
wifienfchaftliche Grundlage, die Tradition nämlich, daß mit der Annäherung 
an bie eigenen Hilfäquellen die Widerftandäfraft wachie, die Offenfivfraft aber 
mit der Entfernung von ihrer Baſis fich ſchwaͤche. Wo bie Kommunifationen 
das rechtzeitige Vorjenden ber rüchwärtigen Streitmittel und Ergänzungen ges 
Hatten, wie jegt 3.8. die Dampfichifffahrt und die Eiſenbahnen, fällt der er⸗ 
wähnte Vortheil der Annäherungen weg und es bleiben nur die gefteigerten 
Verluſte an Land und Leuten beleben, d. h. der Nachtheil. Die Schwächung 
der Offenflofraft kann nur eintreten, wenn eine Armee, ohne die neueren Kom⸗ 
munikationsmittel benugen zu können, unter gleichzeitiger übermäßiger Entfer⸗ 


. Die dentſche Oftgrenze. 361 
nung von Ihrer Baſis, weit in ein feindliches Land Binein vorftößt. - Hier aber 
iſt es umgekehrt; je mehr füch der Kampf der Weichſel nähert, oder an ihr fich 
feftfegt, defto näher Liegen die ruff. Armeen ihrer polnifchen Baſis, deſto leichter 
benugen fie die polnische Eifenbahn und ihre Dampfichifffahrt auf der: mittleren 
Weichſel. Sie operiren in der. That bequemer, al8 in Oftpreußen. — 


Die frontale Bertbeidigungdlinie ver Weichjel ift bis jegt ſchlecht ein- | 


gerichtet und wird in dent Grade fchlechter, als die Bertheidigung ſich mehr 
an das Delta anflammert. Es mag fein, daß die Wirkfamkeit der Weichſel⸗ 
gruppe fich vortheilhaft benutzen Yaffe gegen einen frontal ſich entwicelnden 
Angriff; das ift aber der Fall, den wir ablehnen, Denn haben wir noch die 
Kräfte, die Weichfel zu vertheidigen, fo jollen wir dies in Königsberg thım, 
und fönnen wir dort nicht mehr wiberftehen, fo werden wir's überhaupt nicht 
mehr können, alſo brauchen wir Feine rüchwärtige Linie. 


Der zweite Fall, wenn Rußland ſich gegen Weftpreußen und Pommern 
wendet, jein Operationgfeld auf die linfe Weichfelfeite Tegend, kann fich mit 
dem erfteren combiniren und eine bedeutende Kraftentwidelung darftellen. Wo 
liegt aber die Widerftantslinie gegen biefen Angriff? Im Weichfelvelta, d. h. 
an ber Icgten aͤußerſten Spitze des zu vertheidigenden Landes doch nicht? 
Wenn Alles verloren, was eine Provinz an Hilfäquellen bietet, was nußt 
es da, an deren äußerſtem Ente noch eine Feſtung zu Halten, und wäre es 
feleft Danzig? Sind wir feemächtig, jo ift e8 allerdings günftiger, denn wir 
fönnen dann die zu einer Offenfive nöthigen Kräfte herbeiführen und auf einer 
oder der der andern Seite plöglich mit Macht auftreten. Sind wir e8 aber 
nicht, wie es dermalen der Fall und bei dem üblen Gange der deutfchen Anger 
legenheiten auch noch weit hinaus fein wird, jo gleicht die Einfchränfung auf 
das Weichſeldelta der hergeſtellten völligen Abtrennung eines anfehnlichen Theis 
leg vom Ganzen und hierin liegt eine unwiberftehliche niederwerfende Kraft, 
denn — nur im Ganzen da liegt Die Macht! — Je mehr Alles darauf hin⸗ 
weift, daß Rußland eine etwaige größere Offenfive gegen Bentraldeutfchland 
dadurch in der rechten Flanke zu fchügen fuchen wird, daß es Oſt⸗ und Weſt⸗ 
preußen, fo wie einige Theile von Pommern ijolirt und fowohl an ſich Dadurch 
machtlos macht, als auch dem Ganzen die dortigen Hilfäquellen enzieht, um fo 
mehr wird das diegfeitige Intereffe erfordern, diefen Beftrebungen entgegen zu 
treten und den Widerftand da zu leiften,, wo er in Verbindung mit bem Ganzen, 
alſo mit voller Macht, geleiftet werden Fann. Dag Alles darauf hinweiſt, den 
Widerſtand an ber üußerften Grenze zu leiſten, jpricht in entfcheidender Weiſe 
für die Richtigfeit der Sache. 

Wenn wir ſomit in einer allerdings etwas weiteren Erörterung zu dem 
Refultate gelangten, daß die große, sorgefchlagene, an die Oftfee gelehnte 
Feftungsgruppen » Bereinigung 

einmal nur in Wirkung kommen könne, wenn die genannte Anlehnung 

eine Stüße anftatt eine Gefahr fein wird, d. h. wenn Die Oſtſee ein 
von deutichen Schiffen beherrichtes Binnenwaller (cin mtrt, 


a 


262 AKriegbwiſſenſchaft. 


dann bie etwa zu Außernde Geſammtwirkung anzweifeln mußten, weil die 
Dazu nothwendigen geficherten Verbindungen von der Seeheriſchaft 
abhaͤngen; 

ferner, angenommen aber weitaus nicht zugegeben, die Gruppen beſaͤßen 

die ihnen zugeſprochene Staͤrke, ſo treten ſie doch ſelbſt dann aus 

ben Grundbedingungen der Defenſive heraus, die da verlangt, daß 

das Land geichugt werde und nicht dem Feinde preißgegeben — 
dag. fie alſo weder wilfenfchaftlich fundirt erfcheinen noch den vorliegenden und 
und demnaͤchſt zu erwartenden Verhältniffen entſprechen, — jo bleibt und nur 
noch Lie Bemerkung übrig, dag all’ die gerühmte Stärfe und all’ die voraus⸗ 
gejegten Vertheidigungsmöglichkeiten nur Geltung für den Sommer haben, weil 
Alles Hier auf den Wafferzügen ruht und dieſe Hinderniffe im Winter werth⸗ 
los find. 

Die Befeſtigung darf nicht für Eine Jahreshälfte arbeiten; ſie muß das 
Ganze in's Auge faſſen. 

Sragen wir aber, wohin das ftrategifche Grundprinzip 
der Lonzentrirten exzentrifchen Vertheidigung unfere Fortififationen 
verwelſt, ſo bekommen wir einfache und klare Antworten: 

Für Oſtpreußen an’ die (modificirte) famländifche Gruppe, und für 
das Weichfelland an beffen vorgefchobenften Punft, Thorn — keite Punkte bon 
der Natur zwar begünſtigt, namentlich erfterer durch günftig gelegene große 
Sumpfwaldungen, aber keineswegs in der Weiſe, wie es unter günſtigeren kli⸗ 
matiſchen Verhältniffen fein könnte. Es bleibt und zu erörtern, welchen Werth 
Thorn für die Defenftve erhalten Fann. 

Thorn ſchühzt vor Allem das rüdliegende Land, erhält alfo deſſen Hilfs— 
quellen; e8 liegt an der radialen Linie der Weichfel, kann alfo der Armee 
geftätten, fich einem feindlichen Angriffe zu entziehen, ohne das Land aufzr= 
geben; e8 liegt an dem kultivirteren Landſtriche, der fich weichfelaufe und abwaͤrts 
hinzieht, Alfo auf dem vorzugäweife für den großen Krieg geelgneten Tante 
ftriche, begünſtigt alfo Blanfenangriffe auf alle rufftjche nördlich gerichtete 
Unternefmungen. Seine vorgefchobene Lage aber Kaflrt ganz entjchieden eine 
Offenſive gegen Die Bzura und fegt fle In den Stand, ruffiche Unternehmungen 
gegen Me niedere Ober zü gefährlichen Wagniffen ſelbſt dann zu machen, wenn 
das Kräfteverhältnig ein für uns nicht günftiges ift. Es ift endlich zu beach— 
ten, daß Die Lage von Thorn felbft im vollen Winter eine werthsolle bleibt, 
weil nicht blos tie Weichſel als Hindernißlinie auftritt, ſondern auch fich ofte 
wärts die Sumpfwaͤlder gegen Ofterode fin und weſtwärts Die an der Nee 
befindlichen dem unmittelbaren Rayon der Feſtung anfchliegen. 

Dieſe, ſchon vielfach erörterten und niemals noch angezweifelten großen 
natürlichen Vorzüge mußten dazu auffordern, aus Thorn einen Manövrir—⸗ 
plaß erſten Ranges zu ſchaffen. Bisher ift leider noch nichts geſchehen, als ein 
Kern geichaffen worden, der weder dem großen Kriege entipricht, noch auch, bei 
der Abweſenheit eined entiprechenden Brüdenfopfes, die unmittelbare Beherrs 
dung ber Stromlinie herſtellt. Wie die Feſtung Thorn jegt ift, bilder ſie cin 


Die dentſche Dſtgrenze. 283 


mangelhafte Debrouchee gegen Oſpreußen und einen wenig werthoollen Stüge 
punkt zur frontalen Vertheidigung ber Weichjel, während fle doch ein Durch 
und durch zuverläffiger Stützpunkt für die Vertheidigung von Weflpreußen und 
Pofen, eine Offenſtobaſis fein follte.. Der einzige Vortheil ik, daß fie bis jegt 
wenig gefoflet, dag alfo noch nicht viel Geld unnüß ausgegeben worten ift. Gie 
verlangt dringend .nath einem weiten Rreife ſtarker dDetafchteter Forts auf beiden 
Ufern der Weichfel und bei der Schwierigkeit der Verproviantirung konzen⸗ 
trirter Armeen nach ausgebehnten Voranftalten für Magazinirungen aller Art. 

Wir treffen an der Feſtung Graudenz noch einen Weichſelbrückenkopf von 
bemerfendwerther Tofaler Stärfe zwar , aber von eben fo hervortretender defen⸗ 
fiver Abgefchlofjenheit. Bruͤckenköpfe dienen, der Natur der Sache nach, nicht 
bloß zu Rückzugsſicherungen, fondern auch zu offenſtvem Hervorbrechen. 
Graudenz ift aber ringsum von. Wafferzügen :eingefchloffen, die ihrerfeitö wies 
ber, 1 bis 2 Stunden von Centrum, durch Höhen eingefaßt werben, unter 
deren wirffamften Beuer die Offenftve. ſich entwickeln müßte. Graudenz iſt faſt 
ohne Feind ſchon eingeſchloſſen — der wahre Typus der alten ſubjektiven An⸗ 
ſchauungen in der Fortifikation. — Da die Feſtung einmal beſteht und mit 
einem Minimum von Beſatzung gehalten werden kann, ſo wuͤrden wir vor⸗ 
ſchlagen, ſie mit möglichſt geringen Unterhaltungskoſten in statu quo zu laſſen. 


Die Verbindungen. 


Die Hauptverbindung des uͤberweichſeliſchen Kriegstheaters mit dem In⸗ 
neren Deutſchlands ruht auf der Eiſenbahn, die von Kreuz her (Stettin oder 
Küſtrin) über Schneidemühl gegen Bromberg geht, dort mit einem Aſte nach 
Thron greift (Bau befchloffen in Anfang 1860) mit dem Hauptſtrange aber 
die Weichſel Totopirt bis Dirſchau, daſelbſt den Danziger Blügel entfendet,'wäf 
den berühmten Brücen die Weichfel und Rogat Üiberfchreitet und über Elbing, 
in der Nähe der Küfte nach Königsberg geht. Die weitere Fortfegung von da nach 
ber ruſſiſchen Bahn (Petersburg⸗Warſchau) iſt im Bau, fle geht auf der linken 
Seite bes Pregel aufwärts und überfchreitet öͤſtlich Gumbinnen die Grenze, 

Man Fann dem Ganzen diefer Bahn die Zuſtimmung nicht verfagen , tr 
muß man dabei auf die Unvollſtaͤndigkeit hinweiſen und auf die Gefahren ,-fo 
Vieles und fo Wichtiges an Eine Verbindung zu Fnüpfen, die wenige Meilen 
von der feintlichen Grenze ſich binzicht, wie e8 bei Bromberg der Ball. Es iſt 
deshalb die neuerlichit zum Schuße der Oftfeefüfte vorgeſchlagene Verlängerung 
ber Bahn von Stettin nach Kolberg und Köslin bie Danzig nur eine eben fo 
richtige ald nothwendige Maapregel, wenn fle auch mehr im Intereffe Oſt⸗ 
preußens henugt werben wird, ald zu dem Zwecke, um deſſen willen. fle. ber- 
malen vorgefchlagen ift. Haben wir anderwärtd ſchon auf die Nothwendigkeit 
hingewiejen, auf ten unmittelbaren Schuß der Bahnen Bedacht zu nehmen, 
wenn fie die Kriegötheater betreten, jo Liegt. dieſe Frage und. bier doppelt nahe, 
weil alle die Deckungen, die man ten Bahnen durch ihre räumliche Disponirung 
im Terrain zu verjchaffen gefucht hat, zeitlich allzu beſchränkt ſind. Mit dem 
Augenblide, wo tie Eiöbede der Waflerzüge paifirbar wird, hellen Reg, 


264 Melegswiſſenſchaft. 


Weichſel und Alle nichts mehr; die Bahnen liegen den Etreifparteien offen 
und bieten ihrer Thaͤtigken ein überall greifßares Objeft. Ihr Schutz muß dann 
ein unmittelbarer fein and Alles, was wir im erſten Artikel erwähnt, wird in 
vielleicht noch umfaffenderer Weiſe zur Anwendung fommen müſſen. 


Neekapituliren wir die Erforderniffe dieſes ariezetzeater. 
Erſte Linie. Feſtungsbauten. 


Vollendung von Königsberg, aber nach einem einfacheren und dem 
großen Kriege angemeſſeneren Syfleme. Herſtellung eined großen, aber ganz 
einfachen Brüdenfopfes bei Thorn. Weide Arbeiten erfcheinen uns eben jo 
wichtig, als die Herfichlung einer feetüchtigen Deutjchen Flotte. 


Eifenbahnbauten. 


Die Herftellung der militairiſchen Schugmittel für die beſtehenden Bahnen. 

Die Herflellung der Strede Danzig⸗Köslin. 

Es bedarf Feiner fpeciellen Wiederholung Teffen, was wir als zur mili« 
tairiſchen Brauchharkeit der Bahnen nothwendig, bezeichneten; wir verweifen 
"Darauf und erwähnen nun die Unerläßlichkeit ter erwähnten Vorkehrungen. 


Zweite Linie. Beflungsbauten. 

Wir fegen Die zweite Inte auf einen Termin nad) Herftellung des haupt« 
ſaͤchlichen Theiles der deutichen Flotte. 

Erbauung von Wehlau. Erbauung der Detafchirten Forts um Thorn. 

Zum Abſchluß von Königsberg dürften höchſtens 2 Millionen erforderlich 
fein; zum Bau des Thorner Brüdenkopfes etwa 1, macht 3 Millionen. Die 
Gifenbahn hat eine Länge von p. p. 25 Meilen, und die Meile in den dortigen 
ebenen und billigen Xerraind mit 200,000 Thlr. angejegt, würten dafür 
5 Millionen entfallen. Der Schup der Bahnen fönnte leicht 1 Mill. in Anſpruch 
nehmen, ſo daß ein Total von 9 Millionen erfcheint. 

68 wird von: der Lage Deutfchlande nach erfolgter Herftellung feiner 
Unabhängigkeit abhängen, in welcher Weije die in zweiter Linie vorgejchlagenen 
Arbeiten dann noch zweckmäßig erfcheinen; wir meinen, es müßten dann andere 
Baktoren auftreten und Befeftigungen verlangt werden, an die jest allerdings 
nicht zu benfen if. 

Die Mitte, 


Die Mitte des öftlichen Grenzftriches wird von einem Bogen gebildet, der 
mit p. p. 80 Meilen Länge über einer Schne, der mittleren Weichfel von 
p- p- 50 M. Länge liegt; etwa 30 M. fpringt Rußland in das dieſſeits ter 
Weichſel gelegene Land herein. 

Der ganze Landftrich, dies⸗ umd jenſeits der Grenze, ermeift fich ald dem 
großen Kriege wenig günftig. Bon einzelnen Landrüden durchzogen , im Allges 
meinen aber eben, vielfach Durchichnitten von Walfersügen übelfler Art, naͤm⸗ 
ch Flüſſen und Bächen in breiten Weichlandftreifen, welche Ichtere häufig 
eilenbreit und, außer im vollen Winter, vollkommen unpaffichar find, vielfach 


Die beuntſche Dftzrenze. 2656 


und auf große:Strecken bedeckt mit kulturloſen Waäldern, oft im Sumpfterrain; 
Vheralldie Beboͤlkerungsziffer zwiſchen mäßig und dünn, einige Strecken frucht⸗ 
baren · Landes, getrennt durch weite Sandſchollen; ohne Induſtrie mit Ausnahme 
der oberſchleſiſchen Bergworksdiſtrikte; mit zwar allenthalben guten Haupiſtraßen, 
aber ſelbſt dieſe in beſchränkteſter Zahl und mit einem: -Zuftande der Neben⸗ 
ſtraßen, der durch das Wort ,,polnttfch“ ſattſam bezeichnet wird, — fo zeigt 
fich das Land im Norden und Welten, Gegen Süben einige Beränderung: bie 
Ausläufer ter Karpathen reichen mit Hügelfetten bis an die Weichſel und die 
Berfumpfungen der Flußthaͤler mindern fih oder verſchwinden; auch in dem 
Striche nörtlich der. oberen Weichfel, Gouv. Radom ift weitgedehntes Hügel- 
land; dagegen gewinnen die Wälder noch mehr an Auskehnung, was natürlich 
die Ernaͤhrungsfaͤhigkeit wie die Schlagbarkeit nicht mehrt. 

Die Magerkeit des Landſtrichs erſtreckt ſich auch weiter weftlich, und zwar 
befonders nördlich der Nee, dann in den Striche zwifchen Wartha und Oder 
bis in die Gegend von Frankfurt und Küftrin, jenfelts welcher in der Meder⸗ 
lauſttz ac. chen auch „Sand und Kiefern’ herrfihen, während Schleflen und 
‚Mähren als reiche und ernährungsfähige Stie wenigften ein guͤnſtigeres 
Hinterland abgeben. 

Thorn auf der Nordfeite, mit feiner Boflrung anf w Weichſelland und 
die fruchtbaren Striche von Preußen und Pommern, Krakau auf der Südſeite 
mit dem Hinterlande Mähren und der leidlich geſicherten Verbindung mit 
Schleſien — find Das nicht die deutlichen Fingerzeige, in welchen Strichen der 
große Krieg vorbereitet werben ſoll? Ja, geben mir einen Schritt weiter, bis 
zum Scheldepunfte der Mitte von dem rechten Flügel, bis zum Einfluffe des 
San und nennen wir den dortigen Stügpunft Radomysl, fo finden wir Bar 
ſelbſt theils die Verbindung mit Nähren, theild aber auch die mit den frucht- 
bareren Galiziſchen Gegenden. Auf’ beiten Slügeln Tofale Eriftenzmittel, in der 
Mitte der übelfte, Tediglich auf Zufuhren zu begrändende Zuflant. u 

Die größeren Wafferzüge find die Ober und die Wartha, mit deren 
Rebenfluß der Rebe. Die Oder ift nicht fehr mächtig und bis in die Gegend 
von Breslau bei 400’ Breite, in trockenen Sommern auch tiefer hinab, vielfach zu 
durchfuhrten; erft nach der Wartha Zuftrömen gewinnt fle größere militairiſche 
Wichtigkeit bei 600’ Breite. Die Ufer find im Ganzen zugänglich und den Lieber» 
gängen günftig. Die Wartha ift ein Sumpffluß, der an ſich fchon ziemlich ebenfo 
bedeutend wie die Oder, durch Die völlig unpaffirbare Thalfohfe in den Charakter 
ter Hindernißlinie erfter Klaffe treten würde, wie zlemlich eben ie. die erh, 
wenn nicht das 

Klima hier eben anch fo Durchgreifende Veränderungen herkorbrächte, wie 
auf dent linken Klügel der Grenzfronte. Man kann annehmen, daß das non 
diſche Gontinentalflima fi in Dem ganzen überoderifchen Lande geltend macht; 
langer, barter aber gfeichmäßiger Winter und offene Communikation mit allei⸗ 
niger Ausnahme der pfadlofen Sumpfwälder. 

Die große Vertheidigung wird zwar auch hier die großen von der Natur 
vorgegeichneten Hindernißlinien in ihrem Bereich nehmen, fe tat inteh rk 


266 AKriegbmiſſenſchaft. 


zwar wegen ber vorerwaͤhnten Landes⸗ und Klima⸗Eigenſchaften auch auf dieſe 
Faktoren Rüdficht zu nehmen. Daraus wird folgen, daß ber Schutz der er⸗ 
nährungsfähigen Landfiriche, die Sperrung ber. Zugänge zu folchen, faft höher 
zu achten find, ald die Feſtſetzung an Wafferlinien, deren Werth im Winter 
verſchwindet und deren weitere Umgebung dem großen Kriege nicht förderlich 
it, Immer wird aber im Auge zu behalten fein, daß die Vertheidigungsanlagen 
eine Slanfenwirkfung auf die feindlichen zweckmäßigſten Operationslinien er⸗ 
leichtern, indem ber reine frontale Widerftand, einem überlegen Feinde gegen- 
über, bier wie allerwärts zu einer Theilung, alfo Schwächung, oder zum Um⸗ 
faptwerben, alfo wiederum zu Schwächung, führen muß. 

Der Lage von Thorn haben wir ſchon erwähnt. Es verbindet mit 
der vorgefchobenften Lage die befte Baflrung gegen Die weitwärtigen ruſſiſchen 
Operationslinien, ſchützt den Ernährungdftrich des dortigen Landes und würde 
auch den allerentjcheidendften Operationen die ftrategifche Sicherheit verleihe., 
wenn — fegen wir ſchon jegt hinzu: anftatt Polen’ — an der Nege ein Fleiner 
doppelter Brüdenfopf einen geficherten Mebergang vermittelte. Auch zum Schuge 
der Eifenbahn möchte es erforderlich jein, den dazu ganz nothwendiger Weiſe 
zu disponirenden Truppen einen Haltepunkt zu geben. - 

. Die Feftung Pofen, einer der koloſſalſten Neubauten Deutfchlandg, 
bedarf der eingehenderen Betrachtung, um zwifchen den Angriffen und der Ver⸗ 
theidigung , die. ſie erfahren, zu einem fundirten Urtheile zu gelangen. Scheiben 
wir vor Allen, die Zwecke; es erleichtert die Betrachtung. 

Poſen ift nicht bloß Waffenplag, denn Manövrirplag ift es leider nicht, 
ſondern auch Zitadelle, Zwing⸗Uri für das polniſche Element im Poſen. Nehmen 
wir den letzteren Zweck, als den minderen, zuerſt war. 

Macchiavell — und wenn wir je in der Lage find, zu ſchwanken zwiſchen 
Gefühl und Thatfachen, zwifchen Idealem und Realem, greifen wir ſtets zu dem 
nüchternen Denker, gewiß, in feiner unübertroffenen Klarheit irgend wie und 
wo den rechten Wegweiſer zn finden, mit defien Hilfe wir dann aus dem Laby⸗ 
rinth herauskommen, Macchiavell fagt: Zitadellen feien ein gutes Mittel gegen 
unrubige ober aufſaͤſſige Bürgerfchaften, ein beſſeres aber fei eine tüchtige und 
rechtichaffene Megierung. Dem neuen Yürften aber fchreibt er vor, daß er ſich 
ein flabiles, mit ihm (bez. feinem Haufe) eng verfnüpftes Intereffe fchaffe, und 
alle Elemente, vie ſolchem entgegenftehen, gründlich bejeitige. — Macchiavell 
lebte auf dem Boden und in ber Zeit der neuen Zürften, fein Studium aber 
war die römifche Gefchichte geweien, d. 5. die Geſchichte Desjenigen Volkes, 
welched von Allen am beften e8 verftand, feine Eroberungen fich gründlich zu 
fihern. Seine Kehren ruhen aljo auf einer reihen Erfahrung und einem 
zweckmaͤßigen Studium, 

Was wäre hiernach der Weg geweien, die Brovinz Pofen zu fihern? Ein 
fach: Befeitigung. jedwedes polnischen Nationalitätsjtrebend; der neue Bürft, 
bier der preußijche Staat, hatte entweder den vollen Anfchluß mit dem rüds 
baltlojen Aufgeben der polnijchen Nationalität zu fordern, oder ex hatte zu ver⸗ 
sichten, Poſen mußte mit einem feftgefnüpften Netze deutſcher Colonien umfaßt 


Die dentſche Oſtgronge. 267 


und überterft werben; bie beutfche Sprache, deutſche Bildung, deutſche Gultur 
mußten geflügt-und befördert, jedwede polnifche Beſtrebung aber vernichtet wer» 
den. Berbinden wir hiermit die Soliditaͤt und Tüchtigfeit der. preußijchen Res 
gierung, fo wird es nicht zu viel erwartet fein, wenn man annimmt, daß von 
1815 bis jegt der Aſſtmilirungsproceß vollendet war. So viel für die allges 
meinen politischen Maapregeln. An Vefeftigungen erforberten. fle allerdings 
einige Zitadellen, oder einfache, vertheidigungsfähige Mauerumfaffungen für die 
Bentren ber deutjchen Golonijirung, ſchon um des Schutzes willen, deffen diefe 
gegen etwaige Zudungen bed polnifchen Elementes bedürften, aber e8 war Feine 
große Feſtung erforderlich, zumal Küftrin einen trefflich gelegenen Depotplatz 
abgab. . 

Die Entftehungsgefchichte der Feſtung Pofen führt auch auf die inneren 
Zwecke der Zitadelle; indem man aber die Zitadelle ausbehnte und gewiſſer⸗ 
maßen in Poſen felbft als der Provinzialhauptftadt mit einem beutfchen Bes 
oölferungszentrum den Einfluß dieſes Elementes fichern wollte, verfannte 
man den jlavifchen, fpeciell den polnifchen Rationalcyarakter , der weder nach 
Bentralifation ſtrebt, noch durch fie zu beeinfluffen ift, der vielmehr unmi’ 
telbar in Adel und Landvolk getroffen fein will, wenn in der einen ober 
anderen Nichtung ein Erfolg erzielt werden fol. — An tie fehwächliche, 
unbeutfche, hier auch unpreußifche Politik ſchloß fich her Fehler in der Er⸗ 
fennung des Gegners und auf folcher Grundlage erwuchs die Feſtung Pofen. 

Wiffenfchaftlich genommen repräfentirt Pofen das Efement des frontalen 
MWiderflandes, es Tagert ſich quer vor auf den feindlichen Operationdlinien 
gegen Berlin und Zentraldeutfchland. Einer überlegenen feindlichen Armee 
wird es in ber That leicht werden, die auf Pofen geflügte Armee mit ihren 
Berbindungen zu ifoliren und fie in einem armen Landftrih auf fich felbft 
zu reduciren. Wo Tiegen da die Elemente eined anhaltenden Widerftandes? 

In den in Berlin erfcheinenden „Milit. Blättern” 4. Heft, iſt auf bie 
Lage und den Werth von Pofen Rückſicht genommen und dabei in einer 
Weiſe auf Die gegen Pojen gerichteten Angriffe Bezug genommen worden, 
bie wir in feiner Weiſe billigen können. Wiſſenſchaftliche Fragen erärtert 
man nicht mit Phrafen, und zur Bekämpfung wiffenfchaftlicher Säge gehört 
vor Allem, daß man fie einigermaßen verſtehe. So Tange aber die glänzend« 
ften Erfolge großer Herrführer in allen ihren Fundamenten in Uebereinſtim⸗ 
mung mit der Lehre find, die Willifen eben aus diefen Erfolgen, d. h. aus 
der Geſammtheit ter Kriegägefchichte gezogen, fo lange dürfte e8 rathſam fein, 
ben Kern dieſer Lehre zu ftudiren, wenn man auch mit einigen Sonderbars 
keiten inter Redeweiſe nicht einverflanden iſt, und es füllt Die Lächerlichkeit, die 
man ihr wegen der angenonmenen Redeweiſe zufchieben will, auf den His 
greifer zurüd, - Und dag Willifen bei feinem eigenen Auftreten es nicht ver- 
ſtand, feine Lehre anzuwenden — — findet man nidyt auch, daß bie Heften 
Profeſſoren der Mediein fehr jelten zugleich die beften praktifchen Aerzte find? 

Die Feſtung Pofen ift politiich wie militärifch ein Schler, der um fo 
ſchwerer wiegt, als der Bau ungeheure Sunmen verſchlungen hat, un \n Alle 


368 Arlegewifſeuſchaft. 
geführt worben iſt, daß ſich die Fortiſikation nicht einmal da, wo fie liegt, dem 
Beduͤrfniſſe des großen Krieges anfchließt. Außerdem Beanfprucht fle enorme 


Mittel zur Ausruüſtung wie zur Beſetzung und lokaliſirt Damit eine Sa aftiver 
„Kräfte, die beffer im Felde verwendet werden könnten. 


Leider Fommen für das faktifche Verhältnig alle Raiſonnements zu fpät, 
denn Pofen ſteht und die Millionen find weg; einer Wiederholung fo ſchwerer 
Irrthümer kann aber nur durch deren Erörterung vorgeßtugt werden, zumal 
"wenn eine vberflächliche aber anmaßende Pfeubobiltung immer wieder zu 
Dem zurüdfehren will, was fo entfthieden von ber Erfahrung aller Zeiten ver⸗ 
dammt wird. — Nirgend mehr als in Preußen wird das aus Oeſtreich ſtam⸗ 
mende Kordonſyſtem angegriffen; man hat Recht damit, aber man wolle nicht 
vergeſſen, daß die Idee des frontalen Widerftandes das Fundament iſt, auf wels 
chem ſich theoretiſch wie praktiſch das Kordonſyftem entwickelte. 


Ein Punkt von hervorragender Wichtigkeit iſt Breslau, und iſt als ſolcher 
in mehreren wiſſenſchaftlichen Erörterungen bezeichnet worden, mit dem Zus 
fage, daß dahin die Pofener Feſtung, aber in anderer, dem großen Kriege fich 
anſchließender Geftalt gehört hätte. Man hob dabei hervor, wie Breslau als 
Provinzialhauptſtadt, jo wenige Meilen von der feindlichen Grenze, und dann 
auch wegen feiner reichen Hilfsmittel des Schuged bebürfe; man vergaß aber 
auch nicht feine Lage an der Oderfrümme als wichtig für die Vertheidigung 
dieſes (hier allerdings Schwachen) Stromes zu bezeichnen und endlich wollte man 
auch nicht verfennen, wie Teicht und zwedmäßig fi von bier aus gegen die 
Verbindungslinien einer ruſſiſchen Armee operiren Tieße, die nach der Einfchlie« 
Kung Pofen&die Richtung gegen Berlin annehmen würde. 


Steht man auf dem fpecifijch preußifchen Standpunfte und denkt man ſich 
den Gropftaat Preußen Tosgejchält von allen deutſchen Verbindungen, fo hat 
man für Die Befeitigung von Breslau andere Geſichtspunkte, als wenn man für 
bie Idee ficht, Die. doch im deutſchen Volke lebt, daß es nämlid; zufammen ge= 
höre, und zwar nicht bloß ſo weit die deutſche Zunge reicht, fondern fo weit 
auch außerdem noch deutſche Megenten ihre Grenzpfähle gepflanzt haben. Für 
dieſen Ball wird Schlefien nicht durch Breslau, fondern durch 
Krakau vertbeidigt, und Bredlau tritt in Das, was wir zweite Linie 
nennen, ein Ding, das in Wirkfamkeit tritt, wenn wir moralifch ſchwach oder 
geiftig ungeſchickt find, das alfo Feinerlei Berechtigung hätte, wenn die Menjchen 
immer nur ungefähr io wären, wie fie fein ſollten; in praxi wird man ihrer 
nicht immer entrathen Eönnen. 


Krakau ift von der öſtreichiſchen Regierung mit ihrem wie gewöhnlich 
richtigen ftrategifchen Blicke zu einem Mandvrirplake erften Ranges erhoben 
worden, und ed mag und hier gleich gelten, daß die Anlagen felbft, wie auch 
gewöhnlich, dieſem großen Geflchtöpunfte nicht ganz entforechen wollen; wir 
haben aber ſchon darauf Hingewiefen, dag es fich in diefen Dingen überhaupt 
mehr um den Anſchluß an den großen Krieg ald um die fortifitatortfche oder 
fubfektive Maͤchtigkeit der Anlagen handelt. Es iſt ein großer Manöwrirplag, 


Die deutſche Ofigsenge. 269 


Daß reicht aus, und was ihm ja fehlen follte, wird die darauf baſirte Armee 
wit zwanzigtaufend Arbeitern in 4 Wochen gewiß herkellen. 0 

Die Lage Krakaus ift unendlich vortheilhaft; der taftifche Rayon if: gut, 
und die Weichiel, fo weit fie in Frage kommt, ein ausrcichendes Hinderniß; 
bie Verbindungen find gefichert und die Zufuhren aus reichen Provinzen find 
zur Hand. Breilich ift dad Offenſtofeld wenig günftig, dafür iſt es aber auch 
dem Rayon von Ivangorod entrückt, und während Breslau immer erft in Wirk 
famfeit kaͤme, wenn die Provinz Poſen fchon zumeifl verloren, würde die Kra« 
kauer Armee ſchon ein Vorrücken gegen die Pofener Grenze ablenken, denn es 
ift wohl zu bemerken, daß die ruſſiſchen weflwärtigen DOperationslinien ſich 
gegen Norden rech? leidlich decken Iaffen, oder wenn man anders jagen will, daß 
die Offenfiofelter von Thorn und auch von Pofen durch unangenehme natür« 
liche Schwierigfeiten eingeengt worden, Daß Dagegen das Dffenflufeld von Kras 
fau zwar Beichwerlichkeiten,, keineswegs aber Hinderniſſe ernfterer Art vor fich 
bat, und tag ſelbſt die Bilica erſt in Frage Fonımen dürfte, wenn die Richtung 
mehr gegen Warſchau genommen würde. 

Ein Punkt von weiterer großer Wichtigkeit iſt der Ein luß bes San 
in die Weichfel; wenn bei Radomyſl ein Mansvrirplap angelegt ift, fo iſt 
die Beherrfchung der oberen Weichjel gefichert und während die Verbindungen 
dieſes Platzes einerfeits mit Mähren wenigftens leidlich und mit Ungarn über 
Dukla vortrefflich gefichert ericheinen, veicht fein Offenſtvfeld nuf alle feindliche 
Operarionslinien gegen Mähren wie gegen Lemberg, bez. gegen lingasn. Trotz 
biefer großen Vorzüge der Lage bat Deitreich feine Aufmerkſamkeit noch nicht 
bierher gelenkt, und wenn wir auch vermuthen Dürfen, daß firrangielle Gründe 
mit im Spiele geweien fein mögen, fo können wir doch mit Beſtimmtheit nicht 
über das Warum urtheilen. Die Anlage von Przemoſl deutet auf die Abſicht 
der Etablirung einer zweiten Linie am Norbfuße der Karpatben; wir müffen 
und auch hier alles Urtheils enthalten, da weder ausreichende Specialfarten 
noch fonftige auf AUugenfchein oder mündliche Erörterungen geRügte Kenntniß 
der einſchlagenden Berhältniffe und zu Gebote fiehen, und müffen ung, begnügen, 
auszufprechen, wie ſolch' zurudgezogene Lage unferen Aufichten von Landeb« 
sertheidigung nicht entfpricht und nur durch bejondere Verbältniife gewichtig- 
ſter Art gerechtfertigt werden könnte. 

Faſt auf dem ganzen mittleren Kriegstheater findet ſich Das vor, was 
man eine zweite oder rudwärtige Bertheidigungslinie zu nennen 
pflegt, und wenn wir auch die Stimmen für wifjenjchaftlich überwunden halten 
dürfen, die da fort und fort folche rückwärtige Linien anpreiien, obwohl es Elar 
genug iſt, wo ein zwedmäßiger Widerfiand geführt werben muß, fo werden 
wir doch unterfuchen müffen, ob nicht vielleicht eigenthümliche Verhältniſſe hier 
das Beibehalten ber einmal vorhandenen zweiten Linie anempfehlen. 

Es ift denkbar, daß eine gewaltige ruſſiſche Uebermacht den Widerſtand 
der Syſteme Thorn und Pojen bräche ober, ebenfo wie von Krafau neutrali= 
firte, und daß ber noch vorhandene Ueberfchuß der Kräfte die Offenſivtendenz 
gegen Berlin beibehielte. Fuͤr folche Faͤlle wären dann die Ober mit Küftrin 


Te riegewiſſenſchaft. 


50,000 M. ſich mit Ausficht auf Erfolg behaupten und den beſten Theil ber 
oſtpreußiſchen Hilfdquellen ſich und dem Staate erhalten können. 

Wir kommen zur Weichſelgruppe. Es iſt in ber That wahr, 
man Tann ſich kaum eine fortifikatoriſch ſtaͤrkere Lage denken, als Danzig, Dir⸗ 
ſchau und Marienburg; allein wir können und nicht entſchließen, dieſer an fich 
fo ſchönen Lage den firategiichen Werth einzuräumen, der für ſie in Anſpruch 
genommen wird, und faft ſcheint ed und, ald befände ſich auch ber Gen. v. 
Milliffen bei der Anerkennung, die er diefer Lage zollt, nicht ganz innerhalb 
der Eonfequenzen der von ihm fo treffend entwidelten un iberlegbaren Prin⸗ 
zipien ber großen Defenfive. 

Laſſen wir einflweilen den Werth von. Danzig, .ald Kriegshafen, bei 
Seite. — Die Wirkfamfeit der Weichfelgruppe Fommt überhaupt nur 
in zwei Bällen in Frage, nämlich 

entweder: ift Oftpreußen mit feiner Feſtungspruppe bereits verloren, 
und Rußland entwidelt einen frontalen Angriff gegen die Weichiel, 

oder: der zuff. Angriff entwidelt fich gegen Weſwreußen und Pommern auf 
dem linken Ufer der Weichſel. 

Im erſteren Kalle, dem Verluſte von Oftpreußen, haben wir zu bemerken, 
daß wir von der Defenfive verlangen, fie folle uns dad Land fchügen, und bie 
Hilfsquellen zur Fortſezung des Kampfed erhalten, alfo niemals vordere Pofi⸗ 
tionen aufgeben, fo lange noch Kraft zum Kriegführen vorhanden if. Wenn 
die Defenfive ihre Schuldigfeit gethan hat, Fann fie nad) dem Verluſte der vor⸗ 
deren Pofltionen Feine Kraft mehr haben, rüchwärtige zu benugen. Segen wir 
fogleich Hinzu , wie e8 eben Sache ber Bortififation fei, Die Defenſive jo zu flärs 
Im, daß es mur der etwa dreifachen Uebermacht und auch Diefer erſt nach längerer 
Zeit gelingen darf, den Widerfland zu brecden. Was wir aber mittlerweile an 
Streitfräften und fonftigem Rüftzeuge auftreiben können, das follen wir zur 
Stärkung deöjenigen Widerftandes anwenden, ber allein den Forderungen der 
Defenfive entipricht, alfo vorwärts damit. Wollte man bie vorderen Pofitionen 
aufgeben, jo wären damit Verlufte von Provinzen, von Kriegsmaterial, von 
Zuverſicht und Selbflvertrauen verbunden, die bei dem ferneren, rüdhwärtigen 
Widerftande und zu Schaden, dem Feinde zu Gute kaͤmen. Warum ſich frei= 
willig in ein um fo viel fchlechteres Verhältnis fegen? Auch auf diefem Ge⸗ 
biete der Defenfive wirkt eine alte Tradition, vielleicht zu ihrer Zeit und an 
manchen Orten wohlbegründet,, jegt aber jedenfalls ohne reelle wie ohne 
wiffenfchaftliche Grundlage, bie Tradition nämlich, daß mit der Annäherung 
an die eigenen Hilfäquellen die Widerſtandskraft wachfe, die Dffenfivfraft aber 
mit der Entfernung von ihrer Baſis fih ſchwaͤche. Wo bie Kommunifationen 
dad rechtzeitige Vorſenden der rücdwärtigen Streitmittel und Ergänzungen ge⸗ 
Ratten, wie jetzt 3.8. die Dampfſchifffahrt und bie Eifenbahnen, füllt der er⸗ 
wähnte Vortheil der Annäherungen weg und es bleiben nur bie gefteigerten 
Verlufte an Land und Leuten beftchen, d. 5. der Nachtheil. Die Schwaͤchung 
ber Offenflofraft fann nur eintreten, wenn eine Armee, ohne die neueren Kom⸗ 
munifationdmittel benugen zu fönnen, unter gleichzeitiger übermäßiger Entfer⸗ 


Die dentſche Oftgrenze. 261 
nung von ihrer Baſis, weit in ein feindliches Land Binein vorftößt. Hier aber 
ift e8 umgekehrt; je mehr ſich der Kampf der Weichſel nähert, oder an ihr ſich 
feftfegt, defto näher liegen die ruff. Armeen ihrer polnifchen Bafis, defto Teichter 
benugen fie die polniſche Eifenbahn und ihre Dampfichifffahrt auf der mittleren 
Weichſel. Sie operiren in der That bequemer, als in Oftpreußen. — 

Die frontale Bertbeidigungdlinte der Weichfel ift bis jet fchlecht ein⸗ 
gerichtet und wird in dent Grabe fchlechter, als die Vertheidigung ſich mehr 
an das Delta anflammert. Es mag fein, daß die Wirkfamfeit der Weichſel⸗ 
gruppe fich vortheilhaft benutzen laſſe gegen einen frontal fich entwidelnden 
Angriff; das it aber der Ball, den wir ablehnen, denn haben wir noch bie 
Kräfte, die Weichfel zu vertheidigen, fo jollen wir dies in Königsberg thim, 
und fönnen wir dort nicht mehr widerftehen, fo werden wir's überhaupt nicht 
mehr Fonnen, alfo brauchen wir Feine rücwärtige Linie. 


Der zweite Fall, wenn Rußland fich gegen Weftpreußen und Pommern 
wendet, jein Operationgfeld auf die Linfe Weichfelfeite Tegend, kann ſich mit 
dem erfteren combiniren und eine bedeutende Kraftentwielung barftellen. Wo 
fiegt aber die Widerſtandslinie gegen diefen Angriff? Im Weichfelvelta, b. h. 
an ter letzten Außerften Spite des zu vertheidigenden Landes doch nicht? 
Wenn Alles verloren, was eine Provinz an Hilfsquellen bietet, was nußt 
es da, an deren äußerfiem Ente noch eine Feſtung zu halten, und wäre es 
ſelbſt Danzig? Sind wir feemächtig, jo ift es allerdings günftiger, denn wir 
können dann die zu einer Offenfive nöthigen Kräfte herbeiführen und auf einer 
oder der der andern Seite plöglich mit Macht auftreten. Sind wir es aber 
nicht, wie es termalen der Fall und bei dem üblen Gange der deutſchen Anger 
Iegenheiten auch noch weit hinaus fein wird, jo gleicht die Einfchränfung auf 
das Weichfeltelta ber hergeſtellten völligen Abtrennung eines anfehnlichen Theis 
les vom Ganzen und hierin liegt eine unwiderftehliche niederwerfende Kraft, 
denn — nur im Ganzen da liegt die Macht! — Je mehr Alles darauf hin⸗ 
weift, daß Rußland eine etwaige größere Offenflve gegen BZentraldeutichland 
daturch in der rechten Flanke zu fchügen fuchen wird, daß e8 Oſt⸗ und Weſt⸗ 
preußen, fo wie einige Theile von Pommern ijolirt und ſowohl an fich dadurch 
machtlo8 macht, al8 auch dem Ganzen bie dortigen Hilfsquellen enziceht, um fo 
mehr wird das diesſeitige Intereſſe erfordern, diefen Beitrebungen entgegen zu 
treten und den Widerftand da zur leiſten, wo er in Verbindung mit bem Ganzen, 
alfo mit voller Macht, geleiftet werden fan. Dag Alles darauf hinweiſt, den 
MWiderfland an der außeriten Grenze zu leiften, jpricht in enticheidender Weile 
für tie Richtigfeit Der Sache. 

Wenn wir fomit in einer allerdingd etwas weiteren Erörterung zu dem 
NRefultate gelangten, tag die große, vorgefchlagene, an die Oftfee gelehnte 
Feltungsgruppen » Vereinigung 

einmal nur in Wirkung kommen könne, wenn die genannte Anlehnung 


eine Stüge anftatt eine Gefahr fein wird, d. h. wenn die Oſtſee ein 
von deutſchen Schiffen beherrichtes Binnenwafler fein wird, 


262 Kriegbwifſſenſchaft. 


dann die etwa zu aͤußernde Geſammtwirkung anzweifeln mußten, weil die 
Dazu nothwendigen geficherten Verbindungen von der Seeherifchaft 
abhängen ; 

ferner, angenommen aber weitaus nicht zugegeben, die Gruppen befäßen 

bie ihnen zugejprochene Stärke, fo treten fie doch felbft dann aus 

den Grundbedingungen ber Defenſtve heraus, die ba verlangt, daß 

das Land gejchügt werde und nicht Dem Beinde preisgegeben — 
dag fle alſo weder wiſſenſchaftlich fundirt erfcheinen noch den vorliegenden und 
und bdemnächft zu erwartenden Verhältniffen entiprechen, — jo bleibt und nur 
noch die Bemerkung übrig, daß all’ die gerühmte Stärke und all’ die voraus- 
gejegten Vertheibigungsmöglichfeiten nur Geltung für den Sommer haben, weil 
Alles Hier auf den Wafferzügen ruft und dieſe Hinderniffe im Winter werth« 
108 find. 

Die Befeftigung darf nicht für Eine Jahreshälfte arbeiten; fie muß das 
Ganze in's Auge faffen. 

Fragen wir aber, wohin das firategifche Grundprinzip 
der Eonzentrirten erzentrifchen Vertheidigung unfere Kortififationen 
verweiſt, fo befommen wir einfache und klare Antworten: 

"&ür’ Oftpreugen an’ die (modificirte) ſamlandiſche Gruppe, und für 
das Weichfelland an deffen vorgefchobenflen Punkt, Thorn — beite Punfte von 
der Natur zwar begünſtigt, namentlich erjterer durch günftig gelegene große 
Sunipfivaldungen, aber keineswegs In der Welfe, wie e8 unter günftigeren kli⸗ 
matiſchen Verhaͤltniſſen fein könnte. Es bleibt und zu erörtern, welchen Werth 
Thorn für die Defenſive erhalten kann. 

Thorn ſchützt vor Allem das rückliegende Land, erhält alſo deſſen Hilfs— 
quellen; es liegt an der radialen Linie der Weichſel, kann alſo der Armee 
geſtaͤtten, ſich einem feindlichen Angriffe zu entziehen, ohne das Land aufze⸗ 
geben; e8 Tiegt an dem kultivirteren Landflriche, der fich weichfelauf- und abwärts 
hinzieht, Alfo auf dem vorzugsweiſe für den großen Krieg geeigneten Rant« 
ftriche, begünftigt alfo Flankenangriffe auf alle rufflfche nördlich gerichtete 
Unternehmungen. Seine vorgefhobene Lage aber baſirt ganz entfchieden eine 
Offenſive gegen die Bzura und fegt fle In den Stand, rufflche Unternehmungen 
gegen die niedere Oder zu gefährlichen Wagniffen felbft Dann zu machen, wenn 
das Kräfteverhältniß ein für und nicht günftiges iſt. Es ift endlich zu beach— 
ten, daß Die Lage von Thorn felbft im vollen Winter eine werthvolle bleibt, 
weit nicht blos Die Weichſel als Hinderniflinie auftritt, fontern auch ſich oft« 
waͤrts Die Sumpfirälder gegen Ofterode hin und weftwärtd Die an ter Nee 
befindlichen Tem unmittelbaren Rayon der Feſtung anfchließen. 

Diefe, ſchon vielfach erörterten und niemals noch angezweifelten großen 
natürlichen Vorzüge mußten dazu auffordern, aus Thorn einen Manövrir- 
platz erften Ranges zu ſchaffen. Bisher ift leider noch nicht? gejchehen, als ein 
Kern geichaffen worden, Der weder Den großen Kriege entipricht, noch auch, bei 
der Abweſenheit eines entiprechenden Brückenkopfes, die unmittelbare Beherre 
fhung der Stromlinie herſtellt. Wie die Feſtung Thorn jegt it, bildet jte ein 


Die dentſche Dflgrenze. 263 


mangelbaftes Debrouchee gegen Oſſpreußen und einen wenig werthoollen Stuͤg⸗ 
punft zur frontalen Vertheidigung der Weichfel, während fie doch ein durch 
und durch zuverläffiger Stügpunft für die Vertheidigung von Weftpreußen und 
Poſen, eine Offenſivbaſis fein follte. Der einzige Vortheil it, daß fie bis jetzt 
wenig gefoftet, daß alfo noch nicht viel Geld unnuͤtz ausgegeben worden iſt. Sie 
verlangt dringend narh einem weiten Rreife ſtarker detaſchirter Forts auf beiden 
Ufern der Weichfel und bei der Schwierigkeit der Verproviantirung Fonzen- 
trirter Armeen nach ausgedehnten Voranſtalten für Magazinirungen aller Art. 

Wir treffen an ber Feſtung Graudenz noch einen Weichfelbrücdentopf von 
bemerkenswerther lokaler Stärke zwar; aber von eben fo hervortretender befen- 
fiver Abgeſchloſſenheit. Brückenköpfe dienen, der Natur der Sache nach, nicht 
bloß zu Mürzugöficherungen, fondern auch zu offenfivem Hervorbrechen. 
Graudenz ift aber ringsum von Wafferzügen :eingefchloffen, die ihrerſeits wies 
ber, 1 bis 2 Stunden von Gentrum, durch Höhen eingefaßt- ‚werben, unter 
deren wirkffamften Feuer die Offenſtve ſich entwickeln müßte. Graudenz iſt faſt 
ohne Feind ſchon eingeſchloſſen — der wahre Typus der alten ſubjektiven An« 
ſchauungen in der Kortififation. — Da die Beftung einmal befteht und mit 
einem Minimum bon Beſatzung gehalten werden. kann, ſo wuͤrden wir vor⸗ 
ſchlagen, ſte mit möglichſt geringen Unterhaltungskoſten in statu quo zu laſſen. 


Die Verbindungen. 


Die Haupteerbindung des überweichfelifehen Kriegstheaters mit: dem In⸗ 
neren Deutichlands ruht auf der Eifenbahn, die von Kreuz her (Stettin oder 
Küftrin) über Schneidemühl gegen Bromberg geht, dort mit einem Aſte nach 
Thron greift (Bau befchloffen inr Anfang 1860) mit dem Hauptftrange aber 
tie Weichfel Totoyirt 613 Dirſchau, dafelbft den Danziger Flügel entfendet;'wäf 
den berühmten Brüden die Weichfel und Rogat Üiberfchreitet und über Elbing, 
inter Naͤhe der Küfte nach Königsberg gcht. Die weitere Fortſetzung von da nach 
ber ruſſiſchen Bahn (Peteröburg-Warfchau) iſt im Bau, fie geht auf der Tinfen 
Seite des Pregel aufwärts und überjchreitet öftlih Oumbinnen die Grenze. 

Man kann dem Ganzen diefer Bahn die Zuftimmung nicht verfagen,, nr 
muß man dabei auf die Ungoflftändigfeit hinmweifen und auf die Gefahren ,-fo 
Vieles und fo Wichtiges an Eine Verbindung zu Enüpfen, die wenige Mellen 
con ter feindlichen Grenze ſich Hinzicht, wie e8 bei Bromberg der Ball. Es ift 
deshalb Lie neuerlicht zum Schuße. der’ Oftfeefüfte vorgefchlagene Verlängerung 
der Bahn von Stettin nach Kolberg und Köslin bis Danzig nur eine eben ſo 
richtige als nothwendige Maaßregel, wenn ſie auch mehr im Intereſſe Oſt⸗ 
preußens henutzt werten wird, als zu dem Zwecke, um deſſen willen ſie der⸗ 
malen vorgeſchlagen iſt. Haben wir anderwaͤrts ſchon auf die Nothwendigkeit 
hingewieſen, auf den unmittelbaren Schutz der Bahnen Bedacht zu nehmen, 
wenn ſie die Kriegstheater betreten, ſo liegt dieſe Frage uns hier doppelt nahe, 
weil alle die Deckungen, die man den Bahnen durch ihre räumliche Disponirung 
im Xerrain zu verjchaffen gefucht Hat, zeitlich allzu Hejchränkt find. Mit dem 
Augenblide, wo tie Eisdecke ter Waſſerzüge paffirbar wird, helfen Nege, 


364 Melegowiſſenſchuft. 

Weichſel und Alle nichts mehr; die Bahnen liegen ben ‚Etreifpatteien offen 
und bieten Ihrer Thaͤtigkelt ein überall greiſbares Objeki. Ihr Schutz muß dann 
ein unmittelbarer fein and Alles, was wir im: erften Artikel erwähnt, wird in 
vielleicht noch umfaſſenderer Weiſe zur Anwendung kommen müſſen. 


NRekapituliren wir die Erforderniffe dieſes atietetzeatert. 
Erf Linie. Feſtungsbauten. 


Vollendung von Königsberg, aber nach einem einfacheren und dem 
großen Kriege angemeſſeneren Syſteme. Herftellung eines großen, abes ganz 
einfachen Brüdenfopfes bei Thorn. Beide Arbeiten erfcheinen uns eben fo 
wine, als die Herftellung einer feetüchtigen deutſchen Flotte. 


Gifenbahnbauten. 


Die Herftellung der militairifchen Schutzmittel für die beſtehenden Bahnen. 
Die Herflellung der Strede Danzig Köslin. 
Es bedarf Feiner ſpeciellen Wiederholung Teffen, was wir al8 zur mil» 
tairiſchen Brauchbarfeit der Bahnen nothwendig, bezeichneten; wir verweifen 
darauf und erwähnen nun die Unerläßfichkeit der erwähnten Vorfehrungen. 


Zweite Linie. Feſtungsbauten. 

Mir fegen die zweite Linie auf einen Termin nach Herftellung des haupt⸗ 
ſaͤchlichen Xheiles der deutichen Flotte. 

Erbauung von Wehlau. Erbauung der detafchirten Bortd um Thorn. 

Bum Abſchluß von Königsberg dürften höchſtens 2 Millionen erforderlich 
fein; zum Bau des Thorner Brüdenkopfes etwa 1, macht 3 Millionen. Die 
Gifenbahn hat eine Länge von p. p. 25 Meilen, und die Meile in den dortigen 
ebenen und billigen Terrains mit 200,000 Thlr. angejegt, würten dafür 
5 Millionen entfallen. Der Schug der Bahnen Fönnte leicht 1 Mill. in Anſpruch 
nehmen, fo daß ein Total von 9 Millionen erfcheint. 

Es wird von der Lage Deutfchlands nach erfolgter Herftellung feiner 
Unabhängigkeit abhängen, in welcher Weife die in zweiter Linie vorgejchlagenen 
Arbeiten dann nody zweckmäßig rrfcheinen; wir meinen, e8 müßten dann anbexe 
Faktoren auftreten und Befeſtigungen verlangt werden, an bie jegt allerdings 
nicht zu denken ift. 

Die Mitte, 


Die Mitte des öftlichen Orenzftriches wird von einem Bogen gebildet, der 
mit p. p. SO Meilen Länge über einer Schne, der mittleren Weichfel von 
p. p. 50 M. Länge liegt; etwa 30 M. fpringt Rußland in das dieffeitd ter 
Weichſel gelegene Land herein. 

Der ganze Kandftrich, dies⸗ und jenjeitd der Grenze, erweift fich ald Lem 
großen Kriege wenig günftig. Von einzelnen Lanbrüden durchzogen , im Allge⸗ 
meinen aber eben, vielfach Durchichnitten von Wafferzügen übelfler Art, naͤm⸗ 
lich Slüffen und Baͤchen in breiten Weichlandftreifen, welche Icgtere häufig 
meilenbreit und, außer im vollen Winter, vollfommen unpafftrbar find, vielfach 


Die bentſche Dftgrenze . 265 


und auf große:Streden. bedeckt mit kulturloſen Wäldern, oft im Sumpfterrain; 
ünerall ‘die Bevölkerungsziffer zwifchen mäßig und dünn, einige Strecken frucht⸗ 
baren-Landes, getrennt durch weite Sandſchollen; ohne Intuftrie mit Ausnahme 
det oberfchleftfchen Bergwerksdiſtrikte; mit zwar allenthalben guten Haupiſtraßen, 
aber ſelbſt dieſe in befchränktefter Zahl und mit einem: -Zuflande der Neben⸗ 
ſtraßen, der Durch das Wort ,,polnifch-“ ſattſam bezeichnet wird, — fo zeigt 
fi Dad Land im Norden und Weften. Gegen Süben einige Veränderung: die 
Ausläufer ter Karpathen reichen mit Hügelfetten bis an die Weichfel und die 
Berfumpfungen der Flußthaͤler mindern ſich oder verſchwinden; auch in dem 
Striche nörtlich der. oberen Weichfel, Gouv. Radom tft weitgedehntes Hügel- 
land; Dagegen geirinnen die Wälder noch mehr an Auskehnung, was natürlich 
die Ernährungsfähigkeit wie die Schlagbarfeit nicht mehrt. 

Die Magerkeit des Landſtrichs erſtreckt fich auch weiter weftlich, und zwar 
beſonders nördlich der Nee, dann in dem Striche zwifchen Wartha unb Oder 
bis in die Gegend von Frankfurt und Küftrin, jenfeits welcher in der Neder⸗ 
laufig x. chen auch „Sand und Kiefern‘ herrſchen, während Schleflen und 
Mähren als reiche und ernährungsfähige Striche wenigftend ein guͤnſtigeres 
Hinterland abgeben. 

Thorn auf der Nordſeite, mit feiner Baſirung auf m Weichfelland und 
die fruchtbaren Striche von Preußen und Pommern, Krakau auf der Süpdfelte 
mit dem SHinterlande Mähren und der Teidlich geficherten Verbindung mit 
Schleſien — find Das nicht Die deutlichen Fingerzeige,, in welchen Strichen der 
große Krieg vorbereitet werten foll? Ia, geben wir einen Schritt welter, bis 
zum Scheldepunfte der Mitte von dem rechten Flügel, bis zum Einfluffe des 
San und nennen wir den dortigen Stützpunkt Radomnsl, fo finden wir da⸗ 
ſelbſt theils die Verbindung mit Mähren, theild aber auch die mit den frucht« 
bareren: Balizlichen Gegenden. Auf’ beiden Fluͤgeln Tofale Eriftengmirtel, in der 
Mitte der übelfte, Iediglich auf Zufuhren zu brgründende Zuflant. | 

Die größeren Wafferzüge find die Ober und die Wartha, mit bern 
Rebenfluß der Rebe. Die Oder iſt nicht fehr mächtig und 618 in die Gegend 
von Breslau bei 400°’ Breite, in: trockenen Sommern auch tiefer hinab, vielfach zu 
durchfuhrten; erft nach der Wartha Zuftrömen geminnt fie größere militairiſche 
Wichtigkeit bei 600’ Breite. Dielifer find im Ganzen zugänglich und den Ueber 
gängen günſtig. Die Wartha iſt ein Eumpffluß, Der an ſich ſchon ziemlich ebenfo 
bedeutend wie die Ober, durch die völlig unpaffirbare Ihaljohle in den Charakter 
ter Hindernißlinie erfter Klaſſe treten würde, wie ziemlich eben ſo die tt, 
wenn nicht das 

Klima bier eben auch fo burchgreifende Veränderungen berworbrächte, wie 
auf dem linken Blügel der Orenzfronte. Man kann annehmen, daß das nor 
diſche Continentalflima fich in dem ganzen überoderifchen Rande geltend macht; 
langer, harter aber gleihmäßiger Winter und offene Communifation mit allei 
niger Ausnahme der pfadloſen Sumpfwälter. 

Die große Vertheidigung wird swar auch hier die großen von der Natur 
vorgezeichneten Hindernißlinien in ihren Bercich nehmen, fle Hat indeß und 


266 Kriegbmiſſenſchaft. 


zwar wegen ber vorerwaͤhnten Landes⸗ und Klima⸗Eigenſchaften auch auf dieſe 
Faktoren Rückſicht zu nehmen. Daraus wird folgen, daß ber Schu ber er⸗ 
nährungsfähigen Landftriche, die Sperrung der Zugänge zu ſolchen, faft höher 
zu achten find, als die Feſtſezung an Waflerlinien, deren Werth im Winter 
verſchwindet und deren weitere Umgebung dem großen Kriege nicht foͤrderlich 
iſt. Immer wird aber im Auge zu behalten fein, daß die Vertheidigungsanlagen 
eine Flankenwirkung auf die feindlichen zweckmäßigſten Operationslinien er- 
leichtern, indem der reine frontale Widerftand, einem überlegen Feinde gegen- 
über, hier wie allerwärts zu einer Theilung, alfo Schwächung, oder zum Um⸗ 
faßtwerden, alfo wiederum zu Schwächung, führen muß. 

Der Lage von Thorn haben wir fchon erwähnt. Es verbintet mit 
der vorgefchobenften Lage die befte Baflrung gegen die weitwärtigen ruſſiſchen 
Operationdlinien, fhügt den Ernährungäftrich des dortigen Landes und würde 
auch den allerenticheidendften Operationen die ftrategiiche Sicherheit verleihen, 
wenn — jegen wir jchon jet hinzu: anftatt Poſen — an der Netze ein kleiner 
doppelter Brückenkopf einen geficherten Uebergang vermittelte. Auch zum Schuge 
der Eifenbahn möchte e8 erforderlich fein, den dazu ganz nothwendiger Weiſe 
zu disponirenden Truppen einen Haltepunkt zu geben. 

. Die Fefung Pofen, einer der Eolojfalften Neubauten Deutfchlands, 
bedarf der eingehenderen Betrachtung, um zwiſchen den Angriffen und ber Ver⸗ 
theidigung, die. fie erfahren, zu einem fundirten Urtheile zu gelangen. Scheiden 
wir vor Alleın. die Zwede; es erleichtert die Betrachtung. 

Poſen ift nicht bloß Waffenplag, denn Manöprirplag ift es leider nicht, 
fondern auch Zitadelle, Zwingsliri für das polnifche Element im Poſen. Nehmen 
wir den letzteren Zweck, als den minderen, zuerft war. 

Macchiavell — und wenn wir je in der Lage find, zu ſchwanken zwifchen 
Gefühl und Thatfachen, zwifchen Idealem und Realem, greifen wir fletd zu Dem 
nüchternen Denker, gewiß, in jeiner unübertroffenen Klarheit irgend wie und 
wo den rechten Wegweijer zn finden, mit deſſen Hilfe wir dann aus dem Laby⸗ 
rinth herauskommen, Macchiavell fagt: Bitadellen feien ein gutes Mittel gegen 
unrubige oder aufſaͤſſtge Bürgerfchaften, ein beſſeres aber fei eine tüchtige und 
rechtichaffene Megierung. Dem neuen Bürften aber fchreibt er vor, daß er ſich 
ein ftabiles, mit ihm (bez. feinem Haufe) eng serfnüpftes Intereffe fchaffe, und 
alle Elemente, die ſolchem entgegenitehen, gründlich befeitige. — Mackhiavell 
lebte auf dem Boden und in der Zeit der neuen Fürften, fein Studiun aber 
war die römijche Gefchichte geweien, d. 5. die Gefchichte deöjenigen Volkes, 
welches von Allen am beften es verftand, feine Eroberungen fich gründlich zu 
fihern. Seine Lehren ruhen aljo auf einer reichen Erfahrung und einem 
zweckmaͤßigen Studium, 

Was wäre hiernach der Weg geweien, die Provinz Pofen zu ſichern? Ein⸗ 
fach: Befeitigung jedwedes polnifchen Nationalitätöftxebens; der neue Zürft, 
bier der preußifche Staat, hatte entweder den vollen Anfchluß mit dem rüd- 
Baltlofen Aufgeben der polnifchen Rationalität zu fordern, oder ex hatte zu ver⸗ 
nichten. Pofen mußte mit einem feftgefnüpften Netze deutjcher Colonien umfapt 


Die dentſche Oftgronze. 267 


und überdeckt werben; bie deutſche Sprache, deutſche Bildung, deutfche. Gultur 
mußten geftügt und befördert, jedwede polnifche Beſtrebung aber vernichtet wer⸗ 
den, Berbinden wir hiermit die Solidität und Tüchtigkeit ber preußiichen Re⸗ 
gierung, fo wird ed nicht zu viel erwartet fein, wenn man annimmt, dag von 
1815 bis jegt der Aſſtmilirungsproceß vollendet war. So viel für die allges 
meinen politiichen Maapregeln. An Befeſtigungen erforberten. fie allerdings 
einige Zitadellen, oder einfache, vertheidigungsfähige Mauerumfaffungen. für die 
Zentren ber deutjchen Coloniſirung, ſchon um des Schußes willen, deſſen dieſe 
gegen etwaige Zudungen des polnifchen Elementes bedürften, aber e8 war Feine 
große Feſtung erforberlih, zumal Küftrin einen trefflich gelegenen Depotplatz 
abgab. . 
Die Entftcehungsgefchichte der Feſtung Pofen führt auch auf die inneren 
Zwecke der Zitadelle; indem man aber die Zitadelle ausdehnte und gewiſſer⸗ 
magen in Pofen jelbft ald der Provinzialhauptftadt mit einem deutfchen Be⸗ 
völferungdzentrun den Einfluß dieſes Elementes fichern wollte, verfannte 
man ben flavifchen, fpeciell den polnifchen Rationalcharakter, der weder nach 
Zentralifation ftrebt, noch durch fie zu beeinfluſſen ift, der vielmehr unmi:⸗ 
telbar in Adel und Landvolk getroffen fein will, wenn in der einen oder 
anderen Richtung ein Erfolg erzielt werden fol. — An tie fehmächliche, 
unbeutfche, hier auch unpreußifche Politik ſchloß fich der Fehler in der Er 
fennung des Gegnerd und auf ſolcher Grundlage erwuchs die Feſtung Pofen. 
Wiffenfchaftlic; genommen repräfentirt Poſen das Element des frontalen 
Widerſtandes, es lagert ſich quer vor auf den feindlichen Operationglinien 
gegen Berlin und Zentralbeutjchland. Einer überlegenen feindlichen Armee 
wird es in der That Teicht werden, die auf Pofen geftügte Armee mit ihren 
Verbindungen zu ifoliren und le in einem armen Landftrich auf fich ſelbſt 
zu rebuciren. Wo liegen da die Elemente eines anhaltenden Widerftandes? 
An ten in Berlin erfiheinenden „Milit. Blättern‘ A. Heft, ift auf Die 
Lage und ten Werth von Pofen Rückſicht genommen und dabei in einer 
Weiſe auf Die gegen Poſen gerichteten Angriffe Bezug genommen worden, 
bie wir in feiner Weife billigen können. Wiſſenſchaftliche Fragen erörtert 
man nicht niit Phrafen, und zur Bekämpfung wiffenfchaftlicher Säge gehört 
vor Allem‘, dag man fle einigermaßen verftche. So Tange aber die glänzende 
ſten Erfolge großer Heerführer in allen ihren Fundamenten in Webereinftlin 
mung mit ber Lehre find, die Willifen eben aus dieſen Erfolgen, d. 5. aus 
der Geſammtheit ter Kriegögefchichte gezogen, fo Tange dürfte es rathfam fein, 
den Kern Diefer Lehre zu fludiren, wenn man auch mit einigen Sonderbar⸗ 
feiten inter Redeweiſe nicht einverftanden ift, und es füllt die Lücherlichkeit, die 
man ihr wegen der angenommenen Redeweiſe zufchteben will, auf den A. 
greifer zurüd, Und dag Willifen bei feinem eigenen Auftreten es nicht vers 
fand, feine Lehre anzuwenden — — findet man nicht auch, daß die beften 
Profejjoren der Mediein fehr jelten zugleich die beften praktiſchen Aerzte find? 
Tie Feſtung Pofen ijt politiſch wie militärifch ein Fehler, der um fo 
fehwerer wiegt, ald der Bau ungeheure Summen verfchlungen bat, und fo aus⸗ 


268 Keiegbwiffenfgaft.: 

‚geführt worden ift, daß fich die Kortiffation nicht einmal da, wo fle liegt, dem 
Bedürfniſſe des großen Krieges anfchliegt. Außerdem beanfprucht fie enorme 
Mittel zur Ausrüſtung wie zur Belegung und Tokalifirt damit eine Zahl aktiver 
Kräfte, Die befler im Felde verwentet werden könnten. 

Leiter fommen für das faktiſche Verhältniß alle Raiſonnements zu fpät, 
denn Bofen jleht und die Millionen find meg; einer Wieterholung fo ſchwerer 
Irrthümer fann aber nur durch teren Erörterung vorgeßtugt werten, zumal 
wenn eine oberflächliche aber anmafente Pfeutobiltung immer wieter zu 
Dem zurüdfehren will, was jo entichicten von der Erfahrung aller Zeiten ver⸗ 
dammt wird. — Nirgend mehr als in Preußen wird das ans Oeſtreich ſtam⸗ 
mende Kordonſyſtem angegriffen; man kat Recht Tamit, aber man wolle nicht 
vergeffen, daß die Idce des frontalen Widerſtandes das Fundament ifl, auf wel⸗ 
chem fich theoretifch wie praftifch Das Kortonfoften entwidelte. 

Ein Punkt von hervorragender Wichtigfeit ift Breslau, und ift als jolcher 
in mehreren wiffenfchaftlichen Erörterungen bezeichnet worden, mit dem Zus 
Sage, daß dahin die Pofener Feſtung, aber in anderer, dem großen Kriege ſich 
"anfchlichender Geftalt gehört hätte. Man hob dabei hervor, wie Breslau als 
Provinzialhauptſtadt, fo wenige Meilen von der feindlichen Grenze, und dann 
auch wegen feiner reichen Hilfsmittel des Echuged bedürfe; man vergaß aber 
auch nicht feine Lage an der Oderfrümme ald wichtig für die Vertheidigung 
dieſes (hier allerdings fchwachen) Stromes zu bezeichnen und endlich wollte man 
auch nicht verfennen, wie leicht und zweckmaͤßig ſich von Hier aus gegen bie 
Verbindungslinien einer ruffiichen Armee operiren ließe, die nach der Einjchlie- 
ßung Poſens. die Richtung gegen Berlin annehmen würde. 


Steht man auf dem jpecififch preußischen Standpunkte und denkt man ſich 
den Großſtaat Preupen Tosgejchält von allen Teutichen Verbindungen, fo bat 
man für die Befeftigung von Breslau andere Geſichtspunkte, ald wenn man für 
die Idee ficht, die Doc) im deutſchen Volke lebt, daß es nämlich zuſammen ges 
höre, und zwar nicht bloß ſo weit Die deutiche Zunge reicht, jondern fo weit 
auch außerdem noch deutſche Megenten ihre Grenzpfähle gepflanzt haben. Kür 
dieſen Fall wird Schleſien nicht durch Breslau, jondern durch 
Krakau vertheidigt, und Breslau tritt in Das, was wir zweite Linie 
nennen, ein Ding, das in Wirkſamkeit tritt, wenn wir moraliſch ſchwach oder 
geiſtig ungeſchickt ſind, das alſo keinerlei Berechtigung haͤtte, wenn die Menſchen 
immer nur ungefaͤhr ſo waͤren, wie fie ſein ſollten; in praxi wird man ihrer 
nicht immer entrathen können. 


Krakau iſt von der öſtreichiſchen Regierung mit ihrem wie gewöhnlich 
richtigen ſtrategiſchen Blicke zu einem Manövrirplatze erſten Ranges erhoben 
worden, und es mag uns hier gleich gelten, daß die Anlagen ſelbſt, wie auch 
gewöhnlich, dieſem großen Gefichtöpunfte nicht ganz entſprechen wollen; wir 
baben aber ſchon tarauf Hingewiefen, daß es ſich in diefen Dingen überhaupt 
mehr um den Anſchluß an den großen Krieg ald um die fortifikatoriſche oder 
ſubjektive Mächtigkeit der Anlagen Handelt. Es iſt ein großer Mansvrirplatz, 


Die dentſche Oßgrenze. 269 


Das reicht aus, und was ihm ja fehlen: ſollte, wird die darauf baſirte Armee 
wit zwanzigtaufend Urbeitern in 4 Wochen gewiß herkellen. J 

Die-Lage Krakaus iſt unendlich vortheilhaft; ber taktiſche Rayon if aut, 
und die Weichſel, jo weit fie in Frage kommt, ein ausreichendes Hinderniß; 
die Verbindungen find geſichert und die Zufuhren aus reichen Provinzen find 
zur Hand. Freilich ift das Offenflofeld wenig günftig, dafür iſt ed aber auch 
dem Rayon von Ivangorod entrüdt, und während Breslau immer erft in Wirk 
famfeit kaͤme, wenn die Provinz Pofen ſchon zumeiſt verloren, würde die Kra⸗ 
kauer Armee jchon ein Borrürfen gegen die Poſener Grenze ablenken, denn e8 
ift wohl zu bemerken, daß bie ruſſiſchen weitwärtigen Operationslinien ſich 
gegen Rorden rechk leidlich decken Iaffen, oder wenn man anders jagen will, daß 
die Dffenfivfelter von Thorn und auch von Pofen durch unangenehme natür« 
liche Schwierigfeiten eingeengt worden:, Daß Dagegen das Offenſtivfeld von Kra⸗ 
kau zwar Beſchwerlichkeiten, keineswegs aber Hinderniſſe ernfterer Art vor fich 
bat, und daß ſelbſt die Bilica erft in Frage kommen dürfte, wenn bie Richtung 
mehr gegen Warfchau genommen würde, 

Gin Punkt von weiterer großer Wichtigkeit iſt der Einf luß des San 
in die Weichſel; wenn bei Radomyſl ein Manövrirplatz angelegt iſt, fo iſt 
die Beherrfchung ter oberen Weichjel gefichert und während die Verbindungen 
diefed Platzes einerfeits mit Mähren wenigftens leidlich und mit Ungarn über 
Dukla vortrefflich gefichert ericheinen, reicht fein Offenſtofeld auf alle feinnliche 
Dperarionslinien gegen Mähren wie gegen Lemberg, bez. gegen lingarn. Trog 
diefer großen Vorzlige der Lage hat Deitreich feine Aufmerkſamkeit noch nicht 
hierher gelenkt, und wenn wir auch vermuthen dürfen, daß finanzielle Grunde 
mit im Spiele geweien fein mögen, jo können wir doch mit Beſtimmtheit nicht 
über das Warum urtheilen. Die Anlage von Przemoſl deutet auf die Abſicht 
der Etablirung einer zweiten Linie am Rordfuße der Karpathen; wir müſſen 
uns auch hier alles Urtheils enthalten, da weder ausreichende Specialfarten 
noch fonflige auf Augenfchein oder mündliche Erörterungen geflügte Kenntniß 
der einfchlagenden Berhältniffe und zu Gebote fliehen, und müſſen ung, begnügen, 
audzujprechen, wie ſolch' zurüdgezogene Lage unferen Aufichten von Landed« 
vertheidigung nicht entjpricht und nur durch beſondere Verhaͤltniſſe gewichtig⸗ 
ſter Art gerechtfertigt werden könnte. 

Faſt auf dem ganzen mittleren Kriegstheater findet ſich Das vor, was 
man eine zweite oder rückwärtige Vertheidigungslinie zu nennen 
pflegt, und wenn wir auch die Stimmen für wiffenjchaftlich überwunden halten 
dürfen , die da fort und fort folche rüchwärtige Linien anpreifen, obwohl es Elar 
genug iſt, wo ein zwedmäßiger Widerſtand geführt werden muß, jo werden 
wir doch unterfuchen müffen, ob nicht wielleicht eigenthümliche Verhältnifie hier 
das Beibehalten der einmal vorhandenen zweiten Linie anempfehlen, 

Es ift denkbar, daß eine gewaltige ruſſiſche Uebermacht den Widerftand 
der Sufleme Thorn und Pojen bräche oder, ebenfo wie von Krafau neutralis 
firte, und daß ber noch vorhandene Ueberſchuß der Kräfte die Offenſivtendenz 
gegen Berlin beibehielte. Kür ſolche Fälle wären dann die Ober mit Küftrin 


270 Sriegtisiffenfiheft. - > 


und Slogau beſtimmt, den Widerflanb weiter zu führen und wenigftens Zeit 
zu gewinnen, um an vorhandenen ober anderswo disponipel gewordenen Kräften 
zufanmen zu raffen was möglich. Beide Feſtungen liegen gut zu foldsem Zwecke 
und es wäre nur zu wünfjchen, daß Küftrin fich jeine Deboucheen durch einige 
Forts ficherte, d. h. in den Rang eined Mansvrirpunktes aber ohne unnöthig 
große Ausdehnung erhoben würde. 

Breslau mag im fpeeiflich preußiichen Sinne wohl eine Befeftigung großen 
Styles beanſpruchen dürfen ; im allgemeinen deutichen Sinne kann e8 höchſtens 
auf lofalen Schuß Anſpruch erheben, und mit der Gewährung eines folchen 
würten wir vollfommen einverftanden fein, wenn es fich ald durchführbar er⸗ 
weift, die anzulegende Stäbtebefeftligung auch von ter Statı bejegen zu laſſen, 
der Art, daß dadurch eine aktiven Truppen lofalifirt werden, wenigftens fo 
lange nicht, als der große Krieg ihr fern bleibt. Ein Enftem abgeſchloſſener 
Baftioneri und langer Anſchlüſſe Erenelirter Mauern reicht aus zu dem Dienfle 
ber verlangt wird — Schuß gegen Handſtreiche — und gibt einen fehr guten 
Kern für den Fall weiteren Bebarfeb. 

Was aber thun wir mit den Feſtungen dritter und vierter Linie, jenen 
Werfen, welche die beiten deutfchen Großmächte wieder einanter aufbäuften 
— Schweidnitz, Neiße, Gap, Silberberg, Thereſienſtadt, Königegräg, Sofepke 
ſtadt, Olmüg, Prag? Die Gefchichte müßte jehr ernfte Lehren auöftreuen, 
ernfter noch als von 1792 bis 1815, wenn wir e8 jollten erleben fünnen, daß 
biefe Mafle von gegen Innen gerichteten Bollwerfen ihrer natürlichen Beſtim⸗ 
mung zugeführt würden, nämlich ber Einebnung. Bon allen Tiefen Werfen 
ließen wir höchften Olmütz beftchen, als einen Bentraldepotplag für den öſt⸗ 
reichiſchen Theil dieſes Schauplatzes. Das auf ſolche Weiſe gewonnene Artilleries 
material würde den Manöprirplägen zu Gute fommen. 

Die Eifenbahnen tiefes WMitrelfeldes find im Allgemeinen gut und 
jogar nicht ohne einige militäriiche Zweckmäßigkeit angelegte. Die Ihorner 
wird wenigftens bis Bromberg eine doppelte Berbintung mit dem Herzen ber 
Monarhhiesgaben, nördlich über Danzig und Die Küftenbahn nach Stettin und 
weftlich über Landsberg nach Küftrin. Die letztere Bahn iſt Durch die Netze 
und Wartha fo gut gedeckt, als man überhaupt fine Bahn durch ein ‚Hinternip 
decken kann. 

Die Verbindung der Poſener Gruppe iſt gleichfalls gut, nordweſtlich über 
Kreuz nad Stettin und Küftrin, ſüdlich über Kiffa nach Glogau und Breslau. 

Die großen Heerbahnen dagegen zwijchen -der Oder und Elbe laſſen noch 
Einiges zn wünjchen. Namentlich wäre eine Verbindung von Glogau aus nah 
rücdwärts nicht ohne Werth; fie müßte zwijchen dem Spree⸗ und Gifterwalde 
hindurch über Torgau nach Leipzig gehen, oder wenigftens in Rieſa einzweigen, 
wenn man die Seftung Torgau dereinſt auch zu ihren Genoffinnen verſammelt; 
indeflen verfennen wir nicht, daß bie Bahn eben nur ermwünfcht fein würde, nicht 
nöthig. Wichtiger Dagegen ift die Verbindung von Böhmen mit Schleſien, die 
bermalen nur mit Hilfe anderer großer Heerbahnen und zwar über Görlig ober 
Oderberg erfolgen kann; es jcheint im Werke, ten Landshuther Paß hierzu zu 


Die’ deniſche -Oftgreihe. 371 
benugen, obwohl ed militärifch zweckmaͤßiger fein dürfte, das Debouchte über 
Glatz zu fuchen, in welchem Falle wir und auch dazu verftehen würden, bie 
Glatzer Werke ohne Unterhaltungskoften in statu quo zu laffen. Doch kommt es 
auch bier mehr darauf an, daß bie Sache geſchehe, als darauf, was etwas mehr 
oder etwas weniger gut ſei. 

Die Krakauer Gruppe hat dermalen eine einzige rückwirtige Verbindung mit 
Hilfe der Kaiſer⸗Ferdinands⸗Nordbahn, die auch bei Oberberg mit dem fchlefl« 
hen Syſteme zufammenhängt, Bei der Exrponirtheit der Bahnſtrecke zwiſchen 
Krakau und Oberberg; die auf dem Nordufer der Weichfel geht, bürfte fich 
eine weitere Verbindung von Krakau über Bielig und Teſchen nach der Nord⸗ 
bahn als erforderlich ausweifen, von der dann eine zweite rüdwärtige Verbin. 
dang durch die Jablunfa in das Waagthal zu führen wäre, damit nicht bloß 
Nähren, fondern auch Ungarn zum Hinterlande diefer Feſtung werde. 

:" Rekapituliren wir nun mehr die Erforderniffe, fo dürfen wir es 
auöfprechen, daß, wenn. auch Vieles noch fehlt und Manches anders gewünfcht 
werden möchte, doch, abgefchen von Thorn, auf diefer ganzen großen Strede 
Nichts fehlt, was in Erfter Linie Herzuftellen nothwendig wäre: feine 
Feſtung, Feine lange Eifenbahnftraße. Einzig als wichtig, als unerläßlich ift 
anzuſehen die Einrichtung der Eifenbahnlinien, von der aber auch 
nur die Sicherheit jene Beichleunigung erfordert, mit welcher wir bie Arbeiten 
erfter Linie angegriffen fehen möchten, während felbft das fehlende zweite Ge⸗ 
leis nur allmälig einzuführen ausreicht. Alle übrigen Arbeiten können theilg 
in die zweite Linie, d. h. nach der haupfächlichen Beendigung der Zlotte, theils 
in die dritte Linie rücken. An Koften fchlagen wir an: für Breslau etwa 
1 Billion; für die Jablunka⸗Waagthal⸗Bahn dürfte kaum eine Zinfengarantie 
erforderlich fein; für die Sicherheitdeinrichtungen 1 bis 2 Mill., in Summe 
alſo 2 bis 3 Millionen. 


Der rechte Flügel. 


In willkürlicher, Tediglich nach politifchen Vereinbarungen geregelter Rage 
zieht fih unfere Oftgrenze von dem Einfluffe de8 San (Radomygsl) öftlich bei 
79 Meilen weiter, die letzten zwanzig Meilen jedoch mehr und mehr nach Suͤden 
umbiegend, bi zum „Dreiherrenſteine“ bei-Chotim. 

Das Land beiterjeitd der Grenze ift rauh, hügelig, vielbewalbet; Volhynien 
und Podolien werden als fruchtbar und gut angebaut bezeichnet, Galizien kann 
ſich wenigſtens des Iegteren nicht rühmen. Der Chauſſeen giebt es wenige, der 
gebauten Nebenwege wohl fo gut wie feine. Bwar würde e8 im Großen nicht 
falfch fein, das Land bis an die Pinsker Moräfte und den Dnjepr ald von 
ben Rarpathen her abfallend gegen Norden, Rordoften und Oſten, darzuſtellen; 
es würde nur die eingejchobene Senkung des Dinjeftr zu berüdfichtigen fein, der 
von der Hauptwaſſerſcheide ſüdlich Stare Minfto und mit ſüdöſtlichem Laufe eine 
Trennung aller Wafferläufe herftellt. Erſt nördlich von ihm beginnt das Qurlle 
gebiet aller der in fich ziemlich parallelen Waſſerzüge, bie in ber Nichtung zu 
den Pinsker Moräften und dem Dnjepr abfließen. Yügen wir hinzu, daß much 


der Dnieſtr auf. feinen: oberen Stuede Fein ernſthaftes Hindernis iſt, und ſo 
wird fich ergeben „ daß auf dieſem großen Kriegstheater fein natürliches Terrain« 
verhälwiß weber bie Offenflve noch bie Defenfive an beftimmte Gefepe feſſelt. 
Dad. Berkältmik, das wir in der Mitte fennen lernten, ſeht ſich weiter fort. 

Die erfle große Barriere, auf die wir flogen, iſt der Jange Gebirgszug 
der Karpathen. Es iſt cherakteriftiich,, „DaB das frühere ‚öftreichiiche Gouver⸗ 
nement Feinerlei Feſtungẽbauten in Galizien ausführte, dagegen die Hinderniß⸗ 
Linie der Karpathen moͤglichſt intaft zu erhalten juchte und erſt füblich, von ihr 
fi ein Kriegstheater einrichtete. Salizien wart als ein exponirtes Vorland auf 
gegchen! Alnt Doch flelfte Galizien ein großes Bontingent zum Heere, Hatte eine 
mannhafte und:in ihren unteren Schichten eine treue Benälferung!  - 

Neueren Zeiten ift num wohl ein ſolches ſelbſtmörderiſches Aufgeben wich⸗ 
tiger Hilfsquellen, ein fo kleinmuͤthiges Verweigern des Schuges. an. Die, welche 
Serechtigt find, ihn zu fordern, hejeitigt; allein noch Immer Leiden die galiziſchen 
Berhältniffe amter. dem. Drucke, der überhaupt ayf Oeftreich laſtet — ohne 
Kultur, ohne Geld, ohne. Leben, ſehen wir. zmei Drittiheife diefer Monarchie 
als eine -todte Kraft daliegen. Selbſt ohne alle Beduͤrfniſſe, vermag Die galiziſche 
Bevolkerung es nicht, die umfaſſenden Bebärfniffe einer ‚großen Armee zu bes, 
friedigen.. Als Deftreich. 1855 feine Heere zwiſchen Krakau und Czexnowitz 
konzentriͤrte, mußten ſeine Soldaten hungern und an 20,000 fiefen von, 
300,000 Mann als Opfer ber: ungüufligen Landesverhaͤltniſſe. Mag vorher⸗ 
gehender Mißwachs eingewirkt haben, wo wären in Polen aber ber Adel und 
ober die Banernichaft,, die Vorraͤthe auffpeicherten? Ohne eigene Hilfäquellen,. 
ohne gute Verbindungen mit dem fruchtbaren ungariichen Hinterlande mag. 
Galizien und das anftegende ruſſiſche Land wohl der Schauplag eines großen 
Krieges werben, flcher. aber wird es dann gleichzeitig das Grab der fechtenden. 
Heere. 

Die erſte ſtrategiſche Forderung an dieſen Kriegsſchauplatz iſt, daß er den 
Armeen das Leben gewaͤhre. In Anerkennung Deſſen ließ Heß 20,000 M. an 
der Eiſenbahn arbeiten, che er noch an die Herftellung proviſoriſcher Pläße 
dachte. 

Aber Was mag ed nutzen, Straßen und Eiſenbahnen zu bauen, wenn ſie 
leer bleiben? Welcher Staat wäre reich genug, an Oeſtreich nicht zu denken, 
lediglich zu militairifchen Zwecken ein Eiſenbahn⸗ und Stragen- Reg zu bauen, 
wie e8 hier erforderlich it? Man ergänzt wohl, man trägt wohl bei, aber ganz 
und allein bauen, Das gebt nicht. Hiernaͤchft kann — wir jprechen es troß 
des Krimfrieged aus — eine Armee nie allein von den Zufuhren aus entfern- 
teren Gegenden leben. 

‚Kann man fich der Ueberzeugung nicht verfchließen, daß Galizien nicht 
bloß die befte, jondern überhaupt im füdöftlichen Kändergebiete die einzige 
wirffam zu benugende Bafis ift, fo mußte man auch dahin kommen, 
fi Salizienzu ſolchem Zwecke einzurichten, d. h. fich in dieſem 
Lande eine Kultur fchaffen, wie fie die modernen Heereds 
maffen als ihre Stügen brauchen. Wir berühren hiermit jene große 


Die deuntſche Ditgreize. 273 
Unterlaffungsfüute Oeſtreichs, die es beging, als es feine Provinzen fich ſelbſt, 
ihrem individuellen Leben bez. Traumſchlafe, überließ, dem Hergebrachten und 
der Bequemlichkeit zu Liebe, An die Stelle ber Argierungsthätigkeit trat bie 
aufzegende, propagandikiiche, und weil ihnen nicht mit fefter Kraft und unnach⸗ 
lafjender Gonfequenz etn feſter Kern gegeben ward, fuchten fie ſich einen und 
fanden ihn in der Nationalität, in. der Zerfahrenheit zahlloſer Stänme und 
Stammesrefte. Die nächfte Folge ift die Unzuverläßigkeit aller nichtbeutfchen: 
Provinzen, die ſtete Drohung der Reyolution, Die Schwäche des Ganzen. Iſt 
es erhoͤrt in der Weltgefchichte, daß rin Kronland von ſolchem Umfange wie 
Ungarn bie Berlegenheit von Kaiſer und Reich benugt, um ſich Sonderintereſſen 
zu ertrogen, und iſt es weiter erhört, das folchen Beginnen anders als mit 
mit Feuer und Schwert geantwortet wird? Kat man die uralte Lehre vergefien, 
daß abgetrogte Eonceiflonen nur den Fortgang der Revolution ftärfen, und 
dag ein großes Volk auf eine folche Untreue nur mit der Vernichtung antworten 
darf, und zwar fo Tieb ihm feine Exiftenz iſt! — Es war ung intereffant, neuer» 
Lich im „Deutfchen Muſeum“, eine Zeitfchrift, der man weder die Vertretung 
Oeſtreichs noch die Tegitimiftifcher Intereffen andichten kann, zu Iefen, wie 
Oeftreich nur zu reiten ſei durch die volle Obergewalt des beutfchen Ele 
mentes. Es war ein Nothfchrei aus Siebenbürgen. Die NRationalitätens 
phantafle verſtummte — vielleicht unwillkürlich — von der drohenden Ge⸗ 
fahr des Geſammtvaterlandes. 


Es iſt ſpaͤt, aber es iſt noch nicht zu ſpät. Wenn Oeſtreich entſchloſſen 
deutſche Kultur und deutſche Colonien nach Ungarn führt und ben magyari⸗ 
ſchen Widerſtand, auch den ſtummen, den paſſtven, mit eiſernem Buße zer⸗ 
tritt, wenn es in einer öſtreichiſchen, oder will's Gott, in einer deutſchen 
Armee Feine ungariſchen oder andere fremdzuͤngige Regimenter mehr gibt und 
wohl. einzelne Verräthereien vorkommen mögen, aber nimmer wieder das Ver 
fügen und die verrätherifche Klucht ganzer Regimenter das Loos der Schlachten 
beſtimmen darf — dann mag wohl ein geſpannter Zuſtand noch Jahrzehnte hin⸗ 
durch beſtehen, aber das Land wird im Innern keine Verbündeten bes aͤußern 
Feindes mehr haben und in verkältnigmäßig furzer Zeit deutſches Land gewor⸗ 
den fein und der Kaiſer von Oeſtreich wird Herr fein in feinem Meiche, und mit 
ihm werden herrſchen die Macht, die Freiheit, die ja allein nur bei der Macht. 
gedeiht, und die Kultur. 


Daun werden wir auch eine weitere Offenſtobaſis gegen Rußland beſiten, 
dann wird ber andere Arm der Zange wirkſam werben, und mad Oftpreußen im 
Rorden, wird Galizien im Süden und wir werben Urſache haben, von unferer 
Eulturbiitorifchen Miifton für den ſlaviſchen Oſten zu reden. 


Je unflcherer aber das ungarijche Hinterland bei einem jeben Kriege der⸗ 
malen ift und für die nächfte Zufunft fein wird, deſto nothwendiger iſt e8, 
das Borland, Galizien Eräftig zu vertheidigen. Leider find wir nicht inı Stande, 
bier in irgend welche weitere Details einzugehen, weil uns alle Unterlagen 
dazu fehlen. 

V. 18 


274 . Briegbwiffenfägaft. 


Es bleibt und übrig, noch ein Wort zu ĩagen uber Gemerm, tie ung» 
rijche Genralrefte. 

Eie emirridbt, wie alle Vorbereitungen zu innerem Fiterfiant, unseren 
Anficyten von Luntedrerskeitigung nicht. Wer üch entihlenen Tee Feindes 
erwebren will. fir an ten Grenzen Plas und Gelegenbeit gerua. Bir 
meinen, tie Yuiten für Comorn teien ıwegicrertenes Geld. Geagen Außen 
wird Ungam in Galizien verrbeitige und gegen die Treuleñakeit im Inneren 
hilft mie ein Zrinz⸗Uri, iontern ein feftes Meg treuer Celenien, Die mit 
igrer Allgegenwart jeten Keim erftiden konnen. 

Zum Schluñe ned eine Bemerkung. 

Unfere Nufttellungen werten, wenn fie in ter Prefſe überbaurt Bcach⸗ 
tung finten, zen mehreren Seiten ber angegriTen werten. 

Einmal sem Geldpunkte aus. Wir rein nicht reich genug zu ſelchen 
Ausgaben. Teutidlant barre fick in wenig Jabreu ein Eiſenbahnncz, Tas 
ihm in runter Summe etwa 506 Millienen Ibaler keſtete unt baut noch im⸗ 
mer weiter daran, Teutichland hat alſo Geld. 

Wird es aber ſein Geld zu Erreikung greßer pelitiſcher Macht hergeben 
wollen? Wir meinen Ja; denn nur kei ter Macht find Freibeit, Gedeihen, 
Neichthum. Ale smedmäßigen Ausgaben im Inccreſſe der Macht find im 
höchſten Grade preduktis, und nur Stumper in ter politiihen Einficht 
mögen behaupten, tie Armeen unt das Gelt, das fe koſten, ſeien un« 
produftiv. 

Tann von ter Rationälitätenfrage aus. Wir geſtehen effen, daß unjer 
Standpunkt von ter berühmten Frankfurter „aud eine Weltanichauung‘ 
weſentlich Abweiht. Wir begreifen die Politik nicht, Lie auf das Here 
geben wohlenrertenen Gigenthums hinaus läuft. Nach unterer Meinung 
ift tie Rationalitäten » Brage ein Förderungsmittel ter Revolution, ange= 
wendet im Intereffe ter Merolution, des Kampfes; ein Streitmittel. Wir 
erinnern an Mieroſlawsky's Ausſpruch, ald er 1849 das Kommando über Die 
babifche Revolutionsarmee übernahm: Die freic Wahl der Offiziere ift das 
trefflichfte Köter, um in einer Armee Disciplin und Treue zu erjchüttern; wer 
bie freie Mahl aber gewährt, iſt ein Thor und legt Hand an die Grund 
lagen ber eigenen Griftenz. Alle Staaten, die bis jegt erobert haben, führten 
auch eine Verichmelzung der Bevölferungen Durch, oder fle hatten an ihren 
Eroberungen einen unficheren Beſitz. Wir halten die Begünftigung des diver⸗ 
girenden Srebens unferer öftlichen und jüblichen Volksſtämme für einen Hoch- 
verrath an der deutſchen Nation, chen jo wie tiefes Streben ſelbſt. Wir 
jegen unferen Stolz nicht in die Zerriffenheit und Schwäche, ſondern in die 
geſchloſſene Kraft. 

Und endlich von dem realen Boden der Gegenwart aus. Darin hätte 
man Recht, wenn wir bochfliegende Erwartungen an unjere Worte knüpften. 
Das hun wir aber nicht. Wir flreiten für eine Idee; che eine ſolche 
Turchgeführt werten kann, muß fie fi Bahn gebrochen haben in ben 


Die deutſche Oftgrenze, 275 


Anſchauungen ber Geſammtheit. Unſer Zweck ift, an dieſer Bahn mitzus 
arbeiten; ber Eine thut's in ber einen, der Andere in der andern Richtung; 
wir thun’s für unjere militairiſchen Intereffen, mit Benugung der Kriegss 
wiffenjchaft, und je fchlagender die einfachen Lehren dieſer Wiffenfchaft 
wirfen, deſto Teuchtender werden tie Vortheile bervortreten, Die wir 
anfireben. 

Wir erwarten dagegen nicht, von wiflenfchaftlicher Seite her angegriffen 
zu werden; follte es gefcheben, fo werben wir gern ten Kampf aufnehmen, 
vorausgeſetzt, daß er ri. mit; EPhraſen, ſoudern mit Gründen ges 
führt wird. u u 18. 


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". ."tn a “ 2 B — 


18* 


Der Setbflmord 
nach feinen inneren und äußeren Berhältnifien. 
Don 
Dr. SA. Slinser. 


Einleitung. Begriff und Seſchichte des Selbſtmordes. Rerbältniffe der 
Selbſtmörder nad dem Alter (Kinder: und Greifenfelbfimorde) und in Be⸗ 
ziehung zur Bevölkerungszahl. Zunahme der Selbfimorde in der Neuzeit. 
Berhältniffe der Selbftmörder nad dem Geſchlecht, unter der ftadtifcgen 
und ländlichen Bevölkerung, nach den Tageszeiten, nad den Eonfeffionen. 
Erblichkeit. Gelbftmordepidemien. Gefellfhaften für Selbſtword. 
Befund in den Leihen der Selbſtmörder. Kerbreitung in den ver 
ſchiedenen Schichten der Geſellſchaft. Art und Weife der Ausführung. 
Verhältniß der Selbftmorde zu den Morden. Pfychologiſche Analyſe 
bes Selbftmordes. Die Motive bei Beiftesgefunden. Selbftmord bei 
zweifelbaftem Geſundheitszuſtande. Selbſtmord bei Geiſteskranken. 
Schlußbetrachtungen. 


Man wende die Phantaſie dem Schönen, dem Erfren⸗ 
lihen zu; man nähre das Gefühl mit dem Großen 
und Heiteren: man bilde beides durch Theillnahme an 
der Kunft. Man flärfe, reinige, veredle den Willen und 
gebe ihm eine Richtung auf das eigene Ih; man bilde 
in durch eine echte gefunde Moral. Eelbfibeherrfcung, 
Tas iſt die ewige große Lehre, die Lem Menſchen das 
Leben, Die Pflicht — und die Diätetif der Seele predigt, 


Graf ron Feuchtersleben, 
zur Diätetil der Seele. 


Di. Brage nach den DVerhältniffen und Urfachen des Selbſtmordes Bat 
ſchon feit Jahrhunderten Die Gebildeten aller Nationen vielfach beichäftigt und 
mit ernfllichem Eifer und einem großen Aufwande an Scharffinn ift man be 
mübt gewefen, das Mäthfelhafte biefer Erfcheinung, die mit der Natur des 
Menſchen im grellften Widerſpruch zu ftehen ſcheint, zu entziffern. Ja, es 
bürfte kaum einen anderen Gegenfland geben, der eine fo allgemeine und leb⸗ 
hafte Aufmerkjamkeit erregt hat! Die Wichtigkeit der Sache hat eine in ber 
That zahlloſe Maſſe von Schriften hervorgerufen, bie, oberflaͤchlich betrachtet, 


> Spfochelegie. -- 271. 
zu dev Vermuthumg verleiten Tönnte,, tee Gegenſtand ſei abgefcgloffen uns zum: 
Urtheilsſpruche reif. Eine aufmerkſame Durchmuſterung ber Literatur zeigt 
aber bald, daß wir auch. heute, troh fo vieler trefflichen Arbeiten, ‚noch man⸗ 
ches Raͤthfel, das den Selbftmord umbüllt, zu loͤſen Haben, noch zahlreiche 
dunkele Prmkte der Aufklärung harren, und daß troß des vereinten Interefles, 
weiches alle Kakultäten am Selbftmorde haben, doch jede no «in gewaltige 
Stuͤck Arbeit vor: Ach hat. 

Jede Arbeit, welche den Selbſtmord zum Gegenfland der Behandlung nicimt, 
hat mit einer Menge von Schwierigkeiten zu kaͤmpfen. Dieſelben liegen theils in 
ber Maſſe des vorhandenen Materials, das auch bei einer ſtrengen Sichtung nur 
ſchwer nach allen Seiten gleichmäßig und vollſtaͤndig zu erfaifen iſt, theils auch 
in den verfchiedenen Gefichtöpunften, von welchen aus man den Selbitmord- 
aufzufafien vermag; denn es ift bie Erörterung über Selbſtmord eine Frage, 
auf der ſich alle Hauptzweige menfchlichen Wiſſens berühren, eine Frage von fo 
weitreichender Bedeutung, daß fle der Theolog wie Philofoph, Der Arzt wie ber 
Juriſt und Staatsmann in den Bereich ihrer Unterfuchungen zu ziehen nicht nur 
berechtigt, Sondern verbunden find. Die Schwierigkeiten Tiegen endlich, und 
zwar nicht zum Eleinften Teil, in dem Begenfkande felbfi; der Selbſtmord in 
feiner Ausführung ift nur das lehte Glied in einer Kette von Vorgängen, Die 
in ihrem Weſen wie in ihrer Anelnanderreihung in jo vielen Fällen unflat unb 
. verborgen bleiben, 

Es kann und hier gemäß der Aufgabe, die fi diefe Blätter geſtell haben, 
nicht darauf aufommen, eine nach allen Seiten hin erfchöpfende Darſtellung von 
dem Selbſtmorde zu Tiefeen; wir fönnen und wollen bier nur eine gebrängte 
Schilderung der wichtigften und feftfichendften Erfahrungen geben, um unferen 
Lefern ein eines, aber möglichft fcharfes Bild vorzuführen, deſſen betaillirte 
Ausführung dem Einzelnen überlaffen bleiben muß. Halten wir diefen Gefichta⸗ 
punkt feit, fo zergliebert: ſich unfere Aufgabe ganz von jelbft jo, daß wir zu⸗ 
nächft die Äußeren Verhaͤltniſſe des Selbſtmordes, die einer ficheren Begründung 
zugänglich, darzulegen Haben, wohin z. B. bie Statiſtik der Selbſtmorde, ihre 
relative Häufigkeit, Zunahme u. f. w. gehören. Dann aber werden uns bie 
inneren Derbältniffe der That befchäftigen, alfo eine Darlegung ber Motive, 
eine pfochlogifche Analyſe der That, die ragen über die Zurehnungsfähigfelt 
u. ſ. w. Hieran wird fich endlich eine Erörterung der Mittel zur Abwehr de& 
Selbſtmordes fchließen. | 

Der Selbſtmord kommt unter allen belebten Wefen allein. 
beim Menſchen vor. 

Mir müſſen feſthalten, daß man nur den als einen Selbſtmörder 
bezeichnen kann, der mit Bewußtfein und in der Abſicht, ſich zu 
tödten, die eigne Hand gegen ſich richtet, Dies vermag nur ein mit 
Bernunft begabtes Geſchoͤpf, der Menfch. Man Hört oft von einem Selbfimorbe. 
dieſes oder jenes Thieres reden und der Slaube an einen Selbſtmord untere 
einzelnen Thieren ift ein weit verbreiteter und ziemlich feſt gewurzelter. Soviel. 
man auch hiervon erzählt hat, fo haben fich doch alle diefe Beiſpiele theils ale 


278 Der Selbiimerb. 


müßige Kabeln erwieſen, theils beruhen fle offenbar auf einer faljchen Beobach⸗ 
tung, beziehentlich falfcher Auslegung beobachteter Thatſachen; es gibt Fein 
ficher conſtatirtes Beiſpiel, demzufolge fi ein Thier mit bewußter Abficht 
ſelbſt getödtet habe. Um unjeren Ausipruch zu begsünten, wollen wir nur 
einige der oft eitirten Beobachtungen mittheilen. Schon im Jahre 1805 erzählte 
Bingley von dem Selbitmorde ter Lamas; eine gleiche Behauptung war noch 
im vorigen Jahre in einer ſehr geachteten und treiflichen Zeitichrift*) zu leſen. 
Die Lamas werden in den Gegenden ihrer Heimath von Indianern zum Laſttragen 
benügt. Wenn man eine diejer Thiere überbürdet hat, jo verweigert es jedoch 
aufzuftehen; wendet man alddann Gewalt an, jo wehrt es fh nach Kräften mit 
feinen Waffen und wenn dies vergeblich geichieht, jo wirft es fich mit einer 
legten und höchſten Anftrengung rückwärts und bricht dabei haufig das Genid. 
Diefe Handlung hat man nun ald Selbitmord gedeutet. Wer aber erfennt nicht 
hierin das eben fo einfache ald natürliche Streben dieſer Thiere, fich Durch eine 
äußerfte Gewaltanftrengung ber erbrüdenten Laſt durch Hintenüberbeugen, wo 
fie Herabrunichen muß, zu entledigen? Wo ift auch nur entfernt die Abſicht 
des Selbfimordes zu erſehen? — Roc bekannter ift Lie Erzählung rom Scor⸗ 
pion, ber, wenn man ihn mit brennenden. Körpern ringsum jo einjchließt, daß 
er nicht entweichen kann, feinen @ifrftachel gegen fich jelbft richten und fich jo 
ſelbſt tödten joll. Man Hat hier die im Todeskampfe eintretende Krümmung des 
mit Muskeln jehr reichlich verſehenen Stacheld ganz irrthümlich als einen Akt 
des bewußten Willend gedeutet, der in der Abſicht fich das Leben zu nehmen, 
geſchehe. — Ebenſo lehrt eine jorgfältige analytiſche Betrachtung der gar nicht 
fo jeltenen Erzählungen von einzelnen Thieren, Die fih das Leben genommen 
haben jollen, daß hier der Tod nur zufällig erfolgte; viel öfter noch trägt die 
ganze Beichichte Den unverfennbaren Stempel müßigen Gejchwäges an jich. Wir 
erinnern hierbei an Die vielen Erzählungen ton Qunden, die fi} auf dad Grab 
ihrer Herren gelegt und fich durch Hunger getödtet Haben follen, an bie von 
Pliniud mitgerheilte Gejchichte jened Adlers, der ſich jo an ein Mädchen gewöhnt 
hatte, Daß er, als fie gefkorben, ‚chenfalld auf ihren Scheiterhaufen geflogen ſei 
und fich verbrannt habe. Alle Dieje Faͤlle beweiſen nicht, daß die betreffenden 
Thiere die Gewißheit hatten, daß durch die von ihnen vorgenommenen Hande 
lungen ber Tod herbeigeführt werde und chenjowenig laͤßt ſich die Abſicht des 
Thieres, ſich durch die betreffende Handlung ben Tod geben zu wollen, nach⸗ 
weijen. Und fünvahr, wie kann es auch anders jein, da mit der Vernunft allein 
die Fähigkeit der Selbſtbeſtimmung gegeben iſt und bie Vernunft eben den 
Thieren abgeht! 

Der Selbſtmord iſt ſeit den alteſten Zeiten: bekannt und 
bei allen Völkern beobachtet worden. 

- Werfen wir einen Blick auf die Geſchichte des Selbſnnordes, fo drängt ſich 
und die intereſſante Thatſache auf, daß ſchon im den älteſten Urkunden und 
Sagen des Selbſtmordes Erwaͤhnung geſchieht. Wir erinnern zunaͤchſt an das 





*) Yusland 1859, R, 20. 


Plſyvchologie. 279 


ehrwürbiafte aus dem früheften Alterthum überlieferte Denfmal ber Geſchichte, 
die Bibel; es wird in’ dem alten Teftaniente an zahlreichen Stellen: 1. Buch 
Mofl 9, 65-2. Sam. 17, 23; Judith 9, 54; 1. Buch der Könige 16, 18; 
1. Buch Som, 34, 4 u. ſ. w. des Selbſtmordes gedacht, der meift in Schwers 
muth und Verzweiflung jeinen Grund Hatte. 

Tie im Alterthum berrfchenden Anfchauungen, namentlich die in hervor⸗ 
ragender Weije Geltung habenden philofophiichen, noch mehr aber Die relie 
giöſen Anfichten, die ihrem Charakter nach weſentlich pantheiftifche waren und 
ten Menichen nur als einen Theil der allgemeinen Weltjeele betrachteten, waren 
für bie Entwidelung und Verbreitung des Selbfimordes fehr günftig. Unter 
den gebildeten Nationen des Alterthums war der Selbſtmord nicht felten und’ 
tie Motive dazu fürwahr von denen der Gegenwart nur wenig verjchieden, oft 
viel edler. Wir begegnen jo Dem Selbflmorde Häufig unter den geiftig jo hoch 
fiehenten griechiſchen Völfern, ja wir wiflen ganz beſtimmt, daß der Selbſtmord 
von einzelnen philojophifchen Schulen vertheidigt, ja gepriejen wurde. Die 
Philoſophen, die fich zur Lehre des Epifur bekannten, jahen in dem Selbſt⸗ 
morde nichts ſchreckliches, jondern hielten es ihren Grundſatzen nach für etwas 
narurliches und jelbftverftändliches, daß ein mit gefunden Verſtande beyabter 
Menſch ſich das Lehen nehmen koͤnne, fobald ihm dieſes Feinen finnlichen Genuß 
mehr gewähre und ihm mur Langeweile und Efel einflößge. Wei den Stoifern 
galt ald Grundſatz: mori licet cui vivere non placet; Selbftmord war da- 
ter bei ihnen etwas gemöhnliches, ihre Motive jedoch mehr flttlicher Natur; man 
nahm ſich felbit Dad Leben, um feine Ehre zu retten und Muth zu zeigen. - Bei 
der ſtrengen Conjequenz in den Geſetzen diefer Schule Tann man fich nicht 
wundern, daB fle jo zu jagen folgerecht den Selbftmord fogar zum Dogma ers 
hoben. Zeno, der Stifter der flotichen Schule, nahm fich im hohen After durch 
Hunger das Leben uud verführte durch fein Beiſpiel viele. Cato entleibte ſich 
bekanntlich aus Mißmuth über den Untergang der Republif. Der berühmte 
Philoſoph Seneca lobt in jenen Schriften mehrfach den Selbſtmord, ja ber 
VPhiloſoph Heyeflad, ausgezeichnet durch beſtechende Beredſamkeit, empfahl deri« 
jelben jogar und verführte Durch feine Lehre viele dazu. Plinius betrachtet den 
Selbftmiord als ein. dem Menſchen eignes Vorrecht, ja Hebt den Menjchen, 
weil er fi) den Tod geben Fann, wenn es ihm beliebt, fogar über die Gott⸗ 
heit. Beifpiele von Selbftmord aus Patriotismus, Gattenliche u. |. w. find 
häufig. So töttete fich Lyeurg, um jeinen Sefegen in Sparta ewige Gültigs 
keit zu verichaffen, Kodrus, um den Sieg feines Volkes, den ein Orakelſpruch 
an feinen Tod gefnüpft, zu erlangen. Wer erinnerte fich nicht an Eurtius und 
und Regulus, Themiſtoeles und fo biele Andere! Wer gebächte nicht ber 
edlen Porcia, die, ald man ihr alle Mittel zum Selbflmorde geraubt, ſich durch 
Verſchlucken von glühenden Kohlen tödtete! Oder der Arria, der Brau des 
Vaetus, Die, nachdem fle fich den Dolch in den Buſen geftoßen, denſelben 
ihrem Manne reichte mit den Worten: „Paetus, es ſchmerzt nicht.” Die üpe 
pige Cleopatra tödtete fich durch einen Natterbiß und ihr Gelichter Antonius 
folgte ihrem Beijpiele. Aehnliche Beijpiele finden fich in Menge, 


Yu) Ta Sibimed. 


Lach Ir tea autesea Tciferz sei Lerikumd mer der Eciruned zuhr 
ie:eı. Zardanaral, Les Rus su rem, arme a 2 Ser 
laer belksumumäluyr Derrtaiugu; Aue &, Jer tee Forberung der Sure, er 
jean jan Kialerı und Iunem, Sisumd mal, ug Ser muchen Eci- 
Irı 23 Misssumd != Selstused der Ber: ame uleimeure Eire gemeien 
is. 31 Geur:s wrustuinm Ye Hinmer, weihe dad Se). detendgube erreuht 
Bazzız, Krise, zz Senen Be nme ad auch deren Perzöugumz We eh orüreen. 
Kehwiubes snhss au? der Jaiel ea, me, D. me nemszigptörnge Arm ken 
Sertas Bomsezsd, ser SG yrabe Lerı sufind:, aı.zd. rer Ic® tur 
jaze Yıuzeienbes zı zeriaduez; ım "iheme Gexramie mut Me Tor ermer 
rt: Geſelichrt: za Beier. — La taz un ı8 te Schtmert 
Eirt bie Beige ber Reilaion zeheilser: bie Esezzeen ind gemuugz, Dh mi 
ten Leichen ihrer Ränner werhremuen ;u late. Tie Sum Eur mg ten Be 
mugunzen der Faglinter, fie m umsereriden, bed 1m die jiemiie Zeit ZIj0 
Baur, io Zap neh ia Lem Jahren zen 1515 Ei 1524 14be an Hd) 
Bunzen ın Jatun serkranat fein iellen Tie Hınta d auf ter Iniel Sanget 
jhwimnuen mı Blumen befsänzg tuich tem Ungie, um ‚ur @bre ihrer Gütrer 
son ten Haifichen gefrejfen zu wertm. Lie Gnmnsierkiien, tie heutigen 
Erachmienen, basten eb für Echante krank zu jeim oder eimed umurlichen Todes 
zu Rerben und entzogen Kid Tieier Gaufg tur Selkimert. — Bureku, ber 
Zufin ter nad ihn benannten Religien, ioll ſich kei einer Hungeränech velbit 
gerötter haben, damit jein leid verzehri werten fonne. — Bei den Japuneten 
werten noch heutzutage Zweikampfe eigent hũmlicher Art geführt: Belcikiger umt 
Beleidigte berilen fi, jich ielbin zuerñ ten Bauch aufzurkhligen, um tem Anteren 
in Lieier Ehre zuvorzakommen. Tie Anhänger des Fobismus erklärten ten 
Körper für einen Haufen Unrath, für den man fich wicht zu torgen brauche, und 
exmordeten fich maſſenweiſe; antere warfen ſich unter Die Raͤder tes Wagens, auf 
welchem ihre Bötter herumgefahren wurben. Ganz aupergewöhnlich haͤufig ſind die 
Sclbfimorte bei ten Ehineien, wie dies z. B. aus ten Mittheilungen des Riltienär 
Huc hervorgeht. „ Turdhläuft man das Buch Si- vuen *}, 10 cht man, wic beträcbrlid) 
die Zahl der Angriffe auf das Leben ter Meufchen, und namentlich wie verbreitet 
der Eclbfimord if. Ban kann fidy keinen Begriff vom der Leichtigkeit machen, 
mit welcher bie Ehineſen fich eutleiben; eine Kleinigkeit, ein Wort ift oft bie 
Veranlaſſung, daB He ſich hängen oder in einen tiefen Brunnen fürzen. Dieje 
beiten ‘Arten des Selbftmordes find die gewöhnlichen. Will man in anderen 
Ländern an feinem Feinde fi sächen, To jucht man ihn zu tödten, in China 
sötier man ſich ſelbſt. Dieje Eigenthumlichkeit Has mancherlei Orünte, nament⸗ 
lid find et folgente. Zunächft macht. die himmliſche Regierung für einem 
Selbſimord diejenigen verantwortlich, welche die Beranlaffung dazu gegeben 
haben, Wil man fidy aljo an feinem Feinde rächen, fo tödter man ſich ſelbſt 
und bringt ihn dadurch in bie ſchrecklichſte Lage. Et fällt augenblicklich in die 

9 Bi- -yuon d. 8. das Waſchen der Grube; es ift dies ein gerichtlich medi⸗ 


einiſches Buch, das in China großen. auf hat und in ten Händen jeder Magi⸗ 
ſtratsperſon fein fol), 


VPlfychologie. 261 


Hände der Gerechtigkeit, die ihn wenigſtens foltert und völlſtaͤndig ruinirt, 
wenn fie ibn nicht das Leben nimmt. Die Familie bed Selbſtmörders erhält 
gewöhnlich in dieſem Kalle beträchtliche Entschädigungen. Auch kommt es nicht 
felten vor, daß linglüdliche durch eine wahrhaft fürchterliche Aufopferung für 
ihre Familie Hingerifien, ſich echt ſtoiſch im Hauſe reicher Leute entleiben. 
Tödtet man feinen Feind, jo bringt der Mörder dagegen jeine eigenen eltern 
und Freunde in die größte Gefahr, er entehrt fie, bringt file an den Bettel⸗ 
Rab und ſich felbft um ein ehrenvolles Begräbnig, ein Hauptpunft für einen 
Ghinefen, den er über alles ftellt. Zweitens ift zu bemerken, baß vie öffentliche 
Meinung den Selbfimord ehrt und verherrlicht, flatt ihn zu verachten. Man 
findet Heldenmüthigfeit in der Handlung eines Mannes, der unerfchroden 
Sand an fein Leben legt, um fich an einem Feinde zu rächen, den er anders 
nicht vernichten Tann. Endlich Fommt noch Hinzu, daß bie Chineſen Leiden weit 
mebr fürchten, als den Tod. Sie geben ihr Leben willig Hin, voraudgeleht, daß 
fe es auf kurze und fchnelle Weife verlieren.‘ „Die traurige Stelfung der 
Frauen in China, der andauernde Zuftand äußerfter Wegwerfung und unfäg- 
lichen Jammers, tem fie preiägegeben find, treibt fte oft-einem jchredlichen Ende 
entgegen. Die Zahl der Frauen, bie fich Hängen oder fonft wie entleiben, ift 
jehr beträchtlich. Ereignet fich ein folchee Selbſtmord In einer Zamilie,:jo ift 
ber Mann natürlich troftlos, denn er bat plößlich einen bedeutenden Verluſt 
erlisten und ſieht fich genöthigt, eine andere Frau zu kaufen.“ 

Zur Zeit Seneca’8 kamen die Selbſtmorde in Rom in förnilichen Epide⸗ 
mien tor, nicht minder nahmen zur Zeit bes finkenden Roms bie Selbſtmorde 
beträchtlich überhand. Vei den Juden war ber Selbſtmord um vieles feltner, die 
ganze Erziehung, dad patriarchaliſche Verhältniß, wie die veligidje Anſchauung 
wirkten dagegen. — Wit der Weiterverbreitung des Chriſtenthums im Mit⸗ 
telalter,, das feinen Lehren zufolge eine unbedingte Unterwerfung unter bie 
Weisheit und Altmacht Gottes forderte, wurde dem Umfichgreifen bes Selbſt⸗ 
mordes Einhalt getban, da zugleich religidje Empfndungen vorherrſchten und 
die Bbilofophien wejentlich jpiritwaliftifche waren. — Gleichwohl kam der Selbſt⸗ 
mord immer vor. Co ift befannt, daß die Dentfchen Frauen, bie in die Hände 
ker Römer gefallen waren, und als Eclauinnen verkauft werben follten ſich 
feloft den Tod gaben, nachdem fle zuvor ihre Kinder erwürgt hatten. Odin, ber 
Gott der Deutſchen, foll fi der Sage nach gieichfalld ſelbſt getödter haben. 
Aus der zweiten Hälfte des Mittelalters beſitzen wir Bälle son Melancholie mit 
Ausgang in Selbſtmord, der namentlich in den Klöftern beobachtet wurde. Auch 
im den erften Jahrhunderten des Chriſtenthums tödteren ſich noch viele aud fal⸗ 
ſchem Eifer, die Maͤrtyrerkrone zu erlangen. 

In neuerer Zeit find andere Anicyauungen wiederum in den Vordergrund 
getreten. Die herrlichen Lehren des Ehriftentbums Haben zwar immer noch Dies 
felbe Bedeutung als früher, aber leider find viele ihrer edelften Saͤte durch den 
mehr und mehr um fich greifenten Skepticismus und einen faſt noch fchlins 
meren Indifferentigmus nahezu illuforijch geworden, Das materielle Intereffe 
macht fich vorzugsweiſe geltend und die Herrſchaft der Autorität nach den 


282 Der Selbſtmord. 


Grundjägen freier Prüfung und Wahl iſt in den Vordergrund getreten. Be⸗ 
gegneten wir im Alterthume Philojophen, die den Selbſtmord vertheidigten, fo 
hat ‚ähnliches: auch. unjere Zeit aufzuweifen, benn leider gibt es .auch bei ung 
geiftreiche Männer, bie durch eine. faljche Richtung ihrer Speculation verführt, 
den Selbſtmord in Schug nahmen und ihn, gleich ihren Vorgängern im Alter⸗ 
thume, zum Dogma erheben wollten; wir erinnern an Gildon, Nobel, To8s 
eolo und Rouſſeau. Unter den Ehriften hat ed. Sekten gegeben, die fich zum 
Selbfimord vereinigten, ihren Mitgliedern denjelben zur Pflicht machten und 
Andere dazu nöthigten. Dahin gehören die Sekten der Gircumcellionen, Philips 
ponen und Roskolniken, die fidy oft. zu Hunderten in ihren Scheunen um ber 
reinen Lehre Chrifti willen verbrannten. : 

Der Selftmord kommt in allen Zebensaltern vom jechften 
Altersjiahbre an bisin das höchſte Greiſenalter vor, iſt jedoch in 
den mittleren Lebensjahren am bäufigiten. 

Eine auffallende, höchſt betrübende Tatfache ift es, daß Selbſtmorde au 
unter den Rindern. vorfommen, und dap:die Kinverfelbflinorde namentlich in der 
Gegenwart in jehr bemerkenswerther Welje zugenommen haben. In der zweiten 
Hälfte des vergangenen Jahrhunderts regte der Selbſtmord des jungen Jeruſalem 
ganz Deutfchland auf, Heutzutage vergeht kaum eine Woche, ohne day wir in 
der Zeitung von dein Selbflmorbe.rined Kindes laͤſen. Casper gibt an, . daß 
fih in Berlin von 1788 bis 1797 nnr.ein einziger Knabe durch Erhängen um's 
Leben gebracht hatte, Daß in den Jahren 1798 bis 1807 Dagegen jchon drei 
Knaben unter den Selbfimörbern angeführt worden, deren Zahl in ten Jahren 
von 1812 bis 1821 fich bis auf .einundbreißig geflcigert hatte. Im Sommer 
1843 kamen kurz nacheinander bei. und in: des Stadt Brandeis vier Selbfl» 
mordfälle 11 und 12jähriger Kinder vor. In Rorihampton ſtürzte fich 1844 
ein 13jähriges Mädchen in's Waſſer, nachdem Re von. ihrem Vater gefcholten 
worden war. Durand⸗Fardel hat nachgewieſen, daß unter. 25760 Eelbfls 
morden, die in den Jahren 1835 bis 1844 in Frankreich vorfamen, 192 Fälle 
fich fanden, bei denen die Indiniduen.unter 16 Jahren waren ; e8 kamen ſonach 
auf 134 Selbitmorde Erwachjener ein Kinberjelbitmord und im Durchichnitte 
in der angegebenen Zeit in einem Sabre 19 Selbjtmorde von Kindern unter 16 
Jahren vor. . Bon zwanzig genauer erörterten Fällen von Kinderſelbſtmorden, 
war einer. ‚unter 5, zwei unter 9, . zwei unter 10, fech8 unter 11, .fteben 
unter. 13,. zwei unter 14 Jahren. Es waren darunter 17 Knben und fieben 
Mädchen; je zehn erbängten und ertränften, zwei erſchoſſen fich, ein Kind vers 
fuchte vorher zu verhungern, ehe es fich ertränfte; bei zwei Mädchen und brei 
Knaben mißglüdte Der Verſuch. — Brierre de Boismont zählte unter 4595 in einem 
zehnzährigen Zeitraum beobachteten und genauer erörterten Fällen dem After nach 

von 10 Jahren 2 Bälleund zwar 1 Knaben 1 Mübchen 
»s 13 : »s 9 s 4— ⸗ 6 ⸗ 3 ⸗ 
„14 8 [ 8 
s15° =» 21: = sa 12 » 9 — 
s 16 } Pr 8 


.Pſycholsgie, 283 


Ya Berlin kamen in einem Jahre 220 Selbſtmorde vor; von dieſen 
Selbſtmördern ſtanden 32 erſt im 20., und 30 erſt im 25. Lebensjahre. Nach 
Dupin Tamen in Paris unter 50199 Individuen zwölf Selbflmörder von 
10 bis 15 Jahren, unter 71412 Individuen acht und dreißig Selbſtmörder von 
16 bis 20 Jahren vor. In England zählte man 1838 und 1839 unter 
2000 Selbftmorden 10 Selbftmorde von Kindern, die im 9—10 Jahre ſtanden. 
— In Königdberg ertränfte jich ein elfiähriger Ouintaner, weil er nicht mit 
nach Quarta verfeßt worden war. Taplor erzählt den Selbſtmord eines neun⸗ 
jährigen Knaben, der ſich in Hampflead erhängte, ebenjo den Selbſtmord eine 
dreigehnjährigen Knaben und zwei Selbſtmordverſuche von zwei Mädchen von 
elf und dreizehn Jahren. Ein Knabe von 13 Jahren, der von jeiner Mutter. 
wegen einer Unfolgſamkeit einen leichten Schlag mit einer Gerte erhalten Hatte, 
war Darüber auf's Höchſte aufgebracht, Iud eine Jagdflinte und fchoß ſich durch 
ten Kopf. Ein Kind zu Compiegne erftach ſich, weil es den Muftfunterricht 
verfäumt Hatte, aus Burcht vor Strafe. In Gleißen erhängte ſich im Auguft 
1820 ein Hütjunge an einem Baune aus Lebensüberdrug. Am 21. Oktober 
1821 verſuchte die zwölfjährige Plegetochter bed Tagelöhners R. in Bredlau 
fih am hellen Tage in der Ober zu erfäufen, angeblich aus Furcht vor Strafe, 
weil fte eine Kaffeetaſſe zerichlagen hatte. Ein Lehrling in einer Handlung zu 
©. machte den Verſuch fich zu entleiben, indem er ein nur mit Pulver geladenes 
Piſtol in den Mund ſetzte und abſchoß. Da hierdurch bloß ſtarke Verbrennung 
der Munphöhle erfolgte, fchnitt er fih mit einem Packmeſſer in den Hals nadh 
dem Genick zu. Als auch diefe Berwundung nicht gum Ziele führte, lud er das 
Terzerol zum zweitennale und ſchoß es gegen die Stirn ab, wodurch die Haute. 
bedeckungen zerriffen wurden. Lieberipannung und faljches Ehrgefühl jollten bie, - 
<riebfedern gewejen fein,*) Der Verfaſſer beobachtete vor Kurzem einen Fall 
son Selbitmord eines Schufterlehrlings Durch Erhängen, bei dem anfangs gar 
feine Motive aufgefunden werden Eonnten, Später ſtellte fich jedoch heraus, 
daß der fechözchnjährige Burfche am Abend vor ber That. zum erften Male auf 
den Tanzſaal gegangen war, bier aber wegen jeiner Kleinheit von allen Maͤd⸗ 
chen, die er zum Tanz aufforderte, abjchlägliche Antworten erhalten.und — 
aus Verzweiflung hierüber fich in feiner Kammer erhängt hatte, wie Died aus 
aufgefundenen Briefen hervorging. — Zu den gewöhnlichften Motiven der Kin« 
derfelbfimorde gehört Neid, Eiferfucht, Kummer, Aerger, Furcht vor Schande 
und Strafe. Don wejentlich begünftigendem Einflug ift hierbei, daß im find« 
lichen Alter die Affecte Lie Oberhand behalten und der Eontrole durch den Vers 
fland und bie Sittlichfeit entGchren. Die Lächerlichfeit derartiger Motive erhellt 
aus ten oben angeführten Beiſpielen, die wir bedeutend vermehren Fönnten und 
die jcherzhaften Worte des Claudius: 


„Nun mag ich auch nicht länger leben, 
Verhaßt iſt mir das Tageslicht, 

Denn ſie hat Franzen Küchen gegeben, 
Mir aber nicht!” 


haben ſich in unſerer Zeit zu einer erſchreckenden Wahrheit geftaltet. 
*) Casper, Beiträge zur mediciniſchen Statiſtik. 


284 | Der Eelbfword. 


Nicht minder merkwuͤrdig und jeden wahren Menfchenfreund tief erfchüt- 
ternd iſt Die Thatfache, daß Selbfimmrd. auch bei Letter, bie, wie man fagt, 
fchon mit beiden Beinen im Grabe ſtehen und bald nach dem naturgemäßen 
Berlaufe des Lebens vor den ‚höheren Richterſtuhl Ireten müßten, doch noch Inte 
mesbin haufig gemug fich finden. So berichtet Taylor von einem Selbſtmoͤrder, 
der im 97. Zebensjahre ſtand. Fin Mann von 80 Jahren, der geſund war und im 
Wohlſtande lebte, erhing ſich, blos weil er genug gelebt habe. Im Regierung» 
bezirke Oppeln ſoll fich eine Frau von 100 Jahren erhängt haben, weil fie 
non dem Wahne gequält wurde, Gott. habe fie, nachdem fie alle die Ihrigen 
überlebt Hatte, aus diefer Welt abzurufen vergeffen. Die Brahmanen Hielten es 
befanntlich fogar für erlaubt, fich den Schwächen des Alters durch Selbſtmord 
zu entziehen. Das merfwürbigfte Beifpiel von Greiſenſelbſtmord iſt Das vom 
Minifter des Innern in St. Peteröbnrg veröffentlichte, nach welchem ‚der Bauer 
Netfried Astapon im Kreife Mohilow im Alter von 120 Jahren ſich in feinem 
Etalle erhängte. Unter 220 Selbftmördern in Berlin fand Casper 32 bie bis 
ſechszig; 17 die bis ſtebenzig, 9 die bis achtzig Jahre und zwei bie uber achtzig 
Jahre zählter. Dupin fand in Paris unter 73918 Indieiduen von 51 did 60 
Jahren 85 Selbftmörder, water 50702 Individuen von 61 bis 70 Jahren aber 
46, unter 20331 Individuen von 71 bis 80 Jahren 14 und unter 4065 von 
81 bis 90 Jahr alten Individuen zwei Selbftmörder. Dieſe Thatjachen von 
den gar nicht fo feltenen Selbftimorden im Breifenalter find um ſo auffallender, 
als bekanntlich mit der Zunahme der Sahre die Luſt, Breude und Anhängliche 
feit am Leben zu wachien pflegt. Roth und Arbeitöunfähigfeit find keines⸗ 
wegs die häufigften Motive des Greifenfelbftinorbes; vielmehr finden wir ſelbſt 
unter Hoßpitaliten, die in jeder Hinficht verforgt ein ruhiges und beichnuliches 
Leben zu führen vermöchten, häufig genug Selbfimorte, 

Unm unſeren Lefern eine Anſchauung von der Haͤnfigkeit ter Selbſtmorde 
je nad den verfchiedenen Alteröflaffen zu geben, fligen wir einige tabellariſche 
Ueberſichten bei. Brierre de Boismont gibt über 4595 von ihm zuſammen⸗ 
geftellte, in Baris in einem gehnjährigen Zeitraum vorgefommene Selbſtmord⸗ 
fälle folgende Ueberficht: 


Alter des Selbſtmoͤrders. Männer. Grauen, Im Ganzen. 


Bon 10 bis 20 Jahren. 166 122 288 
..20 . 30. 676 343 1019 
=» 30 » 40 = 681 251 935 
- 40 ».50 » 654 241 895 
. 50.60 » 5600 191 691 
» 60 =» 70 » 310 136 446 
=» 710 = 80 « 111 51 162 
- 80.» 90 = 25 8 28 
s 90 - 91 = 2 — 2 
Ohne Altersangabe 90 39 129 


3215 1380 4695 


Pſpchologie. 285 


In fänmtlichen franzöflichen Departements neriheilten ſich die e Selhftmorde 
einer zehnjährigen Periode in folgender Weife: 


Alter. Männer. Braun. Im Ganzen. 

Bis zu 20 Jahren 905 446 1351: 
Bon 20 His 30 Jahren 2876 992 3808 

- 30 = 40 > 33038 945 4248 

s 40 = 50 - 3571 1111 4682 

- 50: 60 = 2903 1026 8929 

= 60» 70 = 2166 779 2945 

- 70» 80 = 1175 370 1545 

- 80 und darüber 247 80 327 


Alter unbekannt | 7161 217 978 





17907 5966 23873 


Das relative Verhaͤltniß der Selöftmorde nach dem Alter in Beziehung 
auf Die vorhandene Anzahl von Indieiduen geht. aus ſolgender von Matthieu 
aufgeſtellten Tabelle hervor. 


Im Alter v. 16— 21 Jahren Tommt 1 Selbftm. auf 22417 Individ. gleichen Alters 
3 s ® 21— 30 3 1 c 1)143 » * - 
s s s 30—40 « ® 1 “ ® 10425 5 2 
⸗ =» = 40 —50 = ⸗21 ⸗ 8078 ⸗ 
=» ss =: 50—60 > s 1 = =» 8373 = 

. 60-70 = 1. 0: 815 - 

| 1 
1 


% u % 
% % % “_ 


=> 2: 70-80 » . u 2 81T — * 
80 J. u. darüber = = = 10544 = ⸗ ⸗ 


Ebenſo führt Casper in ſeinen Tabellen aus, daß, wie auch die ſoeben hier 
mitgetheilten lehren, die meiſten Selbſtmorde im mittleren Lebensalter, na⸗ 
mentlich zwiſchen dem vierzigſten und fünfzigſten ſich finden. Zu analogen 
Rejultaten gelangten auch andere Statiſtiker. 

Die Anzahl der Selbfimorde ift bei den einzelnen Völ⸗ 
fern und Staaten eine ſehr verſchiedene und ſchwankende; bei 
den meiften civilijirten Staaten, Die eine genaue und fichere 
Beobachtung erlauben, Hat fih in den legten Jahrzehnten 
eine Zunahme der Selbfimorde mit Beſtimmtheit beraus⸗ 
geſtellt. 

Wenn man einen Blick auf die von uns oben in kurzen Umiſſen ge 
gebene Schilderung der Gejchichte des Selbfimordes wirft, fo wird von ſelbſt 
ar, daß die berrfchenden religidfen und forialen Ideen zu den verfchiedenen 
Beiten und hei den verjchietenen Völkern einen mächtig begünfligenden Ein⸗ 
fluß auf die Verbreitung und Ausdehnung des Selbfimorbes ausgeübt haben 
und noch ausüben. Es wird Daher natürlich die Zahl der Selbſtmorde nach 
den Staaten, ihren Einrichtungen, Beziehungen zu anderen Staaten, ſitt⸗ 
liches Bildung, religiöſem Geiſte, fowie in den einzelnen Staaten ſelbſt zu ber» 


286 Der. Seläftmorb, 


fehiedenen Zeitperioben bie Anzahl der Selbſtmorde eine vielfach wechfelnde 
fein und feine conftante Größe ergeben: Können. — Es würde uns bier zu 
weit führen, von allen Staaten eine Ueberſicht ber bafjelbft vorgefommenen 
Selbſtmorde zu geben, wir beichränfen und nur .auf die wichtigeren. 

Nach den Unterfuchungen des befannten großen Statiftiferd Fara ka⸗ 
men in England und Wales im Jahre 1838 im Ganzen 1058 GSelbfimorbe 
(751 Männer, 307. rauen), im Jahre 1839 aber 943 Selbſtmorde (636 
Männer, 307 Frauen), in beiden Jahren aljo 2001 vor. Nimmt man die Bes 
wölferung zu 15,900,000 Einwohnern an, fo kommt im Mittel ein Selbft- 
mord auf 15900 Einwohner. Nach einer anderen Angabe kamen im Jahre 
1838 auf England und Wales unter: 54000 Todeöfällen 1044 Selbſtmorde vor, 
fo dag fich das Verhältniß der Selbfimorte zu den Todesfällen aus natürlicher 
Urfache wie 1 zu 340 ftellt. — Es erfcheint dieſes Berhältnig ald ein günftiges, 
wenn man fich 3. B. vergegenwärtigt, daß in Frankreich nach den beften Uns 
terfuchungen ſchon auf 18461 Bewohner ein Selbſtmord Tommt und fleht 
das günjtige Proportionsverhältnis für England um fo räthielhafter de, 
wenn man bedenkt, daß in biefem Lande die Selbftmorde nach‘ allgemeiner 
Annahme gerade fehr Häufig fein follen. Das Refultat wird aber dadurch 
jehr getrübt und die Angabe eine ſehr illuforijche und trügerifche, ald in Eng⸗ 
Iand bekanntlich ſchwere gefepliche Strafen die Hinterbliebenen der Selbſtmörder 
treffen. Aus einer fehr verzeihlichen Milde hüten fich daher die Geichworenen 
fehr, ihr Verdict auf Selbſtmord auszufprechen und reichen viele ganz ent⸗ 
ſchiedene Fälle von Selbſtmord unter die Rubrif „Tod durch Geiſteskrank— 
heit, durch Zufall u. f. w.“ ein. Cine firengere Gontrole würde daher in 
dem oben angeführten Verbältnig eine große Aenderung bervorrufen. So 
finden wir denn auch im Jahre 1838 im Ganzen 12005 Todesfälle durch 
Bufälle, im Jahre 1839 deren 11980 aus gleicher Urfache angegeben. 

In Frankreich zählt man feit dem Anfange dieſes Jahrhunderts gegen 
100,000 Seldftmorde. Nach den Angaben von Guerry fielen in Frankrekch 
von 1827 bis 1830 im Ganzen 6900 Selbfimorde vor, aljo in einem Jahr 
im Mittel 1800. Im Jahre 1857 zählte man 3903 Selbftmorde, im Jahre 
1858 deren 3967, von denen allein 602, alfo 154 Procent der Gejanmi- 
zahl auf dad Seinebepartement kamen. 

Für einen Theil ber vereinigten Staaten Nordamerika's Hat ı Dr. Brigham 
im Jahre 1844 Hundert vier und achtzig Selbfimorde (154 Männer, "30 
Weiber) feſtgeſtell. Die größte Anzahl 44, kam auf Rew-Hork, 25 Auf 
Penſylvanien, 20 auf Maflachufetts, 13 auf Louifiana. 

In Belgien Eamen in ben vier Jahren von 1835 bis 1988, 620 
Selbfimorde vor; fonach Im Durchfchnitt in einen Jahre 155 und, wenn 
man die Bevölkerung zu 4,260,631 Individuen annimmt, aut auf 27, 488 
Individuen jährlich ein Selbſtmord. 

Nach Hubertz ftellte fich für Dänemark in ben Jahren von 1835 Bis 
1844 das Berbältnig fo, daß im Mittel. 407 Selbſtmorde auf ein: Jahr 
treffen. — Auffallend günftig iſt das Verhältnig Rußlands, ‚indem in ben 


VPſychologie.⸗ 287 


heilen dieſes Landes, welche zwifchen 42. und 54° N. Breite liegen, in ten 
Jahren 1819 und .1820 .bei einer Durchichnittöbenälferung von 777,746 
Menichen nur 25 Selbftmorde, d. h. 1 auf 38,882 Einwohner treffen. Noch 
beſſer flellt fich das Verhaͤltniß für die zwifchen dem 54° und. 64° R. Breite 
gelegenen Theile dieſes Landes, indem hier bei einer Bevölkerung von 808,854 
Mann nur 27 Selbftmorde vorfamen, To daß alfo erſt auf 54,577 Einwohner 
ein Selbftmord kommt. Es Tommt. jedoch diefen Angaben nach dem eigenen 
Beftändniffe rufftjcyer Statiftifer nur ein fehr geringer Werth bei, da: nicht 
nur. eine große Anzahl folcher, die im Waſſer aufgefunden worden: oder fich 
zu Tode gefoffen haben, daneben aufgezaͤhlt werben, als auch die Zahl derer, 
bie gar nicht aufgefunden worden, eine jehr beträchtliche ift. 

Indem- wir und’ zu den Staaten Deutfchlands wenden, finden wir, daß 
in Oeſterreich in den Jahren von 1819. bis 1827 anf 100,000 Einwohner 
85 Selbftmorte kommen, in den Jahren von 1828 bi8 1844 auf dieſelbe 
Einwohnerzahl aber 102 Selbfimorde. In Preußen berechnete Möhfen für 
bie ftebenzehn Jahre von 1758 bis 1774 auf 81,133 in Berlin Seflorbene 
nur 45 Selbſtmorde, jo daß fich unter theilweiſer Hinzurechnung der Er⸗ 
trunkenen und todt Aufgefundenen gleichwohl nur vier bis höchſtens ſechs 
Selbſtmorde auf 100,000 Xebende in damaliger Zeit ergeben. In den Jahren 
von 1834 bis 1843 kamen in Preußen 15,103 Selbflmorde vor, von denen 
12,359 von Männern, 2744 vor Weibern begangen wurden. — In Raſſau 
kamen im Jahre 1840 492 Selbſtmorde vor, 

In Schweden kamen im Jahre 1824 zweiundſechdzig, im Jahre 1825 . 
peeiundfünfzig Selbitmorde vor. Im Ganton Genf famen innerhalb zehn 
Jahren 133 Selbftmörder (95 männliche und 38 weibliche), im Ganton Zürich 
bei einer Bevölkerung von ungefähr 200,000 Seelen von ben Jahren 1818 
bis 1833 zwei hundert und elf Selbftmorbe und 45 Selbftmordnerfuche vor. 

Ganz natürlich war fchon feit längerer Zeit Die Aufmerfjamfeit der Regio 
zungen, wie der Schriftfteller über die Lehre vom Selbftmorde darauf gerichtet, die 
Abs oder Zunahme der Selbſtmorde in Beziehung auf die Bevölkerung feftzuftellen 
und zu esforjchen. Leider zeigte fich ſchon früh und ziemlich übereinflimmend von 
allen Seiten, daß die Selbſtmorde in der Gegenwart in einer erichredenven Weiſe 
um fich greifen. Cine Ihatjache von fo ernfler Wichtigkeit mußte ſelbſtver⸗ 
ſtändlich die allgemeine Aufmerkſamkeit in hohem Grabe erregen, führte eined« 
theild zu immer neueren Erörterungen über das Begründete dieſer Thatfachen, 
anterentheild zur Erforfchung der Urſachen und zuni Aufftellen von Hilft« 
mitteln zu deren Befeitigung. — Wir- belegen hier zunaͤchſt die Zunahme der 
der Selbſtmorde mit Zahlen und beginnen mit Preußen, wo Casper vor 35 
Sahren ſchon in einer fehr fleißigen und gründlichen Arbeit für Berlin den 
Nachweis lieferte, daß biefelbe Zahl von Selbſtmorden, Die dreißig Jahre vor⸗ 
ber ein ganzes Iahrzchend lieferte, in der damaligen Zeit im Durchichnitte 
ein einziges Jahr zeigte. In der Zeit von 1788 bis 1797 wurden nämlich in 
Berlin unter 900 Todten nur ein Selbſtmord gezählt, in ben Jahren von 
1799 bis 1808 ſchon unter fechöhundert, ja in ben Jahren von 1813-1822 


B6 De Schiene. 


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ses, m Juire 15535 wı come Tescllrnez ce 1.35, 2.3 Eric em 173 
Ediyasıke, is Le si 7523 Beretar eu Ecihumrt ir — Fix Due 
kurz I Etorr meigesscen. 105 ch Lich m Jahr 1327 dei ur 
Ceitimmertt 4:5, z5 ım Jıher 152%: so Grehemez & Fernteung aikle 
man :2 Irız yerupgsı Zahıra auf 1:ra. ne Ecbente 45 Sdriente. u im 
Jets 1554 !ımen ber 125.056 Guzwebuern alae 21 Srikiimerte -er. 3a 
Lem Sistiaetne zer Arımarı aM isn m Isle 1823 utc weniger 
dE eabmirı Eribimsrte soszriemma ’am, 38 ber Farrıllat Eiberilt 
Ismer ım ten Jubren Son 1516 — 22 roumentzmanne Scifümerte. alle 
20, au’ ji ,H, Lıkente, er. — Ask ten efkichen Esuitez Mıırıbeis 
Ian famm ın Eartinien im Iahrıe 1524 aut 72.053 Gmmerkuer em 
Eeitümert, im Jefre 1534 au? 37.572, im Iafre 1535 auf 50.313 Gin- 
wobner einer. — Ganz sleihe Bıerbälmine ergeben ih "ar Hranfıach. ©o 
kamen in ten Jabren 1794 Bid 1504 ım Mirel jäübrlich 197. vom 1614 
bi 15253 ion 338, on i535 bis 1535 aber 352 Erlbämorte tor. Deu 
rer man einzelue Jahre, ſe zeigten fh im Jahr 1515 im ter Duurelatı 255, 
im Mbre 1526 aber 357 une 1555 endlich 477 Srlkimorte, weiche Zablen 
üb anuäbernd zu einanter zerbalıem wie 3:4:6. — Briert te Boismont bar 
narbarwieien, bay im Jabre 1543 in Baris 25 Scikünorte mehr rorfamen, 
alö 1542; 55 mehr, ald 1541, 25 mehr ald 1640; 71 mebr ald 1839, 
69 mehr als 1535: 105 mehr al& 1837: 126 mebr ald 1836. 147 cher als 
16535 und 159 mehr ald im Jahre 1534. Yür ganz Frarkreich fellse ſich dad 
Verhaältniß io, tab im Jahre 1843 154 Selbflmorde mehr vorfamen, als 
1942; 206 mehr als 1541; 268 mehr ald 1840; 273 mehr als 1639; 
434 mebr als 1535; 577 mehr als 1837; 6890 mehr ald 1586; ;15 mehr 
mehr als 1535, und 942 Selbfimerte mehr ala im Jahre 1534. Rad dem 
Angaben ron Düfau kamen in Frankreich im Jahr 1527 auf 20,660 Ein⸗ 
wohner 1 Eelbſtmord, im Jahr 1837 auf 14,338 Eimmwohner einer, io af 
die Zunahme in 4 Jahren ein ganzes Viertheil berrägt. 


Der Selbſtmord. 289 


Diefe Zahlen zeigen deutlich, in welcher erfchredtenden Broportion das Ver- 
brechen des Selbftmordes zugenommen bat, und find geeignet, ſelbſt Den Theil⸗ 
nabmlofeften aus feiner Ruhe zu werten. Man darf dabei freilich nicht außer 
Acht Taffen, daß bie ftatiftifchen Erhebungen von Jahr zu Jahr eine größere 

Genauigkeit und Sorgfalt erlangt haben, gleichwohl kann in dieſem Limftande 
allein eine fo auffällige, allentbalben fich zeigente Zunahme nicht gefucht 
werden. — ‘ 

Es ift Hier der Ort, zugleich darauf aufmerffam zu machen, daß Die ge 
ſammten ftatiftifchen Erhebungen über die Häufigkeit der Selbfimorde nur eine 
annähernte Wahrheit geben Fönnen, da viele, auch bei ber größten Sorgfalt 
unvermeidliche Fehler mit Dabei unterlaufen werten. In diefer Beziehung 
müffen wir vor Allem daran erinnern, daß auch bie verfuchten, aber erfolglos 
gebliebenen Selbftmorde der Gefammtzahl von Selbfimorten eines Landes mit 
zuguredhnen wären. Nun werden aber befanntlich und ganz natürlich derartige 
verunglädte Scelbftentleibungsverfuche möglichft geheim gehalten, officielle An⸗ 
zeigen hierüber nur in wenig Staaten erfordert und fomit ein wichtiger Factor 
für die Berechnung entzogen. So zählt, um nur ein Beiſpiel anzuführen, 
Brierre de Boidmont in feiner Statiftit 470 auf, welche Verfuche zu Selbftmorb 
machten und dieſelben ein oder mehrmals wiererholten. Unter dieſen finden fich 
einige, die fünf, fleben, ja acht Selbſtmordverſuche gemacht hatten. Yür den 
Zeitraum vom Jahre 1834 bis 1843 berechnet Boidmont für Parid 1864 
Selöftmordverfuche, Die von 1017 Männern und 847 Weibern unternommen 
wurden. Die Sclhftmordverfuche wurden oft an einem Tage, oder nach fehr 
kurzen Zwijchenräumen, von wenigen wiederum auch erft nach Monaten und 
Jahren wiederholt. — Nicht felten verfuchen Die Angehörigen von Selbftmör« 
tern die That zu verheimlichen, und e8 gelingt ihnen Dies bei den mangelhaften 
Todtenfchaueinrichtungen vieler Staaten nur zu häufig. Viele Selbftmörter 
endlich werden gar nicht aufgefunden, von vielen Aufgefundenen bleibt e8 
zweitelhaft, ob fie verunglückt find oder fich ſelbft das Leben genommen haben, 
in welchen Fällen man gegenwärtig aus Humanitaͤtsrückſichten meift das erftere 
anzunehmen geneigt if. Hierher gehören namentlich die Leichen, welche im 
Waſſer aufgefunden werden. So berechnete Casper auf die Jahre 1817 bis 
1822 für Berlin als Zahl der im Waſſer Gefuntenen und Ertrunfenen 311, 
unter denen 207 Männer und nur 94 Weiber waren. Er ftellt das Verhältniß 
der Selbſtmörder zu den im Waſſer Aufgefundenen aus mehreren Jahren zu⸗ 
ſammen und Hat fo gefunden, dag man zählte: 


in den Jahren 1758 bi8 1774 : 45 Selbflmorde und 90 im Waller Gefundene 
.. a 1789 = 1796: 57 ⸗ = 97 » ⸗ ⸗ 
.. = 1812 =» 1822: 582 ⸗ - 301 = ⸗ ⸗ 


Man fleht, wie mit der Zunahme ber Selbſtmorde die Zahl der im 
Waſſer Aufgefundenen abnimmt, tag alfo unter Ießteren früher viele Selbſt⸗ 
morde fich befunden haben mögen. In Paris Hat man für das Jahr 1820 feſt⸗ 
geftellt, dag unter 260 aus dem Waſſer gezogenen nicht weniger ald 165 Selbſt⸗ 

V. 19 


290 Pfychologie. 


mörder waren. — Nicht außer Acht darf man ferner laſſen, daß unjere Rorta⸗ 
Iitätsliften an ſich nicht ganz zuverläfftg ind, und daß man endlich überall nur 
die groben Selbfimorde zählt, während bie jogenannten feinem Selbſtmorde 
außer Rechnung bleiben. . 

Der Selbſtmord findet fih unter dem männlidhen Ge» 
ſchlechte um Vieles häufiger ald unter tem weiblichen. 

Es geht diefe Behauptung jchon aus den früheren und mitgetheilten Ta- 
bellen hervor, denen wir bier einige weitere hierfür ſprechende Thatiachen an⸗ 
reihen. Wir entnehmen dem trefflichen Werke von Brierre de Boismont folgende 
das Verbältniß der Gefchlechter verfinnlichende tabellarijche Lieberficht. 


Selbfimerde zu Baris, Selbfimorde in ganz Frankreich. 
Jahr, Männer. raum Summa. Männer. Frauen. Summa. 
1834 257 95 352 s ⸗ 2078 
1835 287 107 394 1784 521 2305 
1836 297 118 415 1775 565 2340 
1837 292 144 436 1811 632 2443 
1838 309 163 472 1886 700 2586 
1839 332 138 470 2049 698 2747 
1840 351 165 516 2040 712 2752 
1841 336 147 483 2139 675 2814 
1842 355 161 516 2129 737 2866 
1843 399 142 541 2291 ° 729 3020 





In 10 Jahren: 32315 1380 4595 17904 5969 25951 


Petit fand unter 33032 Selbfimördern 24762 männliche und 8270 weib⸗ 
liche. Es verhalten ſich alſo nach diefen Angaben von Eleineren Ziffern ab⸗ 
gefehen, die weiblichen zu den männlichen Selbftimörbern wie 1:3. Devergie 
zahlt nach den in der Morgue von ihm gejammelten Nachrichten von 1834 
bi8 1846: 1398 männliche und 368 weibliche Selbſtmörder, fo daß nach 
ihm ſich das Verhaͤltniß annähernd wie 1:4 geftaltet. Es verdient dieſe letzte 
Angabe wenig Glauben, da auch nad den Unterfuchungen von Falret und 
Esquirol fig in Frankreich das Verhältnig der weiblichen zu ben männlichen 
Selbftmördern wie 3:1 geftaltet, ja nach anderen Mittheilungen noch höher 
wie 2:1, indem nach den amtlichen Aufzeichnungen von 1817 bis 1823 in 
Paris Selbſtmorde bei 1386 Männern und 734 Weibern aufgezählt wurden, 
ebenfo ftellt fich nach E3quirol für Die Jahre 1805 bis 1807 das Verhältniß fo, 
daß auf 282 männliche 113 weibliche Selbſtmorde kommen. In den meiften an⸗ 
deren Staaten ift der Selbſtmord bei Weibern viel jeltner ald in Frankreich, und es 
feheint in dieſem Staate bie freiere Stellung und größere Bedeutung des Weibes 
wejentlich die Urfache dieſes häufigeren Vorkonmens zu fein. Bei den Ratio 
nen, bei denen das Weib eine fehr untergeordnete und gedrüdte Stellung ein« 
nimmt, wie z. B. bei den Ehinefen, fleigt auch die Anzahl der weiblichen 
Selbſtmörder wiederum jehr bedeuiend. — Bür Berlin berechnet fich das Ber 


Der Selbſtmord. 291 


haͤltniß der Selbftmorde der Weiber zu denen der Männer wie 1:5, indem dort 
in den Jahren 1788 6i8,1821 auf 606 von Männern begangenen Selbſt⸗ 
töbtungen 121 von Weibern ausgeführte fommen. Im Iahre 1827 waren unter 
62 Selbftmördern nur fieben weibliche. In der Mark Brandenburg befanden 
fi} unter 45 Selbſtmördern 32 männliche und 13 weibliche, im Bezirke Poſen 
im Jahr 1820 unter 39,383 Geftorbenen 51 Selbfimörder, darunter 40 
männliche und 11 weibliche, Das Königreich Sachen zählte im Jahre 1830 
unter 42,185 Geflorbenen 169 Selbftmörder und zwar 128 männliche und 41 
weiblihe. In dem Zeitraume von zehn Jahren (1822 bis 1832) zählte mar 
in Brag 210 Selbftentleibungen, die von 177 Männern und 33 Weibern be⸗ 
gangen worden waren. In Bofton befanden fich unter 95 Selbftmördern 82 
männliche und 13 weibliche. — Die urfächlichen Berhältniffe dieſes fo betraͤcht⸗ 
lichen Ueberwiegens der männlichen Selbſtmörder liegen hauptſächlich in ber 
gefellfchaftlichen Stellung des Mannes, in den damit zufammenhängenden Lei⸗ 
denfchaften und zahlreichen Kränfungen und den daraus fowohl wie aus jeiner 
phyſiſchen Beichaffenheit entfiehenden Charaftereigenthümlichkeiten, während das 
Weib zufolge feiner bürgerlichen Stellung fidy eined ruhigeren Lebens erfreut 
und feinem Charakter nach zur Duldung von Beſchwerden und Widerwärtig« 
keiten mehr geeignet iſt. | 

Der Selbfimord findet fih unter der Bevölkerung der 
Städte häufiger als auf dem Lande, er kommt nicht minder bei 
den geiflig Höher ſtehenden Nationen in größerer Ausdehnung 
vor, als bei den Völkern auf niederer Stufeder Ausbildung. 

Es geht dieſe Behauptung bereitö deutlich aus den früheren flatiftifchen 
Angaben hervor. Namentlich find es die größeren Städte, die Sammelpläge 
des Lurus und der Ausſchweifungen, die Pflege» und Pflanzflätten ber ver⸗ 
beerendften, den Menſchen fchändenten Leidenichaften, welche das nicht bes 
neidenswerthe Vorrecht der bäufigften Selbfttödtungen in Anſpruch nehmen, 
Rach den Zufammenftellungen von Casper famen in den Jahren von 1816 
bis 1822 in Preußen 2790 Selbftmorde in den Städten und 2190 Selbſtmorde 
auf den Lande vor. Ermwägt man dabei, daß von der gefamnten Bevoͤlkerußg 
nur ein Viertel in den Städten wohnt, fo ergibt fich, daß auf 100,000 Bes 
wohner ter Städte 14, des flachen Landes nur 4 Selbflmörber zu rechnen 
find. In Prag ftellte ſich das Verbältnig fo, daß auf 654 Todesfälle ein 
Selbſtmord traf, während im übrigen Boͤhmen nur einer auf 838. In ter Pros 
vinz Lüttich verhielt ſich mach einem zehnjährigen Durchichnitte Die Zahl der 
Selbflmörder in ber Statt zu jenem auf dem Lande wie 5 zu 3. Nach 
einem fünfjährigen Durchfchnitte Famen in Preußen auf 100,000 Lebende in 
der Provinz Brandenburg 14, in ber Provinz Sadıfen 10, in Schleften 9, 
in Oftpreugen und Ponmern je 7, in Weftpreußen 6, in Pofen 5, in Cleve 
und Berg 4, in Weftphalen 3, in Niederrhein 2 Selbfimorde. Berlin 
liefert Dad Haupteontigent der Selbflmörder, Nach neuen Mittheilungen kommt 
in der Provinz Brandenburg auf 6800 Einwohner, in der Provinz Wefl- 
phalen erſt auf 29,444 Bewohner je ein Selbfimord. Berüchtigt wegen Der 

19 * 


22 Vinhelsgiz. 

Sinti: 'ımı Ecittmerte ui zamezut zu Cesezbagz. cıtcm ; B. im 
Jabre 1517 bei A. Serlza 31 Eelfüimorke serizme Rub Erscrmser be 
rabeer or iu? fie Erz Erwenhayeı ıllaim 4.54. 1a de äfrrıee timifchen 
Urmtekrkeiie zur je 3.1*°0: 2, zıt I’ I Seater fr nz Sefhümert 
ww >) Selm. ix Saris eizer axi 2175 Gıawelnn Guers Dur für 
Irızfreit witgerieen, tab in ten Brerizgen cr Ser jungen Orrrferuneg 
von ter Susrtäutt, vie der Guurititiz der sor:eiwer Surteirketi: tie Seife 
merte eztizreckent afuekmen. Gi Iren ;. 2, in tem Iceurzzmmır Gäuren:e 
auf 13.151 Berckar, iz tea Sum - Tem ur 1534 Boretzer je eier 
Scttmet. — Kiabrent in Bern usefımsc er 27,13% Gıamebuer eier 
EelFũmere mir. if das Serkiinih ir Frohe mu tee Quasctatt 1: 
13.155 Eimmefuer. In ter Stadt Treo Dort Nr mar 12” 3335 Bewohner 
einen Scikimert, in Tom Jım;en uetizen Stacte zur iuf 23,253 Seeirm einen 
— Allerdiaas ıa af in emeları stop Scifer te Anzabt der Zeib- 
mirter zerina, intem ; ®. in Rose im uber 1323 Sr 350. 20æ Gin 
weenern zur 13 Sclhtmerte <ertzmen, wırer relten zer sea Kuleteaige 
beganı.z wurten. Derartiae szaı Tyrbilizime Anlen TE jetoce ziel sm ver- 
einzelr. um tz eben ausgereectene Roi uk au ben ;= Rerm Gö 
ſtett ter Sup rer, tus tie Kiteide Rerältereng tel subiriberr Orete red 
Sclhümertet liefern, ıla tie linkiite wat tus er ver ten Mirelsunckren ber 
Giriii’zrien in gleidminiz aenehmuenter Scirte nıh tem umiszenten Yante- 
heilen audärakiı — Sierait Hehe die atere Thavace in Juizmmenhuny 
Rap je nk tem Bıllanzägrate ber Ruten tie Anzabl ter Sciäimmerte Reis. 
Zie im Rıurzußxnte Ikonen Betr Irzzen ten Selber? Fa sır sie: 
im Lem eatlegenen Iketiien ca Rıtimt gebert er necd eur ;u ter Selten- 
keiten: iz einzeizen Ibetſen sea Sazriam? tl cin Seifert eorat yı0; Us 
erhottes ſein. Im ter Türkei and unser ter uestetintnen Belferz des nazren 
Gentinexts ii er eben’zl2 i:tr ſelten. DE einisen menizen Nazionem icheim 
jeted ein enrikiedener Harz zum Seltimert zu beiteben. 

In Bezug zur Lie Zeit des Tages, in welhen tie Selbu⸗ 
Merte-orzerommen wertes. Exı rich ergeSen, der tie Rebr- 
zabl ter Selbümerte auf ten Tag und smwar in tie Mergen— 
kuuten rillt. 

Bir geben zunitt eine Ueberſicht con 755 Selbfinerten sch ten Taget- 
Runten -ertteilt. Es tedteten fit son kieren 

MWeraend zen 12 bis 2 Ubrt: 7 


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Der Selbſtmord. 293 


Es ftellt ſich in dieſem Balle heraus, daß die meiften Selbſtmorde, nahezu der fechfte 
Theil, auf die Morgenftunden zwiſchen ſechs und acht fallen. Guerry nimmt 
ebenfalld an, daß die meiften Selbftentleibungen Morgens zwijchen ſechs und 
acht und Abends zwijchen fech8 und acht Uhr vorfommen. — Bon 4595 
Selbfimorden, die Brierre de Boismont analyfirt hat, kommen 2094 auf den 
ag, 766 auf den Abend, 658 auf die Nacht; bei 1077 war die Tagedzeit des 
Selbſtmordes ganz unbefannt. Bei 1382 Selbftmördern war auch die Stunde 
der That befannt und theilten fich diefelben danach in folgender Welje: 





Morgens Nachmittags 

5 Uhr: 70 1 Uhr: 79 

6 » 102 2» 117 . 
7 = 102 3 = 109 

8 = 126 4 = 89 

9 = 104 - bs 86 
10 = 110 6 » 67 
il = 81 7 = 17 
12 = 123 564 

818 


Auch aus diefer Zufammenftellung ergibt fi, daß die meiften Selbft- 
morde auf den Tag, beſonders auf die Morgenftunden fallen; es fcheint Dies 
anzudeuten, daß der Entjchluß der That meift in der Stille der Nacht reift. 

In Bezug auf die Zahl der Selbftmorde in den einzelnen Monaten eines 
Jahres hat ſich nach demfelben Schriftfteller für Frankreich bei 23,873 in den 
Jahren 1835 6i8 1843 vorgefommenen Selbftmorden herausgeftellt, Daß auf den 
Januar 1626, auf den Bebruar 1647, auf den Mär; 2081, auf den April 
2167, auf den Mai 2544, auf den Juni 25897, auf den Suli 2622, auf den 
Auguft 2176, auf den September 1755, auf den Oftober 1692, auf ten 
Rovember 1520 und auf ten Monat December 1456 Gelbfimorde Tonnen, 
und daß fomit die größte Anzahl auf die vier Monate Mai bis Auguft fällt. 

Vonden verfhiedenen Confeffionen der hriftlidhen Kirche 
zählt die Fatholifche Die wenigſten Selbfimorde. 

Von vielen Seiten ift diefer Ausfpruch gethan worden und Hat ſich der⸗ 
jelbe vielfach ald wahr bewiefen, wenn man ihn mit dem nöthigen Vorbehalt 
hinnimmt. Blumenbach führt an, daß in der Schweiz die häufigften Selbit- 
morde auf Lie reformirten Gantone Eonımen. Aehnliches haben Arnold und 
Oftander behauptet. Am forgfältigften hat Casper für Preußen die Hierher 
gehörigen Verhältniffe erörtert. In den vier Provinzen von ganz evangelijcher 
Confeſſion in Brandenburg, Pommern, Sacfen, Oftpreußen kommen im 
Durchſchnitt 9/2 Selbitmord auf 100,000 Einwohner. In Schleften, wo die 
Sauptmaffe der Bevölkerung zu 5/5 aus Evangelifchen, zu *o aus Katholiken 
befteht, verhalten fich Die Selbftmorde wie 9: 100,000; in Weſtpreußen, wo 
beide Meligionen ziemlich gleich find, wie 6:100,000. In den übrigen übere 
wiegend Fatholiichen Provinzen fomnıen auf 100,000 Einwohner nur 3 Selbfts 


294 Piocelsgie. 


morte im Turchichnitte. — Aehnliche Verhältnifſe haben fi für Berlin er- 
geben. Desgleichen kommen bei ten Juten in Preußen wenig Selbſtmorde ver, 
intem in den Provinzen, in Lenen viele Juden wohnen, die Selbitmorde nur jelten 
Aint. Au Zerlin zeige unter jeinen Selbſtmördern nur wenig Juten. Gleiches 
Neſultat geht aus einer von Heyfelder mitgerheilten Vergleichung ter Regie 
rungöbezirfe Trier und Goblenz hervor. Prevoft beflätige es für Genf. — 
In ten ausichlieplich katholiſchen Läntern Spanien und Italien find Selpft- 
morte jelten. 

Es läßt ſichein Einfluß ter Witterung» und klimatiſchen 
Verhältnijie auf die Anzahl der Selbſtmorde nidı mit Be 
ſtimmtheit nachweifen. 

Mit Meiem Sage treten wir mit der noch gegenwärtig in allen Schichten 
ter Geſellſchaft weit verbreiteten Anficht, daß Witterung wie Elima einen fehr 
bebeutenten Einfluß auf das Borfommen ron Eelbftmorten ausübe, in Wider: 
fpruh. Und doch fommt ein jeder bei einer vorurtheilsfreien Prüfung ter jo 
verfchiedenen Angaben über dieſen Punft gewiß zu einem gleichen Rejultate. 
So hört man vielfach Lie Behauptung, daß ein hoher Barometerſtand, na⸗ 
mentlich ein beträchtlich fchneller Wechiel in tem Stante ter Queckfilberſäule 
den Selbftmord begünftigen jolle und gleichwohl fchen wir derartige Schwan- 
ungen in jedem Jahre Häufig ohne eine Zunahme der Selbſtmorde. Nadı 
Dflander follen zur Zeit der Tag⸗ und Rachtgleichen, nach Wertheim in Wien 
im Brachmonat, nah Echweig in England im Monat Ronember, der deshalb 
dort auch der Hängemonat heißt, die Selbftmorde am häufigften fein; Es—⸗ 
quirol laͤßt die Mehrzahl der Selbſtmorde mit großer Hitze, andere mit großer 
Kälte zufammenfallen. Wo bleibt derartigen fo entgegengejegten Behauptungen 
gegenüber der Zufammenhang, wo läßt fi ein Einfluß der Witterung zeigen ? 
So beſchuldigt man ferner bald den Ofl-, bald den Wefhwind, bald eine unges 
wöhnlich Tange gleichmäßige Windrichtungen, bald ein feuchtes, bald ein 
trodened Klima, bald trübe, bald heitere Tage, ohne dag man bei forgfäl 
tigerer Analyfe in diefe Angaben irgend einen vernünftigen Zuſammenhang 
bringen könnte. Und müßte es in und in der That nicht ein trauriges Gefühl 
hervorrufen, wenn wir und fagen müßten, daß wir fo ſehr von atmosphärifchen 
Einflüffen abhängig feien, daß diefe fogar und zum Selbſtmord verleiten könn⸗ 
ten? Wir ſehen ja weiter, daß Länder mit ziemlich gleichen Elimatijchen Ver⸗ 
bältniffen eine große Abweichung in Bezug auf ihre Selbfimorde darbieten 
fönnen, daß nicht minder in fo vielen Gegenden bie Selbftmorte zugenommen 
haben, ohne daß die Witterungsverhältniffe fich anders gejtaltet Hätten. Es 
ſcheint uns daher natürlicher, zunächft andere urfächliche Verhältniffe für die 
relative Häufigkeit der Selbſtmorde in den einzelnen Staaten aufzufuchen. 

Es befteht in einzelnen Fällen unzweifelhaft eine ererbte 
Anlage oder Neigung zum Selbfimord, fo daß man in einem 
allertings befchränften Sinne von einer Erblichkeit des 
Selbſtmordes reden kann. 

Faͤlle von Neigung zu Selbſtmord mehrere Generationen hindurch finden 


Der Selbiimord, 295 


[) 
fih Häufig in der Literatur angeführt, fle find aber namentlich in Familien 
gefunden worden, in denen Geiſtesſtörungen und verfchiebene, fonderbare 
Charaktere Heimifch waren. So erzählt Lantard folgenden Kal, Mann und 
Frau, erfterer 42, Teßtere 36 Jahr alt, wurden geifteöfran? und enbigen 
durch Selbſtmord, jener durch den Strang, diefe im Waſſer. Sie Hinterlaflen 
3 Kinder, die ältejte Tochter vergiftet fi im 24. Jahr, nachdem fle längere _ 
Zeit in Proftitution gelebt; der Sohn erwürgt ſich im 21. Jahre, eines Brut 
mordes angeflagt; die jüngfte Tochter ftürzt fich im fechften Monat ſchwanger 
von einem Dache herab; fie hinterließ einen Sohn, der ſchon frühzeitig öfters 
in's Gefaͤngniß geftecft wurde und dann als Abenteurer nach Aegypten ging. 

Burrows erzählt folgenden Fall einer Neigung zum Selbftmord durch drei 
Generationen. Ter Großvater diefer Familie erhängte ſich. Von feinen vier 
Söhnen erbängte fich einer, erfchoß fich einer, einer ertränfte ſich, nachdem er 
wahnftnnig geworden war, in fehr auffälliger Weife und nur der vierte flarb 
notz feines ercentrifchen Weſens eines natürlichen Todes. Zwei diefer Söhne 
hatten geheirarhet. Don dem dritten Sohne flarb ein Kind wahnftnnig, zwei 
andere erträntten fih, ein viertes wurde ebenfalld wahnfinnig und machte 
Selbftmordrerjuche. Auch in der vierten Generation zeigte fich bei Einigen nach 
Eintritt der Pubertät Schwermutb. 

Fräulein M. von Orotava, 30 Jahr alt, aus einer altfpanifchen, adeligen, 
nie durch eine Mesalliance verunreinigten Familie, ift geiftesfranf in der Form 
eined periodiſchen Wechfeld von Melancholie und Manie mit Reigung zum 
Selbftmort. Ihr Großvater flarb durch Selbftmord im 50. Lebensjahr. Don 
feinen drei Söhnen endigten zwei fchon Im jugendlichen Alter aus Liebeskummer 
felbjt ihr Leben. Der dritte, der Vater des Fräuleins M., zeigt ſolche Bizar⸗ 
serien und Launen, daß man ihn für mahezu geiftesfranf haften muß. Sein 
Sohn, der einzige Bruder der M., flürzte fih im 20. Jahre in's Meer aus 
Verzweiflung über die Untreue der Geliebten; ihre Schwefter zeigt in den glück⸗ 
lichiten Lebensverhältnifien einen fo düfteren Charakter, dag man ihr baffelbe 
Schickſal prophezeiht. 

Gall kannte eine Familie, in welcher fich ſieben Brüder, die fämmtlich eine 
angenehme und fichere Eriftenz genofjen, zwifchen dem 30. und 40. Lebensjahre 
ermordeten, und eine andere, in welcher fich tie Großmutter, die Mutter und 
die Tante ermordet hatten, die Tochter nur mit Mühe von einem Verſuche, fich 
durch's Fenſter zu flürzen, zurüdgehalten werben Eonnte und der Soßn fl 
erhing. 

Falret erwähnt der Familie eines Färbers, welcher von gejunten Aeltern 
abftammend, ftetd von ftiller und mürrifcher Gemüthöbefchaffenheit war; er hin⸗ 
terlich nach feinem natürlichen Tode fünf Söhne und eine Tochter. Der ältefte 
Sohn war Kaufmann, Vater mehrerer Kinder und in glücklichen Umſtaͤnden, 
beffenungeachtet zeigte er Spuren von Melancholie und Lebensüberdruß und 
flürzte jich ungeachtet ter Wachfamkeit feiner Familie im 40. Jahre aus dem 
3. Stockwerk in den Hof. Der zweite Sohn war ebenfalld Kaufmann, und vers 
beirathet, hatte häuslichen Verdruß, verlor einen Theil feines Vermögens im 


we Mindologie. 


& 

Spiel und erhängte fih im 35. Lebensjahre. Der dritte flürzte fich ohne bes 
fannte Veranlaſſung von einem Fenſter in den Barten, ward aber gerettet und 
fagte nachher, er habe fliegen lernen wollen; ber vierte war einmal im Begriffe 
fich zu erſchießen, warb aber daran verhindert; der fünfte war ebenfalld von 
melancholiicher Gemuͤthsftimmung. Nur die Echwefler zeigte feine Spur von 
ber Kranfheit ihrer Brüder. 

— 05 Dieſe wenigen Beifpiele, die wir jehr anſehnlich vermehren könnten, - 
mögen genügen, um dad Beſtehen einer Erblichfeit der Reigung zum Selbſt⸗ 
mord darzuthun. | 

Der Selbfimord fommt bidweilen in 10 häufiger Zah 
vor, daß man mit Recht von Selbftmortepidemien ſprechen 
fann. Es find aud einzelne Fälle von Geſellſchaften befannt 
geworden, deren Aufgabe der Selbfimort der Mitglieder war. 

Es £lingt in der That fonderbar, wenn man von Selbftmordepidemien 
fprechen hört und doch find jchon vom frühiten Alterthume an Fälle bekannt, 
die dieſen Ramen vollfländig rechtfertigen. 

Am längften bekannt ift die von Plutarch mitgerheilte Selbftmorbepidemie 
unter den Grauen und Jungfrauen zu Mile, ald die Männer durch Krieg 
längere Zeit in ter Zerne gehalten wurden. Erft als der Magiftrat in Milet 
ein Befanntmachung erließ, daß in Zukunft jede Selbitmörderin nackt durch bie 
Straßen geichleift werden folle, ließen die Selbftmorte jofort nach. Eine ähnliche 
Epidemie beobachtete mangegen dad Ende des fünfzehnten Jahrhunderts unter den 
MWeibern von Lyon, wie denn überhaupt derartige Epidemien vorzugsweiſe bei 
dem weiblichen Gejchlechte zur Beobachtung gefommen find. Sydenham erzählt 
von einer gleichen Epitemie zu Manngfeld im Suni 1697, in welchem eine 
ungewöhnliche Hitze herrſchte. Burrows erzählt von einem epidemifchen Vor⸗ 
fommen des Selbſtmordes in einem NRegimente auf Malta. Bekannt find die 
zahlreihen Eelbftmorde unter der Kaijergarte in Paris, die jofort aufhörten, 
. al$ Rapolcon I. den Befehl erließ, es fei in Zukunft jeder Selbftmörber als 
Feigling anzufehen. Blumenbach erwähnt von London, daß die Jahre 1735 
md 1736 in Bezug auf Vorkommen von Selbitentleibungen ausgezeichnet ge= 
gewejen wären. Ebenſo berichtet Wertheim von Wien, daß dort in dem heißen 
Somner 1803 die Selbſtmorde förmlich zur Mote geworden jeien. Rach amt» 
lichen MittHeilungen famen in Erfurt im Auguft 1823 in zehn Tagen fünf 
Selbſtmorde vor. Esquirol beobachtete 1813 im Dorfe Et. Pierre- Monjeau 
eine Selbftmordepidemie, wo eine Frau ſich erhing und viele andere fich ge⸗ 
drungen fühlten, ihrem Beifpicle zu folgen. Im Jahre 1772 erhängten fich im 
Invalidenhauſe zu Paris in jehr Furzer Zeit fünfzehn Indivibuen an dem 
gleichen Hafen, ter in einem dunflen Gange fih befand. Man nahm den 
Hafen weg und brach ein Fenfter durch, um den Gang zu erhellen und fogleich 
war dem Uebel für immer abgeholfen. — Ein Invalide erhing fi an dem 
Thorwege eines jchönen Hauſes; binnen vierzehn Tagen folgten feinem Beifpiele 
mehrere andere Invaliden an derfelben Stelle. — Das traurigfte Zeichen ber 
Beit und einer unglüdfeligen Verblendung ift es, daß man fogar Geſellſchaften 


Der Selbſtmord. 297 


zum Bwerfe des Selbſtmordes gebildet hat. So beſtand amtlichen Mittheilungen zu⸗ 
folge eine „Geſellſchaft der Freunde des Selbſtmordea“, deren Mitglieder fich bis 
auf zwölf beliefen. Alljährlich follen nach ihren Gefegen die Ranıen berfelben 
in einer Urne gemifcht und durch das 2008 derjenige beflimmt werden, der ſich 
in Gegenwart ter übrigen dad Leben zu nehmen Hat, Als Aufnahmebedingungen 
galten, daß der Hetreffende ein Mann von Ehre fei, Erfahrungen über die . 
Ungerechtigkeit der Menjchen habe, von der Undankbarkeit eines Freundes, ber 
Falſchheit einer Gattin oder Geliebten, und da er endlich feit Jahren eine ges 
wife unbezwingliche Xeere in der Seele habe, ein Mißbehagen an Allem, was 
bie irdifche Welt bietet. — Etwas ähnliches theilt Casper nach amtlichen 
Quellen über Berlin in folgender Weife mit. Im Jahre 1817 erfchoß fich der 
Schlofjermeifter %. zu B. im preußifchen Regierungsbezirke &., Vater von vier 
unmündigen Kindern. Er war das legte Glied einer freundfchaftlichen Geſell⸗ 
haft von ſechs Perfonen, deren Grundſatz Selbfimord gewefen. Drei von 
ihnen hatten jich zu N. in ihren Wohnungen, der vierte auf dem Grabe feiner 
Frau daſelbſt, der fünfte in Eisleben und der fechfte in Mainz erfchoffen. Acht 
oder neun Jahre Hatte ihre. freundichaftliche Verbindung flattgefunden. Sie 
ſchloſſen fich überall an einander, an öffentlihen Orten hielten fle ftetd zuſam⸗ 
men und man börte jehr oft Die Örundfäte des Selbſtmordes von ihnen aus⸗ 
fprechen. Ihre übrigen wenigen vertrauten Freunde fanden in diefen Aeuße⸗ 
rungen einen lücherlichen Heroismus und wurten nur erft aufmerkſam, als der 
zweite und dritte Selbſtmord erfolgte. Die Selbftmörber waren: ein Seifen» 
fieder, ein Töpfer, ein Handſchuhmacher, ein Schloffer, jämmtlih in R. 
wohnhaft, ein Rothgießer zu Mainz und ein Zinngießer zu Eisleben. Die 
beiden letzteren hatten früher ald Geſellen in R. genrbeitet. 

Solche Thatjachen fprechen zu lant, um eined Commentars zu bes 
dürfen. 

Man hat vielfach verfucht, in den Leihen der Selbſtmörder 
Beränderungen aufzufinden, die man als Urfachen des Selbfl- 
mordesanichen fönnte, doch haben diefe Interfuhungen fein 
Rejultat ergeben. 

Es war, namentlich jeitdem die Anatomie des Franken Menichen in neuerer 
Zeit ſehr eifrig betrieben wurde, ganz natürlih, daß man auch in den Leichen - 
der Selbſtmörder nach krankhaften Veränterungen fuchte, "die man mit der 
Handlung des Selbſtmordes in einen urſächlichen Zuſammenhang bringen 
könnte. Man fand dann auch bald eine Menge Veränderungen in den Leichen 
von Selbftmördern, von denen die einen häufiger, die anderen feltner fich zeige 
ten, aber dieje Franfhaften Produkte zeigten fich eben fo oft, ja häufiger noch in den 
Leichen der eines natürlichen Todes @eftorbenen und bie Verſchiedenartigkeiten der 
Befunde in den Eelbftmörterleichen wiederum erlaubten nicht bie vorgefundene 
Störung mit den urfächlichen DVerhältniffen in Zufanmenhang zu bringen. So 
war denn dad Mejultat bis jegt nur ein negatives, ja es iſt nicht einmal bisher 
gelungen, in den Leichen entſchieden Wahnſinniger, die eine Neigung zum 
Selbſtmord zeigten, oder ſich während der Geiſtesſtörung wirklich ſelbſt eutleibten, 


298 Pſychologie. 


ſolche Störungen im Gehirne ausfindig zu machen, von denen aus durch ihr 
eonſtantes Vorkommen fich dieſe Neigung zum Selbſtmorde erklaͤren ließ. Dabei 
iſt es aber ganz ohne Zweifel, daß in nicht zu ſeltenen Faͤllen von Selbſtent⸗ 
leibungen Krankheiten des Körpers die Urſachen des Selbſtmordes abgeben; 
gleihwoht ift Hier nicht die Krankheit als ſolche die Urfache des Selbſtmordes, 
fondern die durch fie hervorgerufene geiftige Verſtimmung, der Lebensüberdruß, 
der durch die Krankheit nur von einer Seite her Nahrung empfängt und erfl 
durch das Bufammentreffen mit zahlreichen anderen Verhaͤltniſſen zur Vernich⸗ 
tung des eigenen Lebens treibt. 

Der Selbftmord findet jih unter allen Klafjen und d Sqiq- 
ten der Geſellſchaft. 

In welchem Verhaͤltniſſe die verſchiedenartigen Erwerbszweige und Staͤnde 
unter einander in Bezug auf das Vorkommen der Selbſtmorde ſtehen, laͤßt fich 
nicht mit leidlicher Sicherheit erörtern, Da einerſeits viele Verhältnifie gänzlich 
unbefannt bleiben, anderentheild auch ein vielfacher Wechiel in den Beſchaͤfti⸗ 
gungen bei den einzelnen Individuen vorfommt, auch das relative Verhaͤltniß 
der Stände unter einander nicht genügend feflzuftellen it. Zudem ergeben auch 
die Verhaͤltniſſe der einzelnen Staaten zahlreiche Abweichungen, fo daß an eine 
allgemein gültige Keftftellung in diejer Beziehung nicht zu denken ift. Casper 
zählt unter feinen 535 Selbftmördern, bie von 1812 bis 1821 in Berlin 
vorfamen: 31 Lehrlinge und Knaben, 91 Handwerker, 38 Soldaten, 40 
Knechte und Tagelöhner, 8 Künftler, 4 Fabrifanten, 3 Gelehrte, 3 Beamte, 
16 Kaufleute, 44 von verfchiedenen Gewerben, 172 unbefannte Männer 
(man fieht wie bedeutend dieſe Eumme ift), 33 Ehefrauen, 20 Wittwen, 
23 unverheirathete Srauenzimmer, 8 Dienſtmaͤdchen, 1 öffentliched Mädchen. 
— Unter den Handwerfern zeichnen fich befonders die Weber durch eine 
hohe Zahl aus, wobei namentlich die figende Lebensweiſe, die jo einför« 
mige, mechanijche, den Geift töbtende Beichäftigung und die vielfachen Stö- 
zungen durch Handelsſtockungen u. |. w. die wichrigfte Urjache abzugeben 
fcheinen. NRächftdem find Die Selbſtmorde am Häufigften bei den Soldaten und 
Handarbeitern. Brierre de Boismont zählt unter feinen 4595 Selbftmördern 
ebenfalld 442, bei denen Dad Gewerbe unbekannt war, dann 1535 unter den 
Sandiwerfern, 763 Kaufleute, 624 Diener, Köche u. |. w., 270 Atvofaten, 
Aerzte, Studenten u. |. w., 260 Soldaten, 17 öffentliche Mädchen u. ſ. w. 
Das Verbältnig Der Selbitmorde unter den linverheiratbeten, Eheleuten und 
Verwittweten ftellt fich nach demſelben Schrififteller jo, daß unter 4595 Selbſi⸗ 
mördern 2080 Unverehelichte (1501 Männer, 579 Frauen), tann 1644 Vers 
heirathete (1129 Maänner, 515 Frauen); 560 im MWittwerflande febente (319 
Männer, 241 Brauen) fich befinten, jo daß ſich aljo das Verhältniß der Sclöf- 
morde unter den letigen Srauen zu den Männern wie 1:2,76, der verheiratheten 
wie 1:2,19, der Verwittweten wie 1:1,32 verhält. Nach Prevoſt verhält fich 
in Genf im Durchſchnitte Die Zahl der unverheiratbeten Selbftmörder zu jener 
der verheiratbeten wie 7 zu 6. Ebenjo find in Branfreich die Selbſtmorde unver- 
beiratbeter Perſonen überwiegend. — Nicht minder jchwanfend und unſicher 


Der GSelbftmord. 299 


Ss 


find Die Angaben über die Verbältniffe unter Reichen und Armen, indem man 
3. B. in England gerade in den vermögenberen Klafien viele Selbftentleibungen 
zählt, während biefelben in Deutfchland in der Armeren Klaffe überwiegend 
häufig find. 

Die Art und Weiſe der Ausführung des Selbſtmordes if 
eine ſehr verfchiedene. | 

Zahlreich find die Arten, auf welche ein Selbſtmörder feinen Zweck zu er⸗ 
reichen ſucht und immer werden neue Wege erſonnen, dem eigenen Leben ein Biel 
zu jegen, oft mit einem einer edleren Sache würdigen Scharfjinn und Combina⸗ 
tiondgeifte. Manichfache Verhältniffe beeinflußen die Wahl der Todesart. Im 
vielen Faͤllen entfcheidet die Leichtigfeit der Ausführung, in anderen ift der Trieb 
der Nachahmung unverfennbar, oft gibt die eigenthümliche geiftige Richtung, die 
Stimmung des Gemüthes, die gefellfchaftliche Stellung den Ausfchlag. Nicht 
minder großen Einfluß übt das Gefchlecht aus. inzelne Selbftmordarten 
treten zu gewiffen Zeiten epidemifch auf, wie 3. B. in den [epten Jahren «6 
häufiger vorgefommen, daß die Menfchen fih von Eijenbahnzügen überfahren 
ließen, ferner tie Erftidungen durch Kohlendampf, die namentlich in Branfreich 
in ganz auffallender Weife zugenommen haben. Nicht minder äußeren die Sit- 
ten des Landes und ber Eulturzuftand eines Volkes Einfluß auf die Wahl 
der Todesart, wie weiterhin auch die Vefchäftigungswelle, örtliche Verhält« 
niffe, ja der Zufall eine nicht unwichtige Rolle dabei fpielen. In den Jahren 
von 1835 bis 1843 wählten in Frankreich von 23,873 Selbftmörder 8015 
(5162 Männer, 2853 rauen), ten Tod durch Ertränfen, 7402 (5867 
Männer, 1545 Frauen) erbängten fich, 4082 (4013 Männer, 69 Frauen er. 
ſchoſſen fih, 1673 (911 Männer, 762 Brauen) erflidten ſich dur Kohlen⸗ 
dampf, 1006 (617 Männer, 359 Frauen) tödteten fi durch Hinabſtürzen von 
Höhen, 974 (834 Männer, 140 Brauen) durch ſcharfe Inftrumente, 601 (413 
Männer, 188 rauen) vergifteten fi und 120 tödteten fh durch Anwendung 
verfchiedener Mittel. Nach Petit erfäuften fich in den Jahren von 1835 bis 
1847 11,048; 10605 erhängten fi, 5362 erjchoffen fi, 2321 erftidten 
fih durch Kohlendampf, 1399 flürzten fich von Höhen herab, 1328 erftachen 
fich, 791 vergifteten fich und 178 wendeten verjchiedene Mittel an. Nicht jelten 
kommen auch Doppelfelbfimorde vor, namentlich häufig zwifchen Liebenden in 
den Jahren ber erften Gefchlechtöreife, bei zarten, empfindlichen Naturen, die 
fich gegen die Härten und Rauheiten bed Lebens nicht zu behaupten im Stande 
find. Großes und allgemeines Aufichen erregte im Jahre 1811 der von dem 
bekannten Dichter Heinrich von Kleift und feiner Geliebten verübte Doppelfeldft« 
mord. Beide fand man erfchoffen und aus einem Briefe ging hervor, daß ber 
fgwärmerifche Dichter zuerft feine Geliebte, dann fich felbft erfchoffen Hatte, 
Oft binden ſich die Perfonen zufammen und flürzen fich gemeinjam in 
das Waffer. 

In Berlin erhängten ſich in zehn Jahren 234, 163 erfchoflen fich, 60 er⸗ 
tränkten ſich, 27 jchnitten ſich den Hals ab, 20 erflachen fich, 19 flürzten ſich 
aus den Fenſtern, 10 vergifteten ſich und zwei töbteten fich durch Oeffnen ber 


800 Pfychologie. 

Adern. — In Schweden nahmen ſich in den heiten Jahren 1824 und 25 ein⸗ 
undzwanzig durch Erfäufen, 20 durch Erſchießen, 30 durch Erhängen, 16 
durch Erflechen, 27 durch Vergiften das Leben. In Prag vertheilten fich die 
Eelbtmörter eines zehnjührigen Zeitraumeß in folgente Art: Eriüufen 33, ers 
fehießen 45, von Höhen herabflürzen 6, erbängen 79, erftechen 33, vergiften 14. 
In ten Jahren von 1825 bis 1834 erjäuften jih in Genf 55, erichoffen fich 
31, während fi} nur 18 erhängten, 15 von einer Abhöbe herabſtürzten und je 
7 fich vergifteten und erflachen. 

Es gebt aus dieſen Angaben hervor, daß ſich in Deurichland Pie meiften . 
Selbſtmörder erhängen, was auch in gleicher Weiſe für England gilt. In 
Frankreich tritt Diele Art der Selbftentleitung jebr in ten Hintergrund, dort 
herricht das Ertränfen, Herabflürzen von Höhen und GErftiden in Koblen« 
Dampf vor, welche fegtere Todesart in Teutichland nur in ganz untergeortneter 
Weife vorkommt. Daß der Selbſtmord durch Erſchießen ſich vorwiegend bei 
Männern, und unter Liejen wieter hauprächlich unter dem Militär und bel 
Jägern u. j. w. findet, fann nicht Wunter nehmen; Frauen find des Umganges 
mit Schußwaffen nicht gewohnt; fie wählen Daher antere Todesarten, namentlich 
auch folche, wodurch fie auch nach Dem Tode allgemeined Auffehen erregen und 
ihrer Neigung zur Fitelfeit noch fröhnen können. Tod durch Gift finden wir vor» 
züglich in den Berufäclaffen, Die mit Giften fornrährent umzugehen haben und 
deren Wirkung kennen, wie Nerzte, Apotheker, Maler u. |. w. Der Tod dur 
Verhungern findet ſich nur jelten, Da zu deſſen Turchführung eine große moras 
tifche Kraft erforderlich if; wo er vorkommt, trifft er faft ausſchließlich ent⸗ 
ſchieden Geiſteskranke. Nicht minder felten ift Selbſtmord durch Erfrieren. 
Andere, denen ed an Muth gebricht, Sand an fich zu Tegen, fuchen durch Bitten 
an Andere, fie von dem ihnen Täftigen Xeben zu befreien, ihr Ziel zu erreichen, 
oder fie fügen ihren Bitten, wenn fie nichts fruchten, Verſprechen und Dros 
hungen hinzu. Manche juchen Dadurch den gewünſchten Tod zu erreichen, daß 
fle ein mit dem Tode bedrohtes Verbrechen begehen; es geichieht dies jedoch faft 
ausfchlieglich nur von Geiftesfranfen. In feiner Weife fuchen fich andere Durch 
fortgejegted Aufiuchen von Lebensgefahr umzubringen. Hin und wieder findet 
man die beflinnmte Abficht ausgefprochen, nur in einer beftimmten Weife z. 2. 
durch Erſchießen fid, Das Leben zu nehmen, io daß terartige Intirituen mit der 
Ausführung ihres Planes fo lange zögern, bis es ihnen gelingt, ihr Vorhaben 
nach ihrer einmal feftftehenden Meinung vollenden zu fünnen; fie laffen dann 
jede andere Gelegenheit zum Selbftmord unbenügt verftreichen. 

Mit einem wahren Raffinement verbinten manche Selbftniörder mehrere 
Todesarien mit einander. So ift ed gar nicht felten,, bei den Erfäuften zugleich 
Schußverlegungen, Schnittwunden u. f. w. aufzufinden, wo nach der Sachlage 
jede Verlegung durch fremde Hand ausgefchloffen ift; es ift dieſe Thatſache ein 
Umftand, den man fletd im Auge halten muß, um nicht, wie dieß fo oft ges 
fhieht, alsdann einen Mord anzunehmen oder wenigſtens nach den Thätern 
eines folchen zu fuchen. Oft find die Bälle fo complicirt, daß es nur geübten 
Sachverftändigen mit Mühe gelingt, die Verhaͤltniſſe fo feftzuftellen, dag man 


Der Selbfimord. 301 


über das Borbandenfein von Mord oder Selbfimord nicht mehr im Zweifel ift. 
— Wenn der Beriuch der Selbſtentleibung mißlingt, fo werben bei wieder⸗ 

oltem Verſuche oft verfchietene Methoten angewenbet, und der Entfchluß fich 
EN tödten oft mit erſtaunenswerther Feſtigkeit und Beharrlichkeit feftgehalten 
und anjcheinend unüberfteigliche Hinderniffe beftegt. Ein Apothefer zu Ehatillon 
machte innerhalb anderthalb Jahren acht Verſuche, fich durch Vergiften, Er⸗ 
ſticken, Erflecyen und Erſchießen zu töbten, wurde aber ftetd gerettet. Ein achte 
zehnjühriges Mädchen in England machte in zwei Jahren ſechs Selbſtentlei⸗ 
bungsverſuche, zuerft nahm fle Gift, dann erhing fie fih, dann verfuchte fie 
zweimal fich die Kehle abzuichneiten, einmal fich zu erfchießen und vergiftete ſich 
endlich mit Arſenik. Ein 2tjähriger gejunder Schuftergefelle follte wegen Bas 
gabondirens in feine Heimath transportirt werden; er brachte ſich mit einem 
Raſirmeſſer einen 4/2 Zoll langen Schnitt zwifchen Kehlkopf und Zungenbein 
bei, worauf eine beträchtliche Blutung erfolgte. Nach fünf Wochen war er 
geheilt und wieder munter. Ein halbes Iahr nachher erhing er fich, ward je 
doch wieder abgefchnitten und gerettet. Er blieb Danach wieder heiter, ald wenn 
nicht8 vorgefallen wäre und erklärte feine bisherigen VBerfuche für dumme Streiche, 
Trotzdem erbing er fich ein Jahr darauf wieder. 

In der Wahl fih zu töten entwideln einzelne Selbftmörder einen ganz 
ungewöhnlichen Scharfjinn und verfallen auf Dinge, Die man mit Zug und 
Hecht ald Zeichen halber Berrüdtheit anzufehen gezwungen wird. Davon nur 
einige der merkwürdigſten Beifpiele. Ein Engländer fürgte fh im Jahr 1834 
in den Krater des Veſurs; ein Franzoſe ftellte fih, um auf eine ganz beſondere 
Art aus der Welt zu kommen, auf einen großen Schwäruer und entzündete 
dieſen. Bei den Hindus gehört zu den geheiligten Todedarten nebit dem 
Hungerfterben und tem Verbrennen, auch Das, am Ganges fich Die Kehle ab⸗ 
zufchneiden, oder von einem Krofodille verjpeiien zu laffen, oder ſich im Schnee 
der Gchirge vor Ihibet zu vergraben und zu erfrieren. — Im Auguſt 1824 
tödtete jich ein Schweizer in Murten, indem er Mund, Naſe unt Ohren mit 
Schießpulver erfüllte und Dies anzündete. Porcia tödtete fich bekanntlich durch 
das Verſchlucken glübender Kohlen. Bauchaufichneiden, Selbftentmannung und 
Kreuzigung und eine Menge anderer. Quälereien werden ‚zur Vernichtung des 
Lebens benugt. Ein interefjantes Beiſpiel merkwürdiger Selbfttöttung ift der 
vielfach bekannte Fall von Matthäus Lovat*). Derfelbe, der Sohn eines 
Bauern aus Belluno, batte immer große Liebe zum Müßiggang und große 
Frömmigkeit gezeigt und wollte deshalb ein Geiftlicher werben. Als dies fi 
nicht thun lich, warb er Schuhmacher. Er erkrankte an Kopfſchmerz und jener 
eigenthümlichen, unter den Namen Bellagra befannten Hautaffection. Im Jahr 
1802 ſchnitt er fich mit einer Kneipe die Gefchlechtöcheile völlig weg, warf fie 
auf Lie Straße und heilte die Wunde felbft. Alsdann ging er nad) Venedig, 
wo er ſich fchon im Jahre 1803 an cin aus den Brettern feiner Bettſtelle ver⸗ 


*) Dr. L. Ruggieri, Geſchichte der durch M. Lovat an ſich felbft vollzogenen 
Kreuzigung. Rudolſtadt, 1807. 


802 Pſychologie. 


fertigtes Kreuz heften wollte, aber von den Vorübergehenden daran verhindert 
wurde. Am 19. Juli 1805 that er es wirklich, nachdem er vorher einen Zettel 
gefchrieben, des Inhaltes, daß fein Tod nicht das Werk eines Anderen fei, fong 
dern der Wille Gottes ihm den Kreuzeötod auferlegt habe. Durch eine im 
Voraus zubereitete Vorrichtung hing er fich nachher unter's Fenſter zur Zeit, als 
bad Bolf aus einer Kirche dort vorbeigehen mußte. Er ward nom Kreuze abges 
nommen, in's Hofpital gebracht und hier geheilt, er ward hierauf in ein Irren- 
haus gebracht, wo er einmal ſechs, das andere Mal elf Tage Feine Nahrung zu 
ſich nahm und endlich im April 1806 an der Auszehrung flarb. Einen Beweis wie, 
wenn Ealter Widerwille oder völlige Bleichgültigkeit gegen das Leben den wohl« 
überlegten Entſchluß zu feiner Abkürzung zur Reife bringen, Eitelfeit und Sucht 
nach Originalität jo weit gehen, um als Poffenreißer aus dem Leben zu fcheiden, 
gibt folgendes Beifpiel. Ein menfchenfeindlicher Lord, der lange Jahre ein völlig 
einfames und abgeichlofiened Leben geführt hatte, Tud auf einmal eine glänzgente 
Geſellſchaft ein, bewirthete diefe fehr reichlich und ließ fich, als feine Säfte am 
heiterften und audgelafienften waren, mit Hilfe einer Mafchine als ein mit 
brennenden Lampen umbangener Kronleuchter an einem Stride erhängt durch 
Die Decke des Speifelaales herab. 

Ein ebenfo troftlojes Zeichen moralifchen Verfalles ift es, daß in unfrer 
Beit ter Selbftmord fogar zum Gegenſtande der Speculation gemacht wurte, 
wie z. B. in Paris, wo ein Mann ſich von einer Brüde berunterftürzte, fich 
wieber berausziehen ließ und bie Umftehenden burch eine rührende Erzählung 
feine® grenzenlofen Unglüds zur Sanımlung milder Beiträge veranlaßte, Später 
ftellte es fich heraus, daß dieſer Menfch ein ganz gemeiner Schwindler fei und 
daſſelbe Experiment fchon zu wiederholten Malen ausgeführt habe. 

Bon Intereffe ift e8 demnach zu fragen, wie fih in den einzelnen 
Ländern die Selbſtmorde zu den Morden verhalten. Im allges 
meinen kann man wohl ausfprechen, daß mit dem Fortichreiten der Kultur und 
Intelligenz die Morde abnehmen, während ſich die Selbftimorde vermehren. Für 
die Jahre 1818 bis 1822 berechnete Casper für Preußen 2164 Selbftmorde und 
176 Morde und Todtfchlägereien, fo daß alfo auf einen Mord ungefähr zwölf 
Selbftmorde kommen. In Paris zählte man von 1819 6i8 1823 nur 21 Morde 
und 60 Vergiftungen bei einer Volksmenge von 800,000 Seelen, während in 
derfelben Zeit 1756 Selbftworde vorfamen. Dagegen famen in Spanien im 
Jahre 1826 vor die Gerichte: 1233 Todtfchläge, 13 Kindermorde, 5 Vergif⸗ 
tungen und nur 16 Selbſtmorde. In Rußland halten fi Morde und Selbſt⸗ 
morde jo ziemlich Die Wage. — — 

Wir verlaffen nunmehr dasjenige Gebiet des Selbftmordes, wo wir mehr 
oder weniger feſt begründete und durch Zahlen rachzuweifende Verhältniffe geben 
fonnten, um und nunmehr zu einer eracteren Erforjchung weniger günftiger 
Theile, zur Darlegung der Motive, zu wenden. BVerfländigen wir und 
zunächft über die Urt der Unterfuhung Man findet meift allenthalben bie 
äußeren Motive angegeben, in denen man die Lirfache des Selbſtmordes fine 
und nad denen man bie beobachteten Fälle zu clafiificiren und einzureihen 


Der Selbitmorb, 303 


ſucht. Wir müflen und biergegen mit aller Beftimmtheit ausfprechen. So 
lieſt man nur zu häufig, von fo und fo viel Selbſtmördern haben ſich aus 
Armuth, aus Furcht, aud Sorge, aus Lebensüberbruß u. f. w. fo und fo 
viele Dad Leben genommen. Daß Hiermit an ſich nur wenig gefagt ft, leuchtet 
ein; denn tie äußeren Motive allein können ben Selbſtword nicht erklären, ba 
fle oft ganz fehlen und oft jo unbebeutend find, dag man in dieſen Motiven 
allein die Urfache der Selbfttödtung nimmermehr wird finden können. Andes 
rerfelt@ iſt es doch eine unleugbare Thatfache, dag biefelben Verbältniffe, bie 
diefem oder jenem zur Vernichtung des eigenen Lebens beftimmt haben follen, 
ganz in derfelben Weife bei einer ungleich größeren Anzahl von Menfchen 
ebenfalls obwalten und gewiß ebenfo fehmerzlich empfunden werben, ohne doch 
zum Selbſtmorde zu führen. Vatel, ein Günftling Ludwig XIV. erfchoß fich, 
weil er bei einem Gaſtmahle dem Könige nicht das erwartete Gericht Seefiſche 
vorfegen fonnte. Ein Weinfofter, der fich bei der Beftimmung einer Wein 
probe irrte, glaubte feinen angeblichen Schimpf nur durch einen freiwilligen 
Tod audlöfchen zu können, Jeder vernünftige Mann wird dieſe Motive ale 
lächerlich bezeichnen, auch laſſen fich diefelben in den gewöhnlich aufgeftellten 
Aubrifen nicht recht unterbringen. Und doch find die Motive für die Leute, die 
jo handelten, keineswegs abgeſchmackt, fondern fliehen in innigem Bufammen«- 
bang mit dem Gharafter und ihrer thörichten anipruchdvollen Eitelkeit. Oft 
erfcheinen auch Außere Umftände nur fcheinbar ala Motiv des Selbfimorbes, 
während ganz andere, tief in der Seele und dem Charakter liegende Verhältniffe 
den Audichlag gegeben haben. Weiterhin find aber die Motive des Selbſt⸗ 
mordes und der Semüthszuftände der Menfchen vor ber That fo zahlloje und 
verfchiedene, daB es auch aus biefem Grunde nicht gelingt, eine allgemeine 
Ueberſicht aufzuftellen. 

Der einzige Weg, der daher Aufklärung in diefem Labyrinthe fchaffen 
kann, ift der einer firengen pſychologiſchen Analyje des Einzelfalles und ber 
daraus im Allgemeinen mit geringerer oder größerer Wahrfcheinlichfeit abzuleis 
denden allgemeinen Grundfäge. Es iſt alfo die Aufgabe, die inneren Motive 
zu erforfchen,, welche zur Zerftörung des eigenen Lebens führen, ald denjenigen, 
welche zumächft Licht ſchaffen und erfi in zweiter Reihe gilt e8, die Außeren Bes 
bingungen zu ermitteln, welchen bie befonteren zum Tode treibenden Umſtaͤnde 
ihre Entſtehung verdanken, 

Wir müffen und ferner bei unjeren Betrachtungen auf den chriftlichen 
Standpunft ftellen und den erhabenen Lehren unferer Religion gemäß können 
wir den Selbſtmord unter Feiner Bedingung für erlaubt erklären, hiermit je» 
doch die Berechtigung einer Prüfung vom philoſophiſchem Standpunkte aus 
keineswegs verfennend. Das Heiligite Gebot der Religion fordert Liebe und. 
Ehrfurcht gegen Gott, fordert in weiterer Bolgerung baraus bie unbebingte 
Unterwerfung unter die göttlichen Rathſchlüſſe und geduldiges, glaubensvolles 
Aushalten in allen, auch den fehwierigften Lagen des Lebens und zeichnet uns 
hiermit die unwandelbare Richtſchnur für unfer irdiſches Daſein vor. Wer fi 
frevelhaft gegen dieje Heiligen Gebote auflchnt und trogig die Hand gegen jein 


304 Pſychologie. 


hoͤchſtes irdiſches Gut, ſein Leben, richtet, dem werden wir in einzelnen Faͤllen 
unſere Theilnahme nicht verſagen, ihn mit innigem Mitleide betrauern, aber 
rechtfertigen oder gar gutheißen können wir ſeine Handlung nie! Es uͤberhebt 
uns dieſer hier dargelegte Standpunkt auch, jene bei einzelnen Völkerſtaͤmmen 
in Folge religiöſer Gebote vorkommenden Selbſtmorde — wir erinnern an die 
Wittwenverbrennung der Indier — zu analyſtren, fo intereſſante Aufichlüffe 
auch hierbei in Bezug auf die Darlegung der Motive fich erwarten ließen. Wir 
müfjen auch derartige Handlungen vom chriftlichen Standpunfte aus migbilligen 
und für deren Befeitigung nach Kräften anftreben. 

Es kommen, wenn auch immerhin felten, auch Selbfitmorde aus 
einemedlen, tugendhaften Zwede vor. Als am 9. Juli 1386 Arnold 
son Winkelriced aus Unterwalden in der Schlacht von Senwach mit den Wors 
ten: „Ich will euch eine Gaſſe machen, forgt für mein Weib und meine Kin⸗ 
ber‘ die dichtgedrängten Speere der Feinde zufammenfaßte und fie in jelne 
Bruſt drüdte, beging er unzweifelhaft einen Selbftmord, wer aber wollte aufe 
leben und fich getrauen, einen Stein auf ihn zu werfen? Wer möchte fo Falt 
umd gefühllos fein, jene edlen Jungfrauen , welche fich in dem von Tilly erober- 
ten Magdeburg in Schaaren ten Tod gaben, um fi} der tiefften fittlichen 
Herabwürdigung zu entziehen, oder die Griechen in Ipfara und Miffolungbi, 
Die fich mafjenweife iödteten, um der Unterdrüdung eines unbarmberzigen 
Feindes zu entflichen, wer möchte, jagen wir, fo fireng fein, dieſelben eined 
Verbrechens zu zeihen? Der geiftreiche Ideler bemerft mit Necht, daß Hand⸗ 
lungen jolcher Art als Ieidenfchaftliche Ausbrüche einer auf die ärgfte Kolter 
geſpannten fittlichen Natur auch Dann rejpectirt werden wollen, wenn fle von 
dem ethiſchen Geſetze des Alltagslebens mit jeinen bequemen, geregelten Ver⸗ 
haͤltniſſen abweichen. 

Bekanntlich ift Die Luft am Leben, der Trieb ber Selbfterhaltung in 
eines jeden Menichen Bruft Iebendig. Trotz des Elendes, in denen Hundert⸗ 
taufende dahin ftechen und ein kümmerliches, jammervolled Dafein friften, 
bleibt diefer Trieb in ihnen erhalten und fehen wir fie fort und fort ringen 
und kämpfen. Es itt jedoch nicht zu verfennen, daß Viele Teichtfinnig und 
muthwillig ihr Leben Durch Genüffe und Ausfchweifungen untergraben und 
fi einen frühzeitigen Tod bereiten, doch fehlt Hier die Abficht, und wenn 
ſie fich auch fagen müflen, daß ſie ſich durch ihre Lebendweile Schaden zu- 
fügen, fo hilft ihnen Leichter Sinn und die Hoffnung, daß es am Ende nicht 
fo ſchlimm ausfallen werde, darüber hinweg. Mit dieier Erfahrung, diefem 
Raturgejege fteht es in Widerſpruch, daß berjelbe Menich, der ſich wie ein 
Berzweifelter wehrt, wenn ihn der tüdifche Strom in feinen Fluten begraben 
will, der Alles aufbietet, dem auf ihm gezückten Mordgeivehre zu entgehen, 
dag wir denfelben Menichen fih in bewußter Abficht in den Fluß flürzen 
fehen, um dort ein freiwillige und frühzeitiges Grab zu finden; derſelbe 
Menſch ſetzt auch die Waffe auf feine Bruft, um feinem Leben ein Ende zu 
machen. Der Widerſpruch, der bierin Liegt, hat fchon lange Die tiefften 
Denker zu jeiner Löfung angeregt. Man darf fich in der That nicht wundern, 


Pſypchologie. 305 


wenn vielen dieſer Wiberfpruch fo grell erfchien, daß fie ed nicht für möglich 
hielten, daß ji ein Menfch bei gefunden Sinnen ſelbſt entleiben könnte. So 
it denn von jehr geachteter Seite, wir erinnern an Eöquirol, Falret-u. A., 
die Anficht ausgeſprochen worden, daß bei jedem Selbfimörber eine Beiftesftö- 
zung, eine pſychiſche Erkrankung beftehe und daß fich niemals ein Menfch mit 
Falten Blute und bei gefunden Verſtande das Leben nehme. Diefer Sap, deſſen 
wohlmeinende Abſicht anzuerkennen ift, kann doch vor einer ſtrengeren Kritik 
nicht beftehen, und wir müflen es mit aller Beftimmiheit ausfprechen, daß 
der Selbfimord keineswegs immer bas Refultat einer pfochi« 
hen Krankheit ift, jondern in zahlreichen Fällen ganz ent» 
ſchieden mit Selbftbewußptfein vorgenommen wird, 

Wenn jemand aus fehr reellen Beweggründen ſich das Leben nimmt, wenn 
ber Lebensuüberdruß zu den Umfländen und ben Außerlich nachweisbaren pſy⸗ 
chiſchen Urſachen in einem gewifien richtigen Verhaͤltniſſe fteht, dann kann man 
fiher nicht von einer ©eiftesftörung reden. Wenn jemand unter Flarer Auf 
faffung der Sachlage zu der Ueberzeugung gelangt, daß das Leben, wie es bis⸗ 
ber beftanden und wie es fich weiterhin für ihn zeigt, feinen Reiz mehr für ihn 
bat, ihm nicht zur Befriedigung gereicht, und die Art und Weile, wie er die 
äußeren Verhältnijje auffaßt, eine richtige ift, To fann man es fchwerlich einer 
Geiſteskrankheit zufchreiben, wenn er fich das Leben nimnıt. 

Wenn Cato mit feinen floifchen Leidensgenoſſen ſich das Leben nimmt, 
weil er ed nicht ertragen kann, fein Vaterland von einem Thrannen unterjocht 
zu fehen, und diefe feine That mit Ealter Ruhe und Befonnenheit überlegt und 
ausführt, fo möchten wir ben ſehen, ber hier eine Geiſteskrankheit nachweifen 
fönnte. Aehnliche beweijende Fälle von Selbſtmordverſuchen hiſtoriſch ber 
rühmter Perfonen find vielfach vorgefonmen und müſſen wir zu weiterer Uns 
terſtützung unſeres Beweiſes wenigftend einige der wichtigeren bier anführen, 
Themiſtocles und Hannibal vergifteten ſich befanntlich, da jener den Untergaug 
des Vaterlandes nicht befchleunigen, diefer denjelben nicht überleben konnte, 
Aug gleich edlen Beweggründen nahmen fich Caſſius und Brutus das Leben, 
und des Iegteren edle Gattin Porcia, die Vertraute feiner wichtigiten Geheim⸗ 
nijfe, folgte dem Beijpiele ihres Gatten und tödtete ih durch das Verichluden 
glühender Kohlen. Aus den Briefwechfel Briedrich des Großen mit feiner 
Schweiter der Marfgräfin von Baben iſt e8 befannt, daß derfelbe mehrfach ben 
Gedanken an Selbftmord bei feiner verzweiflungdvollen Rage gehabt, dieſe An⸗ 
ficht jeiner Schweſter auseinanderfegte und ihr feine Beweggruͤnde barlegte, 
Rapoleon der Große machte befanntlich zu drei verjchiedenen Malen, jedoch 
bereitelte Selbftmordveriuche. Angeſichts folder Thatſachen dürfte es doch ſchwer 
ſein, die Behauptung, daß nur ein Geiſteskranker ein Selbſtmörder werden 
könnte, zu rechtfertigen und muß man es denen, die eine ſolche Behauptung 
ausſprechen, uͤberlaſſen, ihre Anſicht für die angegebenen Faͤlle durchzuführen. 

Wenn Jemand fich tödtet, weil er den Verluft feiner Ehre nicht zu ertragen 
vermag oder unter beftändigen geiltigen und Eörperlichen Leiden zu unterliegen 
rare fo iſt feine Selbjttödtung vom moralifchen Geſichtspunkte aus anzugreifen 

20 


306 Der Selbſtwerd. 


md su zatein, aber ibr Peiwesen geiftedfeimt u rem, baben wir feine 
Aerekrigurg. Ein Menich, ter Aıkeeiria in Selluit mt Völlerei alle Ges 
nüne dee Lebent erikörke und in Xefae triner Uekerfättiaung, einer tbaten⸗ 
los -erfrafeen Jabre ãch emtli®, um der ibn smeiternten 2rere zu entacben, 
tae Leken rierm, Kıfr Ali zeit nicht Peik. aber geiſteskrank int er derbe 
wegen ne mtr. — Auch durch Arie Unrertuskungen bat man natbgerieſen. 
ag saklreite Kölle «on Eelkitnert ebne aeiftize Störuna verfommen. Brierre 
te Reismen: Par "ür !rine 1595 Selehmörder nakaeriefen, daf nur bri 652 
die Lem in Kelse einer Serlenttörung enimten war. Rab Dufau war 
unter ten Eelbſtinertern te? Zabres 1936 bei einem Trirerbeil deutlich audge- 
irrodenes Irrriern sorkanten. Mach anderen. ten wahren Verkiltniffen näber 
fommenten Untertuckungen nt ungeſübr 35 £i2 109 Procent ter Se!kitmörter 
Heilig geſtört. In zielen Fällen Fillı bie Enticheitung für eder aesen Annabme 
einer Serlenſtẽrung Ütirer und man it daber nicht selten in der 222e und auch 
berechtigt, für dieſe eine verminderte Zurechnunasabigkeit anzunehmen. 

Die äuseren Motire, tie Selkitmork verantezñen, int unentfi mannich⸗ 
faltiag, es ift daber ichwer, ibren Ginflug auf tie Sersorfrinaung Son Selbtt- 
morten genügen? nadksrweiien, da Lie Gruprirungen je nat der Aufanlung 
bes Einzelnen wechſeln und ſebr verichietene Meiulrate ergeben. ausertem auch 
bei zielen Seltittötrungen tie Veranlaffungen ganı untefanne bleiben. Cine 
Ber Eefieren, obſchen immer noch ſebr mangelbaften Urkerſichten bat Brierre te 
Poidmont gegeben. Rach ibm war kei 4595 Selbſtmördern tie berbeifübrende 
Urſache in 652 Fällen ausgeſprochene Seelentörung, 530 mal Trunkluckt, 
405 mal förrerliche Krankheiten, 361 mal bäuklicher Kummer, 311 mal 
Aerzer und Ritermärtigfeiten, 306 mal Liebe, 252 mal Armutb und Elent, 

77 mal Oeftzerlegenbeiten und Vermögmärerfut, 237 mal Lebensüber⸗ 
druß, 145 mal Cbarakterſchwaͤche. 134 mal Furcht vor Entebrung, Gemiften!- 
biffe, 121 mal ausſchweiſendes Leben, 56 mal Träakeit, 55 mal akute Telirien. 
54 mal Eiferſucht, 44 mal das Ericl, 43 mal Arbeitsloñgkeit, 26 mal Eitel- 
keit, bei 38 Selbſtmördern waren tie Morice verſchiedene und kei 518 ganz 
unbekannt. — Gadrer fant als Veranlaſſung des Selbſtmords bei 500 
in Berlin vorgekommenen Faͤllen: 14 Selbſtmorde aue gekraͤnktem Ebrge⸗ 
fühl, bei 631 Geiſteszerrüttung, bei 54 Trunk und liederlichen Lebenswandel, 
bei 32 Furcht vor Strafe, bei 18 Schulden und Nabrungéſorgen, bei 12 Liebe, 
bei 11 ehelichen Unfrieden, bei 3 Lebensũberdruß, kei 12 körperliche Krank⸗ 
heiten, bei 1 religioie Schwärmerei: in 292 Fällen waren bie äußeren Veran⸗ 
faflungen ganz unbekannt. Eim Blick auf die Tabellen genügt, deren Unzuder⸗ 
laͤſſigkeit darzuthun. 

Fin großes Contingent zu den Selbſtmördern liefern die Säufer und 
Trunkenbolde. Bedenkt man den Ginfluß, ten cin fortgeiegter Mißbrauch gei⸗ 
fliger Getränke auf ten Körper ausübt, bedenkt man bie hiermit Hand in Kant 
gebente moraliiche Zerrüttung, den unfteten Lebenswandel, tie Aufregungen im 
berauichten Zuftante, denen eine nicht minder große Abſpannung folgt, welde 
ber Gewohnheitstrinker durch Ginführung neuer Reismittel zu ſtillen verſucht 


Pfochologie. 307 


das Damiederfiegen der Gefchaͤfte und ben daraus hervorgehenden Ruin der Eri- 
ſtenz, vie häuslichen Sorgen der argſten Ust, den Zerfall ut der Familir, fo 
dat inan Veranlaffungen zur Erklaͤtung in Menge, | 

Die heftigen Gemüthsbewegungen und geibenfgaften haben 
ebenfalla Yaaflg die Menſchen dazu verführt, ihrem Daſein darch eigne Hand 
ein Ziel zu ſetzen. Leidenſchaften And bekanntlich die farkſten Hebel unferes 
geiſtigen Lebens, führen, wenn fir zügellos den Menſchen beherrſchen, denſelben 
fo oft in — Irrenanſtalten oder in Zuchthäuſer, wie ſte ihn zu den ebelſten 
Thaten hinzuretßen vermögen. Das Uebergewaltige dieſer Beſtrebumgen, daB 
nur ausſchließlich auf Befriedigung derſelben gerichtete Denken fumpft ven 
Geiſt nach allen anderen Ridytungen Hin ab, und — erwacht der Menſch früher 
öder Fpäter aus feinen Wahne, gaͤhnt ihm der einzige Rettungsanker — der Strick 
Fer die Kugel entgegen, um ſeinem fittlich haltloſen Reben die Krone aufzujepen. 
Aebe und Eiferjucht, Ehrgeiz und Kabjucht, Zorn, Furcht, Angft und Schrocken 
reichen fich brübderlich vereint bie Hand und liefern fo manchen jener ungläds 
ſeligen Enſſchluͤſſe, ſich ſelbſt zu morden. Sie alle trüben das freie Urtheil und 
untergtaben ben beſſeren fittlichen Theil im Nenſchen. 

Armuth If ein großes Unglück, Verarmung noch härter; beide haben 
fo Häufig Selbſtmorde im Gefolge. Und in der That bedeukt man das Frruden⸗ 
Keere eines ſolchen Daſeins, die ſchwierige Stellung in der Gefellichaft, das 
fertwährende Kaͤmpfen und Sorgen für daß tägliche Brob, vergegenwärtigt man 
ſich dabei die Erbitterung, die in fo Bielen über andere Glückliche entficht, das 
nicht To feltene Linrecht, das der Arme zu leiden bat, fo kann man fih nut 
wundern, daß Selbſtmorde unter den Arnien nicht noch häufiger find. 

Weiter find auch körperliche Krankheiten nicht felten: die entfern« 
tere Deranlaflung zur Sciöflentleibung ; namentlich zählen wir hierher die Fehr 
fhmerzhaften, jehr efelhaften, unbeilbaren Krankheitsformen, die durch Stö⸗ 
tung bed Schlafes, durch Aufreibung der Kräfte und Dadurch, daß fle meift mit 
vollſtaͤndiger Arbeitölofigkeit verbunden find ,. die Freude am Xeben oft beein« 
frächtigen und eine geiftige Verſtimmung herbeiführen, welcher dann oft genug 
der Menſch fich durch Selbſtmord zu entziehen jucht. 

Alle dieſe Veranlaffungen reichen jedod) allein nicht hin, ten Selbfimord 
zu erklaͤren, da ſie ſich haͤufig genug finden und ertragen werden, ohne zu Selbſt⸗ 
mord zu führen, ja ohne auch nur den Gedanken daran hervorzurufen. So viele 
Menſchen werten von Leidenſchaften beherricht, fo viele verleben im der äußer⸗ 
ften Armuth und in den ſchmerzhafteſten Krankheiten ihre Tage, ohne Hand an 
la) zu legen und Tauſende von Säufern erreichen ein natürliches Ente. Es 
muß aljo noch ein anderer innerer Grund Hinzufonımen, der zum Selbfl« 
morde treibt. Und diejen finden wir in einem mangelhaften und 
ungenügenden Selbfivertrauen, in einer, wir bürfen wohl jagen, 
krankhaften Charakterichwiche, die den Elaren Ueberblick und die Einſicht in bie 
mahre Sachlage hindert und den andringenden Gegnern nicht erfolgreidh und 
nicht auf die Dauer Witerftand zu leiſten vermag. Ein durch die harte Schule 
bed Lebens gegangener Menſch, erflarkt in den Kämpfen mit ten Schlägen 


20* 


zugnsumen. Die Iximertizmich ter Negierungen. namenılu: zu ter Yerze, 
ih ihen Izuy auf tieren Buzfı gerikses une serzuglich Ars nam füch beusuße, 
Die Urischen kirier Zunıkme audüntiz m machen, ta biermir zugleich tie 
Bir unt Wege, wie ihnen abzubelien, gegeben icın würten. Tieres Ifems 


erflatend jein fönnen, aber tech tie Sachlage nicht erichörfen. So bejchnlei 
men häufig bie zunchmente Berarmumz, ohne ta man teren Zunahme nachza⸗ 
weijen vermödhte unt ohne zu betenten, Ta durch dad unierem Jabrhundert eigene 
Streben, durch öftensliche Boblıhärigkeiidandtalıen x., durch tie ganze bumanere 
Nichtung des Zeitgeiñes dieſem Uebel in einer Weile abgehelfen wirt, wie es 
früber nirgenk ber Hall. — Ebenio hat man mit großer Beimmibeir behauptet, 
dep tie Zunahme ter Selbſimorde mis ter Zunahme ter pixkiichen Krankheiten 
gufammenbänge. Au hier in karan zu erinnern, day Tiefe Zunahme noch im 
mer eines fehlen Beweijed bekarf, ja daj fie jogar mir grögerer Wabricheinlich- 
Echt nur eine icheinkare it. Einestheils fehlen die Unterlagen aus früheren 
Jahrzehnten, mniere eigenen ſtatiſtiſchen Erhebungen iind um vieles jorgjältiger 
geworben ; weiter if Lad Zurrauen zu ten Irrenanflalren im Wachſen, die beifere 
Verpflegung und Bebantlung ter Irren bar eine Berlängerung ihres Lebens 
zur Folge u. ſ. w. Einen weit größeren Einilup übt Die allerdings unzerfenu» 
bare Steigerung des Lurus in Berbintung mit einer maffenhaften Goncurrenz 
in ben Gewerbönweigen und im Hantel, das krankhafte Sıreben in jchneller 
Weife reich zu werten, ter Unternehmungdichwiutel. Ramentlich aber muß 
man bie Erziehung der Gegenwart beichultigen, bei welcher das religioje und 
fittliche Element in den Hintergrund geträngt ijt, intem tie Aufmerkjamfeit 
sorwiegend auf dad Erwerben und Anerlernen jogenannter nüglicher Kenntniffe 
gerichtet if, der Ehrgeiz allzujehr erregt und das Gemüth zum Spielball unbe 
berrichter Leitenichaften gemacht wirt; das Gefühl, jein Glück im Bewupfein 
einer treuen Pflichterfüllung zu juchen, wird dadurch allzujehr untergraben. 
Gine ſehr gewöhnliche Ericheinung if es, das Selbſtmörder ihre lezten 
Empfindungen und Gedanken, oft in Verſen, in Briefen an ihre Angehörigen 
Binterlaflen. Was fle dazu treibt, ift Haupifächlich die Abſicht, nicht ganz flerben 


. Yychelögie. 309 


zu wollen, auch noch nach Ihrem Tode fortzuleben; manchmal auch wollen fie 
dem oder jenem bie Schuld an ihren Tode aufbürden, ihre Feinde ärgern und 
kraͤnken oder Gewifiensbiffe in ihnen hervorrufen. 

Wir begegnen jet in Verfolgung unferer Darlegung über bie Urfachen des 
Selbſtmordes einer Reihe von Verhältniffen, die fo zufagen den Uebergang von 
den mit Bewußtfein begangenen Selbfttöbtungen zu den Selbftmorden entſchie⸗ 
den Geiſteskranker bilden, zwifchen beiden mitten inne ſtehen, indem die Grenze 
zwifchen Gefundheit und Krankheit bei ihnen eine unflare und verwifchte ift. 

Bei vielen Selbftmördern liegen der That wirklich falfche 
Anfhauungen zu Grunde. Sie opfern ihr Leben einem Irrthume, den 
fie jedoch für Wahrheit Halten. Leute mit derartigen Wahnideen finden fich 
Häufig genug unter uns, indem fle die zahlreiche Elaffe der Sonderlinge und 
eigenthümlichen Charaftere bilden, die vielfach verfannt und mißverftanden und 
meift ganz falich behandelt werden. Irrige Anfchauungen find hier der Grund 
der Hoffnungdloftgfeit, rauben den Muth und die Luft zum Leben und treiben 
zum Selbftmorb. . 

Dann finden wir nicht felten Buftände anhaltender fchmerzhafter Verftim- 
mung, eine große Neigung ſchon auf Teichte unangenehme Eindrüde in fehr 
fehmerzhafter Weife zu reagiren und längere Zeit darin zu verharren. Die 
Verſtimmung und beren Grab ftehen in einem Mißverhäftniffe zu der Veran⸗ 
laffung. Ihre öftere Wiederkehr beherrſcht allmälig mehr und mehr das ganze 
pſychiſche Leben jolcher Individuen, fle widerftreben dem bald ohne, bald durch 
äußere Veranlaffung entftehenden Gedanken an Selbftmorb nicht oder nur fehr 
unfräftig, die hervorgeſuchten Gegenvorſtellungen erfchöpfen ſich nach und nach 
und endlid — enden fle ihr Leben freiwillig. Es find dies jene Zuftänte, 
die die Franzoſen als Mal de quarante ans bezeichnen, Meift find die Mittel der 
Ausführung bier fehr ungewöhnliche und fchmerzhafte und derartige Individuen 
gefallen fich im Aufſuchen derſelben. 

Diefen Formen nähert fi) der Lebensüberdruß aus fogenannter 
Blafirtheit, dem Spieen, jener entfetlichen geiftigen Xeere und Dede, bie, 
-wie namentlich in England, unter wirklichen günftigen äußeren Verhäͤltniſſen 
und angefehener Stellung früher oder fpäter zum Selbftmord führt. Häufig 
hängen diefe Zuftände mit gefchlechtlichen Ausfchweifungen und mit Onanie zu« 
fammen und fehr gewöhnlich finden fich in den Keichen folcher Selbſtmörder Er⸗ 
krankungen in den Geſchlechtsorganen. 

Seltener taucht in einem Menfchen ganz plöglih der Trieb zum 
Selbſtmorde auf und führt in Folge einer augenblidlichen Verwirrung 
ber Sinne zur Ausführuug; meift ift damit eine große Aufregung der Gefühls- 
fphären verbunden. Oefterer laͤßt fich jetoch bei genauerer Erörterung eine vor⸗ 
her beftebende, nur verborgene geiftige Störung, namentlich Hypochondrie 
nachweifen. . 

Wir werfen noch einige Blicke auf den Selbſtmord ber Geifles- 
kranken, der, wie ſchon gefagt, eine beträchtliche Procentzahl aller Selbft- 
morde ausmacht: Dabei find jedoch jene nicht feltenen Bälle von Selbſtmord 


810 Des: Belkfimmnd. 


audzufchließen,, we fich Geiſteskranke ermorden, ahne es zu wollen, indem hie 
That auf rinem Irrihume über die Solgen ihrer Haudlung hexruht. Wenn ein 
MWahnfinniger ein Fenſter für eine Thür aufieht und durch haflelbe berausgcht, 
wenn ‘ein Berrürter glaubt, ex tönme fliegen und ſich zum Ferſter hinunter⸗ 
flürzt, ſo begeht er ficher feinen Selbſtmord, denn es iſt gar nicht feine Abſicht 
ſich zu tödten. 

-Diejenige Form des Wahnſinns, bei welcher erfahrungsgemäß Selbſtmord 
am haͤuſigſten vorkommt und zu enwarten iſt, iſt die Melancholie, jene 
Zuſtand krankhaft gedrüdter Gemüthsſtimmung. Der Kraufe hält fich für 
seinen elenden und nichtswürdigen Menfchen, glaubt ſich von Gott und den Men⸗ 
ſchen verlaſſen, dem Teufel anhrimgefallen, Diefe feine Anfchauung erregt den 
Wunſch in dem Kranken ſich zu befreien, feiner Sprgen fich Durch Selbſtmortd 
zu entledigen und es iſt aus zahlreichen Gefahrungen befannt, mit welcher 
Zaͤhigkeit ein folcher ‘Plan feitgehalten, jchlau "verborgen und — bei günſtiger 
- @elegeuheit doch ſchnell, oft ganz unerwartet audgeführt wird. Manchmal find 

es auch nur unbeftinmte, fehmerzhafte Gefühle und Empfindungen, die den 
Kranken ängftigen und beläftigen, und bon denen er ſich auf: jede Art, auch 
durch Selbfimord zu befreien ſucht. Weiter flieht es fe, daß der Selbſtmord 
von derartigen Kranken nicht oder Dach felten auf der Höhe der Krankheit be⸗ 
nangen wird, fondern meift exit. beim Nachlaß der Erfcheinungen, wenn bie 
Kranken das Bewußtſein ihrer Krankheit verläßt und fie Die Wirklichkeit vor 
ſich ſehen. Es Liegt hierin die ernſte Mahnung, die Melancholifchen nach einge 
tretener Beſſerung um fo forgfältiger zu. bewachen und noch in dic Reconvales⸗ 
cenz hinein mit Nufmerffamfeit zu behandeln, 

Auch bei jenen Formen von Seelenflörungen, die man in engeren Sinne 
.al8 Wahnfinn bezeichnet, kommt Selbitmord vor und namentlich ragt hier ber 
fogenanntte religiöfe Wahnftnn hervor. Die Thorheiten, zu denen religiöfe Ver⸗ 
irrungen führen fönnen, find aus der Geſchichte genugſam befannt; jene 
Unglücklichen, die fich fo oft aus religiöfer Ueberſpannung den grauſamſten 
. Martertod bereiteten, find ohne Ausnahme Wahnfinnige. Hierher gehören bie 
zahlreichen Kreuzigungsgeſchichten, Die von einzelnen Sekten ausgeführt wur« 
den. Iutereffant ift cd, Daß auch diefe Art geiftiger Störung in der Megel mit 
‚einer Erankhaften Beichaffenheit des Geſchlechtsapparates in Verbindung fleht. 
- Gaftrationen und die graufamften Sclöftverffümmelungen fpirlen Hierbei eine 
große Rolle und die Sprache folcher Fanatiker trägt nur zu häufig den. Stewmpel 
‚geiler, geichlechtlicher, fchlecht verbeckter Aufregung an ſich. Derartige Buftände 
treten bei Frauen häufig zur Zeit der Bubertätdentwidelung und wieder hei der 
Ruͤckbildung auf; oft find früher ‚die größten gefchlechtlichen Ausſchweifungen 
vorhergegangen. 

Abgeſehen von dieſen Faͤllen von Selbſtmord Geiſteskranker, wo man auf 
denſelben der Natur des Leidens nach gefaßt ſein muß und daher die nöthige Vor⸗ 
kehrung zu treffen hat, findet ſich Selbſimord bei Geiſteskranken auch als eine 
ganz vereinzelte, unerwartete und in dem Verlaufe der Krankheit und den herr⸗ 
ſchenden kraukhaften Ideen nicht begründete That. Solche Tälle geſchehen na⸗ 


Pfwpolonie · 314 


mentlich auch, wie bei Gefunden, um Aufjchen zu esregen oder einen ankern 
zu kraͤnken, im plöglichen Aufwalley bes Zornes. Es gehören hierher namentlich 
die gar nicht jo feltenen Bälle non in Verwirrtheit begangenen Selbſtmordes, wo 
die That durch eine augenblickliche Aufregung des Gemüths hervorgerufen wird; 
trog bed meiſt ſehr bedeutenden Darniederliegens der Verſtandeskraft, kommt es 
Häufig genug zum Selbſtmord. — 

Defterd find es auch Die ſogenannten Hallucinationen, jene falfchen Empfin« 
Lungen, denen fein äußeres Object entfpricht, welche den Selbſtmord veranlaflen. 
Der Kranfe hört fortwährend Stimmen, die ihm „‚töbte dich, töbte dich“ und 
ähnliches zurufen und ihn zur Vernichtung feiner jelbft verführen. — — 

Es wird nie gelingen, den Selbflmord ganz auszurotten, bie Zahl der 
unglüdlichen Opfer aber zu vermindern fuchen, iſt eine ernfle und wichtige 
Blicgt für jeden, für den Staat indbefondere, und es fragt ſich nur, auf wels 
chem Wege dieſes Ziel zu erſtreben und zu erreichen iſt. 

Vor Allem ift der günftigfte Einfluß son einer tüchtigen, moralijchen, 
gejunten Erziehung bes Einzelnen durch Heranbildung feiner Kräfte, fo daß 
er frei jich entfalten und thätig fein Fann, zu erwarten; dieſe Aufgabe erwächſt 
der Schule, der eigentlichen Erzieherin des Volkes, und mit ihr muß eine gleich 
gerichtete Erziehung im Haufe parallel gehen. Auch nad erlangter Selbſt⸗ 
ſftändigkeit muß von Seiten des Staats für möglichſt freie Entfaltung ber Buͤr⸗ 
ger Bedacht genommen werden und ſind Mittel aufzufinden, um der Armuth 
und den Nothſtänden in energiſcher Weiſe zuvorzukommen. Nicht minder iſt es bie 
Etärfung des Rechtsbewußtſeins, durch ſtrenge, gleichmäßige und unparteiiſche 
Handhabung der Geſetze und die Förderung der Sittlichkeit durch eine wahr⸗ 
Haft religiöſe Leitung ſeitens der geiſtlichen Hirten. 

Ganz ſpecielle Aufmerkſamkeit iſt namentlich auf die Irrengeſetzgebung zu 
richten. Die Aufnahme in die Anſtalten muͤſſen nach Kräften erleichtert werden 
und durch Verbreitung geſunder Anſchauung über das Wirken der Anſtalten, 
namentlich auch Belehrung darüber, daß frühzeitige Behandlung die größte 
Sicherheit auf vollftändige, wie ſchnelle Heilung gewährt, muß dem rechtzei⸗ 
tigen Einliefern jolcher Kranken möglichit Verbreitung verfchafft werten. Nas 
mentlich müjjen wir Darauf aufmerfjam machen, daß man in allen jenen Fällen 
son andauernder, unmotivirter Verſtimmung, die in fürzerer oder längerer Friſt 
die Gefahr des Lebensüberdruſſes und des Entledigend des Lebens in fich birgt, 
nicht jäume und baldigft die Hilfe des Arztes in Anjpruch nehme, um jo 
mehr als Derartige Verſtimmung häufig auf Erfranfungen einzelner Organe des 
Körpers beruben. 

Mir glauben endlich, daß auch von einer gänzlichen Abichaffung der To⸗ 
desitrafe eine günftige Rücdwirkung auf Verminderung der Selbſtmorde zu ers 
warten ſteht. Es muß dem Staate jeded Leben ald ein Heiligthum erjcheinen 
und er muß ed vermeiden, durch die, wenn gleich gejegliche Vernichtung eincd 
ſolchen Gedanken hierüber anzuregen, als die Handlung an ſich ſchon eine Ab⸗ 
härtung und Gemüthsloſigkeit herbeizuführen geeignet iſt. 

In deutſchen Laͤndern wird von ber Juftig der Selbitmord und Selbſtmord⸗ 


s12 De Ediient. 


verfuch nicht beſtrafi. Aur trifft, ſonderbarer Reiie den Eeltfimörter, wenig 
Rene ten frerelhaften, auch nad dem Tote eine Strafe nur eine Schaͤndung 
durch ein Togenannte® unchrliche® Vegrãbniß, wie ſelches Leiter noch als ein 
wicht beſonders erhebliches Zeichen fortgeichrittener Aufklärung und bumaner 
Anidauunz in zahlreichen Läntern unſeres auf feine Intelligenz io folgen 
Deurilante beſtebt. Einen Zotten zu beſtrafen, iſt an und für fich berrachtet 
eine Laͤcherlichkeit; in einem weniger yrunfhaften Begräbnis eine Strafe zu 
ſuchen, eine nicht mintere, ta Dem ärgften eben aus tem Zuchtbauſe gefommenen 
Berbrecher eine ſolche vergönnt if. Es ſchließt aber ein derartiges Verfahren 
auch eine Ungerechtigkeit in ſich, indem es ten unicduftigen Sinterblichenen 
einen Nakel aufträdt und ihr firtliche® Gefühl rief verlegen muß. Hoffen wir 
Barum ſolche nach tem Mittelalter ſchmeckende Gekräude immer mehr ver 
ſchwinden zu ichen. Tie Frage über Zurechnungefähigfeit ter Seleftmörter 
entfteht in jedem einzelnen Falle, ta bei ausgeiprochener Geiſteszerrüttung dem 
Thaͤter ein ehrliches Begräbnig vergönnt ift. Im Interefle einer unparteiijchen 
Bechtöpflege ift hier eine forgfäftige und gewiffenhafte Erörterung nöthig. Die 
Frage über ten Geiſteszuſtand ter Selbfimörker hat überdem noch ein anderes, 
vraktiſches Interefie, intem In manchen Lebens = Berficherungdgefellichaften ber 
Eelbftmord des Verſicherten, von ihm im vollen Beflg ſeiner Geiftesfräfte und 
mit Selbſtbewußtſein begangen , alle Anfprüche der Hinterbliebenen an die Ge 
jellfehaft aufhebt, im entgegengetegten Halle wenigftens bei manchen Geſell⸗ 
ſchaften nicht. Auch bier ift eine firenge Prüfung und Kenntnig der Verhäli⸗ 
niffe, unter denen der Selbſtmord vorfommt, erforderlich. 

Wir ſchließen biermit unfere kurzen Betrachtungen über die Lehre vom 
Selbſtmord, ohne tag wir Hei ter großen Reichhaltigkeit des Begenftanbes 
Die Frage auch nur annähernd erfchöpfend behandeln Eonnten. Dem denken 
den und aufmerkjamen Leſer werben fich zahlreiche Anhaltepunfte zu weiteren 
Betrachtungen und Forſchungen in Menge ergeben. 


Das 


Leben und Wirken Ernft Mori Arndt. 


Bon Dr. $. Aöppe. 


Dem beutfcheften unter den deutfchen Dichtern haben die Wellen der Oftfee das 
Wiegenlied gefungen. Ernft Morig Arndt ift geboren am 26. December 1769 
zu Schorit auf der Injel Rügen, die damals noch ſchwediſch war. Sein Vater, 
um jene Zeit Verwalter der Schoriger Güter, war ein Leibeigener geweſen, den 
fen Herr, Graf Putbus, freigelaffen, auf Reifen mitgenommen und zu man» 
cherlei Gefchäften gebraucht Hatte. Auf diefen Meifen und im Verkehr mit der 
guten Geſellſchaft Hatte fi) der Sohn des gutsunterthänigen Schäferd Arndt 
foviel Bildung angeeignet, als damals ein Ungelehrter in Deutfchland über- 
baupt erwerben fonnte. So durch die Gunft ter Umftände aus dem Staube 
heraudgebildet, mit allen Gaben des Körpers und vielen praftifchen Talenten 
und Bertigfeiten ausgeſtattet, war er ein rüftiger, ſtrenger und fehr energifcher 
Mann, der es jich ernftlich angelegen fein ließ, feine Kinder zu guten und tüch⸗ 
tigen Menfchen zu erziehen. Auch die Mutter, obgleich nur die Tochter eines 
fleinen Aderbefigers, hatte eine beffere Erziehung genoſſen, als man von der 
Lage ihrer Aeltern erwarten durfte. Cine geiftig ſehr begabte Frau, Die auf 
Schein und Genuß gar feinen Werth Tegte, von Charakter ernſtmild und 
muthig, in Bibel, Geſangbuch und Märchenwelt wohl bewandert, übte fle auf 
das Gemüth und die Phantafte der Kinter den fegensreichften Einfluß aus. So 
fehen wir in tem niederen und unfcheinbaren Stamme, aus welchem Ernſt 
Moritz Arndt entfproffen ift, die feltenen Vorzüge geiftiger und leiblicher Ge⸗ 
fundheit glüdlich vereinigt, und wohl dürfen wir das Loos des Knäbleins 
preifen, dad einem fo waderen Nelternpaare am zweiten Chrifttage des Jahres 
1769 befcheert ward. | 

Die erften Jahre der Kintheit verlebte der Eleine Mori in dem höchft an« . 
muthig an einer Meeresbucht gelegenen Echorig, Die Zeit von 1776 bis 1780 
brachte er intem nahen Dumſewitz zu, welches der Vater nebſt anderen Gütern in 
Pacht genommen hatte. Den eltern machte die Erziehung ihrer Kinder oft 
ſchwere Sorgen. Es gab in der Nähe Feine Schule, wohin ſie diefelben zum 
Lernen fchiefen Eonnten, und einen Haudfehrer zu halten, geftatteten damals 
nicht ihre Mittel. Da unternahmen fie es denn felbft, ihre Kinder in den erften 
Anfangsgrünten des menfchlichen Wiſſens zu unterweriien , woga Re kelüitg wur 


314 Biographie, 


im Herbſte und Winter die nörhige Muße harten. Bid in jein zwölftes 
Lebensjahr entbehrte ter Eleine Morig jeted ortentlichen unt regelmäßigen Un⸗ 
terrichtö, dafür aber durfte er alte Geſchichtsbücher und Chroniken leien, joriel 
er wollte. Unter tiefen waren es beionterd tie Schriften Puifentorf d und 
Anterer, Die ten Lreigigjährigen Krieg, die herrſchſüchtigen NRänfe und Ge⸗ 
waltthuten Ludwigs XIV. beichrieben haben, tie ihm ichon damals Abneigung, 
ja Abickeu gegen das franzöniche Bolf einflößten. Auch wurde früßzeitig durch 
das Leien von Zeitungen ter yoliriihe Einn in ibm geweckt, der ſich jofort 

unter Tem Einfluß übexlicferter Anſchauungen und ewohnheiien in nrenz 
monarchiſcher Richtung entwidelte. 

Im Jahre 1780 303 die Familie nach Tem in der nortweitlichen Ede der 
Inicl, dicht am Meere und nur eine Meile von Stralſund gelegenen Grabig, das 
der Nater nebft einen anteren Gute und zwei Buuerdörfern pachtweiie ubernoms 
men base. Hier wurte zuerſt ortentlih Schule gehalten von einem Hauslehrer 
aus Sachſen, einem ehemaligen ſchwediſchen Unteroffzier, ter Den Korporal⸗ 
ſtock mir tem Schulmeifterbafel vertauicht batıc. Von dieſem Manne lernten 
die Kinter in zwei Jahren joriel, als er jelbit wußte, was freilich blutwenig 
war. Dann fam ein Herr Dankwardt, ein Candidat der Theologie in's Haus, 
und mit dieſem tüchtigen und pflichtgetreuen Manne, Der, obwobl nicht frei von 
ben Wunderlichkeiten der Originalgenies jener Zeit, tod in jeinem inneren 
Weſen voll Zreuntlichfeit und Frömmigkeit war, begann rin neuer Abſchnitt in 
den Leben und der geiftigen Enwickelung ter Kinder. Nicht nur Ichrte er fie 
Alles, was damals von einem Haudlchrer verlangt ward, ſondern brachte auch 
Durch feinen Verkehr mit Candidaten und Lehrern der Ungegent, unter Denen 
Koiegarten, ber Tichter der „Jucunde“, und der genialexcentriiche Hagemeiſter 
von Stralfund wohl Die außgezeichnetften waren, manchen geijtigen Zünd⸗ und 
Rahrungsitoff in das Haus. 

Die Menjchen waren damals von tauiend neuen Ideen, die gleichiam in 
der Luft lagen, friich angeweht, man lebte bei aller äuperlicyen Ruhe in der 
tiefiten geiftigen Erregung. Es war dies Lie Epoche des Sturmed und Dranges, 
jene poetiſche Morgenröthe einer beiferen Zeit, wo Deutjchland nady cinem 
langen matten Zraume wieder zu einem eigenthümlichen poetiſchen und litera⸗ 
rifchen Taſein erwachte; und es war sin ſchönes Zeichen ter Zeit, daB nicht 
blop Die Studirenden und Gebilteten, jontern jelbjt ungelehrte und einfache 
Menichen wie die Aeltern unſeres Morig an jenem Aufſchwung Der Geiſter den 
innigften Unheil nahmen. Schon war man über den Graudiſon und bie 
VPamela, über Gellert's ſchwediſche Gräfin und Miller's Siegwart zu Werther's 
Leiten, zu Eſchenburg's und Wieland's Shakespeare-Ueberſetzungen fortge⸗ 
ſchritten, und Leſſing, Klaudius, Bürger, Stollberg wurden von Alt und 
Jung mit Jubel begrüßt. Die frijche Lebensluft der Zeit wirfte natürlich auch 
auf Lie Kinder vielfad, fördernd und anregend ein. Die Begeifterung für bie 
Dichter, welche fe laſen, reizte Die größeren unter ihnen zu allerlei poetiſchen 
Verſuchen. Zuerſt fing der jüngere Bruder Brig an Verſe zu machen, und ers 
regte dadurch Die poetiſche Ader unſeres Morig, der von jcher ein Breund ber 


Ernſt Maris Arndt. 315 


Schichten und Märchen, ſich mit befondsem Eifer und Geſchick auf Das Ger 
ſchichtenerzaͤhlen legte. 

