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Full text of "Die Zukunft"

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30.6 
27% 





De Aukunfi= 


Beransgeber: 
Maximilian Barden. 
a 


Neununddreißigſter Band, 


Berlin. 
Derlag der Zukunft. 
1902, 


ee euren  _ er 
. 


U Se — —— 


I — * 


EEE EEE he, Bin. 


VIE A 
S-£4- 3/ 
EX] 


Inhalt, 


Adtung vor England ..... 189 
Agraritaat j. Induſtrieſtaat. 
Alkoholgährung |. Fermente. 
Arbeiterfolonie, in der... . . 352 
Armee, |. Notizbud 249. 


Ausweiſung, meine... . : . 398 
Beichtgeheinmiß -. .... - . - 20 
Berliner Sezeifion |. Sez eſſion. 
Bilderbider .. 2... 2.0. 232 
Blumenträume . ... 2... 277 
Börfe und Prelle ...... . 483 


Brandenburger Zeitung |. Notiz 
buch 248. 

Bülow, Graf |. Rotizbud 
258, 440. | 

Buren, Die > 2 2m 413 

Burghers, onze dappern 156, 403 
j. a. Notizbud 251, 445. 


Centralfartell, da8 . .. .. . . 166 
Chryjanders Händel-Ein- 
thtungen .. 2.2200. 467 


Coquelin |. Theaternotizen 
171. 
Darm Üthen ... 22220. 195 
Darmitädter Kunftausftellung, 
ſ. Darm- Athen. 
Denkmal, das, des alten Fritz für 
Amerila j. Notizbuch 334, 
373. 
Derjelbe, Diejelbe, Daſſelbe . . 348 
Diamantenlönig, der... . .. 1 
Dichter, der verehrte... . . . 279 
Diktaturparagraph, der |. Notiz 
bud 329. 


Diftelfinfen . .. 2.2.22... 517 
Durand, Fräulein f. Theater 
notizen 171, ſ. a. Notiy 


bud 374. 
England, |. Achtung. 
Entwidelungsftufen .... . . 139 
Erner und Genoflen..... . 322 
Erportwirtbidaft....... . 244 
Fermente und Alkoholgährung . 471 
Finanzen, Rumänifde ... . . . 365 
Fitger, Arthur |. Notizbuch 46. 
Sühling - -.-. 2: 2200. 187 
Beigenfpieler und Ylötenbläfer 431 
Seneralverfammlungen.. . . . . 33 
Gefchäfte, nationale .... . . 409 _ 
Slofen -.....2... .... 201 
Grimm, der Fall. ..... ‘117 


Händel- Einrichtungen f. Chry— 
fander. 
Herzog Ernſt Günther ſ. Notiz- 


buch 248. 
Hofjuden.......... 213 
Hörigkeit, aus der Zeit der .. 499 
Humbug & Co...... ... 89 
Dymnud... 22220. 19 


Induſtrieſtaat oder Agrarjtaat? 375 
Sohanniterorden, der ſ. Notiz: 


bud 450. 
Katholizismus ſ. Univerjität. 
Katholizismus, moderner... . 322 
Kauffmann, Stabtrath |. Notiz- 
buch 256. 
Sfinderarbeit -. . - 2 222.0. 431 


Selingers Beethoven . . . . . . 389 


Kinderredte - .- 222200. 26 
Kolonialpolitif in den Oſtmarken 
i. Notizbuch 372. 
König von Sadjen ſ. Vienx 
Saxe. 
Stönig, der, von Spanien. . . . 297 
Krach, der, des SKunftgewerbes . 75 
ſ. a. Notizbud 489. 
Kriegsrailon - . 2-2 2 200. 308 
Kultur, die, des weiblichen Körpers 
ſ. Bilderbücher. 
Rulturarbeiten ſ. Bilderbüder. 
Kunſt, moderne. Notizbud 331. 
Kunftausftellung, die große. . . 342 
ſ. a. Notizbud 372. 
Stunftgenuß |. Nervofität. 
Stunftgewerbe |. Krach. 
Landtag ſ. Wotizbud 440. 
Legenden, ZW... 2 2222. 122 
Leo XIU. 1. Zauberer. 
j. a. Notizbuch 251. 
Lieber, Ernft |. Notizbuch 45. 
Marten und Hickel ſ. Notiz: 


buch 216. 
Medizinifde Moden, j. Moden . 504 
Meiiteripiele. -. . 2 2 2 220. 290 
.Medmer. . 2.2 2 2 200 303 
Milchfrieg - 22 2 2200. 181 
Miranda, Dr., in Stonftantinopel 70 
Moden, mediinihe ...... 504 
Morip und Hin . 2 22.202. 491 
Murom, Ilja von... 2... 133 


Nervenheiljtätten ſ.Rotizbuch 410. 

Kervojitat und Kunſtgenuß 102, 144. 

Wotizbuh 45, 246, 329, 309, 440, 
486, 525, 


[zeantruft 22 2222er ee 209 
Balımodie 2 2 22 220220. 93 
Bandynamismis. . 2... 7, 57 
Preſſe ſ. Börje. 

Prinzenreiſe, Die.» 2 2 200. 82 


Nangtlajle, elite 2.2.2200. 464 


ö— t— —— —— —r — — — —— — — — — — — — — — — — — — — — — — — — ——— GES VE 


Rhodes, Cecil John ſ. 
mantenkönig. 
Nina ſ. Moriz...... 491 
Notbichild-Rombarden. ... . . 128 
Rumäniſche Finanzen |. 
Finanzen. 
Rußland ſ. Murom. 
Sanden und Genoflen .. . . . 437 
Sciedsgerichte, Kaufmännijche 153,285 
j. a. Notizbud 371. 
Schmoller, Profeflor Dr. Guftav 
ſ. Rotizbud 369. 

Schweningers ahresberidt . .. 37 
Gelbitanzeigen 42, 86, 126, 164, 207 
210, 361, 395, 435, 480, 518. 
Sezellion, Berliner ...... 419 
ſ. a. Notizbuch 331. 
Sonnmwendtag |. Theater: 

notizen 169. 


Zadellofe, die... 2.220. % 320 
Theater, Wiener... ..... 112 
Theaternotizen. .. 2.2... 169 
Zrintgelder . . 20000. 325 
Univerfität und Katholizismus . 173 
Vereeniging - - - 22200. 335 
Vieux Sax .... 2.2.20. 451 
Walde: Roufleau ....... 259 
Waldgeſicht ....... . 2928 


Peg, der, zum Lidt ſ. Theaters 
notizen 110. 

Welt, die, als Zeit . ..... 265 
ſ. a. Notizbud 441. 

MWohlthätigfeit, moderne ... . . 392 
j. a. Notizbud 487. 

HBauberer, der, von Rom.... 47 

Holltariffommiffion-Sommer- 
biäten |. Notizbud 257. 

Yuderfonvention |. Notizbud 
486. 

Sulunft, de. . 2200000. .220 











Zulunft. 
Ei > 








Berlin, den 5. April 1902. 
mr 





Der Diamantenfönig. 


enn eines Tages der große Kolportageroman des Transvaalkrieges 

geſchrieben wird — und er muß, ſchon weil ein Vermögen daran zu 
verdienen ift, über kurz oder lang ja gefehrieben werden —, dann wird es 
Cecil John Rhodes übel ergehen. Er ift für die Rolfe des Ogers gefchaffen, 
der feiner Habgier Hekatomben ſchlachtet, unermeßliche Schatze hauft und, mit 
einem Hohnlachen auf fredher Lippe, über Leichen hinwegſchreitet. Ein Uns 
geheuer wird da der Erdfreis fehen, einen Menſchenfreſſer, der ein ganzes Volt 
frommer Bauern vernichten, Kinder megeln und Junfrauen ſchänden möchte, 
um die Wurzeln des Widerftandes gegen die Macht feiner goldenen Geißel aus⸗ 
zuroden. Und wie fein Leben, ſo wird auch fein Tod die Köchinnen das Fürchten 
Ichren. Während das Volk, dem erden Untergang fann, fich tapfer noch wehrt 
und auf den Trümmern feines jungen Staateö neue Zuverficht ſchöpft, ver⸗ 
töchelt der Gemaltige einfam, nach langer Qual, und nicht für einer Stunde 
Dauer kann ihm fein Reichthum das arme Leben verlängern. Woraus fich wies 
dereinmaldie Lehreergiebt, daß unrecht Gut nicht gedeiht, die Tugend ſchon hies 
nieden belohnt, das Laſter beftraft wird. Der Roman kann ſehr ſchön werden, 
wenn ein gefchicter Mann die Fieferung übernimmt und Rhodes auf dem 
Hintertreppenfries nicht gar zu Hein, gar zu jämmerlic) ausficht. Er hat 
ſich mit drei Freunden ins Lager dervom General Carrington bejiegten, aber 
nicht entwoffneten Matabelcs gewagt, die eben einen neuen Nachekrieg plans 
ten, und 2o-Bengula nebft den anderen Häuptlingen durd) feiner Nede Ges 
walt der britifchen Herrſchaft gewonnen. Er iſt im Reijeanzug vorden Deuts 


1 


2 Die Zukunft. 


ſchen Kaiſer hingetreten und hat ihn überredet, daS vorher über den Jame⸗ 
fon: Raid gefällte Urtheil zurädzunehmen. Die Matoppoberge und das ber» 
Iiner Schloß verlieh er als Sieger. Und was heute nur diePhantafie heißer 
Knaben träumt, was den wachen Sinn der Erwachienen unmöglich dünft, 
hat er gethan: er hat ein Reich gegründet und auf feinen Namen getauft. 
Allein; ohne Heer; ein Bürgerlicher; ein Civilift. Ein eich, deffen Flächen- 
umfang ſechsmal größer ift als der Großbritanieng. Selbſt in emem Kol: 
portageroman darf der Dann, dem Solches gelang, nicht die Rolleeines ge- 
wöhnlichen Spefulanten, eines Bontour, Beit oder Barnato ſpielen. 

Den Koloffus von Rhodeſia und ben Capnapoleon hat man ihn ge- 
nannt und damit ben Drang, ber ihn ins Grenzenloje trieb, richtig bezeichnet. 
Hätte er fich zu beicheiden vermocht, ‚fein Leben wäre ruhig und friedlid) ge- 
wefen, fo friedlich, wie das Leben eines Diamantengräbers und Börfenbe- 
berrichers fein fan. Er ftammte von Landpächtern aus Eier ab, wollte 
Theologie ftudiren und ſuchte in Südafrika Heilung von einem Yungenleiden, 
Da regte fich fein Kaufmannsgenie; er erwarb die beften Claims, ließ fich 
von den Rothſchilds, ohne ihr Dienftmann zu merden, mit der ganzen Haus: 
macht ftüten und entthronte nad) raſchem Erobererzug die Barnato und 
Joel. Auf fo gebahntem Weg konnte er gemächlich weiterfchreiten, Schätze 
fammeln und, wenn er genug hatte, in die Heimath zurüdfchren und fein 
Leben genießen. So hat es Mancher gemacht, der dann Xord oder Marquis . 
wurde und in der nobility als ein Yugehöriger verkehren durfte. Cecil - 
Rhodes wollte mehr. Der Reichthum genügte ihm nicht, war ihm immer _ 


nur Mittel zum Zweck; große Ideen, fagte er früh Schon zu Gordon, find keis 


nen Schuß Rulver werth, wenn das Geld zu ihrer Ausführung fehlt. Trieb 
ihn Ehrgeiz oder die Leidenschaft de8 Patrioten? Der Wille zur Macht oder - 
der Wunsch, den Volksgenoſſen zu zeigen, daß er nicht ein Millionär wie an- 
dere Millionäre war? Wahrjcheinlich wirkten viele Irfachen zufammen; und _ 
hhlieglich handelte er, wie er handeln mußte. Er ſchuf die Chartered Com⸗ 
pany, fette mehr als einmal fein ganzes Vermögen aufs Spiel, wurde, ohne 
Auftrag noch Amt, ein Politiker, deifen Diplomatie fid) über die Grenzen 
des Diafchonalandes, des Betjchuanen: und Matabelegebietes hinaus er— 
jtrefte, und ftarb im Kampf gegen die zähe Widerftandsfraft der Holländer, 
Die Sich der britiichen Hoheit nicht unterwerfen wollten. Allred: Das war 
fein Ziel. Nur der Union Jack durfte über Afrifa wehen. Er glaubte nicht 
an viele Dogmen; an Großbritanien glaubte er. England, ſagte er in einem 
Geſpäch mit dem Burenfreund William T. Stead, ift von Gott, defien Exi— 


Der Diamantenfönig. 3 


ftenz mir zu fünfzig Prozent ficher fcheint, berufen, der Welt das Reich der 
Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens zu bringen, und id) bin ausers 
wählt, der britifchen Erpanfion in Afrika den Boden zubereiten. Herr Stead 
hat ihn nicht ausgeladht. Vielleicht dachte er an Walter Aaleigh, an Clive 
und Warren Hajtings, fühlte, daß England ſolche Männer braucht, und 
mußte fi), vor dem politifchen Gegner, den er immer bewundert, nie ver- 
dammt hat, geftehen: ‘Diefer ift größer als die Konguiftadoren, deren Name 
von dankbarem Stolz durch die Jahrhunderte getragen wird. 
Er war größer als fie. Wäre er ung nicht fo nah und durch den vom 
Haß gemwebten Schleier doch unferem Auge verhüllt, wir würden nicht zögern, 
ihn einen großen Dann zu nennen. Wir werden uns ſacht aber in den Ges 
danken gewöhnen müjjen, daß jo die großen Männer in der Nähe ausſehen. 
Als fleckloſe Yichtgeftalten wandelten fie jtet8 nur durch die Märchen» 
welten der Kinder und Kindervolkheiten; und ein kindifches Vergnügen wars 
immer, der nad) Moralitäten lüfternen Menge zu zeigen, wie fchlechte Kerle 
die großen Männer des Handelns geweſen find. "Gerade die feinften Geifter 
haben ſich weislich gehütet, die im Gewühl des politischen Kampfes Führen 
den mit idealen Forderungen zu beläftigen. Kant: „Noch fein Philofoph 
hat die Grundſätze der Staaten mit der Moral in Uebereinſtimmung brins 
gen und doch aud) Feine beileren, die fich mit der menjchlichen Natur vers 
einigen ließen, vorjchlagen können.” Goethe: „Der Handelnde ift immer ges 
wiſſenlos; es hat Niemand Gewifjen als der Betrachtende.” Schiller: 
„Wärme mir Einer das verdrofchene Märchen von Nedlichleit auf, wenn 
der Banferott eines Taugenichts und die Brunft eines Wollüftlings das 
Glück eines Staates entſcheiden!“ Macanlay: „Die Ariome der Politik 
ind jo beichaffen, daß der gemeinfte Räuber fich fcheuen würde, fie jenem 
zuverläfjigiten Spießgeſellen auch nur anzudeuten; fich jelbft jogar würde 
er fie nur in fophiftiicher Verbrämung anzubieten wagen." Wer, als ein 
Betrachtender, folche Willensmenfchen verabfcheut, ift nicht zu tadeln. 
ur darf er dann nicht Politik treiben, die Frucht politifcher Arbeit genießen 
offen, fondern muß ſich in einen fanften Anarhismus bequemen. Die 
Meilandsreiche find nicht von diefer Welt. Als Bonaparte aufbrüllte, die 
Geſetze der Sitte und Sittlichkeit feien nicht für ihn gemacht, ſprach er aus, 
was mancher minder Hochgewachjene empfunden hat. Nicht jeder Stants- 
mann iſt aus Ajaccio, nicht jeder Lätitias Sohn; zur Fälſchung von Bank: 
noten und zum Rlan einer Höllenmajchine, die daS Bourbonenhaus in die 
Luft prengen jollte, hätten fultivirtere Genies fi) am Ende doch nicht fo leich— 
1* 


















4 Die Zuhmit. 


ten Herzens entichloffen. Aber auch Bismard, der aus anderem Stoff war 
als der Korje, bat als Politiker Mittel: nicht verfhmäht, die er als Privat⸗ 
mann weit von fich gewiejen hätte. Deshalb hat ihn Liebknecht Jahrzehnte 
lang den Depeſchenfãlſcher genannt. Deshalb ſoll jetzt, wie ein Schandfleckan 
ſeinem Weſen, "die Thatjache verborgen werden, daß er 1866 Herrn von 
Bennigfen zum Sandesverrath dingen wollte. Denn wir möchten uns die 
ehrwürdige Hypokriſie bewahren, daß unfer Streben nad; dem Ziel langt, 
bie Tugend zur Herrichaft zu bringen. Wir find Chriften, find Altruiften. 
Nietzſche jagt freilid): „Der ganze Altruismus ergiebt fich als Privatmann» 
Klugheit; die Gefellichaften find nicht ‚altruiftifch“ gegen einander. Das Ge⸗ 
bot der Nädhftenliebe ift noch niemals zu einem Gebot der Nachbarliebe er» 
weitertworden. Der Staat ift dieorganifirte Unmoralität.“ Doc) wirfordern 
Politiker von evangeliicher Lauterkeit. ordern wir ſie wirklich? Ja. Könnten 
wir fie brauchen? Nein. Mit Tolftoi als Bräfidenten oder Premierminifter 
fönnte man feinen Staat machen; nicht einmal eine Sozialiftengejellfchaft, 
bie doch auch leben müßte und fich fortpflanzen möchte. Wir brauchen Po- 
Yitifer, die den Muth au unferen Begierden haben und bereit find, ung,bie 
erantwortung abzımehmen. Doch wehe ıhnen, wenn jie ſich ertappen 
et, daß jie feine Säulenheiligen ſind! Es ift 
wie mit den Bankdireftoren. Die follen auch in fchlechten Jahren für fette 
Dividenden forgen: fonft find fie unfähig; aber nur ganz faubere Gefchäfte 
machen: fonjt find jie Spigbuben. Und ein Staatsmann joll noch tugend- 
famer fein als ein Bankdireftor und unferen empfindlichen Nafen Alles er- 
ſparen, was nad) der Schwarzen Küche des Machhiavellismus ftinft. 
Früher wars immerhin leichter, Herrn Dypofrit zu befriedigen. Noch 
war den Menjchen nicht der Eegen der „Deffentlichfeit” gefpendei; der 
Volkschor wurde erftgerufen, wenn die Bühne abgefegt und blank gefcheuert 
war; und heroifche Verbrechen entbinden die einbildnerifchen Kräfte und 
ftimmen aud) harte Herzen zu mitleidiger Furcht: jo großes Gejchehen könne 
auch fie aus dem rechten Weg drängen. Ein Staatsmann, der mit Blut und 
Eijen arbeitet, an fein Unterfangen das Leben fegt und mit Helmbuſch oder 
Degen die Kämpfenden zu fi) winkt, darf, ſelbſt wenn er bejiegt wird, auf 
mildes Urtheil hoffen. Die napolconiichen Feldzüge haben vier Millionen 
Menſchen ums Leben gebradjt: fie waren dod) ſchön, fie leben im Heldenlied 
und die Söhne des vom Kleinen Korporalentvölferten Landes preifen ihn mit 
Berangers geflügelten Worten. Grauſamkeit kann großartig wirfen; jeder 
heroifch geführte Kampf wedt die Erinnerung an alte Urftände der Nas 





Der Diamantenfönig. 5 


tur, wo dem Einzelnen wie ber Geſammtheit das Echwert die Entfcheidung 
brachte. Aber ein Macchiavellismus, der mit modernen Mitteln arbeitet! 
Ein in eine belagerte Stadt eingefperrter Politiker, der fi) die londoner 
Minenkurfe heliographiren läßt... . Doc) auch in den Gedanken müffen wir 
ung endlich ſchicken, daß die Tage der Ritterfitte vorüber find, vorüber, rief 
Burke Schon, die Zeiten keuſchen Nitterftolzes, der den Schimpf wie eine 
Bunde empfand, das rohe Handwerk adelte und dem Verbrechen die Hälfte 
feiner Schredniffe nahm; Sophiften, Oekonomen, Rechenmeifter herrichen 
heute, wo einft Helden fochten. Das wurde 1790 gefchrieben und ift nach 
Hundertundzwölf fahren noch nicht in das Bewußtſein der Böllergedrungen. 
Gecil Rhodes hat in der Rüftung gefämpft, die ihm die Mode und 

das Bedürfniß des Krieges vorjchrieb. Perfönlicher Muth fehlte ihm nicht; - 
fonft wäre er nicht in8 Matoppogebirge gegangen, nicht von London nad) 
Kimberley zurücgelehrt. Doc) er konnte nicht als Ritter fechten, mußte die 
Mittel anwenden, die für feine Zeit und feinen Zweck paßten. Er kam aus 
einem ganz.auf den Export, auf die Ausbeutung noch unkultivirter Länder 
angewiejenen Händlerreich, daS, wenn e8.fich nicht im Süden wie im Nor⸗ 
den Afrikas ftarfe Stützpunkte ſchafft, in Indien bedroht ift. Afrifa mußte 
englisch werden: Das war fein Ziel. Kein Schleichweg, der dahin führen 
konnte, war ihm zu ſchlecht, zu ſchmutzig, zu jteil. Aus dem Gold und den 
Diamanten, die er aus der Erde grub, ſchuf er ſich die werthoolifte Waffe. 
Er bat die Preſſe beftochen, die Hilfe der Barnelliten, als er ihrer bedurfte, 
mit baarem Gelde erfauft und nie gezaudert, eine Dienjchheit zu forrums 
piren, die forrumpirt fein wollte. Er wußte, welche Mächte im struggle 
heute den Sieg fichern können. Als fteinreicher Mann ift er noch einmal 
na) Oxford gegangen, um feine hHumaniftifche Bildung zu ergänzen und 
die Zufammenhänge der Technif beifer erfennen zu lernen. Kapital, Preſſe 
und Technik braudjte er; und da fein Schlachtfeld ein großer Zeil des bes 
wohnten Erdfreijes war, mußte er viele Batterien haben und immer willen, 
wie an den Brennpunften feiner Welt in jeder Stunde die Stimmung war, 
Die Matabeles hypnotijirte er mit dem Wort und den Geften eines zürnen— 
den Baters; in Berlin ließ er die Hoffnung auf den Riejfengewinn einer eng» 
liſch-deutſchen Minengeſellſchaft aufleuchten; und zwiſchen zwei Schlachten 
ilte er nach) Yondon, um mit Ingenieuren den Bau von Eifenbahnen und 
Telegraphenlinien zu berathen und alle Becte zu düngen, denen die Er: 
üllung eines Wunſches entiprießen Fonnte, Seine Mittel waren anders, 
ber nicht unfittlicher als die von den großen und Meinen Bonapartes 


6 Die Zukunft. 


aller Zeiten angewandten. Wie fie hat er — der prachtvoll freche Brief, 
den er aus Kimberley an Lord Roberts fchrieb, beweift es — die Dutzend⸗ 
handwerker der Bureaufratie und die fchwerfälligen Troupiers veradhtet. 
Wie fie hat er geirrt, hat der Ueberſchwang des Willens ihn ins Unheil 
geriffen. Napoleon wollte bis zum Ganges vorjchreiten und mußte aus 
Moskau heimmwärts fliehen. Rhodes wollte die Buren, deren Eigenfinn 
er nicht brechen konnte, zeritampfen und ftarb, ehe ein entjcheidender Sieg 
an Britaniens Fahne gefettet ward. Er war ein genialer Finanzitratege, 
Drganifator, Verwalter; aber er hatte die Dienfchen fo Kein gefehen, daß 
er an Größe nicht mehrglaubte und lachend gemettet hätte, die Buren würden 
den Kampf wider Englands Uebermacht niemals wagen. Als er am vor⸗ 
legten Dezembertag des Jahres 1895 ruhelos durd) die Bibliothek feines 
Landfiges fchritt und auf Nachricht von Jameſon harrte, hat er vielleicht 
gefühlt, welchen Fehler er begangen hatte, da er den Ritt billigte, dem Eronje 
ein ruhmlofes Ende machte. Ein einziges Mal hatte er die Mittel der Haub- 
ritterzeit anzunvenden verfucht und fich die größte Niederlage feines Lebens 
geholt. Wer haftig aber mit dem Urtheil bei der Hand ift, Rhodes habe im 
Zransvaalfrieg feinen und Englands ganzen Einſatz verſpielt, Der follte bes 
denfen, daß unfer größter Staatsmann gejagt hat: „Dem Auge des unzünf⸗ 
tigen Politikers erjcheint jeder Schachzug im Spiel wie das Ende der Partie.” 

An den, Britenfrieg gegen die Buren heftet fich der Haß, weil er der 
erjte mit den Waffen des Großfapitalismus geführte, der erfte unromantijche 
Krieg ift und die Händlervölfer erkennen Ichrt, wohin fie gehen. Und Cecil 
Rhodes wird gejchmäht und beipien, weil die entjett zufchauende Menfchheit 
fich nicht geftehen will, daß er der Erponent ihres Wünſchens war, ohne 
wichtiges Amt, ohne hohen Zitel der erfte Politiker, der das Arjenal des 
Macchiavellismus nach dem Bedürfniß der Induſtriezeit umzugeftalten wagte. 
Wir werden noch oft Seinesgleichen erſehnen und froh ſein, wenn ſeine Wil⸗ 
lensart von ſeiner Willenskraft bedient wird. Der Tag wirdfommen, mo man 
die Handelnden, die ganze Völker von der Verantwortung entbürden und 
den Muth zu weltgeſchichtlichen Vertragsbrüchen haben, nicht mehr nach ihrer 
moralischen Beſchaffenheit fragt, ſondern nach dem Nutzen, den fie der Hei« 
math gebracht haben. Tann werden die Kolportageromane vergeſſen fein 
und von dem Mann, den man jett, mit einem aus Neid und Beratung 
gemijchten Gefühl, den Diamantenfönig nennt, wird es heiten: Er hat ſich 
nicht gejcheut, unpopulär zu ſein, und, mit befleftem Gewand, durch Blut 
und Koth ſeinem Volk den aufwärts führenden Weg in die Zukunft gebahnt. 

ð 


Pandynamismus. 7 


Dandynamismus. 


Se giebt einen Typus mittelalterlihen Denkens, der den einzelnen, biöher 
noch fehr wenig erforfchten Abwandlungen mittelalterlihen Denkens 
überhaupt zu Grunde liegt und für die Auffafjung eben fo jehr noch bed 
fünfzehnten wie jchon des zehnten Jahrhunderts bezeichnend if. Man kann 
ihn als Typus des Analogiefchlufjes bezeichnen. Zum genaueren Berftändniß 
zwei Beiſpiele. Ein Bifchof des zehnten Jahrhunderts in fchon hohem 
Lebensalter betritt, nach einer Gefchichtquelle diejer Zeit, um einem affetifchen 
Bedürfniß zu genügen, abends in bloßen Füßen, nur mit einem härenen 
Gewand angethan, feine Kathedrale und fchläft nachts auf den falten Eteinen 
des Bodens. Kurze Zeit darauf ftirht er. Wir würden geneigt fein, feinen 
Tod als Folge einer ſchweren Erfältung zu betrachten. Das zehnte Jahr⸗ 
hundert fchließt anderd. Wie der Herr Mofe gefagt habe, al3 er ihn: im 
brennenden Dornbuſch erfchien: Ziehe Deine Schuhe aus von Deinen Füßen, 
denn der Drt, den Du betreten wirft, ift heilig: fo Habe der Bifchof in 
prophetifcher Borahnung des Tages, da er zu des Herrn Herrlichkeit eingehen 
werde, fich barfuß in da8 Haus Gottes begeben, um darauf zu fterben. 
Das andere Beifpiel aus dem fpäteren Mittelalter. Damal3 war e8 ges 
wöhnlih, den Papſt mit der Sonne, den Kaifer mit dem Mond zu ver= 
gleihen. Hieraus fchließen die fanonifchen Nechtslehrer der Zeit — und 
noch der geiftig ſo hoch ftehende Kardinal Wikolaus von Kues wiederholt 
um 1430 diefen Schluß —, daß der Papft genau um fo viel dem Kaifer 
on Autorität überlegen ſei, wie die Sonne den Mond an Größe übertreffe. 

Was ift das Gemeinfame beider mittelaltexrlichen Schlüſſe? Sie fehreiten 
von der Parallelifirung zweier Verhältniffe, die einander in gewiſſen Punkten 
ähnlich oder auch gleich find, Zu deren völliger Identifizirung in allen Bunften 
fort und entnehmen diefem Verfahren für das eine der verglichenen Berhältniffe 
gewiſſe, als völlig Logijch betrachtete Folgerungen. Es ift eine Art des 
Schließens, wie fie auch heute noch bei Kindern und im täglichen Leben oft 
genug vorlommt. Im Mittelalter aber gehört fie dem wiffenfchaftlichen und 
überhaupt dem ftreng überlegten Denken an: in unzähligen allgemeinen Zus 
fammenhängen dieſes Denkens tritt fie zu Tage. So beruht die ganze Art 
des Mittelalters, geiftreich zu fein, auf ihr. Geiftreih waren im Mlittel- 
alter Räthfelreden; geiftreich war e8 zum Beifpiel, wenn Kaifer Konrad auf 
die Meldung des frühzeitigen Todes des Herzogs Ernft von Schwaben, 
feines erbitterten Gegners, die Antwort gab: „Es fcheint, daß das Geſchlecht 
bifjiger Hunde nicht alt werde.” Hier wie in verwandten Räthſelreden ift 
e3 immer das Moment fcharfiinnigen und unerwarteten Analogiefchlufies, 
das den mittelalterlichen Hörer entzuckt. In diefem Sinne find daher auch 


8 Ä Die Zukunft. 


bie Predigten angelegt: fie wimmeln von Analogien, die zu beftimmten 
Schlüſſen benugt werden. So hat noch Luther gepredigt; und noch heute ift 
auf diefem Gebiet der mittelalterliche Gebrauch des Analogiefchluffes nicht 
völlig verfchwunden. Uber diefer Schluß reicht viel tiefer in die mittel- 
alterliche Theologie hinein: Typus und Antitypus des Alten und Neuen 
Zeftaments, die Gleichſetzung etwa der Aufrichtung der ehernen Schlange in 
ber Wüfte mit der Kreuzigung Chrifti im vorbedeutenden Sinn und taufend 
andere Gleichjegungen gehören ihm an. Wie er in das Staatsrecht eingriff, 
bat Thon vorhin ein Beifpiel gezeigt. Und auch in anderen Wiffenfchaften, 
fo weit diefe nicht auf der bloßen Weberlieferung der Alten beruhten, zum 
Beifpiel in dem Phyliologus der Naturgefchichte, den Lehren von ben fonber- 
baren Eigenſchaften der Thiere, herrichte er in gleicher Weife: er war ber 
eigentlich charakteriſtiſche Schluß des Mlittelalters. 

Auf welcher tieferen Grundlage beruht er nun? Er ift nach unferen 
Begriffen voreilig, da er aus dem Zutreffen einiger Bergleihsmomente auf 
das Zutreffen auch der anderen fchließt, und er ift e8, weil er auf der Grund⸗ 
lage zu geringer Erfahrung gebildet wird. Geringe Erfahrung, enger Hori— 
zont: Das ift feine eigentliche Vorausfegung. Und von diefer Seite her 
erflärt ji ohne Weiteres auch fein inniger, in dem erften der vorhin er- 
zählten Beifpiele klar zu Tage tretender Zufammenhang mit dem das ganze 
Mittelalter hindurch verbreiteten, wenn auch mit wachfenden Jahrhunderten 
abnehmenden Wunderglauben. 

Dem Wunderglauben fteht gegenüber die Annahme, daß alle Dinge 
in ihrem Berlauf dur einen unverbrüädlihen Zufanımenhang von Urfache 
und Wirkung verbunden feien. Wie gelangen wir zu diefer Annahme? Das 
Bewußtſein und die Anwendung des Zujammenhanges von Urfache und 
Wirkung ftelt ji bei uns dadurd) ein, daß wir beobachten, wie beftimmten 
Borgängen des Geſchehens immer wieder und ganz regelmäßig oder gefeg: 
mäßig andere beſtimmte Vorgänge folgen: eine folche regelmäßige Yolge er— 
jheint und unter dem Geſichtspunkt der SKaufalität, des Zufammenhanges 
von Urjahe und Wirkung. Unfer Kaufalitätbewußtfein ift alfo gebunden 
an die Erfahrung; mit erweiterter Erfahrung nimmt es zu, mit engerer Er— 
fahrung nimmt es ab. Sit es fo weit durchgebildet, dag es weitaus die 
meilten und vor Allem aud die wichtigften aller Vorgänge ſich in erfahrung: 
mäßig ſchon gegebenen Zufammenhängen vollziehen fieht, fo zieht es daraus 
den Schluß, dag auch für den Reſt der Erjcheinungen ſolche Zufammenhänge, 
Negelmäpigfeiten oder Geſetzmäßigkeiten des Aufeinander8 vorhanden fein 
werden: und gelangt damit zur Annahme eines die Welt der Erfcheinungen 
unverbrüchlich beherrjchenden Zufammenhanges, der das Wunder ausſchließt. 


Das abjolute Kaufalitätbewußtfein ift mithin ein langſam gezeitigtes Er- 


Pandynamismus. 1%) 


zeugniß ausgedehnter Erfahrung, das dem Bewußtſein des Wunders wider: 
fpricht: und in diefem Sinn verſtärkt 28 fih in der europäifchen Völker 
gruppe noch heute von Tag zu Tag. 

Im Mittelalter aber war ein folches Kaufalitätbewußtfein erft in ſehr 
geringem Grade vorhanden. Der geiftige Horizont des Einzelnen war eng, 
die Erfahrungen ſchloſſen fi) auch bei den Höchftftehenden erſt felten zu einer 
folhen Intenſität des Drudes auf das Denken zufammen, daß jie ein mög- 
lichſt ſtarkes Kauſalitätbewußtſein vermittelten: alle Welt lebte daher noch 
im Analogiefchluß und im Bewußtfein der Wunder. 

Nun ift gewiß auch heute der Wunderglaube noch keineswegs ausge⸗ 
ftorben. Gehen wir aber ind achtzehnte Jahrhundert zurüd, fo finden wir 
ihn noch viel ausgefprochener vorhanden. Männer wie Walh und Wolff, 
der Hiftorifer und der Philofoph, wie Cruſius und Baumgarten, der Pfycholog 
und der Aeſthetiker, haben nicht blos an die Realität der Gefpenfter geglaubt, 
fondern find auch noch öffentlich für fie eingetreten; und -felbft Leſſing hat 
noch über bie Gefpenfterfeinde den Stab gebrochen. Aber freilich mußten fich 
im achtzehnten Jahrhundert die Gefpenfter fchon rar machen. Ganz anders 
dagegen in den beiden vorhergehenden Jahrhunderten. Es ift befannt, daß 
diefe Fahrhunderte vornehmlich die Zeiten de8 Herenwahnes und der Dlagie 
waren; und erft der Kartefianer und reformirte Pfarrer Balthafar Bekker, ein 
Niederländer, ift in feiner „Bezauberten Welt“, die 1691 bis 1693 erſchien, 
grundfäglich gegen den Herenglauben aufgetreten. Dafür ward er freilich 
auch des Webermuthes bejchuldigt und feines Amtes entjegt. Und doch ver: 
neinte ex keineswegs ſchon den Glauben an einen perfönlichen Teufel umd 
dent Geifterglauben an ſich, fondern behauptete nur, der Teufel jei nur noch 
in der Hölle zu finden und führe, wie alle Geifter, ein von diefer Welt völlig 
abgefchiedenes Leben. Gehen wir aber von Bekker nur einige Generationen 
zurüd, fo flogen wir auf den völlig befangenen Wunderglauben Meland- 
tbons und die handfeiten Zeufelövorftellungen Luther. 

Die neuere Zeit ift alfo keineswegs durch ein abfolutes Aufhören des 
Wirnderglaubens und damit auch des unvollkommenen Analogiefchluffes vom 
Mittelalter getrennt: e8 handelt ſich nur um gradweife fühlbare Unterfchiede, 
und taufend Fäden verbinden das Denken von heute noch mit dem nicht nur 
des MittelalterS, fondern fogar der Urzeit. 

Gleichwohl ging am Schluß des Mittelalter und vornehmlich dann 
im fechzehnten Jahrhundert eine Veränderung des Denkens vor fich, die von 
größter Bedeutung ift und unmittelbar hinüberführt in das Denken neuerer Zeiten. 

Der Offenbarungsglaube des Chriſtenthums mit feinen Wundern hatte 
dem mittelalterlihen Denken völlig entfprochen: und darum hatte er auch eine 
allgemeine und gänzlich unbezweifelte Anerkennung gefunden, mochte man auch 


10 Die Zukunft. 


die einfahen Erzählungen des Neuen Teftamentes anfangs mehr im Sinne 
der deutfchen Epen des fechäten bis neunten Jahrhunderts, fpäter in Hiftorifch 
mehr geflärter Auffaffung verftanden haben. Dem entſprechend war denn 
auch der Oberbau der chriftlichen Offenbarungtradition, das Syſtem ber Firch- 
lichen Dogmen, nit nur im Sinne des Gehorfams gegen fie, fondern in 
dem gläubiger Einfalt hingenommen worden. Und auch am Schluß des 
Mittelalter8 war man noch weit davon entfernt, diefe geiftige Dispofition zu 
verlaſſen. Allein trotzdem ftrebte man doch allmählich nach einem Berftändniß 
der Erfcheinungwelt auch neben dem Kirchenglauben und außerhalb der in 
aller Fülle nur wenigen Geiftern zugänglichen antifen Ueberlieferung: die erften 
Triebe einer eigenen Gefammtauffaflung des finnlich wahrnehmbaren Ganzen 
unferer Umgebung regten fi. Sie traten ein zu der Zeit, da zum erflen 
Male die äfthetifche Auffaflungsgabe in dem realiftifchen Kontur wie ber 
Iofalen Farbengebung und “Perfpektive der Malerei des fünfzehnten und 
fechzehnten Jahrhunderts der Außenwelt als eines dreibimenfionalen Ganzen 
innegeworden war: war die äußere Anfchauung gewonnen, fo wurde nun 
der Verſuch gemacht, auch ihre inneren Beziehungen zu Eeherrichen. Es find 
die erften Anfänge wirklich felbftändigen wifenfchaftlichen Denkens in weiteren 
Kreifen; und ſie knüpfen nod) an die ausgebildeten Methoden bes mittels 
alterlichen Denfens an. 

Es ift Har, welche allgemeine Auffaffung das Ergebniß fo zufanımen» 
treffender Umftände fein mußte. Indem man zu jedem Vorgang der inne 
lichen Erfcheinungwelt eine Analogie im Sinne einer ihn deutenden Thatfache 
auffuchte und dabei durch faft Feinerlei Erfahrung gebunten war, deren Aus⸗ 
dehnung ſchon den Nachweis von Geſetzmäßigkeiten erfordert hätte, gelangte 
man zu der Vorſtellung einer geiftigen Welt als einer Analogiewelt von 
Kräften, die hinter der fichtbaren Welt ftehe und fie leite: ein grundfäglicher 
Pandynamismus war die Folge. Sah man fi aber veranlaßt, nun diefen 
Pandynamismus in ein Ehſtem zu bringen, die Kräfte zu bemeflen und in 
gegenfeitigen Zuſammenhang zu verfegen, die hinter den Couliffen gleihfam 
der Erſcheinungwelt diefe beherrichen follten, fo waren in der Entwidelung 
des fpüteren Mittelalter eine Menge von Thatſachen gegeben, die dieſen 
Drang, abgefehen von den ihm felbft innewohnenden fachlichen Geſichts⸗ 
punkten, in beftimmte Bahnen leiten fonnten. » 

Aus den Eigenften der deutfchen Entwidelung fam hier vor Allem 
die Myſtik in Betracht. War die enthuſiaſtiſche Myſtik des vierzehnten Jahr⸗ 
hundert3 zunächſt darauf ausgegangen, in intelleftueller Verzückung wenigſtens 
zeitweile eine Bereinigung der Eeele mit Gott herbeizuführen, und fah man 
fih faft dazu gedrängt, hinter all den Kräften, die fich im der Welt der Ers 
ſcheinungen auswirkten, im tiefften Grunde eine wieder die Kräfte umfaflenbe 





Pandynamismus. 11 


und bewegende Urkraft anzunehmen, die da nur ſein konnte Gott: ſo liegt 
auf der Hand, daß in der myſtiſchen Intuition recht eigentlich die wiffen- 
ſchaftliche Methode diefes neuen Denkens gegeben war, daß allein durch eine 
intellektuelle Berzüdung, durch ein Aufgehen in die Urkraft und womöglich 
deren Beherrfchen die Möglichkeit eines vollen Berftändniffes ber Er- 
ſcheinungwelt al3 gegeben erſchien. 

Wie aber dieſe Intuition, diefe Bezwingung des Geifte8 und der 
Kraft herbeiführen? Auch Hier ftellte die Tradition, freilich eine folche vor: 
nehmlich nicht heimifchen, fondern jüdifch:arabifch-Tpanifch-ttalienifchen Charak⸗ 
ters, die Mittel zur Verfügung: Alchemie, Ajtrologie und vor Allem Mia ie 
fonnten bier helfen. 

Die Hafjiiche Ueberlieferung aber fügte der Intuition, dem myſtiſchen 
Hebelpunft des Erkennens, und den Methoden, biefer Intuition nahe zu treten, 
für den pandynamifchen Drang ber Zeit noch ein Weitereö hinzu: ein ganzes 
Syftem pandynamifcher Auffaffung: die Lehre der Neuplatoniler. 

Plato hatte, wie jegt wohl mit ziemlicher Sicherheit feftfteht, ans 
feiner Lieblingswifienfcaft, der Mathematik, heraus den Begriff der dee 
entwidelt: die geometrifche Methode, der Beweis durch ein Schema hatte ihm den 
Gegenſatz zwifchen Idee gleich Urbild und Ding gleich Abbild jenes Urbildes 
vermittelt.*) Stand aber Hinter der Welt der Erfcheinungen eine Welt der 
Urbilder diefer, fo trat für diefe jenfeitige Welt alsbald das Problem auf, 
wie jle denn entſtanden fei umd wie fie auf die Welt der Erfcheinungen 
wirfe. Es ift eine Trage, die im Neuplatonismus gelöft worden war durch 
den Aufbau einer geiftreichen Mythologie von Gott al3 der Urkraft von ihr 
ausgehender Kräfte, die jich in die fichtbare Welt der Erfcheinungen Hineinergießen. 

Konnte irgend eine Lehre der Vergangenheit der geiftigen Dispojition 
des fünfzehnten Jahrhundert? entfprechender erfcheinen als diefe? In Italien 
zunächſt ftieg der Kult der platonifchen Philofophie zu fo bedenklicher Höhe, 
daß das Lateranfonzil im Fahre 1512 gegen ihn — und bezeichnender Weife 
nur verftedt — einfchritt; und bald folgte ihm da8 Studium der Neu- 
platoniker; fchon Marlifius Ficinus (1433 bis 1499) hat nicht nur Plato, 
fondern auch Plotin überfegt. Und von Italien verbreiteten jih Platonismus 
und Neuplatonismus auch nad Deutichland; überall in den fortfchreitenden 
Denken des jcchzehnten Jahrhunderts laffen ſich ihre Spuren erkennen. 
Dennod haben jie dieſes Denken in Deutfchland nicht beherrfcht: ſie waren 
nur eim überreifer und raffinirter Beitrag des Alterthumes zu diefen, das die 
Probleme zunächft viel jinnlidher und einfacher aufgriff und daher nicht fo 
fehr einer pandynamiſchen Metaphyif wie einer pandyramifchen Natur: 
wiſſenſchaft zujteuerte. 





*) Cohen, Platons Ideeulehre und die Mathematik, S. 24. 


12 Die Zuhmft. 


Freilih geſchah Das in enthufiaftifchen Formen. Wie einft die Ritter- 
ſchaft der Stauferzeit in poetifcher Begeifterung der neuen, gehobenen Bildung 
ihres Standes froh geworden war und Vergangenheit wie_ Gegenwart ſich 
nur in den Formen ber Dichtung hatte nahe bringen wollen, von der Epif 
von DBeldefed und den Sagen des Artugfreifes an bis zum verfifizirten 
Steinbuch und zur gereimten Tiſchzucht, fo waren auch die Geifteshelden bes 
neuen Denkens weit davon entfernt, die Löfung der erften großen Geheimniffe 
der natürlichen Erfcheinungwelt mit Hebel und Schrauben erzwingen zu wollen. 
Schauen vielmehr wollten fie, um mit den goethifchen Fauft, biefem herrs 
lichſten und perfönlichiten Inbegriff ihrer Geiftesverfaffung, zu reden: 


Wie Alles fi zum Ganzen webt, 

Eins mit dem Andern wirkt und lebt, 
Wie Himmelsfräfte auf- und niederfteigen 
Und fi die goldnen Eimer reichen, 

Mit fegenduftenden Schwingen 

Bom Himmel durch die Erde dringen, 
Harmoniſch all das All durchdringen. 


So allen Hoffnungen einer verftandesmäßigen Verzückung lebend, 
glaubten fie an Univerjalmittel der Erfenntnig, die den Menſchen über’ fich 
hinaus zum Genoffen der fchaffenden Kräfte erheben könnten; und indem 
fie alles Werden von geiftigen, durch fie beeinflußbaren Mächten durchweht 
dachten, ergaben fie jih im phantaftifhen Bewußtſein erfenntnißtheoretifcher 
Forſchung den Künften der Magie und ber aftrologifchen “Praxis. 

Die Heimath einer auf ſolche Grundlage geftellten Naturwiſſenſchaft 
ift zunächſt Italien gewefen; und auf dem geiftigen Boden diefer Natur: 
wifjenfchaft find hier die großen naturphilofophifhen Syfteme eines Telelio, 
Campanella, Giordano Bruno, Syſteme einer vollen Melaphyſik, erwachſen. 
Denn den Anhängern diefer Wiffenfchaft erfchien in den Kräften der Natur 
das geheimnißvolle Walten Gottes wahrnehmbar und als tieffte Voraus— 
ſetzung ihres Denfens ergab jich ihnen ein naturalijtifcher Pantheismus. 

Bon Stalien her ward die Lehre dann auh in Deutichland aufge 
nommen; eigenes Forfchen, Wirkungen des mittelalterlichen und des täufe— 
rifhen Myſtizismus, Einflüffe des Neuplatonismus und auch der pytha— 
goräifchen Zahlenmyitif, Anfchauungen endlid) der Kabbala verknüpften ſich 
nit ihr in dem Denken Reuchlins (1455 bi8 1522) wie Agrippas von 
Nettesheim (1487 bis 1535). In eine Tarere Form aber brachte diefe 
gährende Maffe wohl erft Melanchthon, diefer große kompilatoriſche Beherr⸗ 
ſcher des Denkens feiner Zeit. Sein Lefebuh der Phyſik, das jih im 
Uebrigen an Arijtotele8 anlehnt, fcheidet doch die fubitantialen Formen des 
Stagiriten aus und behält nur ein buntes Gewinmel von Kräften al3 Er= 


Pandynamismus. 13 


klärungsgrund der Welt der Erſcheinungen zurück: Gott; die Kräfte der 
Geſtirne; die Gegenſätze, die in den Elementen wirken; die Materie, die 
vegetativen, die animaliſchen, die vernünftigen Seelenkräfte. Und indem es 
der Nothwendigkeit der Natur ein Reich der Freiheit in Gott und in allen 
guten und böfen Geiftern, fowie des Negellofen im Fluß der Materie ent- 
gegenfett, läßt e8 den Zufall unaufhörlic) aus der Unruhe der Materie und 
ber Freiheit des Geiſtes quillen und fich in taufend gefonderten Kräften ausftrahlen. 

War’ e3 nun möglich, von ſolchen Prinzipien ber die einzelnen Tis- 
ziplinen der Naturwiflenfcaften verftändig zu entwideln? Je einfachere 
Grundlagen gefucht wurden, um fo mehr trat ihre Unwirklichleit ans Tages: 
Gicht. Nur in einer Disziplin daher, die die Ergebniffe der Naturwiſſen⸗ 
haften jeweilig in® Ganze zuſammenfaſſend nugt, in der Medizin, wurde 
diefe pandynamifche Naturwiflenfchaft anwendbar und praftifh. Hier wurden 
vor Allem die verworrenen, abenteuerlichen, mit einer Unfumme von Qual: 
falbereien durchfegten und dennoch eines großes Zuges nicht entbehrenden 
Gedantenreihen des Theophraftus Bombaftus Paracelfus von Einfluß, eines 
unfteten Gefellen, der, 1493 zu Einjiedeln geboren, ein medizinischer Wanders⸗ 
mann und Allerweltmenfch, eine Zeit lang Profeffor der Chemie in Bafel, 
1541 zu Salzburg geftorben ift. Theophraftus erfchien das ganze Weltall 
don einer göttlichen Weltfeele durchweht, dem Vulcanus; und die phantaftifch 
gedachten Kräfte dieſes Vulcanus durchdrangen dann da3 Univerfum mie das 
Einzelne. Der Menfch aber war ihm der mikrokosmiſche Auszug und In— 
begriff dieſes Univerfums; in ihm fpiegelten ſich und wirkten alle Kräfte des 
Ganzen; nur trat zu ihnen, wie für jedes Einzelwefen, noch ein befonderes 
Prinzip der Individuation, ein fpezieller und perſönlicher Seift, der Lebens⸗ 
geift, der Archeus. So war ihm die Welt, die Heimftätte des Univerfal- 
geiftes, voll von einzelnen Lebensgeiſtern, die einander fördern, anfechten, zu 
vernichten drohen; und die Scrankheiten waren Kämpfe folcher fremden Geifter 
. gegen den fpeziftfchen Geift des einzelnen, perfönlichen Lebens. 

Was für eine kraus und abentenerlich hypoſtaſirende Gedankenwelt! 
Und doch wiederum wie voll großer metaphyifcher und erfenntnigtheoretifcher 
Ahnungen, wie angefüllt von aufdänmernden Problemen der Philofophie 
Leibnizend und der Nichfolger Kants! So begreift man, daß die Lehre des 
Paracelfus noch auf Generationen nachwirkte, ohne eigentlich fortgebildet zu 
werden. Eine gewaltige Reihe von paraceliiichen Xerzten und Denfern auf 
naturwiſſenſchaftlichem Gebiet füllt mit Bergen monotoner Schriften, inımer 
tiefer in Geheimnißkrämerei verjinfend, das fechzehnte und zum Theil noch 
das jiebenzehnte Jahrhundert; aus ihrer Mitte ift die einflußreiche Roſen— 
Freuzergefellichaft hervorgegangen; und in den Niederlanden, der Heimftätte 
bald der größten medizinischen Fortſchritte, haben noch die beiden Helmont, 


14 Die Zukunft. 


Bater und Sohn, auf der abgeflärteren Gedankenwelt des Paracelfus fortgebaut. 
Für die empirische Entwidelung der reinen Naturwiflenfchaften freilich blieb 
das Syſtem des Baracelfus im Einzelnen eben fo unfruchtbar wie die pan= 
dynamische Naturwiflenfchaft überhaupt. Sie war ein erfter Raufd, der, 
hervorgehend aus jugendlich emporquellender Ueberichägung der menfchlichen, 
eben erft zur Freiheit emporfteigenden Erfenntnigfräfte, die neu gewonnene 
Möglichkeit ungeftörten Naturerfennens begleitete: fie fonnte die nüchterne 
Theorie allenfall8 anregen helfen; fie zu begründen vermochte fie nicht. 

Inzwifchen aber war über das bloße, von den allgemeinen Fragen 
der Philofophie in diefem Falle freilich befonderd unklar und wirkunglos 
geichiedene Reich des Naturerfennens fchon etwas Weiteres emporgewachſen: 
Verſuche der Begründung einer allgemeinen Weltanfchaunung auf Grund des 
angeblich gewonnenen Wiſſens. Es jind Verſuche von befonderer Wichtig- 
keit. Denn in ihnen zum erften Male zeigt jich, freilich in hartem Ringen 
und felbft im beiten Falle ohne vollen Erfolg, das Beftreben, neben der hrift- 
lichen Offenbarung, deren Weltanſchauung die einzige des Mittelalterd ge— 
weſen war, eine andere, von ihr unabhängige Philofophie und Metaphyſik 
zu begründen: es find erſte, ſtammelnde Beftrebungen, die Sprache eines 
eigenen Geiftes der Zeit zu reden. 

Gewiß verlaufen jie noch nicht im ausgefprocdenen Gegenfag zum 
Chriſtenthum. Anktnüpfend vielmehr an die mittelalterliche Myſtik und wie 
diefe bis zu einem gewiſſen Grade außerkirchlich, aber nicht außerchriftlich, 
bleiben fie nur, je länger, je mehr, von den allgemein anerfannten Formu⸗ 
lirungen der chriftlichen Lehre fern: was fie denn freilich, bei allem Fefthalten 
an einzelnen chriftlichen Gedanken und an einigen Hauptſtützpunkten der chriſt⸗ 
Iihen Dogmatik, fchließlich zur Köfung von der Offenbarungtradition und 
zum Auffuchen eines völlig eigenen Standpunkte hindrängt. 

Es ift in diefer Hinficht bezeichnend, dag die Neihe der Hier zu 
nennenden Philofophen in der erjten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts 
mit Nikolaus von Kues, einem Kardinal der heiligen römischen Kirche, be- 
ginnt und mit dem gottfeligen proteftantiichen Edjufter Jacob Boehme zu 
Sörlig im Anfang des fiebenzehnten Jahrhunderts abſchließt. 


In Kues ift, bei alen Verſuchen, im Reihe der Erfahrung auch 


empirifch zu forfchen, ein fauftifcher Zug; mehr als Andere leitet er jene 
Periode des Denkens mit ein, da in ungeſtümem Angriff und mit einem Zuge 
erfannt werden fol, was die Welt im Innerften zufammenhält. In diefem 
Sinn fuht Kues, als Sohn der erften Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts 
nod) an den Gegenfag des Nominalismus und Nealismus anfnüpfend, zus 
nächſt eine höhere Verſöhnung diefer Gegenſatze. Gewiß, meint er, habe die 
empirische Forſchung vor Allen das Weſen der einzelnen Dinge fetzuftellen 


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Pandynamismus. 15 


und damit die Erfahrung in unendlichem Fortgang zu bereichern. Aber 
daneben ſtehe doch zu gleichem Recht die Aufgabe, das Ganze zu erkennen 
und die Gegenſätze der Welt dem harmoniſchen Gedanken eines unendlichen 
Univerſums unterzuordnen; mit etwas klareren Begriffen, als Kues ſie hatte, 
ausgedrückt: die Induktion müſſe duch Deduktion ergänzt werden. Dies 
fönne nun freilich nur in dem Gewinn einer höheren erfenntnißtheoretifchen 
Einheit erreicht werden. Wie aber diefe finden? Hier ift der Punkt, wo die 
Lehren des Cuſaners ind Myftifche umfchlagen. Nur in unmittelbarer 
Anfhauung, nur in einer durch höhere Vernunft bewirkten Intuition, in einer 
comprehensio -incomprehensibilis fünne Das gefchehen. Diefe aber fei 
nur auf dem Boden der Kirche verbürgt. Und fo ift ſchließlich eine freiere 
myſtiſche Theologie zu leiten berufen, was der Berftand der PVerftändigen 
nicht vermag. 

Bewegt fih Kues wie eine Heine Zahl unbedeutenderer Nachfolger 
während des fünfzehnten Jahrhunderts fcheinbar noch ganz auf dem Boden 
der Kirche und bildet er perfünlich in der vollen Ueberzeugung forrelter Kirch: 

fifche Erfenntnigtheorie, nicht aber das myſtiſche Syſtem 
genauer aus, fd werden die Naturphilofophen bes fechzehnten, des Jahr— 
hunderts der reformatorifhen Löfung der Geifter, weit fühner. Und es ift 
fein Wunder, baß wir fie vornehmlich im Lager des Proteftantismus und 
noch mehr in dem des Wiedertänfertfumes und feiner Abzweigungen finden. 

Hier entfalten fie nun zunächſt die Borausfegungen einer fpefulativen 
panentheiftifchen Theologie. Sie betrachten die gefchichtlichen Heilsthatfachen 
des Chriſtenthumes wie die ans ihnen entwidelte dogmatifche Begriffswelt 
nicht mehr als nur einmal gefchehen und als auf finguläre hiftorifche That- 
fahen aufgebaut, fondern fie nehmen an, dag in ihnen nur der gefchichtlich 
fombolifirte Ausdrud eines allgemeinen, fich ftetig in jedem Menfchen in 
feinem Berhältnig zu Gott wiederholenden Zuſammenhanges vorliege, der 
zeitlo8 und dauernd in der Natur der Menfchen, der Dinge und Gottes begründet 


ſei. Dabei ift Chriſtus als der die Welt durchwaltende Logos die Grund— 


vorftelung und die Methode de8 Denkens ift die hergebrachte der Myſtik. 
In der Richtung diefer Vorftellungen hat ſchon Caſpar Echwendfeld 
gedacht, ein anfangs Luther begeiltert anhängender, fpäter von der proteftantifchen 
Kirche verfolgter Theologe; mit befonderer Deutlichkeit aber traten jie zum 
erften Dale in Sebaftian Frand, dem geiftreichen Hiftorifer und Publiziften, 


“hervor. Dem Denken Frands ift Gott eine „frei ausgegoffene Güte, eine 


wirfende Kraft, die in allen Sreaturen wefet”, und feine Offenbarung ge: 
ſchieht täglih und ftündlid) in uns. In uns lebt Chriftus und Adanı, gutes 
und böfes Prinzip; in und wiederholt fich der Eündenfall; in und wird die 
Selbfterlöfung des Menjchen dur) den ihm einwohnenden Chrijtus und 


16 Die Zukunft. 


die Gnadenwirkung Gottes zu einer ewig erneuten, gefegmäßigen, typiſchen 
Thatfahe. So ift denn Brand bie chriftliche Offenbarung als gefchichtliche 
Thatfache nur Unterlage einer philofophiichen Symbolik; die Heilige Schrift 
ift ihm eine ewige Allegorie und ihre Deutung in diefem Sinne wird von 
ihm nach myſtiſcher Methode vom Standpunkte des panentheiftifchen Glaubens 
an die Eriftenz allwirkender feelifcher Kräfte durchgeführt. 

Strand ift, wie faft alle Seinesgleichen, einfam und verlafien bahin- 
gegangen, in tiefem, entfagungvollem Ringen, in äußerer Unraft und Flüchtig⸗ 
keit und in verzehrender Sehnfucht nach einem künftigen Zufammenfein mit 
allen gottfrommen, gutherzigen Menfchen: „in und bei diefer Kirche bin, zu 
der fehne ich mich mit meinem Geift, wo fie zerftreut nnter den Heiden und 
Unkraut umfähret.* 

Die panentheiftifche Theologie Francks und verwandter Geifter vertrug 
nur eine Fortbildung: fie mußte durch volle Einführung des pandynamifchen 
Natuerkennens eines Paracelfus und feiner Nachfolger zu einer allgemeinen 
fei e8 pautheiftifchen, fei e8 panentheiftifchen Weltanfhauung erweitert werden. 

In diefer Richtung brachte die Lehre Valentin Weigeld, eines Sachen, 
der 1533 zu Großenhain geboren und 1588 als Pfarrer zu Zichopau ges 
ftorben ift, den erften wefentlicheren Fortſchritt. Vor Allem wird bei ihm 


deutlicher als bisher das myſtiſche Erfenntnißprinzip der Verzädung dur 


da8 Marere des jubjeftiven Erkennens erfegt: unzweideutig fpricht er es ang, 
daß man wiſſen und verftehen Fönne nur Das, was man in ich trage; daß 
mithin die Welt und Gegenftand der Erkenntniß nur fein könne, weil und 
infofern wir Mifrofosmen find. In der Anwendung biefes erfenntniß- 
theoretiichen Prinzips aber wandelt Weigel gänzlich die Bahnen des pans 
dynamischen Naturerfennens: wir erfennen die irdifche Welt, weil unfer Leib 
die Quinteſſenz aller weltlichen Eubftanzen ift; wir erfennen die Welt der 
Geifter und Engel, weil unfer Geift fiderifchen Urjprungs und ein Engel 
it; wir erfennen Gott, weil unfere Seele vom göttlichen Wejen ausgeht und, 
an Gott theilnehmend, göttliche Nahrung erhält in den Sakramenten. ft 
in diefer Lehre die Ahnung einer fünftigen fubjektiviitifchen Erfenntnißtheorie, 
wie fie vol erſt Kant entwidelt hat, durch die Auffaffung ber Saframente 
als der Hilfsmittel verzüdten Schauens noch mit der myltifchen Erfenntniß= 
theorie verbunden, während die panentheiftiiche Theologie zu den Grundlagen 
wenigſtens einer allgemeinen panentheiftifchen Metaphy'if erweitert ift, fo fieht 
man doch deutlich nod) die Altes und Neues unausgeglichen zufanınenz= 
haltenden Nähte und die allgemeinen metaphyiischen Prinzipien find noch nicht 
zu einem Eyiten erweitert. Diefe Mängel übermand und damit den Abſchluß 
der ganzen theofophiichen Naturphilofophie des fechzehnten Jahrhundert brachte 
Jakob Bochme. In ihm leben noch einmal alle die Tendenzen auf, die im 


Pandynamismus. 17 


der ſelbſtändigen Philoſophie des ſechzehnten Jahrhunderts zuſammenſtrömen, 
und ſie finden in ihm ihren Hauptrichtungen nach auch einen harmoniſchen 
Abſchluß. Von inniger kirchlicher Frömmigkeit, in der Zeit feiner Wanderungen 
beim brennenden Holzſpahn abendlicher Unterhaltungen noch in die letzten 
Reſte mittelalterlicher Myſtik und neueren Wiedertäuferthumes eingeweiht, wie 
ſie unter Handwerkern und Kleinbürgern da und dort fortglühten, voll regen 
Wiſſensdranges in jene Bücher des Paracelſus und feiner Genoſſen ein- 
dringend, die ihm bie fremden Ingredienzien des pandynamifchen Natur: 
erfennen® jchon in verarbeiteter Form vermittelten, ift Boehme, einem 
genialen, ihn unabläffig vorwärtstreibenden Schaffenstrieb folgend, zum legten 
wahrhaft großen Theofophen unferer Nation geworden und damit zugleich 
zum erften neuhochdeutſchen Klaſſiker der philofophifchen Sprade. Zwar 
hält er jich noch nicht in dem ftrengen Schranken einer mit unverbrüchlicher 
Langweiligleit gebrauchten Terminologie; als ein Dichter und ein Prophet 
wählt er vielmehr feine Worte, wie fie der Geift ihm eingiebt, oft mit 
höchſtem Schwung ber Phantafie, oft in fehwerem Ringen mit der fprachhaft 
zu geftaltenden “dee: aber gerade diefem Ringen und diefem Schwung ver- 
dankt unfere Sprache einen ungemeinen Reichthum neuer Wortbildungen, in- 
fofern fie Werkzeug höheren Denkens werden follte. 

Mas Boehme fachlich zunächſt bewegt, ift das für die ganze Epoche 
fo überaus charakteriſtiſche Bedürfniß nad Erlöſung. Bon dieſem perjön: 
lichen Bebürfnig indeſſen ſpringt er alsbald über auf den großen Gegen- 
fag von Böfe und Gut, und indem er diefen Gegenfag feiner Entftehung 
nad bi zum Urfprung zuräd verfolgt, wird er der folgenfchweren Frage 
zugeführt, wie da3 Zufammenfein von Böfe und Gut in Gott als dem 
Schöpfer aller. Dinge zu bdenfen fei. Und indem er dann weiter biefes 
Problem kaum anders als in der Form evolutioniftifcher Anfchauung lösbar 
erfennt, wird er aus den ethifchen Betrachtungen hinübergetragen in kosmo⸗ 
gonifche: und alsbald verknüpfen jich die Bedürfniffe feines empfindfamen 
und gemarterten Herzens mit den theofophifchen Spekulationen der Naturaliften. 
In Gott waren, wie Licht und Finfternig, die als Gegenfäge auf einander 
angewiefen Sind und deren eines nicht gedacht werden kann ohne die Bor: 
jtellung des anderen, fo auh Gut und Böfe uranfänglich vorhanden: ja, 
Gott ift uranfänglich recht eigentlich die Ausgleihung der Gegenſätze, die 
coincidentia oppositorum. Über aus ihm, den Alles und WichtE, dem 
weder Licht noch Finfternig, dem weder Böfe noch Gut, haben fich diefe 
Gegenſätze entwideht. In welcher Form, darüber erdichtet Bochme eine ganze 
ſpekulative Mythologie, in der jich hriftliche Anihauungen mit anderen Ele— 
menten wunderfam verjchlingen. Das Ergebniß iſt fchlieklich eine Welt, 
die als Grenzfaum gleihjam eines Reiches der Liebe, des Himmelreiches, und 


2 
0) 


18 Die Zukunft. 


eines Reiches bes Bornes, der Hölle, gedacht wird und im ber wir leben, 
in gleicher Weife theilnehmend an Liebe und Zorn, an Gut und Böfe. 

Aber diefe Lage trägt in fi Feine Verheigung der Dauer. a, wir 
felbft haben, wie das Bedürfniß, fo die Macht, fie zur ändern, dem Himmel- 
reich zum Siege zu verhelfen, inden wir das Böfe in und vernichten. Das 
Böfe haffen und ertöten: Das ift darum Ziel menjchliy=jittlihen Lebens. 
Und dem Frommen gelingt es. Es ift die Stelle, an der Boehme aus dieſem 
Jammerthal emporfieht zu den ewigen Sternen. Er weiß: die Zeit wird 
nahen, da der Kampf der Guten diefe Welt überwindet, da fie nicht mehr 
fein wird, da die Halbheit dem Ganzen gewichen fein wird, da wir eingehen 
werden in das Kicht der Verklärung, das Gottes Offenbarung verheigen hat. 
Ein großartiges Bild frommer Gedankendichtung, kehrt Boehmes Philofophie, 
nachdem fie in einer geiftreihen KFosmogonie die Weiten der pandynamifchen 
Naturwiffenfhaft durchmeſſen und mit den wejentlichften Beftandtheilen der 
hriftlichen Offenbarunglehre durchflochten Hat, zurüd zu dem einfachiten 
fittlichen Bedürfnig der Dienjchenbruft, wie es feine Zeit in dem Begriff der 
Erlöfungfehnfucht zuſammenfaßte: ihm allein dient im Grunde feine Lehre. 
Es ift die volllommenfte Durchflechtung erfenntnißtheoretifcher und ethifcher 
Forderungen, die vom Standpunkte des Pandynamismus unter leifem Felt: 
halten an den Grundlagen des ChHriftenthumes noch erreichbar war. 

So hätte man wohl glauben dürfen, die Philofophie Boehmes werde 
weite Verbreitung finden. In der That machte fie auch anfangs viel Auf: 
fehen. Allein eine große und dauernde Wirkung bat jie nicht gethan. Das 
lag nit nur an der gelegentlich nicht leichten Sprache oder an dem Bhan- 


tasma ihrer kosmogoniſchen Partien. Der Grund ift vielmehr, daß die ganze, 


gedankliche Grundlage, auf der Boehme ftand, zur Zeit feiner Spekulationen 
ſchon ſtark erſchüttert zu werden anfing. Boehme iſt der letzte myſtiſche 
Philoſoph im inneren Deutſchland auf lange Zeit geweſen; nur in den Nieder- 
landen hat die myſtiſche Spekulation während des fiebenzehnten Jahrhunderts 
noch fortgeblüht, um dann, unter wejentlich veränderten Umftänden, in Spinoza 
eine Höhe von außerordentliht Bedeutung zu erreichen. Im Üebrigen aber 
wich die Myſtik dem Empirismu3, der Pandynamismus der Mechanik, das 
verzückte Naturerfennen dem Experiment und der mathematischen Analyſe. 
Jene fpefulative Naturwilfenfchaft, der die naturphilofophifchen Weltanſchau⸗ 
ungen des fechzehnten Jahrhunderts entjproffen waren, vermelfte; auf Kues 
war Soppernifus gefolgt und auf Paracelfus folgten Stevinus und Galilei. 
Man begann, Natur und Welt von ganz anderer Seite her zu betrachten. 


Leipzig. Profeffor Dr. Karl Lamprecht. 


% 


Hymnus. 19 


Hymnus. 


—8 im Jahr über dem ewigen Rom 

In einer tiefdunklen Nacht über den Petersdom 
Kommen die Kronen der Welt durch die Lüfte gerauſcht. 
Dort, in der Kuppel verſteckt, hab’ ich ihr Kied erlauſcht: 


Wir find die Kronen der Welt, 

Uralte und junge Herricherfronen, . 

Und find die Kronen über Millionen. 

Dor unferm £euchten fällt 

So Unecht wie Held 

Dehmüthig nieder vor den Thronen, 

Denn wir verdammen und belohnen. 

Wir find die Kronen der IDelt. 
So klingen die Kronen der Welt in einer tiefdunklen Yacht über 

| dem Petersdom. 

Dann aber fchwingen fie fich höher empor in die Luft, höher empor 
2 Ä über Rom 
Und ihr höheres Kied brauft wie eim ferner Strom: 


Wir find die Kronen der Welt 
Und find beftellt, 
Don einen Haupte zum andern 
In ewigem Wechſel zu wandern, zu wandern. 
Auf taufend Häuptern zu Fluch und Segen 
Sind wir gelegen 

. Und haben die Stirnen, die wir beglüdt, 
Hu Boden gedrüdt. 
Wann aber, warn fommmt der Held, 
Der allen Kronen vermag zu entfagen 
Und alle zu tragen? 
Wann kommt unfer Held ? 
Wir find die Kronen der Melt! 


So klingen die Kronen der Welt in einer tiefdunflen Yacht über 
dem ewigen Kom. 
Dann aber fchwingen fie ſich höher, noch höher empor 
Und in den Wolfen verraufcht braufend ihr mädhtigfter Chor... 
2* 


20 Die Zukunft. 


Und die Wolfen ziehn 

Und die Kronen erglühn, 

Taufend Kronen fprühn, 

Taufend Sterne erblühn auf dem himmliſchen 3; 
Und es ftrahlen fern 

Im Diademe des Herrn, 

In der Krone des Herm 

Mond und Ste. 


Aber ſchon ſchwindet die Nacht 
Und die Sonne erwacht. 
Wie ein fröhlicher Held 
Tritt fie hervor aus den Selt. 
Mond und Sterne verglühn 
Und die Sonne, fie lacht über der ftrahlenden Welt. 


Prag. Hugo Salus. 


« 


& 
Beichtgeheimniß. 


ER gaben zu Ehren des fcheidenden Karnevals eine große Gejellichaft: 
9 zuerjt wurden den Gäſten heitere mufifalifche Vorträge geboten, danach 
folgte daS Souper und den Schluß bildete der obligate Tanz für die junge 
Welt. Dean war glüdlid beim Tanz angelangt. Hofraths jüngite Tochter, 
Fräulein Thella, die Einzige, die nod) zu Haben war, wie der hübſche Ausdrud 
lautet, tanzte nicht. Sie habe ein Bischen Kopfweh, ſagte fie; auch ſchmerze 
fie ihr linker Zuß. Die Wahrheit aber war, daß fie weder Kopfweh noch Fuß- 
weh hatte, jondern daß der Tanz ihr fein Vergnügen bereitete. Sie ging auch 
nicht defolletirt, wie die meiſten anweſenden Damen. Auch Das behagte ihr 
nit. Vielleiht nur, weil fie mager war. Offiziell behauptete fie, es fei ihr 
genirlich. Uebrigens war fie eine reizende Erfcheinung mit ihrem überjchlanfen, 
feingliedrigen Körper, ihrem pilanten dunklen Köpfchen und den verträumten 
lichten Augen. Und da fie eine beträchtliche Mitgift zu erwarten Hatte, fehlte 
es ihr natürlich nicht an Verehrern; und e3 waren ausnahmelos Herren „mit 
erniten Abſichten“: Das Heißt jolche, die fih jogar vor der Ehe nicht fcheuten 
Mehr kann man nicht verlangen. Dod) Fräulein Thekla verlangte dennoch mehr 
Sie machte jih aus keinem ihrer Courfchneider Etwas und behandelte alle voı 
oben herab. Nach der Ehe trug fie fein Begehren. 

Ihr Better Fritz, mit dem fie aufgewachlen war und ber blos drei Yahrı 
mehr zählte als fie, leitete ihr während des langen Kotillons Geſellſchaft. Siı 
jelbjt Hatte ihn fich zum Partner erforen, um „vor den Anderen und der dummer 
Hofmadjerei Ruhe zu haben”, wie fie freimüthig zu ihm gejagt hatte. Er war 





Beichtgeheimniß. 21 


es zufrieden geweſen und bemühte ſich jetzt, ſie nach beſten Kräften zu unter⸗ 
halten. Das war nicht leicht. Fräulein Thekla war ſchwer zu befriedigen und 
entſetzlich ſchnell gelangweilt. Er kannte ſie genau. 

Sie war ſeine Kinder- und Jugendliebe geweſen: bis vor drei Jahren. 
Angebetet hatte er feine Couſine. Doc „kühl bis ans Herz hinan“ Hatte fie 
vor ihm geftanden, fi} feine Inabenhafte Anbetung gleichgiltig gefallen laſſen 
und ihn wie einen grünen Jungen behandelt. Das ift ſehr unangenehm und 
pflegt jelbft die Heikeite Liebe zu Löjchen. Eine Zeit lang mied und haßte er 
Thekla. Dann genas er. Und jeit einem Jahr war er verheirathet und, wie es fich 
gehört oder doch fein follte, big über die Ohren verliebt in feine junge Frau. 

Ad, feine jüße, Feine, faum zwanzigjährige Frau! Da ſaß fie, ihm 
Ihräg gegenüber, und jandte ihm hinter ihrem Pfauenfächer zärtliche Blicke zu. 
Wie hübſch fie Heute wieder war: fo weich und rund wie eine Taube, das volle 
Hälschen wie bei einer Taube nahezu verftedt, die Schultern und Alles, was 
font noch zu ſehen, blendend weiß und das Geficht jo rund und rofig, das 
Haar fo blond! Sie unterhielt fi immer mit ihm und er brauchte ſich dabei 
nicht einmal anzuftrengen. Seine fleine, füße Erny bewunberte ihn. Für fie 
war er dad Höchſte und Beite auf der Welt. Und wie gejund und flug fie war! 
Das gerade Gegentheil von feiner Coufine Thekla. Dieſe hatte etwas jo Krank⸗ 
und Räthjelhaftes in ihrem ganzen Wejen. War unbequem und verdreht. Ya, 
jie war entfchieden verdreht geworden, — wie alle Mädchen werden, wenn fie 
nicht rechtzeitig heirathen. Das war es. 

Dennoh war er ihr gut geblieben und fie that ihm leid. Wie kann 
man fih dag Leben nur jo muthwillig verhauen! Sie hatte ja immer ihre 
Muden und Launen gehabt, hatte ftet3 etwas Befonderes haben wollen. Aber 
daß fie jeit fünf Nahren fromm geworden war, feßte dod allem Boraufge- 
gangenen die Krone auf. Das war ſchlimmer ala alles Andere. Und dauerte 
num ſchon fo lange. Nahm immer größere Dimenjionen an. Qanzen wollte 
fie nicht und defolletiren wollte fie fih auch nicht; über die Männer rümpfte fie 
die Nafe und fagte, daß fie in ihren Augen nichts Befleres feien als... Nein! 
Er wollte jich lieber gar nicht erinnern, was für ein Wort fie gebraucht, mit 
welchem unjauberen Thier fie die Männerwelt verglichen hatte. Es war zu 
beleidigend. Geradezu aufreizend war es. Nur eine Ausnahme lieh fie gelten; 
natärlid. Das verdroß ihn am Meiſten. Die Priefter waren anderd. Nur 
die Briefter. Und als Sonne unter ihnen leuchtete Theklas Beichtvater, ber 
unvergleichlihe Pater Dar, für den übrigens eine ganze Neihe von Damen 
Ihwärmte. Fritz kannte diejen Pater Mar nicht, Hatte ihn niemals gefehen. 
Wollte ihn aud nicht kennen lernen. Ein Bischen Eiferfuht war doch noch 
‚ebendig in ihm, troß der erlofchenen alten und der heißen neuen Liebe. Es 
ar doch zu kränkend, wenn er ſich entjann, wie Thekla gegen ihn geweſen war, 
nd wenn er ji dann vorhielt, wie fie über diefen Pater Max ſprach. Um 
e aus ihrer gelangweilten Zethargie aufzurütteln und fie, die immer Theil- 
ahmeloje und Wortkarge, beredt zu machen, brauchte man blos an diejen Gegen- 
tand zu tippen: jofort war jie Teuer und Flamme. 

Er entichloß fi denn auch jetzt, während des Kotillons, zum Tippen. 

hekla jah bereit3 bedenklich adgejpannt aus. Da hieß es, ob wohl, ob übel, 
dem fatalen Pater Mar feine Zuflucht nehmen. 


22 Die Zuhuft. 


„Na, was macht denn Dein Pater Mar?" fragte er mit einer leichten 
Grimaſſe. 

Thekla ſah ihn von der Seite an. „Er iſt nicht mein Pater Diar. Er 
gehört Allen und Keinem. Mir nicht mehr als jedem Anderen.“ 

„Schön. Alfo: was macht er?“ 

„Was er immer thut: Seelen leiten und Seelen retten. Ad, Fritz“ — 
und fie richtete fih aus ihrer wie gefnickten Haltung auf — „ich bin fo traurig! 
Denke Dir: Pater Mar fährt zur Faſtenzeit nach Trieft, um dort die Yaften- 
predigten zu halten.” | 

„Ra, gönne ihm die Abwechſelung“, meinte Krib. 

„Ich gönne ihn den Trieſtinern“, entgegnete fie, ihn zurechtweijend. 
„Aber ich werde ihn vermiflen. Er predigt jo wunderbar! Und gerade feine 
Faftenpredigten waren mir ftet3 die liebiten. Und wenn id; während diejer 
Wochen beichten will, ijt er nicht da.“ 

„Beichte mir”, rieth ihr Vetter. „Einmal ift einmal.“ 

Thekla lächelte. Es war ein miitleidiges Lächeln. „Dir, mein lieber 
Fritz, würde ich überhaupt nichtS mehr anvertrauen. Niemals mehr.“ 

„Weshalb denn nicht?" fragte er etwas geärgert. 

„Weil Du verheirathet bift und verbeirathete Männer nicht ſchweigen 
fönnen. Weil fie Alles ihren lieben rauen weiter erzählen. Danach gelüftet 
es mich nicht. Deine jüße Taube ift mir innerlich fremd und ich babe fein 
Bebürfniß, fie durch Dich in meine Geheimnifje einmweihen zu lafjen.“ 

„Aber Thekla!“ Er ereiferte fih. „Halte mid) doch nicht für jo albern! 
Sch jelbit habe zwar feine Geheimniffe vor meiner Frau. Doc wenn es fi 
um die Angelegenheiten einer Dritten handelte...“ 

„sa, ja: jo reden Alle. Aber wenn fie mit der jühen Gattin allem 
find und die ſüße Gattin recht ſchön bittet...“ 

„Sch gebe Div mein Wort, daß Dir uns verfennft. Du machſt Dir 
überhaupt eine ganz falſche Norftelung von ung. Die Männer find unendlich 
viel bejjer und auch klüger, als Du Dir einbildeft.” 

„Wahrhaftig?“ Gedankenvoll jah fie ihn an. „Und wenn ich Dir nun 
wirklich ein Geheimniß anvertraute: würdeft Du fchweigen fünnen?“ Sie war 
ſehr ernſt geworden. 

„Mein Wort darauf, Thekla.“ Er war ebenfalls ernſt geworden. „Wir 
ſind doch immer gute Kameraden geweſen. Ich fürchte, Dich quält Etwas. 
Vertraue Dich mir ohne Scheu an. Vielleicht kann ich Dir helfen.“ 

Sie ſchüttelte den Kopf. „Helfen kann mir nur Gott. Was ich Die zu 
jagen habe, weiß nocd Niemand. Nicht einmal dem Pater Max habe ichs gefagt." 

„Richt einmal ihn?” Fritz fühlte ſich geſchmeichelt. „Alfo, was ift 
e3 denn?“ 

„Ich tauge nicht für diefe Welt, Fritz. Und darum habe ich den Ent« 
ihluß gefaßt, den Schleier zu nehmen und Nonne zu werden.“ 

Fritz ftarrte fie an. „m Ernie?” 

„sm vollen Ernft. Und ich will mir den ftrengjten Orden ermählen 
und Karmeliterin werden. Wenn man das Ordenskleid einer Karmeliterin an— 
legt, ftirbt man für diefe Welt. Man fieht Niemanden mehr — auch Bater 


Beihtgeheinmiß. 23 


und Mutter nit —, jchreibt und empfängt Feine Briefe, ift und bleibt abge- 
Ichnitten von Allem”... 

„Das iſt ja ein ganz entjeglicher Orden, Thekla!“ Er war außer fid. 
„Und daß jo Etwas im zwanzigften Jahrhundert geduldet wird! 

„sn Deinem zwanzigften Jahrhundert werden viel jchlimmere Dinge 
geduldet: Unzucht, Trunkſucht, alle Laſter,“ entgegnete fie kalt. „Kümmere Dich 
lieber um bdiefe Dinge. Die find gefährlicher.‘ 

„Mag fein. Na, ... und was thun fie denn, Deine tarıneliterinnen?“ 

„Ste beten,” jagte Thekla mit einem nur ihr eigenen unnadahınlichen 
Augenaufihlag. „Beten Tag und Nacht für die fündige Menfchheit.“ 

„2a, Ihön müßteſt Du ausfehen im Schleier und Nonnentleid,” fagte 


“ er mit einem bewundernden Blid auf ihr efitatiiches Sefiht. „Aber muß es 


denn gerade diefer Orden fein? Und kannſt Du denn nit auch zu Haufe für 
die jündige Dienjchheit beten? Die Wirkung würde fi) ja wohl gleich bleiben.” 

„Rein. Hier verjteht mich Niemand, fühlt Keiner wie ih. Unter Gleich— 
gefinnten will ich jein. Ad, Fritz, auch Du veritehft mich nicht!“ 

„Doch, doch,” fagte er eifrig. „Sehr gut veritehe ich Did. Aber warum 
willſt Du Dich lebendig begraben laffen, um Gottes willen!?” 

Sie beugte fich jeinem Ohr ganz nah. „Weil ih mid) vor mir felbit 
retten mödte, Fritz,“ ſprach fie murmelnd. 

„Wieſo denn?" Er war fchon ganz verwirrt. „Was tft denn los, Thella ?“ 

„In meinem Herzen wohnt eine Liebe, die zu hegen eine Todſünde ift,“ 
fam es flüfternd über ihre Lippen. 

„Ranı ,..!” Er haſchte nad) ihrer Hand. „Das Hatte ich immer ge- 
fürchtet; und diejfen Pater Dar” ... 

Sie machte eine Schweigen heifhende Gebärde. „Still. Solche Dinge 
ſpricht man nicht fo klipp und klar aus. ch gehe nach Salzburg, wo ein Kar— 
meltterinnenklofter ijt, mache dort mein Noviziat, nehme den Schleier und fterbe 
für alle Menfchen. Auch für ihn. Und er für mich. Jetzt weit Du Alles.“ 

„est weiß ich Alles,” ſprach er wie betäubt nad). 

„Und Du wirft jchweigen?‘ fragte fie ſehr eindringlich und legte die 
Hand auf jeinen Arm. „Noch muß mein Entihluß GSeheimniß bleiben. Du 
wirt ſchweigen, Fri, nicht wahr? Du haft es mir verſprochen!“ 

„And ich verſpreche es Dir noch einmal,‘ jagte er. „Aber was Du mir 
da anvertraut hajt, tit ganz ſchrecklich!“ 

„Nur Eins ijt Ichreklich: die Sünde,” erwiderte fie ernit. 

Verwirrt jah er fie an. Arme, arme Thekla! Ihre Beichte hatte ihn 
aufgeregt und er hatte jogar verfäumt, zärtliche Blicke mit feiner jungen Frau zu 
wechleln. Und fo bemerkte er auch jegt nicht, daß Frau Erny in gejpannter 


Lauſcherſtellung daſaß und jcharfe Blicke zu ihm und Thekla herüberjandte. 


... Eine Stunde fpäter fuhr er ınit feiner fleinen Frau nad) Haufe. Als 
fie ihr hübſches Heim erreicht hatten und im Sclafgemad) die Cherkleider ab— 
legten, fragte er fie, wie fie ji) amuſirt Habe. 

„Gar nicht,’ antwortete jie in flagendem Ion. „Und ich bin fo müde!“ 

Sie ſetzte ih auf die Chaiſelongue und hielt ihm die runden Händchen 
bin. „Bitte, Hilf mir die Handſchuhe ausziehen!“ 


24 Die Zukunft. 


Wie füß fie Das fagte! Und immer war eg fo, wenn fie von einer &e- 
fellfchaft nach Haufe kamen: ftets war fie fo müde, daß jie fi) allein nicht aus- 
zufleiden vermochte. Und da man das arme Dienſtmädchen nicht weden mollte, 
mußte ihr natürlich der Gatte behilflich fein. 

Er war ihr aud heute behilflich. Kniete vor ihr und knopfte ihr die 
Stiefelchen auf. Damit fing man jedesmal an. 

„Warum haſt Du Dich denn nicht amuſirt, mein Engelchen?“ fragte er, 
zu ihr aufſehend. 

Sie warf ſchmollend die Lippen auf. „Weil Du jo abſcheulich gegen mich 
warſt! Mich gar nicht beachtet haft!“ 

„Wieſo denn abſcheulich und nicht beachtet, Erny?“ 

„Na, während des Kotillons. Du weißt Schon! Diefe Bohnenjtange von 
einer Couſine liegt Dir eben noch immer im Sinn.” 

„Darum nit gar!” Er war mit den Stiefeletten fertig geworden und 
ftedte weiche Pantoffelchen an ihre Füße. 

„Ja, ja. Sch weiß, mas ich weiß. Und fo verblüht fie iſt — befolletirt 
müßte fie übrigens nett ausſehen —, fie gefällt Dir no) immer. Und wie fie 
mit Dir Eofettirt hat! ES war geradezu unanftändig.“ 

„Thekla kokettirt überhaupt mit Niemandem.“ 

„So? Ich aber ſage Dir, daß ſie eine Erzkokette iſt. Hak' mir doch die 
Taille auf!“ rief ſie ungeduldig und herriſch. „Ich bin ja ſo ſchrecklich müde!“ 

Er hakte ihr mit einiger Mühe die enge Taille auf und zog ſie ihr vom 
Leibe. Ach, wie hübſch ſie im mit Spitzen beſetzten, ſchwarzſeidenen Korſet 
ausſah! Er wollte ſie auf die Schulter küſſen. Doch Erny wich ihm aus. 

„Laß mid in Ruhe“, ſagte fie. „Ih bin böfe auf Dich.“ 

„Aber weshalb denn, Maus?“ 

Sie legte die Hände an die drallen Hüften. „Weil Du treulos bift und 
Tchledt. Alle Männer find fo. Mama fagt es auch. Und fie Hat Redt. Und 
id) möchte am Liebjten fterben.“ 

Wahrhaftig: fie fing zu weinen an. Er war jehr bejtürzt und zog fie 
an fi. „Dein Gott, was hajt Du denn?“ 

„Unglücklich bin ich!" ſtieß fie Heraus. „Das ſchlechte Mädchen will Dich 
mir nehmen! Früher dat fie nichts von Dir wiſſen wollen. Aber heute reizeit 
Du fie, weil Du verheirathet bijt . .. .“ 

„Hätte id) ihr nur nicht gejagt, daß Thekla meine Nugendliebe war!” 

achte er. „Warum fage ich ihr aber auch Alles, ich Ejel!“ 

„Ich reize fie nicht im Mindeſten,“ antivortete er der erbojten Kleinen Frau. 

„Nicht? Und was hatte jie Dir denn in Einem fort ins Chr zu flüftern? 
Die Hand auf Deinen Arm zu legen? Sich mit dein ganzen berförper auf 
Did zu legen? Hart genug mag ihre Berührung jein und ich bencide Dich 
wahrlich nicht darım ... Aber ihre Schlechtigkeit bleibt ſich gleich. Wie jie 
Did nur angefchmachtet hat! Es Hat blos noch gefehlt, daß fie ſich Dir an den 
Hals warf... . Und viel hat nicht dazu gefehlt: fie war Dir nah genug!“ 

„Aber alles Das ijt blanfer Unfinn, Erny. Komm, ich will Dich vollends 
auskleiden; dann legit Du Did) fchlafen.“ 

„Ich brauche Dich nicht dazu. So müde ich bin: ich werde mich allein 
auskleiden. Und Ichlafen magit Du anderswo. Nicht hier, bei mir.” 


Beichtgeheimniß. 25 


Jetzt wurde er ärgerlich. 

„Sei doch vernünftig, Erny. Wenn Du wüßteſt, was wir zuſammen 
geſprochen haben!“ | 

„Ich weiß es aber nicht. Und Du wirſt es mir nicht ſagen. Du wirſt 
Dich hüten!“ | 

„Ih gebe Dir mein Wort, daß fie... . nicht an mich denkt.“ 

„Ich glaube Dir nicht.” Sie drängte ſich an ihn und weinte aufs Neue. 
„Wie kann man nur fo graujam jein und feine Frau jo quälen!” 

Ihre Nähe machte ihm ganz warm und ihre Thränen marterten ihn. 

„Sie liebt ja einen Anderen, Erny,“ entfuhr es ihm in feiner Berliebt- 
heit und Bedrängniß. 

Erny Horte auf. ‚Wen denn?“ 

„Ad, Einen,den fie nicht lieben darf ... Es ift eineunglüdliche Geſchichte.“ 

„Und Du jollft wohl ihr Tröfter fein?’ fragte fie, wieder jchärfer. 

„Bewahre. Ins Klofter will fie, diefer Gefchichte wegen. Sarmeliterin 
will fie werden. Und davon haben wir geredet.” 

„Davon! Sie late. „Mag fie ins SKlofter gehen! Dortbin paßt jie 
mit ihrem Augenverdrehen. Und Der, den fie liebt, ift wohl ber Pater Mar?“ 

„Ja, es ift der Vater Mar.” 

Erny lachte noch einmal, fragte no Allerhand und ließ fi, während 
er ihr willenlog Antwort gab, ohne Widerrede von ihm entkleiden. 

Hreilih: am Morgen war ihm katzenjämmerlich zu Muthe. Und nod 
ſchlimmer wurde es, al8 ihm Erny eine Poſtkarte brachte. Die Karte war von 
Thefla. Und darauf ſtand in großen, weithin leſerlichen Schriftzügen: „Halt 
Du geſchwiegen?“ 

Er Ichämte ſich gewaltig. 

Und zwei Stunden jpäter traf eine neue Poſtkarte ein. Wieder von Thekla. 

„Es war nur eine Probe,” jchrieb fie ihm. „Ach bin in den Pater Mar 
nicht verliebt. Ich verehre ihn blos, — ohne Sünde. Ich will auch nicht ins 
Klojter gehen. Nur beweijen wollte ich Dir, daß ich Euch richtig beurtheile und 
daß hr Ehemänner den Mund nicht halten könnt. Und froh bin ich, daß bie 
Kirche, Hug wie immer, den Cölibat über ihre Diener verhängt bat. Was würde 
aus dem Beichtgeheimniß werden, wenn aud die Priefter heirathen dürften! 

Thekla. 

P. S. Laß Erny beide Karten leſen, wenn ſie es nicht bereits von 
ſelbſt gethan hat. Aber wie ich die Ehefrauen kenne, hat ſie die Karten vor 
Dir geleſen.“ 

So war es auch. Erny wußte die zwei Poſtkarten ſchon auswendig. 
Und ſo ſchämte er ſich auch vor ihr, ſeines „Reinfalls“ wegen. 

Doch die kleine Frau tröſtete ihn. „Laß fie ſchwatzen!“ ſagte fie. ‚Wenn 
ſie einmal einen Mann hat — ich fürchte zwar ſehr, daß ſie Keiner mehr nimmt —, 
wird ſie es genau eben ſo machen. Darauf kannſt Du Dich verlaſſen!“ 

Wien. Emil Marriot. 


* 
8 


26 Die Zukunft. 


Rinderrechte. 


DI mongolifche Kaifer Dſchingis, der die Kindes: und Elternliebe der 
Shinefen Tannte, dedte, al8 er jie befriegte, feine Vorhut mit den 
Kindern und Eltern feiner Feinde. So deden die Antifeminiften mit der 
Mutterfhaft ihre Argumente, um die Invaſion des weiblichen Feindes in 
ihre Gebiete zu verhindern. 

Trotz der Heiligfprehung der Mutterjchaft ift das Kind in der Menſch⸗ 
heitgefehichte noch nie zu feinem Recht gelommen. Die ungeheure Sterblich- 
feit der Säuglinge legt Zeugnig davon ab. Und es ift das Necht des Kindes, 
zu leben. Generationen von Kindern verrohen, entarten im Gifthauch einer 
entjittlichten Umgebung. Schuß vor Förperliden und geiftigen Mißhand⸗ 
[ungen ift das Recht des Kindes. 

Wer nicht fchaudernd, von grenzenlofem Erbarmen durchglüht, die 
Berichte über das Kinderelend in den englifchen Fabriken gelefen hat, trägt 
ein Herz von Stein in der Bruft. 

Nur von dem Kleinen Kinde will ich heute fprechen, von dem Baby, 
für das Andere verantwortlich jind. 

Welche Andere? 

Die Mutter? 

Ja, wenn wir an bie Mutter von Gottes Gnaden glauben. Tie 
Verheiligung der Mutterſchaft gehört zu den konventionellen Berlogenheiten. 

Wie? Diefe Keinen Kinder, die liebende Mütter haben, auch die kämen 
nicht zu ihrem echt? 

Auch jie — in der Mehrzahl — nidt. 

Die Gegner der modernen Frauenbewegung freilich fehen in der Mütter 
lichkeit des Weibes die Verbürgung der Wechte des Kindes. Daher ihre 
feindlihe Haltung gegen die umftürzlerifchen Weiber der Emanzipation, die, 
wie es fcheint, nichts Geringeres planen als einen neuen bethlehemitijchen 
geiftigen Kindermord. 

Daß alle feelifchen und phyſiſchen Kräfte des Weibes nur der Mutter: 
ihaft zu bienen haben, da auf der Mütterlichkeit ihre Genialität berube, 
wird neuerding® wieder mit den Zeusgebärden fouverainen Allwiſſens der 
Melt verkündete. Wie fih in Wirklichkeit daS Leben der Frau als Mutter 
der Babies abfpielt, will ich zu ſchildern verfuchen. 

Tie Mutterliebe ift ein Naturtrieb. 

So recht von Herzen kann ich nicht einmal an diefen faum je be= 
zweifelten Naturinitinft glauben. 

Lege ein fremdes Kind ftatt de eigenen der Mutter, die eben geboren 
hat, in die Wiege und jie wird das untergefchobene Geſchöpfchen — falls 


Kinderrechte. 27 


ſie von der Vertauſchung nichts weiß — in ihr Herz ſchließen, als wäre es 
ihr leibliches Kind. Ich kenne Fälle, wo linderloſe Frauen ein adoptirtes 
Kind mit der denkbar inbrünſtigſten Mutterliebe umfaßten. Nicht der Natur- 
inſtinkt ſcheint mir der Grundpfeiler der menſchlichen Mutterliebe; eher iſt 
es das Schaffen und Wirken an dem Kinde. Die Mutter fühlt ſich als 
das Schidial des Meinen Hilflofen Gefchöpfes, das ihr anvertraut wurde, 
wobei allerdings die VBorftellung, daß e8 ihr eigenes Zleifh und Blut ift, 
mitwirkt. Die Vorftellung fage ich, — nicht die Thatſache. 

Eın Beifpiel aus meinen eigenen Leben mag das Geſagte erläutern. 
Aus irgend weichen Anlaß wohnte einmal eine Heine Nichte einige Monate 
bei mir. In fürzefter Zeit liebte ich das Kind, das ich vorher kaum ge: 
fannt hatte (die Eltern wohnten in einer anderen Stadt), wie nur eine 
Mutter ihre Kind Lieben kann. Seine Gegenliebe bereitete mir Entzüden, 
es war mein Gefchöpfchen, das ich zu behüten, zu verforgen hatte, für das 
ich verantwortlich war. Als das Kind mir wieder genommen wurde, ent: 
ſchwand e3 allmählich aus meinen Gedächtniß und aus meinem Herzen. 

Ein noch marlanteres Beifpiel, wobei es fich freilich um einen Mann 
handelt, einen älteren Herren und vielbejchäftigten Kaufmann. Diefer Dann 
— ein naher Verwandter von mir — hatte acht Kinder, denen er feinerlei 
Intereſſe zumandte; höchſtens zeigte er an ihren weltlichen Erfolgen einige 
Antheilnahme. Die Kinder gehörten ganz der eifrigen, willensftarten Mutter. 
Der charakterſchwache Vater war eine Null im Haufe. Einer feiner Söhne 
ſtarb mit der Bitte auf den Tippen, daß der Vater ich feines verlaffenen, 
unehelichen Meinen Mädchens annehmen möge. Und diefer trodene Gejchäfts- 
mann, der ji um feine eigenen Kinder nie gefümmert hatte, wurde diefem 
Kind ein überzärtlicher Vater. Sein ganzes Gemitihsleben fonzentrirte fich 
auf die Kleine, die wahrſcheinlich ohne ihn geftorben oder verdorben wäre. 
Es war rührend, zu beobadhten, wie er heimlich, faft mit dem Gefühl einer 
Schuld, Tag für Tag zu dem Kinde fchlih und fi mit Gefchenten und 
zarter Fürſorge für die Enkelin nicht genug thun fonnte. Und das Find 
gab ihm Liebe für Liebe. Taf es ja in der That aus feinem Blute ftammte, 
hatte mit feiner Liebe nichts zu thun. 

Es ift eine oft gemachte Wahrnehmung, dar ein Vater feinem ehelichen 
Kinde häufig erft dann ein echter fürforgender Vater wird, wenn der Tod 
ihm die Gattin, dem Kind die Mutter entriffen hat. 

Zum Beſtand der Mlutterliebe gehört als wejentliches Element die 
Segenliebe des Kindes. Denfen wir uns dieje Liebe ausgeſchaltet, fo dürfte 
die Mutterzärtlichkeit cine ftarfe Abkühlung erfahren. Ich kenne Fälle, wo 
Meütter mit einer zahlreichen Kinderfchaar diejenigen Kinder, die fie mit der 
eigenen Milch genährt haben, leidenfchaftlid) Liebten, den Ammenkindern aber, 


28 Die Zukunft. 


die, von der Mutter fich wendend, nach der Amme fchrien, abhold waren. Kluge 
und gute Frauen freilich werden es verftehen, fich der Heinen Gefchöpfchen, 
wenn bie Amme entlafien ift, zu bemächtigen. 

Melches aber auch der Grund und Urgrund ber Dutterliebe fein mag: 
ſie ift da, fie wird immer da fein, felbft wenn Zitaniden der Emanzipation 
den Himmel diefer Gemüthswelt zu ftärmen ſich unterfangen wollten; eine 
Liebe mit leichtem Anflingen an Miyftifches, das das Kindchen in Zufammen- 
bang bringt mit dem „Woher*? „Wohin“? aller Kreatur, und als ob in 
der Maren Tiefe diefer fragenten Kinderaugen noch ein Abglanz ruhte von 
einer anderen Welt, aus der fie fommen, — EngelSbilder, die irgendwo 
Flügel verloren. . | 

Warum aber foll diefe Liebe eine fo überaus geniale, das Neben der 
Frau erfchöpfende Leiftung fein? Schlechte und gute Frauen lieben in gleicher 
Weife ihre Kinder; und fie lieben aud) ihre feelifch mißrathenen Sprößlinge, 
die vorausfichtlih der Menfchheit Unheil bringen. Und folder Xiebe ein 
Heiligenfchein? Wir bewundern doch auch den Künftler nicht, der fein mig- 
lungenes Wert anbetet; eher lächeln wir darüber hinweg, mitleidig, geringjchägig. 

Die Zärtlichleitbemweife, die Lieblofungen, die eine Begleiterfcheinung 
der Liebe für die Babies find, machen offenbar der Mutter mehr Vergnügen 
als dem Kinde. Diefe Liebe, die ein fo Tleines, hirn- und feelenlofes Ge⸗ 
ſchöpfchen brünftig umllammert, e8 förmlich in ſich faugt, in efitatifcher Wonne, 
bezeichnet das Starke finnliche Element in der Mutterliebe. Die Kinder vor 
Liebe aufeflen, ift eine oft angewandte Redensart. 

Diefe zärtlihen Meuttergefühle immer auf dem Präfentirteller, als 
piece de resistance in der Argumentation gegen die Frauenbewegung, ift 
aufdringlich, abftogend. Wie man in feinem Kämmerlein betet, fo liebe man 
daheim fein Kindchen. Aber ich ehe feinen Grund, Gefühle, die einen fo 
reichen Kohn jchon in ich felbft tragen, als ungeheure, Ehrfurcht gebietende 
Dualitäten an die große Glode zu hängen, Heiligenfcheine dafür als Dutzend⸗ 
waare auf den Markt zu werfen, auch für Stirnen, hinter denen nie eines 
Gedankens Gluth geftrahlt, nie ein Funke von Edeljinn auch nur geglimmt 
hat. Mir ift dieſes Progen mit der Mlutterliebe — eine erweiterte Selbft- 


- Liebe — widrig. Frauen können ihren Kindern die zärtlichiten Gefühle weihen 


umd ji anderen Kindern, ja, der ganzen übrigen Menfchheit gegenüber herz: 
und gemüthlos erweifen. Das wäre die echte Mutter, die allen Kindern hold ift. 

Viele Frauen haben vielleicht feine anderen Vorzüge, aber gar feine; 
jie können vielleicht nicht einmal kochen: da bleibt ihnen doc immer noch 
die Mutterliebe. Die foftet feine Arbeit, wird nicht erworben, ift von felbft 
da, und je heftiger fie da ift, um jo mehr rüdt fie die Mutter in eine ver- 
Härende Beleuchtung. | 





Kinderrechte. 29 


Die Mutterliebe entbehrt der Idealität, die man ihr zuſpricht, wenn 
es mir auch fern liegt, zu leugnen, daß es eine Mutterliebe giebt, die rührend 
und ergreifend iſt, eine Liebe, die immer tröſtet, immer verzeiht, die immer 
giebt und niemals nimmt, die ſelbſt an dem entgleiften Kinde, das am 
Pranger der Menjchheit fteht, in unverbrüchlicher Treue fefthält. In Romanen 
fommen biefe Mütter noch häufiger vor als im Leben. 

In dem Auffaß eines geiftuollen Schriftfteller3 las ich kürzlich, Rouſſeau 
habe für bie gebildeten Europäer erft das Kind entdedt. „Seitden wurde 
es Mode, an dem Heinen Ding Etwas zu finden. Bis dahin fand bie 
Mutter felten den Weg in die Kinderſtube. Der Mutter wurde es bequem 
gemacht, nicht dem Kinde. Daher die Schaufelmwiege, der Lutfchbeutel, das 
Stedfiffen. Noc heute ift e8 in der. Normandie Brauch, den Säugling in 
der Küche an einen Nagel zu hängen. Tie Wilden find fchlechte Mütter.“ 
Die Gewähr für die Richtigfeit diefer Darftellung überlaffe ich dem Autor. 

Es find die Heinen hilflofen Geſchöpfe, die Babies, denen die Mutter 
die größte Zärtlichkeit widmet. Der Säugling in der That ift von der Natur 
auf die Mutter angewiefen. Bei der heutigen Beichaffenheit der Frau fommt 
da3 Säugeamt nur zu oft in Wegfall. Surrogate für die Muttermild 
mögen in volllommener chemifcher Zufammenjegung nod) nicht vorhanden fein. 
Sie herzuftellen, bfeibt der Zukunft vorbehalten. 

Es ift vorauszufehen, daß die Deutter der Zukunft im Stande fein 
wird, ihre Nährpflicht beffer zu erfüllen als die jegige Generation. Die 
Erfahrung widerlegt die Anjicht, daß die Nührthätigfeit auf den geiftigen und 
förperlichen Zuftand der Frau ungünftig einwirfe. Im Gegenteil: viele 
rauen fühlen jich in diefer Zeit befonders wohl. 

Borfehrungen zu treffen, dag die Mutter ihres Säugeamtes neben 
einer Berufsthätigkeit walten kann, liegt im Bereich der Möglichkeit. 

Eine ausgezeichnete Schriftftellerin weist auf „Die ungeheure pfychologifche 
Bedeutung hin, die die perfönliche Pflege des Kindes für die Mutter Habe.“ Die 
perfönliche Pflege und Fürforge . . . Hm! Die Mutter wäſcht, widelt, badet 
Tag für Tag das Heine Kindchen, ſie giebt ihm das Fläfchchen und kocht 
ihm das Süppchen, füttert es, trägt oder fährt es fpaziren, jingt es in den 
Schlaf, näht und-wäfcht feine Kleidchen und bejorgt nacht3, was zu beforgen iſt. 

Thut fie Das? 

Bewahre! Dazu ift ja die Kinderfrau da. 

Ob eine Pflicht für die Frau beiteht, ihr ganzes Leben den Sindern 
zu widmen, darüber mag man verfchiedener Meinung fein. Daß kaum eine 
Frau diefer Pflicht nachkommt, ift fiher; fie kann es auch nicht, ohme ihre 
foziale Stellung, ihre gejelichaitlihen Beziehungen, ihren Gatten an den 
Kagel zu hängen (id) meine Das bildlich). 


30 Die Zukunft. 


MWohlgemerkt: ich fpreche hier immer nur von der Mütterlichfeit mit 
Ausſchluß des Proletariates, bei dem die Nothlage die Kinderfürforge auf 
ein Minimum herabdrüdt. 

Dos Warten der Meinen Kinder ijt auferordentlich angreifend. Eine 
durch lange Hebung erworbene Gebuld gehört dazu, Ruhe, ftarfe Arme und 
fogar eine gewilje Freiheit von allzu heftigen Kiebesaffelten. Siehe: Klein 
Eyolf. Das Heine Kind bedarf der unausgefegten Beauflichtigung. 

Ich Fenne eine wahnjinnig zärtliche Mutter, die als jie von einer felt- 
famen Krankheit hörte, die irgendwo unten im Süden ausgebrodyen fein 
follte, bei der Vorftelung, daß ihre Lieblinge davon ergriffen werben könnten, 
in heiße Thränen ausbrad. Die felbe junge Frau aber verficherte, ſie würde 
lieber Holz haden, als ihre Kinder den ganzen Tag warten. 

In Frankreich und Ftalien wurden und werben noch heute vielfach die 
kleinen Kinder aufs Land gegeben, theils aus hygieniſchen Gründen, theils, 
weil e3 eben Landesbrauch war. Daß die Diutterliebe in diefen Ländern aus- 
geitorben ift, bezweifle ih. Die Tage, an denen die Kinder befucht werden, 
find Fefttage für die Familie. In feinem Lande Europas giebt es zürt- 
lichere Eltern als in Italien; fogar der Vater nimmt dort im volliten Maße 
daran feinen Theil. Und find die Engländerinnen etwa Rabenmütter? In 
England if die Pflege der Heinen und Fleineren Kinder völlig der nurse 
überlaffen. ‘Die nurse ift eine gründlich und trefflich für ihren Beruf ge: 
fhulte Berfon, die ihre ganz beſtimmten, weitgehenden Nechte hat, Rechte, 
die felbft die Mutter nicht anzutaften wagt; und aud) nicht anzutaften braucht. 
Sa: eine englifche Mutter ſchickt ihre Kinder allein mit der nurse in be- 
flimmte Seebäder und darf der Ueberzeugung fein, daß ſie ſelbſt nicht befler 
für die Kinder dort forgen fönnte, al& die nurse «3 thut. Auch bei uns 
in Deutſchland find die Kinderfrauen Vlachthaberinnen; leider find fie nicht 
annähernd jo tüchtig und gefchult wie die englifchen nurses. Ihre Unzu: 
länglichfeit beruht aber doch nicht auf einer Naturnothiwendigfeit. Man wird 
für Inftitute zu forgen haben, aus denen Sinderpflegerinnen hervorgehen, 
die den englifchen ebenbürtig jind. 

Ich habe verkehrt und verfehre noch in einer großen Anzahl gebildeter 
und intelligenter Familien. Einige davon find reich, andere arm. In all 
diejen Familien werden die Kinder zärtlich geliebt, oft über das vernünftige 
Map. hinaus, und in al diefen Familien ift der Verkehr der Mütter mt 
ihren Kindern völlig gleih. Die Mutter ift den Tag über zwei, wenn es 
hoch kommt, drei Stunden mit ihren Kindern zufammen. Die Kinderfrau 
(fpäter das SKinderfräulein) bringt morgens das Kindchen zum Morgengruß 
insg Schlaf: oder Wohnzimmer der Mutter. Die koft und fpielt ein hafhes 
Stündchen mit ihm. Dann zieht ji die Wärterin mit dem Kleinen wieder 





Kinderrechte 31 


in die Kinderſtube zurück. Iſt das Kindchen noch ganz jung, ſo wird 
Muttchen wohl zu ihrem Vergnügen als Zuſchauer zum Baden eingeladen. 
Nach Tiſch zum Deſſert und nachmittags beim Kaffee präſentirt die Kinderfrau 
abermals das Herzblättchen auf kurze Zeit. Und ab und zu im Laufe des 
Tages ſteckt Muttchen wohl noch flüchtig den Kopf ins Kinderzimmer, mit 
dem Heinen Schatz liebäugelnd oder ihn mit vielen, vielen Küſſen erſtickend. 
Und liegt Kindchen abends im Bett, fo ruft die Kinderfrau ſie zum Gute⸗ 
nachtſagen und zum Gebet, falls das Muttchen nicht gerade durch Theater, 
Konzerte oder Gefellfchaften in Anſpruch genommen ift. 

Baby ift Muttchend Zeitvertreib und Spielen und Kofen fein Inhalt. 

Den größten Theil des Tages gehören die Kinder der Kinderfrau 
oder dem Fräulein. Die Mutter ftattet nur Beſuche im Kinderzimmer ab, 
das Kind nur Beſuche im Wohnzimmer. So ift ed. Wer aber meint, 
dag hier Wandel gefchafft werden müſſe, damit der Mutter allein „der 
ungeheure pfychologifche Vortheil der perfönlichen Pflege des Kindes” zufalle, 
Der trete offen für die Abſchaffung der KHinderfrauen ein, ftatt — wie es 
gewöhnlich gefchieht — diefe breiten Machthaberinnen in der Sinderftube 
völlig zu ignoriren. 

Die Wärterin meiner Kinder befam Wuthanfälle, wenn ich einmal 
mein Kind felbit baden, wideln oder im Garten ſpaziren fahren wollte. Das 
fei ihre Sache. Sie empfand mein Eingreifen als eine Ehrverlegung, eine 
tötlihe Kränkung. Und id, — ich fuchte Heimlich, Hinter ihrem Rüden, 
meinem Kindchen beizulommen. Die Defpotin an die Luft zu fegen, wäre 
natürlich vernünftiger geweſen. 

Gewiß hat die Mutter immer und überall die Pflicht zur Oberauflicht 
über die Kinderwärterinnen. Die Wirkfamleit der Oberaufficht aber hängt 
viel weniger von ihrer Liebe und der Zeitdauer ab, die fie diefer Thätigkeit 
widmet, als von ihrer Intelligenz und ihrem Charalter. 

SM die Mutter al3 Pflegerin und Erzieherin eine abfolute Noth- 
wendigfeit für das Kind? ft die Umtrennbarkeit von Mutter und Kind ein 
für alle Ewigkeit geltendes Prinzip? Zwei Gefichtspunfte fommen dabei in 
Frage. Erftens: die Freude und das Glück der Mutter am Kinde; und 
zweitens: da8 Gedeihen und das Glüd des Kindes. 

Die Freude und das Glüd der Mutter! Ja, wiffen denn die Frauen 
nicht jelbft, wo ihr Glüd, wo ihre Freuden blühen? Iſt das Kind ihr 
größtes Glüd, ihre intimfte Freude, fo werden fie e8 ih um feinen Preis 
der Welt entreigen laffen, am Allerwenigften aber werden jie ſich diefes Glückes 
freiwillig entäußern. Und e8 ift ein Lurus der Großherzigfeit, wenn die 
Männer fih fo feurig für das Glück ihrer Schweftern ereifern. 

Und: die Wohlfahrt des Kindes. Wie? ft das Herz der Mutter 


32 Die Zukunft. 


nicht ihr befter Hort? Darauf antworte ih: Das Kind gedeiht da am Velten, 
wo eine erzieherifch begabte Perfönlichkeit von edler Geſinnung, von Intelligenz 
und Herzensgüte über ihm wacht, e8 leitet und führt. Beſitzt die Mutter 
diefe Eigenfchaften: um fo befler. Beſitzt fie fie nicht, dann wird das Kind 
in ihrer Sphäre das beftmögliche Gedeihen nicht finden. 

Und die hellfeherifche Kraft des Meutterinftinftes? Gehört fie doch 
zu den auswendig gelernten ewigen Wahrheiten, die fi) von Geſchlecht zu 
Geſchlecht vererben. Erſt kürzlich las ich in der Schrift eines warmen Temi- 
niften, daß „felbitverftändlich, wie bisher, fo aud in Zukunft die wunderbar 
hellſeheriſche Kraft des Tiebevollen Mutterinftinttes das Beſte thun wird.“ 
So lange man fich von diefer alteingefeflener Wahnvorftellung nicht frei macht, 
wird der milden Engelmacherei der Inſtinktmutter Vorſchub geleiftet. Sch 
glaube nicht an die Wunderwirkung des Mutterinſtinktes; eher ſcheint mir 
die Deutterliebe, die nur in Ausnahmefällen nicht blind ift, ein Hemmniß 
des fruchtbaren Wirkens am Kinde. 

Und das Glück des Kindes? Braucht das Kind nicht Liebe? Gewiß. 
Aber es gilt ihm gleich, von wen die Liebe kommt. Es kann die Mutter fein; fie 
braucht e8 aber nicht zu fein. Die Liebe des Kindes zur Mutter ift ganz ficher fein 
Raturinftinkt. Sein inftinktives Bedürſniß nach Liebe und Anhänglichkeit Fällt den 
Perfonen zu, die ihm Luft bringen, fei e8 durch Nahrung, Spielzeug oder was 
ihm fonft Behagen fchafft. Der Säugling von ſechs Monaten jauchzt der Amme, 
nicht der Mutter entgegen. Bei diefer Kindesliebe ift eben auch die Gewohn⸗ 
heit dauernden Beifammenfeins und da8 Gefühl der Abhängigfeit von der 
pflegenden Perfünlichkeit ein ftart mitwirfendes Element. Darauf ift zum 
Theil die merkwürdige Erſcheinung im Kindesleben zurüdzuführen, die mich 
oft mit Staunen und roll erfüllt hat: daß bie Heinen Kinder ihren Wärter- 
innen, auch wenn jie fchleht und ungerecht von ihnen behandelt werden, 
leidenſchaftlich anhängen. 

Ich betone hier ausdrüdlih, daß nie und nimmer ein Gewaltakt da 
Kind von der Mutter reißen fol. Was das Recht des Kindes erheifcht, 
wird ſich in langſamer, allmählicher Entwidelung zu höheren Kulturftufen 
von felbft ergeben. 

Wenn die Kindehen bei der Aufziehung durch ungefchulte Kinderfrauen 
und unreife Kindermädchen nicht zu ihrem Recht fommen: der Mutter ift 
fein Borwurf zu machen. Sie ift eben, wie fie fein kann. Die Babies 
fommen nicht zu ihrem Recht, weil die Mütter felbit nicht zu ihrem Recht 
gefommen find. Das heigt, nicht zur Entwidelung der Intelligenz, die ihnen 
das Verſtändniß für die Pſyche des Kindes erfchloffen hätte, der Kenntniſſe, 
von denen das leibliche Wohl des Kindes abhängt; wobei natürlich nicht aus— 
gefchloffen ift, daR auch eine Frau, trog aller Intelligenz und allem Willen, 


Generalverſammlungen. 33 


wenn ihr die erzieheriſche Begabung abgeht oder ſchlechte Charaktereigenfchaften 
ihre Geiftesporzüge neutralifiren, eine usgute Mutter fein wird, 

Die Deutterfhaft ſoll mehr fein als eine auf felbftifchen Vorftellungen 
beruhende, undisziplinirte Gefühlsfchwelgerei. 

Bisher iſt in dem PVerhältnig von Mutter und Kind die Mutter mehr 
zu ihrem Recht gelommen als das Kind. Sehr erflärlih. Die Mutter 
redet, das Kind nicht. 

Auch die Umwertdung der Dlutterfchaft fteht auf dem Programm der 
Zeit. Daß fie eine unvergleichliche Vertiefung und Veredelung erfahren wird, 
wenn die Frau erft zu Lebens- und Erkenntniß-Höhen geftiegen ift, die ihr 
bis jegt nicht zugänglid waren, unterliegt für mic) feinem Zweifel. Die 
Mutter von heute und geftern wird nicht mehr die Mutter der Zukunft jein. 

Man vergleicht gern die junge Mutter mit dem Kind im Arm einem 
Diadonnenbild. Und Das wäre wohl die rechte Mutter, die, gleich der 
Mutter Maria, mit ehrfürdtiger Inbrunft auf das Kind in ihrem Schoß 
blickte, in der Erkenntniß, daß das Kind die Zukunft bedeutet. Das heißt: 
einen Fortſchritt der Menfchheit. Zu folhen Müttern verhelfe die große 
moderne Frauenrevolution dem Kinde! 

Die Emanzipation des Weibes ift das Hecht des Kindes. 


Hedwig Dohm. 


Beneralverfammlungen. 


Sp: alter, erfahrener Börjenmann jagte mir einmal: „Lieber Yreund, Sie 
mögen gegen unjere Bank jchreiben, was Sie wollen; wenn die Kurſe 
fteigen, iit doch Alles nicht wahr.” Den Eindrud, da Alles nicht wahr iſt, 
was früher behauptet und nicht widerlegt wurde, hat man bejonders, wenn man 
die Generalverjammlungen der Bauten befucht. Namentlich bei der Frühjahrs— 
parade der Nationalbank für Deutichland konnte man glauben, Alles, was im 
jahr geihehen war, jei längjt aus der Erinnerung entſchwunden. Fünfzehn 
Honäre waren anweſend. Freilich waren noch mehr Leute im Saal; aber 
Eingeweihte erfannte darunter manchen Auch Kournalijten, der jtets, mit 
er Aktie bewaffnet, in die Verfammlungen zu gehen pflegt. Und unter den 
ifzehn „echten“ Aktionären, die wenig mehr als 4 Millionen Mark Stapital 
‚traten, bejtand der größte Theil noch aus den Angeftellten interefjirter Firmen. 
ben anderen jahen wir einen Vertreter der Firma Wiener, Levy & Co., deren 
"tinhaber im Auffitrathe der Banf ſitzt. Da wird uns inmmer jchr feier- 


3 





34 Die Zukunft. 


lich verfündet, daß bei der Dechargirung Auffichtrath und Direktion fich der Ab⸗ 
ftimmung enthalten, wie e3 das Gefeß verlangt. Gewiß: Herr Levy ftimmt 
nicht mit; aber der Profurift der Yirma Levy & Co. darf ftimmen. Unſere 
modernen Aftionärverfammlungen trifft mit bitterer Wahrheit das Wort jencs 
Leiters einer franzöſiſchen Generalverfammlung, der, als ein Aktionär fich eine 
Cigarre anzünden wollte, ihm zurief: Ne fumez pas, monsieur! Vous ne voyez 
donc pas tous ces hommes de paille? Ferner faß unter den „echten“ Aktio⸗ 
nären ein Profurift der Firma Hardy & Co., deren Inhaber, Herr Andreae, 
neu für die Wahl zum Auffichtrath vorgejchlagen war. Das Tinterefianteite an 
biefer Berfammlung war das Auftreten bes Herrn Generalkonſuls Landau, der 
feierlich erklärte, zwilchen ihm und der Direktion babe e8 niemals irgend welche 
Differenzen gegeben. Er habe feine Stellung als Aufſichtrath der National» 
bank für Deutichland aufgegeben, als er merkte, daB ihm die Zeit zur Erledi: 
gung all jeiner AmtSpflichten fehle; und niemals babe er gegen ben Willen ber 
Direktion ein Gefhäft bei der Nationalbank durchgefeht. Das wurde vom Vor- 
ftandstifch her beftätigt und außerdem erklärt, niemals hätten ernftere Dieinung- 
verjchiedenheiten, als fie unter Kollegen unvermeidlich feien, zwiſchen den ver- 
fchiedenen Mitgliedern der Direktion geherrſcht. Alles, was über folde Diffe- 
renzen verbreitet worden jei, gehöre ins Reich des Mythos. Bekanntlich waren aus 
den Bureaux der Nationalbank Meldungen durchgeſickert, die ſich weniger friedlich 
ausnahmen. Die Vteinungverfchiedenheiten zwiſchen ben lieben Kollegen Beter 
und Stern follten nad jenen „unwahren Erzählungen“ mandmal fo ernft ge- 
wefen fein, daß aus den Tintenfäjlern der ſchwarze Saft erjchredt emporſpritzte. 
Herr Direktor Peter ging denn auch, wie e8 hieß, „aus Geſundheitrückſichten“. 
Daß die Demiljion wirklich Feinerlei andere Gründe hatte, wird, nad) den bün- 
digen Erklärungen vom Borjtandstiih aus, jeßt Niemand mehr zu bezweifeln 
wagen. Aber gegen andere Erklärungen regen ſich doc Zweifel. Daß Herr 
Landau gegen den Willen der Direktion feine Gejchäfte gemacht hat, ift Klar. 
Nur hatte er eben zwei Bertreter in der Direktion und aud die Mehrheit des 
Auflichtrathes zeigte ich ihm fo gefügig, dab es wahrjcheinlich Teiner bejonberen 
Energie bedurfte, um die Geſchäfte, die er machen wollte, durdzufegen. Iſt 
etwa die Nativnalbank nicht von ihm mit der Kleinbahngeſellſchaft hereingelegt 
worden? Und ift das Kleinbahngeſchäft nicht eins der ſkandalöſeſten Gefchäfte, 
die in der vorläufig legten Gründungperiode überhaupt gemacht worden find? 
Auf dieſe heikle Frage ging Herr Landau nicht näher ein. Es war aud nicht 
nöthig; denn was gejchehen ijt, ift gejchehen. Und cs joll Hier immerhin noch als 
ein achtbares Zeichen perjönlihen Muthes gerühmt werden, daß er überhaupt 
in die Generalverſammlung kam, um den Aktionären Rede und Antwort zu 
ſtehen. Doch hätte er bejjer gethan, diefen guten Eindruc nicht dadurch zu ven 

wiichen, daß er ſich plößlich Ipreizte und Werth auf die zeititellung legte, e 

habe in den Zeiten der Hochkonjunktur nicht in 37, Jondern nur in 31 Verwaltung 

räthen gejejlen. Er hätte auch, wenn e3 ihm irgend möglich war, verhindern joller 

daß einer der Aktionäre ein Loblied auf ihn anſtimmte und ihn beinahe flehentlic 

bat, doch wieder in den Aufiichtratd zurüczufchren. Ich glaube, der Herr Ge 

neralfonful thäte gut, wenigitens erjt etwas Gras über die Dinge, die gefcheher 

find, wachſen zu laſſen; und jeine intimften Freunde konnten ihm keinen befferer 











Generalberſammlungen. 35 


Rath geben als den: vorläufig lieber hinter den Couliſſen Banken zu fuſioniren, 
als im Licht der Rampe ſchon wieder in Hauptrollen aufzutreten. 

Die Nationalbank⸗Verſammlung war inſofern eine Ausnahme von der 
Regel, als ſich ein paar neugierige Aktionäre fanden, die nach Dieſem und Jenem 
fragten und ſich ſogar ſehr ſchwer zufrieden gaben, obwohl Herr Direktor Stern 
auf jede Anfrage Etwas — wenn auch nicht gerade viel — zu erwidern wußte. 
Drei Punkte intereſſirten beſonders. Natürlich wurden die Beamtenentlaſſungen 
berührt. Herr Stern ging mit beneidenswerther Nonchalance darüber hinweg; 
nur jungen Leuten, die man nicht brauchen konnte, ſei gekündigt worden. Die 
Sache ſei in der Oeffentlichkeit aufgebauſcht worden. Mehrere Beamte, die zum 
erſten April keine Stellung bekommen konnten, habe man behalten. Ich habe 
bier früher über die Beamtenentlaſſungen der Nationalbank genaue, mit Ziffern 
belegte Angaben gemacht, bie nicht widerlegt worden find. Danach hatte auch 
die oft gefcholtene Deffentlichfeit alle Beranlaffung, ſich über die Entlafjungen 
aufzuregen. Sogar Leuten, die feit elf Jahren in ber Bank arbeiteten, war 
gefündigt worden. Herr Stern fagte ben Aktionären ferner, man werfe ihm 
vor, Beamte entlaffen zu haben, und finde wiederum dod das Unkoſtenkonto 
noch immer zu hoch. a, vergißt denn Herr Stern ganz, daß in dem Unfoften- 
konto für das Jahr 1900 210000 Mark Direktorentantieme fteden? Solde 
Poſten dürften wohl von den Aktionären bemängelt werden, nicht aber die Beamten- . 
gehälter, die nach meiner damaligen Aufſtellung recht Färglih waren. Dann 
wurde das Banfgebäude monirt. Ein Aktionär meinte, ihm fei erzählt worden, 
einige Räume jeien jo luxurids ausgeftattet, daß fein Beamter fie betreten dürfe. 
Herr Stern gab zu, das Gebäude fei in ber Zeit der Hochkonjunktur wohl etwas 
Iuzurtöjer angelegt worden, als e3 in fchlechteren Zeiten geplant worden wäre; 
$roßdem ſei e8 noch billig und man hätte e8 jchon mit Nutzen verlaufen können. 
Endlid wurde darauf Hingewiefen, daß noch immer fein dritter Direktor neben 
Herrn Stern und Herrn Magnus fungire. Dan konnte den Aktionären, ange» 
fiht3 der Art, wie Herr Stern die an ihn gerichteten Fragen beantwortete, nicht 
verargen, daß fie Sehnfucht nad) einem dritten Direktor empfanden. Auflichtrath 
und Direktion verjicherten, man ſuche ſchon lange nach einem tüchtigen Mann, 
es jei aber ſehr fchwer, einen zu finden. Mit Recht hob ein Aktionär hervor, 
daß man genug tüchtige Leute finden könne, wenn man endlich der Unjitte ent» 
fage, immer nach großen Namen Umfchau zu Halten und bie untüchtigiten Direktoren 
nur wegen ihrer ſchön Elingenden Titel anzujtellen. 

Die Nationalbank kann troß Alledem den Ruhm für fih in Anſpruch 
nehmen, nody immer die „natürlichite” Generalverſammlung gehabt zu haben, 
Wenigſtens waren Opponenten da, die allerdings, wenn fie etiva den Ehrgeiz gehabt 
hätten, Anträge zu ftellen, nichts auszurichten vermocht hätten. Doch madt die 
Anwejenheit ſolcher Aftionäre immerhin nach außen einen guten Eindrud, 

Ganz anders ging es bei der Dresdener Bank zu. Trotz Allem, was 
bei diejem Inſtitut vorgekommen ift und was doch mindeltens zu Fritiichen An— 
fragen reichlich Anlaß gegeben hätte, fprad Niemand mit der Direktion ein 
ernſtes Wörtchen. Bertreten war eine jo auffallend kleine Aktienſumme, daß 
die übliche Sntereffelofigfeit der Aktionäre zur Erklärung nicht ausreiht. Man 
tuſchelte, die Mehrzahl der Aktien ruhe nicht allzu fern von gewifjen Aufficht- 


3° 


86 Die Zuhmft. 


räthen al3 ſüße Interventionlaft. Yehlten in Dresden die Opponenten, jo gab 
es dafür begeifterte Lobredner: ein Herr aus Berlin, einer aus Dresden und 
einer aus Münden. Den Dresdener und ben Münchener kenne ich nicht, dafür 
defto beiler den Berliner. Er ift Direktor eined großen induftriellen Unter- 
nehmens, bat mit gewiflen reifen unferer Finanzwelt „Fühlung“ und Hört ſich 
jehr gern reden. Mit der Dresdener Bank jelbjt will er feine „Fühlung“ haben. 
Diefe Ehrenretter fanden, al3 artige Aktionäre, nicht einmal nöthig, fi zu er- 
tundigen, wie es denn eigentlich der Hannoverſchen Straßenbahn und der Firma 
Orenſtein & Koppel gehe und ob fi die Firmen, die Dresdener Bank- Altien 
gefauft oder in Report genommen haben, auch recht wohl Dabei befinden. Solche 
fritillofen Lobhudeleien fchien die Direktion der Dresdener Bank als einen Er: 
folg anzufehen. Offenbar war ihr das „Forum“ einer fo infzenirten General- 
verfammlung zum Beweis ihrer Tüchtigfeit recht willluommen; wie Herr But: 
mann ja auch jüngft das Ehrengericht der berliner Börfe für das „geeignete 
Forum“ hielt, um ſich gegen angeblich unwahre Beichuldigungen zu wehren. 

Einen Erfolg Hatte allerdings die Dresdener Bank: der Geheime Finanz⸗ 
rath Sende, der am eriten Mat von Krupp fcheidet, und der frühere Minifterial- 
direftor Micke, jegt Direktor der Großen Berliner Straßenbahn, find in ihren 
Aufjichtrath getreten. Ich Habe der Dresdener Bank nicht zugetraut, da fie in 
‚dieſer Zeit Solche Helfer zu werben vermöge. Der Eintritt Jenckes fol baupt- 
ſächlich eine Folge der intimen perjönlichen Freundfchaft mit dem Geheimen Cber- 
finanzratd Müller, dem Direktor der Dresdener Bank, fein. 

Zur jelben Zeit wählte die Deutfche Bank in ihren Auffichtrath zwei 
dresdener Herren: den mit Recht viel angegriffenen Reviſor der Dresdener Kre⸗ 
ditanftalt, Herrn Kommerzienrath Theodor Menz, und ben Direktor der Sächſiſchen 
Bank, Herrn Kommerzienrath Mackowsky. Das ift in feiner Art auch ein Erfolg 
und nicht gerade ein Beweis jehr freundlicher Gefinnung gegen die Dresdener Ban, 
die ja eigentlich den erjten Anſpruch darauf Haben follte, dresvener Bank⸗ und 
Induſtriekreiſe an fich zu feſſeln. Damit ſcheints aber einjtweilen, troß allen Be- 
mübungen, doch nichtS zu fein. 

Wie weit die Generalverſammlungmache ſchon gedichen ift, dafür bot ein 
charakteriftiiches Beiipiel die Generalverfammlung der Deutjchen Genoffenfchaft- 
banf, wo die Aufgabe, das Lob der Direktion zu fingen, Herrn Kommerzienrath 
Hubert Claus zugefallen war. Herr Claus iſt Direktor des Eiſenhüttenwerks 
Ihale, einer Gründung der Genoſſenſchaftbank. Welchen Zweck hatte hier die 
Made? Der Direktion der fih mühlam ernährenden Genoſſenſchaftbank will 
und kann Niemand etwas Ernſtliches vorwerfen. Aber Direktionen, die noch 
ohne Strohmänner auskommen, jcheinen ſich jeßt Schon nicht mehr für voll- 
werthig zu halten. Sie handeln ungefähr fo wie kleine Knaben, bie glauben, 
um erwachſen zu jcheinen, müßten fie Gigaretten rauhen. Die Direktionen be 
Eleinen, foliden Banfen follten jich aber diefe Mätzchen jchnell wieder abgewöhne 
Anjtändige Frauen brauchen nicht den Chrgeiz zu begen, ihrer auffallendt 
Kleidung wegen auf der Straße für Cocotten gehalten zu werden. 


Blutus. 
LG | 





Schweningers Jahresbericht. 37 


Schweningers Jahresbericht. 


Offener Brief an Herrn Profeffor Dr. 3. Schwalbe, 
Redakteur der Deutſchen Mebizinifchen Wochenſchrift. 


3— beſprachen in der Nummer 12 der Deutſchen Mediziniſchen Wochenſchrift 
vom zwanzigften März 1902 den vom Geheimrath Schweninger verdffent- 
lichten Jahresbericht des Kreisfranfenhaufes zu Groß⸗Lichterfelde. Wenn heute: 
num ich als Erfter von Schweninger® Schülern es unternehme, auf Öffentliche 
Herausforderungen Öffentlich zu erwidern, fo tft es wahrlich weber Ihr Titel nod 
die Stellung Ihres Blattes, die mich bazu reizen. Es gilt vielmehr, einen 
allgemein beliebten Modus der Parteikritik zu beleuchten, ber darin befteht, 
kühnlich Behauptungen aufzuftellen, zu denen der Muth aus belannten Verhältniſſen 
fließt. Ein Feitifirender Redakteur weiß mit einer gewiſſen prozentualen Sicher- 
heit, daB feine Lejer in den jeltenjten Fällen aus der buchhändlerifchen Fuß⸗ 
note unter dem kritiſchen Aufſatz Konfequenzen ziehen, um den Gegenjtand der 
Beipredung aus eigener Lecture Fennen zu lernen., Zum größeren Theil be- 
ſcheidet der Leſer ich mit dem Arbitrtum feines Leibredakteurs. Selbſt jene Minder⸗ 
heit, die es wirklich noch für nöthig ober intereſſant hält, das Beſprochene im 
Original kennen zu lernen, lieft dann meift mit ben Augen des Kritikers. So 
ift einer beſchrünkten Anzahl von Köpfen — ich fage nit: einer Anzahl von 
beichränften Köpfen — carte blanche ertheilt zum Anfertigen von Urtheils« 
modellen, die bejtimmt find, öffentlich aufgeftellt und zum Privatgebraud) des 
Einzelnen Topirt zu werden. Nun follte man meinen, dies Vertrauensvotum 
veranlafje die damit Geehrten, bei Ausübung ihres Amtes bejonders vorjichtig 
und gewiljenbaft zu verfahren. Leider ift3 nicht immer jo. Gerade diefe Frei— 
beit von faft jeder Kontrole hat ein Gefühl der Selbftherrlichfeit erzeugt. Wie 
es fcheint, auch bei Ihnen, Herr Profeflor. 

Sie fagen zwar, Sie wüßten fich völlig frei von irgend welchen perjön- 
lien Motiven, ſowohl von ber Animofität, die viele Aerzte gegenüber Herrn 
Schweninger befigen jollen, als auch von „dem pridelnden Reiz, eine Perſön⸗ 
lichleit, die — berechtigter oder unberechtigter MWeife — im öffentlichen Yeben 
eine Rolle jpielt, unter die Zupe zu nehmen und fie in ihre morphologischen 
Beftandtheile aufzulöſen“. Die Höflichkeit gebietet, dieſe emphatiſche Verſicherung 
Ihnen aufs Wort zu glauben. Die Folgerungen, die ſich aus Ihrer Kritik ergeben, 
dürfen aljo nur gezogen werden im Hinblid auf Ihre Fähigkeiten und Ihre Eignung, 
@elejenes zu verftehen und zu beurtheilen. Ich erlaube mir, aus einigen nıir be= 
merkenswerth jcheinenden Aeußerungen Ihres Auffaßes dieje Folgerungen zu ziehen. 

Sie ſprechen mit ftaunenswerther Sicherheit von Dingen, über die Sie 
) ber Natur der Sadjlage nichts willen können. Sie meinen, Schweningers 
ogramm „wurde durch bie Berufung eines jelbftändig urtheilenden und danach 
h handelnden Chirurgen erfchüttert.” Was willen Sie, Herr Profeſſor, von 
Modalitäten, unter denen der Chirurg angeftelt — Sie jagen: „berufen“ — 
de? Was willen Sie von diejes Chirurgen felbjtändiger Urtheilstraft und 
idlungfähigkeit und was von Eridütterungen, die dus Konflikten diefer Selb» 
digkeit mit Schweningers „Programm“ fich ergeben hätten? Was willen 
ferner. von Echweningers Haltung im Prozeß gegen die Kurpfuſcherin Minna 


38 Die Zukunft. 


Kube? Nichts! Aus etlichen Berichterftatterzeilen mögen Sie fi zur Noth ein 
Bild von dem äußeren Gange ber mit Ausſchluß der Deffentlichfeit geführten 
Verhandlung machen. Ein Intereſſentenblättchen hat aus der Feder eines Arztes, 
der fih für objektiv genug hält, in einer Klageſache Partei, Zeuge und Gut- 
achter zugleich fein zu Lönmen, ein Referat gebracht, von deſſen Objektivität und 
Genauigkeit die wenigen Augen- und Chrenzeugen nicht ſonderlich viel Rühm- 
liches zu jagen haben. Dazu wieber ein Bischen Kollegen- und Stanbesvereins- 
klatſch. Das ift Alles. Wenn Ihnen ſo dürftige Anhaltspunkte genügende 
Grundlagen zu einer Öffentlichen Kritik bieten, jo dürfen Sie c8 beffer Unter⸗ 
richteten nicht verargen, wenn fie Ihnen Leichtfertigleit nachſagen. 

Da aber, wo Sie „des Berichtes zweiten und Haupttheil* jehr rubjmentär 
und mit |pärlichem Erfaffen citiren, giebt e3 der Entgleijungen noch mehr. 

Ad I: Die Statiftit. Ich Habe nichts dagegen einzuwenden, wenn Sie 
erflären, daß alle verjtändigen Leute übereinjtimmend mit Schweningers cin- 
leitenden Sägen „je und je” Statiftif getrieben haben. Gegen dte verjtändigen 
Leute hat Schweninger nie Etwas gejagt. Die, denen feine Zurückweiſung gilt, 
find jene unverftändigen Leute, Herr Profeflor, bie fi) über das Entftehen und 
über die Verfchiehungmöglichkeiten von SKranfenhausftatiftilen im Unklaren zu 
befinden fcheinen und Schweninger implicite des Mordes an unſchuldigen Find- 
lein bezichtigen. Sie nennen eine „jogenannte Binjenwahrheit”, was Schwe⸗ 
ninger von der Werthlojigkeit einer ‚‚tendenzidfen, unvorfichtigen, einfeitigen. 
oder optimiftifchen Statijtit ausführt‘. Nun ift zwar in dem ganzen Bericht 
nirgends der Anſpruch darauf erhoben, daß Schweninger ſich für den Erfinder 
ober Entdeder biejer Wahrheit halte. Sie meinen aber, wenn bie zwiſchen den 
von Ihnen etwas abrupt angeführten Anfangs- und Schlußzeilen liegenden 
Bemerkungen zutreffend wären, fo wäre der „Statiſtik als Wiſſenſchaft und zu— 
mal der Medizinalitatiftit überhaupt der Boden völlig entzogen‘. Ste hätten zu 
beweijen gehabt, daß Schweninger3 Bemerkungen unzutreffend jeien. Das aber 
baben Sie nicht nöthig, da für Sie „eine Statiftif die Wiſſenſchaft von dei 
großen Zahlen‘ bedeutet. Ueber dieſe Spezialauffaflung ijt nichts zu jagen. 

Ad U: Bemerkungen über Diphtherie und deren Differentialdiagnoje. 
Unter welchen Gefihtspunften Sie diefen Abjag ‚wiederholt‘ durchgeleſen und 
für die Möglichkeit Ihres Verſtändniſſes fich zurechtgelegt haben, iſt mir völlig 
unklar. Nach einem Eleinen, ungemein geiltvollen Seitenhieb auf Schweningers 
Gelbfteinfhägung als Diagnoftiler extrahiren Sie aus fünf bedrudten Quart⸗ 
feiten drei Sätzchen, die Ihnen Anhaltspunkte für irgend einen Gedantengang 
abgeben, deſſen Sclußfolgerung darin zu beftehen fcheint, daß Schweninger be=. 
ftimmte oder, wie Sie jagen „abjolut fihere Merkmale“ für die Erkennung 
der Diphtherie zu beißen glaubt, diefe feine Stenntniß aber der Welt voren 
halte. Wie müſſen Sie gelejen haben, Herr Brofejjor? Auf Seite 13 di 
Berichtes ſteht klar und deutlih, daß Schweninger von je her nur den breton 
neauſchen Elinifchen Diphtberiebegriff für annehmbar hielt, zu dem heute bereit 
eine ‘Zahl jehr bemerfenswerther Männer wieder zurückkehrt, Allen voran Bel 
ring felbit. Das fteht da. Und Sie brauchten höchſtens in einem Lexikon be 
Abſchnitt Über Bretonneaus Auffafjungen nadjzulefen, wenn Sie nicht vorzoger 
Schweningers eigene, im Bericht erwähnte Arbeit zu jtudiren. Dann wäre 








Schweningers Jahresbericht. 39 


Ihnen aber auch nicht gleich darauf das Unglück paſſirt — ich ſetze immer 
Ihre vollſte bona fides voraus —, zu jagen: „Für Schweninger gilt im All⸗ 
gemeinen eine Radıenaffeftion als Diphtherie, wenn ihr Befiger ftirbt”. Hätten 
Sie nämlich aufmerkſam und ridtig gelefen, jo hätten Sie auf eben jener 
Seite 13 den Sat gefunden: „Es gab eine Beit, wo die pathologiichen Ana- 
tomen fi gern der Anficht zimeigten, nur jene Fälle als einwandfreie Diph⸗ 
therie gelten zu lajfen, die mit dem Tode des Individuums enden‘; und weiter: 
„Wenn wir au nicht diefe Erfennungzeichen als die alleinigen gelten lafjen 
mollen” u. ſ. w. In der Mitte diejes zweiten Satzes beginnen Sie, wörtlich 
zu citiren. Schade, daß Sie nicht etwas früher anfingen. 

Ad ll: Einiges über Krebskranke und deren (operative) Behandlung. 
Sie citiren wieder in einer zur Aufklärung fo wenig geeigneten Weife, daß 
Denen, die fi belehren wollen, nicht Anderes übrig bleiben wird, als den 
Bericht ſelbſt zu leſen. Soll ich noch ausdrüdlich verfichern, daB „ Schweninger, ber 
Feind aller Statijtilen”, nicht ‚‚die abjolute Zahl der Krebsfälle‘ mit der „res 
lativen Krebsmortalität”’ verwechſelt, da er einfach auf die in letzter Zeit ganz 
allgemein gewonnene Erfenntniß von der anfteigenden Zahl der Krebserkran⸗ 
fungen und auf die zahlenmäßige, nicht ftatiltiich berechnete Zunahme der an 
Krebs Geftorbenen hinweiſt? (S. 20). Sch führe feine Literaturbelege an, da 
ih mir ja nicht herausnchme, Sie, Herr Profefjor, belehren zu wollen; ich will 
Sie nur da auf den ridtigen Weg leiten, wo Sie in handgreiflichem Wider⸗ 
ſpruch mit den Thatſachen ſtehen. 

Sie ſagen: „Wenn man alſo unſerem großen Zweifler einen Mann vor⸗ 
führt, dem vor fünf Jahren ein Magenkarzinom durch Pylorusreſektion entfernt 
iſt und der ſich heute vollkommen geſund fühlt, deſſen Karzinom von Leyden 
kliniſch diagnoſtizirt, von Bergmann operirt und von Virchow anatomiſch unter⸗ 
ſucht iſt, ſo wird Schweninger bedauernd die Achſeln zucken und ſagen: Weder 
die anatomiſche noch die hiſtologiſche Unterſuchung genügt mir für die Krebs— 
diagnofe;*) und da der Kranke bisher fein lokales oder allgemeines Rezidiv 
zeigt, auch einftweilen noch nicht gejtorben ift, jo kann er von mir nicht mit 
Sicherheit als Krebfiger angejehen werden.” Sie find höflichſt eingeladen, 
Herr Profeflor, gütigft den bewußten Mann Schweninger vorzuführen und Die 
aus dem exzidirten Tumor von Virchow angefertigten Präparate vorzulegen. 
Schweninger wird ſich jehr freuen, wieder einmal eine jener interejlanten Raris 
täten, von denen bie und da berichtet wird, gejehen zu haben. Er wird 
nicht anftehen, Ihnen zu erflären, daß er, wie gewiß auch die Herren von Leyden 
und von Bergmann, vor einem Dilemma geftanden hätte, falls er vor fünf 
Jahren zu dem Kranken gerufen ‚worden wäre. „Denn“ — würde er ihnen 
jagen — „zu den Pylorusreſektionen bei Magenfarzinom habe id) wegen der 
ungeheuren Sterblichkeit in ?yolge der bloßen operation und megen der ber- 
ſchwindend kleinen Zahl der günjtigen Erfolge nicht viel Vertrauen. Es mag 
ja jein, daß bei dem Manne damals die allgemein Eonftitutionellen und lofalen 

*) Das fagt er. gar nicht, denn wenige Zeilen vorher citiren Sie jelbft; 
Weder die anatomijchen noch die hijtologiichen Momente „können im Stande 
fein, uns eine Krebsdiagnoſe unter allen Umſtänden einwandfrei zu erinöglichen”. 








40 Die Zukunft. 


Berbältniffe am Tumor jo lagen, daß ich ſchließlich doch zur Vornahme einer 
Operation durch Herrn von Bergmann geraten hätte; denn es ift ein Irrthum, 
Herr Kollege, wenn bie Leute fagen, ich ließe prinzipiell feinen Krebfigen operiren. 
Lejen Sie, bitte, darüber in meinem Bericht auf Seite 19 nad. Uber, wie 
gejagt, es tjt eine verdammt ſchwere Entſchließung!“ 

Und nun zu IV: Die fogenannten fpezifiihen Mittel. Sie jagen ba 
in einer Anmerkung zu einem Citat über Schweningerd Stellungnahme gegen 
bie forcirte Temperaturherabfegung beim Fieber, „er ftreite bier, wie an vielen 
Stellen, wider Meinungen der Schulmedizin, die diefe ſelbſt bereitS aus eigener 
Kraft vor Jahr und Tag überwunden hat." Dazu ijt der Schulmedizin nur 
zu gratuliren. Auf den Standpunkte aber, zu dem bier die Schulmedizin fich 
aus eigener Kraft vor Jahr und Tag durchgerungen hat, jtand Schweninger 
Thon vor etiwa zwanzig Jahren und von dieſem Standpunkt ift er nicht abge» 
wichen, troß allen Untipyreticis und allen Schwankungen in der Auffaffung 
vom Weſen des Fiebers. Sobald er aber vor Jahr und Tag, als die Schul» 
medizin noch nichts in dieler Frage überwunden hatte, irgendwo feiner dis— 
jentirenden Meinung Augdrud dab, — wie, meinen Sie wohl, Herr Profeffor, 
find die Schwalbes von dazumal mit ihm umgeſprungen? Ich will es Ihnen 
verrathen: genau jo wie Sie in den Tragen, bei denen ſich die Schulmedizin 
erit nad) Jahr und Tag zu Schweningerd Standpunkt durchringen wird. 

Sie jagen, nah Schweninger „könne übrigens Ehinin ſchon aus logifchen 
Gründen nicht jpezififch wirken.“ Auf Seite 26 des Berichtes fteht zu lefen, 
daß nah Zuſammenfaſſen des eben Geſagten Alles uns beftimmen muß, „aud) 
für das Chinin die Srage nad der ihm zugeichriebenen ſpezifiſchen Wirkung 
mit Nein zu beantworten. Ucbrigens veranlagt uns dazn auch ſchon der Ein- 
Ipruch der Logik.“ Der Einjpruch der Logik veranlaßt uns, „Nein zu ſagen“, 
beeinflußt aber die Wirkung des Chinins natürlih nicht im Geringften. Wie 
fonnten Sie da noch eigens hinfchreiben: „So wörtlid zu lefen in dem ärzt- 
lihen Berichte Schweningers?“ Sie haben ja, abgejehen von dem verzeihlichen 
Mißverſtändniß, einen ganzen wichtigen Sab, der den Einſpruch der’ vogik er⸗ 
läutert, aus ihrem Citat weggelaſſen. 

Und jetzt das ſchreckliche Queckſilber! Sie werfen Schweninger mit den 
Antimerkurialiſten zuſammen und laſſen ihn ex facultate in Gemeinſchaft mit 
dem befaunten Dr. Hermann abthuı. Auf Seite 32 des Berichtes fteht im 
dritten Abſatz von oben: ‚Wir find feine Antimerkurialiften im landläufigen 

Sinne des unglüdjeligen Wortes‘; und weiter: „Dem QDuedjilber, was bes 

Queckſilbers iſt“; und weiter, immer auf der felben Seite: ‚Wir erkennen bes 
Duediilber3 ausgeſprochene — wenn and) unverftandene — Wirkung als inten- 
jiven Reſorbens für alle entziindlichen, von ihm erreichbaren Gewebsveränderun— 
gen an”; umb weiter: „Derart belehrt, ſteht es unſerem Ermeſſen frei, in ung 
dringend oder ſonſtwie geeignet erjcheinenden Fällen bis au einer ung richtig 
bünfenden Grenze an das Queckſilber zu refurriren. Können Cie noch mehr 
verlangen, Bert Profeffor? Daß Schweninger glaubt, mit jeiner Meinung 
iiber die Gefahren und die Ueberfhäßung der Queckſilberwirkung nicht hinter 
dem Berge halten zu dürfen, dieſes Recht geſtehen Sie ihm gütigſt ſelbſt zu, 
wenn ſie im weiteren Verlaufe Ihres Aufſatzes ſagen: „Wir“ — Das ſind doch 








Schweningers Jahresbericht. 41 


Sie — „ſind gewiß die Letzten, die die Freiheit, ja, die Vorurtheilloſigkeit der 
Wiſſenſchaft antaſten möchten.“ Dann aber glauben Sie, Schweningers perſön⸗ 
liche Anſchauung einfach von der Tafel alles Lebenden wegzuwiſchen, wenn Sie 
ihm duch Rudolf Virchow ſelbſt antworten laſſen. Erſtens brauchte Schwe— 
ninger die Worte Virchows gar nicht auf ſich zu beziehen, denn ſie galten, als 
ſie vor ſechsunddreißig Jahren geſprochen wurden, den Antimerkurialiſten, zu 
denen Schweninger nicht gehört. Zweitens aber glaube ich, es thut der ſchuldi— 
gen Ehrfurcht vor dem Namen Virchow keinen Abbruch, wenn man in aller 
angemeſſenen Ehrerbietung die Frage aufwirft, wie viele Hundert Syphilitiker 
Virchow mit und wie viele ohne Queckſilber behandelt habe, um ſich ein ab- 
ſchließendes Urtheil in der Lues-HG-?yrage erlauben zu fönnen. Ind Das 
war im Jahr 1859! Rudolf Virchow war damals achtunddreißig „Jahre alt 
und Hatte fich ärztlich wohl nicht allzu viel praftifch bethätigt. Schweninger 
jteht heute feit bald dreißig Jahren in einer Praxis, deren großen Umfang 
wohl ſelbſt Sie nicht bejtreiten werden. 

Wie wenig Geift nöthig ift, um über ernfthafte Dinge ſich Luftig zu 
machen, beweifen Sie, Herr Brofeffor, in reichlichſten Maße. Ich entzog mid) 
daher der allzu leichten Aufgabe, Sie zu ironifiren, und babe das Schwerere 
verſucht: Sie ernit zu nehmen. Das war wirkflih manchmal ungemein jchwer. 
Ihrer Meinung nad dürfte die Unterrichtsverwaltung nicht dulden, daß in der 
akademiſchen Jugend „Vorſtelluugen und Meinungen gezüchtet werden, die bie 
willenichaftliche Ausbildung und das daraus entipringende praftifche Handeln 
der Schüler verwirren und ſchwer beeinträchtigen können.” Unter den berliner 
jungen Medizinern jollte doch ein forfcher Kerl zu finden jein, der die Kommi— 
litonen zu einer VBerfammlung einruft, um gegen die Auffafjung zu proteftiren, 
bie Sie von den geijtigen Gaben der Studentenschaft anden Tag legen. In fünfund: 
zwanzig Hörfälen wird tagaus, tagein den jungen Leuten die jelbe „Wahrheit“ 
gepredigt. Und nun erfahren ein paar diejer jungen Leute zivei» oder dreimal 
wöchentlich in einem fehsundzwanzigiten Hörjaal, daß es neben der „fakulta— 
tiven“ vielleicht auch noch eine andere Wahrheit geben könne. Denn da wird 
von Schwenniger nicht gelehrt: „Das ift jo!” „Das muß jo gemacht werden!“ 
Nein: da heißt es immer: „Das kann aud jo fein” und „Das kann auch 
jo gemacht werden! Aber, meine Herren, denfen Sie reiflid nad) und werden 
Sie aus eigener Ueberlegung ſich ſchlüſſig, ob ich Ihnen da nicht vielleicht eine 
autoritative Meinung aufdrängen will!" Sind die Studenten denn Bapageien, 
denen man den objeften Lehrſtoff jo lange vorleiert, biß fie ihn am Examens- 
tage tadellos herplappern können? Bon ſolchen Studenten hätte wohl weder die 
Wiſſenſchaft noch die Praxis Etivas zu hoffen. 

Daß für Sie, Herr Profeſſor, Berichte von Patienten — die miljen- 
"Haftlichen Iteferate einer Himmermannsfrau, eines Särtners, eines Taglöhners, 
ines Tiſchlers — ergänzende Beweiſe bilden für „ihre aus der Lecture des 
Zerichtes gewonnene Erkenntniß Deſſen, „was im lichterfelder Krankenhaus in 
ex Strankenbehandlung geleitet wird“, wundert mid nicht mehr. Am Ende 
ber wäre es duch beſſer geweſen, fi auf dieje Patientenausfünfte nicht zu ver- 
ajfen, jondern nach Yichterfelde zu fahren und ſich dort aus eigener Anjchauung 
on den ſchrecklichen Zuftänden zu überzeugen. Dr. Emil Stleim. 


$ 


42 Die Zukunft. 


Selbftanzeigen. 


Laotoon. Kunfttheoretifche Efjays. Hermann Seemann Nahfolger, Leipzig. 


Meine Schrift zerfällt in drei Theile: Laokoon oder Gedanken zu einer 
Lehre vom Kunſtſchaffen; Laokoon und die klaſſiſche Kunft; Laokoon und die 


moderne Kunſt. Während die formale Aeſthetik die Kunftgefeße begrifflich zu 


entwideln juchte, wird hier von den Gejeßen der Anſchauung ausgegangen. Den 
da die Kunſt angelchaut wird, muß fie den Gefeßen unjerer Anſchauung unter: 
worfen fein und die Grenzen unferer Anfhauung mäffen zugleich auch Kunft: 
grenzen fein. Deshalb werden die Anſchauungformen und die Gejeße der An- 
Ihauung entwidelt und von bier aus die Gejege für die fünftleriiche Darftellung 
gefunden. Unfere Anfhauung vollzieht fi) vermöge der Sinne. Für die künſt— 
leriſche Darftellung fommen in Betracht der Geftchtsfinn und der Gehörsfinn. Man 
kann alſo unterjcheiden zwiſchen den Künften des Gefichtsfinnes (bildende Kunſt) 
und denen bes Gchörsfinnes (Dichtkunſt und Mufil). Die Grenzen des Gefichts- 
finnes gelten für die Grenzen der bildenden Künſte, die Grenzen des Gehörs- 


finnes für die der Dichtkunſt und Mufil. In den Zeiten de3 Berfalles der Kunft 


wurden dieje Örenzen übergangen und Das, was in das Gebiet der einen Runft 
gehört, wurde in das ber anderen bezogen. Ferner wird gemäß unferen An: 
ſchauungformen unterfchieden zwiſchen Naumfünften und Zeitlünjten. Die Raum: 
fünfte haben e8 mit Ruhe und Zuftand zu thun, die Zeitfünfte mit Bewegung 
und Veränderung. Das geeignetefte Beiſpiel zur Crläuterung diefer Geſetze 
bildet die Gruppe des Laokoon. Es Handelt fi) um die Frage, warım Laofoon, 
wie er in dem berühmten Kunſtwerk dargeftellt ift, nicht ſchreit. Zunächſt fei 
kurz hingewieſen auf den Stand der Frage. Norausjegung für die Interfuchung 
des Grundes, warum Xaofoon nicht fchreit, ijt der Umftand, daß ein Menſch, 
der einen heftigen phyfiichen Schmerz erleidet, zu fchreien pflegt. Laokoon wird 
von der Schlange in die Seite gebijlen; trogdem aber fchreit er nicht. Windel- 
mann gab als Grund dafür an: das Schreien fei ein Ausbrud maßlofen Leidens, 
maßlofes Leiden aber vertrage fi nicht mit der edlen Einfalt und ftillen Größe, 
aljo mit dem Charakter ber griechiſchen Kunſtwerke. Windelmann feßt das 
Schreien als Maplofigkeit dem maßvollen griehiihen Wefen gegenüber. Nun 
ift offenbar, daß, obgleid das griechische Wejen zum guten Theil in der Mäßigung 
liegt und die griechiſchen Kunſtwerke im Allgemeinen bie Mäßigung zum Aue» 
drud bringen, dieje Mäßigung das Schreien als einen vorübergehenden Zuftand 
nicht ausfchließt und daß in ber That andere Kunftwerfe des maßvollen griechiſchen 
Geiſtes das Schreien dargeftellt Haben. So fchreit Philoktet im ſophokleiſchen 
Drama. Das aber ift ein poetijches, der Laokoon ein plaſtiſches Kunftwerf. 
Bielleiht wird alfo der Grund, warum Laofoon nicht, Philoktet aber ſchreit. 
darin liegen, daß fih das Schreien, der Ausdrud maßlojen Leidens, nicht mi: 
dem Charakter der plaftifchen Kunftwerfe, wohl aber mit dem der poetijche 

Stunftwerfe verträgt. Leljing jagt: Das Schreien ift formlos; das Plaſtiſch 

aber ſoll formenjchön fein; deshalb ſchließt das Plaftiihe das Schreien aus 

Diejer Grund trifft aber den Nagel noch nidht auf den Kopf. Denn auch das 

poetiſche Kunſtwerk joll formſchön fein und doch findet man in Dramen un 
Epen das Schreien. Meine Gintheilung der Künfte bringt uns dem Grunde 








GSelbftanzeigen. 43 


näher. Die Plaſtik gehört zu den Künften des Gefichtsfinnes, bie Poeſie zu 
denen des Gehörsſinnes. Das Schreien fann nur Gegenjtand des Gehörsfinnes, 
niemals aber bes Geſichtsſinnes fein. Alſo kann das Schreien von einer Kunſt 
des Gefichtsfinnes nicht zur Darjtellung gebracht werden. Der Schrei wird ge- 
hört, nicht gejehen, ein plaftifches Kunſtwerk wird gefehen, nicht gehört. Laokoon 
hätte den Mund noch jo weit aufreißen mögen: man hätte ihn niemals fchreien 
gehört; dem das Weſen des Schreies liegt im Laut, nicht im Mundaufſperren. 
Der Laofoon hat den Zweck, angeſchaut zu werden; den Schrei aber kann man 
nit anihauen; man kann wohl einen offenen Mund anfchauen; ein offener 
Mund aber ift fein Schrei, wohl aber etwas Häßliches. Achnliches fagt Schopen- 
bauer im dritten Bande feiner „Welt als Wille und Torftellung”: „Dean fonnte 
nit aus Marmor einen ſchreienden Laokoon bervorbringen, ſondern nur einen 
den Mund aufreißenden und zu ſchreien fi} fruchtlos bemühenden, einen Laokoon, 
dem die Stimme im Halje jteden geblieben: vox faucibus haesit. Das Wejen _ 
und folglid aud die Wirkung des Schreiens auf den Zufchauer liegt ganz allein 
im Laut, nicht im Mundanffperren.” Man kann im Allgemeinen fagen: Mas 
in das Gebiet des Geſichtsſinnes gehört, darf nicht Gegenftand der Kunft des 
Gehdrsfinnes, und mas in das Gebiet des Gehörsfinnes gehört, darf nicht Gegen- 
ftand der Kunſt des Gefihtsfinnes werden. Der Laokoon des Birgil, der ben 
Zwed Hat, gehört zu werden, fchreit, der plaftifch dargeftellte Laokoon nicht. 
Freilich hatte nun der Stünftler der Laofoongruppe nod die Aufgabe, den Zu⸗ 
ſchauer begreiflich zu machen, warum der Laokoon felbit, aljo der von der Schlange 
gebifjene Priefter, den der Stünftler darjtellte, nicht fchreit. Denn der Laokoon 
jelbit in Perfon, als ihn die Schlange biß, wird doch nicht deshalb nicht ge- 
Ihrien haben, weil fi) das Schreien nicht mit der bildenden Kunſt verträgt. 
Nehmen wir an, die Laokoongruppe jtellte dar, wie die Schlange eben den Kopf 
erhebt, um zu beißen. In diejem all wäre das Natürliche geweſen, daß der 


dargeitellt hätte, wie die Schlange eben beißen will, das Schreien des Prieſters 
aber nicht dargejtellt hätte, jo wäre er unwahr gewejen. Der Künſtler mußte 
vielmehr aus der Reihe von Momenten, während deren Laofoon mit feinen 
Söhnen von den Schlangen erwürgt wurde, den wählen, während dejlen Laokoon 
in Wirklichkeit nicht Schrie oder zu ſchreien feine Urſache hatte oder nicht zu 
freien vermochte. Nun gab es in der That einen Augenblid, wo Laokoon 
ſelbſt nicht zu ſchreien vermochte: nämlich den, wo die Schlange ihn in bie Seite 
biß. Eine nothwendige und unausbleibliche Folge de3 Bilfes ijt, daß der Unter: 
leib fich einzieht. Sobald aber der Unterleib fich einzieht, iſt es unmöglich, zu 
Ichreien, denn beim Schreien wird der Unterleib herausgetrieben. In dem Augen» 
blick des Biſſes aljo wurde der Echrei erjtidt. Diefen Augenblid mußte aljo 
der Künjtler wählen, wenn es feine Aufgabe war, den nicht jchreienden Laokoon 
darzuftellen. Und diefen Augenblid hat er auch gewählt... Der zweite Theil der 
Schrift Heibt: „Laokoon und die Kunjt der NRenaijjance”. Hier werden die im 
erjten Theil gefundenen kunſttheoretiſchen Geſetze an Beifpielen weiter- erläutert. 
Das Selbe gejhicht im dritten Theil „Laokoon und die moderne Kunſt“. Co: 
wohl die bildenden Künſte als die Dichtkunjt und Muſik werden zur Erörterung 
herangezogen und mein Bejtreben mar, nicht trodene logijch-äjthetiiche Dogmen 





44 Die Zukunft. 


aufzuftellen, jondern von der lebendigen Empfindung, die von ber finnliden Un- 
ſchauung angeregt wird, auszugehen und die Kunſt jelbjt als Empfindung aufzufafjen. 
Dr. Heinrich Pudor. 


Philoſophie der Kunſt von Hippolhyte Taine. Erſter Band. Erſte 
deutſche Uebertragung von Ernſt Hardt. Eugen Diederichs, Leipzig. 

Die Kunſtphiloſophie Taines bedeutet den tiefſten Vorſtoß und die größte 
Eroberung, die bisher die Wiſſenſchaft im Gebiete der Kunſt machen durfte. 
Sein großer, vornehmer Geiſt, der durch feine ſchöne Logik und reife Männlich- 
teit ſelbſt äfthetilch berüdend wirkt wie ein Kunſtwerk, hat es vermocht, dieſen 
wiſſenſchaftlichen Feldzug in einer gedanklichen Klarheit und ſprachlichen Schlicht⸗ 
heit zu führen, die jedem Gebildeten zugänglich ſind. Die Ueberſetzung iſt mit 
allem Fleiß und aller Gewiſſenhaftigkeit, die der Ueberſetzer in ſich aufzubringen 
vermochte, gearbeitet worden. Ihn leitete der Grundſatz, daß eine Ueberſetzung 
die Aufgabe habe, innerhalb der guten Möglichkeiten ihrer Sprache Inhalt und 
Form ſo buchſtäblich genau wiederzugeben und nachzuſchaffen, wie es nur denk— 
bar iſt. Für das Erſte kann er ſich verbürgen. Was das Zweite angeht, möchte 
er hervorheben, daß, trotzdem er ſich nicht ein einziges Mal geſtattet hat, den 
Fluß der Gedanken, der ja ſeinen Ausdruck im Fluß der Sprache findet, durch 
Satzverſchiebungen oder Satztrennungen umzuleiten oder zu unterbrechen, dennoch 
die Leichtigkeit und Flüſſigkeit der franzöſiſchen Sprache die Vorſtellung, daß 
es ſich um ein geſprochenes Buch handelt, beſſer aufrecht zu erhalten vermag, 
als es ihm in der deutſchen Sprache gelingen konnte. 

Athen. Ernſt Hardt. 
Kleines Gottſched⸗Wörterbuch. Berlin 1902, Goltſched-Verlag, Linkſtraße 5. 
Preis 5 Mark. 

Das von den deutfchen Wortforfhern mit Spannung erwartete Büchlein 
liegt jegt, al Arbeitausbeute eines Jahres, in handlicher Geftalt vor. Zu meiner 
Freude darf ich fagen, daß es vor einigen Hauptvertretern der Fachwiſſenſchaft 
die Probe gut beitanden hat. Selbſt der zweifellos bedeutendfte Germanift unferer 
Tage, Profefſor Dr. Friedrich Kluge, bezeugte mir, daß meine „mühjälige, aber 
erfolgreiche Arbeit Vieles zur Aufhellung der neuhochdeutſchen Wortchronologie 
leiftet“, daß ich das „bleibende Verdienft“ für mich in Anſpruch nehmen dürfe, 
„aus Gottſched eine ganze Fülle von Nachträgen zum grimmfchen Wörterbuche 
zu Gunſten einer genaueren Altersbejtimmung geliefert zu haben”. Neben feinem 
fachwiſſenſchaftlichen Werth ſcheint mir das Buch aber auch nod einen allge 
meinen Werth dadurd zu befigen, daß dur bie Unmaſſe von ſchönen Citaten, 
zumal aus den Gedichten Gottſcheds, nicht nur die geiftige ‘Berfönlichkeit des 
einzigen Mannes fcharf gekennzeichnet, ſondern auch ein tlares Bild von dem. 
Reichthum der Kraft und Schönheit feiner Sprache (in Poeſie und Proja) ge: 
boten wird. Uns diefem Grunde darf es wohl auch für ein genußreiches Leſe⸗ 
Buch gelten. Da die Eleine Auflage des Buches bis auf etwa hundert Abdrücke 
ſchon vergriffen ift, liefere ich daS Buch, dus feine zweite Auflage erleben ſoll, 
nur noch auf ımmtittelbare Beftellung. Engen Reidel. 

s 











Notizbuch. 45 


Notizbuch. 


SE Lieber, der in den Beitungen ber Führer des Kentrun genannt wurde, 
ift geftorben. Ob er wirklich, nrit der Herrſchergewalt, die man ihm zujchrieb, 
der Führer war? Die Zeit der parlamentarijchen Einzeltyrannis jcheint einftweilen 
dahin. Richt nur, weil bie ſtarken Perjönlichkeiten fehlen. Auch die Herren Richter 
und Bebel können heute nicht mehr, wie früher, ihren yraftionen mit Diktatorenmacht 
ben Weg weiſen. Die wirthichaftlichen Intereſſen find fo ſtark geworden, haben in 
jeden fraftionellen Verband fo breite Köcher geriflen, daß die Führer, die einft fat 
unumfcränft herrſchten, jeßt die klügſte Kompromißkunſt aufwenden müflen, um 
wenigiteng den Schein der Einheit zu wahren. Für die Erfüllung folder Pflicht war 
der Dr. jur. utr. Lieber geeignet. Eine Dugenbintelligenz, bie jich jelbjt ungemein 
wichtig nahm. Ein langmweilender Redner, deffen feierlich gejalbter Ton im eigenen 
Lager oft die Lachluſt reizte. Bon Windthorft hatte er nicht das Strategentalent, aber 
bie unenblidde Trivialität geerbt, die Freude an allen Spazirgängen, bie iiber Ge- 
meinplage führen. Das ift nicht zu unterihäßen. Nur Männer von folcher geiftigen 
Dispofition fönnen Jahrzehnte lang den Hundetrab unferes Barlamentslebens mit« 
machen, ohne von Ekel aus dem Schattenreich leerer Wortfchälle getrieben zu werben. 
Lieber hat einunddreißig Jahre lang im Reichstag gefeflen und hätte fi} da noch viel 
länger ungemein wohl gefühlt. Warum nit? Sein Ehrgeiz war kleinſten Stils; 
er war zufrieden, wenn Minifter und Staatsſekretäre ihn mit ehrfürdhtigem Eifer 
grüßten, feinen Rath einholten und ihn die Möglichkeit gaben, vor verfammeltem 
Kriegsvolk den primus inter pares zu mimen. Im Qauf der Jahre hatte er, der 
als fleigiger Arbeiter galt, ſich eine taftifche Sejchieflichkeit angeeignet, die vor großen 
Aufgaben wahrjcheinlich verſagt hätte, immerhin aber ausreichte, um das Alltags» 
handwerk des Parlamentarismus zu beherrichen. Day „unter ſeiner Führung“ das 
Gentrum ber Regirung näher rückte und zu größerer Macht kam als je vorher, war 
nicht fein Verdienſt, fondern die Folge wirthichaftlicher Verſchiebungen und der be- 
fannten Ereignijje, mit denen die neowilhelminiſche Aera Europa überrafchte. Auch 
in diefer veränderten Welt wäre Herrn Lieber die VBerftändigung mit überragenden 
Staatsmännern ſchwer geworden — ſchon Miguel haßte er mit der ganzen Inbrunſt 
eines engen Bhilijterherzeng —, doc) auf dieje Probe wurde fein Barteifinn in leßter 
Zeit ja nicht mehr geitellt. Sein Tod läßt keine Lücke. Graf Ballejtrem oder, 
wenns ein Bürgerlicher fein foll, Here Porſch wird die Gejchäfte der Parlaments 
diplomatie mindeſtens eben fo gut bejorgen wie der Mann der großen Tiraden. Und 
je Heiner die Schaar der jtreitbaren Protejtanten wird, die nod) laut gegen Nom 
proteftiren, defto lockerer wird auch das Band werden, das Agrarier, Induſtrie— 
‚zubalijten und AAndujtrieproletarier in der Centrumsgemeinſchaft zujammenbält. 
* * 


Die trefflichen Männer, die in der Zolltarifkommiſſion bes Reichstages ſchon 
ſo Rühmenswerthes geleiſtet haben, ſollen einen Theil des Sommers in Berlin ver— 
bringen, damit der Entwurf nicht gar zu ſpät ins Plenum kommt. Das wollen 
Bielevon ihnen nicht umſonſt thun und haben den Bundesrath deshalb aufgefordert, 
ihnen für die Zeit der Plenarferien Diäten zu gewähren. Zwar wäre e3 viel ver- 
ftändiger geweſen, den Tarif gleich im Plenum zu berathen. Zwar fünnen die in 
die Kommiljion Gewählten, jo oft jiewollen, ſich von Fraktiongenoſſen ablöjen laifen. 


46 Die Zukunft. 


Thut nichts: Tie fordern ihren Tagelohn und die Verbündeten Regirungen follen 
bereit fein, diefen Wunſch zu erfüllen. Hoffentlich machen die Gegner bes Tarifes 
durch dieſe Rechnung einen dicken Strid. Ueber Diäten läßt fich ftreiten. Richt ber 
winzigfte Grund aber fpricht dafür, prinzipiell dein Reichstag Diäten zu weigern 
und bie Kommiſſion, die Herr ihrer Entſchlüſſe ift, den Sommer lang durchzufüttern. 
Biel wird in der heißen Zeit doch nicht herausfommen. Und eine bezahlte Parla= 
nıentöbureaufratie hat uns gerade noch gefehlt. Bejonders nett an der Sade ift, 
daß der Antrag auf Diätenzahlung nicht etwa von Kleinbauern ober jozialdemofra- 
tiichen Arbeitern ausging, fondern von dem Rittergutsbefißer Gamp, der biöher als 
reicher Mann galt und in Berlin eine herrſchaftliche Wohnung hat. 
* * 


* 

ALS der Kaifer neulich in Bremen war, begrüßte ihn Herr Arthur Fitger im 
einem Gedicht, das den kaiſerlichen Feldzug gegen die moderne Kunſt ala eine Helden⸗ 
that feierte. Auf den Wink Wilhelms des Zweiten feien die Fratzen ins Dunkel ge- 
wichen. In allen Büchern der Geichichte fei zu leſen, „daß Kunſt im Streit mit 
Kron’ und Thron, nit Ring und Stab“ nicht gedeihen kann. Das Gedicht ift [pott- 
ſchlecht; und fiber die Behauptung, Kunft bebürfe höfiſcher Gunit, ift heutzutage fein 
Bort mehr zu verlieren. Herr Fitger hat al3 Maler und Dichter wenig Anerkennung 
gefunden, fein Drama „Bon Gottes Gnaden“, das miteinem dem Kaifer heiligen myſti⸗ 
ſchen Begriff ſehr unfanft umgeht, ift in Berlin ausgelacht worden und fein verjtändiger 
Menſch kann fich darüber wundern, daß der Bremer Stünftler die erften Keime neuer 
Kunſtkultur aus ärgerlidem Auge betrachtet. Ueber Fürſtengröße und Fürjten- 
macht hat er früher andersgeurtheiltals jett. Damals „imponirte ihm fein Thron”, 
waren ihm „die Gekrönten die Erften, die Natur in Feſſeln zu ſchlagen“, wetterte er 
gezen „das goldene Zoch“, in dem der Mäcen den Genius hält und ihm Flügel, Fuß 
und Herz bricht. Doc) darf ihm das Recht, feine Meinung zu ändern, nicht beftritten 
werden. Er darf auch den Dichter der „Deutſchen Mufe”, defjen trijter Epigone er 
doch iſt, ander Greiſenſchwelle einen „ſophiſtiſchen Schwätzer“ ſchelten und fi) freuen, 
wenn irgend ein Eberlein höher im höfiſchen Marktwerth ſteht als Klinger. Nur 
brauchte er an Devotion doch nicht mit Ceremonienmeiſtern zu wetteifern. OHerr, 
wirft dein Poeten Du verzeibn, wenn er fi) vordrängt aus des Volkes Reihn, fi) 
wagt an Deinen Thron und tief bewegt den Zoll des Dankes Dir zu Füßen legt“... 
Das ijt ein Bischen viel für einen Stadtrepublifaner. Nicht ganz fo viel freilid 
och wie die Nednerleiftung des. Freiherrn von ARheinbaben, der gejagt hat: „Die 
Kunſt iſt die Darftellung des Schönen. Es ift ein ermuthigender Gedanke, daß bie 
düſſeldorfer Kunſt jich genau in der Linie Deifen bewegt, was Seine Mäjeltät der 
Kaiſer von der Kunſt denkt und wünſcht. Wenn Düffeldorf eine ſolche ideale Kunſt 
pflegt, dann zeigt es ſich als treuen Diener feines Staifers." Schade. Herr von Rhein- 
baben ijt ein guter Syinanzıninifter und hat in feiner erſten Budgetrede bewieſen 
daß ihm die Kunit, dag Gerüjt eines Staatsetats aufzubauen, nicht nur „die Dar» 
ftelung des Schönen“ ift. Warum redet er über Dinge, die ihm offenbar ganz fremd 
jind? Der Staifer bedarf feiner Hilfe nicht; er hat die Dichrheit für fi. Und wer 
Kunſt anders fühlt, von der Kunſt Anderes hofft, Der wird fich jein Gefühl nicht 
durch den Einfpruch eines verärgerten Romantikers und eines braven Finanzminifters 
verwirren laſſen, Jondern die Nachprüfung bis zu dem Tage aufjchieben, vo eines Sad) 
veritändigen < Stimme dem Fehderuf des Deutſ chen Kaiſ⸗ ers weitere Wirkung ig verſchafft. 





Herausgeber md verantwortlicher Redakteur: M. darden in "Berlin. — Berlag der Zubunft in Berl 
Drud von Albert Damde in Berlin Schönebrrg. 








AN 
kunft. 














Berlin, den 12. April 1902: 
7 —⸗— esjm 


Der Zauberer von Rom. 


ins der Neunte lag auf dem Paradebett. An der Pracht feiner Cere⸗ 

moniengewänder; die Mitra auf dem Haupt, das Kiffen aus Gold» 
tuch ftügten, mit rothen Handſchuhen und rothen Pantoffeln, die der Gläubi- 
gen Inbrunſt zu füffen drängte. Gefchäftig waltete der Kardinal Pecci bes 
Kämmereramtes. Nie hatte man den Achtundfechzigiährigen fo unruhvoll, 
den oft als mild Gerühmten fo ftreng gejehen. Nach Antonelfis, feines 
Feindes, Tod war er von Perugia nad) Rom berufen worden und hatte dort 
ftill für fich gelebt. Er wollte nicht auffallen. Schon war ihm geweisſagt 
worden, er werde Pius auf dem Stuhl Petri folgen. Er mar bereit, hatte 
die Zeit der Verbannung nicht ungenüßt gelaffen und bebte nun dod) im 
Innerſten, da die Entfcheidung nahte. Pius felbft, deffen ftarke Herrennatur 
ſich gegen jede Erfenntniß kränkender Wahrheit fträubte, hatte in feinen 


"Testen Lebenstagen einfehen gelernt, wie viel, wie Ungeheures dem Papſt⸗ 


thum verloren und wie nöthig e8 war, der Kirchenmacht neue, feftere 
Fundamente zu ſchaffen. War foldhe Aufgabe nicht am Ende zu ſchwer für 
einen hinfälligen Greis, der einmal nur, als Nuntius in Brüffel, in ein 
Eckchen des Weltgetriebes geblict und fid ftetS mehr als Gelehrten denn 
als ſtreitbaren Kirchenfürften gefühlt Hatte? Und dennoch; : fonnte nicht ges 
rade in dem ſchwachen Leib des Carpineters der Herr das Wunder wirken, 
daß er dem robuften Siegerbemußtfein des neunten Pius verfagt hatte? Der 
Kämmerer harrte des Herrn. Ringsum wurde eifrig an dem Gefpinnft ges 
4 


48 Die Zukunft. 


arbeitet, das ihn umgarnen, ihn von der Mehrheit im Heiligen Kollegium 
abiperren jollte. Er ſchien nichts zu merlen und erwiderte ftichelnde Anden: 
tungen mit dem Hinweis auf feinen nahen Tod. “Die Hand, die des toten 
Bapites Schläfe dreimal mit dem filbernen Hammer berührte, zitterte nicht 
und feſt Hang die Stimme, die fragte: Schläfjt Du, Johannes Maſtai? 
Dann aber erlahmte die Nervenkraft. Joachim Pecct wurde von einer Un— 
ruhe ergriffen, die nie vorher an ihm gejehen ward. Er ſchlief wenig, tauchte, 
wo man ihn nicht erwartete, plöglic) auf und hatte einen haftigen Befehls- 
haberton, der feinem Weſen früher ganz fremd geweſen war. So auf- 
fällig war die Veränderung, daß, als er vor dem Katafalk in der Sir: 
tinischen Kapelle nach der Totenmeſſe die Abfolution ertheilte, der Kar- 
dinal Oreglia dem Kardinal Guibert zutujchelte: „Der rührt die Werber- 
trommel!" .. Das war am fünfzehnten Februar 1878. Am nädhiten 
Tage wurde Pius eingefargt; Tannenholz, Blei, Ulmenholz umfingen 
mit dreifacher Hülle den ruhenden Leib, ſechs Siegel verfchlofjen den Sarg, 
der Fiſcherring, den der Lebende fo lange getragen hatte, wurde zerbrochen 
und jedes Stüd, als eine koſtbare Reliquie, einem Würdenträger anvertraut. 
Wieder verjammelten ſich, al8 die Rede Pro Pontifice eligendo vers 
Hungen war, die Kardinäle, wieder riefen fie zum Herrn und flehten, ihren 
Sinn zu erleuchten ; dann ftand jeder, deſſen Name genannt war, auf, fchritt 
zum Altar hin und legte feinen Stimmzettel in einen Kelch. Acceptasne 
electionem de te canonice factam in Summum Pontificem? Knieend 
richtete ein Dechant die traditionelle Frage an den Kardinal Pecci. Er hatte 
des Herrn geharrt: er folgte dem Ruf des Herrn. Als man ihn wegführte, 
foll er einer Ohnmacht nah gemefen fein. Doch ehe er ruhen durfte, mußte 
er den ganzen Pomp der Huldigungfeier hinnehmen. Die Diener Heideten 
ihn in weiße Gewänder. Diafone warfen vor ihm Kerzen nieder, daß fie er» 
loſchen, und riefen: Wie diefes Licht, jo vergehe der weltliche Ruhm! Auf 
Hände und Füße, auf den Saum feines Kleides prepten jich heiße Lippen. 
Bon der Höhe einer Xoggia herab breitete er die Arme aus und fegnete die 
Ewige Stadt, fegnete die katholiſche Chriftenheit. Und alsbald ward ver- 
fündet, der neue Papſt werde fich Yeo den Dreizehnten nennen, um ſich ı"“ 
einen Verehrer Leos des Zwölften zu zeigen, des ſtrengen Herrn, der wii 
Freimaurer und andere Ketergemwüthet, im Jubeljahr 1524 eine Bannbr 
erlajjen und die Jeſuiten zu neuer Macht geführt hatte. 

Das gab eine Ueberrafchung. Der Kardinal- Kämmerer hatte | 
einen milden Dann gegolten und als ein liberaler Papſt, hieß es, würde 





Der Zauberer von Rom. 49 


das Weihezeichen des Triregnum tragen. Zwar hatte er in heftigen Briefen 
an Victor Emanuel gegen die Befekung des Kirchenftaates, gegen die Bes 
läftigung der Kongregationen und gegen die Civilehe proteftirt, Priefter, die 
pom Papft den Verzicht auf die weltliche Macht zu fordern gewagt hatten, 
mit der Suspenfion a divinis beftraft und Ratazzi hatte ihn einen bis zur 
Grauſamkeit unbeugfamen Geiſt genannt. Doch das Alles war unter der 
Herricaft des unerbittlichen Pius gefchehen, in der erjten Zeit leidenfchaft- 
lichen Widerſtandes gegen den Ufurpator, und andere Stimmen hatten ge- 
jagt, diefer Kardinal, der ein Gelehrter und ein Dichter fein wolle, werde, 
ſobald er ſelbſtändig handeln Dürfe, fich von der natürlichen Sanftmuth eines 
Wefens leitenlafjen. Und num, wie um jede fchüchternfte Hoffnung zu enttäu- 
jchen, beider Namenswahl ſchon die Erinnerunganben Mann, der die Gefäng⸗ 
niffe der Sinquifition wieder geöffnet hatte? Als Crux de cruce hatte Pius der 
Neunte auf der Kirche gelaftet und abertaufend umerfüllte Wünfche hatten 
auf Peccis -Wappeniprudy Lumen in coelo jehnend geblidt. Sollte der 
Strahl dieſes Lichtes die zarten Keime jungen Hoffens wegfengen?.... Die 
Meinungen blieben getheilt und das Charafterbilb des neuen Oberhirten 
war, von der Parteien Haß und Gunſt verwirrt, lange nicht klar zu er» 
fennen. Er wird uns mit Skorpionen peitjchen, fagten die Einen; die An- 
deren: Auf Petri Stuhl figt ein SXafobiner. In beiden Lagern fuchte man 
Zroft im Anblic feiner Gebrechlichkeit. Das war nicht Pius, deſſen Geftalt 
bis ins Greiſenalter ftraff geblieben war und deſſen fleifchiger Herrichertopf 
boninnerer Gluth geleuchtet hatte. Dieſes längliche, Inochige, bleiche Aſketen⸗ 
haupt mit den dünnen, biutlofen Lippen würde die Tiara gewiß nur kurze 
Zeit tragen; diefen dürren, faft diaphanen Leib würden fie bald auf das 
rothe Totentuch beiten. Raum hielt er fich aufrecht. Und ſchon am Tage der 
Huldigung, als er, jelbft weiß und Schlank wie eine Wachskerze, ſchwankend 
durch das Spalier der Kerzenträger jchritt, wurde in allen Winkeln des Ba- 
tifans geflüftert: Ein fterbender Bapft! Seine Heiligkeit wird nicht lange 
unter ung wandeln. Ueber ein Kleines erlifcht dieſes blafje Licht. 

Non videbit annos Petri... Ein Bierteljahrhundert ift feitdem 
vergangen; und noch immer hält der nun Zmweiundneungzigjährige in ent- 
fletichten Händen den Hirtenftab. Noch immer fehwebt er, wie ein weißer 
‚Schatten, an hohen Feiertagen über den ftaunenden Häuptern der Gläubigen 
dahin. Noch immer auch rührt er mit unverminderter Kraft für feine Sache 
die Werbertrommel. Eben erſt hat er in eindringlichen Worten der Ketzerheit 
.gerathen, in den wärmenden Schoß der fatholifchen Kirche heimzufehren. 
4*% 


ED EI — un 


50 Die Zukuuft. 


Denn nur da lafje fich gut fein. Daß Bernunftlinfinn wird und eine mate- 
rialiftifche Weltauffaffung das Glück der MenfchHeit nicht mehrt, fei längft 
doc) offenbar geworden. Was habe die Freiheit genügt, die Forſchung, all 
der Shöne Wahn, der feit den Tagen der Reformation durch die Hirne fpuft? 
Die Moral ift zerrüttet, die Grundmauern der Staaten wanfen: fo ftrafe, 
jo räche der Herr den Abfall vom wahren Glauben. Leo der Dreizehnte hat 
bie Encyllifa, in die er fo hart rügende Sätze ſchrieb, fein Zeftament ge- 
nannt. Und der Brei, der an der Schwelle der Emigfeit ſchwachen Menſchen 
ſolchen Scheidegruß fendet, hieß feit elf Kahren der moderne Papit. 

Der Name gebührte ihm und wird ihnt, trog dem Tejtament, bleiben. 
ALS Antonelli geftorben und der Blick des Pontifer nicht mehr durch trügende 
Schleier gehemmt war, hatte Pius gefeufzt: „Mein Nachfolger wird von 
vorn anfangen und eine ganz andere Bolitif treiben müjjen als ih!” Das 
hatte auch Leo erfannt. Er fand das Papftthum der weltlichen Herrichaft 
beraubt und war zu Klug, um ſich der Hoffnung hinzugeben, diefen Berluft 
könne die Beit je wieder aus dem Buch der Gefchichte tilgen. Und diefeinen 
Nerven des Erben fühltennod) ſchlimmeren Verluft. Die hierarchiſche Zucht 
war ſtraffer als je; Pius hatte dafür geforgt, daß der Rieſenkoͤrper der Kirche 
dem leijeften Drud des Zügels gehorchte. Doch diefe Kirche war in der mo⸗ 
dernen Weltein $remdling geworden ; nicht den Kegern nur, nein: auch vielen 
Gläubigen. Ueberall mühte fie ſich in Fruchtlofer Willensanftrengung, Fal⸗ 
lendes zu fügen, war alles Werdenden Feind und nirgends neuen Wün- 
chen erreichbar. Eine ehrwürdige Ruin, die facht verwittert. Wohl galt 
nod) immer das ftolzge Wort: Stat crux, dum volvitur orbis. Stand 
aber das Pontifikat jo feſt wie das Heilandsfreuz, konnte e8 ohne in: 
nere Wefenswandlung allen fommenden Stürmen trogen? Neo hat ſich 
oft als Verehrer des Heiligen Thomas befannt und gewiß im Ardiv des 
Klofters auf Monte Caffino, wo das jcholaftiiche Genie des erwachjenden 
Neapolitaners gebildet ward, einmal die weifen Worte gelejen, die Cremo⸗ 
nini, Galileis Freund, fehrieb: Mundus nunquam est; nascitur sem- 
per et moritur. Niemals iſt eine Welt; in jedem Augenblid wird fie und 
ftirbt. Ein gutes Leitwort für Einen, der die Menſchenwelt ewig welfender, 
ewig erneuter Illuſionen beherrichen will. Nicht an Bergehendes darf er fid) 
Hammern. So aber hatte Pius gethan. Der war zufrieden geweſen, wenn 
fein higige8 Temperament fich in prachtvollen Unmwettern ausgetobt hatte, 
Bon keinem Kompromiß, keinem Pakt mit feindlichen Mächten mochte er 
hören. Sein Fluch, darangabes fürihnleinen Zweifel, drang in den Himmel 


Der Zauberer von Rom. 51 


und riefGottes Strafgericht auf der Sünder unreine Seelen herab. Wie Dielen 
hatteer geflucht, die ihr Haupt noch aufrecht trugen und ungebrochenen Muthes 
vorwärts jchritten! Voneineranderen Methode hoffteXeo Gewinn für die auf 
allen Seiten bedrängte Bapftfirche. Keine fleiſchliche Wallung fchien über 
den hageren Greis Macht zu haben; nie ſah man ihn zornig, nie kam aus 
feinem Munde ein ſchriller Ton. Er nahm das alte Programm der chrift- 
lichen Platoniter wieder auf und folgte den Spuren des Doctor Angelicus. 
Wie die Kirchenväter fid) bemüht hatten, die Philoſophie, die Kulturſchätze 
der Hellenen dem neuen Bedürfniß der jungen Chriftenheit anzupaſſen, wie 
Thomas von Aquino einen großen Theil feiner Kraft an die Aufgabe ge- 
fest hatte, den ariftoteliichen Geift in das Bewußtſein der Katholiken hin- 
überzuretten, fo wollte Leo nun Kirche und Welt, Glauben und Wiſſen ver» 
jöhnen. Allzu lange war die Kirche ein Hemmniß auf allen Wegen der Ci- 
viltfation geweſen; fie ſollte fünftig, gerade fie, der Kultur den rechten Pfad 
weiſen. Was halfen die Flüche gegen den neuen Geiſt? Man muß fid) mit 
ihm einrichten, ihm Luft und Licht gönnen und, während die Linke ihn ſtrei⸗ 
delt, mit der Rechten unter väterlichen Zuſpruch ihm die drohende Waffe 
entwinden. Die Menjchheit muß wieder erfennen lernen, daß auch die 
Wiſſenſchaft hriftlichen Urfprunges iſt und daß feine unüberbrüdbare Kluft 
den Forſcher vom Gläubigen trennt. Das war das Ziel des neuen Papftes, 
mußte das Biel eines Mannes fein, der den Mufen nicht minder eifrig als 
feinem Gott diente, Dante zärtlich liebte und die ciceronifchen Perioden feiner 
Hirtenbriefs fo fauber feilte, als lange er nad) dem Ruhm eines Literaten. 

Der Kirchenftaat war verloren, ſeit am zwanzigjten September 1870 
die italienischen Truppen durd) die Borta Pia in Nom eingedrungen waren 
und Victor Emanuel gejagt hatte: Ci siamo, ciresteremo. Noch war die 
Wunde zu frifch, die Gewalt der Tradition zu groß, als daß der Nachfolger 
des neunten Pius daran denken konnte, mit dem Minderer feiner Macht 
Frieden zu fchließen. Er blieb der im Vatikan Gefangene und proteftirte, 
wann die Pflicht es gebot, pünktlid) gegen den Raub. Doch in der Stille 
mag Yeo ſich oft gejagt haben, daß diefer Raub ein Glüd für die Kirche war. 
Jede weltliche Herrfchaft wet Haß; und ein leidender Bapft ift ſtärker als 
ein im Prunf eines Hofftaates thronender. Eine Kirche, die wirklich ecele- 
siarım omnium mater et caput fein will, braucht feine Hausmacht 
und wird durch allzu enge Verbindung mit einem beſtimmten Lande in 
ihrer Propaganda eher gehemmt als gefördert. In einer Beit, wo in den 
Kanzlcien aller Großmächte die Verträge fich zu Heinen Gebirgen häufen, 


“ 





592 Die Zukunft. 


hat Leo kein Bündniß gefucht; ihm ift zugutrauen, daß er jede Bundess 
genojjenfchaft abgelehnt hätte, felbft wenn ihm als Preis die Wiederher- 
ftellung bes Kirchenſtaates verſprochen worden wäre. Wer fi) Heute Einen: 
ganz hingiebt, hat morgen mindeftens einen Feind; und der Bapft will ſich 
bie Möglichkeit friedlicher Verftändigung mit allen modernen Dlächten be- 
wahren. Als am zwölften November 1890 der Kardinal Lavigerie in Al- 
gier da8 franzöfische Gefchwader in einem Trinkſpruch begrüßte, in dem ge⸗ 
fagt war, der Katholif könne fich mit jeder Staatsform abfinden, hielt man 
das auf der Zunge eines Kirchenfürften revolutionär klingende Wort fürdas 
Bufallsproduft einer Laune. Dan jollte bald erfahren, daß es jehr ernſt ges 
meint und mehr war als ein Belenntniß perfönlichen Glaubens. Leo hatte 
fich der Mahnung erinnert, die Toten ihre Toten begraben zu laffen. Sein 
Biel war nur zu erreichen, wenn die Katholifen unfrucdhtbarem Groll ent- 
fagten und aufhörten, fich als Gehilfen der Reaktion verhaßt zu machen. 
Schon vor zwanzig fahren ſchrieb er an die ſpaniſchen Bifchöfe, die Behaup- 
tung, die Religion fei an das Programm einer politischen Partei geknüpft, 
müjje als Irrlehre befämpft werden. Das dünkt Manchen banale Weis- 
heit; wer aber vergangener — nicht einmal allzu lange vergangener 
— Tage gedenkt, wird jich hüten, ſolches Urtheil zu fällen. Ueberall waren 
die Katholiken die Träger oder doch die Schuktruppen der Neaftion. Gegen 
das Schisma, die Neformation, die Revolution, den Kulturfampf ballten fie 
die Fauſt und konnten die Entwidelung doc) nicht aufhalten. Rußland war 
dem römischen Priefterfönig nicht zurüdzugewinnen; in Frankreich zog fein 
neuer Roy von des Papftes Gnaden ein ; und das politifche Werk Luthers und 
Bismards fpottete ohnmächtigen Zornes. Ein Zuftand, der die Katholiken 
zudumpfer Thatlofigfeit verdammte, durfte nicht dauern. Leo Tolftoi, der Hei⸗ 
land müder Artiften, konnte den Völfern predigen, hinterihnenliege das Heil, 
und ſie zur Umkehr ermahnen. Ein Papft,der wirken, Welt und Kirche verſöh⸗ 
nen will, darf nicht daS Dysangelium verkünden laffen, jeder vorwärts füh- 
rende Schritt fei ein Verbrechen, eine Sünde wider den Heiligen Geift. In 
den Köpfen, jelbft indenen oft, dieder Glaube noch nicht floh, wacht ein uraltes 
Mißtrauen ;immerregtfich, wenn von den Lebensrechten der Kirche gefprochen 
wird, an deren Mauer die drei Worte universitas, antiquitas, unitas 
locken und fehreden, die Furcht, die Tage der Gregor und Innozenz könnten 
wiederfehren und die Lähmende Macht der Theofratie, die Gräuel der Sn: 
quijition zurüdbringen. Diefe Gefpenfter hat der Entjchluß Leos des Drei: 
zehnten verjcheucht. Er hat die Katholiken zu politifcher Arbeit gerufen und 


Der Zauberer von Mom. 53 


von ihnen verlangt, fich in die Zeit zu ſchicken, fo ſchlimm fie ihnen auch 
Scheine. Er hat den Bund gebrochen, der die Schickſale von Thron und Altar 
an einander fetten follte. Er hat offen und feierlich Tyrieden mit ber Demo: 
kratie gejchloffen, die fo Lange von der Kirche befämpft worden war. 

Der Erfolg hat für ihn entichieden. Als er an Rampolla, ber damals 
Nuntius in Madrid war, fchrieb, die Biſchöfe follten fich von der farlifti- 
ſchen Agitation fern halten, als er Monſignore Ezadi, den parifer Nuntius, 
mit der Miſſion betraute, zwifchen der Republik und der Kurie einen 
modus vivendi zu fchaffen, fchüttelte mancher Kardinal das Haupt und 
wijperte, das Jumen in coelo habe ſich als ein Irrlicht erwieſen. Jetzt ift 
längjt jeder Zweifel verftummt. In Aſien und Afrika find die Quadern 
des hierarchiſchen Gefüges fefter als je gefügt und in Europa ift die 
Macht des Papſtthums über alles Erwarten gewachſen; jogar mit Rußland 
bat der Huge Politiker auf Petri Stuhl ſich verftändigt. Im Karolinenftreit 
hat Bismard ihn zum Schiedsrichter erfürt und Wilhelm der Zweite hat 
feinen Rath erbeten, als der Verſuch gemacht wurde, den Arbeiterfchuß durch 
internationale Gejege zu regeln. So Großes, fo Ungeahntes wurde erreicht, 
troßdem der Papft offen erflärt hatte, die Kirche werde nicht unter allen 
Umftänden mehr den alten Dynaftien einen jtügenden Nüchalt bieren. 

Den Frieden mit der Demokratie hatten Männer wie Diontalembert 
und Lacordaire längft empfohlen und mit lauterer Stimme als fie hatte La⸗ 
mennais geſprochen. Erjchufden Bund zur Bertheidigung derreligiöfen Frei⸗ 
heit und bemühte fidh, von dem ebbenden Strom der fatholifchen Inbrunſt 
zu den modernen Lebensmächten einen Weg zu finden. Die Kirche, jo wollte 
er, jollte im werdenden Bewußtſein des Jahrhunderts fefte Grundlagen fuchen 
und ihre Diener ſollten ſich ohne Vorbehalt auf den Boden der Charte ftellen; 
vor allen Dingen aber jollte die Kirche vom Staat, der Staat von der Kirche 
frei fein. Sn allen Zungen Fangen feine Paroles d’un croyant über die 
Erde hin und fündeten die Souverainetät der hriftlichen Völker. DerBann- 
ftrahl, den Gregor der Sechzehnte gegen den unbotmäßigen Priefter fchleu- 
berte, traf fein Biel nicht; die Encyflifa Mirari vos ift vergeſſen und 
Lamennais lebt in der Geichichte des Katholizismus als einer der ſtärk— 
ften Wirfer des neunzehnten Jahrhunderts. Bor ihm fchon hatte Saint- 
Simon den Papſt als Retter aus fozialer Noth angerufen. Im Nouveau 
Christianisme jtehen die Säge: „Das wahre Ehriftentyum muß auch für 
dasirdijche, nichtnur für das himmliſche Glüd der Menfchen forgen. Dem 
Bapjt ıft die Aufgabe geftellt, die Gefellichaft nach den fittlichen Grundjägen 





54 Die Zukunft. 


des Heilands zu organifiren. Es genügt nicht, den Gläubigen die Gottes⸗ 
kindſchaft der Armen zu predigen; die ftreitbare Kirche muß rückſichtlos alle 
Macht und alle Mittelanwenden, um fchnell die moraliiche und die phyſiſche 
Lage der Klaſſe zu beffern, der die größte Menfchenzahl angehört." Und ein 
Schüler Saint-Simons, der jüdifche Bankier Iſaac Pereire, wiederholte 
den Auf des Meifters, als der Kardinal Pecci zum Papft gewählt war. 
„Wie konnte”, rief er, „die Kirche bis heute verfennen, daß die Wand» 
fung der Welt nicht ein ruchlofes, antichriftliches Werk ift, jondern von 
ber Vorjehung vollendet ward, um den tiefften Gedanfen des Chriften- 
thumes in feinem göttlichen Glanz zu enthüllen? Nie ward von der Kirche 
die Erfüllung einer ſchöneren, ihres Stifter8 würdigeren Pflicht gefordert. Ift 
fie nicht zur Mutter der Waiſen, zur Schügerin der Unterdrüdten beftimmt ? 
Sie hat die Sklaverei der Heidenzeit befeitigt und das Joch der Feudalherren 
gebrochen: fie muß auch den modernen Arbeiter aus den Banden der Hörig⸗ 
feit erlöjen. Nur die ftarfe Organifation der katholifchen Kirche fichert ein 
foziales Wirken großen Stils. Solche Wirkfamfeit wird erft möglich, wenn 
über den Geſetzgebern, den Gelehrten, den Fabrikanten Apoftel ftehen, Miijio- 
nare, die bereit find, ihr Reben dem Heil der Menſchheit zu opfern, unabs 
hängige Männer, die den Muth haben, Allen die Wahrheit zu jagen. Und 
wo wären ſolche Männer zu finden, wenn nicht im Bereich der Kirche?“ 
Wir wiſſen nicht, weldye diefer Stimmen bis ans Ohr Leos des Dreizehnten 
drang. Doch was fie erfegnten, hat er vorzubereiten verfucht. Am fünfzehn: 
ten Mai 1891 erging an die ehrwürdigen Brüder im katholiſchen Glauben 
die Encyllifa De conditione opificum, die mit den Worten begann: Re- 
rum novarum semel excitata cupidine... Die Neuerungſucht, an der 
feine Borgänger fich geärgert hatten, war ein Saftor geworden, mit dem der 
Papft rechniete. Bis zu diefem Tag hatte in Rom nur alte Dlünze gegolten. 

Oft ift jeitdem die foziale Aktion verhöhnt worden, die damals jo ge: 
räufchvoll begann und fo fchnell wieder endete. Bon den überfchwänglichen 
Hoffuungen, die fi) ans Licht wagten, als der Bapft den Pilgerzug der 
franzöfifchen Arbeiter im Vatikan empfing, ward feine erfüllt, fonnte feine 
erfüllt werden. Nur fromme Einfalt verftieg fich bi$ zu dem Wahn, ber 
Heilige Vater vermöge mit einem Wink feines Bauberjtabes die Nöthe zu 
lindern, unter deren werhjelnden Formen die Menſchheit ſeit Jahrtauſenden 
ächzt. Dennoch folkten die Spötter ihren Wig für beffere Gelegenheit ſpa⸗ 
ren. Es war eine große Stunde, die in einen mit der Ziara gefchmücken 
Haupt den Entſchluß gebar, „ins Volk zu gehen” und die Dynaftien; den 


— 


Der Zauberer von Rom. 55 


ganzen Heerbann der ſich allein legitim dünkenden Mächte ihrem Schickſal zu 
überlafjen.&inft werden ſpaͤte Thomiſten vielleicht dem aufhorchenden@rdfreis 
Tünden, daß in diejer Stumde dje Renaiffance der fatbolifchen Kirche begann. . 
Die Kirche kann warten; und Muge Päpfte waren immer geduldig: 
patiens quia asternus.. Die Starrheit ift gewichen und in der Gemein- 
Schaft der Gläubigen neues Xeben erwacht. Schon wagt man, von Reformen 
zu reden, werben die alten Mauern unterfucht und die Hand, die auf hohle 
Steffen weift, braucht nicht zu zittern. Wer hat ſich früher um die Send- 
fchreiben des römiſchen Biſchofs gekümmert? Jetzt werden fie von allen 
Gebildeten gelejen, von Gelehrten und Politikern Eritifirt und in der afatho: 
liſchen Preſſe beſprochen. Das Papftthum ift wieder eine geljtige Macht 
geworden und mählich Löfen ſich num auch die Märchenjchleier, die diefe In⸗ 
ftitution dem Auge verhüllten. Niemand glaubt heute noch, daß alle Päpſte 
ein orgiaftifches Schlemmerleben führen; die Borgia find auch im Vati- 
fan eben fo felten twie die Hildebrand. Als Gutzkow feinen Rationaliſten⸗ 
roman gegen den römischen Zauberer fchrieb, ſah er den Bapft noch als eine 
Riefenipinne, die Alles ausfaugt, was ihr flatternd naht, alle regfamen Kräfte 
zu umſtricken ftrebt. Und viel jpäter noch, da längft fchon der Ruhm des 
ungen Deuifchland verblichen war, dachten wir, wenn vom Papſt geſprochen 
wurde, an Benedikt den Vierzehnten, der, während er von der Loggia der 
Beterstirche den Segen fpendete, fich felbft den größten Betrüger genannt 
haben foll: „In der Dienge da unten betrügt Einer den Anderen; und id) 
. betrüge fie Alle!’ Wir find nüchterner geworben, fleptijcher, doch auch ge⸗ 
rechter. Wir ftellen uns vor, daß es im Vatikan nicht anders zugeht als an 
anderen Höfen; nur find die Höflinge, ift die Bureaufratie da flüger, nad) 
vernünftigerer Auslefeaufdie Höhe gelangt. Und dieſes Gewimmelbeherrſcht 
nicht die Sucht, die Geifter zu knebeln, der armen Menfchheit ihr Bischen 
Glück zu rauben und alles Licht, alle Lebensluſt auszulöfchen. ES find 
Menſchen, bie ihre Heinen Gefchäfte machen und meift wohl überzeugt find, 
daß ihr Wirken der großen Chriftengemeinde frommt. Der Greis, dem fie 
gehordyen, wird von Todfeinden des Katholizismus bewundert, aber faum 
don Einem, der ihm nicht unterthan ift, gefürchtet. Mom hat den ſchrecken⸗ 
ben Nimbus verloren; und Leo der Dreizehnte ift der moderne Papft. 
Gebührt ihm der Name wirklich, auch nad) der neuften Encyklika? 
Auch ſie ift von einer gebildeten Mlanne verfaßt. Wie Leo, jo haben größere 
Peſſimiſten über die „Errungenfchaften der Neuzeit” geurtheilt; nur haben 
ſie den Enttäuſchten dann nicht dag älteſte Heilmittel angeprieſen: die Reli— 


56 Die Zutunft. 


gton. Das aber muß jeder Papjt thun, wenn er ſich felbjt nicht aufgeben 
will. Er kann nur gerade jo modern fein, wie e8 der Rang und der Pflichten- 
kreis, in den er gebannt ift, ihm erlaubt. Doch foldye Grenzen find in der 
Welt der Intereſſen und Leidenfchaften nicht nur Päpften gejeßt. 

Der Schüler des Heiligen Thomas fpricht heute nicht anders als 
früher. Schon vor elf Jahren fchrieb er, die Fundamente der Gefellichaft 
feien erfchüttert, weil fie jich vom rechten Glauben abgewandt habe. Die 
alte Formel, die jegt nur überrafcht, weil man den Bapft nit moderneren 
Dingen beichäftigt glaubte. An das Ohr des Zweiundneunzigjährigen dringt 
von den wirren Geräufchen der Welt längſt wohl nur noch ein fernes Braufen. 
Er ahnt nicht, welcher Zwieſpalt fi) in den Gemüthern aufgethan hat; 
‚ und müßte ers: er vermöchte die Kluft nicht zu fchließen. Man könnte 
einen Bapit träumen, der Jeſu Lehre nachlebte, allem Glanz entjagte und 
mit den Armen als Armer haufte. Erwäre eine intereffante Geftalt, doch fein 
Papſt mehr, nicht die weithin leuchtende Spite der Byramide, die in langer 
Säfulararbeit von den feinjten, erfahrenften Geiftern aufgethärmt worden 
ift. Ein Bapft mag modern fein, die Zeichen der Beit erfennen und das Schiff⸗ 
lein Betri vom Ballaft der Jahrhunderte entbürden: er bleibt der Hüter einer 
Inſtitution, die, um zu dauern, feinmuß, wie jie ift, wie fieimmermwar. Leo 
der Dreizehnte hat durch Eugen Takt, durch ftille Benugung aller Konjunk⸗ 
turen erreicht, daß die Gebildeten feiner Stimme wieder laufchen, ihn ohne 
vorurtheilenden Haß hören lernten. Er hat die ſtärkſte Organijation, die fe 
erjonnen ward, dem Anspruch des neuen Tages angepaßt. Seine politische 
Zechnifwar ganz modern, jomodern, daß jeder Staatsmann, jeder Großindus 
ftrielle fie mit Nugen ftudiren wird. Da aber endet auch des Mächtigften 
Macht. Das Lebenswerk eines ungewöhnlichen Dienichen reichte faum hin, 
um das Dafeinsrecht der katholifchen Kirche zu fichern, um zu zeigen, daß in 
jedem Staat, mit jedem politichen Glauben ein Katholik dem Dogma treu 
bleiben und felig werden kann. Yun abernahteinanderer Kampf, der nichtkom 
allein, jondern die tiefften Wurzeln der Chrijtenlehre bedroht. Langſam 
dämmert der Menjchheit die Erkenntniß, daß fie wählen, neue Sittlichkei 
juchen, ich eine neue Geiftesheimath Schaffen muß. Das Gebet, das von di 
Lippe gelallt und vom Handeln auf Schritt und Tritt verleugnet wird, be. 
leere Kult Eraftlojer Heuchelei Hilft nicht weiter. Der Bapft, der diefen Kamp! 
zu beftehen und aus den Auinen die Herrfchaft der Kirche ungemindert z: 
retten vermag, wird das größte Wunder der Chriftengefchichte wirken. 


a} 














Pandynamismus. 57 


| Dandynamismus.”) 


— liegen in unſerem Weſen dauernde Vorausſetzungen einer pan= 
dynamiſtiſchen Betrachtung. Wie unſere Sinnlichkeit der Bereinigung 
mit einer ergänzenden Natur zuftrebt, um in dieſer Bereinigung die Gattung 
fchöpferifch fortzufegen, fo ftreden wir fehnfuchtvoll unfere Geiftesarme aus 
nach den erhabenen Geheimniſſen des Himmel3 und einer jenfeitigen Welt; und 
wo und das Wiffen hier nicht befriedigt, da möchten wir fo gern unter 
Annahme übernatürliher Thatſachen beweifen. Und es begreift fi, daß 
Negungen in diefer Richtung vor Allem bei Anbruch neuer geiftigen Zeiten 
hervortreten, da man ahnungvoll ertragen will, was an geiftigen Errungen- 
ſchaften erft einer reichen Abfolge von Geſchlechtern in harten Mühen zum 
Theil zu erarbeiten vergönnt ift. Und diefe Regungen waren im fechzehnten 
Jahrhundert, einem Zeitalter diefer Art, doppelt erflärlich, da fie mit den 
ungeahnteften Erweiterungen des geiftigen Horizontes der abendländifchen 
Bölker zufammenfielen, Erweiterungen, die dem verzüdten Blick als die Ente 
fchleierung jedes Geheimniſſes erfcheinen konnten. Da ward zu der befannten 
geichichtlichen Welt in der Antife eine neue entbedt. Da reihte fi ein 
geographifcher und ethnographifcher Auffhluß am den anderen; und die 
Begrenztheit diefer irdifchen Welt und die Kugelgeftalt der Erde erfchienen 
nit mehr als Hypotheſen, fondern als anfchaulich gewordene Wahrheit. 
Und all diefe Nevolutionen, bie einer noch niemals möglich gewefenen 
Weitjichtigfeit des geiftigen Blickes zudrängten, wurben ſchließlich an Wirk: 
ſamkeit fibertroffen durch die heliocentrifche Lehre de8 Koppernikus. Wer 
hätte das ptolemäifche Weltſyſtem in feiner finnlichen Anfchaulichkeit be- 
zweifeln mögen, wie e8 von der ummittelbaren Realität der wahrgenommenen 
kosmiſchen Bewegungen ausging, zumal alle dagegen möglichen Einwände durch 
eıne große Anzahl höchſt finnreicher Hilfshypothefen befeitigt fchienen? Und 
nun erfchien das Buch De revolutionibus orbium coelestium, das zwar 
nicht auf Grund erafter Beobachtungen, wohl aber von der einfachen Forde— 
rung ber, daß die erhabenften Schöpfungen Gottes nur von einfachfter Sym— 
metrie beherrfcht fein Fönnten, dies ganze Syftem über den Haufen warf. 
Nicht die Erde erfchien jegt mehr als der Mittelpuntt des Weltalls, fondern 
die Sonne; ein dienendes, in Gemeinfchaft mit anderen Körpern in Doppel- 
bewegung um die Sonne Freifendes Glied des Ganzen nur war unfer Planet: 
aufgegeben werden mußte das biäher kaum je bezweifelte Vorrecht einer Be- 
trahtung der fernen Weltweiten von geocentrifhem Standpunkt. Wie lein 
war jet diefe Erde geworden, — und wie Hein gar der Menſch, daß man 
feiner gedächte! „Was ging nicht Alles durch diefe Anerkennung in Dunft 





*) S. „Zukunft“ vom 5. April 1902. 





58 Die Zukunft. 


und Rauch auf: ein zweites Paradies, eine Welt der Unfchuld, Dichtkunſt 
und Frömmigkeit, dad Zeugniß der Sinne, die leberzeugung eines politifcy- 
religiöfen Glaubens.“ *) Es war eine wifjenfchaftliche Erweiterung und zu= 
gleich fittliche Begrenzung des menfchlichen Standpunkte von folder Uner⸗ 
hörtheit, daß es verftändfich ift, wenn fi die Welt nur langjam an ihn 
gewöhnte. Auf die heliocentrifhe Hypotheſe des Koppernikus haben die 
Forſchungen ‚Keplers über die Entbehrlichfeit der ercentrifchen Kreife und 
Epicyklen zu Gunften der Annahme einer einfachen Kurve als. Bahn der 
planetarifchen Bewegung folgen müffen und auf diefe Galileis Forfchungen 
über die Schwerkraft, ehe Newton zu jener Hypotheje über die Bewegungen 
der Himmelskörper gelangte, die, vornehmlich durch die unvergleichlich 
popularifirende Wirffamkeit Voltaires, der neuen Lehre zur Stellung eines 
unveräußerlichen Beſtandtheils der europäifchen Bildung verhalf. 

Indem aber diefe gewaltige Ausdehnung des menjchlihen Horizontes 
eintrat, wirkte fie fehließlich doch weniger auf die Erweiterung der Phantafıe 
al8 auf die Ermeiterung der Erfahrung. Und fo fam das Ergebniß doch 
am Ende nicht pandynamiſtiſchen Anfchauungen zu Gute, wie jie im 
Tiefften noch auf der Zulafjung des Begriffes des Wunder und damit 
wieder auf dem Vorherrſchen einer Denkmethode ungenügender Analogie 
fchlüffe beruhten, fondern vielmehr einer ganz anderen Yuffaffung der Welt. 
Je mehr jeßt, unter den verfchiedenartigften Anregungen, die Erfahrung ſich 
berdichtete und zugleich befchied, um fo mehr erweiterte ſich das Kaufalität- 
bewußtſein: nicht mehr nad) nur zum Theil zutreffenden Analogien, Produkten 
oberflächlicher Beobachtung und unzureichender Erfahrung, fondern nad) der 
Kenntnig möglichft ausgedehnter regelmäßiger Zufammenhänge von Urſache 
und Wirkung begann man, bie Welt der Erxfcheinungen zu ordrren. So 
wurde das Beitalter einer pandynamiftifchen Naturbetrachtung abgelöft durch 
ein Zeitalter, das vermöge der Induktion und Abftraftion im den einfachlten 
Naturvorgängen vor Allem einfachfte Regelmäßigfeiten und Gefege aufzu⸗ 
fuchen beftrebt war, in der Hoffnung, gerabe in ihnen, gleichgiftig, welchen 
tiefften hinter den Pforten der Natur ftehenden Wirkungen jie verdankt oder nicht 
verdankt würden, den Schlüffel zum Verſtändniß auch der größten Er- 
fcheinungen zu finden. Ein Saufalitätbewußtfein, das fein Wunder mehr 
zulieg, begann, uranfänglich, unbeholfen noch und ahnungvoll, das Kleinſte 
und Größte unmittelbar zu verbinden, unb gab fi) der frohen, durch die 
Thatfachen ſchließlich beftätigten Heberzeugung Hin, daß e8, indem es ben 
Bufammenhang eben de3 Gewöhnlichen erforfche, auch das bisher als unge: 
wöhnlich Betrachtete zu erklären im Stande fein würde. Das Zeitalter 

naturaliftifcher Naturforfchung 309 herauf. 





*) Goethe, Zur Farbenlehre. 


Pandimamismus. J 59 


Borläufer diefes Zeitalter reichen allerdings big ins dreizehnte Jahr⸗ 
hundert zurüd. In dieſer Beit bat ſchon der große Scholaftifer Albertus 
Magnus im Kloſter der kölner Dominikaner feine botanifchen Verſuche 
gemacht; und neben ihm bereits ift der Engländer Roger Baco dem Gedanken 
vorausfegunglofer Naturwiſſenſchaft nahe getreten. Bahnte dann Heinrid) von 
Zangenftein, ein Hefle, der fett 1383 in Wien wirkte, Durch Bekämpfung des aftro- 
fogifchen Wunderglaubens den großen vorkoppernilaniichen Aftronomen, einem 
Peurbah und Regimontan, den Weg, fo bat der Kardinal von Kues, in 
feinen erakien Forſchungen nicht minder bedeutend als in feinen müftifchen 
Spekulationen, recht eigentlich eine Janusgeſtalt zwiſchen Mittelalter und 
Neuzeit, neben weſentlichen Berbefjerungen des Kalenders im Sinn ber jpäteren 
gregorianifchen Reform vor Allem ſchon unmittelbare Borahnungen der kopper⸗ 
nifanifchen Hypotheſe gehabt. 