Bei dieſen jugendlichen Spielen und Entwidelungen, worin ſchon einzelne 
höhere und edlere Keime lagen, blieben Die Kinder doch ſtreng in den Schranken 
des älterlichen Standes und Vermögend. Sie wurden zu häuslichen und laͤnd⸗ 
lichen Arbeiten angehalten und überhaupt einfach und fireng, ja Beinahe hart 
erzogen. Der Vater, damald noch jung und züftig, erließ ihnen feine der Ar⸗ 
beiten und Entbehrungen, die er ſelbſt in feiner Jugend hatte ertragen müflen, 
und fuchte fie auf jede Weije.abzuhärten, In Wetter und Wind, nur leicht bes 
kleidet, wurben fie auf's Pferd geiegt und mußten meilenweit reiten, um Briefe 
in ber Rachbarſchaft zu beftellen. Wenn der fleine Morig um Mitternacht vers 
ſchlafen im Schlitten lag, warf der Vater oft abſichtlich um, daß der Junge ſich 
im Schnee wälzsen mußte. Die Pferde mußte er fplitternadt in die Schwemme 
reiten, und wenn er dann in Dornen und Neffeln abgeworfen ward, fo burfte 
er, wie fchr Das Fell ihn brannte, nicht ſauer Dazu jehen. Die Koft war ein« 
fach, größte Mäßigkeit in allen Dingen die Regel. Wenige Stunden Racht⸗ 
zube genügten unjerem Morig, der ſelbſt im zarten Knabenalter ſich nicht viel 
aus dem Schlaf machte, felten vor Mitternacht zu Bett ging, im Sommer mit 
ber Sonne wieder auf den Beinen war und deswegen den Beinamen „Lerche“ 
erhielt. Die gotteöfürdhtige Zucht, die guten alten Sitten waren damals, wenig⸗ 
ſtend in Rugen, noch nicht gelodert, der fromme ewangelijche Kirchenglaype 
galt Hier noch für das Fundament einer hriftlichen Kindererzichung. Keinen 
Eonntag wurte der Gotteddienft ohne den triftigſten Grund verfäumt; .aber 
au bei den Katechismusprüfungen, die Nachmittags in ber Kirche ftattfans 
den , Durften Die Kinter nicht fehlen. 

Nachdem Moritz im Schooße der Natur und in einfachen Ländlichen Vers 
hältniffen eine glückliche Kindheit verlebt hatte, ward er 1787 nadı Straliund 
auf das Gymnaſtum gebracht, wo re fofort in bie Secunda eintrat. Er fam 
nad Straljund jehr ernft geftinnmt und mit fehr feiten Entſchlüſſen, denen er 
auch keinen Augenblick untreu geworden ifl, Gr war gejund. ftarf und rüjtjig 
und Hatte jich vorgenommen , es auch um jeden Preiß zu bleiben. Der Sinn 
der Menſchen war damals auf finnlicyes Wohlleben gerichter, er aber rip fich 
aus Den Genüfjen des ftädtiichen Xchens, aus den Freuden Des inzwiſchen he⸗ 
haglicher gewordenen Aelternhauſes zu Löbnig, wo die Familie jegt wohnte, 
fireng wieter zu feiner Echule und noch firenger zu ten freiwilligen Mühen 
und Strapazen, Denen er feinen Leib unterwarf, Als die glühenden Triebe ber 
Jugend envachten, flürzte er fih, um das heiße „Arndtsblut“ zu fühlen, noch 
im Oftober und November in die eifigen Fluthen ded Meered. Freiwillig legte 
er fi) Damals und jpäter dic härteften Enshehrungen auf und durchſtrich meilen- 
weit Wälder und Felder, indem er jich Die Horaziichen Worte zurief: Iloc tibi 
proderit olim! Und ter Eprudy bat fich bewährt, wie er ald Greis dankbar 
rũhmte. 

Drei Jahre lang beſuchte der Juͤngling das Gymnaſium, dem es damals 
keineswegs an Geiſt und Gelehrſamkeit gebrach. Daun enwich cr plöpßlich, 


316 Biographie. 


einem tunfeln Drange folzent, im Herbſte 1759 son Etraliunt, ohne daß er 
einen anteren Grund anıufübren wußte, ala taß tie geielfigen Senüffe zu ver 
Iodent wiren ımt er gefürchtet hãtte, zu einem weidslidden und Tüterlichen 
Larven zu werten. Er fam jetech nidyt allzuweit unt war nach einigen Tagen 
wieter im Aelternhaufe zu Lölnig, wo er nun mit eiternem Fleife ſtudirte, um 
zu Dftern 1791 Lie Unirerfität su Greifewald bezieben und ji dort tem Stu⸗ 
rium witmen zu koönnen. In Greifkwald verweilte er zwei Jabre, Tann fehte 
er feine Studien in Jena fort, wo er bis zum Herbſte 1794 Elick. Griekbach, 
Schütz, Reinhold, Uri, Paulus und Fichte waren Bier feine Lehrer. Aus der 
Brifetorhie, Pie damals Pie Geiſter mächtig erregte, wußte cr nur geringen 
Gewinn zu zieken: doch begeitterte ibn Fichte's edle und tapfere Berrönlichkeit. 
Auch für tie eigentliche Gelekriamkeit fühlte er feinen Beruf, obgleich er in 
feinem Getäckmille einem Schag von Kennmiflen aufyeickerte, wie ſich deſſen 
wohl nur Wenige rübmen können. 

Gegen Ente tes Oktober 1794 kebrie er zu feinen Aeltern nach Löbnig 
zurüd, we er als Hauslehrer feiner jüngern Gerchriſter zwei bebagliche Jahre 
verfebte. Nebenbei yrekigte er zuweilen in ter Nachbarſchaft, und zwar mit 
foriel Veifall, tag er wol eine gute Bfarritelle würte erhalten Gaben. Allein 
Die Theologie, tie Tamals ſehr lau und matt betrieben wurte, befriekigte ihn 
nicht; er ließ ſich Daher von ten fetten Rügen ſchen Pfrünten nicht locken, jons 
dern gab jeinen geiftfichen Beruf auf, um fit in tie volle Weltlichfeit zu flür- 
zen. Er war jegt achtundzwanzig Jahre alt und jehnte fich Lie Welt zu ſehen. 
Sein Bater, ter fi inzwiidyen zu einer gewiſſen Wohlbabenheit emporgeat- 
Beiter hatte, reichte ihm Pie Mittel, unt er verſtand es, fo irärlich fie waren, 
ſich damit zu bebelfen. So pilgerte er denn als „Bruder Sorgenlos“ ander 
Halb Jahre vom Frühling 1793 bis zum Herbſt 1799 in ter Welt umber, wan⸗ 
derte über Mien turch Ungarn nach Italien, von Nizza über's Meer nah Rau 
feille, und fehrte nach einem längeren Aufenthalt in Paris zufege über Aräffel, 
Köln, Frankfurt, Leipzig, Berlin in die Heimat zurüd. Auf dieſem Ausfluge, 
den er mehr aus Initinft, ald für einen beſtimmten Zweck unternommen, hat 
er zuerft Lie Tinge, Menicken und Völker ſehen und erkennen gelernt. Das if 
ſeitdem iein eigentliche Bady geblieben. Die Menichen in ihren geiftigen und 
leiblichen Eigenthümlichfeiten zu beobachten, die Sitten und Sprachen ter 
Völker zu ergrünten und zu vergleichen, war und blieb feine Lieblings 
beichäftigung. 

Ter Heimgefehrte jann Tange hin und her, was nun zu thun fein. Eine 
alte Liebe, die feit fünf Jahren ſchon im Etillen brannte, gab endlich den 
Ausſchlag. Er ging nach Greifswald, heirathete dort die Tochter des Profefford 
Zuiflorp, warb Priratdocent, im folgenden Sabre Adjunkt der philoſophiſchen 
Fakultät mit 300 Thalern Gehalt und im Jahre 1305 auferortentlicher Pro⸗ 
feſſor mit einer Gehalteerkefferung von etwa 200 Thalern. Da ſaß er nun 
in flurmbewegter Zeit, fern vom Echauplag der großen Weltbegebenheiten ruhig 
in einer Eleinen Univerfitätsſtadt am baltiſchen Meere. Wohl jummerte ihn 
jeder Sieg, den die Branzofen über die Deuifchen darontrugen, aber fein Herz 


Ernſt Morig Arndt. 317 


ſchlug noch nicht für dad große beutfche Vaterland. Wo war damalgs auch ein 
beutjche® Vaterland? Sein Vaterland war Schweten! Zwar die alte Ab⸗ 
neigung gegen bie Branzojen war gewachien, feitdem er die „‚große Ration 
felbft Fennen gelernt und überall am Rhein „die von ihr zertretenen Trümmer 
der alten deutſchen Herrlichkeit” gefchen hatte. Wohl empfand er Unmuth und 
Aerger, aber noch nicht den rechten Zorn und Haß gegen die Erzfeinde und 
Dränger Deutſchlands. Wie die ebelften und beften Männer feiner Zeit, träumte 
er noch von einem allgemeinen Weltbürgertfum, worin die einzelnen Rationa« 
Iitäten nach dem endlichen Siege der mit Jubel begrüßten neuen Ideen ver» 
ſchwinden würden. Er bewunderte felbft den erften Gonful Bonaparte, fo, 
fange diefer als ein „Held der Freiheit”, als ein Rüftzeug der liberalen Ideen 
erſchien. 

Inzwiſchen ſchritt der junge Docent auf ſeiner neuen Laufbahn rüftig 
vorwärtd und jammelte bald ein Häuflein eifriger Zuhörer um fih. Da traf 
ihn ploglih ein harter Schickſalsſchlag, der feinen frifch aufſtrebenden Geift 
einen Augenblick nisderdrüdte, um ihm einen um fo Früftigeren und für bie 
ganze Lebendzeit entjcheidenden Aufſchwung zu geben. Sein heißgelichtes Weib 
farb ſchon im zweiten Jahre der Ehe und Hinterlich ihm die Sorge für daß 
erftgeborene Söhnlein. „Es giebt eine Stufe‘, fchrieb der betrübte Gatte bald 
nach diefem berben DVerluft, „worauf die Liebe ihre verlorene Welt wieder- 
findet: das heitere und befonnene Anfchauen der Nothwendigfeit.” In dieſem 
männlichen Entſchluſſe raffte er fich aus jeinem Schnerze auf und fchrieb, durch 
bie gewaltigen Ereigniffe der Zeit veranlaßt, fein erſtes publicijtifches Werk, 
welches 1803 zu Altona erfchien: „Germania und Europa’. Alles Elend der 
Zeit und des Vaterlandes, das franzöftiche Uebergewicht, Das nivellicende 
Spftem der Aufklärung und der Revolution war Tarin aus der „‚übertriebenen 
Geiſtigkeit“ (dem transcendentalen Idealismus) der Menjchen hergeleitet; wie 
aber der Menjch des Jahrhunderts, fo fei auch der Staat. In reiferen Jahren 
bat Arndt dieſes Erſtlingswerk cine „wilde und bruchftudige Ausfprubelung 
feiner Anjicht der Weltlage von 1802 genannt; wir aber bewundern noch 
beute die Energie, mit welcher ber dreiundbreipigjährige Docent damals darauf 
gedrungen, aus dem Aether der Idee wieder auf den Boden der Wirklichkeit 
binabzufteigen und entli einmal zur Ausführung des als gut und möglich 
Grfannten zu fohreiten. Diefelbe Tendenz hatte auch ein Damals von ihm ver« 
faßtes Luſtſpiel: „Der Schah und feine Familie“, das einige Philoſophen und 
Paͤdagogen jener Zeit geigelte. 

Faſt gleichzeitig erjchien von ihm in Berlin der „Verſuch einer Geſchichte 
ber Leibeigenjchaft in Bonmern und Rügen”, ein Buch, dad er gegen Den Rath 
feiner Freunde in tem feften Bewußtſein gejchricben, daß die Wahrheit der 
Geichichte ihr heiliges Mecht nicht aufgeben darf. Er hatte es geſchrieben nicht 
mit dem Iceren Phrafengeflingel und den windigen Lehren des Tages gerüftet, 
fondern in dem feiten Geleiſe der Erfahrung und der Urkunden einberjchreitend. 
Gr jelbit ſtammte von Xeibeigenen ab und fah mit Schmerz und Ingrimm wie 
in feiner Heimath die Bauern feit dem fechözehnten Jahrhundert nicht nur aus 


318 - Biographie, 

Sreibeit unt Weblſtand zu ichmählicher Aucchricheft herabgedrückt waren, fon- 
tern auch wie ein Bauerbef nach Tem anteren „gelegt, d. b. zerilört wurte. 
Ta vabte er nich, bis er die alıen verjährten Mifkräuche jeiner Heimat zur 
Evtache gebracht batte, wodurch er ſich freilich den Haß ker Junker zuzog 
reren unveraunvortliche® Treiben er ſchonungolos auftedite. Einige ron ihnen 
verflagten ifnteim Könige son Echreden, ber Anfangs ſebr ungehalten war; 
aber als Arntt id} verantırorter bare, jagte er: „Wenn tem is if, fo bat der 
Nann Recht”, unt bob Haft nachher bie Leibeigenſchañ auf. 

Im Herbſte 1503 erbielt Arndt auf ein ganzed Jabr Urlaub zu einer 
Meiie nach und durch Ednreten. Nach feiner Rüdfehr gab er die „‚äragmente 
der Menickentiltimg” und vie „Reiien durch Deurichland, Ungarn, Italien, 
Franfreib unt Schweden“ (acht Binte, beraus, Teren Tendenz eine Turchamd 
kosmopelſitiſche war und ſogar eine aufrichrige Lobrede auf ten Eonſul Bono- 
parte geſtattete. „Es iſt ſchön“, lautete das Motto dieſes Werkeß, „tein Va⸗ 
terland lieben und Alles für tanelbe tbun, aber ſchöner noch, unendlich 
ſchöner, ein Menſch ſein und Alles Menſchliche höber achten, als kas Vater⸗ 
landiſche.“ Indefſen war bereits jene furchtbare Kataftrophe, bie mit beim 
Hntergange tes „nralten und beiligen Reichs ter Germanen‘ endigte, über 
dad Raterland bereingebrochen. Der geprieiene Sreikeitößelt” Bonaparie 
Hatte Lie liberale Maöfe fallen lafien und fich ald efrgeisigen Tespoten, als 
inerfärrlichen Eroberer zu erfennen gegeben. Und als nım nach tem ſchimpf⸗ 
fichen Srietensichluffe von Lunerille Lie Franzoſen anfingen, einen ſchmach⸗ 
vollen Schacher mit Teutichen Gebieterbeilen zu treiben, als endlich Oeſtreich 
and Preußen, tieie beiten legten Erügen tes wanfenten Reichſgebäͤudes, nach 
gergeblichen Kämpfen gefallen waren, da erwachte in bem ‚Herzen des ſchwedi⸗ 
fen Kesmopoliten die Liche zum deutjchen Barerlande, der rechte deutſche Zorn 
und Haß gegen bie Srangoten, Lie übermüthigen, habgierigen Feinde Des Reit. 
Sortan war fein ganzes Dichten und Trachten nur noch auf die Wieberberflel- 
fung eines ftarfen und einigen Deutichlands gerichtet. Bon tem heiligen Zome 
der Freiheits⸗ und Baterlantöliebe hingeriſſen, ichrieb er im November und 
December des Jahre 1805 ten eriten Theil feines berühmten Werkes über den 
„Geiſt der Zeit”, ber in mehr ald einer Beziehung den gewaltigiten Einfluß 
auf das Leutiche Volk und auf den Verfafjer ſelbſt gehabt har. 

Die Teutichen huldigten Damals ten Lehren tes Materinlismus und des 
Weltbürgerthfums, wie fle im Zeitalter der Aufklärung überall im Schmwange 
waren. Gegen fie erbob nun Arndt feine ernjte und gemwichtige Stimme. Mit 
edlem Srimm ruft er aus: „So find wir flach, arm und elent, ohne Liebe und 
ohne Phantafle, ohne Baterland und Kreiheit, one Himmel und Erde. Die 
DBäter hatten Doch noch einen Gott, der ihnen Schrecken und Freude brachte, 
ein allmaͤchtiges Schickſal, die Itee einer ewigen Nothwendigkeit; wir find fo 
Klein geworden, tag die Erhabenen uns nicht mehr treffen, ficher Triechen wir 
unter ihren Tonnerichlägen hin. Religion — ber jchlaue Schau bat fie nie ges 
habt, fle feimt nur aus Lebensfülle, aus gemeinfchaftlichen Kampfe in Freud 
and Leid. Der Menich, der feine Menjchheit anerkennt, kann dieſe Heilige 


Ernſt Roritz Arndt. 319 


Gefühle nicht haben, er hat nur einen hohlen Aberglauben, worin ſich feine 
wimmernde Eitelkeit wiederſplegelt.“ — In diefen Sägen iſt die große Wahrheit 
auogeſprochen, daß ein Volt nur darin Fräftig auftreten kann, wenn es den 
augenblicklichen Genuß des Lebens höheren und üderfinnlichen Ideen unterzu⸗ 
ordnen weiß. Mit derſelben Entſchiedenheit tritt et dem Weltbürgerthum ent 
gegen, das feinen Stblz darin jegt, feine Phyſiognomie und keinen Charakter 
zu haben. Seine Kritik des beutfchen Idealiſsmus Kerdient noch heute beferzigt 
zu werben. „Es ift wahr, wir fönnen mit Zufriebenhett auf unfere Ibeen⸗ 
arbeiten hinblicken, aber mit Wehmuth müffen wir auch geſtehen, daß dieſer 
himmliſche Reichthum uns irdiſch arm gemacht hat, und daß Andere unſere 
Erde zu beſihen kommen, während wlr fuͤr ſie den Himmel erobern. Es iſt ver⸗ 
zeihlich, daß wir in der Begier, das Herrlichſte zu gewinnen, das Kleinere ver⸗ 
geſſen haben, aber mit Recht ſind wir dadurch den Anderen zum Geſpött gewor⸗ 
den. Solches Hinausſpielen des wirklichen Lebens in eine fremde Welt, ſolche 
Ungeſtalt und Ueberfließung in ein faſt ganz leibloſes Daſeln, iſt nirgends in 
Europa ſo zu ſehen, als Bei und, und wenn die Fremden den Urſprung dieſes 
Zuſtandes fo erblicken Fönnten, als die Gefdetdteften von uns felöft, fle würden 
fich über ins noch mehr wundern. Daher unfere politifche Erbaͤrmlichkeit und 
Hulfloſigkeit, daher, während die Befferen von uns das höchfte Leben der Zelt 
kind aller Welt jo genialiſch darftellen, Die Schlechteren wegen Mangels irbijcher 
Haltung und Kraft ſo unbefchreiblich Fümmerlich zerfloffen.” Was vor ihm nur 
Menige zu denken gewagt, Arndt ruft es laut in die Welt hinaus: „Der Despo- 
nomus kommt nicht durch ſchlaue Lift über die Welt, fondern durch die Ge⸗ 
ſammtſchuld der übergeiftigen Vildung. Der Despot regiert nur, weil man 
glaubt, Daß er regiere.“ Ein junger und fat noch unbekannter Mann, wagte fr 
ed, dem Jahrhundert den Fehdehandſchuh Hinzumerfen und Gericht zu halten 
tiber alte und neue Völker, über Mepublifen und Despoten, über Aftabelige und 
Einporfönmfinge. Er allein Hatte den Muth, dem franzöftfchen Imperator vor 
aller Welt die Maske abzureißen und dem Gontinent, auf welchem „der Moder 
der Zeit dick lag“, das Bild feines Tyrannen und feiner Schande zu entrollen. 
Der erfte Band dieſes epochemachenden Werkes, der wie ein Feuerbrand 
in das offene Pulverfaß des Franzoſenhaſſes flog, erfehien 1806 in Drud, ward 
fofort in alle Iebenden Sprachen überjegt und von ganz Europa gelefen. Dem 
Verfaffer, der im Sommer jenes Jahres die Ehre des Deutichen Volkes gegen 
einen ſchwediſchen Offizier mit feinem Alute verteidigte, trug die Schrift zu⸗ 
nächft Verfolgungen und eine Achtserffärung von Seiten der Franzoſen ein. 
Nach dem unglücklichen Ausgange des franzöflich - preußifchen Krieged von den 
beranflürnenden Feinden bedroht, floh er zu Weihnachten 1806 über's Meer 
nach Schweden unter den Schuß feines Monarchen Guſtav IV. In Stockholm 
fand er ſogleich eine beſtimmte Beſchäftigung In der Staatskanzlei, die ihm hin⸗ 
laͤngliche Muſe lich, Den zweiten Theil zum „Geiſt der Zeit zu ſchreiben. Als 
aber imFrühling 1809 Guſtav IV. durch Die revolutionäre franzöflich geflnnte 
Partei zur Abdankung gezwungen ward, und Bernadoite Eraft eines Rapoleoni= 
fchen Dekrets dem ſchwediſchen Thron beftieg, da fühlte er, daß in Stodholm 


320 Biographie. 


ſeines Bleibens nicht länger jein konnte. Tie alte Banterluſt erwachre in ihm, 
unt con poliriſcher Unruhe und Sebnſucht nach ter Heimath gerrieben, kehrte 
er unter allerlei Verkleidungen nah Teutſchland zurüd. Bon Rügenwalte, wo 
er im Herbie 1509 Lantere, wanderte er läna& der rommerjchen Küfte, „erkannt 
aber unverraihen“, Lid in seine Rügeniche Heimath. Gier fant er ten Vater 
sicht mehr unter ten Lebenden; tie Runter war ibm ſchon mehrere Jahre früher 
in's Jenieits vorangegangen. Rah cinem furzen Beſuche bei jeinen Geſchwi⸗ 
fern ging er als,„Sprachlehrer Allmann“ nach Berlin, wo er in tem Bud 
haͤndler Georg Reimer einen treuen Freund fant. 

Zu Eiern 1510 fonnte er nad Greifswald zurückkehren, wo er in jein 
Lehramt wieder eingeſetzi ward. Aber ed Tultere ihn nicht länger in Tem engen 
Kreite meiſt Franzöflich gefinnter oter gefinnungdlojer Kollegen, tem er geiflig 
längft entrüdı war. Echon im Sommer 1S11 ſuchte und erhielt er jeine Ent⸗ 
laflung, und nun begann er jeine große Irrfabrt, die er ſelbſt jeine „„abenteuer- 
liche Hebjchra’' genannt bat. Er ging zunächſt auf kurze Zeit wiederum zu den 
Seinigen, und im Januar 1512 nach Berlin, um von da, mit ruiftichen und 
oͤſterreichiſchen Paͤſſen veriehen, nach Breslau zu gelangen, wo er mit Bluͤcher, 
Echarnhorſt, Gneiſenau und anteren bersorragenten Männern, tie dort mit 
Ungeduld ter Befreiungäftunte entgegenharrten, vielfach verkehrte. Gr ſah ich 
jedoch bald genörhigt, um jeiner Sicherheit willen Breslau zu verlafien. Im 
Juni ging er nah Prag, wo er ten preupiichen Staardrarh Gruner traf, ber 
ihm ſogleich mitcheilte, ter Minifter von Stein wünſche ihn baltigit kei ji 
zu jchen. Stein war damals in Petersburg, wo er ais Rarhgeber und gleiche 
fam als Deutſchlands Vertreter in tem großen Entſcheidungskampfe Dem Kaijer 
Aleranter zur Scite land. Arndt folgte ter Einlatung des gleih ibm von 
Napoleon geädzteten und wüthend verfolgten Staatgmannes um jo lieber, als 
Die Branzoien ihm bereits auf Den Kerjen waren. Gr wanderte durch Böhmen 
und Galizien, über Smolensk, Kim, Moskau nach Peteröburg, wo er Ende 
Auguſt anlangte. Seine Feder hatte inzwilchen nicht geruht; es erjchienen von 
ihm in jener Zeit die „Briefe an Freunde“; dagegen blieben Lie Schriften über 
die Geichichte und Verfaſſung Schwedens“, ſowie die „Ueberſicht der deutjchen 
Geſchichte“ vorläufig noch ungebrudt. 

Stein, der ihn aus feinen Schriften als einen wadern deutſchen Patrioten 
fennen gelernt hatte, empfing ihn freuntlich mir ten Worten: „Gut, daß Sie 
ba find; wir müjlen hoffen, ta wir hier Arbeit bekommen.“ Bald hatten beide 
bollauf zu thun. Es galt jegt, Ten übermüthigen Tyrannen und Eroberer zu 
fürzen, und das deutſche Volk zu einem legten Bernichtungsfampfe aufzuftacheln. 
Unter der Leitung des großen deutſchen Staatsmannes fehte Arndt an ber Newa 
die patriotijche Thätigkeit fort, Die er in Deutichland mit jo vielen Opfern und 
ohne Ausjicht auf Erfolg begonnen. Während fein „Herr“, wie er Den Freiherrn 
bon Stein zu nennen liebte, mit der ganzen Kraft feines Heldengeifted an ber 
Befreiung Europas und Deutſchlands arbeitete, Täutete er ſelbſt zuerft mit ber 
„Blode der Erunte in trei Zügen” Sturm gegen die „Wälſchen“. Tiefe Flug⸗ 
fchrift, tie auf Befehl des Kaiſers und auf öffentliche Koften gebrudt und in's 


Ernſt Moritz Arndt. 321 


Ruffifche uͤberſetzt ward, enthielt eine Aufforderung an die Deutſchen zum Ein⸗ 
tritt In bie deutfche Legion, fobann eine „Stimme der Wahrheit" und endlich 
Mitteilungen ‚aus Bönaparte's Lehen”. Darauf folgte der gleichfalls auf 
Staatsfoften in Petersburg gedruckte „Soldatenfaterhismus ‚fir die Deutfche 
Legion‘ und der „hiſtoriſche Almanach für 1813. Außer diefen Schriften 
verfaßte Arndt im Aufteag feines Gönners cine große Anzahl von Auffor⸗ 
derungen, DVerkündigungen und Miberlegungen Napoleoniſcher Bekannt 
machungen, half ihn vielfach bei feiner ausgebreiteten -Diplomatifchen Gorrefpon« 
denz und theilte überhaupt redlich mit ihm alle Muͤhen und Arbeiten, welche 
dad große Befreiungdwerf nothwendig machte. Dies und. bie-Uebereinftimmung 
der Anſichten und Befinnungen riß-alle trennenden Schranken nieder, welche 
Geburt, Rang und Sitte zwijchen den beiden großen Vorfämpfern ber deutſchen 
Freiheit aufgerichtet hatten. Der plebejifche „‚Bücherfchreiber”, der Sohn bes 
ehemaligen Reibeigenen fand mit dem beutfchen Reichsfreiherrn und Minifter 
auf einem folchen Buße, als Hätten fie fchon Jahre Lang: mit einander gelebt 
und verkehrt. Wenn ſolche Männer ſich verbanden, um bie widerfirchenden 
Auffen in den Kampf zu treiben und das beutiche Wolf zu einer Gefammt- 
erbebung anzufpornen, fo durfte man wo mia an ber Bettung: des Vater⸗ 
landes verzweifeln. 

Während Arndt fich in Peteröburg, wohin er als „lauſchender Abenteurer 
bes Glücks“ gekommen war, unter dem Schutze Steins in einer ſicheren und 
ehrenvollen Stellung mehr. und: mehr befeſtigte, rückte die.große Entſcheiduug 
mit den flegreich vordringenden Branzofen immer näher. Obgleich die Nieder⸗ 
Inge bei Borotino und der. Brand Moskaus alle Feigen und Kleinmüthigen 
gewaltig fchredte, ward doc nicht Friede geſchloſſen. Danf der unerfihütter« 
lichen Feſtigkeit und den weiſen Rathſchlaͤgen Steins. Und nicht lange, fo Fam 
die Freudenbotſchaft, daß der ſtolze Eroberer und ſeine Heerhaufen durch Eis 
und Schnee den Ruͤckmarſch angetreten Habe. Der große Weltkampf zog von 
bem Oſten gegen Weften. Die beiden Patrioten an der. Newa blickten jegt 
mit dreifacher Schnfucht in dieſen Weſten und nach tem geliebten Srimatpe- 
lande; fie wollten und mußten mitzichen. 

-Am 5, Januar 1813 reiften Beide von Petersburg a6 und famen am 
21. Iannar in Königäberg an. Hier verichten ſie, von der gefammten Bevöl⸗ 
ferung mit enthujlaftifchen Freudenbezeugungen empfangen, „wahrhaft: könig⸗ 
liche Tage.” In Königsberg wurden fogleich die erſten Vorbereitungen zu dem 
künftigen deutſchen Volkskriege getroffen. "Das ganze Volk der Oftpreußen bis 
in die unterften Stände herab brannte vor Begierde, ſich in den Kampf gegen 
die verhaßte Fremdherrſchaft zu ftürzen. Won der ungebeuren Aufregung, von 
ber glühenten patriotifchen Begeiſterung, welche Damals Die Gemüther ergriffen 
Batte, kann man jich in unferer- älteren und ärmeren Zeit ſchwerlich eine rich⸗ 
tige Vorftellung machen. Es war Alles bitterfter, heiligfter Ernft, was den 
Leuten jegt als ein Eindliches, ja Findifches, höchſtens als ein gemachtes poetifches 
Spiel erfcheinen würde. In Königsberg ſchrieb Arndt, nachdem er bereits 
durch feinen Aufruf „an die Preußen” auf Nork's patriotiſchen „Abfall“, 

V. gar 


yarkereitei hatie, das Büchlein über „ Lantırcehe und Bantiturm‘', weiches Bald durch 
gan, Leutichland flog und an ten veridjietenäten Orten wieter abgetruft wurde. 

Im Frühling 1813 folgte Arutı feinem „lichen Herrn‘‘ nach Kaliich, ging 
son ta nach Breslau, wo ter Köniz bereitö am 3. Februar tem berrlichen 
Aafruf an jein Volk und tie Kriegserflärung an Srankreic; erlafien hatte, und 
im Aufange des April mach. Dresden, in teen Mauern fegt ein kaiferlich- 
zufficher und köriglich premfijcher Berwaltungsrarh für tie deutichen Ange 
legenheiten und Lande unter der Leitung bed Niniſters vom Stein taglich Eiganz 
hielt, Hier begann ein newer Abſchnitt in Tem pelitiichen Wanderleben der bei⸗ 
den großen Patrioten. Ter Kımpf, zu tem ſie im fernen Often das deutſche 
Bolt angefenert, brach endlich led; Arndt ward der vornehmite Sänger, ein 
Herr und Meier der größte unt genialfie Organijater dieſes heiligen Belfd- 
krieges. In Dresden entitand auch der brirte Theil vom „, Geiſt der Zeit‘, zu 
welchem der Verfaſſer ſchon in Königöberg das Marerial gefammelt bare. Wie 
Mar und richtig ex das Ziel bes beuorfichenten Kampfes erfannte, mag folgente 
Stelle zeigen. 

„Das nächte greße Ziel dieſes mit ſolcher Würde und Hoheit ter Geſtn⸗ 
nung begonnenen Krieges ift die Befreiung und Wieberberfielung Italiens und 
Deutſchlands und die Veſchraͤnkung des franzöflichen Uebermuths an dem Rhein» 
Arom. Dort beginnt tie Arbeit des Kriegs, vielleicht eine lange und ſchwere 
Arbeit, die aber gethan werten mug, wenn man nicht bei Halbem fiehen bleiben 
und nach reinigen Jahren die Franzoſen wieder jehen will, wo ſie eben geweſen 
find. Den Rhein darf das unruhige und eraberungsluftige Volk nimmer als 
Grenze behalten; denn welche Klaufeln und papierne Eidſchwüre und Verſchrei⸗ 
bungen man auch an einen Friedensſchluß Hängen und von wie vielen Bürgen 
und Zeugen man ihn auch mit unterjchreiben laſſen mag, tie natürliche Ge⸗ 
walt wird immer Rärfer jein als die künftliche, wenn die Grundlage tes Frie 
dens nicht eine fichere if. Der Rhein mit jeinem Knie in fremder Hand drückt 
gerate auf ten Racken Deutſchlands und wird nicht weniger drücken, wenn 
man auch gelobt und betingt, es jolle mit weißer Wolle und Seide umwulſtet 
werten. Wenn Sranfreich ten Rhein und feine feften Stellungen befigt, io ift 
Das Riederland und die Schweiz, und aljo auch ter größte Theil von Ober⸗ 
italien geratezu von ihm abhängig, jo liegt ihm Las übrige Deutſchland bis an 
die Elbe und ten Töhmerwald offen, und es mag ungeftrajt hineinbrechen und 
fireifen und ziehen, fo weit es will; zu ihm aber darf ungeftraft Fein Heer bie 
an ten Rhein, gejchweige denn über ten Rhein fommen. Will man aljo den 
Branzojen das Uebergewicht in der That entwinden, und nicht blos zum Schein, 
fo müflen Deutſchlands alte Grenzen wietergewonnen werden. Tann werden 
bie beiten Völker, die Deuiſchen und die Franzoſen, in gleichem Verhaͤltniß 
einander gegenüberfiehen, und tie gegenjeitige Furcht wird bie Marken beſſer 
bewahren, als alle Bullen und Tiplome, deren ewige Verfiherungen und Ges 
Iobungen immer nur durch die Degenipige recht geborgen werten. Tie Teub 
ſchen wollen nur ihr Gebührliches wieder haben, die Menſchen ihres Landes und 
ihrer Zunge, die ihnen unter Ludwig dem Vierzehnten und Funfzehnten und in 


Ernſt Morig Arndt. 323 


der letzten franzöfifchen Raubzeit entwendet worden fint. Diefe uralte ger= 
manifche Grenze fteht an den Vogeſen, tem Jura und den Ardennen, durch 
Art und Sprache des Volks unverfeunlich und unverrücklich feſt, und nichts 
Franzoſiſches, welches fie nur verberben würde, joll von den Deusfchen je begehrt 
noch genommen werden.’ 

Während der Kampf noch Hin= und herſchwankte, hielt Arndt folgende 
Lob⸗ und Danfrede an Preußen, die für alle Zeiten in den Jahrbüchern unserer 
Geſchichte aufbewahrt zu werben verdient. 

„Wenn etwas Ungeheures geichehen ift, kommen gewöhnlich bie Erklaͤrer 
und Ausleger mit Deutungen und Nutzanwendungen nach: nichts iſt bequemer, 
uns aus dem Nachher das Vorher zu beweiſen. Auch dem preußiſchen Staat iſt 
ſolches widerfahren; er iſt nach ſeinem Fall nicht blos betrauert, ſondern auch 
recht methodiſch bis zu feiner Gruft hingedeutet und hingerichtet worden: ſelbſt 
Schimpf und Hohn Hat in manchen Urtheilen und Rachrichten nicht gefehlt. 
Unleugbar war eine gewiſſe Erflarrung und Verftodung da, nicht. allein ver- 
anlapt durch das Erflaunen und die Beflürzung über die großen Begeben- 
heiten und Wechjel, die rings umher erjchienen, jondern tiefer liegend, theils 
in den alten inneren Verhaͤltniſſen des Staates jelbit, theild in dem, was die 
Menfchen tag Zeitalter zu nennen pflegen. Denn fo ift e8 von jeher ge⸗ 
wefen: foll etwas Ungeheures geichehen und etwas Neues werben, ſo erflarren 
die lebendigen Kräfte in ihnen felbit, ed wird matt, was Ichendig, feig was muthig, 
dumm, was geiftvoll war: es geht dann in den Staaten das vor, was im 
Menſchen vorgeht, rinige Stunden oder Tage vor dem Punkt, wo fie in eine 
ſchwere Krankheit fallen follen. Der große Uebergang der Zeiten, bie große 
Scheidung ded Alten und Neuen wird immer fo gemacht. Darum joll man in 
gewiffen Epochen die einzelnen Menfchen nicht zu ſchwer verklagen ,.fondern den 
geheim webenten und waltenden Geiſt der Zeiten, der die Dunfleu Geburten der 
Beichlechter und Säfeln regiert, und wenn er neue Schöpfungen machen wird, 
das Alte augenblidlich laͤhmt und verfleinert, Damit es Durch gejchwinden Sturz 
die Formen zerbreche und den Elementen zu neuen @eftaltungen den Stoff wies 
der zurüdgebe. Wenige Sterbliche aber find fo groß gefchaffen, daß fie dieſe 
innerlich zermalmende Kraft des Zeitgeiftes nicht fühlen follten.... Ale 
Teurfche hatten Leid zu tragen um den Untergang des uralten und Heiligen 
Reichs der Germanen, um die Vernichtung der Gejeke, Die Vertilgung der 
Sprache, Lie Verderbniß der Sitten, die Schmach und das Elend des Volks; 
aber nicht alle hatten gleich Großes verloren. Das Reich und jeine Herrlichkeit 
hatten viele Deutjche Herzen jchon fange nicht wie fle jollten gefühlt; was follten 
fie betrauern, waß fie kaum gefannt Hatten. Die meilten Hatten ſich vereinzelt, 
als Bürger Fleiner Stanten, al8 Iheilnehmer Feiner Verhaͤltniſſe, Gefchäfte und 
Anfichten hatten fie nichts Großes zu verlieren gehabt, gewohnt, Mächtigeren 
zu folgen und durch die Beichlüffe der großen deutſchen Staaten beſtimmt zu 
werten, empfanten viele Die neue Herrichaft der Fremden faum als ein Unglüd; 
fie fühlten fie nur als cin Unglüd, nicht weil fle undeutfch war, jondern weil fle 
Tyrannei ward und Tyrannei zu bleiben verſprach. Anderes wiberfuhr den 

21 * 


m Biographie. 

Seenijen: te baren einen grejen Kamen, einen uwlerhlühen Ruf verlieren; 
ie founıen ofne Ehre nice mehr Aufiub vom. Acc Die Soc eımuen Sabeen 
neck io mic Binzedimmerr uni fimgisinme bare. warez ud ter ühweren 
Etarrrucht ermacht: alle fühlsen Tas msn. aber Fuzerer rahlızz fe te Schazte 
unb fe trauerten, aber ke ;ürnzzu ned mehr. Rımulsse batte gemein, Der 
rende Etaat ſei Dur die sramımen Bedinzumien, die er aemackt batte, 
derch tie Gemalı, kie er %£ witer alle Irene der Berırige sensmmen, geuny 
yermulmı: er könne ibn ;errinen nur ie liezen Lufien, Id tie Zeir az fer, ihm 
ganı zu Sernicdheen : Rapolesn bare Reck, je wer iz yemi-hisrer Mınik, ter 
Vie Menihkeir nur nach ibren Scrwächen unt Salkern beurıheiien fınz, ve Selt 
verſteht: er bate zermalat mut zermalite, mad sermaimı werten founte: tie 
Gefabr, weite in einer wietergeımeenen GEbre ürokı, tie nicht ebriee gemein 
MR, erlamnıe rin Mzun nit, weider keine Tugent erfennen fını Rıyeleen 
fonnıe Alles mieten, nur nid, wie weis bie Geiler ũch beberriden Lifte“ 

Aach ter Echlaı bei Lagen wichen tie Berfünteıen über tie Elbe zur, 
we fie aub wit einen einzizen Feen Dlıg als Anlchnansunf: keiahen, 
Amtı ging, als Alles Tretten erließ, im Aufırage Strins nah Berlin, und 
bejuchte zon tert teine Verwandten unt Freunde in Bemmerz uns Rügen. 
Dann kehrte ex nach Berlin zurück, we er im Juni ten „‚Ganmurt ter Erzichung 
eines Zirhen‘ ichriek. Inmitten werten gemalrige Schladım geislayen, mit 
zum Theil zweireihaftem eter unglädlübem Auszany: tot ielhR die Nachrichten 
von Berluften enrmntbigten Riemanten. Tie Menſchen waren au’ das Aergite 
gefaßt; lieber das tierhe Leit unt Verderben, lieber die legten ehrlichen Todes- 
wunden, als Linzer tie Schante ter Knechtickaft — Bad war das allgemeine 
Gefühl, tie berrichende Srimmung in ter Haupttatt. Ale aber tie Nachricht 
von tem Abicklune eines Waffenſtillſtandes nach Berlin kam, ta wurden Biele 
unficher und ſchwankend. Tie unbeimlichiten Gerüchte wurden geflittenılic im 
Umlauf geieht und fanden ſelbſt in ten gebilteren Ständen leicht Gingang 
unt Wlauben. Ter idimrrlide Fall Hamkurge, das io leicht bäute gerettet 
werten können, tie ickäntliche Rictermeplung des Kügemwer Corps mwibren? des 
Bahrnitilifiantes, unt antere Hioköroften ichrediten tie Ginen une erkitterten 
bie Anteren. Tie verihietenartigiten Stimmungen, Geüble, Anñchten und 
Leidenſchaften durchwogten chaotiſch Die Maffen. 

Aus dieſer heilloſen Verwirrung ter Haurifiadt flüchtete ſich Arndt nach 
Reichenbach in Echlefien, wohin ſein Gönner ibn berufen batte. Dort ſchrieb 
er ten „Katechismus für Ten chriftlichen Kriegs- unt Webrmann“, ein Bůch⸗ 
lein, das nicht blos Lie Streiter auf tem Schlachtfelde erquickt, Sterbende und 
Geneſende in Lazarethen getröftet,, ſondern im Verein mit Arntr'e friſchen, ur⸗ 
kraftigen Vaterlands⸗, Kriegs- und Volksliedern mächtiger als alle 
Proflamationen der Füͤrſten zahlloſe deutſche Männer und Jünglinge zum 
Kampfe für's Vaterland begeiſtert hat. Seine früheren Gedichte hatten nur eine 
geringe poetiſche Begabung verrathen, und in Bezug auf fic geſtand er ſpaͤter: 
„er habe von der Ratur nicht genug von jenem flüſſigen und flüchtigen, phan⸗ 
aflichen und magnetifchen Fluidum erhalten, was ten Dichter fhafft, und 


Ernſt Morig Arndt. 825. 


wenn ihm einzelne Fleine lyriſche Sächelchen hie und ba leidlich gelungen feien, 
fo ſei e8 nach dem Sprüchwort gefchehen: Eine blinde Taube findet zu⸗ 
weilen auch eine Erbſe.“ Aber jetzt erhob ihn ſeine Begeiſterung zu einer 
Fülle und Kraft, der ſich nur wenige deutſche Dichter an die Seite ſtellen können. 
Seine Lieder, mochten fie auch hin und wieder ber fchönen, glatten Form ent« 
behren, waren der Schreien des Feindes und der Stolz des deutſchen Volks, 
dem fie fröhlichen Siegeöniuth und rechtes Bottvertrauen einflößten. Unaus—⸗ 
Löichlich, weil auß dem ureigenften Geift und Gemüth des deutſchen Volks ge⸗ 
fungen, flehen in allen beutfchen Herzen die Haupt», Helden» und Kernlieder: 
„Der Gott, der Eifen wachen lich, der wollte keine Knechte“ — „Wer ift ein 
Mann? ter beten kann, und Gott dem Herrn vertraut!" — „Sind wir vereint 
zur guten Stunde‘ — das herrliche Baterlandslied, das jet feit länger als 
einem Menjchenalter mit immer neuem Jubel durch alle Gaue Deutfchlands er⸗ 
flingt; ferner dad Lied von Blüher, Schill, Scharnhorft ıc.; endlich der wun⸗ 
bervolle Grabgeſang auf Schenfenborf: „Wer joll dein Hüter fein? Sprich, 
Bater Rhein ꝛc.“ 

Keine andere Sammlung der Poeflen eined deutfchen Dichters enthält eine 
fo berebte, klare Gefchichte der Zeit, in welcher die Gedichte ſelbſt entſtanden, 
als die „Zeitlieder“ unjered Arndt. Er war im eigentlichen Sinne des Worts 
der Dichter feiner Zeit, einer großen, gewaltigen, tief erregten und bewegten 
Beit, tie, wie fie große und flarfe Charaktere forderte, in gleicher Weife ftar« 
fer, Fräftiger Worte bedurfte, ihren innerflen Kern und Gehalt zu offenbaren, 
ihr wirkliches Wefen auszufprechen. Wenn Arndt nun der Dichter feiner Zeit 
war, mußte er in einer Epoche, wo nichts über das Vaterland ging, nothwendig 
der Dichter ſeines Vaterlandes fein. Bevor er deffen Ruhm fingen Eonnte, hat 
er manches Lied gedichtet, das Hunderttaujende zum Kampfe fuͤr's Vaterland 
begeifterte. Und als Lie Kreiheit und Unabhängigkeit, Die man dem Vaterlande 
geraubt hat.e, wieder errungen war, da hat er noch manches Lieb gejungen, ten 
Ruhm, die Ehre und Größe Deutichlands zu verberrlichen. 

Nach der großen Völkerichlacht im Dftober 1813 begab er fich auf den 
Wunſch Steind nad) Leipzig. Von bier ließ er eine ganze Reihe politischer 
Brojchüren ausfliegen: „Das preußiiche Volk und Heer im Jahre 1813 (darin 
hieß e8 unter Anderem: ‚daß Preußen wieber bafteht, verdanfen wir nächft Gott 
der geiftigen Freiheit, die der König feinen Unterthanen unverkummert ließ‘); 
ferner ‚über Volkshaß und ven Gebrauch einer fremden Sprache”, über „das 
Verhaͤltniß Englants und Frankreichs zu Europa”, „Grundlinien einer Deuts 
fen Kriegsordnung“; vor allen die trefflihe Schrift: „Der Rhein, 
Deutfhhlants Strom, nicht Deutſchlandé Brenze”, ein Eleines 
publiciftiiches Meifterwerf, das allgemein geflel und dem Verfaſſer offenes Lob 
von dem preußifchen Staatskanzler Bürften Hardenberg ncbft dem Verſprechen 
einer Anitellung eintrug. Gleichzeitig lieg er die erfte Abtheilung des dritteu 
Teils von „Geiſt der Zeit” unter dem Titel: „Geſchichte von Rapoleon, wie 
er nach Rußland ging und wieder herauskam“, als befondered Druckwerk er⸗ 
ſcheinen. 


326 . Biographie: - 


Bald nad) Neujahr 1814 begab er fich won Leipzig nach Frankfurt a, M., 
wo jetzt die deutſche Gentralverwaltung ihren Sig hatte. In ihrem Auftrage 
und unter ihrem Schuße fuhr er hier fort., in feiner Weife mit der Feder und 
durch die freie Preſſe für Die Wiederaufrichtung Deutfchlands zu wirken. Außer 
den beiden Schriften „über fünftige fländifche Verfaffungen‘ und über ‚Sitte, 
More und Kleidertracht‘‘ erfchtenen hier von ihm die „Anſichten und Ausfichten 
der deutſchen Geſchichte“, eine Bearbeitung des fchon erwähnten Entwurfs 
einer deutfchen Geſchichte. In Frankfurt fah er auch zuerft den Fürſten von 
Hardenberg, der ihm feine früheren Verfprechungen wiederholte und ihm den 
Gehalt, welchen er bisher aus ber Kafje ber Gentralvenwaltung bezogen 
hatte, bis zu feiner ordentlichen Anftellung im preußifchen Staate bewilligte. 

Inzwifchen hatten Die Verbündeten Paris erobert; Napoleon war entthront 
und nach der Infel Elba abgeführt worden; Die Bourbonen hatten den Thron 
ihrer Väter beftiegen; zu Paris war Friede gefchloffen und gleichzeitig Die Cen⸗ 
iralverwaltung in Branffurt aufgelöft worden. Arndt, der Den ganzen Winter 
in Frankfurt geblichen war, benugte die erfte fröhliche Friedens- und Mufezeit 
zu einem Audflug in und durch die herrlichen Mheinlande. Auf Diefer Lufl« 
reife Fam er in Herbfte nad) Naflau, wo er feinen Herrn und Meifter befuchte, 
der ihn auf das Allerfreundlichfte empfing. Dann wanderte er zu Fuße nad 
Berlin, feinem „neuen Herrn‘, dem preußijchen Staate, zu dienen; denn er 
war jetzt mit voller Liebe und Zuverftcht ein Preuße geworden und glaubte in 
Preußen eine auch für die Zukunft belebende, erhaltende und frhirmende Macht 
Deutjchlands zu fehen. Von Berlin ließ er wieder eine große Zahl Eleiner Ges 
legenheits⸗ und publiciftifceher Schriften ausfliegen: „Ueber Die eier der Leip⸗ 
ziger Schlacht“, ‚noch cin Wort über Franzoſen und über und‘, „ Entwurf 
einer deutſchen Gefellichaft‘‘, „Blick aus der Zeit in die Zeit‘, „Phantaſien für 
ein Fünftiges Deutſchland“, „Friedrich Auguft König von Sachſen und fein 
Bolt‘, ‚über Preußens rheiniſche Mark und über Bundesfeſtungen“, endlich 
‚über den Bauernftand und feine Stellvertretung im Staate“. 

Alle feine Gedanken und Hoffnungen waren indeffen nur auf den Mhein 
gerichtet, Denn an Diefem deutſchen Strome follte jetzt tie neue Univerfttät er⸗ 
richtet werden, an welcher ihm ein Lehrſtuhl zugefichert war. Die politifchen 
Ereignifje führten ihn früher dorthin, als er erwarten durfte, Napoleon hatte 
am legten Tage des Februars 1815 die Injel Elba verlafien, war mit einer 
Handvoll Soldaten in Südfranfreich gelandet und ohne Schwertftreich bis 
Paris vorgedrungen. Ludwig XVII, von Allen verlaffen, war nad) Belgien 
entflohen, und die verbündeten Herrfcher mußten ihre Heere zum neuen Kampf 
gegen den Störer der Ruhe Europas über Die Alpen und den Rhein fenden, 
Dahin begab fich auch Arndt im April, und zwar zuerft nach Aachen, fich Dad 
Kriegsgetümmel und die Bewegungen in Belgien ein wenig in der Nähe zu bes 
trachten. Yon da ging er Mitte Mai nach Köln, wo er einftweilen feinen Wohn⸗ 
fig nahm. In der alten Rheinſtadt arbeitete er wieder fehr fleißig und gab auch 
‚eine Zeisfehrift unter bem Titel ‚der Wächter‘ heraus, Die den Grundſat 
zur Geltung bringen follte, Daß der eigentliche Begriff politifcher Freiheit bie 


Ernf orig Arndt. 827 


böchfte und ausnahmelofe Herrſchaft des Geſetzes fel. In dieſer Zeitfchrift Tieferte 
er unter Anderem eine Abhandlung „über bie Pflegung und Erhaltung ber 
Forften und Bauern im Sinn einer Höheren, d. h. menfchlichen Geſetzgebung.“ 
Mit Diefer berebten Schugichrift, die er 1820 in Schleswig befonders wieder 
abdruden ließ, Echrte er gleichfam zu feinen politifchen Anfängen zurüd; denn 
für bie Bauern hatte er veinen erflen Strauß beftanden, für fte hatte er bie 
erften Hiebe audgetheilt und empfangen. Sie find auch Bid zuleßt ein ernfler 
Gegenſtand feines Nachdenkens gewejen und es von Tage zu Tage mehr ges 
worden, je weiter die Zeit in ber Offenbarung ihrer Richtungen und in ber 
Entwidelung ihrer Grundfäge und Theorien vorfchritt. 

Nach einem längeren Aufenthalte in Köln, wo er „die politifchen Schmer⸗ 
zen und Wehen abgerechnet‘ wohl gelebt hatte, wanderte er im Frühlinge des 
„traurigen Hungerjahres“ 1816 in fein pommerfches Heimathsland, das er 
feit jech8 Jahren nicht betreten. Einen Theil des Sommers verlebte er in 
Dänemark, wo er einige nothiwendige nordiiche Anfhauungen ergänzte. Da⸗ 
rauf ordnete er feine Angelegenheiten in der Heimath, begab fih im Früh⸗ 
linge 1817 nach Berlin, veröffentlichte dort die daheim verfaßte „Geſchichte 
ber Veränderung der bäuerlichen und berrfchaftlichen Verhaͤltniſſe in Schwe⸗ 
diſch⸗Pommern und Rügen‘ und lich fich im Herbſte 1817 am Rhein in 
Bonn nieder, die Gründung der neuen liniverfität erwartend, an weldjer er 
ein’ Lehramt bekleiden follte. Hier gab er die reizenden ,‚Märchen- und 
Jugent-Erinnerungen’ heraus, die in zwei Theilen bei G. Reimer in Berlin 
erichienen. 

Im Jahre 1818 ward er dann auch wirklich ald Profeflor der Gefchichte 
an ber neuerrichteteten Univerfität zu Bonn angeftellt. Nun gründete er fich 
einen feiten Heerd und vermählte fich mit Nanna Maria Schleiernacher, Schwer 
fer des berühmten Theologen Schleiermacher, deren Vater an den Geftaben 
des Rheins geboren war. 

Nach Langer abenteuerlicher Irrfahrt Hatte er endlich den ficheren Hafen 
einer ehrenvollen amtlichen Stellung erreicht und daß feltene Glüd gehabt, ein 
treucd tapfered Weib zu erringen. Getroſt fah er nun der Zufunft entgegen 
und bauete ſich an einem der fchönften Punkte ter Statt ein Haus mit rei⸗ 
zender Ausficht auf das Herrliche Siebengebirge. Bon neuer Schaffendluft 
und patriotiichen Eifer beieelt, fchrieb er hier den vierten Theil zum „Geiſt 
der Zeit“, worin er die Kürften Deutfchlande mahnte, Die in den Tagen der 
Roth gegebenen Verjprechungen nunmehr zu erfüllen und dem Volke vie ihm 
gebührenden Rechte nicht Tänger vorzuenthalten. Diefed Bud, obſchon nicht 
vom Stantpunfte abftrafter politijcher Theorien oder metaphyſiſcher Speku⸗ 
Iationen, fondern im ficheren und feften Sinne des Lebens und der Gefchichte 
geichrieben, mißfiel ten Machthabern jo entichieden, daß der König Friedrich 
Wilhelm II. ſich veranlagt ſah, dem allzufreimüthigen Verfaſſer eine War⸗ 
nung und einen Verweis ertheilen zu laſſen. Arndt erflärte darauf in feiner 
Nechtfertigungeichrift an den Staatöfanzler Kürften von Hardenberg, feine 
Grundfäge feien noch immer bie alten, durch fünfzehm Jahre bewährten, und 


328  -Bhogtepfie.: - 7 


er ſei noch Immer ber treue gut monarchifch gefinnte Patriot. Diefes Feſthalten 
aber an den alten. guten, in der Zeit der höchſten Noth jogar von oben 
herab proflamirten Breiheitögrundfägen war es eben, was ihm die allerhöchfte 
Ungnade zuzog, denn bie Auftchten der Vachthaber hatten ſich ſeitdem weſent⸗ 
lich geändert. 

Schon ſeit dem Jahre 1816 war ein auffallender Wechjel in den Strö« 
mungen der politifchen Atmosphäre eingetreten. Am 23. März 1819 ward 
Kopebue durch Sand ermordet, und nun begann die Jagd auf bie fogenannten 
Demagogen, Schlag auf Schlag folgten einander die Verbaftungen, Ber 
folgungen, Uinterfuchungen und Gewaltmaßregeln aller Urt. Wer jemals 
volksthuͤmlich gedacht oder freimüthig gejprochen hatte, wurde ver Mitſchuld an 
jenem vereinzelten Meuchelmorde angeklagt und in den finfteren Kreis der Ders 
bächtigung hineingezogen. Namentlich waren ed die Lehrer und Etudirenten 
ber lUiniverfitäten, die dem Verfolgungsgeift der Metternich und. Kampg zum 
Dpfer fielen. Auch der edle und hochrerdiente Patriot Arndt, der jo helden⸗ 
müthig mit dem Schwerte des Geiſtes für die Befreiung des Vaterlandes ges 
fämpft, blieb von der allgemeinen Maßregelung nicht verichont. Don Den 
offiziellen Demagogenriechern verdächtigt und der Theilnahme an flaatögefähr- 
lichen Umtrieben befchuldigt, ward er im Sommer 1819 verhaftet, jein Haus 
durchfucht, feine Papiere, Bücher, Briefe. und Ranuffripte mit Bejchlag ber 
fegt. Zwar ließ man ihn bald wieder frei, dafür aber warb er am 10. Ro» 
vember von feinem Amte fuspendirt und in eine lange Griminalunterfuchung 
verwidelt. Trotz aller Einfprüche und Berufungen auf feine zuftändigen Ges 
richte mußte er einer außerordentlichen Kommiſſion Rede ftehen und ſich 
einem Spezialrichter unterwerfen, Alle Dagegen erhobenen Beſchwerden und 
an Die hohen und höchſten Behörden gerichteten Witten blieben erfolgloe. 
Neue Geſetze und Verordnungen jagten in diefen Jahren und druͤckten mit 
doppelter Schwere auf Arndt und deffen Leidensgefährten, indem fle troß der 
allgemeinen Anmeftie rüchwirfend auf die „Demagogen“ angewendet wurten. 
Arnde mußte ſich wegen aller jemals von ihm verfaßten großen und Eleinen 
- Schriften, wegen jeder in jeinen und jeiner Freunde Briefen befindlichen Ans 
fpielungen auf die Zeit, wegen bloßer Gefühle, Getanfen, Einfälle oter 
Scherze des Augenblids verantworten, eine langweilige Unterfuchungsfolter 
anderthalb Jahre Hindurcd ertragen und ſich nach feinem eigenen bezeichnenten 
Ausdrude „langſam abfchlachten Laffen.” In Liefer trübjeligen Zeit jchrieb er 
an den Staatöfanzler Fürften von Hardenberg: „Was foll das nichtige und 
blöde Gefecht gegen Die Geifter, Die durch leibliche Fäufte nicht zu bejiegen find? 
Was jollen die Streiche gegen das Unvermeidliche und die Banne und Achte 
gegen das Unſichtbare und Allenthalbene? Wehe ung Allen, wenn, was über 
ker Erde entichieden und gejchlichtet werden ſoll, in den gemeinen Staub des 
Bauftfampfes hinabgeriffen wird! Das war von jeher der Weg, aus Waſſer 
Blut zu prefien und fliegenden Staub zu feſtem Granitfelfen zu verhaͤrten.“ 
Zum Publifum ſprach er damals ein „Abgenöthigtes Wort in meiner Sache”. 
Schdundzwanzig Jahre fpäter hat er von der gegen ihn geführten Unterſuchung, 


Ernſt Moritz Arndt. 829 


dieſer Miſchung von burledker Lächerlichkeit und empörender Riederträchtigfeit, 
in feinem „Nothgedrungenen Bericht‘’ ein anſchanliches Bild gegeben, das uns 
mit Ekel und Abſcheu erfüllt. 

Die geheime Kriminal⸗Unterſuchung, bei welcher verfisiebene unter feinen 
Bapieren gefundene Randgloffen, die der König felbfi verfaßt Hatte, 
den Haupanklagepunft bildeten, dauerte mit Eurzen Unterbrechungen faft an⸗ 
berthalb Jahre und endeie im Sonmer 1822 damit, daß Arndt zwar von der 
Inſtanz freigefprochen, aber in den Ruheſtand verjeßt wurde; doch ließ man 
ihm feinen vollen Gehalt und feinen Titel, Daß er nicht aus Bonn verwieien 
ward, jondern nach wie vor in feinem felbfterbauten Häuschen am Rheine 
wohnen durfte, glaubte er nur der Kürfprache feiner alten Gönner und dem 
gemäßigten Einne des Königs zu verbanfen, Der die Dinge nicht gern auf 
bie Außerfte Spige trieb. Die Hemmung in feiner Amtöthätigkeit empfand er 
ald ein ſchweres Unglüd. Zwar ſchien er während und felbft noch furz nach 
der Unterfuchung fein Geſchick mit ziemlichem Gleichmuth zu tragen; aber die 
langiame Zerreibung und BZermürbung feiner beften Kräfte bis in's Mark 
binein bat er, wie er jelbft fpäter geftand, nur zu tief gefühlt. „Man fleht es, 
ruft er bei der Erinnerung an. bieje trübfte Periode feines Lebens aus, man ficht 
ed tem Thurme, fo lange er flieht, nicht an, wie Sturm, Schnee und Regen 
feine Fugen und Bänter allmälich gelodert und gelöft Haben. Das Schlimmfte 
aber ift geweſen, daß ich fchöne Jahre, welche ich tapferer und beſſer hätte ver» 
wenden fönnen und follen, in einer Art von nebelndem und fpielendem Traum 
unter Kindern, Yäumen und Blumen verloren babe. Ja, ich bin ein geborner 
Träumer, ein Bortichweber und Fortfpieler, wenn nicht irgend ein feſtes Ziel, 
irgend eine Arbeit oder Gefahr, die plöglich kommt und plöglicy reizt und treibt, 
mich aus der nebelnten Zräumerei berausreißt. Ich kann auch nach dieſer 
meiner Ratur, wenn ich mich ald Gelehrter oder Schriftfteller betrachte, zu fait 
gar nicht? fommen, wenn mir nicht gegeben wird, Durch irgend ein beftimmtes 
Hanteln, Reden und Vortragen einige helle und Elare Funken des Erfenntnifjes 
und Verftindniffes Hervorzuloden. Ich bin fo geboren, daß ich fprechen und 
reden muß, damit meine Gefühle und Gedanken ſich ordnen; ich bedarf ter 
umrollenten und gegen einander Funken fchlagenten Kieſelſteine des Ges 
fpräch8 und der Rede, damit mein Bischen Geift aus mir herauskomme. Die 
Sperrung meined Katheter war für Die Univerjität wohl Fein Verluſt, aber 
für mich ein Unglüd: für mid, für einen Menfchen, der in perfönlicher 
Eigenthuͤmlichkeit ftecfen blich und es nimmer bis zur vollen ©egenflänblichkeit 
brachte, d. h. zu Dem ruhigen flcheren bemußten Stande den Sachen gegen⸗ 
über und zur immer heiteren, fonnenbellen Beſchauung des Allgenteiten, 
jondern der nur in dem Bejonderen, Gigenen feine einjeitige Stärke hat.“ 

Alle feine Berfuche, durch Bürfprache von Gönnern, durch perlönliche 
Vorftellungen und Bitten, namentlich während feiner Anweſenheit in Berlin im 
Herbie 1828, wieder zur amtlichen Thärtgfeit zu gelangen; waren vergeblich. 
Zwanzig Jahre blieb er in feiner Wirkſamkeit gehemmt, aber diefe lange Zeit 
bat ex nicht in thatenlofer Muße verlebt. Nicht nur nahm er den lebendigſten 


830 . Biographie, 


Antheil an den großen Erfcheinungen ber Zeit, der griechifchen und fpantichen 
Bolkserhebung, dem deutfchen Zollverein, den parifer Iulitagen, dem belgifchen 
Aufftand, ben traurigen Hannöverſchen Verfaſſungswirren, den Zerwürfnifien 
der preußifchen Negierung mit ben Erzbifchöfen und dem päbftlichen Stuhle, 
fondern Tieß fich auch über die großen europäljchen Fragen bin und wieder öf⸗ 
fentliy vernehmen. So erjchien von ihm im Jahre 1828 „Chriſtliches und 
Türkiſches“, 1831 „die Frage fiber die Niederlande”, 1834 „Belgien und was 
daran hängt”. Außerdem veröffentlichte ex im Jahre 1826 feine „Nebenſtunden, 
Beichreibung und Gefchichte der fchattifchen Infeln und Orkaden“, 1834 das 
„Leben ©. Aßmann's“, und endlich 1839 die vortreffliche Schrift: „Schwe⸗ 
diſche Gefchichten unter Guſtav III. und Guſtav IV. Adolf‘, die er bereitd 1809 
bis 1810 verfaßt hatte. Für das deutſche Vaterland feine mächtige Stimme zu 
erheben, war in diefer traurigen Epoche dem greifen Volkstribun nicht geftattet, 
Schon war e8 in Deutfchland jo weit gefommen, daß fein herrliches Voterlande« 
lied nirgends mehr gefungen, und er felbft weder öffentlich gefeiert noch ges 
nannt werben burfte. 

Die Thronbefteigung Friedrich Wilhelm's IV. brachte endlich eine theilweiſe 
Aenderung des Syſtems, dad feit dem Jahre 1818 in Preußen die Oberhand 
gewonnen. Es war eine der erften Sorgen dieſes Königs, dem Schwergefränften 
Das zwanzigjährige Unrecht zu vergüten. Am 6. Juli 1840 ward Arndt in feine 
Profeſſur wieder eingefegt, und zwar, wie e8 in der Kabinetdordre hieß, „weil 
der König ihn fenne, ihm vertraue”. Diefer Schritt Friedrich Wilhelm’s IV. 
brachte überall den außerordentlichften Jubel hervor, nirgends jedoch mehr als 
in der Rheinprovinz, welche Arndt Durch Tangjährigen Aufenthalt zur zweiten Hei⸗ 
math geworden war und bie ihn mit Stolz ihren Bürger nannte. Ein glänzen 
des Feſtmahl, welches Die Univerfität Bonn ihrem berühmten und fo lange von 
ihr ausgeſchloſſenen Kollegen am 21. Juli veranftaltete, Lich dieien allgemeinen 
Enthufiasmus zu vollem Ausbruch kommen, ebenſo ein ſpaͤteres Seitens ber 
Bürgerfchaft von Bonn, 

So war denn der edle Dulder nach Tangem Schweigen und in einem 
Alter, wo felbft „Die Weifeften vom Lchrftuhl Herabfteigen‘‘, wieder zum Neben 
berufen. Nach feiner eigenen Erflürung „konnte c8 einem Greiſe, der von ber 
Laſt tes Alters und andern Laften zufammengedrüdt im Schimmel der Unthäs 
tigfeit und Vergeſſenheit gelegen hatte, nicht einfallen, daß er noch Klang und 
Zon haben könne, wie weiland. Nur aus Nüdficht für die Eönigliche Gnabe, 
aus Nüdficht auf Die Meinung geliebter Freunde, welche ihm vorftellten,, daB 
Ablehnung oder Weigerung, unter welchen Titel immer als Trotz gemißdeutet 
werben fönne, glaubte er in fo lieblichem Sonnenfchein die alten, zufammenges 
ſchrumpften Blätter regen und entfalten und auf freundliche Zeichen der Huld 
auch feine ſchwache Zeichen geben zu müffen”. Die afademijche Sugend empfing 
ihn mit jubelnder Begeifterung, der Senat wählte ihn für das nächte Jahr 
zum Rektor Magnificus. Seine Bücher wurden in Deutjchland wicder begehrt 
und fo erfchienen denn von ihm im Jahre 1840 „Gedichte“, (neue, verminderte 
und doch vermehrte Auflage), und bie intereflanten „Erinnerungen aus bem 


Ernſt Morig Arudt. 331 


äußeren Leben” (drei Auflagen in zwei Jahren); im Jahre 1842 „das Turn⸗ 
weien”, 1843 „Verſuch in vergleichender Völkergeſchichte“ (bereits 1844 in 
zweiter Auflage) ein ſehr intereffantes und werthvolles Buch; 1844 „Schriften 
für und an meine lieben Deutfchen‘’ (eine Sammlung früherer Flugſchriften in 
drei Bänden) und „die rheinifchen ritterbürtigen Autonomen’; 1846 „Rhein⸗ 
und Ahr-Wanderungen” (zweite Auflage der Wanderungen aus und um Godes⸗ 
berg); fowie die ‚Zugabe zu Diderots Grundgefeg der Natur“, und endlich 
1847, als die alten Berdächtigungen wieder hervorgeſucht wurden, ber fchon 
erwähnte ‚‚nothgedrungene Bericht aus meinem Leben aus und mit Urs 
kunden“. 

Im April des Revolutionsjahres 1848 wurde der neunundſiebzigjährige 
Greis, der Die neue Zeit mit der Flugſchrift „das verjüngte ober zu verjüngende 
Deutſchland“ begrüßte, von dem funfzchnten rheinpreußijchen Wahlbezirk als 
Volksvertreter in die deutſche Nationals Berfammlung nach Frankfurt a. M. 
gefandt. Dort trat er unter die Männer der Paulsfirche ald ver „‚ältefte 
und weißefte, nicht der weiſeſte — fügte er felbft befcheiden hinzu — ich 
bin nicht fo Dumm, daß ich Daß glaube‘. Er wollte auf dem Neichätage nur 
„das alte ehrliche Gewiſſen“ vorftellen und „als folches eine Stimme haben”, 
ALS ‚‚Deutfchefter der Deutfchen‘‘ von der Verſammlung begrüßt und in Ehren 
gehalten, ſtimmte er aus voller licherzeugung mit der Eonftitutionellen Bartei für 
das kleindeutſche Erbfaiferthum, und ging auch als Mitglied der Reichstagsdepu⸗ 
tation nach Berlin, den König Friedrich Wilhelm IV. die deutiche Kaiferfrone 
zu überbringen. Die Großdrutfchen, die ihn ald einen der Ihrigen betrachteten, 
erklärten fein Votum in der Kaiferfrage für einen Abfall und erinnerten den 
greifen Dichter an den bekannten Refrain feined Vaterlandsliedes: „Das ganze 
Deutichland foll es fein’. Auch von den Parteigenoffen, die von ihrem Freunde 
meiftens nicht mehr Fannten, als jened Lied, ward fein Schritt als eine ehren« 
wertbe Inconfequenz aufgefaßt. Daß die Einen wie die Anderen irrten, hat 
fhon Sulian Schmitt in feiner „Geſchichte der deutfchen Kiteratur im neuns 
zehnten Jahrhundert ‘‘ mit überzeugenden Gründen dargethan. „Wenn man — 
heißt es dort — in einer Zeit, wo das heilige römijche Meich deuticher Nation 
noch in lebendiger Erinnerung beftand, bei den Aufruf des Volks nicht wohl 
eine andere Wendung nehmen fonnte, als zur Wiederaufrichtung dieſes Reichs 
anzuregen, fo war c8 doch bei Arndt nicht eine hiſtoriſche Reminiscenz, auf bie er 
fein deutſches Volksthum gründen wollte, fondern die ſittlich gereinigte Volks⸗ 
fraft,, die ihm in der Gegenwart entgegentrat. — In der Paulskirche behaup⸗ 
teten die Großdeutſchen, Die Legitimen zu fein, Diejenigen, welche die Hiftorifchen 
und traditionellen Ideen umverfälicht fortzupflanzen und auszuführen ftrebten. 
Die Großdeutichen von der Rechten bezogen ſich auf Das Neichsfammergericht 
und auf den Bundestag, Die Großdeutſchen von der Linfen auf dad Volkslied 
vom einigen freien Deutfchland, welches fich fogar in Dem mißverftandenen 
Trinkſpruch eines Prinzen ausgefprochen haben follte, in bem man damals bie 
Menſchwerdung dieſer Idee verehrte. Die Kleindentfchen dagegen wurden ale 
Neuerer betrachtet und mit dem Prädikat ber Verräther beehrt, Das man allen 


332 "Biographie. - 


Neuerern gern beilegt. Da die Partei in Frankfurt groß geworben war, mo man 
unleugbar unter großdeutichen Borausjegungen zujammenfam, fo wurde fle 
ſelbſt ſtutzig und fuchte ihre Legirimität durch Zugefländniffe zu erfaufen, bie 
dann freilich zu ihrem leitenden Grundfag nicht ſtimmen wollten. — Run wird 
e8 aber für Jeden, der die politische Literatur zu Anfang biejes Jahrhunderte 
in’8 Auge faßt, unzweifelhaft fein, daß die kleindeutſche Partei als Die Tegitime, 
als diejenige angeiehen werden muß, welche die Traditionen bed Liberalismus 
fortpflangte. Im jener Zeit hatte man noch nicht die Hohenftaufen auf den 
Altar gehoben, und wenn man Symbole für die deutſche Rationalität fuchte, fo 
waren es, abgejehen von ben farbloien Cherusferfürften, zwei charafteriftifche, 
Luther und der alte Brig. Luther Hatte Deutichland von Rom emaneipirt, Fried⸗ 
rich der Große hatte zuerft Lem deutſchen Volk zur Anfchauung gebracht, daß 
es noch Helden bervorbringen könne. In dieſem Sinne dachte und empfand, mit 
wenigen Ausnahmen, Die ganze damalige Geichichtichreibung und Publiciſtik, und 
wenn durch die Schlacht von Iena in dieſe Anjtchten einige Verwirrung kam, 
jo führte die gleich Darauf folgende Wirdergeburt des preußijchen Staates Doch 
bald zu ihrer Wiederaufnahme. Man rechnete auf den preußiichen Staat und 
auf den Proteſtantismus, ald auf tie beiden hauptfächlichften Hebel zur Wieder« 
aufrichtung Deutichlande. Auf welche Weije je ihre Aufgabe erfüllen folls 
ten, darüber hatte man fich Feine beftinnmten Vorftellungen gebildet; aber über 
die Aufgabe felbft waltete Fein Zweifel o&, und wenn man nun endlich genöthigt 
wurde, an’d Werk zu geben, jo Eonnte der Tialeftiiche Prozeß, Dem jede neuges 
bildete Partei unterworfen ift, zu nichts Anderen führen, als zu der Itee, daß 
Scheidung nicht immer mit Machtverluft verfnüpft ift, daß, wenn zwei Orga⸗ 
nidmen durch ein unnatürliche® Band zufanmengehalten werden, die Zerjchneie 
dung dieſes Bandes beite flärft, fo Laß nach der Trennung jeder einzelne von 
ihnen mächtiger ift, als vorher beide zuſammen.“ — 

Am 16. Mai 1849 ftand der greile Tribun zum legten Mal auf ver 
Nednerbühne in der Paulskirche und fprach von der Einheit des deutſchen Volks, 
das, wenn es auch nur halb einig wäre, die Welt überwinden müßte, wie vors 
dem. Eine Woche ſpäter trat Die Eonftitutionelle Partei und Arndt mit ihr 
aus der Rational» VBerfammlung aus, deren weitere Schickſale ſattſam befannt 
find, Die Gedichte, welche er in diejer ſturmbewegten Zeit gejchrichen, bat 
er als „Blätter der Erinnerung meiſtens um und aus der Paulskiche” 
herausgegeben. 

Auch nach den Behljchlag der großen nationalen Hoffnungen fuhr ber 
rüftige Alte fort, wie vordem geharnifchte Mahnworte an das beutfche Volk zu 
zu richten. „Sein Alter war friich, wie greifender Firnewein”, Kein grämlich 
verbroffener Lobredner der „guten alten Zeit", jontern ein Tichevoller Beobach⸗ 
ter der zufunftverbeipenden Keime der Gegenwart, jo hat er unter und ges 
ftanden, bi8 an das Ente feiner Tage. Im Jahre 1850 richtete er feinen Mahn⸗ 
ruf an alle deutſche Gaue in Betreff der jchledwig«boliteinichen Sache, tm 
Frühjahr 1855 erjchien fein köſtliches Büchlein „Pro populo germanico“ und 
1858 jein letztes Werk: „Meine Wanderungen und Wandelungen niit dem 


Ernft Morig. Arndt. 333 


VNeichsfreiherrn vom Stein‘. Darin äußert fich Arndt mit berjelben ehrlichen 
Unummwundenbeit, welche Stein charakteriftxt, über feinen ‚Helden, ſowie über 
die Perfonen und Berhältnifie, die er in ber großen Zeit ber Freiheitskaͤmpfe 
kennen lernte; und wenn man das hohe Greiſenalter des Verfaſſers in An⸗ 
ſchlag bringt, muß man ſich um ſo mehr an der Friſche erfreuen, mit wel⸗ 
cher er die Erlebniſſe und Anſchauungen laͤngſt vergangener Tage nieder⸗ 
ſchrieb. Unter die intereſſanteſten Partien des wundervollen Buches gehören 
die Charakteriſtiken Hardenbergs und des Königs Friedrich Wilhelm III., 
deren eigenthümliche Beriönlichfeit gerade damals in ben bedenflichen Ver⸗ 
wicklungen der Berbältniffe von jo großer Bedeutung geweien. 

Inı Laufe des verwichenen Jahres befchäftigte fi Arndt mit der Samm⸗ 
lung und Sichtung feiner Gedichte, deren Gefammtausgabe, durch höchft 
finnige und gemüthvolle Worte des „Ueberalten“ eingeleitet, dest vor 
und liegt. 

Indem’ wir bier noch einmal an feine frühere publiciftifche und poetiſche 
Thätigkeit erinnern, faſſen wir unſer Urtheil über jene zahlreichen Schriften 
und Lieder, die er auf der Wanderſchaft in ſturmbewegter Zeit verfaßt hat, in 
dem Ausſpruche zuſammen: daß fie vor allen es waren, welche die nationale 
Sefinnung, den ſittlich⸗ gemüthlichen Kern des deutſchen Volks von neuem bes 
lebt haben. Obwohl nun feine fpäteren Schriften nicht mehr einen unmittel⸗ 
baren Einfluß auf die Ration ausübten, fo haben fie doch einen großen und 
bleibenden Wertb. Linverbroffen die Fahne des gefunden Menfchenverfiandes 
und ded Gewiſſens hochhaltend, haben fle die Hereinbrechende Schöngeifteret, 
die fi) zum Theil auf Göthe, zum Theil auf Die Romantifer ftügte, jenes ver 
brecheriiche Spiel, das aus äfthetiichen Bründen mit dem Schlecdhten und dem 
Verwerflichen buhlte, jene feile Sopbiftif, Die .den mißverſtandenen Sag 
Hegel's, dag das Wirfliche vernünftig jei, zur Beichönigung alles Nichtswür⸗ 
digen mißbrauchte, ınit Heiligem Ernfte bekämpft. ‚Wenn man,. — fagt Arndt, 
— das Leben und die Bejchichte nicht als ein verſtümmeltes und abgebrocdyenes 
Märhjel betrachten kann, wo Gerechtigkeit, Breiheit und Tugend von Lift, 
Lüge und Lajter meiftens beftegt werden, wenn man das leichte Spiel und 
tie weitfichtige Seijtigfeit ebenfo hoch anfchlägt als den ſchweren Ernft und bie 
furzfichtige Redlichkeit, welche eben Eurzfichtig iſt, weil fte nur Eines und dieſes 
Eine nur in der Eürzeften geradeften Linie jeben und thun darf, dann muß 
vergeben, woturc dad Leben allein einen Wertb bat, der Zorn für das Ge⸗ 
rechte, die Ehrfurcht vor der Tugend, das Gebet auf dem Grabe des Redlichen, 
welcher ber Lift unterlag.” — Sodann bat er trog der trüben Erfahrungen, 
die er machen mußte, in ber Brifche und Gefundpeit feines Geiſtes niemals Die 
Buverficht und den Glauben an das Vaterland verloren. Seine lichenswürdige 
Schrift „pro populo germanico“ war ein erfrifchender Thau in ber allgemeinen 
Dürre der vergangenen Reafrionsperiode, „Wir find, heißt es darin, in viele 
berrlichfte Hoffnungen Teicht. hineingeichüttelt und noch leichter und unfanfter 
wieder berandgejchüttelt worden, aber Geiſt wird immer neuen Geiſt zeugen 
und fich aus dem jchwebenten Elemente von bloßen Gefühlen und Hoffnungen 


334 Biographie. .. 


zur lichten Klarheit des Verſtandes immer mehr durchdörängen. Wir haben bis 
jegt nur Anläufe gemacht und find immer uoch im flürmenten Anlaufen be» 
griffen, wo wir meijt zurudgeichlagen werden. Gefühle und Zorn find bloß für 
den erften Anlauf gut; ten letzten Sturm ber Feſtung fönnen Einſicht und 
Derftand allein Durchführen. Gin Volk, das jo viel Muth und Geift hat, als 
die Deutichen,. fann als ein Raub jchlechterer Völker nicht untergeben; die 
Sehnſucht eined großen Volks nad) Ehre, Macht und Majeſtät wird den Tag 
ihrer Erfüllung erleben. ... Es giebt nur einen eilt der Weilfagung: Liefer 
ſcheint ten Bolfe, das immer jogleich Reueftes hören will, oft taujend Siegel 
auf dem Mund zu Haben, und fiehe, wie jeine Stunte gekommen, tönt und Flingt 
ee und bie Leute verwundern ſich. Die Zeit ift Gottes und ihre Stunde barf 
fein Sterblicher weiffagen; aber glaubet und Haltet feft zujammen! — Meine 
übrigen Tage müflen ja dahinſinken wie die legten Schimmer eined Traums. 
Sch ichaue von der höchflen Höhe des Alters in bad tiefe Thal hinab, meine 
Abentionne geht nicht mit Gold noch mit Hoffnungen zu Thal, aber von 
tapfern und männlichen Hoffnungen darf ich nicht laſſen. Ich vertraue dem 
Geiſt und dem deutſchen Geift, und rufe mit edlen tapfern Apofteln und Pros 
pbeten: de coelo et patria numquam desperandum.“ 

So bat er. in böfer wie in guter Zeit mit gleichem Muth und Vertrauen, 
mit gleicher Kraft und Freudigkeit für des Vaterlands Größe, Freiheit und 
Einigfeit gekämpft. Die Liebe und Verehrung eines ganzen Volkes waren fein 
Lohn. Ehren und Auszeichnungen find ihm reichlich zu Theil geworben. Die 
Univerfität Greifswald ſetzte ihm bei ihrem vierhuntertjährigen Jubiläum im 
Dftober 1855 ein Denkmal, wofür er jeinen Danf in dem fchönen Wort 
ausſprach: „Ich Habe nach den Ruhm eines ehrlichen Mannes geftrebt. 
Will man durch das Tenfmal eine gewille Beſtändigkeit und Feſtigkeit des 
Lebens in mir chren, was man den nortiichen, altjächfifchen, pommerfchen 
Charakter nennt, jo ift das eine Ehre, die ich mit Stolz annehme, mit dem 
Stolz, ein Cohn Pommernd zu jein. Möge der Rame Pommern ald der 
Name der Tapferkeit, Redlichfeit und Treue ein unjterblicher Rame bleiben”. 
Ein rheinbaieriicher Gerichtehof dagegen verurtheilte te in Ehrlichkeit und 
Wahrhaftigkeit grau und weiß gewordenen Alten wegen Wietererzählung einer 
(wie ſich jegt von allen Seiten beitätigt hat) auf Thatſachen begründeten 
Aeußerung des Reichsfreiherrn vom Stein über ten General Wrede zum — 
Gefängnis. 

Ten einundneunzigften Geburtstag feines getreuen Edart feierte das ges 
fammte deutiche Volt als einen allgemeinen Jubeltag. Bon allen Seiten wett 
eiferte man, mit Grüßen und Glückwünſchen, Beitgaben und Ehrenbezeu⸗ 
gungen das allverehrte Haupt zu fchmüden. Da ward er plöglich im Vollges 
nuß der Freude, im Vollgefühl Förperlichee Ruͤſtigkeit und geiftiger Friſche— 
bie jelbjt ein Alter von neunzig Jahren nicht ſchwaͤchen konnte, von uns ges 
nommen. Rah kurzem Krankenlager, auf das ihn ein gaftrijches Fieber ges 
worfen, verichied er janft in Der Mittagsſtunde des 29. Januar 1860, 

Tas Vaterland Hat in ihm nicht nur einen hervorragenden Dichter, 


Eruſt Morig Arndt. 335 


Forſcher und Lehrer, ſondern einen feiner beften Bürger, einen ganzen 
deutjchen Mann verloren. Dem Baterlande gehörte ex mit vollem Herzen 
an, ed war „das ganze Deutſchland“, das feine Seele erfüllte, ihm hatte 
er alle Sorgen für fih, für fein Haus, für fein engered Vaterland unter- 
geordnet. Sein Rame ifl längft das Symbol geworden für Alle, die Deutfch- 
land einig, frei und mächtig wollen. Dem deutfchen Volke aber, das ihn mit 
Stolz feinen Arndt, feinen alten Vater Arndt nennt, wird er in allen Zeiten 
ein Vorbild treuen Dienftes und ausharrenden Ringens für das gemeinfame 
Vaterland jein und bleiben. 


—* 


Die Rienenzucht.) 
Von 
A. W. GErnbe. 


Nach der altgriechiſchen Sage empfingen die Spinne, die Biene und der 
Seidenwurm das Vorrecht geiſtbegabter Weſen, die Kunſt, da ſie von dem 
Göttertrank naſchten, den Minerva in einer Nektarſchale dem Prometheus übers 
gab, als er die Menfchen bilden wollte. Diefe drei Thierlein find in der That 
große Künftler, die zu allen Zeiten Die Bewunderung und dad NRachdenfen der 
Menjchen erregt haben. Aber wie verfchieden find fle in ihrem Weſen und in 
ihrem Verhältnig zum Menfchen! Die Spinne in der Meihe der Thierklaſſen 
als Kruftenthier fchon über den Infekten ftehend, hat für den Menfchen doch 
bie geringfte Bedeutung; er vertilgt fie fammt ihren Gewebe, wo und wie er 
nur fann, und ihr Anblick erfreuet höchftend den Gefangenen in einfamen 
Kerker. Doc da fie frei vor Jedermanns Augen, fofern man fie nicht flört, 
ihren Baden aussieht und Funftvoll den Aufzug und Einichlag ihres Nebes 
webt, mag fie am frübften die Aufmerfjamfeit des Menfchen erregt und ihm 
Anleitung gegeben haben zum Spinnen und Weben. Die Seidenraupe zieht fi 
bei ihrem Spinn= und Webegefchäft möglichft in’d Dunfel der Verborgenheit 
zurück; das Ergebniß ihrer Arbeit empfängt der Menfch, der nicht nur bie fo 
funftreich gefponnenen Süden wieder aufwidelt, fondern noch den Arbeiter ſelbſt 
tödtet, um den koſtbaren Stoff defto ficherer zu gewinnen und mit menfchlicher 


*) Grube, A. W., Natur: und Kulturleben in vergleichenden Bildern. ( Kreivel 
& Nietner in Wiesbaden). Diefem vortrefflihen Werke, das wir der Aufmerffamfeit 
unferer Lefer mit vollem Rechte empfehlen Fünnen, ift vorſtehender Artifel über Bienenzudt 
entlehnt. Der Verfaſſer fucht die Beziehungen ber Natur auf das Kulturleben nidt 
allein im Aeußeren der Inbuftrie und des Handels, des Nomaden: und Nderbaulebens, 
fondern au in dem inneren Sinne auf, in der Art, wie das menſchliche Gemüth has 
Naturleben wiederfpiegelt. Unter ber reichen Auswahl, bie er bietet, machen wir 
vorzüglich auf nachſtehende Artikel aufmerffam: Heuernte in ben Alpen, Tyroler und 
Schweizer Induftrie, ein Blick auf die Spiele der Völker, vom Wein und Weinbau, 
bie Seidenzucht, die Gifenbahnen in England. 


Die Bienenzucht. 337 


Kunſt verarbeiten zu können. Der unſcheinbare Wurm wird wie das werth⸗ 
vollſte Hausthier gepflegt und in Zucht genommen, von ihm hängt Arbeit und 
Wohlſtand von Millionen Menfchen ab, und doch iſt ed nur eine Raupe, ein 
werdendes Infeft, die Larve eints Schmetterlinge. Ihre ganze Thaͤtigkeit ifl 
auf's Freffen gevichtet, auf die Verwandlung des Safted gewifler Baumblätter 
in jenen Stoff, aus dem der Seidenfaden gefponnen werben kann. Ihr Lebens, 
freis ift darum höchſt beſchraͤnkt, ihre Thaͤtigkeit höchſt einförmig. 

Die Biene hat das Larven⸗ und Puppenleben bereits hinter fich; fte Hat 
die Breiheit des Schmetterlings, die fchnelle Bewegung des Vogels gewonnen. 
Ihr Lebenskreis ift nicht wie bei der Seidenraupe auf den engen Raum weniger 
Ouadratflaftern begrenzt, auch nicht durch fo enge Flimatijche Grenzen einge» 
ihränft, denn fie tummelt fich eben fo luſtig auf ber Lüneburger Haide wie 
in den Gefilden der Lombardei oder im afrifaniichen Algerien, ſie wandert 
vom Thal auf die Berge und fliegt über Gletſcher und Schneefelder Hin zu 
den gewürgreichen Blumen ber Alpe, Ihre Sinne find aufgefchloffen und zur 
höchſten Freiheit entwidelt. Der Menjch braucht fie nicht zu füttern, fie Holt 
ſich felber die Nahrung und verlangt nur einen vor der Unbill der Witterung 
geſchützten wohl abgeichloffenen Raum, um ihre Kunft ald Bau» und Pro⸗ 
siantmeifter zu entwiceln. Der Menfch muß freilich die Gejege ihres Weſens 
und ihrer Lebensart ftudiren und fie methodifch in Zucht nehmen, wie er fich 
die Seidenraupe zieht; dann belohnt fie aber auch reichlich die geringe Mühe, 
Die fle verurfacht, denn fie gibt doppelt; die Eunftvoll aus Wachs erbauten 
Bellen fammt dem köſtlichen Inhalte derſelben. Und dabei verlangt ihre Pflege 
die geringften Ausgaben und gewährt neben der Freude über Die ftetig fich 
mehrenden Schäge des Bienenhaushalts noch dad reinfte chelfte Vergnügen 
der Raturbetrachtung eined Gemeinweiend von Fleinen Thieren, Die mit ber 
Größe ihres Inſtinkts, ihred an menjchliche Lieberlegung grenzenden Kunft« 
triebed unfere vollite Bewunderung in Anſpruch nehmen und in der Manig- 
faltigfeit und Harmonie ihrer Kebensäußerung eine folche Tiefe der Vernunft⸗ 
ordnung offenbaren, daß Jahrtauſende fortgejeßter Beobachtung ihre Raͤthſel 
noch nicht gelöft haben. 

Die Spinne ift auf die Einfamkeit verwichen, ein lauernded Raubthier. 
Die Seidenraupen finden fich auch wohl wild in zahlreicher Gefellichaft, aber 
ihr Beifammenleben iſt doch nur ein mechaniſches Nebeneinander, jedes Indi⸗ 
viduum lebt im Grunde nur für fi und befümmert fich nicht um das andere. 
Die Bienen hingegen bilden wie die Ameifen eine organiich gegliederte Ge⸗ 
fellfchaft, jenen Staat, worin der Einzelne bei aller Breiheit Der Bewegung doch 
nur für das Ganze und in dem Ganzen lebt, Glied eined Geſammtweſens ift. 
Die Theilung der Arbeit tft in dem Bienenftant Längft durchgeführt, ehe 
man noch an Die heutigen Fabriken dachte. Die Ausdauer aller und ber Eifer, 
womit jedes Mitglied des Gemeinweſens arbeitet und, wenn e8 fein muß, jein 
Leben opfert, könnte manchen alten und neuen Staat befchämen. Breilich führt 
der große Batriotisınus zu hartherzigem Egoismus jelbft bei Den Bienen, welche, 
um bie Macht und den Meichthum ihres Staates zu vermehren, nicht felten 

V. 22 


338 Landwirthſchaft. 


ihre Nachbarſtaaten überfallen und deren Honig rauben mit dem Recht des 
Staͤrkeren — ganz den patriotiſchen Englaͤndern und Franzoſen der Neuzeit 
gleich. Ihre Konftitution iſt aber Acht; denn die Königin will nichts, als was 
ihre Volt will, es iſt Ein Wille, der durch das Ganze geht, und droht biefer 
Einheit Gefahr, fo ſcheiden ſich die Willen und bilden Kolonien, und die 
Königinnen Fämpfen bis auf’8 Blut um ihre Herrichaft, wenn es gilt, fi 
gegen Prütendenten und Rebenbubler zu fichern. 

Die Königin ift im vollfien Sinn die Landesmutter, denn fie legt bie 
Eier für fämmtliche Untertanen. Sie allein ift das vollkommen ausgebildete 
Weibchen, viel größer, als die übrigen Bienen, mit einem tüchtigen Stachel 
bewaffnet, den fle jedoch nur für den enticheidenden Zweifampf mit Ebenbür- 
tigen gebraucht, fo daß man fle auf die Sand fegen kann, ohne befürchten zu 
müffen, von ihr geflochen zu werden. Da fie nur um die Mittagszeit ihren 
Ausflug unternimmt zum Zweck der Paarung mit den Männchen, find ihre 
Flügel verhältmipmäpig kürzer als bei den Arbeiterbienen ; e8 fehlt ihr auch 
die Bürfte und Schaufel an den Beinen, wontit letere den Blumenflaub ſam⸗ 
meln. Ihr Leib (oben ſchwaͤrzlich, unten gelb gefärbt) enthält zwei Eierftöde; 
ift die Befruchtung Seitend der Männchen (Drohnen) glüdlich erfolgt, fo be 
ginnt das Eierlegen ſchon am fünften Tage ihres Lebens und dauert vom Frühe 
jahr bis in den Herbft hinein. Nach jedem fünften oder fechiten Ei ruht fie 
ein wenig aus, iſt aber fo emſig, daß fle in der Stunde 200 Stüd Iegt, wäß- 
rend ter ganzen Iahredzeit oft mindeftens 100,000 Eier zu legen vermag. 
Coll das Ei eine weibliche Biene bervorbringen, go befeuchtet fie Dafjelbe mit 
der von den Drohnen empfangenen in einem Bläschen enthaltenen Saamen- 
feuchtigkeit: Die Drohneneier gehen unbefruchtet an Diefem Bläschen vorüber. 
So hat die Königin das Gefchlecht ihrer Landeskinder in der Gewalt; ſie theilt 
aber fo gut ein, Daß ſtets das richtige Verhältnig zwiſchen Drohnen und Arbeits ' 
bienen bleibt, und wiederum wiflen die Arbeitöbienen daſſelbe Verhaͤltniß, da 
fie die Mehrzahl der Zellen für ihren eigenen Stand herrichten, und nur bie 
Eleine Minderzahl für Die Drohnen erbauen. Die Königin legt das erfle Jahr 
nur Gier für Arbeitsbienen, nachher die für die Männchen, jedoch nur ein 
Drohnenei in eine enge Arbeitöbienenzelle; auch unterfucht fie zuvor die Zelle, 
und läßt erft Darauf das Fleine ovale Körnchen von bläulichweißer Farbe 
bineinfallen, indem fle e8 zugleich vermittelft einer leimigen Fluͤſſigkeit an einer 
Ede feftheftet. 

Die Drohnen find die Männchen, und Haben ihren Namen von bem 
eigenthümlichen Geräufch erhalten, das fle mit ihren Flügeln machen („vröhnen‘‘) 
und dad der Königin Nachricht gibt, wenn dieſe ihren Ausflug macht. Sie 
haben weder Schaufel noch Stachel und Bürften, auch nur einen kurzen 
Rufiel, da fie feinen Honig fammeln und auch für das Vaterland nicht 
Fänıpfen, vielmehr, fobald fie ihre Schuldigfeit gethan haben, ſich gebufbig 
niederſtechen laſſen müffen von den Arbeitsbienen, die Feine unthätigen muth⸗ 
lofen KRoftgänger in ihrem Stode dulden. Uebrigens find die Drohnen größer 
als die Arbeitöbienen , haben einen dicken runden Kopf und ein Blieb mehr 


Die Bienenzucht. 339 


an ben Fühlern. Die Paarung mit der Königin erfolgt ſtets im Fliegen; 
niche felten verhängen fie fich dabei, wobei die Königin das Zeugungdglied des 
Drohnen abreißt und es noch in ihrer Scheide fleddend in den Stod mitbringt. 
In einem Bienenftod von 20,000 find etwa 1200 Drohnen; damit die Kö⸗ 
nigin nicht zu weit und zu lange umberfliegen müfle, bis fie die Männchen 
findet, dürfen berielben nicht zy wenige fein, 

Die Urbeitöbienen bilden den zahlreichfien Stand, das eigentliche 
Bienenvolk. Sie find fohwärzlichbraun, die dunfele Karbe wird jedoch bei 
manchen jüdländifchen Arten merklich heller. Sie werden höchflend */2 Zoll 
lang, find am ganzen Körper behaart, haben einen flachen, dreieckigen Kopf, 
der durch ein dünnes Band an Die Bruft geheftet ift, welche die Form einer 
Kugel bat und wiederum durch ein dünnes Band mit dem Uinterleibe zuſam⸗ 
menhängt. Der Iegtere ift in ſechs jchuppige Ringe gegliedert, welche fich 
übereinander fchieben und den Körper verkürzen; zugleich befördern fie die 
Biegfamkeit, welche die Biene vonnöthen bat, wenn fie in den Blüthenkelchen 
fi) dreht und wendet, um den Blumenftaub und Konigfaft zu gewinnen. 
Born am Kopfe befinden fich zwei Augen, die aus vielen ſechseckigen Plätte 
den zufanmengejegt und zum Schug gegen den Blumenftaub mit vielen Här- 
hen bededt find; oben aber auf dem Kopfe ftehen noch drei Fleine Augen, 
weldye vielleicht Dazu dienen, nach oben zu bliden, wenn dad XThierchen fich 
in die Blume einwühlt. Zwiſchen den beiden vorderen Augen dehnen ſich 
elaftiich die Fühler oder Tafter, zwei bünne Röhren, welche mit ihrem feinen 
Gefühl die Augen erjegen, wenn im bunflen Stod das Licht mangelt. Diefe 
Fühler, aus zwölf Gliedern zufammengefegt und in einem Knötchen endigend, 
find äußerſt biegſam, und doch feft genug, um damit wie mit Händen zu 
fafien, zu arbeiten und nebenbei noch allerlei fprachliche Mittheilungen zu 
machen, indem fich die Bienen damit berühren. Der Bienenmund it wuns 
derbar zuſammengeſetzt, er beftebt aus den Öbenfiefern, der Zunge, dem 
Rüſſel und den Rippenfühlern. Die obere Kinnlade ift gefpalten und jo be 
weglich, daß dazwiſchen wie mit einer Zange die Nahrung zerbrüdt und das 
Wachs behantelt werden kann; an ben Enden flieht beiderſeits ein hornartiger 
Zahn. Der Rüffel befteht aus 40 Enorpelartigen Ringen , an feiner Wurzel 
fiehen zu beiten Seiten die Lippenfühler, die nebft den unteren Kinnladen. 
gleichfam die Echeide befielben bilden. Alle dieſe Theile find behaart; ber 
Müffel wird ausgeftredt, dann zufanmengerollt und mit Hülfe der Härchen 
wird der Saft feftgehalten und fo in den Mund gebracht. 

Flügel und Beine find an das Bruſtſtück der Biene befeftigt. Die zwei 
Slügelpaare find son ungleicher Größe, bewegen fidy aber gleichzeitig und find 
deshalb in einander gefaßt. Von den 3 Paar Beinen, die in Schenkel, 
Schienbein und Fuß fich gliedern, iſt das vorderfle das kürzeſte, das hinterfte 
das laͤngſte, das mittlere Baar dient zum Feſthalten, während das vordere den 
Blumenſtaub Enetet und die Kügelchen in die Höhlung der Hinterbeine ſchiebt, 
welche fomit „Höschen“ bekommen — fchmwefelgelbe von der Raps Blüthe, weiße 
von der Kornblume und Linde, karmoiſinrothe von der Roßkaſtanie u. |. w. 

22* 


340 Landwirthſchaft. 

Damit die Höschen fertigen, iſt die erwähnte Höhlung beſonders ſtark mit Haa⸗ 
sen beiegt. Berner befinten ſich noch ein paar Hafen an jedem Fuß, welche es 
den Thieren möglicg machen, fidy aneinander zu Hängen oder an der Dede bes 
Stockes zu arbeiten. Unter und Hinter den Flügeln find Luftlöcher, welche die 
Athmung vermitteln. Die Bienen fterben im Wafler nur dann, wenn bieje nach 
oben gerüdten Löcher unter die Wafjerfläche kommen. Gleich allen Iniekten 
haben auch die Bienen kaltes Blut, bedürfen jedoch zu ihrem Gebeihen einer 
Wärme von 10 bis 30°. Bei einer unter 10° berabfinfenten Temperatur er⸗ 
ſtarren fie, beim Gefrierpunft erfrieren fle ganz. Durch ihr nahes Zujammen- 
halten im Stod, gewiſſe Körperbewegungen, namentlich Zittern ter Blügel, 
aljo durch Reibung , willen fle die äußere Kälte Der Luft zu mildern und einen 
paflenden Wärmegrad ihres Körpers hervorzubringen. Die Gaarbefleidung zeigt 
ſich auch Hier von Augen, da fie die Wärme bes Leibe aujammenhält ; des⸗ 
gleichen find die Wachötafeln wegen ter vielen in ben Zellen eingejchloffenen 
Luft ſchlechte Wärmeleiter. So gelingt ed dem Bienenkörper ald Gejammtorgas 
nismud, was der einzelnen Biene nicht möglich wäre, fich zu überwintern. 

Die Speiferöhre führt in die Organe des Unterleibs, nämlich in bie 
Honigblaje oder in den Vornmagen, der in den eigentlichen Magen ſich fortſetzt, 
worin der Honigjaft und das Mehl der Blumen zum Theil für das Leben ter 
Biene verbauet, zum Theil aber auch der Yuiterbrei bereitet und die Wachsbil⸗ 
dung eingeleitet wirt. Das Wachs ift das aus überreicher Rahrung hervor⸗ 
gehende Bienenfert. Wenn Bienen Wachs bereiten wollen, nebmen fie jo viel 
Honig und Blumenmehl auf, daß fle ihren dicken Körper kaum mit den Flügeln 
zu tragen vermögen. 

An den eigentlichen Magen jchließen fich die jo winzigen Eingeweide, welche 
das Unverdauliche abführen, und endlich finder ſich im Unterleib Die Eleine 
aber mächtige Wafle der Biene, der Stachel mit ter Giftblaje an jeiner Baſio. 
Der jogenannte Vormagen ift jedenfalld nicht blog ein Behälter, fondern hat 
auch eine ausjcheidende Krafı, denn wollten wir mit den feinften Inftrumenten 
den Blumenhonig jammeln, fo würde das immer noch fein Bienenhonig jein. 
Aber jo weit geht die Umwandlung nicht, Tag man nicht Xindenhonig vom 
Haidenkrauthonig unterjcheiden könnte. Der von fcharfen und giftigen Blumen 
eingejammelte Honig jchadet den Bienen gewöhnlich nicht, wohl aber den Mens 
fchen, Die ihn geniegen. Das Wachs wird zunächft in zwei Eleinen Beuteln 
abgeſchieden und Tann aus den Hautringen ausgejchwigt, jo daß es in Dünnen 
Blättchen abfällt. Gewiſſe Bienen find lediglich mit der Verdauung, mit ber 
Bereitung des Burterbreied und Wachſes bejchäftigt, bedürfen dazu einer 
höheren Temperatur und großer Stille, ziehen ſich deshalb gerne in Die Nähe 
der ängfllichen und Lichticheuen Königin zurück, die gleichfalld, ſobald fie be 
fruchtet ift, von allen Reifen in die Außenwelt abfteht. Andere Bienen tragen 
bloß ein, werfen ihren Blumenſtaubballen und ihren Honigtropfen gleich vorn 
im Bienenhaufe ab, und eilen dann ſogleich wieder zu neuen Sammelfahrten. 
Ste haben einen feinen Geſchmack, der wahrfcheinlich mit ihrem fcharfen Ge⸗ 
such innigft verbunden if, Denn fie wählen, wenn fle die Auswahl haben, 


Die Bienenzucht. | 341 


immer die zuderbaltigften Blumen. Es wäre unrecht, wenn man biefe Biu- 
menfahrten ‚,Raubfahrten‘‘ nennen wollte, denn die Bienen find ebenfo für 
die Blumen geichaffen, wie bie Blumen für die Bienen; ohne die Mitwirkung 
der Iegteren Eüme bei manchen Blumen die Befruchtung gar nicht zu Stande, 
Iſt nicht auch die flarke Belaubungskraft des Maulbeerbaums ein Beweis, daß 
er für Die Seidenraupe gefhaffen wurde? Den Blumen ift der Blüthenftaub fo 
reichlich verliehen worden, daß kaum ber zwölfte Theil davon zur Befruchtung 
vonnöthen ift. Auch hier müflen wir das Bufammenwirfen verfchiedener Natur⸗ 
reiche bewundern. Die Biene, nur ihrem Triebe folgend, gebt einen Tag lang 
nur auf Blüthen gleicher Art, um ihre Vorräthe vor zu ungleicher Mifchung 
und ter daraud leicht entfpringenden Gährung zu Bewahren, dadurch wird fie 
aber um jo befühlgter, den Bläthenftaub Pflangen einer Art mitzuteilen 
und jo ihre Fruchtbarfeit zu fördern. 

Zür den inneren Haushalt, wohin die Wachserzeugung, der Zellenbau, 
das Füttern der Brut, die Läuterung und Bededelung des Honigs gehört, find 
ganz befonders die jüngeren, zarten, für die Witterung noch empfindlichen 
Bienen tbätig, während für den Außeren Haushalt, das Herbeifchaffen der noth- 
wendigen Bau⸗ und Nahrungsſtoffe, als da find Baumwachs, Blumenmehl, 
Honigfaft wiederum eine beftimmte Klaffe forgt, die ihre Arbeiten noch nicht 
einftellt, auch wenn die Kräfte nicht mehr ausreichen wollen, die Fluͤgel ganz 
zerfetzt find. Durch das übermäßig angeftrengte Einfammeln werten bie 
jungen Bienen oft in einer Woche zu Greifen, doch je altersfchwächer um fo 
eifriger. 

Wunderbar ift die Baufunft der kleinen Thierchen. Sie beginnen ihr 
Werk gern an ter Dede, indem fie die Waben nach unten führen. Finden fie 
ein kleines Seitenftüd vor, fo ſetzen ſie e8 fort; der Bienenzüchter benugt dieſe 
Keigung, indem er ein Stück Wachs irgendwo an der Derke befeftigt, um den 
Wabenbau nach einer Richtung zu leiten, die er eben wünfcht. Man nennt den 
Bau „warn, wenn die Wachdtafeln mit der flachen Seite, „kalt“ wenn fe 
mit der Kante gegen das Flugloch gerichtet werden; doch Eommt für den Erfolg 
nicht viel darauf an. Hat man mit einer Seltenthür verfehene Bienenkäften 
oder Klogbeuten, fo ift es jedenfalls am bequemften, bie Tafel mit der Thür 
parallel laufen zu Taffen. Zwiſchen den beiden benachbarten Zellenreihen bleibt 
der Zwijchenraum eines halben Zolles, damit die Königin und Arbeiter hinzu⸗ 
fönnen. Höchſt öfonomifch ift die Form ded Sechseckes. Wären die Zellen 
rund, fo würden die Zioifchenräume zu groß; bei der Form des Quadrats ober 
des gleichjeitigen Dreiecks fiele diefer Mebelftand zwar weg, aber ed würde der 
Drud auf einzelnen Selten zu groß werben, ber fich bei ſechs Flächen fo anges 
meflen vertheilt, daß die Wände nicht dicker zu fein brauchen, als gewöhnliches 
Schreibpapier. Ein flarfer Saum trägt auch viel zur Feſtigkeit der Bellen 
bei. Diefer fehle jedoch bei der Zelle der Königin, da diefe viel größer und 
flärfer ift, abgefondert von den übrigen herabhängt, nicht edig, fondern rund 
it, wie ein Kokon. An die Eöniglicgen Wiegen kann ſchon mehr Stoff und 
Arbeit verwandt werden; fle haben einen Zoll Tiefe, */a Zoll Weite und ihre 


342 Landwirthſchaft. 


Wände !/s Zoll Dicke. Doch bauen fie die öẽkonomiſchen Bienen keineswegs auf 
Ein Mal, jondern nur allmälig, wie die Larve wächft, wird deren Behauſung 
vergrößert und erft geichloffen, wenn die Larve fich verpuppen will. Und ift bie 
Mutterbiene hervorgekommen, wird ihre Zelle auch wieder abgebrochen. Im 
Kern des Baues find nur Bienenzellen ; tie Drobnenzellen werden in den unteren 
und feitwärtd gelegenen Räumen angebracht*). Sie haben 6—7 Linien Tiefe 
und 39/2 Linien im Durchmefler, während die für die zahlreichfte Klaſſe der 
Arbeitöbienen beftimmten auch die Eleinften im Umfang find, 5 Linien tief 
und 22/3 Linien im Durchmefler. Doch wird von der Größe der Arbeitsbienen- 
zellen keineswegs unmittelbar zu den Drohnenzellen fortgegangen, fondern es 
bilden allmälig fich vergrößernde Zellen den Uebergang. 

Es werden zwar befondere Zellen für bie Honig- und Blumenmehlvor⸗ 
säthe hergerichtet, und vorzüglich die oberften Bellen der Tafeln zu Sonigzellen 
beftimmt; Teßtere erhalten eine größere Tiefe und verlaffen die horizontale 
Richtung, indem fle fi nach oben richten, Damit der Honig beffer geflchert 
fet. Doch können alle Zellen, die Bienen», Drohnen⸗ und Uebergangszellen 
zu Honigzellen benugt werden. Da die Biene ben Honig aus ihrem Honigmagen 
vermittelft des Druckes einiger Muskeln leicht wieder ausbrechen kann, fo 
koͤnnen die Honigzellen tiefer fein, als die Blumenmehlzellen; um dieſe zu 
füllen, kriecht fle nämlich rüdwärts hinein und flreift die Höschen ab. Bet 
reicher Ernte geſchieht es auch wohl, dag in viele Zellen, welche unten Blumen- 
mehl enthalten, ein gut Theil Honig Darüber gegoffen wird, worauf die Bes 
deckelung der Zelle erfolgt. Das Blumenmehl dient vorzüglich zur Bereitung 
des Yutterbreies für die Brut, indem ed mit Honig und Wafler vermiicht, 
gleichlam verdünnt und Teichter verdaulich gemacht wird. Dieſe Miſchung geht 
aber im Leibe der Biene vor fich, hat eine ſtets gleiche Milchfarbe, und es find 
befonders die jüngeren Bienen, welche als treue Ammen bie Bereltung dieſes 
Kinderbreied übernehmen. Deshalb wird auch dad: Blumenmehl am Tiebften 
in der Nähe der Brut abgelagert, ſei es auf den Bruttafeln felbft in den 
Zellen oben und rüdwärts, hinter welchen dann bie Honigvorraͤthe beginnen, 
oder aber in den an das Brutlager ſtoßenden Seitentafeln. Sollen tie tieferen 
Honigzellen wieder ald Brutzellen dienen, fo beißen die Bienen fo viel von dem 





— 





*) Dies iſt wenigſtens das Naturgemäße. „Befindet ſich mitten im Brutlager, 
wo die erfte Brut im Februar, März und April angefeßt wird, eine Drohnentafel, 
fo erzeugt der Stock entweder vor der Zeit eine Menge Drohnen, oder er muß bie 
Drohnentafel unnöthig mit belagem und würde jedenfalls Hunderte und Taufende 
von Arbeitsbienen mehr erbeutet haben, wenn flatt der Drohnen- eine Bienenbrut⸗ 
tafel vorhanden gewefen wäre. Hieraus fann man erfehen, wie naturwibrig die ma⸗ 
gazinmäßige Behandlung ift, wonach man unter beftänbig leere Käſtchen over Stroßs 
fränze unterfeßt und chen volle abnimmt, hiermit den Stock der oben ausſchließlich 
zum Honig beflimmten Zellen und des fchönften Theiles des Brutlagers beraubt und 
den unterſten Theil des Baues mit den vielen Drohnenzellen binaufrüden läßt. Run 
fönnen zwar bie Bienen wohl die Brutzellen in Honigzellen verwandeln, indem fie 
diefelben verlängern, fönnen aber niemals aus Drohnenzellen Bienenzellen machen.” 
Dzierdſon. 


Die. Bienenzucht. 343 


Wänden ab, bis die normale Höhe erreicht iſt, und die Königin bequem ihre 
Eier bineinlegen Tann. 

Die Maurer bebürfen des Kitted und Mörtels; fo tragen auch die Bienen 
in ihren KHojentafchen noch mancherlei Paumdarz ein („Vorwachs“), um 
Zwifchenräume zu füllen, die Tafeln zu befeftigen, ein zweites Fluchloch zu 
verengen. Diefer Kitt wird ſtets gleih an Ort und Stelle verwandt. Außer 
dem bedürfen die Bienen des Waſſers und fehen e8 gern in der Nähe ihrer 
Wohnung ; im Fruͤhjahr müffen fie den zu feft gewordenen Honig wieder flüfflger 
machen, im Sommer aber, wenn die Tage fchwül werden und tie fchnellere 
Verdunſtung auch den Bienenleib austrodnet, holen fle fleißig Wafler und 
theilen es ſich mit, um die Hite zu mildern. 

Die Königin beginnt 46 Stunden nach ihrem Befruchtungsausfluge mit 
dem Eierlegen, und ift fo ungeduldig, ihre Haupt und Staatsafrion zu be« 
ginnen, daß fle in einem neuen Bienenkorbe nur wartet, bis wenige Zoll der 
Wabe gebaut find. Wie fchon erwähnt, werben im erften Jahre.oder genauer 
iu den erſten 22 Monaten nur Arbeitöbienen= Eier gelegt. Schon nach dem 
vierten Tage fommt aud dem zeriprengten @i eine Pleine lebhafte Larve, die von 
den Ammen fogleih in Pflege genommen und mit Yutterbrei genährt wird, 
Gleich anderen Larven bäutet fich auch das Bienenläruchen bald ab, und iſt nach 
fünf Tagen don groß genug geworden, um bie Zelle, wie. ein Ring einges 
widelt, zu füllen. Dann verfiegeln die Pflegerinnen die Zelle mit Wachs, die 
Bienenlarve zieht aus ihren Munde einen Seidenfaden, fpinnt ſich ein und ift 
nach drei Sagen eine Puppe geworden, mit fo burchfichtiger Hülle, dag man 
ſchon alle Theile des zukünftigen Bienenleibes durchſchimmern fleht. Mit jeden 
Tage wird die Farbe Dunkler, bis am 20ſten Tage das Infekt ſich vollkommen 
entwidelt bat und mit tem Oberfiefer feine Hülle durchichneibet, aus ber es 
nach einer halben Stunde hervorfommt. Die älteren Bienen reinigen ſogleich 
die leere Zelle und bereiten fle je nach Bebürfniß für die Aufnahme frijcher Eier 
oder zur Honigzelle vor; das feidene Befpinnft laſſen fie an den Wänden 
bangen. 

Die Drohnen brauchen bis zu ihrer vollen Entwidelung 24 Tage, da⸗ 
gegen die Könniginnen nur 16 Tage. In ihrer großen Zelle können fie ohne 
Schranfen fich ausdehnen, und während die gewöhnlichen Arbeitöbienen dünne 
und wenig reizende Mehlfpeife erhalten und nur nach und nad ein wenig Ges 
würz in ihren Futterbrei befommen, tft dad der königlichen Larve verabreichte 
Futter von vornherein viel honigreicher, nahrhafter, pifanter, und die Pflege⸗ 
rinnen überfchütten damit förmlich die Fönigliche Zelle. Die Arbeitäbienen find 
bloß in der Entwidelung zurüdgebaltene Weibchen, bie Gier für fle und bie 
Königin find die gleichen, und wenn es an Wutterbienen fehlt, nehmen bie 
Bienen Larven aus der Arbeiterzelle, bringen fie in bie Königliche Behauſung, 
nähren fie mit Eöniglichem Futter und auf diefe Weife werden num Königinnen 
erzogen. Im Fall der North legen auch Arbeitöäbienen, benen etwas veichere 
Nahrung in ihrem Larvenzuftande zu Theil wurde, Gier, aber ed find nur 
Drobneneier, wie fe auch eine Königin legt, die nicht befruchtet wurde, 


344 Landwirthſchaft. 


Da von ber Eriftenz der Königin die Exiſtenz des ganzen Bienenſtaates 
abhängt, fo bauen die Bienen ſtets mehrere fönigliche Zellen. Da aber im 
Einen Gemeinwejen nicht zu gleicher Zeit zwei Königinnen erifliren Eönnen, 
fo ift auch für diefen Hal gejorgt, wenn es mehrere Königinnen auf ein Mal 
gibt. Im einem flarf bevölferten Stode macht die alte Königin ihrer jüngeren 
Rebenbuhlerin Platz, indem fie mit einem Theil ihres Volkes zur Bildung 
einer neuen Kolonie auszieht („der Vorſchwarm“). Nach dieſem Vorſchwarm, 
der fchon im Frühjahr ſich vom Hauptſtock trennt, folgt dann wohl gleich ein 
zweiter „‚Iungfernfchwarm‘‘ genannt, und im Herbſt ein dritter, ,, Rache 
ſchwarm“ genannt. Hat .die alte regierende Königin mit ihrem. Schwarm 
noch nicht den Stod verlaffen und find die Zöniglichen Buppen fchon zu 
Bienen geworden, jo werden ihre Zellen fefter verichlofien und es bleibt nur 
eine Eleine Oeffnung zum Einſchütten der Nahrung. Die alte Königin nähert 
fih grinmig den. Zellen der Jungen und verjucdht einen Angriff, fie wird 
aber von dem Bienenvolke zurädgehalten, das fchon für die Zufunft forgt 
und auf den Ball bedacht ift, wenn ber übernölferte Staat ſich in mehrere 
Gemeinweſen theilt. Die jungen Königinnen laffen nach ihrem Ausfchlupfen 
ihre „Tüt tüt“ Töne hören, womit fle im Volk fi anwerben wollen. Iſt 
feine Ausficht zum Schwärmen und zur Begründung neuer Kolonien vor» 
banten, dann läßt man wohl der alten Königin ihren Willen und ihren 
tödtlichen Stachel fchon in die Puppen fenfen. Die Ratur hat hier der Ver 
nichtung Vorſchub geleiftet zunı Zwed der Erhaltung des Beftehenden, denn 
die Eöniglichen Puppen find nicht ganz in ihr Geſpinnſt eingehüllt und laflen 
den hinteren Theil ihred Körpers frei. Da die Königinnenzellen nur nad 
und nach gebaut und die Eier nicht auf ein Mal hineingelegt werden, kom⸗ 
men auch die WMutterbienen zu verichiedenen Zeiten aus der Buppe; gefchieht 
es indeß, daß zwei junge Königinnen auf ein Mal ihr Zelle verlaflen, fo 
kaͤmpfen fle auch auf Leben und Tod. Daſſelbe geichieht, wenn eine fremde 
Königin in den Stod fliegt; ohne ſich einen Augenblid zu bedenken, ftürzt fi 
die Megentin in’8 Gefecht. Der Kampf fchließt aber nur dann, wenn eine der 
Kämpfenden einen entjchiedenen Vortheil errungen und die Gegnerin am Bauche 
tödlich verwunder hat. Damit nicht das Unglüd fich ereigne, daß beide Neben- 
buhlerinnen auf dem Plage bleiben, läßt fie ihr Inftinkt fogleich fih trennen, for 
bald fie ſich der Art gepackt haben, daß fie ſich gegenfeitig den Stachel an der ver⸗ 
wundbaren Stelle einftoßen fönnen. Dann aber müfjen fie abermals in den Kampf, 
und will eine fich feig zurüdziehen, jo wird fie von den verfammelten Bienen 
wieter in's Gefecht getrieben. Bleibt die Fremde Siegerin, jo gehorcht man 
ihr willig und fie regiert in Frieden. Es gefchieht übrigens jelten, daß eine 
fremde Königin in den Stock kommt, da die Bienen jorgfältig Wache halten. 

Im Falle die Königin plöglich dem Store abhanden kommit, ereignet 
fid) nach Huber's Beobachtung Folgendes: „Die Bienen bemerfen nicht gleich 
bie Entfernung ihrer Königin; ihre Arbeit wird nicht unterbrochen, fie bes 
wachen die Jungen und arbeiten in ihrer gewöhnlichen Weife. Nach wenigen 
Stunden beginnt die Aufregung, ein fonderbared Summen läßt ſich hören, 


Die Bienenzucht. 315 


die Bienen verlaffen ihre Jungen und flürgen mit wahnfinnigem Ungeftüm 
über bie Scheiben. Sie haben entdedt, dag die Königin nicht mehr in ihrer 
Mitte weilt, und theilen die Nachricht durch Ausftredung ihrer Fühler mit. 
Ein Theil des Volkes flürzt fehnell Hinaus, um die Landesmutter draußen zu 
fuchen; Hat fle nach fünf Stunden fi} nicht gefunden, fo Hört der Aufruhr 
auf; ed gilt nun auf Mittel zu finnen, um ben Verluft zu erſetzen. Haben 
die Bienen gar feine Larven mehr, fo bauen fie dennoch mehrere Fönigliche 
Zellen, als würde dadurch wentgftend die Hoffnung genährt, fie wieder zu bes 
jegen. Haben fle.aber königliche Larven, fo verdoppeln fie nun ihre Sorgfalt 
in ber Pflege berjelben; haben fie allein Larven von Arbeiräbienen, fo wählen 
fie iogleich zwei oder drei aus, reißen die benachbarten Zellen auf Koften bes 
Lebens der darin befindlichen Larven ein und bauen eine große Fönigliche 
Zelle. Wird nun, nachdem auf folche Weiſe die Zufunft des Staates ficher 
geftellt ift, eine fremde Köntgin innerhalb zwölf Stunden nach dem Verluſt 
der eigenen eingeführt, jo wird fle ald Eindringling behandelt und gewöhn⸗ 
lich erjtict, indem jich ein Knäuel von Bienen dicht um fle herum Tegt. Das 
Gedaͤchtniß wird jedoch bald ſchwaͤcher; wird die Fremde nach 18 Stunden 
eingeführt, jo umlagern die Bienen fie ebenfalls, verlaffen fle aber jchneller. 
Zrägt man nun ihre alte Königin Herzu, fo umringen fie dieſe mit allen 
Zeichen ber Freude. Wirb die Fremde nach 24 Stunden in den Stod ges 
bracht, jo wird fle wie eine heimijche Kürftin empfangen.” „Ich brachte‘, 
erzählt Huber, „eine fruchtbare 11 Monate alte Königin in einen gläfernen 
Stock; die Bienen waren 24 Stunden lang ihrer Königin beraubt geweien 
und hatten jchon den Bau von 12 königlichen Zellen begonnen. Sobald die 
Fremde auf die Scheibe gefegt war, berührten fie die nahen Arbeitsbienen 
mit ihren Fühlern und gaben ihr Honig, indem fle jeden Theil ihrer Bruft 
an ten Körper der Königin brachten. Sie machten Anderen Plag, welche 
dafielbe Verfahren ausübten. Alle fchwangen die Fluͤgel und reiheten fich In 
einem Kreife um ihre Kürftin. Es entſtand eine Art Ueußerung, welche ſich 
allmälig auf alle Arbeitsbienen ber Scheibe ausbehnte und dieſelben zu einer 
Mecognodeirung bemog. Sie kamen bald an, drängten ſich durch den um 
die Königin gebildeten Kreis, berührten fle mit den Fühlern und gaben ihr 
Honig. Nach diefer Geremonie zogen ſie ſich zurück, flellten fich Hinter den 
vorderen auf und erweiterten jo ben Kreid. Dort ſchwangen fle ihre Flügel 
und ſummten ohne Tumult und Unordnung, als empfänden ſie ein ange» 
nehmes Gefühl. Nach einer Viertelflunde begann fich die Königin zu bes 
wegen, tie Bienen machten ihr Play, folgten ihr und bildeten eine Wache, 
— Während dies auf der Oberfläche ber Scheibe vorging, war auf der ent- 
gegengefegten Seite alles ruhig. Dort waren die Arbeitöbienen mit der Ans 
kunft der Königin offenbar unbekannt, überwachten die Töniglichen Larven, ver 
fahen fie mit Gallert u. |. w. Sobald aber die Königin auf diefe Seite ges 
fommen war, empfingen fie biefelbe mit gleicher Achtung, wie die übrigen, 
berührten fie mit den Kühlern und gaben ihr Honig. Daß fie dieſelbe ale 
Butter behandelten, bewiefen fie vorzüglich dadurch, daß fle fogleich von ihrer 


346 Landwirthſchaft. 


Arbeit an den königlichen Zellen abließen, die Larven herausnahmen und Die 
um legtere angehäufte Nahrung verzehrten. Bon nun an wurde die Königin 
von allen anerfannt und benahm ſich in ihrer neuen Wohnung, als ſei fie 
dort geboren.‘ 

Man hat die Königin „Weiſer“ genannt, weil fie beim Schwärmen nach 
dem Orte, wohin fie fih wendet, das übrige Volk nachzieht, daß fich wie 
eine Traube um ſie herumlegt und anbängt; hat man erft die Königin eins 
gefangen, dann folgt auch ber übrige Schwarm nad. Die Kunft, von bem 
Hauptftod Ableger zu gewinnen, beruht auch in nichts Anderem, als eine 
Königin zu befommen und durch dieſe ein Bienenvolk, oder aber ein Bienen- 
volk zu gewinnen und es zur Erziehung neuer Mütter zu veranlafien. Wan 
muß fich übrigens wohl vorjehen, feine zu fchwachen Stöde zu bilden, bie 
feicht wieder eingehen. Man rechnet 5000 Bienen auf ein Pfund, und ein 
tüchtiger Schwarm muß gegen vier Pfund wiegen. Sendet ein Stod Kolonien 
unter diefem Gewichte ab, fo müflen zwei oder drei zu Einem Volk ver 
einigt werden. 

Als ein emtfernted Vorzeichen bed Schwaͤrmens betrachtet man das Er⸗ 
ſcheinen der Drohnen; ohne den Beſttz von Drohnen oder wenigſtens Drohnen⸗ 
brut ſendet kein Stock einen Schwarm aus, weshalb man auch wohl die 
Drohnen „Schwarmbienen“ genannt hat. Noch näher deutet das „Vorliegen“ 
auf das Schwärmen, da es beweift, daß die Hige in Folge des beſchraͤnkten 
Raumes den Bienen läftig zu werben beginnt, und biefe Temperatur ift ein 
Sauptbeweggrund, daß fie fich theilen. Uebrigens geichieht es auch nicht 
felten, daß die Bienen in der günftigften Jahreszeit Wochen, ja Monate lang 
„vorliegen“, obne zu jchwärmen, während fie in ungünftigen Jahren höchſt 
fhwärmluftig find. — Um fo gerechtfertigter ift das kunſtgemaͤße Eingreifen 
des Menichen. 

Die ganze Kunſt der Bienenzucht beruht auf dem Sage, daß der Bienen⸗ 
vater feine Pfleglinge möglichft ficher in feine Gewalt befomme, ihnen aber 
auch die möglichfte Kreiheit gewähren muß, von den Blüthenfchägen der Gegend 
Vortheil zu ziehen, und jo einen möglichft hohen Ertrag an Wachs und «Honig 
zu liefern. Die tiefe Sumpfgegend und das rauhe blüthenarme Hochgebirge 
taugen nicht zur Bienenzucht, auch ein ausjchlieglich mit Getreide -bebautes 
Aderland fagt den Bienen nicht zu, wohl aber die haidereiche Bläche, der eb 
gewöhnlich auch nicht an Harzbäumen mangelt, das Hügelland wie das warme 
Thal mit den höheren Bergen in Hintergrunde, bie etwa einen Ausflug in 
die Heidelbeerftriche erlauben, Dad Raps» und Buchweizenfeld, die Auswahl 
von Obftbäumen, Pappeln und Weiden, Erlen und Ulmen, Johannis⸗ und 
Stachelbeerfträuchern, Gartenblumen und fleereichen Wieſen. Die Biene if 
ein halber Romade, und ed behagt ihr; wenn man fie aus dem Gartenftande 
in ein Heldelbeerfeld des Waldes oder Berges bringt, namentlich wenn bie 
Gegend arm an Obftbaumblüthen ift, In Schottland trägt man zur Herbflzeit, 
wenn bie gewöhnliche Rahrung zu mangeln beginnt, die Stöde in tie Haibes 
frauiftriche, und die Schäfer erhalten ein gewinnreiched Nebengejchäft durch 


Die Bienenzucht. 347 


die Bewachung fremder Dienen. Im Hochſommer pflegt man bei und in 
Deutfchland mit den Bienenftöden in die Nähe von Yuchwaizen - oder Haides 
fornfeldern zu wandern, welche ben Bienen reichen und trefflichen Honig 
bieten. *) 

Bei der Honig- und Wacfernte bedient man ſich entweber der foges 
. nannten „Schwarmmethode“ oder der, Zeidelmethode“, je nachdem man ſich 
nach beendigter Tracht der Bienen (welcher Zeitpunft an den herausgeworfenen 
Leichnamen der erflochenen Drohnen kenntlich ift) eine gewiffe Zahl von 
Stöden gänzlich ausbricht, nachdem man die Bienen abgeſchwefelt oder mit 
den zu überwinternden Stöden vereinigt hat; oder indem man nur ben ents 
behrlichen Ueberfluß an Honig und Wache „zeidelt”, d. 5. ausfchneidet. Im 
erften Galle bereitet man für den Sommer eine möglichſt ſtarke Vermehrung 
der Stöde, im zweiten Falle beabfichtigtigt man nur, daß die vorhandenen 
Stöde volkreich bleiben und möglich viel über ihen Honigbedarf eintragen. 
Die erftere Methode ift felbftverfländlich nur da anwendbar, wo fich eine bi8 
fpät in den Herbſt dauernde Weide findet, und ba dieſe leicht auch fehlfchlagen 
Tann, fo behält fle innmer etwas Mipliches. 

Ein Hauptftüd für da8 fichere Gedeihen der Bienenzucht bleiben ſtets 
zweckmaͤßig gebauete und zweckmaͤßig aufgeftellte Bienenwohnungen. Die bes 
fannten oben abgerundeten Strohförbe find feit alter Zeit bei und eingebürs 
nert, halten im Winter warm und im Sommer fühl, und find überall Leicht 
herzuftellen. Vorzüglicher und im Grund nicht Eoftipieliger find jedoch die höl⸗ 
zernen Bienenftöce in Quadratform , Die fich zur Anlage und fpäteren Heraus⸗ 
nahme von Wachstafeln viel beffer eignen. Der ausgezeichnete ſchleſiſche Bie⸗ 
nemwirth Pfarrer Dzierdſon in Carlsmarkt hat in höchſt praftifcher Weife 
folche Kaften bergeftellt, Die er inwendig mit Fugen verfieht zum Einſchieben 
bon Rahmen, welche die Wabenträger bilden. Durch dieſe Einrichtung kann 
man den Bienen je nach Erforterniß den Raum einfchränfen oder erweitern. 
Dem fchleflfchen Bienenfreunde — erzählt Dzierdſon — wurde einmal zu Weih⸗ 
nachten von einem Forſtbeamten in einem dicken hohlen Eichenaft ein Bienen⸗ 
volk in's Haus geſchickt, von deſſen Eriftenz man erſt Kenntniß erhielt, ald man 
die Eiche gefällt Hatte, Bienen hervorftürzen und den Schnee bedecken fah. 
Aus dem ganzen Gebäude der Bienen war natürlich nur Brei geworden. Doch 
batte fich ein ziemliches Schwärmchen Bienen mit der Königin aus ten Trüms 
mern gerettet und oben in der Höhlung angehängt. Aus vorräthigen, theils 
weife mit Honig gefüllten Tafeln wurde fchnell ein Bau in einem Kaften zu⸗ 
fammengefegt, über die Stäbchen noch eine Quantität brauner Kandis gelegt, 
der Aſt gefpalten, das Völkchen hineingethan, und ed überwinterte glücklich 
und gedieh im nächften Brühjahr und Sommer vortrefflich, indem es eine 





*) Bine fehr ſchätzbare Bienenpflanze ift der buchariſche Klee Melilotus leucanıha 
major mit fleinen weißen Blüthen von angenehmitem Geruch, nach welchem die 
Bienen fehr beyierig find. Dieje auch für tie Lundöfonomie wichtige Nußpflanze 
treibt ihre Blüthentrauben von Juni bis in den November hinein, und gibt zugleich 
im Frühjahr Grünfutter, 


348 Landwirthſchaft. 


rüftige Königin hatte, wie es bei durchgehenden Schwärmen gewöhnlich der Fall 
if. — Dieſes Beiſpiel beweilt recht augenfcheinlich, welchen Vortheil bie 
Bienenwohnungen mit herausnehmbaren und wieder einzubängenden Wachsbau 
darbieten.*) Pfarrer Dettl zu Bufchwig in Böhmen fagt in j.inem , Klaus, 
der Bienenvater aus Böhmen‘ (Prag 1856): Die vollfommenfte Bienen» 
wohnung ift überhaupt die, in welcher der Bienenvater die Bienen am meiften 
in feiner Gewalt hat, ımd mit ihnen, ohne ihren Wachsbau zu zerflören oder 
ihnen wie immer zu fchaden, wilkfürlich verfahren Faun. Obſchon in diefem 
Punkte alle theilbaren Stöde vor den untheilbaren einen entichiebenen Vorzug 
haben: fo ift doch auch mit erfieren noch lange nicht alles Wänfchenswerthe 
erreicht; wenigſtens können auch bei diefen bie Tafeln nicht einzeln durchgeſehen, 
und fo weniger bequem und ohne Schaden heraudgenommen und wieder einge 
fegt werden. Bollfonmener in dieſer Hinficht ift der ſchon laͤngſt Dagewefene 
Huber'ſche Bienenftod und die Rahmenbude des Herrn v. Morlot, wie auch der 
Jaͤhne'ſche Reifenſtock, aus welchem wohl jede Wabe aus der Mitte, jedoch im⸗ 
mer mir ihren Rahmen oder Reifen herausgenommen und wieder eingeflellt 
werden kann. Allein nach vollfommener und zweckmäßiger erjicheinen ohne 
Weiteres die Stöde Dierdfon’3, weil man in denjelben noch mit mehr Will⸗ 
für die Waben behanteln kann, und weil dabei ihre innere Einrichtung fehr 
einfach und auch bei anderen Gattungen Bienemwohnungen anwendbar iſt. 
Pfarrer Dettl hat feine fchon früher erfundene Mafchine zur Verfertigung von 
Strohfrängen oder Ringen fo eingerichtet, daß er billig die Kaften bes 
ſchleſiſchen Bienenfreundes, jowohl einfache ald zufamniengefegte, auch aus 
Stroh hHerftellt. 

Große Hige iſt den Bienen eben fo läftig, wie große Kälte verberblich; 
darum ift e8 nicht wohlgethan, das Bienenhaus der vollen Mittagähige auszu⸗ 
fegen, und deögleichen dürfen die Stöde nicht zu fehr den Winden ausgeſeht 
fein, alfo nicht zu hoch geftellt werden. Man bat, um das Eindringen der 
Falten Winterluft abzuwehren und eine möglichft gleichmäßige Temperatur zu 
erhalten, mit gutem Erfolg die Stödfe ganz vergraben, ober auch fie jo geftellt 
und mit Mood, Waldftreu und Stroh umhüllt, daß der Äußeren Luft ganz 
der Zutritt abgefchnitten und aus einer hinlänglich tiefen Erdgrube den Bienen 
bie ſtets gemäßigte Luft in einer Röhre zugeführt wird. Ein Bienenzüchter 
am Reuftedlerjee erbaute feine, auf einer ziemlichen Anhöhe gelegene Bienen- 
hütte jo, daß fe 1/2 Klafter tief in die Erde zu ftehen Fam, fo daß auf der 
Rordjeite nur dad Dach hervorragte. Vier Stufen führen den Eintretenden abs 
wärts; der Rand ift auf 60 Städe eingerichtet, das Innere geräumig, es bes 
finden fi dort Tiſche, Bänke, fogar — ein Bett. Der Befiger hat nicht nur 
acht Tage früher Schwärme, als Lie übrigen vierzig Vienenzüchter am See, 
fondern brauchte zum Gedeihen feiner Bienen auch nicht im Herbſt in das 
Haiteforn zu wandern. **) 


*) Bergl. den „Bienenfreund aus Schlefin“. Brieg, 1856, ©. 105. 
*e) Krauend. Bl. 1651, ©. 142, 


Die Bienenzucht. 349 


Der Winterfchlaf der Biene ift Feine völlige Erſtarrung (Xethargie), wie 
bei den gefchlechtäverwandten Wespen, Hummeln und Horniflen, jondern nur 
der niederſte Grad der Lebensthaͤtigkeit, der fih bloß durch das feſte Anein⸗ 
anderflammern und ftete Zittern ber Flügel fund gibt. Während der beiden 
Monate Decenber und Januar verzehrt ein ganzer Schwarm nicht mehr als zwei 
Pfund Honig. Obwohl die Bienen ſchon im November fich in einen dichten 
Haufen zufammenzieben, geichieht es Doch nicht felten, wenn ein warmer 
Sonnentag ihnen winft, daß fie um die Mittagdzeit vorfpielen und beim Aus⸗ 
fliegen fich reinigen können, was ihnen denn für den Winter, der file an fol« 
hen Reinigungs-Ausflügen hindert, jehr zu Statten kommt. Deshalb ift es 
gut, die Stöde nicht zu frühzeitig in den Keller oder Winterverfchluß einzus 
ftellen. Die Bienen halten außerordentlich auf Neinlichkeit und mögen ihren 
Unrath nicht im Stode abfegen; deshalb Halten fle ihn bis auf günftige Ges 
legenheit zurück und fliegen wohl an freundlichen Januartagen aus, werben 
dann aber matt und von der kalten Luft erflarrt nicht felten eine Beute des 
Todes. Müfien ſie den Neinigungsausflug zu lange aufjchieben und ihre Koth⸗ 
pünftchen im Stode felber abfegen, fo verfallen fie leicht der Muhr, Die pefte 
artig um fich greift. Mitwirkende Urjachen diejer Krankheit find ungelunder 
Honigthau, den zu läutern die Bienen fih nicht mehr Zeit nehmen, Störung 
durch Mäufe, Vögel, oder auch der Strahl der Winterionne, der das Wolf 
aufsegt und veranlagt, mehr von den Vorräthen zu zehren, als gut if. Bes 
fonders ſchaͤdlich aber ift Ealte feuchte Luft, oder gar von oben eindringenbe 
Feuchtigkeit. Minter oft ald die Ruhr, aber viel gefährlicher zeigt fich die 
Brutfäule, welche darin beiteht, daß die Larven und Puppen, ſtatt fich in 
Bienen zu verwandeln, abfterben und in Fäulniß übergehen. Außerdem bat die 
Biene viel Feinde oder vielmehr Xiebhaber, welchen ihrem Wachs und Honig 
nachgehen oder fie jelber veripeiien. Vom großen Bär bis zur winzigen Spitz⸗ 
maus, vom langbeinigen Storch bis zur Fleinen Kohlmeiſe, bis jelbft zu den 
Amphibien und Würmern herab (denn jelbft die Fröſche verzehren gern Die er» 
flarrt zu Boten gefallenen Bienen und der Ohrwurm faugt fle aus) Tieße fich 
eine lange Lifte von Bienenjägern und Honigfreunden aus dem Thierreich an« 
fertigen, die nicht methodijch wie ein Inimenvater zu Werke geben. Vor Allem 
ift unjeren Bienenzüchtern die Wachsmotte Täftig, welche fchlau genug,” fo 
raſch und leiſe wie möglich in die Bienenwohnung dringt, daß ſelbſt bie 
aufmerkſamen Bienenwächter, welche ängftlih am Fluchloch Hin und Her 
rennen, getäujcht werden. @rreichen fle ledoch den Feind noch zeitig — fie 
erkennen ihn mit ihren Fühlern, die in der Dunkelheit die Stelle der Augen 
vertreten — jo muß er alsbald jein Keben lafien. Die Larve ber größeren 
Wachsmotte frißt lange Gänge in die Wachswaben und hüllt fih dann in ein 
undurchdringliches Geſpinnſt. Das Ausfchneiden des aljo verheerten Stüdes 
int gewöhnlich das befte Mittel, um ferneren Berheerungen vorzubeugen. 

Die Wespen find auch furchtbare Räuber, deren Stachel bie fchwächere 
Biene nicht gewachfen iſt. Aber ift nur der Stod hinlänglich volkreich, fo 
fallen alsbald über jede eindringende Wespe fo viel Bienen, wobei fich bie 


350 Lanbwirtbichait. 


erfien willig opfern, daß die Eindringlinge bald erliegen. Am gefährlichfien 
werten die Bienen fich felber. Wie ſie Kundichafter ausienden, die eine neue 
Wohnung fuchen, jo fpüren einzelne Bienen auch wohl gut verproriantirte, 
weiierloje und ſchwache Sıöde aus, geben den Ihrigen Nachricht und ziehen im⸗ 
mer größere Schaaren herbei. Der Wangel, aber auch ber Ueberfluß an 
Nahrung kann zum Rauben veranlafien, da es befannt iſt, daß ein mächriges 
großes Volk leicht zu Raubzügen geneigt wird; oder wenn in den Yutterhonig 
Bein, Rum und Branntwein gemijcht wird, jo gerathen die Bienen in einen 
aufgeregten Zufland, worin fle todedmuthig die fühnften Angriffe unternehmen 
und nicht felten audy ganz tüchtige Stämme überrumpeln. Zuweilen geſchieht 
e8 auch, daß zwei Stöcke gegenjeitig fih berauben und jo das Vergeltungsrecht 
üben, was aber immer bebenklich bleibt, da das Raubritterthum den Bienen 
bald zur anderen Ratur wird, und fie dann grad feinen Honig von den Blu⸗ 
men mehr einſammeln mögen. Ihr Leib verliert die Haare und befommt eine 
glänzend fchwarze Farbe in Folge ihrer Kämpfe und tes ungeflümen Gin- 
dringens in Lie Honigzellen, fo daB der ganze Körper mit Honig beichmiert 
und dann von den Beraubten wie von den raubenden Bienen wieder abge 
let wird. 

Welche Vieljeitigkeit im Leben und Treiben ber Biene! Aber eben biefe, 
weil fie nur durch die Reizbarkeit und leichte Erregbarkeit der Sinne möglicy 
ift, macht auch aus dem frieblichften, von den zarteften, duftigften Rahrungd« 
ftoffen lebenden Thierchen einen jo furchtbaren Kämpfer, der im gereisten Zus 
ftande die größten Vierfüßer zu tödten im Stande ifl. Das Rindvieh, wenn 
es von wüthenden Bienen angefallen wird, ergreift noch die befte Vertheidi⸗ 
gung gegen folchen Feind, nämlich die Flucht, während das Pferd durch jein 
Ausichlagen und Wälzen nur noch mehr töhtliche Langen fich zuzieht. Die 
Dienen können Boltern und Schlagen, Alles, was ihre Wohnung erjchüttert, 
nicht leiden, und werden jchon geretst, wenn man fie anhaucht, noch wüthender 
durch Knoblauch oder andere jcharfricchente Sachen, namentlicy auch durch 
den Geruch ihres eigenen Giftes, das beim Stechen entleert wird. Sehr 
‚angenehm ift ihnen dagegen ber Geruch des Meliſſenkrauts, daB von den 
Griechen ebendeshalb „Bienenkraut“ genannt wurde. Der Bienenzüchter muß 
den Ausbruch des Zornd fchon im Keime zu erftiden fuchen, denn eine Biene 
theilt ihre Gemuͤthsſtimmung bald dem ganzen Volfe mit. Er hat im Rau 
ein gutes Mittel der Bejänftigung, ja der Demürhigung ber eben noch aufges 
regten Bienen. 

Es ift eine wohlthätige Einrichtung in der Ratur der Biene, daß fie 
beim Schwärmen wie befangen wird, an ben erften beften Gegenftand in Dider 
Traube fih anhängt; man hat Fälle, dag ein joldher Schwarm fich auf der 
Bruſt eines Mannes, am Halje eines Mädchens anjegte, gejammelt und dann 
abgenommen werden fonnte, ohne irgend Jemand mit einem Stich zu verlegen. 
Aber wehe dem, ber bei folcher Gelegenheit das Bienenvolk aufregen und ers 
zürnen wollte! Dan weiß von Bientnfchlackten Gejchichten zu erzählen, bie 
nicht fehr erbaulich lauten. So Hatte ein Beflger vieler Bienenftöde im 


Die Bienenzucht. 351 


Staate Ohio, Ramend Dibble, am 14. Auguſt 1853 einen foldhen Bienen» 
fampf zu beobachten die unerfreuliche Gelegenheit. Er Hatte 70 Bienenftöde 
ziemlich gleichmäßig auf beide Seiten des Hauſes vertheilt, als um 3 Uhr 
Nachmittags plöglich jo große Bienenmaflen in feine Wohnung drangen, daß 
alle Leute fich flüchten mußten. Herr Dibble begab fih auf einen geficherten 
Standpunkt und glaubte zu bemerken, daß die fämmtlichen 70 Schwärme, in 
zwei Parteien gefondert, außgeflogen waren, beinahe einen Ader Landes bes 
deckend. Bald entipann fi der Kampf zwifchen den beiden Bienenmaſſen, 
ber brei volle Stunden dauerte. Kein lebendes Wefen Eonnte ſich während 
Diefer Zeit ungefährbet dem Plage nahen, und ein Hühnerboff wurde dermaßen 
zerflochen, daß es fein Lehen einbüßte. Um 6 Uhr ftellte fh die Ruhe und 
Ordnung wieder her, und die Bienen, welche unverfehrt ober noch Fräftig den 
Streit überlebt hatten, kehrten in ihre Stöde zurüd. Der Boden war von 
Bienenleichen überfäet, die meiften Schwärme waren ſehr gelichtet und zwei 
davon ganz vernichtet. Die Erfchöpfung, nicht der Sieg einer Partei fchien den 
Kampf beendet zu haben. *) 

Man hat Die Bienenzudht mit Recht die Poeſte des Landbaues genannt; 
fie gleicht der Roſe, die auch nicht ohne Dornen if. Und unter diefen Dornen 
ſteht der Bienenftachel allerdings in vorberfter Reihe. Lim fo mehr verdient 
auch von dieſer Seite die Einführung ber italienifchen Biene empfohlen zu werben, 
welche Art außerdem noch manche anbere Bortheile bietet. Die italienische Biene 
ift nicht allein thätiger, fondern auch fruchtbarer als unfere deutjche, mit ber fie 
ſich übrigen® ganz friedlich zu Einer Oefellichaft vereinigt. Den Menichen flicht 
fie nicht oder nur im höchſten Falle der Roth, Dagegen zeigt fie fich im höchſten 
Grade tapfer gegen die Raubanfälle anderer Bienen oder der Wespen. Sie ift 
son unferer deutfchen Art nur durch die beiden eriten Ringe des Unterleibes un- 
terfchieden, welche nicht wie bei unferer einheimifchen eine fchwärzliche, fondern 
eine rörblichgelbe, orangenfarbene, gegen die Sonne betrachtet faft Durchfchels 
nende Farbe haben. Hierdurch hat man ein Merkmal gewonnen zur Feftftellung der 
Thatſache, Daß die Königin nur Ein Mal für ihr ganzes Leben und zwar im 
Fluge außerhalb des Stodes befruchtet wird, daß fie die einzige Eier Tegende Mutter 
im Stode ift und gleicherweis bie Drohnen und Arbeitöbienen erzeugt. Man 
gab einem deutſchen Stode eine italienifhe Königin und fah eine abweichend 
gefärbte Bevölkerung von Arbeitöbienen und Drohnen entflehen. Dzierdſon bes 
merft (a. a. O. ©. 5) ganz treffend: „Wie Virgil im dritten Buche feines 
Lehrgedichtd vom Landbau den früher wilden und dann veredelten Obſtbaum 
fich wundern läßt, über jein neues Laub und die fremden Früchte, fo mag ſich 
auch der Bienenſtock wundern, über die neue noch nie gejehene Generation, 
welche allmälig in ihm hervorkommt, immer zahlreicher wird und zulegt bie 
frühere vollkommen erſetzt.“ Dzierdſon bat es fich zur befonderen Aufgabe 
gemacht, fchöne Königinnen zu erzeugen, zur Bortzucht zu benugen und dann 
feinen ganzen Stand damit zu befegen. Gelingt ihm dies, fo werden auch) 





*) Dergl. Ausland 1853, ©. 1127. 


352 Lanbieirtäfääeft. 

um billigen Breis eine Menze fruchtbarer Müner con ibm zu beziehen jeim. 
Zie Bienenzucht bar das gleiche Streben nach Rasenzerekiung, wie tie Sei⸗ 
benrsurenzuät, im erwähnten Falle aber nicht einmal mir io grogen Schrierig⸗ 
keiten ıu Simeren, al& kicie. 

Die Honigfiene komm in allen Ertrkeilen and im wilten Zuttande vor, 
Baus: ibre Wobnung in boble Bäume, Ertböblen, jeleR Ibiergerivre, wenn 
fie zut autgerredne int und tenker alljährlich wieter neue Schwärme aus, 
die ich neue Wohnungen ĩuchen. 

Zie Hettentotien in Subafrifa verfieben es ebenio zur, durch Rauch ton 
von feucktem Holz tie Bienen in Schach zu balıen, wenn fie ten Honig er⸗ 
beuten, wie tie Schwarzen in Außlralien, tie in NRärfen aus tem boblen 
Bäumen ten Huifigen Honig ichörfen,, einer Biene eine leichte Taunfeter an 
ten zus binden, unt darurch auf die Spur tes Honigbauied Kb führen laflen. 
Der berühmte engliſche Votaniker Hoofer erzihlı con ſeinen Wanderungen 
im Himalma: An ten ichmaleren Stellen des Tambar-AIbales treren Die Ges 
birze ort dicht ki? an ten Rand tes Wanſers beran, und an ten fleilen Ab 
hängen bauen wilte Bienen ibre idnrebenten Reiter, die von ten Räntern 
berabkangend wie große an ihren Ylügeln bingente Fledermäuſe ausichen. Sie 
fine 2 bis 3 Fuß lang und jo breic wie ker obere Rand, an dem fie, nad 
unten iyig zulaufend, berunterhängen. Der Honig wir jebr geiucht, außer im 
Frühjabr, wo er Durch tie Blüchen des Rbododendron vergiñet jein toll, wie 
ber, welchen tie Griechen bei tem Rückzuge ter Zebnianient genoiten, Durch die 
Biũtben des Rhododendron ponticum. 

Die fleilen Felshänge des Tistatbales werden des Henigd willen jogar mit 
Mohrleitern erſtiegen, und die Bienennefter int io groß, daß man fie ſchon aus 
weiter Gntiernung erkennt. „Dieſes Verfabren“, berichtet Goofer, „‚ichien 
auperortentlich gefährlich, Da die langen Lrabtäbnlichen Robritöde an manchen 
Stellen über hoben Felsabhängen den einzigen Halt gewähren; indeſſen ift die 
Gewinnung ded Honig für viele arme Leute Dad einzige Mirtel, Dem Radicha 
die Abgaben zu bezahlen.‘ 

Seitdem tie Europaer nad dem Weiten Amerika's vorgedrungen, bat 
die Biene fih dort in überraichenter Schnelligkeit verbreiter unt die Indianer 
betrachten fie ald ten Vorläufer des Weißen. Seit den älteiten Zeiten, 10 lange 
Ackerbau und Viehzucht beiteht, hat ter Menſch Die Honigbiene in einen Hause 
halt aufgenommen; ber Bienen unt Traubenbeniz bildete im ganzen Alter 
thum bis tief in's Mittelalter hinein ten Zuckerſtoff für das Verjugen ter 
Speiien unt zur Arznei. Die alten Aegvpter, Griechen, Römer, Gallier, Ger 
manen tranfen Merh, ter bei den Römern aus Waller, Honig und Quitten 
bereitet, kei den Deutjchen aus Honig und Gerreite erzeugt wurde. In Gallien 
und Deutichland war bad Honiabier der Vorläufer des Weins, Denn noch Diodor 
erzählt: „Del und Wein wachſen nicht in Gallien, Daher die Anwohner fich einen 
©erjtentranf bereiten, den ſie mit Honigwaſſer anmachen.” Die enge Beziehung 
zwischen der Bienenzucht, Dem Acker- und Weinbau und der Viehzucht drüdt ſich 
auch in unjeren beutichen volksthümlichen, Bienenrathſeln“ ganz bezeichnend aus: 


Die Bienenzucht. 353 


„De beft Schmuez choefl 'me nit, das befte Holz 
fpal’t me nit, das beft Bluet ſchmoͤckt me nit, 
de beft Vogel rupft me nit!“ *) 

Die Seidenraupe bat fich troß aller Aufmunterungen und Begünfligungen 
ihrer Zucht noch immer nicht recht heimifch machen Taffen bei und — hauptfäch- 
lich wohl des Klimas willen; die Biene hat ſchon in den altgermanifchen Wäl- 
dern luſtig gefummt, und das trauliche Wort „Immenvater“ beweift allein 
fhon das gemüthliche Verhältnig zwifchen ihr und dem deutfchen Pfleger. 
Charalteriſtiſch ft der. Aberglaube des Landvolke, daß man den/ Bien ben. E17) y 
des Hausherrn foͤrmlich anſagen müffe, wenn fie nicht ihm nachſter rben ſollen. 
Wie nad) der griechiſchen Götterſage die Bienen die erſten Naͤhrerinnen des Zeus 
waren, weil ſie die reinſte Götterſpeiſe, Nektar und Ambroſia darboten, und wie 
fie als Muſter der Ordnung, des Fleißes und der Vaterlandéliebe als Heilige 
Thiere betrachtet wurden: fo waren fie nach der chriftlichen Volksſage auch Bes 
wohnerinnen bed Paradiefes, die nach dem Sündenfall unverfehrt in ihrer Rein⸗ 
heit fich erhielten, weshalb fle auch das Fluchen nicht Teiden können. Zür die 
griechifch- und römiſch⸗katholiſche Kirche ift die VBienenzucht noch befänders 
wichtig wegen der vielen Wachskerzen, welche der Botteöbienft verlangt und wie 
die Klöfter des Mittelalters - den Weinbau förberten, baben firaliige Bwede 
auch der Bienenzucht nicht geringen Vorſchub geleiſtet. 


Dünger, Weinrebe, Aehre, Biene. 


Die ungarifche Poefie im 19. Jahrhunderte. 
Don . 
Seint-Wens Gaillendicr. | 


(Eine ter furchtbarften Schlachten des Ungarifchen Krieges wurde am 31. Juli 
1849 bei Segeswar in Galizien: gefchlagen. Der letzte Akt dieſes blutigen 
Dramas hatte begonnen, die ungarifche Sache war für diesmal verloren. Seit 
Rußlands Intervention im Monat December 1848, und feit der ruſſiſche 
Herrſcher Zwietracht und Hader unter den polnifchen Chefs und ben magyas 
rifchen Dfficieren mit leichter Muͤh hervorgerufen hatte, erfchöpfte fly Dem⸗ 
binsfi, der die Deftreicher fo oft geichlagen, in fruchtlofen Anftrengungen. 
Der General Bem hielt Galizien noch beſetzt und leiftete wahrhafte Wunder 
von Kühnheit und Ausdauer. Die einfache Erzählung feines Wirkens 
während dieſer furchtbaren Epoche bildet eine Reihe wahrbafter Helden⸗ 
thaten. Niemals ift hartnädiger gegen eine reine Unmöglichkeit angefämpft 
worden. Seine zerfprengte Armee vereinigte er eiligft zu einigen Regimentern 
und erfchien wieder auf dem Schlachtfelde in demjelben Momente, wo ihn ber 
Feind auf der Flucht glaubte. Während die Ruſſen beftändig vom Rorden nach 
Süden vorrüdten, hatte der furchtlofe Bem, auf die Gebirgrüden Galiziens 
geftügt, den Eid geleiftet, dieſe natürlichen Feſtungen, als der einzigen 
Punkt, auf welchem der Krieg fortgeführt werden konnte, bis auf den legten 
Mann zu vertheidigen. An einem der Teßten Tage im Juli erfuhr er, daß ein 
ruffifches Corps von der Moldau her ihm din die Flanke zu fallen drohe; raſch 
flürzt er auf den Beind, fchlägt und zerfireut ihn; plößlich aber fcheint er in 
eine weit größere Gefahr gerathen zu fein; denn ihm entgegenftehen mit einem 
Male zwei Diviflonen von der Armee des Fürften Paskiewitfch, die eine 18000 
Mann ftarf, welche Durch 4000 Magyaren bei Maroswafarhely aufgehalten 
wurde, die andere von 20000 Mann unter General Lüders. Vor Allem galt 
es jegt, die Vereinigung diefer beiden Corps zu verhindern. Raſch wandte 
fih Bem mit 3 Honved-Megimentern, einigen Escadrons⸗Huſaren und 12 Stüd 
Gefchügen gegen Segeswar. Er ftand mit diefem inproviftrten Corps einem 
an Zahl weit überlegenen Feinde gegenüber, aber er hatte eine Stellung gewählt, 


Ungarns Poefie. 355 


welche die Ruffen an der Entfaltung ihrer ganzen Macht Hinderte, während fe 
Die ungeftümen Angriffe der Ungarn Begünftigte. Die Kanonade begann um 
10 Uhr Morgens und wüthete bis 7 Uhr Abende. Wleich beim Beginn des 
Treffens wurde der Generalabjudant des Gzaaren und Chef des Generalſtabs, 
der General Seniatin, durch einen Schuß zu Boden geftredt; Tange Zeit hin⸗ 
durch bielt ein Eleiner Haufe Ungarn, unterflügt durch ein wohlgezieltes Ars 
tilleriefeuer, das Corps des General Lüders im Schah. Auf beiden Seiten 
wurde mit der beftigften Erbitterung gefämpft. Die Magyaren firitten für 
ihre Unabhängigkeit und flürzten fich mit der Wuth der Verzweiflung auf bie 
Fremdlinge; die Ruſſen Dagegen waren erbittert , einen Krieg zu beendigen in 
einem Lande, wo jeder Bauer ein Feind, jede Auskunft eine Schlinge war. 

Endlich errang die Uebermacht die Oberhand. Auf allen Seiten von 
den Kofafen gedrängt, wurde der General Bem nach Heroifcher Gegenwehr durch 
einen Lanzenſtich verwundet und als todt in einem Morafte zurüdgelafien. 
Sein Fall war das Signal zur Flucht. Einige feiner Dffigiere Tuchten eine 
Zuflucht in den nahen Bergen. Mühſam entrannen file der Gefangenichaft, 
aber ein anderes ſchreckliches Loos barrte ihrer. Bon den Höhen der Karpathen 
wälzten Straßenräuber Felsblöcke auf die Beflegten, und mancher brave Krieger, 
der auf dem Felde der Ehre zu fallen verdient Hätte, flürzte zerfchmettert in 
wilde Abgründe. 

Unter den ungarijchen Officieren, welche ſich in die Engpaͤſſe Saliziens 
warfen, befand fich ein junger Mann von 26 Jahren, welcher Bem's General» 
Rabe attachirt war. Während der Schlacht noch hatte man ihn nach allen 
Seiten bin Befehle bringen und an bem Kampfe mit aufopferndfter Anftrengung 
Theil nehmen ſehen. Nach Entfcheidung der Schlacht floh er mit mehreren 
feiner Kameraden in die Berge der Karpatben, und feit diefem Augenblide hat 
ihn feines Menfchen Auge wieder gejeben. Iſt er tobt ? Hat er fern von feinem 
befiegten Baterlande ein Afyl gefunden? Kann man hoffen, daß er in glüd- 
licheren Tagen in feine Heimath zurückkehrt? Der General Bem, verwundet 
und ald ein in Baliziend Suͤmpfen Begrabener betrachtet, war wie durch ein 
Wunder gerettet worden; durfte man daher nicht auch zu hoffen berechtigt fein, 
dag eine gütige Borfehung dem Ungarlande einen feiner evelften Söhne zurüde 
geben würde? Lange Beit befchäftigten dieſe Fragen die Gemüther aller Mas 
gyharen; ja felbft noch heute erwartet ein großer Theil des Volkes die Rückkehr 
von Bem's Adjudanten; man fann fich nicht zu dem Glauben entfchliegen, daß 
ein folcher Menſch fchon für fein Vaterland verloren fei, und wie eine Heiligen- . 
fage yflanzt fich fein Name von Mund zu Mund. Und in der That war dies 
auch nicht ein gewöhnlicher Soldat, fondern ein weithin Teuchtender Stern am 
Himmel des Magyarenlandes, der Lieblingdfänger feines Volkes, der Nationale 
Dichter Santor (Alexander) Petöfl. 

Petöfi ift nicht wieder erſchienen, aber fein Andenken lebt frifch und 
Fräftig in dem Herzen jedes Ungarn. Iſt auch fein Körper vielleicht eine Beute 
wilder Raubthiere geworden, den ebleren Theil feines Seins haben Freundes⸗ 
hände gerettet. Seine Geſaͤnge, Eigenthum des Volkes in Ungarn, beginnen 

23* 


3:5 Sarnsserssiinise 


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Ismkera a. m. efzzım. — !zı zn can u ame eier: Ider res 
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wei. Rohe: Datımerı irn sertiefee vor. dei rögıch ame ya 
neue Grzzre ex Einhärien cr Gorer:? Ira mtr. Se: Rise 
Bermim,. eis Im: Jam Simır zart mehrere andere oa». Urter alles 
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para Yorazır ne Soiar Seine. 19 ter Dekeaseate vet enaincltte, der 
ı ker uhralnee Fereerzr; Ira Churcker on! 224 rim tes unzoriicden 

u rüuz, — ler At atam tes Geuctal dem, ter nie ter Schlache ron So 


Ungarns Poeſie. 857 


geswar in den Gebirgen verſchwundene Krieger. Der Tag, an weldhdem:Sandor 
Beröfi für die nationale Erhebung geftorben, war anfangs gefeiert allein in 
feinem Lande, jegt aber hat fein Rame in der durch Göthe eingeweihten Welt- 
Hteratur einen ehrenvollen Plaß erhalten. 

Giebt es denn eine ungarifche Literatur? Bid jetzt ſchwieg die Geſchichte 
von ihr. Die Kritifer der Gegenwart haben das Gemälde einer Univerfal-Kiteratur 
zu entrollen verfucht, aber weder Eichhorn noch Bouterweck gönnten der ungaris 
{hen Literatur nicht einmal den befcheidenften Plag. Ruſſen, Sinnen, Tartaren, 
Türken, Berfer, Armenier, Chinefen, Hindus, Bewohner der Infel Java, alle 
Völker ded Nordend und Dftens erheben der Reihe nach auf diefem von Herrn 
Eichhorn präftdirten Titerarlichen Gongrefje ihre Stimmen, Ungarn allein ver- 
fummt. Göthe, der den Geſängen der Serben und Böhmen fo viele Aufmerk⸗ 
fanıfeit widmete, der fo viel Schönes und Rühmliches über die volksthümlichen 
Boeften des öftlichen Europa gejchrieben, Göthe felbft wußte nicht, daß ber 
Donauftrand in Ungarn ebenſo Seine Dichter aufzumeifen hatte, wie das Volt 
ber Serben und Rumänen. Der erfte Hiftorifer, welcher bie Titerarifchen 
Schäge Ungarns Europa vor Augen führte, (ich nehme die Philologen Hierbei 
aus, welche im 17. und 18. Jahrhunderte die ungarifche Sprache ihren ges 
lehrten Studien unterzogen und fie mit den aflatifchen Sprachen verglichen), 
war Louid Wachler in feinem Handbuch der Kiteraturgefchichte. Auch Wachler 
beichränft fich noch auf flüchtige und unzureichende Ausſprüche. Gegenwärtig 
aber beginnt ſich durch Kertbeny’5 Bemühungen die Geſchichte dieſer Literatur 
zu entwideln. Wir wiffen wenigſtens, in welcher Lage fich Die ungarifche 
Ziteratur befand, als Pötefi feine erften Verſe dichtete, wir Eennen feine Lehrer, 
feine Rebenbuhler, feine Schüler, und wir können mit Gewißheit beſtimmen, 
wodurch feinem Talente die ihm eigene Originalität verliehen wurde. 

Die Denkmäler, welche und von den erflen Spuren der ungarifchen Poeſie 
übrig geblieben find, fcheinen nicht über das 14. Jahrhundert Hinauszureichen. 
Gab es den aber in den Kriegen des Mittelalter, als die Könige der Dynaftie 
Arpad gegen die Zartaren kämpften, als ein Enfelneffe Ludwig des Heiligen, 
das Haupt eined neuen Stammes, dieſe wilden Stämme endlich vernichtete, als 
die Hunyaden fich jo gewaltig auf die Turfen warfen und biefelben nach dem 
Bosporus trieben, gab es denn damals Feine Dichter, welche die Thaten ihrer 
Helden in Liedern verberrlichten? Es ift Faum glaublich, daß bei einem fo leb⸗ 
haften, fo tapferen und edlen, fo leicht entzündbaren Volke die DVertheidiger 
Europa’3 gegen die eindringende aflatifihe Barbarei nicht gefeiert wären in 
Lied und Wort. Wenn fit hin und wieder noch einige Spuren aus folchen 
alten Heldenliedern vorfanden, fo hat unglüdlicherweiie Riemand daran ges 
dacht, diefelben forgfältig aufzubewahren. Im 15. Jahrhundert allein, nach 
der Kataftrophe von 1526, als Ludwig II. bei Mohacs beflegt wurde und 
Ungarn ſich unter das Joch der Türken beugte, ſah man Dichter auftreten, 
weldye durch ihre Gefänge den Stolz uud dad Rationalgefühl wachzuhalten 
fuchten. So ſchuf Peter Illosvai ein Heldengedicht „„Zoldi‘, weldyes im 
16. Jahrhunderte ganz populär war und in unferen Tagen durch Johann 


358 Literaturgefchichte. 


Arany wieder ind Gebächtniß gerufen wurde. Diefer Toldi, eine Art Bauer⸗ 
held, der als ein Verbrecher behandelt in die Wälder zu fliehen und da zu leben 
gezwungen war, fiel im Kampfe für fein Land gegen einen unverſöhnlichen 
Feind und war der Hort des ungarifchen Volkes während der türfifchen Inva⸗ 
fion. Die Mißgeſchicke des Staats einerfeits, die wachjende Bildung des Hofes 
und der höheren Claſſen unterdruͤckten aber gar bald die erften Schwingungen 
einer nationalen Poefle. Unter Mathias Corvin im 15. Jahrhundert war es 
Italien, von dem aus die Elemente der Civilifation nach Ungarn gebracht wur⸗ 
den, im 16. Jahrhundert Dagegen verdrängte der neue in Deutfchland erwachte 
Geiſt den italienischen Einflug. Die Reformation fand begeifterte Anhänger 
unter den Magyaren, fle gründete Buchdruckereien und errichtete Schulen. 
Der Katholicismud widerſtand am bartnädigften und bald erfchienen die Zög⸗ 
linge des heiligen Ignatius auf den Schauplage. Wie konnte da unter beſtaͤn⸗ 
digen Kämpfen und ohne Schug vor Gewalt eine Nationalliteratur fih Bahn 
brechen? Wenn auch die Sprache der Vorfahren fich noch von Generation zu 
Generation fortpflanzte, ihr Geift ſchien erftorben; im 17. und 18. Jahrh. ahm⸗ 
ten die gelehrten und gebildeten Elaffen den Franzoſen unter Ludwig XIV. nach, 
wie fie bereit8 früher Italien und Deutfchland fich zum Vorbilde genommen hatten. 
Seit 300 Jahren dem Haufe Habsburg unterthan, ift Ungarn jetzt nur noch ein - 
Schatten von ehedem. Der Augenblid ift aber noch nicht gefommen, um auch bie 
Landesfprache zu unterdrücken, welche dem Lande jegt noch einen befondern charak⸗ 
teriftifchen Ausdruck vor den übrigen Provinzen Oeſterreichs gibt. Joſeph IL. 
verfuchte dieſe Sprache, welche nichts mehr erzeugte und nichts weiter war als 
ein Ueberreft der Vergangenheit, ein Hinderniß jedes Kortfchritte, zu verdrängen, 
und gerad: diefe Beftrebungen Joſeph's II. waren e8, welche die jchlummernden 
Traditionen wach riefen und dem ungarifchen Volke eine wirkliche Literatur 
verichafften. 

Der erfie poetiiche Nepräfentant, der wieder in feiner Nationalfprache 
bichtete, war ein junger Officier, Alex. Kisfaludy, der 1772 zu Suͤmeg geboren 
war und einer der älteften Familien feines DBaterlanded angehörte. Er fland 
bei einem Ungarijchen Regimente, welches ber Kaifergarde einverleibt war, 
fämpfte in den erften Revolutionsjahren gegen die Franzoſen, gerieth 1796 bei 
Mailand in Gefangenfchaft und wurde nad) Branfreich abgeführt. Zu feinem 
Aufenthalte wurde ihm Avignon befiimmt. Hier unter dem milden Himmel 
von Vaucluſe und auf dem von Petrarca geweihten Boden fühlte der junge 
Qufarenofficter den Dichterifchen Beruf in fi erwachen. Die Sprache der Hei⸗ 
math tönt niemals füßer und reizender, als wenn man ihrer Klänge entbehren 
muß. Diefe Sprache, welche der ungarijche Edelmann vielleicht in den Wiener 
Salons oder am Hofe feines Kaiſers kaum der Beachtung werth hielt, begeifterte 
ihn mit ihrem geheimnißvollen Reize im freudloſen Eril. Im Jahre 1797 
fehrte Kisfaludy nach Ungarn zurüd und nach Verlauf von 3 Iahren verzichtete 
er auf feine militärifche Laufbahn, um jich feinen literarifchen Studien gänzlich 
hinzugeben. Sein erſtes Gedicht, „Himfi's Liebeslieder“, erfchien im Jahre 1801. 
Burüdgezogen auf eins feiner Güter am Ufer des See's Balaton, verließ ber 


Ungarkö Poeſie. 359 


eble Dichter feine Einfamkeit nur, um an dem Feldzuge von 1809 theilzunfhe 
men; nachdem er feiner Pflicht genügt, kehrte er auf feine Beflgung zurüd, 
lebte nur feiner Mufe, welche in Gedichten und Liedern erhabene nationale Er⸗ 
innerungen befang, und ald er im Jahre 1844 feine irdifche Laufbahn ſchloß, 
weinte ihm ganz Ungarn nach. Mlerander Kisfaludy war zwar feines jener 
jouveränen Genies, welche der Literatur den Stempel der Vollendung aufzu⸗ 
drüden vermögen, feine Begeifterung war etwas oberflächlich, feiner melodiſchen 
Sprache gebrach es an Kraft und Schwung, aber er hatte Vertrauen auf bie 
Zufunft feiner Landeöfprache, er betrat zuerft dieſen Weg, auf welchem ihm fipä- 
ter _Eräftigere Talente folgten, und das Beijpiel allein, das er gegeben, begründete 
feinen Ruhm. Neben ihm hatte fein würbiger jüngerer Bruder Carl Kisfaludy, 
der ebenfalls Officier bei den ungarijchen Huſaren war und bie deutfchen Kriege 
gegen Napoleon mitgefchlagen hatte, die erften Verſuche zur Gründung einer 
nationalen Theaterliteratur gemacht, während fein älterer Bruder für die epifche - 
und Iorijche Poefle wirfte. Carl Kisfaludy ftarb im Iahre 1830, kaum 40 Jahre 
alt. Während der Testen 12 Jahre feines Lebens hat er 40 Theaterſtücke, theils 
Dramen, theils Zuftfpiele, gedichtet, welche heute noch auf dem Mepertoir des 
Rationaltheaters in Peſth die Hauptrolle fpielen. Um dieſe beiden Männer 
ihren Berdienften gemäß zu ehren, wurde noch bei Lebzeiten bed Aelteren im 
Jahre 1836 der Verein „Kisfaludy“ gegründet, eine aud 20 Mitgliedern ges 
bildete Akademie, welche jährlich den beften poetifchen Arbeiten Preife zuerfannte 
und jo ſchon mehr ald einem Talente Bahn gebrochen hat. 

Nach dem Vorgehen Alex. Kisfaludy'3 und ſeines Bruders Carl tauchten 
mehrere Dichter auf, welche freiere Richtungen, wie jene, verfolgten. Die beiden 
Kisfaludy waren überhaupt nur ariftofratijche Geifter; um aber dieſe neue 
Poeſte zu einer nationalen zu erhalten, mußte der zweite und britte Stand feine 
Bertreter ftellen. Michel Csokonai, ein Dichter der Freude und Luft, wäre viel« 
leicht ein ungarijcher Volksdichter geworden, wenn er nicht durch ein ausſchwei⸗ 
fentes Leben in der Blüthe feiner Jahre dem Tode zum Opfer gefallen wäre, 
Schmwanfend zwijchen der verjährten Literatur des 18. Jahrhunderts und den 
volfärhümlichen Traditionen Ungarns, lieh er zumeift den verjchiedenften Em⸗ 
pfindungen und Gefühlen Worte, welche jchwach und alt, wenn fle einer falfchen 
Eleganz, jedoch Eräftig und neu waren, fobald fe einer Tändlichen frifchen Hei⸗ 
terfeit galten. Mehrere jeiner Lieter Ieben noch in dem Andenken ter Landbe⸗ 
wohner und felbit feine größeren Werfe konnten dieſelben nicht unterbrüden. 
Daniel Berzsenyi (f 1836), Franz Kolcdey (} 1838) find unter den neueren 
Dichtern die erften Vertreter des Buͤrgerſtandes. Berzsenyi, beruhmt Durch 
herrliche Inrifche Dichtungen, vor Allem aber durch feine Ode an Ungarn, iſt 
ein Nachahmer des italienijchen Dichters Filicaia, und Kolcsey, der Ueberſetzer 
des Homer, hat Hymnen und Balladen Hinterlajfen, welche von der Literaturges 
ſchichte vollkommen gewürdigt werden. Der eine nahm ſich die Italiener, der 
andere die Deutjchen zum Vorbilde; beide gehörten aber mehr ber afatemifchen 
Gelehrſamkeit als der naturmwüchitgen lebenden Poeſie an. Endlich trat ein 
gereifter Dichter auf, Michel Vörösmarty, welcher nach einem Studium vom 


360 Literaturgeſchichte. 


5d Jahren die ungariſche Poeſte in einer gefälligen und populären Form ge 
wiffermaßen conftituirte. Nach dem Ausipruche aller magyariichen Kritiker if 
Michel Börbsmarty der erfle Dichter, befien Ungarn fich vor den Augen Europa's 
sühmen kann. Seine romantijchen Heldengedichte, fowie feine Oben und Lie 
der, jeine längeren Erzählungen, jeine kurzen Sinniprüche beurfunden eine uns 
gemeine bichterijche Schaffungäfraft und eine Eeele voll zarter tiefer Empfin⸗ 
bungen. Wan bat ihn wegen der Gewalt feiner Lyrik mit Victor Hugo ver⸗ 
glichen, und in feinen größern Dichtungen flellen ihn feine Verehrer mit dem 
Schweden Ejaiad Tegner in eine Parallele. Mögen auch die beipblutigen Ma⸗ 
gyaren, deren Rationalpoefle in ihm erblühere, und die für ihn jo raich als möge 
li einen Ehrenplag in der europäifchen Literatur zu Haben begehrten, in ihrer 
Bewunderung etwas zu weit gegangen jein, fo jteht aber doch jo viel unumſtößlich 
feft, Michel Börösmarty verdient den Namen eincd wahren Dichterd. Als er am 
19. Rovember 1855 zu Peſth verichied, trauerte um ihn die ganze Nation. 
Zaufende und aber Taufende von Männern aller Klafien folgten jeiner irdijchen 
Hülle zur ewigen Ruhe; alle Vertreter der Kunft und Wiflenfchaft waren um 
feinen Sarg vereinigt. Der Verfaffer ded „König Sigismund, des Cſerhalom, 
des wunderbaren Thales“ jchien die werdende Literatur feines Landes vollendet 
zu haben; den großen @eiftern, welche unfer Jahrhundert in Deutichlant, Enge 
land und Frankreich erzeugt hatte, war in dem ungarijchen Tichter, Michel Vie 
rödmarty, ein neuer hinzugefügt. 

Hat aber Michel Börösmarty alle harafteriftiichen Zeichen Ted magyarijchen 
Geiſtes treu zum Ausdrud gebracht? Nein! denn felbft feine eifrigften Verehrer 
ertheilen ihm dieſen Lobſpruch nicht volljtändig. Troß feiner dichteriſchen Bega⸗ 
bung, jeiner PBhantafie und des Reichthums feiner Sprache machte man ibm ben 
Vorwurf, Die Haupteigenichaften des ungarifchen Volks nicht deutlich zur An⸗ 
ihauung gebracht zu haben: Leidenjchaft, riefen Schmerz, rajche Wallungen, 
Freude und Zorn, Muth in Gefahr und im Kampf. Es fehlte ihm jene leichte 
entzündliche Begeiiterung, welche mit beflügelten Worten zur That hinreißt. Er 
felbft, der ergraute Dichter, fühlte, Daß ed noch eine tiefere ungarifche Poefie 
gab, als die feinige. Eines Tages, im Jahre 1844, trat bei Börösmarty ein 
junger Menjch beicheiten mit der Bitte ein, ihm felbft gefertigte Berje vortragen 
zu dürfen. Vergeblich fuchte der alte Meifter, oft jchon beläftigt Durch Derartige 
Bejuche, dem Ungelegenen oder wenigftens dem Mißgeſchicke einer Vorleſung 
von Seiten des Autors zu entgehen ; wohl oder übel mußte er, wenn er nicht 
ven Bittfteller offenbar verlegen wollte, zuhören. Er unterwarf fich geduldig 
diefenn Verlangen, aber welche Ueberraichung wartete feiner. Schon bei den 
erften Strophen laujchte geipannt fein Ohr, fein Auge bligte, ein Freudenſtrahl 
verklärte jein Geficht und mit zitternder Stimme fprach der edle Meifter zu dem 
jungen Manne, der feine Borlefung beendete: „Mein Freund, Ihr jeid der erfte 
Dichter Ungarns.“ Diefer gefeierte und von feinem Vorgänger auf jo edle 
Weiſe gefrönte Dichter war Sandor Betöfl. 

Sandor Petöfi, der Sohn einer armen Handwerferfamilie, war zu Felegh⸗ 
Baza in Kleinfumanien am 1. Januar 1823 geboren. Sein Vater war ein 


Angarns Poeſie. 361 


Fleiſcher. Dieſer brave Mann, welcher durch verſchiedene Trauerfälle in tiefe 
Armuth gerathen war, bemühte fich, trogdem feinem Sohne eine gute Erziehung 
zu geben. Er war Proteftant, und die ungarifchen Proteftanten bilden eine 
freie chriftliche Gemeinde, in welcher armen Kindern freier Unterricht ertheilt 
wurde. Der junge Petöfi genoß feine erfte Ausbildung auf dem evangelifchen 
Gymnafium zu Aszod, dann fam er nach Szentlörincz und bald darauf In das 
Lyceum zu Schemnig. Die Schulzucht fagte dem feurigen Geifte nicht zu, der 
ihm von Jugend auf zu eigen war; eined Tages überftieg der Schüler von 
Schemnitz, überdrüffig ded Zwangs und nach Freiheit dürftend, die Mauern ſeines 
College. Wo wird er fi hinwenden? Er Hatte viel von der Stadt Pefth 
fprechen hören und von ihren herrlichen Wundern: der Hauptftadt Ungarns 
aljo lenkte der junge Ausreißer feine Schritte zu. Man glaubt ein Capitel aus 
„Wilhelm Meiſter“ zu lefen: er entwiſcht kaum 12 Jahre alt dem Lyreum und 
feinen Lehrern und fchwärmt fchon, wie Göthes Held, für das Theater mit feinen 
verlodenten Reizen. In feinen Träumen fchwebte ihm immer ein Schleier vor, 
der ſich hob und fenfte und Hinter welchem er prächtig geſchmückte Perfonen 
die reizendſten Abenteuer erleben fah. Nachdem er in Peſth angekommen und 
feine kleine Baarjchaft erfchöpft war, bot er dem Xiheaterdireftor feine Dienfte 
an. Konnte man ihm denn nicht Kinderrollen übertragen? Wenn man ihn 
nicht als Schaufpieler engayiren wollte, fo würde er ebenjo gern Diener des Me» 
giffeurs order Gehülfe des Maichiniften fein; er würde Tifche und Stühle auf 
die Bühne tragen, würde beitändig in der Couliſſe bereit ftehen, um den geringe 
ften Befehl auszuführen und Alles jorgfältig ins Auge faflend, ſich zum Schau⸗ 
fpieler audbilden. Seine Bitte wird erhört und der zufünftige Rationaldichter 
ſchwimmt im Uebermaßvon Glück. Sein Glück war jedoch nicht von langer Dauer; 
fein Vater wird von feiner Flucht benachrichtigt und ftellt Nachforjchungen an, 
welche ihn bald auf die Spur des Flüchtlingd führen. Er befleigt fein Pferd, 
eilt nad) Pefth, geht in das Theater, nimmt feinen Sohn bei den Ohren und 
führt ihn, nachdrücklich beftraft, nach dem Dorfe zurüd. 

Die Mutter weint heiße Thränen, als fle ihren Sohn jo zurüdfommen 
ſteht; er ſoll indeſſen bei diefen Tränen und Vorwürfen eine folge Ruhe be⸗ 
wahrt haben. Die treiflicdye Frau, erfreut durch dieſe natürliche Feſtigkeit bei 
einem fo jungen Knaben, fieht Darin das Anzeichen einer vielleicht ganz glüde 
lichen Zufunft. Der Vater hatte andere AUbfichten mit ihm: Sandor follte ein 
Landmann werden, wie er; er mißtrauete den Studien, welche den Kopf feines 
Kindes verdreht harten. Sein Geſchmack für Literatur, feine Leidenfchaft, Ges 
Dichte zu machen, fein Enthuſiasmus für die Kunft, welcher die Mutter mit fo 
großer Freude erfüllte, erichien dem Water nur wie ein neuer Vorwand zu nutz⸗ 
loſem Herumjchwärmen. Um den ungehorjamen Schüler zu beitrafen, behielt 
er ibn einige Sabre bei fich, endlich aber, als er bemerkte, dag bie übertrage- 
nen Arbeiten dem ganzen Wefen feines Sohnes widerſtrebten, entjchloß er fich, 
denjelben nady dem Lyceum zurüdzubringen. Petöfi hatte Verwandte in Oeden⸗ 
burg; in diefer Stadt und unter der Aufjicht feiner Vettern jollte er jeine Stu⸗ 
dien vollenden. Rach den Ferien des Jahres 1839 brach er may keinem rUrN 


362 Literatürgefchichte. 


Beſtimmungsorte auf. Auf feinem Wege bligte ihm plöglich eine Idee durch 
den Kopf: tie Liebe zur Freiheit regte ſich mächtiger in feinem Herzen, als der 
Trieb nach regelmäßigen Studien. Sollte er ſich wieder in ein Lyceum einſper⸗ 
ren laffen? er, der Tags zuvor noch die wildeften Pferde der heimijchen Steppen 
beftieg und nach allen Richtungen hin bie großartigen Haideſtrecken an der Theiß 
und Donau durchbraufte? Er zählte fat 16 Jahre, Das Leben rief ihn zur 
That, und er fühlte feinen Trieb, fich zur Vollendung feiner Studien wieberum 
einjperren zu laffen. Er kam in Oedenburg an, aber anftatt ſich nach der Woh⸗ 
nung feiner Berwandten zu wenden, welche ihn jeinen Lehrern überweijen ſoll⸗ 
ten, eilte er flugs zur Gajerne und lieg fich bei einem Huſaren⸗Regimente ans 
werben. Gr diente 2 Jahre, 2 Jahre voller Leiden und Entbehrungen jeglicher 
Art; jein Teidenjchaftlicher Charakter zog ihm mehrere Unannehmlichkeiten 
und Strafen zu, und ohne die mildernten Zröftungen der Poeſie würden ihm 
dieſe 2 Jahre zu einer Ewigfeit geworden jein. Schon damals jang er alle 
Empfindungen und Gefühle jeined Herzend aus; viele Lieber, die in jeine Werke 
aufgenommen und Gemeingut des Volkes geworten find, hat er während ber 
Lehrjahre feines Soldatenlebend gedichtet und mit Kohlen an die Wände der 
Wachtftube geichrieben. 

Pertöfi war kaum 18 Jahre alt, ald er die militärische Laufbahn aufgab. 
Später freilich, ald ganz Ungarn ſich für feine Unabhängigkeit erhob, griff auch 
er wieder zum Schwerte. Was aber trieb er bis zu diejen großen Tagen? Aus 
Geſundheitsrückſichten vom Dienfle befreit, führte er ein unruhiges, bewegtes 
Leben, ein Leben voller Freuden und Zäujchungen, welches übrigens mächtig auf 
die Entwidelung jeined Geiſtes eingewirft haben mag. Bald war er Stubent, 
bald Komödiant. Endlich verwirklichte er Lie Träume feiner Jugend, ging mit 
einer berumzichenden Truppe Schaujpieler von Etatt zu Statt und half Sha- 
fefpearejche Stuͤcke in ungarijcher Ueberfegung und Lramatijche Verjuche von 
Carl Kisfaludy mir aufführen. Nach dem Zeugniſſe feiner Collegen und dem 
Urtheife Aller, die ihn auf der Bühne geſehen, war er ein kaum mittelmäßiger 
Schaujpieler. Während des Jahres 1842 durchjchweifte er einen großen Theil 
von Ungarn, ohne tie geringiten Bortjchritte in jeiner Kunft zu machen. Zu 
gleicher Zeit ſchrieb er Gedichte und veröffentlichte diefelben in literarijchen Blaͤt⸗ 
tern; er fing an ton den Erzeugniſſen jeiner Feder zu Ichen, Schriftfteller, 
Iournaliften und Romandichter reichten ihm freundichaftlich die Hand und ſuch⸗ 
ten ihn an fich zu ziehen. Ein ziemlich bekannter Literat, Ignaz Rays, der eine 
Sammlung überjegter Romane herausgab, ging Peröfi an, ihm ten englijchen 
Roman: „Robin Hood” von James und eine franzöfijche Novelle „die Frau 
von 40 Jahren‘ von Charles Bernard zu überjegen. Er vollendete dieſe Ars 
beiten in ten erſten Monaten ded Jahres 1543, widmete ſich aber, von einem 
unwiderſtehlichen Verlangen getrieben, aufs Reue der Yühne. Er verlieh Perth 
und jeine Breunde wieder und trat auf dem Theater zu Debreczin in einer fehr 
untergeortneten Rolle im Kaufmann von Venedig auf. Wan ziichte ihn aus; 
was lag ihm daran? er war überzeugt von jeinem Berufe und hielt mit dem 
beftigften Gigenjinn daran feſt. Vergeblich weigerten ſich feine Gollegen, mit 


ı Ungarnd Poeſſe. 363 


ihm zu fpielen, Alles war unnüg. Er verfammelte einige feiner Kameraden, bie 
dem Publitum chenfowenig geflelen, wie er, und biltete mit diefen, dem Publi⸗ 
tum zum Trotz, eine Eleine Truppe wandernder Schaufpieler, welche ibm bie 
erften Rollen nicht ftreitig machten. Wenige Monate darauf kehrte er krank, 
elend und zerlumpter, als der Arnıfte Zigeuner, nach Debreczin zurück. 

Beſſere Tage brachen von jegt für ihn an. Während die Zujchauer ben 
unbebolfenen Mimen auszifchten, durchflogen die Lieder des Dichters, der fi 
einen anderen Ranıen beigelegt, Ungarn von einem Ende zum andern. Endlich 
erkannte Petöfi feine Beftimmung. Gehoben durch den fleigenten Ruhm feiner 
Lieder, trat er mit feinem Namen als Dichter hervor und zum vierten Male nach 
Peſth zurückfehrend, widmete er fich gänzlich dem Dienfte der Poeſie. Während 
diefer Zeit, im Brühlinge des Jahres 1844, wurde er durch den gefeierten 
Michel Vörösmarty zum erflen Dichter Ungarns gekrönt, und die alten Meifter 
beugten fich vor dem jugendlichen Sänger. Ein anderer Schriftfteller, ein edler 
Greis, Paul Szemere, der fich der Nationalliteratur der Ungarn gewidmet hatte, 
ehrte ihn ungemein und war einer der erften, welche den Dichter begünftigten 
und unterflügten. Der Rational Verein, eine politifche und literarifche Geſell⸗ 
ſchaft, in der geräufchlos ein freier Geift zur Wiedergeburt Ungarns waltete, 
nahm ihn auf Vörösmarty's Vorſchlag feierlich in feine Reihen auf. Diefer 
junge Mann von 21 Jahren, welcher, feinen Werth ſelbſt nicht Eennend, fich der 
Gefahr preisgab, auf gewöhnlichen Markftfchreierbühnen ausgepfiffen zu werben, 
wurte mit einem Schlage zu einem gefeierten Dichter erhoben, und ein nationa« 
ler Verein übernahm e8, feine Lieder zu veröffentlichen. 

Der erfte Band feiner Gedichte, einfach betitelt: Lieder von Petöfl Suntor, 
erfchien zu Ofen im Jahre 1844. Die Gefänge, die er enthielt, ftammten au 
den 3 vorbergehenven Jahren. Alle Empfindungen, weldye ber junge Dichter 
während jeines Wanderlebens burchfoftete, finden Hier ihren Ausdruck: feine 
Freuden⸗ und Schmerzensausbrüche, feine ſtürmiſche Jugendfraft untermiicht 
mit melancholifchen Klagen, feine Kreuz« und Querzüge durch jein Vaterland, 
feine langen Träumereien in den Tavernen, feine launigen und ernſten Bemer⸗ 
tungen, welche ihm das Treiben der Menfchen eingegeben. Sein poetijcher Geift 
fand Hier die reichfte Nahrung. Noch befang er nicht Vaterland und Freiheit. 
Woher kommt ed aber, daß diefer Mann, der doch das wiltefte und ausſchwei⸗ 
fendfte Zigeunerleben führte, diefer Abenteurer, diefer der Caferne enteilte Sol- 
Dat, diejer ausgepfiffene Schaujpieler bei den erften Dichtern feiner Nation ehren⸗ 
voll aufgenommen und zun Volksdichter erhoben wurde? Zwei Umftänte 
mögen dieſen außerordentlichen Erfolg erläutern. Ob Zigeuner oder nicht, 
Ungarn war c8, welches Santor Peröft in jeinen Liedern jchilderte, und er that 
dies in, einer einfachen und männlichen, gemütbreichen und fchwungvollen 
‚Sprache, wie ſie ungarifche Ohren noch niemals vernommen batten. Hier war 
nichts Gezwungenes, nichts Gefünfteltes, wie bei den Älteren, ihm vorangeganges 
nen Dichtern. Durch jein Gefühl geleitet, Hatte der zum Dichter Geborene die 
verlorenen Klänge der erften Poeſte, der uriprünglichen Volföpoefle wiedergefun⸗ 
den, Ob er Die Liebe, ob er Ungarns Weine mit feinen Tifchgenoffen bejang, 


864 VLDiteraturgeſchichte. 


immer hob ein edler, maͤnnlicher Zug den Gegenſtand feiner Lieder aus ter All» 
gemeinheit, der Verflachung empor. Bald iſt ed ein Anblid, der ihn traurig 
flimmt, bald iſt e8 der Dämon der Ausfchweifung, der ihn ergreift, aber niemals 
findet man in jeinen Dichtungen Spuren einer entnervenden Melancholie, nie 
mals auch jene fchranfenloje Zügellofigkeit, die den Geiſt entehrt und den Kör« 
per zerrütter. Bei der Außeriten Kebhaftigkeit bleibt er immer Mann. Er ſpricht 
von Lıbendüberdruß, von Sehnfucht nach dem Tode; jedoch ift Diejer plößliche 
Gefühldaussrucy im nächften Augenblide wieder vergeffen. In einem Eleinen 
Bedichtchen „die erfte Rolle‘, welches uns an die Epigranıme Göthe's und an die 
Heine'ſchen vierzeiligen Liederchen erinnert, jagt er in feinem 19. Jahre: 

„Ich wurde Comödiant und fpielte meine erfte Rolle; bei meinem Auftritt 
auf die Bühne hatte ich überlaut zu lachen.” 

„Sch verjuchte tüchtig zu Iachen auf der Bühne, das Schidjal, ich wußte es 
ja, bewahrte mir für die Zufunft Ihränen genug auf.‘ 

Sunt lacrymae rerum! er wußte es vom erften Tage an, aber er wußte 
auch, Daß das Leben Freuden und Pflichten hat, daß das Vaterland theuer und Me 
Freiheit heilig ift. Wie er auch voller Xeidenfchaftlichfeit bald die audgelaffenfte 
Fröhlichfeit befingt und bald in Schmerzendflagen über den Verluſt jeiner erſten 
Liebe ausbricht, jo wird ein Tag erfcheinen, und dieſer Tag ift nicht fern, in 
welchem er noch febhafter die reinten Gefühle verberrlichen wird: das Glück 
des häuslichen Herdes, Die Süßigkeit der Flitterwochen und die väterlichen 
Freuden an der Wiege feined Knaben. Raſch folgten mehrere Gedichtſammlun⸗ 
gen; bie zündenden Lieder des erfien Bandes gewähren aber ein ganz befonbere& 
Intereſſe. Er fingt in feiner tollen Luftigfeit: 

„Es vegnet, regnet, regnet Küffe! Doch mitten in biefem Megen, welche 
Strahlen! Das find Deine Augen, Vielgelichte, welche fo hell funfeln! 
Regen, Strahlen, das ift nicht Allee! Da brauft der Sturm, da rollt der 
Donner. Adieu, idy muß mich retten, meine Taube, ich höre die Stimme 
Deines Vaters.’ 

Ein andermal fpricht er zu feinem Pferbe: 

„Auf lag dich fatteln zu rafchem Lauf; Heut Abend noch muß ich bei meiner 
Selichten fein. Ich habe den Fuß im Steigbügel und fchon ift meine Seele 
weit voraus. Sieh den Vogel über unjeren Köpfen, er kommt, ift vorüber! 

- Wie weit ift er ſchon weg! Sieh, er läßt fich nieder; er hat fein Weibchen 
gefunden. Eile, mein Roß, eile, er liebt feine Geliebte nicht feuriger 
als ich.” 

Wenn auch jein Pferd nicht fliegen Fonnte, ich fürchte nicht, daß PBetöfl zu fpät 
angekommen fein wird, denn ich leje an derfelben Stelle gleich: 

„In dem Dorf, die Straßen lang, grüßt mich Geige und Geſang. Voll mein 
Bläfchchen in der Hand tanz’ ich toll bein Muſikant! Spielmann, jest eine- 
traurige Arie, damit ich alle meine Thränen ausweine; find wir aber unter 
jenem Eleinen Fenſter, jo ſtimm' cin Sreudenlied an. Denn dort wohnt der 
Stern meines Lebens, der auch fern meinen Augen leuchtet. Sie will fich 
ver mir verborgen halten und fich den Anderen allein zeigen. Spielmann, 


bier iſt das Fenſter, fpiele jegt dein fröhlichfted Lied, damit die Treuloſe 
nicht erfährt, was ich um fie leide. 

Solche düftere und Ichmerzliche Gefühldausbrüche füllen einen großen 
Theil der Sammlung von 1944. — Klar war c8 indeffen, daß fich der Dichter 
nicht aufreiben ließ. Man fah an dem Feuer jeiner Lieder, an dem Klange ſei⸗ 
ner Sprache, daß feine Seele non anderen Gedanken noch bewegt wurde. Ein 
vornehmer Herr tadelte kürzlich Die Dichter der finnlichen Liebe, wie ehemals 
Jacques de Thou und Regnier de La Blanche die Dichter der Diana von Poitiers 
verdammten und denfelben einen verberblichen Einfluß zur Laft legten. Einen 
ſolchen Vorwurf kann man Petöfi nicht aufbürden. In jeinen Gedichten finden 
wir nichts Verletzendes, nichts. den Geiſt Darnicderdrüdendes, ja felbft in den 
größten Ausjchweifungen finden wir den ungarijchen Dichter wieder. Mitten 
in feinen Schwächen bewahrt er fich ſtets den Lebensgeiſt, die echte reine Kraft, 
wenn fie fih auch nur in einem Gedanken, in einem Bilde, in einem ploͤtz⸗ 
lihen Aufſchwunge Dichterifcher Begeifterung offenbart. Ein ſolcher Menſch 
kann wohl zartfühlendere Seelen einmal verlegen, nie aber wird er einen demo⸗ 
ralifirenden Einfluß auf fie ausüben, Betrachten wir ihn nur einmal bei 
feinen nächtlichen Orgien in den Schenken; in demſelben Uugenblide, wo ber 
Geiſt dem Fleifche unterliegt, fpricht er noch Fräftige, männliche Worte: „Welche 
Racht, ruft er, auf diefer Tafel, um welche wir figen, wird eine zweite Schlacht 
von Mohacd geichlagen: Der Wein vertritt die Türfen, id) und meine Kamera- 
den find die Ungarn. Wahrbaftig, wir werden und wader halten, vorzüglich 
in dem Augenblide, wo der König — ich meine die Vernunft — durch den 
Feind beherrſcht wird. Ach! wie wollen wir trinfen in langen Zügen! Will 
das Geſchick und noch eben fo lange beſchützen als unfere Tangen vollen Gläfer, 
fo werden wir noch glüdliche Zeiten über das arme Ungarland herauffonmen 
ſehen.“ Diefe Erinnerung, dieje Theilnahme für Dad Varerland, dieſes Mitges 
fühl für feine unglüdliche Lage, auch wenn ſchon der Raufch feine Sinne um« 
nebelt, ift das charakteriftifche Zeichen aller feiner Gedichte. Sicherlich würden 
dieſe Lieber nicht von dem erften Augenblide an einen Widerhall in der geſamm⸗ 
ten magharifchen Nation gefunden haben, wenn nichts weiter ald Liebe und 
Mein darin gefeiert wäre, Hinter dem verliebten Studenten und dem weinlau⸗ 
nigen Schaufpieler war der Ungar verborgen, der fich felbft noch nicht erfannte, 
Seine Landsleute fanden ihn jedoch in dem erften feiner Xieder. Sein Geift, feine 
Leidenſchaft, fein friegeriicher Muth, die Gewandtheit dieſes herumziehenden Saͤn⸗ 
gers, ſtets bereit das Pferd zu beſteigen und im Galopp davon zu ſprengen, da& 
hatte fie ſympathiſch beruͤhrt bei dieſem vagabondirenden Dichter. Als er ſeine 
Erſtlingsprodukte veröffentlichte, konnte er ſchon ausſprechen, was er ſpaͤter 
unter dem Beifallsrauſchen ſeines Vaterlandes ſagte: 

„Mein Pegaſus iſt kein engliſches Pferd, mir langen Beinen und 
ſchmaler Bruſt, es iſt auch kein deutſches Thier, dick, unförmlich, mit 
breitem Ruͤcken, unbeholfen, eine Urt Vär mit ſchwerem Gange. 

Mein Pegaſus iſt ein ungariſches Füllen, ein muthiges Füllen rei⸗ 
ner ungariſcher Race, ſorgfältig geſtriegelt, ſo ſchön, Daß Lie Sonne 


366 Literaturgefchichte, 


ſelbſt ihre Strahlen auf feinem leichten ſeidenen Kelle gern wieder⸗ 
fpiegeln laͤßt. 

Es ift nicht im Stalle aufgewachien, es iſt nicht fchulmäßig zuge 
ritten worden; e& ift geboren unter freien Himmel; auf bürrer Haide 
und wild habe ich e8 in Klein⸗Kumanien eingefangen. 

Ich habe ihm keinen Sattel aufgelegt, ein Weidengeflechte genügt 
mir, um mich auf dem Hoffe zu halten; fobald ich darauf bin, wie 
greift e8 da aus und fliegt; es ift dem Sonnenftrahl verwandt mein 
Roß mit feinem fahlen Schimmer. 

Bor allem trägt es mich gern in die Puszta; die freie Steppe ift 
feine Heimath; wenn ich es dahin Ienfe, fo macht es Freudenſpruͤnge, 
flampft die Erde mit den Hufen und wichert luſtig auf. 

In den Dörfern halte ich wor jo manchem Haufe, wo junge Mäds 

- hen gleich einem Bienenfchwarm fiten; ich fordere von der fchönften 
eine Blume und fliege Hinweg wie der Wind. 

So rafch wie der Wind trägt mich mein Renner fort, ein einziges 
Wort genügt und er führt mich aus dieſer Welt. Der Schaum trieft 
von ihm nieder, fein ganzer Körper dampft; doch zeugt Died nicht vom 
Trägheit oder Entmuthigung, dies ift das Feuer feiner jungen Kraft. 

Niemals noch fühlte fi mein Pegafus ermübet, und wenn ihn dies 
einft begegnet, ſo werde ich nicht zufrieden feiri, denn der Weg, den 
ich hienieden noch zu burchwandern habe, iſt weil; fle find med 
tief da unten Die Quellen meiner Wuͤnſche.“ 

Auf, auf, mein feuriger Renner, mein füge Roß! Leber Felſen 

- weg und Abgründe. Und wenn ein Gegner dir den Weg verfperrt, 
feß’ über ihn hinweg, und immer nur vorwiärte. 
Nach Heraußgabe dieſer erſten Sammlung entwidelte er eine unerfchöpfliche 


Productivität. Während der Jahre 1845 und 46 entflrömten feinen melobien- _ 


reichen Lippen unzählige Lieber und Gefänge. Bald find es Erzählungen, theils 
fomifche, theils poetifche kleine Heldengedichte, welche entweder aus der Gefchichte 
der ungarifchen Neuzeit, oder den früheren Ueberlieferungen entlehnt find: 
der Dorfhammer, ein magifcher Traum, Salgo, die Berwünfchung der Xiebe, 
Szilai Piſta, Maria Szechi, und vor allen der Held Janos, ein Meifterwert 
von Grazie, Leidenfchaft, heroifcher Träumerei und zarter Schilderung. Ein 
junger Landmann, der zarte und verliebte Janos, hütet die Heerden feineß ‚Herrn 
auf den Abhängen der Berge; nicht weit von ihm wäfcht die blonde Iluska, am 
Ufer eines Baches Eniend, ihr Leinenzeug in dem vorüberfließenden Wafler. 
Janos und Ilusfa find an dieſer Stelle mehr ald einmal zufammen gefommen, 
und das Vergnügen , welches Sanos beim Anfchauen von Iluska's blonden 
Haarflechten fand, erweckte in Iſuska das Verlangen, Janos lieblicher Stimme 
zuzubören. Was wurde aber bei dieſem verlichten Geplauder aus der Arbeit? 
Die Pächterin ift eine äußerft firenge Frau; das junge Mädchen wird bald ihre 
Strafe für die verfäumte Arbeit und Die verlorene Zeit erhalten. Noch fchlime 
mer fteht es mit Janos; der Wolf hat feine Schafe gefrefien, und fein Her 


Ungarns Poeſie. 367 


Hat ihn fortgefagt. Die Racht ift hereingebrochen, Janos kehrt in das Dorf 
zurüd, er tritt Teife unter da6 Fenſter Iluska's, er nimmt feine Floͤte und bläft 
die traurigfte Weife, eine Melodie, fo Flagend, fo ergreifend, daß die Sterne 
dazu weinen. Alle die Tropfen, welche auf den Blumen und Sträuchern gläns 
zend bangen, find Fein Ihau, fie find, jagt ber Dichter, Thränen ber Sterne. 
Iluska ſchlummert ſchon, die Flagenden Flötentöne aber find ihr zu wohl be= 
kannt; fle erhebt fih und erblidt unterm Fenſter Das blaſſe Geſicht ihres Ge⸗ 
Tiebten. Was ift dir begegnet, mein Janos? Warum ift dein Antlig fo blaß? 
Janos erzählt ihr fein Leid und fügt Hinzu: „Wir müflen uns trennen, 
Iluska, ich muß fort in die weite Welt. Verheirathe dich nicht, meine füße 
Iluska, bleibe mir treu; ich werde zurüdfehren mit Schäten beladen.” Wenn 
ed tenn fein muß, klagt das Mädchen, jo wollen wir uns trennen. Geleite 
dich Bott, mein Freund, denke an mich, wie ich ſtets Deiner gedenken werde.“ 
Er geht, die Augen voller Thränen und tief betrübt; er gebt, ohne zu 
wiffen wohin, er wandert die ganze Nacht hindurch und fühlt, daß ihm 
fein Mantel fo fchwer auf den Schultern liegt. Er zweifelt indeſſen nicht, 
daß es fein Herz ift, fein von Kummer zerriffenes Herz, das ihn fo Hefe 
tig drückt. 
„Als der Mond verichwindet und die Sonn’ am Himmel empor- 
fteigt, bemerkt Janos die Puszta ringe wie ein Meer um fich, und als 
fie im Weften nieberfinft, : hat er nur weite, endloſe Steppen vor 
ſeinen Augen. 

Keine Pflanze, keinen Baum, keinen Strauch erblickt ſein Auge. 
Auf dem Raſen, auf den Blumen erglänzen Thautropfen. Zur linken 
beleuchtet die erwachende Sonne einen See mit röthlichem Schimmer, 
der mit grünen Blumen, wie mit Smaragden eingefaßt if. 

Am Ufer ded Sees, mitten unter den grünenden Blumen, gebt 
jeine Rahrung fuchend und fein. Mahl abHaltend, ein Neiher auf und 
nieder, während andere Bögel über dem Wafler binfliegen und deſſen 
Oberfläche im Fluge ftreifen; man fteht fle mit ihren mächtigen Fit⸗ 
tichen bald hoch in die Luft auffleigen, bald auf die Wellen wieder 
berabfchießen. 

Janos fegt ohne Unterbrechung feinen Weg fort, nur begleitet 
von feinem fchwarzen Schatten und feinen düfteren Gedanken; bie 
Sonne warf ihre leuchtenden Strahlen über die Puszta, aber Racht, 
tiefe Nacht war e8 in Janos Herzen. 

Die Verberrlichung der ungarifchen Natur, bei welcher er die glühendſten 
Lieder den Steppen feines Landes, den Haldeftreden an der Theiß und Donau 
widmet, tritt fchon in tiefem Gemälde hervor. Peröfl’d Heimath iſt die Wüfte, 
diefe gewaltige und poetifche Einfamkeit, welche er fo oft mit feinem Roſſe durch⸗ 
fauft; aber hier ift e8 nicht das Ingariiche Land, fondern die ungarifche Anſchau⸗ 
ungsweiſe und Einbildungsfraft, welcher der Dichter in feinem Janos 
huldigt. Diefe einfache Dorfgeihichte, die Flucht eines jungen Bauern, feine 
Wanderung durch bie weiten Deben feines Vaterlandes, ift nur bie Ginleitung 


368° Literaturgefchichte: 


zu dem Gedichte. Nach dieſem Hirtengedichte beginnt dad eigentliche Epos; 
nach diefen ländlichen Scenen beginnen die Abenteuer bed Kriegd und des ma⸗ 
ghariſchen Ritterthums. Janos begegnet Soldaten, er tritt unter ihre. Bahnen. 
Ein Magyar ift ein geborener Weiter, ber junge Hirt ſteht bald im erfien 
Sliede unter Mathias Corvins Hufaren. Die ungarijche Armee, in welche unjer- 
Geld eingetreten ift, befindet ſich auf einer wichtigen Erpebition, fie zieht dem 
von den Türken bedrohten Sranfenkönige zu Hülfe. Wie freut ſich Janos feiner 
Priegeriichen Kleidung, feines bligenden Schwerted. Der Marſch ift beſchwer⸗ 
lich und von langer Dauer, fie durchziehen die Tartarei, das Land der Sara⸗ 
cenen, Italien, Polen und das indifche Meich; vom indifchen Meiche Tann 
Frankreich nicht weit entfernt fein. — Herrliche Dinge fchafft fih die Phan⸗ 
tafle der Ungarn, verwirrte Begriffe mijchen fich in ihre Eriegerifchen Gedanken 
und wie fremd ift ihnen. die Kenntniß der Geographie. — „Was iſt die Welt, 
fagt Kertbeny, was ift die weite Welt für den Bauer unferer Steppen! Außer⸗ 
Halb der Grenzen feiner Puszta beginnt für ihn das Unbekannte, das wenige, 
das er weiß, erfährt er von einem alten aus Stalien oder Deftreich Eommenden 
Invaliden oder von einem jüdifchen Haufirer und mit dieſen Mittbeilungen 
vermifcht er Die alten Ueberlieferungen von den Türfen und Tartaren, welche 
man des Abends ‚noch in ber Dorfichenke erzaͤhlt.“ 

Der Dichter ftellt fih auf den Standpunkt des Bauern, er zeichnet die 
Welt, wie fle den natürlichen Vorftellungen derſelben entfpricht, und warum 
führt er denn die Magyaren durch Die Tartarei und Indien nach Frankreich? 
Findet man hier nicht eine Borftellung des 15. Jahrhunderts wieder? Johann 
Hunyades und Mathias Corvin's Truppen haben Europa vor dem Einfalle 
der Zürfen bewahrt und Frankreich war nach den Vorftellungen der Ungarn 
früherer Zeiten, wie der Bauern in ber Puszta, ganz allein Europa — das 
Frankreich, welches den Magyaren das glorreiche Herrichergeichlecht der Her⸗ 
zöge von Anjou gegeben, und Frankreich wurde von der Raubgier der Türken 
durch ungariſche Hülfe gerettet. 

Einem Erläuterer dieſes Gedichtes wird es nicht ſchwer fallen, in dem 
zweiten Theile des Helden Janos gleichſam ein Sinnbild der Geſchicke Ungarns 
zu entdecken. Den Magyaren gebührt nach der Sage des Dichters der Ruhm, 
Frankreich oder Europa befreit zu haben. Gerade wie fie anfommen, verwüftes 
ten die Türken biefed wundervolle Land: die Kirchen waren geplündert, Städte 
und Dörfer zerflört, und die ganze Ernte in Die Hände der Barbaren gerathen. 
Der König, vertrieben aus feinem Palafte, irrte im Elend unter den Trümmern 
feiner Städte umber, nachdem die Plünderer jeine Tochter mit weggeführt hate 
ten. — „Bein Kind, mein theures Kind, rief der Unglüdliche feinen Befreiern 
zu, wer ed mir wicterbringt, erhält ed zur Frau.” — Sie wird mein fein, fagte 
ſtill für ſich jeder ungarijche Ritter, ich werde fle wiederfinden oder untergehen. 
Janos allein blieb unempfindlich bei dieſem Verfprechen, in allen feinen Träu⸗ 
men jchwebten ihm nur tie Dächer feines Dorfes und Iluska's blonde Haare 
vor. Inzwiſchen tödtet er doch den türfiichen Paſcha und befreit die Tochter 
des Königs; es hindert ihn nichts, Frankreichs Beherrſcher zu werden, aber er 


Ungarnd Poeſie. 369 


widerſteht Eräftig; JIluska hat ja verfprochen, auf ihn zu warten; mit Schäßen 
beladen kehrt er zurüd und ſchifft fich nach feinem Baterlande ein. Janos iſt 
aber noch nicht am Ende feiner Abenteuer ; ein heftiger Sturm bricht los, das 
Schiff fcheitert, Das Meer verfchlingt feine Schäge. Was Liegt ihın daran, wenn 
er nur jeine Iluska wiederfieht? Uber ach, ach, als er anfommt, findet er die 
arme Iluska verfchieden. O warum, ruft der Held verzweifelnd aus, warum bin 
ich nicht unter den SAbeln der Türken geblieben? warum bin ich nicht von ben 
Wellen verjchlungen worden?” Hier nun bricht die geheime Intention Petöfi's 
aus jeinen dichterijchen Phantaflen heraus, in welchen er biöher gefungen. Den 
Schatz, welchen fid) die Magyaren im 15. Jahrhundert durch die Kämpfe für 
das Wohl der Chriſtenheit errungen, war ihre jelbitftändige Exiſtenz im euro» 
paͤiſchen Völkerverbande. Ungarn unter den Hunyaden war eben jo mächtig 
wie berühmt, Defterreich Hatte vor ihm gezittert. Diefer Eoftbare Schag, der 
jeine Zufunft ficherte, wurde ihm plöglich wieder entriffen. Den Türken unter- 
worfen im Jahre 1526, Änderten fie von da nur ihre Herren. Was blieb ihnen 
nun ald dad Reich ter Träume, oder vielmehr der Hoffnung und der Ge 
danfen? Sp auch faßt Petöfi das Schickjal feined Helden auf; um fich derer 
würdig zu machen, bie er licht, um für fich Selbftftändigfeit zu erringen, durchzieht 
der junge Magvar zu Roß und dad Schwert in der Hand bie weite Welt; damit 
er fie nach jeinem Tode wiederfinden Eann, öffnet ihm der Dichter, ich weiß nicht, 
welchen Himmel, in welchem er Erhörung finden fol. — Wir fragen hier nicht 
danach, wo die Tartaren oder Indier wohnen, wir hören nur die poetifchen Er⸗ 
fheinungen der Puszta, Zauberer, Been, wohlthätige Genien, die zum Wohle 
der Magyaren ſtets bereit find. Wir bemerken nur tie bligenden Wogen des Mee⸗ 
res Operengzer, deſſen Bedeutung in den ungarijchen Sagen fo wichtig ift, und 
den leuchtenden Ocean, der an der Grenze des Weltalld liegt und in die Ewige 
keit führt. Janos wird von einem jchügenden Engel durch Die geheiligten Ylu- 
then getragen und gelangt in das Feenreich der Liebe, wo er Jlusfa wicderfindet. 
Kann auch Ungarn einft den Schag wicderfinten, den es verloren? 

In den einfachen Scenen des Dorflebend bid zu dem orientalifchen Glanze 
einer übernatürlichen Welt umfaßt der Held Janos alle Sagen und alle Erinnes 
rungen aus der Vergangenheit des ungarifchen Volks. — Aber forgfältig Hütet 
fich der Dichter, den Vergleich, den ich andeutete, offen auszuſprechen; jein epifches 
Gericht joll Allen zugänglich, Allen verſtändlich fein. Es ijt ein Gericht für 
den Bauer, für den Edelmann, mit einem Gemifch von Begeifterung und lautem 
Zubel geichrieben. Petöfi's Werk ſoll durch unzählige Sänger an der Donau, 
in den Garpathen im Volke gefungen jein und leicht ift Died zu glauben: denn 
der eigentliche Held ift das Ungarland ſelbſt, Janos repräfentirt nur der Reihe 
nach Lie verjchiedenen Klaffen, die von dem Hauche der Poeſie angeweht find. 
Und von welcher Poeſie! Cine freie Korm, eine feurige Phantafie, eine Fräftige 
fangvolle Sprache, wie Eurz, wie binreigend, wie flürmifch, wie der Huſar in 
feiner Heimath. 

Zu derfelben Zeit, als Petöfi feinen Held Janos dichtete, war er in Peſth 
mehreremald einem edlen jungen Mädchen begegnet, deren Anmuth ihn entzüdt 

V. 24 


370 Literaturgefchichte. 


hatte; einige Tage darauf flarb fie plößlich, nody nicht 15 Jahre alt, und der 
Dichter, der die Familie Eannte, der das Mädchen auf dem Sterbebette gefehen, 
fühlte plöglich tief in feinem Inneren, daß er die Verfchiedene liebte. War dies 
nur ein eigenthünlicher Vorwand, um dieſe Liebe zu verherrlichen? War es 
nur ein poetiicher Stoff, nach dem er juchte? Alle feine Bekannten bezeugen 
einftimmig die Innigkeit und Heftigfeit feiner Empfindungen. Die „Cypreſſen⸗ 
Blätter‘ betitelten Lieder, welche er diefer idealen Leidenichaft gewidmet, drücken 
einen eben fo innigen, tiefgefühlten, wie wüthenden Schmerz aus. Auf bie 
Liebeleien des herumziehenden Studenten folgten reinere, edlere Triebe. Diefer 
lieblichen Etelka, die jo raſch dem finftern Grabesſchooße verfallen war, wids 
mete er einige Petrarca's würdige Lieder, Hier tritt das erfle Zeichen einer 
moralifchen Umwandlung, welche fidy von nun an mehr und mehr Bahn bricht, 
bei Petöfi hervor und verleiht diejer fo oft zerrütteten Natur ein ganz bes 
ſonderes Intereſſe. Die Liebe wandte biefem ungebändigten, flürmijchen 
Charakter die edelften Leidenfchaften zu, welche je in der Bruft eines 
Mannes Schlagen Eönnen, Enthuflasmus für die Kunft, Aufopferung für 
Freiheit und Vaterland, Einige Monate fpäter, al8 er bie finnige Etelka 
zu befingen aufgehört, verliebte er ſich noch einmal, aber nicht in eine Todte, 
fondern in eine junge Frau mit blauen Augen. „Wenn ich von Neuem Liebe, 
rief er aus, fo habe ich immer Die todte Sungfrau noch nicht bergeffen. Es llegt 
noch Schnee auf dem Gipfel, wenn die Frühlingsblumen am Fuße des Berges 
hervorſprießen.“ Und warum fcheute er fich, den Namen Etelfa zu nennen, die 
er Faum vorher fo tief betrauert hatte? Er liebte jept eine Beatrice, welche fein 
Herz noch mehr läuterte und dem Fluge feiner Gedanken eine edlere Richtung 
verlich. „Der hat niemals geliebt, fagt er, der glaubt, die Kiebe fei eine Scla⸗ 
verei, eine fchmähliche Gefangenfchaft. Die Liebe verleiht Flügel, Teiht Kraft 
und Muth, auf den Flügeln der Liebe ſchwinge ich mich hinaus über diefe Welt 
in die Gärten der Engel.” Er vergaß darüber aber doch die Erde nicht und 
die Pflichten, die er als Mann zu erfüllen hatte. Deutſche Melancholie war 
feine Sache nit. Man höre nur, welcher gefunde und Fräftige Sumor neben 
feiner fügen Leidenfchaft hervorſprudelt: 

„Hinweg, hinweg aus meinem Kopfe, Sorge, du fehwerer, ſchwarzer 
Helm, der mich drüdt und verwundet. Komm Froͤhlichkeit, Leichter und glän« 
zender Tſchako, auf dem der Federbuſch in luſtiger Weiſe flattert. 

Weiche von mir, Sorge, drückende Laſt auf dem Herzen deines Herrn. 
Komm, Fröoͤhlichkeit, Tieblicher Blumenftrauß, der fo ſchön an meiner Bruſt 
glänzt. 

Weiche von mir, Sorge, eiferne Folterbant, welche das Herz mit den Leiden 

‚eines Märtyrers quält; komm, Kröhlichkeit, du Schwanenfederfiffen, auf bem 
das Herz fo fanft den Himmel ſich erträumt. 

Komm Fröhlichkeit, Tiebliche Freundin, wir wollen einen Feſttag Heute feiern, 
einen Tag der Luft, wie wir einen ähnlichen noch niemals gefeiert haben. 

Komm zu mir, Fröhlichkeit, ıc. ac. 

und er fchließt: 


Ungarns Poefie. 37f 


Schande dem Soldaten, der muthlo8 in ben Kampf zieht und befien Herz 
ängftlich Elopft. Auf, auf, in die Schlacht, wir ftellen uns fröhlich und er⸗ 
geben; es handelt ſich um Tod oder Leben.‘ 

Die „Liebedperlen‘‘ genannte Sammlung, welcher vorftehende Strophen ent= 
lehnt find, gehören, wie die Gyprejienblätter und der Held Janos, dem Sabre 
1845 an. Aus derfelben Periode ſtammen einige der origineliften Gedichte Pe= 
töfi's, feine portijchen und jo wahren Gemälde der mächtigen ungarifchen Step- 
pen. Es gibt zwiichen der Donau und Theiß unabfehbare Haideſtrecken, un⸗ 
geheure Einöden ohne Abwechjelung des Terraind. Kein Wald, keine Baum⸗ 
gruppe unterbricht die Einförmigfeit diejer Ieblofen Wüfte. Hier und da zus 
weilen Moräfte und Teiche und an dem Ufer diefer flehenden Gewäfler einige 
Baflerpflanzen, Rohr und Linfen. Die Hauptvegetation biejer Steppen ift ein 
furzer Rajenwuch® mit Haideblumen, die an vielen Orten dicht in einander ver- 
ſchlungen find und zur Rahrung für Die ungeheuren Schafheerden umd für Die 
Schwärme wilder Pferde dienen. Von Zeit zu Zeit erhebt jich ein elendes Ges 
mäuer, in welchem ter Wanderer eine NRachtherberge findet. Dieſe Steppen- 
ſchenken, Cſardas benannt, find vorzüglich von Schäfern und Pferdewächtern 
befurht, aber in den freien Räumen findet man ganze Tage lang keine menſch⸗ 
lihe Spur. Der Reiher am Ufer des Teiches, der Storch, über den Sümpfen 
ſchwebend und jeinen langen Schnabel in das Waller tauchend, um Nahrung zu 
ſuchen, fcheinen Die einzigen Bewohner diefer wüften Streden zu fein. Das if 
ein Bild der Angariichen Puszta. in claffifcher Landſchaftsmaler wendet feine 
Blicke von diejer Puszta ftolz weg, ein dichterifches Gemüith aber findet hier köſt⸗ 
lihe Schäge, und gerade bier zeigt ſich Petöfi's Originalität auf das glängenbfte. 
Ter Berfafier des Helden Janos ift der Dichter der Puszta, wie Lermontoff ber 
Dichter des Gaufafus if. Klein» Kumanien, fein Geburtäland, fchließt einen 
heil diefer Haideflächen in fih. Don Kindheit auf liebte e8 der Knabe des 
armen Fleiſchers von Felegyhaza, in den Steppen umberzufchweifen, fpäter 
durchjaufte er fie zu Pferde nach allen Richtungen hin. Niemals habe ich dem 
Ausdrud der tiefften Einöden, der Blide in unermeflene Ferne in lebendigerer 
und treuerer Weile poetifche Formen geben ſehen. Petöfi fuchte, davon bin 
ich überzeugt, in der lautloſen Stille der Puszta nicht nach dem, was Obermann 
in die Alpenichlünde führte Es ift nicht Träumerei, nicht Weltfchmerz, der ihn 
treibt; Diefe unermeplichen Sernflchten, dieſes ewig gleiche Schweigen find für 
ihn der Tempel der Freiheit. Er fucht in dieſer Wüfte weder Leben noch 
Menjchen zu fliehen oder zu vergeflen, wohl aber das wohlthuende Gefühl der 
Unabhängigfeit und der frifchen That. Wo würde er für die Freiheit jeiner Be⸗ 
wegungen, den Vorläufer einer höheren Breiheit, ein beſſeres Terrain gefunden 
haben, als in jeinen theuren Haideflächen? Bei jedem Schritte bietet der Berg 
euch Hinderniffe. Wenn ihr euch aber an dad Ueberwinden der Hinderniffe gewöhnt, 
zeigt er Euch doch immer noch das Gefühl Eurer Ohnmacht. Der Zeljen, der 
meine Blicke befchränkt, die Schlucht, die meinen Schritt hemmt, alles dies find 
Zeichen, welche mich an das Elend des menfchlichen Lebens erinnern, dem ich 
fo gern entrinnen will: das find die Bilder ber Tyrannei. Gier Dagegen fee 
9a 


372 Literaturgeſchichte. 


ich mein Pferd in Galopp, ich kann rechts, links, rück⸗ und vorwaͤrts, ich Tann 
immer, immer wie ich will, ich bin frei wie der Zug der Luft. Und dieſe Ein- 
öde, welche mich die Freiheit Ichrt, mit welcher Anmuth gibt fie mir Unterricht. 
In diefen unendlichen Fulturlofen Prärien welche verjchiedenartigen Schau⸗ 
fpiele! Welche melodifchen Klänge in dieſem tiefen Schweigen! Die Sümpfe, 
die Teiche, das Farbenfpiel der verfchiedenen Kräuter, Die fernen Steppenftreis 
fen, die fi mit dem Blau\des Himmels vermifchen, die verfallenen Haideſchen⸗ 
Een, daß laute Wiehern wilder Pferde, eine Caravane Zigeuner, welche vorübers 
zieht, ein Bettler, der von Cſarda zu Cſarda zieht, die Duftenden Kräuter, die 
mich zur Ruhe einladen, der ernfte Reiher, auf einem Beine ftehend, die Storch⸗ 
familie, die Wafferrögel, welche im Fluge mit ihren Bittichen die Oberfläche des 
See's ftreifen, da8 Summen von Millionen Inſekten unter dem dichten Grafe, 
das ift meine Luft, das fühle ich, das höre ich im Schooße meiner heimathlichen 
Steppen, und dieſe Töne, dieſes Murmeln, alle dieje Bilder, welche dem theils 
nahmlofen Reiſenden verloren gehen, bilden für mich eine reizvolle Sarmonte. 
Ich verfuche in Profa die Gefühle wiederzugeben, welche Petöfl in vie 
len 2iedern mit einer fo unnachahmlichen Kunft und Natur audgefungen. Er 
bat die Puszta zu allen Jahreszeiten, zu jeder Tagesftunde beobachtet, Feiner ihrer 
Reize ift ihm entgangen. Er hat ihre Schönheit in realer und idealer Weife 
aufgefaßt und verherrlicht. Die Tiefflächen Ungarns bieten zuweilen wunder 
bare Luftjpiegelungen, und die Steppenbewohner vermuthen darin das Walten 
einer überirdiichen Macht, welche fie mit dem Namen „Delibab“ btzeichnen, eine 
Art Fatamorgana, welche ihre Beſchwörungsformeln zwifchen Simmel und Erde 
vollzicht; die wilde Phyflognonie der Puszta, welche in den Gemälden Petoͤfi's 
fo trefflich fich wiederfpiegelt, feheint auch bei Ihm Durch eine mächtige Zauberin 
gebildet zu fein. Diefe Magierin ift nur die Vegeifterung des Dichters für bie 
Freiheit. Ob er die langen Ebenen Klein«Kumaniens beſingt, ob er die Puszta 
ſchildert, eingehüllt in dichte Schneedecken oder im Schmude des Frühlings, oder 
ob er an einer in Trümmern gefallenen Gjarda der Steppe vorübereilt, immer 
behandelt er feine Stoffe rein poetifch, immer ift die Schwärmerei für die freien 
Einsden der Erguß feiner Seele. „O Carpathen, mächtige Verge, was find für 
mich Eure romantifchen Schrecken und Eure TZannenmwälder; ich bevundere Euch 
wohl, aber ich liche Euch nicht. Weder die Gipfel der Berge, noch Eure Thäler 
fönnen mir gefallen oder mich begeiftern. Da unten in der unermeßlichen 
Steppe, in den Flächen, die dem Spiegel der Meeres gleichen, da fühle ich mid 
wohl, da athmet meine Seele auf wie der Adler, der feinem Käfige entflohen ift. 
Angezogen von der Porfle der Steppen, Tehrt er fletd unter die Menfchen 
zurüd mit einem Schage von frifchen, faftigen Gedanken und Eräftigen Worten. 
Sobald er fih in der Cſarda niederlißt am traulichen Herde, unter den Schäs 
fern, den Pferdewächtern und den Bettfern, da lauſcht er ihren Abenteuern und 
Erzählungen und macht fle in feinen Liedern zum Eigenthum des Volkes. 
Wenn er in da8 Dorf zurüdfonmt, findet er einen alten Baftfreund, der ihn feit 
langer Zeit fchon Eennt, der ihn jedesmal aufnimmt, wenn er zuruͤckkehrt, einen 
würdigen Mann, hart geprüft durch ein widriges Schieffal; er bemüht ſich, ihn 


Ungarnd Poeſie. 373 


zu tröften und Ausficht auf freudigere Tage zu verheißen. „Ja, ja, erwidert der 
Alte, einft wird e8 mir befier gehen, fchon ftehen meine Füße am Rande des 
Grabes“, — da werfe ich mich ihm an die Bruft, fagt der Dichter, meine Ihrä- 
nen fließen unaufhaltfam, denn diefer Greis ift mein Vater! O fegne ihn Gott 
taufentfältig.‘ Ein anderes Mal gelangt er, als er die Puszta verläßt, an bie 
Ufer der Theiß, er ift entzüdft über die freundlichen Dörfer, über die Eultivirten 
Fluren und befingt diefelben ebenfo, wie er die wilde Schönheit der Steppe ge= 
ſchildert. Hier kann die Seele, geftärft Turch den Eindrud der Einſamkeit, mit 
feurigem Klange eine Freiheitshymne anftimmen! — Einn für die Ratur, Liebe 
zur Freiheit, Erinnerung an die Kinderzeit, Enthufladmus der Jugend, echt 
menfchliches freies Mitgefühl, alle diefe Empfintungen find_mit ſtaunenswer⸗ 
ther Kunft in den dem traulichen Vogel der Puszta gewidmeten Strophen 
vereinigt. 


Der Storch, 


„Es gibt fehr viele Vögel, dem Einen gefällt diefer, dem Anderen jener, 

- den einen liebt man wegen ſeines Gefanges, den anderen wegen feines reichen 

und bunten Federſchmucks; der Vogel, den ich mir erwählt, Fann nicht fingen, 
er trägt fich einfach, wie ich, halb ſchwarz, halb weiß gekleidet. 

Bon allen Thieren ift der Storch mein Liebling, der Storh, der Sohn 
meines Landes, Der treue Bewohner meiner jchönen heimiichen Steppen. O 
wie liebe ich ihn fo fehr, vielleicht fchon, weil er mit mir aufgewachfen tft. 
ALS ich noch in der Wiege weinte, flog er ſchon über meinem Kopfe hinweg. 

Mit ihn verfloß meine Kindheit: Frühzeitig fchon gab er mir Stoff zu 
ernftem Nachdenken. Des Abends, wern meine Kameraden ihre Kühe nach 
dem Stalle zurüdtrieben, faß ich im Hofe und betrachtete die Storchnefter auf 
den Dächern; ftill und vergnügten Blickes lauſchte ich den Fleinen Störchen, 
wenn ſie ihre jungen Fluͤgel verfuchten. 

Schon dachte ich nach über fo mancherlei. Wie oft, erinnere ich mich, 
bildete fich Die Frage in meinem Kopfe: Warum ift denn der Menfch nicht 
mit Flügeln geboren? Die Füße tragen ibn zwar weit hinweg, aber nicht in 
die Küfte, und was iſt's mit der Kerne? nach ter Höhe des Himmels ſtrebte 
mein Sehnen! 

Die Höhe ded Himmeld! das war das Ziel meiner Träume O wie be= 
neidete ich Die Eonne, über die Erbe fchien fle ein herrliches Strahlengewand 
zu breiten, aber ich wurde traurig, wenn fle am Abend von blutigen Strei⸗ 
fen bederft mit dem Tode rang. Ich fagte zu mir: Iſt dies Tas Loos eines 
Jeden, der Licht und Leben verbreiten will? 

Der Herbft ift für Die Kinder eine Föftliche Jahreszeit, denn der Herbſt 
gleicht einer Mutter, welche ihren Kindern einen Korb voller Brüchte bietet. 
Aber ich, ich verwünfche den Herbſt, wenn er auch Früchte verleiht, ich rufe 
Ihm zu: Behalte deine Gaben, ich weiß, daß tu mir dafür meine Störche 
entführft. Mit traurigem Herzen fehe ich die Störche meined Dorfes fi in 
Mailen verfammeln für ihre weiten Wanderungen, fo wie ich meine Jugend 


374 Literaturgefchichte, 


betrachte, die fchon dem Entweichen nahe ift; meine Augen füllen ſich mit 
Thränen, wenn fle ihren Flug beginnen! Die Ieeren Nefter auf-den Dächern, 
welch trauriges Bild! Don Ahnungen fühle ich mich gedrückt, meine Zu⸗ 
Funft fah ich vor mir. 

Am Ende des Winterd, wenn die Erde fih von ihrer weißen Schneehülle 
befreit und ihren grünen mit Blumen Durchwirkten Mantel umbängt, ſchmückt 
fih auch meine Seele mit neuem, mit feftlihem Gewande. Die Breude war 
wieder eingefehrt, und als ich noch Flein war, eilte ich bi8 an das Ende von 
des Nachbars Halbe, um den Störchen entgegen zu eilen. 

Wie aus dem Funken eine Flamme, fo wird aus dem Knaben ein Jüng- 
ling; der Boten brennt mir unter den Füßen, ich fehwinge mich auf's Roß, 
und mit verhängtem BZügellauf durchjage ich mit dem feurigen Nenner Die 
Puszta. Der Wind muß feine Kräfte verdoppeln, um mich einzuholen. 

Ich Liebe die Puszta! Hier allein wohnt die Kreiheit; meine Augen kön⸗ 
nen ungehindert nach allen Seiten Hin fehweifen; nicht dunkle Felſen drohen 
und entgegen, Fein trübe® Bild fpiegelt fih ab in der hüpfenden Welle des 
Baches, Fein Braufen der Wafferfälle Elingt hier wie Kettengeflirr. 

Sage nur Niemand, daß die Pudzta nicht fchön fei! Ihre Schönheit ift 
unvergleichlich; aber wie ein junges Feufches Mädchen verhüllt ſie fich hinter 
ihren Schleier, und wenn fle Diefen Schleier Tüftet, fo gefchieht e8 allein vor 
guten Bekannten, vor treuen Freunden; dann aber erfcheint fle wie eine ee, 
eine Bee mit Flammenblicken. 

O, ich Liebe die Puszta! Wie gern durchfliege ich auf meinem feurigen 
Moffe ihre freien Räume, und da, wo der Menfch der Erde Eeinen Gewinn 
mehr abloct, wo der einfamfte Ort der Steppen iſt, da fleige ich vom Pferde, 
firedfe mich auf dem Raſen aus und Taufche dem Fluͤſtern der Luft. — Blößs 
lich am Rande des Moor bemerfe ich meinen Freund, mein Storch ift da. 

Dis Hierher hat er mich geführt! Wir beide haben die Puszta nach allen 
Richtungen durchforfcht; er in die Gewäfler der Sümpfe tauchend, ich bie 
Barbenfpiele in den wilteften Sträuchern betrachtend. So habe ich mit ihm 
meine Kindheit, meine Jugend durchlebt, deshalb Tiebe ich ihn, wenn er auch 
nicht zu fingen vermag und feine Flügel auch nicht in Iebhaften Karben glänzen. 

Ja jegt noch liebe ich den Story, und diefe treue und füße Sreundfchaft 
ift das einzige Pfand aus ter fehönen Zeit meiner Jugendträume. Ja, jetzt 
noch, jedes Jahr, erwarte ich mit Ungeduld die Rückkehr der Störche in das 
gaftfreundliche Dorf, und wenn fle und im Herbſt verlaffen, fo wünfche ich 
ihnen eine glückliche Reife, wie meinem älteften tbeuerften Freunde.‘ 

Gegen das Ende des Jahres 1846 ging eine tiefe Umwandlung In dem 

Herzen des Dichterd vor fi. Er war dem jungen Mädchen begegnet, welche feine 
 Rebendgefährtin werben follte. Die vielen Liebeslieder, zu welchen Julie Szendrey 
den Dichter begeifterte, find ficherlich die reinften und glühendften, die er gebichtet 
bat, Während eined ganzen Jahres blieb Juliens Vater, der zu dem ſchwan⸗ 
enden Charafter des jungen Dichters Fein Vertrauen Hegte, unempfindlich gegen 
feine Bitten, aber die unerfchlitterliche Treue feiner Braut beſtegte alle Hinder⸗ 


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Ungarnd Poeſie. 375 


niffe und im Monat September 1847 wurbe er mit ihr feierlich vereinigt. Den 
Honigmond verlebten beide in Kolto bei dem jungen Grafen Aler. Teleki, der 
aus einem Berehrer Petöfi's einer feiner treueften &reunde geworden war. Warum 
fagt man nur „der Honigmonat?“ Während der ganzen Zeit, welche Petöfi mit 
feiner Brau verlebte, find alle Tage von gleicher Zärtlichkeit erfüllt geweien. Er 
bat eine feiner Sammlungen mit dem Titel: „Tage des ehelichen Glückes“ be⸗ 
zeichnet, und einige dieſer Lieber, welche er gedichte, tragen den ruhmvollen Tag 
ihres Todes. Die erfle Empfindung, welche er fchildert, ift die Seligkeit der 
Ruhe, der Heiterkeit und mit diefer die männliche Treue gegen fich ſelbſt. Bald 
fchildert er dieſes Glüͤck mit arglofer Sröplichkeit, bald entlehnt er feine Bilder 
der duftigſten Poeſtie. 

„Ein König bin ich, ſagt er, ſeit ich verheirathet bin. Auf meinem 
Throne ſitzend gebe ich Audienz, ich uͤbe Gerechtigkeit und ſtrafe die Schuldi⸗ 
gen. Tretet Alle heran! Wer biſt du, ſchönes Kind? Ach, Du biſt es, der 
ich fo oft vergeblich nachgeftellt und die mir immer entwifchte. Du nennft 
dich die Freude! Jetzt halte ich Dich feit, du wirft mir nicht mehr entkom⸗ 
men. Ich nehme Dich in meinen Dienit ald Särtnerin und jeden Tag pflücft 
du mir mit Deinen Feenfingern die fchönften jügduftenden Blumen. Und 
du? Du haft die Sorge für den Gerd! Ich habe nicht Zeit, dein Gefchwäg 
anzuhören, und werde Dir den Mund feit verfchließen, wenn du nur profaijche 
Dinge erzählen willft. Und du da hinten, düfterer Gefelle? lieh, ich er- 
kenne dich wieder, wie oftmals, fchwarzer Kummer, haben wir zuſammen ge= 
rungen! Du haft mir tiefe Wunden gejchlagen, ich ſchaudere jegt noch ba» 
vor! Ich habe indeß dich bezwungen, und Milde ziemt dem Sieger! Ems 
pfange Barton für deine Unthaten! Was ift das für ein Geräufch im 
Hofe? Mas für ein Pferd ftampft jo heftig? Iſt c8 das Roß des Dichters, 
welches unwillig ift ob feiner Unthätigkeit? Geduld, Geduld mein Roß! 
bald eilen wir hinaus in die Freiheit. Geduld noch ein wenig, laß mich 
meine Würde ald König noch genießen.” 

Ein anderes Mal befingt er bie Unfterblichfeit der Seele; er dachte noch 
nie daran. in jeinem jtürmifchen Leben, und wenn e8 ihn anwandelte, ihrer zu 
gedenken, erblickte jein Geift nur Nebelbilter. Diefer moralifche Umſchwung, 
der fo plöglich eintrat, iſt einer der charakteriftifchften Züge in Petöfi's Poeſie. 
Kaum 24 Jahre alt und Faum noch der Sänger ber auögelaffenften Luft, und 
jegt auf einmal unter dem Auge der Gattin, an der Wiege feines Erfigeborenen, 
ift feine Kraft geläutert, ohne geichwächt zu fein. Die Ruhe hat jeine Kräfte 
vervielfältigt. Seine Leidenschaften, noch nicht erlofchen, aber umgewandelt, 
erhalten eine inmer edlere Richtung. Die großen Bragen, welche fein Vater⸗ 
land betreffen, die Reformen des Ungarifchen Landtags im Jahre 1847, die 
patriotiichen Beitrebungen von 1848, alle Bewegungen der nationalen Wieder⸗ 
geburt Ungarns mijchen fich in feine häuslichen Breuden, Das Gedicht „Mein 
Weib und mein Degen‘ verfündet getreulich die Liebe zum häuslichen Herde, 
wie zum großen Vaterlande. Während die Gattin in feinen Armen ruht, ſchleu⸗ 
dert das Schwert des Dichters, müßig an ber Wand hängend, zornige Blicke 


376 Literaturgeſchichte. 


auf dieſe zaͤrtliche Gruppe: Ei, mein alter Freund, ruft ihm fröhlich der Dichter 
zu, wirft du eiferfüchtig auf meine Gattin? wahrhaftig jo kennſt du fie nicht. 
An dem Tage, wo das Vaterland meines Armes bedarf, wird fie es fein, welche 
mir deinen Stahl um die Hüfte gürten und mich in den Kampf für die Freiheit 
treiben wird.” Julie Szendrey verdiente dieſe Lobrede wirklich: denn von dem 
erften Augenblide an, als Petöfi von ihr geliebt wurde, war ihr Herz von ihrer 
Liebe und ihrer Begeifterung für'’8 Vaterland gänzlich erfüllt. Sein Brautge⸗ 
fang war ein Kriegslied: 

„Sch träume von blutigen Tagen, welche die Welt in Stüden zertrümmern 
und welche auf den Ruinen der alten Welt eine neue aufbauen werden. 

Ha, wenn tie Kriegötrompete plöglich erfchallte! wenn ich das Schlacht« 
panier hoch flattern jähe, das Panier Fünftiger Siege, erfehnt mit allen Fi⸗ 
bern meined Herzen. 

Hinauf, auf meinen muthigen Renner, hinein in den Kampf, ich brenne 
vor Begierde, im Kreife von Helden meine Waffen einzuweihen. 

Und wenn dad Schwert des Feindes meine Bruft durchbohrt, jo weiß ich 
doch Jemand, der meine Wunde verbinden und heilen wird mit dem Balſam 
feiner Küffe. 

Und wenn ich Iebend in die Hände des Feindes falle, fo wird Doch Etwas 
durch meinen Kerfer dringen; zwei Tiebliche Augen, flrahlenden Sternen 
gleich, werden meine Nacht erhellen. 

Und wenn mich der Tod ereilt, wenn ich fterben muß auf dem Schaffot 
ober auf dem Schlachtfelde, ein Engel, ein Weib mit zerriffenem Herzen wirb 
mit ihren Thränen meinen Leichnam vom Blute reinigen.‘ 

Herd, Vaterland, Liebe und Freiheit find die Genien, welche den Tichter 
begeiftern. Ich vermiffe e8 ungern, daß Kertbeny in jeiner fonft fo jerupulöfen 
Ueberfegung Petöfl’8 Gejänge nicht der Reihe nach, wie fle geichaffen find, zu« 
fammengeftellt. Breudiger würde man der Entwidelung feiner Seele folgen 
können; dem poetijchen Intereffe, Durch den fteigenden moralifchen Werth ers 
böht, würde ein neuer Reiz verliehen. Wenn alle Dichtungen Petöfi's aus dem 
Jahre 1347 und alle feine Herzendergiefungen während feines Brautfluntes 
und feiner Vermaͤhlung zufanmengeftellt wären, man würde eine Kette echter 
Erelfteine aneinander gereiht finden; denn da erft tritt er in das Alter der 
Reife. Obgleich noch Im jugendlichen Alter ftehend, jo haben Doch der Einfluß 
de8 eigenen Herdes und die Bewegungen im Baterlande feinem Xalente Diele 
edle Richtung verliehen, welche fonft erjt immer das Refultat langer Jahre if. 
Ale jeine Worte enthüllen eine eigenthümliche Verſchmelzung von Kraft und 
Anmuth; nicht eine gefuchte Anmuth, Tontern eine Kraft, die fle natürlich bes 
fitzt. Wenn das Vaterland im Unglück ſchwebt, tröftet ihn Die Familie und er 
ſchafft liebliche Gemälde feines häuslichen Glüdes, welche auch dem Volfe der 
Magyaren Troft verleihen. Ein derartiges Gedicht nennt er „die Welt des 
Winters‘. Wir befinden und im MonatIanuar des Jahres 1348; ber Winter 
ift ein trauriger Gaft in den weiten Steppen Ungarns, die Erde ift kahl, elend, 
Adnli ben Bigeunern der Puszta. Gtütlich aber das Haus, in dem eine 


Ungarns Poefie 377 


Familie waltet! glücklich die Fleinfle Hütte, wo Vater und Mutter, zwifchen 
Großvater und Kindern, die Breunde und Nachbarn verfannmeln und gleichfam 
einen patriarchalifchen Kreis bilden, einen vertraulichen und heiteren Kreis 
mitten in der Dede der winterlichen Welt. Eine folche Hütte führt ung der 
Dichter vor. Wie Tieblich die gaflfreie Stube! Wie fröhlich fladert das 
Feuer! Und welche braven Leute! Junge und Alte vereinigt bilden ein lebendes 
Bild der Humanität. — Der Dichter ſchafft hieraus durch die Wahrheit feiner 
Einzelnheiten und durch den Ton, in dem er fpricht, ein wahres Originalwerk. 
Man fühlt die geheimen Gedanken feines Herzens. Freunde, fcheint er zu 
fagen, beibet ftarf und froh; Winter bleibt e8 nicht für immer, feid bereit beim 
Erwachen der Natur. Ihr Fleinen zerftreuten Gruppen werdet einſt noch eine 
ganze Nation bilden. 

Dies fo tief empfundene Familienglück hat in Petöfi's Herzen bie Pflich- 
ten gegen das Baterland nicht zum Schweigen gebracht; die Liebe zum Vater⸗ 
land lieg ihn aber auch nie fein Heiligthum, die Poeſie, vergeffen; allein er will 
fie einfach, männlich und würdig endlich den mächtigen Intereffen, die erwachen, 
und den Kämpfen, die fich vorbereiten. Seit der Wiedergeburt der nationalen 
Literatur find die Dichter zu Hunderten aufgetaucht und Gott weiß wie viel ab» 
geſchmacktes Zeug droht den Faum ton feinen Feſſeln befreiten jungen Keim 
wieter zu erſticken. Die faliche Poefle war ihm verhaßter als je in dem Augen⸗ 
lie, wo jo viele Fühne Hoffnungen fein Herz beftürmen. Er geißelt die 
Schwaͤrmer und Träumer mit Fomifcher und beißender Catyre. Der Dichter 
der That, Der Sänger der Sonne, läßt auch den Mond einmal fprechen: 


Elegie ded Mondes, 


„Barum bin ich der Mond? Was Habe ich Denn verbrochen, allmaͤchti⸗ 
ger Gott, um elenter noch zu fein, als die niedrigfte Creatur? Viel lieber 
würde ich der legte deiner Diener auf der Erde, dieſem Ameifenhaufen, fein, 
ald die Königin der Nacht an dem Gewölbe des Himmels; lieber möchte 
ich, armer Teufel, Da unten in Qumpen herumkriechen, al& in meinem Silbers 
gewande hier oben thronen; ja ich ziehe da unten die räucherigen Dünfte der 
Schenken ten Wohlgerüchen der Sternenblumen vor. Habe ich nicht Necht, 

 ewiger Richter? Mile Hunde und Dichter fhreien über mid. — Die 
Echwachköpfe, die fih in Verſen verfuchen, denen fein Herz in der Bruft 
ichlägt, fondern tie nur Ohren haben, bilden fich ein, ich Taufche auf ihre 
Klagelieter und fühle für fle gewaltige Sympathien. Ich bin blaß, das iſt 
wahr, aber ich bin nicht blaß vor Echmerz, fondern vor Zorn, wenn ich biefe 
winfelnden Thränenjäce in fternhellen Nächten Verſe an mich richten Höre, 
ald wenn wir ſchon zuſammen die Heerden audgetrieben hätten. Manchmal, 
ich geftehe e8 ein, kommt einer, der nicht zu dieſer Titerarifchen Sorte gehört, 
ein wahrer Boet, ein feuriger Strahl, dem Hirne des Höchſten entfproffen, 
und wenn jein Lied ertönt, fühle ich mein Herz vor Freude erbeben und mei⸗ 
nen Glanz ftärfer hervortreten; aber für einen Eänger biefer Gattung, den 
id; gern anhöre, wenn er kommt, gibt es taufend Andere, Wie wir Tab Teben 


378 Literaturgefchichte. 


fauer machen. Bon dieſen Burjchen wächft hinter jedem Strauche einer. 
Niemals tritt in ber Ernte dieſer Gattung ein Mißwachs ein, niemals 
ſchwingt ter Tod unter diejen Schreihäljen jeine hungrige Senje. Alle 
Naͤchte muß ich mich vorbereiten, mein Todesurtheil zu vernehmen; o welche 
Qualen, jeden Augenblid beginnt Dann Das Boncert diejer Rachteulen , das 
meine Ohren zerreißt. Halt! da ift einer. Geht, jeine melancholifche 
Stellung, jebt jeine Arme fich bewegen, ald wenn er fie weit von fich werfen 
wollte. Warum Lieje Gefticulation? Ganz einfach, weil er nichts zu ums 
armen hat. Er jeufzt tief auf, wie ein Zigeuner, wenn er Schläge befommt. 
Seine Pulſe Elopfen, jein Antlig wird finjter, immer finfterer; er jchreit, er 
tobt, er fleht mich an, in das Zimmer jeiner Geliebten zu jchauen und ihm 
zu erzählen, was fie treibt. Deine Geliebte, mein Freund, bratet ein großes 
Stud Speck aus; jegt nähert fie fi) dem Vratofen, jie holt geröltete Kar⸗ 
toffeln aus der Aſche Heraus und verbrennt ſich tüchtig die Lippen. Ach, 
welch weinerliche Grimaſſe ſie jchneitet! Wahrhaftig + ihre Figur ift der 
deinigen würdig. — Ich habe ja wohl nun alle deine Zweifel gehoben, geb 
nun, du Dummkopf, und der Teufel möge dich holen. 