Allein diefe Männer ftanden doch fehr vereinzelt; fie fchufen noch nicht 
aus einem fich aufbrängenden Gefammtbewuptfein der Forfchung ihrer Zeit 
heraus, wenn auch ftärfere intelleftualiftifche Neigungen des fpäteren Mittel: 
alter8 in keiner Richtung des Geiſteslebens zu verkennen find; und fo drängten 
fie mit ihren meift nur in unreifen Vermuthungen beftehenden Ergebniffen 
doch mur gegen die Pforten eines Zeitalter an, das noch nicht eröffnet war. 
Erſt der Individnalismus des fechzehnten Jahrhunderts, die Freiftellung des 
Individuums gegenüber dem endlofen Detail des mittelalterlihen Offen⸗ 
barungsglaubens und der Unterwerfung, die der dogmatifchen Faſſung biefes 
Glaubens gefchuldet ward, hat die meue Anfchauung völlig entbunden. 


Aber in dem Charakter der neuen Zeit lag freilich zugleich aud) der 


Charakter des Verlaufes der neuen Studien beſchloſſen, wenigſtens ſo weit 
fie auf das philoſophiſche Gebiet führten und von dieſem aus in die wiſſen— 
ſchaftliche Praris hinein getrieben wurden. Die Perfönlichkeit des fechzehnten 
Jahrhunderts zeigte in den Zeiten ihrer vollen Durchbildung, vornehmlich feit 
der Wende bes fechzehnten Jahrhunderts, den Typ des Ifolirten, für ſich 
Stehenden, in jih Genügſamen: fie war eine abgefchloffene Welt im Stleinen. 
Es verfteht jich, daß dieſe Auffaffung ihres Weſens nun aud an den Malro- 
fo8mo8 herangeholt wurde: ohne daß darüber weiter ein Wort verloren wurde, 
erſchien diefen Zeiten die große Welt al3 eine Einheit gejchloffenen Charakters, 
als ein Kunſtwerk des Schöpfers. Das war die Vorausfegung der pandy- 
namiftifchen Naturwiffenichaft geweien. Das blieb auch die Vorausſetzung 
des neuen Realismus. 

Traf fie aber zu, fo mußte e8 aud nad der neuen naturaliftifchen 
Auffafjung doch wieder eine Methode der Ableitung al ihrer Geheimnifle von 
einem oberften Prinzip, von einem Punkte aus geben. Und nachdem eine 
folche Ableitung aus der ftofflichen Hypothefe eines allgemeinen Kräfte: 


5 


80 Die Zukunft. 


zufammenhanges im Pandynamismus geicheitert war, ſchien es auch nicht 
mehr zweifelhaft fein zu fünnen, wo fie nun zu fuchen war. Wohin man 
and in den einzelnen Gebieten der Natur und der Geſchichte den Blid warıbte, 
da ergab fi der Erfahrunginhalt in die Begriffe des Raumes und ber Zeit 
gebettet. Raum und Zeit alfo mußten vor Allem in ihren empiriſchen Be 
ziehungen in fih und unter einander begriffen werben, wie fie am Ende ſich 
auf den noch einfacheren Oberbegriff der Größe reduziren ließen: erft durch 
dieſes Begreifen hindurch, auf einem folchen, rein formalen Wege glaubte man, 
aus dem Ganzen der Erfcheinungen zum Verſtändniß des Einzelnen ge— 
langen zu können. | 

Als Wiſſenſchaft der einfachen Größe aber, des Raumes und der Zeit, 
erichien die Mathematil. Sie fonftituirt, fo wurde ber Zufammenhang an-= 
gefehen, über dem bumten Getriebe des Konkreten und Veränderlichen Die 
Lehre von Raum und Zeit als eine exakte und abfolute Wiffenfchaft, wie 
fie in ihrem Fortfchritt der Berichtigung durch die Kontrole erneuter Wahr⸗ 
uehmungen der Erfcheinungwelt in feiner Weife mehr bedarf; fie enthält | 
damit die Prinzipien einer wahren deduftiven Methobe, mit deren Hilfe 8 
gelingen muß, von ihrer volljtändigen Entfaltung aus aud) das Reid) des 
finnlih Konfreten zu erflären. Mathematif alfo und dur fie hindurch Ver— 
ſtändniß der Erfceheinungmwelt: Das wurde zunächlt die Loſung. 

Aber auch diefer Gedankengang war im fechzehnten Jahrhundert nicht 
völlig neu. Es ift ſchon an dem Beifpiel Platos zu erkennen, von welchem 
Einfluß die Mathematik bereit3 auf die Philoſophie der Alten gewejen 
iſt. Freilich blieben die Alten dabei in der Mathematik der Hauptſache 
nad) in das Reich der Dinglichkeit und Anſchaulichkeit gebannt: aus feiner 
weiteren Durchdringung Prinzipien einer rein begrifflichen Lehre von Raum 
und Zeit abzuleiten, lag nicht in der Richtung ihres Denkens. Dafür war 
dann aber das Mittelalter in der Entjinnlichung der Vorftelungen von. Raum 
und Zeit ziemlid, weit über fie hinaus gegangen. 

Das mittelalterliche Denken, fo weit e3 ſich auf höhere Probleme ein- 
ließ, war eine Folgeerfcheinung Defien, was man zu diefer Zeit wiffenfchaft- 
fiche Theologie nannte: nicht eigentlich aus der nationalen Geiftesbemegung, 
fondern aus der chrililichen Leberlieferung der fpäten Griechen- und Römer— 
zeit, unter Einfchlug gewiffer Einwirkungen der heidnifchen Bhilofophie t 
Alten, erhielt e3 feine Impulfe. Es war alfo eine Erfcheinung nicht ſelbſ 
gewachjener Kultur, Sondern zeitlicher Rezeption aus weltgefchichtlicher V 
gangenheitt. Dem entfprechend, war e8 im höchften Grade abgezogen, of. 
ftärfere Berührung mit den lebendigen Strömungen der Öegenwart; un 
Dem entfprechend, bildete e8 mit Vorliebe virtuofe Methoden und gänzli 
abftrafte, uniinnliche, gleihfam dännfchliffige Begriffe aus. Und indem r 


Pandynamismus. 61 


wirklichkeitfremd nur in dieſen Begriffen lebte, ſchrieb es der ſyllogiſtiſchen 
Methode allmählich Schöpferkraft und den Begriffen an ſich Nothwendigkeit 
des Seins zu. Die ontologiſche Anſchauung, die Auffaſſung, daß gedachte 
Begriffe allein wegen der Thatſache, daß ſie gedacht werden, auch wirklich 
ſeien, iſt das originellſte Erzeugniß, das von dem ſcholaſtiſchen Denken in 
der Geſchichte der Philoſophie hervorgebracht worden iſt. 

Eine geiſtige Dispoſition, wie die der Scholaſtik, mußte nun ſchon dazu 
führen, den Vorſtellungen von Raum und Zeit denjenigen begrifflichen Cha- 
rafter zu verleihen, deſſen das fechzehnte bis achtzehnte Jahrhundert für die 
Anwendung der Mathematit als Dentmethode der Philofophie und, wie es 
anfangs fchien, auch der Naturwiffenfchaften beburften. In der That findet 
man bei den mittelalterlichen Borläufern der realiftifchen Naturwiflenichaft des 
fiebenzehnten Jahrhunderts fchon die Verwendung der Mathematik, wenn 
auch noch nicht in der vollendeten Art eines Galilei oder Newton. Seiner 
diefer Vorläufer ift aber in biefer Hinjicht wohl charafteriftifcher als Roger 
Baco; und feiner ift in diefer Stellung wohl zutreffender gefchildert worden 
als eben Baco von Goethe.*) Baco erfcheint die Mathematif in ihrer 
reinen Form ſchon ausdrücklich als Hauptfchlüffel aller wiſſenſchaftlichen Ber: 
borgenheit, ja, auch aller metaphyfifchen Fragen: „Es giebt Mancherlei, das 
wir geradehin und leicht erfennen; Anderes aber, da8 für uns verborgen it, 
welches jedoch von der Natur mohl gelannt wird. Desgleichen jind alle höhere 
Weſen, Gott und die Engel, als melde zu erkennen die gemeinen Sinnen 
nicht Hinreichen. Aber es findet fich, daß wir auch einen Sinn haben, dur 
den wir Das gleihfalld erkennen, mas der Natur bekannt ift, und diejer ift 
der mathematische: denn durch diefen erfennen wir auch die höheren Wefen, 
als den Himmel und die Sterne." Bon diefer Auffaffung ausgehend, wendet 
Baco die Mathematik als eine der Logik weit üherlegene Methode an, um 
nicht blos die Naturerfcheinungen im engeren Sinn, nein, auch die pfycholos 
gifchen Erfcheinungen deduftiv zu begreifen: jo wird ihm, zum Beifpiel, die 
Grammatik zur Rhythmik, die Logik zur Mufil. Ya, damit nicht genug: 
* auch dem moralifchen und religiöfen Gebiete nähert er fich auf mathematifche 
MWeife, indem er die Beziehungen diefer Gebiete mathematischen Beziehungen 
ſymboliſch gleichjekt. 

Man fieht fogleih: Das find feinfinnige Betrachtungen, feine Schlüffe; 
die Wirkung ift erbaulich, nicht überzeugend. Aber was Baco und fein 
Nachfolger im Mittelalter ahnend verfucht haben: das Begreifen der Welt 
bermöge — und freilich zum größten Theil noch nach Analogie — der Methode 


*) Zur Farbenlehre (Werke Weim. Ausg. II 3, S. 151). Der hiftorijche 
Theil der goethijchen Farbenlehre bietet noch heute die am Tiefſten durchdachte 
Geſchichte der Naturwifjenfchaften bis ins achtzchnte Jahrhundert, die wir befiten. 





62 Die Zukunft. 


der Mathematik: Das unternahm das Zeitalter realiftifcher Naturwiſſenſchaft, 
wie e8 dem Panpſychismus folgte, in feinem allgemeinen Denken num wirf- 
fi ernfthaft durchzuführen und zu vollenden. 

War die Mathematik diefer Aufgabe gewachſen? Sie war e8 höchſtens 
dann, wenn jie thatfächlich rein begrifflichen Charakters war und wenn, Dies 
vorausgefegt, ihre fpezielle Ausbildung im fechzehnten und fiebenzehnten Jahr: 
hundert auf der Höhe der Forderungen ftand, die man an jie ftellte. 

Nun hat die Entwidelung des Denkens im neunzehiten Jahrhundert 
gezeigt, daß die Mathematik Feineswegs die rein begriffliche Wiſſenſchaft ift, 
als die fie eine frühere Zeit anfah, daß jie vielmehr "in ihren Grundveſten 
anſchaulich verankert ift. Die Mathematik konnte alfo die ihr im fiebenzehnten und 
achtzehnten Jahrhundert zugewieſene Aufgabe felbft dann nicht erfüllen, 
wenn fie im Uebrigen, in ihren einzelnen Fortfchritten, den Anforderungen des 
allgemeinen Denkens entfprechend entwidelt gewejen wäre. Aber wenn nun 
auch die Hauptabjicht bes fiebenzehnten und achtzehnten Jahrhunderts: die 
volle deduftive Ableitung der Welt und zunächſt der Naturerfcheinungen in 
mathematifcher Methode, nicht erreicht ward und nicht erreicht werden konnte, 
fo war doch der in den eben befprochenen Zufammenhängen liegende Impuls 
zum mathematifchen Verſtändniß der Welt fo überaus gewaltig, daß ihm 
die größten Errungenfchaften auf naturwifjenfchaftlichem, philoſophiſchem und 
auch geiſteswiſſenſchaftlichem Gebiete zu verdanken find: die Mathematik hat 
ſich thatſächlich als eins der ſtärkſten, wenn nicht als das ftärkite Gährung- 
element im Denen vor Allem des fiebenzehnten und achtzehnten Fahrhunderts 
erwiefen. Darum bedarf e8 zum Verftändnig des Geifteslebens diefer Zeit 
überhaupt einer eingehenderen Betrachtung ihrer Entwidelung. 

Die Mathematik war bei den Alten wohl, wie überall, aus praktiſchen 
Bedürfnifien entitanden. Jedes Volk, das voll ſeßhaft wird, bedarf für die 
Auftheilung des Grundes und Bodens einer primitiven Feldmeßkunſt; Feine 
Zeit der Naturalwirthſchaft entbehrt fie: es jind die Anfänge der Geometrie. 
Ihnen aber fügen ſchon die erften entwidelten Zeiten der Tauſchwirthſchaft 
die Arithmetik hinzu; denn wie könnte felbft ein primitiver Handel, nament⸗ 
[ich fo weit er fih ſchon eines Geldes bedient, ohne die Negeldetri bes 
trieben werden? 

Waren fo die Anfänge der mathematifchen Wifjenfchaft bei den Alten 
wohl durchaus praftifcher Natur, fo liegt e8 im Charakter der antiken Kultur, 
daß auch ihrer vollendeteren Mathematik noch ein in hohem Grade anjchau: 
licher Charakter geblieben ift. Gewiß find die Bemweife Euklids durchaus 
deduftiv; jedes induktive Moment, das etwa gar auf die Entitehung bes zu 
beweifenden Sages hinmiefe, ift umterdrüdt; aber doch ift hier, wie fonft in 
der Mathematik der Alten, die Abftraktion niemals fo weit getrieben, daß 


u — nn — no - . oe 
“ m. — —— 





Pandynamismus, 63 


über den abſtrakten Raumformen die Körper, über den abfirakten Zahlformen 
die Zahlen vergeffen worden wären, geſchweige denn, daß aus abitraften Be- 
griffen von beiderlei Art bereitS der allgemeine Größenbegriff entwidelt worden 
wäre. Und ferner iſt bei den Alten für jederlei Größe, wie der Raum-, 
fo der Zahlenwelt das Moment der Stetigfeit feitgehalten worden; — von 
der Anſchauung, daß die mögliche Zahl der Brüche zwiſchen zwei Zahlen 
unendlich und mithin der Charakter jeder Zahl unftetig fei, finden wir eben 
fo wenig Gebrauch gemacht wie von der anderen, daß jeder Körper als 
Träger von Raumformen in Bewegung begriffen und Ruhe nur eine ins 
Sleichgewicht gefegte Summe von Kräften fei, die in Bewegungen zur Ere 
fcheinung gelangen. ALS die Xehre von ftetigen Größen und als ſolche aller- 
dings reich entfaltet, ging mithin die Mathematik der Alten an die abend: 
ländiſchen Nationen über. Wie aber hätte fie hier, in beren Mittelalter, 
mehr als allenfalls begriffen, wie hätte fie erweitert werden follen? Wir kennen 
für die deutfche Gefchichte die Entwidelung des äſthetiſchen Sinnes von der 
Urzeit bis in die Jahrzehnte der Reformation: von der robuften, noch rein 
ornamentalen Bewältigung des Umriſſes der Gegenftände der Erjcheinung- 
welt war man langſam bis zu deſſen zutreffender Wiedergabe fortgefchritten. 
Wie hätte eine Zeit, die auf Ajthetifchem Gebiet noch um die Wiedergabe des 
Umriſſes rang, auf intelleftwellem Gebiet aus eigener nationaler Kraft durch 
das Aeußere der Erfcheinungmwelt zu dem Begriff der ihr zu Grunde liegenden 
reinen Größe vordringen follen? Es war faum denkbar, daß von diefem 
Standpunft aus auch nur die Errumgenfchaften der Alten in genügender 
Tradition fortgepflanzt wurden. 

Aber wir haben ſchon gefehen: neben dem nationalen Denken ftand 
die Denkkunſt der Scholaſtik; und die fcholaftiichen Kreife haben die Mathe: 
matik der Alten feit vornehmlich dem dreizehnten Jahrhundert nicht nur bes 
wahrt: jie haben auch die Vorftellung der mathematifchen Größe ald Ober- 
begriff über Raum: und Zahlengröße ſchon leife dDurchzubilden verfucht. Ganz 
gelungen iſt dann diefe Durchbildung freilich erft im fechzehnten und fieben- 
zehnten Jahrhundert. 

Dagegen erfchien noch dem ganzen Mittelalter im Allgemeinen die 
Größe als ftetig. Hier befonders, in diefem Punkt, mußte daher die weitere 
Entwidelung des individualiftifchen Zeitalterd einfegen; und in der That 
verläuft fie von hier aus hinein in die glänzenden Errungenschaften der Funk— 
ion= fowie der Differential: und Integralvehnung. Zu Grunde aber liegt diefer 
Sntwidelung zunächſt im fechzehnten Jahrhundert noch die allgemeine Vor: 
tellung der pandynamiftifchen Naturanfchauung, die hinter jeder Erfcheinung 
in Spiel lebendiger Kräfte fah, alfo dem Begriff der Uinftetigfeit der Größe 

yr leicht unmittelbar und intuitiv nahe treten konnte; und im fiebenzehnten 


oO 








64 Die Zutunft. 


Jahrhundert wird für fie die MWechjelbeziehung mit den Forfchungen auf dem 
Gebiete der Mechanik wirkfam, die wiederum von der Statik, wie jie die Alten 
faft allein gelehrt hatten, fehr früh zur Dynamik überging und damit ben 
Begriff der Bewegung in abgellärterer Form zur Verfügung ftellte. 
. Den entfcheidenden Schritt zur Ausbildung ber Funktionrechnung und 
damit zur Xöfung des Problems, das gegenfeitige VBerhältnig von Größen 
gleihmäßiger Unſtetigkeit auf eine für jeden Moment diefer Unftetigfeit zu- 
treffende Formel zu bringen, hat Descartes gethan. Er ging dabei von den 
auch den Alten fchon befannten Gleichungen aus. Zunächſt war es bier 
Har, daß die Unbelannte jeder Gleichung, da fie unbenannt ift, ſich eben fo 
fehr als Raum: wie ald Bahlengröge erweifen konnte: in diefer Unbelannten 
war affo von vorn herein der Ausdrud der allgemeinen Größe gegeben. 
Wie aber konnte man nun darüber hinaus, unter der Annahme der gleich- 
mäßigen Unftetigfeit der Größen, zu der Möglichkeit kommen, das Ber- 
hältniß diefer Unitetigkeit der Größen zu einander einfach darzuſtellen unb 
zu berechnen? Auch hier half die Gleichung. , 

In Betracht kommt hier der erfenntnißtheoretifche Charakter der Gleichung. 
In der Gleichung wird von der Annahme ausgegangen, daß die zu findende 
Unbelannte eigentlich, wenn auch unter den VBerhüllungen der Gleichung, befannt 
fei; und der Beweis für die Richtigkeit diefer Annahme und damit auch für Die 
Richtigkeit der Gefanımtbehauptung wird dadurch geführt, daß in der Auflöfung 
ber Gleichung gezeigt wird, wie diefe Annahme in allen Folgerungen, die ſich 
aus ihr ergeben, mit fonft allgemein al3 wahr befannten Sägen übereinftimmt. 
Die Beweisführung ift alſo indireft. Weil Das aber der Fall ift, weil das 
in der Gleichung angewandte Beweisverfahren von der Folge auf den Grund 
ſchließt, fo läßt 8, wie jeder Schluß von der Folge anf den Grund, eine 
mehrdeutige Loſung zu. Diefe Eigenart der Gleichung, ſolche mehrdeutigen 
Löſungen zu ergeben, iſt ja befannt genug. Dieſe Thatfache bringt es num 
aber mit jich, daß nur auferhalb des Beweisverfahrens Liegende Betrachtungen 
ergeben können, welche ter denkbaren Köfungen die vorzuziehende if. Und 
die Folge dieſes Umftandes wiederum ift e8 lange Zeit hindurch gemwefen, 
dag man allgemein gefaßte, alfo wiflenfhaftliche Aufgaben einem fo mehr: 
deutigen Beweisverfahren nicht hatte überlafien fünnen. Und fo hatte bie 
Gleichung bisher auf dem Gebiet allgemeiner, namentlich auch naturwiffenfcha| 
licher Beweife Feine große Nolle gefpielt. 

Wie aber, wenn es num gelang, den verfchiedenartigen Bebingungı 
innerhalb der Aufgabe, deren Dafein die Mehrdeutigkeit der Löſung ergal 
für den Verlauf der Löſung der Aufgabe einen ſolchen Ausdrud zu ve 
Ihaffen, da die in ihnen beruhenden verfchiedenartigen Meöglichfeiten de 
Löfung im Schlußergebnig der Rechnung zu volltommenem Ausdrud gelangter 


Pandyhnamismus. U 65 


Dann war offenbar die wiſſenſchaftliche Brauchbarfeit des Gleichungverfahreng 
erreiht. Da war es nun Descarted, der den Weg zu diefem Ziele zeigte, 
indem er. die algebraifche Symbolik einführte: womit den verfchiebenartigen, 
der Aufgabe einverleibten Bedingungurtheilen für den Verlauf des Beweifes 
duch Buchftabenfgmbole ein allgemeiner Ausdrud verjchafft wurde, vermöge 
deren die Bedingungurtheile wieder in Gleichungen umgewandelt wurden. 
Damit fiel jede Mehrdeutigkeit der Ergebniffe: denn nun war durch bie 
allgemeine, den verfchiebenen denkbaren Bedingungen entfprechende Bedeutung 
der Zeichen diefer Symbolik das generell Bedingte den Schluffolgerungen 
felbft einverleibt, fo daß diefe eine an fich eindeutige Form erhielten. Was aber- 
bedeutete num dies Alles für das Verftändniß der fletig veränderlichen Größe? 
Es war Kar: mit biefem Ergebnig war ein bisher noch fehlendes Mittel 
gewonnen, um Aufgaben zu löfen, in denen beftimmten, in beftimmter Weife 
veränderlichen Faktoren beftimmte, in entfprechender Weife veränderliche Er- 
gebniffe entfprachen; ober mit anderen Worten: e8 war dad Mittel gewonnen, 
dem Begriff der fetig veränderlichen Größe in ihrem Verhältnig zu anderen 
ftetig veränderlichen Größen gerecht zu werden. Es war jegt möglich, jede 
Mehrheit mathematischer Größen, vorausgefegt, daß deren Verhältniß ſich 
unter beftimmten Bedingungen änderte, in der durch diefe Bedingungen auf 
bie einzelnen Größen ausgeübten Wirkung zu verfolgen und für die Durch— 
führung dieſes Verfahrens eine allgemeine Rechnungform — man nannte ſie 
‚eine Funktion — aufzuſtellen. 

Aber verwandelte ſich damit, daß Dies möglich wurde, nicht das bis⸗ 
herige Beweisverfahren in eine Methode der Unterſuchung? Gewiß: eben 
Das geſchah; und daß es geſchah, war vielleicht das folgenreichſte Ergebniß 
der durchgeführten Neuerung. Denn jetzt war das neue Verfahren nicht 
mehr blos ein Werkzeug des Beweiſes, ſondern es wurde zur Analyjis, zur 
Sorfchungmethode, die bei dem ihr innewohnenden Zuge vom Zufammen- 
gejeten zum Einfachen, vom Befonderen zum Allgemeinen eine Fülle von 
Beobachtungen über das Verhalten mathematifcher Größen zu einander ver- 
anlaffen mußte: womit der Anftoß gegeben wurde zur Wufftellung der 
wichtigften Gefege über das Verhalten von Größen überhaupt in Raum und 
Zeit. In diefem Sinne wurde die neue Mathematik jegt dem erweiterten 
Raufalitätstriebe, dem Grundzuge der neuen Beit, für das Zufällige Aberhaupt 
‚feinen Raum zu laffen, fo weit gerecht, wie es jih um die Bearbeitung von 
Gröpenverhältniffen handelte: mit der Ducchbildung der Funktionrechnung be= 
gannen alle Größenbeziehungen, unferem Denken in der felben Weife erfchlofien 
zu werden, wie das AU immer mehr dem Kauſalgeſetz als einer nun ftet8 
weniger abweisbaren Forderung unferes Denkens unterworfen erfhien. Doc) 
bedurfte es zur vollen Verwendbarkeit der Yunktionrechnung in dem foeben 


5% 


66 Die Zukunft. 


befchriebenen Sinne noch eines weiteren Hilfsmittel. Indem man nämlich 
die Abhängigkeit einer Größe von einer anderen ober von einer Mehrheit 
anderer Größen auf dem Wege der Funktion umterfuchte und zu dieſem 
Zwecke zunächſt eine oder mehrere biefer Größen beliebig veränderlih annahm, 
kam man zu einem Begriff, der rechnerifch zunächſt kaum faßbar erichien, 
zu dem ber ftetigen Veränderlichkeit. Und doch kann, ba die Dinge aufer 
ung nicht minder wie unfere Borftelungen in ftetigem Fluß von Veränderungen 
begriffen find, keine größere Beſtimmung gedacht werden, die jich diefem 
objektiv wie fubjeltiv gleich zweifellofen Moment entzöge! 

Die Mathematif kann feiner in der That nicht reſtlos Herr werben. 
Aber jie kann e8 im ihre Unteriuchungen in den denkbar Heinften Fehlergrenzen 
mit einbeziehen, indem jie fich die veränderliche Beziehung in Fleinfte Elemente 
zerlegt denkt, in denen diefe Veränderung aufgehoben erfcheint, und dieſe 
Elemente mit beachtet. Die Mittel hierzu Tieferte in der zweiten Hälfte des 
fiebenzehnten Jahrhunderts die Imfinitefimalmethode (Differentialrechnung), 
- wie fie Newton in feiner luriontheorie, die in den Acta eruditorum des 
Yahres 1684 erfchien, vom Geſichtspunkte der Bewegung biefer kleinſten 
Elemente, Leibniz von geometrifchen, Euler von arithmetifchen Betrachtungen 
ber entwidelt haben: bis Lagrange in feiner derivirten Funktion die vollen- 
detfte der hierher gehörigen Methoden ſchuf. Nun war es in der That möglich), 
die gegenfeitigen Beziehungen ftetig veränderlicher Größen in jeder Hinficht zu 
verfolgen, wie aus der Kenntniß eines Theiles diefer Beziehungen oder auch 
einer aus ihnen abgeleiteten Relation daS ganze Verhältni ihrer gegenfeitigen 
Beziehungen durch Integration, Das heißt: durch eine Umfehrung des Differential- 
verfahrens, herzuftellen; und damit war überhaupt da8 Geheimnif des Ber: 
baltens der Größen, mithin auch der Körper zu einander enthüllt: grundfäglich 
hatte jegt die Mathematik ald die Wiffenichaft der Größen alle Gebiete der 
erfenntnißtheoretiichen Grundlage durchmeflen und erobert. 

Halten wir hier inne und fragen uns, was denn damit für die philo- 
jophifchen und naturwiſſenſchaftlichen Probleme erreicht war. 

Die PHilofophie mußte bei der ganzen Veranlagung des feelifchen 
Lebens diefer Jahrhunderte jo viel wie möglich an der Deduktion feſtzuhalten 
ſuchen: das AU erſchien ihr al3 Eins, wie das Individuum; und ala N-* 
Eine, in fi klar Zufammenhängende, mußte e8 von einem Bunfte aus ı 
möge einer einzigen Methode begriffen werden können. War nım in 
Mathematik diefe Methode gefunden? 

Die Entwidelung der Mathematik hatte vom fechzehnten bi8 zum E 
des fiebenzehnten Jahrhunderts aus den deduftiven Beweisformen Euf‘ 

- zur Analyis, zur reinen Induktion geführt; immer mehr hatte gerade d 
Wiſſenſchaft von ihrem debuftiven Charakter verloren. So war an 





Pandynamismus. 67 
Berwendung zur philofophifchen Deduktion der großen Probleme von Gott 
und Welt je länger, um fo weniger zu denken. Uber doch galt die mathe: 
matifche Beweisform feit dem fechzehnten Jahrhundert, ja, zum ‘Theil ſchon aus 
dem Mittelalter heraus als allen Syllogismen weit überlegen! Und ihr Ruf 
als ſolche, auf ihre alten beduftiven Elemente begründet, erſtreckte fich noch 
weit bis in das achtzehnte Jahrhundert. Die Folge war, daß die Philofophie 
dieſes Zeitalters fie als Arbeitwerkzeng nicht aufgab, aber freilich je Länger, 


je mehr mit einem Inſtrument arbeitete, da8 bei firenger Anwendung zer= . 


brach, — oder, anders ausgedrädt, daß fie die mathematische Beweismethode 
in einem Sinne anwandte, die dem Charakter biefer Methode und der ihr 
zu Grunde liegenden Wiffenfchaft je länger, je weniger entſprach. Schon 
Roger Baco hatte fich dieſer Methode in einer für unfer Denken fonderbaren, 
bei ihm fehr Har zu Tage tretenden Weife bedient: nämlich nad) der Art 
des mittelalterlichen Analogiebeweifes. Er hatte, darin dem Pythagoras und 
feinen Schülern ähnlich, gewiſſe mathematische Verhältniſſe in gewiflen meta- 
phylifchen, pfychifchen, ja auch phyſiſchen Verhältniſſen im ſymboliſchen Spiegel- 
bild wieder gefunden: und Das hatte ihm genügt, um dieſe Berhältniffe 
jo weit zu identifiziven, daß aus diefer Fdentififation heraus die Wirklichkeit 
der metaphyſiſchen, piychifchen, phyſiſchen Verhältniffe behauptet werden Tonnte, 
weil die Wirklichkeit der analogen mathematischen Verhältniſſe feftftehe. 

Das war nun freilich ein Verfahren, das die Philofophie des Descartes, 
wie fie zunächft den pandynamiſchen Syſtemen des fechzehnten Jahrhunderts 
fofgte, im gleich ſonderbarer Naivität des Analogiefchluffes nicht mehr ein- 
ſchlug. Aber gleichwohl gilt für ihr Verhältnig zur Mathematik noch etwas 
Aehnliches. ES ift faſt jelbitverftändlich, daß der felbe große Geift, der der 
Mathematik den Weg zur induftiven Analyfis wies, fie nicht gleichzeitig als 
tiefer konſtituirende methodologifche Triebkraft einer deduftiven Philofophie 
gebrauchen konnte. Galt dem Descartes wie feinem ganzen Zeitalter die 
Mathematik gleichwohl al3 Hebamme jeder Metaphyſik, fo konnte ihre Hilfe 
im Grunde doh nur noch äußerlich und formell beanſprutcht werden: 
nämtich fo, daß ihrer Methode die äußere Art der Beweisführung und ihren 
Ergebniffen gewiſſe Analogien der philofophifchen Gedankenbildung entnommen 
wurden. Und über ‘Descartes hinaus ermöglichte diefer befondere Charakter 
er philofophifchen Benugung der Mathematit es noch Spinoza, mit ans 
eblicher Hilfe der Mathematik ein gemwaltiges, im Grunde myſtiſches Lehr- 

bäude der Metaphyſik aufzuführen. 

Im Grunde war alfo auch der Verſuch, nad) dem Scheitern des Pan- 
ynamismus mit Hilfe der Mathematik als eines Univerfalfchlüffels deduktiv 
ine Kenntniß der Welt generell zu gewinnen, gefcheitert. Die materielle 
Borjtellung von allgemein bewegenden Kräften und Größekomplexen hatte eben 

verfagt wie die formal logifche Methode der Mathematik. 


68 Die Zukunuft. 


Kann man unter diefen Berhältniffen fagen, beide große Bewegungen, 
Pandynamismus und Metaphyſik unter dem Einfluß der Mathematik, feien 
vergebens geweſen? Wie fehr hieße Das Bedeutung und Einfluß großer geiftiger 
Strömungen verfennen! Mit dem Pandynamismus war eine erfte, allgemeinfte 
Hypotheſe des Naturzufammenhanges gewonnen, die in den Naturwiflen- 
fchaften bis heute befruchtenb gewirkt hat. Und die Mathematik gab eben, 
indem fie fi) aus einem Werkzeug der Debultion in ein folches der Induktion 
verwandelte — eine Ummandlung, die nur unter dem allgemeinen philo- 
fophifchen Intereffe an ihr fo rafch und entfcheidend einfegte —, den Anlaß 
zur Maren Entfaltung der Mechanik als der Wifjenfchaft von der thatſäch⸗ 
lichen Bewegung der Körper: und damit den Anftoß zu der unabläffigen, 
bi8 heute fortgefegten Entwidelung der pofitiven Naturwifjenfchaften. Denn 
indem die neue Mathematit das allgemeine Verſtändniß ftetiger Bervegungen 
an fih wie in beftimmten Berhältniffen zu einander lehrte, war damit die 
Möglichkeit gegeben, in die Bewegungen der Körperwelt und die ihnen zu 
Grunde liegenden Gefege forfchend einzubringen: in ber Mechanik wurde durch 
Stevin und Galilei neben der Statik der Alten jet die Dynamik entwidelt; 
und Newton verwandte die Kenntniß der nen errungenen Geſetze diefer Dynamik 
zur Erklärung der kosmiſchen Bewegungen. Und alsbald brachte die Kenntniß 
diefer Geſetze auch ein neues Reben in die bis dahin willfürlichen Phantafien 
anheimgegebener Wiffenfchaften der Phyſik und Chemie, deren Aufblühen dann 
fpäteren Zeiten die Möglichkeit gewährt hat, unter anderen Vorausfegungen 
in die Erforfchung auch der biologifchen Geheimniffe der Natur einzutreten. 

Die Mathematik aber hatte mit diefer außerordentlichen Befruchtung, 
die von ihr auf die Behandlung der philojophifchen Probleme wie die natur- 
wiſſenſchaftliche Forſchung vornehmlich des fiebenzehnten und achtzehnten Jahr- 
hunderts ausging, bie ftoßzeften Aufgaben allgemeiner Art, die ihr zufallen 
konnten, erfüllt. Sie wurbe feitden langſam immer mehr zu einer Wiſſen⸗ 
Schaft neben den anderen Wiffenichaften und fpielte Daneben eine befondere 
Rolle zunächft nur noch in dem Bereich der Naturwiffenfchaften. Es ge: 
ſchah, indem fie ihre generellen Probleme immer mehr denen der allgemeinen 
Logik annäherte, ihre Grundlagen erfenntnißtheoretifcher und pfychologiſcher 
Bearbeitung unterwarf und fie in diefer fchlieklich als nicht in dem Sinne 
abfolut erkannte, in dem fie die früheren Zeiten des Individualismus ı 
abfolut betrachtet hatten. 

Diefe zweite Bervegung begann ſchon früh. Während nämlich 
fpeziellen mathematifchen Studien ganz in der zunächſt von der Arithm 
her erfolgenden Ausbildung der Analyſis aufgingen und darunter die Er 
widelung der konſtruktiven Methoden der Geometrie vernacdjläffigt wurt 
begannen die Philofophen allmählich eingehendere Unterfuchungen über b 








Pandynamismus. 69 


Begriff des Raumes. Und hier hielt man nun anfangs allerdings im Ganzen 
noch an jenen Vorſtellungen feſt, aus denen heraus ſich die Auffaffung ge: 
bildet .hatte, daß die Mathematik das Vorbild einer deduktiven Wiſſenſchaft 
fei, weil in ihr alle elementaren Borausfegungen abfolut gegeben feien: fei 
e8 nun, daß diefe Elemente, wie Punft, Linie und begrenzter Raum, als 
eingeborene, ja transfzendente Beſtandtheile unferes Geifles, al3 eine myſtiſche 
Ideenwelt Hinter der entfprechenden Welt der Erfcheinungen gedacht wurden, 
fei e8, daß man fie als erfahrungmäßige, durch willfürliche Annahmen ent= 
ftandene, doh nun fonftant gewordene Abitraktionen aus ben Dingen ber 
finnlichen Welt entwidelt betrachtete. - Co hat Descartes auf diefem Gebiete 
noch einen faft platonifchen Realismus gelehrt. So hat Hobbes noch ganz 
an der Meinung von der willfürlichen Feltftellung der Begriffe feftgehalten. 
Allein darüber hinaus ging dann fchon Kant. Indem er die Zeit dadurd) 
in den Bereich diefer Betrachtungen mit einbezog, daß er die Zeitanſchauung 
durch ihre Verbindung mit der Sategorie der Quantität den reinen Begriff 
der Zahl vermittelnd dachte, verfuchte er, das angeborene Beſitzthum des 
Geiftes anf die reine Raum⸗ und Zeitanſchauung zu befchränfen. Inner 
halb diefer Auffafjung waren ihm die mathematifchen Begriffe dann an fich 
Ergebnifje reiner Anfhauung, aber zur Evidenz gebracht doch erft durch die 
Gelegenheiturfachen der äußeren Objefte: fo daß die Anfhauung de3 geomes 
trifchen Dreied3, an fich apriorifch, doc) erſt durch Anfchauung eines ſinnlich 
gegebenen Dreied3 ‚in uns hervortreten kann. 

"Was bei Sant gegenüber früheren Theorien gewonnen war, war die 
Auffaffung, daß die mathematiſchen Grundvorftellungen nicht al3 begrifflich 
im Sinne etwa von Tescartes oder auch Leibniz, fondern als anſchaulich 
zu verftehen feien. Freilih war diefe Anfhauung nah Sant aprioriſch. 
Aber bie ſpätere Zeit hat ſehr bald auch dieſen aprioriſchen Charakter aufs 
gelöft. Auf Grund der Lehren Humes, unter gelegentlichen Zurüdgreifen bis 
auf Hobbes, wurde der rein empiriiche Charakter der Anihanungen behauptet 
in der Urt, dag man fie als aus den finnlichen Dingen abftrahirte Hypo⸗ 
thefen, nicht als Gewißheiten betrachtete. Und der Nachweis hierfür wurde auf 
unmittelbar anfchaulihem Wege verfucht, inden man jich zu zeigen befivebte, 
mie im primitiven Bewußtſein durch gedachte Bewegungen eines Bunfteß, 
"zer Linie, einer Ebene zunächft die geometrifchen Gebilde, auf Grund anderer 

orftellungsgänge auch die BZahlenbegriffe als allgemein einleuchtende Hypo— 
efen entftanden feien. | 

So erfhien denn der Charakter der Mathematif als einer abfoluten 

ziſſenſchaft gründlich zerftört. Und gleichzeitig begann auch ihre Auffaffung 
3 einer befonder3 ficheren, über die Logik hinaus abfoluten Methode dadurch 
eitigt zu werden, daß man fie immer mehr der Logik felbft einverleibte. 


68 Die Zukunft. 


Kann man unter diefen Berhältniffen fagen, beide große Bewegungen, 
Pandynamismus und Metaphyſik unter dem Einfluß ber Mathematik, feien 
vergebens gewejen? Wie fehr hieße Das Bedeutung und Einfluß großer geijtiger 
Strömungen verfennen! Mit dem PBandynamismus war eine erfte, allgemeinfte 
Hypothefe des Naturzufammenhanges gewonnen, die in den Naturwiflen- 
fhaften bis heute befruchtend gewirkt hat. Und die Mathematik gab eben, 
indem fie fi aus einem Werkzeug ber Debuktion in ein folches der Induktion 
verwandelte — eine Ummandlung, die nur unter dem allgemeinen philo- 
fophifchen Intereſſe an ihr fo raſch und entfcheidend einfegte —, den Anlaß 
zur Maren Entfaltung der Mechanik als der Wiſſenſchaft von der thatſäch⸗ 
lichen Bewegung der Körper: und damit den Anftoß zu der unabläfiigen, 
bi8 heute fortgefegten Entwidelung der pofitiven Naturwifjenfchaften. Denn 
indem die neue Mathematit das allgemeine Verſtändniß ftetiger Bewegungen 
an fih wie in beitimmten Berhältniffen zu einander lehrte, war damit die 
Möglichkeit gegeben, in die Bewegungen der Körperwelt und die ihnen zu 
Grunde liegenden Gefege forfchend einzubringen: in der Mechanik wurde durch 
Stevin und Galilei neben der Statif der Alten jegt bie Dynamik entwidelt; 
und Newton verwandte die Kenntniß der nen errungenen Gefege diefer Dynamit 
zur Erklärung der fosmifchen Bewegungen. Und alsbald brachte die Kenntniß 
diefer Gelege auch ein neues Leben in die bis dahin willfürlichen Phantaſien 
anheimgegebener Wifjenfchaften der Phyſik und Chemie, deren Aufblühen dann 
fpäteren Zeiten die Möglichkeit gewährt bat, unter anderen Vorausfegungen 
in die Erforfchung aud der biologifchen Geheimniffe der Natur einzutreten. 

Die Mathematit aber hatte mit diefer auferordentlichen Befruchtung, 
die von ihr auf die Behandlung der philofophifchen Probleme wie die natur— 
wiſſenſchaftliche Forſchung vornehmlich des fiebenzehnten und achtzehnten Jahr⸗ 
hundert3 ausging, bie ftolzeften Aufgaben allgemeiner Art, die ihr zufallen 
konnten, erfüllt. Sie wurde feitden langjam immer mehr zu einer Wiſſen⸗ 
haft neben den anderen Wiffenfchaften und fpielte Daneben eine bzfondere 
Rolle zunächft nur noch in dem Bereich der Naturwiffenfhaftn. Es ge: 
fchah, indem jie ihre generellen Probleme immer mehr denen der allgemeinen 
Logik annäherte, ihre Grundlagen erfenntnißtheoretifcher und pfochologifcher 
Bearbeitung unterwarf und fie in diefer fhlieglich al3 nicht in dem Sinne 
abfolut erkannte, in dem fie die früheren Zeiten des Individualismus als 
abfolut betrachtet hatten. 

Diefe zweite Bewegung begann jchon früh. Während nämlich die 
fpeziellen mathematifchen Studien ganz in der zunächſt von der Arithmetit 
ber erfolgenden Ausbildung der Analyfis aufgingen und darunter die Ent- 
widelung der konſtruktiven Methoden der Geometrie vernachläffigt wurde, 
begannen die Philofophen allmählich eingehendere Unterſuchungen über ben 











Pandynamismus. 69 


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Begriff des Raumes. Und hier hielt man nun anfangs allerdings im Ganzen 
noch an jenen Vorſtellungen feft, aus denen heraus ſich die Auffaffung ge: 
bildet ‚hatte, daß die Mathematif da8 Vorbild einer debuftiven Wiſſenſchaft 
fei, weil in ihr alle elementaren Borausfegungen abfolut gegeben feien: fei 
es num, daß diefe Elemente, wie Punkt, Linie und begrenzter Raum, als 
eingeborene, ja transfzendente Beſtandtheile unſeres Geiſtes, al3 eine myſtiſche 
Ideenwelt hinter der entfprechenden Welt der Erjcheinungen gedacht wurden, 
fei e8, daß man fie als erfahrungmäßige, durch willlürliche Annahmen ent⸗ 
ftandene, doh nun fonftant gewordene Abitraktionen aus den Dingen der 
finnlichen Welt eutwidelt betrachtete. . So hat Descartes auf diefem Gebiete 
noch einen faft platonifchen Nealismus gelehrt. So hat Hobbes noch ganz 
an der Meinung von der willfürlichen Feltftellung der Begriffe feitgehalten. 
Allein darüber hinaus ging dann ſchon Kant. Indem er die Zeit dadurch 
in den Bereich diefer Betrachtungen mit einbezog, daß er die Zeitanichauung 
durch ihre Verbindung mit der Kategorie der Quantität den reinen Begriff 
der Zahl vermittelnd dachte, verfuchte er, das angeborene Beſitzthum des 
Geiftes auf die reine Raum» und Zeitanſchauung zu befchränfen. Inner⸗ 
halb diefer Auffafjung waren ihm die mathematischen Begriffe dann an’ ji) 
Ergebnifje reiner Anſchauung, aber zur Evidenz gebracht doch erft durch bie 
Gelegenheiturfachen der äußeren Objekte: fo daß die Anſchauung de geomes 
trifchen Dreiecks, an jich apriorifch, doch erft durch Anschauung eines finnlich 
gegebenen Dreieds in uns hervortreten fann. 

"Was bei Kant gegenüber früheren Theorien getvonnen war, war bie 
Auffaffung, daß die marhematiichen Grundvorftelungen nicht als begrifflich 
un Sinne etwa von Tescartes oder auch Leibniz, fondern als anſchaulich 
zu verjtehen feien. Freilich war diefe Anfhauung nah Sant aprioriſch. 
Aber die fpätere Zeit hat fehr bald auch diejen aprioriichen Charakter auf: 
gelöſt. Auf Grund der Lehren Humes, unter gelegentlihen Zurüdgreifen big 
auf Hobbes, wurde der rein empirische Charakter der Anfchauungen behauptet 
in der Art, dag man jie ald aus den finnlichen Dingen abftrahirte Hypo— 
thefen, nicht al8 Gewißheiten betrachtete. Und der Nachweis hierfür wurde auf 
unmittelbar anjchaulihen Wege verfucht, inden man jich zu zeigen beftvebte, 
wie im primitiven Bewußtſein durch gedachte Bewegungen eines Punttes, 
einer Linie, einer Ebene zunächft die geometriichen Gebilde, auf Grund anderer 
Vorftelungsgänge auch die Zahlenbegriffe als allgemein einleuchtende Hypo: 
thefen entftanden feien. 

So erfchien denn der Charakter der Mathematik als einer abfoluten 
Wiſſenſchaft gründlich zerftört. Und gleichzeitig begann auch ihre Auffaffung 
als einer beſonders jicheren, über bie Logik hinaus abfoluten Methode dadurch 
befeitigt zw werden, dag man fie immer mehr der Logik felbft einverleibte. 


70 ” Die Zukunft. 


Die Entwidelung vollzog ſich hier fehr einfach von dem Momente her, daß 
bie Geometrie und Arithmetik feit dem fechzehnten und jiebenzehnten Jahr— 
Hundert in die eine allgemeine Mathematik der Größen verwandelt worden 
waren. Bon hierher war es leicht, falls die allgemeinen Borausfegungen 
dazu fonft ſchon im Denken ber Zeit enthalten waren, aus der intinften Ber— 
ſchmelzung der Zahlen: und Ausdehnunglehre eine abjtrafte Mannichfaltig- 
teitlehre oder Lehre von den Formen hervorgehen zu laffen. Es geihah im 
neungehnten Jahıhundert, nachdem feit der verhältnigmägigen Volendung der 
Analyis im achtzehnten Jahrhundert und in Folge ber Impulfe der philo— 
ſophiſchen Studien über den Charakter des Raumes eine neue Blüthe . der 
Geometrie eingetreten war: fo daß Analyſis und Geometrie, nun etwa auf 
gleicher Höhe der Entwidelung ftehend, ganz beſonders wiederum zu eimer 
weiteren Integration der ihnen zu Grunde liegenden Begriffe aufforderten. 
Zudem aber, feit ben vierziger Jahren etwa des neungehnten Jahıhunderts, 
diefe abitrafte Mannichfaltigkeitlehre durchgebildet ward, erſchien der Ueber— 
gaug der mathematifhen Wiffenfchaft in den formalen Theil der Logik vollzogen. 
Reipzig. Brofefjor Dr. Karl Lampredt. 


I), 2 


Dr. Miranda in Ronftantinopel. 


Ss Sultan, Barend, it zweifellos der ärgite aller Tyrannen. Verſuche 
” nicht, ihm zu vertheidigen. Wenn Du erfahren haben wirft, wie er mid 
verfannt und erniedrigt hat, wie er — Du magſt Did) darüber wundern, aber 
ich I hwöre Dir, daß es die Wahrheit ift — ſich geweigert hat, mir die dreitauſend 
türkischen Pfund auszuzahlen, die wir als Honorar vereinbart hatten, bann wirft 
Du fiherlid meine Verachtung teilen. 

Es war im Jahr 18.., als mid) die Hohe Pforte aufforderte, eine Woche 
vor den großen Faſten nad) Yildiz-Kiosk zu kommen, um mich dort mit dem 
Leibarzt zu berathen. Ich hatte mid in Konftantinopel in dem europäiſchen 
Biertel als Arzt niedergelafien, aber ic kümmerte mich wenig um meine Praxis, 
da ich es mir zur Aufgabe geftellt hatte, die Hunde zu ftudiren. Die Hunde 
find dort die großen Stadtreiniger; allen Schmug und allen Abfall, ber auf 
die Straße geworfen wird, ſchlingen dieſe Thiere herunter; und ich begann : 
zu unterfuchen, wie es kam, dag fie nicht frank wurden durd Stoffe, die, in 
menſchlichen Magen verpflanzt, unmittelbar tötli wirken würden. Nach vi 
Experimenten entdedte id, daß nicht der Magen, jondern die Yeber und nameut 
die größere Abſcheidung der Galle bei den Hunden die Urſache Hiervon ift. 
Galle ift ein antifeptifches Mittel, die Gallenblafe ber große inwendige T 
infeftion-Apparat in den thieriſchen Irganismus und nad) meiner Erfah 











Dr. Miranda in Konftantinopel. 71 


find bie meiſten Magenkrankheiten auf eine ſchlecht funktionirende Leber zurüd: 
zuführen. Die offizielle Wiffenfchaft erkennt Das nit an. Das ift ja auch 
nicht weiter wunderbar. Du verftehit: werm die Aerzte die Magenkrankheiten 
in ein paar Wochen durch eine rationelle Leberbehandlung Furiren könnten, fo 
müßten fie auch ihre Liquidation entſprechend verringern; und Das kannſt Du 
mir glauben, mein lieber Barend: die gewöhnlichen Aerzte jind kaum etwas 
Belleres als Nezepthändler. Je mehr Die Einem anfchmieren können und je 
theurer, deſto beſſer. Mein großes Werk über die Galle wirft Du in meinen 
Papieren finden, wenn ich mich dem großen, ftillen Freunde Aeskulaps, dem 
Bruder Tod, anvertraut haben werde, und ich denke ſchon jeßt mit Freude an 
all die Seniffe, die der Verleger anwenden wird, um meinen Erben das Honorar 
zu kürzen. Barend, Dir ertheile ich den Auftrag, einen Verleger ausfindig zu 
machen, ber jein ach durch und durch verfteht. Welche erhabene Rache nehme 
ih dann an meinen Erben, indem ich fie einem Verleger ausliefere! Sie follen 
wiſſen, daß fie mich Zeit meines Lebens verkannt haben all die lieben Nichten 
und Neffen! Sie jollen von meinem Ruhm hören und doch nicht den geringiten 
_ materiellen Vortheil daraus ziehen können. 

Alſo ich ging nad Yildiz Kiosk und wurde vom Sultan in perfönlicher Audienz 
empfangen. Der große Herr am Goldenen Horn hatte erfahren, mit wie leb- 
haften Intereſſe ich das Treiben der Hunde beobachtete, und darauf den Wunſch 
geäußert, mit mir über den Gejundheitzuftand der Frauen feines Harems zu ſprechen. 
Drei feiner Favoritinnen waren an den Pocken erkrankt, und obgleich es jeinem 
Leibarzt ZI Mahommed Gazan gelungen war, ihnen das Qeben zu erhalten, waren 
die drei Frauen doc pocdennarbig geblieben. Wie fehr der Sultan auch bie 
Heilfunft feines Leibarztes bewunderte: er wollte die drei Favoritinnen nicht 
mehr im Harem dulden und Hatte fie deshalb an feinen erjten Dinifter, feinen 
Stantsrath und feinen zweiten Schapmeifter verheirathet. II Mahommed Gazan, 
der neue Pockenfälle und befonders auch neue Verheirathungen fürchtete, da er 
fetbft noch unverheirathet war, hatte dem Sultan von meinem großen Wiſſen ge» 
iprocden. Das hatte mir die Ehre der Audienz verichafft. 

Ich ſchlug dem mächtigen Beherrjcher der Gläubigen vor, die Frauen in 
jeinem Harem impfen zu laſſen. Dieſer Vorſchlag leuchtete FI Mahommed Bazar 
ein und der Sultan gab feine Zuftimmung. Bis jebt hatte aber noch niemals 
ein Giaur, ein verächtlicher Franke, die Schwelle des Harems überjchritten und 
der Sultan wollte mir den Zutritt nur unter einer Bedingung geftatten, die 
ich nicht zu erfüllen wünſchte. Ich beitand darauf, zu den Frauen gelaffen zu 
werden. Ich will es nur ehrlich geftchen: meine Neugier trieb mich dazu, dieſe 
»ußergewöhnliche Gelegenheit nicht unbenutzt vorübergehen zu laſſen. Langwierige 
Interhandlungen folgten. Die türkifche Diplomatie, die wegen ihres pajjiven 

iberftandes berüchtigt ift, wandte alle Mittel an, die ihr zu Gebote ftanden, 
a mich zu bewegen, die ‚srauen zu impfen, ohne den Harem zu betreten. 
nfangs wünfchte man, ich olle einen der Eunuchen das Impfen Ichren, ihm 
e Lymphe verjchaffen und dann die Impfung überwachen. Ich antwortete, daß 
h mich alg Arzt weder für die Zolgen noch für die günftige Wirkung der Impfung 
nerbürgen fönne, wenn ich die Patientin nicht felber fähe und unterjuchte. Darauf 
teilte man mir mit, die rauen würden verjehleiert und mastirt, jede unter 





12 Die Zulunft. 


der Aufficht von zwei Eunuchen, eine nad der anderen zu mir fommen, um ım 
meinem Haufe geimpft zu werden. Den rauen follte bei Todesitrafe verboten 
fein, vor, während oder nad der Operation ein Wort zu fpredden. Ich weigerte 
mid) abermals und betonte, daß ein Arzt, der keine Gelegenheit habe, ſich mit 
feinem Patienten zu unterhalten und ihm Fragen zu ftellen, auch nicht berechtigt 
fei, irgend eine Berantwortlichfeit zu übernehinen. 

Endlid wurde mir die Erlaubniß ertheilt, ragen zu jtellen; aber die 
rauen follten verfchleiert bleiben. Ich antivortete höflich, aber beftimmt, daß 
ich ihre Zungen ſehen müffe, um mich von ihrem allgemeinen Geſundheitzuſtand 
zu überzeugen und die Stärke und die Quantität der Lymphe danach einzurichten. 

Die Zunge wurde geitattet. Man würde in den Schleier eine kleine 
Oeffnung maden, durch die fie die Zunge jtreden könnten. ch antwortete, 
Das genüge mir nicht; ich müfje den Puls fühlen und, falls es fi als nöthig 
erweife, die Patientin auch auskultiren. Deshalb erbäte ich die Erlaubniß, die 
Patientin ji) fo weit entkleiden zu laflen, wie e8 mit den Forderungen Der 
Wiſſenſchaft, der jtrengen, ernjten, heiligen Wiſſenſchaft, die nicht ınit beichräuften 
Begriffen von Sitten und Sittlichkeit rechnen fönne, in Einflang zu bringen 
jei. Darauf wurden die Unterhandlungen abgebroden. Aber nur ſcheinbar. 
Ich kannte die türkifche Diplomatie, that, als müſſe ich auf meinen Yorderungen 
beftehen, und fuhr fort, Hunde zu vivifeziven. 

Da bekam ich, nad) Ablauf von zwei Monaten, ben Bejud des Groß—⸗ 
veziers, der mir hundert türkifche Pfund bot, falls ich die Unterhandlungen 
wieder aufnehmen wolle. Entrüſtet fchidte ich den Dann fort, nachdem ih ihm 
mitgetheilt hatte, daß wir europäifchen Aerzte zu hoch ftänden, um uns anf 
„Bakſchiſch“ einzulaffen. Acht Tage darauf kam der erfte Schagmeifter zu mir 
und bot mir dreihundert türfiiche Pfund, falls ich mich zu der Impfung ent- 
Ichließen wolle. Auch diefen Großwürdenträger feßte id an die Luft, — wo 
er feinen Bakſchiſchantrag noch auf fünfhundert Pfund erhöhte. _ ch wunderte 
mich nicht über diefe Freigebigkeit, da ich wußte, daß es einem türkiſchen Cchaß- 
meifter auf ein paar hundert Pfund mehr oder weniger nicht anfommt; er ftedt 
feine Hände eben ein Bischen tiefer in die Tajchen der Steuerpflicätigen. Aber 
ihon am nächſten Tage erſchienen brei andere Großmwürdenträger bei mir, der 
Reis Effendi, der Kiafa Bey und der Terjom Emini, die mir Bakſchiſch an- 
boten, wenn ih nur impfen wolle. 

- Bis jeßt Hatten fie mir Alle bei dem Barte des Bropheten geſchworen, fie 
fümen aus eigener \\nitiative; doch der Bart des Propheten ijt lang und ſtark 
und bei dem erjten Meineid eines Gläubigen fällt ihm noch fein Haar aus. Ich 
vermuthete, der große Padiſchah habe feinen ganzen Divan beauftragt, mir cinmal 
tüchtig auf den Zahn zu fühlen. Dann, nach drei Monaten, befam ich ben Befuch 
von Il Mahommed Gazan ſelbſt und der würdige Gelehrte ſagte mir, warum al 
die hohen türkiſchen Autoritäten ſich um ein ſo verächtliches Weſen, wie ein 
fränkiſcher Arzt es iſt, ſo eifrig bemüht hatten. Die Pocken waren wieder im 
Harem ausgebrochen. Il Mahommed Gazan hatte die Patientinnen geheilt, aber fi 
waren pockennarbig geblieben und wiederum hatte der Sultan fie an feine Staat$ 
beamten verheirathet, Die aber waren von ber hohen Ehre nur halb entzüdt. 
Eine Schönheit aus dem Harem des Großherrn war ihnen in normalen Beiten 


. 


Dr. Miranda in Konftantinopel. 73 


höchſt willkommen; jeßt aber jchien es fait, al3 jollten alle eriten Staatsbeamten 
mit einer blatternarbigen befjeren Hälfte beglüdt werden. Die Bejuche der Be- 
Stecher waren die legten Verſuche Verzweifelnder gewejen, die der bedenklichen 
Ehre, Gatte einer blatternarbigen Sultan⸗-Favoritin zu werben, gern entgehen 
wollten. Jetzt würde Il Mahommed Sazan jelbjt an die Reihe fommen. Cr 
hatte den furchtbaren Augenblid jo lange wie möglich hinausgeſchoben, denu in 
dem Reich des Bosporus weiß ınan nichts von platonijcher Philofophie und der . 
Sultan verlangt, daß man dur eine große Nachkommenſchaft beiweife, wie un- 
gemein man die hohe Ehre ſchätze, eine Frau zu befißen, die er einjt in Gnaden 
auserlor. Il Mahommed Gazan, der rathlog war, hatte ſchon ſechs an ben Boden 
erfranfte Harenisfrauen, die, falls fie geheilt würden, ihm al3 Gattin zugewiejen 
werden follten, dem großen ſtummen Freund aller Aerzte als ewige Braut ge: 
ſchenkt; fo aber ging es nicht weiter. Man ift nämlid im Reich des Halb: 
mondes praftifcher al3 in dem angeblich praftifchen Abendlande. Für jeden 
Patienten, der unter den Händen des Leibarztes bleibt, wird ihm ein Theil 
jeines jährlichen Gehaltes abgezogen; und wenn in einem „jahr fieben Batienten 
fterben, verliert der Arzt feine Stellung und ihm wirb verboten, künftig über- 
haupt noch zu praftiziven.. Es wäre im Intereſſe des Allgemeinwohles zu 
wänfchen, daß diefe nüglihe Einrichtung auch in Europa Eingang fände, Der 
Leibarzt fiel mir zu Füßen und fichte mich an, id; möge doch nachgtebig jein 
und ihm helfen. Als äußerſte Konzejfion ‚würde der Sultan mir die Erlaubniß 
gewähren, die Operationen in den Räumen des Harems zu vollziehen. Die Frauen 
würden hinter einem Vorhang jtehen und mir ihre Arne, Beine und was ich 
fonft noch zu fehen für nöthig eradhtete, durch eigens dazu angebrachte Oeffnungen 
zeigen. Der Arzt folle meine Fragen und ihre Antivorten übermitteln und mic 
über den Allgemeinzuftand der Patientinnen unterrichten. 

‚Und wenn ich mich weigere?‘ - 

Der türkiſche Arzt feufzte tief und fagte dann: Nur eine Frau ift noch 
übrig, die ich zu behandeln habe; wenn ich troß allen Hilfsmitteln meiner 
Wiſſenſchaft auch Diefe der graufamen Umarmung bes Todes nicht zu entreißen 
vermag, aljo aud nicht der hohen Ehre theilhaftig werden kann, fie zu um— 
armen, die einft die Ehre hatte, vom Sultan mit Wohlgefallen angejchaut zu 
werden, dann werde ich ſchmählich weggejagt und die erfte geheilte Rodenfrante 
der neuen Siebenzahl wird meinem Nachfolger als Gattin zugemwiefen. Und 
ich fürchte fehr, daß es mir nicht glüden wird, die fiebente Patientin zu heilen.‘ 

Hier Stand aljo das Leben einer rau auf dem Spiel. ch habe, troß 
meinem Beruf, wie feltfam es Dir auch erjcheinen mag, mir eine große Ehrfurcht 
vor dem menjchlichen Leben bewahrt und glaube, daß meine Stollegen mir gerade 
deshalb immer einen Stein in den Weg gelegt und mich gefchmäht haben. Hier 
galt e8, ein Menschenleben zu retten, — und jo gab ich denn nad). 

Wiederum arbeitete ich einen Bericht an den Sultan aus und erhielt 
darauf die Erlaubniß, unter den Bedingungen, die SI Mahommed Gazan mir 
mitgeteilt hatte, die srauen im Harem zu impfen. Am fejtgefeßten Tage ers 
ſchien ich iu Yildiz Kiosk, wurde nach den Daremspaläften und dort in einen 
Raum geführt, wo ein großer Teppich hing, der mit Löchern der verfchiedenjten 
Größe verjehen war. Die erfte Frau ftedte ihre Zunge durch eins der Fleinften 


174 Die Zukunft. 





Löcher. Es war eine große, ſchwarze, dide Zunge und id empfand nicht die 
geringfte Neigung, noch mehr von einer Frau zu fehen, die eine ſolche Zunge 
Batte. Durch das felbe Loch zeigte jie mir einen Fleinen Theil des Armes; td 
ſtach mit meiner Yancette die nöthige Anzahl Köcher hinein und impfte dann. 
Die zweite Frauenzunge und der Zweite Frauenarm waren nicht weniger häßlich. 
Bei der dritten Frau wünfchte ich, einen Theil der Hüfte zu fehen. Bor einem 
ber größeren Löcher wurbe ein kleiner Theil der Hüfte gezeigt, einer fehr plunzpen 
Hüfte; ich lernte die Verzweiflung der unverheiratheten Staatsbeamten all» 
mählich begreifen. So häßliche, ungrazidfe Weiber, — und noch podennarbig 
dazu: die Ehre einer ſolchen Verbindung ward wirklich) gar zu theuer bezahlt. 

Sp wurden mir zwölf Frauen gezeigt; richtiger: zwölf Zungen, zwölf 
eine Theile des Oberarms oder der Schulter oder der Hüfte, Fl Mahommed 
Gazan wandte den Blick nicht von mir. Er verfolgte alle meine Bewegungen; 
und als ich fpäter heimkam, bemerkte ih, daß man mir vier mit Lymphe ge- 
füllte Glasröhren entwendet Batte. 

Am nädjiten Morgen theilte mir Sl Mahommed Gazan mit, daB meine 
Dilfe nicht mehr verlangt werde, da er Tünftig bie erforderlichen Operatiouen 
felbft vornehmen werde. Der Schurke Hatte mir die Handgriffe abgefehen und 
meine Lymphe geftohlen. Sofort eilte id zum Sultan und befchwerte mid. 

„Hm', fagte der Sultan; ‚glaubft Du denn, daß Du mit Deinen Augen, 
den Augen eines fittenlofen Franken, jemal3 meine Frauen anjchen burfteft? 
Deine Blide würden fie entmeihen.‘ 

‚„Großmächtiger Herr‘, antwortete ih, „ih Habe do ſchon mehr von 
ihnen gefehen als jemals ein Franke vor mir.‘ 

‚Du irrſt! Du haft hinter den Teffnungen des Teppich® nicht meine 
Frauen gejehen, nicht einmal ein Atom ihrer jchönen weißen Leiber. Hinter dein 
Teppich ftanden meine Eunuchen. Du Haft ihre Zungen gejehen, in ihre Hüften, 
Arme, Schultern gejtochen ... Lind jegt gehe Hin, verlaffe diefe Stadt binnen 
des Etmals oder der neue Mond wird Dich jehen, wie Du Dich felbft noch nie 
geichen haft: ohme Kopf. Du verdientejt eine harte Strafe, Unmilfender Tu, 
der eine Mänmerzunge nicht von einer Frauenzunge zu unterjcheiden vermag. So 
hat doch endlich eine vsrauenzunge etwas Gutes bewirkt, — freilich nur, weil fie 
eben nicht da war: fie hat Deine Unwiſſenheit offenbart. Aus meinen Yugen, 
der Du glaubjt, ein Sultan könne Frauen lieben mit Zungen, Arınen, Schultern 
und Hüften, wie die find, die Du geimpft haft!“ 

Das ift der Grund, Barend, warım ich Konjtantinopel verlaffen mußte. 
Wahrlih: die türkiſche Diplomatie ift ducchtrieben; denn glaube mir, die eigent- 
liche Urfade, warum der Sultan mich fortjagte, war nicht meine geringe Meinung 
von jeinem Geſchmack im Punkte der Liebe, — nein: da er mich fo ſchmäpte 
aus feinem Neid) trieb, Fonnte er viertaufend Pfund Honorar in der Tafche 
halten. Nicht bezahlen, was man ſchuldig ijt: Das, mein junger Freund, 

im runde der Endzwed aller Diplomatie..." 

An jenem Abend jprachen wir nicht mehr viel, fondern leerten nur fchmei, 

unſere Gläſer, er, der große Verkannte, und ich, der große Vertraute. 
Paris. Bernard Canter 


ð 








Der Krach des Kunſtgewerbes. 75 


Der Krach des Kunſtgewerbes. 


SL: harten und ehrlichen Worten foll eine Angelegenheit deuticher Kultur 
hier angefaßt werden, die von der allergrößten Bedeutung für die Ent- 
widelung unferer Lebensformen ift: die Zukunft des deutfchen Kunſtgewerbes. 
Allzu Tange haben fih die Kritifer begnügt, Ausstellungen und den Darbietungen 
einzelner Künftler gegenüber ihre Stimmungen jpielen zu laſſen, Agitatoren 
eines neuen Stils zu fein, Propheten, die um der Zukunft willen die Gegen- 
wart vergefien. Nun hat fi ein Schickſal erfüllt, das zwingt, die vagen For— 
men des Aefthetifirens zu verlaffen und fid, auf die Gefahr, dem Einen oder 
.bem. Anderen ein flüchtiges Unrecht zu thun, mit den unerhörten Schäden 
der neuen Bewegung zu befaſſen. Denn nur fo jcheint es möglich, ben 
großen Banferott der beutjchen deforativen Kunſt, der in einigen Jahren nicht 
mehr zu verhüten wäre, abzuwehren. Daß unfere neuen Lebensformen cinen 
neuen Rahmen brauden, daß wir bie Hiftorifchen Masteraden unferer Woh— 
nungen nicht mehr ertragen können, daß die Errungenjchaftern der Maler: 
revolutionen in ben legten Jahren auch im Hausgewerbe wirkſam, daß nad 
japaniſchem Borbilde die Gegenftände täglichen Gebraudes von Kunſt durd) 
fegt werden müſſen, daß es Feine Kluft mehr zwifchen Kunft und Leben geben 
darf: das Alles Hat Jeder von uns unendlich oft gejagt. Schon ift man vers 
fucht, fich wieder auf den ariftofratifchen Charakter der Kunſt zu befinnen und, 
wie es ja auch in England gefchieht, mit einiger Geringihägung auf Ruskins 
Ideen von einer Veredlung des ganzen Lebens, des ganzen Volfes herabzujehen. 
Es ift betrübend: nun, da aus dem großen Gelächter, das die herrfchenden 
Keünftler dem neuen Kunſthandwerk noch vor einigen Jahren entgegengejegt 
haben, nur eine große Mode geworden ift, da der neue Stil, l’art nouveau, 
new style, Sezejlion oder wie man das Ding beim faljchen Namen nennen 
nennen will, „in den allerweiteften Streifen“ ſich durchgeſetzt hat, — nun find 
wir glüdlich jo weit, daß die Beſten des Volkes, die Beten der Künftlerichaft 
fi) von dem Unfug zurüdzuziehen beginnen, den Snobs, der Mode das Feld 
überlaffen; und in wenigen jahren werben die grünen Möbel, bie hellfarbigen 
Stoffe, die neuen Metallgeräthe in den Minfeln der Ramfchbazare ftehen. 
Geht man heute durch die Fäden, die fi mit beim neuen Gewerbe be- 
faflen, fo Friftallifirt fi bald aus dem erſten Eindrud einer übermältigenden 
Fülle die Erfenntniß heraus, daß unter all den ſchönen Dingen nichts Deutjches 
ift. Ich weiß: folche Berallgemeinerung ift ungerecht. Ich weiß, daß Männer wie 
Otto Edmann, Hermann Ohrift, Berlepfch, Pankok und Riemerſchmied nicht eins 
al die Einzigen find, mit denen man zu rechnen hätte. Aber ich weiß aud), daß 
ie Werfe diefer Männer im Betriebe nicht3 bedeuten gegen die IImmenge aus: 
‚ezeichneter franzöfiicher, englifcher, amerifanifcher und öfterreichiicher Chjekte 
md gegen den ungeheuerlichen Sram deutſcher Ramſchwaare, imitirten und ge 
tohlenen Zeugs, das die minder Bemittelten als „neue Kunft“ kaufen. Die 
Dinge liegen heute fo, daß dem Bedürfniß des Publikums, ſich mit Objetten, 
ie aus der neuen Bewegung hervorgegangen find, zu umgeben, eine ſtarke Zahl 
on Rünftlern entfpricht, daß eine Luft am Neuen amd, fchäßt man nach manchen 
Infängerarbeiten und dem Andrang zu den Gewerbeihulen, auch eine pro: 
ktive Zeit für teimende Talente gefommen iſt; und dennoch der Zuſammenbruch. 





76 Die Zufunit. 


Ich Ipreche hier namentlich von Berlin. In anderen Yändern und Städten 
find die Entwidelungen langſam vor fich gegangen. Die amerikaniſche Betrieb 
ſamkeit der großen Stadt hat viel verſchlechtert; fie hat aber au das Gute, 
daß man mit Elaren Augen die Gefahren ber Entwidelung vorausfegen Tann. 
Bor’einigen Wochen hat ein flinfer münchener Zournalift ein Bud über Münden 
als Kunftitadt von den verjchiedenften Berufenen und Unberufenen zuſammen 
interviewt und ſich darüber Belchrung zu Ichaffen bemüht, ob denn Berlin nun 
wirklich nächitens den Rang Münchens einnehmen werde. Aus den verjhiedenen, 
mehr oder weniger ımehrlichen Antworten jcheint mir nun das Eine herauszu⸗ 
Elingen: es ift unleugbar, dat Berlin eine Centrale des Berfaufes und aljo bes 
Berfehres wird. Das darf man nicht unterfchägen. Die Vereinigten Werk⸗ 
ftätten in München, die bei allen Fehlern der Organijation und bei aller Aermlich- 
feit und Einfeitigfeit mancher ihrer Bemühungen bennoch eın gutes Nivean halten 
konnten und vor Allem einen Künftler wie Hermann Obrift eine — wenn 
auch beichräntte — Schaffensiphäre gaben, find doch ſchon dadurch an einer 
weiten Wirkjamfeit gehindert, daß gar fein Kaufbedürfniß vorliegt, daß einer 
Produktion von anftändigem Rang ein lächerlich geringer Verbrauch gegenüber 
steht. In Berlin liegen die Dinge jet nody anders. Noch leben wir in der 
Beit, da die Rahmenmacher und Blumengeichäfte mühlame Modernität zur Schau 
tragen und die Staufhäufer von Keller & Reiner und Hirſchwald mit riefigen 
Umlägen arbeiten. Fragt man aber nad den Erzeugern der Waare, die ba 
verſchleißt wird, fo fehlen die Berliner. Niemand bemüht ſich um fie; die wenigen 
guten Leute, die da find, befommen feine Aufträge und der vielgerühmte deutſche 
Patriotismus drüdt ſich Hödjiteng darin aus, daß man das Fremde beſchimpft, 
während im Lande ſelbſt nichts geichaffen wird. 

Steht man nun aber davon ab, daß in Berlin ſelbſt wenig — Seit Eckmann 
ſchwer darniederliegt, fajt gar nichts — geleiftet wird, fchiebt man überhaupt 
für einen Angenbli die ganze Frage des Urfprungs bei Seite und befümmert 
fih nur um den abjoluten Werth Deffen, was in Berlin gefauft wird, fo faltet 
man traurig die Hände. Ich fürdite, Alle, die jeit Jahren im Kampf um bie 
neue Kunſt ftanden, werden die Beit noch erleben, da die Geſchmackvollſten fi 
wiederum italienijche Rengiſſancezimmer nad) hiftorifchen Vorbildern getreu fopiren 
laffen werden, weil es unmöglich wird, ohne den ftärkften Aufwand von eigener 
Zeit und Kraft ein anftändiges Stüc neuen Kunſthandwerkes zu erlangen. Eine 
erichredende Armjäligkeit der Horınen und Motive beginnt einzureißen. Jede 
Linie wird totgeheßt, jedes DOrnament, das aus dem Charakter der tertilen Kunſt, 
um ein Beilpiel zu nennen, herausgewachien ijt und da feinen Werth Hat, wird 
von plumpen Händen aufgegriffen, äußerlich als Ornament Erzeugniffen fremdr- 
Techniken aufgeklebt, — und jo geht das Werthvollſte an ber ganzen netten Sun 
allmählich verloren: die Ehrlichkeit. Yählt man dann aber zufammen, was 
Europa und Amerika in den legten Jahren geleiftet worden ijt, jo kommt me 
zu dem Ergebniß, es fei ungentein viel. Fragt man im Beſonderen nad) be 
Entwickelungfähigkeit, To Icheint eine reiche Möglichkeit gegeben. Doch forſch 
man in ſich nad den Doffnungen, die, wird es nicht anders, in Deutjchlend fü. 
den neuen Stil vorhanden find, fo wird man recht traurig. 

Hier fünnte man mir einen Widerſpruch vorwerfen; die Leute vom Fa 


Der Krach bes Kunftgerverbes. 77 


fogar einen doppelten. Sie werden fagen: das Alles find ja nur die Ergebniffe 
‚einer mangelnden Straft, die Kampfzeit zu überftchen, einer Unficherheit. AU 
dieſe Schredinifje gab es in jeder Zeit neuer Stilbildung. Und mit einem Lächeln 
über den Thoren, der jo pejjimiftifcde Töne anfchlägt, werden fie mir entgegen- - 
Halten, daß ich ſelbſt jehr oft in den vergangenen Jahren von ber fünftlerifchen 
Kraft diejes oder jenes Menfchen geſprochen Habe und dab ich auch zu Denen 
gehöre, die immer: wieder den neuen Stil propagiren. Der Schein des Wiber: 
ſpruches ift ſchnell befeitigt. Die Künſtler unterfchägen die Wichtigkeit öfonomifcher 
Bragen. So lange es galt, Forderungen zur allgemeinen deenntniß zu bringen, 
Borurtbeile zu zerjtören, konnte der Stritifer jeden Anſatz freudig begrüßen und 
über Abweichungen vom Wege mit leifen Worten hinweggehen, da ja das erfte 
Biel war: die Grundzüge der neuen Art zur Geltung zu bringen. Das ift nun 
geichehen. Test aber bedrängen uns neue Sorgen. 

Es war von Anfang an ein Irrthum einiger Künftler, zu meinen, baß 
man einen tienen Stil aug einer Erfenntniß des Intellektes, aus einer fünft- 
leriihen Sehnſucht heraus mit Bewußtſein jchaffen könne. Ein Stil bildet 
ſich; aus taufend Darbietungen, aus hunderttaufend Emanationen ber Fünjtlerifchen 
Kräfte einer Zeit bleiben die ftärkiten beftehen, werden die Träftigften in den 
alten Formenſchatz einverleibt, ſetzen fih durch. Was das Weſen eines Volkes 
in einer beſtimmten Zeit am Stlariten ausdrüdt, Das gilt al8 der Stil biefer 
Beit und herrſcht dann weit über dieje hinaus durch feine fünftleriichen Potenzen. 
Deshalb find die franzöfiiden Stile fo lange auch in anderen Ländern herrſchend 
geblieben. Richtig Hatte man erkannt, e3 jei widerjinnig, ein Leben von elektrijcher 
Behendigkeit und moderner Nervofität in einem Zimmer zu verbringen, deſſen 
Zuft der Hauch vergangener Jahrhunderte ummwitterte. Das wußte Goethe hun, 
als er zu Ederinann jagte, daß die Mummereien folder ardaijirenden Wohnungen 
von der verderblichften Wirkung jeien; denn da fi der Menſch au eine falfche 
Umgebung gewöhnt, neigt er auch dazu, feinem Gharafter Masferaden zu ge: 
ſtatten. So war es ficherlich gut, daß wir am Ende des neunzehnten Jahr— 
hunderts jagen durften: Jedes Land muß feinen Stil haben, jede Generation 
ihren bejonderen künſtleriſchen Ausdrud, das Leben jedes Standes feine Räume 
und jeder eigene Menſch fein eigenes Interieur, das fein Weſen, feine Stimmung, 
feine Bejchäftigung eben verlangt. Und zu dieſer Forderung faın eine zweite: 
der Anſpruch auf Ehrlichkeit des SKunfthandmwerkes. Der Bau eines Geräthes 
follte fihtbar, fein Diaterial mehr verfälfcht werden, aud im Detail jollte nichts 
Unehrliches mehr den Menſchen umgeben. So entjtand die Schönheit der Werkform; 
und Künftler, deren Weſen fonft den größten Gegenfaß bildeten, idealiſtiſche 
Engländer und ſchwärmende Franzoſen, reichten dem fanatijchen Belgier Ban de 
Belde die Hand. Die Entdedung der Farbe war das dritte Clement der Frucht: 
barkeit. Wir wagten, eine Volkskunſt zu fordern. Wir wollen fic noch Heute. 
Bücher über die Nenaiffance unjerer Zeit wurden geichrieben; vage Prophezeiungen 
ohne das leiſeſte Fragezeichen. Von Zeit zu Zeit ficht man die Abbildungen 
bortreffliher Wohnräume von dem und jenem Architekten und Maler für einen 
anderen Architekten und Maler oder einen Millionär angefertigt. Cine populäre 
Kunſt aber giebt es nicht. Aber jelbft wenn man die nur allzıı beredtigte 


78 Die Zukunft. 


Forderung nad} einem Stil für den Arbeiter unb den Fleinen Dann einen Augen- 
blick lang vergißt und nur fragt, ob wir denn auf dem Wege find, ein neuer 
Kunfthandwerk für den Bürgerftand zu befommen, fo fällt die Antwort vers 
neinend aus. Man gehe nur einmal in die Gefchäfte, die in Berlin moderne 
Möbel ausftellen, und frage nad) den Preifen. Man erkundige fi bei irgend 
einem Meuſchen mittleren Vermögens nad den Erfahrungen, bie er gemacht Bat, 
als er ein modernes Zimmer haben wollte. Ungeheure Preife wurden ihm abver- 
langt; und ſchließlich hat er beim guten Fabrifanten ein Kompromißzimmer beſtellt. 

Das Weſentlkchſte an der ganzen neuen Bewegung war, daß aus billigem 
Material durch Fünftleriiche Linien und formen, durch lichte Karben Gutes ge 
ſchaffen werden follte. Die beften Werke diefer neuen Bewegung zeichnen ſich 
dadurch aus, daß jie einfach und fpottbillig erzuftellen find, Die neue Bau- 
form hat in vielen Fällen die Kiftentifclerei zum Vorbild genommen. Man 
arbeitet nicht mehr mit ſchweren Füllungen, fondern mit leichten Wänden; bie 
neue fonftruftive Technik hat nicht nur gragidfe Linien gebracht, fondern auch 
die Möglichkeit, der Berjhwendung bes Material ein Ende zu machen. Und 
hier fing bie Unehrlichkeit an. Diefe mit ben Billigften Mitteln berzu- 
ftellenden Objekte wurben fünftlich vertheuert. Die dünnen Seffel kofteten mehr 
als die ſchweren Renaiffance-Stühle, die leichten Papiertapeten, in unferer Zeit 
des vervollfommneten Yarbendrudes um ein paar Pfennige herzuftellen, mett- 
eiferten im Preis mit den ſchwerſten Erzeugniffen ber Renaiſſance. Die Folge 
blieb nicht aus. Die Händler felbft, von der Unſicherheit der Preife, die der 
Erzeuger forderte, beirrt und verleitet, nannten ihren Kunden wieder Märchen ⸗ 
preife. Das Publitum verlor vollftändig die Schägung, wußte nit mehr, ob 
es übervortheilt fei oder nicht, und kam ſchließlich — man Tann es ihm nicht 
verübeln — auf den Verdacht: Das Alles fei Spielerei, ein Luxus, nichts, 
was wirklich mit der Geftaltung unſeres Lebens zu thun hat. 

Ich will die Schuld nit den einzelnen Fabrikanten und, Händlern zu« 
ſchreiben, trogdem die Meiften von ihnen ſchlimm gefünbigt haben. Die un- 
folide Preisbildung ift nicht nur die Folge maßlofer Gewinngier, fondern auch 
einer thorichten Axt, zu probuziren und Geſchafte zu machen. Die wigtigften Grunb« 
füge des modernen Kunſthandwerkes wurden mißverftanden und mißbraudt. Die 
Maſchine wurde verachtet; und gerade fie follte dod dem neuen Stil den Sieg 
erobern. Zu allen Zeiten gab es eine Amatenrleidenfchaft, bie bie plöco unique, 
den nur in einem Cremplar vorhandenen Gegenftand, befonbers hoch fdäpte. 
Solche Schätzung eines Kunftgegenftandes, an bem noch die Hand des Meifters 
ſichtbar ſcheint, iſt durchaus berechtigt. Es hatte feinen guten Sinn, wenn man 
einem Glas Tiffanys oder Gall&s nachrühmte, fein zweites habe die felbe Form. 
Denn damit war gefagt: nur durch eine befondere Verbindung von Kunſtfertig - 
feit und Zufall entfteht ein bejonderer Gegenftand, Es ift auch nit un 
nünftig, wenn Einer jagt: Ich will nicht, daß meine Einrihtung in cin 
‚zweiten Eremplar angefertigt wird und irgend einen anderen Menſchen die 
denn mein Zimmer iſt ein jo getreuer Ausdrud meines Wejens, daß es eir 
Anderen gar nicht dienen kann, daß es für ihn eben fo fehr Mummenfchanz ı 
Viaskerade ift wie für unfere Zeit im Allgemeinen der Rokokoſtil. Eine T 
beit aber ift es, dieſes Prinzip aus Geſchäftsgründen, um bie Preife zu ftci, 





Der Krach des Kunſtgewerbes. 9 


nun auf jeden‘ Gegeinftand anzuwenden. Wenn c8 von einer Bronze, die nad 
einem fertigen Modell gegofjen und faft immer von fremder Hand cijelirt wird, 
heißt, fie müſſe mehr foften, denn fie folle nur in zehn Exemplaren vorhanden 
fein, fo wird die Inwifjenheit des Käufers mißbraucht und nicht Kunſtgeſchmack, 
ſondern Proßerei gezüchtet. Aber jeder Händler verfichert, er müſſe, wenn zwei 
oder drei Stüde verfauft find, ein neucs Modell haben; und jo wirb ber Preis, 
da ja bie Herſtellung des Objektes fehr theuer ift, unfinnig hoch. Und eine 
zweite Folge ergiebt fich fofort. Der Erfinder ift nicht reich genug, um immer 
Neues produziren zu lünnen. So wird ein Motiv unzählige Male verwerthet; 
geringe Barianten werden gemacht, die Koften zwar erhöht, das Ergebniß aber 
nicht verbeflert und jtatt einer guten Form beherrſchen den Markt zehn fchlechte. 
Das ift der Nachtheil für das Publikum; auch für den Künftler bleibt er nicht 
aus. Der Yabrifant fommt allmählich zu der Anficht, daß es mit ber Phan- 
tafie und den Einfällen ber Künftler nicht jo weit ber ift; er läßt fi, mit ber 
eigenthümlichen Gefchäftsmoral, die wir troß Patenten und Muſterſchutz nod 
immer haben, von irgend einem kleinen Zeichner feine Vorlagen und Modelle 
rubig weiter variiren und entwöhnt fich nach und nad, ein Original zu bezahlen. 
Er hält den Studio oder eine deutiche Kunjtzeitichrift und Fopirt nun Engliſches 
oder Dejterreichilches, wie er früher NRenaiflance, Barod und Empire aus den 
Borlagebüdern abpaufen ließ. So werben die Preife, die mar dem Künſtler 
zahlt, immer geringer; ſchließlich ift gar fein Verhältniß mehr zwiſchen dem 
Preis des Chjeftes und dem Werth des Entwurfes. Die jungen Künftler werben 
jämmerlich bezahlt, gerathen allmählich entweder als Yabrifzeichner ins Kitjchen 
oder wenden ſich von dem fchlecht lohnenden Kunfthandwerf ab. Die Welteren 
helfen fich auf andere Reife. Da ein Arditeft nicht darauf rehnen Tann, jeinen. 
Entwurf mehr als einmal ausgeführt und bezahlt zu jehen, diefer Entwurf troß- 
dem aber ſehr oft benußt wird, fo forbert der Stünftler gleich für die erfte Skizze 
fo viel, daß dur das Arditektenhonorar das Original zu einem Kaufpreis 
tommt, der weder dem Materialwerth noch dem Kunſtwerth entipricht. Diele 
Behauptung wäre lei) zu erweifen. Die Sünftler ſpüren auch fchon die 
Wirkung; jie find auf eine Fleine Käufergruppe angewiejen. Nicht Kunſt fürg 
Bolf, jondern höchſtens Kunft für Millionäre. Und diefes Ergebniß ijt tragi- 
komiſch. Denn für fo reiche Leute ift noch heute bie italienijche Renaiſſance 
oder einer der franzöfiichen Prunfitile ein eben fo paſſender Ausdrud ihres 
Wejend und Rahmen ihres Lebens wie manche Neuheit eincd Architekten, der 
ih nur mühſam in folde Sphäre hineinverfegen kann, da er von den Koimfort« 
anſprüchen diefer Menfchen nur wenig weiß. So entwidelt fi der Stil der 
Farvenus. Dazu aber braucdten wir wirklich feine Revolution. 
Wie fieht es in Berlin aus? Ich habe Feine Neigung, einen Kampfzug 
gegen die Händler Keller & Reiner und das Hohenzollern-Kaufhaus von Hirfch- 
wald zu führen. Erſtens babe ich gegen den Großbetrieb gar nicht. und zweitens 
ſcheint es mir immer unflug, von einem Gefhäftsmann zu verlangen, er folle 
die Kunft fördern. Er will natürlich Geld verdienen; mit Runtelrüben oder 
mit ſezeſſioniſtiſcher Ramſchwaare. Dod) die beiden genannten Firmen beherrichen 
den berliner Runftgewerbemarkt; und da ihr Einfluß mir höchft ſchädlich fcheint, 
fo überwinde ich den Widerwillen, in fremde Geſchäfte Hineinzureden. Die Herren 


6 


80 Die Zukunft. 


ftellen aus, laden Kritifer zur Belihtigung und dürfen deshalb nicht Hagen, 
wenn fie rücjichtlos Fritifirt werden. Sie find Zwiſchenhändler; nicht ınehr von 
‘der guten alten Art der Kunſthändler, die fauften und verkauften, auch nicht 
nach dein Muſter des Pariſers Bing, der mit jeinem Daufe L’art Nouveau 
Ah ganz in den Dienft ber neuen Bewegung ftellte, — nein: fie find Stom- 
miffionäre. Was irgendwo gefchaffen, von irgend einem Nezenfenten beſprochen 
wird, Das wird als Fracht- oder Eilgut in die Botsdamer- oder Leipzigeritraße 
geliefert, da — nach mir unbefannten Methoden — mit irgend einem Preis ver- 
fehen und wartet nun des Käufers, den die Mode treibt, Die ganz imaginären 
Kojten folden Zwiſchenhandels zu zahlen. Kommt diefer Käufer nicht, jo wird, 
wenn der Erzeuger noch ein Anfänger ift, es ſich alfo gefallen laſſen muß, der 
Gegenftand, nachdem er Monate lang herum geitanden und allen Reiz der Neuheit 
verloren hat, einfach zurückgeſchickt; iſt die Waare nidt in Kommiſſion genom- 
men, fondern feft gekauft, dann freilich muß man noch weiter warten. Vielleicht 
hilfts, wenn man den Preis abermals erhöht und es mit dem Syften des Ter- 
rorifirens verfucht; in einer Großſtadt giebt es immer Yeute, die kaufen, weil 
fie fürchten, für Idioten gehalten zu werden, jobald jie zeigen, daß ein jehr 
theurer, ſehr moderner Gegenjtand ihnen nicht gefällt. Ich Habe erlebt, day 
ber jelbe Segenftand bei Keller & Heiner ſechs, bei Hirſchwald fünf — oder unt= 
gefehrt — und bei Wertheim nur vier Mark Eoftete.e Ich Habe unfinnig theure 
Bronzen gejehen, für die dem Erzeuger recht beicheidene Summen gezahlt waren. 
Bei Seller & Reiner wurden 250 Mark für eine wiener Bronze gefordert, Die 
in vielen Exemplaren hergeftellt wird und bein wiener Detailyändler, ber ja 
auch ſchon feine Koſten decken und verdienen will, für 200 Marl zu haben war; 
dem Künftler felbft wurden für das fertige Exemplar knapp hundert Mark be— 
zahlt. Mit den Möbeln ijts nicht anders. „Immer wieder die Einbildung, 
gleicd) das erjte Eremplar müſſe Auslagen und Berdienit hereinbringen. Der 
Einwand: Wir verlaufen eben nicht mehr als ein Exemplar, beweift rein gar 
nichts; denn man verfauft eben nicht mehr, weil die PBreife zu Hod) find. Das 
Alles iſt nicht perfönliches Verfchulden der Händler, ſondern Ergebniß ungejunder 
Berhältniffe. Wenn wir heute fein berliner Kunftgewerbe haben, fo liegt es 
nicht daran, day die Fähigkeiten fehlen, fondern daran, dag die Möglichkeit zur 

Ausführung und zum Vertriebe nicht gegeben ift. 

Drcroch ich wollte feinen Grabgejang anſtimmen. Noch feheint Hilfe mir 

möglich ; aber nur nad) Ausfchaltung des Zwifchenhandels. Die Schägung der 

piece unique foll bleiben, doch da nur, wo ſie am Platz iſt. Vor allen Dingen 

ift zu bedenken, daß es jich nicht darum handelt, einen Stil für die Wohnungen 

der reichten Leute zu finden. Wenn die dekorative Kunſt auf unjer Leben einen 

beiljamen Einfluß gewinnen joll, müſſen gute Gegenftände billig hergeſtellt 

werden, Noch giebt es feine Kaffeetaſſe und Fein Meſſer, kein Tiſchtuch und 

feinen Sefjel neuen Stils zu mähigem Preis; und doch ijt modernes Geräth 

viel billiger als altmodiiches herzuitellen. Man muß die Mafchinentechntl ber 

nußen und eine neue Schönheit auch für die Möbel und Ziergeräthe finden 

fernen, wie man fie bei den Pochbahnbauten und eleftriichen Betrieben gefunden 

bat. Dian darf audy Theorie und Prazis nicht länger trennen, nicht den Zeichner 

zeichnen und den Fabrikanten ansführen laffen. Trotz allen ſchönen Worte 





— — — — — — — — 





Der Krach bes Kunftgewerbes. 81 


wird noch heute am Reißbrett gearbeitet und den Eingeweihten klingt es oft 
komiſch, wenn .er im illuftrirten Blatt lieft, daß nun der Künjtler dem Hand— 
werfer verbündet jei. Wie häufig fieht der Architekt ftaunend, was für ein felt- 
ſames Ding aus feinem Entwurf geworden ift! Gemeinfam muB gearbeitet. 
gemeinfam muß verdient werden, nicht nur am Original, fondern an jeder Kopie. 
Die Wirkung wird jein, bag nicht mehr ftetS das felbe Thema rein äußerlich 
variirt wird umd. daß bie Liebe zum Objekt, die alle guten Kunſthandwerker ver 
gangener Beiten auszeichnete, wieder erwacht. 

Wer' von individueller Auswahl fpricht, kann nicht meinen, der Künſtler 
folle ſich Hinfegen, die Seele des Käufers ftudiren und ihm dann erft einen 
Raum bauen und [hmüden. Die individucle Prägung wird ja ſchon dadurch 
Heftimmt, daß Jeder fi den Architekten und die Möbelform mählt, die feinem 
Weſen angemeſſen find, und daß er innerhalb des gegebenen Rahmens durch 
den Zumads, den jeder Tag bringt, feinem Zimmer den Duft des Lebens und 
feines Scidjald mittheilt. 

Mir fcheint eine Organijation auf nener Wirthſchaftgrundlage nöthig. 
Ich bin für den Großbetrich, weil er allein die Möglichkeit zu Erperimenten 
Hirtet und es ohne Experimente nicht geht. Man könnte an eine Kooperativ- 
genofjenfchaft von Künſtlern und Kunftinduftrichen denken, die das ganze weite 
Feld zu bebauen hätte. Nur fürdte ich, daß der heute, in der Kampfzeit, noch 
herrichende Fanatismus ein gemeinjfames Urbeiten ſchaffender Künftler erfchweren, 
wenn nicht unmöglich machen würde. Am Ende fäme nichts heraus als eine 

* Bereinigimg von Künftlern und Gejchäftsieuten, die dag mir vorſchwebende Ziel 
nie erreichen könnte. Das Beilpiel der Münchener Werkftätten tft ungemetn lehr- 
reich. Gelingt es aber, die Leiltungen der jüngeren Künſtler, die jet faſt immer 
weit vom Weg abirren, mit den Bedürfniſſen des Publifums in Einklang zu bringen, 
dann werden wir eine jet noch ungeahnte Erneuerung der Formen erlchen. 

Der Plan der Organifation, die ich erſehne, könnte am Bejten von einer 
tapitaliftifchen Genoſſenſchaft ausgeführt werden, die weitherzig alles künſtleriſch 
Werthoolle aufnimmt, den Künſtler anftändig honorirt und am Gewinn be- 
theiligt und dem Publifum, ohne den falſchen Nimbus eines ideal gedachten Unter- 
nehmens, zu angemejjenem Preis Gutes liefert. Gerade jeßt ift eine neue 
Maſchine erfunden worden, die ſolches Planes Ausführung erleichtern kann. 

Ich fehe alle Einwände voraus, die man mir maden wird. Idealiſten und 
Realiften werden um die Wette den Plan tadeln — die Idealiſten namentlid), 
dab er Kunſt und Gefchäft verquiden will — und Kunſtverſchleißer werden in 
ihm nichts Anderes fehen als ein Manöver mehr oder minder ſchmutziger Kon— 
kurrenz. Einerlei. Mir lag vor allen Dingen daran, einmal offen auszusprechen, 
wie der Ekel am „modernen“ Kunſtgewerbe zu erklären ift, der gerade die ge: 
ſchmackvollſten Leute ergriffen hat; er hat nicht äjthetiiche, ſondern öfonomifche 
Urſachen und kann deshalb auch nur überwunden werden, wenn es gelingt, dieſem 
Gewerbe eine neue Wirthichaftbajis zu jchaffen, die dem Künſtler giebt, was des 

_ Künftlers, dem Käufer, was des Käufers ift. Wird der Verfuch nicht gemadt, dann, 
fürchte ich, wird man bald allgemein von einem Krach des Kunſthandwerks reden. 


W. Fred. 
N 


6* 


82 Die Zukunft. 


Die Drinzenreife”). 


SR des jpanijchen Krieges hatte Deutichland allein von allen Mächten 
eine große Schlachtflotte nach den Philippinen gefandt. Admiral Diederids 
führte ben Oberbefehl mit großer Schneidigfeit und naym feine fonderliche Rück 
ficht auf amerikaniſche Hühneraugen. Diefe und andere Vorfälle erzeugten in 
Anerifa Berftimmung. Für die englifhe Diplomatie war Das eine pradt- 
volle Gelegenheit, nad) altbewährter Methode gegen den verhaßten Konkurrenten 
Michel zu hetzen. Der Erfolg war jo überrafchend, daß die englifche Diplomatie 
ihren hetzeriſchen Wirkungskreis über die ganze Welt ausdehnte. In Südameriko 
und China malte fie dem leichtgläubigen und eitlen Onfel Sam den braven 
Michel in ſchwärzeſten Farben als den Störenfried, deſſen Dauptvergnügen darin 
beitehe, Ontel Sanı fortgefegt Knüppel zwiſchen die dünnen Beine zu werfen. 
Auch damit hatte England Erfolg. Das Feuerchen, das ınanin Londoneifrig gefchürt 
hatte, begann langſam, zu brennen, fladerte danı aber Iuftig. In Waſhington 
ſaßen brave Dandlanger, die mit Inbrunſt Tel in das Feuer goffen. Da war 
zunächſt der trefjliche Lord Vauncefote, der engliihe Gejandte. Um ihn ſchaarten 
fich dienſteifrig ſaämmtliche Jingos und Deutjchenfeinde ber republifaniichen Partei, 
Kriegsſekretär Root, Staatsjckretär Hay, Senator Hanna, Senator Depem, 
Senator Lodge und die jogenannte Marines Koterie, die nad) neuem und ihrer 
Meinung nad) eben fo wohlfeilen Lorber lechzte, wie ihn der Krieg gegen Spanien 
gebracht hatte. Ihnen gejellte ſich noch Der. Choate, der amerifanijche Geſandte | 
in London, ein erprobter Anglomane. Gegen dieje deutjchfeindlicde Koalition | 
hatte Herr von Holleben, der deutfche Geſandte in Wafhington, einen fchweren 
Stand. Schon taudte das unheimliche Wort Krieg in den deutjchfeindlichen 
amerifaniichen Zeitungen auf. Da entihloß man fich in Berlin zu den befaunten 
Beröffentlichungen und Prinz Heinrich ging auf die Reife. Es jollte ein politiihes 
Ausftattungftüc von blendender Pracht werden. In Deutichland arbeitete die 





*) Als der Herausgeber hier zuerft fagte, er glaube nicht, daß die Reife 
des Prinzen Heinrich die Beziehungen zwiſchen Deutichland und den Vereinigten 
Staaten in irgend einem wejentliden Punkt ändern werde, da wurdbe-ihm un- 
heilbare Zweifeljuht vorgeworfen und er ein Schwarzjeher geicholten, der die 
erhabenen Intentionen deutſcher Weltpolitif nun einmal nicht zu würdigen wilfe. 
Die bitterböjen Dinge, die gerade in den größten amerifaniichen Blättern, 
beionders im Herald, über den politijchen run gejagt wurden, las man ent- 
weder nicht oder ging mit etlihen Schimpfreden wider die Jingopreſſe darüber 
hinweg. Und nun vergleihe man, was eigene Anſchauung Deren Urban gelchrt | 
bat und was aud in diefem Heft wieder Plutus über die amerifaniiche Gefahr | 
ſagt. Beide Herren befennen fih zu ganz anderen politifchen Anfichten als | 
Derausgeber, denken aber nicht daran, der Reife eine irgendwie weiter reichende % | 
deutung zuzuschreiben. Auch die vor ein paar Wochen noch Beraujchten find allmähl 
wieder nüchtern geworden, — bis zum nädjten Rauch, in den fie das när 
Spektakelſtück fiher verfegen wird. Iſt es denn wirklich jo ſchwer, einzufehen, 
„politische Beziehungen‘ dur wirthichaftliche Intereſſen, nicht durch perſöm 
Artigkeiten noch durch allerlei liebenswürdige Launen determinict werben? 


Die Pringzenreife. 83 


offizielle Preſſe mit löblihftem Eifer. In Amerifa lag die Negie in den bes . 
mwährten Händen des Herrn von Holleben. Ihn unterjtüßte begeiftert Profeflor 
Hugo Müniterberg von der Harvard>Univerfität, der feit Jahren als offizidfer 
Friedensengel zwifchen Berlin und Wafhington ſchwebt und als politifcher Schrift« 
fteller von anjehnlichem Talent bie Freundſchaft zwilchen beiden Völkern zu Kitten 
fi) bemüht. Die Staats: Zeitung war von vorn herein ficher; dieſes wichtigjte 
deutſchamerikaniſche Blatt gehört ja längft zu ber Preſſe, die mit Hilfe ihrer 
berliner Vertreter aus dem Auswärtigen Amt „Snformationen‘ bezieht. Die 
übrigen großen Zeitungen, namentlich im Weften, würden — Das wußte man — 
mit Freude Heeresfolge leiften. Raſch wurden noch alle Skeptiker als unver« 
beſſerliche Nörgler und alle Kenner des braven Onkels Sam als Turzfichtige 
ober böswillige Amerifafeinde angeſchwärzt; und nun konnte Brinz Heinrich fommen. 
Sein Aufenthalt hat Mancherlei zu Tage gefördert, was nur in Amerika 
möglid iſt. Für den Durchſchnittsamerikaner ift es von höchſter Wichtigkeit, 
bei bejonderen Feſtlichkeiten immer zu willen, was fie gefoftet haben. Kaum 
hatte Prinz Heinrich die eriten Feſte mitgemadt, fo hatte ein Blatt ſchon aus— 
gerechnet, wie hoch fi) die Ausgaben beliefen. Die Galavorftellung im Opern: 
Haus, der Yund mit den Dollarfönigen, das Diner mit den Seneralen der Preſſe, 
das Bürgermeilter- Diner, der Yadelzug der Deutſchen, die Yadt-Taufe, die 
Kavallerie: Esforte, der Sonderzug der Pennfyloania- Eifenbahn und allerlei 
Dekorationen hatten zufammen ungefähr 109000 Dollars verfhlungen. Damit 
Tieß ſich ſchon proßgen. Maurice Grau, der Direktor der Oper, . geftand mit 
fattem Lädeln, daß er mit feiner Galavorftellung über 40000 Dollars „am 
Prinzen gemadt habe’. Auch andere Leute haben „an dem Prinzen Geld ge- 
macht“; und dafür waren fie ihm natürlich dankbar. Bob Evans, einer der 
Sieger von Santiago, erklärte einem Reporter: „Der Prinz. ijt ein urgemüth- 
tiher Menſch (a royal good fellow). Er ift Amerikaner, jo weit ein Fremder 
es überhaupt fein kann“. Das ift nach der Anficht des richtigen Amerikaners, der 
ſich bekanntlich für die Blüthe der Menſchheit hält, das höchſte Yob. Und der chren- 
werte Bürgermeijter von New-York, Scth Low, fagte zu feinen politijchen 
Freunden: „Ich bin während der Ichten Tage fo viel in prinzlicher Geſellſchaft 
geweſen, daß e3 für mich ordentlich erfrifchend ift, wieder mal unter Vertretern 
eines freien Bolfes zu fein. Und doch: hätte der Prinz das Glück gehabt, in 
dieſem Lande geboren zu werden, fo würde er die Bezeichnung eines höchſt ge 
müthlichen Menfchen (a jolly good fellow) verdienen.“ Diefes höchſte Glück 
blieb dem Prinzen nun leider verfagt; wenn der Menſch Pech haben ſoll ... 
Dein Gouverneur von Minneſota wird nachgefagt, er habe den ‘Prinzen nad) 
“er Vorftellung auf deu Rücken geflopft und ihm fordial zugerufen: „Es würde 
sih freuen, wenn Zie mal nad Minnefota kämen, Sie uud Ahr Bruder!” 
Der Prinz iſt, als star des Ausſtattungſtückes, enthufiaftiih begrüßt 
sorden; bejonders im Weiten, wo das Deutſchthum dichter, jtolzer und mäd)- 
ger iſt als in NewYork. Die in Berlin „Maßgebenden“ jcheinen eine Heiden— 
igſt dor einem allzu impoſanten Dervortreten des deutjchen Elementes gehabt 
u Haben. Tas konnte die „reinen“ Yankees ja verichnupfen! Prinz Deinrid) 
at aber wohl gemerkt, daß die Dentichen in den Vereinigten Staaten feine 
"antitö negligeable find, und darüber hoffentlich auch feinen Bruder aufgeklärt. 


84 Die Zukunft. 


Seine Mahnung, die Pflicht gegen bie neue Heimath nicht zu vergejjen, war 
überflüffig; oft wäre es leider nöthiger, an die Pflicht gegen die alte Heimath 
zu erinnern. Jedenfalls: die Neife hat dazu beigetragen, die Madtitellung der 
bier lebenden Deutichen zu ftärfen. Und fie Bat ferner gezeigt, da Deutſchland 
den beiten Willen hat, mit Anıerila in Freundſchaft zu leben. 

Mehr Hat von der Reije Niemand erwartet, der ben Umerifaner wirklich 
fennt. Nur fromme Kindergemüther und die im Solde der Exporteure ftchenden 
Hurrafchreier befamen das Kunftitüd fertig, als Hauprergebniß der Reife eine 
dide Freundſchaft wilden Sam und Michel zu propbezeien.. Sie weilen immer 
wieber auf die glänzende Aufnahme hin, bie der Prinz gefunden habe. Dem 
Kenner von Land und Leuten ift damit gar nichts gelangt. Zunädft ift ber 
Amerifaner ungemein gaftfreundlich und fiets bereit, fein Haus auf den Kopf 
zu Stellen, um einen Bejucher zu ehren. Wie begeiftert wurben 1893 die in: 
fantin Eulalia von Spanien, die Tante Alfonjos des Dreizchnten, und der 
Herzog von Beragua, der Nachkomme des Columbus, aufgenommen! Dem 
Herzog wollte man, vor Rührung darüber, daß fein Ahnherr jo freundlich ge- 
wejen war, Amerika zu entdeden, fogar die Schulden bezahlen. Und doch hegte 
man jchon damals gegen Spanien unfreumdliche Gefühle wegen der Mißwirth— 
haft auf Kuba. Nicht minder begeijtert wurde 1860 der Prinz von Wales, 
jegt König Eduard VII. von England, aufgenommen. Robert B. Roofevelt, eim 
Berwandter des Präfidenten, ſpäter ameritanilcher Gejandter im Haag, war 
damals Wiitglied des Empfangsausſchuſſes und hat neulich erſt erzählt, die jungen 
Amerifanerinnen feien beim Anblid des Prinzen von Wales außer Rand und 
Band gerathen; der Barbier, der ihm die Haare ſchnitt, verkaufte ihnen hie 
Loden des Prinzen für ſchweres Geld; auch das Wafler, in dem Albert Eduard 
fih gewajchen hatte, wurde auf Flaſchen gezogen und an bie Danıen verfauft. 
Alles war entzüdt von ihn, genau fo entzüdt wie jegt vom Prinzen Heinrich. 
Und dod blieb die Stimmung der Amerikaner gegenüber England feindſälig 
bis zum Sriege gegen Spanien. Auch durch die Leiftungen amerifanijcher Nach⸗ 
tiſchredner läßt fi) der Kenner nicht täufchen. Die Loblieder auf Alle, was 
Amerika Deutichland jchuldet, Haben wir oft genug lächelnd gehört: am Morgen 
nah dem Feſtmahl find fie wieder vergeflen. Der Befuch des Prinzen war für 
die Dienge eine offizielle Unerfeunumg Amerifad als jüngfter Großmacht unb 
wurde als Huldigung gern hingenommen, Und die hieſige Plutofratie fonnt 
ſich mit Vorliebe in königlicher Gunſt und glaubt, durch den Verkehr mit Prinzen 
zu Wirfliden Geheimen Ariftofraten werben zu können. Den Zeitungen aber 
war der Prinz in erfter Yinie news, etwas Neues; die amerilanifhe Zeitung 
heißt nicht umſonſt newspaper. Er war ihnen Leſeſtoff, und zwar allerfeiniter, 
für eine ganze Weile. Ein Schiffbrud, ein Brand giebt höchſtens zwei oder 
drei Ertrablätter, allenfalls noch einige Spalten in der Morgenausgabe; Prii 
Heinrich: Das reichte für zahllofe Ertrablätter. Das füllte jelbit an Son 
tagen die Spalten und bot Gelegenheit zu unzähligen Uuftrationen. € 
glänzendes Geſchäft. So Etwas jtimmt auch das wildeſte Singo-Blatt mil 
und faft deutichfreundlih. Als dag Geſchäft nachließ, Hatte der Prinz ſei 
Arbeit gethan und konnte gehen. Statt der „Wacht am Rhein“ übte man wich: 
die deutſchfeindliche Jingo-Melodie The Dutchmen be damned! Der Prinz w‘ 














Die Prinzenreife, 85° 


noch nicht in Piymouth angefommen, da begann die fröhliche Deutfchenhege von 
Neuem. Herr von Holleben und Profeſſor Münfterberg wurden vom „Herald“ 
al3 Spione ber deutſchen Regirung gebrandinarft und das „Journal“ hetzte 
fleißig mit. Des Prinzen Liebenswürdigkeit, dieß es, ei nur Komoedie geweien; 
au Bord der „Deutſchland“ fei er gleich wieder unnahbar geworben. In Deutſch⸗ 
land hat man auf dieje nenen Ausbrüche des Haſſes nicht viel Gewicht gelegt. 
Sehr mit Unrecht. Hier ift gerade der Einfluß der jchledten, der „gelben“ 
Preſſe bejonders groß. Die Politif wird Hier mehr als anderswo von der 
großen Maſſe gemadt und die große Maſſe ſchöpft ihre weltpolitiihe Bildung 
bauptjädhlid aus ben fchlechten Zeitungen, die unter allen Umſtänden einer 
europafeindlichen Jingo Politik das Wort reden. In den Times lad man am 
ſiebenten März: „Als Nation haben wir den Prinzen gern; und wenn unfere 
Gefühle einer Analyfe unterzogen würden, }o ergäbe ſich die Thatſache, daß wir 
ihn perfönlich höher ſchützen als Das, was er repräſentirt.“ Das ift doch deut- 
lich genug. Wicht weniger bezeichuend ift, was Poultney Bigelow am neum- 
zehnten Diärz bei feiner Rückkehr aus England jagte: „Amerita kann fih auf 
manche Unannehmlichkeiten gefaßt machen. Der Beſuch des Prinzen Heinrich 
ift ohne Bedentung. Er wird in feiner Weife unfere Beziehungen zu Deutjchland 
ändern und keinerlei Einfluß auf irgend eine Möglichkeit eines Krieges mit Deutſch⸗ 
land haben.“ Dann wies cr auf die Gefahren beutfcher Kolonifirung in Süd— 
amerifa Hin und betonte die Freundſchaft Amerikas mit England, deren Inter⸗ 
effen eng mit einander verfnüpft feien. Und Herr Bigelow ift ein befannter 
Bubliziit, der mit Wilhelm dem Zweiten in Bonn ftudirt hat und fid mit 
Borliebe den Freund des Kaiſers nennen läßt. 
Seine Auffaflung wird hier allgemein getheilt. Des Prinzen Beſuch war 
ein perjönlicher Erfolg; politifch Hat er nicht das Geringite geändert. Die Blos— 
ftellung des gelichten Sohn Bull durd) Holleben und Bülow hat in Amerika 
gar keinen Eindrud gemadt. Der Plan eines Angeljachjen Irufts, der den 
übrigen Völkern die Taſchen leert, verheißt große PBrofite; und er müßte ſich 
zuerſt gegen Deutfchland richten, den unangenehmften Konkurrenten beider Angels 
jachfen, der den Engländer auf allen Märkten unterbietet und fi) zugleich mit 
ber Frage bejchäftigt, wie er der amerifanifchen Gefahr durch Einfuhrzölle die 
Thür jperren fann. Man darf auch nicht vergejfen, daß der „\mperialigmug 
in Amerika nicht nur bei den Nepublifanern, fondern beim ganzen Volk populär 
it. Und diefer Imperialismus ift ausgelprochen bdeutjchfeindlich, gerade wie 
jene hervorragendſten Vertreter im Kongreß und im Kabinet. Ferner ift troß 
allen amtlichen Erklärungen das Mißtrauen gegen Deutſchlands Abjiht, Süd» 
amerifa zu Eolontfiren, nicht gejchwunden. Nach langjährigen Erfahrungen wird 
es mir überhaupt ſchwer, an freundichaftliche Gefühle des „ſuperioren“ Angel: 
fachfen, jei er ein Engländer oder Amerikaner, für den Deutfchen zu glauben. 
Trotz der Verwandtſchaft find der Angelfachfe und der Teutone von heute einander 
innerlich fremd. Ein Franzoſe und ein Deutjcher befreunden fich eher als ein 
Angelfachfe und ein Deutjcher. Nur Eins könnte vielleicht etwas angenchnere 
Beziehungen zwiſchen Amerifa und Deutfchland herbeiführen: der Sturz det 
republifanifchen Bartei, die von deutjchfeindlichen Jingos beherrfcht wird. 


New Hort, Ä Henry F. Urbar. 


* 


86 Die Zuhmit.. 


Selbitanzeigen. 


Grundriß des Feſtungskrieges. Sondershaufen. Verlag von Fr. Aug. Eupel 


Napoleon hat einmal gejagt: Je demanderai s'il est possible de eom- 
biner la guerre sans des places fortes et je d&elare que non. Diejer Aus 
fpruch gilt Heute in hödften Maße. Der fteigende Reichthum aller Länder 
drängt troß der von einer Großmacht ſtets anzuſtrebenden offenfiven Kriegführung 
mehr als je darauf, feindliche Einfälle mit fünftliden Mitteln zu erfchweren, 
fi felbjt die cigenen Operationen zu erleichtern. Auch muß mit der Möglichkeit 
taftifcher Rüdichläge gerechniet werden, bejonders im Kampfe gegen einen über: 
legenen Gegner. Nichts erleichtert aber den Kampf einer Diinderbeit gegen eine 
Mehrheit jo fehr wie zweckmäßig angelegte und verwendete ftändige Befeitigungen. 
Was deren Anlage betrifft, jo wird fie, weil fich ber Verlauf eines Krieges sicht 
vorausfehen läßt, nicht auf einzelne Fälle zugefchnitten fein dürfen. Der Gegner 
fönnte anch dann unfere Abfichten vorzeitig errathen und durchkreuzen. Biel: 
mehr muß eine Landesbefeftigung auf große, dauernde, nit der Grundlage bes 
Staates unmittelbar verbundene Berhältniffe aufgebaut werden. Schon um den 
offenfiven Geiſt von Volk und Heer nicht zu lähmen und die Tyeldarmee zu 
ſchwächen, werden wenige große Stüßpunfte, wenigitens in Deutfchland, zu fuchen 
fein. Aus den Weröffentlichungen Bismarcks, Blumenthals, Hohenlohes, Schlichtings 
und Anderer weiß man Heute, wie wenig gerüjtet wir 1870 zum Feſtungskrieg 
waren. Eine Unterfhägung des Merthes der Feſtungen und ein erheblider 
Mangel an Berftändniß für den Feſtungskrieg war an allen Stellen des Heeres 
zu finden. Ungenügend vorbereitende Strategie im Frieden war die Folge 
folder Auffaflung, die fi dann rächte und nur dank unferen — aber nicht immer 
zu erwartenden Erfolgen — im freien Felde feinen ſchlimmen Ausgang nahm. Noch 
heute find die Anfichten wenig geklärt, zumal erhebliche neuere Kricgserfahrungen 
fehlen. Generaljtäbler, Artillerijten, Infanteriſten und Pioniere haben oft ihre 
eigene Anfchauung, in der fie natürlich der Maffe, zu der fie gehören oder aus 
der fie hervorgegangen find, den entſcheidenden Antheil meist einfeitig zumeſſen. 
Auch ein jo dringendeg Problem wie die Neuordnung des Ingenieur- und Pionier: 
corps, deifen Yöjung ſehr weleutlid) von der Auffajlung des Feſtungskrieges ab» 
hängt, wird durch ſolchen Widerftreit der Meinungen ungünstig beeinflußt. Cine 
„Lehre des Feſtungskrieges“, die durch Fritiiche Solgerung aus den zuſammen⸗ 
hängenden Erfahrungen aller, namentlich der neueren Zeiten, allgemein giltige 
Wahrheiten und Srundfäge für die Truppenführung ableitet, um einen geeigneten 
Anhalt, fein Schema, zum Dandeln zugeben, darfdeshalb wohl auf Beachtung rechnen. 

W. Stavenhagen. 
* 
Lenaus Frauengeſtalten. Verlag von Karl Krabbe in Stuttgart. 5 M 


— 


Das Bud) zeigt das Verhältniß Lenaus zum weiblichen Geidledt. : 
Frauen, die in des Dichters Werdegang bedeutſam eingegriffen haben, we. 
gezeichnet: Lenaus Mutter, die unmürdige Bertha Hauer, Lenaus anmutbi 
Schilflottchen Lotte Gmelin), jo genannt, weil der Dichter jeine „Schilflied 
an fie richtete, die wadere Sophie Schwab (Gattin des Dichters Guſtav Schw: 
die treue Emilie Reinbek, die leidenjchaftlihe Sophie Löwenthal, die fd 








Selbſtanzeigen. 87 


ſpielernde Karoline Unger, die ſanfte Marie Behrends, Leuaus „ewige Braut”. 
Der Lefer wird in dieſem Buch eine Reihe ungebrudter Lenau- Briefe und ein 
reichhaltiges neues biographiiches Material über den Dichter und über die Hier 
geiilderten Frauen finden. So werden mande neue Beziehungen aufgebecdt 
und Perſonen, die bisher in den Lenau- Biographien nur im Dämmerlicht der 
Epijode auftraten, werben mın als bedeutfome Faktoren in Dem Leben und Dichten 
Zenaus erkannt. Nicht bei vielen Poeten ftanden Leben und Dichten in einem 
fo innigen Wecdjelverhältniß wie bei Lenau. 


Hamburg. ' Adolf Wilhelm Ernft. 
J 


Der wirthſchaftliche Ruin des Aerzteſtandes. Zweite Auflage. Verlag 
von Dr. Eduard Schnapper, Frankfurt a. DM. 1902. 

Die Inſzenirung von Lohnkämpfen, deren Schauplag unjere Induſtrie⸗ 
und Berfehrscentren in den legten Sfahren oft waren, legt dem abſeits ftehenden 
Beobadter die Frage nahe, welche vis a tergo hier elementarifch gerwaltet bat, 
ob rückſichtlos auf materiellen Erwerb gerichtete Geldgier vder ein fhatfächliches 
wirthichaftliches Elend den ärztlichen Berufsitand zur fuzialen Selbithilfe zwang. 
Das erite Motiv wird felbft der größte Sfeptifer leugnen müſſen, wenn bie 
amtlichen Steuerlijten ihm das wirkliche Bild von den traurigen Einfommen- 
verhältnijfen des ärztlichen Praktikers entrollen. Bon 1747 im Jahre 1892 
in der Neichshauptitadt thätigen Aerzten hatten '%/,, ein Einfommen von nicht 
über 3000 Darf; und in Charlottenburg erreihten im Jahre 1900 von 307 
anfäjligen Uerzten nur etwa 50 nad zehnjähriger, mühfäliger Praxis ein ſolches 
von 5000 Mark. Wenn fi. unter diefen Umſtänden ein Stand endlich auf jich 
felbit befinnt und zeigt, daß er, geeint, eine rejpeftable, wirthichaftlihe Macht 
darftellt, dann wird es ihm Niemand verargen können. Aber woher ftammt 
denn nun bie offenbare materielle Nothlage? Indirekt aus der großen Zahl 
der Aerzte, deren prozentuale Zunahıne allerdings in gar feinem gejunden Ver—⸗ 
bältnig zum Wachſen der Bevölkerung fteht. Der wirkliche Grund aber für den 
Rückgang liegt in der beijpiellojen Verſchlechterung der ärztlihen Erwerbsver— 
bältniffe, wie fie die Staatägejeßgebung der legten Jahrzehnte geſchaffen hat. 
Die Heichsgewerbeordnung vom Jahre 1869 mit der Novelle vom Jahre 1883 
und das Stranfenverfiherungsgeich vom felben Wahre mit der Novelle vom 
Jahre 1892 haben den fat vollendeten wirthichaftlihen und drohenden ethiſchen 
Ruin des deutjchen Uerztejtandes herbeigeführt. Das Kurpfuichereiverbot wurde 
durch vollitändige Syreigabe des Heilgewerbes aufgehoben. Hierdurch erwuchs der 

Jenſchaftlichen Medizin eine Konkurrenz, die gar feines Befähigungnachweiſes 
iırf und mit Mitteln arbeitet, die ber ärztlichen Ethik zumiderlaufen, Die 
ndlie Bejeitigung dieſes Auswuchſes wird aber zum Fategoriichen Imperativ, 
un man fich die Semeingefährlichfeit der Kurpfufcer für die hygieniſch ſani— 
ren Intereſſen der Allgemeinheit an der Hand gerichtsitattjtiicher Nachweiſe 
rt Augen hält und außerdem bedenkt, welche Lücken im Strafigeſetz ihre Ver- 
en ftraffrei laffen. Der zweite Hauptfaktor für den finanziellen Ruin des 
rzteftandes, das Seranfenverfiherungsgejch, hat ihm bei mitunter marimalen 
“ungen der Krankenkaſſen eine minimale Bezahlung eingebraht und ſchuf 


88 Die Zukunft. 


außerdem durch die Zwangsarzt Kaſſenpoſten cin Anftitut, das auch in ethiſcher 
Hinſicht durch Erfhwerung der freien Konkurrenz höchſt verderblich werben ſollte 
Wenn nun aud als Radikalheilmittel nur gejepgeberifche Abänderunginaßregelu 
in Frage fommıen fönnen, fo ift doc vorher der einmäthige Zuſammenſchluß 
aller ärztlichen Vereine zu einem großen Berbande behufs Wahrung der Standes 
interefjen auzuftreben. Bei der berrichenden modernen Staatsdoltrin wird nur 
eine. „ärztliche Gewerkſchaft“ nachdrüdlich die berechtigten Wünjche eines Standes 
zur Geltung bringen, der in Folge der heute giltigch Geſetzgebung von ınatericlier 
wie ideeller Proletariſirung bedroht ift. 

Nebra a. U. . Dr. Adolf Haejeler. 
Jahrbuch der bildenden Kunft. Früher „Almanad für bildende Konſt 

und Kunſtgewerbe“. Verlag der deutſchen Jahrbuch-Geſellſchaft m. b. H. 

Berlin S.W. 48. Gebunden, Kunſtzeitſchriften- Format, 8 Mark. 

Was ich im vorigen Jahr zur Entſchuldigung des „Almanachs für bildende 

Kunft und Kunftgewerbe" hätte jagen follen: daß er nur erft ein Anfang ſein 
fann zu einer Regiftratur des lebenden und toten Inventars aller gegenwärtigen 
bildenden Kunſt, von Vollkommenheit und Zuverläffigfeit, die nur durch „Jahre 
lange Mitarbeit aller Ir tereſſenten erreicht werden kann, nodj jehr weit entfernt: 
Das brauche ich in dieſem Jahre von dem nicht nur zum „Jahrbuch“ umge» 
tauften, fondern auch wirklich umgewandelten Buch nicht zu verfchweigen. Bin 
ich doch fiher, daß die Lückenhaftigkeit der Arbeit durd die Fülle des ſonſt Ge: 
botenen reihlid) aufgewogen wird und daß in feiner neuen Form das Bud die 
Hoffnung rechtfertigt, durch feine kunſthiſtoriſche Rüdichau auf das abgelaufene 
Jahr, an der die beften Sträfte unferer Fachſchriftſteller fi) betheiligen, durch 
die praktiſchen Fragen gewibmeten Aufläße, durd die Nefrologie und Biblio 
graphie des Jahres und endlich durch feine reichhaltigen Berzeichniffe und fein 
Ktünftlerlexiton eine bleibende und der Bollftändigkeit immer näher kommende 
Einrichtung unjeres die bildenden Künſte umfaſſenden öffentlichen Lebens werden 
zu fönnen. Dem nicht geringen Aufwand an theils erfreulicher, theil8 aber überaus 
mühſäliger, trodener Arbeit gefellte fi) der andere: ohne Rückſicht auf matericle 
Opfer dem Bud) einen reihen Schmud zu fchaffen, jo daß es in feinen füuf- 
zchn Kunſtbeilagen und in zahlreichen Jlluftrationen auch anſchaulich eine Fülle 
hervorragender Werfe des legten jahres darbietet. Dabei iſt nicht nur auf das 
künſtleriſch Weſentliche, ſondern aud auf die verfchiedenen Arten der reprodu- 
zirenden Ichnif Werth gelegt worden. So dürfte das Buch jedem Freunde der 
Kunft, aber aud jedem Schaffenden auf einem ihrer Gebiete Das bieten, was 
er jucht: die Erinnerung an die burchlaufene Beitftrede, die Anregung zu weiterer 
Entfaltung und — als Handbuh — die aud) jest ſchon zuverläffigen, ı 
Jahr zu Jahr durd; Umfragen berichtigten Aufjchlüffe über unfere der Ku 
dienenden Einrichtungen, über Künftler und Kunſtgewerbe aller Art. Herr © 
heimer Negirungrath Dr. Woldemar von Seidlig in Dresden hat mir als Fünf 
lerifcher Berather und Mitarbeiter die dankenswertheſte Unterftügung bei de 
Bemühen geleiftet, dag Buch in feine jegige Geftalt umzuſchafſen. 

Schmargendorf. Mar Marterjteig. 


Ss 


Humbug & Co. 89 


Humbug & Co. 


S; Arten, fih ein Haus zu baun, find zwei. Man kanns anf Illuſion⸗ 
u fredit hin wagen, auf Wechfel feljenfefter Zuverſicht. Man kanus auf 
ftimmungvolle Träume gründen, Quftipiegelungen und Sirenenfang. Dieſe 
Worte, die Goldſtadt, ber nüchterne Großkaufmann, in Ibſens „Komoedie der 
Liebe“ ſpricht, fielen mir oft ein, wenn ich während ber legten Wochen bie 
Börjenberichte las. Die Händler nehmen den Illuſionukredit wieder einmal ein 
Bischen reichlich in Anſpruch. Dieſe Art, fih Häufer aus Hoffnungen zu bauen, 
erinnert recht unangenehm an Tage, die man nach der großen Krifis für ent- 
ſchwunden halten durfte. Heute giebt man ſich weder Mühe, bie Fundamente 
der deutfchen Wirthſchaftlage gewiſſenhaft nachzuprüfen, noch verfucht man, die 
Zukunftausſichten mit klarem Blid zu erforfhen. Man belügt ſich felbft. 

Ueberall, nicht nur an der Börſe, hört man die Behauptung aufſtellen, 
bie ärgften Tage der Kriſis ſeien vorüber und die völlige Gefundung unferer 
Berhältniffe jei ſchon für die nächite Zeit zu erwarten. Mit folden Erzäh- 
Lungen aber find leider die Thatſachen nicht zujammenzureimen. So hat chen 
erſt das fiegerländer Roheiſenſyndikat jeine Produktion abermals um E0 Prozent 
eingeichränft. Die Folge war denn auch zunächſt eine ziemliche Berblüffung. 
An dem überrafchenden Eindrud diefer Meldung kann auch der Umſtand nichts 
ändern, baß es fich nicht um eine neue Maßregel handelt, jondern die ſchon lange 
beſtehende Produktioneinſchränkung jetzt nur von der Kartellbehörde ſanktionirt 
worden iſt. Die Frage iſt, ob man dieſe Einſchränkung vorher in weiteren Kreiſen 
gekaunt und in die Kalkulation der augenblicklichen Wirthſchaftlage als einen 
wichtigen Faktor miteingeſtellt Hat. Ich glaube es nicht. 

Selbſt von Leuten, die im Allgemeinen geneigt find, Warnungzeichen zu 
beachten, ijt die große Bedeutung der für die fiegerländiichen Hochöfen beſchloſſenen 
Produktioneinſchränkung nicht genügend gewürdigt worden; die Wirkung erjtredt 
fi in diefem Fall ja nicht nur auf die Eilenwerfe, jondern auch auf den Kohlen 
bergdbau. Erſt furze Zeit ift vergangen, feit die Hechendireftoren die Inter⸗ 
eſſenten mit der Hoffnung tröfteten, die Thätigkeit der Hochöfen werde fich wieder 
beleben und natürlich” auch den Kofsabja jteigern. Damit ift c8 jedenfalls vor- 
läufig noch nidis. Und wie fchledht es auch fonjt gerade im Bergbau ausjchen 
muß, merkt man aus gewiſſen Anzeichen allgemeiner Natur. Ein Beifpiel: im 
Rheinland fcheint man die Arbeiterichaft geradezu in den Ausftand drängen zu 
wollen. Kortwährende Entlafjungen und Herabjeßungen der Löhne müfjen die 
Leute ja unzufrieden machen und aufreizen. Wenn man fich erinnert, mit welcher 
fubtilen Rüdficht die Arbeiter in der guten Zeit von den SKohlenbaronen ber 
handelt wurben, fo kann man wirklid auf die Idee kommen, dap ein Strike 
den weſtdeutſchen Grubenbefikern jetzt ſehr willlommen wäre. Solder Strife 
böte immerhin die Möglichkeit, die Preije hoch zu Halten und die Schuld daran 
und an ſchlechten Förderreſultaten auf andere Schultern abzuwälzen als auf bie, 
denen man fonft die Rerantwortung aufzubürden pflegt. Bon den vielen Tleinen 
Chicanen, mit denen man bie Arbeiter ärgert, dringt nur felten Etwas in bie 
Oeffentlichkeit. So hat man in manden Gruben — von Krupp wird es be= 
ftimmt behauptet — den Abbau der alten ertragreichen Flöze vorläufig aufge- 


90 Die Zukunft. 


geben und ift dazu übergegangen, werthlojere anzufchlagen. Natürlich Fördern 
die Arbeiter, troßdem bie Arbeitzeit nicht verringert ift, nun viel weniger als 
früher, fo daß der Gedingelohn beträchtlich finft. Diefe Methode, am Log zu 
knauſern, hat für die Verwaltung dabei nod den Bortheil, daß man nad außen 
bin die alten Lohnſätze aufrecht erhalten Fann. 

Wer aljo genau zufieht, merkt fchnell, daß die Berhältniffe im rheiniſch⸗ 
weſtfäliſchen Kohlengebiet und in den um dieſes Centrum gelagerten Eifenbe- 
trieben ungünſtiger ſind als jemals ſeit langen Jahren. Dagegen ſoll nicht 
beſtritten werden, daß in einzelnen Bezirken der Textilbranche eine kleine Beſſerung 
zu verzeichnen iſt. Es ſcheint ſich aber immer mehr herauszuſtellen — ſchon 
früher habe ich es hier einmal gegenüber den optimiſtiſchen Hoffnungen des 
Reichsbankpräſidenten behauptet —, daß dieſe Beſſerung einzig und allein auf 
die geſtiegene Ausfuhr nach Amerika zurückzuführen iſt. Auch über dieſe That- 
ſache täuſcht man ſich an den Börſen hinweg. Und da man annimmt, daß die 
Geſundung im eigenen Lande fortſchreite, fo hält man natürlich auch nicht für 
nöthig, bie amerikaniſchen Verhältniſſe etwas fchärfer unter die Lupe zu nchmen. 
Ich bin der Anficht, daß die Beobadytung der amerikanischen Berhältniffe Heute 
bie allerwichtigfte Aufgabe der Börjenwetterwarte jein müßte. Doc fogar von 
Leuten, die grundfäßlid) der felben Meinung find, hört man vielfach noch ſehr 
optimiſtiſche Auffalfungen, die das Reſultat ſolcher Beobachtungen ſein follen. 
Einzelne geben zu, daß die Berhältniffe in Amerika nicht unbedenklich ausjehen, 
hegen aber die Hoffnung, big zum Ausbruch des Sturmes werde noch viel Zeit 
vergchen. Die fibliche Phraſe, die wir über deutjche Verhältniſſe vor der legten 
Krifis fo unendlich oft hören mußten, wird uns auch jegt wieder aufgetilcht: 
Alles ftroge doch geradezu von Gefimdheit; damals in Deutfchland, jeßt in 
Amerika. Und gewiß ficht e8 wie ein Symptom fefter Gejundheit aus, da 
Amerika aus Deutfchland Roheiſen beziehen muß und dab ber Direktor ber 
Kanadabahn zu Krupp kommt, un Schienen zu befichtigen. Aber haben wir 
denn nicht vor dem Zuſammenbruch genau die jelben Erjcheinungen aud im 
deutichen Wirthfchaftleben gehabt? Gab es damals Roheiſen genug? Es iſt 
luftig, zu beobachten, wie genau üben und drüben die Symptome einander 
gleichen. Viele erinnern fi) wohl noch, wie wejentlich, unmittelbar vor der ge 
waltjamen Löſung der deuiſchen Ueberſpannung, zur Unterſtützung ber Haufe 
orgie der Umſtand beitrug, daß altes Eiſen zum Umſchmelzen benugt werden 
mußte, weil die Eifenvorräthe ſonſt für die Fabrikation nicht auegereicht Hätten. 
Die Preife von Alteifen erreichten damals befanntlich eine ungeahnte Höhe. 
Genau das ſelbe Schauspiel erleben wir jegt in Amerika. Beträchtliche Poften 
alten Eijens find von uns über den Ozean verfradhtet worden. 

Doch aus diejfen rein wirthichaftliden Momenten gewinnt man nod fe 
richtige Borftellung von den amerikanischen Perhältnijfen. Die Truftvorgä 
muß man beachten, um flar zu jchen. Der Supfertruft, Thon lange e 
Sdmerzenstind’aller Daujjiers, hat wieder bedenklich zu Ipufen begonnen. Se 
Verluſte bei dem legten Preisfturz des Kupfers werden auf etwa 10 Millie 
Dollars geihägt. Man war gejpannt, zu hören, welche Dividende nach die 
herben Berluft ausgefchüttet werden würde. Aber fiehe da: die Herren Direktd 
hatten für angebracht gehalten, die Situng vorläufig einmal zu vertagen. 9 








— — — — — — — — 


Sumbug & Co. 91 


ſolche Bertagung kein Zeichen eines beſonders guten Gewiſſens ift, brauchte ich 
kaum erſt zu jagen. Nod viel jchlimmer aber find die Verhältniſſe beim Stahl: 
truſt. Man will die fiebenprozentigen Vorzugsaktien in fünfprogentige Bonds 
ummandeln und motivirt diefen Plan mit der Zinserſparniß. Einen allzu 
günftigen Eindrud kann aber der Verſuch .nicht maden, die knapp zur Ruhe 
gefoinmene Morganijation ſchon wieder zu beginnen.- Merkwürdiger noch iſt, 
daß man unter der Hand ſchnell 50 Millionen Markt Bonds mehr ausgiebt, als 
Borzugsaktien vorhanden waren. Woraus aljo zu fchlicken ift, daß die Gejell- 
Ichaft neues Kapital braudt. Was nützt angelichts ſolcher Beklemmungen ein 
Gerausgeredjneter Buchgewinn von 111 Millionen für das letzte Jahr? 

Diefe allgemeine Unficherheit der amerifanifhen Truftpolitif läßt den 
baldigen Eintritt einer Kataftrophe fürchten. Und dieje Unficherheit fcheint mir 
um jo gefährlicher, als allerlei Vorgänge erjt eben wieder gezeigt haben, auf 
wie brüchiger Baſis all dieſe Truſts aufgebaut jind. Ich fehe noch davon ab, 
daß die Echaffung von 50 Millionen neuer Bonds bein Stahltruft, für bie gar 
fein Gegenwerth vorhanden ift, eine Berwäflerung des Kapitals bedeutet. Alle 
ZTruftlapitalien find fchon im Augenblick der Gründung außerordentlich ver- 
wäjlert. Wie nah diefe Unfitte, das Kapital zu verdünnen, nad) unjeren Moral⸗ 
grundjägen ans Verbrecheriſche grenzt, beweift der Schadenserjaß, der jegt von 
einem der profeljionellen Gründer von feinem Kumpan Gates verlangt wird. 
Aus den Zeugenausfagen diejes Prozeſſes geht hervor, daß bei der Gründung 
des Stahl: und Drahttruftes das jelbe Werk dreimal in jeden der verjchiedenen 
Verbände eingebracht worden ift, und zwar jedesmal mit einem recht erheblichen 
Nugen ‚für den Borbefißer. Daß ein auf folcher Grundlage ruhendes Kredit- 
ſyſtem dem Bujammenbruch entgegentreiben muß, ift klar und fünnte auch den 
deutſchen Börfenleuten nicht zweifelhaft fein, wenn fie fi) überhaupt einen richtigen 
Blid für die Lage der Dinge bewahrt hätten. In Amerika jcheint man ſich 
übrigens auch jchon auf den Krach vorzubereiten. Herr Schwab, der Stahltyrann, 
bat in einer Unterredung mit bem Berichterftatter der Kölnifchen Zeitung rund 
heraus erklärt, es fei natürlich und ficher, daß auch fchlechte Zeiten kommen 
müſſen; in diefen Zeiten geringeren Inlandsbedarfes werde der Stahltrujt feine 
Veberproduftion in den deutichen Abfaßgebieten unterzubringen verfuchen.*) 


*) Die Unterredung, die Blutus hier jtreift, muß, nach den Andeutungen, 
die wir lajen, allerliebjt gewejen fein. Nicht nur, weil der Interviewer an den 
rechten Mann kam, der alle unbequemen oder langweiligen Fragen ohne Zeitverluft 
wegwilchte und ihn mit der ganzen Hoheit des Herricherd von Goldes Gnaden 
hehandelte. Auch die Thatjachen, die Herr Schwab reden ließ, waren ungemein 
ehrreid. Unſer Sejammtfapital, alfo jprad) er, beträgt 1374 Millionen Dollars. 
Bir brauchen jährlih nur 70 Millionen zu verdienen, können aljo mit einem 
Profit von 6 Dollars auf die Tonne gut ausfommen; übrigens verdienen wir 
ta nicht nur am Stahl, jondern auch an der Kohle, dem Eijen und an einem 
usgebehnten Dampferverfehr, der die Binnenjeen ſchon beherricht und die Welt- 
neere beherrſchen foll. Vorläufig ift bei uns der Bedarf fo groß, daß wir nicht 

ıf Erport angewieſen find und jogar viel Nohmaterial aus Deutjchland bezogen 
aben. Diejer Zuſtand wird natürlich nicht dauern. Läßt der Inlandsbedarf 


92 Die Zukunft. - 


Aber die Börfe hat jeßt viel wichtigere Dinge zu thun. Sie muß be 
wundern, wie ſich die Plebs um den Zeichentijch der neuen Ruſſenanleihen brängt. 
Wirklich: viel Pleb3 war dabei. Die hundertfache Ueberzrihnung ijt nicht alzn 
feterlich zu nehmen. So mander Schnorter — verzeihen Sie, lieber Leſer, das 
harte Wort — hat ſich weit Über feine Verhältniffe hinaus betheiligt. Ich börte, 
wie Einer zum Anderen fagte: „Neich möcht’ ich fein, was ich gezeichnet Hab’!” 

Ferner hält es die Börſe für nöthig, Kleine jpefulative Haufen in Szene 
zu feßen; vieleicht mux, um ſich zu zerftreuen und auftauchende Sorgen zu ver: 
geilen. Bejonders auffällig war die Sturgfteigerung des Bergwerfs „Nordftern“, 
von befjen Aktien man zunächſt behauptete, fie würden in Paris eingeführt werben. 
Dann, als Das noch nicht genügte, verftieg man ſich jogar zu der immerhin 
fühnen Behauptung, der Norbdeutfche Lloyd gedenke, den „Nordftern” anzufaufen. 
Aus einer Stelle des lebten Gejchäftsberichtes könnte man allerdings ſchließen. 
daß der Lloyd nicht abgeneigt ift, durch Ankauf einer Kohlengrube fi) vom 
Syndikat zu emanzipiren. Recht zweifelhaft fcheint aber, ob er zu diefem Zweck 
fi gerade das Bergwerk „Nordſtern“ ausfuhen würde, das 20 Millionen Tonnen 
jährlich fördert und etwa 35 Millionen Mark foftet. Denn wenn ji der Pond 
auh vom Kohlenſyndikat emanzipiren will, jo will er ihm doch ſicher Feine 
Konkurrenz machen und ſich als Kohlenhändler auftgun. Die phantaſtiſchen 
Gerüchte erinnerten bedenklich an die vor kurzer Zeit über Gelſenkirchen in bie 
Welt gejegten Lügenmären. Wahricheinlich Handelt c3 ſich wieder um ein kleines 
Spielen, das am Ende gar in beiden Fällen von ben jelben Leuten’ begonnen 
war. Im Auffichtrathsregiiter des Bergwerks Norditern finden wir die Herren | 
Leo Hanau, Thyſſen und Kappel. Wie der Zufall ſpielt ... | 

An ſolche Scherze verfchwendet die Börfe jeßt ihre Beit. Das ift ber | 
Illuſionkredit, von dem fie zchrt und Yuftichlöffer baut. „Wie nennt man Doc 
Geſchäfte jo betrieben? Man nennt fie Humbug, Humbug, meine Lieben.“ 


Plutus. 


| - 
bei und nad), dann werden wir den Ueberſchuß unferer Produktion auf die fremden | 
Märkte bringen. Wir find entichlojlen, jedes mögliche Mittel anzuwenden, um | 
diefes Ziel zu erreihen. Und wir werden es erreichen, weil fein anderes Land | 
fo billig zu liefern vermag wie wir. Nach Rußland tollen wir Hinein; und | 
wein Sie in Deutichland uns durch hohe Zollmauern den Weg jperren, dann 
werden wir ‚sonen mindeltens die Eifenausfuhr abjchneiden, zunächft nad Oftafien 

und bald hoffentlich) au nad} anderen Richtungen. So ungefähr ließ die jtählerne | 
Majeſtät fich vernehmen. Die immer läcjelnde Excellenz aber, die Deurjchlands 
Politik leitet, Hat neulich erit dem Erdfreis verfündet, nirgends ſei ein Punkt 

zu finden, wo in abjehbarer Zeit die deutfche und die amerikaniſche Politik feir* 

fälig zufammenftoßen könnten. Das konnte nur ein Diplomat ulter Schule L 
baupten, der die Bedentung wirthichaftlicher Kräfte und Zuſammenhänge nid 

ahnt und zufrieden ift, wenn er von der Dand in den Mund leben und alle paa 
Moden fein Appläuschen einheimſen kann. Die Worte des Herrn Schwab müßte: 
verftändigen Jeitungjchreibern für Monate Stoff bieten; fie zeigen, welches U: 
gemitter heraufzicht, und jollten erfennen lehren, daß es zwischen den Vereinigte 
Staaten und dem Deutfchen Neid wichtigere Dinge zu erörtern giebt als die Fraç 

ob ein Prinz drüben mit ber nöthigen Begeifterung aufgenommen worben ift. 


Herausgeber und beranttwortlicher Redateur: Mn. Sardem in Berlin, — — Verlag der Bukunft mr 
_Drud_don Albert Damde in Berlin⸗Schöneberg. 























Berlin, den 19. April 1902. 
777 


Palinodie. 


FR Lehmann wurde wüthend, wenn man ihn einen Achtund⸗ 
vierziger nannte. Er war im rothen Lenz geboren worden, am Abend 
des Tages, wo Friedrich Wilhelm vor der Leichenparade den Hut ziehen 
mußte. Deshalbaber ift man noch kein Achtundvierziger. Das klingt heute fo 
hoͤhniſch, fo nach einer Ehrfurcht, die mühfam das Lachen verhält. Man denkt 
an einen zottigen Graubart, an Schaftitiefel, Havelod, Schlapphut, an ver⸗ 
witterte Ideale. Und Friedrich Lehmann hielt ſich für Höchft modern. Seit 
er inEngland geweſen war, ging er nie ohne Cylinderhut aus, trug Schnüre 


ftiefel und Kleider nad) modiſchem Schnitt, den Bart, der erft facht ergraute, 


aſſyriſch, ganzFurz gefchnitten. Eineleganter Herr in den beften Jahren. Auch 
ſchalt er die neue Zeit nicht. Manches war freilich anders gelommen, als er 
„gewünscht hatte, und mit den Bismärdern konnte'er ſich nie befreunden; zu 
wenig Ethos; fein Gefühl. für die Bedeutung fittlicher Mächte im Völfer- 
leben. Damit ward nun ja aber aus und nach langer Noth der Geift der 
Nation der Lehre ewiger Wahrheiten wieder offen. Die Zeit des Liberckis⸗ 
mus nahte und Herr Friedrich Lehmann erbat vom Schidfal nur das 
eine Gejchent: diefe Morgenröthe ihn noch fehen zu laffen. Auf jedes 
Symptom achtete er und Fam in Wallung, wenn irgendwo in der Welt ein 
Kampf für die Freiheit verkündet wurde. Dabei warer einguter Kaufmann; 
Bolitit und Gejchäft aber waren für ihn getrennte Gebiete, deren Grenzen 
ein Ehrenmann refpeltiren müffe. Nichts fonnte ihn fo ärgern wie die Nei— 
7 


94 Die Zukunft. 


gung jüngerer Leute, bei der Politik ans Geſchäft, beim Geſchäft an die Be- 
Titit zu denten. Da war ſein Neffe Ernft Meyer. Ein gejcheiter Menſch, ders 
in der Großinduftrie früh zu einem Direltorpoften gebradht hatte und mit 
bem ſich angenehm plaudern lich. Wenn er nur nicht gar jo nüchtern wäre, 
fo unfähig jeder Begeifterung! Immer die jelbe Stepfis, die jelbe fühle Ab- 
lehnung aller Emphafe. Ein Junggeſelle, ber fchon ein hübjches Vermögen 
erspart hat und doch für Öffentliche Angelegenheiten nicht mobil zu machen 
ift, troßdem er am eigenen Leibe bie Wirkung unjerer Rüdjtändigfeit ſpüren 
mußte. Nicht einmal Reſerveoffizier war er, al8$udenjohn, geworden ; umb 
hatte jich im Dienft dod) redlich geplagt. Wenn in Gefellichaft die Rede auf 
Militärverhältniſſe und Uebungen fam, wurde er verlegen und ſuchte dem 
Geſpräch eine andere Wendung zu geben. Für den nothwendigen Kampf 
gegen die Reaktion aber war er nicht zu Haben. Politik ift Rokoko, fagte er 
und war ſtolz darauf, daßer ſeit zehn Jahren feinen Barlamentshericht mehr 
gelefen habe. Ihre Blauderftunden endeten faft jedesmal mit einer Disfo- 
nanz. Dod) der Onkel mochte diefe Seele nicht aufgeben. Nach der erften 
Flasche Perrier-Jouct ging es gewöhnlich los. Und heute konnte Herr 
Friedrich Lehmann jo lange nicht warten. Sein Herz war zu voll, die Ge⸗ 
legenheit zu günftig, einem Verirrten endlich den richtigen Weg zu weiſen. 
„Ka? Wie denken wir denn über Belgien? Dein Lieblingſatz war 
je immer: Induſtrie ift Freiheit. Damit bohrteft Du fämmtliche Fracht- 
dampfer meiner Hoffnungen in den Grund. Induſtrie ift Kultur. Nur 
feine politifche Aufregung; Alles fommt von felbft. Enrichissez-vous! 
Die Neichften find die Stärkften. Eine neue Maſchine ift wichtiger als ein 
Dutend Geſetze. Und jo weiter. Ich könnte das ganze Penjum herunter: 
leiern. Fürchte aber, daß die reifere Jugend nicht Necht behält; oder hoffe 
vielmehr, denn ich möchte in Deiner Buſineßwelt nicht leben. Yaduftrie giebts 
in Belgien doch genug. Auch an Geld fehlt e8 nicht; die Staatseinniahmen 
haben fid) in den letten zwölf Sahren verdoppelt. Von Freiheit aber merke 
ich nicht viel. Wer Augen hat, muß diesmal jehen. Nicht für höheren Lohn 
kämpfen die Leute. Sie legen die Arbeit nieder, Hungern mit Weib und Kind, 
feßen fic) auf der Straße den Uebergriffen der bewaffneten Macht aus, m" 
fie nicht länger in Unfreiheit leben wollen. Sie fordern ihren Theil ar 
Negirung. Ind trog allem Gerede von Klaſſenkämpfen marfchiren Bi. 
und Arbeiter hier vereint. Der Drud der klerikalen Herrſchaft laſtet fo ſch 
auf dent Yande, daß der Wunſch, von ihm befreit zu fein, alle Parteiun 
ſchiede verwiſcht. Lange genug hat man diejen arınen Deenfchen den Him 


Palinodie. 95 


mit Kutten verhängt. Jetzt wollen ſie endlich wieder die Sonne ſehen, frei 
denken und die idealen Güter, für die einſt die Väter ihr Blut vergoſſen, 
wenigitens ben Kindern ſichern. Noch ift nicht vorauszufagen, was fie er⸗ 
reichen werden und ob aus den Putfchen eine Revolution wird. Die Führer 
predigen ja Mäßigung. Aber es ift ein großes Beifpiel und der befte Beweis, 
daß die Intereſſenpolitik noch nicht unumſchränkt die Köpfe beherrfcht.” 

„Ja ... Die Gefchichte hat uns auch befchäftigt. Zuerſt zogen Kohlen 
an und man glaubte, Sriedländer und Arnhold gratuliren zu können. Wenn 
im Borinage acht oder vierzehn Tage nichts gefördert wurde, mußten die 
Breife ordentlich Hettern. Mir ſchien die Rechnung gleich falfch. General⸗ 
ftrife hin oder her: der Ausſtand fonnte nicht aufdie Kohlengruben beſchränkt 
bleiben. Und fobald er andere Induſtrien ergriff, war wieder feine Kohlen» 
aothzuerwarten. Das hatdie Börfe auch bald eingejehen und den Hanifiers 
die Mahlzeit verborben. Immerhin warens eflige Tage. Der Gedante, 
Belgien könne Wochen lang feiern und ein Bischen Geerminal fpielen, ift 
nicht leicht auszudenfen. Gerade vor den franzöfischen Wahlen. Ein Funte, 
der über die Grenze fliegt, würde ben fchönften Brand anfachen. Natürlich 
hatte die Sache auch ihre guten Seiten. In Gejchäften gilt ja faft immer 
das martialifche Wort:Sunt mala,sunt quaedam bona, sunt mediocria 
plura. Je fauler e8 den Belgiern geht, die als Konkurrenten mit allen Hun⸗ 
den gehegt find, um fo beffer für uns. Heutzutage aber fürchtet man jede 
Ueberraſchung und ift ſchon zufrieden, wenn Alles ruhig bleibt. Wir fchlep- 
pen noch zu viele Reichen mit, um Sprünge wagen zu können. Namentlich 
jest, wo SJeder nur nad) London und Pretoria horcht und die Entfiheidung 
über den Krieg und die füdafrifanische Zukunft fallen muß, brauchten Cleo⸗ 
polds Unterthanen uns nicht noch nervöfer zu machen.“ 

- „Und fonft hat Did) an der Sache nichts interejjiert ?” 

„Do. Zum Beifpiel der amujante Unfug, der mit der Forderung 
des Frauenſtimmrechtes getrieben wurde. Stoff füreinepolitifche Komoedie. 
ALS ich noch öfter nad) Belgien kam, hörte ich immer, die Arbeiter verlang- 

en das Wahlrecht, fogar das paffive, auch für die grauen, die in Flandern, 
:jonders in Gent, in den Gewerfichaften vertreten find, überhaupt in der 
zialdemofratifchen Organifation eine Rolle ſpielen. Le suffrage uni- 
ersel sans distinction du sexe: wie oft bin id) damit gelangweilt wors 
nl Nun find die Konfervativen — Du kannſt fie, wenns Dir Vergnügen 
acht, auch Klerikale nennen — da drüben nicht auf den Kopf gefallen. 
achdem ſie den erften Schreck überwunden hatten, fahen fie ſich den radi- 
7* 


96 Die Zukunft. 


falen Vorfchlag genauer an; und die Herren Eolaert und Woefte fanden, er 
fei nicht zu verachten. Schließlich find die organifirten Genoffinnen dad 
nur eine Heine Minderheit und die anderen Wahlweiber, die ‚bürgerlichen‘, 
gehören ber Partei, die über die Beichtväter verfügt. Vorläufig wenig- 
ftens. Dürfen die Frauen erft wählen, dann wird man fie natürlih 
dem Prieftereinfluß zu entziehen und unter bie Herrihaft modernerer 
Parteibonzen zu bringen fuchen. Das dauert aber eine hübfche Weile und 
inzwifchen ſitzt fich8 vor vollen Schüffeln ganz bequem. Weißt Du, was bie 
Theaterleute eine Verwandlung bei offener Szene nennen? So wars ir 
Belgien. Die Sozialdemokraten haben die Forderung des Frauenſtimm⸗ 
rechtes bis auf Weiteres vertagt und die drohenden Bucdhftaben S. U. be 
beuten ihnen nur noch das suffrage universel des hommes. Grund: 
wenn die Frauen mitwählen, bleiben die Konfervativen am Steuerruder. 
Deine ehrenwerthen Parteigenofien, die weder bie Proletarierinnen noch die 
frommen Beidhtfinder für ſich Hätten, haben erft recht FeineRuft, den Frauen 
politifche Rechte zu geben. So treten denn nur die ‚Realtionäre‘ für die 
holde Weiblichkeit ein. Bleibts bei der Proportionalwahl mit Bluralvoten: 
ſchön; wird aber das allgemeine und gleiche Stimmrecht durchgefekt, dann 
werden die Konfervativen fich alle Mühe geben, e8 auch den Frauen zn 
fihern. Das haben fie offen erflärt. Famos, nicht wahr?” 

„Hm... Die Macht der Verhältnijje kann auch dent Tiberalften zwin- 
gen, eins feiner Ideale zurüdzuftellen. Darin fehe ich nichts, was Tadel 
oder gar Spott verdiente. Das Frauenſtimmrecht ift nicht fo wichtig wie 
die Befreiung vom Pfaffenregiment. Deine Gloſſen treffen die Hauptfadhe 
nicht. Dem großartigen Schaujpiel, das ein für Freiheit und Recht fech— 
tendes Volf bietet, kann ich mich nicht entziehen. Das aber haben wir hier 
vor ung. Es handelt fi) um den Kampf zweier Weltanfchauungen ... .“ 

„Gewiß. Das fagen jeit zwanzig Jahren und länger die beiden Bars 
teien, die um den Futtertrog ftreiten. Wenn die Tiberalen herrſchen, ift der 
BäterehrmwürdigerÖlaubein Gefahr ; und wenn, wie jetzt ſeit achtzehn Jahren, 
die Frommen regiren, wird jchon in der Schule des Volkes geiftige Freiheit 
vernichtet. Mit diefen Späßen haben die verfchiedenen Gruppen ber Bo 
geoifie überall der Maſſe langedie Zeit vertrieben. Das zieht nunnichtme 
Hungernde werden von den wundervolljten Ideologien nicht fatt, Onkel . 
Sich Dir mal Meuniers Bilder und Bronzen aus dem ſchwarzen Landr 1 
und frage Did) dann, ob diefe Schlecht gefütterten Puddler, diefe in härtı, : 
Männerarbeitfaftaller Gejchlechtsreizeberaubten Frauen Lufthabenwer , 





Baltnobie. 97 


für den Holuspofus Eurer Ideale ihr armes Leben aufs Spiel zu jegen. 
Ihre Lage bleibt unverändert, ob Klerikale, ob Liberale die Staatspfründen 
an fich reißen. Sie önnen nur felbft ſich helfen. Das -haben fie erfannt und 
fich deshalb organifirt. An pofitifcher Freiheit ift in Belgien kein Mangel. Du 
kannſt da ungefährdet Reden Halten und Artikel ſchreiben, für die Du bei ung. 
verdonnert würdeft, daß es nur fo frachte. Doch was nützen alle Freiheiten, 
wenn man ſich kaum alle acht Tage ein Stüd Fleiſch Leiften Tann? Wer in 
fotcher Noth fitt, giebt die Sydeale unter dem Selbftloftenpreis hin. Die 
nm die Beute raufenden Parteien müſſen thun, als handle ſichs um die be⸗ 
rühmten heiligften Güter. Wenn wir irgend einen Magiftrat beftochen und 
der Konkurrenz einen Auftrag weggefchnappt haben, jagen wir auch der 
Seneralverfammlung, daß wir ftolz darauf find, der nationalen Arbeit 
neuen Boden erobert zu haben. Ohne Bhrafenichleier mag Keiner in bie 
Sonne gehen... In Jedem von ung ftedt ein Snob; und ich leugne gar 
nicht, daß die Hoffnung, eine richtige Revolution erleben zu fönnen, mich 
angenehm fitelte. So was aber machen höchftens noch die Franzoſen; Wal⸗ 
onen und Vlamen find, glaube ich, dafür nicht zu haben. Der belgiſche Ar- 
beiter fordert das Wahlrecht, weiler eingefehen hat, daß nur politifche Macht - 
ihm zu befferen Arbeitbedingungen helfen kann. Strifesfind zu ofterfolglos 
geblieben. Eine Partei, mit der die Negirung rechnen muß, Tann Allerlei 
durchiegen. Und über kurz ober lang werden die Leute ihr Ziel erreichen!“ 

„Das aljo giebft Du wenigftens zu?” 

„Nicht erſt feit geftern. Wenn ich das Geheul über die Laften ber 
Arbeiterverficherung, über den wachienden Anfpruch auf Lohn und Gefund- 
heitfchuß hörte, habe ich immer gejagt: Abwarten ; fommt überall. Ich bin 
vom Segen der Demofratie nicht allzu feft überzeugt ; aber auf perjönlichen 
Geſchmack kommt e8 fa nicht an. Die Entwidelung ift nicht aufzuhalten. 
‚Daher der Sat, ben Du mir vorwirfft: Induſtrie ift Freiheit. Allerdings 
erft nach einer Epoche der Sklaverei. Ich könnte auch fagen: Induftrie ift 
Revolution. Die auf der Straße errumgenen Siege können unbelohnt, die 
fchönften Geſetze auf dem Papier bleiben: der dicht zufammengepferchten, mit 
bem für ihre Arbeit nöthigen Bildungminimum ausgejtatteten Dienge Tann 
Beine Macht ber Erde auf die Dauer ihr Recht vorenthalten. Das tröftet 
mid manchmal, wenn jich die Scham meldet. Sie vos non vobis nidifi- 
catis'aves. Eines Tages werden wirja doch entthront. (Hoffentlich dauerts 
noch ein Weilchen, denn mein Altruismus ift an gute Nahrnng gewöhnt.) 
Ein Staat von ber ausichließlich mduftriellen Kultur Belgiens kann nicht 


98 Die Zutunft. | 


lange oligarchiſch vegirt werden. Ich fehe nur zwei Möglichkeiten. 
Entweder wird die Verfaffung geändert und das allgemeine Stimmredk 
gewährt: dann giebt es ftatt dereinunddreißig bald ſechzig Sozialdeımofrateu 
in der Kammer, ber Lohn fteigt, die Arbeitzeit wird verfürzt und wir find 
eine Konkurrenz los, die ung oft genug unterbot. Oder die berrichenden 
Kapitaliften, fromme und gottlofe, find blind und fträuben fich, bis e8 zu 
ſpät ift: dann fommt e8 zur Revolution und die Koburger lönnen Die Koffer 
paden. In feinem Fall jieht die Zukunft heiter aus. Ueberall verringert ſich 
die Zahl der Auszubeutenden. Weite Abjaggebiete, deren Bewohner wir die 
Maſchinentechnik gelehrt haben, verjchließen ſich unſeren Produkten und der 
Arbeiter erhebt den unerhörten Anſpruch, wie ein Menſch zu leben. Neue 
Märkte? Profit Mahlzeit! Diefe Wonnen fpüren wir ſchon in den Gliedern. 
Das wird ein Hauſirgeſchäft ſchlimmſter Sorte,bei dem Europa nicht auf die 
Koften fommen wird... Und da wunderft Du Dich und zürnft, weil ich für 
Eure Politif nicht zu haben bin, Ich könnte mir eine Politik denken, der ich 
meine Bequemlichkeit opfern würde. Weltbund gegen Norbamerifa, das 
uns fonft auffrißt. Rußland muß mit der Furcht vor der aſiatiſchen Kon⸗ 
furrenz für die Sache gewonnen werden. Frankreich kann über bie Pyrenäen 
gehen. Da ift gloire und revanche zu finden. Es ift Doch zu dumm, daf 
auf dem Heinen europäißchen Feſtland der verfaulende Staat der Spanier 
geduldet wird. Die würden fich irgend einen Loubet mindejtens eben fo gern 
gefallen laffen wie einen Alfonjo oder Don Karl, wenn nur Geld ins Land 
fäme; zu ernfthaftem Widerftand reicht ihre Kraft auch nicht. Und bie 
Franzoſen wären für hundert Jahre beſchäftigt und könnten die guten Bilder, 
die jetzt in Madrid vergraben find, mit nad) Paris nehmen. Und dann...“ 
„Dann ſchicken wir die verbündeten Flotten nad) New-⸗York, bom⸗ 
-bardiren und vermwüften, was zu erreichen ift, und laffen uns jo ungefähr 
fünfzig bis fiebenzig Milliarden als Kriegsentichädigung zahlen. Daswärde 
ſelbſt die Yankees für ein Menfchenalter unfchädlich machen. Nicht wahr: 
fo etwa denkſt Du Dir die Politik, die Dich reizen fönnte? Daß Du Ideale 
haft, ijt danad) jedenfalls unbeftreitbar. Nur find fie ein Bischen... 'ı 
Bischen urwüchfig, mein Junge. Das Heine Wörtchen ‚Recht‘ fehl 1 
Deinem Katechismus. Macht! Macht! Ob die einfachften Pflichten der. 
manität verlett, die Rechte fremder Völker gebrochen werden, ift gleichgil 
der Zweck Heiligt die Mittel. Sn meinem ganzen Leben bin ich mir nid 
rücjtändig vorgelommen. Alfo Straßenräuberpolitil, Sid) zufamı 
rotten und Jedem, der vorüberfommt, die Werthjachen abnehmen. Dr 


Palinodie. | 99 


Die neue Schule. Meinetwegen. Dann aber weiß ich wirklich nicht, was 
wir den Engländern vorwerfen. Auch Herr Chamberlain hat dann Recht.“ 
„Natürlich, wenn er die Macht hat, fich fein Recht zu prägen. Damit 
haperte e8 aber bis jett. Du thuft, als gäbe ich mich für den Erfinder einer 
neuen Methode oder Schule aus. Keine Spur. So ift immer Politik ges 
trieben worden. Zuerſt für Fürften, für eine Heine Schaar Privilegirter, 
dann für ganze Nationen. Das ift doch ein Fortfchritt. Zeige mir einen 
Staat, der unter Wahrung ermorbener Rechte entitanden ift. Das Recht 
Hat Sich nachher gefunden. Selbſt Deine geliebten Buren haben den Kaffern 
erft ihr Land geraubt und die Heimathlofen dann zu ihren. Sklaven ge 
macht. Mit dem Necht der höheren Kultur? ‘Darauf berufen fich auch die 
Engländer. Ohne Rügen gehts in großen Öefchäften nun einmal nicht. Der 
alte Salisbury hat feierlich erflärt, Großbritanien wolle in Südafrika weder 
Gold noch Land erobern. Die Buren haben hundertmal-gejagt, fie würden 
bis zum legten Mann fürihre Unabhängigfeitfchhten. Das erjchwert jett den 
Friedensſchluß. Die Briten wollen Land und Gold, die Buren haben den 
begreiflichen Wunſch, die Reſte ihrer Freiheit möglichft theuer zu verlaufen; 
. fie werden nicht tot de bitter end fämpfen, ſondern zufrieden fein, wenn fie 
für ihre Farmen und Biehverlufte reichliche Entichädigung befommıen. Beide 
Bölfer möchten ‚das Geficht wahren‘, wie die flugen Chineſen jagen, und 
deshalb ziehen die Verhandlungen fih Hin. Wenn fie beendet find, können 
wir die Bilanzen prüfen. Vielleicht fchließen die Engländer ſchlecht ab; dann 
dürfen fie fich bei ihrem Eduard bedanfen, der nichtS im Kopf hat als feinen 
Ceremonienkram und als Friedensfürft gekrönt fein will.“ 
„Mir Scheint der Schlechte Abſchluß Schon Heute nicht zweifelhaft. Bon 
den moraliichen Einbußen will ich gar nicht reden; fonft würdeft Du mid) 
am Ende wieder einen Achtundvierziger jchelten. Aber fieh Dir die Ziffern 
der Kriegsfoftenrechnung an. Schon war das Barlament gezwungen, einen 
Zoll auf Korn und Mehl zu bemilligen. Schutzzoll in England! Wer dieſes 
Hägliche Ende der Bolitif Peels vorausgejagt hätte, wäre nod) vor drei Jahren 
ins Narrenhaus gewiejen worden. Aber Reaktion und Schutzoll gehören 
nun einmal zuſammen. Das weiß der fchlaue Chamberlain; deshalb war 
er für eine größere Anleihe und gab erſt nad), al8 er fühlte, daß Hicks 
Beach die Mehrheit der Regirungpartei hinter fich Hatte.” 
„So jtands in der Zeitung. Aber wir find doch Kaufleute und können 
rechnen. Erreicht England fein Biel, dann fommt ein boom, wie wir Beide 
noch feinen fahen; alle Börfen des Kontinentes freuen fid) jeit zwei Jahren 





100 Die Zukunft. 
darauf und die hohe Miinenfteuer, die Rhodes jetzt nicht mehr hindern Tann, 
wird den Naufch faum ftören. Damit aber ift die Sache nicht abgethan. 
Wenndiebeiden Holländerrepubkilen englifche Krontolonien werden — einer- 
fei, welchen Namen man dem Rinde giebt —, fo ift Afrika englifch. Dos 
will Etwas fagen. Was bedeutet daneben das Bischen Finanzzoll, das im 
nächften oder übernächiten Budget wieder bejeitigt werden fann? Ich will 
uns mit dem Beweis, daß politifche Freiheit und Freihandelnurden Namens» 
Hang gemeinfam haben, nicht den Abend verderben; Franzoſen und HYankees 
find, trog den Schußzöllen, ja wohl nicht gefnechtet. Warum aber brauchen 
wir überhaupt fo große Worte? Peelund Eobden könnten wir ruhen lafſen. 
Jeder Engländer wußte, daß der Krieg theuer wird, Das Land ift reich 
genug, um ihn zu bezahlen, und die überwiegende Mehrheit würde auch 
doppelt fo hohe Koſten ohne Murren tragen. Chamberlain, ein Niberaler, 
dem ohnehin fchon die Verleugnung der wichtigiten Parteigrundfäge vorge⸗ 
worfen worden ift, ſcheute natürlich das onus, den Nebensmittelzoll vorzu- 
ſchlagen. Das paßt beifer für die alten Zorics. Wenn Joe ſich Rofebery, 
dem Kandidaten des Königs, verbündet, kann ihm Keiner nachſagen, er habe, 
als demofratifcher Staat3jozialift, da8 Brot des armen Mannes vertheuert. 
Das ift der Zweck der Uebung. Er ift überftimmt worden. So madjen wirs 

doch auch; nur ift für uns, da wir Alles dem Aufjichtrath zufchieben fönnen, 

die Sache nod) viel bequemer... Siehft Du: diefe Umftändlichkeiten verlei- 

den mir die Politik. Ich will mich wahrhaftig nicht aufipielen. Mer Jahre 

lang gereijt ift, um Aufträge zu befommen, und mit talienern verhandelt 

bat, ftolpert nicht über eine Yüge. Aber das dumme lügen, das Keinen täufcht, 

diefe gräßfiche, finnlofe Wortmacherei: da kann ich nicht mit.“ 

„Und unter diefem Vorwand entzichft Du Did) der Staatsbürger: 
pflicht und läßt die Dinge gehen. Bis Dein Kricgsplan gegen Anterifa aus- 
geführt wird, wirft Du nod) cin paar Tage warten müjfen. Giebt ed m: 
zwijchen nicht zu Haufe Einiges zu thun? Du merlſt doch felbft, wie die 
Reaktion und bedroht. Deutichland ftcht vor einer Kriſis, die zur Bernidj: 
tung ſeines Wohljtandes führen faun. Siegen die Junker diesmal, dan 
werden jie fi) ar die Macht Hanımern, mit ihrer befannten brutalen Nüd 
fichtlofigkeit den Erfolg ausnügen, dem gefeffelten Bürgerthum den Fuß an 
den Naden fegen und ung den Reſt von Freiheit nehmen, der uns noch blieb. 

„Uber fie ſiegen ja nicht. Site jind ja ſchon befiegt. Du denkſt an de 


- 2 ®. Bolltarif. Ich muß geftehen, daß die Sache mic) nicht ſehr interefjirt: Ser 


einem Jahr mindeftens wiſſen wir, daß der Export nad) manchen Pänderr 





Palinodie. 101 


erſchwert wird. Das iſt unangenehm, aber nicht ſo ſchlimm wie andere wirth⸗ 
ſchaftliche Vorgänge, gegen die wir auch nichts machen können. Wir haben 
uns, wie bie ganze Induſtrie, darauf eingerichtet, und warten nun ab, wie 
die neuen Handelsverträge ausſehen werden. Bei Euch dauert Alles fo 
furchtbar lange. Ein Sieg der Leute, die Du Junker nennft, ift ganz aus- 
geichloffen. Das wiſſen fie jelbft. Dan will ihnen nur ben Uebergang er- 
leichtern. Reichthümer werben fie auch unter dem neuen Tarif nicht ſam⸗ 
meln. Was joll ich num thun? In Bezirksvereinen gegen ben Brotwucher 
reden, die Vortheile des fchlecht reftanrirten Dreibundes preifen oder zu er» 
rathen fuchen, warum ber eine Minifter dahin, der andere borthin gereift ift? 
Den Buren ein langfames Verbluten wünfchen, trogdem jede Verlänges 
rung des Krieges uns Schaden bringt? Don foldher Thätigleit kann ich 
mir feinen Nuten veriprechen. Ihr wollt den Adel aus feinen Privilegien 
jagen und fucht ihm deshalb die Lebensmöglichkeit zu jchmälern. Das ift 
nicht ımfer Ziel. Wir wollen die Anderen nicht ärmer machen, fondern 
uns bereichern. Schon der guten Raſſe wegen möchte ich die Junker nicht 
entbehren. Du haft num mal die Antipathie. Achtundv ... Bardon! Schließ- 
lich mußt Du Dich aber doch fragen, was Ihr biöher erreicht habt. Nichts, 
fheint mir. An Euren Reden liegt es nicht, daß die Bourgeoijie ftark ge: 
worden ift. Das ift die Folge der großfapitaliftiichen, großinduftriellen Ent- 
wictelung, die heute längft viel zu weit gediehen iſt, als daß irgendeine Partei 
oder Gruppe fie dauernd hemmen könnte. Siehe Nordfeefahrt. Schwanf- 
ungen find möglich; einen Stillitand kann e8 auf dem Wege nicht geben, der 
nad) England oder — wahrjcheinliher — nad) Belgien führt. Nehmen wir 
an, wir wären ſchon am Ende. Belgien zwijchen Oder und Eibe, mit 
ſcharfer Konkurrenz, ungeheurem nduftrieproletarigt und dem berüchtigten 
‚plutofratifchen Wahliyften‘. Würdeſt Du Did) dann für das allgemeine 
Stimmrecht begeiftern? Ich nicht; und Deine Parteigenoffen thun es da, 
wo fte nicht zu gewinnen, nur zu verlieren haben, auch nicht. Wir Alfe halten 
eben nur die Güter für heilig, deren Genuß ungficher ift. ALS ich nicht Rieute- 
nant wurde, habe ich mich ſchmählich geärgert und aufdie Neaftiongefchimpft, 
das Du Deine Freude dran hatteft. Doch man wird älter; und wenn man 
die Maſſen nicht hinter, fondern gegen fich hat, muß man eine befondere Taftif 
erſinnen. Wir find Kleifch von Eurem Fleiſch und haben die gute Sache 
nicht ſchnöde verrathen. Aber wir haben von einem Sänger gehört, der, weil 
er eine ſchöne Königstochter beleidigt hatte, mit Blindheit beftraft ward und 
das Angenlicht erſt wieder erhielt, als er in einem neuen das alteXied wider- 
rief. Wir fummen nur und haben Eure Sünde dennoch jchon gefühnt.‘ 
s 


102 Die Zuhmtt. 


Nervoſität und Runftgenuß.*) 


SD" Werthung de3 Kunftgenuffes pendelt feit einiger Zeit zwifchen zwei 
deutlichen Extremen. Auf der einen Seite if, wie Kurt Breyſig 
gelegentlich mit Recht bemerkt, der Tozialpädagogifche Eharalter der Kunſt 
felten fo ftark betont worden wie in unferen Tagen. Die Nutzkunſt nimmt 
immer breiteren Raum für ji in Anſpruch. Man will dad Leben, auch 
das ber Einfachen, flilijiren; und beim Kinde fol angefangen werden. Was 
das Kind heute umgiebt, fo hörte ich einft den Darmftädter Georg Fuchs 
empört rufen, ift häßlich, nur häflich, und wir wollen, daß unfere Finder 
in Schönheit aufwachſen. Die erften Künftfer dichten und malen Bilder- 
bücher, in Hamburg werden Kinder in Galerien und Theater geführt und 
man entwirft ftilvolle Kinderftuben. Berlin folgt darin nad. Auf der 
anderen Seite aber wird lauter und nadhdrüdlicher als je auf die Gefahren 
einer Aeſthetiſirung der Erziehung und Lebensführung hingewiefen. Wir 
denfen dabei nicht an das Urtheil des Philifters, der nach der offiziellen 
Salerienjagd im feinem brummenden Schädel den Schluß zieht, die Kunſt 
mache doch auf die Dauer die Nerven faput; wohl aber ift e8 ein bedent- 
fame8 Symptom, wenn Nervenärzte vom Range eine® Oppenheim, eines 
Binswanger dringend ihre Stimme erheben und die Nervojität der Zeit in 
nahe Beziehung zum äfthetifchen Genuß fegen. 

Man darf ja das Urtheil diefer Männer nicht als unbedingt uman= 
taftbar hinftellen. Seit Dubois:Reymond Goethe und Bödlin vernichtete, 
wird man im Gegentheil dem Öutachten medizinischer Autoritäten über Kunft 
recht ffeptifch gegemüberftehen dürfen. Es kann Einer ein hochbedeutenber 
Neurologe fein, ohne ein inneres Verhältniß zur Kunſt zu haben; wer Das 
aber nicht hat, wird über Kunftdinge ſtets fchief und ungerecht urtheilen. 
Aber freilich: nicht Feder gefteht Das fo freimüthig ein wie Bismard; ein 
Bischen Zamilienanfhluß an die Kunſt will Keiner fo leicht miffen. Ob 
ihre DVerhältnig zur Kunſt aber enger oder Lofer fei: Männer von folder 
Bedeutung und folcher geiftigen Macht über ihre Sphäre, wie die genannten 
Nervenärzte es jind, wollen und müfjen gehört werden. Nichts hindert ung, 
ihre Anſicht, thuts Noth, ſcharf abzulehnen, Alles aber, fie zu ignorire 

Eid mit ihr zu befhäftigen, it jchon darum befonders interefi. 
weil die beiden Warner auf ganz verfchiedenartige Wirkungen des Kun 
genufjes abzielen. Oppenheim hat vornehmli das finnficde Subftrat 


— 





*)Der Berfaffer hat bisher feine literarijchen Arbeiten unter bem Pſeudon 
Ernſt Gyſtrow veröffentlicht; er wird fie fortan mit feinem bürgerlichen Namı 
zeichnen und legt Werth darauf, die Identität beider Namen feitzuftellen. 








nn T 


Mervofität und Kumftgenuß. 103 


äfthetifchen Genüffe im Ange: die Töne, die Farben, die Formen auch, fo 
weit fie elementar jinnlih, etwa ſexnell aufreigend wirken. Wir Alle wiſſen, 
daß jede intenfive und lange dauernde, dazu häufig wiederholte Inanſpruch⸗ 
nahme de3 gleichen Sinnesorgans zunächft dieſes und ſekundär uiferen ganzen 
Drganismus in den Zuftand der Ermüdung verfegt. An und für ſich kenrnu 
alfo diefe Wirkung auch jedem Kunſtwerk zu, wenn es eben zu lange, zu 
ftart und zu oft genoffen wird, welcher Gattung und Zeit es auch ange- 
hören mag. Und nur der Beweis, daß bie moderne Kunft mit befonders 
ftarfen und zeitlich ausgedehnten finnlichen Mitteln arbeite, daß fie unfere 
Sinnesorgane Iebhafter und länger befchäftige, könnte den Vorwurf recht- 
fertigen, daß fie mehr als die Kunft vergangener Zeiten unfer Nervenſyſtem 
zu ermüden geeignet fei. Dann würde auch zu folgern fein, daß jie neu— 
ropathiſch wirle. Denn, ob es nun theoretifch richtig oder philiſtrös oder 
fonft mas ift, praftifch fuchen wir unleugbar Alle — mit Ausnahme der 
Künftler und der NRezenfenten von Beruf — in der Kunft ein Gegengewicht 
zur Alltagsarbeit. Dieſe aber hat für weite Kreife heute einen Charakter 
angenommen, der das Nervenfyitem ftärfer denn jemals beeinflußt, abuntzt 
und fchädigt; beſonders durch bie unendlichen Verfeinerungen und Verwides 
lungen, die die perfönliche Berantwortlichfeit in ber kapitaliftifchen Gefell- 
fhaftform erfahren mußte. Füllt alfo, nach folcher Berufsarbeit, unfere 
Exholungftunden ein Kunſtgenuß aus, der erweislich die Abnugung der 
nervöfen Kräfte fortjegt, ftatt fie zu paralyſiren, jo kann er von fchwerfter 
Mitfhuld an der Neruofität unjerer Zeit nicht freigeiprochen werden, zumal 
er, im Gegenſatze zum Beruf, der vermeidliche Faktor in ber Urfachengruppe 
diefer Nervoſität ift. 

Ganz andere Seiten des äfthetifchen Genuſſes aber will Binswanger 
mit feiner Anflage treffen. Er nimmt die moderne Kunft im Befonderen 
aufs Korn. Nicht ihre finnlichen Ausdrucksmittel, fondern ihr intellektueller 
Gehalt erregt feine Beforgnig. Ihre Sucht, das Krankhafte zum Problem 
. zu nehmen, der Seele bis in die perverjeften Verirrungen nachzugehen, das 
Jämmerliche intereffant und heldenhaft zu machen, endlich, den fchlichten 
Löfungen im komischen oder tragifchen Sinne auszuweichen, um ftatt Deſſen 
ihre Schöpfungen in dumpfe Schwüle oder in fehrille Miktöne ausklingen 
zu laffen. Auch hier ſetzt alfo die Kunſt in bedauerlicher Weife Alles fort, 
was das moderne Leben im Beruf als ſchwerſte und bedenklichite Schäden 
uns zufügt; dad Schwanfen aller Normen, der bodenloje Relativismus, 
ber das Widrigſte erklärlich, entichuldbar, ſchließlich berechtigt finden will, 
alle8 Das quält und zernagt unfere Hirnzellen nun auch noch in den Stunden, 
die dem Ausgleich diefer Schädigungen, der Erholung von den Berufs: 
attaden, der Herftellung des feelifchen Gleichgewichtes dienen follten. Wie 


104 Die Zukunft. 


es begreiflich ift, feſſelt Binswanger, ben Pſychiater, mehr die rein pfychiſche 
Seite des äfthetifhen Genuſſes; während Oppenheim, dem Neurologen, bas 
Nervenſyſtem in feiner phyitologifhen Widerftandsfraft bebroht fcheint. 
D.penheim bezieht jich bei feiner Beweisführung vor Allen auf das 
moderne Mufifdrama. Ihm ift eine Dper von Wagner Yweierlei: zuerft 
wohl ein äſthetiſcher und inteleftueller Genuß, dann aber die Quelle eier 
tiefen Erfchlaffung des Nervenſyſtemes. Was aus einer ſolchen Auffaffung, 
die wohl ziemlich Jeder theilt, folgt, ift an fih Har. Sein Kunſtbedürftiger 
wird wegen der Ermüdung auf den Genuß Verzicht leiten wollen; wer fidh 
zu ſolchem Berzicht entfchlöffe, hätte eben kein zwingendes Kunſtbedürfniß. 
Aber Jeder wird fich fagen, daß e8 eine Grenze giebt, wo die Ermübung 
den Genuß vernichtet, und daß e8 dieſe zu reſpektiren gilt. Zunächſt follte 
man hier immer ganz frifh an den Genuß herantieten können. Das if 
ganz im Geifte Wagners, der feine Muſikdramen als Feftipiele dachte. Einen 
Beiertag, an dem Leib und Seele gerubt haben, jollen diefe Schöpfungen 
krönen, nicht aber einen Werktag abjchliegen, wo man abgehegt und müde 
vom Arbeitzimmer ins Theater rennt. Zweitens muß der Genuß felten fein. 
Die Nerven und Sinneöwerkzeuge bedürfen immer einiger Zeit, um aus ber 
Ermüdung zur vollen Empfänglichkeit zurüdzufehren. Ich entiinne mich, 
daß ich in Leipzig als älterer Student einmal eine Konzertwoche „ausgekoſtet“ 
habe. Am zehnten Tage überfam mich ein wahrer phyjifcher Efel vor der 
Muſik; ich war unfähig, Nicolais „Luſtige Weiber“ mit anzuhören; ihre 
von mir über Alles geliebte Duverture, meifterhaft gefpielt, trieb mid) aus 
dem Theater. Ich war vernünftig genug, mir eine völlige Abftinenz von 
bier Wochen aufzuerlegen. Da erfaßte mich von ſelbſt wieder das Bedürf⸗ 
niß nad) Muſik und mit frifher Kraft genoß ich ben „Eulenfpiegel" von 
Strauß, der doch dem Ohr ſchon mancherlei Zumuthungen ftellt. Aber ein 
vernünftiges Haushalten in äfthetifchen Dingen, wie ich es ſeitdem ftreng 
geübt Habe, wird bei uns in hohem Mafe erfchwert durch die Abonnements 
auf Theater und Konzerte. Selbſt mo es fi, wie ja meift, nur um Zheilz 
Karten handelt, bleibt doch der Llebelftand, dag man fich den Tag des Kunſt⸗ 
genuffes nicht frei wählt, fondern an die regelmägige Abfolge gebunden it. 
Und diefe freie Wahl gerade erfcheint mir fo bebeutfan, daß ich am Liebſten 
fogar den Vorverkauf der Billet8 abgefchafft fehen würde. Es foll eben ein 
leichter, harmonifcher Tag fein, den der Genuß eines Kunſtwerkes abſchließt: 
ob er Das fein wird, vermag ich nad einem alten Sprichwort am Morgen 
noch nicht zu beurtheilen. Höchſtens, wenm ich meinem alltägliden Milten 
entrüdt bin: in Bayreuth etwa. Aber ein Alltag im Haufe fihert uns, er 
mag noc fo vergnügt ſich anlaflen, für den Abend noch Feine Feſtſtimmung. 
Einer unbefchäftigten jungen Vourgeoistochter vielleicht; dem modernen Kanuf⸗ 








Mervofität und Kunftgenuf. | 108 


marm, Arzt, Politiker nicht; eher noch dem Beamten. Wer jeden Tag um 
die felbe Stunde eine beftimmte Zeit in der Galerie zubrächte, Deſſen Ber- 
hältniß zur Kunft würde man wohl als fehr offiziell beargwöhnen; beim 
Theater gehört das Selbe, namentlich in den Mittelftädten, in ben Reſidenzen 
befonders, zum guten Ton. Und nun als Legtes: die Ermüdung darf nicht 
tisfirt werben, wo wir des Genuffes nicht Sicher find, und vor Allem nicht 
da, wo ficher fein Genuß fie ausgleicht: beim Kinde. Wefthetiiche Ueber⸗ 
anjtrengung ift Mord am findlichen Nervenſyſtem, alfo an der Kinder feele. 
Denn mehr, viel mehr als beim Erwachſenen ift die Pſyche beim Kinde ein 
Spielball nervöfer Einflüffe. Noch fehlen die reich entwidelten Hemmungen, 
durch die wir unferer Nerven oft Herr werden; noch fehlen die konſtanten 
MWillensrichtungen, wie Wundt e8 nennt, nocd giebt fich der Organismus 
jedem finnlichen Eindrud ohne Widerfland und ohne Schmälerung hin. Aber 
num fpigt fih unfer Thema eben zur entfcheidenden Frage zu: Mas ift 
äfthetifche Ueberanftrengung fürs Kind? Was dürfen wir ihm an Kunft- 
genug zumuthen? Welche äfthetifchen Dofen können, ſollen wir ihm viels 
feicht gar verabreihen? Oppenheim hat die Frage radikal beantwortet; 
überhaupt feine. Das Sind bleibe der Kunft fern. Es ift unempfänglic 
für ihre äfthetifchen und intelleftuellen Schönheiten, empfänglich nur für ihre 
Schäden. Er fagt Das nicht ganz fo unverblümt, aber er meint es fo; 
Dos fühlt man. Theater, Galerie, Konzertfaal: jie feien dem Kinde eben 
fo verfchloffen wie Kneipe, Zingeltangel und Ball. 

Damit wäre alfo einer altmodifchen, Heinbürgerlich-Fleinftädtifchen An- 
fiht die Approbation einer vornehmen Autorität der Nervenheilkunde ge 
wonnen. Die Erziehung der Kinder zur Kunft wire offiziell verurtheilt: 
al3 im beiten Fall zwedlos, als meiftens ſchädlich. So hat man in guten, 
mittleren Burgerkreiſen bis Heute auch gedacht; und ich meine, nicht ohne 
einigen Grund. Es fteht doch wohl außerhalb jeder Debatte, daß man ein 
Kind nicht vor Probleme fielen wird, die es einfach noch nicht fallen kann. 
Probleme aber find fo ziemlich alle Inhalte der großen künſtleriſchen Echöpf- 
ungen. Denn felbft mo die Liebe, die fonft dominirende, eine mebenfächliche 
Rolle fpielt, wie bei Schiller, der doch vor Allem bie großen fozialen Leiden— 
haften in Handlung treten läßt, felbit da vermag das Sind vielleicht 
on der Darftellung diefer Leidenfchaften fich zu beraufchen, für ihre innere 

* Größe oder Niedrigkeit aber fehlt ihm noch jeder Maßſtab. Der eigentliche 
intellektuelle Gehalt diefer Werke wird fpurlo8 am findlichen Berftändniß 
borübergehen und nur ihre jinnlichen Beftandtheile werden zu Ausſchlag 
gebender Wirkung gelangen. 

Die Berechtigung der Antwort Oppenheim aber liegt in der That— 
fache, daß die Entfaltung des äfthetifchen Sinnes im Menſchen durchſchmitlich 


106 Die Zutunft. 


mit der der geichlechtlichen Reife Schritt hält. Durchſchnittlich: es giebt Aus- 
nahmen; beſonders die Muſik bat feit je her Wunderfinder geliefert; aber 
was bedeuten fie gegen die Mafle! In der Regel ift das Kind vor ber 
Pubertät äfthetifch gleichgiltig.. Nur Grelles und Lautes, Glänzende8 und 
Rauſchendes vermag feine Inbdifferenz zu flören. Eine Militärkapelle, eim 
brennender Kronleuchter, ein buntes Bühnenbild erregen vielleicht fein Ent= 
zäden, Kammermuſik, Gemälde, ein WallenfteinMonolog verurfachen ihm 
Zangeweile. Aeſthetiſch, — wohlverftanden; daß es vielleicht an allerhand 
Nebenumfländen Intereſſe finden kann, ift davon zu trennen. Erſt mit dem 
anwefenden Gefühl fürd andere Gefchlecht erwacht auch das eigentliche äfthetifche 
Empfinden, beginnt die Entfaltung der dauernden Affelte und Willens- 
äußerungen. Alles, was voranging, war proviforifch; wie oft wandeln ſich 
nun ftille, verfchüchterte Finder in aufgeweckte, ſelbſtbewußte, wie oft werden 
laute, ungezogene ſcheu und in ſich gelehrt. Vor ber Pubertät läßt Feine 
Individualität fih mit Sicherheit prophezeien. Auch na der Seite ber 
intellettuellen Begabung Hin nicht. Jeder Lehrer weiß, welche überrafchenden 
Wendungen in bdiefer Zeit fich oft vollziehen; und die moderne Pfychiatrie 
zeigt ung in dem trüben Sfrankheitbilde der Jugendverblödung, der dementia 
praecox, wie die heidelberger Schule fie nennt, eine nur allzu häufige Ers 
fcheinung, bei der die Wirkungen der gefchlechtlichen Entwidelung hoffnung: 
vollfte geiftige Anlagen dem langiamen, aber rettunglofen Verfall preisgeben. 

Bor diefer entfcheidenden Wende dem Kinde mit Gewalt äfthetifchen 
Sinn einpflanzen zu wollen, wäre grenzenlofe Thorheit. Dieſes Frühbeet 
würde, grob gejagt, ein Miftbeet werden. Man müßte zur Entfaltung bes 
äfthetifchen Empfindens das gefchlechtliche vorzeitig aufrütteln und ich beneide 
Keinen, der vor diefen Unterfangen nicht zufchredt. Ueber die Fälle des 
außergewöhnlich früh erwachten Gefchlechtstriebes öffnet der Nervenarzt feine 
Journale nicht gern. Auch de3 normalen Ceruallebens Borboten, wie fie 
vereinzelt vom elften Fahre an aufzutreten pflegen, find, ftreng genommen, 
Perverjitäten, Regungen ntafochiftifcher, fetiſchiſtiſcher, fadiftifcher Nuance; 
fo weit fie in der Öefundheitbreite liegen, pflegen fie mit dem eigentlichen 
Beginn der Pubertät, alfo zur Zeit der Bildung und Ausſtoßung ber 
Geſchlechtsprodukte, zu verfhmwinden und der natürlichen, auf ben Berfehr 
mit den anderen Geſchlecht gerichteten Sinnlichkeit zu weichen. Wer ab 
diefen dunklen Gefühlsbewegungen ſyſtematiſch Vorſtellungskreiſe fchaff 
wollte, an die fie ſich Heften, an denen fie jich ausleben könnten, Der wär. 
feine Schrecken erleben und gar bald erkennen, daß er die Welt un r 
Anzahl der ohnehin ſchon Zahlreichen vermehrt Hat, die den 8 175 ff... 
Reichsftrafgefegbuches zu fürchten haben. Das wäre die jichere Frucht eiı 
in dieſem Sinne geübten Kunftpädagogif. | 





Nervofität und Kunftgemuß. 107 


Aber die Sache läßt doch auch eine andere Betrachtung zu. Jeder 
Kunſtgenuß fest ſich, aud rein ſinnlich betrachte, wieder noch aus zwei 
Komponenten zufammen. Bon denen ift die eine angeboren, die inftinftive 
Afthetifche nämlich, umd ihre Grenzen vermag unfer Zuthun überhaupt nur 
fehr wenig zu verrüden; von. den drei hier vorliegenden Möglichkeiten wird 
am Cheften noch die zutreffen, daß der Geſchmack verborben wird. Weniger 
fchon ift feine Verküummerung zu fürchten und faum fann er überhaupt ge- 
fteigert werden. Die andere Komponente aber will erlernt fein, fie verlangt 
Schulung; es ift die technifche Ausbildung unferer Sinne. Das Bermögen, 
zu hören, zu ſchauen. Und diefe Schulung follte wohl bie eigentliche Kunft- 
pädagogifche Aufgabe fein: Kinder follen Iefen, betrachten, hören lernen. 

Für diefe Aufgabe fcheinen mir unübertroffen und unübertrefflich die 
programmatifchen Keitfäge fich zu eignen, die Mar Liebermann in feine 
Anfprache bei ber Eröffnung einer berliner Sezefjionansftellung eingeftreut 
hat: „Kunft ift, was die großen Kunſtler gemacht haben." Ein Sap, den 
Tiebermann dem Heiligen Auguftin entlehnte, kunſtgeſchichtlich und kunft- 
pſychologiſch fo anfechtbar wie nur möglich, leicht aus allen Perioden der 
Kunftentwidelung heraus zu widerlegen; pädagogifh aber und agitatorifch 
von eminenter ZTreffjicherheit und dauerndem Werth. Durch ihn fcheidet ſich 
die nene Kunftpädagogit verföhnlich von der alten. Unfere Schulen haben 
als Kunft bisher mejentlih nur Sunftgefchichte getrieben. Kunft war für 
fie: wann die Künſtler — große, mittlere, Eleinere und ganz Heine — ges 
boren und geftorben, vermählt und preisgefrönt oder verhungert waren; war 
ein Haufe von technifchen Bezeichnungen für fogenannte Stile; war — am 
Allerfchlimmften! — oft nur ein Lobpreiſen der Fürften, unter denen die 
Kunft gefördert oder doch wenigftend — was auch ſchon Etwas ift — ges 
duldet wurde. Das Alles bat gewiß auch fein Feſſelndes, aber es fommt 
doch zulegt in Betradht; und wenn die Kinder nicht gerade Kunſthiſtoriker 
werden jollen, ift es gut, wenn fie e8, Gott fei Dank, bald wieder vergeflen. 
Dafür fordern wir, daß die Schule von heute dem Kinde vor Allem die 
nolhdürftigften technifdyen Fertigkeiten beibringe, ohne die auch der ftärkfte 
äfthetifche Inſtinkt jedem Kunſtwerk gegenüber hilflos bleibt. Nur dann wird 
ihm fpäter aufgehen können, „was die großen Künftler gemacht haben." Auf 
dem „gemacht“ Liege der Ton. Denn auf die Rolle, etwa über die Künſtler— 
größe zu entjcheiden, wollen wir die Kinder Lieber nicht vorbereiten. 

Jedes gefunde Kind hat an der einfachen Farbe ſchlechthin ein folches 
Wohlgefallen, dag man ihm gar nichts Schöneres bereiten kann, als e3 mit 
diefem Subftrat der Malerei zu befchäftigen. Seine Empfindlichfeit für 
Unterfchiede muß gefchärft, fein Kontraft: und Komplementärgeſühl geftärkt 
werden. Und vor Allem jenes höchſte Problem, das erſt von den Pleinairiften 


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108 Die Zukunft. 
uns deutlich zum Bewußtſein gebracht worden ift: das Verhältniß zwiſchen 
Farbe und Form, zwifchen Farbengrenze und Kontur, die Wirklichfeit ober 
Unwirklichkeit der Linie. ch vermag nur anzubeuten, denn nicht Aber Die 
technifche Ausgeftaltung, fondern über den neurologifchen Werth diefed Unter- 
richtes will ich Einiges beibringen. Und da benfe ich befonderd an Eins: 
laßt die Kinder das Alles dort nachentbeden, wo die Meiſter aller Zeiten es 
entdedt haben. Plein air! Hinaus ins Freie! 
Tafeln zur Erziehung des Farbenfinnes, Stidwolle, Speltraltafeln: 
Das find gewiß ſchöne und gutgemeinte Sachen. Über die Beichäftigung 
mit ihnen hält einen der grimmigften Feinde unferer Nervengefundheit im 
beitändiger Thätigfeit: die Alkomodation des Auges. Sehen wir bier ganz 
von der anderen Folge dieſer Anftrengung, der zunehmenden Kurzſichtigkeit, 
ab, fo giebt e8 doch kaum noch eine Art der Ermäbung, die fo unerquicklich, 
fo mißbehaglich wäre wie die durch fortwährendes Nahfehen erzeugte. Draußen 
im Freien aber ruht da8 Auge: und gerade wo es die köſtlichſten Farben⸗ 
wunder ftubiren fanıı, in den entfernteren Streden der Landſchaft, am Horizont, 
da hat e3 die ficherfte Ruhe. Es fei denn, daß Glitzern oder allzu ſtarkes 
Sonnenlicht im Spiele wären; fonft ruht e8 im fatteften Grün, im tiefften 
Blau, im glühendften Roth. Ein Nervenleidender erzählte mir einft, in 
Skodsburg fei er gefund geworben: das Blau des bänifchen Sunds habe 
feine Nerven geheilt. Und warum follten wir zu HMäglichen Surrogaten bon 
Menfhenhand greifen, die nicht entfernt den Nuancenreichthum auch der 
ſchlichteſten Wiefen- oder Haidelandfchaft erreihen? Die Maler haben auf 
die Akademien gepfiffen, Barbizon und Worpswede find zwei große Stationen 
auf dem Wege zur Entdelung der Natur; follten wir unfere Kinder in der 
Stube zum Farbenfehen erziehen? Und mit den Formen ift es nicht anders. 
An einer einzigen möärkifchen Kiefer ift mehr Stil und Linie zu fehen als 
an hundert Ornamenten. Bon der Fichte, der Birke gilt das Selbe. Da 
draußen werden die Kinder fpielend Iernen; in ber Schulftube mwiderwillig. 
Und wenn fie alle Farben zufammengepanticht haben und alle Kapitelle, 
Kanellirungen und Bogenformen auswendig können: dann werden fie noch 
etwas mehr Faput, noch etwas ftärfer überbürdet, noch etwas voller mit 
Halbbildung geitopft fein als heute; durch die Natur werben fie blinb mandern 
und vor Dem, was die großen Künftler gemacht haben, werden fie hochmüthi 
jpötteln: „So was giebt8 nicht”; und dem blöden Schlagwort, das gerad 
Mode ift, rettunglo8 verfallen. Und jehr viel Nervofität, fehr wenig Kunft 
genuß würde folcher äfthetifchen Stubenerzichung Folge fein. 
Unfer Klima bannt und fchon lange genug ins Zimmer. Wie fol 

nun hier fortgefett werden, was draußen begonnen wurde, wie follen di 
Gegenftände unferer Umgebung dem bewußten Schauen unterworfen werben? 





Nervofität und Kunſtgenuß. 109 


Die wichtige Frage, wie die Nutzkunſt zum Kinde ſich ftellen müſſe, rollt 
ih auf. Seit Darmftadt ift die Frage fo brennend, daß Seiner mehr um 
jie herumlommt. Die Arbeit der Ban de Velde, Chriftianfen, Olbrich, Eckmann: 
unfere Wohnung der Gefchmadlofigkeit zu entreißen, ift gewiß eine große und 
verdienftliche. Aber es ift doch nicht zu verfennen, daß dieſe „Heimkünftler“ 
weit über8 Ziel binausfchiegen. Ich Iaffe alles Aefthetifche bei Seite und 
zebe immer nur vom Geſundheitlichen. Daß Palaftfenfter und Flügelthür 
in unjeren Bonen unhygieniſch find, daß das einthärige Zimmer mit dem 
breiten, breiglichrigen Fenfter das Notürlichere und Geſündere ift, verfteht 
ih. Auch gegen Olbrichs ſchmale Treppen wird ſich nichts Ernſtliches fagen 
laſſen. Mit der körperlichen Gefunbheitpflege lebt die moderne Zimmer: 
funft in gutem Einvernehmen. Aber auch mit der nerbös-feclifchen? Wir 
haben Stuben, um in ihnen zu ſchlafen, zu effen, zu arbeiten. Fürs Schlaf: 
und Eßzimmer fei immerhin Stilfchönheit geftattet. Aber das Arbeit:, das 
Wohn-, das Kinderzimmer? Ich denke, bie follten möglichft indifferent fein. 
Nicht fo gefchmadwidrig wie bisher, aber auch möglichft ohne abfichtfiche 
Stimmung. Denn diefe ewige Stimmung fällt fchwer auf die Nerven. 
Ja, in unferer Zeit Tann ich mir gar Fein bedenflicheres Unternehmen denken 
al8 das, dem Menſchen noch während feiner Arbeit mit Stimmung zu 
fommen. Entweder wird vollends damit fein Gehirn ruinirt oder man löſt 
die zunächft gefunde, aber für die Kunſt fehr folgenfchiwere Reaktion aus: 
er wird ärgerlich und gegen Alles, was an Stimmung erinnert, gleichgiltig. 
Unfer Leben ift doch zu zwei Dritteln ehrliche Profa, aus der keine Macht 
der Welt je Poefte machen wird. Nehmt der Kunft ihre außergewöhnliche, 
ihre Kontraftftellung, — und Ihr nehmt fie ung bald ganz. Das gilt aber 
vom Kinde doppelt und dreifach, denn das Kind lebt in und von Kontraften. 
Alles, was es dauernd bejigt, wird ihm langweilig, gleichgiltig.. Und wenn 
wir Das erft erreicht haben, können wir die äfthetifche Kultur, von der wir 
fo viel reden, ganz und gar zu Grabe tragen. Es iſt mindeftens nuglos, 
die Kinderſtube zu äfthetijiren. Und es könnte wirklich auch recht ſchädlich 
werden. Suggeftiblen Kindern fünnte da8 Schöne, auf das fie ohne Unterlaß 
geftoßen werden, zur firen Idee ſich auswachſen. Denn bei der bloßen 
Technik des Sehens kann man es im Zimmer nicht bewenden lafien. Im 
Freien fefjelt dag Kind fo ziemlich Alles, in feiner Stube fo gut wie nichts. 
Es würde boh nur auf Tafeln zur Erziehung des Sinns für Farben und 
Mufter, furz, auf Drill ftatt auf Freude hinauslaufen. Wer es wagt, dem 
Kinde damit die Spielitunden zu verfümmern, mag die Verantwortung für 
das junge Nervenfyften mit auf ſich nehmen. Zweierlei wird er erreichen 
können: er verleidet dem Kinde das Betrachten, meil er es zwingt, Gleich— 
giltige3 zu muſtern; oder er lonzentrirt den kindlichen Sinn auf eine einzige 


8 


En 


110 Die Zukunft. 


Neigung und fchädigt damit Nerven und Eeele, die Zerſtreuung brauchen 
Denn Blatterhaftigfeit, Unachtſamkeit find jihere Eymptome bed gefunden 
tindlichen Organismus. 

Dagegen plaibire ich mit Wärme für die Galerie. Nur fcheint mir, 
daß diefer Zortfegung des in der Natur Begonnenen verhältnigmäßig wenig 
praktische Bedeutung zufommt. Es find ja nur ein paar Grofftädte, die da 
mitzählen. Denn Reproduftionen, Kupferſtiche, Holzfchnitte oder Fhotogrophien, 
bereiten in ihrer Farblojigfeit doch ganz andere Schwierigkeiten als Original: 
gemälde. Aber Schwierigleiten find Angelegenheit des Lehrers, nicht Des 
Nervenarzted. Das Anfchauen der graphifchen Kunſtwerke zu Ichren, it 
wohl des Echweißes der Edlen werth. Und wir Deutfchen find fo glücklich, 
Meifter der graphifchen Künfte zu befigen, die Jedem Etwas zu fagen haben, 
die nicht blos dem raffinirten Feinfchmedertfum entgegenlommen. Bon 
Dürer bis Klinger. Neurologifch ift bei ſolchem Unterricht wenig zu ri 
firen. Iſt der Lehrer ungeeignet, fo werden die Kinder fchlafen. Das ift 
ja ihr göttliches Vorrecht. Ganz anders freilich in der Galerie. Hier if 
die Auswahl der Gemälde von entjcheidender Bedeutung. Und die Art des 
Lehrer dazu. Denn verfteht Der feine Sache nicht, nämlich, die Linder 
ans Bild zu feffeln, fo werden fie die Zeit benugen, um andere Gemälde 
anzufehen: Verhängen fann man doch nit alle. Aber Oppenheim deuft 
ja an einen ganz anderen Galeriebefuh: die Kinder mit den Eltern, auf 
der Reife etiva. Reifen ift für die Eindliche Pfyche an fi Gift. Die taufend 
raſch vorbeieilenden Eindrüde machen das Sind oberflächlich, die Gefpräche 
und Urtheile im Eifenbahnwagen geben den Reft dazu. Aber die Jagd durch 
die Galerien grenzt an Mord. Totmüde und in den geheimften, verbotenen 
Winfeln der Seele gefigelt, fommen die Aernıften heraus. Ih fah in 
Dresden Eltern ihren elfjährigen Knaben in der Galerie ſuchen; er hatte 
ih von ihnen verloren. Kurz danad) fanden fie ihn vor Mafarts „Sommer“. 
Eine Schöne, ftille Ede befanntlih. Seit einer halben Stunde war er dort... 
Sol ein vorzeitiger Eindrud ift oft genug für die Wendung der eben fich 
regenden Gefchlehtsahnungen zum Allerfchlimmften entjcheidend geworden. 
Und laßt felbjt die Nerven eine folche Klippe glücklich pafjiren: die Seele 
trägt immer Schaden daran. Um fo jicherer, je aufgewedter das Kind ift. 
Dann merkt e8 ſich allerhand Namen und Eindrüde, redet ſchon über Allke 
Flug, fennt Alles, — kurz, ift blafirt. Sein Blalirter aber heutzutage, der nich 
der Neurafthenie verfallen wäre. Da kann man mit Oppenheim nur radilal 
fein: fort aus der Galerie. Ich wage, die Polizei anzurufen: Berbietet ben 
Kindern die Galerien. In unferer fozialen Zeit follte Reiner fid) einbilden, 
ein Necht auf Krankheit zu haben. 

Bisher war nur immer vom Schauen die Rede; und in der That, von 


Nerpofität und Kunſtgenuß. 111 


Hören ift viel weniger zu fagen,. denn das Ohr ift minder bildungfähig als 
das Auge. Ich halte den Gefangsunterricht von heute im Allgemeinen für 
ausreichend und eine allzu fubtile Erziehung zur Mufif für gefährlich. Als 
Damm dagegen möchte ich dem Xehrer ein Recht gegeben fehen: den häus— 
lichen Muſikunterricht allen muſikaliſch nicht befonder8 Begabten zu unter: 
fagen. Die Eltern find leider in dem Punkt die unvernünftigften Quäler 
der Kinder und die thörichten Plünderer bed eigenen Geldbeuteld. Wie 
viele gute Holzfchnitte gäbe e8 für diefe unnügen Mufifftundengelder! Wie 
viefe gute Bücher, — Freunde fürs Leben! Um den Preis für einen Flügel 
hätte man fat eines jungen Malerd Original! Und gefunde Sinder. Denn 
die Klavierſeuche ſchädigt die Nervenfyfteme unheilbar. 

Das Prinzip bleibt bier wie da: nicht zu äfthetifiren, nicht das Kind 
gewaltfam zum Gefühl für Schönheit aufzurätteln, fondern die Sinne zu 
entwickeln, möglichft unter dem Lachen der naiven, Findlichen Fröhlichleit. 
Das Afthetifche Erwachen muß, wenn e8 kommt, Etwas vorfinden, an das 
lich die neu hervorbrechenden Gefühle fofort Kammern fünnen. Sonft kehren 
fie fich unfehlbar nad innen. Nun wollte ich nicht etwa einer Moderichtung 
da8 Wort reden, die dem Knaben insbefondere gefchlechtliche Kämpfe mit 
ſich felbft bi8 zur Zerquälung zumuthet, um „rein“ zu bleiben — nebenbei 
gefagt: das gefunde Weib hält nicht einmal viel von folcher Reinheit des 
Mannes —, auch nicht einer anderen, die ohne Kampf dem erwachenben 
Trieb fofort Befriedigung fihern möchte: in gefchlechtlichen Kämp en erwächlt 
ein gutes Stück kräftiger Perfönlichkeit. Aber fie müffen auf Dinge ber 
Melt gerichtet fein und nicht im ftilen Zimmer nur auf das eigene Ich. 
Sie fo zu dirigiven, fol die Erziehung zum Schauen, die ich fehilderte, mit= 
helfen. Sie fol, wenn man e8 fo nennen darf, das Nervenſyſtem trainiren 
für diefe fchweren Jahren der Pubertät. Wie Viele dann der Kunft treu 
bleiben, ift eine andere Frage. Uns iſt ed genug, wenn die Getreuen auch 
gefund dabei bleiben. Ob der alte Fontane Recht hat, wenn er meinte: bie 
Kunft fei für die Wenigften und es würden ihrer immer weniger, oder jene 
Dptimiften, die von äfthetifcher Erziehung der Millionen träumen, von ber 
großen äfthetiichen Kultur: Das ift nicht die Frage, die ung kümmert; deſto 
mehr die andere, ob wir eine äfthetifche Kultur mit der fozialen Geſundheit 
zu erkaufen genöthigt und berechtigt ſind. 

Was an neuropathiſchen Wirkungen der rein ſinnlichen Subſtrate der 
Kunſt denkbar iſt, wirkt durchs ſexuelle Medium der Pubertät hindurch. 
Tauſend Rathſchläge werden täglich ertheilt, wie die kindliche Seele durch die 
Klippen dieſer Jahre zu ſteuern ſei; man redet da der rüdjichtlofen Ent— 
ſchleierung aller geichlechtlichen Dinge eben fo oft da8 Wort wie der ftrengjten 
Verhüllung. Mir Scheint aber durch alle Serualpädagogif doch ein rother 


8* 


112 Die Zutumft. 


Saben ſich zu winden: da8 Streben, den Gefchlehtögenuß im weiteſten Su 
nicht geſchmacklos und nicht gedanlenlos werben zu laſſen. In dieſer Ak: 
tung bewegt fi) Alles, was auf diefem Boden überhaupt diskutabel ik 
Denn es wird faft noch mehr Undiskutables gefchwagt. Und ich meine, bei 
hier Gedanken und Gefchmadlofigfeit gar eng zufammenhängn. Man wir 
die eine nicht ohne die andere, die fchlimmen Folgen der einen nicht ober 
bie der anderen erörtern können. Sie fließen vor Allem auch in einander 
im Genuß der Kunſtgattung, deren Subftrat daB Glüd oder Unglüd Bat, 
‘von born herein auch immer einen Gedanken auszudrüden: der Dichtung. 
Bei ihr wird das finnliche Problem des Kunftgenufles vom intefleftuelie 
untrennbar. Und davon wäre alfo noch befonder8 zu reden. 


Heidelberg. Dr. Billy Hellpad. 


u 


Wiener Theater. 


SE ift noch gar nicht lange her, da war der Glaube verbreitet, die Jour 








nalijtit bedürfe Feiner VBorbildung. Wenn Einer mit fi nichts Rechtes 
anzufangen wußte, aber zu Allem Talent zu haben glaubte, ging er zur „Zeitung“. 
Diefe Bohôme-Journaliſten fterben aus. Heute ift man längft zu der Erfennt- 
niß gefommen, daß man eine befondere Schulung und Kenntniffe aller Art 
braudt, um ein brauchbarer Journaliſt zu werden. Un den Hochſchulen werben 
Kollegien über Zournaliftif und Kritik gehalten und da und bort find auch ſchon 
die Verfuche gemacht worden, eigene Journaliſtenſchulen zu gründen. Es find 
allerdingd nur Berfuche, aber fie gehen von der richtigen Annahme aus, daß 
man Journaliſt nur dann werden fol, wenn man es fann, nicht nur, wenn 
man es will. Mit den Theaterdireftoren geht e8 uns aber heute noch fo wie 
der früheren Generation mit den Journaliſten. Wer mit dem Theater zu thun 
gehabt hat, fei es nun als Scaujpieler oder als Sritifer, glaubt fi zum 
Theaterlenfer berufen. Gewiß kommt es vor, daß Einer, ber ſich berufen fühlt, 
auch wirflid) berufen iſt; aber in den meiſten Fällen war ber Glaube an fidh 
felbjt ein böfer Irrthum. Zur Theaterdireftion gehören alle mögliden €’ ın- 
ſchaften: ein unbetrrbares Urtheil, Negietalent, tüchtige kaufmänniſche Bill ,, 
Energie, Phantafie, Rüdjichtlojigfeit, diplomatifche Kunft, fchaufpielerifche Hi 
keiten und noch vieles Andere mehr. Nur die richtige Miſchung giebt den 1 
tigen Mann. Diefer richtige Mann wird die wundervolle Babe haben, I 't 
feiner Phantaſie ein Stüd beim Lejen fo zu beurtheilen, ala fähe er ek n 
feinen Schauspielern, auf feiner Bühne, vor feinem Publifum gefpielt. Cr d 
dieſes Stüd auch ſelbſt infzeniren oder mindeſtens bie njzenirungarbe‘ 3 


Wiener Thenter. 113 


Regiſſeurs beurtheilen können. Er wird im Stande fein, einem Scaufpieler, 
der Etwas jchleht macht, zu jagen, warum e3 jchledht ift, und er wirb ihm eine 
Andeutung davon geben, wie er, der Direktor, die Sache meint und aufgefaßt 
wiflen will. Er wird mit dem Dichter Aenderungen und Kürzungen vornehmen . 
und durch feine dramaturgifhe Thätigfeit gefährdete Stüde retten. Daß er 
die Energie haben muB, feine Kunſtanſchauung durchzuſetzen, veriteht ſich von 
jelbft. Beim Theater giebt e8 nur eine Regirungform: die Tyrannis. 

. Warum ich das Alles einem wiener. Theaterbrief vorausſchicke? Weil 
der Mangel an guten Direktoren in leiner Theaterftadt fo fühlbar ift wie in 
Wien. alt überall fiten Dilettanten auf ben Thronen, Leute, die ihre Bühnen 
gehen laſſen, wie alle möglichen Winde e3 eben wollen, und denen der Zufall, 
nicht ihre Einfiht die Erfolge beichert. Sie haben Glüd oder Unglüd; aber 
die Kraft, das Glück zu zwingen, haben fie nicht. Und diefe Kraft ift beim 
Theater nicht nur möglich, jondern nothwendig. Ein gut gezogenes und erzogenes 
Publitum, das der Direktor feit in der Hand Hat, wird ihn auch dinen Durd- 
fall oder ein mageres Novitätenjahr nicht entgelten laſſen. Ein Publikum, mit 
dem der Direktor nicht in fefter Fühlung fteht, mit dem ihn Teine geiftigen 
Bande verfnüpfen, iſt unverläßlich und treulog. Hat ein Direftor genug gute 
Eigenſchaften, fo ſchaden ihm auch ein paar ſchlechte nit. Die beiten Direktoren 
der deutihen Bühne hatten recht ſchlimme Eigenjchaften. Wenn man wiſſen 
will, wie ein wirklicher Direktor ausfieht, braucht man nur die Thätigleit Mahlers 
bei der wiener Hofoper zu verfolgen. Auch an Mahler ift Manches auszuſetzen; 
aber er hat verjtanden, die Oper in den Mittelpunkt des künſtleriſchen Intereſſes 
zu rüden, feine Perſönlichkeit Lenntlich zu machen, das Publikum energiſch bei 
der Dand zu fallen. 

Seit ich Ihnen zulegt einen wiener Theaterbrief fchrieb, Haben fich die 
Dinge bei ung gründlich geändert. Das Burgtheater madt glänzende Geſchäfte, 
das Bollötheater ift längſt von der Höhe feines Glückes herabgeglitten. Herr 
Dr. Schlenther hat in den Jahren feiner Direktion, nachdem er Fehler über 
Fehler, Unſinn über Unfinn gemacht, nachdem er unmögliche Schauspieler engagirt, 
bei der Annahme und Ablehnung von Stüden die unficherfte Hand bewieſen 
hat, offenbar eingefehen, daß er nicht die Fähigkeit befitt, ein felbftändiger, eigen- 
artiger Direktor zu fein. Uber er ift Hug; namentlich ſchlau. Er wagt ſich 
nit mehr ing offene Meer hinaus, fondern lavirt geſchickt an wohlbefannten 
Küften entlang. Er Hört auf verftändige Männer und läßt ſich fihere Sachen, 
die „draußen im Reich” ihre Schuldigfeit gethan haben, nicht entgehen; von 
allen direlftorialen Künften Hat er die Diplomatenfunft am Schnellften erlernt. 
Mit der „Zwillingsſchweſter“, „ee Caprice“, „Es lebe das Leben!” füllte er 
bie Häuser und die „Rothe Robe“ that auch in diefem Jahr noch ihre Schuldig- 
feit. Aber auch Neues brachte er, Funkelnagelneues: drei Stüde von höchſt 
verfchiedenem Werth: den „Schatten“ von Marie Delle Grazie, den- „Apoftel” 
von Bahr und Shakeſpeares „Troilus und Erejjida” in Gelberd Bearbeitung. 