Solche Gedichte und viele andere noch flogen von Mund zu Mund durch 
ganz Ungarn. Tagtaͤglich beflätigte ſich Michel VBörsdmarty’d Ausſpruch: Bes 
töfi war der populärfte Dichter feiner Nation. Er war geliebt von den Unge⸗ 
bildeten und den Gelehrten, befannt in den Dörfern wie in den Akademien, 
Dichter der Jugend durch jeine Liebeölieter, den Männern werth Durch den ties 
fen Ernft feiner legten Dichtungen; er hat an dem Erfolg des ungariichen 
Krieged gearbeitet, noch ehe dieſer Krieg eigentlich begonnen. In dem Moment, 
wo die Revolution ausbrach, öffnete jich feiner Thatkraft eine neue Laufbahn. 
Während die Politiker in den Verſammlungen ſich beriethen, während die Heer⸗ 
führer die Truppen organijirten, hatie Petöfi eine andere Aufgabe zu erfüllen, er 
feierte ten Kanıpf un die Unabhängigkeit und feine begeilternden Strophen, 
einer magyariichen Marjeillaife gleich, jchufen dem heldenmüthigen Ben neue 
Kriegerichaaren. Warum hat es Kertbeny nicht gewagt, Tiefe Gefänge zu über- 
fegen, die jchönften und legten zugleich, wird verfichert, welche dieſer feurigen 
Seele entftrömten. Solche Lieder gehören der Geſchichte an. Wenn Oeſter⸗ 
reich fle auch verdammt, das übrige Deutichland hat das Recht, fie zu fordern, 
und da fi) Kertbeny mit feiner deutfchen Ueberſetzung an ganz Europa geriche 
tet, jo müffen wir ihn auffordern, jein Werk zu vollenden. 

Im Monat Oftober des Jahres 1848 trat Petöfi unter die Gefährten ein, 
welche feinem Ruf gefolgt waren. Zum Kapitän des 27. Honved » Regiments 
erwählt, nahm er an allen Schlachten Theil, welche in den Provinzen der untes 
ren Donau gefchlagen wurden. Im Januar 1849 rief ihn der General Bem, 
ber Lie Armee in Galizien befehligte, ald Adjutant zu fih. Bem, einer feiner 
Verehrer, liebte ihn wie feinen Sohn, und deforirte ihn wegen feiner Bravour 
eigenhändig auf dem Schlachtfelde. In den kurzen Zwijchenpaufen ber Kämpfe 
Dichtete ex rührende Lieber an feinen Vater und feinen jüngft geborenen Knaben. 
Während der gefchlagene Iellachich Wien zufloh, fah man in den erſten Reihen 


Ungarns Poeſie. 379 


der ungariſchen Armee einen Greis, der, in der einen Hand das Banner der 
Unahaͤngigkeit feſt umklammert haltend, feine jungen Gefährten zur Verfolgung 
des Feindes aufforderte. Wer ift diefer alte Bannerträger? — Mein Vater, 
entgegnete der Dichter. — Geftern war er krank, hinfällig, gedrückt von Alter und 
Sorgen, konnte er ſich mühfam nur vom Bette nach dem Tifche ſchleppen: feitdem 
aber die Worte: das Vaterland ift in Gefahr” an fein Ohr fchlugen, fand er 
feine frühere Kraft wieder und feine Krüden von ſich jchleudernd, nahm er Die 
Bahne des Regiments in feine Kauft. - Wenn der Dichter mit Thränen im Auge 
und feinen durch Vaterlandsliebe verjüngten Vater vorführt, lehrt er und erſt 
den wahren Charafter diejes nationalen Kampfes und den Enthuflasmus bes 
greifen, der von ben erſten Klafjen der Gefellichaft bis herab in Die niedrigften 
Schichten ein ganzes Volk entflammte, Und welche Liebe, welche Verehrung 
fand der muthige Greis! „Bisher forgteft Du, mein Vater, daß ich dein Stolz 
fei; von nun an aber bift du mein Ruhm und meine Krone. Wenn ich di 
wiederjehe nach dieſem Kampfe, werde ich mit dem Gefühl der tiefften Ehrfurcht 
und Liebe deine Hände Füflen, die uns in dieſer Schlacht des Vaterlandes heilige 
Standarte vorgetragen haben. Einige Monate darauf fchenkte ihm feine Frau 
einen Sohn, er grüßte ihn mit lautem Freudenrauſche mitten im Gewühle tes 
Geldes. Sicherlich waren Died aus den fruchtbarften Quellen gejchöpfte Lieder. 
Die Poefie bildete den inneren Kern feines Lebens, den moralifchen Fortſchritt 
und die männliche Entwidelung aller feiner Eigenfchaften, wenn ed ihm ver⸗ 
gönnt gewefen wäre, fein Werk zu vollenden und fo Heiß, fo tief die reinſten 
Freuden des Sannilienfreifes mit den Enthuftasmus des Bürgers zu vermählen. 
Dieſes gleichfam auf dem Schlachtfelde geborene Kind weihte er im Angeflchte 
ganz Ungarn, und Die Berfe, die er ihm widmete, hallen heute noch von tauſend 
Lippen wieder und leben in der Generation, welche eine unfterblicye Hoffnung 
fich bewahrte. 

Eine andere, cbenjo rührende Piece und eine der legten, welche er gedich- 
tet, ift der Nachruf an die auf dem Schlachtfelde gebliebenen Waffenbrüder, als 
er einen poettfchen Aufruf an den Frühling des Jahres 1849 erläßt: 

„Sunger Brühling, Sohn des alten Winter, flrahlender, wo bleibft du? 
Warum zögerft Du noch, deinen Thron zu befteigen? 

Eile, eile! Deine Freunde fuchen dich in der vermwüflteten Welt. Komm und 
breite unter dem blauen Simmel dein grünes Laubzelt auß. 

Heile tie Morgenröthe, die heitere Tochter der Schöpfung, heile fle ja, fle iſt 
franf. Sich, wie fie fo bleih am Rande des Horizontes ſchwebt. 

Sie wird auf's Neue die Auen fegnen, wenn du ben blauen Himmel gefegnet 
haben wirft; dann wird fle ergießen reine Sreudenthränen, ftärfenden Thau 
für die Erde, 

Bringe mir auch beine Xerchen mit, meine Lehrerinnen der Poefle, fie haben 
mir gelernt die herrlichen Breiheitölieder, als ich noch ein Kind war. 

Und vergiß auch die Blumen nicht, bringe fo viel du nur fannft, und fireue 
fie mit beiden Hänten aus, 


‘380 Literaturgeſchichte. 


Denn das Gebiet des Todes hat ſich vergrößert in der letzten Zeit; die heiligen 

Opfer der Freiheit, im Kampfe gefallen, liegen zerſtreut nach allen Seiten. 

In ihre feuchtes Grab find die Todten gebettet ohne ein Tuch; wie ein Tuch 
über die Todten freue deine Blumen mit vollen Händen. 

Man findet Feine Epur von Entmuthigung bei diefen Todesgedanken. 
Man weiß, daß der Dichter und Soldat Vertrauen in den Frühling fegen, ben 
fle anrufen. Leider war es der letzte Mat, den jeine Lieder begrüßen follten. 
Warum hätte er auch den Muth verloren? Wenn er biejen Krieg überlebt 
hätte, fo würde er das Schidjal der Opfer beneidet haben, für welche er einen 
Blumenregen erbat. Einer feiner heißeften Wünfche war, mit dem Degen in 
ber Hand für fein Vaterland zu fallen. Schon im Jahre 1846 fchrieb er: 
„Ein Gedanfe allein beunruhigt mich: der Gedanke, daß ich in meinem Bette 
fterben fann, auf weichen Kiffen, matt wie eine Blume, deren Wurzel ein 
Wurm benagt hat. DO, mein Gott, fchüße mich vor einem folchen Tode! Wenn 
dieſes Volk, des Ioches überdrüfftg, fich in den Kampf flürzt, fo will ich mit 
ihm fterben. Wenn auch mein Herzblut auf dem Schlachtfelde dahinftrömt, 
wenn auch mein Körper von den Hufichlägen der Roſſe zertreten wird, wenn ich 
nur bi zu dem Augenblicke athmen Fann, wo die Gerechtigfeit triumphirt. 
Dann wird man meine Gebeine fammeln, damit ich einen Plag finde bei dem 
feierlichen Tage, wo das Vaterland von feinen Söhnen unter fanften Trauer« 
melodien und mit ſchwarzverhuͤllten Bahnen alle feine für die Kreiheit gefallenen 
Helden in ein Grab zur Ruhe legt.‘ Gott hat ihm dieſe Bitte nur zur Hälfte 
gewährt: Petöfi ift gefallen in dem Kampfe feines Volkes, aber der Tag ift noch 
nicht gefommen, son welchem Ungarn, das freie unabhängige Ungarn, den hel- 
denmüthigen Streitern für eine heilige Sache die letzten und höchften Ehren er= 
weifen wird. 

Wird Diefer Tag erfcheinen? Ungarn hofft ed, und man muß ein eigenes 
Vertrauen in die politifche Organifation des alten Europa haben, um die Une 
erfchütterlichfeit feiner Hoffnung für bloße Idee zu halten. Weniger energifche 
Völker fehen in der gegenwärtigen Zeit Hoffnungen fich verwirklichen, welche 
weniger erfolgreich zu fein jcheinen als die feinigen. Auf die Wechfelfälle der 
Zufunft Harrend, wird Ungarn auf friedlichem Wege jelbft jeine nationalen 
Rechtsanſprüche langjam erreichen. Das erfte diefer Mechte ift ficherlich die 
geijtige Wiedergeburt, welcye feit einer Rihe von 50 Jahren bei ihm fich zu 
einer blühenden Literatur erhoben hat, deren Schlußftein Sandor Vetöfi wurde. 
Diefer ungeftüme junge Mann, deffen Leben und Tod ich gejchildert, war der 
Sänger der Liebe, des Vaterlandes, der Breibeit: einen Ehrenplag hat er ſich 
errungen unter den Meifterfängern der Iyrifchen Poeſie im 19. Jahrh., denn 
die Gefühle, Die er verherrlicht, find das Eigenthum aller Nationen, aber in Ungarn 
beſonders werden jeine Werfe ein Heiligthum, wird fein Andenken unſterblich jein. 
Für ewige Zeiten bat er feinen Namen eingetragen in das Gedenkbuch einer 
großen Epoche. — Seine Schöpfungen find die Krone einer literarijchen Wie— 
dergeburt, zu welcher die hervorragendften Gelfter feines Vaterlandes mitgewirkt 
haben, die einen durch ihre eigenen Werke, die anderen durch ihre Theilnahme 


Ungarnd Poeſie. 381 


und ihre Unterflügungen. Neben ihm und wie mit dem Wehen feines Wortes 
find andere Dichter aufgetreten; bevor ich denfelben ihren Rang zuerfenne, und, 
ich werde dies bald verfuchen, Tann ich behaupten, daß es von nun an eine uns 
garifche Literatur gibt, und daß ift eine gewichtige Stüge bei den Forderungen fo 
edler Art. Petöfi iſt Eeine ifolirte Erfcheinung. Wenn Ungarn feiner fittlichen 
Entwickelung folgt, als es freier hervortritt auf Dem Gebiete der Literatur, wenn 
es endlich überall, wo es kann, zum vollen Beſitz jeiner Kräfte gelangt, und 
Europa in ihm ein frifched originelled Leben gewahrt, dann muß diefer Akt 
früher oder jpäter wie ein Recht anerfannt werden. Die Völker find die Grün» 
der ihrer Gefchide, und die Nationalitäten vertbeidigen ſich weit ficherer mit 
dem Geiſt ald mit dem Schwerte. 


— —— — — — — — — 


Die Fremdworte in der deuffchen Sprache. 


Bon 
Dr. Weinhold Bedftein. 


Einheimifhe und fremde Worte. Unterſchied zwifchen Lehnwort und 
Fremdwort. Die Lehnworte Bebeimnifle der Sprade. Urverwandt. 
{haft und Entlehnung. Lehnworte aus dem Kirchenlatein und aus 
dem Mittellateinifchen. Lehnworte im Pirchlichen Zeben und in anderen 
Rebendgebieten (Stande, Wiffenfchaften, Krieg, Seeweien, Bandel, 
Gewerke; Lebensbedürfniſſe: Wanderungen durch ein Haus). Lehn⸗ 
worte in den Naturreihen. Lehnworte aus dem Altfranzöfifchen. 
Sonftige fremde Stämme, Lehnworte aus dem Slavifhen. Fremd⸗ 
worte deutfchen Stammes. 


Zweierlei Arten von Worten find es, welche den Wortſchatz einer Sprache bil⸗ 
den: einheimifche und fremde. Dielfach wird e8 beklagt, — und wer 
wollte fagen, daß diefe Klagen ohne Grund geführt werden? — daß gerade uns 
fere deutjche Sprache über alles Maß fremde Beftandtheile in fich aufgenommen 
habe. Dan ift bejonders in neuerer Zeit gewiß mit Recht beftrebt, das Fremde 
fo viel als möglich zu tilgen und auszufcheiden und die Mutterfprache in ihrer 
vollen Reinheit zu gebrauchen. Leider Enüpft ſich nur zu oftran dieſes nutz⸗ 
bringende Beſtreben ein faljches DVaterlandögefühl, ein übertriebened Sprach⸗ 
reinigungägelüft, ein Purismus, wie es Jacob Grimm nennt, welches ohne 
eigentliche Kenntniß und ohne Kritik alle fremden Worte, nur weil fle fremd 
find, über Bord werfen will und diefelben, da und deren Begriffe unentbehrlich 
geworden find, durch abgeſchmackte Ueberjegungen und fprachwidrige Neubildun⸗ 
gen zu erjegen ſucht. Ehrenwerth und wohlgemeint ift jelbit dieſe Verirrung 
ohne Zweifel, nur fommt man mit dem guten Willen in jolchen Dingen nicht 
weit. Nur der hat den Beruf, zur Veredelung und Bereicherung der Sprache 
beizutragen, der, wenn er nicht als jchöpferijcher Geift durch jein Wort und 
feine Sprache maßgebend einwirft auf feine Zeitgenoffen, die tiefinnerfte, durch 
fleißige Forſchung erworbene Kenntnig von dem Geifte in unjerer Mutterjprache, 
von ihrer Grammatik und ihrer Gejchichte beflgt. — Gerade über dad Wejen 
der Fremdworte, über ihre verfchiedenen Gattungen, über ihren Werth und Un⸗ 


Die Tremdworte in der deutfhen Sprache, 383 


werth herrichten nicht immer Die richtigften Vorftellungen. Klar und beftimmt 
hat fich Jacob Grimm über das Verhältniß ber fremden Worte zu den heimi⸗ 
ſchen in der Geſchichte der beutfchen Sprache geäußert: „Jeder Sprache, welche 
fie auch fei, ſtehen außer ihren heimifchen Wörtern auch fremde zu, die der Ver⸗ 
kehr mit den Nachbarn unausbleiblich einführte und denen fle Gaftrecht wider⸗ 
fahren lieg. Sie nad) langer Niederlaffung auszutreiben, ift ebenſo unmöglich, 
als es die Reiheit der Sprachfitte gefährdet, wenn ihr Zudrang leichtfinnig ges 
flattet wird.‘‘ 

Zu wahren Berfländniffe der entlehnten Worte gelangen wir nur dann 
am beften, wenn wir die gefchichtlichen Thatfachen, vor allen die Fulturgefchicht« 
lihen, welche auf die Entwidelung nach dieſer Seite hin einflußreich gewefen 
find, wenn wir gewiffermaßen die Gefchichte des Verkehrs mit unferen Nach— 
barn in’8 Auge faſſen. Eine Gefchichte der fremden Beſtandtheile in unjerer 
Mutterjprache wäre ein ſehr verdienflliches, wenn auch fehr ſchwieriges Unter⸗ 
nehmen. Ein Sremdwörterbuch, welches wie das deutſche Wörterbuch der Ges 
brüder Grimm Die neuhochdeutiche Schriftfprache bearbeitet, fämmtliche ent⸗ 
lehnte Worte in der deutjchen Literatur mit etymologifchen und hiftorifchen Be⸗ 
legen verzeichnete, wird erft fpäter geliefert werden fönnen. Wenn wir ben 
Fremdworten unjere Aufmerkſamkeit zulenfen, jo liegt e6 in der Natur der 
Sache, dag wir auf einzelne als Beifpiele fich darbietende Worte, denen wir 
Gaſtrecht widerfahren ließen, geführt werben. 

Kein einzige der neueren Kulturvölfer hat eine folche ſelbſtſtaͤndige natio« 
nale Entwidelung gehabt wie das bewunderungswürdige Volt der alten Grie⸗ 
hen. Die deutfchen Stänme, welche zur Zeit der Völkerwanderung in bie 
Provinzen des römijchen Reiches erobernd eindrangen, gaben bald ihre Mutter 
fprache auf; vollftäntig freilich nicht, Denn mehrere deutfche Wortftämme, na⸗ 
mentlich find dies die Namen der Waffen und PBerfonennamen, finden ſich in 
den romanifchen Sprachen. Während fich diefe Völferflimme den römijchen 
Mundarten anbequemten, übten ſie hinwiederum bei der Entwidelung und Aus⸗ 
biltung diejer verfchiedenen Sprachen bedeutenden Einflug. Der Geift in den 
romanijchen Sprachen ift durchaus ein Deutfcher; die ganze Satzbildung, oft 
auch die Wortbildung, weicht von dent lateinifchen Sprachgeifte ganz entfchieden 
ab. In England war die feltifche Sprache die urfprüngliche. Die Angelfachfen 
eroberten das Land und hielten es im Beſitze, wichen aber von ihrer Mutter 
jprache nicht ab, da fie nicht wie die Longobarden, Gothen und Franken einen 
lebendigen Volksgeiſt und eine eigentliche Bildung vorfanden, fondern erft jelbit 
dem eroberten Lande ein frifches Leben zuführten. Im @inzelnen machten fie 
ſich allerdings manches aus dem Wortfchage des beflegten Volkes zu Nutze. 
Wäre die fpätere Eroberung des Landes durd Die Norinannen nicht erfolgt, To 
hätte fich das Angelſaͤchſiſche, Angelifche, Englijche ebenfo entwideln können, 
wie unfer Deutfch und wie die nordiichen Sprachen. Die Rormannen aber 
brachten die romanifche Zunge mit, konnten die Sprache der Beflegten nicht 
ausrotten, noch fich ihrem Einrluffe entziehen, gaben aber auch die ihrige nicht 
auf, und fo kam es, daß das Englifche aus zwei ganz verſchiedenen, aber gleich 


384 Eprachwiſſenſchaft. 


berechtigten Elementen beſteht, aus einem deutſchen und aus einem roma⸗ 
niſchen*). Somit hat unſere deutſche Sprache größere Selbſtſtaͤndigkeit, Urs 
ſprünglichkeit und Reinheit bewahrt. Auch Eroberungen bat fie gemacht: Im 
Oſten Deutſchlands haben mehrere Slavenſtämme die deutſche Sprache ange 
nommen und find durch diefelbe vollftändig zu Germanen geworden. 

Die fremden Beſtandtheile im Deutfchen find nicht von einer Art. Sie 
drangen auf verfchiedenen Wegen und zu verfchiedenen Zeiten zu ung herein. Im 
Allgemeinen gibt e8 zwei Hauptgruppen von Fremdworten. Die einen find ſchon 
in frühen Tagen im Munde des Volfes gewefen und find dadurch zu einer der 
Zunge angemeffenen Geftalt gelangt, fo daß fle den Wenigften ald audländifche 
erfcheinen. Die anderen find in fpäterer Zeit in die Sprache aufgenommen 
worden, nachdem fchon die volksthümliche Entiricdelung vollendet war. Sie 
geben fich, wenigftend dem Gebildeten, ald fremde, nicht deutfche Worte von 
Anfang an fund. Manchmal gehen die beiden Arten in einander über. Es ifl 
swerfmäßig, wenn für fo verjchiedene Gattungen ber Unterfcheidung wegen bes 
fondere Namen angewendet werden. Die erfle wollen wir mit dem Namen 
„Lehnworte“, die zweite mit dem Namen „Fremdworte“ (im engeren 
Sinne) bezeichnen. 

Die Lehnworte haben in fprachlicher Beziehung den höheren Werth. Wie 
fhon aus der Beftimmung ihres Begriffd hervorgeht, gehören fie zu den Ge⸗ 
beimnifjen der Sprache, wenigftend in überwiegender Anzahl. Die 
Freindiworte (in engerem Sinne) find allerdings für Die, welche Feine gelehrte 
Bildung befigen, nicht minder geheimnißvoll. Wenn der gemeine Mann zum 
Beifpiel das Wort ‚Doctor‘, das ihm beinahe geläufiger ift ald dad Wort 
„Arzt“ **) etymologifch erflären follte, fo wird er die Antwort fchultig blei- 
ben, während die Grundbedeutung und Abſtammung des Wortes jedem Quar⸗ 
taner befannt ift. Unfere Berrachtung wird fich alfo den beiden Abhandlungen: 
„Die Geheimniffe der deutjchen Sprache‘ und „Die deurfchen Perfonennamen” 
naturgemäß anfchließen ***). 

- Manche Worte in unferem Sprachjchage zeigen eine große Verwandtſchaft 
mit fremden, namentlich mit Tateinifchen Worten, und ınan ift deshalb geneigt, 
fle für fremde, entlehnte zu halten, während ſie in Wahrheit Hinftchtlich der Ab⸗ 
ſtammung gemeinfchaftlich urverwandt find. So ift zum Beifpiel unfer Wort 
Vater nicht vom Iateinijchen pater „abgeleitet”, fondern cd hat mit ihm eine 
gemeinfame Wurzel, Die Sremdiworte, Die Lehnworte find dagegen geradezu 
aus einer fremden Sprache herübergenommen. Bei manchen mag das Verhält 
niß zweifelhaft fein. Unfer Wort Nafe, fo fehr es fonft an das Iateinifche 
nasus erinnert, ift doch wahrfcheinlich ein der deutſchen Sprache urfprünglich 


— — —— — 


*) Vgl. Bo. IV. Seite 236, 237. 
“+, Das Wert „Arzt” ift Lehnwort, während nDocior“ bie fremde Geſtalt 
voltftändig bewahrt Hat. S. unten. 
“er, Bo, IV. Seite 733 — 754 und Bd. V. Seite 160 — 177. 


Die Frembworte in der beutfihen Sprache. 385 


angehöriges Wort. Der Unterfchied zwifchen Urberwandifchaft und Entlehnung 
tft alfo immer feftzuhalten *). — 

Das wichtigfte Moment in der Gefchichte der neuen Völker ift die Einfüh- 
rung des Chriftenthfums. Ihm Hat befonder8 das deutfche Volk feine geiftige 
Entwidelung zu verdanfen. Auf unfere Sprache mußten die chriftlichen Grund⸗ 
anfchauungen mächtig einwirken und zugleich unfer Wortfchag durch entlehnte 
hriftliche Ausdrücke bereichert werden. Denn nicht für alle Begriffe waren 
Worte vorhanden; mit der neuen Sache wurde das neue Wort am leichteften 
aufgenommen. — Die Sprache, in welcher das Chriſtenthum den abendländi« 
hen Völkern zuerft überliefert wurde, ift die Tateinifche, Chriftus als Zube 
von Geburt wird wahrfcheinlich in einer Sprache zu feinem Volke gefproden 
haben, welche die allgemein verftändliche war. Und diefe war zu feiner Zeit 
nicht mehr die GHebräifche, fondern die Aramäiſche. Das neue Teflament ift 
aber weder in diefer noch in jener Sprache abgefaßt, fondern in griechifcher. 
Denn dad Griechiiche war im Morgenlande zu einer Weltfprache emporgewachs 
fen, wurde auch in Paläftina verftanden und die Meiften gebrauchten es neben 
ihrer Mutterfprache. Diefe griechifche Sprache, weldye von dem alten Griechi⸗ 
ſchen in mehr als einer Beziehung abweicht, war aber im Abentlande, im rö⸗ 
mifchen Neiche, wo die Iateinifche Sprache die Weltfprache war, nicht allgemein 
verftändlich. Deshalb wurden einzelne Theile der chriftlichen Ueberlieferungen 
fchon in den erften Iahrhunterten in das Lateinijche übertragen. Am Ende 
des vierten Jahrhunderts entfland eines der wichtigſten Ueberſetzungswerke, 


welche die Literatur aller VBölfer aufzuweifen hat: die fogenannte Bulgata, die, 


Bibelüberfegung des Heiligen Hieronymus. Diefer fpracykundige Mann über 
trug hauptfächlich auf Grund der Originalterte das alte und neue Teflament 
in das Kateinifche. Seine Ueberfegung ift bis auf den heutigen Tag die aner⸗ 
fannte Bibel der römifch» fatholifchen Kirche. Die gelehrte Sprache ber abends 
laͤndiſchen Geiftlichfeit war die lateinifche, und da ihre Glieder die Träger Der 
Bildung waren, fo entlehnten fie, wenn fie den ungelehrten Chriften, den Laien 
gegenüber fich der Deutfchen Rede bedienen mußten, Worte und Ausdrüde ges 
-radezu aus dem Kirchenlatein. Das Latein der Kirche und überhaupt das 
Latein des Mittelalters hat eine große Anzahl Worte wieder aus dem Griechi⸗ 
ſchen entlehr, die eine dem Iateinifchen Sprachgeifte angemefjene Geftaltung er⸗ 
hielten. Man nennt folche Worte griehifch-lateinifhe. Das mittels 
alterliche Katein, gewöhnlich das Mittellateinifche genannt, hat auch in 
außerfirchlicber Beziehung vielfach eingewirkt, und man hat deshalb bei der= 
artigen Entlehnungen nicht an das Elafjljche Latein zu denken, indem das Mittels 
Iateiniiche eine große Anzahl Neubiltungen und neue Wortbegriffe aufzumweifen 
Hat **). — Wie bereitwillig das Volk die neuen chriftlichen Worte zugleich mit 


*) Bol, Bo. IV. Seite 238, 239. 

**, Die Gigenthümlichfeiten des Mittellateinifchen find im Allgemeinen fehr 
wenig befannt, da man auf den Schulen nur das Mafflfche Latein betreibt und jelten 
ein Lehrer im Stande ifl, auch nur eine lateinifche Urfunde genügend zu überfeken. 

V. 28 


386 ne Sprachwiſſenſchaft. De 


den neuen Anſchauungen aufnahm, wie innig es ſich in die neue Ausdrucksweiſe 
hineindachte und Hineinlebte, das beweift die Geſtaltung biefer Lehnworte, welche 
fich gerade dadurch vor den eigentlichen Fremdworten auszeichnen. Zwar ift 
die Erfcheinung, daß ein fremdes Wort von den jungen und fräftigen, in ber 
Entwidelung begriffenen Völkern durch den Seftaltungstrieb der Sprache nad 
der Weife der einheimifchen Worte behandelt wird, auch bei folchen wahrzuneh- 
men, welche nicht auf das Chriſtenthum, fondern auf das praftifche Leben und 
auf andere geiftige Gebiete Bezug Haben. Allein ihre bedeutende Anzahl und 
ihr häufiges Vorfommen in den Schriftdenkinalen beweift doch, daß ſich dad 
Volk nicht gegen fie fträubte, fondern daß fle ihm geläufig und werth wurden. 
Hatten auch hauptfächlic nur bie Geiftlichen Gelegenheit, diefe Worte in den 
un erhaltenen deutfchen Schriften niederzulegen,, fo Eonnten fie doch nicht nach 
eigener Willkür verfahren; fle mußten fich derjenigen Geftaltung fügen, welde 
der Volksmund gefchaffen. Daher, auch die verfchiedene mundartliche Kärbung 
der einzelnen Ausdrüde, die in den althochdeutfchen Quellen bald jo, bafd jo 
überliefert find. 

Bei Betrachtung der chriftfichen Lehnworte, denen durch das Tange ge 
noffene Gaftrecht gewiſſermaßen das Bürgerrecht in unferem Sprachichage zu 
Theil geworden, joll im Allgemeinen die Ordnung eingehalten werden, in wel⸗ 
her Rudolf von Raumer in feinem trefflichen Werke: „Die Einwirkung des 
Chriſtenthums auf die althochdeutfche Sprache. Ein Beitrag zur Gefchichte ber 
-Deutjchen Kirche (Stuttgart 1845, Berlin 1851) fämmtliche chriftliche Aus« 
drücke in althochdeutſchen Quellen befpricht. Es verftebt fh, daß wir es nur 
mit den entlehnten zu thun haben und nicht mit einheimifchen wie Glaube, 
DOftern, Demuth, welche mit der Zeit eine fpecifijch chriftliche Bedeutung er⸗ 
halten haben. 

Was von allen dunkeln Worten in eiymologifcher Beziehung gilt *), er⸗ 
leidet auch auf Die fremten Worte Anwendung: es herrfchen bisweilen Zweifel 
über Abftanınung und Stammwort. Jnudeß find die Fälle nur felten, in denen 
fi zwei Erymologieen gegenüberftehen. — 

Die Worte Chriſt, chriſtlich, Chriſtenheit find, wie wohl allge 
mein befannt ift, von tem Namen unfered Heilandes gebildet und entlehnt. 
Chriſtus, zorarog bedeutet „der Gefalbte, Geweihte, Geheiligte‘. Wir 
jchreiben heutigen Tages aus einer gewiffen hiftorifchen Pedanterie diefe Worte 
im Anlaute mit ch, während fe im Mittelalter mit k und c gefchrieben zu wer⸗ 
ben yflegten, wie es ber Ausſprache angemeffen war. Ja fogar der Rame 
Chriſtus, den wir jeßt nur mit der fremden Endung gebrauchen, wurde fo 
heimiſch und echt deutſch, daß die Form Krift wie ein deutjcher Eigenname ber 
flinirt wurde: Gen. Kriftes, Dat. Krifte, Acc. Kriften. 

licher Die Etymologie von Kirche, welches offenbar Fein beutfches, ſon⸗ 


Ueber das Mittellateinifche gebenfe ich einmal in den Wiſſenſchaften im 19. Jahr: 
Hundert beſonders und ausführlicher zu ſprechen. 
*) Bel, Br. IV. Seite 734, 


Die Fremdworte in der beutfchen Sprache. 387. 


dern ein entlehntes Wort iſt, wurden. zwei Anftchten aufgeftell. Wilhelm 
MWarernagel leitet es ab vom Iateinifchen Circus, circulus, mit der Be 
deutung: „runde und Halbrunde Form der Zauffapellen und Chöre.” Dem 
fegi R.v. Raumer einige wohl begründete Bedenken entgegen und will e8 lieber 
ableiten von dem griechifchen xuvguuxr, gewöhnlich xuguuxo» (Küriakä, Küria- 
kon), welches ein adjectiviiches Subftantivum ift und die Bedeutung hat: was 
denn xvosos (Kürios), dem Herrn gehört, dad Haus des Herrn, woraus fich 
dann der Begriff erweitert zu „Gemeinde der Ehriften, Gefammtheit aller Mit- 
glieder der chriftlichen Gemeinſchaft“. Diefe letztere Etymologie ift, fo viel ich 
weiß, allgemein anerkannt. 

Dap die Worte katholiſch, Katholik aus dem griechifch=Tateinijchen 
catholicus, griechifch zuFoArxöc, „‚allgemein‘, entlehnt worden ift, ift bekannt. 

Richt minder ift ed befannt, daß die Worte Prophet, Apoftel, Mär— 
tyrer aus ber Kirchenfprache genommen worden find. Dagegen dürfte es we⸗ 
niger zur allgemeinen Kenntniß gelangt fein, daß die Worte martern und die 
Marter fich wieder au Märtyrer (griechifch «aervo, martür, Zeuge, im 
chriſtlichen Begriffe „Blutzeuge“) entwidelt und fortgebildet haben. Marter 
und martern alfo find echte Lehnworte. 

Durch das ganze Mittelalter hindurdy und noch heute in. der katholiſchen 
Kirche theilen fich Die Glieder der Ehriftenheit in ten Klerus, in die Prie> 
fterichaft und in die Laien. Daß Klerus ein fremdes Wort tft, lehrt 
ſchon die Endung. Das adjectivifche Subftantivum clericus, Klerifer wird 
im Althochdeutſchen durch phaflo, pfalfo gegeben. Den üblen Rebenfinn, den 
unjer Bfaffe hat, kennt die frühere Zeit nicht. Pfaffe iſt gebildet von dem 
Inteinifchen papa, Vater, mit welchem Worte noch im fünften Jahrhundert 
nicht allein der Bapft, fondern alle chriftlichen Bifchöfe angerebet wurden. Das 
entlehnte deutjche Wort wurde gerade im ©egenfage zu papa auf fämmitliche 
Seiftliche, mit Ausichluß der Kloftergeiftlichen, ausgedehnt. 

Priefter ift ein echtes Lehnwort. Es ift gebildet vom griechifch- lateini⸗ 
fhen presbyter, griechifch nesoßvregog (presbüteros), was urfprünglich den 
Vorfteher der Gemeinde bezeichnet. Der deutiche Ausdrud für den Begriff 
„Prieſter“, der bis in's fpäte Mittelalter hinein noch gebräuchlich war, ift jetzt 
vollftändig aufgegeben, nämlich &wart, Ehewart, gebildet wie Thorwart. 
Ehe, &, bedeutete früher Geſetz, Neligionsgefeg, Cwart alfo „Geſetzesleiter“. 
So wurde audy früher ftatt „‚alted und neues Teftament” viel häufiger ges 
fagt: „die alte und die neue Eh'.“ 

Das Wort Laie, mittelhochdeutfch Leie, Leige, althochdeutſch Leigo, 
ift entlehnt aus dem griechifch-lateinifchen Jaicus und dieſes aus dem adjectivi⸗ 
ſchen Subftantivun Aaixo/ (laikoi), „die aus dem Volk, Auog (laos).“ 

Wie die allgemeinen Bezeichnungen Pfaffe und Priefter, fo find auch 
die Namen der Eirchlichen Aemter vielfach Lehnworte. Die höchfte Stelle nimmt 
unter ihnen der Papſt ein. Die heutige Form bat im Auslaute ein unorgani« 
ſches ı erhalten, früber hieß es bäbes. Das Stammwort iſt das lateiniſche 
papa, von dem auch Pfaffe gebiltet wurte. R. v. Raumer flellte wegen bed 

25* 


388 Sprachwiſſenſchaft. 


eigenthuͤmlichen s in bäbes als Vermuthung Hin, welche ſich auf eine Anflcht 
des Walafried Strabo gründet, dad Wort ſei nicht von papa, ſondern unmittel» 
bar von dem griechifchen nanzag (papas) genoumen, während pfaffo in ber That 
das lateinifche papa zum Stammworte hat. Doc) gab er die Vermuthung auf 
und trat der Anficht Jacob Grimm’s bei, der dies s aus dem altfranzöfifchen li 
papes erflärt. 

Die Ableitung von Biſchof ift befannt. Doch iſt es fraglich, ob Die 
deutſche Bildung unmittelbar aus dem griechifch=Tateinifchen episcopus (eigentl. 
der Aufſeher) entftand oder aus dem italienifchen vescovo. In mittelafterlichen 
Handſchriften begegnet auch biöweilen die eigenthümliche, ber deutichen Wort« 
bildung angenäherte Nebenform pischolf, bischolf. Gerade bei diefem Worte 
zeigt fich recht deutlich, wie die verfchiedenen Sprachen, ihrem Sprachgeifte und 
Geftaltungstriebe folgend, in der Bildung gemeinfamer Stämme auseinander- 
gehen. „Wer follte‘, fragt Raumer, „wenn wir es nicht hiſtoriſch wüßten, 
glauben, daß das deutfche Bischof und das franzäftfche ev&que ein und daſſelbe 
Wort find?’ 

Im Range über dem Bijchofe fleht der Erzbifchof, gebildet aus archi- 
episcopus. 

Dem Bifchofe folgt der Decan. Im Althochdeutfchen wird nach dem 
Geſetze der Lautverſchiebung die Tenuis k oder ce in Decan zur Aspirata ch: 
dechan, und fpäter wie in Papft ein unorganifches t hinzugefügt: Dechant. 

Propft, ältere Form probist, probest, wurde entlehnt aus dem lateini⸗ 
fchen praepositus, d. h. wörtlidy „der Vorgeſetzte“. 

Pfarrer iſt zunächſt gebildet von die Pfarre wie Gärtner aus 
Garten, Förfter aus Forſt, und Pfarre wurde entlehnt aus tem grieckifch« 
Tateinifchen parochia, und diefed wahrfcheinlich aus ragoıxla (paroikia, die Um- 
wohnerfchaft). 

Diaconus und Banonicuß find in ihrer fremden Geftalt geblieben; 
öfter8 wird bei dem erften Worte die Tateinijche Endung weggelaffen: Diacon, 

Kanzler, ehedem auch im Eirchlichen Sinne gebraucht, entftand aus dem 
Tateinifchen cancellarius. 

Schulmeifter enthält zwei Lehnwort, Schule und Meifter. Säule 
ſtammt, wie befannt, zunächft aus dem Tateinifchen schola, oder wie man beffer 
ſchreiben und fprechen follte, scola, und dieſes aus dem griechiichen oyoAy 
(scholä). Meifter ift nicht, wie Manche glauben, eine Bildung aus Den Su⸗ 
perlativ meift, fondern eine Zufammenziehung aus magister, wenn auch meift 
und der Gomparativ magis gemeinfamen Stamm haben. 

Daß Küfter mit den Tateinifchen custos zufammenbängt, dürfte befannt 
fein, doch ift die Form auf er zunächft vom mittellateinijchen custorarius, coste- 
rarius genommen. Reben kuster auch in älterer Zeit die Form guster. 

Mefiner, ältere Form messenaere, mesinari, wird vielfach von Meffe 
abgeleitet. Das aber ift ein Irrthum; das Wort ift vielmehr eine Entichnung 
und Entſtellung aus dem Tateinijchen mansionarius. 


‘ 


Die Fremdbworte in der deutfchen Sprache. 389 


Der Rame für bie geiſtliche Stelle iſt Pfründe, phrüende, phruonde, 
wahrſcheinlich entlehnt aus dem mittellateinifchen praebenda. Wackernagel und 
Franz Pfeiffer wollen das Wort vom Tateinifchen prandium, die Mahlzeit, ber- 
Jeiten. 

Nicht minder find die Ausdrüde aus dem Klofterlchen vielfach gut deutfch 
geworden, — Klofter felbft entftand aus dem Tateinifchen claustrum. Die 
Klaufe, altveutfch clüse, iſt, wie man leicht ficht, geradezu vom Tateinifchen 
elusa hergenommen. Mönch wurde entlehnt auß monachus, Ronne aus dem 
mittelateinijchen nonna. Ein der Nonn, der Ronne haben wir nicht, doch 
iſt nonnus im Mittellateinifchen vorhanden und hat die Bedeutung „Mönch“. 


Urfprünglich bezeichnen nonnus und nonna jede ältere Perfon, der man 
Achtung ſchuldig iſt, dann eine Perfon geiftlichen Standes und fchließlich erft 
einen Klofterangebörigen. Daß Abt, abbet von abbas, Aebtiffin, eptischta 
bon abbatissa gebildet find, tft allgemein befannt. — Wie Kirche und Klofter 
find auch die anderen Ausdrüde für die Botteshäufer dem kirchlichen Latein ent⸗ 
lehnt: Dom entftand aus domus, zunächft das Haus, dann das Gotteshaus‘, 
Kapelle, in älterer Zeit auch käppel, aus capella; Münfter aus monaste- 
rum. Altar flammt vom lateinifchen altare, und hat in der heutigen Geſtalt 
und Betonung (altär) mehr den Charakter eines Fremdwortes; im Mittelhoche 
dentfchen ift die Form älter die gewöhnliche. Glocke ift entlehnt vom mittel 
fateinifchen glocca, Orgel vom griechifchen organon *), Kanzel von dem 
fpätlateinifchen cancelli, d. h. das Gitter, die Schranke. 


Die Benennungen ber einzelnen Theile der Prieftertracht wie Stola, Albe, 
Dalmatika, Inful find aus leicht begreiflichen Gründen nicht fo volfsthümlich 
geworben, daß fie ein deutſches Ausfehen hätten erlangen Fönnen. — 

Die Hauptfefte in der chriftlichen Kirche haben zum Theil deutfche, zum 
Theil fremte Namen. Feſt ſelbſt ift entlehnt aus dem Lateinifchen festum, d. h. 
dies festus. Auch Feier, feiern find Lehmworte aus dem Iateinifchen feria. 
— Weihnachten und Oftern find deutfche Ausdrücke, Pfingften dagegen 
ift eine Entlehnung aus dem griechifchen zrevrexoorn (pentekostä), hinzugedacht 
Hylpa (hämera), Tag: der funfzigſte Tag nach Oſtern. — 

Auch der Gotteddienft und die Safrgmente haben zum Theil die kirchlich⸗ 
lateinifchen Austrüde behalten, fo vor Allem der wichtigfte Theil bed Gottes⸗ 
dienftes, Die Meſſe, Iateinifch missa. Die Etymologie von missa ift noch nicht 
zweifellos feftgejtellt. Einige wollen es für das Femininum Participii Präfen- 
tis halten wegen des Ausdrucks: ite, missa est ecclesia oder concio, „gebt, die 
Berfammlung ift entlaffen‘‘; Andere erklären missa für ein mittellateinijches 
Subftantivum, welches gleich missio, die Sendung, wäre. Daß der Ausdrud 
Meſſe für „Jahrmarkt“ (Leipziger Meffe, Brankfurter Meffe) eben von der 
kirchlichen Meſſe benannt wird, ift Allen bekannt. An den Kirchenfeften fan⸗ 
den gewöhnlich große Iahrmärkte flatt und dieſe wurden dann ſelbſt Meflen 


*) Wechſel zwifchen I und n: f. Bd. IV., Seite 537, 538, 


390 nn Gprachwilienigeft: - 


genannt. So heißt in München der große IJahrgarkt „die Dult“ und biefes 
dult, gothiſch dulths, bedeutete früher „Kirchenfeſt“, zunächft allerdings bie 
Duldung, das Leiden, die Paſſton irgend eines Heiligen oder felbft Chrifti. 

Meffe ift nicht gleichzuftellen mit Mette. Mette, althochdeutfch mettine, 
ift der Krühgottesdienft, gebildet von matutinae. 

In der proteftantifchen Kirche bildet die Bredigt den Mittelpunkt bes 
Bottesdienfted. Predigt, predigen, Prediger find entlehnt aus bem 
Iateinifchen praedicare, praedicatio. Im Flafflichen Latein bedeutet praedicare 
zunächft „vorausverfündigen‘ und dann „‚preifen, rühmen“. Seine Bedeutung 
„predigen, das Wort Gottes verfündigen” ift lediglich mittellateiniſch und 
kirchlich⸗lateiniſch. 

Unſer Wort Kelch, welches jetzt einen ſehr weiten Begriff hat, bezeichnete 
anfaͤnglich nur den Abendmahlskelch; es iſt entlehnt aus dem lateiniſchen calix, 
d. h. eben der Kelch. Die alte Form lautet kelich. 

Im Abendmahl empfangen die Gläubigen den Segen. Dieſes unſer 

Wort Segen und dad Verbum ſegnen, die wir jegt in vielfacher Bedeutung 
und Beziehung anwenden, ‚find der Entſtehung nach höchſt wahrfcheinlich rein 
chriftliche Ausdrücke. Sie fcheinen entlehnt vom Iateinifchen sigaum, d. h. in weis 
terem Sinne überhaupt „Zeichen“ und im engeren und chriftlichen „Kreuzes⸗ 
zeichen”; fegmen von signare, „das Kreuzedzeichen machen”. 
Das Abendmahl nahın im Laufe der Zeit mehr und mehr die Seftalt eines 
Opfers an, und fo wird e8 auch oft genannt. Opfer fihlechtfin iſt das 
Saframent des Altars. Opfer felbft ift ein Lehmvort, gebildet aus offere, 
obfere, „darbringen“, fo daß alfo zunächft das Verbum opfern, althoch« 
deutſch opfarön, entflanden wäre. Weniger anfprechend ift die Etymologie 
Wadernagel’8, der Opfer und opfern vom Iateinifchen opera und operari 
herleitet, obgleich das pf in Opfer dem p in opera fprachlich beffer ent⸗ 
fprechen würde, 

Die proteftantifche Confirmation ift in ber Eatholifchen Kirche ein Sa⸗ 
frament. Während Sonfirmation geradezu ein Fremdwort zu nennen iſt, 
nähert fich der alte Ausdrud, der noch heute in Fatholifchen Rändern üblich iſt, 
mehr einem Lehnworte, nämlich firmen, firmeln, Sirmung, Firme- 
lung. In diefen Worten tft natürlich derfelbe Grundgebanfe und baffelbe 
Stammwort (firmare, befräftigen,, befeftligen) wie in Gonfirmation ent 
halten. 

Das Saframent der Iegten Oelung zeigt uns in Delung wieder eln 
Zehnwort. Delung fegt das Verbum dlen voraus, welched gewöhnlich in 
BZufammenfegungen vorzufonmen pflegt, wie in einölen, und biefes bas 
Hauptwort Del, welches aus dem lateiniſchen oleum, olivum entfland. Die 
alten deutfchen Formen find ole, oli, olei. — 

Die Bibel, die Heilige Schrift, ift, wie befannt, aus dem griechifch« 
fateinijchen biblia entftanden, und dieſes biblia, urfprünglich der Plural von 
biblion, biblium, das Buch, wurde durch eine Art Migverftändnig zum Singu⸗ 
lar eines Femininums. 


. 


Die Fremdworte in ber deutſchen Sprache. 391 


Die Schrift, wie die Bibel xar Eoynv genannt wird, führt uns auf 
das Lehnwort [hreiben vom Iateinifchen seribere. Daß es fo recht zu einem 
deutfchen Worte fich umwanbelte, zeigt fich darin befonders, daß es nicht wie 
bie meiften anderen entlehnten Beitworte ſchwach, fondern ſtark flectirt wird 
und fich ihm ein nach deutfcher Wortbildung geftaltetes Hauptwort „die Schrift” 
beigefellt, 

Unter den biblifchen Ausdrüden, die in der deutfchen Sprache aus der 
Bulgata ſtammen, ift die Arche hervorzuheben, Tateinifch arca. Im Mittel 
bochdeutichen wechfeln die Formen arche und arke. 

Kreuz, mittelhochdeutfch kriuze und kruce, althochdeutſch chruzi, chruce, 
ift entlchnt vom lateinifchen crux. 

Die Worte Engel und Teufel find beide entlehnt aus dem griechifche 
Iateinijchen angelus (@yyedog, der Bote) und diabolus (deußoAog, der Berleums- 
der, von deußdikeır, verleumden). Der Umlaut in Engel trat erfl fpäter 
ein, die althochdeutſche Form Iautet angil. Neben den früheren gewöhnlichen 
ornien tüvel, tiuvel, tievel kommt auch tivel vor, gefichert durch Reime wie 
zwivel (Zweifel), — Die anderen Namen bed Teufeld Satan, Beelzebub 
haben nicht zu eigentlichen Lehnworten werden können, das erftere iſt eö immer 
noch mehr ald das zweite. Brüher wurde Satanas beflinirt wie ein Deutjcher 
Eigenname: Gen, Satanases, Acc. Satanasan. — 

Unter den Ausdrücken der guten Werke ift als Lehnwort Almoſen, fri⸗ 
her alamuosan, zu bemerken. Es iſt entlehnt aus dem gricchiſch. lateiniſchen 
eleemosine, &Aezuootn. — 

Auch in anderen Lebendgebieten war das Lateinische von Einfluß auf un⸗ 
ſere Mutterſprache, da es die allgemeine Gelehrten⸗ und juriſtiſche Geſchaͤfts⸗ 
ſprache war, Seltener kommt es vor, daß in alter Zeit Worte unmittelbar aus 
dem Griechifchen entlehnt werden. Auch verfchiedene Dinge und Gegenftände, 
weldye zum Schmucke des Lebens gehören und erft durch Die wachjende Kultur 
den deutfchen Stämmen durch. römifche und ausländifche Vermittelung befannt 
werden, haben ihren urfprünglichen Namen behalten, wenn auch in ber durch 
die deutfche Zunge nothwendigen Veränderung und Umbildung. Es iſt nicht 
immer befannt, feit wann folche Lehnworte im Gebrauche waren, weil unfere 
Denfmale nicht weit zurüdreichen und aus Ältefter Zeit der vorhandenen nur 
wenige find. 

Das weltliche Oberhaupt der Chriftenheit, ber Reif er, hat einen ent⸗ 
Ichnten Namen von Caesar. Hieraus ift erfichtlich, daß das Wort fchon in 
ganz früher Zeit fich einbürgerte, da fich das k im Anlaute erhalten hat, wie 
die römtiche Audfprache ehedem war. Später wurde c vor e und i, wie wir es 
jet gewohnt find, gleich z gefprochen und jegt fprechen es die Italiener gleich 
isch, die Branzofen gleich ſcharfem s. Eben von Caesar iſt auch daB ruffifche 
Czaar gebildet. | | 

Die Stände Haben deutjche Namen: Adel, Bürger, Bauer. Man hat 
früher Burg, von dem Bürger gebildet ifl, zu einem Fremdworte machen 


9 nn: Cprpmwifeufcafk 


wollen und ed vom griechifchen zUugyog (pürgos, der Thurm) abgeleitet, es 
fteht aber im. Ublautöverhältniffe zu bergen, ſchützen, bebeden. 

Im Rechtsleben verleugnen die meiften fremden Ausdrüde ihr fremdes 
Ausfehen nicht, Worte wie Termin, Proceß, Acten, die jeder gewöhn- 
liche Mann verfteht, anwendet und wie heimijche betrachtet, kennt der Gebildete 
als Fremdworte. Ein Wort, welches jeine Abflammung etwas verftedt, iſt 
Vogt, gebilder aus dem lateiniichen vocatus, der Anwalt, dann der Herr, der 
Zürft, felbfl der König wird bisweilen Vogt genannt. 

Die Medicin mwimmelt von eigentlichen Brembworten. Das Mort 
Arzt, früher arzät, ift auch fremder Abftammung, was nur wenig befannt fein 
wird. Leber die Etymologie herrfchen verfchiedene Anſichten. Wackernagel lei⸗ 
tet ed ab vom griechifch-lateinifchen archiater, „welches zu Nero’8 Zeit der Titel 
der Keibärzte war. Das griechifche dexiarpog (archiatros), zufammengefegt 
aus &pyı und Zarpög wie archiepiscopus, archidux, bedeutet Erzheilfünftler. 
Müller dagegen erklärt im mittelhochdeutfchen Wörterbuche das mittellateinifche 
arlista als Stammirort von Arzt. — Die Ramen ber Krankheiten haben 
In neuerer Zeit einen beträchtlichen Zuwachs von fremden Ausprüden erhalten. 
Ob Sieber vom Tateinifchen febris geradezu entlehnt iſt ober mit Ihm nur eine 
gemeinfame Wurzel beſitzt, wage ich nicht zu entfcheiden. Gegen Entlehnung 
fpricht Die althochdeutfche Form fibar. Ein echtes Lehnwort ift impfen, früs 
ber impfeten, vom griechifchen Zugyvrevıw (empfüteuein, d. . einimpfen, 
einfegen). 

In den anderen wiſſenſchaftlichen Gebieten, in Philoſophie und Phi⸗ 
Iologie finden wir kaum ein einziges Lehnwort, defto mehr aber Fremdworte. 
Die vielgebrauchten und unentbehrlichen Worte Idee und Ideal nähern ſich 
dem Charakter des Lehnwortes. — Eines. der wichtigften Dinge, die gewifler- 
maßen zum Handwerkszeug des Gelchrten und der Gelehrfamfeit gehören, bat 
fih dagegen zu einem wirklichen Lehnworte geftaltet, nämlich Tinte. Es ent 
fand aus dem mittellateinifchen tincta, einem participialen Subftantivum. Die 
altbeutfche Korn, welche von der. urfprünglichen Form zu der jegigen gleichjam 
die Brüde bildet, lautet tinkte. Unſer Tinktur dagegen, gebildet von linctura, 
iſt Fremdwort geblieben. 

Wie ſchreiben ſo iſt auch dichten ein Lehnwort, welche vom lateini⸗ 
ſchen dielare ſtammt. Die neue Zeit bat dietars wiederum zu einem ger⸗ 
maniſirten Worte benutzt, zu dietiren, welches die fremde Abſtammung nicht 
verleugnet. — 

Die militärifchen Ausbrüce, vor allen die Ramen der Militärftellen, 
find überwiegend fremd und auch als eigentliche Fremdworte befannt. Die 
Waffen dagegen haben auch zum großen Theile deutfche Ramen, wie Helm, 
Schwert. Einzelne derfelben find echte Lehnworte, fo zum Beifpiel Banzer 
vom wmittellateinijchen panceria ‚und biefed von pancia, der Bauch, der Rumpf. 
Der deutfche Name für diefe Waffe ift brünne, den wir verloren haben. Gars 
niſch ſtammt vom altfranzöſiſchen harnois, das heutige harnais und dieſes wie» 
ber vom keltiſchen haiarn, dad Eifen. Die ältere Form von Harniſch iſt ge⸗ 


Die Fremdworte in der deuffhen Sprache. 393 


wöhnlich harnasch. — Die Urt, welche in unferen Tagen meift nur noch von 
dem friedlichen Handwerfer geführt wird, war ehedem eine wichtige Waffe. Das 
Wort Art, früher akes, ift entlehnt vom Iateinifchen ascia, d. h. eben Art, 
Beil. Der deutiche Name für Art iſt Barde, zufammengefegt in Helle» 
barde. Die tödtliche Waffe, an deren Stelle heute die Kugel getreten ift, war 
ber Pfeil, früher pfil, ein Lehnwort vom lateinifchen pilum. Der deuiſche 
Name dafür ift Bolz, Heute meift in der Korm Bolzen *), 

Da der Name Büchfe außer vielen anderen Bedeutungen auch eine fpe= 
cielle auf den Krieg und die Jagd bezügliche hat, fo fei es hier erwähnt, daß 
Büchfe aus dem griechifch- lateinischen pyxis entlehnt if. Das griechifche nvälg 
bedeutet zunächft ein kleines Gefäß von Buchsbaumholz, Tann überhaupt die 
Buͤchſe. — 

Dad Seewejen befigt wie das Kriegäweien eine große Anzahl fremder 
Worte. Die VBeftandtheile des Schiffes werden zum größeren Xheile deutſch 
bezeichnet, wenigftend durch eigentliche Lehnworte. Es kann die Frage fein, 
ob man das Wort Anker, welches befanntlich vom lateinifcyen ancora gebildet 
if, ein Fremdwort oder ein Lehnwort nennen will. Ein entichiedened Lchnwort 
Dagegen ift Segel vom lateinifchen sagulum. 

Das Seeweſen führt uns auf den Handel. Hier finden wir zunähft in 
den Gewichten nıehrere fremde Ausdrüde, fo unter anderen Gentner vom la- 
teinifchen centum, Hundert. In Pfund befigen"wir ein echtes Lehnwort auß 
dem lateinifchen pondus. — Unfer Wort Markt hat zunächft eine kaufmaͤn⸗ 
nifche Bedeutung. Die örtliche ift erft abgeleitet. Markt kommt vom lateinis 
ſchen mercatus, d. h. der Handel, der Markt. — Eine wichtige Seite des 
Handels ift der Zoll. Wahrſcheinlich entfland diefed Wort aus dem lateini⸗ 
fchen telonium, d. h. das Zollhaus. Der Zoll ift eben immer ein Erzeugniß der 
Kultur und des geordneten Völkerverkehrs. — Nicht Waare und Zoll allein, 
fondern auch der Zins Hat im Gefchäftsleben Werth und Bedeutung. Wenn 
wir das Wort „Zins“ gebrauchen, um dad fremde „Intereſſen“ zu vermeiden, 
fo meinen wir gut deutſch zu fprechen und doch ſtammt Zins vom lateinischen 
census. Da wir im Anlaute z flatt k haben, jo folgt, daß das Wort erſt fpäter 
fi in unferer Sprache einbürgerte. 

Die Ausbildung der Gewerke iſt ebenfalld immer eine Folge des geiftig, 
fortfchreitenden Völferlebend und hier zeigt fich nicht minder als im Handel der 
Einfluß benachbarter Nationen. Die Gewerke und die Handwerfer haben ihren 
Namen natürlich nach den Gegenftänden, welche ausjchlieglich ober Doch haupt⸗ 
fächlich verfertigt werden. Wenn nun dieſer Gegenſtand der Arbeit ein Lehn⸗ 
wort ift, jo bat auch das Gewerk einen nicht deutichen Ranıen. Zimmermann, 
Fleifher, Bäder, Müller find deutfche, aber Tifchler und Schreiner 
find Heide entlehnte Worte. Tiſch ift gebildet vom griechiichelateiniichen discus, 
die Scheibe. Zunäaͤchſt wird die Tifchplatte mit discus bezeichnet worden fein 
und dann erft der ganze Tiſch. Schrein (der Schrank), früher schrin, serin, 


*) Byl. Br. IV. Seite 346, 347. 


394 0 Spracwifienihaft. 


flanımt vom Tateinifchen serinium. Oefters hat ein Gewerk, welches nach land⸗ 
fchaftlichem Gebrauche verfchieden genannt wird, neben der einheimifchen Bes 
nennung eine fremde. Böttcher, gebildet von Bottich, früher boteche, 
botege, und daß gleichbebeutende, nahe verwandte Büttner von Butte, bütle, 
find deutfchen Stanımed, Küfer (niederdeutſch Küper) dagegen von Kufe, 
kuofe, chuofa, ift entlehnt vom lateinifchen cupa oder copa. Die Verkleine⸗ 
rungsform von cupa iſt cupellus, aus welchem unfer Kübel entſtand. Des» 
Halb auch „die Kufe” und „der Kübel”. 

Eine ganz beträchtliche Anzahl Gegenftände, die uns täglich vor Augen 
find und die wir nothwendig zum Leben bedürfen, haben entlehnte Namen. 
Schwer wäre es und ermüdend zugleich, wenn wir fle alle in beflinnmter Ord⸗ 
nung befprechen wollten. Deshalb möge im Geifte eine Wanderung durch rin 
Haus angetreten werden; alles, was und in die Augen fällt, wird auf dieſe 
Weiſe am leichteften von und betrachtet und Defprochen werben Eönnen. 

Ehe wir an das Haus gelangen, haben wir erft einen Weg durch eine 
Straße zu machen. (Hier ſtehen wir fchon an einen Lehmworte: Straße ift 
gebildet vom mittelllateinifchen strata, d. 9. Weg. Im klaſſiſchen Latein Heißt 
strata via der geebnete Weg.) Das einzige, was und an Diefer Straße nicht 
gefällt, iſt das Pflaſter. (Pflafter, entlehnt vom griechijch» Tateinifchen em- 
plastrum.) Die ‘Platten für da8 Trottoir find Teider noch nicht gelegt. (Trote 
toir, natürlich ein Fremdwort aus dent Sranzöflichen, Platte dagegen ein 
Lehnwort aus dem mittellateinifchen plata, d. h. eben die Platte.) Wir müffen 
an einer hohen Gartenmauer vorbei. (Mauer, früher müre, ein Lehnwort 
vom Tateinifchen murus.) Zunähft füllt uns an dem Haufe ein Thurm auf, 
welcher ihm ein palaftähnliches Anfehen gibt. (Thurm, früher turn, in der 
älteften Zeit auch) turri, turra, entlehnt vom Tatelnifchen turris, d. h. eben 
Thurm.) Palaft, früher palas, ebenfall® ein Lehnwort von palatium, ur« 
fprünglich einer der fleben Berge Roms, dann die Wohnung eined Kaifers ober 
vornehmen Herrn. Don palatium ift ferner unfer Wort Pfalz gebildet.) Das 
Haus ift noch nicht ganz fertig; es ift noch nicht mit Kalk beworfen, erft im 
nächften Sahre foll die Tüncherarbeit beginnen. (Kalk, ein Lehnwort tom 
fateiniichen cal. — Tüncher und das Zeitwort tünchen find gebildet von 
dem Hanptworte die Tünche. Daß diefes „Tünche“ Fein deutfches Wort if, 
kann nicht bezweifelt werden, wohl aber vielleicht die Etymologie, welche Wacker⸗ 
nagel aufftellt und welche auch in Grimm's Wörterbuche vertreten wird. 
Tünche foll entlehnt fein vom lateinijchen tunica, wie das Unterkleid der Mds 
mer genannt wird. Sehr leicht Fonnte fich der Begriff erweitern, fo daß tunica 
fpäter Das Kleid überhaupt bedeutete und die Bekleidung. In der That iſt 
die Tuͤnche nichts anderes als die Bekleidung der Wand.) 

Wir gehen zur Pforte des Haufe ein und gelangen in den geräumigen 
Eſtrich. (Pforte, ein Lehnwort and dem Iateinifchen porta. Die Worte 
Thor und Thür dagegen find deutſch. Thür, eigentlich tür, hat man früher 
als Lehnwort vom griechiichen Ivow (thüira) angefehen. Das aber ift nicht der 
Hal, Thür ſteht mit Ivon im Verhältuiffe der Urverwandtſchaft. — 


Die Fremdworte in ber deutſchen Sprache. 395 


Eftrich, wie man befonders in Rorbdeutfchland für „Hausflur“ fagt, wurde 
gebildet aus dem mittellateinifchen astricus oder astracum. Im urjprünglichen 
Latein heißt astricus befternt. Wan nannte wohl wegen der Sterne, der Ro⸗ 
fetten in dem Fußboden dieſes Raumes den Raum felbft astricus, ben bes 
fternten.) 

Einer der werthvollſten Theile des Hauſes ift ein guter Keller, weshalb 
eine Befichtigung nicht unnüg erjiheint. (Keller, ein Lehnwort vom lateini⸗ 
[hen cellarıum, gejprochen kellarium.) Wir bedürfen aber, da e8 im Keller 
dunkel ift, einer Lichtflamme und zünden deshalb eine Kadel an. (Flamme, 
vom lateinifchen Aamma, ift halb Bremdwort, halb Lehnwort. — Fackel, ſtammt 
vom lateinifchen facula, die Verkleinerungsform von fax, d. h. ein Stück Kiens 
holz, eine Fackel) Im Keller Tiegen verfchiedene Faͤſſer, welche theild mit 
Mein, theild mit Bier gefüllt find. (Faß ift Feine Entlehnung vom lateini⸗ 
ſchen vas, Gefäß, denn die Sprachen, die auf der gothifchen Stufe ftehen, haben 
fat. — Daß der Wein, altdeutfch win, Fein beutfches Gewächs ift, fondern 
dag er erfl Durch die Römer in unfer Vaterland fam und darum auch feinen 
Kamen vom lateinifchen vinum (winum) erhielt, das ift wohl als allgemein be» 
kannt voraudzufegen. — Ueber das Wort Bier find die Meinungen getheilt. 
Die Einen erflären es ald Lehnwort von mittellateinifchen biber, d. t. gleich 
bibere, trinfen. In ben flavifchen Sprachen zeigt fich dieſe urfprüngliche 
Korm, das Bier heißt dort bibere. Bier alfo wäre dad Getränf ſchlechthin. 
Die Anderen ftellen Bier zu dem gothifchen baris, dem angeljächftfchen bere, 
dem englijchen barley, dem altnordifchen barr, welche alle Ger ſte bebeuten und 
Bier bedeutete Gerftentranf, Beide Etymologien haben viel Anfprechens 
des.) — Außer den Bäflern befinden fidy noch im Keller verfchiedene Käften und 
Körbe mit Früchten. (Kaften, im Mittellateinifchen casto, ift vielleicht doch 
urfprünglich deutfh, Korb dagegen ein Lehnwort vom Tateinifchen corhis. — 
Ob Frucht Entlehnung von fructus oder ein deutſches Wort tft, an welchem 
fich die Rautverfchiebung vollzogen hat, fcheint noch unentfchieden.) 

Hierauf begeben wir und in die oberen Stockwerke des Haufe, um bie 
Säle, Stuben und Kammern zu befihtigen. (Kammer, entlehnt vom lateinis 
ſchen camera.) In einem Zimmer fällt uns ein gefchmadvoller Kamin auf. 
(Ramin ift wohl eher ein Fremdwort als eim Lehnwort vom lateinifchen cami- 
nus, die Keuerftätte, der Ofen. Das dazu gehörige Verbum camino fommt im 
klaſſtſchen Xatein faft gar nicht vor. - Das mittelalterliche Latein bildete daB 
Femininum ded PBarticipiums Paſſivi zum Hauptworte aus: caminata, d. h. 
ein heizbares Gemach und aus biefem entfland das Wort kemenäte, unfer 
Kemnate) Dem Kanine gegenüber befindet ſich ein reichgeſchmückter Spies» 
gel. (Spiegel, LXehnwort vom Tateinifchen speculum.) Den beften Ges 
Ichmar zeigen ferner in dieſem Zimmer die Teppiche und die Sammttapeten, 
(Teppich und Tapeten find beides fremde Worte; im Grunde bedeuten 
fie ein und daffelbe, im Laufe der Zeit gingen die Bedeutungen auseinander. 
Das Elafjifche Latein Hat die Worte tapes, Gen. tapelis; tapete, Gen. ta- 
petis und lapelum, Gen. tapeti mit der Bedeutung „Negpidg, DAR mike 


206 2 vraqhwiſſenſchaft. 


alterliche Latein bildete daraus tapicus, worauß unfer Teppich. Neben 
teppich, teppech fommt auch in Mittelhochdeutichen Die Form Lapeiz (tapeik) 
vor. Unſer Tapete kommt erft fpäter in Gebrauch und iſt fomit als Fremd⸗ 
wort anzufehen. Während feine Grundbedeutung „Dede, Teppich” ift, nahm 
es die engere Bebeutung „Dede für die Wand’ an. Belanntlid wurden 
die Wände früher nur mit Teppichen bekleidet. Jetzt kann die Tapete aus 
jedem Stoffe beitehen, fo auch aus Papier. — Unfer Wort Sammt, alt» 
beutich sämit, ift entlehnt aus dem mittellateinifchen samitum und dieſes ent⸗ 
fand nach Wadernagel aus dem griechiſchen Euros (hexamitos). 

Aus dem Staatözimmer treten wir in ein Bibliothefd- und Arbeitszim⸗ 
mer. (Bibliothek ift natürlich ein Kremdwort.) Hier finden wir an Der 
Wand verjchiebene Tabaköpfeifen hängen, und dag ber Veflger ein Freund 
des Rauchens ift, fchliegen wir auch daraus, daß eine große Anzahl Cigarren⸗ 
Eiften umherſtehen. (Pfeife, früher pfife, ein Lehnwort aus dem lateini⸗ 
ſchen pipa. Im Riederbeutfchen noch heute Pipe. — Kiſte iſt entlehnt aus 
dem griechiich»Tateinijchen cista.) Auf dem WUrbeitstifche Tiegen eine große 
Menge Papiere und Briefſchaften. (Tiſch haben wir ſchon als Lehnwort 
fennen gelernt. — Bapier flamnıt befanntlich von papyrus. — Brief if 
entlehnt vom mittellateinifchen brevis, wahrjcyeinlich hinzugedacht scriptura, eine 
kurze Schrift, ein Brief.) Sehr gejchmadvoll ericheint uns die Studirlampe. 
(Zampe, ein Lehnwort vom griechifchelateinifchen lampas, Licht, Fackel. — 
Unfer Wort Ampel fcheint Rebenform von Lampe.) — 

Wenden wir und von den Kunftproducten zu Gegenfländen aus ber 
Ratur. Die Bezeichnungen für die Theile des Körpers find, foweit ſie nicht 
ben technifchen Ausdrüden der Anatomie angehören, zum größten Theile Deuts 
fhen Stammes. Körper felbit ift Lehnwort aus dem Iateinifchen Corpus. 
Im Mittelhochdeutſchen begegnet öfters die Zorn Körpel. Der beutfche 
Ausdruck für Körper iſt jetzt Leib, früher lich, unfer Keiche *), was heut⸗ 
zutage nur den todten Körper bezeichnet. — Kopf ift wahricheinlich ent» 
lehnt vom mittellateinifchen cuppa, wovon auch unfer Kuppe, Berges⸗ 
kuppe. 

Die Namen ber Thiere müſſen ſelbſtverſtaͤndlich einheimiſche oder fremde 
fein. Löwe, vom lateiniſchen leo, iſt vollſtändig eingebürgert, ebenſo Ka⸗ 
meel, Elephant. Ein ächtes Lehnwort iſt Pferd, früher phaerit, vom 
mittellateiniſchen fridus, paraveredus, d. h. zap« (para) -veredus, Neben⸗ 
pferd, Poſtpferd. Der deutſche Name dieſes Thieres iſt Roß, früher auch 
ors, engliſch horse, welches hauptſaͤchlich das Streitroß bezeichnet. — Die 
Pflanzen haben vielfach entlehnte Namen, Pflanze ift jelbft Lchnwort vom 
lateinifchen planta. Roſe jtammt von rosa, Beilden von viola. Die 
Kamen der Steine find zum großen Theile technijche Ausdrüde aus ber 
Mineralogie, die jelbft der gemeine Mann richtig verfteht und anwentet. — 


*) Vergl. Bd. IV., Seite 750. — Leib, Up, bebeutete früher „Leben“ unb 
diente zur Bezeichnung der Perfon, eines ritlers Hip == ein Ritter. 


. Die Fremdworte in der deutſchen Sprache. 397 


Verſchiedene aus dem Mittellateinifchen ftammende Worte, welche früher 
im Gebrauche waren, find außgeftorben. Diefe waren alfo zu ihrer Zeit mehr 
eigentliche Fremdworte als Lehnworte. Oft fcheinen die entlehnten Worte nicht 
unmittelbar aus dem Wittellateinifchen genommen, fondern aud tem Branzd« 
fifchen. — Eine fehr beliebte Speife war im Mittelalter eine Obftbrühe, agraz 
(agra&), genannt vom altfranzöftfchen acre, aigre, mittellateinijch agresta; 
das Wort iſt vollftändig verloren gegangen. Viele Worte, die ſich auf Waffen 
und Ritterfpiel beziehen, bilden im breizehnten Jahrhundert durch franzöftfchen‘ 
Einfluß eine Art Höfifche und ritterliche Terminologie. Manche blieben nicht 
auf die vornehmen Kreife befchräntt, fondern gingen felbft in die Volkspoeſte 
über. Und dennoch erhielten fi nur wenige bis in unfere Zeiten. Einige 
diefer audgeftorbenen franzöflichen Lehnworte mögen genannt werden. Das 
beliebte ritterliche Kampfipiel, wobei man nicht einzeln, fondern in Schaaren 
auf einander eindbrang, hieß buhurt vom altfranzöflichen hehourd, behoret. 
Im Provenzaliichen findet fich die Form beort, im Mittellateinifchen behor- 
dium, behordicum. Urfprünglich ift buhurt deutfche8 Stammes; hurt, hurte 
bedeutete das fchnelle ftoßende Losrennen und behurt wurde als fremdes Wort 
wieder zu und zurüdgebracht. Erhalten bat fi das Adjectivum hurtig. 


Der Zweifampf, den wir jegt mit dem Fremdworte „Duell“ bezeichnen, 
hatte den Namen tjost, Ljoste vom altfranzöfifchen joute, joste, jeste und 
dieſes vom lateinifchen juxta. 


Eine andere Bezeichnung für das gegenfeitige Anrennen war puneiz 
(punei&) vom franzöflfchen pugneis, poignais, gebildet von pugna, Kampf. 

„den Schlachruf erheben’ Hatte Die technifche Bezeichnung kroijieren, 
kriieren, der Schlachtruf felbft hieß krie vom altfranzöflfchen crie, Ruf, 
Echrei. 

Die Lanze hatte den Namen glavin, glevin von glaive, Wurfſpieß, Schwert. 
Der Lanzenſplitter hieß trunzün. Barbier, barbiere wurde die unter dem 
Helm befindliche Bedeckung des Geſichts genannt, in welcher zwei Löcher für 
die Augen ausgeſchnitten waren. Eine Verſchanzung, von welcher aus die 
Belagerten Ausfälle machten, hatte die Bezeichnung barbigan, vom altfran⸗ 
zöſiſchen barbacane, mittellateiniſch barbacana. 


Unſere fremden Worte Couvert (Tifchgeded) und Pavillon waren 
fhon früher in unjerer Sprache im Gebrauch, aber in anderer Yorm. Ko- 
vertüre, kovertiure vom franzöfljchen couverture hatte die Bedeutung: koſt⸗ 
bare Pferdedede. Pavelün, poulün oder pavilune, pavelune vom franzöftjchen 
pavillon, mittellateinifch papilio *), wurde das „Zelt“ genannt. 

Es ift überhaupt bei entlehnten Worten aus dem Branzöflfchen daran zu 
erinnern, daß der franzöftfche Einfluß nicht erft mit der Zeit Louis XIV. bes 
ginnt. Faſt ebenſo bedeutend war er zur Zeit der höchſten Blüthe der mittel« 
hochdeutſchen Dichtkunſt. Die hervorragendſten erzählenden Gedichte jener 





*) Im Haffifchen Latein „Schmetterling“: 


398 u Eprachwiſſenſchaft. 


Zeit, natürlich mit Ausſchluß der Volksepen, ſind Bearbeitungen franzöfiſcher 
Originale, ſo der Parvival, der Iwein. Auch auf das deutſche Minnelied 
bat die Poeſie der Troubadours mächtig eingewirkt. Un den Höfen wurde 
franzöfljch gefprochen, wenn auch das Mittelhochdeutſche als Hofiprache über. 
wiegend war. Die Fürſten udirten vielfad in Paris und brachten von dort 
franzöftfche Sprache, franzöfifche Sitten und Anſchauungen mit. So fudirte 
unter anderen auch der berühmte Landgraf Hermann in Thüringen, der Sänger- 
'freund in Paris. Er erwarb dort Handfchriften franzöfifcher Gedichte, welche 
ex feinen befreundeten Dichtern zur Bearbeitung übergab. Daher iſt es er- 
Härlih, daß fich jo viele franzöſiſche Worte in unferer alten Poeſie finden, 
Haben wir einzelne betrachtet, welche fich in unjerem Sprachſchatze nicht er 
hielten, fo muͤſſen jeßt einige genannt werden, welche ſich vollftändig einge 
bürgert haben und jomit zu den echten Lehnworten gehören. 

Außer dem jchon genannten Worte Harniſch ift es vor allen das Wort 
Abenteuer, welches aus jener Zeit herſtammt. Mit Abend und theuer 
hat es gar nichts zu thun. Es ift entlehnt vom altfranzöflichen aventure und 
dieſes vom mittellateinifchen adventura (von advenire), die Begebenhrit. Die 
mittelhochbeutfche Form iſt aventiure (gefprochen aventiüire). Daß das Wort nicht 
unmittelbar aus dem Mittellateinifchen genommen wurde, zeigt ſich darin, daß 
es erit nach der Bekanntſchaft mit den franzöſiſchen gereinmten Ritterromanen 
Eingang fand. Namentlich diente das Wort zu den Ueberjchriften der einzelnen 
Bedichtabfehnitte. — Ebenſo wird vielleicht unfer Wort falfch nicht vom la- 
teinifchen falsus, fondern vom altfranzöflichen fals (das heutige faux) abzu- 
feiten fein. Ein anderes Apjectivum flammt eben daher, nämlich fein, früher 
fin, altfranzöfifch fin (jegt gefprochen feng). Das urſprüngliche Stammwort 
ift das lateiniſche Participium finitus, d. h. begrenzt, abgejchloffen, vollendet. — 
Das deutich außfehende Wort Kummer, defien Grundbebeutung nicht gefühlt 
wird, ift ein Lehnwort; die Abſtammung gibt über feinen eigentlichen Sinn 
Auskunft. Kummer, mittelhochdeutich kumber, ſtammt vom altfranzöjtichen 
comble *) und combre, d. 5. cumulus, zunähft Saufen, dann Belaftung, 
Hindernig. Im Althochdeutfchen findet fich noch fein kumhar, chumbar, wee⸗ 
halb eine Abtheilung von dem verlorengegangenen Verbum kümen, franf, elend 
fein, unftattbaft ift. — Unſer Preis, früher pris, ift entlehnt von fran« 
zöflfchen prix und dieſes entfland aus dem Tateinijchen pretium. — 

Keltifche Stänme finden ſich auch einige in unferem Wortfchage, wie 
z. B. in dem erwähnten Harnifch, wenn auch nicht unmittelbar entlehnt. — 
Arabifchen Urfprungs ift Admiral, früher amiral, bei welchem man an 
eine Abflammung vom Tateinifchen admirari, bewundern, denken könnte. Im 
Altfranzöflfchen werben die Sarazenenfürften amiral genannt. Erft fpäter nahm 
das Wort den Begriff an: Oberbefehlshaber der Flotte. Das franzöftfche 
amiral ift eine Zufammenziehung aus dem arabifchen amiru 'l ali, d. 5. ber 





— 


”) Mechfel zwifchen r und I: vgl. Bd. IV. Seite 537. 


Die Fremdworte in der deutfchen Sprache, 399 


Zührer, der Fürft des Volkes, — Gin ziemlich eingebürgerter Ausdruck aus 
dem Hebräifchen, aus der Bibel, ift: Krethi und PBlethi*) 

Auch mit den Slaven Fam unjer Volk in Berührung, doch ift der ſla⸗ 
viſche Einfluß auf die deutſche Sprache nicht jo bedeutend geiwejen, wie um⸗ 
gekehrt der Einfluß unferer Sprache auf die flavifche. Einzelne flavifche Worte 
finden fih in unferem Sprachichage: Unfer Wort Sclave, servus, ift wahr- 
fcheinfich nur eine Nebenform von Slave. Slave bedeutet eigentlich gerade 
das Gegentheil, nämlich „Herr“, aber die Deutjchen hielten fih nur an das 
materielle Wort, an den Laut, und nannten im Gegenjage zu den freien deut⸗ 
chen Männern die Unterjochten ‚„Staven, Sclaven““. Daß fehr viele Orts⸗ 
namen jlavischen Urfprungs find, bejonders im öftlichen Deutfchland, in Schles 
fien, in der Lauflg, im Königreich Sachen, ja bis nad; Thüringen hinein, 
das ijt wohl allgemein befannt. Die Endungen auf iz, itsch und zig, zik 
geben diefe Abſtammung gewöhnlich Fund. — Dolmetih, Dolmetſcher 
ift entlehnt vom böhmijchen Ilumacz oder vom polnijchen tlomacz. Ebenfalls 
ein ſlaviſches Lehnwort ift Strahl, zufammengeiegt in „Sonnenſtrahl, Lichte 
ſtrahl“, welches „Pfeil“ bedeutet. Auch Schmerz, eigentlich der Toted« 
ichmerz, und Poſſe find jlavijchen Urfprungs. Poſſe, im Slaviſchen puzha, 
beteutet „Märchen, Babel’. Das Wort Petſchaft hielt man auch für ein 
ſlaviſches und hatte die Anficht, Karl IV. Habe es erft eingeführt. Es ift aber 
ihon in Quellen des dreizehnten Jahrhunderts zu finden. Das erwähnte 
Kennate halten Manche auch für jlavijchen Urſprungs, indem fle es nicht 
vom lateinijchen camino **) ableiten, jondern vom flavifchen camen, Stein; ca- 
minata wäre demnach „die Steinkammer“, während, wenn die andere Etymo⸗ 
logie feftgehalten wird, caminata, Kemmate bad heizbare Gemach bedeutet. — 

Zum Schluffe unferer Betrachtung fei noch auf jolhe Fremdworte 
hingewiejen, welche ihrer Abftammung nach deutich find, wenn fie auch Die 
ielbe in Hinficht der Korn verleugnen. Wie wir aus der Fremde Worte 
aufgenommen haben, jo lieg man auch deutjchen Worten in Auslande Gaſt⸗ 
recht angebeihen. Und natürlich wurden dieſe deutfchen Lehnworte nach dem 
Sprachgeifte einer jeden einzelnen Sprache umgewandelt und in jolcher ver⸗ 
änderten Geftalt kamen fle in unjer Vaterland als Fremdworte zurüd. Hierher 
gehört das erwähnte buhurt. 

Hauptfächlich find dies franzöfliche Worte. Barriere ftammt aus dem 
Sranzöflfhen und wird in jeinem Ausfehen auch allgemein als Fremdwort an« 
gefehen. Es ift aber im Grunde deutſch und flanımt von bär, barre, bie 
Schranke. — Panier gibt fid in der Endung als fremdes Wort Fund, bie 
deutſche Form ift Banner Der Wechfel im Anlaute zwifchen b und p ift 
willfürli. Die alte Schreibart, denn das Wort bat fich fchon im dreizehn 
ten Sahrhundert vollfländig eingebürgert, ift banier, baniere. Das altfran« 
zöfljiche baniere und das entfprechende mittelfateinifche banderia wurden von 


*) d. h. allerlei Gefindel oder Voll (2. Eam. 15, 18). 
**) Siehe oben Geite 395. 


400 2 enchwiffenfchaft. - 


unferen: band gebildet. Diefed Band haben die Branzofen abermals entlchnt 
für denfelben Begriff im Worte bandage. — Das franzöftiche bivouac, welches 
jebt al8 terminus technicus in allen Heeren gilt, flammt von unferem jetzt 
verlorengegangenen biwacht, Beiwache. — Unfer Wort Bank haben faft alle 
europäifche Nationen für „Wechſelbank, Wechfelgefchäft” angenommen. Ban⸗ 
kerott ift zunächft italieniich: banco rutto, bie geftürzte Banf, Banquier 
dagegen hat franzöftiche Geftalt. — Die fremden Worte Chemiſchen, Che⸗ 
mifette oder auch in der doppelten DVerkleinerungdform Chemifettchen, 
gebrauchen wir immer noch häufiger als „Vorhemd, DVorhembchen”. Das 
franzöfifche chemise ift entlehnt dem mittellateinifchen camisia und dieſes ent« 
ſtand aus dem deutfchen Hemde. — Das fremde Wort robe, der Rod, wird 
felten gebraucht, die Zufammenfegung Garderobe ift echt volksthümlich ges 
worden. Robe fit fein anderes Wort als unfer Raub; robe heißt zunächſt 
„das geraubte Kleid‘ und dann überhaupt „das Kleid”. Dieſe urfprüngliche 
Bedeutung hat noch das Verbum derober bewahrt, welches nicht „entkleiden“ 
heißt, fondern „entwenden, ftehlen, rauben‘. Cine Analogie der Gedanken⸗ 
serbindung von Kleid und Raub bietet unfer Zeitwort ausziehen und bie 
Worte Plunder und plündern. Das aud außer der Zufammenfegung 
Häufig angewandte Wort Garde, guarde, ift ebenfalls deutfch und fein an- 
deres Wort als unier Warte. — Auch eines italienijchen Wortes ſei ges 
dacht, welches bejonver8 in neuerer Zeit viel gebraucht wird und ganz unent⸗ 
behrlich geworden ift, nämlich fresco, welches unfer Wort frifch ift in italies 
nifcher Seftalt. Friſch Hat verfchiedene Bedeutung: neu, jung, Eräftig, aber 
auch Falt und naß, und dieſes Iegtere wurde entlehnt. Freskomalerei ift naffe 
Malerei, Maleret auf naffem, feucht gemachtem Grunde. — 

Ein Wort wird in neuerer Zeit vielfach gebraucht, deſſen Stamm fchon 
in einem Lehnworte vorfommt und welches fomit ein jehr geeignetes Beifpiel 
ift zur Erkennung des von und gemachten Unterfchicdes zwifchen Lehnwort und 
Fremdwort. Das franzöftfche palais (gefprochen pala, im Altfranzöflfchen pa- 
lais, paleis) ift ganz daſſelbe Wort wie Palaft, früher palas. Ganz gleich 
find die Bedeutungen von Palais und Palaft in unferer deutfchen Sprache 
nit. Mit Palaft verbinden wir den Begriff des Großartigen, Prächtigen, 
Palaid nennen wir befonderd fürftlicde Wohnungen in Städten, wenn fle fd 
auch Feineswegs durch ihre Größe und Schönheit auszeichnen. — 

Daß die meiften Eigennamen in den romanijchen Sprachen deutfchen 
Stammes find, wurde fehon bemerft. Hauptfächlich drang Der Name Louis 
(Ludovicus, aus Ludwig) wieder zurüd in fremder Geſtalt. — 

Die eigentlichen Fremdworte liegen außer dem Bereiche unjerer Betrach⸗ 
tung, da ſie feinen biftoriichen Zwed verfolgt. Die Zeit, in welcher bie 
deutſche Sprache von fremtem Unkraut überwuchert war und zu erftiden drohte, 
liegt glüdlicher Weife Hinter und. Der Auffchwung unferer Kiteratur im voris 
gen Inhrhundert war auch eine Wiedergeburt unferer Sprache. Die Sprache 
veredelt und verichlechtert fich Tediglich durch Die Literatur, und zwar auf unbe 
wußte gejchichtliche Weife. Die theoretifche ESprachreinigung bat ihr Gutes, 


Die Fremdworte in der deutfchen Sprache, 401 


ihre Erfolge find aber gering anzufchlagen gegen die Wichtigkeit, welche fte ſich 
beilegt. Die Vorjchläge, welche Fr. 3. Kruger, Vorftand der junggermanifchen 
Geſellſchaft im erften Hefte des Jahrbuches „Teut“ in Betreff der Reinigung 
und Fortbildung der deutjchen Sprache gemacht hat, find in der That das Tollfte, 
was die Sprachreinigungäwuth unferer Tage hervorgebracht bat. Man follte 
faum glauben, daß ein folder Rüdjchritt in die Zeit Philipps von Zeien möge 
lich fet, ſeitdem fich eine deutſche Sprachwiſſenſchaft aufgebaut hat. ‚Die Aufih- 
ten Kruger's tragen zu ſehr dad Gepräge des Dilettantidmus an fi und find 
überhaupt zu komiſch, als daß ſich eine eingehende Entgegnung verlohnte, Viele 
Fremdworte find zu entbebren und zu erjegen und darum find fie zu verwerfen, 
andere find es nicht, weil fle mit unjerem geiellichaftlichen und geiftigen Bil« 
dungsgange eng verwachfen und bezeichnender find, als das übertragene Wort. 
Eigentliche Lehnworte zu vertreiben, wird fchon aus dem Grunde unmöglich 
fein, weil fle fi jo eingebürgert haben, daß ihre ausländijche Abkunft nicht ges 
fühlt wird. 


L Berihtigungen. 
Bd. V. ©. 383 Helle 1 von oben lies „herrſchen“ für herrſchten 


eu Io ⸗ oe „Meinheit” für MReiheit 

— : 19: . .: „unfere” für wahre 

» 384 + 10 +: os füge ein vor „Zunge“: „einhelmiſchen“ 
— ‚il ⸗ .« Sieb „erſcheinen“ ſtatt erfchlenen. 


Die Neigungen der Kometen: und Planelen- 
bahnen gegen einander 


und 


die verfchiedenen Erceentricitäten. 


Don 
I. U. Ebertz in Dünaborg. 


Iſt die Rotation der Weltkörper und die von derſelben hervorgebrachte Be⸗ 
wegung der Wirkungsſphaͤre jedes reſp. Weltkörpers mit allen in derſelben ent⸗ 
haltenen untergeordneten Körpern befprochen *) und die Abhaͤngigkeit der letzteren 
von der, uranfänglich fehr viel größeren erfteren zum Wenigften in unferem Erbe 
foftenn mit faft unbezweifelbarer Wahrfcheinlichkeit nachgewiefen, fo bleibt noch 
der Verſuch übrig. zu erflären, warum bie Bahnen, in welchen fich Die unter- 
georbneten Körper eines Syſtems bewegen, unter verfchiedenen Winfeln gegen 
einander geneigt find und warum diefe Bahnen von verfchiedener Seftalt, naͤm⸗ 
lich Ellipſen von verſchiedener Greentricität find. 

Als Hanptrefultate ftellte fich heraus, daß durch eine uranfängliche, fehr 
viel größere al8 die gegenwärtige Rotationsgefchwindigfeit die Weltförper um fich 
herun Wirkungsſphaͤren gebildet haben, innerhalb welche darch die Schwungkraft 
alle untergeordneten Körper verhindert werden, nach ber Richtung Der Schwere 
auf den refp. Centralförper zu fallen. Im Verfolg der Unterſuchung muß alfo 
aud) Die Schwere genauer betrachtet werden. Da tritt zunächft Die Frage ent⸗ 
gegen: was ift Die Schwere? 

Dis Newton hat ed Niemand verfucht, dad Wefen der Schwere zu erlären, 
und auch Newton hat fih damit begnügt, die Durch die Schwere hervorgebrach⸗ 
ten Erjcheinungen zu bejchreiben, ohne in das Weſen derfelben einzugeben 
und jo ift es bis auf Die Gegenwart geblieben. Das Wefen der Schwere hat 
Niemand zu erklären werfucht und bejchränft hat man fidy nur, die Erfebeinungen 
zu erflären, die durch die Wirfung der Schwere hervorgebracht werden. An 
biefem Orte eine Erklärung diefes dunfeln Gegenflandes zu unternehmen, wäre 
zu fühn, indeß wird es wohl geftattet jein, darüber einige Betrachtungen anzu⸗ 
ftellen. 


*, Mergl, Band IV. S. 444 ff. 


Die Neigungen der Planeten und Kometenbabnen, 403 


Es ift befannt, daß die Wirkung aller Agentien, der fogenannten Impon⸗ 
derabilien, als das Licht, der Wärme, der Electricität u. |. w. und auch der 
Schwere im umgekehrten Verbältniffe de8 Duadrats der Entfernungen ſtehen. 
Eben fo bekannt ift es, daß von allen diefen Raturfräften, wie ed noch fürz« 
lich Grove in feinem vortrefflichden Werke entwicelt bat, unter Umftänden bie 
eine in die andere übergehet oder bie eine durch die andere hervorgebracht wer⸗ 
den könne. Wie wäre e8, wenn man alle diefe Agentien, die Raturfräfte, nur 
als für unfere Sinne erkennbare verjchiedene Erjcheinungsformen einer und der⸗ 
felben Raturfraft annehmen wollte? 

Die Raturfräfte erfcheinen uns insgeſammt in einer erfennbaren Polarität 
al8 nicht zu verfennende Gegenfäge. Das Licht hat als entgegengejeßten Pol, 
alfo als Gegenfag, die Finfternig, die Wärme die Kälte, Electricität, Galvanis⸗ 
mus und Magnetismus haben ihre ſtreng ausgefprochenen + und — Pole. An 
der Schwere, die doch auch dieſelbe Geießlichkeit wie Die anderen Naturfräfte ein« 
hält, ift der zweite Bol, der Gegenjag der Schwere, völlig unbekannt, obgleich 
er nothiwendig angenommen werden muß. Es muß nämlich in der Natur eine 
diametral der Richtung der Schwere entgegenwirfende Kraft vorhanden fein, eine 
eigentliche Flieh⸗ (repulflu » erpanftu») Kraft, die alle Körper eined gegebenen 
Syſtems in einer, der Richtung der Schwere Diametral entgegengefegten Rich⸗ 
tung von dem Eentralförper entfernt. Diefe Fliehkraft muß ſich zur Schwere fo 
verhalten, wie das Licht zur Finſterniß, die Wärme zur Kälte u, f. w., und zwar 
fo, daß, wie die Wärme aufhört oder nacdhläßt, fofort Kälte eintritt, fobald auch 
die Wirkſamkeit der Fliehkraft aufhört oder nachläßt, fogleich die Wirkung der 
Schwere eintritt. Es ift mehr ald wahrfcheinlich, daß bei mehreren, wenn nicht 
bei allen, Durch die Wärme, das Licht und Die Electricität hervorgebrachten Er⸗ 
fcheinungen, die Wirfung Diefer Naturfräfte in die eigentliche Wirkung der 
Fliebkraft übergeht oder umgewantelt wird, und fomit aud) die Berwandtichaft 
oder vielmehr die Identität der Fliehkraft mit den anderen Raturfräften fich 
berausitellt. . 

Iſt denn jo die Anficht über Das Welen der Schwere und deren Gegenfag, 
die Blichfraft gegeben, fo ift nur noch hervorzuheben, daß diefe Fliehkraft genau 
und fireng von der durch einen rotirenden Körper hervorgebrachten Schwung⸗ 
fraft, Die ausführlich in diefen Blättern (Bd. IV. ©. 444) befprochen ift, unters 
fchieden werden mug. Die Wirkung der einen geht, wie ſchon hervorgehoben, 
der Richtung der Wirfung der Schwere Diametral entgegengefegt, die Wirkung 
der anderen, der Schwungfraft nämlich, geht auf Die Richtung der Schwere und 
“folglich auch der der Flichkraft als der Richtung der Schwere entgegengejeßt, 
ienfrecht, und es ift wohl Fein großer Verftoß gegen die Wahrfcheinlichkeit, daß 
nur durch die Wirfung der Schwungfraft, wo fie noch in ihrer urfprünglichen 
Intenfitaͤt vorbanden ift, Die Dauer und das Beſtehen jedes gegebenen Syſtems 
ſowohl wie auch des ganzen Weltalld bedingt if. Durch das wechjelvolle Spiel 
der Fliehkraft würde fie von einem Mittelpunfte ſtrahlenförmig mit der Ge⸗ 
ſchwindigkeit des elektriichen Bunfens oder auch des Gedankens diſpergirend 
Alles in die Unendlichkeit Hinaustreiben, um fofort beim Rachlafien oder Aufhören 

26* 


PT Ve Aſtronomie. 


ihrer Wirkſamkeit wieder Alles durch ihren Gegenſatz, die Schwere, mit derſelben 
Geſchwindigkeit in einem Punkte zuſammenzuwerfen. Von dieſer blitzſchnellen 
Disperſton und Congruenz werden alle Körper durch die Schwungkraft abgehalten 
und gezivungen, in frummen Linien um ben rotirenden Gentralförper fic zu bes 
wegen. Wie aber diefe krummen Linien entflehen und warum fie fich nicht in 
einer Ebene befinden oder wenigflend ın parallelen Ebenen, und babet von ver⸗ 
ſchiedener Geftalt find, ift Hier nachzumeifen. 

Es ift befannt, Daß die Schwere, diejer Gegenfag der Fliehkraft, oder noch 
beſſer, die negative Blichkraft, alle jchweren Körper im freien Fall fenfrecht gegen 
die Oberfläche der Erde treibt und zwar fo, daß ein Körper aus W nach w, ter 
Körper aus A nach a u.f.w. fällt. Soweit man ſich an ten verfchiedenften 
Drten der Oberfläche ber Erde fallende Körper denken will, fo fallen fie alle 


fenfrecht gegen die Oberfläche der Erbe. Bon allen nur denfbaren fallenden 
Körpern fallen aber nur die aus dem Punkte W, alfo nur die in der Aequato⸗ 
rialebene befindlichen, zugleich fenkrecht gegen die Are NS der Erbe. Die Fall⸗ 
richtung aller übrigen Körper ift um einen größeren oder Fleineren Winkel gegen 
Die Are oder auch gegen die Nequatorialebene geneigt. So z. B. die des Kör- 
pers aus A um den Winkel ACW, des Körpers aus B um den Winkel BEW 
gegen bie Aenuatorialebene geneigt. Berner bedarf es keines befonderen Be 


[4 


Die Neigungen der Planeten- und Kometenbabnen. 405 


weiſes, daB alle dieſe fallenden Körper, indem fte fich nach der Richtung ber 
Schwere bewegen, zugleich auch von N nadj S fich bewegen. Zieht man nämlich 
parallel mit ter Acquatoriallinie wo, durch die Punkte a, b, c Parallelfinien 
und überdies eine beliedige Anzahl derfelben, jo liegt 3.2. die Linie bb’ nörb» 
licher als die Linie aa’ und diefe nördlicher als die Aequatoriallinie wo. Yällt 
daher 3. B. aus dem Punkte b ein Körper, fo durchichneidet er in feinem Fall 
nicht allein die Barallellinie aa’, ſondern auch alle zwifchen der Barallellinie 
bb’ und dem Aequator wo, wirflich gezogenen oder auch nur gedachten Pas 
rallellinien in der Richtung von N nach S, weil in Hinficht auf die Ballrichtung 
bes Körperd alle Barallellinien von N nach S auf einander folgen. Befinden fich 
Körper auf der anderen Eeite ber Aequatorialebene wo, die im Ballen begriffen 
find, fo findet natürlich gerade das Umgekehrte ftatt. Die Entfernung, aus wels- 
cher die Körper innerhalb eine Körperſyſtems fallen, kann jede mögliche fein, die 
Entfernung aC oderAC kann einige taufend oder viele Millionen Meilen betragen, 
immer wird der fallende Körper aus A in der Richtung AC, der ausB in der Rich- 
tung BC u, ſ. w. fallen und unabänderlich mit der Ballrihtung eines Körpers 
in der NUequatorialebene, die Winfel ACW, BCW u. ſ. w. einjchließen. 

Endlich Fönnen alle in einem Syftem von der Schwere nach dem Mittels 
punfte deflelken getriebene Körper, Da die Schwere nichts anderes als ein Nach⸗ 
laffen der Wirfung der Fliehkraft oder ald eine negative Fliehkraft angefchen 
wird und allenthalben von keinen anzichenten Kräften die Rede fein kann, fo 
angeſehen werden, als wenn fe, wenn Fein fefter ftarrer Gentrallörper vorhanden 
wäre, erft von irgend einem Punkte A, B u. f. w. zu fallen beginnend, fich mit be- 
ſchleunigter Gefchwindigfeit dem Sentralpunfte (C nähern, in diefem Punfte nicht 
zur Ruhe kommen, jondern mit verzögerter Gefchwindigfeit in derjelben Rich⸗ 
tung von C nach A', von C nah B’ u. ſ. w. bewegen würden und fo wie Die 
Scheibe cined Pendels bin und Her jchwingen würden. Dieje Betrachtung Fönnte 
als müßig erfcheinen, weil in jedem uns näher bekannten Körperſyſteme ein 
fefter Gentralförger vorhanden ift, der folchen freien, den Pendelichwingungen 
ähnlichen Hall hindern würde. Doch wird der Erfolg Ichren, wohin Dieje Bes 
trachtung führt. 

Alle dieſe ſchweren Körper eines gegebenen Körperſyſtems werden durch die 
a. 0. O. (IV.Bd. S. 444) nachgewiefene Schwungfraft vom Fall nach der Rich⸗ 
tung der Schwere abgelenkt, und die Schwungfraft ift die, für alle Körper eines 
Syſtems, in welcher Entfernung vom Gentralförper und in welcher Lage in Bes 
ziehung auf die WUequatorialebene des Gentralförpers fle fich befinden mögen, 
gemeinichaftliche bewegende Kraft, vermöge welcher fie vom Kal nach der Rich⸗ 
tung der Schwere abgelenft werden. Wie nun aber dieje Schwungfraft auf Die: 
verichiedenen Körper A, B, C und noch viele andere, Die man ſich nad) Belieben 
binzudenfen Eann, einwirft, muß genauer beleuchtet werben. 

Wie a. a. O. nachgewiefen, nimmt die Schwungfraft in einem durch die 
Rotation eined Körpers entftandenen Winfel mit der Entfernung der einzelnen 
aufeinanderfolgenden Schichten, von der Are des rotirenden Körpers ab, fo daß 
die durch die Schwungfraft entflandenen Gefchwindigkeiten der Bewegungen im 


406 | Aſtronomie. 


umgekehrten Verhaͤltniſſe der Entfernungen ſtehen. Dieſe den Entfernungen ent⸗ 
ſprechende hervorgebrachte Geſchwindigkeit Fönnte als qualitative ober als die 
Qualitaͤt der Schwungkraft bezeichnet werben. 

Es ift befannt, daß die Schwungfraft, die Fliehfraft, von der in allen 
Lehrbüchern der Phyſik die Rede ift, — hier iſt unter dieſem Begriff, wie oben ges 
wiefen, etwas ganz anderes angenommen, — nur in der Aequatorialebene ein Größ⸗ 
tes ift, und hier auch nur der Schwere vollkommen das Gleichgewicht hält. Ein 
aus dem Punfte W fallender Körper, in welcher Entfernung vom Gentralförper 
fih übrigens diefer Punkt W auch befinden mag, wird alfo ganz allein mit ber 
vollen Kraft Des Schwunges vom Fall nach der Richtung der Schwere abgelenkt 
werten. Zu dieſer Schwungfraft des Körpers in dem Punkte W verhalten fich 
die Schwungfräfte der Körper in den Punkten A, B, C u. f. w. wie bie Linien 
AA’, BB’, C’C’” u. ſ. w. ober wie Gofinuffe der Breiten der Orte, aus welchen 
diefe Körper fallen. Diefe im Verhbältniffe der Cofinuffe der Breite ftehende 
Schwungfraft Eönnte Die Duantität der Schwungfraft genannt werben, 
im Gegenjag zu der oben erwähnten im umgefehrten Verbältniffe der Entfernun⸗ 
gen ſtehenden Qualität der Schwungfraft. 

Wenn nun die Schwungfraft die Beſtimmung hat, tie Körper vom Fall 
nach der Michtung der Schwere abzulenfen und fle, wie angegeben, gleichzeitig 
auf alle Körper wirft, fo können die Körper in W, A, B, C nicht um eine gleiche 
Größe abgelenkt werden, aus dem einfachen Grunde, weil die Quantität der auf 
fle wirfenden Schwungfraft eine verfchiebene ift. 

Der Körper aus W, der von einer Schwungfraft abgelenkt wird, die der 
Schwere quantitativ gleich und ihr vollfommen das Gleichgewicht Hält, wird von 
der Schwungfraft um biefelbe Größe, um welche ihn die Schwere von W nach 
C’ treibt, abgelenft, fo daß er im nächften Augenblicke wieder eben jo weit vom 
Gentralpunfte C entfernt ift und fo fort; daher er auch durch die Schwere und 
Schwungfraft zugleich bewegt um den Gentralförper einen vollkommenen Kreis 
befchreibt. 

Die Schwungfraft, die auf den Körper B wirft, verhält fich zu ber auf den 
Körper in\W wirfenden Schwungfraft, wie die Linie BB’ zu der Linie VCBC. 
Folglich ift die auf Ihn wirkende Schwungfraft nicht hinreichend, um bie Wir- 
fung der Schwere ganz aufzuheben und den fallenden Körper vollfommen von 
ber Annäherung an den Gentralförper abzuhalten. Die unmittelbare Folge 
davon wird fein müflen, daß der Körper in jedem einzelnen Augenblice feiner 
durch die Schwere und die Schwungfraft hervorgebrachten Bewegung fih tem 
Gentralförper wird nähern müffen und zwar um eine Größe, bie mit der Linie 
WC — BC — BB’ oder der Entfernung weniger dem Cofinus der Breite im 
Verhaͤltniß flehen wirt. Ein ähnlicher Fall findet flatt mit den aus A und C’ 
fallenden Körpern, fo wie überhaupt mit allen, ‘die man fich innerhalb des 
Bereiche eines Körperfuftemd denken fann. 

Oben wurde angenommen, daß sich Die Körper Durch Die Wirkung der Schwere, 
wenn fein hindernder flarrer Körper es unmöglich machte, erft von dem Punkte 
Az. B. mit befchleunigter Geſchwindigkeit bis zum Mittelpunfe C, ton dieſem 


Die Neigungen der Ploneten- und Kometenbahnen. 407 


aber wieder mit verzögerter Geſchwindigkeit bis zum Punkte A’ beiwegen würden, 
und fo fort rüdwärts ohne Aufenthalt, wie die Scheibe eines ſchwingenden Pen⸗ 
del8. Hier muß darauf zurückgekommen, erft aber noch unterfucht werben, in 
welchen Ebenen die von der Schwere und Schwungfraft bewegten Körper, in’ 
W,A,B, C u. ſ. w. fich werden bewegen müflen. 

Wie oben erklärt, wird ein Körper aus dem Punkte W, in welcher Entfer- 
nung von dem Gentralförper und nur innerhalb der Wirfungsiphäre deſſelben 
ex fich befinden mıöge, von einer qualitativ und quantitativ der Schwere ganz 
gleichen Schwungfraft, bewegt. Die in der Ebene WO Tiegenden Körper fallen 
aber auch nur nad) der Nichtung der Schwere, jenfrecht gegen die Rotationsare 
NS des Centralkörpers. Alle diefe Körper werden daher, da fie von der im 
Gleihgewichte ftehenden Schwere und der Schwungfraft beiwegt werden, in läns 
gerer oder kuͤrzerer Zeit, je nach ihren rejp. Entfernungen von dem Gentralför« 
per, in vollftändig Ereisförmigen Bahnen um den Gentralförper fich bewegen, 
und zwar in einer Ebene, in welcher die Linie WO liegt, und die man fich Deuts 
lich machen kann, wenn man auf diefe Linie ein Blatt Papier fenkrecht ftellt, wo 
dann die Ebene des fenfrecht ſtehenden Papierd die Ebene vorftellt, in welcher 
fich dieſe Körper bewegen. | 

Mit den außerhalb der Aequatorialebene WO Liegenden Körpern ift e8 da⸗ 
gegen ein ganz anderer Ball. Der Körper aus Az. B., er mag übrigens, in 
welcher Entfernung ed fei, von dem Gentralförper entfernt fein, fällt erſtens nach 
der Richtung der Schwere von A nad) C, nicht fenkrecht gegen die Rotationdare 
NS, fondern macht mit Diefer feine Ballrichtung den Winkel ACN. Sodann iſt 
die Schwungfraft, die ihn von der Richtung der Schwere ablenft, quantitativ 
Fleiner und verhält fi} zur Schwungfraft in der Acquatorialebene in berfelben 
Entfernung, wie die Linie AA’ zu der Linie WC, oder wie der Coſinus der 
Breite A zu dem, Halbmeſſer. 

Wird nun der Körper aus A von der Schwere und ter Schwungfraft zu⸗ 
gleich bewegt, jo kann er erjtend Die Richtung der Schwere nicht verlaffen und 
muß in einer Ebene, die man fich wieder am beiten vorftellt, wenn man auf die 
Linie AA’ ein Blatt Papier jenfrecht ftellt, in der Linie, die AA’ macht, eine 
krumme Linie befchreiben. Da aber die Quantität der Schwungfraft der überall 
in der gleichen Entfernung gleich bleibenden Schwere nicht mehr vollfommen das 
Sleihgewicht Hält, jo mup der aus tem Punkte A fallende Körper in der ang“: 
gebenen Ebene fich immer dem Gentralförper nähern, während dieſer Bewegung 
auch die Aequatorialebene jchneiden, auf Die andere Seite übergehen und endlich 
auf der anderen Seite, auf der Linie GA’ einen Punkt x erreichen, in welchem 
er die größte Annäherung an den Gentralförper erlangt bat. Diefer Punft x 
it ein Punkt, den der Körper auch, wie wir oben annahmen, erreicht haben 
würde, wenn er im freien Fall nach der Richtung der Schwere allein, erſt mit 
bejchleunigter Gejchwindigfeit von A nad) C und dann mit verzögerter Geſchwin⸗ 
tigkeit von C nach A’ gegangen wäre. Man kann aljo annehmen, daß, wenn in 
dieſem Punkte x die Wirfung der Schwungfraft plöglich auf den Körper aufe 
hörte, derjelbe nicht nach der Michtung der Schwere von x nach C, jondern um 


0 Fe Mm. 


die Pendelſchwingung zu vollenden, von x nach A’ fich beivegen würde. Da aber 
die Schwungfraft als eine fletige Kraft auch nicht in dem Punkte x aufhört, fo 
muß der Körper, indem er von x nach A’ zu bewegen ſich beitrebt, Durch Die 
Schwungfraft von diejer Richtung abgelenkt, in einer ähnlichen krummen Linie 
fly wieder vom Gentralkörper entfernen, zurüd zum Punkte A kehren und jomit 
eine vollfommen geichloffene Erumme Linie beſchreiben. Die Entfernung des 
Punktes x vom Gentralpuntte C des Syſtems — xC ſteht in genauem Verhaͤlt⸗ 
niffe mit dem Cofinus der Breite AA”, aus welcher der Fall des Körpers bes 
ginnt und ift, da tie den Körper vom Fall nach der Richtung der Schwere ab⸗ 
lenkende Schwungfraft, fich wie diefer Gojinus verhält, ald die Summe der 
gefammten Ablenkung anzujehen und ift — Dem Quadrat der Coſinusbreite. 

Begreiflicherweije findet derfelbe Fall mit den, aus den PBunften B und C 
fallenden Körpern ſtatt. Die Schwungfräfte, von welchen fie, von der Richtung 
der Schwere abgelenkt werben, verhalten fich wie die Linien BB’ und CC“, wie 
die Cofinuffe der Breiten, aus weldyen fie fallen, und die Summe der Ablen- 
fungen verhalten fich wie Die Duabrate der Cofinuffe. Je Eleiner die beivegende 
Schwungfraft eines Körpers if, — man mag fich deren innerhalb einer Wirfungss 
fpbäre eines gegebenen Körpers denfen, — defto Eleiner ift die Summe ter Ab⸗ 
lenkung und defto näher rüdt der angegebene Punkt x dem Gentralförper. So 
entftehen in jedem Körperiufteme Durch Die gemeinfchaftliche Wirkung der im 
Berhältnig der Entfernungen unneränderlichen Schwere (d. h. in jeder gegebenen 
Entfernung ift fie für alle Bunfte W, A, B, C u. ſ. w. gleich) und der im Ver⸗ 
hältnifje der Gofinuffe der Breiten veränderlichen Schwungfraft, Yahnen, bie 
fi) durch größere oder Fleinere Ercentricität auszeichnen, und es ift wohl nicht 
ſchwer, auch ohne weitere Erklärung zu erfennen, in welche Kategorie Die Pla⸗ 
neten und Kometen des Sonnenſyſtems gehören. 

Obgleich in jedem Körperkgfteme, in welchem durch die urfprüngliche Mo« 
tationsgefchwindigfeit eine Schwungfraft hervorgebracht iſt, vermittelit welcher 
die untergeordneten Körper des Syſtems auf die beichricbene Art vom Kalle in 
gerater Linie nach der Richtung der Schwere abgelenkt werden, ganz gleiche 
Berbältniffe flattfinden müſſen, jo können diefe Verhältniſſe auf ein gegebenes 
Spitem angewendet, nicht al8 richtig erjcheinen, die Urjache dieſer Unregelmäßig⸗ 
feiten ſoll aber erft fpäter nachgewieien werden. 

Eo werden 5. ®. in unjerem Sonneninfteme die Bahnen aller Körper auf 
die Ebene der Ekliptik bezogen, die auch nur die Bahncbene eines Planeten ifl. 
Rad) unterer Unficht müßte es auf die Ebene des Sonnenäquator gefchchen, fo 
wie die untergebenen Körper in den Planetenſyſtemen auf die Acyuatorialebene 
ihrer reip. Gentralförper. 

Das Anziehen der Planeten» und Kometenbahnen auf die Ebene des Son- 
nenaͤquator iſt indeß eine mißliche Sache, weil noch viel zu münfchen übrig bfeibt, 
um dieie Ebene genau zu kennen. Umgekehrt kann aber aus der befannten Lage 
ber Bahnen im Raume des Sonnenipftems, wenn nicht die gegenwärtige, fo doch 
die urjprüngliche Lage des Sonnenäquatorß, bei welcher die Wirkungsſphäre ber 
Sonne ihre noch forttauernde Schwungbewegung erhielt, nachgewielen werben. 


Die Neigungen der Planeten- und Kometen-Bahnen. 409 


Da nämlich die Qualität der Schwungkraft unveränderlih im ungefchrten 
Berbältniffe mit der Entfernung eines Körpers von feinem Centralkörper ſteht, 
von welcher die im Verhältnig des Coſinus der Breite ftehente Theil wirklich 
auf tie Ablenfung des Körperd von der Wirkung der Schwere wirkt, fo kann 
die größte Entfernung jedes Körpers in jedem Syiteme, das Apocentrum (im 
Sonnenſyſteme das Aphelium, im Erdſyſteme dad Apogäum u. f. w.) durch bie 
Linie WC — AC — BC u. f. w. Dargeftellt werden, das Pericentrum dagegen 
(im Sonnenjüfteme das Perihelium, im Erdſyſteme das Perigäum u.f.w.) durch 
das Quadrat der Linien AA“, BB’, C’ u. f. w. 

In unferem Eonneninftem verhält fich 3. B. der Abſtand des 
woraus die ⸗ gibt 
den Neigungswinkel 

Aphelium ter Erde — 1 zum Perihelium == 0,98311, 17° 28° 23° 


⸗ des Jupiter — 1 ⸗ ⸗ — 0,95184, 12° 41’ 23° 
. des Saturn — » 20 0,94385, 13° 43° 34" 
der Veſta — 1— —c060,91100, 17° 22 34 
der Juno — 1⸗ ⸗ == (),7440, 30° 23° 16” 
des Merur — 1 + ⸗ — 0,79438, 26° 57 9" 
der Ryſa I» —0,547, 420 18 49° 


Auf dieſe Art des Verhaͤltniſſes der Aphelien zu den Perihelien aller be⸗ 
kannten Planeten und Kometen muß bei der bekannten Lage der Bahnen dieſer 
Körper im Bereiche des Sonnenſyſtems, die urſprüngliche Lage der Aequatorial⸗ 
ebene der Sonne, die jetzt allerdings aus Urſachen, die fpäter nachgewieſen wer⸗ 
den ſollen, mit der gegenwaͤrtigen nicht mehr übereinſtimmt, noch erwieſen wer⸗ 
den koͤnnen. 

Wenn der Mond in unſerem Erdſyſteme mit ſeiner Bahn auch auf die 
Ebene der Ekliptik bezogen wird, ſo wird das durch den bisherigen Gebrauch 
gerechtfertigt, doch hat er mit der Erdbahn nichts anderes gemein, als daß er 
gemeinſchaftlich mit der Erde in derſelben im Bereich des Sonnenſyſtems ſich 
fortbewegt. Gegen die urſpruͤngliche Lage des Erdaͤquators iſt aber die Neigung 
ſeiner Bahn leicht zu erſehen, obgleich ſie auch nicht mit der gegenwärtigen über⸗ 
einitimmen wird. 


— — —— — 
0 


Ueber die von Newton angeregten Fallverſuche. 


Nachdem im Vorhergehenden die Reigung der Bahnen, fo wie deren ver⸗ 
jchtedene Errentricität aller noch mit urjprünglicher Sefchwindigfeit innerhalb 
des Bereichd jedes Körperſyſtems ſich bewegender Körper bargeftellt worden, 
müffen noch einige Ericheinungen an der Oberfläche der Erde, die durch die 
gegenwärtige außerordentlic, verzögerte Rotationsgeſchwindigkeit hervorgebracht 
worden, befprochen werden. 

Bekanntlich hat Newton den ganz richtigen Gedanken gehabt, daß die von 
einem erhöheten Bunfte berabfallenden Körper, wenn die Erde fi) um eine Are 


410 Bu Aſtronomie. 


drehe, von der Senkrechten nach Oſten abweichen müßten. Sein Zeitgenoſſe, ber 
Dr. Hoofe, machte ihm den Einwurf, daß, wenn die Körper von der Senfrechten 
weichen jollten, dieſes nah SD. geichehen müfle, daß die Körper nach manchem 
Umjchwung um die Erde in einer ellipriichen Bahn (bier hat er ganz unmwillfür« 
lich an die jchon bejchriebene urjprüngliche Rotationdgejchwindigkeit der Erbe 
geftreift) endlich auf die Erde fallen würden. Die Suche blieb unentjchieten, 
da tie von dem Dr. Hooke angeftellten Verſuche fein Reſultat gaben und bei ter 
unbeteutenden Höhe, aus welcher die Berjuche angeftellt wurten, geben Fonnten. 
Als zu Ende des vorigen und zu Anfange des gegenwärtigen Jahrhunderts 
dieſe Verfuche wieder von Ylauguergued in Viviers, von Dr. Benzenberg in 
Hamburg und in einem Koblenfchachte und von Saglielmini in Bologna vor« 
genonmen wurten, bemühten fich die größten Geometer wie La Rande, La Place, 
Gaußen. X., um die Größe und die Richtung der Ablenkung zu berechnen. 
Das Rejultat war einitimmig, dag tie Abweichung eine öftliche jein müſſe, 
wie man es umflänblich in Dr. Benzendergs Werfe: „Verſuche über die Um⸗ 
drehung der Erde“ lejen kann. Roc in ten dreißiger Jahren haben Reich und 
Brendel in einem Bergichacht bei Freiberg Verjuche angeftellt, wo ſich aber auch 
wieber eine, wie bieje Herren erflären, unbegreifliche Abweichung nad ©. uns 
verfennbar herausgeftellt hat. Es ift jonterbar, daß die Praris im Verjuche 
und die Theorie jich bier jo fchroif entgegenftehen und ein Benzenberg, nachdem 
er die Rejultate aller Berechnungen, ſo wie jeiner Verſuche erzählt, zu einem 
Ausrufe: „auf theoretiichem Wege iſt nicht® mehr zu finden‘ gegwungen wurde. 
Und doch jollte man glauben, daß nichts einfacher und leichter jei, ald Lies 
fen vermeintlichen Widerſpruch Der Theorie gegen die Verſuche zu bejeitigen. Es 
ift befannt und auch Hier fchon darauf hingewieſen, daß alle Körper nach der 
Richtung der Schwere jenkrecht gegen Die Oberfläche derielben oder gegen eine 
rubige Wajferfläche fallen. Man verlängere die Linie CB um etwad über den 
Kreis hinaus, jo wird der über den Kreis hervorragende Theil der Linie einen 
Thurm darftellen Eönnen, ungeführ in ter Breite Hamburgs. Wenn von der 
Spige des Thurmes ein Körper nach der Richtung der Schwere füllt, jo muB er 
doch nothwendig in der Are des Thurmes jenfrechi fallen, wenn die Erte auch 
nicht rotirte. Rotirt aber bie Erde, wie gar nicht zu bezweifeln, jo muB ter 
Körper Durch Ten erhaltenen Schwung von der Senfrechten abgelenft werden, 
aber auch nur in einer Ebene, in welcher Die Richtung der Schwere liegt, und 
nur wenig bei der, Durch Die gegemwärtige Rotationdgejichwintigfeit erhaltenen 
Schwungfraft, von der Senkrechten abweichen. Wenn man turch tie Spige 
des Thurmes eben jo wie Durch die Baſis dejjelben eine Parallelebene legt, 10 
fieht man gleich, dag die Thurmipige, obgleich ſte mir der Baſis des Thurmes 
unter einer und derjelben Volhöhe liegt, nördlicher ift, ald die Baſis des Thur⸗ 
med, weil die Durch die Spige des Thurmes gezogene Barallelebene, in Beziehung 
auf den Aequator WO, nörblicher iſt ald die durch Die Baſis gezogene. Ta 
nun ferner bie bis zum Mittelpunfte der Erde verlängerte Are bes Thurmes mit 
der Rotationdare der Erte NS den Winfel BEN macht, jo muB der Körper, 
indem er nach der Richtung der Schwere aus der Spige des Thurmes nad) jeiner 


Die Neigungen ber Planeten: und Kometen-Bahnen. 411 


Baſis fällt und während biefes Falles durch die mitgetheifte Schwungfraft abge⸗ 
lenkt, nothwendig in der Ebene, in welcher bie verlängerte Are des Thurmes 
liegt, in der nördlichen Hemifphäre von NW nach SO fich bewegen. Das ifl 
ganz gejegs und naturgemäß. Gin großes Gluͤck iſt ed, daß die in Rede ftehen- 
den Berfuche in mittleren Breiten von ehva 40° bis 55° angeftellt worden. In 
niedrigeren Breiten, in Cairo, Balcutta oder Singapore wäre wahrfcheinlich eine 
füdliche Abweichung ganz verſchwunden oder als Beobachtungßfehler angefeheh 
worden. In höheren Breiten, auf dem Nordkap, auf Island oder Grönland, 
wäre, wenn Jemand dort Verfuche anzuftellen Zuft bekommen hätte, gerade eine 
jüdliche Abweichung recht augenicheinlich hervorgetreten, aber dafür eine öftliche 
wohl ganz verſchwunden. Denn die füdliche Abweichung fteht im Verbältniß 
des Quadrats des Sinus der Breite des Ortes, wo die Verfuche angeftellt wor« 
den, die öftliche Dagegen im Verbältnig des Quadrats des Kojinus. Im eriten 
Fall wird der Sinus immer Eleiner, im zweiten der Coſinus. Unter dem Aequa⸗ 
tor in Quito, Lima, vielleicht auch Batavia wird die Abweichung eine rein öfts 
liche fein. 

Begreiflicherweife würden Verjuche, die auf der füdlichen Gemijphäre der 
Erde angeftellt werden fönnten, etwa in Patagonien, wenn Gultur und Wiſſen⸗ 
ichaften bis dahin gedrungen, ganz entgegengefegte Refultate geben. Dort were 
den norböftliche Abweichungen von der Senkrechten beobachtet werden, aber 
ebenjo wie an ter nördlichen Seite nach beiten Michtungen im Verbältnig bes 
Sinus und Eofinud der Breite des Beobachtungswertbed. Wie die erzählten 
Mejultate mit den Nechnungdrefultaten der oben angeführten Geometer zu ver⸗ 
einigen, überlafje ich dem geneigten Leſer. 


Das Ainterrichtswefen in den Vereinigten 
Staaten. 


—— — — 


I. 
Städtifche Schulen in Boſton und New-York. 


Das Unterrichtöwefen in Amerika it jung und eine Schöpfung der Gegenwart 
oder der unmittelbaren Vergangenheit, und wenn einige alte Traditionen bes 
fteben, wenn die von den „pilgrim fathers““ angelegten älteften Schulen an das 
englifchseuropäijche Erziehungsſyſtem des fichzehnten Jahrhunderts angeichloffen 
Haben, fo können diefe Traditionen nur fchwach fein; der riefige Zuwaché neuer 
Elemente muß fie jeit Anfang dieſes Jahrhunderts ziemlich überfluthet, übers 
wuchert und weientlich umgeftaltet haben. Es läßt fich demnach erwarten, daß 
da8 Heutige amerifanifche Erzichungsfoftem in vielen Fällen von dem unferigen 
verjchieden fein wird. Bei und in Europa ift die Vergangenbeit ein Bann, ein 
Bauber, wohlthätiger, wie andererjeits fchädlicher Ratur; Die ausgefahrenen 
Seife der Routine, die Pietät gegen das Ulte, das Ineinandergewachfenfein 
ftaatlicher und Firchlicher Verhältniffe, Volksvorurtheile ıc. Bilden ein Bollwerk, 
welches der kühnſte Reformer nicht zu brechen verniag ; unſer Erziehungswejen radt« 
Tal umgeftalten, hieße das ganze Volk umkehren. Es iſt offenbar, daß dies feine 
fchlimme, aber audy feine gute Seite hat. — Einestheils finden heilſame und 
zweckmäßige Umgeftaltungen hartnädigen Widerftand; andererfeitd aber wird 
das Volfälchen, das ſich ja doch nie von feiner Vergangenheit ganz losreißen 
kann, theilmweife vor den theoretifchen Verirrungen gejchüßt, Die gewöhnlich erft 
ein zweite8 oder drittes Menfchenalter aufdeckt. Was würde aus dem Volke und 
aus der ganzen Gefellfchaft werden, wenn fie zu gelehrig wäre und jede neue 
Mode — denn auch die menjchlichen Gedanken find der Mode unterworfen — 
fogleih bis zum Exceß mitmachte? Amerika ift von einem folcyen verzögernden 
Prinzip nicht behindert, und e8 wird fich hieraus ergeben, daß das Erziehungd« 
weſen dafelbft cin weit getreuerer Abdru der heutigen Zeit und ihrer Strebun⸗ 
gen jein muß, als das bei und der Fall if. Was bei und Neform heißt, ift 
dort erfte oder Höchftens zweite Einrichtung. — Man kann's haben, wie man's 
will und wie man's für zwedimäßig erachtet. Daß die angefächftfche Rage Kennt⸗ 
niffe zu jchägen weiß, wird Niemand in Abrede flellen: knowledge is power; 


Unterrichtöwefen in den Berein. Staaten, 413 


durch Kenntniſſe, wenn auch nicht Durch Wiffenfchaft, ift fie in Die Höhe gefom- 
men, durch Kenntnifie gedeiht und beherricht fle die Welt in ihrer Art. 

Ja wohl, durch Kenntniffe! Denn Wilfenfchaft im deutichen Sinne ift 
eine deutfche Erfindung — bie Erziehung wird aljo weſentlich praftifche Zwecke 
verfolgen, oder beſſer geiagt, dad Rüglichfeitöpringip zur Orundlage haben. 

Der Staat kümmert fi in Amerika, getreu ben demofratifchen Brund« 
fägen, um die Erziehung nur fo viel, ald unumgänglich nothwendig iſt. Es ver⸗ 
ftcht ji von jelbft, daß die Schulen, worin berjelbe feine technifchen Beamten 
bildet, auf Staatskoſten gegründet find und unterhalten werden, auch vom Staate 
ihre innere Gejeggebung empfangen. Dazu gehören die Militairfcyulen der Ver: 
einigten Staaten, die Marinejchulen ꝛc. 

Außerdem forgt er für den Elementarslinterricht. Denn es ift in der Ver⸗ 
faffung als ein allgemeines Menfchenrecht audgeiprochen worden, daß jeder Bür- 
ger einen Anfpruch auf Unterricht an den Staat habe. — „Wie die Gefellfchaft 
jeden Bürger gegen Diebflahl, gegen Mord, Hunger (?) vertheidigt, fo vertheitigt 
fie ihn auch gegen die Unwiſſenheit,“ — drüdt ſich hierüber ein franzöftfcher 
Schriftfteller etwas & la francaise aus, was wir auf fich beruhen laſſen wollen. 
Sehr logiſch ift ed gerade nicht, denn le vol, lassassinat et la faim ce sont tous 
des monstres qui attaquent, dagegen ift die ignorance ein monstre passive, das 
man mit auf die Welt bringt. 

Ob der Staat gerade dazu die Verpflichtung habe, und der Unwiſſende eine 
Nechtöforderung an den Staat, das iſt wenigſtens fehr beftreitbar. Warum 
jollte nicht ein am Staar Erblindeter daffelbe Recht an ihn haben und fordern, 
dag ihm auf Staatsfoften der Staar geftochen werde? Wir glauben, daß, wenn 
ber Staat den Elementar-Unterricht, wie e8 in Amerifa gleichfalls gefchieht, zur 
bindenden Pflicht macht, er nur in der Eigenfchaft eined Vormundes verfährt, 
der das durch feinen Willen als zweckmäßig durchfegt, weil er nicht überall auf 
guten Willen rechnen kann. Der Staat hat ein Intereffe Daran, daß jeine Bür- 
ger oder Unterthanen wenigften® Iefen, fohreiben und rechnen Fönnen, weil er 
dies bei feinen Einrichtungen, bei den jegigen Kultur» Verbältnijien, bei jeder 
amtlichen Berührung vorausfepen muß. — Um feine Pflichten gegen die Me= 
gierten erfüllen zu Eönnen, verlangt er, daß auch diefe im Stande jeien, bie 
ihrigen gegen ihn fo gut ald möglich zu erfüllen. Es ift auch fehr anerfennens« 
wertb, wenn der Staat über dieſe Anfangsgründe (wie auch in Amerika ges 
ſchieht), etwas hinausgeht und feinen fünftigen Bürgern, welche nicht die Mittel 
haben, zu nütlichen Kenntniſſen, al8 Mitteln zum einftigen Fortkommen, ver» 
hilft; aber als eine Pflicht können wir es nicht anfehen, da der Staat keines⸗ 
wegs die einzige Form menfchlicher Gemeinfchaft if, und überdies doch immer 
mehr auf einer gefchichtlichen zufälligen Gonvention, als auf philofophifchen 
Prinzipien beruht. 

Keine neu gegründete Gemeinde erhält in den Vereinigten Staaten bie 
Incorporationdakte, ohne daß darin die Errichtung einer Schule ausdrüdlich be⸗ 
dungen wäre. — Der Elementar-Unterricht ift bindende Verpflichtung. 

Um eine Erziehung und Bildung, die nicht Allen, fondern nur Einzelnen 


414 Padagogik. 

zu Gute kommt, kümmert fi der Staat nicht. Der höhere Unterricht, die Fort⸗ 
bildung der Wiffenfchaften find frei von aller Oberleirung. Univerfltäten, Aka⸗ 
demien, Somnaflen werben gegründet und erhalten, ohne Dazmwijchentreten des 
Staates, blos durch Brivatvereine. Die Einrichtung der Schulen, das Berfonal, 
der Unterricht wird weder durch allgemeine, noch durch beſondere Geſetze von 
Seiten des Staates geregelt, und tie Schulen find eben jo unabhängig, wie bie 
Gemeinde ſelbſt. Es find dies Berhältniffe, wie fie in Amerika ganz naturges 
mäß und felbftverftäntlich find, doch glauben wir, iſt e8 unrecht, ſich, wie es in 
Europa vielfach gefchieht, dafür zu begeiftern. Wir geben gern zu, daß in un⸗ 
feren monarchiſchen Staaten in diefer Hinficdyt ded Buten etwas zu viel getban 
werden mag, und daß bei und der Staat fih um viel zu vieles Fümmert, was 
ihn fireng genommen, eigentlicy gar nichts anginge und recht gut jedem Einzel- 
nen überlaffen werden könnte — aber andererfeitö hat dieſes amerifaniiche Pri⸗ 
vatpatronat flatt des Staatspatronates fehr große Nachtheile. Die Schule ift 
unabhängig, wie die Gemeinde ſelbſt. — Was heißt denn das? — Wer ift 
denn die Schule? — Hier kann nur geantwortet werben: das Privatpatronat, 
das Ephorat, das Kuratorium, oder wie wir es nennen wollen, d. 6. der Verein, 
der die Schule geftiftet Hat und unterhält. Wo bleiben aber die Lehrer, welche 
Stellung nehmen fie ein? — Ein Lehrer-KRollegtum braucht Autorität, braucht 
den Schuß der Belege, braucht ein moralifches Gegengewicht gegen die demorali⸗ 
firenden Einflüffe von unten. — Alles dies kann nur Kirche oder Staat gewaͤh⸗ 
ren. — Bel jedem Privatpatronate find die Lehrer bloße Dreffir- und Unter⸗ 
richtsmafchinen, aber Feine Erzieher. — Ban vergleiche (3.38. im preußiichen 
Staate) die Verhältniffe von ftäbtifchen Gymnaſten im Gegenfage zu den Fönigli« 
chen. Wer Geld hergibt und Kinder in der Schule hat, macht natürlich An⸗ 
und Zumuthungen, der Eine fo und der Andere anders und nicht immer ver 
nünftigfter Art, und jo kommt es denn, daß, wenn Fein Gegengewicht höherer 
Art vorhanden ift, die Sittenzucht der Schule, welche Doch bie Hauptſache ifl, 
Hänzlich verfällt. — Was nügt da alle Erziehung? — Es iſt aber gerade ein 
Sauptgebrechen, über Das in Amerika geklagt wird, daß der Lehrer vollkommen 
zum Spichverf einer zuchtlofen und unbändigen Jugend werde, 

Gin Aufiag in der Revue des deux Mondes gicht eine Anzahl fchr ein- 
Hänglicher Daten über das amerikanische Schulwefen, von denen wir das hervor⸗ 
heben wollen, was wirflich ftofflichen Werth hat, ohne und auf des Verfaſſers 
allgemeine Ideen einzulaflen, bie und nicht von Bedeutung fcheinen. 

Will man das amerifanifche Schulmeien Eennen Iernen und feine Entwide- 
lung und Ausdehnung verfolgen, fo muß man mit ten Schulen von Boſton 
anfangen. VBoſton ift, wie man weiß, Die geiftige Hauptftadt der Vereinigten 
Staaten, wie Wajbington die politiiche und New⸗Mork die gewerbliche und Han⸗ 
delohbauptſtadt: Boſton ift der Mittelpunkt, ven wo Die Titerarifche, gejchichtliche 
und pbilojepbifche Bewegung in Amerifa ausgeht. Die Namen Longfellow, 
Predeott, Emerſon, Channing, Barker, Bancroft, Broant, Wotlen haben ſeit 
lange tie Grenzen der neuen Welt überichritten, um bis zu und zu dringen. 
Die Pankee's gefallen jid) darin, in der Hauptſtadt von Maſſachuſetts ihr Athen 


Unterrichtöwefen in den Berein. Staaten. 415 


zu fehen. Die auf Koften der Stadt erhaltenen Schulen find dreierlei Art: 
Elementarſchulen, Grammatikſchulen (grammar schools) und höhere Schulen 
(high schools). 

Tie Elementarfchulen find 1818 gegründet worden und befafien fih mit 
dem Unterrichte der Kinder, deren Eltern ihnen dieſen Unterricht in der Familie 
ſelbſt nicht zu geben im Stande find. Man läßt nur Kinder unter fleben Jahren 
zu, und fie Iernen darin nur Buchflabiren und Lefen. Laut des Jahresberichtes 
gab e8 1857 211 Elcmentarfchulen in diefer Stadt. Jede Schule hatte im 
Durchſchnitt 60 Zöglinge. Die Gefammtzahl der Kinder betrug 12,733, dar⸗ 
unter 6731 Knaben und 6002 Mädchen. 

Die Grammatikſchulen find weniger zahlreich, aber ftärfer befegt. 1857 
zählten ſte 11,126 Schüler. Jede derfelben zerfällt in vier Klaffen: in der er⸗ 
ften betreibt man Leſen, Rechnen, Zeichnen; in der zweiten kommt Geographie 
dazu; in der dritten fchriftliche Auffäße und Deklamiren; das vierte Jahr iſt 
der grammatifchen Analyfe, der Buchhaltung, der Gejchichte, der Sittenlehre 
und einigen wiflenfchaftlichen Experimenten (phyftfalifchen?) gewidmet. Erft 
feit 1830 haben fle diefen vollfommmeren Schulplan, während die Schulen 
felbft zum Theil weit älter find. Zwei derfelben datiren bereits aus dem Jahre 
1680. Sie ftehen feit Der angegebenen Zeit jede unter einem befonderen Direktor, 
dem cin Lehrer» Kollegium beigegeben if. Die Gefchlechter find getrennt; es 
gibt Heutzutage ſechs Knaben⸗ und ſechs Maͤdchenſchulen. Schulgeld wird nicht 
gezahlt; der Unterricht ift ganz umfonft. 

Unter den höheren Schulen von Bofton verdient die 1821 geftiftete english 
‚high school zuerit Erwähnung. Sie zählte 1857 220 Zöglinge, und gibt einen 
dreijährigen Kurfus mit einem vierten Ergänzungsjahre. 

Nach dem, was und darüber vorliegt, muß fle ein Mittelding zwijchen vor⸗ 
gerüdter Bürgerfchule und Realſchule fein. Alte Sprachen find ausgefchloffen- 
Rach dem überfichtlich gegebenen Schulplane ift der Vielwiſſerei-Schwindel, an 
dem unfere ganze heutige Erzichung Eranft, dort noch ärger, als bei und. Schon 
im zweiten Jahre wird Geometrie, Rhetorik, Trigonometrie, aftronomiiches Rech⸗ 
nen mit Bezug auf die Schifffahrt betrieben; im Dritten Jahre Elementar⸗Aſtro⸗ 
nomie, Raturphilofopbie, Moralphilofophie, Staat8öfonomie, englifche Literatur 
und phoſikaliſche Seograpbie. Im vierten Jahre, das als ein Meifterjahr zuge⸗ 
fügt wird, lehrt man 6108 noch Philofophie, Logik, Spaniſch, Geologie, Chemie, 
Mechanif, die Elemente der Ingenieurfunft und mehrere Theile der Mathematik. 
— Sehr viel in vier Jahren für Knaben, Die aus der Elementarfchule, höch⸗ 
ſtens aus einer Art Untergymnaſium kommen. — Wenn das nicht Schwindel 
ift, fo gibt es Keinen. 

Eine andere höhere Schule zu Bofton ift Die lateinische. Schule (latin school), 
Die bereitd 1634, vier Jahre nach der Gründung der Stadt felbft geftiftet wurde, 
wie e8 in ber Stiftungsurfunde heißt, in ber Abficht „Leute zu bilden, die durch 
ihre Kenntniß der alten Sprachen im Stande wären, die heilige Schrift gründ« 
lich zu verfiehen und den genauen Sinn des Originals herauszufinden.” Diefen 
theologijchen Charakter hat die Schule jegt nicht mehr; fte iſt eine Vorbereitungs⸗ 


416 5 Padagogik. 


anſtalt zur Univerſitaͤt geworden. Der Kurfus dauert ſechs Jahre; der Lehrplan 
umfaßt Lateiniſch, Griechiſch, Engliſch, Franzöſiſch und Zeichnen. Alſo eine 
Art Gymnafium. Sie zählte 1857 176 Schüler (wenig genug für eine Stadt 
wie Boflon); davon waren nur 56 über fünfzehn Jahr alt. Alſo auch Gier ber 
Jugendverderb durch Ueberjagung! 

Auch die Maͤdchen haben zu Bofton ihre höhere Schule (girl's high and 
norınal school), die erft 1852 gegründet worden ift und 1857 174 Schülerin« 
nen zählte. Sie lernen im erften Jahre Arithmetik, Geometrie, Grammatik, 
Raturgeichichte, Synonymen, Mhetorik (zu Eunftmäßiger Ausbildung der Gar⸗ 
dinenpredigten ?), englifche Styliftit, Gefchichte, Latein, Zeichnen, Singen; im 
‚zweiten Jahre Algebra, Moral» Philofophie, Franzöſiſch, Rhetorik, Phyſtologie, 
Geſchichte; im Dritten Jahre Geometrie, Gefchichte, Philofophie, Aftronomie, 
Chemie, phofkaliiche Geographie. — Unfer Franzoſe ift ganz außer fich uber 
dieſe amerifaniiche Damenbildung. „Es ift dies die Erziehung der gelehrten 
rauen des fichzehnten Jahrhunderts, mit jener der philofophifchen Frauen bes 
achtzehnten Jahrhunderts vereint, eine Miſchung von Mademoifelle Scudery mit 
Mademoifelle Chatelet.“ 

Mir find durchaus Feine Begner einer möglichiten Entwidelung des weib⸗ 
lichen Geiſtes, aber wir fchen durchaus nicht ein, was durch eine ſolche Er- 
ziehung, fowohl für die jungen Mäpchen ſelbſt, als für die Wiſſenſchaft, Gutes 
erzielt wird. Es fcheint ung vielmehr, als ob diefer maßloſe Bildungsjchwindel 
die Kehrfeite zu dem gerühmten praftifchen und auf das unmittelbar Rützliche 
gerichteten Geiſte der amerifanifchen Männer bilde, mit anderen Worten, daß 
die amerikanifchen Danıen viel Muße und Gelegenheit zum Nichtöthun haben. 
Denn wozu ein Dämchen dad arme Gehirn mit Algebra,. Geometrie, Rhetorik, 
Philoſophie u.f.w. vollpfropfen fol, um im glüdlichiten Kalle eine ſchöngeiſtige 
Schwägerin zu werden, jehen wir nicht ein. Doch es iſt ja Hinlänglich befannt, 
und in anderen Blättern vielfach beiprochen worden, was es mit Diefer Bildung 
auf fich Hat; auch Fönnen wir aus Ähnlichen Erisheinungen auf heimiſchem Bo⸗ 
den recht wohl unfer Urtbeil begründen, 

Dad Budger für die öffentliche Erziehung zu Bofton betrug 1857 
450,000 Thlr. Die Xehrer werden gut beſoldet; die Direktoren der höheren 
Schulen erhalten 3000 Thlr. im erjten Amtsjahre; dann fteigt der Gehalt jähr- 
fih um 100 Dell. bi8 3500 Thlr. Die anderen Lehrer an dieſen Schulen 
erhalten 2000 bis 2500 Thlr. Die Linterlehrer ter Grammatikſchulen und bie 
Auficher der Höheren Schulen 1500 bi8 2000 Thlr. Die Aufjeher der Gramma⸗ 
tiffchulen 1000 6i8 1250 Thlr. Die oberften Hülfslchrer 600 bis 800 Thlr. in 
den höheren Schulen, 400 bi8 600 Thlr. in den Grammatifjchulen. 

Alle diefe Gemeindefchulen ftehen unter einem aus Notabeln der Stadt 
zufammengefegten Kuratorium aus 72 Mitgliedern, von denen jährlich ein Drit- 
tel audfcheidet und neu eingefegt wird. Dieſes Kuratorium flellt die Reglements 
auf, beftimmt dad Budget, ſetzt die Gehalte feit und wählt die Schulbücher. Die 
Mitglieder wohnen den Prüfungen bei und geben jährlich einen Bericht über 
die Schulen heraus, Cie erhalten dafür feine Beſoldung. 


Unterrichtöweien in den Berein, Staaten. 417 


Ein befondes Inftitut iſt das Lowel Institute, worin man öffentliche Vor⸗ 
Tefungen für Jedermann hält. Jedes Jahr engagirt das Lowel Institute berühmte 
Profefloren und Gelehrte zu einer Meihe von Vorlefungen (lectures), die vorzüg« 
lich im Winter ftattfinden und, wie unfer Gewaͤhrsmann jagt, gewiffermaßen das 
Theater erfegen. Solche Geſellſchaften, die ſich meift Durch Subferiptionen er⸗ 
halten, exiftiren in faft allen bedeutenderen Städten Amerika's und werden Ly⸗ 
ceen genannt. Das Lowel Institute hat vor ihnen voraus, daß es feſt funbirt ift 
und Stammfapitalien beftgt. Gefchichte, Moral, Literarur, Politik, Phyſik ıc’ 
fommen nach einander an die Reihe. Hier war es, wo Agafflz zuerft in Amerika 
auftrat, wo Emerjon zuerft feine Arbeiten dem Publifum vorlegte. 

So viel von Bofton. Run etwas über New-Morf. 

Die erften Bolköfchulen zu NewsMorf wurden 1802 von einigen Quaͤker⸗ 
frauen geftiftet, welche zufammmentraten, um felbft die allerärmften Kinder zu 
unterrichten. Dieſe Schulen wurden bald unter den Schuß der Kommune ges 
ftellt; Heutzutage erhält wenigſtens die Hälfte der Kinder diejer volfreichen Stadt 
darin ihren Unterricht. 

In News Mork wurde zum erfien Mal der Grundjag einer vollftändigen 
Trennung von Elementarslinterricht und religidfer Erziehung durchgeführt. Wer 
damit nicht einverftanden ift, muß fich an eines der zahlreichen Privat⸗Inſtitute 
wenden, welche die Doktrin irgend einer beftimmten religiöfen Gemeinjchaft feſt⸗ 
halten. 2 

Diefer jogenannten öffentlichen Schulen (public schools) gibt ed achtzeh 
im Ganzen, aber jede enthält in einem und demielben Lokal drei verfchiebene 
Klafien, eine für den Elementarslinterricht, eine zweite für die Knaben, eine 
Dritte für die Mädchen, (d. 5. in der erjten Klaſſe fcheinen Knaben und Mädchen 
beiiammen zu fein). In einzelnen diefer riefig angelegten Klaſſenlokale figen 
1500 bis 1800 Kinder jeden Alters, was in der That alles Mögliche ifl. Denn 
wie die Kinder dabei etwas lernen, läßt fich ſchwer begreifen, troß Lancaſterſyſtem 
u. dgl. 

Außerden gibt e8 zu New⸗Mork noch 29 fogenannte ward schools (Kirch⸗ 
fpielichulen), die 1842 gegründet worden find. Hier find Knaben und Maͤdchen⸗ 
klaſſen getrennt, dazu gehört eine Art Schullehrer-Seminar. Die Zahl der täg« 
lichen Schulfinder beträgt zu NRew:Morf etwa 100,000. 

Zwei Schulen find abgefondert, für Negerfinder beftimmt (fogenannte co- 
loured schools), während man zu Bofton dieje Trennung abgejchafft hat. 

Seit 1848 befigt New-Morf eine fogenannte freie Akademie (free Academy), 
ein Mittelding zwifchen Oymnaflum und Univerfität. Um aufgenonmten zu wers . 
den, muß man über 13 Jahr alt fein und 1'/2 Jahr auf einer öffentlidyen Schule 
zugebracht Haben, audy ein Eramen im Schreiben, Rechnen, in der Geographie, 
in der Buchhaltung, Der Gejchichte der Vereinigten Staaten und den Anfangs» 
gründen der Algebra beftehen. Der Kurjus umfaßt fünf Jahre. Den Schülern 
ftebt frei, die Unterrichtögegenftände, die fremden Sprachen, je nach ihrem kuͤnf⸗ 
tigen Berufe zu wählen. Mädchen werden nicht zugelaffen, doch denkt man an 
die Errichtung einer ähnlichen Anftalt für Mädchen. Die Anftalt, deren Ges 

V. 27 


418 Paädagaogik. 


bäube 500,000 Fr. gekoſtet, hat über 100,000 Fr. jährlich zu gebieten. Sie 
Gas gegenwärtig etwa 500 Schüler. 

Was die anderen Städte des Landes betrifft, fo fehlt in Feiner eine Elemen⸗ 
tarſchule, in welcher Leſen, Schreiben, Rechnen und Geographie gelehrt wird. Alle 
find reine Kommunaljchulen, um die fich die Regierung nicht weiter kümmert. 

In den Städten bat jedes Viertel feine befondere Schule; auf dem Lande 
Befteht eine ſolche auf etwa je fünf ober ſechs Duadratmeilen (engliiche). Die 
Oberleitung und Verwaltung hat ein von den Stimmfähigen gewähltes ſoge⸗ 
nanntes Prudential Committee. Das Sonderbarfte bei den amerikanischen Schus 
len ift, daß fie Feine ſtehenden Lehrer haben, fontern dieſelben oft nur ein halbes 
Sahr, jo lange der Kurjus dauert, behalten. Denn jedes Semefter beftimmt das 
Kommitee bie Lehrer neu, die meiftentbeild audgetretene Schüler find, welche 
nun ihrerſeits felbft Ichren, meiftend um ein Stüd Geld zur Kortiegung ihrer 
Studien zu verdienen. Es joll übrigens nie an Lehrern mangeln, was natürlich 
genug ift, denn brodbebürftige Individuen wird es ſtets geben, und da bie For⸗ 
derungen nicht hochgeftellt find, jo nimmt irgend ein hülflofer Auswanderer, ein 
bankerotter Kaufmann, ein gejchäftöloier Handwerker ıc. eine Lehrerſtelle an. Biel 
Geſcheidtes kann dabei nicht herausfommen ; indeß jchadet ed auch nicht viel, da 
für den Amerikaner das Leben ſelbſt die beſte Schule ift und er zum Schwindeln 
immerhin genug lernt. Bei ſolchen Zuftinden darf man fich über die Gemüth« 
loftgfeit Der Amerikaner nicht wundern; wie die Erziehung, jo der Menſch. 
Uebrigend muB man die Umſtaͤnde in Anichlag bringen, die bei einer io jungen 
Geſellſchaft noch häufig ganz proviioriich find; es läßt fich in vielen Hüllen gar 
nicht anders tbun ; man muß den Schulmeilter nehmen, wie er fonımt, wenn er 
auch ber größte Pfuſcher wire, wie ınun den Mebicinalpfujcher zum Arzte nehmen 
muß, weil fein anderer ba ift. 

Alljaͤhrlich im Fruͤhlinge vorirt ter Magiſtrat das Budget der Schulen, 
deren Koſten durch eine direkte Steuer auigebracht werden, die nach der Größe 
des Vermögens vertheilt wird. 

Für bie Höhere Erziehung müfſen, wie geſagt, die Einzelnen oder Vereine 
ſorgen, da die Regierung als ſolche nichts thut; doch haben die bedeutenderen 
Staͤdte nah tem Vorgange Boſtons Höhere Schulen oder Akademien geftiftet, 
um denjenigen, welche eine Univerfität nicht beſuchen können, Gelegenheit zu 
geben, Humaniora zu fludiren. Tas Bedürfniß und ter allgemeine Wunſch ent» 
ſcheidet für die Gründung einer ſolchen Anftalt, für welche eine Schulfteuer nicht 
bindend int, Doch muß ſich die nicht einverſtandene Minderbeit der Mehrheit fügen. 


II. 
Univerfitäten und Hochſchulen. 
Tie böberen Unterrichte-Anftalren und Uniterfttäten der Vereinigten Staa 


ten find faſt alle über den befannten engliichen Xeiften geſchlagen. Rachbiltungen 
von Oxford und Gambritge. Uebrigens find einige ber amerifanijchen Univerfle 


Unterrichtöwefen in deu Berein. Etaaten. 419 


täten vor der Trennung ber Kolonien vom Wutterlande begründet worden. So 
die berühmte Harvarbsilniverfität zu Cambridge in Maflachufetts und die eben fo 
Berühmte Dale-Univerfisät in Connecticut, welche 1700 zu Saybrook geftiftet und 
1716 nach Newhaven überfledelt wurde; das Willane-Dary Kollegium, welches 
1691 in Virginien von den Baptiften geftiftet wurde, dad New⸗Jerſey⸗Kollegium, 
1746 zu Elifaberhtown geftiftet und jpäter nach Princetown verfegt. Wenn man 
die Programme der Harvardsliniverfität lieft, jo glaubt man beinahe, die einer 
englifchen Uiniverfltät zu Iefen. Da ifl von graduates, undergraduates, juniors, 
seniors etc. die Rede. Doch find dieje amerifantichen Liniverfltäten weientlich 
von den englifchen verfchieden. Die Einrichtung der fellowship (Bemeinfchaft) ift 
mit der Trennung vom Mutterlande zu Grunde gegangen ; auch fehlt e8 an ben 
Fundationen hierfür. Das englijche Univerfltätäleben tft ein Stillfeben in faft 
Flöfterlicher Zurückgezogenheit von der Welt, der Politif und aller Tagesintereſſen; 
ganz anders in Amerifa, wo man bie Univerfität durchfliegt, um. in möglichft 
furzer Beit fo viel Kenntniſſe ale möglich aufzuraffen und im Leben zu verwerten. 
Die englijchen Univerfitäten find vorwiegend ariftofratifch, die amerikanifchen 
natürlich das Gegenteil. 

Die Harvard⸗Univerſität befindet fich zu Cambridge, einer Fleinen, in der 
Rähe von Bofton gelegenen Stadt. Die Studenten zerfallen hier in zwei Klaſſen, 
in die undergraduates oder Böglinge des eigentlicyen Kollegiums und die pro- 
fessional students, welche die befonderen Fakultäten deg Nechts, der Medicin und 
der Theologie beiuchen. Wir würden alfo nach unjeren Begriffen eine Verbin⸗ 
dung von Obergpmnaflum mit Univerfität vor und haben. Das Kollegium der 
undergraduates bat einen vierjährigen Kurfus in vier bejonderen Klafien, deren 
Bejucher Die Namen freshmen (Brifchlinge), sophomores (Klugdumme), juniors 
und seniors führen. In ter erften Klafje (etwa unfere Unterfecunda) wird Gries 
chiſch, Lateiniſch, griechiiche Geſchichte, Geometrie (Blanimetrie) und Trigono⸗ 
metrie vorgenommen ; die Sophomoren fludiren außerdem noch Franzöflich, Rhe⸗ 
torik, Chemie und befondere Theile der Mathematif; die Juniors treiben außer 
den alten Sprachen noch Philoſophie, englijche Geichichte, die Elemente ber 
Aftronomie, Phyſik, die Seniors erhalten Unterricht über die amerikaniſche und 
engliiche Verfaſſung, Staatsöfonomie, Gefchichte Der Vereinigten Staaten, Rhe⸗ 
torif, Deelamation und Phyoſik. 

Die Zahl der Zöglinge betrug 1855 357. Die jährlichen Koflen eines 
Böglings des Kollegd betragen im Durchichnitt 320 Ihlr., wobei Erziehungs⸗ 
koſten (Schulgeld ?), Lebensunterhalt und Wohnung bei den Bamilien, die zur 
Aufnahme von Koftgängern autoriftrt, inbegriffen find. Der eigentlichen Stus 
. denten waren in demjelben Jahre 300, darunter 104 Mediciner, 111 Juriften, 
67 wilfenfchaftliche Studenten (scientific students), d, h. wohl, was wir Stu⸗ 
diofen der Philofophie nennen, 2 Studenten Der Aſtronomie und 14 Theologen. 
Die Koften für einen Studenten diefer Art belaufen fich jährlich auf etwa 500 
bi 800 Thlr. 

Um in die Rechtsſchule aufgenommen zu werden, bedarf es keines Examen: 
oder des Nachweiles früherer Studien, man muß nur minbeftend neunzehn Jahr 

. 27% 


420 | Mãdagogik. 


alt ſein und ein Sittenzeugniß beibringen. Die Studien dauern nur zwei Jahre, 
von denen jedes in zwei Curſus von je 20 Wochen zerfaͤllt. Der Curſus koſtet 
50 Doll. Uebrigens können die Rechtsſtudenten, wenn ſie wollen, nebenbei das 
Kolleg beſuchen, um ihre Kenntnifſe zu vervollſtaͤndigen. Zu unterſcheiden find 
Die eigentlichen Juriften, bie fich für die Progepführung vorbereiten, von den⸗ 
jenigen jungen Leuten, die in's Gejchäftsleben eintreten wollen und dazu eine 
Anzahl juriftiicher Kenntniſſe brauchen. — Die Unterweifung berfelben ift ganz 
formell und amerifanifch praktiſch; man Hält ihnen Vorlefungen über Handels 
gefellichaften, Kontrakte, Verſicherungen, Käufe, Mheberei, kurz über Alles, was 
zum ınoney-making gehört. 

Die Medicinalſchule der Univerſttät befindet fi in Boſton ſelbſt. Jähr⸗ 
liches Schulgeld 80 Doll. Die Elinifchen Vorlefungen finden in den dortigen 
Hoßpitälern flatt und ergänzen die theoretijchen Stubien. 

Die theologiſche Schule nimmt an der Hurvard-Univerfität nur eine fehr 
befcheidene Stellung ein; doc, auf einer großen Anzahl der amerikanifhen Unis 
berfltäten ift fle Die wichtigfte. Das Sektenweſen begünfligt bei der allgemeinen 
Freiheit einen ſchrankenloſen Proſelytismus, und zahlreich find die Leute, die fi 
der geiitlichen Laufbahn widmen — freilich was für Leute in vielen Faͤllen?! — 
Es gibt feinen Staat, Feine Sefte, die nicht ihre Seminarien hätte; Tauſende 
Junger Leute lernen darin die Schrift erklären und üben ſich zeitig im Pres 
‘digen. 

’ Verbunden mit der Univerfität ift Die Lawrence scientific school, die von 
Abbot Lawrence, ehemaligem Gefandten der amerifanijchen Freiſtaaten zu Lon⸗ 
don, geftiftet wurde. Es tft derfelbe, welcher Die großartigen Lowell⸗Spinnereien 
in Maſſachuſetts gegründet hat. 
7,_Man lieft darin über Chemie, Zoologie, Geologie, Mineralogie, Ingenieurs 
funft, Botanik, vergleichende Anatomie, Phyflologie und höhere Mathematik. 
Der berühmte Naturforfcher Agaſſiz iſt ein Lehrer dieſer Anſtalt, ebenſo der 
Aſtronom William C. Bond, deſſen Verdienſte um Aſtronomie, Meteorologie, 
Magnetismus, Geodaͤſte u. f. w. den Fachmaͤnnern wohlbekannt find. 

Außer (der Sarvard«liniverfität zählt der Staat Maſſachuſetts eine große 
Anzahl von Kollegien und Akademien ; die berühmteften find die Akademie und 
das theologifche Seminar zu Andover, wo ber Gatte der berühmten DVerfafferin 
von „Onkel Tom” BProfeffor ift, die Kollegien Amberft und Williams. Aus 
anderen Staaten führen wir an: dad College und die Medicinaljchule zu Bow⸗ 
dein, die Seminarien zu Bangor und Redfield, das baptiftifche College zu Water« 
ville in Maine, dad DarmouthGollege zu Hanover in New⸗GHampſfhire, das Col⸗ 
lege zu Middleburg und die VermonteUlniverjität im Staate Vermont, Die weis 
leyaniſche Umniverfität zu Middletown und das Dale-College in Gonnecticut mit 
mehr ald 500 Schülern, endlich die Brown-Univerfität zu Providence in Rhode⸗ 
land. Der große Staat New-York hat mehrere Kollegien, das Columbia 
College zu News Morf felbft, dad Samilton= College zu Clinton, Hobart = Free 
Gollege zu Geneva, und die Univerſitaͤt zu New⸗York felbft. Die Gauptanftalten 
in Bennfploanien find Alleghany⸗College in der Grafſchaft Meadville, Pennſyl⸗ 


Unterrichtöwefen: in den. Verein. Staaten. 421 


vaniaGollege zu Gettysburg, Sefferfon-College zu Canonsburg, Dickinſon⸗College 
zu Carlisle und Waſhington⸗College zu Waſhington. 

New-⸗-Jerſey, zwiſchen den nördlichen und ſüdlichen Staaten in der Mitte 
gelegen, hat nur zwei Kollegien von einiger Wichtigkeit: das New-Jerſey⸗College 
(1746 geftiftet) zu Princetown und Rutgers⸗College zu New-Brundwid. Der 
Staat Ohio war vor einigen Jahren in dem Erziehungsfelde noch ſehr zurüd; 
heutzutage fcheinen feine Anftalten im Aufblühen begriffen. Die wesleyanifche 
Univerfltät zu Delaware hatte vor einiger Beit 400 Zöglinge; die Miami-Uni- 
berfität zu Oxford 200; das Kenyon⸗College zu Gambier 144, das Heibelberg- 
College zu Tiffin 100. 

Die Staaten des Südens, welche die meiften Liniverfltäten beſitzen, find 
Virginien und Carolina. Die Univerfltät von Charlotsville in Virginien zählt 
mehr als 600 Zöglinge. 

Außerdem gibt ed noch mehrere ziemlich blühende Colleges: Bethany, Ran⸗ 
dolph Macon, Richmond, Wafhington, Hampden⸗College. Die Univerfität von 
Süd⸗Carolina zu Chapelpill hat etwa 400 Studenten. Gleich nach diejer An⸗ 
ftalt fommt dad Normal-College In der Grafichaft Randolph. 

Auch Maryland Hat mehrere Kollegien: Maryland-Union und St. Marge 
College zu Baltimore, St. John zu Unnapolis und Mount⸗St. Mary zu Em⸗ 
mitsburg. In Rouiflana haben Iadfon und Opeluja Kollegien. Die Generals 
verfammlung hat 1835 einen jährlichen Kredit von 15,000 Dollard auf zehn 
Jahre für Die Förderung des Schulweiend bewilligt, das bier noch fehr zurück 
if. Erft 1849 hat man einen.-Schulfond (school fund) gegründet. Im Staate 
Miſſiſtppi ift der @lementarunterricht erft feit 1846 organifirt worden. Erſt 
1849 hat der Staat Teneifee eine Summe von 11/2 Mill. Thlr. dazu beflimmt, 
das Schulwefen zu fördern. Man erwähnt dort zwei Univerfitäten, die Cumber⸗ 
lantösllniverfität zu Lebanon und die UnionsUniverjity zu Murfreesborougd, 
erftere mit 400, Tetgtere mit 200 Studenten. Der Staat Alabama bat viel für 
Schulzwecke gethan und eine Univerſität nahe am Gap Tuscaloofa reich fundirt. 
Die Univerfität von Georgien ift bereitd 1788 geftiftet; auch dieſer Staat bat 
einen Schulfond. Im felben Jahre ift auch die Univerfltät von Kentucky geftiftet 
worden. Kollegien gibt es in dieſem Staate zu Danville, Bardstown, Augufta, 
Princeton und Georgetown. Der Staat Michigan hat die wichtige Ann⸗Arbor⸗ 
Univerfität mit mehr ald 300 Stutenten. Die Madiſon⸗Univerſitaäͤt in Wisconfln 
hatte in Iegter Zeit 167 Zöglinge, die Miffouri«Univerfität zu Columbia 130, 
die Wabajhellniverfttät zu Crawfordsville in Indiana etwa chen fo viele. 

Die einzige Schule, die Direft vom Staate abhängt und von der Regierung 
geleitet wird, ift die Militatrfchule zu Weft-Point. Schäfer aus allen Staaten 
werden darin aufgenommen, ja der Präftdent hat ein Recht, aus jedem Wahl« 
bezirfe der Union einen Zögling für Weft-Point” auszuwählen. Tenn die Are 
mee ſoll fo viel als möglich unabhängig von einzelftaatlihen und Parteirüde 
fihten fein und dem Ganzen angehören. Viele Zöglinge kommen zum Theil 
aus diefen Gründen ganz roh und unwiſſend Hin, ohme mehr zu willen, als 
etwas Leſen, Schreiben und Rechnen; boch follen fich die rohen Weftländer, eben 


422 MPädagogik. 


weil fie eine große Arbeitokraft mitbringen, oft in kurzer Zeit recht gut dreſſtren 
laſſen. 

Bei genauer Beobachtung findet man den ganzen Zuſchnitt der Schule dem der 
Pariſer polytechniſchen Schule aͤhnlich: daſſelbe Programm, daſſelbe Syſtem der 
Brüfungen, derſelbe Geiſt der Gleichheit in der Verſetzung. Der Curſus iſt vier⸗ 
jährig. Exerziren und Waffendienſt bilden gleichfalls einen wichtigen Theil in 
der Erziehung zu Wefl-Point. Denn die als Dfflziere Entlaffenen treten fofort 
in ihr Regiment, als Infanteriften, Kavalleriften oder zur Artillerie. Die Schule 
von Weſt⸗Point liefert weit mehr Offiziere, ald die Union braucht; indeß dienen 
viele nur ihr Pflichtjahr ab und treten dann in's bürgerliche Leben zurüd, Sie 
werden dann Milizoffiziere. Wer ſich als Ingenieur ausbilden will, muß ſich 
an's topographiiche Bureau zu Wajhington wenden, 

Seit 10 Jahren etwa hat der Staat auch eine Navigationgfchule gegründet, 
welche für die Marine das fein fol, was Weſt⸗Point für das Landheer. 

Eine höhere Akademie, wie die von Paris, Berlin u. ſ. w., hat Amerika 
nicht ; ihren Mangel foll ein Wanderverein eriegen, die „‚amerifanifche Afjociation 
für den Kortfchritt der Wiſſenſchaften.“ — Es verhält ſich damit ähnlich wie 
mit unjeren Wandernereinen, jährlichen Philologen- und Raturforfcherverfamm- 
lungen und fliegenden Akademien, bei denen eben nicht gerade viel herausfonmt, 
welche aber die Gemüthljchkeit fördern und etwas zur Eiviltfation ber Gelehrten, 
wie zur Milderung ihrer Sitten beigetragen haben. 

Gelehrte Gefellichaften gibt es in großer Zahl in Amerika, für Mebicin, 
Aderbau, Meteorologie, Statifif u, ſ. w. Ein berühmtes Inflitut für Raturs 
forſchung ift das Smithsonian-Institute zu Waſhington, dad von einem vor⸗ 
nehmen Engländer teftamentarifch fundirt worden iſt. Es fcheint eine Art Aka⸗ 
bemie daraus werden zu Eönnen, wenn es einmal über die Anfänge hinaus 
fein wird, 


Bilder aus China. 


Bon 


Emanuel Grafen vou Andrafy. 


Kanton. Straßenleben. Ehinefifhe Soldaten. Schlaubeit der Ehinefen. 
Kaufladen und hinefifhe Arbeiten. Einkauf. Ehinefifches Porzellan, 
Apotheke. Hundemarkt. Blumenfhiff. Ehinefifhe Jonk. Barbiere. 
Theehandel. Ausdehnung von Kanton. Ausſetzung von Kinde 
Milton. Chinefiihe Mahlzeit. Kunftfeltenheit. 





A⸗⸗ unſer Dampfboot in den Hafen von Kanton einlief, bekamen wir die Stadt 
ſelbſt noch nicht zu Geſichte, weil dieſelbe Durch Die unzähligen Maſten, Wimpel 
und Segel völlig verdedt ift; überdies wird Die Ausficht auch durch die chinefl« 
fchen Jonk verfperrt, welche ungefähr die Höhe von zweiſtöckigen Häufern ers 
reichen. Sie liegen ganz ruhig in zwei Reihen vor Anker, darum gewahrt auch 
der Meifende bier fein anderes Leben ald das Treiben der Bootsleute, welche der 
Schiffsmannichaft Nahrungsmittel und allerlei Krämerwaaren zuführen. 

ATS wir daß feſte Land betraten, fanden wir den Fleinen Raum vor dem 
Hafen mit der Menge, welche dort theild ihre Waaren feil bot, theils in anderer 
Weiſe befchäftigt war, völlig überflutet; ed war wirklich ſchwer, fich mit Hülfe 
der Ellenbogen und Faͤuſte durch die Maſſe Bahn zu brechen und es Foftete eine 
hübjche Portion Schweiß, um endlich bis zum amerifanifchen Conſulatsgebaͤude 
vorzudringen. In Kanton bat jede handeltreibende Ration ihr eigenes Con⸗ 
fulatögebäude, auf welchem fle ihre Flagge aufſteckt; nach dieſen Flaggen oder 
Emblemen pflegt der Chineſe die betreffende Nation zu benennen. Es finden ſich 
bier Kaufleute von faft jeder Nation der Welt; am zahlreichften find natürlich 
die Engländer und Amerikaner vertreten; außerdem fieht man noch Branzofen, 
Holländer, Portugiefen, Spanier, Dänen, Schweden, Perjer, Birmanen, Ma» 
laien, Cochinchinaten ıc., ja ich traf fogar einige Schweizer, welche Uhren in bes 
deutender Menge hierher zum Verkauf brachten. 

Der von den Europäern bewohnte Theil Kantons befteht außer dem kleinen 
Marktplatze noch aus zwei größeren und einex Heinen Straße. Die Sauptſtraße 


424 Ränder und Bölkerkunde, 


iſt nicht mehr als zwei Klafter, die übrigen höchſtens eine Klafter breit; man 
kann fich alfo das Gedränge vorflellen, wonn man bedenkt, daß der Ehinefe feine 
Geſchaͤfte am liebſten im Freien abmacht, abgefehen davon, daß an einem Orte, 
wo die Spekulanten der halben Welt zufammentreffen, ſchon an und für fich ein 
Gedränge entjtehen muß. Der Fremde weiß in der That oft nicht, wo er ſich 
hindrüden foll, während die Schaar ber Kaflträger an ihm vorüberzicht. Der 
Träger fchleppt feine Laflen, an Bambusſtöcke gehängt, daher, und wenn er nur 
für da8 eine Ende einer Bambusftange etwas zu tragen befommt, jo hängt er 
an dad andere Ende, um das Gleichgewicht herzuftellen, Eiſen oder Blei, und 
watfchelt fo mit jeiner oft dritthalb Gentner wiegenden Laſt bis an feinen Be⸗ 
fimmungsort. Ganz auf diejelbe Weife werden auch allerlei Waaren, Obft, 
Gemüje und Gebäd herumgetragen; jeder der Verkäufer fchreit in einem an⸗ 
deren Zone, daß er da jei, und daß Jeder, dem ed beliebt, von jeiner ausgezeich⸗ 
neten Waare kaufen könne. Selbft die Barbiere rufen in den Straßen, daß fle 
Jedermann zu Dienften fliehen, man möge nur befeblen. 

Für den Europäer ift, fo Tange er ſich nicht Daran gewöhnt Hat, dieſes 
Schreien und Toben, tiefe Rohheit, mit welcher der gemeine Chinefe, wenn er 
eine Laſt trägt, ihm den Weg vertritt oder ihn bei Seite ftößt, wirklich unerträg- 
lich. Namentlich jegt, wo eine fo allgemeine Gereiztheit herricht, muß der Fremde 
fehr vorfichtig fein und das rohe Benehmen des Volkes ruhig erbulten. Was 
ben Tumult noch erhöht, find die zahlloſen Bettler, die an den Thüren der Kaufe 
läden fo lange berumpaufen, bis fie ein Almoſen befommen, da man fle nicht 
verfagen darf, oder an den Eingängen der Straßen ſtehen, fiten, liegen, während 
jeder irgend ein langweiliges Sprüchlein vor fich Herichreit oder ein ſchauderhaft 
verflümmelted Inftrument maltraitirt, wie dies zur Marktzeit in Ungarn auf ber 
Miſchkolzer Brüde zu geichehen pflegt, um die Aufmerffamfeit der VBorübergehen- 
ben auf fih zu Ienfen. Und wenn man eine jolche Straße durdhjchritten bat, 
findet man am anderen Ende wieder ganze Gruppen armer, halbverhungerter 
Leute, in Lumpen gebüllte und verfümmerte Männer, Weiber und Kinder, fo 
daß der Fremde vor dieſem Anblide unwillfürlich zurückbebt. 

Am Ende einer jeden ſolchen Straße, welche nach der eigentlichen Stabt 
führt, befindet fih ein Thor, defien Schwelle fein Europäer überjchreiten darf; 
darum ſteht gewöhnlich an einem folcyen Thore ein Wachtpoften, irgend ein 
milerabler Soldat St. himmliſchen Majeßaͤt mit einem Bündel Runten an der 
Seite und mit dem Gewehre in der Hand. Seinetwegen fann jeder Europäer 
bequem Hineingehen, denn bie Gewehre find fo eingerichtet, daß, bis der Soldat 
das Pulver auf die Pfanne fchütter, Feuer jchlägt, zuerft feine Runte und dann 
bad Pulver anzündet, der Fremde laͤngſt über alle Berge iſt. Es ift fonderbar, 
daß dieſe für jo intelligent verfchrieene Ration fich noch faft gar nicht mit 
ben europäifchen Schußwaffen vertraut gemacht hat, wo doch Se. himmliſche 
Majeftät genügend Gelegenheit hatte, an den von den Engländern ald Gejchent 
erhaltenen Gewehren ſich von der Richtönugigkeit der eigenen zu überzeugen. 
Bielleicht ift dieje blinde Halsftarrigkeit als Nationalftolz oder als unverbrüch⸗ 
liches Anklammern an das Althergebrachte auszulegen, jonft Eönnten die Chineſen 


Bilder aus China. 425 


fih unmöglich noch bie vor Kurzem, flatt der weit ſchneller zu handhabenden 
europäifchen Gewehre, ihrer Zuntenflinten bebienen. 

Rah einem mit den Engländern gejchlofienen Bertrage follten die Thore 
von Kanten den Europäern geöffnet werden. Als nun bie biesfällige Auf⸗ 
forderung an die chinefifchen Mandarinen ging, antworteten dieſe mit gleis⸗ 
nerifcher Höflichkeit: die Thore feien geöffnet, bie Herren Europäer mögen 
nur bineingehen, aber was dann das über den Anblick der Fremden wüthende 
Volk thun werde, dafür könne die Behörde nicht gut fichen. Es verfteht fich von 
ſelbſt, daß nach einer ſolchen Auseinanderiegung Niemand hineinzugehen wagte, 
umfomehr, da das Volk audy noch Durch Maueranfchläge gebegt wurde, es möge 
ja nicht dulden, daß die Barbaren durch ihren Eintritt dic heilige Stadt ent« 
weihten. Dieſes kleine Beifpiel beweift, wie jchön die Flugen Engländer von den 
fo unbeholfen fcheinenten Chineſen angeführt wurden. 

Uebrigens find dieſe Thore infofern ein Vortheil, als fie das Einfangen 
des auf frijcher That ertappten Diebes erleichtern, denn ſobald ein Lärm entfteht, 
werden alle Thore gefperrt, und der unglüdliche Verfolgte wirb vom Volke graus 
ſam erichlagen. 

Nachdem ich Die Straßen durchwandert hatte, wozu ein halber Tag mehr 
als genug ift, befuchte ich amı folgenden Tage einen hineflfchen Kaufladen, um 
mir einige Kleinigkeiten als Andenfen einzukaufen. Die chineftfchen Kaufläden 
haben feine Auslagefäften, die übrigens in den engen Straßen audy gar feinen 
Raun hätten; es ift außen bloß der Name des Kaufmanns in einheimifcher und 
englischer Sprache angeichrieben. Beim Eintritte kommt Einem der Kaufmann 
oder jein erfter Commis, der englifch verfteht, freundlich entgegen, führt den 
Käufer weiter in's Innere des Ladens, zeigt ihm dort bie ringsum Tagernde 
Waare und läpt ihn dann allein, um bequem und ruhig auswählen zu fünnen. 
Mährend biejer Zeit wird jedoch jede feiner Bewegungen von einer Menge über- 
aus fcharffichtiger Augen beobachtet, und auf den Wunfch des Käufers iſt der 
Kaufmann fogleich bei der Hand, um bezüglich feiner Waaren die gewünfchten 
Aufichlüffe zu geben oder ihm zu jagen, was eine oder die andere Eofte, In jedem 
etwad größeren derartigen Gejchäfte iſt Alles zu befommen, was durch inlän« 
diſchen Gewerbfleiß erzeugt wird. Voran ftehen oder bängen gewöhnlich bie 
wohlfeileren Waaren in hübjchen Schränfen, meift Kinderfpielzgeug, worauf der 
erfinteriiche Ehineje fo viel Kunftfleig verwendet, daß derlei Gegenflände bei und 
unter Glas als feltene Gegenftände gezeigt werben, während fie hier überaus 
wohlfeile Bagatellen find; dahin gehören 3. B. ihre Rarrifaturen aus Papiers 
Mache, ganze Gruppen von Puppen, welche vollftändige Scenen barftellen, und 
taujend und aber taujend andere Kleinigkeiten, welche den Fremden, wenn er 
gleich in Europa genug chinefliche Zappalien zu fehen Gelegenheit hatte, dennoch 
durch den Meiz ter Neuheit überraichen. Unter Anderem werden hier Spinnen 
aus Thon niit feinen Drahtfüßen verfertigt, welche, an einem Gummifaden her⸗ 
abhängend, von Jedermann für lebendige gehalten werben ; bieje Kleinen Meiſter⸗ 
werke find hier ungemein wohlfeil, ebenfo Die Kopf, Augen und Zungen bewegen- 
ten Automaten, welche überdies auch noch ausgezeichnet ſchön find. 


426 Zänber- und Bolkerkunde. 


Ueberhaupt müflen wir, wenn wir die Waaren in einem joldyen Kaufladen 
auch nur flüchtig überblidlen, offen gefleben, tag das chineſiſche Volk in feinen 
Banufacturen den europäiichen Induftriellen weit überlegen if. Beſonders find 
ihre Drechölerarbeiren die jprechenditen Zeugen einer unendlichen Geduld, — 
wahrhaft unnachahmlich. Bon ihren Schachfiguren if jede einzeln ein Meiſter⸗ 
ſtück an ihren Dojen End die HaurMelief-Schnigarbeiten überaus fein und rein. 
Ihre aus Rhinozeroshorn gefertigten Becher jind gleichfalld en relief gearbeitet 
und ihre unbeichreiblich ichönen beinernen Bücher befunden ungemein geſchickte 
Hände. Am merkwürdigftien ift aber jene aus einem einzigen Stück gedrechfelte 
beinerne Kugel, in weldyer jich 10 bis 16 Eleinere Kugeln drehen, von tenen 
jede einzeln an der Oberflaͤche mit anderen Verzierungen verjehen if. Tie Eng⸗ 
länder glaubten Anfangs, die Kugel jei zufammengefitret, ich jelbft verjuchte fle 
aufzulöien, fand aber, Daß fle wirklich aus einem Stücke jei. Auf der Londoner 
Welt-Induftrie-Ausfellung jah man wohl einen Verſuch, diejes Problem zu 
Iöfen, aber er fiel fehr ungeichicht aus, denn eine Kugel fand von der anderen 
ungefähr einen Viertelzoll weit ab, während die chineſiſchen beinahe aneinander⸗ 
ftoßen. Jede jolche Kugel muß auf der Drehbank circa 6000 Mal gedreht wer⸗ 
ten und koſtet, obwohl fie die Arbeit von einem halben Jahre ift, doch nicht mehr 
ald 25—30 fl. &-M. An den inefliyen Borhängen werden dieſe Kugeln ſtatt 
der Quaſten verwendet. 

Die Geſchicklichkeit der Ehinejen in Steinmegarbeiten iſt allgemein befannt. 
Aus Schmergel und hartem Kiefelftein formen fie Lie ſchönſten Figuren; man 
fann fich denken, welche ungeheure Geduld hierzu erforberlich ifl. 

Wer kennt überdies nicht ihren audgezeichnet fchönen und guten Lad? Ihre 
hübſch eingetheilten, mit unzähligen Schubläden verjehenen Möbel find hier zu 
Lande noch viel glänzender, ald in Europa, wo ihnen der Transport zur Set 
ſchadet. Roch viel wertbuoller ift jedoch der japaniiche Lack. Dieſer Lad wird 
ebenfo gewonnen, wie der Gummi, nämlich von der aus Bäunıen ausgeſchwitzten 
Feuchtigkeit. Unter ihren Möbeln jind befonders jene Divans erwähnenswerth, 
aus welchen, wenn es nothwendig wird, ein mit Fußſchemeln verfebener Tiſch 
bersoripringt, To daß die auf dem Divan Sigenden auf diejem Tiſche zugleich 
bequem ihren Thee trinfen oder fpielen fönnen. Und alle diefe Möbel find über 
aus wohlfeil; nur wenn fie nach Europa gebracht werden, kommen fie ungeheuer 
theuer zu fleben. 

Unter ihren Seidengeweben tjt der chineflfche Grep am bemerkenswettheſten, 
den die europäiiche Weberei, ſowohl Hinfichtlich der Qualität ihres Stoffes, wie 
der Zarbenpracht, biöher nicht zu erreichen vermochte. Dieje Stoffe find in fehr 
huͤbſche Papierchatoullen gepadt, und auf Verlangen des Käuferd werden ihm 
diefelben vom eriten bid zum legten mit aller Bereitwilligkeit vorgewieſen. 

Bon Bold- und Silberarbeiten befunden namentlich die aus getriebenem 
Silber einen hoben Brad der Vollendung; befonders hübſch find auch ihre Vi⸗ 
fitenfartenhalter, welche in jedem größeren Kaufladen zu haben find; auch ver⸗ 
fertigen ſie jehr feine Drahlbracelets aus edlen Metallen, deren Schloß einfacher 
it und doch beſſer hält, ald das der europätichen, da ein ſolches Bracelet ficherlich 


Bilder aus China. 427 


nicht Teicht vom Arme fällt. Ihre granirten Silberarbeiten find fo wohlfeil, daß 

fie ſich eigentlich nur den Metallwerth bezahlen Iaflen; ich Faufte mir einen 

folchen Becher um 30 Rupien (à 20 Sgr.), und als ich ihn zu Hauſe ſchaͤtzen ließ, 

überzeugte ich mich, daß, ganz ahgelehen bon der fchönen Yacon, bad Silber 
allein fo viel werth fei. 

In einem ſolchen Univerfalgewölbe befommt man auch chinefiſche Kleider 
zu Faufen, welche weniger für den Gebrauch, fondern als Seltenheiten für bie 
Europäer beftimmt find, Damit fie zu Hauſe etwas zu zeigen haben. In demfelben 
Laden wurden auch Broncefpiegel verkauft, welche die Seftalt der Hineinblidene 
den fehr getreu und zein, Die Farbe aber Hingegen gar nicht wiedergeben; darum 
fommen auch immermehr die europäifchen Glasſpiegel in die Mode, während im 
Inneren de8 Landes noch immer jene in Gebrauch find. 

Rachdem ic) die Waaren des Kaufladens befichtigt hatte, was mindeftens 
anderthalb Stunde dauerte, war Die Menge derjenigen, die ich mir zum Anfauf 
vormerkte, der Urt angewachfen, Daß ich zu ihrem Transport beinahe ein kleines 
Schiff nöthig gehabt hätte; ich mußte Daher nun unter diefen wieder eine Aus⸗ 
wahl treffen, und dann erft begannen die eigentlichen Unterhandlungen mit dem 
Kaufmann, Das war aber auch dad Schwierigfie an der ganzen Sache, denk 
der chineſiſche Kaufmann bietet felbft dem Eingeborenen feine Waaren immer 
um den doppelten Preis, vom Ausländer aber möchte er ſte ſich gern dreifach 
oder, wenn biefer nicht jelber Kaufmann ift, gern vierfach bezahlen laſſen. Mit 
Hülfe feiner Rechenmafchine, welche denen in unferen Kleinfinderbevwahranftalten 
ähnlich tft, ſummirt er fchneller als jeder Europäer. Ich wagte natürlich nicht, 
bem Beſitzer eines fo reichen Kaufladen® den vierten Theil des verlangten Bes 
trages zu bieten, fontern bot ihm die Hälfte. Der gute Mann fagte etwas von 
feftgefeten Preiſen, ich aber entgegnete ihm, „die Leute, die mich nach feinem 
Laden gewielen, hätten mir gefagt, ich brauchte ihm Durchgehends nur den vierten 
Theil der verlangten Summe zu bieten.” Dieje meine Aufrichtigfeit mochte 
ihn etwas überrajcht haben, er fchüttelte den Kopf, weigerte ſich wohl noch ein 
wenig, aber ich jah aus den Mienen feiner Commis, daß fie fchon bereit ftanden 
und nur auf einen Wink ihres Herrn warteten, der ihnen fagen follte: nur zu, 
padt die ausgewählten Waaren zufammen. Daher ließ ich mich auch zu feinem 
höheren Gebote herbei. 

Während die Handlungstdiener mit dem Zujammenpaden befchäftigt waren, 
fchrieb mir der Herr die Rechnung fehr ſchnell und rein mit einem Pinſel, ber 
gewöhnlich in Tujche getaucht wird. Die Handlungsdfener waren recht ſchmucke 
Burfche, denn fle werden auch hier nach Geſicht und Wuchs erwählt. Jeder von 
ihnen trug einen fchönen, langen Bopf, der in China den unentbehrlichen Be 
ftandtheil einer anftändigen Toilette bildet, und der Ghinefe würde nicht um bie 
Melt bei einem Europäer eintreten, ohne vorher feinen Zopf in Orbnung ges 
bracht zu haben. Welche Wichtigkeit Diefem Anhängfel beigelegt wird, gebt ſchon 
daraus hervor, dag man in China die Bevölkerung nicht nach Köpfen, fondern 
nach Zöpfen zählt. 

Nachdem der Kaufmann Alles geordnet hatte, überreichte er mir bie übliche 


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Bier weit Vtemere Erute Lırzna zer. 13 ix Wurene. Tee tie der 
würte msn cerzelens ın Rufen ui. tı rn tireem zen m Wege 
zeiher Prizatleute keinten. Tie teilen Relutizuren. tie Sek sfrikeir tee Ges 
lorits am ken regen Werigen wirt ielleik: Far Te Zeiten urniteteli Eich 
ben. Ce keririellcd zeblreil Laber aut ses uerize Terzelm if ſe nt dech 
bie Breiie tieier zersuslikeren Stücke iueert bes westalb sch nar wenige 
kazen nak Gurorı fommen. Gin Kauſann zeiate mir zei Scalen ven 
ſolchet Tunne, wie ñe nicht einmal and Gl22 aeblaſen werten fünnen. 

Zeit tie Enalinter ten Ebinrien Lie Terzellartıtritarien abgelernt baben, 
fann China freilich nicht meer ziel nıb Gurora 'tiden. aber Berien und 
Amerika fint noch immer ſeine Abnebmer. unt tennet bar das maliiche Por- 
zellan zor tem chinefiſchen in Berug auf eine T-ualitär ñcher nit, in Vezug 
auf ihre Moblfeilkeit kaum einen Verzug. Uebrigens it c& unbeſtreitbar, daß 
heut zu Lage auch in China nicht mebr jo aufgezeibneict Vorzellan erzeugt wirt, 
wie ebetem, tenn tamals lieg man ten zur Vorzellanbereitung ausgegrabenen 
Thon gerößmlicd to lange senrittern, Tau er in der Regel erñ von ten Gnfeln 
verarbeiter murte: ielbit Der verarbeitete Thon wurte nach lange getrocknet und 
kann erſt gebrannt. Eeit einiger Zeit aber, seit ſich die Nachfrage nach dem 
hinelihen Berzellan io beteutent fleigerte, konnte nicht einmal für ten laufen» 
ben Betarf genug Thon gegraben werden, welcher ichon binnen einigen Wochen 


Bilder and China. 429 


ald Porzellan in den Handel kommt. Die Chinefen ſelbſt erkennen ben Unter⸗ 
ſchied zwifchen den heutigen und ehemaligen Kabrifaten nur zu gut, und bie 
erfteren find dort weit gefuchter al in Europa, ja ed fünnte fogar Jemand, 
wenn er von bier aus das alte Porzellan nach China zurüdführen würde, dort 
jedenfalls ein jehr guted Beichäft machen. Bei dem Borzellanhändler ſah ich 
auch jene zweckmaͤßigen Wajchbeden, deren Boden aus Kupfer, der Reif aber 
aus Email und mit unzähligen Figuren geziert ift, deren Farbe ſtets unvers 
ändert bleibt. 

Es gibt in Kanton mehrere Gewölbe, wo nur religiöje Gegenftände ver- 
Eauft werden, z. B. Eleine Gögen aus Wachs, Genien aus Erz. oder Stein 
u, ſ. w., meiftend aber Beuerwerfögegenftäntde, Raketen, Schwärmer, Rauchwerk, 
Vapierlampen und allerlei Combuſtibilien. Es werden vielleicht in der ganzen 
Melt nicht fo viele Keuerwerfögegenftände verfchwendet, wie in China. Mit 
jedem Reumonde findet ein großes Feuerwerk ftatt, und wie man fagt, foll es 
den Europäcın bis jegt noch nicht gelungen fein, Die auf dem Wafler ſchwim⸗ 
menden Beuerthierchen der Chinefen nachzuahmen. Selbft ein Kamilienfeft fann 
in China nicht ohne Feuerwerk abgehen. Auf ihren Schiffen felbft werden Ra⸗ 
feten und Schwärmer loßgelaffen, dag Alles Eracht. Ich befichtigte auch eine 
Apotheke, wo ınan, wie es jcheint, mit den Arzneiflaichen am meiften Luxus 
treibt, da Dieje aus Europa kommen. Uebrigens mag e8 bier fchauderhaft allöo⸗ 
pathiſch zugehen; jo läßt fich wenigftens aus der Manipulation jenes bezopften 
Herren jchliegen, der mit einer auf Die Raje gezwidten Brille bei förmlichen Schefe 
feln vol Arzneitrank ftand und darin mit einer Schaufel herumrührte. In der 
Medicin jcheint man bier noch jehr weit zurück zu fein, darum werden auch die 
europäifchen Aerzte hier mit offenen Armen empfangen, beſonders feitdem fle einige 
Augenfranfe glüdlich geheilt haben. 

Da ich dem Gerüchte feinen Glauben ſchenken wollte, fuchte ich felbft einen 
jener Orte auf, wo Hunde und Katzen ald Eßwaaren verfauft wurden, und 
wirklich jah ich nicht weit von dem Gonjulatögebäude einen Ehinefen, der in 
einen Zaubenforbe fünf bis ſechs Eleine Hunde feilbot. Der Größe nad if 
dieſe Hundegattung unferen Schoodhunden, im liebrigen aber dem Fuchſe ziem« 
lich ähnlich, nur daß der Schweif nach aufwärts gekrümmt if. Wenn Zunge 
und Gaumen jchwarz jind, müjjen dieſe Hunde bejondere Delifateffen fein, weil 
fie dann von den vornehmen Chineſen fehr gut bezahlt werden. Ratten und 
Kapen jah ich nicht zum Verkauf audgeboten, aber ich hörte, daß auch dieje beis 
den Thiere bei der aͤrmeren Klaſſe ſehr gejuchte Xederbijfen find. Zur den Nach⸗ 
mittag jchlug mein amerifanifcher Freund eine Waflerfahrt vor, um mir zugleich 
zu zeigen, wie eine chinejljche Jonf von innen ausſehe. Das Schiff gehörte einem 
parzifchen Kaufmann, der e8 blos deshalb hielt, weil in Cochinchina nur chinefl- 
ſche Jonks mauthfrei landen dürfen. Vor dem Gonjulatdgebäude beftiegen wir 
den Kahn, aber wir vermochten faum vorwärtd zu fommen und uns durch bie 
Gaſſen, welche von den Schiffen gebildet werden, durchzuwinden, jo groß war bie 
Anzahl der £leinen Boote, welche von hier aus Ihee und andere Waaren nach 
ben vor Vampa liegenden europäifchen Segelichiffen transportiren. Etwas weiter 


- 438 Länber- und Bollertunde. 


unten üanten tie Jente und auf ber Hinfaher bezneten wir auch em Pismen- 
Im. 
Tas Serukmı Plzmenidur ik ein wahrer Ichwınzmenter Gurten, alter 
sielmehe ein lleiner Balık, weicher zu inzent mer Arlikier mir ten fo 
bariiın Biumen geichmudı wirt. Tie Farbe it meinens Tunfelırun, bier und 
Ba mit Gele Turchbrechen. Hinter ten Aruitersorbängen iteden zegugie Krruten- 
mebbchen ihre wietlichen Korre berror, Auitern untereinanter, id lasen Daun wie» 
ber eim lautes Gelickter auf, um Lie Aurmerfizmfer ter :Ücriberzebenten auf 
fd zu lenken, unt winfen froblodent Eaft tierem. bald jenem zu, ite zu bermiben. 
Gier verisumelu ich auch tie ausidhweiientiten jungen Keute ter Staktt. um 
Oyvium zu rauchen un? bei jenen Blumenfeen ibr Terznüzen zu Änten. Tem 
Europäer wäre ter Beruch olchetr Orte durchaus nicht amzurarten, er fünmte 
leicht in afler Stille kei Eeite geickarrı werten. 

Bom Kahne aus berachtet, it Lie chimefticke Jenk ein ie ungebeures 
Sabrıeuy, daũ ich mir im eriien Augenblid zar nicht erfliren fenmıe, wie wir 
eigenilich auf tanielbe fommen iollıen: am ten beiten Guten erreicht ea tie Höße 
eines nueiliödigen Hauies. Die durch Lie Fabrten noch wicht ubgenugsen ſind 
son glänzent rorfer Garke, vorm find zwei ungebeure Augen angemalt, um Die 
böten Geier ıu vericheuchen, vielleicht aucb, um ten Serriubern Schreden ein- 
zujagen. Bir Rieger an tem ttumpien Schnabel des Schiffe! zum Berted bin- 
an, weiches ziemlich geräumig in. aber feine Ausñcht Eieter, weil es ringe von 
hehen Ranern umgeben if, an welchen Schilde und Sreere ter Rannidaft, io 
wie jene Eolsjtalen Gewehre bängen, welde man nur mir Mübe aurzubeben vers 
may. Hinten beñndet ſich tie ziemlich bobe Tribune des Steuermamnd, kon 
welcher terielbe eine sehr weite Ausſicht genießt: Tas Steuerruter ielbit iR jehr 
lang und wirt an einem Etride kin und ber gezogen: übrigend kann man vom 
Eteuer aus in das Schif bineinieben, unt ron bier aus ericheint das Innere 
Defielben ganz Kohl. Wie fann man nun mit jo ſchwachen Vorrichtungen 6iß 
Yarı fahren unt ten Seeitürmen trogen? Tie Antwort darauf läßt ich wirklich 
ſchwer ünten. Uebrigens fabren dieſe Sckifte in ter Regel aud nur mir tem 
BWinte, denn ibre grosen Pinieniegel eignen ſich zu feiner anteren Fabrt, da 
namentlich aud ter MRaitbaunı jehr niedrig it. In ter Mine tes Schiffes be 
finter Ach tie ſebt eleganı meublirte Kajüte, to wie der Summelrlag für die vor- 
nehmiten ECchinäpaflagiere; in tiefem Gemache befinter ſich auch jenes, überaus 
in Ehren gebaltene Initrument, auf deſſen Eriintung tie Ebineien ſich rich ein⸗ 
bilden unt beiten Gebrauch, nad ter Bebauptung einiger Gelebrien, Die Euro⸗ 
päer in ten arabiihen Häfen von ihnen gelern: baßen tollen. Wie dem immer 
jet, io viel ift boch gewiß, daß ter chineflihe Compaß fich bis zur Stunde noch 
immer io zu jagen in der Kindheit beñndet, und es ſcheint nur die Verehrung, 
bie man für tenielben beat, Fortichritte gemacht zu haben, denn er ſteht gerade 
vor tem Bilde ter bundertarmigen Götrin und des Schutzgottes. von allerlei 
abenteuerlichen chineftichen Gharafteren umgeben. Hier onfert das Schiffänolf 
mit wohlriechendem Weihrauch und kann Tag für Tag jeinen Talioman bewun⸗ 
bern. Der Boden tes Schiffes ift Hauch und befteht aus feſt aneinandergefügten 


Bilder aus China. \ 431 


glatten Brettern, oberhalb befielben befindet ſich, fo zu fagen, ein zweiter Boben, 
ber in Eleinere, vom Waſſer undurchbringbare Faͤcher abgetheilt if. Wenn auch 
eines dieſer Bächer ein Leck befommt, jo dap Wafler hineindringt, fo iR doch 
noch nicht das ganze Schiff gefährdet. Es würde wohl auch für die Europäer 
von Vortheil fein, diefe Art der Schiffsbaukunſt ſich anzueignen, wenn da⸗ 
durch dad Auf⸗ und Abladen nicht gar jo fehr erfehwert würde, Die Kriege« 
fchiffe find blos in 3 ſolche Kächer geteilt, man kann alfo auch in dieſen das 
etwa eingeftrömte Waſſer ifoliren, und das Schiff wird in tem Augenblide wies 
der flott, als das Wafler in dem betreffenden Fache ausgepumpt ift. 

Als ich auf dem Verdecke fland, ſah ich, wie ein Matroje feinem Kameraden 
ben Kopf raſirte; das dreieckige Meſſer if fo lang und did, daß es nöthigenfalls 
auch zum Häckjelichneiden verwendet werden Fönnte; übrigens weiß ich wirklich 
nicht, wie ein europaͤiſcher Barbier oder Brifeur ſich biefer ſchwierigen Aufgabe 
entledigt haben würde, denn ber Matroſe rafirte das borftenartig emporſtehende 
Haar ganz trocden bis auf die Haut ab. Unſere Barbiere würden den armen 
Teufel dabei gewiß Halb gefchunden haben. Erſt bei ber Abfahrt bemerkte ich, 
daß fidy unter den Ankern der Jonk auch hölzerne befinden, welche an diden, um 
die Walzen gewundenen Striden am Schnabel des Schiffes hingen. 

Wir wären durch die von den Schiffen gebikdeten Gaſſen gern noch weiter 
gerudert, aber ein Paar Chineſen fließen mit ihrem Boote fo derb an das une 
jerige, während andere und jo unverfchämt ben Weg vertraten, dag wir immer 
mit dem Stode drohen mußten, um fle ein wenig im Baume zu halten; wir 
fanden es daher gerathener, wieder in die Naͤhe bed Conſulatsgebaͤudes zurüdzus 
fahren, wo Zucht und Ordnung firenger gehandhabt werben, 

Auf allen Booten, denen wir begegneten, wurde Thee getrunken. Diejes 
Getränk ſcheint dem chineftfchen Volke faft jo unentbehrlich zu fein, wie dem uns 
ferigen das Brod: es wird früh und jpät von Armen und Reichen getrunfen ; 
die erfteren befommen gewöhnlich den bereitd einmal abgebrühten Thee, während 
bie Allerärınften den bereits gänzlich) unbraudhbaren zufammentragen und dann 
mit Stumpf und Stiel verzehren. Uebrigens bereiten bie Chineſen ihren Thee 
nicht jo, wie wir, jondern fle haben ein durchlöchertes filberne® Gi, welches fle 
mit Theeblaͤttern voll ftopfen und dann in ſiedendes Waſſer tauchen; fo Eann der 
Thee dann noch leicht cin zweited Mal benugt werben, was die vornehmeren 
Klaſſen natürlic) nicht zu thun pflegen. Die Chineſen trinken ihren Thee durch⸗ 
gehends ohne Zucker, mijchen aber ald Gaumenreiz ſtark riechende Blätter und Blu⸗ 
men darunter. Wer nun einen etwas verwöhnten Befchmad bat, trinkt nur ganz 
reinen und mo möglich alten Thee; denn auch der Thee ift, gleich dem Tabak, 
befto beſſer, je länger er liegt. Man kann audy in der That keinem vornehmen 
Chineſen eine größere Gefälligkeit erweilen, ald wenn man ihm aus Europa wies 
der zurüdgefommenen Thee jchenkt; es geht daraus hervor, daß die Seefahrt 
dem Thee nicht jchadet, fondern ihn nur beſſer macht. Uebrigens lernt man es 
in China begreifen, wie fehwer der echte Thee zu erfennen tft; die Farbe deffelben 
und die Heinen Blätter find nur von unbedeutender Wichtigkeit, größere Kaufe 
leute Halten fich eigene Verkofter, weldye den Thee kauen müffen, um zu ente 


432 Zänder- und Bölkerkunde. 


ſcheiden, ob er gut ſei oder nicht. Dieſe Verkoſter werben vom Käufer ſehr gut 
bezahlt, freilich gar oft auch vom Verkäufer. " 

Der Thee ift alfo jenes ſtark gefuchte Product, jener Luxusartikel, der bie 
Kaufleute von allen Eden und Enden der Welt bierherlodt; um feinetwillen er⸗ 
dulden fle den rohen Spott, mitunter auch tödtliche Beleidigungen von Seiten 
der alles Fremde haſſenden Chineſen. Welch ungeheure Duantitäten mag China 
alljährlic von dieſem Thee verkaufen! Die Engländer führen etwa 30 Millionen 
Pfund aus, die Ruſſen 20, Rordamerifa 6—10, die Holländer 3, Die Franzoſen, 
feit fle fich weiß machen ließen, dag der Thee ein Träftiges Mittel gegen die Cho⸗ 
Teva fei, ungefähr 2 Millionen. Bei dieſer Ausfuhr gewinnt China jährlich 
gegen 40 Millionen Gulden C.⸗M. und mindeftens eben fo viel an feinen übrigen 
Waaren, nämlich an roher Seide, Gochenille, Rhabarber, Kampher, Lad, Por⸗ 
zellan und einer Unzahl namenlofer Kleinigkeiten. Der Exporthandel China's 
ift fomit ein ungeheuer ergiebiger, und es Eönnte fich jene beträchtliche Summe 
ale Gewinn bei Seite legen, wenn es fein Opium gäbe. Die Bilanz neigte fich 
auch wirklich immer zum Vortheile China's, fo lange dieſer für das Land verderb⸗ 
liche Artikel nicht in den Verkehr kam. England war einzig und allein auf Diefe 
Weiſe im Stande, dad commercielle Gleichgewicht wieder herzuftellen, denn nach 
einer während eines Kriegsjahres im Parlamente abgegebenen Erklärung gewinnt 
ed von Ehina an Opium jährlihd 3 Millionen Pfund Sterlin. Im Jahre 
1853 confumirte das Himmlifche Reich von dieſem Artikel 35—40000 Kiften, 
und Diejed ungeheure Quantum wied größtentheild aus Oſtindien eingeführt. 
Rußland taufcht für den Thee Kürfchnerarbeiten und ausgearbeitete Welle ein, 
Amerifa aber Cotone, Die es in größerer Menge und zu wohlfeileren Preijen 
einführt, als fie Die Engländer zu liefern im Stande find. 

Obwohl nun jede Nation bereitd einen ſolchen Tauſchartikel gefunden Hat, 
bleibt doch eine Menge Silber aus dem Occident in China oder vielmehr in 
ber Umgebung von Kanton, denn weiter hinein ift wenig oder gar nichts da⸗ 
von zu fehen. Jeder Kaufmann in Kanton, oder überhaupt in China, ber 
mit weitländifchen Kaufleuten in Verkehr tritt, ſtempelt fogleich die empfangenen 
Dollars, jo viel ed auch ſein mögen, und wenn fie gleih nur für einen Augen 
blit in jeinen Händen bleiben. Es folle Niemand fagen Eönnen, beißt es 
dann, daß er von ihm falfches Geld befommen habe, aber das ift nur ein 
eitler Vorwand, eine leere Ausflucht, Die eigentliche Abjicht ift die, daß auf 
diefe Weije entftellte Geld im Lande zu behalten. Es muß noch bemerkt wer⸗ 
den, daß bier, jo wie überall in Indien, die europäiichen Handelsleute ihre 
Artikel nur im Großen und zwar im Verfteigerungswege kaufen und verkaufen, 
das Detailgeichäft überlaffen fle den Inländern. 

Die Lage Kantons ift für den Theehandel nicht die allergünftigfte, denn 
ed wird durch cin hohes Gebirge von dem Erzeugungdorte getrennt, und ber 
Thee muß von ta auf ten Schultern herbeigejchleppt werden. Eben deshalb 
zieht fich auch der Handel immer mehr gegen den nach dem Kriege eröffneten 
Hafen bei Schanhaj hin, und jeit mehreren Jahren find bereits viele der europäijchen 
Schiffe hier eingelaufen, wo ſich alle Verhaͤltniſſe günftiger geftalten, da das Volk 


Bilder aus Ehine. 433 


zuvorkommender ift und freudig jede Gelegenheit ergreift, zu wohlfellerem 
Opium zu kommen, woran es früher Mangel litt. Die Austehnung von Kanten 
muß eine ungeheuer große fein, da bie Bevölkerung, die auf dem Fluffe in 
Schiffen wohnenden Tanfad mit eingerechnet, auf eine Million geſchaͤtzt wird; 
bie Zahl dieſer Tankas foll fi auf 80,000 belaufen. Sie bilden eine fo willig 
abgefonderte Kafte, daß fie nur unter einander Ehen eingehen und auf dem 
Feſtlande Feine Güter befigen bärfen oder vielmehr können. Die Stadt wird, 
wie man died von hohen Punkten aus fehen kann, von einer viereckigen Maner 
umfchloffen. Uebrigens konnte felt dem letzten Kriege, mithin feit mehreren 
Jahren, nur ein einziger Europäer dad Innere von Ehina fehen, und Boch gibt 
es einige, die fich durch längeren Aufenthalt völlig acclimatiſirt haben, bie 
Sprache der Eingeborenen gut und fließend jprechen und mit all’ ihren Sitten 
und Gebräucdhen derart vertraut find, daß fle Jeder für geborene Chineſen hats 
ten würde, nur der Eingeborene nicht, der in dieſer Nesiehung eine fehr feine 
Naſe Hat und den Fremden felbft unter der täufchendftien Masfe heraustennt. 
Dem chen erwähnten Europäer ward ed auch nur dadurch möglich, das Land 
zu bereifen, daß er ſich Krüäden an die Fuͤße band und ald Bettler von Ort 
zu Ort wanderte, da er wohl wußte, dag der Chineſe den Bettler nie une 
barmhersig von fich jagt. Ein mir den Verhältniffen des Landes völlig un“ 
bekannter Fremder dürfte ſich wicht um die Welt Hineinwagen, und e3 würde 
ihm dies auch gar nicht zu rathen fein, denn er hätte für den Ball, daß er 
entdeckt würke, wenig Gutes zu Hoffen. Das Volk haft and verachtet die Frem⸗ 
ten inftinctmäßig, und die Flugn Mandarinen mehren diefe Aufregung forte 
während. Ueberdies zielen auch alle Maßregeln dahin, die Yremden bon dem 
Inneren bed Landes und die Eingeborenen von der Berührung mit tenjelben 
fo viel al& möglich fern zu Balten. 

Ich fprach darüber mit vielen aufgeflärten Engfändern, welche im Lande 
wohnen und daher die Verhäleniffe genau Fennen, aber alle verficherten ein⸗ 
flimmig, daß e8 für den Fremden ungemein ſchwierig, ja unmöglich fel, weiter 
hinein in dad Innere des Landes zu gelangen, felbft wenn er dem fonft fo 
vergätterten Stande ter Aerzte angehöre. 

Die Engländer fagten, fle Hätten bereitd alles Mögliche aufgeboten, aber 
alle ihre Bemühungen wären an der unabläfftg wachſamen Aufmerkfamfeit der 
Mandarinen geicheitert. Ste verfuchten, denfelben durch gütliches Zureden, 
durch Veftechungen beizufommen, aber Alles vergebens; fo ſeien fle endlich zu 
der Ueberzeugung gelangt, daß es, fo Tange die Kamille Mandſchu auf dem 
Throne fige, außer der gemaltfamen Erobet: ing Eeinen anderen Weg gebe, um 
zu biefem iſolirten, verichroben gebildeten Volke zu gelangen, deſſen felt Jahr. 
hunderten unveränderte Inftitutionen und Gchräuche mit der Denfungsmelfe 
der Europäer im graffeften Witerfpruche ftchen. Da ich fo nach den an Ort 
und Stelle gefammelten Erfahrungen von ber eigentlichen Sachlage unterrichtet 
war, konnte ich mich nicht genug wundern, als ich in meiner Heimath bie Aufs 
forderung laß, zur Erziehung der durch Mifflondre geretteten hineflfchen Kinder 
beiz ſteuxrn, um dieſe für das Chriſtenthum zu gewinnen. Ich erlaube mir 

28 


434 Länber- und Boͤlkerkunde. 


hierüber einige Bemerkungen. Es ift wohl war, daß die dhinefliche Regierung 
der Ausfegung der Säuglinge an gewifien, Hierzu beftimmten Orten durch tie 
Finger fieht, aber auch nur durch bie Binger ficht. Sie thut dies jedoch blos 
darum, weil es wirklich Mütter geben kann, welche, felbft bei dem beiten Willen, 
ihre Kinder zu ernähren nicht im Stande find. Uebrigens pflegt die Chineſin 
ihr Kind mit derfelben innigen Liebe und Zärtlichkeit, und ift eben fo bereit⸗ 
willig, für baffelbe jedes Opfer au bringen, wie bie allerchriftlichfte Europäerin. 
Lebt doch felbft in dem unvernünftigen Thiere dieſer Trieb, wie jollte er im Mens 
ſchen vermißt werden? Das Unglüd, ausgeſetzt zu werden, trifft Daher überhaupt 
nur wenige kleine Kinder, die ohnehin vom Elend ganz verfümmert und fo zu 
fagen halb tobt find, und auch dann trennt ſich Die Mutter nur unter beißen 
Thraͤnen und mit herzzerreißendem Wehllagen von ihrem tbeuren Kinde. Knaben 
Tann folch ein Unglüd nie widerfahren, jondern nur Mädchen. Aber das Mit- 
gefühl und die Menjchlichkeit der Bewohner hat auch dafür bereit gejorgt, Denn 
e8 wurde in Kanton ein Findelhaus errichtet, mo jede jolche unglüdliche Mutter 
ihr Kind unterbringen kann. 

Nach einiger Zeit muß übrigens tiefe traurige Eitte von jelbft aufhören, 
weil der Ueberfluß der Beyölferung nad) den benachbarten Infeln einen Abzug 
findet, wo ſich mehr als hinreichende Mittel zum Unterhalte darbieten. Sumatra, 
Borneo, Java find bereit3 von biefer Race überfluthet und von Jahr zu Jahr 
fledeln ſich daſelbſt immer mehr Chinejen an, ja, in neucfter Zeit follen dieſe 
Armen, um fich ihren Unterhalt zu verjchaffen, jogar bis nach Amerika wandern. 

Im Ganzen Hielt ich mich in Kanton vier Tage lang auf und begab mich 
dann wieder nach Hong-Kong. Vor der Abreiſe wurde ich noch von einem 
hineflichen Kaufmanne zu Tiſch geladen, bei welchem, ganz nach europäifcher 
Sitte, erft in ſpaͤter Rachmittagäftunde gefpeit wurde. Kaufladen und Magazin 
befanden fich zu ebener Erde, die Wohnung des Kaufmanns aber in erften 
Stode des Haujed. Aus einem großen Empfangfaale gelangte man rechtd in 
den Speiſeſaal und von da nach einem Fleinen Gemache. Bon Möbeln war nur 
wenig zu ſehen; Alles in Allem einige Etageres, ein paar Eleine Tifche und auf 
diefen etwas Porzellan⸗Geſchirre. 

Der Hausherr empfing und auf8 Freundlichfte und äußerte feine Freude 
darüber, daß wir ihn mit unjerem Beſuche beebrten. Ueberhaupt iſt der vor« 
nehmere, gebildete Chineſe ſtets übertrieben höflich und trägt bei jeder Gelegen- 
beit wahrhaft feine Manieren zur Schau, während das gemeine Volk eben jo 
extrem grob und ungejchliffen ift. Jener weicht dem Fremden auf der Straße 
ſtets vollftändig aus, dieſer nie, weil er jeden Europäer — oder rothhaarigen 
Barbaren, wie er ſich ausdrückt — wie ein tief unter ihm flehendes Weſen be⸗ 
trachtel. — Ter beſſer erzogene Chineſe ift aljo, wie gejagt, in feinem Haufe 
recht herzlich und zuvorkommend; auch unfer Kaufmann Hatte und zu Liebe 
mehrere Säfte geladen. Zuerft wurden nur europäiiche Speiſen aufgetragen, 
dann famen die dhinefifchen, Darunter die als Leckerbiſſen gerühmten Echwalben- 
nefter, welche ald Gaumenreizmittel verzehrt werben. Aus Reugierde Eoftete ich 
davon, fand aber, daß vor Allem das Salz fehlte, um Appetit zu erregen. Eine 


—3 


Bilber aus China. 435 


andere Speiſe beſtand aus ben verſchiedenſten Fleiſchgattungen; ich ließ ſie un⸗ 
berührt, um nicht zufällig einen Katzen⸗ oder Hundsrücken zu erwiſchen. Auch 
chineſiſches Backwerk war in Menge vorhanden, aber man fchmedt aus jedem 
Stüde den efelhaft ſüßen Neisfchleim Heraus. Im Efien ift der Ehinefe fehr 
gewandt; es gewährt eine wahre Unterhaltung, namentlich dem gemeinen Manne 
zuzufehen, wie gefchidt er mit feinen beiden Stäbchen bie Neisförner an ben 
Mund führt; wir Anderen würden das unfer Leben lang nicht zu erlernen im 
Stande fein. 

Nach Tijche zeigte und der Kaufmann eine Kunftfeltenheit, ein jo hübſches, 
kunſtvolles Werk, dag ich mich augenblicklich entichloß, dafjelbe anzufaufen. Der 
Gigenthümer ſtraͤubte ſich wohl eine Beit lang, es herzugeben, aber ba ich ihm 
einen lohnenden Preis bot, ließ er fich endlich erweichen. Es war ein Bild aus 
emaillirtem, getriebenem Golde und ftellte einen adernden Landmann dar; bie 
Figuren traten fo body und fein hervor, als ob das ganze ein Reliefguß wäre. 
Ein neuer Beweis, wie weit e8 die Ehinefen In dieſem Zweige der Kunft gebracht 
haben; ich für meinen Theil babe noch nie ein jo vollendetes Kunſtwerk gefehen 
und glaube überhaupt nicht, daß Europa noch ein ſolches aufzuweiſen bat. 


28* 


Die Homöopathie, 
ihr Prinzip und Weſen, fo wie ihre Segner. 


Den 
Dr. F. A. Günther. 


Die Grundfäge der Homöopathie Laffen fih nur unmittelbar aus den Schriften 
des Urhebers diefer Lehre, Dr. Samuel Chriftian Friedrih KHahne—⸗ 
mann, ſchöpfen, namentlich aus dem Organon der Heilfunft, dieſem 
merkwürdigen Werke, welches bereits mehrere Auflagen erlebt und bei jeder der⸗ 
felben Zeugniß von dem inneren und äußeren Bortfchreiten der Wiſſenſchaft ge⸗ 
geben hat. Wir wollen daher das Wichtigfte und Eigenthümlichfte aus dieſem 
Buche hier in möglichfter Kürze zufammenzufaflen juchen, um die irrigen An⸗ 
fichten zu berichtigen, die man unwiſſend oder abjichtlich bemüht gewefen ift, hier⸗ 
über zu verbreiten. Vielleicht wird Dadurch mancher Lefer vermocht, daſſelbe im 
Originale zu lefen, indem es von anderen mebicinifchen Büchern ganz verſchieden 
ift und zu feinem Verftändniß Eeine befonderen medicinijchen Kenntniffe voraus⸗ 
fegt, deren nur ber praftifche Homöopath, vieleicht in noch höherem Grade als 
der Allöopath, in feiner Praxis bedarf, derjenige aber entbehren Tann, welcher 
blos die Grundlage und das Weſen diefer Heilmethote Eennen Iernen will. Es 
wird ſich dadurch zeigen, ob man unter Homöopathie blos Fleine Pülverchen oder 
gar eine Art von Hungerfur zu verftehen habe, wie man folches von den Gegnern 
berjelben oft behaupten hört. 

Des Arztes höchſter und einziger Beruf, jagt Hahnemann 
im erften $. des Organon, ift: Eranfe Menſchen gefund zu machen, 
was man heilen nennt, nicht aber, führt ex in der Anerkennung fort, das Zus 
fammenjpinnen leerer Einfälle und Hypotheſen über das innere Weſen des Lebens⸗ 
vorganges und der Krankheitdentftehungen im unfichtbaren Inneren zu jogenanns 
ten Spitemen, oder Die unzähligen Erklaͤrungsverſuche über die Erjcheinungen in 
Krankheiten und die, ihnen ſtets verborgen gebliebene, nächfle Urjache derfelben 


Die Humöspathie, 437 


n. ſ. w. in unverflänbliche Worte und einen Schwulft abſtrakter Mebensarten ge» 
huͤllt, welche gelehrt Flingen follen, um ben Umwifienden in Grftaunen zu ſetzen, 
während bie Franke Welt vergebens nach Hülfe feufit. 

Jede Krankheit fegt eine Veränderung im Inneren des 
menihlihen Organismus voraus. Diefe wird jedoch nach dem, was 
die Krankheitszeichen davon verrathen, vom Verſtande blos träglich und dunkel 
geahnet; an fi erkennbar aber und auf irgend eine Weiſe täufchungslos er- 
kennbar tft das Wefen diejer inneren, unflchtbaren Veränderung nicht. Das Un⸗ 
fihtbare, krankhaft Veränderte im Inneren und bie unferen Sinnen bemerfbare 
Veränderung bes Befindens im Aeußeren bilden zufanımen vor dem Blide ber 
ſchaffenden Allmacht, was nıan Krankheit nennt, aber blos Die legte, die Ge⸗ 
fammtheit der Symptome, tft die dem Heilkünftler zugefehrte Seite der 
Krankheit; blos diefe ift ihm wahrnehmbar, und das Hauptfächlichfte, was er 
von der Krankheit wiſſen kann und zu wiſſen braucht zum Heilbehufe. Als Bei⸗ 
hälfe der Heilung dienen dem Arzte die Data der wahrjcheinlichften Beranlaffung 
der afuten Krankheit, fo wie die bedeutungsnoliften Momente aus ber ganzen 
Kranfheitögefchichte Des chronischen Siechthumes, und deſſen Grundurſache, die 
meift auf einem chronifchen Miasma beruht, audfindig zu machen, wobei die er⸗ 
kennbare Leibesbefchaffenhett des Kranken, fein gemüthlicher und geiftiger Cha⸗ 
rakter, feine Beichäftigungen, feine Lebensweiſe und Gewohnheiten, feine bürger« 
lichen Verhältniffe, fein Alter und feine gefchlechtliche Funktion u. f. w. in Ruͤck⸗ 
ficht zu nehmen find. 

Da man an einer Krankheit, bei welcher keine fo offenbar veranlaffende 
oder unterbaltende Urfache zu erfennen ift, jonft nicht wahrnehmen kann, alo 
die Kranfheitszeichen, fo müflen e8 auch einzig die Symptome fein, durch 
welche die Krankheit, die zu ihrer Hülfe geeignete Arznei fordert und auf dieſelbe 
hinweifen Eann, jo muß die Geſammtheit diejer, ihrer Symptome, 
dieſes nach Außen reflektirte Bild des inneren Wefens der Krankheit zu erfennen 
geben, welches Heilmittels fie bebürfe. 

Indem die Krankheiten nichts, als Befindensveränderung des Ge— 
funten find, die fich Durch Krankheitözeichen ausdrüden, und die Heilung eben⸗ 
falls nur durch Befindensveränderung des Kranfen zum gefunden Zus 
ftande moͤglich iſt jo fleht man Leicht, daß die Arzneien auf Feine Weiſe 
Krankheiten mürten heilen können, wenn fie nicht Die Kraft bejäßen, das Men« 
Schenbefinden umzuändern; fa, daß darauf ihre Heilkraft allein beruhe. 
Diefe, im inneren Wefen der Arzneien verborgene, faft geiflige Kraft, Menichen« 
Befinden umzuändern, ift und auf feine Weife mit bloßer Verftantedanftrengung 
an ſich erfennbar, fondern läßt ſich lediglich durch die Erfahrung wahrnche 
men, und zwar, wenn Diefe Erfahrungen rein und zuberläfftg fein follen, durch 
PVerfuche an geiunden Menſchen, indem fonft nicht zu unterſcheiden iſt, 
was der Arznei und was der Krankheit angehört. 

In Hinflcht des Verhältnifies der Arznei zur Krankheit, nach Maßgabe der 
beiderfeitigen erkennbaren Symptome, find nur dreierlei Berichledenheiten 
möglich, nämlich entweder find fle fih entgegengefegt, ober unter einander 


28 ec 


ähmli, eter fie Ent Rh gegemieiti in ifren Sirkıugen gan: fremt. Hier 
aus erafem ñch num die drei Gamrtmerbeten. 2b denen man zeıen Rranfkeisen 
verfäßr:, nämlice: 

1, tie antirarbiike Merbete. weite Arreien amrente, teren 
Kräfte zerate ein enizeaenzriegiet Selen Erartıor aadıs erreaen, als Pie ın 
belämr’ente Kranfkeu: 

2, tie Eemöcerasmhbiichke Werbede, weilte RE nur ſelcher Geil 
mittel ferien, Lie ibren Grüwirtungen baliche Reibrorten cuoor zados 
erreaen, 

3: bie allöszarkiice Meikete. weite durch ibre Arzneien Bir 
funzen zu zeruriscken firekt. tie denen ker Krankbeu meter äbnlıt, noch eut= 
gegenzeiegz, ſentern aan: terit Änt. aassior 1ads:. 

Nad 2er eriten, ter antızacbiiken eninterachichen oter ruliaricen) 
Merbore, aikı ter Arzt gegen ein einzelne ke’ hreriitet Someten 
unter ten vielen übrigen, =en ibm nikı beabteten Scmriomen ter Krankbei 
eine Arznei, zen welcher es befannı ih. Tas ie das gerate Gezenrbeil des zu 
beibwicrigenten Rranfkeitt» Scmriemes berzerkring, æeren cr Temnad, zus 
folge ter aiıen Regel ıcontraria contrarus:, die tchieunigite, ader leiter nur zer⸗ 
überzebente Hä!’e errarien kann. Er giet Harfe Gaben Robniarı gegen 
Schmerzen aller Art, weil dieſe Arznei tie Emonatung itnel beräabt. io wie 
gegen Turhrälle, weil er Ihnell Tie murmrörmige Vewegung te Tarmfanaled 
bemmi, und zezen Stiarlogkeiz, weil er einen berauften. ſturiten Stiaf zu 
Wege bringe: er gibt Purganzen, wo ter Kranfe an Vericpfung uat Harz 
leibigfeir leiter: er lägı Lie serkianaze Hand in Falıed Warier rauchen, was 
den Brenn'bmer: augenblicktich wie wegzuzaubern ĩbeint: er sep ten Kranken, 
ker über Srertigfeit unt Mangel an Yebendrirme Haar, inwarme Bader, die 
ihn augentlidlih errirmen, und !igı Ten Geibrribien Bein minken, wodurch 
er Ach ichnell belebt unt erauidı ũblt u. ĩ. w. — Aber abgeieben son einer an⸗ 
deren Feblerbaftigken dieſes Verrabrens, indem Bier nur cinteitig für ein fine 
zelnes Somptom, für einen Kleinen Ibeil des Ganzen geiorge wird, jo ſagt Die 
Erfabrung, daß in feinem einzigen Halle con lanz dauernden Beikirerten, nad 
older kurz dauernden Erleichterung, bieibente Berterung, iondern tap fer 
Berihblimmerung ter ganzen Krankbeit erfolge, obwobl manche Aerzte ſich 
bemüben, dies nachber anders zu deuten und auf eine beſondere Bösartigkeit der 
Krankheit ſchieben. Noch nie in der Welt wurden bedeutende Semptome anbal⸗ 
senter Krankbeiten durch ſolche palliarice Gegenſätze bebandelt. wo nicht nach 
wenigen Stunden oder Tagen das Gegentbeil, ja offenbare Verichlimmerung 
eines ſolchen Uebels erfolge wäre. Im täglichen Leben ſiebt man dieſes com 

"Kaffee gegen Tagedichläfrizfeit, com Mobniarte gegen Schlaflofigkeit, chro⸗ 
niſche Turcrälle, beftige Schmerzen, oder Nachtbuſten, son Kanthariden 
gegen Harnrerbaltunz, son Burgirmitteln unt Laririalzen gegen Ber- 
forfungen, von Mein gegen langwierige Schwäche, von kigigen Gewürs 

‚zen gegen ſchwachen Magen, con warmen Vätern gegen Mangel an 
Lebenswärme, von faltem Waiier bei Verbrennungen, von Riejemitteln 


Die Homöopathie, 439 


gegen alten Stodichnupfen, von Elektricität oder Galvanismus gegen 
Zähmungen, von Aderläfjen gegen Blutdrang zum Kopfe, vom Baldrian 
gegen Trägheit der Körper- und Geiftedorgane im Typhus u. f. w., und 
wiederholte, verflärkte Gaben, womit fich dann die Aerzte zu beifen fuchen, 
bringen nur immer fortfchreitende Verjchlimmerung zu Werfe. Wären fle fähig 
gewejen, über jolche traurige Erfolge von opponirter Arzneianwendung nachzu⸗ 
denken, jagt Hahnemann an dieſer Stelle im Organon, jo würden fie 
ſchon längft Die große Wahrheit gefunden haben, daß im geraden Gegen⸗ 
theile von foldherantipatbifhen Behandlung der Kranfpeits- 
ſymptome die wahre, Dauerhafte Heilart zu finden jein müjfe, 

. Woher diejer verderbliche Erfolg des palliativen, antipathijchen Verfahrens 
rühre, erklären folgende Erfahrungen: 

Jede auf das Leben einwirkende Potenz, jede Arznei (heißt ed im Organon) 
jtimmt bie Lebenöfraft mehr oder weniger um, erregt eine gewiſſe Befindens⸗ 
Veränderung im Menichen auf Fürzere oder längere Zeit. Man benennt jie mit 
dem Ramen Erflwirfung. Sie gehört, obgleich ein Produkt aus Arznei» und 
Lebenskraft, Doch mehr der eimpirkenden Potenz an. Diejer Einwirkung bejtrebt 
fich unfere Lebenskraft, ihre Energie entgegen zu jegen. Dieje Rückwirkung ges 
hört unjerer Lebens⸗-Erhaltungskraft an, eine automatifche Thaͤtigkeit derjelben, 
Nahwirfung oder Gegenwirfung genannt. Bei der Erfiwirfung der 
fünftlihen Krankheitöpotenzen (Arzneien) auf unjeren gefunden Körper ſcheint 
fich Diefe unjere Lebenskraft blos empfünglidy (receptio, gleichſam leidend) zu vers 
halten und, jo zu fagen, wie gezwungen die Eindrücke der von Aupen einwirken⸗ 
den Kraft in fle gefchehen zu laffen, dann aber jich gleichjam wieder zu ermannen, 
und diejer in fie geichehenen Einwirkung (Erftwirfung) a) wenn ed Davon ein 
Entgegengefegte8 gibt, Den gerade entgegengejegten Befindendzuftand Gegen⸗ 
wirkung, Rachwirkung) hervorzubringen in gleichem Grade, ald groß bie 
Einwirkung (Erftwirkug) der Eranfhaften oder arzneilihen Potenz auf fie ges 
wejen war, und nad) Tem Maße ihrer eigenen Energie; oder b) wo ed einen Der 
Grfhwirfung gerade entgegengefegten Zufland in der Natur nicht gibt, jcheint fie 
fich zu beftreben, fich zu indifferenziren, d. i. ihr Uebergewicht geltend zu machen 
durch Auslöjchen der von Außen (durch die Arznei) in ihr bewirkten DBerändes 
rung, an deren Stelle fie ihre Norm wieder einjegt (Nachwirkung, Heils 
wirfung). 

Dieje aus der Natur und Erfahrung fich von jelbft darbietenten, unwider⸗ 
Iprechlichen Wahrheiten erklären und ben hülfreichen Vorgang bei homöo— 
pathifchen Seilungen, fo wie fle auf der anderen Seite die Verkehrtheit der 
antipatbifchen und palliativen Behandlung der Krankheiten mit ente 
gegengefegt wirfenden Arzneien darthun. Bei homöopathiſchen Hei— 
lungen zeigen ſie uns, daß auf die ungemein kleinen Gaben Arznei, die bei 
dieſer Heilart nöthig find, welche nur fo eben hinreichend waren, durch Aehnlich⸗ 
feit ihrer Symptome die ähnliche, natürliche Krankheit zu überflinmen und aud« 
zulöjchen, zwar nach Vertilgung ter letzteren anfangs noch einige Arzneikrank⸗ 
beit allein im Organismus fortdauert, aber der außerordentlichen Kleinheit der 


777 Zudem. 


Giser nur, 2 ihciuugebent, Sa inte rt vom ill rien. 
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fleñer zter arkeiı id: Dann femmı Nie als zmachenl mit em Ser nein 
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3 Oter ertlicb ırirı Lie neue Lranfheir, nah ige Eirmiler 
auf den Czssmimul, su Per alten. ibr —— unt 87a ir ir ame 
esmriizirze Rranfbeir, ie tzE jere zen Iben fine ierne @rarzt im On 
genitm.! ereimmı Sc farı aa Denrite so zo Big, met, ot 
umgeteerı. Als sort A unifrnite Srafteim. fünnen Re dserte m: o% 
Beben, rikı beilen. Una!tic Eiufser la tie raitliten, RS mi Bsante oe 


plicirenten Krankbeiten, Ant tie Gemrütszrioeen. weite Yort lanıwienze 
Gekrauk unangemeñener Arne zzmeae sera: orten, zes neben m 


ärıliten Icurnaien sur Eontuiistier aufgefteüse Arenffraride we ons 
säblige Rranfkeiitartitien zen dremiieen Krentta, sd mommle Reize 
dienen. 

Nach tem Fir mödlicht atzett:: Vorgersgenm br Habnem: 
im Erganen Fer, ft 02 nicht su serfensen: 

1. tas Allee, was ter Arzt wirklich Kranftafſtcs und zu Heilentet om 
Krankbtiten ãänden kann, bles in ten Beikrerten des Kranken und Ten am ibm 
finniich waßrnefmEearen Rerinterurngen feines Btãattusſs, mu eiarm Werte, blos 
in tr Geſammibeit ter Semrieme keiiche, Turk weiche die Krankbeit 
die zu ihrer Hülfe gerignere Arznci erforteri, bingegen jete ibt angrickıere, 
innere Urade unt zerkergene Reikanenkeu ein nickriger Traum ic; 

2, tap Lirie Beñndens⸗-Verſtimmung, tie wir Krankbeit ncanen, bles 
durch eine ankere Befind ens-Umftimmung mitclft Arzneien zur Geiuntkeit ges 
bracht werden Eonne, deren einzige Heilkraft folgli nur in Neränterung 
des Denikenbefintens, t. i. in eigcashümlicker Erregung krankbafter 


Die Homsapathie, 441 


Symptome beitehen kann, und am deutlichften und reinften beim Probiren der⸗ 
jelben am gefunden Körper erfannt wird; 

3) dag, nach allen Erfahrungen, durch Arzneien, bie einen von der zu 
beilenden Krankheit abweichenden, fremdartigen Krankheitszuſtand (unaͤhn⸗ 
liche krankhafte Symptome) für fih in geſunden Menfchen zu erregen ver 
mögen, die ihnen unähnliche, natürliche Krankheit nie geheilt werben könne, 
und daß jelbft in der Ratur Feine Heilung vorfomme,; wo eine inwohnende 
Krankheit durch eine binzutretende zweite, jener unähnliche, aufgehoben, ver= 
nichtet und geheilt würde, jei die neue auch noch fo flarf; 

4) daß auch, nach allen Erfahrungen, durch Arzneien, die ein dem zu 
heilenten Krankheitsſomptome entgegengefegtes Fünftliches Krankheits⸗ 
jomptom für ſich im gejunten Menfchen zu erregen Neigung haben, blos eine 
jchnell vorübergehende Linderung, nie aber Heilung einer älteren Beſchwerde, 
fondern ſtets nachgängige Verfchliinmerung derfelben bewirkt werde; und daß, 
mit einem Worte, Died antipathifche und blos ypalliative Verfahren in älteren, 
wichtigen Uebeln durchaus zweckwidrig jel; 

5) daß aber Die dritte, einzig noch übrige Verfahrungsart (Die homöo⸗ 
pathiſchey, wonach gegen die Gefammtheit der Symptome einer natürlichen 
Krankheit eine, möglichft ähnliche Symptome im gefunden Menfchen zu erzeugen 
fühige Arznei in angemeffener Gabe gebraudyt wird, die allein hülfreiche 
Heilart jei, wodurd Die Krankheiten, ald blos dynamiſche Verſtimmungsreize 
der Lebenskraft, unbeichwerlich, vollkommen und Dauerhaft ausgelöjcht und ver⸗ 
nichtet, zu exiſtiren aufhören müffen, — worin aud) die freie Ratur in ihren zus 
fälligen Ereigniffen felbft mit ihren Beifpiele und vorangeht, wenn zu einer alten 
Krankheit eine neue, der alten ähnliche, Hinzutritt, wodurch Die alte fchnell und 
auf immer vernichtet und geheilt wird. 

Da ed nun weiter feinem Zweifel unterworfen ift, daß die Krankheiten der 
Menfchen blos in Gruppen gewiffer Symptome beftehen, durch einen Arzneiftoff 
aber blos daturch, Daß diefer Ähnliche krankhafte Symptome Fünftlich zu erzeugen 
vermag, vernichtet und in Gefundheit verwandelt werden (worauf der Vorgang 
aller echten Heilung beruht): jo wird ſich das Heilgeihäft auf folgende Drei 
Punkte beichränfen: 

1) Wie erforjcht der Arzt, was er zum Heilbehufe von der Krankheit zu 
willen nöthig hat? 

2) Wie erforicht er Die zur Heilung der natürlichen Krankheiten beſtimm⸗ 
ten Werkzeuge, die franfmachende Potenz der Arzneien? 

3) Wie werdet er diefe Fünftlichen Kranfheitspotenzen (Arzneien) zur Hels 
lung der natürlichen Krankheiten am zwedmäßigften an? 

Da dieje verjchiedenen Punkte zunächſt und Hauptjächlich den Arzt an« 
gehen, fo werden wir, um fle hier nicht ganz zu übergeben, nur das Allgemeinere 
darüber fügen, und das Beſondere und Ausführlichere, namentlich in Beziehung 
auf die Erfteren, bis jpäterbin verfchieben. 

Werden dem Arzte ein oder ein Paar geringfügige Zufälle geklagt, welche 


442 Medicin. 


felt Kurzem bemerft werden, fo hat er dies für Feine vollfländige Krankheit an⸗ 
zufeben, welche ernftlicher arzneilicher Hülfe bebürfte. Eine Fleine Abänderung 
in der Diät und Lebendordnung reicht gewöhnlich Hin, dieſe Unpäplichkeit zu 
vernichten. Sind es aber ein Baar heftige Beichwerden, die der Kranke Elagt, 
fo findet der forichende Arzt gewöhnlich noch nebenbei mehrere, objchon Eleinere 
BZufälle, welche ein vollflindiges Wild von der Krankheit geben. 

Je ſchlimmer die akute Krankheit ift, aus defto mehreren, aus deſto auf⸗ 
fallenderen Symptomen ift fie dann zufammengefegt, um deſto gewiffer laͤßt ſich 
aber auch ein paſſendes Heilmittel für fie auffinden, wenn eine hinreichende 
Zahl nach ihrer pofltiven Wirkung gefannter Arzneien zur Auswahl vorhan⸗ 
den ift. Unter den Symptomenreihen vieler Arzneien Läßt fich nicht jchwierig 
eine finden, aus deren einzelnen Krankheitdelementen fih ein dem Sym⸗ 
ptomeninbegriffe der natürlichen Krankheit jehr ähnliches Gegenbild von 
heilender Kunftfrankheit zufammenfegen läßt, und dieſe Arznei ift dad wün«- 
jchenswerthe Heilmittel. 

Bei diefer Auffuchung eined homöopathiſch⸗ſpecifiſchen Heilmittels, d. i. 
bei dieſer Gegeneinanderhaltung des Zeicheninbegriffes ber’ natürlichen 
Krankheit gegen die Symptomenreihen der vorhandenen Arzneien, um unter 
biefen eine dem zu heilenden Uebel in Achnlicyfeit entfprechende Kunſtkrank⸗ 
beitö- Potenz zu finden, muß ber homöopathiſche Arzt unter den Symptomen 
einen Unterichied machen, indem ſie in dieſer Beziehung von fehr verfchiedenem 
Werthe find. Die allgemeineren und unbeftinmteren, 3.8. Eßluſt⸗ 
Mangel, Kopfiveh, Mattigkeit, unruhiger Schlaf, Unbehaglichkeit u. ſ. w. vers 
dienen in diefer Allgemeinheit und Unbeftimmtheit, und wenn fte nicht näher 
bezeichnet find, wenig Aufmerfjamfeit, da man jo etwas Allgemeines faft bei 
jeder Kranfheit und faft von jeder Arznei fleht. In höherem Range ftehen bie 
am meisten hervorſtechenden Symptome und Befhwerden, welche 
dem Leidenden am läftigften find, und die vorzugäweife ergriffenen Organe, jo 
wie das Generelle der Krankheit angeben. Die hierher gehörigen Symptome 
führen zuvörderft den Arzt auf Diejenigen Mittel, welche Achnliched in ihren 
Symptomenreihen darbieten, und daher mit einander um den Vorrang ftreiten 
für den eben vorliegenden Ball. Um unter diefen hier concurrirenden Mitteln 
nun bie endliche Wahl zu treffen, dienen die auffallenderen, fonder- 
lihen, ungemeinen und eigenheitlichen (harafteriftiichen, Zei» 
hen und Symptome des Krankheitsfall, Die man nun vorzüglich und faſt 
einzig feft ind Auge faffen muß, denn vorzüglich dieſen müffen ſehr ähnliche 
in der Symptomenreihe der gejuchten Arznei entſprechen, wenn fe Die paſſendſte 
zur Heilung jein joll. 

Enthält nun Das aus der Symptomenreihe der treffentiten Arznei zus 
fammengeiegte Gegenbild jene, in der zu heilenden Krankheit anzutreffenten, 
charakteriſtiſchen Zeichen in der größten Zahl und in der größten Aehnlichkeit, 
jo ift Dieje Arznei für dieſen Kranfheitözuftant Las paſſendſte, homöopathiſche, 
ipecifiiche Heilmittel; die nicht allzu lange gedauerte Kranfbeit wird ges 
wöhnlicy durch die erſte Gabe beffelben ohne bedeutente Beichwerde aufgehoben 


Die Homöopathie, 443 


und ausgelöjcht. Denn beim Gebrauche dieſer homöopathiſchen Arznei find 
blos die den Krankheitsſymptomen entſprechenden Urzneifymptome in Wirk⸗ 
tamkeit, indem Lebtere die Stelle der Erfleren (fchwächeren) im Organismus 
einnehmen, und fie fo durch Ueberſtimmung vernichten; die oft fehr vielen 
übrigen Symptome der homöopathifchen Arznei aber, welche in bem vorliegen» 
den Krankheitöfalle feine Anwendung finden, fchweigen dabei gänzlich. 

Indejien gibt ed Fein, auch noch fo paflend gewähltes, homöopathiſches 
Arzneimittel, welches, vorzüglich in zu wenig verkleinerter Gabe, nicht Eine, 
wenigftend Eleine, ungewohnte Befchwerde, ein Eleines, neued Symptom während 
jeiner Wirkungsdauer bei fehr reizbaren und feinfühlenden Kranken zumege 
bringen follte, weil es faſt unmöglich ifl, daß Arznei und Krankheit in ihren 
Symptomen einander jo genau deden follten, wie zwei Dreiede von gleichen 
Winfeln und gleichen Seiten. Aber dieje (im guten Falle) unbedeutende Abe 
weichung wird von der eigenen Energie (Kraftthätigfeit) des Iebenden Organide 
muß leicht verwijcht und Kranken von nicht übermäßiger Zartheit nicht einmal 
bemerkbar; die Herftellung geht demnach vorwärts zum Ziele der Genejung, 
wenn fie nicht durch frem dartig arzneiliche Einjlüffe auf den Kranken, durch 
Fehler in der Lebensordnung, oder durch Lridenjchaften gehindert wird. Cine 
jolche geringe Erhöhung der früheren Beſchwerden aber, weldye nach 
Maßgabe der Natur der Kranfheit und der Arznei früher oder fpäter einzutreten 
pflegt, nennt man tie homöopathiſche Verſchlimmerung, eine fehr gute 
Vorbedeutung, daß Die akute Krankheit meiſt von der erfien Gabe beendigt fein 
wird, und ift ganz in der Negel, da die Arzneifrankheit natürlich um Etwas 
ftärfer fein muß, ald das zu heilende liebel, wenn fie letzteres überfiimmen und 
auslöſchen joll. Je Fleiner die Gabe des homöopathiſchen Heilmittels ift, befto 
Eleiner und Eürzer ift auch dieſe anfcheinende Krankheitserhöhung. Da fich 
jedoch die Gabe eines homöopathiſchen Arzneimitteld erfahrungsmäßig kaum je 
jo Elein bereiten läßt, daß fie nicht die ihr analoge Krankheit beſſern, überſtim⸗ 
men, ja völlig heilen und vernichten könnte, jo wird es begreiflich, warum eine 
nicht Eleinftmögliche Gabe paſſend homöopathiſcher Arznei immer noch in der 
erften Zeit eine merkbare homöopathiſche Verſchlimmerung diejer Art zuwege 
bringt, Nach Verfluß jolcher Stunden oder Tage erfolgt Dann Die Beflerung, 
faft ungetrübt von ſolchen Erftwirfungen der Arznei, mehrere Tage oder Wochen 
bindurch, ehe etwas Anderes zu verordnen nöthig ifl. 

Die größten Schwierigkeiten der homöopathiſchen Heilmethode finden fich 
einerfeitd darin, daß zuweilen, bei der noch fo eingefchränften Zahl genau 
nach ihrer wahren, reinen Wirkung gekannter Arzneien, nur ein Theil von den 
Symptomen der zu beilenden Krankheit gededt wird, und andererſeits in der 
allzugeringen Zahl der Krankheitsſymptome. 

Im erften Balle thut e8 der Heilung feinen Eintrag, wenn nur die wenigen 
paſſenden Arzneiiymptome, großentheild von ungemeiner, die Krankheit befonderd 
audzeichnender Urt, mit einem Worte Harafteriftifch find; Die Heilung ers 
folgt dann doch ohne jonderliche Beſchwerde. If aber hiervon nichts vorhanden, 
und nur dad Allgemeinere, Unbeftimmte (Uebelkeit, Mattigkeit, Kopfweh u. |. w.) 


44 BRediein, 


in der Symptomenreihe der gewählten Arznei zn finden, jo hat man fich feinen 
unmittelbar vortheilhaften Exfolg davon zu verfprechen. Indeß if diefer Ball, 
auch bei ber jest noch eingefchränften Zahl der ausgeprüften Arzneien, ſehr 
felten, und feine Rachtheile, wenn er ja eintreten follte, mindern fih, fobald eine 
folgende Arznei in treffenderer Aehnlichkeit gewählt werden Tann. Hierzu aber 
finder fich vor Ablauf der Wirkungsdauer der erfigereichten Arznei Gelegenheit, 
Indem man den umgeänderten Krankheitszuſtand unterfucht, und Den Neft ber 
uripränglichen Symptome mit ben neu entftandenen zu einem neuen Krankheits⸗ 
bilde vereiniget, wogegen man dann leichter ein Analogon unter den gefannten 
Arzueien ausfinden wird. Eine ſolche neue Aufnahme des Kranfheitsbildes nach 
verfloffener Wirkung der Arznei ift fo lange nöthig, bis fich nichts Krankhaftes 
mebr vorfinder, indem jenes gewöhnlich fo geändert wird, daß dieſe micht mehr 
yaßt, und daher Feine Beflerung weiter bringen Fann. 

Die andere Schwierigkeit im Heilen entfteht von der allzu geringen 
Zahl der Krankheitöfyumptome. Blos diejenigen Krankheiten ſcheinen mır 
wenige Symptome zu haben, bei denen nur ein oder ein Paar Hauptſymptome 
hervorſtechen, welche faft den ganzen Reſt der übrigen Zufälle verdunfeln. Man 
kann fie einfeitige Krankheiten nennen, bie größtentheils zu den chronifchen 
gehören, und deren Hauptſymptom entiveder ein innered Reiten (3. B. ein viel⸗ 
jaͤhriges Kopfmeh, ein vieljähriger Durchfall, eine alte Cardialgie u. f. w.), oder 
ein mehr Äußeres Leiden fein kann, die man vorzugäweife Lokalkrankheiten 
nennt. Bei denen ber erfteren Art liegt e8 oft blos an der Linaufmerffamfeit 
bed ärztlichen Beobachter, wenn er bie Zufälle, welche zur Vervollflindigung 
bes Umriſſes der Krankheitsgeſtalt vorhanden find, nicht vollftäntig auffpürt. 
Doch gibt es auch, aber freilich nur fehr jeltene Fälle, wo außer einem Paar 
flarfer, heftiger Befchwerden, die übrigen jich nur undeutlich merfen laſſen. Gier 
gibt man bie nach den Symptomen nach beftem Ermeflen bomöopatbifch aus⸗ 
gefuchte Arznei, welche, wenn fie das gegenwärtige Uebel nicht vernichtet, Neben⸗ 
befchwerden bisher felten, oder gar nicht bemerkter Art erregt. Dieje Beſchwer⸗ 
den fommen zwar von ber Arznei, aber zu ihrer Erfcheinung war doch dieſe 
Krankheit und in die ſem Körper geneigt, und es wird nun die Wahl der 
zweiten, treffender paflenden homöopathiſchen Arznei fehr erleichtert, indem die 
Gruppe der Symptome zahlreicher und vollftändiger geworben ift. 

Die Homöopathie nimmt die biäherige theoretiſche (ungereimte) Satzung 
nicht an, nach welcher bei Veränterungen und Beſchwerden an äußeren Körper- 
theilen, die man 2ofalübel nennt, nur dieſe Theile allein erkrankt fein follen, 
ohne daß der übrige Körper daran Theil naͤhme. Nur eine fehr geringfügige 
äußere Beſchaͤdigung könnte fo angefehen werden, und wire Dann ohne befondere 
Bedeutung; ift fie aber nur einigermaßen beträchtlich, fo zieht fle den ganzen 
lebenden Organismus in Mitleidenheit, und Die Chirurgie muß fich dann Darauf 
befchränfen, die erforderliche mechaniſche Hülfe anzubringen, während jebe 
dynamische Hülfe zum Gejchäfte des Arztes gehört. Uber alle fonfligen 
äußeren Uebel, die Feine, oder nur geringfügige Beichätigung von Außen zur 
DVeranlaffung haben, entftehen aus einem inneren Siechtbume. Daber muß 


Die Homöspathie. 445 


die Behandlung diejer Uebel auf das Ganze, auf die Vernichtung und Heilung 
des allgemeinen Leidens, vermittelt innerer Geilmittel, gerichtet fein, weun fe 
zwedimäßig, ficher, hülfreich und gründlich fein foll. Es müſſen alfo Hierbei alle 
im übrigen Befinden bemerkbaren und vorbem bemerkten Veränderungen, Bes 
ſchwerden und Symptome in Vereinigung gezogen werden zum Entwurfe eines 
vollſtaͤndigen Kraukheitsbildes, um eine richtige bomöopatbifche Wahl treffen zu 
fönnen. Durch diefe bloß innerlich eingegebene Arznei wird dann der gemein⸗ 
fame Krankheitdzuftand bed Körperd mit dem Lofalübel zugleich aufgehoben, und 
Letzteres mit Erfterem zugleich geheilt. Dex umflchtige Homöopath vermeidet da⸗ 
bei jede äußere Anwendung, jelbft der angemefienen Arznei, weil dadurch leicht 
das Hauptſymptom fchneller vernichtet wird, ald bie innere Krankheit, und dan 
die Beurtheilung über den Stand der Heilung nur unficher gemacht wird. 

In dem Geſagten, nämlich in der forgfältigen Erforfhung aller 
erfennbaren Zeichen ber KRranfheit, zu einem vollfländigen 
Krankheitsbilde vereiniget, und in ber Darreichung einer Arz⸗ 
nei, welche die Kraft und die Neigung bejigt, ähnliche künſtliche 
Kranfheitszcihen am gefunden Menſchen hervorzubringen, bes 
ruht die Theorie und die Praris, das Prinzip und dad Wefen der Homöopathie, 
und Alles, was fie außerdem von ber Einfachheit und Größe ber Arzneigabe, 
von der Wirfungsdauer derjelben, von ber Diät, ober von fonftigen, dabei zu 
beobachtenden und ebenfalld durch jorgfältige Erfahrungen angegebenen Gautelen 
lehrt und übt, ift eigentlich nur eine Folge jened Grundprinzipes. 

Die Einfachheit der Arzneien wäre fchon aus dem Grunde vorzuziehen, 
weil es unrecht und unweiſe wäre, durch Vielfaches bewirken zu wollen, was 
durch Einfaches möglich if. Aber die Homöopathen haben noch eine viel wiche 
tigere Uirfache, jede Vermijchung zu verwerfen, weil zwei oder mehrere zuſammen⸗ 
gemijchte Urzneien, wenn auch die reinen Kräfte einer jeden derfelben geprüft 
und befannt find, eine neue Subftanz barftellen, deren Wirkungen auf den 
gefunden menjchlichen Körper weter tem einen, noch dem anderen mehr ent» 
ſprechen, und Daher völlig unbefannt fein-mülfen. Rur in der allerneucften 
Zeit, veranlaßt durdy Hahnemann’s Lehre von den Zwijchenmitteln bei 
Störungen während der antipjorijchen Kur, und von den, durch Einfchiebung 
einer zunächft paflenden Arznei unterbrochenen Wiederholungen beffelben 
Heilmitteld, haben Verjuche und Erfahrungen dargetban, daß zumeilen auch 
zwei nach der Achnlichfeit der Symptome gewählte Arzneien, deren jede einer bes 
jonderen Symptomengruppe entipricht, neben einander heilbringend wirken 
fönnen, wenn fie neben einander (nicht mit einander vermilcht) und am beften 
in höchiter Potenzirung und Eleinfter Gabe (wodurch eine gegenfeltige chemifche 
Wirkung auf einander vollends verhindert wird) gereicht werden, ein Fortſchritt, 
welcher namentlich bei chronijchen Krankheiten ſehr wichtig zu werden verfpricht. 
Diefe Entdeckung, deren Richtigkeit fich jchon Dusch zahlreiche Verſuche bewahr⸗ 
heitet bat, vernichtet nun auch vollends den Einwurf, daß es Krankheiten geben 
könne, wofür es Fein ähnlich wirkendes Arzneimittel gebe, Indem nun ber ver⸗ 
nünftigen Combination ein fo weites Feld eröffnet ift, daß kaum jemals mehr 


446 Medicine. 


eine überfaunt nech beilbate dreniihe, eter afuıe Krantbeit zu Knten iein wirt, 
welcher tie Hemioraubie nit eanmeter ein antached Ritel allen, eter au. 
nebmdreiie zwei mir einanter zerfuntene, nad ırerenter Ermriomenibnlicdfeir 
entgezeniegen könnte. Te Larf nicht unerzißne bleiben, daß bier ter Arzt mir 
noch weit größerer Umñcht verfabren mus. wenn er feine Abũcht erreichen will, 
und dazu noch eine ausgebreiterere Kennmis sen ter eizenrkumliden Rirfung 
feter Arznei erforter: wirt. 

Tie Arzneigabe kart ferner nur in older Grere aereidt werten, ale 
nörbig if, um tie Lebendfrart zur binreichenten Rexnonitraft aufuregen. Das 
Map tafür kann lediglich nur kur tie Erfakrung keiimmr werten, und 
Diefe Bar Teurlick un? keitimme Darüber enricbieten, unt ken Berzuz ter fleinüen 
Gaben ter bechñen Borenzirungen überall keitäriger, we tie Wabl richrig ge⸗ 
troffen war. G& würde immer ned Homöcraukbie bleiben, wenn auch tie Arz 
neien in gröseren Gaben angewendet würten, denn das Beten derielben liegt 
feineswege in ter Kleinbeit ter Gaben, vontern in ter Wabl ter Arzneien nad 
der Eenriemenãbnlichkeit, um eine fünttlie Krankbeit an Lie Stelle ter natür⸗ 
lichen zu iegen, tie Tann, wenn legtere dadurch vernichten it, ve bald al möglich 
ebenfalld zon ter Lebenäfraft wieter auäaclöicdet werten mug, wenn ber Leitende 
feine Beichirerten nicht länger tragen tell, ald norbig if. 

Daflelbe gilt ven ter Wirkungsdauer ter Arıneien. Wenn kei ter 
ansiparbiichen (palliaricen) Heilmerkote tie Veſchwerden nach kurzer Bes 
fdnrichrigung in verfärfiem Rage wieterfebren, und tofort erneuerte und ver⸗ 
größerte Gaben Arznei erforderlich machen. um denſelben Erfolg zu gewinnen, 
oder wenn kei ter allöoratbiichen Meibode Lie fremtartigen Organe ſtets 
wieterholter Angriffe bedürien: io Bient, wie wir geieben, tie Eomöcratiiche 
Gabe nur dazu, tie Reaction ter Lebenskraft aufzuregen, teren Thätigkeit Dann 
mac den Umflänten längere oter Fürzere Zeit fernräßrt, unt nicht geflört wer⸗ 
den barf, wenn das Heilgeichäft nicht gebintert, oder gar rüdgängig gemacht 
werten ioll. Taber ift auch tie Wirkungsdauer ter Arzneien, werunter man 
fowohl tie Erſtwirkung, ald aub Rachwirkung verſteben muß, ſchr ver⸗ 
fchieten, ſowohl nad ter Gigenthümlichfeit Ter Arznei ſelbſt, ald auch nach jener 
ber Krankheit und ter Eonftiturion des Menichen, und es fann jederzeit nur 
nachtheilig iein, Früher einzuichreiten, als die Heilwirkung völlig ibr Ente 
erreicht hat, und Die Beſſerung, wenn fie nicht ganz vollendet ift, einen beutlichen 
Stillſtand macht. 

Ebenſo iſt die homöopathiſche Diät durchaus naturgemäß und in 
dem Weſen dieſer Heillchre begründet. Es beſteht nämlich ein ſebr großer und 
weſentlicher Unterſchied zwiſchen den Rahrungsſtoffen, welche das durch 
den Lebensprozeß Verbrauchte und Ausgeſchiedene wieder erſetzen, und zwiſchen 
den Arzneiſtoffen, welche Befindensveränderungen berrorbringen und bie 
Lebenskraft umſtimmen. Dadurch iſt es klar, daß jene eigentlich durchaus frei 
ſein ſollen von alle dem, was irgend arzneilich wirken kann, am meiſten aber da, 
wo bereits eine wohlgewaͤhlte Arznei gereicht iſt, um vorhandene krankhafte Be 
ſchwerden auszuloſchen, welches nur dann möglich iſt, wenn dieſe Arznei in ihrer 


Die Homoͤopathie. 447 


Wirkung nicht geftört oder gehindert wird. Dies gefchieht aber, wo eine andere 
Potenz auf die Lebenskraft wirft, die ebenfall® das Vermögen befigt, eine Lm- 
flimmung des normalen Befindend zu verurfachen, befonders, wenn fle folche 
Organe und Theile des Organismus berührt, auf welche eben die gegebene Arz⸗ 
nei wirken muß. Hier tritt, wie fi) aus dem Geſagten ergibt, ein antidotarifche® 
Verhaͤltniß zwifchen der Arznei und den verbotenen Genüflen ein, und dieſe ver⸗ 
nichtet Dann nicht nur bie erfte, fondern complicirt ſich auch Häufig mit der 
Krankheit, und macht dann, wie wir täglich ſehen, die Heilung nur um fo 
fchwieriger. 

Der wahre Heiffünftler, heißt es endlih noch im Organon, muß bie 
vollfräftigften, echteften Urzneien in feiner Hand haben, wenn er ſich auf ihre 
Heilkraft will verlafien können. Es ift Gewiſſensſache für ihn, in jedem Kalle 
untrüglich überzeugt zu fein, Daß der Kranke jederzeit die rechte Arznei einnimmt. 
Dies ift hier um To mehr unerläßlich, ald es durchaus unmöglich ift, die Ber. 
wechfelung zu entdeden, wenn ſie einmal gefcheben ift, weil bie empfindlichften 
chemiſchen Reagentien nichts mehr entdecken lafſen. 

Dies wird hinreichend ſein, dem Nichtarzte einen klaren Begriff von dem 
eigentlichen Weſen der Homöopathie und von den Grundlagen, worauf fle 
gebaut iſt, zu geben. Es war bier weder der Ort, noch die Abficht, mehr in bad 
Einzelne einzugehen; wer Ausführlichered darüber leſen will, der nehme die 
neueſte Ausgabe des „Organon der Heilkunſt“ zur Hand, wozu überhaupt 
nicht dringend genug gerathen werden kann. Gr wird darin, außer der Aufflä« 
rung mancher Dunfelheiten und der Löſung von Zweifeln, die bei einem folchen 
furzen Ueberblid, wie wir ihn bier zu geben verfucht haben, nicht zu vermeiden 
waren, in der Einleitung eine fehr ernfte Würdigung der Allöopathie (der 
bisherigen Arzneifchule) und zahlreiche Beifpiele unwillfürlicher homöopathiſcher 
Heilungen der Aerzte alter Schule, jo wie der Nichtärzte im gemeinen Leben fin- 
den. Nicht minder würden ihn einige Auffäge unferes verehrten Hahnemann 
in der „reinen Arzneimittellehre‘ anfprechen, namentlid der „Geiſt 
der homöopathiſchen Heillehre” im zweiten Bande, „Beleuchtung 
der Quellen der gewöhnlichen Materia medica‘ im dritten Bande, 
„wie können Fleine Gaben fo fehr verdünnter Arznei, wie die 
Homöpathie ſie vorſchreibt, noch Kraft, no große Kraft haben?‘ 
im fechöten Bande der reinen Arzneimittellehre,, fo wie einige andere Auffäge 
und mehrere VBorreden (z. B. Quedfilber, Arfenit, China). 

Einwürfe gegen die Homöopathie. „Die Homdopathie,” jagen 
die Gegner, „flößt Beratung gegen jede wiffenfhaftlidde Be- 
handlung der Medicin ein, weil fie fih auf Dieäußeren Kenns 
zeihen der Krankheiten beſchränkt, obne die Urfache und das 
Weſen der Krankheit zu erforſchen.“ Hufeland nennt fie jogar daB 
Grab der Wiffenichaft, denn die Homöopathiker bedürfen weder der Anatomie, 
noch der Phyſtologie, noch der Pathologie u. f.w. Hahnemann hat aber nie 
behauptet, dad Organon enthalte den Inbegriff aller medicinifchen Wiſſen⸗ 
‘haften, und mache alle anderen Studien überflüfflg. Der Somdopathifer fludire 


— A 


fer in Bun Seit 2 Pnuge. werr ater re 
cu ermume one St Unmome Ürrin.poe um bare ser 
jet 1DRIMLER ern Bo ie man ben! Emmeree mr Bomler: 
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ma op 1: Eını'ıme Tr! ra! Eeırn et Ir 
Sue 1 ed meer mar Teen Pest ım? omg 8 2O8 

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ser Sgipiehet Em. Zub: rıs rm senrvormoe 
gie vo zeonanienie Dunn herr peruftienar !Yz Dmmsenm 
Saint Tarin vr arımıa neo ren mt Ss 
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be: Leer er nt ner be Benrmeni !.: Irte Ya bermemomınm = 
ru era mem Kerm ker on Woreremn nen! 
mar te ariuch Sr Ye Bemerm: ır Geser arten’ Gr r 
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Damzamı mı „semıenm ıma3lımiı Rıge.n:ttıt:omarm U 
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Leg im Rrsne An sr min "ul ac pozu im Lama Too 


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Die Homöopathie, 449 


mittelft der phyſiſchen Wirkungen, welche mit der Krankheit kaͤmpfen, indem fe 
den Zuftand des Organismud-entweder ganz, oder zum Theil verändern? Hebt 
das Brechmittel ein Gallenfieber durch Zauberei, oder indem e8 vorher im Magen 
und Darmkanale frankhafte Zufammenziehungen, Ekel und Erbrechen verurjacht ? 
Wirken Brechweinftein, Rhabarber, Blafenpflafer sc. nicht eben jo gut auf Ge⸗ 
junde, ald auf Kranfe? Man mup aljo die Erſtwirkungen der Arzneimittel von 
den Nach⸗ oder Heilwirfungen unterfcheiden. Letztere find Die Folgen des Kampfes 
und Sieged, den dad Arzneimittel über die Krankheit Davon getragen hat, Die 
Erjtwirfungen beſtimmen die pofltiven Eigenſchaften des Arzneimittels, auf eine 
bejondere Weije den Gejundheitözuftand zu verändern, ſowohl beim Gefunden, 
als beim Kranken. Nach diefen Erftwirkungen bat man 3.8. Rhabarber, Brech« 
weinftein, Blajenpflafter ac. in der gewöhnlichen Arzneimittellchre geordnet. Wie 
viele Mittel aber find einzig und allein nad) ihren Heilwirfungen georbnet? So 
3. B. die Shamille, die China, die man nur nach ihren Heihvirkungen kennt, 
ohne zu willen, wie fe vorher auf den Organismus gewirft haben. Nur die 
Kenntniß der Erftwirfungen der Arzneimittel kann und in den 
Stand jegen, uns von dem Erfolge einer Heilung Rechenfchaft zu geben, und 
biejelben Mittel auf alle paſſende Bälle anzuwenden. Das iſt der große Gedanke 
Hahnemann’s, den er in feiner reinen Arzneimittellehre verwirklicht bat. 
Der berühmte Profeifor Jörg, ein Gegner der Homöopathie, gefteht doch ein, 
daß die gewöhnliche Arzneimittellchre voll Irrthümer und Lücken und daß bie 
Prüfung der einfachen Arzneimittel an Gejunden das vorzüglichfte Mittel jet, 
Ordnung und Sicherheit in die Arzneimittellehre zu bringen. Seine eigenen Prüs 
fungen der Arzneimittel an Gejunten nörhigen ihm dieſes Geſtändniß ab. Ses 
mehr er Verſuche mit Prüfungen der Arzneien gemacht, deſto mehr jei ſein 
Staunen über die zeitherige Unkenntniß, Hinficgtlich Der mediciniſchen Eigen⸗ 
ſchaften der Arzneien, geftiegen, denn auch nicht ein Mittel habe er in den Hands 
büchern der Materia medica genau als ſolches verzeichnet gefunden, als es fich 
ihm durch Die Verſuche an Gelunten Largeitellt babe. Jörg hat mit unwider⸗ 
leglicher Gewißheit Durch viele Beiſpiele gezeigt, Daß der Einfluß, den Die Arznei—⸗ 
mittel auf alle Organe des Körperd üben, wejentlich Fein anderer bei Kranfen 
al8 bei Geſunden ſein kann. Daraus geht Denn hervor, dag es bei Anwendung 
ter Arzneimittel nur darauf anfommt, die Gabe bed Mittels jo einzurichten, daß 
jie im richtigen Verhältnijfe zu dem Grade der Gegenwirkung im Organismus 
des franfen Körpers ftebe. 

Man bat noch eingewender, daß jedes Individuum bejondere Em— 
pfänglichkeit für dieſe oderjene Erregung bat; der Eine für Rheu⸗ 
matidmen, der Andere für Kolif u. ſ. w. Allein, jo wie bie äußeren Einflüſſe 
nicht genau Diejelben Wirkungen auf alle Intividuen äußern, obgleich alle Wir« 
fungen, die fie hervorbringen, ihnen eigenthumlich find; cbenfo entdeckt man 
duch Prüfung der Arzneimittel an verfchiedenen Individuen Den ganzem 
Umfang ihrer pojitiven Wirkungen. Die harafteriftiihen Symptome des 
Arzneimittels zeigen fich aber bei faft allen Verjuchöperjonen und die Wirkungen 
des zweiten Manges wenigjtend bei der Mehrzahl derfelben. Wenn 20, 30, ja 

V. 29 


450 Mecbiein. 


50 Perſonen immer daſſelbe Reſultat geben, fo kann nur ein Narr die Wirk⸗ 
lichkeit und Gewißheit der Arzneikräfte beftreiten.- Jedes Arzneimittel ift tm 
Stande, jedes ihm eigene Symptom hervorzubringen, wenn e8 bei einer ihm ent» 
fprechenden Krankheit angewendet wird, wo der Körper fich fchon in der günftigen 
Stimmung befindet, um den Eindrud des fraglichen Symptomed zu erhalten, 
wenn dad Symptom auch zu denen gehören follte, die ſich am feltenften bei Ge⸗ 
funden gezeigt haben. 

Diejenigen Gegner, welche gegen Hahnemann'dreine Arzneimittel- 
lehre Nicht vorzubringen wußten, haben gefagt, e8 fei gewiffenlod und 
graufam, Fünftllihe Krankheiten in Gefunden zu erregen und 
fie der Gefahr auszufegen, an gewiffen heftigen Subftangen zu 
flerben, oder wenigftend ihre Kraft und Blüthe der Geſundheit 
zu verlieren. Allein 1) werden die Berfuche mit der größten Vorflcht und 
nach den von Hahnemann im Organon vorgefchriebenen Regeln angeftellt, 
nach welchen Niemand wird fagen können, Hahnemann und feine Schüler 
feien Vergifter. Niemals ift ein Arzneimittel bei Gefunden in ftärferen Gaben 
angewendet worden, ald die Alldopathiker e8 täglich bei Kranken anwenden, 
und dieſe von ihnen fogenannten Gifte find diefelben, die fle den Kranfen 
ohne Bedenken in Maffen reichen. 

2) Es ift weder die Abficht ded Homdopathen, noch nothwendig, einem Ge⸗ 
funden eine dauernde Krankheit zu erregen, fondern es genügt, daß das Arznei» 
mittel alle feine Symptome entwidele, die aber bald verfchwinden. Nur bei 
langer Portfegung des Bebrauches defjelben Mittels eniſteht endlich eine 
fünftliche chroniſche Krankheit, wie 3.3. die Mercurialtranfheit, melde 
nur zu oft die Folge einer allöopathifchen antifyphilitifchen Kur ift. 

3) Die Erfahrung beweifet, daß diefe vorübergehenden, im gefunden Körper 
erregten Leiden, anftatt zu Ichwächen, vielmehr die Gefundheit flärfen und den 
Körper geneigter machen, allen Arten zerftörender Einflüffe entgegen zu wirken. 
Solche Erfahrungen haben Stapf, Groß u. v. U. an fich ſelbſt gemacht, und 
die rüftige Kraft des Geiftes und Körpers des faft 90jährigen Begründerd ber 
Homöopathie, der am anhaltendften und am meiften die verfchiedenflen Mittel 
an fich jelbft geprüft Hat, Tiefern den beften Beleg zu diefer Behauptung. 

4) Die homöopathiſchen Aerzte machen die meiften Berfuche an fich ſelbſt. 
Wenn fie diejelben an Anderen machen, fo gefchieht das nur an folchen, die ſich 
dazu freiwillig aus Interefje für Die Wiſſenſchaft und für Die Sache der Teidenden 
Menſchheit hergeben. Wo ift hier Graufamfeit, wo etwas Unmorafifches? If 
es Dagegen nicht grauſam und gewiffenlos, mit unbefannten Arzneimitteln 
an dem fchwachen, leidenden Körper der armen Kranken zu erperimentiren, wie 
das die Alldopathifer thun müffen, wenn fie die Heilfräfte der Arzneimittel in 
ihren Wirkungen an Kranken allein prüfen wollen? Und wirklich gefchieht dies 
fo allgemein in den Kranfenhäufern, daß man ſchaudern muß, wenn man darüber 
die eigenen Geftändniffe der Alldopathifer Tief. 

Da gilt ed aljo vollfommen, was der Verfaffer der Schrift: „die Homöo⸗ 
pathie, nad ihren Hauptzügen,“ Braunfchweig, 1829. ©. 60, fagt: 


Die Homöopathie, Ä 451 


„Solche Probirärzte (die nämlich nicht an ſich ſelbſt, ſondern an Kranken in 
KHofpitälern probiren) haben Aehnlichkeit mit dem heiligen Grispin, doch mit 
dem Unterfchiede, daß diefer dem Neichen das Leder flabl, um den Armen 
Schuhe daraus zu machen, während ein folcher Arzt den Armen noch mehr, 
als das Leder, nämlich dad Leben nimmt, um den Reichen daraus ein ver» 
längerted zu verfchaffen. Hahnemann und feine Freunde tragen, um mit ber 
Volksſprache zu reden, Die eigne Haut zu Marfte; die Allöopathen fchneiden hin⸗ 
gegen aus fremder Haut ihre Riemen.‘ 

Um Hahnemann aud von Seiten feiner religlöfen Denkart verdächtig 
zu machen, hat man ihn einer gottesläfterlihden Verachtung der Ratur 
und ihrer Heilkraft befchufdiget. Zuerft brachte Hecker diefe Beichuldigung 
vor, die jyon von Hahnemann's Sohne zurüdgewiefen, dann von Jörg 
wiederholt, von M. Müller aber bündig widerlegt worden ifl. Dennoch haben 
die fpäteren Gegner, 3. B. Heinroth, von Wedekind, Sachs, felbft 
Hunfeland, Krüger Hanfen, Kramer und Andere, ohne Nüdficht auf 
jene und andere Widerlegungen, dieſer Befchuldigung, ohne Eingehen in ben 
Geiſt der Hahnemann'ſchen Lehre, nur an einzelnen Ausdrüden defielben Elebend, 
diefe Beihuldigung immer wieder erneuert. Man könnte bier zunächfl fragen, 
ob die alldoparbifchen Aerzte im Allgemeinen denn fo religids find, ob nicht viel- 
mehr ihre größtentheild grobmaterialiftifche Anſicht fogar den Begriff der Gott⸗ 
beit, als eine® von der Natur verfchiedenen Geiſtes, ausfchließt, wie dad fo viele 
unverhohlen außjprechen, und ob fie denn im Leben fich religiös zeigen, wie fte 
es von Hahnemann verlangen. Wenn fie fich felbft aber der von ihnen bei 
Hahnemann vermißten heiligen Scheu vor der Ratur und deren Heilkraft 
ruhmen, fo kann dies nur lächerlich erfcheinen, da ihr Heilverfahren nur zu deut⸗ 
lich die Nichtachtung, ja Verachtung der Naturbeilkraft beweifet, indem ſie 
durch Anwendung ber furchtbarften Mittel einen wahren Spott mit der Ratur« 
beilfraft treiben. Der ©eift der Lehre Hahnemann’s dagegen, fo wie fein 
ganzes Heilverfahren, liefern den fprechentften Beweis, wie hoch. er die Natur 
achtet, und mit welcher zarten, heiligen Scheu er ihre fchönfte Schöpfung, ben 
Menichen, behandelt. Wenn er aber von den jammervollen Anftrengungen ber 
Natur jpricht, Die oft vergebens wirkliche Krankheiten wegzufchaffen ftrebt, oder 
auf eine ungeſchickte Weife Heilungen veranftaltet, wer kann dies, nach dem gan⸗ 
zen Zuſammenhange, fo mißverftehen, wenn er es nicht mit böfem Willen tut? 
Wer wird e8 3.8. leugnen fünnen, daß ein gebrochened Bein, wenn man es 
ganz der Natur überläßt, fchief oder verfehrt anheilt, fobald nicht Durch menſch⸗ 
liche Hülfe dem Beine die rechte Lage wieder gegeben wird, oder daß eine bes 
deutende Blutung, ohne menfchliche Hülfe, den Tod herbeiführt? Wer wird des⸗ 
wegen die Arzneikunſt eine Gottedläfterung nennen wollen, weil fie der Natur in 
ſolchen und vielen anderen Bällen nachhilft? Es beißt doch wohl nicht etwa 
Gott und die Natur läftern, wenn man der Wahrheit gemäß fagt, daß die Ratur 
die häutige Bräune, den Mutterfreb8 und Hundert andere, bis jetzt entweder un⸗ 
heilbare, oder nur durch Kunſt Heilbare Krankheiten nicht für fich Heile, fondern 
dag thatfächlich die Daran Erkrankten unter den qual- und janımervollften Leiden 

29* 


452 Medicin. 


ſterben müſſen, wenn die Kunſt nicht eingreift oder einzugreifen weiß. So zer⸗ 
fällt auch diejer Einwurf, wie die meiften übrigen, in ein Nichts, und beweiſet 
aufs Reue, wie fehr Die Gegner immer nur an ber Schale ber Homörpathie 
nagen und in ten Kern terjelben nicht eindringen wollen oder fönnen. 
Auch gegen Hahnemann's Heil methode jelbft Hat man rine Menge 
Einwürfe erhoben. Vor Allem leugnen tie Gegner tie Wahrheit des aufge 
Rellten Heilprinziped: „Similia similibus curantur,“ d. h. die Krank. 
beiten werben turch Mittel geheilt, Die beim Gejunden Symptome erregen, welche 
denen, bie fich bei dem Kranken zeigen, möglihft ähnlich find. Hahne— 
mann hat nachgewiefen, daß die meiften glüdlichen Heilungen ber Aerzte aller 
Beiten auf diefem Wege, wenn gleich ohne dieſe Kenntnig und Ueberzeugung 
der Xerzte, zu Stande gebracht find, und daß alle fogenannten Specifica ihre 
Heilkraft, vermöge des, durch Hahnemann enttedten, aber längit und immer 
wirfjam gewejenen Naturgejeged äußern. Diele Entdeckung Hahnemann's 
ift cben jo wenig feine Erfindung, als Die Entdeckung des Geſetzes ter Schwere 
eine Erfindung Newton's if. Man bat Juhrtaufende lang Aepfel fehen von 
den Baͤumen fallen, ohne darauf im ©eringften zu achten, dennoch erzeugte dieſe 
gewöhnlidye Erjcheinung eined Tages in dem Kopfe Newton's die Idee eines 
allgemeinen Gejeges der Phyſik“ Warum wollen wir denn nun erjlaunen, daß 
man Jahrtauſende lang die Erjcheinung ber Heilungen gejehen hat, ehe Hahne⸗ 
mann und den Schlüffel dazu gegeben? Das Heilprinzip: Contraria contrariis 
curantur, haben felbft Gegner der Homöopathie, wie C. H. Schultz, ald un⸗ 
richtig fchon aufgegeben. Die taufendfältigen Erfahrungen vieler berühmten und 
durch 10, 20, 30, 40, ja nach mehrjähriger allöopathifcher Praris, anfangs 
mehr gegen, als für Die Homöopathie eingenommenen Aerzte beftätigen Die Wahrs 
heit und Wirkſamkeit des von Hahnemann entdeckten Naturgejeged. Iſt es 
wahrfcheinlich, daß alle dieſe Aerzte von einer Art Bezauberung genöthigt wor 
ben jein follten, Zügen zu erzählen, oder daß ter Zufall ihnen das Verguügen 
gemacht habe, ihnen immer gefällig zu fein, wenn fle Dad homöopathiſche Heils 
geſetz anwandten? Sicher müßte man allen biltorifchen Glauben abſchwören, 
wenn man bei einem folchen Leugnen beharren wollte. Collten ſich nun aber 
aud unter der großen Zahl der von Hahnemann, in der Einleitung zu jeinem 
Organon, aufgeführten homöopathiſchen Heilungen aller Zeiten, einige wenige, 
nicht ganz fichere Beifpiele finden, fo iſt doch der größte Theil jchlagend, und 
wenn ſelbſt nur die Hälfte von tiefen hundert Bällen für die Eutdeckung Hahne⸗ 
mann's jprächen, jo würde die hinreichend ſein, um Die allgemeine Aufmerk⸗ 
ſamkeit zu erregen. Das homöopathiſche Heilgejeß herricht bei Anwendung aller 
fogenannten jpeeifiichen Mittel. Nah Rau verurfacht 5. B. ber Mercur, in 
großen Gaben gereicht, Geſchwüre im Schlunde, Die den venerifchen Geſchwüren 
fehr ähnlich find; Kleine Gaben tiefes Mittel Heilen jene Geſchwüre. Die 
DBelladonna erregt Leiden und Erjcheinungen, welche denen ſehr ähnlich find, 
Die von Dem Bilfe eines tollen Hundes entitchen. Dies Heilmittel hat ſehr oft 
die Wuth geheilt. Die Buljarilla führt Geſichtsverdunkelung herbei; aber fie 
IR auch ein treffliches Heilmittel ähnlicher Keiden. Kleine Gaben von Rha⸗ 


Die Homöopathie, 453 


Barber ftillen Durchfälle, in großen Gaben gereicht, ift er ein Purgirmittel, 
So ter Mohnſaamen, die Ipecacuanba u. f.w. Die Bergleichung ber 
Heilungen, die in Hahnemann’8 Organon, im Urin f. h. HE. u. f. w- 
angeführt find, läßt Feinen Zweifel übrig, daß die genannten Heilungen nach dem 
Grundſatze der Homöopathie zu Stande gebracht worden find. Ganz neuerlich 
bat man eingewandt, daß durch Die fogenannten ifopathifchen Verfuche das 
Seilprinzip Hahnemann's umgefloßen werde. Das ift aber keineswegs der 
Fall, vielmehr würde es Dadurch nur feine Beflätigung und noch feftere Begrüns 
dung und Ausdehnung erhalten, fo daß nıan auf diefem Wege zu noch fichereren 
und glüdlicheren Refultaten gelangen wird, wenn die vielen glüdlichen, aber 
noch nicht befannt gemachten Heilungen diefer Art durch noch forgfältigere Prü⸗ 
fung und Beobachtung zur Gewißheit erhoben fein werden, womit es jedoch vor⸗ 
fäufig noch gute Wege zu haben fcheint. Die Sauptfache bleibt ja doch bei dem 
allen immer glüdliche Heilung! Wenn diefe erreicht wird, fo ift die Erflä- 
rung derfelben gleichgültig, wenn nur die Heilmethote richtig if. 

Einwürfe gegen die Wirkfamkeit der Fleinen homöopathiſchen 
Gaben. Keine Seite der Homöopathie ift öfter angegriffen und lächerlich ges 
macht worden, ald die Kleinheit der homöopathiſchen Arzneigaben 
und deren Bereitung zum Heilgebrauche. Der fich über feine Grenzen erhebende 
Verſtand unferer Zeit verwirft in feinem Uebermuthe Alles, was ihm unbegreif⸗ 
ich ift, und doch gibt ed Dinge unter dem Monde, von denen die Philoſophie 
fh nichts träumen läßt. Wenn auch die vernünftigen Gegner fich befcheiten, 
über diefen Gegenſtand ihr Urtheil zurüd zu halten, weil fle noch keine Erfah« 
rungen darüber gemacht haben, und wenn alle die, welche genaue und wieders 
holte Verſuche machten, Die Sache ald wahr beftätiget fanden, und aus eifrigen 
Gegnern die wärmften Bertheidiger der Homöopathie wurden, fo hat doch bie 
Mehrzahl der Uerzte der alten Schule, aus grobmaterieller Anficht, die Sache 
geradezu für lächerlichen Unjinn erklärt, weil fo etwad ganz unbegreiflich, 
alſo (?') auch unmöglich fei. Aber welche Logik ift das! Wie viele Dinge 
müßten wir da leugnen, weil wir fle nicht begreifen können! Unſere eigene 
Eriftenz ift und unbegreiflich, aber wollen wir fie darum leugnen? Leſet, Ihe 
Zweifler, die Gefchichte der Seele, von ©. H. Schubert, Profeffor in Mün- 
chen (2 Theile. Stuttgart und Tübingen, 1830), und ihr werdet anders ur- 
theifen. Zur Beherzigung der Ungläubigen mögen bier einige etwas weitläufigere 
Erörterungen über diefen Gegenftand folgen. Den Hauptbeweis für die Wirke 
ſamkeit Der Eleinen homöopathiſchen Gaben muß aber immer tie Erfahrung 
liefern. 

„Das Grüundlichfte, wie das Oberflächlichfte, Da8 Gebachtefte, wie das Ge» 
dankenloſeſte, was mir gegen die Homöopathie vorgefommen, läuft zulegt auf 
etnige freilich inhaltfchiwer gemeinte Ausrufungen hinaus,” fagt der Verfaſſer 
der Briefeeineds Homdopathijchgeheilten, Heidelberg, 1829. ©. 45 
— ‚Mit dem Unbegreiflichen, meine ich, wollten wir ſchon ausfommen, 
wären wir nur erft fertig mit dem Begreiflihen. Wie der Decilliontheil 
eines Granes Arſenik jeine Wirkungen zur Folge hat? ich wi ed niit, Wer 


452 NMebdicin. 


fterben müften, wenn tie Kuuñ nicht eingreiñ oder einzugreifen zeig. So ger- 
füllt auch kieier Einwurf, wie Lie meinen übrigen, in ein Richtẽ, und beweiler 
aufd Rene, wie jebr tie Geznet immer nur an ker Schale ter Gomamg.uhie 
nagen und in ten Kern derjelben zikr eintringen wollen cier fannen. 
Auch gegen Hahnemann 5 Heilmerbote teikft hat mam eine Menge 
Eimeurfe erkoben. Der Allem leugnen tie Gegner tie Wabrheit Ted aufge 
dellten Heilyrinzwet: „Similia similibus carantur,” d. b. Lie Rrant- 
heiten werten durch Mittel gebeilt, Tie beim Geianten Someteme erregen, weidye 
denen, tie jich bei tem Rranfen zeigen, möglich äbnlich ünt. Habne⸗ 
mann har nachzewieien, daß Tie meiften glüdlichen Heilungen ter Aerzte aller 
Zeiten auf tiefem Wege, wenn gleich ohne dieſe Kenntniß und Uekerzeugung 
ter Aerzte, zu Erxante gebracht Ant, wit Tas ale ſegenannten Specitsa ikre 
Heilkraft, vermöge tet, dutch Habnemann enıledıen, aber lingit und immer 
wirfiam geareienen Raturgejezes iugerm. Tieie Entdeckung Gabnemann's 
iR eben jo wenig jeine Erfintung, aid Tie Enideckung tes Geſezes ter Schwere 
eine Erfintung Newton's if. Ban bar Jahrtauſende lang Aepfel ſehen von 
ben Bäumen fallen, obne tarauf im Geringiten zu adhıen, Tenncd erzeugte diefe 
gewöknlide Ericbeinung eines Tages in Tem Korfe Newton's die Idee einet 
allgemeinen Geieged der Phofft: Warum wellen wir Tenn nun erjtaunen, Taf 
man Jahrtaujente lang die Ericheinung ter Heilungen geſehen bat, ehe Habne⸗ 
mann und ten Schlüfſel dazu gegeben? Tas Heilprinzip: Contraria contrariis 
eurantur, haben ſelbſi Gegner ter Homõopatbie, wie C. H. Schulg, ald um 
richtig ſchon aufgegeben. Tie sauientfältigen Erfafrungen rieler berübmten unt 
durch 10, 20, 30, 40, ja nad mebrjabriger alloorarbiicher Traris, anfangs 
mehr gegen, ald für tie Homöopathie eingenemmenen Aerzte beitürigen tie Wahr⸗ 
heit unt Wirfiamfeit tes von Hahnemann entdeckten Rarurgeieged. Iñ c8 
wahricheinlih, daß alle Tiere Aerzte von einer Art Bezauberung genörbigt wor 
den jein jollten, Zügen zu erzählen, oder Tas ter Zufall ibnen das Vergnügen 
gemacht babe, ihnen immer gefällig zu jein, wenn fie das bomöoparkijche Heil⸗ 
geieg anmantten? Sicher müßte man allen biſtoriſchen Glauben abſchwören. 
wenn man bei einem joldyen Leugnen bebarren wollte. Sollten jih nun aber 
auch unter der grogen Zabl ter von Hahnemann, in der Einleitung zu feinem 
Organon, aufgeführten homöopathiſchen Heilungen aller Zeiten, einige wenige, 
nicht ganz fichere Beiſpiele finten, jo iſt doch Ter größte Theil ſchlagend, und 
wenn jelbit nur Lie Hälfte son Tieren huntert Hüllen für dic Entdeckung Habne= 
mann's iprichen, To würde Lies hinreichend ſein, um die allgemeine Aufmerk⸗ 
jamfeit zu erregen. Tas homöopathiſche Heilgejeg berricht bei Anwendung aller 
fogenannten jpecifichen Mittel. Rah Rau verurjacht 5. B. ter Mercur, in 
großen Gaben gereicht, Geſchwuͤre im Schlunde, die den veneriichen Geſchwüren 
ſehr ähnlich ſind; Kleine Gaben tiefes Mittels heilen jene Geichwüre Die 
Bellatonna erregt Leiten und Erjcheinungen, welche Denen ſehr ähnlich find, 
bie son Tem Biſſe eines tollen Hundes entſtehen. Dies Heilmittel bat jehr oft 
die Wurh geheilt. Die Buljarilla führt Gejtchtöcertunfelung berbei; aber fle 
iR auch ein treifliches Heilmittel ähnlicher Leiten. Kleine Guben von Rha⸗ 


Die Homöopathie, 453 


Barber ftillen Durchfälle; in großen Gaben gereicht, ift er ein Purgirmittel. 
So der Mohnſaamen, die Ipecacuanha u. ſ. w. Die Vergleichung der 
Heilungen, die in Sahnemann’8 Organon, im Archiv f. h. HE. u. f. w. 
angeführt find, läßt feinen Zweifel übrig, daß die genannten Heilungen nach dem 
Grundfage der Homöopathie zu Stande gebracht worden find. Ganz neuerlich 
hat man eingewandt, Daß durch Die fogenannten ifopathifchen Verfuche das 
Seilprinzip Hahnemann’d umgefloßen werde. Das ift aber keineswegs ber 
Fall, vielmehr würde e8 dadurch nur feine Beflätigung und noch feftere Begrün« 
dung und Ausdehnung erhalten, fo dag nıan auf dieſem Wege zu noch fichereren 
und glüdlicheren Refultaten gelangen wird, wenn die vielen glücklichen, aber 
noch nicht befannt gemachten Heilungen diefer Art durch noch forgfältigere Prüs 
fung und Beobachtung zur Gewißheit erhoben fein werden, womit ed jedoch vor⸗ 
fäufig noch gute Wege zu Haben ſcheint. Die Hauptfache bleibt ja doch bei bem 
allen immer glüdliche Heilung! Wenn diefe erreicht wird, fo iſt die Erflä- 
rung derfelben gleichgültig, wenn nur die Heilmethote richtig if. 

Einmwürfe gegen die Wirkfamkeit der Eleinen homöopathifchen 
Gaben. Keine Seite der Homöopathie ift öfter angegriffen und lächerlich ge 
macht worden, als die Kleinheit der homöopathiſchen Arzneigaben 
und deren Bereitung zum Heilgebrauche. Der fich über feine Grenzen erbebende 
Verſtand unferer Zeit verwirft in feinem Uebermuthe Alles, was Ihm unbegreife 
fich ift, und doch gibt e8 Dinge unter dem Monde, von denen tie Philoſophie 
ſich nichts träumen läßt. Wenn auch die vernünftigen Gegner fich befcheiden, 
über diefen Gegenftand ihr Urtheil zurück zu halten, weil fle noch feine Erfah⸗ 
rungen darüber gemacht haben, und wenn alle die, welche genaue und wiebers 
holte Verfuche machten, Die Sache ald wahr beftätiget fanden, und aus eifrigen 
Gegnern die wärmften Vertheidiger der Homöopathie wurden, fo hat doch die 
Mehrzahl der Aerzte der alten Schule, aus grobmaterieller Anficht, die Sache 
geradezu für lächerlichen Unſinn erffärt, weil fo etwas ganz unbegreiflidh, 
alſo (?') auch unmöglich fei. Aber welche Logik ift das! Wie viele Dinge 
müßten wir da leugnen, weil wir fle nicht begreifen Fönnen! Unſere eigene 
Eriftenz ift und unbegreiflich, aber wollen wir fie darum leugnen? Lejet, Ihe 
Zweifler, die Gefchichte der Seele, von ©. $. Schubert, Profeffor in Mün- 
chen (2 Theile. Stuttgart und Tübingen, 1830), und ihr werdet anders ur» 
theilen. Zur Beherzigung der Ungläubigen mögen bier einige etwas weitläufigere 
Erörterungen über diefen Gegenftand folgen. Den Hauptbeweis für die Wirks 
jamfeit Der Fleinen bomöopathifchen Gaben muß aber immer die Erfahrung 
Itefern. 

„Das Gründlichfte, wie das Oberflächlichite, das Getachtefte, wie dad Ges 
danfenlofefte, mad mir gegen die Homöopathie vorgefommen, läuft zulegt auf 
einige freilich inhaltfchwer gemeinte Ausrufungen hinaus,” fagt der Verfaffer 
der Briefe eines Homöopathiſchgeheilten, Heidelberg, 1829. ©. 45 
— , Mit dem Unbegreiflichen, meine ich, wollten wir ſchon ausfonımen, 
wären wir nur erft fertig mit dem Begreiflihen. Wie der Decilliontheif 
eines Granes Arfenik jeine Wirkungen zur Folge Bat? ich weiß es nicht, aber 


454 iAxm. 


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ten. Xzgır ter Ecmme, fie 1.399,00 zıl !e ar25. die Orte, er fir 
und era: Hy Kirderne Rerher, Lie som Ibell zb wei arager alâ tie Erame 
Ünt. Tie Zab! ter Sterne im ter Mitrzie If Serſchel auf erma 20 
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idemintiztetz zen uzgeäifr 42.009 Reale iz ein Secande. cr tee Gala 
ter Rilcttast za en nah 3590 Iabrea, zut Sen den entfernten, ueb u 
erfennenten Sternennebeln eiellticht ati nach Millionen Jabren Eid zur Erte 
bringen. 

Ekenis erkliden wir tur tie Rifreifere cine früßer nik geabnete Sch 
im leizen. Turk He bemertt mar, daẽ tie fleiniten Kẽrrer. 3. B. das Fieimfle 
Etãaubden, Buterfügelken, ter kleinſte Bunfı auf ten Scthwmetrerlinzeiliyein 
u. ĩ. mw. eine eigentbũmliche, eine eigene O:ꝗaniratien antentende Ferm felgen: 
kurdı ñe gewabrı man in einzelnen Irerten geminer Slüittgfeiren, ala im faulen- 
ten Baner, in allerlei ichleimigen Rııerien, in ten Siften ter Rruidıen und 
Thiere, im Eifig u. ĩ. w. Ta5 fie sen einer grogen Menge kleiner Tbierchen 
wimmmeln. G£enio enriieben in Aufzinen auf garine Bretustionen des Plan- 
zenreit, ;. B. auf Heu, Mehl, Pieffer, Tabak u. j. w., wenn man fie eine Zeit 
lang Heben läöt, eine Menge teldher Geickörfe. An ibrem Körrer, ter ride 
Millionen mal fleiner, als ein Sandkorn if, erflidt man dennoch Kerf, 
Echwanz, kurz eine eigenibümliche Irganijarion, Vewegungen unt Forpilum- 
zung, io ta5 man schon mebr, als 200 verſchiedene Gattungen folder Iu« 
fuſionéuhierchen zu untericheiten, und fie nach Dem Linneichen Soflem in 
mebr, als 20 Geichlechter zu vertbeilen im Stande geweſen if. Und dennoch if 
Died erſt ter Anfang ſolcher Enttedungen! — Beſonders aber gebören Beijpiele 
ber Theilbarkeit der Stoffe hierher. Rah Boppe’s Raturlchre werben 


Die Homöopathie. 455 


von Ya Gran oder vom 240ften Theile eines Quentchens Karmin, ober auch 
som Dresdner Wunderblau, 60 Pfund Wafler durch und durch gefärbt. Striche 
man einen Tropfen, etwa einen RillionentHeil der 60 Pfund, auf weißem Papier 
auseinander, jo würde man Die gefärbte Flaͤche wieder in viele taufend, auch wohl 
in 1 Million Theile theilen Eönnen, wovon man jeden einzelnen Theil unter 
einem guten Mifrojfope noch erkennen würde. Es wäre alſo das Eleinfte Körn- 
chen Karin, oder Wunterblau wohl in eine Billion Theile getheilt worden. 
Rah Kopp's Denkwürdigkeiten (2. Thl. S. 104 f.) gibt fich die 2,500,000,000« 
fache Verdünnung (?/sooo Gran in 500,000 heilen Waſſer aufgelöft) eines 
Grand der arjenigen Säure und des arfenigfauren Ammoniafs, nah Brandes’ 
und Ebeling's DVerfuchen, Durch das geeignete reagens deutlich zu erfennen. 
Ein Gran gejchlagenes Bold. läßt fih in 4 Millionen Theile zerlegen, deren 
jeden man noch mit bloßen Augen jehen kann. Beim Vergolden des Silbers 
wird dad Gold in noch zartere Theilchen vertheilt, mithin haben die Homöo—⸗ 
pathen Recht, wenn fie glauben, daß in ihrer Goldverordnung (3. B. gegen 
Lebensüberdruß) noch Gold ſei. Ein Gran Kupfer färbt 10,557 Cubikzoll 
Wafler blau und fann auf diefe Weije noch in 22,738,000,000 fichtbare Theile 
getheilt werden. Aus einer Klüffigkeit kann noch der 400,000fte Theil eines 
Granes Arfenik, durch Hinzutröpfeln einer Kupfer- oder Iodineauflöjung dem 
Auge erkennbar, auögefchieden werden. Kampher riecht man in millionfacher 
Verdünnung noch ganz deutlih. Ein einziger Gran Mofchus oder Ambra fann 
auf lange Zeit ein ganzed Zimmer mit jeinem Geruche fo ausfüllen (ohne daß 
das Mindefte des Gewichtes verloren geht), Daß manche, fehr empfinde 
liche Perſonen in einem ſolchen Zimmer Kopfichnerzen, Ohnmachten, ſelbſt 
Krämpfe bekommen. Die feinen Kalktheilchen, Die ſich in der Atmofphäre eines 
frifch geweißten Zimmers vorfinden, Eönnen Schnupfen, Kopfweh, Bruftbeichwers 
den, Augenentzundungen und andere Zufälle erregen. Man hat Faͤlle beobachtet, 
dag Menſchen vergiftet wurden, bie fich in Zimmern aufhielten, in welchen Are 
jenif enthaltende Wachskerzen gebrannt wurden. Bergleute werben felten alt. 
— Die Bleifolif bei den Töpfern entſteht blos von dem Ginfaugen ber in der 
Luft enthaltenen feinen, nicht nach Granen wägbaren Bleitheilchen. Die Bra⸗ 
minen beftreichen dünne Kattunftreifen mit gefchmolzenem Wachfe, flreuen ge= 
pulverten Zinnober darauf und rollen die Streifen zu Kerzen auf. Durch das 
Abbrennen eined ſechs Finger breiten Stüded dieſer Kerzen weig der ftärffte 
Mann fich feit undenflichen Zeiten fchon einen Speichelfluß zu erregen. Die 
NRosmarinflaude in der Provence fann man bid 20 Meilen weit auf der See 
riechen. Wie viele Millionentheichen von der Staude müffen da aufgelöft in ber 
Luft fchweben! Schon durch das Aufhalten in der Naͤhe des Wurzelſumachs 
(Rhus toxicodendron) kann man einen eigenthümlichen Hautausfchlag, Blatter 
roje, Fieber und andere Kranfheitserfcheinungen befommen. Wer kennt nicht 
die Wirkungen ded Meerrettigd oder zerquetichter Zwiebeln auf den Geruch und 
die Augen! Der fpanijche Pfeffer (capsicum annuum) bewirkt durch Berührung 
Geihwulft und Entzündung. Wer Tann die geringe Duantität der in den 
Körper aufgenommenen Theilchen von ſtark siechenden, narkotiichen, in den 


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Die Homdepathie. 457 


Unzen Waffer, tauchte eine Radelfpige darein und berührte Damit ein Ei an einem 
einzigen Punfte. Das an der Nadel Hängende Tröpfchen Hatte !/so einer Linie, 
daB Ei aber 2/3 einer Linie im Durchmefler, und das Volumen des Samens, der 
in jener Mifchung war, verhielt fich zu dem Volumen des Eies, welches er bes 
rührte, wie 1 3u 1,064,000. Gleichwohl wurden tie Eier eben jo vollftändig 
befruchtet und entwidelten fich eben fo vollkommen und eben fo fchnell, als wenn 
fie mit reinem Samen berührt worden wären. Aehnliche Beobachtungen machte 
Kölreuter bei Pflanzen: bei der Ialappe werden nach ihm 2 bis 3 Pollen- 
förnchen zur Befruchtung nöthig, und bei der Vanille werden bis 800 Bläschen 
durch eine einzige Anthere befruchtet. — Wenn man Diefe Erfahrung auf den 
franfhaften Organismud und auf feine Heilftoffe anwendet, die gleichfalls leben⸗ 
Diger Natur find, jo kann man fich die Entdeckung, dag Arzneimittel felbft in 
hoher Verdünnung und in höchſt Eleiner Gabe noch mächtige Wirkungen äußern, 
nicht anders denken. Wenn eine Kraft, wie die Zeugungsfraft, in fo Efeinfter 
Menge fogar Leben erwerfen Fann, warum follte eine anbersartige Kraft, bie 
Heilkraft, gleichlam nur an ein Atom eined Körpers gebunten, nicht eine von 
ihrer normalen Bafis abgewichene Thätigfeit, d. i. Krankheit, in Gejundheit 
überführen können? zumal da diefe Kraft, ihrem Weſen und ihrem Urjprunge 
nach, dieſelbe ift, wie jene, und beide Kräfte nur Ausflüffe der Weltieele find, 
die blos in verfchiedenen Zwecken fich irdifch ausgeſprochen haben, oder vielmehr, 
vermöge ihrer Törperlichen Born, verfchiedenen Zweden dienen müflen? Man 
kann ein Rad durd) eine große Menge Wafler in Bewegung fegen, aber auch, 
und zwar weit kräftiger, Durch einige Tropfen, wenn letztere, in 
Dampf aufgelöftt, die Höhe ihrer Kraftentwidelung erreicht haben, Jene 
Marien find den rationcllen Arzneigaben der Alldopathie, dieſe Tropfen ten 
faft geiftigen der Homöopathie zu vergleichen. Wenn eine Kranfheitöpotenz, 
welche man Contagium nennt, ohne allen Leib, wenigftend ohne ſicht⸗ und 
wägburen Xeib, in ter Yuft beitehen und allgeneined Verderben bereiten Fann, 
wenn ein Sonnenftrahl durch Millionen Meilen fih fortzupflanzen vermag, bi8 
er bei unjerer Erde, und noch mehr, bis er bei den entfernteften Planeten unferes 
Sonnenſyſtems anlangt; wenn der Menfchengeift mit feinen Gedanken die un 
entliche Schöpfung zu Durchfliegen vermag, ohne an feiner Kraft zu verlieren, 
warum jollte das Heilprinzip, als etwas Geiſtiges, nicht gleiches Vermögen 
haben? Der berühmte Chemiker Davy fand im Wajferfchierling (cicuta 
virosa) ganz genau, nach Ouantität und Qualität, dieſelben Beflandtheile, welche 
er früher im braumen Kohl gefunten hatte. Wie nahe muß alſo das Giftige 
bier an der Grenze fteben, welche Tas Reingelitige und Reinkörperliche trennt! 
Mancher füllt joyleich in Schweiß, jo wie ee nur Eſſig riecht. Kin Anderer wird 
in einem steller, wo Wein gäbhrt, berauſcht. in Dritter fällt in einem Theater 
beiinnungalos durnicder. Gay⸗Luſſac kommt mit dem Eudiometer und findet, 
wie in der reinſten Yuft, 79 Procent Sauerjtoff und 21 Procent Etiditoff und 
einen geringen Theil Kohlenſtoff; wie wich wägen denn nım alle dieſe Eindrücke? 
wie viel andere, Die täglich und erheben, niedertrüden? — Tie lerantijchen 
Baummollenballen, welche die Vet nach Marfeille brachten, Hätten fle ohne den 


= 


458 Medicin. 


Giftſtoff etwa weniger Zell bezahli? Das Gift der Wespe, der Biene, Die und 
Richt, ift unmägbar, und doch bringt es zinveilen nicht unbedeutende Zufälle 
bereor. Das fieht Jeder, er kann's nicht leugnen, allein leugnen will er, bap 
eine Keine Dofis Chamille, Puljarille x. dad Zahnweh ichnell wegnehme, das 
Zahnweh, dieſe gemeine, aber Doch ungemein jchmerzhafte Krankheit, womit fc 
die rationelle Medicin faum befapı, unt wogegen fie gar ofı durchaus nichts An- 
deres zu rarhen vermag, als ten Zahnarzt holen zu lafen, damit er den Zabe 
herausnehme. Ter thieriſche Organismus flieht vermittelſt der Sinne mit der 
Außenwelt in Berührung: eine Menge Kräfte, Ziche, Wärme, Elektricisät u. j. m. 
wirken auf ihn ein, ohne daß fie jich ihm handgreiflich zu erkennen geben. Faft nur 
ber Magen joll im Franfen ıbieriihen Organismus Die grope Werfitärte fein, 
wohin Hafien geichidt werten, und von wo auß bie beilenten Kräfte audftrahlen, 
wie von dem Katheder Die Gelahrtheit. Bei Ohnmächtigen ſcheut man ſich nicht, 
riechen zu laflen, ohne vorher zu fragen, wie viel kann wiegen, was Der Ohn⸗ 
mädhtige in bie Rafe befonmt. Beim Receprichreiben drebt fich in der That Alles 
um tie Materie und um die Menge, welche dem Magen Largeboten werten muß, 
um den Heilzweck zu erfüllen. Daß ein geiunder Ochie durch einen eleftriichen 
Schlag getödtet werden könne, daran zweifelt Fein Menich mehr, aber daß ein 
Eranfer Ochſe von einem Tropfen Nux vomica (3te, 6te oder Ite Potenzirung) 
angegriffen werben Fönne, darüber können Viele das Lachen nicht halten. Des 
Wilden feine Nafe riecht, wo wir Kulturmenjchen nichts riechen, und der Hund 
findet Die Spur feines Herrn, ohne daß wir für den Riechſtoff Des Wilden und 
des Hundes ein Gewicht hätten. Die materiellen firen Ideen der Aerzte find 
Beuge, wie es mit der Phyſiologie jteht, welche und, o Wunter! nun bald lebren 
wirt, wie man das Xeben von Hunden und Sperlingen, gleidy Gasarten, über 
Queckſilber und Wafler auffangen und ben erftaunten Zuhörern in einer Flaſche 
vorzeigen fann! 

Nah G. H. Schubert (Geichichte der Scele) jchwächt Opium, unmittel⸗ 
bar auf tie entblößten Nerven gebracht, ebenjo, wie dann, wenn es innerlich ges 
nommen worden, allgemein die Empfindung, oder laͤhmt fie ganz. ©. 30: „Unter 
den unorganijchen Körpern erinnert dad Waſſer an eine (jolche) plögliche Entfal« 
tung des jchlafenden Zuſtandes zum wachenden. Vorhin tropfbar flüjftg, nur ein 
Samenforn gegen den aufgewachjenen Baum, dann ald Dampf auf einmal zum 
1700fältigen Raume ausgedehnt! Bei der fogenannten Scherin, Frau Frie derike 
Hauffe, im Gebirgedorfe Prevorſt, wirkte 1 Gran Belladonna, in die Hand 
gelegt, Schwindel, Erweiterung der Pupille und Würgen im Halſe. Ein Blatt 
von Bilfenfraut machte Betäubung und Gefühl von Lähmung; Mohnkapieln, 
Schlaf.’ ©. 765: „Das Halten von zwei Spargelftengeln in der Hand wirkte 
ſchon in einigen Minuten jehr auffallend auf Abjonderung des Urines. Spinat 
wirkte, wenn fle zwei Blätter in die Sand nahm, eine ganz deutlich wahrnehm⸗ 
bare Betäubung im Vordertheile des Hauptes (im großen Gehirn). Das An⸗ 
greifen der Blüthe und des Krauted von blaublühenden Kartoffeln erregte nicht 
blos Betaͤubung und Reigung zum Schlafe, fondern auch jenes Soodbrennen 
and Gefühl von Schwäche (Schlaffheit) im Magen, welches öfters auf das Eſſen 


Die Homöopathie, 459 


der noch nicht vollkommen gezeitigten Kartoffeln erfolgt. Die Berührung von 
Sopfenblättern betäubte fle, die von Wollblumenfraut (Verbascum thapsus) 
reizte zum Huften. Der Duft der Ringelblume (Calendula officinalis) war ihr 
ein wohlthätiges Mittel gegen Kopfweh; der Dampf des Aufguffes gab bie, durch 
Krämpfe verlorene Sprache wieder; die Berührung von grüner, geſchabter Rinde 
des Hollunders (Sambucus nigra) trieb ihr Schweiß ohne Erhitzung aus; bie 
weiße Taubnefiel, vormald gegen Milzkrankheit gebraucht, regte Schmerzen in 
der Milzgegend auf; eine weiße Lille Tühlte angenehm, und rief in ber Geele 
Bilder und Gefühle des Traumes hervor.” S. 764: „Ueber die höchſt merk- 
würdigen Erfolge homöopathiſcher Mittel bei dem Findling Caſpar Haufer 
werden eine Menge beglaubigter Thatfachen mitgetheilt, die alle Zweifel an ber 
Wirkſamkeit der Kleinen Gaben überhaupt Iöfen müflen. ‚Der menſchliche Kör- 
per,’ fagt Dr. Siemers in Hamburg (damals noch Fein Homöopath, jet 
aber der Homöopathie beigetreten), „wird von einer großen Arzneigabe ganz an⸗ 
ders afficirt, als von einer Eleinen, und diefe Reaction des Körpers verändert flch 
immer mehr, je Fleiner die Arzneigabe iſt. Hier Haben wir ein Prinzip, das mit 
der alten rationellen Schule durchaus übereinftimmt. Es ift befannt, daß viele 
Pflanzen und Metalle in großer Gabe eine Wirkung haben, welche durchaus ver⸗ 
fihieden, ja oft entgegengefeßt derjenigen ift, welche biefelben Stoffe in Eleinen 
Dofen äußern. Noch deutlicher werben die Verſchiedenheiten der Wirkungen, 
mit veränderter Quantität, bei der Beobachtung der Imponderabilien. Referent 
erinnert nur an die Wirkungen der Eleftricität. Berflörend im Blitz, find fie 
belebend im Thau, Schnee, Regen und im Verdünftungsprozeß; Wärme und 
Licht bieten eben jo intereffante Vergleichungen dar. Wie, wenn nun jede 
Pflanze, jede Arznei, ein jedes Metall einen doppelten Zuftand annehmen Eönnte, 
einen regulinifchen, blos materiellen, und einen dynamiſchen, virtuellen, der fo 
lange verborgen wirfung8lo8 bliebe, bis er durch homöopathiſche Verdünnung 
zur vollftändigen, allfeitigen Kraftentwidelung im Körper gelangte? Wie, wenn 
Hahnemann zuerſt darauf aufmerffam gemacht hätte? Und dem ift fo. Die 
Unbegreiflihfeit unendlich Eleiner gomdopatbifher Gaben und 
die Möglichkeit einer Wirkſamkeit derfelben liegt eigentlih nur 
in den Faſſungsvermögen des individuellen Beurtheilersd. Das 
bloße Unbegreifliche darf bei wifjenichaftlicher Borfchung eben jo wenig, als bei 
überfinnlichen Dingen der Grund der Abweifung fein. Die bomöopathifche 
Kleinheit der Gaben ift eigentlich nur eine Fortfegung ber biöher gefannten ges 
theilten Doſen der rationellen Medicin. Die rationelle Medicin wird fich mit 
der bomöopathiichen Babenkleinheit und dem Glauben an eine Möglichkeit der 
Wirkung derfelben fchon leichter befreunden, wenn file der Chemie, von welcher fie 
bisher vielleicht zu viel erwartete, ein untergeorbnetes Nichteramt überträgt, da⸗ 
gegen der Phyfik erlaubt, mit Gründen der Analogie dem zweifelnden Verftande 
zu Hülfe zu kommen. Schon die einfache Betrachtung der Sinneseindrüde Teitet 
zu der Annahıne, dag eine unendlich Eleine Verdünnung dennoch, wahrnehmbar 
und wirkfam fein könne. Der Mojchus und faft alle ätherifchen Oele, beſonders 
aber echtes Mojendl, hauchen Jahre Iang, ohne bemerfbare Gewichtsabnahme, 


4656 Medici. 


einen io Harfen Berst ous Tre ibmäkiide. rri: bare Renichen Korfitkmen 
Basen kifemmen. Hier Anter Arekrion ter Birruftönereen auf bomöopatbiſchem 
Wege Stan. Au iprtben bretimeme Ertafrursen nodh ta, mo Der Vegenannte 
geiunte Menchenverſtand und ım Eritr Yin. Es iit 3 B. ter rarienellm Me 
Diein bekannt. Bag Pie Iecornanba in sche firinen Gaben :'.0 Gran; ein vor⸗ 
treñ̃liches Magenmirtel ir. Werer die Sinne. nei tie bemiichen Unteriuchungen 
würten Dieie fleine Gabe entdecken fonnen. Yicı nun and tie Medicin mande 
Bebaurtungen ter Gomöderatbie unerfiär, do Anten zir in ter Porñf noch An⸗ 
Baltörunfıe genug. Tiere Ritmitadı iR es weiche und nicht nur einen riefen 
Blick in das Rei ter Impenterabilien erlaubt tentern, in Verbindung mit der 
Mecbanif, uniern Zinnen auf eine kerunternsrörtige Weiſe zu Hülfe fommt. 
Referent möchte ieine Leſer nur einmal in tie Werfitäne unſeres Repiolt füb 
ren. Sie würten tert unter Unteren eine Waage Änten, melde eines 
Grancs jichıbar angikı: Ne würten teben fönnen, wie ein Fingerdruck in Sıande 
iſt, einen eiiernen Valken Turchzukicgen, eter wie cin Rinimum ter Temperatur⸗ 
erböbung das Volumen eines Merallcrlinters schnell sergrögert; fie würten fa 
unglaubliche Ibeilbarkeiten ter Aläcben wabrmebnen: fie würden mit einem 
Worte tie Furcht zer Ten Unbegreiflichen serlieren.‘ 

„Wie gering erickeinen übrigens Lie Ginmentungen gegen die bomöopathi⸗ 
ſche Kleinbeit und Teren Birftanfeit, wenn man Die Theilbarkeit und Wirkſam— 
feit des Lichte und Wärmeſtof̃fes im Weltraume zu faften wagt, wie geringfügig 
find alle Erflär- oter Zweiteläceriucke, wenn wir sollent® die erganiichen Bere 
richtungen unt bie geiftigen Tätigkeiten berrachten! Wo iſt Da Die Grenze der 
Erklärung? Aber wir Eraucken nicht einmal io weit zu geben. Die Phoſiologie 
allein ift im Stante, einen Bingerzeig für Die Möglichkeit des homöopatbiſchen 
Prinzipes der Arznetwirfung zu geben. Sie erfennt ja ſpecifiſche Reize für Die 
Sinneönersen an, welche auch im Minimum wahrgenommen werden ; warum 
follte fte nicht auch zugeben können, Tag jeder Rersenpleruß, jede Ganglion, ja 
jeder Rerscnaft, ſpecifiſch affieire werten könne durch Reize, welche Die homöo⸗ 
pathiſche Heilmittellebre erft Eennen gelehrt Bar? Referent findet dieſe Erfläs 
rungdart wenigftend eben jo genügend, al& Diejenigen, welche Die rationelle Medi⸗ 
ein bisher über Lie Arzneiwirfungen gegeben fat.‘ 

G. H. Schubert (fein Homöopath) ſagt zur ErHärung der Wirkſamkeit 
ber £leinen homöopathiſchen Gaben: „Jene Heilart Ter neueften Zeit, welche man 
die homdopathifche benennt, wirft auf zweifache Meile: Durch das Entfernen aller 
übertäubenten, aufregenten Genüſſe und durch Dad längere, fortgeſetzte Anwen⸗ 
den von Witten, deren feine Zertbeilung an jene oben erwähnten Verjuche des 
Mob. Bromn erinnert, der Dem Stäubchen der Körper durch unmeßbares, 
künſtliches Verfleinern eine merfwürdige, jelbftitändige, thieriſch-ſcheinende Ve— 
wegung gab. Es fcheinen aldtann die Etoffe, vermischt mit Dem Waſſer, mehr 
auf jene elektriiche Weile und eben fo, wie Bei ter Ecberin (von Prevorjt), durch 
die bloße Verührung der Äußeren Haut einzuwirken, als mach der gemöhnfichen 
Aſſimilation durch den Darmkanal. Tie Stäublein, jo lange fie noch in großen 
Maffen vereint waren, gehorchten blos dem Zuge der Gohäjten; die feine Zer⸗ 





Die Homöopathie. 461 


theilung gab ihnen Die Beweglichkeit gegen Lie elektrifchen Einflüffe, welche das 
Auge durch dad Mifrojfop an ihnen bemerkt,“ 

Rummel fagt zur Erklärung der Wirkjamfeit der kleinen homöopathi« 
ſchen Gaben: „Die Botenzirung der Arzneien durch Reiben und Schütteln macht 
feine Ausnahme von dem allgemeinen Naturgejege, fondern beruht auf dem eigen» 
thinnlichen Weſen ter Erpanflofraft, unter deren Schema ſich auch die Wir⸗ 
kungen ber Arzneifräfte bringen laſſen. Die einleuchtendfte Erklärung gibt ohne 
Zweifel von Korjafoff durch jeine Theorie der Anſteckung der Stoffe, worauf 
auch fein höchft einfaches Potenzirungs⸗Verfahren berubt, das aber noch nicht 
allgemein angenonmen iſt.“ 

So ließen fid) noch eine Menge Erflärungsverjuche diefer Art beibringen ; 
tie Hauptfache bleibt aber immer tie Nachweifung der Thatſachen ſelbſt, 
wozu weiter unten Die Belege folgen. Ueber die Bereitung der homdopathi⸗ 
schen Arzneimittel haben die Gegner viel Unwahres vorgebracht, und durch 
lächerliche, auf ganz falfchen Boraudjegungen berubende Berechnungen Die Ho⸗ 
möopathie jelbft Lücherlich zu machen, ſich vergebliche Mühe gegeben. Einige 
Gegner haben 3. B. beweijen wollen, daß die Maſſe Wafler, weldye zur Verdün⸗ 
nung eines Decilliontropfend nöthig jei, eine Kugel von mehreren Billionen geo⸗ 
graphiichen Meilen im Durchmefjer bilden würde. Allein die Mühe der Berech- 
nung iſt umfonft, da Hahnemann nur 3000 Tropfen Weingeift zur Decillion« 
Berdbünnung gebraudt. Nur der Ausdrud, fagt Dr. v. Biegel, macht Hier 
Schwierigkeit. Die homöopathiſchen Mittel werden verdünnt, von der Einheit 
bis zu 30 Brüchen der Einheit. Man darf nur flatt 100, 10,000, Millionen 
jagen: 1fte, 2te, 3te Theilung, und der Ausdrud wird der Vernunft nicht mehr 
anftößig jein, die wohl weiß, daß cin Arzneitropfen auf 4 Unzen Waffer allen 
heilen des Waſſers jeine Eigenichaften mittheilt. Diefe Gabe von 4 Unzen ifl 
wirklich die ganze Blüfjigfeit, welche bei der Theilung des Arzneitropfens in 39 
verichiedene Brüche nöthig iſt. Die Bereitung der homöopathiſchen Arzneien bes 
treitend, möge bier Bolgendes angeführt werben: Alle Urzneimittel, welche in 
friichen Plangenfäften zu haben find, bereitet der homöopathiſche Arzt auf folgende 
Weiſe: Der friſch ausgepreßte Saft wird mit gleichen Theilen ſchwammzünden⸗ 
den, reinſten Weingeiſtes ſogleich wohl gemiſcht, und nach 24 Stunden gießt 
man von dem, im gut verſchloſſenen, bei mäßiger Stubenwärme und fern vom 
Eonnenlichte aufbewahrten Glaſe, indeffen abgejegten Faſer⸗ und Eiweißſtoffe 
Das Helle ab, zum Verwahren für den arzneilichen Gebrauch. Ein Tropfen von 
biefer Tinktur mit 100 Tropfen Weingeift durch zwei abwaͤrts geführte Schläge 
des Armes, in deſſen Hand man das Mijchungsglas bält, geſchüttelt, gibt eine 
100fache Potenzirung ("/ı00), hiervon ein Tropfen mit anderen 100 Tropfen 
Weingeiſt auf gleiche Weife geichüttelt, gibt eine 10,000fache PVotenzirung, und 
hiervon wieder ein Tropfen mit 100 Tropfen Weingeift gefchättelt, eine million» 
fache. Und fo bringt man in 30 folchen ©läfern die Potenzirung bid zum Des 
eillionfachen, welche in der Praris angewendet zu werden pflegt. Bon den weniger 
jaftigen Pflanzen, 3.8. dem Lebensbaume (Thuja occidentalis), jtampft man erſt 
für ſich die grünen Blätter, rührt fie Dann mit 2 Dritttheilen Weingeift nach dem 


2* 























heiter. 

















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Die Homöopathie, 463 


fich fogleich Die oben erwähnten, Tächerlichen Berechnungen einiger Gegner von 
ſelbſt widerlegen. 

Andere Gegner fagen: 1 Tropfen Arznei in den Genfer See gegoflen, 
würde die ganze Maffe des Sees zu homöopathifchen Heilungen geſchickt machen 
müffen. Aber die Homöopathie mifcht nie Die Arzneitropfen mit großen 
MWaffermaffen, fondern nur mit 100 Tropfen Weingeift (ober Milchzuder« 
törnern) auf einmal. Die Miſchung ift darum nicht überflüfftg, ſondern fehr 
innig, da fle durch Schütteln, oder Reiben gefchieht. Ob fich (übrigens) ber 
Genferfee durch eine geringe Zuthat irgend eines Arzneimittels in ein homöo⸗ 
pathifches Heilmittel verwandeln laffe? Ohne Zweifel. Es kommt mur auf bie 
Kleinigkeit an, zuerft ein Gefäß zu finden, das den Genferfee faßt, und dann eine 
Fauſt auszumitteln, die ein ſolches Gefäß zu fehütteln vermag. 

BVernünftigere Gegner fagen, e8 ſei wohl begreiflich, wie die Heilung 
gefchehe, aber nicht die Wirfung fo Fleiner Theile, denn 1) fei die Luft, die 
wir athmen, immer voll Gas und fchädlicher, arzneilicher Dünfte; wir müßten 
alfo immer Eranf fein; 2) wenn die Eleinen bomöopathifchen Gaben wirkten, fo 
müßten die großen allöopathifchen Gaben immer tödtlich, oder doch ſchaͤdlich, nie 
heilfam fein. Allerdings enthält die Atmofphäre viele Dünfte, aber fle heben 
Eins das Undere auf, und finden ſich fo vermifcht und neutralifirt durch den 
Einfluß der freien Luft, dag in der Megel Feine Eranfhafte Stimmung daraus 
hervorgehen kann; auch find fie ja nicht potenzirt! und fo iſt ed auch mit den 
Pflangendünften im Felde, Holze, Garten. Aber ein Kranker, in Berührung 
gefegt mit einem einzigen Ausfluffe folder Dünfte, wird unfehlbar frank, 
3. B. vom Mofchus, epidemifchen Ausdünftungen sc. Auf den zweiten Einwurf 
dient zur Antwort: Da die Tendenz der anti» und alldopathijchen Heilmethode 
von der homöopathiſchen ganz verjchieden ift, fo müflen auch die Mittel ver 
fehieden fein, alfo ift auch die Verjchiedenheit der Gaben nicht auffallend. 
Die anti» und allöopathiiche Methode erfordert große Gaben, weil man eine 
entgegengefeßte oder (bei der alldopatbifchen) durchaus verfchiedene 
Wirkung bervorbringen will. Dazu gehören große Maffen, um Eünftliche Kranke 
heiten in nicht Dazu disponirten Theilen des Körpers hervorzubringen, zumal, 
da fle oft weniger als ein gefunder Körper dazu disponirt find. Die Homöo⸗ 
pathie wirft Dagegen ganz verjchieden von jenen beiden, Das Mittel wirkt gerade 
gegen den Herd der Kranfheit an. Es greift den leidenden Organismus durch 
eine künſtliche Krankheit an, die der Affection, welche den Körper beherrſcht, 
fehr Abhnlich ift. Die Organe find jehr gereizt und erfordern daher nur cine 
fehr kleine Gabe, um die fünftliche Krankheit bervorzubringen, welche bie 
natürliche Krankheit befämpfen und vernichten fol. Cine große Gabe würde die 
Krankheit fehr verftärfen, fo daß die Lebensfraft nicht entgegenwirken könnte, 
und der Kranfe würde vielleicht an der durch dad homöopathiſche Mittel bewirk⸗ 
ten Berfchlimmerung flerben. Die Verfleinerung der homöopathiſchen Gaben 
ift eine unmittelbare und fehr vernünftige Kolge des Grundprinzipes der neuen 
Lehre. Die Antipathiker und Alldopathifer haben Hecht, zu fagen: Je fchwerer 
die Krankheit, deflo größer die Gabe; wobei aber die nachtheiligen Wirkungen 


ir Mebicin 


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Azur TE Ned Lorermsged sr Anıner irn de Le 3:5; Sagem sale 
Een. zur itet ber er: ir Errsteter 204 Kıazlrı nd RT era 
win:z finz. ie mb 1 na. ir Erna Babe ter Ast ’oree die Armen 
@stım 2: Reine ned Rrımlaa za) ankam De Ram Ya ei u— 
Lem te Pz merszer Tsıterkaa iu ber aan. Sea Errsiorı ige. 

Einwürie gegen tie Einfachheit der homseparhiihen Mitzel. Tu 
Gruner ter Genserazkie 'aazm: I man beaze ud az eızen Ru für 
abe Kranfieudismricme audrndern. 2. ua u ne Ste Reeazir 
tunzm ter Arzneim tert mebrere Gerrertiezen serien: 3 o mehrere Arzacis 
mutze, ga’ınımen emnnarkeiuun ed sun; neue u2t zuaielare Deufriite. tie fein 
antste: ina Eexirken feane. Tie era: Betsurrazy setz ner amd ter Mangel- 
batızfeu tes Mater:a medoa Eirzer wel man bie Arznemuzı mie ar Grienten 
gerzuri bat, une daber ten Reicibum ıbrer Teirfungen aitı fennt. Iwie Pru- 
funz ergibi ein: Menge con Semrtemen, ze.ke fie Mımei Für vericietene 
r anftteuen wirffam madı. Tie Eomoorarıite Gatt earritcı aber. wegen 
ihrer Kleinheit, nur tie ana.ozen Scmrienme, weiche die Scıtente Scene des 
KErziniemus berüßten, cine ıtıe'znfrauiide Lieronnen: die übrigen Somrrome 
zeigen fick micht, wie kei ten gregen aliceratbiſcen Gaben. 

Wenn velen ein Mirel nidt binreistie. die Srmricnenarure: der Kranke 
beit zu eniteden, jo mırt Lie Hemooratbie Tech miema.d mehrere Mirtel zugleich, 
iontern eins nach Lem anderen geben. wer: man kei mehreren Mineln zus 
gleich mıe zu lagen zermag, wildes son ienen ſchätlich eder beilſam gcwirkt Babe, 
Kir winſin nur, tag tie Kırikung a, b, c. d seicbe Wirkung gebabt, aber nicht, 
ob a ckır b e3 gerkan bat. Mit Unrecht beichuldiget man gerine Mittch übler 
Aekennırkungen, La zielmekr Lie unmäsgıgen Gaben Tie iriadpe jener ublen Wir⸗ 
kungen ſind. Kleine Gaben werten dieſe!ben nicht bercerkringen. Alle correis 
tiven Mittel u. ſ. x. beben jid; gegenicirig auf; fie Filten ein neues Ganze, Deiien 
Wirkungen man nicht corau& wien fann. 4, Zwei Mittel zulammen fonnen 
biswcilen beſſer wirfen, alö cin einziges: aber Tann muß man dieſe Wirkung 
ald ein neues Banze betrachten und eö alö ſolches rorber am geiunden Körper 
prüfen, ebe man ed anmenter. Für jegt aber bar Lie Arzneimittellehre genug zu 
tkun, tie einfachen Mittel zu prüfen. Der Reichtbum an Mitteln, Tie man 
schon geprüft bar, läpt vermutben, Tap Lie Natur für alle Kranfbeiten einfade 
Mittel entbalte, mit Tenen man ausreicht. Ginfacdhkeir ije Der Stempel der Ratur. 
Durd; zufammengetegte Mittel wirken wollen, beißt gegen Die Rarur wirfen. Die 
sahlreichen, bewährten Hausmittel werden alle einfach angewantt. Don den 


Die Homoͤopathie. 465 


gelehrten Uerzten wurden fie fpäterhin mit Zufägen vermiſcht und verloren io 
den Ruf ihrer Wirkjamkeit, Bon der China iſt es ausgemacht, daß fie bei 
ihrem erften Bekanntwerden in Europa ſich auch in kleinen Gaben ungleich 
Schneller und entfchiedener wirkſam zeigte, al8 nachher in größeren, was man 
fih Durch angebliche Verfälfchungen erklärte. MWahrfcheinlich ift an der geringeren 
Wirkſamkeit einer Menge fpäterhin beliebter, fchnfgerechter Chinamiſchungen viel« 
mehr die Gelehrfamkeit des Europäerd Schuld, als die Unwiſſenheit des Ameris 
fanerd. Und vielleicht dürften fich die gerühmten Heilfräfte bed Chinins am 
Ende ald bloßed Verdienſt feiner Anwendung in Fleinen und unvermifchten 
Gaben audweifen. Für Beides, Den Gebrauch der Eleinften, wie der natürlichften 
und einfachften Gaben, fpricht feit Kurzem fogar die zunftgerechtere Erfah— 
rung eine Mannes vom Fach. Das Bold war befanntlich ſchon Tange, weil 
man bie Iinmöglichkeit einer Einwirkung beffelben auf den Körper, wie gewöhn⸗ 
lich, von vorn herein erwiefen hatte, aus der Arzneimittellehre verbannt. Richts 
defto weniger hat auch Chreftien in Montpellier, der von Hahnemann 
schwerlich Etwas wiffen mag und in jedem Kalle gewiß nicht zu feinen Schülern 
gehört, es ebenfalld, und zwar in ten Fleinften Gaben, ſehr wirkſam gefun- 
den, und weiter, nachdem er fich bei Der Anwendung deffelben in den gelehrteiten 
und fünftlichften Bereitungsarten und Zufägen erfchöpft hatte, gefunden, daß 
alle jeine Zuthaten von Salzfäure u. dergl., weit entfernt, die Wirkfamfeit des 
Mittels zu befördern, demfelben vielmehr @intrag tbaten, und daß es in Feiner 
Seftalt fo viel Dienste leiſtet, als in der einfachften, bie ſich denken läßt, ald 
bloßer, fo fein als möglich zerrichener Staub. 

Durh Montagne's Aeußerung über die verberblichen Vielgemiſche, Die, 
wie er fürchtet, ihre Wägezettel verlieren, oder verwechfeln, oder ſich in ihren 
Duartieren beunrubigen, wird der Verfaſſer Der oft angeführten Briefe einc® 
Homöopathiſchgeheilten zu Ähnlichen Betrachtungen veranlaßt. ©. 123 
fagt er: Wir reihen in unferen Mecepten die Heilftoffe an einander, wie Verlen 
auf eine Schnur, und fegen eine einzige Arznei aus einem Dugent Beſtand— 
teilen zufammen, wie eine Gorporalichaft aus eben fo viel Mann; zu geſchweigen 
ber gleichzeitigen Anwendung eines zweiten ober dritten, vielleicht eben ſo vielfach 
zufammengefegten Mitteld, das eben jo wenig, als der einzelne Beſtandtheil den 
Weg feined Gefährten, feinerfeits die Wirfung eines anderen Mitteld durch- 
kreuzen darf. Der Arzt, ein Geichäftöträger, mie e8 kommt, des Lebens oder 
des Todes; fteht rathend und helfend mit allen Iheilen des menfihlichen Körpers 
in Verkehr, packt feine Mittel für fie alle in dieſelben fünftlichen Miſchungen und 
befördert fie in ben Magen, ber, wie ed einem ordentlichen Poſtamte geziemet, 
das mebdicinifche Welleifen öffnet und den Inhalt fehnell und richtig an jede 
Adreſſe gelangen läßt, fo viel Tropfen oder Gran an ben Unterleib, jo viel au 
Die Rerven u. |. w. Jeder Theil empfängt gerade, was ihm zugebacht war, und 
nicht mehr und nicht weniger, und in jedem gefchteht nur die eine damit beab« 
fichtigte Wirkung, ungeftört von Allem, was mittlerweile im ganzen übrigen 
Körper auf ähnlichem Wege ſich ereignen mag. Mir ift unter ben befferen Aerzten 
felten einer vorgefommen, ber fich nicht auf die fogenannten einfacheren Zur 

V. 30 


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Die Homöopathie. 467 


Arfenik, Opium, Vitriol, Blaujäure, Quedfilber, Belladonna, Aconit, Stech« 
apfel. in großen. Maſſen anwenden, und dadurch die Kirchhöfe füllen, wie 
fönnen fie die Homöopathen befchuldigen wollen, durch Eleine, homöopathiſche 
Gaben zu fchaten? Oder jchreiben die Allöopathen den homöopathiſchen Mite 
teln wegen der Urt der Bereitung eine fo furdhtbare Kraft zu? Das ftreitet 
aber mit der fpöttifchen Verachtung, bie fie über das Meiben und Schütteln, als 
vollig überflüfftg und zweck⸗ und erfolglos, oft genug audgeiprochen haben, Kurz, 
die Gegner verwickeln fich hier, wie überhaupt, in die größten Widerfprüche und 
machen fich felbft Dadurch nur lächerlich, 

„Die Homöopathie fchadet durch Nichtsthun!“ Wenn die Gegner 
nicht leugnen können, daß die Homöopathie oft fehr glüdlich heile, fo ſchieben 
fie dabei Alles auf antere Umſtände, auf Diät, blinden Glauben, Eraltation der 
Einbiltungdfraft und vorzüglich auf Naturheilkraft. Uber auch angenommen, 
bem wäre aljo, fo thäten dennoch die Allöopathen unftreitig befler, dieſem 
Nichtsthun zu folgen, und alle jene Nebenumftände die Heilung bewirken zu 
fafien, ald durch ihre Methode unfäglichen Schaden anzurichten, wie das ihre 
berühmteften Anhänger zugeben. Ob aber die Homöopathen oder die Allöo⸗ 
pathen mehr oder glücklicher heilen, darüber hat bereitd die Erfahrung entfchies 
den. Wenn in einzelnen Bällen die Homöopathie Nichts wirkt, fo beweil’t das 
nur die Unvollkommenheit aller menjchlichen Wiflenfchaft und Kunft überhaupt, 
da es gewiß unheilbare Krankheiten in einzelnen Fällen gibt und da die Homöo⸗ 
pathie überhaupt den Menjchen nicht unfterblicy machen kann. Was einzelne 
ungefchidte Homöopathen verfehen, kann unmöglich der Homdopathie felbft 
zur Laſt fallen. Daß aber gerade in den geführlichften afuten Krankheiten die 
Somdopatbhie entjcheidend wirfe, beweifen unzählige Heilungsfälle bei Entzün« 
dungskrankheiten x. „Alle Krankheiten,” jagt Dr. Groß, „tie die Alldos 
pathen heilen zu können behaupten, heilt bie Homöopathie mit Leichtigkeit, und 
Die weniger gelungenen Heilungen der Homöopathie find immer noch viel beifer, 
als die gelungenften der Allöopathie.“ Wie viele verfchiedene, von den Allöo⸗ 
pathen aufgegebene chronijche Kranfe bat die Homöopathie ſchnell und .Teicht ges 
heilt! Und wäre das Alles auch nur durch Äußere Nebenumftände bewirft und 
nicht durch die Eleinen Gaben, fo wäre die Hauptſache, Die Heilung felbft, doch 
immer zu loben. Don Iebenögefährlicher Palliation können nur Die mit ber 
Domdopathie nicht befannten Alldopathen, oder die Halbhomöopathen reden, bie 
in manchen Fällen noch zu alldopathijchen Mitteln greifen zu müffen glauben und 
Dadurch den Gegnern die Waffe in die Hände gegeben haben (vergl. Krüger« 
Hanjen’s Schrift: „Die Homdopathie und Allöopathie auf der Wage“). Ten 
Werth einer angemeflenen, nach Umftänden firengen Tiät erfennen jegt felbft die 
Allöopathen ald wahr an. Daß aber die Diät nicht allein die Heilungen be« 
wirfe, beweijen Die Bälle, wo, jelbft bei nicht beobachteter homöopathiſcher Tiät, 
Die Heilung fchnell bewirkt wird. Glauben und Vertrauen zum Arzte jind 
ſehr jchöne Dinge, und es ift ſchlimm, dag den Allöopathen fo oft Beides fehlt. 
Kleine Kinder und Thiere, die weder Glauben haben, noch durch ihre Einbil« 
Dungsfraft aufgeregt werden Fünnen, werden aber eben fo glücklich geheilt, ale 

30 * 


465 BMebicın. 


Grzitimt, Sei teren jene iakinte woher Bann. Seas He Rinntellfrait 
Alles wirken ‘cell. warum wirfte fe sorber aar nik. ſtatders erũ za ber 
aremmmemn bemscerarfiiten Gabe? Unt ie matır men fraarız ef die Zabi 
ter Umerla@unatienten ter Gemserankie, eter ter Bexetungkiieten ter Yllie 
zaifie zröser ſti? Tiere ara baben aber tie beribanrut NLemarten ;uwem 
Vor:beile ter Gemeorarben linatt iten enrtieter. 

„Die homöopathiſche Diet if eine Hungerkur!“ Sie Fordeheren 
Sarze- unt Stmierkoren ter Alserarkie ant mur al:u Sefscet: veu tem 
Sunzsrfuren ter Heméeraibie fann aber nur fie Unritvenbeiz und vie 
PVerieumtuna irrehen. Tie Hemöcramfie seriangı ie wenia eine Gunyr- 
Für, Ta Me Sielmebr Lie nabrbartente Tiir ron rein nabrenden eber marine 
lieer Sreiien uat Gerrinfen torte Wenn tie Alleerarbie tem Rranfın ı B. 
of Fleiſchiurren unt Fleiſchipeiſen verbieten, ie ſchreibt Die Scmiersrbie fies 
telken: =or und erlangt, taö ter Aranfe ch tätige, aber nur nitı ußrlate. So 
tagt ter Geb. R. Dr. Korr in Hanau in feinen „Ienfrürtiafeiren im ter 
ärstliken Prarid.” Hanau, 1532, 2. Bt. &. 155: „Wan Bar tie bomöe 
yarbithe Tiär ald eine jebr magere, webl gar alä eine Hımaerfur veridhrieem, 
was fie aber gar nicht if, indem fle in ten meitten fällen gerate tie nabthaſf- 
teiten Dinge, Fleiſch, Fleiſchbrübe, Eier, Cbokolade. mit Mitigfeit genenen, oßne 
berräcktlicdhe Finichränfung in der Quantitãt, emrücklı.“ Tarp ter Kranke db 
aller arzneilicken, reizenten, aber nicht Härfenten Sachen entbalte. if eine chen 
10 billige, als einleucbtende Zerterung. Tie Erfaßrung Fat aber obentrein ge 
lehrt, Daß, mir Ausnahme einzelner Kalle, nicht eine ie ſtrenge Tiär erforderlich 
in, ald man He anfıngs für norbig Bielt, da in vielen gallen Vie bomsevnarbiichen 
Gaben, ungeachtet ter nicht befolgen Tiätzoridhriften, dennoch gewirkt haben, 
ein Beweis für ibre Kräftigkeit. Der geriftenbafte und vernünftige Kranfe wire 
aber doch lieber zu ftreng, als zu lau in feiner Tiär fein und gern meiten, mas 
die Heilung Hören könnte Selbſt Habnemann erlaubt Ten an Kaitee und 
Wein gemöhnten älteren Perionen ten mägigen, aber allmäßlich zu minternten 
Genuß terielben. Auch wirken gekochte Surpenfräuter nicht unbetinge ichätlich, 
e8 müßte denn, wie 3. 9. bei der Peterfilie in Harnbejchwerten, cine antidota⸗ 
riſche (Die Arzneiwirfung geratesu aufbebente, Kraft in ihnen liegen. Gine alle 
zu Ängftliche Strenge würte allerdings auch eine zu greße Reizbarkeit gegen uns 
vermeitliche Einflüne veruriachen. CSelbit tie Gewürze und andere Dinge ver 
lieren durch Kochen ihre ſonſt ſehr ichätliche Kraft bedeusent: auch find alle 
dieſe Dinge nicht potenzirt. Ueberhaupt iſt anzunehmen, Tag die wenigjten, 
dennoch geheilten Kranken, mit ganzer Strenge Die bomöoparbiiche Diät werten 
beobachtet haben. Nur für ten Kranken übrigens, Der feiner Sinnlichkeit nicht 
bie Eleinften Opfer bringen fann, bat die bomöopathijche Diät etwas Abſchrecken⸗ 
bed. Alle, tie fich ſelbſt beherrſchen gelernt haben, unterwerfen ſich leicht dieſer 
einfachen Diät und finden ihren Lebensgenuß dadurch wenig verkürzt; ja, fle 
gewinnen dieſe Diät fo lieb, daß fie dieſelbe auch iyäterkin mehr ober weniger 
beibehalten, weil Die naturgemäße, einfachere Lebendweile ihnen mehr zujagt und 
zu ihrem Wohlſein beiträgt. 


Die Homöopathie, 469 
„Die Homöopathie kann nicht alle Krankpeiten heilen.” Diefer 


Einwurf ift zum heil im Vorhergehenden ſchon beantwortet worden; auch wer⸗ 
den die weiter unten folgenden Belege ihn vollends entkräften. Ja man kann 
fügen, daß Die Homöopathie felbft da Heilt, wo allöopathifche Hülfe unmöglich 
if. Daß Die Homöopathie Feine Entzündung und andere akute Krankheiten 
heilen Eönne, ift freilich ein durch viele allsopathifche Aerzte noch gefliffentlich 
üunterbaltener Irrtum. Daß aber jelbft die meiften chirurgifchen Krankheiten 
homöopathiſch geheilt werden, will den Gegnern gar nicht einleuchten, obgleich 
die Beweiſe vor Augen liegen. Daß die geringe Zahl der homöopathiſchen Mittel 
bie Heilung aller Kranfen unmöglich mache, ift eben fo wenig gegründet, da ber 
Arzneifchag ter Homöopathie ſchon jegt viel reicher ift, als der der Alldopathie, 
welche die wenigften ihrer unzähligen Mittel nach ihren vielen Wirkungen Eennt. 
Die Homdopathie heilt auf dem ficherften, ſchnellſten und Leichteften Wege, wenn 
die Allöopathie dagegen auf Umwegen und oft mit großer Gefahr für den 
Kranken, meiftend nur Palliativfuren zu Stande bringt, oder unbewußt homöo⸗ 
pathifch Heilt. 

Die Homdopathie erfordert viel Fleiß und Zeitaufwand und der 
bomdopathifche Arzt kann daher nur wenige Kranke zur Zeit behan- 
dein. Die Erfahrung Ichrt das Gegentheil! Zwar iſt tie Homöopathie feine 
gedanfenlofe Botenläuferei, die nur den Puls und die Zunge unterfucht und 
dann eilig ellenlange Recepte fchreibt. Sie erfordert ein genaues Kranfeneramen; 
aber der geübte Arzt findet aus einzelnen Symptomen fchnell die ganze Sym⸗ 
ptomengruppe zujammen und unterfcheidet Die Haupt⸗ und Rebenipumptonie leicht. 
Beſonders gewinnt er aber Dadurch viel Zeit, daß er meiſtens nicht täglich die 
Kranken zu fehen braucht, da die Mittel (fchwere, alute Bälle ausgenommen) 
mehrere Tage und länger wirken. Uebrigens betreibt der gewiffenhafte Homöo⸗ 
yath fein Gefchäft fo mit Ernft und Eifer, daß er dem Spiele und anderen Ver⸗ 
gnügungen gern entfagt, wo es feine Pflicht erfordert; ja, man darf fagen, daß 
in diefer Hinficht fich die meiften Homdopathen fehr rortheilhaft vor den Allöo⸗ 
pathen auszeichnen. Das nachahmungswürdigſte Beiſpiel auch in dieſer Bes 
ztehung hat Hahnemann ſelbſt gegeben, der von jeher faft feine ganze Zeit der 
Wiſſenſchaft und Kunft geopfert hat. Und diefem Beiſpiele find feine erflen und 
treueften und verichiedene andere Schüler gefolgt, und darum Fönnen fie fo viele 
Kranke behandeln, ohne fle zu vernachläffigen. 

„Die Homdopathie ift Myfticidmus,‘ Es gibt Menichen und auch 
Aerzte unter ihnen, die Alles, was ihr Verftand nicht begreift, Myfticismus 
ſchelten; ja, Die folcye Feinde alles deffen And, was mit der Religion nur in ber 
entfernteften Beziehung fteht, daß fle jchon in jedem Ausdrude, der an Religion 
erinnert, Myiticiömud wittern. Auch kann ihnen nicht® erwünfchter kommen, 
als den in unjerer Zeit wegen fo mancher Berirrungen in Hinflcht ded Religiöfen 
gehäjftg gewordenen Ausdruck ald Waffe gegen die Homöopathie gebrauchen zu 
tönnen. Wenn das Wefen der Religion überhaupt unerflärlich, unbegreiflich 
und in jofern muftifch zu nennen ift, fo hat freilich die Homöopathie dieſe Eigen⸗ 
ſchaft mit ter Religion gemein, wie überhaupt alles Geiſtige im engften Zu⸗ 


4) Din. 


rammenfunge Wer Benz aber Rebe, Bılz aut Ganiorzes Die Comsionurhte 
zur Sem Sc Emsnidmus. Yeiumahrmıd ub migterzer Binrkr-deuE in Berhim- 
Bun Srinser mE Baturd zehäitz muben. ja. 3 Gumkreführliih Darfizllen 
wollen. is sertient eine jslhe Bebzuwrunz zur ecı airlertumd Sihelr ater eine 
entibi:tene Zurufreitung. Ir. eb ik Sekurır. wre tete le Gomgorurfex Tem 
msdernen Artuiianıd Tre And. Ter Geit Mr Skerzm u Hıbne 
manz. Eıırm!, Greij Echreikert, 8. Rüoll:r. iron! Rummel 
n. 2. 4. Seseii: ist zur Genie, und ıfre anzsıllidken Aeuferungen une fr 
Leben betirizen dañelſe. Eumelme Auttrufe Sıbuemraı 3 sad Unterer 
au A-tıcdmu ;u Teusen. ̃ Üikeriih. Tas Sandeſa ter Comscnuchen lex 
Bee Welt zor Auzen. Weit eber liege ſich aber or: Lad zekeimibuente Berfukree 
ig minder Alleorarfen mir jenem Anstrude fahren. Ba Allem, waste 
Hemicrurfk als isfker kur, berrihr der Verſtand zer. item reine Fee 
adtunz sat Erfikrung 'sine Seumntlaze ie Belgier machen aber Die Se- 
möcrıteen serfißren izin, wenn fe tem berridenten. bie und da ſelbit om 
Eben Err bezgünftiaten Zeitgeiñe zekultiger ud dedurce sieliecte Der Hemd 
vathie mebt Gimzanz veribamt Büren. Aber velke TMirel aut Bere verachren 
fe ald umwurtig: auch wird die Gomöccnfse darch Tie Kañ ter Weahrhei 
renn och fegen. 

Bern Zimmermann in ſeiner Allgemeinen Kirchenzeitunz vor der Ge 
mösratbte, als Meiticidmns, warnte, io Gereii't das wur. daR ed ibm ginz wie 
vielen Anteren, tie nikı jelbit vrüften. da er in tiefer Sinuche wohl son 
Werekinte Worten zu iebr traute. Wergl. über Letzteren: Arche 1.6. VL 
2. S. 52 °.ı Die sormerlibe Albantlunz RuUmmel's über die Scherin von 
Prevorñ, nah J. Kerner 3 Schrift, zeizt deutlic, Tab auch Rummel die De 
ſchuldigunz Ted Moficidmus turchame nicht verdient. Des genialen Dr. Hering 
Anfiige im Archir zeigen eben io ſebr, wie Lie lebendigſte Ehantale neben ber 
grögten Klarheit des Verſtandes berrichen ımb doch ven dieſem beherricht wer 
ten kann. Ed möchte den Gegnern ĩchwer ſein, irgend einen Hemöoratben nach⸗ 
zuweiſen, der in ıhecretiicher oder praktiſcher Hinſicht wirklich die Verchultigung 
des Neſticiomuo verdiente. Oder will man tie Wiſſenichaft und Kunſt der Hs⸗ 
moopathie myſtiſch nennen, weil man ſie nicht begreifen kann? Dagegen 
laͤßt ſich freilich Nichts jagen! 


Das Entftehen der jeßigen. Pflanzenwelt. 


Don 
©. £. von Jeuſſen-Tuſch. 


— — 


Die Geſchichte der Erde hat in dem letzten halben Jahrhundert Rieſenſchritte 
vorwaͤrts gemacht. Zahlreiche Thatſachen und daraus gezogene Folgerungen find 
an die Stelle willfürlicher Theorien getreten, und gleichtwie angeführtermaßen in 
der Weltgefchichte oft ein Älterer Zeitraum beffer beleuchtet ift als ein jüngerer, 
fo find auch bisweilen Lie älteren Perioden der Erdgeichichte genauer bekannt 
als die neneren und neuejten. Denn während wir eine ziemlich gute Kenntniß 
von dent Zuftante der Erdrinde und Erdoberfläche, ihren Pflanzen und 
Thieren in der Steinkohlenperite befigen, {ft Dagegen unjer Wiffen von ben 
Uebergange der Vorwelt zum jegigen Zuftande des Erdballs nur fehr unvoll⸗ 
kommen. Erſt in den neueften Beiten haben Geognoſten und Zoologen ange⸗ 
fangen, dieſes Feld der Unterſuchungen zu bearbeiten. Einen nur geringen Bei⸗ 
trag zur Beleuchtung biefes Zeitalters Haben die Botaniker geliefert. Zu den 
wichtigften ragen bei dieſen Unterſuchungen gehört unftreitig die Entſtehung 
und Verbreitung der Pflanzen, welche jegt auf ber Erboberfläche wachjen, wobel 
fich indeſſen einige Grundfragen barbieten, die zunaͤchſt beantwortet werden 
müfſſen. 

1. Es wird gefragt, ob jebe Pflanzenart urſpruͤnglich an einer und der⸗ 
ſelben Stelle, dem vermeintlichen Mittelpunkte, hervorgetreten iſt, von wo aus 
ſie ſich fpäter über kieinere oder größere, zuweilen auch über wettgebehnte Streden 
Landes verbreitete, dber ob man annehmen muß, daß dieſelbe Pflanzenart gleich 
von Anfang ber an mehreren, oft weit von einander entfernten Stellen entſtand? 
Damit würde die Frage In Verbindung ftehen, ob nothwendigerweiſe fir jede 
Pflanzenart ein einziges Stammtindividuum — oder zwei, wenn das Befchlecht 
derfelben bei verfchlebenen Exemplaren getrennt iſt — anzunehmen oder ob man 
mehrere, urſpruͤnglich entſtandene Individuen vorausſetzen darf? 

Wenn man den Begriff einer Pflanzenart in der Weife feftftellt, daß fle 
eine Sammlung von Indisiduen ift, welche von einem Indivlduum adftanımt, 
fo baut man diefen Begriff auf eine Hypotheſe ober feht voraus; was noch erft 


472 Betanil. 


bewieſen werten Tell, weil für einen tolden gemeintchaftlichen Urfprung Eis jegt 
fein Rewer? geführt werten it. Blickt man Dagegen auf tie Thurrachen, welche 
uns Lie jegige geegrapkiite Vertheilung ter Trlanzemreit auf ter Erde eifen- 
kart, !o wirt dieſe Hereckeie ſegat unwabricheinlich, in einigen Hüllen ſogar un 
haltbar. Um tie Annabme eines gemeinſchaftlichen Mittelpunktes Luribzurußren, 
müste man nimlih die Wanderungsmittel nachweiſen. Man wirt aber leicht 
einieken, daS, wenn dieſe auf oft zen Erfelg, te find jle Ted; noch öfterer ganz⸗ 
fi unzureitent, um das Verkemmen terielben Drlanzen in weit con einanter 
entfernten Lintern zu erfiiren. Tiete Rittel fint nimlüh tie Mentden, 
welche ker ikren Perkärtigungen und dem Verkehr, theils zerlügiuh, tbeils uns 
freneillig, Tilanzen und Tlanzeniamen con einem Urte zum anderen Eringen; 
dann Sırömungen led Meeres, welte Frückte sen Planen sen Küſte zu 
Küſte tragen, ;. B. Kofcdnüne: ferner Klürre, welche Früchte oder Samen 
von Gekirgepflanzen in tie Ibiler Einunierfüßren: ter Mint, welcher Pilan⸗ 
senfamen und Früchte berumfireur, namentlich reihe, Die eine Pefleitung son 
Haaren, Federn oder ſogenannten Flügeln baben, wodurch Lie Verbreitung durch 
die Luft erleichtert wird, und endlich Vogel, die cbenfalls zur Berpflanzung 
son Gewächſen beitragen fonnen, wenn fie mir Samenkörnern oder Samenhülſen 
daseufliegen. Man kann auch annehmen, daß Ta, wo die geegrapbiiche Ver⸗ 
theilung Schwierigkeiten darbietet, Zandireden vcriunken ſind.. B. der Kanal, 
ta! Mittelmeer u. ſ. w., welche früber Feſtland waren und Länder zerkanten, 
die jezt getrennt liegen. Aber mm fieht gleich ein, daß ielche Verkreitunge 
mittel unzureichend geweſen, wenn man erwägt, wie einige Pflanzenarten einer⸗ 
jeir? Ten Alpen unt Terenien, andererſeits Ten ſkandinariſchen unt jdyettiichen 
Bergen eigen fint. obne daß Tiere Pilanzenarten in ten dazwiſchen liegenden 
Ekenen eder auf niedrigeren Bergen gefunten werten. — wenn man bedenkt, 
tag tie Flora Jolands faſt ganz Der ſtandinariſchen Gebirgeñflora gleicht, daß 
Europa und Rordamerika, beionders in den nordlichen Gegenden, mehrere Prlan- 
zen gemeinſchaftlich baben, die niet tur Menichenbände ven einem Welttheile 
nach Tem anderen binübergebracht ſein können. Roch größere und an tie Um 
möglichkeit reichende Schwierigkeiten für einc ſolche Erflirung entfiehen, wenn 
wir willen, tag un der Ragellanitrage und auf ten Zulflanteinieln Gewicht 
arıen vorkemmen, Lie zu der arktiſchen Polarflora gehören, 5.2. Phleum alpınum 
und Erıgeron alpinus; tag in Reufollant, auf Bantiemendlant unt Reuiceland 
serichiedene eurepäiicte Pflanzen verkommen, Tie nicht in ten dazwiſchenliegen⸗ 
ten Ttopenläntern gefunten werten, und con welchen nicht anzunchmen if, 
ka fle in jene fernen Länder hinübergebracht worden, was namentlich von 
mebren Eupwuflergflangen gilt: ccm Rannagrad, unierem gewöbnlichen Schilfe 
tobr, Tem gemeinen groichiöftel, sen zerickietenen Arten Wafferlinien, Binien, 
ter Rohrkolbe und ter Ara Dexuosa. Tie Angaben über Tieje für Lie arfrüichen 
und antarktiſchen Linter gemeinickaftliten Pflanzenarten fammen nit cuns 
aus älteren Zeiten £er, wo man nod nicht jo genau wie jegt Lie Arten unters 
ichied, Tontern Lie allerneueſten Unterfucbungen, wie u. a. son Dr. Hocker auf 
der englischen Sütrelerpetitien, baten nicht bles Lie älteren Beilpicle beftärigt, 


Entftehung der Pflanzenwelt. 413 


fondern ſie noch mit neuen vermehrt. Noch größer wird die Anzahl folcher Ge- 
meinpflanzen, wenn wir auch auf die blüthenlojen und blattlofen, Die Krypto—⸗ 
gamen, Rüdficht nehmen, Diefe bieten vielfältige Beijpiele von Arten bar, welche 
bie entferntejten Gegenden gemein haben, ohne daß fle in den dazwiſchenliegenden 
Ländern vorkommen. Und doch hat man feinen irgend wahrfcheinfichen Grund 
anzunehmen, daß dieſe Pflanzenarten beifer dazu geeignet jein follten, fo große 
Wanderungen zu machen ald andere. Begreiflicher ift e8 Dagegen, daß einfachere 
Organismen leichter jelbftfländig an verjchiedenen Stellen auftreten können. — 
Man finder ferner auch feine Spur, daß Pflanzen, deren Frucht oder Samen ſie 
mehr zum Wandern geeignet macht, häufiger für entfernte Gegenden gemein- 
ichaftlich find ald andere. Es jpricht ferner Die Ihatjache, daB die verichiebenen 
Bloren der Borwelt übereinjtimmenter geweien al8 die der jegigen Zeit, Dagegen, 
ber Wanderung einen großen Einfluß beizumeffen, obgleich es damals weniger 
Land und wahrjcheinlih nur Injeln gab, die Wanderung folglich damals auch 
erichwert war. Auch jet noch fteht die Uebereinſtimmung und Nicht Ueberein« 
ſtimmung ter Bloren verjchiedener Erdgegenden in gar feinem Berhältnig zur 
Reichtigfeit oder Schwierigkeit der Wanderung, wenngleich die Wirfung derfelben 
nicht zu verfennen ijt, 3. 3. in ber Armuth der Pflanzenwelt auf Eleinen, vom 
Feitlande entfernt liegenden Infeln. Selbſt mit Rüdjicht auf folche Erdftriche, 
wo der Wanderung Eeine Hinderniffe entgegenftchen, 3. B. zwiichen den Weft« 
füftenländern Branfreih8 und dem Uralgebirge, würde es jonderbar jein anzu⸗ 
nehmen, daß dieje große Landſtrecke gleichlam öde und wüjte gelegen haben follte, 
bis die gemeinfchaftlichen Pflanzenarten ihre Wanterung von dem einen Ende 
diefer großen Ebene bis zum anderen, oder von der Mitte bis an beide Grenzen 
derjelben vollbracht hatten, 

Will man an dem Begriffe von einer gegebenen Stammpflanze für zahle 
loſe Individuen einer jeden Art fefthalten, fo überfieht man dabei, daß der Be⸗ 
griff einer Art fchwerlich für Die niedrigften Pflanzen und Thiere geltend ges 
macht werden fann, 3. B. für Blechten, Algen, Vflanzenthiere, und wie unter 
den mehr entwickelten Pflangenformen, und vielleicht auch unter Thierformen, 
die Beftimmung ihrer Art oft nur auf der individuellen Auffaflung des Ratur« 
forfchers berubt. Gegen eine Annahme mebhrörtlicher Entftchungäftellen ftreitet 
eben jo wenig der Umſtand, daß dies fich rückſichtlich der Säugethiere jchwerlich 
nachweijen laſſe, manches Bedenfen jogar Dagegen preche, z. B. daß Amerifa 
und dad alte Zeitland gar feine Arten gemein haben; dag man in Irland feine 
Hajen, MRaulwürfe, Eichhörnchen u. a., auf der dänischen Injel Möen feine 
Maulwürfe findet, und daß die meiften Meptilien Großbritanniens in Irland 
fehlen. Denn wie wir gejehen haben, daß blattloje und blüthenloſe Pflanzen 
öfter in entfernten Ländern minder angetroffen werden als blumentragende, fo 
fann man auch annehmen, dag die vollfommenften Thiere nur fchwierig und 
vielleicht gar nicht an mehreren Stellen der Erte uriprunglicy auftreten Eonnten. 
Ein einzelnes Beifpiel wird Dazu Lienen können, dieſe Frage in ein klareres Licht 
zu ftellen. 

Der verdiente engliſche Schrififteller Forbes, der dieſen Gegenſtand be— 











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Entftehung ber Pflanzenwelt, 475 


: Wenn auch unfere neueren Verzeichniſſe fiber die verfchledenen Pflanzen, 
Die jet in einem gewiffen Lande oder Landestheil, oder in der Umgegend einer 
gewiffen Stadt wachien, viele Arten nennen, welche in den älteren Verzeichniſſen 
nicht angegeben find, fo ift Damit doch noch nicht erwieſen, daß ſie erft fpäter 
entftanden find. In älteren Zeiten verlangte man, daß ein größerer Unterfchieb 
Eennbar fein follte, um eine neue Pflanzengattung zu bilden, als das jest der 
Fall ift; denn wenn man Die hinzugekommenen Arten unterfucht, fo ergibt ſich 
gewöhnlich, daß es folche Bormen find, welche die alten Botanifer durch eine 
andere Art bezeichneten oder bezeichnet haben würden. Oft findet man fie auch 
in alten Herbarien und auf Gemälden aus alten Zeiten wieder. Es iſt nichts 
Ungemöhnliches, daß dabei auch Pflanzen vorfommen, welche in früheren Zeiten 
nicht an den Stellen wuchien, wo fle eingefanmelt oder abgebildet wurden, aber 
es iſt dann nicht Die Mede von neuen Arten, fondern nur von neuen Fund⸗ 
orten für fchon befannte. Bei einer anderen Gelegenheit?) hat der Verfafler 
Diefer Abhandlung zu beweifen gejucht, Daß Die Pflanzen, welche nach ben 
alten griechifchen und römifchen Schriftftellern vorzugsweije die Pflanzenwelt der 
Länder am mittelläntifchen Meere bildeten, Diejelben waren, welche die jegige 
Flora jener Länder charakteriftren. — Die Weite, worauf man fich am leichtejten 
das Entftehen neuer Pflanzenarten vorftellen kann, muß wohl die fein, daß eine 
Pflanze durch Verfegung In ein anderes Klima oder in einen anderen Boden 
andere Eigenfchaften annähme, oder daß durch Abjonderung zufällige ‘Abs 
weichungen vom normalen Typus befländig würden. Auf folche Weije bilden 
fi) conflante Varietäten, welche mitunter Anſprüche darauf machen fönnen, als 
befontere Arten angefehen zu werden. Allein alle folche Fälle find durch Hülfe 
der Kultur erzeugt; für natürliche Erfolge diefer Art haben wir, fo weit un 
befannt, feine fichere Thatfache zum Belege. Dagegen fcheint Manches dafür zu 
frrechen, daß eine Pflanzenart, wenn die außeren Umgebungen fich ändern, viel 
eher ganz verfchwindet, als daß jie dadurch einen anderen Charakter annähme, 
wenn dies nicht etwa Pflanzen find, Die in verfchiedenen Formen unter verſchie⸗ 
denen äußeren Verhältniffen auftreten, wie z. B. die Amphibienpflanzen, Die eine 
Form im Schatten, eine andere an fchattenlofen Orten annehmen. Wo Torfs 
moorſtrecken trocken gelegt werten, da verfchwinden allmälig Die Primula farinosa, 
Die vorhandenen Arten von Sonnenthau, die Andromeda polifolia, die Scheuch- 
zeria u. a., werden aber nicht zu anderen Arten umgebildet. — Wird ein Wald 
außgerotet, fo vergehen Anemone nemorosa, Hepatica tribola, der Sauerflee 
u. m. a., werden aber nicht zu neuen Arten. — Veim Austrodnen von Seen 
verfchwinden nicht felten Teichroſen, Pfeilfraut und Waſſerſcheer, werden aber 
nicht zu anderen Pflanzen umgeftaltet. — Gegen das Entfiehen neuer Arten von 
Gewaͤchſen jpricht, wie bereitö näher entwicelt wurde, auch die merfiwirbige Er⸗ 
fcheinung, wenn eine bislang Fable Landſtrecke ſich allmälig mit einem Pflanzen⸗ 
leide bedeckt. Wird nämlich Meeresgrund eingebeicht und Fulturfählg gemacht, 
fo nehmen keine neuen Gewächsarten, fondern Pflanzen der angrenzenden Lands 


LT | — 





*) S. Brewster Edinburgh Journal of Seiences. 


476 Botanik, 


ſtrecken den pflanzenlojen Boten ein. Daß der nämliche Fall eintritt, wo nackte 
Zavaftröme nach und nach mit Pflanzen bewachfen, oder Korallenriffe fich über 
die Meereöfläche erheben, und allmälig in ein grünes Gewand ſich kleiden, ift 
fhon gejagt worten. Im Iegteren Falle findet man fcheinbar zu Anfang nur 
folche Gewächfe, wovon Samen durch Dad Meer angelpült wurde, ganz bejonders 
die Kokospalme, deren Frucht ganz dazu geeignet ift, mit den Wellen fortgetrieben 
zu werden, ohne Schaden dabei zu nehmen. Daher jind foldye Eleine Infeln, bes 
fonders wenn fie ijolirt liegen, arm an Pflanzenarten, wie 3. B. nad) Darvin 
die Keelinginjel, jübweftlich von Java, und nach Chamiſſo miehre folcher 
Fleinen Gilande in der Südfee. Den nämlichen Urfachen wird es zuzufchreiben 
fein, daß der Pflanzenwuchs auf weiten Alluvialbildungen, wie ſie noch immer 
fortdauern, wenn auch eben nicht arm, Jo Doch trivial, d. h. ohne Eigenthümlich- 
feiten ift. Als Beiſpiele davon kann man das Nilthal, Die Lombardei und aud) 
wohl Holland anjehen. 

Auch aus diefen Gründen darf man alfo annehmen, daß jegt Feine neuen 
Pflanzen mehr entftehen, wenn dafür auch Feine unwiderfprechlichen Beweiſe ans 
gegeben werden können. 

3. Eine dritte Grundfrage, Die ſich und aufdrängt, ift die, 06 das Ent- 
eben derjegigen Pflanzenweltaufeinmal, oder nach und nad 
erfolgte? 

Vieles dürfte für das legte Alternativ jprechen. — Die Oberfläche ter 
Erde ward erft Durch verjchiedene Hebungen allmälig dazu geeignet, daß Pflanzen 
darauf wachen Fonnten; die Beichaffenbeit ded Bodens und des Klima’ war in 
den verjchiedenen Erttheilen ganz verichieden, und es Tann doch nur als wahrs 
fheinlich anzufehen fein, Daß jede Pflanzenart urfprünglich an den Stellen zum 
Vorſchein Fam, wo die Luft und Bodenverhältniffe die günftigften für ihr Ges 
beihen waren. Berner gibt ed Pflanzen, deren Daſein und Fortkommen durch 
die Gegenwart anderer Pflanzen bedingt wird, weshalb das Erfcheinen ter letz⸗ 
teren dem der erfleren vorangegangen fein muß. Schniarogerpflangen, jowohl 
höhere als niedere, können nicht dageweſen fein, ehe diejenigen entflanden waren, 
worauf fie wachſen; Schattenpflanzen, wie 3. B. die falzigen Waldgewächie, 
können nicht eher entftanden jein, als ed Bäume gab, Torfpflanzen nicht eher, 
als Moofe und Gonferven da waren, welche tie Xorfmoore bildeten. Eben fo 
wenig können Dungpflanzen aufgetreten fein, jo lange noch fein Dünger fi 
fand. Auf nadten Felſen beginnt der Pflanzenwuchs mit Flechten und Mooſen, 
oder mit Saftpflanzen, bie Hauptfächlich aus den feuchten Dünften in der Luft 
ihre Nahrung entnehmen. Erſtere bieten etwad Dammerde und Anhäufungen 
von Waffer dar, worin die Samenförner von anderen Pflanzen Eeimen können, 
und erft im Verlaufe von Jahren treten dann größere Gewächſe, Gebüſche und 
Bäume hier auf. Darum ift ed denn auch ganz unwahrfcheinlich, daß jchen 
beim erſten Erjcheinen der Pflanzen die meiften Arten: derjelben entflunten 
ein follten, d. h. che die Bedingungen vorhanden waren, wovon ihr Leben und 
Bortfommen abhängt. Wir Eönnen daher mit aller Berechtigung annehmen, Taf 
ein allmäliges Erſcheinen der Pflanzenwelt auf der Erdoberfläche flattgefunden hat. 


Entftehung der Pflanzenwelt, 477 


4. Db e8 unter den gegenwärtig vorhandenen Pflanzen 
auch einige gibt, die von der VBorwelt auf ung gefommen? Das 
ift eine vierte Frage, worauf fich bei dem jegigen Standpunkte der Geognofle 
fehwerlich eine befriedigende Antwort geben läßt, da unfer Wiffen noch feine fefte 
Grenze zwifchen Dem gegenwärtigen und dem zunaͤchſt vorangehenden Zeitraum 
ter Erdgefchichte Fennt. Dazu kommt, daß wenn man auch, wie zu glauben 
fteht, Beifpiele von nunmehrigen Pflanzenarten anführen kann, die in älteren 
Erdſchichten gefunden worden find, darin gleichwohl, nach dem vorhin Ange⸗ 
nommenen, noch Fein Beweis liegt, daß fie die Naturrevolntionen, welche ver 
jegigen Periode unmittelbar vorangingen, überlebt haben. Denn wenn man 
auch annehmen wollte, daß die nämlichen Pflanzenarten zu gleicher Zeit an 
verfchiedenen Orten bervorgetreten fein Eönnen, fo kann nicht verworfen werben, 
daß fie auch zu verfchiedenen Zeiten entflanden fein können. 

5. Nehmen wir alſo an, da die jetzige Pflanzenwelt zu werfchiedenen Zeiten 
entitanden ift, jo liegt das Vegehren zu wiffen nahe, welche von den nuns 
mehrigen Pflanzenarten Dieälteren, welche die jüngeren find, 
und man wird chen jo angelegentlih Die verfchiedenen Pflanzenfor« 
mationen fennen zu lernen wünjchen, gleichwie und Die verfchiedenen geo« 
gnoftifchen Kormationen befannt find. Um zu einiger Klarheit hierüber zu ges 
langen, fönnen wir theils unſere Zuflucht zu den äußeren Berbäftniffen nehmen, 
unter denen die verſchiedenen Floren oder pflanzengeographiichen Meiche ber 
jegigen Pflanzenwelt aufgetreten find, theil8 zu der Zufammenfegung und ben 
Eigenfchaften diefer Neiche. Wählen wir zur Probe die Alpe af lora, d.h. bie 
Vegetation, welche man im Alpenſyſteme über der Baumgrenze und untere 
halb der Schneelinie antrifft, eine Flora, Die einen hohen Grad von Eigen 
thümlichkeit, der mitteleuropäifchen Slora der Ebene und bed Gebirgslandes 
gegenüber, darbietet. Wählen wir zum Typus der Ichteren die Flora Deutſch⸗ 
lands in dem Sinne, wie ed deutiche Bloriften zu thun pflegen, nämlich) das Lit⸗ 
torale, mit Inbegriff Iftriens und Sübtyrols*), fo daß hier alſo der Buß ber 
Alpen und die niedrigeren Berge den Hochalpen oder der fogenannten alpinifchen 
Negion gegenüberfichen. 

Nehmen wir nun zunäachit Nüdficht auf die Außere Befchaffenheit dieſer 
Flora, namentlich auf Das, was wir nom geognoftifchen Standpunkte derfelben 
wiffen, fo weiß man nad Elie de Beaumont, daß die Hauptfette Der Alpen 
jünger ift als die übrigen europäiſchen Gebirgsmaſſen, da ſie nach der Diluvials 
bildung, der füngften bedeutenden Erhebung, zum Vorſchein Fam, und wie eben» 
falls das, was er die Weftalpen nennt, ganz jungen Urfprungs, und erft nad 
allen tertiären Bildungen hervorgetreten if. Ein jo junges Alter diefer Gebirge 
berechtigt auch zu der Vermuthung, daß die Vegetation derfelben ebenfalls jungen 
Entftehens jein muß, jedenfalld aber derjenige Theil der Alpenflora, den nıan 


— — — — — 


*) Es wird kaum zu bemerken noͤthig ſein, daß eine ſolche Vereinigung der 
Flora des mittellaͤndiſchen Meeres mit der deutſchen oder mitteleuropäiſchen Flora 
bei anderweitigen pflanzengeographiichen Unterfuchungen durchaus verwerflich wäre. 


478 wor. cc. . 


an keinen anderen Stellen vorfindet, und zwar weil eineötheild die zulegt empor⸗ 
gehobenen Berge am fpäteiten für den Pflangenwuchd gerignet fein mußten — 
fo wie jegt die fpäteren Lavaſtröme in der Megel auch fpäter mit Pflanzen be⸗ 
fleidet werden als die jüngeren, — anderentheilö, weil man ſich nicht wohl vor» 
ftellen kann, wo Diefe jegt in einer Region von 6—9000 Fuß Höhe gebeihenden 
Alpenpflanzen damals hätten wachjen fönnen, ald noch feine Berge von ſolcher 
Höhe vorhanden waren, wenn nicht etiva in einer Entfernung, die eine Wan⸗ 
derung nicht wohl zuließ, da man auch fonft das VBorhandenfein ber vielen für 
die Hochalpen eigenthümlichen Pflanzen, die in den früher gehobenen Apen⸗ 
ninen und Porenden gänzlich fehlen, nicht wird erklären Eönnen, Doch muß man 
einräumen, daß die jpätere Hebung der Alpen feinen entjcheidenden Beweis hier⸗ 
für abgeben kann, fo lange wir nicht wiffen, wie weit die jegige Pflanzenwelt in 
der Zeitrechnung zuruͤckgeht, und in wiefern fe Die großen Umwaͤlzungen über⸗ 
lebt haben kann, die aus Lem Hervortreten jo riejenhafter Gebirgsketten entftchen 
mußten, 

Ein anderer Grund, ber Alpenflora ein junges Alter beizulegen, liegt in 
der abnehmenden Wärme, der allmäligen Abkühlung der Erde, Iſt nämlich die 
Erdrinde nach und nach fülter geavorden, ſo müflen doch auch bie Pflanzen, 
welche bei niebrigiter Wärme gedeihen, zulegt hervorgekommen jein, weil Die kli⸗ 
matijchen Verhaͤltniſſe früher nicht flattfanden, die für folche Pflanzen Lie 
günftigften find. Damit fteht freilich die Theorie Agajfiz’s in Wiberipruch, 
nach welcher ber jegigen Erbperiode eine Zeit vorangegangen ift, wo nicht nur 
die Schweiz, fonbern auch Frankreich und Deutjchland unter einer fortbauernden 
Eistee, gleich wie jetzt Die Polargegenden begraben lagen. Aber ber mancherlei 
Dinge nicht zu erwähnen, welche fich niit Zug gegen dieſe Annahme einwenden 
laffen, wollen wir hier nur daran erinnern, daß die vielen Spuren von Bäunıen 
in Nordeuropa aus den jüngeren und jüngften tertiären Bildungen ſtark gegen 
diefelbe jprechen, wie denn auch bie vielen Lieberrefte einer Baumvegetation in 
den älteften Torfmoorfchichten und den fubmarinen Wäldern deutlich davon 
zeugen, daß es in oder unmittelbar nach der Diluvialperide einen Baumwuchs 
in Nordeuropa gegeben haben muß, was nicht möglich geweſen wäre, wenn bad 
mittlere Europa unter ewigem Schnee bedeckt lag. Endlich fprechen auch bie 
foffllen Gerippe von Elephanten und Rhinoceroſſen in Sibirien gegen bie 
Agaſſiz'ſche Annahme. Denn wenn c8 auch für einen Irrthum gehalten werben 
muß, dag man früher der Anficht war, es ſetze das Dafein diejer Thiere ein 
warmes Klima voraus, jo bleibt Doch gewiß, daß dieſelben nicht in Gegenden 
leben konnten, welche immer unter Schnee und Eis begraben waren, und wenn 
ſchon Mitteleuropa ein jolches Klima Hatte, jo mußte daſſelbe noch mehr in 
Nordeuropa und Nordafien herrſchen. 

Es ſcheinen alſo auch die klimatiſchen Verhaͤltniſſe für ein junges Alter der 
Alpenvegetation zu ſprechen. Doch iſt mit dem Angeführten der Beweis dafür 
noch nicht vollftändig geführt. — 

Stürfere Beweife laſſen fi} aber vom eigenen Charakter ber Alpen— 
vegetation entnehmen, und zwar in mehrfacher Hinficht, Es ift Hinreichend ber 


Entftehbung der Pflanzenwelt. 479 


wiejen und durch fojitle Pflanzen beftätigt, daß die niederen Pflanzen früher als 
die höher wachjenden da geweien find. Die Gefchichte der Erbe hat aljo eben» 
jowohl an den Pflanzen ald an den Thieren eine Reihe von Entwicklungsperioden 
von einfacheren, zu vollfommeren Organismen aufzuweijen. In der Aälteften oder 
fogenannten Steintohlenperiode herrſchten blüthenlofe Pflanzen (Plantae vascu- 
lares cryptogamae), in ber mittleren Koblenperiode Radelhölger und Cykadeen, 
welche zu den Dikotyledonen ohne Kronen (Dicotyledoneae apetalae) gehören. 
Menn und diefe Erfahrungdjäße vorjchweben, fo werten wir auch anzunchmen 
geneigt, dag felbft in der jegigen Pflanzenwelt ein ähnliches Verhaͤltniß nachzu⸗ 
weijen jein muß, wenngleich dafjelbe in geringerem Grabe verfpürt wird, Unter 
zwei verfchiedenen Floren der Gegenwart wird alfo diejenige, in welcher bie 
höheren Kormen überwiegend find, bie jüngfte derjelben fein. Um zu unterfuchen, 
ob dieſe Bermuthung auch der Wirklichkeit entjpreche, ftellte der Verfaſſer vor⸗ 
liegender Schrift einen DVergfeich an zwiſchen der AUlpenflora, der jegigen Flora 
Deutichlands und der sorweltlicyen Flora, und gelangte dadurch zu folgenden 
Zablenverhältniflen *). 
Flora der Vorwelt. || Ietige Flora, 
Ror der | Nach der || Deutich« Die 


Kreide. Kreide. land. Alpen. 
Blüthenloſe .81, .02, || .02, | .02. 
Monokotyledonen .06, | „13, || .21, | .16. 


Dikotyledonen 
ohne Krone .12, | .45, | .08, | .04. 
mit Krone .01, | .40, || .69, | . 78. 

Hiernach hat alſo die Alpenflora 780/0 Difotyledonen, bie mit Krone ver⸗ 
feben, die deutiche Flora nur 6990 ; die Vorwelt hatte nach der Kreideformation 
40%, vor derſelben blos 1%. Die Dikotyledonen ohne Krone betragen da⸗ 
gegen in der Alpenflora nur 49/0, aber 8/0 in der deutfchen Flora (7°/o, wenn 
die Uferpflanzen abgerechnet werden), während dieſelben in der Vorwelt, wenn 
die Eyfadsen mitgezähft werden, vor der Kreidebildung 12%0, nach derfelben 
45° ausmachten. Was die Blütbenlofen betrifft, wo die Verhaͤltniſſe fo gänze 
lich verfchieden von denen der Borwelt, da find die Quotienten ſich hier gleich. 
Aber man bat nicht blos die Zahlenverhältniffe zu erwägen, fondern man muß 
auch auf die Gruppen fehen, welche vorberrfchend und eigenthümlich fir die 
Alpen find und daſelbſt eine gewiffe Manichfaltigkeit ber Formen entwideln. 
In dieſer Hinficht verdient bemerkt zu werden, daß ed namentlich Ranunkula⸗ 
ceen, NRojaccen, Sarifragen und Erueiferen find, bie bier Herrichen und in 
charakteriftiichen Bormen auftreten: Familien, die fämmitlich zu den am meiften 
entwicelten gehören. Darauf folgen Primulaceen und Gentianeen, die ebenfalls 
als mehr entwidelte Gruppen angefehen werden müflen. Dagegen. zeigen fich 
weder bie Eronlojen Dikotyledonen, noch die Monofotyledonen als Bamilien, bie 





*) Bol. Koch's Handbuch und Bronn's Verzeichniß In der Naturgeſchichte 
der drei Reiche. Lief. 77. 1846, 


480 Botanil. 


in den Alpen einen bedeutenden Hang einnehmen, und noch weniger als von 
eigenthümlichen Formen. Vielmehr find die zu dieſen Gruppen gehörenden 
Alpenpflanzen nur Mepräjentanten wohlbefannter deuticher Formen. 

Vergleicht man auf nämliche Weiſe die Tappländifche oder, was einerlei iſt, 
die fTandinavifche Gebirgsflora mit der übrigen Flora der ffandinavifchen Halbe 
infel, fo gibt die Hartmann’jche Flora folgende Zahlenverhältniffe Darüber an: 

Sftandinavien. Lappland. 


Blüthbenlofe . . . . 2... 03, .05; 
Monokotsledonen . . . . . 26, +31; 
Dikotyledonen 
ohne Krone . . . .08, .09; 
mit Krone . . . .63, .55. 


Die Geognoften nehmen an, daß die Berge Sfandinaviend Alter ala bie 
Alpen find. Nun findet man aber, Daß die Iappländifche Flora, welche auch bie 
ſkandinaviſche Gebirgsflora ift, fich mehr zu der vorzeitlichen hinneigt, denn das 
Bahlenverhältnig der Blüthenlofen ift etwas größer, das der Fronlofen Dikoth⸗ 
ledonen ein gang wenig größer, dad der mit Krone verfehenen Difotyledonen 
aber viel Eleiner. Kerner wird man bei Vergleichung der Iappländifchen und 
der ffandinavifchen Gebirglandäflora mit Der Alpenflora eine größere Abwei⸗ 
dung in den Zahlenverhältniffen der großen Gruppen finden, als zwiſchen bem 
Alpen und Deutfchland, Skandinavien und Lappland, obgleich, wenn man auf 
den habituellen Charafter der Bloren, der Bamilien, Gejchlechter und felbft der 
Ruͤckſicht nimmt, die Uchereinftimmung zwifchen der Alpenflora und der fkandis 
navijchen Oebirgäflora weit größer ift als Diejenige, welche zwijchen dieſen und 
den entfprechenden niedrigen Ländern flattfindet und, den Flimatifchen Verhäͤlt⸗ 
niffen nach, ftattfinden müßte. Dies tritt anfchaulicher und deutlicher hervor, 
wenn man bie obigen beiden Tabellen zufammenftellt. 





der Vorwelt. der Jetztzeit. 









Pflanzen 







Deutſchland. 


| 





Bluͤthenloſe 

Monokotyledonen 

Dikotyledonen . . 
ohne Krone .45, .09; 
mit Krone .01, | .40, 1.69, 1.78, |.63, |.55. 


Eine andere Eigenthümlichkeit an einem Theile der Alpenpflanzen befteht 
in der auffallenden Unbeftimmtheit der Arten, in einer wirklich merkwürdigen 
Bormunficherheit, Die e8 unendlich ſchwer, wenn nicht unmöglich macht, ihre Art 
anzugeben, weshalb denn nuch bei gewiflen Kormen von einem DBerfaffer viele, 
vom anderen nur wenige Arten angenommen werden. Wir wollen blos auf die 
Geſchlechter Draba, Arabis, Hieracium, Gentiana und Salıx aufmerkſam machen. 


‚81, | .02, 
.06, | .13, 






-— 


m © 
— 
RZ 


.26, |.31; 











Entftehung der Pflanzenwelt. 481 


Diefer Mangel an Entfrhiedenheit der Formen ift Hier um fo merfwürbiger, da 
die Alpenpflanzen fih mehr Durch Knospen als durch Samen vermehren, und 
die Fortpflanzung durch Knospen bekanntlich den Charakter der Art beſſer be⸗ 
wahrt als die Samenvermehrung. Iſt bie oben angedentete Anftcht richtig, daß 
die Pflanzen nicht von einzelnen Stammgewächfen, fondern von vielen Pflanzen- 
individuen entfprungen find, fo duͤrfte es wahrſcheinlich fein, daß fich eben da⸗ 
durch erft allmälig beftimmte Arten bifveten, und dab einige verwandte Fornıen 
nach und nach durch Verpflanzung mittel! Samen oder Knospen ihren Typus 
befefligten, indem fle andere Formen unterbrüdtten oder verdrängten. Verhielt 
fich Died in folcher Weife, fo müßte auch Die Altere Flora mehr feſte und feftere 
Formen ald die jüngere aufzumelfen haben. Und wenn durch Menfchenhände 
neue Pflanzenformen, Varietäten gebildet wurden, fo würde Das nach diefer An⸗ 
ſchauung eine Rückkehr zu den urfprünglichen Raturverhältniften fein. Es ver⸗ 
liert aber dieſes Reſultat viel von feiner Beweiskraft durch ben Umſtand, daß 
fih auch in der ffandinavifchen Gebirgsflora, die Doch als Alter angejchen wer⸗ 
den muß, eine große Unbeſtimmtheit der Bflanzenformen offenbart,_fo dag man 
dennoch geneigter wird, die Urfache dieſer Erſcheinung im PBflangenreich in der 
großen Berjchiedenheit und Maniafaltigfeit der Ortöverhältniffe zu fuchen. 

Obgleich nun jo anzunehmende Gründe vorhanden fein Lürften, die Alpen- 
flora für jünger als die Flora des mittleren Europa's und die ſkandinaviſche 
Grbirgsflora anzujehen, fo wollen wir dies doch noch nicht als bewiefen anneh⸗ 
men. Um Gewißheit darüber zu erlangen, find noch viele Aufklärungen über 
geognoflifche Verhaͤltniſſe nöthig, die wir noch entbehren, und um von inneren 
Charakter der Floren zu Schließen, iſt noch erforderlich, daß wir Durch Verglei⸗ 
hung vieler Floren Peweije für die Bedeutung der Zahlenverhältniffe unter den 
Hauptgruppen und ihre übrigen Eigenthümlichkeiten erhalten. Es wird ein recht 
ernftlich gemeintes Zuſammenwirken von Botanifern, Geologen und Zoologen 
dazu erforderlich fein, um hier eine fichere Ernte erwarten zu Dürfen. Uns war 
bejonders Darum zu ıhun, Botaniker zu einem umfaffenden Stubiun der pflans 
zengeographijchen Reiche und ihrer verjchiedenen Charaktere, der geognoftiichen 
und phnflichen Situationen, worunter fie angetroffen werden, zu ermuntern. Jene 
obenftchenden Säge Fönnen daher auch nur als Verfuche oder Proben angejchen 
werden, bie für eine gründlichere Borfchung den Weg andeuten. Aus dieſem 
Grunde wollen wir denn auch nur noch einige weitere dahin zielende Andeus 
tungen folgen laſſen. 

Man weiß jegt, daß Auftralien (Neubolland) und Südafrika ſich durch 
einen hohen Grad von Manigfaltigkeit der Pflanzenformen auszeichnen, Die 
Daneben eine feltene Eigenthümlichkeit darbieten, während Die Flora des außer⸗ 
tropischen Südamerika's jowohl der Manigfaltigfeit als der Eigenthümlichkeit 
entbehrt und der europäijchen und nordamerifaniichen fich ziemlich nähert. Iene 
Manigfaltigkeit laͤßt fech nicht Durch eine angenommene, Pflangenwanterung ers 
Elären, weil weder Neuholland noch Südafrifa dafür geeignet iſt. Erſteres ift 
gänzlich vom Meere umſchloſſen, Legtered auf drei Seiten von demielben um⸗ 
geben, auf der vierten von Bergen und unfruchtbaren Wüften. Ebenſowenig 

V. 38 


453 Beranil. 


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ker Enkn; 108 Merz 5 der uülıher Geiste meer zur gerne Bere 
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Geaczener I urnber Geiste uhr zu Jeler uch 3:Tıe. 8: Em 
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Zamrier Tre a 2er sellsuumnster zeuibi- meter. sorge Kanmaliunz zo 
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Fre meter Exigeräfie Halsohsın. afieer & 2er um venger Sumüfseee 
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mer senüuherr Arcıı uersumer Auker vo? as TCo Yes zwleuit 
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232 ser Fra Iafrrz wir zul mad Be tage ee it! — ie darẽ daher 
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Servärz: zu unter LLSM Tri tom ueriiiter Ser irol Geraye 
eig ılEz ek tas Racer ir ae tee Grazer Free Te Tamm 
Exyunr ker Raxzz tar te Rucarieriter at: schied dr ed cher ie 
Az’ııte :@, Yı$ Rıtex zew dir 51 rrissez 


Die Wandlungen der deutlichen Wort: 
ſormen und Slerionen. 


Pon 
Dr. Keinhold Bedhftein. 


Wandlungen der Sprache feit der mittelbochdentfhen Zeit. — Ver⸗ 
änderted Lautſyſtem. Trümmer des alten Sprachgebrauchs. Rer- 
längerung ber organifhen Kürzen. Erweiterte Brechung. Vocal⸗ 
verdunfelung. Verſchwinden einzelner Eonfonanten. Gonfonanten- 
vergröberung. Conſonantenentſtellung. Syncope und Apocope. 
Unorganiſches Endungd-e und sen. — Wandlungen in ber Flexion. 
Starke und ſchwache Flexion. Uebergang und Vermiſchung beider 
Flerionen in der Declination, Rerändernng in der Declination der 
Eubftantiva, Adjeetiva und Pronomina. Mebergang der ſchwachen 
und ftarlen Flexion in der Eonjugation. Weränderung in ber Eon- 
jugation überhaupt. In der ſtarken C.: Veränderung der Duantität 
in den Ablauten. Zweite Perſon Singularis Bräteriti. Veraͤnde⸗ 
zung und Vermiſchung der Ablaute. In der fhwaden C.: Ber: 
minderter NRüdumlaut. Vermiſchung der fhwaden Conjugationen. 
Einzelne Berba, 


E. ift eine wunderbare Erſcheinung in der Sprache, daß fie niemals raſtet, 
nirgends ftille ſteht. Und nicht blos in der Form entwidelt fich ihr Xeben, nicht 
blos der Klang der Laute und Worte verändert fih im Laufe der Jahrhunderte, 
nicht blos Dadurch unterfcheidet fich die Sprache entichwundener Zeiten von der 
fpäteren, daß der Wortſchatz fich mindert oder mehrt, daß Worte, die ehebem ger 
blüht, abwelfen, dag Reubiftungen entftehen, und aus der Fremde bie heimifche 
Sprache neues Leben, gefundes oder krankes, empfängt, jondern auch die Wands 
lungen des geiftigen Elemented, die Wandlungen des Sinned und ber Bedeu⸗ 
tungen ter Worte laſſen bie flete Eintwidelung und Fortbildung erkennen. 
Zunächft und vor allem hat immer das formale Element Anſpruch auf 
Berüdfichtigung. In der Abhandlung über die deutfchen Laute und ihre Wand⸗ 
ungen *) wurten die verſchiedenen gejchichtlichen Erfcheinungen befprochen, welche 


*) Band IV, ©, 521. 
31* 


451 Epradwincnihaft. 
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zer ũct aeben, Ant na ım Einjeinrz Scisctt 22 bier ;u Änarczdem, 
eine Au’zıbe, zu teren Selarz gerzte fie @serren arte Br uber uud 
in zrrerer Berrakruny ietız.it am die Prnkebeaten Iteraten su lm Fiems 
auch ti3 Rurikekteuike unter bemacı Schtitrrate -erzazäree vum 
Berzleite gezenüuberzgücdl zerten 'cü, ie 14 cd tet ut mııtmwal wörkiz, 
köter kınaw? ın tie alıbochtennde und zeibiihe Grobe suraf;ublifen. 

Diern mm cın muribokteundes Echrriitentmal zu item zetenft, 
gleitriel ob Brotz oter Seid, !o wırt ifm tiere Errxbe. were ibm and 
Lie: unSefzunı bleibi, dech ziemlik sarinrik erteinen: ze Meaze Bere 
ſint ten bentigen zc.lız zei, es if Fall Tiere.ie Serien, ed ünler fü Tall tie 
eisen Parnkein m. dergl. Abgeſeben zon ten Zorien, die im ter Keurigen 
Er rache yar nicht mehr sorbanten ũrd, fallı zunitit bad seränterte Yauricflem 
au’. Bir nnteni.% zit. hüs. wo in unierer Srrade ei. au Zeit. Hand) 
fekt, ferner ou an ter Stelle unteres au. 3. B. rsuch. Rauzch. Tiere beiten 
Lau:e ei, au 1 und — vu. Ant Laur die kaiſttliche Canziciſprache, welchet 
um Theil Las eñteictiſch-baieriiche Idiem zu @runte liegt. in die Scriftirrache 
gelangt. Lad Winelkokteunde bat auk an eı und des Lem neubeikteunden 
au ent'rrechende ou. io daij Ter linteritick in ten Saucen im Neuteuriben bei 
weitem weniger genau berrorrrut. 


Mer. Apr. 
ei, i, u ou 4 Xaute; eg. ei. au, au 12 Yuureı 
en, zit, hüs, rouch. ein, Zeit, Haus, Raud. 


Bir kFaben auch I ıgeichrieken ıe, unt ü, Ainten aber im Wire!berkteuricdhen 
antere Kaure an Leren Stelle. Tag Lad neubochdeunſcbe ie, rbonerich nur i, 
meiltend Ta gefunten wirt, wo im Mittelbechdeutichen ein einfaches, alio kurzes 
i Rebt, bar jeinen Grunt ın ter Turchgekenten Verlängerung ter organiichen 
Kürzen. Reben tıeiem ı finten wir aber an ter Stelle des ie auch ie, welches 
aber nur scheinbar mir unierem Xaute übereinitimmt, intem ed ın Der That ein 
Dirbthong if, ter fich noch in ten jütteurichen Dialecten erbalıen bar. Dem 
entirrechent inter ji für unſer lang u ter Tirbrbong uo, in ten alten Hand⸗ 
ihriften mein u geifrieben. Tas Feblen dicier keiten Tipbihongen ie und uo, 
kie fi von Ten anteren au (our, eu iu) Lurd tie Ausiprache ennad unter 


Wort und Flerionswanblungen. 485 


ſcheiden, zeigt im Gegenjage zum jirengen Mittelhochdeutfchen ſchon das Altere 
Mitteldeutich. Der Umlaut von lang u ift lang u, der foltemgemäß im Mittel- 
hochdeutſchen ein Diphthong ift (ue). Alfo auch hier ift das Mittelhochdeutſche 
im Bortheile. 


Mhd. 
i, ie, u (ü), uo (te) (4 Laute) 
vil, tier, tügent (mül), bluome (blüejen). 
Rhd. 
t (geichr. ie), 1 (ie), a(ü), u (U) (2 Raute) 


viel, Thier, Tugend (Mühle), Blume (blühen). 

An der Stelle unjered eu finden wir in (meift in den Handfchriften iv gefchrieben) 
wie in friunt (Freund), daneben Drüdt auch iu den Umlaut von u, aljo unfer Au 
and: siure, Säure, hiuser, Käufer. Da nun das mittelhochbeutfche ou im 
Reubochdeutichen ebenfall8 durch au vertreten wird, jo fommt es, daß ein Theil 
unferer du nicht Durch iu, fondern durch den Umlaut von ou (dü, du) ausgedrückt 
wird. Alſo finden fi im Mittelhochdeutichen zwei Raute, die im Reuhochdeutfchen 
zu einem einzigen zufammengefchmolgen find. 

In den Mundarten werden die feinen Tautlichen Unterſchiede, welche tie 
Schriftiprache verwilcht hat, noch fehr genau gewahrt. Leicht erflärlich iſt es, 
dag jich das alte Lautſyſtem noch am reinften in Schwaben und in der Schweiz 
erhalten hat. \ 

Trümmer des alten und urjprünglichen Sprachgebrauch haben ſich auch 
in der Schriftfprache erhalten. In den Adjertiven auf -lich Hat der i-Raut noch 
feine Stelle, wenn er auch im Gegenfage zum früheren -lich kurz betont wird. 
Die Fortbildung hat das Wort gleich, früher glich, gelich durchgemacht. Ebenſo 
ift das Verhältniß in den Eigennamen auf-rich, das frühere rich, unfer reich*): 
Sriedrich, Heinrich, Ulrich u. ſ. w. Der baierifcheöftreichifche Dialect hat 
ganz folgerichtig in den genannten Adjectiven wie in dieſen Eigennamen ei durch⸗ 
geführt: fröhleich, Kriedreich. Kerner zeigt fich der alte i-Laut im Fremd⸗ 
worte germanifcher Abfunft bivouac, dem alten biwacht, Beiwacht. @in Ueber- 
bleibjel des Diphthongen ie bieten unfere Worte je (mit den Zufammenfegungen 
jedoch, jeglich, jemand) und jegt, früher ie und iezuo, iezunt. Die Ne⸗ 
gation von je, je ift unſer ni, gejchrieben nie. Es ift befannt, daß unjer jegt 
früher vielfady igt, izt gefchrieben und gefprochen wurde. Was früher nur ein 
Element ded Diphthongen war, der immer einfllbig ift**), bildete ſich zu einem 
fel6ftftändigen Vocale aus und Das erfte Bocalelement des Diphthongen zu einem 
gehauchten Eonfonanten. Wäre das alte ie nichts anderes ald unfer graphiſches 
ie, diente Dad e nur zur Rängenbezeichnung, jo Hätte ſich unmöglich aus ie ein je 
entwideln fünnen. — 

Außer diefem durchgreifenden Unterichtede zwiichen dem alten und neuen 
Lautſyſteme find e3 eine große Menge einzelner Fälle, in denen der jegige Sprach⸗ 





*, Bd. V, ©. 172. 
**) Bd. IV, S. b28. 


486 Sprachwiſſenſchaft. 


gebrauch von dem früheren abweicht. Bei Beſprechung der Wandlungen in der 
Quantität der Vocale wurde bemerkt, daß als Grundzug durch alle Perioden 
unſerer Sprachgeſchichte die Verlängerung der organifch kurzen Wurzeln gehe *). 
Dies ift nun hauptfächlich in der Zeit vom Mittelhochdeutjchen bi8 zum Reu⸗ 
bochdeutfchen gefchehen. Während im dreizehnten Jahrhundert zweifllbige Worte, 
in denen der Stammfilbe nur ein einfacher Confonannt folgte, im männlichen 
Heime fteben Fonnten, folglich tie Geltung einer Silbe Hatten, ift jet jede 
Stanmfilbe lang, weil ſie betont ift. Wenn in der erften Strophe des Ribelungen« 
liedes, Vers 3 und 4 die Worte klagen : sagen mit einander reimen, fo find fle 
nicht nach unjerem Gebrauche — klägen : sägen, jontern — sagen : klagen, 
sagn : klagn. In ſuͤddeutſchen Dialecten hält man bekanntlich noch vielfach an 
den alten Kürzen und an ber Verichleifung des Stammvocals nit der Entung 
feft. Im Inneren des Verſes find dieſe zweifilbigen Worte meift wirklich zwei⸗ 
filbig, wobei jedoch die Stammſilbe Furzen Vocal hat, aber fie fönnen und müffen 
manchmal als eine Silbe behandelt werden. Die Verlängerung der alten Kürzen 
ift aber noch nicht vollftändig durchgeführt, was jet den Eindrud der Incon⸗ 
fequenz madıt. Indeß ift es möglich, dag allmälig im Laufe mehrerer Jahr⸗ 
Hunderte Einheit und Gleichmaͤßigkeit erzielt werden. Die Kürze erhält fich vor 
der Doppelconfonanz und bleibt auch meift vor Gonfonantenverbintung gefchügt. 
Die Zeichen für die Länge des Vocals find in unferer Schrift Voralverdoppelung 
und die Zeichen e und h (mhb. ar, vil, senen, nhd. Aar, viel, fehnen). Wie 
die Verfchiedenheit in der Quantität die Abftammung verdunfeln fann, wurde 
in der Abhandlung über die Geheimniffe der Sprache an den Worten fertig, 
Gefelle und gerben (von Fahrt, Saal und gar) gezeigt **). In meinem 
Schriftchen über die Ausſprache des Mittelhochdeutſchen (Halle 1858) find im 
zweiten Abſchnitte, der die Ausfprache der Silben behandelt, Die Abweichungen 
der heutigen Duantität von ber mittelhochdeutjchen in tabellarifch geordneten 
Beijpielen zufammengeftellt worden. Hauptfächlich wichtig iſt Die Wandlung der 
Ouantität in den Ablauten der ftarfen Gonjugation, auf welche wir noch geführt 
werden. — 

Im Mittelhochdeutichen finden wir mehrere Worte mit u-Laut, die in heu⸗ 
tiger Schriftfprache o-Raut haben. Bei Beiprechung der Brehung***), wur 
den die Worte Sohn, Sonne und Sommer erwähnt, die früher sun, sunne, 
sumer lauteten. Ihnen reihen fih an Wonne (früher wunne und wünne), 
fromm (mhd. frum), fonder (mhd. sunder), follen (mhd. suln); König 
hieß früher kuning, kunic, künic. Die Fremdworte Mönch und Ronne nähern 
fih wieder mehr den Stammworten monachus und nonna, aus denen im Mittels 
hochdeutfchen münich und nunne gebildet wurden. Das alte u Hat fich im 
Städtenamen München erhalten. Bei der Brechung in neuerer Zeit iſt ber 
folgende Gonjonant maßgebend, der gewöhnlich ein flüfftger ift und vor allen n. 


*) Bd. IV, S. 636. 
“+, Bod. IV, S. 742 ff 
» Bd. IV, S. 332. 


Wort˖ und Flerionswanblungen. 487 


Im Altniederdeutſchen und im Altthüringifchen zeigen ſich ſchon diefe Abwei⸗ 
dungen vom Hochteutichen, und es ift daher eher mundartlicher Einfluß von 
biejer Seite ber anzunehmen als gefchichtliche Fortbildung. Die Brechung des 
i zu e ift hauptfächli in der Gonjugation wichtig; auch fie hat im Nieder⸗ 
teutichen und im Mitteldeutjchen weiten Umfang. Bon einzelnen Worten, bie 
jegt gebrochenen Laut haben, tft brennen hervorzuheben, das für tranfitiven 
und intranfttiven Begriff dient, brennen heißt fowohl „anzünder ” wie „in 
Flammen ſtehen“. Das alte brinnen, welches das letztere bedeutet und ftarf 
fleetirt wird, haben wir aufgegeben, und gebrauchen zugleich dafür das tranſitive 
und ſchwach flectirte brennen. Hieran reiht fih ſchrecken, erfchreden, 
welches in der eriten Perſon des Präjend und im Infinitive feine Ratur nicht 
fundgibt, während in Der zweiten und dritten Perfon, im Präteritum und im 
Particip Dad ſtarke und intranfltive und das fchwache und tranfitine Verb her⸗ 
vortreten, alfo zu unterjcheiden ift zwifchen erfchridft, erfchrad, er» 
Ihroden und erjchredft, erichredte und erfchredt. Im Mittelboch- 
deutſchen heist vom ftarfen Verbum das Präfensd ich erschricke und der In⸗ 
finitiv erschricken, Dagegen das ſchwache flimmt abgefehen von dem eintreten 
den Rückumlaute erschracte, erschract mit dem unferigen überein. Das zu 
schrecken und schricken gehörige Subftantiv schric hat auch den gebrochenen 
Laut erhalten: Schred. Im ‚alten‘ brennen und schrecken ift aber Feined« 
wegs das gebrochene e enthalten, fontern das umgelautete — 4, wie aus dem 
Präteritum bervorgeht*). Die Vermijchung der beiden e-Raute ging eben mit 
der weiter um fich greifenden Brechung Hand in Hand. In vielen Verben bat 
ſich glüdlicherweije die vortheilhafte Unterfcheidung zwifchen Tranjitiv und In⸗ 
tranfttiv erhalten wie trinfen und tränfen (deffen Etymologie ſchon durch 
die Schreibart A ausgedrückt), ferner in fpringen und fprengen, winten 
und wenden, 

Zwei Worte wurden bei Erwähnung der Vocalverdunfelung oder Vocal⸗ 
erböhung ald Beifpiele gegeben: gefcheit (falfh gefcheut) und ereignen 
(richtig eräugnen)**). Die neuere Sprache zeigt eine ſeltſame Verbunfelung 
des langen a in lang o in den Worten Argwohn (während richtig Wahn), 
ohne, Mond, Mohn, die früher arcwän, Ane, mäne lauteten, Monat hieß 
früher umgefehrt mändt. In manchen Worten, in denen i und u fchwanft und 
wechjelt (Hilfe und Hülfe, wirken und würfen, giltig und gültig, 
Sprihwort und Sprühmwort, Wirzburg und Würzburg) iſt es 
durchaus nicht entjchieden, daß U die Berbunfelung von i fei. So hat im Mittels 
deurfchen des vierzehnten Jahrhunderts dad mittelhochbeutfche helfe und hilfe 
den Vocal u: hulfe. Hülfe kann alfo ſehr wohl den alten Laut befigen, ber 
nur den Umlaut erhielt. — 

Die Veränderungen, die feit der mittelhochdeutfchen Zeit der Conſonan⸗ 
tismus erfahren hat, find nicht fo bedeutend wie die Wandlungen im Vocalid« 


) Bol. Bd. IV, ©. 532. 
+) Bd. IV, S. 535 und ©. 741. 


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Teimen I: M mi tizaalcr, taden ai Ieutizler ;@ cat semuriem. Zi: 
Issik: mel. aa. : ıpruiet. Ter re Lzurzot sem Te zer im 
Mietertearkex zı2 Zestızi ın bekteuner Samlem edez’zid DM Ziehen 
Yakrkwäsert:. — Tai ante search; waw. wir som al 
ſichæx igen. har. Sckme!, jung ebemz.i ıw, m, sm. Si :HWwILZen. nalen, 
. dazen, Aatetta ia Shit vet Buderrate, ode m ter Seratreee Ib 
baxt-ung erzika:.**, Rur st cab bieben ız ker arrigezuken Beihilt, 
weaı as in ter Audiseute une kur nımentih ım Ama: takt > zu sch Gb 
serzzöferie.. Im Auslaate zurle z 7. 5, > airwin, ;. 2. ın ter DBerıcı 
Hiris hurz, far: ust Brit am, — Burger für tie ISerintermz ter 
Bere Ant bie unerganı ib anzeibeienen um! snıekingeen Geziezunten Tr 
bin gekösen tie in ter Abbandiaag über Lie Gebrumnine ter teuihen Errate 
genannien Worte jemant mibl. -man,, merentiich ıwesenlich:. Keıdıs 
nam licham, uad -ieileicbt aud Bant**, Gin ı baben au? anerganiſche 
Berie unızı anteren noch folgente Serie erhalten: namenttich 'mbt. name- 
lieh), werlant :mEbt. wilen,, einft ımkk. eıns, eines, Sen. Reutt. von en, 
Balz smaht. palas, aus palauum,, Par ũ (mbt. bäbes,, Arı imbd. akes, aus 
ascıa,, Habicht (mbt. habech, alıbodhtenrik habuch:, Hüfte (rluralniches 
Subflantiz, mıbt. huf, gothiſch hups,. Gin unorganiſches n finter ic aufer in 
Leichnam nod in tem Worte Sporn imhd. spor,, wabricheinlich auch in 
geitern imbt. gester, und in Tugend, denn alıbochteuridy beit es meiſt 
tnger &. 5 tie Tüchtigkeit. DBielfach körı man Augenkraunen ftart Augen» 
brauen, weil man an Lie mein braune Farbe der Brauen denkt: früber bieß 
das Wort bra, im Althochteutſchen brawa, präwa. Verſteckt und ohne un= 


*, Dal. Br. IV, &. 539, 
.*, Br.IV, 2.541. 
, Br. IV, &.745. 


Bort- und Bleriondwandlungen, 489 


organifches n haben wir das Wort noch in Wimper, welches eine Entftellung 
aus dem alten wintpra, Windbraue, if. Sehr viele Masculina haben im No⸗ 
minativ und jomit durch alle Caſus im Begenfage zum früheren Sprachgebrauche 
unorganifches n erhalten, was bedeutenden Einfluß auf die Declination gehabt 
bat. In einen Worte zeigt fich die Doppelte Entflellung, naͤmlich in unjerem 
fonft, früher junft, welches zunächft aus fust entfland, wie e8 auch noch in 
vielen Mundarten lauter; und dieſes fust ift im fünfzehnten Jahrhunderte eine 
Nebenform von dem alten fus d. h. fo, eben, manchmal auch Lediglich fo, 
fonft, und dieje legtere Bedeutung wurde fchließlich die berrfchende, und die alte 
Form verihwand gänzlich. 

Im Segenjage zu diejen grammatiich unbegründeten Einfchiebfeln und Ans 
bängjeln fleht das Ausſtoßen und Wegwerfen organijcher Laute, welches chen. 
falls in nachläjflger und mundartlichee Ausfprache feinen Grund findet. Aus 
mülnaere wurde Müller, aus ferfana Ferſe; die Lehnworte Kette, Mette, 
impfen lauteten früher ketene (aus catena), mettene, mettin (au8 matutina), 
impfeten (aus &ugvreuv). — Hieran reiht fich die Affimilation, die in neuerer 
Beit weiteren Uinfang gewonnen hat. Während in der mittelhochdeutichen Zeit, 
wie ſich außer der Nechtichreibung auch aus den Heimen ergibt, mb, mp noch 
vorherrſcht, kennen wir, wenigflend in der Schriftiprache, nur mm, m wie um 
(umb, umbe), ftunm (stump), Dumm (tump), Zamm (lamp), Zimmer 
(zimber), Kummer ıkumber), Amt (ambet, ahd. ambaht) u. a. m. Aſſimi⸗ 
lation von mm aus mn iſt 3. B. in den Worten jammeln (früher sammen, 
aud samnen), verdammen (damnen, dampnon). Ferner fteht 1 flatt Ik in 
Marſchall (mhd. marschalk, wörtlich „Pferdeknecht“ von mar und schalk). 

Haben die betrachteten Ericheinungen hauptiächlich ihren Grund in der 
gefchichtlichen Fortbildung der Laute, fo trägt die weiter um fich greifente Syn⸗ 
cope und Apocope (Zufammenziehfung und Abwerfung des Schlupßse) den 
Charakter des Zufälligen, wenn auch die betreffenden Worte ſich in der Echrifts 
iprache jo gefeftigt haben, daß der einfligen freien Behandlung des DVerjed, in 
welchem dem Dichter Die Wahl zwiichen der vollen und gefürzten Form zuftand, 
ein pedantijcher Sprachgebrauch in der Poeſie gefolgt if. Die mittelhochbeutiche 
Regel, daß bei kurzer Stammſilbe die folgende Flexionsſilbe ſtumm ift oder fein 
kann, alfo varen — varn, holen == holn, Sat nach der Veränderung der Quan⸗ 
titätöwerhältniife gar Feine Geltung mehr; es beit immer fahren, holen, 
während fahren, hohn hart und mundartlich wäre. Einzelne Worte, in denen 
die Syncope vollzogen wurte, find 3.8. Haupt (houbet), Held (früher in 
voller Form helid, ſchon im Mittelhochdeutfchen meift heit), Hemd (hemede, 
hemde), Hirjch (hirz, volle Form hirez, hiruz), Magd (maget, zſgz. meit, 
Maid), manch, mancher (nicht mang, manc aus manig, manec, darum auch 
ch am Ende), Markt (market), nadt (naekel). — Die Apocope, die Abwer⸗ 
fung des Schluß-e ift nanıentlich im Adjectivum und Adverbium von Wichtige 
keit. Unſere Abjectiven gleichen fich faſt alle; Die wenigften fönnen im Rominativ 
ein e haben wie blöde, böſe, enge, irre, müde u.a. Die Mundarten freie 
lich halten noch vielfach an tem alten e feft; ein Sag: „du bift ſchoͤne“ ftatt 


4% Syredwinenideit. 


„ſchön“ würte aber in gehebener Preia oder im Gedichte durchaus zu verwerfen 
ſein. Die beiipieldweiie angeführten Arjerrisen „tünnen aber ihr e auch ab» 
werfen; „er iR böre’ if nicht minter richtig ald „er ik 603°. In ter Poeſie if 
Lies con Werbe, intem tem Ticker zwei Formen zu Gebore Heben. Im Mittel⸗ 
hochteurichen nun find tie zwei Arten con Atjertisen ichr reich vermeren. Das 
Arverkium bar früber in ter Regel ein e, wäbrend in feuriger Sprache es nur 
dann ficken kann, wenn cd das Artjertisum bat. Tas Arjecrricum bald, balt in 
ter Beteunung „eilig, kübn“ buben wir auigegesen, Göthe bar das Atcerbium 
noch richtig gekilter: Warte nur, balte, kalte ı: Walter rube auch tu. Auf 
Bieie Weite war im Mirtelbochteutichen bei ten Atjecricen mir auslautentem 
Gonionanten das Dazu gehörige Atzerb leicht zu erfennen. Bei ten Adjectiven 
ber zuweisen Klapte kam ter günſtige Umſtand binzu. Tag im Ätserbium ter uns 
getrübte Vocal hafıen lieb, aljo der boum ist schoene, aber der boum blüejet 
schöne *,, heute aber in gleicher Weite: ter Baum in, blübt ſchön. Tas Ad» 
verbium zu ten Atjectiven auf lich lautete liche oter lichen: lich oder gekürzt 
lich konnte auch ſtehen, wenn es ter Vers oder ter Reim erforterte, tem Dichter 
landen alio wenigfiend zwei Formen zur Verfügung: jegt beißt das Adrerbium 
nicht anders ald dad Adjectis: — lich. — In einzelnen Worten find ebenfalls 
Beränterungen eingerreren. Die Werte obe, abe, ete 'etewaz, etelich:, umbe 
find ſaämmtlich apocopirt worten, namentlich ift jegt „unt‘ Die regelmägige Form, 
währen? fruber zwijchen ter uriprünglichen unde unt ber gefürsten und (auch 
unt in manchen Hallen, gerecdhielt wurte. Holgente Worte jeien ald Beirpiele 
angeführt, bie im Laufe ter Zeit das e im Rominariv vollftintig eingebüpt 
haben: 


Aer. 
Tas Bild, 
Das Gedicht, 
Ter ıBogelı Greif, 


Der Herr, der herre, herre (abt. heriro) **ı. 
Ter Herzog, der herzoge. _ 

Tie Hulp, diu hulde ıabt. huldiı. 

Die Hut, diu huote. 

Der Kern, der kerne (dan. kern, ab?. cherne‘. 
Tas Kinn, daz kinne. 

Tas Kreuz, daz kriuze. 

Die Lauer ıeig. Laur), diu lüre. 

Der Mai, der meie. 

Die Rauer, diu müre. 

Der Narr, der narre. 

Das Nep, daz netze. 

Tas Ohr, daz öre (jeltener örı. 


*) Vgl. Bo. IV, S. 534. 
**) Bl. Bp. IV, S. 738, 


Mer. 
daz bilde. 
daz getihte. 
der grife iwm. ıteltener grif jtm.). 


Wort- und Flexionswandlungen. 491 


Rhd. Mhd. 
Die Pein, diu pine (Dan. der pin). 
Die Haft, diu rasie. 
Der Schmerz, der smerze. 
Der Strahl, diu sträle. 
Die Trauer, diu trüre. 


Dazu kommen die zufammengejegten Subftantiva auf »if und -ung (Betrüb⸗ 
nis, Wohnung), die im Mittelhochdeutjchen -nisse und -unge haben. — Die 
alte Form des Semininumd auf -inne ift ganz verichwunden und -In wurde zu 
-in gefürzt (Königin, mhd. künegtn und küneginne). — (Daß die Worte auf 
r — Lauer, Mauer, Trauer — gegen den früheren Gebrauch ein e im 
Inlaute erhalten haben, bat feinen Grund in der Ausfprache, die fchließlich in 
der Schrift ihren Ausdruck fand; ebenſo wurde aus tiure, fur: theuer, 
Feuer.) In manchen Fällen Schwanfung: Hemde und Hemd. 

Das Segentheil bilten jolche Worte, die unorganijche8 e erhalten. Dahin 
gehört vor allen der Gedanfe (mhd. gedanc), während Dank geblichen if. 
Mahrfcheinlich Hat das vortreiende ge Anlaß gegeben wegen faljcher Analogie 
von Berg, Gebirge u.a. Ebenſo wurde aud geschiht: Geſchichte, aus 
lich (db. 6. der Leib): Leiche. Manche Worte habe außer dem e noch uns 
organijched n erhalten: Bolzen (Nebenform von Bolz, früher nur bolz), 
Nacken (mhd. nac), Soden (mhd. soc). — 

Den lautlihen und formalen Wandlungen reiben ſich die Veränderungen 
in der Flexion an. In dem Ueberblid, der über den Entwidelungsgang un« 
ferer deutichen Sprache gegeben wurde, ijt bei Erwähnung des Gothiichen ber 
Vollkommenheiten der gothifchen Grammatik gedacht, deren Die ſpaͤteren Deutfchen 
Sprachen verluftig geben.*) Gerade auf diefem Gebiete zeigt fi das allmälige 
Sinken der finnlihen Sprachgewalt am deutlichſten. Schon eine Vergleichung 
des heutigen Sprachzuftandes mit dem mittelhochdeutjchen läßt manche Einbuße 
erkennen, und die Veränderungen find bier, abgejeben von aller Kritif uber den 
Vorzug oder Mangel der älteren und neueren Orammatif, mit am entfchiedenften 
durchgeführt worden. 

In der deutfchen Grammatik ift im Gegenjage zum Lateinijchen und Grie⸗ 
hifchen, wie wir diefe Sprachen aus den Schulgrammatifen Eennen lernen, bie 
Flexion In zwei Glaffen eingetheilt, in die flarfe und in Me ſchwache; an beide 
Arten reihen jich die anomalen, die unregelmäßigen an, die zum Theile aus beis 
den gemijcht find. Die flarfe Flexion iſt die ältere, Eräftigere, die fich aus fich 
felbft berausbildet, Die ſchwache Dagegen die fpätere, unjelbfifländigere, die Durch 
Zujäge und Mittel von außen ihre Formen erhält. Der Charakter der [wachen 
Declination ift ein an die Wurzel tretendes Bildungs⸗n, deſſen etymologijche 
Bedeutung kaum zu errathen iſt. Anders in der ſchwachen Gonjugation. Hier 
ift das t, welches zur Bildung des Präteritums dient (fragte, fügte, legte), 
Stamm des Verbumd thun, welches ald Hülfsverbum mit dem Hauptverbum 








+, Vd. IV, ©. 240. 


41 Eprachwiſſenſchaft. 
verracſen in. Wir kennen dies zu ten älteren Kermen !dliegen, namentlich 
au& tem Gerfiien.*: 

In der Declinatien baben mande Werte, die ebedem Karf ilectirt wurden, 
im Laufe ter Zeit Tie rache erbalten unt umackkrı: au baben Ab Ri» 
ichungen au& üarfer unt ichracher Flerien beraeitelli. — Im Rakulmum ik 
tie Ericheinung beſenders merfrürtia, ta bei ten 'traben, tie im Rominariv 
auf e auslauten, das n ker Flerien in ten Reminane zefanıt, umt num ter 
Geniriz tie Harfe Kerm mir s erbält. Eine Gegenübernellung der beiten Des 
elinarienen wirt Tie& am anichaulichiien zeigen. 


Mer. Re. 

Sg. Der Bogen, Pl. Tie®eyen**, Sz. der boge. Pi. die bogen, 
tes Poyend, ver Bogen, des bocen, der bogen, 
tem Begen, ten Bogen, dem bogen. den bogen, 
ten Boaen. tie Bogen. den beozen. dıe bogen. 


Solche orte, die im Rominaric n und Harfen Genitis erbalten baben, find 
3. B. Braten, Brunnen, Taumen, Klaten. Garıen, Zatten, Öra- 
ben, Ruben, Riemen, Rüden, Schatten ‚rüber schate, scato. tarfes 
Mas. im Altteurihen:, Zarfen. Antere iwanfen im Rominatie yeiichen 
eund n: Funke und Funken ılegtered Buufiger‘. Glaube unt Glauben, 
Haufe unt Haufen il. b., Name unt Namen, Saame un Sıamen, 
Schade un Schaden, ®ille un? Rillen. Im Genitiv aber baben alle, 
gleichriel wie ter Nominatie lauter, das s: Des Glauben®, mbr. aber des 
gelouben. Rach dieſem Brincire int auch Hauptwerte, Tie ebedem ſtark Hectirr 
wurten, au dent unorganiien n gelangt: Friede daneben aud ſchon Arie 
den), Gen. Frieteng, Dar. Frieden u. ĩ. w., wäbrend es im Mirrelhoch⸗ 
beuticken beige: fride, frides, fride u. ĩ. w., das genannte Schatten und bie 
oben erwähnten mit unorganiihen en: Bolzen, Raden, Soden ımbt. ein⸗ 
filbig holz. nac, socı. — Bieten Tiere legteren eine Miſchung der ſtarken ıwegen 
Benitie=sı und der ichwachen wegen n) Declinarion bar, ve haben antere or⸗ 
ganiich Harfe obne Teränterung tes Rominariv Singularid Pie ichwache Form 
angenonımen, 3. B. Helt, Hirte. 

Im Semininum find nicht minder Ummantlungen eingetreten, und zırar 
finter fich ebenfalls eine Bereinigung von flarfer und ichwacher Flerion. Die 
meiften ebetem flarfen, tie im Plur. Rom. und Acc. e, im Gen. und Dar. en 
haben iz. ®. huobe, Pl. huobe, huoben,, fin? Turdgängig im Plur. zu ſchwach 
flectirien geworden (tie Hufen), Tagegen bar der Singular die ſtarke Flerion 
bewahrt. Umgekebrt haben ſchwach flectirte im Cingular die ſtarke Declination 
angenommen, bie ichwace im Plural beibebalten. Es beißt jegt: Die Zunge, 
der Zunge und im Plural die Zungen: im Wittelbechteurichen ſteht: diu 
zunge, der zungen, im ®Blur. die zungen. Eemit fallen dieſe beiten Teclina- 


*) Tie Anführung ter Thatſache mag genügen. Näheres in Grimm's ram: 
matif 1 12. Aullage), S. 1040 fi. 
**, Bogen mit langem 6, bögen, früher bigen. 


Bort- und Flexionswandlungen. 493 


tionen in unferer neuen Schriftſprache zuſammen. Daß die Mundarten gegen 
den Büchergebrauch auch Hier noch vielfach am Alten fefthalten, wird befannt 
fein. In unjerer Redensart auf Erden haben wir die jchwache Klerion erhal« 
ten, denn fle ift gleich „auf der Erbe’; an den Plural fann nicht gedacht wer« 
ven. Die Deelination, die meift einftlbige Worte wie Kraft, Bruft umfaßt, 
it zu großem Theile in der alten Weile geblieben; in einigen tritt im Plural 
die fchwache Flexion hervor: die Zeit, der Zeit, aber Die Zeiten; Welt, 
aber die Welten (mhd. Pl. zite, werlde). 

In Reutrum betreffen die Umwandlungen weniger den Uebergang ber bei⸗ 
den Flexionen. Schwach flectiren Leid und Bert im Plural: Die Xeiden, 
Betten. Dagegen find im Singular einzelne organijch jchwache in die flarfe 
Declination eingetreten: da8 Auge, bed Auges, Ohr, Ohres (mhd. daz 
ouge, des ougen; ör, des ören). 

Faſſen wir die große Anzahl der Subftantiva zujammen, die im Plural mit 
verhältnigmäßig wenigen Ausnahmen fchwach flectirt werden, jo fcheint der bei 
vielen berrichende Glaube, n fei neben e Zeichen des Plurals, nicht ganz un⸗ 
begründet. — 

Andere im Laufe der Seit eingetretene Wandlungen erſtrecken fich auf bie 
Declination ſelbſt. — So zeigt fich im Masculinum eine Pluralform auf er, 
welche der früheren Zeit völlig unbefannt war. Wir bilden von Mann den 
Plural Männer im Gegenjage zu Wannen, welches alddann die Bedeutung 
„Vaſallen“ Hat; im Mittelhochdeutfchen war man entweder durch alle Caſus in» 
Declinabel oder der Plural Tautete die manne. Ferner haben wir Götter (mh. 
gote), Geiſter (geiste, Dörner (dorne) u.a.m. Zwiſchen Halme und. 
Hälmer, Orte und Derter wird gewechielt. Im Tegtgenannten Beijpiele 
finden wir denfelben Wechfel wie in Worte und Wörter, indem Ort 
früher allgemein und noch Heute in den ſüddeutſchen Mundarten Reutrum ift: 
das Ort. 

Im Zemininum ift eine Rebenform des Singulars der ftarfen, meift ein⸗ 
filbigen, Feminina vollftändig aufgegeben. Wir decliniren gleich dem Mittel 
bochdeurfchen die Kraft, der Kraft, der Kraft, die Kraft; daneben 
lautete der Genitiv und Dativ gleich dem Plural der krefie. Daß dies wenig« 
ſtens für den Dichter fowohl in Beziehung auf den Heim wie auf dad Versmaß 
von großem Vortheil war, ift einleuchtent. 

Das neubochdeutiche ſtarke Neutrum weicht darin von dem früberen ab, 
dag es im Nominativ Pluralis ein Flexions⸗e bat, welches jonft nicht vorbans 
ten war: Die Worte, Die Pferte, früher aber diu wort, diu phert, Schon 
im Mittelhochdeutſchen und ıheilweife auch im Althochdeutichen tritt neben biefer 
Flexion eine Nebenform auf -ir, -er ein, z. B. hüsir, hiuser, unſer Häuſer. 
Dieielbe bar in jpäterer Zeit bedeutend an Umfang gewonnen und fich auch auf 
ſolche Worte erftredt, denen fle eigentlich nicht zufommt. So ift 3.2. Bild, 
früher daz bilde, ala einſtlbiges Wort den anderen confonantijch außlautenden 
Neutrid angereiht worten und bildet nun ebenfalls den Plural auf -er: BVil⸗ 
der. Auch heute kommen nur einzelnen Worten beide Formen zu, und öfters 


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ir ges entzidete. Freng insıeen Montsren und namentlich in der 
tiltet. man fat ac ti näan eder manner. dri 
n Tier beuttgen —* rermegen wir nickt. das 
hementnani tie ſtarken unt ſTæwachen Adje:urums formal von einander zu 
trennen, mir irzen in aleifer Weiſe tie Folte Frau, wie belle Arau, 
mäfrent :rik anerükaten stiigen ter kübne Mann, Tad murbige Roß 
unt führer Mann, mu:kiger Mos. Tas Mittelbochdeunche bat auch 
hierin den Koerzug: e Mehr in der Ntarfen Teclination nur im Acecuſatis, Ter 


frauen. ae:r “kurt, — 


Wort· und Flexiouswandlungen. 495 


Nominativ hat iu: es heißt alfo diu holde vrouwe, aber holdiu vrouwe. Ebenſo 
unterfcheidet fich wieder Das Reutrum des Plurals von den beiden anderen Ge⸗ 
ſchlechtern, welches in unferer Redeweiſe Feine befondere Form aufzuweiſen hat: 
kühne Männer, bolde Frauen und auh ſchöne Roſſe, mittelhoch- 
deutfch Dagegen kuene man, holde vrouwen, aber schoeniu ors. — Daß biefer 
Unterfchied in den Formen im oberen Deutfchland noch im vierzehnten Jahre 
Hunderte lebendig fortbeftand, beweifen die Handfchriften. Die baierifcheöftreichie 
ſchen haben foftemgemäß die Form eu durchgeführt. Später aber verwilchen fich 
die ehedem fireng auseinandergehaltenen Declinationsweiſen. Im Mittelnieder- 
deutſchen umd im Älteren Mitteldeutjchen fcheint iu der Flerion ganz zu fehlen, 
und bei tem Einfluß, den gerade das Mitteldeutfche auf Die Entwickelung der 
Schriftiprache gewonnen hat, iſt es jehr leicht möglich, daß ſich gerade Deshalb 
die keineswegs vortheilhafte Gleichförmigkeit in ber Deelination des Artifeld und 
der Abjectiven fo früh und fo entjchieden zur Regel erhoben hat, — Wir bilden 
im Plural des zweiten Perfonalpronomens ten Dativ und Accufativ auf gleiche 
Weije durch euch, während, wenn das alte Verbältniß geblieben wäre, wir den 
Dativ eu haben follten. Im Mittelhochdeutſchen ift der Dativ iu und der Accu⸗ 
fativ iuch noch firenge gefchieden. Dies letztere iuch iſt Kürzung aus iuwich. 
Im erften Perfonalpronomen ift die Verfchmelzung beider Caſus ſchon früh ein« 
getreten. In den älteren mittelhochdeutfchen Denfmalen und im Althochdeutfchen 
durchaus Heißt der Accufativ unsich, unsih. Wir haben aljo im erften Perſonal⸗ 
pronomen im Nccujativ Pluralis eine Dativform (uns) und im zweiten im 
Dativ Pluralis eine Accuſativform (euch). 

Bon der grammatifchen Vollkommenheit, welche dad deutfche Verbum 
früher befaß, haben wir viel eingebüßt. In dem Aufjage über den Entwicke⸗ 
lungsgang der deutjchen Sprache?) wurde angeführt, daß das Gothiſche noch 
zwei Tempora eines Paffloumd beflgt, welche fpäter verloren gegangen find. 
Wenn auch gerade nach dieſer Seite bin Fein Unterjchieb zwiichen dem beutigen 
und dem mittelhochteutichen Verbum beftcht, fo weichen beide Sonjugationen 
doch in jo vielen Dingen von einander ab, daß auch Hier Lie beftäntige Um- 
wandlung des Sprachzuſtandes mächtig vor Augen tritt. 

Zuerſt findet wie in der Declination Uebergang von ter flarfen in bie 
ſchwache Flerion ſtatt. Die Verba falten und walten, welche wie urfprünge 
lich halten conjugirt werden (ich fielt, gefalten, ich wielt, gewalten) 
fleetiren jegt: faltete, gefaltet, waltete, gewaltet. Im gleicher Weile 
hieß e8 ich spien, gespannen, jetzt aber: ich fpannte, gefpannt. Die Berba 
bellen und hehlen wurden früher ebenfalls ſtark conjugirt, ich bal (beilte), 
gebollen (gebellt), ich hal (hehlte), geholn (gehehlt). Bon mahlen 
(Mebi m.) bilden wir nur das Participium ſtark gemahlen, das Präteritum 
aber ſchwach: mahlte, während Liefer früher muol lautete, ebenfo wie: ich 
wafche, wufch, gewafchen. Daffelbe Verbältnig fcheint fih in hauen zu 
bilden; noch eriftirt zwar ich hieb, gehauen, aber wir brauchen auch ſchon 


— — 


* Br. IV, ©. 240. 


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Wort⸗ und Sleriondwanklungen. 497 


ein zu leſender Brief anſtatt ein:. brif: ze Iesene, ein Brief. zum 
leſen. — 

In der ſtarken Gonjugation And ganz bedeutende Berändetungen ein⸗ 
getreten. Abgeſehen von lautlichen Umwandlungen iſt zunaͤchſt die Quantität der 
Vocale in den Ablauten eine vielfach andere geworden. Im Neuhochdeuiſchen iſt 
alles ſcheinbar regelmaͤßig. Wie wir im Singular den Vocal betonen, fo auch 
im Plural. In zwei Conjugationen unterſchieden ſich früher der erſte und der 
zweite Ablaut bei gleicher Qualität der Vocale lediglich durch die Quantitaͤt; es 
hieß ich käm, näm, spräch u. ſ. w., aber wir kämen, nämen, sprächen, ferner 
ich gäp, läs, wäs, aber wir gäben, läsen, wären, während die lange Betonung 
ſich jegt auch auf den Singular außdehnt: ich kam, nam, spräch, gäb, las, wär 
u. ſ. w. und die Länge wie in nahm, ſtahl auch in der Schrift fundgegeben 
wird. Außerdem haben eine große Menge Gonjugationsformen Tangen Vocal 
anftatt der organifchen Kürze erhalten, und Hierin ift an bie Stelle früherer 
Gbenmäßigfeit, da manche Berben die ehemalige Duantität nicht verloren haben, 
eine keineswegs vortheilhafte Manigfaltigfeit singetreten. Dies tritt namentlich 
im Barticiplum Präteriti, im dritten Ablaute hervor. Wir betonen gekönmen, 
gebröchen, aber ftatt gebörn, gestöln gebrauchen wir langen Vocal: gebören, 
gestölen, ferner gebissen, gewichen, aber geblieben, gefliegen. In meinem 
erwähnten Schriftchen über die Audfprache des Mittelhochdeutichen find biefe 
Unterfchiede, die bier nur angebeutet werben können, ausführlich dargelegt. 
Ohne Zweifel find die folgenden Confonanten auf die Quantität von Einfluß, 
ein Bunft, der noch nicht Tprachwillenichaftlich behandelt worden iſt. — 

Die wichtigfte formale Veränderung,. bie in der ſtarken Conjugation eins 
getreten ift, betrifft Die zweite Perfon Singularis im Präteritum, Die Form est 
ſcheint nur jetzt durchaus diefer Perfon zuzufommen, und fo bilden wir wie in 
der fchwachen Gonjugation ich fagte, Du fagteft auh ich gab, du gabſt, 
ih war, du warft, während früher e der Charakter diejer Perfon war und 
der Wurzelvocal Umlaut erhielt: ich gah, du gaebe; ick was, du waere. Diefe 
Andicativform entipricht aljo dem Gonjunctiv Präteriti. Im Althochdeutſchen 
findet fich i an ter Stelle ded e, und der Umlaut tritt nicht immer ein: ich was, 
du wäri, 

In mehreren Gonjugationen {ft die weiter fortgeichrittene Brechung Des i 
im Bräfens und namentlich in deſſen erſter Perſon Singularis eine Haupteigen⸗ 
tbumlichkeit ded Neuhochdeutfchen. Wie der Infinitiv fo bat auch dieſe erſte 
Perfon zu lauten: es if dies wicder eine Der fcheinbaren Megelmäßigfeiten une 
ferer heutigen Sprache. Wie ed heißt fingen und ich finge, fo au werden 
und ich werde. Im Mittelbochdeutichen aber gebührt Dem ganzen Singular 
des Präjend der i-Raut, der in der zweiten und dritten Perſon hervortritt: ich 
werde, du wirſt; ich treffe, Du eriffit; ich ſehe, du ſiehſt, ehedem 
aber ich wirde, triffe, sihe. ine andere Gleichmäßigkeit des Neuhochdeutſchen 
beficht in Der durchgängigen Gleichheit des erften und zweiten Ablautes in faut- 
licher Beziehung. In drei Gonjugationen unterfchieden fich im Mittelhochdeutſchen 
dieſe Ablaute von einander. In der erften ftarfen Gonjugation war bie Neibe i, 

v. 32 








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04 


Bort: und Flerionöwanblungen. 499 


AH. Mhd. 

ih fälfhte, gefälſcht, ich valschte, gevalscht, . 
verhängte, verhängt, verhancte, verhanct, 
fämmie, gefämmt, kamte, gekamt, 
verrenkte, verrenkt, verrancte, verranct, 
fhändete, gefhhändet, schante, geschant, 
ſchenkte, gefhentt, schancte, geschanct, 
fhmedte, gefhmedt, smacte, gesmact, 
erſchreckte, erfchredt, erschracte, erschract, 
verſenkte, verſenkt, versancte, versanct, 
feste, geſetzt, sazte, gesazt, 
fperrte, gefperrt, sparte, gespart, 
ſteckte, geſteckt, stacte, gestact, 
ftellte, gefteltt, stalte, gestalt, 
wähnte, gewähnt, wände, gewänt, 
wälzte, - gemwälzt, walzte, gewalzt, 
wedte, gewedt, wacte, gewact, 
zäbltee - gezähle*), zalte, -gezalt, 
zerrte, gezerrt, zarte, gezart. 


_ Mäbrend das Gothifche und das Althochdeutfche noch drei fchwache Con⸗ 
jugationen befigen, die im Mittelhochdeutfchen auf zwei berabfinfen, kennt die 
heutige Sprache nur eine einzige ſchwache Conjugation mit Ausnahme der wenigen 
Verben, die das alte Verhaͤltniß bewahrt haben. Die ehemals! Eurzen Wurzel« 
vocale find fammtlich verlängert worden, fo daß auch Hier ſich eine fcheinbare 
Regelmäßigfeit kundgibt. — 

Es erübrigt noch, über eine Zahl einzelner Verba zu fprechen, in deren 
Flexion fih Abweichungen vom früheren Gebraudye zeigen ; fle find meift zu den 
unregelmäßigen zu rechnen. Bei einigen bat die ehemalige Freiheit in den For⸗ 
men aufgehört, es gilt nur eine Flexion, die ehemals berechtigten Rebenformen 
gehören jegt nur noch der Mundart an. 

Im Verbum substantivum ift außer der Umwandlung des Präteritumd was 
in wär **), der zweiten Perfon waere in wärst (f. oben) und den Ausfterben des 
Infinitios wesen ***) auch die Veränderung eingetreten, daß der alte Imperativ 
wis und wes in der Schriftiprache außer Gebrauch gefommen if. In Munde 
arten findet man noch bis als Imperativ, namentlich in der jächflichofterländiichen. 
Auch das Participium geweft flatt gewefen ift mundartlich. 

Bon wiffen bilden wir das Präteritum wußte, das Participium ge«- 
wußt. Die regelmäßigen Formen waren früher wiste, gewist; daneben be« 
ftanden weste, wisse, wesse, gewest und auch das flarfe Participiun gewizzen, 
gewezzen. 


*) Früher zeln mit kurgem Bocale. 
**) Br. IV, ©. 539, 
MTV, S. 735. 36. 


500 ——— Errachwiffenſchaft. BR 


Neben began (von beginnen) eriftirte früher .da8 Präteritum begunde, 
welches verloren gegangen ift. 

Berändert hat ſich die Gonjugation von f uͤrchten. Jetzt wird das Praͤ⸗ 
teritum nach den anderen ſchwachen Verben regelmäßig gebildet: fürchtete, 
früher hieß e8: vorhte (vorchte). Die Barticipialform gevorht war die regel 
mäßige, unfer gevürhtet fommt früher nur vereinzelt vor. 

Wir Eennen nur die Formen gehn und ſtehn, während früher auch gan 
und stän im Gebrauche waren. Manchem Dichter ift nur eine der beiden Formen 
gerecht, andere wechleln zwifchen beiden nach Bedüͤrfniß des Reims. 

Einen Bortheil hatte die alte Sprache Dadurch, daß die vollen und zuſam⸗ 
mengezogenen Berbalformen gleichberechtigt neben einander beftanden. Während 
wir nur Maid aus dem alten maget (unfer Magd) haben, Fonnten früher ege 
und age überhaupt in ei zujammengezogen werden: geseit, geleit aus gesaget 
und geleget. Bon laffen, früher läzen, waren der zufammengezogene Infinitiv 
Jan, das Präfens Jän, läst, lat, und das Partieipium gelän neben den vollen 
Formen in Gebrauch. Eigenthümlich Haben ſich die Formen von haben ent 
widelt. Das zujanımengezogene han, welches bauptjächlic für das Hülfsverbum 
diente, haben wir aufgegeben, ebenſo ich hAn, wir han, ir hät, sie hänt, und das 
Participium gehät. Umgefehrt haben wir nichtmehr die vollen Formen da 
habest, er habet, ich habete, fondern die zufammengezogenen haft, bat, 
hatte. Und Hier Hat fi die Quantität anderd geflalte. Während flatt der 
Kürze in häben die Länge des Vocals eingetreten ift in haben, fo hat unıgefehrt 
der durch die Zufammenziehung folgerichtig lang gewordene Vocal in häst, hät, 
häte, haete Kürzung erhalten: häst, hät, häte, häte (darum auch hatte und 
hätte gefchrieben). Die alte Kürze haben wir noch im Barticipium gehabt 
(nicht gehabet) vermöge der Confonantenverbindung bewahrt; manche fprechen 
freilih auch: gehäbt. Neben dem Präteritum häte waren noch die Formen 
haete, hete, hiete und het im Gebrauche. Der Conjunetiv lautete auch hete 
hiete. 

Im Gegenfage zum früheren Präteritum von tuon, welches tete, taete, auch 
tet lautete, bilden wir jegt that. Der Conjunitiv taete, der unjerem thäte 
entipricht, hatte Die Nebenform tet. Manchmal begegnen wir in Gedichten flatt 
bed gewöhnlichen ich that der umgelauteten Form ich thät, welche wahrjchein« 
lich aus dem alten Furzbetonten tet entftanden ifl. — 

In unferer Betrachtung wurden wir auf eine große Anzahl Veränderungen 
geführt, welche in Worten und Flerionen fih im Laufe der Jahrhunderte ent 
wickelt haben, und Loch konnten nicht alle Einzelnheiten berüdjichtigt werten. 
In Grimm's Grammatik findet man genauere Ausführung und zahlreichere 
Beifpiele. Wie fchon früher bemerkt *), ift in diefem Werfe nur der heutige und 
der mittelhochdeutiche Sprachzuſtand berüdfichtigt, Die Luͤcke juchte Joſeph 
Kebrein in feiner Orammatif der beutichen Sprache des fünfzehnten bis 
fiebenzehnten Jahrhunderts (Reipzig, 1854—56) auszufüllen. Wenn auch diele 


*) Bd. IV, S. 244. 


Wort: und Flexionswandlungen. 501 


Grammatif bei weitem nicht allen Anforderungen entfpricht, fo bietet fie doch 
viel Lehrreiches und verdient, weil fle vorläufig einem wirklichen Bebürfnifle ab⸗ 
zuhelfen fucht, Beachtung in hohem Grade. — Wie in den Bormen und Flerionen 
fo haben fi, wie fchon im Eingange angedeutet, auch die Wortbeteutungen 
nicht minder verändert, fo wie auch der Satzbau und die Wortbildung; fogar 
in.Gebraudje des grammatijchen Geſchlechtes der Worte treten manigfache Unter« 
ſchiede hervor. Alle diefe Erfeheinungen verdienen eine befondere Betrachtung. 
Wie in unjerer Vergleihung des alten Sprachgebrauch® mit Dem heutigen bie 
Vorzüge ded erfteren fehr oft und bedeutend hervortreten, fo auch in den anderen 
Gebieten. Wenn auch vielleicht die heutige Sprache deshalb von manchem weniger 
als vorher hoch geachtet werben wiro, fo ift richtige Erkenntniß immer mehr werth, 
als die noch immer nicht audgerottete Ueberfchägung des gegenwärtigen Sprach- 
zuftandes, verbunden mit der Unterfchägung des Altdeutfchen, und vortheilhafter 
als der Wahn, alles Heil in fprachlichen Dingen komme von der S ch u lgrammatif. 


Die Seidenzucht.*) 


Bon 
A. W. Grube. 


Die Seldenraupe und ihr Faden. Der Maulbeerbaum, Die Kultur, 


' 


Die Seidenraupe und ihr Faden, Die Faſer der Baunmolle und bes 
Blachfed bietet fich nach kurzer Zubereitung der gewerbfleißigen Hand des Men- 
fhen dar, um zu Garn verfponnen und zu den manigfaltigften Zeugen verwebt 
zu werden. Der Seidenfaden ijt vornehmer; ber gummiartige Waferftoff des 
Maufbeerblattes muß erft in einen Thierleib wandern, zu einer höheren organi⸗ 
fhen Stufe emporgeboben werden, dem Menichen muß erft ein Thier vorjpinnen, 
damit er, bad Gefpinnft wieder auflöjend, für feinen Zwed die koſtbare Seide 
jpinnen kann. Wir bewundern mit Recht jene Eunftreichen Mafchinen, welche 
die Baumwolle zupfen, reinigen und zu weich dahin fließenden Strömen außs 
ziehen, tie immer mehr fich verbünnend endlich die allerfeinften Faͤden werden; 
das vom Dampf getriebene Räderwerf, dad wie eine lebendig gewordene Ver⸗ 
nunft in einander greift und mit einem Takt, einer Beinheit und Sicherheit ars 
beitet, wie e8 Feine menfchliche Hand im Stande ift: das iſt ein Sieg des menfch- 
lichen Geiſtes über die rohe Naturfraft, auf den wir mit gerechtem Stolz; Hin« 
bliden. Gegen das funftvolle Getriebe und Erzeugniß einer Baumwollſpinnerei 
gehalten erfcheint dad Produft der Seidenraupe höchſt einfach und roh; es ift 
nur eine dieffilzige Hülle, welche Die Raupe zu Ihrem Puppenleben fich gewoben 
bat, und bie prachtvolle Seide wird Doch erft durch die Hand des Menjchen zu 
Wege gebracht! Und doch, wenn wir das Leben und Schaffen des Eridenwurmed 
näher prüfen, erfennen wir bald, daß wie überall in der Natur fo auch bier mit 
den einfachften geringften Mitteln das Größte geleiftet wird und Daß tie menſch— 
liche Vernunft nur das benugen und nachahmen fann, was ihr bereitd von der 





*) Aus den Kultur: und Naturleben. Bon A. W. Grube. (Kreitel & Nietner, 
Miesbaten.) 


Die Seidenzucht. 503 


in der fogenannten. „blinden Natur’ waltenden Gotteövernunft dargeboten 
wurde, 

Ein Feines graugrünes Ei, dem Mohnſaamen gleichend, mit fchwärzlicher 
Zeichnung, in der Mitte etwas vertieft — feiner Kleinheit willen von den Fran 
zojen grain „Korn“ genannt — bildet den Anfang vom Leben eines Rachıfalters, 
des Seiden- oder Maulbeerfpinners (Bombyx mori), der wie der Baum, 
von deſſen Blättern er fich nährt, feine Heimath in China hat. Eine harte Haut 
ſchützt dieſes „Körnlein“ vor der Winterfälte; der Luftwärme des Frühjahrs 
bleibt e8 überlaffen, dad Ei der wilden Raupe auszubrüten. Wenn man die Eier 
an einem trocdenen Falten Orte aufbewahrt, Fann man das Ausfchlüpfen ebenfo 
verzögern, wie durch künſtliche Wärme, die man darauf wirfen läßt, befchlen- 
nigen, Man fleigert Diefe künſtliche Wärme allmälig von 15° R. zu 18 bis 20°, 
geht aber nicht über 24° R. hinaus. Jene Vertiefung in der Mitte des Korn 
wird immer Feiner und verjchwindet, nad) 10 bis 14 Tagen ift das Fleine Ei 
ganz hell geworden, und ganz Fleine, nicht viel über 1 Linie Tange Räupchen 
ſchlüpfen aus, lebhaft den Kopf hin und her bewegend, als wollten fle die menjch« 
liche Pflege und Beihülfe zur Erlangung eines guten Futters und pafjenden 
Ortes anrufen. Der Menjch kommt aber fchon beim. Beginn feines Erziehungs« 
geſchaͤftes nicht jelten in große Verlegenheit, da das Ausjchlüpfen der Raupen 
gerade in die Zeit fallen muß, wo der Maulbeerbaum bie erften Bfättchen treibt. 
Defanntlich hat die erjte Hälfte des Mai noch ftarfe Nachtfröfte, welche Knospen 
und Blüthen knicken; deshalb wählt man in Frankreich, Norditalien, Tyrol gern 
die zweite Hälfte ded Mai zum Beginn der Zudt. Man darf aber auch wieder 
nicht zu lange warten, um ber großen Hitze zu entgehen, welche den Raupen, bes 
ſonders wenn fie jpinnen follen, nicht zuträglicy tft, und weil man nicht gern 
ſpät im Sommer den Bäumen das Laub nimmt. Um das Ausfchlüpfen der 
Raupen alſo einerfeit8 nicht zu übereilen, andererfeitö, wenn es fich in Die Länge. 
zieht, zu bejchleunigen und durch gleichmäßige Wärme zu fichern, hat man bie, 
Wärme ded menjchlichen Körpers jelber zu Hülfe genommen; wie früher in 
Arabien,. ift e8 auf der Inſel Eypern jept noch Sitte, daß die Weiber Fleine 
Pädchen mit Grains in ihren Uchfelhöhlen tragen ; im ſüdlichen Frankreich tragen 
Die meiſten Seidenzüchter die mit Raupeneiern gefüllten Beutel an ihrem Xeibe 
— es gibt da fogar „Brüter“ von Profeiiton, die ſich mehrere Tage in’d Bett 
legen und eine Menge Padete mit Graind an und um fich haben. Aber ein 
ſolches Verfahren ijt von zweifelbaftem Werth; die größeren und aufgeflärteren 
Seidenzüchter benußen einen Brütapparat, welcher aus einem beſonders Dazu 
eingerichteten Zimmer, oder bei geringerem Vorrath von Eiern aus einem Brüte⸗ 
kaſten beftcht, Der mit einer Del oder Spirituslampe zu erwärmen ift, und in 
welchem auch die Luft die nöthige Beuchtigkeit erhalten Fann. Die Seidenbauer 
am Libanon bewahren ihre Grains in einem aus Baunmmollenzeug zufammene 
genäheten und durch zwei über's Kreuz eingefegte Holzſtäbchen auseinanderges 
haltenen Beutel flach bängend an einem Fühlen Orte auf und jorgen nun dafür, 
daß Die Luftwaͤrme nicht zu früh das Auskriechen der Eier veranlaßt. 

Geht das Ausichlüpfen gut von Stätten, ſo ift ein zweiter wichtiger Punkt, 


304. Gewerbe und Induſtrie. 


die Raupen gleichen Alters auf demſelben Brett zu vereinigen, denn es iſt gerade⸗ 
zu [hädlich, die am Morgen Ausgekrochenen mit den am Abend in's Leben ges 
tretenen Raupen zujammenzubringen.. Man legt auf die jungen Raupen ein 
Stürf Fliegenleinwand oder durchlöchertes Bapier (unter dem Namen Marly 
eigens in Sranfreich zu dieſem Zweck verfertigt) und ſtreut junge Blätter barauf. 
Die Raupen Friechen hindurch und finden ihre Nahrung. 

Anfangs find fle von ſchwarzbrauner Barbe, haben einen glänzend ſchwarzen 
Mund, behaarte Haut und breiten Schwanz. Sind die Fleinen Anfönmlinge von 
beller Farbe und kurzem Körper, ter nach rückwaäͤrts fich jehr verfchmälert, dabei 
matt in ihren Bewegungen, fo ift dies ein ſicheres Zeichen, daß fie unvollkommen 
ausgebildet find, dag man feine guten Eier gewonnen oder in der Aufbewahrung 
und der gehörigen Zeit der Ausbrütung einen Fehler begangen hat. Im Allges 
meinen find 3 Tage zum Ausfriechen der Eier erforderlich; die erften Ankömm⸗ 
linge betrachtet man ald unbebdeutente Vorläufer, und die zulegt kommenden 
werden ald Schwächlinge fortgeworfen. 

Man darf die Temperatur, welche beim Ausfchlüpfen Statt hatte, nicht zu 
ſchnell finfen laſſen, läßt fle daher jeden Tag nur um 1 Grad abnehmen. Don 
vornherein ift frifche Auft und Entfernung aller Dünfte von größter Bedeutung; 
wird das Lofal nicht gelüftet, fo werden auch die Raupen ſchwach und Fränflich. 
Ebenjo ift ihnen eine naßkalte Luft verderblich, da fle in folcher das Wafler, 
welches fle in den Blättern zu fich nehmen, nicht ausdünften fönnen. Es follte 
in der Sand des Seidenzüchterd außer dem Wärmemefler (Thermoneter) au 
ein Beuchtigfeitömefjer (Hygrometer) fein. Desgleichen ift große Vorficht von⸗ 
nöthen in Bezug auf dad Laub, das, wenn ed zu naß, namentlich beim Regen 
gepflüct ift, nicht gut befomnt; kann man es nicht vermeiden, nafles Laub zu 
pflüden, jo muß es dann zwiichen Reintüchern oder in reinen Säden geſchwungen 
und fo viel als möglich abgetrocfnet werden. Die Regenzeit verlangt auch größere 
BZimmerwärme, damit dad von den Raupen aufgenommene größere Wafferquantum 
um fo leichter von ihnen wieder ausgedünftet werde. 

Dad Reinigen der Hürden wird ſehr Teicht beiwerfftelligt durch die ſchon 
angedeutete Manipulation, dag man über die Eleineren Raupen Fliegenleinwand, 
über die größeren ein Fiſchernetz breitet und felbige8 mit Laub beftreuet; bie 
Raupen kriechen fogleich hinauf, man trägt fie dann jammt den Negen auf andere 
Hürden und reinigt nun die beſchmutzten. Kommen die Raupen zu fehr in ihren 
Unrath, jo werden die Ruftlöcher an den Seiten ihres Leibes, wodurch fle ahnen, 
verftopft. Aus demjelben Grunde taugt es auch nicht, wenn ſie zu dicht Liegen; 
tie Induftrie, welche tie Raupen auf möglichft Fleine Räume zufammendrängt, 
beförtert Dadurch keineswegs die Gefundheit der Thiere. 

Ein Naupenleben ift furz. Die Eeidenraupe lebt höchſtens 40 Tage, mins 
deftend 24 Tage, im Mitteldurchjchnitt 1 Monat, Während diejer Zeit haͤutet 
fie fich vier Mal und theilt fomit ihr chen in fünf Perioden. Die 3 erften 
Perioden find Die kürzeſten und dauern höchſtens 5 bis 6 Tage; Die vierte if 
ein wenig länger, Die fünfte währt bis zur Umgeflaltung der Raupe in eine 
Puppe und dauert 8 bis 10 Tage. 


Die Seldenzudit, | 505 


Nachdem das NRäupcheri die erfien 4 oder 5 Tage lebhaft gefrefien hat, Hält 
es plöglich inne, fcheint wie vom Schlaf überfallen, ‚wird ſteif und richtet fich 
mit den Vorderförper in die Höhe, während es ſich mit den Hinterfügen feſt⸗ 
hält, zugleich hat es auf feinem Lager ein kleines Geſpinnſt gemacht, woran fich 
die alte Haut anflebt, fo daß es fie leichter abftreifen fann. Kurz vor Eintritt 
des Schlafes wird die Farbe mehr gelblich braun, der Kopf weißlih. Die Häu- 
tung iſt ein Eritifcher, für dad Thierlein höchſt empfindlicher Umbildungöprozeß; 
es muß daher jedes ſtarke Geräujch und jeder ;Falte Luftzug abgehalten werden. 
Tritt der Schlaf bei napfalter Witterung ein, fo muß das Zimmer geheizt wer 
den, da die Näupchen font 3 bis 5 Tage lang fchlafen und manche von ihnen 
gar nicht mehr erwachen würden. In reiner warmer Luft bei Abhaltung des 
Sonnenlichtd und gehöriger Stille dauert der Schlaf nur einen bis anderthalb 
Tage und die Häntung gebt glüudlich von Statten. Da alle Raupen von gleicher 
Seburtöftunde zu gleicher Zeit ſich häuten, fo kann man diefen Zeitpunft für 
dad Zufammenordnen in Altersklaſſen benügen, wenn man dies früher ver- 
fäumte. Man muß den erwachten Raupen Zeit Taflen, 6i8 fie durch Hin» und 
Herbewegen des Kopfes die Luft zum Freſſen zu erkennen geben; füttert man zu 
frühzeitig, fo erzeugt man die Schwindjudht. Auch dürfen die Raupen in den 
erften Tagen nach der Häutung Fein altes zähes, fondern nur junges würbes 
Zaub erhalten, dad man ihnen auch wohl noch Plein fchneidet. Dies Klein 
ſchneiden ift zugleich ein gutes Mittel für eine gleichmäßige Vertheifung des Fut⸗ 
ters auf Die verfchiedenen Lagerplaͤtze. 

Jede Häutung gibt der Raupe nicht bloß eine neue Haut, fondern auch neue 
und ftärfere Freßwerkzeuge. Kein anderes Thier frißt im Verhältniß zu feiner 
Größe fo viel ald eine Raupe; keines vermehrt aber auch fo fchnell fein Gewicht. 
Aus neueren Beobachtungen bat fich ergeben, dag die Seidenraupen bis zum 
Einſpinnen um das 8000fache ihres Gewichts zunehmen. Die vollkommen ent⸗ 
wickelte Raupe iſt ungefähr 1'/2 Zoll lang, beim Ausfchlüpfen nur 192/10 Linien! 
Von dem Blätterquantum, welches die Seidenraupen verzehren, kann man fich 
eine ungefähre Vorftellung machen, wenn man erfährt, daß die von einer halben 
Unze (einen Loth) Eier gewonnene Brut 1000 Pfund Blätter braucht, wovon 
auf bie erite Periode nur 5 Pfund, auf die zweite ſchon 12 Pfund, auf die dritte 
45 Pfund, auf die vierte 150 Pfund und auf die legte faft 800 Pfund gerechnet 
werden. Ihre ganze Kraft zufammennehmend freffen die Raupen am legten Tage 
vor ihrer Verwandlung 100 bis 150 Pfund Blätter und machen mit der Bes 
wegung ihrer Freßwerkzeuge einen jolchen Lärm, als ob ein ſtarker Regen her⸗ 
niederftrönnte. 

Die Zeitpunfte, an weldyen man den Raupen frifche8 Futter vorzufchütten 
hat, haben auch ihre Regel. Während ter erften Periode dürfen fle nicht weniger 
als 10 bis 12 Mal, während der legten 7 bis 8 Mal binnen 24 Stunden ges 
füttert werten. In der erften Zeit nach der Häutung braucht man bed Tages 
nur 3 bis 4 Mal die Fütterung zu wiederholen. Auf rechte Vertheilung die 
Futterquantums in den verſchiedenen Lebensperioden kommt ſehr viel an. 

Mit jeder Häutung wird die Farbe der Natur lichter, ihre Haut glatter; 


556 Gewerbe and ZIabeßri. 


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Re on küub'kem Weiggelb, Turkikeiz ze eine terre zeige Keınker. Mn 
unerikeiter tenr.ık ?ie 12 Rızae. im weide ikr Erık #2 ziieter: erne Selen 
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Am Lerterikeii te} Zeıbes beãaden TE 3 Paar ause, Tie mu Eufentccmun 
Rıalleı zerichen un? wie yınıer gealiedert Tıt: am Sinn at sin Baar 
Fuge, weh, bloe Eaurig, Teck urı einem Krrıie rırz 'rıgizer Difiter er 
teben, weilte tie Race, wie tie Kızge ıkre Krallen, ein» un? zuä;ıchen fsuu umt 
wecurk fie uch einen Feten Standrunkt üchert. Tite Rınrecfiesge Tat irn 36 
zabnt unt Heben mit über-, jeatern nebeneimanter, #e Tat barz, ſebt franz, 
auch Eeite kareziit, ic Tag ne das Laub mir ter aresıen Yartrıyferr erianen 
unt <erarfeiien. Tie kernarriae Haut, weite Kert unt Kırfern umgibt, aemüeen 
kieiem Korreribeil keientere Stärke. Ter Tarmfanı. if ein ein’ater yrab- 
finizer Schlau obne Mayen, nur tur einige Ein'tnürunien gegiietert. Ja 
keiten Seiten liegen Heine gewuntene Raniie, mit zie.en Zufrichren umzehen, 
worin ñch ter Rabrungdiarr in eine belle Alu'nafen ausicherter, Tie zur Piltamy 
ter Seite beſtimmt it. Tas ganze munterkar feine Rebrenſentem gebt ;u beiten 
Eriten in einen Haupıfanal uber, ter ten Aüinzen Seiten'ter sum Munde fahr, 
wäbrent eine Heine Seitentrü'e noch Ten Kiekitc dazu Irenter. Aus den wei 
kleinen Leitnungen unter tem Munde treten Die zwei winzigen beillen Irap’cben, 
welde tae bier an irgent einen Gegenttant anflekr: indem c& die ınımer nad 
auellente Feuchtigkeit durch Hin- unt Herbaregen des Kerfes zu zwei koch 
arten Fäden berausziebt, vereinigt ed dieſe zu gleicher Zeit mir Hülfe ter beiten 
Borterfüge au Einem Faden, mwelder an tie Luf metend zugleich Fert und reden 
wirt. Tie Srinnlecher ter Scitenraure liegen in ter Unterlipre. Alle dieie 
heile und Organe find schon kei ter Fleinen eben auägeihlurften Raupe zu 
entteden; und zwar ſchon röllig ausgebildet! Am Kopre beñnder jich noch eine 
Anzabt ſchwarzer Runfte, tie man wohl tie Augen genannı Bar: aber ed if 
noch keineswegs entichieten, ob Tie Seitenraure wirkliches Schzermögen befitzt; 
Srietrih von Beullenois, Sekretär ter franzoiichen Seidenbau-Geſellſchaft, ver 
neint ed gerateau. 

Um 9. oter 10. Tage der legten Beriote, nachtem tie Raune Tas Unglaub— 
liche in ter Freßkunſt geleiiter bar, Hört fie nur, Rabrung zu ſich zu nchmen; fie 
ſchlerpt ſich unruhig und träge fort, um eine paſſende Stelle für ibre Verwande 
fung zu juchen. Wan bat Das Geſtell ſchon zu dieſem Zwecke eingerichtet, naͤm⸗ 
lich Geſträuch, Heitefraut oder Hobelſpähne zwiichen Die Leiften geſteckt. Da Vie 
Raupen im Tunfeln am liebſten ſpinnen, 10 bedeckt man ſie mir Papier oder 
fonit einem Gewebe; ein Falter Luftzug würde jle von Tem angefangenen Ges 
ſpinnſt cericheuchen, eine zu große Hige aber auch träge machen: deshalb hält 
man die Temperatur zwiſchen 1-18” R. 

Zuerſt ſteckt ſich die Epinnerin mit einigen Faͤden Die Grenzen ab, innere 
halb teren fle die Wiege ihres neuen Lebens nehmen will. Sie zieht nun die 
‚Siten aus ihrem Munt unt mittelit fornvährenden Drebens ihres Vorderkör⸗ 
perd bringt fie das Gewebe zu Stande, weldyed man ten Kokon oder tie Ga⸗ 


.- Die Seidenzucht. 507 


fette nennt und das aus einer äußeren Hülle (dem Ueberzug) befteht, welche 
das eigentliche Puppenhaus fchügend umgibt, da8 den Seidenfaben enthält, und 
endlich aus einer filzigen Dede, die fi, unmittelbar um die Puppe berumlegt. 

Der gelbe oder weiße Kofon ift länglich rund und befteht aus einem ein- 
zigen in der Form einer liegenden Acht (co) aneinandergefügten Baden von 
1000 bi8 1500 Fuß Länge, Drei bis vier Tage braucht die Raupe zum Bau 
ihres Puppenhauſes, das für fle ein Kerker wird, aus welchem le der Menſch 
nicht mehr Tebendig hervorgehen laͤßt. Die Kokons, welche männliche Puppen 
enthalten, find Eleiner und in der Mitte etwas mehr vertieft. Unbeweglich ruhen 
die Buppen in ihrem Gehäuje; laͤßt man dieſes unverfehrt, fo kommt nach 18 
bis 20 Tagen der Schmetterling hervor, welcher an einer Stelle mit feinem 
rothen aͤtzenden Saft da8 Gewebe erweicht und fich eine Deffnung macht. Die 
zufammengerollten Fluͤgel entfalten fich fogfeich und wir haben einen Racht« 
fhwärmer vor und mit grauweißen gezähnten Flügeln und geziert mit zwei ele⸗ 
ganten Fammförmigen Büllhörnern. Die Männchen find etwas Eleiner und Ich» 
hafter von Farbe ald die Weibchen. Sie frefien nicht, fliegen auch nicht umber, 
es ift bei ihnen nur auf die Paarung abgefehen; nach diefer Tegt das Weibchen 
300 bis 500 Eier, welche anfangs hellgelb find und dann immer dunkler wer« 
den. Bei folcher Sruchtbarfeit bedarf e8 nur einer geringen Anzahl von Paaren, 
etwa 50, um 1 Loth Eier zu erhalten. Die übrigen Kofond läßt man nicht aus⸗ 
Ichlüpfen, da Diejenigen, welche vom Schmetterling durchbrochen find, Feine feine 
und gleichförmige Seide Tiefen, fondern man tödtet alle Buppen durch heißen 
Wafferdunft oder durch Steinfohlengad. Die Kokons werden nach guten, Mitte 
Veren und fehlechten fortirt, in beſonderen Keffeln mit fiedend heißem Waſſer 
„gebadet“ und mit einem Beſen „abgefchweift”‘, d. H. umgerührt; dadurch wird 
der thierifche Leim, der die Faden ded Kofon verbindet, aufgelöft und zugleich 
hängt fich die Bloretieide an den Befen an. Je nachdem die Käden flärfer ober 
Ichwächer werden follen, nimmt man die Enden von 6, 8, 12 und noch mehr 
Kokons zu Einem Baden zufanımen, befefligt diefen am Haspel und fpinni fo bie 
Seite ab. Uebrigens werden zu gleicher Zeit zwei Strähne gehaspelt. Da aber 
die Kofonfäden nach innen immer dünner werden, und 3. B. 5 Halb abgelaufene 
Kokonfäden nicht dicker find ala 4 friich begonnene, fo muß man an die Faäden 
von ziemlich abgelaufenen Kokons noch frifche Kofonfäden hängen. Für bie 
feinfte Organzin oder Kettenfeide nimmt man nur 3 Kofond zu Einen Baden 
zujammen. *) 








*) Die Kettenfeive (organzine) fommt von den beten Kofons, wird ſtark ges 
dreht und gewöhnlih aus 2 Fäden gegwirnt, wovon jeder wieder 3 bis 8 einfache 
Kokonfäden hat. Trama (Binfchlagfeide) wird von geringeren Kokons genommen, 
erhält fchwächere Drehung und befteht aus wenigen Rohſeidenfäden: die Pelfeide 
ift ein grober Rohſeidenfaden von 8 bis 10 Kokonfäden, aus den Kokons der geringften 
Sorte, vorzugsweije zur Darftellung der fogenannten Geld: und Silbergefpinnfte bes 
ftinmt, wobei der Seidenfaden mit dem Lahn oder geplätteten Draht umwickelt wird. 
Die „Nähfeide” wird aus 2 cder 4 Rohfeidenfüden durch entgegengefeßte Zwirnung 
bereitet; Stridjeive ähnlich, aber vier und ſchwächer gezwirnt. Stidfeite (flache 
Seide, Plattfeive) aus einem oder mehreren Rohfeidenfäben mit fehr ſchwacher Drehung. 


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. Die Seidenzucht. 509 


dings mancherlei Seuchen ber Seidenraupen gehören, mit in Anfchlag bringt, 
fo haben dieſe doch einen Liebergang, und felbft alle Auslagen. mit eingerechnet 
bleibt die Seidenzucht Iohnender ald der Weinbau, und das Kapital, das auf fe 
gewandt wird, verzinft fich mindeſtens auf 10 PBrocent.*) Dazu fommt, dag von 
den 12 Monaten des Jahres blos 2 für die Raupenzucht und das Abhaspeln der 
Kofons in Anfpruch genommen werden, und dies zu einer Zeit, wo der Ackerbau 
am wenigften die menschliche Kraft in AUnfpruch nimmt. 

Der Maulbeerbaum, Seit ven aͤlteſten Zeiten ift dad Blatt des weißen 
Maulbeerbaumes (Morus alba) als die für die Seidenraupe angemefjenfte, die 
feinfte und befte Seide ergebende Nahrung anerfannt worden. Durch feine faft« 
grüne Farbe muß ſich dad Blatt als ein friiches, geſundes erweifen; fahle und 
vergilbte, mithin alle troden gewordenen Blätter taugen nicht; auch iſt ein 
mageres Blatt. beffer, als cin fettes, weil jenes mehr harzige Theile enthält, als 
Diefed. Man kann die rechten Blätter durchs Kauen erproben; wenn fie einen 
harzigen, zähen, fadenartig fich ziehenden Speichel ergeben, fo find jle gut. Die 
zu fetten und waflerreichen Blätter laßt man erft etwaß verdunften, bevor man 
fie den Raupen darreicht. 

Die Zrüchte des weißen Maulbeerbaumes find unfcheinbar, meift weiß, auch 
hell violett und röthlich, füß zwar, aber von keinem außgezeichneten Gejchmad. 
Dagegen erzeugt Der Schwarze Maulbeerbaum (Morus nigra) die befannten fehr 
faftreichen Brüchte von fihwarzer Farbe und angenehm jüßsjäuerlichen Geſchmack. 
Was cr aber am Fruchtſegen vor dem weißen Maulbeerrbaume voraus hat, wird 
der Güte des Laubed entzogen, das viel gröber ift und der Feinheit der Seide 
Abbruch thun joll, weshalb man ed nur im Nothfall füttert. Indeſſen bleibt es 
ſchr bemerfenöwertb, daß auf den Kanariichen Infeln nur die Blätter des 
fhwarzen Maulbeerbaumes zur Fütterung der Raupen verwendet werden; bie 
dort gewonnene Seide foll außerordentlich jtarf fein und ſich durch lange Halt- 
barkeit auszeichnen. Uebrigens ift der ſchwarze Maulbeerbaum viel empfindlicher 
gegen die Kälte und rauhen Winde, weshalb e8 in Deutfchland felten gelingt, 
ihn zu hohem Alter und zu feiner natürlichen Größe, die 40 bis 50 Fuß beträgt, 
zu bringen. Auch treibt er im Frühjahr einige Wochen fpäter, als der weiße, fo 
daß er diefen in Nothjahren, wenn Spaͤtfröſte bie jungen Triebe des weißen 
Maulbeerbaumes getöbter haben, zu ergänzen im Stande if. Seine Blätter, bie 
oft einen halben Fuß lang und breit werden, find herzförmig und am Mande ges 
zähnt. Die Rinde des Stammes hat eine Dunkle Farbe. 

In Nordamerika it der vothe oder virginifche Maulbeerbaun (Morus 
rubra L.) heimijch, der dort in den Wäldern bis zum 44° nördl. Dr. fogar wild 
wächft, und eine Höhe von 40 bis 50 Fuß erreicht. Seine 6 Zoll langen und 
herzförmig geftalteten Blätter find nach der Epige zu fcharf gezähnt, in der erften 
Zeit ‚Haven ſie auf Der Unterfeite einen wolligen Ueberzug; die Hier ſtark ent⸗ 
wirfelten Nippen bilden an der oberen Fläche, die fletd rauh und bart ift, Fleine 


*) Ferries in Frankreich, ein erfahrener Seidenzüchter, berechnet 10 bis 15%o 
mit Tilgung des Kapitals! 


510 Gewerbe und Induſtrie. 


Furchen. Die rothen Früchte geben ein fehr gefchägtes Beerenobſt. Die Blätter 
liefern ein gefundes Futter für Die Seidenraupe, und da der rothe Mauldeerbaum 
alle guten Eigenfchaften des weißen und fchwarzen Maulbeerbaumes in ſich ver⸗ 
einigen ſoll, fo waͤre ſehr zu wunſchen, bag man ihn in Deutſchland heimiſch 
machte, zumal da er dem Froſt kraͤftigen Widerſtand leiſtet. 

Die weißen Maulbeerbaͤume theilt man ein in Wildlinge und in ver- 
edelte. Jene bilden Die Stammart und liefern zwar ein für die Raupen ſehr 
zuträgliches Futter, weil ihr Laub nicht allzu faftig iſt, aber fie ſetzen zu viel 
Früchte an und bringen weniger Raub als die veredelten. Darum Hat man in 
allen Ländern, wo tie Seidenzucdht in größerem Mapftabe betrieben wird, bie 
Maulbeerbäume gleich den Obftbäumen durch Pfropfen, Kopuliren und Ofus 
liren zu verebeln gefucht, nur mit dem Unterfchiede, daß der Endzweck darauf 
hinausging, nicht die meiften und beften Brüchte, fondern umgekehrt die Eleinften 
und unbebeutendften Beeren, dagegen das meifte und Fräftigft entwidelte Laub 
zu erzeugen. 

Der veredelte Maulbeerbaum hat ein viel größeres und faftbolleres 
Blatt als der wilde; die Lappen bes letzteren ſchließen fich zufanımen, die Form 
wird herzförmig zugeipigt, dad Grün gefättigter. Der edle Maulbeerbaum trägt 
wenig Früchte und Der darin enthaltene Same iſt felten zur Ausfaat tauglich, 
weshalb die Vermehrung vorzüglich durch Liebertragen von Knospen auf bie 
Wildlinge gefihieht. Der Baum wird in der Krone befchnitten und fchießt nicht 
fo Hoch auf, aber fein Gezweig ift dadurch mehr ind Gleichgewicht gebracht, 
weniger fparrig, das Holz wird glatter und gerader; das breite Laub ift Teichter 
zu pflüden und hält fich mehrere Tage lang frifch an einem Fühlen Orte. Diele 
GSeidenzüchter geben zwar den Raupen in den beiden erften Lebensperioden gern 
Laub vom wilden Maulbeerbaum, weil fie der Meinung find, daß zu Diefer Zeit 
das ‚artere Blatt den jungen Raupen mehr zufagt; doch ift durch vielfache Er⸗ 
fahrung eben fo ficher geworden, daß von vornherein das Raub des edlen Maul⸗ 
beerbaumes den Raupen vortrefflich befonmt. Es ift ein ganz zweckmaßiges 
Verfahren, die Wildlinge in Hecken zu ziehen, die, in gefchügten jonnigen Lagen 
angelegt, den Seidenzüchter e8 möglich machen, fein Gejchäft um mehrere Tage 
früher zu beginnen. 

Wie bei der Korfeiche die ganze Kraft der Pflanze auf Wiedererzeugung 
der Rinde zu gehen ſcheint, und man den Baum nicht nur ohne Gefahr abſchaͤlen 
kann, ſondern ihn jogar abſchaͤlen muß, wenn er ſich vollſtändig entwickeln fol: 
fo iſt bei dem veredelten Maulbeerbaum der Haupttrieb auf die Blaͤttererzeugung 
gerichtet, und während unſere Obſt- und Waldbäume hinſterben würden, wenn 
wir ihnen alle Blätter raubten, treibt der Maulbeerbaum immer wieder neue 
Blätter, um fle ein Jahr nach dem anderen fich wieder abpflücken zu laſſen. Die 
Raupen, welche unfere Wald» und Gartenbäume verheeren, laffen noch manches 
Blattſtück und dazu die Blattftiele übrig; die Menfchen aber pflüden Blatt und 
Stiel des Maulbeerbaumes ab; c8 ift ein trauriger Anblid, fo eine kahl gerupfte 
Pflanzung zu fehen, und doch ſteht fle bald wieder in grünem Blaͤtterſchmuck da. 
Und e8 betarf keineswegs eines fehr fetten Bodens und übermäßigen Düngeng, 


Die Seidenzucht. 511 


um den Baum bei Kräften zu erhalten, fondern nur eines trodenen, warmen, 
tiefen und dabei lockeren Bodens mit Teichtem Humus. Gin lehmiger, uͤberwie⸗ 
gend feuchter und Falter Boten ift ungünftig, und muß durch Sand, Schutt, 
Kalkmergel und dgl. gelodert werden. Damit Luft, Licht und Wafler ungehin- 
derten Zutritt haben, verlangt der Boden eine zweifache jährliche Bearbeitung, 
die erfte im März, die zweite unmittelbar nach der Blatternte, und falls ein fehr 
nafler Sommer das Erdreich mit Unfraut bedenkt bat, ift ein drittes Reuten und 
Behacken ſehr erfprieglich. Am beften eignen ſich aljo zu Maulbeerpflanzungen 
Aecker und Gärten. Wenn man (wie 3. B. in Baden umd Heffen, in Ober⸗ 
öfterreich und dem nördlichen Böhmen gefchieht) mit Nugen Obftbäume auf die 
Hecker pflanzt: fo kann dies noch unbedenklicher mit Maulbeerbäumen gefcheben, 
da diefe Dem Boden den geringften Schaden verurfachen. Wenn man an die 
Hochflämme auch nicht gern Getreide oder Futterfräuter mit tiefgehenden Wur⸗ 
zeln, wie Luzerne und Esparſette, pflanzen mag, fo find Raine und Aderränder, 
Berglehnen und jelbft Waldlichtungen, zu denen die Sonne guten Zutritt bat, 
und fonft eine Menge von unbenugt bleibenden Plägen noch viel mehr auszu⸗ 
beuten, al8 dies zur Zeit gefchieht. 

Bon den vielen Spielarten des weißen Maulbeerbaumes wollen wir nur 
zwei hervorheben: den fpanifchen und italienifchen. Der fpanifche hat 
ein faftwolle8 dickes Blatt von dunfelgrüner Farbe und eine ganz weiße Frucht. 
Nor 80 Jahren wurden Stänme von Kadir im füdlichften Spanien nad) Stettin, 
der Rordfüfte Deutfchlands, übergepflangt und gediehen dort fehr gut; ihre Fort⸗ 
pflanzung tft eben fo leicht durch Augen als durch Samen. zu bewerfitelligen. — 
Der italienische oder Nojen-Maulbeerfiraud ftellt fich wie unfere Zwerg⸗ 

äpfelbiume dar und bleibt oft in bloßer Buchform. Seine Blätter find viel 
fetter, zarter und glänzender, als die des jpanifchen und laſſen fich wegen der 
geringen Höhe des Stammes beſonders leicht pflücken. Die reife Frucht ift von 
afcharauer Farbe. Die Blätter, die nach der erften Ernte fehr üppig zum zweiten 
Mal treiben, fallen nach den erften Reifen und Nachtfröften des Herbſtes faft zu 
gleicher Zeit ab und geben ein guted Yutter für Rinder und Schafe; man fann 
fle vollftändig dörren, oder auch etwas abgewelft unter Weizen- und Roggenſtroh 
mifchen, wo ſie fich nicht erhigen oder faulen. Die Kühe jollen bei diefem Kutter 
eine reichliche und fette Milch geben. In den Gebirgsgegenden des Rhone⸗De⸗ 
partementd und in den Sevennen, wo da8 Klima keineswegs milder ift, ald bei 
und in Deutfchland, gedeiht dieſer „Roſen⸗Maulbeerſtrauch“ vorzüglich, und 
feine Blätter follen ganz beſonders zur Schönheit der Seide beitragen, welche 
Lyon in feinen berühmten Fabriken verarbeitet. 
| Daß das Holz fowohl des weißen wie des ſchwarzen und rothen Maulbeer⸗ 
baumes fehr feſt und zähe ift und nicht minder zu Waſſerbauten wie zu Möbeln 
und Gefäpen fich eignet, wollen wir nur beiläufig bemerken; bagegen — zum 
Beweiſe vom Meichthum des Leim⸗ und Faſerſtoffes, der in der Pflanze ſteckt, — 
hervorheben, daß die Rinde des weißen und fchwarzen Maulbeerbaumes fich ſehr 
gut zu Matten, Striden und Seilen verarbeiten läßt und durch gehöriges 
Klopfen, Auswafchen und Uuslaugen eine dem fchönften Flachſe ähnliche fehr 


512 Gewerbe und Induftrie, 


„weiße Faſer gibt, die zu Dauerhaften Zeugen verfponnen werden kann. Die frijch 
abgefchälte Rinde laͤßt fich binnen 24 Stunden in ein vorzügliches Papier ver 
wandeln, und e8 bedarf dazu Feined Zuſatzes von thieriichem Leim. Bekanntlich 
haben die Chineſen eine Morudart, den fogenannten Papier Maulbeerbaum, 
ſchon längft zur Papierbereitung benugt; er heißt bei ihnen Kou Baum (Brous- 
sonetia oder Morus papyrifera), und fie pfropfen aud) wohl auf ihn den gemeinen 
Maulberrbaum, um breite und dicke Blätter zu befommen. 

Mit der Kulturfähigfeit unferer Obftbäume vereinigt der Maulbeerbaum 
aber auch die Triebkraft unferer Weiden und Pappeln, indem er fich wie Dieje 
durch Stedlinge vermehren läßt. Man hat hierzu beſonders den philippinijchen 
oder vielitengligen Maulbeerbaum (M. Multicaulis) benugt, der ſich auch jehr gut 
als Strauch ziehen laͤßt. Man ftellt die Stedlinge 1’/2 Buß von einander, 
fehneivet fie alle Jahr einige Zoll über dem Erdboden weg, und bededt fie mit 
Erde zum Schuß gegen die Winterfälte. Im nächſten Brübjahr treiben fie dann 
eine große Menge Triebe und Blätter, und jelbft wenn fie im Juni gepflücdkt were 
ben, find fie noch im Stande, vor dem Winter neue Blätter zu bringen. «Hier 
durch würde eine Herbftzucht Der Seidenraupen, die freilich wegen der Witterung 
manches Mipliche hat, fehr erleichtert. Man bat auch mit den aus Samen ges . 
zogenen Wildlingen Verfuche gemacht und gefunden, daß der gemeine Maulbeer⸗ 
baum ſich eben fo gut wie der philippinijche ald Stodausfchlag ziehen läßt und 
als Buſch mit Schnelligkeit treibt. Man ijt dabei alles Beſchneidens überhoben 
und hat überdied noch die Gewißheit, daß er den Winter- und Frühjahrsfröſten 
widerfieht, Die Chinefen haben einen Wildling, den fie Kou-Maulberrbaum 
(son der Provinz, worin er vorzüglich wächft) nennen ; diefer treibt ganz befon« 
ders flarf und ift in Frankreich mit großem Vortheil zum. Stodausjchlag benutzt 
worden. 

So weift die Natur den Menichen darauf bin, daß er den Maulbeerbaum 
in feine Zucht nehme und ihn zum Kulturbaum erbebe. Unter der geichickten Lei— 
tung der Menfchenhand wird der Maulbeerbaun Vuſch, Zwerg, Hochitamm, um 
in jeder Form feine bejonderen Dienfte zu leiſten. Ohne zwedinäßiged Verſetzen 
werden feine fräftigen Stämme fich entwideln, und bei feinen Baume ift das 
Beichneiden jo wichtig wie bei Dem Maulbeerbaume. Durch den Schniti wird 
ein dreifacher Zwed erreicht: Längere Dauer der Bäume (da ihre Kraft zuſam⸗ 
mengehalten an üppiger Verſchwendung gehindert wird), beſſeres und reicheres 
Laub und leichtere Gewinnung defjelben. Wollte man von den veredelten Maul- 
beerbäumen nur die Blätter abpflüden, das Gezweig aber nicht beichneiden, fo 
würden fle ebenfo zu Orunde gehen, wie die von Raupen einige Jahre hinter 
einander abgefreffenen Obſt- oder Waldbäume. Die Erfahrung bat ferner ges 
lehrt, Daß man das Laub am ziwedmäßigften nur jedes zweite Jahr ernten foll, 
da der Baum dann mehr und Fräftigeres Laub bringt, als wenn er alljährlich 
abgelaubt würde. Ebenſo appellirt er an die Einſicht und Umficht des Mens 
ſchen, Daß, wie der Weinftof in verfchiedenen Gegenden anders gejchnitten und 
gezogen wird, auch Die Behandlung des Maulbeerbaums nach der Beichaffenheit 
des Klimas in der Oertlichkeit fich richten muß. Zur das Klima von Paris 


Die Seidenzucht 513 


3.8. hat fi als das Hefte Syſtem des Beſchneidens erwiefen, daß man jetes 
Frühjahr vom erfien Jahre nach Anlage der Anpflanzung die vorjährigen Triche 
bis anf 3 oder 4 Augen abkürzt und der. Krone die Becherform gibt. Die zeitige 
Unterbrüdung ber. überflüfflgen Triebe ift gleichfalls nicht zu unterlaflen. Indem 
man die jungen noch nicht verholzten Reifer mit den Rägeln der Singer, die ver⸗ 
bolzten mit einem Meſſer dicht am Zwrige vorfichtig wegnimmt, vermeidet man 
das Ablöſen größerer Zireige, das oft zu gefährlichen Wunden Beranlaffung gibt; 
man nugt von vornherein Die ganze Triebkraft ber Bäume und erhält ihr Gleich⸗ 
gewicht. 

Bor dem 10. Jahre, alfo 3 bis 5 Jahre nad d der Berfegung, dürfen bie 
hochſtaͤmmigen Bäume nicht entlaubt werden. Die nicht veredelten liefern, wenn 
der Stamm über der Erde einen Umfang hat 

son 10 Zoll 6 His 10 Pfund Laub 

„415 „12,16 „ n 

„138 „16 „ 29 „ „ 

„21 ‚20 „ 24 „ „x. 
Die veredelten Bäume liefern einen faſt um !/3 größeren Ertrag. 

Haben die Buſchbaͤume das Alter von 10 Jahren überfchritten und ſiehen 

fle auf Fräftigem Moden, fo liefert einer 
5 bi8 10 Pfund Laub im Alter von 10—15 Jahren 

10,18 „ nn mn „ 15-20 „ 

18 „ 24 ⸗ "mn m „ 20— 25 20 

24 „ 30 7, (Ze TE 7 1 25—30 %„ 

3050,36 m „ 30—40 „ 
Dieß find ganz anfehmliche Erzeugniffe von Laub; man muß aber dabei erwägen, 
daß die Bäume jedes andere Jahr gefchont werden, aljo in doppelter Anzahl vor: 
handen fein müffen, wenn ibr Befiger feine Rechnung finden will. Wer 1 Loth 
Gier audlegt, bedarf 10 Eentner Raub; von dem oben angegebenen Umfange von 
10 Zoll am unteren Ende des Stammes liefert ein Baum 16 bid 20 Pfund 
Dlätter, es find aljo 50 bis 60 Bäume nothiwentig, um die 10 Gtr. Laub zu 
liefern, und da fie in doppelter Zahl vorräthig fein müflen, werben 100 bis 126. 
Baͤume von der angegebenen Größe erfortert. 

Man hat allerlei Verjuche gemacht, ob nicht einheimifche Pflanzen ein Fut⸗ 
ter für die Seidenraupe bieten könnten, und dabei gefunden, daß nur milchſaft⸗ 
reiche Pflanzen, wie Salat, Bodsbart und Skorzonere im Stante find, 100 Rau⸗ 
pen jo zu ernähren, Daß mit Roth 5 bio Höchflend 10 Kofond daraus gewonnen 
werben. Auch hat man Verſuche mit getrocknetem Laub gemacht, Dad vom zweis 
ten Trieb im Herbft, ehe die Nachtfröfte eintreten, gepflüdt, an der Luft getrod- 
net und entweder jo, oder ganz gepulvert in Flaſchen aufbewahrt wird. In Hals 
Ien der Noth Eann ein folches mit Maufbeerfyrup befeuchtetes und mit Reiß⸗ oder 
Weizenmehl untermifchtes Pulver ſchon ein paar Tage lang dad Leben ter Rau⸗ 
pen friſten. 

Von großer Wichtigkeit ift es, daß die Maulbeerbäume in einem getüngten 
Boden gezogen werden. Auf Villa Bella am Rhein wurden Berfuche mit chineſi⸗ 

33 


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Die Seibenzucht. 515 


Seidenzucht. „Beſorgt“, heißt ed u. A. „eure Landgüter und Maulbeerbaͤume 
damit ihr genügende Nahrung und Kleidung erhalten möget”. Gin Kaifer aus 
der neueren Dynaftie der Song erließ eirten Befehl: „Wenn unter dem Volle 
ſich Menſchen finden, welche unbekanntes Land urbar machen und eine große: 
Menge Maufbeerbäume darauf pflanzen, fo foll man von ihnen nur bie alten vor 
der Bebauung entrichteten Abgaben fordern.” Es wurde von Eaijerlicher Hand: 
dad Werk verfaßt, dad den Titel führt: Keng-tsehi-tu (Erflärung des Ackerbaues 
und der Weberei) und mit erläuternden Holzfchnitten audgeftattet. 

Ueber Intien drang der Seidenbau weiter vor nach Perſten und Fam dort 
zu großer Blüthe. Die Phönizier und nach ihnen die Araber verſchafften ſich 
den Alleinbandel mit der Seide und auch den alten Briechen warb ber koſtbare 
Stoff nur auf dem Handeldwege zugeführt. Doch Tieferte die Infel Kos (Keos, 
heutzutage Bio), eines von den Eyfladeneilanten, ſchon frühzeitig Kokons von’ 
Seidenraupen, bie ſich von den Blättern der Terebinth, Cypreſſe, Efche und ſelbſt 
der Eiche nährten. Die „Taifchen Gewänder” waren durch die Feinheit und 
Durchſichtigkeit ihres Stoffes ausgezeichnet, weßhalb die alten Moraliften fehr- 
gegen das Tragen derfelben eiferten. Den Römern blichen feldene Kleider bis 
gegen das Ende der Nepublif ein unbenupter Schmuck; dann begann man, halb» 
feidene Stoffe in Rom zu weben. Die Kaijer bemüheten fich auf alle Weiſe, mit 
Ehina einen direkten Handelsverkehr zu eröffnen, aber vergeblih. Da die Chi⸗ 
nejen nicht einmal Robfeide zur Ausfuhr geftatteten, fondern nur die von Ihrem’ 
Bereit® gewebten Zeuge, fo mußten diefe in den Ländern Europa's erft wieder aufs 
gezupft und von Neuem gewebt werden, wenn man Schleier oder fonft feine durch⸗ 
fichtige Stoffe gewinnen wollte oder folche Zeuge, wie fie das Beduͤrfniß des Lan⸗ 
des verlangte. Darum waren die Seidenftoffe fo theuer und es galt als ein Bei⸗ 
fpiel unerhörter Ueppigfeit, als die Kaifer Heliogabal und Ealigula in Tauter 
Seitengewäntern erfchienen, und andererfeitö ala einen Beweis von Charakter 
ftärfe, als Kaiſer Aurelian den Bitten feiner Frau wiberftand, welche ihn um 
ein ſeidenes Kleid beſtürmte. 

Auf die Dauer konnten indeß die Chinefen den -Alleinbeftg der Seidenerzeu⸗ 
gung nicht behaupten. Der Mönchslift gelang es, Raupeneier ungefährbet von 
Afien nach Europa zu bringen: zwei chriftliche Sendboten nom Orden der Reftos 
rianer brachten dem buzantinifchen Kaifer Juſtinian in ihren hohlen Stäben 
Grains nah Konftantinopel (um die Mitte des ſechſten Jahrhunderts nach 
Ehrifto), und die edelſten Damen nahmen fich fogleich mit Dem größten Eifer der 
Seidenzucht an; auf Befehl des Kaiferd wurden nicht bloß in ter Hauptſtadt, 
fondern auch in Athen, Korinth und Theben Seidenmannfafturen angelegt. 
Nun war Griechenland in Beſitz des wertheollften Kleidungsftoffrd und mußte 
fich denſelben bis in's zwölfte Jahrhundert zu fichern. Als Roger II., König von 
Sizilien, im Jahre 1146 gegen den byzantiniſchen Kaifer Emmanuel Krieg führte 
und die Stätte Korinth, Athen und Theben eroberte, nahm er Seidenarbeiter 
von Dort mit nad) Sizilien, und der Hauptſitz der Seitenfultur ward nun Pa⸗ 
lermo. 

Wiederum waren es politiſche Unruhen und Verwickelungen, welche den 

33* 


526 7Eiteraturgefchichte. 


cher deine bewundernswerthen Schoͤnheiten den neugierigen Blicken verhüllt, 
welche zauberiſche Stunde, welche Harmonie, welche Freude fuͤr Deine lieben⸗ 
den Verehrer.“ | | u . 

„Mit welch’ frommen Entzüden empfindet meine Seefe dann, verloren 
in den ewigen Aether, diefe gegenfeitige Liebe, welche Die Sterne fich zu ein⸗ 
ander neigen und bie Wolfe über dem zitternden Schooß des Meeres ruhig 
ſchlummern läßt. 

„Sa ein unlößbared Band vereinigt die Greatur mit dem Schöpfer. Der 
raujchende Wald, der fhlummernde See, der braufende Sturzbach, ber 
wehende Zephyr, Alles erhebt feine Stimme zu einer Hymne auf bie Har⸗ 
monie des Univerfums. — Ich mit meinen Elagenden Mißtönen, mit meinen 
unnügen Verſen bin in diefem ungemeinen Einflange ganz am unrechten 
Orte und erfcheine mir diefen unfterblichen Meifterwerke gegenüber wie ein 
abgeriffenes Glied, traurig, verlaffen, fremd in der rings um mich Liebe ath⸗ 
menden Schöpfung, ähnlich dem Epiegel des Waſſers, welcher die farbigen 
Rebel der Luft, die Blätter der Bäume, die Blumen des Frühlings wieder 
ftrahlt und weder deren Form noch Farbe durch fich felbft Hat.” 

Bon diefem Dichter will ich noch eine reizende Erzählung, „die Reiſende“ 
bezeichnet, hier anführen. Sie ift eine der gluͤcklichſten Rachahmungen in ber 
originellen und fehmuclofen Art und Weife der volfsthümlichen Barden. Sie 
lehnt fich vollftändig an den Stil diefer Tegteren an und bedient fich einer natür« 
lichen Einführung, eined Prologs, wenn man will, in dem Gemälde der erſten 
Iterarifchen Periode, welche der Zeit folgte, in der die Improviſatoren bie einzi- 
gen Vertreter der hellenifchen Poefte waren. 

„Liebliches Kind mit goldenem Haar und alabafterweißen Schultern, 
was wandelft Du auf diefem öden Pfade? Es iſt Mitternacht; weißt Du 
nicht, daß in diefer Stunde die Geifter umgehen, die Elfen über den Wiefen 
ſchweben und die Rereiden*) auf den Bergen tanzen? 

„Wenn auch die Nereiden um dieſe Stunde tanzen, fo mögen fle e8 nur 
thun; ich trage Fein Verlangen nach denfelben. Ihr, die Ihr daher kommt, 
habt Ihr meinen ‚Heißgeliebten nicht auf den Wegen gejehen, die Ihr gewan⸗ 

x belt feid? 

„Und wenn wir Deinen Heißgelichten gefehen hätten auf den Wegen, 
die wir gewandelt find, woran hätten wir ihn erfennen follen ? 

„Er war groß und ſtark, jung und ſchön wie die Sonne im Frühling; 
fein Lächeln war fanft wie ein Tichlicher Maitag, er fang zur Lyra wie Die 
Nachtigall. Er barg Honig im Munde, Liche im Auge, Tugend in der Seele 
und mic) in feinem Herzen. Wir hatten Jahre der Freude und des Glückes 
zuſammen verlebt wie ein Baar unzertrennliche Turteltäubchen. Eines Tages 
jagte er gu mir: Höre mich an, laß Dich umarmen, ich muß Dich verlaffen. 
Siehſt Du dort unten? — Die Kugeln fallen wie Hagel und Degengeflirr 








*) Im Neugricchifchen werben die Nerdiden oder Neräiden nicht allein für Waſſer⸗, 
ſondern auch für Berggeiſter gehalten. 


Griechenlands -Iter. Wiedergeburt. - 527 


Hallt wieder. — Diefes Geräufch ruft nach mir. Betrachte dieſe Palikaren 

(freiwillige griechiſche Krieger), fle tanzen ihren Eriegerlfchen 
Tanz; das treibt mich an, um anzuführen ihr wildes Chor. Hörſt Du das 
Seufzen der rauen, das Wimmern der Kinder! Alles das fordert mich auf 
zur Rache. 

„Du ziehft alfo fort, mein Betreuer! Du ziehft und Läffeft mich allein! 
Du wirft anderen Schönen begegnen, Du wirft eine Andere Lieben und mich 
vergeſſen. | 

„Weine nicht, mein Kind; neige Deine Stirne an meine Lippen und laß 
Dich umarmen! Lebe wohl, ‘gehe e8 Dir gut! Ich werde Dir treu fein bis 
zum Tode. Wenn der Schnee dreimal gefallen und dreimal wieder geſchmol⸗ 
zen fein wird, wirft Du meine Schritte und meine Stimme hören und wieder 
an meinem Herzen ruhen. 

„Und fo 30g er von dannen! — Dreimal iſt der Schnee gefallen, drei⸗ 
mal iſt er wieder geſchmolzen, und ich Habe drei büftere und unglüdliche 
Jahre durchweint. Ich Habe ihn nicht gehört, ich Habe ihn nicht wiedergefehen. 
Und jegt nun durchwandre ich die Berge, die Fluren, die Arten, bie Wüften. 
Ihr Wanderer, die Ihr mich anhört mit Thränen im Auge, gibt es für mich 
feine Hoffnung nıehr? Habe ich diefe nicht mehr, o fo gebt mir den Tod. 
Wanderer, die Ihr Euch freut über die Herrlichkeiten Eurer Reiſe, fagt mir, 
habt Ihr ihn gefehen? Wenn Ihr ihn bei irgend einem Feſte gefehen, fo eile 
ich zu ihm Hin, Habt Ihr fein Grabmal gefunden, fo will ich mich neben ihm 
einfenfen Taffen. 

„Süßes junges Mädchen, da8 Du mich fragft, ich Habe Deinen Gelieb⸗ 
ten geſehen. Er lag nicht im Brabe, er war nicht bei einem Feſte; allein er 
wanderte mit 1000 Männern. Gehe dort hinunter, fleige auf jenen Berg, 
der fich über dieſen Weg zieht, vielleicht wirft Du ihn dann noch ziehen fehen. 
Seine Kleiter find fchwarz, feine Thränen find glühend, fein Gewehr iſt ges 
ſchwaͤrzt und auch fein Herz iſt traurig. \ 

„Das Mädchen flieg Hinab und betrat den angebdeuteten Weg. Sie 
klimmt über Feljen, an Abgründen vorüber erereicht fle den Berg. Neben 
ihr fchweifen und brüllen die wilden Thiere des Waldes, fte ift allein, ihre 
Vielgeliebter kommt nicht. Ihre Augen glühen, ihr Herz fchlägt fieberhaft, 
fie fett fich auf einen Raſenhuͤgel voll tiefer Trauer und fingt. Eine Stimme 
laͤßt fich hören. 

„Wer Hat meinen Schlummer geftört? Wer drünkt den friſchen Rafen 
auf meinem Grabe? War ich Fein würbiger Palikar? Ich habe 30 Türken 
getöbtet und 40 zu Gefangenen gemacht. Lorbeeren ſchmückten mein Schwert 
und meine eier. Ich wuͤrde zurücfommen, Hatte ich gefagt, wenn der Schnee 
dreimal gefallen und geſchmolzen ift, aber als ich Dies Verſprechen gab, Dachte 
ich nicht an den unbeugfamen Charon*). Vor den dritten Schneefalle aber 


*) Charen war ber perfoniftcirte Tob bei den alten Griechen und hat auch gegens 
wärtig noch biefe Bebeutung beibehalten. 


traf mich eine Kugel auf meinem Wege. Bein Körper ift kalt, meine Liche 
allein it immer noch heiß. 

„L Zu bi es, ich höre Teine Schritte, ich erfenne Teine Stimme. 
Die lange Zeit. halt Tu mich allein und in Verzweiflung gelaſſen! Jeht 
entlich, nachtem ich Tich wiedergeiehen, zerlafle ih Tich nicht mehr. 

„O junges Mitchen, meine Kammer ift finfter unt mein Lager iſt eng. 
Wo ich bin, dahin Tringen niemals Lie Strahlen ter Sonne unt ter Thau 
ter Nacht. 

„a8 frage ich danach, ob Dein Lager eng, Teine Kammer finiter if? 
Laß mich Tir folgen in tie wilde Racht des Todes, ich werte fommen; laß 
mich ruhen bei Tir in ter Tiefe des Grabes, ed wird mein Paradies jein. 

„Sie fieht ten Schatten ihres Heißgeliebten con Staub, Pulcer und 
Blut befledt, wie am Tage jeiner legten Schlacht. Tie Hunde bellen, bie 
Dögel (Kukuks) wehflagen, der Wind fireicht durch Pie Copreſſen, ein eifiger 
Rord entwurzelt bie Platanen, Klagen und Eeufjer und ein Trauerecho 
von Zoreepjalmen mit ſich daher tragent; dunkle Wolfen fieigen auf unt 
freuen Plige auß, teren Strahlen zwei Leichname beleuchten.” 

Dieie Ballate befitzt alle Gigenthümlichkeiten und yhantafiiche Aue 
ſchmückungen, weldye die volksihümliche Poefie in Epirus und Theſſalien überall 
in zahlreichen Zeijpielen darbietet. Tie Improrijatoren verfichen jich trefflich 
Darauf, joldye romantiſche Erzählungen zu erfinten, wenn fie nicht Ten Tod eincd 
Klephten oter die Züge und Thaten eines Anführers zu befingen haben. Ran⸗ 
gabe iſt fait Ter einzige unter ten griechiichen Tichtern, Der jenen weit in das 
Gebiet ter reinen Phantajie gefolgt if. Er gehört zugleich durch das Genre 
einiger jeiner beſſern Erzeugnifje ter Kategorie ber Improriſatoren und der mo⸗ 
dernen Richtung durch Die weniger abgerifjene Form an, Lie er jeinen Gedanken 
zu geben wußte, wie durch Die Zeit, in welcher er jeine Werke veröffentlichte. 
Wenn er und auch zu Ten erflen Zeiten zurüdführt, in denen die Poeſie ganz dem 
volksthümlichen Inſtinkte entwuchs, jo bringt er und ohne gewaltiume Anjtrens 
gung ‚u ter Epoche, in welcher Die Wiſſenſchaften in Griechenland Gegenjtant 
eined tiefen und angejirengten Studiumd geworden jind und von welcher aus kie 
Wiedergeburt fich fchreibt, welcher wir in ihren verjchiedenen Phaſen und reigen- 
den Bortichritten zu folgen gejonnen find. 