Die Aufführung don ‚„Troilus und Creſſida“ war feit vielen, vielen 
Jahren die erfte wirkliche That des Burgtheaters. Ein Stüd Shakeſpeares 
ift der Bühne wiedergemonnen, nein: neu gewonnen worden. Es hat die wider- 
Ipredendften und wunberlichiten Beurtheilungen und Deutungen erfahren. Die 
Einen bielten und halten es für eine Parodie, für einen grotesfen Scherz, für eine 


114 Die Zukunft. 


Berhöhnung der trojanijchen Helden, faft für eine Vorahnung Offenbachs. Te 
Anderen fehen darin ein gewaltiges Trauerfpiel vol Heiligen Ernfteg. Zu dic 
Auslegern gehört audy Adolf Gelber, der mit höchſter Begeifterung, mit einem 
wahren literariſchen Furor ſeit Jahr und Tag für die Aufführung dieſes Dreams 
ſchwärmt und fämpft. Man kann nicht fcharfjinniger, aber auch nicht ſpitzfindige: 
feine Anſichten — oft gegen den Dichter felbjt — vertheidigen und durchzujeker 
ſuchen, als e8 Selber that. Er hat gekürzt und zufammengezogen, einen news 
Schluß gedichtet (er läßt Troilus fterben), er hat die Stellen, die feinem Bild⸗ 
von den Helden nicht entipracdhen, gejtriden, — Alles nur, um Darmontie u 
das Ganze zu bringen. Aber ein harmoniſches Stüd zu fehreiben, lag in dieiem 
Fal durchaus” nicht in Shafejpeares Abjicht, der die Menfden und Die Wer 
die Liebe und den Ruhm nie jo verachtet Hat wie in der Zeit, da er „Troile⸗ 
und Creſſida“ jchrieb. Ilm eines Weibes willen kämpfen und bluten zwei Bölfe 
‚jahre lang. Was aber tft ein Weib werth? Un der Parallelhandlung Ereifide 
wird es gezeigt. Schwachheit: Dein Nanıe ift Weib! Uber Schwachpeit ik 
nur eine freundliche Umſchreibung für Zreulofigfett. Mit grimmigerem Soks 
ward nie über das Weib der Stab gebrochen. Und bie großen griechiſcher 
Helden, die Hochberühmten! Wenn man fie näher betradjtet: weldy cin elenbdes 
Pad! Bon fern gefehen, mag der Krieg etwas Heroildes an ji Haben. Sie 
der Nähe fieht man die Betrügereien, die Roheit, den Meuchelmord, die Gemein: 
heit am Werl, Wer das Leben aus der Nähe betrachtet, fieht das Groteste 
und das Traurige, die Komik und die Tragif hart an einander grenzen und der 
wahre Nealift wird das Leben nur tragikomiſch ſchildern können. Shakeſpeare 
ichrieb ein realiftifches Stüd und nahm fich einen Stoff, den wir gewohnt jind, 
idealiftifch verflärt zu jehen. Daher unfer Befremden. Troilus ift ein Stüd 
voll Disfonanzen, voll der wiberfprechenditen Stimmungen und gerade in feiner 
Disharnionie liegt feine Lebenswahrheit und feine Stärfe. Es iſt nicht bloßer 
Bufall, daß gerade jebt dieſes Stüd auf die Bühne ftrebt. Wir find im ber 
Mufit und in anderen Künften für die Aefthetil der Disharmonie reif geworden 
und fangen an, zu begreifen, daß die Tragitomoedie das Stüd der Zukunft ift. 
Unſere Dichter ſuchen die neue Form. Und da kommt nun Shakeſpeares Stüd 
zur rechten Zeit als leuchtendes Beiſpiel. Es wird Einfluß üben, vielleicht unſerer 
dramatiſchen Kunſt, die zu ſtagniren droht, neues Gefälle bereiten. So iſt die 
Aufführung von „Troilus und Creſſida“ am Burgtheater fein bloßes lokales 
Ereigniß, fordern eine That von literarhiſtoriſcher Bedeutung. Bei der Auf- 
führung wurde Gelbers Benrbeitung zu Gunſten Shafefpeares- ftarf modifiziert 
Schlenther hat viele Striche wieder aufgemadjt und ein Fluges Kompromiß zwiſchen 
der Urforin und der Bearbeitung bergeftellt, ſo daß der tragifomiiche Charafter 
zur Geltung kam, ohne unfer Gefühl dur allzu heftige Sprünge zu beleidig n. 
Der Erfolg der vier eriten Alte war außerorbentlid. Der letzte wirktt a rc 
dings nicht. Aber ich bin überzeugt daß auch er feine Schuldigfeit thun wü e, 
wenn man, Statt kommentatoriſch zu ftreihen oder hinuzuzufügen, einfach : ie 
Urform wiederheritellt und dem Baar Pandarus-Troilus die dag Stüd beginn ı, 
au die Schlußmworte läßt. 
Im Borwort zu jeiner Bearbeitung jpricht Gelber jehr Fluge Worte ü r 
die Maſſen auf der Bühne. Weit mehr Maffenftük als „Troilus und Ereffi 
war aber Hermann Bahrs „Apoftel”, mit dem Schlenthers alter Fritiider $ db 


Wiener Theater. 115 


feinen Einzug ins Burgtheater hielt. Es war durchaus nicht der Einzug eines 
Siegerd, Bahr wollte für einen Schaufpieler — für den von ihm glühend ver: 
ehrten Novelli — eine Bombenrolle fchreiben; jo entftand fein Stüd. Es war 
als Tragikomoedie gedacht, denn der Dichter hatte die Abficht, den Helden, den 
Apoſtel, den ſchwärmeriſchen Verkünder und Verfechter der dunkelſten politifchen 
Phraſen, den wohlgemuth auf allen Semeinplägen der Menjchenliebe und Brüber- 
lichkeit grafenden Stantshengft ſatiriſch zu beleuchten, mit überlegenem Humor 
dem Gelächter preiszugeben. Nie aber ift eine Abficht ſchmählicher mißlungen. 
Dan nahm den Apoitel leider ernft, — und lachte ihn aus. Und als dann 
fpäter Bahr verficherte und duch Geſpräche mit Freunden, die es bezeugten, 
erbhärtete, da8 Ganze fei nur fatirifch gemeint gewelen, konnte, wer das Stüd 
nachprüfte, beim bejten Willen nur darüber ftaunen, baß ein Dichter ſich über 
feine Tyähigkeiten fo täufchen fanı. Weder die gänzlich miblungene Figur bes 
Apoſtels noch die fadenfcheinige Handlung, eine ungeſchickte Variation über das Nora⸗ 
Motiv, noch der haſtige, unintereſſante, ſaloppe Dialog vermochten zu intereſſiren. 
Wohl aber intereſſirte der zweite Akt, der ein Parlament in voller Thätigkeit 
zeigt. Dieſer Akt bot der Regiekunſt Thimigs Gelegenheit, alle Regiſter zu 
ziehen, und war ein Meiſterſtück der Maſſenbewegung. Um dieſes Aktes willen 
ging man ins Theater. Schade, daß Bahr mit dieſem lächerlichen und elenden 
Stück und nicht mit feinen „Krampus“ im Burgtheater zu Worte kam. Wie 
ich den „Apoſtel“ für das fchlechtefte Stüd Bahrs halte, jo den ‚‚Srampus‘' 
für fein beftes. Weber Mangel an Handlung, über Kurzathinigfeit des Stoffes 
bei aller Breite der Ausführung Hilft die Liebenswürdigkeit hinweg, mit der 
Menfchen, Zeit und Milieu gejchildert find. Das ift das echte Burgtheaterftüd, 
das vielleicht nur auf dem Burgtheater Erfolg haben fünnte. Mußte Schlenther 
aber jujt Bahrs ſchlimmſtes Produkt zur Aufführung annehmen? 

Auch Marie Eugenie Delle Grazie wollte mehr und Anderes in ihrem 
„Schatten“ geben, al3 ihr zu verkörpern gelang. Wie ein Schatten Hujchte das 
Drama über die Bühne und man erweift der Dichterin, Oeſterreichs größter 
Epikerin, feinen Gefallen, wenn man auf bas dunkle, unklare, im Gedanken— 
chaos fteden gebliebene Stüd noch zurüdtommt. Wie ein unangenehmer Traum 
fajtet e8 in der Erinnerung. Sein PVernünftiger wird Schlenther einen Bor: 
wurf daraus maden, daß er dieſes Stüd, deſſen geringe Bühnenlebensfähig- 
keit jelbft ihm von vorn herein klar jein mußte, aufführte. Es war einfad 
jeine Pflicht, denn Fräulein Delle Grazie bat unter allen Umſtänden das Recht, 
gehört zu werden. Aber man fragt fich verwundert, warum Schlenther diejes 
Recht ihr zugefteht und Schnigler entzieht. So gut wie den „Schatten“ hätte 
er auch den „Schleier der Beatrice” aufführen können, aufführen müjlen. 

Das Deutſche Volkstheater ift in fohmwieriger Lage. Sein Etat iſt außer- 
ordentlich Hoch, und da es ein Privattheater ift, muB es an Berdienft denten. 
Darin liegt gewih fein Vorwurf. Vorwerfen könnte man der Bühne nur die 
furdtbaren Laſten, die fie fich aufgeladen hat und die fie nun zwingen, den Er: 
folgen um jeden Preis nachzujagen. - Das Repertoire ift jo buntjchedig wie 
möglih. Nun it gar der verjchämte Verſuch gemacht worden (mit Buchbinder: 
Meinberger3 „Spab ‘), der Operette ‚Zutritt zu gönnen. Aber dieſes Kofettiren 
mit allen Stilen und Gattungen verdirbt Schaufpieler und Publilum. Dabei 
haben die Berather des Direftord Bukovices eine merkwürdig unglüdliche Hand. 


— — — -._- 


116 Die Zuhmft. 


Bor zwei Tahren wurde der „Brobelandidat” zurückgewieſen unb in dieſen ‚Jahr 
ließ man fich das „Große Licht” entgehen. Fern ſei es von mir, für den Brobe- 
fandidaten oder gar für dag „Große Licht“ eine Lanze einzulegen. Aber bier Handelt 
e3 fi um ein Gejchäftstheater, das ſolche Kaflenjtüde im eigenjten Intereſſe 
nicht zurückweiſen darf. Literarische Bedenken können nicht in Betracht gekommen 
fein, da das Volkstheater Stüde, die noch tief unter dem Niveau des Herrn 
Philippi ftehen, wie „Das Ewig-Weibliche" des Herrn Milch, unbedenkli und 
mit größtem Vergnügen annimmt und fpielt. Einzelne intereffante Stüde, 
Saltens „Der Gemeine’, Sranewitters ‚Andre Hofer”, Ludaſſys „Goldener 
Boden”, wurden dem Theater von der Cenſur verboten. So bleibt denn von 
Stüden, die den Berlinern unbelannt find, nichts übrig als der „Neue Simjon“ 
von Karlweis. Ueber diefen Dichter werden wir — ich meine Wien und Berlin — 
uns faum verftändigen. Seine liebenswürdige Satire, fein gutmüthiger Spott, 
die herzliche Vertraulichkeit, mit der er zu feinem Publikum jprad), kurz Alles, 
was ihm in Wien Freundſchaft und Liebe eintrug, verjagt in Berlin. Ein 
wißiger deutjcher Theatermann fagte einft, Karlweis' dramatifche Yaufbahn ende 
bei Bodenbach. Wien aber trauerte ehrlich am Grab diefes Dichters. 

Befonders ſchlimm ift, daß im Volkstheater die nerndfe Unruhe des Ne 
pertoires das Enjemble Iodert und dad Publitum verdirbt. Ich bin nämlich 
überzeugt davon, daß ein Direktor mit ausgeprägter Vhyfiognomte, mit be 
jtimmten Geſchmack und mit der nöthigen Willenskraft, dieſen Gelhmad in 
Thaten umzufegen, fein ungeberdige und unverläßlices Publikum in feinem 
Haufe hätte. Dem Direktor ‚gehts jchlieglih wie einem Dichter. Er arbeiter 
für das Publifum, aber er verliert fofort Halt und Richtung, wenn er, auf bie 
iwirren Neußerungen von da draußen hinhorchend, ein treuer Diener diefes lau- 
niſchen Herrn fein will. Das Publikum läßt ſich gern führen, wenn eine Per- 
jönlichkeit da ift, die zu ihm jpricht. Vielleicht wäre Herr Jarno an einem 
großen Theater ein folcder Direktor. Im Theater in der Joſefſtadt kann er feine 
Tähigfeiten nur von Beit zu Zeit, wenn er fi den Luxus eines literarifchen 
Abends geftattet, entfalten. An diefen Literarijchen Abenden bringt er inter: 
ejlante Werke ganz muftergiltig heraus. Das werthvollſte biejer Werke war 
diesmal ein Volksſtück, „Frauzla“ von Tito Fuchs Talab, das in der Milien- 
ſchilderung und Charafterijtif, in feinem kräftigen dramatiſchen Leben von ftarfer 
Begabung zeugte. Gin gewiller Hang des Berfafjers zu melodramatifchen Wirf- 
ungen und die Ueberſättigung des Publikums mit Elendftüden beeinträchtigten 
den Erfolg. Jedenfalls aber zeigte Fuchs ſich darin als einen Mann, mit.dem 
unjere Bühnen rechnen dürfen. Im Joſefſtädter Theater fahen wir- auch die 
Matineen des Akademiſch-Dramatiſchen Vereines: Kleifts „Guiskard“, Werners 
„Bierundzwanzigfter Februar", Goethes „Satyros“ und den „Herakles“ 
Euripides. Der Erfolg überftieg alle Erwartungen. Es ift jehr Klug von 6 
Beranftaltern, daß fie fich bei ihren Darbietungen auf Werke bejchränfen, i 
jenfeit® der Tageskritik ſtehen. Kine freie Bühne, die moderne Stüde a 
führen wollte, wird in Wien durch die Cenſur unmöglich gemadt. Ueber un], 
Zuſtände und Verhältniſſe, über Alles, was uns am Nächiten angeht, was u 
ins Fleiſch fchneidet, darf man auf unferen Bühnen weder lachen noch wein 

Wien. Dr. Rubolf Xothar. 
* 





Der Yall Grimm. 117 


Der Fall Grimm. 


FAR immer befchäftigt ſich die Preſſe, beſonders die des Auslandes, mit 
9 der fogenannten Landesverrathsaffaire des Dberftlieutenants Grimm 
und ſucht unter Enthüllung fenfationeller Einzelheiten das Laienpublikum 
über das Ungeheuerliche des begangenen Verbrechens und über eine Reihe 
wichtiger militärifcher Maßnahmen aufzuklären und zu belehren. Das Merk: 
würdigte an diefen Beröffentlichungen ift, daß fie ſelbſt bei verftändigen Leuten 
vollen Glauben finden, während doch auf der Hand liegt, daß über ben wahren 
Thatbeſtand al diefer Dinge nur ein fehr enger Kreis von Eingeweihten 
genau informirt und in der Lage fein kann, zuverläfjige Angaben zu machen. 
Ich will den Kreis Derer, die in das Dunkel des begangenen Verraths ein= 
zudringen verfuchen, nicht durch ein vergebliches Forſchen nach vermeintlicher 
Wahrheit vergrößern, fondern mic) darauf befchränten, mit objeltiver Prüfung 
an die befannt gewordenen Ereigniffe heranzutreten und namentlich den Werth 
der „Teldzugspläne” feftzuftellen, die im Zufammenhang mit der vorliegenden 
Affaire auf Grund unzuverläffigen Materials über die Verwendung der 
rnffifchen Armee im alle eines Krieges gegen Dentfchland und Defterreich 
in der deutichen und franzöfifchen Preſſe verbreitet worden find. 

Was Grimm thatfächlic) verrathen und an wen er im Einzelnen feine 
Dofumente weitergegeben und verfauft hat: darüber bürften authentifche Mit- 
theilungen wohl ſchwerlich je in die Deffentlichkeit dringen. Aber die Schluß: 
folgerung fcheint doch berechtigt, nachdem die Verordnung des ruffifchen Kaiſers 
über die Außerdienftftellung des Angellagten „unter Belafjung in den Liften 
der Rinteninfanterie” befanıt geworden ift, daß es fich bei jenem Verrath 
nicht um fo ungeheuerliche Geheimniſſe gehandelt haben Tann, wie ein Theil 
der Preſſe ihre Lefer glauben machen will. So gewinnen denn aud) die 
Auslaſſungen des General Puzyrewski, der Grimms direkter Vorgefegter 
unb Generalftabächef des warſchauer Militärbezirtes war, mehr und mehr 
an Wahrfcheinlichkeit. Diefer ansgezeichnete Generalftabsoffizier fagt, daß 
Grimm bei der Art feiner Funktionen gar nicht in der Lage geweſen fei, 
die Mobilmachungpläne der Armeecorp8 des warfchauer Militärbezirtes oder 
Dokumente über den ftrategifchen Aufmarfch der rufjiihen Armee an der 
yenstichzöfterreichiichen Grenze zu kennen, gefchweige denn, jie an eine fremde 
Macht auszuliefern. Zugegeben wird nur, dag dem Angeklagten in Zolge 
der Berichte, die er alljährlich über die materielle Lage der im warſchauer 
Bezirk dislozirten Truppen auszuarbeiten hatte und die, weil jie dem Kaiſer 
vorgelegt wurden, einer befonderen Sorgfalt und eingehender Sachkenntniß 
sedurften, eine Reihe wichtiger Schriftitüde zur Verfügung geftanden haben, 
aus denen Maßnahmen der Vertheidigung und ſekrete Anordnungen inner: 


118 Die - Zunft. 


halb einzelner großer Grenzbefeſtigungen für den Fall eines Eindringens 
ein x deutſchen und öfterreichifchen Armee in Polen erjichtlih waren. Wenn 
nun namentlich die polnifche Preffe- in Defterreich ji) der ganzen Angelegen- 
heit noch heute befonder8 warnt annimmt und faft täglich ihre Spalten der 
na hgerade lächerlichen Mär öffnet, e8 fei erwiefen, dag nur Deutihland in 
den Beſitz der Geheimpapiere gekommen fei und daß die an der deutfchen 
Grenze gegen Rußland getroffenen militärifchen Maßnahmen den rufitfchen 
Generalſtab zuerft auf die Spur des Verräthers gebracht hätten, fo mu, 
ohne auf Detail einzugehen, doch feitgeftellt werden, daß zuverläffige Nach- 
richten darüber vorliegen, der ruſſiſche Militärbevollmädtigte in Wien, Oberft 
MWoronin, fei es gemefen, der auf Grund auffälliger und wiederholter Zrirppen- 
verfchiebungen im frafauer Militärbezirt zuerft Verdacht auf Preisgabe mili- 
täriſcher Geheimniſſe gefchöpft und feine Wahrnehmungen der vorgefepten 
Behörde mitgetheilt habe. Die polnifche Preſſe ift bei ihrem lauten Gefchrei 
augenscheinlich berühmten Muftern gefolgt und hat verjucdht, das im Fahr 
1894 in einem ähnlichen Fal verlorene Spiel wiederzugewinnen; denn als 
in jenem Jahre der in Kiſchenew garnifonirende Oberftlieutenant Gregoriew 
Detail3 über den Aufmarfch rufjischer Truppen an der Grenze der Bulowina 
und an Galiziens Grenze fir 20000 Gulden an Defterreich verrieth, ver- 
ſuchte die ſelbe Preſſe, von der hier die Rede ift, wenn auch vergeblich, bie 
Schuld auf Deutfchland abzuwälzen und es fogar verantwortlich zu machen 
für die Störung gut nadhbarlicher Beziehungen zwifchen dem öfterreichtjch- 
ungariſchen und dem ruſſiſchen Reich. 

- Hätte nun aber der Oberftlieutenant Grimm wirklich Mobilmachung⸗ 
und Feſtungpläne an eine fremde Macht auszuliefern vermocht: wäre damit 
dom rein mititäriichen Standpunkt aus Rußland ein ſchwer wieder gut zu 
machender Schade zugefügt und dem Staat, der die Papiere erhielt, ein 
außergewöhnlicher Bortheil gefichert worden? Ich glaube, diefe Frage ver- 
neinen zu müffen, felbft auf die Gefahr hin, mich mit vielen „Strategen“ 
in Widerſpruch zu fegen, die meinen, daß der Gewinn auf der Hand liege, 
da „die Grundlinien des ftrategiichen Aufmarfches der ruffifchen Heerestheile 
nicht mehr verſchoben werden könnten, jelbft wenn man die Mobilmadhung- 
pläne jest nach Aufdeckung des Verrathes verändern wollte; denn Bahn: 
finien, Feftungen und Dislolation der Truppen ließen fi nicht unfichtba. 
machen und müßten für alle Zeiten eine feititehende Bajis für die Operation: 
pläne bilden“. Zunächſt kann ich diefen Sag, lediglih auf die ruſſiſchen 
Berhältniffe angewandt, nur für die Feltungen -unterfchreiben. Der Verrath 
von Feltungplänen fehädigt in jedem Fall die Landesvertheidigung, da fid 
dieje Pläne nicht mit einem Federſtrich, oft überhaupt nicht weſentlich 
ändern laſſen. Ermwähnen möchte id dabei, daß, trogbem alfo der Macht, 


Der Fall Grinm. | 119 


die die Pläne der großen Grenzfeflungen von Grimm erhielt, ein werth: 
voller Dienft erwiefen worden ift, nicht nur neue und unbelannte Daten 
verrathen wurden; denn viele wichtige Detaild waren ja längft bekannt 
und haben einer feindlichen Heereleitung die Möglichkeit gegeben, ihre 
Dispofitionen danach zu treffen. Um nur ein Beifpiel herauszugreifen: von 


der Stärke der bie Baſis der ruſſiſchen Kandesvertheidigung bildenden 


befeftigten Linie Nowogeorgiewsf- Warichau mit Segrſh-Iwangorod konnte 
man ſich aud) bisher ſchon eine ungefähre Vorftellung machen, denn man 
weiß, daß bie Auferfte Grenze der Vertheidigung Warfchaus eine Ausdehnung 
von 55 Kilometern hat, daß 5 Forts und 3 Zwifchenwerfe in einer Ent- 
fernung von 21/5 Kilometer von der Stadt deren Ummallung bilden und 
daß dann auf weitere 5 Kilometer hinaus fi ein Gürtel von 16 Forts 
und 5 Bwifchenwerten um bie Gentrale der ruffishen Defenfivpofitionen 
legt. Auch Nowogeorgiewsk, das, am Zufammenflug von Bug⸗-Narew und 
MWeichfel gelegen, für den Uferwechfel von der allergrößten Bedeutung ift 
und deshalb auf bem rechten Meichjelufer 3, auf dem linfen 4 Forts vor: 
geichoben hat, erreicht in feiner vorderſten Vertheidigunglinie einen Umfang 
von annähernd 33 Kilometern. Iwangorod ift die kleinſte Feſtung der er- 
wähnten Bertheidigungbafis; aber wenn auc der Fortsgürtel nur eine Aus: 
dehnung von 19 Kilometern hat und im Ganzen nur 7 Forts zu beiden 
Seiten der Weichſel den Schuß dieſes Plages bilden, fo ift doch feine Ver⸗ 
theidigung außerordentlich ſtark zu nennen, weil, namentlic) auf der Weftfront, 
ungangbares Gelände die Feftung umgiebt. Auch über Breſt-Litowsk, Bieloftof 
und Kowno, das, am Niemen gelegen, einen der ftärkjten und modernften 
Stügpunfte des nordmweftlihen Rußlands bildet, fehlt es nicht an Details 
und felbft itber daS gegen Defterreich gerichtete Feſtungdreieck Ludsk- Dubno- 
Rowno find mehrfach zutreffende Angaben in die Deffentlichfeit gedrungen. 

Gaanz ander8 liegen die Verhältniffe bei den ruffifchen Eijenbahnen, 
die für den vorliegenden Fall zunächft in Betracht kommen, und, im Zuſammen⸗ 
bang damit, auch bei der Vertheilung der Truppen, anf bie im Kriegsfall 
für eine Mobilmahung und den Aufmarfh in erfter Linie zu rechnen ift. 
Kein europäifcher Großſtaat ift zur Zeit mehr damit befchäftigt, fein Eifen- 
bahıneß, befonder8 für militärifhe Zwecke, auszudehnen, als Rußland; und 
wenn in der Preſſe verbreitet wird, Deutfchland fer für einen Aufmarſch an 
der ruſſtſch⸗ polnischen Grenze mit 9 Haupteifenbahnlinien und zahlreichen 
Duerbahnen den 3 bis 4 großen Bahnen Rußlands, die nad) der Grenze 
führen, erheblich überlegen und die ruſſiſche Armeeleitung fei für lange Zeit 
durch die geringe Zahl diefer Bahnen an die uriprünglichen Orundfäge ihres 
Rrategifchen Aufmarfches gebunden, fo beweiſen die Mitarbeiter diefer Blätter 
eine gefährliche Unfenntnig der thatfächlichen Verhältniſſe und ein völliges 


120 Die Zukunft. 


Verkennen der Gefammtfituation. Das Barenreich verfügt zur Zeit über 
fünf große, aus dem Innern Rußlands fommende und die Truppen nad 
Warſchau führende Bahnlinien, die mit ihren fech3 Abzweigungen und Neben⸗ 
gleifen unftreitig ein ganz bedeutendes Verkehrsnetz für militärifche Zwecke 
bilden und die rufftfche oberfte Heeresleitung in die Lage verfegen werden, 
weit fchneller mit größeren Maſſen au den Grenzen zu erfcheinen, als es 
in früheren Feldzügen möglih war. Dazu werden auch die an bie öſterreich⸗ 
galizifche Grenze durchgehenden drei Kinien beitragen, bie mit ihren weiten 
Verzweigungen ein forgfältig angelegtes Bahnfyftem bilden. Nun begnügt 
ſich aber, wie ich zuverläfig weiß, die ruffifche Regirung nicht etwa mit den 
vorgenannten Eifenbahnen, fondern baut im &egentheil mit unermüdlichem 
Eifer weiter, fo daß, mit Ausſchluß zweiter Gleife auf fchon vorhandenen 
Bahnen, zur Zeit die ungeheure Strede von 11000 Kilometern im Bau ill. 
Unter diefen Linien, die für unfere Betrachtungen von Werth find, ift vor 
allen Dingen die von Warfchau über Lowitſch-Lodz nad Kalifch Führende 
Bahn zu nennen, die eine direfte Verbindung zwifchen der preufifchen Grenze 
und Warſchau herſtellt und mit ſolchem Eifer gefördert wird, daß ihre Boll: 
endung noch vor dem Fontraftmäßigen Termin des Jahres 1903 zu erwarten 
if. Welche militärifche Wichtigleit diefer Bahn auch in Rußland zu: 
gefchrieben wird, lehrt der Umstand, daß man fich entfchloffen Hat, fie, im 
Hinblid auf die Möglichkeit eines für Deutfchland erfolgreichen Krieges, mit 
ruffifcher Spurweite zu bauen, trogdem die Warſchau-Wiener Bahn nebft 
ihren beiden Zweiglinien Skierniewice-Alexandrowo und Koluszki⸗Lodz die 
einzigen rufjifhen Bahnen mit wefteuropäifcher Spurmeite find. 

Bon großer Bedeutung für die Konzentration ruflifcher Truppen an 
ber öfterreichifchen- Grenze ift die 440 Kilometer lange Staatsbahn Kijew- 
Komeit, die fehon zu Beginn des nächiten Jahres fertig fein foll und die 
befonder8 den nördlich des Azowſchen Meeres dislozirten Hecrestheilen nüten 
wird. Diefe Bahnlinie führt durch ſchwach bevölferte Gegenden, fo daß von 
ihr für Handel und Verkehr wenig Bortheile zu erwarten find unb ber 
ſtrategiſche Zweck immer im Vordergrund bleiben wird. 

Das legte Glied in den militärifchen Bahnprojekten Rußlands bilbet 
die in jüngfter Zeit vielgenannte Strede Bologoje-Siedlce. Es heißt, daß 
diefe 1100 Kilomeier lange Eifenbahn, die eine Fortfegung der bereit3 vor: 
handenen Linie Koftrona: Aybinsf-Bologoje fein und zur Entlaftung t 
beiden großen Bahnen Peteröburg: Warfhau und Mostau: Warfchau diene 
fol, nit nur mit franzöfifchem Gelde, fondern angeblich auch auf dringenbes 
Betreiben des franzöfifchen Generalftabes gebaut wird. 

Schon diefe Betrachtungen zeigen, daß Rußland mit feinem ftetig fid 
erweiternden Eifenbahnneg nicht nur leicht Truppenverfchiebungen innechal* 





Der Fall Grimm. 121 


wie außerhalb feiner. Grenzgebiete vornehmen, fondern auch Mobilmachung, 
Aufmarſch und Verwendung der Armee nach ganz anderen Erwägungen als 
bisher anorbnen laffen fanı. Damit aber wäre den von Grimm etwa aus- 
gelieferten Papieren diefer Art jeder Werth genommen. 

.In der Erörterung rufjifcher Operationpläne wurbe auch gefagt, ‚die 
ftrategifche Gefammtlage weife die ruffifchen Armeen bei Ausbruch eines 
Krieges Deutichland gegenüber zunächſt auf die Defenfive an der ftarfen 
MWeichjelbarriere und auf die Vertheidigung des polnischen Yeftungfünfeds 
Nowo =: Georgiewst- Warfhau-Fwangorod- Breft-Litowsf. Diefe Votausſicht 
fcheint mir, in Verbindung damit, daß Oberfilientenant Grimm, wenn er 
überhaupt wichtige Altenftäde ausgeliefert hat, im Weſentlichen nur folche 
über einzelne Grengbefefligungen im warfchauer Militärbezirk verrathen konnte, 
fo bemerfenswerth, daß ich auf Grund zuverläffigen Materials, ohne auf 
das Gebiet der Strategie vom grünen Tifh aus überzugehen, noch ein paar 
Worte darüber fagen möchte. Daß Rußlands Eifenbahnneg heute noch nicht 
fo Teiftungfähig ift wie unfere8 und daß deshalb die Mobilmachung des 
ruffifchen Heeres nicht fo glatt verlaufen wird, wie wir es bei uns erwarten, 
dürfte fih auch aus meinen Betrachtungen ergeben haben. Immerhin fleht 
es jedoch mit der Schnelligfeit de8 Aufmarſches der rufjifchen Armee nicht 
fo ſchlecht, wie man vielfach anzunehmen geneigt ift, denn ein mit den 
Berhältniffen des verbündeten Zarenreiches vertranter höherer franzdjifcher 
Dffizier Hat ausgerechnet, ein ruſſiſches Armeecorps brauche mit allen 
Traing vierzehn Tage zu feiner Beförderung auf eine Entfernung von 
1000 Werft und es fei anzunehmen, daß drei Fünftel der europätfchen Streit- 
fräfte des ruſſiſchen Heeres in achtzehn bis zwanzig Tagen mobil gemacht 
und dem SKriegsplan gemäß fonzentrirt werden könnten. Nun aber bat 
außerdem die ruſſiſche oberfte Heeresleitung, in richtiger Erkenntniß ihrer 
heute noch nicht hinreichend entwidelten Eifenbahnen, um diefen Nachtheil 
auszugleichen und um Bahntransporte größerer mobiler Truppenmaſſen im 
legten Augenblid möglicht zu vermeiden, mehr als zwei Drittel des Friedens- 
ftandes der Armee längs der Weltgrenze dislozirt und dadurch erreicht, daß 
51/, Armeecorps mit allem Zubehör an Kavallerie und Artillerie, 2 Schügen- 
brigaden nebſt 2 Kavalleriecorpd in centraler Stellung im Militärbezirk 
Warſchau bereit ftehen und nur auf die Marfchordre warten. Ferner ftehcn 
dann je 5 Armeecorps in den benachbarten Militärbezirken Wilna und Kijew 
längs der preußifchen und öfterreichifchen Grenze; und an den Außerften 
Flügeln diefer Aufitelung find im Militärbezirk Petersburg 3, im Militär: 
bezirk Odeſſa 2 Armeecorps nebit Refervetruppen zum Eingreifen verfügbar. 
Die weiter öftlich liegenden Militärbezirfe Moskau — mit 3 Armeecorps — 
und Kaſan haben dabei zur Aufftelung der Reſervearmee und als Haupt- 


122 Die Zukunft. 


baſis für den Nachſchub zu dienen. Auf diefe Weife find die an den Weite 
grenzen untergebrachten Truppen in der Lage, ſelbſt in nicht vollfländig 
mobilen Zuftande dem Gegner in kürzefter Zeit nicht nur defenſiv, fondern 
auch offeniio entgegenzutreten. Und gerade diefe zweite Möglichfeit möchte 
ih, im Gegenfag zu dem vorhin bezeichneten Gedanfengang, in den Border: 
grund ftellen. Nach meiner Anlicht fpricht die Wahrfcheinlichfeit dafür, dag 
die auf fo verhältnigmärig eugem Raum fonzentrirten Maflen der ruſſiſchen 
Armee ſich bei Ausbruch eines Krieges durch eine Dffenjive Luft zu machen 
fuchen werden, um dadurch die feindliche Mobilmahung nad Möglichkeit zu 
ftören und ſich den Unterhalt für ihren ungeheuren Bedarf in Feindes Land 
zu beichaffen. Unterftügt würde ein folcher Angriff durch die auch als Depot- 
pläge eingerichteten großen Weichielfeftungen und durch die fumpfige Flußlinie 
des Bobr-Narew mit feinen von Offowjeg bis Pultusk reichenden Befeftignngen. 
Ganz befonders aber fcheint mir für die Nothwendigkeit rufüfcher Offeniv- 
bewegungen das mit Frankreich gefchloffene Bündnig zu Sprechen. In welcher 
Weiſe jich dieſes Bündniß militärifch im Einzelnen bethätigen wird, entzieht 
ih unferer Kenntniß. Sicher müßte aber Franfreih im Fall eines Krieges 
wünfchen, daß Rußland möglichft viele Kräfte des deutfchen Heeres auf ſich 
zu ziehen verfudt. Das kann nur durch eine thatlräftige und rüdjichtlofe 
Offenſive der rufiifchen Armee und nicht durch defenfives Verhalten an der 
Weichfellinie gefchehen. 

Dem Fall Grimm wird wohl allzu große Bedeutung beigelegt. Unfere 
Heeredleitung — Das mögen au unfere Feinde jich merken — bedarf nicht 
geitohlener Papiere, um Wacht an unferen Grenzen halten zu können. 


Köln. Erik von Witzleben. 


7 


Zwei Legenden. 
Die Delferin. 


SI Pforte des Paradieſes fiel dröhnend zu. Der Engel mit dem feurigen 
Schwert trat vor fie hin; von der breimenden Wehr ſprangen nod ein 
paar gligernde Lichter in den Himmlifchen Garten, der fi langjam in abend» 
lie Schatten hüllte. Adam lag, vom Schmerz hingeworfen, zu den Füßen 
des Engeld. Stirn und Hände grub er in die Erde, krampfte fich ſchluchzend 
an die Schwelle jeiner verlorenen Seligfeit. (Eva jtand abjeits, da, wo niedrig 
gewachſene Herten einen legten Abjchiedsblid auf die eutſchwundene Seligfeit 
veriprachen. Sie hob ſich auf die Zchenjpigen, um noch einmal ihren ſüßen 
Garten zu jefftu, aber die Heden hatten jie nur gehöhnt und waren dem Gebote 
Gottes gehorjam. 








— 


Zwei Legenben. 123 


Meinend wollte fie zu ihrem Manne treten, als es in den Heden rafchelte .. 
Enijterte . . Sie erſchrak. Sie wußte, wer da raſchelte und kniſterte. Ste wollte 
fliehen. Sie wollte, — aber fie blieb. 
| Es war die Schlange. 

Mühſam war fie durch Büſche und Geftrüpp gefrochen, heimlich, damit 
Die anderen PBaradiefesthiere ihrer Schande nicht fpotten jollten. Nun richtete 
fte fid) empor, Bing ihren ſchimmernden Leib über die Heden herab, wiegte ihn 
in den abendliden Schatten. Dit ihrem Falten, Eugen Blid jah ſie auf bie 
weinende Dtenjchenmutter. 

„Eva!“ 

Eva ſchrie auf. 

„Verführerin, weiche von mir! Hätteſt nicht Du mich bethört, nimmer 
hätt' ich den Apfel gegeſſen. Weiche von mir, Verfluchte, weiche von mir!“ 

Die Schlange wand fid) noch näher zu ihr heran. ihre Stimme Hang 
leife und Iodend, wie der Abendwind, der über das paradiefifche Gefild jtrich. 

„Eva, Keiner hört Dich! Hier brauchſt Du nicht zu lügen! Hätteft Du 
ohne mich den Apfel nicht gegeflen?“ 

" Schweigen. 

„War Dein Sinn nicht fo trächtig von diefer Begier, daß fie auch ohne 
mich an3 Licht geiprungen wäre?“ 

Eva trat einen Schritt zu der Schlange hin. Sich ſcheu nad) allen 
Seiten umſehend, flüfterte fie mit Beißen Augen und Wangen: „Ich wäre an 
ihr geftorben, hätte ich fie noch länger tragen müſſen, hättejt nicht Du das 
Wort geſprochen . .“ 

Wieder Schweigen. 

„Du gebt in die Weite, Eva! Du follft draußen Mienfchen gebären.. .* 

Ein füßes Lächeln huſchte über das verweinte Geſicht der erjten Mutter. 

„Auch draußen werden verbotene Früchte wachſen .. Ob Deine Menſchen— 
finder niemals Begier nad) ihnen ſpüren?“ 

Eva rang die Hände. In weinender Selbitfhmähung: 

„Es find ja meine Kinder!“ 

„Werden fie jo jtarf fein, daß ihre Begier zum Lichte drängt oder wird 
fie ihnen ungeboren im ſchwachen Schoß verkümmern?“ 

„Es find ja meine Kinder!“ 

Adanı erhob fi von der Erde umd rief jeinen Weide. Einen Athen: 
zug lang bejany fih Eva, dann flüfterte fie in die Heden: „Komm!“ 

Sie lüpfte ein Wenig ihr Blättergewand, das die Yenden deckte. Laut— 
[08 glitt die Schlange hinein, legte ſich um ihren Leib wie ein wierfacher Gürtel. 

.. Das Menjchenpaar zieht in die Nacht hinaus. Düfter Ichreitet Adam, 
in verzweifelter Xiebe die Hand jeines Weibes haltend, Sein Sinn denkt an 

. Berlorenes und an bei heißen Wrbeitstog, für den feine Fauſt erit die Waffe 
ihaffen muß. Roſig, lächelnd geht die junge Menfchenmutter. In ihrem Schoß, 
unter dem dunkel geringelten Cmigfeitbilde, wächſt er, dem die Welt gehören 
fol, mit all feiner Kraft und feiner Schwäche, mit feinen Drängen und feinen Ent- 
fagungen. Seinen erften Herzichlag fühlt die Schlange, die Werführerin-Erlöferin, 
die fegenreiche, verfluchte Wehmutter aller Sehnjüchte und aller Erfenntniffe . . . 


124 Die Zukunft. 





Die Eijferne Maske. 


Der Dauphin hatte Gefchichtitunde. Ein junger Prälat, mit ernitem, 
blaſſem Geſicht ertheilte fie. Er ftand am Fenſter, bog den Kopf ein Wenig 
zurüd, ald ob er binter den grauen Wollen draußen die Sonne ſuchte. Er 
biftirte; und ber Dauphin jchrich gehorſam: 

Romulus 753 bis 716. 

Numa Pompilius 715 bis 672. 

Tullus Hoftilius 672 bis 640. 

Ancus ... 

Der Dauphin legte plötzlich den Kiel weg und fragte ganz unvermittelt: 

„Herr Abbé, wer war. die Eiſerne Maske?“ 

„Ich weiß es nicht, Monſeigneur.“ 

„Doch! Sie wiſſen es!“ 

„Wie ſollte ich, Monſeigneur? Weiß es doch Keiner!“ 

Der Dauphin beharrte: „Sie wiſſen es doch! Ich habe jeden meiner 
früheren Lehrer danach gefragt und jeder iſt roth geworden, bat jo verworren ge» 
redet, daß ich genau merkte, er wiſſe es wirklich nicht. Sie aber find nicht roth 
gervorden. Nicht einmal gezudt Haben Sie. Sie lächeln mur, lädjeln gerade 
jo wie Tante Montpenfier, wenn ich fie frage, ob fie mir Bonbons mitgebracht 
bat, und fie dann jagt: Ich weiß nicht . .“ 

„Ste find jehr fcharffichtig, Monſeigneur.“ 

„Herr Abbe, laſſen Sie mich nur zehn Minuten lang mit den römifdhen 
Königen zufrieden und erzählen Sie mir fchnell, wer die Eiferne Maske war. .” 

„Ich weiß es nicht, Dionfeigneur. Ich wage auch, zu bezweifeln, baß 
Seine Majeftät fehr entzüdt wäre, wenn cr den Geſprächsſtoff Tennte, ben 
. Deonjeigneur joeben wählten.” 

Seine Majejtät hört uns ja nicht,“ fagte der Dauphin und Frigelte 
etliche zufammenhangloje Schnörfel unter die Könige Roms. „Es muß eine 
jchr mächtige Perfon gewelen fein, diefe Eiſerne Maske“, ſprach er aus feinen | 
Gedanken weiter, „Sonſt wäre nicht ſolches Geheimnig um ihn gewejen und | 
man redete nicht noch fo lange nach jeinem Tode von ihm.“ | 

Er ſchien Antwort zu erwarten; aber der Prälat ſchwieg. Er jah immer 
noch in die Wolfen hinein, hinter denen die Sonne ohnmädtig kämpfte. 

„Denken Sie, Herr Abbe, der König felbft, mein verjtorbener Großvater, 
ilt einntal bei Nacht heimlich in der Baltille gewelen, um ben Gefangenen mit 
der Eifernen Maske zur ſehen.“ 

„Monſeigneur, ich bin entjegt, daß folcher Tafaienklatfh den Weg zu 
Ihnen fand!‘ 

„Das tjt Fein Lakaienklatſch, ſondern Wahrheit. Der König, mein ! 
jtorbener Großvater, wollte eben einmal das Geſicht des räthielvollen Dan 
feyen, der fchon in Sainte-Marguerite gefangen jaß, al3 mein Großvater m 
ein Kind war. Ob er jein Gefiht dann wirklich) gejehen hat, weiß id) niq 
Aber man durfte den Gefangenen niemals wieder vor ihm erwähnen.“ D 
Dauphin fenkte die Stimme und Jah ſich jcheu nach allen Seiten um. „, 
fürchtete ihn vielleicht ... Denken Sie mur: mein tapferer Großvater fürdhtete I 
vor dieſem Gefangenen!’ 


— — — — — — —— — — — — — — — — — — 


Zwei Legenden. 125 


Die Sonne kämpfte fich eben durch die Wolfen und warf zwei leuchtende 
Funken in die Augen des Prälaten. | 

„Wiffen Sie, Herr Abbe, was ich nicht begreife? Daß man wirklich nie, 
nie jein Geſicht gejehen haben jol. Man konnte ihn doch im Schlaf belaufchen.” 

„Er trug die Maske auch im Schlaf.” 

„Der König hätte fie ihm abreißen können.“ 

„Nein, aud) der König war dazu nicht im Stande.“ 

„War fie denn feſtgeſchmiedet?“ 

„Isa. Nur Einer Tonnte fie löſen. Er felbft.“ 

„Er wollte fein Geſicht nicht fehen laſſen?“ 

„.. Hören Sie mid an, Monfeigneur: ch Habe den Mann mit dem 
Eijernen Antlitz gefehen; denn was die Anderen Maske nannten, war fein 
GSefdt.. Er wollte nit, dab die Menſchen ihn erkennen, fein Weſen faflen 
und :mit Namen nennen jollten, wie auch er thnen nicht nadjfragte und feine 
Gemeinjhaft mit ihnen begehrte. Darum Hatte er Unbeweglichleit über feine 
Züge gebreitet, gleich einer Larve, und Schweigen umfing ihn, wie ein Tugel- 
fiherer Panzer. Sie denken nun vielleicht, Monfeigneur, daß er ftumm war 
oder irren Geiſtes; aber in feinen Augen lebte Alles, was fein Mund und fein 
Antlitz verſchwiegen. Ein ſeltſam drangvolles, forfchendes Leben, da8 mit ben 
Gejtirnen des Tages und der Nacht Zwieſprache hielt. Was fie ihm kündeten, 
was er ihnen vertraute: Keiner hat es je gewußt. Einfam, von den Anderen 
durch Maske und Panzer getrennt, lebte er die Jahre dahin. Was fie zu 
ihm berjpülten, was er ihren mitgab: Seiner hat es je erfahren. In Panzer 
und Maske iſt er dann auch geftorben und mit ihm fein Geheimniß. Wie glänzend 
oder wie blutig e8 war: Steiner wird e3 je. fünden. 

.. Er dat Söhne Hinterlafjen, weit draußen, in der Welt verftreut, ein 
ftolzes, finſteres Geſchlecht, das die Maske im Wappen und vor dem Geficht 
trägt und mit den Gejtirnen Zwieſprache Hält. Ohne Freunde, ohne Belenner 
ziehen fie ſchweigend ihre einſame Straße, Aber wo ihr gepanzerter Fuß auf- 
Elirrt, gafft die Menge. . flüftert . . fchicht ihnen Fiebermärchen nad). Und bie 
Könige bliden unruhig... 

Denn gefährlicher als feindliche Heere find die großen Einfamen. Sie 
hüten ihr Geheimniß zu gut. Man weiß nie: find es Fürften, die zur Richtjtatt 
gehen, oder Berbrecher, die zum Throne fchreiten ..“ 

Die Sonne jchien jebt hell ind Gemach; fie legte ihren Glanz wie eine 
Königsbinde um die Stirn des jungen Prälaten. Der Dauphin ftarrte ihn an 
und ſchrie auf: „Sie.. Sie felbjt find der Mann mit der Eifernen Maske!“ 

Der Abbe regte fih nit. Er legte die Hand an die Stirn, als wolle 
er die Königsbinde bergen. Und mit ruhiger, kalter Stimme fprad er: „Mon— 
feigneur, Sie fiebern! Sie fehen, wie Necht ich Hatte, als ich nicht mit Ahnen 
von folden Dingen jprechen wollte. Ihre lebhafte Bhantafie verträgt es nicht. 
Ich muß Sie bitten, zu fich zu kommen; oder wir fchließen die Stunde und 
ich rufe den Leibarzt Seiner Majeftät.“ 

Der Dauphin befann fi, rich fich die Augen, ſah feinen Lehrer an, lachte 
gin verlegenes Kinderlahen, — und das Diktat wurde bei Ancus Marcius fortgejegt. 

Münden. Carry Bradpvogel. 


L 9 


126 Die Zukunft 


Selbftanzeigen. 


Aufgaben der Gemeindepolitit. (Vom Gemeindeſozialismus). Bierte 
Auflage. Jena, Verlag von Guſtav Fiſcher. 220 Seiten, Preis 1,50 Mark. 
Miguel bat in einem feiner lebten Briefe darauf hingewieſen, daB bie 
Gemeinde viel mehr al3 bisher zur Trägerin einer vernünftigen Sozialpolitik 
werden müßte. Und der vielerfahrene Dann bat damit einem Gedanken Aus- 
druck gegeben, defien Bedeutung in immer weiteren Streifen erfannt wird. Aller- 
dings: die billige großtönende Phraſe, das bequeme Schlagwort find in ber 
Gemeinbepolitif nicht fo leicht mobil zu maden wie in der Reichspolitif. Hier 
itoßen art im engen Raum fi die Sadıen. 

In bem bier angezeigten Bud, beifen frühere Auflagen in der Breffe 
aller Richtungen, vom „Reichsanzeiger" bis zu den „Sogialiftifchen Dtonats- 
beften”, freundliche Anerkennung gefunden baben, tft nun verfucht worben, alle 
ragen, bie heute innerhalb der deutichen Gemeindepolitif ein Gegenitand des 
Streites find, kurz barzuftellen und, darauf ift der Hauptwerth gelegt, durch 
Wiedergabe praktiicher Verſuche zu erläutern. So find behandelt: die Bildung- 
fragen, Wrbeiterfragen, Mitteljtandsfragen, Steuerfragen und Gemeindebetriebe. 
Eine befondere Bedeutung aber meſſe ich der Behandlung des Bodenproblems 
innerhalb der Gemeinde zu, die in den Kapiteln: „Die Zuwachsrente“, „Bom 
Semeindegrumdeigenthun”, „Zur Wohnungfrage” gegeben it. Auch bier tft feine 
Forderung erhoben, die nicht an irgend einer Stelle fchon in deutſcher Praxis 
durchgeführt ift, feine Forderung alfo, bie leihthin als „graue Theorie" abzu- 
weilen wäre. Es iſt meine Abficht, die ich gern offen zugebe, durch dieſes Bud) 
wie durch meine gefammte TIhätigfeit als Vorfiender des Bunbes der Deutichen 
Bodenreformer in unferen Induſtrieſtädten den Kampf um die „Zuwachsrente“ 
zu entfachen. In ihm liegt ein Stüd Entfheidung über alle anderen Probleme 
des wirthichaftlihen Lebens. Gelingt es, die ungeheuren Werthe, bie alle Tage 
in unferen aufblühenden Gemeinden durch die Kulturarbeit der Gefammtheit er- 
zeugt, aber heute faft überall noch von Zerrainipefulanten ohne jede Arbeit. 
leiftung für fi beichlagnahmt werden, für die Gefammtheit zurückzugewinnen, 
jo ift Steuerdrud, Bodenwucer und Wohnungnoth befeitigt und der Weg zu 
jeder durchgreifenden Neforn geöffnet. Ob das Ziel erreicht werden wird? Ob 
fich genug ernjte Menjchen finden, die die fittliche Reife haben, für ernfte Fragen 
ein ehrliches Intereſſe auch wirklich zu bethätigen? Ich will nur eine einzige 
Zahl aus dem Buch wiedergeben: Am zweiten Dezember 1895, als von einer 
akuten Wohnungnoth noch gar nicht die Rede war, wurden in Berlin gezär'*- 
4718 Wohnungen ohne jeden heizbaren Raum, 27160 Wohnungen mit 
einem einzigen heizbaren Raum, die von ſechs und mehr als ſechs Perſt 
dauernd bewohnt werden. Mehr als 200000 Menſchen haufen aljo alleir. 
unferer glänzenden Reichshauptſtadt in Verhältniffen, in denen ein gefur 
Familienleben fat unmöglich erſcheint. In anderen deutſchen Gemeinden [ 
es noch ſchlimmer als in Berlin; und feine Lohnerhöhung, die bie Arbeiter 
oft mit fchweren Opfern erfämpfen, verinag ihre Lebenshaltung wirklich zu ı 
beflern, jo lange die Miethfteigerungen die Lohnerhöhungen aufzehren. M 


Selbftanzeigen. 127 


e8 doch erft als felbftverftänbliche Pflicht für eben, der von der Geſellſchaft 
als gebildet anerfannt werden will, gälte, wenigſtens ſolche Elementarzahlen 
ber deutſchen Bollswirthichaft zu willen! Dann würden wohl nur noch wenige 
Menſchen fi der allerdings bequemen Täufhung hingeben fönnen, mit Ver- 
einen zum WUlmofengeben, zur Hebung ber Ethik, zur Förderung der Kunft unter 
dem Boll, zur Belämpfung des Alkoholismus u. f. w. ihrer ſozialen Pflicht 
völlig zu genügen. Das Wohnungproblem, dem allein durch verjtändige Gemeinde- 
politif begegnet werden Tann, führt wirflih bis zum Grunde bed fozialen 
Problems hinab, Mögen meine „Aufgaben der Gemeindepolitif” Helfen, bier 
Wege zur Beflerung zu zeigen. Der Verleger, der ja auf nationalökonomiſchem 
Gebiet zu den Kundigiten in Deutichland gehört, muß wohl gutes Yutrauen 
haben, fonft Hätte er nicht den Preis des Werkes auf anderthalb Mark feſtgeſetzt, 
alfo auf etwa ein Drittel des Preijes, der fonft für ein nationalölonomijches Wert 
gleichen Umfanges üblich ift. Adolf Damafdke. 
* 
Die Thliren des Lebens. Prag. Verlag Sympoſion. 
Diefes Buch erzählt die Gefchichte der Veronika Selig, Wie ihr das 
Leben die Marter bringt, für die ihr Herz zu eng und zu gütig ift. Wie fie 
fi verfriecht vor dem Leben und dennoch den Ton feiner Schritte immer wieder 
Hört, wenn ed an ihren Fenſtern vorübergeht. Und wie fie am Ende fih nicht 
mehr helfen kann und ihre ungebändigte Tiebe, ihre erftarrten Wünfche und ihre 
verlorenen Tage noch einmal zu einem Abenteuer ſich zufammenfinden, das fie 
doch nun zum Schluß wieder heimkehren läßt in das verrufene Haus, in dem 
das Leben und das Schidjal geftorben jind. Es iſt der Roman der paifiven 
Menſchen. Es tft ein Gleichniß und die Legende von ber Wiederkehr: die Sage 
von den Thüren des Lebens, hinter denen die Schauer und das Wunder wohnen 
und hundert Dinge, die auf ung laften, die Träume und die Traurigkeit, der 
Hohn und die Gebete eines hyſteriſchen Herzens. 
Prag. . Paul Leppin. 

Berfäumter Frühling. Hugo Steinig, Berlin 1902. 

Weh, daß ich meinen jungen Lenz verträumt, 

In Labyrinthen pfadlos mich verfäumt, 

Indeß der Frühling blühte ! .. 
Und daß ich meinen Sommer nicht genofjen 
Und thöricht meine Sinne hielt verfchloffen, 
Indeß die Noje glühte ... 


In ſpät entfachter, bunter Herbſtespracht 
Iſt meine arme Seele aufgewacht, 

Nun, da die Nebel wallen ... 
Was ſoll mir jetzt das goldne Purpurlaub! 
Den Farbengluthen fehlt der Blüthenſtaub — 

Die Blätter fallen... 

Jenny Schnabl. 
$ 
g* 


128 . Die Zuhmft. 


Rothichild-Sombarden. 


Br ben legten Wochen ift wieder viel Druderjchwärze für Meldungen über 
die Oefterreichtfehe Südbahngeſellſchaft verbraucht worden. Zwei Millionen 
Kronen Betriebsverluft, Deckung der Obligationenzinfen aus der ohnehin ſchon 
geringen Obligationenreferve, Ernennung eines Qurators für alle vorhandenen 
Prioritäten, Vorſchläge zur Hinausfchiebung der Tilgung: Das ungefähr war 
ber Inhalt ber Nachrichten, die aus Wien Hier eintrafen. Daß die Obligationen- 
befißer darüber nicht gerade ſehr erfreut waren, iſt begreiflid; noch näher an 
die Haut ging die Sache aber den Aktionären. Die Ausſicht auf eine lange 
dividendenlofe Zeit ift Teinem Aktionär angenehm; ganz befonders ärgerlich 
mußte fie aber ben Sübbahnaftionären fein, die die Entwidelung fommen jahen 
und feit Jahren in allen Generalverfammlungen das Beſchreiten neuer Wege 
empfahlen, um dem drohenden Unheil zu entgehen. Jetzt endlich hat die Ber- 
waltung fi zur Unnahme eines Theiles diefer Vorjchläge bequemt. 

Wenn Ultionäre gegen Obligationenbefiger fämpfen, jo wendet bie 
Sympathie gemüthvoller Menſchen ſich meift den Obligationären zu. Der 
Aktionär ift Teilhaber des Unternehmens. In ben fetten Jahren ſieht er mit 
Verachtung auf die dummen foliden Leute herab, die fich begnügen, gegen lumpige 
Zinsverſprechungen ihm bie Gelder zu leihen, die nöthig find, um das Unter: 
nehmen zur Blüthe zu bringen. In fchlehten Jahren iſt der Aktionär ver- 
pflichtet, den Obligationenbefigern Tribut zu zahlen, denn fie find feine Gläu- 
biger, vor benen er, wenn er fie braucht, höflich den Hut ziehen muß. Aber 
wer denkt in den Jahren bed Glüdes und Glanzes an das traurige Ende? 
Kommt dann bie Schlechte Zeit, muß Jahr vor Jahr der Aktionär zufehen, wie 
feine Gläubiger, behaglich ſchmunzelnd, die Zinfen in die Tafchen fteden, jo tft 
er nur allzu leicht geneigt, jet plöglich mit Anſprüchen an bie Obligationen- 
befiger beranzutreten und von ihnen zu fordern, fie möchten, bamit er Dividende 
befommt, auf einen Xheil ihrer Rechte verzichten. Dieſe Neigung ift menfchlich, 
allzu menfhlid. Unfere Sympathie aber gehört den Leuten, bie fih in ben 
glänzenden Jahren mit dem niedrigen Binsfuß abfinden ließen, um fich dafür 
das Recht der Gläubiger zu fihern. Nur find folde Sympathien an gemiije 
Vorausfegungen gebunden. Den Juriſten ift jeder Vertrag heilig. Fiat justitia, 
pereat mundus. Doch der Laie denkt nicht in fo ftarren Sägen. Er fragt auch 
nach dem Inhalt und der Genefis der Verträge. Der Obligationär bat mühſam 
erjparte taufend Mark der Gejellichaft geborgt. Diefer Betrag, fo ward verjproden, 
ſoll ihm verzinft und nach Ablauf einer beftimmten Beit zurückbezahlt werben. 
Plöglich bietet man ihm nur die Hälfte, vielleiht gar noch einen niedrigeren 
Zinsfuß. Das empört und. So etwa lagen die Dinge bei ber Reorganiſatic 
der Hypothefenbanfen. Da war das Vertrauen ber Eleinften Sparer mißbrauc 
worden. Deshalb ftellt das Volksbewußtſein die Sanirung der Hypotheker 
banten in eine Reihe mit anderen groben Bertragsbrüchen der Tyinanzgeichichte 

Der Kampf zwiſchen Obligationären und Aktionären der Südbahn b 
ruht auf einer ganz anderen Vorausfegung. Die Bahngeſellſchaft tft von di 
Rothſchilds ausgemuchert worden. Das Obligationengejchäft gilt jonft mit Rec 
al3 jolid; doch bei der lombardiſchen Bahn wurde diefe Solidität immer nı. 


Rothſchild⸗Lombarden. 129 


vorgetäufcht. Charakteriftifch ift ſchon ber Spigname der Bahn; ihre Altien 
find unter dem Namen Lombarden ein allen Börfen Europas mohlbefanntes 
Spielpapier. Lombarden: fo nannte man, ihrer Herkunft nad), im Mittelalter 
die Wechsler, die auf den Meilen umberzogen. Bon ben einfachen Holzbänfen, 
auf denen te faßen, war ein weiter Weg zu burchmejlen, bis der Kunftbau des 
modernen Bankgefchäftes erreicht wurde. Diefe Lombarden, die auf ihre Weiſe 
ber Kultur dienten, waren Leute, die das Vertrauen ihrer Kunden felten mit 
nüßlicher Leiftung recdhtfertigten. DerName Lombardifche Bahn ftammt von Linien 
ber, die der Südbahn ſchon lange nicht mehr gehören. Als Oeſterreich noch 
über die Lombardei berrfchte, war das lombardiſche Schienenneß der Suüdbahn 
auch ein Wahrzeihen von Oeſterreichs Oberhoheit. Als dann aber die italies 
nifche die oſterreichiſche Herrichaft ablöfte, wurden bie lombardiſchen Streden 
an bie italienifche Negirung verlauft. Es ift wohl nur ein Zufall, daß gerade 
in diefen Jahren, von 1875 bis 1880, die Altien zum eriten Dial feine Dividende 
brachten. Bis dahin waren gang anjehnliche Dividenden vertheilt worden. Schon 
vorher aber war das Unheil gelät, das feitbem die Aktionäre fo oft ſchmerzlich 
ſpüren follten. Es gab 150 Millionen Gulden Altien. Das weiter nothwen⸗ 
dige Kapital wurde nad und nad dur Ausgabe von breipronzentigen Obli- 
gationen bejchafft. Ich weiß nicht, ob die Aktionäre in diefem niedrigen Zinsfuß 
einen Bortheil ſahen. Das würde der länbläufigen Anficht entfprecden. Selbit 
Miguel war ja ftolz darauf, daß er in den finanziell fchwierigften Zeiten drei— 
prozentige Anleihen aufzunehmen vermodte. Gerade das Beifpiel der lombar- 
difchen Bahn lehrt nber, daß billig verzinfte Anleihen mit ihrem niebrigen Aus— 
gabefurs einer Gefellichaft verhängnißvoll werben können und nur den Stapitaliften 
nüßen, die den Kursgewinn einftreichen. Die lombarbifche Bahn häufte im Lauf 
der jahre eine Obligationenichuld von über 900 Millionen Gulden, für bie 
fie in Wirklichkeit knapp 450 Millionen Gulden erhielt, weil im Durchſchnitt 
der Uebernahmekurs auf etwa 48 ftand. So mußte eine drüdende Laſt ent- 
ftehen. Ein Kapital von mehr als einer Milliarde Gulden war, dem Nennwert 
nad, in der Bahn inveftirt. Die Zinſen aber mußten von dem relativ kleinen 
Aktienkapital — 150 Millionen — aufgebracht werden. Es war aljo nöthig, 
für rund 450 Millionen Gulden eine jechsprozentige Berzinfung zu ſchaffen. 
Gewiß giebt e8 Bahnen, die das Anlagefapital viel höher verzinfen, namentlich 
ſolche, deren Linien durch reiche Tinduftriegebiete gehen. Aber im Allgemeinen 
ift bei Bahnen eine jechsprogentige Verzinfung nicht zu erreihen; am Wenigiten 
bei der Südbahn, deren weites Schienenneg viele unrentable Streden umfaßt. 
Noch ſchwerer als die Berzinfung war in diefem Fall der Tilgungmodus zu 
ertragen. Das Berſprechen, einen Betrag, der höher als der empfangene ift, 
zu verzinjen, Fann ohne allzu große Bejchwerde erfüllt werden, — wenn auch mit 
der Höhe der Schuldfumme natürlich die Laſt wächſt. Ganz anders liegen die 
Dinge aber, wenn man verpflichtet ijt, mehr, als man erhalten hat, zurüdzu- 
zahlen. Solche Bürde kann ſelbſt der rentabelfte Betrieb kaum tragen. Der 
Staat, der fi aus irgend einem Grunde genöthigt glaubt, billig verzinfte An— 
leihen zu niedrigem Kurs auszugeben, kann den Ausweg ber ewigen Renten: 
ſchuld wählen; dann ift er von der Rüdzahlungpflicht befreit. Wer aber die 
Ausgabe einer Bahnobligationenjchuld vermittelt, muß willen, daß die lombar- 


180 ‚Die Zukunft. 


diſche Methode die Geſellſchaft ins Verderben führt. Das war bie Schuld der 
Rothſchilds, deren Wucherjoch die Aktionäre abzuſchütteln fuchen. _ 

Als diefer Verſuch, zuerft von den deutſchen Altionären, unternommen 
wurde, empfing ihn in Oeſterreich höhnijches Gelächter. Die Herren der Süd- 
bahnverwaltung waren wohl nur an die ſchlaffe Oppofition ihrer weichmüthigen 
Landsleute gewöhnt und rechneten nicht mit norddeutfcher Zähigkeit. In Ham⸗ 
burg entitand ein Aktionärausſchuß, ber unter der Führung des Rechtsanwaltes 
Dr. ©, Heymann kräftig zu agitiren begann. Und nun wiederholte ſich "all- 
jährlih in den Maiverfammlungen der Südbahn das felbe Schaufpiel. Die 
deutſchen Aktionäre trugen ihre Pläne vor, begründeten fie ausführlihd, — und 
die Sübbahnherren wieſen alle Vorſchläge ab und beriefen ſich emphatiſch auf 
Recht und Billigfeit. Sind denn aber die Forderungen ber Aftonäre fo ungeheuer- 
U? Das von ihnen herbeigefchaffte Gutachten eines öſterreichiſchen Anwaltes 
beweift haarſcharf, daß von ber Verwaltung ben Obligationären freiwillig mande 
Konzeffionen gemacht wurden, auf bie fie Leinen unbebingten Unfpruch hatten, 
deren Rechtsgrundlage vielmehr höchſt zweifelhaft iſt; ich will zunächſt mir von 
denen reden, die fich auf Tilgung und Verzinfung beziehen. Die dreiprozentige 
Obligationenſchuld der Bahn war in Silber bezahlt worden, die Bahn aber 
zahlte auch in letzter Zeit, troß ben veränderten Werthverhältniffen, die Zinfen 
in Gold. Auch bei der Auslofung wurde der Gegenwerth ber ganzen Stüde 
in Gold bezahlt. Das Gutachten des Advokaten Dr. Weißhut läßt gewidhtige 
Zweifel barüber beftehen, ob die Geſellſchaft verpflicdtet war, in Gold zu zahlen. 
Die Südbahndirektion hat fich entfchieden geweigert, den Auszahlungmobuszu ändern; 
die Menderung, hieß es, tönne den Kredit der Gejellichaft gefährden. Diefem Argu- 
ment haben fich die Aktionäre gefügt. Sie wollen nur noch) die drüdende Tilgung- 
pflicht erleichtern. Aber auch bier dachten die deutichen Aktionäre nicht an einen 
Nechtsbrud. Weißhuts Gutachten zeigt, daß für eine ganze Reihe von Serien der 
dreiprozentigen Obligationen die Verpflichtung ber Auslofung zum Nennwerth 
nad einem feiten Plan gar nicht beiteht. Die Konzeffion der Südbahn Läuft 
1968 ab. Bis bahin müffen alle jegt umlaufenden Obligationen in Höhe von 
1,91 Milliarden Franes getilgt fein. Doch ift nicht etwa für die Tilgung der ganzen 
Summe ein einziger Schlußtermin vorgejehen. 82 Millionen müffen bis 1949, 
eine Milliarde bis 1954, etwa 800 Millionen bis 1968 getilgt fein. Natürlich 
. wäre ſchon viel gewonnen, wenn die Endfrift der Tilgung für die ganze Summe 
bi3 1968 hinausgeſchoben werden könnte. Das verlangen die Aktionäre. Und 
jie berufen fich darauf, daß ein Schade dadurch nicht entftehen könnte, weil an 
der Börfe die zu verjchiedener Zeit rüdzahlbaren Serien die felbe Kursnotiz 
haben. Das beweiit, wie wenig Werth das Sapitalijtenpublitum der früheren 
oder fpäteren Nüdzahlung beimißt. Ferner fordern die deutihen Aktion 
der Geſellſchaft folle erlaubt werden, einen Theil ihrer Obligationen durch R. 
fauf zum Tageskurs zu tilgen. Dadurch wäre bie Gejellihaft beträchtlich « 
lajtet, benn die dreiprozentigen Obligationen ftehen jet etwas unter 70. 7 
jede einzelne Obligation würbe der börſenmäßige Rückkauf aljo ein Erträg 
von rund 150 Franes — gegenüber der Auslofung zum Nennwerth — liefi 
Auch hier ſoll Niemandgeſchädigt, fein Hecht verlegt werben ; die wenigen Börfenlei 
die ihre Chligationentheurergefauft hatten, waren ja nicht zum Verkauf gezwung 





_ 


Rothſchild⸗Lombarden. 131 


Wer den Pariwerth erhalten will, muß eben bis zum Verloſungtermin warten. Auf 
Obligationäre, die zu niedrigemſturs gekauft hatten, war keineRtückſicht zu nehmen; und 
erſt recht nicht auf die erſten Beſitzer, bie ihre zum wucheriſchen Uebernahmepreis er» 
morbenen Obligationen noch liegen hatten. Allen Bernunftgründen wurde in 
den Generalverfammlungen ſtets mit nichtsfagenden Ausflüdhten begegnet und 
allen Warnungen zum Troß blieb die Verwaltung bei ihrem ruchlofen Opti- 
mismus. Jetzt plöglich ift fie zu Vorfchlägen genöthigt, die den früher abge: 
lehnten jehr ähnlich find. Mit einigen Abweichungen im Detatl werben bie 
Forderungen der deutſchen Aktionäre nun aud) von ber Verwaltung aufgenommen. 
Sie verfagte ihnen die Anerkennung, jo lange e3 fih nur um das Intereſſe der 
Aktionäre handelte, und fügte fih erſt, als die Obligationäre vor der Gefahr 
des Binsverluftes ftanden. Wäre die Sübbahnverwaltung nicht fo kurzfichtig 
gewejen, hätte fie fich jchon vor fünf Jahren zu Reformen entihloffen, dann 
hätten die Aftionäre allerdings vielleicht eine um 1 oder 2 Prozent höhere Die 
vidende befommen, die Beunrubigung der Obligationäre wäre aber vermieden 
worden, bie den Kredit der Geſellſchaft mehr geſchädigt hat, als irgend eine re- 
formirende Maßregel vermöchte. In ben Publikationen der Südbahn werben faſt 
wörtlich die Gründe ber Oppofition nach Weißhuts Gutachten angeführt. Haben 
bie weifen Herren. wirklich erſt jet eingefehen, daß diefe Gründe ftichhaltig find? 
Der lange Widerftand der Direktion ift — darüber täufcht fi) wohl 
Niemand — darauf zurüdzuführen, dab die Rothſchilds in Wien, Paris, Lon- 
don nicht Luft Batten, die Sünden ihrer Bäter an der Lombardenbahn gutzu⸗ 
maden; jie wollten die alte Beutepolitit weitertreiben.. Aus diefem Lager 
itammt auch ſicher der Satz, den ich in einem berliner Börfenblatt fand: „In 
den Verhandlungen, die im verfloffenen Herbſt zwijchen dem wiener Verwaltung⸗ 
rath der Südbahn und den Mitgliedern des parijer Kommitees in Paris ge 
pflogen wurden, ift die Vereinbarung getroffen worden, eine von ben deutjchen 
Altionären ſchon lange betriebene Auseinanderjegung mit den Brioritätenbefigern 
erit dann anzubahnen, wenn bie ziffernmäßigen Erträgnifle der Bilanz für das 
abgelaufene Geſchäftsjahr vorliegen und aus bdiefer Bilanz die unabweisliche 
Nothwendigkeit folder Schritte fich ergiebt.” Das heißt: wir haben bejchlofien, 
bis zur allerleßten Stunde, fo lange, wie es irgend möglich ijt, bie Kräfte der 
Geſellſchaft für die Obligationenbefiger anszunußen, mag dabei aud die Gefell- 
Ichaft zu Grunde gehen. So lange nur die leijefte Hoffnung auf vollen Zins 
genuß der Obligationäre blieb, fträubte manfich mit Händen und Füßen gegen jede Re⸗ 
form. In dem Bericht des erwähnten Börjenblattes, das ein vielleicht ahnungloſer 
Schmock von Wienaus bedient, ftehtabernod) Schöneres. Zunächſt wird verjichert, die 
Transaktion feinatürlich im vollſten Einverjtändniß mit den wiener und parijer Häu— 
ern Rothſchild erfolgt. Dann aber heißtes: „Doch mag bei diefem Anlaß den mider- 
migen Unterftellungen entgegentreten werden, daß das Haus Rothſchild wegen 
ies Prioritätenbeſitzes die Intereſſen der Aktionäre denen der Prioritätenbes 
iger hintanſetzt. In dieſer Beziehurg ift Ihr Korrejpondent von maßgeben- 
? Stelle autorijiert, mitzutheilen, daß ſeit Jahren ber Beſitz ber beiden Häuſer 
sthihild an Obligationen der Südbahn ein ganz geringer ift, während die 
iden Welthäufer allerdings einen jehr bedeutenden Aftienbefig in jich ver- 
“en, durch den fich kaum wieder einbringliche Verlufte von vielen Millionen 


— 





182 Die Zukunft. 


ergeben. Ich kann natürlich feine pofitiven Angaben über den Prioritätenbefig 
ber Herren Rotbfchild machen, da ich leider zu ihnen gar feine perſonlichen Be- 
ztehungen Habe. Ich kann auch nicht für bie Richtigkeit der Darftellimg bürgen, 
die ein freundlicher Zufall mir zugetragen bat. Danach hat das Geſchick der 
breiprozentigen Sübbahnobligationen ben inhalt einer Tragifomoedie im Haufe 
Rothſchild geliefert. Zur Ausftener einiger Töchter aus diefem Haus Hatten 
starte Voften öſterreichiſcher Südbahnobligationen gehört und jede Binsverfürzung 
könnte recht böfen Yamilienzwift herbeiführen. Das mag eine der vielen Le- 
genden fein, bie wiener Phantafie erfonnen hat, meinetwegen auch ein jchlechter 
Wit. Die Methode aber, die von den Rothſchilds und ihrer Preſſe angewandt 
wirb, verdient Beachtung. Der Aktienbefi der Familie Rothſchild ſoll Millionen 
betragen. Das glaube ich; auch, dab auf diejen Aktien vielleicht Berlufte ruhen, 
deren Höhe minder bemittelte Qeute in den Konkurs treiben könnte. Die Frage 
ift nur, ob es fi Bier nit am Ende un Berlufte Handelt, die man durch Ge- 
winne auf der anderen Seite, namentlich bei der Verzinſung und Tilgung der 
Obligationen, wieder einzubringen hofft. So ober Ahnlid muß es fein; fonft 
wäre der Verlauf der bisherigen Generalverfammlungen, die ganz unter Roth: 
ſchilds Einfluß ftehen, überhaupt nicht zu begreifen. Dan braucht übrigens 
nur einen Blick auf die Statuten der Sübbahn zu werfen, um das Streben zu 
merfen, den Aktionären alle Rechte zu verfümmern. Erft der Befig von vierzig 
Aktien gewährt das Recht auf eine Stimme. Niemand darf mehr als höchſtens 
zehn Stimmen für ſich und zehn Stimmen mit Vollmacht vertreten. Nur 
Aktionäre dürfen _ bie Vertretung frember Wltien übernehmen. Diefe Beitim- 
mungen haben das Gros der Aktionäre völlig ausgeſchloſſen und den Rothſchilds 
und deren Strohmännern alle Macht gefihert. Thatſächlich ift man von je ber 
übel mit den Aktionären umgegangen. Wegen einer geringfügigen Konzeffton? 
verlängerung bat man bie fünfprogentige Dividendengarantie in die Garantie 
eines Bruttoerträgnifles umgewandelt. Und 1899 Hat die Generalverfammlung 
befchlojjen, die bis dahin beftehende Pariausloſung für die Aktien zu juspen- 
diren; dieſer Beihluß brachte die Aktien um ihre legten Chancen. Wer fol 
denn glauben, eine unbeeinflußte Generalverfammlung, die wirklich nur Aktionär 
interefjen vertritt, könne ſolche Beſchlüſſe fallen? Nein: im Berwaltungrath 
figen Leute, die Rothſchild am Draht lenkt, und die Generalverfammlungen 
find von Rothſchild injzenirte Komoedien. Der Betriebsleiter, Herr Eger in 
Wien, trägt zwar den Titel eines Generalbireftors, hat aber nach den Statut gar 
nichts zu jagen. Der Berwaltungrath herrſcht und der Berwaltungrath tft Rothſchild. 

Aud im Gefchäftsleben ift Macht des Rechtes Schöpferin. Wenn aljo 
die Rothſchilds eine durch ihre Fyinanzpolitif an den Rand des Abgrundes ge 
brachte Geſellſchaft noch weiter ausbeuten wollen, ſo wird ſchwerlich Jemand fie 
hindern können. Nur jollen fie uns dann wenigftens mit ihren ethifchen Redens 
arten verfchonen und uns nicht vorjammern, wie viel-fie an den Lombarden 
aftien verloren haben. Der Egoift, der den Muth jeiner Skrupelloſigkeit hat, ij 
zu ertragen; jentimentale Wucherer aber find kaum noch in Melodramen möglich. 


Plutus. 





Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: M. Harden in Berlin. — Verlag ber Zutunft in Berlir 
Drud von Albert Damcke in Berlin &chöneberg. 


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3 S 


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Berlin, den 26. April 1902. 
—ñ—— 





Ilja von Murom. 


urch die Bylinen, die Vollsepen der Moskowiter, ſchreitet mit ſchwerem 
Tritt ein frommer Held, dem im Rieſenkörper das Herz eines Kindes 


ſchlägt: Ilja aus Murom, eines Bauern Sohn. Dreißig Jahre lang ſaßer ge⸗ 


lãhmt auf einem Fleck und die Eltern fürchteten ſchon, ihr großer, ungeſchlachter 
Junge werde Arme und Beine nie mehr rühren lernen. Eines Tages aber, 


da er allein in der Hütte war, klopften zween Pilger, baten um Einlaß und 


riethen ihm, der ſich auf die Lähmung der Hände und Füße berief, ruhigen 
Muthes nur aufzuſtehen und ihnen das Thürchen zu öffnen. Er tuts, wird 
von den Pilgern mit Wein gelabt und ift von diefer Stunde an der ſtarke 
Mann, dem die Gewaltigften nicht widerftehen können. Selbſt ſchmiedet er 
fich die Waffen, badet nächtens fein plumpes Bauernfüllen im Thau, daßes 
eines Ritters würdiges Streitroß werde, und zieht, mit der Eltern Segen, der 
Häufer bauet, dann hinaus in die weite Welt. Des Landes Bedränger 
wirft er in den Staub, Räuber und böfe Rieſen, ſchlägt ein Tatarenheer 
in die Flucht und wird der Schüter der Schwachen. Kronen und Schätze 
und jchöner Frauen Gunft verſchmäht er, der nicht Macht noch Genuß 
fucht, fondern im Dienft des gequälten Volkes hriftlich handelt und wandelt. 
So ofter die Erde berührt, wächſt feine Kraft; und faft vierhundert Jahre 
währt ſchon jein Leben, als Engel ihn vom Noß heben und nad) Kiew ins 
Höpfenklofter tragen, auf daß er an Heiliger Stätte fterbe. Lange wurde den 
Neifenden dort fein Grabgezeigt. Im Lied aber Iebt noch heuteder nationale 
10 





134 Die Zuhuft. 


Held, den nicht Hang zu Abenteuern, nicht Rachſucht nod) Muchtbegier aus 
der Enge trieb. Alte und neue Dichter haben ihn als den Mythengenius des 
ruſſiſchen Volfes verherrlicht, das nicht zu bejiegen fei, wenn es zur rechten 
Stunde widerdie Herrſchaft der Bosheit aufiteheund dem Gebot desChriften- 
gottes gehorche. Und immer, wenn im finiteren Ruffenreich der Drud mer⸗ 
träglich wurde und gebundene Kräfte die Eiſenketten zu fprengen drohten, 
bujchte ein Flüſtern über die ſchwarze Erde, ein angftnolles Hoffen: Iſt 
Ilja, der Muromer, von der Lähmung erlöft und wird er die ungelenten 
Rieſenglieder endlicd) nun, endlich zur Befreierthat regen ? 

Wieder geht, feitaus den Hauptftädten ſchlimme Kunde in die Dörfer 
drang, die alte, oft in fternlofe Naͤchte geſeufzte Frage durch das Land. Oben, 
in der dünnen Schicht der ©ebildeten, gährt e8; und die afademijche Jugend 
Icheint zum äußerſten Wagniß entjchloffen. Vor einem Jahr wurde der Chef 
ber Unterrichtsverwaltung von einem Studenten getötet; und jegt iſt Sjip- 
jagin, der Miniſter des Inneren, von einem Studenten ermordet worden. 
Zwiſchen den beiden Thaten liegen Studententrawalle und Straßenfämpfe. 
Man hat die jungen Leute niedergeſchoſſen, nach Sibirien verſchickt, ausge⸗ 
peiticht und unter die Soldaten geftedt: nichts hat geholfen. Schon wird 
in Europa von dem nahen Ausbruch) einer ruſſiſchen Revolution geſprochen 
und der Weiße Zar beſchworen, ehe es zu ſpät wird, fein Selbftherrfcher- 
recht zu opfern; er fei jung, offenbar guten Willen! und könne die Nothwen⸗ 
digkeit liberaler Reformen nicht länger verlennen. Was er thun foll, ward 
ihm bisher nicht gefagt. Einem Bolfvon hundert Millionen Analphabeten, das 
auf einem Gebiet von mindefteng zweiundzwanzig Millionen Quadratfilo: 
metern lebt, eine Berfaffung nach europäifchem Muſter geben ? Zwei Jahr⸗ 
zehnte find vergangen, feit Nikolais Großvater auf denn Wege zu diefem Ziel 
den eriten Schritt that. Am dreizehnten März 1881 — alten Stils — 
hatte Alerander der Zweite, bevor cr zur Parade fuhr, dem von ihm zum 
Minister des Innern ernannten General Loris Melikow befohlen, im Re— 
girungboten am nächſten Morgen den Ufas zu veröffentlichen, der die Ver: 
treter der Provinzialftände und der Stadtgemeinden zu einer Nepräfentan: 
tenverfammilung in die Hauptftadt rief. Während der Erlaß, der zwar feine 
Verfaſſung, doc) den Beginn eines politischen Lebens brachte, in der Reichs: 
druckerei gejeßt wurde, warfen Kibaltichifch und Sofie Perowskij am Katha⸗ 
rinenfanal ihre Bomben und der Zar wurde fterbend ing Winterpalais ge: 
bracht. Loris Melikow ließ nachmittags dentrauernden Sohn des Gemorde⸗ 
ten fragen, ob der Ukas erſcheinen ſolle; gewiß, war die Antwort: gleich morger 


Ilja von Murom. 135 


ſoll das Volkdas Teſtament meines Vaters leſen. Mitten in der Nacht kam der 
Gegenbefehl: die Veröffentlichung ſei aufzuſchieben. Ein paar Tage ſpäter 
war Katlow in Petersburg und Alerander der Dritte erklärte in feinem erften 
Erlaß, er werde die Autofratie, der Rußlands Größe zu danken fei, unge- 
ſchmälert auch ferner wahren. Diefes Gelübde des Vaters hat der Sohn er- 
nent. Er könnte, nad) der Ermordung Carnot3, Umbertos, Mac Kinleys, 
fragen, ob der Mobdeparlamentarismus denn ein ſpezifiſches Mittel gegen 
Attentate fei, und die aufdringlichen Mahner an Goethe weijen, der gejagt 
hat: „Für eine Nation ift nur Das gut, was aus ihrem eigenen Kern und 
ihrem eigenen allgemeinen Bedürfnig hervorgegangen ift, ohne Nachäffung 
einer anderen. Denn was dem einen Volk aufeiner gewiſſen Altersftufe eine 
wohlthätige Nahrung fein kann, erweift fich für ein anderes vielleicht als ein 
Gift.” Eine Konftitution ift in Rußland nicht nur unmöglid): fie wird von 
der Maſſe der Muſhiks auch gar nicht erfehnt. Heute nod) find die Worte 
aus der Denkſchrift Karamſins wahr, die der Ausgangspunft der jlavo- 
philen Bewegung wurde, und jeder gemijjenhafte Würdenträger im Zaren⸗ 
reich muß die Warnung beherzigen, Fünftlic) im Yande des Palaeologen- 
adlers Bedürfniffe zu fchaffen, die der befte Wille nicht befriedigen kann. 
Die Gcbildeten, die Europas Kultur beledt hat, haben dieſer Mah— 
nung nie gelauſcht. Auf dem Thron der alten Khane vertrat fie der erfte 
Alerander, der befanntefte Typus des gebildeten Ruſſen: weich und dennoch 
brutal, eifrig im Erjinnen ausgreifender Pläne und jchlaff in der Ausfüh— 
rung, eigenfinnig und doch leicht beftimmbar, wie alle Dienjchen, die ihres 
Wollens Ziel niemals Har vor fich fahen. Wer weiß, was aus Rußland ges 
worden wäre, wenn Speransfijs genialifcher Sprudelgeift länger den fchwan- 
fenden Sinn des Kaiſers gelenft hätte, der Laharpes Schüler bleiben und der 
Fran von Krüdener doch die Treue halten wollte? Ohne Karamſins rauhen 
Eingriff, der neue gefährliche Proben hinderte, hätten die Defabrijten viel- 
Teicht mehr Anhang gefunden. Yange blieb auf der Oberfläche dann Alles 
rubig. Nikolaus herrfchte, ein Ruſſe vom alten Schlag, ein Mann ohne 
Kerven, ohne flatternde Phantajie, doch unbeugſamen Willens, der nie weit 
orausſchaute, das nächſte Ziel aber deutlich erkannte. Schon regte ſichs 
iberall in Europa; Rußland nur fchien nod) zu jchlafen. Wie in den nor- 
diſchen Flüſſen unter der diefen Eisfrufte aber das Leben aud) im tiefiten 
Winter fortjtrömt, fo zuckte es unter dernifelaitiichen Uniform aud) durd) die 
Mfieber bes Riefenreiches. Sacht wurden neue Gedanfen, neue Zwangsvor⸗ 
»llungen im Dunfel über die Grenze gefchmuggelt. Das war die Zeit, wo 
10* 


136 Die Zukunft. 


der Student ing politische Reben trat. Puſchkin hat Einen aus diefer Schaar 
geichildert: Wladimir Lenskij, Onjegins Freund, den fchönen SYüngling mit 
den langen Locken und der Göttingerfeele, der im deutjchen Nebellande die 
Freiheit lieben und Kant bewundern gelernt hat. Diefer Lenskij ift noch um« 
gefährlich, ein Enthufiaft, der ſich an Schillers Dichtung beraufchte und 
den Ehrgeiz des Poeten heimmärts trägt. Nach ihm aber kommen Andere, 
beren Leidenschaft fich nicht in Gedichte Löft. Die Werke von Hegel und Feuer⸗ 
bad, Proudhon, Fourier, Saint-Simon werben eingefchleppt, die jungen 
Leute fangen an, die Nationalöfonomie des Weftens zu ftudiren, das Ge⸗ 
ſchlecht reift, da8 Turgenjews Novellen die Helden gab. Bazarom fieht 
anders aus als Lenskij. Er liebt nicht, ſchwärmt und bewundert nicht; feiner 
Autorität beugt er fid), fein Dogma, kein Sittengefet ift ihm Heilig. Staat, 
Bolf, Religion? Nitshewo. Alles Unfinn. Alles muß anders werben. 
Das neue Evangelium hatte gewirkt. Der demofratifche Sozialismus wurde 
bier, wo er einem Herzensbedärfnig und dem Trieb der Raſſe entfprach, mit 
heißerer Inbrunſt aufgenommen als in Europa. Bjelinskij wurde zum un- 
erbittlichen Kritiker des Hiftorifch gewordenen Rechtszuſtandes, Herzens 
„Glocke“ Läutete mit weithin fhwingendem Ton durd) das Yand, Bakunin 
predigte die Propaganda der That und pries, als commis voyageur der 
Revolution, die Zerſtörerwuth als eine Schöpfermacht. Die ganze gebildete 
Jugend war mit den Empörern. Natürlich: fie jah ein geiftig Hilflofcs, in 
wirthfchaftlicher Noth verfümmerndes Volk, fühlte den furdhtbaren Drud 
einer unbarmberzigen Theofratie auf fich laften und wähnte, nur der Re- 
girenden böfer Wille halte das Reich in den Lähmenden Banden der Knecht: 
Schaft zurüd... Dem verhaften Zarismus wurde damals der nahe Zu- 
ſammenbruch prophezeit. Aber der Rieſe aus Murom rührte fich nicht. 
Wie oft hat ſich im Lauf der ruffifchen Gefchichte dieſes Schaufpiel 
wiederholt! Das Land, das drei Kahrhunderte lang das Zatarenjoch trug 
und deſſen Mittelalter noch fortwährte, als in Preußen das Frigenregiment 
zu Ende ging, Sollte mehr als einmal fchon von einem zum anderen Tage 
mit Europäcrtündhe geftrichen werden. Die Schlimmiften Folgen hatte Peters 
hajtiger Verſuch, mit afiatifchen Deitteln — nad) Koſtomarows den Kern 
treffendem Wort — fein Reich zu europäiſiren. Dieſem Selbjtherrjcher, den 
man nicht unter die großen Negenten rechnen follte, fehlte jedes intime Ber: 
ftändniß für die Lebensbedingungen ſeines Volkes; er glaubte, die Mobernis 
firung werde vollendet fein, wenn er das halb priefterliche Gewand feiner 
Ahnen mit einem bunten Militärrod und den biblifchen Barentitel mit dem 


la von Murom. 137 


Namen eines Kaiſers vertaufche, den Männern den Kaftan, den Frauen 
den Schleier verbiete und dem Land eine neue Hauptitadt aus den Süm- 
pfen zaubere. Bon tatariichen und byzantinischen Traditionen hat er das 
Reich befreit, doch es im Innerſten gejchwächt und den Keim des gefähr- 
lichſten Dualismus in die ruhig hindämmernde ſlaviſche Seele geſenkt. Jo⸗ 
ſeph de Maiftre hat diefen verhängnißvollen Fehler richtig erlannt, als er 
an einen ruſſiſchen Freund fehrieb: Pierre vous a mis avec l’etranger 
dans une fausse position. Nec tecum possum vivere nec sine te: 
c’est votre devise. Noch heute ift die Nachwirkung diejes glänzenden Irr⸗ 
thums zu fpüren. Dem gebildeten Ruſſen bringt.jeder Tag unbequeme Be- 
läftigung. Die Zeitungen werden gefchwärzt, verdächtige Bücher von will⸗ 
fürlich jchaltenden Genforen dem Käufer vorenthalten. Jedes unbedachte 
Wort, jede Denunziation eines Feindes kann zu adminiftrativer Maßregel⸗ 
ung führen. Und nirgends, fo weit man das Auge fchickt, das Frühroth 
hellcrer Zeit. Selbſt die Sapadniki, die Bewunderer weftlichen Weſens, wiſſen 
keine ausreichende Antwort auf die Frage, was denn geſchehen ſolle. Sie 
ſchämen ſich vor Europas ſpöttiſchem Blick, — aber das Land iſt zu groß, 
die Bedürfniſſe der Maſſe find von denen der ſchmalen Oberſchicht zu ver- 
ſchieden, als daß man hoffen dürfte, eine Allen genügende Wandlung zu er- 
leben. Der Zuſtand wäre unerträglich, wenn das nationale Temperament ihn 
nicht ertragen hülfe. Der Ruſſe ift reich ann Ideen undeinbildnerifcher Kraft, 
aber fein müder Wille rüftet jich felten zur That; er nimmt fich viel vor 
und führt wenig aus, taumelt von tieffter Melancholie in dionyſiſche Luft 
und vergißt morgen, was er heute fein Lebensziel nennt. Er jchätt den 
Werth de8 Dafeins fo gering, ift fo gewöhnt, im Rauſch der Sinne oder 
des Intellektes um Kopf und Kragen zu ſpielen, daß der Gedanke an den 
Zod ihn kaum noch ſchreckt. Kein Anderer, fagt Anatole Leroy-Beaulien 
in feinem Buch über das Zarenreich, weiß zu leiden und zu fterben wie 
der Ruſſe; dans son tranquille courage devant la souffrance et 
ja mort il y a de la resignation de l’animal blesse ou de l'Indien 
captif, mais relevee par une sereine conviction religieuse. 


-Daber die Fülle der jungen Menſchen, denen die Wimper nicht zuct, 


während fie dem Henker entgegenjchreiten. Rußland ift Falter Orient. 
Das Gehirn diefer Menschen arbeitet nicht fo ruhig und pünktlich wie das 
wohltemperirter Europäer. Ein Fünkchen, ein über Nacht hereinbrecjender 
ruſſiſcher Frühling, der den eben noch ſtarren Boden mit Blumen beſtickt: 
und Jünglinge und Mädchen werfen Alles weg, was ihnen das Leben bisher 


. 1 


138 ‚Die Zukunft. 


jhmücdte, rennen ins Klofter oder ins Lazareth, fchneiden ſich die Pulsadern 
auf oder morden einen Diinifter, werden Bauern oder Straßenfänger, Sama- 
riterinnen oder Broftituirte. Warum? Aus Verzweiflung, aus Alltagsefel, 
in elſtatiſcher Sehnfucht nach unbelannten Wonnen, und wären es die ſchmäh⸗ 
lichfter Erniedrigung ... Nietzſches Piychologengenie hat in Doſtojewskijs 
Werk die Achnlichkeit mit der Tabilen Welt ber Evangelien gefühlt. 

Der Herr aller Reußen mag oft jet des Wortes denken, das Puſchkin 
den Ujurpator Boris Godunow Sprechen Tieß: Schwer drückt die Krone des 
Monomahos! Nikolai Alerandrowitich ift vor die Aufgabe geitelit, ein 
Millionenvolf zu Selbftändigfeit und geiftiger Reife zu erziehen. Er möchte 
helfen und muß auf Schritt und Tritt doc; die Ohnmacht des Autofraten 
empfinden. Ein Jahr ift vergangen, feit er den alten General Wannowskij 
zum UnterrichtSminifter ernannte und ihm auftrug, das ganze Schulweſen 
im Sinn liebevoller Fürforge zu reformiren. Die Jugend hat fi) der guten 
Abſicht nicht dankbar gezeigt; zu hart ift der Druc der Ketten, zu eindring⸗ 
lich mahnt der in die Ferne ſchweifende Bid, den Kampf für die Befreiung 
der Geiſter zu wagen. Die revolutionäre Wuth der Akademiker wird, wie fo oft 
ſchon, nad) kurzem Auffladern wieder verglimmen. Unten aber Hungert das 
Bolf, hungert und ſtöhnt undkann Die Glieder nicht regen. Das iſt die Gefahr. 
Der Europäerhochmuth, der ſeinen engen Verhältniſſen die Norm für fremde 
Kulturen entlehnt, vergißt immer wieder, daß Rußland ein von der Wurzel 
unlösbarer Iſlam iſt, der ſeine Zukunft in Aſien zu ſuchen hat und dem der 
modiſche Firniß nicht nützen kann. Die winzige Minderheit, die nad) poli⸗ 
tiſcher Freiheit langt, iſt heute noch leicht zu bändigen und gegen ſie würden, 
auf Batjuſhkas Ruf, die Bauern in Schaaren aufſtehen. Doch dieſe aſiatiſche 
Großmacht braucht Geld, braucht, um endlich die ungeheuren Bodenſchätze 
zu heben, eine Induſtrie, der die Technik Entbinderdienſt leiſten muß. Dieſe 
Revolution iſt zu fürchten, ſie ganz allein. Wenn die Wiſſenſchaft ſich dem 


von der Scholle geriſſenen, in Stadthöhlen gepferchten Muſhik verbündet, 


ihm von Menſchenrechten ſpricht und die kommuniſtiſchen Inſtinkte der Raſſe 
aufſtachelt, kann der Palaeologenthron leicht ins Wanken gerathen. N " 
ſitzt, ob es im Dachgebälk auch ſchon kniſtert, IjIja aus Murom regungu 
auf feinem Pla, ein gelähmter, zum Kampf unfähiger Riefe. Nicht der Bil, 
Bitte wird ihn diesinal erlöfen ; aber die Stunde wird kommen, wo die Ne 
ihn aus der morſchen Hütte in die Fabrik treibt. Und dann wird ber täppii 
Held jchnell das Gehen und des Waffenichmieds Handwerk lernen. 


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Entwidelungftufen. | 189 


| Entwidelungftufen. 


ab ich den im vorlegten Heft abgeſchloſſenen Hiftorifchen Ausführungen noch 
einige methodologilche Worte hinzufügen? ch glaube, daß ich meine ers 
fenntnigtheoretifche Mauſerungzeit hinter mir habe, — wenn folche Zeiten nicht 
etwa den Charakter der Periodizität aufweifen. Wie Dem nun auch fei: mein 
Freund Breyfig ift jest augenfcheinlich in einem Entwidelungmoment begriffen, 
in dem er das lebhafte Bedurfniß der Erörterung gefchichtlich: methodologifcher 
Kontroverjen hat und auch öffentlich zur Geltung bringt. Das ift fein 
gutes Recht und ich bin der Letzte, e8 nicht anzuerkennen; folgen aber möchte 
ih ihm auf feine wieberhoft gegebene Anregung hin doch nur bis zu ber 
Grenze, daß ich feinen Ansführungen in diefer Zeitfchrift gegenüber hier 
einige Säge zufammenftelle, die mir das Ergebniß langer Erfahrung find. 

Das Beflreben, gejchichtliche Thatſachen und Thatfachenreihen zu ver- 
gleichen, ift fo alt wie das Beitreben, den gefchichtlichen Verlauf überhaupt 
wiſſenſchaftlich zu erfaſſen: beide Berfuche find im Grunde identifh und 
reichen bis im bie erfte Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts zurüd. Seitdem 
beginnt ein neues Zeitalter oder vielmehr das Zeitaltet ber Geſchichtforſchung; 
und die Unterfchiede jind bis auf den heutigen Tage nur gradmäßig, fo ſehr 
jie, von dem Standpunkte eines engeren Zeitabjchnittes aus betrachtet, als 
abſolut empfunden werden mögen. 

Im Berlauf diefer vergleichenden Beitrebungen tritt nun ber Gebante, 
die Entwidelungsgänge der einzelnen Völker an fich, alfo abgefehen von ihrer 
Stellung in dem Beitablauf der abfoluten Chronologie, in ihren gegenfeitigen 
Verlaufsſtufen zu parallelifiren, jhon früh auf. Der Moment diejer Auf- 
faſſung ift gegeben, fobald die Verfuche der Fdentitätphilofophie aufhören, 
den Gang der menfchlichen Geſchicke als einen in ſich ftetig fortentwidelten, 
ohne Unterbredung höhere Stufen erreichenden zu begreifen. Wer dann 
zum erjten Mal ein griechifches Meittelalter mit einem germanifch-romanifchen, 
eine Neuzeit des römischen Kaiſerthumes mit der Neuzeit der modernen 
Sahrhunderte verglichen hat: ich weiß es nicht. Perſönlich ift mir erinnerlid), 
daß jich Roſcher diefer Vergleiche in feinen Vorlefungen der zweiten Hälfte 
der fiebenziger Jahre als eines gewöhnlichen Darftellungmittel$ bediente. 

Handelt es ji) hier um die Vergleihung von Zeitaltern als Ganzes, 

ft die im engeren Sinn fo genannte vergleichende Gejchichte andere Wege 
gen. Bekanntlich) wird ſeit Beginn de3 neunzchnten Jahrhunderts die 
"farbeitung des ungeheuren Etuffe3 der gejchichtlichen Ueberlieferung immer 
br geiheilt: an die damals vorhandenen praftifchen geifteswiffenfchaftlichen 
'ziplinen der Theologie und Jurisprudenz hatten ſich fchon längit Kirchen- 
tichte und Rechte: und Verfaſſungsgeſchichte angeichlofien; darauf famen 


140 J Die Buhmft. 
in buntem Reigen Literatur- und Kunſtgeſchichte, Wirthſchaft⸗ und Literatur⸗ 
geſchichte u. ſ. w. Dieſe Entwickelung hat ihre großen Vortheile gehabt und 
hat ſie noch; daß ſie volle Erfolge nur erreichen kann, wenn die Theilung 


durch eine rationelle Arbeitvereinigung ergänzt wird, ſieht heute erſt eine 


Minderzahl der Forſcher ein. Einſtweilen alſo beſtand und blühte die Theil- 
forſchung. Und in ihrem Bereich wurde man nun vergleichend: es entſtand eine 


vergleichende Verfaſſung⸗ und Rechtsgeſchichte, eine vergleichende Religion⸗ 


geichichte, eine vergleichende Literaturgeſchichte u. |. w. 

Die Frage ift, was damit geivonnen war. 

Mit Nugen vergleichen kann man nur einfache Erfeheinungen; bei 
tomplexen Erſcheinungen ftehen die identifchen Momente neben nicht identi⸗ 
chen; und fo liefert die Vergleichung wohl vage Analogien, aber feine wiſſen⸗ 
ſchaftlich Haren und brauchbaren Ergebniffe. Iſt die Vergleihung ein Moment 
des induftiven Schluffes, fo muß zu der Jnuduktion die Abftraftion, die 
Iſolirung kommen, fol fie wirklich fördern. in Beifpiel; und eins ber 
einfchneidenditen. Im fechzehnten Jahrhundert, als Neigungen wirklich eigenen 
wiffenfchaftlihen Denkens, nicht nur das gelehrte Beftreben, die antile Tra⸗ 
dition weiter zu überliefern, bei den europäifchen Völkern erwachten, trat ſofort 
das Bedürfniß auf, die natürliche Welt der Erfahrungen einheitlich zu ver> 
ftehen. Wie faßte man die Aufgabe an? Man fuchte das Fdentifche in der 
Summe der Einzelerfcheinungen und man fand die Kraft. Gewiß ein ſchon 
recht hochftehendes Vergleihungrefultat. Aber half es wifjenfchaftlich weiter ? 
Die Ergebnifje waren, wie ich zeigte, die naturphilofophifchen Pantheismen 
eine3 Telefio und Giordano Bruno, eines Weigelt und Boehme und die natur= 
wiffenfchaftliche Methode eines Theophraftus Bombaftus Paracelſus. Geblieben 
ift und aus der ganzen Bewegung als dauernditer Niederfchlag bis heute 
nur das Wort Bombaft. Aber auf die Alles auf einmal umarmenden Enthu⸗ 
jiaften folgten Stevinus und Galilei: fie gingen auf die Elemente, die 
den fompleren Naturerfcheinungen zu Grunde lagen, und die Lehre von der 
ſchiefen Ebene und die Fallgefege forcirten den Eingang zur modernen Mechanik, 
Phyit, Naturwiſſenſchaft überhaupt. 

Das Beifpiel giebt gegenüber den Alles vergleichenden einzelnen Gefdidt: 
disziplinen zu denfen. Wie follen bei der Bergleichung fo fomplerer Erfcheinungen, 
wie es jede Religion, auch die niedrigfte, und jeder Staat, auch der elendej 
find, einfache Ergebniffe herausfpringen? Nur vage, oft gewiß fehr gei 
reiche Analogien’ werden zu Tage gefördert. Und das Selbe gilt von ven 
gleichender Riteraturgefchichte und einigen verwandten Disziplinen: der Kultu 
ausfchnitt, den fie als Objekt haben, ift in feinen Berurfachungen un 
Motivirungen viel zu verwidelt, als daß ein Vergleih vom Ganzen her 
wirklich genügende Ergebnifje liefern könnte. 





— — — —— 


Entwidelungitufen. 


Den Elementen muß fich die vergleichende Geſchichtwiſſenſchaft zumenden, 
will fie Erfolge jeher. Den Elementen, wie fie in den einfachſten pſycho⸗ 
logiſch⸗ gefchichtlichen Thatfachen, der Anfchaunng, dem Begriff, dem Trieb 
zur Erhaltung und der Förderung der Lebensluſt u. f. w. gegeben find. 

Auf der Unterfuchung der gefchichtlichen Entwidelung diefer Elemente 
ift meine Deutjche Gefhichte von Anbeginn — Das heißt: feit den aus: 
gehenden jiebenziger Jahren — aufgebaut worden. Der Frage zugewandt, in= 
wiefern fi die Entwidelung der angegebenen Elemente induftiv werde auf: 
finden Tafjen, begriff ich jehr bald, Das werde nur in der Durcharbeitung 
der bijtorifchen Weberlieferung einer ganzen Nationalgefhichte möglich fein 
und hierfür biete die deutfche Gejchichte bei ihrer überaus weit zurüdreichenden 
Heberlieferung beſonders günftige Ausfichten. Und ſchon früh habe ich aud) 
induktiv die Stufen diefer elementaren ſozialpſychiſchen Entwidelungen ge: 
funden: bereit3 der erite Band meiner Deutfchen Gefchichte (1891) fpricht 
völlig Kar und unzweideutig von einem ſymboliſchen, typischen, konventionellen, 
individualiftifhen und fubjektiviftifchen Zeitalter und theilt nach ihnen den 
ganzen Berlanf der Entwidelung ein. 

Man fieht aus dem bisher Erzählten, daß «8 in ber ganzen Intention 
dieſer Vorgänge von vorn herein beichlofien war, Entwidelungftufen bes 
Seelenlebens aufzufinden, die jeder großen menfchlichen Gemeinfchaft, jeder 
Nation gemeinfam waren. Ganz etwas Anderes aber war die Frage, wann 
es möglich fein würde, für bdiefes Problem den induftiven Nachweis einer 
günftigen, bejahenden Löſung zu führen. Ich jedenfalls habe die für die Ge— 
ſchichte des deutſchen Seelenlebens gefundenen Entwidelungftufen nicht als 
allgemeine hinſtellen wollen, ehe ich dafür nicht den abfolut ſicheren Beweis 
in der Hand hatte: und fo verhielt ich mich zu dem Problem, inwiefern 
etwa die in ber deutfchen Geſchichte gefundenen piychifchen Entwidelungftufen 
allgemein giltig feien, nach außen hin in der Hauptjache indifferent. 

Aber innerlich und in zunächſt privaten Studien hat es mich fortwährend 
beichäftigt. Und da ergaben ſich für die Löſung Schwierigkeiten, die in der 
Hauptfache denn doch nicht blos in der richtigen Stollenführung hinein in 
die enormen Stoffmaffen der gefchichtlichen Ueberlieferung begründet Tagen. 
Enthielt denn die deutsche Gefchichte alle Entwidelungftufen? Bekanntlich 
"richt fie, wenn fie auch in hohes Altertum Hinaufführt, doch ſchon in den 
‚iten ber relativ weit entwidelten Kultur der caefarifchen und taciteifchen 
Beriode ab. Was lag vor ihr? Die Antwort auf diefe Frage konnte in der 
Öefchichte feines anderen fogenannten Kulturvolfes gefunden, jie mußte vielmehr 
dölferfundlich gefucht werben. So fam es darauf an, den ungeheuren Stoff 
der Ethnographie in Perioden relativer Chronologie, in Stufenfolgen feelifcher 
Lebensäußerungen zu zerlegen. Und wenn Das gelang: Wie weit führte wieder 


11 


142 Die Zukunft 


die Völkerkunde? Bis zum „Anfang“? Man kennt die Kontroverſen zwifchen 
Baſtian und Kagel und das Problem primitiver Berfallsfulturen: war hier 
zu einem Ende zu gelangen? Nur die Kinderpfychologie ſchien die Möglidh- 
feit einer ungefähren und bypothetifchen Entfcheidung zu bieten. 

So waren es mannichfache Studien, die hier allein fördern Tonnten. 
Ic habe fie, in einigen entfcheidenden Zügen, aber keineswegs vollendet, 
hinter mir; und e8 wird noch Jahre dauern, ehe ich mit ihnen an die Deffent- 
fichfeit treten fann. So viel aber erlauben fie mir doch fchon mit Sicherheit 
zu jagen: die gefundenen Zeitalter feelifcher Entwickelung find nad vorn nur 
noch durch ein einziges neue8 — ich hatte viel mehr erwartet — zu ergänzen, 
das ich das phantaftifche nennen möchte; und ihr Verlauf wiederholt jich 
ausnahmelos in den großen menjchlichen Gemeinjchaften der Geſchichte. Dies 
aber auszufprechen, lag mir bei der Ausgabe einer neuen Auflage meiner 
Deutfchen Gefchichte deshalb am Herzen, weil mir erft von diefem Stand- 
punkte aus die Nennung der ſozialpſychiſchen Zeitalter auf dem “Titelblatt 
der neuen Auflage und damit die unmittelbarjte Einführung der denfenden 
Zeitgenofjen in die neue Eintheilung gerechtfertigt erfchien. 

Wie ftelt fih nun zu Alledem Breyſigs Syſtem? Ich denke, es läßt 
fih, wenn auch mit unvermeidlicher Verfchärfung und Vergröberung ber 
Hauptlinien, mit wenigen Worten fagen. Denn wiederholte, höchſt lehr⸗ 
reihe Auffäge Breyſigs haben die Leſer gerade diefer Zeitfchrift ſchon nicht 
wenig in das Verſtändniß ber Ideenwelt Breyfigs eingeführt. Breyſig wendet 
die vergleichende Methode nicht auf die elementaren, fondern auf die fompleren 
Erfcheinungen der gefhichtlichen Entwidelung — noch neuerdings fogar auf 
die komplexeſte von allen, die politiſche an. Er thut Das mit Scharfjinn 
und Geift und die Ergebniffe find nicht gering. Aber es läßt fich nicht 
leugnen: bei dem einmal gewählten methodologifchen Standpunft bleiben dieſe 
Ergebniffe im Ungefähren, nicht völlig Umfchriebenen fteden: fie liefern nur 
Näherungwerthe. Und noch mehr. Wer bis in die Erforfhung ber Ent: 
widelung der elementaren pſychiſchen Werthe vorgedrungen ift, überzeugt ſich 
bald, daß e8 auf ſeeliſchem Gebiete Zweierlei giebt, nämlich erſtens Geſetze 
einer pſychiſchen Mechanik, die zu allen Zeiten gelten, wie das Geſetz des 
Kontraftes, wonach Luft und Unluft, Freude und Leid, Enthuſiasmus und 
Niedergefchlagenheit ftändig in ung wechfeln, und zweitens Entwickelun 
geiege, wie das Geſetz der Entwidelung der Anfchauung aus ornamental 
Wiedergabe der Erfcheinungmwelt zu deren typifchem, Tonventionellem, ind 
vidualiftifchem, fubjektiviftifchem Erſaſſen. Es ift genau wie in der Biolog 
überhaupt: neben den Entwidelungsgefegen des pflanzlichen oder animalifche 
Lebens ftehen, jie bedingend, aber nicht beherrfchend, die Gefege der ſich ir 
diefen abfpielenden phyiifalifchen und chemifchen Prozefi. Und wer T 


Entwidelungftufen, 143 


findet, Der wird fich auch alsbald Har: nicht die Geſetze der pſychiſchen Mechanik, 
wie das Sontraftgefeg, find die eigentlichen Erponenten des hiftorifchen Lebens, 
fondern die Gefege der Anſchauung-, Begriffs- und Triebsentwidelung u. f. w. 

Wie ftellt ih nun Breyſig zu diefen Dingen? In der Durchdringung 
der komplexen Erfeheinungen ift ihm der Unterfchied der pfychiich-mechanifchen 
und pfychifch-biologifchen Gefege nicht Mar geworden; und er wenbet die 
piychifch- mechanifchen Gefege, vor Allen das Geſetz des Kontraftes, zur 
Periodenbildung an: durch eine bald mehr individnaliſtiſche, bald mehr 
fozialiftifche Haltung foll der Wechjel der einzelnen Zeitalter gekennzeichnet 
werden. 8 ift die Stelle, wo nach meiner befcheidenen Auffaffung Breyſig 
ſterblich ift: Hier liegt ein fchwerer logischer und alſo methodifcher Fehler 
vor. Denn jo richtig es ift, daß der Uebergang von einer Entiwidelungitufe 
zur anderen jih ganz — aber keineswegs immer — unter den Erfcheinungen 
des piychifchen Kontraſtes vollzieht — man wird des alten Zuftandes müde und 
ſturzt ſich unter deutlicher Abweiſung des alten in ein neues Seelenleben —, fo 
wenig wird durch diefe Begleiterfcheinung der biologifche Fortfchritt an ſich 
erf.ärt oder motivirt oder in irgend einer Weiſe bem Verftändniß näher ge- 
bracht. Es ift, al3 wollte man auf naturgefchichtlichem Gebiete die Wachs- 
thumserſcheinungen rein nur aus Gefegen der Phyſik und Chemie erklären. 

Mar jieht hier, was Breyfig und mid) trennt: Differenzen der Methode. 
Dieſe Differenzen aber bleiben nicht ohne ſchwere Folgen, fobald das metho: 
difche Werkzeug zu arbeiten beginnt. Die Ergebniſſe find ſchließlich außer— 
ordentlich verfchieden; und fchon aus diefem Grunde fann von einem prius 
oder posterius unferer Ergebniffe nicht wohl die Rede fein: fie find an ſich 
intommenfurabel. 

Wer von uns Beiden „Recht“ hat? Nicht wir haben e8 zu entfcheiden, 
fondern der fpätere Verlauf der Forſchung. Wir tragen unfer Tröpflein in 
das große Meer der wifjenfchaftlichen Entwidelung: es vereinigt fich mit ihren 
Wäflern; und wer weiß, an welchem Orte, unter welchen Bedingungen e3 
wieder auftauchen und wirkjam werden wird? Es fteht nicht in unferer Hand: 
in der fteht nur, ehrlich und wahrhaftig zu arbeiten: Caetera deus pro- 
videbit. Das aber mag, namentlich für ferner Stehende, betont fein: in 

eſer Weife wahrhaftig zu arbeiten, ift nicht fo ganz leicht; denn über Dinge, 
: die bier vorgetragenen, nachdenken und urtheilen, heißt an fich fchon, 
[ angeftrengter arbeiten, als der gewöhnliche Hiftorifche Studienbetrieb es 
rlangt; und Die ſich auf dieſes Gebiet wagen, find vorläufig noch Kämpfer 
ne Ruhe und Raft; fie fichen jeden Diorgen von Neuem auf dem Schladt- 
de; und für jie giebt e8 feine Manövertage, fondern nur den unabläfiigen 
nft des Kampfes. 


eipzig. Profeſſor Dr. Karl Lamprecht. 
11* 


141 Die Zukunft. 


Nervoſität und Runftgenuß"). 


Arten Inhalte find der urfprünglichiten Kunftentwidelung fremb. 
Dihtung und Muſik gingen hervor aus dem Arbeitgefang, den die 
rhythmiſchen Bewegungen der arbeitenden Glieder und der daraus folgende 
Rhythmus der Arbeitgeräufche wedten. Bis zu Sophofles fteht der Rhythmus 
im Vordergrunde der Poeſie. Längft zwar find nun Gefühle und Leiden: 
ſchaften Gegenftand ihrer Schilderung geworden; aber der befondere Gedanke, 
die grübelnde Frage, das Problem fest eigentlich erft mit der Auflöjung 
ber „klaſſiſchen“ Tradition, mit Euripides, ein. Der Träger des Rhythmus, 
der Chor, tritt zurüd und fpäter finden wir als feinen Erben eine andere 
Macht, die Muſik. Sie ift die Negation des Gedankens in der Kunſt. 
Mit einem Zufammenklang oder einer Abfolge von Tönen verbindet 
ſich zunächſt niemals etwas Intellektuelles. Was jene hervorzurufen ver- 
mögen, ſind Gefühle, Stimmungen. Alles Weitere iſt ſekundär. Indem 
die Gefühle eingegliedert ſind ins Temperament und dieſes eine gewiſſe fon- 
ftante Richtung unferer Affelte bedeutet, indem bie Affekte wiederum Kom— 
plere aus Gefühlen und Vorftellungen find, leitet jede Stimmung fchlienlich 
zu gewiſſen Affoziationfetten hinüber. Uber zu welchen? Das häugt, um 
mich eines Wortes von Wundt zu bedienen, von der gefammten Bewußtſeins- 
‚lage ab, die für jeden Einzelnen eine befondere if. Daher fommt «8, daß 
Tolftoi vor dem Unberechenbaren der Muſikwirkung graut und Hanslid gegen 
über der Veredlung durch die Tonkunſt auf deren „weites Gewiflen“ hinweiit. 
Die neuropathifche Wirkung der Muſik könnte alfo — fofern wir von 
der rein finnlichen Zerrüttung abjehen — nur darin liegen, dag bei Dem 
ober Jenem durch fie Stimmungen erzeugt werden, bie immer wieder auf- 
regende Problemftellungen, Gedankenreihen nach fich ziehen. ch kann mir 
vorstellen, dat die Eroika einen grübelnden Geift ind Nachdenten über den 
Kontraft und Konflikt elementarer Größe mit leichter Alltäglichkeit förmlich 
hineinzwängt; und ich kann mir nicht nur vorftellen, fondern es ift einfach 
Thatfahe, das Einer mit ſolchem Grübeln jeine Nerven ruiniren Tann. 
Aber an Alledem ift die Eroika, ift überhaupt jede Muſik unſchuldig. In 
Hunderten wird diefe Symphonie ganz andere Gedankenreihen auslöjen; unt 
der heute noch unentfchiedene, eben nothiwendig unentfchiedene Streit über de 
Sinn des uniterblihen Scherzo beweift, wie verfchieden auch die Kunfi 
empfänglichften hier reagiren. Auch die Tannhäufer-Ouverture, der Lieber 
tod, der Zarathuftra vermögen nicht darüber hinaus. Die zu ihnen g. 
hörigen Interpretationen, Texte, Programmbücher wohl; nicht aber fie fetbi 





— — 


*) S. „Zukunft“ vom 19. April 1902. 


Nerbofität und Kunftgenuß. 145 


Es giebt feine intellektuellen Reihen, die unbedingt an ihren Genuß fih 
tnüpften; umd die ganze Muſik, von ben hebräifchen Eymbeln und griechiſchen 
Flöten über Paleſtrina und Beethoven und Wagner bis zu ben Jüngften 
und Problematiſcheſten herab, ift an fich neuropathiſch völlig indifferent, wird 
es für ewige Zeiten fein. 

Dagegen ift die Poefie feit ihrer Löfung aus dem Rahmen des 
religiöfen Tanzes die eigentliche Trägerin der Gedanken geworden; und bie 
germanifchen Voller haben ihr, nicht feit Shafefpeare erft, fondern feit 
Wolfram von Eſchenbach mindeftens, die endgiltige Richtung aufs Grübelnde, 
Problematifche, aufs im tiefften Sinn Jutellektuelle gegeben. Nicht, als ob 
alle Dichtungen der lateinifhen Stämme in geaziöfer Epif ihr Höchftes ge: 
leiftet hätten; Ausnahmen find überall zu finden; aber wenn es wahr bleiben 
folte, was die neufte Forſchung nahelegt, daß Dante einer ziemlich raſſe— 
reinen langobardiſchen Familie entftammt, fo wäre eine der größten Aus— 
nahmen ſchon befeitigt. Für die Germanen hat ein ſchöner Zufall es gefügt, daß 
von ihren drei großen Stammeseinfeiten jede einen ummälzenden Dichtergeift 
hervorbringen durfte. Die Angelfachien gaben Shafefpeare; aus dem beutfchen 
Bolt ftieg Goethe empor; vom ftandinavifchen Norden aber rüttelte das 
träge gewordene Jahrhundert Ibſen. 

Und Ibſen, der unergrundliche Räthfeliteller, ijt immer wieder als bie 
vollfommenfte Berförperung Deſſen angegriffen worden, was in ber modernen 
Dichtung ungefund, verwirrend, neuropathiſch fein fol. Von Nerven 
Ärzten ift am ſchärfſten Möbius, auch wieber einer unferer Allereriten, gegen 
ihn aufgetreten. Einmal fpricht er von „gräulicher Problemfchriftftellerei“ ; 
an einer anderen Stelle apoftrophirt er ben Norweger al3 „Apothefer-Dichter“, 
bei dem man nie wiffe, was er wolle, und gar bis zu der Bitte verfteigt 
er ſich, ein gütiges Geſchick möge und von ber „nordiichen Lazarethpoefie” 
erlöjen. Das find feine Driginalitäten; wir haben Dies und Aehnliches 
taufendmal unterm Strich funfttonfervativer Zeitungen und Journale gelefen; 
bezeichnend ift nur, daß ein Nervenarzt von Möbius' Range, der oft genug 
bizarr wird, nur um nicht die außgetretenen Wege, ſondern feine eigenen 
zu gehen, diefe Beſchuldigungen einfach wiederholt. Daß er es nicht gedanken— 
108 hut, fondern nad) guter Ueberlegung, fegt wohl ein Jeder vom Verfaſſer 
des „Pathologiſchen bei Goethe“ voraus. 

Ibſens Lebenswerk ift die Darjtellung jener fchrillen Disharmonie, 
ie im Menfchen unferer Zeit durch die Zerftörung der alten Welt: und 
ebensanſchauung erzeugt wird. Einſt hatten wir Normen; mit denen ift 
I nun aus. Der Traum vom Ewige Menfchlihen ift vorüber. In ung, 
um und, vor uns: Alles ift relativ; und an bie Stelle de3 frommen 
Abhängigfeitgefühles tritt daS kritiſche, ins Einzelne fpitrende Abhängigfeite 





146 Die Zuhmft. 


wiſſen. Die „Verhältniffe“ werben zu einem erbarmunglofen Ungeheuer, 
das Alles erdrüdt. Wir vermeinten, bie flärfften Naturfräfte gebändigt zu 
haben; aber indem wir fie beherrfchen lernten, verfflapten wir ung täglich 
mehr den wirthſchaftlichen Kräften, die aus ihnen hervorwuchſen und deren 
Leitung und immer vafcher entgleitet. Diefe Erfüllung des trübften Goethe⸗ 
worted, daß wir „jcheinfrei denn, nad) manchen Jahren, nur enger dran, 
al8 wird am Anfang waren“, find, fie ift des großen Riſſes Urſache, der 
durch unfer Empfinden gebt. 

Dazu kann die Dichtung in zweierlei Weife Stellung nehmen. Sie 
fann fich flüchten ı in vergangene Zeiten oder in eine Welt des jchönen Scheines, 
der ſchmeichelnden Gefälligkeit; romantiſch Tann fie fein oder akademiſch⸗ 
äfthetifh. Sie kann fih aber auch mit beiden Füßen in die Zeit hineinftellen, 
den Kampf fchüren, den wir im Reben kämpfen, all dies Smeifeln und Ringen 
fi zu eigen machen. Wie wirft Jenes, wie Diefes auf unfere Nerven? 

Der Angelpunkt unferer Nervofität ift das durch die Fapitaliftifche 
Wirthſchaftordnung unermeßlich verfchärfte Gefühl der Verantwortung; oder 
noch richtiger: der Kontraſt zwiſchen dem Gefühl, daß man als ver- 
antwortlich gilt, und dem Gefühl, daß man gar nicht verantwortlich 
fein fann, weil die „Berhältniffe* herrichen. Die Zunft feflelte, aber ſie 
fhügte auch. Heute fpült mich vielleicht die Welle mit fort, die irgend 
ein geringfügige8 Creigniß in einem entfernten Erbtheile wirft. Mit 
folhen Gedanken den Kampf ums Dafein zu führen: Das reibt auf. 
Und darum find auch Alle, denen dies Loos gefallen ift, die typifchen 
Neuraftheniker unferer Zeit. Nicht etwa, wie ber Laie oft glaubt, bie 
Geifteßarbeiter im engeren Sinn, die Gelehrten. Uebermäßige Gedanfen- 
arbeit führt zu piychiatrifchen Bildern, die von der Nervofität fich fcharf unter: 
ſcheiden. Die Erſchöpfungpſychoſen, war Allem das Kollapsdelirium, jind 
die Folge folcher Weberanftrengung; fie laſſen jich experimentell durch 
Uebermüdung — fortgefetttes Addiren einen Tag und eine Naht lang — 
leicht nachahmen. Wo Gelehrte eigentlicd) nervös werden, da find, fieht man 
‚genauer zu, faft immer gemüthliche Aufregungen mit ihrer Arbeit verfnüpft: 
übermäßiger Ehrgeiz, Enttäufchungen, Zurüdfegungen, folgenfchwere Irrthümer. 
Sobald jedoch die Berantwortung, vor Allem in der Geftalt jener befchrie 
benren zwiejpältigen Regungen, in den Vordergrund tritt, da heftet fich die 
Nervofität an ihre Ferſen. Der Arzt, der Richter ift feit je ber leicht nerv 
geworden. Aber erjt die befonderen Formen des modernen wirthfchaftlich 
Kampfes mit ihren befonderen Variationen der Verantwortung haben d 
eigentlich moderne Nervofität geſchaffen. Und die ıft eben darum aud | 
den Ständen am Größten und am Meiften verbreitet, in deren Händen ! 
wirthichaftlichen Funktionen, Produktion und Austauſch, liegen. 


Nervofität und Kunſtgenuß. 147 


Wer von quälenden Kämpfen ſpricht, wird vielleicht al Antwort 
hören, daß die weitaus meiften Mitglieder biefer Klaſſen ſich des tieferen 
geiftigen Inhaltes ihrer wirthſchaftlichen Rolle faum bewußt find. Sie wollen 
Geld verdienen, um gut zu leben. Das Kette trifft aber gar nicht zu; am 
Wenigften auf die Großimternehmer. Solide Lebensbehaglichkeit war das 
Ideal des alten, heute faft ausgeftorbenen Patriziers: T. O. Schröter in 
Freytags Kaufmannsroman. Luxus, Komfort ift dem modernen Unternehmer 
längft eine Selbftverftändlichfeit, auf bie er faum je achtet. Was ihn zu 
einer Arbeit von ſolcher Intenfität, daß fein Gelehrter und fein Proletarier 
fie ihm abnehmen würde, anfpannt, ift ein Komplex ganz verworrener, halb= 
dunfler Gefühle; vor Allem die Hinter ihm lauernde Unficherheit, der er ſich 
nur durch fortgefegte Steigerung feines Betriebes entwinden zu können meint. 
Wie weit alles Das unter den philofophifchen Begriff des Relativismus fällt, 
darüber ftellt er natürlich feine Betrachtungen an. Aber nun kommt er ins 
Theater; und wie ein Funke ins Pulverfaß ſchlagt da in fein Gefühlsdunfel 
ein, was die moderne Dichtung ihm fagt. Bon ganz anderen Dingen 
zwar ift dort die Rede; aber die Gefühlstöne, die fie begleiten, treffen un: 
mittelbar mit denen zufammen, bie fein Sorgen und Haften fennzeichnen. 
Es jind im Grunde die felben Konflikte; nur werben jie hier rüdjichtloß 
ausgefprochen, Yonfequent abgemidelt. 

Und Das foll den Nerven den Reſt geben. Wirklih? Wenn der ſelbe 
Mann nicht Ibſen, fondern Fulda hört; wenn in graziöfen Verfen ein leicht— 
geihürztes Gefändel ihm zwei Stunden lang gezeigt wird, — mein Gott 
ja, c8 werben vielleicht zwei Stunden der Erholung, des Vergeſſens für ihn 
fein. Vielleicht, wenn wohlklingende Grazie die Gefühle einzufchläfern ver- 
mag, die einen ganzen Tag, vielleicht auch ſchon eine Nacht und einen Tag 
lang das Gehirn zerarbeitet haben. Hoffen wir, daß fie e3 vermag. Aber 
bei der Heimkehr? Glaubt Jemand an Nachwirkungen? Dem Zubettgehenden 
ſtellt ſich fchon wieder der nächſte Tag vors Auge. Um zu vergeffen, brauchte 
er feine Kunft, wenigitens feine, die ernfthaft genommen fein will, Vor— 
ſtaditheater, Wintergarten, Weinftube, Cafe, ein üppiger Frauenleib: Das 
ift Vergeſſen. Man fagt: Ganz richtig; aber bas Alles geht noch viel mehr 
auf die Nerven. Gut denn; jo kann der nervenheilende Werth der ſchönen 
Scheindichtung mit ihren vergangenen oder erfundenen Leidenschaften, Kollis 

men und Löfungen über Null doch nie hinaustommen. Diefe Kunft ift 
auropathifch indifferent. 

Die andere aber ift ber Weg von der Dunkelheit zur Klarheit. Eine 
illtagsweisheit fagt, nichts fei aufreibender als die Ungewißheit. Nichts ift 
"älenber als das Erleben von halblichten Gefühlen, über deren Urfprung 
id Grundlage wir uns eigentlich feine Rechenſchaft zu geben vermögen. 








148 Die Zukunft. 


Sch habe einmal bei verfchiedenen Menfchen, die fonzentrirte geiftige Arbeit 
leiften, gefragt, welche Störung ihres Schaffens fie am Meiſten fürchten. 
Und bei Allen kam e8 auf das Selbe hinaus: jene Verftiimmungen, bie ung 
plöglich befallen, ohne dag wir zunächft ihre intellektuelle Grundlage feftitellen 
können. Sie lähnen fchledhthin, fie koſten Tage und Nächte, fie zerrütten, 
wenn fie von langer Dauer oder häufig find. Und darum kann ich mif 
für den modernen Menfchen gar nichts Heilfameres denken, als ihn heraus- 
zureißen aus dem Dunkel disfonirender Gefühle ins Fare, wenn auch kalte 
Kicht der Erkenntniß. Daß er als Glieder in Zufammenhängen erblidt, 
wa3 er für unberechenbare Launen hielt, ift ber erſte Schritt, ihm zu einer 
Weltanſchauung zu verhelfen. Und wer die erft befist, braucht die Nervo⸗ 
tät nur noch halb zu fürchten. 

Diefe Aufgabe aber Töft gerade Ibſen durch jenen Charakter feiner 
Kunft, den man ihm als „ſymboliſtiſch“ bald vorgeworfen, bald gepriefen 
bat. In feinen Dienfchen Ieben und wirken Mächte, die Mächte unferer Zeit, 
leben und wirken in ihrer ganzen Größe. Ober erhebt fi nicht in John 
Gabriel Borkman der Kapitalismus zu hinreißender Gewalt? Wo wäre die 
Brutalität des Iuduftrieherren je fo erhaben geadelt worden wie bier? Um: 
fließt ihn nicht die Glorie des Tragifhen? In al dem Ringen und 
Unterliegen, das uns jo Hein und peinlich bünft, die große Tragik aufs 
zuzeigen, es damit aus dem Beitlichen ins Emige zu heben: Das tft bie 
Großthat der modernen Dramatik, der nordiſchen in erfter Linie. Den, der 
in den „Gefpenftern“ nur die paralgtifche Demenz fieht, mag Lazarethluft 
daraus anmehen; aber ift nicht dag Stüd, im Ganzen genommen, ein furcht⸗ 
bares Mene Tekel von der erbarmunglojen Tendenz“ zur Gefundheit, die in 
der Raſſe lebt und alles Angefaulte auszujäten drängt? 

Freilich: um Das zu fühlen, muß man Dichtungen hören gelernt 
haben; fonft werden fich leicht die dunfelfarbigen Einzelheiten, aus dem 
großen Ganzen herausgelöft, bedrüdend aufs Gemüth legen. Und hier iſt 
eben der Angelpunft unferer ganzen Frage. Wenn auf viele Menfchen die 
moderne Dichtung neuropathifch wirkt, fo liegt e8 meift an ihnen, — oder 
beſſer: an ihren Erziehern, die nicht verftanden haben, ihren Geift auf ſolche 
Kunſt hinzulenken. Es ijt der ganze unlinnige Klaſſikerkultus unferer höheren 
Schulen mit feinem bodenlos verlogenen Pſeudo-Idealismus, wie er üı 
Gejchicht: und im Deutfch-lnterricht feine famofejten Blüthen treibt, der di 
nervöfen Berrüttung umferer beften Perfünlichkeiten die Wege ebnet. Bor 
Darwin und Taine darf auch in Oberprima noch nicht gefprochen werben, 
wohl aber von Scherer und Ranke, deren Auffaffungen als die giltigen feit 
gelegt find. Und es fteht zu befürchten, daß die Sache noch ſchlimmer wird 
Noch mehr als bisher follen in Gefchichte und Deutſch Kirchlichleit un 


Nervofität und Kunftgenuß. 149 


Dynaſtizismus, Jambenbegeifterung und Vergangenheitkuft gepflegt werden. 
Tote Welt: und Tebensanfhauungen find es, die den ibeellen Gehalt einer 
fo verbildeten Junglingsſeele ausmaden; woher fol da die Möglichfeit 
Kommen, die harte Lebenswirklichkeit ideell zu begreifen? Mit der Bibel und 
dem Lied "von der Glocke läßt ſich unfere Zeit nicht mehr fafien, fo wenig 
wie unfere Kunft mit dem Laofoon und der Hamburgifchen Dramaturgie. 
Das Einzige, was der ind Leben Tretende mit diefem geiftigen Befig an— 
fangen Tann, ift, ihm möglichft bald zu vergeffen, fammt den ſchwülen Sonn— 
tagsabenden, an benen er Auffäge darüber fehreiben mußte. Aber gelingt 
dies Vergeſſen auch noch fo raſch, fo ift Eins vorher ſicher erreicht: der Weg 
zum Berftändniß des modernen Lebens ift verſperrt. 

Wie wenig aber diefe Tanfale Berkettung erfannt ift, zeigen die End- 
forderungen einer an ſich höchſt verdienftlihen Bewegung, die wir in jüngfter 
Zeit erlebt haben. Die geiftige Nahrung, vor Allem die literarifche, unferer 
Jugend ward unterfugt und ein vernichtende® Urteil über die verflachende 
und verfimpelnde „Zugendfchriftftellerei“ der Hoffmann, Nierig, Karl May 
und Genofien gefällt. Ihre Machwerke follten jeden Höheren geiftigen Flug 
von vorn herein lähmen. Zwiſchen gehaltlofen, unwahren Rübrfäligfeiten, 
mit forupdider Moral verfüßt, und den rohen Schaudergefchichten der ameri= 
Yanifchen Prairie pendle hin und her, was unferen heranwachfenden Kindern 
geboten, von der Schulbibliothek eingehändigt, von den Eltern auf ten 
Weihnachtstiſch gelegt werde. Bis dahin war die Sache fehr beachtenswerth. 
Aber num fam bie Kehrfeite. Man verlangte die Abſchaffung der befonderen 
Iugendfecture überhaupt. Für das Kind fei das Vefte gerade gut genug 
und ihm dürfe nichts Anderes gereicht werden als die Perlen ber Dichtung; 
freilich nicht alle, fondern eine „Auswahl“. 

Ich geftehe, daß ich nicht recht weiß, wer durch diefe Forderung mehr 
verhöhnt wird: die Jugend oder die Hafjifche Dichtung. So lange wir es 
nicht fertig kriegen, gefchledhtöreife Kinder auf die Welt zu bringen, wird 
auch nichts daran zu ändern fein, daß erft die Pubertät der Schlüffel zu 
den höchſten affeftiven und intelleftuellen Erlebniſſen der Menjchenfecle iſt, 
wie doc unfere weimarische Dichtung gerade jie zum Gegenftande hat. Ich 
bin wirklich fein Optimift in der Beurtheilung unferer Schulen, aber die 
Rejebücher für die unteren Klaſſen, aud noch für die mittleren, fcheinen mir 
laum einer Verbeſſerung bedürftig. Der unheilvolle Abrutſch zum Klaſſiker— 
monopol vollzieht fich erft oben in Sefunda und Prima. Und Nierig, May 
und Genoffen in allen Unehren: aber ich gedenke hier eines Knabenjahr- 
buches, defien Anregungen mich bis heute begleiten; Franz Hofimanns „Neuer 
Deutſcher Jugendfreund“ ift e3, in dem freilich auch manches Werthlofe jteht, 
aus dem ich aber geradezu Perlen einer für die Jugend geeigneten Dichtung 


150 Die Zutunft. 


bervorfuchen könnte. Die kosmopolitiſche Ahgeklärtheit der weimariſchen Zeit 
ift für einen Knaben einfach unfaßbar und darum langweilig bis zur Dual; 
taufend Reſonanzen aber finden wir in der jungen Seele für die Romantik 
deutfcher Vergangenheit; und diefe Reſonanzen zu weden, halte ic) gerade 
gegenüber dem unerquidlichen neupreußifchen Sedanchauvinismus für eine 
erzieherifche Pflicht erfien Ranges. Denn find erſt diefe Töne angefchlagen, 
dann können wir dem Fünfzehnjährigen die Akkorde der Freytag und Fontane 
bieten und dem Primaner werden Kleift und Hebbel fchon genug zu Tagen 
haben; und dba find mir ja im Borzimmer der modernen Dichtung, einen 
Schritt vor Ibſen. Wer verläßt denn heute die Schule mit Tiehe im Herzen 
für die Klaſſiker? Daran ift aber nicht die vielgefcholtene Methode ſchuld, 
fondern die Hafjifhe Dichtung an fich, eben weil fie niemals eine deutiche 
achtzehnjährige Seele ausfüllen kann. Aber theilt fie fi in den Play mit 
Kleiſt, Freytag, Hebbel, Fontane, dann wird auch die Liebe nicht außbleiben, 
und it dem Jüngling eine Ahnung aufgedämmert von der wundervollen 
Linie, die von Gellert und Claudius über Goethe bis zu Hebbel und zur 
Gegenwart führt, dann wird er den Faden nicht fo leicht verlieren, der ihn 
auch im Leben an die Kunft nüpft. Dazu gehört noch ein Gefchichtunterricht, 
der nicht dynaftifche Jahreszahlen, fondern Kulturquerfchnitte giebt, der bie 
Zufammenhänge zwifchen den wirthfchaftlichen Grundlagen und den feiniten 
Geijtesblüthen einer Zeit aufzeigt. Dann wird der Drang, aud die Lebens⸗ 
wirflichkeiten, die man am eigenen Leibe verfpürt, ideell zu erfaſſen, eime 
Weltanfhauung zu finden, in der fie Play Haben, unmiderftehlich werden. 
Natürlich nicht bei Allen, aber doc bei viel mehr Menfchen als Heutzutage. 
Tann fehnt ſich wohl aud) Der, den die Wirbel des modernen fozialen 
Lebens den Tag über gefapt und gerüttelt haben, gerade nad einer Stätte, 
wo er diefe Erlebniffe nicht vergigt, fondern ihren tieferen Sinn erfennen 
lernt, ſie eingliedert in die Nothwendigkeit des Seins und des Werdens. 
Und ob er dann die grandiofe Epik Zolas, die gütige Nejignation Fontanes 
oder die tiefgründige Symbolik Ibſens auf ji wirken läßt: immer wird ihm 
ein Weg jich zeigen, der ihn hineinführt in die größeren BVerfettungen und 
damit hinauf vom Endlihen ins Unendlide. Stets bleibt aber eine der 
größten Wahrheiten das Wort Schleiermaders: Religion fei Sinn und 
Geihmad fürs Unendliche; und wenn von Theologen heute mit Eifer die 
Neligiofität als das jicherfte Heilmittel gegen die Nervojität gepriefen wi 
jo meifen, unbewußt freilich, die Orthodoren bem denkenden Menfchen i 
Meg von ihnen fort zu den Verfuchen moderner Weltanfchauung Ku. 
iſt nicht Religion und Tann fie nie erſetzen. Das fol fcharf betont ıu 
der gedanfenlofen Umdeutung eines mißverftandenen Goetheworted entgege 
getreten fein; aber wenn eine Macht die neue Religion, nad ber unf. 


Nervofität und Kunſtgenuß. 151 


Sehnen geht, vorbereiten half, ſo iſt es unſere Kunſt, beſonders unſere 
Dichtung geweſen. Sie iſt die wahre Trägerin des Sinnes und Geſchmackes 
fürs Unendliche; und damit ſchleift ſie uns, weit entfernt, neuropathiſch zu 
wirken, im Gegentheil die beſte Waffe gegen die Neuraſthenie. 

Vielleicht hält man mir hier voll Ironie bie ſichtbaren Thatſachen 
entgegen und weift auf da8 Premierenpublikum unferer Theater und bie 
Stammkundſchaft unſerer Leihbibliotheken als wahre Blütheleſen entneroter, 
neuraſtheniſcher Geſchöpfe. Nun gehören aber neun Zehntel des Leihbibliotheken⸗ 
beitandes zum literarifchen Schund, mit dem ſich vornehmlich unfere Töchter 
und Frauen in ihrem meift völlig verdorbenen oder auch embryonal gebliebenen 
fünftlerifchen Geſchmack füttern, um die reichlihe Mußezeit ihres arbeit: 
und gedankenloſen Dafeins auszufüllen. Faſt alle Männer empfinden vor 
der äußenen Beichaffenheit diefer Bücher einen gewiſſen Ekel — die Efel- 
gefühle pflegen bei Frauen überhaupt ſchwächer zu fein — und die falfche 
Sparfamfeit de8 Deutjchen, der ſich eben nur fchwer entichliegt, ein Bud) 
zu faufen, thut ihr Uebriges. Die Theaterpremiere aber tft durch unfere 
literarifche Reklame, durch die Zuftände unferer Zeitungstritif und den ganzen 
verdorbenen Geift unferer fogenannten vornehmen Theater einfach zu einer 
pikanten Senjation geworden, die über den inneren Werth ober Unwerth 
einer dramatifhen Schöpfung längſt nicht mehr enticheidet. Auch fällt die 
Nervojität diefer Theaterbefucher meift unter ein anderes Kapitel. Im 
Teutfchen Theater herricht die mweftberlinifche Hochfinanz jüdiſchen Blutes; 
und über deren Nervoiität hat einer ihrer beften Stammesgenoffen, hat gerade 
Oppenheim jich unzweidentig geäußert. Sie ift die natürliche Kranlkheit eines 
duch Inzucht gefhwächten Volkes, deſſen unjinnig verkehrte Jugenderziehung 
alles noch Gefunde in phylifcher und feelifcher Beziehung zu erftiden ange 
than ift: phyſiſch durch eine unglüdliche Verzärtelung und Gewöhnung an 
raffinirte Behaglichkeiten, pſychiſch durch Erwedung eines krankhafıen Ehr- 
geizes und Eigendünkel3 und durch Eintrichterung einer rein äußerlichen, 
renommiftifchen Bildung. Daß eine fo tief murzelnde Nervofität durch bie 
denfende Einjicht in die Zufammenhänge der Welt und des fozialen Lebens 
mit unferem Ich verhütet werden fünnte, wird natürlich fein noch fo großer 
Optimiſt erwarten. 

Wenn die moberne Dichtung unausgefegt ber Gegenftand von Ans 
ffen ift, jo theilt fie zunächſt damit nur das Geſchick aller früheren Poeſien. 
{HR in den großen Afthetifchen Beitaltern, im athenifchen und florentinifchen, 

verfaillifhen und mweimarifchen ift e8 nicht ander8 gewefen. Die Rück— 
nirtöfchauenden, denen die Gegenwart Kleiner fcheint als die Vergangenheit, 
erden auch unter ben Denfenden nie ausfterben. Ihre Anſchauung er= 
ichft auf einer befonderen Hirnzellenbefchaffenheit, deren Geheimniß wir 


152 Die Zukunft. 


noch nicht gelüftet Haben. Unbeirrt durch jie aber geht die Kunſt ihren Weg; 
und was Großes an ihr ift, ringt jich zu bleibender Bedeutung durch. Der 
modernen Dichtung alfo ſchaden auch die Nervenärzte nicht, die fie verfolgen. 
Wohl aber Denen, in deren Interefle jie zu ſprechen meinen: den Nervöfen. 
Denn fie treiben fie nur in äußerliche Genüffe, in ‚gehaltlofes Getändel Ein- 
ein, das dem Leiden Feine Beflerung fchafft, weil e8 mit deffen Urſachen 
gar Feine Berührung bat. Zehn Stunden aufreibenden Kampfes laſſen ſich 
nicht durch zwei Stunden graziöfen Geplauder das Gleichgewicht halten. 
Dog Wort: Similia similibus curantur, durch die Homöopathie etwas 
disfreditirt, ift, in tieferem Sinn verftanden, doch ſchließlich der Schlüffel zu 
aller erfolgreichen pſychiſchen Behandlung. Und faltes Waſſer allein thuts 
eben nicht, fondern die Pfychotherapie ift das Hauptitüd alles nervenärztlichen 
Hei wermögens. Hier aber follte die Hilfe nicht zurückgewieſen werden, die 
dem Arzte die Kunſt, insbefondere die Dichtung, zu leiften vermag. 

Zwar gehöre ich nicht zu den Schwärmern, die von äfthetifcher Kultur, 
Erziehung der Maſſen zur Kunſt und ähnlichen Utopien träumen. Die 
großen äfthetifchen Kulturen find nie gemacht worden, fondern über die Völker 
gefommen, man weiß oft nicht, wie. Ich fühle mich weit entfernt davon, 
die Rolle der Kunjt im Leben des Einzelnen wie ber Gefammtheit zu über 
ſchätzen. Ich glaube, daß es fehr gefunde, fehr tüchtige, ja, wirklich große 
Perfönlichkeiten geben Tann, denen alle Kunſt völlig gleichgiltig ift, und halte 
die erzwungene Aeſthetiſirung eines Volkes für ein im beften Fall nutlofes, 
vielleicht aber bebenkliche8 Beginnen. Die beim Nervenarzt Rath ſuchen 
gegen Neurafthenie, jind nicht immer, aber doch zum größeren Theile intelligente, 
oft außergewöhnlich befähigte Menfchen, um fo häufiger, - je mehr mir 
uns der Grenze zur hyſteriſchen Beranlagung nähern. Bei ihnen muß 
jih die Suggeftion, die fie feldft fuchen, der feineren geiftigen Mittel be- 
dienen. Sid) zu amujiren, um ihre Leiden zu vergeflen, kann jedes alte 
Weib ihnen anrathen. Es gilt eben, gerade an Das zu knüpfen, was geiftig 
den Haupteinfchlag im Gewebe ihrer Sorgen bildet. Die Entfcheidung, ob 
die Kunſt dazu den geeigneten Faden abgeben kann, muß vom Nervenarzt 
erwartet werden; aber wo er davon überzeugt ift, Tann es jich beim miodernen 
„Nervöfen“ nur um die moderne Kunſt handeln. 

Wirkſamer als alle Therapie iſt freilich die Prophylaris, hier die Ar 
der geiftigen Erziehung. An deren Reform haben, wenn e8 wirklich ſchon 
ein Wenig befjer geworden ift, die Aerzte leider fehr geringen heil; um 
fie jcheinen ihn einftweilen aud) nicht vergrößern zu wollen. Binswanger 
bezeichnet es einmal als eine der wichtigjten öffentlichen Aufgaben des Arztes, 
den neuropathifchen Cinfluß der modernen Dichtung lahmlegen zu Helfen. 
Heute ftehen die meiften Aerzte folchen feingeiftigen Fragen theilnahmeloS gegen- 





Kaufmännifge Schiedsgerichte. 153 


über. Das ift gewiß fein rühmliher Zuftand; aber fat möchte man fein 

Fortdauern wünfcen gegenüber der Möglichfeit, daß insbefondere die Nerven- 

ärzte mit ihrer großen geiftigen Macht über Hunderte von Gebildeten jener 

Loſung folgten. Man könnte nur wehmüthig jagen: Sie wiſſen nicht, was 

fie thun. Das aber ift ein ſchwacher Troft; denn bie richtende Gefchichte, 

auch wir Aerzte follten es nicht vergefjen, hat das milde Wort vom Kreuz 
noch nie al3 Entlaftung der Schuldigen gelten laſſen. 


‚Heidelberg. Dr. Billy Hellpach. 


Li 


h Raufmännifche Schiedsgerichte.*) 





M ichdem durch das Reichsgeſetz vom neunundzwanzigſten Juli 1890 für die 
gewerblichen Arbeiter beſondere Gerichte zur Entſcheidung der aus dem 
Urbeitverhältniß entſpringenden Rechtsſtreitigkeiten (die Gewerbegerichte) geſchaffen 
worden waren, regte ſich bei den Handlungsgehilfen mächtig der Wunſch nach 
ahnlichen Einrichtungen. Sämmtliche Gehilfenverbände nahmen die Forderung 
taufmänniſcher Schiedsgerichte in ihr Programm auf und immer lauter ertönten 
die Rufe nad Sondergerichten zur Entfcheidung der Prozeſſe aus dem kauf- 
männifchen Dienftvertrag. 

Gegenüber dem Drängen von tanfend und abertaufend ftimmberedtigten 
Bürgern Eonnten bie politif hen Parteien nicht gleichgiltig bleiben. Ohne Aus- 
nahme ſuchten fie fid) den Wünſchen der umabläfjig petitionirenden und raiſo- 
nirenden Handlungsgehilfen gefällig zu zeigen und Centrum fo gut wie Sozial» 
demokraten, Nationalliberale wie Antijemiten brachten beim Reichstage Jnitiativ- 
anträge ein, in denen die Errichtung kaufmänniſcher Schiedsgerichte begehrt 
wurde. Auch die Konfervativen und bie Freifinnigen wollten natürlich in biefem 
Wettlauf um die Gunjt der Wähler nicht zurüdbleiben; und fo erklärten jie 
denn Bei jeder Gelegenheit, fie brä—hten den Beitrebungen ber Handlungsgehilien 
das größte Interejje entgegen und würden gern einem Schiedsgerichtsgeſetz ihre 
Stimme leiden. Nur Einer unter den 397 Erfürten ließ fi durch die une 
geitümen Bitten nicht beirren: Karl Ferdinand Freiherr von Stumm war jelb- 
itändig oder ftarrföpfig genug, fic ſehr entſchieden gegen bie geplante Neuerung 
auszusprechen. Ein Erbe ift dem Gewaltigen nicht geboren. Als in dem letzten 
Tagen des Januar der Reichstag abermals die Frage disfutirte, wurde ein 
Widerſpruch von feiner Seite vernommen. Auch die Regirung, bie ber Sache 
in früheren Jahren ſtets eine dilatorijhe Behandlung angebeihen lich, ift jept 
machgiebig geworden. Jüngft Haben Graf Poſadowety und fein Vetireier die 





*) Nachdem ih meine Auffaſſung des Planes, kaufmänniſche Schieds- 
gerichte zu ſchaffen, in einer juriſtiſchen Fachzeitſchrift („Archin für Bürgerliches 
Recht”, Band 20, Heft 3) erörtert habe, jei es mir geitattet, fie nun aud) vor 
einem größeren Leferkreife kurz darzulegen. 


154 Die Zukunft. 


feierliche Erklärung abgegeben, das Hohe Haus werde in naher Zukunft den 
gewünſchten Gefeßentwurf erhalten. An der Einführung kaufmänniſcher Schieds⸗ 
gerichte ijt danach nicht mehr zu zweifeln, 

Welche Organifation dei neuen Gerichten gegeben werben foll, ift noch 
nit bekannt. In der Hauptjache find zwei Vorfchläge aufgetaucht, die in Frage 
kommen können. Bon ihnen empfiehlt der eine eine Angliederung an die Amts 
gerichte, während der andere die Schaffung befonderer Kammern an den Gewerbe: 
gerichten oder bejonderer Gerichte nach Art der Gewerbegerichte fordert. Yenem 
begegnen wir im Antrage Bafjermann, diefer tft im. Antrag Raab enthalten. 
Welchem der beiden Borjchläge die Negirung den Vorzug giebt, hat man bisher 
nicht gehört. Auch über die Fragen der Bejegung der Gerichte (mit zwei oder vier 
Beiligern?), der Normirung der Berufungsgrenze (Zuläffigfeit bei einem Streit- 
gegenitand von 100, 300 oder 500 Marf?) und der Geftaltung der Berufung- 
injtanz herrjchen unter den Zyreunden ber faufmännijchen Schiedsgerichte Meinung- 
verichiedenheiten; einig dagegen find alle Anhänger in der Forderung, daß bie 
Richter, die als Beifiger mitwirken follen, aus freien, von den Geſchäftsinhabern 
und den Ungeftellten getrennt vorzunehmenden Wahlen hervorgehen müßten. 

Fragt man nad den Gründen, die für den Anſpruch auf Einführung 
faufmännijcher Schiedsgerichte bejtehen, jo pflegt in erfter Linie der Umftand 
genannt zu werden, daß der zur Entſcheidung der Streitigkeiten zwiſchen Brinzipalen 
und Handlungsgehilfen jet offenftehende ordentliche Prozeßiweg zu lang und zu 
foftjpielig jei. Nun haften die Mängel der Yangivierigleit und Kojtfpieligkeit 
unjerem heutigen Serichtsverfahren ganz unzweifelhaft an. Aber da man doch 
nicht jagen fann, daß hierunter allein oder auch nur hauptfächlich die im Handel 
Angeſtellten zu leiden haben, fo fehlt diefem Grunde die Bemeisfraft. Jene 
Mängel können wohl das Verlangen nad einer Beſchleunigung und Berbilligung 
der Prozeßführung überhaupt begründen; zur Rechtfertigung gerade kaufmänniſcher 
Sondergerichte vermögen fie nicht zu dienen. 

Sondergerichte werden nothwendig, wenn der Richter, zur Beurteilung 
der Mehrzahl der Streitfälle befondere Fachkenntniſſe bejigen muß, wenn feine 
juriltiiche VBorbildung bei der Nechtsfindung regelmäßig nicht ausreiht. Im 
Ernjt läßt fich aber duch num nicht behaupten,» daß zur Entſcheidung der Prozefle, 
die die Dandlungsgehilfen und Lehrlinge mit ihren Prinzipalen auszutragen haben, 
kaufmänniſche Fachkenntniſſe erforderlich ſeien. Dieſe Streitigkeiten drehen fich 
um den WUntritt, die Fortſetzung oder die Auflöfung des Dienftverhältniffes: 
um die Ausftellung oder den inhalt eines Zeugniſſes; um die LXeiftungen und 
Entihädigunganiprücde aus dem Arbeitverhäitniß; weiter um die Nüdgabe von 
Zeugniſſen, Zegitimationpapieren und Kautionen, die aus Anlaß des Dienf: 
verhältniffe3 übergeben worden find; endlich um Anſprüche auf Zahlung ein 
Vertragstrafe wegen Nichterfüllung oder nicht gehöriger Erfüllung der ei 
gegangenen Verpflichtungen. Ueberall find e8 Nechtsfragen, Fragen der Auslegu 
von Geſetzes- und Nertragsbejtimmungent, die der Entjcheidung harren, und äußer, 
jelten nur wird der Nichter Gelegenheit finden, ſpezifiſch kaufmänniſche Kenntnif 
zu verwerthen. Mit der Unfähigkeit der ordentlichen Nichter zur Beurtheilur 
der einichlägigen Verhältniffe wird man alſo nicht operiren dürfen. 

Eben jo wenig aber erjcheint die Yorberung nad kaufmänniſchen 7 


Kaufmännifche Schiebögerichte. 155 


gerichten wirthſchaftlich gerechtfertigt. Die Zahl der Streitigkeiten zwiſchen 
Geichäftsinhabern und ihren Ungeftellten ift nämlich nur ſehr gering. In ganz 
großen Städten kommen ſolche Prozefje ja nicht felten vor; in mittleren und 
fleinen Städten jedoch begegnet man ihnen nur fo vereinzelt, daß hier für kaufe 
mãnniſche Schiedsgerichte kein Raum ift. Nun behaupten die freunde der 
Schiedsgerichte allerdings, an ber Seltenheit der Rechtsſtreitigkeiten trügen die 
Mängel des gegenwärtigen Verfahrens die Schuld; die Angeftellten nähmen ans 
Scheu vor ber Umftändlicleit und Koftipieligfeit der Rechtspflege lieber viele 
thatfäghliche ober vermeintliche Unbilden ruhig Gin, als daß fie fid) an bie orbent- 
lichen Gerichte wendeten. In einzelnen Fällen mag Dergleihen ſchon vorge 
tommen fein. Das ftumme Dulden bildet aber gerade in unferer Zeit ganz 
ficher nicht die Regel. 

Wäre das Bedürfnig nad kaufmänniſchen Schiedsgerichten wirklid jo 
dringend, wie ihre Anhänger behaupten, jo würden doch wahrfheinlic die in 
Deutjchland beſtehenden fakultativen kaufmänniſchen Sciedsgerichte ftarf in 
Anſpruch genommen. Das ift aber durchaus nicht der Fall. So wurden bei 
dent in Hannover beſtehenden Fachgericht im Jahre 1900 nur achtzehn Prozeſſe 
anhängig gemacht. Das Schiedsgericht in Braunſchweig konnte im Anfang 
feines Beſtehens mandmal als Vermittelungamt in Thätigkeit treten, wurde in 
der legten Beit aber gar nicht mehr angerufen. Beim kaufmänniſchen Sciede- 
gericht in Osnabrüd wurde im Verlauf eines Jahres ein einziger Streitfall 

. angemeldet; und das Schiedsgericht in Stolp, das mit Beginn des Jahres 1900 
ins Leben trat, ift bisher überhaupt noch nicht angegangen worden. Sanı man 
es, angefihts biefer Erfahrungen, der augsburger Handelstammer verbenken, 
wenn fie den ganzen Lärm um die kaufmänniſchen Schiedsgerichte für „eine 
reine Modeſache“ erklärt? 

Zu Gunften der kaufmänniſchen Schiedsgerichte wird endlich noch ange» 
führt, ihre Einrichtung werde in ſozialer Bezichung erfrenlich wirken; die gemein» 
fame Thätigfeit von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, bei der beide Theile gleich- . 
berechtigt einander gegenüberftänden, werde dazu führen, die gegenjeitige Werth: 
ihägung zu erhöhen. Allein auch dieſer Hoffnung wird die Erfüllung verfagt 
bleiben. Im Gegentheil ift zu befürdten, daß die Einführung der Schieds- 
gerichte — von der man fi ja eine Vermehrung der Prozeſſe verjpricht und 
die den Kampf eum die Wahl der Beiſitzer heraufbeſchwört — nicht zur Ver 
föhnung beitrag n, jondern erſt recht Zwieſpalt ſchaffen und vergrößern werde. 
Bezweifeln wird man auch müffen, daß faufmänniihe Schiebsgerichte, deren. 
Beifiger durch Wahlen beſtimmt werden, die nöthige Gewähr für eine unpars 

he Redtiprehung bieten. Gin Veiliger, der ang ſtürmiſchen Wahlen her- 
zegangen ift, leidet an Voreingenommenheit und Befangenheit. Er wird nicht 
Recht zu finden, fondern die Sonderinterefjen feiner Standesgenojjen zu 
‚ern verſuchen und darum niemals ein guter, ein gerechter Richter fein können, 
Bedenkt man endlich, daß durch die Schaffung kaufmänniſcher Schieds- 
cichte der Grundfaß der ordentlichen Gerichtsbarkeit abermals durchbrochen wird, 
vird man fich, troß dem Neichstag, für die Neuerung ſchwerlich begeiftern £önnen. 


Shemnip. Landrigter a. D. Ernft Mumm. 


“ 





156 - Die Zuhmft. 


. Onze dappern burghers*). 


Greift an das Werk mit Yäuften! 
Das Rechten hilft nicht mehr; 
Ahr Beiten, ihr Getreuften, 

Zur That, zur Gegenwehr! 


gi die beiden Kleinen Burenrepublifen dem gewaltigen Albion den Fehde⸗ 
handſchuh hinwarfen, „entichlojfen, für ihre zzreiheit und ihr Hecht zu 
fämpfen bis zum leßten Dann‘, „tot de bitter end“, da kannte die Begeijterung 
in Deutjchland feine Grenzen. Die alten Märchen. von der zähen Tapferkeit 
der Buren, ihrem glühenden Freiheitdrang, ihrer heißen Waterlandliebe, ihrer 
tiefen Gottesfurcht und vorbildlichen Reinheit der Sitten wurden wieder auf- 
gefriicht. Kein Wunder, daß viele Hunderttaufende „Zu den Waffen!“ riefen 
und daß einige Hundert ihr Wort in die That umfeßten und über das Meer 
eilten, um mit den bedrängten „ftamınverwandten Brüdern” **) Schulter an 
Schulter gegen die Mordbanden der Chamberlain und Cecil Rhodes zu fämpfen 
und zu bluten. Gaben doch die Deutichen zu allen Zeiten zahlreiche Rekruten 
für die Heere um ihre Freiheit kämpfender Völker geſtellt. In den deutjchen 
Dffiziercorps war die Kriegsluſt jo groß, dab eine „Allerhöchſte Kabinetsordre“ 
nöthig jchien, die allen Offizieren die Theilnahme am Sriege unterfagte. Troß- 
dem und troß den offiziellen Dementirungen haben viele aktive Offiziere unter 
diefer oder jener Begründung ihren Ablchied erbeten und in ben Reihen der 
Buren mitgefämnpft; der größere Theil ber im Burenheer fämpfenden deutſchen 
Offiziere war freilich jchon früher aus dem Armeeverband gejchieden. 

Die Transpaalregirung Hatte öffentlich erklärt, daß fie Teine Werbungen 
beabjichtige, daß ihr aber freiwillige Mitfämpfer willlommen jeien. Wie jehr 
es ihr damit ernft war, geht daraus hervor, daß allen Ausländern ohne Unter- 
Ichied, die die Waffen für die Nepublif aufnahmen, das volle Bürgerrecht ge— 
währt wurde. Leyds fchrieb aus Brüffel an deutſche und öfterreichiiche Offiziere, 
die ihn um nähere Auskunft über ihre Ausfichten in der Transvaalarınee baten, 
ſehr diplomatiſch: daß er zwar feine beftimmten Zuſagen in irgend einer Hinficht 
machen fünne, daß fie aber der Trangvaalregirung in jedem Falle jehr willkommen 
feien und in entiprehenden Stellungen in der Burenarmee Berwendung finden 
würden. Diefe entjprechende Verwendung bejtand darin, daß man ihnen, vom 
altgedienten Oberften und Führer eines deutichen Neiterregimentes bis zum jungen 
Lieutenant, ein Gewehr und einen Gürtel mit jechzig Patronen umbängte und 
ihnen fagte: „Loop, schiet“! Das heißt: Du darfit mitichießen, Haft im Uebrigen 
aber bier nichts zu jagen und Did) in unfere Angelegenheiten nicht einzumijchen. 
Wenn von den unglaublichen Zuftänden in der Burenarınce und ber unwürdigen 

*) Eing mans red ijt eine halb red; man foll die teyl verhören bed: nach 
dem guten altdeutichen Spruch wird auch diefe zunächſt befremdende Darftellung 
füdafrifanifcher Kriegszuftände felbjtändig denfenden Leſern willkommen fern. 

**) Einige der weiteftverzweigten Burenfamilien find: die Joubert, Du Toit, 
Du Pleſſis, De la Rey, De Wet, Theron, Malherbe, Olivier, Marais, De Villiers, 
Rouſſeau, Fourie, Malan, Fouche, Le Roux, De la Croir u. ſ. w. 








Onze dappern burghers. 157 


Behandlung der freiwillig mitfämpfenden Ausländer jo wenig in Deutjchland 
befannt geworden ift, fo liegt der Hauptgrund wohl darin, daß es nur wenige 
deutiche Zeitungen gab, die den Muth gehabt hätten, ihren Leſern eine wahr- 
baftige Schilderung der Zuftände zu geben, auf die Gefahr hin, neun Zehntel 
ihrer Abonnenten zu verlieren. Ueber die Stimmung der aus allen Erdtheilen 
herbeigceilten Freiwilligen ift in Demichland fehr wenig befaunt geworden. In 
Johannesburg erſchien während des Yeldzuges eine internationale Anfichtpoftkarte, 
die die Wappen fämmtlicher in den Freiwilligencorps vertretenen Nationen trug 
und unter jeden Wappen einen entiprechenden Kernſpruch. Der für die allge 

meine Stimmung fehr bezeihnende Spruch der Deutjchen lautete: 

„Ans bat ja nicht die Liebe (zu den Buren), 
Uns bat der Haß vereint” (gegen die Engländer). 
Die Begeifterung war bei Denen, die ihrd Sympathien für das Burenvolk nicht 
nur durch Abjingen der Volkshymne und durch Maſſenverſammlungen befundeten, 
fondern mit den Waffen in der Hand dem bedrängten Volk zu Hilfe geeilt 
waren, ſehr bald erlofchen. Nach den offiziellen Liften jtanden etwa 6000 Deutfche 
im Burenheer; etwa 1500 davon waren aus Deutjchland, Tejterreich, der Schweiz, 
Rußland, Amerika Herbeigeeilt. | . 
Ich hatte, ala ich meinen Abſchied nahm, „um als Kriegöberichterftatter 

der Täglichen Rundihau nah Südafrika zu gehen“, meine Erwartungen ſehr 
niedrig geſchraubt; troßdem follten mir große Enttäufchungen nicht erjpart bleiben. 
Wir Beutichen, öfterreihiichen und fchweizer Offiziere auf dem Dampfer „Bundes« 
rath“ waren gleich begeijtert für das tapfere Volk ber Buren, deflen Heldenthaten 
nad allen Berichten die eines Leonidas in den Schatten jtellten. In Deutſch-Oſt⸗ 
afrika, an deſſen Küfte der ‚„‚Bundesrath‘ einige Tage verweilte, erhielten wir 
unfere erjte Abkühlung. In Dar-es-falaam leben viele Deutiche, die ſich im 
Transvaal aufgehalten haben. Sie Alle Hatten für die Buren wenig übrig 
und machten uns gegenüber daraus fein Hehl. In Durban, wohin uns die 
Engländer unter den Verdacht jchleppten, daß der „Bundesrath“ Kriegscontre— 
bande an Bord habe, hatten wir zum erjten Mal Gelegenheit, die „gänzlich 
verwahrlojten, aus den niedrigften Volksichichten refrutirten und von Sportsmen 
und anderen Civiliften in Uniform geführten englifhen Truppen’ aus nädjiter 
Nähe kennen zu lernen. E83 waren die Verftärkungen, die für Buller zum Entjag 
von Ladyſmith angefommen waren und in aller Eile auf der Bahn nad) dem 
Skriegsichauplaß entjandt wurden. E3 waren meijt aftive Regimenter und id 
fann ihnen nur das Zeugniß ausitellen, daß ich feinen Unterjchied zwijchen einer 
Eifenbahnverladung deutjcher Truppen während der Herbſtmanöver und diefer 
zur Front abgehenden Truppen bemerkt habe, — ausgenommen vielleicht den, 
5 Alles mit geringerer Anftrengung der Stimmbänder vor fi) ging, als wir 
in Deutjchland gewohnt find. Eine fonderbare Fügung wollte, daß ich diejen 
ben Xruppen wenige Wochen fpäter im heftigen Feuer auf dem Plateau des 
Pionkops mit dem Gewehr in der Hand gegenüberliegen jollte. Der in Durban 
‚ewonnene gute Eindrud verwandelte fih in Hochachtung, als ic” am Morgen 
ab der Schladt die engliſchen Schügengräben aufjuchte, in denen nad) Fort— 
jaffung der Verwundeten nod Mann bei Mann lag, fo daß faft auf jeden 
teter Sraben ein Toter fam. Dieſe Truppen waren nicht verwahrlojt, trotzdem 
fh aus den „nicdrigften” (fol wohl heißen: ärmſten) Volksklaſſen refrutiren. 


12 


158 Die Zukunft. 


Nach elftägigem unfreiwilligen Aufenthalt in Durban gelang es mir 
endlid, die Erlaubuiß zur Nücreife nad; Delagoa-Bai zu erhalten; id war 
genöthigt, ein englifches Schiff, den „Umtali”, zu benugen. Man muntelte 
damals — und die Cap- und Ntatal- Zeitungen beitätigten c8 — viel von Deutſchen, 
die als Burenfpione auf engliihen Schiffen verhaftet worden feien, und ich war 
beshalb bei meiner Einfchiffung nicht ficher, ob ich nun ohne weiteren Zwilchenfall 
zur Burenarmee gelangen würde. Ich reifte mit einem fchweizer Dragoneroffizier, 
ber jeinen Schnurrbart abrafirt Hatte und dauernd aus einer kurzen englifchen Pfeife 
rauchte, um für einen Engländer gehalten zu werben, jo daß ihm jchließlich ganz 
ſchlecht wurde. Da wir vom Engliſchen beibe nicht viel verftanbden, ſprachen wir fran: 
zöfitch mit einander, um uns nicht einem zufällig anweſenden Detektiv als Deutſche 
zu verrathen. Ich muß geftchen, daß ich damals von dem „Schuß des Deutſchen 
Reiches”, unter dem ich angeblich ftand, einen eigenen Begriff befonnen habe. Wir 
gelangten ohne weiteren Zwiſchenfall nach Delagoa-Bai. Nad vielen Schwierig- 
feiten erhielten wir hier endlich für viel Geld und viele gute Worte portugieftsche 
Päſſe, für noch mehr Geld und unter noch mehr Schwierigkeiten die ebenfalls 
notwendigen Päffe von dei engliich geſinnten Konſul der Transvaalregirung, 
Herrn Pott, und jagen im Yuge nad Pretoria, neugierig, wie man ung bei 
ben Buren aufnehmen werde. Wir Hatten inzwiſchen jchon Vieles gehört, was 
fehr, jehr wenig ermuthigend Klang; ein Derr, mit dem wir im Zuge befannt 
wurden, fagte, man werde ung behandeln „wie einen Hund in der Kegelbahn.’ In 
Komati Poort, an der Transpaalgrenze, wu wir ung als Freiwillige für die Buren- 
arniee zu erfennen gaben, wurden wir von dem Kommandanten, ber einen deutichen 
Namen führte und zum Ueberfluß noch eine goldene Brille trug, aber nur hol- 
ländiſch Iprach, Herzlich empfangen. Er fuhr eine Strede mit und ftellte in 
dieſer Beit jehr viele Fragen an uns. Ueber die Art, wie wir in der Buren- 
armee verwendet werden würden, hatten wir fchon merkwürdige Dinge gehört; 
unjer Begleiter jagte, wir würden dem Stabe eines Burengenerals zugetheilt 
werden. Den Dobn, der darin lag, follte ich erft fpäter begreifen lernen. Als 
er ums endlich verließ, gab er ums einen jungen Buren mit, der ung bei Allem 
behilflich jein jollte, da wir als Fremde uns wohl fchwer allein zuredtfinden 
würden. Diejer junge Mann nahm fich ſehr freundlich unjer an. Er war jtet3 
um uns bemüht, folgte uns auf Schritt und Tritt, — und entpuppte fi ſchließ— 
lich als einen Gscheimpoliziiten der Transvaalregirung. 

In Pretoria ſuchte id), nach einem Beſuch beim deutichen Konful, den 
Staatsjefretär Neiß auf. Ver oberjte Staatsbeamte der Nepublif — und wie 
zu jeiner Ehre gejagt ſei, auch der ärmſte Beamte der Republit und der einzige, 
der nicht geitoblen oder betrogen bat — empfing mid äußerit liebensmürdig. 
Er ſprach ziemlich fließend deutjch, bat mich jedoch, ihm meine Empfehlun 
ſchreiben jelbjt worzulejen, da ihm das Yejen des Deutjchen Schwierigkeiten 
mache. Auf meine stage, wie id) in der Armee verwendet werben jolle — du 
es Schalt, Löhnung, Kriegsſold, oder wie man es nennen will, nicht gab un 
mar gefülliaft aus feinem eigenen Geldbeutel zu leben Hatte und daß diefe 
recht inhaltreich fen mußte, wenn man nur einigermaßen anftändig durchkomme 
wollte, hatte ich auch ſchon vorher erfahren -, enviderte er etwas verlegen 
darüber habe der „Kommandant Generaal“ allein zu bejtimmen, in deſſen T 





— — — — in _ 


— — — —— — — — 


- 


Onze dappern burghers. 159 


fugniffe einzugreifen er nicht berechtigt fei. Uebrigens fei es allen Ausländern 
freigeitetlt, weldem Kommando fie fih anſchließen wollten. Er gab mir jedod 
ein Schreiben mit, in bem er mich Joubert warm empfahl. Warum ich diejen 
Empfehlungbrief niemals an Joubert abgegeben, jondern mir ala Kuriofum auf- 
gehoben habe, wird Jeder verjtehen, der die Verhältniſſe und den alten Joubert 
tannte. In den folgenden Tagen, in denen ich, um ein Pferd, Ausrüftung und 
Waffen zu erhalten, Stunden lang mit einem Stüd Papier in Pretoria herum: 
laufen mußte, nachdem ih, um dieſes Papier zu erhalten, Stunden lang vor 
den Bureaux untergeordneter Beamter hatte antichambriren müſſen, wurde ich 
von Kameraden, die ſich die „Schweinerei‘‘, wie fie es fehr bezeichnend nannten, 
Ichon einige Bett angejehen hatten, fchonenb auch noch des legten Neftes meiner 
Illuſionen entfleidet. „Sie wollen uns gar nicht haben; fie betrachten uns als 
das fünfte Rad am Wagen und geftatten ung gnädigſt, mitzulaufen, da fie es 
Anſtands Halber nicht gut verhindern können.“ 

Eben Hatte der Januar begonnen. Die fiegreihen Buren ftanden in 
Natal und der Capkolonie. Ladyjmith, Mafeking und Kimberley waren von 
ihren Heeren eingejchloffen, die Engländer überall aus dem Felde gefchlagen. 
Der Hochmuth gegen die Ausländer kannte feine Grenzen. „Da jeht hr, was 
Eure europäiſche Kriegskunſt werth ift‘‘, hieß es; man lachte uns ins Geficht. 
„Ihr könnt bei uns viel, jehr viel lernen.” in holländiſcher Arzt, alfo doch 
ein gebildeter Mann, verjicherte allen Ernites, man werde über kurz oder lang 
auch in den europäiſchen Armeen die veraltete Gefechtsweile fallen laſſen und 
zu der der Buren übergehen müſſen. Da er ein würdiger alter Herr war, fo 
widerſprach ich ihm nicht. Wohl aber habe ich oft Buren, die mir mit dem 
telben Unfinn kamen, gefragt, worin denn nach ihrer Meinung die großen Vor: 
züge ihrer Kampfesweije beftänden. Sie nannten meift die einfachſten Lehrſätze 
unjerer europäijchen (deutichen, rufjiichen, franzöjiichen) Felddienſtordnungen die 
zu Haufe jedem Rekruten geläufig find. Wenn ic) dann erwiderte, daß man 
Das in allen moderıen Armeen — zu denen man bei uns die englijche aller- 
dings wicht rechne — genau jo mache, oder gar fragte, aus welcher Kenntniß 
europäilcher Armeen denn die Herren ihr wegwerfendes Urtheil über alle europäi— 
fen Heeresverhältnijic herleiteten, fo gingen fie gewöhnlich fort, um das jelbe 
Thema mit irgend einem Deutih-Afrikaner zu verhandeln, der vielleicht in 
feinem Leben nie einen deutichen Soldaten geſehen hatte. 

„Welchen Kommando werden Sie fi anſchließen?“ fragte ich in den 
erften Tagen nach meiner Ankunft in Pretoria einen mir bekannten Ulanen: 
offizier, den ich .mit geichultertem Gewehr in Khaki auf der Straße traf. Er 
nannte den Kamen eines Burengenerals und fügte Hinzu: „Der ſoll nämlid) 

Allen noch am Wenigiten deutichfeindlich gefinnt fein.“ Der größte Deutichen: 
‚er im ganzen Transvaal war der alte ehrliche Jonbert. Er haßte die „Wit: 
iders“, vor Allen aber die Teutichen, die feine verrätheriichen Abfichten mehr 
» einmal durchkreuzt hatten, *) von ganzem Derzen und behandelte befonders 

*) Joubert war ein Gegner des Krieges und verjuchte mit allen Mitteln, 

denen auch die verrätheriſche Aufgabe der Belagerung von Ladyſmith gehörte, 
diefem Sinn auf den Präfidenten Krüger und den Volksraad einzuwirken. 


12” 


- 160 Die Zukunft. 


die deutfchen Offiziere ſchlecht. Dem in Ceylon gefangen gehaltenen Oberſten 
von Braun, der als einer der erjten deutjchen Offiziere bei Ausbrud des Krieges 
nad Transvaal ging und fih bei Joubert meldete, ftellte der alte Herr die 
wenig jchmeichelhafte Frage, was er eigentlid) wolle; und al3 Braım erimiderte, 
er fei gefommen, um in der Burenarmee gegen die Engländer zu fechten, er- 
twiderte ihm Joubert paßig: Dan fat een roor en loop schiet (Dann nimm 
ein Gewehr und geh. fchießen). Die deutſchen Berichterjtatter meldeten damals 
gewifjenhaft an ihre Zeitungen: „Oberft von Braun ift dem Stabe des Cber- 
fommandirenden zugetheilt worden.“ Joubert mußte dafür aber auch mande 
Iharfe Erwiderung auf feine deutjchfeindlichen Meußerungen einfteden. Jeder 
Bürger hatte bekanntlich nach dem Striegsgejeg, wenn er eine Anzahl Wochen 
im Felde geſtanden hatte, das Necht, vier Wochen auf Urlaub zu gehen; da die 
meiften Urlauber e3 aber mit dem Wiederfommen nicht jchr eilig hatten, be 
gannen fi) die Kommandos bei Ladyſmith fo bedenklich zu lichten, daß die Be 
urlaubungen eingejchräntt werden mußten. Damit waren aber die burghers, 
denen der Krieg jchon langweilig wurde, nicht zufrieden und Manche von ihnen 
famen auf den Gedanken, fich ſelbſt leichte Berwundungen beizubringen, um auf 


diefe Weiſe nah Hauſe oder wenigſtens ind Hofpital zu fommen, wo fie ſich 


auch ganz wohl fühlten. Solche Fälle kamen damals in allen Zagern vor. Als 
eines Tages ein Deutjcher jich bei Joubert meldete, um für zwei am Tugela 
verwundete Landsleute die üblichen Päſſe zu erhalten, meinte Joubert verödht- 
lid, die Beiden hätten fich wohl auch felbjt verwundet, um Urlaub zu befommen; 
worauf er die prompte Antwort erhielt: „Nein, General, es find feine Buren.* 
Trotzdem ich von Jouberts ſchlechter Behandlung der deutſchen Offiziere 
ſchon gehört Hatte, wollte ich die Beſtätigung doch lieber aus eigener Anfchan- 
ung haben und meldete mic) im Dauptlager von Zadyjmith bei dem Cherfom- 
mandirenden. Als ich aufdie Frage: Wat will Gij? erwiderte, ich ſei deutſcher 
Offizier und wolle in der Burenarmee gegen die Engländer fämpfen, verzog 
ſich fein von einem ftruppigen grauen Bart umrahmtes Geſicht zu einem fröß: 
lichen Grinjen und fein zum Frühſtück (oder Kriegsraad — genau ward nicht 
zu unterfcheiden —) verfainmelter, aus einem Kreije mohlgenährter, (angbärtiger 
Buren beftehender Stab brad) in ein höhnisches Gelächter aus, während Einer 
von ihnen ſelbſtbewußt ſagte: „Unjere Kriegführung muß doch ſehr gut jein, 
daß jo viele deutihe Offiziere hierherkommen, um von uns zu lernen!” Sg 
hatte gehört, was ich hören wollte, beftieg meinen Gaul wieder und trabte in 
der Richtung auf das Lager des deutjchen Korps weiter. Während des einſamen 
Rittes auf der jtaubigen, von der glühenden Januarſonne ausgedörrtten Straße 
hatte ich Zeit, darüber nachzudenken, was ih nad) dem bisher Erlchten und 
Geſehenen nod in der Burenarmce wolle. Durdigeritten, müde, Hungrig 
verjtimmt langte ich geaen Abend im Lager des deutjchen Corps an. Auch 
war Manches anders, als cs fein jollte, und Alles anders, ald man es in 
deutſchen Zeitungen lefen konnte. In dem Defannten Kampf um den Spi 
top am Tugela erhielt id) meine Zyenertaufe und zugleicd) Gelegenheit, die Er’ 
riſche Iüchtigfeit der Buren aus nächiter Nähe zu bewundern Wie alle 
Gernirungarmee vor Ladyſmith gehörenden JLaaxer Hatte auch das deu! 
Corps einen Theil feiner Mannſchaft zum Schutze der Tugelalinie gege 





— — — — — — —— — — — 


Onze dappern burghers. 161 


Entjaßverfuche Buller3 abgegeben. Am dreiundzmwanzigften Januar lief abends 
tm Lager vor Ladyſmith die Botſchaft ein, ein Angriff der Engländer jtehe am 
Tugela bevor. Ich ritt am nädjten Morgen früh los und langte gegen Mittag 
am Spionfop an. Unterwegs hatte ich von einigen Buren, bie nad) ihrem 
Zager zurüdritten, gehört, daß die Engländer in: der Naht den Spionfop 
geftürmt hätten und daß „Alles verloren“ ſei. Bon Weiten fdjon hörte ich 
Kanonendonner und heftiges Gewehrfeuer, untermiicht mit dem kurzen, fcharfen 
Knall der Maxim-Geſchütze. Als ich, Über die von zu Hoch gehenden engliichen 
Sdiffsgranaten betreute Ebene galoppirend, mich den Höhen näherte, auf denen 
gefämpft wurde, bot fich mir ein Anblick, den ich nie vergeifen werde. Acngitlich 
aulammengedrängt, einzeln und in kleineren und größeren Stlumpen unter dem 
Schuß des Bergabhanges fich verfriechend, hockten Hunderte und Aberhunderte 
von Buren, während oben am Rande des Blatcaus eine ſehr dünne: Buren- 
linie, in der recht viele Ausländer waren, auf dreihundert Dieter den englijchen 
Scüßengräben gegenüberliegend, ein heißes Feuergefecht führte. "Sein Bureden 
und fein Drohen, fein Appelliren an ihr Ehrgefühl vermochte die im ſicheren 
Verſteck Sitenden in die Feuerlinie zu treiben. Cine grimmige fyreude bereitete 
e3 mir Später im Verlauf des Gefechtes, als einige der für uns bejtimmten 
engliichen Granaten, mit denen wir oben auf dem Plateau reihlid bedacht 
wurden, In einen folden Haufen von „Drüdebergern” am Bergabhange eit- 
ihlugen. So jchnell habe ich die Buren im Lauf des ganzen Krieges nicht 
wieder laufen jehen, troßdem fie auch jpäter darin Ziemliches leifteten. 

Am Abend räumten die Engländer den Spionkop. Sie Hatten furdt- 
bare Verluſte erlitten. Der Ruhm des Tages gebührt in eriter Linie der Buren- 
Artillerie, diefer vorzüglichen, von deutſchen und franzöſiſchen Offizieren geſchaffenen 
und nach der veradhteten europäiichen Methode einererzirten und digziplinirten 
Truppe. Als die Engländer über den Tugela zurüdgegangen und abgezogen 
waren, ohne daß die Buren, ihren Sieg ausnüßend, fie verfolgten — denn in 
der Bibel, die ihre Felddienſtordnung it, Steht: „Einem fliehenden Feinde ſoll 
man goldene Brücden bauen’ und Joubert hatte verboten, „von hinten“ auf die 
Engländer zu ſchießen, weil es unchriitlich jet —, da war die Freude groß. Onze 
dappern burghers fonnten einander nicht laut genug zu ihrer Tapferkeit beglück— 
wünjchen. Wohl hörte man auch hier und da ein auerfennendes Wort über die 
Deutjchen, die einen hervorragenden Wutheil am Nampf genommen und ver- 
hältnißmäßig große Verlufte gehabt hatten; viel häufiger aber kounte man 
Heußerungen hören über die ,„„ Dummheit‘ der Deutjchen, die nicht zu „Fechten“ 
verjtänden und deshalb fo große Verlufte im Vergleich zu den Burenkommandos 
aehabt hätten. Zwei Buren ftritten nach der Schlacht über bie frage, wie viele 

t „unjeren Leuten“ an einer Ztelle der Gefechtslinie gefallen jeien. Der Eine 
‚auptete: Bier. „Nein“, ſagte der Andere: ‚Drei; der Eine war nur (‚net‘) 
Deutſcher.“ Ich jelbft hörte einen alten Buren veranügt über den gewonnenen 
„ieg ausrufen: „Erſt jagen wir die Engländer aus dem Yande, und wenn mir 
amit fertig find, dann ſchmeißen wir alle Ausländer raus.” Ein Bur, den 
) fragte, warum er nicht mit ins (Gefecht gegangen jei, meinte treuberzig: 
Tensch hat doch zijn leven lief“. (Wan hat doch fein Leben lich.) Den Meiften 
‘te jedes Verſtändniß für ihr Elägliches Benehmen vor dem Feinde und des: 
3 hatten fie auch für die Tapferkeit der Ausländer feine Anerkennung. 


162 . Die Zutunft. 





Als ih am Morgen nad der Schladt mit einem anderen Deutſchen 
wieder auf das Plateau des Spionkops jtieg, um den am Tage vorher gefallenen 
Lieutenant von Brüfewig zu begraben, fand ich feine Leiche vollſtändig aus- 
geraubt und mit nad außen gefehrten Rock- und Hofentafchen; er war eben „mr 
ein Deutjcher‘‘. Die dappern burghers aber waren and, eifrig bei ber Arbeit, 
die engliihen Toten auszuplündern. Da ihnen das Umdrehen der Taſchen zu 
umſtändlich und bei den meift ſtark mit Blut bejudelten Leichen auch zu unſauber 
war, ſchnitten fie getvöhnlich nur die Tafchen von außen auf und entlcerten fie 
fo ihres Inhaltes.“) Es war ein widerlicher, efelhafter, eınpörender Anblid. 

Ich Habe danı cine Woche darauf in dem viertägigen Kampf bei Pot— 
gietersdrift am Tugela und fpäter in Bothas Armee im Oranje-Freiſtaat m 
vielen Gefechten mitgefämpft. Ueberall aber war es das jelbe Bild. 

Die Volksstem, das offizielle Organ der Transvaalregirung, das ımit 
größter Gemwifjenhaftigkeit jede Heldenthat ihrer „tapferen Bürger‘ unter großem 
Aufvand der abgedrofchenften Phrajen über Heldenmutd, sreiheitliebe und Gottes- 
furcht verzeichnete, erwähnte mit feiner Silbe die zahlreichen Fülle, wo fi die 
Ausländer-Eorps ausgezeichnet hatten. Stets hieß ed: Onze dappern burghers... 
Wenn fie dagegen den Haß gegen alles Nichtholländiſche ſchüren konnte, ıyat 
fie e8 gar zu gern. Als die deutiche Abtheilung von bem vereinigten Ausländer- 
corps des franzöfiiden Oberſten de Villebois nad allen Regeln des Kriegsrechtes 
Lebensmittel auf einer Farm requiriren mußte, da fir troß wicderholtem An— 
juchen von der Regirung nichts erhielt, berichtete die Volksstem entrüjtet über 
die „Plünderung einer Burenfarın durd die Deutfchen”. Diejes Blatt hatte 
die Unverjchäntheit, dem dentjchen Freicorps unter Oberſt Sciel die Schuld 
an der Niederlage bei Elandslaagte in die Schuhe zu jchieben, unter Hinweis 
auf die veraltete, den Anforderungen des jebigen Krieges nicht gewachſene Fecht⸗ 
weile der Deutjchen, die den ungünftigen Ausgang verjchuldet Habe. Thatſächlich 
wurden die 85 — fünfundachtzig! — Deutſchen, die nah einem ſcharfen Ritt 
am fpäten Nachmittag auf dem Schladjtfelde erfchienen und tapfer in das bereits 
verlorene Gefecht eingriffen, von den Buren ſchmählich im Stich gelaffen. Leider 
bat die von der Volksstem verbreitete Lesart nicht nur in allen Burcnlagern 
Gehör gefunden, jondern ijt auch in viele deutihe Zeitungen übergegangen. 

Der Nüdzug der Buren durch den Fyreiftaat und über den Vaalfluß war 
eine einzige Fylucht. Brachten die Kıumdichafter die Meldung: „De Engelsche 
konmen“, dann gab es fein Halten mehr. In fünf Minuten war dag Lager 
abgebrochen und von der ganzen Burenarmee au nicht ein Pferdeſchwanz mehr 
zu jchen. Das deutfhe Eorps**) bildete während des ganzen Rückzuges durch 
den Freiſtaat die unfreiwillige Arrieregarde von Bothas Armee, da ed, auf 
Ichlechten Pferden beritten gemadjt und häufig Scharmüßel mit den englifc 


Spionfop, die auch in deutjchen illuftrirten Zeitſchriften erſchienen und auf den 
man deutlich an den Uniformen der gefallenen Engländer die Spuren des Leid 
raubes erkennen kann. 

**) Es gab drei deutſche Corps: eins in Natal, eins im Oranjefreifta 
und eins im internationalen Korps Billeboie. 


Onze dappern .burghers. 163 


Avantgardentruppen Tiefernd, ftet3 einige Tagemärſche Hinter den ‚Burenfon- 
mandos zurüd war. Hatten diefe dann auf der großen Netirade wieder einmal 
Halt gemadt und wir famen auf unferen ausgehungerten Pferden und felbjt oft 
Mangel Teidend im Laager an, dann hatten fie die inzwiſchen angekommenen 
Broviantvorräthe gewöhnlich brüderlich unter fich getheilt und für ums war nichts 
übrig geblieben. Den anderen Ausländercorps, jo weit fie noch exiitirten, ging 
es nicht beiler. Im Gefecht, wo man fie nicht entbehren konute, jtellte man jie 
vornan; im Uebrigen aber behandelte man fie alg die „dummen lLitlanders ” 
Es ift daher fein Wunder, daß auf dein weiteren Rückzuge ſich in Johannes⸗ 
burg das deutiche Corps auflöfte und ein großer Theil der zerftreut unter den 
Burenkommandos fechtenden Ausländer in Johannesburg und Pretoria zurüd- 
blieb. Zu Hunderten maren während des Rückzuges die Buren auf ihren Farmen 
zurüdgeblicben und übergaben jich den Engländern, jo daß Botha von den zchn- 
taufend Mann, die er am Saud-River nod unter feinem Kommando vereinigte, 
beim Durchmarſch durch Pretoria feine Taujend mehr hatte, — Nebellen aus 
der Sapfolonie und Natal, Ausländer und Buren aus den von den Engländern 
noch nicht offupirten nördlichen Iransvaal. Als am fünften Juni 1900 die 
Engländer in Pretoria einrüdten und den wüſten Plünderungjzenen, die jih in 
den leßten Tagen vor der Einnahme der Stadt dort abjpielten, cin Ende madten, 
da wollte das Hurragejchrei der Bevölkerung fein Ende nehmen; von der eiligen 
Ruhe, mit der die Einwohner die cinziehenden Truppen empfangen haben jollen, 
war nichts zu merken. Als die Engländer fpäter ein weitverzweigtes Spionage. 
fgitem einrichteten, ijt mehr als ein Ausländer, der gegen die Engländer im 
Felde gejtanden hatte, von Buren denunzirt worden, die jid) damit einen Neben— 
verdient machten. Die zahlreichen Deutichen, die in Bretoria von den Engländern 
ins Gefängnig gejperrt wurden, hatten unter der ſchlechten Bchandlung viel zu 
leiden ; die Gefängnigwärter, geborene Iransvaaler, die der Queen den Treu— 
eid geleitet hatten, fuchten ihre nun plößlich „loyale” Geſinnung durch ruppige 
Behandlung der gefangenen Ausländer zu beweijen. Als eines Tages — id 
teilte mit einem anderen deutihen Offizier eine Zelle — auf dem Hof zum 
Antreten und zur AUrbeitvertheilung gerufen wurde, Blieben wir ruhig in unterer 
Zelle, fiher, daß unfere Abweſenheit bei der großen Zahl der Befangenen nicht 
bemerkt wurde. Gin junger Bur, der auch Kriegegefangener war, ging an unjerer 
Thür vorbei und rief ung zu, wir müßten hinausgehen. Wir eriwiderteu, er 
möge fid) nur um jeine eigenen Angelegenheiten fünmmern Wenige Viinuten 
Ipäter kehrte er mit einem Gefängnißbeamten zurücd, dem er uns angezeigt hatte. 
Inzwiſchen hat fich Vieles geändert. Der zähe Widerſtand, den die letzten 
Refte der noch fämpfenden Buren leijten — und dem Niemand die Anerkennung 
verjagen kann —, hat die eine Weile wohl etwas abgefühlte Burenbegeijterung in 
Deutjchland wieder angefacht. Der Abfchluß des Tüdafrifanifchen Irauerjpiels 
aber — dem ein ſolches iſt eg für beide Parteien — follte uns Deutjchen gleich« 
giltiger fein. Die Engländer verdienen gewiß nicht, daß fie die Früchte ihrer 
Raubpolitik ungejtraft genießen. Den Buren aber jollten wir nicht vergefjen, 
daß fie die Opfer an Leben und Freiheit, die jo viele deutſche Männer ihnen 
braten, hier in Afrifa nur mit Spott und Verachtung belohnt haben. 


Keetmanshoop. Lieutenant a. D. Gentz. * 
* 


164 . Die Zukunft. 


/ 


Selbitanzeigen. 


Sommernädte. Verlag von Ludolf Beuft. Straßburg 1902. 

Erft Hatte ich die Abficht, meinem Iyrijchen Erftling eine Vorrede vor. 
auszufhiden. Dann wollte ich einige Ktritifen abwarten, um meine Anjichten 
und Abjichten ſich Llären zu lallen. Bor Allem würde es fih um die Form 
gehandelt haben. Was iſt dein im legten Grunde die Form einer Dichtung? 
Das, was für den Muſiker der „Takt“ ift; und auch Wagner fennt den Talt, 
obwohl feine Melodien über alles Konventionelle Hinwegbraufen. „Melodie“ 
im Sinne der alten Oper ijt nicht überhaupt die Mufif. So ift aud ein Unter⸗ 
ſchied zwifchen „Lied“ und „Gedicht“. Die Stimmungen der „Sommernädte‘ 
fonnten gar nicht in Liedform gebracht werden; fie braudden nur den Rhythmus, 
den fie felbft bedingen; und wie die Form des Liedes eine mufilaliide „Eur 
theilung“ ift, jo mußte eg mir darauf anlommen, eine der Stimmung ent- 
. fprechende Kadenzirung zu finden: das Gewand mußte ſich ganz eng anjchmiegen, 
das Gewand mußte fchon in feinen Linien Muſik, Harmonie fett. Die Holzianer, 
die ja auch die Reimduſelei verwerfen, kennen nur eine „Form“ für den Verjtand 
und das Auge; das Gedicht ſoll aber innerlich Plaſtik jein, Elingende Plaſtik, 
der jede äußere Schönheit geopfert werben muß. ben fo verfehlt ijt der gehadte 
Tonfall, dent wir heute häufig begegnen. Wir dürfen nicht vergeflen, daß das 
(gefchriebene) Gedicht aus der mufifaliiden Stimmung geboren wurde, aus dem 
Bedürfniß, das Unbejtinmte in Worte zu drängen. Zittert aber. fein Ton in 
den Worten, jo haben wir Proſa oder Rhetorik. Ich wollte feine Theorie auf- 
jtellen, jondern einige Anregungen geben. Nicht eine Schalmei träumt mehr 
in unjerem Lied: ein Orcheſter umraujcht uns mit ſchwerem Flügelſchlag. Nicht 
das grüne Thal durdhzieht der fröhlich wandernde Burſch in unferen Gedichten: 
der Seift fliegt duch den Weltenhimmel. Der Aosmos iſt „Heimath” geworden. 
Kir fühlen uns als Bflanzen, die leben, aus Sommernädten der Sammlung 
der Sonne zujtreben, der höchſten Entfaltung ihrer Gluth und Pradt. Das ijt 
unſere einzige, unjere gewaltige Miſſion. Und fie ift nicht Laſt: wir find ja 
eins mit der ungehenren Welt der Sterne, in allen Adern brennt die Sonne, 
fie ift Gott, ſchöpferiſcher Geiſt. Unſere Kultur, Fabriken und Maſchinen jind 
auch nur „Natur, Ausfluß und Stonzentration, potenzirte Aeußerung der Natur. 
Arch ihr Yied dröhnt in dem großen Hymnus der Kraft, der Sonne. Und Alles 
wird zur Symphonie Unſer Chr Hat fi) an die Disfonanz gewöhnt. Sie 
„beleidigt nicht mehr. Wenn in noch fo geringem Maße: die Ahnung dieler 
Weltenſymphonie ſchwingt in unferem Dichten in blendenden Sonnenfarben. So 
gehen wir dem Neiche des Lichtes entgegen. In ihm werden wir endlid unfe“ 
„Beſtimmung“ finden und verjtehen lernen. „Nichts iſt herrlicher als die Sonne! 

Straßburg. Rene Scidele 
| [ 
Wanderungen. Kommifiionverlag J. Littauer, München. Preis 3 Dir 


Das Bud) ift mit der bekannten holtenſchen Type fehr ſchön auf echt 
Van Geldern gedruckt und wirkt auf jedem Büchertiſch vornehm; nament! 
wenn man es nicht aufichneidet. Sogenannter Buchſchmuck fehlt. Der Sc 


Selbftanzeigen. 165 


meines Buches ift die Drudanorbnung. Es enthält dreiundzwanzig Gedichte, 
barunter zwei längere epiſche. Bon ihnen erjcheinen mir heute drei lyriſche Ge- 
dichte gut, das eine epifche interejlant; von den Übrigen ſechs als gute Mittel- 
waare, dreizehn als mißlungen. Einzelne meiner freunde urtheilen anders. Wer 
wiſſen will, weſſen Urtheil richtig ift, muß das Buch nicht nur kaufen, ſondern 
auch aufjchneiden. Ich gebe hier nur noch ein Citat: 

Was ift es, das ung in der Scheideſtunde 

An diefen Blid auf Strom und Hügel bannt? 

Was, das aus diefer Thäler ernfter Runde 

Im Schweigen ung den Arm entgegenjpannt? 


Die Sonne fintt, die Wolfen jtehn in Flammen, 
Aus grünen Tiefen eine Stimme raunt: 

„Was zögert hr? Im Meer der Zeit entihwammen 
Die Stunden längit, die Ihr noch müd bejtaunt. 


Seht bin, ſchon ſenken fi die Nebeljchatten, 
Seht hin, ſchon ſchwindet all die bunte Pracht, 
Seht, wie ſich Licht und Finſterniß begatten, 
Sie zeugen die geheimnißtrunfne Nadt. 


Seht ſchweigend, geht! Was joll das matte Zaudern? 
Ihr ſchwindet aud, wie diejer Tag entſchwand“ ... 
Wir ftehn no immer, ftehn im großen Schaudern, 
Ich fühl’ in meiner Deine kalte Hand. Ä 
Münden. Felix Baul Greve. 
' $ 
Die wiffenfhhaftlihen Brundlagen der Graphologie. Mit 31 Tafeln. 
Berlag von Guftav Fifcher, Jena 1901. 

Zum erjten Mal werden hier in ftreng wiflenfchaftlicher Weife die Be: 
ziehungen zwiſchen Handjchrift und Charakter auseinandergejegt. Die Schreib- 
bewegung wird als eine Kombination von willfürlihen und umvillfürlichen Be- 
mwegungen dargeltellt. Wie in jeder Hantirung, fo fommt auch in ihr zunächit 
die individuelle Bewegungphyjiognomif zur Geltung: Ausgiebigfeit, Geſchwindig— 
feit, Nachdruck, Sleihmäßigkeit der Bewegung, rad des Spannungzujtandeg 
der Muskulatur, Neigung zur Stredung oder Beugung, Vorwiegen mehr ediger 
oder mehr abgerumdeter Bewegungformen u. |. w. Indem ic) nun zeige, wie 
bieje phyſiognomiſchen Eigenarten in der Handſchrift zur Fixation gelangen, und 
den Zuſammenhang zwiſchen ihnen und beitimmten Charaktereigenſchaften auf 

ecke, gelingt es mir, damit eine wichtige Brüde zwiihen Handſchrift und Cha— 
alter herzuſtellen. Zur Veranſchaulichung diefer Ableitungen und zur Sicherung 
ver Beweisführung werden Schriften Getjtesfranfer aus gejunder und Eranter 
Zeit mit einander verglichen. Auch die mehr willfürlichen Faktoren, die die 
sorm der Schriftzüge beeinfluſſen, find bejtinmmten Geſetzen unterworfen. Dieſe 
— beſonders die von den Piychologen gewonnenen Ergebniſſe über die Ab— 
""ngigfeit des individuellen Formengeſchmackes von beſtimmten Charaftereigen- 
ſaften — und eine Reihe fonjtiger Erwägungen dienen dazu, weitere hand» 


166 Die Zukunft. 


ſchriftliche Eigenarten dem wiſſenſchaftlichen Verſtändniß näher zu bringen. Bon 

unbegründbaren Spekulationen unb von der in der Graphologie bisher herrichenden 

Pjeudoempirie Habe ich mich ganz ferngehalten. Die Sprade iſt allen gebil- 

deten Laien verſtändlich. Dr. Georg Meyer. 
* 

's Re'ment. Verlag von Heinrich Minden, Dresden. 


Kenn die alten des Ladens und Weinens ſich feiter ins Antlig des 
Menſchen einzugraben beginnen, erjcheint ihm die Jugend wie ein goldener 
Traum, von dem er gar gern nur eine kurze Spanne wieder fein eigen nennen 
möchte, — je nachdem: um fie noch einmal zu durchlojten, oder, um fie beſſer 
auszunugen. Die Jugend denft leichter über Das, was fie hat, fie giebt ihre 
Zeit mit vollen Händen aus, ohne an Sparen zu denken, und vielleicht gerade 
deshalb tft die Jugend jo ſchön. Sie hat ja jo endlos vicl Seit; das ganze 
Leben mit all-feinen Bergen, Thälern und weiten Ebenen liegt ja noch vor ihr! 
So denken auch die jungen Vieutenants in meinem Roman, die Kameraden des 
„Re'ments“. Bon ihrem Jugendübermuth, ihren tollen Streichen handelt er. 
Aber auch von ihrem treuen Zujanımenhalten, von Freundſchaft bis zum Tode, 
von Heiliger und unheiliger Yiebe, von Genießen und Entjagen, von Sünde und 
Ueberwinden. Mir jchienen diefe kraftvolle Skrupellofigkeit und diefer Humor, 
dem nichts Heilig ijt, Doch auch dieſe einzigartige Kameradichaft und dieſer heilige 
Ernit, diele rüdfichtlofe Genußſucht neben kindlichem Frohſinn der Schilderung 
werth. Und zwar einer Schilderung ohne Vorurtheil, einer Tünftlerifchen Ge 
ftaltung „mit dem Anſchein äußerfter Naturwahrheit“, wie e3 einmal in dem 
Buche heißt. Ein Bilderbuch des Lebens in bunten Farben, lichten und düfteren, — 
alferdings nur fir Große. 


Zehlendorf. Felix Freiherr von Stenglin. 


v 


N 
Das Centralfartell. 


8 artelle aller Brauchen, vereinigt Euch!" Dieſe Variante des weltberühmten 
"IX > Yeitfages, den Marx der internationalen Arbeiterorganijation auf ben 
Weg gab, konnte an den Wänden des berliner Saales prangen, in ben neulid) 
die Bertreter aller Unterncehmerverbände Deutjchlands berufen waren. Die jelben 
Leute, die ſonſt nicht laut genug gegen jede von Proletariern gefchaffene, bejlere 
Arbeitbedingungen anjtrebende Wereinigung weitern fonnten, bemühten fich hier, 
eine Stoalition der Iinternehmerverbände ins Leben zu rufen. Den Vorſitz führ 

Herr „sende, der einjt im ſächſiſchen Minijtertum Gcheimer Finanzrath war ur 

am eriten Mai nun aus der Leitung der Firma Krupp icheiden wird. Da 

Dauptreferat war Herrn Bued anvertraut, den Generaljefretär des Central: 
verbandes Dentjcher Induſtrieller, den die Arbeiterpreffe mit dem jelben Red 
den bezahlten „Hetzer und Agitator” der Unternehmer nennt, mit dem dieſe 
Borwurf von ihn und feinen Leuten den Führern der Arbeiter entgegengejrhleude“ 
wird. Es war eine richtige Gewerkſchaftverſammlung; nur tagte fie nicht am Eng 






Das Centratfertell. 167 


* 

ufer oder in der Prenzlauer Allee, ſondern am Wilhelmsplatz im Hotel Kaiſer— 
hof. Lind dem feinen Rahmen entiprach die bejondere Art diefer Gewerfichaft- 
mitglieder. Jeder Zoll ein Millionär. | 

Im New-York Herald wurden nad) der Berfanmiung der Startellver: 
treter weitausfchauende Betradhtungen über den 3weck der Uebung angeftellt. 
Dieſer Zwed, hieß es da, fei ein gemeinfames Vorgehen aller Startelle gegen die 
Auslandskonkurrenz. Der Verfaſſer diejes viel bemerkten Artikels wandelt in 
- PDiorgans Spuren; er ficht vor feines Geiftes Auge ein Centralfartell, das weniger 
die nationale Produktion als vielmehr den gefammten nationalen Export leiten foll. 
Kein Wunder, daß im Kopf eines amerikanischen Journaliſten, der von einer Zu— 
fammentunft der Vertreter aller deutichen Kartelle hört, der Gedanke an fo groß- 
artige Pläne auftauchte. Aber diejer jpefulative Amerikaner überfchäßt die Kraft 
unierer Millionäre, die vorläufig ſolche Riejentransaftionen, wie fie einem Morgan 
möglich find, mit der Ausfiht auf Erfolg noch nicht wagen dürfen. Den Aus- 
länder mag in dem Einladungjchreiben ein Saß, deflen Grundgedanke in Buecks 
Reden mehrfach mwiederfehrte, zu feinem Irrglauben verführt haben. Da wurde 
nämlich gejagt: die geplante Bereinigung aller Syndikate jfolle die gemeinfamen 
Intereſſen aller Kartelle wahren. Nun fordert ohne ZIweifel ein großes, allen 
Kartellen gemeinjames Intereſſe, das Ventil des Erportes offen zu halten. Nur 
haben die Kartellherren bisher jich roch nie über die Mittel zu einigen vermocht, 
mit denen dieſes Ziel ihrer Schnfucht erreicht werden könnte. In Auffchwungs- 
zeiten ift allenfalls noch eine Einigung möglid. Als aber die erjten Syınptoine 
des Niederganges fihtbar wurden, brach — die Erinnerung daran ift nod) friſch — 
zwiſchen den Zyndilaten der einander ergänzenden Branchen. Kohle und Eijen 
jofert ein Streit über die Gewährung von Exportprämien und ähnlichen Vor» 
tbeiten aus. Die Kegijjeure der Verſammlung meinten mit den „allgemeinen Inter: 
efleu der Syndikate“ denn auch ganz andere Dinge. Der wirklide Zweck der 
taijerhöftichen Beranjtaltung giebt und das Recht, fie einen Gewerkſchaftkongreß 
der Unternehmer zu nennen. Nicht einen ausländijchen Feind galt der Kampf; 
eher ſah es aus, als jolle die Demonftration auf die eigene Negirung wirfen. 
Die Furcht vor dem Sartellgefeß hatte die Unternehmer nach Berlin getricben. 
- Den mädtigen Herren Icheint nach und nach die Ueberzeugung zu dämmern, daß 
die gejeßliche Regelung und Ueberwachung der Ktartelle fich zwar nod) eine Meile 
hinausſchieben, auf die Dauer aber nicht hindern läßt. Dieſe Gewißheit ijt im 
eriter Reihe wohl durch die Zuckerkonferenz gejchaffen worden. Deutſchland hat 
in Brüffel Vorfchlägen zugejtimmt, die, wenn fie vom Neichsteg angenommen 
werden, den Zuſammenbruch des Zuckerkartelles herbeiführen müjjen. Man weiß 
ja bei umjerer NRegirung nie, woran man ift; alle paar Wochen medjjelt der 
Kurs und in wirthichaftlicden Dingen find von Tag zu Tag die merkwürdigſten 
Wandlungen zu erwarten. Wielleicht jigen in der Negirung — der verantwort— 
lichen, meine ich — Yeute, die mit der ganzen Anbrunft ihres ſchutzzöllneriſchen 
Herzens beten, der Neichstag möge die brüjjeler Beſchlüſſe ablehnen. Vielleicht 
aber wird gerade jeßt, da der ‚Jude Ballin mit hohen Orden deforirt wird und 
der Kaiſer die Dändler Löwe, Arnhold und Bleichröder zu einer Nordfeefahrt 
eingeladen bat, mehr, al8 man glaubt, auf einen neuen Reichstag geredjnet, der 
die Hanbelsverträge annehmen und dem YZucerfartell das Lebenslicht ausblaſen 


- 








168 Die Zukunft. 


foll. Jedenfalls ſchwebt das Kartell in Gefahr. Und diefe Gefahr muB alle 
Kartelle fchreden, weil jie zeigt, daß felbft in einem perjönlich regirten Staat 
wie Preußen die Klagen über eine rückſichtlos ausbeutende Kartellpolitif big an 
die höchfte Stelle gelangen können. 

Der Eentralverband Deutſcher Induſtrieller ſcheint das Fürchten gelernt 
zu haben, trotzdem alles bisher Geſchehene dazu feinen Anlaß bietet. Graf 
Pojadowsfy hat Erhebungen über die Kartelle in Ausjicht geftellt und das 
Reichsamt des Innern hat auch wirflid die Bundesregirungen aufgefordert, ſich 
über die Entwidelung des SKartellweiens in ihren Neichsgebieten zu äußern. 
In allen Ländern, wo man die Löſung wirthſchaftlicher Probleme ernithaft ver 
fudt, in England und felbit in Amerika pflegt man in folden Fällen kontra⸗ 
diktorifche Engueten zu veranftalten. Die Einberufung des Wirthichaftlichen 
Ausſchuſſes hat, bei den Vorarbeiten zum Bolltarif, gezeigt, daß auch bei uns 
diejes Verfahren gewählt wird, wenn man den Schein gründliditer Sachlich⸗ 
feit wahren will. Ich weiß nicht, wie die vom Reichsamt des Innern gejtellte 
Trage in den anderen Bundesitaaten behandelt worden ift. In Preußen trat der 
Handelsminiiter und Unternehiner Möller in Aktion. Denn da das Reichsamt 
de3 Innern dem preußiichen Miniſterium nichts vorzufchreiben hat, muß man wohl 
annchmen, daß die gewählte Methodedem „hellen Kopf” bes Herrn Möller entjtamınt. 
Der Minifter veranftaltete nicht etwa eine Enquete; er wandte fi auch nicht 
an die Vertreter der Unternehmerfartelle, der Handelskorporationen und Gewerk— 
fhhaften, fondern an die Negirungpräjidenten, im Grunde alfo an die Polizei, 
die man in Preußen für wirthichaftlicde und foztalpolitiihe Erhebungen ja be- 
jonders gern in Anspruch zu nehmen pflegt. Ich "bin neugierig, das auf dieſem 
Wege gefammelte ſchätzbare Material kennen zu lernen. Den Kartellen wird 
es jedenfall3 nicht gefährlich werden; fie Haben in der Negirung noch immer 
gute, zuverläſſige Freunde und Herr Möller ift Fleiſch von ihrem Fleiſch. Um 
ſo merkwürdiger iſt die Kaiſerhof-Verſammlung. Muß man daraus nicht folgern, 
daß in der Regirung zwei Anſchauungen um die Herrſchaft ringen und daß die 
Kartellfreunde gethan haben, was man in der Verbrecherſprache „pfeifen“ nennt? 
Dieſe Freunde, die „Schmiere ſtanden“, könnten ja gepfiffen haben: „Gefahr im 
Verzug!“ Das wäre wenigſtens eine Erklärung der überraſchenden Demonſtration. 

Intereſſant iſt die Art, wie ſich die Herren den Widerſtand gegen die 
Staatsgewalt — ach nein: das Kartellgeſetz — denken. Kann das Geſetz nun 
einmal nicht verhindert werden, ſo will man wenigſtens für eine möglichſt milde 
Form ſorgen, will man, wie in der Verſammlung ſo ſchön geſagt wurde, ver— 
ſuchen, „es mit den Intereſſen der Kartelle in Einklang zu bringen.“ Der 
Rede Sinn iſt nicht ſchwer zu verſtehen. Noch iſt ja unvergeſſen, daß einſt das 
Reichsamt des Innern zur Agitation für das Zuchthausgeſetz zwölftauſend Ma’ 
vom Centralverband Deutſcher Induſtrieller erbat. Der Centralverband ſel 
hat feine Agitation bisher aus eigenen Mitteln beſtritten. Sollten die für fol. 
Zwecke nöthigen Ausgaben jest jo groß gavorden fein, daß jie nur noch dur 
die vereinigten Millionen ſämmtlicher deutjchen Startelle gededt werden können 
Schon die erjten Schritte auf diefem abſchüſſigen Weg verdienen Beachtung. 


Plutuß. 
, 





Theaternotizen. | 169 


Theaternotizen. 


BE „Zragoedie braver Leute“ Hat Herr Karl Schönherr jein einaftiges Drama 
„Die Bildfehniger” genannt. Auch auf jein neues, größer gedachtes Werk 
würde die Bezeichnung pafjen. An den fünf Akten des „Sonnwendtag“ lernen wir 
feinen ſchlechten Kerl kennen; lauter brave Leute. Wir find wicder im öfterreichijchen 
Tirol, in ber Heimath des jungen Dichters. Da lebt, in einem Wallfahrtdorf, der 
Mofnerbauer mit Frau und Mutter. Denen ifts jchlecht gegangen. Um Lichtmeß 
bat eine Schneelawine ihr Häuschen nebjt Stall und Bich in den Abgrund gerijien 
und den Vater, der im Altentheil jaß, getötet. Doc das tapfere Paar ließ ſich vom 
Schickſal nicht ummerfen. Der Bauer hat fein letztes Stüd Wald der Gemeinde 
verfauft und will von dem Erlös die Baukoſten der neuen Hütte zahlen. Er und fein 
Weib arbeiten von früh big ſpät und dürfen hoffen, dem Kind, das fie erwarten, ein 
ſchmales Behagen zu ſchaffen. Härter hats die Mutter getroffen. Ihr Troft ift der 
zweite unge, ber Haus. Dem hat der alte Dorfpfarrer ein Gemeindeftipendium 
ausgewirkt. Und jegt hat der Hans in der Stadt das Abiturienteneramen löblich be= 
ftanden und foll ins Priefterfeminar; jo Gott will, wird die Mutter ihn noch 
als Geiftlihen jehen. An diefe Hoffnung klammert ſich das fromme Weiblein, 
das fi auf der Kommode ein Hausaltärchen aus Pappe und Goldpapier errichtet 
bat, und ahnt nicht, daß der Hans in der Stadt dem Kinderglauben entfremdetivard. 
Wilde Reden hat er gehört, ſchlimme Mären von Pfaffengräueli; und die Luft am 
geiſtlichen Weſen haben Hunger und Schuljchinderei ihn ausgetrichben. Noch wagt 
er dad jchwere Bekenntuiß nicht, willder Mutter, die fo viel durchgemacht hat, nicht des 
legten Wunjches Erfüllung rauben; im Innerſten aber ift er entjchloffen, nicht 
Priejter zu werden. Nun fügt ih, daß am ſelben Sonnwendtag, der ihn zu kurzer 
Ferienraſt in die Heimath Führt, Pfaffenfeinde ins Dorf kommen, Radikale, die durch 
das Land ziehen, um die Unzufriedenen aus träger Ruhe zu ſcheuchen und eine neue 
Zeit vorzubereiten. Den Führer des Jugendfähnleins, den Jungreithmair, keunt 
Hans aus der Stadt. Ein ftarfer, harter Gefelle, der Weib und Kind daheim 
betteln läßt und ſich als Apoftel fühlt, als Diener gottlojer Wahrhaftigkeit, die 
den zagen Menfchen das Heil bringen joll. Die zeigen und Lauen will er rütteln, 
bis ihren der Muth wächſt, und das Sonmwendfeuer joll das leuchtende Zeichen 
fein, das die Schwachen aus frummen Gäßchen und niedrer Gewöhnung anf die 
Höhe ruft. Doc die fromme Gemeinde wehrt ſich gegen den Feind ihres Glau— 
bens; fein Fleckchen giebt der Semeinderath für das Sonnwendfeuer frei und feinen 
Dann, jo ſchwört der Dorftyrann, darfder A ufwiegler uns verführen. Zwiſchen den 
beiden Fanatismen ſteht ſchwankend Dans Nofuer. Er hat die Fremden auf jeine 
Dergivieje geführtumd jchleppt zur ihren Sonnwendfeuer ſelbſt Reiſig herbei. Da fällt 
ihn der Bruder mit Bitten ar. Wenn Hans nicht Priefter wird, muß die Familie 
dag Stipendium zurüdzahlen und das Kind des Nofnerbauern wird heimlos ge: 
boren werden. Daran foll Hans denken; auch an die Mutter, die der Schlag töten 
fann, und an Alles, was das gequälte Baar fchon gelitten hat. Bin und her wird 
der arme unge gezerrt. Mit den Freien möchte er gehen, den rüftigen Befreiern, die 
zum Kampf gegen Pfaffendruck und Dörigfeit rufen, und feinen Leuten doch, die 
jo viel für ihn thaten, das Schwerſte erijparen. Als Jungreithmair ihn einen 
Feigling nennt, der einer großen Sache nichts opfern wolle, wallt des Knaben Blut 


170 Die Zukunft. 





auf: er iſt nicht feig, er wird bleiben, — mögen die Seinen zu Grunde gehen. In 
finnlofer Wuth erfchlägtihn der Bruder. Die Rofnerin Hält ſich aufredht; fie wird ihr 
Sind. aufzichen und warten, bis der Mann die Strafe ahgebüßt hat. Die Mutter 
jtcht thränenlos an der Bahre des Jungen, den der Aeltere ihr gemordet hat, und 
merft kaum, daß die Gendarmen ben Mörder fortführen. Nicht mit Menichen hadert 
fie: mr mit Gott; mit ihrem Gott, dem fie ein Leben lang treu gedient und der ihr 
Vertrauen fo getäufcht hat. Den Dann zuerſt und nun beide Kinder nahm er ihr. 
Langjam räunıt fie, auf wankenden Beinen, den ganzen Altarſchmuck ab: den friſchen 
Rosmarinftrauß, die fünftliden Blumenftöde, die Meffingleuchter mit det Wachs- 
ferzen, das Spigentucd, das den Bappaltar dedte, Dann löſcht fie das Oellichtlein 
im rothen Ampelglas, „ſetzt ſich nah dem geplünderten Altärden auf einen 
Stuhl, ftügt die zittrigen Hände auf den Srüftjtod und ftarrt mit weit offenen, 
grauen Augen ſtumpf vor ji) hin.“ Das tft das Ende... Lauter brave Leute ſahen 
wir, Zeute, die fich im Necht wähnten und um ihren Glauben rangen. Das kleine 
Bild eines eng begrenzten Kulturfampfes hat Perſpektive; es iſt das Werk eines 
itarfen, männlichen Zalentes. Im wiener Burgtheater, wo es zum erften Mal auf- 
geführt wurde, joll der Direktor, Herr Schlenther, den Dichter gezwungen haben, 
auf den fromme Gemüther ärgeruden Schluß zu verzichten. Das wäre ein echtes . 
Schlentherſtückchen, würdig eines Herrn, der, um verjorgt zu jein und ein ruhiges 
Leben zu haben, die früher jo laut bekannten Glaubensfäße in die Rumpellammer 
verpadt hat. Mit dem Schluß verliert da8 Drama feinen tiefjten Sinn; denn es ift 
die Tragoedie eines greifen Menſchenkindes, das die abjterbenden Wurzeln ftöhnend 
vom alten Glauben löſt. Man Soll den Namen Anzengrubers nit unnüßlich im 
Munde führen, Deren Schönherr nicht heute fchon dem einzigen großen Dramatifer 
vergleichen, der jeit Hebbels Tode im deutfchen Sprachgebiet lebte, Noch fehlt dem 
jungen Tiroler die Größe und ‚Freiheit der Weltauffaffung, noch ficht man feinen 
Menſchen nicht fo tief ing Herz wie denen des Meijters Ludwig und feinen Pathos 
bat der Humor Jich noch nicht gefellt. Aber er kaun viel, er fühlt, wo in der Heudhel- 
kultur unferer Tage die ſchmerzlichſten Konflikte zu finden find, und geitaltet fie mit 
dem Temperament eines in feiner Schule verfünmerten Dramatilers Er ift eine 
Hoffnung; und felix Austria mag fic) freuen, da ihr nad) dem feinen Stadtherrn 
Arthur Schnitzler nun dieſer kräftige Bauerndichter geboren ward. 
x 


Im Deutschen Theater tft „Der Weg zum Licht“ aufgeführt worden; ein 
Märchendrama, das Herr Georg Dirjchfeld zu Schreiben für nötig hielt. Zum Licht 
führt der Weg Den, der jündigen Trieben entjagt hat. Der Sündenbegriff ijt hier 
nicht zu entbehren; denn wir find in der Couliſſenwelt judenchriſtlicher Vorftellungen. 
Dahngikl, ein ſchwarzelbiſcher z3werg, der im Allgemeinen ſalzburgiſchen Dialekt, in 
gefteigerter Stimmung aber hochdeutſche Verſe ſpricht, iſt ein weithin geichägter 
Juwelier. Er macht köſtliche Geſchmeide und hat einen Geheimfonds aufgefpeidhert, 
der ihm die hübjchen Weiber firren Joll. Aber die Wildfrauen wollen von ihm nichts 
wiſſen, troß den Stetten und Ringen und Mrmbändern aus Gold und Edelgeftein; 
er iſt gar zu häßlich. In diefem Wodansreih muß es ganz anders ausfchen als in 
der Menſchenwelt: für ein paar Brillanten fann bei uns der garftigjte Kommerzien: 
rath appetitliches Franenfleiſch kaufen, und wenn er ohne Sinauferei ind Zeug 
acht, ſchwören ihm ſchöne Theatermädchen vom eriten Fach, dab fie den Mann 


Theaternotizen. 171 


in ihm lieben. Herr Hahngikl hat es ſchlechter und ſehnt ſich mit allen Sinnen 
doch nach brünſtiger Wonne. Mama hat Mitleid mit ihm. Hier, ſagt ſie, iſt ein 
Tränklein, das Du der wunderſchönen ſiechen Tochter des Pfalzgrafen bei Rhein 
eingeben ſollſt, wenn ſie vorher gelobt, den Heilkünſtler bräutlich zu umfangen. Der 
Zwerg macht ſich auf den Weg. Die Grafentochter wird geſund, doch der Ritter, dem 
ſie ſich zum Weib gab, überredet Hahngikl zur Nazarenerentſagung. Das geht ſehr 
ſchnell. Aus dem Schwarzelb wird ein Lichtelb, aus dem verkrüppelten Zwerg ein 
ſchlanker Jüngling tm weißen Engelhemdchen, den die Wildfrauen gern auf ihr 
Lager lodten. Jetzt aber, two er die Liebe umjonft haben könnte, ift er gegen Aufech— 
tung gefeit... Das Stück ift fchnell entichwunden; daß es aufgeführt und zu Ende 
geipielt werden konnte, muB man im Gedächtniß bewahren. Nie tft ein talentlojeres 
Machwerf auf eine große Bühne gekommen. Der Grundgedante eine läppiſche Tri- 
vialität; feine Spur einer Märchenitimmung; feine aud) nur in Klaren Konturen 
gezeichnete Geſtalt; nicht einmal ein Theatereffekt. Und die Verſe! Herr Dirfchfeld 
fühlt das Bedürfniß, ein Baterunfer zu dichten, und läßt jein Pfalzgrafenpaar beten: 

Unjer Bater Du im Simmel, 

‚sa, Dein Name fei gepriefen. 