Der Dichter Georg Zulofojtas, einige Jahre vor Beginn ter grieckifchen 
Erhebung zu Janina geboren, vertritt förmlich Die ftarf bewegte Uebergangsepoche, 
welche unmittelbar auf die Unabhängigkeitsfämpfe folgte. Die ungewöhnliche 
Energie, des kriegeriſchen Stammes, dem er angehört, Die wilden Schönheiten 
der Gegend, in weldyer er feine Kindheit verlebte, die melancholijchen Thäler von 
Paramyhthia, die blutigen Felſen von Souli, die finfteren Wälter Dodona's und 
die grünen Berge von Pindus, in Denen er abwechjelnd feine Jugend verbrachte, 
alle diefe Eindrücke entwidelten bie Frische und Originalität jeined Talents, den 
Eräftigen Schwung feiner Lieder und Lie etwas wilte Harmonie feiner unter Dem 
Donner der Schlacht und an den nächtlichen Wachtfeuern im Bivougc eriwachten 
Muſe. Zalokoſtas war feiner Der Legten, Die zu den Waffen griffen; feine Werfe 


Griechenlande liter. Ebisbergeburt. 529 


Laffen auf jeder Seite den heldenmüthigen Streiter'neben dem Dichter erfennen. 
Er fchildert mit Vorliebe die Eriegerifchen Gewohnheiten und Leidenfchaften, die 
Kampfe Mann gegen Mann, bie-ungleichen Treffen, in: denen Kühnhelt und Lift 
beinahe :immer den Sieg dem Schwächeren verliehen. Der Khan von Gravia 
3. B. iſt der Inhalt einer: jener glaͤnzenden Spiſoden, welche zwar Die Geſchichte 
nicht aufzubewahren pflegt, die abet de Borfe Nete zu behandeln: und eubze- 
ſchmuͤcken liebt. 


„Gravia gegenüber Hallt der em vom Beräufch der Waffen wieder, 
die goldnen Waffen Hfigen, weiße Helmbüfche wallen; durch einen verſteckten 
und abſchüſſigen Felſenſprung marſchirt ein Trupp Soldaten; der Teichtfüßige 
Odyſſeus iſt es, der fle anführt; er führt fle gegen den Khan, es gährt in 
feiner Bruft ein kuͤhnes Wageftüd. 

„Tapfere Gefährten, fagt er, das Vaterland ruft Euch; eine unzählbare 
Armee ftürzt ſich auf diefe Stätte, und diefer Düftre Ort Fann für uns ein Feld 
unfterbfichen Ruhmes werden. Sparta's alte Geldengeifler werben fich er- 
heben und der Erdboden wird erzittern unter den Füßen der erfchrodenen 
Türken ; Diakos' Schatten wird mit großer Breube das Feuer unferer Mus⸗ 
queten vernehmen. 


Und in der That überfchreiten gar bald Maſſen von Barbaren ben Fluß; 
die Männer ſchreien, die Pferde wiehern, die Feinde find da. Bon dieſem Augen- 
blicke an befchäftigt fich die Phantafle des Dichters mit deu geringften Zügen der 
Handlung und er liefert gleichfam ein kleines Heldengedicht. 


„Allen voran flürzt ein Derwifch einher; er bobrt feinem Renner bie 
Sporen in die Weichen. Wohin willft Du? ruft Ihm Odyſſeus, des An⸗ 
droutzos Sohn, entgegen. 

„Dortbin will ich, wo ich die Feinde des. Propheten finde; ich will Allah 
preifen auf ihren Zeichen. 

„O Sohn des Propheten, entgegnet Obyffeus, da wo Du hingehſt, gibt 
es weder Minarets noch Mofcheen, jondern ein treffliche Gewehr, dad Taut 
fpriht. Vernimm feine Stimme. 

„Blöglich läßt der Derwifch Zügel und Säbel fallen, ſinkt zurüd und 
flürzt zur Erde, die ſich mit feinem Blute färbt. 


Nach einem tagelangen heißen Kampfe bricht endlich die Racht herein. 
„Richt mehr Hligen die Waffen heil, die Berge, die Schluchten und Wälder ruhen 
in tiefem Schweigen. Die Türfen baben ſich Hungrigen Wölfen gleich in dich- 
ten Reihen um den elenden Khan gedrängt. Bald umfängt fle der Schlaf, „der 
Bruder des Todes’. Nach Tangem Wiberftreben entfchlummert der Paſcha ſelbſt 

den weichen Kiffen, welche den Boben feines Zeltes bedecken. Kaum hat er 

die Augen gefchloffen, als der Derwifch, der vor Beginn des Treffens fiel, ihm 

erfcheint und fpricht: Befürchte Nichts, Paſcha, ich bin der Verkündiger einer 

guten Botſchaft; freue Dich, Du wirft die Briechen beſiegen!“ Und nach bier 

fem Wort entfernte fich der Todte von feinem Freunde und warf ihm einen Blick 

voll Birteren Spottes zu. Du lächelt, Paſcha, murmelte er vor feinem Ver⸗ 
V. 34 


530 nar rraturgeſchichte.: +," 


ſchwinden zwifchen feinen bleichen Lippen, bei Deinem Erwachen wirft Du heiße 
Thränen vergießen.“ oo. . BE 

Dun biefe Ingteren- Verſe will..der Berfafler ohne Zweifel ambeuten, daß 
ein ten Sellenen günftiges: höheres Weir Die Geſtalt eines Derwiſches annahm, 
um den. Paſcha in forglofe Sicherheit einzuwiegen, indene es ihm einen 'Sieg pro⸗ 
phezeite, ben ex. nicht erlangen fellte, : Die Erſcheinung eines folchen Bhantoms 
wirft wunderbar auf die Phantafle der Griechen, und fie glauben, daß ſolche über- 
natürliche Weſen die Macht haben, die Menfchen durch Träume gegen Die Gefahren 
des Eonımenden Morgens zu fehügen oder fie ind Verberben zu treiben. Man 
trifft im Inneren Griechenlands, in Epirus befonders, Häufig Frauen an, welche 
aus der Wahrfagekunft ein Gewerbe machen und die geheimnißvolle Kunft der 
Traumdeutung zu verftehen behaupten. Gewöhnliche Leute glauben unverbrüch- 
ih an dieſe Dinge, Ebenſo bilden fle fih ein, dag tie Waſſer gewifier Quellen, 
agiasma genannt, vor welchen fie nie aubalten, ohne ben Kopf hineinzutauchen, 
Kraft verleihe oder Krankheiten heile; fie glauben ferner, dag der Schatten ge» 
wifler Bäume traurige oder heitere Gedanken hervorrufe, und daß es jeit mehre⸗ 
ren Jahrhunderten geweihte Orte gebe, an denen man fchlafen müffe, um die 
Zukunft einer gewiſſen Sache fennen zu Iernen ; und wenn fle eine bange Ahnung 
quält oder eine innere Unruhe fie umhertreibt, jo verbringen fie die Nacht in 
einer Kirche, um an ber Stelle des Traumes irgend eine beruhigende Erjcheinung 
zu erlangen. 

Am folgenden Morgen begann der Paſcha, der verrätherifchen Außfage 
des Schattend trauend, die Schlacht aufs Neue; aber die Handvoll Tapferer 
drang ein in die Reihen des Khan’ und z0g triumphirend aus tiefem ungleichen 
Kampfe davon. Die Sieger hatten nur einen einzigen Verluft zu beflagen, und 
der Dichter widmet dem einzigen Opfer diefes heißen Streites rührende Worte: 

„Es ift Mitternacht; der Mond und das Heer der Sterne erhellen das 
finftre Firmament; Alles ruht in tiefem Schweigen, nur in der Berne Hallen 
noch die Echo's ſpaͤler Klagelaute. 

„Es iſt Mitternacht; Die Klephten graben ſtumm im falten Schooße der 
Erbe, fie beerdigen einen ihrer Gefährten. Keine Blume wird das Lager ſei⸗ 
Hauptes ſchmücken, Fein grüner Zweig die Vögel einladen, über ihm zu 

ngen. 

„Ueber dieſem Grabe brennt kein Weihrauch; der Pfalm der Todten er« 
hebt feine Elagende Melodie nicht; ich höre auch nicht mehr, o tapferer Ka- 
plani, die Seufzer Deiner Mutter,‘ 

Diefe legte Scene, vol Rührung und Poeſie, wirft einen Schatten weicher 
Arauer über dieſes Fleine militärifche Schaufpiel; denn die Klephten haben die 
Gewohnheit, ihre Gefallenen auf dem Schlachtfelde felbft zu beerdigen, und um 
bie Erfüllung diefer Pflicht nicht zu verfäumen, ſetzen fe ſich mehr als einmal 
ber Gefahr aus, ihren Triumph in eine Niederlage verwandelt zu fehen, wenn 
ein zahlreicher Feind fle ploͤtzlich überfüllt. Die Entziehung des Begraͤbniſſes iſt 
in ihren Augen das beklagenswerthefte Mißgeſchick. Richtbeerdigte Körper vor 
ſich zu fehen, die den Launen des Wetters und der Gier wilder Thiere ausgeſedt 


Griechenluubt Titen, Wiebergeburt. 531 


find, ift den Griechen weit ſchrecklicher als der Tod ſelbſt. Sie glauben, daß bie 
Seelen dieſer Unglüdlichen, deren Leichname kein Begraͤbniß erhalten, ewig in 
ben Tiefen ter Wüͤſten, dem Laufe ‘der Flüſſe entlaug und an der Geſtaden des 
Meeres umberircen, unaufhörlich klagen und feine Macht haben, ihr Ungläd 
zu beenden. Die Türken ihrerſeits treunen den Leichnamen ber in ihre Gewalt 
gerathenen Griechen bie. Köpfe vom Rumpfe und ſetzen Diele graͤßlichen Trophäen 
ben Mißhandlungen und Verhöhnungen einer fawarifchen Menge aus. - Unter 
allen Wechjelfällen des Krieges fürchten Die Griechen das letztere Loos am meiften. 
Auch wenn fie gezwungen find, eilig das Schlachtfeld zu verlaſſen, tragen fie auf 
den Schultern ihre Todten und Verwundeten mit ſich hinweg; und wenn bie 
fchleunigfte Flucht ſie zwingt, auf diefe koſtbare Laſt zu verzichten, zögern ſie nicht, 
mit eigenen Händen ihre Waffengefährten zu enthaupten, felbft dann noch, wenn 
diefe Unglüdlichen ihren Geiſt noch nicht gänzlich aufgegeben haben. 

Wenn man die ungeheure Aufregung, weldye das griechtiche Bolt bei dem @ee 
danken an dad Schickſal ihrer Seelen in der anderen Welt erfaßt, und die aber⸗ 
gläubifche Angſt betrachtet, welche fle der Ausführung der Beſtattungsfeierlichkei⸗ 
ten widmen, um der Burcht zu entgehen, durch die geringfte Vernachläfflgung 
den Seelen der Entfchlafenen bie finſterſten Geſchicke zu bereiten, fo würde man faft 
glauben fünnen, daß der Gedanke an den Ted die entfeglichften Schrecken und 
Beforgniffe für fle hätte. Und doch iſt das ganze Volk mit diefen Gedanken 
ſtets vertraut, er begleitet fie überall, jelbft bei ihren öffentlichen Bergnügungen, 
und wenn er auch zumellen einen leichten Bug von Melancholie hervorruft, fo 
verurfacht ex aber weder Angft noch Furcht. Ein einfaches Beifpiel mag Hierfür 
fprechen. Wir treten an dem Feſttage des heiligen Georg in ein Fleines Dorf, 
welches den Ramen dieſes durch ganz Griechenland Kochgepriefenen Heiligen ver⸗ 
ehrt; die Bewohner dieſes Dörfchend, das tief in den Bergen Lakonika's liegt, 
feiern das Feſt ihres Schugpatrond und tanzen auf einem öffentlichen Plage, an 
den Pforten ihrer ärmlichen Kirche, um eine Erhöhung, auf welcher 2 oder 3 
Muflfanten fingen und von einem rohen und unbarmonifchen Inftrumente bes 
gleitet werden. Wir vernehmen die fremden Worte dieſes Gefanges, beffen 
monotoner Refrain im Ehore wiederholt wird: 

„Freuet Euch, Juͤnglinge und Iungfrauen ; der Abend bricht an; Cha⸗ 
ron zaͤhlt alle unſere Tage. 

„Laßt und tanzen auf dieſer Erde, welche und einſt aufnehmen foll. 

„Sharon kennt weder Erbarmen noch Gefühl; es fordert die Greiſe, er 
fordert die Säuglinge von der Bruft ihrer GErnaͤhrerinnen. 

„In den Schooß diefer Erde werben wir einſt Alle Hinabfleigen. Unter 
große Bäume bettet fie Sünglinge und Palikaren und unter Blumen huͤbſche 
junge Mädchen. 

„Freuet Euch, Jünglinge und Jungfrauen! Gharem iſt entichloffen, 
auch nicht eine Seele auf der Erde zu laffen.*) 


*) Ich führe nur einige Stellen dieſes Gedichts an, welches ich vollftändig in 
einem Werke über populäre griechifche Boefle fand, das kürzlich in Athen vom Sp. 
Zampelio veröffentlicht wurde. 

34* 


532 ::24: .  Mitsetmngefihiiies  : :::=) 


Und bie Angen ter Besgansishmer Lafenila’®, weldie nad Dem Üisfeni Diufel 
TrenıracfangS tanzten, glänten vor Greute und ihre Biupen umipieiıe ein Lächeln. 
Betotofkat’ qixiche von Tobrögrtankie Durdaschtr Griunge fanten den gebften 
Wirderhell in Dem Gerzen des Beikeh, aber andy die Lirder, im Denen er bie 
Freuden ver Schlacht feierte, erfrenten ſich der begeißieruiien Juflizmung. "Biufse 
ex den dem Ramıpfe um Die Unabhängigkeit Schritt fs Schritt auf elle Stade 
ſelder folgen, wohl er fi wandte? Dalskuftel mente nu den WBeiiieliällen 
des Aricgb unaufbarlic; zen Sumelien auch Berea, von Birrca auch Kumelien, 
balı Die Türken vesfolgent, balı zun ihnen verfolgt, bel aid Rrisger, bat ai 
Xreubabour umberiszend, den Tag über in vollem Ramyfe, dei Abends feinen 
Grfährten ihre rigenen Thaten vorfingend. Bald fish er in bie Berge, elbme 

balp in { und faſt entmnthigt, , bald z0g er firgreich , eine Gipmme au Die Frei 
heit anflimmend, im die Stadt ein. me in alle Einzinheisen ſeines Triegeri» 
ſchen Lebens einzugchen, faun man doch aus Demiclben ganz beisuders hervor⸗ 
Reigeude Züge berichten. Gegen dat Enbe des Jahres 1524 kämpfte Yalstefiad 
an der Spitze einiger entfchloffenen Gefährten im Aetelien. Eines Tages wurde 
er darch eine überlegene Anzahl Türken beim Dorfe Madgala überrafcht,  zögerte 
aber Teinen Augenblick, eine Schlacht anzanchnen. Gleich im Unfenge des 
Treffens ſah er an feiner Seite einen jungen Maun, Namens Naſos, fallen, mit 
weldjem er auf bem vertrauteſten, freuntichaftlichfien Auße gelebt Hatte. Unbe 
Eammert um die Gefahren des Kamypfeß zögerte er nicht, jeinem Freunde die Ich 
ten Ehren zu erweifen. Er ſchloß ihm die Augen, wandte jein Geſicht nach Ofen 
und bedeckte feinen Körper mit einem Mantel von Ziegenfell, wie ihn die Alba⸗ 
nejen tragen. Als er fi entfernte, ſtürzte eine junge Frau herbei, mit welcher 
fich der beflagenswerthe Raſos vor wenigen Tagen vermählt hatte, um ihren Gat- 
ten auf dem Schlachtfelde aufzufuchen. Zalokoſtas deutete auf den Mantel, weis 
her den Leichnam verhüllte. Die beftürzte junge Frau warf fi über Rafos’ ent 
feelten Körper, bededite jeine Lippen mit heißen Küffen, und dem Todten ba 
Schwert entreigend, das er noch krampfhaft in der gefchloffenen Hand hielt, 
wollte fie ihrem Lehen ein Ende machen. Zalokoſtas hielt fie zurüd, rang einen 
Augenblid mit ihr und entwand ihr den Degen: aber während biefer wenigen 
Augenblide warb er von jeinen Gefährten getrennt, ein Haufen Feinde umgab 
ihn, nahm ihn gefangen und führte ihn in die Feſtung Brachori (die Hauptſtadt 
von Aetolien). In der darauffolgenden Racht gelang es ihm, eine ber Bitter 
fangen, die vor dem engen Fenſter feines Sefängniffes waren, zu löfen, und er 
knüpfte an bie andere das Ende feines fehr langen Gürtels, den er nach Art der 
Palikaren um den Leib trug, und ließ fi) an demfelben längs der Mauer her⸗ 
nieder. Er konnte indeſſen den Boden nicht erreichen und mußte aus einer nicht 
unbebeutenden Höhe herabfpringen; das Geräufch feines Sprunges machte einen 
Wachtoſten aufmerkfam, ber aufs gerabewohl Feuer gab und dadurch die ganze 
Garniſon alarmirte. Der Tag begann zu grauen; der Klüchtling hatte nur noch 
Beit, ſich in einen Moraſt zu werfen, wo ex bis unter die Arme im Waſſer ſtehend 
und in dichtem Schilf verſteckt den Tag uͤber blieb. Am Abend erſt wagte er ſich 
aus dieſem gefahrvollen Schlupfwinkel heraus und wandte ſich nach Miſſolunghi, 


Griechenlanbö.liser. Viebergeburt. 533 


das die Muſelmaͤnner kurze Zeit: darauf (1026) beflürmten. Während dieſer 
Belagerung, welche Griechenlands ebelfte Söhne zum Opfer forderte, zeichnete ſich 
Zalokoſtas Durch eine wahrhaft Herolfche Tapferkeit aus. Nach einer mehrmonat⸗ 
lichen Blofade war die Stadt in bie verzweiflungsvollſte Lage geratben; ihre Ver⸗ 
theldiger, durch Hunger, Krankheiten und das Feuer des Keindes deeimirt, reich“ 
ten kaum zum Schuge der Mauern aus. Eines Tages verfündeten 2 mächtige 
Feuer auf den Bergedgipfeln, welche im Norden die Ebene von Miffolunghi be⸗ 
grenzten, den Belagerten, daß ihnen von dieſer Seite her unerwartete Verftär- 
tung nabte; aber es war wenig Hoffnung vorhanden, daß es den zu Hülfe Eilen- 
ben gelingen würde, bie Reihen der Türken zu durchbrechen; es handelte fich 
darum, bdenfelben einen Weg zu bahnen. inter den Schuge einer finfteren, 
ſchwarzen Kacht verlieh Balokoftad, nur von einem Gefährten begleitet und mit 
brennbaren Stoffen verfehen, die Stadt, täufchte die Vorpoſten des Keindes, 
nachdem er ihre Parole erfahren, und drang in den Mittelpunkt bed Lagers. 
ALS er den Punkt erreicht hatte, an welchem die Zelte am bichteften aneinander- 
gereiht waren, zünbete er eine Pechfadel an, fchleuderte fie in die Zelte und ent 
fernte ſich. Er rechnete darauf, dag das Feuer raſch um fich greifen und eine 
breite Bahn öffnen würde, durch welche der fo fehnlich erwartete Erfah, begün- 
fligt durch die unter den Türken entſtehende Verwirrung, hindurch brechen könnte. 
Sein Gefährte wurde von einem Soldaten erfannt und durch einen Piftolen- 
ſchuß getödtet, Zalokoſtas Iud den Leichnam feines Freundes auf die Schultern 
und erreichte durch die von dem Brande bervorgerufene Beflürzung glüdlich Die 
Stadt wieter. Unglücklicherweiſe aber war die Luft fehr ruhig, das Feuer griff 
daher nur fehr Tangfam um fich, ein heftiger Regenguß Fam, die Flammen erlo⸗ 
ſchdn und die Stadt konnte Feinen Succurd erhalten. 

Einige Wochen fpäter machte die Befagung von Miffolunghi in ihrer Ver⸗ 
zweiflung jenen mit Recht fo berühmt gewordenen Ausfall. Der Dichter gehörte 
zu ber heldenmüthigen Schaar, welche mit dem Degen in der Kauft fich durch Die 
Türken fehlug und zu brei Viertheilen niedergemegelt wurbe. Nachdem er eine 
Zeit lang in den Bergen von Zigos umhergeirrt war, ftieß er auf eine kleine 
Anzahl von Soulioten, mit denen es ihm gelang mittelft einer verlaffenen Barfe 
über den Golf von Lepanto zu gelangen. In Rauplia trafen fie mit dem beruͤhm⸗ 
ten Varteigänger Zararkakis zufammen, welchem von dem Gouvernement das 
Commando über die Landtruppen übertragen und der beauftragt war, die Türs 
fen aus der Akropolis von Athen zu vertreiben. Zalokoſtas entging allen Ge⸗ 
fahren; fpäter erft wird man ihn bebamern hören, baß er nicht wie fo viele Ans 
dere von einer feindlichen Kugel niebergefiredt wurde. Nach der Pacification 
Griechenlands trat er in die Dienfte des Königs Otto. Es jcheint, daß ihn 
fein Olüdöftern, der ihn während 10 Jahren voller Gefahren und Abenteuer 
fo treufich gefchirmt hatte, feit dem Tage verlieh, von welchem an fein Leben 
dem Schlachtenwechfel nicht mehr ausgefegt war. Denn troß des Mufes 
feiner ZXapferkeit und feines Ruhmes als Dichter überſchritt er bie niederen 
Rangſtellen in ber Armee nicht, und Hierbei wurde er auch noch durch ben 
Berluft eines zärtlich) geliebten Kindes in bie tiefle Trauer verſenkt. Der 


534 8 ı Mihenntungelhidhte.. » . : 


ſchwere Sqcheerz, ben er empfand, gab ife nachfolgende Verſe am ben 

Mond ein: 

‚so vielgeliebter Mond, Du leideſt nicht, wie ich Tribe; warum beun 
ſcheinſt Du fo traurig da oben am Himmel? 

„Der Du Deine goldenen Strahlen über die Erde und magiſche Schleier 
über die Wellen des Meeres breite, warum bull Du Dich in cin fo blei⸗ 
hes Gewand, gleicywie ein Entjerlter in feinem Grabe? 

„O Bond, if unter den Engeln, welche Deine Reiche bewohnen, wid 
auch mein Kind? Und ift dies nicht ein Kuß von Deinen Lippen, welchen 
Deine Strahlen mir zuführen ? 

„Erhoöre meine Bitte, o fühle dieſen Seufzer und jage meinem Rinde, 
dag meine Seele mit ihm im Schooße der Erde ſchlummert. Und wenn es 
wiffen will, wann meine Leiden aufhören, jo jage ihm, daß fie erfi dann be 
endet fein werden, wenn ich ihm dort oben in Deinem blauen Reiche begegne. 

Diejer Schickſalsſchlag rief in Zalokoſtas Dichterbruft andere und weidyere 
Gefühle ale früherhin wach. Der Enthuflasmus für die Freiheit, die Begeiſte⸗ 
rung für Kampf, bie Liebe zu Triegerifchen Abenteuern wurden gedämpft durch 
ben Verluſt jeined Kindes und ein tiefer Schmerz erwachte in feiner Bruſt. Aus 
biefer Zeit ſtammen feine beflen Dichtungen und Lieder. inter diejen Erzeng⸗ 
nifien iſt eins, der Dichter benannt, in welchem Zulofoflad gleichfam ein Bon 
gefühl auf fich und jeinen nahen Tod hindeutet. 

„Der Morgenftern zittert ana Horizont; die Hügel, die Wälder, die Berge 
ruhen noch in zweifelhafter Diimmerung; die Wieſen glänzen im Nachtthan; 
die Nachtigall fingt und weiße Lichtftreifen erfcheinen und verfchwinden auf 
den ſchimmernden Wogen des Meeres. 

„Unfichtbare Geifter jchlingen goldene Kronen um die Gipfel der Berge 
und bie Engel eilen helfend herbei zu diejem geheimnißvollen Walten. Alles 
if voll Duft, Blumen, Blüthen und Zweige. 

„An einer Quelle figt ein Iüngling, ein Dichter, und wirft einen trau 
rigen Blick über die weiten Räume der Erde; er feufst und redet mit fi 
ſelbſt. 

„O düſtere Nacht, welchen Zauber übſt Du auf mich aus und mit wel⸗ 
her Freude erfüllteft Du mich, wenn ich bei meiner Geliebten war! Heut 
durcheile ich, während die Vögel im dichten Laube fojen, die Wüften und 
Einöden einem Weſen nach, das mir entrann. 

„Ran nannte fie Chryſo, fie war jung und ſchön; Doch was vermögen 
Jugend und Schönheit über die ungerechte Barze? Der unerbittliche Cha⸗ 
von, dieſer kalte Räuber, ſah ſie und entriß fie mir. 

„O bie ihr fie gefannt habt, ihr Quellen, Wälder, Vögel und Blüthen, 
haltet mich nicht für gefühllos, wenn ihr mich noch auf diefer Welt feht, 
auf welcher ich wie ein Beipenft umberwanble. Ich wünfche mir den Tod, 
denn das Leben iſt eine Qual, der Tod ein Freudenfeſt. 

„Charon erhörte ihn: Die Mandelhäume haben noch nicht wieder geblüht in 
ben Feldern und ſchon ruht der junge Mann unter der Erbe neben feiner Chryſo. 


Griechenlanbä: liter· Eirdergeburt. 535 


„Zwei dichtbelaubte Bäume Gefchatten geheiumißvoll Diefes doppelte 
Grab, und wenn der Wind weht. neigen # “. zu etnander, wie wm fich 
zu kuͤffen. 

Zalefofted’ bedeutendſteo Wei, Am er den meiſten gie dewidmei, das 
aber auch ‚feinen Ruhm dauernd begrkmtet hat, iſt ein, Armatolen und Kleph⸗ 
ten“ betiteltes Cpos. Die Reibung. der Klephten und Armatelen untereinan⸗ 
war keine der geriugſten Plagen, welche Oriechenland während ſeiner Unter⸗ 
jochung auszuſtehen hatte, Die Armatolen waren eine Art großer Lehnéleute, 
zuerſt unter der Megierimg Soliman's II. ernaunt und beſtimmt, die Rechts⸗ 
pflege in gewiſſen Theilen des unterjochten Landes auszuüben, über die Sicher⸗ 
heit der Straßen zu wachen, bie Ruhe im Lande aufrecht zu erhalten und die bes 
fländigen Aufregungen der chriftlichen Bevölferungen zu unterdrikten. Ihre 
Stellung war erblich. Der Zweck dieſer Sinrichtung war, dem Rationalgefühl 
des unterjochten Volkes eine Art von Genugthuung zu:geben: eine ſehr illuſo⸗ 
riſche Genugthung in der That, denn um fein Bermögen ımd feine Würde zu 
wahren, ſah ſich Der Armatole gezwungen, 'beftändig einen Bertrag mit dem Un⸗ 
terdrücder zu fchließen. Wenn er. müde war, den Türken feine Dienfte gu wid⸗ 
men, oder wenn er irgend eine Belcidigung zu vädyen Hatte, wurbe or Kleyhte. 
Diejer letere war im Gegeuſatze zu jenem vorzugéweiſe ein freier Mann, ein 
geichworener Keind alles deſſen, was den Eroberern nahe oder fern find. Die 
Klephten und Armatolen lagen beftändig mit einander im Streite; unglüdticher 
Weite traf es fich oft, daß der Eine unter dem Vorwande ber öffentlichen Ruhe, 
der Andere unter .dem der Freiheit feine perfünlichen Beſchwerden verbarg und 
nit den Waffen in der Hand den alten Familienhaß zu ftillen fuchte, Sie leb⸗ 
ten Daher beftändig in einer Art von Bürgerfrieg, der für das Land beinahe 
cbenfo verderblich war, als die türfifche Iyrannet felbft. 

Dieje Beriote in der Geſchichte Eriechenlands ift ſehr dunkel; fle iſt ung 
nur aus den Volföpoefien bekannt, welche, als ein treuer Ausdruck des Rational- 
gefühls, den Klephten, ber als tapfer, edelmüthig amd unerfchroden gefchildert | 
wird und vor den Unterjochern in die Wüfte floh und die Gemeinſchaft mit 
Geiern und Wölfen der Gefellfchaft der Türken vorzog, in einem romamntifchen 
Lichte vorführt. 

Zalokoſtas hat aus der Ueberlieferung dieſer innerlichen Streitigkeiten den 
Stoff zu feinem Iegten und beften Gedichte geſchöpft. Er widmete es dem An⸗ 
denfen feines Kindes, das ihn fo früßgeitig in das. Grab nachziehen follte; Die 
Handlung fpielt zu Sanina in Epirus. Der Beift des Dichters, in bie rauhe 
Wiege feiner erflen Jugendzeit zurüͤckverſezt, findet hier die Kraft und den 
Schwung feiner ehemaligen Begeifterung wieder. Mit nachfolgender Amfung 
beginnt er fein Gedicht: ' 

„O ihr Mufen, göttliche Strahlen des Geiſtes, zerſtreut auf einen Bingen 
blick die Schatten der Vergangenheit und zieht. von meinen Augen den. 
Schleier weg, weldyer die Zeit unferer Sklaverei verhüllt. Tragt mid auf 
den geweihten Boden von Epirus, in den Bereich feiner Heiligen Berge. 
O Zeit und Du Tod, Du Geißel der Welt, laßt mich heute aus dem Schatze 


526 Literaturgefchichte. 


cher deine bewundernswerthen Schonheiten den neugierigen Blicken verhüllt, 
welche zauberifche Stunde, welche Harmonie, welche Freude für Deine lieben⸗ 
den Verehrer.“ | 

„Mit welch' frommen Entzüden empfindet meine Seele dann, verloren 
in den ewigen Aether, diefe gegenfeitige Liebe, welche Die Sterne fich zu ein⸗ 
ander neigen und die Wolfe über dem zitternden Schooß bed Meere rubig 
ſchlummern läßt. 

„Ja ein unlösbares Band vereinigt die Ereatur mit tem Schöpfer. Der 
raufchende Wald, der fchlummernde See, der braufende Sturzbach, ber 
wehende Zephyr, Alles erhebt jeine Stimme zu einer Hymne auf die Har⸗ 
monie des Univerfums, — Ich mit meinen Elagenden Mißtönen, mit meinen 
unnügen Verſen bin in diefem ungemeinen Einflange ganz am unrechten 
Orte und erfcheine mir dieſem unfterblichen Meifterwerke gegenüber wie ein 
abgeriffenes Glied, traurig, verlaffen, fremd in der rings um mich Liebe ath⸗ 
menten Schöpfung, ähnlich dem Epiegel des Waffers, welcher die farbigen 
Rebel der Luft, die Blätter der Bäume, die Blumen ded Frühlings wieder⸗ 
ſtrahlt und weder deren Form noch Barbe durch fich felbft Hat.” 

Von diefem Dichter will ich noch eine reizgende Erzählung, „die Reiſende“ 
bezeichnet, bier anführen. Sie ift eine der glüdfichften Nachahmungen in ber 
originellen und ſchmuckloſen Art und Weiſe der volfsthümlichen Barden. Sie 
lehnt fich vollftändig an den Stil diefer Iegteren an und bedient fich einer natürs 
lichen Einführung, eined Prologs, wenn man will, in dem Gemälde der erften 
literariſchen Periode, welche der Zeit folgte, in der die Improvijatoren Die einzi- 
gen Bertreter der hellenifchen Poeſie waren. 

„Liebliches Kind mit goldenem Haar und alabafterweißen Schultern, 
was wandelft Du auf diefem öden Pfade? Es ift Mitternacht; weißt Du 
nicht, daß in diefer Stunde die Geifter umgehen, die Elfen über den Wieſen 
fchweben und die Rereiden*) auf den Bergen tanzen? 

„Wenn auch die Nereiden um diefe Stunde tanzen, fo mögen fle e8 nur 
thun; ich trage Fein Verlangen nach denfelben. Ihr, die Ihr daher kommt, 
habt Ihr meinen Heißgeliebten nicht auf den Wegen gejehen, die Ihr gewan⸗ 

beit feid? 

„Und wenn wir Deinen Heipgeliebten gejehen hätten auf den Wegen, 
die wir gewandelt find, woran hätten wir ihn erfennen follen ? 

„Er war groß und ſtark, jung und fchön wie die Sonne im Frühling; 
fein Lächeln war fanft wie ein Tieblicher Maitag, er fang zur Lyra wie bie 
Nachtigall. Er barg Honig im Munde, Liebe im Auge, Tugend in der Seele 
und mich in feinem Herzen. Wir hatten Jahre der Freude und des Glückes 
zufammen verlebt wie ein Baar unzertrennliche Turteltänßchen. Eines Tages 
jagte er zu mir: Höre mic) an, lag Dich umarmen, ich muß Dich verlafien. 
Eichft Du dort unten? — Die Kugeln fallen wie Sagel und Degengeflirr 





*) Im Neugricchiſchen werden die Nereiden oder Neräiden nicht allein für Waſſer⸗, 
fonvern auch für Berggeifter gehalten. 


Griechenlaude Liter. Miebergeburt. 537 


Indeß führt uns der Dichter nach der verlaffenen Wohnung des Armatolen 
zurüd: 

„Ganz in der Nähe des Thurmes iſt eine kleine Capelle. Eine kupferne 
Lampe brennt daſelbſt zwifchen dem ſinnenden Bilde eineß Heiligen und einer 
gemalten Kapfel, in welche ber Vorübergehende feine beſcheidene Spende fin 
Weihrauch und Wachskerzen niederlegt. Vor dem Bilte ſteht eine‘ junge 
Frau, die Hände gefaltet, in der Stellung einer Betenten; fle richtet finfter 
den Bli auf das goldenglänzente Antlid des Seligen. 

„Sie kann nicht beten; ihr Herz iſt gemartert von unzähligen Qualen; 
ihre Seele Tecyzt nach Rache. Der Schmerz hat die Kraft ihrer Jugend ges 
brochen, wie der Sturm die Blüchen der Rarziffen entblättert; troß ihrer 
tiefen Bläffe Hat ihr Geflcht die frühere Schönheit bewahrt. 

„Ploͤtzlich vernimmt fle Waffengeräufch und Schritte. Der alte Arma⸗ 
tole tritt in den Tempel; nach dem wilden Ausdrude feiner Züge tobt ein 
leidenfchaftlicher Sturm in feiner Bruſt. Sein ſchneeweißes Haar entrollt 
feinem Zurban und fällt in dichten Loden auf feine breiten Schultern herab. 
Den Griff frines Echwerted faßt Erampfhaft die Hand; er ift flarf wie ein 
Jüngling. 

„Despo, jagt er, die Schatten der Nacht Haben die Hälfte ihres Laufs 
zurüdgelegt, e8 ift Zeit, daß Dur Dich zur Ruhe legſt. — Wein Vater, ber 
Schmerz ſchlaͤft nicht; die Nache läßt dem Geifte Eeinen Frieden. Kiſſas, 
unjer treue Kijfas, tft in das Lager der Klephten; er hat meinen Bruder nicht 
befreit, er hat Kentros' Mörder nicht erjchlagen. Ten Tag nach meiner 
Hochzeit habe ich Trauerfleider getragen. 

„Blößlicy erglüht fein Herz, der Zorn furcht feine Stirn, feine Lippen 
zuden Erampfhaft, feine Augen leuchten feurig. — Mein Bater, Kentros’ 
Seele irrt feufzend umher in irgend einer unbekannten Einöde, in einem 
nicht durch Weihrauch gereinigten Orte, Bis wann denn werden wir uns 
nüße Tränen vergichen? Auf zur Rache; fein Blut fordert und dazu auf! 

Diejer thränenloje Schmerz, diefer männliche Zorn finden fich ſtets in den 
Ueberlieferungen ter griechifchen Bolföpoefte, in Traditionen, deren fich Zalofoftas 
niemals entfchlägt und in welchen er feine Gewalt und Originalität findet. Die 
Brau, wie fle die Improviſatoren gejchiltert haben, iſt eine ganz befondere Schöpfe 
ung der neugriechifchen Muſe. Vaterlandsliebe, Aufopferung und ein männ- 
liches Ehrgefühl find ihre Eigenſchaften. Gatten⸗ und Mutterliebe vereinigen 
fi in der Tiefe ihres Herzens nit der Liebe zum Vaterlande; fie liebt ihren 
Gatten nur, weil er für die Freiheit kämpft; fle erzicht ihren Knaben nur im 
Angeficht der Kämpfe, in denen er fich eines Tages auszeichnen fol, Die fanf 
ten und ftillen Tugenden der Häußslichfeit, die Grazie und licbliche Anmuth des 
zarten Geſchlechts find ihrem ganz heroifch gearteten Charakter fremd und nicht 
eigenthümlich. Weit entfernt fich in thatenlojen Klagen zu ergehen, erhebt fich 
Despo und verlangt Waffen. Eie leitet Die Vorbereitungen zur Schlacht, reizt 
die Krieger auf und vertheilt die zum Etreite nöthigen Rüftungen, während ihre 


traf mich eine Kugel auf meinem Wege. Mein Körper iſt kalt, meine Liebe 
allein it immer noch heiß. 
„D Du bift es, ich höre Deine Schritte,. ich erkenne Deine Stimme. 
Wie Iange Zeit. haft Du mich allein und in Verzweiflung gelajien! Sept 
endlich, nachdem ich Dich wiedergeſehen, verlaffe ich Dich nicht mehr. 
„D junges Mädchen, meine Kammer ift finfter und mein Lager ift eng. 
Wo ich bin, dahin dringen niemals die Strahlen der Sonne und ter Thau 
der Nacht. 
„Was frage ich danach, ob Dein Lager eng, Deine Kammer finfter if? 
Laß mich Dir folgen in die wilde Nacht ded Todes, ich werde kommen; lap 
mid) ruhen bei Dir in der Tiefe des Grabes, ed wird mein Paradies fein. 
„Sie fieht den Schatten ihres Heißgeliebten von Staub, Pulver und 
Blut befledt, wie am Tage feiner letzten Schlacht. Die Hunde bellen, bie 
Vögel (Kufufs) wehflagen, der Wind ftreicht durch die Cypreſſen, ein eiflger 
Rord entwurzelt die PBlatanen, Klagen und Eeufzer und ein Trauerecho 
bon Todespſalmen mit fich daher tragend; dunkle Wolken ſteigen auf und 
freuen Blitze aus, deren Strahlen zwei. Leichname beleuchten.” 

Diefe Ballade befigt alle Eigenthümlichkeiten und phantaſtiſche Aus 
ſchmückungen, weldye die volföthumliche Poeſie in Epirus und Theſſalien überall 
in zahlreichen Beijpielen barbietet. Die Improvifatoren verftehen fidy trefflich 
darauf, folche romantifche Erzählungen zu erfinden, wenn fie nicht den Tod eincd 
Klephten oder die. Züge und Thaten eines Anführers zu befingen haben. Ran- 
gabe ift faft der einzige unter den griechifchen Dichtern, Der jenen weit in das 
Gebiet der reinen Phantafie gefolgt if. Er gehört zugleich Durch Tas Genre 
einiger feiner beifern Erzeugniffe der Kategorie der Improviſatoren und der mes 
dernen Richtung durch die weniger abgerifjene Form an, bie er jeinen Gedanken 
zu geben wußte, wie durch Die Zeit, in welcher er feine Werke veröffentlichte. 
Wenn er und auch zu ben erflen Zeiten zurüdführt, in denen bie Poeſie ganz tem 
volksthümlichen Inſtinkte entwuchs, fo bringt er und ohne gewaltſame Anſtren⸗ 
gung su der Epoche, in welcher Die Willenfchaften in Griechenland Gegenftand 
eines tiefen und angeſtrengten Studiums geworten find und von welcher aus bie 
Wiedergeburt fich fchreibt, welcher wir in ihren verjchiedenen Phaſen und reipene 
den Foriſchritten zu folgen gefonnen jind. 

Der Dichter Georg Zalokoſtas, einige Jahre vor Beginn ber griechijchen 
Erhebung zu Janina geboren, vertritt förmlich die flarf bewegte Ucbergangsepoche, 
welche unmittelbar auf die Unabhängigfeitöfämpfe folgte. Die ungewöhnlicde 
Energie, des Eriegeriihen Stammed, Dem er angehört, Die wilden Echönheiten 
der Gegend, in weldyer er feine Kindheit verlchte, Die melancholifchen Thäler ren 
Paramythia, Die blutigen Beljen von Souli, die finfteren Wälter Dodona's und 
die grünen Berge von Pindus, in denen er abwechfelnd jeine Jugend verbrachte, 
alle diefe Eindrüde entwidelten die Frische und Originalität jeined Talents, den 
fräftigen Schwung jeiner Lieder und Die etwas wilde Harmonie feiner unter dem 
Donner der Schlacht und an den nächtlichen Wachtfeuern im Bivouac erachten 
Muſe. Zalokoſtas war feiner ber Letzten, die zu den Waffen griffen; feine Werfe 


Griechenland liter. Ziiebergeburt. 539 


kaum geyflädten Blumen und freut Die Toftbare Gabe über die Bruppe ber 

„Darauf bedeckt fie mis drei blühenden Tuberoſen einen Leichnam. Edler 
Dimaras! Welches Herz läßt Dein Tod ungerührt? Konnte ich nicht auch, 
während ich: das Schlachtfeld eilenden Fußes durchflog und für eine edlere 
Sache kaͤmpfte, flerben und zum Lohne meiner Tapferkeit Blumen aus den 
Händen meiner Geliebten empfangen? . 

Zalokoſtas leztes Werk wurde von ber Akademie zu Athen mit dem Siege 
preile gefrönt. Dieje Krone konnte jedoch nur fein Grab ſchmücken; der Dichter war 
bereits jeit einigen Monaten todt, ohne den Triunwh genoflen zu haben, der die 
Berühmtheit und Bopularität feines Ramend verbürgte. Zalokoſtas hatte ſchon 
bei feinen Lebzeiten eine gewifle Anzahl früherer Gedichte veröffentlicht. . Im 
Jahre 1859 find feine Werfe durch Die Sorgfalt einiger Breunde und feiner 
Wittwe gefammelt. Sie jelbft ſchrieb an Die Spige des Werkes folgende Zeilm: 
„Indem ich Die vollftändigen Werke meines vielgeliebten Zalokoſtas veröffentliche, 
halte ich es für meine erfte Pflicht, dem Baterlande zu banken für- die ehrenvolle 
und zarte Theilnahme, welche e8 der Herausgabe gewitmet ; die aufopfernde Mit 
wirkung meiner Mitbürger, der Eifer Aller, DaB Gelingen des Werkes zu unter 
fügen, find der füßefte Lohn, welcher den Manen meines Zalokoſtas zu Theil 
werben kann, bie größte Ehre für fein Andenken und der Stolz meiner trauri⸗ 
gen und fepten Tage. Diefed Werk ift jept Cigenthum ber ganzen Ration, ein 
Waiſenkind; das fie adoptirt, und weldyes ich ihr von meinen Thraͤnen benegt 
überreiche.” Das volksthümliche Idiom, das Jalokoſtas erfüllte, ift nicht mehr 
das unferer heutigen athenienftfchen Dichter. Seit 30 Jahren bat ſich daſſelbe 
nach und nach anders geftaltet; ed ift frei von fremden Nedendarten und bar 
bariichen Ausdrüden, welche ed anflellten ; e8 bat ſich fortfchreitend in eine reine, 
grammariich richtige, klangvolle Sprache umgewandelt, welche fich fait täglich 
aus dem Schage ihres alten Dialektes bereichert und vervollflommne. Die 
Schule, welcher Zalokoſtas gefolgt war, und. welche. Die Athenienſer die vulgaͤve 
(gemeine, alltägliche) nennen, weicht einer neuen, welche den Dichter Orphanidis 
zu ihren Eorrefteften und beiten zählt. 

Orphanidis ift in Smyrna geboren; durch Geſtalt, Farbe und Ausſehen 
unterjcheidet er fich ebenio von dem Dichter gu Sanina, wie ſich ber liebliche und 
heitere Himmel ſeines Vaterlands fi von dem rauhen Himmel von Epirus 
unterjcheidet. Die Quelle feiner Begeifterung if übrigend ganz dieſelbe, aus 
welcher Zalokoſtas gefchöpft; aber der Schauplag und die Scenerie ändern 
und befleiden fich mit einen barmonifcheren und gewählteren Schmude. Aus 
den wilden von den Klephten bewohnten Gegenden treten wir in einen ber 
reizendften heile von Hellas, welchen Orphanidis*) mehrfach als Dichter 
wie als Raturforjcher durchwanderte und den Tag über Blumen an den Quellen 
prlüdte, welche nach alten Sagen in Phocis und Böotien geheiligt waren, und 
bes Abends den traditionellen Grzählungen der Landleute laujchte, Auf jeiner 


*) Orphanidis Hat einen botanischen Lehrſtuhl in Athen inne. 


5 10), Bißetsturgeidiihte:: =: 


Südreife uns unter dem Ginfinfie ter empfangenen Ginteihle ſchrickh er Das 
Gericht: „Anna und Bhlores oder ter Ihurm von Berra**), Die Geubinag 
des Gedichts fyickt am Fuße des arkuen Gelilen, in ber Ahe der Stabt Li⸗ 
vadia, welche Die Griechen „‚vie feudyte”” nennen, wegen der saßleridien Queſlen, 
weltie je mngeben, und des Fiches, der ifee Mauern Sefpäle, um wegen 
der Schaeegivfel des Barnaftns, welche dert in bez Berne Icmipten. 25 ſelbſt 
habe das Land, in weldem des Berjaffers Gedicht ſpirit, darchrrit und Durch 
dmen mertwärdigen Zufall babe ich wie Sage erzählen hören, welche Diphanitis 
feiner Bearbeitung zu Grunde gelegt Hat. Es if belaumt, ba Der Gelifen ein 
Berg in Böstien iR, deu die Alten für einen bevorzugten Pixhlinssunfenshait 
des Ruſen hielten. Rad dem Berichte des Hiftorikers Baujauind wäh veri 
keine giftige Pflanze, und die Rattern ſelbſt, die auf dieſen lieblichen Derge 
leben, nahren ſich nur von unſchaͤdlichen und wohlriechenden Rräutern, weldhe 
ihrem Biffe alle Gefaht benchmen. Apolls, Nerkur, Bacchn Drpbens, Ge 
ſtod Hatten ihre Statuen unter den Bäumen eines geheiligten Waldes, im dem 
ſich ein Tempel erhob, den Die gröpten Rünftler mit ihren Meiſterwerken verziert 
hatten. Bon all dieſem Glauze lebt heute nur noch eine poetiſche Eriumerumg; 
aber Die üppige Rarur bat ſich nicht veräntert; die Thäͤler und Hügel ind immer 
noch voll son Weiz, Duft und Würze; cin dichtes Schölz, an defſen Saume zen 
die düferen Ruinen eines fleinen Kloſters vorfindet, bebedt den Abheng des 
Berges ; weiter oben erhebt ch vom Glanz der Sonne beleuchter eine ſtarke 
Selfengruppe, gleichjam um das Thal vor ber Gewalt des Sturmes zu fügen 
and die neun Schweflern nicht zu vericheuchen. Die verſchwenderiſche Vegedatien 
des Helifom bilder einen feltjamen Gontraft gegen die faft wäfle und traurige 
Beichaffenheit der übrigen Berge Griechenlands, das mit feinen Göttern zugleich 
feine Flüſſe und Wälder verloren zu haben fcheint. 

Auf dem Wege von Theben nach Livadia bemerkt man in einiger Entfer 
aung vom Helikon eine Ruine, welche aus dem Mittelalter herzuſtammen und 
beren Mauern vom Feuer geichwärzt ericheinen. Ich verbrachte im Herbſte dei 
Yahrrd 1344 einen Abend tajelbft, begleitet von einem Ihebaner, ter wie ich 
nach Lavidia wanderte. Ich forderte meinen Reijegefährten auf, die Ruine mit 
mir zu befteigen, um von da aus Lie Sonne betrachten zu können, welche eben 
hinter den fernen Berggipfeln Euboͤa's in das Meer ſank. Der Thebaner wei 
gerte fich hartnaͤckig und theilte mir mit, dag diefer Ort von Geiftern bewohnt 
fei, weldye Riemand daſelbſt zu floren wage, mit alleiniger Ausnahme der Hirten, 
Die nach Griechenland fommen, um mit diefen übernatärlichen Weſen einen be 
fländigen Berfehr zu unterhalten. Gr erzählte mir, daß im vergangenen Jahre 
ein Reijender dieſe alten Mauern erfliegen habe, aber oben angelangt, von einem 
unwiderſtehlichen Echwintel überfallen und in den Abgrund geflärzt fe. Er 
theifte mir im Laufe des Abends eine lange Reihe jolcher fantaftiicher Erzäplun- 
gen mit; aber da diefe Sagen die Quellen zu dem Gedichte bilden, weldye Or 


**) Herausgegeben bei Vilara in Athen 1855. 


Griechenla Tipen: : Nichergeburt. St 


phanidis Nuf begrändet haben, fa wilk ich auch den: ledteren bei der Grutung 
dieſes romantifchen Abenteners ſprechen laffen. 

„Sin Thurm von ober Korm- echt. PP auf dem Wege von Xhehen; 
ſie beherrſcht Die Ebene von Copais, in: deren Gewäflern ſich hier und da 
das Azur des Himmels wiederſpiegelt; die Culen Errifchen auf dem Giebel 

des Daches, die. Uhus niſten unter Dem Erker. Als der blaſſe Mond, halb 
serhällt in einem Dunſtkreife, Die Gegend ſchwach erhellt, bemerkt man 
einen Geiſt, der auf dem verlaſſenen Thurme umherirrt. Dieſes Phantom 
iR der Schatten einer jungen Frau, die in: ein weißes. bis auf Die Füße 
+. berabfallendes Gewand gefleidet if; ihre Haare ſind aufgelöf; ihr Geſicht 
von wunderbarer Schönheit drüdt Entfegen aus. : Sie fleigt mit Geſchicklich⸗ 
lichkeit und mit der Leichtigkeit dee Schatten von ber: Binne bid zum Fuße 
dieſes alten Schloſſes herab, das von dem geringſten Windſtoße rrzittert wie 
Cypreſſen laub und bibrirt wie Die Saiten einer Leier; ſie ringt verzweifelnd 
die „Hände, wie um Schutz gegen eine drohende Gefahr zu ſuchen, fie er⸗ 
ſcheint und verſchwindet zwiſchen den Spalten, den Erkern und Vertiefungen 
des Thurmes. Endlich zeigt fie ſich an einem nach Morgen gelegenen Fen⸗ 
ſter, fie neigt ſich heraus und flürzt ſich in den Abgrund unter einem fürch⸗ 
terlichen Schrei, den die Echos der Berge tauſendfach wiederhallen.“ 
Oft auch hoͤrt man Waffengeklirr oder ein wildes Gelaͤchter; wenn der 
Lärm aufhört, kommt durch die geborſtene Mauer ein langer Bug von fremb⸗ 
artigen Pferden, die auf ihren ſchwarzen Hürden gewappnete Ritter tragen; aus 
ihren Hufen bligen leuchtende Funken und ihre. Tritte Hallen. wie Donnerſchlaͤge. 
Ste flürzen fi in die Tiefen auf der Seite nach Theben zu. Dieſes Schloß 
bewohnte vor einigen Jahrhunderten ein unglücklicher Mann, ein ſchwacher 
Widerfchein von Byrons finftern Heldengeftalten, obwohl ſich Orphanidis gegen 
eine Rahahmung des englifchen Dichters flark verwahrt bat. Diefer Mann, 
ebenfo Tafterhaft als fchön, ebenfo weich ald graufanı, war allein, in einem Teich“ 
ten Rachen und während eines furdhtbaren Sturmes an Griechenlands Beftaden 
gelandet. Man wußte von ihm nur zwei Sachen: Daß er von Venedig ger 
fonımen war und fich Antonelli nannte. Er batte ſehr rajch die Lebensart, Sitten 
und Gebräuche der Türfen angenommen und erfüllte die Umgegend mit bem 
Lärme feiner Orgien und feines Verbrechen. Auch war er der Schrecken fried⸗ 
lichee Bürger, ehrbarer Frauen und züchtiger Mädchen. Unter den letzteren 
war eine, für welche Antonelli in heftiger Leidenſchaft erglähte. 

Die Tochter des alten Lampros, eines reichen Einwohner® von Livadia, 
Namens Anna, war die Braut des Palikaren Phloros, den fie herzlich Tiebte. 
Der zur Hochzeit des glüdlichen Paares beftimmte Tag war angebrochen, als 
Antonelli von einem zahlreichen Trupp Reiter begleitet in Livadia eindrang; er 
begab fi zum Toparch (Obervogt, Bezirkoherr), einem zu verbrecherifchen 
Unternehmungen ftet8 bereiten Wanne. 

„In Lampros' Wohnung ift Alles in voller Bewegung; Schaaren von 

Sreunden und Nachbarn füllen die weiten Säle und zahlreiche Diener bes 
wachen die Pforten des Vorhauſes. Die jungen Mädchen Livadia's, Anna's 


532 —XAXGV 


Und die Augen der Bergbewohner Lakonika's, welche nach dem Refrain biefe® 
Tranergefangs tanzten, glaͤnzten vor Freude und ihre Lippen umfpielte ein Lächeln, 
Balokoſtas zahlreiche von Todesgedanken durchwehte Geſaͤnge fanden den größten 
Wiederhall in: Dem Gerzen des Volkes, aber auch die Rieder, in denen er die 
Freuden der Schlacht feierte, erfreuten ſich der begeiftertften Zufimmung. Mußte 
ex denn dem Kampfe um die Unabhängigkeit Schritt für Schritt auf alle Schlecdhe 
felder folgen, wohttr ex fich wandte? Zalokoſtas wandert nach den Wechſelfällen 
des Kriegs unaufhörlich von Rumelien nad) Moren, von Morea nach Aumelien, 
bald die Türken vesfolgend, bald von ihnen verfolgt, bald als Krieger, bald alb 
Troubadour umbherirrend, den Tag über in vollem Kampfe, des Abends feinen 
Gefährten ihre eigenen Thaten vorfingend. Bald floh er in bie Berge, ohne 
Sülfsmittel und faft enimnthigt, bald z0g er flegreich, eine Hymne an bie Frei⸗ 
heit anftimmend, in die Stadt ein. Ohne in alle Einzeinheiten feines kriegeri⸗ 
fchen Lebenß einzugeben, fann man doch aus demjelben ganz befonders hervor⸗ 
ftechende Züge berichten. Gegen das Ende des Jahres 1824 kaͤmpfte Zalokoſtas 
an der Spige einiger entſchloſſenen Gefährten in Aetolien. Eines Tages wurde 
er durch eine üßerlegene Anzahl Türken beim Dorfe Machala überrafcht, zögerte 
aber feinen Augenbfid, eine Schlacht anzunehmen. Gleich im Anfange des 
Treffens fab er an feiner Seite einen jungen Mann, Namens Rafoß, fallen, mit 
welchem er auf dem vertrauteften, freundfchaftlichften Buße gelebt hatte. Unbe⸗ 
kümmert um die Gefahren des Kampfeß zögerte er nicht, feinem Freunde bie Inge 
ten Ehren zu erweifen. Er fchloß ihm die Augen, wandte fein Geſicht nach Oſten 
und bededte feinen Körper mit einem Mantel von Biegenfell, wie ihn die Alba⸗ 
nejen tragen. Als er fich entfernte, ſtuͤrzte eine junge Frau herbei, mit welcher 
fich der beflagenöwerthe Raſos vor wenigen Tagen vermählt hatte, um ihren Gat⸗ 
ten auf dem Schlachtfelde aufzufuchen. Zalofofta deutete auf den Mantel, wel 
cher den Leichnam verhüllte. Die beftürzte junge Frau warf ſich über Rafo8’ ent 
feelten Körper, bedeckte feine Lippen mit beißen Küflen, und den Todten bas 
Schwert entreigend, dad er noch Trampfhaft in der gefchlofienen Hand hielt, 
wollte fie ihrem Leben ein Ende machen. Zalokoſtas Hielt fle zurüd, rang einen 
Augenblid mit ihr und entwand ihr den Degen: aber während dieſer wenigen 
Augenblide ward er von feinen Gefährten getrennt, ein Haufen Feinde umgab 
ihn, nahm ihn gefangen und führte ihn in die Feſtung Vrachori (die Hauptftadt 
von Xetolien). In der darauffolgenden Racht gelang es ihm, eine der Bitter 
flangen, die vor dem engen Fenſter feines Gefängniffes waren, zu löſen, und er 
fnüpfte an die andere das Ende feines fehr Tangen Guͤrtels, den er nach Art der 
Palitaren um den Leib trug, und lie fich an demfelben längs der Mauer her⸗ 
nieder. Er konnte indeſſen den Boden nicht erreichen und mußte aus einer nicht 
unbedeutenden Höhe herabſpringen; das Geraͤuſch ſeines Sprunges machte einen 
Wachtpoſten aufmerkſam, der aufs geradewohl Feuer gab und dadurch Die ganze 
Garniſon alarmirte. Der Tag begann zu grauen; ber Slüchtling hatte nur nod 
Beit, fi} in einen Moraft zu werfen, wo er bis unter die Arme im Waffer flehend 
und in dichtem Schilf verſteckt den Tag über blieb, Am Abend erft wagte er ſich 
aus dieſem gefahrvollen Schlupfwinkel heraus und wandte ſich nach Miſſolunghi, 


Griechenlandol lier. Maebergeburt. 533 


das die Mufelnränner kurze Zett darauf (1625) beſtürmten. Während biefer 
Belagerung, welche Griechenlands edelfte Söhne zum Opfer forberte, zeichnete ſich 
Balokoſtas Durch eine wahrhaft Herolfche Tapferkeit aus. Nach einer mehrmonats 
lichen Blofade war die Stadt in. die verzweiflungsvollſte Lage gerathen; ihre Ver 
theidiger, durch Hunger, Krankheiten und das Beuer-bes Feindes berimirt, reich- 
ten faum zum Schuge der Mauern aus. Eines Tages verfündeten 2 mächtige 
Feuer auf den Bergedgipfeln, welche im Norden die Ebene von Miffolunghi be⸗ 
grenzten, den Belagerten, daß ihnen von diefer Seite her unerwartete Verftär- 
fung nahte ; aber es war wenig Hoffnung vorhanden, daß es den zu Hülfe Eilen- 
den gelingen würde, bie Reiben der Türken zu durchbrechen; «8 handelte fich 
darum, denfelben einen Weg zu bahnen... Tinter dem Schuge einer finfteren, 
ſchwarzen Rocht verließ Zalokoſtas, nur von einem Gefährten begleitet und mit 
brennbaren Stoffen verjehen, die Stadt, täufchte Die Worpoften des Feines, 
nachdem er ihre Parole erfahren, und drang in ten Mittelpunkt bed Lagers. 
Als er den Punkt erreicht Hatte, an welchem die Zelte am bichteften aneinander- 
gereiht waren, zünbete ex eine Pechfadel an, fehleuderte fie In die Zelte und ent⸗ 
fernte ſich. Er vechnete darauf, daß das Feuer rafch um fich greifen und eine 
breite Bahn öffnen würde, durch welche der fo fehnlich erivartete Erſatz, begün- 
fligt durch die unter den Türken entflehende Verwirrung, hindurch brechen könnte. 
Sein Gefährte. wurde von einem Soldaten erfannt und durch einen Piftolen- 
ſchuß getöbtet, Zalokoſtas lud den Leichnam feines Freundes auf die Schultern 
und erreichte durch die von den Brande bervorgerufene Beftürzung glüdlich die 
Stadt wieder. Unglüclicherweife aber war DE Luft fehr ruhig, das Feuer griff 
daher nur fehr langſam um fich, ein Heftiger Regenguß Fam, bie Flammen erlo« 
fchdn und die Stadt fonnte feinen Succurd erhalten. 

Einige Wochen fpäter machte Die Befagung von Mifjolunghi in ihrer Ver- 
zweiflung jenen mit Recht fo berühmt gewordenen Ausfall. Der Dichter gehörte 
zu der heldenmüthigen Schaar, welche mit dem Degen in der Fauſt ſich durch bie 
Türken fchlug und zu drei Viertheilen niedergemegelt wurde. Nachdem er eine 
Zeit fang in den Bergen von Zigo8 umbergeirrt war, ftieß er auf eine Fleine 
Anzahl von Soulioten, mit denen e8 ihm gelang mittelft einer verlaſſenen Barke 
über den Golf von Lepanto zu gelangen. In Rauplia trafen fle mit dem berühm- 
ten Barteigänger Zarartatis zufammen, welchem von dem Gouvernement das 
Gommando.über die Landtruppen übertragen und der beauftragt war, die Tür« 
fen aus der Akropolis von Athen zum vertreiben. Zalokoſtas entging allen Ges 
fahren ; fpäter erft wird man ihn bebanern hören, daß er nicht wie fo viele An⸗ 
dere von einer feindlichen Kugel niebergeftredtt wurde. Nach der Pacification 
Griechenlands trat er im die Dienfte des Königs Otto. Es fcheint, dag ihn 
fein Glücksſtern, der ihn während 10 Jahren voller Gefahren und Abenteuer 
fo treufich gefchirmt hatte, feit den Tage verließ, von welchem an fein Leben 
Dem Schlachtenwechfel nicht mehr ausgeſetzt war. Denn trotz bes Rufes 
feiner Tapferkeit und feined Ruhmes als Dichter überfchritt er die niederen 
Rangftellen in der Armee nicht, und bierbei wurde er auch noch durch ben 
Verluſt eines zärtlich geliebten Kindes in bie tiefſte Trauer verſenkt. Der 


534 11035 Mihenaturgelchiehle.: u: :1:2) 


ſchwere Schmerz, ben er empfand, 9% ihm uachfolgenbe Dat au ben 
Mond ein: 
„O vielgeliebter . Mond, Du ddr nicht, wie ich Ieide; warum. Denn 
ſcheinſt Du fo traurig da oben am Himmel? 

„Der Du Deine goldenen Strahlen über die Erde und magiſche Seleier 
über die Wellen des Meeres breiteſt, warum hüllſt Du Dich in ein fo blei⸗ 
ches Gewand, gleichwie ein Entſeelter in ſeinem Grabe? 

„O Mond, iſt unter den Engeln, welche Deine Reiche dewohnen, nicht 
auch mein Kind? Und iſt dies nicht ein Ruß von Deinen Lippen, welchen 

‚.. Deine Strahlen mir zuführen ? 

„Erhöre meine Bitte, o fühle dieſen Seufzer und ſage meinem Kinde, 
daß meine Seele mit ihm im Schooße der Erbe ſchlummert. Und wenn es 
wiflen will, wann meine Leiden aufhören, fo fage ihm, daß ſie erft dann be 
endet fein werden, wenn ich ihm bort oben in Deinem blauen Reiche begegne. 

. Diefer Schickſalsſchlag rief in Zalofoftae’ Dichterbruft andere umd weichere 
Gefühle als früherhin wach. Der Enthuflasmmns für die Freiheit, die Begeiſte⸗ 
zung für Kampf, bie Liebe zu Eriegerifchen Abenteuern wurden gedämpft durch 
ben Verluſt feines Kindes und ein tiefer Schmerz erwachte in feiner Brufl. Aus 
biefer Zeit ſtammen feine beften Dichtungen und Lieder. Unter diejen Erzeuge 
nifien ift eins, der Dichter benannt, in welchem Zalokoſtas gleichfam ein Bor 
gefühl auf fi und feinen nahen Tod Hindentet. 

„Der Morgenftern zittert am Horizont; Die Hügel, die Wälder, die Berge 
ruhen noch in zweifelhafter Diimmerung; die Wiefen glänzen im Nachtthan; 
die Rachtigall fingt und weiße Lichtſtreifen erfcheinen und verſchwinden uf 
den ſchimmernden IBogen des Meeres. 

„Unſichtbare Beifter fchlingen goldene Kronen um die Gipfel der Berge 
und Die Engel eilen helfend herbei zu diefem geheimnißvollen Walten. Alles 
iſt goU Duft, Blumen, Blüthen und Zweige. 

„An einer Duelle figt. ein Iängling, ein Dichter, und wirft einen traus 
rigen Blick über die weiten Räume ber Erde; er feufzt und redet mit fidh 
ſelbſt. 

„O büftere Nacht, welchen Zauber abſt Du auf mich aus und mit wel⸗ 
her Freude erfüllteft Du mich, wenn ich bei meiner Beliebten war! Heute 
durcheile ich, während die Vögel im dichten Laube Eojen, die Wüften und 

. @inöden einem Wefen nach, das mir entrann. 

„Ran nannte fle Ehryfo, ſie war jung und fchön ; doch was vermögen 
Jugend und Schönheit über bie ungerechte Barze? Der unerbittliche Cha⸗ 
son, dieſer kalte Mäuber, ſah ſie und entriß fie mir. 

„O bie ihr fle gekannt habt, ihr Quellen, Wälder, Bögel und Blüthen, 
haltet mich nicht für gefühllog, wenn ihre mich noch auf dieſer Welt feht, 
auf welcher ich wie cin Geſpenſt umherwandle. Ich wünfche mir den Tod, 
denn das Leben iſt eine Qual, der Tod ein Freudenfeſt. 

„Charon erhörte ihn: die Mandelbaͤume haben noch nicht wieder gebluͤht in 
ben Feldern und ſchon ruht der junge Mann unter ber Erde neben feiner Chryſo. 


Griechenlaubär Iiten, :Eblebtrgeburt. 535 


„Zwei dichtbelaubte Bäume beſchatten geheinmißvoll dieſes doppelte 
Grab, und wenn der Wind wei, neigen r - I" einander, wie um fich 
zu Kiffen, Ä 

Zalekoſtad' bedeutenbfles Berk, Am er den: meiten ich gewidmet, das 
aber auch feinen Huhm dauernd begründet Hat, iR ein ‚„‚Armatolen und Kleph⸗ 
ten“ betitelted Cpos. Die Reibung: der Klephten und Armatolen untereinan« 
war feine der geriugſten Blagen, welche: Griechenland während feiner Unter⸗ 
johung auszuſtehen hatte. Die Armatolen waren eine Art großer Lehnéöleute, 
zuerſt unter der Regierimg Soliman's II. ernaunt und beſtimmt, die Rechts⸗ 
pflege in gewiſſen Theilen des unterjochten Landes auszuüben, über die Sicher⸗ 
heit der Straßen zu wachen, bie Ruhe im Lande aufrecht zu erhalten und die bes 
fländigen Aufregungen ber chriſtlichen Bevolkerungen zu ımterdrükten. Ihre 
Stellung war erblich. Der Zweck dieſer Sinrichtung war, dem Rationalgefühl 
des unterjochten Volkes eine Art von Genugthuung zu:geben: eine fehr illufo- 
riihe Genugthung in der That, denn um fein Vermögen und feine Würde zu 
wahren, ſah fich Der Armatole gezwungen, beftändig einen Bertrag mit dem Un⸗ 
terdrüder zu fchließen. Wenn. er müde war, den. Türken feine Dienfte zu wid⸗ 
men, oder wenn er irgend eine Belcibigung zu raͤchen hatte, wurde er Klephte. 
Dieſer lehtere war im Segenfage ‚zu jenem vorzugéweiſe ein freier Mann, ein 
geichworener Feind alles deffen, wad den Groberern nabe oder fern ftand. Die 
Klcphten und Armatolen lagen beftäntig mit einander im Streite; unglüdlicher 
Weiſe traf es fich oft, daß der Eine unter dem Vorwande ber öffentlichen Ruhe, 
der Andere unter dem der Freiheit feine perfönlichen Befchwerden verbarg und 
nit den Waffen in der Hand den alten Familienhaß zu ftillen ſuchte. Sie leb⸗ 
ten Daher 'beftändig in einer Art von Bürgerfrieg, der für das Land beinahe 
cbenjo verderbfich war, als die türfifche Tyrannei felbft. - 

Dieje Periode in der Geſchichte Griechenlands ift fehr dunkel; fle iſt ung 
nur aus den Volkspoeſien befannt, welche, als ein treuer Ausdrud des National- 
gefühld, den Klephten, der als tapfer, vbelmüthig md unerfchroden geſchildert 
wird und vor den Unterjochern in die Wüfte floh und die Gemeinſchaft mit 
Geiern und Wölfen der Geſellſchaft der Tuͤrken vorzog, in einemn romantiſchen 
Lichte vorführt. 

Zalokoſtas hat aus der Ueberlieferung dieſer innerlichen Streitigkeiten den 
Stoff zu feinem legten und beſten Gedichte geſchöpft. Er widmete ed dem An⸗ 
denfen feines Kindes, das ihn fo früßgeitig in das Grab nachziehen ſollte. Die 
Handlung fpielt zu Janina in Epirus. Der Beift des Dichterd, in bie rauhe 
Wiege feiner erſten Jugendzeit zurückverſezt, findet bier die Kraft und den 
Schwung feiner ehemaligen Begeifkerung wieder, Mit nachfolgender Ansufung 
beginnt er fein Gedicht: 

„O ihr Mufen, göttliche Strahlen bed Geiſtes, zerftrent auf einen Bingen» 
blick die Schatten der Vergangenheit und zieht von meinen Augen den 
Schleier weg, welcher die Zeit unferer Sklaverei verhüllt. Tragt mid auf 
den geweihten Boden von Epirus, in den Bereich feiner Heiligen Berge. 
O Zeü und Du Tod, Du Geißel der Tele, laßt mich Heute aus dem Gehage 


536 Al ty in. 0 © Pal .z72Cc) 


.- . Cures bappelten- Reidsthums [deöpfen,.. uud Du Tod aut: den geheimnißvol⸗ 

+ joa Blättern: Deines Buches und aus Deinen falten Gräbern. 

„Sch fehe den Berg Imara*), der Schnee bedeckt die Forſten auf ſeinen 

..- Hügeln, über welche fein: ſtolzer Gipfel zmpeuflnebt ;: ich ſehe den dinch Die 
. . fihwargen, Schatten bes Cochtus genaͤhrten See und bie. Infel, auf weicher 
Sich Die Sommerreſidenz und: die. Harema eined grauſamen Paſcha viel fpäter 
-  xbeben. Einen Thurm allein erblitte: ich an dieſem om, | den dreiecigen 

Thurm eines Armatolen. . 

Hier lebte, ‚mächtig und. gliscklich, der Armatole Chloros und hareſche un⸗ 
angefochten ‚über die benachbarten Gegenden. Diefe frieblidye Zeit dauerte bis 
zu dem Rage, an welchen er die Sand feiner Tochter Despo dem braven Kentroß 
gab, Unter ben: Kriegern bes alten. Chloros war einer, Namens Photos, der 
heftig in Despo verlieht war und von dem Herrn zu verlangen gewagt batte, 
ihm, dem Diener in feinem Solbe, die Hand der Tochter zu bewilligen. Wes⸗ 
halb ? Hatte ihm Chloros geantwortet; wenn: ich Dich zum Gidam.nehme, wer 
wird mir den Tiſch decken? Wer foll denn Die Scheibe meines Säbels und ben 
Lauf meines Earabiners rein und glänzend erhalten? Erbittert über biefe ver⸗ 
ächtliche Antwort flürzte der junge Menſch, während Deopo's Hochzeit gefeiert 
wurde, in Die Berge, wurbe Klephte und verheerte unaufhörlich das Gebiet feines 
alten Seren. Lamprinos, der Sohn des Armatolen, und jein Schwiegerfohn 
Kentroß fuchten vergeblich das Land von diefem gefährlichen Klephten zu befreien. 
Photos fchlug fle beſtaͤndig an der Spitze einer kühnen Schaar; nachdem er fe 
endlich in einen Hinterhaft gelodt, führte er fle mit Ketten beladen in die Sälud- 
ten des Midgifelli**), 

„Dichte Wolken bereiten und verfinftern den Horizont; der Orkan 
brauft über Abgründe, entwurzelte Eichen flürzen in bie Ebene hernieder, 
und die Vögel flattern ſcheu nach einem ficherem Zufluchtäorte fuchend, 

„Im Schoofe rined engen Thales, das durch Bellen und einen dichten 
Tannenwald gefchügt ift, bat der unbezwingliche Klephte fein Lager errichtet. 
Da herrſcht er und birgt in feiner Bruſt das Heilige Feuer, welches einft 
mächtig emporlodern und Griechenland befreien fol. Seine Soldaten be 
wachen ihre Gefangenen, welche fle mit Beleidigungen und Quäferrien über 
häufen. 

Während des Sturmes gelingt es Kiffas, einem Gefährten des Chloros, 
als Bauer verkleidet in das Lager zu dringen, wo er mit Hülfe einer Lift feine 
Freunde zu erretten hofft. Die Klephien aber erkennen ihn und verurthellen ihn 
zum Tode. Photos, fchreit der Unglückliche, wenn Du ein Chriſt biſt, wenn 
Du Deine Serle noch vom Verderben retten will, fo laß mich nicht mit meinen 
Sünden beladen fterben, fo laß mir einen Beichtvater kommen. Photos Tiegt 
gar nicht daran, da feine Gefangenen fchon fterben follen, er will fich Tange 
noch ihrer Schmerzen freuen. 


* Ein Hoher Berg bei Janina. 
”*) Gin Berg, einige Meilen von Janina entfernt. 


Griechenlauds Liter. Miebergeburt. 537 


Indeß führt uns der Dichter nach der verlaffenen Wohnung: des Armatolen 
zurüd: J 

„Ganz in der Nähe des Thurmes iſt eine kleine Capelle. Eine kupferne 
Lampe brennt daſelbſt zwiſchen dem ſinnenden Bilde eines Heiligen und einer 
gemalten Kapſel, in welche der Vorübergehende feine beſcheidene Syende fin 
Weihrauch und Wachskerzen niederlegt. Vor dem Bilde ſteht eine junge 
Frau, die Hände gefaltet, In der Stellung einer Betenden; ſie richtet finſter 
den Blick auf das goltenglänzente Antlitz des Seligen. 

„Sie kann nicht beten; ihr Herz iſt gemartert von unzähligen Qualen; 
ihre Seele lechzt nach Rache. Der Schmerz hat die Kraft ihrer Jugend ges 

-brochen, wie der Sturm die Blüthen der Rarziffen entblättert; troß ihrer 
tiefen Blaͤfſſe Hat ihr Geflcht die frühere Schönheit bewahrt. 

„Plöglid, verninmt fie Waffengeräufch und Schritte. Der alte Arma⸗ 
tole tritt in den Tempel; nach dem wilden Ausdrucke feiner Züge tobt ein 
leidenſchaftlicher Sturm in feiner Bruſt. Sein ſchneeweißes Haar entrollt 
feinem Turban und fällt in dichten Locken auf feine breiten Schultern herab. 
Den Griff feines Schwertes faßt Frampfhaft die Sand; er ift flarf wie ein 
Jüngling. 

„Dedpo, fagt er, die Schatten ter Nacht Haben tie Hälfte ihres Laufs 
zurüdgelegt, es ift Zeit, dag Du Dich zur Ruhe legſt. — Wein Vater, der 
Schmerz fohläft nicht; die Nache läßt dem Geifte Feinen Frieden. Kiſſas, 
unjer treue Kiſſas, ift in das Lager der Klephten; er bat meinen Bruber nicht 
befreit, er hat Kentros Mörder nicht erichlagen. Ten Tag nach meiner 
Hochzeit habe ich Trauerkleider getragen. 

„Blöglich erglüht fein Herz, der Zorn furcht feine Stirn, jeine Lippen 
zuden Erampfhaft, feine Augen leuchten feurig. — Mein Vater, Kentro®’ 
Seele irrt feufzend umher in irgend einer unbekannten Einöde, in einem 
nicht durch Weihrauch gereinigten Orte. Bis wann denn werden wir uns 
nüge Thränen vergiegen? Auf zur Rache; fein Blut fordert und dazu auf! 


Diefer thränenloje Schmerz, diefer männliche Zorn finden ſich ſtets in ben 
Ueberlieferungen der griechifchen Volkspoeſie, in Traditionen, deren ſich Zalofoftas 
niemals entfchlägt und in welchen er feine Gewalt und Originalität findet. Die 
Frau, wie fle die Improviſatoren geſchildert haben, ift eine ganz befondere Schöpfe 
ung der neugriechiichen Mufe. Vaterlandsliebe, Aufopferung und ein männ« 
Tiches Ehrgefühl find ihre Eigenfchaften. Gatten» und Mutterliebe vereinigen 
fich in der Tiefe ihres Herzens mit der Liebe zum Vaterlande; fte Tiebt ihren 
Gatten nur, weil er für die Freiheit kaͤmpft; fle erzieht ihren Knaben nur im 
Angeficht der Kämpfe, in denen er fich eines Tages auszeichnen ſoll. Die ſanf⸗ 
ten und ftillen Tugenden der Häudlichkeit, Die Grazie und liebliche Anmuth des 
zarten Gefchlechts find ihrem ganz heroiſch gearteten Charakter fremd und nicht 
eigenthümlich. Weit entfernt fich in thatenlofen Klagen zu ergehen, erhebt ſich 
Despo und verlangt Waffen. Eie Ieitet Die Vorbereitungen zur Schlacht, reizt 
Die Krieger auf und vertheilt Die zum Etreite nöthigen Rüftungen, während ihre 


5 td) 17 Blkekatuugefehhehhei: nn) 


Rüdreife und unter dem Ginfluffe ter empfangenen. Eindrücke ſchrieb er das 
Gedicht: „Anna und Phloros oder der Thurm von Petra**, Die:Gamblung 
des Gedichts fpielt am Fuße des aränem Helikon, in der: Nähe ber. Stadt Li- 
vadia, welche die Bwicchen-',‚die feuchte!’ nennen, wegen der zahlreichen Quellen, 
welche fle umgeben, und des Fluſſes, der ihre Mauern Sepält, und wegen 
Ver Schneegipfel des Parnaffus, welche dort in Der Werne leuchten.” Ich felbft 
habe das Land, in welchem des Berfaffers Gedicht fpielt, durchreiſt und burch 
Anm merkwürdigen Bufall habe ich die Sage erzählen hören, welche Orphanidis 
feiner Bearbeitung zu Grunde gelegt Hat. Es ift bekannt, daß der Helikon ein 
Berg in. Böotien iſt, den die Alten fin einen bevorzugten Neblingsnufenthaft 
der Muſen hielten. - Nach dem Berichte bes Hiſtorikers Pauſanias wächſt dert 
eine giftige Pflanze, und die Rattern ſelbſt, die auf biefem liebfichen Berge 
leben, nähren fich nur von unfchädlichen und wohlriechenden Kräutern, welche 
ihrem Biffe alle Gefahr benehmen. Apollo, Merkur, Bacchns, Orpheus, Ge 
ſtod hatten ihre Statuen unter den Bäumen eines geheiligten Waldes, in dem 
ch ein Tempel erhob, den. die größten Künftler mit ihren Meifterwerken verziert 
hatten. Bon all dieſem Glanze lebt Heute nur noch eine poetiſche Erinnerung; 
aber die üppige Ratur hat fich nidyt verändert; die Thäler und Hügel ind immer 
noch voll von Weiz, Duft und Würze; ein dichtes Gehölz, an befien Saume mar 
die düfteren Ruinen eines fleinen Kloſters vorfindet, bebedt den Abhang des 
Berges; weiter oben erhebt fi vom Glanz der Sonne ‚beleuchtet eine ſtarke 
Belfengruppe, gleichfanı um das Thal vor der Gewalt des Sturmes zu fehügen 
und die neun Schweftern nicht zu verjcheuchen. Die verfchwenderifche Begetation 
des Helifon bilder einen feltfamen Eontraft gegen die faft wüfte und traurige 
Befchaffenheit der übrigen Berge Griechenlands, das mit feinen Göttern zugleich 
feine Fluͤſſe und Wälder verloren zu haben ſcheint. 

Auf dent Wege von Theben nad) Livadia bemerkt man in einiger Entfer- 
nung vom Helifon eine Ruine, welche aus dem Mittelalter herzuſtammen und 
deren Mauern vom Feuer geichwärzt.erfcheinen. Ich verbrachte. im Herbſte des 
Jahres 1844 einen Abend dajelbft, begleitet von einem Thebaner, ter wie ich 
nach Zavidia wanderte. Ich forderte meinen Neifegefährten auf, die Ruine mit 
mir zu befleigen, um von da aus die Sonne betradhten zu können, welche eben 
hinter den fernen Berggipfeln Eubda’s in das Meer ſank. Der Thebaner wei 
gerte fich Hartnädig und theilte mir mit, Daß diefer Ort von Geiftern bewohnt 
Tel, welche Riemand dajelbft zu ftören wage, mit alleiniger Ausnahme der Hirten, 
die nach Griechenland kommen, um mit diefen übernatürlichen Weſen einen be 
fländigen Verkehr zu unterhalten. Er erzählte mir, daß im vergangenen Jahre 
ein Reijender diefe alten Mauern erftiegen babe, aber oben angelangt, von einem 
unwiderftehlichen Schwintel überfallen und in den Abgrund geftärzt je, Et 
theifte mir im Laufe des Abends eine lange Reihe folcyer fantaftifcher Erzählun- 
gen mit; aber da diefe Sagen die Quellen zu dem Gedichte bilden, welche Dr 


**) Herausgegeben bei Bilara in Athen 1855. 


Griechenlasbi; Tifen: : Michergeburt. St 


phanidis Ruf begrändet haben, ſa will ich.amdh den: lateren bei der Gryihlung 
diefes romantifchen . Abenteuers ſprechen laffen.: . 

. „Ein Shurm von. vwoher Korm: erhebt. PM auf. vom Wege voan hehe; 
fie beherrſcht die Ebene von Copais, in; desen ‚Sewäflsen: fich bier und ba 
das Azur des Himmels. wiederfpiegelt; die Eulen Ersiichen auf dem Giebel 

DeB Daches, Die Uhus niften unter dem Erker. Als der blaſſe Mond, Halb 

verhulle in einem Dunſtkreiſe, die Gegend: ſchwach erhellt, bemerkt man 

einen Geiſt, der auf dem verlaſſenen Thurme umherirrt. Dieſes Phantom 
iſt der Schatten⸗ einer jungen Frau, die in ein weißes. bis auf Die Füße 
-.. berabfallendes Gewand gefleidet if; ihre Haare find aufgelöf; ihr Geſicht 

von wuenderbarer Schönheit drückt Entſetzen aus. : Sie fleigt sit Geſchicklich⸗ 
lichkeit -umd- mit der Leichtigkeit der Schatten von der: Binne bis zum Fuße 
dieſes alten Schloſſes herab, daß von bem geringfien Windſtoße rrzittert wir 
Cypreſſen laub und wibrirt wie die Saiten einer. Leier; fie ringt verzweifelnd 
die Hände, wie um Schug gegem eine. broßende Gefahr zu fuchen, fie er⸗ 
fheint und verfchwindet zwijchen den Spalten, den Erkern und. Vertiefungen 
des Thurmes. Endlich zeigt fie ich an "einem: nach Morgen gelegenen Fen⸗ 
fer, fie neigt fi Heraus und flürzt ſich in den Abgrund unter einem fürch⸗ 
terlichen Schrei, den die Echos der Berge taufendfach wiederhallen.“ 

- Oft auch hört man Waffengeflirr ober ein wildes Gelächter; wenn bes 
Larm aufhört, kommt durch die geborflene Bauer ein. langer Bug von frembe 
artigen Pferden, Die auf ihren fchwarzen Rücken geiwappnete Ritter tragen ; aus 
ihren Hufen bligen leuchtende Funken und ihre. Tritte hallen wie Donnerfchläge, 
Sie flürzen fi in die Tiefen auf dee Seite nach Theben zu.. - Diefes Schloß 
bewohnte vor einigen Sahrhunderten ein .unglüdlicher Mann, ein jchwacher 
Widerfchein von Byrons finftern Heldengeftalten, obwohl fiy Orphanidis gegen 
eine Nachahmung des englifchen Dichters flarf verwahrt bat. Diejer Mann, 
ebenſo laſterhaft als ſchön, ebenfo reich als graufanı, war allein, in einem Teiche 
ten Rachen und während eines furdhtbaren Sturmes an Griechenlands Beftaden 
gelandet. Man wußte von ihm nur zwei Sachen: Daß er von Venedig ger 
fommen war und fich Antonelli nannte. Er hatte fehr rajch die Lebensart, Sitte 
und Gebräuche der Türfen angenommen und erfüllte Die Umgegendb mit dem 
Laͤrme feiner Orgien und feiner Verbrechen. Auch war er ber Schrecken fried⸗ 
lihee Bürger, ehrbarer Brauen und züchtiger Mädchen. Unter den letzteren 
war eine, für welche Antonelli in heftiger Leidenfchaft erglühte. 

Die Tochter des alten Lampros, eined reichen Einwohners von Livadia, 
Namens Anna, war die Braut ded Palikaren Phloros, dem fie herzlich Tiebte. 
Der zur Hochzeit des glüdlichen Paares beftimmte Tag war angebrochen, als 
Antonelli von einem zahlreichen Trupp Reiter begleitet in Livadia eindrang; er 
begab fich zum Toparch (Obervogt, Bezirksherr), einem zu verbrecherifchen 
Unternehmungen ſtets bereiten Manne. 

„In Lampros' Wohnung ift Alled in voller Bewegung; Schaaren von 

Freunden und Nachbarn füllen die weiten Säle und zahlreiche Diener bes 

wachen die Pforten des Vorhauſed. Die jungen Mädchen Livadia’s, Anna’s 


342 udn Mectuturgeſchichte moere 


r. Yugendgelbielinnen, ud verfammmvit uud bringen ihr: das Gochzenskletd, die 

üblichen Lieder fingend. Bereits bat ber Briefler,; in Bas: Haus bed. Vaters 
:. 35 Tmuung gerufen, feinen goldenen Mantel umgehangen, und die weißen 
3 Wachtterzen leuchten zur Suchzeit; fee: hält Phlords die Hund: der’ zittern- 
‚1 Yen Anna: in ber ſeinigen, als ich. in heftigen Laͤrm ser. dem: Hauſe verneh⸗ 

men ht; Waffengeklirr, krlegeriſche Rufe erſchüttern tie Herzen der Ber 
. lobten, und das Wort erſtirbt auf den Lippen’ des Prteners der bie weuen 
: Ehegatten. eben. einzufegnen im Begriff war.“. 

- In dieſem Augenblicke flürzen die Trabanten deo Zopanen uf ein Zee 
em Antonelli's im den erleuchteten Saal, ergreifen den alten Lanwros und 
führen ihn, eines luͤgneriſchen Verbrechen angeklagt und mit: Ketten belaſdet hin- 
weg. Das junge Mädchen bleibt im tiefer Trauer zurüd, der Schlaf flteht ihre 
Augen, und wenn fih auch zuweilen die münden Lider fchließen wollen, fo ver- 
fiyeuchen finftere Gedanken den Schlummer und jagen fie von ihrem Lager auf. 
Hr Bater erfcheint ihr in Blut gebadet und tobt; dad unglückliche Mäpdhen 
will aufichreien, allein ein heftiger Kuß verfchließt ihre blaſſen Lippen. Der fchon 
tadie, verehrungewuͤrdige Greis erwacht noch einmal zum Leben und fegnet feine 
Tochter mit einer Deberde voll unausfprechlicher Zärtlichkeit. Nach mehreren 
angſt⸗ und verzweiflungsvollen Tagen erhält Anna ein Billet von unbekannter 
Gand. In diefem Briefe wird fe für die folgende Racht zu einem Stelldichein 
in. der Höhle des Trophonins eingeladen; man verfpricht ihr, wenn ſte fich allein 
einfindet, ein. Mittel zur Mettung ihres Vaters anzugeben, ber in dem tieffien 
Kerken des Toparchen noch am Leben fei. Anna, deren reine. Seele Leinen Ber 
rath fürchtet, zögert nicht, Diefer gebeimnißvollen Rachricht Glauben zu: ſchenken 
und fie anzunehmen. Sie eilt zur Mabonna, welcher in jeder griechifchen Fa⸗ 
milie ein Altar geweiht wird, und kniet zu deren üßen nieder. In dem Augen 
blicke, als fie ihre Lippen zum Gebet öffnet, verlöfcht die Lampe plößlich, welche 
bon dem Bilde der Heiligen brannte. „O Panagia, ruft das junge Mätichen, 
erſchrocken und beftürzt über dieſes feltfame Anzeichen, laß meine Hoffuung nicht 
erlöfchen wie dieſes ſchwache Licht! — Sie findet aber gar bald ihren fräßeren 
Muth wieder und erwartet ben Abend mit fieberhafter Ungednld. 

„Die Rat kam endlich; Anna lenkt ihre Schritte nach der bezeichneten 
Höhle. Ein Sturmwind treibt plöglich ſchwarze Wetterwolfen herauf, welche 
die Sterne am Simmel all’ verdeden; der Donner vermijcht fein Rollen 
mit dem Braufen des Sturzbaches, der über Felfen herniederſtürzt. Der 
Dämon der Stürme hauft an diefem Abende auf dem Gipfel des Parnaflus. 
In der Stadt herrfchte Schweigen, tiefes Schweigen; bie wilden Hunde heul⸗ 
ten in ter Ebene. Das junge Mädchen beeilt ich, jeder Schatten erfchredt 
fe, Hei dem geringften Geraͤuſch erbebt fie. Ihre erregte Einbildungskraft 
verleiht Leben allen Ieblofen Dingen. Die Felſen bewegen ſich hinter ihr 
und folgen wie riefenhafte Gefpenfter, die Bäume fireden ihre entlaubten 
Biweige aus, gleichfam, um ihr den Weg anzudeuten, welchem ihr dad Schid« 
ſal zu folgen befiehlt; aber der Gedanke an ihren Bater Hält ihren Muth 


Griehenlanbä: In, Mirdergeburt. 343. 


aufredyt: fie gelangt an den Eingang der grfkrchseten sone, wo ein Gut 
früher feine Orabel ertfelle.”  :. 

Diele traͤbe Schilderung laͤÿt ein Ungtünt uen. Und in der Aber MR m 
Antonelli, der daB junge Mädchen hierher geködt Hat, und einige Stunden: varauf 
befindet fle ich im Thurme zu Berta, ihrem Sutfuͤhrer Preis gegeben. Inzwiſchen 
zieht Phloros in den Kampf, um feine Geliebte zu: befteten. Dex Dichter be⸗ 
fchreibt Phloros Zager, der eine Schaar um fich ‘vereinigt. Dieſes Gemälde iſt 
voller Wahrheit, die heben Beflalten der Aephten Aberragen alle fanften und 
bieblichen @egenftäude der kandſchaft ‚in deren Me fle ihr maleriſches Lager 
errichtet haben. 

„Chryſtallhelle Duellm bewäffern die gruͤnen Wälder des Helikon; bie 
Möge fingen und ewiger Fruͤhling herrſcht Hier... Es iſt der dritte Mor⸗ 
gen, ſeitdem Lampros Tochter and Livadia verfchmunden iſt. An einer Quelle 
figen bewaffnete Männer. Un ihrer kuͤhnen Haltımg, an ihren langen Locken, 
an ihrer Eraftigen Bruf und an ihren finftern Blicken erkennt man fogleich, 
daß alle tapferen Bergbewohner, ‚freie Männer und der Schrecken der Türken 
find. Die einen reinigen ihre glänzenden Waffen, während andere Das Breuer 
unterhalten, an welchem fie ganze Laͤmmer röfßten. Der größte Theil Taufcht 
aufmerkjam den Erzählungen eines ergrauten Kriegers; andere ®ruppen 
wieder Hefingen, zum ‚Himmel blickend, den Tod eines Brunders ober Freundes. 

„&tn Krieger allein, fung, Mond, von hoher Geftalt, Hält ſich entfernt 
von den Uebrigen, an den flarken Stamm einer Tanne gelehnt. Sein blei⸗ 
ches Geſicht, fein tramrig auf die Bruſt geneigte Haupt verrathen einem 

.. tiefen Schmerz. Es iſt Phlores. Bon Zeit zu Zeit fliegt fein Blick zur 
Sonne mıyor und nit unterbrüdtenn Born mißt er den Raum, den ſie bi8 
zu ihrem Untergange noch zu durcheilen hat. Er ſcheint dem leuchtenden 
Geſtirn wegen feiner heute ganz außergewöhnlicdyen Traͤgheit zu zuͤrnen... 
Endlich neigt fich die glühende Scheibe zum lintergange und ihre legten 
Strahlen hauchen purpurnen Widerſchimmer auf. die leichten Wollen und 
auf die Schneegipfel der Berge.. Als nun die Nacht, die Mutter der heiligen 
Stille, ihren dunklen Schleier Aber die Natur auögebreitet hat, werlafien bie 
Klephten den Wald und marfchiren ohne Beräufch gegen den Thurm von 
Petra.“ 

Der Vencdiger leiſtet, von ſeinen Wachen umgeben, ſeinen Feiuden heftigen 
Widerſtand. Bald iſt das Außere Thor geſprengt, aber ein zweites, feſter und 
färfer, als das erſte, ſteht den Herandringenden entgegen. Gaͤbel und Cara 
biner werden machtlos zur Stürmung dieſes Thores; ſie greifen zu den Warten 
der Eyflopen und wie mit übernatürlicher Kraft begabt, fchleudern fie Feloblocke 
und Baumflänme gegen diefe eijerne Mauer. Phloros ift der erbittertfle, denn 
durch den Lärm des Kampfes laͤßt fi Anna’s Stimme vernehmen. Auch das 
zweite Thor weicht der Gewalt, und bie Stürmenden erheben lautes Sieges⸗ 
geichrei, aber ein entfegliches Schaufpiel feffelt Ihre Glieder: Das Innere des 
Thurmes flieht in Heuer, die Flammen züngeln vom Gipfel bis zum Boden, 
Balken flürzen zufammen, und die Vertheidiger der Mauern find verſchwunden 


544 tıudı Tetris) 


wie durch geheime Gewalt: Erfaßi von aberglaͤubiſchzen Schrecken glauben. bie 
Klephten an Zauberei; überzeugt, daß fie mit Dimenen zw Sämpfen haben, bie 
fich plötzlich im ihre unterirbifchen Höhlen verbergen. weichen Sie zurück, als 
Phloros den. Galopp über die Ebene davos trabender Pferde zu vernehmen 
-giewbt; ev. ſchaut ſich um und. bemerkt von der Sluth. des Brandes beleuchtet 
einen: Truyp xother Geftalten, die nach Theben zu fliehen. Er verfolgt ſie unb 
erkennt in der erſten Reihe, auf einem Renner fitzend, feine bleiche Braut und 
ſtinen furchtbaren Feind. Er hält an, erfaßt feinen Garabiner und: bie ‚heilige 
Jungfrau: anrufend, läßt er ſich auf ein Knie nieder, um beſſer vifiren und treffen 
zu fönnen. Das Pferd iſt getroffen, es waͤlzt fich im Staube, aber der Reiter 
fpringt empor und: zieht fein Schwert. :- Phleros verfolgt Die Fliehenden weiter! 
Ex erreicht fie, aber ach, er findet: nur noch ben blutenden Leichnam ſeiner Ver⸗ 
kobten und neben ihr das Schwert ihres Mörders. — Seit diefem Tage fah 
man feinen ber Iheilnchmer an biefem Drama im Lande wieder; es blieb wie 
eine Erinnerung neben ‚dem nuögebransien, eingeſtürzten, von wehklagenden 
Grfigeinungen heimgefuchten Thurme nur das Grab. des jungen Mäbchens, das 
ihr non unbekannten Haͤnden bereitet iſt und auf dem ein großer Roſenſtrauch 
in immerwährender Bluͤthe ſteht. 

Gier endet. die Erzählung, wie ſie in dem Munde ber Cinwohner des alten 
Böootien lebt, und man liebt daſelbſt dieſe plöglichen Entwidelungen, bei denen 
die Perſonen wie die Schatten eines Traumes verſchwinden; Orvhanidis aber 
verfolgt dieſes Abentener weiter; Phlorod eilt nach Italien und erfährt, daß An⸗ 
tonelli wegen neues Verbrechen zum. Tode nerurtbeilt if; er verlangt, Die Pflicht 
des Henkers an ihm zu erfüllen, und ſchlaͤgt mit eigener Hand den Kopf von dem 
Aunıpfe des Mörders, während er ihn Auna's Ramen guruft. Darauf kehrt er 
nach Griechenland zuruück und gebt in das Klofter des heiligen Lucas, um durch 
ein. fireng religiöfes Leben feine Vergangenheit mit ihren Sünden zu fühnen; 
aber in dem Vorſteher des Kloſters erfennt er den alten Lampros wieder. Er 
kann den Anblic nicht ertragen, welcher in jedem Uugenblid die Wunden feines 
Herzens aufreißt, und flüchtet in die undurcdhbringlichen Einöden des Paruaflus, 
wo er gar bald dem Schmerz, Hunger und Durft:unterliegt. Orphanidis' Zalent 
tritt freier und Eräftiger in einem anderen Gedichte von 5 Gefängen, „das unter 
jochte Chios“ hervor. Der erfte feierte den Heroismus und bie ungluͤcklichen Bes 
wohner der Infeln, Die bisher wenig zur Hebung der griechifchen Poeſte beigeira- 
gen und nur eine Eleine Anzahl improvifirter Gedichte zu Ehren von Ganaris 
und Miaculis hervorgebracht hatten. Unter allen Infeln Griechenlands ift Chioe 
ficgerlich Die jchönfte, fie ift aber auch beftändig bie unglüdlichfle gewefen. Nichts 
gleicht der Lieblichkeit ihres Klima's, der Fruchtbarkeit ihres Bodens, des Neid. 
thums und der Verfchiedenheit ihrer Produkte, der Größe und Anmuth ihrer 
Landichaften, aber Unglück und Mißgefchid haben immerwährend dieſes reizende 
Land, welches Die Griechen troß der beftändig dort ertragenen Leiden ein irdiſches 
Paradies nennen, furchtbar heimgefucht. Wir fahen Chios an einem Fruͤhlings⸗ 
morgen von dem Golf von Smyrna aus im Schooße des Meered herrlich vor 
und und bedauerten, am biefem entzüdenden Gilande fo fchnell verüberellen zu 


Griechenlands litex. Miedergeburt. 545 


snüfen. — Geht nie dorthin, fagte.ein neben und figenber Suryrnqer; betrachtet: 
es lieber aus ber Ferne; im Inneren ſtoßt ihr nur auf Türken und Zrümmer. 
Bon dieſem Gedauken jcheint auch Orphanidis’ Gef bewegt gu fein, ba er mit 
demfelben fein Gedicht beginnt: 

‚An den Geſtaden Klein-Afiens, nicht weit von dem glücklichen Suhrna, 
erblickt der Schiffer eine Inſel, welche eine balſamiſche Atmoſphaͤre umhuͤllt. 
Wenn das Meer und bie Berge in tiefem Schweigen ruhn, dringen geheim⸗ 
nißvolle Worte und dumpfes LArmen von ihrem Ufer herüber; gleichwohl 
haben gefahrbringende Sirenen dort keinen beſtimmten Aufenthaltsort. 

„Sei mir gegrüßt, Chios! Bir Du auch nicht die Wiege Homers, fo 
birgft Du doch wenigſtens den Olymp in Dir. Ergriffen von einem heiligen 
Schauer kuͤſſe ich Den Boden, auf den der Genius des alten Griechenlands ®) 
geweilt, und in dem Schweigen der Racht glaubt mein anfmerkfames Ohr 
dur; die harmoniſch verworrenen Laute der Ratur das alte Echo von den 
Sefängen des Hlinden Dichters zu vernehmen. 


„Sei gegrüßt, Chios! Vaterland der Blumen, reizende Tochter des 
Meeres; unſchuldiges Blut hat oft Deinen fruchtbaren und gefegneten Schooß 
geröthet; zwifchen den Spalten und Steinen findet man die Gebeine der 
Märtyrer. O Reiſender, der Du nach diefem fchönen Ufer fährt, begnuͤge 
Dich feine Düfte aus der Ferne einzuathmen; betritt e8 ja wicht, denn Alles, 
was Du flehft, würde Dir das Herz zerreißen. 


Das Sujet des Gedichtes bildet eine Epifode aus der genuefljchen Herrfchaft, 
die von 1346 bi6 1566 dauerte und auf welche die türkifche Unterfochung folgte. 
Diefe zwei Jahrhunderte hindurch zeigten die Genueſer fich beinahe eben fo grau⸗ 
fam als ihre barbarifchen Nachfolger. Die Familie Giuftiniani zeichnete fich vor 
Allen durch das harte Joch aus, das fle den Chioten auferlegte. Die Bebrücdten 
verfuchten es mehr als einmal, diefe Herrfchaft abzufchütteln. Einſtmals bes 
fchloffen fte, alle Fremden am Pfingfifefte zu erwürgen, und zwar in ben Augen« 
lie, wo das Bolt, einem alten Gebrauche folgend, von dem fi Niemand 
audfchließt, die Hand feiner Archonten Tüßt, denfelben ein langes und glüd- 
liches Leben wünfcht und die heiligen Worte: A’gsorög "avdaorn „Chriftus iſt 
auferftanden”’ wiederholt, welche die Briechen an diefem Tage niemals audzu⸗ 
Sprechen unterlaffen, wenn fie fi Jemand nähern. Einer der Verfchworenen 
verrieth das Complot, und die Genuefer rädten ſich auf die graufamfte Weiſe. 
Die alten Chroniken der Infel und die Erzählungen im Munde des Volkes find 
voll von diefem entfeglichen Blutbade; fle behaupten, daß die DVerfchworenen 
nicht durch einen aus ihrer Mitte, fondern durch ein junges Tiebenswürdiges Mäb- 
hen an Giuftiniani verrathen worden ſei. Diefe That eröffnete ter Poeſte ein 
fruchtbares Feld wahrhaft dDramatifcher Züge, Orphanidis har dieſes Gebietmit Er⸗ 


*, Eine Stunde von der Hauptfladt der Infel zeigt man am Meere einen Fels 
fen, der den Namen „Stein oder Schule Homers“ führt, Die Chioten behaupten, 
en der Sänger von diefem Felſen herab feine Gedichte dem Volke vortrug. 

35 


546 ud Reef re 


folg betreten. -,,Da® unterjochte Chios“ ift ein kurzen, kraͤftiges, Wenig Anfpruch 
Auf Gelehrſamkeit mächendes Heldengebicht‘, ‘aber: voller tragifcher Situationen 
und gluͤcklich gezeichneten Charaktere: Die Perfonen, welche in den fünf Ge⸗ 
fängen, aus denen es beſteht, auftreten, gehören ausſchließlich dem Stande ber 
Alephten can, aus dem: faft alle. Helden der griechifchen Poeſie entlehnt ſind. 

:.. ..Yfldor begiebt fich in das Exil, um dem Anblick der feinem Baterlande 
-aufgehürdeten Leiden: zu. entfliehen 5: dem Gebrauche der Griechen folgend, ver- 
Aobte er fich vor feiner Abreife mit einem Kinde, der Tochter bed. alten Mynas, 
eined:der begütertſten und. einflußzeichftien Gimoohner der Infel. Nach Verlauf 
‚non 9 Jahren kehrt er heimlich zurünt, um fein Baterland zu befreien, und darauf 
feine Braut, von der. er ſich noch immer. gelicht glaubt, zu heirathen; aber feine 
Abweſenheit hat.-fein Andenken in dem Herzen des vergeßlichen Kindes ver⸗ 
wiſcht; er.findet fie wieder neben. Ginvanni ‚Biuftinigni -figend, dem Reffen des 
CTyrannen, des Gouverneur Pietro. Bon jetzt an firebt Ifiver nicht allein den 
Unterdrücker feined Vaterlandes zu flürgen, fonbern auch ſeis erlittene® Unrecht 
zu rächen, mit einem Streirhe will er den Iyrannen und den Berführer tödten. 

‚Marie, die Tochter bes alten Mynas iſt nicht mehr die rein beroiiche Frau, Die 
‚wir biöher gefeben haken; ; ‚begabt mit. allen Reizen ihres Geſchlechts ‚unterliegt 
fe aber auch allen Schwächen deſſelben. Eingenommen von.jenen, ben man den 
guten Giovanni nannte, weil er die harten Urtelöfpräche feines Onkels manch⸗ 
mal zu mildern ſich beſtrebte, erfährt fie mit Eintjegen aus dem Munde ihres ei« 
genen Vaters die furchtbare Verfchwörung der Ghioten. Giovanni Leben fieht 
fie bedroht und zittert bei dem Gedanken daran ; fle ſchwankt zwifchen Liebe und 
Pflicht, endlich aber entdeckt fie ihrem Giovanni die Gefahr, von der er bebroft 
wird.. — Dies find mit wenig Worten die Grundzüge des Gedichtß. 

Der erfte Geſang bildet gleichfam eine Art finfterer Einleitung; der unbeug- 
fame Gouverneur von Chios vollzieht Todesurtheile und ertheilt Strafen, wäh 
rend fein Neffe befcheitene Vorftellungen wagt und vergebens fich bemüht, feinen 
Ohm das feuizende und murrende Volf vor die Augen zu führen. Im zweiten 
Geſang beginnt Die Handlung und läuft ohne Unterbrechung fort. In einer 
finftern Nacht treffen fih an einem der verlaffenften Punkte der Infel zwei Män- 
ner: Iſidor und der griechiſche Biſchof Profopios, eines der eifrigften Häupter 
ber Verfchwörung. Profopios vertritt den Antagonismus der griechifchen und 
römischen Kirche, welche eine tiefe Kluft trennt und die zu allen Zeiten den Orient 
nit ihren Rivalijationen erfüllt haben, Er verlangt die Vertreibung des römi- 
ſchen Clerus, welcher den Genuefern gefolgt ift und deren Macht theilt. Iſidor 
teilt dem Pontifer mit, daß 4 Schiffe und 300 Krieger, welche die Kaijerin von 
Byzanz geſchickt Hat, auf der Rhede und auf das erfie Zeichen bereit find, ihre 
Mannfchaft den Infurgenten zu Hülfe zu ſchicken. „Indeſſen,“ fügte er hinzu, 
„bin ich ein Bettler und Rarr; ich durchlaufe die Stadt, und finge dem Volfe 
feine Kicblingölieder vor. Das Alter, die Verbannung, meine Lumpen, meine 
Narrheit werden mich unfenntlich machen.” Am anderen Morgen durchzieht 
Prokopios mit feinen Predigten die Flecken und Dörfer, während in der Stadt 
cin Verruͤckter, vor der Feſtung figend, Taut fingt und die Vorübergehenden um 


Griecheniaubs: Iiter.. iedergeburt. 547 


ich verfammelt. Bon den Zuhörern lachen Die einen, während andere weinen. 
‚Bu gleicher Zeit ereignet fi. Nuchfichentes. bei Mynas: 
Marie ift allein in ihrem Garten; ihr Arm, rein und weiß * edler 
Marmor, fügt ihr grdankenvolles Haupt. Sie betrachtet Die Blumen, ihre 
lieblichen Schweftern, aber Feine von Allen entzückt ihre Augen. Sie laufcht, 
aber es ift nicht, ber Gejang der Nachtigall, der ihr Ohr feflelt. 
Plotzlich vernimmt fie ein Geraͤuſch; fie flürzt raſch und leicht in den 
Citronenhain, die blühenden Zweige oͤffnen ſich und vor ihr ſteht Giovanni 
ruhig und freundlich wie gewöhnlich. Sie lächeln einander an. Marie. bricht 
zuerſt dad Schweigen. „Ich fürdhtete, daß Du nicht kommen wärdeft, fagt 
fie. — Wenn der. Magıret dad. Eifen nicht mehr anziehet, ve? Körper ohne 
Schatten und das Meer ohne Fiſche fein wird, Dann erft, meine Geliebte, werde 
ih entfernt von Dir:Ieben fünnen, dann. erft werde ich, wenn Du mich rufſt, 
‚Deiner Stimme nicht mehr folgen. — Ich ließ Dich kommen, erwisert das 
funge Mädchen, denn ein heftiger Schmerz verzehrt mein Herz! Warum bin 
ich nicht gefühllos wie ein Kelfen! — Meine Seele würde nidt von Zweifeln 
gequält fein; ich würde Feine Wahl zwiſchen Bflicht und Gewiſſen haben. 
— Ich verfiche Dich nicht, entgegnet der junge Mann; Marie, Dis verbiraft 
ein Geheimniß in ber Tiefe Deines: Herzens. — Schon feit zwei. Wochen 
ſchwebt auf Deinen Lippen eine. Mittheilung, bedeckt Deine.unfchuldige Stirn 
ein Falter Schweiß, aber Dein Mund bleibt ſtumm, Du verbirgft Dein Ge⸗ 
heimniß und ich meine Thraͤnen. 
„Marie will antivorten, aber ein Entſetzensſchrei dringt aus ihrer Bruſt. 
: Einige Schritte vom Fenſter ſteht unbeweglich und Hoch aufgerichtet ein 
Mann, in Lumpen gehüllt. und mit verwirrtem Haar; er heftet einen zorni« 
gen Blid auf daß junge. Mädchen; ein bittere Lächeln voll Bernweiflung 
zittert um jeinen Rund, ein.beftiger Geufzer dringt aus feiner Druft. 
„Berubige Dich, fagte Biovanni, das ift ein zu Chios kaum angelangter 
Bettler; er ift des Verftandes beraubt... Der arme Teufel bildet fich ein, 
Doge von Benedig gewejen zu fein, und haßt darum die Genuefen. Er 
glaubt, daß feine Frau ihn betrogen bat. Manchmal ift er vergnügt und 
fingt eine Menge Lieder. Aber wie ift er hier herein gelommen? Das Thor 
ift verfchloffen, die Mauer hoch. — Bei diefen Worten lacht Iſidor laut auf 
und ruft: 
„— Archonte, ich bin da eingetreten, wo gewöhnlich der Blitz und. Die 
Mache des Himmeld eindringen. — Hör auf, entgegnet Biovanni, Du deuffl, 
Du bift noch in Venedig. Einge uns lieber eine Deiner Romanzen vor, 
damit meine Beliebte Dich Hört, und wenn Du gut fingft, wird es Deine 
Geliebte vieleicht auch noch von Dix verlangen. 
„Der Narr hob an zu fingen.. 

Jeder Vers der Ballade, welche der Dichter dem Narren in den Mund legt, 
birgt eine Anſpielung auf die furchtbaren Ereigniſſe, die ſich vorbereiten. Eine 
geheininißvolle Ahnung erklärt dem jungen Mabchen den Sinn der dunklen Worte 
des Saͤngers ˖ 

35* 


348 riud⸗ ꝛ Aitevaturgeſchichte. ,.::) 


draͤngt ſich das traurige Bild der Vergangenheit, die Qualen der Gegenwart, 
der Schrecken der Zukunft. Und als die Stimme des Armen in zauberiſchen 
Tönen ſingt, wird es dem bangen Mäbchen klar, daß ſchon Jahre zuvor ihr 
Berz bei den Klängen einer ähnlichen Stimme erzitterte. — JIndeſſen hat fie 
Iſidor nicht wiedererfannt. — Was fagft Du zu diefer Remanze? fragt fie 
Giuſtiniani's Neffe. Sie iſt nicht eine Narren Werk, erwidert Marie mit 
tiefer Trauer. Und der unge Menſch wirft dem Bettler einen Dufaten zu 
Fuͤßen. 
„Behalte Dein Gold, es iſt in Blut getaucht, rief der Bettler voll Wuth 
und warf den Dufaten vor Giovanni's Bruft. Unglücklicher, rief dieſer em⸗ 
- "pört, Du follft Deine Unverfchämtheit bereiten. Aber Marie hält den Arın 
ihred Geliebten zurüd: Zuͤchtige ihn nicht, er iſt ein Narr; es würbe Dir 
- Unglüd bringen. Und fie wirft dem Sänger zwei Dukaten zu. Deine 
Sand ift rein, meine Geliebte, ruft ber Letztere, fie erfaſſend, aber fie zittert. 
“Und ein drohendes Lieb fingend entfernt er fich. 

„Marie faßt krampfhaft die Hand bes edlen Genueſen und bittet in 
flehendem Tone: Heute ift Euer grüner Donnerflag, übermorgen beginnt 
Euer Pfingften. Berfprich mir, ich beichwöre Dich, dag Du am Pfingſttage 
nicht einen Augenblid bie Stabt betreten und mit den Uebrigen das Haus 
des Gouverneurs bejuchen willft. 

‚Bei diefen Worten faltet der Edle zornig die Stirn; er verfleht bie 
Bedeutung biefer Bitte und Maria's Verwirrung überzeugt ihn. Fordere 
nichts weiter von mir zu Hören, flcht das unglüdliche Mädchen mit bewegter 
Stimme; aber wenn Du Dir meine Xiebe erhalten und Alles retten willfl, 
was ich auf der Welt verehre, und wenn Du noch einige Neigung für mich 
begft, fo thu, was ich Dir ſage. — Ich will e8 verfuchen, antwortet der eble 
Genuefe. In diefem Augenblide laͤßt fi Mynas' Stimme vernehmen. 
Flieh, flieh! ruft Marie angftvoll, denn ich würde fterben, wenn ich mich 
heute zwifchen meinen Vater und meinen Geliebten flellen müßte; aber — 
diefen Abend — komm wieder!’ 

Am Abend des folgenden Tages verfammeln ſich Die Verſchworenen im 
Balafte des Erzbiſchofs. Unbekannt unter einander verbinden fie fich durch 
einen Eid; Feinde vielleicht, fchwören fle wie Brüder zu fterben. Fünf Ampeln 
verbreiten einen fchwachen und zitternden Schimmer, der die bleichen Geftalten 
der Verſchworenen noch bleicher erfcheinen läßt. 

Zurüdgefehrt aus dem Palafte des Erzbiichofs, findet Maria's Vater feine 
Tochter ganz in Thränen; er ift bewegt über ihre ungewöhnliche Traurigkeit 
und fucht fie mit den Worten zu tröften: „Ich ahne die Quelle Deiner Thränen, 
fie find gerecht. Biſt Du nicht in dem Alter, wo die Tigerin felbft darauf ver- 
zichtet, allein in der Wüfte zu leben?“ Und er beginnt von Sfibor zu fprechen 
und von ihren früheren Spielen, al8 fle noch ganz ein Kind und er als ein jun« 
ger Menſch fich damit vergnügten, Blumen zufammen zu pflüden, an das Meer 
zu laufen und bunte Steine am Strande zu fuchen. Als Maria an der Rüdkfehr 


Griechenlanbäitkten, Bisbrrgeburt. 549. 


ihres fit 9 Jahren abweſenden Geliebten zu zweifeln fcheint, entdeckt ihr Mynas, 
dag der Bettler, dem fle heute zwei Dukaten gefchenkt habe, Kein Anderer. als 
Iſidor ſei. Er führt fort, vor den Augen feined Kindes den Ruhm zu enthüllen, 
mit weldyem ber Lertire ald Befreier des Waterlandes fich bedecken wird, feine 
Aufregung fleigert ſich allmälig und fortgerifien von dem Gedanken an bie. groß 
That, die fich morgen ereignen wird, entdeckt er ihr das Geheimnig und die 
Bläne der Verſchworenen. In dieſem Augenblicke hätte man durch das Fenſter 
einen geheimen Zuhörer diefer Unterhaltung eiligft entfliehen fehen können. 
Wenige Augenblide darauf drang Giovanni Giuffiniani an der Spike einer 
Schaar Soldaten in dad Haus, um ten alten Mynas zu verhaften. Als biejer 
fih von feiner traurigen Lage überzeugt bat, ruft er Fluch über das Haupt ſei⸗ 
ned Kindes. „Unglüdliche, Du verräthft etwas Heiligeres noch ald Deinen 
Bater, Dein Vaterland; Du ermordefi Deine Brüder und errichteft. auf ihren 
Leichnamen den Thron des Tyrannen. — Als Bater verzeihe ich Dir, als Menſch 
beflage ich Dich, als Bürger verwünfche ich Dich, wie das Opfer den Genfer 
verwünfcht. Dein Athem fei wie der glühende Athem ter. Verdammten! Die 
Dualen Deines Gewiſſens mögen Deinen Schlummer ftören und fürdhterliche 
Träume beraufbefchwören! Und die Geiſter derer, Die durch Deine Schuld fals 
fen, umringen Dein Lager bis zu Deinem legten Augenblide, und im Angeſichte 
des höchſten Richters mögen ihre wehflagenden Stimmen Deine Verdanmmang 
fordern.“ 


Das Complot war entdeckt und mit leichter Mühe wurden die Verſchwore⸗ 
nen von den Genueſern gefangen genommen. Ein einziger entkam ihnen, der 
unverföhnliche Iſidor. Am darauf folgenden Morgen begannen die Urtheils⸗ 
vollftrefungen; auf den Marktplage waren die Galgen errichtet. Marie konnte 
Zeugin fein bei der Hinrichtung ihres Vaters, ohne dag eine Thräne In ihr Auge 
trat und ohne dag ein Seufzer ihrer Bruft entdrang. Sie war wahnftnnig. 
Ihres Vaters Grab wurde nahe an einem Sturzbach unter den Ruinen eines 
verfallenen Tempeld gegraben. In jeter Nacht wurde von unbefannter Hand ein 
Strauß wilder Blumen auf diefed Grab gelegt, und die Vorübergehenden er- 
fannten hierin mit Rührung das geheimnißvolle Zeugniß einer zarten und tiefen 
Verehrung für den Todten. Es war Iſidor, weldyer die feinem Leben drohenden 
Gefahren nicht achtend alle Nächte das Grab des Märtyrerd mit feiner herzlichen 
Gabe fchmüdte. Marie wurde immer von umwibderftehlicher Gewalt nach dem 
Drte getrieben, an welchem ihr Vater feinen Geift ausgehaucht; da faß fle ganze 
Tage lang, an die Erde gefauert, mit verwirrtem Haar, flarrem Blick, bleich, 
falt, unbeweglich wie eine fleinerne Riobe. Zuweilen verlieh fle vom Wahnflın 
und wildem Schred getrieben die Stadt und durcheilte Die Berge mit herzzerrei⸗ 
enden Klagen, darauf Fehrte fle in Thränen aufgelöft nach ihrem gewöhnlichen 
Plage zurüd. 


Inzwifchen ruhte Iſidor nicht. Er hatte die Landleute aufgeboten, vernich⸗ 
tete die zu feiner Verfolgung ausgeichicdten Truppen und morbdete die Fremden 
ohne Erbarmen. Einige Zeit darauf ladete der Gouverneur Pietro alle ſeine 


5 11193517 Bitekatuugtidihle:: 73:70 


‚Küdreife und: unter dem influffe ter empfangenen Eindrucke ſchrieber das 
Gedicht: „Anna und Phloros oder der Thurm von Petra**), Die Gaublung 
des Gedichts ſpielt am Fuße bes aränen Helikon, in der: Nähe der Stadt Li⸗ 
Badia, weiche die Griechen ',,die feuchte‘’ nennen, wegen ber zahlreichen Quellen, 
welche fie umgeben; und des Fluſſes, der ihre Mauern Sefpält, und wegen 
Der Schneegipfel des Parnaffus, welche dort in der Werne leuchten." Ich ſelbſt 
habe das Land, in welchem des Verfaſſers Gedicht ſpielt, durchreift und ‚durch 
Anm merfwärbigen Bufall habe ich die Sage erzählen hören, welche Orphanibis 
feiner Bearbeitung zu Orunde gelegt hat. Es ift bekannt, daß des Helikon ein 
Berg in Böotien if, den bie. Alten fix einen bevorzugten Lieblingsaufenthalt 
dee Muſen hielten. - Rach dem Berichte des Hiſtorikers Pauſanias wicht dert 
Feine giftige: Pflanze, und die Rattern ſelbſt, die auf biefem Liebfichen Berge 
leben, nähren ſich nur von unfchäblichen und. wohlriechenden Kräutern, welche 
ihrem Biſſe alle Gefahr benehmen. Apollo, Merkur, Bacchus, Orpheus, Ge 
ſtod Hatten ihre Statuen unter den Bäumen eines gebeiligten Waldes, in dem 
ſich ein Tempel erhob, ben die. größten Künftler mit ihren Meifterwerken verziert 
hatten. Bon all dieſem Glanuze lebt Heute nur noch eine poetifche Erinnerung; 
aber die üppige Natur bat fich nicht verändert; die Thäler und Hügel ſind immer 
noch voll von Reiz, Duft und Würze; ein dichtes Gehölz, an defien Saume mar 
die däfteren Ruinen eines Heinen Klofterd vorfindet, bedeckt den Abhang des 
Berges; weiter oben erhebt fih vom Glanz der Sonne beleuchtet eine ſtarke 
Belfengruppe, gleichfan um das Thal vor der Gewalt des Sturmes zu fchügen 
und die neun Schweftern nicht zu vericheuchen. Die verfchwenderifche Begetation 
des Helikon bildet einen feltfamen Contraſt gegen die faft wüfte und traurige 
Beichaffenheit der übrigen Berge Griechenlands, das mit feinen Göttern zugleich 
feine Fluͤſſe und Wälder verloren zu haben fcheint. 

Auf den Wege von Theben nad) Livadia bemerkt man in einiger Entfer⸗ 
nung vom Helikon eine Ruine, welche aus dem Mittelalter herzuſtammen und 
deren Mauern vom Feuer geſchwärzt erſcheinen. Ich verbrachte im Herbſte des 
Jahrres 1844 einen Abend daſelbſt, begleitet von einem Thebaner, der wie ich 
nach Zavidia wanderte. Ich forderte meinen Neifegefährten auf, die Ruine mit 
mir zu befteigen, um von da aus die Sonne betrachten zu können, welche eben 
Hinter den fernen Berggipfeln Eubda’8 in das Meer fant. Der Thebaner wei 
gerte fich Hartnädig und theilte mir mit, daß diefer-Ort von ‚Geiftern bewohnt 
fe, welche Riemand daſelbſt zu flören wage, mit alleiniger Ausnahme der Hirten, 
die nach Griechenland fommen, um mit diefen übernatürlichen Weſen einen be 
fländigen Verkehr zu unterhalten. Er erzählte mir, daß im vergangenen Jahre 
ein Reijender diefe alten Mauern erftiegen babe, aber oben angelangt, von einem 
unwiderſtehlichen Schwintel überfallen und in den Abgrund geflürzt je. Er 
theifte mir im Laufe des Abends eine lange Reihe folcher fantaftifcher Erzaͤhlun⸗ 
gen mit; aber da diefe Sagen die Quellen zu dem Gedichte bilden, welche Or⸗ 


**) Herausgegeben bei Bilara in Athen 1655. 


Griechenla ca lite:Nicuergeburt. sat 


phanidis Ruf begrändet haben, ſa will ich auch den: lzteren bei der Gräbfung 
diefes romantiſchen Abentenerd ſprechen laſſen. 

. „Ein Shure von roher Form: erhebt ſich auf: ven Wege van Theben; 
fiebehertſcht Die Ebene yon Copais, in; deren Gewaͤſſern ſich hier und da 
das Azur des Hiummels wiederſpiegelt; die Culen breiſchen auf dem Giebel 

des Daches, Die: Uhud niſten unter dem Erker. US der-blafie Mond, Halb 
verhuͤllt in. einem. Dunſtkreiſe, die Gegend ſchwach erhellt, bemerkt man 
einen Geiſt, der auf dem verlaſſenen Thurme umherirrt. Diefes Phantom 
iR der. Schatten einer jungen Frau, die in ein weißes bis auf die Füße 
herabfallendes Gewand gekleidet iſt; ihre Haare find aufgelöſt; ihr Geſicht 
von wunderbarer Schönheit drückt Eintfegen aus. Sie ſteigt mit Geſchicklich⸗ 
lichkeit und mit der Leichtigkeit der Schatten von ber: Hinne bis zum Fuße 

dieſes alten Schloſſes herab, das von dem geringſten Windſtoße erzittert wie 
Cypreſſenlaub und vibrirt wie die Saiten einer: Leier; fie ringt werzweifelnd 
die Hände, wie um Schu gegem eine: drohende Gefahr zu ſuchen, Fe er⸗ 
ſcheint und verfchwindet zwiichen den Spalten, den Erkern und Vertiefungen 
des Thurmes. : Endlich zeigt fie ſich an einem: nach Morgen gelegenen Fen⸗ 
fer, fie neigt fh Heraus und flürzt fich im den Abgrund unter einem fürch⸗ 
terlichen Schrei, den die Echos der Berge taufendfach wiederhallen.“ 

: Oft auch hört man Waffengeklirr oder rin wildes Gelächter; wenn bes 
Lärm aufhört, kommt durch die geborfiene Mauer ein. langer Bug von fremd 
artigen Pferden, die anf ihren fchwarzen Mäden gewappnete Ritter tragen ;: aus 
ihren Hufen bligen leuchtende Funken und ihre Tritte hallen wie Donnerichläge, 
Sie flürzen ſich in bie Tiefen auf der Seite nach Theben zu. Dieſes Schloß 
bewohnte vor einigen Jahrhunderten ein unglücklicher Mann, ein ſchwacher 
Widerfchein von Byrons finftern Heldengeftalten, obwohl fih Orphanidis gegen 
eine Nachahmung des englifchen Dichters flarf verwahrt hat. Diefer Mann, 
ebenſo laſterhaft als fchön, ebenfo reich ald graufanı, war allein, in einem Teiche 
ten Rachen und während eines furdhtbaren Sturmes an Griechenlands Geſtaden 
gelandet. Man wußte von ihm nur zwei Sachen: Daß er von Venedig ge 
fommen war und fich Antonelli nannte. Er hatte ſehr raſch Die Lebensart, Sitten 
und Gebräuche der Türken angenommen und erfüllte die Umgegend mit dem 
Laͤrme feiner Orgien und. feiner Verbrechen. Auch war er der Schreden fried⸗ 
licher Bürger, ehrbarer Frauen und züchtiger Mädchen. Unter ben letzteren 
war eine, für welche Antonelli in heftiger Leidenfchaft erglühte. 

Die Tochter des alten Lampros, eines reihen Einwohners von Livadia, 
Namens Anna, war die Braut des Palikaren Phloros, den fie Herzlich Tiebte. 
Der zur Hochzeit des glüdlichen Paares beflimmte Tag war angebrocdhen, ala 
Antonelli von einem zahlreichen Trupp Weiter begleitet in Livadia eindrang; er 
begab fich zum Xoparch (Obervogt, Bezirksherr), einem zu verbrecherifchen 
Unternehmungen ftet6 bereiten Manne. 

„In Lampros' Wohnung iſt Alles in voller Bewegung; Schaaren von 

Freunden und Rachbarn füllen die weiten Säle und zahlreiche Diener bes 

wachen die Pforten des Borhaufes. Die jungen Mädchen Livadia’s, Annna’s 


546 ud. reed 


folg betreten. „Dad unterjsihte Chios ift ein kurzes, kraͤftiges, wenig Anſpruch 
Auf Gelehrſamkeit machendes Heldengedicht, aber voller tragiſcher Situationen 
und gluͤcklich gezeichneter Charaktere. Die Perſonen, welche in den fünf Ge⸗ 
fängen, aus denen es beſteht, auftreten, gehören ausſchließlich dem Stande der 
‚Alepbten :an, aus dem faft alle Helden der griechifchen Poeſie entlehnt find. 

AIfidor begiebt fich in ta6 Exil, um dem Anblick der feinem Vaterlande 
‚aufgebürdeten Leiden: zu entfliehen ;: dem Gebrauche der Griechen folgend, ver- 
lobte er fich vor feiner Abreiſe mit einem Kinde, der Tochter des alten Mynad, 
eines der begütertſten und. einflußreichſten Cimoohner der Inſel. Nach Verlauf 
‚von 9 Jahren kehrt ex heimlich zuruͤck, um fein Vaterland zu befreien, und darauf 
feine Braut, von der ex fig noch immer gelicht glaubt, zu heirathen; aber feine 
Abweſenheit hat ſein Andenken in Dem Herzen bes vergeßlicgen Kindes ver- 
wifcht; er.findet fie wieder neben Gisvanni Giuſtiniani figend, dem Neffen des 
Tprannen, des Gouverneur Pietro. Von jetzt an firebt Iſidor nicht allein den 
Unterdrüder feined Vaterlandes za ſtuͤrzen, fontern auch fein erlittene® Unrecht 
zu rächen; mit einem Streiche will er den Tyrannen und den Verführer töten. 
‚Marie, die Tochter bed alten Mynas if nicht mehr die rein herhiſche Frau, die 
wir bisher geſehen haben; begabt mit allen Reizen ihres Geſchlechts unterliegt 
fie aber auch allen Schwächen beffelben. Eingenommen von jenen, den man den 
guten Giovanni nannte, weil er bie harten Urtelöfprüche ſeines Onkels manch⸗ 
mal zu mildern fich beftrebte, erfährt fie mit Entſetzen aus dem Munde ihre ei- 
genen Vaters die furchtbare Verſchwoͤrung der Chioten. Giovanni Leben ſieht 
fie bedroht und zittert bei dem Gedanken daran ; fle ſchwankt zwifchen Kiche und 
Pflicht, endlich aber entdeckt fie ihrem Giovanni die Gefahr, von der er bebroßt 
wird. — Dies find mit wenig Worten die Gruntzüge des Gedichte. 

Der erfte Befang bilder gleichfam eine Art finfterer Einleitung; der unbeug- 
ſame Gouverneur von Chios vollzieht Todesurtheile und ertheilt Strafen, wäß- 
rend fein Neffe befcheidene Vorftellungen wagt und vergebens fich bemüht, feinen 
Ohm das feuizende und murrende Volk vor Die Augen zu führen. Im zweiten 
Geſang beginnt Die Handlung und läuft ohne Unterbrechung fort. In einer 
finftern Nacht treffen fich an einem der verlaffenften Punkte der Infel zwei Män- 
ner: Iſidor und der griechifche Biſchof Profopios, eines der eifrigften Häͤupter 
ber Verfchwörung. Profopios vertritt Den Antagonismus der griechifchen unt 
römifchen Kirche, welche eine tiefe Kluft trennt und die zu allen Zeiten ben Orient 
mit ihren Rivalijationen erfüllt haben. Cr verlangt die Vertreibung des römi- 
ſchen Elerus, welcher den Genueſern gefolgt ift und teren Macht theilt. Iſidor 
theilt tem PBontifer mit, daß 4 Schiffe und 300 Krieger, welche Die Kaijerin von 
Byzanz geſchickt Hat, auf der Rhede und auf das erfte Zeichen bereit find, ihre 
Mannſchaft den Infurgenten zu Hülfe zu jchiden. „Indeſſen,“ fügte er hinzu, 
„bin id) ein Bettler und Narr; ich durchlaufe die Stadt, und finge dem Volke 
feine Lieblingdlieder vor. Das Alter, Die Verbannung, meine Lumpen, meine 
Karrheit werden mich unfenntlich machen. Am anderen Morgen burchzieht 
Brofopiod mit jeinen Predigten die Flecken und Dörfer, während in ter Stabt 
cin Verrüdter, vor der Feſtung fitzend, Taut fingt und die Vorübergehenden um 


Griechenlauds ter. Wiedergeburt. 647 


fih verfammelt. Don den Zuhörern lachen bie einen, während andere weinen. 
‚Bu gleicher Zeit ereignet ſich Rachfichendes. bei Mynas: 

Marie ift allein in ihrem Garten; ihr Arm, rein und weiß wi⸗e edler 
Marmor, ſtützt ihr gedankenvolles Haupt. Sie betrachtet Die Blumen, ihre 
lieblichen Schweftern, aber feine von Allen entzückt ihre Augen. Sie laufcht, 
aber es ift nicht, der Gefang ber Nachtigall, der ihr Ohr feflelt. 

Piöglich vernimmt fle ein .Beräufch ; fle flürzt raſch und leicht. in den 
Gitronenhain, die blühenden Zweige öffnen fich und vor ihe ſteht Giovanni 
rubig und freundlich wie gewöhnlich. Sie lächeln einander an. Marie bricht 
zuerfi dad Schweigen. „Ich fürdhtete, daß Du nicht kommen würbeft, fagt 
fie. — Wenn der Magnet das Eifen nicht mehr anziehet, dei Körper ohne 
Schatten und das Meer ohne Fiſche fein wird, dann erft, meine Geliebte, werde 
ich entfernt von Dir leben können, dann erſt werde ich, wenn Du mich rufſt, 
Deiner Stimme nicht mehr folgen. — Ic ließ Dich kommen, erwidert das 
funge Mädchen, denn ein heftiger Schmerz verzehrt mein Herz! Warum bin 
ich nicht gefühllo8 wie ein Kelfen! — Meine Seele würde nidyt von Zweifeln 
gequält fein; ich würde Feine Wahl zwiſchen Bflicht und Gewiſſen haben. 
— Ich verfiche Dich nicht, entgegnet der junge Mann; Marie, Du verbirgft 
ein Geheimniß in ber Tiefe Deines Herzens. — Schon feit zwei Wochen 
ſchwebt auf Deinen Lippen eine. Mittheilung, bedeckt Deine.unfchuldige Stirn 
ein Falter Schweiß, aber Dein Mund bleibt Runm, Du verbirgft Dein Ge⸗ 
heimniß und ich meine Thraͤnen. 

„Marie will antworten, aber ein Entſetzensſchrei dringt aus ihrer Bruſt. 

- Einige Schritte vom Fenſter ſteht unbeweglich und Hoch aufgerichtet ein 
Mann, in Lumpen gehüllt und mit verwirrtem Saar; er heftet einen zorni- 
gen Blick auf daß junge Mädchen; ein bittered Lächeln voll Verzweiflung 
zittert um feinen Rund, ein heftiger Seufzer dringt aus feiner Vruſt. 

„Berubige Dich, fagte Biovanni, dad ift ein zu Chios kaum angelangter 
Bettler; er ift des Verftandes beraubt. Der arme Teufel bildet fich ein, 
Doge von Benedig gewejen zu fein, und haßt darum die Genuefen. Er 
glaubt, daß feine Frau ihn betrogen hat. Manchmal ift er vergnügt und 
fingt eine Menge Lieder. Aber wie iſt er bier herein gelommen? Das Thor 
ift verfchloflen, die Mauer Hoch. — Bei diefen Worten lacht Ijidor laut auf 
und ruft: 

„— Archonte, ich bin da eingetreten, wo gewöhnlich der Blitz und bie 
Rache des Himmeld eindringen. — Hör auf, entgegnet Giovanni, Du deuffl, 
Tu bift noch in Venedig. Einge uns lieber eine Deiner Romanzen vor, 
damit meine Beliebte Dich Hört, und wenn Du gut fingft, wird es Deine 
Geliebte vieleicht auch noch von Dir verlangen. 

„Der Narr hob an zu fingen... 

Jeder Vers der Ballade, welche ber Dichter dem Karren in den Mund Iegt, 
birgt eine Anfpielung auf die furchtbaren Ereigniffe, die ſich vorbereiten. ine 
geheimnißvolle Ahnung erklärt dem jungen Nadchen den Sinn der dunklen Worte 
des Sängerd 

35* 


348 11083277 Wiketatuugeiätchee:. 5: 


„In ihrer Seele, in welche plöglich ein prophetiſcher Strahl gefallem, 
drängt fich das traurige Bild deu Vergangenheit, die Qualen der Gegenwart, 
der Schrecken der Zukunft. Und als die Stimme des Armen in zauberifchen 
Tönen fingt, wird es dem bangen Mädchen Flar, daß fchon Jahre zuvor ihr 
Herz Hei den Klängen einer ähnlichen Stimme eszitterte. — Indeſſen hat fle 
Iſidor nicht wiebererfannt. — Was fagft Du zu dieſer Romanze? fragt fie 
Giuſtiniani's Neffe. Sie if nicht eines Rarren Werk, erwidert Marie mit 
tiefer Trauer. Und der Junge Raid wirft dem Bettler. einen Dukaten zu 
Fuͤßen. 
„Behalte Dein Gold, ed in in Blut getaucht, rief der Bettler voll Wuth 
- und warf den. Dufaten vor Giovanni's Bruft. Unglüdlicher, rief diefer em⸗ 
- "port, Du follft Deine Uinverfchämtheit bereiten. Aber Marie hält den Arm 
ihreds Geliebten zurüd: Züchtige ihn nicht, er ift ein Narr; es würbe Dir 
Unglüd bringen. Und fie wirft dem Sänger zwei Dukaten zu. Deine 
Sand ift rein, meine Geliebte, ruft ber Letztere, fie erfaflend, aber fie zittert. 
Und ein drohendes Lied fingend entfernt er fich. 

„Marie fast krampfhaft die Hand des edlen Genueſen und Bittet in 
flehendem Tone: Heute ift Euer grüner Donnerflag, übermorgen beginnt 
‚Euer Bfingften. Berfprich mir, ich beihwöre Dich, daf Du am Pfingſttage 
nicht einen Augenblid die Stadt betreten und mit den Uebrigen das Haus 
des Gouverneurs beiuchen willſt. 

„Bei diefen Worten faltet der Edle zornig die Stirn; er verfteht die 
Bedeutung biefer Bitte und Maria's Verwirrung überzeugt ihn. Fordere 
nichts weiter von mir zu hören, flcht das unglüdliche Mädchen mit bewegter 
Stimme ; aber wenn Du Dir meine Liebe erhalten und Alles reiten willft, 
was ich auf der Welt verchre, und wenn Du noch einige Reigung für mich 
hegſt, fo thu, wa8 ich Dir fage. — Ich will «8 verfuchen, antwortet der edle 
Genueſe. In diefem Augenblide laͤßt fi Mynas' Stimme vernehmen. 
Flieh, flieh! ruft Marie angflvoll, denn ich würde fterben, wenn ich mid 
heute zwifchen meinen Vater und meinen Geliebten ftellen müßte; aber — 
diefen Abend — komm wieder!’ 

Am Abend des folgenden Tages verfammeln ſich die Verſchworenen im 
Balafte des Erzbiſchofs. Unbelannt unter einander verbinden fie ſich dur 
einen Eid; Feinde vielleicht, fchwören fie wie Brüder zu ſterben. Fünf Ampeln 
verbreiten einen fchwachen und zitternden Schimmer, der die bleichen Geftalten 
der Berfchworenen noch bleicher erfcheinen läßt. 

Zurüdgefehrt aus dem Palafte des Erzbiichofs, findet Maria’ Vater feine 
Tochter ganz in Thränen; er ift bewegt über ihre ungewöhnliche Traurigkeit 
und fucht fie mit den Worten zu tröften: „Ich ahne die Quelle Deiner Thränen, 
fie find gerecht. Biſt Du nicht in dem Alter, wo die Tigerin felbft darauf ver- 
zichtet, allein in der Wüfte zu leben?“ Und er beginnt von Ifldor zu fprechen 
und von ihren früheren Spielen, als fie noch ganz ein Kind und er als ein jun⸗ 
ger Menſch fi damit vergnügten, Blumen zufammen zu pflüden, an bad Meer 
zu laufen und bunte Eteine am Strande zu fuchen. Als Marta an der Rückkehr 


“ 
— 


Griechenlanbäi.titer;; Biebrrgeburt. 549 


ihres fit 9 Jahren abweſenden Geliebten zu zweifeln fcheint, entdeckt ihr Mynas, 
daß der Bettler, dem fle heute zwei Dukaten gefchenft habe, Fein Anderer. als 
Iſidor fei. Er führt fort, vor den Augen feines Kindes den Ruhm zu enthüllen, 
mit weldyem der Letztere als Befreier des Waterlandes ſich bedecken wird, feine 
Aufregung fleigert ſich allmälig und fortgerifien von dem Gedanken an die groß 
That, die fich morgen ereignen wirb, entdeckt er ihr das Geheimnig und vie 
Bläne der Verſchworenen. In dieſem Augenblicke hätte man burch das Fenfter 
einen geheimen Zuhörer diefer Unterhaltung eiligft entfliehen ſehen können. 
Wenige Augenblide darauf drang Giovanni Giuſtiniani an der Spike einer 
Schaar Soldaten in dad Haus, um den alten Mynas zu verhaften. Als biejer 
fih von feiner traurigen Lage überzeugt bat, ruft er Kluch über das Haupt ſei⸗ 
ned Kindes. „Unglüdliche, Du verräthft etwas Heiligeres noch ald Deinen 
Bater, Dein Vaterland; Du ermordeft Deine Brüder und errichteft. auf ihren 
Zeichnamen den Thron des Tyrannen. — Als Bater verzeihe ich Dir, ala Menich 
beflage ich Dich, als Bürger verwünfche ich Dich, wie das Opfer den «Genfer 
verwuͤnſcht. Dein Athem fei wie der glühende Athem der Berdammten! Die 
Dualen Deines Genifiend mögen Deinen Schlummer flören und fürdhterliche 
Träume beraufbefchwören! Und die Geifter derer, Die durch Deine Schuld fals 
fen, umringen Dein Lager bis zu Deinem legten Augenblide, und im Angefichte 
des höchften Richters mögen ihre wehflagenden Stimmen Deine Berbammung 
fordern.” 


Das Somplot war entdedt und mit leichter Mühe wurden die Verſchwore⸗ 
nen von den Genueſern gefangen genommen. in einziger entfam ihnen, der 
unverföhnliche Ifidor. Am darauf folgenden Morgen begannen bie Urtheils- 
vollftrefungen; auf dem Marktplage waren die Galgen errichtet. Marie Fonnte 
Zeugin fein bei der Hinrichtung ihres Vaters, ohne daß eine Thräne in ihr Auge 
trat und ohne daß ein Seufzer ihrer Bruft entdrang. Sie war wahnfinnig. 
Ihres Vaters Grab wurde nahe an einem Sturzbach unter den Ruinen eines 
verfallenen Tempel gegraben. Im jeder Nacht wurde von unbefannter Hand ein 
Strauß wilder Blumen auf dieſes Grab gelegt, und die Vorübergehenden er« 
fannten hierin niit Rührung das geheimnißvolle Zeugniß einer zarten und tiefen 
Verehrung für den Todten. Es war Ifitor, welcher die feinem Leben drohenden 
Gefahren nicht achtend alle Nächte das Grab des Märtyrers mit feiner herzlichen 
Gabe fchmüdte. Marie wurde immer von unwiderftehlicher Gewalt nach dem 
Orte getrieben, an welchem ihr Vater feinen Geift ausgehaudht ; da faß fle ganze 
Tage lang, an die Erde gefauert, mit verwirrtem Haar, ftarrem Blick, bleich, 
falt, unbeweglich wie eine fleinerne Niobe. Zuweilen verlieh fie vom Wahnflnn 
und wildem Schreck getrieben die Stadt und durcheilte die Berge mit herzzerrei⸗ 
ßenden Klagen, darauf Fehrte fie in Tränen aufgelöft nach ihrem gewöhnlichen 
Plage zurüd. 


Inzmwifchen ruhte Iſidor nicht. Er hatte die Landleute aufgeboten, vernich⸗ 
tete die zu feiner Verfolgung ausgeichichten Truppen und mordete die Fremden 
ohne Erbarmen. Ginige Zeit darauf ladete der Gouverneur Pietro alle feine 


550: 103: p Qttetcturgeſthichte.l.i 


Verwaundten and Hofleute zu einem großen. Mahle ein. Ein imziger fehlte, vol 
Neffe Giovanni, der auf die Hühnerjagb gegangen wat. °  : 

„Das Feſt war fröhlich und glänzend. Cyperne Bein floß in Errimmn, 

.: Schon waren die Köpfe erhigt, als ein Diener eintrat und eine ſchwere von 

. gebiegenem Golde und prachtvoll gearbeitete Urne hereinbrachte. Er ſtellie 

die Urne vor Pietro und überreichte ihm gleichzeitig ein verfchleffenes Billet, 

- das er Taut vorlieft: „Pietro, Du haft mir viel Leiden verurfacht, aber ich 

Tann die Mache, über welcher ich Krüte, nicht an Deinem Haupte vollzichen ; 

ich beuge mein Haupt und fende Dir diefe Fofibare Urne. Sie iſt Deiner 

würdig, ich ſchenke file Dir. Gott gebe, daß dieſes Geſchenk Dein Schlechtes 

. und graufames Herz befiert. Iſtdor ift es, der aus dem Bergen an Dich 

ſchreibt.“ — Bei diefen Worten herrſcht in der Berfammlung ein tiefes 

Schweigen, Aller Augen find neugierig auf bie prachtvolle Urne gerichtet. 

Pietro öffnet ſie; er ſtößt einen Entſetzensſchrei aus und finft entjeelt zu 

Boden. — Die Arne barg ein blaſſes, blutendes Haupt, das Haupt des 

guten Giovanni. 

Dies find die bedeutendſten Stellen dieſes Gedichts; eine Ueberſetzung der⸗ 
ſelben vermag ihre Hauptvorzüge, welche in der ſtrengſten Correctheit und einer 
wahrhaften glänzenden Schönheit des Styld beſtehen, nicht wiederzugeben. Die 
Kunft, mit welcher er aus den unerfchöpflichen Quellen des griechifchen Idioms 
ſchöpft, zeichnet Orphanidis vor allen Uebrigen aus; die reine, geſchmackvolle, 
melodiiche Form, in welcher er feine Gedanken ausdrüdt, ift vorzüglich gefchafe 
fen, das athenienftfche Ohr zu entzüden, deſſen außergewöhnliches Zartgefühl 
fprichwörtlich geworden if. Wenn man feine Verfe Tieft, fo wird man zu dem 
Glauben verfucht, fie feien vor 2000 Jahren gefchrieben: und das ift wohl das 
höchfte Lob, das man ihm ertheilen Fann. In der That, die Wiedergeburt der 
Hellenen ift eine Ruͤckkehr zu der Vergangenbeit. 

Es herrſchen unter den Dichtern Neu» Briechenlandd zwei entgegengefehte 
Tendenzen, zwei ſich entgegenfluthende Ströme, weldye tie Bewegung ber feit 
einigen Jahen in Griechenland begonnenen Titerarijchen Wiedergeburt beherrſchen. 
Balofoftad zeigt in feiner Form und feiner Schreibweife noch den Einfluß halb⸗ 
barbarifcher Jahrhunderte des Verfalld und der Knechtfchaft, welche Die Hellenen 
durchgemacht. Indeß find feine Gedanken ganz der Ausdruck des alten klaſſi⸗ 
ichen Geiſtes, und die Idee, die er vertritt, gleicht ganz jener, welche die Dichter 
Alt» Griechenlands begeifterte. Die Helden, die er befingt, die Klephten und 
Krieger der Unabhängigkeit, tragen alle Anzeichen einer nahen Verwandtfchaft 
mit den ‚Heroen der Jliade und Odyſſee, von denen fte die allgemeinen Phyſiog⸗ 
nomien und faft alle Gewohnheiten, die Art zu Fämpfen und ihre Siege zu feiern, 
entlehnen, und denen vielleicht nur ein Homer fehlt, um fle mit denfelben Nim⸗ 
bus zu umgeben. Er blieb treu den patriotifchen Gefühlen, welche fich tie Hel⸗ 
Ienen zu jeder Zeit und in allen Lagen auf eine wunderbare Weiſe bewahrten, 
welche die jegige Freiheit des Volks angebahnt haben und denen Zalokoſtas 
feine Kraft, feine Orizinalitit und Popularität verdankt. Orphanidis dagegen 
ſtrebt in der audgeprägten Form antiquer Reinheit durch einen feltfamen Gon- 


Griechenlands liter, Wiedergeburt. 551 


traft fich den alten Traditionen zu nähern; er bemüht fich feinen Gedanken eine 
mehr modernere Färbung zu geben; er führt einige neue Leidenjchaften auf den 
Schauplag feiner Handlungen und alle feine Helden haben einen weniger aus⸗ 
jchlieglichen heroifchen Anſtrich. Kann dieſes Streben in der Rachahmung des 
Modernen, dad Orphanidis in feinen Gedichten durchſchimmern läßt, einen güns 
fligen Einfluß auf den Kortfchritt der griechifchen Literatur ausüben? Cine bes 
ſtimmte Thatjache geht aus diefem Studium hervor: Die Lebend- und Widerftandse 
fraft des alten Genius im Schooße ded Volkes, der die Griechen ihre polis 
tiſche Auferſtehung verdanken, dieſes edlen Genius, deſſen ewig leuchtendes 
Sinnbild Homer iſt, und der ihnen vor aliem Ihre gelſtige Wiedergeburt ſichern 
muß. 


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Der. Boden, den wir bebauen. 
Bon 
3. 4. W. Johnſton. 


Allgemeiner Urſprung des Bodens; natürliche Verſchiedenheit feiner 
Eigenſchaften; wie er entſteht. — Schichtenweiſe gelagerte umd nicht 
fichtenweife gelagerte Felſen. — Boden von ſchichtenweiſe gelager- 
ten Felfen. — Der Boden ba befier, wo fich verfchiedene Felſen ver 
mifgen. — Granit-, Trapp: und Lavaboden. — Wie Regen, Wind 
und Anbäufungen vegetabilifcger Stoffe zur Erzeugung verfchiedener 
Bodenarten mitwirken. — Allgemeine chemiſche Zuſammenſetzung des 
Bodens. — Einige Pflanzen lieben fandigen Boden, andere Thom 
boden, und doc kommen fie nicht immer darauf fort. — Grund bie 
fer Erfgeinung. — Genaue chemiſche Zufammenfegung des Bodens, 
feine mineralifhen und organiſchen Beftandtheile. — Chemiſcher Un⸗ 
terfchied zwiſchen Granit: und Trappboden. — Wie die Fruchtbar⸗ 
feit von der chemiſchen Zufammenfegung abhängt. — Einfluß bed 
Megens, der Feuchtigkeit und der Warme auf die jedesmalige Frucht⸗ 
barkeit. — Flora und Korn in ganzen Diſtrikten. — Einfluß bes 
Menſchen auf die Modificirung geognoftifcger, chemifdger und klima⸗ 
tifger Beftimmtbeiten. — Vordringen ausfaugenden Landbaues in 
neuen Rändern; Beifpiel Mord: Amerika 8. — Verbeſſernder Einfluß 
menſchlicher Anſtrengung; Beifpiel Groß: Britanniens. 





In unmittelbarer Wichtigkeit für den Menſchen, ſteht der Boden, den wir be⸗ 
bauen, kaum der Luft nach, die wir athmen, und dem Waſſer, das wir trinken. 
Von den Pflanzen, welche der Boden erzeugt, haͤngt ſeine wie aller anderen Thiere 
taͤgliche Nahrung ab. Daher iſt da, wo der Boden fruchtbar iſt, thieriſches Leben 
in reichem Maaße vorhanden; wo er nur kaͤrglich gibt, ſind der Thiere wenige 
und menſchliche Bewohner im Ganzen nur ſpaͤrlich zerſtreut. 

Der Boden wird größtentheils von den Felſen gebildet, aus welchen die 
Erdkruſte beſteht. Durch die Einwirkung von Luft und Waſſer zerbröckeln dieſe 
Felſen und ihre Oberflaͤche wird von loſen Materialien bedeckt. Pflanzen⸗Samen 
wird durch die Winde über fie hin geſtreut; fie keimen und wachſen auf; Thiere 
Zommen, fih von ihnen zu nähren; Pflanzen und Ihiere fterben; und jo über- 


De Erdboden. ° 553 


zieht allmälig eine Mifcyung zerbröckelter Felſen mit den Neberbleibſeln von 
Thieren und Pflanzen die ganze Oberflache des feſten Landes. Dieſer Miſchung 
geben wir den Ramen Boden. 

Aber der jo von Natur gebildete Boden iſt aus verſchiedenen Gründen ſei⸗ 
ner Qualität nach verfchteden. Die zerbrödelten Felſen find ihrer chemifchen 
Bufammenfegung nach verfchieden, ihre zerbrädelten Stücke werden nach verſchie⸗ 
denen Richtungen über die Oberfläche außgeflreut, und: in verfchiedener Weiſe 
von Wind und Waſſer zufammengemworfen ; endlich ift auch eine große Verſchie⸗ 
denheit in der Art und Maffe der thierifchen und vegetabififchen Stoffe, mit wel« 
chen fie vermifcht find. Aus diefen und ähnlichen Urſachen haben ſich einige ver⸗ 
ſchiedene Bodenarten erzeugt, die nicht nur in ihren in die Sinne fallenden 
Eigenfchaften einander unähnlich, fondern auch in ihrem Werth für den Uders 
bau bedeutend verfchieden find. 

Wenn wir die zahlreichen Belfen, auf die wir bei einer Reiſe durch ein Land 
wie England ſtoßen, mit einiger Aufmerkfamteit betrachten, fo wird uns bald 
ein wichtiger Unterfchieb in ihrem phyſiſchen Bau auffallen. Einige bilden Hüs 
gel, Klippen, Berge, von denen ein jeder aus einer einzigen ungeheuren Maffe 
befteht, die bie und da, vielleicht in unregelmäßiger Weiſe, geborften ift, fonft 
aber Feine fortlaufende Spaltung In ganz verfchiedene Theile zeigt. Andere da- 
gegen find eben fo klar in Schichten oder Lagen geichieden, die wie ungebenre 
Fliesſteine von verjchiedener Dicke übereinander gebreitet find und fich zuweilen 
in horizontaler Nichtung viele Meilen weit ausdehnen. 

Unterfchiede diejer Art kann auch der größte Ignorant in der Wiſſenſchaft 
bemerfen; es bedarf nur des Gebrauches der Augen; und doch Ift diefe Verſchie⸗ 
denheit des Baues fo wichtig, daß fich Darauf die Teilung fämmtlicher Felſen 
in fhichtenweife gelagerte und nicht fchichtenweife gelagerte 
gründet. Diejenigen, welche aus Lagern oder Schichten beflehen, heißen ſchich⸗ 
tenweije gelagerte, diejenigen, In welchen folche Abfchnitte nicht fihtbar find, 
nicht ſchichtenweiſe gelagerte. 

Die ſchichtenweiſe gelagerten Felſen bebeden bei weitem den größten Theil 
ber Erdoberflaͤche. Sie find nicht immer ganz horizontal, fondern öfter geneigt, 
fo daß fle in einem größeren oder kleineren Winkel auf die Erbe ſtoßen. Zu⸗ 
weilen find ſie jogar wie jenkrecht ftehende Fliesſteine gegen einander gejchichtet. 
Dieje Lage der Felſen ift von wefentlichem @influß auf die Beſchaffenheit Les 
Bodens. Hängt die Beichaffenheit des Bodens in irgend welcher Weiſe von ber 
Befchaffenheit dı8 Felſens ab, fo muß die VBodenveränderung da fehr haͤufig 
fein, wo die Oberfläche nur aus den Kanten verfchiedener Felſen gebildet wird. 

Dieje ſchichtenweiſe gelagerten Felſen befteben aus drei verſchiedenen Stoff 
arten: Kalfftein, Sandftein und mehr oder weniger harter Thon bildet die Sub⸗ 
ftanz von allen. Wenn ein Kaltftein zerbrödelt, bildet er Kalkboden; ein Sand» 
ftein Sandboden; ein harter Ihonfeljen einen mehr oder weniger zähen Thon⸗ 
boten. Daher fint dies die drei Hauptarten von Boden. Diele Felſen beſtehen 
aber nicht ganz, fei ed nun aus Kalkflein, Santfein oder Thon, fondern aus 
eine Miſchung von allen in verfchiedenem Verhaͤltniß. Das Zerbrädeln ſolcher 


654 Agrikaltur -Ehrwie. 


Felfen gibt alfo Bodenarten von verfihiedenen in der Mitte liegenden Eiger⸗ 
fchaften ihren Urſprung, die eigentlich weber kalkhaltig, noch ſandig, nach themig 
find; und diefe Hilden meiftentheils jenen offenen, fruchtbaren, wertheollen Sehe 
boden, weldgen bie Landwirthe überall am liebſten bebauen. 

Die nicht ſchichtenweiſe gelagerten Felſen befichen hauptſachlich aus. drei 
verfchiedenen Arten — Granit, Trapp und Lasa. Auch die Felſen zerbrödeln 
mehr oder weniger rafch und erzeugen einen Boden, welcher in granithaftigen 
Ländern gewöhnlich arm, über Trappfelſen gewöhnlich reich, auf zerſetzter Lava 
oft durch feine Fruchtbarfeit ausgezeichnet if. In den granithaltigen Diſtrikten 
von Devonibire und Schottland fehen wir den ärmlicken Boden, welchen biefe 
Beldart erzeugt, in der Niederung Schottlands und im Norden Irlands den reis 
hen Boden des Trapp. Italien und Sieilien, und jedes andere vulkaniſche Land 
der alten Welt, zeigen in ihrem Boden den befruchtenden Einfluß der neuen 
Lava. 

In neuen Ländern finden fich dieſelben Erſcheinungen wieder, da ähnliche 
Felſen immer ähnlichen Boden erzeugen. So erfiredt fi an dem Fuße der be⸗ 
rühmten goldhaltigen Berge von Viktoria ‚eine fruchtbare und ſchoͤne Landſchaft, 
— ber Garten des glüdlichen Auftraliens, — deren reicher Voden Tas Erzeug⸗ 
niß zerſetzter Lava iſt“. Und noch Jahrhunderte lang, wenn die Goldminen 
laͤngſt vergeſſen find, werden wahrfcheinlich dieſe reichen parfgleichen Ebenen 
fortfahren, dem fleißigen Bebauer üppige Ernten goldenen Korns zu geben. 

Aber auf der Oberfläche der Erde wechfelt Hügel ab mit Thal, Berg mit 
Ebene, fo daß der fallende Regen im Stande ift, langs der Abhänge hinzufließen 
und fi zu Bächen, Blüffen und Strömen zu ſammeln. Beim Fließen nun 
wäfcht er die feineren und leichteren Theilchen aus den Bruchftücden der zerbrödels 
ten Felſen aus und trägt fie hinab in TIhäler und Ebenen. Die beftändige Wie 
derholung des Waſchens fortirt allmälig die Fragmente jedes Felſens, indem 
fie die feineren Theilchen über die niedriger gelegenen Gegenden und längs des 
Laufes der Flüſſe verftreut, dagegen Die gröberen und weniger leicht fortzujchafe 
fenden Materialien auf den Hügeln und an den Abhängen zurüdläßt. 

Daher entſtehen aus demſelben Fels verfchiedene Bodenarten. Grober Sand 
und Kies Tann dad höher gelegene Land, während feiner Sand, Thon oder Lehm 
die darunter liegenden Thäler oder Ebenen bededen. Aus einem gemijchten 
ſchichtenweiſe gelagerten Fels kann der Thon oder Kalk audgewajchen und über 
die tiefer liegende Ebene verftreut werden, während auf den Abhängen oben nur 
ein ärnılicher und unfrucdhtbarer Sand bleibt; ober aus einem zerfallenden Granit 
kann ber Feldſpaththon ausgewaſchen werden, während der magere und unfrucht⸗ 
bare Quarz zur Bedeckung des nackten Felſens zurüdbleibt. 

In einigen Ländern fpielt der Wind eine ähnliche Rolle. Er ledt den feis 
nen Staub auf, während er über ein Land dahinfährt, und trägt ihn- oft weit 
fort in andere Gegenden; oder wenn er vom Meere daherflürmt, trägt er ben 
Sand der Küfte in's Binnenland und bedeckt einen Moden, der von Natur an 
vegetabilifcher Nahrung reich und fruchtbar ift, mit fandigen Dünen oder un« 
fruchtbaren Wüften. So modificiren phyſiſche Urfachen die Qualität des Bodens, 


Der ⸗Erdboden. Ä 565 


welchen verſchirdene Felſen naturgemäß zu erzeugen fireben. Die Materialien, 
aus welchen ein Fels befleht, jortiren fie oder bringen fie von neuem in Ord⸗ 
nung, tragen. bie frineren Theilchen, in welche er zerbrödelt, oft in weite Ent⸗ 
fernung umd berfireuen fle über andere Felſen. Des ſogenannte angeſchwemmte 
Moden, welcher ſich laͤngs des Ufers fo vieler: unſerer Flüſſe hinzieht, entſteht in 
Folge ſolch eines durch Waſſer veranſtalteten Sortirens. Die fandigen Dünen 
europaͤiſcher Länder und viele der Wuſtenſtriche in Afrika und Aflen verdanken 
der fortirenden Thätigfeit des Windes ihr Dafein. 

Auch die Vegetation ift nicht ohne Einfluß. Wenn ein Baum oder eine 
niedrigere Pflanze auf einem trockenen Boden flirbt, fo 1öft fie ſich allmälig 
auf und verfchwindet in der Luft. Wenn fle aber in ſtehendes Wafler eingetaucht 
ift, fo wird fle ſchwarz, zerfällt in Stücke und zerbrödelt vielleicht, in ihrer Sub⸗ 
ftanz aber bleibt fie lange auf dem Flecke, auf welchem fie umgefallen. Wenn 
nun andere aufwachien, fterben und auf denfelben naflen Fleck fallen, fo wird 
fi) der ſchwarze vegetabilifche Stoff von Jahr zu Jahr anhäufen. 

Auf diefe Weife bedecken da, wo ſeichtes Waſſer auf einem unzugänglichen 
Grunde fteht, allmälig Torfgruben und andere Anhäufungen vegetabilifchen 
Stoffes die Oberfläche. Sie begraben zuweilen bie Fragmente der zerbrödelien 
Felſen unter einer großen Tiefe vegetabilifchen Stoffes und bilden jenen gar 
nicht zu bebauenden Torfboden, welcher fich über einen fo großen Theil Schott- 
lands, beſonders aber des nördlichen und weftlichen Irlands binzieht. 

Dies find die hauptſächlichſten natürlichen Lirfachen der verfchiedenen Be⸗ 
ſchaffenheit des Bodens. In der chemifchen Zufammenfegung der Felſen erfen- 
nen wir Die Haupt» oder Orundurfache, in der phyſiſchen Vertheilung von Regen 
und Wind und ihrer mechanifchen Thaͤtigkeit eine wichtige Nebenurfache; und in 
dem Wachsthum und der Anhäufung vegetabilifcher Stoffe eine britte, die aber 
jpecieller ift und weniger weit greift. 

Durch diefe Faktoren bildeten fich die verfchiedenen Bodenarten, die im All» 
gemeinen als Sundboden, Thonboden, Kalkfteine oder Mergelboden und Torfs 
boden befchrieben werden. Dieje Benennungen zeigen alle wichtige chemifche 
Unterfchiebe an, obwohl bis jet praftifche Landwirthe ihre Aufmerffamkeit zu 
wenig auf den Einfluß gerichtet haben, welchen die chemifche Zufammeniegung 
auf den Werth für den Aderbau ausübt. Sandboden zeichnet fich dadurch aus, 
dag er hauptfächlich aus Quarz oder Kiefelfand beſteht — einer anderen Geſtalt 
von Kicjel, Bergkryſtall, oder der Subftanz, die bei den Chemikern Kiefelerde 
beißt, Kalkfteine oder Mergelboben dadurch, daß er viel Kalkitein, Kalk, ober 
eine andere Art desjenigen Stoffes enthält, weldyen die Chemiker Fohlenfauren 
Kalk nennen ; Thonboden dadurch, daß er reich an Thon ift, einer zuſammen⸗ 
geſetzten Maffe, die außer Kiefelerde hauptfächlich aus einer von Chemikern Thon- 
erde benannten Subftanz befteht. Aber der ötonomijche Werth des Bodens wird 
oft durch phyſiſch⸗geologiſche Gründe affleirt, weldye von der chemiſchen Zuſam⸗ 
menfegung des Felſens, aus welchem ex gebildet iſt, völlig unabhängig find. 
Der bloße phyſiſche Charakter des Felſens z. B., aus weichen der Boden gebilhet 
if, beſtimmt oft nicht allein, welche Art von Bewirtbfchaftung mit Bortheil an« 


Ss6 Agrikultar· Efeikie. 


zumwenben if, fondern auch, vom waß für einer: Klafie von Landwirthen das Land 
bewohnt werden muß, ja fogar, ob es überhaupt mit Vortheil bebaut werben 
kann. Eine Srläuterung geben uns die Kaltfelfen. Sie find In den meiften 
Gegenden fehr pords und abforbisend. Brunnen, welche mar in fie bohrt, geben 
Hein Waſſer, und feichte Gruben, die dad Regenwaſſer auffangen und bei fich bes 
Kalten, find die bauptfächlichfte Gülfsquelle der Einwohner. Diefer Umftand 
Sat zugleich mit dem dünnen Boden und dem Furzen Brad unferer Kalkniede⸗ 
zungen feit Tange die Berwandlung unjerer Kalfebenen in Schafweiten beſtimmt. 
Aber in Ländern, die and Flimatifchen und anderen Gründen für Schafzucht 
nicht gerignet find, und wo der wenige Regen, der herabfällt, bald vonder Hitze 
des Sommers aufgeledt wird, wird biefer Gebrauch de Landes unmöglich umb 
eine Tänftliche Herbeiſchaffung des Waflerd für die Eriftenz fortbauernder und 
ausgebehnter Cultivirung unumgänglich nothwendig. Hiefür giebt es aber nur 
ein wirffames Mittel, nämlich tiefe Brunnen durch ben Kalt zu bohren, und 
daraus folgt, daß die Beflger Menfchen von großem Vermögen fein müflen, oder 
wenigftens, Daß das Land von einem Gefchlechte nicht unbemittelter Anbauer 
Bebaut werden muß. 

Der obere Theil des Staates Alabama in Rord- Amerika befindet fi in 
diefer Rage. Auf poröſem Kalk gelegen fehlt feiner Oberfläche Waſſer, mit Aus⸗ 
nahme derjenigen Strecken, durch welche die Ströme fließen. Bei dem beißen 
Klima wird fein Gras im Sommer verbrannt, fo daß er zur Schafzucht nicht tangt. 
Eben fo wenig taugt er zu ausgedehnten Kornbau, obwohl er einigen harten 
Weizen erzeugt. So dient er vorzüglich zu Baumwollenpflanzungen, zerfällt in 
große Beflgungen, und hunderte von arteflfchen Brunnen beriefeln ſchon das 
Xand und geben ihm den nötigen Waflerbedarf. 

Die Summe chemifchen Wiffens, welche in der ſchon gegebenen allgenteinen 
chemiſchen Beichreibung des Bodens enthalten ift, nügt und genügt, iniofern fie 
feinen allgemeinen Urfprung erflärt, ja fle reicht fogar bin, den Landwirt in 
Bezug auf gewiffe öfonomifche Unternehmungen zu leiten. 8. 3. haben lange 
Erfahrung und Beobachtung die Landwirthe belehrt, daß gewiſſe Pflanzen umd 
Bäume, die man angepflanzt, am beften auf Sandboden gedeihen, andere Dagegen 
auf Kalffteinboden, andere auf Thonboden und wieter andere auf Boden von 
gemiſchter oder Ichmiger Befchaffenheit. Soll daher ein ſolcher Baum oder eine 
ſolche Pflanze angepflanzt und gezogen werden, fo muß man einen für jle pafjen- 
den Boden fuchen, oder foll fie im Sande oder Thonboten mit Nuten bepflanzt 
oder bebaut werden, fo wird ein folcher Baum oder ſolches Getreide gewäßlt, 

"welche auf anderem Sand⸗ oder Lehmboden gediehen find oder reichliche Ernten 
gebracht haben. 

Aber wenn wir genauer in die Beziehungen zwifchen Boden und Pflanzen 
prüfend eingeben, fo läßt uns dies elementarijche chemifche Willen im Stid. 
Diefelben Pflanzen gedeihen auf allem Sand», Thons oder Mergelboden nicht in 
gleicher Weife. Wie Fonmt das? Entweder gedeihen Lie Bäume nur eine Zeit 
lang und flerben Dann ab, oder das Getreide lohnt und einige Jahre reichlich 
nnd Hört dann auf, eine einträgliche Ernte zu bringen. Wie ift dieſe Veraͤnde⸗ 


- Des Erbboben. 557 


rung zu esflären? Der Boden ift eben fo ſandig, der Thon eben fo zäh, der 
Mergel eben fo reich an Kalk wie je, und. doch wollen die Pflanzen, ‚die vorher 
in jedem einzelnen Boden prächtig fortfamen, nicht mehr darin gebeihen. 

Eine genauere hemifche Unterſuchung beantwortet dieſe Fragen, und gibt 
in jedem Fall ein Begenmittel gegen das betreffende Uebel an Die Hand. Diefe 
Unterfuchung zeigt 

1) daß, wenn eine abgewogene Mafle vollkommen trockenen Bodens irgend 
welcher Art, auf dem nur Pflanzen zu wachien im Stande find, in der Luft glü« 
hend Heiß gemacht wird, ein Theil derſelben fortbrennt, und daß, was übrig 
bleibt, in feinem Gewichte bedeutend verringert iſt. Der brennbare Theil, wel» 
cher ſo verſchwindet, befteht aus Dem animaliichen und vegetabilüichen oder orga⸗ 
niſchen Stoff, von dem jeder Boden einige Quantität enthält. In manchem tft 
das Verhaͤltniß fehr gering, wie in dem Sandboden, auf welchem zu Golombs 
auf Ceylon der Zimmetbaum wacht, nur 1 Proc. organifchen Stoffeß enthalten 
it. Im anderem ift es fehr groß, wie von unjerem Torfboden mancher an >/a 
feines Gewichteß verliert, wenn er in ber Luft verbrannt wird. 

2) daß der erdige unverbrennbare Beflandtheil ded Bodens — außer der 
Kiefelerde des Sande, der Thonerde des Thon» und dem Kalkflein des Mergel- 
bodend — viele andere Subflanzen enthält, und zwar zuweilen in nicht geringem 
Verhaͤltniß. Unter diefen find Kali, Soda, Magneſia, Eiſenoxyd, Schwefelfäure 
und Phoßphorfäure die wichtigiten. 

In jedem Boden, auf welchem Pflanzen gut gebeiben, exiftirt eine jede von 
diefen Subftanzen. Beblen fie alle, fo wäh die Pflanze gar nicht, find fle in 
zu geringer Quantität da, fo wird die Pflanze verbuttet und ungefund. If die⸗ 
selbe Pflanzenart zu lange auf einem und demjelben Boden gezogen, io wird eine 
oder mehrere von diefen Subflanzen Enapp werden und jo die LBurzel nicht mehr 
fo viel aus ihnen ziehen können, als zur Gefundheit und zum Wachsthum der 
Pflanze erforderlich iſt. Es Liegt daher Elar genug amı Tage, weshalb Pflanzen 
oft felbR auf Der Bodenart nicht wachfen wollen, welche fie am meiften lieben; 
und weöhalb fie, wenn fe eine Weile gut darauf fortgefonmen find, e8 plötzlich 
nicht Tänger thun. Der Boden enthält nicht Alles, was jle zu ihrer Nahrung 
bedürfen, oder wenigftend nicht in der richtigen Geſtalt; oder wenn er Alles in 
binreichendem Maaße enthalten bat, fo thut er es nicht mehr. Ebenſo klar if 
das Mittel gegen die fpecielle Uebel. Man thue nur die fehlenden Mineral 
ingredienzen zu dem Boden, oder gebe ihnen eine angemeilene Geftalt, jo wird 
die Pflanze in alter Ueppigkeit aufiprießen. In gleicher Weije findet man bei 
genauer Prüfung, daß der Theil des Bodens, welcher fortbrennt, der organifche 
Theil, — zahlreiche verfchiedene Stoffarten enthält. Diefe gehören ſaͤmmtlich 
zur einen oder der anderen von zwei Bruppen, entweder enthalten fie Stidftoff 
oder fie enthalten keinen. Allee Boden, auf dem Pflanzen gut gedeihen, muß eine 
hinreichende Menge der zu jeder von diefen Gruppen gehörigen Subftanzen, be 
ſonders der ſtickſtoffhaltigen, befigen und fie ter Pflanze zn bieten im Stande 
fein. Thut er dies zu jpärlich, fo wird Die Pflanze kraͤnkeln; verfagt ex fie ihr 
ganz, fo wird fie fterben. 


558 Agrikulitur⸗ Eheie. 

Es iſt alſo mit den organiſchen Beſtandtheilen bed Bodens grade ſo wie 
‚wit den mineraliſchen; fle. können zu ſpaͤrlich vorhanden fein und fo bewirken, 
dag eine Sand liebende Pflanze ſelbſt in Sandboden nicht wachen will, ober eine 
Kalkſtein liebende nicht in Kalkboden. Sie mag vielleicht ſelbſt dann nicht wach⸗ 
Ten, wenn. alle Mineralftoffe, Die fie. verlangt, in reichlidyem Maaße im Boden 
vorhanden find, weil ihr noch die nothwendige organifche Speiſe fehle. . Eine 
“ausreichende Abhülfe erreicht man aljo nur dann, wenn man dem unproduftiven 
Boden ſowohl die nothwendigen organifchen, wie die nothwenbigen unotgantichen, 
‚ oder mineraliſchen Stoffe, die ihm fehlen, zufuͤhrt. Ä 

Ich werde dies etwas Flarer machen, wenn ich mich auf einen ſpeciellen, in 
ber Natur gewöhnlichen Fall zurückziehe, auf ben ich in dieſem Artikel fchon: an- 
‚gefpielt Habe, Die Granitfelfen, bemerkte ich, erzeugen gemeinhin arnıen; Wie 
Arappfelfen Dagegen gemeinhin fruchtbaren Boten. Welchen Unterſchied In Dem 
mineraliſchen Stoff der Felſen iſt dieſer otonomiſche Unterſchicd (m Boden 
:hauptfächlich zuzuſchreiben? 

Wenn man von jeder der beiden Felsarten ein Stüd der Analyſe anterwich, 
ſo entdeckt man in ihrer beiderfeitigen Zuſammenſetzung faft immer einen auf 
fallenden Unterfihied. Außer Kiefelerde und Thonerde enthalten Die Grauite 
eine große Menge Kali und Soda niit ‘gelegentlich winzigen Quantitäten Mag⸗ 
neſia, Kalkflein und Ciſenoryd. An allen diefen Ingredienzen ‚haben aber bie 
Trappe faft eben fo groß Ueberfluß; und da die Erfahrung gezeigt bat, Daß. alle 
:in merflichenn Grade vorhanden fein müflen, um einen Boden fruchtbar zu ma- 
‘hen, fo wird der Grund des natürlichen Linterfchiebes zwiſchen Granit⸗ und 
Trappboden mit einmal klar: der eine bat an den mineraliichen Beftanbtheilen 
eines fruchtbaren Bodend Mangel, der andere Ueberfluß. Und eben fo Tlar fint 
die Mittel zur Verbeflerung bes Granitbodens. Wan thue nur, ald erften Schritt, 
die mineraliichen Subftanzen, an denen es dem Granit fehlt, hinzu, fo wird bie 
Fruchtbarkeit allmälig nachfolgen. Daher ift in granithaltigen Gegenden bie 
Anwendung von Kalfflein in irgend einer feiner Geſtalten ein fo beliebter Ge⸗ 
braudy, defien Nugen man lange zuvor entdeckt hatte, che die Chemie den Grund 
gelehrt. Obwohl aljo die erſte Beflinnmung des Bodens in Bezug auf die all 
gemeine Vegetation der Erbe die ift, den Pflanzen fo zu fagen einen feſten Ader- 
‚grund für ihre Wurzeln zu geben, — und obwohl das Wachsthum vieler nüp- 
licher Pflanzen auf den erften Anblic nur von der allgemeinen Frage abhängig 
zu fein fcheint, ob der Boten, den fle einnehmen, Sand, Thon oder falfhaltiger 
Mergel if, — fo zeigt Doch eine genaue chemifche Unterfuchung, daß fein Nugen 
für die Pflanzen in Wahrheit davon abhängt, Daß eine große Anzahl von chemi- 
[hen Subftanzen, mineralifchen und organifchen Urfprungs, in ihm vorhanden 
find. Iſt dies der Fall, fo wird jede Pflanze auf ihm gedeihen, welche zu feiner 
mechanifchen Tertur und zu den Klima bes Ortes paßt. Fehlen fie, fo wird bie 
Pflanze welfen und fterben, welcher Art auch immer die Textur des Bodens und 
bes Klimas fei. Und die ganze Kunft des Düngens beftcht darin, daß man zu 
dem Boten dasjenige, was ihm fehlt, zur rechten Zeit, im richtigen chemijchen 
Buftand und in ben erforderlichen Ouantitäten hinzuthut. Welche Dienfte, 


- Ber Erdboden: 559 


chemijche, wie phyſtologiſche, die verſchiedenen Beſtandtheile des fruchtbaren Vo 
dens der Pflanze, die aufihm wächft, erweifen, werde ich in einer fpäteren Ab⸗ 
handlung nachweiſen. 

Doch angenonımen, daß alle nöthigen chemifchen Anordnungen getroffen 
find, d. 5. daß die Zufammenfegung des Bodens fo ft, wie file gewöhnlich mit 
Fruchtbarkeit verbunden if, — fo kommen boch oft phyſiſche Zuftände und Kräfte 
daywifchen, weldye die Vorberfagungen der Chemie Lügen firafen. So kann ber 
herabfallende Regen zu gering fein, als dag er das Land in dem Zufland ber 
Feuchtigkeit erhalten könnte, welcher für das Wachethum der Pflanzen erforder 
lich ifl. Daher die weiten, nadten Wüften, die fich über die regenlofen Gegen- 
den der Erdoberfläche erſtrecken. Welcher Art auch immer die dyemifche Zuſam⸗ 
menfegung des Bodens in diefen Gegenden fein mag, Begetation ift hier un⸗ 
möglich, und alle Anftrengung des Menfchen faſt vergeblich, wenn er nicht Waffer 
berbeifchafft. Oder die Oberfläche eines Landſtrichs kann fo platt fein, daß der 
berabfallende Regen Feinen Abflug baben Kann. Er ftagnirt daher, und macht 
ihn für den Bebauer ungünftig. fo daß fich, was auch Immer der Boden enthal- 
ten mag, feine Fruchtbarkeit zeigen kann, wenn man nicht zuerft dem überflüfftgen 
Waſſer einen leichten Abzug verfchafft. Oder der Regen kann zur unrechten Zeit 
füllen, wie in Island, wo er im Herbfl, wenn die Gerfte reifen follte, in viel zu 
reichlichen Schauern erfcheint, als daß ſelbſt dies härtefte Getreide auf der Infel 
mit Rußen gebaut werben fünnte. 

So kann aud) der Wärmezuftand einer Gegend ihre Fruchtbarkeit hemmen. 
Die abftrafte Chemie fagt: „Laß den Boten die nothwendigen Beftandtheife 
enthalten, fo wird jedes Getreite darauf wachſen.“ Aber die Phyfiologie modi« 
ficirt Diefe allgemeine Behauptung, indem fte zeigt: 

1) daß, welcher Art auch immer die hemifche Zufammenfegung des Bodens fel, 
er eine beſtimmte phyſiſche Zuſammenſetzung haben muß, ehe dieſe oder jene Pflanze 
auf ihm gedeihen kann. Die Pflanze, welche von Ratur Ihonboden verlangt, wird 
auf Sandboden nicht gut gedeihen, wie bie Pflanze, welche Sant verlangt, auf Torf⸗ 
boten welfen wird, mag er auch noch fo reich an chemijchen Ingredienzen fein. 

2) tag Die Temperatur oder Waͤrmebeſchaffenheit eined Ortes in gleicher 
Weiſe beftimmt, ob auf feinem von Natur reihen Boden dies oder jenes Ges 
treide wachen wird. Lind in der That hängt von den vereinigten Einflüffen die 
Näffe und Wärme, welche zufanımen dad ausmachen, was wir Klima nennen, 
die Verichiedenheit der Blora und des Getreides in den verfchiedenen Gegenden 
der Erdfugel ab. Taufende von Pflanzen, bie unter den Wentefreifen in Ueber 
flug wachſen, werden in demfelben Boten kaum aufblühen, wenn man fle unter 
einen nordifchen Himmel verpflangt. 

Wie wichtig Daher auch immer ber geologifche Urfprung eined Uotend und 
feine chemiſche Zuſammenſetzung fein mag, wo das Kfima günftig iſt, fo ift doch 
Feind von beiten im Stande, irgend etwas für die Erzeugung von Nahrung für 
ten Menichen zu thun, wo die gehörige Näffe und Wärme fehlt. 

Aber auch der Menfch übt einen Einfluß auf den Boden aus, welcher aufe 
merfjamen Studiums werth if. Cr landet in einem neuen Lande und über 


560 Agrikultur · Chemie. 


all umgibt ihn Fruchtbarkeit. Dicht und hoch weht das Gras, und die maſſiven 
Bäume ſtrecken ihre ſtolzen Stämme hoch in ben Himmel hinein. Er holzt ſich 
aus der Wildniß eine Farm aus, und reichlich lohnendes Korn bezahlt ihn Jähr- 
lich für feine einfache Arbeit. Er pflügt, fäet, erntet, und reichliche Ernten gibt 
ihm die Erde aus ihrem anfcheinend unerihöpflichen Bufen zurück. Aber end» 
lich macht ſich eine Veränderung fihtbar, Die langfam über die lächelnde Laub» 
ſchaft hinſchleicht und fie allmälig ganz verdüſtert. Das Korn iſt zuerfi weni 
ger fchön, dann weniger reichlich, und endlich fcheint es unter ter unwiderſteh⸗ 
lichen @eißel eines unbefaunten Inſektes oder cined parafitiihen Schwammes 
ganz auszufterben. Gr verläßt Deshalb feine lange bebaute Farm und Haut ſich 
aus dent Urwald eine andere heraus. Aber auf diefelbe Fülle im Anfang folgt 
daſſelbe verdrießliche Unglück. Seine Nachbarn machen diefelbe Erfahrung. 
Sie rüden gleich einer verjchlingenden Fluth gegen die grünenden Wälder vor. 
Sie zertreten fie unter ihrem sorrüdenden Landbau. Die Art fällt alljaͤhrlich 
ihre Beute, und Generation auf Generation ſchreitet in berfelben Richtung vor 
— eine Wand von grünen Wäldern am Horizonte vor fih, eine halbe Wüſte 
und nadte Gegend Hinter fih. Das ift die Geſchichte des Golsniallandbaues 
zu unferer Zeit, das die vegetabilifche Gefchichte des Ganges Europäijcher Culti, 
virung über den ganzen Eontinent Amerika's. Von der Küfte des Atlantiſchen 
Meeres wich der jungfräuliche Boden zuerft bis zu den Alleghany's und ben 
Küften der großen Seen zurüd. Diefe find jegt überfchritten und der Plünderer 
Haut fich unbefümmert, mit der Art in der Hand, und faum von den reichen 
Ufern des Mifftfippi und feinen Rcbengewäffern aufgehalten, feinen Weg zu dem 
Feldgebirge und den öftlichen Abhängen der Andes. Gleichviel was der geo⸗ 
logijye Urfprung und die hemijdye Zufammenfegung ded Bodens fein mag; 
gleicyviel wie ihn Wärme und Räffe begünfligt, und wie vorzüglich das Korn, 
welches er von Jahr zu Jahr geduldig getragen hat, — feiner wartet daſſelbe 
anvermeidliche Schickſal. Der Einfluß Tange fortgefeßter menjchlicher Thaͤtigkeit 
bejlegt die Wirfjamfeit aller natürlichen Urjachen. Ich brauche faum als ſpeci⸗ 
elles Beiſpiel die wuͤſten Landſtriche anzuführen, welche man noch zwifchen der 
Atlantiſchen Küſte Virginiend und den Garolinen fleht. Intereffanter iſt es 
für ung, auf die Theile Amerika's hinzuſehen, welcye weiter nach Rorden liegen 
und in der Art und Weije des Landbau und ihrer Produfte unferem Baterlande 
ähnlicher find. 

Das Flachland, welches an den unteren Theil des St. Lorenzftromeß grenzt, 
und ſich nahe an Montreal zu weiten Ebenen ausdehnt, war zur Zeit der Fran⸗ 
zöſiſchen Herrichaft ald Kornkammer Amerika's berühmt. Fruchtbar an Weizen, 
gab es viele Jahre lang einen reihen Ueberſchuß für Erportation; jet trägt e# 
von Diefem Getreide weniger, als für den Gebrauch feiner eigenen Bevölkerung 
erforderlich ift. Hafer und Kartoffeln haben als Hauptproduft des Nieder⸗Cana⸗ 
diſchen Landbaues und tägliche Nahrung derjenigen, welche von den Erzeugniffen 
ihrer eignen Barmen leben, die Stelle des Weizens eingenommen. 

So ifl in Neu- England der Anbau von Weizen allmälig uneinträglic 
geworben. Der Pflüger des audgemergelten Bodens in dieſem Theil der Ber 


Der Erdboden. 561 


einigten Staaten Fann mit dem Bebauen bes frifchen Landes nicht wetieifern, 
welches alljährlich durch Art und Pflug von ber weftlichen Wildniß gewonnen 
wird, und er ift genöthigt, fi zum Anbau anderer Getreidearten.zu verſtehn. 
Die bejonders Weizen erzeugende Zone rückt von Jahr zu Jahr mehr nach Weiten. 
Died ift dem aufmerkſamen Beobachter und dem Sammler fatiftifcher Daten 
Tange Elar geweſen. Ich legte e8 in meinem Werke über Nord» Amerika dem 
Publifum deutlih vor Augen. Einen jchlagenden Beweis für die Nichtigkeit 
meiner Anſichten gibt der folgende Bericht über den Genfus ber Vereinigten 
Staaten von 1850. Daraus erhellt, daß der Weizenertrag, der fich in Neu⸗ 
England im Jahre 1840 auf 2,014,000 Scheffel belief, 1850 auf 1,078,000 
Scheifel rebucirt war. 

Aber der Einfluß des Menfchen auf die Erzeugnijfe des Bodens zeigt ſich 
auch in anderen, und zwar befriedigenderen Mefultaten. Der Verbeſſerer nimmt 
bie Stellt ded Ausſaugers ein und folgt ihm in denfelben verjchlechterten Län« 
Dern auf dem Buße. Ueber die fandigen, verlaffenen Striche in Virginien und 
ben Sarolinen breitet er große Lagen Mufchelmergeld, und bald wächft wieder 
Gras und einträgliched Korn, oder er ftreut eine dünne Gypsſaat Darüber, 
und wie Durch Zauberei ift der Ertrag der vorigen Jahre verdoppelt oder ver⸗ 
bierfacht, oder er fammelt die Ercremente feiner Viehheerden und dad in Gaͤh⸗ 
rung übergegangene Erzeugniß feines Hofed und betedt damit jeine Felder; — 
alsbald fprießt der Weizen wieder üppig auf, und Schnafe, Brand und Gelbſucht, 
Alles verſchwindet an feinem Weizen, jeiner Baumwolle und feinen Pfirſichbaͤu⸗ 
men. Uber der Verbeiierer des Bodens Fommt weit Tangfamer vorwärts als 
der Ausjauger. Seine Materialien müffen nit Aufwand von Zeit und Geld 
gejammelt werden, und auf die leichte Mühe des einen folgt weit raſcher völlige 
Berödung, als der gejchichtefte, eifrigfle und anhaltendſte Fleiß des anderen wies 
ber grünes Gras hervorbringen kann. Trotzdem folgt unter energifchen Nationen 
dieſe zweite Fluth unvermeidlich auf die erfte, wenn fle älter, reicher und civili« 
firter werden. Obwohl die fchlechte Wirthichaft langer Zeiten große Theile des 
nordöſtlichen Amerika verödet hat, jo hat doch bereits ein neuer Saum grünen« 
der Selber, wenn auch in einem langen Zwijchenraum, dem fchnell zurüchweichen- 
den grünen Gürtel jungfräufiher Wälder nad) Weften zu zu folgen begonnen. 
Ein neues Geſchlecht von Bebauern, Das den Boden gefchickter zu behandeln 
und feinen geologijchen Urjprung, feine chemiſche Geſchichte, feine klimatiſchen 
Bedingungen, und die jorglofe Behandlung, die er jo lange erduldet, richtig zu 
beurtheilen und zu würdigen weiß, dies neue Geichlecht kann, — und, hoffe ich, 
wird mit der Zeit — der ganzen Gegend ihre urfprüngliche Produktivitaͤt wies 
dergeben. Somohl bie angeerbte Energie des ganzen Volkes, wie die Anftren« 
gungen, welche Staatd-Gejellfchaften für Verbefierung des Kandbaurs, und viele 
eifrige und patriotijche Individuen in jedem einzelnen Staate jegt machen, berech⸗ 
tigten und zu dem Glauben, daß ein folches Gefchlecht unterrichteter Männer fich 
allmälig über Die ländlichen Diftrifte in jenem Theil der Union ausbreiten 
wird. Der vorhergehende Erfolg des Mutterlanded garantirt ihren verwandten 
Bemühungen ein ähnlid;es glüdliches Mefultat. 


V, 36 


562 Agrikuttur⸗ Chemie. 

Denn wir brauchen in der Geſchichte des Ackerbaues in Groß-Britanuten 
nicht weit zuruͤckzugehen, um einen von ben jetigen Zuſtande des Landes in 
Rorde Amerika nicht fehr verſchiedenen Stand der Dinge zu finden. Wir brauchen 
nur in einigen’ Diftrikten Englands von der Heerſtraße ein wenig abzubiegen, 
und man wird dann noch faft alle Mängel und Fehler des Amerikaniſchen Farm⸗ 
Syſtems in Tebendiger Wirkfamkeit finden. Anderthalb Jahrhunderte haben, 
kann man wohl fagen, die ganze Oberfläche unferer Infel vewandel. Aber wel⸗ 
her Fleiß ift angewandt, welcher Reichthum im Boden vergraben, welche Ger 
danfen daran verſchwendet, um Mittel zu erfinnen, bie ihr von ber Tange über 
fie verbangten Unfruchtbarkeit aufhälfen! Der Handel hat von allen Theilen ver 
Welt chemijche Neichthümer zum Erfage derjenigen herbeigeführt, welche an hun⸗ 
dert vorangegangene Generationen durch Regen und Slüffe aus tem Boben hatten 
auswafchen oder in’d Meer führen laſſen. Mechanifihe Bertigkeit hat uns die 
Mittel gegeben, die Cherfläche auf öfonomifche Welfe umzuadern, jungfräulichen 
Boten von unten heranfzubringen, und denjenigen troden zu legen, welden 
gänzlich auszufaugen unfere Ahnen durch ungenügendes Willen verhindert 
waren, und wiffenfchaftliche Korfchung hat uns gelehrt, wie alfe biefe neuen 
Mittel am beften zur Erreichung des gewünſchten Ziele anzumwenten find. 

Man Fann in Wahrheit fagen, daß Groß-Britannien, In diefem Augenblid 
einen fchlagenden Beweis von Dem Einfluß des Menſchen auf die Vermehrung 
der Produktivität des Bodens gibt. Diefed Beiſpiel garantirt, wie gefagt, den 
Erfolg ähnlicher Operationen in den vereinigten Staaten Amerika's und in un 
fern Britifchen Colonien; während uns der vorgerüdte Zuftand, zumal unferer 
chemifchen Wiffenfchaft, ſowohl in Rückſicht auf den Boden, der zu bebauen ift, 
als auf die Pflanze, die wir zu ziehen wünfchen, die Gewißheit gibt, Daß ter 
Fortfchritt der Verbeſſerung in diefen Kändern weit rafcher und ficherere vor fi 
geben wird, als er es früher bei und Ffonnte, daß der Aufwand von Zeit und 
Geld in ſchlecht berechneten Erperimenten geringer fein, und die nothwendigen 
Operationen der Bewirthfchaftung weniger Mühe koſten werben. | 


Die phantasmagorifchen Rünſte in der 
Hegenwart.*) 


Pon 


£udwig Bedftein. 


Allgemeines: Zauberlaterne und Mikroſkop. Phantadmagorien bei 
Tagesliht: Camera obſeura. Sonnenmikroſkop. Hohlſpiegel. Ka⸗ 
leidoſktop. Phantadmagorie bei kuͤnſtlichem Licht: Ohne Hülfe op⸗ 
tiſcher Glaͤſer: Das chineſiſche Schattenſpiel. Hexentanz. Genien⸗ 
tanz. Mit Sülfe optiſcher Gläfer: Zauberlaterne. Nebelbilder. 
Ehromatropen,. Preife einiger Apparate. Schluß, 


Allgemeine®. 


Su, wie man allgemein annimntt, durch den Jeſuiten Athanaſius Kircher 
(geb. 1602 zu Genfa bei Fulda, geftorben 1680) die Zanberlaterne erfunden 
ward, obfchon jedenfalls bereitö vor ihm von Anderen mit Hülfe optijcher Mittel 


*) Diejer Auffag über die phantasınagorifchen Künfte in der Gegenwart befand 
fih unter ven nacgelaffenen Manuferipten Ludwig Bechſteins. Es wird manchem 
intereffant fein, den Verfaſſer hier auf einem Gebtete zu fehen, auf dem er fonft nicht 
literarifch thätig war. Die kleine Schrift: „Der Heerwurm. Sein Grfcheinen, feine 
Maturgeichichte und feine Poeſie. (Nürnberg, Korn, 1851),” ift unter feinen vielen 
Merken die einzige, welche fich wiffenfchaftlich mit einen naturhifterifchen Gegenftanbe 
beihäftigt. Aber in all; feinen Werfen, in Romanen, Grzählungen und Gedich— 
ten, erfennen wir feine Liebe zur Natur und feine innige Bertrautheit mit ihren 
Schöpfungen uud Geſchoͤpfen. Im gereiften Mannesalter fchrich er fein Lehrgebicht 
„Reue Naturgefchichte der Stubenvögel von Bechilein dem Jüngeren (Hannover, Hahn, 
1846),” ein Werk, welches ihn felbft unter all feinen Schriften die meifte innere Be: 
friebigung gewährte, vom Publifum aber wenig beachtet und verflanden wurde. Neben 
feiner angeitrengten literarifchen Thätigfeit und der Pilege feiner Sammlungen war 
eé hauptiächlich die Optik, welche ihn befchäftigte und durch welche er fih und anderen 
manigfache Belehrung und erheiternden Genuß verſchaffte. Durch die Iauberlaterne 
wurde er auch auf andere phantasmagorifche Dinge geführt und fait an jedem Fami⸗ 
lienfefte erfreute er eine Schaar von green und Fleinen Kindern durch Abendvorſtel⸗ 
lungen, in denen auch das Puppentheater nicht fehlte. Von diejer fliffen und ge; 
wiffermaßen familiären Tihätigfeit gibt diefer nachgelaſſene Auffag Bild und Zeugniß 
Denn erauch nicht Anfprud auf Miffenfaftlichfeit machen Kann, fo wird dech biefe 
populäre Darftellung, der auch ter Humor nicht fehlt, anregente Belehrung gewähren, 

Is * 


564 Phyſik. 


Phantaamagorien hervorgebracht wurden — erfreute dieſes Inſtrument zwar 
fort und fort große und kleine Kinder, es dauerte aber doch damit über ein Jahr⸗ 
hundert, bevor allmälig die Vervolllommnungen zu Tage traten, die man in 
der Neuzeit wahrnimmt, und bie nicht blos ter harmloſen Beluftigung, fondern 
auch der Belehrung und dem Unterricht fich als zweckdienliche Hülfsmittel dar⸗ 
bieten. 

Die Zauberlaterne blieb eine lange Zeit gleichfam typiſch. Der Heerd 
Ihrer Berfertigung war hanptfächlich Nürnberg, und ihr Apparat beftand aus 
2 Holzkaͤſtchen, mit roth und weiß geftreiftem Papier überzogen, deren größeres 
die Laterne, das Fleinere aber die Bilder, in der Megel auf zwölf fchmale 
Glastafeln gemalt, in fich ſchloß. Die Laterne beftand und beſteht aus weißem 
Blech, hat am Hinteren Theile einebewegliche Handhabe, um daran gehalten zu wer« 
den, innen einen Eleinen Hohljpiegel von Blech, ein Dellämpchen und in 2 kurzen 
Rohren zum Ineinanderfchieben 2 biconvere Gläſer. Die Bilder, auf weißlich 
grünliche ſchmale Glastafeln, a 4’—6’ mit durchſichtigen Zadfarben gemalt, fo 
geſchmacklos und ungeſchickt wie möglich, ftellen Fragen, Karrifaturen, Zwerge, 
Ihiere und Schlöffer dar. Der Preis iſt ein fabelhaft billiger, und fo wurben 
und werden Hunderttaufende diefer Art ber Laterne magica nidht nur 
durch ganz Deutfchland, fondern auch nach allen außerbeutfchen Läntern, befon- 
ders zur Kinderglüd bringenden Weihnachtszeit verfendet und abgefeht. 

Endlich verfiel man darauf, neben den Eleineren Apparaten größere und 
beffere, folglich auch theurere, zu fertigen, und etwas mehr Fleiß auf die Bilder 
zu verwenden. Man verfertigte Geifter-Erfcheinungen, db. h. man lich 
bie Glasſchieber mit Kienruß und Firniß fchwarz bededen, und jparte für Todten- 
Eöpfe, Gerippe und Luftgeſtalten und allerlei gejpenftigen Graus weiße Stellen 
aus. Dadurch wurde ungleich mehr Wirkung erzielt. 

Das magifche Spielwerf erhielt fich fortwährend im Beifall; einzelne Künſt⸗ 
ler fuchten e8 zu verbeifern, theils durch zweckmaͤßiger eingerichtete Lampen, wie 
fie nach und nach erfunden wurden, theils durch mit mehr Sorgfalt gefchliffene 
optijche Oläfer — denn die der Kinderlaternen find bloß gegoffen, oft voll Blafen 
und nichts als gewöhnliche Brenngläfer, theild durch fehönere Malerei. Diele 
Malerei für den beftimmten Zweck hat aber eine gewifle Grenze; fie darf nicht 
allzu fein, nicht allzu Fünftlerifch fein, wenigftend dann nicht, wenn verlang: 
wird, dag die Vergrößerung eine fehr ftarfe fet, fonjt verliert fie Die beabfichtigte 
Wirkung. Das aber bleibt ein für allemal Hauptregel, dag man ein buntes, 
conturirtes Bild, welches weiß erfcheinen fol, nicht auf weißes Glas malen, ſon⸗ 
dern daß alled Glas, was nicht zum Bilde gehört, undurchfichtig grundirt fel, 
wo nicht von felbft eine Ausnahme fich gebieterifch nothirendig macht, wie bißs 
weilen bei den fpäter zu ermähnenden Luft und Rebelbildern. 

Schon im Beginn des 18. Jahrhunderts erfand man bemegliche Dilder 
für die Zauberlaterne, allein fie hoben fich auf feine hohe Stufe des Weiters 
ſchrittes und im Allgemeinen ift deren Anwendung, wenn fle nicht mit befonderer 
Kunft und Erfindungsgabe gefertigt find, nicht anzurathen, (die Chromatropen 
ausgenommen) denn wenn bie minbefte Stodung, was außerordentlich Teicht und 


. Phantasmagor. Künſte. 565. 


häufig geichieht, erfolgt, fo iſt dem Befchauer die Illuſion genommen, das Pu⸗ 
blikum Tacht, ‚und der Darfteller, der ganz unfchuldig an der Stodung fein 
kann, ift beihämt und wird verftimmt. Es gehört aber zur Schaugebung phan⸗ 
ta8magorifcher Darftellung vor einem größeren Bublitum und gegen ein Eintritts“ 
geld durchaus große Gewandtheit, Sicherheit und Beherrfchung aller Hülfsmittel, 
und vorzugsweiſe gute befonnene Stimmung. Wer aus Liebhaberei und Neigung 
einem Freundeskreiſe dergleichen Künfte fchauen läßt, Tann leicht aus dem Miß⸗ 
Ungen eines Schauſtücks einen Scherz machen; der für Geld producirente Kuͤnſt⸗ 
ler kann dieß nicht. 

Die Bauberlaterne ift in mancher Beziehung fehr nabe mit dem Mi⸗ 
Eroffop verwandt. Beide optiiche Inftrumente haben die Aufgabe, zu ver⸗ 
größern, aber beide nach verfchiedener Michtung Hin. Das Mikroſkop ver» 
größert Fleine und Eleinfte Gegenſtände (Object) zum Zwecke wilfenjchaftlicher 
Belelehrung für den Einzelnen; die Zauberlaterne vergrößert wieber Feine Bil⸗ 
ber zum Zwecke der Befriedigung allgemeiner Schauluſt. Beide optifche Werks 
Feuge aber fallen in eins zufammen beim Sonnenmifroffop, Lampen. 
mitroffop und Gasmikroſkop. Letztere drei werfen Bilder fo Eleiner 
Art, ja felbft dem Auge unfichtbare Körpertheile, auch lebende Weſen, in derjels 
ben Größe auf die Wand, wie die Zauberlaterne mit ihren gemalten Bildern 
thut, und wirken dadurch in einer Weile belehrend, wie die Zauberlaterne nie 
vermag; fle treten aber dabei doch aus dem Kreife der eigentlichen Wiſſenſchaft 
heraus und werden zu Werkzeugen der phantasmagoriſchen Kunit, 
Denn an den Hicjenbildern eined Sonnen oder. Gasmikroſkops wird Fein Nas 
turforfcher einen Gewinn für feine Wiffenfchaft haben, und das Lampennifrofs 
fop fteht ohnehin weit Hinter den beiden genannten zurüd, weil ed der ununs« 
gänglichen Lichtſchärfe entbehrt; denn die befte Argandifche Lampe, ja felbft ge⸗ 
wöhnliches Gaslicht, reicht nicht an die Lichtfülle des Drümond'ſchen Hydro. 
Orygen⸗Gaſes, oder des elektrifchen Lichtes, oder an das der Sonne. Daß 
Schaugeber, die auf folche Vorftellungen reifen und vom Ertrage ihrer Bes 
mühungen leben, fo viel als möglich von diefen phantadmagorifchen Künften jich 
aneignen und vorftellen, ift fachgemäß. Je manigfaltiger die Vorftellungen, 
je reicher und ausgeftatteter die Apparate, um fo mehr Publifum und un fo 
mehr Beifall beim Gelingen der Borftellungen — demnach aber auch um fo 
größere Vorbereitungen, Rüben und Schwierigkeiten. 8 ift feine Kleinigkeit, 
in 2 bis höchſtens 3 Abendflunden NRebelbilder mit Landfchaften, Seeſtücken, 
bemeylichen Biltern, Karrilaturen zur Aufmunterung des fügen Pöbels, dann 
für das höher ftehende, aber tiefer figende Publikum aftronomijche Taritellungen, 
dann natunviffenichaftliche, mifroffopifche (todte und lebente) Gebilde zu zeigen 
Entftehung des Weltalle, Bewegung der Blaneten, Bau ber Erde, Urwelt, dann 
Götter und Heroen, Büjten von Richtgöttern und Richtheroen, und entlich auch 
noch cine Reihe von Chromatropen, Der Zuſchauer figt vergnäglich auf feinem 
Stuhl oder feiner Bank, wird jehr ungetuldig, wenn einmal eine lange Paufe 
eintritt, oder etwas mißräth, und denft nicht im enıfernteiten an die namenloje 
Mühe, welche Die Leiter bes ganzen Abenbunterhaltung dort hinter Dem durch⸗ 


566 .Phhpſik. 


ſichtigen Vorhang haben, und denkt nicht Daran, daß ihr Brod ein ſaueres Stück 
Brod iſt. Wenige Lehrbücher der Phyſik und Optik gehen auf die praftifche 
Seite der Anfertigung nicht nur, fondern auch auf deren Aufftellung und Hand⸗ 
babung ein; fte ftellen Theorien auf und mathematiſche Berechnungen, die dem 
Laien nicht frommen, wenn fle auch noch fo wiflenfchaftlich und richtig find- 
Auch in Den Schulen wird der Unterricht in der Phyſik nicht mit der Liebe ges 
pflegt, welche dieſe Wiſſenſchaft verdient, und am wenigften die Optik. Der Bau 
eined Bernrohres, eines Mikroſkopo wird allenfalld den Schülern gezeigt, auch 
Lie Windung des Hohljpiegeld Iernen fle Eennen, dann aber nehmen Efefiricität, 
Magnetismus und Galvanidmus ih ihren Berbindungen faft mehr Zeit in An⸗ 
fpruch, ald für einen Lehrkurſus vergönnt iſt. Es wird ficher wenige höhere 
Unterrichtsanftalten geben, in deren phyſikaliſchen Eabinetten zweckmäßige, neu» 
eonftruirte Rebelbilderapparate, Gasmifroffope, Chromatropen und die Geräthe 
für Phyſioſkopie, Megajkopie u. dgl. vorhanden find, fo wenig wie für Daguerro⸗ 
typie und Photographie, und find fie vorhanden, fo gebricht e8 an Zeit zu ums 
faffender Anwendung. Es kann und foll in dieſem Artifel durchaus nicht auf 
eine wiflenfchaftliche Auseinanderlegung aller optifchen Inftrumente und Appa⸗ 
rate eingegangen werden, fondern hauptjächlich non folcyen die Rede fein, und 
über folche nähere Winke gegeben werden, welche in größeren Städten fländig, in 
Sleineren Städten und Orten durch reifende Künftler zu öffentlichen Schauftelluns 
gen benußt werden, und die geeignet find, einer großen Anzahl von Bejuchern und 
Beſchauern Unterhaltung, Belehrung und Vergnügen zu verichaffen. Dabei 
muß vorausgeſetzt werden, baß der Leſer von den verichiedenen nöthigen Glaͤſern 
eine allgemeine Kenntniß, und wenn derfelbe zu eigenen Verfuchen und zum Bau 
folcher optiicher Werkzeuge übergehen will, Gelegenheit habe, fich dieſelben aus 
den mechanijchen Werkflätten guter Optiker zu verfchaffen. 

Die optifchen phantasmagoriſchen Schauftellungen zerfallen in zwei uns 
gleiche Hälften, I. für Tageslichtbeleuchtung, Il. für Eünftliche Beleuchtung; fte 
gerfallen auch in Anfchauungen für Einzelne und in Piejelben für Viele. 
Bon den erfteren muß faft ganz abgefehen werden. Der Einzelbefchauer mag 
fi) durch Fernröhre Sonne, Mond und Sterne mit Trabanten, Flecken und 
Ringen betrachten, Mondberge, Milchftraßen und Sternennebel, oder durch Mi⸗ 
kroſkope Nlles, was dieſe darbieten, Nahes und Yernliegendes, Ylügel und 
Auge der Fliege, Fuß der Spinne und Stachel der Biene, oder die Sternförper« 
hen in der Haut des Orangenſchwammes, foflile Diathomeen und Polytholamien 
oder die wunderfamen, genau Schiffanfern gleichenden Kalkförper in der Haut 
Der Synapta Duvernaea, einer Echinodermenart im mittelländijchen und andern 
Meeren, Berner mag der Finzelbeichauer fih an Banoramenbiltern, Stereoie 
kopen, Kaleidoffopen, an Farbenbildern der Lichtfirahlenundulation von der 
böchften Theorie bis zur Seifenblaje herab belehren und ergögen. Die Far ben 
Ichre mag jeder Einzelne für ſich ſtudiren; Farbenring, Farbenſcheiben, Pris⸗ 
nıen, Conus und alle dadurch erzeugte Spektra gehören mehr für Schulen, als 
für öffentliche Schaugebung, deren Zweck mehr Unterhaltung als Belehrung if. 
Hier foll nur eine bunte Reihe von Apparaten und deren Wirkung vorge 


Phantasmagqr. Künſte. 567 


führt werden, welche dazu beſtimmt find, in nicht gelehrter, ſondern populärer 
Weiſe erfreuend nicht auf Einzelne, jondern auf eine Mehrheit von Beſchauern 
einzwoirfen. | | | 


l. 
Phantasmagorien bei Tageslicht. 


Auch zu diefen gehört vor allem meiſt ein dunkles Zimmer. Das bes 
fannte, gleichnamige Infrument, die Camera obſcura zeigt im Eleinen für 
Gingelne, was fih im Großen unter gleichen Bedingungen für viele bewirken 
laͤßt. In einem möglichft Dunkel gehaltenen Zimmer, einem Zelt oder in einer 
Bude, wo jich die Ausficht auf einen Marktplag, eine belebte Straße, ein Vogel⸗ 
ſchießen und dal. öffnet, fteht eine runde, weiß angeftrichene Tafel. Ueber der⸗ 
jelben fängt ein geeignetes Glas mit fehr weiten Brennpunft die Gegenftände 
tes belebten Landjchaftsbiltes auf, wirft fle in einen oben angebrachten Anges 
meſſen geneigten Spiegel oder in ein Prisma, und von ba herab fällt das Bild 
auf den Tiſch, auf den man nun ein buntes Farbenbild gewahrt, das mit einer 
Menge immer wechjelnder Menfchen und Thierfiguren, Reitern, Fuhrwerken, 
Heerden u. f. w. im Eleinen belebt if, und um jo fchöner dann, wenn Sonnen 
beleuchtung Lichter und Schatten entjchiedener und flärfer hervortreten laͤßt, als 
bededter Himmel. Schr fchön erfcheinen Die Wolfen. Ein ſtetes Konımen und 
Gehen, ein dauernder Wechjel, ein anregendes lebknvolles Gemälde. Schöner 
noch, wie auf einem Tiſche, wird Dad Bild auf einem durchfichtigen Vorhang, 
der das Inſtument von den Beſchauern trennt, allein tie Herftellung auf diefe 
Art iſt ſchwieriger, umftändlicher, erfordert jehr gute optifche Gläfer, weil das 
Bild nicht umgekehrt erfcheinen darf, wie es der Kal ift, wenn man auf einfache, 
ſchwach convere Glaͤſer Randichaftsbilder in einen Kaften oder in ein verdunfels 
tc8 Zimmer fallen läßt. Das ift nun Sache des praftifchen Optifers, welcher 
verfteht, Die geeigneten Gläfer und Prismen je nach dem Bedarf auszuwählen. 
Der blog gelehrte, theoretijche Phyſiker wird vielleicht mit außerorbentlichem Scharfe 
finn ganz unfehlbar berechnen, wie ein ſolches Inftrument einzurichten fei, wenn 
man nämlich Diejes oder jenes Glas fo und jo geichliffen, nach dieſem und jenem 
Zollmaag jeiner Brennweite zur Hand habe, allein das fördert den Praktiker 
nicht, einmal, weil auch Die befte Theorie fich bisweilen als falfch und unrichtig 
erweilt, und dann, weil die Gläjer genau fo, wie fie gewünfcht werden, nur in 
ten bedeutendſten optifchen Werkſtätten zu befommen, und in der Megel [ehr 
theuer find. 

Das Kmunnenmikroſkop, auch eined der optifchen Werkzeuge, die fich 
für eine Mehtzahl von Beichauern trefflich eignen, bildend, fördernd und anregend 
zu wirken, bedarf ebenfalls eines gänzlich verdunfelten Zimmers oder fonftigen 
Raumes und entweder einer weißen Wand oder eines durchfichtigen Vorhanges. 
Iſt nur erftere möglich, fo muß der Sig oder Standpunkt der Befchauer jo fein, 
daß letere der Wand gegenüberfigen, und über ihre Köpfe hinweg ber Lichtſtrahl 
bed Inſtrumentes fliegt, dem fle den Rüden kehren, beim Vorhange aber figen ſie 
vor demjelben, und nehmen nur die durchfcheinenden Bilder wahr, jedoch nichts 


von ber Thärigkeit der Schaugeber, die beim erften Falle fichtbar ift, was nicht 
angenehm wirft. Das Inftrument an fich ift fehr einfach; ein Uebelſtand aber 
ift, daß dafjelbe eines zweiten, äußerft wichtigen, ja unumgänglidy nothwendigen 
Inftrumentes bedarf, das fich bei feinem Optifus Faufen läßt, das völlig auto« 
kratiſch fih benimmt, nur aus beſonderer Güte ſich zur Gefälligfeit herabläßt, 
eine Kürftin, gegen deren unbefchränfte Regierung ohne alle Eonftitution und [As 
flige Landſtaͤnde noch nie ein Demokrat Taut geworden, e8 müßte denn Joſua ges 
wefen fein fein, der aber nur ein treuer Knecht und Streiter des Hekrn war. 
Das ift die Sonne. Ohne Sonne fein Sonnennifroffop! Daher äußerſt 
mißfich, auf eine Schaugebung mit diefem Inftrument ausfchlieglich zu reifen. 
Aber feine Wirkung ift herrlich, reizend, wenn das Gunftlächeln der Tageskönigin 
am wolfenlofen Simmel ſtrahlt. Sehr einfach ift der Apparat, und durchaus 
nicht Foftipielig. Ein von innen drehbarer Planſpiegel fängt außerhalb tes 
Bimmers den Sonnenftrahl auf und ivirft ihn auf ein fchwachbiconveres Sammel» 
glad von geringem Durchmeffer, feine Breite, etwa 1— 12 Zoll. Durch eine 
Nöhre fällt der Strahl entweder auf ein etwas ſtaͤrkeres und Fleineres Glas, oder 
auch ohne ſolches ungebrochen auf das mittelft eines Schiebers in den Brenn« 
punft gebrachte mikroskopiſche Object, Hinter denen fidy nur die vergrößernte 
biconvere, oder beffer planconvere Glaslinſe befindet. Eiue Schraube vergönnt 
Teicht durch Raͤhern oder Entfernen das Object zur Kinfe in richtiger Kichtftärfe 
tie gewuͤnſchte Vergrößerung auf den durchſichtigen Vorhang oder tie weiße 
Wand zu werfen. Die Wirkung ift überrafchend und wunderbar. Der Klügel 
einer Stubenfliege kann in der Größe einer Stubenthür gezeigt werben, ſchillert 
in Irisfarben, zeigt feine Haare und Zaden. Ein Stüdchen Moo8 von ter 
Größe eines Fleinen Ragelkopfed wird zum Palmenwald, ein einziges Tröpfchen 
Salze oder Salmtafauflöfung in Waſſer zum rieftgen Sterne, der vor dem Auge 
des Beichauers entfleht, Staubatome, Sporen von Barrenträuteriamen, dem 
bloßen Auge kaum ſichtbar, fcheinen belcht, wie z. ®. der Pollen des Equisetum 
hiemale; Diefer breitet vier Arme aus, in Ichhafter Bewegung, und ein Tröpfe 
hen mit Infujoriemvaffer vollends wird ein von allerlei Gethier in wildem Durch« 
einander belebter See. 

Hier gilt 68 aber für den verfäntigen Darfteller ein gewiſſes Maaß⸗ 
halten. Die Vergrößerung darf nicht übertriebeu werben, damit fle um fo 
£larer und fdhöner bleibe. Ein Floh z. B., der bis zur Größe eines Kalbes 
dargeftellt wird, ift ein fo reſpektabler Floh, daß er dem, von welchem Mephiſto⸗ 
pheles in Goethes Kauft jingt, nichts herausgibt, daß er fo groß ſich zeigt, wie 
ein Ochs, iſt nicht nöthig, waͤre Uebermaaß, Kalb ift Hinlängliggge Daß dic 
Objecte Durchfichtig fein müſſen, ift ſelbſtverſtändlich. Man hat zwar nuch Vor« 
richtungen zur Darftellung dunkler Gegenftände erfunden, welche bei Handmikroſ⸗ 
kopen ohnehin unerläßlich find, aber in Verbindung mit Dem Sonnens oder auch 
dem Gasmikroſkop, welches auf ganz gleicher Einrichtung berußt, nur mit dem 
Unterfchiede, Daß bei Icgteren flatt dad den Sonnenftrahl auffangenten Spiegels 
hinter den Sammelglas gleich unmittelbar das fünftliche Licht brennt, beim 
Drumond'ſchen ein Kreidecylinder, bei anderen eine Gastlamme — ift wenig Er⸗ 





Phantasmagor. Künfte, 569 


folg mit diefer Gintichtung für dunkle Körper zu erzielen. Ban baut fehr theure 
Sonnenmifrosfope mit vielerlei Vorrichtungen ans Mejfing, früher hatte man 
fehr billige aus Holz und Pappe, deren Wirkung faft dieſelbe war, wenn auch 
die kleineren Glaslinſen keine achromatiſchen waren. 

Zu den Inſtrumenten, welche auch bei Tageslicht wirken, athören auch noch 
das Prisma und der Glaskegel, welche in der Farbenlehre wichtige Rollen 
fpielen. Das erftere wirb nicht felten fowohl in der Camera obfceura, ald auch 
in der Camera clara und Tucida angewandt, und der [egtere dient dazu, wenn er 
in die gehörige Lage zu dem in das verbunfelte Zimmer einfallenden Sonnen« 
ſtrahl gebracht wird, halb⸗ oder ganz freiöförmige Regenbogen in fahönfter 
Tarbenpracht hervorzubringen. 

Auch der Hohlſpiegel darf nicht unerwmähnt bleiben. Er iſt jedenfalls 
das Altefte der zur Hervorrufung von Phantadmagorien in Anwendung ges 
brachten optifchen Inſtrumente. Weber feine Gonftruction gibt jedes Handbuch 
der Optik genügenden Auffchluß. Seine gefrümmte Kläche nimmt ihm genäherte 
Bilder auf, verkleinert und kehrt fle um, und wirft fie in feinen Brennraum vers 
größert zurüc, wo fie nun in ber Luft frei ſchwebend, ganz magiſch ericheinen; 
3. B. eine Hand mit einem Dolche, ein Blumenftrauß, ein Geftcht u. dgl., wo⸗ 
durch zu allen Zeiten unter Umfltänden und fonft paffend eingerichteten Räumen 
fehr überrajchennde, erſchreckende und für die Unwiffenden unbegreifliche phantas⸗ 
magorifche Erfcheinungen hervorgerufen worden find. Dazu gehören aber freis 
lich große Hohlfpiegel, die nicht Teicht Herzuftellen find, und außerdem bieten ſich 
noch andere Schwierigkeiten dar, die man auch bei einem verwandten optifchen 
Inftrument, dem Megajkfop zu überwinden fuchen muß; nämlich, wenn der 
Kopf oder die Phnfiognomie eines Lebenden targeftellt werben foll, fo muß 
diefer verfehrt angebracht werden, um den Zufchauer aufrecht zu erfcheinen, das 
ift aber für den, ber fih zur Schau Preis gibt, ein fchlechter Spaß, und nicht 
lange auszuhalten, oder dad Individuum, männlich oter weiblich, muß in equifie 
briftifcher Kunft geübt und gewohnt fein, Fopfunter mit den Hänten zu gehen, 
oder fich an den Fügen aufzuhängen und zu baumeln. Hierher gehört auch noch 
die Sage von den Wirfungen des Brenn reſp. Hohlſpiegels des berühmten grie⸗ 
hifchen Mathematikers Archimedes, ber mit folchen römifche Echiffe im Hafen 
von Eyrakus in Brand geftedt habe, und zugleich gehört fle in das Meich der 
Erdichtung. Selbſt Die jegige, in mechanifchen, techniſchen und optifchen Kuͤn⸗ 
fien fo weit torgefchrittene Zeit würde dieſes Kunftflück nicht zu bewirken in 
Stande fein, ſchon weil feindliche Schiffe ſich nicht fo nahe in die Häfen wagen, 
fie muͤßten denn Landung zu beabflchtigen Muth und günftiges Ufer haben. Un⸗ 
gleich beffer wirft ftatt Der Archimedifchen Brennpunkte in ziemlicher Berne ein 
wohlgezielter fanfter Megen von einigen Dugend Congrev'ſchen Brandrafeten mit 
griechiichem Feuer gefüllt. Schon Wartenmüffen anf Sonnenſchein beim Ent⸗ 
zünden von Schiffen Durch Brennipiegel würde jein Unangenchmes haben; auch 
müßte die Eonne nicht zufällig Hinter dem Spiegel ſtehen. Eines der anziehend⸗ 
ften optijchen Inftrumente, freilich zumeift nur für den Gingelgebrauch, ift das 
Kaleidoſcop, das als neue Erfindung weichen A812 und \8\C aulluutike, 


670 ._ Phyſik. ‚Fi 


wegen feiner ſtets wechielnden Sarbenbilder allgemeinen Beifall fand und rin 
Spielzeug in.den Händen großer und Feiner Kinder wurde. Man verfertigt es, 
dem befannten Grundjage feiner Zujanmenftellung gemäß, theils billig und ein» 
fach, theils Eoftfpielig und luxuriös; es fehlte aber auf feinem Damentifche. 
Man glaubte durch die Winfeljpiegelung zweier (biöweilen auch dreier) Plans 
fpiegelftreifen, unter denen fich eine von einem hellen und einem nach außen ge= 
kehrten mattgeichliffenen Glaſe gebildete Kapſel drehte, welche bunte Glasſteinchen, 
Glasſplitter, Moos⸗ und Blumentheilchen enthalten muß, Tapeten» und Kattuns 
druck und dergleichen Muſter-Fabrikation auperordentlich gefördert; indeß hatten 
doch die hundertfachen Rojetten, Kränze, Kronen, Sternenreihen u. ſ. w. nicht 
Die Macht, auf die Dauer zu feileln, und das fo Außerft beliebte Mode-Inſtru⸗ 
ment fland nad) wenigen Jahren verftaubend im Winkel. 

Hauptaufgabe wäre, mittelft optiicher Vorrichtungen und entjprechenden, 
Sonnen= oder Lampenlichts Die Ealeidoffopijchen Bilder für Viele zugleich und 
in anftändiger Vergrößerung fichtbar zu machen. Die Möglichkeit folcher Schaus 
ftellung ift in der Theorie vorhanden; ausgeführt jah Verfaſſer diefelbe noch nie 
und mancherlei eigene Verſuche jcheiterten. Doc Hat tie Firma Albrecht zu 
Frankfurt a/M. deren in ihrem Cataloge. 

Auch der Thaumatrop, die Zauberdrehſcheibe, ift nur für Einzelne an⸗ 
wendbar, bereitet aber trog ihrer großen Einfachheit manche Ueberrajchung. 
Auf einer Seite der Scheibe z. B. if ein Vogel gemalt, auf der andern ein Iees 
rer Käfig, Wird zweckentſprechend gedreht, fo erjcheint der Vogel im Käfig. 
So läßt fih mit Kapc und Maus, Geficht und Larve, Blumenftrauß und ⸗Vaſe 
ein angenehmes Bilderjpiel lange treiben. 

Ungleich belchter noch und anregender wirkt die ſtroboſkopiſche Scheibe, 
mitteljt welcher gemalte Bilder fich Ichend zeigen, Seiltänger Künfte üben, Reiter 
und Pferde im Circus rennen, Majcyinengetriebe und Räderwerfe ineinanter ſich 
beiwegend greifen, Zänzer und Zänzerinnen ihre Bas machen ıc., alles vor des 
Beſchauers fichtlidyen Augen, unter Der Bedingung jedoch, Laß er die Scheibe 
richtig drehe. Cigentlich find 3 zwei Echeiben, beide von Pappe, 8 — 12 Zoll 
Durchmeffer, auf Handhaben ruhend. Am äußeren Rande find in entjprechender 
gleicher Entfernung von einander viereckige Löcher eingejchnitten, durch Die man 
mit beiden Augen auf die zweite Scheibe jicht, auf welcher in ebenfalls berech⸗ 
neter Stellung die Bilder gemalt find, d. h. immer nur cin Hauptbild unter 
jeder Oeffnung. Wird nun die Bildſcheibe rajch gedreht, fo gewinnt das jo ver 
ſchieden gezeichnete Bild einheitliched Xchen und erfcheint bewegt. Dieje von 
Strampfer in Wien erfundene Drebjcheibe Hat man für Schauftellungen im 
Großen beuupt, für jeden Zujchauer ein Guckloch, für jedes Guckloch ein Bild 
auf einem Gylinder von 18 Buß Durchmeffer *), und die Wirfung auf die Zus 
[Hauer joll von ganz überrajchender Art und das Kunſtſtuͤck unbegreiflich erichies 
nen fein. 

Die ebenfalld in das Gebiet der Optif gehörenden Erfindungen der Das 


*), S. Dr. ®. 5. A. Zimmermann, Dytik. Wien 1856. ©. 175 u f. 


Phantadmager, Künſte. 571 


guerreotypie und Photographie, zu denen fich auch die ſtereoſkopi— 
fchen Bilder gefellen, werden, feit man auf Glas photographirt, auch für mikro⸗ 
ſkopiſche Darflellungen benußt, und dieſe Bilder haben den Vortheil, daß fie be⸗ 
reits vergrößert auf die Glasfläche gelangen, das treuefte Raturbild wiedergeben 
und dadurch auch in die Zauberlaterne ſich eignen, Dies leitet und endlich zu 


ll. 


Phantadmagorien bei Fünftlihem Licht, 


Diefe zerfallen alsbald wieder in zwei natürliche Abteilungen, ohne Hülfe 
optijcher Gfäfer und mit Hülfe derſelben. Bei allen wird ein durchſichtiger 
Vorhang voraudgefegt, auf welchem Die Phantasmagorien erfcheinen. Diefer - 
Vorhang, der oft bedeutend groß erfordert wird, kann, namentlich für dag Pri⸗ 
vatvergnügen, für Schulen u. dgl. aus mit Del getränktem Ellenpapier beiteben, 
was freilich mit der Zeit gelblichen Ton annimmt. Am Liebften nimmt nıan von 
dem breiteften feinften Perkal, oder auch Die ſchöne Durchfichtige Zeichnenleinwand, 
deren fich Die Architekten jegt zu ihren Bauzeichnungen bedienen. Der Vorhang 
darf fo wenig als möglich Näthe Haben, am beften gar feine, minteftend feine in 
der Mitte und wo möglich Feine jenfrechten. Er muß flraff angezogen und bes 
feftigt werden. Um den Perkal noch durchfichtiger zu machen, überfahren ihn 
Die Schaugeber kurz vor der Vorftellung mittelft einer großen Bürfte mit Waffer. 
Die Zeichnenleinwand hingegen läßt jeden Tropfen Wafler auf ihrer Yläche als 
Fleck erich Es verftcht fich, daß dieſer „Spiegel“ vor dem Beginn der 
Darftellun einen undurchfichtigen Vorhang gedeckt ſei. 

Iſt das Zimmer verbunfelt, das nöthige Licht in feine Schranken gebannt, 
und der Spiegel, der paffend, derorationdmäßig an den Rändern, 3. 3. wie vom 
einem Goldrahmen umgeben, gemalt wird, in Ortnung, fo kann nun alles 
mözliche phantasmagorifche Spiel beginnen, wenn c8 jein Tann, durch etwas 
Muſik, wenn auch nur auf einem Flügel oder Pianoforte, eingeleitet. Es foll: 
eine Reihe jolcher Spielwerken bier nanıhaft gemacht werten. 

Das chineſiſche Schattenfpiel. Dasfelbe befteht aus beweglichen‘ 
Papp-Figuren, Deren Bewegungen von unten verdeckt geleitet werden; man kann 
es mit Rede begleiten oder auch bloß pantomimijch halten. Es Täßt viele Ma- 
nigfaltigfeit zu und gewährt der Kinderwelt großes Vergnügen. Die Optik 
fpielt bei Lemfelben Feine Rolle. Vieles Achnliche läßt fich In gleicher Weiſe 
darftellen, Eceftürme, Polen u. dgl., die aber ſaͤmmtlich einen großen Epiegel 
erfordern. 

Der Herentanz. Auf einem trommelartigen Eylinder, in welchem 
einige Richter befefligt werten und ber fich mittel? einer Nadel um feine Are 
dreben läßt, find auf dunfelen Grunde belle Seren und Teufelögeftalten aus» 
gefchnitten und mit vollends audgemaltem burchfichtigem Papier überzogen. 
Mird 1 Licht entzündet, jo zeigt fich Die Trehende Schaar im rajchen Vorübere 
fchweben in einfacher Zahl; ein zweites verdoppelt Diejelben, und fo fort, und fo 
iſt die Menge der Spufgeftalten bald nicht mehr zu aialen. Im gta Tree 





572 Pphyſfik. 


laͤßt fich das wilde Heer u. dgl. darſtellen. Die richtige Entfernung des Chlia⸗ 
ders vom Vorhange muß vorher bemefien werten, damit die Bilder deutlich 
fommen. Auch darf die Zahl der Lichter nicht über 6 bis 9 hinausgehen. 
Von ungleich AftHetifcherer und fchönerer Wirkung ift der Genientanz, 
ber auf andere Weiſe bargeftellt wird, auf die man den Hexentanz allerdings 
auch darftellen kann. Ein großer vierediger Kaften ohne Dedel und ohne Boten, 
der dem vergönnten Raume entipricht, wird mit einer Papptafel flatt des letztern 
verfehen. In diefer find 9 Rechtecke etwa von Kartenblattgröße ausgefchnitten und mit 
Glastaͤfelchen bedeckt, Die feft eingerahmt und mit Eleinen dünnen Schiebern von Kar⸗ 
ten verfehen fein müffen. Auf dieſe Glaͤſer find in drei Reiben geftellt 
in Eonturen 9 verfchiedene Genien, 9 Mufen, oder was man fonft | 
will, gemalt und vorläufig verdeckt. Der Kajten fteht dem Spie« 
gel fo nahe, daß nur durch die Gläfer Licht auf diejen fallen kann, 
folglich Die Zufchauer hinter demſelben nur die Bilder fehen. Jetzt müflen auf 
ber Handhabe 9 Holzfproffen ind Kreuz befeftigt fein, fo: 


Auf dieſe Sprofien find 9 Wachslichtchen befeftigt. Wird nun rind angezündet 
und von einem Glas der Schieber gezogen, fo wird eine Figur erblicdt; man wählt 
bie mittelfte, Dann die beiden zur Eeite, dann bie oberfte und u ‚dann bie 
äußeren. Es zeigen fich ſonach 9 Bilder in Ruhe; jegt wird dad — bewegt, 
ein zweites Lichtchen entziindet und es find 18 Bilder, dic ſich ſchwebend bewegen, nach 
Genienart. Getragene Muſik in feierlichem Bolonaifentempo trägt viel zur Hebung 
folcher Schaugebung bei. Wenn die 9 Lichtchen brennen und alle 9 Schieber 
entfernt find, Die fich Leicht abnehnen laſſen müffen, ſchweben in langen Reihen, 
nach oben, nach unten und zu den Seiten, 81 Geftalten nach der Willfür des 
Darftellerd auf dem Spiegel, der nichts zu thun hat, al8 das Lichterfreuz ſanft 
umzudrehen, zu heben, zu fenfen und auch wohl einmal Die große Schaar bunt 
durch einander wirbeln zu Inffen. Damit fann man raſch enten, oder, wenn 
man will, auch langſam Durch Verlöſchen der Lichter und Verſchwindenlaſſen der 
Bilder. 

Man nennt dieſe Schaugebungen au Polyphantasmen und Täft 
unter gleichen Bedingungen Todtengerippe, Geifter u. dgl. erfcheinen, thut aber 
nicht wohl, Diefe Sache zu übertreiben; vielmehr foll man fich in den Schranken 
poetijcher Schönheit Halten. DBerirrungen der Kunft in das Unſchöne, Gemeine, 
Unwahre find überall zu mißbilligen, beſonders aber dann, wenn ſie bis zur Bes 
griffsverwirrung, bis zur Täuſchung und Rüge gehen. 

Einmal bei dieſem Punkte angelangt, foll er gleich abgethan werden, da 
num zunächft der Zauberlaternen, Nebelbilder u. ſ. w. Erwähnung ges 
fchehen muß. Es gibt ſchamloſe Schaugeber, Die fich nicht entblöden, Dinge zu 
zeigen, Die fo, wie ſie ſie zeigen, nie und nirgends vorhanden find, und da⸗ 
von das unſinnigſte und aberwitzigſte Zeug auf ihre Zettel ſetzen. Aus Eſſig⸗ 







Phantasmagor. Künſte. 573 


und Kleiſtermaden ſchaffen fie Rieſenſchlangen, aus Milben Taranteln. Dem 
Publikum wird vorgelogen, daß Infuſorien aus zwei verſchiedenen Fluͤſſen 
einander wüthend bekaͤmpften, wenn deren in einem Waſſertröpfchen zuſammen⸗ 
gebracht würden. In laufendem Flußwaſſer finden ſich aber kaum Infuforien, 
und der fcheinbar wüthende Kampf rührt von der Angſt der Thiere ber, die im 
Brennpunft eined heißen Lichtkegeld ihre Todesnaͤhe fühlen. Daß die größeren 
bie kleineren verfchlingen erfolgt ganz ohne Kampf zu jeder Secunde dieſer mi« 
kroſkopiſchen Thierlebenskreiſe. 

Die in der Regel mis ſogenannten populären Vorträgen begleiteten aſtro⸗ 
nomifchen Bilder find meift Phantaften Tenntniplofer Maler, die Erklärungen 
unrichtig und falfche Begriffe verbreitend. uch mit den geologiichen Bil 
dern hat es meift fein Aber. Was fieht man am Bilde einer großen rothen 
Kugel, welche die Erde im glühenden Buftande barftellen joll? was an der Ent⸗ 
ftehung der Erde mit fchlechtgemalten Unthieren und zulegt Die Schöpfung des 
Menfchen, Männlein und Bräulein unter Dem Baume der Erfenntniß? Das find 
zumeift gemalte Kindereien. Bilder großer Geſchöpfe machen fich nicht gut für 
BZauberlaternen, die Landſchaft, die Atchiteftur und die Grotte, das verwitterte 
Denkmal, der Kirchhof, dad bewegte Waller, der fpfegelnde Mond, der ſchlum⸗ 
mernde See, die Sommerlandichaft, die ſich nach fichtbarem Schneefall ald Win- 
terfandfchaft darflellt, das ift die eigentliche Sphäre für die Zauberlaterne und 
Die Nebelbilderapparate. Breilich wiehert der Pleb8, wenn einem dünnen Mann 
fein Doctor ein Klyſtier beibringt und erfterem ber Bauch bis zum Zerplagen 
aufichwillt, wenn ein Koch in der Schüffel einen Schweinskopf aufträgt und im 
Nu des Koched Kopf auf der Schüffel, der Schweindfopf aber auf des Koches 
Rumpfe ſteht. Aus dieſer Gaufeltafche Täpt fich viele optifche Beluftigung für 
die jpielen, welche legtere erfreuen mag. Jedermanns Gefchmad ift’d aber nicht. 
Unendlich erfreuender und lohnender find Die Darjtellungen mittelfl des Orygen- 
und Hydrogen⸗Gas-Mikroſkops, aber auch mühſam, Foftfpielig und jelbft nicht 
ohne Gefahr. | 

Bei der Bauberlaterne muß jedesmal der Lichtfreid, den fie auf den 
Spiegel wirft, vertunfelt werben, bevor ein anderes Bild erfcheint, benn Bilder 
auf Schiebern hat man nur noch auf der Laterna magica für Kinder. Daher 
war die Erfindung der Dissolwing views, Nebelbilder überjegt (verſchwim⸗ 
mende Bilder wäre befier), für die Uebung dieſer optifchen Künfte einer der glück⸗ 
lichften Gedanken. Statt einer nimmt man hier zwei Zauberlaternen von glei« 
chem Bau, gleicher Brennweite, gleicher Helle. Beide werden fo geftellt, mag ihr 
Licht nun Gas⸗ oder Lampenlicht fein, daß ihr gleichgroßer Lichtkreis jo auf den 
Spiegel fällt, daß einer den anderen deckt. Durch einfache Schiebevorrichiung 
wird das eine Inftrument verbunfelt, dad andere allmälig am OÖbjectenpunfie 
geöffnet, und das Bild tritt vor Augen. Das folgente findet fich bereitö in der 
zweiten Laterne, deren Schieber wird nun langjam aufgefchoben, während der 
andere ſich Tangiam fließt; nun ſchwimmen beide Bilder auf dem Spiegel in⸗ 
einander, die nebelhaft unklare Wirkung erfolgt, bis das zweite Bild flegreich 
hervortritt und das erfte völlig verſchwindet. Run wird Rhal TR rite WÄR 


574 Phyſftk. 


in bie erſte Laterne eingeichoben, und io wiederbolt ſich die Scene im aumuthig⸗ 
ſten Mechiel, webei auch begleitende janfte Muſik vaſſend in Auwendung gebracht 
werten kann. Beim Schneefall it art das Eommerkild ñchtbar: in der 
zweiten Laterne ift nicht Dad Minterbild, ſondern ein einfaches Infirument, 
kunffes Vapier, mir Nateln dicht Turcbitocken, das langiam gedreht wird: das 
iſt der Schnee, Ter beginnt, wenn das erite Vilt ichen Turch Zuichichen in der 
Dämmerung befintlid ift: es verichwintet Dann ganz, man fiebt Die zahlloſen 
dleden Schneed mehr unt mehr nieterfinfen: nun daͤmmert Tas indeß eingeſche⸗ 
bene Winterbilt auf, das Schneien entet und die Landſchaft, welche genau mit 
dem Eommerbilte übereinftimmen muß, ericheint im riefen Schnee. Gewiß ein 
anzichentes Spiel‘ 

Auperden erfindet man täglich neue bewegliche Pilter für Biere Zwecke; 
Mühlen, Brunnen, Maiterrälle, Aligeinicläge, Schwäne, Weinfäjfer, aud tenen 
Kürftr verichietenfarbige Weine zapfen, Alles recht ſchön, aber meilt Foitipielig. 
Met gut macht ſich's auch, wenn mit Vereinigung beiter Laternen zugleich bes 
wegliche Vilder dargeftellt werten. Turch ein ftebenbleibentes Kircheninneres, 
z. B. das des heil. Grabes, läßt man Proceijienen fchreiten, Durch Ruinen Geis 
ter, an verfallenen Kapellenmauern bin Todtentänze; zu Ichteren eignen ſich 
recht gut die 2 Zoll Gehen Abbiltungen des Dresdner Todtentanzes, tie der 
Künftler nur auf Glasſchieber Durchzuzeichnen und Den Grund jchwarz auszu⸗ 
füllen braucht. Als Farbe nimmt nıan feinen jchmarzen Spirituslal. Die 
bunten Aifterfarben müjfen jehr turchfichtig und ſehr fein fein; es genügen aber 
dennoch gute Erdfarben mit Dammerlad oder Copaivabalſam angerieben, namente 
li Karmin, Grünſpan, Intigo, Ehromgelb u. ſ. w. 

Der Verfaffer hat einen Bapitzug malen laſſen. Tie eine Laterne wirft 
Das Bild der Engelöbrüde und ter Engeldburg auf den Spiegel, und 
über die Vrücke, an dunfelgehaltenen Mauern bin, zicht nun unter fernen 
Glockengelaͤute, getämpftem Trommelwirbeln und Kanonenjchüffen feierlich vie 
Proceſſion. Voran ein Trupp päpftlicher Schweizergarten, welchem Diaconen 
und Chorfnaben folgen; dann ein Abt mit Der Kirchenfahne, Orten der «Hofpie 
taliterinnen, Das Sanctiſſimum von Acoluthen getragen; Cijtercienierinnen, 
Sranciscaner, Franciscanerinnen; Einftedler vom Berge Sinai; weiße Büpente 
in Rom, Karthäuier, Prämonftratenjer, Bränonftratenferinnen, Karthäujerinnen, 
Eapuziner. Weiter folgen Schweizergarten mit tem päpftlichen Banner; das 
Zefuitencollegium; infulirte Aebte und Biſchöfe; Levite mit dem Grucifir; Erz— 
biichöfe; Goroferarien; Weihbijchof mit den Miniftranten; paͤpftliche Banner 
träger, räuchernde Chorknaben; Pontifex maximus auf von 6 Riniftranten ges 
zogenem antiken Triumphwagen ftebend und „die Völfer jegnend‘‘; Tas Cardi⸗ 
nalcollegium; Crucifir- und Kreusfahnenträger; requlirte Chorherren vom 2a 
teran; Schweizergarden zu Fuß und dergl. zu Roß mit Fahne — endlid: 
il populo romano, Vornehme und Geringe durcheinander. Die Figürchen find 
meift nur anderthalb Zoll hoch, machen ſich aber in einer ſtark vergrößernden 
Laterne, gut gedeckt, ganz hübich. Es find 14 aneinandergereihte, ſich zuſammen⸗ 
ſchlagende 8 Zoll lange Papptafein. Audy IR eine Koll zum Einttichen dabei, 


Phantasſsmagor. Künſte. 575 


auf der man ſtatt des Papſtes auf dem Triumphwagen nur ſeinen verzierten, von 
Dienern der Kirche getragenen Sarg erblickt. Man macht ja jetzt Miene, ihn 
am Ende für immer beizuſetzen. 

So läßt fih manderlei fir geduldige Schauluft erfinnen und ausführen. 
Der genannte Zug, wenn er nicht übereift wird, füllt einen ganzen Akt, er Dauert 
faft eine Halbe Stunde. 

Die Ehromatropen, nur anwendbar für Zauberlaterien und Nebel- 
bifterapparate, find eine ſehr fchöne, der größten Manigfaltigfeit fähige Erfin⸗ 
tung. Zwei Glasſcheiben, in Metall gefaßt und in Schnüren mit Kurbeltrehung 
laufend, find theil® bunt, theils ſchwarz fo gemalt, daß fie vereint ein beivegliches 
Farbenbild, Rofetten, Kreije, Sterne, Strahlen, Slanımen, Blumenlauben, dare 
ftellen und das Richt, je nachdem rechts oder links. gedreht wird, bald auswerfen, 
bald in flch zurüdzugiehen fcheinen. Den Augen find ſte wegen ihrer großen 
blendenden Helle nicht zuträglich, und es iſt gut, wenn Die Künftler rafch wech⸗ 
feln und nicht zu viel auf einmal ſehen Tafjen. 

Phyſiotypiſche oder phyſiognomiſche Bilder-Reliefs zu zei» 
gen erfordert eine Veränderung an der Zauberlaterne. Man nimmt feine Gyps⸗ 
oder Alabafterreliefd, bringt fle an die Stelle der Lampe und des Hohlſpiegels 
verkehrt an und befeuchtet fie mit gegen die Deffnung verdecktem Licht fo ſcharf 
als möglich; num geht ihr Bild Durch Die große Sammellinſe und fällt durch die 
vereinten Objectiogläfer umgefehrt auf den Spiegel. Cie bringen eine ſchöne 
Wirkung hervor, indeffen erfordern fle cine Vorrichtung, die nicht fo ganz Leicht 
herzuftellen iſt. Daffelbe gilt von einer Zauberlaterne, tie Wollefton erfand, 
Dieſelbe ſpiegelt Durch ein elinziges Sammelglas fehr hell beleuchtete und mit 
ſtarken Barben, aber fein, gemalte Bilder, am fchönften Frauenköpfe, ab. Die 
Wirkung ift wahrhaft magljch, die Bilder erfcheinen bis zur Lebensgröße wie 
hingehaucht — aber fie erfordern den feinften Spiegel, eine matt gefchlif- 
fene Glastafel, fie machen fi} nicht gut von der Seite gefehen, und fo gelang 
e8 dem Verfaſſer troß der richtigen Theorie noch nicht, ſie für einen größeren Zu” 
fchauerfreis darftellbar zu machen, auch paßte von vielen jonft geeignet erfcheie 
nenden Gläjern nur ein einzige® ovales, aus Bergfryftall gefchnitten. 

Nun folgt der Schluß als Hinfender Bote nah. Es iſt gar ergöglich, fich 
dem Studium optifcher, Fatoptifcher u. dgl. Künfte hinzugeben, aber es ift nicht 
billig; ed erfordert viele Zeit und vieles Geld. Will, Jemand auf dergleichen 
Schanfünfte reifen und Gefchäfte machen, fo ift ein hübſches Kapital erforderlich, 
um fich in den Beſitz der nöthigen Apparate zır jegen. Bon den Meifcheichwer« 
den, ten Müben und Plagen um Grlaubniß, um Säle, um Zetteldrurf und Ger 
häffen, Die recht viel aus Ungeſchick zerbrechen umd verterben, um Muflf, um 
Beleuchtung u. f. w. foll gar nicht Die Rede fein. Die Bereitung der Sauer- 
und Wafferftoffgafe, welche abfcheuliche Sauerdaͤmpfe ausjegt, iſt durchaus nicht 
anlockend. Ein vollftändiger Nebelbilder- Apparat mit allem Zubehör, 
auch Gasſaͤcke und Schläuche, Metorten und Möhren, Eoftet in Hamburg 640 
Thaler Gourant, und wenn ber Künftler nicht Phyſiker und Chemiker X out 
nicht Alles ſelbſt bereiten ann, fo hat er von vornherein werigit, Win SS 


‘ 


576 Fu Phyſik. 


es auch billigere Apparate mit Lampenbeleuchtung, aber immer noch theuer genug, 
160 und 100 Thaler. Die Verkäufer ſtellen immer ihre vierzölligen Linfenzlä- 
fer und vier=, fünf⸗ bis fech8zölligen Bilder in den Vordergrund, von welchen 
Iepteren ein Stüd beweglich 7 —9 Ihaler Eoflet. Unter einem Vorrathe aber 
von mindeftend A—6 Dugend Bildern, ohne die Ehromatropen, laͤßt ſich gar 
nicht an größere Orte reifen. Mäßig große Laternen mit Bildern, die 2/2 bis 
3 Zoll im Durchmeffer haben, aber mit richtiger, guter und jcharfer Beleuchtung 
verjehen find, können auf einem Spiegel von 10—12 Fuß im Durcdhmeifer das 
Bild noch fehr deutlich zur Anſchau bringen, und noch größer ift nicht einmal 
ſchön, weil Häufig dazu die Räume zu Klein find. 

In Hamburg ift für diefe Sachen nächft London, von wo alles Neue kommt, 
die lebhafteſte Induſtrie, doch wird auch vieles aus engliſchen optiſchen Werfflät- 
ten unmittelbar bezogen und hat den Vortheil der Gediegenheit. Unter den jun⸗ 
gen aufftrebenten Künitlern in Hamburg kann Verfaſſer Herrn J. RBöhm, 
Glas⸗ und Porzellan-Malerei, großer Burgfteg Ar. 46, empfehlen. Er zeichnet 
ſich Durch Kunſtgeſchick, wie durch Billigfeit aus, Tiefert alles Gewünſchte, auch 
mit „Vorträgen, beforgt ganze Apparate, fertigt bewegliche und unbewegliche 
Bilder, Kriegsſcenen, naturgefchichtliche, aftronomijche, geologifche, Karrikaturen, 
auch Mikrophotographien, nach beftimmten Größen und Preiſen, letztere z. B. 
bon 2" — 6 Zoll das Bild pro Stück nur 20 Ngr. bis 1 Thlr. 10 Rgr. 
Ehromatropen in 50 verjchiedenen Muftern bei derfelben Glasgröße 1 Thlr. bis 
3 Thlr. 10 Ngr., und gibt über jede Frage bereitwilligft Auskunft. Dieſer 
Künftler ift ein Sohn des Thüringer Waldes, wo er die Kunft des Ga und 
Porzellanmalens gründlich erlernte, ein Landsmann des beliebten Dichterd Otto 
Ludwig, aus der Herzogl. S. Meiningifchen Stadt Eidfeld. Laterna-magica- 
Bilder in 2"/230lliger Größe Eoften bei ihm dad ganze Dugend nur 3 Thlr., 
demnach 1 Bild nur 4 Thlr. DMancherlei Geräthe zum Behufe optijcher und 
namentlich phantasmagorifcher Beluftigungen finden ſich käuflich im phyfikali⸗ 
Schen ac. Atelier des Herrn I. Wild. Albert in Frankfurt a / M., z. B. Thauma⸗ 
trope, Kaleidojfope, Sonnen⸗Kaleidoſkope, Hohlipiegel, Prismen jeder Art, Stes 
reojfope, Camera obscura, clara und luctda, Lampen» und Sonnen-Rifroffope, 
Gas-⸗Mikroſkope (300 fl.), Megaifope, Laterna magica, Polyphantasmata u. ſ. w. 
Auch Das ganz neuerdings in Darmſtadt erfundene Debusſkop für optijche 
Bildung regelrechter Figuren aus irregulären, welches das Kaleidoſkop übertref 
fen und manigfaltiger wirken foll als diejes, wird von Herrn Arnold in Frank 
furt a / M. vertrieben und Eoftet 2 Thlr. 5 Ngr. 