Daß Dein Wille fi) auf Erden 

Wie im Himmel groß envielen. 

Daß Dein Neid) im Herzen währet, 

Sieb ung Brot, bag ewig nähret! 

Sieb uns Gnade vor Bericht 

Und verfuch uns, Vater, nicht! 
Ein begabter Quartaner würde es beifer machen. Es iſt Schade um Herrn Hirschfeld. 
Jahr vor Jahr zeigt er, daß er nichts kann, nichts zu jagen hat und nur die eigene 
Familienmiſere nit leidlidem Gelingen zu Schildern vermochte. Nachgerade muß er 
jeibjt doc) empfinden, daß es Jo nicht weiter geht. Nielleicht dämmert ihm nach der 
neusten Niederlage im Schmeichlerfreis jeßt die Erkeuntniß. Der erite Zaß feines 
Märchens war ein Z3wergenſeufzer: „Wer mühte jich nicht umſunſt in ſeiner lieben 
Kunſt?“ Herr Hirschfeld ſollte ſich wirklich nicht länger umſunſt bemühen. 

* * 


“x 

Bor ein paar Monaten, als Herr Coquelin zum erften Mal nach Berlin kam 
und ein Fräulein Tırrand de la Comeldie Franeaise mitbradhte, hieß es: Das aljo 
find die Sterne der berühmten Comedie? Die glänzen ja nicht jo hell wie unjere 
Couliſſengeſtirne. Fräulein Durand ift eine alternde Dame, die im Hauſe Mioliöres 
nie einen Rang hatte und feit Jahren mit der Hilfe eines ihr befreundeten Millionärs 
die zyrauenzeitung Ba Fronde berausgiebt. Sie ift weder als Spielerin noch als 
Journaliſtin der Rede werth: und daß lie hier in Rollen der Bartet aufzutreten wagte, 
beweiſt nur, wie gering der berlintiche Theatergeſchmackin Paris eingeſchätzt wird. Die 
erfahrene Dame hatte, bevor ſie ſich auf der Bühne zeigte, der Preſſe ein Chanipagner— 
frühſtück angerichtet und man muß es als eine rühmliche Veiſtung verzeichnen, daß ſie 
trotzdem ſänftiglich getadeltwurde. Immerhin wurde ihr dreiſter Verſuch nicht fo ſchroff 
abgelehnt, wie die Selbſtachtung einer Großſtadt es gefordert hätte. Jetzt ſpielen die 
Franzoſen im Neuen Theater Pofjen und wieder heißtes: So qut können wirs auch. 
Madame Cheirel vom Palais Royal jteht an der Spitze der Iruppe. Eine routinirte 
Spielerin von robnſter Yujtigfeit. Nein Menſch hält fie in Paris für einen star: 


172 Die Zukunft. 


und fie jpieltden Berlinern noch dazu Rollen vor, die fiein Paris nie geſpielt hat. Yon 
den guten parifer Komikern ift fein einziger mitgefonmen. Wozu alſo der Jubel 
darüber, daß unjere Mimen nicht noch Schledhteres leiften? Die Aufführungen, die 
Coquelin und Frau Cheirel ung boten, wären an der Seine nicht möglich. Da 
wird wirklich ſehr gut gejpielt, bei Antoine fogar bejjerals inirgend einem Schauſpiel⸗ 
haus mit modernem Repertoire. Die Anfzenirungen find forgfältiger und mit 
fichererem Geſchmack vorbereitet, als wirs je gewöhnt waren. Paris ift noch immer 
die Stadt der feinften Theaterfunit. Was wir zu fehen bekommen, ift Ichlechte 
qualit6 d’exportation, find zujammengewürfelte Truppen brotlojer Hiſtrionen. 
Am Hoftheater treibt eine franzöfifche Operngefellfchaft ihr Unmwejen. Die löb- 
lihe Generalintendanz fordert für diefe Aufführungen, die nad; allgemeinem 
Urtheil erbärmlich find, erhöhte Eintrittspreife und die Kritiker rufen wieber: Diele 
Börftellungen find mit denen unferes Opernhauſes nicht zu vergleichen. Ein Ver 
gleich würde doch erjt möglich, wein die Große oder die Komiſche Oper mit ihrem 
Enjemble aus Paris zu und kämen. Wer die Dleifterfinger, Carmen mit der Galo6 
oder Charpentiers Louise — die der Herr Graf von Hochberg noch immer nicht auf 
geführt hat — drüben hörte und jah, weiß, daß dieje Borftellungen die Konkurrenz 
von Parvenupolis nicht zu ſcheuen haben. Uns aber fervirt ınan die Nefte. Sogar 
Herr Paulus, deſſen Slanz in Paris längft verblichen ift, darf hier als roi des 
chansonniers vorgeführt werden und die Berliner halten den alten Zingeltangler 
am Ende wirklich dafür. Der Werth einer Volkheit und einer Volkskultur wird nit 
durch ihre Theaterleijtungen beſtimmt und es ift feine Schande für Deutichland, 
wenn gejagt wird, daß die Franzoſen beffere Komoedianten haben. Statt aber nad) 
unzulänglichen Broben über den Rhein zu brüllen, daß wir auch in diefer Juduſtrie 
heute ben Wettbewerb wagen können, jollten die Wortführer deutfcher Kultur bie 
Nachbarn lieber daran erinnern, daß Minen, die in Bordeanr und Marfeille nur 
eben geduldet würden, für Berlin denn doch nicht gut genug find. Auch die franzöfifchen 
Stürfe werden Häufig ganz falfch beurtheilt, weil man nicht nach ihrer Herkunft Fragt. 
In den Folies Dramatiques, einem Borftadttheater, dag der Tsremde faum kennen 
lernt, wird von galliſchen Spaßmachern die Poſſe Le billet de logementaufgeführt. 
Der Direktor Yautenburg läßt fie Schlecht und recht überfegen, die Cenſur tilgt die 
ſaftigſten Zoten, und als der entftellte LIE unter dem Titel „Einguartirung“ auf 
der Bühne des Kefidenztheaters erjcheint, runzeln weile Männer ob der Entartung 
des Naudeville die Denkerſtirn. Dem einſt fo Iuftigen Genre geht es jetzt wirflid 
idhlecdht; immerhin jollte man nicht vergeifen, daß die meiften Exemplare, die und 
gezeigt werden, von ganz Heinen Bühnen ftammen, von Bühnen im Rang unferes 
Thalia-, Metropol: und Herrnfeld- Theaters. Der Import folder Waare ijt über- 
flüſſig; fo wertvoll wie der Stleine Kohn und der all Blumentopf find aber ſelbſt 
die ſchlechteſten pariſer Schwänke. Was würden wir jagen, wenn die Römer 
ihnen zugedachte Werk des Herrn Eberlein als Beweis für den Tiefjtand deut 
Plaſtikerkunſt nähmen und dem Kanye, dem Klinger lebt, höhniſch zuriefen: © 
können wir beſſer? Genan jo ungerecht aber urtheilen wir, wenn wir ung höhe 
Bühnenkunfttultur rühmen, weil uns fajt immer mur die albernften Stüde und 
aus gedienten Bretter helden Lutetias is vorgeführt werden. 


Herausgeber und ‚verantwortlicher Redat. eur; m. Harden in Yeriin. — Weulag der Zufunft i in FY 
Druck von Abert Danıde in Berlin: Schöncbirg. 




















. Berlin, den 5. Mai 1902. 





— rn 


{2 Univerfität und Ratholizismus. 


Re ein philoſophiſch umd hiſtoriſch gebildeter proteftantifcher Theologe: 
wie Rißto die Gründung des römifchen Papſtthumes bedauert, fo ber 
deutet Das einen Rüdjhritt, den ich bedaure. Daß auf dem Boden der 
alten Kirche die Ueberwindung der auguſtiniſchen Auffaſſung der Weltgefchichte 
nicht möglich war, gehört zu den Dingen, die den großen Abfall notwendig 
gemacht haben, der den Namen einer Kirchenreform nur in fehr beſchränltem 
Sinne verdient, und es ift ein unfterblicher Ruhmestitel der proteftantifchen 
Wiſſenſchaft, daß fie daS BVerftändnig der Weltgefchichte erfchloffen hat; ein 
Nuhmestitel der proteftantifchen Wiffenichaft, nicht etwa der Reformation, 
die nur Chriftus und Belial ein chassd-eroisd vollziehen lieg. Nachdem 
Leſſing und Herder die lebendigen Kräfte der hiſtoriſchen Entwidelung aufs 
gededt hatten, haben Gefchichtfchreiber wie Johannes von Müller, Friedrich 
von NRaumer, Heinrich Leo, die beiden Menzel, Giefebrecht (auch Ranke darf 
man wegen der Einleitung zu feiner Deutichen Gefchichte im Zeitalter der 
Reformation hierher rechnen) dem Mittelalter und dem Papfttyum gerecht 
zu werden und Beide als Hiftorifche Nothwendigkeiten begreiflich zu machen 
verftanden; fogar die proteftantifche Kirchengeſchichtſchreibung hat Das, wie 
Kari Hafe beweift, vermocht. Und populäre allgemeine Weligefchichten haben, 
von ber Becers bis zu der neuften von Spamer, die, vernünftige Auffaffung 
zum Gemeingut der Gebildeten gemacht. Dürfte man die Rüdtehr Liskos 
auf den Standpunft der Centuriatoren als die perfönliche Verirrung eines 
Einzelnen, im Uebrigen verdienten Gelehrten anfehen, fo wäre darüber weiter 
sin Wort zu verlieren. Leider aber ſcheint fie Symptom einer Mafjens 


18 





174 Die Zuhmtt. 


bewegung zu fein. Bon anderen Symptomen, die ich feit Jahren beobadptet 
babe, nenne ich nur zwei. Zunächſt, daß ein Philofoph von der Bebentung 
Paulſens das werthlofe Buch von Hoensbroech, bas die Skandalchronik des Papft⸗ 
thumes für deſſen Gefchichte ausgiebt, in der wiener „Zeit” empfiehlt. Und ein 
zweites, viel wichtigered Symptom war die von Mommſen in Fluß gebrachte 
Profefforenbewegung. Die hat ja num der Serausgeber der „Zukunft“ ganz 
in meinem Sinne behandelt. Höchitens würde ich noch daran erinnert haben, 
daß kein proteftantifcher Profeffor an ber ftatutenmäßigen Konfefjionalität der 
Univerfitäten Noftod, Halle und Königsberg Anftoß zu nehmen fheint, und 
einige weitere Proben von Vorausſetzungloſigkeit beigefügt haben, zum Bei 
fpiel die folgende. Die pefitmiftifche Weltauffaffung ift zmeifello8 wifien 
Thaftlich berechtigt. Sie wird manchem „Borausfegunglofen* durch die Er: 
fahrung aufgedrängt. Nun kann nicht Jeder gleih Schopenhauer die bittere 
Pille des Peſſimismus dadurch genießbarer machen, daß er fie, in ein gutes 
Diner gehüllt, Hinunterfchludt; und die Umftälpung des eubämoniftifchen 
Peſſimismus in den evolutioniftifchen Optimismus bei Hartmann ift weiter 
nichts als eine verblümte Verleugnung des Peſſimismus, alfo für den echten 
Peſſimiſten gar nicht vorhanden. Die unabweisbare Konfequenz bes Peſſi⸗ 
mismus hat jüngft ein Mann gezogen (ihn nennen, hieße, eine Denunziation 
verüben), der lehrt: fittlich böfe ift jede Zeugung und jede Handlung, bie 
zur Zeugung führt, jittlih gut ift Alles, was der Zeugung vorbeugt, Alles, 
was Leben vernichtet und die Entftehung neuen Rebens verhindert. Wenn 
diefer Dann fi Habilitiren will und die Regirung ihm felbftverftändlich den 
Zutritt zum Lehrftuhl verfchließt: werden da die Profeſſoren entrüftet pros 
teftiren? Harden erwähnt in feinen Professores Julius Wolf und Rein⸗ 
hold im Öegenfag zu Sombart, Schmoller und Wagner. Das follte Einen, 
der das Material beifammen hätte, zu einer umfaflenden hiftorifchen Arbeit 
veranlaffen. Seit beinahe zehn Jahren wird von fehr einflußreichen Leuten 
im Reichs- und Landtag und in der Prefje gegen die „Scathederfozialiften“ 
gehegt. Zwar ift fchon der Name eine Tüge, denn Keiner ber Männer, bie 
man meint, ift Sozialiſt; und Brentano, Schulze-Gaevernig, Wagner, 
Schmoller, Sombart vertreten fo verfchiedene Richtungen, daß es einfach 
Uninn ift, fie mit einer gemeinfamen Bezeichnung zufammenzuloppeln; aber 
Feder von ihnen hat irgend einmal irgend Etwas gefagt, was irgend ei--— 
Unternehmer nicht paßte, und die Regirung ift feit Fahren Öffentlich gedr‘ 
worden, die fogenannten Kathederfozialiften durch) Männer zu erjegen, 

fich bereit finden würden, eine dem augenblidlichen Intereſſe einer kle 
Unternehmergruppe dienende Nationalölonomie und Sozialwiſſenſchaft vı 
tragen. Haben Das die Profefforen nicht als einen Angriff auf die Fr. 
der Willenfchaft empfunden? E3 fcheint nicht; in der Deffentlichleit wenigf 

hat man nichts davon gefpärt. 





. Univerfittät und Katholizismus. 175 


Das Kläüngelweſen ber Univerjitäten ift feit Sahren fo oft von un: 
glüdlichen Privatdozenten bejammert und in der Deffentlichkeit verfpottet 
worben, daß die Herren Ordinarii eigentlich einen Ausbruch allgemeiner Heiter: 
feit befürchten mußten, wenn fie als die Ritter der Borausfegunglofigfeit in 
die Arena herabftiegen. Aber freilich: in diefem Fall waren fie ziemlich 
ficher vor Spott; wenn die Freiheit der Wiffenfchaft fo viel bedeutet wie den 
Ausflug der Katholifen von alademifchen Aemtern, dann jubelt die liberale 
Preffe Jedem zu, der fie auf feine Fahne fchreibt, und auch die konſer⸗ 
vative legt vorfichtig ein gutes Wort für die Freiheit ein. Am Kiebften 
möchte man die Katholiken nicht blos von den Univerfitäten, fondern aus 
der ganzen Gelehrtenrepublit ausfchliehen. - Als ich vor einem Vierteljahr: 
hundert einmal im altkatholifchen Deutjchen Merkur fagte, katholiſche Ge- 
lehrte fanden nur, fo weit und fo lange fie ſich als Sturmböde gegen Rom 
gebrauchen ließen, bei der proteftantifchen Gelehrtenwelt Anerkennung, ihre 
pofitiven Leiftungen aber ignorire man, da rief mein Freund Max Loßen, der 
das gelehrte Zunftwefen genauer kannte als ih: Das war gut! Das mußte 
endlich einmal gefagt werden! Der Rüdfall der proteftantifchen Gelehrten: 
welt in die Parteilichkeit, die mit Hilfe der Philofophie und des Hiftorifchen 
Dnellenftudiums fehon überwunden war, hat mancherlei Urſachen, von denen 
nur drei angedeutet werden follen. Segel hat die Objektivität zwar gefördert, 
aber ihr eine Falle geftellt, indem er jede große hiſtoriſche Erfcheinung nur 
für einen beftimmten Zeitabſchnitt vernänftig fein läßt, dann aber forkert, 
daß fie in ihrer Nachfolgerin aufgehoben werte. In Wirklichkeit verläuft die 
Entwidelung weder in der Natur noch in der Gefchichte fo, dat immer Eins 
das Andere verdrängte, fondern das Neue ftellt ſich neben das fortbeftehende 
Alte, aus dem es geboren ift, und gerade im der wachjenden Mannichfaltig— 
feit und Fülle, die fo entfteht, hat man den Fortfchritt zu ſuchen, wenn es 
denn durchaus einen geben fol. Aber die hegelifch gerichteten Geifter er: 
warteten, daß das Mittelalter, dem man fein echt gegönnt hatte, fih nun 
begraben lafjen werde, und wurden tief verſtimmt durch feine Anferftehung 
in der Romantil. Und die Auferftandenen beeilten fi, den protejtantijchen 
Unwillen zu rechrfertigen, indem fie beim vernünftigen Katholizismus der 
Sailer, Hirfcher und Möhler nicht ftehen blieben, fondern zur Vigotterie, 

m graffeften Aberglauben, zum Yanatismus, zur mittelalterlicien Philo— 
bie fort oder vielmehr zurüdichritten und die Stataftrophe von 1870 her: 
führten, die den vernünftigen Katholizismus in Deutjchland vorläufig 
undtot machte. Diefe verderblihe Richtung des Neufatholizismmd zu bes 
npfen, war die protejtantifche Gelehrtenwelt fogar verpflichtet; aber für 
en Siegespreis von zweifelhaften Werth ihre Foftbarfte Errungenfcaft, 

objektive Auffaffung der Weltgefchichte, preiszugeben: Das war nicht Flug. 

13” 


. m 


176 Die Zukunft. 


Damit tauſchte man für den zweifelhaften Sieg einen unzweifelhaften Ber- 
luſt ein, denn jene Auffaflung der Weltgefchichte preisgeben, heißt, bie ſchon 
gefhlagene Brüde zur Verſtändigung zwiſchen den Koufeſſionen abbrechen, 
die da8 Element der Schwächung Deutſchlands in ein Element der Kraft 
verwandeln würde; eine Vielheit ber Sonfeffionen ift am fih ja geifliger 
Reichthum und baher eine Kraftquelle. Und indem man die Katholiken von 
den Univerfitäten ausſchließt, verfperrt man ihnen die einzigen Orte, an 
denen fi die Verjtändigung vollziehen kann und an denen. jie fich vor fünfzig 
Jahren ſchon bis zu einem gewiflen Grade vollzogen hate 

Dei diefer Ausſchließnng wirkt nun freilich ein fehr ſiarker Beweg 
grund mit, der, aus einer dem wiflenfchaftlichen Intereſſe ganz fern liegenden 
Gegend flammt. In meinen Lebenserinnerungen babe ich berichtet, wit 
unbequem den Proteftanten vor fünfzig Jahren die damals entftehende 
Emanzipation der Katholifen geworden ift; denn als folche darf man bie 
Bewegung bezeichnen, die gegen ben grumdfäglicen und thatfächlichen Aus: 
ſchluß der Katholifen von Staats: und &emeinbeämtern gerichtet war. 
„Selbſtverſtändlich“, fage ich dort, „waren die Proteftanten von dieſer neuen 
Erfoheinung nicht8 weniger als erbaut. Auch bei ihnen handelte es ſich 
feinesmeg3 blos um das lautere Evangelium oder auch nur um bie Auf: 


Härung, fondern um die Behauptung der errımgenen geiftigen und fozialen 


Uebermacht und um das Aemtermonopol. Gewiß hat jih Das feine ber 
beiden Parteien eingeftanden (Das wäre mit Beziehung auf die heutige 
Univeriitätfrage ins Präfens zu überfegen); fie kämpften aufrichtig eime jede 
für Das, was fie die Wahrheit nannte, aber unbewußt wirken jene fozialen, 
politifchen und materiellen Rüdjichten ſehr fräftig mit in den Kämpfen um 
religiöfe wie um weltliche Grundfäge und Ideen. Ueber ein paar Konvertiten 
freut ſich natürlich jede SKirchengemeinfchaft; aber wenn fich eines fchönen 
Tages fämmtliche deutſchen Katholiken zum Eintritt in bie evangeliſche 
Landeskirche Preußens meldeten, fo würden ſich die Proteftanten nicht weniger 
unangenehm überrafcht fühlen al3 etwa die franzöſiſchen Republikaner durch 
die Belehrung fämmtlicher Mionardiften zum Republikanismus, die fie zwingen 
würde, mit der allen Franzofen offen ftehenden Republik (fo Iautete vor ſechs 
Fahren die herrfchende Phrafe) Ernſt zu machen, indem fie ihnen den haupt: 
fählichften Vorwand zur Beſchränkung der Konkurrenz um die höher 
Staatsämter raubte.* 

Die grundfäglichen Bedenken gegen die Zulaflung von Katholifen ; 
den alademifchen Lehrftühlen hat Harden fchlagend widerlegt. Weil abı 
diefe Bedenken, namentlich feit 1870, nicht ganz unbegrändet find, ift € 
nothwendig, genau anzugeben, wie weit in diefem Gebiete die &leichberechtigun 
der Katholiten geht und wie weit ihre wiflenfchaftliche Freiheit wirklich du 


Univerfität und Katholizismus. 177 


iären Glauben eingefchränft wird. In den Naturwifienfchaften find Koflifionen 
zwifchen Glauben und Wiſſenſchaft gar nicht möglich. Die Berfolgung 
Galileis ift von den Vertretern der ariftotelifchen Philoſophie ausgegangen 
. und diefe kann nicht mehr lebendig werden, alfo auch die Kirche nicht mehr 
beherrfchen. In dem Kampf zwifchen den gläubigen Chriften und einigen 
Bertretern der Naturwifienfchaften handelt es fich nicht um Phyſik, Chemie, 
Phyſiologie, Aftronomie oder irgend eine exalte Wiſſenſchaft, fondern um 
Hypotheſen, und zwar um folche zweiter und britter Ordnung. Die Atom⸗ 
lehre nenne ich eine Hypotheſe erfter Ordnung, weil fie unentbehrlich und 
ihre Zuverläſſigkeit durch das Ergeriment erwieſen if. Und nur fo meit, 
wie da8 Experiment reicht, reicht die exakte Wiffenfchaft; die Atomlehre bleibt 
Hypothefe und kann niemals felbft exakte Wiflenfchaft werden. Vom erlenntniß⸗ 
theoretifchen Standpunkt aus gehört das Atom in die felbe Kategorie der 
unwahrnehmbaren, unvorftelbaren und unertennbaren Dinge, der auch Gott 
angehört. Die biologischen Hypothefen aber find Hypothefen zweiter Ordnung, 
weil ihre Berwendbarkeit zur Erklärung der Erfcheinungen noch nicht durch 
das Erperiment nachgewiefen if. Sie in ihrer jegigen Form anzunehmen, 
verbietet die erafte Wiflenfchaft, denn auf Grund von Thatfachen haben viele 
religiös gar nicht voreingenommene Forſcher gegen fie proteftirt, von Karl 
Ernjt von Baer, dem Begründer der Embryologie, anzufangen bis auf die 
Zoologen und Botaniker Eimer, Driefch und Reinke. Nur gegen bie Geftalt 
haben fie proteflict, die Darwin, Haedel und Weismann der Entwidelung: 
fehre gegeben haben; dieje felbit it fo alt wie die Philofophie und als den 
Regulator des Entwidelungprozefies haben ſchon Entpedofles und Epikur 
die Ausleſe durch das Weberleben bes am Belten Angepaßten erfannt. Noch) 
weiter von der exakten Wiffenfchaft entfernt und daher als Hypothefe dritter 
Ordnung zu bezeichnen ift die Anficht, daß der Prozeß ohne eine leitende 
Antelligenz verlaufe. Diefe Anficht hat Niemand entjchiedener zurückgewieſen 
al3 Hartmannn, der fcharfiinnigfte aller Denker, die nach Kant gelebt haben. 
Wenn alfo die katholifchen Gelehrten diefe Hypotheſen ablehnen, fo ift Das 
fein Grund, fie von den Lehrftühlen der Biologie auszufchlichen. Ob fie 
fie aus religiöfen Gründen ablehnen? Dana zu fragen, hat man fein 
Recht, weil die wiſſenſchaftlichen egengründe zur Ablehnung hinreichen. 
Wie der Kirchenglaube da8 Studium der Philologie beeinträchtigen fol, ift 
nicht einzufehen. Das Selbe gilt von allen Staatswiſſenſchaften; wie follte 
die Finanzwiffenichaft, die Statiftif, die Nationalölonomie mit einem Dogma 
follidiven können? Wenn ein gläubiger Chriſt aus Weligiofität ich weigert, 
bie Selbftfuht als die einzige wirthichaftliche Tugend, das Hecht des Stärkeren 
und die Berechtigung der Staatsallmacht anzuerkennen, fo ift er theoretiſch 
nicht zu widerlegen und dient praftifc der Freiheit. Daß unfere Rechts- 


N 





178 Die Zukunft. 


pflege von ihrer Schönheit Etwas einbüßen lönnte, wenn fi) Katholiken in 
ftärlerem Maße an der Rechtswiſſenſchaft betheiligten, glaubt doc wohl Niemand. 
Was die Philofophie betrifft, fo läßt man ja wohl jeden Kandidaten durch⸗ 
fallen, der die vorhandenen Syſteme nicht richtig darzuftellen vermag; ein 
eigenes Syſtem zu erfinden, ift zum Glück fein Ordinarius verpflichtet, 
und daß der Fatholifche Philoſoph alle Syiteme widerlegt, kann darum nicht 
haben, weil ohnehin jeder Philofoph alle feine Vorgänger wiberlegt. Die 
Logik ift der einzige exakte Theil der Philofophie, — und die ift gerade die 
ſtarke Seite der fcholaftifchen und der jefuitifchen Philoſophie. In der 
Pſychologie freilich ift vom Erbfündendogma ein ungünftiger Einfluß zu 
befürchten, aber Das gilt den Lutheranern gegenüber eıft recht; fogar Kant 
hat ein radifal Böfes angenommen. 

Ernſtliche Schwierigkeiten ergeben ſich nur auf zwei Gebieten. Eine 
Profeſſur der neueren deutſchen Literatur follte man einem Katholiken wicht 
einräumen, denn der Gefahr darf man beutfche Junglinge nicht ausſetzen, 
daß ihnen von unſeren Großen Zerrbilder gezeigt werden, wie fie der Pater 
Baumgarten 8. J. gemalt hat. Und die Univerſalgeſchichte vorzutragen, 
iſt ein gläubiger Katholik nicht fähig; er kann aus dem Rahmen der Civitas 
Dei und der Civitas diaboli, in den Auguſtinus den Weltlauf eingeſperrt 
hat, nicht heraus. Dagegen ſind katholiſche Dozenten der Partikulargeſchichten 
zur Ergänzung und Berichtigung einſeitig proteſtantiſcher Darſtellungen nicht 
allein für die katholiſchen Studenten, fondern auch für die proleſtantiſchen 
geradezu nothwendig. Es ift eben nicht wahr, daß die reine unbefangene 
MWahrheitliebe (Borausfegunglofigkeit ift Unfinn) in der proteftantifchen Ge⸗ 
ſchichtwiſſenſchaft allgemein herrfche; e8 giebt, um nur Eins anzuführen und 
von der gefährlichen Neformationgefhichte ganz zu fchweigen, kleindeutſche 
Geſchichtbaumeiſter und Hofhiftoriographen. Daß Solchen, zu denen Übrigens 
fomifcher Weife auh Spahn zu gehören fcheint, katholiſche Hiftorifer groß- 
beutfcher Richtung an die Seite treten, muß im Intereſſe der unparteiifchen 
Wiſſenſchaft dringend gewünfcht werden. Hier wird der Konfeflionalismus 
und Antiboruffianismug Pflicht, denn die zwei einfeitigen Bilder, die von 
den beiden Parteien gemalt werden, geben erſt zufammen das richtige Bild. 
Und wenn die Regirung den Klüngel, der feine Katholiken hineinläßt, durch: 
bricht, fo erfüllt fie nicht allein die Pflicht der Gerechtigfeit gegen ihr⸗ 
fatholifchen Unterthanen, fondern dient auch der Freiheit der Wiſſenſcha 
Wie in der Politik, fo wird aud in der Wiſſenſchaft die Freiheit niemal 
verbürgt durch die Parteien, die den ſchönen Namen des Himmelshildes zı 
ihrem Barteinamen wählen, fondern nur durch eine Vielheit der Parteie 
die e8 jeder einzelnen unmöglich macht, die übrigen zu unterbrüden. We. 
in Straßburg unter jiebenzig Profefforen nur vier fatholifche find, fo_kan 


| u 


Univerfität und Katholizismus. | 179 


Das nicht von der Fatholifchen Inferiorität fommen; fo arg ift die wirklich 
nidt. In Breslau find eine geraume Zeit hindurch Jahr für Jahr bie 
Preisaufgaben der evangelifchen theologischen Fakultät von fatholifchen Theologen 
gelöft und die Bearbeiter des Preifes würdig gefunden worden. Sofern die 
Inferiorität in dem geringeren Prozentfag der Studirenden befteht, rührt fie 
daher, daß die Katholiken durchſchnittlich ärmer find als die Proteftanten 
(während die Juden reicher und baher an ben höheren Lehranftalten mit dem 
höchſten Brogentfag vertreten find); daneben aber ift gerade die geringe Ausficht, 
bie fie im Staatsdienſt hatten — jet fcheint es ja damit beffer zu werben —, 
daran ſchuld. Wenn wenige Juden Philologie ftudiren, fo beweilt Das doc) 
nicht, daß die Juden kein Talent für Sprachen hätten, fondern ift nur Yolge 
des Umftandes, daß fie feine Ausficht haben, an Gymnaſien angeftellt zu 
werden. Damit will ich nicht Teugnen, daß die zur Herrichaft gelangte 
ultramontane Richtung und die wachſende geiftige Abfperrung den deutfchen 
Katholifen eine Menge Bildungquellen verfchloffen, ihren Geſichtskreis verengt 
und dadurch wirklich eine gewiſſe Inferiorität verfehuldet haben. 

Im „Vorwärts“ wurde vor ein paar Monaten gegen ben Inder ges 
wüthet und dabei gejagt: „In einer Zeit, da man im Bolfe der Dichter 
und Denker jih anſchickt, dem Centrum, der regirenden Partei, zu Liebe die 
Univerfitäten zu Klerifalifiren, ift e8 ganz nüßlih, daran zu erinnern, wie 
die katholiſche Kirche das Recht der Geiftesfreiheit hHandhabt.* Die Klerikali- 
firung ber Univerfitäten ift ein Unjinn, über den man achjelzudend hinweg— 
fieht. Was jedoch das Inſtitut des Inder anbetrifft, fo jind ja die römiſchen 
Monfignori zur Benrtheilung deutfcher Geiftesprodufte ungefähr fo befühigt 
wie berliner Schugmänner zur Genfur von Werfen der bildenden und der 
redenden Künfte; aber gegen das Juftitut felbft ift nichts einzuwenden. Es 
geht aus dem Triebe der Selbfterhaltung hervor, ber jedem Gefellichaft: 
organismug innewohnt. Evangelifche Pfarrer pflegen ihren Konfirmanden 
nicht die Recture von Möhlers Symbolif oder Döllingers Reformationgefchichte 
zu empfehlen und die Sozialdemokraten legen in ihren Vereinshäuſern wahr- 
fcheinlich weder die Kölnische Volkszeitung noch den Reichsboten aus. “Die 
päpftliche Inderfongregation thut ganz das Selbe, was der preußifche Staat 
thut, wenn er den deutfchen Boccaccio verbietet und alle Schriften, die geeignet 
find, in der Maſſe Zweifel an der Vortrefflichkeit der preußifchen Negirung - 
und der preußiſchen Staatseinrichtungen zu erregen. Nur ein Unterfchied 
befteht: der preußifche Staat kann ſeine Verbote in einem gewiſſen Maße 
durchführen; er vernichtet alle verbotenen Drudjchriften, deren er habhaft 
wird, und hält von feinen Kaſernen fogar viele nicht verbotene fern; die 
Inderkongregation dagegen hat feine Erekutivgewalt. Eben deshalb Tann fie 


...——n. 


Ah dad Vergnügen geftatten, Alles und Jedes auf den Inder zu fegen, weil 


























180 Die Zutunft. ° 


fie weiß, daß ihr Verbot praftifch werthlos und ein tein alaben 
iſt, deffen beliebige Ausdehnung ihr nicht ſchadet. Die Cenfur des 

dagegen ift wirkſam und daher muß fie ſich innerhalb der Grenzen 
in denen fie durchgefegt werden fann. Die Negirung würde fehr gern 

Hälfte aller modernen Romane, alle ſozialdemokratiſchen und etliche —— 
Zeitungen nebſt vielen ſozialiſtiſchen Büchern verbieten, einſchließlich derer , 
von Fichte, für ben der Herr. Reichstanzler ohne jegliche Gefahr öffentlich 
ſchwaärmen darf, weil er weiß, daß fein Menſch mehr dem alten Johann 
Gottlieb lieſt. Aber ſolche Herzenswänjche müffen unbefriedigt bleiben, weil 
bie Regirung zu einer fo durchgreiſenden Neinigung ber Borrathöfammern 
bes Nutrimentum epiritus die Macht nicht hat, fo daß fie ich durch eimen 
Inder vom Umfange des römifcen blamiren würde, Wenn man fagt, dem 
Papft erfegten Kanzel und Beichtſtuhl die Erelutivgewalt, jo kennt man die 
twirflihen Zuftände nicht. Die Geiftlichen donnern wohl zumeilen gegen |, 
die ſchlechte Preffe und warnen davor; aber daß ein Beichtvater fragte, ob 
der Bönitent Kant oder Hegel oder Ronffenu gelefen habe, durfte ſchwerlich 
vorfommen. Mid; hat nie ein Beichtvater danach gefragt und ich habe mie 
an einen Pönitenten ſolche Fragen gerichtet. Gleich nachdem ich meine exfte 
Kaplanftelle bezogen hatte, habe ih um Dispens vom Juderderbot gebeten, 
fie umgehend in einem freundlichen Brivatichreiben des bifchöflichen Offigials 
erhalten und von diefer Stunde an Alles gelefen, was ich zu leſen Luft hatte, 
Das latholiſche Bolt würde vom Inder gar nichts wiffen ohme die profeftan: 
tifhe und altkatholifhe Polemik dagegen. Für den Univerfitätlehrer verfteht 
ſich der Dispens von felbft; das Inderverbot eriftiet gar nicht für ihm. Er 
belommt ben Inder nicht offiziell zugeſchidt und ift gar nicht verpflichtet, zu 
wiffen, welche Bücher darin ſtehen. Erfährt er es zufällig, fo fann er ja 
in einen Gewiſſenskonflikt gerathen, — wenn er nämlich die Anfichten eines ver= 
pönten Autors theilt. Sichtbar werden wird der Konflit nur in den alle 
feltenften Fällen, denn bazu gehören zwei Bedingungen: der Mann muf bie . 
verpönte Anſicht öffentlich vertreten haben und er muß Priefter fein, was 
außerhalb ber theologifchen Fakultät fait niemals der Fall iſt. Ein — 
tonflikt iſt ja nun freilich ſchlimm genug, — für Den, der hineingeräth; aber 
für die Freiheit der Wiſſenſchaft find die Gewiffenstonflitte weit verhängmißz 
voller, in die eine der Staatsregirung mihfällige Ueberzeugung verwidel 
Was der Ueberzeugungtreue in einem ſolchen Falle zu thun hat, ift I 

und Harden hat es am Schluß feines Artikels ausgeſprochen; bie Frei 

ift eben eine Göttin, die gleih den Göttern Epikurs im feinem Kosmo) 

fondern nur in den Intermundien Raum findet; ins Praktifche überfegt 

wer frei fein will, muß auf jedes Amt, auf jedes fichere Brot verzichten. 


Neiffe. Karl Ientfh. 


ar 


| Milchkrieg. 181 
Milchkrieg. 


5" Jahrzehnt 1870 big 1880 betrug der ben märkifchen Milchproduzenten 
vom berliner Mitchhandel gezahlte Preis fünfzehn bis fechzehn Pfennige 
für das Kiter frei Berlin. Mit diefem Preis konnte der Produzent gut aus- 
fommen, fo gut, daß noch Fein ernftlicher Wiberftand erwuchs, als die ver- 
bündeten Händler begannen, den Preis um einen Pfennig, dann um zwei 
Pfennige herabzubrüden. Aber der Handel blieb dabei nicht ftehen, jondern 
ermäßigte, je nach den Konjunkturen und Yutterernten mehr oder weniger 
gierig, bei neuen Abfchlüffen den Preis immer wieder um einen DViertel-, 
halben oder ganzen Pfennig, bis fo im Jahre 1899 der Tiefftand von elf 
Pfennigen frei Berlin erreiht war. Daß inzwifchen bie Koften der Milch- 
produktion durch Steigerung der Tuttermittelpreife und der Löhne ſich erheb- 
(ich erhöht hatten, ift befannt. Zum Vergleich fei hier nur bemerkt, daß die 
Produzenten, um einen ähnlichen Bortheil zu haben, wie ihn der Preis von 
fünfzehn Pfennigen vor zwanzig Jahren übrig ließ, heute etwa fiebenzehn 
Pfennige dafür einnehmen müßten. 

Der berliner Konfument hat aus der vom Händlerthum bewirkten 
Preisfenkung einen Vortheil nicht gezogen. Zum Beweis dafür kann an bie 
Wiſſenſchaft der berliner Hausfrauen appellirt werden: fie haben in ben legten 
Jahren genau fo, je nach der Stadtgegend, 18 bis 20 Pfennige für das Liter 
Milch bezahlt wie vor zwanzig Jahren fchon. Aber fie jind bei diefem gleich 
hohen Preife vielfach noch infofern übervortheilt worden, als ein großer Theil 
der Milchhändler zuletzt nicht mehr Vollmilch, ſondern nur Halbmild lieferte. 
Das heißt: Milch, die durch Zufag entiprechender Mengen entrahmter Milch 
(Magermildh) fo weit „verlängert“ worden war, daß der Feitgehalt, der bei 
unverfälfchter Milch zwifchen 2,7 und etwa 3,5 ſchwankt, bi8 auf 2 Pros 
zent herabgedrüdt war. So konnte ein Händler, der Vollmilch mit 3,5 Fett 
für elf Pfennige vom Bauern kaufte, durch Zufag eines Drittels Magermilch, 
die fünf Pfennige koſtet, fich eine Milch herftellen, die noch reichlich 2 Prozent 
Bett hatte, aljo als Vollmilch für 18 bis 20 Pfennige untergefchoben werden 
fonnte, ihn aber in Folge jener Manipulation nur etwa neun Pfennige 
koſtete. Die Milcheentrale hat im vorigen Sommer in 1800 berliner Milch- 
geichäften 3660 Milchproben angelauft, von denen fich bei der Unterfuchung 
duch die gerichtlichen Sachverſtändigen 2912 Proben als in der eben ge- 
Ichilderten Weife verfälfcht erwiejen haben. Die Händler haben, als bie 
Milchcentrale diefe Thatſache veröffentlichte, furchtbar gelärmt und gedroht, 
den Leiter der Gentrale ob folcher Berleumdung vor den Staatsanwalt zu 
"ringen. Aber obwohl die Bofjische Zeitung inzwifchen fehr oft an diefe 

strafanträge fogar unter der Androhung erinnert hat, fie werde, wenn fie 
14 


182 Die Zukunft. 


nun wicht bald geftellt würden, fchlieglich felbft an die Wahrheit der Geſchichte 
glauben, ift Herrn Ring-Düppel bisher leider die Gelegenheit noch nicht ge- 
boten worden, dem Kadi fein Entlaftungmaterial unterbreiten zu dürfen. 

Der im Jahr 1899 erreichte Preistiefftand veranlaßte endlich die 
märkifchen Milchbanern, unter der Führung des Herrn Ring (der in feiner 
Wirthichaft feine Milch produziert) zu der „Milchcentrale” zuſammenzu⸗ 
treten, einer Genofienfchaft mit befchränkter Haftpflicht, deren alleiniger Zwed 
ift, den märkiſchen Milchproduzenten für unverfälfchte Bollmild von nun 
an einen Preis von 181/, Pfennigen frei Berlin zu fichern. Diefer Preis 
bringt feinen Gewinn, fondern dedt nur gerade die Selbftkoften. Ich Fönnte 
mich für diefe Behauptung auf detaillirte Nachweife berufen, die der Pro: 
fefior Howard aus den genau geführten Büchern von 68 Gütern hierüber 
veröffentlicht hat. Aber ich muß gewärtigen, daß ein „agrarifcher“ Profeflor 
bei einigen Leſern felbft der „Zukunft“ als nicht ganz vollgiltiger Zeuge 
angejehen werden möchte. Darum Lieber drei auch für ſolche Richter gewiß 
einwandfreie Zeugen: Magiftrat und Stabtverordnete hiefiger königlichen 
Haupt: und Reſidenzſtadt, den verftorbenen Bankdireltor von Siemens und 
die Nationalzeitung. 

1. Magiftrat und Stadtverordnete von Berlin beſchloſſen vor fünf 
Jahren: Angeſichts der ungeheuren, auf Hunderttaufende ſich belaufenden 
Berlufte, die bei den in Berlin geltenden Milchpreifen in der Milchwirth— 
Schaft der ftädtifchen Rieſelgüter trog rationellftem Molkereibetrieb unver: 
meidbar entftehen, wirb der Betrieb der Milchwirthichaft gänzlich eingeftellt. 

In Parenthefe: die Milchhändler haben fi, um den „Milchring“ zu 
brechen, neulih an die Stadtverwaltung mit der Bitte gewandt, auf den 
berliner Riefelgütern die Milchwirthſchaft wieder einzuführen. Zu dieſer 
Petition fagt die Vofjifche Zeitung: „In ber Stadtverordnetenverfammlung 
wird diefe Eingabe die wärmfte Befürwortung finden. Es ift ja auch ein 
Unding ſchier fondergleihen, daß die Verwaltung ber Stadt Berlin duch 
den Verlauf des Riefelgrafes der Milcheentrale die Mittel zu dem Verſuch 
bietet, da8 Volk Berlins in der Milchfrage auf die Knie zu bringen. Die 
Milchwirthſchaft mag rechnerifch der Stadtverwaltung nicht zufagen, allein 
fie hat zu bedenken, daß die Verfechtung prinzipieller Punfte feine kauf: 
männifchen Betrachtungen zuläßt.“ Iſt Das nicht allerliebft? Die Ver: 
waltung der vor den Thoren Berlins gelegenen ftädtifchen Güter kann 
deu beitehenden Milchpreiſen ohne große Berlufte nicht produziren, obgl. 
gerade diefe Güter wegen ihrer Lage dicht neben dem Hauptmarkt und we 
ihres Futterreichthumes für die Milhwirthfchaft prädeftinirt find. Die Sı 
foll aber aus ihrem großen Steuerſack einen Verluft von Hunderttaufe 
bezahlen, nur, um die Bauern zu zwingen, eine notoriſch Verluft bring 
Produktion zu Gunften der berliner Händler aufrecht zu erhalten. 


Milchkrieg. 183 


2. Herr Dr. Georg von Siemens veröffentlichte bei Beginn des 
„Milchkrieges“ die Erklärung: die Buchführung feiner märkiſchen Wirth- 
Tchaften beweiſe, daß man bei befteingerichtetem Betriebe nicht im Stande 
fei, die Milch billiger al3 für 131/, Pfennige nach Berlin zu liefern. Jeder 
geringere Preis bringe Berluft. Die von der Milcheentrale beanjpruchte 
Theilung: zwei Drittel (131/, Pfennig) dem Bauern, ein Drittel (61/, 
Pfennig) den Händler fei eine „faire Theilung“. 

3, Eine mhaltlich gleiche Erklärung veröffentlichte zur felben Zeit der 
befannte, gut liberale Baurath Bockmann in der Nationalgeitung. Ex wies 
aus den Büchern feiner eigenen Wirthichaften und aus denen befreundeter 
Landwirthe nach, daß die Differenz zwifchen dem beflehenden berliner Milchpreis 
von elf Pfennigen und der nun, von den Bauern erhobenen Yorderung von 
131/5 Pfennig genau dem Perluftbetrage entfpreche, der auf den erwähnten 
Gütern bei der Milhprodultion entftanden ift. 

Ich glaube, diefe Zeugnifje für das gute Recht der märkifhen Bauern 
werden auch liberalen Leſern genügen. Vielleicht ſtimmen fie jogar darin 
mit mir überein, daß es faum al3 „fair“ zu betrachten ift, wenn der Händler 
ein volles Drittel für eine Mühewaltung einftreichen fol, die ſich darauf 
deicgränft, morgens die Milh am Bahnhof in Empfang zu nehmen und 
fie innerhalb einiger Stunden an die Konſumenten zu vertheilen, während 
der Produzent ein volles Jahr brauchte, um den mit der erften Pflugfurche 
und der Düngerfuhre fürs Futterland beginnenden Produktionprozeß zu 
Ende zu führen, Ä 

Die märkifchen Bauern hatten von Anfang an nicht und haben auch 
heute noch nicht die Ablicht, den berliner Milchhandel überhaupt auszufchalten. 
Die anders lautende Darjtellung der Händler ift bewußte Unmahrheit. Die 
Händler hatten ihre Fahre lang fortgefegte Preisdrüderei ftetS mit der „Milch: 
ſchwemme“ begründet. Im Frühjahr, wenn die Stalbezeit vorüber und das 
erfte kräftige Grünfutter da ift, fteigt die Milchproduftion — vorübergehend — 
erheblich, über den normalen Friſchmilchverbrauch Berlins. Die Kontrakte 
(auteten dahin: dar die Händler auch diefe überſchüſſige Produktion abzu= 
nehmen haben, die fie natürlich nur unter Berluft (durch Berbuttern u. ſ. wm.) 
unterbringen fonnten. Hierauf fußend, drüdten fie den gefammten Yahres- 
durchſchnittspreis in der gefchilderten Weife herab. Ber Sachkennern beftand 
fein Zweifel darüber, daß diefer Verluft, für den ganzen Jahresdurchſchnitt 
berechnet, nur Bruchtheile eines Pfennigs betragen könne, nicht aber fo viele 
ganze Pfennige, wie die Händler mit Berufung darauf im Laufe der Fahre 
vom Preife abgebrödelt hatten. Der einzelne Produzent war aber gegen- 
über diefem Gebahren machtlos; er kann nicht die zeitweiligen Produktions 
überfchüffe zurüdbehalten und zu Haufe verwerthen. Das erjte und zunächſt 


14* 


134 Die Znukunft. 


einzige Ziel der in der Gentrale gefchaffenen Drganifation der Produ- 
zenten war: ben berliner Händlern anzubieten, die Milchſchwemme dadurch 
außer Wirkung zu fegen, daß die Centrale fich verpflichtet, fänmtliche im 
Friſchmilchkonſum nicht verbraudhte Milch wieder von den Händlern zurüds 
zunehmen und für gemeinfchaftliche Rechnung der Bauern in einer berliner 
Meierei zu verbuttern. So war den Händlern der einzige Grund genommen, 
den fie bisher mit einigem Anjchein von Recht für ihre Preisdrüderei geltend 
machen konnten; fo ergab fich aber auch, daß dieſes Motiv nur vorgeipiegelt 
worden war: die Händler erklärten plöglich, die Miſchſchwemme fei der Uebel 
größtes nicht und fie wollen überhaupt nichts mit der Centrale zu thun haben. 

Ihre Zuverficht war: einige Bauern giebt3 nirgends, am Wenigften 
auf märkiſchem Sande; wo ihrer zwei beiſammen find, werden gewiß drei 
Meinungen vertreten. Vielleicht wäre diefe Händlerfpefulation richtig ge 
weſen; aber die Leiter der Centrale haben aud nicht Stroh im Kopf. Jeder 
Möglichkeit, Uneinigkeit und Fahnenflucht in der Centrale anzuftiften, war 
dadurch vorgebeugt, daß nicht ein loſer Verein oder Verband, dem “Jeder 
nach Belieben wieder den Rüden kehren konnte, fondern eine Genofienfchaft 
mit Haftpflicht gegründet worden war. Das hatten die Milchhändler über- 
fehen; umfonft zogen fie nun als Rattenfänger mit fabelhaft hohen Preis— 
angeboten durch die märkifchen Lande. Erſt weit über die märkifchen Grenzen 
hinaus, in Oft: und Weftpreußen, Bofen, Diedienburg, Pommern, Hannover 
fanden fie Zulauf. Und die felben berliner Milhhändfer, die fich weigerten, 
mehr al8 elf Pfennige für die märkifche Milch zu bezahlen, haben feit dem 
erften Dftober bis heute fortgefet fechzehn, fiebenzehn, achtzehn Pfennige für 
den Milchbezug aus anderen Provinzen gegeben. Das war bitter, um jo 
bitterer, al8 e8 unnüß verlorenes Vermögen ift, denn das Ziel, den märki— 
hen Bauern niederzuringen und bann die Verlufte wieder aus ihm heraus⸗ 
zuquetfchen, ift nicht erreicht worden. Jetzt fteht der Sommer vor der Thür 
nnd die kommenden Wärmegrade werden gerade die theuerfte, am Weiteften 
bergebolte Milch zur fauerften mahen. Dies Geihäft muß alfo bald auf: 
hören; und damit wird der „Milchkrieg* zu Ende fein. Ich meine: auch 
für die Öffentliche Disfufiion. Denn in Wirklichkeit haben drei Viertel der 
Händler ihren Separatfrieden mit der Centrale längit gefchloffen: ihr Corps- 
geift langt nur dazu noch aus, die öffentlichen Sriegstänge mitzumad — 
Viele von ihnen hatten überhaupt nicht geftrifet, fondern fchon feit Beg.. 
des Krieges, feit dem erften Oktober, ihre Milchmunition vom Milchrin 
bezogen; tie haben ein ſchönes Stüd Geld dadurch gefpart. Andere wurd 
erft fpäter Flug; als vorläufig Legter hat nun auch Herr Bolle den Frieden: 
vertrag unterzeichnet, genau nach dem Schema der Centrale; die Ande 
werden nachfolgen — oder fterben. 





Milchtrieg. 185 


Der normale Milchverbrauch Berlins betrug beim Erlaß der „Kriegs: 
erklärung“ durchſchnittlich täglich 550 000 Kiter. Hiervon waren vier Fünftel 
in der Hand der Centrale. Das SKriegsgefchrei der Händler und ihr thats 
fächlicher Mangel an Munition bewirkte einen Nüädgang des Verbrauches 
um etwa 100000 Riter. Die Centrale fegte von ihren 400 bis 450000 
Kitern anfangs die Hälfte, ſpäter zwei Drittel direft und durch ftille Ber- 
mittlung der offiziell gegen jie flreitenden Händler in den Trinklonfum ab; 
der Reft wurde verbuttert. Heute ift der direlte Verbrauch bereit auf drei . 
Biertel de3 Geſammtquantums geftiegen; da8 Sommerwetter wird durch 
Abdrängung der weiten Zufuhr auch dem legten Viertel den Abfag eröffnen. 
Dann iſt das Ziel der Bauern erreicht: 131/, Pfennige dem Produzenten, 
der Reſt, wenns wirklich 61/, Pfennige fern müffen, dem Händler. Damit 
der Hündlerantheil aber nicht zu Ungunſten des Stonfumenten noch höher 
werde, wird die Gentrale auch nach offizieller Beendigung des „Krieges“ 
ihre berliner Einrichtungen nicht aufheben, fondern auch Fünftig hier Boll: 
milch für achtzehn Pfennige im Laden und zwanzig Pfennige frei Haus an- 
bieten. Sonft würden die Händler für den den Produzenten nothgedrungen 
gewährten Preisaufſchlag jich fehr bald beim Publitum ſchadlos halten und 
man würde dann in allen Zeitungen fefen können: O diefe hHabgierigen Agrarier! 

Ein Wort noch über die neue Polizei-Verordnung, die, fo las mans 
in der Voſſiſchen Zeitung, die Agrarier „über Berge von Kinderleihen” zum 
Siege führen folle. | 

Bisher durften nach der alten Polizeiverordnung über den berliner 
Milchhandel verkauft werden; Vollmilch mit wenigſtens 2,7 Fett, Halbmild 
mit mwenigftend 1,5 Fett und Magermilch mit beliebig niedrigem Fettgehalt. 
Die neue Verordnung befeitigt num den Handel mit Halbmilch und fchafft 
neben der Vollmilch noch den Begriff „Marktmilch“, die einen Mindeftfett- 
gehalt von 2,7 haben muß. Ueber die Wohlthat der Befeitigung der Halb: 
milch iſt fein Wort zu verlieren. Gerade diefe bisherige Zulafjung öffnete 
dem Betrug im Milchhandel Thor und Thür. Die vorhin erwähnten 
2912 Betrugsfälle find ausnahmelos ſolche, in denen den Käufern, die aus⸗ 
drücklich Vollmilch verlangt und dafür 18 bis 20 Pfennige bezahlt hatten, 
Halbmilch mit weniger al3 2,7 Prozent Fett verabfolgt worden war. Diefem 
Anfug ift duch das jegt erfolgte generelle Verbot, ſolche Milch überhaupt 
el zu halten, der Boden entzogen; denn nun fann ftrafrechtlich eingefchritten 
verden, wann und wo bie fontrolivende Polizei folche Milch bei einem 
Händler vorfindet. Ein Bedürfnig für die Feilhaltung folder Mifchungen 
: offenbar nicht vorhanden; jede Hausfrau fann, wenn fie Halbmilch haben 
nl, diefe Miſchung ſich ſelbſt Heritellen. 

Anders ftehe ich zu der Einführung der Bezeichnung und des damit 


186 Die Zukunft. 


verknüpften Begriffes Marktmilch. Vollmilch ift, vulgär, eine „Milch, wie 
fie von der Kuh kommt“, alfo Milch, der nichts zugefegt und von der nichts 
abgenommen if. Marktmild dagegen im Sinn der neuen Polizeiverord- 
nung iſt eine Milch, der ein höherer Fettgehalt fortgenommen oder Mager- 
milch zugelegt fein darf, wenn fie nur immer noch 2,7 Yett (den Mindeft- 
fettgehalt unverfälfchter Kuhmilch) behalten hat: Hiernach darf alſo Jemand, 
der Milch von den hohen Fettgehalt von 3,5 produzirt oder al3 Händler 
gekauft Bat, entweder 0,8 Yelt (zur Verbutterung) abrahmen oder zwanzig 
Prozent Magermilch zugjeßen und die fo erhaltene Mil als „Marktmilch“ 
feil_ Halten. Daraus fieht man, dar mit der Befeitigung der Halb— 
milch doch das Prinzip nicht völlig befeitigt ift; man hat nur ben Minbeit- 
gehalt von 1,5 auf 2,7 erhöht, ohne die Möglichkeit gänzlich zu befeitigen, 
diß immerhin Miſchmilch verkauft wird. Ic halte Tas grundfäglich für 
unzuläffig und füge, da ich „Agrarier“ bin, für Steptifer noch glei Hinzu: 
Diefe Vorfchrift ſchädigt auch die Landwirthe. Die einzige Möglichkeit für 
die Händler, auch im Sommer fih aus fernen Gegenden Milch zu befchaffen, 
ift durch die Eismilch gegeben. Haltbare und im Gefchmad nicht feidende 
Eismilch läßt fi aber nur herftellen, wenn der ſtark gefühlten Vollmilch 
noch extra Milcheis (aus gefrorener Magermilch beftchend) zugeſetzt wird. 
Dieſer Milcheiszuſatz iſt aber nach der vorhin gegebenen Definition nicht bei 
Vollmilch, fondern nur bei Marktmilch geftattet. 

Die Händlerprefie hatte die unwahre Mitiheilung verbreitet : die, Markt— 
milch“ ſei auf Betreiben der Milchcentrale in die Berordnung aufgenommen 
worden. Der Borftand der Gentrale hat hierauf das Protofol der Sitzung 
veröffentlicht, in der die Gentrale zu dem ihr vorgelegten Entwurf der Ber- 
ordnung ſich gutachtlich zu äußern hatte. Der einftimmig gefaßte Beſchluß 
lautet: „Die Erlaubniß zur Feilhaltung von ‚Marktmilh‘ ift abzulehnen. 
Die Staatsregirung ift zu bitten, daß der bisherige Begriff der Vollmilch 
aufrecht erhalten bleibe, der Verlauf nur unverfälfchter Kuhmilch geflattet, 
der Halbmilchverfauf gänzlich unterfagt werde." Warum nun — äbgefehen 
von der Lüge, die Gentrale habe die Einführung der Marktmilch verjchuldet — 
überhaupt das Gefchrei der Händler gegen dieſe neue Verordnung, die, wie 
das Geſagte beweilt, unter Umftänden — wegen der Eigmildhlieferung — 
den Landwirthen direft ſchaden kann, in keinem Fall aber ihnen, die ja for 
traftlich zur Lieferung von Vollmilch verpflichtet find, irgendiwie nützlich ift? 

Ich habe dafür nur die eine Erflärung: auf die Marktmilch fchlägt 
man und den Berfuft der Halbmild meint man. Es ift wirklich ein Schau⸗ 
fpiel für Götter: der felbe Handel, dem nachgewiefen ift, daß er in drei 
Vierteln aller Fälle Halbmilh von weniger als 2,7 Prozent Fett für Vollmilch 
ausgab, diefer felbe Handel entrüjtet fih nun darüber, daß die Polizei di 





Frühling. - 187 


Mindefigrenze für die neue Art Halbmilch wenigſtens von 1,5 auf 2,7 hinauf: 
gerückt Hat. Jet ruft man alle Dlütter auf die Schanzen zur Vertheidigung 
von Leib und Leben ihrer Kinder gegen diefe verruchte Marktmilch, die doch, 
jo viel ich auch felbit an ihr auszufesen habe, immerhin genau doppelt fo 
gut ift wie die von diefen Händlern fo fange vertriebene Halbmild. 

Einem Unfug hat die Polizei zun Glück fehr fchnell das Ende be 
reitet. Die Händler hatten ſich nicht genirt, die Lüge unter das Publikum 
zu werfen: die neue Polizeiverordnung verbiete Überhaupt den Berfauf un- 
verfälfchter Vollmilch und zminge jeden Händler, die von ihn gepachtete beffere 
Mil beim MWiederverfauf bis auf den Fettgehalt von 2,7 zu verfhneiden. 
Es fand ſich fogar ein bei den berliner Gerichten zugelaffener Anwalt, der 
in öffentlicher Verſammlung erklärte: eine folche Verordnung fei einfach 
ungefeglih; feinem Menichen dürfe verboten werden, gute, unverfälichte 
Waare feilzubieten, und man werde daher bei der erften Kontravention das 
gute Recht ehrlicher Milchhändler bis zur leuten Gerichtsinſtanz verfolgen. 
Der Tropf wurde am nächſten Tage ſchon von feinen verdienten Schidjal 
ereift. In der felben Zeitungnummer, die den Bericht über feine Rede brachte, 
las man bie leider unangebracht höfliche Erklärung des Polizeipraſidiums, 
die dieſem Treiben entgegen trat. 

Warum die Polizei nicht ganze Arbeit gemacht, ſondern neben der 
Vollmilch nun noch dieſe Marltmilch zugelaſſen hat, dafür habe ich keine 
Erklärung. Immerhin iſt es ein erheblicher Fortſchritt, daß wenigſtens bie 
bisherige thatfächliche „Marktmilch“, dieſes Halbgemiſch von 1,5 bis 2 Pro- 
zent Fett, befeitigt if. Ganz fo Hoch mie bishec werden alfo fünftig die 
Kinderleichenberge in Berlin fich nicht häufen. . Edmund Slapper. 


* 


Frühling. 
SAD Du: 
ih glaub’, es acht mit Allen fo! 


Man wartet und man freut fih wie ein Kind 
den ganzen endlos langen Winter, 

und wenn es friert oder regnet und fchneit 
und mitten anı Tage trüb wird und Hadıt.. 
man muntmelt ji} in den Mantel und ladıt: 
je tiefer die Wege draußen verfchnein, 

um jo früher muß es vorüber fein! 


188 Die Zukunft. 





Und wenn es dann ganz leife kommt, 
ganz leife nıit wieder hellerem Schein .. 
wie will man fich darüber freun! 

wie will man auf der Kauer ftehn, 

un ja das .erfte Keimchen zu fehn, 

das irgendwo fich regt, zu ſprießen, 
und jauchzend jedes Deilchen grüßen 
und felber o! ganz Frühling fein! 


Und dann... 

dann kommt der große Regen, 

der immer kommt, vor jeder Erfüllung... 
der Regen, von dem man fagt: o ja! 
doch fobald er vorüber, ift es da! 


Und fo wirds März und wirds April... 

wie fputet man fich, aufzuräumen 

in jedem Winkel, um in Ordnung zu fein 
und wenn es dann da ift, um Zeit zu haben: 
fih zu freun! 


Und eines Morgens wahft Du auf 
und ſtehſt und ftaunft 

und trauft den eigenen Augen faum: 
als ob ein Wunder wär geichehn, | 
ift Alles o fo grün, fo grün | 
und ringsumber | 
ein Sproffen und ein Blühn und Glühn, 

als ob es fchon feit Wochen, 

fett Wochen Frühling wär! 


Und jenes erfte heimliche Werden, 

das Du fo Fföftlih Dir geträumt... 

Du hafts nun dodh.. 

perJäumt! 

Ich glaube freilih, Das ift immer fo... 

bei jeder Erfüllung, auf die man ſich freut! 
Caeſar Flaiſchlen 


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Achtung vor England, 18% 


Achtung vor England. 


SS) Deutfche ift eim lenzesfroher Geſell und e8 zieht ihn nach dem 
fonnigen Süden. In das gefchäftige Niflheim jenſeits des Kanals, 
wo angeblich überall der nafle Ruß an den Wänden niederfidert, wandert 
der Commis und der Stellner, der Gebildete aber fpart feine Grofchen für 
die große Reife feines Lebens nach Italien auf. Auch Solche, die e8 „dazu 
haben“, englifche Hoteliers zu bezahlen, gehen nicht übers Waller. Die 
wiener und berliner Bankiersfrauen fpülen ihre Winterfiinden in Blantenberghe 
ab; in Brighton Hört man kaum ein deutfhes Wort. So kommt «8, daf 
der Deutfche nur feinem Leibblatt die Kenntniß englifchen Weſens entnimmt. 
Sp fommt e8, dag der Engländer ji in unferer öffentlihen Meinung wie 
in einem Zerrſpiegel erblidt. Entweder trifft er auf einen lärmenden 
Shamberlain-Spudnapf:Beliger, der von der politifhen Perſönlichkeit des 
Kolonialjelretärg vor 1899 nicht die leiſeſte Ahnung hat, oder aber auf einen 
weltfremden alten Doktrinarius, der den liberalen englifchen cant in fritil- 
Lofer Begeifterung für höchfte Offenbarung nimmt. Der Eine fchimpft, der 
Andere ſchwärmt. Irgendwo aber bei ftillen Leuten, die England kennen 
und feine Gefchichte, hauft die Wahrheit. Nur rührt fie fich nicht. Sie 
könnte fich erfälten. 

Die Engländer waren Menfchenalter lang durch den Anblid verwöhnt, 
den unfere Preffe in der Pofe bes fchniachtenden Junglings bot. Jetzt 
aber will auf einmal kaum ein Schriftftellee mehr die Brüden fehen, bie 
hinüber und herüber führen. Und es find deren doch fo viele; Gutes und 
Schlimmes geht über den Kanal ein und aus; der Zufammenhänge giebt 
es unzählige. 

Daß auf deutfchen Bühnen Shafefpeare häufiger zu Wort fommt als 
Schiller und Goethe zufammen, belegt mit untrüglichen Zahlen die Repertoire: 
fatiftif, fein Fremder hat deutfches Welen jemals jo in feinen Tiefen erfaßt 
wie Sarlyle, der Herold des urdeutichen Gedankens der Organifation; unfer 
modernes Kunſthandwerk hat feine erfte Anregung von England empfangen, 
wo eine reiche Ritterfchaft den Stil vornehmer Lebensführung prägt; umge— 
kehrt hat Jan Hagels Matrofengefhmad bei ung die Olympia-Schenkel-Paraden 

Tricot aus den music halls von drüben bezogen; der größte Abnehmer 
„nd beite Zahler für unfere Exportinduftrie it Großbritanien mit feinen 
Kolonien; an Drummonds Traftaten verwällern unfere Stillen im Lande ihr 
mofeſtes Lutherthum und immer noch ift auf dem Erdenrund England die 
tormadıt des Proteſtantismus, im Gegenſatz zu den Patres aus dem Lande 

r reges christianissimi. 
Es giebt alfo doch noch einen gemeinfamen Pulsſchlag. Nur fuche 


u 


190 Die Zukunft. 


man ihn nicht in der Politil, Das ift der Fehler Derer, die uns von drüben 
wieder die Hand reichen möchten. 

Einjt wurden bei ung die liberalen Reize Britanias gepriefen. Mit 
ängftfich erfrorenem Lächeln erinnert fie darum heute wieder den ungetreuen 
Liebhaber an ihre „freiheitlichen Inſtitutionen“, nach denen bie unferen ge: 
ichaffen feien. Aber zu ihrer Beſtuͤrzung muß ſie hören, daß wir dieſem 
Märchen längſt nicht mehr glauben. Die Freiheit iſt nicht durch engliſches 
Beiſpiel, ſondern durch die franzöſiſche Revolution dem Kontinent begehrens- 
werth geworben; fie ift uns auch nicht gefchenft, fondern von uns erfämpft; 
das allgemeine Wahlrecht in Deutfchland ift eine Yolgerung aus ber allge 
meinen Wehrpflicht. Das Haben die Engländer in unferen „führenden“ 
liberalen Blättern freilich nicht gelefen. Laut Moffe und Leſſings unfäglichen 
Erben jeufzen wir unter dem Militarismug, jehnen wir uns nad) lauter 
Kommerzienräthen auf der Minifterbank, werden von ein paar Agrariern 
bis aufs Blut gepeinigt und entrüften uns bei jedem Piftolentnall und noch 
einmal ertra vor dem Quartalwechſel über den Duellzwang, den allein das 
glüdlihe England in feiner ungemeinen Sittfanfeit nicht fenne. Und fo 
glaubt der Better fehließlih, Deutfchlands Herzenswunſch müſſe fein, "eine 
englifche Provinz zu werden. Um fo unbegreiflicher ift ihm feit zwei Jahren 
die plögliche Anglophobie; dahinter, denkt er, Tann nur der Doftor Leyds 
mit feinen Beſtechungsgeldern fteden. 

Aus der Keinftaatlihen Geneſis unferes Liberalismus iſt es erklärlich, 
daß der Spiegbürger früher über die „Soldateska“ zu Inurren für freiheitlich 
hielt. In dem jegigen gefchäftsfrohen Zeitalter machen aber überaus frei: 
jinnige Leute den Imperialismus mit allem Drum und Dran freudig mit. 
Wenn die Weltgefhichte zum Kampf um die Futterpläge wird, dann brauchen 
die Völfer Hauer und Klauen. Ohne Kanonen feine „Konzeliionen“. Wenn 
der große Magen des Weltmarktes ſich zu fträuben beginnt, dann foll bie 
Armee mit ihren Starken Fäujten das Nudeln übernehmen. England ging 
nah Transvaal nicht, um, wie der Etanuntifchphilifter fteif und feſt glaubt, 
dem Ohm Baul feine Goldninen zu nehmen — denn die find Privat: 
eigenthum der Shareholder der ganzen Welt —, fondern, weil Südafıifa, 
diefer rieligfte Induftriemagen der Zukunft, den drohenden LUnterfonjum 
englifher Waaren ausgleichen fol. Genau die felben Gedankengänge birgt 
da3 Hirn unferer von Tag zu Tag loyaleren Händler. Das Gros diefes 
Liberalismus hat mit dem Militariemus längft feinen Frieden gemacht. 
Das Gefchäft geht fo beſſer. Der Umſchwung liegt ſchon Jahre lang zurüd: 
an der Wende ließ Ridert fi) von Caprivi auf die Schulter Hopfen. Mit 
dem Singfang gegen den Militarismus erwerben ji die Engländer aljo 
feine Freunde mehr bei und. Bei den Preußen von altem Echrot und Korr 





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Achtung vor England. wi 


natürlich erft recht nicht. Denen ift das Heer nicht eine Schugiruppe der 
Erporteure, jondern die geordnete phyſiſche Kraft der Nation, auf der im 
legten Grunde alles Dafeinsrecht des Volfes beruht. - 

Auch die Duellreinlichkeit Albions zieht nicht. Die deutfchen Duell- 
gegner wilfen wohl, daß in England auf ritterlichen Zweikampf die jelbe 
Strafe fieht wie auf gewöhnlichen Totſchlag. Aber ganz gewiß ift nicht 
eine abfonderlih zarte Moral in Bezug auf das fünfte Gebot daran Schub. 
Bornehme Klubs drüben erfreuen fich noch immer an dem bezahlten Gladiatoren- 
jpiel des profeſſionellen Borens; und cin Totfchlag dabei wird nur mit milder 
Haft beftraft, wie auch bei ung der „kommentwäßige“ Waffengang. Ich 
zweifle. ob dabei für die Engländer cin erhebliche8 moralifches Plus bfeibt. 

Schon unfer Begriff vom Staat unterfcheidet ſich grundfäglid von 
dem englifchen. Die englifche Berfaffung, die der jeweilig herrichenden Partei 
die Nofinen aus dem Kuchen zumeift und dem König nur bie Rolle des 
deforativen Thürftehers beim Schmaus, bekäme ung übel. Der Staat ift 
uns mehr als eine bloße Erwerbägenoffenfchaft der Privilegirten; er ift uns 
eine ſittliche Inſtanz, nach Fichte der Erzieher der Menjchheit. Daß feine 
Lenker „königliche“ Beamte find und „intereſſelos“, ohne Anfehen der Partei, 
wirfen follen, ift unfer Stolz. Der Brite dagegen hat in feiner Beanıten- 
hierarchie offiziell einen patronage secretary, ber die Aeniterchen an die 
Freunde der Partei vertheilt, und findet am gefchicten gefchäftlichen Speku- 
(ationen feiner Minifter fein Arg; ja, Addifon befingt fogar begeiftert das 
ethifche Prinzip der Vetternwirthichaft, während wir an dem Echwiegervater 
des Herrn von Boetticher nie fonderliches Wohlgefallen empfanden. Seber 
befigende Unterthan fol drüben Theilhaber der Firma Staat werden und 
die Einrichtung der Pfundaktien ermöglicht dem Heinften Sparer das Mit: 
ſchwimmen in großen Strom des Gefchäftes. Wie in Lefterreich jeder 
Hausknecht Lotto fpielt, hat in England jeder Hausknecht Shares. Wer auf 
Chanıberlain bant, hat Dleinung für Dynamitaltien, und wenn ihretwegen 
den regirenden Bänerlein in Pretoria der Spieß auf die Bruft geſetzt wird, 
fo freuen ſich bag Hunderttaufende. Daher it e3 ja auch ein thörich er 
Schnickſchnack, wenn bei ung behauptet wird, nur Shamberlain, Rhodes, 
Milner und Genofjen trügen die Verantwortung für den Krieg; die Verant— 
wortung trägt dag ganze Boll. Das haben die legten Wahlen mit ihrer 
riefigen imperialiftifhen Mehrheit gezeigt. Das zeigt Chamberlains Bolt: 
thämlichkeit, zeigt der Sturm gegen Bro:Buren: Berfammfungen, zeigt dic be= 
berrfchende Stellung der JImgo-Preſſe. Unter den Blättern mit befanuten 
Namen rubern nur noh „Morning Leader”, „Daily News“, „Mancheiter 
Guardian“ dem Strome der öffentlichen Meinung entgegen. Wer fchließlich 
noch an die Stellungnahme der Geiftlichen der High Church denkt, kann jich 
nicht mehr verhehlen: der Krieg ift Herzensfache der ganzen Nation. 





nn 


192 Die Zukunft. 


Wir Deuiſchen verftehen keinen Spaß, wenn uns gegenüber au Dinge 
getaftet wird, die wir wirklich „mit ganzem Gemüth“ betreiben. Und um: 
gekehrt find wir Fremden gegenüber darin ſtets erſt recht taftvoll gewefen. 
Warum nun der Ingrimm über den Burenfrieg? Um diefe Kernfrage kommen 
wir nicht herum. Ihre Beantwortung fol den Engländern zeigen, welches 
der einzige Weg ift, auf dem fie die Hohfchägung ihrer Bettern wieder cı= 
werben Fönnen. 

Der tieffte Grund der allgemeinen Britenverdammung in Deutfchlaud 
liegt nicht etwa in ber Graufamfeit der Kriegführung. Der Deutſche ift als 
Soldat — und welcher Deutfche wäre Das nicht? — praltifcher Erfolg: 
anbeter, fo fehr er ſonſt auch zum Doltrinarismus neigt. Er fagt fich 
mit Recht, dag es im Krieg nicht fo fehr darauf anfommt, ob man mild 
oder hart handelt, fondern darauf, ob man zweckmäßig oder unzweckmäßig 
verfährt. Durch Härte einen Krieg beenden, ift milder, als durch Milde ihn 
Binziehen. Hätte fchneller Erfolg die Art britifchen Kriegsbetriebes gerecht- 
fertigt, fo wären bis auf Heine Fdeologenfreife die Ankläger verftummt. Als 
nach der Einnahme von Bloemfontein die Freiſtaater, auf Nobert3’ Prokla— 
mationen hin, in Maflen die Waffen niederlegten, da wid das Intereſſe an 
den Buren überrafchend fchnell Fühler Nüchternheit. Den Zeitungen, die von 
vorn herein, ohne in Anglophobie zu machen, doch auf Grund ihrer Kenntnig 
engliſchen Heerweſens prophezeit hatten, die Buren würden nicht überwältigt 
werden, wurde es im Sommer 1900 unendlich fchwer, ihre Leſer bei der 
Stange zu halten; ich ſpreche da aus eigener Erfahrung. Erſt die erneuten 
DBurenliege im Dezember 1900 liegen die Begeifterung für die Buren und 
den Zorn gegen bie britifche „Grauſamkeit“ wieder aufflammen. Nur in 
rein militärifchen Sreifen, auch wo von einen Einfluß englifcher Gattinnen 
nicht die Rebe fein kann, gab man vielfach nad wie vor auf die englifchen 
atrocities fehr w.nig; um jo fchärfer aber wurde die Kritik der englifchen 
Erfolglofigfeit. Dieſe Mißachtung der englifhen Armee wird durch die Er- 
zählungen der aus China heimgefehrten deutfchen Soldaten nur noch ver- 
ftärft. Beim Zuge de3 Bataillon Förfter gegen Tſekingkuan ift nicht um— 
fonft das fchnell geprägte Berschen zum geflägelten Worte geworden: „Meldung 
von den Shiks: Bom Feinde willen wir nir!“ 

Wenn es aber auch die Grauſamkeit nicht ift: wo liegen dann 
Wurzeln der Anglophobic? Wie fann man fie wieder befeitigen? 

Nicht einmal die Erklärung ift ftichhaltig, dag e8 die Sympathie 
den Kleinen fei, dem von der Uebermacht Gewalt angethan werde. Der Deut‘ 
würde ſich feinen Augenblid beiinnen, wenn es das Lebensinterefle 
Neiches erheifchte, eine winzige Nation zu züchtigen. Die Zauberformel, 
Ales erhellt, Tiegt vielmehr ı1 dem einen Worte: der Söldner. Uebe 


Achtung vor England. 193 


regt jih wilder Grimm gegen die „bezahlten Kerle“ der englifchen Armee. 
Das ift e8, was feine apologetifhe Brodure von Conan Doyle dent 
Deutſchen verreden fan. " 

Wenn einft die Bauern unferer Altmark bei der Schwebenwadt auf 
den Elbdeichen ihre Fahne mit der unbeholfen rührenden Infchrift entrollten: 
„Wir find Bauren von geringem Gut und dienen unferem gnädigften Kur— 
fürften und Herrn mit Gut und Blut!“, fo ſprach ſich darin ſchon die ur- 
deutfche Auffaffung aus, daß man für feine Herzensjache nit nur mit feinem 
Gelde, fondern auch mit feiner Perfon einzutreten habe. Das hat jich bei 
uns jeit 1814 erft recht eingegraben. Und Das ift e8 aud, was uns fe 
befonnen madt. Ein Boll der allgemeinen Wehrpflicht ftürzt ſich in un: 
bändiger elementarer Kraft auf den Feind. Aber ehe es ſich dazu entſchließt, 
muß e3 in feinen tiefften Tiefen empört fein. Sabinetäkriege jind da nicht 
möglih. Kapitaliftifche Eliquenkriege eben fo wenig. Wir waren einft das 
kampfluſtigſte Bolt der Erde, find im Kriegshandwerk die Lehrer aller Nationen 
gewefen und jind es noch jetzt; deutſche Schwerter klirren dur alle Jahr: 
hunderte und durch alle Länder, unter den Mauern von Athen und auf den 
Hügeln Roms, in der Gluthſonne Spaniens und im Nebel der Erinsinfel, 
ja, fie fchlagen die Schlachten der Engländer jenſeits des großen Waflers. 
Aber heute, nad knapp hundert Jahren der allgemeinen Wehrpflicht, jind 
wir das eigentliche Friedensvolf Europas, das während der einunddreifig 
Jahre feiner geballten Kraft noch niemals freventlich gegen fremde Ehre aus: 
gefallen iſt. Erſt in den jiebenziger Jahren folgten Frankreich und Rußland 
unferem Beifpiel, nad) ihnen andere Völfer, erft im vorigen Jahr hat 
Holland den Heeresdienſt obligatorifh gemacht und bald wird ber ganze 
Kontinent unfer Syftem durchgeführt haben. Das ift eine weit größere 
Friedensgarantie als eine noch fo weltbürgerliche Berfaffung. Einft glaubte 
man, die Republik fei der Friede. Heute trauen nur noch die freilinnig Ver— 
michelten dem NRattenfängerlicd von dem Yortichritt der Menfchheit zum 
Taufendjährigen Friedensreich aus eigener Vervollkommnung. Kriege wird 
ed immer geben. Aber wie auf dem wirthichaftlichen Kriegsfchauplag meift 
die unorganilinten Arbeiter und nicht die Gewerkichaften die wildeften Strifes 
beginnen, fo find auch im Bölferleben die Milizheere und Eöldnerarmeen 
der Republifen und Parlamentsftaaten eine weit größere Gefahr als das 
Volksheer einer Monarchie. Eine Regirung, die nicht mit Miethlingen arbeitet, 
‚ondern da8 ganze Volk zur Schlachtbank führen muß, eine Regirung, die 
'zeiß, dag im Moment der Mobilmahung eine ſchwere wirth'chaftliche Kriſe 

reinbricht, weil Ader und Werkitatt und Kontor veröden, eine foldhe Ne: 
wung fchredt vor der Verantwortung zurüd, die eine Kriegserklärung ihr 
fbürdet; e3 müßte denn fein, daß es ſich wirklich um die heiligften Güter 








der Nation oder um die Grundlagen ihres materiellen Dafeins handelt. Wenn 
in Grofbritanien jeder Mann im Alter von zwanzig bis zu vierzig Jahren 
unter die Fahnen müßte, ob er auch Better eines Miniſters, Bejiger eines 
Majorates, Großaktionär, Gelehrter, Schiffsrheder, Künftler, Kandrichter oder 
Zeitungfchreiber fei, wenn fo die ganze Nation ihre Haut zu Marfte trüge, 
ftatt nur einen Haufen von Prügeljungen (abgejehen von den Bolunteers) 
auszufenden, dann müßten wir, aud wenn wir hundertmal den Krieg für 
ungerecht hielten, vor diefer überzeugenden Wucht nationaler Vollkraft ritter: 
ih den Hut lüften. 

Haß oder Kiebe kann dem Briten gleichgiltig feit. „Dor lad} ik öwer!“ 
Aber die Achtung unter den Völkern darf eine Nation nicht verlieren, muß 
fie wiedergewinnen, wenn fie jie verloren hat. Wollte Gott, daß die angel: 
ſächſiſchen Vettern fih auf ihr deutſches Blut befännen, in germanifcher 
MWehrhaftigfeit ihr Heil fähen, bem Schwerte jich wieder vermählten, der 
Knechtichaft de8 Coupons entrännen! Dann erft Fünnte man als treu Ge— 
fippter wieder fein befümmert gefenftes Haupt erheben. Dann würde England 
nicht nur als Kriegsmacht, fondern auch fittlich weit höher gewerthet werden 
und als Freund fo willlommen tie als Feind gefürchtet erfcheinen. Wenn 
e8 aber aus feinem fchleichenden Afrikafieber nicht diefe Lehre entnimmt, 
dann redet Chamberlain feine pangermanifchen Gedanken in den Wind. Der 
Mann ift wirklich Deutfchenfreund; er fchätt die deutiche Zuverläfiigleit To 
hoch, daß er ſich fogar in feinem eigenen Haushalt mit deutfcher Dienerjchaft 
umgiebt. Aber ihm fehlt jeder Begriff für den tiefen fittlichen Unterfchted 
zwifchen Wehrmann und Söfdner. 

Schon werden Stimmen laut, die die Briten für ein niedergehendes 
Volk erflären, obgleich e8 noch gar nicht jo lange her ift, daß Graf Gobineau 
jie die Blüthe ariſchen Menſchenihumes nannte; fchon fagt man, e8 fehle nur 
noch der Zufammenftog mit einem Ron, um diefes Karthago der Händler 
volends zu entwurzeln. Wohlan: wir erwarten den Gegenbeweis. Das 
Paradigma in der Weltgeihichte dafür ift vorhanden. In der Nacht zum 
fünfzehnten Dftober 1306, in der Nacht nad Jena, wurde den erft jieben- 
und;wanzigjährigen Friedrich Ludivig Jahn das Haar eißgrau; die felbe feelifche 
Erjchütterung rüttelte das ganze Volk wach und die Antwort war die allgemeine 
Wehrpflicht. Iſt der Weg von Colenfo bis Tweeboſch nicht die eine Nacht 
werth? Vielleicht hat England jept die Iete Gelegenheit, diefen Weg d 
nationalen Renaiffance zu befchreiten, den die Kontinentalmächte längft ı 
ihm eingefchlagen haben. Ehe es zu fpät ilt. Ehe die zwölfte Stun 
fchlägt, wo die „hölzernen Mauern“ Englands verfagen, weil das Waf 
auch für die Feſtlandsvölker jetzt Balken Hat. 

Frankfurt a. M. Adolf Stein. 
s 


194 Die Zukunft. 


Darm - Ather. 195 


Darm: then. 


9* „Dokument deutſcher Kunſt“ wie die darmſtädter Künſtler ihre Aus— 
ſtellung genannt haben, erweiſt ſich beim Schluß der Vorſtellung, die 
einige Monate die Augen der Kulturbedüftigen auf ſich zog, als eine un— 
bezahlte Rechnung, deren Koſten, wie es ſcheint, die Künſtler zu tragen haben. 
Das ift der bittere Hnmor von der am Ueberraſchungen reichen Geichichte ; 
der Humor aller verftedten, aber deshalb nur um fo tieferen Sfonfequenzen. 
Denn wie Alles außer der erften VBeranlaffung in Darmftadt modern war, 
fo ift auch diefer Schluß von zeitgemäßem Gepräge, es war ein fchöner, 
altmodifcher Traum, der die Sache ind Scheinleben rief, und es ift ein nadter, 
vernünftiger Realismus, der fie zu Ende führt. 

Mer hätte gezögert, dem Ruf des Fürften zu folgen, der in gro: 
müthiger Gebelaune befchloß, feine Reſideuz zu einem Darm-Athen zu 
machen? Ich möchte wiffen, wer eigentlich die erjte dee fuggerirte. Sicher 
fanı fie nicht vom Fürften felbit; er ift dafür zu großmüthig. Ich vermuthe, 
es war ein Konfortium von Leuten älterer Kunftrichtung, die ganz richtig 
fpefulirten, dag auf diefem ungewöhnlichen Weg eine Anzahl bedenklich moderner 
Künftler mit Sicherheit kalt zu ftellen fe. Merkmürdig, dag man nicht 
radifaler vorging und micht noch viel mehr moderne Künftler beftimmte, 
ihre Penaten nach Darmftadt zu tragen; man fonnte jo ganz Deutichland . 
entmioderniliven. Die legten offiziellen Defrete in Kunftfachen laffen weitere, 
tiefere Zufammenhänge ahnen. Warum follte der Bundesrath in diefem 
einen Punkt uneinig fein? Jedenfalls: es it erreicht. 

Sch fehe Peter Behrens heute noch vor mir, wie er in dem fleinen 
fchweizer Hotelfaal, wo wir ung trafen, dröhmenden Schritte® auf und ab 
wandelte und von neuem Mäcenatenthum fprad. Fürſtenkultur, das Heil 
im Schönheitliegerfranz; . . . Du ahnft e8 nicht ... Und ich fam mir, wie 
gewöhnlich, niedrig und gemein vor. 

Ich Hatte aber doch eine Ahnung; freilich ging ſie nicht fo weit wie 
heute die Wirklichkeit. Ich zweifelte an den fachlichen Faktoren, an der praf: 
tiſchen Möglichkeit, aus einem Städtchen ohne Induſtrie und Handel mit 
geringen Mitteln eine Stätte gewerblicher Bedeutung zu machen. Denn heut: 
zutage muß fo Etwas ſehr ſchnell gehen oder es geht gar nit. Bon all 
den glüdlichen Umftänden, die früher, als man zu folchen Entwidelungen 
noch Zeit hatte, mitwirkten, fchien biesmal einer außer Frage: der gute 
Wille des Fürſten; man hatte feit Hundert Jahren wieder einmal einen 
Mücen. Das war viel. Ich geitehe, daß ich gern dabei gewejen wäre. So 
pefjimiftifch verfnöchert ift Steiner, der ein Bischen Künjtlerblut in den Adern 
“at, daß er nicht an gewifle Hoffnungen glaubte, die durch fo perjünliche 





196 Die Zutunft. 


Momente gefeftigt find; fie gehören zu den Epelulationen der Seele, bei 
denen man verfucht ift, jedes andere Erfahrungniaß außer Beachtung zu laſſen; 
man weiß nicht, warum; wohl, weil die Gründe, die ſolche Hoffnungen zu 
Utopien machen, ferner liegen und nicht mit jener Schärfe entfceiden, die 
anderen Gejepen der Logik eigenthümlich find. Santos: Dumont ift Fein flarfer, 
wiffenfchaftlicher Geift, fondern Etwas wie ein Dar Nordau der Technik, 
jonft würde er nit mit feinen Mitteln, die prinzipiell verkehrt find, die 
Löfung des Problems der Ballonlenkharfeit verfuchen. Seine Erfolge ver: 
hüllen nicht die Thatfache, daß er auf fulfchem Wege if. Das find Trug: 
ſchluſſe von materieller Art; vor ihnen kann man fi fügen. Das äfthe- 
tiiche Gebiet enthält viel gleigendere Verſuchungen und die Logische Vorher: 
beſtimmung ift fchwer, weil bier immer taufend Imponberabilien mitſpielen. 
Mit abfolutefter Sicherheit war voraus zu berechnen, daß die Ahnenallee im 
Thiergarten fehr häflich fein würde; es war mathematifch nicht anders 
möglich, auch wenn andere Seräfte, auch wenn bie allerbeiten mitgethan hätten, 
weil unfere Kunſt für folche Wirkungen nicht gefchaffen ift, — wenn über: 
haupt je eine fünftlerifche Nealifirung folcher Pläne gedacht werben kann. 
Hier war e8 ein ähnlicher, faft mathematifcher Irrthum wie bei Santo®: 
Dumont; und die Erfolge, die der Patriotismus dabei errungen hat, dürfen 
nicht über die äfthetifche Thatſache wegtäuſchen. 

In Darm-Athen lag die Sache komplizirter. Warum follte Heute 
kein Mäcen im Sinn be8 guten Behrens möglich fein? Gerade weil man 
fo viel Häßliches durch fürftlichen Eigenwillen entitehen fieht, liegt der Schluß 
nab, auch Werthvolles könne einmal aus ſolchem Wollen hervorgehen. Aber 
es iſt fchließlich immer nur wieder der felbe Mangel an logifcher Schärfe, 
der fo denkt; ganz wie bei Santos: Dumont. 

Nein: e8 kann heute feine guten Mäcene mehr geben, wie es feine guten 
Feen mehr giebt. Und es ift gut fo. Die felbe Entwidelung, die und der 
fünftlerifchen Wohlthaten eines Medicäerthumes beraubt hat, hat ung von 
fehr viel unangenehmeren Dingen der felben Quelle befreit, deren peinliche 
Wichtigkeit heute ganz anders empfunden würde als damals, wo ji) ihre 
Alluren des Fünftlerifchen Faltenwurfs bedienten. Und das Merkwürdige an 
diefen vergangenen Mäcenen war nicht die Seltenheit ihres Fünftlerifchen Ge- 
ſchmacks; jie ftanden im äfthetifcher Hinjicht fehrverlich höher über dem Durd- 
ſchnitt al8 heute unfere heutigen. Sie konnten, wie jener fchnurrige Un, 
beim Flohfang, nicht daneben greifen, fie fanden immer, weil fie nicht 
fuchen brauchten. Es hilft nun einmal nichts: die beſſere künſtleriſche Leiſi 
iſt heute nicht nur ihrem Grade, ſondern ihrer ganzen Art nach Ausnal 
und entſpringt perſönlichen Impulſen, die durchaus nicht in der Maſſe wurz 
ja, von den Inſtinkten der Maſſe als entgegengeſetzt und — faſt muß 





A 


Darm - Athen. 197 


fagen: oft mit Recht — als feindlich empfunden werden. Die Völker haben 
heute, gerade heute, ganz Antered zu thun, al jich mit der Kuuft, fei fie 
nun angewandt oder abitraft, bewußt auseinanderzufegen. Bei der abſtrakten 
Kunſt fpringt e8 in die Augen; ein Boll, das vom Verftändniß für unfere 
vornehmften Kunſtblüthen, fagen wir: für Whiftler, Degas, Liebermann, ganz 
durhdrungen wäre, müßte dem Berfall nah fein. Diefe Situation mag 
wohl einmal bier oder da die nadte Annäherung zwifchen Fürft und Künſtler 
geitatten, niemals aber die friedliche Auyseinanderfegung der Beide begleitenden 
Nebenfaktoren, ohne die jih in Kulturländern nicht mehr die Perfönlichkeit, 
und fei jie auch noch fo allein, denken läßt. Ein hochentwideltes Mäcenaten⸗ 
thum, wie es fi die Darmftädter dachten, wäre heute nur bei einem ganz 
unentwidelten Volke, etwa in Rußland oder Afghaniftan, möglid. 

- Denken kaun man fi zur Noth, daß ein Monarch heute feinen Willen 
durchſetzt und Skulpturen oder Bilder von der Maſſe unverftandener mwerth- 
voller Künftler erwirbt; er ftellt- oder hängt fie in feine Privatgemächer. 
Man kann fi) allerlei pathologifche Phänomene und jo auch einen jungen 
Kaifer vorftellen, der vor zwanzig Jahren Böcklin oder Liebermann gefauft 
hätte. Schon dazu gehört viel Phantafie; aber es ift ganz beträchtlich Leichter 
denkbar al3 das BVorgreifen eines Monarchen auf gewerblichem Gebiet in fo 
weithin fichtibarer Weife, wie e8 in Darmſtadt provozirt wurde. Auch wenn 
e3 fi bei dem Vorgreifen nur um eine geringe Spanne Zeit handelt, auch 
wenn heute fchon ficher ift — was ih im Hinblid auf Ehriftianfen fchon 
im Voraus herzlich und nachdrücklich bedaure —, daß die Mafje ähnliche 
Formen, wie man fie in Darmſtadt zu fehen befam, binnen Kurzem als 
etwas höchft Gewöhnliches, höchſt Natürliches und höchſt Anftändiges betrachten 
wird. Es ift weniger die Sache felbft als der Widerftand der Mafje gegen 
ungemohnte Symptome und hat Etwas von der Abneigung eines Bumdes- 
ſtaates, die Briefmarken eines anderen anzunehmen. Gut fituirte Fürften 
können einander heute befriegen, fie können ihre Kolonien plündern oder ihre 
Ränder überfteuern. Das find bis zu einem gemwifien Grade vom Braud) 
geheiligte Eigenthümlichleiten. Aber heute ſoll mal einem Fürſten einfallen, 
einen neuen Hofenfchnitt ganz aus eigener Machtvolltommenheit zu verfügen! 
Der auf diefem Gebiet verdientejte Fürft, der König von England, hat feine 
unbeftrittenen Erfolge doc nur in einem befchränften Reſſort der Toilette 
errungen. Eeine glängendfte Zeiftung war die zehn Jahre lang mit Gefekes- 
kraft geltende Sitte, den legten Knopf der Weite offen zu laſſen. Gewiß nichts 
Seringes, da ja feititcht, dar diefe That einzig und allein feiner Initiative 
entjprang; aber man vergeffe nicht, dag er ſich auch darin auf eine Art 
Tradition ftügte und es fo machte wie die Pompadour bei der Einführung 
yer Sitte, den Fiſch mit der Gabel zu eſſen, oder ein anderer Mäcen bei 

15 


198 Die‘ Zukunft. 


der Schöpfung des Schnupftuches: ſcheinbar unabfichtlich, zufällig, fcheinbar, 
ohne fich was dabei zu denken. Und dann vergefie man nicht: es war der 
Prinz von Wales, der überhaupt originell war, nicht der König von England, 
nicht der Regent*). Iſt e8 etwa Zufall, daß jest alle Männer befierer Stände 
die Wefte wieder gefchloffen tragen? Hätte der Großherzog fcheinbar aus 
Berjehen die Billenkolonie auf der Mathildenhöhe gefchaffen, hätte man darin 
eine jener von dem biographifchen Gefühl der Maſſe fo verehrten charmanten 
Unabjitlichfeiten ahnen können, fo wäre vermuthlich ganz Helen im Etil 
Chrijtianfens umgebaut worden. Et encore! 

Das Alles konnte man ſich ſchon am erften Tag der Außftellung jagen. 
Ich jehe noch ben General, der fo entjetlich bei der Feierlichkeit ſchnaufte, 
dem die innere Wuth mehr noch al3 fein Fett den Schweiß aus allen Poren 
trieb. Und die Generalin, eine nicht minder dide Generalin, die achtungvoll 
ben freundlichen Bliden des Mäcens folgte, der eigenmündig die Vortheile 
der Schöpfungen Chriſtianſens erklärte, umd die jungen Herren Lieutenant? 
und die älteren Herren Räthe, diefe ganze wohlgefügte, verbindlich lächelnde 
Sippe... E3 giug einen Tag, den Tag der ‚Eröffnung, der ‚offiziellen 
Beierlichfeit, an die fie gewöhnt find und die fie hochhalten, ob es ſich nun 
un die Einweihung eines Bismarckdenkmals oder einen Trinkſpruch auf einen 
Mameludenprinzen handelt. Sie waren natürlich nicht jo ordinär, an dem 
fhönen Sonnentag dem lieben, armen Yürften vor allen Leuten ins Geficht 
zu lachen. Sie haben überhaupt nicht gelacht, fondern ihr Werk jigend und 
fchweigend verrichtet. IJbfen, Goya, Thomas Theodor Heine! Keiner von 
Euch hat die kompakte Majorität, diefe jchwarze Maffe auf der Bruft des 
Eritidenden, dieſes Ewig-Rächerliche jo kompakt, fo ſchwarz, jo lächerlich ge- 
fehen wie ich an jenem goldenen Bormittag in Darmitadt. 

Wenn Leute wie Behrens, Olbrich, Chriftianfen, um nur diefe Drei 
zu erwähnen, Künftler, über deren Werth hier nicht geftritten werden joll, 
ihre recht erfprießliche Erwerbsfphäre in München, Wien und Paris aufgeben, 
um nad) einem unbedeutenden Provinzjtädtchen zu ziehen, fo thun fies im 
der Hoffnung, dort mindeftens einen gewiſſen materiellen Erfolg zu finden. 
Sie wurden Profefjoren und erhielten einen befcheidenen Jahreslohn. Damit 
konnten jie leidlich zufrieden fein. Der gefchägte Titel erhöhte die Verfäuf: 
lichfeit ihres Signums, nichts Hinderte fie, nach wie vor ihre Modelle zu 
machen und zu verfaufen; ihre Gage war eine Art Wohnungentfchädigung. 
Das Abkommen war mit der Privatfchatulle des Großherzog getroffen... 
Künitler, hütet Euch vor der Privatfchatulle! Die Zeit der mit Brillanten 


.——- —— 


*) Man halte mir nicht das naheliegende deutiche Beifpiel des ſenkrecht 
in die Höhe gebrannten Schnurrbart3 entgegen, das in diefer Ausdehnung nur 
durch militärifhe Suggeltion möglich wurde. 


Darm» Athen. 199 


beſetzten Schnupftabafdofen ift vorüber. Man ſchnupft heute nicht mehr ſo 
gediegen. Die Geſten haben ſich geändert; die Allure iſt immer noch die 
ſelbe, aber der Effekt iſt anders. Der Inhaber der Schatulle iſt ein ſchwer 
definirbarer Privatmann. Schließe Kontrakte, ſchöne, regelrechte Kontrafte 
mit dem Staat! Den könnt Ihr verklagen. Alles Andere iſt Unſinn. 

Im Anfang ging Alles gut. Man lebte vergnügt und in Unfrieben, 
wie ſichs unter Künftlern gehört. Da entfteht eines Tages das Projekt der 
Häufer-Ausftelung. Es war eine außerordentlich fuggeftive und in jeber 
Hinſicht werthvolle Idee. Künftlern braucht man nicht lange zuzurathen, 
wenn es gilt, Flächen zu bemalen, zu behauen oder zu bebauen. ‘je mehr, 
defto lieber. Man hätte fie auch ohne Mühe dazu gebracht, jich eine eigene 
Kathedrale zu bauen. Der Plag wurde ja gepumpt und der Platz ift auch in 
Darmftadt Schon der halbe Weg zu einem Hausbau. Dagegen pflegen die anderen 
Ausgaben dem Bauherrn bekanntlich ftet8 die rührendften Ueberrafchungen zu 
bringen. Diefe hatten hier befonders pilanten Reiz, da fi in den Künftlern 
neben den mannichfachften Thätigfeitötrieben auch die widerftrebendften materiellen 
Impulſe wohl ober übel vereinen mußten, Impulſe, die, wie die Erfa hrung lehrt, 
nur durch eine wohlthätige Arbeitstheilung zu ihrem Recht kommen. Bauherr, 
Baumeiſter, Künſtler und Ausſteller in einer Perſon: Das iſt zu viel für 
ein Portemonnaie; der Erfolg war natürlich eine Tragoedie. Statt 50 bis 
60000 Mark, was mir für ein vor den Thoren Darmſtadts gelegenes Wohn⸗ 
haus ſchon ganz reſpektabel erſcheint, koſteten manche Häuſer das Drei- und 
Vierfache. Die Schatulle ſah zu. Die Ausſtellung regt ein halbes Hundert 
Schriftſteller jeder Gattung zu intereſſanten Abhandlungen in einem halben 
Hundert illuſtrirter Zeitſchriften an, alle Fachleute find voll von der Aus: 
ftellung, aber die Portemonnaies der Ausfteller werden immer leerer. Die 
berühmten Aufträge, die in riejigen fchattenhaften Umriffen das Unterbewußt- 
fein der Künftler bevölkert hatten, bleiben, wo fie find, und in den Seelen 
der Frohgemuthen dämmert die Ahnung eines Rieſenreinfalls. Wenn fie 
wenigftens die Häufer felbft bemohnen könnten! Aber erjtens beginnen jegt 
fih Symptome zu zeigen, die den Künftlern die Reize eines bleibenden 
Aufenthaltes in Darmſtadt in zweifelhaften Licht erfcheinen laffen, und dann 
find die Häufer mit allen Ehicanen ausgeftattet und erfordern eine. zahlreiche 
Dienerfhaft, einen Hanshalt, der eine recht behagliche MWohlhabenheit vor- 
ausfegt. Das Fazit: die Künftler find glücliche Beſitzer von Häufern, die 
fie nicht bewohnen können und die etwa die Hälfte des Werthes ihrer Baar: 
auslagen darftellen. Sie jchulden der Schatulle hübfche runde Sümmchen 
für die Baupläge. Behrens hat, glaube ih, 18000 Mark dafür zu bezahlen. 
Und nun verfcjwindet plöglich die Schatulle. Die Angelegenheit wird vom 
Staat übernommen, der fie zunäcft einmal „ordnet“, fi) nad den Kon- 


15” 


200 Die Zutunft. 


traften erfunbigt und dann ein langes Geſicht zieht; die Künftler machen freilich 
noch längere. Da bie vereinbarten Jahre zu Ende gehen, werden die Künſtler 
nüdtern und eindringlich gefragt, was fie jegt zu beginnen gedächten. 

So fteht die Sache. Juriftifch genommen, ift nichts dagegen zu jagen. 
Barum bauen fich'die thörichten Künftler Häufer, die fie nicht verfaufen fönnen? 
Kein Menſch Hat fie dazu gezwungen. Natürlich reiben fie ſich Heute die 
Stirn und wundern fih, wie das Alles fo gelommen, und finden, daß fie 
furchtbar dunm waren, daß fehr ungerecht ift, was ihnen widerfährt, und 
wo denn nun eigentlich der Mäcen bleibe. Der aber ift mit anderen Dingen 
befchäftigt und bedauert, Natürlich find fie ſelbſt ſchuld; wie alle rechten 
Künftler, haben fie nicht zufammengehalten. Während der Eine dem Furſten 
Dies ober Jenes erzählte, ſchrieb der Andere ihm juft das Gegentheil. Ein 
Dritter verſucht, die Kollegen zu einer Palaftrevolution zu reizen, läuft aber 
gleichzeitig zum Fürften und ſchwört ihm, er fei nur nad) Darmftadt gekommen, 
am ſich mit Seiner Königlichen Hoheit über die Ziele modernen Gewerbes 
zu unterhalten... Sentimentale Leute meinen, der Fürft hätte nicht an= 
fangen dürfen; habe er A gefagt, fo müſſe er auch B fagen. Kunſtler jeien 
unverantwortliche und in gefchäftfichen Dingen unmündige Kinder, denen 
man feine materiellen Intereſſen anvertrauen dürfe, nicht mal ihre eigenen. 
Für dieſe Leute ift der Furſt immer no der Damm mit dem langen Bart 
und der ſchönen Krone, der eine ewig gefüllte Schnupftabafdofe in der Hand hält. 

Ich bin nicht diefer Anficht und finde, daß die darmftädter Poſſe von 
großem Segen für die Menfchheit ift. Ein guter Mäcen kann uns nicht für zehn 
andere entfhäbigen; darum lieber überhaupt feine. Steh auf Deinen eigenen 
Beinen und fieh Did um! Heute Haben die Fürften gerade fo ihre rein 
gefhäftlihen Jutereſſen wie jeder Bierbrauer oder Handſchuhwaarenfabrikant 
und follen fie haben. Und Künftlern ift mit der beten Begabung nicht ge: 
holfen, wenn fie ſich im gefchäftliche Dinge mifhen, ohne Etwas davon zu 
verftehen. Ich glaube, daß einen Augenblid das fünftlerifche Intereſſe beim 
Macen fo groß war, wie es bei heutigen Mäcenen überhaupt fein Kann. 
Aber tout passe, tout lasse. est höre ih, da man das barmjtädter 
Theater umbauen will und dafür 800000 Mark auswirft, von deuen 
300000 Mark von der Schatulle bezahlt werden; und diefer Bau ſoll nicht 
Olbrich, nicht Behrens, einem der Darmftädter, fondern einer befichi 
Routinierfirma übertragen werden. Das ift ein Bischen hart, aber gejunt 
denn es reinigt. Ich fehe noch die Vorftellung anı Eröffnungtage in den 
modernen Künftfertheater, mit der modernen Bühne, der modernen Spieler: 
und dem gänzlich unmodernen Publikum. Der Fürft ſaß ernft und ſchar 
und alle Anderen fagen ernft und ſchauten, betrachteten feierlich und ı 
ſtandnißvoll den gänzlich unverftändlihen Vorgang auf der Bühne. 9 


Stoffen. 201 


war angft und bang. Heute ift mir wieder wohl; es giebt Keine Geſpenſter, 
feine vierte Dimenfion, auch feine Kunſt mehr, die für Fürften da iſt; und 
noch weniger ein Gewerbe. Es wäre die wunderlichfte Jronie, wenn unfere 
gewerbliche Renaiffance von Mäcenen gefördert werben Könnte; dafür ift fie 
zu bürgerlid. Sie bricht ja gerade mit Dem, mas an Fürftenhöfen ge 
macht wurde, und ift eine der vielen wefentlich fozialen Evolntionen unjerer 
aufitrebenden Zeit, — und ficher nicht die unbedeutendfte. 

Die Schatullen werden kommen, wenn erft das liebe Volt will. Ich 
fehe ſchon alle Throne Europas mit Chriftianfens Linien und Yarben ges 
ſchmuückt. Heute geht es nicht mehr von oben, fondern von unten; und 
darüber follten wir Alle ung freuen. 


Paris. Julius Meier-Graefe. 


Gloſſen. 


I man nicht noch heute vielfach der Anficht, daß die Deutichen als 
Eflayijten und Feuilletoniſten nicht eben den eriten Pla in der Welt« 
literatur einnehmen? Dieje Anſicht hat unter den Deutichen felbit jedenfalls die 
meiften Anhänger; im Grunde eine ftolze Selbitwürdigung. Man bielt und 
hält bieje und verwandte Schriftgattungen nicht für erften Ranges; nicht für 
geeignet, die Seele eines tiefen, jchöpferiichen, ſchatzgräberiſchen Geiſtes aufzu- 
nehmen. . Die Handvoll Schriftiteller, die als Eſſayiſten und Tyeuilletoniften 
Ausgezeichnetes geleiftet haben, find auf Ummegen in dieje von den Zünftigen 
aller Werthgrade mit kaum verhüllter Verachtung behandelte Literatur gelangt; 
und jo ftarf laftete diefe Geringſchätzung auf ihnen, daß fie felbft nur refignirt, 
nur als Enttäufchte, wie mit einem heimlichen Neid auf die Erfolge erftbefter 
Lindenblüthenlyriker im Herzen, ſich gefallen ließen, was fie als Afterruhm 
empfinden mußten. Und die Stärfften unter ihnen (ich denfe an Die um und 
nad Wilhelm Scherer), ſprudelnde Birtuofenteınperamente, deren Begabung in 
“der Bildkraft der Sprade, im anregenden Bermittlertbum, in phantafievoller 
Kombinationthätigkeit liegt und die nur ſchwer zur Andacht vor dem Detail fi 
zu erziehen vermögen, die aller Wifjenfchaft Anfang ift, fie wurden unter diefem 
lähmenden Drud der öffentliden Schägung verführt, ihre natürlihen Neigungen 
zu überwinden und zur Buchform zu greifen, die ganz zu erfüllen, die Plaſtik 
ihres Denfens wieder nicht ausreicht. Anders iſts bei Franzoſen und Engländern. 
Die Franzoſen pflegten fogar jeit Jahrhunderten mit zärtlichiter Liebe den 
Aphorismug, die auf die kürzeſte, zierlichfte, bündigfte Formel gebrachte perfön- 
liche Ueberzeugung, den mit dem ganzen Nebel einer momentanen Stimmung oder 
Laune behafteten Einfall, und wanden ihren Diarimenjchreibern, ihren in Penades 
und Apercus fi} auögebenden „Leinen Moraliſten“ Kränze. Ya Rochefoucauld, 


202 Die Zukunft. 


Bascal, Chamfort, Bauvenargues find Klaſſiker geworben; bei den Deutichen 
jcheint dagegen der angeborene Hang zur Sründlichkeit, zur gewiflenhaften Er⸗ 
örterung der Gedanken, zur Kontrole des Temperamentes durch die logiiche Zucht 
die Scheu erzeugt zu haben, philoſophiſche, wiſſenſchaftliche und kritiſch Literariiche 
Broblemeirgendwieandersalslehrhaft, umftändlich, polemifirend(oder denunzirenb ?) 
und demonſtrirend, kurz: ſachgemäß zu behandeln. Die perjönliche Färbung 
des Ausdrudes, dort berechtigt, wo die Einjicht noch nicht endgiltig ijt oder end⸗ 
giltig nie werden kann, ift verpönt und macht verbädtig. Perſönlich zu werden, iſt 
hochſtens Dem erlaubt, der den Beweis feiner literariichen Kompetenz durch eine 
umftändliche Xeiftung erbracht hat. Aber wir werden für ımjere Tugenden be 
ftraft: der Bücher werben immer mehr und fie werben nicht befjer. Und doch 
wird das Vorurtheil gegen den Eſſay, das TFeuilleton und den Aphorismus nur 
langſam loderer; gelehrte Zetteljäde, die nie ein Gedanke entzündet, verjchreien 
fie immerfort als Baftarde. Beſonders ſchwer hat Nietzſche, vielleicht der größte 
Uphorismenfchreiber aller Zeiten und Völker, unter diefem Vorurtheil zu Leiden. 
Der Aphorismus gilt nach wie vor als Alyl für die literariide Ohnmacht, was 
freilich oft zutrifft. An den Eſſay Hingegen Hat man fi) allmählich doch ge- 
wöhnt: allein ſchon bie Quantität der Leiftung, bie berechenbare Zeitmenge 
Geduld, Ausdauer, Sitzfleiſch verſöhnt. Auch haben herrliche Leitungen feiner 
Anerkennung vorgearbeitet, ihn legitimirt: die Eſſaygs von Herman Grimm, 
die Aufläße von Wilhelm Scherer, %. Th. Viſcher, Karl Hillchrand, Heinrich 
von Treitſchke (der ſich nur leider als zur Wiſſenſchaft gehörig betrachtete), Eduard 
Hanslid, Richard Muther und noch jo manden rüftig Schaffenden rechne ich 
hierher. „Immerhin blieb — oft genug wurde man daran erinnert — der Eſſay 
eben nur geduldet; Doch entlud fih, was in den Inquiſitionrichtern der Literatur 
(wie Goethe fie nannte) an Groll gegen ihn ſich anhäufte, zeitgemäßer gegen 
feine Zwillingsſchweſter, das Feuilleton. 

Nun: angefiht3 des ganz auffälligen Reichthumes an Eflayfaınmlungen, 
die in den letzten Jahren den Büchermarkt überfluthen und unter allerhand ge- 
ſuchten, graziös verjchnörfelten Namen die Aufmerkſamkeit zu fefleln ſuchen, 
müßte man von einem bemerfenswerthen Wandel im literarifchen Geſchmack der 
Deutjchen fprechen dürfen. Soll mans glauben? Sind wir weltinänniicher ge- 
worden? it das Raffinement der Kultur bei uns fo gejtiegen, daß wir dem 
Ernſt, der Tiefe (der guten Abſicht nach!), der Gründlichfeit und Gewiſſenhaf⸗ 
tigfeit, Allem alfo, was wir als deutfche Tugenden zu verehren gewohnt find, 
die Grazien des Ausdrudes vorziehen? Daß dieſe ung mehr loden als der Sinn 
der Sache? Ich ſpreche Bier nicht von den Sammlungen wiffenfchaftficher Auf- 
füge und Vorträge, dur die die Gelchrten aller Disziplinen die Ergebnifie 
ihrer Forſchungen einem größeren, nicht durchaus fachmänniſch gebildeten Publikum 
näher bringen wollen; alſo nicht von den befannten und populären Arbeiten 
der Helmholg, Mad, Zeller, Wundt, Windelband, Wilamowih - Diöllendorf, 
Eurtins und anderer Profefjoren. Belehrung iſt diefer Gelehrten Endzweck. 
Die künſtleriſche Wirkung des VBortrages mag ſich als ungewollter Nebeneffekt 
ab und zu einftellen; aber fie tft nicht beabfichtigt, ift zufällig. Unfere neuften 
Eſſayſammler aber find Urtiften. Ihre Sammlungen find auf unfere Gemüths 
bebärfniffe berechnet. Die Kritiker, Rezenſenten, Referenten, Ausfrager, Leit 


. offen. | | 203 


artiller, Börſengracchen, die Schmocks jeder Gattung und beiderlei Gefchlechts, 
fie Ulle, die bisher mit vielem Fleiß und „nicht ohne Talent” fich, ihre Familien 
und obendrein noch ihre Verleger ernährt Haben, fie, die doc) täglich, ſtündlich 
beinahe Gelegenheit haben, ihr überfließendes Herz in die Kanäle der öffentlichen 
Meinungen ausftrömen zu lajlen, die ihrer Madhtinftinfte in ben Be- und Ber- 
urtheilungen ber geſammten literarifchen und künftleriichen Produktion des Lan— 
des fich entäußern können, die ihrer Luſt, zu fabuliren, einen unerhört weiten 
Spielraum gewähren dürfen, — fie fühlen fi trogdem unbefriedigt, wohl, weil 
fie das Butrauen hegen, in jedem Augenblid Ewigkeitwerthe zu: prägen, und 
können dem bejcheidenen Drang nicht widerjtehen, ihre Würdigungen zu ſammeln 
und mit ihren Sammlungen die deutjche Literatur zu beſchenken. Schmod be= 
ſchenkt die arme deutjche Literatur: Das ift, fcheint e8, das Neufte. Und wenn 
Papier, Typen, Bierleilten, Bignetten, Finalſtöcke, Vorjagblätter, Eindband- 
zeichnung, kurz: der fünftlerifche Zubehör modernen Buchdrudes und Buchſchmuckes 
den Literaturwerth des Werkes bejtimmen, dem er dient, dann dürfen wir zu 
der neujten „Evolution“ des deutſchen Schriftthums ung beglückwünſchen. So 
eine Feuilletonſammlung präjentirt fih nicht jelten mit der ganzen Anmaßung 
eines modernen Kunſtwerkes; aber oft hülft ein wirklich geſchmackvoller Einband 
den bürren Leib Schmods ein. Wunderlich gefräufelte Linien umſchlingen auf 
dem ZXitelblatt jeinen Namen; und vor dem ins Bebeutfame gejteigerten Ge— 
jammttitel der Sammlung, den goldene Lettern auf buntfarbigem Dintergrunde 
verfünden, mag ihn jelbit das Gefühl feiner Kulturnothwendigkeit durchſchauern. 
Dann wird das Buch beiprodyen, gewürdigt ... . Aber man erjpare mir das 
Weitere; es ijt zu ſchmerzlich. 

Man könnte jagen: diejes von Ungeſchmack triefende Literaturgefhwäß 
jei in feiner Nichtigkeit fo greifbar, befonders die großthueriichen, Schmods 
philofophiiche Schmerzen sub specie eines hinter ihm orakelnden Modegötzen 
ausladenden Vorreden jeien im ihrer Hohlheit fo dburdfichtig, daß Dem Nicht 
‚geichehe, der davon fich verlocken laſſe. Mean könnte einwenden, daß literariich 
jein wollende Zünftler in bedrohlichem Umfange der Mode huldigen, ihre ver- 
ftreuten, ganz ohne ibeellen Zuſammenhang entftandenen Aufſätze und Ab⸗ 
"Handlungen bei Gelegenheit irgend einer Tages», Jahres- oder Jahrhundertwende 
als Weltanichauungproben der Mitwelt aufzudrängen fuchen und diefem Unfug 
eben fo wenig gefteuert werde. Das ift nun freilich) fchlimm genug. Aber ein 
Unfug hebt den anderen nicht auf; und der von ben Profefloren verübte ift der 
barmlojere, da troß aller Stilaffeltation, trog aller Eipritfudht, um den „Eſſay“ 
künſtleriſch auszupugen, die in langer Arbeit erivorbene Denfzucht meijt vor 
völlig nußlojem Gerede behütet; meift wird doch menigfteng gefärrnert: nicht 
nur behauptet, fondern bewieſen, zu beweifen gejucht; und falt immer wird ein 
reeller Denkzweck verfolgt. Mit dem Eſſay als Kunſtwerk mit eigenen Stil: 
gefeßen, wie er fih unter den Händen der Meifter, von Montaigne und Bacon 
bis herab zu Emerjon, Carlyle, Macaulay, Sainte-Beuve und Herman Grimn 
geftaltet hat, ift es freilich fo gut wie nichts; dazu fehlt der Betrachtung alles 
Freilicht, aller ſchöne Wagemuth der Sfepfis, alle Freude an den „Abenteuern 
der Erfenntnig" ober in Fällen, wo diefe Gaben vorhanden find, der an Ge— 
jeße gebundene, durch fünftlerijchen Geſchmack vor Ueberſchwang bewahrte Gebrauch 


204 Die Zuhmft. 


der Bhantajie. Uber ift darum bie Kunſt des Eſſay- und Feuilletonſchreibens 
bei unjeren Kritikern und Journaliſten beſſer aufgehoben? Ich meine jene Kunit, 
die Anjpruc auf dauerndere Geltung und ein Necht hat, mit der Augenblide: 
wirkung fich nicht zufrieden zu geben? Selbſt die vielen Talente, die unter ihnen 
fih regen und, wenn auch meijt nach berühmten Muftern, antegend, wibig, geüt« 
rei, urtheilsfähig und zu urtheilen berufen find, vermögen fich dem Eſſay ober 
senilleton ats Kunſtwerk doch nur von fern zu nähern, weil ihnen die auf 
eigenem runde ruhende ‘Berfönlichkeit, weil ihnen die reizvolle, auf Wudere 
übergreifende Xmpreffionabilität, das cite, auch ins Kleinſte und Nebenjäc- 
lichfte übergreifende Denker: und Dichtertfum abgeht. Wenn fie fih aufs fleißige 
Beobachten und Berichten beichränfen, fih vor den Yallitriden billiger Para⸗ 
dorie in Acht nehmen, dem Selbjterlebten kritiſch Erhörtes und umfichtig Er- 
lefenes beimengen und ihren Stil nadträgli von den vielen unjhönen, un- 
keuſchen Zuthaten ſäubern, bie der fo oft in Angft und Noth und Gewiſſens 
pein vollbrachten Tagesſchriftſtellerei nothwendig anhaften, dann dürfen fie ſich 
„lammeln“ ; dann fommen jo brauchbare, fu lejenswerthe, weil belehrende Werke 
wie Soldmanns Chinabuch oder Buftav Fr. Steffens’ Buch über England als 
Weltmacht und Kulturftaat zu Stande. Uber, wie gejagt, verhältnigmähige 
Dauer kommt jolhen Büchern doch auch nur wegen ihres lehrhaften Sternes zu; 
die Subjeftivität ihrer Verfailer, intereflant genug, einem ihrer Feuilletons eine 
Ihöne Augenblidswirkung zu fihern, reicht zu mehr nit aus. Wer dieſes 
Mehr will, muß es auch können; muß die Macht und Breite der Seele haben, 
winzige Erlebniſſe, Theater- und Bilderemotionen zu vergeiftigen, zu vertiefen, 
zu verallgemeinern, an allgemeine Einfichten zu knüpfen: mit Goethe zu reden: 
auf das Niveau der ewigen Erijtenz zu heben. Und Die e3 konnten, die Leſſing, 
Diderot und Sainte Beuve, deren Seele hatte Schidjal, hatte Geſchichte. Kann 
aber jeder Schmock Solches von ſich Jagen? 
* * 
*4 

Ich ſprach eben vom Aphoörismus und mußte dabei Nietzſches gedenken. 
Mußte? Wie viele Deutſche danken ihm denn, daß er in dieſer kleinſten Lite— 
raturgattung Srößtes geleiſtet und der deutſchen Sprache Töne von ungeahntem 
Klangreiz abgelockt, daß er oft bei geringſtem Wortverbrauch bisher Unaus: 
geſprochenes zu ſagen verſtanden hat? Noch ſcheint die Zeit der Erfüllung für 
ihn nicht gekommen. Vor rund achtzehn Jahren ſchrieb er: „Haben wir uns je 
darüber beklagt, nicht verſtanden, verkannt, verwechſelt, verleumdet, verhört und 
überhört zu werden? Eben Das iſt unſer Los, — o für lange noch! Sagen 
wir, um beſcheiden zu ſein, bis 1901; es iſt auch unſere Auszeichnung.“ Aber 
noch heute affektiren die Zünftigen, abgeſehen von der Ablehnung des Inhaltes, 
was ihr gutes Recht iſt, die gründlichſte Verachtung für die Form dieſes ſtiliſtiſche 
Geſchmeides, für dieſe unerhörte Fähigkeit, jede, auch die leiſeſte, heimlichſt 
Regung des Gedankens, jede, ſelbſt die ganz nach innen bohrende Wallung der 
Affekte in Worte zu faſſen, die, trotz aller Glätte und Plaſtik, ihren Seelen— 
nachklang doch nicht verlieren. Zugleich aber wächſt unter den Literaten dat 
Heer jeiner ungeſchickt tölpelhaften Nachmacher über alles verdaulihe Map 
Beides, Verachtung und Nahahmung, it nur zu begreiflid. Der Zünftige ve: 
mißt die beſonnen demonjtrirende Vortragsmeife, die bequem fontrolirbare Methr* 


Glofien. 205 


im Aufbau der Gedanken, die willenjchaftlide Schablone in Konſtruktion und 
Mittheilung. Er wird, er darf, nah Gewöhnung und Eigenart, nicht zugeben, 
dab ein philojophijcher Gedanke nicht gebrochen zu jein braucht, wenn er in 
Bruchſtücken fih mittheilt. Er wird und darf nicht zugeben, daß mit dem Ge: 
danfen zugleich auch feine Geburtwehen veräußerlicht werden, und muß dieſe 
Berquidung von Sadlidem und Perjönlidem für einen Abweg ins Dilettan- 
tifche, für einen unerlaubten Zwitter halten. Bücher, die in der „Sprache des 
Thauwindes“ gejchrieben find, Bücher voll Uebermuth, Unruhe, Widerſpruch 
und Uprilmetter fcheinen dem nationalen Temperament zuwider; ihm imponiren 
nur maffive Bauten, in denen die „Erfenntniffe” wie Quaderſteine ſich in ein- 
ander fügen und aus denen die freie Willfür im Gejtalten und der in immer 
neuen Anſätzen ſich entladende Erfennerdrang verwiefen find. Uber muB darunı 
der Mann ſchlimmer behandelt werden als ein „toter Hund“? Muß darum von 
Ranzeln und Kathedern gegen ihn mit immer fteigendem Lärm unfläthig gehetzt 
werden, als ob jeder Angriff auf die Form unferer Kultur (oder Unfultur) jchon 
ein Berbredden jei, als ob jede Verwirrung eines Schwachkopfes, dem jeder unge⸗ 
wohnte Gedanke, jede Paradozie die Kapfel jprengt, den Verkündern neuer An- 
ihaunngen zur Laſt gelegt werden darf? Man befämpfe Nietzſche. Man wider- 
lege ihn, wenn man fann. Man meife nad, daß er beffer gethan Hätte, bie 
bewährten Gleije ſchulmäßigen PHilofophirens nie zu verlafien. Man bedaure, 
mit dem kieler Philofophieprofeflor Deußen, nadhträglich, daß Nietzſche das Che- 
glüd und den SKinderjegen verſchmäht Habe; man erinnert fi), daß der zweite 
Theil des „Fauſt“ nicht gefchrieben wäre, wenn Goethe, von Du Bois-Reymond 
berathen, dein Heinrich die Grete Firchlich‘ vermählt hätte. Aber man hoffe doch 
nicht, den Glauben verbreiten zu können, Bücher machten ein Leben wirr und 
fraus, das vorher fräftig und geſund gewelen jei. Und wenn es Büchern ab 
und zu gelingt, fieches Leben fchneller zum Berwelfen, morſches Gemäuer jchneller 
zum Cinfturz zu bringen, fo haben fie ihre Schuldigkeit gethan: es hat ihrer 
nie viele gegeben. Weder heute noch früher. Und weder heute noch früher find 
Bücher von folcher Wirkung jajagende, bejchwichtigende, bie eben geltende Norm 
verherrlichende, die Zujtimmung der Mehrheit erſchmeichelnde geweſen. Das 
jollten ſich auch unjere akademiſch gebildeten Lehrer jagen Fünnen, wenn fie — 
ein Novum — in den Lebensläufen ihrer Abiturienten über den Namen des 
Vielgefhmähten ftolpern. Sie jollten fi jagen: Bon den Büchern, die wir 
als Heiligthümer zu verehren anleiten, giebt es nur wenige, deren Berfajler zu 
Lebzeiten den Galgen nicht wenigſtens geitreift, am Giftbecher nicht wenigſteus 
die Lippen genebt haben. Bon Plato, der heute von nicht Wenigen als der 
gute Genius Europas belsbigt und dazu mißbraucht wird, allerhand mitter- 
nächtige Intelligenzen wachzurütteln, bi3 auf Kants „Alles zermalmende” Wer: 
nunftfritif, Bi8 auf Bismards Neuausgabe von Macchiavellis Bud über den 
Hürften ſteckt Alles voll Tüden, vol dialektiider SKniffe, die dei Normalverjtand 
foppen und feinem Schäferfrieden gefährlid werben könnten, wenn er... 
ja, wenn er begriffe, was ihn eben nicht ergreift: nämlich ihren unverföhnlichen 
Proteſt gegen jeine Denf- und Lebensformen. Und deshalb jollte man fich 
fagen: Was die Gefahr folcher jeweilig moderniten Bücher paralyfirt, tft die fieg- 
bafte Kraft des Lebens, das von allen gedrudten Proteſten ſich das Wejentliche, 


206 Die Zukunft. 


den Stern, die Seele aneignet und einverleibt, alles Andere aber als Schall und 
Rauch von fi abſtößt. Darum auch müßten Takt und Klugheit die wirklichen 
Aufklärer, als Anleiter zum Geſunddenken, die fie doch jein wollen, verpflichten, 
die Widerfacher erſt ganz verftehen, ja, den advocatus diaboli jpiclen zu wollen. 
Der Nachlaß Nietzſches erleichtert diefe Rolle ſehr wejentlich. 

Sein Neihthum tft erjtaunlid; und ohne Webertreibung kann gejagt 
werben, daß der aus dem Nachlaß veröffentlichte fünfzehnte Band der Werke 
Nietzſches dem Verftändnig feiner Gedanken ungeahnte Stüßen bietet. Manche 

Seite lieft man wie die Erläuterungichrift eines Tzremden: jo wechſelnde Stand- 
punkte tauchen bei der Behandlung philofophifcher Wertbfragen auf, ſo frei 
ericheint die Stellung bes Berfaffers, der fich felbft einen Argonauten des Ideales 
nennt, gegenüber feinen eigenen, zähen. Idioſynkraſien. Es ift das Werk, das 
Niegihe am Schluß ber „Genealogie der Moral" (Sommer 1887) ald „Der 
Wille zur Macht, Verſuch einer Umwerthung aller Werthe” antündigt. Wie 
es vorliegt, 'mit unfäglicher Mühe aus ben Manufkriptbüchern des Verfaſſers 
von den Brüdern Horneffer entziffert, oft flüchtig andeutend, wie um ben rafend 
ichnellen Flug der Gedanken mit Bleiftift oder Feder feitzubalten, oft in breiterer, 
die foftematische Meifterung des ungeheuren Problemes anftrebender Daritellung, 
bat es in jeiner äußerlichen Unvollendung den Anſpruch, neben „Senfeits von 
Gut und Böfe* und der „Genealogie der Moral” als Hauptquelle für die 
Lehre Nieiches zu gelten. An vielen Punkten erfcheint die Kritik des europätichen 
Nihilismus nicht jo Hoffnunglos unverföhnlidy wie jonft: die herrſchenden Nicder« 
gangswerthe jtellen fi) manchmal doch als Erhaltungwerthe dar, nur maskirt, 
nur für den Gebraud des intelleftuellen Durchſchnittes bemäntelt, als eine Art 
morality made easy. Und dann leje man, um fi) von dem Werthe dieſes 
nachgelaffenen Bandes eine Vorftellung zu machen, die Bemerkungen über Bere 
brechen und Verbrecher: daß fie fo tief in die phyſiologiſchen Beſtimmungsgründe 
der menſchlichen Pſyche eindringen fonnten, danken wir der Vorliebe Niegiches 
für den Ausnahmemenfhen und bie Ausnahmezuftände im Normalmenſchen. 
Jeder wird zugeben, daß bier die Liebe dus jo bequeme Mitleid überwindet. 
Auch wird die aus Umverftand oder gehäſſiger Abficht geichürte Borftellung, als 
jet das Wort und die Vorſtellung von Uebermenſchen der höchſte oder gar 
einzige Gedanfe, bis zu dem fich dieje vieljeitige Natur erhoben babe, Hier auf 
Schritt und Tritt widerlegt. Aber ich thue Unreht, auf Einzelheiten hinzu⸗ 
mweilen; Kenntniß des Ganzen iſt nöthig, zur Befräftigung der Ueberzeugung, 
daß Nießjche, der jo gern mit feinen Meinungen fpielte, es nie mit jeinen Ge 
innungen that. Die Stimmung ift meiſt, im Vergleich zu Ipäteren und gleidy- 
zeitigen Schriften, wundervoll ruhig, der Ton nur felten überfteigert, überreizt, 
vielmehr wie durch die Rückſicht auf die wiſſenſchaftliche Unterfellerung der Lehre 
gemäßigt. Als ob Nietzſche für dieſes „Iyftematifche Hauptwerk” ein Lritijches, 
ein mit Ohren, die durch die VBorurtheile des Marktes nicht verjtopft find, 
hörended Auditorium ind Auge gefaßt hätte. 

Dr. Samuel Saenger. 


v 


Selbſtanzeigen. 207 


Selbſtanzeigen. 


Chriſta Ruland. S. Fiſchers Verlag, Berlin 1902. 

Das Innenleben einer reich veranlagten Frauennatur in feiner Ent- 
widelung aus den Zeitftrömungen heraus mollte ich in „Chrifta Ruland“ dar- 
jtellen; einer Frau, die fi) auseinanderlebt, jtatt fi) auszuleben, die ſich kometen⸗ 
haft zerfplittert, weil fie inmitten einer Zeit fteht, die für die Frau eine Welt⸗ 
wende bedeutet, weil fie ein Webergangsgejchöpf iſt. „Wir, die junge Frauen— 
generation”, jagt ihre freundin Maria, „ſtehen Alle noch wie auf einer Brüde; 
die Brüde ruht nicht auf feftgefügten Pfeilern, darum ſchwankt fie; und fie hat 
auch fein Geländer und wir ſchwanken mit; und wer nidht ficher auftritt und 
nicht ſchwindelfrei ift, ſtürzt leicht hinab; und am Ende der Brüde ift eine Sphinx. 
Es ift ein Zwieſpalt in uns Werbenden zwiſchen dem WAltererbten und dem 
Neuerrungenen. Was feit jo vielen Generationen Recht und Brauch ‚war, hat 
fi} unferer Gefinnung einverleibt; es ijt beinahe Inſtinkt bei uns geworden. 
Wir haben noch die Nerven der alten Generationen und die Intelligenz und 
den Willen der neuen.” Das von allen früheren rauengenerationen erworbene, 
aufgehäufte Spezial⸗Weibthum heftet fich als eine Art milder Furien oder Me- 
dujen an die Sohlen der „Neuen Frau“, ihren Willen und ihr Walten lähmend; 
die Theofophen nemmen es Karına. Und diejer Zwieſpalt, in dem die Gegen- 
wartfrau Hin und ber gezerrt wird, ift Chriſta Rulands Tragif. Sie hat aber 
auch vollen Antheil an dem Geift ihrer Zeit. In der Gegenwart gehört fie 
einem Typus an, als deffen Reinzucht der ſchwärmeriſche Aſket Daniel Rainer 
gedacht ift, dem Zeittypus, der von einer fiebernden Schnjucht nad} einer vierten 
Dimenfion erfüllt ift, aber auch von anardiftifchen Regungen edlen Stils, die 
jelbft vor den Naturgeſetzen nicht Halt machen. Es find Xeidende, an ſich Ber: 
gehende, dte fi von Gott und Religion losgejagt Haben und mit frommer Gier 
in fi) ein neues höchftes Wejen fuchen. Chrijta fühlt, daß fie nur ein dürftiges 
Reis ijt jenes ftarfen Stammes verwegen phantajtiiher Denker. hr fehlt es 
an Berfönlichkeit. In Jahrtauſende lang währender Einfperrung hat das Weib 
die Flugkraft, da es fie nicht brauchte, eingebüßt. Ihre Vergangenheit greift 
in ihre Gegenwart hinein. Ein unfichtbares, myſtiſches Band vereint die Frau 
von heute mit ihren Schweitern aus ferner Beit. Ihre Flügel find lahm, weil 
fie ein weltgejchichtliche8 Karma tragen. , Hedwig Dohm. 

3 
Gedichte. Kaſſel 1902. Karl Bietor. 


Ein Freund fagte einmal zu mir: „Deine Gedichte haben feinen ftarfen 
Ellbogen nöthig, um ſich duch das Dichtergedränge hindurchzuarbeiten.“ Ich 
habs gewagt. Dean zürne mir erft nachher. 

Münden. R Guſtav Adolf Müller. 


Gebt uns die Wahrheit! Ein Beitrag zu unferer Erziehung zur Ehe. 
Keipzig 1902. Hermann Seemann Nachfolger. | 


In der Arbeit, die ich nun den Leſern vorlege, habe ich jenes gefährliche 
MWageftüc unternommen, vor dem jelbft einem alten Teufelskumpan wie bem 


208 . | Die Zuhmft. 


Doftor Fauſt heimlich, graute: Ich bin zu den Müttern Hinabgeitiegen. Die 
Mädchenerziehung ift von je ber eine heiß umftrittene Yyrage geweien. Alle 
Damen, alle Herren haben darüber höchſt löblich und leidenſchaftlos geſprochen 
und nur uns ſelbſt, den Hauptperfonen in diefer beliebten Farce, wurde jede 
felbjtändige Willensregung einfach abgefchnitten. Wir blieben ftumme Träge— 
rinnen unferer naiv⸗ſentimentalen Rollen, die uns im letzten Akt die nothwendige 
Zuftipiellöjung bringen mußten. Das tft im Grunde einfache Logik der That- 
fahen. Ein nad) den Regeln der Geſellſchaft gedrilltes weibliches Wefen ver: 
gißt nur zu raſch, Über fih und feinen Entwidelungsgang nachzudenken. Als 
junge Dante bat fie weit wichtigere Funktionen zu erflillen, als ihr Innenleben 
einer Betrachtung oder gar einer Kritik zu unterziehen. Auf Grund, wie id 
tühn behaupten darf, ehrlicher pigchologifcher Forſchung verſuchte ich, in meinem 
Bud eine Darftellung jener gefährlichen Miſchung der äußeren WVelterziehung 
und der geheimen Selbitenthaltung zu geben, die fpäter fo fchädigend auf bie 
Entwidelung unferer phyſiſchen und pſychiſchen Kräfte zurüchwirkt. Keine frivole 
AUbficht, nicht die Sudt, mit der PVerneinung des Althergebraddten modern zu 
wirfen, hat mich dazu beftimmt. Doc, das Ausſprechen gewifler Thatfachen wirkt 
in unferen an keuſchen ... . Obren fo reichen Gefellfchaft immer weit verleßender 
als deren Ausübung. Iſt Einer von ung ein unangenehmes Abenteuer paſſirt, 
fo breitet die Welt unter falbungvollen Reden den fadenfcheinigen Mantel ihrer 
Nächftenliebe darüber. Denn Das kann jeder Mutter Kind gefchehen. Aber ſpricht 
Eine von und darüber, fchreibt fie dDurchlebte, durdjlittene Gedantentragoebien, die 
das Leben in taufend und abertaujend Fällen zur Wirklichfeit madjt, gar nieder, 
dann giebt es Sfandal, — und die Steine fliegen. Denn da iſt man wohl 
fiher: Des braucht wirklid nicht „jeder zuzufommen. Möge denn das Büd;- 
lein feinem Scidjal entgegengehn; vielleicht wird mein eigenes Geſchlecht zuerſt 
wider mich aufltehen; auch jene ganz Neinen, für die es in lichterfüllten Stunben 
niedergefchrieben wurde. 
Elje Jeruſalem-Kotaänyi. 
* 
Wunderheilung und Gottesglaube. Karl Duncker, Berlin 1902. 


Der zuerft von Nietzſche in feiner ganzen Tragmeite erfaßte Sag, daB 
die’ Stärke der Suggejtionwirkung eines Glaubens niemald einen Maßſtab 
abgeben kann für deſſen MWahrheitgehalt, erhält durch die von der Scientijten« 
Sekte vollbradten Heilungen eine Bejtätigung, wie fie entjchtedener gar nicht 
gedacht werden kann. Cine Metaphyfif für Hintertreppe und Rockenſtube Beilt 
Mondjüdtige und Gichtbrüchige, während Herr Stoeder, der ohne Trage im 
Befi des wahren Gottesglaubens ijt, fi) beicheiden muß, die glüdlicheren Son 
Eurrenten zu beneiden, ihnen ihre Gewinnſucht vorzumerfen und, was feine eigene 
Perſon betrifft, zı Klagen, daß die Ichönften Wunder, die er thun möchte, un- 
gethan bleiben, weil nad) einem unerforjchlichen Rathſchluß die Gnadenhilfe vo 
oben verjage. Darin ftimmt mein Schriftchen mit Herrn Stocder überein, da 
die deutjche Kolonialpolitif viel großartiger daftände, wenn, zum Beilpiel, bie 
Lues der Chineſen bei bloßem Handauflegen unferer Miſſionare fofort verfchwände 


Karl Troft. 
ð 


Der Ozeantruft. 209 


Der Ozeantruſt. 


och gar nicht lange ift es ber, da ftanden die Frachtraten in der ganzen 
Y Welt jo Hoch, daß der Außenhandel der einzelnen Ränder gefährdet fchien. 
Damals, als die erjten Befürchtungen wegen der amerifanifchen Gefahr in Deutjch- 
land auftauchten, wurden die ängſtlichen Gemüther mit dem Hinweis beruhigt, 
ein rationeller Export nach Deutjchland ſei ſchon deshalb unmöglich, weil die 
Frachtpreiſe viel zu hoch feien. Allerlet Umftände hatten eine außerordentlich 
günftige Konjunktur geichaffen. Dann kamen ber ipanifch-amerifanilche Kricg, 
der Transpaalfrieg und die chineſiſchen Wirren. Durch diefe politiichen Ereig- 
niffe wurde der verfügbare Schiffsraum weit über das gewöhnliche Ma hinaus 
in Anſpruch genommen, fo daß die Transportkoften fich in Folge ber gejteigerten 
Nadfrage beträchtlich erhöhten. Wie e8 aber in der regellofen Fapitalijtifchen 
Wirthſchaft nun. einmal zu gehen pflegt: die Ahedereien wollten nicht einjehen, 
daß es fi nur um vorübergehende, außerordentliche Erſcheinungen handle; fie 
glaubten, die Hohen Frachtpreiſe würden fich dauernd Halten. Dan baute wild 
darauf [o8, um neuen Schiffsraum in Konkurrenz bringen zu können. Inter—⸗ 
ejlant ift in dieſer Hinficht die Statiftif des Germanifchen Lloyd für das Jahr 
1901, aus der hervorgeht, daß an Hanbel8dampfern im Bau waren 1899: 543 000, 
1900: 584000, 1901: 624000 Tons Brutto. Diefe rege Bauthätigkeit beweift 
deutlich, daß man, genau wie in der Waarenproduftion, auch in der Schiffahrt 
den durch die Konjunktur erhöhten Bedarf für dauernd gejichert hielt und danach die 
Erhöhung der Produktionfähigkeit einrichtete, 

Natürlich mußte fi} diefe Hebereilung rächen; und fie rächte ſich früher, 
als ſelbſt vorfichtige Leute angenommen hatten. Noch vor dem Erlöjchen des 
Zransvaalfrieges drückte die ſchlechte wirthſchaftliche Lage die Frachtſätze her- 
unter; und num wurden bie Aufträge jeltener und die Konkurrenz wurde fchärfer. 
Der Verſuch, eine Reihe größerer Befellihaften international zu vereinigen, um 
jo die Preiſe zu erhöhen, ift alſo begreiflih. Nur jollte man nicht jo thun, als 
ob unabwendbare Naturereignife zur Koalition zwängen. Die Hauptihuld an 
dem plöglidden Verfall des Frachtengeſchäftes trägt der frühere Uebermuth. 
Nachdem die große deutjch.englifch-amerifanifche Dampferkloalition bekannt 
geworden war, bemühte jich die englifche Preſſe, an ihrer Spige die Times, 
die Nothmwendigfeit der Kombination aus gewiſſen natürliden Umftänden abzu- 
leiten und dem Publikum vorzureden, es werde aus der neuſten Morganijation 
den Hauptnugen Haben. Die Sciffsbautehnif, hieß es, habe ſich ungemein 
verbejlert; aus den Berfonendampfern feien im Lauf der Zeit mehr und mehr 
Ihwimmende Paläſte geworden; jede Linie fuche durch vorzügliche Verpflegung, 
durch elegantere Ausftattung der Kabinen und Salons das reifende Publikum 
heranzuziehen. Abgejehen von den Schaaren der Zwilchendedpaflagiere können ja 
nur ſolche Leute fih den Luxus einer größeren Ozeanreiſe leiten, die über viel 
Geld aus eigener oder frember Taſche verfügen und größere Anjprüce jtellen 
als andere Reijende. Die Ahedereien haben es alje wirklich ſchwer; und Die 
Konkurrenz bringt es mit fi, daß an diefen Quruspaflagieren nicht leicht mehr 
viel zu verdienen ift. Dennoch bliebe die Bereinigung der Linien eine zu tadelnde 
Maßregel. Dem Publitum nübt eben nur Konkurrenz; jedes Monopol führt 


210 Die Zutunft. 


zur Berjumpfung. Schließt fi um die internationale Schiffahrt der Ring, 
fo muß das Publikum die Zeche zahlen. An erhöhte Sicherung bes Trans- 
portes, an Steigerung des Komforts, der Fahrtſchnelligkeit wird nicht zu denken fein. 

Neben diejer Scattenfeite der neuen Kombination tritt allerdings aud 
eine Lichtſeite hervor; die Truft3 find ja überhaupt modernere Wirtbjchaftgebilde 
als Eonfurrirende Einzelbetriebe. Die Konkurrenz zwingt jede einzelne Geſell⸗ 
ichaft, ihren Verkehr nach allen Windrichtungen hin ſelbſt dann voll aufrecht 
zu erhalten, wenn man faum für dte Ausreife, geſchweige denn für die Rück— 
fahrt Ladung genug hat. Während jebt vier, fünf fchlecht beſetzte Schiffe ver- 
ichiedener Gejelichaften auf den felben Linien mit Berluft fahren, würde, nad 
der Bereinbarung, ein Schiff fahren, voll bejegt fein und rentiren. Daher war 
vom Standpunkt ber betheiligten AUftiengefellfchaften aus der Abſchluß des inter: 
nationalen Trufts nöthig. Anders aber fieht die Sade aus, wenn man fie nicht 
von Stanbpuntt des um feine Dividende bangenden Aktionärs oder des über die in 
Ausficht ftehende Frachtvertheuerung verärgerten Paſſagiers, jondern ale Bolts- 
wirth im Hinblid auf den fi anbahnenden jcharfen Konkurrenzkampf zwiſchen 
Deutihland und Amerika betrachtet. Ein Urtheil ijt da ſchwer zu fällen, weil 
wir über des Truft3 Art und Organifation vorläufig noch nicht allzu viel Sicheres 
wiffen. Genau unterrichtet find wir nur über die Theilnehmer. England und 
Umerifa jtellen die White Star-Line, die Dominion-Line, die American-Line, die 
Atlantic Transport- und die Red Star-Line. Dazu find dann noch bie meiften 
Aktien der Holland-Amerika⸗Linie erworben. Die Cunarb- und Alan-Line haben 
fih vorläufig nicht angefchloffen. Deutſchland ſchickt feine beiden Seeprunkſtücke, 
den Norddeutjchen Lloyd und die Hamburg-Amerifa-Linie, ins Bündniß. 

Die anglo-amerifaniichen Gejellichaften werden einen Truſt bilden, der 
mit 800 Millionen Mark finanzirt werden foll, und zu diefem Trujt treten bie 
beiden deutſchen Gejellichaften, durch Verträge unter einander gebunden, in ein 
Bertragsverhältnik, das zwanzig Fahre gelten fol, aber nach zehn Fahren ge- 
Löft werden kann. Jede der beiden Gruppen ijt „an den finanziellen Erfolgen 
der anderen bis zu einem gewiſſen Grabe intereffirt”; doch ſoll „ber Erwerb von 
Aktien der deutfchen Geſellſchaften dem Syndikat verboten“ fein. In das leitende 
Stomitee jenden die Deutfchen und das Syndikat je zwei Vertreter. Die Hamburger 
Badetfahrt und der Lloyd Haben die Einberufung einer außerordentlichen General- 
verfammlung angefündet. Weshalb aber zögerte man jo lange? Siegeszeichen 
pflegt Jeder doch möglichft früh zu enthüllen. Die Truftfchiffe dürfen nicht in 
deutſche Häfen fommen, die Deutfchen „ihren Verkehr nicht über ein gewilles Maß 
erweitern.“ Mit Stolz wird darauf hingewieſen, daß den deutfchen Geſellſchaften 
bie nationale Unabhängigkeit gewahrt worden fei. Weußerlich ſiehts ja auch jo aus. 
Denn die deutichen Gejellfchaften find nicht, wie die englilchen, im Truft, ftehen ihm 
vielmehr als freie Kontrahenten gegenüber. Ein Blid auf die Vorgeſchichte der Sache 
genügt, um ung bie wahre Natur der deutfchen Unabhängigkeit erkennen zu lehren. 

Der Bater der neuen Kombination ift natürlih Pierpont Morgan, ber 
ja jest nie fehlt, wenn e8 gilt, ein Truftjeuchen zu machen. Aber es bat Jahre 
langer Kleinarbeit bedurft, bi8 das Projekt zur Ausführung reif war. Auch 
ein Trujt wird nicht an einem Tage gebaut. Seit die Handelspolitit Amerikas 
darauf zugefchnitten ift, von der Urproduftion big zu der fertigen Waare Alles 


Der Ogeautruft. 211 


in einer Hand zu vereinen, haben fich die amerifanifchen Eiſenbahngeſellſchaften 
bemüht, nicht nur bis zur Küſte die Waare in ihrer Obhut zu behalten, fondern 
fie jelbft auch auf den Exportweg zu begleiten. Wie ich mir gerade vorliegenden 
Notizen entnehme, mißlang noch vor fieben Jahren der Verſuch der PBenniyl- 
‚ vaniabahn, einen Schiffsdtenft nad Europa einzurichten. Aber ſchon ein Jahr jpäter 
führte ein Geſchickterer den Verſuch zum Erfolg. Mr. Hill von der Great Northern 
Bahn begann mit dem Schiffsverkehr nad) Oftafien. Je mehr die einzelnen großen 
Bahngelellichaften ihre Selbftändigfeit verloren, um jo eifriger wurde ihr Streben, 
gut eingeführte Rhedereien zu erwerben oder neue Linien einzurichten. Wenn wir 
von den gemeinjamen Linien der Union Pacific und Southern abfehen, die 
der Vollendung erit entgegenreifen, fo giebt ein gutes Bild von ber herrichen- 
den Entwidelungtendenz die Thatjache, daß die Baltimore und Ohio, bie Bojton 
und Main, die Southern Pacific, die Cheajepeaf und Ohio, die Norfolf und 
Weitern, die. Grand Trunk einzeln „der mit anderen Linien gemeinfam an 
transatlantiihen Dampferlinien intereffirt find. 

Diefe Entwidelung wurde mit yankeehafter Energie !gefördert. Hinter 
den Couliſſen leiteten die großen Finanzleute das Gefchäft, die felben Leute, 
die an den großen induftriellen Truſts betheillgt waren. Schließlich war mau 
in Amerika fertig. Aber nun blieb das Ausland, deſſen Sciffahrtlinien in dem 
Augenblick befonders wichtig werben mußten, wo des wirthichaftlichen Niederganges 
erite Zeichen in Amerika fichtbar wurden. Es fam nun darauf an, den Erport 
ber amerifanifchen Truſts zu fteigern, und um darin den anderen Nationen 
überlegen zu fein, mußte man bie Herrjchaft auf dem internationalen Fradten- 
markt erobern. Zunächſt Taufte man Englands Flotte. Die Juman Line, die 
Blue Yunnel.und endlid — der Stolz von Albions Söhnen — die Ley: 
land Line fielen an Amerika. Jetzt konnte auch Deutichlands Schiffahrt von 
den Dollarmilliardären aufs Korn genommen werden. Was konnten die Maßregeln 
fchaden, die verhindern follten, daß deutſche Schiffahrtaftien von Amerikanern ge— 
fauft würden? Das war Humbug, im beiten Falle Selbitbetrug. Und wie will man 
die Amerikaner hindern, geräufchlog Aktien der deutſchen Gejellfchaften zu taufen > 
Es ſchien eine Weile jchon, al3 feien Morgan und jeine Leute drauf und dran, bie 
Aktien des Lloyd und der Badetfahrt zu kaufen. Die Höllenangft, die fie dadurch 
in Deutichland erregten, zeigte ihnen aber, daß fie ihr Ziel fchneller erreichen konnten. 
Ihnen lag ja nichts an dem Aftienbejig, Alles an der Herrichaft über die Linien. 
Konnte man Gelb jparen und ohne Altten den ſelben Effekt erzielen: tant 
mieux. Man jchlug den Deutjchen ein Kartell vor. Erleichtert athmeten Bal- 
lin und Wiegand auf. Das war doch wenigſtens nach außen ein Erfolg. Diele 
Stimmung erflärt denn aud, daß in den Hamburger Nachrichten zu lejen war: 
„Wir willen nicht, ob e3 wahr tft, daß Englands ftolze nordatlantifche Rhe— 
derei dem amerifanifchen Kapital verfallen ift; jo viel aber willen wir und find 
nach einer Unterredung, die wir heute an fompetenteiter Stelle zu führen Ge— 
legenheit hatten, in biejer Ueberzeugung noch beſtärkt, daß die Konventionen, 
die in New-York verhandelt werden jollen, die Unabhängigkeit und die Natio: 
nalität unferer beiden großen Rhedereien in feiner Weiſe berühren.” 

Nach langen Berhandlungen wurden Herr Geo Plate und Herr Ballin 
nah New⸗York beſtellt. Was follten fie gegenüber der in Ausficht jtehenden 





212 Die Zutınft. 


mördertichen Konkurrenz thun? Sie mußten bem Pool beitreten. Auf diejem 
Wege gab es für den Aktionär höhere Dividende und für bie Plebs blieb 
die Glorie der nationalen Selbjtändigkeit gewahrt. Doch ein Schiff fährt 
nicht nach dem Willen der Flagge, jondern nad der Weifung des Rapitaliften, 
ber den Sapitän bezahlt. Und ob die deutichen Kapitalijten fünftig noch weiter 
jo weifen dürfen, wie fie wollen: Das wird man erft beurtheilen können, wenn 
über die Leitung des Pool völlige Klarheit geichaffen ift. Wahrſcheinlich iſts nicht. 
Für Herm Morgan bat der Pool doch nur dann einen greifbaren Zweck, wenn 
der Gebieter die Frachtpreiſe ber Welt jo feſtſetzen kann, wie er in feinem Intereſſe 
und im Intereſſe des Stahltruſts es für nöthig Hält. Man ſollte nicht vergeſſen, 
daß nah Mr. Schwabs Eingeſtändniß der Stahltruft fih für fchlechtere Zeiten 
rüftet. Der Export nad) Deutſchland und deffen Abfaßgebieten ift fein nächites 
Biel. Eine Etappe auf dem Wege zu diefem Ziel ift die internationale Berein- 
barung, die, obwohl die deutfche Tonnenzahl beträchtlich überwiegt, vielleicht bald 
zur Anerkennung der amerilanijchen Oberberrfchaft gezwungen fein wird. ”) 
Plutus. 


*) Das verächtliche Lächeln über die amerikaniſche Gefahr, deren Schrecken 
ja maßlos übertrieben ſein ſollten, wird den Europäern nächſtens wohl vergehen. 
Außer dem von Plutus hier betrachteten Symptom ſind noch andere ſichtbar. 
Der Ankauf der däniſchen Antillen mag uns einſtweilen unbeträchtlich ſcheinen. 
Schon aber hört man, daß ein anderer Morgan, der Beherrſcher eines ſtarken 
Truſts chemiſcher Fabriken, die Eroberung der deutſchen Kaliwerke plant und 
bereits Kuxe und Aktien namentlich ſolcher Werke erworben hat, bie dem Sali- 
ſyndikat nit angehören. Da die Bereinigten Staaten feine Kalilager, aber 
einen großen Verbrauch an Kali haben, war der amerikanische Markt bisher ein 
werthvolles Abjapgebiet für die deutſche Induſtrie. Das jah Morgan der Zweite 
und fagte jih: Wenn ich zunächſt die nicht Tartellirten Werke kaufe ober mir durch 
Aktienkäufe die Herrfchaft über ihre Geſchäftspolitik fihere, dann breche ih die 
Macht des Sartells und kann eg durch unerträgliche Konkurrenz mürb maden; 
und dieſe fchlechte Zeit der Kaliinduſtrie werde ich benugen, um aud in den 
Startellbereich meine Minen zu legen; babe ih im Kartell erit die Mehrheit 
der Stimmen, fo erlebt das deutjche Monopol feinen legten Tag, wir reißen 
die Kaliproduftion an uns und brauchen ung nicht lähger mehr mit dem dürftt- 
gen Zwiſchenhändlergewinn zu begnügen. Es iſt immer bie jelbe Gedichte, 
deren Ausgang, bei der unangreifbaren lleberlegenheit des amerikaniſchen Kapitals, 
faum zweifelhaft ſein kann. Eine Weile wird das Syndilat Widerftand letjten, 
früher oder ſpäter aber zu einer Berftändigung mit den rüdfichtlos konkurrirenden 
Yankees gezwungen fein, die jid) von der dem ftolzen Ballin, dem „Umijpanner 
des Erdballs“, aufgedrängten nicht weſentlich untericeiden wird. Neben dicjem 
Schauſpiel eines wirthſchaftlichen Rieſenkampfes verblaßt der kleine politiiche 
Hader, der lärntend durch die Preſſe der europäilchen Neiche tobt. Wenn dag Yand 
des Sternenbanners Europa erjt den ‘reis der Frachten, bes Eilens und Stahls, 
der Kohle und chemischen Produkte vorfchreibt und die Widerjpenftigen auf allen 
Märkten unterbietet, wird man erfennen, wie ungemein Flug ed war, die Mirtr 
ſchaft erwachſender Völker mit voller Wucht auf den 9 Vaarenexport zu jtelle: 





. — — — — — — — ——— — — — 


o ——— und verantwortlicher Redakteur: m; Garden ın Berlin. — _ "Berlag der der —e i in Ber 
Drud von Albert Taude in Berlin⸗Schöneberg. 


— 














Berlin, den 10. Mai 1902. 
——— — 


Hofjuden. 


lſo Kinder, ich war da. Ganz einfach, weil die Geſchichte mir ſchließ⸗ 

lich langweilig wurde. Seit Monaten liegt Ihr mir in den Ohren. 
Alles Unheil komme von dem jewish people, das ſich jetzt oben breit machen 
dürfe. Unerhört in Preußen, daß Juden in der Hofgefellichaft ſolche Rolle 
fpielen. Seldft der Schwefelgelbe, dem Ahr nie recht grün wart, Habe feinen 
Gerſon Bleichroeder doch nur mit Vorficht fervirt; und den Heinen Cohn 
— id} meine das deffauer Baronchen — hat man höchftens bei großen Hofe 
fütterungen mal flüchtig gejehen. Der wirkte mit feinem unausrottbaren 
Jargon im Weißen Saal fehr Iuftig, fühlte ich im Gefpräch mit Unfereinem 
aber ſtets als geknufften Schugjuden; blieb, trog Titel und Milfionen, koͤnig⸗ 
licher Rammerfnecht; immer drei Schritt vom Leibe. Die Zeit ift vorbei. Jetzt 
lieſt man alle paar Tage, irgend ein fauler Semit ſei zur Audienz befohlen oder 
auf die Lifte der mit S. M. Einzuladenden gefegt worden; und wenn mans 
nicht Kieft, ſickert es durch die Bortieren. Die Leute dringen in den intimften 
Kreis, werden fogar ſchon aufs allerhöchfte Waffer mitgenommen, gegen das 
dieſes Heilige Volt doch vom Rothen Meer eine eflige Antipathie nach Europa 
gebracht Haben follte. Der preußifche Adel könne nachgerade ergebenft auf 
feiner Scholle boden; Konkurrenz mit der Sippe, die Mofes und die Pro- 
pheten hat, weder ftandeögemäß noch durchführbar. Kommt von uns mal 
Einer ran, dann erreicht er auch was; fiehe Putlig und Graß in der Spirituss 
Hofe. Nur in Jubeljahren aber noch möglich, das ſchwarze Spalier zu durch⸗ 

16 


214 Die Zuhmft. 


brechen. Podbielski hat die Deode angefangen. Bei Victor Apoftata, dem 
großen Milchhandelsmann, wurden die Leute vorgeftellt, wahrjcheinlich, nach⸗ 
dem er am Skattiſch des Königs erzählt hatte, fie jeien nicht fo ſchlimm wie 
ihr Auf; und nun haben fie ſich warm eingeniftet. Natürlich werden da 
Anfichten apportirt, die allen Traditionen altpreußifcher Wirthjchaft wider- 
ſprechen. Obendrein bat auch der Kanzler via Taujjig Beziehungen zur 
haute finance. Daher der Angjtichrei in der Herrenhausrede des Sor- 
quitters, der ſonft wohl nicht aus dem Bau gefrochen wäre. Und er ift nicht 
der Einzige. Ueberall eine Heidenangft; und fpaßhafte Wuth gegen die 
Gelben Saden, die den Anjturm der Eifelirten nicht rauh abwehren. Ontel 
Polte, der hebräifche Studien für zeitgemäß hält, prophezeit in langen 
Sendfchreiben die Herrichaft des Kahal, der Kehilla oder Kille (wo⸗ 
runter, wie mir jcheint, das Wolf Iſrael zu verftehen ift). Drumont habe 
feit Jahrzehnten Alles vorausgefagt; jegt komme auch für uns die Stunde 
der letzten Schlacht. Siegen wirnicht, dann: Gute Yacht! FinisBorussiae. 
Und fo weiter... . Na,ichbin nicht leicht ins Bockshorn zu jagen. Habe auch 
ftet8 vor Mebertreibungen gewarnt. Einjtweilen fommen auf jeden Juden 
oben noch hundert Junker; und bei ſolchem Prozentſatz läßt ſichs leben. 
Die Eindringlingefind auch nicht ausfchliehlich Kinder Yehovahs. Induſtrie 
und Technik ohne Unterfchiedder Raſſe, oft freilich mit jüdifcher Oberleitung 
im Hintergrund. Item, ic) wollte mal fehen. Daß ich nach dem Geftändniß 
für Euch ein räudiges Schaf bin, verfteht fi) am Rande; aber man möchte 
feine Erben doch kennen lernen und Ihr habt mir outsider fo wie jo nie über 
den Weg getraut. Nicht feft genug im Glauben; nicht ſchwarzweiß bis in 
die Knochen. Der neue Schmerz wird Sippen und Magen nichtniederwerfen. 
Die Einladung hatte ich bald. Ein richtiger Graf umd Ritter hoher 
Drden hat da nod) Marftwerth. Ich gab eine Karte ab — Das genüge voll: 
fommen, hatte Kuno gefagt — und fünf Tage danach baten Monsieur et 
Madame auf ſehr anftändigem Papier um die Ehre pp. Bu einfachen 
Abendefjen. Wir hatten feinen von den großen Löwenkäfigen gewählt, weil 
ich mich erft afflimatifiren wollte. Beſſere Bankfache ohne Ansficht auf 
Moabit. Man mußnichtvon Allem haben. Alfolos; mitdem feften Entſchli 
unterfeinen Umftänden aus der dankbaren Rolle de8 bon prince zu falle, 
Was find Hoffnungen, was jind Entwürfe? Nach Mitternacht fo 
ich mit einem Herrn, deifen Name mir um Neun bei der Vorftellung in d 
Glieder gefahren war, einträchtiglid) in einer Kneipenecke und amufirte mi 
an dem Entfegen zweier Generalftreber, die mid) erfannten und ob ſolch 


Hofjuben. 215 


Geſellſchaft ihren Augen nicht trauten. Der Dann hatte mirs mit nett ver- 
padten Bosheiten angethan. Irgend ein ‘Doktor, juris oder jo was, ber ſich 
bei näherem Bejehen als avancirten Sozialiften entpuppte, aber ’ne ſchwere 
Menge gejehen und gelefen hatte und famos ſprach. Wenigftens für Unjer- 
einen, dem die Sorte fonft nicht vor die Flinte lommt. Um Zwei waren wir 
fo ungefähr ein Herz und eine Seele. Und ich hatte mit etlichen Bechern 
Pilſener die Gefchlechtschronif faft all der mehr oder minder ehrenwerthen 
Leute genoffen, die mit mir im Thiergarten zu Gaſt geweſen waren; nebſt 
Borftrafen, Scheidungen, Ehebrüchen und anderem Komfort der Neuzeit. 
Woraus denn wohl zur&enüge zu erjehen ift, daß der bon prince ſich nicht 
lange auf ſteiler Hoͤhe gehalten hatte, „wo Fürſten ſtehn“. 

Zunächſt wars ja ein Bischen unheimlich geweſen. Aus allen Ecken 
äugte altteſtamentariſches Vollblut. Pompös aufgeſchirrte Weiber; meiſt 
nicht ganz in Form, mit gelblichen Chareuterien, die alkoholiſche Neigungen 
in mir aufftiegen ließen, aber Aufmachung erften Ranges. Seit dem Cafe 
de Paris und der Ermitage hatte ich nicht fo viele gute Steine und Perlen 
zuſammen gefehen. Etwasreichlich für ein einfaches Abendeſſen (daß getanzt 
werden jolle, erfuhr ich erft nach dem Fiſch). Einzelne auffallend hübſche 
Mädel mit abenteuerlichen Frifuren und höchft raffinirten, aber kleidſamen 
Decblättern. Die Reize der Männer wären in orientalifchen Gewändern 
wohl zu befferer Geltung gelommen. Doch fehr korrekt in weißen rad: 
weiten mit Goldfnöpfen; die jüngere Generation fogar mit felddienftfähigen 
Figuren. Immerhin: wenn plötlich eine Chriftenverfolgung ausbrach, war 
ich verloren ; nur die Diener fonnten mid) dann vor dem Schächtmeſſer ret⸗ 
ten. So ſchien mirs wenigftens, ehe ich warm geworden war. Kuno, der 
Schlingel, der den introducteur fpielen wollte, hatte im leisten Augenblick 
abgejagt und mich allein auf Patrouille gelafjen. Nachher... .. Nein, Kin: 
der: ich fiel aus fämmtlichen vorhandenen Wolfen. Entre nous thun die 
Knaben immer, als hätten fie, außer beim Querfjchreiben, noch nie einen 
Raſſengenoſſen des Heilands in der Nähe gejehen, und num tauchte eine 
ganze Suite auf, mindeftens je ein Muſter aus allen Kleinzeuglapiteln des 
Gotha. Jeder erft leife genirt, wie wenn er eine von den Damen am Arm 
hätte, die man nicht mit dem Hut grüßt; bald aber freuzfidel und entzüct 
von der angenehmen Temperatur des Haufes. hr rümpft die Nafe und 
denkt: Die zieht das Futter, dieSehnfucht nad) Schloßabzügen, vielleicht die 
Hoffnung auf einen unbefrifteten Bump. Kommt auch vor; und ficher nicht 
felien. Das Futter war wirklich gut; fo ungefähr Alles, was die Saifon 

16” 


216 Die Zukunft. 


nicht liefert; mir wurde weder Knoblauch nod) Mazza zugemuthet. Und Wein 
und Eigarren weit über unfere Gewöhnung. Ein Mojel, ber verhärtete Anti- 
femiten vor Gewiſſenskonflikte geftellt Hätte. Trotzdem: die Viktualien finds 
nicht allein. Ich fah namhafte Führer, Säulen der Partei, Leute, die ſich 
jelbft einen ordentlichen Happen leiften und ihn ohne Reue mit dreiundneun⸗ 
ziger Pommern begießen Lönnen. Es ift eben noch was Anderes. Ich habe 
mic zwar nicht gerade wie die Prinzen und Grafen des tücdhtigen Herrn 
Sudermann benommen, bie in fremden Häufern Schreibtifche beichnüffeln, 
mich aber umgeguckt wieauf dem erſten Rekognoſzirungritt meines Lieutenant⸗ 
lebens. Donnerwetter: wohnt die Geſellſchaft! Jeder Schrank, jedes Glas 
ſcheint uns ein kleines Wunder. Dabei nicht überladen, wie ich gedacht Hatte, 
fondern mit einem gewiflen Talt auf einen Ton geftimmt. Wir haben doch 
auch Kerle, die im Jahr ein dickes Padet brauner Scheine verpugen. Wo 
aber fieht man bei Denen ein gutes Bild? Hier fo ziemlich Alles, was in 
letter Zeit von fich reden gemacht hat. Bronzen, Poterien aller Stile, Ra⸗ 
dirungen, Skulpturen und Bücher, — Bücher, daß einem rechtichaffenen 
riftlichen Germanen angst und bang werben fann. Na, Ihr kennt meine 
Puſchel. Aber geht erft Hin, ehe Ihr ſchimpft. Und bildet Euch ja nicht ein, 
man werde Euch wie den Fieben Herrgott anftarren. Keine Spur. An adeligem 
Verkehr fehlts nicht mehr. Ein neuer Name von Klang ift immer will» 
kommen; aber man legt fich vor ein paar Ahnıen nicht aufden Bauch. Ueber⸗ 
haupt ift$ ganz anders, als wir ung vorftellen. Der Typus Cohn und Bleich⸗ 
roeder ftirbt aus und die heranwachſende Generation kann fich fehen laſſen. 
Stramme Bengel, die reiten, turnen und Tennis fpielen, kluge Mädchen 
mit der Sicherheit aus englischen Penfionen first rate. Das hat mit acht: 
zehn Jahren Alles kennen gelernt, was unjer Erdtheil zu bieten vermag, 
und weiß auf den verfchiedenften Terrains Befcheid. ALS ich geftehen mußte, 
ich fei noch nie in Rom geweſen, glaubten diefchwarzen lien und Greten, ich 
wolle einen jchlechten Scherz machen. Junge Kultur, aber Kultur, Kinder. 

Seid friedlich: ich ſchwärme nicht; fällt mir gar nicht ein. Bin auch 
nicht fo mit Blindheit gefchlagen, daß mir die Heinen und großen Lächerlich⸗ 
feiten entgingen. Zu viel Pantomime, zu wenig Ruhe in den Borderpfoten, 
bie der Europäer zum Reden nicht braucht, faſt innmer zu viel Affekt und zur 
viel Geräuſch. So zwiſchen Dlarfeilfe und Bort Said. Dasgiebtfich. Länger 
wird es dauern, biß bie Diener nicht mehr vornehiner ausſehen als die Herrs 
ſchaft. Einftweilen gudt folcyer lange Kümmel, der in Potsdam feine zwei 
Jahre runtergerijfen und als Burjche Manieren gelernt hat, mit feinem 





Hofiuden. 217 


Schmalen Blondkopf manchmal recht fonderbar auf bie fommerzienräthliche 
Slate herab. Und auf dem Lande... Ich war nämlich ruchlos genug, auch 
einer Einladung auf das Nittergut meiner neuen Freunde zu folgen. Wollte 
bie Agrarier von übermorgen mal in vollem Glanz fehen. Da haperts nod) 
böfe. Natürlich ift Alles ba; nicht wie bei armen Leuten. Mafchinen, daf 
Einem ſchwarz vor den Augen wird, meliorirt auf Deibelholen, Vichftälfe, 
für die ich meine ganze Klitſche hingäbe, und vom Feld auf Automobilen 
ins elektriſch beleuchtete Schloß, das fo feudal ausfieht, als hauſte ein alter 
Burggraf drin. Die Leute geben fich auch alle Mühe; aber das Kleid des 
country-gentleman jigt noch nicht. Der Kutjcher grinft, wenn der Herr 
Direktor ihm jagt, wie die Pferde zu behandeln find. Und trogdem Madame 
jede Kuh beim Namen kennt und vor dem Diner pünktlich noch nach den 
Fohlen fieht, merkt man auf Schritt und Tritt doch, daß ihr lieber Bapa 
nicht Körner gebaut, fondern mit Diamanten gehandelt hat. Die Sache geht 
aljo noch nicht, wird vielleicht nocd in der nächſten Generation für umfere 
Begriffe nicht Mappen. Wobei die Hauptjache aber nicht zu vergeffen ift: 
baß dem armen Boden die Düngung mit Gold vorzüglid) befommt. 

Ich bin alfo nicht blind. An manchen Stellen ift der Lack dünn auf« 
getragen und fpringt, bei der Haft diefer Raſſe, leicht ad. Nur Hilft kein 
Mundſpitzen: die Leute find nicht mehr zu verachten oder gar auszulachen. 
Ihre Stärke ift die beffere Rüftung für die moderne Lebensſchlacht. Wir 
müffen uns höllifch zufammennehmen, ſonſt Liegen wir platt unter dem 
Schlitten. Was lernen wir denn, Hand aufs. Herz? Armee, Landwirthichaft, 
allenfalls noch Bischen Verwaltung oder fogenannte Diplomatie. Bücher 
werden nichtgefauft und für Bilder langtsnicht. Technik, Naturwiſſenſchaft 
ift ung ein Buch) mit fieben Siegeln, jeder Bantier ein Gauner, und wenn 
ein Standesgenojle den Sinn des Wortes Arbitrage erflärt haben möchte, 
fragen wir ihn, ober unter die Einbrecher gehen wolle. Pſt, Kinder: es ift 
jo. Die paar Edelleute, die in Induſtrie, Technik, Handel was vor fich ge- 
bracht haben, eine Bilanz lejen können, in der weiten Welt fich den Wind 
um die Naſe wehen lajien oder diefes mit Recht gejchägte Organ in 
Bücher fteden, ändern nicht3 an der Regel. Im Allgemeinen wiſſen wir 
Nepoten nichts von Alledem, was heutzutage wichtig iſt. Künſtler, Gelehrte 
dringen nicht in unferen Dunftkreis und die Meiften von uns ahnen nicht, 
wie fich der ſtädtiſche Induſtricarbeiter vom Aderfnecht und ländlichen Tage⸗ 
löhner unterfcheidet. Folge: wenn Einer aus diefer Schicht entgleift oder 
perarmt, kann er mit Bolicen auf die Walze gehen oder drüben Kellner 


218 Die Zukunft. 


werden; weiter reicht$ gewöhnlich nicht. Andere Folge: Furcht vor jedem 
struggle und Groll gegen die Hohen und Höchften, die fid) die Parvenns 
nicht vom Leibe halten. Mir war regis voluntas niemals suprema lex 
und ich bin eher preußiſch als Taiferlich; aber hier kann ich nicht mit. Wir 
haben den berliner Hof nicht gepachtet; und wenn von den neuen Lenten mal 
Einer rankommt, entfprichts nur dem veränderten Stärfeverhältniß. Dieje 
Geniry von vorgeftern hat Leiftungen aufzumeifen, die auch dem Staat ge- 
nügt haben, und kann dem König allerlei Intereſſantes erzählen. Ich habe 
fie von allen Seiten betrachtet. Der ſehnlichſte Wunſch iſt, ihre Loyalität 
in der Sonne ſpaziren führen zu dürfen. Die demofratijchen Sdeale werden 
unter dem Selbftloftenpreis verramfcht. Wir haben oft genug im Glashaus 
geſeſſen, wollen die Steine alſo lieber liegen laſſen. Irgendwann wirds ja 
zu einer Reibung kommen, die vielleicht ein Feuer anfacht; denn Induſtrie 
iſt 'ne Kulturform, in die gewiffe altpreußifche Ideen nicht Hineinpaffen. 
Gegen Poltes Finis Borussiae tft nichts einzuwenden; nur hatte diejes 
Ende jchon längſt angefangen, al8 der Erfte von Denen, die Ihr verädhtlich 
Hofjuden nennt, mit Lackſchuhen die Schwelle des Schloſſes betrat. 

Mein Doktor (Der vom einfachen Abendeifen her) hatte fic in den 
Ausdrud vernarrt und betheuerte, nirgends mürden die Hofjuden unbarıms 
herziger verhöhnt als in ihren Kreiſen. Er riß die runden Augen auf, weil 
ic) fagte, der Hohn fei im Grunde thöricht und nur durch Netd zu erflären. 
Mancher, der früher die Möglichkeit, von einem Hohenzollern angefprochen 
zu werden, fo fern wie die Wiederkehr des Chafarenreiches jah, mag jetst ja 
den Kopf verlieren, wenn ein Deutjcher Kaiſer ihn als Geſprächspartner 
einem Mandarinen vorzieht. Von der Corte, die lang liegt, jobald cines 
Prinzen Blid fie trifft, Haben wir aber auch noch hübjchen Vorrath. Des 
Doftors Hände ſprachen erjt Zweifel an meiner Aufrichtigfeit, dann Zu⸗ 
verficht aus; und fchlieglich ſprudelte das Kluge Kerichen einen Triumph 
geſang hervor. Er fei zwar Sozialift (unabhängiger natürlich) und made 
fich nicht8 aus Yaren. Aber die moderne Entwidelung führenun mal durd; 
den Kapitalismus, alfo müffe man wünſchen, daß er jich auslebe. Ich habe 
nicht Alles fapirt. Nur, daß mit den Thiergartenleuten fehr gut zu regir, 
fei; ihre Moral ſei von der anderer Menichenfinder kaum noch verfchiet 
und fie haben aufgehört, lächerlich zu wirfen, feit die höhere Kultur die Kl 
zwiichen Schein und Sein ausgefüllt habe. Dabeizappelte er, daß die P 
cenezgläfer auf dem Höcker unruhig wurden und id; fürdytete, nun werde 
zum tötlichen Streich gegen die Junker ausholen. Als ein Mann von fei 
Kultur erjparte er mir für diesmal aber den landesüblichen Schm⸗ 





Hoffuden. | -219 


Einerlei. Was er fagte, ftimmt aufs Haar. Kinder, wir find furcht⸗ 
bar zurüd. Wir kennen die Erdfugel nicht, wiſſen nicht, was Hinter unſeren 
ftandesgemäßen Scheuflappen vorgeht. In Frankreich, England, fogar in 
Defterreich iftS anders; da hat ein großer Theil des Adels ſich modernifirt. 
Dan findet in den Schlöjfern berühmte Bilder und gute Bibliothelen, unter 
Gelehrten und Künftlern alte Namen. Wir find anftändig geblieben, aber 
nicht recht vorwärts gefommen. ‘Daß e8 an Talent nicht fehlt, zeigt das Bei- 
fpiel vieler Offiziere, die auf den verfchiedenften Feldern zu Haufe find. Die 
Luft fehlt, die Berührung mit einer Welt, die unfere Privilegien nicht mehr 
anerfennt, die Nothwendigfeit, fich für Wettfämpfe zu trainiren und in Be⸗ 
reitfchaft zu halten. Jetzt droht ung eine Gefahr, wie fie ärger fein gemalt» 
famer Umfturz der Staatsordnung bringen könnte. Die Leute, die einmal 
ans Licht hinaufgelangt find, werden. ji) oben feftbeißen und mit zäher 
Schlauheit Alles verjuchen, um von perfönlicher Gunft zu politifcher Macht 
aufzufteigen. Ihre Waffen find nicht von Pappe; und fie können ſich Leicht 
unentbehrlich machen. Erfteng, weil fie in die Welt paffen, die nicht mehr 
wegzufluchen ift, und über alles in diefer Welt Wichtige auf Anhieb Auskunft 
zu geben wijlen. Zweitens, weil ihr Intereſſe mit dem der’ berühmten Welt- 
politif fich eine gute Strede vertragen fann. Friede, Flotte, Märkte, Ex⸗ 
panfion und wie der Kram jonjt nod) heißt: das Allcs läßt ihren Meizen 
blühen, während unjerer dabei vor die Hunde oder vor die Argentiner gcht. 
Qui vivra, verra. Mit dem homburger Bahnhof, wo der Muth in der Bruft 
unfererBieledlen und Getreuen feineSpannfraft übte, hatsangefangen. Bald 
wird es dider fommen und ſchließlich werden wir zur allerunterthänigiten 
Dppofition genöthigt fein und ung nicht rühren dürfen, wenn irgend ein 
Herr Singer uns Borlefungen über Bafallenpflicht hält. Hat auch gar feinen 
Zweck, mit Heinen Mittelchen entgegenzumirken; die Sache kommt doc) und 
die Konventilelweisheit ijt nur ſchnöde Zeitvergeudung. Sehen Sie ſich mal 
drüben den Kleinen an, fagte mein Doktor; da unterdem Yeiftifom. Warum 
ſoll Der nicht Handelsminifter werden? Die Sache verfteht er aus dem ff, 
ijt lange drüben in Pew: Vorfgewefen, hathier aus 'ner Spelunke ein Riefen- 
gefchäft gefingert, mit einer Organijation, die Ihre ſämmtlichen Oberpräſi— 
denten nicht fertig brächten, und manjchelt nicht im Geringften mehr. 
Stimmt. Und diefer Typus wird das Rennen madıen; einerlei, ob er aus 
der Gegend des Sinai oder vom Wupperthalftammt und ob wir ihn Konzeljion- 
ſchulze oder Hofjude ſchimpfen. Es hat Neun gefchlagen. Angenehme Nuhel 


⁊ 


220 Die Zukunft. 


Die Sufunft.*) 


& ift in gewiſſer Hinficht ganz unbegreiflich, dag wir. der Zukunft nicht 
tundig find. Ein Nichts würde wahrfceinlih genügen, ein anderer 
Berlauf der Hirnfafern, eine andere Richtung der Hirnwindungen, ein kleines 
Nervengeflecht mehr, — und die Zukunft würde ſich mit der felben Deutfid- 
feit, der felben majeftätifchen und unerfchütterlichen Fülle vor unferen Augen 
entsollen, wie die Vergangenheit fich nicht nur am Horizont unſeres perfün- 
lichen Xebens, fondern auch an dem der Gattung, der wir angehören, entfaltet. 
Es ift eine eigenartige Schwäche, eine fonderbare Beichränfung unferes Geiites, 
die uns in Unmwiffenheit darüber läßt, was und begegnen wird, obwohl wir 
boch wiſſen, was uns begegnet ift. Bon dem abfoluten Standpunft aus, 
zu dem unſere Vorftellung fich erheben kann, obwohl fie nicht auf ihm zu 
leben vermag, liegt fein Grund vor, warum wir nicht fehen follten, was 
noch nicht ift, weil Das, was in Bezug auf uns noch nicht ift, doc; noth— 
wendiger Weife fchon vorhanden fein und fi irgendivo kundgeben muß. 
Sonft müßte man ja fagen, daß wir in Hinficht auf Alles, was die Zeit 
betrifft, den Mittelpunkt der Welt bilden, daß wir die einzigen Zeugen find, 
anf die alle Ereigniffe warten, um das Recht zu haben, in die Erfcheinung 
zu treten und in der ewigen Gejchichte der Urfachen und Wirkungen mit- 
zuzählen. Aber es wäre eben jo widerjinnig, Das für die Zeit zu behaupten, 
‚wie für den Raum, jene andere, etwas weniger unbegreiflihe Form des 
doppelten Myſteriums der Unendlichkeit, in dem unfer ganzen Leben ſchwebt. 

Der Raum ift uns vertrauter, weil die Zufälle unſerer organifchen 
Beichaffenheit uns in unmittelbarere Beziehung zu ihm fegen und ihn ums 
greifbarer machen. Wir fönnen uns in mehr als einer Hinficht darin ziem- 
lich ungebunden vor- und rückwärts bewegen. Deshalb wird auch fein Reifender 
die Behauptung wagen, daß die Städte, die er noch nicht befucht hat, erft 
mit dem Augenblid zur Wirklichkeit werben, mo er fie betritt. Und doc ift 
Das faft das Selbe, wie wenn wir ung überreden, daß ein noch nicht ein⸗ 
getretene3 Ereigniß noch fein Dafein beligt. 


*) Ein Fragment aus dem neuen Werk Maeterlindd, das, unter dem 
Zitel „Der begrabene Tempel”, in den nächſten Tagen bei Eugen Diederichs in 
Leipzig erfcheinen wird. Der Ueberſetzer, Freiherr von Oppeln«Bronifomsti, 
jagt in einer Vorbemerkung, der Titel bezeichne „den begrabenen Tempel in der 
Menſchenbruſt, das unbewußte, transizendentale Sch, aus dem alle Götter ber- 
vorgegangen find und in dag fie jeßt wieder zurüdfehren”, und nennt das Buch 
eine PhHilofophie des Unbewußten, die ih den Gedankengängen Hartmanns 
nähere. Diefer zehnte Band der autorifirten, von Diederichs ſehr hübſch aus 
geitatteten Gejammtausgabe der Werke Macterlinds Eoftet 4,50 Mark. 


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Die Zukunft. 221 


Aber ich habe nicht die Abficht, mich nach Erörterung fo vieler anderen 
in das unlösharfte aller Näthfel zw vertiefen. Wir wollen weiter nichts 
fagen, al3 daß die Zeit ein Miyfterium ift, dag wir willfürlich in Vergangen⸗ 
beit und Zulunft getheilt haben, um zu verfuchen, Etwas davon zu begreifen. 
An fih ift es fo gut wie ficher, daß fie nur eine ungeheure, ewige, unbe- 
wegliche Gegenwart ift, in der Alles, was gefchehen ift und noch geichehen 
wird, umerfchütterlich befteht, ohne da das Morgen fich, außer in dem kurz: 
lebigen Dienfchengeift, vom Geftern oder Heute unterſchiede. 

Faſt follte man annehmen, der Menfch habe ftet3 das Gefühl gehabt, 
daß eine einfache Schwäche feines Geiftes ihn von der Zukunft trennt. Er 
weiß fie lebendig, vollftändig und wirkſam hinter einer Art von Wand, bie 
er feit den erſten Tagen feines Erſcheinens auf der Erde unabläffig um- 
Freift hat. Oder vielmehr: er weiß fie in fi und einen Theil feiner felbft 
befannt, ohne daß biefe bebrüdende und beunruhigende Erlenntniß durch die 
zu engen Kanäle feiner Sinne bis zu feinem Bewußtſein empor zu bringen 
vermag, das der einzige Ort ift, wo eine Erkenntniß Namen, nugbare Kraft 
und gewiſſermaßen menfchliches Bürgerrecht erwirbt. Nur mit ungewiſſem 
Schimmer, dur zufälliges und vorübergehendes Durchſickern, gelangen die 
fünftigen Jahre, die ihn erfüllen und deren gebieterifche Mealitäten ihn von 
allen Seiten umgeben, bis in fein Him. Er wundert fi, daß ein merk: 
würdiger Zufall diefe8 Hirn gegen die Zukunft, in die e8 doch fait ganz 
eingetaucht ift, fo hermetiſch abſchließt wie ein verjiegeltes, in einem endlofen 
Meer Ichwimmendes Gefäß: das Meer drüdt und reizt, quält und Tiebkoft 
es mit feinen Wogen, mit denen der Inhalt des Gefäßes fich doch nie mifcht. 

Zu allen Zeiten hat der Menfh nah Spalten in diefer Wand ge- 
fucht und fi) bemüht, das Wafler durch diefes Gefäß durchlidern zu laſſen 
und die Wände zu durchbrechen, die feine Bernunft — die faft nicht? wei — 
von feinem Inſtinkt trennen, der Alles weiß, jich feines Wiſſens aber nicht 
bedienen kann. Wie es fcheint, Hat er mehrfach Glüd damit gehabt. Es 
gab immer Hellfeher, Propheten, Sibyllen und Zauberinnen, bei denen durch 
eine Krankheit, durch ein von Natnr ober durch Kunſt hypertrophiſches Nerven 
foftem ungewöhnliche Verbindungen zwifchen dem Bewußten und Unbewußten, 
zwiſchen dem Leben des Einzelmefens und der Gattung, zwifchen dem Menſchen 
und feinem verborgenen Gott gefchaffen wurden. Sie haben von biefer 
Möglichkeit eben fo unmiderrufliche Zeugniſſe Hinterlaffen wie irgend ein 
anderes hiſtoriſches Ereigniß. Doc waren diefe feltfamen Deuter, diefe 
großen geheimnißvollen Hyfterifchen, in deren Nervenbahnen Gegenwart und 
Zukunft im diefer Weife kreiſten umd fich vermifchten, eine Seltenheit und 
darum entdedte man empirische Methoden — oder glaubte, jie zu entdeden —, 
um das ſtets gegenwärtige und bedrohliche Räthſel der Zukunft auf faft 


222 Die Zukunft. 


mechanifchen Wege entziffern zu können. Dean fegmeichelte fi, fo die um= 
bewußte Weisheit der Dinge und Thiere zu befragen. Daher ſtammt die 
Deutung des Bogelfluges, die Weisfagung aus den Eingeweiden der Opfer- 
thiere, aus dem Lauf der Sterne, dem Feuer und Wafler, den Träumen, daher 
ſtammen al die Arten von Wahrfagefunft, die uns die alten Echrift- 
fteller überliefert haben. 

Es hat mich gelodt, feftzuftellen, auf welchen Standpunft die Miffen- 
fchaft von der Zukunft heute flieht. Sie hat nichts mehr von dem Glanz, 
und ber Kühnheit früherer Tage. Sie gehört nicht mehr dem öffentlichen 
und dem religiöfen Xeben der Völker an. Die Gegenwart und die Ber- 
gangenheit enthüllen uns fo viele Wunder, da fie genügen, um unferen 
Durft nad) dem Wunderbaren zu befriedigen. Wir wurden abgelenkt durch 
Das, was ift oder war, und haben fo gut wie ganz darauf verzichtet, Das 
zu befragen, was fein fönnte oder fein wird. Trotzdem: dieſe altehrwärbige 
Wiſſenſchaft wurzelt tief in dem untrüglichen menſchlichen Inftinkt und ift 
von ihm noch nicht aufgegeben. Sie wird allerdings nicht mehr anı hellen 
Tage geübt. Sie hat ſich im die düfterftien Winkel, in die vulgären und 
leichtgläubigen, unwifjendften und verachteteften Kreiſe geflüchtet. Sie benugt 
alberne oder kindliche Mittel; und trogdem bat auch jie eine gewiſſe Ent- 
widelung durchgemacht. Sie vernachläfiigt die meiften Methoden der prime 
tiven Wahrfagefunft und hat dafür andere gefunden, die zum Theil wunder: 
lich, zum Theil lächerlich find, und fie hat fich einige Entbedungen nutzbar 
gemacht, die keineswegs für jie beſtimmt waren. 

Ich habe fie bis in ihre dunkelften Schlupfwinkel verfolgt. Ich wollte 
fie fehen, nicht in den Büchern, fondern in ihrer Wirkſamkeit im wirklichen 
Leben und im Kreis ihrer bejcheidenen Getreuen, die Bertrauen zu ihr haben 
und alltäglich ihren Rath einholen oder ſich von ihr ermuthigen laffer. Ich 
bin mit redlicher Abſicht Hingegangen, ungläubig, aber bereit, zu glauben, 
ohne Voreingenommenheit und vorgefaßtes Lächeln; denn wenn man kein 
Wunder mit blinden Augen zugeben fol, fo ift die lächelnde Blindheit noch 
ſchlimmer. In jedem hartnädig feſtgehaltenen Irrthum birgt fi gewöhnlich 
eine vortrefflihe Wahrheit, die ihrer Geburtitunde harrt. 

Wenige Städte hätten mir ein weitere und fruchtbareres Feld der 
Erfahrung geboten als Paris. Hier ftellte ich alfo meine Beobachtung 
an. Zum Beginn wählte ich den Augenblick, wo ein Vorhaben, deflen Ar 
gang nicht von mir abhing, da3 aber von großer Tragweite für mich ° 
mußte, gerade in der Schwebe war. Ich will nicht auf die Einzelhei. 
diefer Angelegenheit eingehen, die an ſich ganz belanglos ift. ES wird | 
nügen, daß um dieſes Vorhaben viele Ränke gefponnen waren und meh 
mächtige Gegenmwillen fi dem meinen widerfegten. Die Kräfte Hielten e 


Die Zukunft. 223 


ander das Gleichgewicht und nach menſchlicher Logik war e8 unmöglich, vor= 
aufzufehen, wer daß Vebergewicht erlangen würde. Ich Hatte der Zukunft 
alfo fehr beftimmte Fragen vorzulegen. Tas ift eine nothwendige Vor: 
bedingung; denn wenn Biele fich beffagen, fie fagte ihnen nichts, fo Liegt 
Das oft daran, dag fie fie zu einer Zeit befragen, wo fi am Horizont 
ihres Weſens nicht8 zufammenzieht. 

Ic fuchte alfo nach einander die Aftrologen und Chiromanten auf, 
die heruntergelommenen, uns wohlbefannten Sibyllen, die fich einbilden, die 
Zufunft in den Karten zu lefen, im Saffeefag, in der Form, die ein mm 
einem Glas Waſſer aufgelöftes Eiweiß annimmt, und fo weiter. Denn . 
man darf nichts unterlaffen, und wenn der Apparat mandmal wunder= 
lich iſt, ſo kommt es doc vor, daß fih ein Körnchen Wahrheit auch 
unter den toͤllſten Praktiken verbirgt. Ich ſuchte namentlich die berühmteſten 
unter jenen Prophetinnen auf, die unter dem Namen von Somnambulen, 
Hellſeherinnen, Medien ihr Bewußtſein mit dem Bewußtſein und ſelbſt 
einem Theil der Unbewußtheit der ſie Befragenden vertauſchen und, im 
Grunde genommen, die unmittelbaren Erbinnen der alten Zauberinnen ſind. 
Ich fond in dieſer aus dem Gleichgewicht gekommenen Welt viel Schurkerei, 
Heuchelei und grobè Lüge. Doch ich hatte auch die Gelegenheit, gewiſſe ſeltſame 
und unbeſtreitbare Phänomene in der Nähe zu ſtudiren. Sie genügen nicht, 
um zu entſcheiden, ob es dem Menſchen gegeben iſt, den Schleier der 
Illuſionen zu lüften, die ihm die Zukunft verbergen, aber ſie werfen doch 
ein ziemlich ſeltſames Licht auf die Vorgänge an jenem Ort, den wir für 
den unantaſtbaren halten; ich meine das Allerheiligſte des verſchütteten Tempels, 
in dem unſere innigſten Gedanken und die unbekannten Kräfte, aus denen 
fie erwachlen, ohne unfer Willen fommen und gehen und taftend den ge- 
heimnißvollen Weg fuchen, der zu den fünftigen Ereigniflen führt. 

Es würde zu weit führen, wenn ich Alles erzählen wollte, was id) 
bei diefen Prophetinnen und Helljeherinnen erlebte. Ich will nur kurz von 
einem der fchlagenditen Experimente diefer Art berichten. Es fchliegt übrigens 
die Mehrzahl der übrigen ein und die Pfychologie ift bei allen ungefähr gleich. 

Die Soninambule, die ich; meine, iſt eine der berühmteften in Paris. 
Sie behauptet, in ihrem hypnotiſchen Zuſtande den Geiſt eines unbelannten 
feinen Mädchens, das fie Julia nennt, zu infarniren. Sch mußte mich fo 
an einen Tifch fegen, daß er zwiſchen und war, und fie empfahl mir, Julia 
zu duzen und fanft mit ihr zu veden, wie mit einem Kinde von fteben oder 
acht Jahren. Dann verzerrten fich ihre Züge, ihre Augen und Hände, .ihr 
ganzer Störper einige Sekunden lang in unangenehmer Weiſe; ihre Haare 
löften ih auf und ihr Gejichtsausdrud war völlig verändert. Er wurde 
naid und kindlich und aus dem großen Körper diefer reifen Frau drang 


324 Die Zukunft. 


eine jcharfe, Hare Kinderflimme, die mich etwas flotternd fragte: „Was 
willt Du? Haft Du Verdruß? Kommft Du Deinetwegen oder für einen 
Anderen, um mic zu fehen?“ „Für mid." „Schön; wilfi Du mir 
belfen? Führe mich in Gedanken an den Ort, wo Dein Berdruß ift.“ 
Ich Tonzentrirte meine Gedanken auf den Plan, der mir am Herzen lag, 
und auf die verfchiedenen handelnden Berjonen dieſes Keinen, noch umans- 
gefpielten Dramas. Allmählih drang fie, nad einigen Hin- und Hertaften, 
und ohne daß ich jie mit einem Wort ober einer Geſte unterftügt hätte, 
wirklich in mein Denken ein, las darin wie in einem von dünnen Schleiern 
bededten Buch, bezeichnete genau den Drt der Handlung, erlannte die Haupt⸗ 
perjonen und zeichnete fie ſummariſch mit Heinen, edigen, kindlichen Strichen, 
die aber wunberlih richtig und zutreffend waren. „Sehr richtig, Julia“, 
fagte ich in diefem Augenblid; „aber das Alles weiß ich fchon; nun möchte 
ich erfahren, was daraus entftehen, was noch kommen wird.“ „Was noch 
fommen wird? ... Sie wollen wiffen, was nod kommen wird; aber Das 
ift ehr fchwer zu fagen . . .* „Aber wie wird die Sache fchlieglich enden? 
Werde ich gewinnen?“ „Ya, ja, ich fehe e8; fürchte Dich nicht, ich werde 
Dir helfen; Du ſollſt zufrieden fein... .“ „Aber-der Verbruß, von dem 
Du mir erzählit; der Dann, der mir Widerftand leiſtet, und der ambere, 
der mir Böfes thun will...“ „Nein, nein, er will Dir nichts thun; es 
ift wegen einer anderen Perſon ... Ich fehe nicht, warum ... Er haft 
fe... O ja, er haft jie, er haft fie! ... Und gerade, weil Du fie 
liebft, will er nit, dag Du für fie thuft, was Du thun möchtet... .“ 

(So war e8 au!) „Aber fchlieglich” (ich beftand auf meiner Frage) „wird 
er bis and Ende_gehen und nicht nachgeben?" „OD, Das färchte nicht ... 

Ich jede, er ift krank, er wird nicht mehr lange leben." „Du irrft, Julia; 

e3 geht ihm jehr gut; ich habe ihn vorgeftern geſehen.“ „Nein, nein, Das 
macht nichts; er ift franf .. Dan kann e8 nicht fehen, aber er ift fehr 

franf ... Er wird bald Sterben..." „Aber wann denn und wie?" „Es 

it Blut auf ihm, un ihn, überall..." „Blut? Etwa ein Duell?“ (Ich 

hatte einen Augenblid daran gedacht, eine Gelegenheit zu fuchen, um mich 

nit meinem Gegner zu fchlagen.) „Ein Unfall? Ein Morb? Eine Rache?“ 

(Er war ein ungerechter, ffrupellofer Menſch, der vielen Leuten viel Böfes 

zugefügt hatte). „Nein, nein! Frage mich nicht weiter, ich bin fehr müde... 

Laß mich gehen..." „Nicht, ehe ich weiß ...“ „Nein, ich kann nicht 

mehr jagen... ch bin zu müde... Laß mich gehen... Sei gut, 

ih will Dir auch helfen... .“ 

Der felbe Krampf, der den Körper im Anfang verzerrt hatte, trat 
abermals ein und die Kinderftinmme ſchwieg; die Gefichtdzüge ber Vierzig- 
jährigen traten wieder auf das Geſicht der Frau, die aus einem langen 








Die Zufunft. . 225 
Schlaf zu erwachen ſchien. Brauche ich hinzuzuſetzen, daß wir uns vor 
dieſer Begegnung nie geſehen hatten und daß wir uns eben ſo wenig kannten, 
wie wenn wir auf zwei verſchiedenen Planeten geboren worden wären? 

Aehnlich, wenn auch mit weniger charalteriſtiſchen und‘ zutreffenden. 
Einzelheiten, waren im Ganzen die Reſultate bei den Hellſeherinnen, bie 
wirklich eingefchlafen waren. Um eine Urt Gegenbeweis zu führen, fchidte 
ich zu der Frau, die „Julia“ zu ihrer Dolmeticherin erwählt hatte, zwei 
Verfonen, deren Berftand und Nechtichaffenheit mir befannt war. Sie 
hatten der Zulunft, ganz wie ich, eine wichtige und präzife Frage zu ftellen, 
die nur ein befondere8 Glück oder Schidjal beantworten fonnte. Der Eine be- 
fragte fie über bie Krankheit eines Freundes; Julia fagte feinen baldigen Tod 
voraus. Ihre Weisfagung wurbe durch bie Thatfachen beftätigt, obwohl in dem 
Augenblid, wo fie ausgeſprochen wurde, die Heilung ungleich wahrfcheinlicher 
war als der Tod. Der Andere fragte fie nach dem Ausgang eines Pro: 
zeſſes: fie gab ihm eine ziemlich ausweichende Antwort; dagegen bezeichnete 
fie ihm ohne Aufforderung die Stelle, wo ein für den Fragenden fehr werth: 
voller Gegenftand zu finden fei, der oft vergebens gejucht worben war und 
an den der Frager felbft nicht mehr dachte. Was mich betraf, fo ging Julias 
Prophezeifung zum Theil in Erfüllung; ich trug in der Hauptfache zwar 
feinen Sieg bavon, aber die Angelegenheit wurde doch auf eine befriedigende 
Weiſe geregelt. Der Tod des Gegners ift noch nicht eingetreten und ich 
erlafje der Zukunft gern das Verjprechen, daß jie mir durch den unfchuldigen 
Mund jenes Kindes aus einer unbefannten Welt gab. 

Es iſt fehr erftaunlih, dag man fo in die letzte Zufluchtftätte eines 
Weſens eindringen und befler als es felbft Gedanken und Gefühle darin 
lefen kann, die manchmal vergeffen oder verworfen, aber ſtets lebenbig oder 
die noch ungeboren find. Es ift fürwahr beängftigend, daß ein Fremder in 
unferem eigenen Herzen weiter kommt als wir ſelbſt. Dergleichen wirft ein 
feltfames Licht auf die Natur unferes Innenlebens. Die Vorſicht, die ung 
hindert, au8 uns herauszugeben, nütt nicht; unfer Bewußtfein ift nicht ein= 
gedämmt; es flieht, es gehört uns wicht mehr an, und wenn es auch befon- 
derer Umſtände bedarf, damit ein Anderer dahin vordringen und Beſitz davon 
ergreifen Tann, fo ijt doch gewiß, daß unfer „inneres Forum“, wie man es 
mit jener tiefen Intuition genannt hat, die oft in der Etymologie der Wörter 
liegt, wirklich ein Forum — Das Heißt: ein geiftiger Marktplag — ift, wo 
bie Mehrzahl Derer, die Gefchäfte haben, nach ihrem Belieben kommt und 
gebt, ihre Blicke herumfchtweifen läßt und fi die Wahrheiten auf eine ganz 
andere und viel freiere Weife ausfucht, als wir bis auf diefen Tag je an- 
nehmen zu dürfen geglaubt haben.’ 

Aber laſſen wir diefen Gegenftand, dem unfer Studium nit gilt. 


226 Die Zukunft. 


Was ich in Julias Weisfagungen erklären wollte, ift der Theil de8 Unbe— 
kannten, ber.mir felbft fremd war. Ging fie über Das hinaus, was id 
wußte? Ich glaube: Nein. Der glüdliche Ausgang der Angelegenheit, den fie 
mir weisfagte, war ungefähr der, den ich vorherſah und den mein Juſtinkt 
in feinem egoiftifhen und wneingeftandenen Theile Iebhafter herbeiwüunſchte 
als den vollftändigen Triumph, den zu erftreben und zu erhoffen mir ein 
anderes, edleres Gefühl zur Pflicht machte, den ich jedoch im Grunde als 
unmöglich erfannte. ALS fie mir den Tod des Gegners verkündete, offen: 
barte fie nur ein geheimes Verlangen des felben Inſtinktes, einen jener feigen 
und ſchändlichen Wünfche, die wir vor uns felbjt verbergen umd die fih nicht 
bis in unfer Denken binaufwagen. Eine wirkliche Wahrfagelunft gäbe es 
nur dann, wenn diefer Tod wider alle8 Erwarten, wider alle Wahrfchein- 
lichkeit bald einträte. Aber ſelbſt wenn er bald und unverhofft einträte, fo 
wäre es doc nicht die Pythia geweien, die in die Zukunft eingedrungen: tft, 
fondern ich, mein Inſtinkt, mein unbewußtes Weſen hätte ein Ereigniß vor- 
hergefehen, an das es geknüpft war. Sie hätte in der Zeit gelefen, nicht 
unmittelbar und wie in einem Buche, in dem Alles zu leſen fteht, was ge 
ſchehen wird, fondern dur da8 Medium meiner PBerfon, in meiner befon- 
deren Intuition hätte fie gelefen und weiter nicht gethan als überfegt, was 
meine Unbewußtheit meinem Denken nicht zu fagen vermochte. 

Das Selbe trifft, denke ich mir, für die beiden anderen Perfonen zu, 
die ihren Rath einholten. Der Eine, dem fie den Tod feines Freundes weis⸗ 
fagte, hatte, troß der Beruhigung, die feiner Freundichaft die Vernunft ein= 
fprach, wahrjcheinlich die innere Ueberzeugung, daß der Kranke fterben werbe. 
Über diefe Ueberzeugung, fei fie natürlich oder hellfeherifch, war von ihm 
energifch niedergelämpft worben und die Somnambule entdedte fie nun in- 
mitten der holden Hoffnungen, bie fie zu betrügen trachteten. Der Andere 
fand unverhofft einen verlorenen Gegenftanb wieder; aber es ift ſchwer, den 
Geifteszuftand eines anderen Menſchen genau genug zu kennen, um entfcheiden zu 
können, ob hier ein Zweites Gejicht oder einfach eine Rüderinnerung vorlag. 
Wußte er, der den Gegenftand verloren hatte, wirklich nichtS mehr davon, 
wo und unter welchen Umftänden er ihn verloren hatte? Er behauptet: Ja; 
er habe nie bie geringfte Ahnung gehabt, fei im Gegentheil überzeugt gewefen, 
daf der Gegenftand nicht verloren, fondern geftohlen war, und habe 
einen feiner Dienftboten in Verdacht gehabt. Aber es ift möglich, daß, wähı 
fein Verftand, fein waches Ich nicht darauf achtete, der unbewußte und gie 
fam fchlafende Theil feines Ich den Ort, wo der Gegenftand Hingelegt wı 
fehr wohl bemerft und fih an ihn erinnert hat. Durch ein nicht m’ 
überrafchendes Wunder, das aber einer anderen Thatjachenreihe ange 
hätte die Sommambule dann die latente, fait animalifche Erinnerung wi 


Die Zukunft. 227 


gefunden, aufgewedt und ans Licht des Menfchlichen geführt, zu dem fie 
vergebens emporzudringen getrachtet Hatte. 

Sollte Das für alle Prophezeiungen gelten? Die Weisfagungen der 
großen Propheten, der Sibylien, Pythien und Zauberinnen: wären fie viel: 
feicht nicht® gewejen als ein Widerfpiegeln, ein Ueberjegen und Hinaufheben 
in die Verftandeswelt jener inftinktiven Helljihtigkeit der Einzelweſen und 
Völker, die ihren Sprüchen lauſchten? Möge Jeder die Antwort ober Hypo⸗ 
thefe wählen, die ihm feine eigene Erfahrung zuflüftert. Ich habe die meine 
mit der Einfalt und Aufrichtigfeit gegeben, die eine Frage der Natur erheifcht. 
Trotzdem wiederhole ich: es ift faft unglaublich, daß wir nichts von der Zu- 
kunft willen. Sch denke mir, daß wir ihr ähnlich gegenüberftchen wie einer 
fängft vergeffenen Bergangenheit. Wir könnten ung ihrer erinnern. Cinige 
Thatfachen fprechen für diefe Annahme, die wir nicht ausfchliegen dürfen. 
Es würde fih darum Handeln, den Weg zu biefem Gebächtniß, das ung 
vorausgeht, zu entdeden oder wiederzufinden. 

Sch verftehe, daß wir nicht befähigt find, die Ummälzungen der Elemente, 
das Geſchick der Planeten, der Erde, der Reiche, der Bölfer und Raſſen 
vorauszuſehen. Das berührt ung nicht unmittelbar und wir Tennen e8 in 
der Vergangenheit nur durch die Kunſt der Gefchichtforfchung. Aber was 
ung unmittelbar angeht, was uns erreichbar ift und ſich in unferer Meisten 
Lebensfphäre abrollen muß, bie Ausfcheidung unſeres geiftigen Organismus, 
die und in der Zeit umgiebt, wie die Mufchel oder das Eocon die Mollusle 
oder Seidenraupe im Raume umgiebt, — Dies und alle äußeren Ereigniffe, 
die darauf Bezug haben, find wahrfcheinlich in diefe Sphäre eingefchrieben. 
Auf jeden Fal wäre Das viel natürlicher, als es verftändlich wäre, wenn 
es nicht fo iſt. Es handelt fih Hier um einen Kampf von Wirklichfeiten 
mit einer Illuſion und nichts verbietet ung die Annahme, daß hier, wie überall, 
die Wirklichkeiten ſchließlich der Illuſion Herr werden. Die Wirklichkeiten: 
Das ift, was und begegnen wird und in der Gefchichte, die unfere überragt, 
in der unbeweglichen, übermenjchlichen Geſchichte der Welt fchon begegnet ift. 
Die Illuſion: Das ift der undurchfichtige Schleier aus jenen vergänglichen 
Fäden, die wir Geftern, Heute und Morgen nennen und über diefe Wirklich: 
feiten weben. Aber es ift nicht unumgänglich nöthig, daß unfer Wefen 
ewig im Bann diefer Illuſion bleibt. Man kann ji) fogar fragen, ob 
unfere außergewöhnliche Ungefchidlichfeit im Erkennen eines fo einfachen, fo 
unbeftreitbaren, volllommenen und nothwendigen Dinges, wie die Zukunft 
eins ift, für den Bewohner eines anderen Sterns, der uns befuchen fäme, 
nicht ein Anlaß zur größten Berwunderung wäre... 

Die Zukunft ift, wie Alles, was befteht, wahrjcheinlich Logifcher als die Logik 
unferer Einbildungsfraft; und all unfer Zaudern, all unfere Ungemwißheiten find 


228 j ’ Die Zukunft. 


- mit in ihre Vorausſicht einbegriffen. Und wir wollen wicht etwa glauben, daß ber 
&ang der Ereigniffe völlig umgeworfen würde, wenn wir ihn im Boraus Tännten. 
Zunächſt würden die Zulunft oder einen Theil von ihr nur Die kennen, die fich 
die Mühe gäben, fie zu erforfchen, wie die Vergangenheit oder einen Theil 
ihrer eigenen Gegenwart nur Die kennen, die den Muth und Berfland gehabt 
haben, fie zu befragen. Wir würden uns den Lehren diefer neuen Wiſſen⸗ 
ſchaft eben fo rajch anbequemen, wie wir und denen der Gefchichte angepaßt 
haben. Wir würden alsbald zwifchen den Uebeln umterfcheiben, denen wir uns 
entziehen könnten, und denen, die unvermeidlich find. Die Weifeften würben 
die Gefammtfumme diefer Uebel für fi vermindern und die Anderen würden 
ihnen entgegengehen, wie fie heute vielen gewiflen Unglüdsfällen entgegen⸗ 
gehen, die ſich leicht vorausfagen laffen. Die Summe unferer Verdrießlich⸗ 
feiten würde etwas geringer werden, aber weniger, als mir hoffen, denn 
unfere Vernunft vermag bereitS einen Theil unferer Zukunft vorauszuſehen, 
wenn auch nicht mit der materiellen Sinnfälligleit, von ber wir träumen, 
fo doch mit einer oft hinreichenden moralifchen Sicherheit; und wir fehen doch, 
daß die meiften Menſchen aus diefer fo leichten Vorausſicht keinen Nutzen zu 
ziehen wiffen. Sie würden ben Rathichlägen der Zukunft ihr Ohr verfchließen, 
wie fie die Warnungen der Vergangenheit hören, ohne fie zu befolgen. 
Paris, Maurice Maeterlind. . 





Waldgeſicht. 


Ve dem weiten, weiten Walde tobte Gewitterzom. Rauſchend brachen die 
N entfefielten Wafler aus den ſchwarzen, ſchweren Wolkenſäcken in die 
MWipfel und Kronen bernieder, als wollten fie fie zerdrüden, zerfchmettern mit 
ihrer Wucht; und wenn droben über der bangenden Welt der Gemittertgrann 
brüllend jeine Flammenpeitſche ſchwang, dann ftanden fie alle, die Bäume, athen 
los, wie zu heldenhaftem Dulden gewillt, wie ſchweigend bereit, zu Sterben. 
Da kams unter den flimmernden, mildigen Schleiern der ftürzend: 
Regengüffe einhergeichlüpft, gehüpft, ſchattenhaft, menfchenähnlich: ein altes, ve: 
hutzeltes Weibchen, den Rod über den Kopf gejchlagen, dab ihr Eulengefichtdie 
ſchier verſchwand; erbarmen hätt Einen mögen! Aber ba brunten bie bürre 
nadten Beine jprangen fo Hurtig und federnd über die jchlüpfrigen Pfabe dahi 
über bie Enorrigen Baummwurzeln, daB e8 zum Staunen war. Hin und wie 


Waldgeficht. 229 


reckte fie fchnobernd die ſpitze Naſe himmelan, Iugte ſchlau durch die Zweige in 
die Wolkennacht da oben, nidte und mederte: „Nur zu, Better, nur zu!“ 
Schüttelte vor Lachen ihre Lumpen und ſprang in Riefenfägen über die Wafler- 
laden wie ein muthwillig Bidlein, jobald ber rothe Hahn des Himmels feine 
breiten ?ylammenfittiche über ben ftahldunflen Wolfen jchüttelte und die Lüfte 
von einem praſſelnden Boltern erbebten, als jtürzte da oben hinter Wolfen 
bergen eine reiche Stadt mit Häufern, Thürmen, Kirchen und Paläjten um ihrer 
Sünden willen in Trümmer und Berwüſtung. Himmelangſt Tonute Einem 
werden! Über die Alte? Scheint ja mit dein ſchwarzen Gewitter auf Du und 
Zu! Da... verihwunden war fie in Regenfcleiern und Waldſchatten! 

Ganz weltvergeſſen inmitten be3 großen Waldes lag ein verwittertes 
Blodhaus, tot, verſchloſſen. Wer e8 gebaut: fein Menf weiß es, noch, wem 
e3 gehört, wozu e3 gedient; ob fürſtlichen Jägern ein Unterftand, ob fchuldiger, 
weltflüchtiger Xiebe eine verjchtwiegene Hut? Die Fenſter waren längit erblindet, 
von Luft und Regen zerſetzt jchillerte das Glas in allen Negenbogenfarben, in 
der Mitte das niedere Thürchen ſaß mie eingewachſen in feinen Fugen, das 
Schloß daran war mit braumem, körnigem Roſt dicht bededt. Uber vor der 
Thür ftredte fidd ein breit ausladendes Ueberdach, an den beiden Eden vorn von 
zwei morſchen Holzfäulen gejtüßt, bededt mit bunten, zottigen Moospolitern, 
der alten Eiche entgegen, die um bes verfchollenen Häuschens Geheimniß mußte; 
aber die ſchwieg. Die Menſchen der nahen Stadt, wenn fie in Waldes mitten 
von Unwetter überrajcht wurden, flüchteten gern in die Hut des breitfchattenden 
Vordaches. Nach dem Häuschen jelbjt und jeiner Vergangenheit zu fragen, hatte 
die Neugier längit aufgegeben; nur Beeren ſuchende Kinder träumten fich um 
die Abendſtunde dort gern Märchen und Wunder, flüjterten, wenn fie vorbei— 
ſtrichen; fee Knaben drüdten dad Näschen an den blinden Scheiben breit, rannten 
dann, von plößlichem Grauen gepadt, davon, logen den Spielkameraden Wunder⸗ 
Dinge. vor, die fie da drinnen gejehen hätten, und glaubten fie ſelbſt. Sonſt 
aber war und blieb das alte Blockhaus eben ein Leichnam; genug: unter feinem 
Dache war gut fein, wenn ringsum Regen in die Wipfel rauſchte. 