So reiht ſich eine Erfindung auch auf dieſem wichtigen Gebigte an bie andere. 
Manche tauchen auf, um bald wieder zu verfchwinden, andere find von dauerndem 
Beſtand. Mögen die, welche neben den Zwecken der ernften Wiffenfchaft hergeben, 
um nur dem Vergnügen zu dienen, fich ebenfalld immer weiter vervollfonmnen 
und fich dabei im Gebiete der Schönheitslinie halten, nicht durch Pflege der 
Karrifatur den Geſchmack des Volkes noch mehr verderben, ald er ohnehin bereits 
verborben ijt! 


— — — — — — 


Die Phiſoſophie im 19. Jahrhundert und 
ihr geſchichtlicher Entwickelungsgang. 
Von 
I. Schucht. 

Fichtes Wiffenfhaftdlehre, Schelling's Naturphiloſophie und Syſtem 
des transſeendentalen Idealismus. Baader's Theofophie. Dien's 
Naturphiloſophie. Schleiermachers Theismus. Wagner und Krauſe. 


Trexler. Hegel's Syſtem. Schelling's ſpaͤtere Lehre. Philoſophiſche 
Beſtrebungen der Gegenwart. 





Unter den Wiffenfchaften, welche im 19. Jahrhunderte wahrhafte Miefenfort« 
fchritte auf ter Bahn ihrer Vollendung gemacht haben, nimmt tie Philoſophie 
eine der erften Mangftellen ein und ihre Entwidelungspertode in dieſem Zeit⸗ 
raume wird für alle kommenden Generationen ewig bewunderungswürbig 
bleiben, denn in ihr find Die wichtigften Probleme gelöft, auf welchen der 
menschliche Geift weiter denfen und forfchen wird, um endlih die abfolute 
Mahrheit in ihrer Totalität wie in den fpeciellften Erfcheinungen klar und deut⸗ 
Tich zu fchauen und mit Togifcher Gewißheit erkennen zu lernen. Sowie einft 
in Griechenlands Bläthenperiobe eine Reihe von Denkern erfchien, welche die 
Philoſophie in foftematifcher Entwidelung zur Wiſſenſchaft geftaltete und hier⸗ 
durch in der Geiftedcultur der Weltgefchichte Epoche machend wurde, ebenfo 
waren es in neuefter Zeit Die Deutfchen, welche auf den Mejultaten der Vergan⸗ 
genheit weiter forfchten, die Principien tiefer ergründeten, empirifcher unterfuch- 
ten und alfe einzelnen Wiſſenszweige zu einem gefchloffenen Organismus weiter 
audbildeten, fo daß wir heute in phifofopbifcher Sprache nur von einer einzigen 
abfoluten Wiffenfchaft reden, zu der fich alle empirifchen Wiffenfchaften wie bie 
Glieder eined Leibes zu Ihrer denkenden Seele verhalten. 

Mer hat nicht gehört von den Keuchtflernen bes Gelftes! Wem find nicht 
Männer, wie Kant, Fichte, Schelling, Hegel wenigſtens dem Namen nad) bes 
Fannt?! Die Werke diefer Geifteshelden gründlich zu ſtudiren und zu verſtehen, 
vermag nur Derjenige, welcher fi der Phllofophte ganz widmet und fle zum 
Lebensberuf erwählt; aber fich mit den Grundprincipien ihrer Weltanſicht bes 
kannt zu machen, vermag jeder Gebildete, weß Standes und Beruf ır nu An 

V. —&X 


578 Philsjophie. 


mag, wenn er eb fh anzelegen ĩein Läßı, teine Aufmerfiamfeir ter Geichichte ber 
Bhileierbie zu zumenten. Ich seriude im dieien Artikel einen Grantrig von 
ker Geichichte ter Philsſorbie zu geben unt werte tarin fie aufmerftamen Leier 
mir ten Hauptprincipien unierer riertten Tenfer bekannt machen umt zugleich 
zeigen, wie organiih Lieier Geiſtesprecesß ter Reiterennridelung ſjich entfaltete 
und ofienbarent darlegte. Hierturh wirt nicht mur eine Bereicherung bed 
Wiflens gewährt, jontern auch das Berfläntnig ter Werke jener Tenfer erleich- 
tert, weil man ein Buch viel leichter zeriteht, ſobalt man ichon zor dem Lejen 
ten Hauptinhalt, wenn auch nur in gebrängter Kürze fenmt, und Dies ifl ganz 
befonters bei philoſophiſchen Werken ter Hall. Ja ed iR durchaus nothwendig, 
daß man vor tem Etudium terielben erft eine Beichichte ter Philoſophie durch⸗ 
ſtudirt, welche in jkizgenhafter Form tie Geiftesthaten Der Heroen im Reiche des 
Denkens tarftellt und mit verfläntlichen Gommentaren erläutert. Um aber zu zeis 
gen, wie genetijch ter Ennwidelungdgang ter Philoſophie vor ſich ging und in wel 
her Logiichen Dialektik dieſer Geiſtesproceß vorwärts ſchritt, werde ich nicht Die Leh⸗ 
sen jedes Philoſophen unter feinem Ramen abichiltern und, wie e8 bisher fait alle 
Geſchichtſchreiber thaten, dann zu ten folgenten übergehen, jontern id) zeige, 
dag ſich die Weltanficht vieler Denker im Verlauf ber Zeit anders mobdiflcirte, 
je nach beſſerer Erfenntnig und neueren Erfahrungen, oder nach Rückfall in 
durchlebte Anſichten. Vorzugsweiſe will ich darlegen, daß dieſer dialektiſche 
Entwidelungdgang durch die gegenfeitigen Streitigkeiten der Philofophen über 
ihre Lehren weitergeführt und Hierdurch die Mobdification ihrer Principien bes 
wirkt wurde. Demzufolge werde ich die Lehre Schellings, wie er fie in ben vier⸗ 
ziger Jahren in Berlin vortrug, nicht gleich unmittelbar nach derjenigen folgen 
laſſen, welche er in den Schriften von 1798 bis 1802 veröffentlichte, fondern 
fle erfi dann darlegen, wenn ich an den fpäteren Zeitabfchnitt unjerer Geiſtes⸗ 
eultur komme. Dies ift Durchaus erforderlich, wenn man eine genetiiche Ges 
ſchichte der Philojophie geben will. Die Biographien der Denker fann ich Hier, 
wegen Beichräntung des Raumes, nicht bringen; wer ſie leſen will, den verweife 
ich auf Lorck's biograppifches Lerifon; darin habe ich das Leben und den Bil 
dungsgang der bedeutendften Philofophen der Gegenwart gefchildert. Auch die 
Anwendung ihrer Principien auf die Staats», Rechts⸗ und Sittenlehre, fowie 
auf die Uefthetif, bleibt Hier aus demfelben Grunde außgefchloffen und bejonderen 
Abhandlungen vorbehalten. 

Beim Beginn meiner Aufgabe ift es nöthig, daß ich auf das Ende des vers 
gangenen Jahrhunderts zurüchveife, in welchem die Bafld unferer neueren For⸗ 
ſchungen durch Kant und Fichte begründet wurde. Es verftebt fich, daß auch 
dieſe Männer im Bildungsgang der Vorzeit wurgelten und auf deffen NRefultaten 
weiter forfchten ; fie waren aber auch zugleich Die Gründer einer neuen Weltepoche 
des Geiſtes. Kant war der vorbereitende Johannes des neuen Evangeliums 
ber Philoſophie. Durch feine Kritifen ebnete er bie Pfade des Denkens von 
nebuliſtiſchen, ſenſualiſtiſchen und materialiſtiſchen Vorſtellungen, indem er mit 
klarer Gewißheit die Autonomie des Geiſtes bewies. Er ſelbſt gründete Fein 
Soſtem, ſondern reinigte durch ſeinen Kriticismus die Wiſſenſchaften von allen 


Geſchichtl. Entwidelungsgang der Philoſophie im 19. Jahrh. 579 


unvernünftigen Dogmen und gedanfenlojen Meinungen. Nach ihn erjchien der 
geiftreichfte Sohn der ärmften Eltern eined kleinen Dörfchend in der Lauflg: 
Johann Bottlieb Fichte, 1762 in Rammenau bei Bifchofäwerda geboren. 
Da fein Vater ein ganz armer Bandwirker war, fo nahmen fich reiche Wohl- 
thäter des talentvollen Sohnes an und fchidten ihn auf Schulen, wodurch er 
zum Heil der Menfchheit feine höhere Geiftesbildung erlangte. 1792 veröffent- 
lichte er eine Kritik der Offenbarung, welche, ganz auf Kant's Principien fußend, 
auch für ein Werf dieſes Denferd gehalten wurde. Aber feine wahrhaft Epoche 
machende Geifteöthat war dad Eyſtem der „Wiſſenſchaftslehre“, das er 1793 
unter bie denfende Menfchheit fandte, welche damals ihre ewigen Raturrechte 
gegen Tafterhafte Machthaber geltend machte und die unterdrüdte Denkfreiheit 
fategorifch zurücdverlangte. In der Wiſſenſchaftslehre erhalten wir eine genes 
tifche Darlegung ded Erfenntnißprocefied und eine foftematifche Schilderung aller 
Geifteöfunctionen. Sie tft fehr abftract gehalten und läßt fich nicht in populä« 
rer Ausdrucksweiſe wiedergeben, weshalb ich genöthigt bin, ihre wichtigften Grunde 
jäge wörtlich anzuführen und erflärende Bemerkungen einzufchalten. 

Die Philofophie muB, nach Fichte, von einem höchſten Grundfage ausgehen, 
der feine Gewißheit in« und durch fich felbft Hat und nicht erfi Durch einen an« 
deren abgeleitet und bewiefen zu werden braucht. Diefer erſte, abfolut gewiffe 
Grundjag wird im denfenden Ich gefunden. Es Täpt fich in der denfenden 
Thätigkeit von Allem abftrahiren, nur nicht von fich jelbft und ihrem allgemeinen 
Geſetz; d. H. wir können alle Dinge hinwegdenfen, nur nicht ung felbft; in bie 
ſem Hinwegdenfen alles Objectiven findet das Denfen fich felbft als reine Ich. 
Das Gejeg der denfenden Thätigkeit Tautet A=A und ift ihr alleiniger Inhalt, 
weshalb unter dem reinen Ich, wenn tiefes Abftractum präcis gedacht wird, 
nicht8 anderes verflanden werden kann, ald das Gefeg AA in Thätigfeit ges 
dacht... Denn Alles, was ich fege, fee ich unter der Form der Bejahung oder 
bed AA. Diefe ift folglich ein urfprünglichered Apriori im Ich, ald bie 
Anfchauungen der Zeit und bed Raumes, welche erft in Beziehung auf ein 
Nicht—Ich entjpringen. Die reine Thätigfeit des Erkennens ift eine reine 
Thätigfeit des Bejahens oder ded Segens, und dieſe Thätigfeit heißt Ich. Sept 
fie in ſich nichts weiter ala fich ſelbſt, fo bejaht ſie fich darin felbft oder fegt ſich 
mit fich felbft gleich, Ich—Ich. Sept fie ein Anderes, 3.8. A, fo geichieht 
dies Dadurch, daß es mit der Thätigkeit der Bejahung behaftet wird, wie die For⸗ 
mel A—A auddrüdt. Daher Geſetzt fein” fo viel heißt, als mit dem Ich behaftet 
fein, oder im Ich gefet feim Da nun dieſe Thätigfeit, che fie etwad anderes 
in fich fegt, eine nur fich jelbft fegende ober bejahende Thaͤtigkeit if, fo if hier⸗ 
mit der Begriff des reinen Ich hinreichend feſtgeſtellt. Er enthält das Grund⸗ 
urtheil der Wilfenfchaft Ich Id) als Ausdrud einer reinen nur allein mit 
fich ſelbſt erfüllten urtheilenden Ihätigkeit, deren Eriftenz in gar nichts Anderem 
beſteht als in dieſem reinen Segen, und ber erfte Grunbfag der Wiffenfchaftölchre 
lautet Daher: Ich bin, weil ich bin, und bin, was id; bin, beides für 
das Ih. Oder: Das Ih ſetzt urfprünglid fein eignes Sein. 


Mit diefer Deduction des abfoluten oder reinen Ich gab Rice em 
ir 


: 580 Philoſophie. 


Erklaͤrung des abſoluten Geiſtes, ohne es aber ausdrücklich zu bemerken. Daher 
glaubten Viele, er rede nur vom menſchlichen Ich, waͤhrend er darunter das Ich 
der Gottheit mit verſtand, von dem das Ich der Menſchheit ein Miniaturbild iſt. 
Nach dieſer Darlegung geht er zur Deduction der Materie und der Dinge, welche 
als Nicht⸗Ich bezeichnet werben. Hoͤren wir ihn felbft. 

Sowie der erſte Grundfag die Beftimmung deffen enthält, was fich von 
felbft verfteht, fo der zweite die Beftimmung befien, was fich nicht von felbft 
verficht.. Dies find die Dinge an ſich oder das Nicht⸗Ich. Da alles Vor- 
geftellte al8 folches dem Ich angehört, fo find fle (die Dinge) unverftellbar und 
bilden alfo, fofern fie eindringen in den Erfenntnißproceh des Ich, eine 
Seßung, welche immer nur in der Anfchauung vorausgefegt, aber niemals im 
Denken oder reinen Segen ergriffen werden kann, ähnlich dem irrationalen Grö⸗ 
gen in der Mathematif. Der Grund hiervon ift, daß Bejahen fo viel heißt, ale 
im Ich fegen. Iſt aljo der Zwang vorhanden, etwas, das nicht bejaht werden 
fann, doch zu fegen, fo ift Died der Zwang zu einem nie zu Stande Fommenden 
Thun oder zu Tauter vergeblichen Verfuchen, d. 5. zu Bejahungen, welche, indem 
fle das bloße Beftreben Haben zu bejahen, ohne die Macht dazu zu befigen, immer 
ind Gegentheil umfchlagen. Daher kann das Nicht⸗Ich oder das Unfehbare 
in feiner Anfchaulichkeit nur unter der Form der Zeit ergriffen werden. Weil 
aber die Zeit fchon die Segung des Richt=- Ich im Ich ift, fo muß ihr ein Grund» 
ſatz vorausgehen, welcher das Gegenübertreten des Unſetzbaren gegen das Setzende 
überhaupt andeutet. Das Unſetzbare iſt das reine Gegentheil aller Setzung, und, 
weil die urſprungliche Setzung, durch welches alles Uebrige geſetzt wird, die ſetzende 
Thaͤtigkeit ſelbſt iſt, das reine Gegentheil des Ich, nämlich die Materie. Wenn 
ich alſo vom Ding an fich oder Nicht⸗Ich rede, fo kann nicht die Meinung fein, 
als ob darin dem Ich etwas Setzbares gegenübergeftellt würde, fondern vielmehr 
die, daß der Thätigfeit des Setzens ein Leiden des Nichtfegenfönnens gegenüber 
tritt, welches nicht anders betrachtet werden kann, ald nach der Regel der logiſchen 
Antithefe, dasjenige nicht zu enthalten, was in der urfprünglichen Thätigkeit nicht 
geſetzt iſt. Der zweite Grundfag der Wiflenfchaftslchre Tautet demnach: Go 
gewiß dad unbedingte Zugeftehen der abfoluten Gewißheit des 
Satzes, das Nicht-A niht A iſt, unter den Thatfachen des empi- 
rifhen Bewußtfeins vorfommt, fo gewiß wird dem Ich ent« 
gegengejegt ein Riht-Ih. Denn wo ich bejahen fann, da Tann 
ih auch verneinen, voraudgefegt, daß ich nur der DVerneinung Fein Praͤdikat 
leihe, das der Bejahung angehört. Der erfle Grundfag bezeichnet demnach als 
eine Thätigkeit des Bejahense Das, was aller Erfahrung vorhergeht; der 
zweite Grundjag deutet in ber eben jo reinen Thätigkeit ded DVerneinens Das 
an, was in der Anfchauung der Zeit ald Grund aller Erfahrung und Sinnlich 
keit ergreifen wird. Zwiſchen diefen beiden Grundfägen-fchmebt alle anfchauende 
Thaͤtigkeit, fle ſelbſt aber find unanfchaufiche Vorausſetzungen. Das Produkt 
ihres Zuſammentretens iſt die Sphäre der Anſchauung, die Welt der Erfahrung. 
Es ift daher außer den genannten Orundfägen nur noch ein dritter möglich, wel 
her durch Die Syntheſio der beiden erften den Schauplatz der Erſcheinungen eröffnet. 


Geſchichtl. Entwidelungsgang der Philofophie im 19. Jahrh. 581 


In der Synthefis des Ich mit dem Nicht⸗Ich Hat die Setzung des Ich 
feine Schwierigfeit, wohl aber die Segung des Nicht⸗Ich oder bed Unverftell- 
baren. Diefe ift entweder gar nicht oder nur zum Scheine zu vollziehen. In 
den beiden Grundſaͤtzen, welche der Erfcheinung vorangeben, wird fle gar nicht 
vollzogen, fondern dort bleiben Die Gegentheile einander unendlich fern ohne alle 
Berührung. In der Anfchauungdwelt wird fle fo vollzogen, wie fle überhaupt 
nur vollzogen werden kann, nämlich zum Schein. Es tritt der Schein ein, als 
jei das Unfegbare einem gewifien Theile nach im Ich gefeßt, oder als fei das Ich 
einem gewiſſen Theile nach durch das Unfepbare aufgehoben oder ſelbſt unfegbar 
gemacht. Dieſer Schein, deffen verſuchsweiſes Beſtehen aber nur unter der Bes 
dingung einer beftindigen Selbftvernichtung der Zeitmomente zu Stande kommt, 
heißt die Welt der Erfahrung. Ihr Zuftand wird ausgedrückt im dritten Grund⸗ 
jage der Wiflenfchaftölchre, welcher Tautet: Ich und Nicht⸗-Ich fchränfen 
fih gegenfeig ein; oder: Ich fege im Ich dem theilbaren Ich ein 
theilbares Nicht-Ich entgegen. Die Korm dieſes Entgegenfegens heißt 
der Raum, als ein hohles Schema, welches ſich aus dem Ich hervor an die Stelle 
des Nicht=- Ich drängt und fo das Unverträgliche dem Scheine nach zu einer 
Derträglichkeit ausföhnt, welche aber den Keim ihres Untergangs fchon bei der 
Geburt mitbringt. In dem Grade nun, ald das Richt-Ich in Raume zur Er- 
ſcheinung kommen fol, in dem Grade muß dad Ich darin verfehwinden, oder in 
dem Grabe muß an die Stelle der Thätigkeit in Ih ein Leiden deſſelben treten, 
Die fcheinbare Nealität des Nicht-Ich beſteht daher nur in ber wirflichen Affec⸗ 
tion oder dem wirklichen Leiden des Ih. So viel ed leidet ober afficixt it, fo 
viel Thätigkeit negirt es in fich ſelbſt zwangsmweife, oder was daſſelbe tft, jo viel 
feiner Thaͤtigkeit verfegt e8 ind Richt⸗Ich. Die ind Subjekt geſetzte Receptivi⸗ 
tät (Aufnahme des Stoffs) ift daher ein darin geſetztes Richt-Ich oder Nichte 
Thaͤtigſein, und die ind Objert verjegte, den Eindrud hervorbringende Kraft ift 
ein ins Nicht⸗Ich verfepte® Ich oder Thätigfein. Wir meflen daher in jedem 
Falle den Grad der ind Nicht⸗Ich zu verfegenden Naturfraft ab nach den Grabe 
des in der Meceptivität des Ich entſtehenden Leidens, und der Begriff der uns 
anwirfenten Kraft ift nichts weiter, ald die Mieberfegung ber Minus⸗Größe un- 
ſeres empfangenen Eindrucks in eine Plus⸗Größe auf Seiten bed Nicht-Ich, weil 
ein jebes Minus auf Seiten des Ich ein Plus ift auf Seiten des Richt-Ich und 
umgefrhrt. Die dem Richt⸗Ich zugejchriebene Tätigkeit wird in den dem Nicht» 
Ich zugeichriebenen Raum verfeht, welcher, infofern ihm jene Thätigkeit zuge⸗ 
fchrieben wird, den Ramen eined äußerlichen Objects oder phuftfalifchen Begen- 
flandes befommt. Im diefem wird durch den urtheilenden Verſtand das Wech- 
felnde vom Beharrenden unterfchteden und danach der Begriff einer materiellen 
Subftanz gebildet. Der Begriff alter Ihätigfeit, Die wir ind Univerſum ver⸗ 
fegen, ift aus dem Begriff des Ich entlehnt. Das abfolute Ich (der göttliche 
Geift) verdient infofern den Namen der abjoluten und einzigen Realität, aus 
welcher alle anderen Dinge ihre Realität, jo viel ihnen deren zugefchrieben wer⸗ 
den kann, erft erhalten. Das Nicht⸗Ich (man denke hierbei immer an die Ma⸗ 
terie) iſt an fich eine bloße Regation und bildet das Werkzeug, die tun Kisten 


882 Philoſophie. 


Ich concentrirte Realitaͤt und Thaͤtigkeit in die Unermeßlichkeit einer Erſchei⸗ 
nungswelt zu zerſtreuen und auszugießen. Im reinen Ich (des göttlichen Gei⸗ 
ſtes) ift die Qualität des reinften und lauterſten Weſens der reinen Wahrheit 
gefegt, in welcher der Begriff und die Sache, die Segung und das, was darin 
gefeßt wird, noch nicht unterſchieden find. Ihnen tritt im NichteIch Die entgegen- 
gefegte Qualität eines Widerſpruchs in fich felbft, einer gejegten Unwahrbeit 
entgegen als eine Verlockung zu Scheinfegungen, nämlich zu einer fcheinbaren 
Setzung bed Unfegbaren und wirflichen Nichtfegung des Setzbaren. Erft hier⸗ 
mit tritt die Kategorie der Begrenzung oder der Theilbarfeit ein, und mit ihr 
die Beftimmungen der Quantität. Die Welt der Erjcheinungen iſt die Welt 
der Duantität. Mit der Entflehung ded Begriffs der Quantität öffnet fich der 
Schauplatz der Erfcheinung, und es tritt das Verbältnig des Grundes ein, als 
das Geſetz, daß Das, was dem Ich abgejchrieben wird, dem Richt-Ich zufällt 
und umgekehrt. Nach diefem Gefeg verwandelt fi), was im Ih Raum und 
Empfindung heißt, auf Seiten des Richt-Ich in die Begriffe der Maffen und 
ihrer Kräfte, und Die Summe der Realität vertheilt fich in der Erfcheinungswelt 
in eine unermeßliche Ausbreitung des Raums, in welcher das Ich fich auf einen 
kleinen Ort eingefchränft ſieht. 

Mit diefen Lehrfägen gab Fichte zwar eine Debuction des menfchlichen Er- 
kenntnißproceſſes, welcher aber zugleich als Ihätigkeit im abfoluten Ich gebadht, 
die Production der Weltſyſteme darſtellt. — Die Sinnempfindung befteht darin, 
daß das Ich beftändig und continuirlich ein Nicht-Ich anzufchauen firebt, ſich 
aber ebenjo continuirlich an dieſer Anfchauung gehindert findet. Der Grund 
davon ift, daß alle Vorftellung als jolche dem Ich felbft angehört, und daß alfo 
das Streben, etwas vorzuftellen, das nicht im Bereich des Ich liege, einen nicht 
aufzulöfenden Widerfpruch in fich fchließt. Denn das Ding an fidh, als ein 
außerhalb dem Ich fallendes gedacht, wird eben damit auch außer aller möglichen 
Borftellung gefeßt. Und folglich befteht der Zuftand der Anſchauung darin, 
dag das vorftellende Wefen fich continuirlich zum Berftellen eines Unverftellbaren 
gezwungen fteht. Die Succefflon von Anfchauungen erfcheint ald eine Aufs 
einanderfolge oder Beitreihe. Der Anfchauende kann daher von der Zeit nicht 
abftrahiren. Alles nun, was in einem einzelnen Punkte diejer Reihe erfcheint, 
ift ein vereinzelter Verſuch, dad Nichte Vorftellbare oder Nicht⸗Ich in Vorftellung 
umzuwandeln. in folcher Verſuch überfchreitet die in der Empfindung zuvor 
gegebene Grenze des Anfchauens, indem er darüber hinaus die dunfle Vorftel- 
lung eines Dinged an ſich ald außer mir feiend ſetzt. Die Totalfphäre alles 
DVorgeftellten zerfällt daher innerhalb eines jeden einzelnen Verſuchs in zwe 
Hälften, in eine durch Empfindung ausgefüllte Sphäre des Ich und eine 
von Empfindung verlaffene Sphäre des Nicht-Ich. Dieſe Totalfphäre der Er⸗ 
fcheinung heißt das Weltall, in welchem das Ich nun als ein herausgefchnittener 
und überall am Nicht⸗Ich feine Grenze findender Theil erfcheint. Abftrahire ich 
bei diefer Totalfphäre von ihrem Empfindungsinhalt, fo heißt fie der Raum. 
Der Anfchauende kann daher vom Raume nicht abftrahiren, fo gewiß er nicht 
abfirahiren kann von immer zu erneuernden vergeblichen Verfuchen außerhalb 


Geſchichtl. Entwickelungsgang der Philoſophie im 19. Jahrh. 583 


des Ich ein Nicht-Ich zu fegen. Die den Raum als erneuerten Verſuch fegende 
Phantaſie ift eine ftrebende Thätigfeit, die Unterfcheidung des Ich von dem pro« 
jieirten Raum auf Grund der Empfindung iſt mehr ein Leiden, al8 eine Thaͤtig⸗ 
Teit defielben zu nennen, Indem fie das Miplingen des Strebens über und hinaus 
begleitet, und durch Birirung der in der Empfindung gegebenen Grenze der fires 
benten Phantafie ein Gegengewicht zufekt. Daher man fich Die Gefammtthätig 
£eit der Anfchauung oder die zeitfegenbe Thaͤtigkeit des Ich vorzuftellen hat als 
beftehend aus der Oscillation zweier Thätigfeiten, nämlich aus einer raumfegen- 
den und aus einer den Empfindungsraum vom projicirten Raum unterfcheiden« 
den Thätigfeit. In der raumjegenden Phantafte ftrebt das Ich Die Schranke 
des Vorftellbaren zu überfchreiten; durch die Thätigkeit des Empfindens wird 
das Ic von der Unmöglichkeit her, die Schranke nicht durchbrechen zu können, 
eontinuirlich auf ſich jelbft zurüdigetrieben. In der Thätigfeit der raumfegenden 
Phantafie verhält fich das Ich productiv. Es producirt an der Stelle ber irra- 
tionalen Größe des Dinges an fi), die es nicht faſſen kann, die imaginäre 
Größe des Raumes. In der Empfindung verhält fich das Ich nicht productiv, 
fondern in ſich findend oder unverhofft empfangend. Die Empfängnifie oder 
Empfindungen werden dadurch zu den fünf äußeren Sinnen, daß auf ihre Vers 
anlafjung ſich das imaginäre Produkt der proficirten Raumgröße vom Empfin⸗ 
dungsraum abfchneidet. Die Anjchauung ber Welt ald Erfcheinung beruht 
weientlich auf Imagination, die Unfchauung des eignen Inneren auf Empfindung. 
In jener erbliden wir eine erpanftve oder ſich ausbreitende, in dieſer eine con⸗ 
traftive, die Raumprojektion zum Theil negirende Thätigkeit des Ich. In dies 
ſem Mechanismus des finnfichen Vorftellens muß, wenn fi aus ihm Erfennt- 
niffe bilden follen, beftändig die Vernunft thätig fein als die fpontane (freiwol« 
Iende) Denfthätigfeit, deren Bunction das unaufhörliche Verfnüpfen zwifchen 
Imagination und Empfindung, die fonthetifche Apperception (verbindende Wahr 
nehmung) und in Folge deren die Anordnung der Empfindungen im Weltraume 
iſt. Bewegt fich dieſe Upperception auf dem Felde des Allgemeinen und Roth« 
wendigen, fo entftehen die nothwendigen Urtheile; bewegt fie fich auf dem Felde 
des Unverhofften, fo entftehen bie zufälligen Urthelle. Daher die ſynthetiſche 
Apperception weder Stoff noch Form ber Erfenntnifie liefert, fondern bloß das 
Verhaͤltniß der Imagination zur Empfindung firirt, d. h. die verbindende Wahr« 
nehmung verknüpft das apriori (Denken) mit dem aposteriori (Erfahrung) und 
bildet daraus Erfenntnifle und Urtheile. Dabet ift die Thätigkeit dieſer apper- 
eipirenden Aufmerkſamkeit eine freie Ihätigkeit, welche wir mach Belieben auf 
Gegenſtände Ienfen oder von ihnen abziehen, während bie Raumfegung und 
Empfindung nicht in unferer- Gewalt find; denn Hierzu werden wir genöthigt. - 
In der Imagination und Empfindung ift dad Ich dem Zwange eines Nicht⸗Ich 
hingegeben; in der Apperception geht feine Thätigkeit von ſich ſelbſt aus, indem 
fie fi durch nichtd Fremdes gezwungen zeigt, und nur eine Beziehung Außert 
auf die beiden im Bereiche des Ich felbft eingefchlofienen Vorſtellungskreiſe 
der Imagination und der Empfindung. Die Anfchauungen apriori und aposte- 
riori gehören nidyt dem reinen oder abfoluten Ich an, fondern dem in Bezie⸗ 


364 Milefevic. 
benz auf ein Gegencheil ıhürazen Ich des Brriken Tab reine IE mine, de 
Die ıu7 he rellecımıe Ibürigfeir Teufen beuir, wis werten uufer ad 
seine Ißärizkeir des Toxfens, m meiiher aber ned zuhri Untere} ende tr 
geiege wäre, aid ie lb Ticier Begsif Sim: aıche mer der Erfahrung aber 
ein, weil in ler Griaßrun; eine Termrkkunz ſerret use Gegpmußeri zeiegg 
i$, nimlih meniblies IE aut tie ei: taz Time. Gr ı5 suelmehe ein 
a prieri ylhillewr, aber zuenıbehrluger Guistterrr, ihuich ten Helfen 5 
Ber Geemerrie. Er bexʒeichnet datjenige iu ter Tbangfeu Bed Ich. weſches mu 
Aurhebung alles Lies ũbriʒ bleiben würte, webei es umenuidhieten Slsibr. eb 
eine teldye Aurkekunz zu ten realen Rözlubtrien geborı eter cine blege layree 
Mi li —7 - ĩ 

Alis tie Protuctien ter erikeinenten Felt ik ein befkintiger Bechrel ei 
fen erpaniizer Dhaniafie unt centractieer Unuricheitunzschirigfen + Babe 
Bosezuunyn aber finten auf ter Bat! ter Gmyinkung Kar, weiche tad Mi 
gebente id, son me aus Tie Csyaniton ürrfent ibren Anfang wimume, une weh 
tie Contraction wahruchment zurudfekrı Taher biste nun dieſer Vroccũ eimen 
Deyyelsen Anblid, ie nachten man ibn im ter Erhire des Schrind ter Heien 
Vorſellens, oder aber im ter Sphäre ter Gruntzcerhilmüte tes Ice mitegt. 
Denn währent in ter Erhire Ted Echeins ter Anblid herricht, als werte tem 
34 continnizlich von einem räumlich ausgedehnten Nicht⸗Ich ber der weisere 
Kaum zu jeines Austchnung benommen, zergekt in ter Sphäre ter Wahrrheü 
diejer Wahn ganz und gar Turdh tie Einſicht. tag dieſes ald einichränfent gereger 
Aichi⸗Ich nichts Anderes ald ein Brotuct tes Ich jelbit il. Daher gehe Nie 
Beichraͤnkung des Ich in Wahrheit nicht rom Richi-Ich, jentern einzig wmd allein 
som Ih ſelbũ ans oter if eine Eelbitbeichränkfung tes Ich. Tas Ich keickränft 
fi iclbR, heiñt jo viel, als: Tas Ich veruriacht ein Nicht⸗Ich, oder: das Ich jegt 
fi entgegen das, was nie geiegt werten kann, das Unvorftellbare. Tas heüt, 
es fiellı zum Schein zwar das lincorflellbare vor, während es in Wirklichkeit wur 
von einem niemald gelingenten Streben erfüllt ift, das vorzuflellen, was niemals 
in Wahrheit, jontern immer nur zum Echein vorgeftellt werten kann. Die 
Production des Raums iſt ein Etreben, Das Ich ind Nicht⸗Ich auszudehnen. und 
Die in der Empfintung in dieſes Streben eintretende Minusgröße wird als ein 
Gegenſtreben ober ein Gegentrieb ind Richt-Ich verlegt. Daher ſteht das Gefühl 
den innerfien Zuſtänden des Ich um einen Grad näher, ald tie Verftellung, weil 
nämlid, dad Gefühl und die Empfintung tasjenige anzeigen, was im Ich wirf- 
lich vorgeht, während tie Borftellung und tie Phantafle nur Tas angeben, was 
in einer erkichteten Außenwelt vorzugehn jcheint. Wo im Gefühl das bloße une 
begrenzte Streben vorwaltet, iſt Sehnſucht, wo daſſelbe an übermäßigem Gegen⸗ 
ſtreben leidet, Schmerz; wo das Gegenſtreben dem Streben ein ermunteraded 
und gelindes Gegengewicht hält, Genuß oder Aufl. Im Begriff ed Strebens oder 
Iriebes if daher dasjenige Grundverhaͤltniß Elar und erfahrungsmäßig aufge 
wiejen, was im Terminus des Dinges an fi) oder des Nicht-Ich problematijch 
und unverflänblich gefegt war, nämlich jenes irrationale, immer nur torausfeg« 
bare und nie zur präciien Segung gelangende Weſen (tie Materie), welches zur 


Geſchichtl. Entwidelungsgang der Philoſophie im 19. Jahrh. 585 


Urfegung ober dem abjoluten Ich hinzutreten muß, wenn diefe Welt, worin wir 
und befinden, entfiehen joll. — 

Dieſes Weltprincip, als Ich und Richt-Ich charakteriftrt, wurde von vielen 
Zeitgenoffen Fichte's mißverftanden. Doch fand fi auch bald ein würbiger 
Jünger, welcher das Syſtem in ſich aufnahm, darauf weiter forfchte und dann 
vorzugsweiſe das Gebiet der erfcheinenden Welt, die Raturphänomene, nach ben 
Srundprincipien der Wiffenfchaftslchre zu erklären verjuchte, wobei er fich aber 
gemöthige Jah, die Prineipien zum Theil zu modificiren und fpäter in ganz ande - 
rer Borm vorzutragen. Diefer Denker von welthiftorifcher Bedeutung iſt 
Sriedr. Wild. Joſeph Schelling, weldher 1775 in Leonberg im Wür« 
tembergifchen als der Sohn eines Landgeiftlichen geboren wurbe. 

Er ſchloß fih an Fichte's Forſchungen an und veröffentlichte 1794—95 
zwei Eleine Schriften: Ueber die Möglichkeit einer Korm der Philofophie über» 
haupt, und: Dom Id als Princip der PHilofophie, oder vom Unbedingten im 
menschlichen Wiſſen. Seine widtigften Werke erfchienen: 1797 Ideen zur 
Raturpbilofophie, 1798 die Abhandlung über die Weltfeele und 1802 fein Sy⸗ 
flem des transjcendentalen Idealismus. Ueber Fichte's Princip ift Schelling 
eigentlich nicht Hinausgegangen, was auch nicht möglich ift; aber er faßte es an⸗ 
ders und bearbeitete dad Gebiet der Raturpbilojophie, welches er der Geiſtes⸗ 
pbilofophie gegenüberftellte; in jener wird daß reale Sein in allen feinen Natur⸗ 
producten betrachtet und in diefer Die Zunctionen des denfenden Ich, was auch 
ſchon von Fichte gejchehen war. In Beziehung auf die Naturphiloſophie fagt er: 
Die höchſte Vervollfommnung ber Raturwiflenfchaften wäre die volllommene Vers 
geiftigung aller Raturgefege zu Geſezen des Anfchauend und Denkens. Die 
Phänomene müſſen völlig verfchwinden und nur die Geſetze bleiben. Daher 
fommt ed, daß, je mehr in der Ratur felbft das Geſetzmäßige bervorbricht, deſto 
mebr die Hülle verſchwindet, die Phänomene felbft geiftiger werben und zulegt 
aufhören, Die optifchen Phänomene find nichts Anderes, als eine Geometrie 
von Linien, die durch das Kicht gezogen werben; und diefes Licht ift felbft jchon 
von zweideutiger Materialität. In den Ericheinungen des Magnetismus ver« 
ſchwindet fchon alle materielle Spur, und von den Phänomenen der Gravitation, 
welche ſelbſt Raturforfcher nur als unmittelbare geiftige Einwirkungen bezeichnen 
zu können glaubten, bleibt nichts zurüd, als ihr Geſetz, deilen Ausführung im 
Großen der Mechanismus der Himmelsbewegungen if. Die vollendete Theorie 
der Ratur würde diejenige fein, Fraft welcher Die ganze Ratur ſich in Intelligenz 
auflöfte. 

Bon diefer Anftcht geleitet durchwanderte nun Schelling alle Raturreiche 
und fprach fich über die unorganijche Ratur in folgenden Sägen aus. Soll eine 
Naumwelt oder Ratur entftehen, fo iſt das erfte Erforbernig die Raumſetzung 
oder Expanſion. Die Expanfton ift aprioriiche Anfchauungsthätigfeit aus dem 
Ich. Sie ift der fegende oder pofltive Factor in der Erzeugung des Weltalle, 
welchem in ber entgegengefeßten Thätigfeit ein negativer ober. Grenze fegender 
Factor entgegentritt. Das in der erften Expanſton gefegte Streben geht auf bie 
Erzeugung eined maßlofen Gontinuums, welches in fich ohne alle gefekten Untere 


586 Philoſophie. 


ſchiede, daher gleichförmig und leer iſt. Das Urphänonen dieſes Strebens iſt 
das Licht als das abſolut Repulſive in der Natur, welches in einfacher und ſtiller 
Ausbreitung allererfi Raum gibt, da Raum, ehe Licht war, noch nicht gegeben 
fein konnte. Daraus folgt zugleich, daß man unter diefem Urlicht nicht Tebiglich 
das Phänomen der von ber Sonne oder vom Feuer aus unfer menfchliches Auge 
afficirenden Repulfionsthätigfeit zu verftehen Hat, fondern eben fo ſehr in anderen 
Phänomenen der Erpanflon, wie im Schall, in der Wärnıe, in der Elafticktät, 
Beifpiele von der Wirkſamkeit des pofttiven Yactor8 erfennen muß. Was bei 
allen diefen Phänomenen von einem Metardiren der Erpanftondbewegung, von 
Schwingungen, Wellen u. dergl. vorfommt, gehört nicht dem Urlicht, fondern 
ſchon einem Kampfe deffelben mit dem retardirenden Bactor an. Vielmehr kann 
daffelbe in ſich nur fein, ftille unterfchiedlofe Ausbreitung, der Aether, die alls 
verbreitete Grundlage des pofltiven Stoffs überhaupt. — Dem Sichausbreiten 
fteht entgegen das Auffichzurüdfallen, die Schwere, die Grundeigenfchaft der in 
beftimmte abgetrennte Linterfchiebe zerfallenen Materie ald des ponderablen Stoffes, 
Gegenüber dem Gelingen der Ausbreitung des Subjectd ift fie das Mißlingen 
derfelben, gegenüber dem Urlicht Lie Urnacht, gegenüber der Wärme bie Kälte, 
gegenüber dem maßlos Weiten das maßlos Beengende und Preſſende. Diefer 
negative Bactor in jeiner Ijolirung würde das Nichts als das unendlich Kleine 
bervorbringen, er tritt daher nur in feinem Wiberftreben gegen den Factor ber 
Ausdehnung auf negative Weife in Wirkjamkfeit und bringt dadurch die fuccefftue 
Neihe der Oscillationen zwifchen beiden Bactoren, die Zeit, hervor, ald den Rhyt⸗ 
mud des Beichränfens, Hemmens, Beftimmens und Bildend. Die Zeit iſt in 
fo fern die objective, Maß und Ziel gebende, auf fich felbft zurückführende, bes 
flimmte Umriſſe und Begriffe, Theile und Maffen ausfondernde, in dem gleich- 
förmigen Continuum des Raumes oder Lichtes die Discreten Beftimmungen fegende 
Thaͤtigkeit. Im Lichte entlägt das Ich feinen Inhalt und löſt ſich auf in die Zer⸗ 
fahrenheit des maßlofen Raumes; in der Schwere zieht es fich aus der Auflöjung 
zurüd, ſammelt fi aus der Zerftreuung, einigt fich zu Begriffen und Formen. 
Ueberall, wo das Licht in der Begrenzung des geSundenen Stoffs fich geltend 
macht, tritt e8 als ein Entbinden des Latenten, ein Sichtrennen des Gefeflelten, 
ein Befreien bes in feiner Wirkſamkeit gehemmten urfprünglichen fubjectivem 
Factors auf, wie in der Wärme, im Verbrennungsproceß, im Schmelzen harter 
und kryſtallifirter Mafjen zu homogenen Flüſſigkeiten. Das Licht entfaltet das 
Band der Schwere, bringt die flarre Dauer zum beweglichen Fluß und ift fo das 
innere Leben der Natur, die Weltfeele, die ven objectiven Knoten auffchließende, 
erlöfende Potenz. Durch feine Vermittelung entfaltet ſich das Subjertive im 
Objectiven, daB Lebendige im Starren, das Organifche im Unorganifchen. 
Denn e8 ift felbft in feiner Wurzel nichts weiter als die, nur noch nicht mit bem 
Dewußtfein in Verbindung getretene, urfprüngliche Thätigfeit der probuctium 
Phantafte, alfo ein noch nicht zum Bewußtfein gekommener Anſchauungstrich, 
eine zwar ſchon Raum, aber noch nicht Bewußtfein producirende Einbildungs 
kraft. — Die Schwere tritt auch als eine für fich allein unfaßliche, nur an ihrem 
GegentHeil, dem auögebreiteten Stoffe, erfcheinende und folglich ihrer innerſten 


Geſchichtl. Entwickelungsgang der Philoſophie im 19. Jahrh. 587 


Natur nach negative Kraft. Sie tft das eigentlich Objective im Objectiven, bie 
der Subjectivität des Lichts entgegenwirfende Kraft aus dem gänzlich Unfaßbaren 
oder dem Nicht-Ich. Sie Fann infofern das eigentliche Ding an ſich genannt 
werben, als auch fie in ihrer Tegten Wurzel ein negativer Begriff ift. Wenn das 
Licht ihr entgegenwirkt, fo geſchieht e8 nie in ihr felbft, welche dazu Feine Sub⸗ 
ftanz bietet, jondern immer In Ausdehnungen, welche vermöge ihrer Cohäfton zu 
ponderablen Stoffen und Waffen erftarrt find. Denn alle Bindefraft, alle Co⸗ 
Häfton, alle Anziehung in der Nähe und in der Ferne, alles Beftreben der Ma« 
terie zum Kryftalliftven, alles Gefrieren, Gerinnen und Erſtarren hat feinen Ur⸗ 
fprung in derjenigen Grundfraft, welche von ihrer allgemeinften und ftetigften 
Grundwirfung Schwere genannt wird. Licht und Schwere in ihrer engften und 
urfprünglichften Zuſammenwirkung bilden die Phänomene des Magnetismus und 
der Electricität, welche nur verfchieden geftaltete Phänomene ber beiden Grund« 
factoren alles Naturlebens find. Es Fommt nämlich in diefen Phänomenen nichts 
weiter vor, als ein complicirter Zufammenhang zwifchen den beiden Thaͤtigkeiten 
der Attraction und Repulſion, indem z. 8. die Attractionsthätigfeit des Nord⸗ 
pols fich attractiv verhält gegen die des Suͤdpols, aber repulſto gegen fich ſelbſt, 
und indem bie Attractionsthätigfeit des Südpols ſich umgekehrt attractiv ver⸗ 
Hält gegen bie des Nordpols, während fie fich felbft abftöpt. Eben fo verhalten 
fih die Eleftricitäten. Nun ift aber Repulfton feiner felbft Ausdehnung oder 
Licht und Attraction eines Anderen Anftchziehung oder Schwere. Die beiden 
polar entgegengefegten Thätigfeiten, deren jede in ſich felbft Licht und Schwere, 
aber jede auf entgegengefete Art entwideln, zeigen ſich bei den elckirifchen Er⸗ 
fiheinungen an zwei verfchiebene Körper vertbeilt, bei den magnetifchen aber in 
einem einzigen Individuum verbunden. In der Eleftricität ftellen fich diefelben 
Urthätigfeiten mehr in Spannung und Abfonderung, im Magnetismus mehr in 
Einheit und im Gleichgewicht dar. Und da num zu jeder materiellen Subftanz 
ein Oleichgewicht beider Grundthätigkeiten erfordert wird, indem Die Ausdehnung 
von Lichte, Die Grenze aber von der Schwere ſtammt, fo iſt das im Magnet ge- 
feste höchſte Gleichgewicht von Licht und Schwere das objective Schema aller 
Körperlichkeit überhaupt, und ein jeder Körper iſt nur Dadurch diefed, daß er in 
fih ein Magnet iſt. Alle qualitativen Verſchiedenheiten unter den Stoffen wer« 
den daher auf ein entweder nach der Seite des Lichts oder der Schwere hin ges 
ftörtes Gleichgewicht ihres inneren Magnetismus zurücgeführt werden. Eönnen, 
fo daß die vollftändige Meihe der Stoffe das Schema eines einzigen großen Mag⸗ 
neten bildet, an beffen Polen die entgegengefehten Thätigfeiten vorwiegen, in 
deſſen Mitte aber das größte Gleichgewicht derfelben anzufchauen if. Was dem⸗ 
nach die Subftangen, d. 5. die in gewiflen Orten andauernden Spannungsver« 
hältniffe zwifchen den beiden Factoren bes Lniverfums betrifft, fo beruhen ſie 
fänmtlich auf Magnetismus. Wird nun dieſes magnetifche Gleichgewicht mo⸗ 
mentan geftört, 3.8. durch Erregung von + E in einem Körper, fo zeigt ſich 
diefe Störung im größeren Bufammenhange doch immer nur als eine fcheinbare. 
Denn indem das überwiegende -+- E fogleich in allen übrigen von ihm getrenn« 
ten Körpern innerhalb einer gewiſſen Entfernung feine eigene Thätigkeit ia die 


588 Philoſophie. 


Ferne drängt und dadurch die Thätigkeit des —E überwiegend macht, ſetzt es 
nun ſich ſelbſt durch Anziehung dieſes —E mit ihm und feinem Träger als eins, 
und das Gleichgewicht, welches zuerft in beiden Körpern, in jedem aber für ſich, 
Rattfand, findet jeßt ebenfall8 in beiden Körpern, aber nur in gegenfeiriger Ver⸗ 
einigung und Anziehung flatt. Denn wir bemerken in jedem Körper ein Stres 
ben nach Subitantialität, oder ein Streben, fih zum Magnet zu conftituiren, 
und, ift er im @leichgewicht geftört, fo weit an der entgegengefegten Thaͤtigkeit 
der Umgebung Theil zu nehmen oder derſelben fo viel Davon zu entreißen, bis 
das Gleichgewicht Hergeftellt if. Der Magnetismus ſelbſt ift diefed Streben und 
die Subflanz oder dad Dauernde in der Erfcheinung nichts weiter als ein eleftri» 
trifches ober caufaled Ausgleichungöproduct. Je Dauernder und firer baffelbe ge 
räth, defto härter und cohärenter zeigt fich dad Gefüge. Cohaͤſionserhöhung der 
Theile eines Körpers und Krpftallifation ift ein vollkommeneres Magnetiſchwer⸗ 
den deſſelben, ein feiteres zu einem Ganzen Gebundenwerten. Gohäflondvermin« 
derung ber Theile und Schmelzung ift ein Herabfpannen ſeines Magnetismus 
oder feiner Subftantialität, eine Röjung der Gebundenheit. Die Hinaufipannung 
des magnetifchen Gleichgewichts ift eine Wirkung der allgemeinen Bindefraft 
oder Schwere, des negativen Factors. Das Herabfpannen deſſelben ift eine Wire 
fung des Lichtweſens oder pofltiven Factors, des löjenden Principe. Wo die 
Cohaͤſtonskraft mächtig wird, verfchwindet das Lichtweſen und entiweicht als 
Wärme, 3.8. beim Gefrieren. Man nennt die Proceffe, welche zwifchen ſchon 
gebildeten Subftanzen oder Stoffen in ihrer Mifchung vor fich gehen, den chemi- 
fhen Proceß. Da er der Proceß des aus Subftanzen beftehenden Univerfal» 
magneten ift, fo ift die ihn beberrfchende Kraft die Elektricität, befonders in Ge 
ſtalt der Metalleleftricität, welche wir Galvanismus nennen. Diefelbe zerjegt bie 
zufammengejegten Stoffe mit Leichtigkeit in die Polarität ihrer einfachen Beſtand⸗ 
theile. Und da als die Außerften Enden diefer Polarität der pofltive Pol des 
Waſſerſtoffs und der negative des Sauerfloffd daftehn, fo ift der Höhenpunft 
aller chemiſchen Trennung das Potenziren der Materie zu Sauerfloff und Waſſer⸗ 
ſtoff; aber der Höhenpunft aller chemifchen Zufammenfegung das Depotenziren 
biefer Spannungsertreme zur Indifferenz des Waſſers. Das Waſſer ift daher 
die höchfte Ausgleichung der chemifchen Extreme (von Sauerftoff und Wafferftoff) 
in ber Zufammenfegung, wie dad Metall die höchfte Ausgleichung der elektrifchen 
Extreme in der Spannungßreibe if. — 

Hiermit dat Schelling vor mehr ald 60 Jahren ein Raturphänomen als 
Wahrheit ausgefprochen, was erſt in neuefter Zeit Durch exrperinientirende Ratur- 
forſcher, zuerſt Durch Derfted und Davy, auf empirifche Art bewiefen wurde, 
nämlich die große Erſcheinung des Eleftrochemismus und Elektromagnetismus. 
Schelling fam durch philofophifche Forſchung zu dieſem Mefultat, Berzelius, Daop 
und Oerſted Durch Experimente ; die empirifchen Raturforfcher follten Daher nicht 
Inamer die Philofophie fo gering fchägen, weil auch einige Mal darin geirrt wurde; 
bie vielfachen Irrungen der Empiriker find vielleicht noch zahlreicher, als die der 
Vhilofophen, Philoſophie und Empirie müffen ſtets vereint Die Geſetze des Welt⸗ 
alls zu ergeunden fuchen, dann nur kann Wahrheit als Nefultat hervorgehn. 


Geſchichtl. Entwidelungsgang der Philofophie im 19, Jahrh. 589 


Die Grundanfiht Schelling'8 über die unorganifche Natur Tautet dahin, 
daß die Raum und Zeit fegende Thätigkeit, welche auf der fubjectiven Seite des 
Raturtriebes die Anfchauungen und Begriffe bildet und Dadurch eine Vorftellungs« 
welt gebiert, auf der objectiven Seite deſſelben Triebes die materielle Welt erzeugt. 
Das Wirkliche in der Vorftellungswelt ift dad Spiel der die Vorftellungen er⸗ 
zeugenden Triebe, während die Vorftellungen bloße Phänomene der Triebe find. 
Eben fo ift das Wirfliche in der Natur dad Spiel der Raum und Zeit erzeugen- 
den Triebe, während die materiellen Subftanzen, Maffen, Iheilchen, bloße Schein« 
weien find. Es ift daflelbe Spiel der Grundtriebe, welches auf der fubjectiven 
Seite anfchaut und erkennt, auf der objectiven Seite ausfüllt und Widerftand 
Ieiftet. In der denfenden Erfenntniß wird das Objeetive auf der Seite des Sub⸗ 
jectiven ergriffen, während die fubjective Thaͤtigkeit für fich allein ala Phantafte 
unıherfchwebt. In der Erpanflon des Lichts wird das Subjective auf der Seite 
des Objectiven ergriffen, während Die objective Thaͤtigkeit ober Schwere für ſich 
allein gar nicht zur Erfcheinung kommt, fondern in den unvorftellbaren Abgrüns 
den des Richt⸗Ich verſchwindet. Bildet alfo das Raturdafein für 
ſich einen Magneten aus Licht und Schwere, ſo iſt dieſer Mag⸗ 
net ſelbſt nur der negative oder Schwerpol eines größeren 
Magneten, deſſen poſitiver oder Lichtpol in der Vorſtellungs— 
welt des Denkens und Anſchauens ſteht. Die Erſcheinungs— 
welt, welche entſpringt, wenn die Pole dieſes größeren Mag» 
neten zufammenwirfen, nennen wir das organifche Leben. 
Daffelbe ift alfo im Großen und Ganzen Dasjenige, was der Magnetismus in 
der objectiven Sphäre ift, nämlich ein Gleichgewicht der Grundthaͤtigkeiten. 
Buerft erfcheint in den Abgründen des Nicht-Ich die Erpan- 
fion des Lichts. Indem ihr aus dem Gegentheil die Eontrac« 
tion der Schwere entgegegenwirkt, entflehbt ans dem Gleich— 
gewicht beider Thätigleiten der Magnetismus oder die unor, 
ganifhe Welt. In diefe tritt die ideale Thätigkeit als in ihr 
Nicht⸗Ich und orbnet fih den Magnetismus des Lichts und 
der Schwere unter als den negativen Bol ihrer eigenen Thä- 
tigkeit. Gegen diefes Höhere und einfachere Liht muß daher 
das Licht der Fixſterne ſelbſt wieder als ſchwer und materiell, 
gegen feine Thätigkeit müffen die poſitivſten Bildungsdthä- 
tigfeiten der magnetifchen Kraft wiederum als negative und 
bloß accidentelle Begrenzungen und Beftimmungen im Ele. 
mente einer höheren und reineren Erpanftbilität, ale das 
Sonnenlicht tft, erfheinen. Dies ift organifhes Verhältniß. 
— Jetzt iſt alfo Schelling an die Region des Lebens gelangt, welches als quali⸗ 
tatio verfähledenes und höheres Licht den materiellen Stoffen gegenüberfteht und 
fle dann zu feinen Zweden geftaltet, woraus daB orgamifche Leben ber Kreaturen 
als Mefultat hervorgeht. Denn Licht und Schwere finfen zum Objert herab ges 
gen ein höheres und einfachere® Licht, welches mit der Materie ald feinem nega⸗ 
tiven Pol in ein magnetifche® Spiel von Anziehungen und Abſtoßungen elutrkt. 


590 iloſophie. 


Dieſes Epiel nennt Schelling ten Bildungstrieb. Wie ver negarire Factor der 
Schwere er durch ten pefltiven Factor bed Lichtreſens zu einer Saplichleir und 
Dauer gelangt, je gelangt im erzaniichen Biltungsıriebe der chemiſche Berwand⸗ 
Iunzöprecch als das Brotuct aus Licht und Schrert zu einer Dauer fowoßl, als 
gefleigerten Thatigkeit, welche ex aus ſich allein nie erlangen würte. Die hinzu- 
tretende Thaͤtigkeit ter idealen Seite des Triebes bewirkt nämlidy ch continuir- 
lich erneuernde Erörungen ſeines magnetijchen Gleichgewichts, welche ſich am 
ihren Ausgleichungen fornsährend aufs Reue wiedererzeugen und jo Dasjenige 
als ein continuirliche® Thun jegen, was in der chemijchen Thaͤtigkeit der unorga⸗ 
niſchen Natur nur vorübergehend geihieht. Während im unorganiidhen 
Zelde der chemiſche Procep ein vorübergebenter, immer wies 
Der aufbörender und injefern miplingender if, ji nirgenbs 
feloR fajjen und in jein eigened Gejeg treten fann, gelingt 
ihm dies Alles vollfändig durch den Hinzutriti bed ergäne 
zenden höheren poſitiven Kactors, welder den Proceß immer 
aufs Reue anregt und erhält. Daher Hlellt der organiiche Proceß er 
die Chemie auf dem Gipfel ihrer Thätigkeiten tar, weil erſt dem höheren pofitiren 
Bactor gegenüber ter chemiſche Proceß die vollftändige Anregung bekommt, ſich 
ganz in fi zufammenzunchmen. Und tarum if erft der Organismus das voll 
fäntige Raturprotuct, weil vor jeinem Erſcheinen der marerielle Factor des 
Raturjeind audy nur erft in jeinem Werden und jeinen einjeitigen Entwidelungs- 
Rufen, nirgends aber in feiner Ganzheit und Vollendung eriflirt. Der unorga⸗ 
niſche Stoff if nur ein Monument ter einjeitigen Proceſſe, welche tie Natur im 
Ringen nach Organijation, d.h. nah Empfängnig tes Höheren Lebens⸗ 
factors, durchlief. Ta es aljo in ten Organismen ein ideeller Proceß if, 
welcher durch jein Erjcheinen ald Anreiz den reellen Raturproceß in jeine ganze 
Höhe emportreibt und bieje beiten Proceſſe ald Factoren des organijchen Pro- 
ducts fich gegenjeitig ſpannen und fleigern, io ift Dad organijche Leben der Intis 
duen ein Proceß aus Proceſſen, welche einander wechjeljeitig rufen und ergänzen. 

Dieje Schelling’iche Detuction des Lebensproceſſes har noch Heute volle 
Geltung, weil fie eine unwiderlegliche Wahrheit ift. Ich citire Deshalb noch einige 
Säge dieſes Forſchers über die Lebensproceffe. 

Was den negativen Factor oder den realen Proceß betrifft, jo beginnt der⸗ 
jelbe im Pflanzenleben ald eine continuirliche Zerlegung in Waſſerſtoff und 
Sauerſtoff. Die Pflanze wächft dem Lichte zu. Das Licht entwidelt aus ihr 
immer neuen Sauerftofi, welchen ſie durch die Blätter ausathmet, während die 
brennbaren Subflanzen der Wafler- und Kohlenftoffe in ihr zurüdbleiben, jo 
dag man den vegetabilijchen Proceß als einen Proceß der vorherrſchenden Des 
orybation bezeichnen muß. Im Ehemismus des Thierlebend bemerken wir aber 
ein continuirliches Aufnehmen und Zurüdhalten von Sauerftoff, welcher hier 
eingeathmet und ind Blut geführt wird, das durch Die Venen zum Herzen ſtrömt, 
um durch die Zunge gefäuert zu werden. Auf dieſe Weife macht ſich auf dem 
Gipfel des Chemismus der Gegenſatz feiner Grundpolarität in entgegengefegten 
Procefien geltend, und zwar fo, daß der Proceß der Desorydation den realen 


Geſchichtl. Entwidelungsgang der Philoſophie im 19. Jahrh. 591 


Pol nach der Seite der unorganifchen Natur, der Proceß der Oxydation den 
idealen Pol nach der fubjectiven Seite hin bildet. Was nun ben itealen Pro« 
ceß des Organismus betrifft, fo ericheint er im animalifchen Oxydationsproceß 
als ein die mechanische Beweglichkeit der Glieder beherrfchender irritabler Trieb, 
und als eine durch die Sinnorgane mit der Außenwelt vermittelte Senftbilität. 
Der irritable Trieb ift ein in die Berne Schweifendes und Suchendes. Die 
Senfibilität oder Empfindung ift das Kormgebende und Beftimmende des Nature 
triebed. Die Empfindung ift der negative oder objective Factor des irritablen 
Triebes, der Bactor, durch welchen derfelbe mit dem chemifchen Proceß in Beruͤh⸗ 
rung tritt und von dem legteren jeine Beftimmung empfängt, während er in 
feinem pofttiven Factor als Bewegungstrieb ſich felbftbeftimmend verhält. Die 
Empfindungen find Beftimmungen von ganz eigenthümlicher Ratur, deren quas 
litative Befchaffenheit aus dem ideellen Elemente des Triebes und nicht aus dem 
reellen Elemente der chemifchen, mechaniſchen und phyſikaliſchen Thätigkeiten, 
welche Empfindung erregen, ſtammt. Die empfundene Qualität, (Sauer, Süß, 
Kalt) ift daher nicht ein Geſchenk, welcher der fubjective Pol (das empfinteude 
Weſen) vom objectiven Bol (hemifchen Stoffen) ber empfängt, fondern ſie ift 
eine beftimmte Reaction, welche der fubjective Pol gewiffen Eindrüden des obs 
jectiven Pols entgegenfegt, gleichfam die Waffe, wodurch fich die ſubjective Po⸗ 
tenz unſeres Weſens des Eindringend und Uebergewichtd ber objectinen Potenz 
erwehrt- Das Verhältniß von Irritabilität und Chemismus ift das Verhältniß 
eines fich gegenfeitig veizgenden und anfachenden polarijchen Antagonismus. 
Faſſen wir Irritabilität und Senftbilität in einen Begriff zufammen als einen 
durch Senftbilität beftimmten Bewegungdtrieb, fo iſt Dies der Inftinkt. 

Da der ganze Naturproceß von Anfang an ein Streben nad) Organifation 
in fich jchließt, Diefes Streben aber ald feinen lebten Grund eine Sollicitation 
durch den fich ein Object fuchenden irritablen Trieb voraudfegt, jo muß das im 
Inftinft gegebene Grundgeſetz dieſes Triebes als das Grundgefeg der organis 
firenden und producirenden Natur überhaupt angefehen werden, Alle TIhätig« 
feit der Ratur iſt daher an fich zwedmäßig gleich der des Inftinfts, obgleich fte 
von Zweden feine Vorftellung bat. Tenn der Inftinft wirkt vernünftig oder 
nach ideellem Geſetz, aber ohne Bewußtſein, er ift eine unbewußte Vernunft, 
Dad Traumleben des Naturgeiftes vollzieht auf Anregung des Grundtriebes in 
ſich diejelben Ihätigfeiten, welche die Vernunft auf Unregung deſſelben Triches 
in fich vollzieht, und verdient in fo fern ten Namen einer außer fich gefegten Vers 
nunft. Auf diefe Art ift im Fünftlerifchen Raturwirken der Begriff nicht vor ber 
That, und der Entwurf ift fchon felbft die Ausführung. Die Gefege der Mes 
chanik vollführen fich in der Aftronomie blindlings dadurch, daß antagoniftifche 
Thätigfeiten jich ind Gleichgewicht jegen. "Hiermit find die verfchiedenen Stel 
lungen, welche ter die Natur bervorbringende Trieb im Verlaufe der Vollendung 
feines Werks einnehmen kann, erihöpft. Im folgenden Procefje der bewußten 
Ennvidelung taufchen fich die Rollen völlig um, indem der Trieb oder Inftinkt, 
welcher bis dahin der pofltive Factor im Proce war, gegen die autonomijche Ver⸗ 
nunft zum negativen Bactor herabfinkt, und indem bie vom Triebe auögehende 


592° Philoſophie. 


Raum und Zeit ſetzende Imagination, welche biöher als unorganiſche Ratur ins 
Nicht⸗Ich noch unterhalb des Triebes herabgeſunken erfchien, jeht bis ind Cen⸗ 
trum des Bewußtfeind und alfo feheinbar oberhalb des Triebes hinauffteigt. 
Aber diefes Hinaufſteigen der Einbildungsfraft über den Trieb ebenfowohl, als 
das Herabfinken derfelben unter den Trieb, ift ein bloßer Schein. Die bewußte 
Imagination und die unorganifche Natur find durchaus von demſelben Weſen, 
nämlich Thätigkeiten desfelben Triebes oder Inſtinets nach Genuß, nur mit dem 
Unterfchiede, daß Pie unorganifche Ratur aus den Thaͤtigkeiten des werdenden 
Triebes im Elemente des Unbewußten, aber der vernünftige Erkenntnißproceß 
aus den Thätigfeiten des vollendeten Triebes im Elemente des Bewußtfeind bes 
ſteht. Dad Bemußtfein laͤßt fich nicht aus dem irritablen Triebe ableiten, ſon⸗ 
dern es tritt in ihm zum organifchen Antagonismus von Inftinct und chemifchen 
Proceß ein neuer jubjectiver Factor, gleichfam ein Licht der dritten Potenz, ähm 
lich wie zum unorganifchen Antagonismud von Licht und Schwere der Irritable 
Trieb ald ein Licht der zweiten Potenz Dinzutrat. Der binzutretende höhere 
Factor laͤßt fich nicht aus dem Antagonismus der niederen Faktoren erklären, 
fondern diefe müflen aus jenem erklärt werden. Das Licht ſammt dee Schwere 
läßt fich nur erflären au8 den Wirkungen des werdenden Triebes, und ber Trieb 
fammt den Empfindungen läßt fih nur erflären aus den Wirkungen der im 
Werden begriffenen beivußten Thaͤtigkeit, wie fte ein Gegenftand der Wiffenfchafte« 
lehre oder des Syſtems des trandfcendentalen Idealismus find. Da alfo da8 
Niedere feinen legten Grund immer im Höheren bat, und alfo immer nur fel6ft 
durch eine Urt von vorläufiger Anticipation des Höheren, aber in verfchloffener 
und fragmentarifcher Geftalt, fein Weſen und Veſtehen erlangt, fo läßt fich der 
ganze Procep auch auffaffen als ein flufenförmiges Befreien der höchſten oder 
abjoluten Thätigkeit von den Banden, womit wir diefelbe im Raturdafein be= 
laftet jehen. Sie erfcheint Hier zuerft in Schwacher Anticipation als die Erpan- 
fion des aftralen Lichtweiene. In ihm ift der Naturtrieb noch gebunden und 
verloren in fein Product. Er befreit fi, indem er dem Lichte als der Höhere 
Bactor der Irritabilität gegenübertritt und das aftrale Lichtwefen zum Object 
berabjegt. Nun ift im irritablen Triebe das Bewußtfein wiederum ebenfo in 
der Latenz vorbanden, wie im Lichte ſchon der irritable Trieb Iatent war. Das 
Bewußtfein fegt ben irritablen Trieb zum Object herab, indem derſelbe in ihm 
fich zur Autonomie oder reinen trießlofen Thätigfeit befreit. Der Raturprocef 
ift, von dieſer Seite betrachtet, der periobifch fortfchreitende Selbſtbefreiungs⸗ 
proceß einer abjoluten Thätigkeit aus gewiflen flufenförmigen Graben ihrer rela⸗ 
tiven Latenz. Er ift der Proceß einer periodenweiſe fortfchreitenden Univerfal 
geichichte Des Weltalle. Und wenn daher mit dem Antagonismus des autonos 
mifchen Bewußtſeins gegen den Naturtrieb eine neue Beriode dieſes Weltproceſ⸗ 
ſes beginnt, als eine folche, worin die ideale Thätigkeit nach Vollendung ber 
menſchlichen Organifation nun mit fich ſelbſt und für fich allein einen nenen 
Proceß beginnt, fo werben in diefer dritten Periode des Univerſallebens der Na⸗ 
tur biefelben Gefege herrſchen als in den erften Perioden. Diefe dritte Periode 
vollzieht ſich in der Geſchichte der Menfchheit und ihrer Beiftescultur. 


Geſchichtl. Entwidelungögang der Philoſophie im 19. Jabrh. "593 


Iſt das Id) in der Menfchbeit frei geworben, fo beginnt e8 ein neues Han⸗ 
deln auf fich felbft vermöge feiner Autonomie. Da c8 aber Anfangs nur den 
Benußtrieb in ſich findet, fo ſetzt es fich felbft feinem Hanteln als Biel gegen⸗ 
über in einem Bilde als dem Ideal der Glückſeligkeit. Denn die Seele weiß 
ſich nur wahrhaft fittlich, wenn fie es mit abfoluter Freiheit ift, d. h. wenn die 
Sittlichfeit für fle zugleich die abfolute Seligkeit iſt. Die Seligkeit als höchſte 
Luft am Sittlich-Guten ift nicht allein ein Accidend der Tugend, fondern auch 
erft ihre Vollendung. Diefe fchließt die Tendenz in fich, mit@er abfoluten oder 
reinen Thätigfeit, d. 5. mit Gott Eins zu fein. Denn das Urbild des Einsſein 
von Sittlichkeit und Seligfeit oder von Wahrheit und Echönheit wird in der 
Idee der Gottheit ergriffen. Daher Sittlichkeit und Religion die beiden Höch« 
ften, nicht von einander zu trennenden Potenzen des Menfchenlebens find. Die 
Menfchheit durchfchreitet in mehreren Perioden die niedrigen Stufen des Lebens 
und gelangt endlich zur höchſten Vollendung, wo das reine Eittengefeß, bie 
höchfte Glückſeligkeit und wahre Geiſtesklarheit herrſchend find. 

Bevor ich in der Darſtellung weiter gehe, bemerke ich, daß Schelling mit 
Hinzufügung der letzten Sätze, (näͤmlich: dag der Naturproceß der veriodiſch 
fortſchreitende Selbſtbefreiungsproceß einer abſoluten Thätigkeit, und daß das 
Bewußtſein in den niederen Factoren latend ſei, während er doch wenige Zeilen 
vorher ſtets bemerkte, daß die höheren Factoren, das Geiſtleben nicht aus dem 
chemiſchen Proceſſe der Materie erklaͤrt werden könnten) Die größte Unklarheit 
und den größten Widerſpruch in ſein Syſtem brachte. Denn dies iſt ja noch 
das größte Problem der Gegenwart, ob das Bewußtſein und Geiſtleben zu dem 
chemiſchen Proceß der materiellen Beſtandtheile als der belebende Factor hinzu⸗ 
tritt oder nur cin Mefultat dieſes Raturproceſſes iſt und erſt aus ihm hervor⸗ 
gebt. Diefe Unklarheit bewog ihn fpäter, fein Princip zu verlaffen; bevor ich 
feine Nachfolger erwähne, führe ich noch die Schlußdefinition feines Syſtems 
an. Grfagt: Es iſt nur eine einzige Thätigkeit, welche alles Leben erzeugt, 
indem fle in den geordneten Stufen eines weltgefchichtlichen Naturproceſſes ihre 
Seldftbefreiung vollzieht. (Man beachte diefen Ausſpruch: alfo das abfolute 
Leben ift nicht frei, jondern vollzieht erft feine Selbftbefrelung und gelangt zum 
Bewußtjein im fortfchreitenden Proceß der Univerfalgefchichte des Weltalls). 
Auf der erften Stufe erfcheint ſie als Licht und in negativer Geſtalt als Schwere. 
Das Product iſt die unorganifche Welt. Auf der zweiten Stufe erfcheint fie 
als irritabler Trieb und in negativer Geſtalt ald Senfation. Das Probuct iſt 
die organifche Natur. Auf der dritten Stufe erfcheint fle als practiiches Ver⸗ 
nunftgefeg oder Meligion und Staat und in negativer Geftalt ald bewußtes 
Triebgefeß oder Wiflenfchaft. Das Product ift dad Leben der Menfchheit. Ueber⸗ 
all alio, wo wir diefe Thätigkeit auf dem Gebiete der Erfahrung beobachten, 
fehen wir, wie fie ſich fofort eine antagoniftifche Tätigkeit von ähnlicher Ratur 
gegenüberftellt, welche ein Abdruck des Einfluffes if, den die Potenz der höheren 
Sphäre von den Potenzen der niederen Sphäre befommt. Indem alfo tie ab⸗ 
folute Mofltion vermöge der Regation ihrer felbft fi in einen Raturtrieb ver⸗ 
fehrt, und dabei aus den Banden der Schwere und der unorganifchen Natur 

V. 28 


594 Philoſophie. 


durch das Leben der organiſchen in die Freiheit der Autonomie emporſteigt, ent⸗ 
ſteht jenes abgeſchloſſene, weder vermehrbare noch verminderbare Enftem von 
drei Stufen, welches einen zweifachen Anblick gibt, je nachdem daſſelbe entweder 
von der räumlichen Seite des Nebeneinanterbeflehens oder von der zeitlichen Seite 
der Entwidelung betrachtet wird. Räumlich betrachtet bildet dieſes Syſtem dad 
Schema eines großen Magneten, bei welchem das Menfchenleben in der Polari- 
tät von Religion und Wiffenfchaft den pofltiven Bol, Die unorganijche Natur in 
der Polarität von Licht und Schwere den negativen Bol, und die organijche Na⸗ 
tur in der Bolarität der Irritabilität und Senfation Die Mitte oder Den Indifferenz⸗ 
punkt darftellt. Zeitlich angefehen gibt daſſelbe Syſtem den Anblid von drei 
nach einander zu erfleigenden Eriftenzgraden, welche eben fo viele geichichtliche 
Perioden bilden, in denen Die Regel eines gefeßmäßigen und ficheren Fortſchritts 
aus der Latenz in die Offenbarung, aus der Gebundenheit in bie Freiheit waltet. 
Der Anfang der erften ift Durch die Entſtehung des Lichts, Der Anfang der zwei⸗ 
ten durch die Entftehung der organiichen Zelle und der Anfang der dritten durch 
die Entftchung des Menichen bezeichnet. Im allen aber Iebt und entfaltet fich 
nur eine einzige Thätigfeit ald das Weſen jener abfoluten Poſition, welche durch 
das Werkzeug der abfoluten Negation (der Materie) mit fich in Antagoniemus 
tritt, fich in eine fubjective und eine objeetive Thätigkeit differenzirt, diefe Diffe⸗ 
renzirung in weitere Unterglieder fortjeßt, und fo das Schema ber Univerſal⸗ 
magneten bildet, in deſſen Spannungen ſowohl von der objectiven, als von der 
fubjeetiven Seite nichts anders thätig ift, als die abjolute Thaͤtigkeit ſelbſt, 
welche injofern den Namen einer abjoluten Identität des Objectiven und Sub» 
jectiven verdient, weil fie ſowohl die objective als die fubjective Thätigfeit ſelbſt 
ift und doch in ihrer Wurzel oder ihrem Anflchfein nicht zwei Ihätigfeiten, fon- 
dern nur eine einzige abfolute Poſition if. Daher ift Alles, was ift, infofern 
ed ift ‚das abjolute Wefen felbft, und es gibt, fobald man auf das Sein an fich 
refleetirt, nichts, was entftanden wäre, überhaupt nichts Endliches. Und weil 
Alles, was ift, die abfolute Identität felbft ift, fo ift Alles an ſich nur Eine. 
Wird die abfolute Identität als feiend gedacht, fo heißt fe die abjolute Vernunft. 
Wird fie ald werbend gedacht, fo heißt fle die Natur oder der Grund alles Seins, 
wobei unter Grund die Segung des Anfangs verftanden wird, aus welchem die 
weitere Bortentwidelung erfolgt. Denn dieſe empfängt ihren Inhalt nicht aus 
den Grunde, jondern aus der feienden Identität oder abfoluten Vernunft, weldye 
als zeugende Kraft über dem Grunde ift und ihn flufenweife über fich ſelbſt em⸗ 
porhebt. Man Fann dies auch fo ausdrüden, day die abfolute Identität in der 
Ratur oder dem Grunde ihrer Entwidelung zwar dem Wefen nach, aber noch 
nicht der Form nach, nämlich noch nicht ald Bewußtfein oder Selbfterfenntni 
eriftirt. Denn in der Seldfterfenntniß erfaßt die Grundthätigfeit fich felbfl 
unter der Form ihrer eignen Identität und Ginfachheit, während fie ſich in ber 
Ratur oder dem Grunde ber Entwidelung in ihre Polarititen und Differenzen 
zeritreut, und aljo nicht unter der Form der Identität, fondern vielmehr unter der 
entgegengejegten Der Differenz erfcheint. Die Natur entftcht aljo dadurch, daB 
die abjolute Identität avar ihr Weſen fept, aber nicht unter ihrer Form, naͤmlich 


Geſchichtl. Entwidelungsgang der Philoſophie im 19, Jahrh. 595 


nicht unter der Form der Identität als Selbfterfenntnig. Sie macht aljo bie 
Born ihres Weſens unerfcheinend oder Tatend. Und in fo fern in der Natur ganz 
daſſelbe gefegt ift, was in in der abjoluten Vernunft gefeßt ift, aber unter der 
Form der Differenz und nicht unter der der Spentität, fo darf man, um die Bes 
faflung beider Sphären in der Grundthätigfeit in einer engften Formel zu haben, 
die abfolute Identität definiren als eine Ipentität der Identität und der Differenz. 
Die abſolute Identität ift das All oder Univerſum, nänlich nicht das probucirte 
oder erjcheinende, fondern das urfprünglich feiende Univerſum, das in Allem, 
was ift, fchon ift, und nur producirt wird, weil es ift. Das.einzelne Sein aber, 
welches bloß erfcheinend ift, befteht in einer Trennung der abfoluten Ipentität in 
fubjective und objective Thätigkeiten, welche je nach ihren Polen oder Gegen« 
jägen einen Antagonidmus gegen einander ausüben, und folgliy nach quanti“ 
tativen Graden ihrer Itenfltät gegen einander gemeffen werden können. Jede 
beſtimmte quantitative Differenz der Eubjectivität und Objectivität heißt eine 
Potenz. Jede Potenz befteht aus einem pofttiven und einem negativen Factor. 
Der pojltive diejer Bactoren ift immer der unbegrenzte, der negative der begren⸗ 
zende Bactor. Im beiden Factoren ift aber immer dad Eine und gleiche Iden⸗ 
tiiche, obfchon in einem jeden derfelben mit einem Uebergewicht der Subjectivis 
tät oder Objectivität gefeßt. Das Wefen des einzelnen Dinges, fofern c8 als 
eine reine Pofttion des Pofltiven im Dinge aufgefaßt und dabei von feiner end» 
lichen Erfcheinung ganz abftrahirt wird, heißt Die Idee des Dinged. Sie fapt 
das Ding fo auf, wie ed als eine ewige Wahrheit in der abfoluten Ipentität bes 
ſteht. Das Werden und Vergeben der Dinge befteht darin, daß fich die einzel 
nen Pofitionen als Bactoren in ihnen zu einer imaginären und äußerlichen Ein« 
heit fpannen; fle vergehen dadurch, daß aus diejer fcheinbaren Einheit jede Po- 
fitlon wieder in ihre innere wahre Breihelt zurüdfehrt. Dies ift der großartige 
Rebensproceh des Weltalld. — 

Diel tiefe Blicke hat Schelling ind Univerfum gethan und mandje Wahr 
heit geahnt, welche hernach durch empiriſche Facta bewiefen wurde; aber Die eben 
gerügte Unklarheit feines Syſtems trich ihn ſowohl wie feine Nachfolger auf an⸗ 
dere Bahnen der Forfchung, wodurch noch zahlreiche Syſteme entftanden, welche 
mehr oder weniger von ten Grundprincipien Kant’8 und Fichte's abwichen. 
Selbſt Fichte fand fich nach dem Erfcheinen der Schelling’fchen Naturphilofophie 
bewogen, feinem Spftem eine andere Baffung zu geben. Er deducirt in feinen 
fpäteren von feinem Sohne herausgegebenen Schriften, das abfolute Ich als ein 
Sehen, Hinbliden, oder als ein fchauendes Denken. Hierdurch wurde fein 
Weltprincip verfländlicher als in der Wilfenfchaftsichre, welche einen großen 
Sturm erregte, denn man fand es höchft merfwürdig, daß das Ich die Welt pros 
ducire. Schelling's Naturphilofophie entzündete aber die höchſte Begeifterung 
unter allen damaligen Naturforſchern und hat hierdurch die weitere Ausbildung 
der Naturwiffenfchaften wefentlich gefördert, dies habe ich ganz befonders in 
einer Abhandlung: „Philoſophie, Leben und Induſtrie“, welche im 10. Hefte 
von Payne's Panorama des Wiffens abgedruckt ift, dargelegt. Aber auch eine 
große Zahl Naturphilofophen erichienen mit Schelling’8 Auftreten und erforfchten 

Ir 


596 Philoſophie. 


das Weltall in allen Richtungen. Daß hierbei auch die Myſtik ſich Geltung zu er⸗ 
ringen ſuchte, kann nicht befremden; der bedeutendſte Myſtiker iſt der 1765 geborene 
Franz v. Baader. In ſeiner ſpeculativen Dogmatik erklaͤrt er: Der Menſch iſt 
Bild oder Repraͤſentant Gottes in der Welt, ſeine urſprüngliche Beſtimmung, die 
Welt und Gott zu vermitteln. Gott nahm am ſiebenten Tage, nach der Schöpfung 
des Menfchen, feinen Sig in feinen Werfen. Um Gott in feiner Totalität zu faflen, 
war das weite Univerfum zu eng, und hierzu nur der Menich fähig. Tas Sclbft- 
bewußtfein des Geiftes ift deffen Sein felber und nicht etwa ein Modus oder eine 
Eigenfchaft eines anteren oder eines Dinges an fih. Das reale Sein des Gei⸗ 
ftes ift Willen. Der Geburt des Sclöftbewußtfeind Tiegen drei Momente oder 
Akte zu Grunde. Indem ich nämlich 1) mich felbft faffe, entfteht mir 2) ein 
gefaßted, in welchem ich 3) ausgehend mich aufichliege und in eine 4) zweite 
Faſſung oder Begriff einführe. Dieſes Selbſtbewußtſein oder Kreifen des Geis 
ſtes ift feine fuccefive Gchurt, fondern mit einem Schlage zugleich fertige. Das 
vierte Moment ald ber Gedanke verhält fidh zu den ihn ausführenden aftiven 
Momenten als ihr Necipiene, weshalb überall in der Ratur der Quaternar fih 
in einen aftiven Ternar und ein Mecipiens fcheidet. Das Sein in der Zeit iſt 
für die nicht für. die Zeit entflandene Kreatur der unvollendete, ihrem Begriffe 
nicht entjprechende Zuftand. Die endlidye Creatur, indem fle zeitfrei oder nur 
vollendet wird, wird zwar nicht zum unendlichen Gott felber, wohl aber göttlich, 
d. h. an feiner Vollendung theilnehmend. Was in jich vollendet ift, fucht nichts 
weiter, als nur in und für ſich zu bleiben; und eine folche Creatur bleibt in und 
für fi, indem fie fich mittheilt und in der Freude und Seligkeit ihrer Vollen- 
dung frei ausbreitet, was fie in der Unvollendung nicht Eonnte. ine jolche 
Greatur tritt Hiermit in die Gegenwart, und Bewegung und Ruhe traten in ihr 
aus ihrer Abftractheit in die Concreiheit. Das Streben nad) Genuß ift das 
Streben nach dieſer Ergänzung oder Vollendung des Seins oder nach der Bes 
freiung von der Unruhe der Unvollendetheit deſſelben. Es fallen darum die Bes 
griffe von Vollendetheit, Gegenwart, Ewigfeit, Zeitfreiheit und Seligfeit zufammen. 

Sein Wahrnchnen der Zeit beweifet dem Mennfchen, daß er in ihr nicht 
in feiner heimathlichen Region, fondern fich in der Fremde befindet. Sowie der 
vom Menfchen außgegangene, dem Werf eingebildete Gedanke den Bezug, in wel« 
chem dad Werk bes Menfchen mit ihm fteht, vermittelt, fo ift es die ungejchaffene, 
der Ereatur eingefprochene und ihr inwohnende Idee, welche jene mit Bott im 
effeetiven Rapport erhält, fowie fie felbft die Mitte in der intelligenten Creatur 
ift, und ihre nichtintelligente Ratur mit ihr vermittelt. Das die Seele und den 
Leib vermittelnde und ihre Zwietracht aufhebende Princip im Menfchen ift die 
Idee oder der Lichtgeifl. Das Zugleichfein des Vielſeins oder Unterfchieden« 
feind der Perfonen und ihres Einsfeind in Gott ift nur dadurch möglich, daß 
dieſe Doppelheit in zwei Regionen oder Sphären getheilt und gefchieden fich bes 
findet, und zwar fo, daß die Region, in welcher fie eins find, über jener ftebt, 
in welcher fie viele und gefchieden find, letztere Region in fich befaffend und durch⸗ 
dringend. Die Glieder oder Eigenſchaften find nach oben oder innen fubjicirt 
und hierdurch Eines, gehen aber nach unten oder außen in eine gemeinfchaft« 


Geſchichtl. Entwidelungsgang der Philofophie im 19. Jahrh. 597 


liche Stätte ihres Wirkens, in Einen Leib zufanmen. Das gemeinfchaftliche 
Subjicirtjein ift die Bedingniß der freien Coorbination der Glieder und igen- 
haften Des Lebens, welche nur dienend zu berrfchen, nur herrſchend zu dienen 
vermögen. Indem diefe Eigenfchaften im Normalzuftande des Lebens in ihrer 
Coordination unterbrochen in Eintracht und Liebe virtuell in einander ein« und 
übergehen und jede alle übrigen affirnirt und fo von allen anderen affirmirt wird, 
d. h. indem fle von der höheren Einheit ununterbrochen ſich in einander einfühe 
ren und aufheben laſſen, erneuert fich dieſe Einheit virtuell ebenfo beftändig in 
ihnen, als fie ſich beitändig in ihrer Gefondertheit erneuern, in und aus ihrem 
gemeinschaftlichen Keibe, in welchen fie wirfend ausgehen. Nur was durch Teils 
baftwerden der Monas in ſich Eins und ſelbſt ganz geworten ift, vermag fich frei 
zu erpandiren und auszujprechen, wogegen jedes in fich Entzweite verftummt und 
der Reſiſtenz der nichtfprechenden Action anheimfällt. ine folche Creatur hört 
darum nicht auf lebendig zu fein, aber dieſes Leben läßt ſich nur als ein krankes 
und widernatürliched anjchauen, nicht ald eine ruhige, erfüllende Bewegung, fone 
dern eine unrubige, verzehrende. Des eigentlichen Xebendelements und Aliments 
aus Gott entbehrend und dieſes feinem eigenen Naturgrund entziehend, gebt in 
dieſem Lie unbefriedigbare Sehnſucht nach Erfüllung auf, und die Vertrodnung 
dieſes Naturgruntes bringt ihn zur Entzündung, ald das Feuer, das nie erlijcht, 
der Wurm, der nie flirbt. Die Reflauration des dem Verderbniß heimgefallenen 
Organs ift nur durch eine Emanation des Centrums oder Principe möglich, 
welches fich hiermit frei zum Organ berabfegt, ohne daß e8 aufhört Princip zu 
fein. Wogegen das Streben ded Organs, fid) als Princip zu fegen und zu ſel⸗ 
ben zu erheben, nothwendig eine Depreifton diefes Organs unter feine Stelle 
veranlagt. Auf die eine wie auf die andere Weife Hat die Greatur ihren Cha⸗ 
rafter im ferneren Lebenslauf unwiderbringlich beſtimmt; es geht Feine andere 
Wahl von außen über ſie, als ihre eigene innere, und nach dem @enitus, den 
der Genitor in fich fette, wird dieſer gefchieben und gerichtet, d. 5. er wird in 
jene Region gefegt, aus welcher er feinen Genitus fchöpfte; die Ereatur, ihren 
Charakter entfcheidend, entfcheidet fich auch ihres Lebens Region felber. Indem 
aber das crentürliche Ich feinen eigenen Willen zum abjoluten zu erheben firebt, 
verfeugnet e8 zugleich fein Princip als ſolches und Tügt ſich felbft als Princip an, 
und fo wie wir das feiner göttlichen Idee entfprechende Ich als ewiges und uns 
vergängliches erfannten, ala in fi) vollendetes, befriedigted und ſeliges, weil zu 
feiner wahrhaften Selbſtheit gelangtes, jo muß das außer der Einheit mit Bott 
fich zu halten ftrebente, dem Bunde göttlichen Lebens ſich verjchließende Ich den 
Eharafter abſoluter Leerheit und actuofer Richtigkeit in fih tragen, weil dem uns 
wahren Sein und Wiſſen ein deftructives Thun entfpricht, und die reale Indivi⸗ 
dDualität vermag bier nicht zur Wirklichfelt zu fommen, fo wenig als ihr Gegen⸗ 
teil, die fchlechte Subjeetivität, ihr tantaliſches Streben an jener Statt zu ver⸗ 
wirklichen und fich realen Inhalt zu geben vermag. — Durch und aus dem 
Willen ift diefe Welt gemacht und Alles hat feine Kortpflanzung im Willen. 
Die jchaffende und bildende Macht ift nur im Willen, im Verlangen und in ber 
Begierde. Die pofltive Begierde fucht ſich dem Begehrten zu fubjiciren, bie 


598 Philoſophie. 


negative ſtrebt dieſes ſich zu ſubjiciren, fo daß ich, ein anderes A pofttio begeh⸗ 
rend, mich ihm dienend zu feinem Manifeftationsorgan und Werkzeug Tafle, fel- 
bed aber negativ begehrend mir zu meiner Manifeftation zu fubjiciren ſtrebe, 
feine ſelbſteigene Manifeftation aufhebend und es entleibend. Im Hunger nadh 
Dem irdifchen Princip macht ſich der Menfch ſelbſt irdiich, und nur im Hunger 
nach den Himmliſchen wird er wieder himmliſch geboren, denn nur die Liebe hat 
in ihrer Wurzel die Macht, ſich dem Geliebten gleich zu bilden. Sollte die 
Himmliſchwerdbarkeit im Menichen zur Macht und Thätigfeit gebracht und firirt 
werden, fo mußte feine Irdiſchwerdbarkeit ſowohl, als jeine Hölliſchwerdbarkeit 
radical in ihm getilgt werden, und wie Die centrifugale Tendenz als überwunden 
und verwandelt das eine Element der himmilifchen Liebe, nämlich die Erhabenheit, 
geben follte, jo follte die dem Gentrum entfinfende Tendenz in ihrer Berwands 
Yung der Liebe zweites Element, die Demuth, geben, und beide in Liefer Vereini⸗ 
gung die göttliche Androgyne manifeftiren. Der formale Wille, in die Verſuchung 
eingeführt, gibt fich einen Inhalt, beftimmt und entfcheider feinen Charakter oder 
feine Natur Durch dieſe Selbfterfüllung. Dieje ift eine wahre Eingeburt, und 
wir unterjcheiden jenen formalen Willen ald Genitor von diefem ihm einerzeug« 
ten ald Genitus. Der in einen nicht guten Grund fich eingeführt habende Wille 
bat fich hiermit eine Macht, eine treibende Wurzel einerzeugt; und er vermag nun 
als ein böfe feiender Baum Feine anderen als böfe Brüchte zu bringen. Die 
göttliche Idee ift für ihn unempfindlich, ſtumm, wirkungslos, nicht mehr als Luſt 
ihn attrahirend geworden. Wie fich das Lebendige durch Thun und Wirken aus 
feinem gefaßten Lebensgrunde in diefem confirmirt, fo entwirb es diefem feinem 
Grunde oder ftirbt ihm ab durch Einhalten jenes Wirfens, in welchem Sinn 
man bie Echre der Religion vom Tödten des alten Adam zu deuten hat. Der 
Menich, indem er feinem gefaßten nicht guten Grund entfinft, findet in feinem 
hiermit in das erfte formale Moment zurüdgegangenen Willen den in ihm ver 
borgenen guten Grund nicht verblichen, fondern faßlich, indem ihn ein demiel« 
ben entfprechendes und feine Conjunction mit ihm durch den Menfchen fuchendes 
Agens von Außen bülfreich entgegentritt, eine Conjunction eines inneren Lichts 
und einer äußeren Sonne, welche alles Wachsthum bedingt und ohne deren Vers 
ftändnig man weder dad Geheimniß des zeitlichen, noch jened des ewigen Lebens 
verſteht. Durch diefe feine Befreiung vermag ber Menfch fich frei feinem das 
Gute ewig in fich zeugenden Urwillen wieder einzugeben und diefen ewigen theo« 
gonifchen Proceß in fich zu wiederholen. Gott manifeftirt fich in drei IWeltepochen 
zu immer tieferen Emanationen; tiefer zur Emanation des Menfchen, als zur 
Schaffung der Ratur, am tiefiten bei der dritten Emanation feiner Liebe auf Ber 
anlaffung des Abfalld des Menjchen ; denn wie das Reich des Menjchen nur auf 
ben Trümmern eines vor ihm beftandenen Reiches ſich erhob, fo muß Gottes 
Reich auf den Trümmern des Meiches der Menfchen ſich erheben und zur allein 
herrſchenden Macht der Erbe werden. — 

Aus diefer Darftellung erſieht Jeder, daß fich Baader vorzugsweife in ber 
Region ded Gedankens bewegte und die chriftlichen Dogmen philofophifch zu er⸗ 
klaͤren ſuchte. Ihm gegenüber erſcheint Oken als philoſophiſcher Empiriker, wel⸗ 


Geſchichtl. Entwidelungsgang der Philoſophie im 19, Jahrh. 599 


cher in allen Regionen der Natur die Verwirklichung der Ideen nachweift. Die 
Naturproducte find objectivirte Gedanken eines großen Weltſyſtems; er finder 
überall Einheit und Harmonie und ftellt ſaͤmmtliche Phänomene in zufammen- 
hängenden Klaffen zu einem ganzen Weltorganismus auf, in dem jedes Ratur- 
product nur ein Glied dieſes Organismus bildet. 

Ofen wurde 1779 geboren und trat frühzeitig als tiefdenfender Nature 
foriher auf. Er definirt das Abjolute (oder Weltall) als den Indifferenzpunft 
des Urgegenfages von Poſition und Negation, Diefer Indifferenzpunft heißt 
Null oder Zero. Dad Zero, worin nichts gefegt ift, iſt aber nur das heuriftifche 
Zeichen für Diejenige Activität, welche ſowohl die Poſition als die Negation fegt, 
und fobald fie zur Erfcheinung kommt, Selbftbewußtfein und Gedanfe Heißt. 
Das Zero ift der Uract, ein Act ohne Subftrat, d. h. ein geiftiger Act oder 
Eclbfterfcheinungsact. Selbſtbewußtſein ift Perfönlichkeit, Bott ift ewige Per⸗ 
jönlichfeit. Das Univerſum ift Gottes Sprache. Das Wort ift Welt geworden. 
Der urfprüngliche zählende Act heißt Die Zeit. Zeit ift Zählen, Zählen ift Den- 
fen, Denken ift Zeit. Unjer Denfen ift unfere Zeit, im Schlaf gibt es Feine Beit 
für und. Die Zeit ift die Urpolarität; denn durch Zählen fegt der Uract bie 
Vojitionen und gebt, fle negirend, wieder auf fich zurüd, In diefer erften Pola- 
rirät ruht das Geſetz aller Zeugung oder Gaufalität. Das Geſetz der Caufalität 
ift das PVolaritätögejeg, das Gefeg der Zahl. . Das Gefchlecht wurzelt in der er⸗ 
ften Negung der Welt. Uller Bewegung liegt eine polare Spannung zu Grunde, 
eine rein mechanijche Bewegung gibt e& nicht. Die Urbewegung iſt Denfen, ber 
ſich erjcheinende Gott. Die Bewegung der endlichen Dinge aus Polarität ift 
Leben. Leben ift Bewegung im Kreife, continuirlich in fich zurüdfehrende Pola« 
rität. Gin endliches Selbflbewußtjein nennen wir Menſch. Der Menſch ift die 
ganze Arithmetif, zufammengerechnet aus allen Zahlen. Wenn Gott nur ein« 
zelne Eigenfchaften von ſich vorftellt, fo find e8 weltliche Dinge, wenn er aber in 
biefen zahlreichen Vorftellungen zu feiner eigenen ganzen Vorftellung fommt, fo 
entfteht der Menſch. Gott ift frei, weil fein Handeln nicht von einen Anderen 
beitimmt wird, weil außer ihm fein anteres Handeln if. Der Menſch ald Abe 
bild Gottes ift frei, als Abbild der Welt "unfrei. Der ponirende Uract ift bie 
Zeit, der ponirte der Raum. Raum ift ftehengebliebene Zeit. Gott ift der Raum 
felbft. Indem er handeln wollte, wurde er Zeit, indem er aber Zeit war, wurde 
er Raum. Das räumliche Zero ift der Punkt. Er fegt ſich nothwendig ind Uns 
endliche, ſich ausdehnend nach allen Richtungen In gleichen Entfernungen. Ein 
fo ausgedehnter Punkt ift die Sphäre. Je fphärifcher ein Ding, deſto gottaͤhn⸗ 
liher. Das Unorganifche ift edig, Dad Organifche fpbäriih. Die Urlinie in 
diefer Sphäre ift in polarer Action, welche Spannung heißt. Sie ift centroperis 
pherijcher Oegenjag oder Magnetismus. Ihr centraled Ende ift — 0, ihr perl 
pherifches = + —. Die Grenze der Sphäre ift Flaͤche. Die Urfläche iſt kugel⸗ 
förnig. Sie ift Eleftricität, ein bloß pheripherifcher Gegenfag ohne Gentrum, 
ein ewig Zerriffenes ohne Kicht. Am vollfonmenften ift dasjenige Ding, welches 
die vollkommenſte Peripherie hat. Die Fläche ift = —, dad Gentrun — 0, 
die Kugel = + 0 —. Die Urfphäre ift rotirend, weil Leben bie Kreisbewe⸗ 


600 - Philoſophie. 


gung als die continuirlich in ſich zurückkehrende Polaritaͤt in ſich ſchließt. Alles 
Endliche ſtrebt nach dem Centrum. Dieſes Beſtreben iſt die Schwere. Die 
Schwere iſt in der Sphäre das, was der Rückgang der Zahlen in dad Zero oder 
den Uract. Die Schwere ift nicht gleich Der Bewegung, fondern gleich der Ruhe. 
Sie ift die Erfcheinung ter geftörten Thätigfeit. Punkte, welche nach dem Cen⸗ 
trum ftreben, drüden. Drüdende Punkte find Materie. Die Linie eriftirt nicht, 
wenn fie nicht agirt. Die Sphäre exiftirt nicht, wenn fie nicht träge il. Die 
Urmaterie nennen wir Kether. Die Welt ift eine rotirende Nerherfugel, das Chaos. 
Das Chaos ift nur heuriſtiſch. Von Ewigkeit her war dad Chaos eine Vielheit 
son Aetherfugeln, rotirend um ihre Are und um die Univerfal-Are ded Aethers. 
Bwifchen der Sentralmaffe des Aethers und der Beriphericmafje iſt Spannung. 
Aetherſpannung ift Licht, radicale Action, Vorbild ded Magnetismus. Ein 
Lichtftrahl ift ein Radius in der Kugel, das Licht eine fpaltende, zerreipende, dif⸗ 
ferenzivende Action, Die vealgewordene Zeit. Das Selbittbewußtwerden Gottes 
iſt Kicht, die Welterfcheinungen find Darftellungen der Optif, als der lebendigen 
Geometrie. Bewegter Aether ift Wärme, in Verbindung mit Licht Feuer. Gott 
in fich jetend ift Schwere, bandelnd aus jich heraustretend Licht, in fich zurüd- 
kehrend Wärme oder Teuer. Die Sonne fteht nicht in der abjoluten Mitte des 
Sonnenſyſtems, wegen des Gegenfages mit den Planeten, Die cbenfalld Centrum 
werden wollen. Hätte Die Sonne. weniger Maffe, fo würden alle Planeten näher 
ſtehn, Hätte fie mehr, jo würde fie alle ferner treiben, wie Die Eleftricität Die 
Kollunderfügelchen auseinandertreibt. Der Umlauf der Planeten um 
die Sonne ift ein polares Anziehen und Abftoßen vermöge des 
Zichts. Der Planet wird abgefloßen in der Sonnennähe, 
wenn er pofitiv geworden ifl; er wird angezogen in der Son— 
nenferne, wenn er negativ geworben if. Er entladet feinen 
Bol in der Sonnennähe, er lädt fih in der Sonnenferne; 
und jo fchwingt er bin und ber, wie der Hammer im eleftri- 
hen SÖlodenfpiel, mit der Außerften Reichtigkeit der Selbft- 
bewegung. Die Planetenmaffe war zuerft gaflg und rotirte zu Kugeln zus 
fammen. Die Kometen find zeitliche Gerinnungen des Aethers durch das Kicht, 
aljo die fortgejegte Schöpfung, daher urſpruͤnglich in Geſtalt des Bahnringe. 
Der zerriffene Bahnring ift der Schweif. Um den Kern herum concentrirt das 
Licht den Aether. Es wird immer neuer Aether Ieuchtend, während ber zuvor 
als Schweif leuchtende wieder finfter wird. Die dichteſte Materie ift die jchwerfte. 
Der Schwerftoff ift Kohlenftoff. Der Kichtftoff ift der thätigfte, Die Weränderum- 
gen aller anderen Stoffe beftimmende, nämlidy der Sauerftoff. Der Wärme 
eniſpricht der Waflerftoff als der dünnfte, beweglichfte und leichteſte. Die Ele 
mente gehn zufanımen in binäre, tertiäre und quaternäre Verbindungen, wodurd) 
Die chemiſchen Proceſſe entſtehen. Das thierifche Reben it das Leben der &les 
mente in ihrer höchiten Potenz. Sie treten nämlich hier in ihrem Verhalten zur 
Activität des urfprünglichen Zero oder des Selbſtbewußtſeins als Einne auf. 
Der über den ganzen Körper verbreitete Sinn ift ter Hautfinn oder Taſtſinn. 
Die Haut als Gefuͤhlsorgan iſt Dad peripherifche Hirn, das Hirn die centrale Haut. 


Geſchichtl. Entwidelungsgang der Philofophie im 19, Jahrh. 601 


So wie die Sinnorgane nur ein verlängerted Hirn find, fo laflen fich die Welt⸗ 
organe oder Elemente als eine Foriſezung der Sinnorgane in bie Außenwelt an⸗ 
ſehn. Wie die Sinne fidy felbft im Hirn erfcheinen, fo erjcheint die Welt fich 
jelbft in den Sinnen. Das Ihierreich ift dad Weltgehirn, das Pflanzenreich ift 
hirnlojes Einnorgan. Die Sinnorgane ſtehn mit ihren entfprechenden Welt« 
organen, wie dad Hirn mit der Haut, im Conſenſus. Das Sinnorgan ift das 
organifirte Sinnobjeet, das Sinnobjeet der Keim zu einem Sinnorgan. Der 
Taſtſinn ift die in das Thier fortgewachfene Dualität des lirelementd? Sinn der 
Haut, welche fich zum Ragel, Zahn, Knochen verdichtet. Die Hand enthält in 
der Beweglichkeit ihrer Finger die Allheit der Kormen, um das Sinnorgan feis 
nem Objecte gleich geftalten zu Fünnen. Aus der Hand geht alle Formung in 
die Natur über, alle Naturfornen bemühen ſich, Hand zu werden. Der Zaftfinn 
als Hormenfinn ift weientlich Bewegungsfinn. Denn die Korm ift eme nur durch 
Bewegung mögliche Segung im Raume. Der Formenflun ift ein Vorbild des 
Auges, der Bewegungsfinn ein Vorbild des Ohrs. Im der Infectenmetamorphofe 
fteigert fich der Hautjinn der Raupe zum Lichtſinn des Schmetterlinge. Das 
Schmecken ift die Steigerung ded Chemismus und der Verdauung zum Sinn. 
Bom Steinfalz durch Meerwafler zum Speichel der Schleimhäute und der Zunge 
zieht jich die Kette eines einzigen Naturprocefied. Die erften Regungen des Thier⸗ 
lebend find jchleimige DVerdauungdapparate und Schmedorgane in Würmern, 
Schneden und ähnlichen Thieren. Die Nafe ift ein hinaufgeftiegenes Athmungs⸗ 
ſyſtem, Organ der Luft und Eleftricität. So wie die Waſſer und Salze Grund⸗ 
objecte des Schmeckſinns, jo find die Lüfte Gruntobjeete ber Naje. Alles Reiben 
erzeugt Geruch, weil cd Eleftrieität erzeugt, und im berührenden Dunft ift es der 
elektriſche Proceß, welcher gerochen wird. Das Auge ift das Centrum des Sin⸗ 
nenſyſtems oder der Haut, deren Beripherie einen Wiederfchein feines Lichts als 
Waͤrme empfängt. So wie der Lichtfinn der oberfte Sinn ift, fo ift der Wärme- 
finn der unterfte, mit welchem alle8 Leben beginnt als thermiiches Bläschen (In⸗ 
fuforium), welche® in der Xuft zur Pflanze, im Waller zum Thier wird. Hand, 
Bunge und Nafe, oder Erde, Wafler und Luft, oder Haut, Darmkanal und Kieme 
find die Seldfterfcheinungen des abfoluten Lebens im engen Kreije des Tellurijchen. 
Aber über diefem webt noch das fosmifche Xeben, welches als Klang und Licht 
zur Ericheinung fommt. Licht und Klang verhalten fid) wie Sonne und Planet, 
wie Gentrum und Peripherie, wie Raum und Zeit, wie Form und Berregung. 
Der Schall ift ein inneres Erzittern, welches ald Klangfigur empfunden wird, 
Das Licht aber iſt die allgemeine urfprüngliche Spannung des Aethers, welche in 
ihren Wirkungen ald Wärme an der Haut gefühlt wird. Im Lichte berührt das 
univerfale Selbftbewußtiein das Menfchenbewußtfein. Das Thierreich ifl der 
auseinandergelegte, in feine Glieder zerftüdelte Menſch, und der Menich iſt das 
zufammengefaßte Ihierreich in einem Organismus, daher geht ex auch alle Sta- 
dien der Thierformen hindurch; er ift Infuforium im Sanıen und in der eriten 
Urzelle, Schleim⸗ und Ballenthier al8 Embryo, und durchwandelt alle Stufen biß 
zum höchjlausgebilderen Ruckgradthier. — 

Auf dieſe Art jchematifirt Ofen alle Raturreicye; wer fein Syſtem näher 


602°... Philoſophie. J ee 


fennen lernen will, den verweife ich auf fein Lehrbuch ter Naturphiloſophie und 
auf feine Raturgefchichte. Schelling wies in allen unorganifchen und organifchen 
Naturregionen die Polarität nad; und in der That, wir erblidfen auch eine 
folcye im Reiche des Geifteß, im gefchichtlichen Entwidelungsgang der Philoſophie. 
Bildete Ofen einen polaren Gegenſatz zu Baader, Schelling zu Fichte, jo finden 
wir auch einen folchen zwifchen Dfen und Schleiermacher, geboren 1768. 
Diefer tbeologiiche Philoſoph befchränkt fich, wie Baader, vorzugsweiſe auf 
die Geiſteßregion, während Schelling und Dfen alle Sphären des Weltalld durch⸗ 
wandern. Hierdurch entſteht aber eben jener philoſophiſch⸗dialektiſche Entwide- 
lungsproceß, wodurd das Weltall in allen feinen Formgebilden im menjchlichen 
Geiſte ſich ſpiegelt und hierdurch zur immer tieferen Erkenntniß der geſammten 
Naturgeſetze führt. Schleiermachers Weltanficht iſt ein geläuterter rationeller 
Theismus, welcher ſein Grundprincip in Fichte's Wiſſenſchaftslehre hat; denn 
nach ihm iſt alles Sein ein Ausflug des Wiſſens als der ſetzenden Thätigkeit. 
Das Wiffen (abfolute Ich) fcheider fich in eine wiffende und eine gewußte Sphäre. 
Das Ineinander aller’ Gegenfäge, aufgefapt als ein wiſſendes, heißt Vernunft. 
Das abfolute Wefen in allen Dingen ift denfented Sein und jeiendes Denen, 
aber e8 differenzirt fich nach der Seite Ded Seins zu einem Sein des Denfenden 
und des Nicyt-Denfenden, nad) der Seite ded Denkens zu einem Denten des 
Seienten und ded Nicht-Seienden. Dies ift eine weitere Definition des Fichte‘ 
fhen Ich und Nicht-Ich. Aus dem Verbältnig des Denfenten zum Richt-Den- 
fenden im Sein entipringt der organifirente Naturproceh. Aus tem Verhältniß 
des Seienden zum NichteSeienden im Denfen entfpringt der conftruirende Denk⸗ 
proceß. Die Identität des Realen und Idealen wird bei allem Wiſſen voraus« 
gefegt. Denn das Ideale ift die Gefammtheit ded auf das Sein beziehbaren 
Denkens, das Meale aber ift die Geſammtheit des auf das Denfen beziehbaren 
Seind. Die abfolute Einheit des Seins und Denkens ift vorftellbar als abſo⸗ 
lutes Subject oder abfolute Innerlichkeit, aus welcher noch keine Prädicate, Feine 
Manigfaltigkeit des Erfcheinens, Feine Gegenfäge fich gefondert haben. In dieſer 
Einheit Fommt der Gegenfag von Begriff und Gegenftand noch nicht vor. Je 
mehr aber dad Sein in die Erjcheinung tritt, defto mehr veräußert oder verniche 
tigt es ſich zur Manigfaltigfeit und defto mehr Prädicate treten an ihm hervor. 
Es wird zum bunten Chaos der Materie. Diefe Aeußerlichkeit in ihrem Extrem 
gedacht iſt das Zufällige, im Gegenfag zu den Nothwendigen ald der beharrlichen 
Abipiegelung der weſenhaften Gegenfäge in einander, und zu dem Freien als ber 
in ſich felbit begründeten Einheit. Die Totalität des. ald Vielheit 
gefegten Seins in feiner Zufälligkeit heißt Die Welt, dagegen 
bie Einheit des alle Gegenſätze in fich aufhebenden abfoluten 
Subjects die Gottheit. Wahr ift diefer Schleiermacher'ſche Ausſpruch 
nur relativ; man muß aber erflaunen, wie er ben folgenden zu fagen vermochte, 
nämlich: Die Welt ift Vielheit ohne Einheit, die Gottheit Einheit ohne Vielheit, 
die Welt ift raumerfüllend und zeiterfüllend ; (aber hört!) das abfolute Subject 
ift raumlos und zeitlos, die Welt ift die erfcheinende und nichtige Totalität der 
©rgenfäge, die Gottheit die reale und alles Sein in fich befafiente Regation, 


Geſchichtl. Entwidelungdgang der Philoſophie im 19, Jahrh. 603 


Schleiermacher follte Lieber fagen: Pofltion. Wenn nad) Schleiermacherd 
Definition das abfolute Subject (oder die Gottheit) raumlos ift, wo verweilt oder 
exiſtirt es?! Die foftematifche und logijche Einheit der Naturphänomene, welche 
er Icugnet, ift aber Durch Fichte, Schelling, Ofen und zahlreiche Philofophen der 
früheren Zeit evident bewiefen worden, Ich eitire noch einige Ausfprüche diefes 
Denkers über die Gottheit. 

Obgleich wir von Gott einen deutlichen Begriff haben, fo läßt fich doch die 
Anſchauung Gottes nie wirklich vollzichen, fondern fein Begriff bleibt immer 
nur cin indirecter Schematidmus, welcher, un lebendig und anfchaulich zu wer« 
den, einer Ergänzung durch dad Gefühl bedarf. Denn das religiöfe Gefühl ent« 
hält eine Anfchauung des Göttlichen, aber nicht auf reine, fondern auf vermifchte 
Art, intem das Bewußtſein Gottes ſich darin nicht an fich feldft, fondern an 
einem anderen Gegenftand, nämlich an den Zuftänden unjerer individuellen Pers 
fönlicyfeit ausfpricht. Wir wiflen im religiöfen Gefühl nur von dem Sein Got⸗ 
ted in und und in den Dingen, aber nicht von ihm an ſich und in feinen Selbft« 
fein. Sowohl das Sein der Ideen in uns ald Ausflüffe des abfoluten Denkens, 
ald Dad Sein des Gewiſſens in und ald Ausfluß Des abfoluten Wollens, ift ein- 
geborned Sein Gotted in und zu nennen, und wir empfinden daher Die Gottheit 
im religiöfen Gefühl dann, wenn wir und in dieſem, unferem innerften Wefen 
von der Quelle alles Seins, mit welcher unfer eigenes Sein in feinem Grunde 
identifch ift, abhängig fühlen. Dieſes Abhängigfeitögefühl wird dadurch gereis 
nigt und ijolirt von fremdartigem Beifaß, daß es auf die abftracten Denkformeln 
des abjoluten Subject bezogen wird. Denn dieſe find zwar gänzlich unanſchau⸗ 
lich, aber auch gänzlich rein und unvermifcht. Dasjenige Element ded Gefühle, 
welche® zugleich jenen reinen Formeln entfpricht, ift die Ichendige Mepräfentation 
des trandfeendenten Grundes in unjerem Selbſtbewußtſein. Dagegen kann Got⸗ 
tes Sein an jich Fein Gegenftand unfered wirflichen Erfennend fein... Wir haben 
nur in fo fern einen Begriff von Gott, als wir Gott in und haben, als wir ſelbſt 
Gott find; d. 5. fo viel wir an Bott Theil haben. Die reinen Kategorien, wie 
Abſolutes, höchſte Einheit, Ipdentität ded Idealen und Realen, find nur Schemata 
ohne Anfchaulichkeit und Realitaͤt. Der nur erft fchematifch conftruirte Begriff 
der Gottheit kann in Feiner anderen Weife real und anfchaulich werben, al& in- 
den er einfeitig und relativ wird im religiöfen Gefühl unferer Abhängigkeit von 
einem Höheren. Daher heißt fich feiner felbft in Beziehung auf Gott bewußt 
fein, fo viel, als fich abhängig fühlen. Im Leben ift dies Gefühl hier das erfte, 
welchem die Vorftellung Gottes erft als Meflerion hintennach folgt, und dieſem 
lebendigen Entwidelungsgange hat auch die theologifch - dogmatifche Wiffenfchaft 
zu folgen, im Gegenſatz zur rein⸗ſpeculativen oder dialektiſchen Wiſſenſchaft, 
welche fogleich mit der abftracten Zerlegung des abjoluten Seins in feine Vers 
zweigungen beginnt, demnach ebenfalld mit dem höchften Wefen anfängt und 
endigt, ohne fich jedoch mit dem Gange der theologifch-Dogmatifchen Betrachtung 
weife zu vermifchen, welche jeden ihrer Säte als unabhängig von jedem analo« 
gen Sape des bigleftifchen Syſtems conftruirt. Denn das theologiſch⸗dogma⸗ 
tifche Denken geht nicht von abftracten Begriffen aus, fondern if eine in Begriffen 


604 Ä Philoſophie. 


erfolgende zerlegende Betrachtung der urſprünglichen frommen Gemüthszuſtände 
im Sinne des Monotheismus, d. h. im Sinne einer gefühlten unbedingten Ab⸗ 
Hängigfeit alle Endlichen von einem einzigen Höchflen und Unendlichen. — 
Diefem Iheiften, der, wo fein ſpeculatives Denfen nicht ausreichte, da® 
Abhängigkfeitögefühl zur Hülfe rief, trat ein mehr Ichematifirender Denfer in 
I. Wagner, geb. 1775, entgegen. Seine Lehre gründet in Schelling’8 Iden⸗ 
titaͤts⸗Syſtem, denn audy nach feiner Anficht ift die Melt eine Differenzirung der 
abfoluten Identität, und die Wiffenfchaft beichäftgit jich mit dem Hervorgehen 
der Formen aus tem Wejen oter der Gottheit; denn Lie Gottheit geftaltet jich 
extenfiv ald Natur, intenfiv als Geift und weltgefchichtliche Entwickelung deffel« 
ben zur lebendigen Born des Univerjums nach den Weltgefege des Hervorgehens 
der Urgegenfäge aus dem Abjoluten, ihre Entgegenfegung gegen einander und 
ihrer VBermittelung unter einander. Daher wird begonnen mit dem abjoluten 
Weſen als der abfoluten Innerlichfeit, welches Die Wurzel, die Möglichkeit, das 
an ſich unerfennbare Subject — 1 iſt; dad Ende des Schemas ift dad audges 
borne Product als letztes Reſiduum des Procejjed, die Auslöſchung des Weſens 
zu bloßer Form, des Subjects zu bloßer Erſcheinung — O. Zwiſchen inne ſteht 
der Proceß, welcher ſich ſpaltet in die Momente eines Heraustretens der beiden 
Factoren oder der Zweiheit aus der Einheit — 2 und eines Zuſammengehens der 
Factoren im Leben des Proceſſes — 3. Co fteht die Spannung von Id und Nichte 
Ich in ber Erpanflon oder Raumerzeugung in ber Zahl 2 oder im Gegenſatz; Dagegen 
der Proceß ded Zuſammengehens diejer Spannung in der Contraction oder Zeit 
erzeugung in der Zahl 3 oder in der Vermittelung, wobei dann die jo erzeugte 
Anſchauung in die O eines durch Einbiltungdfraft erzeugten Reſiduums der Er- 
fheinungsobjecte audläuft, während fle von der Monas des abfoluten Ich ihren 
Ausgang nahm. In der Welt der Raturproducte fällt Die Zweizahl des Gegens 
ſatzes auf die Pflanze, welche in räumlicher Ausbreitung die Fülle der organiichen 
Gegenfäge in einem wuchernden Reichthum entwidelt; dagegen die Dreizahl der 
Bermittelung auf das Thier, welches im zeitlichen Rhythmus feiner Nervenprocrfie 
jene Fülle der Ausbreitung des Lebens in eine VBerinnerlichung deſſelben zurück— 
beugt bis zur Erreichung der vollendeten NRaturform im Menjchenleben der Welt 
geichichte, worin dieſelbe fich zu Erinnerungsbildern geftaltet und dadurch beftän- 
dig aud der Fülle des Lebens oder der Monas ind Zero der entleerten Form über 
gebt. Und wenn in ber menfchlichen Berfon'unter der Monas das abjolut inner- 
liche Subject oder Ich zu denfen ift, während das Zero oder die im Proceß er⸗ 
flarrte Born der Leib ift, fo fällt in dem zwijchenliegenden Proceß Lie Zweizahl j 
als das Geyenübertreten der objectiven Welt gegen das Subject auf die Seite 
des Sinns oder der Erfenntniß, Dagegen die Dreizahl al8 die Vermittelung oder 
Darftellung ded Subjects im Object auf die Seite des Triebed oder Willene. 
Nach diefem Schema oder Weltgefeg werden alle Dinge mit allen vergleichbar 
und an allen meßbar. Denn jeder Vorgang in der Welt hat feine Wurzel ober 
Monas, feine Factoren, die als Dyas in Spannung flehen, feinen Proceß, wel 
her als Tryas diejelben in einander einführt, und jein Product oder Reſiduum 
als Zero; und fo vollzicht fich alles Erjcheinente nach den Kategorien des Gruns- 


Geſchichtl. Entwidelungdgang der Philofophie im 19. Jahrh. 605 


bed, des Urfprungs, der Urfache und der Wirkung. Iſt z. B. der Grund ber 
menfchlichen Individuen die Gattung, fo iſt die Spaltung der Gefchlechter der 
Urſprung und die Begattung die Urfache von dem Dafein der Individuen, welche 
als Wirfuug jener Urfache und jened Urſprungs erfcheinen. Die Trias ald Ver⸗ 
mittelung, in welcher fich die Gegenfäge zu einem Dritten neutralifiren, ift quali⸗ 
tatives oder chemifched Verhältniß, die Dyas des reinen Gegenfages ift quantita« 
tives oder mathematifches Verbältnig. So wie dad Weltgefep das Naturleben 
in feinem Inneren bewegt, fo auch Dad Leben Die Weltgefchichte. Die Menfchheit 
fchreitet in immer höhere Stufen der Vollkommenheit, ordnet die Angelegenhei« 
ten nach den Geifteögefegen und überwindet hierdurch die Despotie. Die Boll« 
entung de8 Eufturftaates wird ein Volk Gottes darftellen, wo aber an die Stelle 
der Hierarchie die Wiffenfchaft getreten iſt. — 

Die Wagner’fchen Schemata bergen oft tiefe Gedanken, find aber auch häus 
fig ſehr oberflächlich und nicht felten trivial. Ich wende mich jet zu einem ties 
feren und ganz originalen Denfer, welcher aud) den Magnetismus zu Chren 
bringt und im Grundprineip der Wiffenfchaftölehre nachweift; es ift der 1778 
geborne Schelver. Er faßt das Grundprincip des Weltſyſtems als abfolutee 
Leben, welches fich ind Protuct als in feinen Ausgang entfaltet. Im dieſem 
Ausgang erftirbt es, vollendet fich, findet feine Grenze und kommt in fo fern 
außer dem Lehen zu ſtehen. Kin folches erftorbenes Leben heißt Leib oder Leich- 
nam. Aus diefer Lebensgrenze ftanımt alles Zefte, Unabänderlie. Die unab⸗ 
Aänderlichen Grenzen der Leiber, das Gemeffene der Formen, die fefte Richtung 
der Bewegungen, die Theilung und Zufammenfegung find Ausbrüde der Haltung, 
der Befchloffenheit und des Todes. Das Todtenreich ift die Begrenzung des 
Lebens, die Geftalt des Keibes, und fleht alfo mitten im Lehen felbft als bes 
Zebens fefte Ordnung und Haltung. Diejem Princip der Starrheit fteht ent⸗ 
gegen ein Proceß der Entwidelung und des Fluſſes. Was aber noch ganz un⸗ 
bejcbloffen und ohne Grenze ift, das ift auch noch nicht Ichent, fondern fteht erjt 
vor dem Leben oder im Eingange bed Lebend. Es ift zu denfen ald das ganz 
Unbeftinnte, Gefegloje, raftlofe Ihätigkeit und endlofed Weſen. Das Leben hat 
von Diefer Thätigfeit, welche in ihm die Zeitentwidelung gebiert, empfangen, 
obne ſie jedoch felbft zu fein. Sie ift vielmehr die Kraft der Auflöfung des ficht- 
baren Daſeins. So zwijchen feinen zwei Grenzen als zwifchen zwei Toden bin 
und ber getrieben, fteht das Leben in fortwährender Verwandlung, fchwebend 
zwifchen Ruhe und Thätigfeit, Begrenzung und Freiheit. Das Sterben des einen 
ift das Auferftchen des anderen. Iſt die Kraft erftorben und die Ruhe berr- 
chend, fo fordert diefe wieder die erftorbenen Kräfte entgegen, durch welche fie 
felbft getödtet wird. So fleigt aus dem Tode des einen dad Leben im anderen 
hinauf und aus dem Leben des einen der Tod im anderen. Das Leben ift eine 
ftete Neigung,-fich zu erhalten, zu haben, was es nicht bat, um immer gleich zu 
haben. Iſt e8 in den Grenzen, fo fordert e8 Freiheit Dagegen. Iſt ed frei, fo 
fordert e8 Grenzen. Dieſes Verbhältnig der Selbfterhaltung des Lebens in jeiner 
Verwandlung heißt die Seele. Die Seele ift das Maß und der Wechfel zwifchen 
Ruhe und Tätigkeit. Wenn fle.einfchläft, zieht fle die freien Kräfte in das Keisı 


606 Ä Philoſophie. 


der ewigen Bande hinab. Wenn ſie erwacht, ſchießt ihre Thaͤtigkeit auf in dem 
nun unſichtbar gewordenen Zauberkreiſe der Nacht. Dieſe ſich immer erzeugende Ver⸗ 
wandlung, welche jedes durchs andere hält, iſt Die göttliche Gerechtigkeit, Die gleich⸗ 
ſchwebende Abwägung zwiſchen Begrenzung und Freiheit oder Materie und Kraft. 
Sobald aber das Leben aus dieſer gleichmäßigen Schwebe in die Ungleichheit von 
Geſetz und Freiheit übergeht, bald im einen, bald im anderen ruhend, tritt es in 
die Bewegung. Erſt bei dieſer Störung des Gleichgewichts von der Mitte oder 
von der Seele aus, ſagen wir, daß das Leben erſcheine. Die Freiheit wird ſo 
lange begrenzt, bis ſie des Geſetzes Thätigkeit felbft wird, und der Ruheſtand 
muß ſo lange wieder ſterben, bis er ſelbſt zur begrenzenden Macht wird. Die ſo 
entſtandene Mitte iſt nicht mehr eine bloße Schwebe, ſondern bekommt auch die 
Herrſchaft über die Gegenſätze, indem die gebundene That und die thätig gewor⸗ 
dene Begrenzung ganz zu eins geworden ſind. Die Schwebe bekommt Macht, 
ſich ſelbſt ins Schwanken zu bringen, ſich entweder für ein Uebergewicht des Lei⸗ 
bed oder für ein Uebergewicht der Kraft zu entſcheiden. Der Gegenſatz, welchen 
das Leben hierdurch fegt, ift das Gefchlecht. Verſenkt e8 fich in die Leiblichkeit 
und in die Ruhe des Empfangens, fo heißt e8 weibliches Weſen. Weißt es fich 
für fich felbft To8, mit widerftrebenden Trieben gegen da8 Gegebene, fo heißt e8 
männliches Weſen. — 

Ein Fortſchritt über Fichte's Lehre ift Durch dieſe Definition nicht gethan, 
eher ein Nüdijchritt, denn es herrfcht eine große Dunkelheit in der Darftellung 
des Principe. Klarer und bedeutungsvoller find folgende Saͤtze. Dad Leben hat 
den Grund, woraus e& bewegt wird, in fich ſelbſt. Das Keben erzeugt fortiwähe 
rend den Grund, aus welchem es erfcheint, und faßt fein Ziel immer wieder au 
friihem Grunde. Indem e8 aljo über den Tod das Leben errungen, geht e8 in 
den Tod feiner felbft, um aus feiner eigenen Unendlichkeit in die freie Bewegung 
aus fich jelbft gehen zu Fönnen, Die Eigenjchaft Gottes, welche Al- 
le8 au8 feinem Wefen Gewordene wieder zurüdwirft ins Wer« 
den und felbft der Wechjel des Entſtehens und Bergehen if, 
heißt die Liebe, der aud dem Vergehenden immer wiederfeh« 
rende Gott. Die Liebe befteht darin, daß das Einige das Uneinige auflucht, 
ſich feiner freuend und ed aufnehmend. Die Liebe jcheuet und fürchtet 
den Tod nicht, fondern regt fi durch ihn und flirbt immer 
wieder, um immer wieder auferfiehend das Sterbliche unfterb- 
lich zu machen. In der Liebe gehen die entzweiten Gejchlechter in Ein Weſen. 
- Die Zwei find in Einem und das Eine ift in Zweien. Diejes Eine iſt der Grund 
neuer Weſen. Jedes Gefchlecht zieht in der Liebe immer fein Gegentheil an ſich, 
wie es jeinen eigenen Theil bingibt. Die Liebe erwedt den Todten, welchen 
jedes Gefchlecht bei ſich führte, und beide werden nun die Zeugen des bisher in 
in ihnen verborgenen Weſens! Ie mehr das Leben die Eigenheit von ſich ſtößt, 
das Gemeinweſen zu zeugen, um fo mehr wird ed aufgenonmen in die göttliche 
Liebe und wird Zeuge des unmwandelbaren Weſens. Nach der Nüdfehr der Ge⸗ 
ſchlechter aus der Tiebe wird das darin gewordene Centrum ald Gefchöpf geboren. 
Sterbliches und Unfterbliches, welche in der Kiche von einander durchdrungen 


Geſchichtl. Entwidelungsgang der Philoſophie im 19, Jahrh. 607 


waren, werden auseinander gefchieden. Jedes Schaffen gejchieht in diejer leben⸗ 
digen Abtretung, Theilung, in diefem Schnitte, dieſem Schmerze der ſterbenden 
Luft. Die Liebe war die Selbftbelebung aus dem einjeitigen Triebe ind Doppel⸗ 
weien. Die Einheit des Wefend, welche nach der Zeugung ald das Centrum 
zwifchen den beiden nunmehr wieder Entzweiten zurüdblieb, nimmt felbft bie 
Entzweiung auf, indem ſie jich zu einem der beiden Geſchlechter entfcheidet. Das 
Einleben in die fieben Lebensformen, in welchem jede Form zugleich Mittel und 
Zweck ift, heißt Organismus. Die drei erften Formen des Lebens, der Leib, die 
Entwidelung und die Erhaltung, bilden mit ihren Organen den eriten Theil im 
Organismus, als die aufs Dafein gerichtete Sorge, die organifche Ernährung, 
die Individualität. In der vierten und fünften Form, dem Gefchlecht und der 
Liebe, gibt das Individuum fein Kürfichfein auf im Vermehrungs- und Luſttriebe. 
In den legten Bormen, Den Bormen der Fortpflanzung, verbindet ſich beides, das 
Fürſichſein und das Büreinanderjein, mit einander. Steben nun alle Zebend« 
formen im Dienfte der erften Form als äußeren Grenze, fo entfteht ein verfteis 
nernded Leben, Erdorganismus. Stehen fie im Dienfte der Entwidelung, fo 
ift dad Leben auf Formation gerichtet, Pflanzenorganismud. Stehen fie im 
Dienfle der Erhaltung, fo unterwerfen ſich alle Lebensformen der Seele, Thier« 
organismus. Im Leben der Gattung ftellt ſich das vollfommene Geſchlecht dar 
im Menichenorganidmud, während die Liebe ald ter Grund des Lebens über das 
Einzeltafein in einem himmlijchen Organismus weifet, in welchem fich das ent« 
zweite Leben audgleiht. Die Durchdringung von Individualität und Gattung 
bildet den Organismus des Verftandes und der Vernunft oder das geiftige Leben. 
Und fo ift Denn gewiß, daß Alles, was ift, in der innerften, feinften Berührung 
mit einander ift. Ein Geiſt, Eine Seele, Ein Sinn, in welchem Feine Trennung 
if. Das Alles wirft in flummer Liebe und Freude zufanımen und ift einander 
vorberbeftimmt, und ijt eine einzige lebende Sarmonie, welche in allen den Wefen 
des Lebens ift. Darin ergibt fich jedes dem Ganzen und wirkt jedes im Ganzen. 
In diefem Körper ded Werdens und Schaffens wirft der hervorichauende Geiſt 
in und nady feinen eigenen Gejegen. — 

Eine nähere Charakteriftit des Geiſtes, und ganz bejonders des Menfchen- 
geifteß, gibt und Trorler. Er geht auf ein Urbewußtjein im Menjchen zurüd, 
welches als ruhende Grundlage ebenfo feiner erften finnlicden Erfenntniß voran⸗ 
geht und als unters oder vorjinnliche Piyche betrachtet werden muß. Diele vor« 
finnliche Piyche begleitet auch feine weitere Entwidelung des Bewußtjeind in das 
reflectirende Denken. Aber in ihrer böchften, entwideltften Geftalt erhebt fie ſich 
weit über den Reflexionsſtandpunkt in das reine, gegenfaglofe Anfchauen, in das 
intuitive Eindjein mit Gott und dem Weſen der Dinge, weldyes die Myſtiker 
und Theofophen ala Contemplation oder göttliche Weisheit und gejchildert haben, 
das meiftend jedoch, während es Ziel und Bollzuftand unferes Geiſtes jein follte, 
in Verborgenheit zurücbleibt. Sowie nämlich die menfchliche Seele von ihrem 
Urfprunge aus ald unterfinnliche Pſyche hervorgeht in die Sinnlichkeit, ſich als 
Ideales realijirend, fo wendet fie fich als überfinnliche Pſyche, in der entgegen« 
geiegten Richtung die Wirklichkeit in fich aufnehmend oder ſich ald Reales Wiese 


508 | Philoſophie. 


liſirend, ibrer Vollendung zu bis zu jener geiſtigen Anſchauung, die nur ſich 
ſelbſt anſchauen und nicht weiter von einer noch höheren angeſchaut werben kann, 
welche daher Occam treffend bezeichnet ald Die visio, quae non potest videri. 
Dieſe Viflon ift das göttliche Hellfehen, in welchem das menfchliche Urich, als 
Ding an fich, ſich felbft Durchjichtig wird. Dies ift die Selbftverflärung des Gele 
ſtes, der die Schlüffelgemalt der Geheimniffe des Alls in fich felbft trägt, in dem 
Maße, wie er fich durch Meligion, durch Weisheit und Tugend der fchaffenden 
Natur Gottes in ihrer Offenbarung nad innen und ihrer Verwirklichung nad 
außen anzunähern vermag. Die Ideen find nicht Werk oder Ausdrud unferer 
Bernunft, jondern vorherbeftimnte Anlagen unfere8 felbft apriorifchen Geiſt⸗ 
wefend, welche, indem fle wirkffan werden, fich im Bewußtjein kenntlich machen, 
im Erfennen Grundanfchaungen, im Willen ein Orundwollen, im Kühlen Grund⸗ 
gefühle erzeugen, welche nur anı Xebendigwerden ded Bewußtſeins zum Vorſchein 
fommen und daher, Doppelt irrig, entweder empiriftifch (wie Lore that) als Pros 
ducte der aus ter Erfahrung abftrahirenden Vernunft, oder fubjectiviftifch (mie 
Kant) ald in der Vernunft bereit Tiegende Formen gefaßt wurden, in welche der 
urſprünglich heterogene Inhalt der Erfcheinung aufgenommen wird. Nihil est 
in sensu, quo«d non fuerit in instinctu. Ebenſo wenig kann aber auch nad dem 
Identitätöfufteme Schelling’8 und Hegel’8, welche das Princip der Identität um 
eine Stufe zu niedrig faßten, die Vernunft, dad Denken als dies Princip anges 
ſehen werden, die Vernunft fällt felbft jchon innerhalb des Gegenſatzes, fte ift die 
mit der Sinnlichkeit fchon in Berwachjung gerathene, verfinnlichte Bewußtſeins⸗ 
forn des Geiſtes. Das Princip der Einheit liegt jenfeitd, in dem gemeinfamen 
Ereaturgrunde und in jener ewigen Greatureriftenz, an der auch der Geift Theil 
bat, woraus von felbit fich ergibt, daß bie Kategorien und Ideen mit 
ber Natur in innigfter Ueberſtimmung fteben, ja ebenfo Ges 
fege der Natur wie des Geiſteslebens jein müffen, weil in ih— 
nen die urfprünglichfien Orundeigenfchaften aller Dinge und 
aller Verhälniſſe fi erfennbar machen. Darum find die Kategos 
rien des Denfend: Subftantialitit und Cauſalität, zugleich Archinomien des 
Seind, dad Verhaͤltniß von Subject und Object zugleich die Verbindung von 
ratio und rationatum. leicherweije find Bernunft und Erfahrung nicht, wie 
Kant wollte, zwei verichiedene Quellen der Erkenntniß, fondern nur tie verfchie- 
denen Bezichungen des Geifted auf den Sinn und des Sinnes auf den Geiſt. 
Darum find beide untrennbar, indem nur das eigentlich erfahrungsmäßige Wahrs 
beit iſt, was ber Vernunft als eine überfinnliche Wahrheit gilt. Auf ähnliche 
Weiſe ift der Gegenſatz von Verftand und Herz ein nichtiger und unwahrer; im 
Urmenfchen oder Urbewußtjein, welches im Hintergrunde all unferer ſtunlich⸗gei⸗ 
ſtigen Entwickelung liegt und das wir nur vollſtaͤndig in uns erwecken ſollen, iſt 
kein Unterſchied zwiſchen dem Wahren und dem Guten; die Ueberzeugung, der 
rechtleitende Wille entſcheidet in Beidem und theoretiſch wie praktiſch gleich richtig. 
So iſt endlich auch die Religion kein beſonderer oder ausnehmender Zuſtand, 
ſondern jener hellſte Gipfel unſeres geiſtigen Bervußtfeind. Das Meich Gottes 
iſt nur dieſe höhere, innere oder göttliche Natur des Menſchen, welche ſich in der 


- 


Geſchichtl. Entwidelungdgang der Philoſophie im 19, Jahrh. 609 


Vernunft und im Gewiſſen offenbart, die aber auch zum Schauen und zur Wriss 
heit fich erheben foll, worin eben die Religion befteht. — 

Aus Schelling’8 Identitätöfpftem hervorgehend, gab und ber. 1781 geborne 
Kraufe eine Darfiellung, worin er das Abjolute, aufgefaßt von Seiten feiner 
Sanzheit, Natur nennt; aufgefaßt von Seiten jeiner Selbſtheit Vernunft; 
im Allgemeinen Weſen und zwar in jeiner Trandfcendenz, in fo fern es übe 
allen Gegenjägen ift, Urwejen, in jeiner Immanenz, in fo fern e8 alle Gegenfäg 
durchdringt, Orweſen. — Man darf an der etwas jonberbaren Terminologie 
diejed Denkers feinen Anſtoß nehmen, er hat dennoch dad Weltbild durch feine 
Bezeichnungen erweitert. Alles Endliche ift in feiner eigenthümlichen Be⸗ 
ſtimmtheit nach allen Kategorien mit Wejen weienheitgleich. Alles hat Theil an 
Bott. Denn alles Weien hat eine Seite der Audbreitung oder Ganzheit, nach 
welcher es jeine Gegenjäge oder Bolaritäten in fih fpannt und ausdehnt, und 
eine Seite ber Zurudziehung auf fich oder der Selbſtheit, nach welcher die Gegen⸗ 
jüge fih um ihre urjprüngliche Identität ald um ihren Mittelpunkt fammeln, 
Die Form der Ganzheit, als der Ausdehnung der Identität in ihre Bolaritäten, 
iſt der Umfang; die Form der Selbfeit, ald des Zicles ter Ganzheit, ift die 
Richtung. Ganzheit und Selbheit bilden zufammen die Wefeneinheit, Umfang 
und Richtung zufammen die Formeinheit, beide Einheiten zuſammen das Dajein 
oder Die Eriftenz. Berner ift die Form entweder bejaht oder verneint. Tas Ver- 
bältnig von Bejahung und Verneinung des Umfangs heißt Die Grenze. Der be⸗ 
grenzte Unfang an der Ganzbeit heist die Größe, Der unbegrenzte Umfang an 
berfelben die Unendlichkeit. In einer Combination diefer Kategorien und ihrer 
weiteren Gliederungen beitehn alle Dinge, fte beftehn folglich alte aus Weſen, 
durch Wefen und in Wefen. Die Form ihred Anderswerdens iſt die Zeit, Die 
zeitliche Öeftaltung der Ideen, das Leben. In jo fern ift Wefen Urleben. Gelin⸗ 
gen dieſer Seftaltung, teren Grund Bermögen, Kraft und Thätigfeit genannt 
wird, ift Luſt, Miplingen derjelben Schmerz. Weſen (d. h. das abjolute Weien, 
die Gottheit) ift nicht in der Zeit, jondern bie Zeit ift in Weien. Weſen ift in 
fi Leben, Vermögen, Thätigfeir, Urtrieb, Wille, Empfinden, Schauen und 
Willen, dazu Kiche oder Weleninnigkeit, welche darin befteht, dag Weſen ven 
Berein aller Weſen ter Welt will und demgemäß jedes Weſen ein Vereinfeben 
mit Weſen und in allen Weien in Wefen erftrebt. Die endlichen Weſen genießen 
einer endlichen und befchränften Freiheit Durch Welenheitgleichheit mit Weſen, 
welches nach unbedingter Breiheit den Begriff des abjoluten Endzwecks ober des 
Guten vollzieht. Weſen fteht als Ichendes, erfennendes, empfindende8 und wol« 
lendes Urprincip fowohl über ald in VBernunftweien, Raturwejen und ber Menfch- 
beit ald dem Vereine beider. Denn Wejen ift felbft in fich eincätheild Vernunft⸗ 
weien ald das Eine unendlicye Ganze ſelbſtbewußter Eriftenz, welches aus un« 
endlich vielen Geiſtern beiteht, anberentheild aber audy eben jo jehr Naturweſen 
ald das Eine unendliche Ganze anjchaulicher Eriftenz, welches vermöge reiner 
Anwendung ber Kategorien in ihrer Differenzierung und Auswidelung aus ber 
Einheit Weſens mit Rorhwendigfeit fließt. Wefen ift gemeinfame Wurzel von 
Natur und Vernunft, welche beide Wefeniphären den Einen Ingalt nad ueriio> 

V. 33 


610 Ä Philoſophie. 


dener Richtung entwickeln. Denn die Natur bildet unter der Grundform der 
Nothwendigkeit, die Vernunft unter der Grundform der Freiheit, jene unter der 
Eigenbeſtimmung der Ganzheit, dieſe unter der der Selbheit. Das Vereinweſen 
der Vernunft und Natur in Weſen iſt Menſchheit. Das Leben Weſens iſt in ſich 
auch das Leben der verſchiedenen Menſchheiten auf den verſchiedenen Wohnorten 
im Univerſum. Aber Weſen geht nicht auf in dieſen Menſchheiten, ſondern be 
hauptet feine Selbſtſtaͤndigkeit ſowie feinen intellectuellen Charakter vor ihnen 
und über ihnen. Denn indem Weſen an fich feine Wejenbeit ift, iſt es weſen⸗ 
innig, d. h. es ift alles Selbftweientliche in fich, oder es erfennt alles. Denn 
das Erkennen ift eine Vereinigung des felbfiftändigen Erkannten mit dem felbfl- 
fländigen Erfennenden im letzteren bei vollen Beftehn beider. Das Wejeninnefein 
nach der Selbheit iſt Schauen, das Weſeninneſein nach der Ganzheit ift Kühlen. 
— Eine der bedeutungsvollften Erklärungen, welche das Berbältniß des abfolu« 
ten göttlichen Geiſtes zu den endlichen Beiftern, den Menfchen, feitftellt und cha⸗ 
rafteriftrt, ift folgende: Um das Verhältmig aufzufallen, in welchen Weſen zu 
den untergeorbneten Dafeinsiphären ſteht, welche es felbft in ſich ift, dient das 
Selbftbewußtfein unfered Ich zum Vorbild. Denn das Verhältniß unferes Ich 
zu allem dem, was in uns vorfommt, ift ein einzelner aus dem großen Weltzu⸗ 
ſammenhange herausgegriffener Ball jenes Brundverbältnifies aller Dinge. Das 
Wort Ich bezeichnet unfer ganzes Wefen vor und über aller Theilung und Blie 
derung, wie e8 im Selbftbewußtfein ergriffen wird, worin Vorgeftelltes und Bor- 
ftellende8 eins und dafjelbe find. Die Grundfchaunig Ich ift ungegenheitliche 
Selbſtſchauung, Erkenntniß eines einmal vorhandenen felbftfländigen Weſens 
als einesjelben und ganzen. Diefed eine, untheilbare, identifche, ganze Ich ift 
aber zugleich auch fein inneres Manigfaltiges in ſich felbft, während es doch auch 
zugleich eben ſowohl ein über demfelben beftehendes Dafein hat. Obgleich wir 
und ald abjolute Identität willen, wiffen wir und doch auch zugleich als innere 
Gegenſaͤtze, nämlich ald den Grundgegenfag von Leib und Geift mit ihren ver 
Schiedenen Functionen, im Leibe Verdauen, Athmen u. ſ. w., im Geifte Erfen- 
nen, Kühlen, Wollen sc. Als zeitlichen Grund unjerer inneren Aenderungen 
fchreiben wir und eine Thätigfeit zu, deren Formen der Raum, die Zeit und bie 
Bewegung find. Diefe Formen find nicht Formen unſeres Ich, fondern nur 
der Beziehung deſſelben auf innere Gegenheiten oder Theileigenfchaften, über 
denen das Ich als ſelbes, ganzes beſteht. Aber auch die wefentlichen Grund 
beziehungen Des Ich zu feinen inneren Gegenheiten, wie Raum und Zeit, find 
überfinnliche und ewige Formen vermöge ihrer Verwandtichaft mit dem über- 
finnlichen und ewig weſentlichen Kategorien oder Ideen. Jene ewigen Bormen 
oder apriorifchen Anſchauungen verknüpfen das Zeitliche mit dem Eigen, dab 
Sinnliche mit dem Richtfinnlichen zur Selbſtganzweſenſchauung Weſens, welches 
fein eignes reines Sclöftbewußtjein mit feinen inneren Gegenheiten durch dieſe 
ewigen Bormen zu einer lebendigen in fich gegliederten Einheit verfnüpft. Das 
Lebweſentliche ift das Gute, das Wollen deffelben der gute Wille. Die Aufgabe 
de8 Sittengefeged ergeht nicht nur and Individuum, fontern auch an die Geſell⸗ 
ſchaft. Durch Tugend wird der Menſch weſenaͤhnlich und dadurch näher mit 


Geſchichtl. Entwickelungsgang der Philoſophie im 19. Jahrh. 611 


Weſen verbunden oder gottinnig. Das Gute muß um ſein ſelbſt willen gethan 
werden, weil es das Weſenhafte, der Ausdruck des Lebensgeſetzes iſt. — 

Die bisher dargeſtellten Syſteme haben alle ihr Grundprincip in ber Wiſſen⸗ 
ſchaftslehre und ſind demzufolge nur weitere, ins Concrete gehende Ausführungen, 
welche, wie ſchon bemerkt wurde, zuweilen das Princip etwas modificiren und in 
anderer Faſſung geben. In einigen Definitionen — bei Trorler — gehen dieſe 
Denker ſchon über Hegels Syſtem hinaus, deshalb, und weil in der Zeitentwicke⸗ 
lung begründet, jchreite ich jegt zur Darftellung biefer Lehre. 

Hegel wurde 1770 in Stuttgart geboren und veröffentlichte feine erfte 
grope Geiſtesthat, die Phänomonologie 1807. In diefer legt ex den großartigen 
Entwickelungsproceß der Menfchheit dar, wie fle ſich aus dem roheften Ratur« 
zuftande des blinden Triebe zum böchften Bernunftflaat emporbildet, in dem bie 
Rechts⸗ und Sittengefeße das jociale Lchen ordnen und der Geiſt zu jeinem wah⸗ 
ren Selbſtbewußtſein und zur Kenntniß der Natur gelangt. Dieſes Werk, reich 
an Ideen und echten Charafterifirungen, ift gleichfam eine Philofopie der Ge⸗ 
fhichte der Menichheit und biltet die Propädeutik zu Hegel's Syſtem. Die 
Phänomonologie realiftrt Die Idee einer Selbfterzichung des Menfchengefchlechts. 
Der Hebel diefer Seldfterziehung ift, Daß das Ich am Ich jeine Schranfe erfährt, 
wodurch es gradweife auf fich felbft, und feine Innerlichfeit, dad Denken, fo 
lange immer aufs Reue zurüdgeworfen wird, bis e8 als tiefften Inhalt feines 
Weſens den Begriff Der abjoluten Gerechtigkeit findet, welchem es durch ben 
Lebensmechanismus fo lange wider Willen zugetrieben wirt, bis es ihn freiwillig 
und gern ergreift. Wie fehr daher im Proceß Led Menfchenlebend durch den 
immer erneuerten Druck der Außenwelt mit dem Zufammenwirfen des fich immer 
mehr verticfenden Geiſtes, eine Außgleichung der Anfprüche aller Individuen 
entfteben, fo daß ſich hierdurch ein Reich der Gerechtigkeit biltet, der Geift einen 
Reichthum der Ideen und ein Denfen erreicht, dem alle Dinge Elar find, und das alle 
Dinge in fein Eigentum verwandelt. In der offenbaren Religion erfcheint die, 
daß der abfolute Geift fich die Geftalt ald Selbſtbewußtſein (durch Chriftus) gibt 
und ala wirklicher Menſch da iſt. Diefe Menſchwerdung ift der Inhalt der abfoluten 
Religion. Tie göttlie Natur ift daſſelbe, was die menfchliche ift, dieſe Ein⸗ 
heit wird angefchaut; Gott ift offenbar, wie er an ſich ift, als Geiſt. Dies 
fpeeulative Wiffen ift das der offenbaren Religion. Aber die Geftalt hat noch nicht 
die Form des Begriffs und bringt flatt ihrer die natürlichen Verbältniffe von Vater 
und Eohn in das Neich des reinen Bewußtfeins, indem es die Momente der Be⸗ 
wegung deffelben für ijolirte Subjeete nimmt. Was in ter Neligion in Form 
des Vorftellens eines anderen iſt, das ift im abfoluten Wiffen als eignes Thun 
bes Selbſt, als Feſthalten des Begriffs in Form des Begriffs. Der fich in Gei⸗ 
ſtesgehalt wiſſende Geift ift Die Wiffenfchaft. Als der Geiſt, ter weiß, was er 
ift, exiftirt er früher nicht und fonft nirgents, als nad) Vollendung feiner Arbeit, 
feine unvollfommene Geftaltung zu bezwingen, fein Selbftbewußtfein, d. h. das 
abfolute, mit tem befonderen oder einzelnen Bewußtjein audzugleichen. Das Das 
fein und die Bewegung in diefem Aether feines Lebens entfaltend, iſt er Wiflen- 
fchaft als Philoſophie. Durch diefen weltgefchichtlichen Yiltungsgrany UL 

—X 


612 10. . Philoſophie. 


alſo ein höheres Selbſtbewußtſein der Menſchheit und hierdurch das abſolute 
Selbſtbewußtſein des abſoluten Weltgeiſtes hervor. — In der Logik — 1812 — 
gibt Hegel eine ſyſtematiſchere Darſtellung dieſes großartigen Weltproceſſes; er 
ftellt aber nicht, wie Fichte, das denkende Ich ald Princip voran, denn Died er⸗ 
fcheint erft fpäter, Fommt erft Durch jpätere Naturprocefe zur Ericheinung und 
zum Sichwiffen, fondern beginnt mit den reinen Sein. Tad reine Sein ift das 
vom Begriff noch gänzlich unerfüllte Sein, das, von dem man daher noch nicht 
fagen barf, daß es iſt, weil Hierin jchon ein Vegriff gejegt wäre. Es iſt in jo 
fern das Nichts, aber nicht als ein ruhender Begriff, fondern ald Negation alles 
Megreifens, als geiegter Widerſpruch und miplingende, in ſich jelbft zerrinnende 
Setzung, aljo das Fichte'jche Nicht-Ich. in ſolches abjoluted Zerrinnen oder 
Miplingen der narkten Eriftenz ift 3. B. anjchaubar im Werden ald dem Fluſſe 
ber Zeitreihe. Hier heißt dad Sein die Gegenwart oder das Jetzt, welches, jo 
wie man e8 feßt und audfpricht, fich auch ſchon als zu Grunde gegangen zeigt, 
während das, was in dieſem Fluſſe beharrt, fchon nicht mehr dem unmittelbaren 
Sein angehört, fondern eine Denkbeſtimmung ift, welche mein Verſtand dem 
Fluſſe des Werden unterlegt. Diefe Denfbeftimmung heißt die Subftanz oder 
das Weſen. Das Ich fehöpft fie von innen ber, aus ſich jelbft, und erfüllt fie 
mit dem Inhalt des unmittelbaren Seing, welches in Beziehung auf diejen Bere 
brauch im Denken die Erjcheinung des Weſens, oder Die Eigenſchaft der Sub⸗ 
ftanz genannt wird. — Dieje Hegel’iche Definition habe ich ſchon im 3. Bd. 
dieſes Werkes in ‚Idealismus und Materalismus,“ Eritifirt und ihre Unhaltbarkeit 
als Prineip der PHilofophie gezeigt. — Der an der Erjcheinung fi ennvidelnde 
Begriff heißt das Weſen oder die Subftanz. Der Hierturd; zur Vollendung ges 
fommene Begriff entwidelt in fich die Denke, Urtheils- und Schlußformen ter 
fubfectiven Logik, Sein, Wefen und Begriff werden im erſten Theile der Logik 
befinirt. Die Lehre von Sein entwickelt Die Kategorien der Qualität, Quan⸗ 
tität und des Maßes ald der Einheit beider. Das reine Sein ald der äußere jih 
geſetzte Begriff ift eine Pofttion, welche ihre eigene Negation if. Dieje in ein 
ſtetes Werden und Zerrinnen fich auflöjende Gegenwart liefert üchtige Erjcheis 
nungen, Senfationen, Qualitäten, Auf die Beharrungspunfte, welche fich ale 
Subſtanzen aus dieſer ftörenden Unruhe der Linmittelbarfeit entwickeln laſſen, 
wird hierbei noch nicht reflectirt. Jede Qualität iſt nur ein erſcheinendes Da- 
jein, welches an der entgegengejehten Qualität feine Regation bat, fo wie es auch 
im Strome des Werdens fi fortwährend jelbft negirt. Das Dafein (eines 
Dinged) im Werten ift daher Qualität. Qualität ift die Unmittelbarfeit des 
Dafeind ald das mit feiner eignen Negation bebafteten Seins. Sie hält fi 
nicht, fondern macht einer neuen Plag. Inden: fo das Dafein zu anderem und 
anderem wird, entfleht eine Reihe zählbarer Segungen, die Duantität. Im 
Zählen fegt das Eins ſich fortwährend als feine eigne Negation außer fich, neben 
ſich, und findet fih ebenſo fortwährend felbft im anderen wieder, als daſſelbe 
Eind. In der Unruhe des Werdens ſtehn die Momente der Poſition und Res 
gation flatt einander und drängen fi, intem Feines feinen Play finde. Cie 
fommen zur Ruhe in einer bajeienden Reihe, in welcher jedes Moment cine Pos 


Geſchichtl. Entwilelungsgang der Philoſophie im 19. Jahrh. 613 


fition (Naturproduct) ift, welche fich in ihrem eigenen Andersfein Immerfort felbft 
wiederfindet. Daher ift die Quantität nicht, wie die Qualität, das unmittelbare 
Sein ſelbſt, fondern vielmehr eine an ihm feiende, obwohl aus ihm felbft ent⸗ 
widelbare Beſtimmung. Die getrennte Auffaffung der Momente der Duantität 
im abftracten Denfen beißt die discrete Größe; ihr Zufanımenfließen in der 
Vebentigen Anſchauung des Werden die continuirliche. Die Tiscrete Größe tft 
der Anblic der Quantität nach der Seite des Begriffs, Die continurliche Größe 
ift der Anblick der Quantität nach der Seite des Seins oder der anfchaulichen 
Unmittelbarfeit. Die Quantität, mit einer Beftimmtheit oder Grenze gedacht, 
ift das Quantum. Inden num aber in der ſirömenden Unruhe diefer Unmittel⸗ 
barfeit das Denfen fich feine Subjtanzen als Beharrungspunfte befeftigt, finft 
gegen dieſelben die Unmittelbarkeit des anfchaufichen Seins zur Erjcheinung 
oder Eigenfchaft herab. Das Produft des Denfens in tiefen Procefie heit in 
feiner Vollendung au fich felbft Der Begriff, in feiner Entwickelung an der Er- 
ſcheinung das Weſen. Das Weſen iſt das Conglomerat von Denkbeſtimmungen, 
welches nach der Regel, das Dauernde im Wechſel zu ergreifen, der Erſcheinung 
untergelegt wird. Da das Verhältniß ſolcher Weſens⸗ oder Subſtanzbegriffe 
unter einander, die Cauſalität heißt, fo heißt das zur Erſcheinung herabgeſetzte 
Erin nur: die Wirkung, welche in den untergelegten Subftanzbegriffen als ver 
urfachenden Kräften ihre Begründung, d. h. ihren alljeitig ſtimmenden Zufams 
menhang nad Den Regeln des Denkens findet. Die in der Erſcheinung nach ber 
Regel der Baufalität durch da8 Denfen ergriffenen Zuſammenhänge heißen Raturs 
gefege. Ucherall, wo joldye Geſetze erfcheinen, heißt der Inhalt des unmittelbaren 
Erind das Product, Der untergelegte Eubftangbegriff aber die producirende 
Kraft. Die Tenkbeflimmungen find an fih nur mögliche Zufammenhänge, erft 
durch Berührung mit dem zufälligen Erjcheinungsftoff werden fie zu zwingenden 
Gefegen. Die Gegenfäge von Wefen und Erfcheinung, Kraft und Wirkung, 
Inneren und Aeußerem, Ding und Eigenfchaft, Grund und Folge, Materie und 
Form, laufen darauf hinaus, daß wir den Inhalt der Anfchauungen von tem 
Inhalt der Kategorien in Betanfen abtrennen, und nun über das Verhältniß 
refleftiren, welches zwifchen diefen beiden Factoren unferes Erkenntnißproceſſes 
ftattfindet. Der äußere Factor umſchließt dabei tie Beftandtheile fowohl der 
Eenjationen als audy der Anſchauungen a priori, während der innere Factor bie 
Bewegungen umjpannt, welche die fonthetifche Apperception als activen Factor 
des Erkenntnißproceſſes in Beziehung auf jenen paſſiven Bactor zu vollziehen fich 
genöthigt ſieht. Erſt wenn beide Factoren des Proceſſes das Weſen mit der Er- 
fheinung, der Subflangbegriff mit feinen Eigenſchaften fi durchdringen, ent⸗ 
ſteht als Product der vollendete Begriff. Dies gefchieht auf zweierlei Weiſe, 
je nachdem der Proceß vom Denken oder vom Sein ausgeht. Geht er von Sei⸗ 
ten des Denkens vor fich, fo wird das Erzeugniß ein Denkproduct im Ich fein, 
geht er aber von Seiten des Seins vor fi, fo wird das Erzeugniß cin Seind- 
product auf dem Felde der Objectivität jein müffen. Jenes heißt der fubjective, 
dieſes ber objective Begriff. Im ſubjectiven Begriff erfüllen wir dad Schema 
ker Subftantialität oder ded Weſens mit beliebigen Eigenfaften und weinen 


614 — Philoſophie. 


die verſchiedenen Combinationen und Stellungen, welche unter den fo geformten 
Begriffen möglich find. Die Beitftellung der Gefege der Begriffzergliederung, 
fowie des Urtheilens und Schliegens wird daher den Inhalt der Lehre vom. ſub⸗ 
jectiven Begriff ausmachen. Wenn man die Urtheile- und Schlußformen mit 
den Kategorien der Subftang und Caujalität vergleicht, fo ergibt fi), daß Die 
legteren den Inhalt oder dad Gerüft des Begriffs, die erfteren aber die Formen 
jeiner Thätigfeit ausmachen. Jene dienen dem Begriff ald Unterlage, dieſe bils 
den die Bevegungen feiner Bunction im Elemente jener. Die Kategorien der 
Subftanz und Eaufalität entwideln fi nur innerhalb und an der Unfchauung 
durch fonthetifche Apperception, indem ſie Die Anfänge des fich erft hervorbilden⸗ 
den Begriffes find. Die Urtheild« und Schlußformen als die Zunetionen der 
fertigen Begriffe in fich felbft und unter einander bewahren das Element der An« 
ihauung nur noch in Form von Gedächtnißbildern. In diefer Stellung des 
fubjectiven Begriffd beherrfcht daher der fubjective oder active Factor nicht allein 
den pajfiven Factor der Anfchauungen, fondern bebt ſich audy über dieſen Hinz 
über in das reine Element feiner eignen Yunction, während auf der Stufe der 
Weſensbeſtimmungen der active Factor nicht allein in den pajjiven der Anjchaus 
ungen verfenft, fondern auch noch gänzlich von ihm beherrſcht iſt. Im objectis 
ven Begriff erfüllt fich die Sphäre ded unmittelbaren Seind ald des objectiven 
Erſcheinens aus ſich fefor mit einem Hinterhalt von Wejensbeftinmungen und 
trägt und dadurch in den Naturproducten bereit8 fertige Begriffe entgegen, welche 
wir zwar mit dem fubjeetiven Werkzeuge der ſynthetiſchen Apperception, wie im 
umgefehrten Spiegelbilde nacheonftruiren, deren Bildungsproceß auf ihrem eig« 
nen fich und aber in Dunkel hält. Da es feft fteht, daß die objertiven Begriffe, 
eben ſowohl als Die fubjectiven, aus den apriorifchen Anfchauungen des Raumes 
und ber Zeit nebft deren Duantitätd- und Maßbeſtimmungen ihren lirjprung 
nehmen, und da Die objectiven Begriffe als fertige Producte überall aufs geläus 
fgfte in den fubjectiven Denkproceß cingehn, fo muß auch das Mittelglied des 
activen Bactord, welcher auf Dem fubjectiven Felde das Weſen beißt, bier aber die 
unbefannte Größe ift, fich auf analoge Weiſe fubftituiren laffen. Sowie er auf 
dem juhjectiven Felde ald das centrale denfende Ich zur Peripherie feiner Ans 
ſchauungen binzutritt, fo wird er auch auf dem Felde des Seins ald eine relativ 
ſubjective Potenz, ein Analogon bed Ich in die öden Auöbreitungen der Räume 
und Zeiten eintreten müffen. Da wir den objectiven Begriff ald einen bereits 
fertigen und vollendeten vorfinden, jo können wir die Stufen des Proceſſes, wel 
hen er Durchzumachen bat, nur an den Eigenfchaften deö fertigen Products ale 
fortdauernten Wirkungen der in ein concreted Ganze zufammengegangenen 
Grundpotenzen ablefen. Hierbei finden wir dad Orundverhältniß der Seinde 
beitimmungen in den mechanifchen, der Wefensbeftimmungen in den chemijchen, 
und ber Begriffsbeſtimmungen in den organifchen Proceſſen der Ratur audges 
fprochen. Das mechanifche Verhalten der Stoffe gegen einander ift ein Anziehen 
und Abſtoßen neben einander feiender felbftftändiger Einheiten vermöge ihrer 
Schwere und Elafticität. Im chemijchen Verhalten der Stoffe gegen einander 
wird und fund, daß ihr Inhalt in feinen Orundbeftimmungen in polarifch ente 


Geſchichtl. Entwickelungsgaug der Philoſophie im 19. Jahrh. 615 


gegengeſetzte Factoren zerfaͤllt, in einen paſſiven oder baſiſchen und einen activen 
oder erregenden Factor. Aus der Vermiſchung beider Extreme geht dann ein 
Reutrales als Product hervor, z. B. aus Waſſerſtoff und Sauerſtoff das Waſſer. 
Quantitaͤt nebſt bloßer Aeußerlichkeit abſtracter Raum⸗ und-Zeitbeftimmungen 
ſind lauter Kategorien aus der Sphaͤre des Seins, deren Antheil an der Con⸗ 
ſtruction des objectiven Begriffs demnach hiermit beſtimmt iſt. Da aber die 
chemiſchen Proceſſe den materiellen Gehalt des objeciven Begriffs ſelbſt und nicht 
bloß ſeine Äußerlichen Beziehungen betreffen, fo nehmen fie im objectiven Begriff 
die Stelle ein, welche im fubjectiven durch die Wefensbeflimmungen audgefüllt 
wird, wit denen fle das charafteriftiiche Merkmal tbeilen, überall in einen Dun« 
lismus von Bactoren zu zerfallen. Im organifchen Proceg kommt der Begriff 
als jolcher zur jelbitftändigen Geltung, als eine fich die Seind- und Wefent« 
beſtimmungen ald Mittel und Vorausjegungen unterorbnende Macht. Was in 
ten Wejend- und Seinsbeſtimmungen vereinzelt vorfam, wurde in der Bewegung 
tes lircheilend und Schließens als Stoff und Material in höhere Zufammen- 
binge aufgenommen. So find in der Außenwelt die demijchen und miechanifchen 
Verhaͤltniſſe vereinzelt gejegt, in der Innerlichfeit der organifchen Bewegungen 
werden fie Mittel und Ingredienzen eines fie in fich aufnehmenden höheren Pros 
ceſſes. Dieſes Verhältniß, dag der Begriff fich in einer außerhalb Tiegenden 
Exiſtenz als wirkſames und beberrfchendes Agens fichtbar und jelbfifländig aus⸗ 
breitet, heißt der Trieb. Der Trieb ift der an der Objectivität zu fich ſelbſt 
gefonmene Begriff. Er ijt weſentlich Zweckproceß, indem er die Dafeindftufen 
des Mechanismus und Chemismus fi) ald Die Grundlage feiner eignen Functio⸗ 
uen, folgiich al8 Urſachen feines Beſtandes und feiner Verförperung berbeizieht 
und unterordnet. Er fegt dad aus diejen afftmilirten Theilen entfpringende 
Ganze ala ſich jelbjt oder als die über den Stoffen waltende und bildende Thätige 
feit. Tiefer Trieb ift Dad Leben oder die Seele. Die Seele iſt ein weſentlich 
teleologijcher, fich felbft beiwegender Proceß. 

Hier ift aljo Hegel an der Sphäre des Lebens angelangt; das Product die⸗ 
ſes Proceſſes ift ein Vielfaches von Bliedern oder Organen, ein organifches 
Ganze oder ein Raturzwed, in ſich wieder aus lauter Naturzwecken ald wechſel⸗ 
wirkenden Theilen beftehend. Der Zwed bewirkt durch Die Herbeiziehung feiner 
Urjachen als Mittel nichts andered als nur fich felbft, und ift daher die Urfache, 
welche nicht in ihre Wirkungen übergeht, fontern bei ſich bleibt, Die bei fich blei⸗ 
bende Mitte der Selbſterhaltung, das Urfprüngliche, das am Ende iſt, was es 
am Anfang war. Fehlen ihm die Mittel zur Selbftvollziehung, fo wird Dies 
als Mangel und Schmerz empfunden, nämlich als eine Nichtübereinſtimmung 
des Lebens mit fich jelbft, intem es zwar als fein eigner Anfang fich gefegt fin- 
det, aber micht fühig ift, denfelben al8 active Macht im Gebiet der Stoffe wirk⸗ 
jam zu erhalten. Dadurch, daß das Lebendige Mangel und Sehnfucht empfin- 
det, gewinnt es in fich Die Borausjegung oder Empfindung eines Mangelnden, 
aljo die Empfindung einer ihm gegenüberfichenden Ratur als einer nothwendigen 
Ergaͤnzung jeines eignen Begriffs oder Triches, welcher ohne biefe Ergänzung 
fit) aus Dem Gebicte der Wirklichkeit in das der bloßen Möglicpkeit zurüdgebrängt 


te Me *8. 


fichit. Die Außemrelt wird daher nicht als ein tem Eubject oder Triebe Frem⸗ 
dee, fondern als ein zu ihm Gehoͤriges empfunten, welches er wieder zu fich zu 
nehmen und in fich ſelbſt wieder zu verwandeln hat. Hierdurch beginnt im Triebe 
Der Proceß eines Auffteigens in den fubjectiven Begriff. Tenn fobalt der Trieb 
Ach empfindet als zurüdgeträngt aus feiner Realität in feine bloße Möglichkeit 
oder Katenz, fo empfindet er fih damit als in den fubjectiven Begriff vermankelt. 
Denn der Trieb ift weiter nichts, als der fubjertive Begriff, welcher feine Eriften; 
noch nicht in fich ſelbſt als Ich findet, fontern diefelbe von außen ber and dem 
objectiven Begriffe fchöpft. Im Aſſimilationsproceß geht dem Triebe durch den 
Hunger eine Erkenntniß der Außenwelt als feiner Epeife auf, im Fortpflan⸗ 
zungsproceß entfpringt dem Triebe Lurch die Sehnſucht eine Erkenntniß feiner 
Gattung. So wird Dem Triebe fein eigned Leben durch Mangel und Schmerz, 
zum &rregungsmittel der Erfenntniß, oder zum Entwickelungsmittel des fubjec- 
tiven Begriffs. Denn das Erkennen ift die Erzeugung des fubjectinen Begriffs 
am objectiven. Der objeetive Begriff ift der am außerbegrifflichen Sein feine 
Eriftenz gewinnende, der fubjecrive ift der jeine Eriftenz in ſich ſelbſt habende 
Begriff. Im Triebe gewinnt der Begriff dadurch jeine Eriftenz, daß er fich über 
das außerbegriffliche Eein als wirkſames Agens ausbreitet. Der Begriff Hin- 
gegen, welcher fich über den außer jich gefommenen Vegriff als wirfjaned Agens 
ausbreitet, ift der ſubjective Begriff oder Das Erkennen. Das erfennente Ic 
aſſimilirt fich den objeetiven Begriff oter das Tricbleben "unter ber Geftalt ber 
Empfindung und Anſchauung. Der Umfang der Anfchauungen bezeichnet Die 
Lebensſphäre Diejes einzelnen Individuums oder Triebwejend, aber die Erfennt- 
niß überfchreitet an der Hand der Anſchauungen diefe enge Sphäre, indem fie 
fih von der Empfindung zur Bildung der objectiven Subftanzbegriffe und von 
der Erkenntniß des Individuums zur Erfenntniß der Gattung erhebt. Je mehr 
der Erkenntnißproceß al8 der Proceß der Affinıtlation Des objectiven Begriffs 
in den fubjectiven gelingt, deſto höher fteigt die Zuverficht der Vernuft auf eine 
völlige Identität beider, oder auf eine völlige Auflösbarfeit des objectiven Bes 
griffs in den fubjeetiven. Nachdem das Erkennen durch die Anfchauung zu 
einem Reichthum von Begriffen gelangt ift, durch empirifche und analytifche 
Methode, Ternt es Dieielben nach fontbetiicher und apriorifcher Methode aus tem 
eignen Ich reproduciren. Hiermit fchließt die ſubjective Idee das Apriorf ihrer 
eigenen Innern Begriffswelt auf, welche ihr nicht gegeben, ſondern ewig immanent 
if. Hierdurch finft Die ganze Ericheinungdwelt zu einer bloßen Darftellung ter 
ewigen Anſchauungs⸗ und Triebgejege herab, welche als die abgeleiteten Geſetze 
des außer fich gejegten Begriffö gegen die reinen Geſetze des in fich bebarrenten 
oder für fich feienden Begriffs (als denfendes Ich) eine untergeordnete und tiefer 
ſtehende Dafeinsftufe bilden. Das Meich der apriorifchen Gonjtructionen zer- 
fällt in zwei Theile, in Die aprioriichen Gefepe des Anfchauens, in Mathematik, 
Mechanik, Phoſfik, Chemie sc. einerfeit®‘, und in die Geſetze des reinen Ich ala 
des für fich ſeienden und fich ſelbſt erfaſſenden Vegriffs andererjeits, d. h. als 
reines Selbſtbewußtſein. So wie ter Trieb fi) das auferbegriffliche Erin ala 
Mittel feiner Wirkſamkeit afftmilirt, fo afftlmifirt das bei fich ſeiende Ich Las 


Geſchichtl. Entwilelungsgang der Philoſophie im 19. Jahrh. 617 


Triebleben der Ajfimifation und Forwflanzung oder des Erwerbs und der Fa— 
milie als Mittel feiner Vollzichung. Dies Verhäftnig Heißt: das Wollen oder 
die praftifche Bernunftiphäre. In ihr erfcheint das Geſetz der Autonomie als 
ein am Xriebleben zu vollziehendes, als das abfolute Soll, der Imperativ der 
Geiſterwelt. In diefer Seftalt Heißt das höchſte Geſetz der Weltzwed oder das 
Bute. Die Natur muß beberrfcht und nad) den Vernunftgefegen geftaltet wer- 
den, es entfteht die fortwährende Vervollkommnung als Proceß der Gultur- 
gefchichte zur abioluten Idee. Im der abfoluten Idee ift Dies gedacht, daß das 
Gute an und für fich felbft erreicht ift und in vollkommner Wirkfamkeit ftcht. 
Die abfolute Idee ift der Degriff, welcher an fich felbft und für fich feine eigne 
MWirflicykeit hat und entfaltet. Daß die Ratur einen Zweckproceß beginnt, zuerft 
im materiellen Gebiet vermöge des Triebes, hernach im weltgefchichtlichen Gebiet 
vermöge Ter Idee des Guten, kann nur als eine Ihätigkeit ter abfoluten Itee- 
(Gottheit) felbft an der außerhalb ihres Begriffs gefallenen Eriften; betrachtet 
werden. Es ift Deninach der Proceß der abfoluten Ihre (oder Gottheit) Diefer, 
ihre Eriftenz aus ihrem Begriffe forhvährend zu entlaffen, um diefelbe aus diefer 
Entlaffung (aus Dem Andersfein der Idee) fortwaͤhrend in ſich zurüdzunehmen. 
Wenn aljo der Begriff Dad unmittelbare Sein ewig fich ſelbſt vorausſetzt, ſich da⸗ 
rin vor fich jelbit Hin und dadurch unter fich felbft Herabjeßt, fo ift Died außer 
fi) gejeßte Sein dennod; ſchon immer der Begriff an fich felbft, oder der Begriff 
(denfende Geiſt) in jeiner Möglichkeit gedacht. Der Fortgang tft die Dialektik, 
Diefe Unmittelbarkeit des Seins gegen den erfcbeinenden Begriff zum Moment 
oder Mittel herabzufegen, wodurch Der Begriff zu einer Selbftvertiefung gelangt, 
indem er auf fich ſelbſt refleftirt oder In fich felbft zurüdgebogen wird. Das 
Treibende in dieſer Dialektif iſt der Widerſpruch gegen ſich felbft, welcher in der 
Unrube des aus dem Begriffe entlaffenen Seins liegt, wonach baffelbe nicht an fich 
felbft, fontern nur am Begriff feinen Beftand und feine Setzbarkeit gewinnt. — 
Man muß hierbei ſtets unter dem Worte Begriff den abfoluten Geift verftehn; 
Hegel ſagt Dies nicht, aber es geht aus feiner Darftellung hervor. — Eobald tas 
Sein (Fichte's Nicht-Ich) fegbar wird, wird e8 darin fchon zum Momente am Bes 
griff ale feiner Wahrheit herabgefegt. Sobald daher eine höhere Stufe (tes Lebens) 
erfcheint, hat die untergeordnete gegen dieſelbe Feine Wahrheit mehr, fondern fegt 
fib bloß zum erfcheinenten Momente an der Wahrheit der höheren herab. So 
belegt auf ter höheren Stufe immer der für fich feiente Begriff den Begriff der 
niederen Stufe, welcher der bloß an ſich ſeiende (fich nicht wiffende) oder in Auße- 
res Daſein verfenfte Begriff ift, und den höheren Begriff fo lange in der Sphäre 
des Erſcheinens vertritt, als derjelbe noch nicht erjchienen if. Zwiſchen dieſe 
niedere, bloß ftellvertretende Stufe und die höhere, auf welcher die niedere 
Wahrheit Der Höheren gänzlich untergeortnet wird, tritt immer eine mittlere 
Etufe des Kampfes oder der Dialektik, worin die höhere Stufe um ihren Durch⸗ 
bruch in Die Gricheinung ringt, während Die niedere fich ihr gegenüber noch in 
ihrem Rechte su behaupten fucht. So geht der Proceß der abfolnten Idee in 
allen Gebieten von Statten, fie ift der Inhalt und dad Leben, und hierdurd; führen 
alle Naturproceffe in das ewige Leben der reinen Idee als fich wiflender Geikt. . 


Te Philoſophie. re 


Dieſes Syſtem, zwar unklar in der Faſſung des Weltprincips, birgt aber 
doch fo viel wahre Definitionen in fich, die mit gewaltiger Kraft ſich zahlreicher 
Denker bemächtigten , welche darauf weiter bauend eine Schufe bildeten, und in 
eine linke und rechte Seite und in ein Eentrum eingetheilt werden. Die ge 
fehichtliche Enwickelung diefer Beiftesrichtungen, welche bi8 in die Gegenwart 
führen, bleibt die Aufgabe eines fpäter folgenden Artikels. Hier will ich noch 
die Modificirung der Schelling’jchen Anflcht berichten, weldye er nach Hegel's 
Auftreten auf dem Gatheder Ichrte, 

Das ganze Univerfum beruht in dein Urgegenfag von Ih: Nicht⸗Ich, 
jobald er gefeg: ift oder in Spannung tritt, erjcheint der Trieb als Wirkſamkeit. 
Mit dem Segen des Triebes ift cin Verhältnig des Triebes zu feinen beiten Fac⸗ 
toren gelegt ald möglih. Macht man diefe Möglichkeiten wirklid, jegt man 
. zuerfi den Trieb ald anjchaubar im Abgrunde des Nicht⸗Ich, fo entfliehen Licht 
und Schwere ald Potenzen oder Kräfte der unorganijchen Ratur; fegt man ſo⸗ 
dann den Trieb ald anfchaubar in der reinen Thätigfeit des Ich, fo entfichen 
Phantaſie oder Erfenntniß oder Raum und Zeit als Potenzen oder Kräfte der 
intelligenten Natur. Stellt man fich das Univerfum in feinen drei Graden als 
conſtruirt vor, fo ift diejes eine Welt, worin Pflanzen, Thiere und Menichen, 
überhaupt Alles aufs vollfommenfte eriftirt. Nichts kann Hierin ganz vergehen 
oder abfolut neu entitehen, Alles ift von Ewigkeit zu Ewigkeit vorhanden. Die 
Urthaͤtigkeit ſelbſt iſt Freiheit. Es gibt in der legten und höchſten Inftanz gar 
fein anderes Sein, als freies Wollen. Wollen ift Urjein, und auf dieſes allein 
paſſen alle Praͤdikate defjelben, Unabhängigkeit, Selbftbejahung und reine Ihäs 
tigkeit. Aus dieſer ald der Gottheit oder den abjolut Guten Fann nicht uns 
mittelbar das Vermögen des Böſen entipringen, fondern daſſelbe entipringt ald 
die Wirkung der freien Ihätigfeit in dem aus Gott gebornen Urmenſchen in ber 
Region der Urwelt oder de ewigen Grundes. Der ewige Grund it das Vers 
haͤltniß, welches ſich die abjolute Ihätigkeit (Ich) zu ihrem Gegentheil (Nicht⸗Ich 
oder Materie) gibt. Diefed Verhaͤltniß heißt der blinde Trieb. Er ift gleich 
jam die Sehnſucht, welche Das Ewige Hat, fich ſelbſt zu gebären, ſich ſelbſt in 
innerer Manigfaltigfeit zu entwickeln. Gott ift daher nicht jelbft Der Urgrunt, 
aber er hat benjelben in fich als etwas zu ihm Gehörendes, als eine inmendige 
Entiwidelung feiner jelbft. Das Product diejer Entwicelung ift die prototype 
Welt, zu welcher die Erſcheinungswelt fich verhält wie Trümmer zu Vollendung. 
Diefer in Gott jeiende Naturgrund wird infofern die Porenz genannt, ald unter 
Potenz das Wejen der in einem Naturproducte antagoniftifch verbundenen Urs 
thätigfeiten verftanten wird. Da das Orundverhältniß der Trieb Heiß, jo wird 
der Trieb mit Recht die Potenz der Potenzen, die Urpotenz oder erfle Potenz, 
Potenz A genannt. Ihr jchliegen fich dann zwei andere Grundſtellungen an, 
je nachdem dad Wirfen des Triebes auf der Seite des Nicht⸗Ich in Licht und 
Schwere, oder auf der Seite des Ich in Anfchauungen und Tenfen ergriffen 
wird. Diefe Stellungen werden als eine zweite und dritte Potenz oder eine 
Potenz B und C jener erften Orundpotenz hinzugefügt; und die Wiſſenſchaft 
vom Verhältnig diejer trei Stellungen ala PotenzenIchre oder ald negative Phi« 


Geſchichtl. Entwidelungdgang der Ppilofophieim19. Jahrh. 619 


Tofophie bezeichnet. Die erfte Potenz oder der Trieb ift ein blinder Wille zur 
Eriftenz, der als folcher ein Werden deffen in fich fchließt, was noch nicht if, 
ein Sein-Können einer Möglichkeit. Der Trieb fommt nicht unmittebar ala 
folcyer, jondern immer nur an feinem Product zur Erjcheinung. Dem Bes 
griffe nach ift der Trieb das erfte und das zweite fein Product, Wo die zweite 
Potenz auftritt (als Materie) ift Diefelbe immer die Wirkung der noch Tatenten 
erften, aber die erfte Potenz ift nur Trieb, injofern fie ein Streben in die zweite 
Potenz oder ind Product if. Oelänge ed, den Trieb auch innerhalb der Er- 
ſcheinung gänzlich feines Strebend ind Produer zu berauben, gleichfam gänzlich 
in ſich jelbft zurüczudrängen, fo würde in ihm Die bloß feinfönnende Sehnfudht 
oder erfte Potenz erlöfchen, und. feine innerfte Wurzel als reine Urthätigfeit 
oder Breiheit fich offenbaren. Dies wäre dann die dritte Potenz, oder die Pos 
tenz C, dad Bewußtjein. Weil die dritte Potenz die in der Welt erfcheinende 
reine Urthätigfeit ift, iſt ſie der Zweck von Allem, um deffentwillen Alles allein 
da ift, indem ihr allein zu fein gebührt. Im diefem Sinn ift der Menſch in der 
Melt an der Stelle Gottes, als göttliches Ebenbild und Theilhaber an der reinen 
Urthätigkeit. Durch feine Zreiheit irrt der Menich ab vom Pfade der Tugend 
und wird Gott entfrenidet. Das Chriſtenthum aber Fündigte an, die Einheit 
mit Gott, welche der Menſch durch Sündenfall verloren, ihm wieder möglich 
machen zu wollen. Das Ehriftenthum ift das Erjcheinen der dritten Botenz 
oder Der Autonomie der Vernunft in der Entwidelung der Menichheit, wie die 
Entftehung des Menjchen das Erjcheinen der dritten Potenz im Raturproceß if. 
Dad reine Geſetz der Freiheit im fittlichen wie im politischen Leben zur allge 
meinen Geltung zu bringen, ift dad Ziel des culturgefchichtlichen Bildungs« 
ganged ter Menfchheit. — 

Diefed Schelling’ihe PHilofophiren war allerdings ein Rüdfchritt in bie 
Abnungen und Darftellungen ter Myſtiker und Theoſophen und wurde deshalb 
mit Recht fehr ſcharf fritifirt, fo daß fich der hochbetagte Greis in ein Schweigen 
verhüllte, über die Alpen zog und in der freien Schweiz die Erde für immer ver 
lieg. Unſere philofophifche Richtung ift mathematiſch und logifch, firebt aber 
dabei alle empirijchen Erfcheinungen und deren Gejege zu ergründen und fle 
als Deweife für die durch logiſche Schlußfolgerungen erzielten Refultate zu ver⸗ 
wenden, Alle ®chiete der Geologie, Chemie, Botanik, Phyſtologie, Philologie, 
ja alle nur möglichen Regionen ded Wiſſens werden durchwandert, um dad abe 
jolute Lebensprincip in feinen fpecielliten Erjcyeinungen zu erforichen und das 
Weltall in feiner Totafität erkennen zu lernen. Daher kann und weder Die Lehre 
Hegel's noch Schelling’8 genügen; der logiſch forjchende Geiſt der Neuzeit fleigt 
in die Tiefen der Erde, ſowie in alle Regionen der Sonnenfyfleme, um die reine 
Wahrheit ald evidente Gewißheit zu erringen, denn nur hierdurch wird ihm ber 
befeligende Friede zu Theil. Alles Sein und Denken ſoll in feiner Geneſis 
erkannt werden, das ijt das höchſte Ziel der Philoſophie. 


Die Entftedung der Hattungen. 


Don 
Dr. $. Wachler. 





Die zahllojen Wefen, die auf dem belebten Theater unferes Planeten eine wich⸗ 
tige oder befcheidene Rolle fpielen, bieten eine unendliche Fülle von Aehnlichkeiten 
und Gegenfägen dar. Cie bewohnen die Auft, das Waffer, das Feſtland, unter- 
feheiden fich durch Größe, Farbe, Eigenthünlichfeiten der Organifation, Zahl 
und Feinheit der Sinne, größere oder geringere Lebensdauer; fie find beweglich 
oder unbeweglich, ſtark oder ſchwach, felbfifländig oder von anderen abhängig. 
Pan kann mit Recht darüber erflaunen, daß die Natur mit der geringen Anzahl 
einfacher Elemente, Die fie zu ihrem Echöpfungöwerfe verwendet, jo zahlreiche 
Formen ind Dafein zu rufen und daß Lebensprinzip in den manigfaltigften Or⸗ 
ganismen Freifen zu Taffen vermag. Der Naturforicher, ter alle dieſe verfchiede- 
nen Typen Tonnen lernen will, ordnet fie nach einer hierarchiſchen Reihenfolge; 
er Elaffifizirt fie, um ſie hinterher zu befchreiben. Er macht e8 wie Vater Homer, 
der, wenn er das griechijche Kriegäheer an uns vorüberziehen läßt, Die Geſchichte 
feiner ſaͤmmtlichen Führer erzählt. Die Klaſſifilationen find für dad Studium 
unentbehrlich; Die Kategorien, Die ſich aus ihnen ergeben, find nichts als der 
Ausdruc der Aehnlichkeiten und der Unähnlichkeiten, Der natürlichen Verwandt⸗ 
fihaften und Beindfchaften. Ohne diefe mühevolle Arbeit der Analyſe wäre Tas 
MWeltgemälde um nichts Tchrreicher als eins jener reizenden Bilder, auf denen 
ein Maler das Gewirr der Thiere, Die unfere Ureltern im irdijchen Paradieſe ums 
gaben, dargeftellt hat. Gazellen und Tiger, Schafe und Löwen tummeln fidy ges 
meinfchaftlich auf Edens berrlichen Grasflächen; der Rüffel des Elephanten be 
wegt fich dicht neben dem ſchlanken Halfe der Giraffe unter hochflänmigen, mit 
phantaftifchen Blüthen bedeckten Bäumen. 

Die Klaſſifikation ift der Leitfaden, mit deffen Hülfe wir uns in dem Laby— 
rinth der Natur zurechtfinden. Uber man glaube ja nicht, dap tie Klafftfifarion 
einen eigenen, objektiven Werth babe. Linfere Eintheilungen find nur Kors 
men, die Der Geift nach feinem Belieben erfindet, um die Wahrheitsförnchen, Die 


Entftehung der Gattungen. 621 


er zu ergreifen vermag, Darin aufzubewahren. Wir machen es wie der Maler, 
der, wenn er ein Gemälte beginnt, zuerft die Umriffe auf die Leinewand zeichnet, 
obwohl die darzuftellenden Gegenftänte Feine dünnen Linien, fondern Körper von 
räumlicher Ausdehnung, von veränderlicher Form und Farbe aufweiſen; bat ber 
Künftler dad Werf vollendet, jo ift der geometrijche Riß verſchwunden. Linfere 
Klajfen, unjere Familien, unjere Oattungen find gewiſſermaßen die Umriſſe, 
die uns die Spur unzähliger Beobachtungen in unferem Gedaͤchtniſſe aufs 
zubewahren erlauben. Die Manigfaltigkeit in der Einheit und die Einheit 
in ter Munigfaltigkeit fuchen, ift nur eine von den Kormen, die Natur zu erfläs 
ren, und begreiflicher Weiſe gibt eine ſolche Erflärungsweije Stoff zu fortwähe 
renden Kommentaren. Die Gelehrten, die den Schlüffel zu einer unbefannten 
Eprache juchen, find unter jich weniger uneinig als die, welche nach der Ehre 
fireben, in dem geheimnißvollen Buche des Lebens zu leſen, deſſen Charakter 
und verborgenen Sinn zu ergründen. 

Gibt es in der Naturgejchichte wie in den übrigen Wiſſenſchaften eine fefte 
Srundlage, auf Die das Gebäude fi ftügen Fann ein Element, das ſowohl zum 
Aufbau wie zum Abbruch dient? In der Arithinetif ift diefe Grundeinheit 
die Zahl, in der Chemie das Atom, in der Mechanik die Kraft. Die von ber 
Mehrzahl der Naturforfcher angenommene Einheit ift der Haum; aber tiejer 
wefentliche Bunft der Theorie halt nicht Stich vor der Kritif. Die Definition, 
die Merfmale des Raumes find der Segenftand zahlreicher und heftiger Kontros 
verjen geiwejen. Während Die Einen, wie Buffon, den Raum für eine unwandels 
bare, feite Korn anſehen, ihn als ein fertiges, unmittelbares Produkt der ſchöpfe⸗ 
riſchen Kraft betrachten, wollen Andere ihn nur als eine einfache, rein ſubjektive 
Kategorie gelten laſſen, denen gleich, die fich unjeren Klaffififationen entgegen⸗ 
ftellen; für Diele Teßteren gibt es feine Mealität außer im Einzelwefen. Ein 
ichlagendes Beiipiel mag zeigen, wie weit man noch von einer Einigung über den 
Begriff des Raumes entfernt iſt; es genügt, an Die enblojen Debatten zu erin⸗ 
nern, zu Denen das Menjchengejchlecht jelbft Die Veranlafjung gegeben bat. Laͤßt 
fi) tie zahllofe Menjchenmenge auf eine oder mehrere Oattungen zurüdführen ? 
Stammen die Menjchen von einem einzigen oder von verfchiedenen Paaren ab. 
Die Anthropologie, die Ethnograpbie, die Phrenologie, tie Philologie, ja ſelbſt 
die theologiiche Kritit haben nach einander biejed wichtige Broblen unſeres Urs 
ſprunges angegriffen; was Wunder, wenn ihre widerfprechenden Antworten un 
nod) immer in Ungewißheit und Zweifel laſſen. Geftehen wir es nur, wir ken⸗ 
nen uns jelbft noch nicht: blicken wir in die Vergangenheit zurüd, fo vermögen 
wir faum den Lauf einiger Jahrhunderte zu überfchauen ; der Urmenjch entjchlüpft 
unjeren Blicken, ein paar rohe Beucerfleintrünmer, jeltfame und verworrene Tra⸗ 
ditionen,” das ift Alles, was und von ihm bleibt. Je nach der Laune der Eine 
bildungsfraft können wir und die Kindheit unfered Geſchlechts mit den poetifche 
ften oder den ſchrecklichſten Farben ausmalen, Eönnen fte mit allen Reizen eines 
naturwüchfigen, jungfräulicyen Seelenlebens außftatten, oder fie Durch die wibers 
liche Erinnerung an die den niedrigften Trieben gebrachten Opfer, an Die gegen 
die Unbilden aller Naturkräfte ruhmlos beſtandenen Kämpfe in den Staub dekex. 


622 Naturgeſchichte. 


Wenn wir dagegen den Blick auf die Zukunft richten, finden wir dann nicht, 
was uns zu ter Hoffnung berechtigt, Daß unfer Gefchlecht jemals fich ändern mi 
ein höheres Ideal von Schönheit, Berftand und Stärfe verwirklichen fon! 
oder müflen wir glauben, daß Rohheit, Häplichkeit und Gemeinheit für immer 
das Loos der großen Mehrheit fein werten, daß die Menichen Alles um fid ber 
um, nur fich felbft nicht veredeln Dürfen? 

Je nachdem wir ung zu der lange Zeit hindurch Herrichenben Lehre von ter 
Unwantelbarfeit der Gattungen oder zur Theorie der ſtufenweis fortichreitenten 
Umbildung der organijchen Formen befennen, eröffnen ſich unferen Biden ver 
fhietene und völlig entgegengejegte Ausſichten. Im erften Ball erfcheint und bie 
ungeheure Kluft zwijchen ter Größe unierer Beſtrebungen, zwijchen ber Kubr- 
heit und Erhabenheit unjerer Gedanfen und der Dürftigfeit unferer Mittel, oter 
wie es Pascal mit einem Fraftvollen Austrud bezeichnet, zwifchen dem Enge 
und der Beftie im Menfchen, al8 ein unauflösficher und nothwendiger Wider: 
fpruch, deſſen Glieder ſich unmöglich äntern Fönnen; im letztern Fall ift fie nichts 
als eine Uebergangsphaſe der Bewegung, die alles Befchaffene dem ewig Schön 
und Guten entgegenführt. 

Man flieht, von welchem Gewicht die Fragen find, die fo zu fagen die Phi⸗ 
loſophie der Raturgefchichte ausmachen; Dieje Bedeutung verfennen, beißt einem 
Beweis von wahrhafter Geiftesarmuth geben. Wohl weiß ich, daß der Maik, 
der e8 liebt fich ald den Herrn ter Schöpfung zu betrachten, nicht gern an die 
Bande erinnert fein will, die ihn an dieſe Natur fefieln, Die er zu beherrſchen 
glaubt. Er ift jedoch wie die ganze animalijche Welt denſelben geheinnißvollen, 
unabänderlichen Sejegen unterworfen, welche die Bortpflanzung des Geſchlechte, 
tie Ueberlieferung der Achnlichfeiten, Der Anomalien, der Krankheitsprinzipien, 
die Verbreitung und den Untergang der Racen betingen. Unſer Stolz wir 
jeden Tag durch das Abhängigfeitsverhältnig gedemütbigt, deſſen Wirfungen wir 
unmittelbar fühlen. Aber wie viel andere verborgene Abhängigfeitöverhältnifke 
laften auf uns wie Ketten, an tie der Sklave ſich jo fehr gemöhnt, daß er ihren 
Drud gar nicht mehr fühlt, obwohl er ſie mit ſich herumſchleppt. Legen wir doch 
endlich die Scheu vor der Wahrheit ab und verfuchen wir nicht blos als Gelehrie 
und Philoſophen, ſondern auch ald Naturforjcher den Menſchen zu jtutiren. 
Kehren wir zu feiner fernften Vergangenheit zurück; juchen wir ihn in jenen 
alterögrauen Denfmalen auf, wo wir ihn Leib an Leib mit wilden Beftien ringen 
fehen ; holen wir aus ber feit Jahrhunderten verhärteten Schlammfrufte Die gro» 
ben Werkzeuge hervor, deren er ſich bei jeinen erften Kämpfen bedient Hat; erfor 
schen wir die geheinmnigvollen Vorgänge, in Folge deren Die Thiergefchlechter in 
Unterabtheilungen und Barietüten zerfallen, und fammeln wir jorgfältig alle 
Analogien, die un über den Urfprung ber Menſchenracen Auffchluß geben können, 
Mit diefem Icgteren Gegenftande hat ſich neuerdings unter Anderen Charles Dar- 
twin in einem Buche befchäftigt, das gleich bei ſeinem Erfcheinen ein ungewöhn⸗ 
liches Aufſehen erregt und heftige Kritiken von der einen, lebhafte Bewunderung 
bon der anderen Seite hervorgerufen bat. Darwin's Ruf als Naturforjcher Datirt 
nicht von geftern oder heute, vor mehreren Jahren bat er auf dem Beagle bie 


Entftehung der Gattungen. 623 


Erte umfegelt und nach feiner Heimfehr fehr intereflante NReifeerinnerungen, ſo⸗ 
wie verfchietene Werke naturwiflenfchaftlichen Inhalts, namentlich über die Bil⸗ 
dung der Eoralleninfeln im ftillen Dcean, herausgegeben. Sein neuefted Wert 
über „die Entfichung der Gattungen“ überragt indeffen jene früheren Arbeiten 
unm ein Bedeutendes; es iſt dad Reſultat Iangjähriger Forſchungen und aus— 
dauernder Veobachtung und enthaͤlt die Entwickelung einer neuen geologiſchen 
Theorie, welche die Summe der Erſcheinungen der organiſchen Welt umfaßt und 
die ernſteſte Prüfung verdient. 
1. 

Menn man das Thierreich unter einem wahrbaft philofophifchen Geſichts⸗ 
punfte betrachtet, fo fann man es nur ald eine Geſammtheit von Einzelweſen 
auffaffen,; um jedoch den Aedürfniffen der Wiffenjchaft zu genügen, bezeichnet 
man feit langer Zeit mit dem Ausdrud „Gattung“ eine Anzahl ähnlicher Einzel⸗ 
weien, die von anderen ähnlichen Einzelweſen herſtammen. Sind diefe Indivi⸗ 
duen einander abfolut ähnlich? Keineswegs. Es ift eine allbefannte Thatfache, 
dag ed in einen Walde nicht zwei völlig gleiche Blätter gibt; ebenfo Fann man 
fagen, daß niemals eine vollfommene Achnlichkeit zwifchen zwei Menfchen, zwei 
Pferden, zwei Hunden beitebt. Die Merkmale, durch die fich die Individuen der⸗ 
jelben Gattung von einander unterfcheiden, find jedoch doppelter Art; entweder 
find fle rein accidentelle und perfönliche, oder folche, die vererbt werden und blei⸗ 
ben. Gin hoher oder niedriger Wuchs, hellere oder dunklere Farbe der Haare, 
der Augen, diefe und andere Eigenthümlichfeiten, die man auf den erften Blick 
bemerft, haben nur eine untergeorbnete Bedeutung gegenüber den ungleich tiefes 
ren Uinterichieden, die den Europäer von dem Neger, dem Ehinefen, dem Prairie⸗ 
Indianer trennen. Der ungefchlachte Qullenbeiger und der Pyrenaͤenhund gehö⸗ 
en fo aut wie dad Windſpiel und der Affenpinfcher zur Gattung Hund; allein 
ihre Unterfcheidungsmerfmale, obfchon Feine fpezififchen, find fo fcharf audgeprägt 
und fo dauerhaft, daß man genöthigt ift, die Battung in fogenannte Barietä«- 
ten, Spiele oder Abarten zu zerlegen, analog unferen Menfchenracen. Der 
Menſch bat, wie Jeder weiß, eine Anzahl Varietäten gefchaffen, er modifizirt und 
hat ins Unendliche die Blumen und Fruchtbäume verändert; er bat Stiere ohne 
Hörner, Schweine von riefigem Umfang gezogen; er macht nach feinem Belieben 
das Pferd kurz oder lang, je nachdem es zum Ziehen oder Reiten gebraucht wer⸗ 
den foll. „Lord Somerville“, berichtet Darwin bei Erwähnung der von den 
Schafzüchtern erzielten Reſultate, „fagte mit Recht: Es fcheint, als Hätten diefels 
ben eine vollkommene Bigur mit Kreide auf eine Wand gezeichnet und nach diefem 
Bilde die Thiere geſchaffen.“ in ſehr geichickter Taubenzüchter, Sir John 
Sebright, pflegte zu lagen, daß er in drei Jahren ein beftimmtes Gefieder erzielen 
fönne, sum Kopf und Schnabel aber fech8 Jahre brauche. 

Menn die Gattungen nach dem kühnen Ausdrud Buffon's „die einzigen 
MWefen der Natur‘ wären, fo fönnten die Kennzeichen, die Feine fpezifiichen find, 
die nicht fo zu fagen zum Grundtypus gehören, nimmermehr vererbt werden. 
Zahlreiche Veifpiele beweifen jedoch, das dies allerdings gefchieht. Wer hat wirt 


624 Naturgeſchichte, 


von der Naſe der Bourbonen, von der Habsburgiſchen Oberlippe gehört? Einem 
berühmten Arzte in Paris find die beiden kleinen Finger völlig krumm gewachſen 
und dieſe fonderbare Erſcheinung bat fich bereits feit mehreren Generationen 
wiederholt. Ich Fenne zwei Kamilien, deren Mitglieder eine eigentgümliche Bes 
ſchaffenheit der Zähne zeigen: in der einen find die beiden Hauptichneidezähne 
durch einen Zwifchenraum von ganz ungewöhnlicher Größe getrennt, in der ans 
deren find die Wurzeln der Badzähne dermaßen bafenförmig gefrünmt, daß deren 
Ausziehung beinahe unmöglich if. Der Doktor Prosper Lucas hat ein zweis 
bändiges, höchſt interejfantes Werf mit derartigen Beijpielen gefüllt*), Dur 
ein geſchicktes Erkennen der einer regelrechten Uebertragung fühigen Eigenthüm⸗ 
lichfeiten bringen es die Viehzüchter dahin, daß fie fünftlich Racen jchaffen und 
verändern, Denn wenn man forgfältig Die Gefchlechtöfolge regelt, jo nähert man 
ſich ſchrittweiſe Dem vorgeftectten Ziele. Das Endrefultat enthält die Totalſumme 
aller einzelnen Kortichritte. Dan nennt diejes Verfahren tie Ausmerzung. 
In Sachfen hat man die Wichtigkeit dieſes Prinzips für die Fortzucht der Merinos 
ſchafe jo gut begriffen, daß das Ausmerzen hier cin beionderes Geſchaͤft gewors 
den if. Man jtellt die Schafe auf eine Tafel und ftudirt ſie mit der forgfältigen 
Aufnierfjamfeit eines Kunftfenners, der ein Gemälde prüft. Diele Schau wird 
allmonatlich wiererholt, jedesmal werden Die Schafe gezeichnet und klaſſifizirt 
und nur die beiferen zur Kortzucht beftinnt. „Einem derartigen jorgfältigen Vers 
fahren”, jagt Milne Edwards in feiner Zoologie, „verdanken zum Theil die aras 
biſchen Pferde ihren wohlverdienten Ruf. Die Araber legen einen ſolchen Werth 
auf die Reinheit ihrer edlen Roſſe, Die fie „kochlaneh“ nennen, daß deren Abſtam⸗ 
wung ſtets durch autbentiiche Urkunden beglaubigt wird. Sie behaupten, die 
Genealogie mehrerer diefer berrlichen Thiere jei bereit jeit beinahe zweitaujend 
Jahren befannt, und in der That Laßt ſich bei einigen ein vierhunbertjähriger 
Stammbaum durch jchriftliche Beweiſe herſtellen“. 

Die Varietäten oder Racen baben in Der Raturgeichichte eine Vedeu⸗ 
tung, die den Zoologen nicht länger entgehen kann. Wir leben nicht mehr in 
den Zeiten, wo man annahm, dag der Embryo das Thier im Kleinen jel, eine 
Lehre, die auf das befannte Volföfprichwort hinausläuft: „Die Eiche ftedt in 
der Eichel“. Wir glauben nicht mehr mit Swanmerdan und Malebrandye, dag 
der erſte für jede Gattung gejchaffene Embryo notbiwendigerweije die Keime aller 
Individuen in fich trug, durch welche die Gattung während eined unbegrenzten 
Zeitraums erhalten werden follte. Dieſe berüchtigte Lehre von der Präcriftenz 
der Keime hat vor der wahren Naturforichung nicht Stich gehalten; Wolf, Blus 
menbach, von Bär haben fie durch die Theorie der Epigeneſis verdrängt. Wir 
willen jegt ganz beftimmt, dag der Embryo keineswegs Das getreue Miniaturbild 
des vollftändig entwickelten Indivituums ift, daß die Ausprägung ber ſpezifiſchen 
Kennzeichen und Eigenjchaften nur ſtufenweiſe erfolgt, daß die Organe nur alle 
mälig, und zwar Die einen gewillermaßen auf Koften der anderen ſich bilten. 


*, Traite de 1’Heredite naturelle dans les etats de sante et de maladie du système 
nerveux, par le docteur Prosper Lucas. Paris, 18547— 1550. 


Entftepung der Gattungen, 625 


Die früher verbreiteten Anfichten über die Natur des Raumes laſſen ſich auf Feine 
Weiſe mit diefen Entdedungen in Einklang fegen, und der Irrthum wird noch 
einleuchtender, wenn man bedenkt, daß gewifle Kennzeichen, obichon fte Feine ſpe⸗ 
zifiſchen find, fich gleichwohl regelmäßig vererben und foigfich nicht als rein zus 
fällige Abweichungen von einem theoretifchen und idealen Typus anzufehen find. 

Gewiſſe Varietäten haben die urfprünglichen Typen fo vollftändig ver- 
drängt, daß wir ungeachtet aller Anftrengungen nicht mehr im Stante find, bie 
legteren wiederzufinden. Vergebens jucht man einige unferer Pflanzen im wilden 
Buftande; wir können in vielen Bällen nicht behaupten, ob gewiſſe Racen von 
einer oder von mehreren Gattungen berfommen. Wer vermag zu fagen, ob 
unfere fänmtlichen Pferde von einem einzigen wilden Pferde, unfere fänmtlichen 
Schafe von einem einzigen Schafe abſtammen? Cinige Schriftfteller haben die 
Lehre, welche Die Racen auf getrennte Urtypen zurüdführen will, bis ins Lächer« 
liche übertrichen. „Sie glauben‘‘, jagt Darwin, „daß jede Race, die fich fortpflan⸗ 
zen Eönne ohne ihre eigenthümlichen Merkmale zu verlieren, fo unbedeutend Dies 
felben auch fein mögen, ein wildes Prototyp gehabt Habe. Nach diefer Auffaffung 
müpte es einft eine Menge Gattungen Ochfen, Schafe, wilder Hunde in ganz 
Europa und fogar in Großbritannien gegeben haben”. Dies ift eine Lächerliche 
Uebertreibung ; um ſich Dann zu überzeugen, braucht man nur das Verzeichniß der 
wild lebenden europäifchen Säugetbiere anzufehen,; England bat nur ein einziges 
aufzuweifen, Das ihm allein gehört, Branfreich befigt wenige, die fich von den in 
Deutſchland einheimischen unterfcheiden, Ungarn, Spanien, Italien find Eeined« 
wegs daran reicher. 

Es gibt wenige Sattungen Hausthiere, die fo viele und fo unähnliche Racen 
aufzumweifen haben, wie der Hund. Die Extreme find bier fo ungeheuer, daß 
felbft Darwin annimmt, e8 müſſe mehrere Urtypen gegeben haben. Uber muß 
man ihm nicht darin beipflichten, daß eine ſehr große Anzahl Varietäten einfach 
der Erblichfeit gewifler Kennzeichen zugufchreiben ift, die fih unter den Ab- 
kömmlingen deffelben Gefchlechtd immer befjer ausgeprägt haben? „Kann man 
glauben‘, bemerft er fehr richtig, „daß Thiere, die dem italienifchen Windjpiel, 
dem Bulldog, dem Wachtelhunde gleichen, jemals im wilden Naturzuftande gelcht 
haben? Man hat häufig die etwas oberflächlidhe Behauptung aufgeftellt, daß 
unjere ſaͤmmtlichen Hunderacen durch die Kreuzung einer kleinen Anzahl Urgat- 
tungen entftanden feien; wir fönnen aber burdy die Kreuzung nur Formen erzie⸗ 
Ien, die gewiffermaßen die Mitte zwiſchen den Formen der Erzeuger halten. Will 
man fich alfo unfere zahmen Hunderacen auf diefe Weije erklären, fo muß man 
eine Präcriftenz der audfchweifendften Formen, wie bie des italienifchen Wind» 
ſpiels, des Bulldogs sc., im wilten Zuftande annehmen. Uebrigens hat man bie 
MöglichFeit, durch Kreuzung ganz verfchiedene Racen zu jchaffen, außerordentlich 
übertrieben. Es unterliegt feinem Bweifel, daß eine Nace durch Kreuzungen 
irgend eine Veränderung gelegentlich erleiden kann, aber man muß jorgfältig Die 
Baſtarde ausjuchen, welche die gemwünfchten Kennzeichen an ſich tragen‘. Die 
Kreuzung ohne Auswahl liefert nur heterogene Produkte ohne irgend welche 


Beftimmtheit; die Auswahl allein gibt den organifchen Typen Gleichförmigkei 
V. 40 


626 Raturgeichichte. 


und Dauer; bie Eügfte Anwendung des großen Prinzips ber natürlichen Ver⸗ 
erbung, hat fie zur Folge, daß die Gattungen in immer zahlreichere und immer 
beffer auögeprägte Varietäten zerfallen. Können die Unähnlichkeiten, nach Denen 
bie Macen Elaffifizirt werden, auf die Länge fo bedeutend werten, daß e8 unmög- 
lich ift diejenigen Kennzeichen, die man bie eigentlich fpeziftfchen nennt, davon 
zu unterfcheiden? Wenn man dieſe Brage bejaht, fo ift die Grenze, welche bie 
einfache Varietät von der Gattung trennt, nicht mehr unüberſchreitbar; fle iſt 
Bann nur noch eine Schranfe, die je nach den Umfländen ſich erhebt oder fällı 
und endlich vollftändig verfchwinden kann. Wenig Zoologen find geneigt, eine 
ſolche Schlußfolgerung gut zu heißen. Gewöhnt an die regele und funftgerecht 
gezogenen Linien der ordentlichen Klaffififation, mögen fle fih nicht auf den Triebe 
fand einer Theorie wagen, welche die verfchiedenen Gattungen vermöge einer Art 
fortwährender Evolution aus einander hervorgehen läßt. 

Die Möglichkeit organische Formen zu bilden, hat indefien ihre unver 
rüdbaren Grenzen. Wie man auch bei der Auswahl verfahren mag, man ftößt 
Immer auf eine unüberfteigliche Schranfe. Die Fünftlichen Mittel, Die man an⸗ 
gewendet bat, um neue Racen zu fchaffen, Haben nimmer zu wirklichen Gattun- 
gen geführt, weil die Individuen, die zu den durch biefe Mittel erzielten Varie 
täten gehören, fortwährend gefreuzt werden Eönnen und fruchtbare Produfte her⸗ 
vorbringen. Die Kreuzung ber eigentlichen Gattungen führt dagegen zur Un⸗ 
fruchtbarkeit. Die Natur wollte wahrfcheinlich, indem fle den Baftarden bie 
Bortpflanzungsfähigkeit verfagte, die Vermifchung der Formen verhindern, die 
fie ins Dafein gerufen. Pan fteht, daß wir durchaus nicht gemeint find, das 
Gewicht des von den Anhängern der Schule Buffon's und Cuvier's gemachten 
Einwurfs zu verringern; aber es ift denn doch fehr fraglich, ob Die Erfcheinung 
der Wiebererzgeugung wirklich eine fo ſcharfe Scheidelinie zwijchen den Gattungen 
und Racen zieht. Diefe Brage bezüglich der Baftarde gehört ficherlich zu den⸗ 
jenigen in der Naturgejchichte, die mehr oder weniger in Dunfel gehüllt bleiben; 
erft in neuefter Zeit hat es fich namentlich im Pflanzenreich ein wenig gelichtet 
Dank den trefflichen botanifchen Arbeiten Gaͤrtners und Kölreuterd, Die zwar 
nicht die Geheimniffe der Kortpflanzung zu erflären vermocht, aber doch wenig. 
ſtens die Wiffenfchaft mit Höchft intereffanten Thatſachen bereichert und die Herr 
ſchaft der abfoluten Ideen erfchüttert Haben, die lange Zeit über diefen jchwierigen 
Gegenftand verbreitet waren. Die Forſchungen Gärtners find um fo fchägbarer, 
da er fle in der ausgefprochenen Abſicht angeftellt Hat, um die Unfruchtbarfeit 
der durch Kreuzung zweier verfchiedener Gattungen entflandenen Baftarde und 
bie Bortpflanzungsfähigkeit der durch Kreuzung einfacher Unterarten oder Varie⸗ 
täten erzielten Mifchlinge zu beweifen. Diefe Forſchungen zeigen, daß, wenn 
man Baftardpflanzen vor dem Blüthenftaub der Pflanzen fchügt, die man mit 
einander vermifcht hat, bie erftern eine Neigung zur Unfruchtbarkeit befunden, 
bie mit jeder Generation zunimmt. Die Keimbildung geräth dann bisweilen 
jehr ſchnell ind Stoden, doch hat Gärtner fle bei gewiffen Pflanzen gegen acht⸗ 
mal wieder erfcheinen ſehen. Uebrigens ift Hierbei zu bemerken, wie e8 auch Dar» 
win mit vollem Rechte thut, daß Pflanzen, die vollftändig iſolirt find und mit 


Entfichung der Gattungen. 627 


denen man Verſuche anftellt, fih in anomalen und für die Wiebererzeugung fehr 
ungünftigen Berbältniffen befinden. Die Sruchtbarkeit der gewöhnlichen Pflan- 
zen bedarf zu ihrer Erregung der freien und unaudgefegten Bewegung ber Keime, 
und der Geſelligkeitstrieb ift im Pflangenreich fo ſtark ausgepraͤgt, daß felbft die 
meiften Zwitterpflanzen mehr durch ihre Nachbarn als durch ihre eigene Sub⸗ 
ftanz befruchtet werben. 

Die Gärtner wiſſen, daß es viele fruchtbare Baftardpflanzen gibt. ‚Man 
kann auf manigfache Weiſe die zahlreichen Arten der Pelargonien, der Fuchſien, 
ber Galceolarien, der Petunien, den Rhododendren Ereuzen, und viele von biefen 
Baftardgewächjen geben Samen. Wenn die Fruchtbarkeit gut gepflegter Baftarb- 
pflanzen mit jeder Generation abnehme, wie Bärtner glaubt, fo würden dies die 
Gärtner wohl wiſſen.“ In dem Thierreich erfcheint die Unfruchtbarkeit unend« 
lich deutlicher ausgeprägt ald in dem Pflanzenreih. Darwin erflärt auf das 
Beſtimmteſte, es fei ihm Fein einziges authentifches Beiſpiel einer fruchtbaren 
Baſtardthierart befannt. Er fegt hinzu, die Zeugung fönne bei den Thieren 
viel leichter al8 bei den Pflanzen verhindert werden. Es ift befannt, daß bet 
vielen Oattungen die Gefangenfchaft ein binreichendes Hinderniß iſt. Die inneren 
oder organiichen Anomalien wirken lähmend auf jene tief verfchleierte, geheimniß⸗ 
volle Sphäre ein, von der die regelmäßige Uebertragung des Lebensprinzips aus⸗ 
geht. Und kann man fich eine größere Anomalie denken als eine doppelte Or⸗ 
ganifation, Die gleich jenen feltfamen, in zwei Hälften von verfchiedener Farbe 
geibeilten Kleidungsftücden, wie man fle im Mittelalter trug, zwei verfchiedenen 
Weſen entlchnt ift? 

Nicht alle Gattungen kreuzen fich mit derfelben Leichtigkeit; man möchte 
faft glauben, daß der Kreuzungdtrieb um fo größer fei, je deutlicher bie organi⸗ 
ſchen Berwandtfchaften markirt find; das trifft jedoch nicht immer zu. Gaͤrtner 
hat fich überzeugt, dag fehr nahe verwandte Pflanzengattungen fich unter einan» 
der nicht vermifchen, während er die gegenfeitige Befruchtung von Pflanzen er⸗ 
zielt hat, die fich durch ihre Blüthen, ihre äußeren Merfmale, ihre Lebensdauer, 
ihre geographifchen Standorte als wefentlich verfchieden zu erfennen geben. : Die 
Sruchtbarfeit hängt überdies fogar von dem Verfahren bei der Kreuzung ab; 
der Hengft kann mit der Efelin, der Eſel mit der Stute gefreuzt werden, allein 
die Befruchtung ift um Vieles leichter auf die eine als auf die andere Weiſe zu 
erzielen. Kölreuter 3. B. berichtet, die mirabilis jalappa fei leicht durch den 
Blüthenftaub der mirabilis longiflora zu befruchten und bie auf dieſe Weife ges 
wonnenen Baftarde feten noch ziemlich fruchtbar, während er acht Jahre hindurch 
öfter ald zweihundertmal vergebens verfucht habe, die zweite Gattung durch den 
Bluͤthenſtaub der erften zu befruchten. Wenn auch die beiderfeitige Kreuzung 
möglic) ift, fo findet doch ſtets ein Unterfchieb in der Bruchtbarkeit der auf die 
eine oder die andere Weife erzielten Baftarde flatt. Darwin wirft die Frage auf, 
ob man aus diefen Eomplizirten und fonderbaren Gefegen folgern dürfe, daß bie 
Unfruchtbarkeit der Verbindungen zwifchen Gattungen einzig den Zweck habe, 
deren Bermifchung in der Ratur zu verhindern; er glaubt es nit. „Warum, 


bemerkt er, würde Die Unfruchtbarkeit innerhalb fo weit gezogener Grenzen wech⸗ 
—X 


628 Vaturgeſchichte. 


ſeln, wenn verſchiedene Gattungen ſich kreuzen? Warum wäre der Grad ber 
Unfruchtbarkeit den verichiebenen, derfelben Gattung angehörigen Exemplaren 
angeboren und veränderlih? Warum würden gewiſſe Gattungen ſich leicht ver 
mifchen, obfchon ihre Baftarde fehr unfruchtbar find, und andere nur mit der 
größten Schwierigkeit, da ſie doch Teiblicy fruchtbare Baftarde erzeugen ? Warum 
findet häufig ein fo bemerkenswerther Unterſchied zwiſchen den wechſelſeitigen 
Kreuzungen zweier Gattungen ſtatt? Warum, kann man fogar. fragen, it bie 
Erzeugung von Baftarden erlaubt worden? Bugeben, daß die Battung Baftarde 
hervorbringt, dann deren weitere Kortpflanzung durch wechielnte Grabe von 
Unfruchtbarkeit hemmen, die in feinem richtigen Verbältniffe zu der Leichtigkeit 
der erften zwifchen den Erzeugern gefchlofienen Verbindung fliehen, ſcheint und 
denn doch ein ziemlich fonderbared Gebahren zu fein.‘ 

Die Fruchtbarkeit der Mijchlinge, die nicht fowohl von verſchiedenen Gat⸗ 
tungen, fondern von bloßen Varietäten derſelben Gattung abftamınen, ift ebenſo 
großen Unregelmäßigfeiten wie die der eigentlichen Baftarde unterworfen. Die 
Baht diefer Anomalien wäre ohne Zweifel noch fehr viel überrafchender, wenn nicht 
bie Botaniker zwei Pflanzen, die zuerft für einfache Varietäten gegolten, in ver⸗ 
ſchiedene Gattungen einreihten, fobald ſie feftgeftellt haben, daß diefelben ſich ein⸗ 
ander unfruchtbar machen. Man dreht ſich aljo in einem wahren Kreife von 
Behlichlüfien herum; indefjen wollen wir einige Beobachtungen nicht verfchweigen, 
die gegen jede Kritik gefchügt find. Man hat feftgeftellt, daß in derfelben Gat- 
tung gewiſſe Varietäten ſich unter einander Lieber vermifchen, als andere mit frem⸗ 
den Pflanzen, und leichter Baftarde erzeugen. So begattet fich der fogenannte 
Spitz viel lieber mit dem Fuchs als alle übrigen Hunde, In Südamerika gibt 
es Hundearten, die fih mit den europäiichen Hunden nicht begatten. Gärtner 

“bat beobachtet, daß befondere Maidarten fich ſehr fchwer unter einander befruch- 
ten, obſchon fie ſich kaum Durch Außere Kennzeichen unterjcheiten; er hat auch 
geiehen , daß Die weige und gelbe Spielart terfelben Gattung Verbadcum nad 
der Kreuzung weniger Sanıen gab, ald wenn jebe von ihnen durch ihren eigenen 
Blüthenftaub befruchtet war. Nach Kölreuter gibt ed einen Tabak, der fidy viel 
leichter als alle übrigen mit anderen Pflanzen vermifcht. 

Was läßt fi aus diefen Thatſachen folgern? daß die wechfelnde Frucht- 
barfeit und Unfruchtbarkeit der Baftarde und Mifchlinge von einer Menge noch 
unbekannter Umftände abhängen, deren Erforfchung den angeftrengteften Eifer 
ter außdauerntiten und tüchtigften Beobachter erfordert. Man kann fogar ohne 
Uebertreibung behaupten, daß deren Kenntniß ſtets unvollkommen bleiben wird, 
weil e8 Feine Erſcheinung gibt, die fich wie die Zeugung fo vollftändig der Ana 
Ipje entzicht. Die Natur hat Diefelbe mit ihrem dichteſten Schleier bededt; fie 
IR das Geheimniß des großen Pan, das jedes Auge, jeder Munt, ja felbft ber 
Gedanke refpektiren foll. Die Unfruchtbarkeit der Mefen, die wie die Baftarde 
und Miſchlinge Ausnahmen von der allgemeinen Regel find, wird ohne Zweifel 
durch vielleicht ſehr unbedeutende Verfchiedenheiten bedingt, Die vor Allem bie 
Drgane und dad Syſtem ber Wiedererzeugung betreffen. Abgeſehen von ber 
größeren oder geringeren Fortpflanzungsfaͤhigkeit ann man feinen fehr weient- 


Eutftebung: des. Battungen. 629 


lihen Unterjchied zwifchen den Baſtarden und Mifchlingen aufmeifen. Werben 
zwei Gattungen gekreuzt, fo iſt ed immer eine, welche die anffallendfte Aehn⸗ 
lichfeit auf die Baſtardfrucht überträgt und ihr gewiffermaßen das flärfere Be 
präge gibt; das Rämliche findet ftatt bei zwei Varietäten und den Rifchlingen, 
die fle hervorbringen. Die durch wechjelfeitige Kreuzung erzeugten Baftarde find 
gewöhnlich ähnlich; daſſelbe Fann man im gleichen Fall von den Mifchlingen 
jagen. Dieje wie jene Eönnen enblicy burch richtig geleitete Kreuzungen auf 
irgend eine der beiden urfprünglichen Bormen zurüdgeführt werden. Man muß 
alfo, um aus diefen Thatfachen einen allgemeinen Schluß zu ziehen, annehmen, 
dag die Gefege, nach denen die Achnlichfeit der Erzeuger und der Abkömm⸗ 
linge fich regelt, immer diefelben find, daß fle in feiner Weile von der größeren 
oder geringeren Berwandtfchaft der Grzeuger, und ebenfowenig bon ihrer brions 
beren Stellung in ber ſyſtematiſchen Klaffififation abhängen. 

Demnach ift es, wenn man fich auf einen wahrhaft philofophifchen Stande 
punkt ftellt, gar nicht möglich, einen Yundamentalunterfchied zwifchen den Thier⸗ 
gattungen und den Varietäten anzunehmen. Jenes Gebirgswaſſer ift nicht fehr 
breit, man nennt e8 einen Gießbach; es fließt ind Thal hinab, dort heißt man 
es Fluß; nun ſage mir Einer, an welcher Stelle der Gießbach aufhört und der 
Fluß beginnt, Die relative Unfruchtbarfeit der Baftarde erklärt fich hinlänglich 
aus den Anomalien ihrer erceptionellen Organiſation; aber wer fleht und dafür, 
daß nicht Fälle vorkommen können, wo Baftarde durch gegenfeitige Begattung 
Weſen erzeugen, die viel fruchtbarer als fte jelbft find, gerade weil die organifchen 
Unterfchiede zwijchen den Erzeugern mit jeder Generation mehr und mehr ſich 
verwijcht haben? Die Fruchtbarkeit Eonnte, flatt abzunehmen, mitunter größer 
werden, wenn ihr Fein Hinderniß in den Außeren Verhältniffen entgegentrat. 
Wenn, wie viele Naturforfcher glauben, alle unfere Sundearten durch Kreuzung’ 
einiger Urgattungen entitanden find, fo muß man nothgedrungen annehmen, daß 
es zu einer beftinnmten Zeit fruchtbare Baftarde gegeben Hat. Darwin Hat viels 
leicht vollfommen Recht, wenn er meint, dieſe Fruchtbarkeit fei durch die Zaͤh⸗ 
mung befördert worden, welche die Thiere zur Gefelligfeit, zu einer gleichförmi- 
gen Lebensweiſe zwang, dadurch neue Annäherungen zwiſchen ihnen berbeiführte 
und die verjchiedenartigften Organifationen gleihfam über einen Kamm fchor. 

Nimmt man an, Daß es durchaus feinen wefentlichen Unterfchieb zwifchen 
den TIhiergattungen und den einfachen zoologifchen Varietäten gibt, fo ift Leicht 
zu begreifen, daß jede befondere Mace ein Anrecht auf die Bezeichnung „Gat⸗ 
tung” bat, fobald ſie einen fehr bemerkenswerthen Entwickelungsgrad erreicht 
und genug eigenthümliche Kennzeichen bejigt. Das Prinzip der natürlichen 
Vererbung, wenngleich es die Gattungen erhält, fucht doch gleichzeitig fle zu zero 
ſtückeln; e8 ſpaltet fie in Gruppen, die ihrerfeit® wieder Gattungen werden follen. 
Man ſieht indeffen wohl ein, daß dieſes Mefultat nicht erreicht werben könnte, 
wenn in der Ordnung der Natur nicht ein der Auswahl oder Ausmerzung, durch 
die ed dem Menjchen gelungen ift, eine Menge Racen unter den feiner Herrichaft 
unterworfenen Thieren ind Dafein zu rufen, analoged Etwas verhaͤngnißvoll eine 
wirfte. Die organifchen Eigentgümlichkeiten find den Einzelweſen angeboren; 


630 . Raturgeſchichte. 


wenn bie mit verſchiedenen Kennzeichen verſehenen Ginzelweſen fl fortwährend 
in wilder Regelloftgfeit vermifchten, fo könnten DBarietäten jo wenig ſich abfon- 
dern, wie ein Gemaͤlde aus einem zufälligen Gemiſch aller möglichen Karben ent⸗ 
fleht. Die Varietäten müffen fich in dem Maße, als fle fich deutlicher ausprägen, 
auch mehr ifoliren, um nach einer langen Reihe von Generationen zum Range 
der. Battungen aufzufteigen. 

Ein richtiges Verftändniß der Naturgefchichte if nur dann mögli, wenn 
man in ihr das unaufhörliche Betriebe einer zwiefachen Thaͤtigkeit fleht. Während 
das erhaltende Prinzip der Vererbung die regelmäßige Uebertragung ber Kenn- 
zeichen leitet, werden diefe durch die natürliche Auswahl, das Prinzip ber 
Bewegung und des Kortfchrittes, welches gewiſſe Kormen ausmerzt und dafür 
neue zuläßt, fofalifirt und klaſſtfizirt. Dieje neue Auffaffung verdanken wir 
unferem Autor; auf den erſten Blick erfennt man ihre Großartigkeit und Origi⸗ 
nalität. Uber auf welche Weife, wird man fragen, verführt die Ratur bei dieſer 
vermeintlichen Ausmerzung? Welche Macht, in der belebten Welt die Menichen- 
hand erfegend, hat fo oft die Erdoberfläche erneuert? Die fouveräne Macht des 
Todes. Bleichfam ein Korrektiv des Lebens thut fle den Verirrungen und Mon⸗ 
firuofltäten Einhalt, bringt die Schwachen den Starfen zum Opfer, begnabigt 
gewiſſe Racen und bricht den Stab über die anderen, Täglich, ftündlich, in jedem 
Augenblid ffürzen Millionen Wefen in den gähnenden Abgrund der unorgani«- 
ſchen Materie zurüd, aus dem das Leben fie für einen Augenblid gezogen Hatte. 
Auf den Himmlifchen Werderuf: „Seid fruchtbar und mehret euch,” folgt der 
irdifche Nachruf: „Mehret euch, aber richtet einander zu Grunde. Was folite 
aus der Erde werden, wenn die Zunahme des Menfchengefchlechts in geometri« 
ſcher Progrefiton, von der Malthus fo viel Gejchrei gemacht hat, bei allen Pflan⸗ 
fen und Thieren flattfinde? Im der Luft, in den Meeren, auf den Infeln und 
dem Beftlande bliebe nicht genug Raum für die zahllofen Abksmmlinge der Urs 
bevölferung, und die fleben Agppiifchen Plagen würden alle Laͤnder heimſuchen. 
Dergleichen ift glüdlicher Weife nicht zu befürchten; es genügt nicht geboren zu 
werden, man muß auch leben können. Selbſt der Menfch, diefer ftolze Herr 
der Natur, iſt genöthigt, fortwährend zu Fänıpfen, um fein Dafein zu friften; er 
entreißt feine Rabrung mühfam der Erde, jagt fie den Thieren ab und bezieht fie 
von denen, die er zu bändigen vermag. Iſt das Leben nicht die Hauptforge und 
beinabe ber einzige Gegenfland der ungeheuren Mehrzahl der Menfchen? Wir 
verzehren die Thiere, die Thiere freffen ſich unter einander auf. So oft ter 
Wallfiſch feinen weiten Rachen fchließt, verfchludt er Zaufende von Molludfen, 
Kruftaceen und Zoophyten. „Wir fehen, fagt Darwin, die Ratur ſtrahlend in 
Schönheit und ihren Ueberfluß an Allem, was den Iebenden Wefen zur Rahrung 
bienen kann, aber wir bemerken nicht oder vergefien, daß die Vögel, die müßig 
um und herum fingen, bauptjächlich von Inſekten oder Samenförnern Ichen, 
alfo ſtets mit dem Zerſtörungswerke befchäftigt find; wir vergeffen, daß dieſe 
Sänger, ihre Eier und Refter durch Naubvögel oder Raubthiere vernichtet wer⸗ 
den; wir denfen nicht immer daran, daß die Nahrung in folcher Fülle wie heute 
nicht in jeder Jahreszeit vorhanden iſt. Wenn man fagt, die Gefchöpfe impfen 


Entftehung der Gattungen. 631 


um zu leben, jo muß man dieſen Sap in dem weiteiten, bildlichften Sinne aufs 
faffen, die gegenjeitige Abhängigkeit der Weſen, und was noch wichtiger ift, bie 
Schwierigkeiten, die ſich der Kortpflanzung entgegenftellen, darunter verftchen, 
In einer Zeit des Mangels kann man fagen, zwei Bleifchfreflee Fampfen mit ein« 
ander, um fich Die zu ihrer Exiſtenz nöthige Nahrung zu verfchaffen; aber eben fo 
gut kann man jagen, daß die an den Rand ber Wüfte geworfene Pflanze kämpft, 
um zu leben. Ein Gewaͤchs, das jährlich an die taufend Samenförner liefert, von 
denen Durchjchnittlich ein einziges zur Reife gelangt, kaͤnpft in der That gegen 
die Pflanzen gleicher oder verichiedener Gattung, die bereitd den Boden bebeden. 

Es ift oft fehr ſchwer die Urfachen zu erkennen, die an gewiſſen Orten die 
Entwidelung befonderer Gattungen verhindern; fobald fle Fein Hindernig mehr 
finden, fieht man diefe Battungen mit wunderbarer Schnelligkeit fich fortpflangen, 
Die in Auftralien und in den großen Ebenen Südamerifad eingeführten Hause 
thiere haben fich dort in einem unglaublichen Verhältniß vermehrt, Wenige 
Jahre haben gewillen in Britifch- Indien afflimatifirten europäifchen Pflanzen 
genügt, um ſich vom Vorgebirge Comorin bis zum Himalaja zu verbreiten. 
Indeffen find die Gattungen nicht ſämmtlich und nicht immer fo begünftigt: in 
jeder geographifchen Provinz ftellt fich ein gewiſſes Gleichgewicht zwijchen allen 
Gliedern der Fauna und Flora ber; dieſes Gleichgewicht wird durch Flimatifche 
Einflüffe, tur Epidemien, Ein» und Auswanderungen geflört, aber es ftrebt fort« 
während fich wieder berzuftellen. Zahlloje Beziehungen verfnüpfen inniger und 
dichter ald die Mafchen des feinften Gewebes die einzelnen Theile der Schöpfung 
mit einander. In Folge diefer Abhängigkeit find die lebendigen Weſen nicht 
allein den phyſiſchen Verhältnifien, die fie umgeben, fondern auch den Ereignifien 
preisgegeben, welche die unausgejegte Mitbeiverbung alles Zebendigen berbeiführt- 
Die Natur fpricht ihr Vae victis! mit einer unerfchütterlichen Heiterkeit auf; 
glüdlic, die Racen, die mit Eigenfchaften ausgeſtattet find, aus denen jle für fich 
Bortheil ziehen Eönnen! Alle übrigen müffen verſchwinden, oft fogar noch ehe 
fie gefämpft haben; ungebetene Gaͤſte, die bei dem großen Gaſtmahl der Ratur 
alle Plaͤtze beſetzt und den Tiſch für Andere gedeckt finden, müfjen fie zulegt noth⸗ 
wendig untergehen. 

Man fleht, was Darwin unter der natürlichen Ausmerzung verftcht, 
Ebenſo wie die Zähmung eine Menge dem Menjchen Nutzen bringender organis 
fcher Veränderungen bewirkt bat, können auch biöweilen andere Veränderungen, 
die verfchiedenen Wejen in dem großen und verwidelten Lebenskampfe von Rugen 
find, im Laufe mehrerer taufend Generationen auf ganz naturgemäße Weife ente 
ſtehen. „Wenn der Menjch durch methobifche oder unbewußte Ausmerzung 
große Refultate erzielen kann und beftimmt erzielt hat, was vermag nicht die 
Natur zu erreichen! Der Menfch bejchäftigt fich vorzugsweije mit den Äußeren, 
fihtbaren Kennzeichen; die Natur kümmert fich nicht um das Außerliche An 
fehen, außer infofern es von Nugen fein kann, Ihr Einfluß erftredt fich auf alle 
inneren Organe, auf alle Nuancen und Wefensverfchiedenheiten, auf Die ganze 
Lebensmafchine, Der Menfch trifft nur in feinem eigenen Intereffe eine Aus« 
wahl, die Ratur hingegen im Intereffe des Wefens, auf das fie einwirkt. Sie 


632 Naturgeſchichte. 


gibt den Kennzeichen, die ſie wählt, eine vollfommene Entwickelung und bringt 
Die Weſen in Lebensverhaͤltniſſe, die für fie günftig find. Der Menfch behält 
die Erzeugniffe fämmtlicher Zonen in demſelben Lande und verfährt bei Der Auße 
wahl der Kennzeichen felten auf eine angemefjene Weiſe. Er gibt einer Taube mit 
kurzem und einer anderen mit langem Schnabel dad nämliche Butter, er ſetzt lang⸗ 
und Furzwollige Schafe denfelben Unbilten der Witterung aus. Er gibt nidyt 
zu, daß die Männchen mit einander kaͤmpfen, um Weibchen zu bekommen. Er 
pernichtet nicht erbarmungslos die niederen Ihiergartungen, fondern hütet zu 
allen Zeiten all fein Gut, ſoweit dies in feiner Macht ſteht. Oft beginnt er die 
Auswahl mit einer halb monſtröſen Form, oder wenigftend mit einer Modifika⸗ 
tion, die fo auffallend tft, daß fie jeinen Blick auf ſich Ienft oder daß er ſich von 
ihr einen erheblichen Ruten verſpricht. In der Natur kann bie leifefte Abweichung 
des Körperbaues oder der Leibesbefchaffenheit Die Wagfchale zu Gunften einer 
Varietät niederdrüden, Wie unbeftändig find die Wünfche und die Beſtrebun⸗ 
gen des Menfchen! wie kurz iſt bie Spanne Zeit, über die er verfügt! und wie 
arınfelig muß folglich fein Machwerk fein im Vergleich mit dem großartigen 
Werke, worin die Ratur während vieltaufendjühriger geologifcher Perioden ihre 
Arbeit aufgefpeichert hat! Was Wunder alfo, daß die Produktionen der Ratur 
etwas haben, was und viel wahrer dünft als alle Leiftungen des Menſchen, 
daß ſie den verwidelten Lebensbedingungen unendlich beffer angepaßt find und 
deutlich das Gepräge ciner überlegenen, einer höheren Kunft an ſich tragen. 
Man kann fagen, daß die Natur täglich und ftündlich die ganze Schöpfung 
muftert, um die leifeften Veränderungen zu erfennen; fle verwirft was fchlecht 
ift und behält dagegen alles Gute bei, un ſich damit zu bereichern; fo arbeitet fie 
fill und unmerflich überall, wo fich eine günftige Gelegenheit bietet, an der Vers 
sellfomnnung der Weſen und jucht fie mehr und mehr mit den organifchen und 
unorganiſchen Bedingungen des Dafeind in Einklang zu bringen, Dieje jtufen- 
weifen Veränderungen vermögen wir erft nach Berlauf eines langen Zeitraumes 
zu erfennen, und das Bild der vergangenen zoologijchen Zeitalter erjcheint unjeren 
Blicken fo trüb und verwafchen, daß wir Daraus nur lernen, daß das Leben fich 
vormals in andere Formen gekleidet hat ald jetzt. 

Der originelle Gedanke Darwin beftcht, wie man flieht, in der Erflärung 
der ganzen Schöpfungsgefchichte durch die Naturauswahl, Wir wenden und 
nun zu den Bedenken, welche Die eben entwidelte Theorie nothivendig hervorruft, 
um zulegt alle das Problem der Entftchung der Menfchenracen und die Rolle, 
die ihnen in der organischen Welt zugefchrieben wird, betreffenden Schlüffe 
daraus zu zichen. 

ll. 

Darwin, wie alle Raturforfcher, ift von der innigen Wechjelbeziehung, vie 
in der Schöpfung zwifchen den organiftrten Wefen und der unorganijchen Welt 
befteht, tief dDurchornngen. Alle äußeren Berbältnifie, die Veränderungen bes 
Klimas, der Temperatur, die Hinderniffe, die ſich der Ueberhandnahme oder den 
großen Wanderungen der Gattungen entgegenftellen, wie das die Infeln ums 
gebende Meer, die hohen Gebirgszüge auf dem Feſtlande, Alles, was mit einem 


Entſtehung der Gattungen. 633 


Worte eine natürliche Provinz zu begrenzen ftrebt, arbeitet zugleich darauf hin, 
der Fauna und Flora, bie fie ernährt, Originalcharaftere aufzuprägen. Je abs 
gelegener der Stantort ift, um fo deutlicher und eigenthümlicher geftalten fich dieſe 
Kennzeichen. Aus diefem Orunde bieten im Allgemeinen die Infeln den Ratur« 
forjchern ein fo reiches Feld für intereffante Studien dar. 

Da die geograpiichen Provinzen einmal abgegrenzt, die Kontinente durch 
die Meere in fait unveränderlichen Figuren audgefchnitten, die Thiere und Pflan⸗ 
zen allen ihren Umgebungen angepaßt find, fo fieht man nicht ein, warum bie 
organifche Welt neue Veränderungen erleiden foll, jo lange bie phyſiſche Welt 
in der Ruhe verharrt. Wenn die Oberfläche unſeres Planeten nur durch bie 
und umgebenden, unaudgejegt thätigen Raturfräfte, den Regen, die Winde, vul⸗ 
faniiche Eruptionen, Erdbeben umgeftaltet werden fann, wenn diefe Kräfte nicht 
mit mehr Heftigkeit und Wuth auftreten können als in der Jegtzeit, fo hat man 
Mühe zu begreifen, wie das Sleichgewicht der Schöpfung Dadurch wefentlich 
fönnte erjchüttert werden. Dennoch befennt fiy Darwin zu dem Glauben jener 
Schule, die gegenwärtig Sir Charles Lyell ald ihr Oberhaupt betrachtet und fich 
weigert in der Schöpfungdgefchichte ftörende Elemente anzuerfennen, Die fich von 
dem, waß fie wirflidhe Urfachen nennt, unterfcheiden. Darwin würde wahr⸗ 
ſcheinlich das Gewicht der Theorie, die er über den Urfprung der Gattungen aufs 
ftellt, bedeutend verflärfen, wenn er fich nicht in den engen Grenzen ber englijchen 
Schule bewegte und tie Annahme gelten ließe, daß außer den unmerflichen 
Veränderungen, welche die phnftfche Welt gewiffermaßen nur oberflächlich bes 
rühren, gewaltige Umwälgungen von Zeit zu Zeit die Bhyflognomie der Erdober⸗ 
fläche verwandelt haben. Warum will man leugnen, daß in dem Augenblid, 
wo Die großen Gebirgöfetten mit einer Heftigfeit emporgehoben wurden, von der 
die jcharfen Einjchnitte zwijchen den einzelnen ®liedern Zeugniß geben, unges 
heure Waſſermaſſen auf die benachbarten Kontinente gefchleudert wurden, Stüde 
des Erdbodens von allen Seiten ſich bewegten, ganze Infeln wie die Atlantis 
in die Tiefe des Meeres verianfen und neue an anderen Orten aufftiegen? Zahl« 
Ioje Wefen haben die Unmrälzungen überlebt, deren furcdhtbare Wirkungen auf 
einen ziemlichen Eleinen Theil des Erdballs befchränkt blieben ; aber wie viele von 
ihnen, ihrer Heimath und den Bedingungen, bie feit Jahrhunderten für Die regel⸗ 
mäßige und fletige Entwicelung der Organismen maßgebend waren, gewaltfam 
entrifien, haben an ihren neuen Standorten ald Ausgangspunfte für neue 
Racen dienen Eönnen? ine jolche Hypotheſe hat wahrhaftig nichte, was man zu 
fühn finden könnte. 

Gegenüber den abfoluten Behauptungen der beiden berühmten Naturforfcher 
Alcide V’Orbigny und Agaſſiz ift es außer Zweifel gefegt worden, daß Die leben⸗ 
den Wefen in feiner Epoche der Exrdgefchichte die Opfer einer allgemeinen, gleich⸗ 
zeitigen Zerftörung geweſen find; niemald bat der Tod den ganzen Erdboden 
in ein Leichenfeld verwandelt. Wenn man die Erdfchichten unterfucht, die zwei 
auf einander folgenden Perioden der Terrainbildung angehören, fo findet man 
ſtets einige identifche Gattungen in den Sebimenten, die fi vor und in ben» 
jenigen, die ſich nach einer großen Erdrevolution abgelagert haben; alle Blätter 


634 aturgeſchichte. 


des großen Buches tragen die naͤmlichen Schriftzüge. Ich bin niemals vor 
Boufind ‚„Sündflurh‘‘ fiehen geblieben, ich Habe niemald den jdywarzen Sim- 
mel, die kaum aus dem Waſſer hervorragenden Felſen, die gegen die fleigenbe 
Fluth anlämpfenden Thiere betrachten können, ohne im Beifte den Rahmen dieſes 
wundervollen Gemäldes noch zu vergrößern. Reben diefen Schredfen®- und Todes- 
feenen ftellte ich mir die aus dem Wafler auffteigende triefendnafle Erde vor, wie 
fle der Befruchtung entgegenharrt, und unwillfürlich dachte ich an die reizende 
Mythe von der Venus Aphrodite, die auf jchäumendem Wogenfamm aus "dem 
Deean emportaucht. Ich erinnerte mich der wunderfamen Sagen der Indianer 
Amerikas und anderer wilder Völkerfchaften, der Flucht in die Höhlen der Hoch 
gebirge, während das Meer fich erhob, der zahlreichen Sündfluthen, deren bie 
beiligen Bücher der Hindus gedenken, auf die ſtets eine neue Infarnation der 
Gottheit folgte, das Symbol der Formen, unter denen das Leben feinen wieder⸗ 
erſtehenden Glanz auf dem verjüngten Theater der Welt ausbreitete; ich fah end« 
lich die Arche auf dem Gipfel des Urarat halten, aus der zahllofe Paare hervor 
kamen, die Das Meich des Menfchen wieder bevölfern follten. Warunı jollte die 
Geologie dieſe Sagen verachten, die fih von Jahrhundert zu Jahrhundert forte 
geerbt Haben und unter einer bunten Hülle manigfacher Ausfhmüdungen einen 
gemeinfchaftlichen Wahrheitöfern bergen. 

Der gelehrte Naturforfcher Bronn in Heidelberg Hat in einer unlängft er⸗ 
fehienenen, von der Parijer Akademie der Wiffenfchaften gefrönten BVreisfchrift 
die Theorie der Herzen d'Orbigny und Agaſſtz fiegreich widerlegt; er bat gezeigt, 
dag die Thier- und Pflanzenwelt fich niemals im Ganzen wie durch eine Zauber 
fchlag verwandelt hat, daß das Phänomen des Verfchwindens und Erfcheinend 
der Gattungen Feine Störungen erleidet, fondern ununterbrochen fortdauert. 

* Das Kortbeftchen gewiffer Typen, die feit den entlegenften Epochen bis auf unfere 
Tage faft gar Feine Veränderung erfahren haben, die allgemeinen Aehnlichkeiten 
und Verwandtfchaften, die einen deutlichen Berbindungsfaden zwijchen den auf 
einander folgenden Saunen berftellen, mit deren Erforjchung die Paläontologie 
fich befchäftige, find fehr wenig in Einflang zu bringen mit ber Hypotheſe der 
jenigen, die in der allgemeinen Weltgefchichte eine Reihe radikaler Zerftörungen 
erblicken, auf welche neue Schöpfungen gefolgt find; Die Kortpflanzung der organi» 
[hen Formen beweift im Gegentheil, daß das Schöpfungswerf niemals unter 
brochen ward und dap bie Ratur ſtets mächtig ifl. Die Gattungen erjcheinen 
nad) einander in mehr oder weniger fchneller Aufeinanderfolge und gehen ebenio 
zu Grunde; das Buch des Todes und Das Buch des Lebens find ſtets geöffnet 
und die Ratur kann tarin nach ihrem Belieben fehreiben. Die Schöpfung, wie 
Agafflz fle darftellt, wäre eine Reihe abgejonderter Gemälde, die durch weite 
Zwifchenräume von einander getrennt find; wir glauben dagegen, daß fie ein 
Drama ift, deilen handelnde Perfonen ſich niemald ausruhen fünnen, eine uns 
unterbrochene Anftrengung, ein ewiges Ringen der Lebenskraͤfte mit der Traͤgheit 
der Materie. In der abjonderlichen Lehre von der Wiederholung der Schöpfung 
erſcheint und Die Ratur wie mit Masken bebangen, bie fie von Zeit zu Zeit weche 
felt un die durchaus Feine Aehnlichkeit Haben ; in der neuen Theorie Dagegen zeigt 


Entftehung der Gattungen. 635 


fle ftetö daffelbe wunderbar heitere Geflcht, auf dem man leine anderen als die 
durch das Alter hervorgerufenen Veränderungen, eine mit jedem Tage heller 
firablende Schönheit, einen immer beſſer marfirten Ausdruck wahrnimmt. 

Wenn dad Thier⸗ und Pflanzenreich und eine Reihe fortgefegter :Wands 
lungen erfahren Haben, fo bietet vielleicht die Erde und ein Mittel dar, ſie Eennen 
zu lernen. Binden wir wohl die fämmtlichen Glieder jener ungeheuren Kette 
wieder, welche Die Gegenwart mit der Bergangenheit verbindet? Leider nein; 
wir haben bis jegt nur einige zerfireute Theile entdeckt. Wir können nicht den 
Schooß der Erde, in welchem faft immer verunftaltete Lieberrefte der vergangenen 
Jahrhunderte ruhen, in allen Tiefen durchwühlen. Es geht uns wie dem Ar⸗ 
häologen, der eine Infchrift entziffern will, deren Buchftaben faft fämntlich ver⸗ 
fhwunden find. Aus den älteften Zeiten ift Fein einziges Beweisſtück auf uns 


gekommen. Die innere Glühhite des Erdkörpers hat feit langer Zeit die Sedi⸗ 


mentfchichten, welche die Ueberrefte der erften Pflanzen und Thiere bewahrten, 
in einen flüjfigen Brei verwandelt. Die älteften befannten organifchen Ueber⸗ 
bleibjel gehören einer Erbichicht an, der Sir Roderich Murchiſon den fonder- 
baren Namen der filurifchen gegeben bat. Die Fauna, welche Barrande, der 
glüdliche und tüchtige Erforfcher der alten Erdichichten Böhmens, die urfprüng« 
liche Bauna genannt hat, datirt auß Feiner früheren Epoche; aber wie viel Thier⸗ 
welten. bat es vorher gegeben, von denen nicht das Geringfte übrig geblieben ift! 
Nur in den legten unferer Epoche vorangegangenen Perioden können wir einige 
Thatfachen zur Unterflügung der Darwin’fchen Theorie auffuchen. Es beſteht 
zum Beifpiel eine auffallende Aehnlichkeit zwifchen den foffllen Beutelthieren 
Auftraliend und denjenigen, die heutzutage Diefer großen Kontinentalinfel einen 
ganz eigenthümlichen Charakter verleihen. Das füdamerifanifche Gürtelthier, 
das mit einer förmlichen aus Streifen gebildeten Rüſtung umpanzert ift, und die 
Mehrzahl der übrigen Thiere, Die der eingebornen Yauna Südamerikas anges 
hören, haben ihre Analoga unter den in den braftlifchen Knochenhöhfen und in den 
ungeheuren Ebenen de8 La Plata entbedten Foſſtlien. Reu-Seeland iſt berühmt 
wegen jeiner rieflgen Vögel. Profeflor Owen hat gezeigt, daß die Dort gefundenen 
Foſſilien Vögeln derfelben Kamilie angehören. Wo Feine neuen Thiertypen durch 
Wanderungen mitten unter die feither vorwiegenden Typen in eine geographifche 
Region eingeführt wurden, bemerkt man ſtets eine offenbare Verwandtichaft zwi⸗ 
fchen den Thiergefchlechtern, die Die aufeinanderfolgenden Erdſchichten charakteri⸗ 
firen. Je länger eine natürliche Provinz durch zufällige Umftände ifolirt geblie= 
ben ift, um fo deutlicher tritt Diefe Bortzeugung hervor ; fie entzieht fich Dagegen 
unferen Bliden, fobald geographiſch getrennte Thiergefchlechter in Folge eines 
Raturereigniffes, das fle gewaltfam in Verbindung gebracht hat, ſich unter einan⸗ 
der vermiſchten. | 

„Entweder, fagt Bronn mit vieler Autorität, ift die wohlberechnete fucceftve 
Entwidelung der Organismen während fo langer Perioden die unmittelbare Wir« 
fung ber joftematifchen Thätigkeit eines perfönlichen Schöpfers, der nicht allein 
die Aufeinanderfolge, die eigenthümliche Organifation und den irdifchen Zwed 
der zahllofen Pflanzen und Thiergattungen, fondern auch die Zahl ihrer Indie 


636 : Raturgefchichte, 


viduen und ihre Standorte erwogen unb beflimmt, der die Weſen getrennt ge 
fchaffen Hat, obwohl ed in feiner Macht fand, alle auf ein Mal zu erichaffen, — 
oder es eriftirt eine biß jeßt noch unbekannte Raturfraft, die nach ben eigeme 
Gefegen ihrer Thaͤtigkeit die Pflanzen und Thiergaltungen ind Dafein gerufen 
und beren allgemeine und befondere Beziehungen neben einander geordnet und 
geregelt hat. Im letzten Fall müßte diefe Kraft an die unorganijchen Geſehe, 
welche die fortfchreitende Entwidelung ber Erdoberfläche, jowie Die aͤußeren 
Lebensbetingungen der Wefen regeln, die auf ihr wohnen follen, eng gebunden 
und ihnen unterworfen fein, und deren Zahl, Manigfaltigfeit und Vollkommen⸗ 
heit müßten fortwährend zunehmen. Nur auf diefe Weije ließe es fich erflären, 
warum die Entwidelung der organifirten Weſen mit der Entwidelung der phyſt⸗ 
ſchen Welt gleichen Schritt gehalten hat. Diefe hypothetiſche Kraft fände in 


Einklang mit dem ganzen Haudhalt der Natur, Ein Schöpfer, der bie organi“ 


firte Natur durch das Medium einer ihr inwohnenden Kraft fich entwideln läßt, 
wie er die Entwickelung der phyſtſchen Welt allein durch die fombinirten Wirkun⸗ 
gen der Attraktion und Affleität leitet, entfpräche einer ungleich erbabeneren Vor⸗ 
ftellung als die ift, wonady er um neue Pflanzen und Thiere auf dem Lande und 
in die Gewäffer einzuführen Maßregeln ergreift, wie fle fich für einen Gärtner 
fchicten, der feinen Garten in Stand jegen will.’ 

Die Kraft, von der Bronn wie von einem noch unbekannten, geheimniß- 
vollen Agens fpricht, will Darwin gefunden Haben, und was er die Natur 
auswahl nennt, ift eben nicht Anderes. Es gibt jedoch einen Punkt, über 
ben beide Naturforfcher verjchiedener Anficht find. Der deutfche Gelehrte leug⸗ 
net, daß die neuen Battungen bloße Abzweigungen der alten find, und behauptet, 
die eine Gattung fei ſteis von der anderen durch eine tiefe Kluft getrennt, die nie 
mals durch irgend welche Bindeglieder überbrücdt werde. Diejer Eimvurf bat 
allerdings einiges Gewicht, Man darf jedoch nicht vergeflen, daß die Spezifl- 
Tationen der Naturforfcher fich oft wideriprechen, und daß ınan namentlich in den 
niederen Klaffen des Ihierreiches Häufig nur unbedeutende und feheinbare Mer: 
ſchiedenheiten zwiichen den Gliedern derſelben Ordnung bemerkt; allein Der 
Mangel an allen Rittelgattungen, die durch Deutliche Abftufung zwei für vers 
fehieden gehaltene Gattungen mit einander verbinten könnten, läßt ſich ziemlich 
natürlich erklären. Das Prinzip der Erblichkeit hat in der That eine merk, 
würdige Kraft und Ausdauer. Uebergangöformen und Uebergangächaraftere 
find der Natur zuwider. Die Auswahl fchafft Nacen mit einer außerordentlichen 
Schnelligkeit innerhalb weniger Generationen; ſobald aber eine Race die legten 
Züge, die fie Eennzeichnen follen, erhalten bat, bewahrt fie biefelben unterändert 
ind Unendliche, Alle Formen, welche die Lebenskraft verwendet, um von einem 
Punfte zum anderen zu gelangen, find den Skizzen zu vergleichen, Die der Künfle 
ler vernichtet, wenn er fein Werk vollendet hat. Iſt es daher zu verwuntern, 
dag wir in den Erdſchichten nur Repräfentanten ber mit bleibenden Kennzeichen 
ausgeftatteten Gattungen entdecken, die Sahrhunderte hindurch den Meeresboden 
mit ihren Meberreften bededt haben, und daß wir nur Außerft felten Gelegenheit 
finden eine von jenen zweifelhaften Bormen zu fignalifiren, bie und Licht geben 


Entſtehung der Gattungen. 637 


® könnten über die Verwandlung der organifirten Weien? Bill man dagegen ein« 
wenden, daß man feit dem Beginne der gefchichtlichen Berioden niemals eine 
Thiergattung durch Verwandlung einer früheren fich hat bilden fehen, fo iſt dar⸗ 
auf zu erwiedern, daß der Menfch nicht eine einzige IThiergattung durch einen 
natürlichen Schöpfungsaft hat entftchen fchen; das Hiftoriiche Argument fpricht 
für die eine Theorie jo wenig wie für die andere. Uber was tft ein Zeitraum 
von fechötaufend Jahren in der Weltgeſchichte? Was bedeuten zweihundert 
Menfcbengenerationen gegenüber den zahllofen Generationen der Weſen, die fich 
auf unferer Erdrinde einander abgelöft haben, feit die Erfaltung diejelbe bewohn⸗ 
bar gemacht Hart? 


Wenn die Darwin’fche Theorie richtig fit, fo haben die Veränderungen, die 
in der phyſiſchen Welt flattfinden, feine andere Wirfung, ald daß fie die Ent- 
wickelung gewiffer Wefen hemmen, dagegen die Biltung anderer, den neuen Ver- 
hältniffen beffer angepaßter Varietäten begünftigen. Das lange aufgeworfene 
Problem der Verwandlung der Gattungen erhält jomit eine Löſung, Die ratig« 
neller und lohnender ift al8 alle, die man früher verfucht hat. Ohne gerade mit 
den Schülern Lamarcks zu behaupten, daß die Organe in jeder Gattung je nad 
den Betürfniffen, die fle empfindet, fich modifiziren und ſchwinden, muß man 
doch annehmen, Daß, da die Finzelwefen und die Racen verſchiedene Kennzeichen 
haben, dieſe Kennzeichen, die durch Zeugung übertragbar ſind, in gewiſſen Fällen 
Todeskeime und Urſachen des Unterganges, in anderen Bürgſchaften der Kraft 
und der Jortdauer werden können. 


Wenn wir nun die Menſchenracen betrachten, fo iſt es ausgemacht, daß die 
Kriege, die Wanderungen, die Eroberungen, die ihre Gejchichte audfüllen, ſehr 
erhebliche Veränderungen in teren relativer Bertbeilung und Bedeutung haben 
herbeiführen müflen. Wäre e8 möglicy die jegige Bevölkerung der Erde mit der⸗ 
jenigen zu vergleichen, die vor fechöhundert Jahren gelebt hat, fo würden wir 
ohne Zweifel erftaunen, daß eine fo gewaltige Umwaͤlzung in fo furger Zeit vor 
fich gehen Fonnte. Gewiſſe bevorzugte Racen haben das ganze Gebiet gewonnen, 
das andere verloren haben. Der Indianer, immer weiter in die Prairie zurüde 
gedrängt, führt jegt nur noch ein jammervolles Dafein; abgejehen von den blus 
tigen Kämpfen, bie er gegen die Weißen hat beftchen müſſen und in denen fein 
nnerfchütterlicher Muth nur dazu gedient hat, feinen unvermeiblichen Untergang 
etwas weiter hinauszuſchieben, iſt er-zulegt Die Beute der roheften Leidenſchaften 
geworden, deren leichte Befriedigung die Bivilifation ihm verichafft. Die Nach⸗ 
fommen ber berühmten Krieger, deren Heldenthaten einen fo wildpoetiſchen Geiſt 
athmen, Beichlichen ihre traurigen Tage in dem Elend und in der Trunkenheit. 
Die Bewohner Reubollands find aus den herrlichen Gegenden verjagt worten, 
die jegt die angelfächfliche Nace mit ihren aufblühenden Kolonien bebedt; fie 
haben ſich in das Innere Auftraliens flüchten müffen, in ein dürres Land voll 
ungebheurer Wuften und Gaiden, wo fie fein Wafler und beinahe Fein Wildpret 
finden; in Folge deſſen vermindert fi) ihre Zahl täglich, nnd da fie jich mit den 
Ginwanderern nicht vermilchen, fo wird jede Spur ihres haͤßlichen Typus, des 


638 Raturgelchichte, 


plumpften und thierifchften, den man überhaupt finden fann, bald völlig ver” 
ſchwunden fein. 

Das Studium der entarteten Mepräfentanten des Menfchengefchlechts bat 
ſchon öfter als einmal zu der Annahme geführt, daB es eine Direkte Abſtammung 
zwifchen Menfchen und Thieren geben müfle. Dieſe Frage hat Darwin in feinem 
Buche nicht berührt, man begreift leicht die Motive dieſes Schweigens, allein 
bie Theorie des englifchen Naturforfchers fcheint uns ganz folgerichtig auf einen 
folhen Schlußfag hinauszulaufen. Es wird gut fein, hier Die Tigenen Worte 
bed Verfaſſers über dieſen Gegenſtand folgen zu lafien. „Man könnte fragen, 
bi8 zu welchem Punkte ich die Lehre von der Veränderung der Gattungen aus⸗ 
dehne. Die Antwort auf diefe Frage ift deshalb fchwer, weil meine Argumente 
um fo mehr von ihrer Kraft verlieren, je mehr die Kormen, deren Betrachtung 
und vergönnt ift, von einander abweichen, es gibt jedoch einige Argumente, bie 
außerordentlich einleuchtend find. Alle Glieder ganzer Klaffen Tönnen durch 
eine Kette natürlicher Verwandtſchaften mit einander verbunden werden, und alle 
Klafien Fönnen nach demfelben Prinzip in Gruppen getheilt werden, die wieder 
anderen Gruppen untergeordnet find. Man findet zuweilen Foſſile, mit denen 
man große Zwifchenräume ausfüllen kann, die gewifie beftehende Thier⸗ und 
Pflanzenordnungen von einander trennen. Wenn wir Organe im roheften Zus 
ftande erblicten, fo müffen wir glauben, daß ein entfernter Borfahr dieſe Organe 
im Zuftande völliger Entwidelung befeflen hat, und dadurch fehen wir uns in 
gewiffen Källen zu der Annahme genöthigt, daß ſich unendliche Modififationen 
unter den fucceffiven Nachfommen beffelben Typus vollzogen Haben. In ganzen 
Klaffen find die Strufturen nach einem Mufter geformt und im Embryozuftande 
weifen die Klaffen unter einander bedeutende Uehnlichkeiten auf. Deshalb kann 
ich nicht daran zweifeln, daß die Theorie der Abflammung, verbunden mit Modis 
fifationen, fämmtliche Glieder derfelben Klaffe umfaßt. Ich glaube, daß alle 
Thiere höchſtens von vier oder fünf Eremplaren, fänmtliche Pflanzen von einer 
gleichen oder geringeren Anzahl abftammen. — Ich Eönnte noch weiter geben 
und auf die Analogie geftügt behaupten, daß alle Thiere und Pflanzen von einem 
einzigen Prototyp herkommen ; allein die Analogie ift Fein zuverläffiger Führer. 
So viel ift jedoch ausgemacht, daß alle lebenden Weſen viele Kennzeichen gemein 
fchaftlich befigen, die chemifche Verbindung, den Zellenbau, Die Geſetze des Wach 
thums und der Reproduktion. Die Analogie führt und fomit zu dem Schluffe, 
dag alle organifirten Wefen, die auf diefer Erde gelebt haben, wahrjcheinlich son 
einer einzigen Urform berfommen, in die der Athen bes Lebens zuerſt eingebrun- 
gen iſt.“ 

Darwin nimmt aljo an, daß es höchſtens vier bis fünf organijche Urformen 
gegeben bat, ja er neigt fogar zu dem Glauben, daß es nur eine einzige gegeben 
habe, aus der alle übrigen hervorgegangen feien. Die zulegt entflandene, ber 
Menſch, für den Feine Ausnahme gemacht wird, muß fich folglich durch natür⸗ 
liche Abftammung den früheren Wefen anreihen, mit denen er die meiften orga- 
nifchen Kennzeichen gemein bat. Diefe für unferen Stolz fo verlegende Schluß 
folgerung bildet, das laͤßt fich nicht Ieugnen, den Haupteinwand, der gegen bie 


Entftehung der Gattungen. 639 


Theorie des englifchen Raturforfcherd erhoben wird. Diele werden dad Darwin 
The Buch zornig wegwerfen und fi weigern auch nur flüchtig hineinzublicken, 
wenn man ihnen fagt: „Darwin beweift, daß wir von den Affen abſtammen“. 
Allein die wiffenfchaftliche Kritik laͤßt fich nicht irre machen durch ein derartiges 
Vorurtheil, fle hat ohne Zweifel eine mühfame und ſchwierige Aufgabe zu loͤſen, 
wenn fie mit gewifienhafter Strenge die innigen Beziehungen analpfiren foll, die 
im Menjchen den Geiſt an die Materie feffeln. Hat fie das Recht, die Augen zu 
ſchließen, wenn der Arzt ihr zeigt, wie die Gemüthäbewegungen durch die Krank 
beitsftörungen bedingt werden? Darf fie ſich weigern, ihm in das düſtere und 
furdhtbare Labyrinth der Wahnfinnderfcheinungen zu folgen? Darf ſie ſich die 
Ohren verftopfen, wenn der Raturforfcher ihr beweiſt, daß die fittlichen Eigen⸗ 
fhaften, der Charakter, die vorberrfchenden Leidenfchaften fich wie die Leibed- 
geftalt und die Gefichtözüge vererben. Der Volksinſtinkt hat jederzeit Einfpruch 
getban gegen die Lehre, die aus dem Menfchen ein ideales, völlig unabhängiges, 
durch Feine Bande an die Vergangenheit geknüpftes Weſen machen möchte, 
Wer wagt zu beftreiten, daß man mit vollem Necht darauf ftolz fein könne, einer 
Bamilie anzugehören, in welcher ein gewiffer Ehrgeiz, Soldatenmuth, Talent fich 
durch mehrere Generationen fortgeerbt Haben? Es gibt fpiritualiftifche Philo- 
ſophen, die über die Gefchichte fehreiben, und da fle unbewußt das gemeine Vor⸗ 
urtheil theilen, eine offenbare Vorliebe für gewiſſe Geſchlechter haben, in denen 
die großen Eigenſchaften mit dem Blute fich forterbten. Sind nicht tiefe Denker 
nahe daran geweſen, ſelbſt die Ideen, und die höchſte von allen, die Gottesidee, 
zum natürlichen und lange Zeit ausſchließlichen Beſitzthum einer beſtimmten 
Race zu machen? Wir mögen wollen oder nicht, wir alle find abhängig von 
dem Körper, der und in Verbindung mit der Außenwelt fegt, der uns Enechtet, 
und demüthigt, und an die Erbe feſſelt. Die berühmteften Moraliften, die her⸗ 
vorragendften chriftlichen Kanzelredner haben den Hauptruhm des Menfchen in 
die Siege gefegt, die er über das Fleiſch dDavonträgt; «ber felbft die Beredfamfeit 
und die Findringlichfeit ihrer Ermahnungen beweifen, daß fie dieſe Siege keines⸗ 
wegs für Teicht halten. Warum würden wir wohl fo Angftlich für unferen Körper . 
forgen, der und von dein Ideal trennt, das unfer Bedanfe erreichen kann, und 
eine gewaltige Kluft zwifchen unferen Träumen und der Wirklichkeit reißt? 
Warum befchäftigen wir und fo viel mit der Art feiner Entftehung? Wir find 
gleichfam Gefäße, in denen ein Stüd Bottheit eingefchloffen if. Wenn unfere 
ganze Größe im Denken befteht, was liegt daran, ob unfere Tebendige Subftanz 
unmittelbar aus dem unorganifchen Raturreiche oder mittelbar aus dem Thier⸗ 
reiche hergenommen ward? Iſt der göttliche Hauch, der und befeelt, deshalb 
heiliger, weil er nach der ſchönen biblischen Mythe einer thönernen Statue ein⸗ 
geblafen oder weil er durch eine Reihe verfchiedener Organismen immer reiner 
auf uns gefomnıen ift? 

Es fommt und nicht in den Sinn, bie theoretifche Wichtigkeit folcher Fra⸗ 
gen gänzlich zu leugnen; aber Jedermann flieht ein, daß fle ewig in ein dichtes 
Dunkel gehüllt bleiben werden. Wir vermögen faum einen Zipfel des undurch⸗ 
dringlichen Schleier zu lüften, der die gefchaffene Natur bedeckt; unfere Un 


640 Raturgeſchichte. 


wiſſenheit ſollte und wenigſtens zur Nachſicht gegen alle Lehren und HYpotbefen 
ſtimmen, und diefe Toleranz ift beſonders für diejenigen Teicht, welche die Körper 
als wandelbare Uebergangsformen einer ewigen Subftanz betrachten. Man möge 
auch bedenken, daß diejenigen, die den Menſchen in feiner Vergangenheit ernie⸗ 
drigen, ihn durch eine glänzende Zukunft dafür entichädigen, indem fle ihm eine 
Hera faft unbegrenzter Koriichrittöbewegung in Ausſicht ftellen. Den Menjchen 
dagegen fir und fertig aus dem Schooße der Natur gleich der gepanzerten Minerva 
aus Jupiterd Haupte hervorgehen laſſen, heißt ihn zum ewigen Stillftand ver 
urtheilen : wie er gewejen ift, ald ex zum erften Male das zauberhafte Weltſchau⸗ 
fpiel ° Tisfte, fo ſoll er in alle Ewigkeit bleiben. 

Man wird ohne Zweifel gegen Darwin geltend machen, dag zwiichen dem 
unfcheinbarften und fchwächften Exemplar des Menfchengefchlechtd und dem flärk- 
ften und Elügften Thiere eine Kluft liegt, die Fein bekanntes Weſen ausfüllen kann; 
allein nach jeiner Theorie, wenn wir anders ihren Geift richtig aufgefußt Haben, 
können äupßerft unähnliche Gattungen aus einem gemeinfchaftlichen Stamme her 
vorwachien, ja man kann fogar fagen, daß die Varietäten deſſelben Urtypus, je 
mehr fie von einander abweichen, um jo mehr Lebenskraft haben und fidy um fo 
befier im Thierreiche erhalten. Um fich völlig Elar zu machen, wie Darwin bie 
Bildung der Gattungen auffaßt, ftelle man fich einen Baumflamnı vor, der, wenn 
er eine gewifle Höhe erreicht Hat, nach verfchiebenen Richtungen Zweige treibt; 
unter dieſen Zweigen haben Diejenigen, welche ſich von dem gemeinjchaftlichen 
Stamme am weiteften entfernen, die meifte Ausſicht e8 zu einer bedeutenden Ent» 
widelung zu bringen. ben fo follen, wenn ein Typus in Varietäten zerfällt, 
die beiden extremſten Varietäten, die niedrigfte und bie höchfte, wenn man fo 
fagen darf, fich Fräftiger ennviceln als die mittleren, gerade weil ſie die natürlis 
hen Verwandtſchaften einer ungleichen Ordnung am deutlichften ausdruͤcken. 
Die Baftarbvarietäten werden ziemlich Tchnell verjchwinten und nur die beiden 
extremen Kormen übrig bleiben, um die gemeinfchaftliche Urförm zu repräfentiren. 
Rur auf dieje Weile, indem man den Ideen Darwins folgt, tft es zu erflären, 
wie der Typus, aus welchem der jegige Menich fich entwickelt hat, feine Repraͤ⸗ 
fentanten in jenen wilden, fchädlichen, graufamen Tieren hat zurücklaſſen fön« 
nen, deren Berwandtichaft wir mit gewaltiger Entrüftung verleugnen. Der Urs 
typus, der in verſchiedene Zweige aufgeichoffen iſt, fünnte übrigen felbit die 
höchfte Verzweigung eines früheren Typus fein; diefer letztere wäre gleichfalls 
einem anderen entiproffen, und fo fort. Diefe Hypotheje hat nichts, was den 
Entdeckungen der Paläontologie widerfpricht. Cuvier glaubte wirklich, daß die 
zunächft vor der neueften Epoche entftandenen Erdichichten, Die in der Wiſſen⸗ 
haft den Namen Tertiärbiftungen führen, Feine foſſilen Affen enthalten; allein 
man hat neuerdings in Südamerika, in Indien und fogar in Europa foſſile Gat⸗ 
tungen gefunden, die in den älteften Echichten der tertiären Periode lagerten. 

Wenn, wie Darwin zeigt, unter den aus einem gemeinjchaftlichen Anfangs» 
mufter entjtandenen Formen Diejenigen, welche am flärfften von einander ab» 
weichen, bie meifte Ausſicht haben auf die Dauer ſich zu erhalten, jo kann man 
ſich verfucht fühlen, durch dieje Thatſache zu erflären, warıım eine fo bedeutende 


Entftehung der Gattungen. 641 


Kluft zwifchen den Affen und unferer eigenen Gattung beftebt. Linter den Men- 
fchenracen gibt es zwar fogenannte niedere, aber feine einzige kann als ein wirk⸗ 
licheö Berbindungdglied zwifchen dem Affen und dem Menfchen betrachtet werden; 
ber Unterfchied zwiichen bem Neger und dem Weißen, fo groß ex auch fein mag, 
fann nach wenigen ©enerationen völlig verfchwinden, während der Unterſchied 
zwifchen dem Affen und dem Neger und eben fo zwifchen dem Affen und dem: 
Weißen eine ungeheure, ewig trennende Kluft iſt. Es beiteht nur ein grabneller,. 
nicht aber ein weientlicher Unterjchied zwiſchen ber Intelligenz des wildeften: 
Schwarzen und ber eines Huniboldt oder Newton; die Meberlegenheit, welche ge⸗ 
wiſſe Racen erlangt haben, kann auf Feine Weije die Herrfchaft rechtfertigen, bie 
fie fich über andere Macen anmaßen. Ueberall wo die Sklaverei auf einer fittli« 
chen, verrollfommnungsfähigen Ratur Iaftet, auf einem freien Willen, der durch 
das Gewiſſen und die Religion gelenft werden kann, ift fie ein Verbrechen und 
eine Scheußlichkeit ; dies ift eine Wahrheit, an der jeder rechtfchaffene Charakter 
feithaften muß und die dauerhafter ift als alle Lehren der Ethnographie und der 
Raturgeichichte, Die heute aufgeftellt und morgen umgeftoßen werben. 

Die Theorie Darwin’d ruft fo viel Einwendungen hervor, daß man nicht 
nöthig bat, fie mit anderen Waffen ald mit rein wilfenfchaftlichen Argumenten 
zu befümpfen. Der Hauptfehler feines Werkes, und der Verfaſſer ift fich übri⸗ 
gend deſſen bewußt, Tiegt in dem großen Mangel an Beweisftüden. Es ift darin 
fortwährend von Beobachtungen die Rebe, deren Einzelnheiten man \päter erfahe 
ren foll. Allein der Leſer fann in Erwartung diefer Dinge den Aufftellungen 
des Verfafferd nicht ohne Weitered jened Vertrauen fchenfen, welches nur die 
jenigen Arbeiten verdienen, deren Mefultate, deren Ginzelnheiten und Methode 
die Probe der Disfuffion flegreich beftanden haben. Der chrenhafte Charakter 
Darwin’3 bürgt volljtändig für feinen guten Glauben, kann aber Feine Gewähr 
für feine linfehlbarkeit fein. Man muß daher das Erfcheinen des von Darwin 
verbeißenen größeren Werfes abwarten, bevor man ein endgültiged Urtheil über 
das vorliegende fällt. Indeſſen kann man ſchon jegt behaupten, daß feit langer 
Zeit fein Schriftftellee in fo lichtvoller und jchwunghafter Weife die Dunfelften 
und jchwierigften Bragen der Raturgeichichte behantelt Hat. Jede Seite, ja ich 
möchte faft fagen jede Zeile reizt die Wißbegierde; kann man einem Fünftlerifchen 
oder wijlenichaftlichen Werke ein größeres Lob fpenden, ald wenn man fagt, Daß es 
zum Denken anregt? Darwin jelbft hat am Ende jeined Buches mit der größe 
ten Gewiffenhaftigfeit alle Reſultate zufammengeftellt, die für und witer feine 
Lehre von der Verwandlung der Gattungen durch die Naturauswahl ſprechen. 
Vergönne man und, daß wir fie gleichfalld am Schlufle diejed Artikel wiebers 
geben. 

Auf den erften Blick fcheint nichts ſchwerer zu begründen, als die Verwand⸗ 
fung der Organe, der Kennzeichen, der Inftinfte durch fortgefepte Häufung Außerft 
unbedeutender Veränderungen; aber es gibt ganz beſtimmt in der organtjchen 
Natur eine formbildende Kraft, eine Neigung zum Wechfel, von der die zahmen 
Thiere und Pflanzen ung Deutliche Beweiſe geben, und es ift durchaus nicht une 
gereimt, zu glauben, daß die Anforderungen der Außenwelt, der ewige Kauıık 

V. A\ 


642 Naturgeſchichte. 


der lebenden Weſen, der Wechſel der geſelligen Berhältniffe, in denen fie ſich be⸗ 
finden, die Lebenskraft unausgefegt, obfchon mit außerordentliher Langſamkeit, 
in neue Bahnen treiben. 

Die fat allgemeine Unfruchtbarkeit der Baftarde ift eine von den Urfachen, 
die am meiften darauf hinwirken, die Gattungen unverändert zu erhalten; wir 
haben jedoch gejehen, daß bad Unvermögen der verfchiedenen Gattungen, ſich 
gegenſeitig zu befruchten, kein abſolutes iſt; die außerordentlichen Erſcheinungen, 
die man bei der Fortpflanzung der Baſtarde und Miſchlinge beobachtet Hat, lie⸗ 
fern den Beweis, daß die der Zeugung günfligen oder nachtheiligen Verbältnifle 
eben fo veränderlich als verwidelt find, Man darf wohl annehmen, Daß die Un⸗ 
feuchtbarkeit der Baftarde nicht immer von einer Generation zur anderen zunimmt; 
fie hat fich im Gegentheil bioweilen unter dem Einfluß der Zähmung und unter 
anderen rein natürlichen Einflüffen in dem Maaße vermindern können, als die 
Verbindung zwifchen den von zwei verfchiedenen Gattungen hergenommenen Ele 
menten auf innigere Weife ſich vollzog. 

Wenn man, auf dem Prinzip der flufenweifen Veränderung ber Weſen 
fußend, die Eigenthümlichkeiten der jegigen Vertheilung ber Battungen in den 
verfchiedenen natürlichen Provinzen zu erflären verjucht, fo ftößt man ſicherlich 
auf fehr große Schwierigkeiten. Sind alle Battungen aus einer Urgattung her 
norgegangen, fo muß man erflären, wie fie fich in bie entfernteften Theile des 
Erdballd verpflanzt haben; dies iſt der Punkt, wo die Lehre von den Erdrevo⸗ 
Iutionen der Theorie Darwin's glüdlicherweife unter die Arme greift. Alle gro 
fen Umwaͤlzungen, weldye die äußere Geftalt der Erdoberfläche verändert haben, 
indem fle die Schranfen zerflörten, welche die Ihiergejchlechter von einander 
trennten, die Landengen Durchbrachen, welche die Meere theilten, bie Iebenten 
Weſen zu mafienhaften Wanderungen zwangen, haben mächtig dazu beigetragen, 
die Sattungen über ten Erdball zu verbreiten und deren Zahl zu vermehren. 
Mir fehen Heutzutage nur dad Endrefultat mehrerer derartiger Revolutionen; 
die Wanderungen, die Vermiſchungen haben fich mehrmals wiederholt, und wir 
können nur bie Reihenfolge nicht erfennen, in der dieje großartigen Beränderun- 
gen flattgefunden haben. Das Gejeg bleibt und verborgen, aber die Thatſache 
ift darum nicht weniger Elar. 

Wir können die organijchen Formen in ihrer natürlichen Aufeinanderfolge 
feit dem Beginn der Schöpfung bis auf unjere Tage um fo weniger betrachten, 
da majlenhafte Bernichtungen in allen Perioden flattgefunden haben. Wir ken⸗ 
nen fie nur fehr unvollfommen aus den fojjilen Ueberreſten und find noch immer 
nicht im Stande, Die vornehmiten Ihier- und Pflanzenreiben in einer rationellen 
und biftoriichen Ordnung berzuftellen. In den Erdjchichten fehen wir oft ganze 
Gruppen Weſen ericheinen, Die Feine Aebnlichkeit, feine organische Verwandi⸗ 
fhaft mit Denjenigen zeigen, die ſich in älteren Schichten vorfinten; bier aber if 
e8 nicht Die Natur, die uns im Stiche läßt, jondern die Wiſſenſchaft, Die noch auf 
der Schwelle Der Raturforihung ſteht und kaum die Umrifle unjerer Borgeichichte 
zu erfennen vermag. Wer getraut fich au behaupten, daß die Kruftaceen und kie 
Mollusten des ſiluriſchen Terrains die erften Bewohner unſeres Blaneten geweſen 


Entftehung ber Gattungen. 643 


find? ine folche Idee Hat etwas fo Abgeſchmacktes, daß man fle nicht zu wider⸗ 
legen braucht. 

Die Einwürfe, die man der Lehre von der fortfchreitenden Umbildung des 
Thier⸗ und Pflanzenreiches entgegenftellen kann, find, wie man flieht, hauptſaͤch⸗ 
lich aus unferer eigenen Unwiſſenheit hergenommen. Die Zeit und die Fort⸗ 
ſchritte der Wifjenfchaft werden ohne Zweifel viel dazu beitragen, daß ihr Gewicht 
ſich verringert. Jene Lehre beruft ſich dagegen auf eine ziemliche Anzahl pofiti⸗ 
ver Beobachtungen, die Darwin mit vielem Gefchic aufgeführt hat. In der bes 
lebten Natur gibt fich gleichzeitig ein Streben nad) Veränderung und nad) Er⸗ 
haltung Fund; der unaufbörliche Kampf diejer beiden Einflüfle prägt den orga- 
nifchen Formen Eharaftere auf, die ſich von Geſchlecht zu Geſchlecht modifiziren 
Der Menjch, welcher Racen bildet, thut weiter nichts, ald daß er aus jenem 
Streben nach Veränderung Augen zieht, indem er ihm völlig freied und ungeftör« 
tes Spiel laͤßt; die Natur gelangt indeffen zu ganz Ähnlichen Refultaten, indem 
fie die belebten Wefen zwingt, unaufhörlich mit einander zu Tänpfen, um fich 
ihren Lebensunterhalt zu verfchaffen. Diefer Kampf ift fo heftig, daß jede Mo⸗ 
bififation in den Organen, den Inftinften, den Formen, die eine Bürgfchaft des 
Sieged werden kann, mit großer Schnelligkeit fich fortpflanzt. Die Natur tolle 
zieht alfo, gerade wie ber Menich, eine Ausfcheidung unter den Nepräjentanten 
defielben Typus, nur daß fie fo in alle Ewigfeit verfährt, während der Menſch 
nur über einen Tag verfügt. Daher bat auch die Natur in der unendlichen Reihe 
der Beitalter alle Organismen gründlich zu modifiziren und einen Verbindungs⸗ 
faden zwijchen ten niebrigften Wefen und denjenigen zu Enüpfen vermocht, bie 
in der Ihierwelt am höchften fliehen. Sie hat nichts ſprungweiſe gethan (natura 
non facit saltum); über eine unendliche Beit gebietend, hat fie die theilweiien 
Veränderungen gehäuft, die Ruancen vervielfältigt und nach einander bie Schran⸗ 
fen durchbrochen, die die abfolute Trägheit von der reizbariten Senfibilität, die 
Paffivität von der Freiheit, den Inftinft von der Intelligenz trennen. 

Die Theorie Darwin’d empfiehlt fich nicht allein durch ihre wilfenfchaftliche 
Größe und Bereutung, fie berührt auch praftifche ragen, deren Tragweite Nies 
manden mehr entgeht, namentlich Die Frage ber Kortzucht und der Afflimatiftrung. 
Man kann wohl fagen, dag England das Flaffifche Land der Fortzucht ifl. Die 
rationelle Anwendung des Ausmerzungdverfahrens hat hier wunderbare Mefultate 
gehabt. Bei der Betrachtung der fchönften Exemplare der englifchen Racen hat 
man nur zu oft vergeſſen, durch welche Mittel es gelungen ift, eine folche den 
Bedürfniffen des Menfchen entfprechente Vervollkommnung der Natur zu erzielen. 
Man bat Sehr gut zu thun geglaubt, wenn man fich fchöne englifche Mufter zu 
hoben Preiſen verfchaffte und fle mit den eingeborenen Racen in anderen Ländern 
kreuzte. Alle Beobachtungen Darwin's zeigen indeflen, daß man bei derartigen 
Kreuzungen mit fehr großer Umficht verfahren muß. Die Racen gewinnen durch 
die Kreuzung, wenn fle fchon viele gemeinfchaftliche Kennzeichen haben; bie 
Kreuzung hat dann die Wirkung, daß die Racen Fräftiger und fruchtbarer werden, 
Gibt ed aber in einem Lande natürliche, eingeborene Racen mit ftarf ausgepraͤg⸗ 
en Zügen, jo thut man beffer, fie durch einfache Ausmerzung als durch Kreuzungen 

A\* 


644 2NAeaturgeſchichte. 


zu veredeln. Dies iſt der Weg, den die Natur gewiſſermaßen vorgeſchrieben 
hat, die Ausmerzung tritt dann an die Stelle der natürlichen Ausſcheidung. Die 
Kunſt des Züchters beſteht einfach darin, Daß er aus den Eigenſchaften und For⸗ 
men einer Mace diejenigen herauszufinden weiß, bie fi) am leichteften verebeln 
laſſen; er muß fo zu fagen die Abfichten der Natur errathen; daher ift auch 
nichts fo. felten als ein tüchtiger Züchter. Sein Gefchäft erfordert Fähigkeiten 
der feinften und feltenften Art, eine gewifie Intuition, die genauefle Kenntniß 
des Körperbaus der Thiere und der wechfelfeitigen Beziehungen, in welchen alle 
Theile des Organismus zu einander ſtehen. Diefe ſchwierige Kunft war bisher 
einem oft blinden Empirismus verfallen. Welche Kortfchritte könnte fle nicht 
machen, wenn ed der Raturforjchung gelänge, einige der wichtigften Geſetze zu 
entdecken, welche die Vererbung der natürlichen Kennzeichen bedingen. Die Werke 
unjerer Dichter und Denker enthalten eine Menge finniger und poetifcher Auße 
fprüche über die dem Menſchen ald dem Beherrfcher der belebten Welt beichiedene 
Molle. Diefe geiftvollen Apercus gewinnen jegt Durch das Zeugniß der Natur⸗ 
forfhung bedeutend an Gewicht, und wir fehen mit Befriedigung, daß in unfes 
rem Baterlande, wo die Wiffenfchaft jederzeit Danach geftrebt hat, eine Dienerin 
der Menfchheit zu werden, fortwährend die größten Anftrengungen gemacht wer« 
ben, um die Gefege der Fortzucht, diefes wichtigen Zweiges der landwirthſchaft⸗ 
lichen Induftrie, zu entdecken. 

Darwin erklärt fih auch für die Afklimatifirung. Der engliiche Natur⸗ 
forfcher weift wirflich nach, daß Die einer geographifchen Provinz angehörigen 
NRaturproduftionen nicht immer diejenigen find, die dort am beften geteihen. 
Er ftellt eine Menge Beifpiele den Unhängern der teleologifchen Weltanficht ent 
gegen, die da meinen, Veredlung fei dad gemeinfame Merfmal alles Geſchaffenen 
und jediveder natürlichen Kombination. Wie will man mit diefem vertrauende 
feligen Optimismus erflären, warum unfere Hausthiere in den entlegenften 
Gegenten, wie z. B. in Auftralien und Amerika, wo der Menſch keine Race ähn- 
licher Thiere vorfand, als er die Civiliſation dorthin verpflanzte, To leicht heimiſch 
wurden? Mit welcher reißenden Schnelligkeit hat nicht die Kartoffel ſich über 
alle Finder Europa's verbreitet, nachdem fie einmal eingeführt war? Wenn in 
jeder natürlichen Provinz eine deutliche Harmonie zwijchen der phoſiſchen Ber 
fehaffenbeit, der Topographie Ded Bodens, dem Klima und den Produktionen ter 
organijchen Welt beitebt, jo ift Doch Diefe Harmonie nicht etwas ein⸗ für allemal 
Feititchendes, jondern ein Afford, der Durch einen neuen Afford erfegt werten 
kann, und Der Menich Darf jeinen Bortbeil in unerwarteten Kombinationen jucken, 
wo er nügliche ‘Pflanzen und Thiere an Die Stelle ſchädlicher Pflanzen und Tbiere 
fept. Inter den neueiten Beftrebungen auf Dem Gebicte des Vereinsweſens ver 
dienen daber Die Akklimatiſationsvereine eine ganz beſondere Theilnabme und 
Aufmunterung. Durch Einfübrung fremder Pflanzen und Tbiere, die fich tur 
beſonders nügliche Eigenſchaften empfeblen, können dieſe Genoftenickaften der 
Wiſſenſchaft und Dem Lande wirkliche Dienſte leiſten, wenn jte bei ibren Ver 
ſuchen nur nicht vergeſſen, Die Naturgeſchichte zu ihrer Fübrerin zu nehmen 
Denn obne eine richtige, jachverftintige Auswahl werden alle derartigen Verſuche 


Entftehung der Gattungen. 645 


entweder erfolglos bleiben oder können fogar in gewilfen Fällen fehr übel ablau- 
fen, wenn man nämlich unbefonnener Weife fhädliche, mit bedeutender Lebens⸗ 
und Zeugungdfraft begabte Thiere oder Pflanzen einführen würde, Die auf bt 
Länge gewiſſe einheimische Gefchlechter verdrängen oder Doch wenigftend beeinträche 
tigen könnten. Die Afflimatifirung darfnicht Sache der bloßen Neugierde oder eine 
rein zoologijche Laune fein; ihr Augenmerfmuß nicht auf exotiſche Sonderbarkeiten, 
fondern nur auf alles Das gerichtet fein, was wirflich der Menfchheit Vortheil 
bringen kann. Betradhtet man die Sache unter dieſem Gefichtöpunfte, welche 
gewaltigen Dienft Teiftet dann nicht der Zufunft und der Menjchheit der kühne 
englifche Meifende Livingſtone, der fi bemüht, auf dein afrikanifchen Kontinent 
die Baumwolle der Vereinigten Staaten zu afflimatifiren, deren Kultur auf dem 
amerifanifchen Zefllande nur um den Preis aller Grcuel der Sklaverei möglich ift. 
War nicht der Auffchwung, den der Zuderrübenbau genommen hat, der tödtlichfte 
Streich für die Sflavenarbeit in den franzöflichen Kolonien? In der Welt 
hängt Alles auf’8 Engfte zufammen, und die Wiffenfchaft kann Eeinen Fortjchritt 
auf dem Gebiete der Raturforſchung machen, ohne dadurch fofort einen anderen 
Fortichritt in der fittlichen Sphäre hervorzurufen. 


Das griechilche Kunflideat in der Scufptur. 


Bon 
Dr. Arenzer. 


Motto: Bien n’est plus beau 
que le vrai, 
le vrai est aimable 
et admirable, 
il regne partout! 


Kritik der verſchiedenen Anſichten über die griechiſche Geiftescultur und 
deren Kunftideal. Es laſſen fih drei Perioden unterfheiden. Des 
grieifche Kunftideal als erzeugt aus dem helleniſchen Geiſtesleben, 
durchwandelt drei Phafen, welde fih in drei verſchiedenen Stylen 
zum Ausdrud bringen. Der erhabene Styl bed Phydias, fein Zeus, 
Die Periode des fhönen und natürli menfhliden EtyIs, reprafen- 
tirt dur die Werke von Skopas und Prariteled. Der Styl der 
Reidenfhaften: Niobe, Laokoon ald Manifeftation dieſer Geiſtes⸗ 
erregung. 


Die hohe Verehrung und Dankbarkeit unſerer Nationen gegen die großen 
Denker, Dichter und Helden belebt die Künſtler der Sculptur zur feurigſten 
Thätigfeit, um den Heroen bed denkenden Geifted wahrhaft würdige Denkmäler 
in Erz oder Marmor zu bilden, welche ald Erinnerungszeichen und als Teuchtende 
Ideale allen kommenden Generationen wie ſtrahlende Sterne den Pfad zur Wahr- 
heit und Schönheit erhellen. Diefelbe Begeifterung und der Korfchungßeifer der 
Gelehrten führte auch die Aeſthetik als Wiffenfchaft der philofophifchen Kunſt. 
betrachtung zu einer höheren Stufe ber Vollendung; denn durch Hegel, Viſcher, 
Garriere u. v. a. wurde die Wiſſenſchaft des Schönen zu einem wirklichen philo 
fophijchen Syſteme umgeftaltet, worin die Idee und Erfcheinung ber Schönfrit 
in Natur und Kunft durch Togifche Begriffsdebuctionen dargelegt wird. Ob 
gleich über jeden einzelnen Zweig der Aeſthetik, und ganz beſonders über griechi⸗ 
ſche Literatur und Kunft, ſchon zahlreiche Bände gefchrieben find, fo werden bo 
noch täglich fo viel irrthümliche Anſichten darüber audgefprochen, daß ſich jeder 
bewogen finden muß, fie zu widerlegen, wo fle uns entgegentreten. Dies ift Fein 


Das griech. Kunſtideal in der Seulptur. 647 


vergebliches, Fein fruchtlofes Bemühen, ohne Bereicherung der Wiſſenſchaft; 
fondern wir werden hierdurch weientlich gefördert in der Erkenntniß des geiftigen 
Lebens; weil erft Durch eine philofophifche Kritik, welche durch Facta der Erfah⸗ 
rung die Wahrheit beweift, eine höhere Anſchauung und richtigere Begriffe vom 
Geiftescharakter der antiken Völker entfichen. Diefe denfende Ergründung bes 
geiftigen Bildungsganges, wie er ſich in den Literatur« und Kunftwerfen mani⸗ 
feftirte,, bleibt nicht nur ein Reſultat und Eigenthum der Gelehrten, fondern 
wirft auch auf das praftifche Kunftleben ein, weil bie plaſtiſchen Künftler durch 
richtigere philoſopiſch⸗hiſtoriſche Kunftanfichten befähigt werben, ihren Werfen 
den Beiftescharafter und die Teibliche Geſtalt der Zeit zu ertheilen, in ber ihr dar» 
zuftellender Denfer oder Dichter Ichte und wirkte Man wird alfo bie Helden 
und Denker der Reuzeit nicht in die Coſtüme und Attribute der antifen Völker 
hüllen, fondern in die Tracht, worin fe für Beiftesfreiheit fimpften und farben. 
— In Erwägung der praftifchen Einwirkung folder Gedankendiscourfe, gebe 
ich bier einige Bemerkungen über das griechifche Kunftideal, hoffend, daß ſie als 
zeitgemäß erfcheinen werben, weil gegenwärtig wieder Monumente für unfere 
Geiſtesheroen, Schiller und Goethe, errichtet werden. 

Es ift befannt, daß iim vorigen Jahrhundert die Verehrung der Griechen 
ihren höchſten Grad erreichte und zu einem wirklichen Cultus überging. Durch 
Winkelmann wurden uns ihre Werke der Plaſtik und durch die Philologen ihre 
Produfte der Poeſte und Beredtſamkeit erläutert, erklärt und zu unjerem 
Geiſteseigenthum gemacht. Klopſtock, Göthe, Schiller und viele andere Dichter 
ahmten die Griechen in ber fchönen Plaftik ihrer reizenden Formen nach und 
vergötterten die helleniſche Geiftescultur durch lobpreiſende Gedichte und bes 
Iehrende Abhandlungen. Nachdem aber die germanijchen Geifter ihre Studien 
in der Aetheſis und in allen Regeln der Poetik und Rhetorik bei den Griechen und 
Römern vollendet und felbft zur höchften Virtuofltät in allen technifchen Formen 
gelangt waren und audy ihr Schönbeitögefühl weientlich veredelt hatten, da beweg⸗ 
ten fie fich auf eigenen Fuͤßen und trugen dad Richtmaß des äſthetiſchen Gefuͤhls in 
fich ſelbſt. Die großartige Bereicherung des Geiſtes an Kenntniffen durch den 
Aufichwung der Ratumwiffenfchaften und durch die Entdefung der Werke der 
alten Indier, Perſer, Araber sc. zu Anfang uniere® Jahrhunderts bewirkte, daß 
von da an der Griechencultus ewas ſank; denn man fand auch bie lieblich 
ſchöne Blumenpoefle des Drient® bewunderungswürdig und den Werken ber 
Hellenen würdig zur Seite lebend. Gar bald aber wendete ſich die Denkungs⸗ 
art vom Hellenenthum beinahe ganz ab, indem man die großen Schattenjeiten 
ihrer Geiftescultur, ihren Volytheismus, ihre Sclaverei sc. mit moralijcher 
Strenge nachſichtslos kritiſirte. Und fo erftanden In neuefter Zeit Männer, 
welche im Gegenſatz zu den früheren Anfichten behaupteten, „wir fländen in 
jeder Hinficht unjerer Geiftescultur, in den Künften, Wiflenfchaften und Poeſie, 
Hoch über den Griechen; und die einft von Schiller, Hölderlin sc. jo hoch gepries 
fenen griechifchen Ideale feien durchaus nicht als abfolut vollkommen und ſchoön 
zu betrachten, weil die Mängel ihres Beiftes und ihrer Weltanfchauung auch im 
den Idealen ihrer Geifteöproducte zur Erſcheinung gefommen wären.‘ 


6; Aecetheii.⸗ 


Ueber dieie? ertremen Umarunqg amd Axechecũtung tel Hellene⸗ 
in Gerinai biyung , diries wir und nidr ehr wantern; ickie Gridcınungr 
baten Ach in ter Eulturzeisidhte rt ereigmer, Garen aber ur Helge, Buy ib 
aus Ten mweckiclieirigen Zieceurien darũber tie bölere Wahrheit eruenge. Um 
vie fallen Anitten über das zriedbüde Aunfliteal widerlegen, bin ih ge⸗ 
nörbizs, einige Austerite ter Aunftzelebrien zu citiren, berdwänte mich aber 
nur auf Die Haurtgetanten, weldbe son mehreren Schrifritellern in wielexlei For⸗ 
men audgeiprecen Ant. 

Gin Herr Auzuñ Preuner beginnt im Stutigarter Morgenklatte jeine Ber 
trachtungen über tie Juno Lodoeiſi. Tie Ecbilterunz , weld:e er über dieſes 
wunderbar ichöne, vollkommene unt betürfiniglcie Görrerantlig gibt, bezeichnen 
fehr treffend tie Wahrheit, aber vom Gbarafter Lieicd Göuerkilte macht er 
einen Schluß auf ten ganzen Geiſtescharakter Ted griechiſchen Lchend und der 
griechijchen Aunft, welcher nur relatise Wahrheit in fi tigt und nur eine Pe 
riote ter bellenifchen Literatur und Kunft oberflächlich dharafterifirt, nicht aber die 
ganze Heiftescultur in ihrer Totalität der Ennwidelung und des Berfalle bezeichnet. 
Tap er fih hierbei auf einen Ausſpruch Böckh's berufi, um jeine Ausjage zu 
beftätigen, darf uns nicht abhalten, fie zu witerlegen und eine richtigere ald tie 
einzig wahre Anſicht Tagegen aufzuftellen. Sein eigener und Vöckh's Ausipruc 
ft in folgenden Worten enthalten: „Schön war bie griechiiche Welt; aber 
gene antike Echönhelt des Leibes und Geiſtes war auch ihr höchite® Gut. Nur 
Ginzelne haben in bacchiichen Taumel ſich geftürzt, Viele haben ftolz ihr Schid- 
fal getragen, oder find ihm wie Niobe ftolz erlegen. Man halte tiefe Riobe an 
eine büfpende Magtalena, und ein Lüfterer Schatten fällt auf die griechiiche Welt. 
Ge gibt in ihr aus Eünde und Unglüd feine Rettung, keinen lebendig machen- 
den Balfam für ein brechente, ein gebrochenes Herz.” „Rechnet man, jagt 
Böckh am Schluß ſeines Staatshaushalts der Athener, die großen Geiſter ab, 
die in der Tiefe ihres Gemüths eine Welt einſchließend fich felbjt genug waren, 
fo erfennt man, Daß Lie Menge der Xiche und des Troſtes entbehrte, die eine 
reinere Meligion in die Herzen der Menjchen gegoffen hat. Die Hellenen waren 
in Glanze der Künfte und der Vlüthe der Freiheit unglüdlicher als die meiften 
glauben.” Herr Preuner eitirt auch einige Worte von Sophofles: „Nicht das 
Licht zu erblicten wäre mehr als Alles; nachdem man ward, dahin wieder, woher 
man Fam, baldigft zu geben, tft zunächft Da8 Beſte.“ Hieraus und aus einigen 
anderen Ausfprüchen griechiſcher Dichter foll bewiejen werden, Daß den Hellenen 
der befeligende Friede, Das harmoniſche Dajein und Die Freude am Erdenleben 
gonangelt babe, ie ſeien haltlos, zerriffen und nach einen neueren Austruf 
„blaſirt“ geweſen; und da ſie Fein tieferes Seelenleben belchte, jo hätten ſie auch 
feine jeelenvollen Kunſtwerke zu erzeugen vermocht. — Dies find jo im Allges 
meinen die Hauptgedanken vieler Kunftichriftfteller unjerer Zeit, daß hierbei noch 
zabtreiche Varianten vorfonmen, tft erflärlich, denn die Weltanſchauung und tie 
biſtoriſchen Studien dieſer Herren befchränfen ſich auf einen gu Eleinen Horizont, 
and was darüber hinausliegt, ijt ihnen unbefannt, auch werden dic Ausiprüche 
Voͤckh's öfters mißverftanten, zumal fle nicht auf alle Phaſen der belleniichen 


Das griech. Kunftideal in der Sculptur, 649 


Geiftescultur anwendbar find. Jeder tiefere Kenner der antifen Menjchheit muß 
fogleich zugefteben, daß dieſe Anftchten jehr oberflächlich und theilweite ganz falſch 
find. Mit folchen allgemeinen Sägen, wenn man auch wirklich zum Beweife einige 
Stellen aud den griechiſchen Schrififtellern eitirt, wird doch gar nichts bewiefen 
und am allerwenigften eine wahre Schilderung gegeben. Es ift eine geiftlofe 
Manier, daß in heutiger Zeit noch fo viele Schrififteller jenen gedanfenlofen 
Menichen. im Reben nachahmen und gewiſſe Kategorien mit einem Schlagworte 
.aufitellen, darunter eine Anzahl Menſchen ſubſummiren und ihnen verfchiedene 
Prädicate nach Gutdünken andichten. So werden von einer Seite die Demos 
fraten als Würhler und Umftürzler, von der anderen die Ariftofraten ald Igno⸗ 
ranten, Schwelger ac. bezeichnet; Dies ift eben fo ſinnlos ald wenn gefagt wird, 
alle Zuden find Betrüger, die Bureaufraten berrfchfüchtig n. |. w. Solche all- 
gemeine Redendarten jollte heutzutage fein Gebildeter mehr führen und als ſchil⸗ 
dernte Bezeichnung gebrauchen; denn Edle und Unedle, Polyhiftoren und ſtupide 
Janoranten gibt es ja unter allen Klaffen der Geſellſchaft. Aber noch wider⸗ 
finniger werten dieſe Redensarten, wenn man fie mit einem jchlagenden Kates 
gorienworte auf ganze Völfer in Beiten von mehreren Jahrhunderten anwendet 
und 3. B. fagt: Die Juden "kennen ‚nur den Gott bed Zorned, aber nicht den 
alllicbenden Himmel®vater; die Sriechen waren nur dem Polytheismus ergeben 
und hatten gar feinen Begriff vom göttlichen Geiſt der Ehriften x. Ich fage, 
lauter folche Floskeln, womit gewifle Leute Geſchichtskenntniß affectiren, find ganz 
unwahr und verurjachen nur Ierthümer und faliche Anfichten in der Darftellung 
ber Gulturgefehichte. Denn wenn man aus den obigen Audfprüchen des So⸗ 
phokles ſchließen will, daß die Griechen Feine Freude am Dafein gehabt Hätten, 
fo zeigt died von der größten Unkenntniß in Gejchichte und Kiteratur. Hirn 
gegen kann man zahlreiche Stellen aus ihren Dichteen anführen, welche daß bi» 
recte Gegentheil befagen. Man denfe nur an die Ausſprüche des Ideal⸗Menſchen 
Achilles, wo er, in Homer’8 Iliade fagt, „er wolle fich lieber Hier oben im rofigen 
Lichte als Ackerknecht freuen, ala im Meiche der Schatten Ichent Auch aus den 
fpäteren Tichtern, wo das hellenifche Staatsleben ſchon zu finfen begann, fpricht 
fich die innigfte Breude am wonnevollen Daſein biejer fchönen Ertenwelt aufs 
berzlichfte und oft in der tiefergreifenften Weife aus; zum Beweiſe citire id, hier 
die Bitte der Iphigenia aus Euripides Tragödie: 


Mein Bater, haͤtt' ih Orpheus Mund, fönnt ich 
Durch meiner Stimme Zauber Felſen mir 

Zu folgen zwingen, und durch meine Rebe 

Der Menfchen Herzen, wie ich wellte, ſchmelzen — 
Seht würd’ ich dieſe Kunſt zu Hülfe rufen! 
Doch meine ganze Rebefunft find Thränen, 

Die hab’ ich und die will ich geben! Sich, 
Statt eines Zweig's der Flehenden leg’ ich 
Mic) felbit zu Füßen — töbte mic 

Nicht in der Blüthe! Diefe Sonne ift 

So lieblich! Zwinge mich nit vor ber Zeit 
Su fehen, was hier unten iſt! 


650 Aeſthetik. 


Laß Dich erweichen! Laß mich leben! 

Bei Deinen Wangen fiche ih Dich an! 

Nichts ſüßres gibt es, als ver Sonne Lit 
Su fhauen! 


Kann wohl das füße Hangen am Dafein, die tiefgefühlvollſte, heißeſte 
Lehensluft treuer und wahrer ausgeiprochen werben als dies hier im britten 
Jahrhundert vor Chriſti Geburt gefchehen iſt! Dergleichen Stellen gibt es fehr 
viele in den hellenifchen Dichtern; fie Hatten aber auch tie erhabene Würde 
des Menfchen erfannt. Sophofles jagt: „Nichts Größeres und Höheres gibt e# 
auf Erden, ald der Menich in feiner Pracht.“ — Es können demzufolge auch 
Schriftſteller auftreten — und es ift fchon geichehen — die behaupten: Fein 
anderes Volk der Erde Habe eine folche innige Freude und Lebensluft am fchönen 
Erdenleben gehabt als die Hellenen! Beide Ausiprücdye find einfeitig, wie ich 
fogleich zeigen werbe; zuvor bemerfe ich aber, daß diefe Unteriuchung fehr nöthig 
if, wenn wir das griechifche Kunftiteal in feinen gefchichtlichen Wandlungen 
klar erkennen und treu begreifen wollen. In der erflen Sauptperiode des grie 
chiſchen Staats⸗ und Culturlebens, von Homer bis Sophokles, herrfchte vor 
zugöweife unter den jonifchen und attijchen. Stämmen die allgemeinfte Heiterkeit 
und größte Zufriedenheit am Dafein diefer Erdenwelt. Wir Eönnen dieſes Zeit- 
alter vom achten bis zum vierten Jahrhundert mit einigen Decennien zurück und 
nach vorwärts datiren. In diefer Periode wurden fie vom unerfchütterlichften 
Glauben an die gerechte Weltregierung der feligen Götter beſeelt. Hieraus em 
zeugte fich ihre Tugend und heroifche Tapferkeit; fie achteten bie Geſetze als bie 
heiligften Gebote der unfterblichen Götter, deren Lebertretung fogleich durch die 
rächende Remefld gefühnt wurde. Dieſes felfenfefte Vertrauen auf die ewig ges 
rechte Weltregierung begeifterte fle zu Den größten Meifterwerfen der Künfle 
Ihre eifrige GBötterbegeifterung dictirte ihnen die ſchön bezeichnenden Worte 
und unübertrefflicden Versformen zu ihren Gedichten und führte ihnen eleftri- 
firend die Hand zu Bötterbildern der Sculptur. Rur durch diefe erhöhte Geiſtes⸗ 
ſtimmung wurden fle befähigt, Elajfiihe Kunftproducte für alle kommenden 
Menjchengefchlechter zu erzeugen. Wer dies Gejagte bezweifelt, der leſe nody 
mals die Werke des Homer, Heitod, Aefchylus und Sophofled, aber mit tiefer 
Aufmerkfamfeit und denfender Betrachtung, nicht aber fo nachdenkungolos wie 
in den Schuljahren. Der befchränfte Raum einer Abhandlung geftatter nicht, 
zahlreiche Dichterftellen zum Beweife anzuführen,; auch ift es beffer, fle im Zu⸗ 
fammenhang der Dichtung zu leſen, als vereinzelt herauszuheben. 

Dies ift alfo das erſte Hauptftadium ihres geiftigen Lebens, wodurch ihr 
Charakter nebſt Geiſtescultur wefentlich beftimmt und colorirt wurde. Sept 
erinnere ich noch am bie wichtige phyſiſche Bedingung, woturd ihre Seelenſtim⸗ 
mung im Gemütböleben das Golorit erhielt, Es ift befannt, wie heiter belebend 
ein azurblauer Himmel mit Sonnenfheln oder Sterngefunfel auf das Gemüth 
zu wirfen vermag. Auch der vom Kummer und ram fchwer heimgefuchte 
Schmerzensbulder wird oft durch folche rofige Tage des Sonnenfcheins in eine 
beitere und friedlichere Seelenfituation verfegt und vergißt wenigſtens auf Augen 


Das griech. Kunflideal in der Seulptur. 651 


blicke die unfagbar quälende Wucht feines Schmerzed. Die Hellenen lebten und 
athmeten ftet8 nur unter tem beiterfien Himmel mit feinen Tieblichen Lüften und 
füß Duftenden Blumengefilden. Sie litten weder von tropiſcher Hige, noch von 
nordiſcher Kälte und brauchten auch nicht täglich ihre ganze Zeit zur Arbeit ums 
liebe Brod zu verwenden. Es ift ein gar nicht hoch genug anzufchlagender Vor⸗ 
zug, daß fle von drüdenden Rahrungsforgen befreit waren. Alſo die phyſtſche 
und foctale Situation, im Vereine mit dem begeifternden Glauben an bie gerechte 
Weltregierung der Bötter, erzeugte in ihnen jene Feſtigkeit des Charakters, bie 
heiter befeligende Zufriedenheit am monnevoll fchönen Erdenleben, und brachte 
eine Harmonie des Geiſtes und der Seelenthätigfeiten in faft. allen gebildeten 
Griechen hervor, wodurd fie als Idealmenſchen den kommenden Gejchlechtern 
daftehen. Aber wohlgemerkt, diefe fchöne harmoniſche Geiftesfiimmung hatte 
ihre wahre Blüthenzeit im vierten und dritten Jahrhundert vor Chriſti Geburt; 
die Vorzeit muß man als das Werben und Bilden betrachten, und die Rachzeit 
als die Verfalle und Auflöfungsperiode. Diefe Blüthenperiode der bellenifchen 
Geiſtescultur erzeugte Männer wie Aejchylus, Sophokles und noch viele andere 
Denker, Dichter, Künftler und Staatsmänner. Die Dichter und Künfller jener 
Zeitperiobe des Glaubens hatten ein fehr hohes Ideal von ihren Göttern. Sie 
dachten fich den allmiffenden Weltregierer Zeus als ein Ehrfurcht gebietendes 
majeftätifches Wefen, deſſen ganze Erfcheinung nur die perfoniflcirte Erhabenheit 
und Würde fein konnte und demgemäß durch die Sculptur dargeftellt werben 
mußte, Diefer ehrfurchtsvolle Glaube begeifterte Phidiad und Polyflet und 
führte ihre Hand zur Meißelung des Zeus und der Here. Man hat diefed Zeit 
alter der Sculptur al8 die Periode des erhabenen Stols benannt, weil Hoheit 
und Würde als Grundton der Geiſtesſtimmung herrſcht; wollten wir bier eine 
Parallele ziehen, fo könnten die Tragödien des Aeſchylus genannt werben, in 
denen Götter vorherrfchend walten und den ernften erhabenen Styl bedingen. 
Ein und diefelbe Geiſtesſtimmung manifeftirte fich in der Poeſie und Sculptur; 
das Gigantiſche und Heroiſche objectinirt fich zu Beftalten in den Werken der ge 
nannten Meifter. Ein folcyes Ideal der Erhabenheit und Bolllommenheit mußte 
alfo ganz naturgemäß als ewig bedürfnißlojes Bötterweien in der Sculptur dar⸗ 
geftellt werden. Weshalb will man diefen felbftgenügfamen Göttern in ihrer 
Himmelßfeligfeit ein Sehnen, oder wohl gar ein jentimentale8 Sehnen an⸗ oder 
eindichten ? Nach was follte fich der erhabene Böttervater Zeus fehnen, denn er 
war ja die Erhabenheit und perfönliche Vollkommenheit, welche Nichts bedarf, 
weil fie Alles hat! Wenn ein Künftfer unferer Tage die Anficht und den Begriff 
vom abfoluten Gottesgeiſt durch ein Bild verwirklichen will, fo legt er weder 
Sehnſucht noch Hoffnung in das Antlig, fondern er fchafft ein Weſen, daß in 
mujeftätiicher Ruhe und Weisheit mit logifch Flarem Blick das Weltall befchaut. 
Aehnlich verhält es fich auch mit der Juno; denn Juno war ja Feine genußbebürfe 
tige und genußfüchtige Venus. Die Juno Ludovift fehnt fich weder nach Liebes⸗ 
Tuft noch Liebesleid; folchen menfchlichen Regungen und Herzensfituationen ift die 
erhabene Söttermutter entrüdt. Man darf fie aber auch durchaus nicht mit 
dem Marienideal vergleichen, um biefes oder jene höher zu ſtellen. Weder 


652 seta. Aeſthetik. 


Marine unfägliche Herzensſchmerzen, noch deren Himmeldluft, hat die June durch⸗ 
lebt, darum ftebt fie erhaben in ewiger Jugend, nichtalternd und jeder Zeit entrüdt 
und unberührt von Erdenluft und Erdenſchmerz da. Aber das Leben und Leiden 
der Mutter von Chriſtus bedarf eines ganz anderen piychologiichen Charkters in 
bifdlicher Darftellung. Sie, welche die größte befeligendite Himmelsluſt erlebte, 
indem fie den göttlichen Heiland der Welt gebar, und dann die unausiprech- 
lihften Todesqualen erlitt, als er den fchauderhaften Martertod am Kreuze 
ftarb; ſie bedarf einer ganz anderen Darflellung als die leidenloje Juno. 

Wenn die alten hellenifchen Dichter der Glaubensperiode von dem Walten 
ber Götter und den Schidfalen der ſterblichen Menichen jangen, riefen fte erft Die 
Muien um Begeifterung an, auf daß fie würdig würten, die Thaten ber Götter 
und Menſchen zu bejingen, Wenn dies aber die Dichter der Neuzeit nachäffen, wie 
es vielfach geſchah, fo iſt dies ganz finnlos, denn fie thun es nur als Nach⸗ 
fhwäger, ohne an die wirkliche Erifteng der Mufen zu glauben. Alſo nochmals 
gefagt, Durch den wirklichen Götterglauben begeifterten fich Die helleniſchen Dich⸗ 
tee und Kuͤnſtler zu ihren Werfen und realiſirten hierdurch ihre Glaubenk⸗ 
anfchauung zur Objectivität. 

Gehen wir nun einen Schritt weiter in der gefchichtlichen Wanderung. 

Rachtem der begeifterte Glaubendeifer eine große Zahl erhabener Götter⸗ 
bilder gefchaffen, dachte man auch an die Lildliche Darftellung der Geroen und 
großen Menichen; Geſetzgeber, Staatdmänner und andere auögezeichnete Sterb⸗ 
liche wurden durch: Bildwerfe verherrlicht. Hierbei konnten fle Fein anbercd 
Ziel haben, ala die fchönften, wohlorgnifirteften Menjchen in menjchlicyer Größe 
zu bilden, während die Götterftatuen in großartig erhabenen Formen dargeſtellt 
wurden. Es erzeugte jich Hierdurch die Periode des „schönen Styls,“ Die ich 
als die Periode des „wahrhaft menfchlichen Styls“ bezeichne. Sie ift in ber 
Gegenwart die vorherrjchende, umfaßte aber im Hellenentyum nur die Periode 
des Dritten und den Anfang des zweiten Jahrhunderts vor Ehrifti Geburt. In 
jener Zeit gelangte auch die naturgemäge Thierbildung zur höchſt möglichen 
Vollendung. Myrons Kuh und Hund erregten die ftaunenfte Bewunderung 
und wurden von Dichtern bejungen. Dieje :Beriode des ‚wahrhaft mienjchlidyen 
Styls“ wurde durch Prafiteles, Skopas, Paros und viele andere Künitler re 
präjentirt. Ihre Werfe ftehen ald ewig bewunderungswürdige Ideale Der Menſch⸗ 
beit da; wir müfjen es tief fchmerzlich bedauern, daß und nur fehr wenige davon 
erhalten find. Der unvergleichliche Apollo Sauroftonos in jeiner nachläffigen, 
aber doch aufmerfjam lauernden Stellung tft ein Meiſterwerk der ſchönen Natur⸗ 
wahrheit, das nicht feines Gleichen hat. Im leichter ungeswungener Körpers 
biegung erblicden wir den Eidechſentödter, als wäre er ein wirklich verfteinerter 
Menich, jo treu und naturwahr find alle Glieder mit ihren Muskeln, die Bruft 
mit ihren Rippen und der Bauch mit jeinen verfchiedenen Wölbungen in Wars 
mor gebildet. Aber auch die innigfte Harmonie zwifchen der befeclenten Geifted- 
ſtimmung und den leiblichen Formen ftrahlt uns aus allen Kunftproducten jener 
Beit entgegen. Und bei dem Betrachten diejer muß man zu Der eridenten Liebers 
zeugung gelangen, daß auch ihre Schöpfer von der jyönften Harmonie des Geifles 


Das griech. Kunflideal in der Scalptur. d53 


und des ganzen Seelenlebens durchdrungen waren, denn nur hierdurch vermoch⸗ 
ten ſie ſolche vollkommene Meifterwerke zu ſchaffen. Wären die bamaligen Gries 
chen haltlos, zerriffen und blaftrt gewefen, fo hätte ſich dieſe Geiſtesſtimmung 
auch in ihren Werken manifefliren müflen, wie es in der fpäteren Beit nicht nur 
bei den Griechen, fondern- auch bei vielen anderen Völkern der Hall war und wie 
e8 fich in der Neuzeit ereignet bat. Man denke nur an bie Leidensperiode des 
Merther und Siegwart, in der Gegenwart an den Weltfchmerz der Dichter und 
Künſtler. Es ift aljo der größte Irrthum, wenn von ben Hellenen des vierten 
und dritten Jahrhunderts audgefagt wird, fle wären alles Troſtes baar gewefen, 
ihnen hätte nach den Qualen des Schmerzes der befeligende Himmelsfrieden 
feine Erlöfung gebracht; daher feien fle in haltung8lofen Taumel und in blafirte 
Zerriffenheit verfunfen. Ich fage, es ift dies die größte Unwahrheit, die man 
nur audjprechen fann. Man denfe doch nur an die tief bedeutungsvollen Sagen 
bes Prometheus, Dedipus, Oreſt ꝛc. Schon aus allen diefen Sagen ſpricht ſich 
das Grundthema aus: daß dem viel Duldenden Menfchen, wenn auch erft nach 
langen unfäglichen Qualen und Schmerzen, Doch zulegt der befeligende Himmels⸗ 
friede zu Theil werde. Diefe Weltanficht durchwebt alle Ihre früheften Sagen 
und Gedichte und zieht fich fort bis zum Chriſtenthum. Der unglüdliche Oreft- 
erleidet von den furchtbar quälenden Furien feine Strafe, bis die begangene 
Sündenfchuld gefühnt ift, dann zicht der Friede wieder ein in feine ſchmerzzer⸗ 
rijfene Bruft und himmliſch befeligender Troft erfüllt die jo hart verfolgte Seele, 
Und der Unglüdlichfte der Unglüdlichen, der große Schmerzensdulder Oedypus, 
der fo viel Thränen geweint al8 Sterne am Simmel ftehen, weil er den größten 
Jammer ter Erde erlitt, diefer erbarmungdwürdige Trauermenfch wird am Ende 
feiner thränenvollen Schmerzensbahn in den Heiligen Hain des ewigen Friedens 
geleitet, wo fein viel duldender G@eift die von Kummer und Gram zerftörte Hülle 
verläßt und fich in die reine Netherregion der ewigen Seligfeit emporjchwingt. 
Hier iſt aljo Sünde, Sühnung der Schuld durch Strafe und Erlöfung daraus 
zum ewigen Simmeldfrieden. Diejed Grundthema durchwandelt die bellenifche 
Geiftesentwicelung und zeigt hierdurch eine Verwandtſchaft mit der chriftlichen 
Slaubensanfchauung. Aber nicht nur bei den riechen, fondern bei allen frühes 
ren Eulturvölfern, Aegyptern, Indiern, Berfern ıc. finden wir diefelbe Welt 
anficht mit mehr oder weniger Abweichung in Einzelheiten; der fterbliche Menfch 
wird durch feine Verkettung in die WWeltereigniffe und vermöge frined Eigen 
willens zur Sünde und zum Berbredyen verleitet, worauf die fühnende Strafe 
erfolgt, nach der ihn aber die Himmelsſeligkeit nebft der Palme des ewigen Frie⸗ 
dens zu Theil wird. Aber höchſt glücklich ift der Sterblicye zu preiien, welcher 
ftet8 die Gefege der Götter in Ehrfucht erfüllt. Aus diefem Hauptthema der 
Meltgefchichte haben ung die größten Dichter und Künftler ihre unfterblichen 
Werke gefchaften. Wohl Hatten aljo auch die Griechen Troft und Hoffnung auf 
gerechte Vergeltung der guten und böſen Thaten; dieſe Zuverſicht verlich ihnen 
jene Heiterkeit und Zufriedenheit des Charafter8 und erzeugte in ihnen die ſchönſte 
Harmonie aller Seelenthaͤtigkeiten, welche fih fowohl im arjelligen Leben als in 
ihren Beifteöproducten manifeſtirt und objectivirt bat. And es ift ja auch Hin» 


0 | Aeſthetik. 


reichend bekannt, daß kein Volk heiterer, glücklicher und zufriedener lebte als die 
Hellenen des fünften, vierten und dritten Jahrhunderts. Dan darf alſo durchaus 
nicht fo im Allgemeinen dahin fprechen: ‚Die Griechen fannten Feine Erlöfung 
aus Sünde und Echuld. Daß aber jene bellenifche Sühnung und Grlöfung 
von der Sünde und Schuld nicht mit der chriftlichen zu vergleichen fei, ift offen- 
bar; denn im Chriſtenthum vollzieht fie fich in viel höherer Geiſtespotenz. Alſo 
die harmoniſche Löfung aller Diffonanzen des Grams und der Schmerzen in Me 
reine Gonjonanz des ewig heiteren Friedens, iſt das vorberrichende Grundthema 
im bellenifchen Geiftescharfter der eben genannten Beriode, welche von Homer an 
bildend beginnt, zu Perifles und Sophofles Zeit ihren Eulminationspunft cr» 
reicht und von da an wieder abwärts geht und endlich Durch ein neu eintretende® 
Weltorinzip total aufgelöft wird. Und diefe Harmonifche Auflöfung aller ſchmerz⸗ 
lichen Diffonanzen in die beruhigenden und bejeligenden Conſonanzen vollzieht 
fih auch in fait allen ihren Meifterwerken der Poefle und Sculptur aus jener 
Blüthenzeit ihres geiftigen Lebend. Daher Fann man vom vaticanijchen Apoll 
Tagen (wie Oeſer in feinen aefthetifchen Briefen), wir finden Raturwahrbeit, 
Ausdrud und Leidenfchaft, man möchte fagen Spuren der Gedankenbewegung, 
aufgelöft im Schmelz der Schönheit, in einen leichten Schleier der Anmuth ges 
hüllt. Alle Schönheit des menfchlichen Körpers, die man im Einzelnen und bei 
Einzelnen finder, ftellt fich Hier im Ganzen dar. Es iſt die höchſte idealiſirte 
Natur. Naͤchſt dem ift Alles in dem Momente dargeftellt, wo gerade der Affeet 
den höchften Grad erreicht, und eben in bie Bewegung des Zeitlichen aus dem 
Näumlichen Hinüberfpielen will. Da aber die Eculptur nichts in der Folge, 
fondern Alles feſt und Beharrlich darftellt, fo ift der Moment zu einer einzigen 
Zotalanfchauung in die Korn des Raumes zufammengedrängt und gleichfant ver 
fleinert. — Uber diefer herrlich blühende Geiftesfrühling geht vorüber und feine 
erzeugten Producte werden durch fpäte Sahrhunderte hindurch bei vielen kommen⸗ 
den Generationen bie Keime zu neuen Blüthen und Früchten einer viel böber 
potenzirten Geiftedcultur. Wohl gab ed nun auch in Griechenland Menfchen, 
welche feine Erlöfung aus Schmerz und Sünte kannten, und die entweder in 
rafendem Schmerz oder imbacchantiichen Strudel der roheften thieriichen Genuͤſſe 
berfanfen und retiungslo8 zu Grunde gingen. Dies gefchah aber meiften® nur in 
der Auflöfungdperiode der griechifchen Geiſtescultur, in der gänzlichen Zerrüttung 
ihres Staats⸗ und focialen Lebens. Sie umfaßt zwei Jahrhunderte vor und 
drei Jahrhunderte nach Chriſti Geburt. Und diefe Griechen hatten wahrfchein« 
lich jene Schriftfteller in Gedanfen, als fie die eben angeführten Ausſprüche 
thaten. Ich will nun die Hellenen diefer Zeit ſchildern und ihre Geiftesfti.uunung 
erklären, zuvor müflen wir aber einen Blick auf den geiftigen Bildung: oceß 
werfen, aud dem dieſe Situation hervorging, bemerfe aber, daß ich ſchon im 28. 
Jahrgang ded Magazins für die Literatur des Auslandes in Nr. 74, betreffend 
„die Geiſtescultur der Slaven und ihre zufünftige Weltftellung‘ einige Anbeus 
tungen bierüber gegeben, welche noch durch einige Worte ergänzt werden follen. 

Schon im ſechszehnten Jahrhundert vor Chriſti Geburt erftanten in Gries 
henland Männer, die jich nicht mit dem überlieferten Meligionsglauben begnügten, 


Das griech. Kunftideal in der Seulptur. 655 


fondern tiefer nachforfchend, die Prinzipien des Weltalld zu ergründen fuchten. 
Sie vermochten zuerft nur einzelne Lehrfäge aufzuftellen, an denen die Nachfolger 
anfnüpften und weiter forfchten. Es find die Philofophen Thales, Pythagoras, 
Anaragoras, Zenophanes, Sokrates, Plato, Ariftoteles u. A. Sie kamen im 
Verlauf der Zeit und der gefchichtlichen Entwidelung der Philofophie zu der 
überzeugenden Anftcht: daß das Weltall nur von Einem abfoluten Beifte belebt, 
geftaltet und beherrſcht werde; biefer Rous oder denkende Logos ſei das ber 
wegende, geftaltende und denfende Prinzip in der Materie. Letztere dachten fle 
ſich urjprünglich als ein Chaos, das vom denfenden Geiſte zu den zahlreichen: 
MWeltförpern und Kreaturen gebildet werde, Durch bie weitere Ausbildung und 
allgemeine Verbreitung diefer Lehre mußte der bisher geglaubte Polytheismus 
als Aberglaube und ald ein Erzeugniß der dichtenden Phantaſie von ber noch 
findlich glaubenden Menfchheit betrachtet werden. Lind da diefe Lehre von den 
PVopularphilofophen in allen Regionen des Volks verbreitet wurde, fo ſank der 
Glaube an die vielen Götter und Göttinnen endlich ganz in Mißachtung. Hier⸗ 
bei waren nun die fogenannten Sophiſten ganz beſonders thätig; viele von ihnen 
Ichrten Feine reine geläuterte Bottedanficht, jondern erregten mit bialeftifcher 
Gewandtheit den Zweifel in allen Gemüthern, fo daß diefer Scepticißmus, wel⸗ 
cher Alles bezweifelte, felbft fogar das eigene Denken, im zweiten Jahrhundert 
vor Ehrifti Geburt Die größte Herrichaft im Volke erlangte, Nichts fei ald ge= 
wife Wahrheit zu erkennen, dem Einen erfcheine Died jo, einem Anderen anderd; 
ob Götter eriftirten oder nicht, Fönne gar nicht audgem werden. Ja, zahle 
reihe Sophiſten laͤugneten total die Götter und das Kürjiinbeflehen des Geiſtes. 
Hierdurch entftanden die Vorgänger unferer Materialiften, welche den Geiſt mit 
allen feinen Sunctionen des Denfend nur als cin Product, gleichfam als eine 
Auadünftung der Materie betrachten. Diefer Scepticismus, der von den So⸗ 
phiften auf öffentlichen Plägen, in Werfftätten, überhaupt auf allen Wegen und 
Stegen gelehrt wurde, verfegte die Hellenen diefer Zeit in einen Nihilismus, der 
zulegt eine fchranfenlofe Kafterhaftigkeit zur Folge hatte. Die wenigen vernünfe 
tigen LXchrfäge einer höheren Weltanfchauung wie fie Zenophanes, Unaragoras, 
Sofrates und Ariftoteles lehrten, wurden nur von einer- Eleinen Zahl verftanden 
und ald Wahrheit aufgenommen; während der Nihilismus der Sophiften mit 
feiner feeptifchen Srechheit in faft allen Gemuͤthern Eingang fand. Die Grie⸗ 
chen raifonirten jegt: gibt es Feine Götter, weshalb follen wir ihre Geſetze und 
Gebote halten! Diele kamen endlich auf den Einfall: die Religion und Staats⸗ 
gefege feien nur von den Starken und Klugen eingefegt, um die Schwachen und 
Dummen gängeln zu können. Nebſt diefen verkehrten Anflchten wirkte auch der 
erlangte Neichthum, die vielen Kriege und Raubzüge fehr demoralifirend auf das 
Volk, Hierdurch entftand num jener oben angebeutete Geifteözuftand der Hellenen. 
Jetzt gab es für fle Feine Erlöfung aus Schmerz und Sünde, denn fie glaubten 
an feine gerechte Weltregierung. Jeder fuchte nur den Genuß und bie Luft zu 
erbaichen, weil man nur hierdurch die höchften Lebensgüter zu erlangen glaubte, 
Jeder war fich felbft der Nächte, darum mußte er Alles aufbieten, um der Lebende 
freuden theilhaftig zu werden, ſei es auch auf Unkoften und nıit Verlegung 


656 ei Me. 


Anderer. Man brauchte. die Geſetze nicht mehr zu beachten, denn es eriftixte 
feine rächende Nemefld. Anftatt in Theatern die großartigen erhebenden Trage» 
dien ihrer claiftichen Dichter zu fehen, vergnügten fle fich lieber an thieriich ſchwel⸗ 
genden Tafelgenüffen mit zahlreichen Schüffeln der verfihiebenften Epeifen, unb 
anftatt in Akademien gründlich wiflenfchaftliche Vorträge zu hören, vernahmen 
fle licher bie wolläfligen Lieder ihrer Buhlerinnen. Dieſer durch und Durch des 
moralifirte Geifteszuftand brachte die befannten ertremen Wuthausbrüche bes 
verzweiflungsvollen Schmerzes und der wahnfinnigen Luft hervor. Die ganze 
Ration hatte ihren fittlichen Halt verloren und verjanf in einen Abgrund ber 
ſchmutzigſten Lafter, welche die totale Zerfiörung aller Familien- und Staatsver⸗ 
- hältnifle herbeiführten ; daß bei ſolchen Zuftänden auch die Kunft von ihrer idealen 
Höhe herabſinken mußte, ift Teicht begreiflich. Betrachten wir nun das dritte 
Stadium der hellenifchen Sculptur, das durch diefen fo eben gefchilderten Geiſtes⸗ 
zuftand erzeugt wurde. 

Hatten fich die Künftler in der Periode des wahrhaft ſchönen menjchlichen 
Styls als höchſte Aufgabe geſetzt, wohlorganifirte Menſchengeſtalten in fchöner 
naturgemaͤßer Form zu ſchaffen und fie in beſeligender Ruhe und harmoniſcher 
Zufriedenheit darzuftellen, jo wählten dagegen die Künftler dieſes Zeitalters den 
Kampf des Menfchen mit den Leidenfchaften und dem Schidjal. Das gewaltige 
gigantijche Fatum, das den Menfchen vernichtet und Fein mitleidsvolles Erbar⸗ 
men fennt, wurde jegt vorzugsweiſe zum Sujet ber Kunftwerfe erforen. Hier⸗ 
durch trat ein wefentlicher Wendepunkt in der Sculptur ein. Die Künftler 
ber erflen und zweiten Periode — des erhabenen und wahrhaft menjchlichen 
Styls, — Iegten das größte Hauptgewicht auf die Darftellung der menjchlichen 
Geſtalt in ihrer barmonifhen Würde und geiftigen Ruhe; die reine fchöne 
Aeußerlichkeit der Körperformen, in denen ber — gegenwärtig — ruhig Denfende 
@eift lebt und webt, find das Hauptziel diefer Plaſtif. Diefe Ruhe kann aber 
nicht die Ruhe der Trägheit fein; fte ift Die Ruhe, die aus dem Gefühl der Kraft 
entitcht, — jagt Eberhard über den olympijchen Zeus — fo gehört fie zu dem 
Charakter der Majeftät. . Diefer Charakter gibt aber durch feinen Ausdruck der 
menfchlichen Geftalt den höchſten Grad der männlichen Schöndeit. Die Größe 
der Götterbilder erforderte auch den Ausdruck der majeftätiichen Ruhe. So wie 
die Größe zu der Idee der Ruhe führte, jo führte die Idee der Ruhe die Eins 
biltungdfraft zu der Größe zurüd, aber zu der Idee einer Größe von böherer 
Art, zu der fittlichen, Die in der Würde des Charakters beitcht, Der fich in dem 
Förperlichen Ausdrucke, nach VBerfchiedenheit des Geichlechts, des Alters, des 
Standes und Der Bedeutiamfeit, durch männliche oder weibliche, jugendliche 
oter reife, majeftätifche oder liebliche Schönheit offenbart. Der Charakter des 
Apollo von Bellvedere ift die jugendliche Kraft, womit er den Drachen bejlegt. 
Diefer gibt ihm Die jpecielle Schöngeit, Die ihn zum Apollo macht; und 
von dem Gefühl der Kraft hat er den Ausdruck der Ruhe, mit welcher er 
einherichreitet. Der GSharafter der mediceifchen Venus ift Der Austrud der 
lieblichen Unſchuld, der Scham und Beſcheidenheit, der Die Geſtalt der neuges 
borenen Göttin mit Ruhe und Schönheit belebt. — Dies find die Grundzüge des 


Das griech. Kunftideal in der Scalptur. 657 


Geiſtescharakters faſt aller Sculpturen der erfien und zweiten Bilbungsphafe: 
Aber die Teidenfchaftlich erregten Geifter der dritten Periode fegten auch ihr un« 
ruhiges Leben und Streben, ihre bacchantifche Wollup wie ihren wahnfinnigen 
Berzweiflungsfchmerz in ihren Kunſtwerken nieder. Auch in der Sculptur mants 
feftirte fich dieſes Teidenfchaftlich bewegte Seelenleben und erſchuf Werke, welche 
durch Außerliche Körperformen alle Situationen der Luft und des Schmerzes 
zum objectiven Ausdrud brachte. Baune, Satyrn, Bacchus und viele andere fos 
miſche Figuren flellten die unbegrenzten Freudentaumel dar, umd die Gruppen 
der Niobe und des Laokoon repräfentirten alle Situationen des tiefften Serlen« 
ſchmerzes. Niobe und Laokoon mit ihren furchtbaren Todesqualen beginnen 
bieje Periote, welche etwa die 250 Jahre tor Chrifi Geburt umfaßt. Ganz 
genau laſſen fich diefe Abgrenzungen nicht feftfegen, weil immer eine Periode in 
die andere übergreift. Jetzt wurde die ganze Scala aller Gefühle und Empfin« 
dungen durch Bildwerke veranichaulicht. Niobe und Laofoon wurden anı An⸗ 
fang Diefer Periode gefchaffen und gehören auch noch einer klaſſiſchen Nichtung 
an, denn fie bilden den Grenzpunft, in wie weit ſolche Seelenzuſtaͤnde des höch⸗ 
ſten Schmerzes für die Sculptur darſtellbar find. Sehr bald aber gingen bie 
Künftler über diefe Grenzlinie hinaus und verloren fich in der Darftellung maß⸗ 
loſer Leidenschaften und wilder Wuthausbrüche. Verzweiflungsvoller Schmerz 
und ruchlos tobende Bacchantenluſt wurden vorzugsweiſe objectivirt. Daß hier⸗ 
durch aber das Gebiet der Plaſtik überfchritten und verletzt wurde, iſt klar ver⸗ 
ſtaͤndlich; denn wenn man alle Wandlungen des Schmerzes und der Luſt, alle 
Regungen des Gefühlslebens durch die Geſichtszüge und Körperſtellungen an den 
Statuen von Erz und Marmor zum ſichtbaren Ausdruck bringen will, ſo werden 
hierdurch ſehr häufig Carrikaturen und Fratzen entſtehen müſſen, wie dies auch 
oft geſchah. Das ganz unermeßliche Gefühld- und Empfindungsleben der 
tief innerften Subjectivität Fann nur die Mufik und Poeſie zur vollſtaͤndigen 
Darftellung bringen, nicht aber die Scufptur, welche dad fubjective Seelen⸗ 
[eben nur bis zu einer gewiflen Grenze zu objectiviren vermag; die plaftiiche 
Ruhe darf niemald vermißt werten, und feldft im beftigflen Sturne ber 
furchtbarften Todesqualen muß ſtets der alle Schmerzen beberrichende Geift 
hindurch walten und mit ruhig heroiicher Ueberwindung fein thränenvolles 
Schickſal ertragen wie Niobe und Laofoon. Tiefer noch als die Scufptur, vers 
mag die Maferei das ſubjective Geiſtesleben darzuftellen, aber auch fie hat ihre 
Grenze, welche nicht überfchritten iverden darf; dieſe Kunft bildet Daher bie 
Ucbergangsftufe zur Muſik und Pocfle. Weil Sculptur und Malerei vorzugs⸗ 
weile daß objective Gebiet des Geiſtes — in wie weit er ſich zu Geſtalten rcalis 
firt — zum Grundtbema ihrer Darftellungen haben, werben fie auch objective 
Künfte genannt; Muflt und Poefle fchildern uns vorzugsweiſe Die fubjective 
Geiſtesregion und beißen daher mit Mecht jubjective Künſte. Es verfteht ſich 
nun, daß die objectiven Künfte auch das fubjeetive Leben bis zu einer gewiſſen 
Grenze, und die fubjectiven das objective Leben berühren muͤſſen; jowie aber eine 
Gattung ihr eigenthümliche® naturgemäßes Gebiet überfchreitet, entfliehen Miß⸗ 
geftalten. Und dies war hauptfächlich in der Tegten Periode der griechifchen 
V. 2* 


658 | Aeſthetik. 


Plaſtik der Fall. So ziel⸗ und haltlos wie die damaligen Menſchen in Luſt und 
Schmerz dahin ſtürmten, fo maßlos waren auch die Affecte ihrer Bildſäulen. 
Meduja und die Borgonen gaben hierzu hinreichende Gelegenheit und wurden 
auch häufig dargrftellt. 

Außer diefen plaftiichen Darftellungen unbegrenzter Leidenſchaften, welche 
den Styl dieſer dritten Phaſe des Ideals charakteriſtren, ſchufen die Künſtler auch 
noch zahlreiche coloſſale Rieſenbilder, wie die Coloſſe zu Rhodus und anderer 
Städte. Hierbei ſchweifte die zügelloſe Phantafle in das Ungeheuerliche; 60 bis 
70 Fuß hohe Statuen mit ausgeſpreitzten Beinen von einem Ufer zum anderen 
ſtehend, unter denen große Schiffe hindurch fahren konnten, wurden von vielen 
Gentnern Erz gebildet. Doch waren dies nur kurz vorübergehende Verirrungen 
der audfchweifenden Phantaſie. Das ganze hellenifche Staatöwefen verfanf mit 
rafchen Schritten in den Verweſungsproceß und mit ihm auch zugleich die Helle 
nifhe Kunſt. Eklekticismus und Stagnation waren das Ende der griechifchen 
Beifteßcultur. — Nach diejer kurzen Meberficht des Hellenifchen Bildungeprocchie® 
wird für Jedermann Elar und evident erfichtlich, daß wir drei verfehledene Phaſen 
des helleniſchen Kunſtideals unterjcheiden und charafterifiren müfjen. 

a) Die Periode des großartig erhabenen Styls der Götterbilder zur Zeit bes 
Phidias; fein Zeus und die Athene find die größten Meifterwerke dieſes 
Beitalterse. Parallel zur Seite fieht ihm Aeſchylus als Dichter, denn in 
feinen Tragödien find verwandte Geiftesfltuationen zur Darftellung gebracht; 
Bötter und Heroen Herrfchen vorwaltend und "hierdurch wird fein ernfler 
erbabener Styl bedingt. 

b) Die Periode des fchönen und wahrhaft menſchlichen Styls in naturgemäßen 
Verhaͤltniſſen. Sfopas, Prariteles u. v. U. repräfentiren durch ihre Werfe 
diefe Phaſe; Venus, Achilles, Apollo u. U. geben Zeugniß von der Bor- 
trefflichfeit und Vollendung ihrer Produkte. In der Poefle entfpricht Sos 
phokles mit feinen Werfen diefer Geifteöfituation; in feinen Tragödien er 
Icheinen gut und ſchön charakterifirte Menjchen in menſchlichen Berhältniffen, 
die Götter und Heroen walten im Hintergrunde. Nichts Höheres unt Grö⸗ 
ßeres gibt es auf Erden, ald der Menfch in feiner Bracht, — fagt Sopho⸗ 
kles, und Demgemäß ift auch die jchöne Menfchlichkeit in feinen Werfen vors 
herrichend, wodurch der wahrhaft ſchöne Styl gebildet wurde. 

c) Die Periode des leidenichaftlichen Styls repräfentiren Riobe, Laokoon, Me 
dufa, die Gorgonen und noch viele andere Werke des tief tragiichen Schmerze® 
und der jchauervollen Berzweiflung. Euripides hat ähnliche Geiſtesſitnationen 
in jeinen Werfen Dargefiellt und bildet hierdurch eine verwandtichaftliche 
Parallele. Das mächtig pulfirende Gefühlsleben mit allen Geiftesfinpfen 
des leidenichaftlidy erregten Gedanfenlebeng ift in allen diefen Kunſtproducten 
vormwaltend und erzeugt hierdurch den eigenthümlichen Styl der Leidenfchaf- 
ten. Denn der Styl ift die Ausdrudsweife, gleihfam die 
Phyſiognomie des Geiftlebens eines jeden Kunſtwerks. 

Tiefe drei verfchiedenen Phaſen der bellenijchen Geiftescultur nebft ihren 
eigenthümlichen Stylen charafterifiren uns die Wandlungen des griechijchen 


Das griech. Kunftideal in der Seulptur. 659 


Kunſtideals in der Eculptur, wie fle im Verlauf der Zeit durch Bildwerfe zur 
Anfchauung gebracht find. Aber wie fchon Aefchylus neben dem Erhabenen 
auch das lieblich Schöne, Sophofled und Euripides neben dem Lieblich Schönen 
und Leidenjchaftlichen auch das mächtig Erhabene zum Theil in ihren Werken 
objectivirten, fo war dies auch bei den Bildhauern der nerfchiedenen Perioden 
der Fall; denn die Seelenſituationen diefer drei Beiftesfphären fpielen ftetö con⸗ 
tinuirlich ineinander über und verwachfen hierdurch zur organifchen Geftalt als 
Kunftproduct. Nur Hatte jeder diefer Künftler und Dichter dabei feine eigen- 
thümliche Geiflesregion, wodurch er die oben gefchilderten Seelenftimmungen 
vorwaltend, gleichjam ald Grundthema zur objectiven Darftellung realifirte. Ein 
Blick auf die Werke diefer drei Perioden des bellenifchen Kunftideals, wird meine 
ausgefprochenen Anſichten hinreichend beftätigen; und das tiefere Studium ber 
geſammten antifen Geiſtescultur erflärt und auch Die Urfachen, wodurch jene 
Metamorphofen des Ideald erzeugt wurden. — 

Ich lebe der angenehmen Hoffnung, daß durch diefe Eleine Abhandlung 
manche Anfichten für immer widerlegt find, die in zahlreichen gelchrten Werken 
und Zeitjchriften ausgefprochen wurten. Seder Schriftfteller über hellenifche 
Kunft muß fich alfo Hüten, wieter in Irthümer zu fallen, die fchon evident bes 
richtigt find. Und daß durch Aufftellung richtiger Anſichten über hellenifche 
Kunft, der veretelnfte Einfluß auf unfere bildenden Künftler ausgeübt wird, 
muB auch für Jedermann einleuchtend fein. Sie werden hierdurch befähigt, mit 
klarem Bewußtiein jedesinal die Phafe des Ideals zur Darftellung zu wählen, 
welche ihrem Sujet geiftig verwandt ifl. Das griechijche Kunſtideal wird ihnen 
ſtets ein Mufter fein, ohne c8 in allen Schattirungen und Einzelheiten geiftlos 
nachzuahmen. Unſere größten Bildhauer der Neuzeit haben fich auch faft alle 
nach griechifchen Muftern gebildet. Canova mit jeinem Theſeus, feinem Grabmal 
der Chriftine und anderen Werfen repräfentirt vorzugsweije die zweite Periode 
des griechiichen Ideals; während Thorwaldſen die erfte, den Heroismus im 
Helteniteal zur Darftellung brachte. Uber auch Danneder, Rau, Schwan⸗ 
thaler, Mitfchel u. v. U. find würdige Nachfolger der Griechen, ohne Eklektiker 
oder felavifche Nachahmer zu fein. Unſere Kunftfchriftfieller müffen unter ben 
bildenden Künftlern noch vorzugsweije dahin wirfen, daß fle die Geiftesheroen 
der Neuzeit nicht in antife Gewänder hüllen und mit antifen Attributen belegen, 
fontern ihnen das Coſtuͤme der Zeit, in der fie für Geifteöfreiheit ftritten, 
geben. Berner ift zu beachten, daß die Tarftellung der Götter einer nun längft 
überwundenen Glaubensperiode, wie die der antifen Völker, nicht mehr fo recht 
zeitgemäß iſt. Das Aufftellen der gricchiichen Götter auf öffentlichen Plägen, 
an Gebäuden ac. gewährt uns nicht den äfthetifchen Gochgenuß wie Damals ben 
Griechen, denn wir Ichen und denken in einer viel rationelleren Ideenregion als 
die alten Gulturvölfer. Die nadten Götterflatuen in vielen Städten erregten 
ſtets unter faft allen Gebifteten und Ungebildeten mehr Anftoß als wirklichen 
äfthetifchen Genuß. Ganz befondere Antipathie riefen jene Götterſtatuen hervor, 
wo nicht einmal die Geſchlechtsorgane auf geſchickte Art ſchamhaft verhüllt wur⸗ 
den, was doch ganz gut gefchehen kann, ohne die Idee zu verunftalten. Ich 

AL* 


66 Yehyetik. 


erinnere Gier nur an Lie Figuren ber Berliner Schloſsbrũce, wo gerabe tie Eta- 
tuen einen viel ſchoͤneren Gintrud unt cin befrietigenteres aſthetiſches Schuß! 
erzeugen, an beuen bie Schamutheile verhüllt And, währent man tie anderen 
mit bloß Hängenten Geſchlechtsorganen serhöhnte und veripettete. — Wer über 
dieſes Thema ausführlicher leien will, den verweile ich auf tie Abhandlung: 
„Die VBarteien in der Kunſtkritik,“ im dritten Bande dieſes Werkes „tie Wiſſen⸗ 
fchaften im 19. Jahrhundert und die Refultate ihrer Forſchungen.“ Gier bes 
merke ich noch, daß ſich zwar viele Ibeen, durch antife Götterbilter perfoniflcirt, 
auch noch gegemwärtig zur Darjtellung bringen laffen und ein aͤſthetiſches Wohl⸗ 
gefallen erregen ; aber dennoch darf dies nur in feltenen Fällen geſchehen. So 
wenig angenehm es Hingt, wenn Dichter der Begenwart immer von Zeuß, Juno, 
Moers, Venus sc. reden, ebenfo wenig finden wir uns befriedigt, wenn wir dieſe 
@ötter überall in Erz oder Marmor vorfinden. Wir haben Durch den langen 
culturgeſchichtlichen Entwidelungsgang ein viel reicheres Ibeenleben und bier 
durch auch neue Ausdrucksweiſen erlangt und müflen demzufolge diefen neuen 
Geiſtesgehalt auch durch feine eigenthümlichen Formen objertiviren. Die antiken 
DWölker realifirten ihren Glauben und ihr Wiffen durch ihre GBeiftesprobucte; 
wollen wir nicht wieder rüdwärts finfen in Das geheimnißvolle Gebiet der Sage 
und Mythologie, fo find wir genöthigt, unfer eigenes Ideenleben mit feiner gan« 
zen Region der Gefühle und Empfindungen durch unfere eigenthümliche Dar⸗ 
ftellungswelfe in Kunſtwerken zu veranfchaulichen. Hierbei können ung die helle 
niſchen Ideale dennoch Mufter bleiben, wie fle es Schiller und Göthe waren, 
nur dürfen wir nicht ſclaviſche Rachahmer werden. 

Bringt alfo bie Geiſtesheroen unferer Zeit vorzugsweiſe zur Darftellung, 
denn der logiſch denkende Geift der Neuzeit Fann nie und nimmer wieder um⸗ 
fehren in dad Dunkel der Orakel und Myſterien, um ſich an mythologiſchen 
Dogmen zu begeiftern und zu erfreuen, oder wohl gar in ihnen höhere Vernunft⸗ 
wahrheiten zu abnen als und Die Philofophie und Naturwifjenfchaft zu geben 
vermag. Vorwärts! fchreitet der Togijch denfende Geift der Weltgefchichte, und 
die Pygmaͤen, welche Ihn durch Tügenvolle Rechtöverdrehungen und mit despo⸗ 
tifchen Gewaltftreichen zuruͤckzuhalten ftreben, werben durch Die ſcharfe Logik der 
Wahrheit und durch den gewaltigen Kanonendonner des ewigen Vernunftrechts 
zerſchmetiert und für inmer vernichtet. Denn daß der bell- und Flarfehente 
Rous unter allen Menfchen zur Serrfchaft auf Erden gelangen muß, dies iſt das 
hohe Ziel der Weltgefchichte. Und den Heroen des denfenden Geiftes, welche 
für Die ewigen Naturrechte der armen unterdrücten Menjchheit fämpften und 
litten, müffen die würbigften Denkmäler errichtet werden, auf daß fle allen gegen⸗ 
wärtigen und zufünftigen Oenerationen der Erte als hochverehrungswürtige 
Ideale daſteben zur eifrigen Nachahmung und heilig dankbaren Grinnerung. 
Denn alle edlen Denker und Dichter, welche zahlreiche Menjchengeichlechter zur 
reinen Erkenntniß der Wabrbeit führten, werten ewig glänzen und feuchten wie 
die rablenden Sonnen des unendlichen Weltalls. — 


Heiledilder aus Algerien. 


Don 
G. A. Peuher. 


An ben malerifchen Ufern der Rhone vorüber eilte unfer Dampffchiff hinab in 
die duftende Provence, nad) Avignon. Don hier aus hat man nur noch 5 Stuns 
den auf der Eifenbahn bis nach Marfeille, dem erften Seehandelplag Frankreichs, 
wo fid) die Gewinnfucht der handeltreibenden Welttheile concentrirt, wo alle 
Nationen in den verfchiedenften Trachten vepräfentirt find. Das bunte Gewühl 
im Hafen fowoht, als der Tebhafte Verkehr in allen Straßen beweift den Auf⸗ 
ſchwung des Handels in diefer freundlichen und Iuftigen Serftadt. Nachdem ich 
mic einige Tage bier aufgehalten, die Amphitheater und bie übrigen römifchen 
Ueberrefte von Nismes und Arles befucht hatte und zu einigen ber Hiftorifch bes 
fannten Infeln hinaudgefegelt war, fuhr ich mit der Diligence in 8 Stunden 
nach Zoulon, dem Hauptplag der franzöjlfchen Marine, die in neuerer Zeit alles 
mögliche Gropartige unternimmt, um den Ruhm der englifchen Rivalin zu erreichen. 
Am 2. Juli Lich ich mich zur Reife nach Algier auf der riefenhaften franzöſiſchen 
Dampffregatte „Labrador“ einfchreiben, auf welcher 150 Militärfträflinge und 
nahe an 100 Auswanderer waren, von denen viele Weiber und Kinder nach 
Afrika umfonft mitgenommen wurden, Das Meer war ziemlich unruhig, ald ich 
mic, in meinem Eleinen Schiffe in den Hafen hinaus an Bord führen ließ. Bald 
machte ich die Bekanntichaft des Bregatten»Gommandanten, der mir auf mein 
Anfuchen eine Sabine auf dem erften Plage anweiſen ließ, denn das Lamento ber 
Seefranfen, befonderd der Weiber und Kinder in der zweiten Klafie, hätte mich 
auch bald dazu gebracht, Grfellichaft Teiften zu müflen. Ich Hatte da einen ein» 
zigen Meifecompagnon, Monf. Moutton, den Beflger des erften franzöſiſchen 
Hotels in Algier (de la Regence). 

Eine gute Weile ſahen wir den Matrofen zu, welche in befländiger Beichäfe 
tigung mit den Segeln und dem Tauwerke waren, jedem Beichen mit Eleinen 
Pfeifchen und jedem Commandoworte mit Bligesfchnelle gehorchten und mit une 
glaublicher Schnelligkeit auf» und abkletterten. Zu jeder Effendzeit riefen Trom⸗ 
meln die Sträflinge auf's Verde, wo fle in Reihen aufmarfcirten ut AN \sua 


662 Zander: und Völkerkunde, 


ganz fröhlich um ihre Fleifch« und Suppenkühel am Boden niederliehen. — Das 
Meer wurde ruhiger. — Als wir hei den Balearifchen Infeln Majorfa und Wi- 
norfa vorüberfuhren, Eonnten wir deutlich die weißen Häufer der Infel Mahon 
wahrnehmen, fowie in weiter Kerne die Küfte von Valencia. Am dritten Tage 
wurde ein langer Streifen am Horizonte fichtbar, — es war die Küfte von Afrika, 
und es währte nicht Tange, jo fahen wir Algier. 

Der Anblid der Stadt Algier vom Meere aus bietet eine große weiße Maffe 
von Käufern, welche man ſchon von Weiten ſieht; fie find bergan übereinander 
gebaut, dag fle die Form eines Triangeld bilden, welche fih nach Dften zu 
abwärts neigt. Der Leuchtthurm unterjcheidet fih am erften in dieſer Figur, 
welche fich laͤngs der Küfte ausbreitet und deren Gipfel ungefähr 120 Klafter 
emporfteigt und mit der großen Feſtung Casbah gefrönt ift, welche ſchon im 
Sabre 1520 unter den Piraten Khaireddin»Barberouffa beftand. Zur red 
ten Hand des Beſchauers Liegt der Fleine Berg Boudjarcah, wo der Garten des 
Dey von Algier mit feinen weitläufigen Gebäuden fichibar ift, und die Vorſtadt 
Bab-el-DOned; zur linken Hand die alte VBorftadt Bab-Azoun, in Deren Haupts 
firaße mehrere ſchöne Häufer in franzöfifchem Geſchmack gebaut find. Diefer 
Theil der Stadt dehnt ſich bis zum Fort Bab-Azoun, welches auf einer Klippe 
gebaut ſteht; Hinter dieſem aber hoch oben erhebt fich das Fort l'Empereur, 
eigentlich: Bordj⸗Muley⸗Haſſan, von Haſſan Paſcha an derfelben Stelle erbaut, 
wo 1541 Kaifer Carl V., von dem e8 noch wie oben benannt wird, fein Zelt aufe 
ſchlagen ließ, als er den unglüdlichen Zug gegen die Seeräuber unternahm, 
Der Kaifer Tandete am 20. October 1541 vor Algier mit einer Flotte von 370 
Segeln und 30,000 Mann, allein ein von Erdbeben und Regengüffen begleites 
ter fürchterlicher Sturm zerflörte am 28. October den größten Theil feiner Flotte 
und bed Lagers. Das Heer mußte ohne Lebensmittel, Obdach und Verſchanzun⸗ 
gen mehrere Tage lang an der feindlichen Küfte lagern und Eonnte fi) nur mit 
der äußerten Anftrengung gegen die fanatifchen Mujelmäuner fchügen. Mit 
einem DBerlufte von 155 Schiffen und 8000 Menfchen gelang es dem Kaiier 
endlich, fich wieder vom Cap Matifon einzuſchiffen. Am 5. Juli 1830 empfing 
bier General Bourmont die Eapitulation des Huffein, Dey von Algier. 

In derfelben Nihtung links, gegen Süten, Iiegt die Fleine Sahhel und 
daran die Ebene von Medidja, welche weit im Horizont bis zum Gap Matifon 
binläuft, 

Die zahlreichen Landhäufer, welche auf Abhängen und grünen Hügeln lies 
gen, umjäunen den Golf, welcher einen großen Halbfreis bildet. Hinter diefem 
eben beichriebenen Bilde flieht man in der Berne eine lange Bergfette, nämlich 
die von Monzaia, und noch weiter zurüd in einen dunfelblauen reinen inter 
grunde die Schnergipfel des Dierbjera. 

Wir lagen nun im Hafen von Algier vor Anfer, beftiegen Eleine Schiffe 
und landeten. Arabijche Jungen nahmen meine Effekten, und idy folgte meinem 
liebendwürdigen Gefährten, Herrn Moutton, in fein Hotel auf dem Place royal, 
welcher teraflenförmig hoch aus dem Meere gehoben erfcheint; die Mitte bes 
Plages ift mit der Bronce» Statue des Herzogs von Orleans gefchmüdt. Der 


Neifebilder aus Algerien, 663 


Statue. gegenüber ſteht das Bebäute Jenina, der alte fefte Palaft des Souneräng 
von Algier, erbaut von Salah-Maid im Jahre 1552. Nörbfich ſteht das Haus 
la tour du Pin mit den reichften Magazinen, in welchem audı Theater und Feſte 
abgehalten werben, Deftlich davon das fchöne neue Burah⸗Cafoͤ, vis-A-vis die 
große Mofchee mit ihren ſchlanken Minarets und hoben Salerien. Cine doppelte 
Meihe von Bella⸗Ombras (phylelaca), eine. Gattung von Platanen in ber fchön- 
fien Blüthe, ſchmückt den Platz und verleiht den zahlreichen Spaziergaͤngern Füße 
enden Schatten. Hier ändert fich zu jeber Tageszeit die Deforation, immer 
großartig und herrlich; vor Allem der Anblick des Merres und des Hafensa. 
Abends bedeckt fich der Play mit Stühlen, und die Militärmuflf executirt am 
Buße der Statue ihre Piecen mit wahrer Präcifion. 

Die Häufer in Algier fehen wie Gefängniffe aus und baben noch dieſelbe 
Form, wie bei Erbauung der Stadt durch den arabiſchen Fürſten Zeiri um das 
Sahr 935 nach Chriſti Geburt auf den Trümmern der römifchen Colonie Jcoflum:; 
— eichene Thüren mit großen eifernen Nägeln befchlagen und darin ein kleines 
vergittertes Einlaß⸗Pförtchen, geweißte Mauern und bier und da mit Eifenftäben 
vergitterte Fenſter. Zuerſt tritt man in finftere Vorhaͤuſer, welche mit Lampen 
erleuchtet find, Die an Ketten an ben gewölbten Bogen hängen, dann gelangt man 
durch eine Art heimlicher Ihüren zur Hauöftiege, welche in einen vieredigen 
Hof hinaufführt, der mit Marmor gepflaftert oder mit farbigen Porzellanfcheiben 
ausgelegt ift. Der Hof iſt yon Arkaden umgeben, welche oft aus 3 oder 4 Colon⸗ 
nen beftehen. Marmorfäulen mit meiſtens fehr jchön gehauenen Gapitälern tragen 
die Gulerien ringsum und find nur von Manneshöhe. Diefe Galerien beftehen 
wieder aus Säulengängen, welche mit einem gefchmadvollen, hölzernen, durch⸗ 
brochenen Geländer verziert find; von hier aus ift der Eingang in die Wohn- 
gemächer, welche ihr Licht durch die Ipüren erhalten. Diefe haben zwei große 
Thürflügel, deren jeder mit Fleinen Thüren verjehen ift. Die Maurijchen Häufer 
find von Außen alle in gleichem Stile, nur ift die innere Eonftruction mehr oder 
weniger reich. Auch Die Landhäufer ſind in demſelben Genre, nur daß Hier bie 
Häufer mit Gärten umgeben ind, welche mit Kunft und Gefchmad angelegt er⸗ 
ſcheinen; natürlich ift ein folder Garten, wo die ohnehin freigebige Ratur noch 
mit Sorgfalt behandelt wird, das Schönfte, das man in diefer Art fehen kann. 
Die Häufer in Eleineren Städten und Dörfern beftehen in einem einfachen Hofe, 
wo der Brunnen durch Bäume befchattet iſt, und in Zinmern zu ebener Erde; 
die wilden Thiere leiften dort fehr oft den Eigenthümern Gefellichaft. — Araber, 
welche dad Romadenleben vorziehen, begnügen fich mit Hütten aus Flechten, 
oder man jpannt Kameelhäute über Baumftämme in Zeltform, wo man Waffer, 
Kräuter und Früchte findet. — 

In vielen Häufern Algier's find Niſchen angebracht, wo der handeltreibende 
Theil der Mauren, Juden oder Mohamedaner ihre Boutiquen haben, zu welchen 
ein Baar Stufen hinabführen. Oft if die Niſche groß genug, daß der Verkaͤu⸗ 
fer darin auf einem Divan liegen Tann, ringsum feine Waaren überjehend, — 
gewöhnlich if aber nur Raum, um mit gefreuzten Süßen darin zu boden. Gr 
verfauft Kaffee, Datteln, eigen, Gigarsen, Pfeifen, Tabak, welcher gleich langen 


664 Laͤnder⸗ und Böllertunde, 


Mahnen herabhängt und Tas Vorzuglichſte au Geſchmack unt Wohlfeilheit if, 
was Tabakſorten betrifft; um ein Baar Eous belommt mar einen ganzen Gut 
voll, Nebf noch vielen anderen afrikaniſchen Produkten verfaufen fie auch eure- 
pꝓaiſche Waaren. Wenn man die Straße Bab-Azoun entlang geht, fommıt man 
in Die Vorflatt Bab-Aygoun, we ein Gtationsplag für Omnibuffe it, welche 
pfeilſchnell für wenige Sous nach allen Punkten der Rue de IAgah, nach dem 
Champ de Mars, nach Birmandrız u. f. w. führen. — Hier wie auf allen freien 
Platzen der Stadt erfseut ſich das Auge ber herrlichſten Anfichten; fo weit der 
Blick reicht, überall die großartige Ratur, geregelt durch den Geſchmack umd ten 
unermũdlichen Schöpfungsgeift des franzöflfchen Gouvernements. Auf einem 
neuen Plage Tinker Hand, befien Witte eine Kontäne ziert, und von dem man 
eine Herrliche Ausfiht auf das Meer und den ganzen Küſtenſtrich bis zum Gap 
Matifon Hat, waren Araber in Gruppen gelagert und Regerinnen boten das 
arabifche Weißbrot fell. Weiter zum Berge binan, wo die Straße anfängt, ſah 
ich unter einem 40— 50 Buß hohen Palmenbaume, der fein fchattenreiche® Dach 
ausbreitete, eine Sxruppe Araber bein Morgengebet. Richt weit davon befand 
fih eine lange Garavane, welche dieſe Racht die letzte Strecke der beichwerlichen 
Müftenreife zurlcgelegt hatte. Mit ernften Zügen und unbeweglich figen die Ara⸗ 
ber rauchend auf ihren Ranıeelen. Auf ein Zeichen mit einem kurzen Stäbchen, 
mit welchen der Kührer den Hals des duldſamen Thieres berührt, Eniet eö nieder und 
unter feinem röchelnden Gebruͤlle werben bie mitgebrachten Waaren abgeladen ; diefe 
beftehen theils In Wachs, Getreide, Leder, trodenen Thierhäuten, Korallen, Oran⸗ 
gen, Gitronen, Efjenzen, Wolle, KRameelhaaren, Del, Kupfer, Thierknochen, 
Straußfedern, Blutegeln, Tabak, Goldftidereien, Teppichen, roher Seide, Coche⸗ 
nille, Horn, Elfenbein; fodann Tonnen diefe Thiere in einen Hof, wo fle ganz 
der Verdauung leben. . 


Pferden, Maufthieren und Eſeln werden Die Vorderfüge zufanımengefnebelt 
und fie harren mit hängenden Köpfen in langen Reihen ftehend der Rückkunft 
ihrer Herren. Will der Araber feine Waare nicht gleich abladen und verhüten, 
daß Das Kameel fich nieberlegt, jo bindet er den rechten Vorderfuß in die Höhe, 
und das Thier verbleibt ganz geduldig in diefer Stellung oft viele Stunten. 


Auf einen großen Plage zwiſchen arabijchen Häufer-Ruinen wird ter per 
manente Trödelmarft abgehalten. Tauſende von Lumpen und Segen find auf 
den Teppichen verlodend ausgebreitet, eben jo alle Gattungen von Garderobe. — 
Mit untergeichlagenen Beinen figt Der Verkäufer, Seelenruhe in feinen Zügen, 
und fleht wie ein Fürſt über feine lagernden Reichthümer; — alle jeine Wünſche 
find befriedigt, wenn er fich täglich Kaffee, Brot und Dliven anjchaffen kann. 


Die Stadtmauer, welche unter türkijcher Herrichaft erbaut ward, reicht bis 
zur böchiten Spide des Gebirges, bis zur Beftung fa Kasbah um die ganze Statt 
berum. Das Hauptbetürfnig der Araber ift Kaffee, — durch fie wurde Pie 
Melt auf diefe Vohnen aufmerkjam, daher iſt es wohl jchon ter Mühe wertb, 
Einige ihrer Kaffeehaͤuſer in Augenichein zu nehmen. — Die meijten taron bes 
finden ſich in gewoͤlbten, niedrigen Xöchern mit Außenmauern von blendender 


Heifebilder and Algerien. 665 


Meiße, ringsum in einer Höhe von 2 Fuß find die breiten mit fpanifchen Stroh⸗ 
matten befleideten Bänfe für die Säfte. Am Ende des Gemachd an der linfen 
Seite ift die Küche, Die in einer Niſche beftebt, worin die Blechfannen mit kochen⸗ 
dem Wafler auf Kohlenfeuer ſtehen. Diefer Kaffee übertrifft in Bezug auf Wohl« 
gefhmad und Aroma den europätfchen bet weitem; deshalb ift es nicht zu wun⸗ 
dern, daß die Maurifchen Kaffeed von Europäern ſtark befucht find. . Die Taſſe 
foftet ein Paar Sous. Neben der Küche in derjelben Nifche ftehen ein oder 
zwei Bebuinen halb nackt bei einem eifernen großen Mörſer und ftoßen die nur 
halbbraun gebrannten Bohnen, darauf wird der Kaffee durch ein feines Haarfieb 
geflebt; jo oft ein Saft kommt, werden 3 Löffel diefes Pulvers in ein Blech» 
behältniß, welches auf eine Schale berechnet ift, gefchüttet, ſiedendes Wafler dar⸗ 
auf gegoflen, fodann fammt dem Bodenjag in die Taffe gefchüttet und mit großer 
Sreundlichfeit fervirt. — Der Kaffee Elärt fi) bald und auf der Oberfläche bleibt 
ein brauner Schaum von vorzüglichem Geſchmacke. Der arabifche Kaffee ift 
das zweckmaäßigſte Getraͤnk bei großer Hige und kann nicht genug empfohlen wer⸗ 
den: similiis similial — Er ift auch das ficherfte Mittel gegen die Diffenterie, 
welcher faft alle neu anfommenden Europäer mehr oder weniger unterworfen finb- 
In langen Neihen mit untergefchlagenen Beinen, natürlidy rauchend, figen hier 
die Araber vor dem Eingange, auf ihre Kaflete geflügt. Auf einem Kiffen figt 
der Befiger des Hauſes und dirigirt von Hier aus lant commandirend und bie 
Bedürfnifle feiner Gäfte den dienenden Arabern kundgebend. An den Wänden 
hängen Bilder von Drachen, Panthern, Elephanten und Bären aus buntem 
Papier gefchnitten auf weißen Grunde unter Glas und Rahmen. Zwei dieſer 
Caf& maures zeichnen fich durch ihre Ginrichtung beſonders aus; eines hoch oben 
im alten Quartier, in einem mit Spalierwerk durchzogenen Garten, und das 
Caſé juif Ar der Nähe des Bureau de Police, welches aus weiten Hallen befteht, 
die auf einen Hof hinaudgehen, deſſen Mitte ein hoher herrlicher Orangenbaum 
ziert; eine fprudelnde Kontäne verbreitet Kühlung. Ueber dieſen Hallen if 
eine Terraffe, welche mit Weinreben umrankt if. Bon bier aus bietet fich ein 
unvergleichliched Panorama der Stadt und des Meered. La rue de l’Agah reicht 
bis zu einem das Meer beherrfchenden Berge, wofelbft ſich einer der berühmteften 
Marabouts befindet, deffen Befuch den Europäern unterfagt if. Don hier aus 
gehen die Mauresken im Frühjahre zum Meere hinab, um die im Koran gebotenen 
Waſchungen vorzunehmen, ehe fie die Mofchee betreten. So behaglich das Baden 
im Meere ift, fo unangenehm ift e8 in der Rähe von Belfen, wo fich die Tinten- 
fifche gern aufhalten, die fich mit ihren Armen am menfchlichen Körper feftfaugen 
und fo ein enıpfindlicyes Brennen auf der Haut verurfachten; haben dieſe Thiere 
fich einmal feſt gefogen, fo kann man fid) ihrer nur entledigen, indem man 
ihnen herzhaft ten Kopf umdreht, wobei ſie einen Strahl ſchwarzen Schleimes 
heftig von fich fprigen. Diejer Fiſch wird aber als Speiſe von den Europäern 
fehr gefucht, denn wenn ber harte Schild des Rückens entfernt ift, fchmedt das 
gebratene Fleiſch ganz vortrefflich. — Bei einem diefer Bäder, doch auf der ent- 
gegengefegten Seite außerhalb der Stadt, bei den Felſen, weldye die Küfte Bab- 
el-Oued einfaffen, und bei den zwei Quellen, die unter dem Ramen Aioun-Beut- 


666 Lander⸗ und Voͤlkerkunde. 


Menad benannt find, Hatte ich Gelegenheit, den Opfern einer Anzahl Mauren 
und Araber zuzufehen. - 

Die Araber fchreiben die Mehrzahl ihrer Krankheiten böſen Geiftern 
(Djenum).zu, die, wie fie glauben, die Gebirgsquellen oder den Meeresſtrand bes 
wohnen; um fle zu befchwichtigen, werden häufig Opferungen an den Mittwochen 
vorgenommen. — An einem Mittwoch ging ich hinaus und fah jchon des Mon 
gend eine lange Schaar von abenteuerlichen Oeftalten jubelnd gegen den Strand 
einhertangen; ich ließ mich nicht weit Davon Hinter einen Fleinen Hügel nieder, 
wo ich von Oliven und Cactusgewaͤchſen geberft Alles überjchen konnte, ohne 
daß man mid, bemerkte. Don Hier aus verurfachte ich Feine Störung und wurde 
auch in meinen’ Beobachtungen durch nichts gehintert, zumal ein mitgenommeneß 
Perſpectiv mir treffliche Dienfte leiftete. Ein alter Altar von Holz und Steinen 
war ſchnell reſtaurirt; Priefter und Priefterinnen waren Neger. Hier ift zu 
bemerfen, daß die Priefter. vom Scheif und zwar jleben an der Zahl gewählt 
werden, die dann unter fich einen Oberen ernennen; diefem Oberprieiter find 
drei Negerinnen beigefellt, welche die Heiligen Quellen bewachen und die Wachs⸗ 
lichter um die Opfer aufitellen und anzünden. Sie padten lebende Gazellen und 
Geflügel aller Gattung aus und reinigten fie im Meere; das Geflügel wurde 
mit Eſſenzen parfümirt, die auf dad Kohlenfeuer gefchüttet waren; die Gazellen 
mit Del und Henne gewafchen, darauf mit jaurer Milch beftrichen und endlich 
Alles zufammen getödtet. Erſtere zappelten noch lange umher und nur Eines 
erreichte noch den Strand, wo die Wellen ed in's Meer riffen, und dies galt für 
eine günftige Vorbebeutung. „Nu⸗MYu⸗Yu“ war der allgemeine Ruf der Frende, 
der mich wahrhaft erfchredte. Während diefer Geremonien ruhten die Uebrigen 
ganz friedlich beifammen, mit andächtigen Mienen vor jich hinfchend, denn fie 
fühlten die Heiligkeit de Ortes und die Wichtigkeit der Handlung. — Dieſe 
Opfer werden gewöhnlich wegen Kranfheiten gebracht, um Wiedergenefung zu 
erlangen. — Mehr noch als die falten Bäder find die Bains maures bei ten Eu⸗ 
ropäern und Eingebornen belicht, und da fie zu den abfoluteften Bedürfniffen 
der Bewohner gehören, fo findet man fie wie die Cafe maures in allen Städten 
Afrikas. Diefe Anftalten werden nicht nur ald Bäter, fontern auch vielfadh 
von Europäern und Einheimifchen als Nachtquartiere benugt; jedoch haben die 
Maurifchen Bäder mit den unferen gar nichtd gemein. In einem großen ges 
beiten Raume ift eine Erhöhung mit Teppichen geziert, worauf Matrazen Liegen, 
von denen man fich eine wählt, um nach dem Bade darauf auszuruhen: in ein 
Buch, welches darunter angebracht ift, Tegt mıan feine Kleider, — Uhr und Geld 
überreicht man dem maitre de lieu, welcher fie treulich in einen Koffer verjchließt. 
— Junge nadte Araber im Alter von 16—18 Jahren werden zu Badedienern 
verwendet. Langſam wird man dann über eine Galerie geführt, wo fich Die Tempe 
ratur nach und nad) erhöht, bis man zu einem ſtark geheizten, mit Marmor au 
gelegten Saale kommt, deffen Temperatur 35—40 ° hat. In der Mittte deifelben 
ift eine mie Marmorplatten bedeckte Art Tifch, worin der Beuerofen flieht. Im 
den Mauern an den Wänden herum find Nifchen, in die man fich fegen Eann, 
und mehrere Kontänen mit frifchem Wafler; dann fegt man ſich zu Dem benannten 


Neifebilder aus Algerien. Ä 667 


Tiſche und fühlt fich bald im Schweiße gebadet. Darauf wird man von den 
Babedienern auf rauhe, wollige, fehr reine Tücher auf den Boden gelegt und 
mittelft eined aus Roßhaar fein gearbeiteten Handſchuhes ziemlich ſtark mit 
Seifenfchaum frottirt, wodurch eine Außerft wohlthuende Nachempfindung erzeugt 
wird. Nachdem man fih dann mit lauem Wafler gewaſchen bat, geht man im 
Saale umher und wird vom Diener mit warmen Tüchern getrocknet; man ſchrei⸗ 
tet hierauf wieder in den erſten Saal, wo man feine Kleider ließ, und findet 
ſchon eine Matraze zum Ausruhen gehörig vorbereitet. Mit Wohlbehagen ließ 
ich mich dDaranf nieder und verfchmähte keineswegs dem Fredenzten Kaffee und bie 
lange Pfeife. Der eine der Jungen, die mich bebienten, verlieh mich nicht bi8 
zu dem Augenblide, als ich fortging. Der Preis eines Bades beträgt einen 
Franc 25 Gent (etwa 10 Silbergr.) Die Männer baden gewöhnlich von 10 Uhr 
Abends bis 12 Uhr Mittags ded folgenden Tages, während in den übrigen 
Stunden die Bäder von den Frauen in Anfpruch genommen werden. 

Am Ende der Vorftatt Bab-el-Oued ift der herrliche Jardin Marengo mit 
der Auffchrift an der Pforte: „Au plaisir de la ville d’Algir, honte qui 
l'en dépouille.“ Zwiſchen den Steinen der allmälig aufwaͤrts fleigenden Te— 
raſſen wuchern zahlloſe Cactusarten und blühende, faftig grüne Schlingpflanzen. 
Bächer» und Duttelpalmen faffen die Bromenade ein, in deren Mitte Marmore 
monumente ſtehen. Beſonders zieht eine circa 30 Buß hohe Marmorjäule Aller 
Blicke auf fih. Der Faiferliche Adler, der Fleine dreiedige Hut, die Nanıen der 
vorzüglichften Städte, in welche der große Napoleon feine Armee führte, zieren 
die Seiten des Niedeſtals; früher trug die Epitze das Bruftbild Louis Philipps. 
Die höchſte Plattform des Gartens mit einer bezaubernden Ausſicht ziert ein 
Tempel von farbigen gefchliffenen Marınor in Maurifhem Geſchmack. Hier 
finden jeden Sonntag MilitärsConcerte fatt, zu denen ſich die Bevölkerung Ale 
gierd in größter Gala einfindet; Araber und Juden ſah ich in glänzend feidenen 
Coftümen unter einer Maffe der fchönften Land- und Secuniformen. Auch die 
Europäcrinnen befuchten diefen Platz trog aller Staub» und Wirbelmolfen und 
troß des Sirokkos und faßen, nach der neueften Mode gekleidet, alle in den Sins 
gen in langen Etuhlreifen. Doch mit weit größerem Intereſſe rubte mein Blick 
auf den Terraffen der Nachbarhäufer, wo die Blüthe der Mauresken, meift in 
fofetter Haudfleidung figend, ftehend, Tiegend — die Vorüberwandelnden bes 
trachtet und fich felbft gern betrachten läßt. Oben auf der höchſten Terraffe, 
auf die Yarriere geftügt, ſah ich mit herzlichen Vergnügen dem bunten Sewühle 
zu, bis meine Zunge nach Erfrifchung lechzte und der Ruͤckweg angetreten wurbe, 
Die Kühle des Abende trat ein, ich holte meinen Ucherrod aus meinem Zimmer, 
feßte mich in das franzöftfche Cafe auf dem Hauptplage und erquickte mich an ein 
paar Taſſen Orfrorenen, das erſt von 9 Uhr Abends an jervirt werden fann, 
dann aber auch jo erflaunlich feft und trefflich iſt, daß ich Faum bei Tor⸗ 
toni auf dem Boulevard des Italiens in Paris beſſeres bekam. Während des 
Winters fommen Schiffe mit Eis aus dem nördlichen Spanien herüber umd Die 
mit vieler Mühe erbauten Eisgruben conferviren e8 den ganzen Sommer hin⸗ 
durch. Neben an iſt das Caf& de la Perle, wo täglich theatralifche Workkeluugen 


668 Zänber- uud Völkerkunde, 


mit Zanz und Muſik flattfinden; ich fah mir daſelbſt ein Vaudeville an und 
fand das Orcheſter gar nicht fchlecht. Das zweite Cafe, wo eben foldye Bor 
flellungen gegeben werben, ift bad Caf& Musard, rue Bab-Azoun, wo ich ein 
andermal fpanifche Rationaltänze von 4 Andalufierinnen jah. Das Orcheſter 
war aud Spaniern zufanmengejegt und fpielte einige Rhapfodien aus jchlechten 
fpanifchen Opern. Der Xhau fiel an biefem Abend bejonderd ſtark, und ich 
mußte mich in meine Wohnung retiriren, weil er heſtigen Augenſchmerz erzeugt, 
wenn man ſich der freien Luft ausſetzt. 

Vielleicht in keiner Stadt von Europa findet man ſo viele ſchöne weibliche 
Geſtalten, als hier in der Sadt Algier. Ihre Kleidung iſt phantaſtiſch zu 
nennen, die Stoffe find meiſtens leicht, gazeartig und laſſen die ſchönen, üppigen 
Formen durchbliden. Die zwei Hauptflafien der eingebornen rauen find bie 
Mauresken und die Jübinnen. Die dunklen ausdrudsvollen Augen der erfteren 
find Zeugen ihrer Leidenjchaften. Die Hauptkleidung einer Maureske int höchſt 
geſchmackvoll; buntfarbige Kniehofen von Seide, die von einer Seidenſchnur zus 
fammengebalten werden, ein farbiged ober weißes Tüllhemd, vorn offen, und 
darüber eine Iade von Seide mit offenen Halbärmeln. Hals, Arme und Füße 
find gänzlich unbekleidet, doch meiftend mit Korallenfchnüren oder Spangen ge 
ziert. Um die Hüfte tragen fie gewöhnlich eine golddurchwirkte, feidene Schürze 
von der fchönften Arbeit, deren Stoffe größtentheils in Tunis fabricirt werten, 
Eine fchwarze oder blaue Bandjchleife, die bis auf die Knie reicht, ſchmückt das 
ſchwarze, geflochtene Haar. Die Fußſohlen, die Nägel der Hände und Yüpe und 
auch die innere Handfläche färben fie mit einem Decoct von Del und Henne 
(lawsonia inermis) braun und verbinden Häufig die beiden Augenbrauen durch 
eine jchwarze, oft noch mit Slittern beffebte Linie. Befuchen die Brauen Etraßen 
und Gewölbe der Stadt, jo ziehen fle über die Kniehofen lange, weiße, bis zum 
Knöchel hinabreichende weite Beinfleider, in welchen fie nur mit vieler Mühe gehen 
können, da die weiten Hofen noch über die breiten, vorn abgerundeten Schuhe 
hängen. Sie hüllen fi in einen weiten, weißen Shawl, der von den Augen- 
brauen bis zum Knie reicht, über den unteren Theil des Geſichts knüpfen fie 
wieder ein Tuch von demfelben Stoffe, fo dag nur die Augen mit den ſchwarzver⸗ 
bunden Augenbraunen hervorbliden. In diefem Eomijchen Aufzuge jchleppen fle 
fich ohne Begleitung wie Geſpenſter Durch die holperigen Beraftraßen der Stadt 
herab bis auf die Promenaden⸗-Plaͤtze oder in Die zwei unteren neuen franzö« 
ſiſchen Straßen. Ihre Leidenschaften follen fich auf die ſchrecklichſte Weiſe äußern. 
Ihre Trauer gibt fidy Durch überlautes Sammern Eund; fle raufen fich Die Haare 
aus und zerfleifchen fi) mit den langen Rägeln das Geſicht, etwas fpäter jedoch 
figen fie fill, rauchen ihre Gigarre und denken an Zerftreuungen. Sie laujden - 
gern dem Elagenden, monotonen Geſang der Mauren und lieben den Klang ber 
Derbuda (Ramburets), die faft in jeder Wohnung zu finden ift; iſt fle aber ges 
rade nicht zur Hand, jo muß dad Tſchiburik (MWafchbeden) feine Stelle vertreten. 
Ihr Hang zu Vergnügungen ift ohne Grenzen, Muftf macht einen unwiderſteh⸗ 
lichen Eindrud auf ſie. Jeden Abend ſieht man eine große Anzahl von ihnen bei 
den täglichen Produktionen der Regimentösmuſik auf dem Place du gouvernement 


Meifebilder ans Algerien, 669 


und Eonntags im Jardin Marengo auf den Teraffen der naben Häufer gruppirt 
mit ungetheilter Aufmerkſamkeit den Klängen der Inftrumente Taufchen. Was 
für brillante Eroberungen hätte ich machen Fönnen, wenn ich mein Violoncell 
bei mir gehabt Hätte; da wäre die Teraffe meines Hoteld mein Pla gewefen, 
von dem auß ich die Töne hinübergeſandt hätte auf Die umherliegenden Terraſſen, 
die den fonderbarften Anblie® mit ihren bunten Gruppirungen gewähren. Be⸗ 
ſonders intereffant war mir dieſer Anblick, wenn ich vor dem Untergange ber 
Sonne bie engen Bergftraßen bis zu den im oberen Theile der Stadt häufig vor« 
fonımenden Ruinen von arabifchen Häufern emporflieg, oder folcher, welche zeite 
weife unbewohnt find, deren Eingang aber für Jedermann offen fteht. Don dort 
aus hberfah ich die bewölferten Dächer der Stadt, aber es berrfchte eine fo Tautlofe 
Stille, daß ich nur dad Raufchen des Meeres vernahm Wenn die Sonne 
untergegangen ift, wird es in der Stadt allmälig Tauter und gar bald ertönt auch 
die Regiments⸗Muſik. — Neben meinem Zimmer wohnte für einige Tage eine 
reiche maurifche Familie aus Boghar, theils um DVergnügungen zu genießen, 
theild um Waaren gegen mitgebrachted Leder, das aus Affenfellen bereitet war, 
einzutaufchen oder einzufaufen. Es war eine von jenen ſchon etwas emanzi« 
pirten Familien, welche für Fremde zugänglich find. 

Der Aeltefte der Familie, ein Mann mit filbergrauem langen Barte, erzählte 
mir einige etwas unverftändliche Wundergefchichten aus feinem Piratenleben; er 
ſprach fchlecht franzöftich, ganz geläufig fprachen es aber zwei junge Araber und 
zwei junge Mädchen, welche äußerft gefprächige und muntere Gefellfchafterinnen 
waren. Ich mußte ihnen Vieles von der Induftrie-Audftellung und der Große 
artigfeit Londons und Paris erzählen, Denn auch von Algerien aus waren Roh⸗ 
produfte und Fabrikate dorthin eingefendet. Abende foupirte Die ganze Familie ganz 
nach europäifcher Eitte, obwohl etwas unbeholfen, im Hotel. Mir that es leid, 
daß Feiner Der anwefenden Fremden, Franzoſen, Spanier, Malthefer ac. die beiden 
ausdrucksvollen, blühenden Geſichtchen der beiden jungen Mädchen ſehen follte, 
doch mein Erftaunen und die Freude der Anmefenten war groß, als auf einen 
Wink des Alten ſich die Schleier, jedoch nur während des eigentlichen Eſſens, 
hoben. Bet diefer Gelegenheit erinnere ich mich einer Scene, die mir momentan 
recht fomifch vorfam. Ich erblickte nämlich auf einigen Tifchen eine grüne 
Blafche, auf der zu meiner Verwunderung eine deutiche Etiquette: „Kolb aus 
Rürnberg‘ war. Ic) fonnte mir Faum denfen, daß e8 Bier fei, ſchon deswegen 
nicht, weil die Gäfte damit nur den dritten Theil ihrer Glaͤſer füllten und dann 
zwei Drittheile Wafler Hinzugoffen. Es war aber dennoch Bier; was war daher 
natürlicher, als daß ich mir eine Flaſche bringen Tieß, und ein treffliches, fogar 
‚ ziemlich kühles bairifches Getränk fand, nach welchem ich mich nach fo Tanger 
Entbehrung recht fehnte. Ganz frappirt fahen mich Die Gäͤſte an, als ich recht 
bald — und zwar natürlich ohne Waſſer beizumifchen — die Flaſche geleert 
hatte; noch mehr erftaunten fle aber, und felbft der Garcon erftaunte, als ich mir 
eine zweite Slafche bringen fie. Mein Protector, Herr Moutton, äußerte fos 
gar, daß ein folcher Ball hier noch gar nicht vorgekommen fei, und daß ich wahre 
Scheinlich nicht im Stande fein würde, mein Gemach allein zu finden. Es blieb 


670 Lander- und Böltertunbe. 


mir nichts anderes übrig, als einem Tiſchgenoſſen mein gehöriged Gleichgewicht 
zu probuciren und ihnen gu erklären, daß es bei uns in Deutichland viele Mc 
ſchen gäbe, bei denen eine ganze Reihe ſolcher Flaſchen feine nadytheiligen Folgen 
auf ihr Gleichgewicht bewirkte. 

Kolb harte im Jahre 1848 Nürnberg aus politifchen Gründen verlafien 
und wanderte mit feiner Familie, mit feiner Habe und mehreren Arbeitern nad 
Algier, wo er einen Theil jeined Vermögens Lazu verwendete, einen Felſenkeller 
an ter Küfte zu bauen, was ihn auch nach vielen Anftrengungen gelungen war. 
Sein Geſchaͤft ift im beiten Gange, indem er einen gropen Theil feines Grzeug 
niffes auf Schiffen nach Sranfreicy und bejonders nach Spanien auf Leichte Weiſe 
transportiren läßt. Bier, im warmen Klima genoffen, erzeugt ungewöhnlichen 
Schlaf, weshalb es üblich ift, Dafjelbe mit Waſſer zu vermengen. 

Am anderen Morgen Elopfte e8 an meine Xhür, und der alte Araber 
brachte mir die Nachricht, dag er an demjelben Nachmittag noch abreijen wolle. Gr 
Iud mich daher zu einem Brühflüde ein, wo feine Kamilie ſchon um den ſchwar⸗ 
zen Kaffee verjanmelt war, und ich die Freude hatte, meine zwei fchönen Maurin⸗ 
nen wieder unverfchleiert und im reizendften Boftüme zu erblicken. Der heiße Vor⸗ 
mittag war bald recht gut und gemüthlidy mit Gejprächen und Rauchen voll 
bracht, wobei und die Mädchen auch Beſcheid thaten. Mit einer bejonteren 
Bierlichfeit und Grazie rauchten fie ihre Lünnen kleinen afrifaniichen Gigarren 
zum fchwarzen Kaffee, der für fie tüchtig mit heißen Waller vermengt war. 
Leider fonnte ich ihr Anerbieten, mit ihnen nach Boghar zu reifen, nicht annch⸗ 
men, obwohl mir einer der jungen Leute cin Maulthier leihen wollte, denn ich 
mußte fchneller dahin zu gelangen fuchen und daher den Eihvagen bis Medeah 
benugen. Mit wahrer Iheilnahme küßte mid) der Alte auf die Bruſt und nur 
ungern fa ich die gemuͤthliche Familie fortziehen. 

Inzwifchen hatte der Gonjul mir meine Empfehlungen und meine Reije 
route ſammt dem Viſa auf meinem Paſſe für die Reife nach Dem Innern in Be 
reitſchaft gefegt; Doch vorher wollte ich die Umgebung von Algier noch beſich⸗ 
tigen. Diejelbe ift nicht nur höchſt pittoresk, ſondern auch in-jeder Beziehung 
intereffant. Gegen Süden bejuchte ich die Ruinen von Rusgunia, einer römifchen 
Stade. Man flieht dajelbft noch Hohe Gewölbe, Uchberrefte von römischen Bäbdern, 
aufrecht ſtehende Colonnen mit Gapitälern, große Stüde der ſchönſten Moſaik⸗ 
böden, tiefe Gräben und Trümmer von Gebäuden darin. Nicht weit Davon fand 
id in einer Bucht am Strande eine Mafle von Mufcheln und Schnedten, und 
eine Anzahl von Fleinen Schildfröten lag ruhig daſelbſt. In diefer Bucht jchiffte 
fih Karl V. im Jahre 15411 mit dem Reſte feiner ftattlichen Armee auf der Flotte 
des Doria wieder cin. 

Vom Städtchen Budjareah auf dem Berge gleiches Namens überblickt man 
einen Raum von 600 Quadratmeilen. Man kann wohl nicht leicht eine impo« 
jantere Rundſicht finden. — Das Coloniftendorf Dely Ibrahim auf dem Wege 
nach Blidah bejicht größtentheild aus Schweizern und Rheinländern. — Die 
berrlichen Anlagen mit Orangerien am Meereöftrande des Mauren Sidi⸗Muſtapha⸗ 
Vaſcha in Muftapha Paſcha, geſchmückt mit den phantaflereichen Kiosks und bal« 





Reifebilder aus Algerien, | 671 


famifch duftenden Blumen aller Gattungen, verwirklichten in mir alle Träume 
und Bilder Der in meiner Jugend mit Begierde gelefenen „Tauſend und eine 
Nacht”. — Nabe dabei ift eine Eleine Moſchee, wo man eins der Gräber des 
Marabout » Sidi» Mahomed»Ben-Abder- Rahmann Boufebrine zeigt. 

Diefer Marabout hatte den Beinamen „EI foutd Koppa“, der Heilige mit 
zwei Körpern, welche fonderbare Gunft ihm nach feinem Tode von Mahomeb 
verlichen wurde, weil die Einwohner von Tell und die von Algier ſich um den 
Leichnam ftritten. Die andere Mofchee mit dem zweiten Grabe fah ich bei Blidah, 
auf dem kleinen Atlas, mitten im Walde unter herrlichen Ofivenbäumen. Gin 
wenig weiter von dem befprochenen Grabe des Heiligen, am Meereditrande, ift 
jene berühmte ‘Pflanzfchule, der Jardin d’essai. Der Barten wird mit Sorgfalt 
unterhalten, die große Anzahl Bosquets und Anlagen voll der jeltenften Blumen 
ber heißen Zone, welche hier zufammengetragen find, gewähren einen originellen 
Anblid. Man fieht hier, wie Teicht das Zuckerrohr, der Indigo, der Kaffee und 
Theebaum fogar in der Nähe des Strandes zu cultiviren find, und es fommt 
nur auf den Unternehmungsgeift der Coloniften an, durch Eultivirung eine Ver⸗ 
edlung diefer Brüchte zu erzielen. Der erfte Gärtner, an den nıan mid; adreifirt 
hatte, war ein Münchner, der ſich fichtlich freute, wieder einmal mit einem Deuts 
fchen feinen Garten durchiwantern zu können. Mit wahrem Vergnügen fuchte er 
mir alles Sehenewerthe zu erklären, während feine Familie bei unferer Zuruͤck⸗ 
kunft auch ein Geded für mich am Mittagstifche hergerichtet Hatte. — Ohne fie 
zu fränfen, fonnte ich die Einladung nicht außjchlagen — ein vortreffliches Ge⸗ 
richt von gefottenen Datteln war mir neu. Hierher richtet ſich die gewöhnliche 
Abendpromenade der Algierer: ein Caf& maure liegt dein Eingang der Straße 
gegenüber an einem ſehr wafferreichen Bafjin, umjchattet von vier Platanen, 
welche eine riefige Größe, Ausbreitung und Höhe Haben; Hier erhält man einen 
vortrefflichen Moka à la mauresque. Zufällig traf ich feinen Retour⸗Omnibus, 
doch mein getreuer Schirm, den ich immer bei mir trug, ſchützte mich gegen bie 
heißen Strahlen. Der Weg gegen bie Stadt führte mich an einem römijchen 
Aquaduct vorüber, der von den Mauren zum Gebrauche gut erhalten wird und 
vor welchem die Arcaden in doppelten Reihen hoch über einander gefpannt find. 
Hier wurde der legte Angriff Karl's V. am 26. October 1541 vereitelt, welcher 
den 120 edlen Malthejern bis zum Thore Bab-Azoun zu Hilfe eilte. 

Der Geſichtstypus der afrikanifchen Jüdinnen, ihre hohen gewölbten Brauen, 
ihre großen fchwarzen Augen, ihre blendend weißen Zähne und ihr regelmäßig 
Thöner Bau feſſeln das Auge des Europäerd. Sie haben einen etwas dunkleren 
Zeint al8 die Maurcöfen und ihr Blut ift noch heißer. Faſt allen wohnt ein 
mehr oder minder entwickeltes Talent für das Theater inne und fie find Meiftes 
rinnen in der Verftellungsfunft. ' 

Der Bau der Judenhäufer in Algerien unterfcheidet fich von außen nur 
durch die Größe der Thür und die fchönere Ausfchmüdung Die Mitte des 
Hauſes bildet ein vierediger, von einer Gallerie umgebener Hof; dieſe Oallerie 
ift von zierlich gearbeiteten Marmiorfäulen getragen und das Dad, davon ebene 
alls von ſolchen Säulen geftügt. Die Familien bewohnen die auf diefe Gallerie 


672 Länder: und Voͤlkerkunde. 


auslaufenden 4 Wohnzimmer, welche ihr Licht durch dieſe Thüren erhalten; 
son außen find feine Fenſter. Häufig flieht man in der Mitte des Hofes nod 
einen Epringbrunnen, deſſen Strahl durch ein prächtig gearbeiteted Marmom 
becken aufgefangen wird. Um den Springbrunnen oder in einer Ede des Hofeb 
find die Familien um ein irbened Kohlenbeden, das den Kaffee wärmt, gelagert, 
die Männer rauchend, die Frauen mit Handarbeiten befchäftigt. Hier erblidt 
man ein eigenthümlich reigendes Bild, man glaubt eine Scene aus dem alttefle 
mentarifchen Banıilienleben vor fich zu fehen. Abends erheitern die Töne Eleiner, 
febr verftimmter Flöten und der Derbufa ben gefelligen Kreis. Die Thüren find mit 
Teppichen verhängt, welche die Kabylen jehr geſchickt zu verfertigen wifjen. Die 
Jüdinnen haben im Haufe faft diefelben Kleidungen, wie die Mauresken: bloße 
Füße bis zu den Knien, ftatt der Schuhe Holsfandalen, die durch Kreuzbänder 
gehalten find, faltenreiche Kniehofen von fchwarzem Seidenzeuge, eine feidene 
Jade, offene Aermel mit Boldfchnüren; ein rothſammtenes gefpigtes, mit Bold» 
ſchnüren befegtes Käppchen, das in ſchiefer Richtung auf dem Hinterfopfe bes 
feftigt ift, vollendet den malerijchen Anzug. Auf der Promenade tragen fie ein 
eng anfchließendes langes Seidengewand ; durchfichtige weiße Aermel bebeden 
die Arme, welche wie die Füße mit Spangen gefchmüdt find. 

Die dritte Klafje der Bewohnerinnen find die Negerinnen; fie befchäftigen 
fich theil8 mit Brot« und Mehlverkauf, größtentheild aber verrichten fle Dienfe 
bei den Mauresfen. Ihre befcheitene Kleidung befteht in Kniehoſen — Be 
Waden tragen fie frei — und rothen Schuhen, während der Oberleib nur wenig 
von Fleinen offenen Jacken bededt iſt. In dieſem Coſtüme figen fle vor ten Häw 
fern und flechten mit den Negern die zierlichfien Körbe. Wenn fle ausgehen, 
hüllen fle den ganzen Körper, vom Kopfe bis zu den Füßen, in einen blau, weiß 
und gelb geftreiften Shawl. Solche geftreifte Geftalten mit den flarren, grin⸗ 
fenden Geftchtern haben nicht viel Anziehendes, jedoch habe ich in der Rue Bab- 
el-Sidi Negerinnen gefehen, deren Züge nichts weniger als bäßlich zu nennen 
waren; in diejem Theile wohnen die bemittelten Negerfamilien. — Die Mulat⸗ 
tinnen, welche KoulougHlis genannt werden, ftehen ganz ifolirt da. Sie ſtam⸗ 
men von Türfen und Negerinnen, Tieben beraufchende Getränke, fprechen ganz 
geläufig franzöſiſch und richten ihre Wohnungen wie Die bemittelten Neger nach 
morgenländifcher Weiſe ein. 

Ich trat nun meine Reife in das Innere von Afrifa an und nahm zu dies 
fem Zwecke einen Plag in dem Eilwagen nach Blidah. Wir paffirten die Ebene 
von Medidja, die aus fleinigem Boden beftcht, auf dem Fein anderer Baum alt 
die arabifche Cactusfeige wächft, welche ihre langen Arme weit ausbreitet, Dann 
Burbäume und der laurier rose, die berrlichiten blühenden Dleanderbäume von 
beſonderer Höhe und Stärfe. Durch dieſen duftenden Blüthenwald führt bie 
Voftftraße mehrere Stunden lang bis nach Blidah, am Fuße des Eleinen Atlas 
und länge des Fluſſes L’ouet-kebir (reigender Bach) Hin. Hier wählte ich meis 
nen erſten Aufenthalt, um die berrliche pittoreöfe Landſchaft zu genießen, und 
beſtieg auf Anrathen des Confuls einen Theil des Berges bid zu dem berühmten 
zweiten Orabe des Marabout⸗Sidi-Abdel-Rahmann, weiches in Geftalt einer 


Reiſebilder aus Algetien⸗ 673 


Mofchee unter großen Dlivenbäumen im Walde fleht. Hier gibt es immer Wall, 
fahrer genug, befonders Beduinen, die nicht weit davon im Thale die Heerden 
hüten und bier fat tägfich ihr Morgengebet verrichten. — Von bier aus flieht‘ 
man in der Kerne auf einem Hügel die Gräber der alten Könige von Numidien. 
Die Araber nennen diefe Ruine Kobour-Roumia (da8 Grab der Ghriftin), weil 
ſie vorgeben, daß die Tochter des fpanifchen Brafen Julien, welcher die Araber: 
nach Spanien führte, hier begraben fei. 

Blidah ift mit Hohen Mauern umgeben, in denen 5 Stadtthore find; bie 
Stadt befteht ſowohl aus miferablen Ruinen afrikanifcher Häufer, ald auch 
aus großen, ſchönen franzöflichen Käufern im neueften Geſchmack. Es liegt am 
Fuße der Fleinen Atlaskette am Fluſſe L’ouet-Kebir. Am Eingange eines jeden 
Thores ift ein Keiner Platz; die fchönften Straßen find Bab-el» Seht, Babsela. 
Rabah, Abdallah se. Der originellfte Platz ift der arabifche Markt, mit Arcas 
den, Bazars und Wohnumgen von allen Geftalten bedeckt. Außerhalb der Stadt, 
am Rande eined hoben Olivenwaldes ift alle Woche arabifcher Markt, auf wel 
chem die Araber ihre Erzeugniffe feil bieten. 

Das Fleine Mufeum daſelbſt enthält einige ſehenswerthe Antiquitäten. Eine’ 
Druderei Tiefert: periodifche Schriften und breimal wöchentlich eine Zeitung. 
Eine Freimaurerloge dafelbft Hat den Titel: les freres de PAtlas. Blidah wird‘ 
mit einem Korbe voll der duftendften Blumen verglichen. Der Schriftfteller und 
General Hamed Yufſuff aus Milianah fchreibt: man nennt dich eine Fleine Stadt, 
ich nenne dich eine kleine Roſe. Mein Mittaggmahl nahm ich bei einem polni⸗ 
ſchen Emigranten ein, der dort ein Gaſthaus etablirt hatte. Nachmittag fegte 
ich meine Eilreife über die Gebirge von Muzaia gegen Medeah fort. Wir paffir 
ten bier Die römifchen, in Felſen gehauenen Straßen, welche noch vor wenigen 
Jahren nur für ein Kameel breit genug waren, jeßt aber Durch den Unterneh⸗ 
mungdgeift der Franzoſen nach ungeheuren Mühen fo breit wurden, daß ſich an: 
gewiſſen Stationsftellen die Eilwagen ausweichen Fönnen. Die Straße wird ber 
Sicherheit wegen nur bei Tage befahren. Jetzt gelangte ich in eine Gegend, bie: 
man ihrer Großartigfeit halber die arabifche Schweiz nennen kann. Die Straße: 
führt über hohe Berge hinweg, Immer an Belfenwänden hin, wo tief Im Abgrunde 
die Chiffa, ein fohäumender Waldfluß, brauſet. Wahrhaft fchauerlich ift die 
Gegend und noch fchauerlicher wird fle im Wagen, mit welchen 6 — 8 Eleine 
arabijche Pferde auf der links und rechts fich fort fchlängendelnden und Schwin⸗ 
del erregenden Straße dahin lagen. Vor 10—12 Jahren konnte hier noch fein 
Guropäer wandern, und auf dem oberen Theile Der Berge wohnen noch immer 
Kabylen, deren Begegnung Außerft gefährlich if. Conducteur, Kutfcher und auch 
Meifende find immer bewaffnet, um fich gegen einen etwaigen Anfall zu verthei⸗ 
digen, was allerdings ziemlich ſelten vorkommt. 

Nun gelangten wir auf den Berg Hekhla (1120 Fuß hoch), der mit einer 
Falkartigen; mit Alaun und Wagnefla untermifchten Erdmaſſe bedeckt ift, welche. 
Nador genannt wird. Hier wächſt nur der Schlaflinfenbaun (bagnenandier) 
und die blaue Sterndiftel (chausse-trappe); weiter kommen Berge vor, bie 


mit Thuja, KXorbeeren und mit ganzen Wäldern von Korleichen, Mandel⸗ 
V. AI 


674 Lauder and Billerlunde 


Drangen» und Beigenbäumen bedeckt find; noch weiter hin gegen Medeah ficht man 
ganze Streden Maflir- und Iohannisbrotbäume und taufende vom Aloen, deren 
Blürhen und Fruchtſamen an 20—30 Fuß hoben, diden Stämmen hängen. 
Am Wege begegneten wir einem Kleinen‘ Buge Romaben, ber eben fill Hielt; 
Weiber und Kinder jagen auf Rameelen und Maulthieren. Auch unfer Wagen 
mußte anhalten, denn ein Kameel Tag mit Eläglichen Orbärben am Boden und 
war im Begriff, den Mühen eines freudelofen Lebens zu entfagen. Wir fliegen 
ans unjerem Wagen, da die Araber das treue Thier ruhig flerben fehen wollten. 
Der Eigenthümer rich die Stirne des Thieres mit Kräutern, während fein Weib und 
zwei Mädchen bemüht waren, die fchwere Ladung von feinem Rüden zu entfernen; 
treußerzig und wehmüthig ſah es in die weinenten Augen des Arabers, lich den 
Kopf zur Erde finfen und verjchied. Die Leute ſprachen Fein Wort, nur ihre 
Ihränen vollten über bie braunen Wangen. Nachdem es verendet war, zogen fle 
ed mil den Büßen fo nahe an die Felswand, daß wir vorüberfahren konnten. Auch 
in unferem Wagen blieb ed eine Zeit lang ftill. Wein Nachbar zur linken Eeite, 
der aller 14 Tage cine Gefchäftsreife von Algier nady Rillianah machte, were 
füherte, daß in Eurzer Zeit nur noch das Gerippe des Thieres zu finden fein werte. 
Das Bell, welches die Nomaden zu den Dächern ihrer Zelte und Wohnungen 
brauchen, wurde abgezogen. Auf meiner Hüdreife fand ich an diefer Stelle das 
ganz fein abgenagte vollftändige Gerippe vor, aber auch noch einige andere klei⸗ 
nere Gerippe Dabei, welche von den im Kampfe um bie Beute erlegenen Schakals 
oder Hyaͤnen herruͤhren mochten. 

Die Bergſchlucht an der linken Seite wurde von jetzt ab zuſehends enger. 
Das Bebirge gegenüber, welches durch tie Ehiffa von dem Berge, auf Dem wir 
fuhren, getrennt ift, näherte fid) mehr und mehr, Bid es und ganz nahe gerüdt war. 

Ein paar Iuftige Reifecollegen, welche faft immer jangen und lachten, riefen 
nun dem Gonducteur zu, er möge halten; Denn es würde fi) unferen Augen ein 
feltened und hoͤchſt komiſches Schaufpiel darbieten. Wir fliegen bis auf zwei 
alte Araber, deren ernſte Mienen ſich nie veränderten, alle aus den Wagen und 
ftellten und an ten jchwindelnden Abgrund. Die Echlucht, von der wir in das 
felfige Flußbett ter Chifſa Hinabjahen, Eonnte kaum 30 Echritte breit fein, und 
bad befannte Affengebirge befand ſich und etwa 60 Schritte gegenüber. Ganze 
Schwärme von Eleinen Affen, die von 3 oder 4 großen angeführt wurden, Elet- 
terten über die Felſenwaͤnde und tummelten fich gewöhnlidy fo lange herum, bis 
einige von ihnen in Die Schlucht flürgten, um eine Beute der lauernden Hyaͤnen 
und Echafald zu werden, welche wir deutlich auf den Felsblöcken im Flußbette 
herumfpähen fahen. Um das Gewimmel noch pojfirlicger zu machen, feuerte 
einer meiner Meifegefährten feine Flinte ab. Wie mit einem Schlage flohen die 
wilden Thiere in ihre Löcher und die Affen geriethen in eine folche Gonfufion, 
dag ihre Geſellſchaft den Verluſt einiger theueren Häupter zu beflagen hatte, 
denn wenigſtens 10 — 12 dieſer Thiere kugelten über einander und flürzten 
binab. — Dieje Gegend ift wirklich im höchſten Grade pittoresf; es ift zu bes 
Hagen, daß dieſe Herrlichen Anſichten fo jelten oder vielleicht gar nicht aufgenom» 
men werden, 


Beifebilder aus Algerien 675 


Noch vor Abend Tangten wir in Medeah an. Die Stadt befleht noch 
aus alten maurifchen Häuſern und bietet einen ſonderbaren Anblid, Gin 
römifcher Aquaduct reicht in doppelten Arcadenreiben bis dicht an bie Stadt. 
Ein baufälliges alted mauriſches Haus dient für die Yremden zum Unterkommen. 
Baghaft nahte ich mich meinem Bette, wo ich nach des Konfuld Injtrustien 
Eforpionvifltation hielt; jagte darauf die zahlloſen Mücken aus meinem Zimmer, 
ſchloß das Fenfter und warf mid, müde auf mein Lager, auf dem idy aber vor 
Stechen und Beipen der berüchtigten afrifanifchen Wangen feine Minnte fehlafen 
Eonnte. Zum Glück war Mondenfchein, und ich wußte mir nicht anders zu hel⸗ 
fen, ald mit dem Betttuche über die gefährlichen Holzgalerien der Arcaden zu 
wandeln, dad Tuch forgfältig zu reinigen, mid) darin einzuwickeln und in den 
Hofraum zu geben, wo idy drei weiße vermummte Seftalten umherwandeln ſah, 
die mich faft in die Flucht getrieben hätten, wenn nicht einer meiner Meijrgefähn« 
ten mir erflärte, daß diejelben aus Feiner anderen Urfche, wie ich, ihre Gemaͤcher 
hätten verlafjen müffen. Wir fanden eine Art Stall, jegten uns daſelbſt niebeg 
und fonnten den Reſt der Nacht ruhig fchlafen. 

Es war Freitag und daher ein zahlreicher Beſuch aus der ganzen Umgebung 
zum arabifchen Markte vorhanden, Die Eingeborenen bringen ihre Fünftlichen 
Gewebe und kaufen ſich Zeinewand dafür ein; die Zouaven bringen ihre ſelbſt⸗ 
erzeugte Seife, Die Mouzaias ihren trefflichen Tabaf. Auch werden eingefangene 
wilde Thiere, Strauße und Straußeneier und Häute, die in den alten Gäufern 
der Singeborenen in Medeah gegerbt und gefärbt werden, eben fo Pferde, Koh⸗ 
len, Salz aus den Bergen, artenproducte und auch Kupfer aus dem Bergwerfe 
zu Mouzaia zu Markte gebracht. Neger figen an den Häufern und verfertigem 
Körbe und Schuhe. in malerifched Bild ftellte fich bier den Augen dar und 
noch jeltfamer wurde e8, als eine zahlreiche Saravane herangezogen Fam und ihre 
Waaren abladete. Ich durchwanderte den Markt und Faufte mir einige leicht 
transportable Andenken. Wie gern hätte ich von den vielen intereffanten Gegen⸗ 
Ränden noch fo mancherlei in die Heimath mitnehmen mögen. 

Einen unangenehmen Eindrud übten die Schlangenbänbiger auf mid aus, 
welche fich ſehen ließen und mit ‘Pfeifen von Schilfrohr und den raffelnden Tam⸗ 
bourins entjeglicheö Laͤrmen verurfachten. Died find meiſtens Kabylen und Bes 
wohner des feindlichen großen Kabylie, und der Andrang der Reugierigen zu 
dieſem Schauplage war fo groß, daß ich nur mit vieler Mühe davon etwas ſehen 
tounte, Dieje Leute werden von deu Eingeborenen ald heilig verehrt, gelten für 
hieb⸗ und ſchußfeſt, befchäftigen fich mit ber Heilkunde und verkaufen Amulette 
gegen den böjen Blick und böfe Geiſter. Die Borftellung hatte mit Geſaͤngen 
aus dem Koran begonnen, die allmälig immer wilder wurden. Der Kabyle laͤufe 
halbnackt im Kreife herum, fleht den Propheten um Beiftand an und fein Weſen 
gleicht dem eines Wahnfinnigen; er fticht fi Nadeln durch die Baden, in den 
Mund, durch die Haut des Oberarms und der Waden und Läuft fo mit Nabelm 
gefpistt umher. Die ſtark blutenden Wunden reibt er dann fpÄter mit Salz und 
fammelt Geld ein. Die Heinen Oeffnungen der mit Schlangen gefüllten Vehaͤl⸗ 


ter dreht der Kabyle Iangjamı der Sonne zu, entfernt ben Dedel, worin Ries 
I 


676 Länder» und Boͤlkerkunde. 


Deffnungen find, die Thiere ſtecken die Köpfe empor und winden fich heraus, 
und nach Kurzem wimmeln fie von allen Größen auf dem Boden umher; er 
wähle fi dann einige heraus, ftellt fie auf ten Schwanz, beginnt einen Tanz, 
wobei die Schlangen dem umter fie gehaltenen Stabe folgen, laͤßt ſich und einige 
arabifche Knaben von den gezähmten Thieren gänzlich umwideln, und die Bros 
duetion endet unter einem folchen Jubel und Beifallögefchrei, Daß es mir angſt 
Dabei wurde. 

Nachdem ich mir mehrere Führer beim arabifchen Chef angeworben Hatte, 
trat ich am folgenden Morgen meine Neife gegen Boghar an, theild zu Fuß, 
theils auf einem Kameele oder Maulthiere. 

Den Abend benupte ich noch, dem Ablöfen ber Wachen in Medeah beizu- 
wohnen; wie in Algier, fo läßt fi auch in Blidah jeden Abend die franzöfliche 
Regimentömuflt auf dem Hauptplage vernehmen. An diefem Abende zogen bie 
afrikaniſchen Spahis von der Wache ab, die Kapuzen ihrer weißen Bournouffe 
über den Turban gezogen; ſie faßen in ihren hohen Sätteln in vorgebeugter 
Stellung, wie fle dem orientalifchen Reiter eigen ift. Die dunkeln umberrollen- 
den Augen, die aus ben weißen Kapuzen hervorleuchteten, zeigten an, Tab rege® 
Leben in diefen vermummten Geftalten wohne. Gerade und aufrecht, in inpo⸗ 
fanter Haltung faßen Dagegen die franzöſiſchen Chaffeurs d'Afrique, dieſe viel 
erprobten, tapferen Meiter, noch ohne Mäntel, in blauen Waffenröden mit gele 
ben Kragen und Auffchlägen. Unter diejen Ehaffeurs D’Afrique trifft man nicht 
felten Deutfche, welche aus der Sremdenlegion Dazu genommen werden. In ganz 
Algerien haben fi nad und nad über 5000 Deutſche angefledelt, von denen 
der größte Theil Handwerker oder Bauern find; eine bedeutende Anzahl tritt 
nach den Überflandenen Strapazen der Dienftzeit aus der Fremdenlegion umd 
bleibt gleih an Ort und Stelle. Nur wenigen ift e8 geglüdt, fich zu einer bes 
beutenderen Militair-Charge emporzufchwingen, und von den jegt noch Dienenden 
hat es nur Einer bei der erften Legion zum Oberften gebracht; die meiften jedoch 
nehmen nach leben qualvollen Jahren, obwohl mit dem Kreuze der Ehrenlegion 
geihmüdt, ihren Abjchied als Sergeanten oder Unterlieutenants. 

Mit Flopfenden Herzen folgte ih am frühen Morgen meinen arabijchen 
Bührern. Freude, Bangigkeit, Neugierde, Neue, kurz alle möglichen Gefühle 
geitalteren fih in meinem Innern auf eigenthünliche, nie gefühlte Weiſe; doc 
die Freundlichkeit meiner vermummten Begleiter verjcheuchte gefchwind meine 
Sorgen und wir wanderten unter pantonimijchen Gejprächen, die freilich wicht 
fehr unterhalten? waren, bis wir gegen Abend auf einem Berge eine Mofchee im 
Walde erreichten, wo wir das erjte Rachtlager hielten. Es war eine Dunkle Nacht, 
fo daß man faum die Spigen ber nahen Berge, die aus dem lichteren Hinter 
grunde bervortraten, deutlich fehen Eonnte, aber im prächtigften Glanze funfelten 
bie Sterne und auch aus den nahen Büjchen bligten Taujende von Xeuchtfäfern. 
Als wir uns in die kleinen Eden der Moſchee, in Mäntel gehuͤllt, niebergefauert 
harten, berrfchte anfangs eine lautloſe Stille, doch bald ericholl aus der Ferne 
das heijere, Dem Gcheul hungriger Hunde gleichente Gebell der Schafals und 
Syinen zu und berüber und verfündete nur zu Deutlich, daß wir ung auf afrika⸗ 


Meiſebilder and. Algerien. 677 


nifchem Boden befanden. in faft betäubender Wohlgeruch quoll von ben 
Orangenbäumen, Mirthen und Aloen, die um die Abhänge der Berge taufend- 
weife fichen, zu uns herauf, und ſelbſt der Rauch des Feuers, das fpäter 
von einem meiner ſechs Begleiter angeziindet und durch Mirthenftämme 
und Reiſer genährt ward, duftete wie Weihrauch. Diefe Wärme war rin wirf« 
liches Bedürfniß, denn mir war, als ob mir die Hige ded Tages den ganzen 
Wärmeftoff aus dem Körper gefogen hätte: Der Stand bed Ihermometers ift 
im Juli gewöhnlich 34 — 36 und zur Nachtzeit 11— 13 Grad, Mic fror wie 
im Herbfle bei 2— 3 Brad Wärme. Als wir am anderen Morgen eine nicht 
unbedeutende Strecke waldeinwärtd gegangen waren, trat an Die Stelle des wun⸗ 
berbaren Duftes ein unangenehmer Dunft, der immer flärfee wurde, je näher 
wir zu einem durch Gchärden bezeichneten Orte kamen, aber denſelben zu errris 
chen, wäre rein unmöglich gewefen, denn der Mauch des Erbpeches, das fledend 
and dem Boden dringt, bie zunehmende Hige, die hohen Befträuche und Schlinge 
pflanzen aller Art verhindern Die Annäherung. Auf der anderen Seite iſt zwi⸗ 
fihen tem Gebirge eines der Warmbäbder, deren es fehr viele gibt und welche in 
ihrer Temperatur fo verfchieden find. Das Bad Hamman Rirha, an tem ich 
auf dem Wege von Blidah nach Wilianah vorüber Fam, war bei den Römern 
unter dem Namen Aquae calidae befannt. Lieber diefer heißen Duelle befteht 
noch die alte Schwitzſtube. Im Jahre 1844 errichtete Dr. Malle hier ein Epital, 
das 30 Militärperfonen aufnehmen konnte; nicht weit Davon fprubdelt eine Quelle 
mit den Beftandtheilen des Selterwaſſers. Nach den neueften Beobachtungen 
hat das Wafler des Babes von Hamman el Masfoutin gleich an ter Duelle 
76° Reaumur, fo daß Fleiſch in wenigen Minuten gekocht werben kann. 

Ich war froh, als wir einen Pfad rechts einfchlugen und auf einen Punkt 
gelangten, ber uns eine reigente Kernficht bot. Wir Ingerten uns bafelbft; 
meine Tafchen waren voll von Orangen, eigen und Johannisbrot; ich preßte 
Tavon ten foftbaren Eaft in meinen Reberbecher und feuchtete mein ſchon ziem⸗ 
lich hartes Algierer Weißbrot damit an. Schön geflederte Bögel Tamen von 
allen Größen, um uns Geſellſchaft zu leiſten, und fegten fich ganz vertraulich auf 
die nächften Palmen und Gefträuche, wobei ich jedoch bebauerte, daß die Natur Dies 
fen Schönen Vögeln den Gefang verfagt hatte. Ganze Golonien von Störchen trafen 
wir allenthalben; 5 bis 6 biefer Iangbeinigen Thiere brachen nicht weit von mir 
aus dem Gebüfche heraus und waren im Begriffe, eine Geſellſchaft von Schlan⸗ 
gen zu verfolgen. Zwei meiner Begleiter feuerten ihre langen Rohre ab und ein 
fchöner Storch blieb auf dem Plage. Fin anderer Begleiter machte mit dem 
Beigefinger eine Freifende Bewegung und deutete nach einem weiteren Bunft hin, 
nach dem wir nun auch aufbrachen, und nun erft verftand ich die Mimik, denn 
einige Schlangen wanden fih auf hohe Pinien empor; ich zögerte, voruͤberzu⸗ 
gehen, doch gaben mir meine Führer zu verfichen, daß es feine Gefahr gebe. 
Diefe Schlangen find unſchaͤdlich, nur muß man bie Vorficht gebrauchen, behute 
fam über fle weg zu fleigen, wenn fie, wie es öfter vorkommt, quer über dem 
Wege liegen. Unheimlich war e8, wie fle ihre Köpfe von den Bäumen wegſtreck⸗ 
ten und auf und abfchwenkten. Meine beiden Jäger hatten eine Kıtliie Krasr 

} 


678 Zanker: und Vöolkerkunde. 


darüber und waren allem Anichein nach von dem Bewußtfein durchdrungen, daß 
fie von den Schlangen als Lebensretter erkannt würden; wahrſcheinlich hielten 
fie das Kopfnicken für Veifall&bezeugung und Dank. — Eidechfen und Cham 
leons ergriffen die Flucht, wo fie uns fahen. — Jetzt Fam die gefährliche Stelle, 
derentwegen meine Kührer bewaffnet waren; es war ein fchmaler Weg, der fi 
rechts um eine Felſenwand fchlängelte, links ein großes, aber waſſerarmes ſteini⸗ 
ges Flußbett, in welchem Löwen, Panther, Leoparden und Lucie oft bis an Die 
Meereskuͤſte hinabſteigen. Bald Hatten wir die Gefahr im Rüden und Doch nach 
einen Berg zu überfleigen. Wir überfahen feitwärts die Gebirge des Maflafran, 
Boudouaon und Harrady, die Wälder von Sumata, von L'Oued⸗Derda und 
d'At⸗ Iordoun, und vor und die Wälder von Boghar, fo wie die beichneiten 
Gipfel des Dierdjera und des großen Atlas. Die Namen ſchrieb ich mir nach 
den Angaben meiner Begleiter auf. — Rechts davon liegt, obwohl noch in ein 
ger Entfernung, die unüherfehbare Sahara; aber mittelft meines Fernrohres 
bemerkte ich dunkle Flecken, Die Dafen, welche fich bis in den ferniten Horizont 
verlieren. Der Anblid der Wüfte erregte in mir ein unbeichreiblic banges Ge⸗ 
fühl. Eine allgemeine Stille Herrfchte und mir war es, ald wenn ein tiefer, im⸗ 
mer anhaltender dDumpfer Ton hörbar wäre, der mein ganzed Gemüth durchdrang. 
Wie begreiflich ift mir jet die herrliche Mufif der Wüfte von Felicien David, 
wie dyarafteriftifch find in der Ouvertüre Die lang gehaltenen, dumpfen Töne des 
Gontrabaffes, die fich wie langſame Caravanen allmälig in crescendo näher ber 
wegen und immer hörbarer werden, bis endlich die Freude über die überftandenen 
Gefahren ausgedrückt wird! — So fah ih audy die Sonne vom Horizonte der 
Wüſte herauffteigen und erinnerte mich genau, auch dieſes Schaufpiel aus jenem 
großartigen Tonftüde zu kennen. 

Bevor man Boghar wieder erreicht, trifft man auf große Hrerden von Sche 
fen, weldye von Beduinen gehütet und wegen der beflindig umberfreifenten Geier 
und Adler forgfältig bewacht werden müffen. 

Ehe ich meine Rüuͤckreiſe antrat, follte ich noch durch die Bekanntſchaft des 
Samum überraicht werben, der im Monat Juli gewöhnlich eine, zuweilen auch 
zweimal Die Bewohner der der Sahara gegenüber liegenden Berge beunrubigt. 
Ein heißer Dunft fommt von der Wüſte herüber, der immer heißer und heißer 
wird, bis dad Thermometer gewöhnlih 42—43 Grad zeigt. Meine Begleiter 
bießen mich auf die Erbe nieder legen und bedeckten mich mit einem ihrer Bour⸗ 
noufie. So lagen wir beinahe 1'/2 Stunde, bis die gewöhnliche Temperatur 
wieder eintrat und wir wieder bergauf weiter wandern Eonnten, wo es allmäliz 
angenehmer wurde. Die Temperatur ift in nicht gar großen Zwifchenräumes 
ganz verichieben, in einigen Gegenden milde, fo daß man zuweilen glaubt, gar 
nicht in Afrika zu fein, fo 3.3. in den herrlichen Grasplägen im Zell und in 
der Sahhel, wo man, umgeben von den dichteften Raubgängen, nad; einer ermis 
ben Tour in ber brennenden Sonne füße Erquidung findet. Eben fo erfriichend 
iſt e8 an der Meeresküſte und auf den Gipfeln des Fleinen Atlas, während «8 a 
feinem Buße unerträglich Heiß iſt. Vom Monat April an bis zum October iß 
der Himmel beftändig heiter; der darauf folgende Winter, in welchem Der Regen 


Neifebilder aub Algerien; 679 


nicht beftändig anhält, aber ziemlich ftark iſt, dauert, öftere von ſchweren Stuͤr⸗ 
men und Gewittern begleitet, 60—70 Tage. 

Pflanzen und Bäume wuchern auf dem üppigen Boden Nlgeriend in ſelte⸗ 
ner Pracht; nur unſere europälfchen Obftbäume erreichen hoͤchſtens Mannshöhe, 
tragen aber ſchon im zweiten Jahre die beften Früchte. Zahlloſe Blumen, die 
bei und nur in Topfen und Treibhäufern gezogen werden, wachen hier fogar im 
Winter noch wild. Alle nicht angebauten Kandftriche, Die man brousailles nennt, 
find durch manndhohes Gras, mit Stachelpflanzen und Gactusarten untermifcht, 
faft unwegfam. Geht man des Abends in einer Entfernung von 1*/2 Stunde 
von Algier fpazieren, fo beleben fich Diefe Büfche und man vernimmt das klaͤg⸗ 
liche Geheul der Schafald und Luchfe und fleht ſchon dann und wann eine Hyaͤne 
über den Weg fchleichen. Mehrere Tage vor meiner Ankunft in Afrifa wurbe 
in der Naͤhe von Blidah ein großer Löwe erlegt, deffen Haut an Napoleon II. 
überfchictt wurde. — In einfamen Gegenden gibt es viele Banther und in allen 
Wäldern Unzen und Ichneumons; Stachelichweine, Füchſe, wilte Schweine und 
Hafen findet man überall in großer Anzahl. 

Die Vegetation Algeriens entfaltet ſich mit bewundernswerthes Schnellig. 
feit. Im Januar werden Kartoffeln audgegegraben, Orangen⸗ und Oleanders 
bäume blühen, der Maulbeerbaum treibt neue Blätter und an den Gebirgen ſam⸗ 
melt man Erdbeeren. 

Im Februar find Die Drangen reif, die Coloniften fäen @erfte, Cſchen⸗ und 
Platanenfamen und pflanzen Tabak und wieder Kartoffeln für den Sommer. 
Im März und April find die Gärten voll von Blumen und Gemüſen. Im Mai 
fammelt man Vorrat zur Fütterung für dad Vieh und impft Die Olivenbäume, 
Im Juni werden ®erfte, Bohnen, Linfen und andere Beldfrüchte eingeerntet; 
man graͤbt wieder Kartoffeln aus und pflüdt Beigen. Im Juli bringt die afri« 
kaniſche Hige Mirtben, Pfeffer, Oranaten sc. hervor, die Clematis und Aloe 
blühen, Datteln und Johannisbrot find reif, Cactusfeigen von befonderer Süßig⸗ 
feit, Piftazien, Grapp, der Ricinus (Wunderbaum), laurier roser, Oleander« 
und Maftirbäume, Ghpreffen und Thuja wachfen wild in den Wäldern. Der 
Tabak wird zum erſten Male abgefchnitten, der türkiſche Weizen hat eine Höhe 
von 6 Fuß erreicht und die Bananien Haben reife Früchte. 

Im Auguft tragen die Zwergpalmen Früchte. Die zweiten Feigen find bes 
fonder8 wohlfehmedend und in Unzahl überall wild wachſend. Die Vegetation 

| ift nun ſchon allmällg verfengt. — Der erfte Regen und ber Winter erfcheint, — 
> die afrifanifche Natur ruht in September aus. Im Oktober ift in manchen 
Gegenden die Weinlefe in den Laubgängen fehr betraͤchtlich. Im November 
eben durch die vorherrſchend gemäßigte Temperatur Tulpen, Aurikeln, Rarzifien, 
eilchen und Wermuth in ber fchönften Bluͤthe, Blumenkohl und die wohl 
medenden Brüchte des Erdbeerbaumes find reif.. Im Dezember find die Wie 
ı voll Gras, Klee und Erbfen, auch findet man während des Winters beſtaͤndig 
tlonen. Das Thermometer zeigt beftändig 10—15 Grad Wärme, 
Algerien mit feinem ohne große Mühen zu cultibirenden Boden gehört trog- 
F nicht zu denjenigen Punkten, nach welchen fi die Augen ber Auswanderer 







680 Räander- und Böltertunde« 


richten, obwohl fie reiche Ausbeute daſelbſt finden könnten. Die eriten 12 Ader 
bau-Colonien in diefer Provinz wurden im-Iahre 1848 im September begrünbet. 
In Folge der furchtbaren Suni» Ereigniffe wurde der ‚beichäftigungslofen, von 
Elend und Hunger heimgefuchten Arbeiterklafie von Paris Hier ein Aſyl ange 
wiefen, indem jeder Familie ein Haus mit S— 10 Hektaren Land zugetheilt 
wurde. Die Colonien wurden unter die Autorität eines Directors geflellt, der 
die Anfledler in ihren Arbeiten anzumweifen und zu beauffichtigen hatte. Seit 
1851 verwaltet jede Colonie ihre Angelegenheiten ſelbſt. 

Die Bevölkerung beſteht aus circa 1100 Familien, Sie werben jegt nice 
mehr von chriftenfeindlichen Arabern beunruhigt, weldye in gewiſſer Hinficht tem 
Ginfluffe europäifcher Civiliſation nicht abgeneigt find. Hier und Da verſchwindet 
bei ihnen fogar der Hang zum Romadenleben vor den materiellen Vortheilen uad 
dem unmiderftchlichen Reize des Befitzes; denn die Araber find von Ratur intel 
ligent und in wenigen Monaten gelingt es ihnen ohne Mühe, fi die Kenumi 
der franzöftfchen Sprache auzueignen. Ich fand unter den Chefs des tribus anf 
meiner Reife in das Innere Männer, welche von der franzöftichen Literatur jo 
begeiflert find, daß fle deren Lecture allen anderen DVergnügungen vorziehen. 
Richt eigentlich die Neigung, fondern der Drang der Nothwendigfeit machte von 
jeher den Araber zum Romaden. Stets den Gefahren innerer Kriege Preis ge 
geben, im eigenen Zande wie im Feindeslande lebend, ftetö bewaffnet, mußte ex 
jederzeit zum Angriffe bereit fein; nun aber fängt er bier und ba fchon an, bas 
friedliche Haus dem ewigen Schlachtfelde vorzuziehen und ſich im pacificirten Al 
gerien behaglich zu fühlen. 

Der Grundbefig ift Hier nun durch Geſetze geſchützt. Den Europäern iſt 
feit 1851 verboten, auf arabijchem Gebiete Grund und Boden zu faufen, um 
einen beftimmten Coloniſirungs⸗Umkreis zu firiren, und um unnüges Hinaus⸗ 
jhweifen und Befämpfen der Gefahren durch Ueberfall von Kabylenftämmen zu 
verhindern, befonders aber, daß Fein arabifcher Verkäufer das Opfer liſtiger 
europäifcher Speculanten werde. 

Auf der engliichen Weltausftellung ſah ich ſchöne Proben von der im Aufe 
feimen begriffenen algierifchen Induſtrie: Gochenille, Canna roat (ein neuer Nah⸗ 
rungöftoff) und Opium; bejondere Erwähnung aber verdient eine ganz eigen- 
thünsliche Art von Producten, das fogenannte vegetabiliiche Roßhaar (crin vege- 
tale) aus den Blättern der Zwergpalme, aus deren Marke eine Papiergattung 
fabrieirt wird. Dieje Palme ift aber der Schreden der Algierer Landwirthe, 
denn ihre um ſich greifenten Wurzeln verdrängen alle anderen Gewächfe. Auh 
Tabak von ganz befonderer Güte war ausgeftellt. 

Die Kabylen ſtammen von Getulern oder Barbaren — zweitaufend Sabre $ 
vor der Geburt Chriſti — und waren die erfien Bewohner von Algier. Ueber i 
850,000 derjelben bewohnen noch immer die Berge und verheimlichen ih 
Lebensweiſe, welche ganz patriarchalifch iſt. Sie zeigen und nur ihre Tollfühne 
heit und ihre atlethifchen Kräfte. Die fanatijchen Araber gelangten etwas ipäter, 
durch Invaflonen und Ginwanderungen bei den jährlichen Pilgerfahrten nach; 
Mekka hierher und man zählt deren über 2 Millionen in Algerien. Sie find din 


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Heifebilder aus Algerien. 681 


berühmteſten Pferbebändiger und jehen in ihren antiken Bournoufien höchſt 
maleriſch aus. 

Die eiferfüchtigen Mauren And Rachfommen von allen den Völkern, weiche 
ſich herbegaben, von den Argonauten angefangen bis zu den Renegaten des letz⸗ 
ten Jahrhunderts; ihre Anzahl beläuft fich auf 100,000 Seelen. Sie bewoh⸗ 
nen ihre befcheidenen Huͤtten, nahe an ten Städten, und begnügen fidy mit 
Kleinbandel. 


Die Beduinen (Bewohner der Wüſte) find jene Araber, welche ihre Abkunſt 
von Ismael, den Sohne Abrahams, ableiten; fle find die Ureinwohner Aras 
biens, ald folche erfcheinen fle in der Bibel, in der Urgeſchichte des Menfchen« 
gejchlecht®, und zwar, was von großem Intereffe ift, in demfelben Zuftante, In 
denfelben Sitten und Gebräuchin, weldye fle noch heute vor vielen anderen Na⸗ 
tionen auszeichnen. Als Nomaden hatten fle natürlich niemals fefte Nieder 
laffungen, ihre Heimath ift eigentlich die Wüfte Sahara. Von hier aus verbrei= 
teten ſie fich fehon im Altertfume über die ſyriſche und aͤgyptiſche Wuͤſte; ihr 
Gebiet, das ihnen gewiß Niemand ftreitig machen will, dehnt fich bis zur Grenze 
Perflensd aus, 6i8 zu den Negerftimmen des Sudan. — Sie find die einzigen 
Herren der Wüfte und der räthſelhaften Dafen, aus denen fle uns die beften 
Datteln bringen. Ihre mohametanifchen Priefter find ebenfalld die Marabouts, 
bie durch ascetiſche Wefchäftigungen im Geruche der Heiligkeit ftehen. Sie haben 
lebhaften Geift und poetifche Phantaſie, was fich in ihren Märchen und Dichterir 
ſchen Ergüffen fundgibt. Hirtenleben, Raubfucht, Blutrache, Fanatismus, aber 
auch Gaffreundfchaft find Eigenthümlichkeiten ihres Charakters. Ihre Weiber 
gehen nicht verfchleiert, darum iſt e8 den Fremden geftattet, in ihre Wohnungen 
zu geben, was bei Arabern und Mauren und nad alter Sitte nicht zu wagen 
wäre, indem die fürchterlichfte Eiferfucht auf ihre Serails ſie zur fchredlichften 
Mache fähig machen würde. Diefe Serails find gewöhnlich in ihren fchönen Vils 
Ien, in einiger Entfernung von Städten. Nach dem Koran iſt ed nur denen er» 
"Taubt, Weiber zu nehmen, die folche erhalten können, und je nach den Vermögend« 
umftänden wenige oder mehrere, weshalb die Beduinen ihrer Armuth wegen nur 
Ein Weib, am Häuflgften aber gar Feind haben. Die Kleidung der Beduinen 
beftcht aus felbftgewebtem weißen Stoff, wie bei den Arabern, in einem langen 
weiten Unterfleid, Haikh genannt, das zugleich den kahlgeſchorenen Kopf bebedt, 
um den e8 mit einem kameelhaarenen turbanartigen Strid feft gebunden iſt; 
Meber daffe!be wird erft der Bournouß gehangen. Manche ihrer Gäuptlinge, 
„Raids, führen den Titel „Emir“. | 


Die Türfen find über 6000 Köpfe ſtark vertreten. Die Juden wanderten 
hier nach der Zerftörung von Serufalem zu Titus’ und Hadrian’d Zeiten ein und 
ihre Zahl beläuft fi wohl auf 20,000 Seelen. Auch bier negoriren file mit 
allem nur Denkbaren und find wie überall Meifter im Ueberliften, aber höchſt ges 
fällig und artig gegen ein Billiges; die jüngeren fprechen alle franzöftich. 


Ueber 3000 Reger aus Timbouktou Ieben hier theild frei, theils als 
Sklaven und find immer arbeitfam und zufrieden, treu und rechtichaften. 


2 Länber- und Böllertunbe 


Unter dieſer Nenge fo verſchiedener Bölterfiämeme if Die arafiide Eprache 
im gewöhnlichen Verkehre vorherrichent; aber ter gekiltete Ginwohner bat 
Uebung genug in der franzönihen Eprache. 

Die Befammtbevölterung Algeriens beläuft fich nun ichon ohne bie Armee 
auf 150,000 Menſchen. 

Die Stadt Algier hat gegen 100,000 Einwohner. Tie Katbolifen haben 
einen Erzbiſchof, die Proteflanten ein Eonfiftorium, Die Rufelmänner 2 Rufti’s, 
einen für den malekiicgen, den zweiten für den hanéfiſchen Ritus; die Juden 
haben eine Synagoge. 

Bevor ich wieder nach Europa zurüdfehrte, wandte ich meine Aufmerkſam⸗ 
felt auf das berühmte Feft des Ramafan, die Kaften der Mohamedaner. In ber 
großen Mofchee unweit des Eingangs ziehen die Mohamedaner ihre Bonrnoufie 
und Schuhe aus und wafchen fich in der fchönen Fontaine, die am Rückrtheile 
der Mofchee aus gefchliffenem Marmor fteht; darauf treten fie chrerbietig in bie 
Mitte. Beduinen und Araber reihen ſich in Tangen Eolonnen aneinander und 
beginnen ihre flillen Vorgebete. Unter beftändigen Verbeugungen flürzen fle 
fi) dann In kurzen Zwifchenräunen aufs Geſicht und breiten die Arme am Boden 
aus, dann fiehen fie wieder einige Minuten und beginnen die Ceremonie von 
vorne, bis der Muftl ſammt den anderen Prieftern eine hohe Tribüne befteigt und 
aus dem Koran vorzubeten anfängt, welches Gebet dann nach und nach zu einer 
Art Melodie wird, in welche die übrigen Priefter einftinmen und eine Weile 
ganz unisono fortfingen. (Endlich flimmen alle mit ein und c& entfteht ein 
harmonieloſes Gekreiſche, bei dem aber doch merfwürdiger Weije die Melodie hör- 
bar if. 

Zur Mechten in der Mofchee ift eine große Tribüne für Fremde — auf 
Brauen, mit Ausnahme der arabifchen, dürfen hier zuſchauen. An der Stelle 
des Hochaltars befinden fich eine nicht fchr große Nifche, die mit einem koſtbaren 
Worhang bedeckt if, Hinter welchem der Altefte Marabout figt, der ſich von Zeit 
zu Zeit auf einen Augenblick ſehen Läßt. Un der rechten Seite der Rijche ift 
hinter elfernen Stäben die Abbildung der Bantoffeln Mahomeds fichtbar; neben« 
an, an Die Wand gemalt, prangen mit großen arabifchen Xettern die erften zwei 
Verſe Des Koran, Die Mohamed von Gott empfing. Dieje beiden Verſe find 
eben Das Motiv zum Feſte des Ramaſan. Um 7 Uhr Abends fing der Gottes⸗ 
dienst an und dauerte eine Stunde; um 8 Uhr beleuchtete Der Iman die Kup⸗ 
peln, Die Salerien und Minarets der Moſchee und ein Kanonenichuß gibt tas 
Jeichen, Dar die arabiſche Benölferung nun auch an den Magen denken turf. 
Der Araber bält wihrend des Tages die Faſten fireng, von 8 Ubr Abends aber 
did ſpaͤt in Die Nacht wird das Veriäumte eingebracht und Kaffee und Pfeife ind 
doppelt jo viel wertb. 

Vorlaͤufig iſt es unmöglich, die chriftliche Religion bier einzufübren uud 
and dem Herzen Des Veduinen den immer lebbaften und tbätigen Gedanken zn 
verbannen. daR er in feiner gortgefälligen und vollkommenen Religion weit über 
tem Ghriten Rebe und für die Veribeidigung des Glaubene des Prepbeten leben 
und erben müſſe. Tier Itlam bewabrt mer noch in Nfrifa, beſenders in ber 


Neifsbilder aus Algerien. 683 


algieriichen Sahara und im Tell feinen ganzen Bauber, feine ganze Macht, tm 
der Zürfei und in Verflen dagegen wird er immer ſchwächer. Die Tängere Bes 
rührung mit enzopäifcher Civiliſation hat zum Verfalle des Jolamitiſchen Oeiſtes 
beigetragen, aber die Ausbreitung des Mahomedanismus ift keinesewegs erlofchen, 
er reicht weit über die ihm imaginär geſteckten Grenzen, e8 müßte denn in biefem 
Lande der Eroberungsfrieg ein Meligionskrieg werden. Ein folder Krieg aber 
widerſtrebte jedem Menfchlichfeitögefühle, wenn auch die Macht dazu vorhanden 
wäre. — Lange Zeit fürchtete man fich, in Algerien Fatholiiche-Priefter zu Hals 
ten, denn man wußte Damals nicht, daß der Araber vor allen. Dingen beſonders 
„jede Religion und ihre Diener‘ refpectirt. Gr fürchtet zwar die Fatholifchen 
Zruppen und deren Macht, aber er ehrt die Biichöfe und Priefler. Die geifl« 
lichen Schweitern dringen bis in das Innere der Familien ein, wo fle wie Engel 
empfangen werden, und nie würde e8 einem Mujelmanne einfallen, fie zu bes 
ſchimpfen. Je weiter man fich von Algier entfernt, deſto zweifelhafter wirb bie 
franzoͤſiſche Herrichaft, und es ift £lar, daß Algerien nur dann erſt vollkommen 
pacificirt werden kann, wenn chriftliche Givilijation überall Wurzel gefchlagen hat. 

Aus Volitif Tegte der Herzog von Nemours den Grundftein zu einer Mo⸗ 
fchee, und die arabijchen Schulen werden einftweilen beſchützt, um bie franzöftiche 
Serrichaft al8 Leine drückende erfcheinen zu laſſen, fo wie au, um leichter Ges 
horfam zu finden; Doch wäre es wohl an der Beit, wenn man bie Söhne arabi⸗ 
fcher Chefs nach Brankfreic, nehmen würde. Eine ihren Glauben achtende euro⸗ 
pälfche Erziehung würde unfehlbar die Wirkung haben, ihre Eriegeriichen Ideen 
zu verändern, ihren Charakter zu modificiren und fle zu nüglicpen Srügen der 
franzöfifchen Herrichaft in Afrika heranzubilben. 

Als der Herzog von Rovigo ein Kreuz auf dem eroberten Sande aufpflanzte, 
tröftete es die Araber, dieſes erfte Glaubenszeichen bei ihren Siegern zu ſehen, 
denn fie hatten die Sranzofen für eine Nation gehalten, welche keinen Gott ver⸗ 
ebre: ein Beweis, daß man nicht burch das Schwert allein Afrika eioitifiren und 
den Fanatismus entwaffnen könne. 

In Algerien beitehen fieben mohamedaniſche Brüderjchaften, welche alle von 
verfchiedenen Marabouts geftiftet find. Die Brübderfchaften von Aiffaua und 
Moulin Taieb befinden fich in Algier in der rue de lion, eben fo bie von Abb. 
el» Rabmann» Talebi und von Abd »el- Rabmann =» Boufebrine ac. 

Der Marabout Sidi Ubd- el Kadersels Dzimila war der Stifter einer der⸗ 
felben und diefe genießt die böchfte Verehrung im Jolamismus. Sidi Abd⸗el⸗ 
Kader wurde von Gott feiner Tugenden wegen zum South gewaͤhlt. Es heiße 
nämlich: Im Monat Januar läßt der Himmel 380,000 Uebel auf die Erde fals 
Ien, von welchen der Gouth drei Viertel auf fiy nimmt und dad. Ereigniß nur 
40 Täge überlebt; der übrige vierte Theil wird unter 20 heilige Männer und 
die gewöhnlichen Sterblichen vertheilt. Sidi Abd-els Kader erlag feinen 
285,000 Uebeln, aber ‚die Engel trugen ihn zwiſchen den. britten und vierten 
Simmel, wo ex eine neue, den Gläubigen unbefannte Gehalt amahm. Gr hört 
und flieht Alles und befchügt Alle, die ihn anrufen, jelbft Juden und Ehriften, 
befonders aber die Khouans (Brüder) diefer Brüderfchaftl. — Aus diefer Kabel 


884 Lander · und Völkerkunde; 


fieht man, daß es der berühmte Emir Abb-el- Kader, der wirklich von dieſer 
alten Familie herſtammt und den Namen des benannten Marabout führt, in 
feiner ganzen religiöfen Miffion darauf abgefehen hatte, die Bläubigen zu feinen 
Bunften zu fanatifiren. Gr gab vor, dag ihm fein Heiliger Ahnherr in einer 
Gapelle bei Bagdad erfchienen fei, daß er ihn zum Sultan gewählt und ihm jeine 
Unterflügung verheißen babe. Im Jahre 1832 wurde er in ber Ebene von 
Eghneß proclamirt und übte die abfolute Herrfchaft von Oran. So hatten aud 
die übrigen religiöfen Afiociationen von jeher eine mehr oder weniger wichtige 
yolitifche Rolle in algieriichen Angelegenheiten. Die mehrere Götter anbeten« 
den Reger verfammeln fi in Algier in den Straßen Sidi» Abdalah, Kata- 
rougil und Darfour in Häufern, welche fie zouzon nennen, wo fle ſich ihren 
bizarren Geremonien an jenen Feſttagen, die dordoha, bingeben. 

Bevor man von Algier abreift, muß der Rame des Betreffenden drei Tage 
hindurch in der Zeitung öffentlich befannt gemacht werden, weil Afrika als Afgl 
für Flüchtlinge gilt. Beſonders gibt es viele adlige polnifche Emigranten, denen 
die Ruͤckreiſe nach Europa nicht geftattet ift; jedoch befteht diefe Maßregel auch 
wegen etwaiger Schuldforderungen. 

In den erften Stunden meiner Hüdreife auf einem ſchönen Privatdampfer 
betrug fi) das Meer recht artig gegen und. Im gladgededten Salon am Ver⸗ 
bet des erften Platzes befand ſich ein Glavier, das natürlich angefchraubt war; 
ed wurde mir ganz komifch, als ich auf dem Meere eine Polka vernahm. Der 
Dampfer fing ebenfalld an, darüber vergnügt zu fein, denn er begann allmälig fo 
zu tanzen und zu fchaufeln, daß der Spieler gefchwind aufhörte. Bevor es 
jedoch noch Ärger. wurde, wollte ich das Vergnügen genießen, auf Dem mittel» 
ländifchen Meere einmal Clavier gefpielt zu Haben und phantaftrte einige Minu⸗ 
ten, bis der Capitain die Baflagiere aufmerffam machte, daß ein Sturm im Ans 
zuge fei und es beſſer wäre, die Schlafftellen noch bei Zeiten zu fuchen, bevor bie 
Schritte ganz unflcher würden und die Wellen dem Verdecke einen Befuch ab» 
ſtatteten. Schon wurden in größter Eile die Segel eingezogen, das Hin» und 
Herrennen der Matrofen, das Herumtaumeln der Neifenden verurfachte einen 
fürchterlicden Aufruhr und Lärm, — die Mafchinen verdoppelten bie Kraft und 
die Wellen ſchlugen an das Schiff, dag wir wie in einem feinen Regen flanden. 
Endlich füllten ſich die Kajütten, jeder Iag in feiner Kabine, aber es war fein 
fanftes Schaufeln, — Jammer und Wehklagen von allen Seiten; fo dauerte 
diefe peinliche Situation Durch 49 Stunden, bis wir ganz erfchöpft, mit einigen 
blauen Flecken und ziemlich von den Stechfliegen zerftochen, im Hafen von Mar⸗ 
feille anfamen. Wir wurden in das ‚Hotel transportirt, aber das Effen wurde 
ſtreng verboten; erft den folgenden Tag Fam ich einigermaßen wieder zu Kraft 
und feßte meine Reiſe nach Deutichland fort. 

Mühfeligkeiten hatte mir diefe Reiſe nicht wenige gebracht, aber fle wurden 
auf die füßefte und fchönfte Weife auch wieder belohnt, und aus Afrifa nahm ih 
für meine Lebenszeit die angenehmften uud Lebhafteften Erinnerungen mit. 


Die Alpenwelt und die Hoden Regionen 
unſerer Erdkugel. 


Von 
Alfıed Maury. 





Die höheren Regionen unjerer Atmofphäre erwecken die Wißbegier im höchften 
Grade. Obgleich wir uns bemühen, durch Schlüffe und Berechnungen ihre Bes 
ſchaffenheit zu ergründen und ihre Erfcheinungen zu erklären, bleiben fie für und 
doch noch immer mit vielen Geheimniffen umhüllt. Wir erflimmen die Gebirge, 
wir fteigen mit dem Ballon in die Höhe, wir richten unjere Teleſkope auf die 
Himmelskörper und erfinden Taufende von Inftrumenten zur Beflimmung ber 
unicheinbarften Wirkungen, welche die phnftichen Kräfte in dem Raume bervors 
bringen, der und von ihnen trennt. Die bochgelegenen Drte haben einen beſon⸗ 
dern Reiz für und. Wir begegnen unaufhörlich auf der Erde den Spuren bes 
Menſchen und den Werfen jeiner Hände und fuchen ermattet die Gegenden auf, 
bis zu welchen er noch nicht vorgedrungen ift, wo bie Ratur noch feujch bfieb 
und den Ausdrud der geologiichen Zeitalter bewahrt hat, welche dem unjrigen 
vorbergingen. Es Herrfcht auf den hohen Gipfeln ein Schweigen, eine fchein« 
bare Ruhe, eine Brifche und ein gewiffer Duft unvordenflicher Zeiten, die un® 
gleihfam dem Weſen des unendlichen Raumes näher bringen und uns über 
das Treiben und Elend des bewohnten Erdboden erheben. Die Bibel erzählt, 
wie Moies den Sinai hinauffteigt, um dort mit Bott zu fprechen und feinen Willen 
unmittelbar zu vernehmen ; es iſt dies ein Bild des Eindrucks, welchen hoch 
gelegene Orte auf und hervorbringen, und in der That befinden wir uns anf 
dem ®ipfel der Berge Angeſichts der Gottheit; der Menſch ift nicht mehr da, 
um De urfprüngliche Ordnung der Dinge nach feinen Bedürfniffen und Launen 
zu ftören, die phyſiſchen Gefege erfcheinen und in ihrer ganzen Größe und All« 
gemeinheit.  . 

Je mehr die Geiellfchaft gealtert, je meltlicher und kuͤnftlicher unſer taͤgliches 
Leben geworden iſt, einen deſto größeren Reiz empfinden wir, aus den Ebenen 
und Thaͤlern, in welchen die Städte erbaut find, worin unſere täglichen Beſchaͤf⸗ 
tigungen und zurüdhalten, wieder hinaufzufteigen auf den intel Year ann 


686 Phyſik. 


ken Bergſpitzen und jener ehrfurchtgebietenden ſteilen Berge, welche Alles von uns 
iſolirt. Daher die Hinneigung zu den Alpengegenden, welche in demſelben 
Maße waͤchſt, als die Communicationsmittel und leichter und ſchneller an ihren 
Fuß führen. Bergbefleigungen, die man vor hundert Jahren als die gefährlichften 
und unausführbarften angejehen hätte, find heute tie Erholung zahlreicher Tou⸗ 
riften geworden. Man trifft jegt eine Menge von Reiſenden, welche den Gipfel 
des Montblanc beftiegen haben und Brauen thun heute zum Vergnügen, was ber 
Naturforſcher Saufjure im legten Jahrhundert unter den größten Mühſeligkeiten 
aus Aufopferung für die Wiffenfchaft unternahm. Wan macht lanye Reifen 
Über die Gletſcher, während man fich früher darauf befchrämfte, ihren Fuß feımen 
zu lernen. Alle Orte, wohin der Jäger bei der Verfolgung der Gemſen dringt, 

will man befuchen. Wenn auch die Mehrzahl der Reiſenden durch eine eitle 
Prahlſucht mit ihrer Verwegenbeit in jene fo lange Zeit undurchforjchten Regionen 
getrieben wird, fo leitet doch Andere eine edlere Triebfeder, ber Wiſſensdurſt. 
Dank ihren Beobachtungen kennt man heute die höheren Schichten der Atmo⸗ 
fphäre weit beffer und kann ſich von den Erſcheinungen, welche dort vorgehen, 
eine genauere Vorſtellung machen. 

Auf dieſe Weiſe hat ſich eine atmoſphaͤriſche Phyſik zur Grꝛweiterung und 
Ergänzung derjenigen gebildet, welche man Die rein irdiſche nennen könnte. 
Inden man fich über Die Urfachen Tocaler Störungen und zufälliger Abweichun⸗ 
gen erhob, ift cd gelungen, einige von ben Geſetzen zu ergründen, welche ben 
Luftfreis, in feiner Allgemeinheit genommen, beberrichen, und die unabhängig 
von Dem Melief unferer Gontinente, von der Vertheilung der Cultur und der 
Bevölkerung find. Auf diefe Rejultate wollen wir die Aufmerkſamkeit des ges 
ehrten Xejerd lenken. Der Dunſtkreis gibt ein Bild der Erdfugel in ihren erfien 
Buftunde, ald fie nur aus einer Maffe von Gas und Dämpfen beftand, es ift 
aljo wichtig, feine Gruntzuftände zu ſtudiren, um daraus ten Urfprung uns 
ſeres Planeten berzuleiten. 

I. Die Luft, von welcher Die Erb£ugel auf allen Seiten umgeben ift, übt einen 
Drud auf die Erdoberfläche und Alle, was darauf wächft und lebt, aus; tie über 
einander liegenden Luftjchichten bilden gewiſſermaßen ein Ganzes von concentrie 
ſchen Ringen, deren Mittelpunft Die Erde ift. Ie mehr wir und von der Erde er 
beben, deito leichter und dünner wird die Luft, weil weniger obere Schichten über 
berfelben liegen und die Grenze, welche dem Auffteigen gejegt ift, befindet ſich ka, 
wo wir nicht mehr Luft genug zum Athmen haben. Wir fchägen den Drud ber 
Zuft nah dem Stande ber Quedfilberfäule im Barometer; mit jeder Stufe, die 
man höher kommt, hat man eine Auftfchicht weniger zu tragen, aber der Barometer 
fand ändert fich nicht allein in dem Maße, wie man höher fleigt, fondern er unter⸗ 
liegt auch in Folge zufälliger Modificationen in der Zufamntenjegung, der Elaſtici. 
tät, der Dichtigfeit der Luft an einem und Demjelben Orte zahlreichen Abänberungen. 
Diefe Veränderungen flehen mis den erwärmenben und mechaniſchen Vorgängen 
in der Atmofphäre im Zuſammenhang, es gibt allgemeine und bejondere Abwei⸗ 
Hungen. Bür jete Jahreszeit, für jeden Monat, jeden Tag exiſtiren Marima 
und Miniua, welche mit ziemlicher Regelmäßigkeit wiebderfehren und aus denen 


Die Alxenwelt 687. 


man die Mittel zieht, um ben atmofphärifchen Zuftand eines Tages, eines. Monats 
oder eined Jahres in Einem Ausdrucke zujammenzufaflen.: 

Wenn man das Barometer unter den Wendekreiſen beobachtet, fo bemerft 
san, daß daſſelbe in vierundzwanzig Stunden zweimal periodisch fleigt und fällt, 
Diefe Veränderungen betragen auf der Scala übrigens kaum 1 ober 1%s Linie, 
Je weiter man nach den Bolen verrückt, deſto ſchwaͤcher werden Diefelben, fie wer⸗ 
den durch zufällige Störungen nerderft und man Tann ihre Spur nur wieder« 
finden, wenn man die Mittel von vierzehn Tagen oder fogar von einem Monat 
nimmt. Jenſeits des 70. Grades der Breite werden fie endlich faft unmepbar 
und am Pole find fie gleich Null. 

Die Atmojphäre hat alfo wie das Meer periodifche Bewegungen, Hebungen 
und Senfungen oder, wie dee italienische Beobachter P. Lioy treffend bemerkt, 
eine wirfliche Ebbe und Fluth. Des Morgens und des Abends zeigt fich in Dem 
Baronıcterftand ein Maximum und ein Minimum, deren beftinnmtes Moment 
nach Ort und Jahreszeit variirt. inter dem Aequator und dem 60. Grad nörd⸗ 
licher Breite füllt Dad Barometer Nachmittags von 3 bis 5 Uhr und erreicht ein 
erfted Minimum; fodann fleigt es wieder und zeige zwilchen 9 und 11 Uhr 
Abends ein erſtes Marimum an. Hierauf nimmt ed wieder eine rücgängige 
Bewegung an und fein zweites Minimum fällt gegen 4 Uhr Morgens, worauf 
dann ein neucd Steigen besinnt, deſſen Maximum gegen 10 Uhr erreicht if. 
Die Hebungen und Senfungen biejer atmofphärifchen Fluth und Ebbe ſtimmen 
jedoch in der Periote eined Tages nicht genau mit einander überein: der Zus 
wachs ded Abends ift weit weniger markirt, als der des Morgens, der ungefähr 
das DVierfache von jenen beträgt, während die Abnahme am Abend doppelt jo 
groß ift ald die am Morgen. Es folgt Hieraus, dag bie größte Differenz zwi⸗ 
jchen zwei Barometerfländen eined Tages Diejenige ift, welche man erhält, wenn 
man das Minimum ded Abends von dem Maximum des Morgend abzicht; dies 
nennt man Die große Periode und es ift wichtig, diefelbe zu notiren, um für 
jeden Tag bie flärkite Abweichung der Barometerfchwanfungen Eennen zu lernen. 

Wir haben oben gefchen, daß die Ziffer der großen Beriode in demſel⸗ 
ben Maße abnimmt, als man die Breitengrade hinaufgeht. Wenn man einen 
Berg bis zum höchſten Gipfel befteigt, bemerkt man eine gleiche Abnahme in den 
Schwanfungen des Barometers, wie dies Beobachtungen, welche in verichietenen 
Städten der Schweiz von ungleicher Höhenlage, am Rigi, auf dem Faulhorn 
gemacht wurden, ergeben haben. Dieje Thatiache läßt ich übrigens fehr leicht 
erklären. Je höher man fleigt, deſto mehr fchwächt füch der &egenfag der Tem⸗ 
peratur von Tag und Nacht ab, je geringer der Drud der Luftfäule wird, deſto 
fleiner wird in Folge befien der Unterfchied zwifchen zwei Meflungen deſſelben 
fein. So zeigen die Berge, je nachdem man fi) auf immer höher gelegene 
Bunfte begibt, eine jedesmal deutlicher ausgedrückte Achnlichkeit mit den Gegen⸗ 
den um die Pole. Die Luft, weiche die Gipfel hoher Berge umgibt, ift ähnlichen 
Bedingungen unterworfen, wie bie Luft in den vom Aequator weit entfernten 
Breitengraden. Wenn wir nach dem Pole zu gehen ſowohl, ald wenn wir ſenk⸗ 
recht in die Höhe ſteigen, nähern wir und nach und nad einem Wunkte, wa ie 


688 Die Alpenwelt. 


zahlreichen Urſachen der Veränderungen, welche fich an ber Oberfläche des Erh- 
boden? zeigen, zu verfchwinden ſuchen. 

Diefe Aehnlichkeit befchränkt fich nicht allein auf den barometrifchen guſtand; 
fie zeigt fich auch bei der Temperatur. In der That verwiſchen ſich in den Höheren 
Negionen nach und nach bie Ungleichheiten, welche für die niedrigeren in ber Ber 
tbeilung der Wärme feftgeftellt find. Man ftellt dieſe Vertheilung auf ber Erd» 
kugel durch Linien’ dar, welche alle Bunfte von dergleichen mittleren IJahres« 
temperatur verbinden ; diefe Linien heißen Ifothermen. Wenn die Wärme ein 
zig nach Maßgabe der Lage der verichiedenen Erbgegenden in Begug auf Die Sonne 
vertheilt wäre, jo würden die Iſothermen mit den Breitenkreifen oder Parallellinien 
zufammenfallen; dem tft aber nicht fo, die Verteilung der Iſothermen zeigt viel⸗ 
mehr vielfache Linregelmäßigkeiten, Ginbiegungen und Drehungen, die von einer 
Menge localer Urſachen abhängig find; entfernt man ſich aber vom Meeresfpiegel 
und betrachtet man nur die höheren Regionen, fo fleßt man, wie Diefe großen 
Unregelmäßigfeiten abgefchwächt werden, oft felbft verfehmwinden, und wie Die 
Ifothermen immer mehr mit den Barallellinien zufammenzufallen fuchen. Es 
zeigt fich dann nicht allein dieſe erfte Gleichförmigfeit, foridern auch die Verthei⸗ 
lung der Wärme während der Jahresperiode wird gleichmäßiger. Für unmittels 
bar auf einander folgende Monate, in welchen man, wenn man das Thermometer 
in niedrig gelegenen Gegenden beobachtet, deutlich ausgeſprochene Unterſchiede 
der mittleren Temperatur bemerkt, fchwächen fich dieſe Unterfchiede anſehnlich 
ab, fobald die Beobachtung auf hohen Bipfeln angeftellt wird. Dean bemerft 
dies z. B. wenn man Januar und Februar oder Juli und Auguft mit einander 
vergleicht. 

Wenn die Unterichiede von einem Monat zum anderen weniger ftarf audges 
prägt find, fo ninmt Dagegen die Temperatur je höher man fteigt in einem 
fhnelleren Grade ab. Diefe Abnahme erfolgt nicht nach einer regelmäßigen Pros 
greifton, wie man anfänglich vermutbet hatte; fle varlirt außerdem nach dem 
Breitenyrade, der Jahreszeit und der Tagesftunde; fle ift im Sommer ftärfer 
als im Winter und Rachmittags merflicher ald am Morgen. Faßt man alle 
Grade der Höhenfcala zufammen, fo findet man, daß das Sinken des Thermo⸗ 
meterd um einen Grad im Mittel einer Erhebung von 521 Fuß rhein. entipridt; 
zieht man aber nur bie Höhen von 6300 oder 7200 Fuß an in Betracht, fo ke 
zeichnet daffelbe Herabfinken des Thermometers nur eine Erhebung von 490 Yuß 
rbein., d. h. jenfeitö der Grenze der Vegetation nimmt die Temperatur im All 
gemeinen in viel fchnellerem Maße ab. Man gelangt fo zu außerordentlich kal⸗ 
ten Regionen, wo bie Veränderungen fi) nur noch in fehr nahe liegenden Extres 
men bewegen. Auf den höchften Gipfeln der Alpen bat man als Jahresmittel 
13 bi8 15 rad unter Rull gefunden. Diefe böchften Regionen der Schweiz 
entfprechen alfo dem 70, Breitengrade, nur daß fle, vor den Einflüffen des Erb» 
boden? gejchügt, noch weit weniger Unregelmäßigfeiten zeigen, al8 bie Polar 
gegenden. Die Minimaltemperatur ihres Winters ift anſehnlich beträchtlicher 
als diejenige vieler Punkte der Falten Zone und die Marimaltemperatur ihre® 
Sommers ift niedriger als in dem größten Theile der unter hohen Breitegraden 


Die Alpenwelt. 689 


gelegenen Gegenden. Gben fo fehr nähern fich die Extreme eines jeden Tages; 
das abjolute Wärmemarimum der höchften Berge der Alpen überfchreitet kaum 
5 oder 6 Grad der hunderttheiligen Scala. Dies find die Refultate, welche die 
Gebrüder Hermann und Adolph Schlagintweit gewonnen haben, jene Fühnen 
Erforjcher der hoben Negionen unferer Erdkugel, welche. ihre im Jahre 1847 
in der Schweiz begonnenen Unterfuchungen auf den Gipfeln des Himalaya weis 
ter verfolgten, und bon welchen der eine fürzlich ala Opfer feines Forſchertriebes 
gefallen ift. Barometer» und Thermometer» Veränderungen erinnern aljo auf 
den fteilen Höhen der Alpen an die Vorgänge in den Fälteften Iheilen der Eis⸗ 
zone, ohne daß es jedoch nöthig wäre, desbalb auf eine abfolute Gleichheit der 
atmofphärifchen Phyſik biefer hohen Gebirge mit der der PBolargegenden zu 
fchließen. 

Wie c8 Jfothermen gibt, fo gibt es auch ifobarometrifche Linien; dieſe ver« 
einigen alle Punkte unferer Erdfugel, an welchen die aus den Ertremen jedes 
Monats gezogene mittlere Abweichung der barometrifchen Schwankungen gleich 
iſt. Wenn man eine Folge diefer Linien durch Unterfchiede von 2 oder 21/s 
Linien graduirt in ber Elevation des Mercur auf die Erdfugel zeichnet, fo bes 
merft man, daß biefelben beinahe wie bie geographiichen Breiten vertheilt find. 
Die Uinterfchiede zwifchen dem mittleren Marimum und Minimum des Monats 
wachen in dem Maße, ald man ſich vom Uequator entfernt. Diefe Bertheilung. 
der ijobarometrijchen Linien ift Die Folge der Temperaturvertheilung, denn die 
Veränderungen des Luftdrudes find aufs engfte mit den Wirfungen der Wärme 
verfnüpft. Ir höhere Breitengrade man erreicht, defto deutlicher wahrnchmbar 
und häufiger find die Temperaturveränderungen, deſto mehr muß folglich auch 
tie Größe ber barometrifhen Schwanfungen zunehnien. 

Man hat gefunden, daß ſich auf den Gipfeln der Berge die Extreme der 
Tenperatur näher rüden; in dem Maße ald man höher fleigt, fchreitet man alſo 
die Etufenleiter der ifobarometrifchen Linien abwärts und die Eintheilung in 
verticaler Richtung Teitet daher, anftatt den Stufengang nah dem Pole zu dars 
zuftellen, nach dem Aequator. So Fönnen der Luftdrud jowohl wie bie Tem⸗ 
peratur, da fie fich außerhalb der zufälligen Yirfachen von Störungen befinden, 
in den hohen Regionen des Dunftfreijes Eeine jehr merflichen Veränderungen 
mehr ergaben, Bis zu der Höhe von ungefähr 11,900 Buß find jedoch die Abs 
weichungen des Barometerd nach den Beobachtungen der Gebrüder Schlagintweit . 
noch ſehr deutlich audgefprochen. 

Bei dem Studium der regelmägigen Bewegungen der Atmoſphäre und der 
Veränderungen des Luftdruckes muß man einer Menge localer Anomalien Rede 
nung tragen, welche und die Wirkjamkeit der Naturgefege verhüllen. Zur Er⸗ 
läuterung deffen geben wir nachftehend ein Beiſpiel. Die eben genannten beiden 
Forjcher bemerkten zuweilen, daß das Barometer auf gewiſſen Bergipigen ober 
auf dem ſchroffen Abhange eines Plateaus zu der nämlichen Stunte cin Maris 
mum anzeigte, wo ein andered Barometer in dem darunter liegenden Thale ein 
Minimum angab. Dieſe Erfcheinung ereignete fih in den Alpen ziemlich häufig 


zwifchen 2 und 4 Uhr Nachmittags zu ber periodijchen Epoche, wo das Barometer 
V. AA 


630 Phyſik. 

um dieſe Tageszeit feinen niedrigſten Stand erreicht. Die Gebrüder Schlagint⸗ 
weit fanden den Grund dieſer Anomalien ſehr bald auf. In dem Thale iſt der 
Boden zwiſchen 2 und 4 Uhr von den Sonnenſtrahlen, welche vom Morgen an 
darauf fallen, erwärmt, die Temperatur ſteigt, die Luft wird weniger Dicht, fie if 
trodlener, dad Barometer fällt; auf einem Berghange aber, den ein Gletſcher, 
eine fortwährende Duelle der Kälte, begrenzt,. auf einer ifolirten Vergſpitze 
welche durch die Ausftrahlung jeden Augenblid die Wärme wieder verliert, bie 
ihr die Sonne zuführt, kann ſich die Luft nicht erwärmen und bie Temperatur 
fällt; die Auft verdichtet fi) und übt auf das Barometer einen größeren Drud 
aus, welchen diefed anzeigt. Es gibt alfo bei der atmofphärifchen Ebbe und 
Fluth eben fo gut locale Zufälligfeiten wie bei der des Meered, Allein die Ur- 
fachen, welche mit den allgemeinen Sefegen der Atmofphäre zufammenhängen, 
finden ſich überall in gleicher Weife wieder und bie Höhenlage übt in dieſer Hin⸗ 
ficht feinen befonderen Einfluß aus. Die höheren Lufiſchichten können jich eben 
fo wenig der Einwirkung des jährlichen Laufs ber Sonne entziehen, wie die nies 
drigeren. Die von den Gebrüdern Schlagintwelt entworfenen Tafeln zeigen, 
dag, wenn man den mittleren Stand des Barometers an zwei auf einander fols 
genden Tagen zur nämlicyen Stunde in verfchiedenen Monaten beobachtet, man 
Ziffern erhält, auf welche die Höhe des Beobachtungsortes ohne Einfluß if. 
Die nämliche Thatfache Hat Humboldt ſchon in Amerika conflatirt. 

Was die barometrifchen Veränderungen nach den Jahreszeiten betrifft, je 
erfeheint der Gang derfelben nahezu ald derfelbe, voraudgefeßt, dag man von den 
erhaltenen Ziffern die Zahlen abgerechnet hat, welche den Druck der Dünfte in der 
Luft angeben. Diefer Drud tritt demjenigen der eigentlichen Atmofpbäre Hinzu 
und beeinträchtigt Die periodifchen Bewegungen. Um diefür jeven Monat erhaltenen 
Refultate mit einander vergleichen zu Fönnen, muß man die Barometerftände auf 
ben correjpondirenten Stand der trodenen Luft zurüdführen; dann ergibt fid 
der ansfchliegliche Einfluß, welchen der Lauf der Sonne auf die und umgebente 
Gasmaſſe Äußert. 

Sobald im Brühjahr die Tage länger werden, tritt bie niedrigſte Tempera 
tur ded Morgens früher ein und das barometrifche Minimum nähert fich der 
Mitternachtöftunde. Im Sommer, wo die Temperaturunterfchiede weſent⸗ 
licher find, wird auch die tägliche Abweichung flärfer. Wan bat fchon lange 
erfannt, daß der Luftdrud in dem Maße abninmt, als Die Sonne ſich dem Zenith 
nähert. Xeopold von Buch har dies zuerft nachgewiefen und einer der gefeiertften 
Phyſiker von Berlin, Dose, hat an dieſe Ihatfache intereffante Unterfuchungen 
gefnüpft. Im unferen Klimaten finft der Varometerſtand vom Monat Januar 
ab und fteigt gewöhnlich vom November an. Die Quedjilberjäule bleibt wähs 
rend des Winters und Sommers auf einer größeren mittleren Höhe, ald im 
Herbſt und Frühling. Man beobachtet im Jahre zwei Minima, das eine im 
Aprif und das andere im November. Die Gebrüder Schlagintweit haben ſich 
auf den Alpen überzeugt, daß diefer jährliche Gang auf den Berggipfeln eben fo 
fattfindet wie in den Ebenen, es ift hierbei jedoch, wie bereitß erwähnt, zu be 
merken, daß der Stand der Queckfilberſaͤule nicht allein von dem Drucke der 


Die Alpenwelt. 691 


Lnſtſchichten an und für fich abhängig ift, daß er vielmehr andy von ber Menge 
der in ter Luft enthaltenen Waſſerdaͤmpfe beeinflußt wird. Es gibt an ter Erb. 
oberfläche gewiſſermaßen gar keine trodene Luft, eine gewiffe Menge von Daͤm⸗ 
pfen ift immer in ihr enthalten. Sobald die Luft durch die Einwirkung des 
Windes oder der Temperatur auögetrodnet ift oder eine beftimmte Menge von 
Dämpfen verloren bat, Bilden fich neue Mengen theils auf Unkoſten ber organiichen 
Weſen, deren Functionen auf Tiefe Weife geftört werden, theils auf Unkoſten des 
Erdbodens, welcher alle feine Feuchtigkeit verliert und Dadurch jelbft für die Vege⸗ 
tation weniger geeignet wird. Die Zufammenfeßung der Luft aus Sauerftoff 
und Stidftoff zeigt fich merfbar gleich, bi6 zu welcher Höhe man auch in der 
Atmoſphaͤre auffteigen mag, dich hat Gay-Ruffac bei feinem Auffteigen im Jahre 
1805 bemerkt; aber die Menge der Kohlenfäure varlirt ziemlich anfehnlih. Bis 
zu 10,300 Fuß haben die Gebrüder Echlagintweit eine allmälige Abnahme dieſes 
Gaſes beobachtet und fie find zu der Annahme geneigt, dag man jo nach und nach 
zu einer feftftehenten Biffer gelangt, fobald der Mangel aller Vegetation und 
aller befonderen Urfachen, die der Beſchaffenheit der Berge zugejchrieben werden 
möffen, nicht mehr diefe Abweichungen bervorbringt, welche die allgemeinen Ge⸗ 
fee dem Auge verhüllen. Anders verhält es fich mit den Dämpfen ; die Menge, 
welche von diejen in der Luft enthalten iſt, wechfelt auf ten Höhen in beträcht« 
Ticher Weiſe ab und beeinträchtigt natürlich die Angaben des Barometerd. 

Denn man bei der Berechnung des Luftdruckes die Anwefenheit von Daͤm⸗ 
pfen in der Luft berücfichtigt, gemahrt man, Daß der Waflerdampf bei den Ueber» 
gang von der Falten Jahreszeit zur warmen merfbar abnimmt. Dies ift der all» 
gemeine Hall bei geringen Höhen ; auf den Alpen haben die Gebrüder Schlagint- 
weit zuweilen das umgefchrte Mefultat gefunden und eine Vermehrung bed 
Drudes während de8 Sommers beobachtet. Die Uirfache Hiervon Tiegt in ſpeci⸗ 
alen Einflüffen, welche aus der Geftaltung des Erdbodens hervorgehen, in ber 
größeren Erwärmung, weldye die Lufifchichten in den niedriger gelegenen Orten 
erleiten. Außerdem nimmt der Unterjchied in dem barometrifchen Drude der 
falten und warmen Jahreszeit in dem nämlichen Maße ab, als man ſich vom 
Aequator entfernt und in den hohen Breitengraden tifferirt das Minimum des 
Sommers von dem Maximum des Winterd nur um wenige Linien. 

Die Thatfache, daß der Barometerftand im Sommer niedriger ift als im Win⸗ 
ter, liefert nach den Reobachtungen des Meteorologen Kämtz den Beweis für die Bes 
wegungen des Luftoceans Über Die ganze Oberflädye der Erdkugel. Zur Zeit der 
Tag- und Nadıtgleichen, wo bie Temperatur dem thermometrijchen Jahresmittel 
gleich ift, bemerft man überall den mittleren Drud der trodenen Luft. Wendet 
fid) tie Eonne der nördlichen Halbkugel zu, fo wird diefe erwärmt, während die 
entgegengefepte erfaltet. Es folgt hieraus ein Abflug der Luft von der nörd⸗ 
lichen Salbfugel nach der füblichen und ein Umſpringen der Paflatwinde gegen 
Norden. Kolgerecht ſteht auch das Barometer auf der Halbfugel, wo der Som- 
mer herricht, niedriger als auf Lerjenigen, welche Winter hat. In den Ländern, 
weiche ter Grenze näher liegen, wo diefer Wechſel ftattfindet, find die Unter- 
ſchiede markirter, der Witerftand, weldyen die Ruft an ter Erüaterlücrhr rettet, 

AL* 


692 | Phyſik. 


macht ſie aber in den von jener Grenze weiter entfernten Landſtrichen geringfü⸗ 
giger und deshalb ift der Unterſchied des. Druckes der trodenen Luft im Sommer 
und im Winter in hohen Breitengraben Eleiner al6 unter dem Aequator. Diefe 
Beobachtungen lehren und, daß dad Studium des Luftdrudes nicht von dem ber 
Vertheilung der Waflerdämpfe getrennt werden kann; die Phyſtker nennen bies 
den bygrometrifchen Zuftand ber Luft. 

Um und deutlicher zu machen, müfjen wir bier an einige Orunbfäge der 
Elementarphyſik erinnern. Die Luft kann nicht eine unbeftimmte Menge von 
Dämpfen aufnehmen, der Gewichtstheil, welchen fie davon abforbiren Fann, 
hängt vielmehr von der Temperatur und von dem Drude ab, den fie erleidet. 
Je wärmer die Luft wird, defto fähiger ift fie, Dampf zu enthalten, denn der 
MWärmeftoff treibt ihre Moleculen immer mehr aus einander und geftattet gewiſſer⸗ 
maßen den Dänpfen, fich dazwiichen einzudrängen. Eben jo wird Die Danıpfe 
menge, welche die Luft aufnehmen kann, größer fein, wenn der. Drud, den bie 
Iegtere zu erleiden hat, abnimmt. Es gibt aljo für jeden Drud und für jeden 
Grad des Thermometerd ein gewiſſes Gewicht von Wafferdampf, welches das 
Marimum bildet, das von einer gegebenen Luftmenge aufgenommen werden fann 
und deren Sättigung bewirkt. Wenn man bie gefättigte Luft mit 100 bejzelch⸗ 
net, fo entfprechen niedrigere Ziffern den verjchiebenen hygrometriſchen Zuftänden 
und zeigen an, um wie viel die Luft von dem Sättigungdpunfte entfernt if. 
Beobachtungen haben nun ergeben, daß die Angaben des Hygrometers mit der 
Höhe des Ortes fleigen. Die Luft ift im Allgemeinen dem Zuftande der Sättis 
gung in größeren Höhen näher, als in den Ebenen, oder, um den gewöhnlichen 
Ausdrud zu gebrauchen, fie ift feuchter; man berücfichtigt jedoch Hierbei bie 
Temperatur nicht, je mehr diefe finft, deſto weniger Dämpfe bedarf Die Luft zur 
Sättigung. Wenn man nur die wirkliche Menge des in der Atmofphäre ents 
baltenen Dampfes mipt, fo findet man, daß das Gewicht diejed in einem gegebes 
nen Raume eingejchlofjenen Dampfes immer Eleiner wird, je höher man fleigt, 
fo dag die Luft, obgleich fle fih dem Sättigungspunfte nähert, in Wirklichkeit 
doch trockener ift. 

Dieſer für Die Dämpfe feftgeftellte Wideripruch zwifchen dem jcheinbaren 
und dem wirklichen Zuftande findet fich in denfelben Regionen auch für die 
Wärme wieder, nur in umgefehrter Weile. Dan bemißt die Wärmegrabe nad 
dem thermometrifchen Mittel, aber man fehägt auf dieſe Weife nur die relative 
MWärmemenge. Die Körper erfordern unter demfelben Drucke nicht ſämmtlich 
eine gleiche Menge Wärme, um Die nämliche Temperatur anzuzeigen; fie haben, 
wie die PHyfifer ſich ausdrüden, verjchiedene Wärmecapacitäten und dieſe hän- 
gen mit der Molecularbejchaffenheit der Körper zufannen. Die Wärmeabjorp 
tion wird um fo geringer, je inniger die Verbindung der Moleculen ift. Begreife 
licherweife nimmt die Wärmecapacität mit der Tenperatur und mit der Abnahme 
bed Drudes zu. Wenn die Luft der hoben Regionen fich in demſelben Wärmes 
zuflande befände, wie die der niedrig gelegenen Orte, fo müßte ein gewiſſer, auf 
große Höhen gebrachter Gewichtstheil diefer letzteren Luft fich dort ausdehnen 
und ben nämlichen Thermometerftand ergeben, wie ver gleiche Gewichtstheil der⸗ 


Die Alpenwelt, 693 


jenigen Luft, welche dafelbft für gewöhnlich verbreitet iſt; oder mit anderen 
Worten: die Luft an niedrig gelegenen Orten müßte, wenn fle dem gleichen 
Drude unterworfen wird, welcher in den höheren Regionen herrfcht, das Ther⸗ 
mometer auf Diefelbe Höhe fteigen laſſen, auf welcher es in dieſen Regionen fteht. 
Dies iſt aber nicht der Fall, denn erniedrigt man bei der Luft in den Ebenen 
den barometrifchen Drud bis zu dem Grade, wie er in den hohen Regionen flatt« 
findet, fo zeigt fle eine niedrigere Temperatur als bie Luft diejer letzteren; ob⸗ 
glei alfo die Luft der Hohen Regionen eine niedrigere Temperatur befigt, als 
Die Luft am Erdboden, fo enthält fie Doch bei gleichem Gewicht eine größere 
MWärmemenge ald die letztere. Während fo der relative Wärmegehalt der Luft 
abnimmt, fteigt dagegen der abjolute, es tritt alfo bier Der umgekehrte Fall wie 
bei der Feuchtigkeit ein, | 

Da bie Luft in den hohen Regionen dem Zuftande der Sättigung naͤher if, 
al8 in den Ebenen, fo müffen dort die Regen häufiger fein, Iſt die Luft einmal 
gejättigt, fo bewirkt die geringfte Zunahme des Drudes, die mindefte Erniedri« 
gung der Temperatur einen Ueberfchuß von Dünften, der in Geftalt von Regen 
berabfällt; diefes Phänomen entfteht ferner, wenn die Winde der ſchon gefättig« 
ten Atmofphäre eine neue Menge Dampf zugeführt haben. Die Alpen find dies 
jenige Gegend Deutjchlands, welche die größte Negenmenge hat; es gibt Feinen 
Theil diefer Gebirgözüge, wo das jährliche Mittel des gefallenen Regens nicht 
auf eine beträchtliche Ziffer fteigt. Die Beobachtung zeigt, Daß diefe Regen vor⸗ 
nehmlich der Vermifchung warmer und Falter Laftmaſſen in großen Berhältniffen 
ihre Entftehung verdanken. Wenn die Alpen wie ein großer Kühlbottig wirkten, 
worin fich die Dämpfe der Winde, welche um ihre Gipfel wehen, verdichten, jo 
müßte die Temperatur der Berge niedriger fein, als die der freien Quft über der 
Ebene in derfelben Höhe; dies ijt nicht der Kal. Schon die einzeln ftehenten 
Bergipigen ergeben auf ihrem Gipfel niedrigere Thermometerftände, als fle auf 
Platcaus oder Compleren von größerer Höhe ftattfinden. Da nun in den Alpen 
mehr Negen fällt, als in den Ebenen, fo kann man dieſes Phänomen nicht der 
verdichtenden Kraft der Berge zufchreiben, die Urfache davon ift alfo rein mes 
chaniſch. 

Wenn eine in Bewegung befindliche Luftmaſſe auf ruhige Luft ſtößt, fo 
vermengt fie fich theilweije mit diefer und zieht fle in ihre Bewegung mit bineln. 
Rehmen wir an, daß ein großer Luftfirom aus Südwelt weht, er Tangt mit Duͤn⸗ 
ften gefchwängert an; trifft er nun auf einen @ipfel, der von ruhiger Atmo⸗ 
fphäre umgeben iit, fo ergießt fich Die Xuft, welche er mit fich führt, in die ruhende. 
Gleichwohl theilt fich, wenn der Lauf des Stromes durch nichts behindert wird, 
feine Temperatur nur langſam der Atmofphäre mif, welche er aus ihrer Unbe⸗ 
weglichkeit reißt, und nur nach längerer Beit kann die herbeigeführte Menge von 
Dämpfen den Sättigungspunft überfchreiten und den Wegen berbei führen. 
Stellt dagegen die Lage der Berge den Winden ein Hindergiß entgegen, fo er⸗ 
folgt tie Vermifchung beider Luftmaſſen fchneller und die neue Menge von 
Dämpfen genügt fehon nach wenigen Augenbliden zur Kervorbringung des 
Regens. Stößt die Luft, welche im Thale frei cireulirt, auf Anm Berapa, SS 


694 Phyſik. 


wird die mindeſte Veraͤnderung der Luftmaſſe Regengüſſe hervorbringen, und bie 
von den Zufaͤlligkeiten des Terrains abhaͤngigen Temperaturungleichheiten wer⸗ 
den immer Zuſammenſtöße son Luftmaſſen herbeifuͤhren, welche ungleich mit 
Daͤmpfen gefchwängert find. 


Die Kämpfe der verſchiedenen Theile der Atmofphäre unter fich find alfo 
die Revolutionen, welche diefe hohen Regionen aufregen, wo von ferne Alles den 
Anjchein der Linbemeglichfeit und der Ruhe bat. Nach einer Flaren und Beitern 
Racır erfalten die Bergaipfel durch die Ausftrahlung ; um fle herum werden bie 
Dämpfe verdichtet, fodann bildet fich in dem Maße, als die Sonne am Horizonte 
fich erhebt, ein Strom auffteigender Luft, e8 entftehen horizontal wehende Winde 
und die kleinen Wölkchen werden nach und nach von den Bergfpigen, um welde 
fle gelagert waren, vertrieben und löfen ſich in der AUtmofphäre auf, während 
neue Dünfte ihre Stelle einnehmen. Bon dem Grunde des Thales aus Fann 
das Auge diefes fortwährende Davonziehen, welches Häufig von einem ziemlich 
heftigen Winde begleitet ift, nicht gewahren. Es fheint, als ob Die Wolken un 
beweglich blieben, obgleich ihre Bahn die Richtung des Windes anzeigt; erfleigt 
man aber das Gebirge, fo erfennt man fofort, daß auch diefe Wolfenbefrönune 
gen wie manche andere Kronen unaufhörlichen Erfchütterungen ausgefegt find. 

So ift der Waflerdampf, welcher der Luft die Eigenfchaften verleiht, deren 
fle für unfere Athmungswerkzeuge und für die Unterhaltung ded Lebens bedarf, 
zugleich auch Die Sauptquelle ihrer Bewegungen. Die Luftfchichten werden durd 
entgegengefegte Strömungen, weldye von der ungleichen Vertheilung der Wärme 
bedingt find und die fich gegenfeitig befämpfen, fo lange nicht ein heftiger Stoß 
auf die Luftmaffe der einen Richtung die ausfchliegliche Oberhand fichert, auf 
verichiedene Höhen emporgehoben. Während z. B. in den oberen Regionen ein 
Südwind die Wolfen mit großer Schnelligfeit gegen Norden treibt, ziehen andere 
tiefer gelegene Wolfen langſam ſüdwärts. Immer trägt fchlieglich der Wind der 
oberen Region den Sieg Davon, er gelangt aber in den Thalgründen nur nad 
theilweifen Kämpfen zur Herrfchaft, in welchen er nicht immer von vornherein 
im Bortheil ift, wie fpäter Durch Stoßwinde, Stürme und Wirbelwinde, welde 
zuweilen Berwüftung und Zerftörung herbeiführen. 


Die Lage der Bergzüge mobdifleirt übrigens die Richtung der Luftſtrömun⸗ 
gen außerordentlih. Das Hinderniß, welches biefe natürlichen Mauern dar⸗ 
bieten, führt Häufig eine Abweichung des Windes herbei; er prallt in der ent« 
gegengefegten Richtung mit verboppelter Heftigfeit zurüd. Die Bewegung ber 
Luft in gebirgigen Gegenden ift ein einigermaßen normales Phänomen: am 
Abend und während der Nacht bildet fich eine von den Gipfeln nach dem Thale 
zu abwärtd wehende Luftſtrömung, weil die niedrig gelegenen Theile fchneller ers 
falten als die Höheren; am Tage Ändert Die Strömung ihre Richtung und wird 
auffteigend. Es ift Died etwas Achnliches wie die an den Küſten berrfchente 
Brife; den Tag über Fommt dieje vom Meere her, des Abends weht ſie vom Ufer 
aus. Eben jo wie die Abendbrife ift auch die von den Gebirgen abwärts wehende 
Luftftrömung von längerer Dauer als die entgegengefegte Strömung. Die Atmo⸗ 


Die Alpenwelt. 695 


fpbäre bat alfo nicht allein Ebbe und Fluth, fondern fle zeigt auch eine taͤgliche 
Abwechſelung der Winde. 

Jeden Abend bewirkt die Erniedrigung der Temperatur, indem fie eine 
größere Verdichtung der Dämpfe berbeiführt, ein Herabfinfen der Wolfen, wobei 
diefe eine Reihenfolge von Formen und Erfcheinungen durchlaufen, welche ben 
Anbli der Landjchaft in jedem Augenblicke verändern. Die Wolken find Pro« 
teußgeftalten und es iſt fchwierig, alle ihre Metamorphofen zu befchreiben; bie 
Meteorologen haben jedoch eine Glafftfication angenommen, welche die Haupt⸗ 
erſcheinungen umfaßt. Sie unterſcheiden den Cirrus, der aus zarten Faͤden 
beſteht, welche wie die Borſten eines Rinſels oder wie die Kopfhaare mit einan⸗ 
der vereinigt ſind; den Cumulus, halbkugelförmige Haufen, welche am Hori⸗ 
zonte den Anblick von Schneegebirgen gewähren, den Stratus, horizontale 
Streifen, welche ſich häufig bei Sonnenuntergang am Himmel zeigen; den Cirro⸗ 
Gumulus, Eleine abgerundete Wölkchen, welche wie die Laͤmmer einer Heerde 
am Himmel vertbeilt find und ihm das Anfehen geben, als ob er mit Schäfchen 
bedeckt jei. Jede diefer verfchiedenen Wolfenfamilien hat ihre mittlere Region, 
wo man fie gewöhnlich jchweben fieht. Die fchweren Dunftmaffen erheben fich 
faum über 7800 Fuß, der Cirrus aber erreicht viel bebeutendere Höhen und 
man hat ihn und den Cirro⸗Cumulus ſchon in Höhen von 37,700 Zuß bes 
obachtet. 

Die Dunftmaffen verändern nicht allein den Zufland der Atmofphäre, fie 
jpielen auch eine große Rolle bei den optifchen Raturerfcheinungen, welche bie 
höheren Megionen darbieten. Die Abforption der Lichtftrahlen, welche die Luft⸗ 
ſchichten durchdringen, hängt von demgrößeren oder geringeren Grade der Dichtbeit 
diejer legteren ab. Unbedeutende Veränderungen in dieſer Hinſicht entjcheiden die 
verfchiedenen Zerjegungen des Sonnenfpectrumd; eben jo wie die Färbung variirt, 
ftellen ſich uns die Öegenftände mehr oder weniger hell beleuchtet dar. Sehen 
wir einen Oegenftand, deſſen Dimenfton uns befannt ift, ein Haus, einen Mens 
Ichen, ein Ihier, wenn die Atmojphäre der Gebirge eine große Durchfichtigkeit 
hat, jo erfcheint ex ung viel näher, als dies in der Wirklichkeit der Fall if, weil 
unfer Auge die verichiedenen Theile defielben Elar erfaßt. Gaben wir feine Kennts 
nig von jeiner genauen Größe, jo ift die Taäuſchung eine andere: der Umfland, 
tag wir Die geringften Einzelnheiten des Gegenflandes wahrnehmen Eönnen, 
täufcht und über feine Maffe und läßt ihn kleiner erfcheinen als er wirklich ift; 
ter Irrthum bezieht ſich aljo Hier auf die Größe und nicht auf die Entfernung. 
Verdichtet ſich Die Atmoſphaͤre plöglich, fteigen Nebel auf, fo werden die Formen 
der Gebirge oder der Gegenftände fchwerfälliger und maſſiver erfcheinen, alddann 
gewinnt der Zwerg plöglich die Verhältnijje eines Nisfen. Es gibt jedoch Mos 
mente, wo auch die Durchfichtigkeit der Atmoſphaͤre die Größe der Gegenflände 
übertreibt. Betrachtet man die Kette der Alpen von den Ebenen aus, welche 
ſich an ihrem Buße hinziehen, fei e8 im Süden oder im Norden, wenn dad Wets 
ter feucht und ein Regen im Anzug -ift, fo erfcheinen die Berge bei klarer Luft 
doch dunkler und höher. Died kommt daher, daß dann die einzelnen Züge ber 
Landſchaft fich nicht zu einem gleihförnigen Ganzen vereinigen In der phud« 


696 Phyfit. 


ſchen Ordnung ſowohl wie in der moraliſchen machen tie Gegenfäge die Unter⸗ 
ſchiede fühlbarer. 

Die Durchſichtigkeit der Atmoſphäre übt auch einen weſentlichen Einfluß 
auf das Sehvrermögen aus. Gewohnlich verhindert der in der Luft verbreitete 
Dunſt unſer Auge, tief in den Horizont einzudringen, wir ſehen natürlich beſſer 
von ber Tiefe in die Höhe als umgekehrt. Ueberdies nehmen tie Gegenſtände 
welche fich im Verhälmiß zu und in einer gewiflen Tiefe befinden, einen dunk⸗ 
leren und gleichförmigeren Ton an und der Gontraft der Karben vermehrt ihre 
Sichtbarkeit nicht. Gin Beobachter, welcher von einer hohen Bergſpitze aus 
nach einem anderen, um einige Meilen entfernten Berzgipfel blickt, befindet ſich 
in weit günftigeren Verhältnifien. Das Licht braucht Hier nur dünne Luftſchich⸗ 
ten zu durchdringen und ınan kann alle Theile eines Gegenſtandes, alle Einzeln- 
heiten des Terrains unterfcheiden. Daher rührt auch die Wirkſamkeit jener 
auf Bergen angezündeten Eignalfeuer, die von Gipfel zu Gipfel weiter gegeben 
werden. Auf diefe Weife theilten fich die alten Gallier nach Cäſars Aufzeich⸗ 
nungen Rachrichten mit beinahe telegrapbifcher Schnelligfeit mit. 

Wenn die Durchfichtigfeit der Luft die Gegenftände mehr fichtbar und ihre 
Umriffe deutlicher macht, fo erzeugt Dagegen die Anweſenheit von Dünften Licht» 
effecte, deren Schönheit durch ihre Verfchiebenartigfeit in großen Höhen außer 
ordentlicdy vermehrt wird. Der Beobachter richte feine Blide auf einen jener 
fernen Gipfel, deffen Umriſſe er bei der Durchfichtigkeit ter Luft Deutlich unters 
ſcheiden kann; verbreiten fih nun in dem weiten Zwifchenraume Dünfte, fo 
wird die Bergfpige bald eine röthliche in Purpur hinüberfpielente Yärbung ans 
nehmen, wie dies die Gebrüder Echlagintweit im Jahre 1847 namentlich auf 
der Wildipige beobachteten. Unter anteren Verhältniſſen bewirken die Wolfen 
vielfarbige und wechjelnte Bärbungen oder zeigen das Gegentheil ter vom Boten 
refleetirten Töne. Während die erleuchteten Theile in einem grünlichen Blau 
ericheinen, jind die Schatten rothbraun gefärbt. So hoch auch Die Sonne über 
dem Horizonte ſtehen mag, die Anwefenheit von Dünften bewirkt immer noch 
dieſe Schatten und auf dem Gipfel des Montblanc und des Monte Roſa fann 
man felbft am Mittag Lie Schatten wahrnehmen, welche die Bergzacken auf den 
Echnee werfen. Dies fommt daher, daß Die Nebel in Liefer Falten Atmoſphaͤre 
bis zu einem Grade verdichtet werten, Daß fich Dicke Tröpfchen erzeugen; eine 
plögliche Erfaltung verwandelt dieſe zu Fleinen Eiskryſtallen, in welchen ſich die 
Eonnenftrahlen derart brechen, Laß die verfchietenartigften Farbenerfcheinungen 
entitehen. Urſachen der nämlichen Art bewirken auch die farbigen Ringe, welche 
man zuweilen um Lie Sonne beobachtet, ten fogenannten Hof um dieſelbe; ja, 
es iſt nicht allein Das gebrochene Licht, welchem dieſe zahlreichen Erfcheinungen 
zugefchricden werten müffen, Me Sonne reflectirt auch von den in der Luft ſchwe— 
benden Eidfruftallen. Auf einer adroftatifchen Neije, welche Barral und Pirio 
am 27. Juli 1850 unternahmen, Gemerften Lirjelben, wie tie Eonne von ber 
dunfterfüllten Atmoſphaͤre unter ihnen zurüdftraßfte, als ch fie ſich auf einer 
Waſſerflaͤche fpiegelte. 

Ter franzöftiche Naturforfcher Bravais, welcher ten Montblanc erfliegen, 


Die Alpenwelt. 697 


bat die Beobachtung gemacht, daß gewiffe Dämmerungstöne in großen Höhen 
weit fichtbarer find; oft bemerkt man nach Sonnenuntergang als Kortfegung der 
Dämmerung eine ſcharf begrenzte rofige Bärbung, welche man in der Ebene nicht 
wahrnimmt und die den Abendhimmel in ungefähr einem Drittheil feiner Höhe 
erleuchtet. Dagegen iſt die Erleuchtung am Zenith in diefen hohen Regionen 
weniger ftarf, Mit der Dunkelheit wird es fehwierig, die Theile von einander zu 
unterfcheiten. Der Mond erleuchtet das Firmament nur fehwach und wenn er 
voll ift, fo verbunfelt fein Glanz an ter feinem Standpunkte entgegengefegten 
Himmelsgegend kaum die Sterne jechfter Größe. 