Auch heute hatten fich zwei verirrte Menjchenkinder dort gefunden, fremd 
einander. Er hatte lächelnd an feinen Hut gefaßt und zu der Unbekannten ge- 
fagt, — wa3 man jo jagt: „Ein ſchönes Wetterden, nicht wahr?" Sie Hatte 
leife nur den Kopf geneigt, höflich gelächelt und gejchiviegen. Nun ftand er 
vorn, ganz vorn, und fchaute mit Luft und Grauen in den Aufrubr; fie. aber 
ſaß hinten im Schatten, auf dem Bänkchen aus Birkenholz neben der Thür, 
batte die kleinen Füße über einander gelegt, das Stöpfchen mit dem breiten 
Sommerhut tief geneigt und bot in ihrer Negunglofigfeit das Bild grenzenlos 
ergebener Geduld; aber bei jedem Inatternden Schlage, wenn ihm in aufathmender 
Kraft die Bruft fih bob, fuhr fie leife zufammen, fchaute mit großen, bangen 
Kinderaugen in das Wetter und warf einen ſcheuen Blid auf den fremden 
Mann, der feine Luft an den Schredniffen zu haben jchien. So harrten bie 
Zwei, ohne ein Wort zu wechjeln, lange. Dann lich die Leidenſchaft der Wetter- 
gewalten nach, der Regen nur ftrömte unvermindert; doch wars ein ftetes, reiches 
Strömen, nidt mehr das ungeftüme Niederpeitfchen, das praſſelnde Nieder- 
ſchleudern unerhörter Waſſermaſſen, al3 ob da droben Titanenarme einen Riefen- 


17 





230 Die Zunft. 





eimer nad dem anderen hernähmen und fluchend über der Welt umftürzten. 
Schon ſuchte des jungen Mannes Blid den Himmel: er war no dunfelgren. 
Yun muß ich aber Eins verrathen: Die Zwei, die fih da unter dem 
Schutzdach getroffen Hatten, warennichtallein. Sie wußten nichts davon, daß drinnen 
im Blodhaus die Alte lauerte. Wißt Ihr? Die Alte, die wir vorhin durch 
den Wald fchlüpfen jahen. Wie fie hineingefommen und wann? Ich weiß es 
nidt. Was fie drinnen zu ſchaffen hatie? Fragt fie jelbit! Wenn man genau 
hingudte, fo jah man über den Haupte des Mädchens das verwitterte Fenſter 
offen und das alte wunderliche Alraunengeficht ftarrte heraus. Das heißt... . 
Kein! Wenn man ganz genau hinjah, war Alles wie immer: die blöden, blinden 
Scheiben des feitgefchlofjenen Fenſters fchillerten blau und grün. Aber doch 
ſchaute fie Heraus, und zwar mit einem eigenen Blid und Yusdrud. Ihr großes, 
gerwichtiges Zigeunerantlig, dem filberweiße Haarſträhnen fi voll um eine ſchöne 
Stirn fchmiegten, trug den Ausdruck ftarren Staunens, angitvoller, entfeßlicher 
Spannung und die übermächtigen, geheimnißvollen Augen ſprangen fiebenwild 
bin und her, von ihm zu ihr, von ihr zu ihm. Was ſah fie nur an den be- 
icheidenen Menjchenkindern, die böje Trude? Es war nämlid ein eigen Ding 
um diefe Augen. Das waren nicht Augen irdijcher Art: fie jahen die Dinge 
diefer Welt licht und fcharf, aber dazu Alles, was Hinter den Dingen lag, ihr 
Woher und Wohin. Das merkte man ihnen an. Sie jahen Gedanken in der 
Menſchenbruſt verſchwiegener Tiefe und hinter den Gedanken die That, ganze 
Geſchlechter von Thaten; und Hinter Gedanken und Thaten ber Thaten und 
Gedanken Segen und Fluch; fie fahen, wenn fie als Nachtmahrt in die bumpfen 
Scdlaffammern jchlüpfte und fi über die ſchwer athmenden Menſchen beugte, 
tief im Hirn und Bufen der Gequälten die Träume, die fi) ballten aus Schuld 
und Reue; fie ſahens, wenn in ſchmutzigen Nebelgewanben eine ihrer häßlichen 
Muhmen vom trüben Horizont heranſchritt, eine Seuche, hinter ihr her eitte 
Scattenprozejlion von Särgen und Leidtragenden; vorn Die in prächtigen Leichen: 
wagen, beren ſchwarz verhüllte Roſſe fchnaubend jchwarze Federbüſche auf den 
Köpfen ſchüttelten und zierlich die Hufe hoben und feßten nach den Klängen pomp- 
bafter Trauermufil; dahinten bie Neihen Derer, bie einen ſchmuckloſen Tannen 
ſchrein auf müden Schultern eilig zum Kirchhof fchleppten, wie man einen Raub birgt. 
Und was fahen fie hier? Ein geheimes Leben, Werden und Wollen: 
wie einen ſchimmernden Sranz, wie die Feuer von Sankt Elms ſahen Pie 
Wunderaugen Etwas um ber Beiden Häupter geijtern; weiter und lichter wurden 
die Aureolen, Funken fprangen daraus; und jeßt, jegt dehnten fie fi, reckten 
fie fich, die Lichtkränze, baufchten fih auf, durcdhhrachen die Rundungen, ftrebten 
lichtathmend, ſchwellend einander entgegen, Funken flogen in tnifterndem Aus- 
tauſch aus des einen Lebens Bannfreis in den des fremden. Der Jüngling 
riß den Hut vom Kopfe, trodnete fi) den Schweiß von der Stirn; ein unruhiges, 
grund- und finnlojes Verlangen quälte ihn, die Fremde anzufchauen, — nur 
anzufchauen? Es fochte in feinen Adern, braufte in feinen Schläfen. Er ging 
mit aufgeregten Schritten ab und zu und murmelte, um nur Etwas zu fagen, 
halb zu ihr gewandt, und erjchraf vor jeiner fremden, heiferen Stimme: „Lang: 
weilige Geſchichte, gelt?" Sie antwortete nicht; ihr Geficht war tiefer gejenft 
verſchwand ganz im Schatten des breiten Hutes; fo fah er nicht, daß fie, totr 


Berbgeficht. 231 


bleich, leidend, die Augen geichloffen hatte, die Lippen zujammenpreßte, wie 
um einen Schrei zu eritiden. Ein unerflärliches Schwäcjegefühl, Angftgefühl 
überwältigte fie; ihr Herz pochte, als wollte es ihre Bruft zerichlagen. „Was 
tft mir nur? Nur nicht Trank werden! Hier! Wo der Fremde mir helfen 
müßte!" Inzwiſchen ward es dämmriger. Der Negen raufchte fort. Nun aber 
fah die Trud in dem Dämmergrau mit entjegten Augen fi Geftalter formen: 
fah, mie da3 Weib, das da in den Schutten geduckt ſaß, zag und ſcheu, fah, 
wie das jelbe Weib in ſelbſtvergeſſener Wonne zwei volle nadte Arme um den Hals 
jenes Mannes dort ſchlang, wie Mund an Mund, Bruft an Bujen fi preßten, 
ange, lange, wie Dann und Weib Seele in Seele tranfen! Dann, — bann 
wankte, verihwamm dies Bild der Bereinigung; dem Dämmer entleimte ein 
rofiges Kinbergeficht, da8 Kind, gezeugt von diefem Dann, von diefen jungen 
Weibe geboren; es wechfelte, wuchs, warb ein troßig-Ichöner Knabenkopf, warf 
bald aus einer gebietenden, lichten Jünglingsſtirn mit herriſchem Ruck eine 
üppige Locke zurüd... Die Alte zitterte, ihre Lippen lallten: „Halt ein!.. .“ 
Uber das Haupt erhob fich Löniglicher, in feinen Augen flammten alle Gnaden 
des Himmels, alles Erfühnen der Menſchenart, alle Wahrheit und aller Bekenner⸗ 
muth und alle Liebe. Tauſenden wollte er Erldjung bringen, Troft und Frieden! 
Das Gefiht der Alten ftierte weiß und verzerrt wie ein Haupt, das ein Henker 
vom blutigen Blode hebt und der ſchaudernden Menge zeigt, mit glafigen Augen 
auf den gewaltigen Heilandskopf. Das jcheue Mädchen athmete ſchwer, als 
wolle e3 fterben, ber Jüngling lehnte fi) taumelnd an einen der Holzpfeiler und 
fchalt ſich ſelbſt keuchend: Gefpenfterfcheuer Narr Du! Und Fäden, Fäden werben- 
der Geſchicke fpannen fich herüber und hinüber, von ihm zu ihr, von ihr zu ihm. 
Die Alte ſah fie flimmern und phosphorifch leuchten, in Funken Fnijtern. 

Da, mit einem Rud, ließ der Regen nad. Noch einige ſchwere Tropfen 
hie und da; die Bäume fchüttelten ji) und athmeten auf; duftende Reinheit 
wehte fühl herein. Einen fcheuen Blick halb über die Schulter werfend, linkiſch 
den Hut lüftend, ftürgte der Syüngling davon. Das Geficht der Alten ftrahlte 
in breitem Grinfen. Das Mädchen wartete noch ein Weilchen; fein Schritt 
war bald verklungen. Dann bob ein tiefer, tiefer Seufzer ihren unjchuldigen 
Bufen, als athme ſie fich die Laft eines ganzen Lebensgeſchickes, Mariengeſchickes 
von der Seele. Sie faßte fih an die Stirn, fchüttelte lächelnd den Kopf: 
Was wars nur? Was? Dann fehürzte fie ihre Nöde forgjam, ergriff den 
Feldblumenſtrauß und fchlug fich linkswärts in den Wald. Rechts war er gegangen. 

Hinter ihr drein Klang medernbes Lachen: Wieder nichts! Wieder nichts! 
Alles bleibt hübſch beim Alten! Die große Mutter ift doch gar zu bumm umd 
'ne ſchlechte Wirthin! Schlaft hübſch weiter, Menſchenwürmer, meine Naben 
fliegen no lange, lange! Ui Segerl: Das muß ich doch heute nachts den 
Schweitern am Kreuzweg erzählen! 


Waidmannsluſt. Eberhard König. 


ns 





17* 


232 Die Zukunft. 


Bilderbücher. 


Io "einge möchte ich zwei neue Bücher von Schulge-Naumburg nenuen 
\ — Kulturarbeiten, Band I, Hausbau (Kunftwartverlgg, Münden) 
und Die Kultur des weiblihen Körper al3 Grumdlage der Frauenfleibung 
(Diederichs, Leipzig) —, obwohl biefer Name in unferer Zeit nicht ſchmeichel⸗ 
haft klingt. Es ift für den Charakter unferer Kultur fehr bezeichnend, welchen 
Sinn das Wort für uns angenommen hat: Bücher, mit denen man Heine 
Kinder unterhält, mit deren Hilfe man ihnen vielleicht auch allerlei Ideen 
und Borftellungen beibringt, denen aber ber Begriff des Kindifchen, Spiele 
riſchen feſt anhaftet. Ein Theil diefer Geringichägung geht fogar auf bie 
wifjenfchaftlichen Werke über, die mit Abbildungen „verfehen“ find. Ober 
wenn nicht auf das ganze Werk, fo werden doch die Bilder in den weitaus 
meiften Fällen als eine unterhaltende Beigabe, al3 eine Art Efeldbrüde des 
Gedankens betrachtet. Die Thatfache, daß diefe „Beigabe“ für gewifie Diaterien 
vollkommen unentbehrlich ift, je, da8 zugeftandene Prinzip, daß „Anfchauung 
die Grundlage aller Erkenntniß ſei“, ändert daran nichts. Den eigentlichen 
Wiffensgehalt de8 Buches fucht man im Wort. Das ift natürlich und felbfi- 
verftänblich, wenn es ſich um Gebiete bes Denkens handelt, die ganz und 
gar im Bereich des Sprachdenfens Tiegen, fehr merkwürdig aber auf dem 
Gebiet der Realwiffenfchaften, die den überwiegend größten Theil ihrer Er⸗ 
fahrungthatjachen auf dem Wege des Anfhauungvermögens erhalten. Warum, 
zum Beifpiel, halten wir die Wortbefchreibung eines Anatomiebuches: „Der 
Körper beftcht aus diefen und jenen Theilen, feine Muskeln und Sehnen 
fegen hier und dort an, haben diefen und jenen Verlauf, die eine oder andere 
Wirkung“ für Webermittelung eines Wiſſens, die ent|prechende Zeichnung 
daneben aber für Beigabe, auf die fich die Wortbefchreibung zwar beziehen 
kann, die aber für fich allein bedeutunglos bliebe? Knochen, Muskeln, Schnn, | 
Gefäße u. f. w. find in der Zeichnung durch ihr Ausfehen deutlich getrennt, che | 
diefe Trennung durch das Wort angezeigt wird; über räumliche Lage, Form, Fade 
und Geſtaltung der Oberfläche macht das Bild Angaben, gegen bie gehalten 
die Bezeichnungen durch das Wort fchattenhafte Wine, nicht eindeutige 
Beltimmungen ſind; felbft für die zeitlich fich vollziehende Entwidelung oder 
Wirkung einzelner Organe hat die bildliche Darftellung Ausdrudsmögl : 
keiten. Die dem Wort allein zuftehende Namengebung ift fein wefentlid | 
Beltandtheil der Erkenntniß, fondern ein Hilfsmittel der Verſtändigung, : 
beim bildlihen Ausdrud völlig gegenftandlo8 wird. Wenn man eine D; 
ftellung durch Worte als beſonders vorzüglich bezeichnen will, fo nermt n 
fie „anſchaulich“. Iſt Das die Abbildung nicht noch viel mehr? 

Daran, dag der Thatfacheninhalt der Abbildung ein geringerer ' 








Bilderbücher. 233 


als der der Wortbefchreibung, kann der Unterfchied in ber Werthſchätzung 
Beider alfo nicht liegen. Und doch ift er uns fo felbftverfländlih, daß wir 
faum noch nad Urſache und Berechtigung fragen. Man veritehe mich reiht: 
e3 giebt ja Fälle genug, wo wir die „Abbildung“ über ben „Terxt“ eines 
illuſtrirten Wertes ftellen, befonders, wenn ber Tert recht fchlecht iſt. Meift 
meſſen wir dann aber dem Bild einen befonderen „Lünftlerifchen“ Werth bei, 
befien Bedeutung wir als eine fehr ftrittige fennen, von dem wir nur zu 
willen vermeinen, daß er nicht in der Uebermitielung von Kenntniflen be- 
ftehen darf. Für mich aber handelt es fich gerade um die Frage, inwieweit 
die zu einem Werke wiflenfchaftlichen Charakters gehörige Jlluftration parallel 
dem Wort, aber unabhängig von ihm, ein Wiffen und Denken zu übermitteln 
vermag. Und bei diefer Yrage eben treffe ich auf die allgemeine Annahme, 
daß da8 Denken erft da beginne, wo fi der Inhalt der Sinneswahruehmung 
in Worte umfegt, daß folglich eine Vermittelung des Denkens auch nur 
durh Worte vor fich gehen könne. Macher wir und an bem vorhin ge- 
wählten Beifpiel tar, worauf diefe Annahme beruft. Wenn man flatt der 
Abbildung eines anatomischen Werkes einem wirklichen anatomifchen Präparat 
gegenüberfteht, fo befigt man zweifello8 deſſen Anfchauung in viel vollfom- 
menerem Maße, als je eine Abbildung fie zu vermitteln vermag. Troßdem 
wird das befchreibende Wort, fei e8 nun gefprocdhen, gedrudt oder nur gedacht, 
diefe Anſchauung erft „anfchaulich“ machen, indem es zunäcft die Geſammt⸗ 
erfcheinung in Theile zerlegt, einzeln benennt, diefe wieder in Theile und jo 
fort, dann diefe Theile wieder zu zweien oder mehreren zuſammenordnet und 
fo fchlieglich ein ſyſtematiſch aufgebautes, im ſich gegliedertes Bild ſtatt des 
einfachen Spiegelbilde8 auf der Netzhaut entſtehen läßt. Zugleich fegen die 
dabei nothiwendig angewandten Gattungbezeichnungen da8 Objekt und feine 
Theile in Zufammenhang mit anderen bereit3 vorhandenen Vorftellungtom- 
plexen. Wenn alfo der Wirklichkeit gegenüber aus der Sinneswahrnehmung 
erſt dadurch eine Erkenntniß wird, daß das Sprachdenken fid) des Augenbildes 
bemächtigt: wie viel mehr wird Das der Abbildung gegenüber der Fall fein, 
die aus dem Gefammtbilde der Wirklichkeit doch nur einen Heinen Theil — 
und den unvolllommen — darftellt! - 

Allgemein gefprochen: das vom Auge aufgenommene Bild wird erft 
durch einen Alt bewußten Denkens zur faßbaren Vorftelung und diefe bedarf 
zu ihrer Entwidelung und Mittheilung einer äußeren Form. ALS ſolche 
fanden wir eben die Sprache. 

Doch giebt 8 — und Das ift erftaunlih Wenigen befannt — eine 
andere Form georbneten Apperzipirens, die ganz und gar im Gebiet der An: 
ſchauung bleibt und als folche mittheilbar ift: die bildliche Daritellung. 
Auch fie begiunt mit der Zerlegung der Erſcheinung in ihre wefentlichen 


234 Die Zukunft. 


Theile und diefer wieber in Fleinere Theile und orbnet dann aus biefen Stüden 
ein neues, fuftematifch gegliedertes Ganze zufammen. Anders als auf diefem 
Wege ift ein Nachbilden der Wirftichkeit undenkbar. Und jeder der Bewußt⸗ 
feinsafte, der nothwendig war, um aus der Perzeption der Wirklichkeit Das 
zu machen, was der bewußte Wille durch Arbeit der Hand in bildlicher Nach⸗ 
ahmung feftzuhalten vermag, findet feine Ausprägung in dem fo entfichenden 
Bilde: und zwar’fo, daß man alle diefe Bewußtfeinsafte einfach abzulefen 
vermag und alfo im Bilde eine fchon apperzipirte Wirklichkeit in ſich auf- 
nimmt. Daß zum Apperzipiren des Bildes dann freilich noch einmal eine 
Denkthätigfeit nöthig iſt, verfteht fi von felbjt. Sie entfpricht ganz genau _ 
der, die nöthig ift, um aus dem Geräufch der gefprochenen Worte oder dem 
Flimmern gedrudter Buchſtaben emen Sinn herauszuverftehen. 

Die Erfiheinung der Wirklichkeit iſt in jedem kleinſten ihrer Theile 
unendlih. Die Darftelung durch Worte ſowohl wie die durch das Bild 
löft aus diefer nie reftlo8 zu erfaflenden Unendlichkeit einen beſchränkten Theil 
und führt diefen um fo deutlicher, weil gefondert, dem Bewußtſein zu. Im 
einen Fall fehen wir darin Vermittelung einer Erkenntniß, im anderen Sur⸗ 
rogat der Wirklichkeit, da8 um fo viel weniger werth ift, wie es weniger ent⸗ 
hält als diefe? Das ift abfurd. Wir müffen vielmehr erfennen, daß e8 nicht 
eine Unvollfommenheit der bildlichen Darftellung ift, wenn fie mit der Wirk- 
Tichkeit nicht identisch ift, fondern daß fie, eben fo wie eine Mittheilung durch 
Worte, das Refultat eines abwechjelnd analytifchen und fyntherifchen Denk⸗ 
vorganges darjtellt. (Bon diefem Punkt aus wird man übrigens begreifen, 
daß eine Kunſt fich die genaue Darftellung der Wirklichkeit zum Biel fegen 
kann, ohne daß deshalb die Identität mit der Wirklichfeit ihre Vollendung bedeutete.) 

Wenn wir zur Zeit gewohnt find, in den Minus der Abbildung gegen- 
über der Wirklichkeit nır den Mangel zu erbliden und die Summe geiftiger 
Thätigfeit zu verfennen, die gerade dieſes Minus zu beftimmen hatte, fo 
liegt Das freilich zum großen Theil auch daran, daß unfere Abbildungen 
fhleht jind, daß fie durch ein zufälliges Herauspflüden von Einzelheiten ent= 
ftehen und die Möglichkeiten, einen geordneten Denfvorgaug durch bildliche 
Darſtellung fichtbar zu machen, nicht annähernd ausgenügt werden. Ge— 
ſchähe Das, fo mühten wir neben der redenden Wiſſenſchaft eine anfchauliche 
befigen, die jene ergänzte. Das Wort, da3 abitrafte Symbol des Dinges, 
das lette, flüchtigfte Deftillationproduft des unermüdlich ausfcheidenden Denk: 
vorganges, würde immer die ungeheure Beweglichkeit und Leichtigkeit im 
Heranholen der entfernteiten, abgezogenften VBorftellungsfomplexe, im Zu= 
fanımenordnen unzühlig vieler, in ter Ueberwindeng von Zeit und Raum 
voraus haben. Tod) darf man nicht vergellen, daß auch das Bild eine un⸗ 
befannte Erſcheinung zunädft auf befannte zurüdzuführen und allgemeine 


Btiderbücher. 235 


Zufammenfaflungen aus einer Summe von Einzelfällen zu geftalten und 
mit diefen neuen Yormeln zu arbeiten vermag. Und was ihm an Beweg⸗ 
lichfeit abgeht, würde es durch eindeutige Evidenz der ihm zugängigen Schluß- 
formen erfegen. Die Ausdrudsformen für eine folhe Anfhauungwifienfchaft zu 
finden, ift Sache der bildenden Kunſt. Ich fage ausdrücklich nicht, daß fie felbft 
Kunft fei, weil wir unter Kunſt Gefühlserregungen einer ganz beftimmten 
Art zu verftchen gewohnt find, die wir zwar fehr wohl kennen, aber ſchwer 
zu umgrenzen vermögen. Wohl aber kann auch eine Anfchauung allgemeiner, 
alfo nicht ſpezifiſch fünftlerifcher Art gerade wie die Fünftlerifche nur dann 
erzeugt werden, wenn ein innerlich ge'chautes Vorftellungbild mit den Dar- 
ftellungmitteln, teren jich die bildende Kunst bedient, zur fichtbaren Er- 
fheinung gebracht wird. 

Wenn ich es alfo für den Charakter unferer Kultur bezeichnend nannte, 
daß das Wort „Bilderbuch“ einen fo fchlechten Klang befonımen hat, fo 
meinte ich damit, daß in der That heute der größte Theil unſeres Denkens 
im Bereich der Sprache vor ſich geht und eben ſo die Feſtlegung und Ver— 
mittelung des Wiſſens die Form des Wortes wählt. Ich will nicht unter- 
fuchen, ob Das jemals ander3 war; fiher fcheint mir, dag wir nothwendig 
eier BVerfchiebung heditifen, die uns von der Alleinherrichaft des Wortes, 
des leeren Zeichens ohne jinnfäligen Zufammenhang mit dem Bezeichneten, 
befreit und unſer Urtheilen und Wiffen zum Theil in ein Gebiet überführt, 
wo der Gedanke mit der Sinneswahrnehmung unlöslic verbunden iſt. 

ALS treffendes Beifpiel einer folchen GebietSeroberung zu Gunften des 
anfchaulichen Denkens erfcheinen mir die beiden Bücher von Schulge-Naum= 
burg; deshalb nannte id) jie „Bilderbücher“. Ich will dazu bemerken, daß 
mir ber Berfaffer und die Ideen jener Bücher perfönlich nah ftehen. Wer 
glaubt, dar ih darum Beide in perfpeftivifcher Vergrößerung erblide, möge 
da8 Perfünfiche aus diefem Urtheil ausschalten und den einzelnen Fall als 
Erempel einer prinzipiell wichtigen Frage nehmen. 

Die „SKulturarbeiten”, von denen der erfte Band, „Hausbau“, er: 
fchienen ift, handeln von den Veränderungen, die der Menſch mit der Ober- 
fläche der Erde vornimmt, insbejondere der Deutiche mit feiner Heimath, 
um aus ihr feine MWohnftätte zu fchaffen: wie er Wälder jchlägt, Berge ab- 
trägt, Flüffe lenkt und überbrüdt, Felder und Gärten, Häufer, Dörfer, 
Städte an ihre Etelle jet, Wege, Straßen, Bahnen und Leitungen aller Art 
zwijchen diefen zieht und die Produkte des Landes zu- feinem Nuten verar— 
beitet. Wir nennen diefe Thä.igfeit heute „Verwüſtung der Natur durch die 
Kultur“ und Schauen ihrem leder unabmwendlichen Fortfchreiten mit Grauen 
zu, als wäre es ein langfamer Selbitmord der Menjchheit. Muß es fo 
fein und war e8 immer fo? Ein Blid in die Vergangenheit, nicht weiter 


234 Die Zukunft. 


Theile und biefer wieder in Meinere Theile und ordnet dann aus diefen Etäden 
ein neues, foftematifch gegliederte Ganze zufammen. Anders als auf diefen 
Wege ift ein Nachbilden der Wirflichfeit undenfbar. Und jeder der Bewußt⸗ 
feinsafte, der nothwendig war, um aus der Perzeption ber Wirflichfeit Das | 
zu machen, was ber bewußte Wille durch Arbeit der Hand in bildlicher Nad- 
ahmung feftzuhalten vermag, findet feine Ausprägung in dem fo entfichenden 
Bilde: und zwar ſo, daß man alle diefe Berwußtfeinsafte einfach abzulefen 
vermag und alfo im Bilde eine ſchon apperzipirte Wirklichkeit in ſich auf: 
nimmt. Daß zum Apperzipiren des Bildes dann freilich noch einmal eine 
Denkthätigkeit nöthig ft, verfteht fi von felbft. Sie entfpricht ganz geman 
der, die nöthig ift, um aus dem Geräufch der gefprochenen Worte oder dem 
Flimmern gedrudter Buchſtaben einen Sinn Herauszuverftehen. 

Die Erſcheinung der Wirklichfeit iſt in jedem MHeinften ihrer Theile 
unendlih. Die Darftellung durch Worte ſowohl wie die durch das Wild 
loſt auß dieſer nie reſtlos zu erfaffenden Unendlichkeit einen beſchränkten Theil 
und führt dieſen um fo deutlicher, weil gefondert, dem VBewuftjein zu. Im 
einen Fall fehen wir darin Vermittelung einer Erfenntniß, im anderen Sur— 
rogat ber Wirklichkeit, da8 um fo viel weniger werth ift, wie e8 weniger ent- 
Hält als diefe? Das ift abſurd. Wir müffen vielmehr erkennen, daß es nicht 
eine Unvollfommenheit der bildlihen Darftellung ift, wenn fie mit der Wirf- 
lichkeit nicht identiſch ift, fondern daß fie, eben fo wie-eine Mittheilung durch 
Worte, das Nefultat eines abmechfelnd analytiſchen und fontherifchen Denk: 
vorganges darftellt. (Bon diefem Punkt aus wird man übrigens begreifen, 
daß eine Kunft fi die genaue Darftellung der Wirklichkeit zum Biel fegen 
Tann, ohne daß deshalb die Identität mitder Wirklichkeit ihre Vollendung bedeutete.) 

Wenn wir zur Zeit gewohnt find, in dem Minus der Abbildung gegen- 
über der Wirklichkeit nur den Mangel zu erbliden und die Summe geiftiger 
Tätigkeit zu verfennen, die gerade dieſes Minus zu beftimmen hatte, fo 
liegt Das freilich) zum großen Theil auch daran, daß unfere Abbildungen 
ſchlecht find, daß fie durch ein zufälliges Herauspflücen von Einzelheiten ents 
ftehen und die Möglichkeiten, einen geordneten Denfvorgang durch bildliche 
Darftellung ſichtbar zu machen, nicht annähernd ausgenügt werden. Ge: 
fhähe Das, fo müßten wir neben der redenden Wiſſenſchaft eine anſchauliche 
befigen, die jene ergänzte, Das Wort, das abftrafte Symbol des Dinges, 
das legte, flüchtigfte Deftillationproduft des unermüdlich außfcheidenden Denk» 
vorganges, würde immer die ungeheure Bereglichfeit und Leichtigkeit im 
Heranholen der entfernteften, abgezogenften Vorſtellungskomplexe, im Zu— 
ſammenordnen unzählig vieler, in ter Uebersindung von Zeit und Raum 
voraus haben. Doc darf man nicht vergefien, daß auch bas Bild eine ım- 
bekanute Erſcheinung zunãchſt auf befannte zurüdzuführen ımb allgemeine 


Biiderbücher. 235 


Zuſammenfaſſungen aus einer Summe von Einzelfällen zu geſtalten und 
mit dieſen neuen Formeln zu arbeiten vermag. Und was ihm an Beweg— 
lichkeit abgeht, würde es durch eindeutige Evidenz der ihm zugängigen Schluß: 
formen erfegen. Die Ausdrudsformen für eine folche Anſchauungwiſſenſchaft zu 
finden, ift Sache der bildenden Kunſt. Ich fage ausdrüdlic nicht, daß jie felbft 
Kunft fei, weil wir unter Kunft Gefühlserregungen einer ganz beftimmten 
Art zu verftchen gewohnt jind, die wir zwar fehr wohl kennen, aber fehwer 
zu umgrenzen vermögen. Wohl aber fanın auch eine Anfchauung allgemeiner, 
alfo nicht ſpezifiſch künſtleriſcher Art gerade wie die künftlerifche nur dann 
erzeugt werben, wenn ein innerlich ge'chautes Vorftellungbild mit den Dar: 
ftellungmitteln, teren fich die bildende Kunft bedient, zur fihibaren Er: 
ſcheinung gebradjt ‚wird. 

Wenn ich es alfo für den Charalter unſerer Kultur bezeichnend nannte, 
daß das Wort „Bilderbuch“ einen ſo ſchlechten Klang bekommen hat, ſo 
meinte ich damit, daß in der That heute der größte Theil unſeres Denkens 
im Bereich der Sprache vor ſich geht und eben jo die Feſtlegung und Ver— 
mittelung des Wiſſens die Form des Wortes wählt. Ich will nicht umter- 
fuchen, ob Das jemals ander3 war; fiher ſcheint mir, daß wir nothiwendig 
einer Berfchiebung hedirfen, die uns von der Alleinherrfchaft des Wortes, 
des leeren Zeichens ohne jinnfäligen Zufammenhang mit dem Bezeichneten, 
befreit und unfer Urtheilen und Wiffen zum Theil in ein Gebiet überführt, 
wo der Gedanke mit der Sinneswahrnehmung unlöslich verbunden ift. 

ALS treffendes Beifpiel einer folchen Gebiet3eroberung zu Gunſten de8 
anfchaulichen Denkens erfcheinen mir die beiden Bücher von Schulge-Naum- 
burg; deshalb nannte ich jie „Bilderbücher“. Ich will dazu bemerken, daß 
mir der Berfaffer und die Ideen jener Bücher perfönlich nah ſtehen. Wer 
glaubt, daß ich darum Beide in perfpeftivifcher Vergrößerung erblide, möge 
das Perfünliche aus dieſem Urtheil ausfchalten und den einzelnen Fall als 
Erempel einer prinzipiell wichtigen Frage nehmen. 

Die „Kulturarbeiten“, pon denen der erfte Band, „Hausbau“, er: 
fhienen ift, handeln von den Beränderungen, die der Menfch mit der Ober: 
fläche der Erde vornimmt, insbejondere der Deutliche mit feiner Heimath, 
um aus ihr feine Wohnſlätte zu fchaffen: wie er Wälder fchlägt, Verge ab- 
trägt, Flüſſe lenkt und überbrüdt, Felder und Gärten, Häufer, Dörfer, 
Städte an ihre Stelle fegt, Wege, Straßen, Bahnen und Leitungen aller Art 
zwiſchen diefen zieht und die Produfte des Landes zu- feinem Nuten verar- 
beitet. Wir nennen dieſe Thä.igfeit heute „Verwüſtung der Natur durch die 
Kultur“ und ſchauen ihrem leder unabmwendlichen Fortfchreiten mit Grauen 
zu, als wäre es ein langfamer Selbftmord der Menschheit. Muß e3 fo 
fein und war e3 immer fo? Ein Bid in die Vergangenheit, nicht weiter 


286 Die Zukunft. 


als hundert Jahre zurüd, zeigt, daß einft die Schöpfungen des Menſchen 
denen ber außermenfchlihen Natur als Kinder gleichen Stammes eben- 
bürtig zur Seite fanden. Wenn wir uns heute verzweifelt fragen, ob mau 
auf einer Erde, bie. ganz und gar von Menſchen zugerichtet und ausge 
baut wäre, überhaupt noch exiſtiren kann, fo iſt Das nicht etwa eine Folge 
der höheren Vollkommenheit, Zweckmäßigkeit und Bequemlichkeit umferer 
Einrihtungarbeiten im Haus des Natur, wie die meiften Menſchen berubigten 
Gemüthe3 annehmen, fondern umgekehrt ihrer Geringwerthigteit, Der ge- 
danfenlofen, niedrig gemeinen Ausnügung des rafchen Schengewinns, Des 
allgemein betriebenen Raubbaus, der Unfähigkeit, mit unferen mühfamen Ar- 
‚ beiten Das zu erreichen, was fie eigentlidh bezweden: unfer Wohlbefinden 

Das andere Buch, „Die Kultur. des weiblichen Körpers", behandelt 
die Veränderungen, die der Menfch mit feinem Körper vornimmt, ins- 
befondere die Frau, erſtens, um ihn vor Kälte zu hüten, daun, um ihn 
zu fhmüden und reizend zu machen; alfo die Kleidung. Auch bier zeigt 
fih ein feindlicher Widerftreit zwifhen Kultur und Natur. Er ſcheint 
unlösbar und die meilten Menfchen halten ihn für nothwendig. a, in dieſem 
Halle find fogar beinahe Alle darüber einig, das Zerſtörungwerk der ſoge— 
nannten Kultur für ſchön und feinen Fortſchritt für durchaus erſtrebenswerth 
zu halten. Im Wefentlichen handelt e8 jih um die Bildung der Taille durch 
das Korfet und die Veränderung des Fußes durch den Stiefel. Dem direkten 
Schaden für die Gefundheit, der daraus entfteht, und dem indirekten für 
da8 Seelenleben des Menfchen, der, aus dem willenfchwächenden Zwieſpalt 
zwifchen Zweckmäßigkeitbegriff und Schönheitbegriff wächſt, kann nur gefteuert 
werden, wenn wir unfere VBorftellung von der Schönheit des weiblichen Körpers 
und von Dem, was zu feiner Veredelung und Pflege gefchehen kann und 
muß, ganz von Neuem auf jiheren Grundlagen aufbauen. 

Daß über folhe Themata ein Künftler feine Meinung entwidelt und 
nit bildlicher Darftelung belegt, kann nicht Staunen erregen. Man würde 
darin ein äfthetifches Urtheil erbliden. Das aber würde für die beiden Bücher 
nur dann zutreffen, wenn man den Begriff des Wortes „äſthetiſch“ fo fehr 
verfchöbe, daß er mindeftens mit dem heutigen Sprachgebrauch nicht mehr 
übereinftimmte. Nach der Stellung, die dies Wort heute einnimmt, kann 
man unter einem äjthetiichen Urtheil kaum nod) etwas Anderes verflehen als 
die direkte, möglichſt unmillfürliche Luſt- und Unluſtreaktion auf die einfache 
Sinneswahrnehmung. Als Abſicht des äfthetifchen Verhaltens Natur und 
Kunſt gegenüber gilt ung der unmittelbare, in der Sinnesempfindung Liegende 
Genug: eine angenchme Erregung, über deren Berechtigung oder Werth 
keinerlei Diskuſſion möglich ift, da fie Selbftzwed ift. Die Fähigfeit, zwifchen 
angenehmen und unangenehmen Sinnescindrüden zu unterfcheiden, ner 


Bilder bũcher. 237 


man auf allen Wahrnehmungsgebieten Geſchmack. Im engeren Sinn ver⸗ 
ſtehen wir unter Geſchmack Sinneswahrnehmungen in der Nähe der Ernährung: 
werkzeuge, dich die wir nüßliche Nahrung von ſchädlicher unterfcheiden. 
Wir wiſſen, daß prinzipiell bie Luſtempfindung da8 dem Körper Zuträgliche, 
die Unluftempfindung das ihm Schäbliche bezeichnet, daß aber aus den Miß⸗ 
braud der Ruftenpfindung um ihrer felbft willen eine Umkehrung diefes Zwed: 
mäßigfeitverhäftnifies entjtehen fann. Wenn wir da8 Wort Geſchmacd auf die 
Thätigfeit anderer Sinneswerkzeuge übertragen, fo follte man damit natürlid) 
deren Fähigfeit bezeichnen, Nüsliches vom Schädlichen zur Aufnahme und 
Berwerthung oder zur Zurückweiſung und Abwehr zu unterfcheiden. Sie find ja 
Waffen des Körpers im Eriftenzfampf; das Auffuchen der Nahrung und die Ver⸗ 
meidung der Gefahr find ihre primitiven Funktionen; die fcheinbar intereffelofe 
Erforfhung der ung umgebenden Welt ergiebt fich aus ihnen als höheres Entwide: 
[ungftadium. Aber wie der „Geſchmack“ der Zunge und des Gaumens, jo lann 
fi auch der „Geſchmack“ des Auges und des Ohres durh Mißbrauch der 
ihm eigenthümlichen Luftempfindung ins Gegentheil verfehren oder mindeſtens 
volllommen ‚von feinem Ziel verirren. Und ift e8 fo, dann gelangt man zu 
dem ‚Urtheil, daß Gefchmad, den man zur befonderen Kennzeichnung feiner 
„Intereſſeloſigkeit“ noch äfthetifchen Gefchmad nennt, die Fähigkeit fei, zwiſchen 
angenehmen und unangenehmen Sinneseindrüden zu unterfcheiden, den Genuß 
der angenehmen um ihrer felbjt willen zu züchten. Was wir als guten und 
ſchlechten Gefchmad fo gemeinhin zu unterfcheiden pflegen, ftellt fi dann bei 
genauerer Betrachtung al3 eine frühere oder fpätere Stufe in der nad dem 
Geſetz des Abwechfelungbedürfnifies auf einander folgenden Neihe immer 
neuer Reize heraus. Iſt Das richtig, dann muß der Kampf un den Gefhmad 
nuglo8 und unfinnig fcheinen; fo nennt ihn das alte Sprichwort. 

Menn wir alfo das Wort „äfthetifch“ in diefem landläufigen Sinn 
nehmen, fo wäre es durchaus unzutreffend, Schulge-Naumburgs Bücher als 
äithetifche Abhandlungen zu bezeichnen. Doc ergab fi) und vorhin bei der 
Ableitung des Begriffes „Geſchmack“, der in feinen verfeinerten Leiſtungen 
mit dem „äſthetiſchen Sinn“ identiſch iſt, daß ihm ein Urtheil innewohnt 
über die, ganz allgemein geſagt, Zweckmäßigkeitbeziehung des Wahrge— 
nommenen zum wahrnehmenden Subjekt. Wie nun, wenn ſich beweiſen ließe, 
daß dieſes Geſchmacksurtheil ſich parallel mit dem Zweckmäßigkeitbegriff ent- 
wideln läßt und ihm auch dort noch zu folgen vermag, wo diejer über den 
gemeinen Nugen der einzelnen Perfon; und fei es ein nod jo weitichauender, 
hinausgewachſen ift und ſich als LXebensprinzip ganzer Bölfer oder einer 
ganzen Menfchheit in ethifchen Begriffen verförpert? Dann wäre ein Streiten 
um den Gefhmad nicht mehr unnüg und unnöthig, fondern vielmehr Kampf 
um bie legten menfchlihen Werthe, die wir überhaupt zu faflen vermögen unb 
um die wir kämpfen müſſen, weil von unferm Gefchmad unfere Eriftenz abhängt. 


238 °' _ Die Zukunft. 

Im Grunde ift e8 das Poftulat jedes unbefangen empfinbenden Ge 
müthes, daß Schönheit und Vollkommenheit im praftiichen ober ethtjche 
Sinn nicht zufammenbanglofe, oft einander widerfprechende Eigenschaften fein 
follen. Jeder erinnert fich wohl des Kummers, mit dem er die erfte fchein: 
bare Kluft zwifchen Beiden wahrnahm. Wir würden e8 ald eine Erlöiung 
empfinden, wenn wir zu einer Einheit zurücklehren könnten. 

Der intuitiven Erkenntniß diefer Einheit entfpringen die Bücher von 
Schultze- Naumburg. Es find Einzelunterfuhungen von Fällen, in denen 
angeblich die Nothiwendigkeiten unſeres Lebens, die praftifchen oder ethifchen 
Forderungen, in Widerfprusch ftänden mit Dem, was der „Geſchmack“ unferer 
Augen fagt. Und immer löft fi der Widerfprucd fo, daß entweder unfer 
Augen zu verdorben waren, um die Echönheiten zu fehen, die ben natärfid- 
ten Nothmwendigfeiten entwuchfen, oder daß, was wir für die höchſten und 
nöthigften praktifchen oder ethifchen Forderungen hielten, ſchlechten und werth⸗ 
Iofen Wünfchen entiprang. Tiefer Gedanke war in ber Anſchauung erfakt. 
Und in der Anfchauung ift er auch wiedergegeben. Die Methode, wie es ge- 
fhieht, zu beobachten, ift Doppelt interefjant, weil beinahe ausſchließlich mit Photos 
graphien gearbeitet wird. Diefe ftehen ja heute als authentifche Wiedergaben 
der Wirklichkeit in einem viel höheren Anjehen als irgend eine durch Menſchen—⸗ 
hand- hervorgebrachte Abbildung, und zwar gerade, weil man nicht nur bie 
Menfchenhand, fondern aud) den Menſchengeiſt von ihnen fern glaubt. In 
der That braucht man nur eine unferer zahlreichen mit Photographien illuftrirten 
Beitfchriften aufzufchlagen, um fich zu überzeugen, daß man vor Photogra- 
phien ftehen kann wie vor der Wirklichkeit: nänich vor einem großen Kalei⸗ 
doffop von Formen, aus dem Einzelnes herauszulefen und dem Vorſtellung⸗ 
ſchatz als Bereicherung einzufügen eine fehr bedeutende Anitrengung erfordert, 
deren Viele offenbar nahezu unfähig find, nämlich die-Arbeit des wirklichen 
Apperzipirens, Es genügt nicht, Anjichten von unbefannten Ländern, Bligs 
bilder von welthiftorifchen Momenten, Portraits berühmter Leute, ja, Auf⸗ 
nahmen aus Regionen de8 Seins, die dem Auge unter gewöhnlichen Um— 
ftänden gar nicht zugänglich find, zufammenzuhänfen und die technifche Boll- 
kommenheit der Wiedergabe immer höher zu treiben. Gewiß vermag mon 
auch daraus Bereicherung feines Anſchauungdenkens zu gewinnen. Aber in 
ihnen liegt nicht die Vermittelung einer innerlich erfaßten und feſtkriſtalliſirten 
Vorftellung, die al3 folche dem menfchlichen Geifte denkbar if. Daß bie 
Erſcheinung der Wirklichkeit Das einftweilen nicht iſt, muß man fich immer 
wieder von Neuem klar machen, um die Bedeutung der bildlichen Feſtlegung 
anſchaulicher Borftellungen zu begreifen. Die Thotographie aber ift zunädjt 
nur infoweit faßbarer als die Wirklichkeit, al3 ihre Ericheinung aus drei 
Dimenſionen zu zweien reduzirt und der Wechfel der Erſcheinung nebft allen 

anderen Sinneswahrnehmungen außer denen ded Auges ausgefchaltet ift. 





Bilderbücher. 239 


Zu einer wirflichen Mittheilung von Borftellungen geftaltet fie fich 
erſt, wenn der Vorgang Fünftlerifcher Thätigkeit über diefe primitive Funktion 
hinaus weiterfchreitet. Das Nächfte ift die bemußte Auswahl eines Objektes 
aus vielen, in dem die „dee“ der Gattung zu beſonders fcharfem Ausdrud 
kommt — einer Anſicht und Beleuchtung, die diefen Ausdrud fteigert —, die 
Ausſcheidung aller zufällig (alfo nur durch ihre räumliche Nähe) mitſprechenden 
Nebenerfcheinungen, die Begrenzung der Bildfläche, die ben Blid auf das 
Weſentliche konzentrirt. So weit kann die Photographie den analytiſchen 
Sehvorgang, durch den aus ber Erfcheinung der Wirklichkeit die Vorftellung 
herausgelöft wird, mitmachen. Die mit der Hand ausgeführte bildliche Wieder: 
gabe geht hier nun noch weiter mit der Herausſchälung des für den befon- 
deren Zweck Wefentlichen, im Extrem bis zu der fchematifchen Demonftration, 
die etwa einen menfchlichen Körper durch drei Striche erfegt, um dag ftatijche 
Prinzip der aufrechten Haltung zu zeigen. Dem photographifchen Bilde find 
weit eher ſchon Grenzen gefegt. Wie weit aber auch die ihr gewährten Mittel 
ausreichen, faßbare Borftellung zu verkörpern, zeigen Schulge-Raumburgs Bücher. 

Die fo erhaltenen Bruchtheile ordnen fih dann wieder zufammen, um 
den Denkoorgang im Gebiet de3 Sichtbaren ſynthetiſch weiterzuführen: zwei 
widerfprechende ftehen einander als Antithefe gegenüber; zwei ſelbſtverſtändliche 
und befannte führen zu einer dritten neuen als nothiwendiger Schlußfolgerung; 
viele Einzelbeifpiele, den Gattungen entfprechend, deduziren ein ollgemeineg 
Gefeg; Ketten zeitlicher Entwidelung erklären da8 endlich Gewordene. Auch 
dem fpnthetifchen Denkvorgang find im Bereich des photographifchen Bildes 
engere Grenzen gezogen, als es bei dem mit der Hand hergeftellten Bilde der 
Fall fein würde. Dafür bleibt e8 auch ſtets Eontrolicbares, weil mechanifches 
Spiegelbild einer Jedem zugänglichen Wirklichkeit. Das ift wichtig, wo es 
ih darum handelt, die Stellung fünftlerifcher Ideen gerade ber Wirklichkeit, 
der Melt der praftifchen und ethifchen Forderungen gegenüber feftzulegen. 

Wir glauben, das Berhältnig von Bild und Wort in „Illuſtration“ 
und „deforativem Buchſchmuck“ zu erfchöpfen. In diefen Büchern aber ge- 
ftalten fi Beide zu einander wie die Zeichnung einer geometrischen Figur 
zu dem Sag, der deren räumliche Geſetzmäßigkeit in Worte faßt: das Eine 
ift die Verfinnlihung, das Andere die abjtrafte Formulirung der felben Vor: 
ftelung. Wie wichtig die hier angeftrebte finnfällige Darftellung praftifcher 
und ethifcher Forderungen für uns fein wird, können wir noch gar nicht 
ganz überfehen. Hätten wir mehr „Bilderbücher“ ftatt der vielen, vielen Leſe— 
bücher, dann kehrte vielleicht eimas mehr Klarheit in die Verwirrung zurüd, 
in der jetzt all die Begriffe verſchwinden, die unfer Leben leiten follten. 

Ludwig Bartning. 
[| 


240 Die Zukunft. 


Selbitanzeigen. 


Beröffentliihung der geheimen kriegsgerichtlichen Akten im Fall 
Luthmer. Univerj.- Buchhandlung don Hörning, Heidelberg. Der Rein- 
ertrag ift für die Blinden des Reichslandes beſtimmt. 


Bekanntlich haben wir uns fchon lange daran gewöhnen müflen, Die Ehre 
der Offiziere für etwas Bejonderes zu halten. Der gewöhnlide Bürger bat 
zum Schuß feiner Ehre nur das Strafgefegbuch, der Offizier, au der mit 
Uniform verabſchiedete, noch die Verordnungen über die Ehrengerichte der Offi- 
ziere, die nicht nur dazu dienen follen, die Ehre ded Einzelnen zu wahren, 
fondern auch, den ganzen Stand von räudigen Elementen rein zu halten. Das 
ijt die Theorie; und die Praris? Auch der Bürger wird mandmal in Die Zage 
foınmen, von dem ihm zur Seite jtchenden Schußgmittel feinen Gebrauch zu 
maden, nämlich, wenn die ihm zugefügte Beleidigung auf Wahrheit beruht und 
eine lage beim Gericht nur dazu dienen könnte, eine Beitätigung dieſer Wahr- 
heit zu erhalten. In folgen Fällen bleibt nichts Anderes übrig, als die ver- 
meintliche Beleidigung einzufteden, und die Erfahrung lehrt, daß von folchen 
würdigen Perſonen Exemplare herumlaufen, die jelbjt die gigantiſchſten Dick 
bäuter der Zoologie in den Schatten ftellen. Ein folder Zuſtand ift beim 
Militär natürlich unmöglich, weil der ganze Stand über die Ehre des Einzelnen 
wadt. Da aber Deutichland immer größer wird und der Einzelne unter der 
Maſſe verichwindet, jo ift e3 begreiflid, daß auch einmal eine Ausnahme zu 
verzeichnen ijt. Ueber dieſes Stapitel der Offizierefre iſt ſchon recht viel ge- 
Ichrieben worden, leider zumeilt von Denen, die Grund Hatten, ihre im bunten 
Rod verlorene Ehre in der Deffentlichfeit wieder zu juhen. Eine Ausnahme 
von hiefer Viteraturfpezieg macht meine fleine Schrift. Es handelt fih in ihr 
ganz und gar nicht darum, meine angegriffene Ehre vor der Deffentlichkeit in 
ein beſchönigendes Licht zu ftellen; denn ich bin bis auf den heutigen Tag weder 
kriegs⸗ noch ehrengerichtlich beftraft no von einem diejer Gerichte auch nur zur 
Verantwortung gezogen worden; c$ handelt fich vielmehr darum, die Ehre Anderer 
in das rechte Licht zu ftellen und dabei zu zeigen, welcher Werth den bejtehenden 
Verordnungen über die Chrengerichte der Tffiziere beizumeſſen ift. 

Ich war im Auguft 1893 Batterichef im Feldartillerieregiment 31 in 
Hagenau im Elſaß. Ein zu meiner Batterie eingezogener Referveoffizier zeigte 
eine folhe Unfähigkeit im Dienjt, daß ich meinem Regimentskommandeur, acht 
Tage vor Beginn des Manöver, eingehende Meldung erftattete und binzufügte, 
id) hätte die Mcberzeugung, dieſer Nejerveoffizier werde im Falle eines Krieges 
die Kanonen auf die eigenen Truppen richten. Der Regimentstommandeur gab 
diejer Meldung feine Folge. Drei Wochen jpäter wurde ich durch die grob: 
tsahrläffigfeit diejes felben Neferveoffizierd im Manöver von einem Kanonen⸗ 
ſchuß ins Geſicht getroffen; durch diefen Schuß erblindete ich fofort und für 
immer auf beiden Augen. Dieſes Vorkommniß binderte der Regimentsfom- 
mandeur nicht, dem Neferveoffizier fünf Tage ſpäter ein glänzendes Dienit- 
zeugniß auszujtellen, deſſen Inhalt mir natürlich verheimlicht wurde. Ein voı 
mir geftellter Strafantrag gegen den Negimentsfommandeur wegen Wwiljent!‘ 
falfcher Berichterftattung wurde, unter Berufung auf die geheimen kriegsgeri 





Selbſtanzeigen. 241 


lichen Akten gegen den Urheber meiner Erblindung, abgelehnt. Gegen den 
Neferveoffizier war die kriegsgerichtliche Unterſuchung eingeleitet worben, aber 
zunädjft wurden nur foldde Zeugen vernommen, die von dem Thatbeftand gar 
nichts gejehen Hatten. Erft fpäter feßte ich die Bernehmung von Zeugen durch, 
die den Borgang meiner Berlegung genau gejehen hatten. Dieſe Belaftung- 
_ zeugen wurden in ihrer Bedeutung mejentlid) beeinträchtigt durd) ein von dem 
Inſpekteur der Yeldartillerie ausgeftelltes artilleriftiiches Gutachten, jo daß der 
Angeſchuldigte mit einer geringen Freiheitſtrafe davon kam, die noch durch die 
Gnade des Kaijers in ihrer Dauer um ein Drittel gefürzt wurde. Während 
der friegsgerichtlichen Unterfuhung gegen den Angefchuldigten wurde mir von 
ihm eine fchwere Beleidigung zugefügt, die mich troß meiner völligen Erblindung 
zwang, der Standedehre zur genügen und meinem Gegner eine Pijtolenforderung 
zuzuſchicken, nachdem meine Anfrage über deſſen Satisfattionfähigkeit von allen 
Inſtanzen bis zum Kaiſer hinauf bejaht worden war. Meine Herausforderung 
wurde glatt abgelehnt, was für meinen Gegner die befannten Folgen nad fid) 
309g. Mein Kartellträger, der den fchriftlidgen Antrag zur Forderung nachweid- 
lich durchaus wahrheitgemäß begründet Hatte und der in denkbar edeljter Weiſe 
die Pijtolenforderung von feinem erblindeten ehemaligen Borgejegten auf ſich 
ziehen wollte, wurde von bem Gerichtsherrn des Reſerveoffiziers zur edrengericht- 
lien Berantwortung gezogen und erhielt eine Berwarnung. 

. Das Alles ift mit Anführung der Namen aller Betheiligten und mit 
wörtlicher Wiedergabe aller einfchlägigen Dokumente vor fünf Jahren von mir 
‚ veröffentlidt worden in einer Brodure: „Die Geſchichte meiner Erblindung.” 
Nach ihren Erjcheinen verſchwand der erwähnte Gerichtsherr aus der Armee. 
Die Brodure wurde im Reichstag zweimal beiproden. Die Negirung erwiderte 
ben nterpellanten, in meiner Angelegenheit fei durchaus korrekt verfahren worden, 
und der nod jet amtirende Sriegsminifter erllärte, daß ihn nur meine Er- 
blindung von einer Strafverfolgung abgehalten habe. Es war mir nicht ge- 
lungen, Kenutniß von den geheimen friegsgerichtlihen Alten zu erhalten. Doch 
giebt es noch andere Mittel und von ihnen machte ich nun Gebraud). Ich 308 
meine ganze Angelegenheit vor dag bürgerliche Gericht; die Akten wurden als 
Beweismaterial zugezogen und jo lernte id) fie fennen. Sie zeigten mir, was 
unter der Herrſchaft der Rechtſprechung hinter verſchloſſenen Thüren möglich war. 
Das den Mittelpunkt bildende artilleriftiihe Gutachten erwies fi als falſch, 
und da das Erfenntniß unmittelbar auf dieſes Gutachten gegründet ift, jo find 
auch Urtheil und Erkenntniß ungefeglid. Die mir ertheilte Auskunft über Ber- 
meigerung einer Strafverfolgung gegen meinen früheren Regimentskommandeur 
erwies ſich als unrichtig. Die mir während der Unterſuchung zugefügte Be⸗ 
leidigung rührte nicht von dem Angefchuldigten, jondern von dem Gerichtsherrn ber. 

Nun ließ ih die Hier angezeigte Schrift erfcheinen. Die durdaus fachlich 
geichriebene Brochure bringt in allen Punkten die Beweije für die in der früheren 
aufgeftellten Behauptungen und gejtaltet ſich fo zu einer ſchweren Anflage gegen 
das Syſtem ber geheimen Gerichte und gegen eine Anzahl ſehr hochſtehender 
Perfonen. Unter diefen Umftänden war es nicht auffallend, daß der größte 
Theil unferer Preſſe die Brochure totfehwieg oder aber deren eigentlichen Zweck 
verſchwieg. Im Februar kam die neue Brodure im Neichstag zur Sprade. 


ILL... 0.4 — 


— —— 


242 Die Zutnuft. 


Der Kriegsminiſter ſagte, er habe fie geleſen, ſie Habe für den Reichstag aber 
fein Intereſſe. Zum Schug der ſchwer beſchuldigten Perſonen ſagte er mic 
ein einziges Wort. Eben fo unterließ er, feine eigenen, von mir früher als 
falſch bezeichneten Angaben auch nur irgendwie zu vertheidigen. Alle Beibei- 
ligten find von mir perjönli von dem Erſcheinen der Schrift in Kenntniß ge 
jet worden. Wie zu erwarten war, verfiagt mich natürlich fein Menſch; und 
da auch meine Erblindung nicht mehr als Vorwand dienen fann, fo wird die 
Sache einfad; totgeichwiegen. Wo aber bleibt ber Ehrenkoder der Offiziere? 
Jeder, ber meine Brochure unparteiifch Lieft, wird zu ber Ueberzeugung kommen, 
daß von allen erwähnten Offizieren fein einziger jo edel gehandelt hat wie mein 
Rartellträger; aber all meine Verſuche, die ehrengerihtlihe Verwarnung biejes 
Kameraden auf Grund ber beftehenden Verordnungen aus feinen Perfonalpapieren 
ftreichen zu laſſen, find gefcheitert. Darf eine kaiſerliche Entſcheidung nicht auf 
ihre Richtigkeit geprüft werben? Unjere Geſetze geben mir leider nicht die Mög- 
lichteit, einzelne der ſchwer befchuldigten Herren vor das Forum der bürgerlichen 
Gerichte zu ziehen; ih muß mid) alſo auf die öffentliche Anklage beichränfen. 
Wie ſchon oft, fo bat au in diefem Fall der Reichstag in Rechtsfragen 
vollftändig verfagt. Inzwiſchen aber Hat fi der Deutſche Rechtsbund meiner 
Sade angenommen. Der Wortführer diefes Vereins, Profeſſor Lehmann ⸗Hohen · 
berg in Kiel, Hat im „Volksanwalt“, ein „Offenes Schreiben“ an ben Reichs 
tanzler gerichtet. Das Thema diefes Artikels, die allgemeine Rechtsnoth und 
fpeziell meinen Fall, hat er auch in einer öffentliden Verfammlung (in Ham- 
burg am achtzehnten März) vor zahlreichen Hörern beiprogen. Die vom Bro: 
feffor Lehmann gefchriebenen und gefprodenenen Worte gehen in ihrer rüdhalt- 
loſen Kritit des gegen mid; begangenen Unrechtes fo weit, daß id, troß allen 
bisherigen Erfahrungen, kaum zu glauben vermag, bie Angegriffenen, befonders 
ber Kriegsminiſter von Goßler, könnten diefe ſchweren Vorwürfe ſchweigend hin - 
nehmen. Schweigen fie wider alles Erwarten dennoch, — dann wird ſich fein 
Deutſcher der Beredſamkeit folgen Schweigens verſchließen Tönnen. 
Hagenau in Elſaß. Konrad Luthmer. 
Gedanken über Tolſtoi. Hermann Seemann Nachfolger. Preis 2 Mark. 
Gedanken find es: Gedanken zwiſchen Naht und Tag! Beim früßen 
Grauen wedte mid Etwas, das ſich denfen mußte, das mich nicht mehr ſchlafen 
ließ. Und abends fand ich feine Ruhe. Auch Spazirgangsgedanten find bar- 
unter, bie fi abroflten, — ohne mein Zutfun. Beide ftimmen in Einem überein: 
fie famen zu mir, nicht ich zu ihnen. Sie nahmen mid als Durcgangspunft, 
als Medium, um zur Erfheinung zu gelangen; fo erklärt fi das ſcheinbar 
Berfließende, Zufammenhanglofe, das „Unterwegs“. Was id will, ift ein Er- 
tlären, ein Nahebringen, ſchließlich, im Grunde, nur ein Nachſchaffen und ein 
Zeugniß, daß auch dieſer Menſch — chen fo wie ih — Theil eines Ganzen 
iſt, ein Theil von mir, von Dir, wie ih von ihm, von Dir. Das zu erreihen, 
giebt es taufend Mittel und es find unter millionen Möglichkeiten vielleidt erſt 
Hundert verſucht. Hier beginnt die Kunft, die ſchwere Kunft der Kritik — wenn 
wir aus Nützlichkeitgründen dieſe Bezeichnung beibehalten wollen —, bie Wenige 
begriffen Haben. Da Heißt es nur immer: Bis hierhin hat er recht; hier beginnt 








Selbftanzeigen. 243 


das Unredht. Mich jelbft beherrſcht das Gefühl, auf ein weites, mir unbelannteg, 
bis dahin unvertrauted Meer hinausgefegelt zu fein. Nun” treiben mich bie 
Finde; wohin? Die Augen heißt es offen halten und waden und horden. 
Zuweilen «ft es, als fjchimmerte Etwas ganz in der Ferne. Iſt es nur ber 
Traum erregter Sinne? Der Seefahrerfinse, die jo kühn find, daß fie fich gern 
eine Beit lang täuſchen laffen? Oder ift es die Küfte, die langerfehnte? Noch 
nie bin ich in diefer Richtung gefteuert. Alles erfcheint mir new; es dehnt ſich 
die beengte Bruft; ich begrüße Alles mit junger Liebe. Hier wehen andere 
Winde Hier ſcheint eine andere Sonne. Wild und doch beſonnen brauft das 
Blut... Dieſe Fragmente aus dem Prolog werden von dem Charakter des 
Buches ungefähr einen Begriff geben. 
Münden. 


Ernſt Schur. 
% 


Senrif Ibſen. Verlag von E. A. Seemann in Leipzig und ber Gefellfchaft 
für graphiſche Induftrie in Wien. 1902. 

Im Anhang zu meinem Buch über Ibhſen Habe ich eine Bibliographie 
veröffentlicht; da find 64 Werfe aufgezählt, die über Ibſen Handeln. Und troß- 
dem fand ich den Muth, nod) ein Buch über ihn zu Ichreiben. Ich habe verlucht, 
dem Stoff eine neue Seite abzugewinnen und an einem Beiſpiel zu zeigen, 
wie ich mir biographijche Kunft denke. Ich ſchrieb eine piychologifche Biographie. 
Zweck und Ziel meiner Aufgabe war, zu zeigen, wie in Ibſen das Bild der 
Welt fi gejtaltete, wie feine Einpfindungen den Menfchen gegenüber wuchſen 
und ſich bildeten. ch bemühte mich, die Entwickelung jeiner Seele aus den 
Umjtänden feines Lebens, aus dem Boden, dem er entiproffen, dem Deilieu, in 
dem er lebte, zu erklären. Er wurde, ber er war, weil er fo werden mußte. 
Um einen Sag von ihm aufihn felbft anzuwenden: all fein dichterifches Wollen 
war ein Wollenmäffen. Indem ich aber den Werdegang eines fo hervorragenden 
Geiſtes fchilderte, mußte ich auch die Ideen jchildern, die um die Jahrhundert⸗ 
wende in Europa um die Herrſchaft ftritten. Freilich war ber mir zugewieſene 
Raum zu beichräntt, um biefem Thema gerecht zu werden. Auf breiterer Baſis 
möchte ich einmal zeigen, wie die Biographie eines großen Menſchen zum Spiegel . 
feiner Beit werden fann, werben muß. Der Jubiläumsausgabe feiner fämmt- 
lichen Werke fette bien die Worte voran: „Nur durch die Auffaffung und 
Aneignung meiner jämmtliden Produktionen als eines zufammenbängenden, 
ununterbroddenen Ganzen wird man den beabfihtigten, zutreffenden Cindrud 
empfangen.“ Ich habe diefe Abſicht Ibſens erfüllt. Ich Habe verſucht, fein 
ganzes Lebenswerk thatlählich als ein zujammenhängendes Ganze barzuftellen 
und dem Leſer verjtändlich zu machen. Erſt bei folcher Arbeit lernt man Ibſen 
wahrhaft lieben und bewundern. Man ftaunt über ben Koloſſalbau, ben er auf- 
geführt, wo Stein fih an Stein fügt und wo das lebte Wort, das er gefchrieben, 
die nothwendige Konjequenz feines erſten ift. Ich wollte keinen Kommentar zu 
Ibſens Werken liefern, jondern nur Das, was der Dichter jagen wollte, in helles 
Licht fegen. Das Glüd war meiner Arbeit günftig; ich durfte eine Menge bisher 
unbelannten, unveröffentlichten Material benuben, jo zahlreiche Briefe Ibſens 
an feine Freunde. Auch die Illuſtrationen bieten manches Neue. 


Wien. Dr. Rudolf Lothar. 
3 





244 Die Zutunft. 


Erportwirthfchaft. 


SD: Ozeantruſt, deſſen Bebentung ich im vorigen Heft abzuſchatzen verſucht 
beſchäftigt natürlich noch immer die Gemüther. Wenn man von der 
Borſenſpielern abſieht, die jetzt vor allen Dingen erfahren möchten, ob in Des 
Direktorenburcaug ber Deutſchen Bank die flaue Stimmung fhon wieder einr 
zuverſichtlicheren gewichen ift, fo find an der Erörterung dieſer Frage recht viele 
Meuſchen interefjirt, nicht nur Kaufleute und Volkswirthe, fondern auch Politiker. 
Denn von bier aus können die Grundprobleme ber allgemeinen Wirthfchafrpolirit 
betrachtet und erwogen werden. Herr Harden hat in feiner Anmerkung zu meinem 
legten Artikel fon aus dem raſchen Wachſen der amerifaniihen Gefahr, die 
gerade der Dampfigifftruft wieder in ihrer ganzen Bebrohligkeit erkennen Fick, 
den Schluß gezogen, es fei unklug, die Wirthſchaft erwahjender Bolker mit 
voller Wucht auf den Waarenexport zu ftellen. Ich möchte diefe Bemerkung 
nicht ganz ohne Erwiberung vorübergehen laſſen. Nicht etwa, weil ich meine, 
gegen das Wort eines Einzelnen, der andere Anſichten hat als ich, fofort pole 
mifiren zu müffen. Das ift leider bei ung in Deutſchland nit nöthig; denn 
das Glaubensbelenntniß einer Perjönlicleit wird zwar gelefen, aber felten be 
herzigt. Anders iſt es jedoch, wenn ein folder Gedankengang einer ganzen 
Gruppe von ntereffenten jo bequem ift, daß er zur Parteimeinung führen kann 
Die muß bekämpft werden. Gerade die heutige Wirthichaftlage Deutſchlands 
Tann leicht zur Aufnahme des Sapes verführen, daß es nicht Hug war, „die 
Wirthſchaft erwachſender Völler mit voller Wucht auf den Waarenerport zu ſtellen.“ 
Die Faffung diefes Satzes kann in unklaren Köpfen die Vorftellung wecken, 
bie wirthſchaftliche Entwidelung Deutſchlands fei aus ihren von der Natur gewieſe 
nen Gleifen herausgeriſſen und auf den ind Verberben führenden Schienenweg 
des Waarenerportes geftellt worden. So aber darf mar die Sache wirklich nicht 
auffafjen. Der Waarenerport ift etwas mit Naturnothwendigkeit Gewordenes. 
Man muß, um feinen wahren Charakter zu erkennen, ſich nur von der befchränften 
liberalen Anjhanung frei machen, nad) der die augenblidliche Urt der Waaren- 
produktion uns aller Weisheit letzten Schluß bietet. Auch die Gegner der 
ſozialiſtiſchen Geſellſchaftstheorie müſſen heute zugeben, daß in ber Kritif der 
fapitaliftijchen Produktionmethode der Marxismus Umübertroffenes geleiftet Hat 
und allein leiſten konnte, weil er die Dinge im Fluß ficht, weil er von ber alten 
deffriptiven, von der dogmatiichen Volfswirthichaftlehre zur Würdigung wirth- 
ſchaftgeſchichtlicher Werdeprozeſſe vorgedrungen ift. Das Wejen der kapitaliſtiſchen 
Waarenproduftion iſt anarchiſch. Während im Urzuftand und noch weit darüber 
binaus der Konſument der die Produktion beftimmende Faktor war, iſt die 
Waarenproduftion unter der Herrichaft des Kapitalismus zum Gelbftzwed ge- 
worden. Der Produzent fabrizivt wild drauf los; er fragt nicht nad) der Konjum- 
fähigkeit, die er gar nicht zu ſchätzen vermag, ſondern fieht.nur in ber eigenen 
Produftiofraft die Grenze. Die Entwicdelung vom Handwerker, der auf Ber 
stellung arbeitet, zum Fabrikanten bezeichnet diefen Weg. Im Weſen aller 
Kapitaliftijchen Gewerbe Liegt cs, daß die Hilfegewerbe ihre eigentlixhen Zwede 
vergefien und aus der dienenden zur herrfchenden Stellung empordrängen. So 
Hat der Dandel, ber einft nur ber Fuhrnegt der Güterproduktion tar, fih 





Erportwirthicheft. 245 


emanzipirt und geht feine eigerren Wege, die oft der Produktion geradezu ſchädlich 
find. Je mehr nun die Probuftivfräfte wachen, um fo nothwendiger wird es 
natürlid, fremde Abſatzmärkte aufzuſuchen; und fo ift die Exportwirthſchaft 
— damit meine-ich nicht den Export von Gütern, die anderswo nicht ober nur. 
viel theurer herzuftellen find — ein echtes Kind der fapitaliftifhen Produktion. 

Diefe Erportwirthichaft bringt viele arge Uebelitände mit fich und hat 
fogar für die Politik wichtige KYolgen. Um bem Export ben berühmten Platz 
an der Sonne zu fihern, wurde Kiautfchou nebjt Umgegend gepachtet, und um 
ben Pla an der Sonne zu ſchützen, wurden und werben neue Kriegsschiffe ge- 
bant. Ein nicht zu unterfhäßendes Moment iſt, daB für den Exporteur der Welt- 
markt viel größere Bebeutung bat als das Inland, das ihm nicht annähernd folche: 
Waarenmengen abnimmt. Auf dem Weltmarkt muß er billig liefern fönnen, 
wenn e3 nicht anders gebt, jogar mit Verluſt, und diefer Berluft muß ausge 
glichen werden. Das iſt entweder burch Hohe Induftriezölle in Verbindung mit. 
Rartellen, die die Preife Hoch halten, zu bewirken oder dur Beitellungen aus. 
den Mitteln der Steuerzahler. Nicht die Firmen Krupp und Stumm nur, 
jondern noch jehr viele andere find fo an der Vermehrung unferer Wehrmadjt zu 
Waſſer und zu Lande intereffirt. Das find Yolgen ber Exportpolitif, die ſelbſt von 
meinen ſozialdemokratiſchen Freunden noch zu wenig als joldhe gewürdigt werden. 
Aber auch fozialpolittiche Folgen find fihtbar. So lange ber Fabrikant auf die 
Konſumkraft des inländifchen Marktes angewiefen ift, muß er einjehen, daß bie 
Arbeiterfoalitionen zur Hebung bes Lohnniveaus auch ihm Nuben bringen; denn 
was er feinen taujend Arbeitern mehr zahlen muß, verdient er doppelt und. 
dreifad an der Mafje der Arbeiter, bie bei höherem Lohn feine Probufte Taufen 
fönnen. Wird aber für den Weltmarkt produzirt, fo fpielt der inländiſche Arbeiter 
als Konfument feine Hauptrolle mehr und fein Lohn wird nur noch durch die 
Rückſicht auf möglichft geringe Produktionkoſten beftimmt. Diefe Koften müſſen 
berabgebrüdt werden, damit der Fabrikant auf dem Weltmarkt billige Preife 
fordern Tann. Das erllärt auch, weshalb gerade die Erportinduftrie und an 
ihrer Spitze der Gentralverband Deutſcher Induftrieller im Kampf gegen das 
Recht der Arbeiterfoalition in der vorderften Reihe ſteht. Der Lohn aber ift 
um fo tiefer berabzubrüden, je billiger die Ernährung der Arbeiter ift. Daher 
bie völlige Berjtändniplofigkeit, die der Exrporteur den Agrarproblemen entgegen- 
bringt. Diefer Zuſammenhang der Dinge wird heutzutage durch die Thatſache 
verdedt, daß Induſtrie- und Agrarſchutzzöllner Hand in Hand gehen. Dazu 
aber treibt fie nicht etwa eine gemeinjame Meberzeugung, ſondern das Gebot der 
Taktik. Die Induſtriellen kennen die Stärke ber einzelnen Machtfaftoren und 
willen, daß fie im preußifchen Deutfchland nur im Bunde mit den Landjunfern 
ihre Yorderungen im Parlament durchjegen können. Die Tonjervative Partei 
fühlt fi in der Rolle einer Schüßerin der Erportindujtrie freilich nicht fehr 
bebaglih; und in den Kämpfen um den Bolltarif Hat man ja bie Grenze ge- 
jehen, bis zu der die beiden Heerhaufen vereint mafdjiren können. 

Wenn die überwiegende Mehrheit der deutſchen Arbeiter fi) heute gegen 
eine Fünftliche Erhöhung der Getreidepreije erklärt, jo find die Motive, bie fie 
leiten, völlig verſchieden von denen der Bourgeoifie, die felbit Haben möchte, 
was fie den Junkern vermehrt. 


18 





246 Die Zukunft, 


Ich verfenne aljo bie Schäben ber Exrportinduftrie nicht; aber es iſt nicht 
leicht, ihnen abzuhelfen, wenn man nicht das Kind mit dem Bad ausjchütten 
will. Wer, wie die Mittelftandspolitifer, den Kapitalisınus rückwärts revibiren 
mödte und in mittelalterlic) gebundenen Wirtbichaftformen ein Allheilmittel fieht, 
Der verfennt die Gefege der ölonomijchen Entwidelung und kümmert fi nicht 
um die frage, was beim Sinfen unferer Egportziffern aus dem Wrbeiterheer- 
werben joll, das Heute in ber Großinduſtrie Beichäftigung findet. Wir Sozialiften 
baben erkannt, daß der Exrportinduftrialismus nur eine Phaſe der großfapi- 
taliftiſchen Entwidelung iſt und daß der Großlapitalismus nur durch eine 
modernere Ordnung der Produktion überwunden werden kann. Das Argument 
der Ugrarier, die Konſumkraft des inländifhen Dlarktes müſſe gehoben werben, 
erfennen auch wir an; aber ihre Mittel gefallen uns nicht. Die von ihren fo 
hoch gepriejenen Getreidezölle find ſchon deshalb zu verwerfen, weil fie nur einigen 
Großen Hilfe bringen. Will man die Konſumkraft der Landwirthſchaft ftärfen, 
fo muß man Bauen züchten, aber nit Bauern mit indiotdualiftiihden Duer- 
töpfen, fondern moderne Genoflenichaftbauern, die in unfere Zeit Bineinpaffen. 
Das geht ohne Getreidezölle beffer ald mit Zöllen, die, ftatt fie zu fördern, die 
Entwidelung nur hemmen. Das weitaus Wichtigere aber ift die Stärkung ber 
Konſumkraft der Arbeiterflaffe. Starke Gewerkſchaſten mit hohen Yohnaniprüchen, 
Konſumgenoſſenſchaften: ſolche Mittel Tiegen auf dem Weg der Entwidelung 
und können zu einer vernünftigen Sozialijirung der Gefellihaft führen. Werden 
fie angewandt, dann bat die Induſtrie Ausficht, auf dem heimifchen Markt Erfag 
für den Weltmarkt zu finden. Wenn fie, ftatt früh ſich kommenden Wirth- 
Ihaftformen anzupafjen, im hajtigen Wettlauf mit anderen kapitaliſtiſchen Bölfern 
einem Phantom nadhjagt, dann wird fie ſich balb die Schwindfucht holen. 


Blutus, 
> 
Notizbuch. 


Ve früheren Unteroffiziere Marten und Hickel, die beſchuldigt waren, ihren 
Vorgeſetzten, den Rittmeiſter von Kroſigk, getötet zu haben, ſind in Gum⸗ 
binnen vom Oberkriegsgericht freigeſprochen worden. Sie hatten ſchon einmal vor 
dem Oberkriegsgericht geſtanden, deſſen — Marten des Mordes ſchuldig ſprechendes — 
Urtheil vom Reichsmilitärgericht aufgehoben wurde, weil die Berufunginſtanz nicht 
nach der Vorſchrift beſetzt geweſen war. Jetzt ſaßen die ſelben beiden Juriſten, die 
an dem vorigen Urtheil mitgewirkt hatten, wieder im Gerichtshof, der ſelbe Ob: 
kriegsgerichtsrath Meyer vertrat die Anklagebehörde, die öffentliche Hauptverhar 
Iung ergab fein den Beichuldigten günftiges neues Moment, — und bennod) ift dr 
vor acht Monaten zum Tode verurtheilte Dragoner nun freigejprochen. Da fieht m: 
doch, lad Mancher in feinem Blättchen, wie ungerecht das vorige Urtheil war, di 
nur durch den namentlich die höheren Kommanboftellen beherrſchenden Wunfd + 
Härt werden fonnte, im Intereſſe der Mannszucht den Mord nicht unentbedt, v 
geſühnt zu lafjen. So aber liegen die Dinge nicht. Auch diesmal hat das Bir 


" Notizbuch. 247 


im Urtheil ausgeiprochen, der Angeklagte Marten fei ber That „dringend verbäditig*, 
jet als „faft überführt” zu betrachten; nur genüge das Beweismaterial nicht zu einer 
Berurtbeilung. Das ift Sache perfönlichiter Auffaflung ;die Richter, die nach modernem 
Recht nicht die Meberführung durch den Augenſchein zu fordern, fondern in freier 
Deweiswürdigung nad) dem Inbegriff der mündlichen Verhandlung zu urtheilen 
haben, tonnten auf genau das jelbe Beweismaterial einen Schuldſpruch bauen. Marten 
batte, al8 Soldat und als Sohn, Grund, den Rittmeifter zu haſſen. Er war oft von 
ihm jchlecht behandelt und am Tage bes Mordes vor der Schwadron gedemüthigt 
worden. Der Dragoner Stoped hatte an der Bandenthür einen Mann mit Unteroff- 
ziersmütze und Mantel geſehen und ber Unteroffizier Marten war, nad) unerſchütterten 
Zeugniſſen, mit Mütze und Mantel kurz vor der That durch den Theil des Korridors ge⸗ 
gangen, wo morgens der nachmittags vom Mörder benutzte Karabiner geſtanden hatte. 
Marten hat ſich nach dem Mord auffällig benommen, ſich, trogbem der Vorgang ihm ſchon 
von zwei Dragonern berichtet worden war, geſtellt, als wiſſe er nichts davon, den Bor⸗ 
geſetzten, der die dienſthabenden Unteroffiziere ausſonderte, dreimal zu täuſchen ver⸗ 
ſucht, ſein Alibi für die wichtigſten Minuten auch mit der Hilfe ſeiner Eltern nicht 
nachzuweiſen vermocht, einander widerſprechende und als falſch erwieſene Angaben 
gemacht und ſich dem Strafverfahren durch die Flucht entzogen, die er nur aufgab, 
weil ſeine Hoffnung, unterwegs Geld und Civilkleider zu bekommen, ſich nicht er⸗ 
füllte. Auf ſolchem und auf noch viel dünnerem Indiziengrund werden von bürger⸗ 
lichen Gerichten beinahe täglich Menſchen reif für Beil und Zuchthaus gefunden. 
Iſt Ziethen der Mord, Koſchemann das Attentat, Levy der Meineid, Sternberg 
der beiſchlafähnliche Verkehr mit der Heinen Woyda nachgewieſen worden? Wahr: 
ſcheinlich hat den drei Kriminaliſten auch diesmal, wie im Auguſt ſchon, der Indi⸗ 
zienbeweis zum Schuldſpruch genügt, iſt die Freiſprechung den militäriſchen Richtern 
zu danken. Im Leben des Offiziers, der ja nicht das bezahlte Alltagsgeſchäft treibt, 
Menſchen zu richten, iſt die Stunde, die ihm ſouveraine Gewalt über Leben, Ehre und 
Freiheit eines vom Weibe Geborenen giebt, ein Ereigniß; und es iſt nur natürlich, 
daß er die Wucht der auf ihm laſtenden Verantwortung tiefer empfindet als ein ge⸗ 
plagter Landgerichtsrath, der elf Monate im Jahr judizirt. Der Prozeßſtoff iſt am 
einunddreißigſten Auguſt hier geprüft worden; und zu dem Ergebniß, das damals 
von Vielen getadelt wurde, iſt nun auch der zweite Gerichtshof der Berufung: 
‚inftanz gelangt: fchwere Belaftung bes Hauptengellagten, aber feine zur Berur- 
theilung ausreichende Gewißheit. Das diefem Gerichtshof und beſonders dem 
Borfigenden, dem Oberftlieutenant Herhuth von Rohden, in der Preſſe reichlich ge- 
fpendete Lob ift durchaus verdient; die Art, wie in Gumbinnen Angeklagte und 
Entlaftungzeugen behandelt, Beweisanträge aufgenommen wurden, könnte vielen 
Kriminalpraktikern ein Beifptel fein. Nur wird mit dem Tadel des einen, mit 
dem Lob des anderen Gerichtshofes noch nichts bewirkt. Jetzt, da in der Sache 
dreimal verhandelt und die Senfation vorüber ift, follte man die Vorunter⸗ 
fudung, bie Thätigfeit und die BZeugenausfage bes Kriminalkommiſſars von 
Baedmann nadprüfen und dafür jorgen, daß in der Strafjuftiz, der bürgerlichen 
wie der militäriſchen, die Herrfchaft rückſtändiger Routine ein Ende nimmt. Nicht 
jeden Angeklagten lächelt, wie dem Dragoner Marten, die öffentliche Meinung; 
und man könnte fich nachgerade um bie Armen kümmern, die, ohne daß eine Chriſten⸗ 
feele ihnen nachfragt, im Dunfel verdächtigt, verhaftet und abgeurtheilt werden. 


18* 


| 
| 
wii. 


eo 


248 Die Zukunft. 


Freilich: der Großbetrieb unjerer prompt liefernden Urtheilfabriten müßte eingeftellt 

werden, wenn man fi Überall, wie in Sumbinnen, mit der Hauptverbandlung 

gegen einen des Totfchlages Angeſchuldigten dreizehn Tage lang aufhalten wollte. 
- % * ’ 


\ Li 

Ein anderes Urtheil, das nicht in Norboftelbien und nicht von einem ber ver- 
haßten Miilitärgerichte gefällt worden ift. Amı Tag nad) der Weihnadt erſchien in 
der Brandenburger Zeitung, einem ſozialdemokratiſchen Blatt, ein Artikel, der die 
Entwidelung des Chriſtenthums und der Kirche fcharf Fritifirte. Der verantwort- 
liche Redakteur wurde angellagt. Gottesläfterung; Beihimpfung einer chriſtlichen 
Kirche; $ 166: Gefängniß bis zu drei Jahren. Die Straflammer hielt zwei Wochen 
Gefängniß für eine ausreichende Sühne. Als die Strafe verkündet war, ftieg der 
brandenburgifche Pfarrer-Graue auf bie Stanzel und fagte vor der Gemeinde: „Der 
Artikel war, troß feiner Berftändnißlofigkeit für unferen Glauben, ein guter Ar— 
tikel. Denn er war, bis auf einige Phrajen, die man aber in allen Zeitungen finden 
fann, warm empfunden und von Begetfterung für wahre, echte Menſchlichkeit ge 
tragen. So machte er auch in der Kritik Halt vor der Perfon unferes Heilanbs, 
für den er Worte ehrfürdhtiger Bewunderung hatte... Ich geſtehe, daß ich bei 
ſolchen Vorgängen immer ein Gefühl tiefer Scham habe. Iſt wirklich unjere Kirche 
jo ſchwach und unfere Ueberzeugung fo jchlecht begründet und morfch, daß fie richter⸗ 
liden Schußes bedarf? Bertragen wir fo wenig, daß man ung Kritifirt?” An diefem 
tapferen Pfarrer, der in der Sonntagsprebigt für einen verurtheilten Sozial- 
demofraten eintrat und feine Predigt dann druden ließ, hätten Jeſus von Nazareth 
und Martin Luther fich gefreut. Wie aber iſts mit dem Urtheil der gelehrten Richter ? 
Die haben, wie faft immer in Prozeſſen, bei denen es ſich um die Wahrung geift- 
licher oder weltlicher Autorität handelt, in freier Beweiswürdigung unter allen 
möglihen Wortauslegungen bie dem Angeklagten ungünitigjte gewählt und eine 
Beihimpfung der chriſtlichen Yandeskirche in einem Artikel gefunden, den der evan- 
gelijche Pfarrer des Thatortes auf der Kanzel rühmt. Das ijt Feine Senfation. 
Davon wird nicht gejprochen. Das fommt alle Tage vor. Schön. Warum aber 
wüthet man dann gegen Kriegsgerichte, die im allerfchlimmften Fall doch auch nur 
dem lodenden Irrlicht ihrer Standesrejlentiments folgen? 

* * 


* 

Auch Senjationen werden manchmal verfchiwiegen. Nur in wenigen Bei- 
tungen war zu leſen, daß Herzog Ernft Günther zu Schleswig-Holftein, der Schwager 
des Kaiſers, neulich als Zeuge vernommen und gefragt worden ift, ob ein gegen die 
frühere Gejellfchafterin der Prinzeffin Amalie von Schleswig gerihteter Artifel von 
ihm ftamme. Der Herzog hat unter Berufung auf den vierundbfünfzigften Para- 
prapben der Strafprozeßordnung die Ausſage verweigert. Diejer Paragraph lautet: 


„Jeder Zeuge fann bie Auskunft auf ſolche Fragen verweigern, deren Beantwortung 


ihm ſelbſt oder einem Angehörigen die Gefahr trafgerichtlicder Verfolgung zuziehen 
würde.’ Reuigen Preßfündern mag es ein Troft fein, daß felbft eine Hoheit, der 
Bruder einer Kaiferin, in der Hiße des Wortgefechtes einen Artikel ſchreiben kann, 
ber den Berfaffer mit der Gefahr ftrafgerichtlicher Verfolgung bedräut. 

* * 


%$ 
Herr Hauptmann a. D. Stavenhagen fchreibt mir: 
„So rege das Gefühl der Kamerabichaft in der Urmee ift, fo erftaunlid, 





“ Notizbuch. 249 


ſchwach ift die Fürſorge für ihre dem Elend verfallenden inaftiven Offiziere und 
deren Familien, namentli im Bergleih zu anderen Ständen und Ländern. 
Augenblidlich giebt es rund 8500 penfionirte Offiziere, davon 7774 in Preußen 
allen. Die Penfiontrungen nehmen mit jedem Jahr zu. Sehen.wir auf andere 
Stände, fo finden wir: bie König Wilhelm-Stiftung für erwachſene Beamtentöchter. 
Sie hat 20000 zahlende Mitglieder und ein Vermögen von 500000 Mark. Sie 
gewährt jährlich 45 000 Mark Unterftügungen. Der QTöchterhort für die Reichspoſt⸗ 
und Telegraphen: Beamten bat ein Vermögen von 600 000 Mark und 57000 
zahlende Mitglieder. Er gewährt jährlich 70000 Mark an Beihilfen. 

Sehr entwidelt ift bei den niedrigen ſtaatlichen Penfionen die praktiſche 
Mohlthätigkeit Defterreich- Ungarns für feine inaftiven Offiziere. Und zwar 
haben neben dem oberften Sriegsheren und ben Mitgliedern des Erzhaufes alle 
Klafjen der Bevölkerung, denen ein freundliches Geſchick es ermöglichte, ſich wett- 
eifernd nach diefer Richtung bemüht. So haben die Offiziere bes Ruheſtandes 
und ihre Wittwen und Waiſen zunädft Theil an der auch für aktive Kameraden 
beftimmten Erzherzog Albreht- Euftozgza- Stiftung und an den Stiftungen ber 
Faiferin Maria Anna und der Freiin von Stengel. Dann giebt e8 54 Staat3- 
und Brivatftiftungen, bie nur für penfionirte Offiziere und Militärbeamte be 
ftimmt find, darunter die größte Zahl für lebenslängliche Aufnahme ber Bedürftigen. 
Davon führe id an die Klifabeth- Therefiaftiftung mit 21 Freiplätzen, nur für 
Generale und Oberften. Herner den Berein für Unterftügung von Militär- 
Invaliden (fürſtlich chwarzenbergifche Stiftung) mit 218 Plägen. Dann bie 
Nathanael von Rothigild-Stiftung, die in unbeitimmter Zahl alte Junggeſellen 
im Subaltern- Offizierd- und Hauptmannsrang aufnimmt; die Stiftung bes 
Feldmarſchall Freiherrn von Heß mit 11 Pläßen, den Gablenz- Fonds mit 
27 Plätzen und die Fürſt Dietrichltein-Stiftung mit 23 Freiftellen für adelige 
Offiziere. Ferner giebt e8 60 Stiftungen für Offizier- und Militärbeamten- 
Wittwen. Ich nenne die de Wiener Männer-Gefangvereins, des Hamburgers 
E. U. Neumann, des Fürften Dietrichftein für Hinterbliebene von Rittern des 
Maria Therefien- Ordens, die allgemeine Jubiläumsſtiftung des beliebten Re— 
gimentes Hoch⸗ und Dentjchmeifter No. 4, die Stiftimgen des Deutſch⸗Patriotiſchen 
Hitfövereing, des Feldmarſchalls Fürſten Karl von Batthyanti, des Konſuls 
Freiherrn von Morpurgo u. ſ. w. Bam finden wir für Offizier- und Mikttär- 
beamten-WBaifen 69 Stiftungen, darunter die des Kronprinzen Rudolf, ber Erz 
herzoge Karl und Rainer, ber Staiferin Maria Therefia, der Gräfin JIſabella 
Ceoce, bed Grafen Bllicher von Wahiſtatt, des Abtes Franz Schauer, des Lieute⸗ 
nants Franz Babory (ber eine Heirathkaution für eine Offizierstochter ausſetzt), 
der Offiziercorps verſchiedener aufgelöften Regimenter u. ſ. w. Auch für erkrankte 
Offtziere iſt durch Einrichtungen Für Bade- und Kurzwecke geforgt. Groß iſt 
die Zahl der Freiplätze (Wohnung, Bäder, ärztliche Behandlung) in 11 klima⸗ 
tifhen Kurorten und 28 Mineral-, Eifen-, Moor: und Stahlbädern. Dan 
gtebt es eigene Militär-Ruranftalten: 7 Schwefelquellen, 8 indifferente Thermen, 
4 Soolbäber, 3 Jodquellen und 13 Raltwaffer-Heilanftalten, die von den inaktiven 
Difizteren eben fo wie von den aktiven benutzt werden können. Was haben 
wir, die erfte Milktärmacht ber Welt, an die Seite zu ftellen? Welches ber 
nerfülften Militär⸗ Lazarethe nimmt einen erkrankten tnaftiven Offizier auf? 


350 Die Zukunft. 


Er Tann unter Arbeitern in ber dritten Station eine bürgerlichen Kranken⸗ 
hauſes fein Glück verfuchen, fofern er es erfhwingen fanı. In Münden wurbe 
kürzlich ein Genie Hauptmann a. D. nur burd) freie Milbthätigfeit feiner Wirths⸗ 
leute vor dem Armengrab bewahrt! In welchem Badeort werden ihm Erleichter- 
ungen gewährt? Ganz abgejehen davon, daß die Zahl ber für Militärs be 
ftimmten Kurorte auch nicht annähernd die der dfterreichifchen erreicht (Militär 
Suranitalten beftehen nur in Wiesbaden, Lande, Teplig und Norderney; dann 
giebt es noch etwa 18 Bäder mit Surerleichterungen), kann die Wohlthat einer 
freien Kur unbemittelten inaftiven Offizieren nur datın gemährt werden, wem 
ihr Leiden mit einer Dienftbefchädigung zufammenhängt. Und find, wie wohl 
meift, die Stellen an aktive Herren vergeben, dann aud nur gegen Erftattumg 
ber Selbitkoften. Und worin beiteht bisher die private Selbfthilfe der inaktiven 
Dffiiere? Der ‚Verein‘ diefer Offiziere dient leider nur rein gejelligen Zwecken, 
denn das Bischen Stellenvermittelung — auch nur fubalterner Art — ift faum 
erwähnenswert. Auch der Deutſche Offizier» Berein, das jebige Waarenhaus 
für Armee und Marine, leiftet trog guiem Willen nur ſehr Unzureichendes 
auf dem Gebiete der Stellenvermittelung, bejonders für Offiziere, die höhere 
Unfprüde machen können. Es ijt beflagenswertd, dab ein Bufammenwirfen 
diejer beiben großen Vereinigungen, troß allen — auch von mir — wiederholt 
gegebenen Anregungen, nicht zu erreichen ilt. Die felbe Berfplitterung finden 
wir in der privaten Fürſorge für Wittwen und Waifen ber Offiziere; für Mütter 
und Schweitern, die nicht in dicfe Kategorie fallen, giebt es überhaupt feine Für⸗ 
forge. Wir Haben nur: den Militär-HilfSverein zu Berlin mit 1185 Mitgliedern 
und 65 000 Marf Vermögen; er bat im vergangenen Jahr 7500 Mark an Unter: 
jtäßungen und 62000 Brifetts vertheilt; den Bund Deuticher Frauen mit 
440 Mitgliedern und 17000 Mark Bermögen; er konnte im lebten Jahr 
1600 Mark Beihilfen gewähren; den Verein zur Berforgung deutſcher Offizier- 
töchter mit 925 einzelnen Mitgliedern und 37 Offiziercorps; er hat 12200 Mar 
Bermögen. Dann giebt e3 noch private Militär: Hilfsvereine in Provinzial- 
ftädten wie Breslau, Frankfurt a. M., Danzig, Stettin, Magdeburg, Hannover, 
Karlsruhe und Straßburg mit vorläufig unerheblichen Kräften. 

Nicht alle Hilfe kann vom Staat allein fommen, wenn er aud) bie Haupt- 
urjache des großen Elends ift und die wirkjamfte Hilfe durch Gewährung an- 
gemejjener, würdiger und penlionfähiger Arbeit in Civilverforgung- und vor Allem 
Heeresſtellen jeinen alten Offizieren bringen und dur ein anderes Benfton- 
verfahren bie jeßige, auch der Armee höchſt ſchädliche Dafeinsunficherheit des 
aftiven Offiziers befeitigen muß. Auch die Offiziere müffen fi — fchon wärend 
der Aktivität — felbjt regen und fameradfchaftlic einander und befonders der 
Inaktiven Helfen. Namentlich der für die Eriltenz fo gefährliche Mebergang?: 
zuftand zwilchen der Aktivität und der feiten Anftellung im neuen Qebensber 
muß möglichft vermieden werben. 

Es ift ja erfreulich, zu erfahren, daß ſich demnächſt ein großer Offizier 
Hilfsverein, zunächſt in Preußen, bilden will mit einer Gentralftelle in Berlt 
und Hilfsvereinen von hoffentlich großer Selbftänbigkeit in den einzelnen Corps 
bezirten. Möchte das Werk, das freilih nur Offizierswitiwen und ⸗Waiſe 
leider nit auch Müttern und Schweitern unverbeiratheter inaftiver Off; 


Notizbuch. 251 


zu Gute kommen ſoll, ſich nur von jedem Bureaukratismus und behördlichem 
Zwang frei halten! Sonſt wäre der Sache mehr geſchadet als genützt und 
höchſtens einzelnen Spitzen und ihren Protektionkindern erwüchſe ein Vortheil. 
Die Hauptarbeit aber müſſen die inaktiven Offiziere ſelbſt leiſten. Arbeit: Das iſt 
die Barole, befonders für die bebürftigiten und Teiftungfähigften, die jüngeren 
Stabsoffiziere und die Hauptleute, von denen es augenblicklich im ‚NRubeftande‘ 
(ein famojes Wort!) allein in Preußen 1740 bezw. 2437 giebt. Selbſt Elcine 
Aufbefferungen der Penfionen können feine durchgreifende Hilfe bringen. Hier ift 
eine foziale Reform nöthig, die nur durch die vereinten Kräfte der unter ben 
heutigen Zuftänden Reidenden bewirkt werden kann.“ 
* * 
* 

Ueb er die — bier ſchon erwähnte — neufte Encyklika des Papſtes ſchreibt 
mir Herr Karl Jentſch: „Nachdem Leo XIII. einige akademiſche Vorträge über die 
ſoziale Frage, die chriſtliche Demokratie und ähnliche Gegenſtände veröffentlicht und 
darin einiges Verſtändniß für moderne Verhältniſſe bekundet hat, iſt er in feiner 
jüngften Encyflifa, feinem Teftament, auf den ftreng orthoboren Standpunkt der 
Kurie zurüdgefunfen und ftellt wieder einmal dar, wie die Kirche, die ihm natürlich 
mit der Hierarchie zuſammenfällt, gleich ihrem Stifter Jeſus ſtets völlig unfchuldig 
leiden muß und gerade wegen ihrer Heiligkeit von ber Welt, die alles Guten Feind 
ift, verfolgt, wie aber diefe Welt für ihre geiftigen und Lörperlichen Angriffe auf die 
Kirche durch den Umsturz der Moral und der bürgerlichen Ordnung beftraft wird. 
Nun weiß Jeder, daß es heute, und zwar gerabe in ben proteftantifchen Qändern, 
um die Moral und die bürgerlide Ordnung ſehr viel befier fteht, als es je in ben 
Beiten weltlicher Papftherrichaftgeftanden hat, woraus freilich der hiftorifch Gebildete 
fo wenig gegen das Papſtthum jchließt, wie er für diejes fchließen würde, wenn bie 
Weltgefchichte fo verlaufen wäre, wie fie die Aurtaliften fchreiben. In Rom follte 
man doch Boccaccios Gefdichte vom Juden Abraham kennen, der Ehrift wurde, weil 
ex ſich jagte: Eine Religion, die befteht und ſich ausbreitet, troßdem der zu ihrer Er- 
Haltung berufene römifche Klerus Alles thut, fie durch feine unerhörten, ohne eine 
Spur von Scham und Gewiljensunrube gepflegten Lafter und verübten Verbrechen 
zu zerftören, muß fi) wirklich eines bejonderen göttliden Schußes erfreuen. Und 
Leo follte willen, daß fein Vorgänger Hadrian VI. auf dem Reichstag zu Nürnberg 
1522 durch feinen Legaten Cheregati erklären ließ, Gott Habe die Verfolgung über 
feine Kicche verhängt wegen ihrer Sünde, vornehmlich der Priefter und Prälaten: 
ba fei Steiner, ber Gutes thue, auch nicht Einer. DieferPapft hat alfo erlannt, daß 
bie Anfeindungen der Kirche nicht nur Auflehnung menſchlicher Sündhaftigfeit gegen 
bie fittlichen Forderungen des Chriſtenthumes find, die freilich auch vortommt, fondern 
meift Auflehnung menſchlicher Bernunft und Gerechtigkeit gegen bie Unvernunft 
und Ungerechtigkeit der Priefterfchaft. Die gebildeten deutichen Katholiten müßten 
fi) folder Kundgebungen ihres geiftlicden Oberhauptes in tieffter Seele ſchämen, 
wenn dieſes Oberhaupt nicht durch die der feinen ebenbürtige Unwiſſenſchaftlichkeit 
feiner Zodfeinde, eines Grafen Hoensbroech und feiner proteitantifchen Gönner zum 
Betfptel, einigermaßen entfhuldigt würde.” 

* * 
& 

In der Voſſiſchen Zeitung ift der Brief eines niederdeutſchen Arztes ver- 

öffentlicht worben, ber feit vierundzwanzig Jahren in ben Burenfreiftaaten lebt und 


2352 Die Zukunft. 


vorher den deutſchen Feldzug gegen Frankreich mitgemacht hatte, alfo Die Siriegsjitten 
eivilifirter Völker kennt. Er fchreibt: „Ich habe jeßt feit ungefähr zwei Jahren hier 
‚(in Bethulje) unter englifcher Herrichaft gelebt und während ber ganzen Zeit iſt 
weder mir nod einem anderen im Orte lebenden Deutjchen irgend Etwas von Lieber: 
griffen oder Gewaltthaten zu Obren gelommen, obwohl bier häufig ziemlich viele 
Truppen angehäuft waren oder Durchzüge ftattfanden. Die Einwohner werben burd;- 
aus nicht beläftigt. Einquartirung giebts nicht; nur in leerftehenben Häujern werben 
allenfalls Truppen untergebracht; die meisten kampiren, ſelbſt bei der bier herrfchen- 
den Winterlälte, ftets in Zelten. Der englifche Soldat ift durchaus ruhig, höflich 
und, was nad) einem faft 21/, Fahre dauernden Kriege jehr wundert, garız befunders 
gut in der Hand feiner Borgejeßten, obwohl er mit Drillen jehr wenig geplagt ıwirb. 
Die Leute find auffällig ftill; e8 wird nicht einmal laut gefungen. Vielleicht bat ber 
. gemeine Mann nicht genug Erbitterung gegen feinen Feind, obwohl dod gerade die 
Rampfesweife der Buren ganz dazu angethan ift, ein ſolches Gefühl zu werten. Wir 
wiſſen es ja aus eigener Erfahrung, wie erbitternd es auf eine Truppe wirkt, wenn 
fie aus dem Hinterhalt — oder, wie e8 in Frankreich fo oft der Fall war, aus einer 
Entfernung, über die unfer Zündnadelgewehr nicht reichte — von einem Feinde be 
ſchoſſen wird, der verſchwunden tft, ehe fie. an ihn heran fann.” Er vertheidigt auch 
bie vielgeſchmähten Konzentrationlager: „Selbit in Friedenszeiten wird ein großer 
Theil der nothwendigften Zebensmittel — Korn, Mehl, Kaffee, Zuder, Kleidung⸗ 
ftüde u. |. w. — eingeführt, Diefe Sachen find nur in den Dörfern zu haben, die 
‚alle in engliſchem Befig waren. Sollten nun die Engländer zulaflen, daß die rauen 
‚und Kinder auf den armen fi} innerhalb der engliſchen Linien mit Lebensmitteln 
‚und fonjtigen Bedarfsgegenftänden verfahen, um fie dann ben fechtenden Buren zu⸗ 
‚zuführen? Das fonnte man wirklich nicht von ihnen verlangen. Auf ber anderen 
‚Seite: ſchloß man die Frauen und Kinder ganz aus, fo entitand die Gefahr, da 
fie verhungert oder von den Kaffern befäftigt worden wären. Aus biefen Erwägungen 
heraus bat man fich entichloffen, die ganze Bevölkerung nom flachen Lande zu ent- 
fernen und fie in den Zufluchtlagern zu fonzentiren. Man gab ihnen bort bie felben 
‚Retionen, die die englilden Soldaten enıpfangen, und friſche Milch für bie Kinder, 
bie allerdings im Winter ein. rarer Artikel iſt. Sie befamen Fleiſch, Mehl; Kaffee, 
: Zuder, tondenfirte Milch und für die Kranken wurde extea gefargt. Nun iſt in Deutjch⸗ 
land die öffentlihe Meinung anſcheinend durch Erzählungen von Gewaltthaten ud 
allerlei Ruchlojigkeiten, die beider Räumung ber Farmen vorgekommen fein. ſollen, 
ſehr erxegt worben.. Ich glaube nicht, dab an diefen Erzählungen etwas Wohres ifl. 
- Der Charakter der englijchen Soldaten, ſo weit ich ihn fernen gelernt habe, und vor 
Allem meine perfönlichen Erfahrungen fprechen dagegen. Ich habe etwa ſechs Monate 
‚lang in einem diejer Zufluchtlager al3 Arzt genrbeitet und habe in biefer Zeit Afters 
‚Züge von Wagen mit Burenangehörigen ankommen fehen. Ich Habe aber niemals 
Klagen über Taube. Behandlung oder Dergkeichen gehört; im Gegentheil waren alle 
Weiber des Lobes poll, wie die Soldaten ihnen zur Hand gegangen jeien, beim Huf- 
laben der Sachen auf die Wagen geholfen und für die Kinder geiorgt hätten. Bei 
ben großen Entfernungen dauerte e8 zuweilen Tage lang, ehe die Ochſenwagen in 
dem Lager aufamen. In dieſer Zeit theilten die Soldaten ihre eigenen Nationen 
mit den Flüchtfingen, machten Feuer, halfen beim Kochen, und wenn:bie Wagen im 
Lager ankamen, ſah man-bäufig Soldaten, die Burenkinder auf dem Mk’ Iugen. 


- — — — — — — . 


Notizbuch. 253 


Was die Verpflegung in den Lagern anbetrifft, ſo muß man ſich gegenwärtig halten, 


daß die engliſchen Soldaten, die Einwohner der Stadt und Dörfer, die man ruhig 


in ihren Häufern gelafien hatte, und auch Die reicheren Buren, die bort aufihre eigenen 


Koften wohnen durften, auch nicht mehr empfingen. Die Eiſenbahnen find alle ein- 
gleifig. Truppentransporte waren häufig und außer den Lebensmitteln für die Armee 
und die ganze Eivilbendlferung mußte auch noch das Futter für die Unmaſſe Pferde 
von ber Küſte herbeigefchafft werden. Da war es natürlich, daß jeder nur feine be— 


ſtimmte Portion empfing, wie in einer belagerten Stadt. Später bradyen in den Zagern 


Epidemien aus, die aber auch die übrige Bevölkerung nicht verfchonten. Das waren 
ja fchlimme Zeiten, aber Alles wurde gethan, um ben Leuten zu helfen. Und feit im 
November das Kolonialamt bie Zuflucgtlager übernommen hat, ift dort Alles in 


Meberfluß vorhanden: Konſerven und Mil, alle möglichen Kindermehle, Cognac 
und Whisfy, Champagner und fonftige Weine. Die Aerzte haben volllommen frete 


Hand und die Buren haben nie fo gut gelebt. Manche Büchſe mit Konjerven wirb 
uneröffnet fortgetvorfen, weil die Leute zu viel Davon haben, und es ift Thatſache, 
daß aus den Lagern lebensmittel herausgeſchmuggelt und den noch im Felde ftehen- 


‚den Buren zugeführt werben.” Zu dem felben Thema gehört ein Brief, den ein 
‚berliner Juriſt mir jchrieb und dem ich die folgenden Säße entnehme: „Sie nennen 
‚die Darftellung, die ber Lieutenant Gent im legten Aprilheft ber „Zukunft“ von ben 
‚Wdafrilanischen Kriegszuftänden gab, zunächſt befrembend. Das iſt fie für Den 


nicht, ber ſchon mehrfach Berichte von Augenzeugen fennen gelernt hat. Als Be: 
weife dafür, daB Herr Geng mit feinem Urteil nicht allein fteht und nicht etwa aus 
gekränktem Ehrgeiz zu feiner Darftellung veranlaßt fein kann, geitatte ich mir, 


Ihnen anbei einige Stellen aus Briefen des Stabsarztes von Hildebrandt an den 
Geheimrath von Esmard zu überfenden. Hildebrandt war Führereiner Rothen-Streug- 
Ambulanz und ift daher gewiß unparteiiſch. Die Briefe find in der Münchener 


Medizinischen Wochenſchrift 1901 erfchienen, aber, wie alles den Buren Ungünitige, 
‚von der Tagespreffe totgejehwiegen worden. Vielleicht machen Sie dieſe Stellen 


‚durch Beröffentlihung einem weiteren Leſerkreis zugänglid. Es tft jehr erfreulich, 


daß der die Weihrauchnebel, der um die Buren lagert, durch Artikel wie den des 
Herrn. Gent zerriffen wirb und daß der Leiter einer Zeitſchrift Den Muth hat, dieſer 
Kritit Raum zu gewähren, Hildebrandt, jpricht von der Art der Schußverletzungen: 


In Fällen, in denen das Geſchoß aus nächſter Nähe Jen Körper getroffen (in Folge 


pon Uuvorſichtigkeit ‚beim Putzen, meift jedoch durch Abſicht, um fich dem Kriegs⸗ 
dienſt zu entziehen), fand ſich eine große Ausſchußoffnung. Bon diefen, Zolſsehoots 
accidontp, wie fie ironeſch· genannt. werben) haben wir ſieben im;Lazareth zu ſehen 
bekonnmnen. Die gedbte Anzahkdanon (fünf) erhielten wir in her.zweiten Woche nach 
dem blutigen Gefecht. bei. Scholz⸗Neck, als eine Schlacht großes Stilea erwartet 


‚wurde. Nun, da fie auggeblieben,... . fallen auch dieſe Unglücksfälle weg: Sieben 


‚Selbitverftümmelimgen bei -im Ganzen 60 VBermundeten! Hildebrandt erwähnt, 
daf das moberne Geſchoß die Bermundeten nit fampfuntähig made: manche 
kãmpften trotz ber Verlegung weiter. Erfährtwörtlich fort: ‚Vielleicht wäre die Zahl 
dieſer Perfonen noch größer geweien, wenn nicht die meiften der Tämpfenden Buren 
bie Verwundung als willfpunmene-Belegenheit auffaßten, fich möglichſt ſchnell dem 
Kampfe zu entziehen.‘ Schließlich iſt Hildebrandt frod, daß die Englaͤnder Jakobs⸗ 


[Sauna ne Co —⏑——«— 


Saal belebten, trobdem er auf der Seite den Burn ſtand. er. ſchrelbt: ‚Die Ber: 


a 
‘ 


RN . 





= 


handlungen mit ben Engländern waren angenchmer als mit den Behörbese Buren. 
Trogdem wir Alles, Verpflegung u. |. ww, der Negirung des Oranje- Freiftantes 
bezahft hatten (die ben Buren freiwillig Hilfe leiftende Ambulanz !), ftießen mir 
ſtets auf Scäwierigfeiten, ſobald wir orberungen ftellten. Bei den engliſchen Mi- 
fitärbehörden das größte Entgegenfommen, fofortige Erfüllung aller Wünſche.“ 
Das Alles wird hier natürlich nicht angeführt, um bie Engländer zu entſchulden, 
den Buren, bie Bauerntugend und Bauernfehler haben, Häßliche Lappen ans Kleib 
zu fliden. Sicher wird von ben lieben Briten in Südafrika viel gefündigt, und wem 
fie dafür die Strafe trifft, werben fie vergebens Mitleid erflehen. Nur fol man er: 
wachſene Völker nicht mit Kindermären von Engeln und Teufeln füttern. Das 
Urteil in einer ernften Sache darf ſich nicht nur auf die Ausfage einer Partei 
ftügen und den Widerſpruch ber anderen überhören. Deshalb werden Hier vor 
Zeit zu Zeit Stimmen vernommen, die Manchem vieleicht zunächſt nicht gefallen, 
nad) und nad; aber die Möglichkeit ſchaffen, ſich ſelbſt eine Meinung zu bilden. 
* * 


254 Die Zutunft 





* 

Der Direktor einer Mädchenſchule ſchreibt mir: 

Neuer Wein taugt nicht in alte Schläuge. Wir Pädagogen bürfen die 
moderne Kultur nicht als nafeweifen Eindringling in bie heiligen Hallen ber 
Schule behandeln, fondern als jugendfriigen Gaft, der neues Leben und nene 
Freude in die ehrwürbig grauen Mauern bringt. Freude! Ya, Hand aufs Herz: 
wer hat benn an unferer höheren Schule noch fo recht feine Herzensfreube? 
Freies Spiel der geiftigen Kräfte, ein edles und doch beſcheidenes Selbftwer- 
trauen, jugendfrijche Teiber mit gefunden Sinnen: diefe Ideale einer vernünf⸗ 
tigen Erziehung können doch wahrlich nicht in der Stidluft der ewigen Ertem- 
poraliennoth unter bem Damoklesſchwert der Verfegungangft gedeihen. Das 
Bischen formale Bildung durch die Maffiigen Spraden und — auf Das muß 
gefagt fein — das Bischen höhere Mathematik ift nicht jenes Uebermaß von 
Kummer und Verkümmerung werth, das fie jahraus, jahrein bie liebe Jugend 
koften. Eine Reform wäre gar nicht fo furchtbar j wer, wie fie ausfieht. Gerade 
jegt ift dazu die Gelegenheit günftig; denn bie Ausbehnung der Berechtigung 
zum Studium auf alle höheren Lehranftalten bedeutet doch wohl zugleih bie 
Anerkennung ber Gleihwerthigkeit aller Wege, die zu biefem Biel führen. Wenn 
alfo die Scheidewand zwiſchen dem höheren Lehranftalten gefallen ift, fo find 
wir damit dem deal der Einheitfcule, der höheren zunächſt, doch um eime 
hübſche Strede näher gerlidt. Nur darf das Fundament nicht wieber zu maffin, 
ber Oberbau nicht von vorn herein zu ehr überlaftet werben. Bon Ueberlaftung, 
Ueberbürbung haben wir vorläufig genug. Was fol im Mittelpunkt ftehen? 
Ich denke: für Deutſche das Deutfche, und zwar mit mächtiger Ausladung nad 
der Kulturgefhichte, fo daß es ſich auf der Bumaniftifchen Grundlage, ber wir 
unfere literariſche Entwidelung verdanken und gern verdanken, aufbaut. Mit 
anderen Worten: der griechiſche Unterricht muß im deuiſchen aufgepen. Ber, 
dem dann der Geiſt des Hellenenthumes in unferen herrlichen Ueberfegungen 
der Klaffiter nicht bämmert, wird ihn auch nicht bei ber Thränenſaat der Extem- 
poralien überden Optativaufgehen fehen. Unfere Schule foll mehrfein als eine Fach · 
ſchule für Altphilologen und Theologen. Nach dem Deutſchen bie fremben 
Spraden. Warum aber gleich zwei? Es ift für Jahre hinaus gerade genug 
an einer einzigen für foldes junge Hirn, das noch nebenher — nur! — ein 


Notizbuch. 255 


halbes Dutend anderer Fächer durchſtudiren fol. Als Abſchlagszahlung auf die 
Forderung einer entiprechenden körperlichen Erziehung genießt ‚allerdings der 
junge Körper zweimal in der Woche eine Art militärifcher Vordrefiur nad 
fäuberlider Schablone. Das nennt man Turnen und ftopft mit diefem Wort 
ber gequälten Natıır den Mund. Auch das Bischen Bewegungfpiel als liebens- 
würbdiges Anhängjel der Schule: ift doch fein Aequivalent für die Vernachläſſigung 
bes jugendlien Körpers. Alfo zunäcft eine einzige Tyremdipracdhe, und zwar 
Franzöſiſch. Es ift leicht zu lernen, Hat formalen Bildungwerth, jſt bei unferen 
geſchichtlichen und Tommerziellen Bezichungen wichtig und bat eine Literatur, 
bie nur der Unkundige ablehnen fann. Nach einer Weile muB wohl eine zweite 
Fremdſprache folgen; leider, aber ber babyloniſche Spracdenthurm fteht nun ein- 
mal. So mögen denn bie Einen zum Franzöſiſchen noch Latein, die Anderen 
Englifh nehmen. Ob dann einzelne Schüler von der Erlernung der zweiten 
Fremdſprache unter entiprechender Kürzung ihrer Berechtigung dispenfirt werden 
können, ob ferner in den oberften Kurſus der lateiniſch⸗franzöſiſchen Abtheilung 
ein fafultativer griechifcher Unterricht einzuführen ift: Das find techniſche Tragen 
zweiten Ranges für die fpätere Praris. Jedenfalls hätten wir dann Gym⸗ 
nafium und Realſchule — die Zwifchengattungen haben feine innere Beredtigung — 
dur ein gemeinsames Band zufammengehalten. Und ift der Gedanke, daß in 
unjerer Zeit der Zerfahrenheit des öffentlichen Lebens, der centrifugalen Be« 
ftrebungen auf der ganzen Linie wenigitend die Jugend noch auf einem gemein- 
famen Boden ihrer Weltanjchauung ftehe, al3 Bürgichaft eines neuen Zufammen: 
ſchluſſes der Nation nicht allein jchon der Erwägung werth und eines vielleicht 
nur geträumten Opfers liebgeworbener fcholaftifcher Ueberlieferungen? Das Opfer 
ift das Griehifche in der Urfprade; und der Gewinn: eine viel eingehendere 
Beichäftigung mit der Gelammtlultur des Alterthumes, ferner die höhere Ein— 
beitjchule mit ihrer großen fozialen Bedeutung und vor Allem die Entlaftung 
ber Jugend und die Möglichkeit harmonifcher Ausbildung nicht nur des Geiſtes, 
fondern auch des Leibes. Kommen wird es, weil es kommen muß; aber wann?” 
* * 


* 

Heinrich der Zweiundzwanzigſte älterer Linie, ſouverainer Fürſt Reuß, Graf 
und Herr von Plauen, Herr zu Greiz, Kranichfeld, Gera, Schleiz und Lobenſtein, 
iſt geſtorben Seine Mutter, die heſſiſche Karoline, unter deren Vormundſchaft er 
anfangs regirte, hatte ihn Preußen haſſen gelehrt. Preußen und Bismarck, ber aber 
galant genug war, der würdigen Dame bie Erinnerung an kleine Bosheiten nicht 
nachzutragen. Al3 Ernft Dohm, der Redakteur des Kladderadatſch, wegen Belei- 
digung der Fürſtin Karoline zu fünf Wochen Gefängniß verurtheilt worden war, 
erwirkte Bismard bem geiftreichen und muthigen Mann eine Verkürzung der Straf. 
zeit und fügte bem Brief, der dem Gefangenen die Begnadigung in die Stadtvogtei 
melbete, die „perfönliche Bitte” hinzu, „Die arme Karoline nun ruhen zu laſſen“. 
Ihr Nachfolger wurde, in den Wibblättern wie auf dem Thron, der arme Heinrid). 
Dem erging es noch jchlimmer, obwohl er ein ruhiger, anjtändiger und beicheidener 
Herr war, ber auf feine Weije reblich für das Behagen ber reußifchen Bürger forgte. 
Daß er Preußen nicht liebte, war am Ende begreiflich; daß er feinen Haß nicht, wie 
andere Mißvergnügte, die in der Tafche die Fauſt ballen und mit einem Courlächeln 
berliner Brunfichaufpielen zufehen, in des Bufens Tiefe barg, zeigte ihn als einen 


256 Die Zukunft. 


Mann, der ven Muth feiner Meinung hatte. Und diejer Frondeur war jo ungefähr 
lich, daß man ihn nicht zu fürchten, nicht zu fchelten brauchte. Er ließ ſeinen Ber 
treter im Bundesrath gegen faft alle preußifchen Anträge ftimmen, feierte bie Fehr, 
mit denen das Reich durd) berliner Dekret beglüdt wurde, nicjt mit und fagte ber 
Hofbienerfchaft,er werde Steinen betrafen, ber einen Sozialdemofraten in den Reid> 
tag wähle. Das waren fo ungefähr feine ärgften Sünden. Dafür war er ein gute: 
Haushalter und unter Uniformen und Galatleidern eine in ihrer Art ehrenwerthe 
Perfönlichleit. Keine große; fonft hätte fein Groll ſich nit mit Nadelſtichen be 
gnügt, die kein Flockchen aus ber preußifchen Wolljade riken. Ein Heinrich voa 
höherem Wuchs hätte auf feinen dreihundertundſechzehn Duadratlilometern, anf 
einem Gebiet alfo, das felbft Heutzutage ein Yürft noch zu überfehen vermag, bir 
verhaßten Preußen die Kunſt moderner Staatsverwaltung gelehrt. Der Erbe des 
Toten ift pfychiich belaftet und unfähig, die Negierung anzutreten. Die Regent: 
ſchaft fällt der jüngeren Linie zu. Und von den Bunbdesfirften des Deutſchen 
Reiches find zwei nun offiziell für geiſteskrank erklärt. 
' * * 


* 

Eine wunderliche Tragikomoedie hatin Berlin begonnen. Im vorigen Sommer 
hat der König von Preußen dem Stadtrath und Reichsſtagsabgeordneten Kauffmann 
den Magijtrat und Stadtverordnete zu Berlins zweiten Bürgermeifter machen 
wollten, bie Beftätigung verfagt. Die Wahl wurbe wiederholt, der Vorſchlag aber, 
nach dem Sinn bes Geſetzes mit Net, dem König nicht noch einmal unterbreitet 
und Jeder wußte: Herr Kauffmann wird in Berlin niemals Bürgermeifter. Das 
gab feinen Grund zurAufregung. Die kommunalen Körperſchaften Haben Tein Wadl⸗ 
recht, ſondern nur eine Vorjchlagspflicht; fie Haben für erledigte Stellen Kandidaten 
vorzuſchlagen, die der König dann nach Belieben ablehnt oder ernennt, ohne feinen 
Entſchluß begründen zu müffen. Die ganze, jo laut als liberale Errungenſchaft ge 
‚priefene Selbftverwaltung ift eben, wie die Unabhängigkeit der Richter mb Bag Pren- 
Benredt, in Wort, Schrift und Bild feine Meinung zu jagen, eine hübſche Couliſſe, 
deren Anblid artige Kinder erfreut. Herr Kauffmann war früher ein Rechtsanwalt 
ohne große Praxis gewejen, dem ehrenhafte Gefchäftsfitte nachgefagt und ber dann, als 
gut freifinniger Mann, in die Stadtverwaltung übernommen wurde. Ein Stabtrath 
wie andere Stadträthe; und ein Reichdtagsabgeorbneter, der in dem Feiner Häuf- 
fein Derer hinter Eugen Richter nie aufgefallen war. Der in der zweiten Lebens- 
hälfte in den Kommunaldienſft Beförderte hatte nie einen neuen vder neu klingenden 
Gedanken ausgefprochen, nie Gelegenheitgehabt, Weltkenntniß oder gar Verwaltuug⸗ 
talent zu zeigen. In der Reihshauptftadt aber, deren Oberbärgenteifter der Fräere 
Rechtsanwalt Kirfchner iſt, ein ſchmiegſamer Kerr ohne jede Inillative, fonnte 
natürlich auch ein anderer milder Robenträger:die Amtsgeſchafte bes 'ziveiten 
Bürgermeifter3 beforgen. Die Hauptſache tft ja, dab bie Freiſtunige Bereinigung 
GKirſchner) und bie Sreifinnige Volkspartei (Kauffmann) die Beiden’ wichtigften Steffen 
befegen. Herr Kauffmann ſcheint nun die Hoffnung nicht dufgegeben zu haben, dad 
eines nicht alfzır fernen Tages noch ans Ziel feiner Wünſche zu komnien. Er wollte die 
Wahl nicht ablehnen, hinderte alfo feine Parteigenoſſen, einen neuen Kanbi: 
baten vorzufchlagen. Plötzlich, vor ein paar Wochen, hieß es, er Fei erkrankt. 
Biychofe. Der Hausarzt fei gezwungen geweſen, ihn in bie malson de sants zu 
bringen. Dort blieb er eine kurze Weile und von bort kam an den Stadtwetordneien⸗ 


F N m ẽ 
e ⁊— 


Rotizbuch. 261 


vorſteher ein Brief, in dem ber Stadtrath erklärte, er trete von der Bürgermeiſter⸗ 
Landidatur zurüd. Dann reifte ee nad) Thürkngen und wurde von einem Sendboten 
des Berliner Lokalanzeigers interviewt. Sch bin ganz gejund, fagte Herr Kauff⸗ 
mann; das Zufammenwirken von Opium und Morphium hatte mich für kurze 
Beit „in eine maniakaliſches Delirium verfegt”; von einer eigentlichen Geiſtes— 
krankheit Tann nicht die Rede fein, ſonſt wäre ich nicht fo ſchnell geſund geworden; 
mein Hausarzt hat unnerantwortlich gehandelt und meiner RüdtrittSerflärung ift „ein 
offizieller Charafter nicht beizumefjen“. Schon vorher war behauptet worden, Die fret= 
finnigen Mannesfeelen, die um jeden Preis wieder in die Gnadenſonne gelangen 
möchten, hätten den ftörrigen Stadtrath gekränkt, mit Arbeit überhäuft, indie Irren⸗ 
anftalt geſchleppt und dem Leidenden den Verzicht auf die Kandidatur aufgedrun- 


gen. Die ſolche Geſchichten umhertrugen, merkten wohl nicht, welche feltfame Rolle 


fie ihren Helden jpielen ließen. Jetzt, nach feinen unbeftrittenen Erklärungen, tit 
kaum noch ein Zweifel daran möglich, daß er wirklich krank ift; ungefähr fo, wie.er. 
ſprach, ſprechen fait alle unglüdlichen Opfer einer Pſychoſe. Da dieſe Krankheiten: 
aber lange Rubepaufen nicht ausschließen und oft Jahre hindurch dem Laien nicht er= 
teımbar find, kann die traurige Gefchichte fich noch eine Weile hinziehen. Herr Kauff⸗ 


mann will, trotzdem er nad} ben legten Borgängen doch unter feinen Umftänden, 


Bürgermeifter werden kann, nicht freiwillig verzichten, feine Barteigenofjen werden 
fich hüten, ihm einen Pfychiater ind Haus zu ſchicken, und der Briefeinesineiner Irren⸗ 
anftalt Internirten ift rechtlich werthlos. Immerhin ſollten die Freunde bes Kranken 
nicht allzu fcharf ins Zeug gehen; fonft wird man fi im Rothen Haus doch ent⸗ 
ſchließen, ein pfychiatrifches Gutachten zu fordern und öffentlich feftzuftellen, daß Herr 


- Kauffmannindem Synodalftreit, berdie Urfache jeinesgufammenbruches gemefen fein- 


foll, die Hauptarbeit zwei Aſſeſſoren zugewiejen hat. Der Stadtfreifinnfehnt fich gewiß, 
inbrünjtig nach der Hofgunft ; die Irrengeſchichte riecht aber allzu jehr nach der Hinter⸗ 
treppe. ebenfalls Haben die Herren jeßt Zeit, einen neuen Bürgermeifterlandidaten, 
zu küren, und es wird interefjant fein, zu jehen, ob fie wirklich den Muth Haben werden, 
wieder eine fraftionelle Mittelmäßigfeit vom Schlage bes Herrn Fiſchbeck zur Er- 
nennung zu empfehlen. Als neulich im Kreis der Zuverläffigen die Frage erörtert 


- wurde, wen man zum zweiten Bürgermeifter wählen folle, rief ein wißiger Herr: 


„Kirfcäner!” Der Mann hatte Recht. Für die Stelle des zweiten Bürgermeifters ift 


Herr Kirſchner ſehr geeignet. Wenn zum Oberbürgermeiiter ein ſtärkeres Berwaltung« 


talent erwählt würde, ein Mann von Weltkenntniß und perſönlichem Anſehen, der 


weiß, was in England, Amerika und Frankreich die Gemeinden heutzutage leiſten, 


dann könnte man aud in Berlin endlich an die Löfung neuer Probleme der Kommunal 


politik denfen und brauchte fi nicht mit dem dürftigen Ruhm zu begnügen, der. 

zwiſchen den Pflafterjteinen ſauberer Straßen emporleimt. Dod) jolde Hoffnung 

: wird unerfülft bleiben, jo langedie reichshauptſtädtiſche Gemeindeverwaltung obdach⸗ 
loſen Mitgliedern der beiden freilinnigen Fraktionen als Aſyl dienen muß. 

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* 
Sm Reichstag haben die Freifinnigen ſich das Lob unbefangener Zuſchauer 


| verdient. Sie haben die der Zolltarifkommiſſion bewilligten Sommterdiäten abge» 


lehnt. Das war flug und wird ihnen nügen. Sie fönnen nun mit dem Finger auf 
die Sconfervativen, Nationalliberalen und die Gentrumsabgeorbneten weijen und 
fagen: Seht, wir find beffere Menjchen als Diefe, die fi} für eine nußloje, zweck⸗ 


des Gerühmten nicht kannte. Weiß er nicht, daß feine diplomatischen Kollegen ihn Täng 


258 Die Zukunft. Ä = 


loſe Arbeit zweitauſend Mark auf den Kopf bezahlen laflen! Zwecklos ift bie Arbeit 
ber Tarifkommiſſion, weil über die wichtigften Punkte der fünftigen HanıbelSperträge 
offenbar ſchon eine internationale Einigung herbeigeführt ift und das ganze Gerede 
ins Leere verhallen wird. Daß Sozialdemokraten und Sreifinnige das für folde 
Arbeit gebotene Geld nicht annahmen, war ein Beweis taftifcher Leberlegenheit, ben 
fie bet den nädjiten Wahlen ins hellfte Licht rüden werden. Uebrigens jollte man 
im Deutichen Reich Heute jede Sünde wider Wortlaut und Sinn der Berfafjung 
noch ängftlicher ſcheuen als in weniger Tritii den Zeiten. Artikel 32 der Reichsder 
faffung fchreibt vor: „Die Mitglieder des Reichstages dürfen als folche feine Befolbung 
oder Entihädigung beziehen.“ Es ift betrübend, zu fehen, mit wie leichtem Herzen 
Bunbdesrath und Reichstagsmehrheit fich über diefe Vorſchrift hinweggeſetzt haben. 
* * 


%* 

Solche Bedenken fchreden den Grafen Bülow nit. Er ift Heiter und fremt 
“dh, troß Regenfchauer und Sturm, des erwachenden Lenzed. Neulich bat er m 
Düffelborf bei ber Eröffnung der Ausftellung wieder einmal geredet. Wundervol. 
Auch da regnete ed. Doc der vergnügte Kanzler rief tröftend: „Post nubila 
Phoebus! Sobald der Hohenzollernfproß (der Kronprinz, den das Broteftorst 
Aber die Ausstellung anvertraut tft) eintritt, wird die Sonne ſcheinen.“ Und fe 
fhien. Dann ſprach er von den Zollkämpfen und fagte: „Stets fol uns bir 
das Vorbild unferes Kaiſers voranleuchten, der feinen jchönften Ruhm barin findet, 
unermüdlich unſer Gejammtvorbild zu fein.“ Das war noch nidt Alles; bie 
ftärffte Leiftung brachte ber Sag: „Unfer großer königsberger Weiler Kant bat 
feiner erften Schrift den Titel gegeben: ‚Bon ber wahren Schäßung der lebendigen 
Kräfte‘. Ich glaube, daß wir nach unjerem heutigen Rundgang in diefer Schäßung 
zeiher geworben find". Der zweiundzwanzigjährige Wolffihiller Kant hat wirt 
lih „Gedanken von der wahren Schägung ber lebendigen Kräfte“ veröffentlickt: 
eine noch unfelbjtändige Arbeit, bie fich mit fartefifchen und leibniziſchen Gedanken 
auseinanderzujegen verfuchte. Natürlich war da nicht von wirthſchaftlichen KEräften 
die Nede. Graf Bülow bat diefe Schrift nicht gelefen. Das iſt fein Ungläd. 
Warum aber citirt er fie dann, citirt fie fo falſch, daß die gebildeten Leute Durch diefe 
Wippchenthat zu lauten Lachen gereizt werden? Es war ſchon ſchlimm, daß er dem: 
Alten Fritzen über das Preußenheer ein Wort zufchrieb, daß in der gemeinen Wirk) 
lichkeit Bonaparte zur Abwehr deutjcher Kritiker gefprochen hatte, und Fichte in Säg 
prie3, bie verriethen, daß er das fozialiftiiche und atheiftifche Glaubensbefcnntni 












den Minister des ſchönen Aeußeren nennen und in der Wilhelmftraße vorgejchlager 
ward, einen Gitirfchugverein gegen den Kanzler zu gründen? Kultur haben, bei 
doch vor allen Dingen: nicht mehr fcheinen wollen, als man ift, nicht im Schei 
einer Bildung glänzen, die man nicht befigt. Graf Bülom iſt ein guter Feuilleton 
rebner. Den größten deutſchen Philofophen aber ſollte er nicht zum Aufpuß vom 
Tafeltoaften mißbrauchen. Seine Reden werben ja gedrudt und nicht nur von ehr 
fürchtig aufhorchenden Yandsleuten gelefen. Im Ausland aber wirkt es nicht günfti 
wenn der erite Beamte des Deutjchen Reiches immer wieder die großen Gei 
feines Volkes citirt und ihres Weſens doch nie einen Hauch zu ſpüren vernag; 











Herausgeber und verantwortlicher c Nevafteuc: DM. { M. Hardın ı in 1 Berlin. — &e — Berlag der Zulunft ie Berim, 
Druck von Albert Damde in Berlin Schöneberg. 








Zukunft. 














Berlin, den 17. Mai 1902. 
————7777T 


Waldeck⸗Rouſſeau. 


Mw hat eine gute, an Senſationen reiche Woche gehabt und die putzigen 
Tageblattboſſuets, die vor Jahrzehnten ſchon Barbey d'Aurevilly das 
Leben verleideten, brauchen von der Furcht vor pfingſtlicher Feſtruhe ſich 
diesmal nicht ſchrecken zu laſſen; denn der aufgehäufte Stoff reicht für Mo- 
nate aus. Zuerft rüttelte der Fall Humbert-Eramford die Nerven. Frau 
Therefe Humbert, eine refpeftirte Dame der beften Geſellſchaft, hat ſich un- 
gefähr zwanzig Jahre lang für die Erbin eines Vermögens von hundert 
Millionen Francs ausgegeben, das ein Amerikaner, Herr Crawford, ihr ver⸗ 
macht habe. In einer eifernen Truhe bewahrte fie den Schag, zeigte Zweif⸗ 
lern manchmal dicke Rentenbriefbündel, durftedas Geld aber noch nicht als ihr 
Eigenthum betrachten, weil das Teftament von zwei Neffen des Erblaſſers 
angefochten wurde, beren Beligrechte der gewiſſenhaften DameHeilig waren. 
Mit genialer Verbrechertaktit fchleppte fie die Sache feit 1883 immer 
wieder ins tieffte Dieicht des Civilprozeſſes; und da die Aermfte mit ihrem 
‚ Mann, dem Sohn eines früheren Juftizminifters, inzwiſchen doch ftandes- 
gemäß leben mußte, pumpte fie, pumpte munter bei Groß und Klein. Vierzig 
Millionen hat fie auf diefem felbft Heute nod) ungewöhnlichen Wege zu- 
ſammengebracht. Nun ift Madame mit Dann und Sippe verſchwunden, die 
eiferne Truhe ift leer und über den Thatbeftand kein Zweifel möglich: die 
drei Crawfords haben nie gelebt, Frau Humbert hat nichts geerbt und, um 
die Gläubiger hinzuhalten, in allen Inftanzen die Komoedie eines Erbſchaft ⸗ 
19 


rg 


250 Die Zukunft. 


ftreites aufgeführt, dem jeder Gegenftand fehlte. Ein Stoff für Ariftophanes, 
Le Sage oder Offenbach; ob ihn nicht irgend ein flinfer Philippi bis zum 
nächſten Herbjt deutjchen Kunden zufchneiden wird? Noch achten die nick 
unmittelbar Gefchädigten über die ausbündige, alle Schelmenromane über- 
trumpfende Gaunerphantafie, der folcher Erfolg beſchieden war: da kam die 
Hiobspoſt, die Krater des Mont Pelee auf Martinique hätten eine Lavafluth 
ausgefpien und Saint-Pierre, Die Hauptftadt der alten, oftumftrittenen fran- 

zoͤſiſchen Kolonie, verſchüttet. Vierzigtauſend Dienishen ſollen in dem Kata: 


klysmus umgekommen fein; dieſe Zahl erreicht nicht „faft“, wie der Deutiche 
Kaifer in einer Reneiche.au Serum. Quubstingend Tage, bie Be in Pompeji 
von vullanischen Wüthern Siugerafften, jondern ift zmonzigmalgrößer. Und 
faum war dieſes Schreckens jäher Prall verwunden, faum fingen Die von 
unflarer Grauſenskunde Berftörten zu finnen an, wie den Ueberlebenden 
Hilfe zu bringen, die von einem durch die Antillenwelt tobenden Elementar- 
aufruhr bedrohte Kolonie zu retten fei, als ſchon neue, nähere Senſation bie 
ruhelofen Gemüther padte. Die legte Schlacht im Wahllampf war gejchla- 
gen undjeder Franzoſe griff nachdem Stredenrapport, um zu erfahren, wem 
auf der Jagd nad) der Volksgunſt diesmal Fortuna gelächelt habe. Und ınitten 
in all dem Lärm wurden die Anter des Schiffes gelichtet, das den PBräfiden- 
ten-Zoubet nad) Rußland trägt, zum Goſſudar der nation alliée et amie. 
Für eine Woche wars genug; und fein Wunder, daß auch unferer Zeitungen 
"größter Theil mit der Schilderung franzöfifcher Zuftände zu thun hatte. 
Fran Humbert, der zwilchen Zurcaret und Mercadet ein Pranger: 
plat gebührt, wurde in die Kellerräume gewiejen und, wie de$ Landes Der 
Brauch iſt, von den fürs Feuilleton gemietheten jungen Leuten zur Verherr⸗ 
fihung deutfcher Nechtspflege benutt. Den Krater des Mont Belde um- 
freiften allerlei feltjame Eintagsgeologen, die von Bimsfteinfand wundervoll 
zu erzählen, die Lapilli anfchaulich zu befchreiben mußten. Ueber die Fahrt 
ins Heilige Rußland wurden Wige gemacht, al3 wären bei ung ſolche Reifen 
nie zu den wichtigen Staatsaftionen gezählt worden. Die Politiker aber 
jtimmten einen Triumphgeſang an: Herr Walded-Rouffeau hat gefiegt und 
die Horde der Prätorianer und Jeſuitenſchützlinge aufs Hanpt geſchlagen! 
Die Schwarzen Anjchläge der Dunfelmänner und Tyrannenknechte find zu 
Schanden geworden und das Minifterium der Freiheit, des Lichtes, der 
Gerechtigkeit bleibt ung erhalten. Uns: ungefähr jo wird wirklich gefchrieben 
undgedrudt ;als müfjedem guten Deutjchen die Fortdauer der Firma Walded 
& Millerand ein Herzensbedürfnig jein. Ob fie dauern oder ſchon im Juni ge⸗ 


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Waldeck⸗Rouſſeau. 261 


löſcht werden wird, iſt heute noch zweifelhaft. Die Berechnung des in der 
neuen Kammer zu erwartenden Stimmenverhältniſſes iſt keinen rothen 
Heller werth. Faſt nach jeder Wahl fieht man in Frankreich das ſelbe Schau⸗ 
ſpiel: alle Parteien erklaären ſich von dem Spruch des ſouverainen Volkes bes 
friedigt und preiſen die Weisheit des Wählers, der ſich durch des boͤſen Feindes 
Höllenkunft nicht von rechten Weg locken ließ. Anders klingt das Lied ge⸗ 
wöhnlich erft, wenn die neue Saifon in den Folies-Bourbon eröffnet ift. 
Auch jett muß man fihgedulden, follte man, ftatt dem Freudengekreiſch der 
Jaurès und Nochefort zu laujchen, die Zeit bis zur Entjcheidung benugen, 
um die Bedeutung des Streites.erfennen zu lernen, der nun Jahre lang 


‚ Schon Frankreichs Boden zerwühlt und von dem alten Experimentirlande 


der Weltgefchichte bald in andere Gegenden fortwuchern wird. Seit der 
Dreyfuslärm verhallt und die Erregung, die dem Betrachter die wildeften 
Kampftage der Ligen ins Gedächtnif ruft, dennoch nicht aus den Gemüthern 
gewichen ift, mußte jeder Wache merken, daß der in beiden Lagern mit allen 
Mitteln brutaler Gewalt und liſtiger Tüde geführte Bürgerkrieg einem 
‘größeren Gegenftande galt als der Rettung oder Vernichtung eines dom 
Standesgericht ſchuldig geiprochenen Menſchen. Die Franzoſen fühlen ſich 
in ihrem Lebensrecht bedroht; fie möchten ſich als ein ſtarkes Herrenvolf in 
Europa behaupten und fämpfen deshalb gegen die fapitaliftifche Korruption, 
gegen die träge Gleichgiltigfeit der deracines, die für alle fittlichen Fragen 
nur ein müdes, jfeptijches Lächeln hat, gegen den Vaudevillegeift, den felbit 
der eruftelte, traurigfte Vorgang nur zu frechen Witen ftimmt, und gegen 
die Tyrannis der fchnell von jedem pfiffigen Schwindfer gefefjelten Maſſe. 
Das Heil foll, fo Hoffen die Patrivıen, vom Heer fommen, das nicht, wie 
das regirende Parlament zum großen Theil, aus Fäuflichen Strebern, fon» 
dern aus reblichen, in einen ftarren Ehrbegriff gewöhnten Männern be- 
jteht, defjen leuchtendes Kleid der Panamaſchlamm nicht beipritt hat 
und dem man ruhigen Muthes die nationale Zukunft anvertrauen darf. 


Der jede andere Erwägung niederzwingende Wunſch, in dem aller bür- 


gerlichen Autorität beraubten Lande wenigftens das Anjehen der Armee un- 
getrübt zu wahren, hat in dem von Jules Lemaltre geleiteten Bunde La 
Patrie Francaise viele der feinsten Torhutgeifter zufammengeführt. Ihnen 
bat fich in den meiften Provinzen die Fortſchrittspartei der Herren Meline 
und Ribot verbündet. In diefer Koalition find wenige Pfaffenfnechte, nod) 
weniger Monardhiften, aber jehr viele aufgeflärte und liberale Leute zu finden, 
die offen fagen: Unfer fatholifches Volk hat gefährlichere Feinde, als der 
19° 





262 Die Zukunft. 


Klerus einer ift; e8 braucht ein ftarkes, in der Visgiplin m und im 
an feine Führer nicht erfchütterte8 Heer und will lieber von frangöfifch e m 
pfindenden Bifchöfen und Generalen beherrſcht werden als, wie biäher, von 
den Herz, Arton, Reinach und deren Dienftinannen. Daß die Schanr, die 
mit diefem Ruf in den Kampf 309 und der die Bauern und Kleinburger⸗ 
angft vor dem Erftarfen des Sozialismus zu Hilfe kam, nicht beim erften 
Anfturm den Sieg erftritt, ift das perfönliche Verdienft des Minifterpräfie 
denten Walded-Rouffeau. ALS Berryer, auch ein politiicher Advokat, von 
feiner Preſſe zu den Halbgöttern erhöht wurde, ſchrieb Barbey in heller Wuth: 
Diefe Täppifche ober Heuchlerifche Ueberwerthung eines Menfchen ift auf die 
Dauer efelhaft. Solches Gefühl regt ſich in dem Unbefangenen auch beim 
Leſen der Waldeckhymnen. Doch der Held dieſer Sängeiftder Beachtung werth 
In einem Büchlein von Erneft-Charles hat kluge Bosheit neulich ſein 
Charakterbilb gezeichnet. Ein Dann, der nie lacht, nie in Higige Wallung 
geräth, der unter blickloſen, halb verfchleierten Augen von Zeit zu Zeit nur 
melancholiſch, verächtlich lächelt. Ex läßt ſich nicht Hinreißen, nicht von En- 
thuſiasmus noch Zorn weiter führen, als er gehen wollte, und kein Ereignik 
Scheint ihm das Phlegma vertreiben zu können. Dabei ftolz, oft Hochfahrend 
im Ton, mit der fteifen Würde des vom Athem des profanum vulgus an- 
gewiderten Ariftofraten; ein fehr kultivirter Menfch, Sammler feltener ob- | 
jets d’art, Dilettant im franzöfifchen Sinn des Wortes. Die Klofterfchufe 
hat ihn, wie fo viele in mönchiſcher Zucht Erwachſene, allem Kirchenweſen 
entfrembdet. ALS junger Anwalt folgt er der Fahne Gambettas, deffen ge- 
flügeltes Wort: Le elericalisme, voilä l’ennemi ihm aus fühlem Herzen 
geiprochen ift, wird neben dem ſtets Trunkenen ein nüchterner Minifter, geht, 
als Gambetta fällt, zu Jules Ferry über, der ihm das wichtige Minifterium 
des Inneren anvertraut, und zieht ſich, da die Bretonenihnnichtwieberwählen, 
mit deutlichen Zeichen der Geringſchätzung aus der Politik in die Civilrechts⸗ 
praxis zurüd, Er wird in Paris der Anwalt der großen Gefchäftslente und der 
großen Spigbuben, häuft ein ſtattliches Vermögen und fcheint, als die Here 
Politik ihn nad) Jahren abermals lot, von dem einen Wunſch nur erfüllt: 
den Sozialismus mit Stumpf und Stielauszuroden; und fozialiftifch nennt 
er ſchon den bürgerlichen Radikalismus des Herrn Bourgeois, dem er vor- 
wirft, den Umfturzparteien die Thür zur Herrfchaft geöffnet zu haben. In 
allen Reden warnt er vor der destruction, empfiehlt er die conserva- 
tion sociale. Ohne ftraffe Ordnung fei Freiheit nicht möglich und eine 
internationale Partei, die da8 Vaterlandgefühl negirt, ohne Rückſicht und 





Waldet:Rouffeau. 263 


Schonung zu befämpfen. Wer dem Arbeiter helfen wolle, dürfe das Kapital 
nicht beunruhigen, dem Arbeitgeber nicht die Möglichkeit nehmen, im eigenen 
Hauſe der Herr zu fein. Das Befigrecht iftihm das erſte aller Menfchenrechte. 
Am Oltober 1897 ruft er, ganz wie unjer Stumm, in Reims, fein Gerede, 
fein feiges Ausweichen nüte, die Entſcheidung müffe Hipp und Har.für oder 
wider den Sozialismus fallen. Als er 1898 den Grand Cercle ber 
konſſervativen Republifaner eröffnet, den er zum Hauptquartier der So: 
ztaliftenfeinde machen will, rühmt er Herrn Meline, den eminenthomme 
d’Etat, den Minifter, der das Land vom Unrath gereinigt und deſſen Autoris 
tät ſich von Tag zu Tag verftärkt habe. DreiMonate danad) ſcheidet Meline 
aus der Macht und Walde ruft dem „energifchen Republikaner“ nad: 
Nousne lui dieonspas adieu, mais au revoir! Das war im Juni 1898. 
Ein Jahr jpäter war Waldeck-Rouſſeau Minifterpräfident. Er wählte zwei 
Sozialiften, die Genoffen Baudin und Milferand, den Führer der jozial- 
demofratifchen Kammerfraftion, zu Kollegen und hat ſeitdem feinen anderen 
Politiker mit jo zähem Ingrimm verfolgt wie Herrn Meline, deſſen polis 
tifches Wefen doch in keinem Zuge gewandelt ift. Staunend fahen Waldecks 
frühere Freunde dem Speltafel zu und fragten, was diefen Dann, der nie 
nach Bolfsgunft lüftern jchien und der fchon oft Gelegenheit Hatte, ohne 
Opfer zur Macht zu gelangen, beftimmt haben könne, feineganzeBergangen» 
heit als ein Zweiundfünfzigjähriger fo zu verleugnen. Ein pfychologifches 
Näthjel. Auch der Herr, der jich Erneft-Charles nennt, hat es nicht gelöft. 
Und doch ift am Ende die Köfung felbft dann nicht gar fo fchwer zu 
finden, wenn man ſich vorher entjchloffen hat, Walde nicht einfach für einen 
feilen Wicht und Streber zu halten. Er ift klug, ungewöhnlich gefchicht und 
jo weitfichtig, wie mans dem gefuchteften parifer Civilanwalt zutrauten durfte. 
Er Spricht nicht mehr von destruction und conservation sociale, fondern 
hat längft ein anderes Schlagwort gewählt und heißt fich felbft den Organi⸗ 
fator der defense republicaine. Die Republik, fagt er feit drei Jahren, 
iſt bedroht; vor jedem Thor lauert ein Brätendentenwunfch, eines Diktators 
Ehrgier, und wenn wir nicht wachſam find, wird mit ber Hilfe der immer 
den ſtarken Bändigern verbündeten Pfaffenfchaft ung morgen irgend ein 
Gaſſencaeſar Inechten. Das glaubt der Schlaue natürlich jelbff nicht, der 
genau weiß, daß von allen Staatsformen des vorigen Jahrhunderts keine in 
Frankreich fo ungefährdet war wie die 1870 gefchaffene und daß für ab» 
ſehbare Zeit an bie Auferftehung einer Monardjie von Gottes oder von 
Pobels Gnaden nicht zu denken ift. Er zweifelt auch nicht an der Zuver- 


264 Die Zukunft. 


läfjigleit des Klerus, der, auf Leos und Rampollas Befehl, mit der Republil 
Frieden gefchlofien und nicht den geringften Grund hat, in nutzloſen Aben- 
teuern koftbare Kraft zu verzetteln. Aber ein Anwalt und ein Politiker hat 
nicht immer, hat jehr jelten ſogar die Pflicht, Die reine Wahrheitüüber die Forte 
rung der Augenblickstaktik zu ſtellen. Wer ſich gemöhnt hat, die Dienfchen nadı 
ihrem Handeln, nicht nach ihrem Neben zu beurtheilen, wird leicht merken, def 
Walded-Rouffeau feinem alten Ziel, die Neigung zum Sozialismus aus den 
Hirnen zu ſcheuchen, um eine tüchtige Strede näher gelommen ift. Der fer: 
Skeptiker, der an der Barre und in Wahlverfammlungen die Maſſenpfycht 
\chägen gelernt hat, mag geſchmunzelt haben, als er auf den großen Boult⸗ 
vards Tauſende rufen hörte: Nieder mit Deilferand! Conspuez le baron: 
Kein Zetern, fein Sozialiftengefeg, „fein Kampf mit geiftigen Waffen” 
fonnte fo wirken wie die wehe Enttäufchung, zu der ein ſozialde mokratiſcher 
Minuiſter feiner Genofjenichaft verhalf. Die Millerand, Yaures, Vivian, 
die ministrables fein wollten, haben in heißen Schlachten die Guespiften, 
Marrens jtrenggläubige Jünger, geichwächt und zugleich fid) ſelbſt um den 
Nimbus des Volfsbeglüders gebracht. Diefef Erfolg war nur durch eine 
Berbrüderung von Bourgeoifie und Proletariat zu erreichen; und ſolches 
Bündniß wurde erft möglich, wenn der Menge die Veberzeugung einge, 
hämmert war, bie Republik jei, die Freiheit, da3 Menſchenrecht in Gefahr. 
So oft eine Bourgeoifie ſich in ihrem Befigrecht bedroht fühlt, ſchreit fie, die 
heiligften Menfchheitgüter feien gefährdet, zeigt fie der gegen die Schranken: 
loſe Geldherrichaft erregten Maſſe den Pfaffen als Erzfeind und fucht fid 
das Gewimmel zubefreunden, dag ihr morgen ſonſt indie Bußftuben brechen 
könnte. Und jedesmal — cben ſahen wirs wieder in Belgien, wo Liberale 
Tabrifanten die Arbeiter um den Kampfpreispreliten und der Sozialdemo- 
fratie eine Wunde fchlugen, von der fie fich fehwer erholen wird — jedesmal 
ilt das Proletariat dann fo arglos, jo blind, daR es jich von den ungemein 
menschenfreundlichen Kapitalijten firren und als Helotenheer in einen Krieg 
der Privilegirten treiben läßt, in dem es nichts zu gewinnen hat. 

Herr Walded-Ronffeau hat dieſes Nothmittel nicht erfunden, aber fo 
flug angewandt, daß der Erfolg nicht ausbleiben konnte. Frankreich, das eine 
Soziale Revolution fürchten mußte, hat heute nur Salonfozialiften und madht- 
loſeSekten. Walde hat gefiegt, nicht über monarchiftifche oder pfäffiſcheFeinde 
der Republik, jondern über die Förderer der destruction sociale. Unferer 
Preſſe iſt er der lichte Heldlauterfter Redlichkeit. Vielleicht ftammt die Dankbar⸗ 
keit aus demInſtinkt, der inWaldeck den Hort bourgeoiſen Beſitzfriedens wittert. 

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. Die Welt als Zeit. 965 


Die Welt als Seit. 


Man lernt mehr Weisheit mit dem 
Hören als mit dem Sehen. Das Hören 
bringt mehr herein, aber das Sehen weijt 
mehr hinaus. Meifter Eckhardt. 

Es giebt feinen Unterjchied zwiſchen 
dein Subjeft, das erkennt, und dem Objekt, 
das erfannt wird. 

Pariſer Univerfität anno 1276. 


a babe ich in meinen Berichten über Mauthnerd Spradkritif*) 
den Grundgedanken des Werkes verfländlich genug wiedergegeben; 
was mir.aber zu fehlen fcheint, ift die Aufdedung des Grundgefühles, aus 
dem heraus Mauthner ans Werk gegangen tft; und was fchlieflich das Selbe 
fagt: es muß noch gezeigt werden, zu welchem Ende und Mauthner dieje 
Waffe in die Hand gegeben hat. Kurz gefagt: zum Ende Gottes. ch 
glaube, nicht falfch zu vermuthen, wenn ich fage: Was Mauthner bei dieſer 
Arbeit langer Jahre geftählt und begleitet hat, war das Gefühl, daß es weder 
Kant noch einem Anderen biöher gelungen mar, mit der falfchen Hypothefe 
„Gott“ fertig zu werden. Man mußte die Sprade angreifen, noch mehr, 
man mußte erkennen, daß all unfere Erkenntniß nur Sprache fei, um dieje 
That zu thun, — e8 einmal für alle hinzuftellen: ob Ihr es Gott nennt oder 
moralifche Weltordnung oder Zweckmäßigkeit der Welt oder tiefere Bedeutung 
der Welt oder Erforfchung der Wahrheit oder Erkennbarkeit der Welt, — 
e3 ift immer das Selbe: der Glaube, die Welt ausfprechen zu können, ift 
der Glaube an Gott. Was immer Ihr von ber Welt fagt: e8 find Worte. 
Das heit: e8 ift nicht wahr. Wahrheit hieß bisher immer: fo ift es; wenn 
das Wort noch fernerhin angewandt werden foll, muß es bedeuten: es ift 
anders. Das Wort Wirklichleit mögen wir ruhig behalten für unfere Er- 
Icheinungwelt, für Das, was auf ung wirft und wiederum von uns bewirkt 
wird; Wahrheit aber ift ein durchaus negatives Wort, die Negation an ich, 
und darum in der That Thema und Ziel aller Wiflenfchaft, deren bleibende 
Ergebniffe immer nur negativer Natur find. Darum auch ift es fein. Wider: 
ſpruch, daß Mauthners Kampf gegen die Sprache fprachlich geführt wird: 
denn Das ift eben die Aufgabe der Begriffsfprache, fi) mit Dem zu be 
fhäftigen, was nicht ift, bisher Geglaubtes zu negiren. Alles ift anders: 
Das ift die Formel all unferer Wahrheit. Auf diefe Ahnung ift e8 wohl 
zurüdzuführen, daß man hinter dem Tod die Löſung des großen Räthfels 
geſucht bat; ich möchte jagen, man Hat den Trugichluß gemacht, aus der 


*) S. „Zukunft“ vom 23. November 1901. 


" 
266 Die Zutunit 


Empfindung, daf Wahrheit — Andersfein ift, zu chliehen: 8 Iramde alle 
nur eine gründliche Veränderung wit uns vorzugehen, danrit wir lies m 
Tennen. Über ſolche Veränderung ift ja auch wieder nur etwas Bofitineh 
nur ein Zuftand; jenes Andersſein aber drüdt lediglich die Negation aus = 
tönnte durch „niemal3“ erfeist werben. In diefer Auffaflung’ füllt „Wahr 
heit“ natürlich auch mit dem „Ding a ſich“ zufammen. Was ftect Hinter 
unſerer Wirflichleit? Etwas Anderes! Wie ift die Welt an fh? Anden! 
Diefe Wahrheit, daß man bie Welt eben darum nicht erfemnen kamz, 

weil man fie erfennen muß, räumlich, zeitlich, dinghaft wahrnehmen und mi 
Worten belegen, ift ſchon früh und immer wieder, mandmal mit murnderbant 
Schärfe und Deutlicheit, außgefprochen worden; und ‚gerade in dem Kreifen 
wo man mit tieffter Sehnſucht nad; der Ruhe des Poſitiven lechzte mu 
darum unerfchroden und ehrlich war. Denn die Gefchichte ber Weltanfchaumgen, 
der Philofophien wie der Religionen, önnte in zwei Lager getheilt werben: 
auf ber einen Seite Solche, die ſich ſchnell bei etwas Poſitivem bermbigten: 
die Priefter und die Gründer philofophifcher Syſteme als Beſſere und tx 
Pfaffen und PHilofophieprofefforen als weniger Gute; auf der anderen Sen 
Solche, die leidenschaftlich nad; Ruhe begehrten, aber duch nichts beruhigt 
werden konnten: die Ketzer, Seltirer und Myſtiler. Es geht eine Linie, dir 
bei den Neuplatonitern ſicher nicht anfängt, aber doch zum erften Mal mı: 
Sicherheit fetzuftellen ift, die dann in Dionyſius Areopagita wohl im fünften 
Jahrhundert ihren erften Höhepunkt findet, in Scotus Erigena im neunten 
ihren zweiten, bie bann nachhaltig die Scholaftiter, Realiften und panpfg: 
Hiftifhen Selten des Mittelalters berührt, biß fie in Meifter Edharbt ihren 
dritten und höchſten Gipfel erreicht. Yon da geht die Linie langfam und 
verborgen, aber unverloren weiter über Picus de Mirandola, Molinos und 
Jalob Bochme zu Angelus Sileſius, der, wie der treffliche Gottfried Arnold 

fo wunderhübfch fagt, „aus denen vornehmften myſtiſchen Theologis die 
summam ber geheimen Gotteögelahrtheit in nervoſen und nachdrücklichen 
epigrammatibus vorträgt“, der ſich aber zu Echardt verhält wie der 

Jeſuitenſtil zur Gothik; ein deutlich erfennbarer Zweig geht dann nad) England 

hinüber zu dem großen Berfeley, der freilich als echt engliſcher Kopf genialjte 

Negation mit kraftlofeften Poſitivismus zu vereinigen wußte; die Linie ſcheint 

mir bis in die Gegenwart zu reihen und in Johannes Wedde und vor Allem 

Alfred Mombert in die Erſcheinung getreten zu fein. Sie Alle jind in der 

Einfiht vereint, daß fie — mit Berkeley zu ſprechen — Sinne und Worte 

als erroneous prineiples bezeichnen; fie machen demnach, wie Johannes 

Wedde es außdrüdt, „Front gegen jede beftehende Religiongemeinfhaft (und 

jedes wiſſenſchaftliche Syftem), denn jie Alle fordern die Anerkennung ges 

wiffer Begriffe und Begriffsverbindungen als intellekiuell vichtiger. Es it 





Die Welt als Beit. 267 


aber unmöglich, daß ein Menfch Etwas richtig begreife.“ Sie jind ferner 
auch darin einig, unfere Sinnenwelt als etwas Bildmäßiges zu betrachten, 
und mühen fich Teidenfhaftlih, cine Welt „ohne Bilder und Zeichen" — 
wie Mombert jagt — zu fchaffen. Und drittens find jie darin ein’g, daß 
fie — im Gegenfag mehr zu dem landläufigen materialiftifchen Pantheismus 
al3 zu Spinoza — fpiritualiftifche Pantheiften find; da die Welt (oder Gott) 
nicht von augen her erkannt werden fan, muß jie von innen ber gejchaffen 
werden: durch Abkehr von Raum und Zeit, durch myſtiſche, nicht oder kaum 
auszufprechende Verſenkung follen außen die Dinge und innen das Ichgefühl 
aufhören, zu fein, Welt und Ich in Eins zerfließen. 

Der Größte unter all diefen ketzeriſch myſtiſchen Skeptikern war unfer 
Meifter Edhardt, der mit gewaltigen Mitteln unternahm, wovon bei Spinoza 
nur Spuren zu finden find und was fünf Jahrhunderte fpäter dem Sant- 
ſchüler und Boehmeſproß Schelling nicht gelingen wollte: Pantheismus und 
kritiſche Erkenntnißtheorie in Harmonie zu bringen. Er wußte und hat es 
oft ausgeſprochen, daß man Gott, den Sinn der Welt, nicht erkennen könne, 
daß wir aber wiſſen, was er nicht iſt. Auch war es ſeine tiefe und bleibende 
Erkenntniß, dieſes Nichts, mit dem er eben ſo wie ſchon Dionyſius und 
Scotus Gott identifizirte, für ein unbekanntes Poſitives zu erklären, deſſen 
Attribute nur alle unſere Erſcheinungen ſammt unſerem Ich ſind. Dieſes 
Unbekannte glaubt er aus ſich heraus ſchaffen, myſtiſch darein verſinken und 
dann bildmäßig und in Gleichniſſen davon ſprechen zu können. Es war ihm 
ſicher, daß, was wir in uns ſelbſt als ſeeliſches Erleben finden, dem wahren 
Weſen der Welt näher ſtünde als die außen wahrgenommene Welt. Aber 
auch dieſes innere Erleben, wenn es ſchon den Raum abgethan hatte, geſchah 
doch noch in der Form der Zeit; und darum betrachtete er die Zeit als den 
ärgſten Feind Gottes. Zeitlos mußte man werden, damit Außenwelt und 
Ich zu Einem würden. Die Stellen, wo er von diefen inneren Exrlebniflen 
tteffter Art erzählt, gehören zum Crgreifendften, was es an Wortkunft über: 
haupt giebt. Selten hat Einer fo ſchön und wahrhaft um das Unaus⸗ 
ipredjliche_herumgeiprocden_t toie Disifieuicgardt. Aber hier Handelt €8 ſich 
nicht de darum, jondern um die Frage: ob es möglich ift, einen ſolchen über- 
natürlichen Zuftand, wo Welt und PVerfönlichkeit zugleich aufgehoben und 
vereinigt fei, in fih zu verfpären. Da wir felbit ganz ficher nicht nur 
äußere und innere Erfcheinung find, fondern aud zur Welt al8 Wahrheit, 
zur Welt, wie fie anders ift, gehören, läßt fich, wie ich zögernd fagen muß, 
diefe Möglichkeit nicht ohne Weiteres abmweifen. Daß Das, wovon uns 
die Myſtiker Bericht erftatten, nur Wortbild und Negation falfcher Annahmen 
ift, beweift nicht8 dagegen, daß fie Etwas erlebt haben, das ſich anders nicht 
fagen läßt. Auch die Erkenntniß, daß zum Beifpiel Meiſter Eckhardts Ent: 


20 


968 Die Zukunft. 


züden über feine tiefen Stunden und Berzüdungen dem pſychologiſch prüte 
den Lefer ſich als fein Staunen über die eigene Genialität herausſtellt, der er 
in nüchternen Stunden felbft nicht gemachfen war, ift no nicht durchſchlagend 
Und auch der Einwand, wir fönnten nichts fühlen oder im Bewußtſein haben, 
was nicht Zeit erfordere, beweift nichts, denn e8 handelt fich eben bei biefen 
Erlebniffen um Gefühltes und Seelifhes fo wenig wie um Materielles: 
auch Erlebniß ift natürlich ein gräßlich falſches Wort für etwas Zeitloie 
und darum auch Lebloſes. Dabei ift niemals ein Erlebniß fo ſtark um 
wahrhaft als Ungeheuerliches, Blendendes, Fortreißendes und Befeligende 
geichildert worden wie von den Myſtikern diefer benommene Traumzuſtand 
Ich Laffe dies Geheimnigoolle alfo dahingeftellt; nur muß hinzugefügt werben, 
daß die Erflärung des Zuftandes als irrige Deutung genialer Entrüdtheit — 
Andere würden fagen: einer Frankhaften Berfaffung — eben fo wohl mögfid 
ft. Und vor Allem: da diefer Verkehr zwifchen Welt und Individuum 
völlig ummittheilbar fein muß," kann er als folcher weder dem Gedächtuit 
bes Individuums noch irgend einer Erkenntniß angehören. Wäre ich dazıı 
genug Myſtiker, fo würde ich fagen, er gehöre wohl dem Weltbewußtfein an; 
aber folche Bilder darf fih ein armer Normaler nicht erlauben. Wenn es 
alfo Etwas diefer Art giebt, dann hat e8 feine eigene Sphäre und geht ums 
nicht da8 Geringfte an, fo lange wir es nicht mitgemacht haben. Es ift dam 
die felbe Sache wie mit dem Tod, von dem fchon Epilur gejagt Hat, daß 
er ung nicht angeht, und unferem Zuftand vor der Geburt oder eigentlich der 
Beugung. Nur geht e8 ung freilid mit unferer erften Kindheit genau fo; 
und doch wird kaum Einer leugnen wollen, daß fie zu feinem Erleben gehört. 
Wir find eben doch noch mehr als Gedächtniß und Bewußtſein; oder, das 
Selbe nicht negativ, fondern metaphoriſch ausgedrüädt: unſere Bewurßtfeine 
hinterlaffen nicht alle bleibende Spuren in dem Bewußtfeinstheil, den man 
Gedächtniß nennt. Körperlich freilih ift fauım mehr Etwas von Dem an 
una, was wir damals al3 Kind waren; nicht einmal die Zähne, 

Ich habe gejagt, die Willenfhaft fei das Willen von Den, was nich 
if. Das liege fih an Beifpielen Mauthners weiter erläutern; ich erinnere 
an das Geſetz von der Trügheit oder der Erhaltung der Energie, deren Aus- 
fagen ja nur landläufige Irrthümer zurüdmweifen. Ich babe dann zweitens 
von dem Nichtwiffen in dem abgründlich pojitiven Sinn der Myſtik ge= 
ſprochen; für Den, der daran glaubt, muß Das die einzige Art von Religion 
fein, die ihm noch möglich ijt. Neben diefe Wiffenfchaft und diefe Religion 
tritt ein drittes Clement unjerer Weltanfhauung: die Kunft- Darunter 
verftehe ich hier die fymbolifche oder metaphorijche Ausbeutung ber Metaphern 
unferer Sinne und der Metaphern unferes inneren Bewußtſeins. Sie hat an 
die Stelle Deffen zu treten, was bisher die Wiffenfchaft Pofitives zu leiſten 


Die Welt als Zeit. 969 


wähnte. Nicht mehr abfolute Wahrheit können wir fuchen, feit wir erkannt 
haben, daß fich die Welt mit Worten und Abftraktionen nicht erobern läßt. 
Wohl aber drängt e8 uns, fo ſtark, daß kein Verzicht möglich ift, die man- 
nichfachen Bilder, die uns die Sinne zuführen, zu einem einheitlichen Welt- 
bild zu formen, an deſſen fombolifche Bedeutung wir zu glauben vermögen. 
Das aber ift Kunſt in diefem höchſten Sinn: ein zwingended Sinnbild der 
Welt. Wo immer wir in den Thaten der Wiſſenſchaft zwingend Bofitives 
antreffen, bei Kopernikus oder Laplace, bei Helmholg oder bei Hertz: wir 
dürfen wiſſen, daß es entweder nur verftedte Verneinungen find oder zwins 
gende Symbole, die irgendwann einmal von treffenderen Metaphern abgelöft 
werden. Yun der Wiſſenſchaft aljo findet man überall zerftreut die Bruch⸗ 
ftüde der Symbolik, die einmal an die Stelle des angeblich politiven Theils 
unferer abftralten Erkenntniß treten wird. Bevor es aber dazu kommt, 
bevor es möglich zu fein ſcheint, aus den Ergebniffen der wiſſenſchaftlichen 
Forſchung eine Weltgeftalt zu formen, feheint eine große Umnennung nöthig: 
der Berzicht auf eine uralte Metapher und ihr Erfag durch eine andere. Der 
Raum muß in Zeit verwandelt werden. 

Selbft Mauthner ſpricht an einer Stelle, wo er von dem alten Gegen: 
fag von Leib und Seele redet, davon, er könne die Schwierigkeit nicht ein- 
fehen, die in der Borftellung Liegen folle, daß feine Bewegungen der Aufen- 
welt fich zunächft in Nervenbewegungen und dann in Das verwandeln, was 
wir Empfindung nennen. Diefe Stelle ift aber freilich vereinzelt und ihr 
ftehen andere bedeutfam gegenüber, in denen es heikt, wenn die Sprache 
Das ausdräden könnte, möchte er jagen, der Glodenton fei für bie Glocke 
ſelbſt feine Bewegung, fondern Etwas wie Empfindung. ch geftehe: mir 
giebt einzig und allein diefe — keineswegs unausfprechbare — Borftellung 
einen Sinn; der Gedanke, da braufen fer etwas Korperliches, das unab- 
hängig von meiner Wahrnehmung fo materiell da fei, und biefes Ding oder 
diefe Bewegung von Stofftheilchen „bewirkte Das, was mir von innen ber 
als Pſychiſches fo wohlbefannt ift: diefer Gedanke ift für mich völlig abfurd. 
Spinoza hat e8 fchon gefagt, wenn es auch durch die ftumpf gefchliffenen 
Brillen der Spinoziften meiften® nicht durchgegangen ift: die Welt kann 
phyſiſch vollfommen ausreichend erklärt werden und braucht das Piychifche 
gar nicht erjt zu bemühen: von den Wirkungen da draußen geht es ins 
Sinnesorgan, von da zu den Leitungbahnen der Nerven, von da zum Hirn, 
vielleicht von einer Partie zur anderen, vieleicht auch chemifchen Veränderungen 
unterzogen oder fonftwie behandelt, auf Arten, bie wir nicht fennen, und vom 
Hirn geht e8 wieder auf anderen Nervenbahnen hinaus in die Außenwelt als 
Altion; Alles rein materiell. Sp kann die Welt erklärt werden; aber 
Phyſiſches kann nur duch Phyſiſches erklärt werden: und Das, was innen 


20° 


270 Die Znukunft. 


in uns, als unſer Allerbekannteſtes, vorgeht, iſt nach dieſer Weltmetapher 
nicht etwa eine Wirkung oder Etwas, das als Begleiterſcheinung nebenher 
geht, ſondern es iſt ganz und gar nicht vorhanden. Wir mußten, weil wir 
die Metapher „Ding“ oder „Materie“ oder „Außenwelt“ acceptirt haben, 
nothwendiger Weife an die Stelle unferer vertrauteften Innenvorgänge bie 
Metapher „Nerven“, „Gehirn“ u. f. w. fegen. So fteht die Sache und 
man kann, wenns Einem genügt, ftatt von inneren, pfochifchen Exlebnifien, 
von Gehirnvorgängen reden; wenn man aber meint, die Gehirnvorgänge 
feien die Urfache der Seelenerlebniffe, fo jcheint mir, da meine man en 
finn. Wie Spinoza erkannt hat: Phyſiſches kann mur duch Php 


Pſychiſches nur durd — werden; vermengt man bie —* 
Jereiche fo läßt man lich hie ſchaũ erfiaffeften 9 Üietepkgrssriwengungen der 


Wippen zu Schulden fommen. 

Ein Weltbild, dad zur Vorausfegung die Annahme hat, unfere inneren 
Erlebniffe feien nicht vorhanden, fcheint mir nur eine Unmöglichfeit für uns 
Menſchen. Wohlgemerkt: es ift bei diefem konſequenten Materialismus nicht 
anzunehmen, es handle fich bei Dem, was wir innen verfpüren, um cine 
Täuſchung; keineswegs! Denn auch „Täuſchung“ ift ja fo eine vertradte 
piochifche Angelegenheit; man muß vielmehr behaupten, diefe Erlebniffe feien 
gar nicht da; wenn Einer zum Beifpiel feinen Arm in die Höhe hebt, ge- 
fehehe nur, was davon zu fehen fei; und noch ein paar körperliche Vorgänge 
ähnlicher Art im Innern des Leibes; aber daß er felbft von diefer Aktion 
Etwas fpüre: Das gebe es nicht. Mir fcheint alfo ein folches Wegleugnen 
uns unmöglid. Die Wirklichkeit unferes Innenfeins ift uns unentreigbar. Es 
bleibt uns aber noch der andere Weg: Alles pfychifch zu erklären.“ Und 
Das ſcheint mir in der That geboten: was wir als Aeußeres wahrnehmen, 
muß uns etwas Pfychifches bedeuten. Wir müſſen die körperliche Welt als 
eine Metapher unferer Sinne betrachten lernen, die wir erft dann mit der 
Metapher unferes Ichgefühls zufammenreimen können, wenn wir eine 
Metapher zweiten Grades vornehmen: dieſe körperliche Außenwelt ift uns 
nur noch ein Symbol, ein Zeichen für Etwas, das gleicher Art ift mit 
unferem Seelenleben. Mauthner liebt es, die Zeit als die vierte Dimenfion 
der Wirklichkeit zu bezeichnen. Dahinter ftecht fehlieglich gar nichts Anderes 
als die Andeutung, die Zeit fei nur Etwas wie eine Eigenfchaft des Raumes. 
Wenn e8 ihm möglich. if, auch unferen inneren Beitinhalt, unſer Pfychifches 
rein als Raum hinzuftellen, dann ſoll und diefer konſequente Materialismus 
fehr willkommen fein; wir fünnen ihn brauchen, wenn auch nur, damit er 
ih ad absurdum führt. Aber ich glaube nicht, daß Mlauthner den Verfuch 
machen will; e3 ſcheinen mir nur Refte einer fchon faſt völlig Aberwmundenen 
Epoche der materialiftifchen Metapher zu fein. Der Verfuch, den er manch⸗ 


Die Welt als Zeit. 271 


mal madt, das Gedächtniß als eine Art objektiven, ohne Bewußtfein funk—⸗ 
tionirenden mechaniſchen Apparates zu betrachten, gehört auch zu diefen An⸗ 
länfen. Diefer Erflärungverfuh mit Hilfe des objektiven Gebächtniffes wäre 
eine und ganz und gar ſinn- und bedeutunglofe Wörterzufammenftellung, 
wenn wir nicht unfer ſubjektives Gedächtniß hätten, da8 wir fo fehr gut 
fernen, ohne e8 im Geringfien erklären zu fünnen. Das Piychifche läßt fich 
eben nur dann durch Phyfifches „erklären“, ‘wenn man das Piychifche als 
befannt, als feiner weiteren Erklärung bedürftig vorausfegt. Dann aber 
thut die phyfifche Erklärung wundervolle Dienfte: als bedeutungvolle Sym- 
bofe für das Seelifche, das objektivirt und veräußert werden muß, um er⸗ 
fennbar zu fein. Mit der Ausfage, die Zeit fei die vierte Dimenfion des 
Raumes, vermag ich alfo zur Bezwingung und Geftaltung der Welt nicht3 
anzufangen. Umgekehrt drüde ich8 aus: der Kaum mit Allem, was darin 
ift, iſt eine Eigenfchaft der Zeit. Nicht mit diefer veralteten DMietapher — 
Eigenſchaft! — ausgedrückt, fondern vorläufig negativ: es giebt feinen Raum; 
was uns räumlich beharrend erfcheint, ift eine zeitliche Veränderung; was ung 
im Raum bewegt erfcheint, find die wechfelnden Qualitäten zeitlicher Vorgänge. 
Der Einwand, unfere Sprache fei aber nun einmal von Haus aus 
materialiftifch, trifft ung auf diefer Stufe durchaus nicht und kann uns nicht 
abhalten, weiter zu fchreiten. Er fagt nicht? weiter, als daß die abſtrakten 
Begriffe, mit denen Volksglaube und Wiffenfchaft arbeiten, den Charakter 
des Sinnlihen nicht abftreifen fünnen. So daß zum Beifpiel Atom, Aether 
und folde Worte nichts weiter find als umvorftellbare Produfte räumlicher 
Borftellungen, uns aber niemals von den Sinneseindrüden befreien können. 
So lange man bie Worte wörtlich und die Mittheilungen der Sinne finnifh 
verſteht und fo lange man aus dem Sinnifchen und feinem Wortfchatten 
politive Wahrheit fchöpfen will, ift der Einwand richtig und wichtig, daß die 
Sprade uns nicht vom led bringen kann. Hier aber, auf diefer Stufe des 
Kunftwiffend und der bewußten ‘Metapher, ift ung alle Sprade nur ein 
Symbol de3 nicht weiter Auszufprechenden, des Unmateriellen. Diefen Dienſt 
hat die Sprache als Wortkunft fchon immer geleiftet. Nehmen wir ein Bei— 
fpiel aus Goethe, wie es ſich mir beim zufälligen Aufichlagen eines 
Bandes bietet: 
Wie Felſenabgrund mir zu Füßen 
Auf tiefem Abgrund lajtend ruht, 
Wie taufend Bäche ftrahlend fließen 
Zum graufen Sturz des Schaums der Fluth, 
Wie ſtrack, mit eignem kräftgem Triebe, 
Der Stamm ſich in die Lüfte trägt: 
So iſt es die allmächtge Liebe, 
Die Alles bildet, Alles hegt. 


272 Die Zutunft. 


Das, was und diefe Begriffe vermitteln, ift weder eine Abftrafim 
noch eine Außere Wahrnehmung: die Worte und Sinnenbilder find mm 
Metaphern für etwas Innerliches, das Goethe uns mitzutheilen veritit 
Ich meine nun: eben fo wie wir unfer Inneres auszudrücken verfichen wü 
Hilfe bildlicher Ausdrudsweife, eben fo gut Fönnen wir auch, um die Eis 
heitwelt zu formen, die wir brauchen, die Welt als etwas Pfychiſches dar 
ftellen, umter Benugung von Wörtern, bie freilich nur Aeußeres bedeuten 
aber das ſinniſch Ausgebrüdte und das ſinniſch Wahrgenommene foll un 
nur an Pſychiſches erinnern. Die Aufgabe für Den, der eim einheitliche 


eltbild formen wil_if alle: das_Matrriele als_ctwas Pfychiidies d 
fielen. Bas heißt: glaubhaft zu zeigen, daß die Materie, daB augen Gr 


ſchaute, nur eine metaphoriſche Darftellung, ein Sinnenbild oder Sinnfil 
ſeeliſchen Vorganges if. Wenn Das möglich fein foll, muß zwiſchen bei 
Außenbereichen und unferen Ichgefühlen eine Aehnlichkeit, ein Vergleichung 
punkt vorhanden fein. Das ift der Fall; und die mechaniftifche Wifer 
ſchaft Hat ung dieſes tertium comparationis nahe genug gebracht: ich mei 








die Zahl. Dis 7 
zum Seelsufliehen. nou-Den-Sefkchtöfprece zur Berfil;"von-bes-Seltaniches 


ung zur Wellbehohumg ver-Brg-zu-einerueuen, Disiopier. 
Schon Berkefey hat gewußt, daß Alles, was wir fehen, nur die Spradt | 


von etwas Pſychiſchem ift, alfo nur ein unzutreffendes Bild des Wirkfuher | 
in fremdem Material giebt; feine befte Erkenntniß hat ihm feine Chrifter 
fprache verhungt, aber deutlich genug hat er trogdem von dem visual lan- 
guage geſprochen. Und Lazarus Geiger hat wiederum entdedt, daß alle dir 
Begriffe, die unfere Weltanfhauung bilden helfen, auf das Sehen zurückgehen 
Alfo, füge ich Hinzu, auf den Raum; denn die Raumhypotheſe ift, wie ih | 
zeigen will, nur auf da8 Auge, nicht, wie man meift annimmt, auf eine 
Kombination von Sehen und Taften zurädzuführen. Nicht die drei Dimen: | 
fionen find das Charafteriftifhe für die Hypotheſe des Raumes, fondern die 
Unnahme eines Aeußeren, Dinghaften, Bleibenden, das micht zu uns gehört, 
das nicht bei uns, nicht unfer ift. Ohne Dijtanz, ohne Entfernung, ohne 
Trennung durch ſcheinbar Unausgefülltes wäre man niemals darauf gekommen, | 
Etwas wie Raum oder Ding anzunehmen. Unfere Sprache ift ſubſtantiviſch und 
objeftivifch, weil ſchon unfer Auge ähnlich angelegt ift; die Diftanz zwifchen und 
und dem Erfchauten, das nicht an ung rührt, da8 nicht unfer Leben, fondern unfere 
Fremde ift, hat die Kluft geſchaffen, die zwiſchen Welt und Ich gähnt. Dan 
ftelle ſich einmal vor, e8 habe nie Gejichtävorftellungen gegeben, niemals Licht 
ober Farbe oder gefehene Geftaltung, und dann gleite man, während die Ungen 
geſchloſſen find, mit den Fingerfpigen dem nächſten Gegenfland ent! ng 
diefem Stuhl oder diefem Tifch; ich behaupte: was ich da fühle, if mim ers 





— — — — — — 


Die Welt als Zeit. 273 


mehr ein harter Gegenftand da draußen — ich Fenne Fein Draußen und habe 
nicht die geringfte Veranlafjung, e8 anzunehmen —, fondern nur eine in der. 
Zeit vorgehende Veränderung meiner ſelbſt. Meine Fingerfpigen werden 
fo merkwürdig verändert; Das fühle ich; da wir diefe Taſtſprache nicht aus— 
gebildet haben, will ich mich unferer Ausdrütde bedienen umd fage: meine 
Fingerfpigen werden hart; und inzmifchen find jie gefchweift und glatt (Form 
und Oberfläche des Stuhles) und nun ift wieder dad Alte (dev Stuhl hat 
aufgehört) und jest ſind die Finger ſcharf (die Schreibtifchlante) und nun 
werben fie naß und falt (ih bin ins Tintenfaß gefommen). Selbitverftändlich 
tönnten diefe Abftufungen, Grad- und Dualitätunterfchiede noch viel feiner 
und fpezifizirter ausgedrüdt werden, wenn die Menſchen biß heute das 
Intereſſe gehabt hätten, darauf zu achten. Aber jedenfalls habe ich nicht 
die geringfte Veranlaffung, beim Taſten mir ein Außen zu denken, da ich 
ja nur Etwas fühle, das bei mir, an mir, zu mir gehörig ift. Sch fühle 
nur, baß in der Zeit fortwährend Veränderungen mit mir vorgehen. Alles 


aljo, was ich, tafte, ſind zeitliche Quali Qualitätunterſchiede, aber feine Spur non 


Raum bietet fh-s-ter. Während es mir aljo unmöglich ift, wie ich 


zeigte, von der Zeit und meinen Schgefühlen abzufehen, kann ih vom Zaftfinn 
aus fehr wohl das Urtheil abgeben, das für die Erklärung des Pſychiſchen 
duch Pſychiſches nothwendig ift: Es giebt feinen Raum. Und genau fo 
fteht e8 mit dem Qemperaturfinn, mit den Schmerzenfinn und den übrigen 
Abarten des Taftjinnes, genau fo fteht e8 auch mit dem Gehör, dem Geruch), 
dem Gefhmad und Allen, was wir leiblich verfpüren: überall find es lokale 
Vorgänge, wenn ich e8 vom Gefiht aus erfläre, find es Zeitveränderungen 
an mir, wenn ich vom Geſicht abjehe. Hätten wir feine Auge. in, wäre 
der Unterſchied zwiſchen ber Welt und mir niemal® entftanden, wäre man 
niemal® auf bie verrüdte Idee gefonmei,zrttefenn ib hier zwar Ich zu 
fagen, aber ja nicht zu diefem Buch oder diefem Tiſch oder diefer Frau. 
Und wäre, al8 das Auge entitand, Zelegraphie und Zelephonie ohne Draht 
ſchon eine vertraute Sache gewejen, jo hätte man aus der Diftanz wohl 
auch nicht auf eine AnderSartigkeit des Gefchauten geſchloſſen, fondern gejagt: 
Wie bin ich gewachfen! Wie breitet ſich auf einmal eine Sprache vor mir 
aus, für ganz neue, fonderbar are Gefühle, die ich bisher kaum im Dunkeln 
geahnt! Nein: man hätte gar nichtS gejagt, man hätte gefchaut und hätte 
Das als die neue Sprache empfunden. Denn e8 tuäre nichts Getrenntes, 
— er ann mar hätte ja die Eleltrizität oder bad Licht _ Tais 
ſein eigen empfunden. Jetzt aber hTit Rerzeuub- gang weit- hinten wo 
id nit rtffein Sing“ Dieſes Nichts iſt der Raum. 
men Derrtertmben. gefagt, "Kaum und Beit jeien unfere eigenen 


Anihanungformen. Und wir haben es dahingeftellt fein laſſen und haben 





974 Die Zukunft. 


nicht8 damit anfangen können. Anders wird e8, wenn man diefe Ausſoge 
- auseinander reißt. Die Zeit iſt nicht nur die Form unferer Anſchauung, 
fondern auch die Form unferer Fchgefühle, alfo ift jie für und wirklich, für 
das’ Weltbild, das wir von uns aus formen müflen. Die Zeit ift wirklich, 
gerade weil fie fubjektiv ifl. Der Raum aber ift eine Anſchauungform; umjere 
Subjektivität braucht ihn nicht zur Deutung des Eigenen, fondern nur als 
Bebeutung für das immer noch fremd Gebliebene. Ber Raum iſt unwirflich, 
 aidht Das, was er feheint, obwohl er fubjektiv ift: er fcheint objeltiv. Die 
Entdeung, daß es nichts Räumliches, nichts Dingliches giebt, ift Etwas, 
dad uns mal in Fleiſch und Blut übergehen muß. wie die Entdedungen des 
Kopernifus. Wir müffen das Fremde zu unferem Eigenen machen, den Raum 
in Beit verwandeln, die Ertenjität der äußeren Dinge muß uns ein Bild 
fein ‚für die Intenfität unferer Ichgefühle. Ich bin nicht nur dieſes Hirm, 
nicht nur diefer Organismus, ich bin auch mer Geſchautes. Dies nicht 
um der Wonnefäligleit oder der Berzüdung willen — denn die Welt wird 
wahrhaftig nicht ſchöner und nicht edler, wenn ich jie bin (Dies für pan- 
pſychiſtiſche Pfaffen) —, ſondern um des Sinnbildes der Wahrheit willen, 
das mir einzig noch möglich ſcheint. 

Natürlich handelt es ſich mir hier nicht um ſolche dem Volksglauben 
angehörende Begriffe wie Seele, Ich und Dergleichen; ſie müſſen nur mit 
Vorbehalt angewandt werden, fo lange unſere Aufmerkſamkeit noch jo kläglich 
wenig auf die unendlich differenzirten Qualitäten und Intenfitäten der Zeit 
gerichtet worden ift, fo lange wir die neue Sprache noch nicht haben. Wie 
wir ein Ding mit Eigenschaften, eine Vielheit um etwas DBleibendes herum, 
in die Außenwelt verjegt haben, fo erfcheint uns auch unfer Jchleben als 
eine Bielheit von Individualitäten, die jih um den trotz ewiger Beineg- 
fichfeit feit fcheinenden Kern der Perfon umd Ueberperfon, des Gebächtnifies 
und Uebergedächtniffeß gruppiren. Für diefe Vielheit der Perjonen in Einem 
hat Kant ein Fühnes und myſtiſches Bild gefunden; er fagt: „Eine elaftijche 
Kugel, die auf eine gleiche in grader Richtung jtößt, theilt biefer ihre ganze 
Bewegung, mithin ihren ganzen Zuſtand (werın man bloß auf die Stellen 
im Raume fieht) mit. Nehmet nun, nad der Analogie mit dergleichen 
Körpern, Subjtanzen an, deren die eine der anderen Vorſtellungen, fanımt 
deren Bewußtſein, einflößete, jo wird jich eine ganze Reihe derfelben denken 
laffen, deren die erfte ihren Zuftand ſammt defien Bewußtſein der zweiten, 
biefe ihren eigenen Zuftand fammt dem der vorigen Subſtanz ber britten 
und dieje eben fo die Zuftände aller vorigen fammt ihrem eigenen und 
deren Bewußtſein mittheilete. Die legte Eubftanz würde alfo aller Zuftände 
der vor ihr veränderten Subſtanzen ſich als ihrer eigenen bewußt fein, weil jene 
zufammt dem Bewußtſein in fie übertragen worden, und Den unerachtet 
würde fie doch nicht eben die felbe Perſon in allen diefen Zuftänden gewefen fein.“ 


Die Welt als Zeit. 275 


Diefe Stelle ift ein Verſuch, das Prinzip der Vererbung auf das 
Verhältniß der einzelnen differenzirten Individuen innerhalb eines Individuums 
anzuwenden. Sie ladet aber auch ein, die Einheit Deſſen, was Ich zu einem 
Stüf Welt fagt, noch mehr zu erweitern: wenn das Sch eine Unzahl von 
Individuen (Zellen) in einem Herrſchaftſyſtem vereinigt, dann fehe ich nicht 
ein, warum nur die Melttheile zu mir gehören follen, die ih mit Mund 
und Lunge in mich aufgenommen habe, und nicht eben fo gut die anderen, 
die mich fonft irgendwie berühren. Die Welt wird fo aufgefaßt als eine 
unendlich komplizirte Kreuzung piychifcher Herrichaftfyfteme. Bor dieſer 
Komplizirtheit jich zu fehenen, liegt gar feine Beranlaffung vor; darum 
erfcheinen ung ale MWeltanfchauungen fo Häglich, weil fie mit Hilfe von 
Abſtraktionen, die immer tugendhafter wurden, je verblafener fie waren, ver- 
fuchten, die Welt auf eine einfache, möglichft moralifche Formel zu bringen. 
Die Welt ift nicht einfach; und wir haben feinen Grund, uns nor mikroſkopiſchem 
Detail zu fürchten. So fehr die Naturwilfenfchaft und Mechanik ins Detail 
gegangen ift, fo fehr muß es die fombolifche Auslegung diefer materiellen 
Sinnbilder, die jene Wiffenfchaften uns verichafft haben, thun. “Die Geiftes- 
willenfchaiten haben lange genug um ein paar armfälige fchönrebnerifche 
Hohlheiten ſich herumgedrückt. 

In der Naturwiſſenſchaſt hat man ſich ſeit Jahrtauſenden bemüht, alle 
Vorgänge, phyſiologiſche und chemiſche, Licht, Farbe, Wärme, Elektrizität, auf 
die Mechanik zurückzuführen. Das heißt: auf die Bewegung winziger Stoff⸗ 
theilchen, die eigentlich gar nicht mehr differenzirt waren und gar nichts 
Stoffliches mehr an ſich hatten. Man wollte Alles auf die Bewegung eines 
Einheitlichen zurücführen, deſſen einzige Eigenſchaft eigentlich die Bewegung 
war Warum man Das wollte, warum man nicht, was man ohne Zweifel 
eben fo gut hätte verfuchen können, etwn alle Bewegung dur Wärmegrade 
ausdrüden. wollte oder üherhaupt irgend eine andere beſtinimte Sinnesenergie 
als Map aller Dinge angenommen hat, darüber wollte man ich nie Klarheit 
verschaffen. Und doch fcheint mir der verborgene Grund ganz einleuchtend: 
man wollte das Qualitative aus der Welt fchaffen und e8 durch Quantitatives 
erjegen; die felundären Kigenfchaften follten durch prinräre erſetzt werben. 
Schon Kant ſpottet über die Mechanifer, die immer empirifch bleiben wollen 
und die doch zu Beginn ihrer Forſchung die „metaphyſiſche Vorausſetzung“ 
maden, daR das Reale im Raum fi nur der ertenfiven Größe nad) unter: 
fcheiden fünne. Das Beftreben der Mechaniker ift, die Welt feelenlos, 
farbenlos, duftlos, Hanglos zu machen. Es follten nur reine Raumpverhätt- 
nie übrig bleiben, die al das Wirre, Einnengemäße erklärten. So find 
fie dazu gekommen, die Welt in benannten Zahlenverhältniffen auszuſprechen, 
deren Name feine Rolle mehr fpielt. Sie haben die Welt auf die Zahl ges 
bradt; und wo fie noch nicht fo weit find, find tie doch auf beiten Wege. 


276 Die Zunft. 


Die Zahl aber ift nicht nur das Maß des Raumes, fondern aud de 
Beit, nicht nur ber abftraft gefchauten Bewegungen, fondern auch ber Futentiik 
all unferer Sinnesenergien, nicht nur des materiellen Draußen, fondern aus 
des piychifchen Innern. Die Aufgabe Derer, bie an dem Weltbild forma 
wollen, jcheint mir zu fein: mit Hilfe der Ergebniffe der mechaniſtiſche⸗ 
Wiſſenſchaft richtige Zahlenverhältniffe für das Intenſive uid das Syſten 
bes pfychiichen Fließens zu finden. An die Stelle der Dinglichfeit, der 
Kaufalität, der Materie hat die Iutenfität, das Fließen, die Pſyche zu treten: 
an die Stelle des Raumes die Zeit. Räumliche Duantitäten jind nur bilk 
liche Verhältnifzahlen für die unendlich differenzirten Qualitäten der Zeit") 
So gewinnt Schopenhauers Einſicht, daß die Mufil die Welt noch einmsl 
ift, einen neuen Sinn: fie ift einer der VBerfuche des Kunſtwiſſens, der Welt⸗ 
verinnerlihung, mit Hilfe qualitativ getönter Zahlenverhältniffe ein Bild der 
Welt als Pfyche zu geben, eine Sprade zu ſchaffen für das Reich de 
Intenfitäten. Das Auge, der Raumſinn hat und zu den Abitraftionen de 
Ertenfiven gebracht, bi8 wir merkten, daß wir unfer Inneres nicht auf Raum 
formeln bringen können; vielleicht Tann uns das Gehör, der Zeitſinn, de 
Traum und Klangbilder geben, deren wir bedürfen, um bie Symbole, die 
wir als Außenwelt jchauen, in zeitlichen Verlauf zu verwandeln. Wenn wir 
fo Raum und Materie nur als ein Sinnbild für intenjive Vorgänge in dr 
Zeit auffaffen, als eine Sinnestänfhung, die wir umdeuten müſſen, dam 
füllen wir etwa den Abgrund aus, der bisher unfer inneres Dafein und unfere 
Außenwelt getrennt hat. Wir hören dann auf, unfer Innenleben als Räthſel 
und die Raummelt al8 Gefpenft zu betrachten: Beides geht dann auf im 
einen unendlich mannichfachen feelifchen Zeitenftrom, deſſen geheimnißvolle 
fraufe Berfchlingungen wir mit Hilfe der Metaphern unferer Einne noch 
zu erforfchen haben. Die Wahrheit jenfeitS unferes Eigenen kümmert uns 
nicht, weil wir wiffen, daß wir nicht3 davon erfennen; das Fremde aber, 
das wir bisher als Außenwelt liegen Tiefen, müſſen wir in unfer Eigenes 
verwandeln. Vielleicht fommen wir auf diefem Wege, durch die Schärfung 
und Berfeinerung al unferer Intenlitäten, auch zu neuen Sinnen, zu neuen 
Bildern, von denen wir heute noch feine Ahnung haben. 


Bromley. Guſtav Landauer. 


*) Nachträglich finde ich in dem jüngſt aus Nietzſches Nachlaß herausgegebenen 
„Willen zur Macht“ den folgenden beſtätigenden Satz: „Der mechaniſtiſche Begriff 
der Bewegung iſt bereits eine Ueberſetzung des Originalvorgangs in die Zeichen⸗ 
ſprache von Auge und Getaſt“. Ueberhaupt deckt ſich die Verwandlung des Seins 
in Werden, die Nietzſche in dieſem Hauptwerk vorſchlägt, ſo ziemlich mit meiner 
Meinung von der Verwandlung des Raumes in Zeit. 


— 


Blumenträume. 


Blumenträume. 
| BR rm mit mir in die filberne Srühlingsnadt, 


° Mein £ieb, fomm mit mir hinaus; 
Aus dent Schlaf find die Rofen und Kilien erwacht 
Und fchimmern von Perlen des Thaus; 
Wir gaufeln über die Wege fact, 
Auf Slügeln über die flammende Pradtt, 
Don Blüthen zu Blüthenftrauß. | 


Komm mit in den webenden Glanz hinein, 
Mein Kieb, in den wogenden Duft; 

Die weißen $loden wallen und fchnein, 
Hörft Du, wies fchmeichelnd ruft? 

Die Seele voll fügen Träumerein, 

Mein Lieb, wir wollen wie Blumen fein, 
Fitternd in Frühlingsluft. 


Die Roſe öffnet die Blüthe weit. 

Biſt Dus, mein Kieb, die fie rief? 
Gieb mir die Hand, dag wir zu weit 
Sinfen hinunter tief. 

Die Wände in rofiger Herrlichkeit 

Und Kerzenglanz und das Lager bereit, 
Darin die Königin ſchlief. 


Auf leifem Fuß Du geglitten bift 

Un das Bett, wo die Königin träumt; 

Du haft ihr Köpfchen in füßer Kift 

Mit weißen Armen umfäumt; 

Sie hat Did im Traum auf die Wangen gefüßt 
Und Dein Antlit zur Rofe geworden ift, 

Don dunfler Gluth überfchäumt. 


Kun tauch in den Kelch der Kilie hinein, 
Mein Lieb, in den weißen Schoß; 

Da ftehen die Säulen in fchimmernden Keihn, 
Du reißt den Bli nicht los; 


277 


278 


Die Zulkunft. 


Auf dem Thron von blendendem Marmorftein 
Da ruht die Elfe im Mondenfchein, 
Die Augen ftill und groß. 


Und mit weißer, feierlicher Hand 

Bat fie Dich, mein Kieb, berührt; 

Du haft Dich fchauernd emporgewandt, 
Da den Haudh Du vom Kidht gefpürt; 
Auf Deiner Stirn wie ein aoldnes Band 
Kiegt nun der Glanz aus Kilienland 
Der nimmer ſich verliert. 


Mein Kieb, nun komm an den dunflen Teich, 
Wo die Wafferrofe ruht; 

Laß uns wehen auf Lüften, füß und weid,, 

Ueber die wellende Fluth, 

Binein in der Blume magifches Reich, 

Wo in fremden Flammen, irr und bleich, - 
Sladert die Märchengluth. 


Wie auf filbernen Schwingen der Schmetterling, 

So wiegft Du Di über dent Schaum; 

Wie der Falter an ſchimmernden Kelchen hing, 

So ſchwebſt Du am Blüthenfaum; 

Und der Traun, den mein Lieb von der Blunte empfing, 
Der liest nun am Grund wie ein funfelnder Ring, 

Tief in des Herzens Raum. 


Nun komm, mein Kieb, in die Nacht zurüd, 
Wo die Rofen im Winde wehn, 
Den zaubrifhen Traum im leuchtenden Blick, 
Und das Haupt wie Lilien ſchön — 

In unfern Herzen das Miärchenglüd, 

Mein füßes Lieb, das fonnige Glück, 

Das Pann nicht untergehi. 


Hamburg. Theodor Sufe. 


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Der verehrte Dichter. 279 


Der verehrte Dichter. 


Sr thut nicht gut, wenn ein Scriftiteller viele Verehrer hat; es thut nicht 
gut! Nur den Sumpfpflanzen fchadet Lleberfluß an Feuchtigkeit nicht; 
den Eichen ift fie nur mit Maßen zuträglid. Ich erzähle bier von einem 
Burſchen aus dem Schriftitelleritande, der auf dem Wege zu feinem Biel um- 
erwarteter Weije in den Moraft der Popularität gerieth, erzähle davon, wie 
lächerlih und ungefchielt er ſich benahm, als er fih mit dem Schlamm des 
Lobes wollgefogen hatte, und was mit ihm gejchad, als ihm der Kopf durch die 
nebligen Dunitwolfen des Ruhmes vergualmt worden war. Der Burſche war 
einfältig, aber nicht ganz dumm, und er unterjchied fi von feinen Kameraden 
im Gewerbe badurdh, daß er aufrichtig war und darum fich felbft jeden Tag 
wiberijprad. Er lebte in einem Lande, deilen Literatur einen Weltruf genoß; 
und als er auf bie eriten Anzeichen der Popularität zu ftoßen begann, nahm er fie 
mit Unwillen auf und dachte: Sonderbar ... In die Pofaune ſtößt man, — und 
fie hören nicht; ein Rohrpfeifchen bläft, — und fie freuen fi... . Der Burfch war 
nicht befcheiden, burchaus nicht! Uber er Tannte feinen Werth. Das war bie 
Sade ... Und dann wußte er auch, daß es in feinem Heimathlande fein Volt 
giebt, jondern nur ein Publikum, und daß es namentlich das Publikum iſt, 


‘das literariiche und andere Berühmtheiten erjchafft, während das Volt feinen 


Trott geht, die Schriftfteller gering ſchätzt, an Zauberer glaubt, fein Leben lang 
nur arbeitet, aber troßdem immer Hunger leidet und jeden beliebigen Augen⸗ 
blid bereit ift, die ganze Literatur mitfammt al den anderen vom Publikum 
geliebten Künjten für einen Sad Mehl einzutaufchen. Aber obglei mein 
Burſche dies Alles genau wußte, war er doch nur ein Menſch; und außerdem 
find alle Schriftſteller — und fogar die Philofophen — mehr oder weniger befchräntte 
Leute. Er fing an, zu fühlen, daß die hartnädige Aufmerkſamkeit, die das 
Publikum feinen Büchern zeigte, ihm angenehm fei. Er befam von den Leſern 
fchmeichelbafte Briefe. Ein Lefer jchrieb: „Talentvoller“ ... Der andere jebte 
ſchwarz auf Weiß bin: „Hoczuverehrenber" ... zyrgend eine Leferin ſchrieb 
einfach, aber kräftig: „Danfe, mein Seelen!" Ganz, als habe der Dichter 
ihr Seide zu einem Jäckchen geſchenkt. Und ein Srämer, ber mit Büchern ban- 
delte, jhidte einen Brief folgenden Anhalts: „Seehrter Herr! Herr Schriftiteller ! 
indem ich anfing, mich zu intereffiren, warum, daß das Publikum fo kräftig 
Ihre hochzuverehrenden Bücher Taufe, habe ich diejelben burchgelejen und aus 
mir ergofjen ſich die nachfolgenden Verſe: 

Wie Lilien im Sumpf, 

In meiner müden Seele 

Blühten Bifionen und Träume 

Bon einem Leben ohne Hinderniß. 

Sie blühten, aber fchüchtern, 

Blühten und verwelften 

Und verfaulten im Schlamm des Herzens 

Und e3 roch fehr häßlich ... 

Aber Du drangft mir ins Herz, 





280 Die Zukunft. 


Mit Deinen heißen Worten, 

Wie mit Funken überftreuteit 

Das Dunfel meiner Seele Du 

Und ich entflammte in Leibenjchaft; 

Sch wurde unfinnig kühn 

Und jegt rieche ich ftolz 

Wie ein angejengtes Schwein... . | 
In aufrichtiger Hochachenz 

Sila Korigdunm! 


Und viele andere füße Zeichen der Aufmerkſamkeit erhielt mein Scr# 
fteller vom Publifum. Und der Teufel, der treue Begleiter des Schriftftelr 
flüfterte ipm ein: Genir' Dich nicht, Närrhen; Du Haft Dirs verdient, d 
genir' Dich nicht! Du biſt jeßt dem Publikum, was eine junge Geliebte em 
entlräfteten Greis if. Und fo ftelle Dich auch nicht befcheiden, benn „? 
Karauſche Tiebt es, in Sahne gekocht zu werben“, und der Dichter, dab ue 
ihn in Weihrauch räudere. Ha ha ha! ... 

Und fo fing mein Bürſchchen langſam an, dem in ihn verliebten Publ 
unter die Augen zu treten. Er fieht: fie Hatjchen in die Hände. Und a’ 
gann, ſich an dieſes Geräuſch zu gewöhnen, wie der Trunfenbold an den Schur 
und es wurde ihm langweilig, ohne dieſes Händeklatſchen zu Leben; aber ? 
gleich fing der Burfche an, fich Hinreißen zu laſſen. 

Alſo eines Tages umringte ihn an einem belebten Ort ein D8 
Publikum, drüdte ihn an die Wand, klatſchte in die Hände und ſchrie: Bra-M- 
Bra—voo!... . Und er ftand vor der Menge, gerührt lächelnd, und ihm w 
fo füß zu Muth, als ob man ihn in Sirup gejotten Hätte. Zum erften I 
fah er das Publikum in der Nähe... . Und plötzlich wurbe ihm unbehagk 
davor, jogar bang ward ihm; ob man ihm nicht nächſtens unter dem As 
tigen würde? Durch feinen Kopf ſchwirrten allerlei unfinnige Gedanten. 5 
ihien ihm, daß Jeder in der Dienge, der ihn anſchaute, in Gebanten ſen 
Ohren mit den Ohren des Schriftſtellers vergleiche, un genau feſtzuſtellen, m 
länger feien. Und mein Bürſchchen fühlt, daß feine Ohren wuchjen, wudi® 
gigantilchen Umfang erreichten. Aber das Publikum fteht und [chreit: Bra-voo-t- 
Da entzündete ſich in der Seele meines Helden ein unheilvoller Zweifel an d 
Freiheit feines Sch und er dachte: „Sie betrachten mich als ihr Eigentgum oo 
werden fogleich anfangen, mit mir zu ſpielen, wie mit einem Ball.“ Der Zeit 
aber ftand neben ihm und lachte tückiſch: „Haha! Schau nur, ſchau!“ Er [der 
hin, mein armer Burſch, und ficht: die Menge ift von Zehn auf Hundert 8 
wachſen und Alle Elatjchen in die Hände. In ihrer Mitte ftehen die woh 
erzogenen Nachkommen des Judas Iſchariot, des Ignatius Kramol und ads 
Chriſtusverſchacherer; fie ftehen fejt und Elatijhen ihm zu. Die Augen de 
Publikums bohrten ſich wie tauſend Nadeln in die Bruſt meines Helden. 
ſchaute in Verwirrung auf die Menge und ſah: alle die Geſichter verſchmolze 
in ein einziges ungeheures, düfteres, knechtiſches Geficht, das hatte Leine Aug 
Sondern nur zwei trübe Flecke an deren Stelle; und die Nafe in dieſem Geiet 
mar lang, wie der Rüſſel des Elefanten. | 


















3 





Der verehrte Dichter. 281 


„Schau, jagte der Teufel, boshaft Kichernd, „ieine Führer haben ihm 
eine lange Naje gemacht, aber fie haben fein Teuer entzündet in feinem Herzen 
und fo ift es blind! Und fieh bin, was für eine Zunge e8 hat, fieh nur!“ 

Vor den Augen meines Helden bewegten fi ungeheuer große finnliche 
Lippen über einer tiefen, ſchwarzen Höhle; in der Tiefe diefer Höhle drehte fich 
irgend ein glitfchiger, Furzer, dider Balken und mit Geftant brach es hervor: 
„Bra—vo!“ Der Scriftiteller ſchloß vor Furcht die Augen; er fühlte, daß man 
ihn irgendwo einjauge. Aber als er fie wieder öffnete, ftanden vor ihm Menjchen; 


bie allergewöhnlichiten Menjchen ftanden vor ihm wie eine dicke Mauer, ihre 
Geſichter lächelten, die Augen blitten mit dem Vergnügen von Kindern, die ein 


neues Spielzeug erblict haben, und Alles um ihn herum war einfach und ge- 
wöhnlih. Bor biefem Lächeln und dieſen freundlichen Augen wurde dem Dichter 
warm zu Muth, die Furcht ſchmolz in jeinem Herzen unb er wünfchte, dem 
Publikum Etwas zu fagen, fo etwas recht Herzlihes. Er athmete, fo tief er 
konnte, und ſprach, die Hand auf das erjchredte Herz drüdenb: 

„Meine Herren!“ 

„Bravo!“ 

„Tß! Stil! Er will fpredden.“ 

„Deine Herren! Ihre Aufmerkjamkeit figelt angenehm mein Herz. Ich, 
ſcheint mir, verjtehe Sie. Als ih Mein war und Militärmuſik hörte, pflegte 
ich hinter ihr herzulaufen; und mich unterhielt nicht fo jehr die Muſik felbft wie 
der Soldat, der die große Trompete blies und babei die Baden blähte... 
Sch danke Ihnen, meine Herren!“ 

„Bra— voo — 00!” ſchrie das Publikum. 

„Wir lieben Sie!“ ſagte Jemand laut. 

„Danke!“ ſagte der Dichter gerührt und bewegt. 

„Bra — voo!“ 

„Meine Herren! Laßt uns offen mit einander reden!“ 

„Bravo!“ 

Der Teufel, der Hinter dem Schriftſteller ſtand, lächelte... Schlaukopf! 

„Sch, meine Herren, glaube an bie Aufrichtigleit Ihres Verhalten gegen 
mich. Aber sur jchwer verjtehe ich, wodurch ich ſolches warme Gefühl bei Ihnen 
hervorgerufen babe. Manchmal, willen Sie, kommt es mir vor, als liebten Sie 


mich, weil ich feinen Ueberrod trage und in meinen Erzählungen oft unanjtändige 


Wörter gebrauche. Und manchmal denke ich, daß, wenn ich mir einübte, lyriſche 
Gedichte mit dein linken Hinterfuß zu fchreiben, Sie ſich neg wärmer, mit noch 
größerer Aufmerkſamkeit gegen mich benehmen würden . 

„Bra — voo!“ jchnatterte das Publikum. 

„Und, ſehen Sie, mir ſcheint, als ſeien Sie nicht wirkliche Leſer, ſondern 
einfach Verehrer. Der Leſer weiß, daß wichtig nicht der Menſch, ſondern der 
Geiſt des Menſchen iſt, und er guckt den Schriftſteller nicht an wie das Kalb 
mit zwei Köpfen. Er lieſt ihn, aber er glaubt ihm nicht blind. Er denkt ſelbſt 
über das Buch nach: ‚Diejes iſt fo, aber Jenes iſt nicht jo.‘ Und wenn er 
nachgedacht hat, Schafft er etwas Gutes und dann wird diefes Gute ‚Geidhichte 
genannt. Ihr aber, meine Herren, fchafft nicht Geichichte, Tondern Skandal» 
geihichten... Und wirkliche Lefer find gar felten auf der Welt, von Eurer 


282 Die Zukunft. 


Sorte aber viele. Auf mein Gewiffen: id muß Eud jagen, dab id lem 
Sympathie und nod) weniger Achtung für Euch empfinde. Die Kameraden haben 
mir gelagt, daß man das Bublifum achten mülle, aber Niemand fonnte erflärrs, 
weshalb. Wie denken Sie? Weshalb jollte man Sie achten?“ 

Der Schriftfteller jchivieg und fah fragend auf das Publifum. Dei 
ſchwieg aud) und ſchien etwag verbüftert. Won irgendwo her wehte ein falter Wind 

„Seht Ihr wohl”, jagte nad) langem Schweigen janft der Dichter, „and 
hr felbft jeid nicht einmal im Stande, herauszufinden, weshalb man Erd 
wohl achten jollte.‘‘ 

Irgend ein rothhaariger Menſch riß ben Mund auf und jagte im Boß: 
„Wir find Menfchen... 

„Nun, find dem Viele uuter Euch wirklide Menſchen? Unter Tauſem 
wird man vielleicht Fünf finden, die leidenjchaftlich glauben, daß der Menſch der 
Herrſcher und Schöpfer bes Lebens fei und daß fein Recht, frei zu denfen, za 
fprechen, zu gehen, ein heiliges Hecht fei; möglich, baf Fünf von Taufend jogar 
fähig find, für diefes Recht zu kämpfen und furdtlos im Kampf dafür unter 
zugehen. Die Meiften von Euch find Sflaven des Lebens oder deſſen freche 
Herren. Und Ihr Alle feid zahme Bürger, die mitunter bie Pflichten wirklicher 
Menſchen erfüllen. Das, was in Euch menſchlich iſt, gehört in ben Bereich der 
Boologie; ich ſchaue Hier in Eure trüben und Ängftlichen Augen und mit Schreden 
fehe ih, wie Wenige unter Euch tapfer, wie Wenige ehrlih find. Arm ik 
mein Land an ftarfen Menſchen; und doch ift wieder .die Zeit gefommen, mo 
es eines Helden bedarf.” 

Etwa zwanzig Leute aus dem Publikum drehten dem Redner den Rüden 
und gingen ab. Er aber fuhr fort: ‚Ein guter, lebendiger Menſch wird immer 
nad Etwas ftreben, Etwas fuchen; Ihr aber lebt ftill, zahın, unbeweglich, wie 
Euch befohlen wird. Das Leben iſt Euch ſchwer, zum Denken feid Ihr zu faul 
und habt Angft, Euch zu bewegen. Rings um Euch ftarren, wie die Wichtig 
feiten auf dem Börtchen im Empfangszimmer der Cocotte, die morſchen Tradi 
tionen und verſchiedenen VBorjchriften, die verteufelt wenig taugen. Das WUllez 
hindert Euch, frei die Hände zu bewegen, aber all diefe Dinge find für Eud 
fleine Sößen und Ihr wagt nicht, fie zu vernichten, obgleid) fie Euch wie Feſſeln 
drüden. Und wenn der Wind vom Feld Her in die muffige Luft Eurer Höhlen 
frifche Düfte hineinweht, jo ſchließt Ihr, einen Herzichlag befürdtend, alle Luft: 
Lappen. Unruhe liebt Ihr nicht, Unruhe erjchredt Euch. Aber Ahr müßt 
irgend Etwas zum Sprechen Haben, Ihr braucht was, um Eure Bäfte zu unter 
halten; wie die Bettler auf der Kirchentreppe, ftredt Ihr die Hände nach der 
Literatur aus, um von ihr Etwas zur Zerſtreuung zu erwiſchen. Die Literatur 
ift für Euch das fcharfe Gewürz in der Fadheit Eures bämmerigen Lebens. Euch 
gefällt e3, wern man mit Blut und Galle ſchreibt; aber es gefällt Euch eben 
nur. Und weder Liebe noch Haß wedt die Literatur in Eurer Bruſt, — nichts, 
außer Beifallsgejchrei oder Schmähungen. hr feid nicht Menſchen, Ahr jeid 
Zuſchauer, Publikum. Nicht ein Bittern würde dur das Leben gehen, wenn 
Ihr Alle auf einmal daraus entjchwändet, wenn Ihr auf einmal in die Erde 
verfänfet; nichts würde fi) auf der Erde ändern. hr feid Stoifer, weil Ihr 
Sklaven feid. Man ſchlägt Euch: Ihr ſchweigt; man beleidigt Euch: Ihr lächelt. 


Der verehrte Dichter. 283 


Euch können höchſtens noch Eure Frauen ärgern, wenn das Mittageſſen nicht ſchmeckt, 
und Ihr leidet nur aus Gier nach den Gütern des Lebens, aus Neid gegen 
einander und durch ſchlechte Verdauung. Wenn der Stiefel Euren Fuß drückt, 
ſeufzt Ihr:“ O, wie Recht Hat Schopenhauer!" Aber mern Ihr das Geſchrei 
nach ‚Freiheit“ hört, denkt Ihr bei Euch: ‚Was iſt mir Hekuba?‘ Daß Euch 
Alle der Teufel holte! Wenn Ihr wüßtet, wie jämmerlich, wie widerwärtig 
Ihr ſeid, wie ſchrecklich ſchwer es iſt, unter Euch zu leben! Man ſagt Euch: 
das Leben iſt furchtbar, das Leben iſt düſter, es iſt ganz von Blut durchtränkt. 
Ihr glaubt es nicht. Euer Leben iſt nur gemein und langweilig; und wenn 
man Euch den Tod zeigt und die Schredniffe dieſer Gemeinheit, jo bleibt Ihr 
ruhig und intereffirt Euch nur für das Eine: Iſt es fchön dargeftellt? Wefthetifer, 
die im Schmuß ertrinfen.... Möchtet Ihr wenigftens Schneller barin erfaufen!...“ 
Das Publikum lichtete fi allınählid. Es liebt lange Rebe nicht. Aber 
der Teufel lachte; er kannte ja den wirklichen Werth von Alledem. 
Nur der Nedner, Bingerifjen von dem Gefühl zu erfüllender Pflicht, merkte 
nicht3 und fuhr fort: „Das Leben ift die heroiſche Dichtung vom Menfcen, ber, 
jein Herz ſucht und es nicht findet, der Alles wijjen will und nichts wifjen kann, 
der jtrebt, jo mächtig zu fein wie fein Pater im Himmel, und nicht die Kraft 
bat, jeine eigenen Schwächen zu befiegen. Habt Ihr von der Wahrheit gehört? 
Bon der Geredtigkeit? Bon dem Wunfch, alle Menſchen der Erde ftolz, frei 
und ſchön zu fehen?... Ihr tradhtet nur danach, jatt zu fein, c8 warm zu 
haben, den Frauen unter der Vorſpiegelung von Liebe Gewalt anzuthun und 
fie zu verderben. Ihr wollt nur ruhig leben, gemüthlich, fänftiglid. Das ift 
Euer Glück. Euer höchſtes Glüd aber ift, für einen Groſchen fünf zu kriegen. 
Das Glück fängt man mit kräftigen, muskulöſen Armen. Ihr aber feid Feig— 
linge, Schwädlinge. hr könnt nicht einmal eine Fliege ohne fremde Hilfe 
fangen. Ihr braucht dazu vergiftetes Papier: „liegentod‘. Mir thun die Fliegen 
leid! Sie jummen und ftören dadurch den Schlaf; aber ich würde mit Freuden 
für Euch ein Papieren ‚Fliegentod‘ fchreiben, daß hr beim Leſen von Unruhe 
vergiftet würdet... Ich jede, hierin Habe ich nicht Recht: Ihr beunruhigt Euch 
wohl. Nämlich, wenns Euch unbequem wird, zu leben, weil das Gehalt nicht zur 
Ernährung der Familie ausreicht oder weil Eure Frauen vor Zangemweile, mit Eud) 
zu feben, Euch betrügen. Dann jeufzt Ihr, philojophirt, das Leben erjcheint 
Euch widerli und ſchwer ... jo lange, bis Eud) das Gehalt erhöht wird oder Ihr 
eine Geliebte gefunden habt. Und indem Ihr das Leben mit den altersfchiwachen 
Nörgeleien, dem ekligen Geleif des Katzenjammers, mit Euren Klagen über das 
Dafein anfüllt, vergiftet Ihr das Ohr Eurer Kinder. Ahr feſſelt ihre Gedanken 
an die Kleinlichleiten des Lebens, an deſſen Plattheiten und ihre Gedanken 
werden jtumpf wie das Schwert, mit dem man Aefte abhaut, ftatt der Köpfe. 
Dann gehen aud die Kinder, ermüdet von Eurem Geſchwätz über das 
Leben, das Ihr nicht kennt, jtill die ausgetretenen Wege; fie werden früh kleine 
kalte, jämmerliche Greije; fie gehen und fuchen ein warmes Leben, ein fattes 
Leben, ein mollige3 Leben; fie finden es und vegetiren ftill dahin, nach dem Bei- 
ipiel der Väter. Sie find wie eine frifche Tünche, mit der man den Spalt im 
alten Gebäude übermalt Hat. Hier ift ein jchweres, ſchmutziges Gebäude, ganz 
durdtränft vom Blute der Menfchen, die es zerdrüdt hat; es erbebt in feiner 


21 












De . = 


24. . Die Zukunft. 