Wenn die Lichteffecte des Morgend und Abends in ben hoben Regionen 
einen großartigen und mannigfaltigen Charakter annehmen, der ihnen einen bes 
fonderen Reiz verleiht, fo enthalten auch die aftronomijchen Erfcheinungen bier 
einen bei weitem größeren Glanz. - Am 8. Juli 1842 beobachteten Agaſſiz und 
Tejor auf der Grimfeljpige eine Sonnenfinfterniß. Bis zur Mitte der Berfinftes 
rung hatte fich Feine bemerfenswerthe optifche Veränderung gezeigt, als die Sons 
nenfcheibe aber zu drei Viertheilen verdunkelt war, geftaltete ſich die Erjcheinung 
überaus großartig. Die Färbung der Gletſcher und des Eismeeres erbleichte 
im Gegenjag zur Eonne unmerflich; dieſes Erblaffen wuchs mit der Zunahme 
der Verfinfterung und der Schnee nahm jenes bleifarbige Ausfehen an, welches 
er oft des Abends hat, wenn Die Alpen jich färben. Bald darauf, als die Ver⸗ 
finfterung faft ihr Marimum erreicht Hatte, legte fich ein wmattbläulicher Ton 
über die Ofeticher, die Wolfen über dem Thale im Nordoſten nahmen eine grüns 
liche Faͤrbung an; Fleine Wafferabfülle und die Wellen eined Seed, welchen die 
Beobachter an ter Oftjeite zu ihren Fügen bemerften, erfchienen wie durch den 
Ihönften Mondfchein verfilbert. „Wir waren,’ fchreibt Tefor, „gleichfam von 
einer Durchjichtigen Dämmerung eingehüllt.” 

Mie erhaben müffen auf den hohen Gebirgen Scantinaviens die Effecte 
der Norblichter fein, jenes Phänomens, welches nach den neueften Aufichlüffen 
des berühmten Naturforfcherd Auguft de Larive der Unhäufung von Eistheilchen 
in den höheren Luftſchichten feine Entftehung verdankt. Dieſe Nordlichter find 
die Vorläufer von Schneefüllen, Hagelichlag und Regengüffen ; fie bilden fich in 
Bolge tes Zuſammenwirkens von Wärmeftoff, Elektrieität und Erdmagnetismus 
derart, Daß man das Nordlicht, welches fich in der Nacht von 9. zum 10. April 
1860 zrigte, als das Anzeichen eines Falten und regnerifchen Frühjahres betrach⸗ 
ten fonnte, Dies beiläufig. Es ijt zu bedauern, Laß die Gebrüder Schlagint« 
weit Die jchönen Beobachtungen, welche jte in Der Schweiz machten, nicht in den 
jcantinavifchen Gebirgen vervollftäntigen Fonnten, fie hätten gewiß neue Belege 
für die Theorie des berühmten Genfer Naturforſchers geliefert. 

I. Das Leben ift aufs innigfte an den Erdboden gebunden, ſelbſt der Vogel, 
der in bie Küfte auffleigt, muB immer wieder herab, um hier feine Nahrung zu 
fuchen. Bon allen Eäugethieren hat, Danf der Erfindung des Luftballons, nur 
der Menſch die Kühnheit, ſich in die Rüfte zu erheben, nur er vermag, wie es 
Gay⸗vLuſſac im Jahre 1805 that, fich bis zu einer Höhe von mehr ald 22,000 
Fuß in Die Luft emporzuſchwingen. Uber die heftige Kälte, welche aft in Nein 


698 Phyfik. 


außerordentlichen Höhen herrſcht, verhindert ihn, laͤngere Zeit unter dieſen Um⸗ 
ſtaͤnden, die nicht für das Leben geſchaffen ſind, auszudauern. Wenn es in ſolchen 
Höhen nicht möglich iſt, die letzten Kundgebungen des thieriſchen und des pflanz⸗ 
lichen Lebens aufzufinden, fo bleibt es Doch immer intereſſant, beim Erfteigen 
der Gebirge die allmälige Abnahme der Fauna und der Flora zu verfolgen und 
zu beobachten, welche Umwandlungen bie Vegetation und bie Thiermelt durch- 
Taufen, bevor fle gänzlich verfchwinden. 

Unter den atmofphärifchen Zuftänden, welche für dad Beftehen der organi- 
fen Wefen erforderlich find, jpielt die Temperatur die Hauptrolle. Der Drud 
fheint beinahe feinen Einfluß auszuüben. De Candolle hat früher nachgewieſen, 
daß die abfolute Höhe auf die Bunctionen der Blätter und auf den Säfteundauf 
durchaus nicht elmwirft. Es gibt Taufende von Arten, die fich in ſehr verfchie- 
denen Höhen wiederfinden, ſei es auf verfchiedenen Gebirgszügen, oder auf ges 
wiffen Gebirgen; mit Ausnahme einer Eleinen Anzahl von Pflanzen, welche 
diefer oder jener Gebirgsregion eigentbümlich find, wie gewiffe Pflanzen man« 
hen Infeln oder beftinnmten Gegenden der Ebene, Fann man dies, wie der Sohn 
des berühinten Votanikers bemerft, als allgemein giltig aufftellen. Dafür 
fpricht auch die Eultur der Alpenpflanzen in den Gärten; bei zufagender Tem⸗ 
peratur und Beuchtigfeit ift es leicht, Diefe Arten in der Ebene zu ziehen. Die 
Getreidepflangen hören in Europa mit einer bejtimmten Höhe auf; aber die dün⸗ 
nere Luft ift Hiervon nicht die Urfache, da man diejelben auf den Hochebenen 
Südamerifas in weit beträchtlicheren Höhen gedeihen fieht. 

Wärme und Beuchtigfeit find die beiden Hauptfachen, auf welche es bei der 
Vertheilung der Pflanzen in Bezug auf die Höhe anfommt. Man bat lange 
ſchon die Achnlichkeit bemerft, welche zwijchen den verfchiedenen Etagen eined 
hohen Berges und den Breitengraden beftebt. Eine Beſteigung ded Montblanc 
ift einer Reiſe nach Lappland zu vergleichen. Die Grenze des Pflanzenwuchfes 
befindet ſich nothwendiger Weife niedriger ald die de& ewigen Schnees und der 
Höhenpunft, wo Diefer anfüngt, hängt von der mittleren Jahrestemperatur ab. 
In den Anden fteigt derielbe 6i8 auf 15,400 Fuß, auf dem Südabhange des 
Himalaya auf 16,000 Fuß; in der Schweiz befindet fi die Schneegrenze in 
einer Höhe von ungefähr 8000 Buß und unter dem 65. Breitengraten finft fe 
auf 4700 Fuß herab. 

Die Trodenheit der Hohen Regionen und Tie Sonnenhige auf großen 
Höhen bringen zuweilen die nämlichen Wirkungen hervor, wie eine zu Tange ans 
dauernde firenge Kälte; viele Pflanzenarten werden in ihrer Verbreitung nad 
der Höhe durch Die umgekehrte Urſache aufgehalten, welche ter Mehrzahl ter 
Pflanzen auf den Gipfeln Der Berge ten Tod bringt. Dennoch darf man ten 
ewigen Schnee nicht al® ein unüberfteigliches Hinternig für das Planzenleben 
anjeben. Einige Pflanzen, allerdings eine jchr Fleine Anzahl, überfchreiten no 
die Schneegrenze. In den Anden finder fi eine nach dem berühmten Reiſenden 
und Chemiker Bouſſtngault benannte Steinbrechart auf Kelten, welche 628 Fuß 
böber ald der ewige Schnee liegen. In den Alpen, auf dem Monte Roja, auf 
dem Montblane, hört Die Vegetation der Cotvledonen erſt 1900 bis 2200 Fuß 


Die Alpenwelt. 699 


über der Schneclinie auf. Bis dahin treiben immer noch vereinzelte Carifragen, 
Gentianen, Ranunfeln ihre mageren Stengel einige Zoll Hoch. Auf den Glei⸗ 
ſchern, fobald nur ein Raum frei vom Schnee iſt oder ein Felsſpalt Schuß vor 
dem flarken Froſt gewährt, überziehen Moofe und Flechten mit ihren zarten Zwei⸗ 
gen den falten nadten Stein. Die Flechten finden ſich auf den Alpen in den 
Höhen zwiſchen 10,000 und 15,400 Fuß in ziemlich beträchtlicher Anzahl; die 
Moofe fleigen um 2500 bis 3100 Fuß weniger hoch als die Flechten und über- 
fihreiten die Tegten Bhanerogamen nur um ein Beringed. Auf dem Himalaya 
ift die Vegetation auf großen Höhen noch ſehr thätig, man findet Ihre Grenze in 
einer Höhe von 19,000 Fuß engl. (18,400 Buß rh.) Dort zeigt ſich noch volle 
fländiger als anderwärts bie frappante Aehnlichkeit der hohen Regionen mit den 
aretiichen Gegenden. Der Srühling beginnt erft fehr fpät, aber die Wärme von 
einigen Wochen genügt der Pflanze, um alle Phafen ihres jährlichen Lebens zu 
durchlaufen, und obgleich fie fpäter ald in dem warmen feuchten Thale blüht, 
reifen die Früchte Doch fchon, wenn einige Taufend Buß tiefer kaum erft die 
Truchtbildung begonnen hat. Dieje Beobachtung Hat der tüchtige Raturforfcher 
Joſeph Dalton Hooker bei feiner merfwürdigen Erforfchung des Sikkim, einer 
Provinz im füdlichen Theile des Himalaya, gemacht. E8 gibt aljo für die Pflan- 
zen, wie Alphons de Bandolle dies feftgeftellt hat, eine wirkliche Wärmecapacität ; 
nicht allein von dem Mittel der Sommerwärme hängt die Periode der Vegetation 
ab, fondern von der Summe nugbarer Wärme, welche die Pflanze empfängt. 

Leider ftellt fih in den gebirgigen Gegenden die Verfchiedenheit der Berge 
und der äußeren Geftaltung des Terraind ber Verfolgung des regelmäßigen Ein- 
fluffes der Höhenabnahme entgegen. Auf den Alpen haben die Gebrüder Schlag- 
intweit bemerft, daß an zwei Orten von der nämlichen abfoluten Höhe nichte 
gleich ift al8 der Luftdrud, Es eriftiren Unterfchiede in Bezug auf den hygro⸗ 
metrifchen und auf den Temperaturzuftand, woraus ſich für Die Vegetation zieme 
lich ausgeprägte Contraſte ergeben, und es wird unmöglich, eine abfolute Grenz⸗ 
linie für die Baum- und Niederholz-Vegetation vorzuzeichnen, da dieſelbe noth⸗ 
wendiger Weife veränderlichen Bedingungen unterworfen if. Doch find es die 
ifolirten Bergfpigen, welche Daten liefern, die noch am wenigften willfürlich und 
bis zu einem gewiſſen Punkte vergleichbar find. 

Bevor die Gebrüder Schlagintweit fich mit der Urfache der fortichreitenden 
Abnahme der Vegetation befchäftigten,, ftellten fie forgfältige Beobachtungen an 
Fichten», Tannen⸗, Lärchenftämnen, hberhaupt an allen Baumgattungen an, 
welche die Gebirgävegetation Eennzeichnen und bie zu der Familie ter Coniferen 
gehören. ALS maßgebend nahmen fie die Holaringe an, welche alljährlich den 
Durchmefler des Stammes vergrößern und wach deren Anzahl man das Alter 
eined Baumes zu fehägen vermag. Die Dicke dieſes Jahrringes wechfelt nah _ 
den Arten, im Allgemeinen wird fie aber um fo geringer, je höher man fteigt. 
Namentlich wird diefe Verminderung in der zweiten Lebensperiode des Baumes, 
von 100 bis zu 200 Jahren, beobachtet, weil bei großen Höhen bie Vegetationd« 
kraft ſchneller erfchöpft wird und die Periode des Alterns frühzeitiger beginnt, 
In den tiefen Thälern zeigen die Jahrringe der Bäume im zweiten Jahrhundert 


700 Phyſik. 


noch eine beträchtliche Staͤrke, die ſogar zuweilen größer iſt, als im erſten Jahr⸗ 
hundert. Das Wachsthum ſchreitet nicht regelmäßig vor, da es natürlicher 
Weiſe von der mittleren und der Sommertemperatur des Jahres abhängig if, 
welche periodifchen Schwanfungen unterliegt. Wenn man dad Wachsthum der 
Bäume von 10 zu 10 Jahren mit einander vergleicht, fo findet man auffallende 
Ungleichheiten; zieht man aber Perioden von 50 Jahren in Betracht, fo ent- 
deckt man eine merfliche Gleichheit bis zu dem Zeitpunkte, wo die Lebendfraft in 
Folge des Alters definitiv ſchwächer wird. So gleichen ſich in einer Periode 
von 50 Jahren alle atmosphärischen Veränderungen, welche die Vegetation bes 
fchleunigen oder aufhalten Fönnen, aus und jene Störungen, welche jo vielen 
Leuten zu der Meinung Veranlafjung geben, daß die Jahreözeiten fich verrüden, 
wiederholen ſich in beinahe immer gleicher Weile. Wir fprechen bier natürlich 
nur von ben allgemeinen Refultaten, deun ed gibt eine Menge zufälliger und 
localer Umftände, welche Diefed merkwürdige Gefeg der Wahrnehmung entziehen. 
In Verioden von 10 Jahren gibt ed gewöhnlich ein Marinum und ein Minimum 
bed Wachsthums, welches mit fleigenden Höhen nothwendig fleiner wird, und wo 
ber Unterſchied weniger deutlich bervortritt und eine gleihmäßigere Vegeration 
umfaßt. 

Die Beichaffenheit Des Bodens modificirt außerdem bie allgemeinen Geſetze 
der Vegetation wejentlich, und hierauf muß man bei der Beobachtung der Pflan 
zen in den verichiedenen Höhen fehr viel Nückficht nehmen. ‚Richt allein die Lage, 
bie örtlichen Einflüſſe,“ fchreibt F. v. Tſchudi, „influiren auf die Phyſtognomie 
ter Blora, jondern auch die Bejchaffenheit der Gebirgsarten. Anders find bie 
Pflanzen, welche auf Froftallinifchen oder Urgebirgsblöcken wachen, anders bie 
Pflanzen der Scieferfalfgebirge, der Molaffe oder der Nagelflne.” Es gibt os 
gar Pflanzen, welche ausſchließlich Diejer oder jener Gebirgsart eigenthümlic 
find, fo daß man durch die Pflanzen oft die Bejchaffenheit des Bodens erfennt, 
auf welchem fe fich finden. Die befonderen Formen, welche gerwiffe Gebirgd« 
arten annehmen, bilden Thäler, Terraffen, Abdachungen, jpigige oder kegelför⸗ 
mige ©ipfel, und dieſe erzeugen eben fo viele beſondere Syſteme der felbfttgätigen 
Vegetation und Der Gattungdvermehrung. Das Wafler, welches nach der Bes 
Ichaffenheit der Gebirgsarten verjchieden vertheilt ift, verbreitet die Feuchtigkeit 
in Verbältniffen, welche nicht allein auf die Arten, fondern auch auf die Dauer 
der Pflanzen, auf die Schönheit Der Blumen und auf die Kraft des Stammes ein⸗ 
wirken. Co erzeugt die Kalfflora auf den Gebirgen und auf mit Steinhlöden 
überfüeten Blächen ſchlankere Formen als diejelbe Flora auf Wiefen, eben fo ver⸗ 
borren Die Pflanzen, welche in ben Ebenen auf Eohlenfauerem Kalte fliehen, 

jchneller ald die auf Schiefer wachjenden. 
Es ift daher unerläglich alle dieſe Umftände zu berüdjichtigen, wenn man 
ben alleinigen Einfluß der Höhe ermitteln will. Das Waffer, welches eine io 
große Rolle jpielt, dringt je nach der Veichaffenheit des Bodens ungleichmäßig 
in Denfelben ein, es ſchwemmt ihn fort oder lockert ihn auf, je nach der Menge 
und Heftigkeit, mit welcher es auffällt. Die Gewalt der Regengüffe, welchen 
manche Bergzüge ausgeſetzt find, erklärt den Stillttand der Pilanzenentwicdelung, 


Die Alpenwelt, 701 


den man auf ilolirten Bergfpigen, welche diefen fündfluthartigen Megen weniger 
audgefegt find, bei größeren Höhen nicht bemerkt. Das in fo großer Menge 
herabſtuͤrzende Wafler reißt Schluchten in dad Gebirge, ohne den Boden zu er» 
quicken; es bringt in den Alpen die Runſen hervor, ‚jene unerwarteten Ans 
fihwellungen ber Bergbäche, von welchen Tſchudi ein fo trübes Bild entwirft, 
Die Runjen find in der Echweiz noch mehr gefürchtet als die Stürme und La⸗ 
winen; die angefchwollenen Wogen ftürzen von allen Beldhängen mit Donner» 
gleichem Getöfe herab und was im Sommer ein einfacher Waflerftrahl war, der 
über Kiefel den Berghang Herabriejelte, nimmt dann die Verhältnifie eines richt- 
gen Waflerfalles an. Das Waſſer fickert vorzüglich dann in den Boden ein, 
wenn es in Eleinen Quantitäten herabfällt und von einer Dede von Gruͤn, von 
Mooslagen oder Blättern aufgenommen wird, welche feine wohlthätige Wirfung 
langfam vertheilt und den fchnellen Abfluß verhindert. Es iſt daher begreiflich, 
daß Die Quellen auf großen Söhen nicht fehr reichlich find. Die Gebrüder 
Schlagintweit bezeichnen in den Alpen eine Höhe von 7800 5i8 9400 Fuß als 
ihre obere Brenzlinie und in einigen Tiheilen diefer Gebirgszüge fällt diefelbe 
noch weit tiefer herab. Im Himalaya fleigt diefe Grenzlinie beträchtlich” und 
J. D. Hooker hat eine Meile unterhalb des Gletſchers Kinchinjhow in einer 
Höhe von 15,310 Buß eine warme Quelle angetroffen, welche 42° C. zeigte. 
Das Waſſer ift für die Thiere nicht minder nothwendig als für die Pflan⸗ 
zen, aber das Thier ift nicht an den Boden gefeffelt, es kann das Waffer auf 
fuchen, wo es fich findet, e8 geht zur Tränfe an die Bebirgsbäcye und an den 
Buß der Gletfcher, ja es findet felbft in der Luft eine Weuchtigkeit, welche theil« 
weife feinen Durft löſcht; es bewegt fich und indem es feinen Aufenthaltsort 
wechſelt, ift e8 ihm möglich die Extreme der Temperatur, unter welchen die 
Pflanze zu leiden bat, aufzuheben ober abzufchwächen. Die Thiere können alfo, 
wenigften® zeitweilig, höher aufwärts fleigen, al& die Pflanzen, aber die pflanzen 
freffenden Arten müfjen nothwendiger Weiſe immer wieder in die Pflanzenregion 
herabfonmen, welche ihnen allein die Nahrung liefert. Uebrigens bat auch dad 
Aufſteigen der Thiere feine Grenze. Selbſt die Gemje, der Fühnfte und gemand« 
tefte Gaſt der Alpenfpigen, gebt nicht Höher ala 9500 bi8 11,000 Fuß; der 
Steinbod wagt fich niemals fo hoch. Der Fuchs laͤßt fidh bei der Verfolgung 
der Schneehühner manchmal bis auf eine Höhe von 10,400 bis 10,700 Fuß 
verloden, der Bär zeigt fich feltener in folchen Höhen. Von ten Säugethieren 
find die Nagethiere diejenigen, welche am höchften vorfommen. Charles Mars 
tins hat auf dem Faulhorn die Schneefeldmauß (hypudaeus nivalis) in einer Höhe 
von 8550 Buß angetroffen und der Winteraufenthalt der Murmelthiere Tiegt 
oft über 8000 Buß Hoch. Das eigentliche Alpenreptil, der Froſch, überfchreitet 
niemals die Schneelinie, Dieffeitö deren im Allgemeinen auch die Eidechfen und 
die Vipern Ichen. Was die Kifche betrifft, welche in der Menge von Seen und 
Gebirgsbaͤchen einen vortrefflichen Aufenthaltsort fänden, fo bereitet ihnen die 
Kälte des Waſſers ähnliche Hinderniffe, wie den Landtbieren die niedrige Luft⸗ 
temperatur. Die Forellen find beinahe die einzigen Bifche, welche in dieſen eifl- 
gen Gewaͤſſern leben können. Durch ihre Fähigkeit, große Sprünge, weite Saͤtze 


702 Hof. 


zu machen, gelangen fle über Waflerfälle und überwinden Hinderniffe, welche ale 
anderen Schwimmthiere aufhalten würden. Zwei Borellenarten, bie Bachferelle 
(salmo fario) und die rothe Forelle (salmo salvelinus), finden ſich auf dem Et. 
Gotthard noch in einer Höhe von 6409 Fuß in dem Fleinen See von Luzendro; 
höher hinauf verhindert die immerwährende Eisdecke der Gewäffer ihre Griftenz 
ganz und gar und auf dem großen St. Bernhard findet man in einem See, wel⸗ 
cher 7500 Fuß Hoch gelegen ift, nicht die geringfte Spur ter Fiſchfauna. 

Ratürlicher Weife find e8 die Vögel, welche die Bewohner der höchſten Höhen 
ausmachen. In den Anden fchwebt der Condor, in den Alpen der Adler und 
der Geier über den höchften Bergfpigen. Diefe für die weiteften Reifen organi⸗ 
firten There find die großen Segler des Luftoceand, wie auf dem Atlantifchen 
Deean die Scefchwalben und die Sturmudgel. Die Dohle, jene intenflv ſchwarze 
Rabenart mit gelbem Schnabel und Iebhaft rothen Füßen, fteigt zwar nicht jo 
hoch in die Lüfte empor, aber fle ift vorzugsweije der Vogel der hohen Berg 
gipfel, der Schneeregion und der unwirthbaren Bergfpigen. Ban bat fie auf 
dem Gipfel des Monte Rofa und auf dein Riefenhorn in mehr ald 11,000 Fuß 
Höhe angetroffen. Zu Schaaren in den Höhlungen der Gebirge vereinigt um⸗ 
flattern fle die fchroffiten Abhänge und laffen ihr gellendes Geſchrei ertönen. 
Alles was zu jchwindelnder Höhe in die Lüfte auffteigt, hat für diefe Vögel einen 
befonderen Reiz, riefige Tannen, Glockenthürme, Zinnen von hohen Bergfchlöffern, 
Thurmfpigen, ifolirte Berggipfel, die in fchauerliche Abgrimde abftürzen, nackte 
Bergzacken find ihr Lieblingdaufenthalt und Hier bauen fle ihre Nefter. Wahre 
Cõnobiten der Lüfte, und wie die Klofterbrüder von Theben zur einfachften und 
firengiten Lebensweiſe verurtheilt, eben fle gern in der Einſamkeit und fcheinen 
fih um fo wohler zu fühlen, je größer der Raum iſt, welcher fie von ten Men⸗ 
chen trennt. 

Uber auch graziöfere Vögel bewohnen die Region des ewigen Schnees und 
beichen einigermaßen die flarre und unheimliche Landſchaft. Der Schnerfinfe 
(fringilla nivalis) hat eine jo große Anhänglichfeit an feine Ealte Heimath, daß 
er nur felten bis in die Holzbewachfene Zone herabkommt; der geftreifte Alpen 
finfe folgt ihm bis auf diefe großen Höhen, er liebt vorzugsweije die fteinige und 
unwirthliche Region, welche die Zone der Pflanzenwelt von der des immererwaͤh⸗ 
nenden Schnees trennt; beide fleigen bei der Verfolgung von Infecten zumeilen 
bis in eine Höhe von 10,700 bis 11,000 Fuß empor. 

Das Land hat ebenjo jeine Vögel, wie die Luft. Gewiſſe Arten bedienen 
fih ihrer Blügel nur auf wenige Augenblide- und dann, wenn ihnen das Gehen 
durchaus unmöglich wird; Die ift der Fall bei den hühnerartigen Bögeln. Die 
Schneeregion bat hiervon ihre eigenthümliche Art, wie fie auch charafteriftifche 
Sperlingsarten hat. Den Hafenfuß oder das Schneehuhn trifft man auf Island 
wie in der Echweiz an. Es geht weit über die Grenzlinie des ewigen Schnees 
hinauf und nimmt in Diefen großen Höhen feinen dauernden Aufenthalt. Im 
Winter befommen jeine Federn das Ausfehen des Meifes, worin e8 Icht. Der 
Schnee ift ihm jo ſehr Beduͤrfniß, daß es bei der Annäherung des Sommerd 
ziemlich hoch geht, um ihn zu finden; es niſtet Darauf, ed wälgt fh mit Luft 


Die Alpenwelt, 703 


darin herum, es jcharrt Löcher hinein, um fi jo vor dem Winde zu jchügen, 
der einzigen Unannehmlichfeit, vor welcher es fich in feiner eiſigen Heimath feheut. 
Einige Flechten oder Körner, welche durch die Luft heraufgetragen worden find, 
genügen ihm zur Nahrung, und mit den Infecten, auf welche e8 Jagd macht, füt« 
terte8 feine Küchlein. 

Die Irſecten find in der That die einzigen Thiere, welche fich in dieſen 
farg bebachten Regionen noch flarf vermehren und dies ift eine neue Achnlichkeit 
mit den Polargegenden. In der gemäßigt Ealten Zone zeigen fich die Käfer in 
viel größerer Anzahl und in weit. mehr Varietäten, ald in den Gegenden in näche 
fler Rühe des Aequators. In den jubarctifchen Gegenden findet mun die Käfer 
während der kurzen Sommerwochen in beträchtlicher Anzahl. Eben jo ift es 
auch in den hohen Megionen der Alpen bie Klaffe der Käfer, welche vorwiegend 
tft; auf dem Eüdabhange erreichen fie eine Höhe von 9400 Fuß und auf dem 
nördlichen von 7500 Fuß. Man findet fie in Löchern und Eleinen Höhlungen, 
faft durchgängig gehören fle zu den Raubfäfern, denn Pflanzennahrung ift in die 
fen großen Höhen nicht vorhanden. Ihre Flügel find fo furz, daß fie faſt flügel- 
los erfcheinen, und man muß annehmen, daß die Natur fie auf diefe Weiſe gegen 
die ftarfen Luftſtrömungen geichügt hat, welche fie unfehlbar mit ſich fortreißen 
würden, wenn ihre Flügel nicht gewiffermaßen verfünmert wären. In der That 
finder man zuweilen andere Inſecten, Netzflügler und Schmetterlinge, welche von 
den Winden bis auf dieſe Höhen heraufgetragen worden find, wo fie im Schnee 
umfonmen. Die Schnee und Eiöfelder find mit Opfern bedeckt, weldhe auf 
diefe Weife ihr Leben verloren haben, man finder ihre zarten Gadaver zu Tauſen⸗ 
den auf dem Eife. Doc gibt es auch gewiffe Arten, welche der Schneeregion 
Trotz bieten und fich freiwillig bi6 zu Höhen von 12,500 bis 15,700 Zuß empor» 
ihwingen. I. D. Hoofer hat auf dem Mont⸗Momay Schmetterlinge in einer 
Höhe von mehr ald 16,950 Fuß beobachtet; trifft man folche aber noch höhe- 
an, fo find fie nur vom Winde dorthin verfchlagen worden. Auch die fpinnenr 
artigen Thiere widerftehen der auf den Gebirgen herrfchenden Falten Temperatur. 
Ein beinahe mifroffopijches Infect der Alpen, die desoria glacialis, lebt aus- 
jchfieglich in der Nähe der Gletſcher. Uber man möchte behaupten, daß bie 
Trübfeligfeit ihres Aufenthaltsortes fi in dem Ausjchen aller diejer Eleinen 
Thiere wiederfpiegelt: fle Haben nicht Die Mannigfaltigfeit der Farbentöne, durch 
welche fie anderwärt8 gefennzeichnet find, alle zeigen eine ſchwarze oter dunkle 
Faͤrbung, welche ihre Anweſenheit in Den Xöchern, worin fle ſich verfriechen, an⸗ 
fänglich den Blicken entzieht. Auch die Gewohnheiten der Inſecten modificiren 
fich in diejen großen Höhen nach der Kocalität,- wo fe leben. P. Lioy, der Vers 
faffer einer philofopifchen Abhandlung über die Gelege, welchen die organijche 
Welt folgt und deren bewegliche Manifeftation Diefelbe ift, bemerkt, daß Nacht 
infecten der ebenen Gegenden in den Gebirgsregionen zu Taginfecten werben. 
In der That reproduciren auch die hohen Regionen in gewiſſer Hinficht Die Zu⸗ 
ftände, welche niedrig gelegene Orte während Der Nacht zeigen; ſelbſt nach Son« 
nenaufgange behalten fie die Brijche und die Kühle, welche in der Ebene nur 
der Abend bringt. 


704 Phyſik. 


Dies iſt Das Bild des Thierlebens in der Alpenwelt, wo die Fauna nad 
und nach aufhört, um der Einfamfeit und der Zerflörung Plag zu machen. 
Oberhalb der Tegten Staffel der Vegetation, jenfeit8 der Außerften Region, welche 
die Infeeten und die Säugethiere erreichen, wird Alles fchweigjam und unbe 
wohnt; gleichwohl ift die Luft noch angefüllt mit Infuforten, Fleinen mifrojfopi- 
ſchen Tierchen, welche der Wind wie Staub aufwirbelt, und Die in der Luft 
bi8 zu einer unbekannten Höhe verbreitet find. Dies find die im Raume fchwim- 
menden Keime, welche die Erfcheinung einer neuen Erdrevolution, einer neuen 
Erhebung des Erdförpers abwarten, um fich feftzufegen und der Ausgangspunkt 
einer neuen Fauna zu werden, 

So verfchwindet das Thierreich nicht, ohne alle mit dem Zuftande des mehr 
und mehr erfaltenden und fümmerlicher werdenden Erdbodens und mit der immer 
mehr verdünnten Luft verträglihen Organifationen erfchöpft zu haben. Die 
Bögel gleichen den Vorpoften der großen Armee von Gefchöpfen aller Art, welche 
das Gebirge gegen das Hereindringen des Todes vertheidigt. Die Raubthiere 
bilden gewiflermaßen die Plänfler. Die Sperlinge, die Klettervögel und bie 
Hühnerarten gehören zum Gros der Armee; fie lichen die zwiſchen den Wäldern 
und dem ewigen Schnee gelegene Region. Die legten Tannen, die legten Ges 
büfche find die Wartthürme, von wo aus fte den Luftkreis beobachten , bereit 
tiefer berabzufteigen, wenn Unwetter droht, und den mindeften Sonnenblid, die 
geringfte Abnahme der Kälte benugend, um weiter hinauf zu dringen. In dieſer 
mittleren Region vernimmt man zwar nicht die harmoniichen Accorde der Graß« 
müde und der Nachtigall, Doch aber athmet der Gefang der Berguögel immer 
noch Freude und Luft am Leben. Tſchudi gibt ein reizendes Bild von dem Leben 
der Vögel auf den Gebirgen. „Kurze Zeit zuvor che der Himmel fich mit dem 
erften Glanze des Morgens fürbt, felbft noch bevor ein leichter Windhauch bie 
Ankunft des Tages verfündigt, wen die Sterne noch am Firmament funfeln, 
find e8 die Vögel, welche das Signal zum Erwachen der Natur geben. Gin 
leiſes Naufchen zieht Durch die Tannen, es ift eine Art Girren, deſſen Töne immer 
deutlicher werden, deffen Tact fich mehr und mehr befchleunigt und welches end» 
lich zu einem harmoniſchen Gefchwäg werdend die Zweige hinauf und herab 
fteigt, wie der Bogen des Muſikers von den tiefiten zu den höchften Saiten über- 
geht; Dann plöglich entjteht ein lauteres Geſchmetter: jede der anfänglich furdt- 
ſamen Stimmen beginnt ihre charakteriftiiche Melodie, jede Art laäͤßt ihr Gejchrei 
hören, ihr mehr oder weniger durchdringendes Pfeifen. Die ruhige melancho— 
liche Nacht iſt gemichen; es ift ein Morgenftändchen, welches das gefiederte 
Volk der Sonne bringt, die aufs neue kommt, um ihre feuchte Wohnung zu 
erwaͤrmen.“ 

Welch angenehmen Eindruck machen dieſe Beobachtungen des Naturforſchers 
auf den Geiſt. Wie harmoniſirt die Friſche, die Reinheit dieſer Empfindungen 
mit der Kühle und Klarheit der Luft. Man möchte für einen Augenblick dieſes 
luftige Dajein in jener Zwijchenzone Durchleben, die noch genug Grün bat, um 
Schu gegen die Tageshige und die Kälte der Nacht zu gewähren, und welche 
gelichtet genug ift, um dem wonnetrunfenen Auge den Blick über Das großartige 


Die Alpenwelt. - 705 


Gebirgspanorama bis zum fernen Horizonte zu geftatten; aber der Menfch iſt in 
diefer Hinficht weniger begünftigt, ald der Vogel. Die Befteigung eines hohen 
Berggipfels ift für und immer etwas Beſchwerliches, mag nun die Luft, welche 
man an ſo bochgelegenen Orten einathmet, ärmer an Sauerftoff in einer gegeben 
nen Menge fein, und die Bermifchung diefer Gasart mit dem Blute unter einem 
geringeren Drude nicht fo Teicht flattfinden, oder mögen die Bewegungen, welche 
beim Steigen immer aufs neue wiederholt werben müflen, dad Muskelſyſtem er⸗ 
Ihlaffen, genug wir empfinden in großen Höhen eine Beichleunigung des Puls 
Ichlaged, wir befommen Athmungsbefchwerden, Schwindel, Uebelkeit, es flellen 
ſich Blutungen des Zahnfleiſches und der Lippen, kurz eine Menge jener Täftigen 
Symptome ein, welche man unter ber Bezeichnung Gebirgsübel begreift. 

Man hat über die eigentliche Urfache diefer pathologifchen Erfcheinung viel« 
fache Erörterungen angeftellt; gewiß hängt fle zum großen Theil mit dem ver⸗ 
änderten Luftdruc zufammen. Der Menjch ift nicht wie der Vogel gebaut, um 
fig in den Luftkreis zu erheben und Luftſchichten von verfchiedener Dichtigkeit 
zu durchwandern. In der That find die Bögel mit Tuftbaltigen Säden verfeben, 
welche mit den Zungen, fo wie mit den Innern der Knochen in Verbindung 
ftehen und einen großen Theil des Thierkörpers anfüllen. Diefe Behälter bilden 
eine Art Saug- und Drudpumpe; beim Einathmen ziehen fie Die Außere Luft 
an und nehmen fle auf, beim Ausathmen laffen fie einen Theil derfelben durch 
die Luftröhrenrige oder durch die Rafenlöcher entweichen, Den übrigen Thril treis 
ben fie Durch die Lungen in vorn und hinten gelegene Behälter. Dieſe Reſer⸗ 
voirs laſſen in die Zunge fortwährend eine Luft eindringen, deren Druck immer 
mit den Volumenveränderungen, welche fie erleiden, im Verhaͤltuiß ftcht, fo daß 
tie Athmungsflaͤche und ihre zahlreichen Gefäße bei dem Vogel gleichfam von 
der Luft, welche er im rafchen Fluge durcheilt, abgeſondert ift; auf dieſe Weife 
entgeht er zum Theil der Einwirfung des veränderlichen Luftdrucks. Cine aͤhn⸗ 
liche Einrichtung zeigt fi bei den Inferten. Dieje Eleinen Thiere haben Lufte 
röhren, welche mit der äußeren Luft durch Luftlöcher in Verbindung ftehen, die 
das Thier nach feinem Belieben fchliegen kann. Es ergibt fich hieraus für fie 
die Fähigkeit, dem Ginfluffe luftleerer Räume, giftiger Gafe und felbft tes Unter⸗ 
tauchen unter Waffer zu widerſtehen. 

Diefe Betrachtungen, welche wir dem franzöſiſchen Phyfiologen Longet 
entlehnen, erklären die Befchwerlichkeit, welche wir beim rafchen und fortgefepten 
Aufwärtöfteigen zu ertragen haben. Gluͤcklicher Weife bedingt dad Gebirgsübel 
nicht eine abfolute Unverträglichfeit der hoben Regionen mit dem menſchlichen 
Leben. Die Störungen, welche wir empfinden, treten hauptfächlicy bann ein, 
wenn ber Wechfel zu plöglich ſtattfindet; ein gewiffer Zeitraum ift immer erfor» 
derlich, damit fich zwiichen ten Gaſen des Blutes und den Äußeren Gaſen das 
Gleichgewicht vollftändig herftellen und Die lebhaftere Athmungsthaͤtigkeit ſich mit 
den neuen Zuftänden derart in Harmonie fegen kann, Daß bie Lunge in einer 
gegebenen Zeit die nämliche Menge Sauerftoff abjorbirt, welche ber normale Zus 
ftand erfordert. Man acclimatiftrt ji) auf großen Höhen eben fo wie in Gegen⸗ 
den, welche zu heiß, zu feucht oder zu Falt zu fein fcheinen, ald daß der Meuikı 

V. x 


06 Phyſik. 


daſelbſt leben könnte. Die Stadt Quito, welche 9131 Fuß über Tem Meeres⸗ 
fpiegel liegt, hat eine zahlreiche Bevölkerung, welche unter biefer Höhe durchaus 
nicht zu Teiden ſcheint. Eine andere Stadt in den Anden, Potoft, ift 13,081 Fuß 
hoch gelegen und zählte einft über 10,000 Seelen. Nachdem Saufſure vierzehn 
Tage auf den Alpengipfeln gelebt hatte, nahm jein Puls wieder den normalen 
Schlag an und Bouffingault konnte nach einem längeren Aufenthalte in ten 
Städten der Anden den geringen Luftdrud auf dem Gipfel des Chimborafo 
feicht ertragen. Man muß alfo Vorfichtsmaßregeln ergreifen, wenn man fih 
ungeftraft auf große Höhen begeben will, wo wir, wenn wir mit Ben entfpreden- 
den Zuftänden vertraut find, leben Fönnen; e8 handelt fi} nur darum, unferen 
Organismus allmaͤlig an die barometrifchen Veränderungen ter Atmofphäre zu 
gewöhnen. 

IN. Die vorftehenden Mittheilungen über den phyſiſchen Zuftand ber Heben 
Gebirge zeigen, daß in den höheren Regionen unſeres Erdförpers die atmoiphäri« 
fchen Erfcheinungen ein immer deutlicher hervortretendes Mebergewicht über Die 
rein irdifchen gewinnen.“ Die Anweſenheit der Bergmaſſen modificirt noch immer 
den Zauf der Dinge merkbar, aber die Einwirkung der feheinbaren Bewegung 
der Sonne, der Wärmeausftrahlung in den Raum wird durch Tocale Urjachen 
immer weniger behindert ; es fucht fich eine Art Gleichgewicht herzuftellen und 
man braucht bei der Beurtheilung der Phänomene in ihrer Gefammtheit nict 
mehr eine jo große Zahl von Zufälligkeiten in Nüdficht zu ziehen. Das chen 
erlifcht mehr und mehr, jede neue Staffel zeigt eine größere Verfünmerung der 
Fauna und Flora. Der Mangel der Contrafte in dem atmofphärtfchen Zuftante, 
die Hinnelgung zu dem Eättigungspunfte, welche die Luft zeigt, geben den organi- 
fchen Gebilden nicht mehr die Spannfraft, deren ſie betürfen. Dem Boten 
fehlen die Pflanzen, die Pflanzen mangeln den Thieren, die Kälte bringt beite 
zu Schaden. Heftige Winde umwehen bie höchſten Bergipigen und treiben Dies 
jenigen zurück, welche ſich hinaufwagen; eine immer dickere Eisdecke breitet ſich 
unter den Füßen aus, der Wanderer ſchreitet ſtrauchelnd darüber hinweg oder 
ſinkt darin ein. 

Alles dies beweiſt, daß wir auf minder hoch gelegene Gegenden angewieſen 
ſind. Im warmen und flachen Laͤnderſtrichen, an den Ufern des Euphrat, des 
Nil, des Indus, am Ganges und Hoang-Ho ift die Givilifation in den Alteften 
Zeiten zur Entwidelung gelangt. Die Tradition fehildert den erften Aufentbalt 
der Menfchen nicht als einen Adlerborft, von welchem fle herabftiegen, um auf 
Beute auszugehen und fich erft fpäter in der Ebene nicterzulaffen, jontern ale 
einen fruchtbaren, von vier Strömen bewäfferten Garten, und die Ströme ges 
hören nicht der Gebirgdregion an. Im Gegentheil find die Gebirgsgegenten 
für den Menjchen lange Zeit ein Aufenthalt des Schredend und des Entjegens 
geweſen; bie Griechen machten fie zur Wohnung des Boreas und Aquilo, zu 
einer Art Verbannungs⸗- und Strafort; nach den Sagen der Dichter war das 
ſchuldbeladene Menfchengefchlecht, ala Prometheus perfoniftzirt, Durch Den Zorn 
Jupiters auf dem Gipfel des Kaukaſus gefeffelt worden. Nur erft in Der neueren 
Zeit hat man ſich mit den hohen Bergen vertraut gemacht und Sinneigung und 


Die Alpenwelt. 707 


Bewunderung für Diefelben gevonnen. Die Römer waren für die Naturichön« 
beiten der Schweiz unempfindlich geblieben, fie erblickten in diefem Lande nur 
graufige saltus, den Aufenthaltsort eines vom Schickſal Fümmerlich beachten 
Volkes. Noch find ed nicht zweihundert Jahre, feitdem man Lie Schweiz zum 
Vergnügen und aus Bewunderung für den malerifchen Effect ihrer Berge bereifl. 
Vergebend würde man in ten Schriftftellern des Mittelalter nad) einer Bez 
fehreibung fo vieler Schönheiten und impofarter Ecenen fuchen. Die religiöfe 
Begeifterung, welche in jener Zeit fo mächtig war, ging nicht über Kathedralen 
und Kirchthürme hinaus; mochte die Ratur ihre Werfe auch noch jo hoch aufger 
thiirmt haben, Niemand dachte Daran, daß auch fle den Geiſt zu Gott erheben könne. 

Die Ebene ift alfo der eigentliche Aufenthaltsort des Menfchen, fie fichert 
ihm den Reichthum, das Wohlergehen, den Kortjchritt, Auf dem platten Lande, 
in flachen breiten Thälern findet der Aderbauer für feine Arbeiten die meifte Bes 
quemlichfeit, hier erhält er die reichlichfien Ernten und flieht fie weniger dem 
rauhen Wetter und jonftigen Unfällen ausgefegt. Er trifft Hier Feine Hinderniffe, 
um jich von einem Orte zum anderen zu begeben und Die Keichtigfeit der Communi⸗ 
eation bringt einen vermehrten Austaufch der Ideen und der Lebensmittel mit 
fih. Nichts ftellt fich der unbefchränften Ausdehnung der Städte in den eg, 
Alles fcheint vielmehr zum Voraus für die Wunder der Induftrie und für ten 
Zurus der Künfte vorbereitet zu fein; aber der Menich wird in dieſem Aufent- 
haltsorte, wo das Leben fo leicht und gleichmäßig Hinfließt, kraftlos und verdor⸗ 
ben, die Generationen verweichlichen und gehen endlich unter. Daher fleigt un⸗ 
audyefegt ein Strom von Menfchen aus Dem Gebirge herab in die Ebene. Fort⸗ 
während nehmen neue Bergbewohner die Stelle erlofchener Familien ein und res 
generiren durch ihr Fräftigeres Blut ein Geſchlecht, welches verkümmert oder alle 
mälig feine Thatkraft verliert. Dies ift das Schaufpicl, welches und Die Ges 
fchichte zeigt. Die civiliſirten Gefellichaftöverbände würden ohne diefe Einwan⸗ 
derung für fich felbft nicht ausreichen; fie würten fich im Wohlleben von ter 
harten Beldarbeit und von den Prüfungen enwwöhnen, bie der Menſch zu beftchen 
hat, um feine Kräfte und feinen Charakter wieder zu ftärfen. Als die erfte Civi⸗ 
Tifation, welche fi an den Ufern des Euphrat entfaltet Hatte, die Annäherung 
einer vorzeitigen Hinfälligfeit gewahrte, fliegen Die Bergbewohner Chaldäas nach 
Mejopotamien herab und gelangten hier zur Herrfchaft. Die Meder, welche von 
dem Südabhange des Kaufafus Famen, fpielten fpäter biefelbe Rolle. Die dori⸗ 
fche Eroberung, der Einfall der galliſchen Völferfchaften in die Ebene des Po, 
das Eindringen der Bewohner der bewaldeten Gebirge Deutſchlands in das platte 
Land von Nordgallien, die Anftedelung der Mandſchus in China, fo wie der 
mittelaflatifchen Stämme am Ganges und Indus wiederholen in verfchiedenen 
Epochen die nämliche biftorische Erfcheinung. Daher entftand Die Meinung, 
dag die Hochebenen zuerft bewohnt geweſen wären und Daß der Menſch auf dem 
Gipfel der Berge feine urjprüngliche Heimath gehabt Hätte. Die Unterfuchung 
der Oertlichkeiten liefert und dagegen den Beweis, daß die Beſtimmung der 
Menfchheit diefe für niedriger gelegene Gegenden berief, wo allein der Menſch mit 


feinen Faͤhigkeiten zu einem freieren Aufſchwung gelangen Fann. 
Ay 


0 


708 Pont, 


Wenn diefe Gegenden, wo die Erhebungen des Bodens in faum bemerf« 
bare Wellenlinien auslaufen, der Gefellfchaft Lie Bedingungen des Wohlergehens 
und des Fortfchrittes in einem Maße darbieten, wie nirgends anderwärtß, fo find 
fle gleichförmig, wie die flaatliche Gefellfchaft, nach weldyer die Menfchheit ftrebt. 
Alles erfcheint bier Elein und eintönig, wie dad Werk der Menfchen ; nichts läßt 
bier die Gewalt der Schöpfung fühlbar werden, deren Gepräge Die hochgelegenen 
Drte unauslöfchbar bewahrt haben. In den Ebenen Herricht nur der menſch⸗ 
liche ®eift, ex allein wird wahrgenommen, man begegnet nur den Werken unfe 
rer Hände oder den Nefultaten unfered Kampfes mit der Natur. In ten Ge 
birgögegenden dagegen tritt dieje Natur auf und unfere unbebeutenten Werke 
verfchwinden vor ihrer Großartigkeit und Majeftät. Alles ift Hier veränbert, 
Alles ift Widerfpruch und Contraſt; jede Felsecke, jeder Berggipfel, jeder Ab⸗ 
Hang, jede Schlucht hat eine eigenthümliche Phyftognomie, ein beſonderes Ge⸗ 
präge von Eleganz und Großartigfeit. Eben darum find Diefe Regionen dad 
gelobte Land der Naturforjcher, der Schauplag für eine Menge von Yeobachtungen, 
die ſich ganz von felbft darbieten und von denen wir im Vorftchenden nur eine 
unvollftändige Ueberſicht geben Eonnten. 

Wie bezaubernd auch eine jener Beftlichfeiten fein mag, für welche unier 
Geiſt ih in Raffinementd und Erfindungen aller Art erfchöpft; wie anziehend 
auch jene Salongefpräche und Unterhaltungen fein mögen, in denen der Geiſt 
über Zaufende von Gegenftänden binwegtändelt, alle Eindrüde anregt und fie 
durch fcharffinnige Beurtheilung auffriſcht; welche Genugthuung für unieren 
Stolz auch in den Meifterwerfen der Kunft und des Geſchmacks Tiegt; niemals 
werden doch dieſe Gefühle, welche und jo viel Vergnügen bereiten, weder an 
Stärke noch an Fülle und Heberrafchung denen gleicyfommen, welche Die jung 
fräuliche Natur auf den Bergen hervorruft. Kein Schaufpiel enthält heiljamere 
und fruchtbringendere Lehren und ladet die Scele mehr zur Einkehr in fich jelbft 
ein, um fic fodann zu den Regionen ewiger Heiterfeit zu erheben. Wenn 
wir ermattet von der Stadbtluft, welche wir Tag für Tag athmen, das Fenfter 
öffnen und in der Kerne die allmälig auffteigenden Terraffen der Gebirge gewah— 
ren, die endlich am Horizonte den erften Anfang der Wolfen zu bilden fcheinen, 
jo fommt es und vor, ald ob wir zu den reinen Freuden unferer Kinderjahre zu- 
rückkehrten und aufd neue die Natur entdeckten, welche für und auf einen Augen 
blik in den Hintergrund getreten war, 


leder Räder, Heilquellen und Kurorte 
üderdaupt. 
Dr. sm. An 


Einleitung. Allgemeine Regeln für den Gebraud einer Badekur. Bor 
bereitungd- und NRachkuren. Kalte Bäder. Warme Bäder. Dampf: 
bader. Die Kaltwafferbeilanftalten. Die Seebäder. — Die Mineral: 
quellen: Die indifferenten Thermalwäſſer. Die Tochfalzhaltigen 
Duellen. Die falinifhen Waͤſſer (Bitterwäffer, reine und alkaliſche). 
Die alkaliſchen Duellen (Sauerbrunnen). Die erdhaltigen Mineral, 
quellen. Die Stahlwäfler. Die Schwefelquellen. — Die künſtlichen 
Mineralwafier. Moor: und GBadhader. Kiefernadelbäder. Die 
Molken⸗ und Zraubenturen. Die Elimatifhen Kurorte. 





Auf einer wie hohen Stufe der Cultur wir auch in der Jetztzeit ſtehen, mit wie 
großem Nechte wir uns auch rühmen dürfen, im Vergleiche mit früheren Völkern 
und vergangenen Zeiten bie fchnellften Fortſchritte faft in jeglicher Beziehung ge= 
macht zu haben, fo dürfen wir doch nicht verfennen, daß wir in manchen Rich⸗ 
tungen binter anderen Rationen und vergangenen Zeiten zurüdgeblieben find. 
Dies gilt zum Beifpiele von dem Gegenſtande, der und im NRachfolgenden aus⸗ 
ſchließlich befchäftigen foll: ten Bädern. 

Es ift befannt genug, welch’ großer Verbreitung ſich zur Zeit der Briechen 
und Römer die Bäder bei diefen Volksſtaͤmmen erfreuten, mit welchem Luxus fle 
auögeftattet waren, welches häufigen Beſuches fie fich zu erfreuen Hatten, indem 
fie im eigentlichen Sinne, öffentliche waren. Mit Necht flellte man damals das 
Baden als gleich nöthig neben Efien und Trinken und gab den ärmften Schichs 
ten der Bevölferung Gelegenheit, fich dieſes ald jo nothwendig anerfannte Bes 
dürfniß zu verfchaffen. Von einem tiefen Verftändniffe der Natur und der 
umfaffendften Einftcht in die Bebürfniffe der Völker zeigen die von Muhameb 
wie Moſes eingeführten Wafchungen in der Form religiöfer Gebote. 

Und wenn auch bei den Juden der Neuzeit unter den veränderten Verhaͤlt⸗ 
niffen der Schmuß trog der vorfchriftsmäßigen Reinigungstiter &x ty pa HU 


710 Medicin, 


ift, fo Liegt doch die Schuld hiervon an anderen Umftänden: und die Weisheit 
des Geſetzgebers, wie fein phyſiologiſcher Scharfblick können dadurch nicht ver 
mindert werden. Bei den Türfen haben ſich die Gebräuche in unveränberter 
Weiſe erhalten und ihre Bäder, wie nicht minder die öffentlichen der Griechen 
und Römer in ihren Trümmern erregen mit Recht noch heute unjere Bewunderung. 

Solchen Tharfachen gegenüber Eönnen wir nicht verfennen, dag wir felbk 
hinter billigen Anforderungen zurüd geblichen find. Erſt im legten Jahrzehnt 
find in den größeren Städten allgemeine öffentliche Babeanftalten entflanden, 
welche e8 auch den ärmften Claſſen für einen geringen Preis geftatten, fich den Ge 
nuß eines Bades zu verfchaffen. Miplich dagegen jleht ed noch jegt in den klei⸗ 
nen und Mittelflänten aus; hier fehlt es nur zu oft an jeber Gelegenheit zu ba 
den und ſelbſt für Flußbaͤder ift bei weiten nicht in dem Maße gejorgt, ald dies 
unerläßlich ift; an warme Bäder ift meift gar nicht zu denken. Erwagt man 
aber, wie groß die Anzahl der Bewohner diefer Städte und der eben fo miplid 
fituirten Landbevölkerung im DVergleih mit der Einwohnerzahl der wenigen 
Großftädte ift, und bedenft man den hohen Werth, den Reinlichkeit und eine ge⸗ 
börkge Hautkultur für Erhaltung der Gefundheit haben, fo ift Leicht einzufehen, 
wie viel noch zu thun übrig bleibt. 

Dagegen haben die Bäder im engeren Sinne, die eigentlichen Heilquellen 
und Sefundbrunnen, wie Kurorte überhaupt in Der Gegenwart eine erhöhte Bedeu 
tung gewonnen. Ihre Zahl fleigt von Jahr zu Jahr, die vorhandenen Einrichtun⸗ 
gen unterliegen einer fletigen Verbeſſerung, ein Bad jucht Dad andere burin zu 
überbieten, für das Wohlbefinden der fh ihn Anvertrauenden nach jeder Rich⸗ 
tung aus beten Kräften beforgt zu fein. Dabet zeigen bie Kurliften faft ununter 
brochen eine fteigende Yrequenz der Badebejucher an! Dem entjprechend bat fih 
denn auch die Xehre von den Heilquellen zu einem eigenen Zweige der medicinifchen 
Wiffenjchaft emporgearbeitet, der bereitd eine flattliche Ausdehnung gewonnen 
hat. — Wenn man aud) zugeben muß, daß auf diefen fo anjehnlichen Aufichwung 
der Bäder die Mode einigen Einfluß ausgeübt hat, da es bei vielen Leuten zum 
guten Tone gehört, jährlich ein Bad zu brauchen, andere auch nur hingehen, um 
ihrem blajirten Geifte einen neuen piquanten Reiz am Pharao und Roullettiſch 
zu verfchaffen, viele auch kommen, fich eine beffere Hälfte zu juchen oder fich von 
dem ftarfen Geſchlechte juchen zu laſſen, ſo liegt doc) Die zunehmende Frequenz 
des Badebeſuches tiefer begründet in ben zahlreichen günftigen Erfolgen, ten 
eine methodijche Eur in einem Bade auf das Gefunden fo zahlreicher Kranken 
gehabt Hat und immer haben wird. — Cine populäre Darjtelluug der beim Ge 
brauche der Bäder überhaupt innezuhaltenden Verhaltungsmaßregeln, eine Auf 
führung ber wichtigften Heilquellen mit ihren Einwirfungen auf den Organik 
mus der Menfchen ift daher ein Gebot der Nothwendigkeit für ein Werk, das fih 
die Belehrung des gebildeten Publikums in allen Zweigen der Wiſſenſchaft zut 
Aufgabe geſetzt hat. — 

In der überwiegenden Mehrzahl aller Fälle will man durch den Gebrauch 
einer Badekur, dieſes Wort in feiner weiteften Bedeutung genommen, eine Taus 
ernde Umänderung in den Verhältniffen des Organismus allmälig hervorbringen, 


Bäder, Heilquellen. 711 


indem man hofft, Dadurch zugleich die erkrankten einzelnen Organe wieder gefund 
zu machen. So find ed denn fait ausſchließlich die chronifchen d. h. die Tangjam 
verlaufenden, eingewurzelten Leiden des menfchlichen Körpers oder angeborene, 
krankhafte Dispoſitionen, die man zu heilen ober doch zu mildern die Abſicht 
bat, und man barf mit Necht behaupten, daß es kaum ein derartiges Uebel gibt, 
gegen welches nicht jchon ein Bad oder. eine Trinfquelle empfohlen worden wäre 
und in zahlreichen Fällen auch Rugen gebracht hätte, Bei acuten, fieberhaften 
Erfranfungen kann man nur felten von einem Babe Gebrauch machen und wir 
beichränfen und daher im folgenden auch nur die hrontfchen Erkrankungen, und 
auc von Diefen nur die wichtigften und befannteften namhaft zu machen, für die 
man in Vätern Heilmittel gefunden hat. — Die Zahl der einzelnen Duellen, 
tie man als Heilmittel benußt, ift Legion ; ihre Zufammenfegung eine fehr ver- 
ſchiedene; es muß und genügen, die wichtigeren und befannteren Bäder und bie 
vorzugöweife wirffamen Stoffe nambaft zu machen. Man benugt die Mineral- 
wajler theild innerlich als Getränf, theils äußerlich zum Baden, entweder eines 
von beiden ausjchließlich, oder man läßt zugleich trinken und baden. Den gün⸗ 
ftigen Einfluß, den man durch den Gebrauch diefer oder jener Trinkquelle, der 
Kaltwaflferanftalten, Seebäder u. f. w. beabfichtigt, erreicht man jedoch nicht 
allein durch dieſe Duelle, dieſes Bad, fondern es find eine nicht unbeträchtliche 
Anzahl anderer Agentien, die mehr oder weniger ihre oft nicht minder wichtigen 
Einwirkungen gleichzeitig geltend machen. Bevor wir und daher an die Beſchrei⸗ 
bung der einzelnen Kuranftalten wenden, müſſen wir die Umflände Eurz erörtern, 
die mit den Durch den Einzelfall gebotenen Veränderungen bei allen Kuranftalten 
von Einfluß und wohl zu beobachten find, wenn man den Erfolg der Kur nicht 
ſchon im Voraus zu einem unficheren gemacht fehen will. 

Wenn man fich zu dem methodifchen Gebräuche einer Kur in irgend einer. 
Anftalt entfchließt, hat man zunächft für eine möglichft gewiffenhafte Regulirung 
der gefanımten Lebensweiſe Sorge zu tragen. Nirgends mehr als bier aber gilt 
als Grundſatz „eines ſchickt fich nicht für alle‘‘, nirgends ift eine fo forgfältige 
Erwägung geboten als hier. Man Hüte ſich ja, im Voraus die Bedeutung bed 
einzubaltenden Regimes zu unterfchäigen und der Heilquelle felbft allzufehr und 
allein zu vertrauen. in ſtrenges Individualifiren ift dabei unerläßlich, aber 
keineswegs fo leicht und einfach, als dies manchen erfcheinen dürfte. Es it für 
jeden Kranfen am gerathenften, wenn er fich von feinem Hausarzte, der natür« 
li mit den Verbältuiffen der Anflalt, wohin er den Kranken ſchickt, vertraut. 
fein muß, die eingehendften Verhaltungdmaßregeln für die einzuhaltende Lebens 
weije mittheilen läßt. Einmal Eennt der Hausarzt in der Regel durch Tangiähri« 
gen Umgang die Eigenthümlichkeiten und Schwächen feines Patienten am beften, 
anderntheild haben Lie vielbejchäftigten VBadehrzte in der Regel nicht bie Zeit, 
jedem ihrer Kranken befontere Verhaltungdmapregeln mitzutheilen und cencene 
triren ihre ärztliche Thaͤtigkeit vorzugsweiſe auf die Regulirung der eigentlichen 
Kur, wozu fie durch ihre Erfahrung wiederum vorzugsweiſe berechtigt mehr find, 
als ter mit den Wirfungen des Bates unbekannte Arzt. — Im Einzelfalle kann 
man ten Kranken manche gewähren, wenn e8 ihm nur befommt und er darüber, 


712 Medicin. 


daß dies der Fall, vorurthellofrei zu urtheilen vermag. Doch iſt es gut, wenn max 
hierin gegen fich felbft mißtrauiſch iſt und ſich genau erforſcht, ob nicht dennoch 
dieſes oder jene® Motiv maßgebend einwirft — zum NRachtheife der Gefundheit. 
Im einzelnen if die nächfte Rückſicht auf die Art der Ernährung zu nehmen 
Faſt durchgehends empfiehlt fich eine moͤglichſt einfache und fparfanıe Koft, die 
dabei jedoch ſchmackhaft zubereitet fei und mit der gehörigen Rufe gemoflen 
werde. Die meiften ber Kranken, welche die Bäder befuchen, führen zu Hauſe 
ein eher üppiged al® kaͤrgliches Leben und find durch Schmaufereien jeglicher 
Art eben in dem normalen Borgange des Stoffwechſels ihred Körpers beeinträch⸗ 
tigt; ihnen kann das Maß des zu genießenden nicht knapp genug zugemefien, bie 
Auswahl nicht genug vereinfacht werden. Heruntergekommene, fehr gejchwächte 
Kranke bedürfen felbftverftändlich dagegen einer Früftigenten, dabei doch leicht 
verdaulichen Koſt. In den größeren Bädern ift feitens der Kurärzte dafür ge 
forgt, daß nur folche Speifen auf den Tafeln erfchienen, die ſich mit der Kur 
ſelbſt vertragen; eine beftimmte Anzahl von Rahrungsmitteln ift überall ziemlich, 
gleichmäßig verboten. In diefer Beziehung machen wir namentlich aufmerfjam, 
dag man fich vor allguferten Speijen, deögleichen vor geräucherten und gejalzenen 
Bleiichipeifen, vor fchwerem, ſchwarzen, faueren Brode, vor ſchwer verbaulichen, 
leicht Blähungen verurfackenden Gemüfen, wie Erbjen, Linfen, Bohnen, auch 
vor Obſt, vor Käfe, vor jauren Speifen zu hüten hat. Auch piauante, leicht zu 
einem längeren Eſſen verführende Speiſen meide man möglichft und halte fich ron 
allen Diners und Soupers, die Durch die Menge ihrer Gerichte mit Sicherheit zu 
einer Magenüberladung führen, fern. Gehörige Sorgfalt muß man auf tab 
Berkleinern der Speijen richten und jolche vermeiden, die durch ihre Beſchaffen⸗ 
beit leicht verleiten, fie in größeren Biffen zu verfchlingen. Auch in Bezug auf 
bie Zeit, zu welcher man ißt, fei man confequent und wähle zum Mittageſſen 
feine zu fpäte Stunde, damit die Verdauung nicht 6i8 zum Abend hinaus ver⸗ 
längert werde. Zum Abendbrod befchränfe man fich auf die Teichtefte und eins 
fachfle Koft und wähle dazu eine frühe Stunde, man erfauft ji) Dadurch einen 
um fo erquidenderen Schlaf. Meift find auch in den Bätern die Anftalten 
derart getroffen, und der Kurgaft muß fich in die einmal herkömmliche Zeitein- 
theilung fügen. In der Regel werden die Mineralwäfler früh Morgens nüchtern 
getrunfen und erft eine Stunde nad) Beendigung des Trinfend das Frühſtück 
eingenommen. Ginzelnen Perjonen befommt dies abfolut nicht und dieſe müffen 
daher im Interefje ihrer Gefundheit etwas vor dem Trinken genießen. — Als 
Getraͤnk eignet fich Flares, friſches Waffer am beften. Alfoholhaltige Getränke 
find ganz zu vermeiden, oder doch nur ausnahmsweiſe dann zu geftatten, wenn 
dies im Intereffe der Cur Tiegt; alsdann fei man darauf bedacht, fie nur im 
guten Zuftande genießen zu laſſen. Manchen Kranfen befommen Eohlenjäure 
haltigen Wäfler am beften, wie man folche in allen größeren Babeörtern leicht 
und billig erhalten kann. Ob Kaffee, Thee, Chocolade zu geftatten, richtet fich 
nach den Umfländen des Einzelfalles ; ficher find dieſelben, verftäntig genoſſen, 
für den daran Gewöhnten nicht fo ſchäädlich als man gewöhnlich glaubt. 
Die nächte Aufmerkjamfeit Hat man der Wohnung zusumwenden. Wenn 


Bäder, Heilquellen. 713 


man auch, und mit Recht, zum Aufenthalte in einem Bade die fchönfte und 
wärmfte Jahreszeit ausmählt und dabei mit darauf rechnet, den großen Theil des 
Tages in ber freien Luft zuzubringen, indem auch hiervon ein nicht unwefentlicher 
Einfluß auf die Geſundheit erwartet wird, fo muß man doch eingedenk fein, daß 
die Witterungdverhältnifie an einem jeden Orte, fei er noch fo ſchön und geſund 
gelegen, wechfeln und daß oft Tage kommen, die einen längeren Aufenthalt im 
Freien nicht geftatten. Auch fo müffen ja einige Stunden des Tages immer im 
immer verbracht werden, und für Viele ift e8 nicht gleichgültig, wie fle fich hier⸗ 
bei mögen eingerichtet Haben, ja manche vermiffen oft bitter die häuslichen Be⸗ 
quemlichfeiten, einen Umftand, der den günftigen Einfluß der Eur oft zu beein⸗ 
trächtigen vermag. In allen befferen Badeanftalten ift für bedeckte Wantelgänge, 
für geheizte Baderäume u. f. w. Sorge getragen und wo dies noch nicht der Fall, 
zwingt die Concurrenz in Kürze zum Vornehmen derartiger Einrichtungen. 
Weit fchlimmer fieht e8 oft mit den Oefen in den Brivatwohnungen ans und 
man thut wohl, ſich Danach umzufehen. Ramentlich in füdficheren Bädern fehlt es, 
worüber neuerdings von Aerzten rügend gefprochen wurde, an Defen in den Zims 
mern oft gänzlich, und gleichwohl empfindet man bier tie keineswegs feltene 
Morgens und Abendfälte Doppelt. Auch auf das Bett richte nıan fein Augen« 
merk und fuche fich fo einzurichten, daß man die Stunden der Nacht, entfchieten 
mit die wichtigften für den Kranken, ungeftört und mit Bequemlichkeit zubringen 
fann. &8 bleibt in diefer Beziehung an zahlreichen Orten viel zu wünfchen übrig 
und fehr Vennvöhnte thun wohl, wenn fle die wichtigften Erforderniffe ihrer Lager⸗ 
ftätte mit fih führen. Dit Kleidern fei man wohl verforgt und hüte fich, der 
warmen Witterung allguiehr vertrauend, nur Teichte Sommerfachen mit fidh zu - 
nehmen, Eann ınan doch felbft in Stalien feinen Ueberrock fehr wohl gebrauchen, 
um cinem Gatarrh aus dem Wege zu geben oder doch einem unbehaglich froftigen 
Tag ſich zu einem leiblichen umzugeftalten. Sehr empfindliche Kranke thun 
wohl, fih an unfreundlichen Tagen lieber ganz auf die Stube zu beichränfen. — 

Sorgen und Mühen und die gewohnten Beichäftigungen laffe man indges 
fanımt zu Haufe! Ein nicht genug zu beberzigender Natb, deſſen Befolgung bie 
guten Erfolge der Eur mitzutragen hat. Gerade dieſes Herausreißen. aus den 
gewohnten Kebensverhältniffen mit den manigfachen Unzuträglichkeiten und 
Aergerlichfeiten, die diefelben mehr oder weniger unvermeitfich mit ſich führen, 
ift ja oft Die Hauptfache, die man zu erreichen wünfcht. Daß man fich dabei 
dennoch befchäftigen foll, ja muß, ift dem Verftändigen einleuchtend, das Wie der 
Beichäftigung eine im Allgemeinen ſchwer zu beantwortente Frage. Das Spie- 
len, namentlich Hazardſpiele, ift fehr fchädlich und ganz geeignet den günftigen 
Einfluß einer Eur illuforifch zu machen. Es find namentlich viele große Bäder, 
die durch die dort im größten Maßftabe getriebenen Hazarbfpiele, ihren Veſuch 
ganz erleiden, nicht wenigen aber, die wegen Wiederherftellung ihrer Geſund⸗ 
heit fle befuchen, diefen Zweck vereiteln. Manchen befonmt c8 dagegen trefflich, 
von Zeit zu Zeit ein Spielchen zu machen, andere ziehen Leftüre vor und fo 
wird für Jeden das Eine oder das Andere fich finden laffen, intem-ein völliges 
Nichtsthun ebenfalls jeine gewaltigen Schattenfeiten hat. — 


714 Medicin. 


An .einer zweckmaͤßigen Leibesbewegung darf es der Curgaſt ebenſowenig 
fehlen laſſen. In allen Baͤdern find Spaziergänge vorſchriftsmaͤßig eingeführt 
und durch Wege, Anlagen u. |. w. angenehm und praftifabel gemacht. Manchen 
befommt e8 für ihren Zuftand beffer, wenn fie eine ehvas-anftrengende Bergpartie 
sornehmen und fich dabei tüchtig herumtummeln, andere ziehen ebene Wege vor. 
Diele ermüben leicht und diefe thun wohl, die Bewegung ihred Körpers nicht zu 
übertreiben, indem man danach häufig cine Verſchlimmerung des Zuftantet, all. 
gemeine Abfpannung, Verſtimmung und Reizbarkeit, und flatt einer Appetitver⸗ 
mehrung eine Verminderung deſſelben eintreten ſieht. Yür andere find tägliche 
ausgedehnte und anftrengende Partien geradezu wohlthätig. 

Welches Bad man wählen foll, beſtimmt natürlich der Arzt, da ihm allein 
die krankhaften Veränderungen feines Clienten befannt und er mit den für bie 
Umftände geeignetften Quellen vertraut fein muß. Doch denke man nicht, dap 
die Beftandtheile des Waſſers dabei allein maßgebend find! Wir find glüdlic 
daran, eine reiche Auswahl in ihren Wirfungen ziemlich gleicher Mineralquellen 
zu befigen und fo fünnen und follen wir bei der definitiven Entfcheitung alle 
anderen Momente ebenfall8 in Lie Wagichale werfen. Bielen find Die kleinen 
und weit weniger bejuchten, auch ruhigeren Bäder angenehmer, andere juchen 
fih von den Leiden und dem Diferere der Eleinen Provinzialſtädte, in die fe 
verbannt find, in den großen Weltbädern Auffriichung und Erheiterung und 
fanımeln Stoff für tie langen Winterabende; jenem dünkt nur das gut, was 
viel Eoftet, ihm ift ein lururiöfes Bad Bedürfnip, einem anderen weijen ein frober 
Sinn und befcheidene Berhältniffe zu dem noch dem Naturzuftande näheren Orten 
hin. Nicht felten gibt die nähere Rage ded Bades den Ausjchlag, da den Kran 
fen ein weiterer Transport zumächft nicht zugeftutten ift; dem genügt Der leichtere 
DVerfehr mit dem heimatlichen Heerde, fein Aſyl in Diefem Orte aufzujchlagen. Und 
fo gibt es noch taufend Verhältniſſe, die möglicherweije zur Erwägung gezogen 
werden müffen und die ein verftändiger Arzt im Auge zu behalten, dabei aber 
auch dem Kranken jelbft cine berathende Stimme zu gönnen hat. 

Schildern wir nun in Kürze Dad Leben eined Curgaſtes, wie es mit größe 
zen oder geringeren Veränderungen allenthalben verläuft. Fruͤh um fünf lihr 
erhebt fih der Kranfe, um zu rechter Zeit Des Morgen ſechs fein Tagewerk mit 
dem Trinken der ihm vom Arzte vorgejchricbenen Becher Waſſer zu beginnen, 
die er in müßigen Pauſen von Biertelftunten und langſam und gemüthlich auf 
und abwandelnd verzehrt. ine Stunde nach Dem letzten Becher nimmt man 
den Kaffee und ein Fleined Fruͤhſtück ein und verbringt nun die nächften vier 
Stunden in möglichfter Ruhe und Bequemlichkeit, ohne jedoch zu fchlafen. 
Nimmt man noch Bäder, jo ift dieſe Zeit Die geeignetfte und paſſendſte. So 
kommt die Mittagsglocke und Damit die Hauptmaplzeit Des ganzen Tages heran, 
die man mit der nöthigen Ruhe in mäßiger Menge zu fi nimmt. Nach tem 
Eſſen ift der Schlaf am beiten zu vermeiden, nur ſolchem, tem jahrelange Gewohn⸗ 
heit, ein Nachmittagsfchläfchen zum unabweißlichen Vedürfniß gemacht bat, nuche 
zujehen. Die Stunden des Nachmittags find einer größeren Bromenate in ter 
Umgebung des Gurortes beſtimmt. Bisweilen ift eine beſondere Abendkur 


Bäder, Heilquellen. 715 


wohlthätig und zweckmaͤßig, Die jedoch an Menge der Morgenkur nachſteht. Nach 
einem leichten Abendbrode begibt ſich der Kranke frühzeitig zu Bett, ver jo er- 
wünjchten erquictenden Ruhe pflegend, die ja ein Haupterforderniß bildet. So 
verläuft in gleihmäßiger Weiſe mit geringen Unterbrechungen die durch den 
Beſuch des Theaters, Concerts, durch einen weiteren Ausflug bedingt find, die 
meist auf vier biß jech® Wochen berechnete Eur. 

Gewiß haben viele unfere Leſer von Vorbereitungscuren, wie von Rache 
curen reden hören. Man gebraucht in vielen Källen zweckmaͤßig eine Vorbereis 
tungscur, um Uebelflände, die den günftigen Erfolg ftören oder beeinträchtigen 
fönnten, zu bejeitigen, den Kranfen an eine andere Lebendweije nach und nach 
zu gewöhnen, vielleicht auch darüber zu urtheilen, ob die betreffende Quelle dem 
Kranken zufügen werde, indem man fie denfelben zu Haufe eine Zeit lang brauchen 
läßt. — Aehnlich verhält es fich mit den Racheuren; oft iſt wohl eine Beſſerung, 
aber feine vollftändige Heilung eingetreten, der Kranfe aber muß aus triftigen 
Gründen das Bad verlaffen und man läßt ihn ein gleiches Wafler zu Haufe 
forttrinfen. Namentlich aber bejtcht die Nacheur in einer noch längere Zeit 
fortgejegten firenger geregelten Lebensweiſe zur Eicherung des guten Erfolges. 
Nur zu gewöhnlich beginnen die Kranken mit der Rückkehr in tie gewöhnlichen 
Verhältniſſe auch das gewöhnliche Treiben wieder und find alsdann bald wieder 
auf den alten Punkte in Bezug auf ihre Geſundheit angekommen. 

Wir haben biöher unjer Augenmerk ausſchließlich auf die allgemeinen Vers 
haͤltniſſe gerichtet, wie fie eben in allen Anftalten beobachtet werden müffen, und 
wejentlich in Betracht fommen, wenn der beabfichtigte Erfolg der Cur aud) er» 
reicht werden fol. Es ift jegt erforderlich, etiwad genauer Die Baͤder und Quellen 
mit ihren Wirkungen im Einzelnen näher ins Auge zu faflen. 

Eines der wichtigften und einflußreichfien Mittel, das mehr oder minder 
in allen Baͤdern eine wefentliche Rolle fpielt, das aber auch in jeiner, Reinheit 
feit längerer Zeit nicht nur diätetifch, fondern zum Heilzwecke verwendet wird, iſt 
das gewöhnliche Waller. Und fo müffen wir dieſes zumächft betrachten. Welche 
Bedeutung das Waller für den menjchlicyen Körper bat, können unfere Leſer 
jchon daraus ermeflen, daß es drei Viertel unfered Körpergewichts ausmacht, ja 
in manchen Ausjcheidungen bis zu 99 Procent beträgt, Verhältniffe, die in Bes 
zug auf die feiten Theile nur geringeren und unbebeutenderen Schwankungen 
unterliegen, während tie Ausjcheitungen allerdings ziemlich willkürlich in 
ihrem Waſſergehalte durch vermehrte Waffereinfuhr verändert werden können. 
Eine nicht minder wichtige Bedeutung des Waſſers liegt darin, daß es das Lö⸗ 
ſungsmittel für die meiften Stoffe des Körpers ift und fo bei allen Lebensvor⸗ 
gingen eine bedeutende Rolle fpielt. Ein weiterer, ebenfall® einflußreicher Fac⸗ 
tor, der bei der Wirkung des Waſſers in Betracht kommt, ift Die Temperatur. 
In der Regel werden die gewöhnlichen Brunnen- und Quellwaſſer zum Trinken 
und Baden benugt; ſie find niemald rein, jondern enthalten ftet3 eine gewiffe 
Anzahl fremder Stoffe gelöft, fo Gyps, doppelt Eohlenfauren Kalk, Rohlenjäure 
u. ſ. w. Chemiſch reines, von allen Beftandtheilen befreites, ſogenanntes deitillir- 
tes Waffer iſt nicht zum Trinken gecignet und wird nur in der Medicin zur 


716 Mediein. 


Auflöſung mancher Arzneien gebraucht, zu denen das gewöhnliche Waſſer ſich 
nicht eignet. Indem wir von den manigfaltigen Modiſtkationen, in denen das 
Waſſer zur Verwendung, fommt, in Folgendem abfehen müffen, da und eine ein⸗ 
gehenbere Betrachtung zu weit von unferer Abgabe abführt, werden wir nur bie 
Hauptfächlichften Anwendungsweifen des Waſſers erörtern können, und dabei 
nur folcye betrachten , die ein eigentliche mebicinifche® Intereffe vorwiegend 
in Anfpruch nehmen. 

Den audgebehnteften Gebrauch macht man wohl von den Klußbädern. 
Man benugt diejelben außfchließlich in der wärmeren Jahreszeit, wo ihre Tem⸗ 
peratur zwiſchen 12— 18° R. ſchwankt. Gefunden, Fräftigen Berfonen bekom⸗ 
men unter diefen Verhältniffen die Flußbäder trefflich und iſt ihr täglicher Ges 
brauch von den wohlthätigften Folgen zur Erhaltung der Gefundheit, wie 
dies ja auch in den weiteften SKrelfen genügend bekannt und anerkannt ift. 
Die Vorfichtsmanregeln bei ihrem Gebrauche beftchen einfach darin, daß man 
vermeider, mit erhigtem Körper und vollem Magen in das Bad zu gehen. Die 
Dauer des Aufenthaltes im Bade richtet fich einmal nach der Temperatur. Se 
fälter das Waſſer, defto ſchneller und beträchtlicher ift der Wärmeverluft des 
Körpers, defto mehr ift der Aufenthalt im Waſſer abzufürzen. In jede falten 
‚Bade fühlt man für die erften Augenblie ein unangenehmes Gefühl von Kälte, 
meift von einigen Athembeklemmungen begleitet. Daffelbe macht jedoch bald 
einem behaglichen Gefühl der Erfrifchung und Erquidung Platz, dem jedoch bei 
längeren Berweilen im Bade ein erneut zunehmended Kältegefühl zu folgen 
pflegt. Es ift zweckmaͤßig und rärhlich, beim Herannahen Diefer zweiten Abküh—⸗ 
fung das Bad zu verlaffen. Badet man im Freien, wo man fic) dabei Fräftig bewe⸗ 
gen, ſchwimmen kann, fo tft Dadurch ein längeres Verweilen in Bade ermöglicht. 
Auch die Temperatur der Luft ift von Einfluß; bei unfreundlicher Falter Witte 
rung wird Die Ausgleichung des Wärmeverluftes des Körpers nach dem Heraus 
gehen aus dem Bade verzögert und jo Teicht ein noch unangenehmere® und nad» 
baltiger einwirfendes Kältegefühl erzielt, das man durch fräftiges Frottiren des 
Körpers, wärmere Bekleidung und eine ftärfere Körperbewegung auszugleichen bes 
dacht fein muß. Iſt die Temperatur des Wafferd bis auf 8 R. gefunfen, jo ift 
nur ein Aufenthalt von wenig Minuten möglich; je wärmer das Waſſer und je 
günftiger die fo eben angegebenen Bedingungen find, um fo mehr fann man dieſel⸗ 
pen bis zu einer halben und ganzen Stunde ausdehnen. Fuͤr ſchwaͤchliche, ſehr reiz⸗ 
bare und nervoͤſe Perſonen find Flußbader nicht wohl geeignet, namentlich iſt ihr 
Gebrauch bei Höheren Graden von Blutarmuth, Bleichſucht, nach längeren entfräfe 
tenden Krankheiten nicht oder nur mit größter Vorficht zu geftatten. Cine jehr 
ausgedehnte Anwentung wird zu medicinijchen Zweden von Slußbätern gemacht, 
um die Haut abzuhärten und die Anlagen zu Rheumatismus zu befeitigen. 
Auch bei gewiffen Krankheiten des Geſchlechtslebens, bei Samenverluften , zu 
häufigen Pollutionen werben fle mit Rugen gebraucht. Bei Verdacht auf Lungen» 
und Herzkranfheiten find fle beffer ganz zu unterlaffen. 

Einen nicht minder ausgedehnten Gebrauch macht man von den warmen 
Bädern, die man meift in Wannen oder auch neuerdings in größeren Baſſins 


Bader, Heilquellen. 717 


zur Anwendung bringt. Man untericheidet laue Bäder mit einer Temperatur 
von 20— 23° und heiße Bäder mit einer Temperatur von 30—36' R. Auch 
bierbei find für Die Laͤnge des Berweilend, der Zeit, wie der zu wählenden Tempe⸗ 
ratur ähnliche VBerhältniffe maßgebend, wie bei den falten Bädern. Die lauen 
Baͤder verdienen fat unter allen Umftänden den Vorzug vor heißen, die nur für 
ſeltene Falle geeignet find und auch dann noch in anderer Weife erfegt werden 
können. Laue Bäder wirfen beruhigend und lindern die Hige und Aufregung, 
fie löjchen den Durft, erweichen die Oberhaut und reinigen fie jo von Schmuß 
und anderen anhaftenden fremden Stoffen, von Parafiten u. ſ. w. Bei höherer 
Temperatur vöthet fih die Haut, Puls und Athem befchleunigen fich, es tritt oft 
eine beträchtliche Bruftbeflenmung mit Bangigfeit, Hige, Schwere und Einges 
nommenheit des Kopfes ein: der Körper bededt fich mit reichlichen Schweißen, 
ed tritt eine allgemeine Abfpannung und Neigung zum Schlaf ein. Ob bei 
längerem Berweilen in einem warmen Bade von der Haut Waſſer aufgenonmen 
werde, ijt noch nicht mit Sicherheit entjchieden, da tie biöher in diefer Bezichung 
angeitellten Verſuche fich Direkt entgegenftehen. — Gewöhnlich verweilt man 15 
bis 30 Minuten in einem warmen Bade, doch hat man diefelben als fogenannte 
prolongirte Bäder uber 2 und mehr Stunden ausgedehnt und fie in neuefter Zeit in 
diefer Weile wieder namentlich bei gewiflen Geiſtesſtörungen empfohlen. Bei allen 
langwierigen Hautfranfheiteg, den zahlreichen Kormen der Schuppen» und Kleien⸗ 
und Bläschenflechten ift der fortgejegte Gebrauch der warmen Bäder eined unjerer 
wichtigften, jedenfalls unerfeglichften Heilmittel. Nicht minder häufig benugt 
man die warmen Bäder bei Lähmungen, bei Gicht und chronischen Rheumatis— 
mud, manigfachen Nervenleiden; beige Bäder namentlich bei chronischen rheus 
matiſchen Affeetionen und Lähmungen. Laue Bäder verdienen namentlich den 
Vorzug bei älteren Perſonen, bei ſchwächlichen, reizbaren und empfindlichen 
Individuen. 

An die Bejprechung der warnen Bäder müffen wir einige Bemerfungen 
über Die Dampfbäder reihen, da die legteren in ihrer Wirfung den warnen 
Bidern nahe kommen. Bekanntlich ſtehen dieſelben fchon feit Jahrhunderten 
in Oriente und in Rupland im allgemeinften, fogenannten biätetifchen Gebrauche. 
In den übrigen Staaten Europa's find fie erft in den legten Jahrzehenten ent⸗ 
fanden, gegenwärtig aber in allen größeren Städten zu finden. Sie werden, 
wie befannt, in der Weije hergerichtet, Daß man die in einem Xocale abgeiperrte 
Luft bis zu 300 R. erhigt und mit Wafferdampf überfättigt. In Rußland giept 
man zu dieſem Zwecke das Waffer einfach auf glühente Steine, in den eigenen 
Anftalten werden die Dämpfe aus dem Keffel in Iuftdicht gefchloffenen, mit Hähnen 
verjehenen Röhren in die betreffenden Zimmer geleitet. Die Wirfung auf den 
Körper beftcht darin, daß die Verdunſtung des Waflerd von der Hautoberfläche 
verhindert wird, während gleichzeitig Da8 Waſſer der umgebenden Luft ſich auf den⸗ 
jelben niederjchlägt, und die Haut in ähnlicher Weife erweicht und erfchlafft, wie 
im warmen Bade, Durch die gleichzeitig eingeathmete wärmere Luft werden bie 
Pulsjchläge vermehrt, der Athen befchleunigt; es tritt auch bier leicht Athens 
noth, Beklemmung, Schwindel, Ohnmacht u. ſ. w. ein. Oft verbindet wen 


718 Mediein. 


mit den Dampfbätern noch kalte Waſchungen oder Vegießungen, um die Haut 
zu reinigen oder abzuhärten. Zweckmaͤßig wird mit den Dampfbätern ein Durch⸗ 
kneten und Reiben des ganzen Körperd verbunden, auch ſchlägt man wohl tie 
Haut mit jungen, weichen Birfenzweigen. Statt der Falten Douchen zicht «6 
der gemeine Ruſſe vor, fi im Schnee herumzumälzen und feine Haut auf Tiefe, 
im Allgemeinen nicht empfehlenswerte Weife abzuhärten. — Gin Aufentkalt 
von 20 bi8 40 Minuten in einen Dampfbabe ift vollfommen genügend, eine 
weitere Verlängerung Fauım anzurathen. In manchen Dampfbädern Täßt man 
die Bäfte, in Deden gehüllt, nachfchwigen und reichlih Wafler trinfen. Ter 
Gebrauch der Dampfbäder follte immer nur nach eingeholtem ärztlichen Rathe 
geftattet fein. Man bedient fich der Dampfbäber bei zahlreichen Erfranfungen, 
fo bei veralteten hartnäckigen rheumatiſchen Befchwerden und bei der Gicht, Bei 
Perfrümmungen und Lähmungen der Glieder, bei langwierigen Catarrhen und 
Hautfranfheiten mit fchr trockener und fpröder Haut, bei manchen Formen ven 
Waſſerſucht, überhaupt bei allen Erfranfungen, die man mit mehr oder weniger 

„ gutem Örunte von einer Verminderung oder Unterdrüdung der Hautthärigkeit 
ableiten zu müffen glaubt. Ihre frühere ausgedehnte Anwendung fcheint in der 
jüngften Zeit etwas nachgelaffen zu haben. 

Es ift jegt der Ort, näher auf jenen fo berühmt gewordenen metbotifchen 
Gebrauch des Falten Waſſers einzugehen, wie derſelbe in eigend zu dieſem Zwede 
eingerichteten Anftalten, den Kaltwafferheilanftalten, betrieben wirt. 
Als der Schöpfer ter Kaltwafferenr ober der Hnbrotherapie muß Prießnig ke: 
zeichnet werden, ber in feiner weithin berühmt gewordenen Anftalt in Gräfen 
berg bei Freiwaldau in Echleften Taufente und aber Taufende von Kranfen mit 
feiner eigentbüntlichen Methode behandelte und «8, wie nicht zu verfennen, ale 
talentvoller Mann trefflich verftand, die Kranken an fich zu feffeln und fie zu 
nöthigen, fich felbft Tem Feinedwegs angenehmen Gurverfahren wochen= und me⸗ 
natelang hin zu geben. Zeit und Erfahrung haben eine gerechtere Würdigung 
der, wie alles Neue, enthuftaftifch aufgenommenen Kaltwaſſercur herbeigeführt 
und den Nutzen dieſer Methode in die gehörigen Schranfen verwieſen; immerhin 
fann man Prießnig Das Verdienft nicht abiprechen, eine in vielen &ällen zweck⸗ 
mäßige, dabei einfache Methode in der Ärztlichen Welt in Aufnahme gebracht zu 
haben. Der Verfaffer erinnert ſich aud feinen Gymnaſtaljahren noch lebhaft 
der Begeifterung, die fich unter den Laien in ausgebehnteftem Maaße an Prieß⸗ 
nig’8 Namen Fnüpfte, aber mit Schrecken auch fühlt ex heute noch Die eigenen un« 
angenehmen Fmpfintungen, die die Anwendung der Prießnig’fchen Methode in ibm 
erregte; derXehrer, bei Dem wir als Benflonäre wohnten, behandelte zu unſerem größ⸗ 
ten Jammer alle franfen Zöglinge ohne Ausnahme in diefer Weife und hatte fich in 
Folge deſſen wenigftens eines Erfolges zu rühmen — feine Zöglinge bekamen fo gut 
wie niemals das Schulfieber. — Unverftand und Charlatanerie bemächtigten fi 
mit Macht der neuen Heilmethode und brachten diefelbe bald in Mißcerebit kei 
allen verftändigen Aerzten. Begünftigt wurde dieſes Mißtrauen noch durch bie 
auch von Priegnig geltend gemachten Anfichten, von den Erzielungen einer Eriti- 
ſchen Fieberreaftion, den fogenannıen Eritiichen Ausftößen in Borm von Haut⸗ 


Bäder; Heilquellen. 719 


ausjchlägen, Blutjchiwären, Eiterbeulen u. f. w. Ueberall fpielten die Grifen eine 
Hauptrolle. Prießnitz hat eine Menge Nachfolger gehabt und die Kalwaſſer⸗ 
beilanftalten wuchfen wie Pilze aus der Erde, um theilweife eben fo rafch wie⸗ 
der zu vergeben; einen Nachfolger, der ihm feinen Ruhm flreitig zu machen ge⸗ 
eignet wäre, hat er bis jegt nicht gehabt. 

Sehen wir und nun die Methode näher an und prüfen wir vorurtheilsfret 
ihre Licht» und Schattenfeiten. 

Die Kalwaſſercur befteht in der Hauptfache in einer Einführung von Falten 
Waſſer durch innerliche und Außerliche Anwendung im einer Menge, welche daß 
individuelle Bedürfnig des Menfchen überfteigt. — Man trinft täglich ein Glas 
frifches Wafler in der Menge von 4—10, 12 Pfund, in früheren Zeiten noch 
mehr; neuerdings bat man das maflenhafte Waffertrinfen etwas befchränft. 
Außerdem wicelt man den Körper in naffe Leinentücher, Die man fodann mit trocke⸗ 
nen wollenen Teppichen, fogenannten Kazen, umhüllt, auch wohl außerdem den 
Kranfen mehr oder weniger reichlich mit Betten bededt, wodurch er dann alébald 
in einen reichlichen Schiveiß verfällt, den man je nach Umftänden durch Trinken 
von Wafler zu befördern und zu unterhalten ſucht. Nachdem der Kranfe jo bis 
zu einer Stunde und darüber gefchwigt bat, wird er nun unmittelbar in ein 
Falte8 Bad geichafft, in dem er einige Minuten bleibt. In anderen Fällen 
wird der Kranfe blos mit Fühlen Waller im Halbbade begofien oder nur mit 
naffen Tüchern abgerieben. Daranf muß er fi, wenn die Witterung es geftat« 
tet, im Breien oder in fogen. Wandelbahnen Bewegung machen und dabei Wafler 
trinfen. Je nach den Umftänden wendet man auch nur Douchen, Regen⸗ oder 
Sturzbäter, Theilbäder an, auch bloße Abreibungen mit feuchten Tüchern, ein⸗ 
fache kalte Mäder; furz man bat eine fo reiche Auswahl von therapeutifchen 
Methoden, die Dem jedesmaligen Einzelfalle, wenigftend in den beiferen Kalt« 
wafleranftalten, angepaßt werden. Die Temperatur des verwendeten Wafjers 
ſchwankt zwifchen 6—16° R., doch hat man auch von niederen Temperaturen 
Waſſer verwendet und die Kranken felbft im Winter in die Kaltwafleranftalten 
geſchickt. Eine Hefonders ausgedehnte Verwendung finden namentlich die naffen 
Einwidelungen einzelner Körpertheile (Durch fogenannte Neptunsgürtel), wie dies 
felben in ſehr vereinfachter Seftalt als fogenannte Prießnitz'ſche Umfchläge die 
ausgebreitetfte Anwendung gefunden haben. Man Fann fie am einfachften fo 
‚herftellen, daß man Leinentücher in kaltes Waſſer taucht, ausringt und um den bes 
treffenden Theil fchlägt, und darum eine wollene Binde, Wachdtafel und derglei« 
chen mehr widelt, und den Umſchlag fo oft von Neuen befeuchtet, als er troden 
wird. Außerdem braucht man noch eine Menge von Theilbädern, ald Site, 
Armene, Bußbäder u. f. w. Berner Einfprigungen, lokale Wafchungen, Dou⸗ 
chen, einfache naffe Umfchläge, deren Erörterung Hier im Einzelnen zu weit führen 
würde und wegen deren wir auf die zahlreichen Schriften über Hydrotherapie ver⸗ 
weifen müffen. — Hierbei vermeidet man forgfältig Alles, was Aufregung, Rei- 
zung und Gongeftion nach inneren Teilen hervorbringen fünnte, da man das 
ganze eritifche Raturheilbeftreben nach der Haut zu leiten beabfichtigt. Den Cur⸗ 
gäften wird meiftend eine gute und Träftige, Dabei aber einface DIR weraiiräit. 


720 Mediecin. 


Gewöhnlich ftellt fich ein trefflicher Appetit ein, den man durch Einführung einer 
binreichenden Rahrungdmenge begegnen muß. 

Sp zahlreich bis jegt auch die Kranken find, die in Wafferbeilanftalten 
Hülfe fuchten und fanden; je maflenhafter hierüber bereit geichrieben worden 
und immer noch gefchrieben wird; fo manigfache, anfcheinend eracte Experi⸗ 
mente auch bereitö in diefen Bezichungen angeftellt find, fo find unfere Erfahrun- 
gen über die pofttiven Wirfungen und über die eigentlichen Anzeigen für eine 
derartige Gur immer noch fehr ſchwankend und unficher. Die Schuld davon 
liegt einestheils in den Waflerdortoren, die vielfach ganz unvorfichtig erperimen- 
tirten und noch Tuftigere Schlüffe auf ihre von Haus aus trügerifchen Verſuche 
und fogenannten Erfahrungen bauten, theild an ben unverkennbar großen 
Schwierigkeiten zur Anftellung wirklich reiner und eracter Verfuche, vielfach auch 
in ter Gleichgültigkeit und Paſſiviiät, mit der Die neuere Gurmeihode von ben 
Aerzten aufgenommen oder ohne nähere Prüfung angefeindet wurde Zwei 
Hauptpotenzen find es, die entichieden bei den Kaltwaflereuren in Wirkſamkeit 
treten, einmal Die Kälte, dann das Waſſer. Zu Prießnitz's Zeiten achtete man 
es für nothwendig, daß der Kranfe in einem befländigen Sroftgefühle, das er nur 
mit Mühe bewältigen Fonnte, gehalten werde; in neuerer Zeit ift man won biefer 
fiher extravaganten Anjicht zurückgekommen. Ebenfo ließ man in damaliger 
Zeit ganz unglaubliche Mengen Waſſers trinfen, während man jegt meift fid 
darauf beichränft, fo viel trinfen zu laffen, ald der Kranke ohne unangenchmes 
Gefühl verträgt. Im, jeder Hinficht hat man fonach die vernünftigere Mittel 
ftraße einzufchlagen. — Durch ein derartiged, längere Zeit fortgeſetztes Verfah⸗ 
ren wird natürlich die Haut zu einer größeren Ihätigfeit angeregt und ber Um 
fag der Säftemajfe befchleunigt, energijcher, in Folge deffen auch Die Ausjcheis 
dungen und Aufjaugungsprocefje auch lebhafter von flatten gehen. Wirkungen 
auf das Nervenfyften und Der von bemfelben unmittelbar abhängigen Organe bleis 
ben nicht aus, indem Die Kranfen, meift dadurch beruhigt, erfriicht und gefräftigt 
werden. Entſchieden von großem Vortbeile ift e8, daß die Kranken dadurch 
überhaupt zu einer einfachen, naturgemäßen Lebendweife geführt und an eine 
größere, firengere Reinlichfeit gewöhnt werden, die eine nicht genug zu jchägende 
Abhärtung Der Haut und des gefammten Organismus zur Folge bat. 

Die früheren ganz allgemeinen, vereinzelt noch jet beftchenden Lehren von 
der Nothiwendigfeit fogenannten Krifen, die man zu einer erfolgreichen Cur für 
unbedingt erforderlich hält, ift mit Recht aufgegeben worden, namentlich ſchrieb 
man den Hautausjchlägen, Blutſchwaͤren und Beulen eine befondere Bedeutung 
zu, indem man glaubte, die Natur entledige ſich auf diefe Weiſe der im Blute ent 
haltenen Schärfen. In neuerer Zeit, feitdem man den Waffergebrauch rationell 
betreibt, find Dieje Krifen jeltener geworden, einfach wohl dedwegen, weil hiermit 
auch das früher übliche übertricbene Malträtiren der Haut weggefallen ift. 

Man empfichlt Kaltwaffercuren, befonders für fchwächliche, nervöſe, durch 
faliche Erziehung Verzärtelte, namentlich auch für Perfonen, Die ſich überwiegend 
haͤufig und ausichließend mit ihrem eigenen Körper beichäftigten, für Hypochonter, 
für Hyfterijche und zahlreiche Nervenleiden anderer Art, Bortheilhaft erweifen 


fie fich auch bei folchen, bie durch Exceffe, ſchwelgeriſches Leben, gefchlechtliche 
Ausfchweifungen, oder durch allzu anftrengende Arbeiten herunter gefommen find. 
Bei Spphilitifchen, bie durch unzweckmaͤßigen Gebrauch von Queckfilber gleich⸗ 
zeitig in ihrer Conſtitution zerrüttet find und zahlreiche andere Eurmethoden ers 
folglo8 angewendet haben, ſieht man oft durch eine Kaltwaſſercur eine Wendung 
zum Beſſern herbeigeführt, Ueberhaupt find Krankheiten der Geſchlechtsorgane, 
dur Onanie herbeigeführte Schwächeguftände oft Durch Kaltwafjercuren befeitige 
worden. Auch bei manchen Gemüthöfranten, bei bem zahlreichen Heere der 
chronijchen Unterleibskrankheiten bewährt ſich ihr Erfolg. Vielfach geeignet 
find Diefelben endlich far Die zahlreichen eingerwurzelten Faͤlle von Hautkrank⸗ 
heiten. Selbftverfländlich werden nicht alle Kranke in derartigen Anftalten ges 
befiert, Die man dort Hinfchict, ja von vielen kann man von vornherein fagen, 
Daß fie nicht dafür geeignet find. Alle Erfranfungen,. die eine tiefere Veraͤnde⸗ 
rung des Organismuß bewirkt haben, gehören nicht dahin, fo der Krebs und weit 
borgefchrittene Lungentuberfulofe; bei ernften und ausgebildeten Herzfehlern, 
für alle fehr erjchöpfte und gefchwächte Individuen find fie nicht geeignet. 

Bon den zahlreichen Kaltwaflerbeilanftalten Eönnen wir nur einzelne nam⸗ 
haft machen. Dahin gehört zunächft das noch heut ſtark bejuchte Bräfenberg, 
die Anftalt des Vaters der Hydrotherapie, Brießnig, in Oberſchleſien, weiter das 
am Fuße deſſelben gelegene Freiwaldau. Giner befonders intereffanten Rage 
erfreut ſich Fuſch in Unter» Pinzgau, im gleihnamigen an NRaturfchönhetten 
außerordentlich reichen Alpenthal. Weiter Geltſchberg bei Leitmerig, Lieb⸗ 
werda und Wartenberg, Laab bei Wien. Auch Prengen zählt zahlreiche An⸗ 
falten, fo Marienberg am Rhein, Görbersdorf in Schleflen, Kunzendorf bei 
Reuroda, Gellenau. Weiter Gleisweiler in der Pfalz, Alexandersbad bei 
Wunftedel im Fichtelgebirge, Elgeröburg und Ilmenau im Thüringer Walde; 
im Königreiche Sachſen die Anftalten zu Königsbrunn, die Schweizermühle bei 
Pirna, dann Tharandt, Hobenflein 'bei Chemnitz. Auch in England und 
Sranfreich und anderen Kindern find zahlreiche Etabliſſements errichtet worden, 
fo daß an einer reihen Auswahl kein Mangel if. 

Nachdem wir bisher ausfchließlich die Verwendung des einfachen Waſſers 
befprochen haben, wenden wir und nun zu denjenigen Wällern, die man ale 
eigentliche Mineralquellen bezeichnet, indem biefelben fi Durch einen größeren 
Gehalt an mineralifchen Beſtandtheilen auszeichnen. Im Uebergange zu dieſen 
Mineralwäfleen ericheint es zwedimäßig, die Seebäder näher ind Auge zu 
faffen, da fle gewiſſermaßen vermittelnd zwifchen dem einfachen Waſſer und ben 
Mineralquellen ftehen. 

Das Meerwaffer zeichnet ſich vorzüglich durch feinen größeren Salzgehalt 
aus, der im Mittel 2 His A Procent beträgt. In der Oftfee iſt der Gehalt au 
Salzen am geringften, im Mittelmeere am höchſten. Die Salze, die man im 
Meerwafler gefunden, find vorzugäweife Chlornatrium (Kochſalz), dann Chlor⸗ 
caleium, ſchwefelſaure Bittererbe, Kali und Kalk; auch geringere Mengen von 
Jod und Brom bat man in demfelben nachgewiefen. Dad Verbältnig, in bem 


die einzelnen Salze zu einander ftehen, ift ein fehr verſchiedenes. Kir due 
V. ar 


12 Me © 


thamliche, beſonders Erwähnung verbienende Erſcheinung des Meerwaſſers Tiegt 
darin, daß feine Temperatur viel geringeren Schwankungen unterliegt, als bie 
Luft. Im Mittel beträgt Die Temperatur 14 bis 18'R. und zeigt nach Tages 
und Jahreszeit Fluctuation; die hoͤchſte Temperatur erreicht eB In den Monaten 
Auguft und September; an flachen, feichten Stellen zeigt die Sonnemwärme bes 
traͤchtlichen Einfluß. Die kaͤlteſten Seebäder find die der Oſtſer, die wärmften bie 
des atlantiichen Oceans und des mittelländifchen Meeres. Nach heftigen Gtür- 
men verringert fich die Temperatur oft um 4 bis 6° R. 

Eine weitere Eigenthämlichkeit der See befteht in ben Bewegungen derſel. 
ben, die theils durch die periodifch fich wiederholenden Erfcheinungen der Ebbe 
und Fluth, theils durch Winde beſtimmt find. Dem Wellmfeylage kommt eine 
nicht unwichtige Bedeutung zu. In ber Oftfee treten bie Wirkungen ber Ebbe 
und Fluth zurücd, auch ift hier der Wellenſchlag ein viel unbedeutenderer, als in 
den anderen Seebaͤdern. Zu einer Seebadecur benugt man ausfchließlich bie 
drei Sommermonate und hält fich al8dann durch mehrere Wochen in Dem Babeorte 
auf, indem man dabei entweder in der offenen See badet, wenn man Träftig und 
ein gehbter Schwimmer iſt, oder in jogenannten Badekutſchen — einem zwei⸗ 
raͤderigen Karren, in Form eines Meinen Zimmers, von dem aus eine Treppe in 
das Meer führt; beim Gebrauche ſchiebt man biefelben bis zur erforderlichen 
Ziefe vor — oder wählt auch den feichten Strand, wenn deften Beichaffenbeit 
dies geftattet. In einzelnen Ballen benutzt man auch Seewafler zu Wannen⸗ 
bädern. Getrunken wird Seewafler nur felten, man bolt es zu biefem Zwecke 
aus der Tiefe heraus und filtrirt ed; das Oſtſeewaſſer gebraucht man fo und 
läßt täglich bis zu zwei Bechern geniehen. Doch entflehen bei dem Behrauche leicht 
Verdauungdbefchwerden, Durchfälle und Erbrechen; manchen Berfonen flößt 
fon der Sefchmad einen unüberwindlichen Efel ein. Die Dauer einer Sees 
badelur beträgt in der Regel ſechs Wochen, wenn man irgend einen Erfolg davon 
fehen will. Der Aufenthalt im Bade wird felten über 5 Bis 10 Minuten au 
gedehnt. 

Auch der Seeluft hat man eine günſtige Einwirkung auf den Organismus 
und einigen Einfluß bei den Mefultaten der Seebädercuren zugefchrieben. Die 
Luft am Seeftrande zeichnet fich Durch ihren größeren Gehalt an Waffer, wie an 
Salzen und anderen Stoffen aus, welche Iegteren beim Verdunſten burch Winde 
dorthin geführt werden. Daß die frifche bewegte Seeluft in der That nicht ohne 
Einfluß ift, muß zugegeben werden; worauf ihre Wirkung beruht, iſt jedoch 
wiffenjchaftlich noch nicht näher feftgeftellt: der geringere Drud der Auftfäufe, 
wie er am Seeſtrande jlattfindet, ift ficher ohne Einwirkungen, jo oft man hierin 
auch eine Veränderung in den Thätigkeitsäußerungen des Organiämus zu finden 
geglaubt hat. — In den meiften Bädern geht man mit wollenen Senden beklei⸗ 
det ind Bad oder, wenn man eine vollfländige Entkleidung vorzieht, laßt man 
ftch fofort nach dem SHeraudtreten aus dem Babe von Wärtern In trockene Decken 
hüllen. Im einzelnen Seebädern 3. B. Oftende baden überdem beide Befchlech“ 
ter gemeinfchaftlich. 

Der Vorzug der Seebäder nor den Flußbaͤdern, deren Birkungen fie 


Bäder,: Seilguellen, 723 


äbrigens mit einichließen,, befleht darin, daß im Seewaſſer bie erfle erfältenbe 
Wirfung um Bieled geringer ift und daß in Ihnen auch die Abfühlung nicht bie 
zum Eintritt eines zweiten Froſtes andauert. Dagegen ift die Reaction auf ben, 
Organismus eine flärkere, theils im Folge der flärkeren Reizung der Haut durch 
bie falzigen Stoffe, theil& wegen der mächtigeren Erfchütterumg durch bie Bellen, 
die im Kampfe mit denfelben zu einer größeren Körperanftrengung führt. Ga 
erhalten fle eine erfriſchende, babei zugleich Rärfende Wirkung auf die Haut und 
das Nervenſyſtem. Man empfiehlt die Seebäber als flärkende, die Meizbarkeit 
mindernde, die Haut und die gefanımte Ernährung und Blutbildung beförbernde 
Mittel und wendet fie daher an gegen Scropheln, Gicht und chroniſche Rheu 
watismen, bei böfterifcher Anämie, Bleichiucht, zum Kräftigen und Abhaͤrten 
ſchwaͤchlicher, nervoͤſer und reizbarer Perſonen überbanpt; bei chronifchen Haute 
krankheiten, namentlich den trodenen,, jchuppigen Formen; bei Dispofltion zu 
Erkältungen und zu Gatasrhen ded Darmes und der Lungen. — Kür ſchwaäch⸗ 
liche, ehr Heruntergefommene Perfonen eignen fie ch im Allgemeinen nicht; in: 
ſolchen Källen gibt man noch den Bäbern der Dftfee vor denen der Nordſee dem 
Vorzug, bie letzteren eignen ſich mehr für Eräftige und rüftige PBerfonen. Tiefere 
organifche Veränderungen, wie Krebs, Lungentuberculofen, namentlich wenn 
Neigung zu Lungenblutungen beſteht, verbieten ben Gebrauch. In manchen 
Gegenden benugt man fogenannte Seefandbäder, indem man im Uferfande Löcher 
außgräbt und die Kranken fich hineinſezen läßt. Namentlich für Kinder, die an 
englifcher Krankheit leiden, will man hiervon günftige Erfolge erzielt haben. 

Zu den berühmteflen und befuchteften Bädern der Rordfee gehört das Fel⸗ 
feneiland Helgoland, der Sammelplag der vornehmen Welt Deutfchlande, wie 
Englands. Dan batet hier nicht auf den Inſeln felbft, jondern auf den auf 
der Oftfeite der Infel gelegenen, burch einen Arın des Meered davon getrennten 
Dünen. Man lobt an Helgoland, trog jo mancher Schattenfeiten, namentlich 
den Weiz eines wirklichen Seelebens. Mit Helgoland rivaliftirt Norderney an der 
hannöveriſchen Küfte, Doch if es zum Defteren von fogenannten Springfluthen heim⸗ 
gefucht worden. Weiter begegnen wir in Holland Schebeningen und Zandvoort, 
von denen namentlich erſteres durch die Schönheit feines Strandes und Wellen» 
ſchlages befannt iſt. Von belgifchen Seebaͤdern iſt Oftende wohl das berühm⸗ 
tefte und ber Sammelplat zahlreicher Rationen; in feiner Nähe liegt Blanken⸗ 
bergfe. — Bon den Oſtſeebaͤdern verdient Doberan zuerft genannt zu werben alt‘ 
das äAltefte, geſchmackvoll eingerichtetfie und am laͤngſten befannte. Weiter fins 
ben wir Putbus auf der Infel Rügen, dann Ewinemünde, Heringsdorf, Zoppot, 
Warnemünde u. ſ. w., wie denn überhaupt in ber Jetztzeit jedes halbweg leibliche 
Fiſcherdorf zur Aufnahme von Giſten geeignet ift und einfache Vorrichtungen 
zu Bädern beſitzt. Einer nody größeren Benupung ſcheinen bie Eeebäber Enge 
lands und Frankreichs ſich zu erfreum. Man babet hier in Calais, Boulogne, 
Dieppe, Dünkirchen und le Havre, dem Hauptfammelplag bes Pariſer Grifetten. 
Durch den jehigen Kaiſer der Franzoſen iſt Biariz berühmt geworben. Das 
ſchönſte Seebad foll das von San Sebaſtian in Spanien fen. Die Serbäbes 


des Mittelmeeres zeichnen ſich durch. Hohe Temperatur und Haken Er ur, 
N % 


7234 Mediein. 


ihre Oberfläche iſt dabei meiſt ruhig, wenig bewegt; die warmen Winde Afrika's 
machen den Aufenthalt nur angenehmer. Bon ben Mittelmeerbaͤdern erwähnen 
wir Toulon, Marfeille, Rizza, Genua, Livorno, Gaftellamare, Iſchia. Im atrias 
tifchen Meere werden Venedig und Trieft ziemlich viel befucht. Bu ben berühm⸗ 
teften Seebaͤdern Englands gehören bie von Brighton, Dover, Graveſend, Liner» 
pool u. f. w. — — 

Als Mineralmäffer bezeichnet man alle Quellen, welche entweder wegen 
ihrer eigenthümlichen chemifchen Bufammenfegung ober ifter hohen Tentperatur 
ausjchließlich zu Heilzwecken benutzt werben. Bür die wifienfchaftliche Beurthei⸗ 
lung ihrer Wirkungen haben wir im Auge zu behalten, daß Dabei zunächft wies 
der das Waffer als folchss und feine Temperater in Betracht kommt, Dazu aber 
noch die im Waſſer aufgelöften frembartigen Beftandtheile. Die meiften Mineral« 
quellen, wenn nicht alle, verdanken ihre Entftehung den fogenannten meteorifchen 
Waͤſſern, den Niederfchlägen unferes Auftkreijes, die als Thau, Regen oter Schnee 
in die Erde eindringen, in den Spalten derfelben nach abwärts fliegen und auf 
diefem Wege einzelne von den Stoffen der Schichten, welche fie burchfeßen, 
auflöfen. Sie nehmen dabei zugleich die vorhandenen Safe in fich auf und er 
wärnen fich bi® zur Temperatur der umgebenden Schichten; mit biefen Stoffen 
und der erhaltenen Temperatur fleigen fie, durch hydroſtatiſchen Drud gehoben, 
wieder zur Oberfläche der Erbe empor. Yür einzelne Mineralquellen, 3.3. dem 
Geyſer auf Island und einzelnen Quellen des Himalaya iſt ein vulkaniſcher Urs 
fprung mehr oder weniger wahrjcheinlich. — Aus diefen Angaben über die Ent, 
ftehung der Mineralmwäfler erklärt e8 ſich, wie die Beſtandtheile derſelben allein 
von den durchfegten Erbfchichten abhängig find; dag deren Bufammenfegungen 
berjchiedenen bald größeren, bald geringeren Schwankungen unterliegen, ihr Ab» 
fluß bald in reicheren, bald in geringeren Mengen erfolgen kann, daß auch ihre 
Zemperatur ſchwankt, weiterhin ihre Farbe, Geruch und Geſchmack. 

Um bie zahlreichen vorhandenen Quellen zu überfeben, hat man dieſelben in 
verichiedene Gruppen gebracht und nach verfchiedenen Prinzipien eingetheilt. Man 
unterfcheidet fo nach der Temperatur warme und heiße Quellen, oder die fos 
genannten Thermen und die falten Waſſer. Die heißen Quellen verdanfen 
ihren im Verhaͤltniß zur Temperatur der Atmofphäre höheren Wärmegrad ber 
größeren Tiefe, aus ber fle entipringen. Es iſt befannt, daß die Temperatur der 
Erde nach der Tiefe zu conflant zunimmt und zwar im Mittel bei 100 Fuß 
um einen Grad ber Meaumur’ichen Scala ſteigt. Man kann danach bie Tiefe 
ber einzelnen Quellen berechnen, muß jedoch dabei bedenken, daß dieſelben durch 
Abgabe von Wärme an bie durchlaufenen Erbfchichten und durch zufliehende 
fältere Wäffer immer an Wärme verlieren. Fuͤr die befannteren heißen Quellen 
Deutichlands wie Baden, Karlöbad, Aachen u. a. hat man berechnet, daß fie 
and einer Tiefe von 6—9000 Fuß emporfleigen. Die Temperatur ſchwankt 
innerhalb fehr beträchtlicher Grenzen van 25—80 R. Bu ben heißeſten, medi⸗ 
ciniſch kaum benugten Quellen gehört der Genfer in Island, Adipifo in Griechen⸗ 
Iand, bie Quellen Haman Mescutin in Gonftantine, einzelne Duellen in Frank⸗ 
reich (Chaudes⸗Aigues, Kamotte), in Japan u. ſ. f. 


Bäder, Heilquellen. 725 


Die wichtigfte Eintheilung der Quellen ift die nach den shemijchen, in dem, 
felben gelöften oder enthaltenen Beſtandtheilen, da auf deren Anmwefenheit bie 
Hauptwirfung der Mineralquellen berußt. Die Anzahl der in den Heilquellen 
aufgefundenen Stoffe ift aber eine fo zahlreiche, daß fie die wichtigften Elemente 
umfaßt. 8 macht fich daher bei der Gruppirung der Mineralquellen eine wei⸗ 
tere Trennung der vorhandenen Beftandtheile infoweit nöthig, daß man die un⸗ 
wejentlichen Mijchungsbeftandtheile ganz bei Seite Täßt und nur nach den vor“ 
wiegenden, auf denen bie mediciniſche Wirkung, die fogenannte Heilkraft beruht, 
gruppirt. Auch hierbei fehlt e8 nicht an Schwierigkeiten, da in einer Quelle 
oft mehrere wejentliche, zugleich zur Wirkung kommende Körper ſich befinden 
und man daher mit gleicher Berechtigung die eine Duelle bald Hier, bald dort 
einzureihen vermag. Manche Quellen zeichnen ſich durch ihren geringen Gehalt 
an fremden Beftandtbeilen aus. Wir betrachten zunächft diefe. 

Unter den indifferenten Mineralquellen verfteht man alle jene 
Duellen, welche durch ihren geringen Gehalt an feften Beſtandtheilen fich unſe⸗ 
ven gewöhnlichen Trinkwaſſern nähern, ja gleichftehen und auch eine größere 
Menge von Bafen nicht mit ſich führen. Ste werben nur dann als eigentliche 
Heilquellen bezeichnet, wenn fte mit einer Höheren Zemperatur aus der Erde her» 
bortreten; wir betrachten Daher auch nur die indifferenten Thermen. Trotzdem 
daß diefe Thermen dem gewöhnlichen Brunnenwafler gleichen, welches wir burch 
Erwärnen leicht auf die Temperatur jener Wäfler bringen können, fteht es 
doch durch taufendfältige Erfahrungen ſeſt, daß dieſelben in ihrer Wirkſamkeit 
die gewoͤhnlichen Wäffer übertreffen. Wenn bei ihrer Wirkung überhaupt nur 
ihr Wärmegrad In Betracht Fommt und die Leichtigkeit der Benugung ind Auge 
zu faſſen ift, fo find e8 doch ficher weientlich andere Momente, die ihre Heilwir⸗ 
fungen hervorrufen, wobei namentlich die Eigenthuͤmlichkeiten des Curortes, bie 
veränderte Lebensweiſe und zahlreiche andere Momente, wie wir biefelben oben 
nambaft gemacht haben, mit in Rechnung zu bringen find. — Die inbifferenten 
Thermalwäffer werden vorzugsweiſe zu Bädern verwendet, in denen bie Kranken 
längere Zeit bleiben müflen. Die Temperatur der Quellen ift eine verfchiebene, 
Man badet entweder unmittelbar In dem Waffer in dem Zuflanbe, wie es auß 
der Duelle fommt, wie dies z. B. in Wildbad, Baden bei Wien, Warmbrunn, 
Pfaͤffers u. a. möglich ift, oder man benugt meiſtens die in befonderen Vor⸗ 
richtungen abgekühlten Wäfler. Einzelne Duellen werben auch getrunfen oder 
ed gibt zugleich an den Babdeorten bejondere Trinkquellen. 

Die Wirkung diefer Bäder nähert fich oder gleicht faſt ganz der ber 
warnen Bäder überhaupt, wie wir fle oben erörtert haben; wir Fönnen daher 
bier um fo kürzer fein. Heiße Bäder ſind im Allgemeinen verwerflich, oder doch 
nur mit der größten Vorficht zu gebrauchen. Die Temperatur des Baͤder ſchwankt 
zwifchen 30—37 0 R.; heißer ald 509 kann ein felbft Eräftiger Mann ein Bad 
nicht vertragen und auch dann nur Eurze Zeit darin aushalten. Wenn 5.2. 
der Marfchall Marmont berichtet, daß er auf feiner Reife in Kleinaflen einen 
Türken in einem Bade von 78°C. Tängere Zeit habe verweilen fehen, fo darf 
man gegen bie Michtigkeit der Beobachtung gewichtige Zweifel geltend waien. 


726 . . Mediein. 


Heiße Bäder verurſachen ſchnell ein faſt unertraͤgliches Gefuͤhl ber Erhitzung, 
mit Herzklopfen, Eingenommenſein des Kopfes und allgemeiner Erſchlaffung des 
Körpers. Die Sefahr bei ihrem Gebrauche ſteht mit ihren Erfolgen um fo wes 
niger in Einflang, ald man biefe erfahrungsgemäß auch durch Fühlere Bäder er» 
zielen kann. 


Einer weit außgedehnteren Anwendung erfreuen fich die warmen Bäder mit 
einer zwifchen 27—30 9 R. ſchwankenden Temperatur, wie diejelben fat aus- 
ſchließlich in den Gurorten diefer Gattung angewendet werden. Cie wirken 
analog den heißen Bädern, nur erregen fie nicht diefe Aufregung, bie bei vielen 
Individuen fogar ganz fehlen kann; fle wirken erregend und belebend auf den 
Organismus; bei ihrem Tängeren Gebrauche beobachtet man häufig das Auf 
treten eines Badefrieſels. 


Als laue Baͤder bezeichnet man ſolche, die eine Temperatur von 21—27°R. 
zeigen. Sie wirken, wie man ſich ausdrückt, beruhigend und nervenſtaͤrkend; der 
Puls wird ebenſo wie das Athmen durch dieſelben ruhiger, es tritt ein allgemei⸗ 
ned Behaglichkeitsgefuͤhl ein, ohne daß man eiwas von Froſt oder Aufregung bes 
merkt. — Die auögedehntefte Anwendung erfahren die Thermen, um Ueber 
zefte früherer Erkrankungen, namentlih der chronifchen Entzündungen, wie 
Yusichwigungen, Verhärtungen zu bejeitigen; befonderd günftig wirken fie bei 
blutarmen, fchwächlichen Verfonen. Weiter benugt man fie ganz vorzügs 
lich bei Gicht und eingewurzelten Mheumatiömen mit all den weiteren Folgen 
dieſer Krankheit, wie fie fich ald Ablagerungen in den Gelenken, ala Verkrüm⸗ 
mungen, Lähmungen zeigen. Auch gegen chronijche Schleimflüffe der Blafen- 
und Scheidenfchleimhaut, der Gebärmutter, des Darmcanales, gegen zahlreiche 
ferophulöie und fonftige Hautausichläge werden fle mit dem beften Erfolge ange 
wendet. Immerhin muß man auch bei den warmen Bädern vorfichtig fein und 
namentlich, bei Neigungen zu Kopfeongeftionen und zu Blutungen thut man wohl, 
diefelben in einer cher niebrigeren ald höheren Temperatur anzuwenden. 
Manche Quellen erfreuen ſich eines befonderen Rufes gegen Unfruchtbarkeit; die 
bei und berühmtefte Quelle in Diefer Beziehung ift die Bubenquelle zu Ems. 
Man benugt diefe Wäffer alddann zu Einfprigungen in die Geſchlechtstheile mit⸗ 
telft der fogenannten auffteigenden Douchen. 


Zu den berühmteften gebaltlofen Thermalwäflern gehört Wildbad in Wür⸗ 
temberg mit dem Herrenbade, Bürftenbade und Frauenbade und einer zwifchen 
25 bis 30® R. betragenden Temperatur. Sehr befucht iſt Gaftein, deſſen Waͤſſer 
im Durchfchnitt 3SIR. warn find und daher vor dem Baden abgefühlt werden; 
die reizende Lage von Gaſtein mag nicht wenig für deſſen fo vielfach gerühmte 
gänftige Wirkungen gethan haben. Weitere Erwähnung verdienen Schlangen- 
bad in Raffau (22—24'%® R.), Tüffer in Steiermark (27—30°) Warmbrunn 
in Schleften (bis zu 32 R.), die Wormfer-Bäber. In Frankreich iſt die ber 
rühmtefte Therme Plombieres in den Vogeſen, deren heißeſte Duelle 53° R. 
Wärme zeigt. In England iſt am befuchteiten das fühon den Roͤmern befannte 

Bath, die Temperatur der dalkgen Durlen hertiar FTIR. Von italienifchen 


Bäder, Heilgwellen. 727 


Bädern erwähnen wir Piſa (23—35 ° R.), die Quellen werben bier zum Baden 
und Trinken benußt. oo an 

Wir geben jegt zu ben gehaltreichen Mineralquellen über und betrachten 
hier zunäch die Kochſalzquellen, die man auch muriatifche Wäifer 
nennt, da wir in deren Wirkungsweiſe an den Seebäbern rinen Anknuͤpfungs⸗ 
punkt finden. Ihr Hauptbeflanbtheil if das Chlornatrium odes Kochſalz; außen 
dem enthalten die Quellen in verichiedenem procentifchen Gehalte noch Chlor⸗ 
Falium, Ghlormagneftum, auch ſchwefelſaures Natron, Bitiererde, Kalterbe; 
weiter enthalten fie, jedoch nur in äußerfi geringen Mengen, Iod und Brom. 
Wichtig ift ihr oft reicher Gehalt an freier Kohlenſaͤure, wie an kohlenſaurem 
Natron und fohlenfaurem Eiſenoxydul, da diefe Beſtandtheile vom wefentlichften 
Ginfluffe auf ihre Wirfung find. Die Quellen find bald Falt, bald Thermal» 
wäfler. Die meiften Wäffer verdanken ihren Gehalt an Kochſalz großen 
Steinfalzlagen oder fie kommen aus falzbaltigem Kalk», Mergel- und Thon 
ſchichten. Bei der Verbreitung des Kochjalzes ſowohl in den kryſtalliniſchen 
als in den fedimentäven Geſteinen bis zu den Tertiärichichten darf «6 nicht 
Wunder nehmen, dab man faR In allen Quellen Spuren von Ghlornatrium vor⸗ 
findet. Man trennt die Kochfalzwäfier wieder nach ihren Procentgebalten in 
gehaltreichere oder Soolen und in bie falgärmeren. Die Soolen wer« 
den meift nur äußerlich angewendet, da fie jehr unangenehm fchmeden und ſchon 
in geringeren Mengen auffallende Wirkungen hervorbringen. Die eigentlichen 
Kochſalzwaͤſſer werden Dagegen fowohl zu Bädern, als zum Trinken benupt. 

Die Soolquellen zeigen einen verichieden flarfen Grad der Sättigung, der 
jedoch felten mehr als 4 Procent an Kochſalz beträgt. Die Waller find meift 
Salt oder lan. Stärkere Soolen werben nicht verwendet, ohne vorher verbünnt 
worden zu fein, da fie zu reizend auf Die Haut einwirken und leicht zu ſehr unan⸗ 
genchmen, fchmerzhaften Sautausichlägen die Beranlaffung geben. — Die im 
engeren Sinne fogenannten Kochſalzwaͤſſer zeigen einem halbweg zu ertragenden 
Geſchmack und eignen fich daher wohl zum inneren Gebrauche; ihr Schalt an 
Kochſalz darf, wenn man Wirkung davon erwarten will, nicht zu niedrig fein. 
Angenehm und zum Curzebrauch befonderd geeignet find die Wäfler, welche zu⸗ 
glei viele Koblenfäure enthalten. — Die Tochfalzhaltigen Waͤſſer regen den 
Durft in vermehrten Grade an und nöthigen zu reichlicherem Waſſergenuß; fie 
befördern den Appetit, reizen die Schleimhäute und bewirken veichere Stuhl⸗ 
auslerrungen, weiterhin follen fle krankhafte Ausfchwigungen auflöfen und nas 
mentlich auch eine normale Lomphbildung anregen. Bon denjenigen kochſalz⸗ 
Haltigen Quellen, welche zugleich Jod enthalten, welches ſich jedoch bis jetzt nur 
zu äußerft geringen Mengen gezeigt bat, erwartet man nach beſonders günftige 
Wirkung in lepter Beziehung. Es if jedoch mehr als fraglich, ob die beim Ge⸗ 
brauche der jophaltigen WWäfler in der That wahrgenommenen günftigen Erfolge 
auf dem an ſich fo geringen Iobgehalte beruhen oder nicht, vielmehr auf den an⸗ 
deren in ihnen enthaltenen Beſtandtheilen. Das Leptere erfcheint zur Beit als 
Das Wahrichrinlichere. 

Man gebraucht Eochfalzhaltige Waſſer beſonders bei den zahlreichen, unter 


128 Mebdiecin. 


den Namen der Scropheln zuſammengefaßten Leiden; die Erfolge ſind hier 
außerordentliche. Auch gegen andere fogenannte conflitutionelle Erkrankungen 
fie Tuberculofe der Lungen, hei jerundärer Syphilis hat man fie, und nament⸗ 
lich die jodhaltigen Wäfler, nüglich gefunden. Auch gegen rheumatijche und 
gichtifche Leiden werden fle empfohlen, hierfür jedoch anderen Quellen meift der 
Vorzug eingeräumt. In audgedehnter Weiſe werden fie bei den zahlreichen Stoͤ⸗ 
rungen des Magend, wie des ganzen Berbauungdapparates verwendet; nament⸗ 
lich find es die Zuftände von Unterleibsplethora, von Verfchleimung des Magens, 
dhroniichen Erbrechen, befonders dann, wenn zugleich nervoͤſe Grfcheinungen 
vorhanden find, die durch Fochfalzhaltige Quellen geheilt werden. Häufig wer» 
den biefelben auch gegen Vergrößerungen und Berhärtungen der Organe, na 
mentlich der Drüfen, als Heilbringend gelobt und auch Hier glaubt man wiederum 
von den jodhaltigen eine befondere günflige Wirkung erwarten zu dürfen. Der 
Gebrauch derſelben bei übermäßiger Bildung von Bett, der fogenannten Fett 
fucht, reiht fich hier an. Auch bei alten eingewurzelten Hautkrankheiten, ſchlaffen, 
namentlich ferophuldfen Gefchwüren verwendet man fie und fieht auch Hier, wie 
bei der Benugung berfelben gegen zahlreiche Störungen des Nervenlebens die 
gewünfchten Heilwirfungen erfolgen. — Neuerdings verwendet man auch das 
Mutterlaugenfalz, 3. ®. dad Kreuznacher, Wittelinder, das man aldtann in 
Quantitäten von einem Pfunde durchfchnittlich dem Wannenbade zuſetzt; ein 
ſolches Bad kann mehrmals gebraucht werden, nur läßt man bei jedem neuen 
Babe eine Pleinere Menge neuen Salzes zufegen. Gleiche Verwerthung erfährt 
auch das Seeſalz. 

Die Anzahl der hierher gehörigen Badeanſtalten iſt eine fehr reiche. Zu 
den befannten Soolbabeanflalten gehört Arelmannftein bei Reichenhall mit der 
Evelquelle, Iſchl im Salzburgijchen, die Salinen Hall bei Kremsmünfter im 
Salzkammergut, Baden in Baden, Köfen bei Naumburg, Halle, Raubeim mit 
feinem großen, außerordentlich prächtigen Sprudel und zahlreichen neu erbohrten 
Duellen, Wiesbaden im Naſſauiſchen. Auch kann man hieran die Salzquellen 
auf Java, die Salzieen der Krimm und das todte Meer anreihen. Auch in 
England, Branfreih und den anderen Rändern fehlt ed nicht an Soolm. — 
Jodhaltige Eoolen find die Adelheidsquelle bei Heilbronn, die jedoch nur verien- 
det wird, Krantenheil bei Tölz in Oberbayern, Kreuznach unweit Coblenz im 
Nahethale, Elmen im Magdeburgifchen, Saron im Rhonethafe und Luhatſcho⸗ 
wis am Fuße ber mährifchen Karpathen; die beiden letzteren find die an Jod bie 
jegt am reichhaltigften befundenen Quellen. — Wir erwähnen fchließlich noch 
einige der befannteren und berühmteren Kochſalzwäſſer im engeren Sinne, bie 
vorwiegend zum Trinken gebraucht werden. In erfter Reihe darf man bier wohl 
Kiffingen ftellen mit der Ragoczyquelle, dem Bandur, dem Max⸗ und Therefien⸗ 
Brunnen: Ragoczy und Pandur find die an Ehlorverbindungen reichften Quellen, 
fie enthalten zugleich kohlenſaures Gifen und eine beträchtliche Menge Koblen- 
fäure. Sie Haben einen entfchieden günftigen Einfluß auf Ernährung und Vers 
dauung. Der Thereflenbrunnen ift ein Säuerling; anßerdem gebraucht man 
noch in dem eine halbe Stunde entfernten Soolenfprubel Sool⸗ und Gasbäder. 


Bäder, Heilguellen. 729 


Das Leben ift angenehm und verbältnigmäßig Billig. Weiter erwähnen wir 
Wiesbaden mit feinen jeher warmen Quellen, Nauheim, Mergentheim im Wür⸗ 
tembergifchen, Depnhaufen bei Mheme, Soden, Wittekind und zahlreiche andere, 

An die Betrachtung der Kochjalzquellen reihen wir bie Beſprechung der 
falinifhen Mineralwäffer. Als Hauptbeſtandtheil finden wir in allen 
diefen Quellen fchwefelfaures Ratron und fchwefelfaure Bittererde in größeren 
Mengen, weshalb dieſe Wäfler, da fle in Folge dieſes Gehaltes einen beſtimmten 
bitteren Geſchmack befigen, auch Bittermäffer oder Glauberſalzwäſſer 
genannt werben. Weitere wichtige Beflandtheile tiefer Waͤſſer find, jedoch in 
geringeren Quantitäten, fohlenfaures Natron, Ehlornatrium und Spuren von 
Eiſen. Viele derfelben enthalten ein reichhaltiges Volumen Kohlenſaͤuregas 
gebunden, welches den Geſchmack dieſer Wineralwäffer weſentlich verbeſſert. 
Man findet unter ihnen Falte, wie warme Quellen, Wie bekannt zeichnen fle 
fich ganz beſonders durch ihre.abführende Wirkung aus. Diefe Wirkung felbft 
ift Hei den zahlreichen hierher gehörigen Quellen eine ſehr verfchiedene und hat 
man deshalb dieſe Wäfler in zwei Abtheilungen gebracht, von denen die eine 
die reinen Bitterwäfler, mit vorzugöweile abführenden Eigenfchaften, die andere 
die gemifchten alkalifchen Bitterwäfler umfaßt; bei den letzteren tritt die abführende 
Wirfung nicht fo in den Vordergrund, ja fie fehlt bei manchen fogar ganz, waͤh⸗ 
rend ihnen vorzugsweiſe eine allgemeine auflöjende und verflüfflgende Wirkung 
nachgerühmt wird. Die ſämmtlichen Wäffer werden nur getrunfen, doch finden 
fih in allen Curorten zugleich Vorrichtungen zu Bädern der manigfachiten Art. 
Die fogenannten reinen Bitterwäfler werden audfchließlich verſendet, und nicht im 
Drte wo die Duelle ift, curmäßig verbraucht. Die Menge de zu trinfenden Waſſers 
iR nach den einzelnen Ballen und nach der Individualität eine verjchiedene; bei 
manchen Menſchen wirken fhon jehr geringe Mengen abführend, während An⸗ 
dere eine doppelte und dreifache Menge gebrauchen, bevor fie Wirkung verfpüren. 
Eine von mir behandelte Dame befommt regelmäßig ſchon nach einem halben 
Weinglafe Püllnaer Bitterwafler profufe Diarrhöen, eine andere jedesmal Hefe 
tiges Erbrechen, objchon ſie fonft uͤbelſchmeckende Arzneien gut verträgt. In der 
Regel werden nicht mehr als ein bis jech® Becher (zehn bis zwölf Loth enthal⸗ 
tend) im Tage getrunfen. 

Die Anwendung diefes bitterfalzhaltigen Wäffer ift eine weitverbreitetr. 
Man empfiehlt dieſelben zur Beſeitigung chroniſcher Verſtopfungen, Kotbanhäus 
fungen, bei jenem zahlreichen Krankheitsheere, Die man als Venoſttaͤt, Unterleibs⸗ 
Rodungen, als Verfchleimung u. f. w. bezeichnen hört, bei den manigfaltigen, 
meiſt fo dunfeln Krankheiten der Leber, bei Belbjucht, bei übermäßiger Fettbil⸗ 
dung, bei den Hämorrhoidalzuftänden mit ihren wechlelnden Erfcheinungen, bet 
den unnennbaren „Berftimmungen bes Rervenſyſtems“ u. ſ. w. Die außerordent« 
lich wohlthätigen Wirkungen find weltbefannt. Man hüte fidy jedoch Kranken 
mit tieferer Ernährungsftörung ben Gebrauch diefer Bäder anzurathen, da man 
hei diefen, wie auch fonft.bei ſehr heruntergekommenen und entkräfteren Perſonen 
durch erfolgende, zahlreiche, waͤſſerige Ausleerungen ein auffallend fchnelles 
Sinken der Kräfte beobachtet hat. 


730 12: MRediein. -;. 


Als reine Bitterwäfler fiad zu bezeichnen und am berügmteflen das Said» 
fhüger und Bällnaer, beide Böharen angehörig and weit und breit bin verfendet, 
an den Quellen felöft kaum curmaͤßig gebraucht, objchon, fo weit bekannt, in 
Puͤllna Einrichtungen Dazu vorhanden fein follen. Hierher gehört ferner Seid⸗ 
fig in Böhmen; bad aud biefer Duclle bereiteie Salz wird jegt weit und breit 
verſendet. In England ſind die Quellen von Eyfom berühmt, deren Salz frühes 
viel auf dem Kontinente gebraucht wurde, jegt aber etwas außer Mode gefoms 
men iſt. u Fi 

Bon ten alfalifchfaltnifchen Wäflern. find die wichtigften die weit und breit 
hin berühmten Thermen Karlsbads mit dem befannten Strudel, ber eine Tem⸗ 
peratur von 60° B. zeigt, weiter Die Reuquelle, Mühl, Marko, Spital⸗, There 
fin» und andere Quellen, deren XIempemperatur zwiſchen 27 bis 45° R. 
ſchwaukt. Jaͤhrlich ſuchen und finden Taufende hier Benefung, namentlid; fteht 
man bier viel Leberfrante, Kranke mit Gallenſteinen, mit chroniſchen Magen⸗ 
und Darmcatarrhen, mit Gicht, Rheumatismus, viele Schlemmer und Dickbaäͤuche, 
dei denen die ſchmale Curkoſt ihre ebenfalls günftigen Wirkungen nicht verfehlt. 
Auch Kranke mit Nieren« und Blafenfteinen haben die Garlöbader Quellen mit 
Bortheil gebraucht. — Auch aus diefen Quellen ſtellt man das Salz als Garit 
bader Salz dar und bringt ed In den Handel, — 

Mit Carlsbad rinalifirt Das fünf Meilen davon entfernte, nicht minder vid 
befuchte Marienbad mit dem Kreugbrunnen und Ferbinandöbrunnen, den am 
meiften gebrauchten Quellen, außer denen noch zahlreiche andere vorhanden, 
Die Hiefigen Quellen find Falt, in ihrer Zufammuenfegung Denen von Carlsbad 
in der Hauptfache gleich. Sie befördern die Verdauung und führen bei längerem 
Gebrauche ab; dem Eijengehalte, namentlidy der Ferdinandöquelle, fchreibt mau 
einen befonderen Einfluß auf die Blutbildung zu. Weiter gehören hierher Sram 
zensbad bei Eger, mit der Franzend-, Wieſen⸗, Salz⸗ und Reuquelle, die eben⸗ 
fall8 mehr oder weniger eifenhaltig find; dann Friedrichſshall in Sachſen⸗Meinin⸗ 
gen, Mohigfch im Steyermärkifchen, Cannſtadt am Nedar. 

Die altalifchen Mineralwäffer zeichnen fih beſonders durch einen 
reichen Gehalt an Eohlenfaurem und doppelfohlenjaurem Ratron aus, neben denen 
ſich viele freie Kohlenſaͤure findet; ift Iegtere überwiegend und treten die fehlen 
Beſtandtheile jehr zurüd, fo bezeichnet man die Quelle als Sauerbrunnen. 
Außerdem finden fich in Diefen Wäflern in wechfelnden Mengenverhältniffen and, 
ſchwefelſaures Natron, Kochjalz, fehwefelfaure Erden, Eifen. Die reichhaltige 
zen alfalifchen Quellen zeichnen ſich Durch ihren laugenhaften Geſchmack aus, 
der um fo mehr hervortritt, je weniger Eohlenfäurehaftig dad Wafler iſt. Auch 
von biefen Wäflern kennt man Talte, wie warme Quellen. 

Zum innerlichen Gebrauche benugt man alfalifche Wäfler beſonders unb 
zunächft bei den fogenanuten Steinbefcywerden, wie Diefelben bei Rieren- unt 
Blajenfteinen fich zeigen. In welcher Weife diefe Waͤſſer auf Die Steine wirken, 
ift noch dunfel, aber unleugbar Thatſache, daß die vorhandenen Beſchwerden in 
viclen Fällen fi mindern und ganz gehoben werden. Eines befonderen Kufes 
erfreuen fich in dieſer Berlehung die Tepliger Quellen und das Bichnwafler. 


Bäder; Heißgnellen. 731 


Ebenſo verwendet man biefe Waͤſſer dei übermäßtger Bildung von Harnſäure, 
bei catarrhalifchen Auftänden ‚der Wlafe und Nieramvege. Weiter namentlich 
bei Gicht, befonders in ben fpäteren Stabien Bei fogenamnter anomaler, atoni⸗ 
fer Sicht. Ebenſo empfiehlt man kirfelben Bei übermäßiger Säurebifbung 
des Magens, bei Magenkrampf, Durdfällen, zahlreichen anderen Verdauung. 
beſchwerden, bei Leberleiden, Dallenſteinen. Außerdem finden fic mit Vortheil 
ihre Verwendung bei verfchleppten Gatarrhen der Lungen, bes Kehlkopfes, bei 
dem erfin Stadium der Tuberkulofe. — Die Bäder wirken im Allgemeinen wie 
warme Bäder überhaupt, doch fchreibt mar ihnen befonbere erweichende, aufs 
Löfende und verjingende Eigenfchaften zu und benugt fie bei den zahlreichen 
Erkrankungen der Haut, ferophulöfen Erfranfungen, bei Lähmungen und Cou⸗ 
tracturen in Folge von Gicht, bei chronischen Knochen» und Gelenfleiden. Aus« 
gebehnte Anwendungen finden fie auch gegen Erkrankungen der weiblichen Ges 
ſchlechtsorgane, bei Unfruchtbarkeit und e8 bat ſich namentlich Ems hierbei des 
ausgezeichnetſten Rufes zu erfreuen. — 

Die eigmtlichen Sauerbrunnen ober Säuerlinge, worunter man 
hier nur Diejenigen Quellen verfteht, welche vorwiegend reich an Kohlenjäure und 
arm an feflen Beftandtheifen find, and von dem Gafe' 30 bis 50 Eubifzoll in 
einem Pfunde enthalten, zeichnen ſich durch einen angenehmen, gelindfäuerlichen, 
prickelnden Seichmad aus. In Folge deffen wirken fle in hohem Grade erfris 
fhend und Fühlend, können jedoch In größeren Mengen einen leichten Raufch, 
eine jedoch ohne Schaden vorübergehende Umnebelung der Sinne hervorrufen, 
Die fich. bald wieder ausgleicht. Man verwendet Sauerwafler in ber Gegenwart 
vielfach als angenehm erfriichendes Getränk für Geſunde, namentlich zur Sonr 
merdzeit, wo es wie befannt, beſonders in größeren Städten von freundlichen 
Maflerniren feil gehalten wird. Bel Kranken tritt es befonderd in Wirkung 
bei Reizung des Verdauungskanals, bei Magenfchwäche, Magenkrampf, chront- 
ſchem Habituellen Erbrechen. Man läßt die Wäfler oft mit Wein, Milch, Mol 
fen vermifcht trinken. Auch bei Wafferfucht bat man fle in Gebrauch gezogen, 
da man eine Vermehrung der Harnausicheidung nach ihrem Genuffe wahrge⸗ 
. nommen bat. — 

Als eigentliche Säuerlinge verdimen erwähnt zu werden Selters im Taunus, 
mit einem die Grenzen Europad überfchreitenden Rufe und Berfendung jeiner 
Waͤſſer. Dann ift zu erwähnen Oberfalgbrunnen in Schleflen, die Waͤſſer von 
Fachingen, Rohitſch und zahlreichen anderen Quellen, wie ich berem viele zugleich 
neben ben ftoffreicheren Waͤſſern vorfinden und neben den letzteren curmaͤßig ges 
braucht werden. 

Den Reigen der warmen kaliſchen Thermen eröffnet Teplig im Vöhmiſchen 
Erzgebirge in der freundlichften Gegend, vollfommen zweckmaͤßig eingerichtet, 
dabei billig und allen Anfprüchen genügend, Das benachbarte Dorf Schönau 
dient gleichzeitig ald Curort. Teplit zählt zahlreiche Quellen, die theils getrun« 
fen, theils und vorzüglich zu Baͤdern verwendet werben. Ihre Temperatur 
ſchwankt zwifchen 21° und 309 R. Befonderen Mufes erfreut fich Teplig gegen 
Lähmungen, Rheuma, Gicht, GSteinbeichwerben und Hanttranfgelten. Eure 


132 RER Meditein.— 


im Lahnthale im Raffauifchen, zählt gegen 20 Quellen, von denen namentlich 
der Keſſelbrunnen (38%) und Krähuchen (25 9) zum Trinfen, die Fürſten⸗ und 
die Bubenquelle Hauptfächlich zum Baden und. zu Douchen benupt werben. Man 
empfiehlt Ems befonderd gegen chronische Keblfopfscatarrhe, Catarrhe der Lun⸗ 
gen, der Gefchlechtötheile. Für Finderlofe Ehefrauen gebraucht man Krähndhen 
innerlih und läßt mit Bubenquelle douchen — Schlangenbad im Taunus, 
Liebenzell im Schwarzwalde ebenfalls, namentlich Tetere gegen Unfruchtbar⸗ 
Feit der Frauen fehr in Gebrauch, Neubaus in Steiermarf. — In Frankreich 
ift die bedeutendfte hierher gehörige Duelle Vichy im Departement de !’Allier, 
bie Wäfler Grand-Grille, l’Höpital und Celestin werden verſendet und andy in 
Deutichland viel gebraucht, namentlich gegen Catarrhe der Harnblaſe und Bla⸗ 
fenfleine. Erwähnt jei noch Bruffa an der Küfle Kleinaflens mit mehren warmen 
Quellen. — Bon den falten alkalifchen Quellen nennen wir Salzbrunn in Schle⸗ 
fien, Seilnau und Fachingen im Taunus, Bilin, Gieshübel, Liebwerda in Böh⸗ 
men, Reinerz in Glatz, Luhatjchowig in Mähren, Wildungen an der der. 

Als erdige Mineralquellen bezeichnet man alle Wähler mit einem 
reicheren Gebalt an Erdſalzen, fie enthalten vorzugsweiſe fehwefelfauren (Byp8) 
and fohlenfauren Kalk, zum Theil Fohlenfaures Ratron und Bittererde, Eiſen, 
freie Kohlenſaͤure und einigen Schwefelwaſſerſtoff. Es gibt ebenfalld warme und 
Ealte Quellen. Man läßt tiefelben theils trinfen (fie beläfligen jedoch leicht den 
Wagen), theils zu Bädern verwenden und fchreibt ihnen eine adſtringirende, kraͤf⸗ 
tigende Wirkung zu, fie follen die Gewebe verdichten und übermäßige Abfonterun- 
gen der Schleimhäute befchränfen. Weiter follen fie Die Ausſcheidung des Harns 
vermehren, Tendenz zur Harnfäurebiltung tilgen und den Stublgang vermindern. 
Ihre Bedeutung ift im Allgemeinen eine geringere als die der früheren Wäfler. 
Man empfiehlt fie beſonders bei Schleimflüflen der Zungen, der Geſchlechts⸗ und 
Sarnorgane, gegen Rungentuberfulofe, auch gegen Hautaudichläge, vorzugsweiſe 
die näflenden. Zu den berühmteren Quellen diefer Gattung gehört Xeuf im 
Canton Wallis, deſſen Lorenzquelle 48 I R. bat; weiter Carlsbrunn in Maͤhriſch⸗ 
Schlejien, Lippfpringe in Weftphalen, das Infelbad bei Paderborn. In Frank⸗ 
reich Air in der Provence, in England Briftol. 

Es bleiben und jegt nur noch Die unter dem Ramen der Stahlquellen und 
Schwefelwaͤſſer bekannten Mineralbrunnen zu erörtern, von denen wir zunächft 
die Stahlquellen etwas näher ind Auge faflen. 

Mehrfach Haben wir bereitt des Eifend als eines Beſtandtheiles der ver- 
ſchiedenartigſten Mineralquellen erwähnt. In den bisher berührten Fällen trat 
e8 wegen geringerer Menge jedoch nur als ein untergeortneter Beſtandtheil auf, 
während es in ben vorzugsweiſe als Eifenwäflern bezeichneten Quellen den haupt⸗ 
jächlich wirkenden Beſtandtheil ausmacht. Der Gefchmad diefer Mineralwäfler 
ift ein metallifcher, felbft dintenartiger. Im der Regel findet fih das Eiſen als 
fohlenjaured Eiſenoxydul meift in Verein mit beträchtlichen Mengen freier Koh⸗ 
lenjäure vor, daneben zuweilen enthalten fie fohlenfaure Alfalien und Erben, 
Ehlornatrium und fchwefelfauere Salze. Diefe Quellen nennt man vorzugs⸗ 
weife Stahlquellen, während man biekenlaen Wähler, in denen bas Eifen 


Bäder, Hellquellen. 733 


an Chlor gebunden oder als ſchwefelſaures Salz fich findet als Cifenmwaffer 
Purzweg bezeichnet werden. Die letzteren euthalten meift freien Schwefelwaſſer⸗ 
floff und zeigen in Folge deſſen einen weit übleren Geſchmack. — Die meiften 
diefer Wäfler find Talte, indem fich ihre Temperatur nur wenig über die bes 
Bodens, aus dem fie entfpringen, erhebt. Man erkennt eifenhaltige Waͤſſer 
leicht an dem Ocherabſatz, der ſich in ihnen bilder. Ueberhaupt jcheidet ſich das 
Eifen aus dieſen Wäflern fehr leicht aus ; die findet namentlich und ganz gewöhn⸗ 
lich bei den verfendeten Eiſenwaͤſſern dann ftatt, wenn die Flaſchen ſchlecht ver⸗ 
korkt find oder Fleine organifche Beſtandtheile enthalten. Man hat dann fchließ- 
lich ein Wafler, in dem feine Spur von Eifen mehr gelöft if. 

Das Eifen bildet bekanntlich einen conftanten Beftandtbeil des Blutes, 
indem e8 fi im fogenannten Hämatin vorfinde: Schon ſeit Tängerer Zeit bat 
man daher eine Anzahl von Erkrankungen aus einem mangelhaften Eifengebalte 
des Blutes abgeleitet, indem man biefe Krankheiten bei dem Gebrauche des 
Eifens allmälig und ziemlich ficher ſchwinden ſah. Die gänftige Einwirkung 
der eigentlichen mebicinifchen Eifenpräparate, wie auch der Stahlwäfler ſteht feft, 
aber über die Art ihrer Wirkung find wir noch nicht genügend aufgeklärt; Die 
einzige Thatfache, Die wir mit Sicherheit willen, ijt bie, daß ein großer Theil des 
eingeführten Eifens wieder mit den Kothmaflen ausgefchteden wird und dieſen 
eine fchwärzlichgrüne Farbe ertheilt. — Man ichreibt den Eifenwäflern eine ganz 
befondere, Eräftigende und flärfende Wirkung zu. Am angenehmften nehmen 
fi die an Kohlenfäure reichen Quellen; man hat jedoch bei der Auswahl des 
Waſſers auch auf die übrigen Beftandtbeile die gehörige Rüdficht zu nehmen; 
den an falinijchen Stoffen reicheren fchreibt man eine mehr auflöfende Wirkung 
zu ; auch verftopfen fie nicht, wie dies bie an falinifchen Stoffen ärmeren Quellen 
in der Megel thfun. Man muß darauf. achten, dag beim längeren Gebrauch 
Zähne und Bahnfleifch fich etwas fchwärzen. — Bu Bädern kommen Eijenwäffer 
gleichfalls in Anwendung; find diefelben nicht mit Vorſicht und unter gewiſſen 
zu beobachtenten Megeln zubereitet, fo find fie eben ohne Eifengehalt und wirken 
nur noch wie gewöhnliche warme Bäder überhaupt. Zudem iſt es mehr als 
fraglich, ob felbft bei einem ftundenlangen Aufenthalte in einem eifenhaltigen 
Bade auch nur die geringfte Menge von Eifen von der Haut aufgenommen wird. 
Dei diefem Verhaͤltniſſe ift in der That kaum abzuſehen, welche befondere Wir⸗ 
fungen das Eifen in diefen Bädern äußern fol. 

Eiſenwaͤſſer eignen fich nach den Erfahrungen der Aerzte beſonders für das 
weibliche Gefchlecht, da bei dieſem am häufigften tie Zuſtaͤnde der Blutarmuth 
und Bleichiucht Beobachtet werden. Nirgends trifft man jo viel Frauen und 
beruntergefommene gefchwächte Männer als in den Stablbädern. Man rühmt 
diefe Wäfler bei den zahlreichen Erkranfungen ter Gefchlechtötbeile,. namentlich 
bei weißem Fluſſe, beim Fehlen der Menftruation, oder wenn diefelbe nur uns: 
regelmäßig und zu fchwach zum Vorfchein gefommen iſt; auch bei zu reichlicher 
Menftruation, wenn diefelbe eine fogenannte pafftve tft und auf Schmächezuftän« 
den beruht. rauen, die fhon mehrmals von Fehlgeburten heimgefucht worden 
find, brauchen unfere Wäͤſſer oft mit Nutzen, wie fle auch zur Belektigunn, nr 


73 . Mediein. 


Unfruchtbarkeit bei beiden Gefchlechtern fich eines gerechten Rufes erfreuen. Auch 
gegen englifche Krankheit, Scropheln, Schwäche, Rervofität überhaupt, Eurz bei 
allen Krankheitozuſtaͤnden, bei denen ein fogenauntes flärfendes, Eräftigenbes 
Berfahren angezeigt erfcheint, werden fie mit Vortheil gebraucht. Ju ber Sie 
convalescenz von langwierigen, ſchwaͤchenden Krankheiten zeigen fie ich meift vom 
heilfamften Einfluß. Trotzdem ber Gehalt der -Eiienwäfler an Eiſen nur ein 
fehr geringer ift, läßt man doch nur Fleine Duantitäten befjelben trinken, beginnt 
mit 1 bis 3 Bechern und fleigt höchſtens bis zu ſechs an. Die Cur dehnt men 
4 bio 6 Wochen lang aus und läßt Daneben entweder täglich ober einen Tag um 
den anderen ein Bad nehmen. Bet: Krankheiten der weiblichen Geſchlechtsorgant 
verwendet man zugleich Die auffleigende Douche fleißig. 

. Bu ben berühmteften eifenhaltigen Quellen zählt Pormont im Teutoburger 
Walde, wohl die Altefte und berühmtefte aller Stahlwäfler; es finden ſich zahl» 
reiche, meiſt Hark mit Kohlenfäure gefchwängerte Quellen (Brodelbrunnen) ver. 
In der Nähe liegt Driburg, deſſen Quellen ebenfalls reich an Koblenfäte Hab 
und zugleich Bitterſalz enthalten. Reiter erwähnen wir Langen Schwalbach 
am Taunus, mit Alkalien und einem VBrobelbrunnen, Vocklet, Brädenau in 
Franken, Sranzensbad bei Eger. In Sachien begegnen wir dem burch bie Bor 
forge der fächftichen Regierung befonders gut eingerichteten und trefflich geleite- 
ten Bade Elfter im Boigtlande, der würdigen Rebenbuhlerin vom Srangensbad, 
demfelben ſchon jet in manigfacher Hinſicht überlegen; weiter das Buſchbad bei 
Meißen, Schandau in der fächflichen Schweiz, Augufusbad bei Nadeberg; 
das Aleranderbab im Fichtelgebirge; Muskau, Ylinzberg, Nieberlaugenau in 
Schleiten. 

An legter Stelle gedenken wir der Schwefelwäiler oder ſogenannten 
hepatifhen Wäffer. Als wirkjamfler Beſtandtheil diefer Quellen gilt ber 
Schwefelwaſſerſtoff und gewiſſe Schwefelmetalle, neben denen fich meiſt in ziemlich 
reichlicher Menge ſchwefelſaure und Eohlenfaure Alfalien, Erten unt auch Chlor 
metalle finden. Ginzelne enthalten auch Koblenfäuregad, Stiditeffe und Saurr- 
ſtoffgas. Es gibt warıne, wie Ealte Quellen. Sie befigen einen hoch unam 
genehmen Geruch und Geſchmack. Beim Steben an ter Auft fcheiten fi aus 
diefen Wäflern eine Menge von organiſchen ſtickſtoffhaltigen Subflanzen ab, über 
deren Rarur man noch nicht im Meinen it und denen man verichiedene Namen 
wie Baregin, Zoogen u. a. gegeben hat. — Die Wirkungen der Schwefelmäller 
mögen im Allgemeinen wohl von dem Schwefelgehalte derjelben bedingt und tie 
fem analog fein, nur reizen le örtlich weniger und beeinträchtigen auch bei län⸗ 
gerem Gebrauche tie Verdauung nicht fo ſehr; bei reichem Gehalte am falimiichen 
Beſtandtheilen kommen zugleich die Wirkungen biefer mit zur Grfcheinung. 
Die Heigeren Schwefelquellen wirken aufregend, führen in Kolge des eingeatkme 
ten Schwefelwaſſerſtoffgaſes Leicht zu Beflemmungen des Athens, und zu erhöhter 
Zemperatur der Haut. Auf der Haut bewirken fie oft Ausichläge, wohl in 
Folge ihres reisenden Einflufles auf dieſelbe. 

Vorzugsweiſe bedient man fich dieſer Bäder bei chroniichen Hautleiden, 
indem man hier eine veränderte Ahdtigkeit ter Guat erwartet; namentlich mupen 





Bäder; Seilquellen. 735 


fie Hei alten Kraezübeln, auch bei ſyphilitiſchen Haut⸗ und Knochenkeiben. Richt 
minder werthvoll zeigen fe ſich bei @icht, chroniſchem Rheumatismus, bei Des 
füswerden von Stein» oder Griesbildung ; ferner wendet man ſte bei Bergiftun« 
gen der Gonftitution durch Queckſilber und durch Bei, namentlich bei den Blei⸗ 
laͤhmungen, Muskelzittern, dem Büftweh.an. Bei veralteten Hämorrhoidalleiden, 
bei alten Schießwunden, Geſchwüren und Fiſteln, bei hartnaͤckigen Catarrhen, 
eingewurzelten Huſten, ſelbſt bei Tubertuloſe hat man ſie vielfach mit Rutzzen ge 
braucht. — Man laͤßt die Waͤffer trinken, beginnt mit ein bio drei Bechern, 
fteigt vorjichtig und laͤßt diefelben entweder rein, oder mit Milch, mit Fohlen“ 
fauerem Waſſer, Fleifchbrühe vermifcht trinken. Verbreiteter und gewöhnlicher 
läßt man in den Schwefelwaͤſſern baden, benupt fie zu Douchen,, zu Echlammts 
bädern, von weichen legteren wir alsbald eingehender fprechen wollm. 

Eines det berühmteften warmen Schwefelwäfler find bie Thermen zu Aachen 
am Nicderrhein; die Quellen haben eine Temperatur von 36 —40 IR. Im der 
Nähe Aachens Ttegen die ned etwas Heißeren Quellen von Burtſcheid. Wir 
nennen ferner Warmbrunn in Schleften, Baden bei Wien, Zander in der Graf» 
ſchaft Glatz, Langenbrüden im Großherzogthum Baden, Weilbach u. n. a. In 
Frankreich find es beſonders die Bäder der Porenden, welche in großer Anzahl 
Schwefehwaſſerſtoff enthalten, wie Baguöres de Bigerre, Eaux-chaudes, Eaux 
Brunes, Aix und gegen 100 andere. . Auch Ungarn if reich an zahlreichen und 
teefflichen Schwefelthermen, doch Tafien dieſelben, wie bie metiten Bäder dieſes 
Landes in Vergleich mit den Badeorten Deutſchlands und anderer Länder ſehr 
viel zu wünſchen uͤbrig. Auch Italien hat eine ziemliche Anzahl Schwefelquellen 
aufzuwelfen. 

Wir Haben. fo in furzen, gebrängten Umriſſen die wichtigſten Vaͤder mit 
den Wirkungen unb tem vorzugsweiſen Gebrauche, den man in Krankheiten 
von ihnen marht, unſeren Leſern vorgeführt und glauben, ihnen. hiermit einen 
verftändlichen Lieberblic gegeben zu Haben, wie bei der Reichhaltigfeit bed Mate 
riald dies fich erforberlih macht. Um vollftändig zu fein, müflen wie nunmehr 
zunächft in Kürze noch einige andere Gebrauchſsweiſen von Bädern, wie der 
Schlammbaͤder, Moorbäder u. ſ. w. gedenken, um uns zum Schluffe mit eini⸗ 
gen anderen methodischen Eurverfahren, der Molken⸗ und Traubencuren und den 
Einflüffen einer fogenannnten Flimatiichen Eur zu beichäftigen. Zuvor mäffen 
wir jedoch einige Zeit auf die Betrachtung der Fünftlihen Mineralmäfier 
verwenden. . 

Vor nicht zu ferner Zeit war man geneigt die Heilfamfett der Minerals 
auellen dadnrch zu erflären, daß man in ihnen gewifle „‚Brunnengeifter‘‘ annahm, 
bie im Körper ihre wohlthätige Wirkung entfalten follten. In der gegenwärtis 
gen Zeit eracter Forſchung hat man vergeblich nach diefen Geiſtern gefucht und 
fle wirgend® gefunden, ald in den Köpfen derer, Die biefe fchwungreiche Bhrafe in 
Gang gebracht haben. Dan legte auch den in den Quellen fich findenden mine 
ralifchen Beſtandtheilen eine göttergleiche Wirkſamkeit Hei, die von den fonft fich 
vorfindenden gleichen Beſtandtheilen eine himmelweit verichiedene fein follte, 
Leider hat fich auch dies nicht befkätigt umd eine nüchterne Beobacktuna sh Un 


736 .. Mebkiin. . 


Böttlichkeit der Quellen verfchwinden gemacht und die Heilwirkungen berfelben 
in viel einfacheren und viel näher liegenden Momenten gefunden, wie wir Dies 
im Vorhergehenden andeinanderzufegen verfucht haben. Wenn nım auch no 
in der heutigen Welt gar: viele an die Exiſtenz wunderthätiger Brunnengeifter 
glauben und in ihren Quellen ganz bejondere Stoffe vermuthen, wenn nament⸗ 
lich Babehrzte, eingebenf des mundus vult decipi, ihre Kranken vielfach in die 
fem glücklichen Wahne Taffen, fo mag man dagegen wenig einwenden. Vom 
wifienfchaftlihen Standpunkte aus kann man folche Sachen als glüdlich über⸗ 
wunden anſehen. 

Eingedenk der Ihatjache, daß in den Mineralwäflern nur mittelft chemiſcher 
Analyſe nachzumeifende Beſtandtheile enthalten find, die fich ven den font in 
der Natur fich vorfindenden in nichts unterfcheiden, hat man benn verfucht, bie 
Mineralwäfler auch kuͤnſtlich darzuftellen. Namentlich war ed Dr. Struve in 
Dresden, der dies zuerft in ber ausgebehnteften Weife that und befien Fabrik 
fünftficher Mineralwäfler ihren europäifchen Ruf bis in die Gegenwart hinein 
bewahrt hat. Struvbe hat daneben eigene Anftalten mit ſchönen Gartenanlagen 
errichtet, in denen diefe Mineralwäfler curmäßig geirunfen werben. Derartige 
Erabliffements Heftehen in Dresden, Berlin, Petersburg, Moſskau. Man bat 
ſich vielfach darum geftritten, ob den kuͤnſtlichen oder natürlichen Mineralwäflern 
eine größere Wirffamkeit zukomme und namentlich befchäftigt dad Laienpublikum 
dieſe Frage vielfach. Infoweit al8 in beiden die gleichen Beftandthelle in glei» 
chen Mengen enthalten find, kommt ihnen entichieden eine für den Organismus 
ganz gleiche Wirkſamkeit zu. Da aber bei dem Gebrauche der natürlichen Quellen 
zahlreiche weitere Umftände günftig einwirfen, ja von den allerbedeutendften Ein- 
fing find, fo können aus diefem Grunde fchon die fünftlichen Mineralwäfler nie 
mals die natürlichen in jeder Hinficht erfegen, doch eignen fich diefelben vortreff⸗ 
lich, wo man eine gewifle Anzahl Stoffe allmälig in den Körper einführen will 
und die Verhäftniffe e8 nicht geftatten, biefelben an Ort und Stelle genießen zu 
laffen. Bür vernünftige, vorurtheilsfreie Menfchen, die dabei den ärztlichen 
Borfchriften in jeder Hinficht genau nachgehen wollen, können auch bierbei bie 
prächtigften Erfolge erzielt werden. Leider fcheitert hier fowohl, wie bei dem 
Befuche der Bäder fo Vieles an dem guten Willen der Menfchen, deren Fleiich 
die Herrichaft über den Berftand nur allzu Teicht gewinnt und bald alle guten 
Lehren vergeflen laͤßt. 

Unter dem Ramen der Moor⸗- oder Schlammbäbder verficht man 
Baͤder, bei denen der aus den Quellen ſich abfegende, mit anderen organifchen 
Beftandtheifen mehr oder weniger reichlich vermifchte Riederfchlag von weis 
cher, breiartiger Beichaffenbeit zur Anwendung kommt. Ban bededit entweber 
den ganzen Körper mit ber nötbigenfalld durch Zufag von Waſſer Hinreichend 
verflüfftgten Breimafje oder man fchlägt den auf Tücher aufgetragenen Schlamm 
bloß über einzelne krankhafte Theile über. Diefe Verfahrungsweife iſt eine 
fehr alte. Schon die alten Aegypter babeten fich im Schlamm bes Nil und 
die Römer in dem Schlamm zu Albano. — Die Temperatur diefer Schlamm» 
Bäder ſchwankt zwiſchen 25 und 30 R., je wa tem Märmegrab ändert ſich 


Bäder, Heilquellen. | 137 


dabei ihre Wirkung. Im der Negel bleibt man eine Vieriel bis eine halbe 
Stunde in einem ſolchen Bade und geht dann in ein Reinigungsbab, um die dem 
Körper anflebenden Schmugtheile zu entfernen. Die in den Schlammbäbern 
enthaltenen Beitandtheile find fer verfchieden, je nach den Stoffen, welche die 
Duellen enthalten. — Hin und wieder hat man audy Dünger zu Bädern benutzt, 
indem man die betreffenden Perfonen mit deinfelben umhuͤllte. — Die Wirkun⸗ 
gen jind vielfach günflige; wodurch fle aber bedingt werben, iſt noch nicht ges 
nauer feftgeftellt und fehr wahrſcheinlich ift e8 vorwiegend die Wärme, bie Ihren 
günftigen Einfluß entfaltet. Schlammbäder werben jebt in ben meiften ber 
größeren @uranftalten bereitet, beſonders geeignet dazu find die gehaltreicheren 
warmen Schwefelquellen und die eifenhaltigen Waͤſſer. Ob ihre günftigen 
Erfolge nicht auf einfachere und veinlichere Weife zu erreichen ſein möchten, 
wollen wir bier dahingeſtellt fein Laffen. 

Im früheren haben wir der Dampfbäber erwähnt und müflen jetzt der ſoge⸗ 
nannten Ga&bÄder gedenken. Man bereitet diefelben vorzugsweiſe aus Kohlen 
fäure oder Schwefelwaflerftoff, feltener auch aus Stickſtoff. Meift benugt man 
das den Quellen entfirömende Sad, welches man durch befontere Apparate in 
eigene Räume Teitet und dann diefelben entweder in Korn von Gasbätern benußt, 
bei denen der Körper des Menfchen entweder ganz oder einzelne Theile deffelben, 
mit Ausfchluß des Kopfes, der Einwirkung der Gaſe ausgeſetzt werben, oder man 
läßt die Gaſe zugleich einathmen ; Teßtere8 bezeichnet man ale Inhbalationscur, 
Vorrichtungen zu folchen Gasbädern gibt es in Kiffingen, Raunderf, Elſon, 
Zippfpringe, Oeynhauſen, im Inſelbade bei Paderborn. In den Bradirhäufern 
der Soolen läßt man auch therapeutifch die Luft dDerfelben von den Kranken ein 
athmen. — Die Erfolge aller diefer Berfahrungsweifen find mehr als zweifels 
haft. Ein gläubiged Gemüth mag ſich auch in einer folchen Atmofphäre wohl 
befinden und Beſſerung feines Kranfheitözuftandes erreichen. 

In der legten Zeit find auch die Kiefernadelbäder in Aufnahme ge⸗ 
fommen und in Folge defien eine Menge diefem Zwecke dienende Anftalten ent« 
ftanden; namentlich zahlreich finden ſich diefelben im Thüringer Walde. Man 
bereitet diefe Bäder entweder durch einen heißen Aufguß der fogenannten Fichten 
fprofien oder des Maiwuchſes, oder aber durch Deftillation mit heißen Waſſer⸗ 
dämpfen. Die Bäder erfreuen fich eines befonderen Rufes gegen Rheumatismus 
und Gicht; bei ferophulöfen und cachectiſchen Kindern haben fie vielfach gute 
Dienfte gethan. Bei nervöſen Aſthmen hat man oft Linderung daturdy erreicht. 

Schon feit längerer Zeit werden auch Molken curmäßig in eigenen An 
ftalten gebraucht, indem man dieſelbe vier bis ſechs Wochen Tang täglich in meiſt 
fteigenden Mengen trinken läßt. Sie werden in ber Weife bereitet, daß man 
die Milch erbigt und durch Zufag von getrodneten Labmagen zum Gerinnen 
bringt. Der bei der Gerinnung ſich ausicheidenbe Käfefkoff wird fobann abge⸗ 
feiht und die Durchgegangene trübe Ylüjfigkeit, die Molken oder Schotten, ent⸗ 
weder in dieſem Zuftante getrunfen oder vorher durch Zufag von Eiwiß abge» 
Märt. Die Molken enthalten hauptjächlich Wafler mit Milchzuder, auch phos⸗ 
phorfaueren Salzen, Ehlorfalt, Kochſalz u. |. w. 

V. an 


138 Medirin. 


Die Molken müͤſſen ſtets in friſch bereitetem Zuſtande und warın getrunken 
werden. Bisweilen bewirkt man die Gerinnung der Milch durch Eſſig, oder 
man braucht Weinſtein, Alaun, Tamarindenmus Dazu und belegt derartige Mol⸗ 
ken mit dem Namen der Alaunmolken, Tamorindenmolken u. ſ. w. Sie werden 
ebenfalls Morgens nüchtern getrunfen, man beginnt mit '/2 bis 1 Schoppen 
tägliy und fteigt namentlich in Anflalten, wo diefelben Teicht in größeren Men⸗ 
gen zu haben find, auf 6 bis 10 Schoppen. Anı been benugt man zur 
Bereitung der Molken bie Ziegenmilch; wo diefe fehlt, wird auch Kuhmilch ver 
wendet und felbft die jogenannten reinen Ziegenmolfen find oft genug mit Kub- 
molfen vermiſcht. Nebenbei werben viel bittere Kräuterfäfte verbraucht. 

Die Molfen ftellen anfangs für viele Perſonen ein keineswegs wohlichmeden- 
des Getraͤnk dar, wenigſtens gehört bei vielen beim erſten Gebrauche eine gewiffe 
Vieberwindung dazu; die meiften gewöhnen fich jedoch ziemlich bald an den Ger 
nuß. Ban behauptet von den Wolfen, fie wirkten gelind nährend, umflimmenbd, 
reizabſtumpfend und auflöfend. Allerdings fieht man viele günſtigen Berände- 
tungen nad ihrem Gebrauche, und ich kann jelbfi Diefelbe namentlich für bie 
ärmeren Schichten der Bevölkerung als ein fehr zwedmäßiges Gurmittel an- 
empfehlen. Don befonderem Nutzen haben fle ſich namentlich bei den lang, 
wierigen Magencatarrhen gezeigt, wie dieſelben in den ärmeren Claſſen fo 
Häufig vorfommen und durch die groben unzwedmäßigen Nahrungsmittel fo 
lange unterhalten werben; weiter bei chronifchen Catarrhen der Luftröhre, bei 
Zungentuberfulofe. 

Faſt bei allen MRineralquellen und Babeanftalten finden fich zugleich Mol⸗ 
Fenanftalten, ebenfo in den Kaltwaſſerheilanſtalten und Seebädern. Die eigent- 
Tiche Heimath der Molfenanftalten ift bie Schweiz und zwar ifl der an derartigen 
Anflalten reichfte Theil der Ganton Appenzell, wo bie aͤlteſte und berühmtefte 
Anftalt fi) in Said finder, ebenfo Häufig werden Heiden, mit freier Ausfict 
nach dem Bobdenjee, Horn am Bodenfee, Norfchach ebendajelbft, Appenzell, Weiß⸗ 
bad beſucht. Wir erwähnen ferner Kreuth bei Tegernfee in Baiern, Reichenhall, 
Meinerz, Sleisweiler bei Landau, Iſchl außer zahlreichen anderen Orten. 

Traubencuren empfiehlt man namentlich an Zungentuberkulofe Leiden⸗ 
den, bei Reizbarkeit und Schwäche des Nervenſyſtems, bei Unterleibsftorfungen, 
Sämorrhoidalleiden, Hypochondrie, bei Kehlfopfleiden. Man glaubt, fie wirfen 
als fühlende, gelind auflöjende und umflimmende Mittel. Bei ihrem Genuffe 
wird Appetit, Stublgang und Harn meift vermehrt. Oft entfiehen im Anfange 
der Eur Huftenreiz, auch Durchfälle. Die Zeit der Cur iſt auf die Monate 
September und October bejchränft. Man läßt die Kranken täglicy einige Pfunde 
reifer Weintrauben genießen, wobei jedoch die Schalen, wie die Kerne jorgfältig 
ausgeſpukt werden müſſen. Die Portionen werden auf mehrere Stunten des 
Tages vertheilt. Dabei ift fleißige Bewegung in freier Luft unerläßlich, die Koft 
ift meift eine einfache und Enappe, milde; nur bei Gefchwächten eine Fräftigerr. 
Bu den befannteften Traubencurorten zählen wir Dürkheim und Gleisweiler in 
ber Pfalz, Bingen am Rhein, Meran, Bogen, Sinzig, Montreur. 

Es erübrigt und am Schlufe unferer Abhandlung, mit einigen Worten 


Bäder, Deilquellen. 739 


der Orte zu gedenfen, bei deren Auswahl man hauptfächlich von dem Klima eine 
günftige Einwirfung erwartet. Daß man unter Klima eine Menge von Eine 
wirfungen, wie vor allen Wärme der Luft, Keuchtigleitögrad, Menge der Rieder - 
ſchlaͤge, vorherrſchende Winde mit ihren Stärfegraden u. f. w., zujammenfaßt 
ift den meiften unferer Lefer zu befannt, als dag wir nöthig hätten, an diefem 
Orte näher darauf einzugeben. Gin Klima ausfindig zu machen, welches fo zu 
fagen gar feine Schädlichfeiten mehr in fich birgt, ift geradezu unmöglich, man 
befchräntt fich daher auf Beobachtung der wichtigften Momente, deren Beſei⸗ 
tigung man anftrebt. Es iſt in den weiteflen Kreifen befannt, daß man naments 
lich Kranke wegen Lungenfchwindfucht und folche, die dazu Anlage haben, ferner 
Kranfe mit Reigung zu Qungenblutungen, Leute, welche an chronischen Kehlkopfo⸗ 
übeln leiden, auch Afthmathifer, wie durch fchwere Krankheiten erfchöpfte Berfonen, 
deren Erholung fich fehr verzögert, in ein wärmeres Klima jendet. Von fo unver« 
fennbar großer Bedeutung eine Fimatifche Eur ift, jo ift doch gerade hiermit auch 
ſchon viel gefehadetworben. Namentlich hat man es Damit verfehen, daß man Kranke, 
deren Zuftand ein offenbar hoffnungslojer war, noch die weite Meije machen lieh, 
fle ihren gewohnten Bequemlichkeiten, ihren Angehörigen entrig uud fie fterbend 
an den Ort brachte, an dem fie nichts fanden als einen — verfrühten Tod. Darum 
hüte man ſich wohl, ſolche Kranfe in wärmere Gegenden zu ſchicken. — Auch die 
Dauer eines Aufenthaltes in einem wärıneren Klima muß über mehrere Monate 
ausgedehnt werden, ja oft ift nur ein jahrelanger Aufenthalt im Stande, eine. 
dauernde Beſſerung herbeizuführen, oder wenn dies nicht thunlich, muß man 
wenigften® die Kranken in unferen rauben Monaten wiederholt nach dem Süben 
ſchicken. Desgleichen bereite man die Kranfen darauf vor, daß ſelbſt in dem 
herrlichen Italien fehr Falte und regnerifche Tage kommen, die den Patienten 
an das Zimmer fefleln; daß man mit Teichten Sommerfleidern in den meiften 
Städten tüchtig vor Froſt Flappern und ſich einen höchft unangenehmen Gatarrh 
zuziehen fann; umſomehr ald es in vielen Häujern feine Defen gibt. Die Ges 
fahren der Meije find in der Gegenwart zwar abgekürzt, aber immer noch bebeu- 
tend genug, um Manchem Unheil zu bringen. Die Schattenfeiten des Lebens 
in Italien find oft genug gegeißelt worden und find diejelben oft der Art, um - 
alle mögliche italienische Wonne zu vergefien und fid) nach dem heimathlichen 
Heerde zurüdzujehnen. 

Zu den berühmteften Elimatifchen Eurorten zählen in Deutfchland Meran, vor 
allen aber Italien, namentlich Venedig, Rizza, Pifa, Rom, Palermo. In Branfreich 
Pau, Touloufe, Montpellier, die Infel Hyeres, Cannes. Weſſen Verhältnifie es 
erlauben, geht wohl auch nach Aegypten, befucht Cairo, oder Funchal, wo jegt 
eine befondere Heilanftalt befteht und deutfche Aerzte hier, wie an den anderen 
befuchten Orten Aegyptens fich finden, oder Madeira und Teneriffa. Wo «8 
angeht, verfährt man häufig in der Weife, daß man den Kranken in den Herbſt⸗ 
monaten nach Meran ſchickt, ihn jodann von Monat zu Monat ‚weiter nach dem 
Süden dirigirt und, wenn in den füdlicheren Gegenden die Wärme wieder fleigt, 
den Weg in umgefehrter Meihenfolge zurücklegen laͤßt. Das Leben auf dem Nil 
in den Meinen Nilbarfen, die den Kranken als wefentlicher Aufenthaltsort bienen 

an 


740 Medicin. 


ſoll nach den Mittheilungen einzelner Aerzte ein eigenthümliches fein und ganz 
befonderen Reiz ausüben. — Bei der Rüdfehr ind Vaterland hat man jelbfl- 
verftändlich den neuen Schäblichkeiten, denen man entgegen geht, möglichft aus⸗ 
zumeichen, um nicht den guten Erfolg der Flimatifchen Cur alsbald wieder zu 
vernichten. — Der Aufenthalt in Kubftalljimmern, den man früher vielfach Lun⸗ 
genkranfen empfahl, wird jegt nur nur noch felten angewendet und bald, wie io 
vieled Andere, außer Mode fein. 

Nicht genug kann man vor einem Vebelftande warnen, der fo häufig von 
Herzten begangen wird. Nicht felten empfehlen ſie nämlich Kranken, von deren 
Verhaͤltniſſen fie wiffen müfjen, daß fie eine Badereife nicht geftatten, als einziges 
Rettungsmittel den Gebrauch eined Babes. Sie erregen fo in bem Kranfen 
— und jeder derſelben obne Unterſchied fehnt ſich nach Heilung, hofft und er- 
ſtrebt diefelbe mit allen ihm zu Gebote flehenden Mitteln — Wünfche, die in 
der Regel nicht in Erfüllung gehen können und durch deren Unerfülltbleiben ber 
arme Kranke meift in eine dauernd trübe Gemüthsſtimmung verfinkt, zu der chro- 
niſch Kranke ja ohnehin ſchon fehr geneigt find. Oder der Kranke erreicht mit An- 
firengung aller feiner Kräfte das erwünfchte Ziel, er Fann ins Bad geben. Frau 
und Kinder barben es fich ab, um den Vater in noch elenderem Zuflande wieter 
zu erhalten, nunmehr oft auch im Haufe der nöthigften Hülfen durch Mangel 
beraubt. Man fei daher vorfichtig mit feinen Ausfprüchen und halte den nad 
einem Babe ſich fehnenden Kranken vor, wie auch ohne ein ſolches mit gutem 
Willen und Ausdauer zu Haufe Heilung zu erwarten ſteht. — Viele Regierungen 
haben überdem für ihre armen Kranken in den berühmten Bädern Guranftalten 
errichtet, in denen diefelben unentgeldlich verpflegt und behandelt werben. 


Was, wie und warum wir verdauen. 


Was wir verbauen. — Bauptbeftandtheile, fowohl der animalifchen 
wie auch ber vegetabilifden Nahrung. — Wie wir verbauen. — 
Was findet fkatt im Munde? — Der Speichel; Menge befielben, 
die in den Mund ausftrömt; feine Zufammenfegung und Functionen. 
— Eigenfhaften des Ptyalins. — Der Speidel ift alkaliſch; immer 
wachſam auf den Eintritt der Speife in den Magen. — Bau bes 
Darmeanald. — Der Magen und fein Zubehör. — Was findet ftatt 
im Magen? — Die Stärke, das Fett und ber Kleber werben in 
einen flüffigen Zuſtand verfegt. — LXöfende Wirkung ded Pepfind. — 
Yuffaugnng von dem Magen felbft. — Einführung von Flüffigkeiten 
aus der Ballenblafe und Bauchfpeicheldrüfe. — Vermuthliche Wirkung 
der Galle. — Eigenfchaften und Gebrauch des Bauchſpeichels. 
Darmfchleim. — Das Univerfal-Löfungsmittel. — Aufſaugung dur 
die Mildägefäße. — Beränderungen bes Chylus in den Milchgefäßen. 
— Gelröfebrüfen. — Auffaugung durch bie Venen. — Verdauung 
in dem Dickdarm. — Säure in dem Blinddarm. — Schließliches 
Ausſtrömen der Speife aus den Gebarmen. — Warum wir verbauen 
— um Blut zu bilden. — Zwecke des Blutes. — Zufammenfeßung 
bed ganzen menfchliden Körpers und feined Blutes. — Körperfunc- 
tionen, verrichtet durch Hülfe des Blutes. — Körperlier Berfall 
und Bewegung vereint. — Beſondere Verdauungsvorkehrungen bei 
fleifchfrefienden und pflanzenfrefienden Thieren. — Verdauung im 
Echafe. — Der Zweck der Verdauung tft bei allen Thieren berfelbe. 





&:. wie großes Feld umfaßt die Erklärung der drei Bragen, was wir verbauen, 
wie wir verbauen und warum wir verbauen! 

I. Wa8 wir verbauen. — Unjere Sauptnahrungsmittel beſtehen aus 
Brot, Kleifch, und ob wir dem Pflanzen» oder dem Thierreiche unfere Nahrung 
entnehmen, jo führen wir dem Magen beinahe biejelben Stoffe zu. Diefe ver“ 
ſchiedenen Nahrungsmittel beftehen beziehungsweife 

dad Brot — aus Kleber, Stärke oder Fett und Salzfloff; 
das Fleiſch — aus Fibrin, Fett und Salzſtoß. 


742 Ä Chemie. 


Kleber und Fibrin dienen auf der einen Seite, die Stärfe und das Bert auf 
der anderen Ähnlichen Zweden und können fich faft ohne Unterichieb in jeber 
nahrhaften Speife gegenfeitig erfegen. Sie find deshalb im Nerein mit dem 
Salzftoff, der ſowohl in vegetabilifchen, wie auch in animalifhen Rahrungs⸗ 
mitteln enthalten, die vorzüglichften Stoffe, die wir verbauen. In der Pflanzen- 
nahrung ift allerdings die unlösliche Holzfafer in bedeutender Menge enthalten. 
In der Kleie des Broted und in den grünen Pflanzen und den Kartoffeln, welche 
wir verzehren, ift fle in anfehnlicher Menge enthalten, und fie bildet einen großen 
Theil des Heus und der anderen getrodneten Pflanzennafrung, womit das Vieh 
gefüttert wird. Indeß palfirt die Holsfafer den Körper des Thieres größten- 
theils nutzlos und unverdaut. Die Verdauungsorgane fondern von dem nußs 
loſen Stoffe, welche die Rahrung enthalten mag, die drei oben genannten Haupt⸗ 
ftoffe, und wir haben nun nur diefen Subftanzen in den Körper zu folgen, um 
zu ſehen, was aus ihnen wird. 

11. Wie wir verbauen. — Der Berbauungsproceß umfaßt drei auf ein- 
ander folgende Reihen von Operationen, ſowohl mechanifche, wie auch chemiſche. 
Die erfte derfelben findet flatt im Munde, die zweite im Magen und die dritte in 

den @ingrweiden. 

Was findet ftatt im Munde ? — Wir haben fehon gefehen, daß in 
der reifen Frucht und in anderen Arten von Pflanzennahrung, welche von der 
Ratur zum unmittelbaren Effen vorbereitet wird, der fefte Nahrungsſtoff, den fle 
enthält, jeher vertheilt und mit einer großen Menge Waffer untermifcht if. Wir 
haben auch gefehen, daß es für den Koch das Erfte ift, bei einem großen Theil 
unferer gewöhnlichen KüchensOperationen, die rohe Speife in eben denjelben zer» 
Fleinerten und in hohem Grade verdünnten Zuftand zu bringen. Uber nicht 
alle Speije, die wir effen, ift entweder von ber Ratur oder durch Kunft fo zubes 
reitet. Die erfte Umgeftaltung, die wir Deshalb Damit vornehmen, iſt, fle wenn 
nöthig vermittelft Der Zähne zu Fauen und fle vermittelft bes warmen, flüjfigen 
und falzgenthaltenden Speicheld zu verdünnen und zu würzen. Dann wird fle 
verſchluckt und geht hinunter in den Magen. 

Die Cperation fcheint durchaus mechaniich zu fein und doch find die chemi⸗ 
Then Wirkungen des Speichel, welcher fo jehr dabei betheiligt iſt, und tie Ber 
ziehungen des Speichels zu der Speife, ſowohl intereffant, als auch wichtig. 
Der Speichel wird in Drüfen aufbewahrt, die fich nach Dem Inneren des Muntes 
öffnen, und welche bei einigen Ihieren von beteutender Größe find. Die Menge 
von Flüffigfeiten, welche biefen Drüfen in den Mund und von dort in den Magen 
entſtrömt, iſt fehr veränderlih. Bei einem erwachjenen Manne beträgt fie bis⸗ 
weilen nur acht, Fann fich aber auch auf 21 Unzen in 24 Stunden belaufen. 

Der Speichel befteht zum größten Theil aus Waffer, und ich Habe deshalb 
auch gejagt, daß feine Function fei, die Speije zu verbünnen. Dieſes Waſſer 
enthält aber ungefähr 1 Procent aufgelöften Salzes, fo daß man bis zu einer 
gewiffen Ansdehnung fagen fann, daß er auch tie Speife wärst. In ten bi 
weilen in einem Tage verfchludten 21 Ungen find ungefähr 80 Gran diefes Salz» 

ftoffed enthalten. Dieſes Würzgen der Sohec mar Te wicht allein dem Gaumen 


Die Berbauung. 743 


angenehmer, fondern es bereitet die Speife auch auf die fpäteren Berwandlungen 
vor, denen fle im Mugen unterworfen wird, und auf die Zwecke, zu denen fie im 
Körper dient. 


Daß diefer Salzftoff, obgleich gering an Menge, wirklich einen wohlthuen- 
ben Einfluß auf die Speife ausübt, wird wahrfcheinlicher durch den allgemein 
einer anderen Subftanz zugefchriebenen Einfluß, welche in noch geringerer Menge 
im Speichel enthalten if. Diefe Subſtanz ift eine eigenthümliche organijche 
Verbindung, welcher man, wegen ihres alleinigen Vorkommend im Speichel, den 
Ramen Ptyalin gegeben hat. Gleich dem Diaftas, welches in einem früheren 
Artikel dieſes Werkes befchrieben ift, hat das Ptyalin die Fähigkeit, die Stärke der 
Speije in Zuder verwandeln zu Eönnen. Diefe Bähigfeit zeigt es nach Ginigen, 
wenn e8 allein verwendet wird, nach Anderen, wenn es fich mit den Salz⸗Beſtand⸗ 
theilen des Speichels vermiſcht, e8 beläuft fich auf weniger als !/soo des ganzen 
Gewichts ded Speicheld. Bon einem gefunden Menfchen werden deshalb in 24 
Stunden nicht mehr ald 15—20 Sran verſchluckt, und doch iſt dieſe geringe 
Duantität von fo großem Einfluß auf die leichte und bequeme Verdauung der 
Speile. Daher empfiehlt die Erfahrung allen Wohllebenden ein forgfältiges 
Kauen ihrer Speife, damit alle Tiheife derfelben Durch und durch mit dem Speichel 
vermifcht und der chemiſchen Einwirkung deffelben audgefegt werben. 


Zwei andere Thatjachen, den Speichel betreffend, find von großem Intereffe 
ald Wunder des menjchlichen Körperbaues, durchaus unabhängig von ihrer inni⸗ 
gen Beziehung zum Verdauungsproceß. Die eine von diefen ift, daß der Spei⸗ 
chel allgemein alkalifch ift, — daß dies während und unmittelbar nach dem 
Effen fich flärfer zeigt und allmälig abnimmt, bis der Speichel nach langem 
Faften fauer wird, — daß er auch nach dem Genuſſe ſchwer verbaulicher Speijen 
in höherem Maße alkalijch if, — und daß, wenn der Speichel, der in den Mund 
tritt, auögefpieen wird, anftatt dag man ihn verfchludt, oft Säure und Sod⸗ 
brennen erzeugt wird. Dieſe Umftände befunden nicht allein eine innige Bezie⸗ 
hung zwifchen dem Verbauungsprocefie und den alkaliichen Charakter des Spei⸗ 
chels, fondern auch eine unmittelbare Wachſamkeit, wenn man e8 fo nennen kann, 
auf die Vebürfniffe jedes beſonderen Förperlichen Organs. 


Die andere Thatjache ift, daß, fobald die Speife verfchludt ift, der Speichel 
reichlicher zu fließen anfängt, als vorher. - Dies ift ſogar der Fall, wenn bie 
Speiſe ungefaut verfchludt wird; und ſelbſt wenn fe dem Magen durch eine 
fünftliche Oeffnung zugeführt wird, ohne überhaupt den Mund zu Berühren, fo 
wird dennoch der Speichel ſich fofort in den Mund ergießen und durch den Schlund 
eilen, um zur Verdauung mitzuwirken. Eo ſcheint ſtreng richtig zu fein, wenn 
man jagt, daß der Speichel beftändig auf Wache ift, ſich nüglich zu machen, wenn 
wir und erinnern, wie der Mund oft „wäflert‘‘ bei dem bloßen Gedanken an eine 
befonders ſchmackhafte Speije. 

Sobald tie Speije in den Mund geführt ift, tritt der Speichel aus den bei, 
den unter der Zunge gelegenen Speicheldrüjen hinzu, und wenn fie gefaut und 
gehörig verdünnt iſt, jo wird dieſe Speife von der Zunge in eine Kugel gerollt 


744 Chemie. 


und verſchluckt, oder durch ben hinter der Luftroͤhre befindlichen Schlund in den 
Magen gebrängt. 

Mas findet flatt im Magen? Der Magen, in welchen die Speife durch den 
Schlund gelangt, ift ein länglich runder Beutel, der bei einiger Erweiterung im 
Stande ift, 2—3 Nößel zu faflen. 

Die Speifen mifchen fich, nachdem fie in den Magen gelangt find, mit noch 
mehr Wafler, wenn fie nicht ſchon hinreichend verdünnt worben find. Gleich⸗ 
zeitig vermifchen ſte fich mit gewiflen Flüͤſſtgkeiten, welche fich aus ſehr kleinen 
Deffnungen an der inneren Oberfläche des Magens — der jogenannten Schleim» 
Haut — ergieben; und nach diefen Mifchungen werden fle bei einer conftanten 
Wärme von ungefähr 98° F. unbeftimmte Zeit hindurch verbaut. 

Während diefer Berbauung erleider die Speije aber gewiſſe chemiſche Ver⸗ 
wandlungen. 

Erftend geht die Stärke durch die fortwährende Einwirkung des Speichele 
und beſonders des darin enthaltenen Ptyalins, nach und nad) und größtentbeils 
in Zuder über. Diefer Töft fich dann auf und iſt fertig, feiner ferneren Beitim- 
mung zugeführt zu werden. 

Zweitens zertheilt fich das Fett, ohne irgend eine bekannte chemifche Vers 
änderung zu erleiden, in außerordentlich Eleine Kügelchen, die fich innig mit ten 
anderen halbflüfftgen Teilen der Speife mengen und eine Art Emulſion bilten, 

Drittens werden ter Kleber und das Fibrin, welche im fetten Zuſtande ver- 
fhludt werden, im Magen in den flüffigen Zuftand verfegt. Dies wird aber 
durch eine neue Wirkung herbeigeführt. 


In der Schleimhaut, welche das Innere des Magens beffeibet, finden fi 
zahlreiche Fleine Drüjen, aus denen durch Eleine Oeffnungen eine Flüſſigkeit in 
ben Magen tritt, die unter dem Namen Magenfaft befannt ift. Diefe Flüſſig— 
feit enthält Salzftoff, eine gewiffe Menge freier Säure, welche fie ſchwach fäuer- 
lich macht, und eine eigenthümliche organijche Subftanz, welcher der Name Pepfin 
gegeben iſt. Dieſe Subflanz ift im Magenfafte nur in fehr geringer Menge vor- 
handen; indeſſen übt fle, gleich dem Ptyalin und dem Speichel, einen Eräftigen 
und wichtigen Einfluß auf die Speife aus. Während nämlich durch Einwirkung 
bed Ptyalins die Stärke erft in Zuder und nachher theilweife in Milchfäure ver- 
wandelt wird, jo verſetzt das Pepfin mit Hülfe der freien Säure den Faſerſtoff 
des Fleiſches in einen flüfftgen Zuftand. Auch geronnene Milch und Eiweiß 
werben durch den Magenfaft Teicht in Tägliche Formen umgeftaltet. Auf gallert- 
artige Subftanzen übt e8 einen beſonders auflöfenden Einfluß und auch auf den 
Kleber des Waizens ift feine Wirkung, wenngleich Tangfamer, doch ſchließlich 
biefelbe. Bei einem wohlgenährten erwachfenen Manne mögen ſich binnen 24 
Stunden etwa 60 — 80 Unzen von biefem Safte in den Magen ergießen. 

Sp werden durch Die vereinigte chemifche Einwirkung des Speichel® und 
des Magenſaftes — mit Hülfe der gleichmäßigen Wärme ded Magens — das 
Bett, die Stärke und ber Kleber der Speife in einen halbflüfftgen Zuftand ver- 
jest; auch ber Salzſtoff wird zum Theil durch dieſelben Mittel verwandelt und 


Die Berdauung. 745 


aufgelöfl.. Das Ganze bildet einen graulichen, jchleimartigen, ſchwachſauren 
Brei, welcher Chymus genannt ift. 

Diefer Chymus fließt nun durch den engen Canal, Bförtner genamnt, aus 
dem Magen in das obere Ende der Fleinen Eingeweide, welches wegen feiner 
Zänge ron 12 Zoll der Zwöfffingerdarm heißt. — Aber nicht alle Speife, welche 
in den Magen gelangt, verweilt in diefer Weiſe in demfelben oder geht durch den 
Pförtner. 

Was wir im flüffigen Zuftande verfchluden — wie Suppen und breiartige 
Speiſen — erfordert feine Auflöjung oder Zerkleinerung im Magen. — Dieſe 
dringen deshalb nach geringem Aufenthalt weiter und gelangen größtentheils in 
verhältnigmäßig kurzer Zeit durch den Pförtner in den Zwölffingerdarm. 

Andererjeitö werben fette Speifen auch jchon von dem Augenblid an, wenn 
fie anfangen im Magen fi) aufzulöfen, von den Magenwänden felbft abjorbirt. 
Unbedeutende Blutgefäße, Die über die ganze innere Bläche des Magens verbreis 
tet find, faugen flüfftge Theile der Speile durch ihre dünnen Wände ein und 
führen fle zur Vermiſchung mit dem Blute fort. So erreicht aljo eine gewiffe 
Menge der Speife nie den Pförtner, noch gelangt fie in den Zwölffingerdarm; 
auch beginnt der Proceß der Nährung beinahe in temjelben Augenblid‘, wenn 
die Speife in den Magen gelangt. Während ein Theil der Speije die Kraft aufe 
recht erhält, macht der andere die nöthigen Proceſſe der chemijchen Zubereitung 
durch. 

Was findet Statt, nachdem die Speife den Magen verläßt? — Faſt une 
mittelbar hinter dem PBförtner, oder der Ausmündung ded Magens, geht ein klei⸗ 
nes Gefäß oder ein Eleiner Kanal von der Sallenblafe aus in den Zwölffinger- 
darm; ein anderer Kanal kommt von der Bauchipeicheldrüfe ber und münbet 
faft an derſelben Stelle. 

Der erftere führt Galle in die Gchärme, der legtere eine dünne [peichelartige 
Blüfftgfeit, Bauchfpeichel genannt. Gleichzeitig jondert ſich von der inneren 
Darmhaut feldft ein eigenthümlicher Halbflujfiger Schleim, welcher Darmſchleim 
heißt. Mit diefen drei Blüfftgfeiten vermifcht fich der Speifebrei oder Chymus 
faft unmittelbar, nachdem er aus dem Magen tritt; er verliert dann feinen Cha⸗ 
after und befommt ein milchiges Ausfehen. Er ift dann in ben Chylus ver- 
wandelt. 

Die erfte hemifche Wirkung der Galle ift, daß fie die Säure des Speije- 
breies tilgt. Ihre fpärere Wirkung ift noch nicht aufgeklärt, aber ihr Vorhan⸗ 
denjein ft zur gefunden und nahrhaften Verdauung nothwendig. Sie bewirkt, 
daß die Speije nicht fo leicht in Gährung übergeht und in jene Art von Faͤulniß 
oder Zerfeßung, die fich Durch Blähungen und Durchfall Außert. Sie reizt auch 
die Darmhaut zu reichlicherer Abſonderung des Darmfchleims und regt den 
Darmkanal zu Eräftigerer Bewegung an. Aber die dyemifchen Gründe für alle 
dieje Wirkungen find noch nicht aufgededt. 

Der Bauchfpeichel gleicht dem Mundfpeichel fehr im Ausfehen, auch ent» 
Hält er, gleich wie diefer, Salzftoff und eine eigenthümliche organijche Verbine 
dung, welche jedoch von dem Ptyalin verfchieden if. Mit diefen hat er bie 


746 Chemie. 


Fähigkeit gemein, Stärfe in Zucker zu verwandeln und ſetzt demnach die Umbil⸗ 
dung der Stärfe in ben Gedärmen fort, die der Ptyalin im Magen begonnen 
Hat. Eine befondere Wirkung übt er indeß auf das Fett der Speife, indem er 
es noch feiner zertheilt, e8 in eine vollfommenere Emulfion verwandelt und den 
Chylus das charafteriftifche milchige Ausfehen verleiht. Man meint, daß feine 
fpecielle Beftimmung ift, die Verdauung von öligen und fetrigen Speiſen zu fürs 
dern. 

Der Darmichleim fördert die Wirkung des Bauchſpeichels, hat ebenfalls 
die Faͤhigkeit, Stärke in Zuder zu verwandeln und. trägt fhließfih zum Emul⸗ 
firen des Fettes bei. | 

Auf diefe letzte Wirkung läßt ſich aus der Thatſache fchliegen, daß die Lö- 
Tungaller Speife weit vollfommener und rafcher vor ſich gebt, wenn fie mit allen 
dieſen Flüffigfeiten vermifcht wird, wie wenn man fie mit einer allein behandelt. 
Sie fördern gegenieitig ihre chemifche Wirkung, fo dag bie Mifchung von Speis 
chel, Magenfaft, Darmfchleim, Galle und Bauchfpeichel eine Art von Univerfal- 
Löſungsmittel bildet, durch welches Alles, was die Speife an Rahrungsftoff ent- 
Hält, fo zu fagen verſchmolzen und dadurch geeignet wird, in die abforbirenten 
Gefaͤße zu gelangen. 

Und nachdem nun der Chylus gebildet ift, tritt ein neues Abforbiren ein. 
In dem Magen waren die fettigen und Flebrigen Theile der Speiſe noch nidt 
zertheilt genug, als daß fle in angemeflenen Duantitäten von den abforbirenden 
Gefäßen aufgenommen werden konnten. Die flüfftgen Stoffe, welche in fle ges 
langten, hatten deshalb ein mehr wäfleriges, Halb durchſichtiges Ausſehen, welches 
durch das Wort Lymphe bezeichnet wird. Aber in dem Augenblide, baf ter 
Speijebrei den Ableitungsfanal der Galle pafjirt, wird er milchig, und das ab. 
forbirende Werkzeug faugt diefe mildyige Blüffigkeit ein und füllt die fogenannten 
Milchgefäpe damit. Durch den ganzen Dünndarm findet diefelbe Operation 
flatt. Der Darmſchleim wird befländig herausgetrieben und mit herunter drin 
gender Speile vermifcht. Diefelbe wird mehr und mehr verbaut und an Rabe 
rungsſtoff richöpft, und die Milchgefäße entführen ihr ſtets neue Theile des mil 
chigen Chylus. 

Auf feinem Wege durch die Milchgefäße erleidet der Chylus fernere chemi— 
ſche Veränderungen. Um dieſe zu fördern, wird er bier und da aufgehalten, 
indem er genöthigt wird, verfchiedene Knoten oder Drüfen zu paſſiren, in welcen 
mehrere Milchgefäße zufammentreffen und fich mit einander verfchlingen. Schließ⸗ 
Lich entigen alle Milchgefäße in ben Bruflgang — einem Gefäß, das bei einem 
erwachſenen Manne nur etwa die Dicke eines Federkiels Hat — und durch dieſen 
Gang wird der Chylus in die Schlüffelbeinvene geführt. Won bier wird er in 
die Lungen gedrängt, wo er eine rothe Farbe annimmt und zur beftändigen Bil⸗ 
dung bon neuem Blut beiträgt. 

Aber außer diefem Auffaugen der milchigen Klüffigkeit, Chylus genannt, 
welche den Blutgefäßen durch die oben befchriebenen Milchgefäße zugeführt wirt, 
findet ein anderes Aufjaugen beftändig an der inneren Fläche Led Darmkanals 
ſtatt. Ueber diefe ganze Tlähe K, RekGwie ca im Inneren bed Magens ter 


Die Verdauung. 747 


Tall, ein feines Nez von Fleinen Blutadern ausgebreitet, gleich dem zarten Netze, 
welche die Luftzellen der Zungen bedeckt. Durch die dünnen Wände diefer Ge⸗ 
füße dringen mit größerer oder geringerer Leichtigkeit flüfftge Subftanzen ein, 
und aus dem flüffigen Inhalt des Verdauungsfanals, in feiner ganzen Aus⸗ 
dehnung faft, treten jolche Flüſſigkeiten in dieſe Eleinen Adern und mijchen ſich 
mit dem darin enthaltenen Blute. Auf diefem Wege miſchen fih Nahrungs⸗ 
ftoffe, wahrfcheinlich anderer Art, wie diejenigen, welche durch die Milchgefaͤße 
dringen, mit dem Reſte des Blutes, werden dem Herzen zugeführt und fchließlich 
zur Erhaltung des lebenden Körpers verwendet. 


Ucher die chemijche Natur der Subſtanzen, welche fo durch die Fleinen abe 
forbirenden Venen aufgenommen werden, fo wie über das Verhältniß, in welchem 
fie zu dem Nahrungöftoff ftchen, der Durch die Mifchgefäße fortgeführt wird — 
find wir noch im Dunfeln. Alles, was auf diefem Wege in die Venen gelangt, 
wird unmittelbar mit dem Blute vermijcht, das die Adern aus den Auperften 
Enden bed Körpers zurückführen. Daher ift e8 fehr ſchwer zu entfcheiden, ein 
wie großer Theil der Beftandtheile diefed Blutes aus der Speile im Dünndarm 
gezogen iſt. Daß indeß die Menge groß und ihre Ratur der Gefundheit des 
Thieres wichtig ift, fann man mit Grund annehmen. 


Wenn die Speife durch den Dünndarm in den Blinddarm gelangt ift, fo 
ift der in ihr enthaltene Nahrungdftoff in Folge der verfchiedenen flattgehabten 
Auffaugungen faft erfchöpft. Hier findet jedoch eine Verwandlung ihrer chemi⸗ 
fhen Natur ſtatt. Als der Speijebrei den Magen verließ, war er ſchwach 
jauer. Die Beimifchung der Galle machte ihn alkalifch, und fo Hat er feinen 
Weg durch den Dünndarm fortgefegt. In dem Blinddarm wird er aber wieder 
ſchwach fäuerlich, befonders wohl wegen des Gehaltes an freier Milchfäure. 
Wie diefe Veränderug hervorgebracht wird, iſt nicht deutlich erflärt. Der Zweck 
derjelben fcheint indeſſen zu fein, durch die Mitwirfung diefer Säure den etwa 
noch gebliebenen Kleber, welchen der Inhalt der Gedärme und beſonders ihr vege⸗ 
tabilifcher Inhalt in ſich fchließen möchte, auszulöfen und fo die Entziehung des 
Rabrungsftoffes vollftändiger zu machen. Died wird wahrfcheinlicher, wenn man 
auf die Größe des Blinddarmes bei pflanzenfreffenden Thieren hinfteht. Die 
Speiferefte werden dort etwas aufgehalten, damit fle eine fchliegliche Verdauung 
erfahren, bevor fie gänzlich aus den Gedaͤrmen heraudtreten. 


Dies ift die Ueberſicht des Verdauungsproceſſed — der Art und Weife, 
wie er flattfindet — des compflicirten Apparates und der Organe, welche daran 
Theil nehmen — und der chemifchen Mittel, welche fpeciell für diefen Zweck be⸗ 
reitet und ſtets fertig find, um bei demfelben mitzuwirken. Wie wirkffam biefe 
ganze Verdauung ift mit Bezug auf das Ausfaugen des Nabrungdftoffes aus der 
genofienen Speife, fann nach der Thatſache beurtHeilt werden, daß ein gejunder 
erwachfener Mann bei mäßiger, aber guter Koſt, an unverbautem und an ver⸗ 
fallenem oder verbrauchtem Stoff zufammengenommen, nur 8— 12 Loth aus⸗ 
leert, die zum größten Theile aus Waſſer beftehen. Ihre‘ Bufammenfegung ifl 
nämlich folgende: 


748 Chemie. 


Waſſeerr. 6—9 Ko 
Organiſche Stoff.. ... 112 - 2, 
Mineraliſche Stoffe, größtentheils aus 
phoßphorfaurer Kalkerde und Mag⸗ 
neſia beſtehen... /1 —, 
Zuſammen 8—12 Loth. 

Das Gewicht der feſten Beſtandtheile beträgt alſo im Durchſchnitt nur 
2 bis 3 Loth. 

IN. Warum wir verbauen. — Diefe Frage iſt in gewiſſer beichränfter Be- 
deutung ſchon durch die vorhergehende Bejchreibung beantwortet. Wir verbauen 
unfere Speife, um Stoff zur Erzeugung von Blut zu bereiten. 

Aus welchen Stoffen befteht denn das Blut felbft? 

Wenn 100 Pfd. menfchliches Blut vollkommen getrodnet werden, bei einer 
Hige, welche die des Fochenden Waſſers nicht viel überfleigt, fo wird ihr Gewicht 
auf etwas weniger ald 22 Pfd. reducirt werden. Sie verlieren ungefähr 78/2 
Procent an Wafler. ' 

Diefe trockene Maſſe befteht im Wefentlichen aus denfelben Subftanzen, 
wie die verfchiedenen Arten animalifcher und vegetabilifcher Nahrung, die in den 
vorhergehenden Gapiteln bejchrieben fint. Sie enthält Fett, ein wenig Bude, 
Stärke, Fibrin, Eiweiß, Gallerte und Salzftoff in folgendem ungefähren Ber- 
haͤltniß: 

Fibrin, Eiweiß, Gallerte ꝛc. 2 92 Procent. 
Fett, ein wenig Zucker und ein Unbedeuten⸗ 
des an Stärk... 2 223 „ 
Salziger oder mineraliihr Sof . . . 5 „ 
100 Procent. 

In der Zufammenjegung gleicht fie alfo jehr den muskelartigen Teilen der 
mageren Thiere oder Fiſche, welche wir ald Speife genießen. Der Kleber unjerer 
vegetabiliichen Nahrung ift im Thiere durch Eiweiß und Fibrin vertreten. 

Die Zujanımenfegung des Blutes ift etwas veränderlich nach Alter, Ges 
ſchlecht, Körperbeichaffenheit, Gefundheitszuftand 2c.; aber im Ganzen find bie 
Abweichungen von der vorwähnten Zufammenfegung nur gering. Zur unmittel- 
baren Blutbildung ift deshalb animalifche Speije geeigneter, als die gebräud- 
licheren Bflanzenftoffe. 

Wir verdauen unfere Speije, damit biejed Blut daraus gebildet werde, — 
Diefe Antwort genügt nicht zur Erklärung des Zweckes der Verdauung. Wels 
hen Zwed hat es, daß dad Blut auf dem Wege des vorbefchriebenen Proceſſes 
gebildet wird? Eine Erklärung dieſes Zweckes wird die wahre Antwort geben 
auf die Brage: Warum verdauen wir? 

Das Blut dient einem doppelten Endzwede. Erſtens ergänzt e8 den Stoff, 
welcher nöthig ift, um bie verfchiedenen Theile des Körpers zu bilden und ihr 
Wachsthum zu fördern. Zweitens feßt e8 den Körper in den Stand, ohne Vers 
luſt an Stoff, die Bunctionen zu verriäten, von venen fein Reben abhängt. 


Die Berbauung. 749 


Erftend. — Es ſchafft und fördert den Bau bed Körperd. Um biefen 
Theil feines Wirfend zu verftehen, ift e8 nur nöthig zu betrachten, aus welchen 
Subftanzen der Körper und das Blut beziehungsweife beftehen. 

Mir haben fchon gefehen, dag ſowohl Thiere wie auch Pflanzen zum größ⸗ 
ten Theil aus Wafler beftehen. Der Muftermann des englifchen Profeſſor Ques 
telet wiegt 154 Pfd., und biefe beſehen aus 


Waſſer . . . 0.0. 116 Pf. 
Trocknem feſten Stoff. .... 38, 
154 Pfd. 


Die 38 Pfd. feſten Stoffes beſtehen wieder aus: 
Fleiſch u. Fett 24 Pfd. 
Knochen... . 14 „ Kom auß: 
38 Pfr. 
Organiſchem (verbrennlichem) Stoff . . . 28 Pfo. 
Mineraliichem (unverbrennlichem) Stoff. . 10 „, 
38 Pfr. 

Das Mengenverhältniß des Fetts zu dem trocknen Fleiſch ift bei verſchie⸗ 
denenen Individuen nicht gleich und ift bei Menſchen jelten durch Experimente 
feſtgeſtellt. Bei nur mittelmäßig fetten Schafen beträgt das Bett ein Drittel 
bes Ganzen. Wenn wir e8 bei unferm Muftermanne zu ein Viertel annehmen, 
ſo beſtehehen ſeine 154 Pfd. aus. 





MWalr . . . 0. 116 Pb. 
Fleifch, Haut und Blut (mit ip aiicnniſcen 
Stofff)...... . 18 „ 


Fett . . . . . . . . . . . . . 6 „ 


Knorpel 42/2 
Knochen, beftehend aus | matten | 14 „ 
Stoffen 9'/s 
154 Pfb. 


Aber das Blut, welches den Körper aufrecht erhält, ift ſelbſt mit in obige 
generelle Zufammenfegung des Menſchen eingefchloffen. Dies Blut wiegt im 
flüſſigen Zuftande bei einem gewöhnlichen, erwachfenen und gefunden Manne 20 
Pfd. und befteht ungefähr aus 


MWafler . .. 152/3 Pfd. 
Trocknem feſten Sioff . ä 
20 m. 


Und dieſer feſte Stoff enthält wieder: 
Fibrin, Albumin (Eiweiß) u... . -. 4 BP. 
Fett und ein wenig Budr . - » » U 
Mineralifchen Stoff ungefähr . . - I „ 
4lı „ 
Demnach find bie feften Beſtandtheile des Körpers und bed Blutes, gejon- 
dert aufgeführt folgende: 


750 Chemie. 


Im Körper: 
Fleiſch, Haut und Knorpel den Mine 
ralftoffen) . .. . . 17% Pfo. 


Fett und ein wenig Siarte > 220. bie m 
Minerale - > > 222 0 m 


332/s Pfd. 

Im Blute: 
Fibrin, Albumin (Eiweiß). - . . - 4 Pe. 
Fett und ein wenig Zudr . 2. dm 
Mineralfioffe . » 0 0 er 
dis Pfd. 


Das Fleifch, die Haut zc. des Körperd werben von dem Kibrin und Albu- 
min des Blutes gebildet und erhalten. Das Bett und der Mineralftoff des let⸗ 
teren ergänzen ebenfalld den Bedarf an dieſen Subftanzen im Körper. Die Ar⸗ 
terien führen biefe verfchiedenen Formen von Rahrungeftoff nach allen Teilen 
des Körpers. Dort werben fle aufgenommen von den Eleineren Gefäßen, denen 
diefe Arbeit anvertraut ift, und durch diefe werden fie an den Punft geführt, we 
fie eben erforderlich find, 

Dem Lejer, welcher die abjolute Menge des trodnen Stoffes, die in dem 
Blute enthalten ift, mit derjenigen vergleicht, welche den Körper bildet, wird c& 
auffallen, eine wie geringe Menge Nahrung das Thier in fich felbft Hat. Das 
Blut enthält an feften Beſtandtheilen nur ein Achtel von dem Gewicht der feften 
Beftandtheile des Körpers, fo daß ohne Erfolg aus anderen Quellen die Kraft 
bed Letzteren nur eine jehr kurze Zeit aufrecht erhalten werben Fönnte. 

Und doch, wenn auch die Kraft fchwinder, ift e8 merkwürdig, wie lange das 
Leben an tem verfallenen Körper Elebt. Gin Thier flirbt nicht eher den Hunger⸗ 
tod, bis e8 2/5 feines Gewichts und mehr als ?/s feiner Wärme verloren hat. 
Das Lebenslicht glimmt Tangjam und jchwach fort. Endlich erlifcht es, theilb 
weil der Brenftoff fehlt, theild weil das Blut in den erfaltenden Gliedern mehr 
und mehr zum Stillftande kommt. 

Zweitend. Das Blut befähigt den Körper, ohne Verluft an Stoff, tie 
jenigen Bunctionen zu verrichten, von welchen fein Leben abhängt; und bei Bes 
trachtung deffen, was diefe Beſtimmung des Blutes in ſich ſchließt, wird die Noth⸗ 
wendigfeit befländiger und bedeutender Ergänzung der Rahrung von außen recht 
einleuchtend. 

Während der Menfch lebt, athmet er und bewegt er ſich. Welchen Auf 
wand an Rahrungdftoff erfordern dieſe charafteriftifchen Lebenserfcheinungen ? 

In dem vorhergehenden Gapitel haben wir gejehen, daß das Thier eine 
große Portion Nahrung zu fi nimmt, damit es fich mit dem durch Die Zungen 
eingeathmeten Sauerftoffe verbinde und dann als Kohlenfäure und Waſſer wies 
der ausgeathmet werde. Ehe fie fich aber mit Sauerftoff verbindet, muß fie ver- 
daut und dem Blute zugeführt werden, und wir fünnen deshalb in Wahrheit 
fagen, daß wir verbauen, um athmen zu Fünnen. 

Und fo wie dad Atmen befäntig fortbauert, fo muß auch das Blut 


Die Berdauung. | 751 


beftändig den Stoff ergänzen, woraus die Kohlenfäure und das Wafler erzeugt 
werden fünnen. Damit das Blut dies aber Fann, ohne feine eigene Subſtanz 
zu verringern, müffen immer neue Ouantitäten Chylus zuftrömen, und neue 
Speife muß verbaut werden, damit der Chylus gebiltet wird. Daher die Rothe 
wendigfeit und der Gebrauch der großen Quantität Stärke oder Fett, weldye ein 
erwachjener Menſch täglich genießen muß, wenn er fortfährt zu athmen, und doch 
wird Dad Gewicht feined Körpers nicht geringer. 

Anderentheil® bewegt ſich der lebende Menih. Blicken wir ihn äußerlich 
an, fo ift er nie ganz in Ruhe; Könnten wir ihn innerlich fehen, fo würden wir 
bemerken, daß er überall und ſtets in Bewegung iſt. Selbſt wenn er in Schlaf 
verfunfen ift, fo gibt e8 wohl kaum ein Organ, welches, wenn es ſich nicht jelbft 
bewegt, nicht der Sit einer unaufhörlichen Bewegung wäre. Run glaubt man, 
daß jede Bewegung des Körperd, — jeded Regen eines Gliedes — jede Berändes 
rung, die ich 3. B. in der Lage meines Fingers vornehme, indem ich fchreibe — 
jeder Schlag des Herzens — jeder Gedanke, der durch mein Hirn geht, von einer 
größeren oder Fleineren Stoffzerfegung an dem befonderen Orte, wo bie Bewe⸗ 
gung flattfindet, begleitet fei. Ein Theil der Subftanz der Musfel, der Knochen, 
des Herzens, des Gehirns wird chemijch verwandelt — wahrfcheinlich oxydirt — 
und untauglid) für den Plag, welchen er vorber ald einen Theil des vollfommenen 
Körpers einnahm. Aller diefer verwandelte oder verfallene Stoff wird beftänbig 
durch die Venen abgeführt und fein Platz ebenjo fletig Durch neuen Stoff aus 
dem Blute ausgefüllt. 

Daß jede Eörperliche Bewegung von einem Verfall körperlicher Subſtanz 
begleitet ift, ift eine angenommene Meinung. Sei nun diefe Bewegung die 
wahre lirfache oder nicht, jo ſteht doch der Verfall felbft unzweifelhaft feſt. Ein 
hungerndes Thier verliert in 24 Stunden !ia—!ız feine ganzen Gewichts. 
Diefer Verluft trifft nicht das Fett ganz, fondern trifft zum Theil auch die Ge⸗ 
iwebe und Hauptmaffe des Körpers. Cr ift jo groß, daß alles Blut nicht im 
Stande ift, ihn zu erfegen. Der Magen des Thieres ift deshalb kaum leer, fo 
beginnt es ſchon von fich ſelbſt zu zehren. | 

Aber jelbft wenn das Thier Nahrung zur Genüge erhält, jo daß es die 
nöthige Menge Kohlenſäure ausathmen kann, ohne in irgend einer Weife von 
fich ſelbſt zu zehren, fo findet Doch, wie ich gefagt habe, ein Verfall und eine Er⸗ 
neueruug der Gewebe und der Körperfubftan; überall flat. Es macht feinen 
Unterjchied, ob dieſer Verfall eine Folge beftändiger Bewegung der Theile des 
Körpers ift oder ob er in einer anderen Urfache feinen Grund hat. Er geht fo 
rajch vor fi), daß der ganze Körper ſich in durchichnittlich 30 Tagen erneuert. 
Natürlicherweije ift die Schnelligkeit des allgemeinen Stoffwechjeld bei verſchiede⸗ 
nen Individuen nicht gleich, und variirt je nach den Gewohnheiten, der Nahrung 
und der Beichäftigung; und auch die einzelnen Theile des Körpers werben fi 
wahrfcheinlich mehr oder weniger fchnell erneuern. Wenn wir z. B. die Menge 
an Bewegung oder Arbeit, welche von jedem Theile ausgeführt wird, ald Maßſtab 
annehmen für den fchnelleren oder langiameren Verfall teffelben, jo wird bei 
demjenigen, der viel denkt, das Gehirn rafcher erneuert — bei dem, der viel 


752 Ebemie. . 


törperliche Arbeit verrichtet, werden die Mnäfeln, welche burch bie Art der Arbeit 
in Thätigfeit verfegt werben, am Häufigften verändert und neugebildet — und wo 
forglofe Indolenz und Unthätigkeit vorwaltet, werben Muskeln und Nerven 
gleichmäßig an einem übereinftimmend langſamen Stoffwechfel theilnehmen. 

Sp können wir alfo wieder fagen und mit eben jo viel Grund, Daß ber 
Menſch verbaut, um fi bewegen zu können; ober er verbaut, damit er den be⸗ 
fländigen Verfall erfegen kann, welchem die Haftlofigfeit der materiellen Beftand- 
theile zugefchrieben wird, die feinen nie rubenden Körper bilden. Diejen Ber- 
fall gleicht das Blut au; und der innere Kochproceß muß befländig fortdauern, 
damit das Blut im Stande ift, diefe Beflinnmung zu erfüllen, ohne der Koͤrper⸗ 
mafje jelbft einen dauernden Verluſt zu verurfachen. 

Die Fragen, welche wir und zu Anfang dieſes Capitels vgrlegten, find nun 
beanwortet. 

Bas wir verbauen, beſteht im Weſentlichen aus Stärke, Fett, Kleber und 
mineralifchem Stoffe, welches, wie wir in einem vorhergehenden Gapitel geſehen 
haben, alle Arten nahrbafter Speije in größerer oder geringerer Menge befigen. 

Was die Art und Weije der Verdauung betrifft, fo geſchieht fle Durch ver- 
einted Wirken der Wärme des Körperd — eines eigenthümlich gebildeten Darm 
canals und feiner zugehörigen Organe — und verfchtebener chemiſcher Suhſtan⸗ 
zen, die aus den Wänden diefes Canals und feiner Rebenorgane in die Speijen 
ausftrömen. 

Und ber Zwed des Verdauens ift, mehr unmittelbar, in den Bruflgang 
und bie abforbirenden Gefäße die Stoffe zur Blutproduction zu ſchaffen; aber 
entfernter, den erwachfenen lebenden Menfchen zu bilden und ihn zu befähigen 
zu athmen, fich zu bewegen und die zum Leben nothwendigen Functionen audzus 
üben, ohne merflichen oder dauernden Verluft an der eignen Subſtanz zu erleiden. 

Diefe drei intereffanteften Fragen habe ich mit befonderer Beziehung auf 
die Bildung des menschlichen Körperd beantwortet. Wären fle mit Bezug auf 
andere Racen von Thieren geftellt worden, fo würden die beiden erſten Anwor⸗ 
ten etwas anders gelautet haben. In der That beftimmt die Ratur der Nahrung 
— des zu verbauenden Gegenftandes — die Art und Weife der Verdauung, den 
Apparat, in welchem die Verdauung flattfindet, und bis zu einem gewifjen Grade 
die chemiſchen Subftanzen, durch welche fie gefördert wird. So findet man bei 
fleifchfreffenden Ihieren, deren Nahrung fich leichter in Chylus verwandelt, einen 
Eleinen Magen und vergleichöweife kurzen Darm. Bei pflanzenfreflenden Thieren 
find aber die Gedärme lang und der Magen groß und bisweilen in feinem Bau 
complicirt. Dies ift befonderd ber Fall bei den Wiederfäuern, wie 3.2. ber 
vierfache Magen des Schafe ein Beifpiel bietet. 

Bei dieſem Thiere gebt die verſchluckte Speife ungefaut und rafch in den 
erfien Magen, wo file mit Flüſſigkeit getränft wird; ift es nöthig, fo geht fle zu 
demjelben Zwecke auch in den zweiten Magen und ehrt dann von dort zuräd in 
das Maul, um nochmals gefaut zu werden. Hiernach wird fle wieder verjchludt 
und geht unmittelbar in den dritten Magen und dann in den vierten, wo ber 
Magenjaft fich mit ihr vermiiät. Mur tiefem Tegteren gebt fie wie bei dem 


Die Berdauung. 753 


Menichen durch den Pförtner in die Gedärme, die bedeutend Länger find als bei 
dem Menichen. 

Der Grund dieſes zufammengefeßten Baues bed Verbauungdapparates bei 
den wieberfäuenden Thieren ift die Schwierigkeit, die vegetabilifche Nahrung, 
wovon das Thier lebt, zu zermalmen und dann den ganzen Nahrungsſtoff aus 
derfelben aufzufaugen. Deshalb wird die Speife länger in dem Darmcanal aufs 
gehalten und einem vollfländigeren Zerfleinerungs» und Ausfaugungsproceh 
unterworfen, ebe fie den Körper verläßt. 

Im Allgemeinen ift das Nefultat oder der Zweck der Verdauung bei allen 
Thieren derfelbe — Stoff zu fhaffen zum Bau des Körpers in feiner vollen 
Größe, und nachher ihn zu befähigen, feine verfchiedenen Lebensfunctionen ohne 
dauernden Verluft an eignem Gewicht oder eigner Maſſe zu verrichten. 


Die Palmen. 
| Don | 
G. F. von Jenſſen-CTuſch. 


Di zahlloſen Formen, welche die Pflanzenarten darbieten, würben ein wahres 
Chaos für uns fein, wenn wir fle nicht unter gewifien Hauptformen fammelten. 
Das Borhandenfein jolcher Hauptformen, Pflanzengruppen oder Pflanzenfami⸗ 
lien genannt, erfennt man ſchon nach bloß oberflächlicher Betrachtung, ohne bo⸗ 
tanifche Unterfuhung: Nadelbäume, Gräfer, Moofe, Lilien geben ein Beijpiel 
davon. Eine jede folder Gruppen bat ihre eigenthümlichen Grundzüge, inner« 
halb welcher doch der Manigfaltigkeit meift ein weiter Spielraum gegeben if. 
Jede Gruppe hat daneben eine ihr eigene Verbreitung und Vertheilung über bie 
Erde ihre eigenthümliche Nolle in der Natur; trägt auf eine nur ihr eigene Weife 
zur Phyſtognomie eines Landes bei und hat ihre eigene Bedeutung für das Leben 
der Menfchen. 

Zu den Pflanzengruppen, welche einer befonderen Aufmerkfamfeit werth 
find, — ob man nun auf ihre Haupteigenfchaften Nüdficht nimmt, auf ihre 
Molle in der Natur, oder auf ihre unmittelbare Wichtigkeit für den Menfchen, — 
gehört vor allen anderen die der Balmen. 

Zu dem Charafteriftichen diefer Pflanzen muß man zunächft die Größe 
und Menge ber Theile rechnen, worin ihnen gewiß nur wenig andere Fami⸗ 
lien, vielleicht gar Feine gleichfommen. Bei den meiften Balmenarten fleigt der 
verhältnigmäßig diinne und aftlofe Stamm weit über die gewöhnlichen Laubwaͤl⸗ 
der empor und erreicht bei einigen die höchfte Pflanzenhöhe. Die Wach palme, 
Ceroxylon andieola, wird 160—180 Fuß hoch. Aber diefe Ausdehnung wird 
bei anderen Arten, deren dünne und biegfame Stänme nicht in die Höhe fleigen, 
fondern an der Erde Hinfriechen, oder fih an Bäumen Hinauffchlingen unt gleich 
langen Reifen zwifchen denfelben bangen, noch viel beträchtlicher,, wie 3. ®: bei 
der Rotangpalme, wovon wir abgebrochene Stüde in unferen Spaniſchen⸗Rohren 
feben. 

Was bie Blätter der Balmen betrifft, da haben wir an den Blättern der 
Dattelpalme, deren Blattfiengel Icon einem onen Baumaft ähnlich flieht, daB 


Die Palmen, 765 


Beijpiel einer beträchtlichen Größe, bie aber von dem 14 — 16 Zuß langen Blatte 
der Jaguapalme und von dem fächerähnlichen Rieſenblatte der Schirm 
palme, Borassus flabelliformis, das eine Breite von 8—9 Fuß hat, noch weit 
übertroffen wird. 

Die Blüthen ſtehen auf Rispen, in Scheiden eingefchloffen, welche eben⸗ 
falls don beträchtlicher Größe und dabei feft, Ieberartig, oft fogar holzig find. 
Kämpfer berechnete, daß eine einzige Rispe ber Dattelpalme 12,000 männliche 
Blüthen enthielt, und nah Humboldt Fönnen 600,000 Bluͤthen auf einem 
einzigen Eremplar ber ſüdamerikaniſchen Alfonsia amygdalia vorfommen*). Der 
Eoloffale Blũthenſtengel ber Maximiliana hat einen gleichen Meichthum aufzuwei⸗ 
fen, und e8 ift ſomit natarlich, daß die Palmen, wenn auch nicht alle ihre Bluͤ⸗ 
then zur Reife fommen, doch zahllofe Früchte tragen müſſen, die eine außeror⸗ 
dentliche Größe erlangen, wie es unter anderen bei der maldivifchen Ruß, L 
doicea maldivia, der Fall iſt. 

Während die Palmen fich nur im Ganzen durch ihre Größe und Anzahl 
der Theile auszeichnen, was doch nicht bei allen Arten der Ball, fo iſt Dagegen 
ihr Bau meift ſehr einfach. 

Dies tritt zunächft in der inneren Bujammenfepung des Stammes bervor. 
Bei allen unferen Baumarten befteht der Stamm aus Minde oder Borke, Baft, 
Holz; und Mark, die fchichtemwetfe nach innen aufeinander folgen, und jedes Jahr 
bildet fich eine neue Schicht Holz um die früheren herum, wodurch Die ſogenann⸗ 
ten Jahresringe entſtehen, welche von Markſtrahlen durchichnitten find, Die von 
der Mitte des Stammes bis an den Umkreis gehen. Bet den Palmenftämmen 
finden ſich dagegen Feine Jahresringe und Markfirahlen, und ebenfalls Feine 
Unterfcheidungen zwifchen Holz und Marf. Das Innere des Stammes befteht 
aus einer marfähnlichen, weicheren Subftanz, worin härtere Kajerbüfchel zer⸗ 
freut liegen, und eine dünne Baumrinde umgibt den ganzen Stamm. 

Der einfachere Bau der Balmen tritt auch dadurch hervor, daß der Stamm 
unveräftelt und Blätter, Blüthen und Brüchte aus einer Knoſspe am Ende des 
Stammes bervortreten**), während unfere Bäume viele Seitenfno8pen treiben, 
aus welchen jich ein verzweigter entwickelt. 

Obgleich die Balmblätter combinirter find ald an Gräfern und Lilien, in« 
dem mehre Blättchen an einem gemeinfchaftlichen Stengel figen, oder dad Blatt 
vom Stengel aus fich fächerähnlich oder gefiedert ausbreitet, fo zeigt fich Doch der 
einfachere Bau dadurch, daß in dem Blatte nicht, wie bei unferen Baumblättern, 
ein Adernnetz hervortritt, fondern nur der Ränge nach neben einander hinlau⸗ 
fende Adern. 

Ebenſo ftellen auch die Balmblüthen fich in geringerer Entwidelung dar. 
In der Regel find fie lederartig, von welfgelber Karbe, und bieten weber bie feine 
Textur, die Abwechslung der Form, noch den ſchönen Barbenwechfel anderer 





*) Weil nämlich oft auf einem Baum 3 Blüthenfcheiden hervorbrechen. 
D. Red, 

**) Bine Ausnahme davon bildet doch die Doumpalme, Cucifera thebaica. 
‘ DU, 


ad“ 


756 Botanik. 


Pflanzengruppen, unter dieſen namentlich bie Fanilie der Lilien, welche dagegen, 
was das Blatt betrifft, von einfacherem Bau iſt. 

Da nun der Entwickelungsgrad einer Pflanze, oder der Platz, den eine 
Gruppe in der Pflanzenwelt einnehmen muß, ſich nicht nach der Größe und An⸗ 
zahl ihrer Theile beſtimmen laͤßt, ſondern nur nach ihrer Manigfaltigkeit und 
und dem combinirteren Bau, fo können wir nicht, ohne in eine Linné'ſche Ein⸗ 
feitigfelt zu verfallen, nach jenen Eigenfchaften Die Balmen die Fürſten unter den 
Pflanzen nenden. Auch unter den Thieren gibt es Beifpiele von Größe und 
Menge an Teilen bei minder entwidelten Klafien. Die Wallfijche gehören zu 
den niederen Säugethieren; die Fiſche find darum nicht entwidelter, weil ſie 
mehr Eier haben, jo wenig wie der Medufenftern, Asterius caput Medusae, weil 
derfelbe eine endlofe Theilung von Strahlen, mithin eine große Anzahl gleicher 
Theile zeigt. 

Der geringere Entwidelungsgrad der Palmen Taßt ſich auch ſchon daraus 
abnehmen, daß fie zu den Dreizsahlöpflanzen gehören, welche nur die nächftoberfte 
der vier Hauptgruppen if. Die Drei tritt bei den Palmen in den Theilen der 
Blüthe und der Frucht hervor. 

Obgleich die Palmen eine ſehr natürliche Pflanzengruppe bilden, treten 
gleichwohl innerhalb ihrer Grenzen bedeutende Berfchiedenheiten hervor. 

Die meiften Balmarten reichen mit ihrem Stamm hoch in die Höhe; es gibt 
aber auch folche, Die nur einen kurzen Stamm haben, fo 5. B. die Zwergpalme. 
Bei einigen, wie bei der Nipapalme auf.Iava, ift ber Stamm ganz in Sumpf _ 
verſenkt; andere haben einen liegenden Stamm, z. 3. Iriartea exorhiza, und die 
Motangarten, Calameae, ſchlaͤngeln ſich jogar zwifchen den Stämmen der Bäume 
berum, 

Gewöhnlich it der Stamm der Palmbäume von gleicher Die oben und 
unten, bisweilen dicker am oberen Ende, mitunter flärfer und gleichjan ange 
fhwollen in der Mitte, wie bei ber Iriartea ventricosa. Zum. öfteren ift der 
Stamm mit Ningeln befegt, welche Lieberrefte von abgefallenen Blättern find, 
zuweilen mit Schuppen garnirt, die einen gleichen Urfprung haben; mitunter 
figen Dornen am Stamm, mitunter Feine. 

Die Palmblätter treten alfo unter zwei Hauptformen auf: als fächer- 
förmig, wie bei der Schirmpalme und ber Zwergpalme, und als warzen⸗ 
förmig, wie bei der Dattelpalme, aber ſelten als unregelmaͤßig ausgeſchnitten, 
wie bei der Caryoda. Die Frucht iſt entweder eine Beere oder eine Steinfrucht, 
d, h. um den Kern befindet fich eine harte Schale, und um dieſe wieder eine flei- 
ſchige Maffe, wie bei den Datteln. Statt ber fleifchigen Maffe findet man bis⸗ 
weilen eine faferige Hülle, wie bei der Cokos, oder eine holzartige Schuppenmaffe, 
wie bei dem Sagus. 

Die Heimath der Palmen ift der heiße Erbgürtel; nur wenige Fommen jen- 
ſeits der Wendefreife vor und find meift Flein und zwergartig. Auf der nörb- 
lichen Halbkugel ift Nizza der nördlichfte Punkt ihres Vorkommens, d. h. ber 
43—40° der Breite, im nörblichen Amerika der 34 — 36°, in der füdlichen Halbe 
Fugel der 34° in Reuholland, ter SE in Stiuomerita, her 300 auf Reuengland. 


Die Palmen. 757 


Aber im heißen Klima felbft find die Palmen ſehr ungleich vertheilt, Man 
Tennt 190 Palmarten, wonon 127 auf Südamerika, 34 auf Aften und die afla« 
tifchen Infeln, 12 auf Afrika, 7 auf Auftralien und die Südſeeinſeln, und 10 
auf Länder jenfeitd der Wendefreife fommen. 

Daraus geht hervor, dag Südamerifa dad Land fein muß, welches am ge» 
eignetften für diefe Pflanzenform ift, Afrika und Reubolland am wenigften, wenn 
nicht etwa Die neuen Entdedungen im Inneren des auftralifchen Beftlandes einen 
neuen Reichthum an Balmen offenbaren. In Aflen find es Java und die Mo« 
Iuffen, welche die meiften Palmarten aufzuweifen haben. 

Aber auch binfichtlich der äußeren Bedingniffe, unter denen die Palnıen 
vorkommen, bieten fle eine große Manigfaltigfeit. Einige gehören namlich aus⸗ 
fchließlich der Küftenvegetation an, 3. B. die Eofospalme, andere ben Kuͤſten⸗ 
fünpfen, 3. B. die Ripa; wieder andere findet man in den Urwaͤldern von Bra— 
filien, befonders in den großen Waldungen am Amazonenfluffe, die in der jähr- 
lichen Regenzeit überjchwemmt werden; noch andere gehören zu ben Catingas⸗ 
wäldern, in welchen die Laubhölzer in der trodenen Jahreszeit die Blätter ver- 
Vieren, nicht aber die Palnıen; abermals andere flehen zerftreut in den großen, 
waldlofen braftlianifchen Campos, und endlich trifft man einige Balmarten in 
beträchtlicher Höhe über dem Meece auf den Andes an, wie die Oreodoxa frigida, 
die bi8 zur Höhe von 8400 Fuß hinauffteigt, Ceroxylon andicola bi8 9000 Buß 
über dem Meere, wo bie mittlere Wärme nur noch gemäßigt ift, aber wo auch 
fein Unterfchied zwifchen den Jahreszeiten ftattfindet, mithin Fein kalter Winter 
eintritt, wie auf den Breiten von gleicher mittlerer Temperatur, inige Palnı- 
bäunie bilden dort Wälder, andere ſtehen vereinzelt da. 

Im Ganzen ift die Rolle, welche die Palmen in der Ratur fpielen, und der 
Eindrud, den fle auf die Phyflognomie der Landichaften üben, von vieler Bes 
deutung. Naͤhert man ſich den Küften Javas, des jüdlichen Indiens und Bra⸗ 
filiend oder den Südſeeinſeln, fo find die Gipfel der hohen Cokospalmen das 
Erfte aus der Pflanzenwelt, was das Auge trifft, und die niedrigen Korallene 
infeln werden faft nur Durch ihre Palmbäume fichtbar im weiten Ocean. In den 
Urwäldern des Orinofofluffes bilden ‚die Palmen einen wefentlichen Beftanbtheil 
der Waldungen, oder fle ragen einzeln aus der bicht verfchlungenen Walddecke 
bervor. In den Ebenen ſtehen fle mit ihren hohen, dünnen, rohrähnlichen Staͤm⸗ 
men da, und fchwanfen vor dem Winde gleich riefenhohem Schilf. Auch die 
verfchiedene Form ber Blätter mit ihren Scheiten und der Farbenwechſel der 
verfihiedenartigen Blüthen verleiht den einzelnen Palmarten ein eigenthünliches 
Anfehen, das wiederum auf ben Gharakter der Landichaft zuruͤckwirkt. 

Wenn wir endlich noch auf den Nutzen Nädficht nehmen, den die Pal⸗ 
men gewähren, fo gibt es innerhalb bee Srenzen bes heißen Erdgürteld Faum 
irgend eine andere Pflanzenfamilie von fo entfchiedenem Werthe für die dortige 
Menſchheit. In einigen Gegenden dieſer Zone fchließt eine gewifie Palmart 
fi genau an das Daſein ganzer Völferfchaften und verfieht fie mit allen, oder 
doch ten wichtigften Lebenshebürfniffen. Dies ift die Cokoſspalme, welche 
von großer Bedeutung für die Bewohner der Südieriniein un Wer KUREN 


758 | Botanik. 


Inſeln wird. Das Hol; des Stammes liefert ihnen das Material zu ihren 
Mohnungen und Kähnen; mit den Balmblättern belegen fie das Dach ihrer 
Häufer, verfertigen aus den Blattſtengeln und den DBlattfafern Retze, Körbe, 
Fußſohlen, Beſen, Seile und Leinen und benugen die harten Schalen zu Trink⸗ 
gefchirren; die jungen Schößlinge werden ald Kohl genofien, der den Blüthen⸗ 
ſcheiden entauillende füge Saft Ilefert den Palmwein und eine Art Arak, der 
nahrhafte Kern der Frucht wird gegeffen, das aus demſelben geprefte Del vertritt 
die Butter, und die Milch der Nuß wird getrunfen. Bon fo großem Augen ift 
alfo die Kokospalme, daß ohne fie viele dortige Infeln für Menfchen unbewohn- 
bar jein würden. 

In der afrifanijchen Wüfte und in einem Theil von Arabien fpielt bie 
Dattelpalme eine ähnliche Rolle, doch ift es hier größtentheils nur die Frucht, 
die einen fo großen Werth erlangt. In den Dafen ift diefe Balmarı faft ber 
einzige Baum, und in dem großen Reichthum feiner Frucht befteht nicht bloß Das 
Sauptnahrungsmittel der Menfchen, fondern auch der Pferde und Kameele. 

Bon ähnlichem, wenn auch nicht fo weitreichendem Nntzen find antere Balm- 
arten. Einige Tiefeen überdies auch noch andere Produkte als jene beiden 
PBalmbäume. 

Don allen Balmbäumen wird das Holz benutzt, wenn es Feſtigkeit und 
einige Stärke erlangt, außer von den fehon erwähnten Arten auch vom Bo- 
rassus flabelliformis, der Corypha umbraculifera, Guilielma speciosa und der 
Iriartea exorhiza.. Zum Bedachen und zu Beflechten dienen die meiften Arten, 
3. B. Attalea fnnifera. Die jungen Sprößlinge einiger Arten werben gegeflen, 
und beſonders verdient der fogenannte Palmkohl von der Areca oleracea und 
der Euterpe oleracea genannt zu werden. Die Frucht der Elaeis guineensis 
liefert das Palmöl, deſſen die Neger fich ſowohl bei Zubereitung des Eſſens ala 
zum Brennen, bejonders aber zum Einreiben des Körper® bedienen, und dad 
auch nach Europa verfandt wird. Wein geminnt man bald aus der Frucht bes 
Palmbaums, 3. B. ron der Weinpalme, Oenocarpus Batana und anderen, bald 
aus dem Saft des Stammes, z. B. von der Mauritia rinifera. Der Stamm 
mehrerer Balmarten, wie u. a. der Mauritia flexuosa und der Arena Saccharifera 
enthält Zuckerſtoff. Wachs geben die Wachöpalıhe, Ceroxylon andicola, und Die 
Blätter der Corypha cerifera.. Aus dem Mark der Palmen wird Mehl bereitet, 
> B. von dem Sagus farinifera, Cocos coronata, Phaenix farinifera Roxb. Auf 
Blätter manigfacher Palmarten wird in Indien gefchrieben. 

So vertreten alfo die Palmen in den Ländern der heißen Zone den Nutzen 
und Gewinn für De Menfchen, den mehrere Pflanzenfamilien und einzelne Pflanzen 
gemeinſchaftlich bei und gewähren: der Bräfer, die uns mit Getreide verſchen, 
ber Nadelhözer, die und Bauholz zu Schiffen, Häufern und Hausgeräthen liefern, 
der Reben, der Diivenbäume, des Hanfes, des Flachſes, der verfihiedenen Kohl⸗ 
arten und der Obſtbaͤume. Darin liegt denn ſowohl ein Beweis von der großen 
Bedeutung, welche die Familie Der Palmen im heißen Erdgürtel bat, als von der 
gewaltigen Kraft diefer Pllanze in jenen Theile der Erdoberflaͤche. 


Inhaltsverzeichniß des vierten Bandes, 


Geſchichte, Geift und Ausbreitung der Freimaurerei, von 2. Behflein . . » 


Deutſchlands Bankweſen I., von Dr. 2, Köppe. © © 2 2 0 0 ern ee... 


Die Korallen bildenden Polypen und bie RorallensRiffe, von Dr. Karl Müller. 
Die Berbreitung der Wärme auf der Oberfläche der Erbe, von Prof. Dr. Löfche. 
Die deutfche Philologie, von Dr. R. Bellen. . - - 2 0 02 0 0 0. 
Geiſt und - Charakter in der Tonkunft, von 3. Schucht. 
Deutſchlands Bankwefen II, von Dr. 2. Köppe. . . x. - 

Der Kreislauf des Blutes und die Krankheiten des Herzens, von Dr. MR, Finger. 
Der Parafitismus im Thierreich, von Dr. G. Blumenbadh. oe... 
Gntwidelungsgang der deutſchen Sprache, von Dr. R. Berhftein. 0.0. 
Kreislauf des Waflers, von Prof, Dr. Lifhe . . » er. 
Das deutjche Drama, feine Geſchichte und Wufgabe, vom Hofraih Dr. Graße. 
Die Waſſerheilkunde, von Dr. J. Putzar....... 

Einfluß ver Naturwiſſenſchaften auf die Rechtspflege, von Dr. Karl Bader. . . 
Der Tabak und fein Anbau, von Sohnfton. . . » 
Die Polen und die Impfung, von Dr. Blinzger. . . 
Die Nahrungsmittel, vom Hofrath Klemm. . . -» 
Aberglaube und Unglaube, von Daft. . . . » 
Die Rotation der Weltkörper, von I. W. ber. 
Die Quartettmufik, von I. Schudt.. . . 
Berlenfifcherei und Perlenhandedl. - - - . . .» 
Siam und die Siamefen. . . . .. 
Die Rofe und ihre Arten, von Fr. v. Str. 

Die deutichen Laute, uon Dr. R. Bechſtein... 
Die Wohlgerüche und üblen Gerüche, von Johnſton. 
Aegyptens Denkmale, von Dr. Scharlau . . . » ... .. 
Die deutfche Ylotte, vom Hauptmann von Abendroth.. 2: 2 0. 
Magie und Aldhimie des Altertbums und Mittelalters, von Dr. Scharlau. . 
Süpflavifche Bilder, von Dr. Klun. . » » 2 2 0 0 2 2 2 0... 
Die geheimen Gefellfchaften, von L. Behflein. . . .. . 
Der Hopfen und feine Surrogate. ren 
Die Heralbif und ihre Quellen, von L. v. Alvensleben. a 
Die Geheimniffe der deutſchen Sprade, von Dr. R. Bechnein. ... 
Die Rolle der Mälder, von v. Jenſſen-Tuſch. - » - . . 


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Inhaltsverzeichniß des fünften Bandes, 


Aler. v. Humboldt und fein Einfluß L, von Dr. Wachler. . . 
Die Blinden und ihr Unterricht, von Dr. F. Schere. . . » » 
Die Kometen, von Dr. W. Scharlau. . » » 2 2 2 0 0. 
Die Getränke, die wir gähren lflen ll. . . 2 2 2 0 020 
Geſchichte der Aftrologie, von & Bechflein. . . .. 
Die deutſchen Landesgrenzen. I. Die Weſtgrenze. .. 

Humboldt und fein Einfluß II, von Dr. Badler. . . . . 
Die deutfhen Perfonennamen, von Dr. R. Bechflein. . 

Die Accorde, von 3. Schucht. en 2 0. 
Die Turnkunſt und die Wehrwerfoflund. - - - . . .. 
Die deutfchen Landesgrenzen. II. bie Oftgrenge. Fa 


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Der Selbiimord, von Dr. M. Flinzer. . . .. 
Leben und Wirken E. M. Urndts, von Dr. 2, Rippe ... 
Die Bienenzucht, von A. W. Grube... Fe 


Die ungarifche Poefie im 19. Jahrhunderte, von Zaillandier. . 


Die Fremdworte in ber beutichen Sprache, von Dr. R. Bechſtein. 


Neigungen der Kometen: und Blanetenbahnen, von Ebert. . . 
Unterrichtswefen in den Bereinigtn Staaten. . . 2... 
Bilder aus China, von AndrafY - - © 2 2 or en er. 
Die Homöopathie, von Dr. Günther. . . .. .» .. 
Das Entſtehen der jetzigen Pflanzenwelt, von Jenfſen⸗Tuſch. 
Wort⸗ und Flexionswandlungen, von Dr. R. Bechſtein. .. 
Die Seidenzucht, von W. A. Grube. . . ..... 
Griechenlands literariſche Wiedergeburt, von Hemeniz.. ... 
Der Erdboden, von Johnſtohn. . . ee... 
PHanktsmagorifche Künfte, von L. Bechſtein. ren. 
Die Bhilofophie im 19. Jahrhunderte, von I. Shudt. . . 
Die Entitehung der Gattungen, von Dr. 8. Wadler. . . . . 
Das griechiiche Kunftiveal in ter Sculptur, von Dr. Freue, . 
Reifebilder aus Algerien, von G. 4. Beufr. . . . 


Die Alpenwelt und die hoben Regionen unferer Grhfugel, von Alfcen Mau. 
Ueber Bäder, Heilquellen und Kurorte überhaupt, von Dr. M. Flinzer. . 


Mas, wie und warum wir verdaun. . : 2 0... .. 
Die Palmen, ven ©. F. Jenſſen-Tuſch. 


Druck von J. B. Sirſchfeld in Leipzig.