Morfchheit, wird vom Vorgefühl des nahen Zuſammenbruches gepadt und warte | 
sitternd auf den Uugenblid, wo es krachend einftärzen ſoll. Und jchon reifen dir 
Kräfte zum Stoß; fie wachſen an, Können fi kaum noch zurüdhalten und bald dert, 
bald hier Loft ihre Gluth in einer Ylamme ber Ungebuld auf. Sie werden 
kommen; daan wird das alte Gebäude erzittern, wird Euch auf die Köpfe fallen 
und Euch unbarmherzig zerquetichen, obgleich Ihr nur ftrafjällig jeid, weil Ahr 
nichts gethan habt. Aber e8 giebt feine Schuld im diefem Leben.“ 

Gar wenig Publifum war übrig geblieben. Ein Theil davon ſchaute 
mit Bedauern auf den Dichter; ba fie feine Erzählungen gern laſen, hörten 
fie mit Kummer feine Rede, dieweil in feiner Rede nichts Aeſthetiſches war. 
Einige fahen ihn mitleidig an. Alle langweilten fih und Niemand fühlte fich 
beleidigt. Da ſchrie ein erbofter Züngling: „Alles Dies find Worte. Beigen 
Sie, daß fie ein Programm haben, ein praktiſches Programm!” 

Ein würbiger Herr jagte ſeufzend: 

„Ad, auch id) war in meiner Jugend Romantiter!“ 

Und eine Dame in fchwarzem Meid fragte: „Warum ſchimpft er denn 
auf die Frauen?“ 

Der Teufel lachte. 

„Nod) Eins muß ich Euch jagen. Sehr liebt Ihr, unglüdlid zu ſein 
Ich) denfe, Ihr thut es aus Berechnung: Ihr Habt nichis, um unter einander 
Adtung und Liebe zu erweden, und fo werdet Ihr abſichtlich unglücklich, um 
für Euch das Mitleiden, das Mitgefühl, billige Emotibnchen zu erregen, mit 
denen Ihr einander abjpeift und bie Ihr in der felben Stärke dem Hündchen 
gönnt, wenn das Rad eines Wagens ihm das Bein zerquetiht hat. Wenn in 
Eud) nm ein gefundes, ganzes Gefühl der Liebe zum Leben wärel Ihr liebt 
eben nicht, Ihr fürchtet Euch vor ihm, Ihr reißt ihm leife, wie ein 
ideen ab... Zahme Sippfcaft! Arme Bettler! Möchte Gott mehr 
Elend auf Eure Häupter herniederſchicken, auf daß Ihr aus träger Ruhe Fämet; 
möge Gott Euch Aufregungen in Fülle fenden, damit Ihr auflebet!...“ 

‚In der Gruppe der Leute, die vor dem Rebner ftanden, fühlte fih Einer 
beleidigt und ſchrie: „Ja, nicht Alle find wir fo... Der Teufel Hols! ‚Das 
ift madıgerade ungerecht!‘ 

„Mein Herr, fordern Sie nit von mir Gerechtigkeit. Die giebt es nicht 

b vorläufig wenigſtens nicht. Wie kann in Eurer Mitte Gerechtigkeit er- 
Und Ihr feid Alle gleich ſchlecht. Ahr, die Gefelfhaft: wie foll mar 
in Gute und Schlechte theilen? Ihr Alle Habt Euch in ber Jugend mit 
niffen ausgerüftet, während Ahr in den Schulen faßet, und Euch Alle 
an das Selbe. Ich glaube, daß Ihr Gutes gelernt habt, denn ich bin 
at, Ihr hättet nicht gelitten, daß Euch Böjes gelchrt wird. Ich kann mir 
eine Univerfität vorftelen, in der man die Jünglinge ein menfchenfeind- 
licyes, leibenfchaftlojes Verhalten dem Leben gegenüber lehren fönnte, das Streben 
en Plägchen und andere Superflugheiten. Aber wenn Ihr ins Leben 
tretet, wird die Summe ber vorhandenen Gemeinheiten durch Eure Gegenwart 
mindert, Ich weiß nicht, ob Ihr friiche Kleine Gemeinheiten mitbringt, 
und dieje Behauptung auch nicht aufitellen. Ich weiß nur, daß Ihr mit 
fünfundgwanzig Zahren das Privateigentgum bekämpft und mit fünfundbreißig 




















Kaufmännijche Schiedsgerichte. 285 


Jahren nette Billen befißt. ch weiß: Ihr verfteht, für Euch zu arbeiten; aber 
ich frage: Was Habt Ihr für das Leben getfan? Ihr Alle fühlt gleich Kalt. 
Die fogar, die warm reden. Wie viel Niederfracht unıgiebt Euch! Probirt Ihr, 
fie zu ‚vernichten? Sagt Ihr fie von Euch? Nein! Aber die Befleren unter 
Euch — Das fah ih — verfteden fich prezids davor, Das Streben, reinlich 
zu fein, tft kein ſchlechtes Streben, aber der ehrlide Menſch fürdtet den Schmuß 
nidt. Laßt und.offen reden. Daran, daB unjer Leben jo häßlich ift, find wir 
Alle glei ſchuldig. Auf der Welt giebt e8 feinen Gerechten, noch nicht. Aber 
woher nehmt hr den Muth zu folcher Striecherei vor ber Macht und wo habt Ihr fo 
flaviich für das Heil Eurer Haut fürchten gelernt? Sch behaupte: alle8 Gemeine und 
Widerliche, das auf Schritt und Tritt und begegnet, blüht nur deshalb fo lebendig, 
ſtark und grell, weil es fi auf eine Eräftige Wurzel ftüßt, auf Eure Angft um 
die Haut, auf Eure Sklaveninftinkte. Die Schmach des Lebens haben wir Alle 
zu gleichen Theilen verfchuldet. Und wenn ich an die Straft des Fluches glaubte, 
würde ih Euch Alle verfluhen. Aber ich glaube an etwas Anderes. Bald 
werden neue Menſchen fommen, muthige Menſchen, ehrliche, ſtarke ... bald!” .. 

„Run ift8 aber genug”, fagte der Teufel lächelnd. 

Mein Bürſchchen ſah fih um. Bor ihm und um thn war feine Seele. 
„Seltiam! Sind fie ſchon Alle fortgelaufen? Ich bin ja noch nicht zu Ende.” 

„Sie find verbrannt im Feuer Deiner Neben. Siehft Du den Ruß an 
der Dede? Das ift Alles, was von ihnen geblieben ift. Laß uns gehen.“ 

Ich weiß nicht, was weiter mit meinem Helden gefchah, möchte auch das 
Ende biefer Geſchichte nicht ausdenken, denn ich ahne darin nichts Erfreuliches 
für ihn. Aber ich Bir ficher, daß es nicht gut thut, wenn einem Dichter viele 
Verehrer eritehen. Wer mit dem Publitum zu thun hat, muß von Beit zu Beit 
die Luft um fich her mit der Karbolſäure der. Wahrheit desinfiziren. 

Das ift Alles... 


Moskau. Marim Gorlij. 


1,9 
Raufmännifhe Schiedsgerichte. 


SI" Landrichter a. D. Ernft Mumm Holte im letzten Aprilheft ber „Zukunft“ 
0 zu gewaltigem Streich gegen die kaufmänniſchen Schiedsgerichte aus. 
Nach der anſpruchsvollen Einkleidung ſeines Artikels hatte ich gehofft, wenigſtens 
einen neuen Gedanken über dieſe Inſtitution darin zu finden, muß aber geſtehen, 
daß er mich nur auf oft betretene Gemeinplätze geführt hat. 

Herr Mumm bedauert, daß durch die Schaffung kaufmänniſcher Scieds: 
gerichte „der Grundſatz der ordentlichen Gerichtsbarfeit abermals durchbrochen 
wird. Diefer Ausdrud jcheint mir nicht ganz forrelt. Das Prinzip der ordent- 
lichen Gerichtsbarkeit ift fchon jeit der Einführung der Gewerbegerichte durch» 
drohen. Jetzt handelt e3 fih nur noch darum, für eine Stategorie von Lohn— 
arbeitern — denn aud die Dandlungsgehilfen find nichts Anderes —, die eigent- 
lich ſchon lange der gewerblichen Sonderrechtſprechung unterftchen müßte, einen 
für fie ungünftigen Ausnahmezuftand zu bejeitigen. Ich jehe nur einen Stand- 


21? 


286 Die Zukunft. 


punkt, von dem aus man vielleicht bedauern könnte, daß die aus dem faur: 
männifchen Dienftvertrag erwachſenden Reditsftreitigkeiten der ordentlichen Ge 
rihtsbarkfeit entzogen werden, nämlich den Standpunkt der juriltiichen Wiſſen- 
ſchaft, der dadurch ein jehr wichtiges und ſchwieriges Gebiet genommen wir). 
Das hat Juſtizrath Staub in der Deutſchen Nuriftenzeitung mit Recht betont. 
Staub geht aber zu weit, wenu er aus diefem Grunde die faufmänniichen 
Schiedsgerichte überhaupt ablehnt. So hoch uns die juriltiide Wiſſenſchaft 
ftchen mag: Höher ftcht die Praxis, für die ja die Wiſſenſchaft ſchließlich vor- 
handen iſt. Und die Praxis fordert gebieteriich faufmännische Schiedögerichte, aus 
dem felben Grunde, der jchon früher zu der Forderung von Gewerbegerichten 
trieb. Yeidber nehmen viele Juriſten mit Herren Landrichter Mumm an, es jeien 
„überall Rechtsfragen, ragen der Auslegung von Gefeßes- und Vertragsbeftimin- 
ungen, die der Entihetdung harren, und äußerſt felten nur ıwerde der Richter 
Gelegenheit finden, ſpezifiſch kaufmänniſche Kenntniffe zu vermerthen.' Gewiß: 
kaufmänniſche Spezialfenntniffe find überhaupt nicht nöthig. Aber die zur Aus- 
legung von Dienftverträgen nothwendigſte Vorausſetzung ift ſoziales Berftändnip. 
Wo die Auslegung Elipp und klar tft, da kann nach den Gejeßesbeftimmungen 
auch der Gewerberichter nur genau jo entſcheiden, wie es der Berufsrichter thun 
müßte. Die Scwierigfeit beginnt eben erſt bei den vielen Fällen, wo der 
Buchſtabe des Geſetzes zweierlei Irtheile zuläßt. Da muß das foziale Gefühl, 
muß das Bewußtſein mitſprechen, daß der Hanblungsgebilfe gegenüber dein 
Brinzipal der wirthichaftlich ſchwächere Theil ift. Diefes foziale Bewußtfein 
ift aber bei unſeren Richtern aus zwei Gründen nicht allzu häufig zu finden. 
Entweder legen fie in Folge ihrer Vorbildung aud in zweifelhaften Fällen 
formalijtifchen Erwägungen ausjchlaggebende Bedeutung bei; oder ihre Derfunft, 
ihre gejellfchaftlichen Beziehungen und Lebensgewohnheiten wirken von vorn herein 
auf ihr joziales Empfinden. Wären lediglich oder auch nur in der Hauptſache 
kaufmänniſche Kenntniſſe nöthig, dann müßte man in den Handelsfammern der 
Landgerichte die berufenjten Richterfollegien fehen. Sie fommen ja heute ſchon 
für Stlagen von Angeſtellten als Berufungsgerichte, aber au, zum Beiſpiel 
bei Klagen wegen der Konkurrenzklauſel, als Gerichte erfter Inſtanz in Frage. 
Aber ſie find jelbftverjtändlich noch viel gefährlicher als Berufsrichterfollegien, 
denn bier jißen ja die Chefs über die Angejtellten zu Gericht. 

Ueber die von dem Herrn Landrichter befürchteten fozialen Folgen der fauf- 
männiſchen Sciedsgerichte ließe ſich disfutiren, wenn nicht die Erfahrungen der 
Semwerbegerichte laut gegen feine Auffafjung fprächen. Sch begreife, offen ge— 
jtanden, nicht, wie ‚semand, der nicht ganz ohne Kenntniß der einſchlägigen 
Verhältniſſe urtheilt, heute noch daran zweifeln kann, daß dag Zufammenarbeiten 
in den Berufsgerichten Arbeiter und Arbeitgeber einander näher bringt. Das 
Zuſammenwirken der Vertreter einzelner Klaffen kann natürlich den Klaſſen— 
fampf nicht aus der Welt Schaffen. Dadurch aber, dab die Kontrafenten des 
Arbeitvertrages in einem gemwillermaßen obligatorijchen Verkehr ftehen, lernen 
fie einander als Perſönlichkeiten achten. Der Arbeiter fieht, daß feine Brot- 
herren perjönlich jehr oft frei von jener Härte find, die ihnen der Zwang wirth- 
ichaftlicher Konkurrenz aufnöthigt. Und auch der Arbeitgeber lernt bei jo naher 
Berührung im Arbeiter den Menfchen mehr fchägen, ala ers früher gewöhnt 
war. Man frage nur unjere großen ?yabrifherren, die in der Landesverſiche⸗ 


Kaufmännifche Schiedagerichte. " 287 


runganſtalt, in den Krankenkaſſen und im Gcwerbegericht mit den Bertretern 
der Arbeiterſchaft zufammenwirfen, ab fie im Lauf diefer Thätigkeit nicht viel- 
fach einen ganz anderen Begriff von ber Intelligenz und vom Wefen der Arbeiter 
befommen haben. Die Befürchtung, eine Vermehrung der Zahl der Prozeſſe 
könne die wirthſchaftlichen Gegenjäße verjtärfen, ift durch alle mit den Gewerbe: 
gerichten gemadjten Erfahrungen als grundlos erwieſen worden. 

Auf einem ganz anderen Blatt fteht die von bem Herrn Landrichter be- 
rührte Frage, ob Geiverberichter, die aus allgemeinen Wahlen hervorgegangen 
find, die nöthige Gewähr für eine unparteiiihe Nechtiprehung bieten. Der 
einzelne Richter gewiß nicht. Das ſoll er aud gar nicht. Der Fortſchritt der 
Berufsgerichte befteht ja gerade darin, daß die falſche Fiktion der Objektivität 
bejeitigt und dem Klaſſencharakter der Gefellihaft ausdrücklich Rechnung getragen 
wird. Der Arbeiter-Beifiter ſpricht Recht nad) bem jozialen Empfinden jeiner 
Stlaffe. Der Arbeitgeber-Beifiger wird in vielen Fällen den entgegengejegten Stand- 
punkt einnehmen. Und den Ausſchlag giebt der präfidirende gelehrte Richter, 
den beide Anſchauungen in frifchet Urfprünglichleit vor Augen geführt werben. 

Herr Mumm nennt den Ruf nad) Schiedsgerichten eine Modeſache. Soll 
damit dieſe bitter ernite Frage ing Lächerliche gezogen werden? Wenn man 
Alles, was modernen Bebdürfniffen entjpricht und deshalb gefordert wird, Mode— 
ſache nennen will, — gut, dann jind aud die kaufmänniſchen Schiedsgerichte 
Modeſache. Entichieden aber wäre die Unterſtellung zurückzuweiſen, es handle 
fich bier etwa um eine Mode, der nicht mehr Werth zuzufprechen ift als dem 
erfolgreichen Bemühen eines Stonfeftionärs, der den Frauen aller Länder vor- 
ſchwatzt, es fei nöthig, am Ende der Stletderärmel trichterförmige Erweiterungen 
zu tragen, die wie Regenabflußrohre ausjehen. Wenn Herr Landrichter Mumm 
auf folde Anſchauung feine jozialpolitiichen Studien baut, dann fteht er aller- 
dings dem von ihm verehrten Karl Ferdinand Freiheren von Stumm recht nah, 
für den ja auch die Forderung des Kechtes freier Koalition eine Modeſache war. 

Uebrigens hält diefe Mode fih nun ſchon ſeit mehr als zwölf Jahren. 
Ber rüdblidend erfeımt, welchen Raum in der Handelgwelt die Forderung fauf- 
männifcher Schiedsgerichte fih im Lauf der Zeit erobert hat, Der wird zu 
anderen Anfichten kfommen als die Herren Stumm und Mumm. In dieſen 
Tagen ift eine Heine Schrift, „Der Kampf ums Recht“ erjchienen, die der Sentrals 
verband der Handlungsgehilfen und Gehilfinnen Deutſchlands Herausgegeben 
hat. Sie bringt im Anschluß an eine Rede, die der Reichstagsabgeordnete Paul 
Singer in einer öffentlihen Verfammlung am zehnten Februar 1902 hielt, in 
einem Anhang eine kurze Gejchichte. des Rufes nad kaufmänniſchen Sciedg- 
gerichten.. Daraus fann man erjehen, daß ſchon 1890, als vom Bundesrath 
dem Reichstag der Entwurf eines Gewerbegerichtägejches vorgelegt wurde, die 
jozialdemofratifche Bartei beantragte, Handlungsgehilfen und Lehrlinge in die 
Rechtſprechung der Gewerbegerichte einzubeziehen. Der Antrag fiel damals, aber 
die Frage war damit in Fluß gebracht. Nur ein einziger Verein, der Berband 
Deutiher Handlungsgehilfen in Yeipzig, erklärte noch 1894 kaufmänniſche Gewerbe: 
gerichte für durchaus überflüſſig. Schließlich aber mußte auch er fih dem Drud 
feiner Mitglieder fügen; und ſeitdem giebt es Feine auch noch ſo ſchwächliche 
Dandlungsgehilfen-Organijation, die nicht kaufmänniſche Sondergerichte verlangt. 





288 Die Zukunft. 


Die Frage, wie bie Gerichte zufammengefegt werben follen, wird freilich jebr 
verfchieden beantwortet, braucht uns hier aber nicht weiter zu beihäftigen. Daß 
die Handelsfammern fih zum großen Theil gegen Schiedsgerichte erflären, ift 
fein Wunder; felbjt wenn fie nicht durch das ungehenerliche Wahlreht zu Ber- 
tretern der Hanbelsariftofratie geftempelt wären, blieben fie doch im beften Fall 
immer nur Vertreter ber Urbeitgeber. Die aber haben mit den Gewerbegerichten 
ſchlechte Erfahrungen gemadit. 

Auch über die Gründe, die, abgejehen von den jchon angedeuteten fozialen 
Erwägungen, die Hanblungsgebilfenichaft zu ihrer FForberung beſtimmten, gicht 
die Brodure eingehend Auskunft. Statt im Allgemeinen von der jozialen Ver— 
ftändnißlofigleit zu reden, die in manchen Urtheilen der ordentliden Gerichte 
an den Tag tritt, will ich einen einzigen Prozeß berausgreifen, ber deutlich 
zeigt, wie ſchleppend der Gefchäftsgang vor unjeren ordentlichen Gerichten ilt. 
Ich eitire wörtlih: „Sm Kaufbaufe Germania in Hamburg verunglüdte im 
Juni 1898 ein Angejtellter beim Dekoriren und durfte auf Anordnung ſeines 
Arztes feine gejchäftliche Thätigkeit nicht ausüben. Der Chef entließ ihn ohne 
Kündigung und gab als Grund an, der Angeftellte fei unberechtigter Weije ans 
dem Gefchäft fortgeblieben. Am fiebenundzwanzigften Juli 1898 wird vom 
Angeitellten die Klage eingereicht und der erfte Termin iſt am ſiebenundzwanzigſten 
September, da die Serichtsferien dazwilchen liegen. Bertagung. Zweiter Ter- 
min 20. Oftober. Vertagung. Der Arzt foll vernoimmen werden. Dritter 
Zermin 8. November. Der Hausdiener joll vernommen werden. Vierter Termin 
29. Kovember. Der Chef foll die Gejchäftsbüicher vorlegen. Fünfter Termin 
13. Dezember. Es wird Entſcheidung angefeßt auf den 28. Dezember, Doch am 
20. Dezember nod einmal verfügt, Zeugen zu vernehmen. Sechster Termin 
12. Sanuar 1899. Neue Erhebungen beantragt. Siebenter Termin 26. Januar. 
Neue Erhebungen. Achter Termin 2. Februar. Neue Erhebungen. Neunter 
Termin 9. Februar. Zeuge nicht erjchienen. Zehnter Termin 16. Februar. 
Erlap eines Iheilurtheiles: dem Beklagten wird ein Eid zugefchoben. Hiergegen 
legt der Kläger Berufung ein. Elfter Termin 2. Mat. Berhandlung über bie Be 
rufung. Vertagung. Zwölfter Termin 9. Mai. Vertagung. Dreizehnter Termin 
18 Juni. Vernehmung der Parteien. Vierzehnter Termin 15. uni. Theil— 
urtheil: die “Parteien follen bejtimmte Dinge beichwören. Yünfzehnter Termin - 
10 Juli. Nur Kläger erfchien, der ſchwört. Sechzchnter Termin 26. September. 
Bertagung. Sicbenzehnter Termin 28. September. Beklagter ſchwört. WUdt- 
zehnter Termin 30. September. Urtheilsfällung und Perurtheilung des Be— 
flagten, nachdem vierzehn Monate feit der Einreichung der Klage vergangen find. * 
Ein ſolches Beijpiel follte dod) wahrhaftig genügen, um zu zeigen, wie nöthig eine 
beſchleunigte Sonderredhtiprehung ift. Man muß fi vorftellen, was es für 
einen armen Bandlungsgehilfen heißt, vierzehn Monate auf fein Gehalt warte 
zu müſſen. In der überwiegenden Mehrzahl der ‚sälle bat der Handlung: 
gehilfe noch nicht einmal jo viel Privatvermögen, daB er, ohne Schulden z 
machen, auch nur einen Monat der Stellenlofigkeit überbauern könnte. 

So erwachſen dein Gehilfen [don Nachtheile, wenn er fi entjchlicht, den 
beitehenden traurigen Rechtszuſtand auszunügen und den Klageweg zu bejchreiten 
Doch wie Wenige thun Das Überhaupt! Da tjt der Herr Landrichter flinf mi: 


Kaufmännifche Schiedögerichte. 289 


Ironie bei der Hand: „Das ftumme Dulden bildet aber gerade in unferer Zeit 
ganz fiher nicht die Negel.” Der dudmänjerifche Verzicht auf den Kampf ums 
Recht allerbings nicht. Aber Noth lehrt auch dulden. Dian ftelle ſich vor, was 
ein Prozeß, deſſen achtzehn Termine fih über vierzehn Monate hinaus erjtreden, 
koſtet. Dieſe Koften an Gelb und Beit find in fehr vielen Fällen eben gar nicht 
aufzubringen. Und jo muß denn der Gehilfe die Sade ins Waſſer fallen laſſen. 
Das Recht wird dadurch zur Luxuswaare, die für den armen Handlungsgehilfen 
— man denfe nicht immer nur an Bankbeamte, Konfektionäre und Waarenhaus- 
disponenten — einfach nicht zu erreichen ift. Herr Mumm hofft freilich, eine 
Beichleunigung und Berbilligung unjeres gefammten Prozeßverfahrens werde 
herbeizuführen fein, die ihm logiſcher fcheint, ſchon weil fie weiteren Volkskreiſen 
Nutzen brädte. Wer außer ihm giebt fih aber der Hoffuung hin, der Militär- 
Itaat Preußen könne Geld genug aufwenden, um nicht nur die Ueberlaftung der 
Amtsgerichte zur bejeitigen, fundern auch jo viele Richter neu anzuftellen, daß 
in wenigen Tagen Prozeſſe entichieden fein fünnen? Und felbft wenn Preußen 
nicht Preußen wäre: ihrer ganzen Struktur nach find bie Amtsgerichte für eine 
foziale Rechtſprechung nicht brauchbar. Das ijt ſogar von Richtern anerfannt 
werden. Ich erinnere nur an bie Reden des Aıntsrathes Bader aus Augsburg 
und des Amtsrichters a. D. Kayfer aus Worms auf dem lebten Verbandätage 
deutſcher Gewerbegerichte (in Lübeck am zehnten September 1901). 

Nun aber der Höchfte Trumpf des Herrn Mumm. Bei den bejtehenden 
Sciebsgerihten in Hannover, Braunſchweig, Osnabrück und Stolp find nur 
ſehr wenige oder gar feine Verfahren anhängig gemacht worden, ergo iſt das 


Prozeßbegehren der Handlungsgehilfen gar nicht fo groß, ergo find kaufmänniſche 


Schiedsgerichte Modejahe. Daß die genannten Schieds- oder Fachgerichte mit - 
den von den Handlungsgehilfen geforderten nichts als ben Namen gemein haben, 

ſcheint der Herr Landrichter nicht zu willen. Es find Schiedsgerichte, die nur 
in Funktion treten, wenn fie von beiden Barteien freiwillig angerufen werden. 

Ich Habe das Statut des hannoverſchen Schiedsgerichtes burchgelejen und mundere 

mich gar nicht darüber, daß es im Jahr 1900 dort nur achtzehn Prozefle gab. 

Denn eriteng muß, wie gejagt, dieſes Gericht von beiden Parteien asgerufen 

werden und zweitens ift es nur für Mitglieder der Handelskammer, aljo für 

eingetragene Firmen zuftändig. Gerade die Handlungsgehilfen, die in den vielen 

feinen Gejchäften unter den traurigften Bedingungen dienen, find von den Wohl« 

thaten dieſes „Rechtsſchutzes“ ausgeſchloſſen. Und wer richtet? Chef3 und Ge - 
bilfen. Doc die Bollverfammlung der Handelsfammer wählt auch die Gehilfen- 

Beiliger aus der Zahl geeigneter Kandidaten, die fih die Kamıner von ihr be- 

fannten faufmännijchen Nereinen vorfchlagen läßt. Man ſieht alfo, wie völlig 

verjchieden von diefen Mißgeburten kaufmänniſche Gewerbegerichte find, die nad) 

feſtem Gejcg für alle aus dem faufmännijchen Dienftvertrag ſtammenden Rechts— 

ftreitigleiten in Anjpruc genommen werden müſſen, deren Beifiter aus allge- 

meinen Wahlen hervorgehen und die in längjtens eben fo vielen Wochen den 

Endſpruch fällen, wie das Amtsgeriht Monate braucht, um ein Beugenverhör 

zu Ende zu führen. Solche Schiedsgerichte find nicht Modefache, fondern ent- 

Ipreden einem dringenden wirthfchaftlichen und fozialen Bedürfnig. Plutuß. 


⁊ 


290 Die Zuhmft. 


Meifterfpiele. 


‚Kor achtundvierzig Fahren wurde der neue Glaspalaſt der Bayernhauzt 
>> ftadt zu würdiger Aufnahme der Allgemeinen Deutfchen mduftre- 
ausftellung, der erften münchener, vorbereitet. Franz Dingelftedt, dem aus tm: 
gart verfchriebenen Intendanten des Hoftheater8 und kosmopolitifchen Radı: 
wächter a. D., dem der mündyener Boden damals noch heiß war — und nie käb 
werden follte —, lagen die Freunde in den Ohren, Liebig, Sybel, Dönniges, Geibe 
und die Anderen: was er den herbeiftrömenden Fremden nun im Schaufpielta:: 
bieten wolle. Alltagskoſt durfte es nicht fein; denn Jedermann erwartet fid ca 
Felt. Und Geld mußte es einbringen; denn König Dar hatte eben erſt a: 
Hört, er fei „duch die Verhältniffe außer Stand gejegt, mehr für das Net: 
theater aufzumwenden als bisher.“ Mit diefem Ukas in der Taſche waren gro’x 
Sprünge nicht zu machen, namentlich nicht von einem zugereiften Protejtante 
und Revolutionär, dem, ob er inzwiichen auch fadht fein Fromm geworden mar, 
noch immer das bajuvariſche Mißtrauen auf die Finger fah. Und wenn dx 
Hoftheater während der Ausftellungzeit läfjig blieb, Fonnte der Herr Inter: 
dant mit feiner Jenny allein in der Galerie Noble des eriien Ranges jiger: 
feine Stage ging ihn aus dem Glaspalaft dann ins Scaufpielfaus ... Ir 
einer falten Dezembernadht fam dem blinden Heflen die Erleudtung, al 
er mit dem berühnten Arzt Karl von Pfeufer auf dem Karolinenplag vor 
dem Obelisfen ftand. „Statt eines Schaufpielgajtes laſſe ih ein Viertetfchet 
formen md ftelle fie insgeſammt auf die felbe Linie. Nur Künftler eriten Ranges 
(ade ich ein, aber in einer alle großen Theater umfallenden Auswahl; und mm 
in klaſſiſchen Stücken führe ic) fie vor. Die Mitglieder der hieſigen Hofbühne 
betheiligen ic), je nadı Nermögen, an der allgemeinen Aufgabe. Ich ſchaffe mir eir 
Perfonal von lauter erften Sträften und made für eine: Weile die münchener 
Bühne zur deutfchen Centralbühne. Lauter große Stüde, deutfchen Urſprungs. 
gejviclt von lauter großen deutfchen Künftlern bis in die Heinfte Rolle hinein.“ 
Als der Gedanke auftauchte, waren noch ſechs Monate big zur Eröffnung der 
münchener Meſſe. Tingelitedt verlor feine Zeit nicht. Dem König geftel der 
Ban, im Januar ſchon wurden die Aufforderungen an dreißig Theatergrößen 
verfandt umd in der Karwoche gings auf die Werbereife. Die war nicht be: 
quem; in Wien mußte der Intendant an einem Tage zweiundpierzig Etod: 
werke erffettern und auf einer Fahrt durch alle deutichen und öfterreichijchen 
Hauptftädte gabs damals, bei bitterer Kälte, noch manche Strapaze zu dulden. 
ALS nad) achtzchn Tagen aber der lange Franz wieder in Münden ſaß, war 
das Programm fertig und die Ausführung gelichert. Jeder Gaflfpieler befam 
jür jede Rolle hundert Gulden. Jeder hatte jid) verpflichtet, außer zwei erſten 
auch zwei Kleinere Rollen zu übernehmen, drei Zage vor dem Beginn der 





I 5 Be, 11 522 


Meiſterſpiele. 291 


Vorſtellungen einzutreffen und mindeſtens zwei Wochen lang zur Verfügung 
zu bleiben. Das war möglih, weil im Juli die meiften großen Theater 
geichloffen find und die Wandervirtuofen raflen. Den Regiffeur jeder Bor: 
jtellung wählten die Gäfte mit Stimmenmehrheit. In Streitfällen blieb die 
Entfheidung dem „Plenum der Gefellichaft“ vorbehalten. Den Text der 
Stüde redigirte Dingelftedt und nach feinen vorher verfandten Soufflirbüchern 
mußten die Säfte, ehe fie zum Wettlampf aufbrachen, ihre Rollen einrichten. 
Er, dem das Bild ftetS wichtiger war al3 dag Wort, forgte auch für das 
fzenifche Kleid. Da mar er in feinem Element. - Er hat fich felbft einen „an: 
geborenen Hang zu Maſſenwirkungen und Maffenentwidelungen“ nachgefagt. Wie 
fo Vieles aus der Geſchichte unſeres durch Banauſenhochmuth von der Tradition 
gelöften Theaters, ift heute vergeflen, dag Dingelftedt daS frühe Vorbild der mei: 
ninger Regiefünfte war. Bon ihm haben Alle gelernt, die ſeitdem verfuchten, die 
Niüchternheit norddeutichen Sprechſpiels mit dem bunten Reiz feiner Sinnlich- 
feit zu erwärmen und auf der Bühne ein „Milieu“ zu Schaffen, eine ſtimmende, 
beftimmende Ummelt, die dem Determiniften im Zuſchauerraum den Traum und 
das Wollen der vor feinem Auge handelnden Menſchen erflärt. (Kein Zufall its 
nämlich, daß erit, al3 der Glaube an Willensfreiheit und gottähnlich felbft- 
herrifches Heldenthum ſich müde hinbettete und der Glanz der Theologie und 
Teleologie mählich verblid, auch im Theater der Wunſch nach Erfenntniß der 
Kaufalität erwachte, das Bedürfniß fich regte, auf den Brettern, die eine 
Meenfchenwelt bedeuten jollen, die Menſchenſchickſale determinirenden Kräfte 
verförpert, die Hintergründe in greifbarer Klarheit zu fehen.) Sogar die „male 
rifher” Maffengruppirung günftigen Treppen, bie von den Mleiningern in die 
Mode gebracht wurden und zu der Frage führten, ob denn ſämmtliche Fürften 
im Keller wohnten, hat Dingelftedt erfunden. Und eine ſolche Rieſentreppe 
ftieg in München am. elften Juli 1854 Iſabella von Mefjina in die vom 
Intendanten „mit felbftvergnügten Raffinement aufgebaute” Halle des nor- 
mannitchen Palaftes hinab. Er’ hatte manche Abjage befommten und mußte auf 
Dawifon, Deffoir, Ludwig Löwe, auf die Fuhr und die Bayer verzichten. Trotz- 
dem konute cr Aufführungen von nie erſchautem Glanz bieten. Iſabella war 
Julie Retiich, Deutſchlands damals größte Tragoedin, Cajetan der mächtige 
Sprecher Anfhüg, Manuel und Cefar wurden von Emil Devrient uud 
Hendrichs gefpielt, „den berühmteften Liebhabern und zugleich den in natura“ 
feindlihen Brüdern des deutfchen Theeters." Auf diefer Höhe hielt ſich das 
„Geſammtgaſtſpiel“ bis zum Schluß. Den einfachen Namen hatte Dingelſtedt 
gewählt; die Freunde ſprachen von Muſter-, die Feinde von Monſtre- und 
Mufterreitervorjtellungen. Was gegen den aus fommerzieller, nit aus 
fünftlerifcher Eehnfucht geborenen Gedanken zu jagen war, wurde gefagt. Stil: 
einheit ift in fo kurzer Friſt nicht zu erreichen; und auch bei längerer Vor: 


en 


292 Die Zutunft. 


arbeit hätte. faum einer der berühmten Mimen fich herabgelaflen, auf perjün- 
liche Starwirkung zu verzichten und fich in ein Enfembfe zu fügen. Immerhin 
wars eine ſehenswerthe Ausftellung deutſcher Schauſpielkunſt. Ein grei 
artiger Bühnenraum; forgfame Vorbereitung; faft alle ftärkiten Talente ber 
deutfchen Bühne vereint: Anfchüg, Devrient, Döring, Hendrids, La Hocke, 
Liedtke, Joſt, Chriften, Haafe, die Damen Haizinger, Seebad, NKeumans, 
Marie Dahn; und an der Spige ein Theaterfünftler von der nachichaffenden 
Phantafiefraft Dingelftebts: fein Ausländer Hatte deuticher Schaufpielfunft vor: 
ber folche Leiftung zugetraut. Der Theaterkaſſe brachte das Geſammtgaſtſpiel 
zehntaufend Gulden; für zwölf Hochſommerabende im armen Deutfchland von 
anno dazumal eine hübfche Summe. Als beim Abſchiedsfeſt im Theaterfoyer 
König Marimilion — 1854! — kreuzfidel unter den Komoedianten ſaß unb 
„auf das Gedeihen ber dramatifchen Kunſt und Boefie in Deutfchland“ trant, 
da ging dem langen Franz das Herz auf und er prieß fich glücklich, weil 
ihm gelungen fei, „die berühmteften Meiſter unferer Schaufpielfunft, ohme 
Vortheil für ihr eigenes, einzelnes Intereſſe, durch rein ideale Zwecke in 
ein Ganzes zu verfchmelzen und ein aus ſämmtlichen deutſchen Stämmen, 
Staaten und Städten gemifchtes Publilum für die Aufführungen Haffifcher 
Dichtungen durch klaſſiche Darfteller zu erwärmen. 

Der Berfuch wurde erſt ſechsundzwanzig Jahre Tpäter erneut. Wieder 
in München, wieder während der Sommerferien. Allerlei Surrogate, aber 
auch wirkliche Meufterdarftellungen wurden geboten. Die Wolter al Driina 
und Lady Macbeth, die Weſſely als goethifches Mädchen, Herr Sonnenthal 
als Glavigo und Prinz von Guaſtalla, Herr Kraftel als Tempelherr und 
Dear Biccolomini, Herr Poſſart als Oktavio und Goethes Carlos, Herr 
Häuſſer als Io, Frau Ellmenreic ala Minna: Das lohnte allein Schon bes 
Weges Mühe; und die Herren Lewinsky, Berndal, Barnay, Friedmann, Haaſe 
wirkten mit. Das Virtuoſenthum war, wie Eduard Devrient voraudgefagt 
hatte, jtärfer geworden, der auch nur furze Stunden dauernde Schein einer 
Stileinheit noch ſchwerer als 1854 zu erreichen. Sichtbar wurde die Wirkung 
der Italiener, der Niftori, Roſſis und Salvinis, die das deutfche Tragoe— 
dienfpiel aus der Erftarrung gelöft und die faſt vergefiene Kunſt gelehrt 
hatten, die Geſtalten der klaſſiſchen Dichtung naiv anzufchauen, als wären 
jie geltern von einem unter und Icbenden Poeten gefchaffen worden. Das war 
fein unwichtiges Reſultat. Und mochte an Plan und Ausführung Manches zu 
tadeln fein: auch diesmal — Das fonnte felbjt der firengfte Kritiler Herrn 
Poſſart, dem Leiter, nicht beftreiten — war an ſzeniſchen Künften nicht ge- 
fargt und beinahe jede Hauptrolle mit dem beiten Darfteller befegt, der im 
Perfonalbeftand des deutjchen Theaters zu finden war. 

Jetzt werden in den berliner Hoftheatern „Meiſterſpiele“ veranftaltet. 


Meifteripiefe. 293° 


Man weiß nicht recht, von wen. Der Generalintendant — für ein Weilchen 
iſts noch Graf Hochberg — hat fich, fo heißt e8, dem prager Direltor Angelo 
Neumann verbündet; und da diejfer in allen Preßwinkeln gemwalttige Herr, 
unter deſſen Leitung das prager Schaufpiel längft den guten Namen verloren 
bat, fich hervorrufen und in Tifchreden feiern läßt, muß er ſich wohl al3 den 
Manager diefer Großthat fühlen. Einerlei. Wir brauchen auch nicht zu fragen, 
warum ber Keiter der dem Rang nach erften beutfchen Bühne zu ſolchem Unter- 
nehmen fich einen gefchidten Opernſpekulanten als Helfer holen muß und ob 
die Männlein und Fräulein aus dem Bretterreich nicht eben fo gern dem Auf 
des Grafen Hochberg wie dem bed Herrn Neumann gefolgt wären. Ber- 
antwortlich bleibt die Generalintendanz. Verantwortlich für ben unter ihrer 
privilegirten Adlerflagge verübten Unfug, den ſchlimmſten und zugleich lächerlich- 
ften, deilen Spur in der Gefchichte des deutfchen Theaters zu finden ift. 
Meiſterſpiele ... Franz Dingelftedt, in dem doch ein recht robustes Selbſt⸗ 
bewußtſein lebte, hätte fich fo anmaßenden Namens gefchämt; er mußte, daß 
es in jeder Kunft und in jedem Kunſthandwerk nur wenige Meifter giebt. Und 
das Wort kann doch keinen anderen Sinn haben als den: zu biefen Spielen 
hat jich die Schaar der Meifter vereint. Wir wollen die Bedenken perfönlichen 
Geſchmackes ausfcheiden, jede allgemeine anerkannte Theatergröße für einen 
Meifter oder eine Meifterin nehmen und fragen, wer von diefen der Meifter- 
{haft würdig Behundenen nach Berlin geladen ward. Zwei Meifter wirken 
mit: die Herren Baumeifter und Sonnenthal, zwei Greife, die feit einem 
halben Jahrhundert in erften Stellungen. find. Die Damen Sorma, Niemann, 
Hohenfels, Dumont, Sandrod, die Herren Kainz, Poſſart, Barnay, Baſſer⸗ 
mann (Berlins ftärkites Spieltalent), Engel, Reicher, Thimig, Niffen: fie 
Alle fehlen und mit ihnen mancher Andere, der Hier jicher nicht fehlen durfte. 
Aus allen Provinzen aber find die Mittelmäßigfeiten zufammengetrommelt. 
Eine vom Botſchafter Fürften Eulenburg empfohlene Anfängerin verfucht ſich 
— nad Frau Sorma, deren jinnlicher Mädchenreiz hier ein holdes Wunder 
ſchuf — an Grillparzerd Efiher. Eine Heine, fäuerlich heftige Frau, der 
bei aller geſchickten Routine, auch innere Größe unerreichbar ift und die, mo 
fie von Tragoedienfiebern gefchüttelt fein follte, nur böfe werden kann, feucht 
unter der Laft, bie ihrem fpigen Talentchen die majeftätifche Zarenwittwe 
Schillers aufbürdet. Das in unerträgliche Manierirtheit verfallene Fräulein 
Poppe (ein urfprünglich ſtarkes, in der berlinifchen Zuchtlojigkeit vor der 
Reife zerrütteted Temperament) fpreizt und windet und ziert jih als Maria 
Stuart. Den Fauft fpielt ein tüchtiger, auch im Schreiben emjiger Herr, 
der vor einem Jahr den anftändigen Durchfchnitt des Schillertheaterd nicht 
überragte. Als Soubretten find ung die Frauen Schratt (die vor dreißig Jahren 
- vom berliner Hoftheater zu Laube ging) und Konrad-Schlenther (die ich als 


294 Tie Zukunft. 












Schüler debutiren fah) verfprochen und das Fräulein von Barnhelm ift der x 
Buska anvertraut, die eben fo alt, doch nicht eben fo Iuftig und ferngejund ir 
rau Schratt. Ich weiß nicht, welche Erwägung die Auswahl beitimzr: 
und fann nur feftftellen, dag Frau Busfa die Gattin des Managers ' 
Reumann, Frau Schratt die Freundin des Kaiſers von Oeſterreich ii 
war auch die Freundin feiner Frau; ich bitte alfo, nichts Arges zu 
dar Fräulein Wachner (Eijther) von einem Botfchafter, Fräulein Bopve 
einem Intendanten protegirt wird, Yrau Konrad mit dem Burgtheaterti 
Frau Bertend (Marfa) mit einem Tcheaterkitifer des Berliner Tageb 
verheirathet ift. Auer ihnen find, offenbar nach willfürlicher Laune, 
brave Mimen geworben, die, da jegt ja nicht Ferienzeit ift, faft immer i 
eine Probe mitmachen können, nad) ber Borftellung heimwärts fahren und 
nüchften Rolle wieder nad) Berlin fommen. Keine Möglichkeit innerer S 
fung aljo und nicht einmal der Verſuch, durch forgfames Tönen, Fügen, Abi 
men eine Stileinheit Herzuftellen. Auch nicht da8 Bemühen, den aufzuführen 
Gedichten ein mit befonderer Sorgfalt angepaßtes Feiertagsfleid zu Fchaffen. PR: 
nenleiter ber Spiele ift Herr Grube, ein von meininger Erinnerungen — eigera 
und denen feines Infpizienten — zehrender Negiffeur ohne Anfehen, cz 
Fleiß, Künftlerernft und fchöpferiiche Kraft, ein Iheaterpugmacher, der da 
tiefften Punkt, den feiten Grundftein einer Dichtung nie zu erkennen verma 
dem in feinem Schaufpielhaus Niemand gehorcht und der fi durch den Hai 
der Berufsgenoffen, wie es ſcheint, nicht abfchreden läßt, felbft in Hauptrole 
unter die Weijterfpieler zu treten. Die meiften Dramen finden im Neuen Körq 
lichen CO perntheater Unterjtand, in einem Bühnenhaus, das zu Neitübungen un 
Mastenbällen geeignet fein mag, jede intime Wirkung aber verfagt und de 
ES pieler im Affekt zu härlicher Lleberfpannumg der Yungenkraft zwingt. Warn 
ward diefes Haus gewählt? Weil cs an Worhentagen fonjt leer fteht un 
ih — eine Errungenfchaft aus der Aera Pierſon — ſchlecht verzinjt ım 
weil die verehrliche Generalintendanz Geld verdienen will. Deshalb werda 
am Zchillerplag die Saijonzugftüde gegeben und die Meitteripiele bei fejtlid 
erhöhten reifen hinter der Siegesſäule veranftaltet. Deshalb darf frun 
Vorſtellung ausfallen, muß Goethes wichtigfte Dichtung punktlich aufgeführ 
werden, trogdem der herbeigewinfte Fauftiprecher erjt drei Stunten vor Anja 
der Vorftellung aus Wien eintrifft und feinen Mephiito kennen lernt. 

Daß die Intendanz Geld verdienen will, ift nad den — trog alla 
pomphaſten Crflärungen erweislichen — Einbußen der legten Zeit leicht z« 
verjtehen ımd wäre unter allen Amftänden ihr, wie jedes Gewerbetreibenden, 
gutes Recht. In der Wahl der Mittel aber, die zu folhem Ziel führen 
follen, müßte fie einigermaßen vorjichtig fein. Schon früher ließ fie abge: 
fpielte Operetten von einem zufammengewürfelten Perfonal aufführen, das eben 
fo wenig wie da8 Orcheſter je dem SHoftheaterverband angehört hatte, und 


Meifteripiele. 295 


-uhigen Muthed auf den Zettel drnden: Neues Königliches Operntheater. 
"Der Fremde, auch der in Berlin dem Theaterweſen fern Lebende wurde durch die 
"tolze Adlerfirma getäufcht: er zahlte das Eintrittögeld für eine Hoftheater- 
Jorjtellung und wurde mit einer Aufführung bewirthet, deren stars aus der 
Himmelsgegend von Lübeck, Poſen und Chemnitz ſtammten. Der ſelbe Aar 
breitete ſeine Schwingen über die Ankündung einer franzöſiſchen Opernbande, 
die nad ein paar ſkandalöſen Abenden geräuſchlos verduftete. An Sonntagen, 
wenn in beiden Häufern gefpielt wurde, gab es am Königsplag immer 
‚Bejegungen, die felbft der alte Hilfen nicht zugelaffen hätte est... 
Ich ſchätze die Keiftungen des berliner Hofihaufpielhaufes nicht allzu hoch; aber 
:e3 hat gute Männerfpieler (die Herren Matkowsky, den größten, den einzigen 
großen Zragoeden Deutfchlands, Kraufned, Keßler, Bollmer, Chriftians, 
-Qudwig, Pohl, Molenar) und bietet an Alltagen mehr, als die Meiſterſpiele 
.6bi3 jegt boten und nach dem Programm bieten können. Wird eine Vorftcllung 
:dadurdy beiler, daß Matkowskys Rollen von ſchwächlichen Nachahmern ge- 
sfpielt werden und irgend ein Hinz oder Kunz aus Dresden oder Weimar auf 
unbefannten Brettern die Kräfte Abt? Und diefe Hinz und Kunz find nad 
sfolchem haſtig vorbereiteten Gafifpiel auf fremden Boden nicht einmal zu 
ebeuctheilen. Weberhaupt kann von einem Kunſtwerth der Spiele nicht ernit= 
- haft die Rede fein. Sie zeigen nicht den Status der beutfchen Bühne, 
} nicht, wa8 den unter einem Kommando vereinten ſtärkſten Zalenten gelingen Tann, 
+ nicht die Refte und Rudimente der einzelnen Schulen, — höchſtens die heillofe Sprach⸗ 
e verrottung und Stilzerfplitterung. Die Hoftheater von München, Dresben, 
e Stuttgart geben je eine Vorftellung. Auch daraus ift nichts zu lernen. Daß 
Herr von Poflart, wenn er ſich acht Tage lang wieder einmal befleikt, eine an= 
ftändige Aufführung des — kinderleicht zu jpielenden — „Exbförfter” fertig 
: bringt, wußte der Sachfundige ſchon vorher; wer nad) diefer einen Probe daS 
münchener Schaufpiel fchägte, würde ftaunen, wenn ers daheim fähe: mit 
einem Perfonal, dem der Held und die Heldin, Fauſt, Franz Moor, Lady 
: Macbeth fehlen und das Feiner großen Aufgabe gewachſen it. Eine gute 
: Aufführung kann fchließlich jedes ‘Theater leiſten. Woher aber nimmt die 
Beneralintendanz das Hecht, für Vorftellungen, die in beftem Fall bis ans 
Alltagsniveau des Gewöhnten reichen, erhöhte Eintrittöpreife zu fordern? 
Woher? Aug dem Titel des Unternehmens. Dem Gefammtgaftfpiel 

. unbefannter Hiftrionen hätten nicht Viele nachgefragt; Meifterfpiele: Das 
jollte ziehen und hat wirklich gezogen. Sind aber die waderen Leute, bie 
in Dresden, Hannover, Leipzig, Prag, Stuttgart, Weimar feit Jahr und 
Tag ſich bejcheiden und die von Zeit zu Zeit der Glanz eines den Bühnen- 
himmel abwandelnden berliner Sternes überftrahlt, find diefe redlichen Durch⸗ 
ſchnittsmimen Meifter? Und find fies nicht, geben fie ſelbſt fich nicht dafür 
“ aus: was tft dann über den Titel zu jagen, defien Bofaunenton die arglofe 


— 


— [mr 


_ — — — 







286 Die Zutunft, 


Menge heranloden fol? Die Intendenz mag geläufcht ir 
Manager, der vom Schaufpiel nichts verfteht, mag feinem 9 
beſſeren Erfolg erhofft haben. Jetzt wiffen Beide, woran jie ind; und 

wir, daß der täufchende Titel verfchwinde. Das deutiche Geſetz beftraft:den Em 
ſuch, Durch Vorfpiegelung falſcher Tgatjachen auf Koften Anderer fich ober zum 
Dritten einen rechtswidrigen Bermögensvortheil zu ſchaffen. Die öffentlich == 
dem Adlerwappen behauptete Thatfache, daß in den Hoftheaterm DMeifter fein, 
ift erweislich falſch, ift fogar von den zahmſten Mezenfenten als faljch er 
worden; wird bie Behauptung aufrecht erhalten, dann wird „das Bermäge‘ 
der Schaufpielbefucher „beihädigt“, „durch Vorfpiegelung faljcher Thatjade 
ein Jerthum unterhalten“, — und der Dolus ift nicht mehr zu leugnen. Is 
Andere aber Könnten ſich durch folge eoncurrence deloyale bejhädigt fühle 
alle berliner Schaufpieldirektoren, bie täglich mindeſtens eben fo qute Br 
ftellungen bieten wie da8 Neue Königliche Operntheater und denen nun die fpärlh 
Zenzfundfchaft weggeſchnappt wird. Als eine Form unlanteren Weihe 
werbes, den ſchon 1881 eine Reichsgerichtsentſcheidung „nidervechefich, fd 
zu migbilligen und gemeinſchädlich“ nannte, verpönt das Civilrecht wahrhe 
wibrige Reflamen und unrichtige Angaben über Werth und » Güte ı= 
Baaren, wenn diefe Rellamen und Angaben öffentlich (in Zeitunginferam. 
Plakaten, Eirkularen) gemacht werden, zur Irreführung bes Publikums geeige 
find und mit dein falſchen Schein eines befonders Lodenden Angebotes Die Kunde 
dem Sonfurrenten entziehen, der fich folder Mittel nicht bedienen wil 
.Strafrechtliche Folgen“, fagt Profeffor Roſenthal im Handwörterbuch de 
Staatswiſſenſchaften, „zieht bie ſchwindelhafte Reklame nur dann nach ik 
wenn außer den angeführten Thatbeftandsmerfmalen noch das Bemwuftien 
der Ummahrheit der Angabe und die Täufchungabjicht bei deren Urheber vx 
handen ift“. Ich fann nicht finden, daß ein Kaufmann, der. ftatt der = 
Schaufenfter verheißenen leinenen dem Kunden halbleinene Tafchentücher ve: 
kauft, ſchuldiger ift al ein Theatergefhäftgmenn, der ftatt der auf Ric 
plafaten verfprochenen Meifteripiele raſch zufammengejtoppelte Dutendux 
ftellungen bietet, und ich bin überzeugt, daß Konkurrenten und Sumden de 
Gericht ihr Schadenserſatzrecht erftreiten fönnten. Hans HeinrichxlV. Bolko Gi 
von Hochberg, Herr auf Neuſchloß und Nohnftod, erbliches Mitglied de 
prußiſchen Herrenhauſes, gilt als ein ſchwacher, doch flecklos ehrlicher Miam 
Er hat einen Namen zu verlieren, nicht als Intendant, aber als Edelmann, 
und wird wiffen, was bie Anftandspflicht dem Enttäufchten gebietet. Hal 
der falſche Titel und wird ein Geiammtgaftfpiel beutfcher Prodinzleans „une 
Mitwirkung der Frau Medelöfy und der Herren Baumeifter und Sonne 
tal“ angezeigt, dann braucht fein Verſtänd ger ſich über die armfälige Saritatır 
des dingelftedtifchen Unternehmens morgen noch weiter aufzuregen. MH 

































Herausgeber und verantwortlicher Rebattenr: DI. ‚Garden in Berlin. — Verlag der Zufunft im — 
Drue von Mibert Damde in Verlin · Echöneberg 








En 
in 














Berlin, den 24. Mai. 1902. 
— —— —ñ e —t — 


Der König von Spanien. 


ht Apfelſchimmel zogen den Prunkwagen. Die Granden des König⸗ 
reiches, der Hofſtaat, Infanten und Infantinnen fuhren in Gala— 


kutſchen voran. Vom Schloß rechts an der Plaza Mayor vorbei, wo einft 


die Inquifition und nad) der Beit ber Autos dee dann die Corrida Herrfchte, 
über bie großftädtifch banale Puerta del Sol hinweg durch die Calle Jero⸗ 
nimo bis zum Kongreßpalaft. Selbft im feierlichen hifpanifchen Schritt iſt 
vom Renaiffancebau Philipps des Fünften, von der Erinnerung an bren⸗ 
nende Ketzer, an die von den. Hörnern wüthender Stiere zerfetzten Menfchen: 
leiber bis in die moderne Gefegfabrif der Weg nicht fehr weit. Hinter der 
Guardia Eivil und der Gebirgsartillerie, die das Spalier bildeten, ſchob und 
drängte ſich das Volt von Madrid, harrten in Sonnenhige die aus allen 
Teilen Neufaftitiens herbeigeeilten Landleute, um ihren König auf dem, 
Wege zur Herrſchaft zu ſchauen. Biel jahen fie nicht. Bunte Teppiche, bunte 
Blumen, grünes Laubwerk, rothe und gelbe Leinwand, koftbare Gobelins, 
Goldtreſſen, Hofgalakleider, Uniformen, die wohlbefannten Gewänder der 
hohen und niederen Klerifei; und zuletzt, hinter den Spiegelfcheiben des präch⸗ 
tigften Wagens, einen weißen, winfenden Kinderhandſchuh. Alfonfoder Drei⸗ 
zehnte grüßte fein Volt. Zumerften Male trug er den von Gold ftrogenden 
Rod eines Generalfapitäng; zum erften Mal ſollte er König fein, follte der 
Knabe regiren. Als König war er, ſechs Monate nach dem Tod feines Vaters, 
geboren worden. Doch da das ſpaniſche Grundgeſetz den Monarchen erſt beim 
22 


- — — — 
U} .. 


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288 Die Zukunft. 


Die Frage, wie bie Gerichte zufammengejegt werden follen, wirb freilich fer 
verfchieben beantwortet, braucht ung bier aber nicht weiter zu beſchäftigen. Da 
die Handelsfammern fi zum großen Theil gegen Schiedögerichte erflären, ift 
fein Wunder; felbjt wenn fie nicht durch das ungeheuerliche Wahlrecht zu Ber- 
tretern der Handelsariftofratie geftempelt wären, blieben fie doch im beften Fall 
immer nur Bertreter der Arbeitgeber. Die aber haben mit ben &ewerbegerichters 
ſchlechte Erfahrungen gemadt. 

Auch über die Gründe, bie, abgejehen von den jchon angebeuteten fozialeız 
Erwägungen, die Handlungsgehilfenſchaft zu ihrer Forderung beftimmiten, giebt 
die Brochure eingehend Auskunft. Statt im Ullgemeinen von der jozialen Ber- 
ftändnißlofigleit zu reden, die in manden Urtheilen der ordentlichen Gerichte 
an den Tag tritt, will ich einen einzigen Prozeß herausgreifen, der deutlich 
zeigt, wie fchleppend der Geſchäftsgang vor unferen ordentlichen Gerichten ift. 
Ich eitire wörtlid: „Sm Kaufhauſe Germania in Hamburg verunglüdte im 
Juni 1898 ein Angeftellter beim Deloriren und durfte auf Anordnung feines 
Arztes feine geihäftlihe Thätigkeit nicht ausüben. Der Chef entließ ihn ohne 
Kündigung und gab als Grund an, ber Angeftellte fei unberechtigter Weife aus 
den Geſchäft fortgeblicben. Am fiebenundzwanzigften Juli 1898 wird vonr 
AUngeftellten die Klage eingereicht und der erite Termin ijt aın ſiebenundzwanzigſten 
September, da die Gerichtsferien dazwijchen liegen. Bertagung. Zweiter XTer- 
min 20. Oktober. NWertagung. Der Arzt foll vernommen werden. Dritter 
Termin 8. November. Der Hausdiener joll vernommen werden. Vierter Termin 
29. November. Der Chef foll die Sejchäftsbücher vorlegen. Fünfter Termin 
13. Dezember. Es wird Entfcheidung angelegt auf den 28. Dezember, doch am 
20. Dezember noch einmal verfügt, Zeugen zu vernehmen. Sechster Termin 
12. Januar 1899. Neue Erhebungen beantragt. Siebenter Termin 26. Januar. 
Neue Erhebungen. Achter Termin 2. Februar. Neue Erhebungen. Neunter 
Termin 9. Februar. Zeuge nicht erichienen. Zehnter Termin 16. Februar. 
Erlaß eines Theilurtheiles: dem Beklagten wird ein Eid zugefchoben. Hiergegen 
legt der Kläger Berufung ein. Elfter Termin 2. Mat. Berhandlung über Die Be— 
rufung. VBertagung. Zwölfter Termin 9, Mai. Vertagung. Dreizehnter Termin 
18 uni. Bernehmung der Parteien. Vierzehnter Termin 15. Juni. Theil: 
urtheil: die Parteien jollen bejtimmte Dinge beichwören. Fünfzehnter Termin - 
10 Juli. Nur Kläger erichten, der ſchwört. Sechzehnter Termin 26. September. 
Vertagung. Siebenzehnter Termin 28. September. Bellagter ſchwört. Adht- 
zehnter Termin 930. September. Urtheilsfällung und Verurtheilung des Be- 
Elagten, nachdem vierzehn Monate feit der Einreichung der Klage vergangen find.” 
Ein ſolches Beiſpiel follte dod) wahrhaftig genügen, um zu zeigen, wie nöthig eine 
beichleunigte Sonderredtipredung it. Man muß fi) vorjtellen, was e8 für 
einen armen Dandlungsgebilfen heißt, vierzehn Monate auf fein Gehalt warten 
zu müſſen. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle Hat der Hanblungs- 
gehilfe noch nicht einmal jo viel Privatvermögen, daß er, ohne Schulden zu 
machen, auch nur einen Monat der Stellenlofigfeit überdauern Tönnte. 

Sp erwachſen dem Gehilfen [don Nachtheile, wenn er fi entſchließt, den 
beitehenden traurigen Rechtszuſtand auszunüßen und den Klageweg zu befchreiten. 
Doch wie Wenige thun Das überhaupt! Da ift der Herr Landrichter flinf mit 





Kaufmännifhe Schiebögerichte. 289 


Ironie bei der Hand: „Das ftumme Dulden bildet aber gerade in unferer Beit 
ganz ficher nicht die Regel.“ Der duckmäuſeriſche Verzicht auf den Kampf ums 
Recht allerbings nicht. Aber Noth lehrt auch dulden. Man ftelle fi) vor, was 
ein Prozeß, deſſen achtzehn Termine ſich über vierzehn Monate hinaus eritreden, 
koſtet. Dieje Koften an Geld und Zeit jind in jehr vielen Fällen eben gar nicht 
aufzubringen. Und jo muß denn der Gehilfe die Sade ins Wafler fallen lafien. 
Das Recht wird dadurch zur Luxuswaare, bie für den armen Handlungsgebilfen 
— man denfe nicht immer nur an Bankbeamte, Konfektionäre und Waarenhaus- 
disponenten — einfach nicht zu erreichen tft. Herr Mumm bofft freilich, eine 
Beichleunigung und Berbilligung unjeres gefammten Prozeßverfahrens werde 
herbeizuführen jein, die ihm logiſcher jcheint, ſchon weil fie weiteren Volkskreiſen 
Nutzen brächte. Wer außer ihm giebt fich aber der Hoffuung Hin, ber Militär- 
ftaat Preußen könne Geld genug aufwenden, um nicht nur die Ueberlaftung der 
Amtsgerichte zu bejeitigen, fondern auch jo viele Richter neu anzuftellen, daß 
in wenigen Tagen Prozeſſe entichieden fein Tönnen? Und felbjt wenn Preußen 
nit Preußen wäre: ihrer ganzen Struktur nad) find die Amtägerichte für eine 
joziale Rechtſprechung nicht brauchbar. Das iſt ſogar von Richtern anerkannt 
werden. Ich erinnere nur an die Reden des Amtsrathes Bacher aus Augsburg 
und des Amtsrichters a. D. Kayfer aus Worms auf dem lebten Verbandstage 
deutjcher Gewerbegerichte (in Kübel am zehnten September 1901). 

Nun aber der höchſte Trumpf des Herrn Mumm. Bei den beitehenden 
Schiedsgerichten in Hannover, Braunfchweig, Osnabrüd und Stolp find nur 
ſehr wenige oder gar feine Verfahren anhängig gemacht worden, ergo ift das 
Prozeßbegehren der Handlungsgehilfen gar nicht fo groß, ergo find kaufmänniſche 
Sciedsgerichte Modeſache. Daß die genannten Scieds- oder Fachgerichte ınit 
den von den Handlumgsgehilfen geforderten nichts als den Namen gemein haben, 
Icheint der Herr Landrichter nicht zu willen. Es find Schiedsgerichte, die nur 
in Funktion treten, wenn fie von beiden Parteien freiwillig angerufen werden. 
Ich Habe das Statut des hannoverſchen Schiedsgerichtes durchgelefen und wundere 
mich gar nicht darüber, daß es im Jahr 1900 dort nur acdıtzehn Prozeſſe gab. 
Denn erjtens muß, wie gejagt, diejes Gericht von beiden Parteien angerufen 
werden und zweitens ift es nur für Mitglieder der Handelsfammer, alfo für 
eingetragene Firmen zuftändig. Gerade die Handlungsgehilfen, die in den vielen 
fleinen Gefchäften unter den traurigften Bedingungen dienen, find von ben Wohl« 
thaten dieſes „Rechtsſchutzes“ ausgejchloffen. Und wer richtet? Chefs und Ges - 
hilfen. Doc die Bollverfammlung der Handelskammer wählt aud) die Gehilfen- 
Beiliger aus der Zahl geeigneter Kandidaten, die fi die Kammer von ihr be— 
fannten faufmännijchen Nereinen vorjchlagen läßt. Man fieht alfo, wie völlig 
verjchieden von diefen Mipgeburten Faufmännijche Gewerbegerichte find, die nad) 
feftem Gejch für alle aus dem kaufmänniſchen Dienjtvertrag ftammenden Rechts» 
ftreitigfeiten in Anfprud) genommen werden müfjen, deren Beijiger aus allge- 
meinen Wahlen hervorgehen und die in längjtens eben jo vielen Wochen den 
Endfpruc füllen, wie das Amtsgeriht Monate braucht, um ein Zeugenverhör 
zu Ende zu führen. Solde Sciedsgerichte find nicht Modefache, ſondern ent- 
Ipredhen einem dringenden wirthichaftlichen und jozialen Bedürfniß. Plutus. 


⁊ 


290 Die Zufmft. 


Meifterfpiele. 


NCor achtundvierzig Jahren wurde der neue Glaspalaſt der Bayernhaupt- 

* ftadt zu würdiger Aufnahme der Allgemeinen Deutfchen Induſtrie⸗ 
ausftellung, der erften münchener, vorbereitet. Franz Dingelftedt, dem aus Stutt⸗ 
gart verfchriebenen Intendanten des Hoftheater8 und kosmopolitiſchen Nacht⸗ 
wächter a. D., dem der mündhener Boden damals noch heiß war — und nie fühl 
werden follte —, lagen die Freunde in den Ohren, Riebig, Sybel, Dönniges, Geibel 
und die Anderen: was er den herbeiftrömenden Fremden nun im Schaufpielhaus 
bieten wolle. Alltagskoſt durfte es nicht fein; denn Jedermann erwartet fich ein 
Felt. Und Geld mußte e8 einbringen; denn König Dar hatte eben erft er: 
Hürt, er fer „durch die Verhältniffe außer Stand gefegt, mehr für das Hof⸗ 
theater aufzumenden als bisher.” Mit diefem Ukas in der Taſche waren grofe 
Sprünge nicht zu maden, namentlich nicht von einem zugereiften Protejtanten 
und Revolutionär, dem, ob er inzwilchen auch facht fein fromm geworden war, 
noch immer das bajuvarische Mißtrauen auf die Finger fah. Und wenn das 
Hoftheater während der Ausjtellungzeit läſſig blieb, konnte der Herr Imten- 
dant mit feiner Jenny allein in ber Galerie Noble des erfien Ranges figen; 
feine Sage guig ihn aus dem Glaspalaft dann ins Schauſpielhaus. .. In 
einer falten Dezembernacht fam dem blinden Heſſen die Erleudtung. ala 
er mit dem berühmten Arzt Karl von Pfenfer auf dem Sarolinenplag vor 
dem Obeligfen ftand. „Statt eines Schaufpielgaftes laffe ih ein Biertelfchod 
formen und ftelle fie insgeſammt auf die felbe Linie. Nur Künftler eriten Ranges 
lade ich ein, aber in einer alle groken Theater umfalfenden Auswahl; und nur 
in klaſſiſchen Stüden führe ich fie vor. Die Mitglieder der hieſigen Hofbühne 
betheiligen jich, je nad) Nermögen, an der allgemeinen Aufgabe. Ich fhaffe mir ein 
Perfonal von lauter erften Kräften und made für eine:Weile die mündhener 
Bühne zur deutfchen Centralbühne. Lauter große Stüde, deutfchen Urfprungs, 
gejvicht von Tauter großen deutichen Künftlern bis in die Heinfte Rolle hinein.“ 
Als der Gedanke auftauchte, waren noch ſechs Monate bis zur Eröffnung der 
münchener Meſſe. Tingelitebt verlor feine Zeit nicht. Dem König gefiel der 
Plan, im Januar fihon wurden die Aufforderungen an dreigig Theatergröfen 
verfandt und in der Karwoche gings auf die Werbereife. Die war nicht be: 
quem; in Wien mußte der Intendant an einem Tage zweiundnierzig Stock⸗ 
werfe erffettern und auf einer Fahrt durch allz deutfchen und öfterreichifchen 
Hauptftädte gab3 damals, bei bitterer Stälte, noch manche Strapaze zu dulden. 
Als nad achtzehn Tagen aber der lange Franz wieder in Münden faR, war 
da3 Brogramm fertig und die Ausführung gelichert. Feder Gaftfpieler befam 
für jede Rolle hundert Gulden. Yeder hatte ſich verpflichtet, außer zwei erſten 
auch zwei Heinere Rollen zu übernehmen, drei Tage vor dem Beginn der 


Meifterfpiele. 291 


Vorſtellungen einzutreffen ‚und mindeftens zwei Wochen lang zur Verfügung 
zu bleiben. Das war möglich, weil im Juli die meilten großen Theater 
geſchloſſen jind und die Wandervirtuofen raflen. Den Regiffeur jeder Bor- 
jtellung wählten die Gäjte mit Stimmenmehrheit. In Steeitfällen blieb die 
Entfcheidung dem „Plenum der Gefellfchaft“ vorbehalten. Den Text der 


Stüde redigirte Dingelftedt und nach feinen vorher verfandten Sonfflirbüchern 


mußten die Gäſte, ehe fie zum Wettkampf aufbrachen, ihre Rollen einrichten. 
Er, dem das Bild ftetS wichtiger war al3 das Wort, forgte auch für das 
fzenifche Kleid. Da mar er in feinem Element. : Er bat ſich felbft einen „an— 
geborenen Hang zu Maflenwirfungen und Maffenentwidelungen“ nachgefagt. Wie 
fo Vieles aus der Gejchichte unſeres durch Banaufenhochmuth von der Tradition 
gelöften Theaters, ift heute vergeflen, day; Dingelftedt daS frühe Vorbild der mei: 
ninger Regiefünfte war. Bon ihm haben Alle gelernt, die feitdem verfuchten, die 
Nüchternheit norddeutfhen Sprechſpiels mit dem bunten Reiz feiner Sinnlich— 
feit zu erwärmen und auf der Bühne ein „Milieu“ zu fchaffen, eine ftimmende, 
bejtimmende Unmvelt, die dem Determiniften im Zufchauerraum den Traun: und 
das Wollen der vor feinem Auge handelnden Menfchen erklärt. (Kein Zufall iſts 
nämlich, daß erit, al3 der Glaube an Willensfreiheit und gottähnlich felbit- 
herriſches Heldenthum ſich müde Hinbettete und der Glanz der Theologie und 
Teleologie mählich verblich, auch im Theater der Wunſch nah Erkenntniß der 
Kauſalität erwachte, das Bedürfniß ſich regte, auf den Brettern, die eine 
Menſchenwelt bedeuten ſollen, die Menſchenſchickſale determinirenden Kräfte 
verlörpert, die Hintergründe in greifbarer Klarheit zu ſehen.) Sogar die „male: 
rifcher” Maflengruppirung günftigen Treppen, die von den Mleiningern in die 
Diode gebracht wurden und zu der Frage führten, ob denn fümmtliche Fürften 
im Keller wohnten, hat Dingelftedt erfunden. Und eine ſolche Riefentreppe 
ftieg in München am. elften Juli 1854 Iſabella von Mefiina in die vom 
Intendanten „mit felbfivergnügten Raffinement aufgebaute” Halle des nor: 
manniichen Palaftes hinab. Er’ hatte manche Abjage befommen und mußte auf 
Dawifon, Deffoir, Ludwig Löwe, auf die Fuhr und die Bayer verzichten. Trot: 
dem konnte cr Aufführungen von nie erfchautem Glanz bieten. Iſabella war 
Julie Rettich, Deutfchlands damals größte Tragoedin, Cajetan der mächtige 
Sprecher Anihüg, Manuel und Ceſar wurden von Emil Devrient uud 


Hendrichs gefpielt, „den berühmteften Liebhabern und zugleid) den in natura 


feindlihen Brüdern des deutfchen Theoters.“ Auf diefer Höhe hielt fi) das 
„Sejammtgaftjpiel“ bis zum Schluß. Den einfahen Namen hatte Dingeljtedt 
gewählt; die Freunde fpracdhen von Muſter-, die Feinde von Monſtre- und 
Mujterreitervorftelungen. Was gegen den aus fommerzieller, nicht aus 
fünftlerifcher Sehnfucht geborenen Gedanken zu jagen war, wurde gefagt. Etil- 
einheit iſt in fo kurzer Friſt nicht zu erreichen; und auch bei längerer Vor: 


304 Die Zukunft. 


der den greifen Mesmer in Konftanz auffuchte und feinen unentgeltlicen 
magnetiſchen Kuren zuſah, ſpricht von ber „wunderbaren Kraft der Ein⸗ 
wirkung auf Kranke bei dem durchdringenden Blick oder ber blos ſtill er 
hobenen Hand“ Mesmers. Diefe Wirkung ging vielleicht zunächft rein von 
der phyfifchen Perfönlichkeit de3 Magnetiſeurs aus; fie wurde jedenfalls 
erhöht durch die Macht der hinter der phyfifchen ftehenden geiftigen Perſönlichkeit, 
die in ringenden Gedanken wie in inneren Schidjalen gereift und erſtarkt 
war. Diefer Mare, kluge Repräfentant der Aufklärungzeit, wie er ſich nament⸗ 
ih in dem Entwurf eines tdealen Bürgerftantes (im zweiten Theil des 
„Syſtems der Wechjelwirkungen“) zeigt, war zugleich Myſtiker und ein die 
Tiefe der Natur durchforfchender Geift. Diefe Zweiheit giebt ibm fein Be- 
ſonderes. Sein Weſentliches aber ift fein ganz innerliches Anfchauen ber 
Natur und ihrer Kräfte. Mesmer gilt in naturwiffenfchaftlihder Hinficht 
gemeinhin als Phantaft. Allerdings beſaß er die nachſchaffende Phantaiie, 
ohne die ein lebendiges Erkennen überhaupt undenkbar ift; fie mag ihn mand- 
mal zu Irrthümern geführt haben; daß fie ihm auch große Wahrheiten ver- 
mittelt hat, ift ohne Frage. Es wird feinem Ruf als Naturforfcher gewiß 
nicht fchaden, daR er den Zufammenhang aller organiſchen Entwidelung 
deutlich fah, daß man ihn faft als unbewußten Darmwiniften bezeichnen ann. 
Er Spricht einmal davon, daß das Thier feine Wurzeln aus dem Erdreich 
genommen und als Magen in feinen Sörper verſenkt habe. Das ift eime 
grundlegende Lehre de Darwinismus. An einer anderen Stelle betont er 
die Möglichkeit, daß der Schlaf — als folchen bezeichnet er ausdrücklich das 
Leben der Pflanze — der dem Menſchen natürliche, urfprünglihe Zuftand 
jei: dem Zwed des Vegetirend am Unmittelbarften ent|prehend. „Könnte 
man nicht behaupten, daß wir nur wachen, um zu ſchlafen?“ Man Halte 
daneben die der Entwidelunglehre eigenthumliche Anſchauung, daß der menſch⸗ 
liche Geift ih nur als Waffe im Daſeinskampfe entwidelt habe. 

Mesmer gliedert feine felbfterlebten Anſchauungen in ein ffizzirtes 
metaphyſiſches Syftem ein. Das hat den Bortheil, daß er felbft einige der 
tieferen Sonfequenzen feiner been ziehen und uns vorweggeben muß; un 
günftig aber bleibt, dag er nun nicht in dem Maße gezwungen ift, die Einzel- 
erfheinung — die er durch Eingliederung in das Syftem genügend motiptrt 
zu haben glaubt — fo anfchaulich lebhaft zu fchildern, daR fie aus fich felbft 
allein den Leſer von ihrer Wahrheit überzeugt. Das Syſtem verhält ur 
zunähft aud den Ausgangspunft, von dem Mesmer in fein Gebir 
eindrang. Eine tiefe und befondere Art der Weltanſchauung muß in de 
Perfönlichkeit, die zu ihr finden fol, ganz und gar vorbereitet fein. Ein. 
folche Anfhauung mag — zumal wenn in ihr fo ſichtlich praftiiche Konfe- 
quenzen liegen — am Anfang, ehe fie jih runden konnte, nur als de 











Diesuer. 305 


Spiegel befonderer zufälliger Erfahrungen ericheinen. Am Ende, wenn dag 
ganze Xeben eine urjprüngliche Veranlagung umftrömt und Zeit gewonnen 
hat, fih um den — bewußten oder unbewurten — Gedanken zu Friftalli- 
firen, wird jich dieS Gebilde ganz zum Ausdrud der Perfönlichkeit wandeln. Per: 
fönlichfeiten aber ftellen in ſich immer einen Theil der großen Wahrheit dar. 

Der eriten äuperen Anregung, die Mesmer zu jich ermedte, kann ich 
nur einen Zufallswerth beimeſſen. Es ijt ziemlich gewiß, dar er als junger 
Arzt durch Beobachtungen an Kranken auf den Einfluß achten lernte, den 
die großen Himmelskörper, indbefondere Sonne und Mond, auf den thierifchen 
Organismus üben. Seine Doftordilfertation handelte von dem Einfluß der 
Himmelsförper auf die Erde. Er forfchte vorurtheillos und fand ſcheinbar 
fernliegende und doc) deutliche Beſtätigungen. Mit richtigem Blick fah er 
in alten Volksmeinungen, Aberglauben und Aehnlichem keinen Unfinn, fondern 
— wenn aud) erftarrte und verderbte, dennoch — ſchätzbare Ueberrefte einer 
ursprünglichen Erfahrungwahrheit. So ging er forjchend bis auf vergefjene 
aftrologijche Anjichten zurüd. Unſere Naturerkenntniß bejtätigt diefen aftralen 
Einfluß übrigens; wie man denn jüngft auch zu einer unbeftreitbaren Er— 
fenntniß der Einwirkung ganz ferner meteorologifcher Eriheinungen auf das 
Nervenfyftem gelangt ift. Im feiner Prarid empfand der junge Mesmer 
ſchmerzlich, daß es Fein direktes auf die Nerven twirfendes Heilmittel gab. 
Er geriety — nicht unbeeinflußt von feinen ajtrologifchen Studien — auf 
die Nermuthung, daß Diefes ein Agens nicht wägbarer Materie fein müſſe, 
ein Prinzip der Belebung. In diefer Vermuthung lag gleichzeitig eine Er: 
Klärung des von ihm ausdrücklich al3 wechjelfeitig angenommenen Einfluffes 
der Himmelskörper, die Sich fait ganz mit der befannten Aether: Theorie deckt; nur 
nimmt Mesmer einen noch feineren Weltftoff an. Dieſer Einfluß „bewirke 
fih durch einen Mittelſtoff oder durch eine Fluth, worin alle Weſen in einer 
Urt von Berührung fo unter einander gemengt jind, daß dadurch eine einzige 
Maſſe von der ganzen Welt gebildet wird.“ Wir find „eingetaucht in den 
Ozean der Allfluth.“ In diefem Ausdruck dofumentirt ſich fchon eine kos— 
miſch, phantheiſtiſch empfindende Perſönlichkeit. Und inniger noch berührt 
fie uns, wenn er feine wundervoll künſtleriſche Anſchauung vom Entſtehen 
der Körper, Formen und Geitalten darlegt. Ste werden erzeugt von den 
beiden großen Kräften des Alls: Ruhe und Bewegung. Er giebt für feine 
Anſchauung ein etwas triviales, aber eindeutige3 und klares Bild: ein großes 
Glasgefäß fei mit Butter gefüllt, in dem ſich unfihtbar — in Farbe und 
Ausfehen der Butter ganz gleih — eine Wachsfigur befindet. Eine Yorm 
ijt nicht vorhanden: wir haben den Zuſtand der abjoluten Ruhe. Erhigen 
wir da8 Gefäß fo lange, bis die Butter fchmilzt, das Wachs dagegen nod) 
nicht aufgelöft wird, fo haben wir den Zuftand der Welt: Ruhe und Be— 

23 


nn 


306 Die Zukunft. 


wegung; die Bewegung durch die ihr im Weſen verwandte Wärme hervor: 
gerufen. Wir haben Form und Geitalt. Erhitzen wir das Gefäß weiter, 
bis auch die Wachsfigur ſchmilzt, ſo haben wir den Zuſtand der abiolnten 
Bewegung und wieder feine Form, feine Geftalt. Wenn wir bes Gefühles, 
daß alles Vergängliche nur ein Gleichniß iſt, ganz theilhaft find, jo muß 
dies triviale Bild tiefe Bedeutung für und gewinnen. Als ein Spiel der 
beiden Kräfte Ruhe und Bewegung ftellt Mesmer das körperliche Leben des 
Menfchen dar. Mit der Geburt — richtiger wohl: in der Empfängniß ober 
in der Entftehung des Spermazoons — tritt Leben aus dem Reich abfolırter 
geftaltlofer Bewegung in den Doppelzuftand der Bewegung und Ruhe ein. Nun 
beginnt eine langſame (oder bei tötlichen Krankheiten plögliche) Berfeitung, die 
zum Zuftand der abfoluten Ruhe, zum Tode führt. E8 leuchtet Tofort ein, 
daß die Widerjprüche, die in diefem Schema — wie in allem Schematijchen — 
liegen, daher rühren, dag wir vom Zujtand der abfoluten Bewegung vielleicht 
finnvoll zu fprechen vermögen, jedenfall aber den Zuftand der Ruhe nur in 
feiner Berbindung mit der Bewegung kennen und ihn abfolut aud) nicht denken 
fünnen. Wenn Mesmer dagegen mit feinem Echema nicht8 Anderes jagen wollte 
als: dar das Leben einer Einzelform eine langjame Verfeftung fei, die im Tode 
einen Augenblid lang — wenn das der Form eigenthümliche Leben entflohen ift. 
das neue der Verweſung noch nicht eingefehrt fcheint — uns aß ein Gleichniß 
der abfoluten Ruhe bedünken mag, fo löfen fi) die Widerjprühe. Aller— 
dings hat dieſes Schema mit Mesmers Grundanfchauung über die Ent: 
ftehung der Seftalten dann nicht mehr logiichen, ſondern nur den tieferen 
fymbolifchen Zufanmenhang. Unerörtert bleibt — und hier beichattet viel- 
leicht der Nationalismus Mesmers Gejichtsfeld — die Frage nad) der pſy— 
chiſchen Entwickelung im Leben. Sie geht im Peripheriichen der körperlichen 
Verfeftung parallel, im Gentralen fcheint fie ihr direft entgegenzugehen, wahr- 
haft „ein Entwerden” zu fein. Ich erinnere an Jean Pauls Unterfcheidung: 
„Das Aeufere, das Innere eines Menjchen kann fterben, aber nicht das Innerſte.“ 
Aus der Anſchauung von der Allfluth leitet Mesmer feine medizintfche 
Lehre her. Er nimmt an, daß die ganze Welt fortwährend durchftrömt jei 
von Zluthreihen diefes feinften Stoffes, die nad) allen Richtungen gehen. | 
Diefe Annahme ift hypothetiſch auch von einigen Aftronomen zur Erklärung 
der Gravitation herbeigezogen worden. Wo diefe Fluthreihen nun gezwunge 
find, die Zwifchenräume feiter Körper zu paffiren, befchleunigen ſie ih ur 
es entftehen Stromſchnellen. Das find die und bemerkbaren fogenannte 
magnetiichen Ströme. Diefe Ströme find fein Hauptheilmittel. Aber 
der Allfluth jah Mesmer noch Anderes. Es ift ein fonderbares Zufammer 
treffen, dag auf dem jelben Boden, auf dem im vierzehnten Jahrhunde 
einer der Männer, die aus dem tiefften Duell des Seins geichöpft hab⸗ 


Mesmer. 307 


febte: der Mönch Heinrih Sufo, — daß hier der aufgeklärte Arzt Mesmer 
geboren ift, der auf feinem Wege zu ähnlichen Anfchauungen gelangt wie 
der Myſtiker. Wie wir die Sterne nicht fehen können, wenn bie Sonne 
foheint, jagt etwa Mesmer einmal, jo hindern unfere äußeren Sinne oft 
das Leben und Wirken unfered inneren Sinnes. Auf diefen wirft nad 
feiner Anfhauung die Alfluth direkt ein, fo dag der Menſch — wie man 
im ſomnambulen Schlaf, wo die äußeren Sinneöwerkzeuge außer Thätigkeit 
geſetzt ſind, beobachten kann — in einem ununterbrochenen Zuſammenhang 
mit der Natur ſteht. Er glaubt, dieſen inneren Sinn im Nervenſyſtem 
erlannt zu haben. Mit ihm verbindet er nun eine ſehr wichtige, für das 
Verſtändniß aller großen menſchlichen — kulturellen wie künſtleriſchen — 
Entwickelung geradezu unentbehrliche und deshalb durch die Arbeiten der 
jüngſten Hiftorifergeneration (Lamprecht, Breyſig) mittelbar unterſtützte Hypo: 
theſe. Die Anſteckung der Meinungen, der Sitten, die oft plögliche Um: 
ftimmung ganzer Epochen, die Wirkung des Willens ftarfer Charaktere, der 
Segnungen und Berfluchungen und alles Deffen, was heute unter den Begriff 
der Suggeftion fällt, jind ihm durch die Allfluth vermittelte Wirkungen auf 
den inneren Sinn. Was die Luft für den Schall, der Aether für das Licht, 
ift der feine Fluthftoff für den Gedanken. Bielleicht ift unfer naturmwifien- 
ſchaftlich eingeengtes Denken durch die felbit für den Pfahlbürger wunder- 
baren Entdedungen der drahtloſen ZTelegraphie und der Nöntgenftrahlen 
wieder einmal für eine Zeit lang von feiner Banalität und Ueberhebung fo 
weit befreit, daß wir auch diefe Gedanken, ohne fpöttifch zu lächeln, zu 
erwägen im Stande find. Mesmer hat hier unzweideutig die völlige Durch: 
dringung des AUS mit Geift ausgeſprochen. Das ift eine — in Folge 
ihre8 näheren Haftens an dem Gleichniß des DVergänglichen — gröbere 
Form des Pantheismus, als er fih fonft bei Mesmer ausfpridt. Worte 
wie: „Das Wollen des belebten Körpers ift nichts im Weſen Unterfchiedenes 
von dem Fallen des unbelebten“; oder: „Die Moral ift eine unjichtbare 
Phyſik“ drüden feinen tieferen PBantheismus aus. Mit den mwerthvolleren 
Anfhauungen des Okkultismus dedt fi Mesmers Gedanke, daß alle Weſen 
Daterialifationen nach innerem Bilde feien; auch die von Mesmer ange: 
nommene Möglichkeit einer Sernerfcheinung, „nachgeformt fogar auch durch 
die bloße Eriftenz der urfprünglichen Form“, ift offultiftifche Anfchauung. Er 
fieht aljo auch in der Thatfache der Exiſtenz, des Daſeins etwas wefentlic) 
Anderes als die gewöhnliche Auffaffung; nicht einen Zuftand, fondern eine 
fortgejegte und beliebig weit reichende Zeugung. In all diefen mesmerifchen 
Gedanken Liegen Werthe für uns, die von der Wahrheit oder Nichtwahrheit 
feiner magnetifch-medizinifchen Lehre unabhängig find. 
Weimar. —Wilhelm von Scholz. 
2 23* 


308 Die Zukunft. 
Rri ijon.* 
egsratjon.”) 

SI" Kriege der älteften Zeit — fo ſchildert Guſtav Freytag die geichict- 

liche Entwidelung — waren auf Austilgung des Gegnerd mit Weib 
und Find, auf Aneignung feines Bodens und feiner Habe gerichtet. Aus 
Eigennup machte man Gefangene; fonft tötete man; die gefangenen Sflavinnen 
hatten „feine Ehre”. Noch in der Saiferzeit verfuhren die Römer im 
MWefentlihen fo. Die Gerinanen zeigten jich den Frauen gegenüber milder; 
am Wenigften die Franken, die deshalb getadelt wurden. Allmählich kam 
es dazu, daß von Unbemwaffneten nur noch die Männer gefangen, dan die 
Gefangenen „geihatt“ wurden; die Kreuzzüge, das Lehnsweſen, das Ritter- 
thum brachten, troß vielen Ausnahmen graufamer Wildheit, doch einen Fort— 
fchritt gegen früher. Neben der reiligen Schaar hatten ſtets Reſte des alten 
Volksheeres fortgedauert, und al3 diefe jih in das Landsknechtsheer vers 
wandelten, aljo etwa zur Zeit Marimilians, fam man wieder eine Stufe 
höher. Kine aus dem übrigen Volksthum gelöjte Berufsorganifation ftand 
der anderen gegenüber. Im eigenen SHandwerksintereffe gab man einander 
„Quartier“, verfprach den Weibern und Kindern freien Abzug. Wurde auch 
viel geplündert, fo kauften fich doc auch viele Städte los. Inſofern die 
Kriegrührung fi noch mehr auf Berufsheer gegen Berufsheer befchräntfte, 
hat ſelbſt der Dreikigjährige Krieg eine gewiſſe Weiterentwidelung zur 
modernen Methode gebracht. Im Uebrigen bietet er freilich faft nur ent- 
jegliche Bilder von Grauſamkeit, Mordluft, Zerftörungluft, auch gegen Nicht: 
fombattanten, Weiber, Sinder und deren Habe; nur Guftan Adolf ſelbſt 
— nicht mehr die Schweden nad feinem Tode — hielt beffere Mannszucht 
Auch das Landvolk verwilderte; der Landmann hatte in jedem Soldaten, aber 
auch der Soldat in jedem Bauern den Feind zu fürchten, bereit zu binter- 
liftigem Ueberfall, zur Marterung, zum Morde. Nach dem Weitfälifchen 
Frieden erftarkte das Gefühl für Humanität doch fo weit, daß das Haufen 
der Franzofen in der Pfalz allgemeinen Abjchen erregte. Die Meinung 
fejtigte fich, daß den Krieg die ſtehenden Heere zu führen haben, während 
der ſeßhafte Bürger arbeitet und jteuert, Schwere Kaften haben auch deutjche 
Armeen auferlegt, aber meist doc) foldhe, die von der Leitung geordnet wurden; 
Roheiten kamen vor, aber gegen die gewollte Zucht de3 Heeres. Friedrich | 
der Große balirte feine Seriegführung zum grogen Theil auf Verpflegi 
und fürjorglich angelegte Magazine. Das wirkte manches Gute, aber a 
eine gewilfe Gebundenheit, von der Napoleon den Krieg löfte. Große f 
prefiungen kamen unter ihm vor, nanıentlih in Preußen. Aber er reg. 
in ganz neuer Weife die Norbereitung der Kriege, jo des Feldzuges v 


3. „Zukunft“ vom 22. März 1902: Deutiche Soldaten in Feindesla: 





Kriegsraifon. 309 


1805, eben jo des ruffüfchen SKrieges, durh Sammlung von Vorräthen für 
Defleidung, Nahrung, Fourage, Wagenparf im nie dagewefenem Umfange. 
Freilich ift der Untergang der großen Armee unter Mitwirkung von Kälte, 
Hunger, Unwegſamkeit, Entbehrungen jeder Art dadurch nicht verhindert 
worden. Für das vorher in der Heimath Erbuldete haben die Deutſchen 
1814/15 in Frankreich wenig Vergeltung geübt; diefe Tichtfeite des damaligen 
Krieges darf man wohl Hauptfächlich auf die Durchjegung des Heeres mit 
einer zahlreichen begeifterten, zum Theil gebildeten Jugend zurüdführen. 

Im Ganzen brachten die zwei Jahrhunderte nad) 1648 einen fchnellen 
Fortfehritt zur Humanität. In der zweiten Hälfte des neunzehnten Yahr- 
hundert3 fteigerten jich die dahin gerichteten internationalen Beftrebungen. 
So im Sanitätwefen, in der Fürforge für Bermundete (Genfer Konvention: 
und in Bezug auf die anzumendenden Waffen (Verbot der Sprenggefchoffe 
aus Handfeuerwaffen). Pie grundfägliche Schonung des Privateigenthumes. 
im Landfrieg und der Nichtfombattanten wurde zu einem unanfechtbaren 
Zap; auf Achtung des Privateigenthumes zur See wurde wenigftens hin- 
gearbeitet. Die Humanifitung des Kriegsgebrauches erhielt eine Kodififation 
in der — freilich nicht ratifizieten — brüfleler Deflaration von 1874 und, 
auf deren Grundlage, durd; die in frifchem Andenken ftehende Haager Kon: 
vention von 1899. Die deutiche Regirung ſah ſich damals in der erfreu- 
lichen Tage, erflären zu können, daR von deutichen Truppen „nach den ge= 
troffenen Beftimmungen ſchon bisher verfahren ſei.“ In der That dürfen 
wir geihichtlicd; für unfer Vaterland ein Hauptverdienft um den „Fortfchritt 
der Schonung im Krieg beanfpruchen. 

Mit unabwendbarer Nothwendigkeit haben aber diefer Tendenz andere 
Momente entgegengewirkt. Das überjieht man vielfah. Erſtens die un 
gentein gefteigerte Machtentwidelung der Staaten überhaupt, die Kriege führen, 
ihrer Volfszapl, ihrer Kultur. Das und namentlich) das völlig geänderte 
Zransportweien, Eifenbahnen und Dampfichiffe, führt zur Aufftelung von 
unvergfeichlich jtärferen Heeren und zu ungeheurem, im Felde häufig doc 
nicht geordnet zu befriedigendem Bedarf für Menſchen und Thiere. Man 
hat für einen Aufmarſch mit 1 Million Menſchen und 300000 Bferden 
anf drei Wochen eine Erfordernig von 2 Millionen Centnern (ohne Heu und 
Stroh) berechnet. Gefteigerter Wohlitand und Kultur, die weit feinere Ver: 
äftelung aller wirthichaftlichen Verhältniffe jind aber auch viel empfindlicher 
gegen jed> Abweichung vonı friedlichen Zuftande. Ferner find die technifchen 
Zerftörungntittel in ungeahnter Weife vervolllommmet und fein Staat fann 
es unterlaffen, von den wirffamften Gebrauch zu machen. Bejonders wichtig 
ift, dar im Kreislauf der Gefchichte die Kriege wieder mehr den Charakter 
von Volfzfriegen angenommen Haben. 





Zn 


310 Die Zukunft. 


Das nationale Bewußtfein, die Gebundenheit an Macht, Gröke und 
Ehre des eigenen Staates haben eine Intenjität gewonnen, die den vorge 
gehenden Jahrhunderten unbelannt war. Die Gefchichte wird gefälfcht, wen: 
jegt vielfach dem Dynajten, den Weldheren, dem Bürger oder Soldaten ie 
achtzehnten und noch früherer Jahrhunderte preußifcher oder gar deutfce 
Patriotismus, wie wir ihn verftehen, in den Mund gelegt wird; man denk 
an den Großen Kurfürften, der ſich von Frankreich bezahlen lier. Heutzu⸗ 
tage empfindet der deutfche Fürft, empfindet jeder Deutfche ald einen Schiami 
die finanzielle Abhängigkeit von einem fremden Staat, die Förderung ven 
deffen Zmweden gegen Entgelt. Jeder Einzelne empfindet den Eriegeritchen 
Erfolg gegen den eigenen Staat als eine ihn perfönlich mittreffende Beein- 
trädhtigung der nationalen Ehre und Wohlfahrt. Feder fühlt jich verpflichtet, 
nah Kräften, wenn irgend möglih mit der Waffe, an der Abwehr theil: 
zunehmen. Daß „jeder Staatsbürger” Widerftand leiften folle, wie Schar: 
horft und Gneifenau wollten, daß „Hinter dem Ofen“ nur „erbärmliche Wichte 
bleiben, wie Körner fang, war damals etwas Neues, ijt aber jeit den Freihei⸗ 
friegen immer allgemeiner ins Bewußtſein gedrungen, gilt jegt nicht nur von 
Deutfchen, fondern mindeftens auch von Franzofen, Jtalienern und würde dod 
4 wohl aud von Briten gelten, fobald «8 ji nicht um einen Kolonialkrieg, 
ſondern etwa um einen zwifchen großen europäifchen Mächten handelte. Dies 
Gefühl ift weſentlich mitverbreitet durch die allgemeine Wehrpflicht, aber 
nicht unbedingt an deren bereitS erfolgte Einführung gebunden. Es führt 
dazu, daß auch auferhalb der organifirten Truppen viel aktive und pajfive 
Feindfäligfeit fich zeigt, namentlich im von der Invaſion betroffenen Lande, 
daß neben jenen Truppen oder nach deren Erfchöpfung weniger organiitrte, 
von ben Nichtlombattanten ſich nicht jcharf abhebende Gruppen Widerſtand 
leiften. Auch die Frauen markiren den Abſcheu gegen den Zandesfeind. Es 
wird vielfach zur Ehrenfache für jeden Cinwohner, den Anordnungen, Re 
quifitionen, militärifhen Maßregeln des Feindes möglichft Abbruch zu thun. 


und ſolches Streben muß wieder gefteigerte Strenge und Härte hervorrufen. _ 


Neben oder nach dem großen Kriege entbrennt der Kleine, die Guerilla, die 
nicht blos mit den fonftigen Mitteln der Taktif und Strategie arbeitet, fondern 
die Tendenz hat, mit längerer Dauer auch an Grauſamkeit zuzunchmen. 


Trog Aledem würden wir, bei dem im Ganzen doch offenbaren 5 rt: 


Ihritt, nicht fo viel von Seriegägräueln hören, wenn fich nicht die Feinfül ig: 
feit gefteigert hätte. Das fann gar nicht oft genug betont werden, hier vie 
auf anderen Gebieten, zum Beifpiel auf dem der Kriminalität. Die Menf en 
werden nicht ſchlechter: jie halten ſich für fchlechter, weil fie weicher empfin en. 
Des Krieges Wefen aber ift harte Gewaltthat. 


„sm Kriege gefchehen die fchlinmften Irrthümer aus Outmüthig eit. 


Kriegsraifon, all 


Wer.gewaltthätiger ift, ift ſtärker.“ Noch einmal ftehe Hier da8 Wort von Clauſe— 
wig, dem großen Zheoretifer des Krieges; felbit der Laie muß einſehen, daR er 
Recht hat. Man mag ftreiten, ob Kriege nothwendig, ob fie nüglich find; aber 
wenn Sriege find, müffen ſie fo geführt werden, daß möglichſt ſchnell möglichft viel 
Schade an Leben, Leib, Sachen zugefügt wird. Daß die Seele des Feldherrn 
weichrnüthigen Regungen unzugänglich fein muß, hat Colmar von der Goltz tref: 
fend dargelellt. Der Feldherr, der am Nachmittag die entfprechenden Meldungen 
erhält, muß ſich bis zum Abend entfchliegen können, morgen fünfzigtaufend 
Menfchen feines Volfes hinzuopfern, wenn er davon einen entfcheidenden Sieg 
erwarten darf. Welche ungeheure Entſchließung: eine halbe Million Frauen, 
Kinder, Eltern, Gejchwilter unmittelbar betroffen, ein furchtbarer Aderlaß in die 
blühendfte Volkskraft hinein, Millionen weggeworfen, die für Aufzucht diefer 
Menſchen aufgewendet find, Millionen verloren, die fie in den produftivften 
Jahren einbringen follten! Der General, der eine befeitigte Stadt zu halten 
oder anzugreifen hat, muß Tod, Wunden, Siehthum fogar über Taufende 
von Frauen und unfchuldigen Kindern bringen, muß ihre Leiden mit anfehen, 
ohne weich zu werden. In der Nothwendigkeit diefer Härte giebt es feinen 
Unterfchied zwifchen Deutfchen, Franzofen, Engländern, Rufen; die TZaufende 
von Müttern, die in Paris ihre Kinder in Folge der Entbehrungen dahinſchwin— 
den fahen, haben den Deutfchen eben jo geflucht wie die Burenmütter den Briten. 
Man mag den erften Napoleon haflen, Moltke lieben: jene Feldherin-Eigen- 
ſchaft befa der Deutfche fo gut wie der Korſe. Auch der Staatsmann, deffen Poli: 
litik Durch da8 Schwert ja nur fortgejegt werden foll, muß folcher Härte fähig fein. 
Bismard war es und mußte e8 fein; er ift in die drei Kriege nicht hineingeglitten; 
er wußte vorher, daß er Blut und Eifen brauchen würde. Er hat die Verantwort= 
lichfeit auch nicht abgelehnt; noch viel fpäter Laftete ſie gelegentlich auf feinem 
ftarfen Herzen, wenn er am varziner Kamin der Hunderttaufende gebadhte, 
die feinen Lebenswerk geopfert werden mußten. Doc war felbft Napoleon 
Regungen nicht unzugänglich, die man fentimental fchelten möchte; der General 
Marbot erzählt, wie der Kaifer einem feindlichen Unteroffizier, der lich zäh 
und unerfchroden auf einer Eisſcholle treibend hält, gerettet fehen will, wie 
Marbot und ein anderer franzöfifcher Offizier fich ausziehen und mit größter 
eigener Gefahr den Braven aus dem Treibeis ſchwimmend herausholen. 
Aber der felbe Kaifer befann jich feinen Augenblid, als Tauſende flichender 
Feinde auf der feiten Eisfläche ſich befanden, dieſes Eis durch Artilleriefeuer 
fprengen zu lafjen und jene Schaaren vor feinen Augen mit graufigen Tode 
verzweifelt und hoffnunglos fümpfen zu fehen. Und er handilte recht. 
Man ftreitet nicht darüber, daß gegen fämpfende Soldaten das Streben 
nur auf möglichft fchnelle und umfaſſende Vernichtung gerichtet fein fan. 
Die Beſchränkungen, die man hierbei aus Humanität für die Kampfmittel 


312 Die Zukunft. 


ſtatuirt, ſind mehr oder weniger willkürlich und können auf immer geſichert 
Geltung ſchwerlich beanſpruchen. Aus Handfeuerwaffen ſollen Sprenggeſchoſſe 
nicht gefeuert werden: Tas iſt gerechtfertigt, wenn und fo lange ein Gejchoß 
in der Regel nur einem Leibe gilt und dafür mehr al3 ausreichend ift. Sont 
wäre nicht abzufchen, weshalb man aus einem großen Lauf mit einem Schuß an 
Tugend Menichen zermalnten darf, aus einem Heinen nicht. Tas hang 
Verbot, cus Luftballons Sprengftoffe zu ſchleud Di; ar: 
gerodten; mit ihm 1 darf man vermuthen, daß eine Armee oder Marine, die 
ganz neue oder überlegene Mittel des Kämpfens aus der Luft beſäße — 
was ja heutzutage leicht eintreten mag —, biefen Vorſprung ſchwerlich unke: 
nugt lafien dürfte. Tie Haager Konvention verbietet Alles, was „überflüifige 
Schmerzen“ erzeugen fann. Ferner Gift und vergiftete Waffen. 

Der feindliche Soldat, der die Waffen geftredt hat, fol gefchont werben. 
Tas preufifche Militär-Strafgejegbuh von 1845 ſchützte feinen Leib noch 
ausdrüdlich, daS deutfche von 1872 hält eine befondere Vorſchrift nur ned 
in Bezug auf die Sachen der Gefangenen für nöthig. Aber die Leute münen 
auch mit Erfolg bewacht, ſie müffen transportirt, ernährt und unter Um: 
ftänden beffeidet werden. Da können Konflikte zwifchen anerfannten Hume: 
nitätpflichten und dem eigenen militärifchen Intereffe Teicht entjtehen. Bi 
zu fürchtenden Schwicrigfeiten ift man naturgemäß weniger genergt, Gefangene 
zu machen. Iſt die Menge der Nahrungmittel fehr befchränft, fo mug de 
Erhaltung der eigenen Leute voranfichen. Die Franzofen verabfolgten in dat 
Nevolutionfriegen einmal mehreren tauſend gefangenen Tieiterreichern länger 
Zeit täglich nur je ein Achtelpfund Fleifh und ein Adhtelpfund Brot. Tas 
heist beinahe, langjanı verhungern lafien, fanı aber durch die Umstände ent: 
huldigt werden. Auch nad Sedan fonnten die Lager der Gefangenen nicht 
fofort genügend verforgt werden. In Fünftigen Striegen mag bei den unge: 
heuren Zahlen Schlimmeres pafliren. Die größten Fortfchritte gegen früher 
iind in der Behandlung Verwundeter gemacht. Dan freut fi Deffen, ohne 
zu überjehen, welche merfwürdige Anomalie darin liegt: phyitfche Kraft, tedr 
nische Hilfsmittel, Intelleft, Geldbeutel aufs Aeußerſte onzufpannen, um 
Tauſende zu jchädigen, und gleich daranf die gleichen Anftrengungen zu 
machen, um fie zu pflegen und zu heilen. 

Wer aber ift al3 ferndlider „Soldat“ zu behandeln? In Fälle it 
dem amerikanischen Sezeſſionkriege, bei farliftifhen Unruhen, Erhebun 7 
füher türtifchen Provinzen und VBafallenftaaten und anderen fragt id, D 
die Nechte Kriegführender zuzubilligen find oder ob gegen Nufrübrer, neben 1 
Niederwerfung im Kanıpf, aud) ftrafrechtliche Mittel zur Anwendung fom 1 
follen. England hat bei Beginn des jegigen Krieges gegenüber ter € = 
afrifanifchen Republik, trog der aus früheren Vertrage beaniprer n 





Kriegsraiſon. 313 


Sugerainetät, dieſe Frage nicht aufgeworfen. Es kann aber weiter zweifel⸗ 
haft werden, wann der paſſive Kriegsſtand aufhört, namentlich, nachdem der 
eine Staat zur Annerion gefchritten ift. Wenn wir 1870 die Welfenlegion 
int Felde getroffen hätten, wäre ihr ſicher nicht das Recht auf gleiche Be— 
handlung wie franzöfifchen Soldaten eingeräumt worden. Wird der ganze 
feindliche Staat vernichtet, ift gar feine organilirte Gewalt da, mit der Friede 
geichlofjen werden könnte, fo it befonders fraglich, wann der paſſive Kriegs⸗ 
ſtand aufhört. Man kann es vom völfer- und ſtaatsrechtlichen Stand— 
punkt ſchwerlich billigen, daß England den weiter kämpfenden Freiſtaatern 
und Transvaalern jetzt Verbannung und andere Nachtheile androht, nur weil 
Bloemfontein und Pretoria ſeit längerer Zeit erobert ſind und die Annexion 
proflamirt iſt. Denn der Krieg hat inzwiſchen ununterbrochen fortgedauert, 
weite Randftriche find noch nie von den Engländern bejegt gewefen, andere 
. wieder aufgegeben. Wenn aber das Kämpfen für Monate oder Jahre ganz 
aufhörte, die englifche Negirungsgewalt fih in ganzen Lande wirkſam be: 
thätigte und dann wieder Burentruppen im Felde erfchienen, wäre es eher 
berechtigt, die Analogie einer Rebellion anzumenbden. 

Nicht ohne Zufammenhang damit ift die Frage, wie die Kombattanten 
befchaffen fein müffen, um als Soldaten behandelt zu werden, aljo mit An— 
fpruch auf Schonung und Straflofigfeit außerhalb des Gefechtes. Da ift 
es wohl berechtigt, wenn der Feind gewiſſe Anforderungen ftellt: Auftrag 
berufener Gewalten, Drganifation, fenntlide Uniform, die ftändig getragen 
wird, Er kann ich nicht der Gefahr ausfegen, daß Zeute, die ſich als frieb- 
liche Bürger geben und behandeln laffen, jeden günftigen Augenblick benugen, 
un ihm feindlid) zu wirken, durch Ueberfall, aus den Hinterhalt, in Quar— 
tieren, gegen fchwächere Truppg, gegen Transporte und Transportmittel, gegen 
feine rüdwärtigen Verbindungen. Ein Krieg mit wirklich allgemeiner, 
militärisch nicht organiſirter Vollserhebung muß nothiwendig graufam werden. 
Man kann ein Voll, das fo auffteht, bewundern, man kann entſchloſſen fein, 
dir unveräußerliche Necht gegebenen Falles felbft auszuüben, — aber man 
ſoll Sich Flar fein, dag eine folche Bevölkerung, wie Felix Tahn richtig fagt, 
dann auf Schonung verzichtet. Wo ſich Anſätze dazu zeigen, werden die 
Gefangenen hingerichtet oder doc, fonft ſchwer beftraft; ihre wie ihrer Ange: 
hörigen und ihrer Gemeinden Eigenthum wird zerftört oder eingezogen, 
ein Vernichtungsfrirg entbrennt, das Feuer muß ausgetilgt werden. In 
diefem Sinn, wenn aud) redjt gemäßigt und mild, haben auch die Deutfchen 
in dem Strirgsabfchnitt nad) Cedan gehandelt. Sie haben, wie Dahn Sagt, 
die Repreſſion faltblütig veglementirt; und darin lag ein Fortfchritt gegen früher. 

Merkwürdiger Weile beantragten auf der Nonferenz im Haag — id 
folge Schaeffles Bericht in feiner Zeitſchrift — die Engländer eine dent 


314 Pie Zukunft. 





„Bolfsfriege* günftigere Vorſchrift: die Bevölkerung eines nicht bejegten 
Gebietes, die beim Herannahen des Feinde aus eigenem Antrieb zu den 
Waffen gegriffen hat, ohne Zeit zur militärifchen Organifafion zu haben, al 
„Lriegführend“ zu betrachten, fofern fie die Gefege und Bräude des Krie: 
ges achtet. Nachdem fich der deutiche und der ſchweizer Vertreter dagegen 
ausgefprochen, andere beigeftimmt hatten, wurde der Antrag zurüdgezogen. 
War er fentimentaler Erinnerung an vermeintliche Graufamleiten der Deutfſchen 
entfprungen oder dem Bewußtſein, wie wichtig für das Injelreich im Fall 
der Invaſion, bei feinen fchwachen Heer, eine Vollderhebung werden fönnte? 
Jedenfalls hat e8 ſich gefügt, daß unmittelbar darauf England in Krieg mit 
zwei Staaten verwidelt wurde, in denen ein eigentliches Heer gar nicht 
beitand, aber jeder Bürger, vom zarten Knaben bis zum Greis, bereit umd 
fähig ift, zu fümpfen. Ballten zu Anfang die Bürger jich zu organifirten 
Truppen zufammen, fo laufen fie doch jest Häufig auseinander umd ver 
einigen jich wieder, fämpfen auch in ganz Heinen Gruppen, tragen feine 
Uniform, jind heute Bauern, morgen wieder Kombattanten. Es ift anzu⸗ 
erkennen, daß dadurch die Seriegführung außerordentlich erfchwert wird; «8 
it zu vermuthen, daß auch andere Staaten aus diefem Grunde zu ftrengeren 
Maßregeln außerhalb des Gefechtes fchreiten würden. Man ftelle fich vor, 
daß wir fünftig einmal in Frankreich, nach Niederwerfung des eigentlichen 
Heeres, Teindfäligkeiten gegenüberftänden, wie fie jest die Buren betreiben! 
Auf der anderen Seite ift nicht zu vergeflen, daß die beiden jugendlichen 
Staaten, Dafen einer werdenden Sultur, mit ihrer ganzen Eriftenz nur anf 
jene Art der Landesvertheidigung bajirt waren. 

Wer von den Einwohnern fi nicht feindlich bezeigt, wird auch nicht 
al3 Feind behandelt. Ausgenommen find aber nicht nur Alle, die von den 
Waffen Gebrauch machen, fondern auch Alle, die den Feind unterftügen durch 
Nachrichten, durch Verſchaffung oder VBerbergen von Sriegsmitteln, Vorräthen, 
durch Schädigung militärifcher Einrichtungen u. f.w. Nah 8 91 des 
Strafgefetzbucches ift gegen Ausländer wegen der Handlungen, die, bon 
Deutfhen begangen, Zandesverrath find, „nah dem Kriegögebrauh“ zu 
verfahren. Der Landesverrath im Yelde iſt Kriegsverrath, defien Begriff 
aber auf die eben erwähnten feindlichen Handlungen erweitert; wer auf dem 
Kriegsſchauplatz ſich folder Handlungen fchuldig macht, wird mit dem Tode ol 
mit Zuchthaus beftraft (Militärftrafgefegbuch S 160) und nad 8 161 gelt: 
alle deutfchen Strafgefege auch gegen Ausländer in befegtem Gebiet zu 
Schug deutfcher Truppen und Behörden. 

Die Einwohner find auch vorbeugenden polizeilichen Maßregeln unter 
worfen. Es ift Mar, dag die Ordnung in Kriegszeiten, in befegtem Feindes 
land mit bejonderer Strenge aufrecht erhalten werden muß. Die erforderliche 


Kriegsraiſon. 315 


Einſchränkungen der Bewegungfreiheit, des Handels und Gewerbes können 
ſehr weitgehend ſein, ohne daß der Vorwurf unnöthiger Härte begründet 
wäre. Sie werden um ſo ſtrenger ſein, je mehr auf der Seite des okkupirten 
Staates der Krieg ſich dem Volkskrieg nähert. Auch Austreibung aus den 
Wohnſtätten und Internirung kann erforderlich werden. Noch heute ſpricht 
man bier mit Abſcheu davon, wie Ende 1813 Davout mehr als dreißig⸗ 
taufend Menfchen aus Hamburg vertrieb, wie ein großer Theil davon ſchonunglos 
der Kälte und dem Hunger ausgeſetzt wurde. Aber grundfäglich verzichten 
auf ſolche Befugnif kann fein Staat. Zunächſt nicht für die Zwecke des 
Gefechtes. Ferner bei auszuführenden oder auszuhaltenden Belagerungen. 
Aus Rückſichten der Duartierbefchaffting, der Verpflegung, der Hygiene, die 
im Kriege fchärfere Maßnahmen erfordern kann al8 im Frieden. Man 
ftelle fi) vor, daß 1866 die ausgebrochene Cholera nod mehr jich verbreitet, 
der Krieg mehrjährige Dauer angenommen und eine Truppenanhäufung in 
Landftrihen Böhmens nöthig gemacht hätte: gewiß hätte man anftandlos 
zu den militärifch väthlichen Verſchiebungen der Civilbevölkerung gegriffen. 
Das Selbe gilt, wenn man auf feine andere Weife die Einwohner hindern 
fann, dem Feinde fortlaufende Nachricht über die eigenen Operationen zu geben 
oder ſolche fonft zu ftören. Namentlich alfo, wenn man mit verhältnigmäßig 
ſchwachen Truppen ein weites Gebiet in Ordnung halten ſoll. Rekruten 
-auß dem befegten Gebiet auszuheben, ift gänzlich abgefommen, während 
man früher ja häufig genug gefangene Soldaten jogar in das eigene Heer 
ftedte. Wohl aber darf man die Geitelung von Mannfcaften aus dem 
offupirten Terrain für die fetndliche Armee verbieten und Zumiderhandlungen 
ſtrafen. Die Engländer in Südafrifa haben jegt die eigenthüntliche Modi— 
fifation eingeführt, dar fie einen Neutralitäteid ſchwören laſſen und defien 
Bruch ftrafen. Jeder Krieg, fagte Dahn fehon 1871 richtig, bildet fein 
befonderes Strafrecht aus, je nach den DVerhältniffen. 

Ueberhaupt wird man die Geſetze des befegten Landes fo weit in Kraft, 
defien Eivilbehörden fo weit in Funktion laflen, wie es da8 eigene militärifche 
Intereſſe geftattet; sauf emp&chement absolu, fagt die Haager Konvention. 
In Frankreich) wurden deutfche Präfelten eingejest, dagegen die vorhandenen 
Lofalbehörden, wenn es möglich war, belaffen; durch ihre ortöfundige Ver— 
mittelung fuchte man dem militärifhen Bedürfniß zu genügen. 

Un unbeweglichen Gütern des Feindesitaates wird nur bie Nutznießung 
beanſprucht. Nach einer haager Beſtimmung ſollen dem Kultus, Uaterricht, 
der Wohlthätigkeit, der Kunſt oder Wiſſenſchaft gewidmete Gebäude wie 
Privateigenthum behandelt werden. Bewegliches Staatseigenthum kann be— 
ſchlagnahmt werden. Ob und wie weit Provinzen, Gemeinden und andere 
öffentliche Verbände in dieſen Beziehungen dem Staat oder den Privaten 


316 Die Zukunft. 





gleichgeftellt wirden, fcheint nicht recht feitzuftehen. Man darf mohl zuı 
Analogie mit Privaten neigen. Aber Requiſitionen, Beitreibung militäriſcher 
Bedürfniffe, auch ohne Bezahlung, richten fich naturgemäß vorzüglich gegen 
Gemeinden, Kreiſe und ähnliche Verbände. Die Requifitionen einzufchränfen, 
ind die Staaten heutzutage bemüht. Schon zu Anfang des nenuzehnten 
Jahrhunderts ſollen die Engländer in Amerifa, im Krimkriege die Weſtmächte 
gar nicht requirirt haben; auch die Maasarmee nicht feit Oktober 187%. 
Ganz verzichten darauf kann fein Heer. Trotz den beiten Vorfehrungen für 
Nachſchub von Bedarf jeder Art, trotz umfichtigem freiwilligen Anfauf fann 
zwingender Mangel eintreten. Je wohlhabender und leiltungfähiger das be: 
jeute Land, defto weniger darf dann die Beitreibung unterbleiben. Im Inter: 
efie beider Gegner empfiehlt fi), dabei peinlich auf Ordnung zu halten; alſo. 
wenn möglich Baarzahlung, mindejtens Quittung über Empfang der Sachen, 
ftrenge Mannszucht bei der Ausführung und Regelung der Kompetenz für 
die Anordnung. Diefe gebührt, fo weit Truppen im Verbande Tiegen, dem 
Höchſtkommandirenden oder bedarf doch jeiner Delegation an andere Stellen. 
1870 ſoll bei ung die Vorſchrift beitanden haben, dar die Befehlshaber Fleinerer 
detachirter Corps nur Lebensmittel, andere Gegenftände — Bekleidung, Lazareth- 
material, Geräthe, — nur Generäle ausfchreiben durften. Es iſt Mar, dar 
Ausnahmen zuläftig fein müſſen. it dringender Mangel, Gelegenheit zur 
Abhilfe, Feine Zeit und Gelegenheit zum Inſtanzenzug oder nach den Um- 
jtänden die Genehmigung zu erwarten, fo darf und muß jeder Regiments-, 
Bataillon, Compagnie: Kommandeur auf eigene Verantwortung requiriren. 
Im Haag ift die Beſtimmung durchgefegt worden, die Requiſitionen müßten 
„in angemeſſenem Verhältniß zır den Mitteln des Landes“ bleiben. Ziemlich 
nicht3jagend. Auch für Stontribuitonen iſt eine Einengung ohne jondere 
lichen Erfolg verfucht worden. Die Zuftändigfeit wäre hier freilich möglichſt 
auf die höchſten Etellen zu befchränfen. 

Das Privateigenthum ift im Prinzip unverleglih. Das ijt für den 
Laudkrieg anerfannt. Eine Ausnahme ergab ſich bei den Reguifitionen; eine 
fernere befteht für die militäriſchen Bedürfnifie des Angriffes und der Per 
theidiging. Dann fur Privaten gehörige Kriegsmaterial, Telegraphen, 
Zelephone, Kabel, Eiſenbahnen, Schiffe; doch fol Alles nah Schluß des 
Krieges zuriderjtattet werden. Diefe Ausnahmen genügen aber noch nid 
man muß jormuliren: Auch das Privateigentham darf angegriffen werd 
jo weit e3 für die Jwede des Krieges erforderlich iſt. 

Der humane Fortfchritt, den man erreicht hat, befteht alfo darin, d 
man die Unverlegbarfeit zur Negel, das Gegentheil zur Ausnahme geme 
hat. Daß man nicht boshaft oder muthwillig fchädigen darf; aud nicht _ 
dem Zweck, durch Schädigung der Einzelnen die Gerammtfraft zu ſchwäche. 


Kriegsraiſon. 317 


Daß weder der beſetzende Staat noch ſein Heer, im Ganzen oder in Theilen, 
noch der Einzelne aus dem Privateigenthum Gewinn für die Zukunſt, für 
das jpätere Leben fuchen darf. Endlih, dag die Schädigung des Landes: 
einwohners nicht ganz außer Verhältniß zu dem dadurch gefchaffenen Nuten 
ftehen fol. Um unnüge Bedrüdfung zu vermeiden, wird man, aud) in: 
Intereſſe der eigenen Disziplin, dafür forgen müſſen, daß nicht Jeder fordern und 
erzwingen darf. Aber die Grenzen find hier naturgemäß ſchwankend. Nicht 
wegen jeder Einzelheit fann im Quartier der höhere Vorgeſetzte beläffigt 
werden. Der Soldat ift im Striegsquartier, namentlich auch auf dem Marich, 
berechtigt, fich felbft zu helfen. Und ihm fol möglichft Gutes, nicht nur daS Aller- 
nothwenbdigite, gewährt und, jo weit e8 angeht, Abrvechfelung verfchafft werden. 

Guſtav Freytag giebt einige Beifpiele: Es ift tadelnswerth, wenn ein 
höherer Befehlshaber allen Champagner der Stadt für feinen Stabstiſch ıin- 
fordern läßt. Es iſt berechtigt, für eine zu veranftaltende Feſtlichkeit auch 
eine befondere Luruslieferung zu verlangen. Der Hauptmann fchidt ein paar 
Leute ind Nachbardorf, um ein Faß Bier für die Compagnie zu holen: Das 
ift berechtigt, au als Zwangsfauf. Darf man aber zum Transport des 
Fafjes einem Heinen Bauern Wagen und Pferde nehnen, die er vermuthlich 
nicht zurüderhält? Die Beifpiele laſſen fich leicht vermehren. Es wäre frevel- 
haft, eine Kuh mitzunehmen, um Milch zum Kaffee zu haben; anders, um 
dringenden: Fleifchmangel abzuhelfen. In einem herrfchaftlichen Haus wird 
man für die Mannſchaften nur die bejcheideneren Räume beanſpruchen. Wo 
Frauen und Kinder von Noth bedroht find, wird man das eigene Bedürfnig 
leichter Hintanfegen. Im wohlhabenden, noch nicht ausgefogenen Bezirk ver: 
langt man mehr al8 im armfäligen u. ſ. w. Auch die Induſtrie des feind- 
lichen Landes kann benugt werden, wie e8 in Tours gejchah. 

Das deutfche Diilitärjtrafgefegbuch ändert am Thatbeftande des Raubes, 
Diebitahles, der Sachbeſchädigung aud bei Begehung in Feindesland nichts. 
Es definirt den Begriff der „Beute“ nicht; daher gilt der Sat des VBölfer- 
rechtes, wonach dem Beuterecht nur feindliches Staatsgut, Waffen, Pferde 
und Ausrüſtung der feindlichen Soldaten unterliegen und e8 Regal it. Das 
Etrafgejeg bedroht die eigenmächtige Entfernung von der Truppe, um Beute 
zu machen, daS eigenmächtige Aneignen von Sachen, die an ſich dem Beute- 
recht unterworfen find, die rechtäwidrige Zueignung rechtmäßig erbeuteter, 
aber abzuliefernder Sachen. Es ftraft wegen ‘Plünderung Jeden, der „im 
Felde unter Benugung des Kriegsfchredend oder unter Mißbrauch feiner 
mifitärifchen Weberlegenheit, in der Abficht vechtöwidriger Zueignung, Sachen 
der Zandeseinwohner offen wegnimmt oder ihnen abnöthigt oder unbefugt 
Kriegsichagungen oder Zwangslieferungen erhebt oder das Maß der von ihm 
vorzunehmenden Requiſitionen überfchreitet, wenn Das de3 eignen Vortheiles 





318 Die Zulunft. 


wegen geſchieht.“ „ALS eine Plünderung iſt es nicht anzuſehen, wenn die 
Aneignung nur auf Lebensmittel, Heilmittel, Belleidungsgegenitände, Feuerung⸗ 
mittel, Fourage oder Transportmittel ich erftredt und nicht außer Berhältnik 
zu dem vorhandenen Bedürfniß ſteht.“ Es bedroht ferner „boshafte oder 
muthrwillige Verheerung oder Verwüftung fremder Sachen“ und das Mare 
diren, „Bedrückungen“ der Landeseinwohner durch Nachzügler. Ganz durch— 
fihtig und vollitändig ift der Abfchnitt nicht. Auch für das Bürgerliche Gefez- 
bud) ift die Regelung des Benterechtes abgelehnt (Motive zu $ 903 Ent... 

Beſonders zweifelhaft ift, was in verfaflenen Ortfchaften oder Häufern 
genommen werden darf. E3 ift wohl richtig, dag das Mobiliar der Gebäude 
um Paris, um Meg nicht als „herrenlos* im juriftifchen Sinn gelten konnte; 
die Eigenthümer hatten nicht die „Abjicht, auf das Eigentum zu verzichten“ 
(F 959 B. G. B.). Sie hatten nur nothgedrungen ihre Sachen den Wechiel- 
fällen des Krieges preisgegeben. Bei Dingen, deren Verluſt, Berftörung, 
Verderb nach menfchlichen Ermeſſen ficher ift, mag ınan Dereliftion annehmen. 
Im Allgemeinen ift aljo theoretifch wenig Unterfchied von bewohnten Stätten. 
Aber praktifch geftaltet fih das Verfahren doch ganz anderd. Das immer: 
hin weitgehende Recht der Befriedigung von Bedürfniffen des Krieges und 
der Truppen wird hier ohne Ortskenntniß, ohne Unterftügung durch mit den 
Dingen Bertraute, nach eigenem Erimefjen ausgeübt. Kauf gegen Bezahlung 
ift ausgefchloffen, geordnete Nequilition eben fo. Ausmahl und Schonung 
ericheinen vielfach zwecklos, da das Ganze doch verkemmen wird. Der Soldat 
vor Paris war daher in feinem Recht — ift nicht nur „ſchonend zu beurtheilen”, 
wie Freytag meint —, wenn er fein Quartier angemeljen möblirte, die vor- 
handenen Brennmaterialien verbrauchte, nad deren Erfchöpfung mit Zaun— 
ftüden und fchließlic mit Möbeln heizte, die Konfiturenbüchfen und die Wein- 
flafchen leerte, Strümpfe und Unterzeug anzog, die Deden mit auf Borpojten 
nahm. Unehrlich blieb die Wegnahme einer Bufennadel, eines Bildes zu 
eigenem Bortheil. Unehrlich, wenn auch entjchuldbarer, felbjt dann, wenn da3 
Haus niedergebrannt werden follte. Bei Sachen, die dem Bedarf de8 Tages 
dienen, zieht die Grenzen das Intereſſe der Disziplin und der etwa am felben 
Ort nachfolgenden Truppen. Das ift fehr wichtig und wurde 1870/71 
nicht immer genügend beachtet; man fam manchmal in Dörfer, die durch 
Bergeudung, Unordnung, Unfauberkeit früher Einquartirter mehr als nöthi 
verwahrloft waren. ‘Die größere oder geringere Zahl der Uebergriffe gie 
den Mapftab für Bildung und Gelittung des Heeres. 

Im Begriff und Wefen des Krieges Liegen die Rüdlichten der Huma 
nität an fich nicht. Holgendorf Iehrt: „Alle Mittel, die erfahrunggemä 
auf die Erreichung der Endzwede von erheblihem Einfluß find, erfcheine 
als gerechte Mlittel des Krieges, fogenannte Kriegsraifon. Und umgefehr‘ 


Kriegsraifon. 319 


verwerflich find die Alte der Zerftörung, die unmefentlid oder erfahrung . 
gemäß unwirkſam erfcheinen für die Beendigung des Krieges oder gegen 
Perſonen gerichtet find, deren Berlufte ohne Einfluß find auf die friedliche 
Entſchließung der Staaten.” Das führt nicht 'viel weiter. Jede Stärkung 
der eigenen Kraft bei Einzelnen oder dem Ganzen, jede Schwächung der 
einzelnen Glieder oder größerer Verbände des feindlichen Staates ift erheblich, 
für Erreichung des Kriegszweckes. Ganz unzweifelhaft können Gewaltthaten 
gegen Einmohner, Zerftörung de3 Privateigenthumes, Verheerung des Landes 
fehr großen Einfluß auf deffen Entſchluß zum Frieden üben. Man kann 
mittelbar wie unmittelbar auf den Willen wirken; und ihn zu beugen, tft ja 
das militärische Ziel. Auch in der Schlacht ift bejiegt, wer fich bejiegt fühlt. 
Gefteigertes Elend des Landes kann die Negirung fehr wohl zum Nachgeben 
bringen. Dan ftelle fi vor, England habe zu Haufe fein brauchbares 
Heer mehr, alfo dort feine Schlachten, aber Invaſion zu erwarten: wird nicht 
diefe Eventualität weniger auf den Entſchluß zum Frieden wirken, wenn 
feftfteht, daß die feindlichen Truppen ideale Mannszucht halten, in die Civil- 
verwaltung kaum eingreifen, das Privateigenthum jfrupulds jchonen werden? 

Beftimmte Ausnahmen von der zerflörenden Tendenz des Krieges 
haben fih im Kaufe der Zeiten herausgebildet. Er bleibt trogdem „ein roh 
gewaltfam Handwerk.“ Bismard hat mehr als einmal von Fällen gefproden, 
wo da8 saigner & blanc des Erbfeinde8 nöthig wird; debellare, Vernichten, 
auch mit Hilfe Jahre langen Drudes, kann durch die Höchfte Staatspflicht der 
Selbftbehauptung erfordert werden. Der Feldherr kann ſich gezwungen fehen, 
eine „wüſte Zone” zu fchaffen, aus einem größeren oder Heineren Bezirk die 
Menfchen wegzuführen, die Häufer dem Erdboden gleich zu machen, Vieh, 
Borräthe, Ernte zu zerftören. Daß ift verwerflich, wenn es unnöthig, wenn 
e3 nicht von erheblichem Nuten für den Kriegszweck ift; darüber entcheidet 
das in al diefen Dingen ſehr meite Ermeſſen der Führer. Es iſt aber 
nicht deshalb verwerfli, weil e8 unfäglih hart if. Der Krieg fol und 
muß hart fein. MWeichmäthige Führung würde die Kriege vervielfältigen 
und verlängern. Iſt der Krieg gerecht, fo ift auch die Härte gerecht. 

Und in ihrer Weisheit hat die Vorſehung den Völkern die Gabe ver: 
fiehen, daß jie ftet3 die eigene Sache für die gerechte Halten. Der Auffe 
glaubt an die Weltmiffion des Slaventhumes, der Engländer an das ge- 
ſchichtliche Hecht auf Erhaltung des Empire, bedingt durch Erhaltung der 
Herrſchaft in Sübdafrifa, die von deu Burenrepubliden bedroht fei. Der 
Deutfche gedenkt mit Ehrfurcht des frevelhaft ihm aufgezwungenen Krieges 
von 70/71, der Franzoſe beweiſt urfundlid, dag Bismard die fpanifche 
Kandidatur abfichtlich gerade zur Herbeiführung des Krieges angezettelt Hat... 


Altona. Dr. Julian Witting. 
L 


320 Die Zukunft. 


Die Tadelloſe. 


N don wenn ich jie anjehe, eritarre ich, wird mir kalt ums Gerz; fie brautt 
5 nicht einmal zu ſprechen, nicht einen ihrer ſtets ſo korrekten Säge in reinften, 
dialcktfreiem Deutih zu Tagen. Auch ſolche Yebensäupgerung iſt tadellos, wit 
Alles an ihr. Selbjt an ihrer Kleidung kann man nicht den leilejten Fehit: 
entdeden, feine Falte, feinen Fleck und natürlich erjt recht feinen Riß. Zr 
trägt fich nie unmodern; die Kleiderſchnitte bleiben bei ihr in der richtigen Mitte 
Sie nimmt die Mode erſt an, wenn Alle fie anerfennen. Zu den Rionierer 
gehört die ZTadelloje nicht, darum ift fie ihr Leben lang korrekt geweſen ınd 
geblieben. Sie hatte nicht Phantafie genug, um einen Schritt vom Wege ı 
machen, auch nicht, um bei Anderen einen folden Schritt zu verjtehen und za 
verzeihen. Fräulein Roſe Winter hat im Anfang ihrer Laufbahn ein alltäglih:s 
Yeben geführt; Ipäter freilich trat ein Ereigniß ein, das dem fernen Betradir 
fogar romantijch erjcheinen könnte. Sie bejuchte gleid nah der Schule ein 
Seminar und wurde Vehrerin an einer höheren Töchterfchule. Als ihre Eltern 
ftarben — ihr Vater war auch Püdagoge gewejen —, erbte fie ein nicht unbe 
deutendes Nermögen. jede Andere hätte nun das Leben genofjen, wäre auf 
Meilen gegangen vder hätte Achnliches gethan. Fräulein Winter aber meintt, 
der Menſch jet nicht zum Amuſiren auf der Welt, der Menſch müſſe fich einen 
Wirkungskreis erwählen. Sie hatte ja in Allem das Recht auf ihrer Seite: 
aber man begann, das Rechte zu hafjen, wenn fie es in ihrer unerträglidy pedantiſchen. 
lehrhaften 2Leife ausſprach. Es war ftets, als habe fie das Rechte erfunden, 
als ſei es eigens für fie da. 

Fräulein Winter begründete eine höhere Töchterſchule mit Penfionat. 
Hier hatte jie Gelegenheit, ja, die Pflicht, lehrhaft zu fein. Und fie ließ ihre 
Begabung freieſten Yauf. Nun hätte jie eigentlid) zufrieden jein und andere 
harınloje Leute nicht als Belehrung-Objekt benugen follen; aber die Kae läßt 
eben das Mauſen nicht. 

Roſe verlebte die Schulferien bei ihren verheiratheten Nichten, die Reibe 
herum, und da genoflen die jungen Eheleute in erfter Linie die Früchte ihres 
Beſſerwiſſens. In zweiter Yinie wurden die Refannten und Freunde der Nichten 
belehrt, jo dap ein ſolcher Beſuch immer tiefe Verſtimmungen hinterließ. ar 
die Tante abgereiit, dann athmete die Familie auf und begann, die Wunden 
zu verbinden, die Nöschens Dornen gerigt hatten. 

Eine von Nofes liebjten Behauptungen war: „Ich Tage immer die Wabr— 
heit.” Welche Grobheiten fie unter diefer Firma austheilte, ift nicht zu bejchreiben; 
und jie war obendrein noch jehr jtolz darauf, 

Warumlud man denn aber Tante Mole ein, wenn fie jo gefürdtet x 
Zie hatte eine Stellung in der Welt, ihre Wortrefflichfeit war von Allen 
erkannt; wer ſich mit ihr überwarf, hätte ſich in der guten Geſellſchaft verbä 
gemacht. Und dann: fie war die Grbtante, das Familienprunkſtück; es 
einfach nicht anders. Einmal im Jahre, öfter fam die Weihe nicht hei 
mußte es ausachalten werden, unter die Röntgen-Strahlen von Tante Y 
Kritit zu fommen. 








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. - 


Die Tadellofe. 321 


Daß Fräulein Winter Roſe hieß, war eine der Schelmereien des Schickſals 
oder, wenn man will, eine der Taktloſigkeiten unvorſichtiger Eltern. Kinder ſollten 
eigentlich erſt einen Namen bekommen, wenn man weiß, wie ſie ſich entwickeln. 
So lange könnten fie ja Bubi oder Mädi genannt werden, wie es ſchon vielfach 
n Familien Sitte if. | 

Fräulein Winter verbeffert die Taktlofigkeit ihrer unvorfichtigen Eltern 
und nennt fih NRofalie.e Das macht einen vornehmen Eindrud, meint fie. 
Ihre Zöglinge in der Schule bezeichnen ſie aber, ganz reipeftlos, als Mutter 
Salli. Da Das jüdiſch Elingt — Fräulein Winter war neben anderen Anti 
auch Untijemitin —, wirkte e8 auf fie wie bie Muleta, das rothe Tuch, auf 
den Stier. Als Mutter Salli zum erften Mal ihren Spignamen hörte, über- 
kam fie eine ihrer gänzlich umvürdige Wuth. Sobald die Leidenſchaft verraucht 
war, rieth ihr die Klugheit, die Sache nicht weiter zu beachten. Sie folgte dem 
guten Rath; zu ihrem Heil: jie hätte ſich ſonſt unfehlbar lächerlich gemacht. 

Jüngſt fragte mich ein nafemweifer berliner Bachfiſch, für den Verloben 
und Heiratden das A und O find: „Hat fi Mutter Salli eigentlich nie ver- 
liebt? Sie wäre doch eine gute Partie gewejen! Sie befigt ja das ſchöne Haus 
und bat ihr reichliches Auskommen.“ 

Man fieht, felbft kleine Mädchen find heutzutage weltflug. 

Verliebt! Der Gedanke war mir jo komiſch, daß ich lächelte; dann fagte 
ih: „Noch ift wohl nicht dee Rechte gefommen. Sie heirathet vielleicht noch.“ 

„Roh! In dem Alter? Unmöglih!” 

Fräulein Winter ift vierzig Zahre alt, alfo für eine Schulvorjteherin 
in den beiten Jahren; aber dem jungen Ding erfchien fie mit diefem Lebens- 
alter natürlich wie eine Urgroßmutter. _ 

Dennod — jelbit in Berlin gejchehen noch Wunder — verliebte fid) 
Roſe Winter. „Nicht ein Klein Wenig, faft gar nicht”, wies im Leierreim heißt, 
jondern Hals über Kopf, „konnts gar nicht laſſen“. Und zwar in ihren jüngften 
Lehrer, Anton Matton. Wie viel er jünger ift als fie, wollen wir nicht unter- 
juden... Und er? 

Herr Matton ift praktisch, wie jeßt alle jungen Leute; außerdem ſchmeichelt 
es ihn, daß die Geftrenge fich zu ihm herabläßt. Ungefähr wie zwiſchen Danac 
und Beus, fo geftaltete fi) das Verhältniß der Beiden; nur ift der Zeus Bier 
ein Fräulein und die Danae trägt einen großen, blonden Bart. Aber die Hin« 
gebung ftimmt. Anton Matton war nur Seminarift, fein akademiſch gebildeter 
Lehrer. Das erfchwerte den Fall und erhöhte die Ehre für den Begnadeten. 

So ging es natürlid nidt. Er mußte erft würdig gemacht werden, die 
Hehre zu umfangen. Herr Matton befuchte die Univerfität und fteht jegt vor 
feinem Oberlehrereramen. | 

Nur brieflich darf er mit der Zadellojen verfehren. Wenn er da3 Examen 
beftanden hat, dann Heirathen fie. 

Viele Leute in Berlin meinen, es würde noch Etwas dazwiſchen kommen; 
dafür und dagegen wird gewettet. Wer gewinnen wird?... Vielleicht nicht 
der Bräutigam, der die Tadelloſe heimführt. 


G. von Beaulien. 


N7 24 


322 Die Zukunft. 


Moderner Ratholizismus. 


DI“ Bud bes wiener Theologen Ehrhard, ber jebt nah dem badifchen Frei⸗ 
R burg geht, „Der Katholizismus und das zwanzigite Jahrhundert im Lichte 
der Firchlichen Entwidelung der Neuzeit”, hat eine univerfale Bedeutung und 
eine bejondere für Dejterreih. Als Symptom des in allen katholiſchen Länders 
erwachten — durch heftige Angriffe zum Aufwachen gezwungenen — Reform- 
geiftes ift es hier jchon erwähnt worden. Chrharb zeigt in einer Betrachtung 
der Kirchengeſchichte, daß Alles, was mit Recht an der katholiſchen Kirche ge: 
tadelt werden kann und muß, vergängliches Erzeugniß nationaler Unvollkommen⸗ 
beiten, geichichtlicher Prozeffe und eigenthümlicher Zeitverhältnifle ft, DaB zwiſchen 
ihrem Wefen, namentlich zwischen ihren Dogmen und dem mobernen Geift, je 
weit er ein guter Geift iſt, Tein unverjöhnlicher, ja, überhaupt fein Wideriprugd 
obwaltet, und er zeigt den Furchtſamen, den Engberzigen, ben Denkfaulen unter 
feinen Glaubensgenojjen, daß der von Fanatikern gejchmähte moderne Geiſt, 
abgejehen von Berirrungen und Auswüchſen, von denen fich fein großer Kultur 
fortihritt ganz frei halten Tann, ein guter Geiſt ift und ein folder ſchon au: 
dem Grunde fein muß, weil Gott die Weltregirung niemals an ben Teufel af 
treten Tann und Das fiherlic auch in den legten vier Jahrhunderten nicht gethen 
bat. Ehrhard beweilt aljo, was ich in der „Zukunft“ behauptet babe, dab man 
ein gläubiger Katholik und dabei ein moderner Menſch, ein Vertreter der heutigen 
Wiſſenſchaft, ein vollwerthiger Untverfitätprofeflor fein fan. Und dba feldft die 
feinfte Jeſuitennaſe in feinem Buche feine Ketzerei aufipüren kann, fo werden 
die proteftantifchen Gelehrten wohl ihre Anficht aufgeben müſſen, Katholizismus 
und Wiſſenſchaft vertrügen fig nicht mit einander. Den Glauben Ehrhards, daß 
jedes Kirchendogma mit jeder wifjenjchaftlid erwiejenen Thatſache vereinbar. fei, 
theile ich allerdings nicht, noch weniger feinen Glauben, daß bie katholiſche Kirche 
geradezu die Bedingungen alles echten geiftigen Fortſchrittes enthalte, jo daß 
die Menjchheit ohne den Proteſtantismus weiter gefommen fein würde, als fie 
gefommten ift. Ich rechne die Hierarchie und den ftolzen Dom der Dogmatil 
zum hiſtoriſch gewordenen, veränderlicyen und vergänglichen Leibe des Fatholifchen 
Geiſtes, der aufopfernde Xiebe zum Nächiten, Freude in Gott und Hoffnung auf 
den Himmel ift und dejfen Offenbarungen der ſymboliſche Kultus, die chriftliche 
Kunft und die barmherzige Schweſter find. Einen Leib Tann aud der fatho- 
liſche Geiſt felbjtverjtändlich nicht entbehren, aber er muß fi dem Milieu an- 
paſſen und mit ihm umbilden, was er bis jebt ja aud immer noch vermadt 
hat; Ehrhard zeigt jehr gut, daß die heutige Fatholifche Kirche der Urkirche viel 
ähnlicher ſieht ale die mittelalterliche. Daß auch die Hierardie und die Dog- 
matif zu den veränderlichen, ja, an fid) entbehrlichen Beftandtheilen des Kir r 
leibes gehören, farın und darf Ehrhard freilich nicht zugeben; aber nad me, x 
Ueberzeugung ift es jo. Wenn fich der Papft in den Berluft des Kirchenftau 3 

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gefunden haben und ein nicht jouverainer Kirchenbeamter fein wirb wie fe 
Brüder, die ehemals fouverainen Kirchenfürjten des Deutſchen Reidjes, fo 

er etwas von den Pinffen des neunzehnten Jahrhunderts Grundverfchiedenes 
Und wenn er, nad) abermals einem Jahrhundert, ftatt als Chef eines v 
heuren bureaufratiichen Apparates Diplomaten in Audienz zu eınpfanger d 


Moderner Katholizismus. 323 


Bei Stirchenfeften auf den Schultern von prächtig aufgepußten Lakaien einherzu- 
ſchweben, zu Fuß unter den Aermſten feiner armen Landleute umherwandeln, 
in ihren Hütten Troft jpenden, ihre Unterdrüder jchelten, eine verjtändige innere 
Kolonifation organijiren, die Caruſi aus ihrer Hölle erlöfen, ihre Wunden küſſen 
und fie in blühende Fruchtgärten führen wird, bei deren Bebauung fie ihres 
Lebens froh werden, — dann, erſt dann werben fi) aud) die Ungläubigften zu 
dem Glauben befehren, daß der römiſche Bapft das Werk Jeſu von Nazareth 
fortfeßt; oder vielmehr, e8 wird dabei von Glauben Feine Rede mehr jein, weil 
es ja Niemand beftreiten kann. Auch die Dogmen gehören zum Beränderlichen 
am Kirchenleibe; jie find Erzeugniſſe des griechijchen Denkgeiſtes, fie find in ber 
Zeit, wo die römiſche Kirche im Abendlande ihr großes weltgefchichtliches Kultur⸗ 
wert vollbracdhte, ganz in den Hintergrund getreten und dann dreimal, in ber 
Scholaſtik, in der Reformation und in der neueren Philoſophie, Gegenftand 
Heftigen Streites geworben, ohne auf das Leben ber Chriften einen bemerfbaren 
Einfluß zu üben. Sie können und jollen nicht für Irrthümer erklärt werden, 
aber man wird einmal aufhören müffen, fie mit orthoboren Augen anzufehen. 
Das drijtologiiche und das Zrinitätdogma gehören dem Gebiete ber Metaphyſik 
an, in dem es weder zwingende Beweiſe noch Wiberlegungen giebt. Vielleicht 
verhält fih Alles fo, wie die Kirche lehrt; aber diefe handelt nicht Hug, wenn 
fie Männer, die ganz katholiſch fühlen, von fi) ausfchliept, weil fie über Dinge, 
die Niemand wiflen kann und Niemand zu willen braucht, anders fpekuliren, 
als die Theologen der alten Konzilien fpekuliet Haben. Der Dogmenkomplex, 
der aus der Geſchichte vom Sündenfall und der Spekulation Pauli über ben 
zweiten Adam und feinen Sühnetod herausgeſponnen worden ijt, verwebt fchöne 
Symbole hiſtoriſcher Thatſachen und unergründlicher Geheimniſſe zu einem cr- 
Habenen Syitem; wörtlich verjtanden, widerfpreden ab r feine einzelne Sätze 
geſchichtlichen, piychologifhen und phyſiologiſchen Thatſachen. Es waltet aljo 
ein Widerſpruch ob, nicht zwiſchen dem Katholizismus als Ganzem, aber zwiſchen 
dem othodoxen Sinn einiger ſeiner Dogmen und der modernen Wiſſenſchaft. 
Das darf heute noch fein katholiſcher Theologe zugeſtehen; aber dieſes Zuge— 
ſtändniß ijt auch zu einem gedeihlichen Zuſammenwirken von Gelehrten beider 
Konfeffionen gar nicht nothwendig. Denn nicht ein Zehntel, vielleicht nicht ein 
Hundertitel unjeres gefammten Wiffensgebietes wird von diefen Dogmen berührt. 
Eben jo wenig bürfen die Ehrharde jet ſchon einfehen, daß fie irren, wenn fie 
glauben, die fatholiiche Kirche fei niemals ein Hinderniß der freien Forſchung 
und ber ‘Brotejtantismus daher nicht nothwendig geweſen. Wenn bie fatholijche 
Kirche der Vergangenheit ohne ihre Hierarchie gedacht werben könnte, dann dürfte 
man die Behauptung zugeben. Das ijt aber eben nicht möglich. Die Hierarchie 
war, wie c8 zu gehen pflegt, aus einem vortrefflichen Mittel Selbitzwed ge- 
worden, hatte fich ſelbſt dogmatijirt und fuchte nun im eigenen Intereſſe den 
Fortichritt des Denkens und der öfonomijchen Entwidelung zu henmen. Die 
Abiprengung ganzer Bölfer vom alten Kirchenleibe wurde fo aus vielen Gründen 
nothwendig; zum Beijpiel darum, weil die Zukunft der Mtenjchheit ein kräftiges, 
nit am Gewiſſenswurm krankendes weltliches Leben, ungetheilte Hingabe an bie 
weltlichen Intereſſen forderte. 

Daß es ohne Luthers Reformation auch zu feiner inneren Reform de3 


24° 


324 Die Zukunft. 


fatbolifch gebliebenen Theils der Chriftenheit ‚gefommen wäre, jieht Ehrhard. 
Und damit ftehen wir bei der ſpezifiſch öfterreigıfhen Bedeutung feines Bude; 
denn dieſes wäre ficherlich nicht gefchrieben worden, wenn nicht die antikierilele 
Strömung, von der die Ros-von-Rom-Bewegung nur ein Seitenbad) ift, wenigiten: 
ben moraliſchen Beftand des djterreichifchen Katholizismus bedrohte. Die Kirde 
ift nicht von den Lebenägefegen der Gefellihaftorganisinen ausgeſchloſſen, and 
nicht von dem, daß fie ohne Angriffe von außen und ohne Cppofition im Innem 
verfaulen. Ein erleuchteter öſterreichiſcher Katholik kann fih gar nichts Beſſeres 
wünſchen als eine WAbfallbewegung und er wird an der von den Alldeutiden 
eingeleiteten nicht3 auszuſetzen finden, als daß fie jo jpät fommt und vid zu 
Ihmwädlid if. Eine fo verfommene Geſellſchaft wie bie Öfterreichijchen Kathe 
liten muß mit Sforpionen gepeitjcht werden, wenn fie fi zur Selbfterneuerung 
aufraffen fol. In jüngeren Jahren habe ich manche Gelegenheit gehabt, fie fennen 
zu lernen: die jämmerlide Dreſſur der angehenden Klerifer in den Priefter 
jeıninarien, die Roheit und Unbildung der Pfarrgeiftlichleit, die Lüderlichkeit 
und das raffinirte Genußlchen der reich dotirten Stiftäherren, bie tiefe Ber 
achtung, mit der alle Gebildeten die Geiftlihen und Diefe jelbft ihre eigene Kirche 
behandeln (Niele prahlen auf Reifen .und in Badeorten mit der Nichtadhtung 
des Abftinenzgebotes und mit ihren galanten Abenteyern), und die Hohlheit jener 
Gebildeten, deren ganze Bildung und Aufllärung darin beiteht, daß fie den 
fonntäglichen Stirchenbejucch durch den Frühſchoppen erfeßt haben, auf die Pfaffen 
ſchimpfen und die von wigigen Köpfen ausgehedten Neligionfpöttereien nach|predkn, 
jo weit dieje nicht über ihren Horizont gehen. In ben legten fünf Jahrzehnten 
mag ja Manches gebefjert worden fein — namentlich der Kardinal Schwarzer 
berg hat fi) viel mit Neformwerfuchen abgemüht —, aber von einer gründlichen 
Neform, die eine Wiedergeburt und Ummvandlung des ganzen öſterreichiſchen 
Volkes vorausfeßen würde, kann wohl nicht die Nede fein. Um die Urſachen 
dieſes Zuſtandes klar zu machen, müßte man ſechs Jahrhunderte öfterreichiicher 
Geſchichte ſchreiben. Ein Gemiſch von Slaven und halbſchlächtigen Deutiden, 
aller Nationalitäten Daupttugend die Semrüthlichkeit, leichtlebige Genußſucht ohne 
Tiefe, ohne Charafterftärfe, ohne Schneidigkeit, der Joſephinismus, der den 
Klerus zur Schwarzen Garde des Polizeiftaates herabwürdigt, dieſer Polizeiitaat 
felbft, der dem Klerus fein Einkommen, feine äußere Autorität und Straflofig 
feit bei Vergehungen fichert, unter der Bedingung, daß er ſich als politiſches 
Werkzeug migbrauden läßt, das Syſtem Metternid), das die Lüderlichkeit häiſchelt 
und das Denfen verbietet, Schlamperei als allgemeines Zebensgefeg, ein fürftlih 
dotirter, in die Intereſſen eines privilegirten hohlföpfigen und frivolen Hodr 
adıls verflochtener amd von deſſen Yebensauffojlung angeftedter Episkopat, 
Frömmigteit, wo fie vorfommt, nur in der Geſtalt, die ihr bigotte, abergläubige 
und fanatijche Mönche zu geben vermönen (man erinnere ſich des Pelikan, der 
Miß Baughan und des Teufels Bitru): Das find fo ungefähr die Elemente des 
jpesifiichen Lefterreichertbumes und des öfterreidhiichen Katholizismus. Die er 
wähnt num zwar Ehrhard gar nidıt, ja, er deutet fie nicht einmal an; er lehnt 
nicht in die Preſſe, jondern in die firchlichen Natbituben. Aber es iſt Elar, daß, 
wenn jich die öfterreichiichen Geiitlichen, wie es Ehrhard fordert, gegen ihre 


Trinfgetder. 325 


Feinde mit geiftigen Waffen wehren follen, fie jtubiren und zunächft ihre Faul⸗ 
heit ablegen -müfjen; und darum jind die hochwürdigen Herren wüthend, denn 
fie wollen a Ruh hobn; die Ketzer fol ihnen die Polizei vom Leibe halten. Sie 
werden fich auch jchwerlich bet der von Ehrhard in einer neuen Schrift abgegebenen 
Erklärung beruhigen, er wolle nicht zu den „liberalen Katholiken“ gezählt werben. 
Ein ganzes Bolf könnten freilich auch zwanzig geicheite und vernünftige Profefjoren 
nicht umwandeln; aber jolde Männer können mwenigitens, von der Noth der Beit- 
anterftüßt, einen Immanblungprozeß einleiten. Wären die übrigen Kirchenfürften 
weniger beichräntt als ber Kardinal Gruſcha, dann würden fie fi) aus dem Deutfchen 
Reich noch einige Ehrharde verichreiben. Sie können foldde Männer beſonders 
in Preußen finden, wo der allgemeine Bildungzwang, das freie Studium an 
der Univerſität, die Nothiwendigfeit, jich in gemilchten Gegenden ihrer Haut zu 
wehren, und zulebt der Kulturkampf den Katholifen und ihren Geiftlichen den 
Berftand gejhärft, den Charakter geftählt und die geiltigen Waffen geltefert 
haben. Siegen dagegen Dummheit und Faulheit, Bigotterie und Fanatismus, 
jo werden zwar die Evangelifchen die gehoffte Ernte nicht. einheimfen — denn 
wenn das lautere Evangelium, wie fie e3 verfündigen, zugfräftig wäre, fo müßte 
man doc zuallererit in Berlin Etwas davon fpüren —, aber die Abfallbewegung 
wird wachen, weil ſich gewilfe Forderungen des modernen Lebens, benen der 
Klerikalismus Widerstand leiftet, jelbft im gemütglichen Defterreih mit unmmwiber- 
ftehliher Gewalt durdjegen, Die Gebildeten werden fih dann vom Staate 
das Recht ertrogen, als fonfelfionlos leben zu dürfen, und die Maſſen werden 
der Sozialdemokratie zufallen. 


Neiſſe. Karl Jentſch. 


— 
Trinkgelder. 


SF gute alte Börfenfitte ift in den letzten Wochen zu neuem Leben er- 
wadt. Früher pflegte man nämlich bei größeren Emifjionen die Bei- 
"hilfe der Börſe dadurch zu erfaufen, daß die Emifjionfirmen den Maklern und 
Bankiers Betheiligungen gewährten. Jedes Bankhaus, das fich ıneldete, wurde 
im Konſortium betheiligt und den Maklern gab man umfangreiche Optionen, 
die ihnen ermöglichten, oft jehr beträchtliche Summen darauf Gin und her zu 
handeln. Diejer alte Brauch galt ſchon lange nicht mehr; nicht etwa, weil der 
Emiſſionäre Herz fchledhter geworden war, fondern, weil fi mit den Verhält— 
niſſen aud die Borausjeßungen geändert hatten, auf denen diefe Börjen: 
betheiligungen berubten. Früher mußten jelbft große Banken, die Aktien oder 
Renten an die Börſe bringen mollten, mit den Stimmungen der Börfenleute 
xechnen. Denn aud hinter dem kleinſten Banfier ftand die Macht eines Stunden: 
kreiſes; und außerdem. war die Conliffe ftark genug, um nach ihrem Willen auf 
Wochen hinaus das Börjenmetter zu bejtimmen. Jetzt hat das Börfengejeß ben 
einen und mittleren Bankier aus feiner einſtigen Machtitellung verdränet. Die 
Kapitalshäufung wurde im Banlgewerbe iiber das durch die natürliche Entwickelung 
gebotene Maß hinaus beichleunigt, wie Magnetberge zogen die Großbanfen die 





326 Die Zuhmit. 


Kundichaft an fih und manches Lebensſchiff Tank in die Tiefe, nachdem ihm die 
Nägel, die jeine Planten an einander jchloffen, entzogen waren. Der Coulifie 
ging es nicht beiler: auch hier wirkte das Börfengejch; e8 gab den Großbanken 
die bon Jahr zu Jahr bequemere Möglichkeit, Kauf- und Verkaufgeſchäfte in 
ſich ſelbſt auszugleichen, ſo daß man ſie nicht erſt im Börſenſaal abzuſchließen 
brauchte. Stärker noch als das Börſengeſetz wirkte auf die Couliſſe der Effekten⸗ 
ſtempel. Er vertheuerte die Umſätze, trieb einen Theil der Spekulationmakler 
überhaupt aus Deutſchland und machte der wachſenden Schaar der kleinen Makler 
das Leben ſchwer. Angeſichts ſolcher Zuſtände brauchen die großen Emiſſion— 
firmen, die den Kursſtand faſt autokratiſch beſtimmen und ſelten einen eben- 
bürtigen Gegner finden, auf die Gunſt oder Ungunft ‚ver Bärſe fein Gewicht 
mehr zu legen. Troßdem hätte man aus alter Gewohnheit die Betheiligungen 
wohl noch weiter gewährt, wenn nicht ohnehin jchon die Emiſſionſpeſen beträchtlich 
geltiegen wären. Vom Effeftenfteınpel fehe ih ab. Aber all die vielen Boni«- 
fifationen, die ſonſt noch allen möglichen Leuten zu gewähren find, von dem 
entgleiften Juriſten, der dem Profpeft die richtige Form geben muß, bis zum 
Inſerat in dem Eleinen Börjenblatt, dag je nad) Bedarf des Herausgebers er- 
ſcheint, machen fchließli eine Summe auf, mit der man redjnen muß. Die 
Veiter der großen Banken fanden e8 deshalb vernünftiger, die Beteiligungen, 
die früher die Börſe wegfchnappte, lieber der eigenen Kundſchaft zufommen zu 
laſſen, den Provinzbankiers, die jelbjt heute, bei der ſtarken Konkurrenz der Hoch⸗ 
finanz, nod) eine gewilje Macht Haben. Nur eine Sitte — oder Unſitte — blieb be= 
itehen: bei jeder neuen Emiſſion wird nad) wie vor den beiden Kursmaklern, 
die das Papier offiziell handeln, ein bejtimmter Betrag zugeiviefen, angeblich, 
um ihnen Material zur Negelung der Kurſe zu verfchaffen. 

Bei der Emiſſion der legten ruſſiſchen Anleihe hat plöglih nun bie 
Firma Mendelsfohn & Co. den alten Brauch wieder aufgenommen. Sie ge 
währte zunächſt den großen Maklern recht anſehnliche Betheiligungen und zeigte 
ſich au den Bitten der Stleinen, die betheiligt werden wollten, wohlgeneigt. 
Der Zweck dieſer Taktik war leicht zu erkennen. Die neue Ruſſenanleihe jollte 
zum Terminhandel zugelajjen werden. Wichtiger als bei Heinen Kaffa Emtj- 
ſionen fchien es hier, die Börje in guter Stimmung zu erhalten, weil ein Ultimo» 
markt nie jo vom Emijjionhauje zu fontroliren ijt wie dag wenig umfangreide 
Geſchäft in Kajlapapieren, bei dem man die Fixer täglich aufſchwänzen Tann. 
Dad Verfahren der Firma Mendelsjohn hatte Erfolg. Ohne auch nur den ge 
ringiten Eindrud auf die Kurſe zu machen, famen und gingen die Tage, be 
auf dem Newskij-Proſpekt das rothe Banner der Revolution entrpllt wurde und 
der Schuß des militärifch vermumnmten Studenten den Minijter Sſipjagin ins 
Heich der Schatten befürderte. An der Börfe gilt mehr noch als anderswo bas 
Wort, dal eine Dand die andere wäſcht. Die Dialer gaben ſich redliche Mühe, 
in den fritiichen Tagen jih für die ihnen erwieſene Nufmerkfamfeit dankbar z 
zeigen. Und da man die Bonififationen eben für eine Aufmerkfamteit, für das 
Zeichen einer bei den Mendelsjohns üblichen Vornehmheit in Gelbjaden hielt, 
hatte die Firma oberdrein noch einen moralilchen Erfolg. 

Diefer Lorber lieg die Herren der Deutihen Bank nicht ſchlafen. Sa 
belicht diefe Bank, namentlid) wegen ihrer klugen Geſchäftsführung, bein Bubliki 


Trinfgelder. 327 


ift: die Börfenleute jind ihr nicht grün, weil fic in ihr das Ungethüm fehen, 
das in feiner unerfättliden Habgier das Geſchäft unzähliger Bankiers gefrefien 
bat. Die Direktion der Deutichen Bank jcheint diefe Feindſchaft nicht recht ver: 
jchmerzen zu können; fie ſucht unermüdlich nach Gelegenheiten, fi an der Börje 
populär zu machen, wird dabei aber von Mißgeſchick verfolgt. Faſt immer wird 
fie da gerade getabelt, wo fie Lob verdient zu haben hoffte. Die Folge mangel- 
bafter Regiekunſt zeigte fih neulich nun wieder bei der Emiſſion der wiener Stadt- 
anleihe, die angeblich einen Riejenerfolg gehabt Hat. Der Bürgermeijter Dr. 
Karl Lueger hat im Gemeinderath erklärt, fie fei vierundfiebenzigmal überzeichnet 
worden. Seine liberalen Gegner antworteten natürlich, dieſe Weberzeichnung jei 
nicht ernft zu nehmen. Ich nchme auch diefe Antwort nicht allzu ernft, meil 
der Barteifanatismus leicht durch gefärbte Gläfer fieht, muß aber jagen: Bei 
uns im Reich dat die Meberzeichnung wenig zu bedeuten. Wie es jebt üblich 
iſt, haben viele Zeichner Beträge gefordert, deren zehnten Theil fie kaum be» 
zahlen könnten, jelbft wenn der ſtrengſte preußiſche Gerichtsvollzieher ihre Kaſſen 
durchſuchte. Mit der Thatjache der Meberzeichnung aber hatte die Deutiche Bank 
zu rechnen. Das ift nicht immer leicht; denn bei den nothwendigen Reduktionen 
darf man nicht nah Schema F verfahren. Bei größeren Emiffionen wurde in 
lester Zeit für die beträchtlicheren Boranmeldungen meift ein beftimmter Prozent« 
fa als Zutheilunggquote fejtgejegt, nachdem den Kleinen joliden Zeichnern vorher 
wenigjtens ein beicheldener Mindeitbetrag gefichert war. Diejer Vorzug ſcheint 
diesmal gar nicht gewährt worden zu fein. Kleine Banfiers, die ihrer Anlage: 
fundfchaft gerathen Hatten, fich bei der Zeichnung in engen Grenzen zu halten, 
belamen nichts und waren den Kunden gegenüber in unengenehmer Lage. Einer 
biefigen angefehenen Bankfirma, die 200000 Kronen gezeichnet hatte, follen nur 
‘2000 Seronen zugetheilt worden fein. Auch der Darmftädter Bank wurde, troß- 
dem fie als Zeichenſtelle fungirte, nur ein ganz Kleiner Betrag zugewiefen; ich 
nenne die Quote nicht, die an der Börje angegeben wurde, weil ich die Nichtig- 
feit der Behauptung nicht Eontroliren fanın Mean munkelte in der Burgitraße 
von einem freundſchaftlichen Rippenſtoß, der damit Herrn Dernburg Apoftata 
verfeßt worden ſei. Das wäre, wie mir fcheint, aber allzu fehr wider die Klug» 
beit und müßte fi) bald rächen. 

An dem jelben Tage, wo die Bankiers an der Börfe ſich ärgerten, weil 
fie zum allergrößten Theil völlig leer ausgegangen waren, zogen die meijten 
Hondsmafler morgens am Staffeetiich das folgende Schreiben aus einem Couvert, 
da3 den Firmenaufdruck der Deutichen Bank trug: „Wir beehren uns, Sie zu 
benachrichtigen, daß wir Ihnen Fr....... vierprogentiger wiener Stadtanleihe 
zum Subſkriptionkurs von 97°/, abzüglich 0,25 Prozent Bonififation zugetheilt 
haben, abzunchmen nad Ihrer Wahl bis Ende Juni diejes Jahres, und 
bitten um gefl. Bericht, ſobald Sie die Stüde zu beziehen wünjchen.“ Die in 
den Briefen genannten Summen ſchwankten je nach der Bedeutung der Viafler. 
Das Minimum jcheint 10000 Stronen gewejen zu ſein. Die Methode, nach der 
die Makler ausgewählt wurden, war vielleicht nicht ganz einwandfrei. Angeblich 
war für die Berüdfichtigung der großen ES pefulationmafler die Aufſtellung eines 
Maklerbankdirektors maßgebend gewejen; aus dem Beer der Kleinen wählten die 
Börfenvertreter der Bank nah Gutdünken die zu begünſtigenden. 


Bas | Die Zuhmit. 


Die Deutihe Bank hatte feinen fachlichen Grund, die Bonifttation zu 
gewähren. Einen Ultimobandel in wiener Stabdtanleihe giebt es nicht und feinem 
Menſchen ift eingefallen, die Untheile zu firiren.. Die Tleine Goulijfe konnte 
der Bank weder nügen noch ſchaden. Wenn mans bei Licht befieht, wurde alſo 
ein Trinkgeld vertheilt. Nicht einmal cin Schweigegeld fonnte mans nesnen; 
man braudt ja die Thatſache nicht totzuſchweigen, daß durch Siemens’ und 
Gwinners Vermittelung Steinthal und Mankiewitz dazu gebracht wurden, den 
antiſemitiſchen wiener Stadtbau zu ſtützen. Darüber ſpricht ja ſchon lange 
Niemand mehr; eben jo wenig wie über die andere niedliche Thatſache, daß die 
Hebräer aus Rußland und Rumänien mit der Knute von Beamten gepeitfcht 
werben, beren Sold aus den Kaffen Rothſchilds und feiner Gruppe fließt. Die 
Deutſche Bank hat der Börfe aljo ein Geſchenk gemadt. Ste wollte an Bopularttät 
nicht Hinter den Mendelsſohns zurüditehen. Nur ganz wenige Makler haben den 
Muth gehabt, das Geſchenk zurückzuweiſen; die meiften fürchteten die Folgen 
ſolcher Kränkung. Einige nahmen ed auch wohl aus Noth; denn heutzutage giebts 
wirklich Börfianer, denen zwei blaue Lappen einen Monatsverdienſt bedeuten. 
Wem haben nun die Börjenfeinde mit ihren durch Sachkenutniß nicht getrübten 
Neformen genübt? Was hat das deutiche Volk davon, daB da, wo früher Hunderte 
von Familienvätern ihr Brot fanden, jeßt ji ein paar Auffichträthe und Direktoren 
anmäften? Die Thatſache, daB an der erjten deutichen Börſe Fondsmakler mit 
Geſchenken von 150 bis 200 Mark für eine Weile glüdlich gemacht werben 
fonnten, zeugt von einem wirthichaftlicden Elend, das ernite Beachtung verdient. 

Der Berein der jelbjtändigen Mafler an der berliner Börfe jcheint die 
Sade freilich von einer ganz anderen Seite zu ſehen. Er legte Werth daranf, 
im Berliner Tageblatt feierlich feitzuitellen, bei den Yutheilungen habe fichs 
nicht um Xrinfgelder, fondern um die Erneuung eines alten Brauches gehandelt. 
Mit Verlaub, meine Herren: der Braud wird zum Mißbrauch, die Sitte zur 
Unfitte, wenn fie aus den Berhältniffen ihrer Entjtegenszeit gelöft werden. rüber, 
jagte ich vorhin ſchon, waren die Spejen eines Compagniegeſchäftes mit ber 
ganzen Börje eine nothwendige Ausgabe. Bei der Ruſſenemiſſion hatte bie 
Taktik wenigftens noch einen Sinn; bei ber wiener Anleihe war fie überflüffig 
und die Betheiligung einfad ein Geſchenk. Zum Trinkgeld aber wurbe bas 
Geſchenk dadurch, daß man den Kleinen Leuten nicht die durch das Rundſchreiben 
fuggerirte Borjtellung lich, fie feien wirklich Betheiligte, Die nad) ihrem Ermeſſen 
die Stücke beziehen und verkaufen konnten. Als am Tage nad dem Empfang 
der Zutheilungbriefe der Kurs der Anleihe auf 99 erhöht werben jollte, lief ein 
von der Deutichen Bank Beauftragter mit der Namensliſte durch die Reihen 
der Couliffiers umd nahın ihnen — man kann faft jagen: gewaltfam — ihren 
Belig wieder ab. Da erft erkannte mander Makler zu ſpät die wahre Natu 
Diefer liebevollen Zuwendung und... ballte die Fzauft in der Tajche. Im Hinters 
arumde aber ftanden die kleinen Bankiers, an die man gar nicht gedacht Hatte, 
und jahen grollend dem Kampfſpiel zır. 0 

Mas mag die ſtolze Deutiche Bank bewogen haben, ſich bei diejer ein: 
fachen Emiſſion künſtlich ſchmerzhafte Geburtwehen zu fhaffen? 

Plutus. 


vᷣ 


Notizbuch. 329 
Notizbuch. 


AR“ zwei Jahren hatten die veichsländischen Abgeordneten unter der Führung 
Edes Stabtpfarrers Winterer wieder einmal im Reichstag die Aufhebung des 
Paragraphen beantragt, der dem Statthalter die diktatoriſche Gewalt giebt, „bei 
Gefahr für bie Öffentliche Sicherheit ungejäumt alle Maßregeln zu ergreifen, die er 
zur Abwendung der Gefahr für erforderlich erachtet.” Der Antrag wurde von ber 
Reichstagsmehrheit angenommen, von den Berbündeten Regirungen aber abgelehnt. 
Der Reichslanzler Fürſt zu Hohenlohe fagte, der Diftaturparagraph fei nicht zu ent- 
behren, denn er fei „eine Fahne, die wir aufpflanzen gegenüber der franzöjiichen 
Gefinnung, fo weit jie noch vorhanden ift. Eljaß- Lothringen iſt ein Grenzland. 
Unſere Nachbarn find leicht erregbar. Unfere Bevölkerung fteht noch an vielen Orten 
in Beziehungen zu ihren früheren Landsleuten. Es ift immerhin möglich, daß wir 
von etwa im Nachbarlande auftretenden Erſchütterungen nicht unberührt bleiben.“ 
Schon damals waren bie unbeamteten — und viele beamtete — Stenner von Yand 
und Leuten in derlleberzeugung einig, daß ber Diktaturparagraph fallen könne, fallen 
müſſe, daß er, fo felten er auch angewandt werde, durch fein drohendes Dajein die deutſche 
Sache ſchädige und dem Reichsland die volle Autonomie nicht länger vorzuenthalten ſei. 
In der erſten Hälfte der neunziger Jahre ſchon hatte derkommandirende General von 
Blume in Straßburg geſagt: „Das Elſaß iſt noch nicht deutſch geworden, aber es hat 
abſolut aufgehört, franzöſiſch zu ſein. Auf die innere Einigung mit Deutſchland werden 
wir warten müſſen, bis die Generation, die zur Zeit des Krieges das Mannesalter 
erreichte, völlig ausgeſtorben iſt.“ Der Bundesrath aber blieb bei der Behauptung, 
das Ausnahmegefeg ſei unentbehrlid. Da fing der Kaifer fich für die „Wiederber: 
ftellung“ der Hohföntgsburg zu intereljiren an. Weithin anerfannte Sachverſtändige 
ſprachen fich für die Erhaltung der ehrwürbigen Burgruine und insbejondere gegen 
den nad ihrer Anficht auf brüchiges Material geftügten Wiederheritellungplan 
des Architekten Bodo Ebhardt aus, dein die kaiſerliche Gunſt aber bewahrt blieb. 
Die Baukoften follten vom Reichstag und vom elfäfliichen Landesausſchuß zu 
gleichen Theilen aufgebracht werben. Im berliner und im jtraßburger Parla— 
mentsgebäude wurde dem begnadeten Architekten ein Saal für einen Tortrag 
und für eine Ausftellung feiner Baupläne eingeräumt und im Reichstag fiel 
dag Wort, „nicht einmal bei ben großen Flottenvorlagen feien Reklameaus— 
ftellungen in ſolchem Umfang und mit ſolchem Aufwand beliebt worden". Der Landes⸗ 
ausſchuß bewilligte Schließlich diegeforderteSumme — lamortdansl’ame, wieder Ab- 
geordnete Wetterl& jagte —, weil ihm als Entgelt die Aufhebung des Diktaturpara- 
graphen und anderer Reſte der Rechtsbeſchränkung zugefichert worden war. Ausdrücklich 
hatte der Staatsſekretär von Puttkamer noch am Schluß der Berathung erklärt: 
„Es iſt dankenswerth, daß der Landesausſchuß ſachliche Bedenken höheren Erwä— 
gungen opfert; und dag in dieſer Angelegenheit bethätigte Entgegenkommen wird 
hoffentlich gute Früchte tragen.“ Wir bewilligen das Geld für den Plan, der ung 
ſachlich mißfällt, weil wir bei diefer Gelegenheit endlich vom Diktaturparagraphen 
befreit werden: jo dachten, jo ſprachen fogar die Männer der „höheren Erwägungen“. 
Dennod) lehnten jieben Abgeordnete die Norlage ab und die zuftimmende Mehrheit 
ftellte die Bedingung, die andere Kojtenhälfte müjfe vom Reichstag bewilligt werden; 
der Reichstag, hoffte fie, wird Nein jagen und dann haben wir diligentiam präjtirt 


330 Die Zukunft. 


und brauchen das Geld doch nicht zu geben. Aber der Reichstag jagte, troß ben be⸗ 
redten Warnungen des fünjtlerifch einpfindenden Herrn von Vollmar: Fa; und der 
Landesausſchuß blieb an jein Botum gebunden. Doc der Diftaturparagraph wurde 
nicht befeitigt. Zwar hatte der Kaiſer gleich nach der entfcheidenden Abftimmung an 
den Statthalter telegraphirt: „Theile den Herren mit, daß ich ihnen von ganzem 
Herzen dankbar bin und daß es mir zu hoher Befriedigung gereicht, daß das Reichs - 
land mein Intereſſe und meine Arbeit für die Wieberherftellung der herrlichen Burg 
fo richtig verſteht und fo freundlich unterftüßt”. Der Kaiſer war falſch informirt: 
nicht für den begünjtigten Plan des Herrn Ebharbt war das Geld bewilligt worden, 
fondern als Aequivalent für die verheißene Erfüllung cined autonomütijchen 
Wunjches. In Berlin fand Mancher, der bedrängte Herr von Puttkamer feiin feinen 
Bufagen zu weit gegangen; und als Graf Poſadowsky im Reichätag interpellirt wurde, 
nannte er die vom ftraßburger Staatdjefretär mit dem Landesausſchuß gewechjelten 
Reden „Privatunterhaltungen“, die für den Bundesrath belangloß ſeien. Inzwiſchen 
aber muß der Kaifer den wahren Sachverhalt erfahren haben; denn er hat den Erlaß, 
der die Aufhebung des Diktaturparagraphen anfündet, von dem Bauplaß der Hoh⸗ 
fönigsburg datirt und Damit deutlich gezeigt, welche Leiſtung des Neichslandes ihn 
zum „Beweis feines Wohlwollens“ beſtimmt habe. Bei feinen Befuchen hat der Kaiſer 
in Elſaß-Lothringen die Bevölferung jo loyal gefunden, daß ihm repreffive Maß-⸗ 
regeln nicht Länger nöthig feinen. Solchen Wahrnehmungen eines Hoden Herrn, ber 
auf feinen Reifen nur die gepugte Minderheit des Volkes ficht — dem alten Wilhelm 
wurden tm Elſaß aus Baden importirte und in die Reichslandstracht geſteckte Bauern 
und Bäuerinnen vorgeführt —, darf man nicht allzu großes Gewicht beimeflen. Auch die 
Thatſache aber, daß an der franzöfifhen Grenze jegt wieder die Marjeillaife ge- 
jungen und Vive la France! gerufen wird, ſpricht nicht Taut gegen die Be- 
jeitigung des Ausnahmezuftandes. Es ift Zeit, den Reichslanden volle Antonomie 
zu gewähren, ihnen im Bundesrat Siß und Stimme zu geben und den Landes 
ausſchuß in einen Yandtag umzuwandeln, der, im felben Umfang wie die Yandtage 
der Bundesjtaaten, an der Gejeßgebung mitwirft. Die in Ausficht geitellte Maß— 
regel ift aljo verftändig; nur muß man fragen, ob es rathſam war, eine politische 
Aktion von der Erfüllung eines kaiſerlichen Privatwunfdes abhängig zu maden. 
War der Diktaturparagraph, von dem viel geredet, der aber fajt nie fühlbar wurde, 
zu entbehren, dann mußte er aufgehoben werden, jelbjt wenn der elfälfifche Landes⸗ 
ausſchuß für die Hohkönigsburg kein Geld geben wollte. Auch die Art der Ankündung 
mußte verſchieden beurtheilt werden und ift befonders im Süden nicht gerade freund- 
[ich beiprochen worden. Dem an den Statthalter gerichteten Erlaß fehlte die Gegen 
zeichnung des fir die reichsländiiche Politif verantwortlichen Sanzlerd; und die 
Seitungichreiber, die ihren Pejern zuriefen:,, Der Diktaturparagrapd iftanfgehoben!“ 
bewiejen wieder, wie fremd Wortlaut und Sinn der Reichsverfaſſung ihnen geword 
iſt. Nicht der Kaiſer, der in Elſaß Yothringen die Staatsgewalt „im Namen d.. 
Reiches“ ausübt, ſondern Bundesrath und Reichstag haben zu entſcheiden, ob bei 
Paragraph bleibt oder fällt. Und weil es fo ijt und man heutzutage alle Urfache hat, 
die partifularen Empfindlichteiten der deutichen Dymajtien und NRegirungen zu 
jchonen, follte man den Namen des Kaiſers nicht für Pläne engagiren, beren Schick⸗ 
jal immerhin noch zweifelhaft ist. Deßt, nachdem der höchtte Repräſentant deutjche 
Macht fi) jo bündig für die Aufhebung des Diftaturparagraphen ausgeſprochen ha 


Notizbuch. 331 


fönnte ein anderer Bundesfürft feine abweichende Meinung faum noch zum Ausdrud 
bringen... . Das Merkwürdigſte an der Geſchichte ift bie Lehre, daß in unferem aller 
neuften auguftijchen Alter auf die politiſche Geftaltung der Reichszuſtände die bauenden 
und bilbenden Künſte doch nicht ganz ohne Einfluß find, 

% R 


* 

Vielleicht wirb, wenn die diktatoriſche Vollmacht des ftraßburger Statthalters 
erliicht, als Erjaß ein Ausnahmegeſetz gegen die gemeingefährlichen Beitrebungen 
der modernen Kunft gefordert, die der Kaiſer bei einem Befuch ber Großen Berliner 
Runftausftellung wieder ſehr ſchroff kritifirt Haben ſoll. Noch find wir nicht jo weit; 
und da einftwetlen Der nicht mit Gefängnißſtrafe bedroht ift, der diefer Richtung 
Unterftand gewährt, konnte auf charlottenburger Gebiet die fünfte Ausſtellung ber 
Berliner Sezeſſion eröffnet werden. An die den Modernen gemachten Vorwürfe er- 
innerte in der Eröffnungrebe des Profeſſors Liebermann nur der Sag: „Nicht der 
mädjtigfte Fürſt: der Künjtler allein zeichnet der Kunſt die Wege vor, die fie zu ver⸗ 
folgen hat". Das tft weder allzu neu noch allzu kühn, für ein Mitglieb der berliner 
Akademie am Ende aber alles Mögliche, Dieſe Ausstellung ſelbſt muß jedem, derin 
ihren Räumen den Ertrag berlegten Kunſternte zu finden hofft, recht arm fcheinen. Die 
berliner Sezeffioniften haben nicht beſonders Großartiges geleiftet. Der interefjante 
Verſuch des Herrn Max Liebermann, den Simfonftoffzu modernifiren und eine Delila 
zu zeigen, deren bürftiger Geſchlechtsreiz ſtark genug ift, um in der Brunft den ftärkjten 
Mann zu betäuben — wie manden Simfon jah man auf dem Lager einer unſchön 
alternden Luſtſpenderin der Kraft beraubt! —, iſt Skizze geblieben; freilich die 
Skizze eines Meilters, dem Steiner in Deutichland Heute dag Fleine Bild „m 
Meer“ nahmalt. Herr Corinth entiwidelt jih von Jahr zu Jahr mehr zum 
technisch Starken, ſeeliſch ſchwachen Effekt: und Modemaler. Die lüderlichen Pinfeleien 
des Herrn Mund, der noch immer eine unerfüllte Hoffnung tft, follte man nicht 
ausſtellen; fie jcheinen gemalt pour öpater le bourgeois und können das Urtheil, 
das taftende Kunſtgefühl unberathener Schauer nur verwirren. Die Herren von 
Hofmann und Xeiftifow haben uns diesmal nichts Neucs, die Herren von Uhde, 
Brandenburg, Stajlen nichts Gutes zu fagen; und „Vierlanden”, dag reizvolle 
und doch nicht jüßlıche Bild des fchlichten Holſten Albert3, war vor faft zwei jahren 
ſchon bei Seller & Reiner ausgejtellt. Ueberhaupt muß man fragen, ob der Zweck 
einer jährlichen Ausftellung jein ſoll, jo viele alte, dem an der Kunftentiwidelung 
Intereſſirten längft befannte Bilder vorzuführen. Natürlich ifts eine freude, die 
Meifterwerfe von Monet, Manet, Bödlin, Degag, Leibl, Thoma und Anderen wieder: 
zujehen; dieſes Wiederſehens Schauplag fünnte aber auch der Yaden eines Kunjt« 
händlers jein, der ſich dann wohl ſcheuen würde, einen fo unbebeutenden Whiftler 
auszustellen, wie wir ihn jeßt in Charlottenburg jchen. Und wenn man die alten Bilder 
wegnähme, bliebe nicht jehr viel Schengwerthes übrig. Zwei phantajtijch-wibige 
Bilder von Thomas Theodor Heine. Das Chryfander: Bortraitvom Grafen Kaldreuth. 
Landichaftliche Einzelheiten auftlingers „Homer“. Dasfeine, durch die ſanfteFarben⸗ 
ſymphonie entzücende Damenportrait vonReinhold Lepſius. „In der Waſchküche“ von 
Linde-Walther und das Halligbild von Alberts. Der von Slevogt virtuos gemalte Sän⸗ 
ger D'Andrade als Don Juan. Eine,Dame im blauen Kleid‘ von demRuſſen Somoff, 
deſſen Kamen man ſich merken muß. Einpaar gute, meiſt aber auch längſt bekannte 
Trübner. Und — dieſe Laienüberſicht macht auf Vollſtändigkeit natürlich keinen 


332 Die Zukunft. 


Anſpruch — ein großes „Geſellſchaftbild“ von Ignacio Zuloaga. Schon dieſes 
Bildes wegen müßte man die Ausftellung ſehen. In dem von ben Herren Marter- 
fteig und Woldemar von Seidlig herausgegebenen ‚„„jahrbucd der bildenden Kunſt 
1902”, das, mit jeinem Reichthum an belehrenden und anregenden Aufjägen, an 
Kunſtbeilagen und Tertilluftrationen, des Lobes und der Empfehlung würdig ift, 
bat Herr von Tſchudi gejagt, der Spanier habe als Erfter bie edle Trabition der 
Belazquez und Goya wiederaufgenommen. Wirklich: feit Belazquez tft jo nicht ge 
malt, aus ſolcher quellenden Schöpferfülle nicht geftaltet worden. Ein alter Meiſter 
ſcheint erſtanden, boch einer, der aus dem Augeeines Modernen auf die Menfchenwelt 
fieht. Zuloagas deutſcher Ruhm jtammt aus Dresden, wo im vorigen Jahr vier feiner 
beiten Bilder ausgeftellt waren. Eins fteht jeßt in ber Bibliothek der Nationalgalerie, 
wird aber, da der Hofwind ſolchen Erwerbungen nicht günftig tft, wohl nicht ange 
fauft werben. Ziemlich Schlecht ift in der Sezeffion die Blaftil weggelommen. Klingers 
bemalte Gipsſkizze zum „Beethoven“ giebt von dem fertigen Werk feinen Begriff 
und wäre von beſſeren Freunden des Künſtlers nicht banaufifder Lachluſt ausge- 
liefert worden. Es ift einigermaßen beſchämend, daß die Wiener Sezeſſion in einem 
von ihren ftärfiten Künstlern in Schöner Bejcheidenheit geſchmückten Raum den echten 
Beethoven zeigt, während bie Berliner fid mit einem fümmerliden Embryo begnügen 
müſſen. Groß wirkt Klingers berühinter Liſzt; und Hildebrands „Bode“ ift ale 
Portraitbüſte eine in ihrer fühlen Art vollendete Meifterleiftung. Robin ift ſchwach 
vertreten, von dem Belgier Minne mußte man, nachdem feit Jahren jo viel über 
ihn geſchrieben ward, ftärfere Proben geben und der Berliner Zuaillon hat in diefer 
Ausstellung das nach feiner herrlihen „Amazone" von ihm Erwartete dem Blid 
nicht geboten. Warum, da man dod ältere Werke ausjtellte, fehlt Carriès, 
dejlen geniale Blaftikin Berlinnodh ganz unbekannt ift, warum Die Schaar der jüngeren 
Bildhauer, unter denen manches Talent zuentdedenwäre? Warum hatman Zuloagas 
Gitana nicht von dem dresdener Befißer ausgeborgt? Solche Fehler — es wäre 
leicht, mehr Beilpiele anzuführen — follten vermieden werden, — jchon, um das von 
ziſchelnder Feindſchaft verbreitete Gerücht zu entfräften, die Däupter der Sezeſſion 
ſuchten fi vor neuer Stonfurrenz fchlau zu beiwahren. Ihre Ausftellung bietet noch 
immer viel mehr, al$ man früher in Moabit zu fehen gewöhnt war. Erftens aber 
fönnten die meiften Bilder eben jo gut in einer akademiſchen Ausftellung unterge- 
bracht werden. Und zweitens müßte eine Sezefftoniftenausftellung ein anderes Ziel 
haben als das: annähernd zu leilten, was jeder tüchtige Bilderhändler in feinem 
Salon leijtet. Wie würden die Abtrünnigen jpotten, wenn die Orthodoxen ihre Säle 
am Lehrter Bahnhof mit den Meifterbildern der franzöfiichen Romantik, mit alten 
Werfen von Bödlin, Penbach, Vienzel, Knaus, Begas, Thoma, Gebhardt füllten! 
Der große Erfolg, den jie faft mühelos erreicht Haben, darf die Sezeſſioniſten auf 
ihrem Weg eben jo wenig heinmen wie die Schimpfreben, die der Leiter der Großen 

Berliner Kunftausftellung neulich gegen fie ausſtieß. Sie haben die Pflicht, ohn⸗ 
Rückſicht auf ihr eigenes Sefchäftsintereffe und auf die Yaunen des Herrn Omni 

dem harrenden Blid alles Zchenswerthe und Erreichbare zu zeigen, was während 
des abgelaufenen Jahres geichaffen ward. Wollen fie retrofpeftine Ausſtellungen 

veranjtalten: vortrefflich ; nur follen fies dann ausdrüdlich fagen. Nie aber darfihre 

Austellung die forgjame, duldſame Auswahl vermiſſen laflen, nie, wenn fie ein 

Kunſtereigniß jein will, der Zufallshäufung eines Bilderhändlers gleiden. 

* = 


* 





Notizbuch. 333 


Die Rebarbariſirung Deutſchlands ſchreitet raſch fort und den ſpärlichen 
Lenzkeimen künſtleriſcher Kultur droht ernſte Gefahr. Wer hätte vor ein paar 
Jahren für möglich gehalten, ein ehrfurchtloſer Dilettant könne wagen, nad) einem 
allgemein anerfannten Meijterwerk zu greifen, e8 zu entftellen, mit plumper Fauſt 
zu zerfeben, Wefen und Form zu ändern und biefes Produkt feiner Bandalenwillfür 
an weithin fihtbarer Stelle den Deutſchen zu zeigen? Wer hätte nicht Hundert 
gegen Eins gewettet, jolches frevle Beginnen müfle ein Wuthgeheul weden? Jetzt 
erleben wir faft in jedem Jahr diejes widerwärtige Schaufpiel; und gewiffenloje 
Reporter rühmen die Borbarei dann noch als eine Helvdenthat. Vor zwei Jah— 
ren hatte Herr von Hülfen, der Intendant bes wiesbadener Hoftheaters, den jeinem 
Wink gehorchenden Handwerkern befohlen, fi über Webers „Oberon“ herzu- 
maden; nad dem Plan des Antendanten wurde ein neuer Text gebichtet, die 
Muſik „verbeilert”, mit melodramatifchen Zuſätzen verziert und das Ganze als 
„Feſtſpiel“ derftaunenden Diengeangeboten. Dagegen ſolche Berunglimpfung eines 
großen deutichen Künftlers der Widerjtand fi nicht laut genug regte und Fein 
Kritiker jagte, Webers unvollkommenes, doch organijch entſtandenes Werk fei ihm 
zchntaufendmal lieber als das Ragout aus der wiesbadener Hofkunſtküche, ift der 
Oberkoch am Neroberg jegt noch Tühner geworden. Wieder gab es „Maifeſtſpiele“; 
und diesmal hat der Herr Intendant jelbit des Dichtens Laft auf fih genommen. 
Daß er Shafeipeares Judentragikomoedie in ein „Märchenfpiel” ummandelte, mit 
ſchlechterMuſik befrachtete und,ehe noch ein Wort geiprochen ward, einen Straßenjänger 
fi produziren ließ, war jchon ſchlimm genug und ald cin crimen laesae majestatis 
zu ftrafen. Aber der Mann hat auch Gluds „Armida“ eine neue Handlung und neue ' 
Muſik gemacht. Das ift nicht etwa ein Scherz: Herr von Hüljen, der vor großen 
Schöpfern nie das Fürchten lernte, hat ben Charakter der Heldin völlig verändert, 
ihr Judithmotive angeflickt, den Text „neu gedichtet” und einem Dußendfapellmeifter 
befoblen, Glucks Mufif zeitgemäß umzuarbeiten. Was dabei herauskommen fonnte 
und mußte, kann Jeder fi vorftellen, der Glucks gewaltige Architektonik je 
auf fich wirfen Lie. Giebt eg irgendwo noch ein fultivirtes Land, wo jo dreifte 
Entjtellung nationaler Meifterwerfe möglich wäre? Bet uns wird der Attentäter 
in den Beitungen gelobt, wird er von den Piotſchen als ein ‚genialer Regiſſeur“ ge- 
priefen, weil er „Dekorationen von berauſchender Schönheit” herbeifchafft und, ftatt 
den Geift und die form der ihm zur Reproduktion anvertrauten Gedichte rein zur 
Geltung zu bringen, all die feinen Yurushandwerferfünfte aufbietet, über beren ver- 
derbliche Wirkung von Sadverftändigen ſchon das Urtheil geſprochen wurde, als 
fie, weil der arme Ludwig von Bayern an buntem Bühnenpomp Vergnügen fand, 
in den berüchtigten Separatvorftellungen zum erften Mal angewandt worden waren. 
Gluck, deſſen Muſik gar nicht orientalifch im Zinn der Modernen iſt, kann nur eine 
ftreng ftilifixte, leife, etwa in der Art Dorés, andentende Anfzenirung brauchen; 
Herr von Hülſen pußt ihn mit Wundern, die er ans den Winfeln der Trientbazare 
holt, und jtülpt, als wäre es ein Kappbau von Kinderhand, Sharaftere und Hand— 
lung un. Früher hätte man wenigftens verfucht, ſolche Reſpektloſigkeit mit den 
Kamen bewährter Künſtler zu deden. Jetzt genügt die Verantwortlichkeit eines 
Herrn, der bisher nur durch feine Leiſtungen als Startenfünjtler, Koupletjänger und 
Taſchenſpieler befannt war und dem, als Yohn für feine Verdienſte um die deutid)e 
Kunjt, die ehrenvolle Aufgabe zugewiejen wird, das ‚sohanniterfeft, dasin Summer 


334 Die Zukunft. 


auf der Marienburg gefeiert werden foll, in Szene zu ſetzen.... Uebrigens muß in 
Wiesbaden allerlei Merkwürdiges zu jeden, zu hören und zu riechen geweſen fein. 
Der Kaijer „fuhr durch ein Spalier von „Fadelträgern und wurde im Theater von 
Toftümirten Sanfarenbläfern begrüßt.” „Bevor der Kaiſer die Hofloge betritt, müſſen 
alle Beſucher bes Erſten Ranges ihre Plätze eingenommen haben, die fie auch in den 
Baujen nicht eher verlaffen Dürfen, als bis der Herrfcher den Gang erreicht hat, ber 
Hofloge und Foyer verbindet.” Das ganze Theater ijt parfumirt. Der unbeſchreib⸗ 
liche Holzbock aber meldet: „Unter dem Foyer fteht das Publikum, es richtet jeine 
Blide nad; oben und fühlt ein Stückchen Hofluft wegen.” Sonderbar, fehr Jonder- 
bar. Ein Glück noch, daß die Firma Lohſe für Maiglödchendbüfte geforgt hatte. 
* * 


* 

Aus Wiesbaden kam auch, gleich nach der Meldung, die Tochter des früheren 
Hofbankiers Cohn habe dem Deutſchen Kaiſer „für Kunſtzwecke“ eine Million zur 
Verfügung geſtellt, das Telegramm, worin Wilhelm der Zweite dem Präſidenten 
Rooſevelt die Abſicht kündete, den Vereinigten Staaten ein Denkmal des Alten 
Fritzen zu ſchenken. Rom darf ſich an den Konditorkünſten des in Straßburg ab 
gelegnten Heren Eberlein freuen und Wafhington befommt einen echten Uphues: 
fein Original, wie e8 heißt, fondern eine dritte Kopie des bramfigen rigen aus der 
PBuppenallee. Die Verheißung diefes Kleinen Geſchenkes ift wohl als eine Privat: 
angelegenheit des Kaiſers zu betrachten. Für eine Staatsaktion wäre die Stun 
nicht gut gewählt. Auf allen Gebieten ſuchen die Amerikaner Deutfchlands Wirt 
{haft in ihren Dienft zu preſſen; und zugleich zeigen fie durch freiwillig gewährte Lieb’ 
tofungen, durch nach England und Frankreich verfchichte Einladungen, wie viel ihnenas 
der Entkräftung des Berdachtes Liegt, fie jeien mit dem Deutfchen Reich befonders intim. 
Die öffentlich Meinenden, felbft die in der bequemen Byzantinerlivree ergraufen, 
haben denn auch den Einfall des Kaiſers nicht mit Jubelhymnen begrüßt. DaB dert 
Uphues und nicht, da e3 doch eine Stopie jein follte, Rauch gewählt wurde, Me 
— weil olde ? Wahl das Anſfehen deutſcher N Junſt ſchmalern ‚muß. Eine 
N ellung ſollte endlich einmal der Spottſucht zeigen, daß es fern von der 
höfiſchen Sphäre eine deutjche Plaftik giebt, die ſich fehen Laffen Tann. Unklug abet 
ift die Behauptung, Friedrich paſſe, als ein Depot der fyeudalzeit, nicht vor ba? 
Sapitol einer Republik. Diefen Preußenfönig, der Fein Kind Hinterlich und dem 
feiner der fpäteren Hohenzollern in irgend einem Weſenszug ähnelt, hebt das Genie 
recht aus der langweiligen Reihe alltäglicher Herrfchergeftalten. Vieles, mas über 
feine inneren Bezichungen zu dein Freiheitlampf der Norbamerifaner erzäglt wir, 
gehört der Legende an, nicht der Geſchichte. Doch er hat gejagt: „Das Ziel, das ben 
Staatengründern vorfchwebte, erreihen Republiken Ichneller_a als. ‚Monaxisg und 
fie ertatteu ich aud länger; dem gute Könige fterben, gute Öefege aber find um 
fterblig. Jeder Monarch ſollte bedenken, daß Ehrſucht und eitle Rupmbegieh 
Laſter, ſind. ie man an einen Privatmann jtreng ahndet und an einem nn 
immer verabicheut. Die Tyrannen fchlen gewöhnlich dadurd,,, daß fe fie bie? \ 
nur in Bezichuug. auf ſich jelbjt betrachten.” Und in feinem Teftament: „; ? 
Ungefähr, das bei der Beſtimmung der Menjchen obwaltet, beftimmt aud) ie 
Erjtgeburt; und darum, dab man König tft, tft man nicht mehr werth als ie 
Nebrigen. “ Der Sap wäre als Denkmalsinſchrift für Waſhington ſehr zu empfe 5. 


nun _._ — · —ñ nn — — — 





Derca geder— und veramwortlicher Redat et: mM. Harden in Beriin. _ Werlag der Zutunft ni 4 
Drud von Albert Damcke in Berlin Schöneberg. 





1 Bi —FF 
——— 











Berlin, den 31. Mai 1902. 
1 — — 





Dereeniging. 


as wir in den Begriff der Sittlichfeit, de8 ewigen, Theologen und 

Atheiſten bindenden Sittengefeges zufammenfaffen, ift mehr als ein 
catalogue raisonne der Dinge, die man thun, und der anderen, die man 
laſſen foll. Das habe ich ſchon vor Jahren gejagt, in den friedlichen Tagen, 
wo ich noch Zeit hatte, Moralphilofoph — und leider and) Bimetalliſt — zu fein 
und nad) den Zielen neuer Ethik auszufpähen. Doch ſchon damals habe ich 
auch vor einer Ueberfchägung der in unferer Menſchenwelt fichtbaren Ent- 
widelungen gewarnt. Was ift diefe Heine Welt im Leben des Alls? Sicher 
nicht fein Ziel. Selbft die Weifeften unter ung fehen nur eine an Ruhm 
und Bedeutung nicht allzu reiche Epifobe, die ſich auf einem der unbeträcht⸗ 
licheren Blaneten abpielt. Hinter ung erbliden wir Blut und Thränen, 
Naub und Mord, rathlofes Taften und vergebliches Streben, wilde Em⸗ 
pörung und ftarre Ruhe; und nicht lange mehr — nicht lange wenigftens 
im Vergleich mit den moderner Forſchung befannten Zeiträumen — wird 
es dauern, bis die dem Menfchenauge jegt ſcheinende Sonneerbleicht undder 
träg und fluthlo8 gewordene Erdbalfdie Raffeverfiechen läßt, die für einpaar 
tosmiſche Minuten ihre Einfamteit geftört hat. Dann ftirbt der Menſch 
und mit ihm fteigen all feine großen Gedanken und Errungenfcaften, fein 
Genie, heldifches Mühen und fittliche8 Wollen ins Grab. Und im Ans 
geficht ſolcher Zukunft follen Zufalfsoszilfationen das ruhige Gleichmaß uns 
ferer Seelen erſchüttern? Was wir finnen und trachten, iſt ja nicht neu; oft 

25 


336 Die Zuhmft. 


genug ward ung vorgeworfen, unjere Macht beruhe auf Seeraub, Briganten- 
thaten, Stlavenhandel; und ob wir Indien oder Egypten, Neuſeeland oder 
Auftralien mit Britifch- Roth färbten, gegen Somalis, Aſhantis, Bafutos, 
Afridis oder Kaffern als Kulturbringer fochten: immer bat der Neid uns 
Grauſamkeit und [chnöden Egoismus nachgefagt. Keiner aber hat una den 
Weg zu ſperren vermocht, Keiner auch zu beftreiten, daß wir gegen Bentham 
und Gladſtone uns auf Moſes und Darwin berufen fonnten. Und weil 
wir thun, was die gelben Hottentoten den dunfleren faguanischen Bosjemang, 
bie Schwarzen Kaffern den Hottentoten, die halbweißen Buren den Kaffern 
thaten, weil wir mit dem Recht, der höheren Kultur einen unfauberen, 
Schlecht gepflegten Stamm ausroden, der mit dem felben echt Anders⸗ 
farbige verdrängt hat und ihnen bis heute fogar den Menfchennamen ver- 
fagt: deshalb follen wir aus der Gemeinſchaft der fittlih Empfindenden 
fcheiden? Das Auge, das durch Aeonen ſchweift, wird bei folder Drohung 
nicht lange weilen. Mich Hat die Frage nad) dem Ausgang des Krieges nie 
aufgeregt und ich fehe auch jest noch feinen Grund, ihr den Schlaf und die 
NRealtennisfreuden des Wochenendes zu opfern. Alles in unferer Welt nimmt 
ein Ende, das der Philofoph in Geduld abzuwarten hat. Sa kann ich im 
Unterhaus, vor den furzathmigen Antelligenzen Campbell - Bannermans 
und feiner Leute, nicht [prechen ; da muß ich auf die Gerechtigkeit unferer Sache 
pochen und die Regifter der nationalen Ehre ziehen. Hier aber brauchen wir 
ung nicht zu echauffiren. Auch diefe Epijode in der Epifode des vergänglichen 
Dienfchenrafienlebens geht ftill vorüber und künftigen Geologen und Aftros 
nomen wird e8 gleich gelten, ob wir ein Bischen früher oder fpäter geſiegt 
und den Befiegten etwas mehr oder weniger Freiheit bewilligt haben.“ Alfo 
ſprach Arthur James Balfour, der Erfte Lord des Schages, in Scott 
Palaft, den die Domning Street von der Treafury trennt. Sprach, Iehnte 
das Haupt zurüd, ſtreckte die Beine fehr weit von fich und blickte mit einem 
Ausdrud, an dem ra Angelito feine Freude gehabt hätte, gen Himmel. 
Nobert Cecil, Marquis von Salisbury, war während der langen 
Rede feines philofophifchen Neffen fo fanft entfchlummert, als fäße der Bot- 
Ichafter einer Grogmacht vor ihm. Daran war man gewöhnt und fein Kol 
legenantlit zeigte die Spur eines Staunens. Sacht und mit der gehöri: 
gen Diskretion zupfte Hicks-Beach den greifen Schläfer am Rod. Der Pre⸗ 
mier erwachte, blinzelte, räuſperte fi, um den Schleim aus der Kehle zu 
Ichaffen, und fprach dann: „Ja... Ich bin auch der Meinung, daß es fid 
nicht empfichlt, den Abſchluß der Sache nod) länger hinauszujchieben. Dil 





Vereeniging. | 337 
ner muß doch felbft den Stein, De La Rey, und wie bie widerhaarigen 
Gentlemen fonft heißen mögen, endlich bewieſen haben, daß fie befiegt find, daß 
fteeinfach nicht weiter können und blind annehmen müffen, was unfer Groß⸗ 
muthihnengewährt. Mit der Führung diejes Beweiſes hatteich ihn beauftragt 
und begreife nicht, daß erimmer noch von Bedingungen redet, dieunggeftellt 
würden. Ich jehe eigentlich nur noch eine Schwierigkeit. Wir wollen ſagte ich in 
vielen Beersfammerreden und Trinkſprüchen, weder Gold noch Land, fondern 
fämpfen nur für die Gleichberechtigung des freien Briten. Aber die An- 
nexion ift ja ſchon ausgeiprochen und an die alten Gefchichten denkt wohl fein 
Menſch mehr. Auch die Verheißung, den Buren folle fein Schatten von 
Selbftändigfeit gewahrt bleiben, ift hoffentlich vergeifen. A la guerre 
comme & la guerre. Der Rufe, vor deſſen langem Löffel unfer ungemein 
geiftreicher Kollege aus Birmingham: in einer feiner mit Necht berühmten 
heißen Stunden jo wirkſam gewarnt hat, Fönnte eines Tages unruhig wer- 
den und fich von imneren Nöthen dadurch zu befreien juchen, daß er das 
Bentil nach augen Öffnet. Das wäre, trogdem wir des Deutjchen Reiches 
sicher find, immerhin unangenehm. Und Sie Alfe, meine verehrten Herren, 
wiffen, daß der König den dringenden Wunfch hat, das Feft der Krönung in 
einem Reich friedlicher Ruhe, unter glüdlichen Bürgern zu feiern. Schon 
die Rückſicht auf diefen jo humanen wie natürlichen Wunſch muß ung beftim- 
men, den Rahmen ber zu bewilligenden Konzeſſionen ein Wenig zu erweitern.“ 

„Wirklich?“ Herr Joſeph Chamberlain hatte ſchon eine Weile nervös 
mit dem Monocle geſpielt; jet klemmte ers ind Auge und ſandte dem Pre⸗ 
mier einen Blick, aus dem Grimm und Verachtung ſprachen. „Ich freue 
mich der Thatſache, daß der ehrenwerthe Marquis den Muth hat, der Katze 
die Schelle anzuhängen, muß aber geſtehen, daß meine Ohren das Geklingel 
nicht vertragen. Nicht erft feit geftern. Längit ärgert mich die jchellenlaute 
Thorheit, die aus einer Hofceremonie ein politifches Ereigniß macht. Hat 
denn das Volf der drei Königreiche, das die Stuarts nicht ertrug und ſich 
mit der Schlichtheit feiner demofratifchen Einrichtungen brüftet, plößlich 
nichts Beſſeres zu thun, als ſich Über Koftümfragen den Kopf zu zerbrechen 
und an Rangordnungen, Bugmadherei und Schneiderkram die Zeit zu ver- 
zetteln? Dann darf e8 auf die Kontinentaljitten nicht mehr ironiſch herab⸗ 
ſchauen und fich nicht wundern, wenn der Monarch über die Rolle hinaus» 
ftrebt, die ihm die Magna Charta dieſes Landes zuweiſt. Und num joll 
die Rüdficht auf ein Hoffeft gar die Antwort auf eine Xebensfrage beitim- 
men? Dann kehren wir hinter die Zeit zurüd, wo Lord Coke jchreiben 

25* 


338 Die Zukmft. 


fonnte: Praesumitur rex habere omnia jura in scrinio pectoris sui. 
Wir führen einen Krieg um die Macht, um die Zukunft des Imperiums, 
einen Krieg, in dem wir fiegen müfjen, wenn wir nicht Afrika verlieren und 
dem Feind den Seeweg nad Indien öffnen wollen. In diefem Krieg haben 
die Kolonien das Mutterreich in einer Weile unterftügt, die alle Erwartung 
übertraf. Glauben Sie, daß die Kinder Britanias der lauteſte Krönungjubel 
für ihre Opfer entjhädigen kann? Ich zweifle; und meine, dag wir und 
weder bei Bhllofophengefpinnften noch bei loyalen Redensarten aufhalten 
ſollten. Der Wunid) des Königs darf, fo refpeftabel und menjchlich er ſein 
mag, uns nicht um eines Fußes Breite zurüddrängen. Die Buren find tapfere 
Lente und nochnicht am Ende ihrer Kraft angelangt. Leſen Sie den SYanuar: 
bericht des Gerterals Smutsan Krüger ; erinnern Sieftch, daß Steijn an Kit- 
chener fchrieb, Englands Macht reiche in Südafrifa nurgerade jo weit wie die 
Flugbahn ſeiner Geſchoſſe; und bedenken Sie,wielange aufden den Angreifern 
ungünjtigften Terrain der Erde ein Bauernheer Stand halten kann, deiien 
Mannſchaft zufrieden ift, wenn fie inbrennendem Kuhmift einen Fleijchfegen 
gebraten hat. Seit Wochen ſitzen die Führer dieſes Heeres in Vereeniging und 
Pretoria. Da fol, nad) dem Auftrag des fehr ehrenwerthen Marquis, 
Lord Milner ihnen beweijen, daß fie bejiegt, unrettbar verloren find. Biel 
leicht werden fie finden, diefer Beweis fei nur durch die Gewalt der Waffen 
zu führen. Jedenfalls find fie nicht von jeder Verbindung mit Europa ab- 
gefchnitten; und wahrjcheinlich haben fie ſchon gehört, welcher Werth hier 
darauf gelegt wird, daß der Friede vor der Krönung gefchloffen ift. ‘Der 
Herr Staatsfefretär für das Kriegsweſen fchüttelt den Kopf? Nun, meine 
Herren, ich kenne die Küche, in der das Friedensgericht gefocht wird. Ich 
vermuthe nicht, fondern weiß, daß in Pretoria gejagt worden tft: nur der 
Tag der Krönung biete die Möglichkeit, die Caprebellen zu begnadigen, umd 
wenn dieBuren bis dahin nicht ‘Frieden fchlöffen, fei diefe Bedingung nicht 
mehr zu erfüllen. Bedingung! Jahre lang haben wir erflärt, wir führten 
feinen Krieg, jondern würfen den Aufftand eines Vafallenjtaates nieder, — 
und nun verhandeln wir wie mit einem ebenbürtigen Gegner über die Frie⸗ 
densbedingungen und lalfen uns von Tag zu Tag zu neuen Konzefftion 
drängen, ftatt in einer legten Anjtrengung unferelebermacht zu zeigen. 5 
gebe gewiß nicht viel auf papierne Berfprechungen ; wenn die Tinte trod 
ist, lieft mans anders. Hier aber handelt jich8 um unfer Anfehen. Keine Unte 
handlung, hieß es, fein Schatten von Selbftändigfeit. Wenn wir unfer ®r 
jtige preisgeben wollten, brauchten wir den Krieg nicht erft anzufangen.“ 





Bereeniging. 339° 


„Das wäre, wie jonft ganz verftänbdige Leute finden, am Ende fein 
Unglüd gemwejen”. Der alte Salisbury war munter geworden und das 
Schmunzeln der Kollegen trieb ihn, der ſatiriſchen Neigung den Zügel zu 
Iodern. „Der anjehnliche Herr Kolonialminijter, deffen hohe Genialität 
uns fo oft entzückt hat und dem ich, mit einem Wort Dowbens über Shake⸗ 
fpeare, einen wahrhaft majeſtätiſchen Menjchenverjtand nachrühmen möchte, 
fcheint mit dem Mofesftab feines Geiftes Quellen zu erjchließen, aus denen 
uns ſchwächeren Sterblichen kein Zröpfchen rinnt. Wahrfcheinlich find es 
die jelben Quellen, aus denen ihm früher die Gewißheit fprudelte, der 
Doktor Jameſon werde auf feinem Ritt ans Ziel fommen, und fpäter die 
noch glaubwürdigere Kunde, Baul Krüger werde um feinen Preis der Welt 
fein Volt zu den Waffen rufen. Vielleicht erinnert der eine oder andere 
der Anwefenden ſich noch der fortreißenden Beredfamteit, dieder verehrte Herr 
Kollege aufwandte, um uns feine Zuverficht zu juggeriren, — mit jo glänzen- 
bem Erfolg,daß wir ein Ultimatum magten, ohne irgendwie zum Kriege gerüftet 
zu fein. Und jeitdem haben wir ja mehr als einmal dieBorausficht feines Di- 
plomatenauges angejtaunt. Jetzt aber muß ich in aller Befcheidenheit ge- 
ftehen, daß ich dem hoben Flug feiner Gedanken nicht zu folgen vermag. 
Das liegt vielleichtan einer gewiſſen Senilität, die der ehrenwerthe Herr mit 
der ihm eigenen Menjchenfreundlichkeit ſchon öfter an mir wahrgenommen 
haben ſoll, vielleicht aber auch an der Berfchiedenheit unferer Ausgangs- 
punkte. Mir fcheinen die Dinge auf gutem Weg. Dean hat fich geichlagen, 
man wird fich vertragen und beide Parteien werden den Pflod um ein paar 
Löcher zurückſtecken. Den Mund haben wir Alle — natürlich mit Ausnahme 
des Herrn Kolonialminiſters — manchmal zu voll genommen. Das iſt kein jo 
furchtbares Unglück. Für ein ſolches aber müßte ich es halten, wenn die Mi⸗ 
niſter Seiner Majeſtät ſich dazu hergäben, Wünſchen des Monarchen ent- 
gegenzuarbeiten. Dieſen Theil des Minenkrieges wenigſtens muß ich Ande- 
ven überlaffen, die durch feine Tradition gehemmt find und ihre Lehrzeit in 
anderen Lagern durchgemacht haben. Der König kann in diefem Lande nicht 
Unrecht thun. Der hohe Herr ift ſich auch jet bewußt, .der Verkünder 
ſehnſüchtiger Volkswünſche zu fein. Das Volk von England will Frieden. 
Es will nicht länger die Laſt des Schimpfes tragen, den ihm das Ausland 
täglich zufügt, und das ſüdafrikaniſche Induſtriegebiet der ruhigen Arbeit 
wiedergegeben jehen, die Reichthümer fchafft, nichtgehäufte Schäße vernichtet. 
Eine Regirung, die gegen foldye Forderung taub bliebe, würde unpopulär 
werden; und mindeftens die Abficht, die Vollsgunft einzubüßen, möchte ich 


J. | 


840 Die Zuhmft. 


meinem Herrn Krititer nicht zutrauen. Uebrigens kann ich für die Richtig. 
feit unſeres Handelns eine Autorität anführen, deren Gewicht er einft nicht 
verfannt hätte: Lord Roſebery, der ihm näher fteht als mir, rieth ums... .” 

„So ſchnell wie möglich Frieden zu fchließen. Natürlich. Der Schwie⸗ 
gerjohn Rothichilds, der da unten eine Millionenjaat in der Erbe hat ımd 
ungeduldig auf den Minenboom und den Synduftrieaufichwung wartet, der 
dem Friedensſchluß folgen muß. Und Roſebery ift wurzellos, fett er gegen 
Homerule auftrat und Imperialiſt wurde. Er braucht, um PBremierminifter 
werden zu können, einen neuen Trumpf; und ich muß ihm nachſagen: er 
hat, unter kluger Leitung, die Karten vorfichtig gemilcht. Kommtes zueinem 
dem Volkswunſch entiprechenden Frieden, dann hat er als Eriter den Weg 
gewiejen; in jedem anderen Fall ift er jchuldlos und die Wirkung des guten 
Nathes durch die Thorheit der Tonfervativen Regirung vereitelt worden. 
Beim König hat er ich, wie immer der Würfel falle, beliebt gemacht. ‘Denn 
der König langt ſehnlich nach einer Aufbeiferung feiner Popularität. Den 
verehrten Marquis, den ich zwar nicht Englands größtem Dichter, aber dem 
unfterblichen Sänger der Odyſſee vergleichen kann — der ja auch manch⸗ 
mal jchlief —, drüdt die Laft ausländischer Schimpfreden und ungejtillter 
Volksſehnſucht zu Boden. Sein erjchütternder Seufzer erinnerte mich an 


das Erlebniß eines nicht minder weifen und fittenftrengen Polititers. ALS 


Herr Briffon in Marjeilfe neulich in einer Wahlrede fagte, er habe unter 
dem Kittel des Arbeiters jo viel muthige, heldenhafte Würde gefunden, 
daß fein ſchwarzer Rock ihm ſchwer werde, rief ein jchlagfertiger Proletarier 
dem gerührten Greis zu: ‚So zieh ihn doch aus!‘ Nach reiflichem Ueber» 
legen fände vielleicht auch unſer Neſtor die Möglichkeit, eine Bürde, Die ihm 
zu ſchwer wird, abzufchütteln. So lange wir aber dag Glück und die Ehre 
haben, ihn auf dem Plate zu fehen, dem er feinen Ruhm dankt, muß er mir 
ſchon geftatten, mit dem felben Freimuth zu reden, den er früher jo auf- 
richtig ſchätzte. Dem füdafrikanischen Induſtriegebiet ſoll die Aera ruhiger 
Arbeit wiederkehren. Das klingt wunderſchön; nur... Der Krieg, ber 
ſich jetst auf ganz anderen Schauplägen abfpielt, hindert die Minenbefiger 
längſt nicht mehr, die Arbeit in vollem Umfang aufzunehmen; aber di 
ſchwarzen Arbeiter fehlen ihnen, — und diefe unerjeglichen Kaffern bring, 
der Friedensſchluß nicht von heute auf morgen an den Rand zuräd. Wi 
wollen die Dinge dod) jehen, wie fie find, nicht Hinter Phrafenfchleiern. Fort: 
gefchimpft wird unter allen Umftänden. Wenn wir nach dem langen, a 
Opfern aller Art überreichen Kampf num aber einen Frieden fchließen, d 





Vereeniging. 341 


uns beid;ämende Konzefjionen aufzwingt, dannernten wir zu dem Schimpf 
auch noch Spott. Die Verantiportlichkeit für jolchen Frieden jcheue ich, nicht 
Die fürden Krieg. Es war nicht meines Amtes, 1899 feftzuftellen, daß die Hoff- 
nung auf fremde, namentlich deutjche Hilfe in den beiden Freiltaaten ftärfer 
war als alle Bauernbedenfen; und der Leiter der auswärtigen Bolitik ſollte 
mir nicht Mangel an Vorausſicht vorwerfen. Immerhin: ich bin bereit, die 
Schuld auf mich zunehmen. Wirdder Krieg fo zu Endegeführt, daß wir mit er⸗ 
höhtem, nicht mit gemindertem Anjehen daraus hervorgehen, dann magman 
mein Handeln unfittlich und barbarifch nennen. Ohnezerbrochene Eierjchalen 
giebts feinen Eierkuchen, ohne zerftampfte VBölferftänme fein Weltimperium. 
Ich will zufrieden fein, wenn man jagt: Diefer Kerl hat den Muth gehabt, 
Etwas zumwagen, und die Ausdauer, fein Ziel zu erreichen. Ob ich dabei für 
eine Weile aus der Volksgunſt verdrängt werde, gilt mir gleich. Vorläufig.. 
Ich habe, vielleicht, weil ich jünger bin, vielleicht, weil unſere Ausgangs⸗ 
punkte verſchieden ſind, nur einen Verwandten in eine Staatsſtellung ge⸗ 
bracht und bin, trotz all meinen Sünden, unſchuldig daran, daß dieſes loöbliche 
Minifterium als Hotel Cecil Illimited auf der Gaſſe verhöhnt wird.“ 

Die befürchtete Erplojion war da. „Aber meine Herren... !”" 

„Kleine Mißverſtändniſſe! Nein taktiſche Fragen!“ 

„Er bleibt der Barvenu aus der Eifenbrandhe.“ 

Ein Bote trat ein. „Botſchaft von Kitchener?” Nein: vom Rönig, 
der direlte Nachrichten empfangen hat und den Marquis von Salisbury zu 
fich bitten läßt. Es Handelt fich nur noch um Kleinigkeiten. Zu erwägen fei, 
ob man den Buren den Kabelverkehr mit Krüger freigeben folle. Das werde 
verlangt, weil beide Theile ſich beim Abſchied mit Handſchlag verpflichtet 
hatten, weder in Afrifa nod) in Europa Frieden zu fchließen, ohne vorher 
den Rath des anderen Theiles gehört zu haben. Dem König ſcheine die Zeit 
zur Erfüllung dieſes nicht unbilligen Wunſches gekommen. 

„Denn Seine Majeftät die Entjcheidung aus dem Schrein feines 
Herzens holt, brauchen wir hier nicht müßig herumzufigen. Mahlzeit!” 

Dreer Erſte Lord des Schatzes zog die Beine vom Stuhl. „Schiden Sie 
den Zeitungen eine Notiz: ‚Die aus PVereeniging und Pretoria eingetroffenen 
Nachrichten haben den Miniſterrath heute nicht lange bejchäftigt, da ein» 
ftimmig an dem Entſchluß feitgehalten wird, über die in Ausficht geftellten 
Konzeſſionen nicht Hinauszugehen‘. Hm... Diefe Politiker find merfwürdige 
Leute. Wie uninterefjant werden den Geologen und Ajtronomen der Zukunft 
all die Dinge fcheinen, mit denen wir ung das Bischen Leben vergällen ...“ 


+ 


342 Die Zukunft. 


Die Große Runftausftellung. 


eber die Große Berliner Kunftausftellung hört man fo viele Sagen, 
N daß man verſucht wird, Einiges zu ihrer Entfhuldigung zu fagen. 

Ihr Niveau ift allerdings ſchlecht und die Bilder, die in ihr mijerabel 
find (fie hängen meift im Rundgang und in jenen Räumen, wo über zahl: 
reihen Thüren das Hilfreiche Wort „Nothausgang“ fteht), diefe Bilder mögen 
dem ärgften Dilettantismus verdankt worden fein. Man fragt fich, ob bei 
ihrer Annahme den Außftellungvorftand nicht ein doch zu nichts nützendes 
Mitleid Teitete. Was kann den armen Malern, die diefe Bilder eingefandt 
baben, ihre Ausftellung helfen, da jie fo gehängt wurden? Der Ausftellung- 
vorftand war großmüthig: er nahm ein Gemälde an, das in einer violetten 
Gegend einen blauen Fluß zeigt, während am Horizont in einem rothen 
Streifen die Eonne unterlintt. Aus dem Roth, Blau, Violett entftand ein 
trübe8 Ganze; außerdem fcheint der Maler bei der Herftellung feines Bildes 
fi der Bortheile nicht bewußt geworden zu fein, die die Delfarbe wegen 
ihrer Gefchmeidigfeit bietet. Oder man fieht ein Herrenportrait, auf deiien 
weine Weſte und Stirn überflüfiiger Weife — überflüffig, weil die Dar: 
ftelung nicht überzeugend wurde — da8 Sonnenlicht fällt. Man degft vor 
diefem Bilde daran, wie in ben guten alten Zeiten die Maler ſich einfache 
Motive wählten und fie in Bolltommenheit wiedergaben, während heutzutage, — 
und fo weiter. Und gerade die Dilettanten wählen die fchwerften Motive aus. 

Dennoch können diefe Bilder für die berliner Ausftellung nicht ver 
hängnißvoll fein. Denn jeder Befucher der parifer Salons erinnert fid, 
an wie vielen. Bildern er dort alljährlich in unfagbarer Langeweile vorüber: 
gefchritten ift. Diefe Bilder waren ohne Zweifel beffer gemalt. Doc; dieſer 
Unterfchied bedeutet nicht viel. Nicht, weil jie mehr oder weniger ſchlecht 
gemalt find, jondern, weil die Künftler, die fie fchufen, matt find, deshalb 
wirken in allen Ausjtellungen die „vielzuvielen“ Bilder lähmend. Und die 
Erzefltoniften, von Paris wie von Berlin, wußten fehr mohl, weshalb fie 
vor Allem daran gingen, ihre Ausſtellungen auf einen kleineren Umfang 
zurüdzuführen; in den befchränften Räumen, mit deren Arrangement fie fid, 
befaßten, hatten jie es unendlich leichter al3 ihre Kollegen von den offiziellen 
Ausftellungen, intereffante Ausftelungen zu Stande zu bringen. 

Die Große Berliner Kunftausftelung leidet außer an der Ausdehnung 
ihrer Säle daran, daß ihr Publiftum eine Unterhaltung erwartet. Diefen 
Unterfchieb zwifchen der Großen Berliner Kunftausftelung und der Sezelfion 
macht man fich lächelnd Har, wenn man in ber Großen Kunftansftellung 


Die Große Kunſtausftellung. 343 


vor einem Bilde ſtehen bleibt, das eine junge Dame in alterthumelnder 
Tracht an einem Kaffeetifh am offenen Feniter (mit einem Blumenarrangement 
und im Sonnenfchein) zeigt und das den Vermerk „Verkauft“ trägt, — 
Dieweil in der Sezeflion ber Vermerk „Verkauft“ nur an foldhen Werken 
fteht, die den Stempel bes Unvoltsthümlichen gerade in der fhärfften Form 
offenbaren. Für die Erörterung in biefem Zufammenhange ift es einerlei, 
ob zum Theil der Terrorismus, den die Zeitungen ausüben, mit ſolchem 
verwunderlihen Verkauf unvolfsthämlicher Werke im Zufammenhang fteht. 
Jedenfalls ift ficher, bat, wenn vielleicht das Publikum der Sezeflion 

auf die Yenferungen der Beitungen achtet, die Kunftfreunde in ber Großen 
Kunftausftellung naiv find. In ihr treffen Menfchen zufammen, die nicht 
gefonnen find, ih von Zeitungen und Zeitfchriften rathen zu laffen, welche 
Bilder zu bewundern find. Dan geht feiner Laune nad. Und dann fchallen 
aus dem Hintergrund, leife, aber vernehmlich, die länge einer Muſikkapelle. 
Nach der Belichtigung der Bilder wird man in den Bart gehen. 

Diefer Charakter der Ausftellung, den eine Langjährige Ueberlieferung 
geihaffen hat, giebt ihr Etwas von einem bürgerlichen Vergnügen. Man 
kann gegen diefe Tradition fi nicht auflehren. Dan wird der Auftellung- 
leitung mildernde Umftände, bewilligen müſſen, wenn es ihr nicht gelungen 
fein follte, die Ausftellung rein künftlerifch zu machen. 

Und dann bedenke man auch die Nebenftrömungen. Da find Bildniffe 
von Otto von Krumhaar. Sie unterfcheiden fi) von ben Bildern ber 
Dilettanten, die in die entlegeneren Räume relegirt worden find, dadurch, 
daß ihr Verfertiger allerdings nicht die ſchwierigen Aufgaben, fondern die 
feichteften Motive wählte, um fie unvolllommen auszudrüden. Das gab ihnen 
aber noch fein Recht auf viel beſſere Pläge. Doc hängen fie nicht zur 
Genugthuung des Ausftelungvorftandes da. Ein Ausitellungvorftand hat 
um fo vielfachere Rüdjichten zu üben, je ausgebehnter der Kreis ift, über den 
die Austellung fich verbreitet. Dem diesjährigen Ausftellungleiter iſt es 
nicht in höherem Maße als einem feiner Vorgänger gelungen, der Mißlich— 
feiten Herr zu werden, die fich einer künftlerifchen Geftaltung der Großen 
Austellung entgegenfegten. Doch wenn felbft eine energifchere Hand als 
die des Profeffors Arthur Kampf die Zügel ergriffen hätte, fo würde noch 
immer in der Weitläufigfeit der zu füllenden Säle und in den Wünfchen 
vieler ihrer Befucher Feine Berfchiebung herbeigeführt worden fein. 

Die Werke, mit denen ſich Kampf an der Ausftellung betbeiligte, find 
ſchwach. Sie find von einer betrübenden Gleichförmigkeit; e8 wird feine 
Spur von Empfindung in ihnen jichtbar, jie jind afademifch mit einem Zu⸗ 
ſchuß von Düfjeldorfertfum. Zur larmoyanten und falten Epezialität des 
düffeldorfer Koftünigenres gehört Kampfs Bild, deflen Thema wahrlich eine 





844 Die Zukunft. 


fräftigere Ausführung hätte hoffen laſſen, von „Friedrich dem Großen neh 
ber Rückkehr aus dem Siebenjährigen Kriege in der darlottenburger Schloß 
kapelle“; auf die in Düffeldorf von C. F. Leffing bis zum Profeſſor Janſſen 
betriebene Monumentaltunft weifen feine Entwürfe für Wandbilder bin, die 
für das Kreishaus in Aachen beftimmt jind. Bor biefen Kartons hätte 
Cornelius fih im Grabe umgedreht, während ©. F. Leffing bei ihnen er 
wogen haben würde, wie ſchön es fei, daß auch jest noch eine Kunft, de 
manche Selige eine Surrogatkunft nannten, in weiten Kreifen gefchägt werde. 
Abſcheulich berührt an diefen Kartons die Regelmäßigkeit. Man fehe auf 
dem einen Entwurf die Finder an und vergegenwärtige ſich die Kinder von 
Kraus auf feinem Bilde in der Nationalgalerie „Wie die Alten fungen’ 
(nad) welchem Gemälde fih Kampf ein Wenig gerichtet hat). Man betradie 
nad Kampfs anderem Karton, der Arbeiter bei und nad der Arbeit zeigt, 
die Arbeiter auf Menzels „Eifenwalzwert“. Man vergleiche die mathe 
mathiſch gemachten Kinder und Arbeiter bei Kampf mit den Kindern bei 
Knaus, mit den Arbeitern bei Menzel. 

Es iſt fo entfeglich verkehrt, zu meinen, daß, auch wenn der Athem 
für Monumentaltunft nicht vorhanden ift, Monumentaltunft damit hervor: 
gebracht werben Tünne, daß Modellftudien gruppirt und bes individuelle 
Ausſehens beraubt werden. 

Ein Maler, der Dergleichen thut, ſetzt ſich lediglich zwiſchen zwei 
Stühle Aus feinen Studien nad) dem lebenden Modell reißt er das Leben, 
den Reiz des Lebens, die Intimität, — und Monumentalfunft wird es nidt, 
weil Etwas nicht dadurch monumental wird, daß an bie Stelle der Mannich⸗ 
faltigfeit und reichen Unregelmäßigkeit des Lebens einige willfürliche Linien 
treten. Ein Werk ift nicht darıım monumental, weil e8 arm von Keben if. 
Ein Werk wie biefes ift vergrößertes und dabei unleidlich vergröbertes Geme. 
Schade um die Wände diefes Kreishaufes. 

Ein charatteriftifches Werk der Großen Kımftausftellung ift das Por 
trait der „Gräfin H.“ vom Profeffor Grafen Harrach. In diefem Bil 
ſpricht eine echtere Kunſt als in allen Einfendungen von Kampf: hier war 
Etwas zu jagen. Freilich iſt Das mehr eine inhaltlich felelnde Erzählung 
als eine gute Malerei. Dies Bild berichtet von Helden und Sieg, ven 
Treue und Vaterland, von vaterländifcher Geſchichte. Es enthält auch v "T 
Geſchichte als Röchlings beide gemeinen Schlachtengemälde von Kolin 
Hohenfriedberg.. Es ift nicht gut gemalt, troden, mehr gezeichnet als gem + 
die Schultern und der Naden jind geradezu fchlecht, aber von feinem & ! 
ducchriefelt ift das zarte Fleiſch des befchatteten Gefichtes und anjchen ) 
find die Haare behandelt. Es ijt viel naives Talent in dem Bilde J ı 
findet ein ſolches Bild nicht in der Berliner Sezeffion, man findet, m ! 


Die Große Kunſtausſtellung. 345 


man fagen, in feiner Seejfion-Ausftellung der Welt ſolches Bild, bag über- 
zeugt Thron und Alter vertheidigt. Wir haben in England und Frankreich 
freilihd Maler der großen Welt gefehen; fie konnten jedoch diefe Reinheit 
nicht geben. Schade, daß Harrach nicht Maler if. Was ihm fehlt? Das 
entnimmt man vielleicht dem daneben hängenden, übrigens, trotzdem der Maler 
Talent hat, nicht guten Bilde von Dettmann. Dies ift ein tolles Bild. 
Ein „frieſiſches Lied“ ſollte dargeftellt werden. Die Stimmung, die auf 
ber Stirn ber Heineren friefifchen Dame leuchtet —: wenn die Fähigfeit, irgend 
einen Haud, eine Bewegung der Luft, über den Körper fliegen zu laſſen, 
in Harrach läge oder von ihm erworben worden wäre, dann würde .er 
Maler fein. 

Guſſows ftupend gemaltes Bildniß der „Frau Bürd“ Hinterläßt einen 
gemifchten Eindrud. Die Technik und Frau Bürd Haffen auseinander. Die 
Technik ift eine den Malern früher Zeiten nachgeahmte, man denkt an Kopiften- 
und Reftauratorenthätigfeit; und Frau VBürd ift feine Erſcheinung, die ſich 
für eine Malerei in der Art der Primitiven eignen würde; fie bat ein voll- 
ſtändig modernes Geficht; jo erklärt fi der Widerfprud. Man benft an 
Zolas Wort: „Ein Kunftwerk ift ein Winkel der Schöpfung, gefehen durch 
ein Temperament“, um fi daran zu erläutern, daß Guſſows Bild Fein 
Kunſtwerk if. Zugleich freut man fich über die Fortfchritte der Menfchheit, 
da die Menfchen früher Guſſow für ein Temperament hielten und ſich jegt 
darüber einig wurden, daß er nur ein Techniker iſt. 

Gari Melchers wirkt auch nicht mehr überzeugend; allerdings ift es 
ein ziemlich ſchlechtes Bild, daS er auf der Ausftellung hat, fein „Roth- 
kãppchen.“ 

Das große Hiſtorienbild Benliures verſtimmt nicht, beſchäftigt aber 
auch nicht. 

Als vor Kurzem Julius Groſſe ſtarb, las man, ein Redakteur vom 
Rheiniſchen Courier habe ihm eine Warnung ertheilt, nicht nach Weimar zu 
gehen; in Weimar, ſagte er, würde er ein Pflänzchen ſein, das zwiſchen den 
großen Bäumen im Schatten ſtehe. Daran darf man denken, wenn man in 
der Großen Ausſtellung in das Kabinet von Louis Kolitz tritt. 

Dieſer Maler hat in Kaſſel im Schatten der Galerie gewirkt. Kaſſel 
ift ein gefährlicher Ort für Maler: die Galerie ift dort wundervoll; eine 
malerische Vorftellung in der falten Beamtenftadt kann nicht auflommen; 
nichts hält der Oalerie die Wage. Stolig gerieth in den Bann diefer Sammlung. 
Was in feiner Spezialausftellung aber auffällt, ift nicht das Stellerartige im Licht 
feiner Bilder, nicht ihr Schwarz, ihr Tiefjinn, ihre Grabesftiimmung, ihr Eklekti⸗ 
zismus: das Alles erwartete man. Was auffällt, ift, auf feinem Selbftportrait 
wahrzunehmen, daßer jrifche, geröthete Wangen hat; denn Das erwartet man nicht. 


846 Die Zukunft. 


Man hatte vermuthet, er müßte vom Geifte der Galerie verzehrt fein, bleich, 
hohlwangig, aldhemiftifch ansfehen. Nun Hat er ein gemüthliches Geñcht 
und eine goldene Brille; deito beifer. Er fcheint weniger eine Küuſtlernatur 
zu fein, die von den Alten befeflen ift, als ein ruhiges Gelehrtennaturell, 
das ihnen in einer gemäclichen Weile folgt. Im feinen Bildern ahmt er 
den Alten, meift Jedem für fih und mandmal in Kombinationen, nad). 
Das natürlich find feine fchlechteften Werke. In einer Kriegsſzene von 1870 
iſt er einheitlih. Er läßt die Helmfpigen von Wilhelm dem Erſten, Bis 
mard und Moltke leuchten, wie man Metalltheile in den Kriegsbildern ans 
dem fiebenzehnten Jahrhundert Leuchten fieht. Berwundert gewahrt man, 
daß der alte Wilhelm, Bismard und Moltke doch Uniformen tragen umd 
nit Bandenführertrachten aus dem Dreikigjährigen Krieg. Allerdings find 
ihre Uniformen fo dunkel geftimmt, wie e8 nur irgend möglich war, jo dunkel, 
daß fie aus dem Ton bes „hiſtoriſch“ gehaltenen Bildes nicht, berausfallen. 
Wie weit das Alles von und zurüdliegt! 

Dann jieht man in feiner Ausftellung mandmal ein unbefangenes 
Talent: von feinem objektiven Bilde von „Fräulein Rehn, Pianiftin“, be 
tommt man den Eindrud der Perfönlichfeit. Um wie viel lebhafter bedauert 
man dann die Verirrung, der der Künftler anheimfiel! Man freut fidh, daß 
die deutfche Malerei den Weg der Lenbach, Kanon, Kolig, den Weg, den 
einftmal® Fabricius ging, energifch und hoffentlich auf immer verlaffen hat. 

Bon Leubach fieht man ein Bildnig der „Frau F.“, nicht einmal em 
Schöner Reſt, — was Lenbad) betrifft. Bon Erdtelt iſt ein für die durch 
ihm bezeichnete münchener Malerei ganz vorzügliches und doc gleichgiltiges 
Bild da. 

Eher findet man an der Fühlen Malerei von Dänemarf Gefallen. 
Etwas von der Realität Ausgehendes und dabei jehr Subtiles ift in biefer 
Malerei. Ein Auskommen mit Wenigen. Sie beherrfchen einen hellen Ton. 
Einige von ihren Bildern find fehr gut, zum Beifpiel Schlichtkrulls, Sonnen⸗ 
Schein in der Bauernftube”; Peter Ilſtedt in Kopenhagen giebt ein gutes 
Interieur. In Verbindung mit den dänifchen Künftlern iſt Momme Niffen 
zu nennen, ein Deutfcher, der nah der dänifchen Grenze, in Niebüll, zu 
Haufe ift. Niffen zeigt einen friefifchen Bauern in feinem alten Hausrath. 
Ausgezeichnet ift dad Sonnenlicht wiedergegeben und das Holz des Tifchr“ 
die Stühle mit den Kiffen; Alles ift wahr, dabei Fünftlerifch zur @ 
ſcheinung gebradit. 

Bei den Dänen fühlt man mehr Poelie, Sehnen, man merkt, ba 
fie da8 Reale wiedergeben, weil e8 die Unterlage ihrer Stimmung bilde 
Momme Niffen dagegen giebt das Reale wieder, weil es ift: rechnerifch giel 
er e3 wieder, nicht muſikaliſch. | 





Die Große Kunſtausſtellung. 347 


Ein Gegenbild zu Momme Niffen gewährt Kuehl in feinen Tofetter 
und malerifch zugejtugten Interieurs. Die Dänen geben die Zimmer, die 
fie uns um ihrer Poeſie willen zeigen. Momme Nifien zeigt Zinmer wegen 
ihres Gegenftandes. Kuehl malt Interieurd wegen des „Malerifchen“. Er 
wirkt aufbringlic, mit überladenem Bug, — in einer gemiffen Weife wie 
einige Witzbolde der italienifhen Schule. Auf einem der von ihm gemalten 
„Interieurs“ gleitet ein Sonnenftrahl über einen dunkelgrünen alten Koffer 
mit eifernen Borlegejchlöffern, vorn fteht ein rother Seſſel, nad) hinten blidt 
man in einen Raum, in dem die Sonnenftrahlen einen — leider Farbe 
- gebliebenen — Tanz aufführen, wobei‘ Kuehl wohl an ein Wunderwerf der 
modernen Dealerei, an die Sobelinftiderinnen von Velazquez, gedacht hat. 
Diefer Theil feined Bildes ſieht wie eine heftige Parodie aus. In nicht 
geringerem Grabe übertrieben, überladen, unmöglich wirkt ein anderes Bild: 
von ihm, „Das blaue Zimmer“. 

An einem Bilde eines ſeiner Schüler findet man mehr Gefallen: der 
Maler heit Edmund Körner, das Bild „Im Schatten“. Es ift eine Arbeit, 
bie in ihrer Kompojition und ihrem Farbengange auf Kuehl, wie er in feinen 
älteren Bildern war, zurüdgeht und, fo weit Das bei diefer Art möglih 
ift, einfach anmuthet. 

Der der Architektur gewibmete Raum ift offenbar nicht dafür ein- 
gerichtet, daß Beſucher kommen. Man will auf dem großen Tifch die dort 
außgebreiteten Publikationen fehen: man nimmt feinen Stuhl wahr, um ſich 
an diefen Leſetiſch niederlaffen zu Tönnen, wohl aber nahen aus den Neben- 
räumen zwei Wächter, die darauf pafjen, daß fich der ungewohnte Gaft nicht 
der Publifationen bemädtigt. Unbehaglich. 

In die Möbelkojen hat man eine Einrichtung in Mahagoni zugelaffen, 
von der man nicht weiß, wie fie in die Kunftausftellung gerathen Tonnte, 
ftatt in die Auslage eines Möbelmagazind. In diefem Theile der Aus- 
ftattung fehnt man fich nach Menfchen. Dan entbehrt hier ſelbſt die Muſik; 
fie dringt nicht big Hierher. Man geht ins Freie; auch im Park ift es un=- 
behaglich; und man kehrt der Ausftellung den Rüden. 


Herman Helferid. 


Ben, une 


348 Die Zukunft. 
Derfelbe, Diefelbe, Dafielbe. 


SR haben wir auf der Schule über die perſönlichen Fürwörter im Deuticen 
gelernt? Nicht wahr, daß fie heißen: ich, bu, er, fie, es, wir, ihr, je? 
Das haben wir in den unterften Klaſſen gelernt; und hätte man uns dieſe ſo 
nüglihe Kenntniß mit dem ſelben Nachdruck auch in den höheren Klafien be 
feitigt, fo gäbe es in ber deutjchen Literatur, in der hohen, der mittleren und 
der niederen, nicht einen ber widerwärtigften, von ärgfter Stumpfheit bes Sprad» 
finnes zeugenden Stilfehler. Faſt in jedem Buch und ficher in jeder Zeitung, 
die uns in die Hände kommen. Ein Selundaner, der fi unterftehen wollt, 
in einer lateinifchen Arbeit is und idem zu verwechſeln, oder der in einer franz 
fiichen fchriebe: Philipp war der König von Makedonien, Je flls du m&me 6tait 
Alexandre, würde von dem ergrimmten Lehrer nach Berdienit angeſchnauzt werden; 
und wiederholte er dieſen ſprachlichen Unfinn öfter, fo bliebe er figen. Im 
Deutichen aber wird die Lehre von den perjönlichen Fürwörtern ich, du, er, fit, 
es in den oberen Klaſſen mißachtet und — ich habe mich jelbft aus Scüler- 
beften davon überzeugt — das berüchtigte derfelbe, dieſelbe, daljelbe Hält jenen 
Einzug in den Sprachſchatz der arnıen, übel behüteten Zungen, ohne daß der 
Lehrer — natürlich mit Ausnahmen — es für nöthig findet, ihnen dafür den 
dickſten Rothitrih an den Rand zu malen. Bon der Schule pflanzt fich der 
Mißbrauch ins Leben fort; und fo findet man in faft allen amtliden Schrift 
ftücen, in den meiften Büchern und allen Zeitungen diefes jedem feineren Sprad- 
gefühl unerträglich verhaßte fchleppende dreijilbige Ungethüm.. 

Daß der deutſche Sprachunterricht auf unferen Schulen, bejonders auf 
den höheren, nichts taugt, darüber find alle deutſchen Schriftfteller einig. Wie 


kommt es nun, daß nur die Wenigiten von ihnen die fo naheliegende Folgerung 


für fich jelbjt daraus ziehen: da ich auf der Schule nicht ordentlich Deutſch ge 
lernt habe, nicht mit folcher grammatifchen Strenge wie Lateiniſch, Griechiſch 
und Franzöſiſch, jo muß ich, da das Schreiben der beutfchen Spracde mein Beruf 
ift, im Leben nachholen, wag in der Schule an mir verfäumt wurde? In den 
legten zwanzig Jahren iſt eine ganze Reihe vortrefflicher Hilfsmittel, wenn nicht 
für gutes, jo doch für fehlerlojes Deutſch erichienen: die Bücher von Andreien, 
Wuſtmann, Heinge, Utto Schröder jind nicht unbekannt und auch nicht gan 
ohne Wirkung geblieben. Mir jcheint aber, daß gerade die Schreiber von Beruf, 
aljo die Männer von der Budhliteratur und von der Zeitung, von diejen Hilf 
mitteln den geringiten Gebrauch machen. Sie reden fi) wahrſcheinlich ein, wie 
Herr Jourdain bei Moliere, daß man eben nur zu jprechen brauche, wie Einem 
der Schnabel gewachſen, oder die Feder übers Papier laufen zu laffen, um „Proſa“ 
zu erzeugen, In Frankreich ift der Mitarbeiter des kleinſten Provinzblattes m 
möglich, wenn er nicht mindejtens fehlerlojes Franzöſiſch jchreibt; Deutſchland 
das einzige große Literaturland, wo man die ärgſten grammatifchen und ftiliftife 
Fehler begehen und noch immer für einen großen Schriftiteller gelten kann. 

Für die deutichen Männer von der Feder kann man neben vielen ande 
Eintheilungen aud ganz getrojt diefe vornehmen: in Schriftiteller mit und 
Schriftſteller ohne „derſelbe, diejelbe, daſſelbe“. Leider ift die Zahl der lek 
oder, wie die Schriftjteller mit derjelbe, diefelbe, daffelbe jagen würden: , 





Derfelbe, Diefelbe, Dajjelbe. 349 


Letzteren“, die überwiegend größere. Die Stumpfheit gegen den Ungefchmad, 
der in bem teten Gebrauch des pedantiſchen dreifilbigen „derjelbe“ jtatt des ein- 
filbigen ſcharfen „er“ ftedt, wurzelt fo tief ſelbſt in manden nicht üblen Schrift- 
ftellern, daß die jchärfite Hinweijung auf biefen Unfug fie nicht überzeugte. Otto 
Schröder hat in feinem prächtigen Büchlein „Vom papiernen Stil‘ mit allen 
Waffen des Spottes, des Zornes, des ruhigen Ueberredens gegen diejen ärgiten 
Fehler deutjchen Stils gelämpft, das Büchlein hat auch viele Auflagen erlebt, 
es bat in allen fpäteren Sprahbüdern Unterftügung gefunden; doch genügt hat 
das Alles recht wenig. 

Der Ungefhmad und die Sprachwidrigkeit von „derſelbe“ ſtatt „er“ liegt 
nicht in der ſchleppenden Dreiſilbigkeit, obgleich ſchon ſie jeden Schriftſteller mit 
ſprachlichem Feingefühl zur Wahl des einfachen und kurzen „er“ zwingen müßte. 
Leider konnte nur ein Franzoſe, Muſſet, die ſprachliche Grundregel für alle 
Schriftſteller ausſprechen: 

Non, je ne connais pas de metier plus honteux, 

Plus sot, plus degradant pour la nature humaine, 
Que de se mettre ainsi la cervelle & la gene, | 
Pour &crire trois mots quand il n’en faut qu’un seul. 

Noch ſchlimmer als die Schwerfälligteit ift, baß „Derjelbe‘‘ auf eine Gleich— 
Heit mit einem vorangehenden Worte hinzuweiſen jcheint, die in ben meiſten 
Fällen entweder gar nicht vorhanden ift oder die troß dem ſcharfen Hinweis 
unflar bleibt oder auf die eigens hinzuweiſen, überjlüffig, lächerlich und pedantiſch 
äft. „Der Unteritaatsjefretär im Reichspoſtamt Fritſch, welcher vor längerer 
Zeit feinen Abjchied erbeten, bat jett denſelben vom Saifer unter Verleihung 
des Titeld Ercellenz bewilligt erhalten.‘ Wer fühlt nicht, wie fehleppend unb 
zugleich lächerlich hier „denjelben“ ftatt ‚ihn‘ Klingt? Man wird einwenden: Das 
iſt Geſchmacksſache. Gut, nad einem ſchönen altſpaniſchen Sprichwort „find 
die Geſchmäcker verſchieden, aber es giebt ſolche, die Prügel verdienen“; es giebt 
auch einen Hörgeſchmack, der einen um ein Viertel zu hohen oder zu niedrigen 
Ton ohne Pein erduldet, während ein muſikaliſches Ohr dabei leidet, wie wenn 
ein ſtumpfer Griffel quietſchend über eine Schiefertafel hinfährt. „Auf ſeinem 
Rittergut im Kreiſe Konitz iſt Herr Oskar Wehr geſtorben. Derſelbe vertrat 
früher den Landtagswahlkreis Konitz-⸗Schlochau.“ Nur ja: Derſelbe! Wie leicht 
könnte man fonjt auf den Gedanken kommen, ed handle ſich um einen Anderen. 
In der felben Nummer ber felben ‘Zeitung, worin dieje Nachricht fteht, finde 
ich die Erklärung eines Landraths: ‚Dem vorigen Kreisblatt hat eine Ubonnements- 
empfehlung für die ‚Danziger Zeitung‘ beigelegen. Ich bitte die Leſer derfelben, 
nicht zu glauben, daß ich ein Abonnement auf die ‚Danziger Zeitung‘ empfehle.“ 
Mit Recht fügt die Redaktion diefem „derjelben‘‘ in Klammer Hinzu: „Wellen? 
Der ‚Danziger Zeitung‘? Spottet ihrer felbjt und weiß nicht wie. 

Den meiſten Scriftjtellern und Beitungfchreibern ift ganz aus dem Be- 
wußtjein entjchwunden, daß es ein deutiches Wort „deilen" giebt. Dean Tann 
dide Bücher und blätterreiche Zeitungen durchlefen und findet dieſes jo nüßliche 
Wörtchen nicht ein einziges Dial, dafür aber auf Schritt und Tritt das ftelz- 
beinige „deilelben“. Woher mag das dreifilbige Ungeheuer ftammen? Das 
ältefte Deutſch kennt e8 überhaupt nidt. Es taucht in der Literatur erjt im 


850 | Die Zuhrft. 


fiebenzehnten Jahrhundert auf, auch nur ganz vereinzelt und noch nicht mit der 
völligen Meberflüfjigkeit wie heute. Wahrſcheinlich rührt es. von der deuten 
Sanzleifprache ber, die ja ſelbſt urjprünglicd nicht? Anderes war als liebes 
jeßungbeutfh. Ich glaube, Otto Schröder, ber dem dreifilbigen Scheujal iem 
halbes Büchlein gewidmet hat, ift doch nicht auf den wahren Urſprung verfallen. 
Ganz ſicher bin auch ich nicht, ihn entdedt zu engen. aber 
mag bier ftatt irgend einer anderen ftehen; man überjegte filia ejus: die 
Tochter deffelben! Dem Franzoſen bei feinem feinen See nie 
eingefallen, fih durch eine frembe Sprade in dem natürliden Gebrauch ber 
eigenen beirren zu laſſen; nie bat ein franzöfifcher Kanzleijcgreiber oder gar 
Schriftſteller fllia ejus anders als durch sa fille, niemals durch la fille du 
möme überfjegt. Im Englifhen ift eg eben jo; bier dient fogar the same 
jtatt he oder she zur abfichtlichen Kennzeichnung der Sprechweije ganz unge 
bildeten Menfchen. Auf den deutfchen Synnafien wird mit rührender Gedanlen 
Iofigteit fillia eius faft nur durch die Tochter befielden, fehr jelten durch fein 
Tochter überjegt; und: jung gewohnt, alt gethan. 

Das Spaßigfte dabei ift der von jedem Lejer täglich zu machende Fer 
ſuch, fi derfelbe, diefelbe, daffelbe einfach dadurch vom Halſe zu ſchaffen, bei 
man fie ganz wegläßt; fie find meift eben fo überflüffig wie geſchmacklos. Was 
fol man dazu jagen, wenn man in einer Süinderfibel (von Widmann und Lampr) 
für die unterfte Stufe der Gemeindefhulen in einem Lefeftüdcdhen über „De 
Zeit” folgenden herrliden Sa findet: „Der Anfang des Tages beit der Morgen, 
die Mitte deffelben (des Morgens?) der Mittag." Ein befonders aufgewedies 
Kindchen fragte feine Mutter: „Was ift denn deffelben? Das ift ja gar nidt 
wahr!" Das fiebenjährige Mädel hatte einen feineren Spradjfinn als die Ter 
faffer der Fibel; es hatte „defjelben“ auf den Morgen bezogen; und warum folte 
es nicht? Die Mutter wußte dem Kinde nicht zw rathen; ich rieth ihm (dem 
felben!): „Streich weg!" Mit ansgelaffener Freude ftrich es (dafjelbe!) da 
überflüffige Zeug weg; und, fiehe da: der Sag war nicht nur kürzer, ſondem 
auch verjtändlicher geworden. „Die jtädtiichen Behörden dürfen ſich nicht vor 
einem unteren Beamten der Krone abfertigen laffen durch die Weigerung dei 
felben, die Akten höheren Orts zu unterbreiten.” Man ftreiche „deſſelben“, — um 
die Sache it in Ordnung. „Wenn das Rohr aud) nicht gerade eins der optiſch 
ſtärkſten iſt, fo erfüllt es doch ſeinen Zweck, dem Publikum den Anblid de 
Wunder des geſtirnten Himmels zu ermöglichen, vollauf. Wir bringen nebeir 
ſtehend vortrefflide Abbildungen deffelben.“ Deffelben? Welches felben? DS 
Himmels? Wahrfcheinlich nicht, ſondern des Rohres. Man ftreiche „deſſelben“— 
und man ijt aus aller Berlegenbeit. 

Das Tollſte Ieiftet in diefem Punkt das wictigfte Stück öffentlicher 
deutfcher Literatur: die Neichsverfajfung. Nicht ein einziger Artikel (derfelbe ' 
in dem auch nur die entfernte Möglichkeit zur Einfchmuggelung des verhat Mm 
Dreifilbers beftand, ijt von dem Verfaſſer (derjelben!) verjchont geblieben. 4 
weiß nicht, welcher hohe Staatsbeamte mit der ftiliftifchen Faſſung (derfeld ih 
betraut wär; wohl aber weiß ich, daß fein Sprachgefühl von äußerſter Stu j⸗ 
beit geweſen ſein muß. Man ſehe ſich die Verfaſſung einmal an: fat. @ 
Artikel wimmelt von berfelbe, diefelbe, diejelben, deffelben u. |. w. Dieär 9 












Derſelbe, Diefelbe, Daffelbe. 351 


find nicht ausgeblieben: Mißverſtändniſſe aller Art entitehen gerade durch biefen 
Mißbrauch. Im Artikel 8 Heißt es: „In jedem biejer Ausjchliffe werden... 
mindeſtens vier Bundesftaaten vertreten jein und führt (ſchönes Deutſch!) inner⸗ 
halb derfelben jeder Staat nur- eine Stimme.” Welcher derfelben? Der vier 
Bundesſtaaten oder der Ausfhüfe? Eins der fchönften Beijpiele für die Gram⸗ 
matik der Reichsverfaſſung bietet der erite Abſatz des Artikels 53: „Die Kriegs⸗ 
marine des Reiches iſt eine einheitliche unter dem Oberbefehl des Kaifers. Die 
Irganifation und Zuſammenſetzung derfelben liegt dem Kaiſer ob, welcher die 
Tifiziere und Beamten der Marine ernennt und für welchen diefelben nebjt den 
Mannſchaften eidlich in Pflicht zu nehmen find.” Um fo erftaunter ift man, 
aud einmal das Kleine Wort „deſſen“ zu finden. Wenn man im Xrtifel 11 
lieft: „Zur Erflärung des Krieges ift die Zuſtimmung des Bundesrathes er⸗ 
forberlich, es fei denn, daß ein Angriff auf das Bundesgebiet oder deſſen Küſten 
erfolgt“, jo fragt man ſich, warum der Verfaffer nicht auch hier nach ſeinem 
lieblichen Gebrauch gejchrieben hat: auf das Bundesgebiet oder die Küſten des- 
felben. Hätte man jenem Staatsmann bie Bibel zur fanzleimäßigen Umarbeitung 
übergeben, wir würden mwahrjcheinlich als erjten Berg lejen: „Im Anfang jchuf 
Gott Himmel und Erde; leßtere war wült und leer und war es finfter auf der- 
jelben“ ; und manche ‚‚gebilbete” Lejer würben feinen Anſtoß daran nehmen. 

Treibt man die Feinde des einfilbigen Fürwortes, die „Unentwegten“ 
des Dreifilberd, in die Enge, jo fommen fie unfehlbar mit Leſſing, Goethe und 
Schiller angerüdt. Jawohl, aud unfere drei Größten bedienen fich zuweilen 
des Dreifilbers ftatt des Einfilbers. Warum follten fie nicht? Hatte man ihnen, 
die doch aus dem Sprachwuſt des fiebenzehnten Jahrhunderts erft eine gebildete 
Sprade jhaffen mußten, etwa in der Kinderlehre gejagt, wie man die Mutter- 
ſprache richtig zu fchreiben Habe? Das hatte man Voltaire, Diderot und Rouffeau 
gelehrt. Aber man komme überhaupt nicht mit joldem Einwand, wenn man 
nicht auch fonft dem Lefer etwas Achnliches zu jagen weiß wie Leffing, Goethe 
und Schiller. Auch bei unferen Klaffifern findet man Spradfehler; jobald 
unsere heutigen Dugendichriftiteller und Zeitungfchreiber im Uebrigen als Klaſſiker 
gelten dürfen, follen ihnen alle Spradjfehler verziehen werden. Man ift als 
Schriftjteller oder Zeitungfchreiber nicht verpflichtet, ein Klaffiter zu fein; aber 
man follte, denfe ich, verpflichtet fein, in der minderwerthigen Literatur, die man 
im beiten alle erzeugt, wenigitens erträglich richtiges Deutſch zu fchreiben. 
Vebrigens fommt die PVedanterei mit „derjelbe” bei unferen Klafjifern äußerit 
jelten vor, eigentlich nur als Folge einer gewiflen Läfjigleit, als Ausnahme. 
Dtto Schröder Hat feitgeftellt, daß in Goethes ſämmtlichen Schriften von 1771 
bis 1814, alfo auch in der Zeit feines jchon beginnenden Geheimrathitils, nur 
an hundertundachtzig Stellen der Dreifilber jtatt des Einfilbers fteht. 

Eine durdhgreifende Beilerung kann nur die Schule und das gute Bei- 
ipiel des Bud)- und Beitungdrudes jchaffen. Beute, wo die alten Spraden im 
Unterricht mehr und mehr abbrödeln, follte unfere oberfte Schulverwaltung mit 
größerer Strenge als bisher die Spradjrichtigfeit im Deutſchen einſchärfen. Aller: 
dings würde dazu gehören, daß unjere höchſten Schulbehörben felbft über ein 
mujtergiltiges Deutfch verfügten. Ob fie fih Deflen rühmen dürfen, will id 
für heute unumterjucht laſſen. Eduard Engel. 


 - 26 


352 Die Zukunft. 


In der Arbeiterfolonie. 


Seine der witzigſten Kerle chien mir der Yampenpußer zu fein. Er wußte 
I ſich allerdings einen Schein von Blödigkeit zu geben. Und mit einem 
gewiſſen Stumpfſinn putzte und wifchte er an den Yampen herum. Die Unter- 
haltung der ihn Umftehenden beadjtete er faft gar nit. Mit peinlider Sorgfalt 
padte er, wenn er die beiden Hängelampen im Saal und bie kleinen Biend- 
lanıpen ber Schlafräume gereinigt und friſch gefüllt Hatte, feine Yappen und 
Bürften in die Kleine Kifte, nahm jie unter den Arm, in bie Hand die Bertroleum- 
kanne und zog weiter, in den Nebenfaal. 

Mit feiner blauen Bloufe, feiner grünen Schürze und der fladen Müre, 
bie er ftet3 fehr grade trug, nie auf das eine oder das andere Ohr ſchob, jah 
er aus wie ein braver, pflichtbewußter Stleinbürger. Er gli) einem jener Menſchen, 
die den ganzen Tag ihre glatte Straße binablaufen, fi) abends in einer be- 
ſtimmten Kneipe an einem bejtimmten Tiſch mit bejtimmten Sameraden betrinfen 
und immer im jelben Bett, neben der einen rau, ihren Rauſch ausidlafen, — 
um am nächſten Tage wieder glatt ihre Straße hinabzulaufen. Seine grauen 
Augen waren jo verglaft und blidten fo ruhig gradeaus, als könnten fie nie 
in Born und Haß gefunfelt haben, als leuchte Hinter ihnen im Kopf fein Wunſch., 
fein Verlangen und feine Hoffnung. Aber dieſe Starrheit ſchien mir niddt ganz 
echt zu fein. Und als ich ihn mehrmals gefehen Hatte, wie er mit älteren In— 
jaffen der Kolonie vergnügt und harmlos fcherzen konnte, mit leichtem, ver- 
ſchmitztem und forglofem Lachen, wußte ich nicht, ob ich einen ganz abgefeimten 
Burſchen oder einen fimplen Spießbürger vor mir habe, einen Spießbürger, der 
entweder Unglüd gehabt Hatte oder, wie faft Alle feiner Art, unfähig gewejen 
war, irgend eine Schwierige Situation zu überwinden. . 

Eines Tages hatte ich ein PBadet befommen. Wie e8 die Anderen 
machten, mußte ich es wohl auch thun: Allen, mit denen ich in einen: näheren 
Zuſammenhang ftand, Etwas von dem Inhalt der Sendung abgeben. Da id; 
nicht ſelbſt Luft hatte, in den unteren Saal zu gehen, jchidte ih einen meiner 
Nebenmänner mit einigen Gigarren, Apfelfinen und Aehnlidem hinunter. Gr 
follte es einem älteren Manne geben, der einige Jahre Mebizin ftudirt hatte, 
fein Studium aufgeben mußte, ſich durch Unterrichtsftunden ernährte, dann aber 
Krankenwärter in einer großen Anjtalt geworden war. Irgend ein Erlebnig 
hatte ihn aus diefer ficheren und guten Stellung — er war inzwilden zum 
Oberwärter aufgerücdt — vertrieben. Dieſer Mann mußte wohl doppelt, drei- 
fad Fühlen, daß er hier nur ein Geduldeter war, dab er duch Barmherzigkeit 
MN diefem Hauſe ein jämmerliches Yeben friſte, — er, ein denkender und grübelnder 

Mensch zwiichen folchen Yandjtreichern, Bauarbeitern, Schmieden, Matroſen 
Trinkern Am Meiſten freute mich, daß ich ihm ein paar Bücher leihen kon 
in denen Kulturfragen behandelt wurden. Das intereſſirte ihn beſonders. 

Ich wunderte mich, day er nicht kam, um mit mir darüber zu jpred 
Auf Dank rechnete ich nicht. Die meiften Stoloniften hatten blutende Ger; 
Sie waren zerfleiicht worden. Man mußte fie mit einem ganz. beiont 
Feingefühl behandeln, mit ganz weichen Händen anfallen. Einen Dant 
mochten ſie fajt nie auszujprechen. Wenn man ihnen Etwas gab, mußte 





Sn der Arbetterkolorie. 353 


e3 in befonderer Art thun, bamit fie ſich nicht für verpflichtet hielten oder fich als 
weniger beglüdt und bochitehend empfinden Eonnten. So hatte ih denn dem 
Mediziner jagen laffen, ich käme nicht als Gebender, fondern als Fordernder zu 
ihm. Er möchte boch fo freundli fein, mir Einiges aus feinem Leben auf- 
zufchreiben. Wie er wiſſe, interefire mid) jo was. Und bie paar Cigarren und 
das Andere follten eine fleine VBorausbezahlung fein... Er fam nidt. 

Am nächſten Tage gehe ich über den Hof nad) einem Stallgebäude, um 
mir dort einen Spaten zu holen. Da ſah ich den Lampenputzer, der mit ber 
friſch gefüllten Petroleumkanne über die Schwelle trat. 

„Ra, wo wollen Sie denn Hin?” fragte er. 

„Spaten holen.“ 

„Ra, ihre Hände find aber auch nicht ſolche Arbeit im Sumpf gewöhnt!“ 
Er lachte, wie immer den Kopf, ganz in der Weife der meiſten Koloniften, ein 
Wenig gebeugt. Uber in feinem lautlojen Lachen lag fo viel, daß ich ftehen 
blieb. Er hatte jetzt ein ganz anderes Geſicht. Offenherzigkeit, Zutrauen und 
etwas Hartes, Selbftbewußtes waren dort gemifcht. 

Ich jah ihn erftaunt an. Da meinte er: 

„Das war nett von Ihnen, bag Sie an mid gedacht haben. Sie Haben 
die Sachen nicht dem Falſchen gegeben. Sie haben ſich nicht in mir getäufcht. 
Aber ih muß Ihnen bier an biejer Stelle frei und offen jagen, daß es mir 
als Koloniften nicht gegönnt ift, mich mit jchriftlichen Arbeiten zu bejchäftigen. 
Dod ich befaffe mich gern mit Büchern und jchriftliden Arbeiten. In der Be— 
zichung jollen Sie fih im meiner Perſon durchaus nicht getäufcht Haben. Da 
find Sie an die richtige Adrefje gefommen. Die Bäder find fein! Wenn mir 
ooch der Gene zu viele Worte macht ...“ 

„Sa, lagen Sie mal, die Bücher haben Sie bekommen?“ 

„sa! Sie follen fi auch nicht in mir getäufcht haben. Denn das Zeug 
zum Aufſchreiben von mein Leben befige ich wohl. Aber, fehen Sie, da gudt 
Eener und da. Die janze Bude ig voll, ber Augen find mir zu viele, um 
meine reichhaltigen Sammlungen von reinen, wahren und nadten Thatjachen, 
die ich in meinen verjchiedenen Lebenslagen und aud) in meiner jebigen als 
Kolonift geſehen Habe, vor Aller Augen in ſolchem Geſchiebe und Gedränge im 
Aufenthaltsraum zu notiren. Da hat man dod feine Ruhe, da hat man dod 
nicht die Geiltesfammlung, die man dazu braudjt. Und Sie willen ja aud): der 
einzigfte fichere und zugleich einem Jeden zuerkannte Platz, Das iſt blos nachts 
das Bett. Und fonft ift man den ganzen Tag auf ben Beinen. Kommen Sie 
in den Stall, dann fieht uns Keiner und wir können in Ruhe erzählen“, unter- 
brach er fich, ſchob mich zur Thür hinein und lehnte fie hinter uns an. 

Wir ftanden einander dicht gegenüber. Der Raum war mit erdigen 
Harfen, Spaten, Karren und allerlei Adergeräth angefüllt. In dem Dämmter- 
licht fonnte ich nur wenig vom Geficht des Lampenputzers erkennen. Er ftredte 
mir feine Hand hin: „Willen Sic, alg Der mir die Gigarren und die Bücher 
brachte, — na, Sie können ſich ja denfen, wie Einem zu Muth it, der feit über 
zehn Jahren kein Geſchenk bekommen hat und nun plößlic.. 

Ich zog mid ein Wenig zurüd. Es war mir umangenchnt, daß dem 
alten ehemaligen Mediziner die Sachen entgangen waren, daß fie vielleicht ein 


26* 


354 Die Zukunft. 


Abenteurer ſchlimmſter Sorte befonmen hatte. Mit einem jo aufdringlicen, 
Ihwaßhaften Patron wollte ich nicht unnütz Zeit verichwenden und jagte: „Su 
es thut mir leid, aber bie Bücher und das Andere waren nit für Sie de 
ftimmt. Die follte der alte Mediziner haben.“ 

Da jah ich, wie feine Augen ftare wurden, wie fie fi förmlich an mir 
feftflannmern wollten. Haſtig antwortete er: „a, ja, Sie find nicht an den 
Tralichen gelommen. Sch kann Sie verfihern, dat Sie nicht der Einzige find, 
der über mein früheres Leben Aufichluß begehrt. Ich babe ein thatenreiches, 
höchſt abenteuerliches Veben hinter mir. Wenn ich auch erſt einunddreißig Jahre 
zähle, jo wundere ich mich doch jelbit, daß ich noch am Leben bin, denn auf meinen 
vielbeivegten Reilen durch die Südſtaaten von Europa ging es baarig her... 
Sch bin der Richtige für Sie!“ 

Sept hatte ich mich an das matte Licht gewöhnt und konnte fehen, wie 
fein Geficht, bas die Bläffe der meiſten Koloniften zeigte, noch bleicher geworden 
war. Und ich madte raid: „Wa, ich glaube es ja; die Saden find zwar au 
den Falſchen gekommen, aber Sie find doch der Richtige." 

„Nee, nee, ich bin nicht der Falſche. Und wenn mir auch die Glücks— 
göttin nicht Bold gewejen ift; und wenn Einer cin ſchweres Leben Hinter fid 
bat, jo bin ih es. Und jchon mancher fachkundige Mann bat mir für einen 
Abriß aus meinem Leben Geld und gute Worte geboten. Doc bis jebt habe 
ichs ftet8 verweigert und werde es aud) weiter thun, wenn mir nicht die ftrengite 
Verſchwiegenheit zugefichert wird. Mein Name darf auf feinen Fall hinein 
gezogen werden. Auf keinen Hall!“ 

Aha, dachte ich, aljo Einer, der nicht gern möchte, daß man daheim er 
fährt, wie es ihm draußen gegangen ift. Das war mir nichts Neues, — und 
ſchließlich war die ganze Sache nichts werth. 

„Sehen Sie“, fuhr er fort, „ih muß ficher jein. Das ift die Haupt⸗ 
ſache. Und von ‚ihnen glaube id), daß Sie Keinen verratfen. Wenn Sie 
Einen, den Sie faum fennen, Bücher ſchicken ... Sie haben mid ridjtig er 
kannt. Ich gebe viel auf jo was. Schriften und Bücher babe ih gern.“ 

Ich verjprad ihm, ihm nicht zu verrathen. 

„as meinen Sie, wie fie hinter mir ber find! Wenn fie mich kriegen 
fönnten . . Ya, was id habe durchmachen müfjen! Ein dider, runder Kerl war 
ic früher. Und dann ein paar Monate hinter Schloß und Riegel, — ımd 
Haut und Knochen blos nod. Und als ich mich rausgearbeitet hatte, da mar 
es mir gleich, was mu wurde; nur nicht wieder hinein. Lieber gleich Alles über 
den Haufen.“ Cr biß die Lippen zujammen und fdhnaufte dor Erregung. 
Ziichend ſprudelte er hervor: „Wenn fie mic) noch mal feftnehmen, dann..." 
Er hatte fein Meſſer, eine doldartige Klinge, gezogen und führte ſie gegen bi 
Bruft: „Und wenns durch und durch geht, — ich wäre der Erfte nicht, dem it 
Eins verſetzt habe . . .“ 

Ruhiger fügte er hinzu: „Ich will nicht wieder hinein. Ich will nidt. .: 
Und Das ift mir die Dauptjade, daß ich fiher fein fann. Das Tann ic bei 
Ihnen. Das babe ih Ihnen gleich angemerkt. Sie find der Einzige untdet 
den zweihundert Dann, mit dem man ein Wort reden kam.“ 

Ich lächelte. Er: „Nee, nee, blos endlich fiher werden.“ 





In der Arbeiterfolouie. | 355 


Mit dem Fuß ftieß er die Thür auf: „it da Jemand?“ 

Seine Augen waren blutig unterlaufen. Sein dünner, blonder Schnurr> 
- bart ſchien mit einem Mal wie gefträubt. Die ſchmalen Flügel feiner etwas 
furzen Naſe blädten fih.... Draußen jtand Niemand. 

Mit einem verlegenen Laden ſchloß er die Thür: „Sie müſſen nämlich 
willen, daß ich fein Schweizer bin. Ich bin eben fo gut ein Deutjcher wie Ste. 
Das darf aber Niemand willen. Ich gehe fchon unter bem dritten falfchen Namen. 
Niemand darfs willen. Niemand! Ich muß ficher fein . .“ 

Mit offenem Munde fah er mi an. Ich beruhigte ihn. Da meinte 
er lädelnd: „Sa, ja, ich glaube. Uber wiffen Sie was? Ich fchlage vor, daß 
ih mit Ihnen am Sonntag auf die Felder gehe. Da Tann uns Seiner be- 
laufen. Hier wird man doch behorcht.“ 

Er nahm jeine Kanne und ging hinaus: „Am Sonntag, wenn fchön’ 
Wetter tft, dann fehen wir uns mal die Felder an.” 

Es war nicht jchön’ Wetter. Aber er hatte mic doch abgeholt. An 
Hagel und Schnee gingen wir über die Sümpfe. Bon drei Seiten waren fie 
mit Siefern unſtanden. Der Wind fam von ber einen offenen Seite und 
bewarf ung und bie mattrothen Stämme mit weißlidem Matſch. Wir gingen 
fo raſch wie möglich in den Wald hinein. Da war es fo ruhig und troden wie 
in einem überwölbten Säulengang. Die buſchigen Wipfel der Bäume drängten 
ih ho über uns zu einem dichten, dunflen Dad zuſammen. Btichend eilte 
der Wind darüber Bin. Grade und troßig ſtanden die braunen, fchlanfen Säulen 
da. Jede Hatte ihre eigene Zeichnung. Und eben jo aufrecht ging jet der 
Zampenpußer neben mir. Nicht das Geringite von feiner früheren Gebüctheit, 
von feiner Leijetreterei Hatte er an ih. Mit feitem Fuß trat er auf den mit 
Nadeln und dürren Zweigen bejtreuten Moosboden. Das Selbftbemußte und 
Harte, das ich einmal an ihm gejehen Hatte, jprach jet aus feiner Geſtalt. 

„Ja,“ jagte er, „und wenn fie mich hinter Doppelthüren und hinter ge- 
panzerte Wände gebracht hätten: mich konnten fie doch nicht feſthalten. Gleich 
das erfte Deal jagte ich zum Juſtizrath: Schön, gefaßt haben Sie mid. Aber 
Sie behalten mich nicht! Ih, meinte er, ſolch Bürſchchen werben wir wohl nod) 
bändigen. Sie nicht, antwortete ih, Sie nicht: Da find Sie viel zu ſchwach 
dazu. Da müflen erjt Andere kommen, bie den Mar fefthalten wollen.“ Er 
lachte, leicht und Iuftig. „Na, und ehe der Herr Juſtizrath mit feiner Unter— 
ſuchung zu Ende war, da hatte ich mir jchon meine herrliche, goldene Freiheit, 
allerdings unter den größten Strapazereien, wieder erobert. ‘Mich Hatte er nicht 
feithalten können.“ | 

Zwiſchen den Stämmen wurde ed langiam finiterer. Wir jahen hinaus 
nad der Lichtung, über der fi die Wolfen immer dichter und ſchwerer zu— 
faınmenzogen. Marx Horte: „Uns kann doch hier Keiner belaufchen?“ Mit jpähen- 
den Bliden durchiuchte er das Zwielicht, das zwilchen den Stämmen lag. „Wenn 
fie mich drin aud) nicht feithatten können: hinein kann ich doch nicht mehr. 
Wenns auch blos ein paar Wochen dauern follte, big ich hinausfomme. Ich 
Halt3 nicht mehr aus Hinter den ſpaniſchen Gardinen. Ich will jegt endlich Ruhe 
haben. Ich will ficher jein.“ 

Ich legte ihm die Hand auf den Arm: „Ach habe Ahnen doch gejagt, 
daB ich Sie nicht verrathe.“ 





836 Die Zukunft. 


Die verzweifelte Entfchloffenheit wich aus feinem Gefiht: „Das weik 
id. Sonft würde ich ja nifcht jagen. Bisher habe ich auch noch Seinem was 
berichtet von meinen Erlebnijjien. Sie find der Erfte. In der Ichten Zeit habe 
ih Schon gar nicht mehr Schlafen können. Jede Nacht lag ih wach und jah in 
die Sternenwelt ober in die bunflen Wollen hinaus. Es wirb mir orbentlid 
leiter, daß ih mal mit einem Menſchen, der ji aus Büchern gebildet und 
das Willen in fih aufgenommen hat, von Allem fpreden fann... Als fe 
mich das erjte Mal Eriegten, war ich noch jung. Acht Jahre ift eg ber. Und 
fie hätten mich nicht gefriegt, wein der Andere, diejer Kalbskopf, nicht mehr 
bie Waare bei fih gehabt Hätte. Es war mir jchon jo komiſch, daß meme 
Berwandten alle nad einander verfchwanden. Erft geht der Onfel weg, dam 
die Feine Mali. Sonft blieben fie Sonitag mittags zu Haus. Wir machten 
uns Alle zufammen an den Sonntagsbraten. Und nu? Wa, was tjt denn 
da los, denf ic), daß fo Einer nad dein Anderen fortging? Und Keiner |prad) ie 
vecht mit mir. Alle fahen fie mich fo von der Seite an. Das war ja aber 
ſchon öfter vorgefommen. Lind der Onkel konnte mich ja nie fo recht ausitehen. 
Erft war ich ihm ein zu großer Freſſer. Er hat für mich jorgen müſſen, weil 
ich ein uneheliches Kind war; mein Vater foll ein Bergtrazler, fo ein Touxiſt 
gewejen fein und meine Mutter ift früh geitorben vor Kummer und Grem. 
Und dann, als ich beim Onkel lernte, habe ich ihm nicht genug gearbeitet. Nach 
ber hat er mich auch nicht behandelt, wie man einen Erwachſenen behandeln 
muß, und da habe ich ihm den Vorſchlag gemacht, daß ich mir meine eigene 
Maſchine aufftellen werde, in der Hälfte von dem Haufe, die mir zugehören 
thut. Er hat mich ausgeladt. So ein junger nafeweifer Laffe, hat er hoch— 
fahrend gemeint. Der käme gerade mit einem Geſchäft zurecht! Und nun wollte 
ich ihm beweiſen, daß ich wohl auf eigenen Füßen ftehen konnte, daß ich feinen 
Herrn über mich brauchte. Und ich fing zu arbeiten an. Nom frübiten Morgen 
an bis in die tieffte Nacht ſaß ich und jchwißte. ch wollte meinten eigenen 
Weg emporklimmen. Aber es wollte nicht zur Höhe gehen. Kein Menſch wollte 
bei mir kaufen. Das Bischen, was id) losjchlug, machte nicht genug aus. Und 
es war wohl auch nicht möglich, daß in dem Kleinen Neft zwei ſolche Geſchäfte 
gingen. Bis jet war mein Onkel gerade jo zurechtgekommen. Nun fehlte 
es auch bei ihm. Ich nahm ihm ja einen Theil, wenn aud nicht viel. Das 
machte mir nicht wenig Spaß. Ganz zu Grunde wollte ich ihn richten. Hatte 
er mir vorher den Ruin gewünſcht, Jollte er jeßt in den Abgrund ftürzen. 

Damit wollte es aber nicht jo leicht geben. Und da kam ich mit bem 
Anderen zufammen. Wie es jo ift: einem armen Teufel bleibt nichts Anderes 
übrig, wenn er vorwärts fommen will, al3 mal dem Nebenmann Ein auszu— 
wiſchen. Na, was da pafjirt iſt, Tas bleibt ja vollkommen gleichgiltig. Meint 
Sache wollte ich eben nicht im Stich lajlen, wie mans fonft feiger Weiſe 
Und jo ſchaffte ich mir die Mittel, im Ort jiten zu bleiben. Wie nun der C 
umd die Mali an dem bewuhten Sonntagmorgen weg find, wace ich auf 
merke, wie der Ludwig mir nicht ins Geſicht ſehen kann und mie der Tantt 
blanfen Thränen in den Augen jtehen. Erſt dent id: Das hängt mit 
jchlechten Gejchäft zujammen, das Die jebt maden, meinctwegen. Ih I 
mid) wie ein beglüdter Schaßgräber und gehe in mein Zimmer, um mir 

















In der Arbeiterfolonie. 897 


Sonntagszeug anzuziehen. Da — ich will gerade in bie neuen Hofen fahren —, 
da läuft der Ludwig auch fort und die Tante läuft hinterdrein. 

Sie wolltens recht ſchlau machen, daß ich nichtS merken follte, und gingen 
fein Alle einzeln Hinaus. Das fiel mir aber in die Augen. Wäremjie zufammen 
fpaziren gegangen, dann wäre ich ahnunglos wie ein neugeborenes Kind in bie 
Falle gelaufen. Aber fo merkte ih, was los war. Sie wollten eben nicht 
zu Haufe fein, wenn ich abgeführt wurde. Vielleicht auch hatte mich ber Alte 
angegeben. Schön... ch riegelte rajch die Thür ab. Da klopfte ed. Ich 
blieb jtil und jchlih an die Thür, um zu horchen. ‚Drin ift er‘, Hörte ich. Sie 
wollten ınich alfo holen. Zeug Über und nachgeſehen, ob etiva vor dem Haus 
Welche Stehen. Dann hätts an der Feuerleiter hinabgehen fünnen, die immer 
da hing. Sa, Die war futih! Und adjt oder neun Meter binunter, auf bie 
Steine: Das ging nicht. Alfo frech und fidel die Thür auf und vergnügt pfeifend 
Ipring ic) die Treppe hinunter, als wenn ich in die Stneipe wollte. Die Amts— 
diener ftanden verblüfft über die Kedheit, mit der ich jie beim Thüraufmachen 
in die Ede gedrüdt hatte. Wüſt tobten fie Hinter mir her. Das Hausthor 
aber war offen. Noch drei Schritt: draußen wär’ ich, in der ‚Freiheit. Denn 
ich hatte wohl gefehen, daß auf der Straße fein Hühnerhund lanerte. Uber 
unten an der Treppe ftand ein Scrant und da trat der Gendarın vor und 
padte mid an einem Uermel. Er war in Civil und trug einen weichen Hut; 
deshalb Hatte ich ihn vorhin, ald er an unferen Haus vorbeiftolzirte, nicht erkannt. 
Sch ſchlug ihn auf die Hand: ‚Was folls?‘ Er jagte: ‚Schön ruhig, ſchön 
ruhig! Sie find verhaftet!‘ Da lachte ih: ‚Sie maden ja nette Wie! Augen- 
blidli laffen Sie mid frei! Sind Sie Beamter?" Ich riß mir faft den Aermel 
aus und wir torfelten Beide die ansgetretenen Stufen hinunter. Da hatten 
mid) aber ſchon die Amtsdiener an den Handgelenfen. Und danı legten fie 
mir eiſerne Armbänder an und einen Roſenkranz, daß ich ſchön beten könnte. 
Damit gings durch die Straßen nad; dem Amtsgericht. 

‚Lange haben Sie mid) nicht !" ſagte ich den Amtsdienern glei. „Large 
wit! Ich bin an Freiheit gewöhnt. Sie lachten mid; aus. Na, dacht' ih 
in meinem Sinn, Euch werd’ ich mal zeigen, was id) fann. 

Als wir vor den Juſtizrath kamen, fchlug er die Hände über dem Kopf 
zuſammen: ‚unge, was haft Du gemadt?' ‚Hören Sie mal, Herr Juſtizrath, 
wir haben noch nicht zufammen den Stall ausgemijtet, daß Sie mich duzen! 
Aber wenns Ihnen recht ift, — ſchön, duzen wir und. 

Er wurde blaß wie friichgefallener Schnee. Er hatte mich nämlich er—⸗ 
ziehen laſſen, in die Bürgerfchule geſchickt. Aber deshalb durfte er mid), doch 
nicht mehr wie einen Sculjungen behandeln, wenn er mir auch eine Mohlthat 
erwieſen hat. Das ift dod) feine Art. Nach einer Weile fagte er leile, ohne 
mid anzujehen: ‚Wie fonnten Sie folde Geſchichten anſtellen?‘“ Ich Tadıte 
und war Stolz, ihn jo in Schreden zu bringen. Ueberhaupt: als fie mich durch 
die Straßen führten, habe id) mid) gar nicht geſchämt. Als mich Alle jo ängft: 
li) und verwundert anftarrten, dachte ich: Aha, jeßt fürchtet Ihr Eud) vor mir, 
dem böſen Verbrecher? Als ich ihm jo ins Geſicht lachte, wurde der gejtrenge 
Juſtizrath doch wüthend: ‚Dich werden wir fchon kirr kriegen!‘ meinte er. ‚Mich 
nicht, Herr Juftizrath !" ‚Na wir haben Dich ja und feitgehalten wirft Du.‘ , Mich 
können Sie nicht feſthalten!' lachte ich. 


358 Die Zukunft. 


Na, fie brachten mich in ein ziemlich finfteres Verließ. ES ging nad 
dem Hof raus. Da war nichts weiter al3 glatte hohe Wände; keine Thür, 
fein Anbau, nichts, was Einem zur Flucht hätte dienen fönnen. So ſaß id 
{don meine drei Monate. Und weil ich ald geſchickt galt, hatten fie mir Allerlei 
zu thun gegeben. Erft brachten fie mir Stroh, damit ich daraus Decken flediten 
ſolle. Und als ih für den Oberwärter jo einen Teppich gemacht Hatte, fam 
der Juſtizrath ſelbſt und fah fih das Ding an. Und ob ich ihm auch folde 
Dinger maden wollte? Aber ſechs Stüd, er wolle fie verfchenten. Das jeien 
ja Kunftwerfe. ‚Nicht wahr?‘ fagte ih. ‚Aber dann müflen Sie mir auch Wer— 
zeug geben. Das macht ınan nur einmal blo8 mit dem Meſſer. Na 2?" fagte er 
drobend. ‚Da, dann kann ichs eben nicht mehr. Bier, jehen Sie mal meint 
Hände. Ganz zerrifien und zerfchunden. Nur dem Herrn Oberiwärter zum Gefallen.‘ 

Alfo ih befam Hammer und Zange und noch mehr. Und nun gings 
an die Arbeit. So nad und nad Schnitt ich die Niegel an der Thür durch. 
Und die Deden wurden noch einmal fo berrli als die erfte. Aus lauter 
Freude, daß ih Hinausfanı, wenn Alles glüdte. Der Juſtizrath, der djter 
nachjehen kam, war ganz entzüdt. 

Eined Morgens fagte ich fo leichthin zum Oberwärter, ob er mir nidt 
den Lohn für die Dede geben wolle. Yon dem Dlaterial, das mir der Juſtizrath 
gegeben habe, falle noch jo viel für ihn ab, daß er auch eine Dede bekomme. 
Er Hatte Bedenken. Aber jo heimlich ſchmunzelte er doch, daß er nod eine 
Dede bekommen jolle. Und dann fträubte er fi. Nein. Das gehe nicht. Der 
Herr Auftizrath habe gejagt, er dürfe Seinem den Lohn früher geben, als bis 
er hinauskomme. Ich wolle wohl Jemand beitechen? 

‚Mit den drei Marl? Wen denn?“ 

Ja, ber Suftizrath hats aber verboten.‘ 

Das fagte er ſchon, wie wenn er fich entfchuldigen müſſe, weil er mit 
die drei Mark nicht geben könne. Am nädjiten Morgen brachte er denn audı 
das Geld. So, nu konnte e8 losgehen. Da ih zum Hof nicht hinauskonnte, 
wollte id) mittags, wenn die Tochter des Wärterd mit dem Eſſen fam, die Thür 
aufitoßen — das Stüdchen, an dem der Riegel Bing, mußte ja bei einem ber4 
haften Fußtritt zerbrechen wie ein Streichholz —, dann dem Mädel eine ordent⸗ 
liche Chrfeige geben, daß fie in meine Zelle flog und ich fie dort einfperren 
konnte, — und heidi hinaus. Mittags war ja fein männliches Wefen im Haule, 
mie es in einer Stleinitadt fo ift. 

Tas mar aber nicht mal nöthig. Denn als ich mir einen Mittag feit: 
gejegt hatte, brachten ein paar Maurer eine lange Leiter auf den Hof. Sie 
hatten mas am Gefängniß auszubefjern. Das war für mid) wie gefunden. Ich 
blich einfach einen Tag länger und lief morgens, wenn wir unfere Bellen reinigter 
und die Thüren offen jtanden, hinaus auf den Hof und Eletterte anf der Leite 
über die Mauer. Ich kann Ihnen jagen: es war feine Kleinigkeit. Die Wärte. 
dicht hinter mir. Die Peiter vom Haufe weggeriffen — die Maurer frühſtückten 
gerade — und das lange Ding, an dım Zmei zu fehleppen hatten, quer über 
den Hof. Das Blut jprigte mir aus den Fingern... Rangeſtellt, ranfge 
jtolpert, — da ftanden die Wärter fchon unten. Ich ſchmiß die Leiter um 
und nun fünf Dieter Hinunter, Ich fiel nicht Ichleht auf das Ende vom Nüden 


Sm dev Nrbeiterfolonie. 359 


Und dann mit den jchmerzenden Knochen dusch den meterhohen Schnee, wies 
im Gebirge nicht anders ift. Zum Mittag wolle ih ing nächfte Dorf, um mid) 
im Gafthaus aufzuthauen. Gerade bin ich über die blanken Felder am eriten 
Haus Hin, da jehe ih ſchon den Gendarm, der feine Tour hatte Nu alſo 
zurüd über die Tyelder, wie der Wind. Ich kam in den Wald, ehe der Greifer 
heran war. Aber den Tag ging ich in fein Dorf. Ach Hatte ja zwei Anzüge 
an — den Sonntagsanzug unter dem Arbeitrod —, aber bei zehn Grad Kälte 
und nichts im Magen... brr! Da merkt man, was der Winter ift. Ich 
hätte mich auch nirgends fehen laflen fünnen, von wegen meiner Mühe. Das 
war eine, wie fie die Eifenbahner tragen. Daran hätten mid Alle erkannt. 
Jedem, dem ich auf der Landſtraße begegnete, wich ich aus; ging einfach hinter 
die Büfche. Und nu mußt’ ich aud die Nacht draußen bleiben. Ich war fon im 
dritten Dorf und fah, wie Alles zu Bett ging, wie alle Häuſer finfter wurden. 
Der Mond ftand Hell und blank wie polirtes Eiſen über den Bergen. Der 
Schnee war hart und feſt und knirſchte. Eiszapfen fielen von den Dächern. 
Sie braden vor Kälte ab und barſten Elirrend. Uber ich wagte mich nirgends 
hinein. Meine goldene Freiheit wollte ich nicht verlieren. Lieber fterben!“ 

Er ſchüttelte fi, als erlebe er diefe Nacht noch einmal. Dabei hatte er 
rothe Flecke auf den Baden und fieberte. 

„Ra, ich jtellte mich in eine Ede und wartete den Morgen ab. 

Banz früh kam ein Bauer, der in feinen Kuhſtall ging. Ich folgte ihm. 
Schen konnte ich nicht mehr. Meine Beine waren fteif. Ich ſchob mich Hin, 
immer ein Bein ein Stüd, dann das andere. Als mich der Bauer Jah, kriegte 
ern Schred. Ich dachte gar nicht, daß er mich angeben könnte. Mich zog nur 
die Wärme an. Ich fragte, ob ih im Stall bleiben dürfe. ‚Da, aber wo 
fommen Sie denn her? Sie waren doch nicht die ganze Nacht draußen?‘ Da. 
‚Und da Leben fie noch?" Ich hörte ihn nicht, warf mich einfach in dag warme 
Stroh. Er brachte mir dann eine heiße Suppe; und ald er mal hinausging, 
vertaufchte ich meine Mübe mit einem alten Hut, der oben am Balken Bing. 
Dann konnte ich ungehindert weiter. Und fie Friegten mich auch nicht. 

Sie hätten mich nicht fefthalten können. Mich nicht! Dazu hätten fie 
ftärfer fein müffen. Und fo oft fie mich irgendwo einftecten — immer unter 
anderem Namen —: ich wußte immer meine Seffeln zu fprengen und meine 
Hreiheit wieder zu gewinnen.” 

Er war ganz Heifer geworden. Seine Baden glühten. Dit feiner heißen 
Hand faßte er mein Handgelen? und ſagte: „Uber nicht wahr, bei Ahnen habe 
ih meine Sicherheit? Sie geben mich nicht an? Noch einmal hielte ichs nicht 
aus’ hinter den finiteren Mauern!‘ 

Seine fonderbare, mit romantijhen Worten und Wendungen burdjjeßte 
Sprade wurde mir bald klar. Er Hatte eine bejondere Freude an Büchern, 
die von heroiſchen, unerjchrodenen Menjchen berichteten und die auch in ſolchem 
wunderlichen Stil gefchrieben waren. 

Er bielt es übrigens nicht allzu lange in der Anftalt, in dieſer frei- 
willigen Gefangenſchaft aus. Als er fo lange drin war, daß die dort erhaltenen 
Zeugniſſe einen gewiſſen Werth hatten, verlangte er jeine Entlafjung. 

| MWenn er inzwilchen nicht irgend einen — vielleicht gefahrvollen — Beruf 


360 Die Zukunft. 





gefunden Hat, der feinem Thatendrang, feiner Phantafie zu thun giebt, har er 
fiher jdon wieder eingebrodyen oder wird es nächſtens thun ... 

Bon ganz anderem Schlag war einer der Stüchenlalefaftoren. Der lief 
immer mit irrenden Augen herum, blieb ftehen, ala ob er fih auf Etwas be- 
finnen müſſe, dag er vergeflen babe, und kaute ſtets. Cr hatte immer emen 
vollen Mund. Eifrig war er bedacht, fi) die Gunft der Frau Inſpektorin zu 
erhalten, um nicht aus der Küche verjagt zu werden. Mit feinem wadeligen 
Bang, dem Heinen, glatten Schädel, dein grauen, von dünnen, weichen Bartftoppeln 
beitandenen Geſicht jah er aus wie ein immer gefräßiges Huhn. 

Einmal erwilchte ih ihn, wie er aus der Tonne, in die alle Reſte der 
Mahlzeiten aus den Blechſchüſſeln der Koloniften gejchüttet wurden, ſich die 
Fleiſchſtückchen herausſuchte. 

„Na, ſchmeckts?“ fragte ich. 

„And wie!“ fchmaßte er... „Was iſt denn dabei, wenn ih Das eſſe? 
Sit doch noch nichts Verdorbenes. a, wenns von einem kranken Bieh ftammte! 
Aber jo... Da hat mal ein Knecht auf einem Gut, wo ich als Stellmacher 
war, fi) eine Hälfte von einer verrediten Kuh in der Nacht ausgegraben. Das 
war eflig. Denn dag Vieh war doch krauk geweſen. Aber dies Fleiſch bier ik 
von gejunden Thieren. Wenn man erft mal vier Wochen lang gehungert Bat... 
Und Das hab’ ih. Als ich Feine Arbeit mehr Hatte, mußte ih tippeln. Und 
da ich nicht anſprechen konnte, mußte ich eben faften. Na, Das Hab’ ih ja hier 
nicht nöthig!“ Er ſchmatzte munter und laut drauflos. 

Bei der Tyeldbahn, die den Sand von den Hügeln nah dem Sumpf 
Ichaffte, ftand ich neben einem alten zitterigen Graufopf. Sein rothes, ver- 
dunſenes Geſicht und der ftruppige, ſchwarzgraue Bart verftedten nit ganz ein- 
zelne feinere Züge. Und die fchmalen, weißen Sandgelenfe, die unter feinem 
jerfranjten Aermel zum Vorſchein kamen, jagten beutlid, daß er fein grober 
Dandarbeiter gewejen war. Auf meine stage meinte er, er fei Muſiker; er 
habe e3 nicht nürhig, im Sommer hier zu bleiben, er verdiene dann ſchönes 
Held. Er brauche auch nicht, wie die Anderen, fechten zu gehen. 

Tach einer Weile ftüßte er fid) auf feinen Spaten und jagte: „Eigent⸗ 
(ich bin ich ja Beamter; höherer Steuerbeamter war id. Aber da machte id 
Schulden. Und fo was ficht ja die ſparſame Behörde nicht gern. Na, da 
mußte ich gehen... . Ich bin auch fo dumm geweſen und habe nicht geheirathet. 
Dabe immer wicht lange zsreude an einem Mädel gehabt. Mußte immer bald 
eine Andere jein. Und da dachte ich: was follft Du fon Mädel unglüdlid 
machen? Und mu? Siß’ ich jelber drin... . Hätte lieber heirathen ſollen ... 
Tas erzähle ich Ahmen mal jpäter.. . . Hier ijt nur jeßt Niemand, mit bem 
man mal vernünftig reden fan. Ja, früher! Da waren noch anftändige L----- 
unter den Stolonijten! Da war ein Profeſſor, ein chemaliger Rechtsauwalt, 
Offizier: Alles Koloniſten, Alle arbeiteten im Sumpf, Alles verftändige Le— 
Aber heute kommen ja nur noch gewöhnliche Taglöhner und Handarbeiter Biert 

Er jchüttelte den Kopf, griff mit ſeinen zitterigen Dänden nad dem Sp 
und fehien tief betrübt, weil er in der Urbeiterfolonie nicht die vornehme Gef 
Ihaft von früher wiedergefunden Hatte. 


Großlichterfelde. Dans Oſtwald 
L j 








Selbftanzeigen. 361 


Selbitanzeigen. 


Die Grenzwiſſenſchaften der Pſychologie. (Anatomie de3 Nervenſyſtems. 
Animale Phyſiologie. Neuropathologie. Pſychopathologie. Entwickelung⸗ 
pſychologie). Leipzig, Verlag der Dürrfchen Buchhandlung 1902. 7,60 Mark. 


Die moderne Pſychologie nimmt unter allen Wiſſenſchaften vielleicht die 
eigenthümlichſte Stellung ein. Ihr Gegenſtand, die Geſammtheit der pſychiſchen 
Erlebniſſe, beſtimmt fie zur Grundlage alles geiſteswiſſenſchaftlichen Forſchens, 
ſetzt fie mit den Geiſteswiſſenſchaften in enge Berührung. Ihre Methodik, wie 
fie ſeit Weber und Fechner ſich entwidelt hat, knüpft fie wiederum faſt in jedem 
ihrer Fortſchritte an die Phyfiologie. Ihre philofophiichen Grundfragen jchließ- 
lich weiſen unvermeidlih auf das allem Pſychiſchen zugeordnete phyſiſche Sub- 
ftrat, das Nervenjyften, zurüd und damit auf deſſen Anatomie und Pathologie 
Yin. So aber komplizirt fi die Möglichkeit eines eindringlichen Studiums der 
Pſychologie auf eine ſcheinbar hoffnungloſe Art, für den medizinisch wie für den 
geiſteswiſſenſchaftlich Vorgebildeten. Mit feinen naturwiſſenſchaftlichen Bor- 
fenntniffen, um die ihn der Geiſteswiſſenſchafter beneidet, bringt der Mediziner 
eine meijt nicht geringe Zahl von entſprechenden Borurtheilen mit, die ihm den 
eg zum fruchtbaren pigchologifchen Arbeiten verjperren und die dadurch nicht 
unſchädlicher werden, daß er fie ſelbſt für Anzeichen einer befonders freien Denk⸗ 
weile hält. Immerhin vermag er die unentbehrlihe Anknüpfung an die Beijtes- 
wiſſenſchaften bei gutem Willen ftet3 noch leichter zu finden, als umgekehrt der 
Geiſteswiſſenſchafter über die naturwilfenchaftlichen Tragen, denen er auf Schritt 
und Tritt begegnet, Aufllärung erlangen fann. Denn ihre ausgiebige Beant- 
wortung ift theild an den anjchaulichen akademischen Unterricht gebunden, ber 
vornehmlich in der medizinischen Fakultät die praftiichen Bedürfniſſe des Arztes 
in den Vordergrund zu Stellen hat, theils in Büchern niedergelegt, die entweder 
jenen Unterricht vorausfeßen oder aber fo unnfangreich, jo jpezialiftifch gehalten 
und theuer find, daß ihr forgfältiges Studium für den Nichtfachmann eine Uns» 
möglichkeit wird. Auf diefe Weile bleibt die pſychologiſche Debatte eine höchſt 
oberflädjliche, mit unverdauten Schlagworten durchſetzte; es fehlt, mag man die 
Pirnanatomen, die Phyfiologen, die Nervenärzte hier, die Geifteswiflenfchafter, 
bejonders die Pädagogen, dort anjehen, Überall an ber Kenntnig von Thatjachen 
und an kritiſcher Ueberlegung, — von den zahlreichen pſychologiſch intereffirten 
Laien ganz zu fchweigen, die in der Befriedigung ihres Wifjensdurftes oft auf 
die bedenklichften Quellen, Zamilienblattauffäge und Aehnliches, angewiefen find. 
Die Betradhtung diefer Sachlage, über die mir Mediziner wie Pädagogen oft 
genug ihr Bedauern geäußert haben, ließ in mir den Gedanken reifen, einen 
Leitfaden zu jchaffen, der dem Mediziner die Piychologie und ihre Anwendung 
auf die Sprache und dag Völkerleben in furzer Darftellung vermittelte, dann 
aber und Hauptfählih dem Geiſteswiſſenſchafter einen hinreichenden Fonds 
medizinijcher SKenntniffe in die Hände gäbe. Das Ganze faßte ich als bie 
„Srenzwiflenichaften‘‘ der Pſychologie zufammen. Kinleitend babe ich zunächſt 
die Ergebnifje der modernen pſychologiſchen Forſchung refumirt. Dann leite ic) 
den Lefer zum Nervenſyſtem hinüber, indem ich deffen groben und feinen Bau, 
die Architektur und die Struktur, ſchildere; hieran ſchließt fich die Kritik der 


362 Die Zuhmft. 





Zofalifationlehre, die Diskuffion alio der großen Frage nad dem Zujamme: | 
bang zwiſchen Nervencentren und piychiichen Vorgängen; mit einem Rüdbl:d 
auf die Bergangenheit des Nervenſyſtems im Thierreich fcheibe ich endlich vom 
der Unatomie. Der folgende Abſchnitt erörtert die Probleme der Bewegung 
ber Sinnesfunktion, vornehmlich deren theoretifhe Seite — Raum- und Zer- 
anſchauung, Farbenlehren — und befonders eingehend die Nerventhätigfei. 
Hierauf folgt der Schritt ins Pathologiiche. Gegen bie beiden Ubfchnitte „Ren 
ropatbologie‘' und „Piychopathologie” werden vielleicht die meiften Einwände 
erhoben werben, weil ich nicht nur die einzelnen Yunktionjtörungen, ſondert 
auch bie ganzen Krankheitbilder ſchildere. Doch verweife ih darüber auf bie 
Apologie, die ich dem Elinifchen Forſchungprinzip als dem A und O aller Patho 
logie im ſechsunddreißigſten Kapitel gefchrieben habe. Die Therapie fand natär- 
li nur Erwähnung, fo weit fie pathologiſch ift, aus dem Weſen der Erkrankung 
folgt; alle empiriihe Behandlung blieb außer Betradht. Die Diskuffion der 
kliniſchen Prinzipien wird, denke ich, meinen Glauben an eine reihe Zukumft 
der Pſychiatrie eben jo darthun wie die Darlegung des Problems ber neo 
ropathiichen Belajtung meine Stepfis gegenüber der viel zu gern theoretifirenden 
Gegenwart. m legten Abjchnitt des Buches werden dann die Piychologie der 
TIhiere, des Kindes, der Sprache, der Semeinfchaften behandelt. Bor der ım- 
geheuren Fülle des ſozialpſychologiſchen Stoffes konnte id) das Wagnik der Ein 
feitigfeit nicht überall fcheuen; damit man hieraus aber nit eine mangelhafte 
Information ableite, glaubte ich, auf eine Darlegung meiner fozialpfychologiichen 
Srundanfichten gegenüber den hiſtoriſchen und foztologifchen Fragen nicht ver 
zichten zu dürfen. Ich bitte, es aljo damit zu entfchuldigen, wenn ich Dielen 
Anlichten, die ich mir in der Betheiligung an den gefchichttheoretiichen Kämpfen 
unjerer Tage gebildet habe, ein eigenes Kapitel widmete. Die Diskuſſion der 
beiden höchſten fozialpfychologiichen Probleme, des Genies und der Entartung, 
bei der auch die piuchiiche Eigenart des Weibes berüdjichtigt wird, bildet den 
Abſchluß des Ganzen. Pro dome zu fagen babe ich danach nichts mehr, nın 
im Stillen recht Vieles zu wünjden. Bor allen Dingen: daß mein Buch nad 
inhalt und Form der Stellung fi) würdig erweifen möge, bie ihm burch bie 
Widmung an den Altmeilter der Piychologie zugewieſen erſcheint. Alle aber, 
die außerhalb der Schule Wundts jtehen, bitte ich, in diefer Widmung Keinen 
Schwur in verba magistri zu erbliden: fefthaltend an den in Leipzig vertretenen 
Srundanfichten, Habe ich doc) alle gegneriihen Meinungen eingehend gewürdigt, 
wo ihre Bedeutung es zulich. Mehr hjektivität, denke ich, ſollte man von 
Seinem erwarten, dem man die Cigenjchaft der Chrlichfeit nadrühmen will; 
“and Das zu tollen, bleibt nad meiner Meinung die vorschmfte Pflicht, Die 
wir Alle beim Gintritt in die mwilfenichaftliche Debatte, fo weit Perſönliches 
Frage kommt, zu erfüllen haben. | 

Heidelberg. Dr. Willy Hellpad. 

$ 

as iſt national? Vortrag des Profeſſors Dr. Alfred Kirchhoff. Zu 
Drud gebradht von Alfred Funke. Gebauer-Schwetſchkes Druderei m 

Derlag m. b. H. Halle a. S. Preis 80 Pig. 


Selten Bat ein Vortrag, der einer rein wiſſenſchaftlichen Frage aemibı 


‘ Selbftanzeigen. 363 
war, fo weite Kreiſe im politifchen Leben gezogen wie der vom Profeſſor 
Dr. Kirchhoff im halliſchen Verein für Erdfunde gehaltene, in dem er die Frage 
„Was ift national?” beantwortet. Ich habe ihn zum Drud gebracht, weil mir 
von vorn herein klar mar, daß dieje eigenartige Weiterjpinnung des befannten 
Vortrages von Nenan: Qu’est-ce qu’une nation? Erftaunen und Widerfprud) 
weden würde. Wer Kirchhoff fennt, weiß, daß er vor feiner wiſſenſchaftlichen 
Konfequenz zurückſchreckt, jelbjt wenn fie die Achilfeferje einer Partei empfind» 
lich jtreiftl. Schon in ber halliſchen Verſammlung regte fi gegen ben Bor: 
tragenden ein fanftes Säufeln, das aber, durch die Redaktion der Alldeutichen 
Blätter angefacht, balb zu einem gewaltigen Sturm wuchs. Kirchhoffs Darftellung 
vom Weſen einer Nation, die ich mit reichem hiſtoriſchen Material belegen konnte, 
ſteht allerdings in fchroffem Gegenſatz zu den Beitrebungen der Sreife, die 
einem größeren Deutichland noch ein größeres Haus in Europa wünſchen, decken 
ſich aber völlig mit der von Bismard ſtets vertretenen Anficht, daß der geeinten 
deutſchen Nation die Grenzen gebühren, die im Frankfurter Frieden gejchaffen 
find. Aus Bismards Aeußerungen konnte ih Kirchhoffs Theorie belegen. _ 
Halle a, ©. s Alfred Funke. 
Der Menfh als Thierraſſe und feine Triebe, Beiträge zu Darin 
und Niegfche. Leipzig, TH. Thomas. 3 Mark. 


Wenn e3 feinen perfönlichen Gott giebt und wenn ber Menſch fi) aus 
dem Thier eniwidelt hat, dann iſt er ſelbſt eben auch eine Thierraſſe, weiter 
nichts. Dann jtehen wir aber vor der Aufgabe, zu erklären, was denn feine 
fogenannte Bernunft, feine Genialität, fein äfthetifches Empfinden, bejonders 
Stunftwerfen gegenüber, was fein Gefühl für Recht und Sittlichfeit und was 
die ganze ımenfchliche Kultur überhaupt if. Und ganz natürlich müſſen wirs 
erflären, rein aus der gewöhnlichen Thierjeele, in der es nichts giebt als einige 
Triebe und die Fähigkeit, zu denken, die ja wohl jet den Ihieren überwiegend 
zugebilligt wird. Das ift der Zwed meined Buches. Aus vier ganz einfachen 
Trieben leitet es jänmtliche Gefühle und das gefammte äjthetifche und Sittlichkeit- 
empfinden Ger und giebt jo auf rein darwiniſtiſchen Borausjegungen eine Grund⸗ 
lage der AcftHetif, der Moral, des Straf» und Eivilrechtes. Ich bemühte mich, 
ganz Klar und einfach zu fchreiben, und ſetze beim Leſer nicht? voraus als die 
nothwendigften naturwifjenfchaftlihen Kenntniffe und geſunden Menjchenverjtand. 

Dr. ®. Rheinhard. 
$ 
Sean Pauls Briefwechſel mit feiner Frau und Ehriftian Otto. 
Berlin, Weidmannſche Buchhandlung. 1902. 

Heutzutage ijt ein jean Paul-Buch ein geringeres Wagniß als meine 
vor einem Bierteljahrhundert erfchienene Schrift „Sean Paul und feine Beit- 
genoſſen“. Damals konnte ich mich zwar auf Friedrich Bifcher und Gottfried 
Keller berufen, doch damit war nod) nicht zu eriwarten, daß nun auch weitere 
Kreife fih dem ehemals zum Himmel Erbobenen und dann wieder Bergefjenen 
und Berfannten zuwenden würden. Daß jebt die Eituation eine veränderte ift, 
davon legen all die Schriften und Aufläße, die inzwiſchen dem Dichter des. 





\ 


364 Die Zukunft. 


Siebenfäs und der Ylegeljahre gemwidınet find, Zeugniß ab; und jo wird berm 
wohl auch meine Briefausgabe nicht unwillkommen jein. Sie bietet zwar keine⸗ 
wegs nur Ungedrudtes; erftens aber ilt fchon diefes neue Material wichtig genzns, 
dern e8 eröffnet uns überrafchende Einblide in Scan Pauls Verhältniß x 
feiner Gattin; und zweitens zeigt eine Bergleihung des von mir Mitgetheiltes 
mit bem bereit$ Gedrudten, daß ich Ichiwerlich zu viel behauptet habe, wenn id 
das früher Veröffentlichte geradezu als Unikum bezeichnete. Man weiß mwirflid 
nicht recht, ob man die unfreiwilligen Irrungen oder die abſichtlichen Aender⸗ 
ungen für ungeheuerlicher erklären fol. Alle, die Jean Paul nur als Tränen: 
fäligen und Sentimentalen fennen, als den Mann, ber im Unterſchiede ven 
Goethe und Schiller immer wieder auf Bott und Unfterblichfeit hinweist, werben 
überrafcht jein, in feiner einzigen Zeile der Briefe diefen Jean Paul wiederzu: 
finden, dafür aber einen Realismus und eine Diesfeitigleit, eine ſcharfe Beob— 


achtungsgabe und eine Kunſt der Charakterijtif, die gerade Heutzutage auf frucht⸗ 


baren Boden fallen dürften. Auf die Bedeutſamkeit der Briefe aus Weimar 
für die Goethe- und Scillerliteratur hat früher bereits, in einer Anzeige weine 
Jean Baul-Biographie, Dar Koch hingewiefen; aus der jpäteren Zeit bieten zunädr 
die Briefe aus Berlin, dann die aus ber Neijeperiode, alfo aus Regensburg, 
Frankfurt, Heidelberg, Stuttgart, Löbichau, Dresden, wichtige Beiträge zur 
Charakteriſtik Jean Pauls felbft und der hervorragendſten Zeitgenoſſen. 


Profeffor Dr. Paul Nerrlich. 
3 ’ 


Ehefrühling. Drittes und viertes Taufend. Verlag von Eugen Diederichs 
in Leipzig. Buchſchmuck von Heinrih Vogeler-Worpswede. 


Prolog. 
In diejer erniten Stadt, darin wir leben, 
‚Steht licht im Garten unjer fleined Haus, 
Aus feinen Fenſtern träumt das Glück heraus, 
Und „Qui si sana“ grüßt c3 aus den Neben. 


Dort leben wir, bewußtem Glück ergeben, 
Und donnert draußen wild des Lebens Braus, 
Drin binden wir der Liebe Roſenſtrauß, 

Der Düfte frob, die koſend ung umſchweben. 


Sie waltet drin; fein tragisch Frauenbild, 
Nicht Klärchen, Gretchen nicht noch Kriemhild: 
Ein Enkelkind von Windſors luſtigen Frauen. 
Sie tollt durchs Haus. Wer hinterdrein? Nun, ich! 
„So fang' mich doch!“ 
— In Verſen fang' ich Dich!“ — 


Wenn mirs gelang, ſo ſollt Ihr Wunder ſchauen! 
Prag. Hugo Sal 


⁊ 








Rumäniſche Finanzen. 365 


Rumäniſche Sinanzen. 


SIR" der Herbft das Laub gelb färbte, trug fich die Diskontogeſellſchaft bereits 
Ms mit dem Plan, eine neue Operation an ihrem Schmerzenstinde, der 
Dortmunder Union, vorzunehnen; erſt jebt aber, da, allzu zögernd, die Frühlings⸗ 
Lüfte der Bäume frifches Grün zu umfäcdeln beginnen, fommt der Blan zur 
Ausführung Es ift nicht mehr der jelbe Plan mie einft vor dem Mai. Die 
Zeche Adolf von Hanfemann, die außer einem dem Auffichtrath naheftehenden 
Konſortium wohl keinen pafjenden Abnehmer finden konnte, bleibt bei der Dort- 
munder Union. Man bat plöglich wieder einmal entbedt, wie werthvoll diefer 
Befiß iſt. Dafür wird nun aber die Henrichshütte aus dieſem Konglomerat 
von Fabriken und Werken herausgenonmen; fie joll, weil die Diskontogeſellſchaft 
neue Mittel braucht, abgeftoßen werden. Tin einem Punkt ähnelt allerdings 
der alte dem neuen Blan. Geld befommt durch ihn nur die Diskontogefellichaft, 
während die Dortmunder Union nach wie vor auf die hohen Zinſen des Bantlier- 
kontos angemwiefen bleibt. Die Einzelheiten der Sanirung find in der Tages: 
preſſe beiprochen worden; die Kritit war, wenn man von den offiziellen Börjen- 
blättern abjieht, für die Diskontogefellichaft geradezu vernichtend: faſt einftimmig 
wurden die Finanzpläne abgelehnt. Trogdem wird natürlih am neunten Juni 
in ber Generalverſammlung die Disfontogefellihaft mit eigenen und geborgten 
Aktien über die fchreiende Minorität ftegen. Die für unjere Verhältniſſe ſchon 
recht energifche Tonart der Preſſe ift aber nur ein ſchwacher Widerhall der Wuth, die 
fich in Börjenjälen und Banfierbureaug gegen die Disfontogejelljchaft regt. Börfen- 
leute find meift gern bereit, Yinanzjünden zu vergeffen. Der Diskontogefellichaft 
wird auch nicht etwa die Urſünde, die Gründung der Dortmunder Union, nad}: 
getragen, fondern man wirft ihr vor, daß jie immer wieder neue Experimente 
gemacht hat, um ſich aus der Patjche zu retten, in die fie gerathen war, weil 
fie der Union Riejenfredite bewilligt hatte. Anfangs hatte man ihr, an deren 
bona fides man glaubte, mehr als einmal mildernde Umstände zugebilligt. Nadj- 
gerade aber mußte fie gelernt Haben, daß auf dem bisher befchrittenen Wege 
eine dauernde Gefundung nicht zu erreichen war. Bei ben leßten Sanirung- 
verſuchen konnte von guten Glauben nicht mehr die Rede fein; und ganz undenkbar 
ift befonders, daß Herr von Hanſemann mit dein neuften Borjchlag der Dort- 
munder Union helfen zu können hofft. Darüber ijt die Börfe wüthend. Man 
rechnet der Diskontogejellihaft nad), ein wie großer Theil ihrer bisherigen 
Dividende durch alle möglichen Gewinne an der Dortmunder Union verdient 
worden ijt und wie während der jelben Zeit die Aktionäre der Union ihren 
Befig entwerthet fahen. Die Börjianer ziveiten und dritten Ranges behaupten 
nicht ohne Grund, ein armer Teufel von Heinem Bankier, der aud nur an— 
nähernd ähnlich gehandelt hätte wie die ftolze Großbank, dürfte ſchon längſt 
nieht mehr den Börfenfaal betreten. Auch hier trifft eben das Wort zu, das 
der engliſche Arbeiterführer Keir Hardie jüngſt im Unterhaus fprad: „Gewiß 
giebt es für Arme und Neiche nur ein Geſetz, — aber zwei Auslegimgen.“ 
Gerade jeßt iſt es interejfant, fih mit dem Schidfal der Dortmunder 
Union zu beichäftigen, weil Herr von Danjemann in nicht allzu ferner Zeit mit 
einer anderen Angelegenheit an das deutſche Publikum herantreten wird. Es 


3 Die Zutunft. 


handelt fih da um die zweite Iinheilsfaat, die die Disfontogejellfchaft, umier 
immer noch erites Bankhaus, in die Erde geſenkt hat: um die rumänifche Anleise. 
Bon allen fremden Renten find die rumäniichen unter den deutichen Kapitalifica 
am Dkeiften verbreitet, merkwürdiger Weile au am Hödjiten geachtet. Tie 
Frage, welcher Betrag von den jeweiligen Emifjionen auch wirklid in die rumäniige 
Staatskaſſe gefloſſen ift, fann öffentlich nur geitefit, nicht beantwortet werden. 
Sicher iſt aber, daß die deutihen Abnehmer dieſer Unleihen Kurſe bezohtt 
haben, wie nur cine feſt fundirte Großmadt erjten Ranges fie fordern Durf::. 
Das war dem Patronat der Rothichildgruppe zu danken, die feit dem Vau ver 
mit dem Namen Strousberg eng verfnüpften rumänijchen Eijenbahnen in intimer 
Geſchäfsfreundſchaft mit dem Lande lebt, deſſen Volk und Negirung den Juden 
nur als Geldgebern die Gleichberechtigung zuerfennt. Schon mit ben rumäniichen 
Eifenbahnen Hatte die Diskontogefellichaft recht chlechte Erfahrungen geinadt. in 
ihrem Gejchäftsbericht über das Jahr 1872 lag man: „mt Intereſſe des den 
urjprünglidhen SKonzelfionären der rumäniiden Bahn amvertrauten deutſchen 
Kapitals unterzogen wir uns zuſammen mit den Dauje Bleihröder der ſchwic⸗ 
rigen Aufgabe, diejes gefährdete Linternehmen zu reorganificen. Das gelam 
insbejondere durch Anterftügung der Defterreichiich- Franzöſiſchen Staatseifen: 
bahngejellichaft, die die weitere Bauausführung, die Verwaltung und den Betrich 
der Bahnen übernahm, fo daß wir auf Grund geordneter Verhältnifjfe und eines 
gelicherten Beltandes des Unternehmens der Emiſſion der Stammprioritätaftien 
der Rumäniſchen Eifenbahngejellichaft unfere Mitwirkung leihen konnten * Damals 
hatte Herr Strousberg, wie ſpäter erft bekannt wurde, einen Borihub von 
6 Millionen erhalten, zu deſſen Sicherjtellung er feine jämmtliden Güter in 
Preußen, ſtädtiſche Grundjtüde in Berlin und Wien und eine Standesherrfchaft in 
Polen verpfändet hatte. Als er in Konkurs gerathen war, rubte ein Verluñ 
von liber 600000 Mark auf diefer Transaktion. Dieſe anfangs höchſt zweifel 
hafte Situation Rumäniens, da3 in dem Eijenbahntaumel der jichenziger Jahre 
größenwahnfinnig, wie damals alle halb fultivirten Staaten, den Bau der Bahnen 
um jeden Preis förderte, obwohl Fein aud) nur annähernd ausreichender Ber- 
dienjt zu erzielen war, wurde nur allzu bald vergeffen. Bein Beginn der adı- 
ziger Jahre trat die Disfontogejellichaft mit dem rumänifhen Staat, ber die 
Eijenbahn übernommen hatte, direkt in Verbindung; und in den erften acht 
Jahren dieſes jungen Nerfchres wurden 436 Millionen Trance fünfprogentiger 
Anleihen in die Welt gejegt. 1889 folgte eine Emilfion von 82 Millionen 
Franes vierprozentiger Rente. 1890 wurden die fechöprozentigen Eijenbahn- 
obligationen fonvertirt: abermals mußten 274 Millionen Francs vierprogentiger 
Hente geidaffen werden. Bis zum Jahr 1898 folgten verichiedene Emijfionen 
im Gejammtbetrage von 566 Millionen Franes. Und endlid) wurde das € 
bäude gefrönt durch 175 Millionen fünfprozentiger, 1904 rüdzahlbarer Scaj 
anmeilungen, die 1899 das Licht der Welt erblidten. So hat Rumänien ein 
Schuldenlaft gehäuft, mit der fid) jede Großmadt der Erde jehen laſſen könntı 
Aber das rumäniihe Pumpbedürfniß ift noch nicht geftillt; im Gegen 
theil: ſchon die nächjte Zeit wird wieder beträchtliche vrorderungen bringen. Br 
nädjt wird es nöthig fein, die eben erwähnten 175 Millionen Schatzanweiſung 
zurüdzuzahlen; außerdem rechnen Sadjfundige, daß rund 25 Milltonen für Bo 





Numaniſche Finanzen. 367 


ſchüſſe in Anspruch genommen worden find. Denn Rumänien mußte Mich bei 
der Aufnahme der legten Schaganmweifungen verpflichten, vor Rüdzahlung biefer 
fchwebenden Schuld feine weiteren Anleihen aufzunehmen. Nun ift aber eine 
Räckzahlung der Schatzſcheine und der Vorſchüſſe aus eigenen Mitteln völlig 
ausgejchloffen und man nimmt deshalb an, daß Rumänien gendthigt fein wird, 
mindeſtens 200 Millionen Franes durch Ausgabe neuer Anleihen flüffig zu 
machen. Da iſt es denn doppelt wichtig, einmal die Grundlagen der Legende 
zu prüfen, die unferer Rapitaliftenwelt Rumänien als ein Land jchildert, dem 
man feelenruhig große Summen anvertrauen könne. Die Behauptung inter- 
effirter Finanzfirmen, vorläufig fei an neue Emiffionen nicht zu denfen, darf 
uns von jolder Präfung nicht zurlichalten. 

Eine unparteiiide Darftellung ber rumäniſchen Sinanzverhäftniffe tft 
freilich nicht Teicht zu geben. Wer nur bie Berichte der Agence Roumaine ober 
die von der Diskontogeſellſchaft inſpirirten Artikel in ben Börfenzeitungen lieſt, 
Der muß wirklich glauben, um Rumänien ſei es minbeftens viel befler als um 
alle übrigen Balkanſtaaten beitellt. Dieſer Eindrud ift namentlich in Deutſch- 
land leicht zu jchaffen, wo man gewöhnlich nur daran denkt, daß auf dem 
rumäniſchen Thron ein Hohenzollern fißt und daß König Karols Gemahlin nette 
. Gedichte macht. Dieje unflaren Gefühlswägungen find aber nutzlos; und bes- 
halb müſſen wir uns freuen, wenn ein auf dem Boden der Thatjachen Stehender 
mit fefter Hand den Rumäniens wahre Tage verhüllenden Lügenſchleier zerreißt. 
Das geichieht in der joeben erjchienenen Brodure „Die rumäniichen Finanzen; 
Zahlen und Thatſachen für die Befiger rumänifher Papiere.” Trotz der 
Anonymität ſcheint die Schrift des Vertrauens würdig; und aus dem ehrenwerthen 
Namen des Mannes, der fie mir ſchickte, darf ich wohl den Schluß ziehen, daß 
feiner Finanzelique mächtiges Wort bet ber Abfaſſung mitgefprochen hat. 

1869, drei Jahre nachdem unter Karols Szepter die Fürſtenthümer 
Moldau und Walachei geeint worden waren, umfaßte das Budget, ohne Defizit, 
den geringen Betrag von 35!/, Millionen Franes. Die Ausgaben des Budgets 
für 1900/1901 belaufen fi) auf rund 238 Millionen Franes. Aber weder 
ber Umfang des Etats noch die Höhe der Staatsjchulden, die im Ganzen jet 
rund 13/, Milliarden Franes oder auf den Kopf der Bevdlferung 239 Francs 
betragen, giebt uns den richtigen Maßſtab für die Beurtheilung der Finanz 
traft des Landes. Entſcheidend ift die Antwort auf die Frage, zu welchen 
wirthichaftlihen Zwecken die Schulden gemadt worden find. Da lehrt die Durch⸗ 
forihung des Budgets nun zunächſt die traurige Thatſache, daß 39 Prozent der 
gefammten Einnahmen nur zur Berzinfung der Schulden aufgebracht werben 
müffen. Bon dem Erlös der Anleihen find allein etwa 937 Millionen Franes 
für öffentliche Arbeiten, Eifenbagnen, Bauten u.|.m., 266 Millionen für militärijche 
und 94 Millionen für diverſe, nicht ficher bezeichnete Zwecke verwandt worben. 
Auf den dunkelſten Punkt jtoßen wir, wenn wir leſen, daß 159 Millionen zur 
Dedung der Fehlbeträge verbraucht werden mußten. Die Defizitwirthichaft ift 
in Rumänien chronijch geworden. In den breigehn Jahren von 1888 bis 
1901 war ein Fehlbetrag von indgefammt 35,8 Millionen Francs zu verzeichnen. 

Die rumänischen Eiſenbahnen bringen nicht etwa die Zinſen für die zu 
ihrem Bau aufgenommenen Anleihen ein: einftweilen ift ein jährlicher Zuſchuß 


27 





368 Die Zukunft. 


von 8%, Millionen ndtbig. Dabei tft noch zu bedenken, dab bie rumäniide 
Finanzverwaltung durchaus nicht fo geordnet ift, wie man fie in offizidien Be 
richten zu ſchildern pflegt. Die Voranfcläge find von fo kühnem Uptimisue 
diktirt, daß die Ergebniffe recht erhebliche Syehlbeträge zeigen. Faſt muß mar 
an abſichtliche Täufhung glauben, wenn man lieft, was ber frühere Finanz 
minifter Tale Jonesco in einer Nechtfertigungichrift Sturdza und befjen Tyinanzr 
minifter Carp nachſagt. Neben anderen Berfehlungen wirft er ihren vor, fe 
hätten für zwei Eiſenbahnlinien Millionen ausgegeben, die von ben Sammer 
gar nicht bewilligt waren. Tale Jonesco behauptet, in allen rumänijchen Bub 
gets — natürlich nimmt er das von ihm ſelbſt aufgeftellte aus — ſeien Ver 
ihleierungen jo häufig, daß der Ausländer kaum jemals im Stande it, bir 
Lage zu überbliden. Die Brodure ftellt, im Anihluß an den offiziellen Be 
richt des Finanzminiſters Filipescu, felt: ein günftige® Einnahmerefuliat jr 
in einem ber früheren Etatsjahre nur dadurch möglich geworden, daß bie Reierir 
fonds der Eifenbahnen aufgelöft und die Milttärtransporte einfach nicht bezabl: 
wurden. Das fagt der Finanzminiſter felbft. Solche Manipulationen ide 
man in Rumänien alfo nicht für betrügeriſch zu halten. 

Ferner ift zu bedenken, daß Rumänien ein in erfter Linie auf den Ge 
treideerport angewiefener Agrarftaat ift. Die Brochure lehrt uns die ſchlimm 
Wirkung ſchlechter Ernten erfennen. Die öſterreichiſchen Konſuln in Jafſu un 
Bulareft berichten einftimmig, daß mehrere gute Ernten nöthig find, um ht 
Ausfall einer einzigen ſchlechten Ernte zu decken. Dabei ift es um bie lam 
wirthichaftlichen Verhältniſſe Rumäniens fehr übel beftelt. In den beutigen | 
Konfulatsberichten vom „jahr 1901 wird mitgetheilt, da in Rumänien Mm 
Binsfuß für private Hypotheken zwifchen 8 und 18 Prozent ſchwanke, mank 
mal aber bi3 auf 36 Prozent fteige. Die Großgrumdbefiger müfjen bei de 
Bankiers gewöhnlich 24 Prozent zahlen. Die rumänischen Regirungen — ode. 
beffer gefagt, die rumänifchen Parteien — fuchen die Bevölkerung über die wahr 
Lage zu täuſchen. Die zum Theil fehr hohen Aufwendungen für öffentlide 
Bauten Schaffen für kurze Zeit immer wieder fünftlich unter den Handwerker 
des Landes einen Wohlftand, der faljche Schlüffe auf die wirthfchaftliche Situation 
der Geſammtheit begünjtigt, 

Die finanzielle und wirtbichaftlihe Tage Rumäniens ift alfo, wenn men 
fie nicht in verflärendem Märchenlicht ficht, fehr ernſt und rechtfertigt durdau? 
nicht den hohen Kursſtand der Anleihen. Die Hoffnung der privaten Staat# 
gläubiger klammert fih hauptjählihd an die Erwägung, daß die Banken, um 
nicht Starke Verlufte zu erleiden, neues Gelb hineinftedlen müſſen. Die Banfen 
aber follten, wenn fie den deutſchen Kapitalsmarkt abermals in Anſpruch nehmer 
wollen, wenigitens dafür forgen, daß Rumänien nicht durch die Berjagung jüdildt! 
Handwerker, tfer, Landwirthe. Kaufleute, die das thätigfte El 
den Seit jeiner wirthichaftlichen Kraft zerjtört. Eine fo unfinnige fremden 
politik, die übrigens auch den internationalen Verträgen nicht minder als den 
Gebot der Humanität widerfpricht, muß auf die Dauer dad Land nuiniren und 
jollte deshalb auch für die pumpenden Banken feine quantits negligeable ſein. 
Die Diskontogeſellſchaft wird vor der nächſten Emiſſion unzweideutig zu erflät 
haben, was fie nad) diefer Richtung verfudht und erreicht hat. PBırt"? 


* 





-.. ‚m vr .:ow — J 





Notizbuch. 369 


Notizbuch. 


wert Profeſſor Dr. Guſtav Schmoller lehrt an ber berliner Univerſität National— 
öfonomie. Er findet, mit Recht, es ſei unklug, gerade über die Vorgänge zu 
ſchweigen, dte für die Erhaltung, Stärfung oder Schwächung der lebendigen Kräfte 
deutfcher Volkswirthſchaft beſonders wichtig und mehr ala Abjtraftionen und Rück⸗ 
blicke auf Gewordenes geeignet find, den Sinn junger Hörer zu fefleln. So fpricht 
er eines Tages auch über den von den Verbündeten Regirungen dem Reich$tag vor⸗ 
gelegten Entwurf eines neuen Bolltarifes. Die Studenten, neben benen wohl mander 
nicht der akademiſchen Bürgerſchaft Angehörige fißt, ſpitzen das Ohr; was mag über 
den Gegenſtand, der fett Monaten täglich in den Zeitungen behandelt wirb, der be- 
rühmteRebner zu fagen haben? Der Kampf, fo ungefähr ſpricht der Profeflor, ſei einſt⸗ 
weilen nod nicht allzu ernft zu nehmen; die einzelnen Zollſätze bes Tarifes feien 
ziemlich gleichgiltig, da jie in den internationalen Verhandlungen zum großen 
Theil doc geändert werben würden, und deshalb folle man das Urtbeil vertagen, . 
bis-die in neuen Handelsverträgen erreichten Zollfäße befannt felen. Das hatten 
vernünftige Leute längft gedacht oder ausgefprochen, ehe Herr Profeffor Schmoller 
das Wort nahm. Im vorigen Jahr ſchon und ſeitdem recht oft wurde hier gejagt, 
die Parteien follten, ftatt ziellos die Kraft zu verzetteln, den Regirenden ruhig die 
Möglichkeit lafjen, mit ihrem Zolltarif in die Fremde zu ziehen, und die Kritik bis 
zur Vorlegung der Handelsverträge fparen, deren Annahme ja vom Votum des 
Reichstages abhäuge. Ein Student behauptet nun, der Profeſſor habe ſich im Kolleg 
auf die Worte preußijcher Minijter berufen, die ihm gejagt hätten, auch fie dächten 
nicht daran, den Entwurf fo, wie er ben Reichötag vorliege, zum Geſetz zu machen. 
Das haben Minifter und Staatsjekretäre, jo weit ihre Auffaffung von Handelg- 
biplomatenpflichten eg geitattete, mehr als einmal angedeutet und felbft erwachſende 
Schulknaben willen nachgerade ſchon, daß der Entwurf einen Handelstampftarif 
liefern, Konzeifionen und Kompenfationen ermöglichen, unter Leinen Umftän- 
den aber unverändert Geſetz werden fol. Dem Studenten ſchien die Mittheilung 
dennoch wichtig; er machte eine Notiz daraus, die er an berliner Zeitungen fchidte. 
Auf den Antrag des Profeſſors jchritt die Staatsanmaltichaft ein, die Anklage wurbe 
erhoben und der ertappte Student vom berliner Yandgericht zu zweihundert Mark 
Geldftrafe oder vierzig Tagen Gefängniß verurtheilt, weil er fich gegen den Para- 
graphen 38de8 Urheberrechtsgeſetzes vom neunzehnten Juni1901 vergangen habe. Bon 
diefem Paragraphen wirb bedroht: „mer in anderen als den gejeglich zugelaflenen 
Fällen vorjäglic ohne Einwilligung bes Berechtigten ein Werf vervielfältigt oder ge- 
werbmäßig verbreitet.“ In der Begründung des Geſetzes ift ausdrücklich gejagt, nur 
. „oeröffentliche®ortrag als ſolcher“ ſolle geſchützt ſein; „Mittheilungen, die lediglich den 
Inhalt der Rede berichten“ — auch einer vom Urheberrechtsgeſetz der freien Wieder⸗ 
gabeentzogenen Rede — jollen, „wie bisher, zuläffig bleiben“. Dievondem Stubenten 
verbreitete Notiz war kurz und Herr Profefjor Schmoller nannte fie als Zeuge „eine 
ganz unzureichende und vielfach mißverſtändliche Wiedergabe eines etwa einftündigen 
Vortraged." Der Mijlethäter fol aljo erftens Ummahres veröffentlicht und zweitens 
durch biefe Veröffentlichung das Urheberrecht des Profeffors verlegt haben. Der 
° Bericht über den Vortrag war falſch; er giebt nicht wieber, was ber Profeffor gejagt 
% Hat, ift aber ftrafbar, weil er ohne Einwilligung des Berechtigten das „Werk“ des 


27° 





370 j Die Zukunft. 


Profeſſors „gewerbmäßig verbreitet“. Wenn diefes Urtheil, eins ber merkmwürdigften 
aus der an feltiamen Sentenzen reihen Sprucdpraris des berliner Landgerichtes. 
in Leipzig beftätigt wird, werden die Folgen ſolches Präjudifates nicht ausbleiben 
Auch auf dem Gebiete der Politik können fie fihtbar werben, wo Heute die Rednerei 
ja einen breiten Raum einnimmt; Beifpiele kann Jeder ſelbſt leicht erfinden. Keix 
aber als die friminaliftifche ift bie ımenfchliche Seite der Sache beachtet und fait ein 
ftimmig tft das Vorgehen des Profeffors hart getabelt worden. Der Student hat taktloe 
gehandelt. Vielleicht wollte er ſich wichtig machen, vielleicht verſprach er ſich von ſeiner 
Notiz politiſche Wirkung, vielleicht trieb ihn nur der Wunſch, durch Reportage ein 
paar Mark zu verdienen und früh Fäden anzufnüpfen, bie ihn jpäter in den Prebe 
trieb führen Eönnten. Einerlei. Der Profeffor konnte ihn kommen lafjen, bie Ler 
fehlung ftreng rügen, ihn, wenn ers für ndthig hielt, der Disziplinarbehörbe um 
zeigen. Das war Herrn Profeſſor Schmoller noch nicht genug. Er rief bie alad“ 
miſche Gerichtsbarkeit und die Staatsanwaltſchaft an und hat nun durchgeſetzt, deß 
ein junger Menſch „vorbeftraft“, vor dem Auge der Korreften bemalelt, wahrjcheie 
lich in feiner Laufbahn gehemmt ift. Ein junger Menſch, ker ſchließlich nichts Boſe⸗ 
gethan, ber nur, aus Zeichtfinn oder aus Noth, die Anftandspflicht verletzt und ben 
Lehrer vor der Hauptverhandlung und noch einmal tn öffentlicher Gerichtsfigung um 
Berzeihung gebeten hat. Daß die Indiskretion den Brofefjor ärgern, ihn vor ben befreun 
beten Miniftern „Eompromittiren“ konnte, ift klar; ernftlich geſchädigt aberwarer nicht 
Die Zeitungen mußten feine Berichtigung aufnehmen und den Ereellenzen mußt 
das Wort des vierundjechzigjährigen berlihmten Gelebrten mehr gelten als bie Aus 
jage eines reportirenden Schülers. Sind die wirthichaftlicden Zufammenhänge, die 
einen barbenden Stubenten nach mühelojem Nebenverdienft auslugen lafjen, vor 
einem Lehrer der Rationaldöfonomie jo ſchwer zu durchſchauen? Und kann ein Mann. 
der zuden evangelifch-fozial Empfindenden gehören will ſich nicht der herrſcheuden Wir 
leidloſigkeit entziehen, deren Sehnſucht nach Talion unerfättlich, durch die härtete 
Strafe faum zu ftillen ift? Herr Schmolfer foll ſich bereit erflärt Haben, die Geldftrafe 
für ben Berurtheilten zu zahlen. Sehr ſchön; doch damit find nicht alle Folgen ſeines 
Strafantrages aus der Welt geichafft. Die Studenten find in Preußen zu gut di 
zipliniet, zu feft in ftramme DMilitärfitte gewöhnt, als daß fie an einen Boyfen 
dächten; in einer Fabrik, wo einem Genoffen jo mitgefpielt worden wäre, würde 
die Arbeit wahrſcheinlich niedergelegt. Den Profefloren, von denen mancher Schmollert 
Schritt mißbilligt, räth wohl follegiale Rüdficht, über ben Vorgang zu ſchweigen. 
Für Schmoller ijt bisher nur Herr Profeſſor Simmel eingetreten, ber im einem 

an die Voſſiſche Zeitung gerichteten Brief mit beinahe leidenſchaftlichem Eifer die 

Nothwendigkeit betont, die „akademiſche Vertraulichkeit“ zu wahren. Die Gründe, 

die er anführt, find nicht Jehr gewichtig und könnten von jedem anderen Redner, ha 

in nicht Öffentlicher Verfammlung ſpricht, mit dem felben Recht geltend gem. N 

werben. Wer fich je zu folcher Leiſtung bergab, lieft in den Zeitungbericyten nadl ? 

faft immer Säße, bie er entweder gar nicht gefprochen hat oder deren Sinn durcht t 

Löfung aus dem Zufammenhang entftellt ift. Profeſſoren find nicht Profeflen, le ’ 

dern, jo hofft man noch heute, muthige Belenner, die ſich nicht ſcheuen, auch mit eine: 

gewagten, auf Hypothefen, nicht auf Refultate geftügten Sah in bie Deffentlitt ! 

zu treten. Sie können nicht fo naiv fein, zu glauben, was fie vor zwanzig oder d ! 

hundert jugenblich hitzigen Hörern fagen, bliebe verborgen; und eine gefläf 





Notisbuch. 371 


Fälſchung ift gefährlicher als eine gebrudte, gegen die man ſich wehren fan. Herr 

Profeſſor Schmoller ift ein Meiſter der deftriptiven Volkswirthſchaftlehre und ein 

mächtiger Hochſchuldiplomat, der für feine zuverläffigen, in verba magistri ſchwö⸗ 

renden Schüler fo zärtlich jorgt wie feit Scherers, des ihn im Weſen verwandten 

Taktikers, Tode fein anderer Brofeffor; er follte zeigen, daß er auch) der humanen 

Pflicht eingedenk ift, die der Lehrer im Verkehr mit jungen Schülern nie vergeffen darf. 
[| v 


Herr Landrichter a. D. Ernſt Mumm, Aſſiſtent an der chemnitzer Handels⸗ 
kammer, erbittet die Aufnahme der folgenden Erwiderung: 

„Im ‚Archiv für bürgerliches Recht‘ und in der, Zukunft verſuchte ich neulich 
nachzuweiſen, daß die ſeit einigen Jahren laut geforderte, im Reichstag einſtimmig be- 
fürmortete Einführung kaufmänniſcherSchiedsgerichte weber notwendig noch auch nur 
wünſchenswerth jei. Während meine Darjtellungen von vielen einfichtigen Männern 
gebilligt wurden, bat Blutus fie bier heftig befämpft. Die Entjcheibung barüber, 
ob ed ihm geglüdt ift, mich zu widerlegen, überlaffe ich getroft den Lejern. Mic) 
haben feine Einwendungen nicht eines Anderen belehrt und ich würde auch nicht für 
erforderlich halten, auf ſie zurückzukommen, wenn mir hierzu nicht einige Bemerkungen 
den Anlaß gäben, die meine Darlegungen als oberflächlich und thöricht hinzuftellen 
bemüht find. Ueber die — im Grunde nebenjächlicde — Bemängelung meines Aus- 
drudes, es jei bedauerlich, daß das Prinzip der ordentlichen Gerichtsbarkeit abermals 
durchbrochen werben jolle, brauche ich fein Wort zu verlieren. Zur Sade kann ich 
nur nachdrüdlich betonen, daß ich in der Schaffung faufmännifcher Ausnahmegerichte 
eine — um ihrer Konfequenzen willen — höchft beflagenswerthe Abweichung von 
dem gerechten Grundjaß erblicke, nach den Jeder vor dem ordentlichen Richter fein 
Recht zu ſuchen Hat. So iſt gar nicht einzufehen, warum bie Anhänger faufmännijcher 
Sciebögerichte bei dem Nerlangen nach diefen Sondbergerichten Halt machen und 
nicht, wie e8 Agſter und Genoſſen konſequenter Weile thun, aud) Ausnahmegerichte 
für die Streitigkeiten zwiſchen Gefinde und Herrſchaft, überhaupt für alle Streitig- 
feiten fordern, die aus irgend einem Lohn⸗, Urbeit- oder Dienftverhältniß entftehen. 
Die Gründe, die Plutus und die anderen Freunde kaufmänniſcher Schiedögerichte 
ins Feld führen, laffen fich genau fo gut zur Rechtfertigung aller mur möglichen 
Sonderfchiedsgerichte anführen. Gerade diejer Umſtand aber mweift mit Sicherheit 
darauf Hin, daß jenen Gründen in Wahrheit die Beweiskraft für die Einführung 
faufmännifcher Schiedägerichte fehlt, daß ſie nur infofern Beachtung verdienen, als 
darin die Mängel des heutigen Prozeßverfahrens überhaupt gerügt werden. Danıı 
hält mir Plutus vor, ich ſuche die bitter ernſte Frage dadurch ing Lächerliche zu ziehen, 
daß ich den Ruf nach Faufmännifchen SchiebSgerichten als eine Modejache bezeichne. 
Ich erwidere, daß ich auf Grund recht genauer Kenntniß der einfchlägigen Verhält⸗ 
niffe und auf Grund eingehenden Stubiums der ganzen Bewegung das Geſchrei nad) 
faufmännifchen Schiedögerichten in der That für blinden Lärm halte. Ich habe die 
fefte Ueberzeugung erlangt, daß in den Kreiſen der kaufmänniſchen Angeltellten ein 
ernftliches Bedürfniß nad) Sondergerichten nicht befteht, daß vielmehreinige Dußende 
oder Hunderte von Agitatoren für eine Einrichtung Propaganda maden, die Hundert- 
taufenden ihrer Standesgenofjen herzlich gleichgiltig ift. Schließlich meint Plutug, 
mein Daupttrumpf fei, daß bei den beftehenden Schiedsgerichten in Hannover u. ſ. w. 
nur wenige oder gar feine Verfahren anhängig gemacht worden feien. Zugleich er- 


8372 Die Zukunft. 


hebt er den Vorwurf, ich jcheine von der Einrichtung diefer Schiedsgerichte michtd za 
wiſſen. Diejer Vorwurf hätte mir füglich erjpart bleiben fünnen. Läßt doch ſchon 
ber Name der an verichiedenen Orten eingeführten fakultativen Schied3gerichte über 
ihren Charakter Leinen Zweifel zu. Die Befchäftigunglofigkeit diejer fakultativen 
Gerichte ift im Uebrigen ganz und gar nicht mein höchfter Trumpf. Nur beiläufg 
wird jie erwähnt neben ber viel wichtigeren, den Anhängern ber SchiebSgerichte etwai 
unbequemen Thatſache, daß die zur Austragung gelangenden Rechtsftreitigfeiten 
aus dem kaufmännischen Dienftuertrag — von ben ganz großen Städten abgejehen — 
jeltene Ausnahmefälle Bilden." 
® * 

Der Maler Leo Freiherr von König ſchreibt mir: 

„Führer durch die berliner Kunſtausſtellungen?: ſo Heißt ein kleines Heftchen. 
das mir aus meiner Zeitung, dem Berliner Tageblatt, entgegenfiel. Aha! dachte 
ich: eine kleine Erſparniß für die Abonnenten, gleich dem Kalender oder den kleinen 
Eiſenbahnfahrplänen, die dag Blatt feinen Leſern in freundlicher Abſicht zu ſchenler 
pflegt. Eine Mark fünfzig ift für einen Katalog viel Geld; dafür kann man ſchon 
bei Kempinski frühftüden, meinte neulich ein Verwandter vom Lande. Bier, ver- 
muthete ich, würde er das billige Exemplar, ein Surrogat, die marfanteften Bilder, 
wie im Bädeker, mit Sterndjen verfehen, finden. Ich hatte falfch vermuthet. ‘Das 
Heftchen bringt eine gebundene Kritik der beiden Ausftellungen. Nun weiß ich wohl, 
daß wir Künſtler, wie Jeder, der nıit Werfen oder Schauftellungen an bie Oeffem⸗ 
lichkeit tritt, der Kritit Berufener und Unberufener ausgejegt find. Es liegt mir 
daher auch gänzlich fern, Etwas über den Anhalt der Brocdure zu jagen; nur über 
den Weg, den dieje Kritik einjchlägt, möchte ich jprechen. Das Wort Führer“ und 
die beigefügten Pläne der Ausjtellungen zeigen den Wunſch des Autors, der jewel- 
lige Befiger des Deftes möge, mit ihm bewaffnet, feinen Rundgang durdy die Säle 
antreten. Diefer Beſucher alſo wird an jedes Bild mit einer vorgefaßten Meinung, 
mit der des ‚Führers‘, herangehen;bdenn unendlich groß ift ja Die Zahl Derer, für 
die jedes gedrudte Wort ein Evangelium ift. Durch diefe Art ber Yührung wird 
dem Publikum jegliches Nachdenken erjpart und fo dem Kunſtwerk ein großer 
Theil feines erzieheriichen Werthes genommen. Der Menſch wird niemals aus 
Büchern Kunſt begreifen lernen. Kunſt tft eine Wiflenfchaft, Kunſt will empfunden 
fein; und Der nur, der ich felbft zu den Anſchauungen und Abfichten eines Stünftler? 
durchgerungen hat, wird deſſen Werk wirklich genoffen haben. Der neuſte, Fuührer 
nimmt dem Künſtler jede Ausficht, auf einen unbefangenen, naiven Beichauer wirlen 
zu können. Man telle ſich vor, daß die Bücher unferer Schriftfteller mit Randbemert- 
ungen eines Kritikers erfchienen oder daß ung vor jedem Alt eines neuen Theater 
jtüdes ein Vortrag über defjen Vorzüge und Mängel gehalten würbe, Nein: vor 
dem Kunſtwerk hat die Kritik zu ſchweigen und erſt zu Dem zu ſprechen, ber 
Werk ſchon in fich aufgenommen hat. Ich habe nichts dagegen, daß Herr &. 
nädjiten Morgen in jeiner Zeitung lieft, meine Bilder feien gut oder fehlecht; 
vor den Bildern wünſche ich ihn unbeeinflußt; und ich glaube, daß fich diejem Wi 
meine Kollegen aus beiden Häufern anjchließen werden.“ 

* * 


* 
„In den preußiſchen Oſtmarken ſollen nicht mehr bie Polen chikanirt, jon! 
die Deutfchen wirthſchaftlich geftärkt werden. Diefer Weg ift Hier feit Jahre 
empfohlen worben betreten aber jollte ihn nur ein Geduldiger, der entſchloñ⸗ 





Notizbuch. 373 


nicht an der nächſten Ecke ſchon in einen breiteren Seitenpfad abzubiegen. Mit 
dem alten Apparat einer Berwaltung, die auch den ſtärkſten Willen lähmt, iſt nichts 
zu erreichen; eine halbe Milliarde und die ganze Lebensarbeit eines jchöpferifchen 
Staatsmannes wird nöthig fein, um auch nur den verlorenen Boben zurüdzuge- 
winnen. Graf Bülow, der mit rühmensmwerthem Eifer ſich den zähen Stoff angeeignet 
und eingefehen bat, daß es fi) dabei um bie wichtigfte Frage der deutſchen Zukunft 
handelt, kann nicht glauben, ſolches Riefenwerk fei im Nebenamt zu vollbringen. 
Der Entſchluß zu innerer Kolonialpolitif größten Stils — und jede andere wäre 
nußlofe Spielerei — muß organiih mit der Summe des Wollen zufammen- 
hängen, bas in der Geſtaltung neuer Möglichteiten und Nothwendigfeiten fühlbar 
werden foll. Dieſer Zuſammenhang aber ift noch nicht zu erkennen.“ Auch heute 
noch nicht, obwohl vier Monate vergangen find, jeit die angeführten Säße in der 
„Zukunft“ zu leſen waren. Eine Viertelmilliarde aber hat die preußifche Regirung 
vom Landtag verlangt; 150 Millionen, um die Anfiedlung deuticher Bauern in den 
Oſtmarken jchneller und wirkſamer als bisher durchführen, und 100 Millionen, um 
Güter und Grundftüdg für den Domänenfistus anlaufen zu können. Der erite 
Schritt iſt alſo gethan; ob er ans Zielführen kann, wird ſpäter zu prüfen fein. Einft- 
weilen wollen wir uns der allzu feltenen Gelegenheit freuen, die preußifche Regtrung 
(oben zu dürfen, und wünſchen, fie möge, jo lange es Beit iſt, einfehen lernen, daß 
aud im deutfchen Often ber Kolonialpolitit Erfolg nur bejchieden fein wird, wenn 
ihr, ftatt der Bureaufraten, Kaufleute die Iege weiſen. Daß die Provinzen Weft- 
preußen und Poſen mit einer Biertelmillion gebüngt werden, ift ficher gut; nun ſoll 
man fie verwalten, als gehörten fie einer großen, joliden Bank, ber nur eine praf- 
tifche und kraftvolle Kulturpolitil das hereingeſteckte Geld hoch verzinfen kann. 
‚8 3 


v 

Rochambeau, dem Grafen und Marſchall von Frankreich, der von Ludwig 
dem Sechzehnten 1780 als Führer des franzöfifcden Kontingentes übers Meer ge- 
ſchickt wurde und bei Yorktown, im Bunde mit Wajhington, das englifche Heer zur 
Kapitulation zwang, iſt vonder Negirungber Vereinigten Staaten auf dem Tafayette- 
Square der Hauptſtadt ein Denkmal gefegt worden. Der kluge Stratege, der vorher im 
Stebenjährigen Krieg gefochten und den nachher der neunte Thermidor vor dem Haß 
der Schredensmänner gerettet hatte, war lange vergeflen ; der Ruhm des Sprubel- 
fopfes Zafayette hatte die Erinnerung an den fühlen Schweiger überftrahlt, der für 
Nordamerika doch viel mehr that als der Higige Schwärmer. Jetzt ift biefe Erinne- 
rung wieder aufgefriicht und das Denkmal mit allem in einer Republik möglichen Glanz 
entgülft worden. Herr Rooſevelt hat fich bemüht, den Franzoſen, deren höchſte Reprä- 
jentatnten zum ?yeft geladen waren, zu zeigen, daß man dankbar der von ihnen 
im Kampf gegen England geleijteten Hilfe gedenkt. Auch ber Magbeburger 
Steuben, der 1777, auf das Drängen von Beaumardais und Saint: Germain, 
den badifchen Striegsdienft verlieh, nach Amerifa ging, Generalinfpefteur der 
Armee und Seneralftabschef Waſhingtons wurde, ſoll ein Denkmal befommen; nicht 
al3 Deutſcher, aber als tüchtiger, bald völlig amerikanifirter Helfer im Kampf um 
die Freiheit. Diejes Denkmal, jagen die Yankees, foll daran erinnern, daß zwar 
einzelne Deutfche damals übers Waſſer kamen, Preußen aber, der Staat Friedrichs, 
den fämpfenden Amerikanern feinerleiHilfe brachte. Deshalb paßt ihnen das vom 
Deutjchen Kaiſer angebotene Geſchenk auch nicht; fie möchten den Alten Fritzen nicht 
in Stein oder Bronze vor dem Kapitol ſehen. Schon ijt im Repräfentantenhaus 


374 Die Zuhmft. 





beantragt worden, die Regirung folle das Geſchenk ablehnen underflären, für zürtte: 
denkmale fei indem Gebiet der Vereinigten Staaten fein Plag; und jeldft in hentid 
amerifanijchen Blättern wird das Geſchenk eine unbequeme Gabe genannt, die behtc 
gefpart worden wäre. Die Großkapitaliſten, die den Kaiſer nicht kränken möchten habrı 
vorgeſchlagen, derStadtBerlin einen bronzenen Waſhington zu ſchenken, derinderfie 
narchenreſidenz für den republikaniſchen Gedanken zeugen ſolle; auch die Römer welt: 
ſich für den Goethe von Eberleins Gnaden ja mit einem Dante bedanten. Der Alt: | 
Fritz wird in Amerika jchließlich eine Stätte finden. War die ganze pernlide Er 
örterung aber nöthig? Dem Botfchafter des Kaiſers, Herrn von Holleben, wird vr 
geivorfen, er Habe nicht rechtzeitig zu erkennen verjucht, wie das Gefchent in ben Ver 
einigten Staaten aufgenommen werden würde. Herr von Holleben Hat brüben Ich 
viele Fehler gemacht, deren einer in dem Prozeß zweier Seftfirmen vielleicht aufge 
klärt werden wird. Der neue Vorwurf aber ijt ſicher unberedhtigt. Die Abſicht der 
Kaiſers, Amerika ben Alten Fritzen zu Schenken, ift, wie man fiher annehmen dar, 
dem Botichafter nicht früher befannt geworden als anderen Sterblichen. 

% ' 3 


* 

Nur bie Herren, die den Kaiſer täglich fehen und in Wiesbaden um ihn waren. 
konnten von dem Geſchenk abrathen. Dieje Herren fcheinen von ihrer Dienerpflik 
ober eine ſonderbare Auffaffung zu Haben. Sie laffen ihren Herrn, der nicht allınillem 
fein kann und nicht Zeit hat, Lexika aufzublättern, in einer an den Bräfibenten Loube 
gerichteten offiziellen Depefche die Zahl der in Pompeji Verſchütteten jo umrichtiz 
angeben, daß in Frankreich Gloſſen darüber gemacht werben. Und fie inform 
ihn über die Art der Perfünlichkeiten, die er begnaden will, fo ungertau, daß nod! 
Ichlimmeres Unheil entfteht. Jebt hat Wilhelm der Zweite dem Fäulein Dura 
eine Audienz gewährt, von dem vor ein paar Wochen hier gejagt wurde: „eyränlem 
Durand ift eine alternde Dame, die im Haufe Molieres nie einen Rang hatte un 
feit Jahren mit der Hilfe eines ihr befreundeten Millionärs die Frauenzeitung L 
Fronde herausgiebt; fie ift weder als Spielerin noch als Journaliſtin der Her 
werth.“ Diefe vieljeitige Dame, die in Paris nicht ernft genommen wird, konnte D 
ihrem darbenden Blättchen num ein Interview mit bem Deutichen Kaiſer veröffen- 
lichen. Bor ihren mit redlich erworbenen Aumwelen geſchmückten Ohren hat er dit 
modernen deutſchen Dichter getadelt, hat er jagt, Wagner jei ihm „zu geräufcvol”. 
darüber geklagt, daß die deutichen Frauen ſich fürs Theater nicht eleganter kleiden. 
und Herren Georg von Hülfen einen „großen, jehr großen Künſtler“ genannt. {in 
Paris wurden Köpfe neichüttelt.- Weiß ‚Ihr Kaiſer denn nicht, ſchrieb mir ein Aran: 
zoje, wer Fräulein Durand ift? Die Zumuthung, er folle es wiflen, ift luftig. Der 
Pertrauensmann der Deutfhen hat am Ende Underes zu thun, als ſich um den ſ 
Lebenslauf, das Glück und den Niedergang fleiner parifer Theatermäbden MI I 
fümmern. Seine Diener aber follten wiffen, wen fie ihın vorführen. Wie würde 
man bei ung fpotten, wen die Nachricht füme, der Zar habe das — nicht einmel F | 
Spielens halber in Petersburg mweilende — ‚zräulein Jenny Groß empfangen: J. 
Die Hofdiener des Kaiſers haben die betrübenden Irrungen nnd Wirrungen Dt Ei 
letzten Wochen verjchuldet und fie jol man dafür zur Nerantwortung ziehen, db 
dem Fräulein Durand eine Ehre gewährt wurde, um die recht oft ſchon deutſche In 
duftriefapttäne, Gelehrte, Kauflente i in ernfter Abſicht Jahre lang vergebens warben 


Herausgeber und verantwortlicher er Redatt eur: M. . Harden in 1 Berlin, — — Belag der Zutunft in Bei 
Dead von Albert Daude in Berlin» Schöneberg. 





sennmun 














Berlin, den 7. Juni 1902. 
O——unn 77T 


Induftrieftaat oder Agrarftaat? 


I“ den Zolltarifentwurf it die bienmendfte der deutſchen Fragen feit 
einem Jahre daS tägliche Diskuſſionthema der Zeitungen geworben. 
Da ich nicht in der Lage bin, gleich Schaeffle und den anderen Autoritäten 
meine Gedanfen über das augenblidliche Stadium ber Erörterung ausführlich 
und im Zufammenhang ausfprechen gu können, fei e8 in einer Brochure oder 
in einer Reihe von Zeitungauffägen, fo nehme ich meine Zuflucht wieder zu 
der Form, die im fnappften Raum viel zu fagen ermöglicht: ich reihe Thefen 
an einander und überlafje den Lefern die Ausführung und Begründung. Um 
ihnen dieſe zu erleichtern, vertweife ich hier und da auf die entſprechende Seite 
eined Fundorte8 von Beweismaterial und benuge dazu zwei Werke von 
Vertretern ber beiden feindlichen Parteien: „Ugrar- und Induftrieftaat“, zweite 
Auflage, vom Profefjor Adolf Wagner (W), „Deutfchland als Induftrier 
flaat“ vom Dr. F. €. Huber (H) und einige meiner Opuskula: „Weber 
Kommmismus noch Kapitalismus“ (K), „Neue Ziele, neue Wege“ (N), 
Die Agrarkriſis“ (A) und eim paar in der Zukunft veröffentlichte Auffäge (2). 

1. Landwirthſchaft und Bauernſtand — die beiden Kategorien deden 
einander nicht — bleiben die Grundlage des Staates, die Pflanzftätte ber 
Vollkskraft, die Bedingung gefunder fozialer Zuftände; Alles, was über ihre 
Unentbehrlichkeit in materieller, hygieniſcher, militärifcher und politifcher Hinficht 
gelagt wird (3. B. K 357 und W von Anfang bis zu Ende), ift wahr. Die 
Schilderungen des Elends der Kleinbauern und der ländlichen Gefindefflaveret 
in der antiagrariſchen Preſſe find teils Karikaturen, theils ungerechtfertigte 
Berallgemeinerungen. Zuzugeben ift, daß ſich die Lage ber ärmeren Dörfler 

p 


376 Die Zuhneft. 


in dem Maße verfchlechtert hat, wie die Landwirtäichaft feit dem füniziger 
Jahren des vorigen Jahrhunderts induftriell, Kapitaliftifch und rentabel ge 
worben ift, und dat das Verhalten vieler Nittergutsbefiger bie heutige Lane 
flucht verfchuldet hat. Wie e8 in folcden Fällen zu gehen pflegt: mit der 
Schuldigen werden die Unfchuldigen, namentlich die Bauern, getroffen; dx 
Aufbeflerung der Löhne und der Koft, zu denen fich jet bie Gutsbeſiter 
gezwungen fehen, fommt zu fpät. (K 338; A 93). Die Hauptſchuld as 
der Entvölferung des Dorfes trägt übrigens der Militärbienft. Der Dörfler 
wird immer der befte Soldat bleiben, nur muß man ihn nicht drei, und 
nicht zwei Jahre bei der Fahne behalten; damit verftädtert man ihn. 

2. Bon dieſer Seite her, nicht durch die ausländifche Konkurrenz m) 
den niedrigen Getreibepreis, find die Bauern bedroht. Bom Induſtrialismus 
nur infofern, als ihr Gewicht im Staate fchwinbet, da fie einen immer 
Heineren Prozentfag der Bevölkerung ausmachen und dur das Uebergewich 
de3 induftriellen Reichthums an Anfehen verlieren. Von dem Vergleich mil 
den Nabob3 und deren hoch bejoldeten Direktoren abgefehen, Ieben fie nidt 
ſchlecht. Nicht fie find zu bedauern, fondern der immer größer werdendt 
Theil des Nachwuchſes, dem der Boden gefperrt, die Möglichkeit, Ländlichen 
Grundbeſitz zu erwerben, genommen ift. Wie immer man fi num die Roth 
der Landwirthichaft denken mag: mit Schuszöllen kann ihr fo wenig abge 
bolfen werden wie mit der Doppelmährung, bem Getreibemonopol, ber 
Börfenreform und den übrigen längft begrabenen Mitteln der Agrargelehrten 
Tede Erhöhung de Getreidepreifes fteigert die Grundrente und damit der 
Preis der Landgüter; die Fünftliche Steigerung durch Schutzzoll Kat dieſe 
Wirkung um fo ficherer, weil fie für dauernd gehalten wird, was bei der 
Steigerung durch eine Inappe Ernte, die außerdem den Vortheil aufheben 
kann, nicht der Fall ift. Gerade die Preisfteigerungen find es daher, dit 
Krifen erzeugen; und den Preis der ländlichen Grundftüde niedrig halten, 
ift das einzige Mittel, Agrarkfrifen vorzubeugen. Nicht der Kulturfortſchritt 
fondern die zunehmende Volksdichtigkeit und Bodenknappheit, die freilich im 
heutigen Europa mit dem technischen Fortichritt in Wechfelwirkung fehl 
erhöht nothwendiger Weife den Getreidepreid. Wagner geht über diefe 
Schwierigfeit viel zu leicht hinweg. Auch wenn e8 wahr wäre, daß heute 
viele Landgüter feine Rente mehr abwerfen, würde dadurch der angegeben 
Grund gegen Agrarzölle nicht entkräftet. Die Erhöhung der Getreidepreift 
würde bewirken, daß wieder Grundrente entftünde, die fleigende Konjunktur 
würde, wie e8 immer gefchehen ift, beim Verkauf, bei der Erbtheilung und 
bei der Aufnahme von Meliorationhypothelen eskomptirt werden und det 
nächſten Bejiger würbe der niemals ausbleibende Preisrüdgang für 
Daß die Hebung des Getreidepreifes bie Produftion vermehren und Destiä 


Induſtrieſtaat oder. Agrarſtaat? 377 


land vom Auslande unabhängig machen würde, ift fehr unmahrfcheinlich. 
Gerade die Nothwendigkeit, den Preisfall durch die Vermehrung des Ertrages 
aussugleihen, hat die deutfchen Landwirthe zu Verbeſſerungen gebrängt, deren 
glänzender Erfolg ihnen zur höchſten Ehre gereicht. Hinter der Schugmauer 
eined hohen Zolles, die den Import unmöglich machte, würden fie es, wie 
vor 1846 die englifchen Landlords und Pächter, bequemer finden, die Bolks- 
vermehrung bei gleichbleibender Produktion den Preis noch weiter fleigern zu 
taflen. (W 97. 119; A 9. 28. 116-121. 166). 

3. Doc hat auch Huber Recht mit Allem, was er zum Lobe der 
induftriellen Entwidelung anführt. Sie ift nothwendig, weil im gefchloflenen 
Staate nach vollfländiger Auftheilung be3 Bodens der Bevölkerungzuwachs 
nur in der Induſtrie und im Handel untergebracht unb meil das in immer 
flörferem Maße nothwendig werdende Importbrot nur mit erportirten Induftrie- 
erzengniffen bezahlt werden kann. Der Welwerkehr und die Probultion- 
fteigerung, die er erzwingt und ermöglicht, bereichern bie darein verflocdhtenen 
Völker nicht allein durch die fteigende Menge der Güter, fondern auch durch 
die wachfende Zahl und Mannicfaltigfeit der Güterarten umb durch eine 
Fülle technifcher, gefchäftlicher und geiftiger Anregungen. Die Verflechtung 
jelbft erfchwert den Krieg und verftärkt die Triedensliebe immer weiterer 
Kreife, was die Humaniſirung der Völker zur Kolge — haben könnte. Und 
wenn der induftriefle Fortfchritt duch fleigende Noth bei Bodenknappheit 
erzwingen wird, gereicht auch diefer Zwang der Volksgeſundheit zum Heil. 
Die Völker des Haffifchen Alterthumes find zu Grunde gegangen, weil die Zu⸗ 
nahme ftodte, ihre Produktivkraft den damaligen Bedürfnifien reichlich genügte, 
feine Roth zu Erfindungen trieb, Herren und Sklaven faullenzten und ver- 
Iotterten. Auch dem geiftig Geſunden, daher Arbeitwilligen, ift Zwang zu etwas 
mehr Arbeit, al3 er freiwillig leiften würde, fehr gejund; da num bei der Mehr⸗ 
zahl die Archeitiwilligkeit zu wänfchen übrig läßt, fo iſt der Zwang, den 
die Noth übt, für die Erhaltung der Bollsgefundheit nicht zu entbehren. 

4. Freilich hat diefer Nuten der Noth, die zum technifchen Fortfchritt 
treibt unb den Imduftrialismus fördert, wie Alles in der Welt feine Grenze. 
Diefe Grenze ift auf dem Punkt überfchritten, von wo ab die Noth nicht 
mehr das ganze Volt Fräftigt, fondern einen immer flärker anjchwellenden 
Theil zur Entartung verurtheilt. . Daß trog der Verlümmerung von millionen 
Menſchen die Gütermaffe, der Nationalreichthum fteigt, bebentet feine Ent- 
fhädigung und feinen Troſt. „Die Menfchenkultur ift auf jeden Fall wic- 
tiger und nothwendiger al die Erhöhung der Induſtrie und des äußeren 
Wohlftandes“, hat die potsdamer Regirung in einem Erlaß vom Januar 
1828 geſagt. Wagner hat volllommen Recht, wenn er (W 32) auf bie Be: 
.reicherung durch die Induftrie das Wort Jeſu amwendet: Was nütte e8 dem 


28* 


| | 
378 Die Zukunft. 


Menfchen, wenn er die ganze Welt gemönne, aber Schaden an feiner Seele, 
alfo an feinem Menſchenthum litte? Das ficherfte Merkmal der eingetretenen 
Entartung find die Kindergräuel. In England find diefe Gränel aus den 
Fabriken und Gruben verfcheucht worden, aber in der Hansinduftrie, in der 
fogenannten Familie und auf der Straße mwuchern fie fort. Was. Deutſch⸗ 
fand betrifft, fo hat die amtliche Statiftif über 550000 im Gewerbe thätige 
Schulfinber, die Lehrerenquete, deren Ergebniffe Agahd veröffentlicht, ſchauder⸗ 
bafte Einzelheiten ergeben und der Staatsſekretär Graf Poſadowsky Hat bei 
Berathung de8 neuen Kinderſchutzgeſetzes gefagt: „Unter Umftänden fann 
ber erzieherifche Werth ber Arbeit darin beftehen, daß ein folches Kind zum 
Krüppel ober Fdioten erzogen wird." Ein Staatsfelretär muß ſolche Früchte 
des fogenannten Kulturfortfchritt auch dann noch verfchleiern, wenn er da⸗ 
gegen anfämpft, fonft würde Bofadowsty ftatt „unter Umftänden fan fein” 
„in viel Hunderttaufend Fällen iſt“ gefagt und vor „erzogen“ „zum Ber- 
brecher* eingefchaftet haben. Die in der Landwirthſchaft befchäftigten Kinder 
fehlen in der Statiftif und die Zahl der im Gewerbe verwendeten ift wahr: 
fheinlih noch viel zu miedrig angegeben. Kinder zum Brotverdienft zwingen, 
ift eme in alten Zeiten und bei barbarifchen Völkern unbelannte Barbarei 
und in dem Maß und in der Weife, wie e8 heute gefchieht, doppelt Barbarei. 
Es hieße, die in Betracht kommenden Millionen deutfcher Väter und Mütter 
für Kanibalen erflären, wenn man annehmen wollte, daß etwas Anderes al 
die bitterfte Noth fie beitimme, ihre Kinder dem Moloch zu opfern. Den 
Ausſchluß der landwirihſchaftlich befchäftigten Kinder aus dem neuen Gefeb 
würde ich für gerechtfertigt halten, wenn die Berhältniffe noch fo wären wie 
zu der Zeit, wo ich das Land kennen gelernt habe. Die Iandwirthfchaftlichen 
Befchäftigungen find an ſich gefund und den Kindern lieber als das Sigen 
in der Schule. Ob Das in den legten Jahren wefentlich anders geworden 
ift, ob die Induftrialifirung der Landwirthfchaft ungebührliche Ausnügung ber 
Kinder, befonders beim Rübenbau, in den nördlichen Provinzen Preußens zur 
Folge gehabt Hat, vermag ich nicht zu beuriheilen. Es ift auch viel von der 
fittlichen Berderbniß der Hütelinder und anderer Kategorien die Rede geweſen. 
Daß die Randwirthfchaft Keine Schule möndifcher oder muderifcher Keuſch⸗ 
heit, fondern eine beftändige Einladung zu derbem Gefchlechtsgenuß ift und 
daß die mit der Begattung des Viehs vertrauten Dorffinder bie ſtädtiſche 
fogenannte Unfchuld gar nicht kennen, verfteht fich für jeden nicht dämlid. 
Menfchen von ſelbſt. Das mögen die Freilinnigen und die Sozialdemokrate 
den Konſervativen vorhalten, fo oft fich diefe Herren in der Rolle von Schn 
engeln der Unfchuld Lächerlih machen; aber wenn fie fich über die Thatſach 
ftatt über die konſervative Heuchelei, entrüftet ftellen, fo machen fie fich felbf 
lächerlich. Sollte es freilich wahr fein, daß durch die Einrichtungen vie 








Induſtrieftaat oder Agrarſtaat? 379 


Gutshöfe die Schulkinder in den Geſchlechtsverkehr der Knechte und Mägde 
hineingezogen werden, ſo müßte Dem, nicht um der ſogenannten Sittlichkeit 
willen, ſondern im Jutereſſe der Volksgeſundheit und der öffentlichen Sicher- 
heit ernitlich gewehrt werben. 

5. Daß ein Theil der induftriellen Bevölkerung verfümmert, erklären 
gewiſſe Entwidelungtheoretifer für die zur Raſſenverbeſſerung nothmendige 
Ausfcheidung und Vernichtung der Minderwerthigen. Aber die Minder- 
werthigen werden, wenn man bon den in Zuchthäufern lebenslänglich Ein- 
geiperrten abfieht, nicht an der Fortpflanzung gehindert; ſtrophulöſes und 
fonft verfümmertes Bettelgefindel ift vielfach fruchtbarer al3 die fräftigen und 
gefunden Beligenden. Und dann: man mag die Buren für fo fchlecht halten, 
wie man will, — daß es Verkrüppelte und Verkummerte unter ihnen gebe, hat 
ihnen noch Niemand nachgefagt. Bei ihrer Lebensweife entjteht gar feine 
Menfchheithefe, deren Ausscheidung und Vernichtung wünfchenswerth erfihiene; 
folche entfteht eben nr auf dem Gegentheil der burifchen Lebensweiſe, unter 
den Belitlofen, in dicht bevölferten Ländern, befonders in Großſtädten und 
bei vielen gewerblichen Beichäftigungen. Daß ein gewiffer Grad von Zu: 
ſammendrängung und Noth erforderlich if, um die Gewerbe und den techni- 
ſchen Zortichritt zu erzeugen, habe ich vorhin felbft gefagt. Aber der technifche 
Fortfchritt, fo unentbehrlich er für das Dafein einer ftetig wachfenden Menſchen⸗ 
menge fein mag, bedeutet Feine Veredlung der phyfifchen und der geiftigen 
Natur des Menfchen und keine Steigerung feiner Naturanlagen, feine Züch⸗ 
tung einer höheren Raſſe, wie ich -in der Schrift „Sozialanslefe” nad: 
gewieſen habe. Was ftetig fortfchreitet, ift die Volllommenheit der Maſchine 
und die Produftenmenge, nur zum Theil auch die Güte der Produkte, gar 
wicht die der Menſchen. Gewiſſe einfeitige Fertigkeiten des Dienfchen werden 
‚gefteigert; aber daß der englifche Mafchinenfpinner beinahe doppelt fo viel 
Spindeln beauffichtigen kann wie der beutfche: Das macht ihn nicht zu einem 
höheren Typus der Gattung Menfh. Im Gegentheil wird durch die immer 
weiter gehende Spezialifirung der gewerblichen Arbeit und durch die vollftän- 
dige Trennung der fchöpferifchen, künftlerifchen und Leitungarbeit von der aus⸗ 
, führenden Handarbeit ein immer größerer Prozentfag von Menſchen degrabirt. 
Und um den evolutioniftifchen Optimismus Eduard3 von Hartmann ift es 
fo übel beftellt wie um die Selektion nad Darwin. Das Ningen mit der 
Natur ımd ber Kampf gegen feindliche Naturgewalten ftärkt Körper und Geift 
und veredelt. In der Noth einer Springfluth und beim Deichen fühlen fich 
| Arm und Reich ald Brüder. Und eine durch die Kargheit der Natur erzeugte 
Hungerönoth verbittert die Menſchen nicht gegen einander, fondern verbindet 
fie als Leidensgefährten. Aber die Noth der Armen im modernen Induftrie: 
: faat, deſſen Speicher ein unabfegbarer Ueberfluß füllt und deſſen Millionäre 


‘380 Die Zutunft. 


nicht wiflen, wie fie jich der erdrüdenden Zinfenanfammlung erwehren follen, 
verbittert und vergiftet; und der Konkurrenzlampf, der Kampf um die Ber⸗ 
theilung des Futters und am ben Play am Futtertrog, ber im Geheimen 
geführte Kampf gegen den Mitbewerber um ein Amt, der mit Schwindel, 
Reklame und Berleumdung geführte Kampf um die Kunden: der züchtet 
alle gemeinen und häßlichen Triebe und macht den modernen Menfchen mit 
feiner Tugend» und Humanitätmasfe zu einem unangenehmeren Geſchöpf, 
al8 der Straßenräuber eins if. Zu der Scheinarbeit, die über den Mangel 
an Öelegenheit zu probuftiver Arbeit Hinmwegbelfen muß, gehört auch die Arbeit 
der Poliziften, Richter und Aufpafier, die den giftigen Konkurrenzkampf in 
den Schranken äußerlicher Wohlanftändigfeit halten müſſen, und bie Arbeit 
der Gefengeber, Agitatoren und Zollbeamten, die die Vermehrung der Güter 


maffe zu hindern, alfo bie produktive Arbeit einzufchränten haben. Nur. 


gewiſſe Tugenden zweiter Orbunng, bürgerliche Tugenden, erziwingt und förbert 
der Induſtrialismus; fo kann der Großhandel ohne abfolute Zuverläffigfeit 
und moralifche Kreditwürdigkeit nicht beftehen. 

6. Daß der Induftrialismus und ber technifche Fortſchritt die Guter⸗ 
menge vermehrt haben, iſt nun freilich mit Dank anzuerkennen, aber nicht 
als ein großes Verdienſt zu preilen. Es wäre doch gar zu abſurd, wenn 
die 255 Millionen eifernen Männer, bie im deutjchen Reid) arbeiten, die 
täglich vierundzwanzig Stunden arbeiten fünnen, ohne zu ermüben, und bon 
denen jeder nur auf ein Achtel Defien zu ftehen kommt, was der Lebens 
unterhalt eines lebendigen Mannes koſtet (H 28 bis 29), wenn die nur 
immer wieder andere Mafchinen und nicht auch Gebrauchs: und Genußgüter 
ſchafften. Aber was nügt uns, daß bie Nähnadeln vierzigmal zahlreicher und 
daher vierzigmal mwohlfeiler geworden find als zu der Zeit, wo man fie mit 
der Hand anfertigte, und dag man mit dem in Speichern und Läden lagernden 
Kattun alle Planeten umhüllen könnte? Allerdings find im vorigen Jahr⸗ 
hundert die deutſchen Arbeitlöhne, in Geld ausgebrüdt, auf das Doppelte umd 
Dreifache geftiegen, was bei der gleichzeitigen Verbilligung ber Kunſterzeug⸗ 
niffe den vierfachen Naturallohn bedeuten fünnte. Allein das Brotlorn if 
heute noch nicht fo mwohlfeil, wie e8 1820 bis 1840 war, Fleiſch und Butter 
jind brei- bis viermal fo theuer, eben fo die Wohnung. Dabei befteht ein 
ftärferer Zwang zu Anftandsausgaben, und was die in Großſtädten und im 
verräudherten, mit Schutt und Afche bededten Induftriebezirten zuſammen⸗ 
gepferchte Bevölkerung an Naturgenuß, gefunder Luft, Licht und was ihre 
Jugend an Bemwegungfreiheit verloren hat, kann gar nicht in Gelb abgeichägt 
werden. Huber ift auch fo ehrlich, einzugeftehen, daß fich wicht ermitteln 
läßt, in welchem Maße bie vermehrte Gütermenge den unteren Klaſſen zu 
Gute fommt (H 53, 58, 62 bis 63). Aus den Statiftifn von Bictor 





mduftrieftaat oder Agraritant? ' 381 


Bsshmert und Huckert, die eine bedeutende Steigerung des Brot⸗, Fleiſch-, 
Butter: und Eierkonſums nachweiſen, wird voreilig zu viel geſchloſſen. Wenn 
man die letzten vierziger Jahre zum Ausgangspunkte nimmt, dann iſt die 
ſtarke Steigerung ſelbſtverſtändlich. Denn damals bat eine Hungersnoth 
Deutſchland heimgeſucht. deren Wiederkehr für eine abſehbare Zukunft un- 
möglich gemacht zu haben, das unbeſtreitbare Verdienſt des techniſchen Fort⸗ 
ſchrities und des Welthandels iſt. Aber wenn man auch für die Zeit zwiſchen 
den napoleonifchen Kriegen und 1845 behauptet, das. Volk habe damals 
weniger Brotkorn, Fleiſch, Mil und Butter gegeffen als heute, fo glaube 
id) Das einfah nicht. Die Statiſtik kann für jene Zeit nichts Sicheres 
nachweiſen, weil es damal3 noch wenig amtlihe Statiftif gab und weil fich 
bei vorherrjchender Naturalwirthichaft, wo Jeder feine eigenen Produkte kon- 
fumirt — die Bevölkerung beſtand faft zu vier Yünfteln aus Bauern und 
Aderbürgern —, der Konſum fchlecht kontrolicen läßt. Da diefer Zufland 
auch nad) 1845 erjt allmählich der reinen Geldwirthichaft gewichen ift, fo 
find höchſtens die Zahlen der legten drei Jahrzehnte zuverläffig. Aus dem 
zulest angeführten Grunde bat auch die Rohnfteigerung weniger zu bedeuten, 
al8 auf den erjten Blid feheint, denn zu Anfang des weunzehnten Jahr: 
hunderts machten die ausfchlieglih von Arbeitlohn lebenden Berfonen nur 
einen Heinen Prozentſatz der Bevölkerung aus, heute find fie die reichliche 
Häffte. Außerdem ift die Vertheilung ungefund. Die Beamten, denen es 
ja zu gönnen ift, leben heute viel befjer, die unterfte Arbeiterfchicht Schlechter 
al3 vor jechzig bis fiebenzig Jahren. . Dann: der jugendliche Arbeiter in 
einer gut zahlenden Induſtrie verdient feine 600 bis 700 Markt und vers 
frißt, vertrinft und verraudt fat fein ganzes Geld. Der verheirathete Dann 
-befommt im felben Induftriezweig 1000 bis 1200 Mark und foll damit fi, 
eine Frau und vier bis ſechs Kinder nähren, Heiden und beherbergen; er 
kann nicht, wie der jugendliche, zum zweiten Frühftüd und zum Abendbrot 
did belegte Stullen verzehren; noch weniger kann es feine Frau, die oft mit 
dreißig Jahren ein abgemagertes Jammerbild it. Später Helfen bie Kinder 
vielleicht ein paar Jahre lang vertienen. Aber mit fünfzig Jahren ift der 
Mann wieder auf feine eigenen zwei Hände angewiejen und verdient weniger 
al3 in den Fahren feiner beften Kraft. Das mehr verbrauchte Fleiſch fommt 
aljo vielfach in den unrechten Magen. 

7. Malthus hat demnach zwar nicht, wie Adolf Wagner glaubt 
(W 53 bis 58), in allem MWefentlichen Recht, aber er hat menigftens eine 
wirklich vorhandene Tendenz erlannt, fie allerdings fo falih wie möglich 
formuliert. Nicht Lebensmittelmangel entfteht nothwendiger Weife durch die 
Vollövermehrung, denn mit jedem Maul kommen auch zwei Hände und ein 
Kopf auf die Welt; und die Agrarier aller Länder möchten heute am Liebſten 


382 Die Zukunft. 


die Hälfte alles Brotkorns, Zuckers, Kaffees, fammt Roſinen, Kalao um 
Gewurz ins Wafler werfen. Sondern nur ber Zugang zu ben reichlich vor 
bandenen Nahrumgmitteln wird immer. fchwieriger, weil bei ber heutige 
Geſellſchaftordnung Jeder nur durch Verkauf feiner eigenen Waare, die ki 
Vielen blos aus der Arbeitfraft befteht, daB zum Kauf ber Lebensmittel er 
forderlicde Geld erwerben kann, der Abfat aller Waaren aber durch bie unſerer 
Produltionordnung immanenten Wiberfprüche immer fchwieriger wird. (Könnten 
diefe Widerfprüche aufgehoben werden, fo würde der technifche Fortſchritt die 
Gutermaſſe in dem Grade vermehren, daß alle Güter beinahe umſonſt zu 
baben, alle Menſchen reich, die Träume der Sozialisten, das Paradies, das 
Schlaraffenland verwirklicht wären.) Malthus hat ferner das von Lil aus 
gefprochene Gefeg der Bevölkerungskapazität nicht gelannt, wonach zunehmende 
Bolfsdichtigkeit und entfprechende Steigerung der Gewerbethätigfeit auch ben 
Ertrag ber Landwirthichaft fteigern, — bis zu einer gewiſſen Grenze. Wird 
diefe Grenze, bie nah Klima, Bodenbefhaffenheit und BVollstüchtigkeit ver- 
ſchieden liegt, überfchritten, fo tritt allerdings Nahrungmittelmangel ein, wenn 
zugleich die Nahrungmitteleinfuhr gehindert oder erjchwert wird; auperben 
zieht die übermäßige Menfchenanhäufung auf Heinem Raum die befannten 
Ücbelftände nah fih. Es giebt alfo eine relative Uebervölferung unteren 
Grades, die durch technifchen Fortichritt überwunden werden kann, und eine 
relative Uebervölferung höheren Grades, die durch feinen technifchen Fort⸗ 
{chritt mehr zu überwinden ift. Diefe fündet fi ſchon dur die Unmög⸗ 
lichkeit an, alle Volksgenoſſen probuftiv zu befchäftigen. Daß es bei und 
fo weit ift, glaube id), bewiefen zu haben. (U. U. Z 8. Juli 1899, ©. 67 
bi8 71; 15. Dezember 1900, ©. 446, K 315 bis 340.) Der Iettt 
Auffhwung war dem Bau eleftrifcher Anlagen und den lottengefegen 
zu verdanken. Jener kann nicht im felben Tempo weiter gehen wie bei ber 
erften Einführung der neuen Triebfraft und viele Flottengefege können wir 
nicht mehr erleben, weil die MWeltwirthichaft, wie Huber beweift (H 1583, 
172, 184, 192 bis 194), zum Frieden zwingt und, wie die Haltung der 
Großmächte England gegenüber in den legten beiden Jahren offentundig ge 
macht hat, da8 Groffapital, deifen Commis die Negirungen find, feinen 
Krieg will. Polizei und Strafjuftiz zwingen das Elend, fich zu verfteden, 
und verhindern das Belanntwerden der Arbeitlofigfeit, erweifen aber dadurch 
der Nation einen fchlechten Dienft, indem fie deren Keitern den wirklich 

Zuſtand verbergen und dadurch die rechtzeitige Beſchreitung des Auswe— 

unmöglid) machen. Arbeiterſchutz und Arbeiterverfiderung find zwar no 

wendig, aber ber Ausweg find jie nicht. Nachdem die internationale Arbeit 

bewegung den Gefeggebern die Augen und Ohren geöffnet hatte, haben | 

die Negirungen aus Furcht vor der Abnahme der Militärtüchtigkeit, 











Induſtrieſtaat oder Ugrarftnat ? 383 


Unternehmer aus Furt ‚vor dem Rüdgang des Konſums, die Beiftlichen 
aus Furt vor dem Abfall der Gläubigen zum Atheismus, die Parteihäupt- 
linge aus Furcht vor dem Verluſt ihrer Wähler, alle Befigenden aus Furcht 
vor der Verbreitung des Verbrecherthumes und der anftedenden Krankheiten 
zu einer Sozialgefeggebung aufgerafft. Aber alle Hugienifchen und Arbeiter- 
gefege zufarımen vermögen höchſtens einem Theil der Arbeiterfchaft die ge- 
funden Lebensbedingungen wieder zu verfchaffen, die ihre Vorfahren vor 
Hundert Jahren und noch mehr die vor fechshundert Jahren ohne Yürforge 
des Staates koſtenlos genoſſen haben. Die Reiftung der Sozialdemokratie 
befchräntt fi auf den Aufflärungdienft und die Organifation eines Wider⸗ 
Standes gegen Lohndrückerei, der die Unternehmer wenigſtens fo weit zur Ber- 
nunft zwingt, daß fie fich nicht durch Konfumverminderung ſelbſt erwürgen. 
Daß die Sozialdemokratie mehr nicht vermag, hat jeder Einfichtige aud) vor 
dem belgischen Mißerfolg Schon gewußt. Es giebt nur einen Weg zur Auf- 
hebung der Lohnſklaverei: freies Land! Wo jeder Menfch Grunbbefiger werben 
kaun, hat feiner nöthig, feine Arbeitkraft einem anderen zu verlaufen. Ein 
folder Zuftand würde nun freilih da3 Ende der Kultur fein, die ohne 
Sklaverei in irgend einer Form nicht beftehen kann, aber um dieſe zu mildern 
und erträglich zu machen, giebt e8 fein anderes Mittel als die Verminderung 
de8 Angebotes von Arbeitkraft entweder durch die nenmalthufifche Praris oder 
durch die Auswanderung in Aderbaufolonien mit wohlfeilem Boden. 

8. Auch die Steigerung des Erportes ift nicht der Ausweg. wie England 
beweift. England ift weder durch „Fleiß und Sparſamkeit“ noch durch 
Freihandel reich geworden, fondern auf folgendem Wege. Es hat dur 
Seeraub, Sklavenhanbel und die Ausplünderung Indiens ungeheure Kapitalien 
aufgehäuft. Ferner hat e8 den ren unter dem Borwande der Religion ihr 
Eigenthum geraubt und fie zu feinen Arbeitfllaven gemacht, indem es ihnen 
jede Induftrie und den Heringfang an ihrer eigenen Küſte verbot. Auch die 
amerifanifchen Neuenglandftanten fuchte es in folche Abhängigfät von ſich 
zu zwingen, daß ihre Bewohner nicht einmal einen Hufnagel felbft anfertigen 
durften. Wer mit England Handel treiben wollte, mußte fich englifcher 
Schiffe bedienen. Nachdem die Bauern der Wollinduftrie wegen ihres Landes 
beraubt worden umd ihre Nachkommen Proletarier geworden waren, konnte 
fih King Cotton buch den weltgefchichtlichen Kindermord Arbeitkrafte ver- 
fchaffen, die beinahe foftenlo8 waren. Mit dem auf diefem Wege produzirten 
wohlfeilen Kattun wurde die Tertilinduftrie aller Ränder vernichtet, namentlich 
die fchleilfche Leinen- und die indifhe Muſſelinweberei. Damals bleichten 
unter dem fchönen Himmel Indiens die Gebeine verhungerter Weber. Der 
englifche Weber, fchrieb ber London Spectator, works so cheap, that he 
starves the poor Hindoo, and then starves himself. Hochſchutzzoll 





384 Die Zukunft. 
und Erportprämien förderten die heimifche Induftrie mit Treibhaushide und 
halfen zufammen mit allerlei Handelspraltifen und den vorhin angegebenen 
Mitteln bie des Auslandes ſchwächen oder vernichten. Erft nachdem fſich 
England das Handels: und Induſtriemonopol gelichert zu Haben glaubte, 
ging es, um bie Mitte des vorigen Jahrhunderts, zum Freihandel über. 
Nach noch nicht fünfzig Jahren fah es fein Monopol gebrochen und fein 
Erport fleigt jegt fo wenig, daß er, die Vollszunahme in Anſatz gebradt, 
feit 1872 als ftationär bezeichnet werden kann. (W 164 bi 172). Daß vw 
pafjive Handelsbilanz an fid, fein Unglüd ift und unter Umpftänden bes 
Steigen des Nationalreihthumes anzeigen kann, iſt richtig. Aber bei eıner 
gewiſſen Größe der Differenz tritt die Nothwendigleit ein, zur Dedung dei 
Defizit das Nationalfapital anzugreifen, und auf diefem Punfte dürften dir 
Engländer angelangt fein. Der Ruf nad Zollſchutz ertönt immer flärter. 
und wenn ber eben eingeführte Kornzoll eine Heine Relognitiongebühr genannt 
wird, — num, mit einer foldhen hat man andy 1879 in Deutfchland ange 
fangen. Zugleich wird die Ürbeitergefeggebung rückwärts revidirt und bie 
Urbeiter duden ſich furchtſam. Da ruht denn doc der Reichthum ber Wer: 
einigten Staaten auf fichererer Grundlage, deren Bewohner ohne Erport be 
baglich gelebt haben, dann reich geworden find und die jegt, ohne ed nöthig 
zu haben, in fo gewaltig fteigendem Maße erportiren, daß ber Ueberſchuß der 
Ausfuhr über die Einfuhr Schon drei Milliarden Mark beträgt. 

9. Huber klagt die Agrarier an, da fie Liſt mißbrauchten. Das iſt 
richtig; aber er ſelbſt mißbraucht den großen deutichen Nationalöfonomen nicht 
minder, wenn er ihn als einfeitigen Befürworter des Induſtrialismus darftellt, 
und er wird dem freilich in mancher Beziehung phantaftiihen Carey nid 
gerecht, der in der Hauptfache, die Huber verfchweigt, nur Schüler Lifts war. 
Beide haben nämlich, wie eigentlih Thon Adanı Smith, das Houptgewicht 
auf den Nahverkehr, auf das örtliche Zufammenwirken und die innige örtliche 
Verflechtung von Gewerbe und Landwirthſchaft und ihre gegenfeitige Befruchtung 
gelegt: darauf, daß der Schmied, der den Pflug macht, Wand an Wand 
mit dem Bauern wohnt, der ihn gebraucht, was natürlich zu verallgemeinern 
ift. Dei einer ſolchen Organifation der Volkswirthſchaft ſchwindet auch der 
Nimbus, den die Induſtrie duch die Berechnung der ungeheuren in ihr 
angelegten Sapitalien und von ihr erzielten Gewinne erwirbt. Wenn bie 
Gewerbetreibenden und die Landwirthe unmittelbar auf dem nächſten Wochen⸗ 
markt mit einander verfehren, dann brauchen bie Nahrungmittel, die Gewebe, 
die Kleider, die Arbeitmafchinen und Werkzeuge nicht taufend Meilen weit 
fpaziren gefahren zu werden und ein großer Theil der Transportmittel und 
der für jie arbeitenden Meafchinenbauanfialten wird entwerthet. Die Ge 
brauchögüter haben ihren Werth an fi; den Verlehröanftalten und Maſchinen 


— m - 


Snduftrieftaat oder Agrarftaat? 385 


verleiht, ähnlich wie gewiſſen Induſtriepapieren, oft nur unzwedmäßige Wirth-: 
Schaftorganifation einen Werth, den eine Aenderung ber Organifation oder eine 


Wendung der Konjunktur vernichtet. Ganz irreführend ift der Ausdrud (H 236) 


r . um ww 


„unabhängiger Agrarftaat, ber fich felbft genügt“. Ein folder ift gar nicht 
möglich, wenn unter Staat ein Kulturſtaat verftanden werden foll, und bie 
Antwort auf die Frage: Induftrieftaat oder Agrarftaat? Tautet: Weder der 


‚ eine nod der andere ift das Ideal, fondern ber „Agrikultur-⸗-Manufaktur⸗ 


Handelsſtaat“, den Liſt gefordert hat. Selbtverftändlich foll fich ein folcher 
auch nicht mit einer chinefifchen Mauer umgeben, fondern anf den Zollſchutz 
ſchon darum verzichten, weil er ihn beim Nahverkehr gar nicht braucht. 


. Drei Lebensbedingungen eines ſolchen Staates werden aus befannten Gründen 
, von Schuäzöllnern und Freihändlern, auch von Huber, entweder überjehen 


oder verfchwiegen. Soll ber internationale Güteraustaufch wirklich alle Theil- 
nehmer bereichern, dann muß er fich auf die Spezialitäten jedes Landes 
beichränfen. Daß beide Theile gewinnen, wenn die Nordländer Zropen- 
erzeugniffe mit Fabrifaten bezahlen, Liegt auf der Hand; dagegen verlieren 
beide Theile, wenn fie einander ihre Gewebe zufchieben, die jedes von ihnen 
daheim wohlfeiler, mit minderer Aufopferung von Menjchenglüd, heritellen 
fann. Auch gräbt fi der Export von Waaren, die überall oder wenigfiens 
in vielen anberen Ländern produzirt werden können, vielfach jelbit fein Grab. 
Die ſchleſiſchen Schafzüchter haben durch den für den Augenblid vortheil⸗ 
haften Export von Zuchtwiddern nad) Auftralien fich felbft der im Ganzen 
doch noch vortheilhafteren Wollproduftion beraubt und die Engländer ziehen 
ih durch Mafichinenausfuhr überall in der Welt Konkurrenten groß. Die 
zweite Lebensbedingung des jich felbft genügenden Staates ift eigentlich bie 
erfte: ein mit Mineralſchätzen ausgeftattetes Land von hinreichender Größe 
und daS wenigiten® die Zonen des Getreides, des Weines und der Südfrüchte 
umfaßt. Zum Genügen gehört, daß der Boden die hauptfächlichften Nahrung= 
mittel und alle der höheren Kultur nöthigen Rohſtoffe enthält und erzeugt 
und daR das Land groß genug ift, um den Bodenpreiß niedrig zu halten. 
Denn fobald diefer Preis Hoch fteigt, fängt die ungefunde Vertheilung der 
Bevölkerung an. Die drüte Bedingung ift BVolkstüchtigkeit. Rußland 
bat Raum und ein bis in die Zone der Südfrüchte reichendes, auch an 
Mineralfchägen nicht armes Land, aber ein untüchtiges Boll. England hat 
ein tüchtige8 Bolt und Mineralfchäte, aber ein zu Meines Land. Nord> 
amerila erfreut fi) aller drei Bedingungen, und weil es binlänglid Boden 
hat, ganz allein aus diefem Grunde, fann trog Anhäufung fabelhafter Reich⸗ 
thümer in den oberen Schichten auch der Arbeiter noch doppelt fo hoch gelohnt 
werden wie in Deutfchland. Keine Kunſt und kein technifcher Fortſchritt 
vermag das Webergewicht auszugleichen, das ben Nordamerilanern die Größe 


386 Die Zukunft. 


ihres Landes und die Mannichfaltigkeit feiner Erzeugniffe verleiht; der Sief- 
könig Schwab Hat deutlich darauf hingewieſen. Xeiber hat eine don umr 
fättlicher Habgier eingegebene falſche Wirthſchaftpolitik ſchon angefange, 
kunſtlich Bodenknappheit zu erzeugen. Das deutſche Voll bat Tüdhtigfer 
und Geift im Weberfluß, auch Deineralfchäge, aber ein zu Fleines Land. Sem 
Zuftand nähert fich dem des englifchen; nur befitt e8 feine überfeeiichen U: 
beutung- und Ausmwanderungsgebiete und geringeren Kapitalreichthum, erfrex 
ſich dafür aber noch einer geſünderen fozialen Struftur, namentlich eines Fräftiger 
Stammes von Bauern und felbftwirthfchaftenden mittleren Gutsbeſitzern 

10. Bei der Veränderung der fozialen Struftur und ber Wirthſchait 
verfaffung der Völfer greifen zwei Prozeſſe in einander ein. Der eim ü 
der Wechjel von Differenzirung und Integrirung. In der ımorganilde 
Natur — die organifche bietet für unferen Fall keine Analogie — komme 
die Bewegung durch Ausgleich zum Stillftand, fei e8 in eimer dyemifder 
Berbindung oder durch Aufhebung einer eleftrifchen Spannung. Im Wirtfchet 
leben der menjchlichen Geſellſchaft kommt e8 nad) eingetretener Differenziram 
nur felten zu einer Redintegrirung und biefe pflegt fih auf fofale Borgäng. 
zum Beifpiel Verbindung einiger Induftrien mit einer Gutswirthfchaft, Fer 
einigung mehrerer Gewerbe in einer Wagenbauanftalt, zu befchränfen. Em 
durchgreifende Integrirung, wie fie vor zwanzig Jahren Werner Siemens 
als möglich in Ausficht geftellt Hat, durch Decentralificung der Induftrie me 
Hilfe der Elektrizität, würde das Ideal von Liſt-Carey verwirklichen, die 
innere Solonifation vollenden, die geographifche Abhängigkeit der Induſtrie 





von den Kohlen und Erzlagern aufgeben und den in vielen Beziehungen 


unerfreulichen Kohlenverbrauh vermindern. Belgien ift ein einigermaßen 
integrirter Staat. Völlige Integrirung, die weitere Veränderungen unndthig 
machte und alles Wünfchen ftillte, würde den geiftigen Tod eines Bolfes 
bedeuten. Dieſer könnte jedoch auch auf dem entgegengefegten, in der phyñ⸗ 
kaliſchen Welt nicht denkbaren Wege der Vernichtung des einen der beiben 
Glieder eines polaren Gegenfagpaares eintreten: gänzliche Vernichtung ber 
Landwirthichaft ift eben fo möglich wie der reine Ugraritaat. Im reinen 
Induſtrieſtaat würden die Menfchen Leiblich verfümmern und zulegt verhungern, 
im reinen Agrarftaat würde das geiftige Leben abfterben. Doc, ſchwankt das 
MWirthichaftleben immer und überall zwifchen den beiden Polen und bie 
Staatskunſt hat der Bewegung entgegenzuwirken, die verhängnißvoll zum. em 
droht; Das ift bisher immer nur die Bewegung in der Richtung zu fla' fer 
Difjerenzirung geweſen. So lange aber die Differenzirung befteht und f rt 
fchreitet, darf fi das eine Glied über dad Anfchwellen feines Gegenpc 13 
nicht befchweren, denn jie find jiamelifche Zwillinge, die ohne einander n it 
leben können und von denen feiner wachjen kann, wenn nicht der ander in 


Induſtrieſtaat oder Agrarftaat? 387 


: gleihem Mafe mitwächft. Die Großftabt muß ohne das Grofgut, das 
Induſtrievolk ohne das Agrarvolk verhungern, der Großgrundbefiger müßte 
ohne eine dicht gebrängte Induftriebevölferung, die feinen Aderbau treibt, 
feine Aecker brach Liegen laffen. Der oftelbifche Großgrundbefig hat bis 1870 
von England gelebt und lebt feitdem von Berlm. Berlin und ber induftrielle 
Weiten Deutfchlands eben von Dftelbien, Rordamerifa und Rußland. Es 
ift alfo thöricht, wenn die Agrarier und die Smduftriebevölferung einander 
Hafen. Urfache, mit Beiden unzufrieden zu fein, haben die Bauernknechte, 
die bei dem heutigen Buftande nicht Befiger, und die Handwerfögefellen, die 
sicht Meiſter werden Tönen. (H 270, K 465). Den anderen Prozeß bringt 
der ftete Vollszuwachs in Fluß, da er die Spannung zwiſchen Volkszahl 
und Boden erzeugt. Diefe Spannung treibt Koloniften über die Grenze. 
Wird die Grenze gefperrt, fo fucht die eingeengte Bevölkerung durch tech- 
nifchen Fortjchritt entweder den Ertrag des Aderbaues zu erhöhen oder mit 
Erportwaaren importirte Lebensmittel zur bezahlen ober Beides zugleich zu 
thun, wie e8 die legten Jahrzehnte lang im Deutſchen Reich gejchah. ‘Der 
vorhin als denkbar erwähnte geiftige Tod durch volllommene Integrirung 
würde da8 Stagmiren der Bevölferungbewegung vorausfegen. 
11. Es wäre überfläflig, zu unterfuchen, ob Deutfchland auf diefem 
Wege, durch Verzicht aufs Kinderzeugen, zur Ruhe kommen könnte; dag 
deutfche Bolt will diefen Weg nicht befchreiten. Wenn nun weiterer tech 
nifcher Fortſchritt, weitere Intenfifilation der Landwirthſchaft ımd der In⸗ 
duftrie, weitere Anftrengungen zur Ausdehnung des Exporte uns nicht hin⸗ 
länglih Luft machen — und ich bin mit Wagner der Anſicht, daß diefe 
Mittel bald verfagen werden —, fo bleibt nichts übrig, als wieder zum anderen 
Mittel zu greifen, zur Gebietserweiterung, die allein auch, durch Befchaffung 
wohlfeilen Kolonialbodens, die innere Kolonifation, durch Sturz des Boden: 
preifes, in großen Fluß bringen könnte; denn was heute mit Unjiedlungfonds 
von einigen hundert Deillionen geleiftet werden kann, ift ein Tropfen auf 
einen heißen Stein. Wie ih mir die Sache denke, habe ich oft gejagt. 
12. Auf den Einwurf, daß mein Vorſchlag utopifch fei, Habe ich 
(N 127) und fonft geantwortet: Der fozialiftifche Zufunftftaat ift eine Utopie; 
die Mittel, die der Bund der Landwirthe zur Hebung der Nöthe feiner Mit⸗ 
glieder vorfchlägt, jind utopiſch; der thatſächlich unternommene Verſuch, die 
Beſitzloſen politifch frei zu machen und fie zugleich wirthichaftlich und fozial 
in gehorfamer Abhängigkeit zu erhalten, war eine liberale Utopie; aber Löſung 
einer unerträglichen Bevölferungfpannung durch Eroberungskriege zum Zwecke 
der Kolonifation ift fo wenig utopifch, daß fie vielmehr feit viertaufend Fahren 
den Hauptinhalt der Weltgefchichte bildet und daß bie wichtigften Staaten 
auf diejem Wege entitanden find; für Preußen ift nicht .einmal die Be— 


888 Die Zuhmit. 


völferungfpannung die Triebfeder zu feinen Eroberungstriegen gewefen. Die 
Jahre 1866 und 1870 haben die Xebensbedingungen der Völker nicht ge 
ändert und bedeuten nicht den Schluß der Weltgefchichte.e Sollte fich ber 
angedeutete Weg, obwohl er für richtig im Prinzip anerkannt wird — Waguer 
{W 82 und 83) und Huber (H 160. 167) deuten ihn jhüdtern an — als 
ungangbar erweifen, fo würden fehr bald die Beifimiften wie Wagner umb 
Didenberg gegen Optimiften wie Huber und Brentano Recht befommen. 

13.. Ueber die Einzelheiten des Zolltarifes ift fein Wort zu verlieren. 
Ob fünf oder at Mark Kornzoll erforderlich find und im Stande fein 
werden, das Gut de8 Herrn von X. vor der Subhaftation zu bewahren; um 
wie viel ein Zoll von fünf ober ſechs Mark den Getreidepreis fteigern, um 
wie viel diefe Steigerung den Brotpreis erhöhen, ob dem Arbeiter dieſes 
und jenes Induftriezweiges die Rebensmittelvertheuerung durch Tohnerhöhung 
ausgeglichen werden wird; welche Lohnerhöhung diefe und jene Induſtrie zu 
tragen vermag; ob es dem Deutfchen Reich zum Segen gereichen wird, wenn 
es bie Efel zollfrei einläßt und die Ochfen audfperrt, und ob nicht die Dehfen 
trog ihrem bedeutenden Volumen unter dem Namen von Brautgefchenfen, 
die ja frei gelaffen werden follen, durch die Zollfchranfe fchlüpfen werden: das 
Alles kann fein Menſch im Voraus wiſſen. Die Herren von der Kommiffion 
mögen ſich ihrer zweitauſend Mark drei Sommer lang erfreuen: die Belt 
wird auch dann fo Hug wie zuvor und fein Abgeordneter durch die Gründe 
der Gegenpartei befehrt fein. Die Entfcheidung hängt eben nicht von national- 
öfonomifchen ober finanztechnifchen Gründen und Beweisführungen ab, ſondern 
von dem Stimmenverhältnif der Interefienten. Zeit fieht: die Zollgegner 
find in der Minderheit, der Tarif wird aljo angenommen. Es fragt fidh 
blos, ob innerhalb der Mehrheit die Ertremen oder die von der Regirung 
unterftügten Gemäßigten fiegen. Darüber werden Gründe entſcheiden, bie 
mit der Nationalökonomie nicht das Mindefte zu jchaffen haben. Das De: 
battiren und Berathen hat alfo höchftens den Zweck, den Mehrheitparteien 
zu Unterhandlungen hinter den Couliffen Zeit zu verfchaffen. Das Ber: 
nünftigfte wäre, gleich im Plenum über die 946 Zarifpofitionen und die 
dazu geftellten Anträge ohne Debatte abftimmen zu laffen, womit man im 
einer Woche bequem fertig werden fünnte. 


Neiſſe. Karl Jentſch. 





32* 


N, 





3% A 18 88 


Klingers Beethoven. 389 


Rlingers Beethoven. 


DS: wunſchen, lieber Harden, daß ich Ihnen über ben Beethoven Klingers 
ſchreiben fol. Sehr gern, weil er ja zum Schönften gehört, was ich 


noch erlebt babe. Aber Sie dürfen nur nicht eine kritiſche Aeußerung von 


mir erwarten. Kritik, wie man jie jegt in Deutfchland verfteht und übt, 


ift gegen meine ganze Natur, die für Operationen des Verftandes nicht viel 


Hat, fondern genießen wil. Wenn ich über Künftler und ihre Werfe rede 
oder fchreibe, fo ift mir Das nur ein Mittel, fie noch inniger zu empfinden, 
wie man oft auf hohen Bergen, um fi blidend, unwillkürlich in einen 


- Monolog über den fchönen Ausblick geräth, weil nun einmal der Menſch, 


was er denkt oder fühlt, felbft erft vecht erfährt, wenn er es mit Worten 
oder doch Geberden dankbar ausgefprochen bat. Wirkt aber ein Werk eines 
Künftler8 auf mich nicht oder wenn es ſchlecht auf mich wirkt, fo wende ich 
mich ab, ohne erfi zu fragen, ob es meine oder feine Schuld ift. Selbit 
bei Werken für die Menge, die den Geſchmack beleidigen, verföhnt e8 mic 
faft, daß fi) doch viele Menfchen, lachend oder weinenb, über fie freuen, die 


Das fonft, als Barbaren in der Kunft, ganz entbehren müßten. Früher 


habe ich mir wohl aud durch Kritiſiren Manches verdorben. Jetzt meine 
ich, daß es nur ein einziges Verhältnig zum Künftler giebt, das fruchtbar 
und rein ift: bie Bewunderung. Wen ich nicht bewundern und lieben kann, 
Der gehört offenbar nicht in meine Welt und fo habe ich über ihn nichts 


zu fagen, weil mir das Drgan für ihm fehlt. Das mag recht unberlinifch 


gedacht fein, aber Sie verzeihen mir fchon, mich Lieber an Goethe zu halten, 
der einmal gefchrieben Bat: „Es kann auch an meiner augenblidfichen 
Stimmung liegen, mir fommt aber immer vor, wenn man von Schriften 
wie von Handlungen nicht mit einer Tiebevollen Theiluahme, nicht mit einem 
gewiſſen parteiifchen Enthuſiasmus fpricht, To bleibt jo wenig daran, daR es 
der Rede gar nicht werth iſt. Luſt, Freude, Theilnahme an den Dingen ift 
das einzige Neelle, und was wieder Realität hervorbringt; alles Andere ift 
eitel und vereifelt nur." Und ähnlich in Dichtung und Wahrheit: „In⸗ 
deflen ift die ftille Fruchtbarkeit ſolcher Eindrüde ganz unfhägber, die man 
geniegend ohne zerfplitternbes Urtheil in fih aufnimmt Die Jugend ift 
diefes höchſten Glückes fähig, wenn fie nicht Keitifch fein will, fondern das 
Vortreffliche und Gute ohne Unterfuchung und Sonderung auf ich wirken läßt.“ 

Es wird Einem nun freilih manchmal recht jchwer gemacht, das 
„zerfplitternde Urtheil“ abzumehren. Sie können ſich gar nicht denfen, wie 
es um ben Beethoven zuging. Jeder wollte da zeigen, daß er es befier ver- 
fteht. Der Ungebildete meint ja, es ſei Etwas, Fehler zu finden. Bildung 
ift es jedoch vielmehr, Fehler zu begreifen, die ja doc, in der Kunft wie in 


390 Die Zukunft. 


der Natur, immer nur die andere Seite von Borzügen find. E3 gehört 
zum Weſen der Form, weil fie ja Begrenzung ift, daß fie, an bloßen Bor: 
ftellungen gemefjen, immer unmahr fein muß. Keine Eiche ift „die Eiche”. 
Sage ih: Beethoven, fo fchlägt diefes Wort taufend Vorftellungen au und 
der Künſtler, der eine erjcheinen läßt, bringt alle anderen gegen fich auf. 
Das geht ja auch jedem Maler fo, der einen Baum malt. Es iſt niemals 
„der Baum“ und fo muß immer wieder ein anderer Maler auf ihn folgen, 
der enblich einmal zeigen will, wie der Baum „eigentlich“. ausſieht. Dadurch 
ift die Kunſt unfterblich. 

Ich kann mir aud) einen anderen Beethoven denen. Ich kann mir 
hundert andere benfen. Und ich kann mir jeden Beethoven in hundert Mo— 
menten denken. Der junge, ber alte, der Menſch, der Künftler. In aller 
Phafen des Schaffens: in der Erwartung der Efitafe, in ihrer Berzüdung, 
in der Ermattung. Wie hat Klinger ihn gefehen? der, vorfichtiger ge- 
fragt: Wie wirkt die Erfcheinung, die ihm Singer gegeben hat? Und aud 
Das kann ich eigentlich) nicht fagen, weil ich nicht weiß, was von dieſer 
Wirkung feiner Statue gehört und was die Werke unferer Künftler, die fie 
umgeben, an Wirkung etwa hinzugefügt baben*). Ich bin unfähig, fie im 
Geiſte auszulöfen und abzutrennen. Ich kann fie mir ohne die Bilder 
Klimt gar nicht denken. Da wäre fie mir wie ein aus einem Liede ge 
riffener Akkord, der doch, was er für mich ift, ganz erft durch die anderen 
wird, die ihn vorbereiten, die ihn begleiten, die ihn vollenden, ohne die ich 
ihn vielleicht gar nicht oder doch ganz anders verftehen würde, auf die ic 
ihn, nehme ich ihn felbft heraus, unwillfürlich immer wieder beziehen muß, 
weil ja, was wir einmal erlebt haben, in der Erinnerung nicht mehr abge- 
theilt, ifolirt und umgerechnet werden kann. Diefe Werke unferer Künſtler 
find ungleihd. Für fi würde mandes gar nichtS bedeuten, wie mande 
Stimme in einem Chor wirken fann, die allein ohnmächtig wäre. ber 
jede8 bringt feine Note hinein, die darin nothmwenbig if. Und der Xon, den 
Klimt ind Ganze giebt, wirkt auf mich fo ſtark, baß ich eigentlich nicht 
fagen kann: Beethoven Klingers, von den Wienern aufgeftellt; fondern fo- 
fagen muß: Das Thema vom Genius, auf feine Art von Klinger und von 
Klimt auf feine ausgedrüdt, zufammen fo groß, daß fie die Anderen” ge 
waltfam mit zu fi) hinaufgeriffen haben. 

Das Thema vom Genius. Ueber der Thür könnte ſtehen: Gradus 
ad Parnassum; oder: Weg zur Efftafe. ch weiß nicht, ob Sie die Chrift- 
liche Myſtik von Görres kennen oder vielleiht einmal die Belenntniffe der 
Heiligen Therefa, die der Heiligen Angela von Foligno gelefen haben. Was 
in dieſen wunderbaren Büchern gefchildert wird: wie der Menjch, geheinmißs 


*) Inder Wiener Sezeffion tft Klingers Beethoven in einem Raum aude 
geitellt, den Klimt und andere Maler mit ihrer Kunft geſchmückt haben. 





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Klingers Beethoven, 391: 


vol gelodt, durch die Welt abgefchredt, dahin gelangen fann, in feligen 
Stunden das Thierifche zu vergefien und im eime reinere Region zu ſchauen: 


Das hat Klimt Hier gemalt. Erft find es bie leife und zart über und 


binausfchwebenden Wünfche, e8 ift unfere Sehnfucht, die es fortzieht. Sie 
entfegt ſich, wenn jie die wirkliche Welt erblidt, die wirkliche Welt in uns 
felbft, unfere Begierden und Lafter und dumpfen Gewalten, das rielige Thier, 
an das wir gefettet find. Hier fpielt. es fich ab, ob ein Menfch im Gemeinen 
erftiett oder aber, durch Grauen und Abfchen emporgereizt, über das Thier 
hinausgefchwungen wird. Die TZüde des Thierifchen ift da mit einer furcht⸗ 
baren Macht dargeftellt, daß ich eS nur etwa mit dem Thor der Hölle des 
Robin vergleichen fann; man hat fat das Gefühl, es fei hier ein unab- 
änderlicher Ausdruck des Laſters gefunden, der nicht mehr überboten werden 


Tönne; und was man daran die geflifjentlich primitive Technik genannt hat, 


begreift fogleich, wer fich befinnt, daß es ja eben der primitive Mensch ift, 
der Urmenfch in jedem Menjchen, vor dem die Sehnfucht erfchridt. Nun 
aber zeigt die dritte Wand die Erlöfung dur die Ekſtaſe, das Schmeben 
in der Luft des reinen Anfchauens, den Genuß der Gnade. Der Parnaf 
ift erreicht, der Himmel offen, die Sonne tönt. u 

Wie aber, wenn ein Menſch, der einmal in einer erhabenen Stunde 
ih vom Körper entrüdt und des Geiftes gewiß gefühlt hat, mun in das 
verworrene Clement unſeres Lebens zurüdgeworfen wird? Cr hat bie 
Hunmlifchen gehört und jegt ift e8 der Lärm der Leute, er hat angeichaut 
umd jest erlifcht ed. Muß davon nicht eine grauenvolle Spur in fein Geſicht 
gebrannt fein? Er hat die Verachtung des Lebens auf den Lippen: denn 
er weiß jet, dag e8 nur Schein ift, und er ballt zornig die Fauſt, dag er 
den Schein doch erleiden muß. Für ihn ift, wa wir ben Ernſt des Lebens 
nennen, nur noch ein die Paufe ausfüllendes Spiel, die Pauſe bis zur neuen 
Ekſtaſe, bis er wieder die Kraft gefammelt hat und fich wieder erheben wird. 
Er jigt am Rande des Lebens da, erfchöpft, um Athem zu holen, ungeduldig 
die Fernen ſuchend, in die er gleich wieder entfliegen wird, und wartet auf 
jein Zeichen. Aber dad Hinter ihm brandende Leben üngftigt ihn, daß es 


‚ in verfchlingen könnte, und in einer ungeheuren Erektion laufcht er, win 


nicht überfallen zu werden. Er heißt hier Beethoven. Es könnte auch ber 
wilde Archilochos fein; oder Shafefpeare mag fo, als er nad) Stratford 
heimritt, am Wege ausgeruht haben. Es ift der Genius, der fhon einmal 
drüben war, aber zu uns zurüdgeftoßen worden ift. 

Ich weiß natürlich gar nicht, ob ſich Das Klimt und Klinger fo ge: 
dacht haben. Es ift auch ganz gleih. Sch Habe nur andeuten wollen, 
welche Gedanken, welche Empfindungen mir ihr Werk gegeben hat. 


Wien. Hermann Bahr. 


29 


392 Die Zukunft. 


Moderne: Wohlthätigfeit. 


ch höre oft das Wort decadence; man operirt mit dieſem Begriff, um 

ji ein air von verfeinerter Kultur zu geben, der — ad)! — noch jo fernen. 

Ein Königreih für einen Defadenten! Nichts ald Barbaret ift zu finden. 

Bon Eünftlerifch: äfthetiichen Dingen ganz zu ſchweigen; aber auch die Lebens. 
führung des Durdichnittsdeutfchen.... Wie harmlos verfrefien die Winter: 
gefelligfeit! Wie rührend unraffinirt überhaupt alle gefelligen Beranftaltungen! 


Frauenfrage: ebenfalls rührend naiv. Nämlich alle glüdlichen Befiger 
unentwidelter oder gar unbegabter Frauen jind „dagegen“. Es giebt alfo oficı- 
bar viele unbegabte und noch jehr viele unentwickelte Frauen. Beiden junger 
Kultur. Seien wir jtolz darauf. 

Einen einzigen Decadencepunft jah ich: die moderne Wohlthätigfeit. 

Die großen Diners zu wohlthätigen Zweden verfühnen durch ihren Humor: 
und da fie viel einbringen: à la bonne heure! Man muß es nicht allzu pathe 
tifch nehmen. Der Effekt ift ja nützlich. 

Uber die negative Seite der Mohlthätigteit! Das bimmelfchreiende 
Verbot der Straßen= und Hausbettelei! 

Mit welchen Recht, frage ich, hält man dem Menſchen, der gern geben 
und helfen würde, den Anblick leidender, verzweifelnder, verhungernder Menſchen 
fern? Die offizielle Antwort hierauf würde etwa lauten: Dieſe milbthätigen 
Herrſchaften mögen doc ihre Mittel und Kräfte einem der vielen Vereine zur 
Berfügung ftellen. Darauf erlaube ich mir, zu erwibern, daß es eben jo niele | 
Arme giebt, denen der „Verein, das „Komitee“, der „Boritand“, benen überhaupt 
alle „Behörden“ ein unüberſteigbares Hinderniß find, wieWohlhabende, die dadurch 
an der Ausübung der Wohlthätigleit verhindert werden. Man bat aber, id; 
wiederhole es, nicht das Necht, das Helferbedürfniß diefer unzähligen Menſchen 
unbefriedigt zu laffen. Um fo weniger, als das durch den finnlichen Eindrud 
des Elends erregte Mitleid feine einzig natürliche, ja, feine moralifchere Form iit. 

Wer Armenpflege und Armenhilfe in großem Stil treibt, wer für 
Hunderte von Kindern Wailenhäujer errichtet, Der freili kann fid) durch den 
Anblid der Einzelheit nicht rühren laffen. Das wäre eine überflüffige Senti- 
mentalität, die ihn jeinem großen ‘ziel entziehen, jeine Kraft vergeuden würde. 
Ich ſpreche von der privaten MWohlthätigfeit. 


Die meiſten Menſchen, bejonders Frauen empfinden nod) jo initinktin,, 
daß der Anblick eines Werzmeifelnden fie mehr zur That, zur Hilfe reizt 
ſämmtliche jtatijtifchen Qabellen und Liften der Welt. Wenn man mir ı 
Lifte vorlegte und ich müßte mir Familie F in Berlin C zum Bewohlthät 
auf dem Papier auffuchen, jo wäre mir ungefähr zu Muth, als hätte mar n 
bier in Europa einem unbefannten Miljionar in Afrila vermählt.e Ich wi 
mir auf der langen Reife zu dem Ehemann ausmalen, daß er mindeftens feu 





Moderne Wohlthätigfeit. 393 


falte Hände und eine frähende Stimme Hat, ein ‚unerträglicher Philifter und 
magenkrank ijt; kurz: eine in ber Hölle geichlofiene Ehe. So giebt e8 eben 
auch Menjchen, denen die Armen nicht Nummern find, ſondern Perjönlichkeiten, 
die fie fi je nach Sympathie auswählen. 

Es tommen aber noch andere, äußerliche und innerlicge Gründe hinzu. 
Es ift, zum Beilpiel, für eine arme Wittwe mit vier Kindern ein zweifelhaftes 
Glück, von irgend einer Behörde achtzehn Mark monatlich zu empfangen; denn 
in den meiftern Fällen ift dieſes Almoſen der Grund für fämmtliche übrigen 
Behörden und Vereine, ihr feinen Pfennig zu geben. 


Schwerer wiegen andere Gründe. Reiche und Arme entarten, weil der 
Nothleidende fich nicht mehr fpontan an den Satten mit ber Bitte wenden darf, 
iym zu helfen. Heutzutage finden nur die Bettler mit gutem ‚warmen Paletot 
oder mit Federboa und Perſianermuff Eingang in die Häufer. Die laffen ſich 
„bei den Herrichaften“ melden. Oft find es Betrüger; und Den, der jo wenig 
phyſiognomiſchen Scharffinn Hat, auf fie hereinzufallen, bebaure ich nicht allzu 
ſehr wegen ber paar Groſchen, die feine Thorheit ihn koſtet. Vielleicht lehrt 
diefe Erfahrung ihn beſſer in Gefichtszügen lefen; dann war die Unterrichts— 
ftunde billig. 

Die wirklich Bedürftigen find ja viel zu „anſtößig“, als daß ein fo talt- 
volles Weſen wie eine‘ berliner Portierfrau fie ins Haus hineinließe. ‘Doc 
wenn man den Satten ben Anblid des Hungernben entzieht, jo nimmt man 
ihnen das ſtärkſte Erziehungmittel, den mädtigiten Anſchauungunterricht, den 
das Leben bietet. Das einzige Mittel, das dem fich fonft zum monftröfen Egoijten 
Auswachſenden zur Einkehr zwingt. Ein Menſch, dem von Kindheit an nur gut 
gefleidete und gut genährte Menichen zu Gefiht kommen, Aermere jedoch nur, 
fofern fie ihm dienen und für jein Wohl forgen, erhält ein faljches, läppiſches, 
albernes Weltbild. Bei den Armen aber entfteht eine eben fo verberbliche Vor⸗ 
ftellung von dem Kulturmenfchen oder — was für ihn das Selbe ift — Reichen. 
Er denkt fih einen Genießenden hinter einer undurchdringlichen Dauer von Gold⸗ 
rollen. Bielleicht hat er noch die Ahnung, Daß auch hinter diejen Mauern einzelne 
warme Herzen. jchlagen; aber der Weg iſt ja verjperrt durch Bortier, Schuß: 
mann, Diener und Doppelthüren. 

Aljo bie beiden Typen, ber Schwelgende und ber VBerhungernde, bie ein- 


ander jo nothwendig brauchen, find durch die Sitte, die Ordnung von einander 
unerreichbar getrennt. 


Man bat Inannehmlichkeiten durch Straßen- und Hausbettelei; jicher: 
nicht zu leugnen. it Das etwa ein Grund dagegen? Wir jollen auch Un: 
annehmlichkeiten Haben, wir brauchen jie wie die Baufen in der Muſik als Unter- 
brechungen unſeres Wohlergehens. Lind gerade diefe groben Inannehmlichkeiten 
brauden wir, biejen Aublid häßlicher, undifferenzirter Leiden. Ste am Aller: 
meilten Helfen den Menſchen entwideln und jtärten. Ohne dieſen Eindrud ver- 
lieren wir den großen Maßſtab und Alles in uns wirb zwergenhaft. Ein in 
höchſter materieller Noth befindlicher Menich, der feinen Nächjiten um eine Gabe 
bittet, ijt noch fein Bettler. Er kann, wenn ſeine Lage ſich beſſert, völlig ver- 
geffen, daß er gelegentlich gebettelt bat, behält dadurch ein kräftigeres Selbit- 


29* 





8394 Die Zufnuft. 


bewußtjein und iſt weder vor fi noch vor feiner Umgebung degradirt. Cm 
eingetragener, regiftrirter Almojenempfänger dagegen arbeitet id annähernd is 
ſchwer in die Höhe wie ein „Vorbeſtrafter“. 

Die Arbeiticheu wird durd; die Bettelei beftärkt, jagt man. Beitärtt 
nicht; wohl aber wird den Arbeiticheuen geholfen. Iſt Das nit Menſchenpflicht? 

Wer von uns wäre noch nicht unter den Gebildeten (namentlich Franen 
charakteriſtiſchen Iypen Wrbeitjcheuer begegnet? Die mageren unter ihnen be 
ginnen ihren Tag mit dem Frühſtück im Bett; fie lejfen die Morgenbriefe; erme 
Stunde Geſichtsmaſſage; Morgentoilette; zweites Frühſtück; kurzer, langjamer 
Spazirgang; Bortrag im Biltorialyceum über Etwas, das man zu verftehen 
beftrebt ift; Lund. Und fo weiter. ‘Die Forpulenteren beginnen den Tag miz 
einem zwei bis drei Stunden langen Entfettungmarſch durch den Thiergarten: 
babei jtören fie nicht jelten eine Hzreunbin, die vormittags jehr viel zu thun Kat. 
Folgt eine Stunde Hüftenmafjage; Vortrag im Viktorialyceum; Lunch. Lind 
jo weiter. Diefe und ähnliche Typen wären rettunglos verloren, wenn fie nid 
betteln gehen dürften. Sie nähren ſich ihr Leben lang von der Mildthätigkeit 
“ihrer Freunde. Die Irgen für fie zufanmen. Jeder giebt ihnen ein Stüddgen 
ſeiner VBerjönlichkeit, fo daß die Aermften eben exiftiren fönnen; denn jie fint 
pathologifch zwar in ihrer Yerfahrenheit und inneren Haltloſigkeit, aber oft reizvoll 
und nit unſympathiſch, — man kann fie unmöglidy umkommen laffen. Hätten 
fie nicht produktive oder amujante Freunde, fie würden, ob ledig, ob Familien— 
mäütter, in irgend einer Korın zu Grunde gehen. 

Warım follen wir nun fo hart fein und die Arbeiticheuen der unterften 
Schicht verdammen,, da doch aud fie pathologiſch oder vielleicht nur ataviſtiſch 
find? Denn vor dem Sündenfall gab e8 noch nicht den Begriff bes Fleißes. Die 
Welt iſt aber heute dem Paradieje jo fern, daß der Faule, aljo der urſprünglich 
paradieſiſche Menfch, der fih nur ſonnt und wartet, big die Früchte reifen, eben 
jo als pathologijch betrachtet werden muß wie Einer, der nadt gehen will. Man 
bringt ihn in eine Maison de santè — das verlorene Paradies — oder, wenn 
der Anblick minder verlegend ijt, forgt die Menge für ihn; er wird eben 
Almoſenempfänger. 

Unſer Leben iſt im Ganzen ſo hoffnunglos ungefährlich geworden. Der 
einſt ſo köſtlich kühne Begriff des Abenteuers iſt verloren gegangen oder in 
Verruf gekommen. Man verſichert ſein Leben, feine Brandſchäden, feine Ein— 
brüche (in England ſogar Zwillingsgeburten); man iſt vorſichtig bis zur Wider- 
lichkeit. Erhalten wir uns doch dieſe eine kleine, beſcheidene Gefahr: daß dann 
und wann ein „Unwürdiger“ ung anbettelt. Es iſt ſicher weniger bedauerlich. 
daß ein Schwindler ein Almoſen empfängt, als daß ein Würdiger vor Tauter 
Würde in feiner Kammer allmähli und einfam verhungert. 

Sabine Lepſius. 





Anzeigen. 395 
. Anzeigen. 


Die Kunſt unferer Zeit. Franz Hanfftaengl, Kunftverlag, München. 

Unzähltge Blätter und Zeitjchriften popularifiren in Deutfchland diestunft. 
Ihr Charakter ift vorwiegend iluftrativ und ihr gemeinjamer Stammbaum „Die 
Sartenlaube". Die neuere Reproduftiontechnift bat zur leichteren Verbreitung 
der künſtleriſchen Werfe viel beigetragen. Unter den Blättern, die als wirkliche 
Annalen des modernen Kunftlebeng gelten können, find erftens folche, die mit 
dem mwandelnden Geſchmacke gehen und alle Erſcheinungen aufgreifen, eiıterlei, 
welcher Richtung fie angehören. Die Abficht dabei ift, das Publikum von Allem 
zu unterridten, was in den Werkſtätten, in den Ausjtellungen und im Kunft- 
handel vorgeht. ihre Berichteritattung Hat einen vorwiegend feuilletoniftiichen 
Charakter und etwas in mancher Beziehung mit den Börfenberichten und Dtode- 
journalen Gemeinjames. Ihre bejondere Bedeutung liegt im rafchen Umſetzen 
künſtleriſcher Werthe und in der Auffpeicherung ftatiftifchen Materials für den 
Kunfthiftorifer. „Die Kunft unjerer Zeit”, die jeit dreizehn jahren in unjerem 
Verlage erjcheint, repräfentirt die andere Gattung, die in vornehmer Austattung. 
Erzeugniffe des künſtleriſchen Schaffens wiedergiebt. An die Stelle der Slluftration 
tritt eine mit größter Sorgfalt ausgeführte Reproduktion, worin die Eigenart 
und der techniſche Charakter des Bildes voll zur Geltung kommt. Das auf 
photographifcher Grundlage beruhende Verfahren läßt die malerifchen Qualitäten 
deutlich erfennen und kann als ausreichendes Hilfsmittel für das Studium der 
Originale gelten. In literariſcher Hinficht folgt die Zeitfchrift dem modernen 
internationalen Sunjtleben und regiftrirt getreulich alle wichtigeren Ereigniſſe 
und Beranjtaltungen. Dennoch bemüht fich die Leitung, inınitten der Hochfluth 
und lleberproduftion auf künſtleriſchem Gebiete einen beitimmten Kurs einzu- 
halten. Ihre Tendenz ift einem Magneten vergleichbar, der immer auf einen 
Ausgangspunkt, in unferem Falle auf die Tradition, hinweiſt. In der Form 
von Eſſays oder Monographien werden die Leſer mit den typifchen Erfcheinungen 
auf dem Stunftgebiet, jedoch faſt ausschlieglich auf dem der Mialeres, befannt 
gemadt. Der Zextlaut joll dabei, wie eine ruhige Muſik, möglichjt wenig ftörend 
bervortreten, während der Beſchauer von Bild zu Bild weitergeht. 

Münden. Franz Hanfltaengl. 
5 
Amiens-St. Quentin. — Le Mans. Beide illuftrirt von Speyer. Karl 
Krabbes Verlag, Stuttgart. Preis jedes Bandes 1 Marf. 

Auf vielfaches Begehren babe ich meinen früheren Schlachtdichtungen aus 
dem deutſch-franzöſiſchen Krieg als Schluß noch die Kämpfe der Nordarınce und bie 
„Sieben Tage” von Le Mans angegliedert. Unparteilich wäge ich die Leiftungen 
beider Heere ab. Die unglüdliche zweite Loirearmee zeigt fich in günftigerem 
Licht als bisher, während ich in das unbedingte Qoblied auf die franzöfifche Nord⸗ 
armee nicht einzujtimmen vermag. Beſonders Faidherbes hebt ſich ziemlich un— 
vortheilhaft, handelnd und rebend, von jeinem Gegner Soeben ab, deifen eigen- 
artige germaniſche Heldengeftalt mit liebevoller Sorgfalt, wenn aud nicht ohne 
tritiihe Einwände gegen Ueberſchätzung, gemalt iſt. Chanzys Energie und die 


feines waderen Unterführers, des Seeniannes Jauréguiberrn, wird gebührend 
beleuchtend. Aber die deutſche Kraft tritt überwältigend hervor. Somohl bie 
Brandenburger bei Ye Dans ala Rheinländer und Dftpreußen im Norden Frank⸗ 
reichs können mit dem Ruhmeskranz zufrieden fein, den ich ihnen flechte. Auch 
die Tüchtigfeit anderer Stämme, die an biejen Kriegsthaten theilnahmen, wird 
nach Berdienft anerfannt. Stärfeverhältniffe und Perlufte find genau geprüft. 


Aspern. Illuſtrirt von Thöny. Preis 5 Marf. — Waterloo. Illuſtrirt 
von Thöny (454 Seiten). Preis 8 Marl. 


Die beiden ſchwerſten Schladhtlataftrophen der napoleoniſchen Zeit habe 
ih in ben Kreis dichteriſch wiſſenſchaftlicher Betrachtung gezogen. Realiftif der 
Detailmalerei und Charafteriftit paart fi mit dem Pathos weltgefchichtlicher 
Tragif. Ich biete Hier das Ergebniß ernfter kritiſcher Forſchung. Jeder Diftorifer, 
jeder Kriegsforjcher, jeder Soldat, der kritiſche Wahrheit jucht, dürfte Hier des 
halb feine Rechnung finden, eben fo aber auch der Leſer, der dichterifche Anregung 
wünſcht. Alle Hauptperjonen diefer Schlachtendramen find genau individualiftrt. 
Ich fuche Napoleon fo zu jagen bei der Arbeit auf. Bon wahrhaft weltgeſchicht⸗ 
lien Odem ummeht, ragt dieſe Geitalt aus den Gewittern von Aspern, Yignn 
und Waterloo in magifcher Beleuchtung empor. 


Wilmersdorf. Karl Bleibtreu. 
$ 


Veter Michel. Roman von Friedrih Huch. Alfred Janſſen, Hamburg. 


Wenn man die Romane, die in den legten brei oder vier Jahren er- 
ihienen find, heute vornrtheillos betrachtet, jo ericheinen die beiten unter ihnen 
als Vorläufer und Berkünder irgend eines kommenden Wertes. Sie find alle 
einfeitig, ſowohl die realiftiichen wie die romantifhen und Diejenigen, melde 
man die piychologifchen genannt Hat, und gerade dieſe Einfeitigfeit macht fie 
interejlant und leſenswerth, dieſe bewußte, mehr oder minder geiftvolle Ueber- 
treibung nach einer Seite hin, nach einer bejtimmten neuen Seite bin, von der 
man jeßt mehr zu willen glaubte oder mehr wußte als früher, in der Zeit 
größerer Dichter. Zu einem einheitlichen, zufammenfaflenden Kunſtwerk fchien 
Alles zu fehlen: die Kraft, die Zeit und die Unbefangenheit. Und nun ıft 
diejes Kunſtwerk, deſſen Erjcheinen auch die Optimijten unter den ernfteren 
Kritikern in unbeftinnmte Zufunft verlegten, da, ift unter ung, und Jeder fan 
es befühlen und jehen, daß es wirfli und am nächſten Morgen nicht ver: 
ihwunden tjt, fondern an dein Plage liegt, wo er es verlieh, als er fih in 
tieffter Macht ſchwer und in feltjamer Erregung davon, trennte. Ich glaube 
nicht, daß diejes Bud, an Einem von Denen, die es in die Hand nehmen, 
ipurlos vorübergeht. Es redet Jeden an, obwohl es fi an Steinen wendet, ı 
läßt Keinen mehr los, obwohl es ihn gleihjfam nur mit bem kleinen Fin, 
hält, mit irgend einem einfachen Saß, mit irgend einer Unausfpredjlichkeit, 1 
ausgeſprochen iſt, mit irgend einer Ueberraſchung, die fo felbftverftändlid vor 
fic) geht wie Alles in diefem Buche, in dem nur Selbſtverſtändliches geſchieh 
Wie Zufälle ftehen die Ereignifje neben einander und die Menſchen gehen din 
fie durch, jelbft wie Zufälle, von einander getrennt, wie eben ein Zufall vo! 
anderen getrennt ift, allein, mie Finder allein find unter Erwachſenen, traıı 


396 Die Zukunft. 


Anzeigen. 347 


wie Träumer und empfindlich wie Schlafloſe, — und das Leben, das Leben 
rinnt ihnen durd die Yinger wie Sand und wächſt wie ein Sandberg vor ihnen 
auf, immer höher und höher, bis fie Schließlich dahinter verloren gehen. Bon 
jolder Art ijt die Tragif dieſes Buches, die mir mehr zu fein fcheint als bie 
Tragik einer beitimmten Zeit, während das viele Komifche, von dem das Bud 
erfüllt ift, an der Zeit zu hängen und aus ihren Stleinheiten aufzuwachſen fcheint. 
Denn es ijt viel Anlaß zum Lachen und viel Grund zum Weinen und zum 
Nachdenken in diefem Buch, wie im Leben zu Alledem täglich Anläſſe find; nur 
werden fie uns durch dieſen Roman fo gebieteriich auferlegt, daß wir fie aus— 
nützen müffen, während fie in Leben an unjerer Trägheit oder Zerjtreutheit jo 
oft vorübergehen. Das Bud heißt Peter Michel. Syn feinen erſten elf Kapiteln 
erfahren wir die Geſchichte Peters vor jeiner Kindheit bis zu feiner Werhei- 
rathung. Das zmölfte und legte Kapitel zeigt und Peter zu einer Zeit, wo er 
von ſich jelbit, von den Peter der elf Kapitel, nur jehr wenig mehr weiß: er 
bat zwei Kinder und Erneftine Treuthaler ift eine brave Hausfrau. Der Sand- 
berg vor ihm ift ganz groß geworben, jo groß, daß er nidyt mehr darüber weg 
jehen kann; aber vorher, in dem größeren Theil des Buches, jchen wir diefen 
Zufall Peter als die Urſache von glücklichen und unglüdflicden Stunden, als 
 eimen Anlaß zu manchen Veränderungen ſich auf dem kleinen Stüd Welt: be> 
megen, das er in Aufregung bringt und beihwichtigt und das auf ihn zurüd« 
wirkt, wie Maſſe auf Maſſe wirkt, mit feinen taufend Geſetzen und Yufällig« 
feiten und mit jeinen Menfchen, die alt werden und eingehen und fich beicheiden. 
Ind obwohl allen Geftalten diefes Buches gemeinfam ift, daß fie alt werden 
und eingehen und ſich bejcheiden, ift doch gar nichts Einjeitiges in dieſem Bud); 
im &egentheil: wollte man das Bezeichnende feiner Art in Kürze feititellen, To 
müßte man fich entjchließen, zu jagen, daß Alles in dieſem Bud ijt, von der 
Kataſtrophe bis zum Aperçu und von der breiten Komif, die abſichtlich banal 
und derb wirft, bis zu jenen feinften und leiſeſten Ereigniſſen, Freuden und 
Enttäufhungen, Entfremdungen und Harmonien, bei deren Eintreten die Sprache 
machtlos bleibt und der Zeiger der Worte feinen Ausichlagswinkel mehr auf: 
weiſt. Ich Habe nie für möglich gehalten, daß Dinge, Stimmungen, Ueber- 
gänge, wie diejes Buch jie in reicher Menge enthält, ausdrüdbar find, es ſei 
denn, daß man das jchwer ausdrüdbare Motiv zur Hauptſache madıt, eine Skizze, 
eine Novelle, ein Gedicht dafür jchreibt, alfo einen ganzen Apparat von Hilfs» 
mitteln in Bewegung jeßt, um ihm beizulommen. Davon ift aber hier gar nicht 
die Rede. Als ob es das Allereinfachfte wäre, jpricht diejes Buch von ganz 
leifen Vorgängen, Zufammenhängen und Antlängen in feinen furzen Sägen, 
die lauter Thatfachen zu enthalten jcheinen. Auf Allem ruht die gleiche Be- 
tonung; mit Redt: denn Alles ift wichtig in diefem Buch und, trotzdem Alles 
zufällig Icheint, voll Geſetzmäßigkeit. Eins hält dad Andere im Gleichgewicht 
und die Erregung jeiner bewegten Momente fcheint über dem Ganzen wirkjam 
zu jein, eben fo wie die Wehmuth jeiner traurigen Stellen über alle dreihundert- 
fünfzig Seiten fi mie Mondlicht auszugießen jcheint. Und da drängt jich denn 
ungeftüm die Trage nach dem Künſtler auf, nad dem Zujammenfafler und 
Ordner und Gejeßgeber. ich weiß nichts von ihm. Er heißt: Friedrich Hud). 
Weſterwede. Rainer Maria Rilke. 
$ 


398 Die Zukunft. 


Meine Ausweifung. 


EA meine perjönlichen Angelegenheiten die öffentliche Aufmerkfamnfeit in 
| Anfpruch zu nehmen, würde ich gern vermeiden; nicht, weil ich eine 
Kontroverfe darüber fcheue, fondern, weil Perfonalien von der Art der 
meinen immer Etwa von Dem haben, was Goethe im Auge Hatte, als er 
fagte: Die Geheimniffe der Lebensführung kann man nicht offenbaren. Ich 
weiß wicht, aber ich vermuthe, daß dies Urtheil Goethes nicht ohne Beziehung 
ift zu dem Verſuch Rouſſeaus, defien „Belenntniffe” von einer Nachahmung 
aud einen Mann abjchreden müßten, der über Rouffeaus Stil, über jeine 
leidenfchaftliche Wärme verfügte. Aber e3 ijt nicht meine Schuld, daR ih 
mit meinen Perfonalien wieder auf den Markt ftehe. Die königlich preußiſche 
Polizei, nicht zufrieden mit dem harten Urtheil der Gerichte über mich, hat 
mid — 3!/, Jahre nach meiner Entlaffung aus der Strafanflalt, 7 Jahre 
nach meiner Verurteilung — aus Berlin und deſſen Vororten ausgewieſen. 
Dadurch glaube ich, verpflichtet zu fein, den Rückſichten auf meine eigene 
Perſon gänzlich zu entfagen, nic meiner eigenen Geſchichte und meiner 
ſchmerzhaften Erinnerung an fie gewifjermafßen zu entäußern und dieſe Ge: 
ſchicht Jenen zu vermaden, die im Gewirr urtheillofer Gegenwarten bie 
Erbfolge der Befreiung vertreten, jener unfichtbaren Kirche, die mehr als alle 
pragmatifche Hiftorie da8 Bindeglied zwiſchen der Vergangenheit unfere 
Geſchlechtes und feiner Zukunft ift. Ich glaube, dazu verpflichtet zu fein, 
nicht nur im Intereſſe von Menſchen, die elender find als ich, fondern vor 
Allen der einzigen Inſtanz zu KXiebe, deren Stuhl und Würde bas- Keben 
lohnend und die Geſchichte der Menfchheit erträglic machen. Nur die Thor⸗ 
heit fünnte mir vorwerfen, Das ſei unbefcheiden von mir gebadht. Der 
Bund der menfchlichen Evolution umfaßt neben den Heroen der That und 
des Geijte8 auch Träger des Leides. ALS ein Opfer herrſchenden Wider: 
ſinns fühle ich mich berechtigt, an den Stuhl der Vernunft "und den Richter: 
ſpruch Derer zu appelliven, die nicht jtumpf und ftumm bleiben Tünnen, wenn 
fie ihr Geſchlecht und ihr Zeitalter im Dunkeln irren fehen. 

Deunoch will ic) nicht das Mitleid wachrufen, fondern die Fräftigen, 
die rüftigen Regungen jenes Vertrauens, das, nie befriedigt von der Gegen⸗ 
wart, von der Zukunft Alles erwartet und felbft in den ärgften Feſſeln und 
mächtigſten Vorurteilen unſeres Gefchlehte3 nur verurtheilte Rudimente er: 
kennt, das Erbe einer Vergangenheit, die ſich nicht behaupten kann gegen dad 
„einzige* Gefchichtgefeß, gegen die Entwidelung. | 

Bei meiner Ausweifung kommen zwei Dinge in Betracht: meine 
„Öffentliche“, politifche IThätigfeit und meine Kriminalität, meine beiden 
„Vergangenheiten.” Wie in mir, fo wird auch in Anderen wahrſcheinlich 











Meine Ausiweijung. 399 


ſowohl jene als diefe gemifchte Gefühle und Urtheile hervorrufen. Auf der 
einen Seite erkenne ich in beiden Seiten meiner Vergangenheit Irrthümer, 
Fehler, auf der anderen fehe ich nicht ein, wie ich, unter den Umftänden, die 
mic, bejtimmten, joldye Fehler vermeiden konnte, ja: vermeiden durfte. 

Meine politiiche Thätigkeit hat in jedem Jahr auf anderen Grund: 
“Lagen geruht, aber fie ift im ihrer Richtung nie durch etwas Anderes be- 
ſtimmt worden als durch meine Einſicht, meine Üeberzeugung. Ich war 
fiebenzehn Jahre alt, al8 sich Schriftiteller wurde. Meine erite Arbeit er- 
fhien in der „Sozialforrefpondenz“ des Geheimrathg Böhmert in Dresden 
und behandelte die Frage, was für die norddeutfche Hochjeefifcherei gefchehen 
folle und warum durchaus Etwas gejchehen müſſe. Damals — es ift bald 
ein Vierteljahrhundert her — fehlte e3 im Uebrigen an jeder Öffentlichen Auf- 
merfjamfeit für diefe Frage; bald nachher wuchs diefe Aufmerkſamkeit und 
ich darf feitfiellen, daß meine Borfchläge fait ohne Ausnahıne durchgeführt 
worden iind. Ohne eine ftarke Yifchereiflotte hat bisher Tein zur See mäd)- 
tiges Volk eriftirt. Aber es mar nicht dieſer nationale Gejichtspunft, der 
mein Intereſſe feflelte, fondern der ölonomifhe. Meine Umgebung, meine 
Familie, meine friejifhen Stammesgenofjen wurden eben in meinen Knaben— 
jahren aus ihrem Beſitz, aus einer zwar mühfamen und einfachen, aber doch 
werthuollen Selbftändigfeit und Unabhängigkeit verdrängt. Jeder Echlot, der 
auf der See auftauchte, Löfchte da8 Herdfeuer unabhängiger Sfapitäne aus, 
die auf eigenen Seglern an der europäifchen Küſte Seefahrt trieben. 

Um die felbe Zeit wirkte die wirthfchaftliche Kriſe der ftebenziger Jahre. 
Ich jah eben jene Flotte von Dampfern, die fo unheilvoll in das Leben der 
frieſiſchen Kapitäne eingegriffen hatte, jelbft zur Unthätigfeit verdammt, im 
Hafen liegen. Diefe beiden Erfahrungen machten mid zum „Realtionär“. 
Ich entichted mich gegen die induftrielle Revolution und für die dem frie- 
ſiſchen Stammescharakter beſonders zufagende wirthichaftliche Unabhängigfeit 
des Einzelnen auf Fleinerer Grundlage des Betriebed. Ein Onkel predigte 
mir einen friefifhen Spruch: Lieber ein Heiner Herr als ein großer Knecht. 
Er hatte dabei die Offiziere und Kapitäne des Norddeutichen Lloyd im 
Auge, zu denen fpäter mein Vater und meine Brüder übergegangen find. 
Diefe und andere Motive führten mich Ende der fichenziger Jahren — vor 
meinem zwanzigſten Lebensjahr — in die reaftionäre Welle, die damals lid) 
zu erheben anfing. Aber ich Hatte früh Laffalles Reden kennen gelernt und 
hatte einen Tropfen demokratiſchen Del3 in mir. Diefe Miſchung führte mich 
unter jene Fonfervativen, die aufs Aeußerſte ſich empören, wenn man ihr polt= 
tifche3 Programm mit Regirungfrönmigfeit verwechjelt, alfo zur „äußerſten“ 
Rechten, wo die Leute ſaßen, die fi) auch vor Bismard nicht beugten. Ich 
war im der Agitation erfolgreih. 1887 rief mich Stoeder nad) Berlin, um 


400 Die Zukunft. 


die Zeitung „Das Volt“ zu gründen, die ich ein Jahr lang redigirte. Mit- 
arbeiter war damals (mie fpäter Redakteur) Herr von Gerlach. Als bie 
beutfch-foziale antifemitifche Partei begründet wurde, betheiligte ich mich zu- 
nächſt als Salt. Später trat ich der Partei bei und eroberte mir 1893 ben 
heſſiſch⸗ thüringiſchen Wahlkreis Efchwege-Wigenhaufen-Schmalfalden. Im 
diefen Jahren entwidelte ich mich immer mehr nad) links. Sch Habe bei 
der Begründung der deutfch-fozialen antifemitifchen Partei mitveranlaft, daß 
die Aufhebung des Sozialiftengefeges im Programm gefordert wurbe, und 
anf meine durch Gerlach) vermittelte Bitte redete Stoeder auf dem eriten 
Tivolitage ber Konfervativen in Berlin gegen eine Stelle im neuen Partei- 
progranım, die für die Wiederherftellung des Sozialiftengefeges eintrat. Ver 
Sag wurde aus dem Entwurf geftrichen. 

Es ift im Grunde albern, daß man ſich gegen den „Vorwurf“ ber 
Entwidelung in politifchen Dingen vertheidigen muß. Starrheit feiner 
politifchen Anjichten ift in der Regel weit eher ein Borwurf für einen Dann. 
L’homme brut ne change pas; der Idiot allein bleibt, wag er iſt. Die 
Berfjchiedenheit des Willens, der Erfahrung, des Temperamentes, der Zeit: 
umflände und ihrer Forderungen. erflärt, daß der Mann von vierzig Jahren 
ander8 urtheilen muß als der zwanzigjährige Füngling. Die Frage kann 
nur fein, ob ſolche Entwidelung der fortichreitenden Einjicht eines ehrlichen 
Mannes oder der elenden Abjicht des Strebers entfpringt. 

Ende 1894 murde id) zu drei Jahren Zuchthaus verurtheilt, weil ich 
in einem Eheſcheidungprozeß wiſſentlich falich geihworen hatte. Die näheren 
Umjtände mag ich nicht erörtern; man wird vielleicht fpäter erfahren, wie 
wunderlich und unglaublich diefe Umftände waren, daß meine Ausfage zwar 
falich, aber an ihr gerade ein Theil richtig war, von dem Alle das Gegen- 
theil vorausgefegt hatten und heute noch glauben. Dies nebenbei. Die Aus- 
fage war falſch und wiſſentlich falſch. 

Man Hat mir — ohne jeden Beweis — in den Strafnaßgründen 
vorgeworfen, ich hätte aus Nücdjicht auf mich felbft gehandelt. Das ift 
an jich ohne Sinn; ich kannte da8 Leben genau genug, um zu wiflen, daß 
mich auch eine fchlimmere Wahrheit als die zu befennende nicht unmöglich 
gemacht hätte. Außerdem lag, als ich meinen Eid leiftete, die Sache fo, 
das mir die Wahrheit ganz und gar feine Schande machen konnte. Dies 
it inzwifchen gerichtSnotorifch und aktenkundig geworden durch den zwe 
Prozeß gegen mich, in dem ich wegen Berleitung zum Meineid verurtheu 
wurde. In diefem Prozeß bin ich unfchuldig verurtheilt worden. Dein 
Mitangellagte erklärte, den Thatfachen gemäß, daß ich jie gewarnt Hab 
meinem Beifpiel zu folgen. Meine VBerurtheilung ift erfolgt auf Gm 
der Rechtsanſicht vom „Verſuch am untauglichen“ — aljo in diefen Fr 





Meine Austveifung. 401 


am ohnehin entfchlofjenen — „Objekt.“ Aber felbft diefer Rechtsgrundſatz 
wurde in meinem Fall falfch angewandt, wie leicht nachzumeifen wäre, wenn 
es hier nicht zu weit in juriftifche Deduktionen führte. ch lege darauf 
weniger Gewicht als anf den Umftand, daß ich nicht den Halunkenſtreich 
begangen babe, anf eine Frau einzureden, daß fie zu meinen Gunſten ſich 
eines Meineides fchuldig machen folle. 

Zu dem falfhen Eid, den ich geleiitet habe, mar ic ohne Bedenken 
und ohne Erwägung entfchloffien; er war unmittelbar vom Gefühl und von 
dem im Gefühl murzelnden Gewiffen diktirt; geſchwankt habe ich Nicht einen 
Augenblid. Aber auch die vernünftige Ueberlegung würde mich nicht anders 
geftimmt haben, denn ich habe ſeitdem umd auch während der Gefangenfchaft 
feine Sekunde bereut, was ich gethan habe, fonbern ich bin heute, wie damals, 
far darüber, daß ih nur als volllommener Schurle ander8 handeln konnte. 
Ih müßte den Mann beflagen, der anders denkt. Es ift faft ein Gemein- 
play, daß Legalität und Moralität fehr verfchiedene Dinge und oft im 
Streit mit einander find. Rudolf von Ihering hat den geiftreichen Verſuch 
gemacht, die zerfpaltenen Gebiete der Moral auf ihre gemeinfame Wurzel, 
den Zweck, zurüdzuführen und das erftarrte „Recht“ damit in Fluß zu 
bringen. Aber was im Schriftthum jchon trivial klingt, ift praktiſch, im 
Leben des Bolfes, des Staates, der Menſchheit, noch faft gänzlich ohne 
Exiſtenz. Nur in religiöfen und politifchen Bewegungen wird jene Lehre 
That und Leben. Dan gefteht politifchen und religiöfen Opfern des Konfliftes 
zwifchen Legalität und Moralität die Ehre des Martyriums zu. Wegen 
des falfchen Eides, den ich geleiftet habe, nehme ich diefe Ehre in Anſpruch, 
und wenn man fie mir verweigert, fo genügt e8 mit, fie mir felbft zuzuerkennen. 

Einfehen gelernt aber habe ich, daß es etwas Furchthares ift, wenn 
auch wider Wollen und Wiffen, mitfchuldig zu jein an der Trennung einer 
Mutter von ihren Kindern, daß diefe Mitfchuld ans Leben geht. 

Während der 31/, Jahre meiner Gefangenschaft bin ich fehr demokratiſch 
geworden. Für Neigungen, die ohnehin in mir lagen, war der furdhtbare 
Zwang, in dem jich mein Leben bewegte, Treibhausluft. Ich habe mid, 
wie bezeugt und aftenfundig ift, mit der äußerften Entfchlofienheit dem Zwange 
unterworfen — durchaus nicht mit Schlaffheit —, aber das Nachdenken und 
das Gefühl floffen in einander, um mein Wefen zur Empörung gegen Zwang 
und Schablone aufzureizen. Die Wirkungen der Einfamleit find liner- 
fahrenen nicht zu fhildern. Im mir haben fie zwei Weltanfichten zur Reife 
gebracht: die demokratifche und die fünftlerifche. Die Wirkung diefer Wirkung 
war, daß ich an fozialdemofratifchen Blättern als Mitarbeiter thätig wurde 
und daß ich einen Band Gedichte herausgab. Menſchen der verfchiedenften 
Klaffen find mir mit der äußerſten Artigleit begegnet; eine capitis diminutio 





402 “ Die Zukunft. 


abzulehnen, Habe ic) nur felten nöthig gehabt, obwohl ich mit offener Karte 
fpielte. Aber auch in allen Parteien, vor Allem in einem Theil der fozial- 
bemofratifchen, ijt mir die offene Ablehnung begegnet, die mir lieber iſt als 
die "Forderung einer Degradation. 

Eines Tages veröffentlichte ih in der „Welt am Montag” einen 
Aufjag Über „SKriegervereine“. Weil ich nicht läppifch genug war, den Vor— 
behalt zu machen, daß e8 in den Sriegervereinen jehr viele reſpektable Leute 
giebt, Hagten einige Generale, Beamte und Private gegen mid) wegen Be 
feidigung. Die Straflammer ſprach mid; frei, das Heidjsgericht hob das 
Urtheil auf und ich werde mich noch einmal vor.der Straflammer zu ver- 
antworten haben. Der Prozeß hatte die Folge, daß meine Strafalten an 
den Amtövorfteher von Wilmersdorf geſchickt und id — nachdem ich in berliner 
Bororten mehr als zwei Jahre gewohnt hatte — auf Grund eines Gefeges vom 
Jahr 1842 aus Berlin und Vororten Ausgewiefen wurde. Nach diefem 
Geſetz find mit Zuchthaus beitrafte Leute ganz dem Ermeſſen der Polizei 
preisgegeben, während Perfonen, die mit Gefängniß beftraft jind, der Aus: 
weifung verfallen können, wenn fie „der Sicherheit und der Moralität“ ge- 
fährlich fcheinen. Die berliner Bolizei Hat benn auch wegen politifcher Vor- 
ſtrafen Menſchen ausgewieſen. Als mir der Ausweifungbefehlvorgelegt wurde, [a3 
ih in der Alte: „Schreibt für fozialdemofratifche und andere Blätter.” Das 
Oberverwaltungsgericht hat die Verfügung beftätigt. Das alte Gefeg beiteht 
ja zu Recht, wie fo viele vormärzliche Gefege, wie nach der Meinung eines 
Juriſten in Südhannover das zweihundertjährige „Geſetz“, das dem Bauern 
verbietet, ohne Erlaubniß der Regirung auf feinem Hof einen Baum zu fällen. 

Aus zwei Gründen bin ich der Meinung, daß die hier gefchilderten 
Vorgänge jeden Mann von Kopf und Herz angehen. Zunächſt wegen bes 
Konfliktes zwifchen gefeglicher und jittlicher Forderung. Frankreich und andere 
Kulturftaaten fennen Eide folder Art nicht; und fein Staat follte fie kennen. 


"Für die fittlihe Qualität eines Menfchen ift fein Verhalten zum Strafgefez 


manchmal bedeutunglos, manchmal aber fogar in ganz anderer Richtung 
bedeutfam, als das Vorurtheil annimmt. Schiller hat, al8 er der Schau: 
bühne moralifche Aufgaben zufchrieb, Eins vor Allem von ihr erwartet: daß 
fie eine menfchlichere Anjiht vom Verbrechen verbreiten werde. Ihn trieb 
zu diefer jugendlich enthufiaftifchen Regung die von Rouffeau entlehnte Ein- 
ficht, daR der von großen Motiven zum Berbrechen Gedrängte der geborene 
tragiiche Held fei. Das Publikum, dad Karl Moor beffatiht, ſpürt nicht 
die Obrfeigen, die c3 felbft in den Stüd empfängt. 

Daß man aber der Polizei eines Kulturſtaates im zwanzigiten Jahre 
hundert, hundertundfünfzig Jahre nach Beccarta und den Friminalpolitiichen 
Literatoren de3 achtzehnten Säkulums, erit noch fagen muß, ihre Auflicht 


[4 


Onze dappern burzrers. 403 


und ihre Ausweifungen feien nur geeignet, Verbrecher zu züchten: Das iſt 
beihämend. Sch ertrage mein Geihid ja am Ende. Aber ich erinnere mid) 
eines armen Meenfchen, der nach feiner Entlafjung aus der Strafanftalt voll 
Angft an den Paſtor fhrieb: „Helfen Sie! Die Polizei zwingt mich, zu ftehlen.* 
Er war aus vielen Städten verjagt worden. Der Minifter hatte ein Ein- 
fehen, al8 die Strafanftaltbehörde den Brief einfchidte. Diefes Beiſpiel ift 
nicht vereinzelt. Und wenn die Unbill, die ich leide, folchen Verfolgungen 
der Elendeſten ein Ende madt, dann will ich ein Feſt feiern. 

Sollte es nicht Menfchen in Preußen geben, denen die gegen mich 
veranftaltete Jagd fo unjanft die Ruhe ftört, daf fie dafür forgen, die Polizei 
gefege der abfolutiftifchen Zeit aus dem „Recht“ eines Staates zu tilgen, 
der Human und civififirt genannt werden will? Hans Leuß. 





— 


Onze dappern burgers. 


Eins mans red iſt eine halb red; 
man fol die teyl verhören bed. 


2% der „Zukunft“ Hat der Lieutenant a. D. Gentz, der jebt in Deutſch-Süd⸗ 
weitafrifa weilt, ba8 Verhalten der dappern burgers einer Kritik unter: 
worfen, die fich vernichtender anhört als alle engliſchen Lydditbomben, Shrapnels 
und Lee Medford-Geichoffe zufammen. Ich würde dem Herrn brieflich meine 
abweichende Meinung auseinanderjegen, wenn ich die Gewißheit hätte, daß der 
Brief überhaupt in feine Hände käme. Aber der englifche Cenſor in Port» 
Nolloth und die Buren um Port-Nolloth herum Haben aud noch ein Wörtchen 
mitzureden. Ich wähle unter diejen Umftänden den fürzejten Weg, um an die 
Deffentlichleit zu treten, indem ich mir dad Wort von dem Herausgeber der 
„Zukunft“ erbitte. Auch meine Rede ift nur eine halbe, macht feinen Anſpruch 
auf Unfehlbarkeit, aber fie fann doch vielleicht ergänzen. 

Zunächſt einige Einzelheiten. Bei Elandslaagte haben nicht 85 Deutſche 
mitgekämpft, ſondern 50, vielleicht 562, Auch Haben niemals 6000 Deutiche, 
von denen 1500 erjt herbeigeeilt famen, um mitzuftreiten, in der Burenarnee 
gefochten, wie Gent nad) „offiziellen Liſten“ angiebt. Die Zahl tft viel zu hoch. 
Reitz, den ich, wie Jeder, der dieſen Dann auch nur flüchtig gejehen bat, hoch 
ſchätze, tft nicht „der ärmfte Beamte Transvaals“, fondern er ift der beftbezahlte 
nad Leyds. Das vereinigte Nusländercorps unter Billebois-Mareuil, von dem 
Sent jpricht, tit num ein frommer Wunſch gewejen und geblieben. Andere Kleinig- 
feiten übergehe ich, um nit Raum zu verjchwenden. 

Meine äußeren Schidfale find ähnlich wie die von Gent. Ach Babe nad) 
Ausbrud des Krieges eine mwohlbezahlte Oberlehreritelle hier in Deutjchland 
aufgegeben, bin auf eigene Koften nah Südafrika hinübergegangen, habe auf 
eigene Koſten mitgefochten und bin nad) zweimaliger Typhuserfranfung hierher 
zjurüdgefehrt, ohne je einen Pfennig banren Geldes erhalten zu haben. Irgend 


404 Die Zukunft. 


einen äußeren Grund, Gutes über bie Buren zu reden und nad der heutzutage 
beliebten Melodie Alles zum Beten zu kehren, habe ich alfo nicht. Enttäujchungen: 
Babe ich auch erlebt, wie Geng. Dennoch kann ih im Großen und Ganzen nicht 
die jelben Schlüffe daraus ziehen wie er. 

Er jeßt den Ausdrud „ſtammverwandte Brüder” in Anführungitridhe 
und feßt in eine Anmerkung darımter mehrere unter den Buren vorkommende 
franzöfifhe Familiennamen, um feine gelinden Zweifel an der Stammesver: 
wandtfchaft auszubrüden. Nun: man nehme nur die Rang: und Quartierlifte 
unferer Armee zur Hand und man wird auch eine Menge franzöfifcher Familien⸗ 
namen finden. Kein Wunder. Adelige Hugenotten, wahrhaftig nicht die ſchlechteſten 
&lieder des franzöfiichen Volkes, find Hüben in Deutichland, drüben in Afrika 
zu gleicher Zeit Bringer und Träger einer höheren Kultur geworden, weil der 
bigotte Ludwig XIV. fie aus ihrem Vaterlande trieb. Durch die Beimifchung 
dieſes edeljten franzöfifhen Blutes find wir fo wenig wie bie Buren fchlechtere 
Deutiche geworden. Und feit ich die Buren von Angeficht zu Angeficht geſehen Habe, 
bin ich, mehr ala durch gelehrte Beweiſe, überzeugt, daß e3 wirklich ftammıver- 
wandte Bauern find, die mit dem internationalen Kapitalismus und dem britifchen 
Imperialismus um die Herrihaft in Südafrika ringen. Als ich vor zwei Jahre: 
in Komatipoort die erjten Buren kennen lernte, breitichulterig, mit gleichgiltigen 
Mienen, langfam in ihren Bervegungen, ungelent in ihrer Sprache, kannte id 
nur erſt Lagarde und noch nicht Gobineau. Aber auch jo wurde ich der Gemwih- 
Beit froh, daß in Sübafrifa Verwandte wohnen. Weldem Sohn nieberbeuticher 
Erde könnten Worte fremd vorlommen wie: Daar is lecker waater! Ons zal 
vecht tot die laatste man! Ons nioet tegen die engelsche treck! Ons kan 
wacht! Wenn wir 5i8 dahin um ber Abenteuer und Gefahren willen fämpfen 
wollten: von dieſem Augenblid an lebte in unferen Herzen ein anderes Gefühl. 
Wir mußten, daß wir für die deutfhe Sprache, für deutfche Yrauep und für 
deutiche Sinder das Gewehr in die Hand nahmen. Ueber diefe „‚alldentiche‘ 
Schwärmerei kann Jeder lächeln oder lachen, jo viel er Luftig ift. Mir ſchmeckt 
fie recht Bitter, jeit „Itammverwandte”' Yrauen und Kinder ungeräct in den 
Konzentrationlagern verfchmachten. Ich fühle mich bem ſüdafrikaniſchen Baner«- 
mann eher im Wejen gleich, troß all feinen Unvolllommenheiten, als dem engli- 
ſchen Gentleman im Sportanzug oder den jüdiſch⸗deutſch-⸗engliſchen Ariſtokraten 
wie Beit, Wernher, Philipps und Konſorten. 

Recht unbrüberlid haben nach Gent Meinung die Buren gehandelt, 
da fie zunächſt Freiwilligen, insbejondere Offizieren, „entiprechende Stellungen” 
verjprachen und fie nachher „unmwürdig“ und „nur mit Spott und Beratung“ 
behandelten. Welche Beweiſe hat er für den erſten Theil feiner Behauptungen, 
nämlid dafür, dat die Buren Freiwillige angelodt haben? Mich Hat Niemand 
angelodt, eher abgejchredt. Mir hat Leyds auf meine Anfrage im Oftober 1 
jofort zurüdgeichrieben, daß die Südafrikaniſche Republik (Transvaal) 8 
willige nur einjtelle, wenn fie auf eigene Koſten binüberführen. Irgend 
Bezahlung, irgend eine entſprechende Stellung oder Dergleichen hat er mir ... 
in Ausficht geftellt. Leyds Hat ganz ehrlich und unummwunden geantwortet, ı 
mir allein, ſondern auch anderen meiner Feldzugsbekannten. Nicht einen einzi 
Transvaalfahrer ferne ich, dem ein berufener Burenvertreter in Europa Sol! 





Onze dappern burgers. 405 


Berge oder Chrenftellen verjproden hätte. Erſt möchte ich daher genügende 
Beweife jehen. Um Ausländer anzuloden, haben nad) Gens Anficht die Buren das 
Bürgerrecht freigebig verliehen. Das ift gar nichts Befonderes. Auch bei anderen 
Gelegenheiten Haben die Buren Allen, die mit ihnen zu Felde lagen, das Bürger- 
recht gegeben, jo im Malobochkriege. Als Leimruthe für Gimpel haben die 
Buren das vielumjtrittene Bürgerrecht nie‘ angefehen. Obgleich fie alfo Keinen 
angelodt und Seinem Etwas verſprochen haben, jind doch Hunderte von beutichen 
Männern und Jünglingen binübergegangen, um für freiheit und Recht mtt- 
zufechten und nebenbei etwas Neues zu fehen und zu hören. Kein Menſch wird 


es deutſchen und anderen Offizieren verdenken, wenn jie in der Front der Buren: 


armee ihren Fähigkeiten entjprechende Verwendung und Gelegenheit, ihre Kriegs- 
wiflenfchaft zu bethätigen, juchten. In diefer Hoffnung bat ſich Mander recht 
bitter getäufcht. Ach ſelbſt konnte ſolche Hoffnung nicht Hegen; denn ich habe 
von meinem milttäriichen Können, das Über das eines jogenannten Sommer- 
lieutenants nicht hinausgeht, feine übertriebene Vorftellung., Trotzdem — oder 
gerade deshalb — kann ich Gent und anderen früheren aktiven Offizieren, die mehr 
militärifche Fähigkeiten und Kenntniſſe haben als ich, ihre bittere Stimmung 
nachfühlen. Sie hatten ein gutes Necht, ärgerlich zu fein. 

Aber ein unbefangener Lejer wird, glaube ich, aus den Ausführungen 
Gentzs kaum berauslefen, weshalb man die europäiichen Offiziere nicht auch bei 
den Buren als Offiziere anftellte. Die Hauptſache erwähnt er nicht. Weber 
Leyds noch Ohm Paul oder Steijn, weder Joubert noch Dewet konnten einen 
Burentommandanten ernennen; denn gejeglich ſtand ja den Bürgern eines 
Kommandos die Wahl ihrer Borgejegten frei. Einem ihnen vorgefegten, nicht 
gewählten Führer hätten die Bürger überhaupt nicht gehorcht. Zur Artillerie, 
die bezahlt und nad) europäifhem Vorbilde organifirt war, Tonnte Stein wohl 
diejen oder jenen europätfchen Offizier fchiden. Weiter aber reichte auch feine 
Amtsgewalt nicht. 

Im Berlauf des Krieges wußten übrigens doch manche Deutſche ihre 
Perſon zur Geltung zu bringen. Eben der von Gent erwähnte Oberft von Braun, 
der zunächft als gewöhnlicher Freiwilliger Kriegsdienſte that, bat an den ver: 
trauteften Berhandlungen bes Kriegsrathes vor Ladyſmith theilgenommen. Andere 
Deutfche Haben als Kommandanten von Ausländercorpe und als Xrtillerie- 
offiziere von fi reden gemacht oder find jonft mehrfach hervorgetreten. Kom⸗ 
mandant Banfes, der außer Deutfchen Buren unter ſich hatte, hatte ficher mehr 
Einfluß als ein Dichichnittsfommandant bei den Buren. Andere, zumal jüngere 
Dffiztere, die in beitem Anſehen bei ihren Kameraden ftanden, haben leider 
weniger Gelegenheit gehabt, ſich ald Führer zu zeigen. Bauernftolz, berechtigter 
und unberechtigter, den der Bauer Südafrilas mit den Bauern der ganzen Welt 
gemein bat, war zum guten Theile mit Schuld. Aber andere Umſtände, die 
Gentz nicht genügend hervorhebt, möchte ich für eben jo wichtig oder noch wichtiger 
halten. Erſtens mußte ſich doch jeder Europäer erft auf den Ebenen und zwiſchen 
den Kopjes zurechtfinden, fi in die Anfchauungen ber Afrikaner hineindenten, 
ihre Sprache und ihren Umgangston beherrſchen lernen, ehe er als Führer her: 
vortreten konnte. Alles Lernen aber Eoftet Zeit. Ungünſtiger noch wirkte ein 
zweiter Umitand. Es muß gerade den beiten Offizieren übel zu Muth geworden 








406 | Die Zuhmft. 


fein, wenn fie fi) die Leute anfahen, die ji wie fünftige Beherticher des Ver— 
einigten Südafrilas vorlamen und Dem gemäß gebahrten. Wie umagbar 
lächerlich machte ji) da eine Geſtalt, die in der bunteſten Uniform einherjtolzirte, 
jo daß gutgläubige Menſchen auf den Gedanken fommen fonnten, da3 Deutſche 
Meich, Habe diefen Pfau als Militär-Attach6 binübergefhicdt! Natürlich hatte 
diejer Held, der wohl faum mal eine Kugel pfeifen hörte, in Deutichland nie- 
mal3 die Epauletten getragen. Solde Leute machten ſich nicht nur lächerlich, 
jonbern erregten Argmohn. Manche Transvaalfahrer traten jo merkwürdig auf, 
daß fie fchon ihren Mitreifenden wie „Spione“ vorlamen. Jeder von uns 
bat wohl minbeftend ein paar ſolche merkwürdige Menjchen kennen gelernt. 
Kann man den Buren verdenfen, wenn fie folche ‚Leute beobachteten? Und 
ift e3 verwunberlid, wenn fie gegen diejen oder jenen Fremdling mißtrauiſch 
waren? Gewiß konnte Gent mwüthend werben, als er erfuhr, daß ihn ei 
Detektiv eine Zeit lang beobachtet hatte. Aber er wird felbft zugeftehen, daß 
e3 unter den Ausländern allerlei recht verdächtige Menſchen gab. Wer lehrte die 
Buren aber da3 Echte vom Falſchen ſcheiden? Außerlich Fonnte man Geichäfts- 
menfchen und Maulhelden ımd Kampfmenſchen und Betrüger nit von einander 
unterjcheiden. Nach dem Gefecht wußten aber die Männer, die die Pferde im 
der Dedung gehalten hatten, oft die beften Generalibeen und Spezialibeen an- 
zugeben. Und diefe guten Rathſchläge waren mandmal gar nit billig. Das 
Rechnungbuch des Transvaal-Hotels in Pretoria weiß zu erzählen, wie einige 
Leute auch im unbelannte Lande zu leben wußten, — auf Koften Anderer. Wer 
einmal bei Schiel nachgelefen hat, wie er die Ausländer mit wenigen Aus— 
nahmen jchildert, Der wird ganz verftändlicd finden, dad die Buren zu Anfang 
wenigjtens dem Fremden mißtrauiſch gegenüberftanden. 

Leider fehlte es ja auch nicht an harmlofen und ernfthaften Zwiſchenfällen, 
die immer wieder zu allerlei Streit und Zank zwifchen Ausländern und Buren 
Anlaß gaben. Da ſchießt ein Deutfcher einen Springbod, der von einem ;Jarmer 
unter Beter und Mordio als Eigenthum zurücgefordert wird, alldieweil bejagter 
Springbod ein ganz gewöhnlicher Haus: und Stallziegenbod war. Oder ein 
Deuticher tränkt jein Roß an einer Wafferftelle, die für bie Trinkbedürfniſſe 
der Menjchen beſtimmt iſt; ober ein anderer wäſcht feine Kleider da, wo bie 
Pferde getränkt werden follen. Und nicht nur Über die Xagerorbnung war man 
verjchiedener Anficht. Niemals bin ich Elar darüber geworden, warum die Buren 
gern „Heil Dir im Siegerfranz!” hörten, höchſt ungern aber „Deutſchland, 
Deutichland über Alles.” Mean follte doch meinen, daß fie als echte Republi— 
faner nicht unjerer Kaiſerhymne den Vorrang geben müßten. Und body war es 
jo. Und welch ein Unterjchied der Lebensauffaffung Llaffte auf, wenn bier die 
Buppfalınen zum Himmel um Gnade flehten, während fünfzig Schritte davon 
ftürmifch herausfordernd und wild die Marfeillaife erflang! Daß Buren gern 
die „Wacht am Rhein‘ hörten oder mitjangen, habe ich oft erlebt; dag mir 
ihren Pſalmen gleihe Aufmerkjamfeit erwiejen hätten, wird Keiner von uns 
Deutſchen behaupten. Wie vorfihtig muß man anderen Menjchen gegenüber 
jein, wenn man die Anfchauungen, die ihnen heilig find, nicht verlegen will! 
Sch ſehe noch Heute das Geſicht des ehrlichen Staatsjefretär Reitz vor mir, 
wie es zornig erröthete, als ein früherer deutfcher Offizier entrüftet die Zu- 


eek 


 Onze Jdappern burgers. 407 


muthung von fid) wies, ein Gewehr in die Hand zu nehmen. Ich wollte meinen 
Landsmann daran erinnern, daß ja aud Scharnhorft bei Auerftädt zum Gewehr 
gegriffen hat, behielt aber wohlweislich diefe Bemerkung für mich. Heute weiß 
Jener eine Schußwaffe ficher bejjer zu werthen als früher. Vielleicht denkt er 
auch. daran, daß Demet und Steijn fich nicht für zu hoch hielten, felbit das 
Gewehr in die Hand zu nehmen. Verfchiedene Kulturftufen bedingen eben ver- 
jchiedene Lebensaufjafjungen. Doch Das nebenbei. Der nädjte Krieg wird auch 
unfere Kavallerie, die ihre blanke Waffe für ritterlicher Hält als die Schußwaffe 
der Infanterie, ficher recht häufig als berittene Jufanterie erjcheinen laffen. 

| Nicht glüdlich verfährt Gent, wenn er Bur und Holländer in eine Gleichung 
jeßt. Der Bur jelbft konnte recht aufgebracht werben, wenn man ihn für einen 
Holländer hielt. Er fühlte fich ald ganz anderen Menſchen. Genb kann daher 
da3 von ihm angezogene thörichte Urtheil eines holländiſchen Arztes nicht als 
für die Buren Tennzeichnend anführen. Auch die Zeitungjchreiber der Volksstem 
waren feine Buren, ſondern Holländer. Es ift ja einfad wahr, daß der Bericht 
de genannten Blattes über die Niederlage bei Elandölaagte die frivole Sage 
aufkommen ließ, die Deutſchen hätten dieſe Schlappe verſchuldet. Eine fpäter 
vom Dr. Vallentin eingefandte Berichtigung ift faum beachtet worden. Aber 
eben fo frivol ift die Sage, die Buren hätten die Deutjchen „ſchmählich im Stich 
gelaſſen“. Gentz hat dieſe Sage nicht erfunden, aber er mußte ſie unterſuchen, 
ehe er fie weitergab. Der Gedanke, noch einmal eine Darſtellung der Schlacht 
zu geben, widert mich an. Ich weile nur darauf Bin, daß die Buren in jener 
Schlacht recht Harte Verlufte gehabt haben, eben jo wie die Deutichel. Beide 
haben tapfer und unglüdlich gefämpft, aber nicht wie Berräther. 

Irrig ift auch, was Gens über die Ausplünderung der Leiche des Herrn 
von Brüſewitz, der und bejonders heilig ift, ‚berichtet. Thatſächlich Hat ein Bur 
die Leiche geplündert, tft aber nachher geziwungen worden, die Werthſachen wieder 
herauszugeben. Solche vereinzelte Fälle von Diebftahl und Leichenraub werden 
von der Mehrheit der Buren genau fo bes und verurtheilt wie in jeder anftändigen 
Geſellſchaft. Aus Gentzens Sägen könnten unfritifche oder überfritifche Leer 
herauslejen, die Buren hätten im Allgemeinen beutide und engliiche Gefallene 
ausgeplündert, und nur ihre eigenen Toten nit. Dem gegenüber bemerfe ich, 
daß ich auf den Photographien des Zeichenfeldes auf dem Spionskop nicht die 
Beichen an ben Toten entbeden Tann, die nad der Anficht meines Vorredners 
Zeugniß von allgemeiner Leichenräuberei ablegen jollen. Dergleichen ift mir 
auch undenkbar, wenn ich aus den Berichten von Waffenbrüdern, die am Spionsfop 
mitgefochten haben, und aus meinen eigenen Erfahrungen einen Schluß ziehen 
darf. Ich Habe auf den Gefechtsfeldern des Kaplandes und im Freiſtaat, wo 
ih mitgefochten habe, jtet3 nur beobachtet, daß die Buren vor unjeren Toten 
die jelbe Ehrfurcht hatten wie vor ihren. 

Gentz erging es nach der Einnahme von PBretoria ſchlecht. Er wurde ins 
Gefängniß gefperrt, wo er von Gefängnißwärtern, die aus transvaaliichen in 
engliſchen Dienit getreten waren, jchlecdt behandelt wurde. Bei einer Gelegen- 
heit denungzirte ihn jogar ein mitgefangener junger Bur. Ja, es iſt eine traurige 
nadte Wahrheit, daß es unter den Buren Berräther gegeben bat. Die aber 
haben nicht nur Deutjche, fondern auch Buren verrathen. Ich kann hinzufügen, 


30 


408 Die Zukunft. 


daß nad) der Einnahme von Johannesburg auch Deutfche in den Verdacht kamen, 
ben Engländern als Spione zu dienen. Nun: diefe Berräther werben nicht 
nur Buren, fondern auch Deutſche verrathen haben. 

Dann erzählt Gent, die Buren hätten das deutſche Corps unter Rund 
ſchlecht beritten gemadt, jo daß es unfreiwillig während bes Rückzuges durch 
den Tyreiltaat zurüdbleiben und jo beftändig bie Mrrieregarde der flüchtenden 
Buren bilden mußte. Als Rund das Kommando von Brall, unter dem ich 
gedient habe, übernahm, lag ich ſchon im Hofpital. Uber die Berficherung Zaun 
ich geben, daß Runcks Corps nicht etwa ſchlecht beritten gemacht wurde, weil 
es nur aus Deutichen beitand. Als ich ſelbſt mit vier oder fünf Fahrtgenoſſen 
Pferde ausfuchte, wurden uns dreißig vorgeführt, unter benen wir bie Wahl 
Batten. Mit der Hilfe eines pferdefundigen Buren gelangte ich zu einem tadel⸗ 
Iofen Thiere, das mir vorzügliche Dienfte geleiftet bat. Des tapferen Runde 
Ruhm ift nicht etwa durch ſchlechte Beichaffenheit feiner Pferde bedingt. Er wird 
nidyt behaupten, daß die Buren ihm abfichtlich ſchlechte Pferbe geliefert Haben. 

Nur augenblidliche Berbitterung kann Gent die Behauptung ausfprechen 
Iafien, daß die Buren „bie Opfer an Leben und Freiheit, bie fo viele Männer 
ihnen brachten, bier in Afrika nur mit Spott und Beratung belohnt haben.” 
Das Verhalten des deutſchen Corps in den caplänbiichen Gefechten (Januar 
und Februar 1900) wurde wiederholt in den Depeichen ehrenb hervorgehoben. 
General Grobeler hat öfter als einmal uns feine Anerkennung ausgeſprochen. 
Aehnliches berichten Seiner und Schiel. Insbeſondere babe ich häufig erlebt, 
daß die Buren uns ihrer Theilnahme für die gefallenen dappern duitsen 
broers verfiherten. Noch im Hofpital wurde ich immer wieber nad dem 
Grafen Zeppelin, Schmitz-Dumont und Brüjewig gefragt. Hat Gen einmal 
bie Buren über den Major von Dalwig „nur mit Spott und Beradtung“ 
ſprechen hören? Haben nicht die Burenlommanbos jeden ehrlichen Deutichen, 
der in ihrem Verbande focht, kameradſchaftlich behandelt? Schade, daß wir uns 
nicht früh genug entſchließen konnten, uns einfach unter fie zu milden. Durch 
unjere Ubjonderung in gyremdenabtheilungen erregten wir leicht den Verdacht, 
daß wir uns doch für etwas Beſſeres hielten. 

ch begreife, daß Gent als früherer Offizier die Zuftände in ber Yurem 
arınee „unglaublich“ findet; er legt eben den Maßſtab europäticher Berhältnifie 
an fie. Diejes Verfahren ift aber nicht geredt. Man Tann nit die großen 
und die Kleinen „Klumpen Menſchen“ mit unferen Bataillonen, die ungedienten 
ſechzehnjährigen und jechzigjährigen „Bürger“ mit unferen Solbaten vergleichen, 
ihre gewählten Kommandanten und Generale, die nie ein Compagniekloppen 
oder Liebesmahl gejehen, geichweige denn mitgemacht haben, mit unjeren Offi⸗ 
zieren. Die Nachwelt wird es einfach unglaublich finden, daß trogdem das ur 
geſchulte Bauernaufgebot einer überlegenen europäifchen Armee fi durcha! 
gewachſen zeigte. Wenn die Kriegführung große Mängel hatte, wenn nicht allı 
Stämpfer Triegerifchen Geift bewieſen, jo darf man diefe Erſcheinungen nicht ein 
fach mit „Feigheit“ oder „Häglichem Benehmen“ erklären. Man ftelle bie Bauern 
ichaft irgend eines unferer Dörfer vor eine Aufgabe, wie fie der Sturm aul 
den Spionskop war, und man wird Etwas erleben, dad nur Der unglaubli 
finden fann, der in der Völferpiuchologie und in der Kriegsgejchichte nicht b 





Nationale Gefchäfte. 4% 


richtigen Seiten gelejen bat. Ich denke als guter Deutſcher viel zu hoch von 
unferer auf Jahrhunderte langer Ueberlieferung beruhenden Heeresorgantjation 
und «Disziplin, als daß ich fie bei Bauern ſuchen Tonnte, die weber einen Alten 
Fritz noch einen Blücher ober Moltle gehabt Haben. 

Trotz Alledem haben unjere fübafritanifchen Brüder recht tüchtige Tetftungen 

aufzumeifen, zum Beijpiel gerade ben Sturm auf ben Spionskop. Gent feldft läßt 
den Lejer fühlen, wie ſchwer e8 für die „ſehr dünne Burenlinie” war, ben über⸗ 
mächtigen Feind vom Berg hinunterzuwerfen. Troß ben Mangel an Zuſammen⸗ 
bang fanden fi) fo viele einzelne brave Menſchen, daß fie den Engländern bis 
auf nahe und nächfte Entfernungen fich entgegenwerfen und fie, unterftüigt durch bie 
vorzäglide Artillerie, niederfämpfen konnten. Die Urtillerie und die Poltzei- 
truppen der Buren Balten ficher einen Vergleich mir jeder organifirten euro- 
päilhen Truppe aus. Die aufgebotenen Kommandos haben zum Theil wenig, 
zum anderen über Erwarten viel geleitet, im Durchichnitt mehr, als man von 
unbisziplinirten Truppen verlangen kann. Wie jollte man fi auch ben zähen 
Widerjtand ber legten Burenhäuflein erklären, wenn man fie, wie Gent, aus 
feigen, kläglichen Gefellen beftehen läßt? 
Ich will ganz aufrichtig geitehen, melde beiden Fragen mich beivegten, 
als ich die Küfte Südafrikas betrat. Die eine lautete: Befteht wirflich eine 
Armee „meift aus indolenten Menſchen“, wie ber große Friedrich gefagt Hat? 
Und die zweite: Wird biejes Volk, das ein Jahrhundert hindurch umhergehetzt 
ift in ber Wildniß, das ohne Paftor und Gefebgeber unb Lehrer zwiſchen Wilden 
vereinzelt umberfigt, nicht jelbft verwilbert fein? Und ich fand ein Volk, big zur 
Weichheit friebfertig, an dem alle Tyriebensfreunde und -Fyreundinnen ihre Freude 
hätten, das ben Krieg als Sünde verabſcheut, — und doch jeine Freiheit liebt. 
Und unter den Bauerfitteln entdeckte ich nicht nur indolente Menſchen, fondern 
Heldennaturen, die auch dem Baghaften ihren Yeuergeift einbauen. Das kam 
mix nicht felbftverftändlich vor, jonbern gab mir Räthſel auf, die mir nod fein 
Bud, das ich las, gelöft bat. Eins mur weiß ich: daß id) unter unjeren 
füdafrifanifhen Bauern den Lebensmuth un? vie Lebensfreude, die mir bier 
verloren zu neben brohten, neu gefeftigt habe. 


ever. Franz Hentel. 


kr 
Nationale Gefchäfte. 


&: der Generalverfammlung der Hamburg. Umerila-Linie erſchien Herr 
Dr. Diederich Hahn, der Direktor des Bundes der Landwirthe, und ftand 
feinem fo oft gefcholtenen Gegner, dem Juden Ballin, gegenüber. Herr Hahn 
kam, ſah und... ., ja, ih Tann mir nicht helfen: mir ſcheint, er blamirte fidh. 
Auf eine lange Rede voll anertennenswerth objektiner Tragen antwortete Herr 
Generaldirektor Ballin mit lauter nichtsſagenden Redensarten und Herr Dr. Hahn 
erflärte fich jchließlich für überzeugt unb forderte, gerührt von folder Wahrung 
nationaler Intereſſen, die einftimmige Annahme der Statutenänderung und bie 
Santtion des mit Morgan gefchlofjenen Vertrages. 


80* 


410 Die Zukunft. 


Ich babe bier ſchon ausführlich über den Ogenntruft geiprochen, der, wenn 
nicht aller Vorausficht nach inzwiſchen der amerikaniſche Krach käme, geeignet 
wäre, Deutfchlands wirthſchaftliche Kraft in Feſſeln zu ſchlagen. Herr Dr. Hahn 
ging mit den jelben Bedenken in die Verfammtlung; und wenn ih aud) feiner 
politifden und wirthſchaftlichen Anſchauung fremb und feindlich gefinut bin, Io 
kann mir dod nicht einfallen, ihm das Lob dafür vorzuentbalten, daß er, ala 
ein Einzelner, fi) in das Lager der Seeſchwärmer gewagt und ihnen feine Be- 
fürdtungen offen ing Geficht gefagt bat. Die nad Hamburg berufenen Afitonäre 
und Auffiträthe ſchießen, hauen und ftechen freilich nicht; das Trampeln unb 
Schreien ift ihre einzige Waffe, die fie nad den Berfammlungberichten denn 
auch fleißig gebraucht zu Haben ſcheinen. Wenn das Wort „nationales Inter⸗ 
eſſe“ fiel, dann johlte der Chor; und als gefragt wurde, ob denn die Geſellſchaft 
fi vor dem Vertragsabſchluß auch mit ber Negirung ins Einvernehmen gejeßt 
babe, wurde gerufen: „Dos iſt ung gleichgiltig!" Die Aftionäre ſehen in bem 
Truftvertrag eben ein gutes, einträgliches Geſchäft; und in folder Stimmung 
pflegen Sapitaliften das nationale Intereſſe billig zu geben. | 

Allerdings darf man fragen, was Herr Hahn unter nationalem Intereſſe 
verfteht. Billige Vollsernährung wünſcht er nicht und für ben Erportkandel 
braucht er nicht zu forgen. Der Gegenjaß der Herren Ballin und Hahn ift 
nicht damit erflärt, daß ber Erfte Tube, der Zweite arijcher Chrift if. Herr 
Ballin ift freihändleriſch hanſeatiſcher Rhedereidirektor, dem ber Schußzoll bie 
Rüdfrachten, alfo den Berdienit ſchmälert. Herrn Hahn aber iſt wohl nid 
nur die Kriegsmarine, fondern auch das bunte Gewimmel ber Kauffahrteiſchiffe 
„gräßlich.“ Nicht bie Möglichkeit erhöhter Frachtpreiſe von Europa nad Amerika 
ängjtigt ihn, jondern bie andere: daß die Yankees in ihrer neuen Madtftellung 
bie Frachtpreiſe nach Europa künftig weientlich herabſetzen können. Das war das 
nationale Intereſſe, da3 er vertreten zu müſſen glaubte. 

Nach dem Auftreten des Herrn Hahn, der doch fider im Einverftänbnik 
mit den übrigen Beherrſchern des Bundes der Landwirthe gehandelt bat, mıuf 
man annehmen, daß die Snterpellation des Grafen Kani nicht zur VBerbans 
lung fommen wird. Denn dem Grafen könnte fa einfad geantwortet werben, 
ber Bunbesbireftor felbft Habe bem Ogeantruft feierlich zugeftimmt. Man fragt 
fih unmillfürlich, was die Agrarier beivogen haben könne, ihr Urtheil über ben 
Truft plöglich zu ändern. Die Gefahr einer weiteren Berbilligung der Getreide 
fradten ift vorhanden und man könnte es den für ihre Eriftenz Kämpfenden 
nicht verdenfen, wenn fie fi) zur Wehr feßten. Zwar fteht im Vertrage, „vor⸗ 
läufig“ jolle nur die Perſonenfracht vom Truft geregelt werden. Das aber tft 
nur ein Troſtſprüchlein für ängftliche Seelen. Und von dem Wunſch, den von 
unferer Zatifundienwirtbichaft übers Meer getriebenen Auswandeiern die Fahrt 
zu vertheuern, werben bie Agrarier fih doch wohl nicht Teiten laſſen. 

Die Thatfache, daß der Bund der Landwirthe durch feinen Direktor mit 
Herrn Ballin Frieden gejchloffen Hat, müßte am Meiften eigentlich unjere 
Liberalen erfreuen. Die Agrarier greifen felbit die vernünftigiten Maßregeln 
der MAhedereidireftoren an, weil fie von politiihen Gegnern ftammen; und bie 
Liberalen gehen mit Herrn Ballin durch Did und Dünn, weil er im Hanbels- 
vertragsverein eine große Rolle fpielt. Durch folhe Momente wird Heute ja 





Nationale Gefchäfte. 411 


Leider das politifche Urtheil in Deutichland beffimmt. Wenn dem Gegner ein 
Schlag verjeht wird, opfern die Liberalen Würde und Klugheit; wie jubelten 
fie, als die konſervativen Landräthe für ihre Abſtimmung beftraft wurden! Die 
felbe Dummheit wiederholt fich jegt. Faſt die ganze liberale Prefje ſchilt Herrn 
Diederih Hahn, weil er in einer Aktionärverfammlung aufzutreten gewagt hat. 
Der mancheſierlichen Anſchauung ift e8 eben ein Gräuel, daß jemand ſich er- 
dreiftet, mit dem Hinweis auf allgeineine Intereſſen fi in die Gefchäfte der 
Aktionäre zu miſchen. Trotz dem Gezeter wird biefer Brauch fich aber ein- 
Bürgern. Die Arbeiterjhaft Hat damit begonnen, die Lohnfragen vor das Tyorum 
der Aktionäre zu tragen; mit Mecht: denn in diefen Berfammlungen figen Männer, 
deren Wort tn ſolchen ragen gewichtiger tft ald das von Miniftern und Staats- 
jefretären, bie morgen vielleicht fchon ins Schattenreich finten. 

Daß Herr Hahn gegen den Truft auftrat, wird getadelt, nicht aber, daß 
er fi} mit leeren Nebensarten abjpeifen ließ. Als er darauf Hinwies, daß die 
amerifanifhen Schiffe, denen der Vertrag bie deutjchen Häfen ſperrt, doch nad) 
Belgien kommen bürfen, erwiderte Herr Ballin von oben herab, feit elf Jahren 
Thon bejtehe eine Konvention, wonach belgiichen und Holländiichen Schiffen der 
Verkehr mit ihrer Heimath rejervirt ſei. Aber Herr Hahn fragte nicht — und 
Herr Ballin brauchte deshalb auch nicht darauf zu antworten —, ob denn die 
Verhältniſſe nicht völlig verändert jeien, jeit die große Holland-Amerifalinie den 
Amerikanern gehört. Eben jo wenig wurde gefragt, im Befiß weldjer Leute 
denn eigentlich die Aktien der belgijden White-Cross-Line feien. In einem 
Punkt waren die feindlichen Brüder von vorn herein wundervoll einig: im der 
Freude darüber, daß in dem Truſt nicht die Engländer, fondern die Amerikaner 
die Führung haben. Es ſcheint einen großen Unterfchied auszumachen, von wen 
man bewuchert wird: nur jüdiſcher und britifcher Wucher ift unerträglich. 

In unferer liberalen Preſſe aber herrſcht Zubelftimmung. Herr Ballin, 
beißt e8, ift ein großer Mann umd die nationale Unabhängigkeit der deutichen 
Geſellſchaften ift in vollem Umfang gewahrt. Daß ich anderer Anficht bin, habe 
ih ſchon gejagt. Doc) ſchließlich find darüber verſchiedene Anſchauungen möglich. 
Einig aber follte man in dem Bugejtändniß fein, daß die Widerftandsfraft der 
deutſchen Gefelljchaften durch die Staatsjubvention wefentlich geftärft worden tft. Das 
wurde in ben Times gefagt, die deshalb von unferer Preſſe heftig angegriffen werben. 
Die Redakteure der Times find über deutjche Verhältniffe Schlecht unterrichtet und ihrer 
Antipatbie gegen Deutjchland fehlt jeder feite Boden. Auch der Artikel über den 
Anſchluß der deutichen Geſellſchaften an den Truſt enthielt Irrthümer; bie englifchen 
Redakteure fcheinen zu glauben, die deutſche Regirung jet Theilhaberin des Lloyd 
und der Hamburg= Amerifa Linie. Dieje Fehler griff unjere Preſſe eifrig auf. 
Im Schulmeifterton wurde den Engländern auseinandergefeßt, das Deutiche 
Neich jei nicht Theilhaber der Gefellichaften, die auch für den Verkehr mit Amerika 
feine Subventionen empfangen, und die Poftvergütung ſei nicht größer al3 die 
von England feiner. Handelsflotte gewährte. Doc) fommt es gar nicht darauf an, 
für welche Linie eine Staatsfubvention gewährt wird; wenn das Reich die 
Rhedereien ftrafen wollte, fonnte e8 ihnen ja die Subventionen für die ojt- 
afiatifeden Linien verringern. Man braucht nicht immer an beim Glied gejtraft 
zu werden, mit dem man gejündigt hat. Ganz richtig jagen aber Times und 


412 Die Zukunft. 


andere englijche Blätter, die Yurcht, von den Amerikanern verfchlungen zu werden, 
habe die deutichen Geſellſchaften zum Anſchluß beftimmt. Man ftand eben vor 
ber Wahl zwiſchen zwei Uebeln, von benen aud) ber Regirung ber Xruftvertrag 
das kleinere ſchien. Bu nationalem Hochmuth liegt Hier alfo feine Beranlafjung vor. 

Die alte Taktik, die Schwäde der Pofition mit nationalen Phrafen zu 
bemänteln, eine Taktik, zu der jelbft die Tiberalften der Liberalen ſich jeßt ent- 
ichloffen haben, zeigt fi auch auf einem anderen Gebtet: bei der Behandlung 
des Boykottverfuches, den polniſche und ruffifche gegen deutſche Firmen feit den 
Tagen von Wreſchen unternommen haben. Anfangs hatte man für biefen Ber- 
fuh nur Hohn und Spott; und als die Sade bann ernft wurbe, ging man zu 
wüſtem Schtmpfen über. Die Polen, die das nationale Intereſſe trieb, ihre Paaren 
anderöwo theurer al3 in Deutichland zu kaufen, wurben von ben jelben Kulis 
geſchmäht, die ſonſt nicht laut genug von den auf dem Ultar des Baterlanbdes 
zu dringenden Opfern zu reden wiflen. Natürlich fehlten unter ben begeifterten 
Polen auch die Krapülinski und Waſchlappski nicht; zu ihnen ift ber warfchauer 
Kunde zu zählen, der auf eine Mahnung antwortete, er babe jeden Berkehr mit 
Deutſchland abgebrochen und könne, nur um Rechnungen zu bezahlen, von feinen 
beiligften Grundjägen leider nicht abweichen. In den meilten Fällen aber 
handelte es ſich um eine durchaus ernfte Kundgebung. Die beutiden Geſchäfts—⸗ 
leute willen ein trauriges Lied davon zu fingen. 

Ich hätte diefe Sache heute nicht noch einmal erwähnt, wenn ein neuer 
Borgang fie nicht wieder ins Gedächtni gerufen Hätte. In der Rheiniſch⸗Weſt⸗ 
fälifden Zeitung tft ein Schreiben veröffentlicht worden, das die Bleijtift:WXktien- 
gefellichaft Johann aber in Nürnberg an Kaufleute in Ruſſiſch⸗Polen gerichtet 
bat. Darin wird ausführlid auseinandergejebt, daß die ftantsrechtlichen Ver⸗ 
bältnifje des Deutichen Reiches, deſſen Bundesitaaten jelbitändig find, Bayern 
nicht geftatten, fi in Preußens Polenpolitit einzumifchen, daß es deshalb aber 
auch ungerecht jei, alle deutichen Staaten zu boylottiren. Am Schluß des Briefes 
beißt e3: „Die polntjche Preſſe wäre baher barauf hinzuweiſen, einen Unter 
ſchied zwiſchen Antipreußiſch und Antibayerifch zu machen, bamit nicht ſolche 
Betriebe in Mitleidenſchaft gezogen werben, bie fi um Politik nicht kümmern, 
fondern nur barauf auögehen, ihre Abnehmer coulant und folib zu bedienen.” 
Nun mag e8 ja Manden ärgern, daß bier dem Ausland ein tiefer Blid in bie 
herrliche Einheit des Deutfchen Reiches gewährt wird; und fehr taktvoll kann 
ih das Verfahren der Firma Faber nicht finden. Aber es-ift leider nur zu 
verftändlihd. Denn unfere neuere Politik ift nicht felten nur dazu angethan, 
den deutſchen Kaufleuten das Gejchäft zu verderben. Und oft genug wirb dieſe 
Schädigung nicht von der Rückſicht auf bie nationale Webrfähigkeit, fondern von 
perjönlihen Wallungen herbeigeführt. Daß da ſchließlich den Partikulariſten, 
die außer mit neuen Steuern auch noch mit Gefchäftsverluften zahlen jollı 
die Galle überläuft, kann man ihnen nicht übel nehmen. Es ift auch fein Ungli.. 
wenn einmal offenbar wird, welche Berlufte bie nußlofe Chilanirung der Bole 
uns bringt. An diefen Berluften ift die vom Weltmachttaumel ergriffene liberal 
Preſſe mitſchuldig, — die Breffe der Geichäftsleute. Das ift der Humor davon, 


Blutus. 


Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: DM. Garden in Berlin. — Berlag der Zuhunft in Ber“ 
Druck von Albert Damde in Berlin⸗Schoneberg. 

















Berlin, den 14. Juni 1902. 
€— t 1 —ñ— —— 


Die Buren. 


8“ Worte werden im neuen Dentfchland fo oft bei winzigitem Anlaß 
gebraucht, daß der Nüchterne fich beinahe ſchon ſchämt, pathetifch zu 
reden. Dennoch muß Großbritaniens Sieg über die beiden füdafrifanifchen 
Republifen ein weltgefchichtliches Ereigniß genannt werden. Das Reich des 
Königs und Kaifers Eduard ift das größte, von dem bie ung befannte Hi- 
ftorie je Kunde brachte; es ift dreimal größer als Europa, umfaßt den fünften 
Theil der Erdoberfläche und zählt ein Viertel der Menſchheit zu feinen Bür- 
gern. Naher Verfall ward ihm längft voransgefagt. Nun Hates, in ein paar 
Jahren, das Niefengebiet des Sudans erobert, daS feine Herrichaft über 
Egypten für unabfehbare Zeitdauer verbürgt, und die an Bodenſchätzen un- 
ermeßlich reichen Länder der Südafrikaniſchen Republik und des Oranje— 
Freiftaates, deren Flächenumfang nicht viel Meiner ift als der des Deutſchen 
Neiches, als Kolonien feinem Beſitz einverleibt. Der Wunſch Cecils Rhodes, 
von Capetown bis Kairo den Union ad flattern zu fehen, ift faft ſchon 
erfüllt. Diefe Machtſtellung ſcheint den Briten, die nie unter der Be: 
fcheidenheit der Lumpen litten, nur der Ausdrud eines ihren politijchen 
Tugenden gebührenden Erfolges. Was Auguftinus von den Römern 
fagte, jagt oder denft jeder echte Sohn Albions vondem Weltreich der Briten: 
die Vorſehung habe fie zur Herrichaft über der Menſchen Geſchlechter ber 
rufen, um ihre Hohe Weisheit, ihre unbeirrte Beharrlichkeit und ftraffe Selbft- 
zucht zu belohnen. Ein fo ſtarkes und ftolzes Herrenvolf, dem die Imperial 
3 


414 Die Zukunft. 


Federation League und die Borfämpfer des Greater Britain neue Ziele 
gezeigt hatten, konnte den zähen Widerftand eines Heinen, nach den Begrifien 
unferer Induſtriekultur reaftionären Bauernjtammes nicht gelajfen hin 
nehmen, nicht um die jungen Burenftaaten einen Bogen machen und ſich 
mit der Thatfache abfinden, daß in diefer bäuerijchen Dligarchie der Eng 
länder, der ihren Wohlftand geichaffen hat, ein Bürger zweiter Klaſſe if. 
... Doch nicht von den Siegern ſollte hier heute gefprochen werden, jon- 
dern von den Befiegten. Die Kornburen, Weinburen, Viehburen, Zret- 
buren hatten ruhig, nach der Väter Weife, gelebt, bis im Schoß der von ihnen 
in langem Kampf den Kaffernabgerungenen Erde Goldſchätze gefunden wur- 
den und eine Induſtrie entftand, die den Mutterboden der engliſchen Gentty 
umpflügteundaufdieWährungpolitif, aufdieBefigverhältniffe und die foziale 
Schichtung dergrößten Reiche revolutionirend wirkte. Die Buren nügten den 
neuen Gefchäftsvortheil flug und ohnelebermuth aus; für die induſtrielle Leit⸗ 
ung und Arbeit waren fie nicht gerüftet, mochten von moderner Entmwidelung 
und ſolchem Teufelszeug in ihrem frommen Paganenthum auch nichts Hören, 
freuten fich aber der überalfes Erwarten großen Geldſummen, die fie oftfür 
ein Stück Land einftreichen konnten. So, dachten Sie, könne es weitergehen: 


fie würden reid) werden und dennoch die alte Sitte bewahren. Zäh wehrten 


fie jich gegen die Zumuthung, die in anderen Ländern gejcheiterten Eriftenzen 
in ihre Gemeinschaft aufzunehmen, Spekulanten und Spielern Bürgerredt 
und Bürgerehre zu gönnen. Sie wollten für ſich bleiben, aus der neumodiſchen 
Wandlung nur den Profit ziehen und das dumpfe Bauernmigtranm 
nicht opfern, das in dem Fremden, dem Städter den Feind fieht. Nicht den 
aus fernen Vorſtellungwelten fommenden Briten nur haften fie: auch vor 
dem Holländer, der fie mitder Diedermannszärtlichfeit des nah Verwandten 
umarmen wollte, rüdten fie mit froftigem Lächeln weg. Die Frage, ob ein 
großer Theil der Oberjchicht, ob nur da und dort eine nidjt immune Seele 
von der aus feinem Goldland zu bannenden Korruption ergriffen murde, 
mag immerhin unbeantwortet bleiben. Zwei fo verjchiedene Kulturformen, 
wir erleben eben in Preußen, können mit einander nicht haufen ; die Inter⸗ 
eſſen ſind zu verſchieden. Die Briten brauchten einen nach angelſächſiſcher 
Modelackirten Induſtrieſtaat, in dem fiefich frei bewegen könnten; die Buren 
Sagen warm in ihren Privilegien und wollten den agrarifchen Zuschnitt der 
Nepublifen um feinen Preis ändern. Auch eine Arbeiterfrage tauchte auf. 
Trotz ihrer Chriftenfrommheit, die fie zwingen follte, in jedem Menſchen 
das Ebenbild Gottes und die Krone der Schöpfung zu achten, ift den 





Die YBuren. 415 


Buren der Farbige, mas er doch nur dem naturwiſſenſchaftlich Denfen- 
den, an eine mähliche Evolution des zweizinfigen Gabelthieres Glauben- 
den jein dürfte: ein Wefen niederer Art, ein als Sklave, zum Sklaven 
GSeborener. Der Bur wollte die Kaffern in Hörigfeit halten, der Brite 
ihnen das Necht und die Bildungmöglichleit gewähren, ohne die .der In— 
duftriearbeiter ‚nicht mit dem wünjchenswerthen Nuten zu verwenden 
ift. Der alte Gegenſatz zwifchen Landwirthſchaft und Induſtrie, der auch 
bei uns immer fichtbar wird, wenn die Srundbefiter Sozialiftengefege 
fordern oder ein Zufallsſtrahl die Page oftelbifcher Randarbeiter erhellt. Kein 
Berftändiger konnte je zweifeln, welche Kulturform in Südafrika ſchließlich 
fiegen würde; wollte die Bauernoligarchie ſich unverändert erhalten, dann 
mußte fie die Minen fperren, der aufblühenden Induſtrie die Wurzel ab- 
Schneiden. Das thut kein Bauer; jelbft in der hitigften Wallung bedenft er 
den eigenen Vortheil und wägt, was ihm nüten, was fchaden Tann. Wäh- 
rend des ganzen Krieges haben die Buren nicht einen Augenblid ernſtlich 
an die Berftörung der Minen gedacht. Sie hätten den Krieg überhaupt nicht 
begonnen, wenn fie nicht Grund gehabt hätten, auf einen ftarfen Schüger 
im Kampf gegen den Bedränger zu hoffen. Hatte Wilhelm der Zweite nicht 
bas Deutſche Reich eineihnen befreundete Macht genannt, an deren Hilfe fie 
appeflirendürften? Englands Kraft, Englands Reichthum konnten fie nicht 
ermefjen; der Zuruf des Kaifers aber gab ihnen die Gewißheit, daß fie, wenn 
es zum Aeußerften fäme, nicht allein fechten würden. Nurdiefe Zuverficht hielt 
fie von einem Kompromiß zurüd, das auf Jahrzehnte hinaus ihre nationale 
Selbftändigfeit retten fonnte. Zweiunddreigig Monate lang trogten fie, als 
eine Guerilla, deren Ruhm inder Kriegsgefchichte nicht verblaffen wird, dem 
an Truppenzahl und Rüjtung überlegenen Feind und immer wieder wurde 
die verglimmende Hoffnung angefacht: morgen führt eine europäiſche Inter— 
vention ung zum Sieg. Die Armen, von thörichten und gewiſſenloſen Di- 
plomaten Getäufchten wußten nicht, daß die Zeit des von Andrew Carnegie 
verfündeten Empire of business längft gefommen ift und dem Reichſten 
die Welt gehört. ALS fie dann endlich von dem Wahn ſcheiden mußten, irgend 
eine europäifche Negirung werde für fie einen Finger rühren, als zuerft die 
Botfchaft des holländischen Minifterpräfidenten Kuyper und jpäter Kitche- 
ners Fuge Beredfamteit das Lügengewebe zerriß, das ihren Blid fo lange 
getrogen hatte, daretteten fiefchnell, was noch zuretten war, und kapitulirten. 

Europa ift mit diefem Ausgang der Sache gar nicht zufrieden. Eu- 
ropa hatte von einem Heldenvollgeträumt, das lieber bis zum Tegten Dann 

31° 





416 Die Zukunft. 


in den Tod gehen als auf feine Unabhängigkeit verzichten würde. Und nun 
leben die Dewet, Botha, Delarey, Schall Burger nicht nur, nein: fie zeigen 
fich fogar Arm in Arm mit britifchen Generalen, feiern den Viscount Kit- 
chener in feurigen Reden und fordern die Landsleute auf, Eduard dem Sieben- 
temin zuverläffiger Treue unterthan zu fein. Die jelben Männer, die ſich mit 
Handichlag verpflichtet hatten, vor jeder Entſcheidung den Hath des greifen 
Krüger einzuholen und ohne feine Zuftimmung keinen Friedensvertrag zu 
unterzeichnen, haben nun, ohne den angeblich vergötterten Ohm Paul 
auch nur zu fragen, Tapitulirt und nennen den Namen des früheren Prü- 
fidenten nicht mehr. Europa fteht vor einem Räthſel. ft Paul Krüger 
denn nicht der größte Staatsmann, der neben und nad) Bismarck Iebte, 
der Doktor Leyds nicht ein Diplomatengenie, das jeder Großmacht zu 
wünſchen wäre? Gleichen nicht alle Buren den mythifchen Heroen, die jich 
von blanfen Idealen nähren und deren Feljenherzen Menſchenſchwachheit 
nie ubermannen fann? Noch vor wenigen Wochen hieß e8, die Yage der 
Buren fei viel günftiger als am Anfang des Krieges, Kitchener komme nicht 
vom Fleck und nur ein Wunder fönne die völlige Niederlage der Engländer 
hindern. ALS die Burentommandanten nad) Vereeniging reiften und der 
einfachite politifche Anftinft wittern mußte, daß die Stumde des bitteren 
Endes bald fchlagen werde, wurde in Utrecht die Parole ausgegeben: Die 
Burgers benugen gern die gute Gelegenheit, um fich über die Fortführung 
des Feldzuges zu verjtändigen, — und der dumme Sirdar, dem nur im 
Kampf gegen Wilde Yorber reifen fonnte, geht blind in die Falle. Der Text 
der Kapitulation war ſchon unterfchrieben, als noch immer mitumerjchätter: 
licher Gewißheit behauptet wurde, da8 Gerücht von einem nahen Friedens⸗ 
ſchluß fei eine freche englijche Küge. Und Alles wurde, ſelbſt die albernfte 
Mär, willig geglaubt und jede zur Vernunft mahnende Stimme überbrülft. 
Die Buren hatten zu fiegen oder zu jterben. Europa fah mit angenehmem 
Nerventigel dem Kampfjpiel zu und war bereit, die Helden ihres Traumes 
pollice verso, wie niedergerungene Gladiatoren, in den Tod zu jchiden. 

Zu ſolchem Ende hatten die Buren feine Luft. Wer fie gerehtb. - 
teilen will, darf nicht verwehten Klängen alter Heldenlieder nadhträum , 
Sondern muß ſich wachen Sinnes erinnern, wie in feiner eigenen Heima „ 
wie in allen Zonen der Bauer lebt undftrebt, fühltundtrachtet. Der Dia , 
der in harter Arbeit den Ader beftellt, geduldig da8 Vieh wachſen und fall: , 
die Frucht reifen, die Hoffnung eines Kahres von Wind und Vetter : 
nichtet jteht, ift für metaphyſiſchen Idealismus nicht zu haben und wird | 








Die Yuren. 417 


mit klarem Bewußtſein felten entjchließen, für unirdifche, nicht mit Händen _ 
greifbare Güter das ſchwerſte Opfer zu bringen. Sein Wunfch langt über 
die enge Welt der Realitäten nicht hinaus und gefunder Menſchenverſtand 
ſchützt ihn vor der heroifchen Schwachheit, die Alles aufs Spiel fest, Haus 
und Hof zerftören, Weib und Kind hinmorden läßt, um einem Phantom 
nachzujagen, das den abjtrahirenden, afjoziirenden Geiſt des Kulturmen- 
ſchen werthvoller dünken mag als alle zeitliche Habe. Wenn der jchwerfällige 
Bauer ſich waffnet, fämpft er nicht für Begriffe, für Freiheit, Menfchenrecht 
und Berfaffung, fondern jucht einen Drud abzufchütteln, der feinen 
Schaffensdrang lähmt, ſchlechter Behandlung ledig zu werden, die ihn an 
Leib und Gut gejchädigt hat. Solchen Bauerntrieg haben dieBuren geführt. 
Sie fühlten fich in ihren Befigrechten bedroht, von windigen Einwanderern 
mißachtet, fie hofften auf Deutſchlands Hilfe, auf die Wirkung des Haſſes, 
der fi) an die Erobererjchritte der Briten geheftet hat, und zogen aus, um 
einem dreiften Räuber einen lehrreichen Dentzettel zu geben. SYeder nahm 
ein gutes, im Gelände heimifches Pferd und eine erprobte Flinte, aber auch 
einen Regenſchirm mit; denn im durchnäßten Kittel ſchwindet die Wider- 
ftandsfähigkeit des ſtärkſten Mannes. Sie mieden unnügliche Grauſam— 
feit, lachten die fremden Offiziere aus, die fie europäifchen Drill und Treffen- 
gederei lehren wollten, und richteten ihre Strategie nach den bewährten 
Regeln der Bauernichlauheit. Wozu ſollten fie englifche Soldaten und Heer- 
führer töten, wenn der Schuß Pulver nicht nöthig war? Viel einfacher wars, 
ihnen die Khafi » Uniform auszuziehen, die man im trainlojen Burenheer 
brauchen konnte, Munition und Lebensmittel wegzufangen und Tommy nur 
da, aus ficjerer Stellung, wie ein Stud Wild abzufchießen, wo die Noth zu 
blutiger Wehr zwang. Mancher Europäer hat ihnen Mangelan Muth nad)- 
gejagt und über die Burenhäuflein gejpottet, die er hinter haftig gebauten 
Schanzen boden ſah. Freilich: jie ſetzten ſich, wenn fies irgend vermeiden 
fonnten, nicht den feindlichen Kugeln aus und nie wäre ihnen, wie ganzen 
Schaaren englifcher Offiziere, der Einfall gefommen, blind, im Gefühl einer 
dem vaterländischen Ruhm ſchuldigen Pflicht, in den Tod zu ftürmen; Pflicht 
Ichien ihnen vielmehr, jedes einzelne Yeben dem Vaterlande fo lange wie 
möglich zu erhalten. Dann Fam der Tag der Erfenntniß. Jeder weitere 
Miderftand konnte die Entſcheidung auffcieben, nicht abwenden. Noch einen - 
Winter im Feld? Noch ein Jahr ohne Saat und Ernte? Die Farmen ver» 
wüſtet, Franen und Kinder im Elend, die Zukunft des Stammes gefährbet, 
— und Alles umfonft? Gute Behandlung, Erfat des verlorenen Gutes, 


418 Die Zukumft. 


ein behagliches Leben unter Englands mächtigem Schu ward ihren zuge 
jagt ; und fie lernten, als fie nad) langer Trennung einander wiederjahen, die 
Ausfichtlofigkeit ihres Kampfes Har erfennen und wußten genau, was ihnen 
bevoritand, wenn fie Diesmal fpröd blieben. Sollten fie ihren Präfidenten, 
defjen Irrthum den Krieg heraufbeichworen hatte, um Nath fragen? Der 
jaß, mit einem großen Vermögen, weit vom Schuß in Europa, kaunte 
ihr Leid nicht und hatte gut reden. Garſo herrlich waren ja früher, unter der 
Klüngeltyrannei, die Zuftände auch nicht gewefen und am Ende lie ſich mit 
den Engländern ganz gut ausfommen. Die Zähne zufammengebijjen und 
unterſchrieben!.. Das war nicht heroifch zwar, aber bäuerifch gehandelt. 

Die Burenlegende ift nicht mehr zu retten. Jetzt aber, gerade jetzt iſt 
es Beit, die gejunde Tüchtigfeit, die muthige Energiediefer Männer zu rühmen. 
Nicht wie Teichtfertige Knaben find fie zu friſchem, fröhlichen Krieg ins Feld 
gerüdt, um Abenteuer, Ehren und, wenns nicht anders fein fanın, einen 
effeltvollen, Nachruhm fihernden Tod zu juchen. Im Kampf haben fie ber 
Tapferkeit die Vorficht als Wächter beftellt, al8 die Stunde des ſchwerſten 
Entichluffes gelommen war, bedächtig zuerft das Wohl des Stammes er: 
wogen und, um ihm die Keimfraft zu wahren, den Glanz des eigenen 
Namens gemindert. Nicht hellenische Mythenhelden find fie, aber wackere, 
aufrechte Bauern, deren rauhe Tugend durch die Begrenztheit bäuerifcher 
Borftellungen bedingt ift. Niemand hat für fie Etwas gethan. Der alte 
Krüger nicht, der, troß dem unfeufch zur Schau getragenen Glauben an 
‚ eine den Frommen ſchützende Vorfehung, fein Leben und feinen Befig früh 
in Sicherheit brachte und deſſen eigenfinnige Kurzjicht für den Untergang 
der Nation verantwortlich bleibt ; nicht Herr Leyds, der von dem Patrioten- 
recht, in Kriegszeiten das Blaue vom Himmel zu lügen, nutzloſen Gebrauch 
gemacht hat;und erſt recht nicht die alte, geile Europa, die ftet8 bereit ift, jedem 
Bahlungfähigen die Grimaſſe der Zärtlichkeit zu verfchachern. Ihr hyſte⸗ 
riſches Gekreifch hat den Buren Hoffnungen vorgegaufelt, die, feit Die Leiter 
der deutschen Politif den ungeheuren, unverzeihlichen Fehler machten, Eng⸗ 
lands Sieg zu verbürgen, nie erfüllt werden konnten. Die Vettel mö.hte 
das Bauernvolf jest in neue Gefahr hetzen; nod) fei nicht aller Zage Abend 
greint fie, und über ein Kleines könne einem Burenaufftand das GlüL 
günftig fein. Die guten Europäer, die ihre Meinung nicht aus Schwarzer 
Küchen beziehen, follten dem Unfug ein Ende machen und dafür forgen, da 
die füdafrifanifchen Bauern ungeftört fortan den Weg gehen können, der 
die nüchterne Vernunft und der wachſame Raffeninftinkt ihnen weift. 








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Berliner Sezeifion. 419 


Berliner Sezeffion. 


De“ alfo wollen wir den „Laokoon“ aus den dunkelſten Tiefen be 


W Bücerichrantes hervorſuchen und eine Debatte über die Grenzen der 
Malerei und Poeſie beginnen. Leſſings von allen modernen Tendenzlern 
grenzenlo8 verachtete Aeſthetik kommt wieder zu Ehren und das fcharfängige 
Genie des in einer Kleinftadt des achtzehnten Jahrhunderts Lebenden Biblio: 
thekars kann jich der Großſtadtkunſt des zwanzigften Jahrhunderts gegenüber 
nochmals bewähren. Die Entwidelung unferer modernen Malerei in der 
MWeife, wie die Ausftellung der Sezefjion fie fihtbar macht, war längit fällig; 
dennoch kommt num die Beflätigung oft ausgeſprochener Prophezeihungen 
überrafchend und erwedt alte Hoffnungen. Liebermann, der Führer der 
Berliner Sezeſſion, beffen intelleftueller Einfluß auf das junge Malergefchlecht 
nicht Leicht überfhägt werden kann, hat in einem feiner neuen Bilder eine 
dramatifche Szene gemalt und damit, in dieſer Tüchtigkeit, als Erxfter ber 
deutfchen Impreſſioniſten das Gebiet deſkriptiver Landſchaftlyrik verlafien. 
Und fogleich auch Hört man die Stimme unferes größten Kunftrichter8 über 
die Entfernung eines ereignifreihen Säkulums berüberfhallen und jieht 
ftaunend, wie die vor der antiten, theoretiſch überjchägten Laokoongruppe 
Klar erfannten Geſetze künftlerifchen Empfindens von einem unendlich revolutio- 
nären Maler unferer Tage bewußt oder unbewußt befolgt worden find. Diefer 
Borgang wird für den philofophifchen Betrachter zum clou der ganzen Aus: 
ftellung, denn ex bezeichnet einen wichtigen Wendepunkt der deutfchen Malerei. 

Es ift viel von ber Entdedung ber Landſchaft für die Malerei geredet 
worben; man hat geglaubt, hier thue fich ein ideales Gebiet für das allzu 
bewußte Empfinden der modernen Seele auf; nur die Landfchaft fünne Erfag 
für die Stoffe bieten, die früher der Religion: und der Staatögejchichte ent- 
nommen wurden. Der Irrthum lag nah und konnte leicht entjtehen, weil 
die Menfchen in ihrem gegenwärtigen Zuftand ftet3 einen Abſchluß erbliden, 
erbliden müffen, um nur ruhig leben zu können. Niemand ift fich bewußt, 
im Uebergang zu ftehen; da der Blid immer nur auf der Vergangenheit 
ruht, die Zukunft nichts von ihren Geheimniffen preisgiebt und wie cine 
dunfle Mauer vor uns auffteigt, ift ein ſtarkes Refultatbewußtfein unent- 
behrlih. So hält man in der Malerei biß heute die Studie für den Abſchluß, 
den Weg für das Ziel. Diefe Kunft zeigt die lehrreihe Erfcheinung von 
der Wechſelwirkung äußerer und innerer Erkenntniß. Zuerſt wurde das 
Farbenfpiel der Atmofphäre entdedt und mit wifjenfchaftlidem Eifer im Bilde 
regiftrirt. Unter dem Einfluß des Sehens wandelte fih dann bald das 
Empfinden, das wieber auf die Art, die Dinge anzufehen, entjcheidend zurüd- 
wirkte. Auf diefem Wege wurde die Landfchaftmalerei ganz logiſch zu einer 


\ 


420 Die Zukunft. 


Igrifhen Stimmungstunft. In der Lyrik lernt der Künftler fich kennen wm 
der eigenen Art vertrauen, in biefem egoiftifchen Spiel der Gefühle entfalten 
fich die Kräfte zu reiferem, männlicheren Thun. Alle Jugend, felbft de 
beroifche, übt die Flügelfraft in den Räumen ber Lyrik. In der Malen 
wurden die Stimmungen der Landfchaft, die dem Auge neue Erfcheinung 
formen des Lichtes gezeigt hatten, zu Trägern unklar drängender Empfindungen 
gemacht; das Wetter der Seele befpiegelte jich in ben bunten Yarbengläjem 
der Witterung, jede gemalte Landichaft war ein Gedicht und in erfter Zimt 
eine Milteufchilderung der Wohnftätten ewiger Myſterien. Die Maler riefen: 
Schaut, wie ich e8 fehe, wie „perf önlih“ meine Augen zu beobachten wiſſen! 
Im Grunde wurde uns nicht die Natur dargeboten, fondern ein in Atmoſphoͤren 
töne und in plein air umgefegtes Gefühl. Aus dieſer — noch immer fo 
genannten. — naturaliftifchen Malerei geht die alte Lehre deutlich hervor, 
daß alle Kunft vom Menfchen für den Menfchen gemacht wird, daß dr 
artiftifche „ Wahrheit” nur ein Reflex der mit phyſiologiſch determinirten Organen 
nach Ausdrud taftenden Seele if. Aber je größer das Verlangen war, bie 
empfindfamen Gedanken — fie laufen faft alle auf Verzweiflung im irgend 
einer Form hinaus — mitzutheilen und fie möglihft vollkommen auch im 
Betrachter zu erweden, um fo nöthiger wurbe eine neue allgemein giltige 
Kunftiprache, eine anerkannte Stilfonvention. Alle Mittel der Verftändigung 
entftehen jeboch Iangfam; und fo erleben wir, daß die neue Kunſtſprache 
einen ähnlichen Werdegang durchmacht wie einft die Buchftabenfchrift, nämlich 
den über die Bilderfchrift. Die Landfchaft, deren Wiedergabe Selbitzwel 
fchien, bot den Malern für die Dauer des Ueberganges und ftatt mangelnder 
Stilformen ihren reihen Motivenfchat. 

Liebermanns merkwürdiges Bild beweift nun, dag die Igrifche Jugend: 
periode der modernen Malerei ihrem Abſchluß nah if. Er, als ber fon 
fequentefte deutſche Künſtler der Gegenwart, als ber geiſtvollſte Selbfterzieher, 
iſt zuerſt zu Reſultaten gekommen. Als Lyriker hat er ſich eigentlich nie 
gegeben; von Anfang an war ſeiner kühlen kritiſchen Natur Etwas von 
jener Objektivität eigen, die, auf Grund genauer Selbſtbeobachtung, mit den 
eigenen Empfindungen architektoniſch zu wirthſchaften weiß. Er hatte den 
epifchen Zug und war darum, viel mehr al8 Andere feiner Tendenz, ſozial 
beobadhtender Künſtler. Eine höhere Stufe der Malerei ift aber das auf 
die Fläche profizirte Dramatiſche; und dahin hat er fi mit feiner ne * 
Leiftung erhoben. Es ift Grund zur Genugthuung, daß endlich einmal N 
modern empfindender Maler zu jener Höhe der Selbftentwidelung gel ſ 
ift, zu der Reife des Urtheils über die eigenen, von lähmenden Traditi N 
freien Empfindungen, um hinter einen großen Stoff, hinter ein Wert, 3 
für ich felbft fpricht, zurüctreten zu fünnen. Bisher mußte man ſtets P’ 





a 











Berliner Sezeſſion. 42] 


logie treiben, dad Spiegelbild des Künftlerfenforiums aus dem Werte ablefen, 
wenn man feiniten Sunftgenuß wünſchte. Jetzt kommt einmal foldhe Ans 
firengung dem Stoffe zu Gut und man dankt dem Maler, indem man ihn 
im Anschauen feines Werkes vergißt. Bor einer gemalten Landſchaft ift es 
anders. Entweder man jieht in der Inrifchen Stimmung den Künftler oder 
erfreut fi) am Gegenftändlichen. Im erften Fall treibt man Seelenkunde 
und — weiterhin — SKulturphilofophie; im zweiten Fall ift die Anſchauung⸗ 
weiſe ganz unkünſtleriſch. Dem großen Publikum gefällt eine Landſchaft 
nie aus Gründen artiftifcher Erkenntniß, ſondern es fucht und findet das 
gegenftändlich Intereffante. Der Wunjch wird ihm lebendig, in ber gemalten 
Gegend fpaziren zu gehen, im Sonnenschein behaglich zu ruhen, über klare 
Gewäfler zu fahren, durch den Farbenraufch der Blumenfelder zu wandern, 
und ber Künſtler dient diefen Betrachtern eigentlich nur fo wie der Illuſtrator 
des Bilderbuches dem Kinde. Da all das Intereffante, wie e8, in edelfter 
Form, in den Walbdinterieurd Flideld, in den romantifchen Naturanfichten 
ber Achenbachs zum Ausdrud fonımt, den Landfchaften der Impreffioniften 
fehlt, da nur die reine Erfenntniß diefem lyriſch-ſymboliſchen Naturalismus 
beiflommen fann, wird die moderne Malerei nie vollsthümlih. Nur einem 
Dichter wie Bödlin ift es gelungen, das Intereſſante im Bilde fo zu erheben, 
daß e8 zu einer höheren Erkenntniß, zur Poeſie wird. Das macht die Größe 
feiner Kunſt aus. Die Imprefjtoniften mögen fi, aus Gründen ihrer Tendenz, 
zu fo flarfen Stilifieungen, in denen werthvolle Nuancen aufgeopfert werden 
möffen, nicht entfchliegen; da dem Anfchauenden aber ihre unbeftimmte Land⸗ 
ſchaftſymbolik auf die Dauer nicht genügt, jehen fie fi) vor der Aufgabe, das 
Stoffgebiet poetifch zu erweitern. Beſonders der deutfche Maler, dem die 
Leichtigkeit des franzöſiſchen Temperamentes fehlt, defien Bildern nicht die 
Fülle lebendiger Sinnlichleit eigen ift, kann unmöglich in feiner Iyrifchen, 
immer etwa8 Heinlichen Selbftherrlichkeit beharren, jondern muß feinen be= 
fonderen Anlagen Rechnung tragen. Für ihn kann der Fortfchritt nur darin 
liegen, mit dem von neuen Erkenntniſſen revolutionirten Gefühlsleben und 
auf Grund der Refultate des Impreſſionismus große poetifche Stoffe zur 
bewältigen. Der Franzoſe muß nun aus dem Spiel bleiben. Hier ift ber 
Punkt, wo die Raffentemperamente ſich fcheiden. Die Erkenntniß kennt nicht 
nationale Grenzen. Der Ausgangspunkt war für Alle gemeinfam; doc die 
Entwidelung muß nun nad) den Gefegen der befonderen Volksart erfolgen, 
wenn dem natürlichen Empfinden nicht Gewalt angethan werden fol. 

Bon ſolchem Gefichtspuntt aus ift Liebermanns Beifpiel befonders 
werthuoll. Sein Bild könnte von einem modernen Franzoſen fo nicht gemalt 
ſein. Es weift auf die große niederdeutfche Tradition, auf Rembrandt, und 
zeigt fo, daß der Künftler nie ängftlich zu fein braucht, ohne Ueberlieferung 


32 





422 ie Zukunft. 


in feiner Zeit zu ftehen. Die lebendige Tradition erbt fi) unbewußt fort, 
lebt in der Empfindungweife immer wieder auf und wird zu einer nemen 
Kraft, um fo mehr, je konfequenter eine Perfönlichkeit ſich jelbft betont. Es 
thut michtS zur Sache, daß Liebermann, feiner Abftammung nad, dem nieber: 
deutfchen Geiſt fern zu ftehen fcheint: die Tunftgefchichtlide Entwidelnug 
wählt ihre Inſtrumente nach einer Logik, die aller Heinlichen Berechnungen 
fpottet und in diefem Fall ziemlich Har zu errathen ift. 

Das Bild — Simfon und Delila — muß als Erftling betrachtet 
werden; Größe und Unzulänglichleit find zu gleichen Theilen darin enthalten 
Niemals hätte man dem Momentbeobadter eine fo fonzentrirte Linienführung, 
ſolche ornamentale Gewalt zugetrant. Piychologe im Einzelnen ift Liebermamn 
nit; er kann ein Seelenleben nicht phyfiognomifch wiederſpiegeln. Schein: 
bar weiß er es, denn er verzichtet ſtets darauf; und auch hier charakteriſirt er 
den Vorgang durch änfere Züge: durch eindringliche Silhouetten und eine 
jäh in den Raum jchiegende Bewegung, die gegen den etwas Tormlofen 
Fleiſchknäuel des fchlafenden Simfon jeltfam Hell und kreiſchend abſticht. 
Die Farbe unterftügt, in aller Trodenheit, die Abficht und bringt die phrafen- 
loſe Roheit des gefchlechtlichen Momentes, den Realismus der Auffaflung, 
der den Stoff alles biblifchen Farbenlackes entkleidet, die Hug ins Profane 
gezerrte und doch zu ſymboliſcher Kraft gefteigerte Situation vortrefflich zur . 
Anſchauung. Ueber die Häßlichkeit der Delila ift großer Lärm gemacht 
worden. Das liegt aber wohl mehr an der Auffafjung der Herren von 
Frauenſchönheit. Dies ift genau das Weib, worauf Simfonnaturen hinein⸗ 
fallen; im ihrer Fugen, rafjigen Magerkeit ift fie begehrenswerth für Jeden, 
den e8 treibt, mit brutaler Männlichkeit eine ftolze, fi) empört wehrende und 
Rache brütende Seele zu überwältigen. 

Wohl läßt ſich der Stoff zweifellos größer geflalten. Die Roheit kann 
unerbittlicher, die Gemeinheit tragifcher gegeben, auf dem Wege der fonjequenten 
Steigerung der hier gewählten Auffafjung könnte das Einzelne mehr durch⸗ 
gebildet werden. Der dramatifche Realismus ift im Stilgedanten nicht 
untergegangen, fondern poetifch erſtarkt. Das ift viel; aber nun galt es, mit 
der Farbe bewußt zu charafterijiren, den einfachen Alkord von Yleifchtönen 
und Grau hundertfach zu variiren und die Abficht pfycholegifch, nicht deforativ, 
fo zu fpezialifiren, daß alle Nuancen auf den Zielpunkt ber Idee redend 
hinweifen. Bon Rembrandt ijt zu lernen, wie ein ftinfend wahrer Naturalismus 
in der gligernden Apotheofe eines bunten Juwelenfeners zu verflären und 
zugleich zu unterjtügen ift. Nicht die Mittel Rembrandts follen empfohlen 
fein — die Mühe, eigene zu erlangen, wird unferer Malerei ja fchwer genug —, 
fondern die Sraft feiner fünftlerifchen Dispoſition. 

Wie ſehr Leſſing mit feiner Aeſthetik im Kern das Rechte getroffen 


Berliner Sezeffion. 423 


Hat — daR er jie auf Grund antiker Beifpiele erflären mußte, ift ja zu- 
fällig —, beweift jegt Kiebermann. Die Kompofition befolgt alle Gefege der 
Plaftifchen Ruhe, ohne die ein Figurenbild fofort genrehaft Mleinlich wird. 
Eine Reihe harakteriftifher körperlicher Erprefjionen iſt zufammengefaßt; 
nicht die Momenterſcheinung ift gewählt, fondern eine aus hundert Momenten 
zufammengefegte Bewegunglinie. Das Auge fieht vor ber Natur ja nie 
einzelne Augenblidspofen, fondern die Bewegungfolge und diefe wird dann 
als Linie, als lebendiged Ornament empfunden. Darum erfcheinen alle 
Momentphotographien falſch. Bor einem Bilde darf man nie da8 Berlangen 
fpären, dramatifche Entwidelungen zu fehen, nie, wie etwa vor Schlachten⸗ 
bildern, ein Vorwärtsdrängen des Gefchehniffes wünſchen. Das von Leſſing 
gefundene, in aller großen Kunft längft befolgte Geſez weit die Raum: 
kunſt an, Bewegungsfomplere refumirend fo aufzubauen, daß die Situation 
zeitlich fomohl vor= wie rückwärts weift und bie bildhafte Exftarrung einen 
Ruhe- und Reifepunkt des dramatifchen Vorganges darftelt. Es ift ein 
Zeichen gefunden Urtheils, daß die impreffioniftifchen Landfchafter ſich von 
dramatischen Stoffen zurücdgehalten haben, fo lange ihre unmündige Piy- 
chologie das malerifch Nothwendige aus der Fülle mimifcher Erfcheinungen 
nicht auswählen konnte. Aber es ift zugleich ein Zeichen von Befangenheit, 
daß fie dann das ihrem Können noch verfchloffene Stofigebiet für unkünſt⸗ 
ferifch erffärten. Aus ähnlichen Urfachen wollen neuere Bühnendichter die 
Handlung für unwefentli halten; ihrer Phantafie, die fi im Notizen- 
naturalismus erfchöpft, fehlt die Kraft des Geftaltungvermögens. 
Liebermann hat einen biblifchen Stoff gewählt. Doch entnahm er der 
Fülle tragifcher Menfchenfchidjale, den ungeheuren Leidenfchaften, die im 
Alten Teftament zu einem düfteren Tempelgebäude aufgethürmt find, einen 
Stoff, der allgemein menfchlicye Geltung behält, fich nicht auf ein religiöfes 
Dogma beruft. Trogdem verräth die Wahl ben verftedten Symboliften. 
Unfer Leben ift num jwar nicht weniger arm an Vorgängen, denen fombolifche 
Poefle abzugewinnen ift, al8 das der alten Juden; doch fehlt dem bildenden 
Künftler ihm gegenüber der Abftand der Zeit. Das Nahe ift nie poetifch, 
ift es im beiten Fall für den ganz Senfitiven. Das realiftifch Kleinliche, 
018 dem Geſchehniß der Gegenwart anhaftet, wird noch verftärkt, weil es ſich 
in Alltagskoſtum, im profanen Milien und ohne Unterflügung jeder mythen- 
bildenden Kraft abfpielt. Dennoch wird fich die moderne Kunft in Zufunft 
vor der Aufgabe fehen, das uns umgebende Leben bramatifcher Gegenfäge 
eben fo bildend angreifen zu müffen, wie fie das armſäligſte Stüd Land- 
ſchaft durch konſequenten Subjektivismus poetifch verflärt hat. Die Renaiffance- 
fünftler durften, als halbe Heiden, ohne Sorge biblifche Stoffe benugen, eine 
Mutter Gottes zur Venus umgeftalten und den Beittendenzen Träger in der 


.. 82° 


424 Die Zufunft. 


and 


Apoftelgefchichte fuchen. Nominell Herrichte das ChriftentHum und es war 
nur eine große Kulturlift der Kunft, als fie die alte Form allgemad mi: 
ganz neuem Inhalt zu füllen fuchte. Heute ift Dem, der ſich ehrlich an der 
Hand der Naturwiſſenſchaften zur Weltauffaffung burchgerungen hat, aller 
Bibelgeruch verdächtig. Troy der Ehrfurcht vor dem monumentalen Inhalt 
ber Teftamente — ber jegt nur noch äfthetifch gewerthet wird — lehnt das 
Gefühl Vergleiche, die biefen Büchern entnommen find, in den meiften 
Fällen ab und forbert eine dem neuverftandenen Inhalt des Daſeins ent: 
fprechende Symbolik. Woher foll die aber fommen, da doch Alles im Werben 
oder Vergehen ift und fein Begriff ſeſtſteht? Das Suchen nad) dem uns 
‘ Gemäßen, das in ber imprefjioniftifchen Malerei technifch begonnen hat und fich 
nun logiſch auf den poetifchen Stoff erftredt, mußte und muß ferner bie 
merfwürdige Erſcheinung hervorrufen, die unjere ganze moderne Kunſt charak⸗ 
terifirt: alle fehöpferifchen Künftler jind Skizziſten. Die vollfommıenfte 
Phantafie vermag ſich nicht ein Kunſtwerk wahrhaft modernen Geiftes vor: 
zuftellen, das zugleich ftiliftifch und deforativ harmonifch vollendet wäre. Das 
Eine oder das Andere: Skizziſt oder Formaliſt. Wenn eine neue große 
Stilfprache überhaupt je ausreifen kann, wird e8 im Lauf von hundert und 
mehr Jahren gefchehen, in einer langen, efleftifch fich ergänzenden Entbeder- 
arbeit vieler Generationen. Inzwiſchen wird jeder ernft mwollende Künitler, 
wenn nicht im Intellekt, fo doch im Inſtinkt, vor die Frage geftellt, ob er 
die Form dem Inhalt oder den Inhalt der Form voranfegen fol. Beides 
kann nicht gleich energifch gefördert werden. Das vollendete Kunſtwerk be- 
friedigt gewiß zugleich Sinne und Geift; feit hundert Jahren hat aber kein 
Künftler mehr gelebt, der die Webereinftimmung urſprünglich erzielt hätte. 
Selbſt der große Bödlin ift dem Ziel nur als genialer formafiftifcher 
Rhapſode, als ein auf alten Kulturwegen heroiſch dahin Stürmender nah 
gefommen. Manet und Monet, Tiebermann, Degas und Robin, Alle, die 
einen neuen Inhalt geben und keine anderen Mittel anerkennen als die vom 
MWirklichkeitiirun des Auges fanktionirten, find Skizziſten; die VBollender aber, 
die Schwärmer für ſchön geglättete Form, Klinger, Stud, Tuaillon, Hilde: 
brand, find, je nad) der Strenge ihres Stilgefühls, auch im Exfaffen des 
lebendigen Lebens Epigonen. Flüchtigkeit, Roheit, Unklarheit und Einfeitig: 
feit find die Gefahren der Skizziſten; für die Vollender droht dagegen 
Formalismus, der unüberwindbar, ift dag deflamirende, unfruchtbare Patl 
Diefer Unterfchied wird in der Ausftellung überall beftätigt; 
Gegenfäge ftehen fchroff neben einander. Mund, der eine Sammlung fe 
Arbeiten ausjtellt, ift typifch als ein Produft der herrſchenden geiftigen Fiel 
zujtände. Er iſt einer der vielen Entwurzelten des Lebens, gehört zu Jen 
die dem graufamen, unverftändlichen Scidfal mit wilden Haß und t' 


11 58 


— vr. 7° Tr u va any 


Berliner Sezefjion. 495 


Verachtung gegenüberftehen, die auf dem Wege des konfequenten Nihilismus 
zur Urmyſtik gelangt find, num in der Nacht der irdifchen Saufalität vor 
jedem Geſetz erfchauernd zufammenfchreden und alle ewigen Myfterien taufend: 
fah, in den_profanften Lebensformen, verkörpert fehen. Nie hat e8 einen 
Maler gegeben, der befjeren Willen zum poetifchen Empfindungweije hatte; 
aber fein unglüdlicher Berftand, ber nicht zu vergeflen weiß, zeigt ihm in 
allem Leben den Wurm, unter jeder Schönheit dag grinfende Skelett, in der 
Zeidenfchaft das Thierifche, in allen Schmerzen bie Willfür der Natur; und . 
mit ftumpfer Verwunderung, woneben der höhnifche Wahnjinn feine Arme 
ausredt, geht er, als ein mit einem Talent ataviftiich Belafteter, durch dieſes 
verfluchte Leben. Hinter feinen Werken dent man jich einen Menſchen, den 
Seftalten gleich, wie fie in den Romanen Doſtojewskijs brüten? durch eine 
drüdende Atmofphäre von Zweifeln fchleichen, fich philofophifche Syfteme 
bilden und von der Lebensangft zu wahnwigigem Thun angefpornt werden. 
Und- daneben bligt und gemwittert immer das Geniale. Kein Wunder, daß 
ein Solder nichts von Tradition und giltigen Werthen wiffen mag. Nicht 
eine Form paßt ja mehr zu feinem Empfinden; die Sprache der Ahnen ift 
ihn paradiefifch fremd. So fteht diefes triebhafte Talent vor der Riefen- 
arbeit, feiner Myſtik eine neue Kunftform zu finden. E38 ift fast unheimlich, 
zu beobachten, wie es hier in einer Kleinigkeit gelimgt und wie die Qual 
de3 Verſagens fi) an anderer Stelle in Hohn umſetzt, jich gellender Karika— 
tuven bedient, wie diefer Nervenmenfch ſich dann roh geberdet wie ein Holz= 
knecht. Man denkt an Strindberg, deſſen Stepfis auch an den Abgründen 
der Myſtik umherirrt, dem auch ein nabelfpiger Verftand nicht geitatten will, 
Gott wie ein Kind zu lieben. 

Mund malt etwa, wie ein rothes Haus den Nahenden brohend an- 
glogt und Empfindungen erwedt, wie man fie einer Marslandſchaft gegen- 
über haben könnte; wie Menfchen mit blöden, verlegenem Gruſeln, das faft 
zum verzerrten Lächeln wird, in ein Totenzimmer treten, voll irrer Rath- 
Lofigfeit dort umherſtehen und jich vor der überlegenen Gelaflenheit des Toten 
fhämen. Er malt Mann und Weib in brünftiger Umfchlingung, als wider: 
ftandlofe Opfer der eifernen Nothwendigfeit des Gattungsgeſetzes, Knabe 
und Mädchen, die in krankem Sehnen dahinfterben, mit denen der Gefchlechts- 
trieb wie mit Marionetten fpielt; Menſchen gehen durch troftlo8 dämmernde 
Straßen, wie eine Heerde von Lemuren, kranke, fataliftifche Gefichter, deren 
vom Lebensleid verzerrte Züge in fahlen Gelb aus dem Dunkel hervor- 
gleigen. AU diefe Verzweifelten fommen von Golgatha, wo ihr deal, der 
füre Jeſus ihres Herzens, gefreuzigt ward. Gatten jigen in dunkler Stube 
eng beifammen und weinen, daß ihr Schluchzen das ftille Haus geſpenſtiſch 
erfüllt; zroei förperlich eng umgitterte Seelen fchreien, kreiſchen ſchreckensvoll 


426 Die Zukunft. 


nad Vereinigung. Geflaltet find folche Stoffe mit einer brutalen Kar: 
taturhaftigfeit, wie wir fie ähnlich von Bruno Paul kennen, mit orname: 
tolen Bildungen, die an Ludwig von Hofmann erinnern, und dann wieder 
mit einem großzügigen Realismus, der den eminenten Zeichner und Malrr, 
den Kenner franzöfifcher Kunft verräth. Jedes Bild ift ein Embryo ur) 
theilt Etwas von dem Efel mit, der allem Embryonifchen anhaftet; zugleich 
aber jieht man überall Möglichkeiten des Wachſens, Keime zukünftiger Kat: 
und Schönheit. Diefe Kunſt ift in ihrer Art fo gut Ertraft wie die var 
Goghs, und je länger man ſich damit befchäftigt, defto reichere8 Detail finte 
man in der Vereinfahung. Manchmal erhebt fi der Stil mit breitem, 
ornamentalem Vortrag ind Pathetifche; manchmal entgleift er jäh ins Bar: 
feste und liefert dem Publifum Stoff zu willlommenen Gelächter. Ymme 
aber fteht neben den problematifhen Senforium ein kräftige deforativ:? 
Gefühl. Die Farbenharmonien, für jich betrachtet, find von eigener, teppid- 
artiger Schönheit. Wie viel diefer Unfertige fann, wie gat er fein Bant- 
werk verfteht, bemweifen einige Portraits. Mit den geringiten Mitteln ift bier 
er[chöpfend charakterifirt, mit einer Einfachheit, die an altegyptifche Portraits 
malerei erinnert, find die individuellen Züge eines Gelichte® auf das ganz 
Wefentliche zurüdgeführt. 

Das Talent, eine Impreſſion technifch zu überfegen, in der Phantaite 
bie lebendige Begegnung von Ideen und Material herbeizuführen, alle Hilfs: 
mittel des Handwerkes gerade fo zu bemugen, wie fie der Abſicht am Beſten 
dienen, den eigenartigen Stimmungwerth jeder Darftellungmanier der geiftigen 
Tendenz anzupaflen: dieſes Talent macht die eigentliche artiftifde Stärke 
der imprefiioniftifhen Maler aus. Man betrachte Werke von Liebermann, 
Manet, Iſraels: immer liegt die entfcheidende Fünftleriiche Phantajiethat in 
diefer genialen Annäherung von dee und Technik, von Abſicht und Materie. 
Es wird Einem Mar, wenn man, von Munch fommend, zu dem Bilde „m 
Meer“ von Liebermann geht — einem koſtbaren Bild, dem die hohe Echule 
von Degas, was Raumgefühl betriftt, anzumerken ift —, zu dem im Sinn 
des berliner Malers fehr fein gezeichneten „Carouſſel“ Iſaacs Iſraels, zu 
der genialen Neiterffizze Manets oder dem fabelhaft gemalten „Frühftüd“ 
Mones. Man kann verftehen, daß die Braven vom Glaspalaft vor folcher 
Kunft ganz rathlos find; denn diefe Technik bedingt eine eigene feelifche 
Anfchauung der Natur. Ganz fünftlerifche Technik ift nie etwas Millfür- 
liches, fondern entjpricht genau dem Geift, der jie regirt. Parador fanıı man 
es fo ausdrüden: unmöglich vermag ein Pointillift an die Dreieinigfeit und 
an die chriftliche Unfterblichkeit der Seele — höchſtens an die fpiritiftiiche — 
zu glauben; Eduard von Gebhardt fünnte dagegen nie Pleinairift fein. Wenn 
die Technik des Impreſſionismus auch das ewig gekniffene Auge bedingt — 


⸗ 


Berliner Sezeſſion. 427 


oder umgekehrt —, fo bleibt e8 doch beſſer, mit diefer Fünftlichen Schligäugig- 
feit etwas fpringend Charafteriftifches zu fehen als mit offenen Blicken das 
Banale Und der Betrachtung muß diefe Technik jo wefentlich fein, weil 
fie ein deutliches Produft der neuen Geiftesrichtung ift. Vielleicht erlangt 
Vieles von der Sezeflioniftenkunft, die uns fo ſtark interefjirt, niemals die 
Muſeumsunſterblichkeit. Das hindert nicht, daß diefe Art Unvollkommenheit 
für die Entwidelung und für uns alfo wichtiger ift als die auf artiftifchen 
Schleihwegen erlangte Vollendung Wahrfcheinlich werben Liebermanns 
Bilder der erften Periode, die nach dem Herzen eines Akademieprofeſſors 
Durchgearbeitet find, in den Galerien ſtets Chrenpläge einnehmen, während 
Das von feiner heutigen Kunft zweifelhaft iſt. Die von der Zeit, ausge⸗ 
theilten Preiſe der Unſterblichkeit beruhen. ii. Welemlichen· ja.auf. Di Majoritãt⸗ 
T he Tind 'alto ſche unfethtbar. . Solche Hinweiſe finb-Lefler- and dem Gpiel 
FT Tolfen.. „Uns, darf nur ‚daS wahrhalt. lebendige Empfinden ber Stunse 
"gelten; mag, bie : Butunft Dawn uxtksilen, wie fie fann und will, Die Künftler 


ftehen und am Nächſten, die Dem, was uns ſchmerzt und freut, was und 
weſentlich erſcheint, Ausdruck ſuchen und finden; alſo die Maler, die hier 
mit dem Namen Skizziſten bezeichnet worden find. Whiſtler, der. feinen 
fultivirten Gefhmad in den Taft neuer Empfindungen gezwungen hat, gehört 
dazu, Ludwig von Hofmann, der Iyrifhe Stimmungpoet, und der innig 
empfindende Baum, Kurt Herrmann, der, über die Jugend hinaus, ein bereit3 
ſicher erworbenes Gebiet freiwillig verlaflen, den jchon errungenen Ruhm 
preiögegeben hat, um von Neuem am Kampf theilzunehmen, Breitner, der 
talentvolle Mitenipfinder Jakobs Maris, der einfache, phrafenlofe Albert, 
Leiſtilow, deſſen Bilder fo ernithaften Optimismus predigen, Stremel, mit 
feinen Eoloriftifch funfelnden Interieur, und Corinth, der ein großer Künftler 
fein könnte, wie er ein ftarfer Maler ift, wenn fein Geiſt fo willig wäre 
wie fein Fleifch. Bon all diefer Kunſt ift im höheren Sinn nichts fertig und viel- 
leicht reift fie uns niemals zu einem großen Stil aus. Das einzelne Wert 
füllt nie die ganze Seele; jeder Künftler bearbeitet vielmehr eıne Nuance ber 
allgemeinen Weltempfindung als Spezialijt. Aber aus der Geſammtheit der 
Werte blidt Etwa wie eine große Harmonie hervor und der Trieb, dem 
diefe Talente gehorchen, weiſt auf ein einziges deal, das fich einem jeden 
Ideal der Vergangenheit würdig gegenüberftellen kann. 

Die Erfcheinungen der Malerei wiederholen ſich in der Skulptur; 
nur dringt das Material hier auf deutlichere Betonung der Form. Wobin 
hat feine Materie bis zur. Grenze des Miöglichen ins Maleriſche gezwungen; 
nicht aus Laune, ſondern, weil er nur mit imprefjloniftifchen Mitteln bifferenzirte 
Empfindungen darftellen kann, ohne naturaliftifch Heinlic) zu werden. Er 
befigt alle Bildnertugenden der Vergangenheit: den Formenfinn der Antike, 


428 | Die Zukunft. 


das Charafterilirungvermögen der Gothil, da8 dekorative Temperament der 
Renaiſſance; nur die vornehmfte Fähigkeit des Plafiikers, der architektonifche 
Sinn, der all jenen Stilen einjt Halt und Größe gab, fehlt ihm. Alſo 
die Hälfte. Es ift nicht feine Schuld, ſondern die einer nervöſen, äfthetifch 
unfruchtbaren Zeit, die im Künftlerifchen, wie feine andere, den Wald vor 
Bäumen nicht fieht.- So wird auch er. Skizziſt in Marmor und Bronze. 
Minne ift in gleicher Lage; nur hat fein mehr fpezialifirtes, engere Talent 
fi für die Gothik entfchieden, um eine imaginäre Stüge zu haben. Das 
hat den Belgier zu einer ficheren Entfaltung feiner feſt umgrenzten, aber 
tiefen Begabung befähigt und ihm die Möglichkeit gefchaffen, feinen realifti- 
ihen Myſtizismus in einer Weile vorzutragen, die wie Zukunftmuſik an- 
muthet. Unter den ausgeftellten Arbeiten Minnes ift eine „Badende*. Diefer 
Heine Gips ift ein Meifterwerf, ein Bijon und kann ſich der Antife eben 
bürtig gegenüberftellen.. Dennoch: Kleinkunſt. 

Tuaillon will Monumentalfunft geben und geräth dabei jofort ins 
andere Lager, zu den Formaliften. Es wird gut fein, zu betonen, daß ber 
verächtliche Nebenfinn dieſes Wortes Hier Feine Geltung haben darf. Es 
giebt wenige Sünftler, die erniter arbeiten, fleitiger die Natur ftudiren als 
die Bollender, die den Ehrgeiz haben, in jedem Fall fertige, ftiliftifch geglättete 
Kunftwerke zu geben. Alle Borausfegungen für große Kunſt find in diefen 
Talenten enthalten; es fehlt nur die Hauptfache: das naive Gefühl, bie 
Seele. Ein Pferd und einen Aft fo zu modelliven, wie Tuaillon e8 gethan, 
die Gruppen fo einfach, lebendig und mit fo feiner artiftifcher Berechnung 
aufzubauen: Das ift in unferer Zeit fehr viel. Doc wir ftehen und fehen 
mit kluger Anerkennung, wir loben und faffen alle Künfte unferer Bildung 
fpielen; am Ende merken wir doch bie innere Kälte: daS tüchtige Werk 
geht und zu wenig an. Das Fazit ift: wenn Zuaillon vom Unionflub zur 
Ausſchmückung idealer Sportpläge cugagirt würde, wäre feinem Talent 
völlig genug gethan. 

Bilder diefer Art find weltfremd — was nicht ausfchliegt, daß fie 
oft Weltlente find —, auf die Antike angemwiefen und gehören zu der in 
Deutſchland unvergänglichen Schaar von römischen Künftlern deutfcher Nation. 
Hildebrand, das arcjäologifche Genie, der nur warın wird, wenn er vor 
einem im Leben zudenden Charafterfopf als Portraitift fteht (was eine in- 
feriore Art der KHunftbethätigung ift), hat eine große Scülerfchaar ber 
gezüchtet, die ich über das Niveau der Begasfchule oder gar der Siegesaller 
weit erhebt wie Heyſe über Wildenbruch und Lauff, die aber Hinter der ner 
franzölifchen Plaftif fo weit zurüditcht wie Heyſe hinter Flanbert. In dief 
Vergleich ift es ſchon bezeichnet: die intellektuelle Fähigfeit, der poetife 
Mille it hier und dort faft gleich zu werthen; aber die Art der führen? 


Berliner Sezejjion. 49) 


Ideen entjcheidet, in einer tendenziös gefpaltenen Zeit, mehr über den äftheti- 
fchen Kulturwerth von Kunitleiftungen als das abjolute alademifche Können. 
Die Urfprünglichkeit fiegt bei gleichen Qualitäten. Auch Klinger ift hier zu 
nennen. Sein Beethoven foll nach dem unglüdlihen Gips nicht beurtheilt 
werden; doch erzählt die Gruppe nichts vom Künftler, was man nicht jchon 
wußte. Hier will ich Etwas fagen, das, fehr gegen meinen Willen, arrogant 
Mingt: AS ich fünfundzwanzig Jahre alt war, empfand ich genau wie Klinger. 
Nicht fo tief, nicht fo groß, zeif und umfaflend, nicht fo temperamentvoll 
und bewußt; aber in der Richtung des eflektifch taftenden Gefühles, der 
Gattung des Empfindens nach genau fo. Die Phantajien folcher Geiſtes⸗ 
rihtung nehmen ihren Weg über Vorftellungen von der Antife, von Dante, 
Michelangelo, Goethe, auch ein Wenig von Hebbel; jie gehen ſtets auf Kultur⸗ 
wegen, nie auf ungebahnten Naturpfaden, find nicht frei im höchſten Sinne 
und nie fo verzweifelt muthig, ganz von vorn zu beginnen. Was Klinger 
und all den reinen, warmen Menſchen feiner Beranlagung fehlt, ift die Fähig- 
feit, primitiv zu empfinden, primitiv zu bilden. Die klaſſiſch-humaniſtiſche 
Anſchauung ift ihnen zur Natur geworden, ja, zur perfönlichen Kultur. Doc) 
iſt folche Kultur allzu ſchnell — in zwei nacdhgoethifchen Generationen — 
erworben und nur lebensfähig im gefchloffenen Kreife gleichjtrebender Bildungs- 
genoffen. Diefe Intellektuellen ftehen den Primitiven fchroff gegenüber, faft 
wie die Väter den Söhnen, und begreifen nicht den Zufammenbruch der 
klaſſiſchen Welt, in der fie ihre höchften Entzüdungen erlebt haben. Es find 
die legten, klügſten und freiften Epigonen der Goethezeit. Wie Klinger 
Beethoven betrachtet, fo erfcheint ihnen die ganze Klaſſikerzeit: in olympifcher 
&lorie. Uns aber ift Beethoven mehr ein Hiob, den fein Gott auf feinen 
Schrei antwortet als der, der ihm im Buſen wohnt. 

Alles in Klinger Werken ift gedacht; man tieht die Operation de3 
Berftandes in voller Heinlichkeit. Die nur dem Gebildeten zugängliche Allegorie 
fpuft überall und der genial mit Wirklichkeitiinn gemischte Archaismus fom= 
mentirt, wo etwas Gefühltes hinreigen mußte. Klinger iſt nicht eiwa arın 
an Empfindung; doc) empfindet er mit dem Gehirn. Dadurch wird feine 
Kunft zu einem Spiel mit der großen Fülle ihm geläufiger Formen, deren 
jede für ihn Etwas bedeutet und Beſonderes ausdrückt. Und Alles ift fo 
ug fombinirt, fo temperamentvoll ausgedacht und das Natürliche vermäßlt 
ih fo glüdlid mit dem Erflügelten, dag man von diefem Vorftellungmofait 
ganz hingerifien wird. Nichts ift zu tadeln als das Ganze, Alles zu Toben 
bis auf das Prinzip. Durch die Skulptur, wo das Material dem Berechneten 
vor Allem widerftrebt, ift Klinger zur Materialäfthetif getrieben worden. Die 
Büfte der Afenieff ift fo intereffant wie leblos, fo fünftlerifch wie künſilich. 
Der Liſzt ift prachtvoll gedacht, — aber nur gedacht. Und der Beethoven läßt 


430 Die Zukunft, 


fi) beweifen, wie eine Tragoedie von Racine. Das Unbemweisbare aber ü 
Kern aller großen Kunft. 

Nicht immer find.e8 Motive aus Griechenland und Italien, won: 
die Vollender ihre Werke harmonifc zu runden ſuchen. Strathmann über 
nimmt die irren und wirren Reize japanifcher Kunft, bildet jich fo eine 
engen, aber Foftbar funfelnden Formalismus aus und fpielt ſich, exrperimm: 
tirend, im Schönheitötraum durchs Leben. Heine wein fih Dagegen aus kr 
Dilemma, wie aus jedem, geiftreich zu retten. Erſt benugt er mit größte 
Subtilität und vollendetem Gefhmad archaiftifche Bildreize zur Darftellun 
graziöfer Ungezogenheiten, — und dann übertreibt er die formalen Stileigenkeiter 
fo Hug, daß der Formalismus jich felbft ironiiirt und die Satire des Stofe: 
verftärft. So flieht er mitten im Hiftorifchen umd doch darüber, verwirrt bes 
Beichauer, fpottet über die eigenen Krücken und löſt das Problem im Ge 
lächter auf. Nur feine Behandlung der prinzipiell fo wichtigen Kunfifrex 
hat praftifchen Werth: die Köfung eines Karikaturiſten. 

Der Zivielpalt verfchwindet allein auf dem Gebiet der Portraitmalerei 
Hier, wo das Objekt feine Rechte fordert, der Phantafie feſte Grenzen for: 
maler Natur gezogen find, fragt man nicht nach Impreſſion oder Altmeiſter⸗ 
lichkeit. Wenn das Wefen des Dargeftcliten eindringlich wiedergegeben ik, 
find die Mittel gleichgiltig. Darum wird Trübners Herrenportrait, dus 
ſchon vor zwanzig Jahren gemalt worden ift, für alle Zeiten modern 
fein; denn jede fünftlerifche Qualität dieſes meilterhaften Bildes tft pfyche 
logifch gerechtfertigt; und wo der Gleichklang von Anfchauung und dee ii, 
wird jedesmal auch til fein. Slevogt ift e8 mit feinem D’Andrade 
weniger geglüdt, fo viel Talent in feiner Arbeit auch enthalten if. Der 
Künftler ſchwankt eben jest zwifchen Hell und Dunkel und die münchener 
Malweiſe, die auf zwanzig Schritte nad) Delfarbe riecht, wird ärgerlich 
ſichtbar. Doch man fpürt in feiner Natur ein kräftige Wachſen. Sem 
Theaterportrait ift darum, felbit in der Unausgeglichenheit, werthvoller al3 
das fertigere, fehr geihmadvolle, etwas feminine Damenbildnig von LKepiing, 
als das von einer ewig gleich fchrulligen Tüchtigfeit zeugende Werk Habermann 
oder Kalckreuths mühjame, verftändige Portraitlunft. Temperament fpürt 
man wieder bei Zorn, dem europäifch Eultivirten Ruſſen Somoff und in dem 
bimmlifch ſüßen Frauenbildnig von Zargent. Das ift verliebte Malerei. 

Mit diefem Bild im Auge wird c8 leichter, die äftgetifche Anjchauung, 
die in der Ausftelung wahre Strapazen ertragen hat, auf der Straße, der 
geſchmückten MWeiblichfeit gegenüber, harmlos fortzufegen; und fo fommt man 
mit guter Manier über die peinvollen Widerfprüche hinweg, die fich innerhalb 
der Sezeflioniftenfunft und im Verhältniß diefer idealen Bethätigung zu ben 
geltenden Lebensformen zeigen und unerbittlich zur Parteimahme drängen. 


Friedenau. * Karl Scheffler. | 


Geigenfpieler und Flötenbläſer. 431 


Geigenſpieler und Flötenbläſer. 


as Schickſal iſt dumm und blind und brutal. 
Was kümmert es, ob wir in Luſt oder Qual 
uns beraufchen oder trafen? 
Eine fingende Beige gabs mir in die Hand 
und warf mich hinab, wo im ganzen Land 
die Leute nur Flöte blafen. 


Und ich geigte im ganzen Lande herunt, 

doch Alles blieb kühl und dumm und ftunım: 
fie verftanden ſich nur auf Slöte. 

Und doch hatt’ ich ihnen mein Beftes gezeigt, 
mein Allereigenftes vorgegeigt, 

daß ich vor Scham jetzt erröthe. 


Da fperrt’ ih mid ein in mein Känmeerlein 
und fragte und geigte für mid allein 

auf meiner Dioline. 

Daß fie bald Freifchte und fchmerzlich fchrie, 
bald ſchluchzend weinte in MNelancholie 

unter dämpfender Sordine. 


So geig’ ih mich tot ohne Zweck und Siel, 
denn es rührt mein einfanıes Geigenfpiel 
weder MNenſchen noch Thier noch Bräfer. 
Das Schickſal ift dumm und brutal und blind. 
Warum fhhidt es ein geigendes Mlenfchenfind 
unter die Slötenbläfer? 


Delfingfors. Johannes Dehquift. 


. Rinderarbeit. 


S)“ Kind ift eine Vergegenwärtigung des Ideals, nicht zwar des erfüllten, 
aber des aufgegebenen. Es ift die Vorftellung feiner reinen und freien 
Kraft, feiner Integrität, feiner Unendlichkeit, waS uns rührt. So fchrieb 
Schiller zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts. 


432 Die Zukunft. 


E3 war die Zeit, in der die aufblühende mechanifche Produktion 7% 
ber Sinderhände bemächtigte; aus den gelöiten Feſſeln der früher hebördfik 
überwachten Gewerbe fchmiedete jie Sflavenkeiten. Seit 1815 zeigen fiaak- 
liche Erhebungen, wie e8 um die reine und freie Kraft, die Integrität, de 
Unendlichkeit einer wachfenden Anzahl Kinder ftand: von vier und fünf Jahres 
an wurden fie bis zu vierzehn Stunden in dumpfe Werfftätten eingepferdt, 
zum Theil in der Nacht; nicht felten mit roher Mikhandlung zur Arber 
getrieben, mit Peitſche und Waflerfprige „friſch“ erhalten. Es Tam ver, 
daß ihre Erholung in Spiel, Tabak, Branntwein, Unzucht, Rauferei, ihre 
einzige Unterhaltung während der Arbeit in fchmugigen Reden und Xiebera 
beftand. Das Kinderelend fchlug die erfte Brefche in das Lehrgebäude ver 
ber Sefbftverantwortlichkeit der Arbeiter in dem neugeitlichen Wirthſchaftleben 
ſchuf die Antithefe dev Gewerbefreiheit: den ftaatlichen Arbeiterfchus. 

Doch die Gefeggebung eines Jahrhunderts vermochte nicht, das Lichel 
an der Wurzel zu treffen. In der Fabrik freilich ward e8 eingebämmt. 
„sn der Hausinduftrie, in Handel und Verkehr, ja, in fat ſämmtlichen 
Berufsarten wuchert e8 üppiger ald zuvor.” „Zaufende, Zehntauſende vom 
Kindern arbeiten im Schweiße ihres Angelichte8 von morgens halb- vier ab 
bis zu Anfang des Unterrichtes Stunden lang oder fchaffen die Nächte bin: 
durch bis zwei, drei Uhr.“ Das zwanzigfte Jahrhundert brach an, che Deutſch⸗ 
land eine Reform aud nur in Angriff nahm. Erſt jegt haben die Ber: 
bündeten Regirungen einen Gefegentwurf vorgelegt, der die Kinderarbeit 
außerhalb der Fabriken vegeln jol. Er macht Halt — leider — vor ber 
Landwirthichaft und dem Gelindedienft. Nicht aber vor der Schwelle bes 
häuslichen HeiligthHumes, das in zu vielen Füllen eine Höhle der Armuth 
und der Verkommenheit ift. Darin liegt feine Bedeutung. 

Die Geichichte diefer Neforn zeigt deutlich, was ein Einzelner vermag, 
der mit tapferer Hingabe fein Ziel verfolgt. Gewiß darf das von Soziologen, 
Herzten, Oewerbeinfpeftoren und einzelnen Ortsbehörden gelieferte Material 
nicht unterfchägt werden, nicht der Einfluß der fozialdemokratifchen Agitation 
und der Arbeiterfchugfongrefie. Aber die lebendige That brachte doch erft das 
Auftreten des Volksſchullehrers Agahd. 

Konrad Agahd, im Jahre 1867 als Sohn eines Lehrers in dem 
ponimerfchen Fleden Neumark geboren, empfing im Elternhaus die Eindrüde, 
die jein Leben beftimmten: „Mit der Muttermilch eingejogen habe ich den 
Grundfag: den Schwachen beiltehen in jeder Weife. Unfer Haus war felten 
ohne Jemand, dem der Bater helfen mußte, und die Mutter gab Alles hin 
für Kranke im Ort, — leife, leife.” Schon im Seminar regte ſich der 
fritifch reformatoriſche Geift und in feiner erſten Lehrerſtelle in Virchow, 
Kreis Dramburg, begamm der Zwanzigjährige, „den Urſachen nachzuſpüren, 


Kinderarbeit. 433 


auf denen die Verfchiebenheit der fozialen Lage, der Bildung und die Rüd- 
ftändigfeit der Bewohner dieſes Drtes und feiner Heimath beruhen könne.“ 
1890 kommt er nach Rixdorf. Hier beginnt feine fozialpolitifche Thätigkeit 
unter dem Motto: „Durch eigene Kraft vorwärts, unbelümmert um rechts 
und links. Der Menfch glaube an feine dee.” Sein Glaube ftählt ihn: 
fein Ruhen noch Raſten, fein Erlahmen an den Widrigfeiten des Kampfes, 
an der Enge und Gebundenheit jeiner Stellung. Er nimmt fie groß. Mit 
feinem Berftehen forfcht er in der Kinderfeele, ſucht die Köfung mancher 
Räthiel in ihrer Ummelt. . „Bon je her bemüht, jeden Schüler individuell 
zu behandeln“, madt er fih mit den Verhältniſſen der Eltern vertraut. 
1894 erregt feine erſte geumdlegende Schrift über die Lohnarbeit der Kinder 
in Nixdorf Aufſehen. Zahlreiche Auffäge, Vortrag auf Vortrag bald hier 
bald dort, folgen. Ihm vor Allen ift e8 zu danken, daß die beutjche Lehrer: 
fchaft fih in den Dienft des Kinderfchuges ftellt und den Staat zum Handeln 
treibt. Nach feinem Vorgehen, dauernd von ihm angefpornt, ergänzen und 
kommentiren die Lehrer die unzulänglichen ‚Angaben amtlicher Erhebungen, 
hauchen den toten Zahlen graufam beredted Leben ein. 

Agahds jüngft erſchienenes Buch „Kinderarbeit und Gefeg gegen bie 
Ausnugung Findlicher Arbeitkraft in Deutfchland“*) unterrichtet über ben Gang 
der Ereigniffe.e Genauer Sachkunde paart fi naiv bewegliche Klage und 
apoftolifhde Mahnung zur Abhilfe Der Meenfchheit ganzer Sammer, der 
dem Verfaſſer in feiner Schule vor Augen trat, durchzittert wie leifes 
Schluchzen die fchlichte Darftellung. 

Nach den als ſolchen erwiefenen Mindeftzahlen der amtlichen Erhebung 
von 1898 waren außerhalb der Fabrilen 544283 Kinder gewerblich thätig. 
Ihre wirkliche Zahl wird auf das Doppelte veranſchlagt. Man fpricht von 
der erzieherifchen Wirkung der Arbeit. Gefundheit:, Schul- und Sriminal- 
ftatiftit laffen über diefe erzieherifche Wirfung feinen Zweifel. Sie befteht, 
fagte Graf Poſadowsky in der Reichstagsſitzung vom dreiundzwanzigften April 
1902, unter Umftänden darin, „daß ein ſolches Kind zum Krüppel oder 
Idioten“ — und, füge ich hinzu, zum Verbrecher — erzogen wird. Der 
Aufenthalt in verborbener Luft, Näſſe und Kälte, endlofes raſches Treppen- 
laufen, Bier- und Schnapsgenuß find die Segnungen de3 Heinen Haus: 
induftriellen, Stragenverfäufers, Zeitung und Badwaarenträgers, Ausläufers, 
der Kegeljungen und Kellnerlehrlinge. infeitige Körperbeanſpruchung in 
der Zertilinduftrie bewirkt Mißbildungen, nächtiges Porzellanmalen zerftört 
die Sehkraft. Un fih ungefunde Arbeiten, wie in der Tabak-, Cigarren⸗ 
und Gummifabrifation, treten Hinzu. Kinder, Mädchen und Knaben, find 


*) Unter Berüdfichtigung der Gejeßgebung des Auslandes und der Be- 
Ihäftigung der Sfinder in der Yandwirthichaft. G. Fiſcher, Jena 1902. 


434 Die Zukunft. 


als Steinmegen, in Diühlen, Brauereien, Branntweindrennereien, ala Weir: 
Schmiede, Stubenmaler, Zimmerer thätig. Auch „Schlachten ift feine Fe 
Ihäftigung für Kinder. Sonberfabinet8 zu bewachen noch viel weniger‘ 

Die Hete de3 Erwerbes madıt die Schule zum „Nebenberuf“, ber dei 
Kind ſtumpf findet und ihm Prügel einbringt, wenn e3 ihn zum Nusichlaie 
nugen will. „Die Kinder fehen vielfach bleih und kränklich ans, m 
engbrüftig, befonmmen krumme Rüden, leiden an den Augen.“ „Es kommt 
vor, daß faft die Hälfte der Erwerbsſchüler einer Klaſſe unternormal ik 
Und e8 kann nicht Zufall fein, daß die bemooften Häupter der Fibelifie 
fo weit nicht Fdioten in Betracht kommen, faft immer noch erwerbend thaͤtig 
find oder doch waren.“ Möge niemals vergefjen werden, unter welchen Ser: 
hältniffen Lehrer arbeiten, wenn 44 von 69 biß 87 Prozent einer Mae 
(Ergebniß aus Chemnitz) im Erwerbsleben thätig find. „Die verbreitetftes 
fittlihen Schädigungen liegen aber in der Untergrabung der Ehrlichkeit, des 
MWahrheitgefühl® und des Gefühle für Sitte und Anſtand.“ „ES gebön 
durchaus nicht zu den Seltenheiten, dag Knaben am frühen Morgen ver 
Dirnen verfchleppt werden." In England waren 67 Prozent der zur Zwangs⸗ 
erziehung abgegebenen Kinder Straßenverläufer. Hören wir auch den Ge 
fängnißfehrer. Bon je 100 jugendlichen Gefangenen in Plögenfee waren 54 
bi8 70 während der Schulzeit Stalljungen, Laufburſchen, Kegelauffeger u. |. m. 
„Unfere Bengel, die wir da haben, die Mörder, find, wie ich feftgeftellt habe. 
alle Zungen gewefen, die in den Deftillen gefeflen und Kegel aufgeftellt haben.‘ 
Biele Jungen, die wegen Diebftahl3 beftraft wurden, waren früher Semmel⸗ 
träger. Mit Kleinen Diebftählen fangen jie an, eine Stufenreihe reiht ſich 
an die andere und endlich fommen die Jungen zu und.“ Was für bie ge 
werbliche Arbeit gilt, trifft auch die Landwirthichaft und ben Geſindedienſt 

Wie die Beilerunganftalten und Gefängniſſe, fo füllt jede Art der 
Kinderarbeit aud die Kranken: und Armenhäuſer. Die übermäßige An- 
ftrengung in der Jugend führt zu vorzeitiger Erfhlaffung und Erwerbs: 
unfähigkeit. Und die Heinen Kinderhände drüden bleifchwer auf die Löhne 
der Erwachſenen, mehren Noth und Arbeitloſigkeit. So ift ihr Erwerb em 
Krebsſchade, der den Staat belaftet, das Volk entnervt. Unmöglich, ihn in 
unferem heutigen Wirthſchaftſyſtem erziehlich werthvoll zu geftalten. Er hängt 
zu eng mit deijen trübjten Auswächfen, Wohnungnoth, Hungerlöhne, Armı nj, 
Smeaterinduftrien, zufammen. Immerhin: das neue Gejeg weift vorwär 3. 
Agahds Buch zeigt den Werth und die Rückſtändigkeit des Entwurfes, ford 2 | 
zur Mitarbeit an feiner Verbefferung auf, will mit Recht die ganze ef: 
Schaft zu Intereffenten feiner Durchführung machen. Es ift „allen Kind: | 
freunden gewidmet“, eine flammende Mahnung, ein erjchätternder Wedruf. | 

Helene Simon. 





$ 


Selbftanzeigen. 435 


Selbitanzeigen. 


Die Fabrikarbeit verheiratheter Frauen. (Schriften des Sozialwiſſen⸗ 
ſchaftlichen Vereins in Berlin. Herausgegeben von Oskar Stilli.) Verlag 
von Dr. Eduard Schnapper, Frankfurt a./M. 1902. 


Das Jahr 1899 Hat uns eine höchſt werthvolle Aufnahme gebradt. Man 
Hatte die Beamten der Gewerbeauffiht beauftragt, eine Unterſuchung über die 
Fabrikarbeit verheiratheter Frauen und alle ihre Folgeerſcheinungen anzuftellen. 
Meine Schrift bezwedt, die Ergebniffe diefer Aufnahme in völlig fachlicher Faſſung, 
aber troßdem Tritifch verarbeitet, einer größeren Deffentlichkeit zu unterbreiten. 
Selbftverftändlich konnte man fi) nicht darauf befchränten, die Wirfungen der 
Fabrikarbeit auf die Frauen ſelbſt zu kennzeichnen. Es galt vielmehr, in den 
Brennpunkt der Erörterungen die Trage zu rücken, welchen Einfluß die induftrielle 
Thätigkeit der rau und Mutter auf bie Familie, namentlich ‚auf die Kinder, 
ausübt. Daran knüpft fih die Erwägung, ob die verheirathete Frau von der 
Fabrikarbeit auszufchließen ſei. Endlich mußten verihiedene Reformvorſchläge 
betrachtet werden. Auch die heute ſo vielumſtrittene Frage einer Neugeſtaltung 
des Arbeiterhaushalts auf wirthſchaftgenoſſenſchaftlicher Grundlage wird eingehend 
erörtert. Ich hoffe, mit dem Buch Allen, die ſich für die wichtige Frage der 
eheweiblichen Fabrikarbeit intereſſiren, ein Hilfsmittel in die Hand gegeben zu 
haben, das ihnen die nöthigen Daten in überſichtlicher Weiſe zur Verfügung 
ſtellt. Schließlich wird wohl Jeder zu der Forderung gelangen, daß die aus 
vielen Gründen unentbehrliche Erwerbsarbeit verheiratheter Frauen ſo geſchützt 
und ausgebaut werden muß, daß ſie aus einem Verderben bringenden zu einem 
heilſamen Faktor der nationalen Wirthſchaft werde. 

Frankfurt a./M. Henriette Fürth. 
5 


Beftern und Heute, Gedichte. M. Lilienthal, Berlin. Preis 1,50 Mark. 
Eine Probe: 
Gebet. 
Zu Dir bet' ich, großer Geiſt der Welten! 
Laß mich immer treu ſein meinem Schwur: 
Euch allein ſoll nur mein Ringen gelten, 
Wahrheit, Schönheit, Eurer Spur. 


Wenn eriterben will das ftarfe Sehnen 

Und zu niederm Biel der Geilt einft lenkt, 
Wenn mit lieblich Iodend füßen Tönen 
Leichter Ausweg aus dem Kampf fih ſchenkt, 


Dann — gemaltger Geift, erhör mein Flehen — 
Tritt zu Boden jedes andre Glüd, 
Zap erbarmunglos mid) untergehen, 
Doc bereite mir fein feig Zurüd. 
Halenjee. Hellmuth-Hell. 
8 


436 Die Zunft. 


Die Siaven in Deutfhland. Mit 215 Abbildungen, Karten und Tlüne, 
Sprahproben und 15 Melodien. Braunfchweig, Druck und Verlag vn 
Friedrich Vieweg & Sohn 1902. (15 Mt.) 

Ich Habe die Politik aus dem Zpiel zu lajlen gefucht, um die Tage 
frage „Die Slaven in Deutfchland“ zu würdigen. Ich glaube aud, daß ki 
gegenjeitigem Eingehen auf das Volksthum der Stämme eine Grundlage ie 
Berftändigung geichaffen wird, Jedenfalls jollte dem Bolitifiren das Studtu2 
der Volkskunde der ſlaviſchen und baltiſchen Bewohner des Deutſchen Reidz 
vorangehen. Meine Darftellungen, die erjten ausführlichen des großen Gefammt 
ftoffes, jtüßen fich auf wiederholte längere und fürzere Reifen uno auf ba 
Berfehr mit den flavifhen Stämmen an Ort und Stelle. Dabet ijt nicht ver⸗ 
geſſen worden, auf Alles einzugehen, was in der beutfchen und flavifchen Yiteratur 
alter und neuer Zeit meinen Gegenſtand beleuchtet. 

Leipzig. R Franz Tegner. 

Sprechendes Leuchten. Für dentende Menichen ein Büchlein Gedanlen 
Berlin 1902, Schufter & Koeffler. 

Der Autor diefes Buches? Das Leben. Nicht ich. Aber in mir hat das Leben 
Muße gefunden, Mancherlei zu offenbaren von Dem, was in ihm bejdlofe 
liegt. Und aus diefem Mancherlei habe ich mi Das zu wählen bemüht, ma 
entiveder, wie das Sprichwort, ewig wahr und prägnant oder in der Form ſo 
neu ift, daß auch alter Inhalt gern mit in den Kauf genommen wird. Sollte 
mander Spruch diefes Buches im Sprichwort aufgehen, dann will das Buch 
mit Freuden wieder untergehen. 

Münden. Hugo Oswald. 
3 . 
Der Spiegel. Gedichte, Szenen, Königsmärchen. Hermann Seeman Nach⸗ 
folger in Leipzig, 1902. Ä 
Geite 1: 
Und wieder faß ichs fo: das Spiegelglag, 
das Tu in Deines Lebens Mittagshöhe 
anfiehit ohn' Unterlaß 
in jener augentiefen Nähe, 
wo es ſchon faſt vor Deinem Hauſe naß, 
zeigt Dir, wenn Du beharrſt 
und wartend bis zum Grund der Spiegelbilder ſtarrſt, 
erfüllt, was unerfüllt in Dich geſunken 
und aus der Gluth, 
aus Deinem Blut 
ein traumhaft Leben ſich getrunken. 
Und Du erwachſt, wenn ich Dich ſo den Pfad 
zur klaren Fluth ewiger Bilder führe 
und aus dem Reich des Spiegels, nicht der That, 
Dich leis mit meiner Hand berühre. 
Weimar. = Wilhelm von &# 





_ 





Sanden und Genojjen. 437 


Sanden und Genoffen. 


I volle. Wochen waren am neunten uni feit dem Tage verftrichen, wo 
9. draußen in Moabit die Hauptverhandlung gegen Herrn Eduard Sanden 
und feine Mitjchuldigen begonnen hatte. Wenn fie im bisherigen Tempo weiter- 
geht, wird am Ende in Leipzig Über Herrn Exner das Urtheil gejprochen fein, 
bevor hier die Anwälte zu den Plaidohyers fommen. Bor dem Präfidenten häufen 
fich Berge von Akten und neben dein Großen Schwurgerichtsfaal lagern centner- 
ſchwere Geſchäftsbücher. Fünf Richter, ein Erſatzrichter, drei Staatsanwälte, 
zehn Bertheidiger, fünf Sachverſtändige und ein Heer von Berichterftattern find 
zu ber feierlihen Amtshandlung mobil gemacht worden. Diefer große Apparat 
entſpricht der Größe der Schuld, die die Öffentliche Meinung den Angeklagten 
aufbürdet. Site haben Hunderte von Yamilien um den Reit ihrer Fleinen, durch 
mähbjame Arbeit aufgefpeicherten Erſparniſſe und Abertaufende um wejentliche 
Theile ihres Vermögens gebraht. Noch jchlimmer beinahe ift, daß fie dem 
Großkapital Gelegenheit gaben, feine Uebermacht auszunügen und Denen, die 
Alles zu verlieren fürdhteten, die Bedingungen der Rettung zu diktiren. Un- 
zweifelhaft haben die Sanirungen der Banken in den Augen der Mitmwelt bie 
Schuld der Sandengenofien erhöht. Trotz diefer Schuldfülle muß man Heute 
fagen: Tant de bruit pour une omelette! Denn ganz anders ala ber Spruch 
der Beitgenoflen ſchätzt das gelehrte Juriſtenrecht die Schuld der Ungellagten. 
Ob durch eine Handlung ein Einzelner oder viele Perſonen geſchädigt find: Das 
fann für das Strafmah in Betracht fommen, wird von bem Paragraphen des 
Strafgefeßes aber nicht verſchieden beurtheilt. Wenn das Geſetz die That nach 
ihrer größeren oder geringeren Gemeingefährlichleit ftrafte, müßten die Ber- 
gehen gegen das Altiengejeg viel ftrenger geahndet werden, al8 e3 heute nach 
den Normen des Handelsgeſetzbuches gefchieht. Und wenn man bedenlt, wie 
verhältnigmäßig gering, felbft im ſchlimmſten Yall, die fiber Sanben und Ge— 
nofjien zu verhängende Strafe ausfallen müßte, dann erfcheint der in Bewegung 
gefeßte Apparat dem nüchternen Auge wirklich faft allzu groß. 

Eher ſchon ftimmt die Länge der Hauptverhandlung mit der Dauer bes 
Vorverfahrens überein. Die Leute, die ſich jebt auf der Anflagebanf einer 
neugierigen Hörerjchaar zeigen müſſen, figen rund anderthalb Jahre in LUnter- 
ſuchunghaft. Sicher tft bei fo Fomplizirten Vergehen eine längere VBorunter- 
ſuchung nöthig als bei Alltagsdelitten. Etwas fchneller aber könnte und müßte 
auch in folchen Fällen die Juſtiz arbeiten. Leider fehlt unjeren Richtern in 
Hanbelsfadhen jede Vorkenntniß. Die Geheimnifle der Buchführung, alle Ufancen 
des Gejchäftslebens find ihnen völlig fremd; und viel Zeit geht fchon verloren, 
bi8 fie auch nur im Stande find, die Gutachten der herangezogenen Sadıver- 
ftändigen zu verftehen. Mit Recht bat man deshalb gefordert, daß in folchen 
Prozeſſen der Anklagebehörde und dem Unterſuchungrichter hanbelsrechtlich ge- 
ſchulte Hilfskräfte beigeordniet werden; auch in der Hauptverhandlung follte die 
Staatsanwaltfchaft von einem Hanbelsrichter unterjtüßt werben. Die über- 
mäßige Ausdehnung der Borunterfuhung ſchädigt den Angeklagten, aber auch 
da3 Unjehen der Juſtiz. Den Sanden und Genoſſen wird man ja einen großen 
Theil der Unterfuchunghaft — wenn nicht die ganze — auf die Strafe an— 


33 


438 Die Zukunft. 


rechnen müflen. Das aber war nicht die Abſicht bes Geſetzgebers, ber für be 
ftimmte Bergehen eine beſtimmte Sefängnißftrafzeit vorjchrieb und nicht wollie, 
daß ein Theil diefer Strafe im Unterfuchungsgefängniß verbüßt wird, wo ber 
Ungeflagte feine eigenen Kleider tragen, fich felbjt beföftigen und in gewiſſen 
Umfang frei bewegen darf. Der Pſychologe aber kann fi über die ſchlimmen 
folgen einer jo langen Unterfuhunghaft nicht täufchen. Die ſchrecklichſfte Ge- 
wißheit tft leichter zu ertragen als bie feelifhe Qual banger Erwartung. Aus 
dieje modernifirte Folter wollte der Gejeßgeber nicht einführen. Nach jeder 
Richtung bedarf aljo das Berfahren in Handelsprozeſſen einer gründlichen Reform. 

Nüglid wäre es ſchon, wenn Afjefforen, ehe fie zur Staatsanwaltſchaft 
fommen, eine Weile bei Sroßhändlern lernten. Jedenfalls zeigt gerade der 
Prozeß Sanden, wie nöthig der Anklagebehörde die genaue Kenntniß der Dandeläge 
bräuche ift. Der Staatsanwalt, der die Auflage gegen die Hypothekenbankerot 
teure gebaut bat, verfügt über alle Gaben, die man von einem Staattanwalı 
billiger Weife verlangen kann; er bat eine jtattlide, an ſchöne Studententag: 
erinnernde Leibesfülle, ein ungewöhnliches Maß geduldiger Ruhe, ift klug, ſchlag 
fertig und kennt feinen Prozepitoff gut. Die preußifche Bureaufratie mahlt. 
mit Gottes Mühlen, langfaın ; wenn fie aber eine Sache erſt einmal erfaßt hat, dann 
weiß fie auch Beicheid. Doch was foll ſelbſt ein Mujterftaatsanwalt gegen zehn 
in alle Sättel gerechte Vertheidiger ausrihten? Der Rechtsanwalt mu in 
jolden Fällen dem Staatsanwalt überlegen fein. Die Praxis bringt ihn oft 
in Verkehr mit Kaufleuten und in feinem Burean gehen allerlei Leute ein mb 
aus, die ein königlich preußifcher Staatsanwaltichaftrath nie fieht, — meift auch 
nicht jchen oder gar hören will. Und für den Fall Sanben find die Triarier 
der Vertheidigung aufgeboten. Neben den Herren Kleinholz, Sello, Wronker 
fißt der Juſtizrath Mundel, der mit Handelögejhäften im Allgemeinen und — 
durch feine Aufjichtrathsthätigfeit — ſpeziell auch mit den Schleihwegen der Preußen: 
bank vertraut ijt, ſitzt Wilhelm Bernitein, der Kommentator des Wechſelrechtes, 
und Fedor Stern; diefe Herren kennen alle Hintergründe des Geſchäftslebens 
genau und nicht feit geftern. Sie Alle, Ankläger und Vertheidiger, ſuchen natür- 
lich die berühmte „objektive Wahrheit" und find ohne Ausnahme Anwälte de3 
Rechtes. Vielleicht aber find zehn jo geübte Pfabpfinder im Suchen glücklicher 
al3 die auf foldem Terrain unerfahrenen Robenträger neben dem Richtertiſch, 
denen ein Handelsrichter als Helfer nur nügen könnte. 

Die Hauptverhandlung zeigte bisher ungefähr bie felben Züge, bie in 
ähnlichen Prozeſſen und neuerdings wieder in dem Verfahren gegen den Treber- 
Schmidt fihtbar waren. Die zuerſt fehr Ichhafte Hoffnung auf Senfationen 
ſchwindet da jedesmal, wenn in ausführlicher Breite die Korrektheit der Buchung 
und die Schiebungen erörtert werden; auch jeßt wurde der moabiter Sc 
gerihtsjaal von Tag zu Tag leerer. Allgemein war erwartet worden, die „ı 
nehmen Beziehungen“ des Hauptangeflagten, befonders fein reger Verkehr 
dem Oberhofmeilter Freiherrn von Mirbah, würden erörtert werden, und 
Neugier hatte ſich auf die Verlefung der Polizeiaften gefreut, von ber fie mar 
Heberrafchung hoffte. AN diefe Hoffnungen find unerfüllt geblieben. In 
Anklageſchrift iſt von Sandens höfiichen Verbindungen fein Wort gefidert; ni 
einmal die Thatſache wurde erwähnt, daß Herr Eduard Schmibt den Titel — 


Sanden und Genoffer. 480 


Hofbankiers der Kaijerin trug. Auch die Alten der Auffichtbehörde zeigten nur, 
was man längjt wußte: daß e8 Sandens biederer Beredſamkeit immer wieder 
gelungen war, Polizei und Minifterium an der Nafe Herumzuführen. Im Binter- 
grunde läßt die Bertheibigung vorläufig den früheren Landwirthſchaftminiſter 
Treiheren Lucius von Ballhauſen über die Bühne führen. Vielleicht wird er 
noch vernommen. Dann follte man ihn fragen, weshalb die mit genauen Daten 
belegten Angaben ber Grundbeligervereine und des Dr. Paul Voigt, weiland 
Privatdozenten in Berlin, denn gar nicht beachtet worden feien. 

Einftweilen können die monotonen Verhandlungen nicht einmal den Yadı- 
mann bejonders interelfiren; das „Finanzſyſtem“ des Klüngels war ja ſchon 
vorher befannt. Die eriten Tage hatten wenigſtens dadurch noch einigen Reiz, 
daß man die Taktik der Bertheidigung erkennen lernte. Doch war ihr der Weg 
eigentlich ja vorgefchrieben. Sandens Hauptwaffe ift fein ſchwaches Gedächtniß. 
Er Hat in der eriten ſeeliſchen Depreifion nach der Verhaftung fich felbft ſchuldig 
befannt. Jetzt leugnet er und weiß im Grunde nur noch bejtimmt, daß er 
nichts weiß. Er, dem in der Zeit jeined Ruhmes ein ganz außerordentliches 
Gedächtniß und bie Fähigkeit nachgefagt wurde, fi in dem wirrſten Gejträhn 
bes NRiejenbetriebes zurechtzufinden, kennt jett nicht einmal mehr die Namen 
ber Mitglieder des Konfortiums für die jungen Grundſchuldbankaktien und weiß 
nichts von Herkunft und Beftimmung einzelner Konten. Wo aber der Sad 
verjtändigen Spürfinn feine Winkelzüge aufgedeckt bat, da verſchanzt er jich Hinter 
feinen guten Glauben. Er vertheibigt ſich ruhig und ficher, beinahe behaglid). 
Dean fieht ihm an, daB er froh iſt, endlich fo weit zu fein. Wie viele Jahre 
mag der Mann ruhelos gelebt Haben! Allmählich findet er fih nun aud in 
die Nolle des Sünbdenbodes. Seine Kollegen laffen nachdrücklich betonen, daß 
fie in ihm ihren Heren und Meifter gefehen und nie felbitändig disponirt Haben. 
Nur Heinrih Schmidt hat gegen ihn gefämpft und ſchon 1885 gelagt, wenn man 
e3 jo weiter treibe, werde ber Weg nach Moabit führen. Das ſoll aber nur 
eine ber bei ihm üblichen Redensarten gewelen jein. Auch Otto Sanden, Eduards 
Bruder, wollte längft nicht mehr mitmachen. Er fagts und man darf ihm jo- 
gar glauben, denn er galt in der Gejchäftswelt ftet3 als der folidere Bruder. 
Auch den Berfiherungen Puchmüllers, der, wohl auf Wronkers Rath, geftändig 
it, darf man Glauben ſchenken. Er ift der Typus eines getreuen Commis, 
der in dem einen Sejchäft groß gemorden und deshalb unfähig war, Vergleiche 
zu ziehen, die ihn zu vorfichtiger Sfepfis mahnen konnten. Ueberhaupt Bat 
man es meift mit Leuten zu thun, denen Sanden nicht nur Brotherr, ſondern 
auch Lehrherr war. Dieſe Thatfache iſt noch nach anderer Richtung wichtig. Die 
Angeklagten können den anderen Hypothekenbanken nicht gefährlich werden. Sie 
‚willen nicht, was extra muros vorging. Dieſes idylliſche Bild wird der Prozeß 
gegen die Direktoren der Pommerſchen Hypothekenbank nicht bieten. Herr Schulz 
foll fi, wie man erzählt, über alle norddeutſchen Hypothefenbanfen Alten an- 
gelegt haben, die er gewiß für feine Vertheidigung nugbar machen wird; am 
Ende läßt er auch die Sanitäträthe, die jeine Pfandbriefgläubiger gekürzt haben, 
nicht ganz ungeſchoren. Die norddeutſchen Hypothekenbanken follten im Pommern⸗ 
prozeß bei der Berufung von Sadveritändigen mehr Eifer als diesmal zeigen. 


Plutus. 


[ 33* 


0 
- 
.. 


on 


440 Die Zukunft. 


Notizbuch. 


or neun Jahren, als Biömard in Friedrichsruh vierhundert Bewohner bes 
Fürſtenthumes Lippe empfing, jagte er, er habe gehofft, „daß die Larıbtage 

ber einzelnen Staaten ſich lebhafter, als es bisher geſchehen ift, an ber Reichspotitit 
betheiligen würden, daß die Reichspolitik auch der Kritik der partitulariftifchen Yarb- 
tage unterzogen werden würde. Ich hatte mir ein reicheres Orcheſter zur Mitwirkung 
in den nationalen Dingen gedacht, als es fich bisher bethätigt hat, weil bie Neigung 
zur Mitwirkung in den einzelnen Staaten nicht in dem vorausgejehten Maß vor: 
handen war. Wenn Sie nah Haufe kommen, follten Sie baflr wirken, da die Be 
tbeiligung an der Reichspolitik auch in der Diafpora ber Landtage lebhafter wird. 
Es iſt ein Irrthum, wenn Staatsrechtslehrer behaupten, die Landtage jeien dazu nicht 
berechtigt; fie find immer befugt, das Auftreten ihrer Minifterien in Bezug auf die 
Reichspolitik vor ihr Forum zu ziehen und ihre Wünfche den Dtiniftern fund zu tum.“ 
Der Wunſch, die Landtage möchten fi ntit der Reichspolitik umd mit der Inſtruktion 
der zum Bundesrath Bevollmächtigten eifriger als bisher bejchäftigen, entiprang nidt 
etwa ciner Zufallslaune des Fürſten; er hat ihn im Privatgeipräch oft wiederholt. Der 
vierte Kanzler, ben dieBernhardinermeute unermüdlich als neuen Bismarck ausbellt, ift 
anderer Meinung. Er verfagt den Preußen das Recht, beffen Wahrung im Sachſen⸗ 
walde ben Lippern zur Pflicht gemacht ward. Als die Tonfervative Partei neulich 
im Qandtag fragte, ob die preußiiche Regirung im Bunbesrath für einen wirkſamen 
Schutz der lanbmwirthfchaftlihen Produkte eintreten wolle, las der Minifterpräfident 
eine Erflärung vor, die dem Landtag das Recht zu diefer Frage beftritt, und verlieh 
dann mit den Kollegen ben Sigungfaal. Die Erklärung trug ihm „Bilden und 
Lachen rechts“, der Exodus „lebhaften Beifall links“ ein und vielleicht ift der immer 
beitere Herr mit diefer Wirkung des eifenfarbigen Unftriches zufrieden. Unfere Libe⸗ 
ralen find fo bligbumm geworben, daß fie jedesmal jubeln, wenn ber politiide Geguer 
einen zußtritt befommt, und infoldem Schuljungenbehagen alle Grundſätze und Rechte 
gernopfern. Und die Konfervativen braucht fein Minifter zu fürchten. Zwar dat Herr von 
Heydebrand Zornworte gefprochen und der tyreiherr von Wangenheim hat nit danukens⸗ 
werther Offenheitgelagt: „Wir wollen uns darübergarfeinen Illuſionen hingeben : das 
Bertrauen, das durch Jahrhunderte lange Fürſorge des Hohenzollernhaufes und 
eine weife Staatsregirung im Lande aufgehäuft worden ift, das Vertrauen, auf dem 
die Stärke und Macht unjeres Landes beruht, ift im lebten Jahrzehnt in der be: 


„ denflichiten Weife vergeudet worden ; und wenn es fo weiter geht, dann jehe ih ganz 
\ außerordentlich pejjimiftiich in die Zukunft.” Doc den Worten wirb wieder keine 


That folgen. Zu dein Entihluß, mit dem Minifter, der fic ex cathedra ber- 
unterpußt und ihnen, wie ungezogenen, muthwillig lärmenden Sclingeln, den 
Rücken zeigt, jeden Verkehr brüsk abzubredyen, fönnen die ſchwachen, durch tauſend 
höfiſche und gefellichaftliche Rückſichten gelähmten Seelen fi nicht aufſchwingen. 
Das wei Graf Bülow und risfirt deshalb Grobheiten, die er Stärferen nit zus 
muthen dürfte. Ueber die Sadıe ſelbſt ift eigentlich nichts zu jagen. Auch ber 
hitzigſte Freihändler müßte zugeben, daß bie an Zahl ſtärkſte Landtagsfraktion das 
Recht hat, fo oft esihr nöthig Scheint, Rechenſchaft und Auskunft zu fordern, — da be» 
ſonders, wo e8 ji um eine Vebensfrage der von biefer Fraktion vertretenen Klafie 
handelt. Der Minijterpräjident aber plaudert über foldhe Dinge lieber mit Zeitung- 





Notizbuch. | 441 


machern, benen er ji) wahlverwandt fAhlt: und bie vor feinem Gebieterblick in Ehr⸗ 
furdt erfterben. Einem franzdfifchen Interviewer hat er des Bujens Tiefe enthüllt 
und bie adgelagerten Feuilletonſpäßchen mitgegeben, bie er im Parlament nicht 
mebr an die Männer zu bringen wagt. Bon Sant und Fichte hat er, nad) übler Er- 
fahrung, diesmal nicht geredet, aberdie Deutichen den Hafen, Die Polen den Kaninchen 
verglichen, bie fihallzu fchnell vermehren. Leber den Geſchmack läßt ſich nicht ftreiten. 
Sich felbft ſieht der Miniſter des Schönen Aeußeren in der Rolle bes Parts, ber be- 
rufen ift, der Ichönften Göttin den Apfel zu reichen; die Göttinnen diefes Hirten find 
Landwirthſchaft, Handel und Induſtrie. Kaum war ihm das Wort entfahren, bagaber 
auch ſchon ben Gedankengang auf und erklärte, erwolle — „Kalchas, Du weißt wohl, 
warum!‘ — die „Politik der Diagonale‘ treiben, aljo feiner ber Holden den Apfel 
geben. Das ganze, höchſt unpreußifche, aber auch höchſt undiplomatiſche Gerede führtein 
Niederungen, die ein Kanzler des Deutichen Reiches meiden follte. Noch ſchlimmer, zum 
Erichreden ſchlimm wirkten die Säge, Die dem gefprächigen Herrn ein paar Tage ſpäter 
in offiziöfen Blättern nachgedruckt wurden. Da rügte er den, ‚Hang zur Schwarzjehe- 
rei“, der in Deutichland fichtbar werde und völliggrundlos jet. „Gerade die nüchterne 
Beurtheilung des allgemeigen Zuſtandes der einzelnen Großmächte müfle doch feft- 
ftellen, daß feine mit dem Gang ihrer öffentlichen Angelegenheiten, im Innern wie 
nad) außen, fo zufrieden fein könne wie Deutſchland. Der vortHeilhafte Abftand gegen 
die Berhältnifie in anderen Staaten fei doch jo bedeutend, daß ein Vergleich ernftlich 
kaum in Trage fomme. Rußland mit feinen inneren Zudungen, England mit den 
Nachwehen des jüdafrifanischen Krieges, Frankreich, deffen innere Entwidelung nad) 
dem Rüdtritt Waldeck⸗Rouſſeaus wieber vor einem Fragezeichen ftehe, Deiterreich- 
Ungarn in feiner ethnographiſchen und politifchen Zerriſſenheit böten keine Bilder, 
die in uns das Gefühl weden könnten, als Nation oder ald politiiche Macht Hinter 
den anderen Großmächten zurüdguftehen. Ich muB e8 als geradezu grotesk bezeich- 
nen, wenn ein Deuticher die Zuſtände feines VBaterlandes troftlos nennen will.“ 
Alſo ſprach Graf Bülow. Andere werben geradezu grotesk finden, daß ein Bolitifer _ 
zu behaupten wagt, England leide an ben Nachwehen des ſüdafrikaniſchen Krieges, 
und nicht jehen will, welche Bortheile Rußland, Frankreich, England während des 
Icgten Jahrzehntes der deutihen Verſumpfung eingeheimft haben. „Troſtlos“ 
brauhen fie deshalb die Zuftände im Bnterland.nicht zu nennen. Sogar in ber be- 
teäbenden Erkenntniß ber Thatlache, dab der erite Benmte des Reiches in Holz- 
papierworftellungen lebt, ohne Grund und Zweck grobe Worte Über Die Grenze ruft und 
immer wieber beweift, wie gut ex zum Chefredakteur des Berliner Tageblattes ge- 
eignet wäre, können fie Troft finben, wenn fie bie Rolle des Kanzlers richtig ſchätzen 
lerıten und fich, ohne noch Länger das Heil von bes Staates Höhe zu hoffen, muthig ent- 
ſchliehen, ſelbſt ihres Schickſ als Geſtalter, Ai polittichen Beſitzes Hüter gu werben. 


Einen am jiebenzehnten Mai — unter dem Xitel „Die-IalbwbnSeit“ — 
hier veröffentlichten Artikel bes Herrn Landauer gloffit und befämpft Der 
 Baul Mongxs in dem folgenden Brief: 

„Sehr geehrter Herr Landauer, Sie fehen das Heil barin, daß der Raum 
zur Beit werde; ich möchte diefe Metapher auf den. Kopf ftellen und den Auf: 
ftieg ber Erkenntniß von dem Wunder abhängig maden, das dem ftaunenden 
Parfifal des Grals Nähe anlündigt: Du. fiehft, mein Sehn, zum. Raum wird 


442 Die Zukunft. 


bier die Zeit! Ich verfpreche mir gar nichts davon, daß die Leere zwifchen mir 
und dem ‚Dinge da Hinten‘, die gähnende Kluft zwiſchen Ich und Nichtich aus 
gefüllt werde; ich halte es für eine mächtige Entlaftung der Senftbilität, dej 
diefe Kluft aufgeriffen und die Intenſitätſchwankungen meines Binnenichens zu 
fremden Objekten erteriorifirt wurden. Es muß noch immer mehr Raum ans 
der Zeit ausfriftallifirt werden, aus den biffus jchwinmenben Serlenbegete» 
heiten fich ein feiter Nieberſchlag abjcheiden. Wir müllen immer mehr nod ver 
und ins Außerweltliche verfeftigen und aus den inneren Säften ein jchönet 
Riefeljfelet bilben, wie die neuerdings fo berühmten Radiolarien; nicht, wie dem 
Manfred Byrons, jollen uns Berge ein Gefühl fein, ſondern lieber mollen wi 
Gefühle aufeinanderthürmen wie Berge, um wirfli in die Höhe zu kommes 
und taftbaren Grund unter uns zu haben. Leiden wir nit Ulle heute an der 
Verinnerlichung oder, wie Ste jagen, an ber Berzeitlihung? Und nacdhträglide 
Propheten wie Maeterlind verheißen ein ‚Erwachen der Seele‘: ich finde, wit 
haben entſchieden Ueberproduktion an Seele und follten tradgten,, dieſe an freie 
Luft. Leicht verberbliche Waare ſchleunigſt loszuwerden. Die Zeitlünfte, Muſt 
und Lyrik, paden fo viel Seele aus, wie gar nicht beifammen bleiben will; Des 
verbreitet fih dann überall im ‚Raum‘ und macht die Tleinen Objekte, die 
Tiffanygläfer und japanischen Bronzen, aufrühreriſch, daß fie auch ſchon Seele 
auszudunften anfangen. Ach, diefe Orgien der freien (im chemiſchen Sinze, 
freigewordenen Seele! ®anze fünfaktige Dramen werden als Waflerftoffballons 
um fo einen Seelenhaucd herumgefchrieben; langwierige Romane ſuchen mit 
Millimeterjchärfe den Punkt zwifchen zwei Seelen zu beftimmen, wo jebe ax 
die andere gleich ftark reagirt. Sie wollen noch mehr Seele, nody mehr Fom 
der inneren Anſchauung, nod mehr ‚Zeit‘? Uber bie Zeitkünitler ſchmachten 
nad) einer Raumkunſt in Klingers Art. Was ift Straußend Barathuftra um) 
Heldenleben anderes als ein Verſuch, dreidimenfionale Mufit zu machen, die 
Zongeftalten aus der einfach ausgedehnten Zeitlinie herauszufchrauben und ihnen 
plaftiiche Ausladung zu geben? Die Zeit, das überfüllte Gefäß der Seele, 
plagt an allen Eden und fpeit ihr Inneres aus: und Sie wollen nicht mr 
das Bisherige, Tondern noch viel mehr in den engen Schlauch zurüdjtopfen? 
Was entzücdt uns dem am Raumfunftwerf, was giebt unferen Nerven bie wohl 
thätige Ruhe, gegenüber den zubringlichen Boa: Konftriktor: Ummindungen ber 
jeelenhaften Ton» und Nedekunft? Das Centrifugale, die Richtung von ber 
Seele weg ins Sichtbare, die anftändige Entfernung. Endlich ein Stüd Seelt 
ummwiderruflid” abgetrennt und als feſtes Symbol ung gegenübergeitellt! Wir 
athmen auf. Und Sie wollen das Nephautbild uns wieder als Albdruck „menjd» 
lich näher bringen‘? Nicht ohne romantische Sehnſucht malen Sie eine Taftr-lt 
ohne Gejichtsempfindungen aus, die raumlos nur als Succeffion von Bart, j& f, 
glatt, gejchweift, naß, kalt, als Aeolsharfenfpiel wechfelnder Ychgefühle verli «. 
Der blinde Scher, die introjpeftive Myſtik hat es Ihnen angetban. Uber ix 
halten e3 mit Gottfried Keller: Augen, meine lieben Fenſterlein! 

Ich glaube, wir find nicht mehr jung genug, um uns über jolde & vw 
anfzuregen wie: alle Handlungen entjpringen aus Egoismus, alles Gele m 
ift nothwendig, alle Wirklichkeit ift Bewußtjeinsphänomen. Solche univerf nr 
Ausjagen gehen ung eigentlich nicht mehr an, als wir den alljeitigen Luft # 


— vu. m — ..r 


w.er vu. +. ww. 








Notizbuch. 443 


ſpüren, worauf es anfommt, find die Abftufungen innerhalb des jo oder fo be 


wie eine Tautologie, daß Niemand 







zeichneten Geſammtbegriffes. Es i 
F m 


” 2 


eiſt es fi an Ehrlichkeit 


‚exweilt «8 fih hah_als_ ansdisäfen grmterfieibenobndkiugr & 
„oper. Diebitehl, am Geber abas. ahnen. Bexanügen, Findet. Der menſchltche 


"Wille iſt belermimrt und eine metaphyſiſche Berantwortlichleit giebt es nicht; 
ader die Geſammtheit aller ‚unfreien‘ Handlungen wird doch plaufibler Weife 
in Gruppen voller, verminderter und aufgehobener Zurechnungfähigkeit einge 
theilt. Alle Dinge beeinflujfen einander und kein Sperling fällt zur Erde, ohne 
den Sirius aus feiner Bahn abzulenken; aber für mande Paare von Dingen, 
wie Sirius und Sperling oder Mond und Wetter, ift e8 doch vortheilbafter, 
zu jagen: fie beeinflufjen einander nit. Jedes Beichen iſt inkongruent mit 
dem Bezeichneten; aber ein Zeichen, das eindeutig ortentirt, bleibt darum doch 
werthvoller als ein trreflihrendes, mißmweifendes. Die ganze Außenwelt ift meine 
Bewußtjeinserfcheinung; aber innerhalb diejer allumfafienden Scheinbarkeit ift 
es doch rationell, gewiile Dinge als wirklich, andere als eingebildet oder halluzinirt 
anzufehen. Der Raum ift eine Projektion aus inneren Erlebniſſen oder, wie 
Sie jagen, eine Eigenfchaft der Zeit; aber es ift immerhin merkwürdig, daß 
aus dem quallenhaft fließenden Chaos ſeeliſcher Zuftände fich fo ein Knochen⸗ 
gerüft mit permanenten Beftimmtheiten herausfchälen läßt, und dieſe Thatſache 
ſpricht eigentlich dafür, das Stelet nicht wieder in Gallert aufzulöfen. Auch 
bie ‚Dinge‘, diefe ontologifchen Ungeheuer und Duibditäten, über die der [pätere 
Nietzſche fo pyrrhoniſch jpottet und denen auch hr Freund Mauthner in feiner 
bewundernsmwerthen Sprachkritik zu Leibe geht, auch dieje erfenntnißtheoretiichen 
Subftantiva, fo wenig fie exiftiren, laffen fi doch nachträglich dadurch retten, 
daß die Oekonomie des Denkens zwedmäßiger Weile jo thut, als ob fie exiſtirten. 
Treilich Habe ich, jtreng genommen, nicht Anderes als zeitliche Mobdififationen 
meiner Seele, zum Beilpiel GefichtSempfindungen von grün, zitternd, herzförmig, 
Sehörsempfindungen von wilpern, raujchen, Gerucdhsempfindungen von Ozon 
und aromatiſchen Oclen, Hautempfindungen von Schattenkühle und vorbeiftreicden- 
dem Luftftrom; dazu Erinnerungsgefühle, daß alle diefe Empfindungen in ähn⸗ 
lihem Zuſammenſpiel jchon einmal da waren, ferner ein gewiſſes Gefühl der 
Abhängigkeit, dag nämlich diefe Empfindungen nicht verfchwinden würden, ſelbſt 
wenn ich ‚wollte‘, es ſei denn, baß ich gewifle andere Empfindungen, die Musfel- 
gefühle des Augenſchließens oder Kopfdrehens, in mir zu erzeugen vermöchte 
u. ſ. w. Ja, Das tft das Einzige, was ich eigentlich habe; aber wenn ich diejes 
fomplizirte Befigthum wirklich ergreifen, handhaben, in Tajchenformat bei mir 
tragen will, fo bleibt mir doch nichts übrig, als ein ‚Ding‘ zu bypoftafiren 
und zu jagen: Das ift die Linde, die vor meinem Fenſter fteht! Weber biejes 
Ding und Baumjubftantivum zu lachen, ift philofophifcher Laune nicht unmärdig, 
zumal wenn ontologifch angelegte Köpfe fi an diejer ſymboliſchen Chiffre wie 
an einer ſtarren Weſenheit Beulen ftoßen und Schopenhauer bie platonifche 
Idee der Cinde über ben Wäflern Iöweben ſeht Aben — und 





das Ding nidt —— Dazu 
hätten Sie Grund, wenn die Dinge Das nicht leijteten, mozu_twir fie erfunden 


PT | ui 


444 Die Zukunft. 


haben, wenn die Symbole fih nicht jo wählen ließen, daß fie zu allen !eim 
und für alle Subjefte das Selbe bedeuten, menn Sie. sense. einen Komplei 
innerer Erlebniſſe bei fich fänden, der in neunundneunzig Beziehungen „Lite, 
in einer einziger Beztefung abas, Buche‘ ausſagt. Solde Fälle kommen ja 
"freilich vor, haben jich aber bisher immer noch unter die Pathologie der betreffenden 
Objekte ſubſumiren laffen und unfere leichtfinnige Magime: ‚Ausnahmen be 
ſutigen die Regel‘ nicht umzuſtoßen vermocht. Und gerade Das unterjhähm 


ie Wi beinsmunit; Sie Hub wi hentbar genug für ben SIERT atcL.Dact: 
Fe ar \ 


fangen läßt, Es —* ia auch anders fein. Wie viel Leiftet allein der * 
viel Wirt lichkeit umſpannt er, während von vorn herein Niemand dafür bürgen Fonntr, 
daß ein Fiſch in dieſes Neg gehen würde. Er ift breidimenfienal; wie viel it 
es aber von einer kompakten Außenwelt verlangt, daß fie überhaupt eine gt 
weilig beftimmte Dimenfionenzahl habe und nicht (in der Art, wie ſichs di 
Spiritiften vorjtellen) durch gelegentlichen Holuspofus eine Ertrabimenfion ver 
rathe, die fie wie ein Pfeudopodium bald ausftredt, bald einzieht? Ferner, dab 
diefe beſtimmte Dimenfionenzahl, in die fih Alles widerſpruchfrei einfügt, mi 
der Zeit unveränderlih fei? Weiter: die freie Beweglichkeit, die man jo geneist 
ift, als ein denknothwendiges Attribut vorauszufegen, bebeutet doch auch mut 
eine freiwillige Selbftbejchränfung der Natur, an die wir nun durch Verjährung 
ein Recht zu haben glauben. Wir drehen und verfchieben unſere Leiber am 
ſchleudern unfere Kegelfugeln jo unbedenklich, als wäre der Raum verpflichtet, 
an jedem Ort gleiche Aufnahmebedingungen zu gewähren und unfere Eoof- Tickets 
überall unterfchiedlos zu honoriren. Aber es find —— rg 
dentbar, worin eine Figur als jtarrer Körper nur i ger Tage möglich it 
und ao die Wahl hat, entweder auf ſtarre Form oder auf Bewegung zu ver⸗ 
zihten; in einem ſolchen Raume wanbdernd, müßten wir uns beformiren, wie bie 
Bilder in einem Hohlipiegel oder wie Queckſilber, das durch Röhren getrieben 
wird. Nun könnte zwar, da boch irgend ein Vergleichsobjekt und „Rormal- 
meter“ gewählt werben muß, jedes Individunm immer noch feinen eigemen Leib 
für unveränderlich erflären oder ſich cin Stüd Eifen anfertigen, an deffen Siarcheit 
es axiomatiſch glauben will; aber dann würden bie Räume verfchiedener Indi⸗ 
vibuen nicht zufammenftimmen oder der Raum, ber für bieß eine Stück Eilen 
freie Beweglichkeit geftattet, würde fie einem anderen, phyſikaliſch gleichberechtigfen 
Eijenftül verfagen. Auf gfebieie Seimtüren und Störungen unferer rien: 


) ichtet die Natur, ſo wenig jie ſonſt unſere BE dd: ** men Schemata 
ln ICE: allzumenſchlichen Satsgp ori iLbes Schönen, % 
— au reſpeltiren pflegt: aher,den Raum, diefes doch gar mit D 
—— haben WTETHE glüclich umgehängt und TE delder a. ae * 
per. Finden Sie daran gar nichls zu exſtaren?““ Ich habe mich hier, ber 
Kürze Mifber, mythologiſch ausgebrüdt und von der Natur’ geſprochen, die ſich 
Dies und Jenes gefallen ließe; ſetzen wir ſtatt Natur wieder Bewußtfein, 
jo bleibt es nicht minder eine Extragefälligkeit diefes Bewußtſeins, aus feinen 
fluthenden Bilderwechſel eine annähernd ftabile Außenwelt, ' mit ‚Dingen, 
Atomen, chemiſchen Elementen, abzulagern, die ſich, ohne Ausrenkung umd Ver 
kürzung, glatt und ungezwungen in das Profruftesbett des euklidiſchen Raumes 








— — 


bineinschmiegt. Und darum dürfte e8 weder Willkür und zufälliger visual language 
fein, daß wir einen Zeil des Beiterfüllenden zum Raum erteriorifirt haben, 
nod dürfte es in unjerer Macht liegen, diefe erftarrte Abfcheidung im Schmel;- 
tiegel wieder gu verflüffigen, noch endlich würben mir, wenn es felbft in unjerer 
Macht läge, zur Bereicherung unſeres Heiligen Innern irgend Etwas gewonnen 
haben. Was Hilft es, den Objekten ewig ihren Uriprung ans menſchlichem Be- 
mwußtfein nachzutragen? Damit, daß mir in jedes Goldſtück unjeren Namenszug 
eingtaviren, vermehren wir unjeren Beſitzſtand nicht. Auch der jchranfeniofelte 
Subjeltivismus kann den ganzen Wein nidht auf einmal austrinfen; er muß 
Flaſchen und Fäſſer füllen und einen Seller zur Aufbewahrung baden. Wenn 
{don unfere Geliebte nichts it als die Summe unferer Begegnungen mit ihr, 
unferer Borftellungen von ihr, jo würde e8 doch diejen ‚Ichgefühlen‘ ihren beften 
Reiz nehmen, nicht an ein Subftrat dahinter zu glauben. Freilich kanp des 
Wein, im Keller louer werben und die-Gelichts bot, gls „Ding“ Tm Raum, brei 
Dimenfionen zur Verfügung, ups durchaubrennen; ————— 
iſt die Zeit,.igrer Nichtumkehrbarkeit wegen, eine noch. viel fatalere Einrihtung.“ 
Der Raum ät mwenigliehs Etwas, das ühermunden werden fann. Und im Raum 
kann man einen Umweg maden, während man in der Sat“ burch den jchmärzeften 
Schlamm mitten durch muß. Wäre ih Phantaft wie Sie, jo wiirde ich aus 
all diefen Gründen cher für Verwandlung der Zeit in Raum ftimmen; mean 
würde jein Leben vernünftiger ftilifiren Tönnen, wenn man bie-zeitlihen &r- 
lebniſſe im überfichtlichen Nebeneinander ftatt im verbedenden Nacheinander an⸗ 
ordnen, alſo gewiſſermaßen um bie Ede fehen und außer der Reihe marjchiren 
dürfte und nicht, der dummen Eindimenfionalität wegen, nad) dem A jedesmal B 
fagen müßte. So weit wage ich meine Bilion, einer Ununenichuegedeiuluuicien 
aber nicht zus treiben, fondern glaube einftweilen nur, daß ſich noch mancherlei 
Zeit (nicht alle!) in Raum verwandeln, mancherlei Seeliſches zu Dinglichkeit 
kriſtalliſirten läßzt und daß wir nach den ewigen Innerlichkeiten und mollusken⸗ 
haften ‚Stimmungen‘ der letzten Jahrzehnte gut thun, zur Abwechſelung wieder 
einmal uns nad der Objektſeite, in klaren Geftalten und jcharf gezeichneten 
Bildern, recht räumlich und ſubſtantiell auszuleben.” — 
— 


> 

Herr Wladimir Raffalovich, der lange im Transvaal lebte, fchreibt mir: 

„Beitatten Sie mir, zu der Kontroverſe Henkel⸗Gentz eine kleine Epifode, die 
für fich jelbjt ſpricht, nachzutragen. Jameſon warbeiPißani-Rooigrond auf Trans- 
vaalgebiet eingedrungen und die damalige Regirung rief, als fie von dem Einfall er- 
fuhr, jofort zu den Waffen. Ausländer, diebereit waten, mit ver Waffe inber Hand den 
Freibeutern entgegenzutreten, wurden aufgefordert, fich ein Gewehr und Munition zu 
holen. Als Belohnung wurde Jedem neben anderen Entſchädigungen auch die fo- 
fortige Verleihung bes Bürgerrechtes verfprochen, jenes Bürgerrechtes, auf ba8 man 
fonft jieben Jahre warten mußte und das man aud) dann nur unter gewiffen Be: 
dingungen erlangen konnte. Die Meiften freuten fi, auf billige Weiſe ein Gewehr 
zu erhalten, und es entftand ein run auf das Bureau des Veld-Kornet, wo die Ber: 
theilung ftattfand. Zu einem Kampf kamen dieſe Auslänberfchaaren nicht; höchſtens 
haben Einzelne auf einfamen Kopje um Pretoria Wache geftanden. Xamefon war 
gefangen und das Bürgerrecht wurde verliehen. Zu Denen, bie es — bie dabei ein- 


446 Die Zulkuuft. 


geſchlagenen Wege kenne ich nicht — erhielten, gehörten auch Leute, die noch nie a 
Gewehr in der Hand gehabt hatten; Andere, bie nach dem Wortlaut der Proklaueaa 
für die von ihnen geleiſteten Kriegsdienſte‘ Anſpruch auf das Bürgerrecht za «1 
glaubten, wurden ſchnode abgewielen. Die Bevorzugten aber mußten auerft eu = 
Farben Roth: Weiß-Blau:-Grün den Treueid leiften. Sie ſchieden in aller u 
aus ihrem bisherigen Stantsverband und wurden Transvaaler. Da beirkloh = 
achtzehnten Mat 1899 plößlich der Volksraad, die Jamejon-Protlamation für = 
und nichtig zu erflären, weil einzelne Unwürdige‘ das Bürgerrecht erhalten hün 
Die zwei befonnenen Mitglieber des Raads nannten einen folcden Beſchluß me 
illoyal, aber die anderen fünfundzwanzig waren nicht zu beſſerer Einficht zu befreien 
und die Willlür wurde Geſetz. Das war felbjt dem alten Krüger zu ſtark mE 
milderte ben ‚besluit‘ in der aın einundzwangzigften Mat 1899 im Staatscan- 
veröffentlichten Proflamation; der Anſpruch auf das Bürgerrecht müſſe, hieß ei. 
erft nachgewiefen werden. Inzwiſchen waren die ‚Jameson-burgers‘ vaterlantdis 
Das war der Dank für ihre Bereitwilligkeit, ihr Qeben für die neue Heimath er» 
ſetzen. Sogar der ‚Standard and Diggers News‘ und die ‚Volksstem‘ proteitit# 
damals gegen das Unrecht ... Die ‚Deutfche Buren: Centrale‘ ſammelt jeit einig 
Zeit Geld, um das Burenelement in Südafrika zu ftärken und bie Buren, bie md 
Deutſch⸗Südweſtafrika auswandern wollen, zu unterftüßen.: Am dritten März I! 
ſchon wics ich in der „Zufunft‘ auf die Deutſchland aus ſolchem Plan drohende bt 
fahr Hin. Daß dem deutſchen Handel die ‚Stärkung bes Burenelementes* nur [de 
nicht nüßen kann, ift Elar. Werden die Buren aber auf fremde Koften nad Sir” 
afrifa befördert, dann wird Niemand ſich mehr barliber freuen als die Englieir- 
Viel vernünftiger wäre es, fleißige deutiche Handwerker und Bauern, denen # 
nöthigen Mittel zur Ueberfahrt und zur Begründung ber neuen Exiftenz fehlen, ? 
unterftügen. Dann erbielteman in Deutfd-Sübweftafrifanicht, wie die Portugte® 
in Angola, einen indolenten, bebürfnißlofen Volksſtamm, fondern deutſche Anfiedle 
deren Bedürfniffe mit bem Wohlftand wachſen und zum Vortheil des utterlandd 
der Hauptbezugsquelle ſolcher Ausgewanderten, befriedigt werben.“ 
* * 






* . 

Herr Dr. Paul Julius Möbius, der befannte Neurologe, der in Leipt 
(Nofenthalgafle 3) wohnt, wünſcht die Veröffentlichung des folgenden Aufrufe 
deſſen ‚Ziel jedenfalld Beachtung heiſcht: 

„Seit 1896 habe ich von der Noth der Nerventranten und vom D@ 
Plan, Nervenheilftätten zu bauen, erzählt. Seitdem ift auf meine Anreget 
die Schöne Anftalt „Haus Schönow‘ in Zehlendorf bei Berlin errichtet wort 
Andere Heiljtätten werden da und dort vorbereitet: in Frankfurt a. M., inet 
Rheinprovinz, in Baden, in Holland. Neuerdings find im Zürich einige Männ 
zufammengetreten*), um eine fchweizerifche Nervenheilftätte zu gründen, die ohn 
Anjehen der Nation und des Belenntniffes Nervenkranken aller Ständ 
beider Gefchlechter Zuflucht und Hilfe bieten fol. Der Verein und bie m | 
Anftalt felbft werden ‚Kolonie Friedau‘ heißen. In einer gefunden und I m@ 
Gegend der Schweiz wird ein großes Gut gefauft und dort werben fi 9 | 

*) An der Spitze des Komitees fteht Profeflor Bleuler, Direkt bs 
Anftalt Burghölzli bei Zürich. | 


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Notizbuch. 447 
hundert Patienten und Kurgäfte bie nötbigen Einrichtungen geſchaffen werben. 


, Etia folgende Gedanken leiten die Begründer bei ihrem Unternehmen. 


Daß mehr und anders als bisher für bie Nervenkranfen *) gejorgt werben 
muß, darüber find alle Sachverſtändigen einig. Zwar beitehen ſchon jeßt Nerven- 
Beilftätten, Waflerheilanftalten, Kurorte aller Art für Nervenkranke, aber fie 
find nur Wohlhabenden zugänglich und vielfach nicht fo beichaffen, wie fie fein 
follten. Wenn jegt ein Menſch, ber der übergroßen Mehrzahl der ſchlecht Be 
mittelten angehört, geiſteskrank wird, jo ift für ihn geforgt. Staaten, Provinzen, 
Gemeinden haben vortrefflich eingerichtete Heilanftalten für ifn. Wird er aber 
nervenkrank, fo muß er in vielen Fällen den Geiſteskranken beneiden, denn für 
ihn bat Niemand geforgt. In Srerenanftalten und öffentliche Krankenhäuſer 
paßt er nicht, für Anderes aber reiht das Geld erft recht nicht. Das gilt nicht 
nur von den Urmen im eigentlihen Sinn bes Wortes. Auch die dem Mittel 
Ttand Angehörigen find faft eben jo ſchlecht daran. Nervenkrankheiten find oft 
fehr langwierig; nur dur lange Behandlung außerhalb der häuslichen Verhält- 
niffe ift Heilung oder Befferung zu erreichen. Ja, für ein paar Wochen in ber 
Kuranſtalt reihen die Sparpfennige. Uber jo raſch geht e8 nicht; gerade weil, 
der angftnolle Wunſch, nur ja raſch geſund zu werden, den Patienten plagt 
kommt er nicht recht vorwärts. Am Ende der Zeit muß er, oberflächlich oder 
gar nicht gebefiert, nach Haufe zurüd; und feines mühſam erworbenen Geldes 
und feiner Hoffnungen ledig, fteht er jchlechter ba als vorher. Uber auch die 
wohlhabenden Nervenkranken finden unter ben jetigen Berhältnifien in ber Regel 
Das nicht, was fie brauchen. Die jebt beftehenden Privatanftalten find meiſt 
nicht alfoholfrei und gewähren nicht die Möglichkeit eines richtigen Lebens mit 
natürlicher Thätigfeit. Mit wenigen Ausnahmen find fie halb Feine Kranken⸗ 
bäufer, halb Hotels, mitten bineingejtellt in ein lärmendes, hohles Weltwejen. 

Sie jmd räumlich bejchränft und aus beichräntten Vorausfegungen hervor: 
gegangen. Auch bei gutem Willen der Leiter können fie ben "Anforderungen, 
bie wir ftellen müſſen, nicht genügen. 

Dur das jelbe Mittel joll die Hilfe billiger und befjer werden: durch 

Schaffung einfacher, natürlider Pebensverhältniffe. 

Alles, was der Nervenfrante wirklich braudt, iſt an ſich nicht theuer: 
Ruhe, Reinlichfeit, Ordnung, reine Luft, einfache, wohlichmedende Nahrung 
und, wenn der Gejundheitzuftand es erlaubt, nützliche Arbeit. Trotzdem kann 
er diefe Dinge jet nicht oder nur mit großen Koften erlangen. Ein darauf 
eingerichtete8 Gemeinwefen aber kann die guten Dinge billig geben und dem 
arbeitfähigen Patienten die Möglichkeit gewähren, durch den Ertrag jeiner dem 
Gemeinmwejen gewidmeten Arbeit die Lebenskoſten zum Theil aufzubringen. 


*) Eine genauere Beitimmung bes Begriffes ‚nervenkrank‘ braucht hier 
nicht gegeben zu werden. Das Wort wird im Sinn de3 täglichen Lebens ge- 
nommen; es handelt fih um Menſchen, die, ohne geiſteskrank oder im gewöhn⸗ 
lichen Sinn körperlich Trank zu fein, zu ſchwach oder zu empfindlich find, um 
den an fie geitellten Anforderungen genügen zu können. Welche Nervenkrante 
für die Kolonie geeignet find: Das tft eine rein Ärztliche Frage und ſie kann 
nur im einzelnen Fall richtig beantwortet werden. 


418 Die Zukunfi. 


Das billigfte und das gejünbefte Leben ift das Lanbleben; aber es iit, 
wie ber wirklide Landmann es lebt, für den Nervenkranken nicht brauchbar. 
Die Kolonie bietet gewiffermaßen ein verflärtes Zandleben. Dos Ganze ift aus 
dein ärztlichen Geift hervorgegangen und feinen Zwecken angepaßt. Er ſchaltet 
div Roheiten und Unzuträglichkeiten ans und mildert die Anforderungen fo weit, 
dag aud ber Schwache an der Thättgfeit theilnchmen und an ihr eritarfen kann. 

Es giebt Kranke, die eine Zeit lang vollftändig ruhen müſſen; auf bie 
Dauer aber kann kein Menſch die Thätigkeit entbehren. Jetzt fteht der Schwache 
eingeklemmt zwijchen zu viel Mrbeit in der Welt draußen und öder Langeweile 
in der Suranftalt. Die Einen finden nur harte oder unpaflende Arbeit und 
werben immer Fränter, die Anderen füllen ihr Leben mit fogenannten Ber 
gnügungen aus, wie ein Menfch, der ausjchlieglih von Zuderzeng Iebt, ums 
aud fie werden immer fränfer. Aus ber rechten Arbeit aber wählt Kraft, Heiter- 
feit, Genefung. In der Kolonie Tann aud der Schwade fih an ben vielen 
verjchiedenen Arbeiten betheiligen; unter ärztlicher Auffiht findet er Die ihm 
wohltäuende Befchäftigung in dem für ihn geeigneten Maß. Bugleih aber mi 
dem Zuwachs an Kraft und Geſundheit gewinnt er materiellen Bortheil, denn 
feine Arbeit wird nach ihrem Werth entlohnt, jo weit e8 angeht. 

Ein modernes Krankenhaus ift eine fehr theure Sade. Der Nerven: 
kranke aber braucht fein Krankenhaus; im Gegentbeil: die Nervenfeiljtätte joll 
einem Krankenhauſe möglichjt unähnlich fein. Die ärztliche Fürſorge beftcht Hier 
in der Regelung bes Lebens, in perfönlicher Zuſprache auf Grund genaner Unter 
ſuchung, in wenigen und einfachen Arzenehnitteln, in Bädern u. ſ. w; und für 
das Alles braucht man Feine fünftlihe Einrihtung. Zur Wohnung für die 
Patienten eignen fich ganz einfache Häuschen am Meiften, denn fie bieten Ruhe 
und heitere Eindrüde. Je verfchiedenartiger die MWohngelegenheiten jmd, um 
jo beifer, denn der Kranke möge Das wiederfinden, was ihm burd die Gewohn— 
beit lieb ift, nur ohne die Störungen, die ſich braußen an jeine Wohnung 
hefteten. In einem Krankenhaus weiſt Alles auf Krankheit bin, bier aber fol 
der Sinn vom Krankhaften weg auf ein gefundes Leben hingelentt werden. Und 
wie die Wohnung, fo fol auch die menfchliche Umgebung ben Nervenfranfen 
möglichft wenig an die Strankheit erinnern. Es ift daher nicht wünſchenswerth, 
daß Kranke nur mit Kranken verfehren. Die gejunden Mitglieder der Kolonie 
find auch im Intereſſe der Kranken nöthig. Uber fie werden anders wirken als 
die Gefunden draußen, die allzu oft den Schwachen dur Handlungen und Worte 
verlegen; denn auch fie ftreben nad dem rechten Leben und der bie Kolonie 
beherrfchenbe Geiſt führt Alle auf den felben Weg. 

An Geſunden wird es in der Kolonie nicht fehlen, benn es giebt allzu 
viele der Erholung und Ruhe bedürftige Menjchen, die, ohne eigentlih krank 
zus fein, nach einer Zuflucht verlangen. est fönnen nur ganz Meiche fich wirkliche 
Nude verfchaffen; die Meiſten müffen mit Dem vorlieb nehmen, wu8 bie Gaſt 
bäufer bieten, wo zwar oft Luxus und fehmelgerifche® Leben, Ruhe aber felten 
zu finden ift. Wer vollend3 jparen muß, wird fat nie finden, was cr wıll. 

Alle Mitglieder der Kolonie find verpflichtet, fi) bed Genufles und ber 
Einführung alfobolhaltiger Getränke zu enthalten. Daß die Hilfe für Nerven- 
kranke mit der für die vom Alkoholismus Bedrohten verbunden werde, empfiehlt 








. Notizbuch. 419 


ſich aus verfchiedenen Gründen. . Die Sacdhverftändigen find darüber einig, daß 
für faſt alle Nervenkranke die Enthaltung ven alkoholiſchen Getränken nöthig 
fei, daß alfo in einer Nervenheilftätte die Abftinenz herrfchen müſſe. Die Nerven⸗ 
beilftätte bietet, was der genefende oder angehende Alkoholkranke braucht: eine: 
alkoholfreie Umgebung. Ja, er findet gerade an dem Nervenkranken eine Stütze, 
weil nad) alter Erfahrung die meiften von ignen gern ſich des von ihnen als 
Ichädlich empfundenen Altoholes enthalten. 

\ Doch die Kolonie fol feine Trinkerbeilftätte fein. Wirklich Trunkſüchtige 
oder dem Alkoholismus ganz Verfallene werden nicht aufgenommen. Die Kolonie 
kann nur Die aufnehmen, die entweder noch nicht ober nicht mehr der Trinfer- 
beilftätte bebürfen. Insbeſondere ift an die Genejenden gedacht; ihnen wirb 
die Xrinferbeilftätte zu eng, fie find wieber ber Arbeit und freier Bewegung 
fähig, — und doch kann man fie nicht in die alte Umgebung zurüdtehren lafjen, 
wo ihnen von allen Seiten die Verſuchung droht. Ihnen Öffnet fi in der 
Stolonte ein ungefährliched Gebiet, wo fie, unter Umftänden mit ihren Familien 
zujammen, leben und gedeihen fünnen. Ungefähr das Selbe gilt von den an« 
gehenden Trinfern, die den guten Willen Haben, fi) retten zu laffen, die aber 
der Umverftand der Umgebung immer wieder dem Altoholteufel zuführt. Viele 
Alkoholkranke find, fobalb fie abjtinent leben, tüchtige Arbeiter und können da- 
durch der Kolonie werthvoll werden. 

Die Gründung der Kolonie durch Beichnung von Antheilfcheinen ") wird 
dur gewichtige Erwägungen geredtjertigt. Auf Hilfe. de8 Staates oder der 
Gemeinden ift bei der Neuheit der Sade nicht zu rechnen. Die reine Wohl- 
thätigfeit aber joll nicht angerufen werben, weil e3 fi um eine Sache handelt, die 
auf eigenen Füßen ftehen faun. Natürlich kann durdy eine einzige Kolonie das vor⸗ 
bandene Bedürfniß nicht befriedigt werden. Gelingt es aber einmal, zu beweijen, 
daß ber Gedanke Ichensfähig ift, fo wird man auch anderswo Muth faſſen und 
durh Gründung ähnlicher Kolonien das Gute fördern. Es wird nicht, fchwer 
jein, bei verftändiger Leitung nach einigen Jahren das Kapital mit etwa vier 
Prozent zu verzinjen. Beim erjten Verſuch find mir freilich auf den guten 
Willen der Unterzeichneten injofern angewieſen, als erftens die Möglichkeit des 
Gelingens noch nicht bemwiejen tft und zweitens der zu erwartende Gewinn nur 
gering fein fann. Die Beichner von Antheiljcheinen müjlen ein Opfer bringen, 
weil fie nicht ſofort Zinſen zu Hoffen Haben. Es handelt ſich alfo, wern man 
jo jagen darf, um bejchräntte Wohlthätigkeit. Am Beſten wäre es, wenn ein 
paar freigiebige Kapitaliften fich entjchlöffen,. duch größere Summen einen feften 
Grund zu legen. Um Wohlthätigkeit Handelt es ſich auch infofern, als die Gründer 
des Vereins nicht um Gewinnes willen thätig find. Ihre Uneigennüßigfeit kann 
ben Beichnern der Antheilicheine dafür bürgen, Daß bedenkliche oder gewagte Hand- 
lungen nicht zu erwarten find. Endlid wird die Wohlthätigkeit der außerordent- 
lien Mitglieder angerufen, um Freiſtellen für wirklich Arme zu fchaffen. 

Dies Unternehmen iſt wahrlich eine gute und hoffnungvolle Sache. Ich 


*) Man wird Ordentliches Mitglied des Vereins durch Erwerbung wenigftens 
eines Antheilfcheines zu 100, Außerordentliches Mitglied durch einen jahrlichen 
Beitrag von wenigſtens 5 Francs. 





450 Die Zukuuft. 


bitte herzlich Alle, die Intereſſe dafür Haben, mir ihre Adreſſe mitzutheilen. 
Ach werbe dafür forgen, daß fie die nöthigen Scriftftüde erhalten.“ 
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*e 

Auf der Marienburg wurde am fünften Juni ein Prunkfefſt gefeiert. Dr 
Raifer hielt zwei Reben, von denen in den Beitungen gejagt wurde, fie jeien „ieh: 
eindrucksvoll“ geweſen. Die eine fpradj ben verfammelten Brüdern vom Stobanniter: 
orden Die Aufgabe zu, „das Werk ber Erlöfung der Menichheit, bem Vorbilde unſere⸗ 
Heilands folgend, weiter zu fördern”. Die andere brachte nad) Ausblicken ins Heiligt 
Land plößlich die Sätze: „Polniſcher Uebermuth will dein Deutſchthum zu nah treten 
und ich bin gezwungen, mein Bolf aufzurufen zur Wahrung feiner natioraler 
Güter. Und hier in der Marienburg fpreche ich die Erwartung aus, daß alle Brüde 
des Ordens Sankt Johann immer zu Dienften ftehen werden, wenn ich rauf. 
beutfche Art und Sitte zu wahren‘. Daß diejer Fehderuf bei den Öfterreichiicher 
Bolen, den Herren Eisleithaniend, Uergerniß erregt bat, ift fein Unglück: ve 
Echo, das aus Galizien herüberjchallt, Tann ben Werth des noch inımer als Frie 
densbürgfchaft gepriejenen Dreibundes erfennen lehren. Nicht fo leicht find anden 
Bedenken zu veriheuchen. Der Kohanniterorden ift international und weder alle u 
gremio religionis aufgenommenen Ritternochdie ausländilchen chevaliers de gräee 
werden „immer zu Dienften jtehen‘, wenn der Kaifer zum Kampf für Deutfche Au 
und Sitte ruft. Die Briten, Defterreiher und Ungarn, die als Gäjte der Balla 
Brandenburg auf der Marienburg waren, werden zu ſolchem Dienjt wenig Lat 
jpüren. Unb ift der Oſtmarkenkrieg, für den die preußifche Regirung ſich jegt beiter 
rüften will, wirklich durch das Borbrängen polnifchen Uebermuthes entfeflelt werben: 
Gar fo Übermüthig find die Polen doch nicht, mag ihre Preſſe au) manchmal gegen 
die böfen Preußen toben. Es handelt fih um einen wirthichaftliden Kampf, der 
nur durch geräufchloje Arbeit gewonnen werden kann ımd in beifen Berlauf mas 
jedes harte Wort, fo lange es irgend geht, zurüdhalten follter Will der König vor 
Preußen die VBerantwortlichfeit für den Ausgang dieſes Kampfes, ftatt fie einer 
Miniſtern zu überlaffen, felbft auf fi) nehmen, jo kann fein Menſch ihn baran kin 
bern. Der Minijter Pflicht aber tjt, ihren König barüber aufzuklären, daßder Kampf 
gegen ſlaviſche Geſchicklichkeitauch dann unvermeidlich geworden wäre, wenn bie Bolen 
nie ein übermüthig Elingendes Wort gegen Preußen gelprochen hätten. 

* * 


* 

In München-Gladbach hatten Bürger ihrem loyalen Gefühl in einer an den 
Staifer gerichteten Depeiche Ausdruck gegeben. Sie erhielten bie Antwort: „Seine 
Majeſtät der Kaifer und König haben die Meldung von der Grundfteinlegung der 
den Andenken Allerhöchſtihres Höchitjeligen Vaters gewidmeten Kaiſer⸗Friedrich 
Halle Huldvollit entgegenzunehmen geruht und laffen der dortigen Bürgerjchaft Für 
den Ausdrud treuer Ergebenheit beitens danfen. Auf Ullerhöciten Befehl: ' ver 
Geheime Kabinetsrath von Lucanus.“ Der Stildiefes Telegrammesmedt manch lei 
Zweifel. Hat die Halle den Grundftein gelegt? Und warum tit der tote Rı er 
Friedrich nicht des lebenden Allerhöchſten Herrn Allerhöcjitfeliger Herr Bater? & i 
allerhöchfte Zeit, diefe Kurialien nach byzantiniichem oder — moderner — d 
ſiſchem Mufter zu ordnen, auf daß fie Hinfüro perjönlichem Belieben entzogen fi 


— — — — —— 


HIPRPSH 


Herausgeber und verantwortlicher Revatteur: EM. Harden in: in Berlin. — Berlag der Sulunft in 8 
Drud von Albert Damde in Berlin Schöneberg. 








Die Zukunft. 














Berlin, den 21. Juni 1902. 
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Vieux Saxe. 


& guten Häufern, deren Erbauer ſchon mohlhabend war und die cin 
Hörtfein vererbter Kultur bergen, kommt um die Veſperzeit manch⸗ 
mal noch eine alte Sachjenfanne auf den Tifch. In Parvenupolis ſtellt man 
fie als Prunfftüd in den Glasſchrank, wo die feltenen Tafjen um die Wette 
progen: Japan, Henri Deur, Delft, Sövres, Nymphenburg, Wegdwood, 
+ Capo di Monte. Da fteht fie, das zerbrechliche Denkmal einer Epoche, an 
die den Befiger feine Ahnentafel erinnert. Er, deſſen Vater vielleicht noch 
an der Weichbildgrenze der alten Königsjtadt haufte, hat die Sächſin um 
ſchweres Geld bei irgend einem Bernheimer eingehandelt und hütet fie nun 
ängftlich vor den Fährlichkeiten des Gebrauches. In den alten Häufern, die 
ihre Gefchichte, ihren Familienftolz haben und ihren Wohlſtand nicht dem 
Spielernüd einer Stunde danken, fteht fie vor würdigen Gäften auf ber 
Damaſtdecke des Kaffeetiſches. Die Mutter gab fie der Tochter, der Braut 
de8 Sohnes oder auch fpät erft der Entelin in die junge Wirthſchaft mit und 
die Köchin Hat das Alter ehrengelernt. Kein Sprung, fein abgeftoßener Rand 
ärgert das Auge und felbjt der ſchlanke Henkel ift unverſehrt. Ein artig ge- 
bogener Henkel, den der Wohlerzogene reſpeltvoll, mit höflichem Finger, 
anfaffen wird. Und der pugige Truthahnſchnabel fcheint krähen zu wollen: 
Mehr giebts nicht; und lockt gerade damit zu immer reichlicherem Genuß. 
Das ganze Ding fieht patriziich aus, behaglich und allerliebft unzeitgemäß. 
Es ift entweder aus Böttgerporzellan, roth, mit japaniſch ftilijirten Blüm- 
34 


452 Die Zukunft. 





































lein oder echtes Meißener, weiß, mit bunten Gnirlanden, oben und unta 
ein Bischen Rothbraun, das fich in Tupfen bis unter den Schnabel zieht, 
dahin, wo er fich zu einem Porzellankröpfchen baucht; und nie fehlt der 
Deckel, die Rannenmüge mit dem dicken Knopf. Rokoko ; aber dentſches, da 
dem Bli nicht die Bilder galanter Tändelei und erotifcher Schäferipieleker: 
aufbefchwört. An Alchemiſtenſpuk mag man denken, an die Polakenherriih- 
feit Augufts des Zweiten und an die wüften Tyrannentage, wo Aurora 
ftarfer Freund feinen meißener Herenmeifter auf der Albrechtsburg ale 
Strafgefangenen zu höherem Ruhm des Polenkönigs erfinden und Kaolir 
machen ließ. Augufts legitimer Erbe fand kein weiches Bett; und Aurora von 
Königsmart iftfpäter Pröpftin gewordenund hat Kantaten lomponirt. Ein 
traurige Gefchichte. Die alte Sachfenfanne hats vielleicht ſchon erlebt. Ted 
ihre behäbige Nundgeftalt läßt Wehmuth nicht auflommen. Seit Auguf 
Kronrechteund Landfegen verf chacherte, iſts ja beſſer geworden; bie Sachſen⸗ 
raute iſt grün, ringsum ſchnurren Räder, rauchen Schlote und über den 
Kaffeekonſum kann man nicht Hagen. Providentiae memor: fo heißt ber 
Spruch auf dem Hausordensband, das zwei Leun bewachen. Die Vorſehung 
wirdzurrechten Stunde Alleszum Guten wenden. In die Zeitmußt Du Did 
freilich ſchicken, auch wenn es böfe Zeit ift, und niemals darfit Du, unter 
feinen Umftänden, den Kopf hängen laſſen. Das lehrt die alte Sächſin. 
Kein befonders koſtbares Schauftüd; aber der Kenner ſchätzt ihren Wertf. 
Ungefähr fo, als ein ehrwürdiges, das ruhlofe Auge tröftendes Erb⸗ 
ftüdt, daS an entſchwundene Tage wechſelnden Glückes mahnt, ſahen dit 
nad) 48 geborenen Deutfchenden Sachſenkönig Albert. Seit erin Sibyllenort, 
dem Tudorfchloß, das der braunfchweiger Wilhelm ihm hinterließ, fich auf! 
Krankenbett ſtrecken und die leifefte Bewegung mit heftigem Schmerz büßen 
mußte, la8 man, Alldeutichland blicke in banger Sorge auf dieſes Zager und 
flehe den Himmel an, Alberts Xebenstag zu verlängern. Das iſt Reporter 
geſchwätz, das nicht zu fcheiden, zu unterjcheiden weiß und jedes Menſchen⸗ 
gefühls innigen Ausdrud zur läppiſchen Phrafe fäljcht. Zu den ragenden 
Männern, an deren Lebensdauer ein Volksſchickſal hängt, kann kaum em 
Dienftbotengemüth den wettiner Albert zählen. Die Sachjen felbft haben 
nie mit überſchwingender Begeifterung von ihm gefprochen; nur mit ruhiger 
Achtung, wie von einem redlichen Herrn, mit dem ich leben Täßt. Und hinter den 
grün⸗weißen Grenzpfählen wußte man wenig vonihm. Er jolleinguter Sol: 
dat geweſen jein und Moltke hat ihnals Kronprinzen den einzigen Feldherta 
des deutjchen Heeres genannt. Aber Moltke fonnte, wenn ſichs um Fürften 








Vieux Saxe. 453 


handelte, recht nad) der Diplomatenkunſt reden und wir find, feit auch der 
Kronprinz Friedrich Wilhelm zum reifigen Helden aufgepugt ward, gegen 
den Kriegsruhm hoher Herren mißtrauifch geworben. Gravelotte, Nouart 
und der Mont Avron waren längft vergeffen umd als Heerführer wurde 
Albert nur noch in rafch verhaffenden Tafelreden gepriefen. Einen tüchtigen 
Haushalter hieß man ihn und an den Stammtijchen ſchlugen die Herzen 
_ Höher, wenn erzählt wurde, der König fei ein feßhafter Statfpieler, der wie 
ein Fuchs im erften Semefter vergnügt fein könne, wenn er einen Grand 
mit Vieren gemacht habe. Stat: Das Hingt nicht nad) achtzehntem Jahr⸗ 
hundert. Sonſt aber fchien Albert uns Jüngeren deutſches Rokoko. Er 
paßte nad) Pillnig, in die nicht allzu üppige Anmuth einer Gegend, die eine 
Hede vor allen Modernifirungverjuchen gefchügt haben könnte. Dan fah 
ihn überall gern, — vielleicht, weil man ihn felten fah. Nur, wo e8 ihn 
nöthig dünkte, zeigteer ſich; dann aber ftand er feinen Mann. Ein Monarchen⸗ 
typus, den wir nicht mehr ſchauen werden, entfchwindet mit ihm unferem 
Bid. Neue Formen find in die Mode gelommen. Auch neue feramifche 
Künfte, deren Leiftung mehr ins Auge fällt als die der Böttgerzeit. Dennoch. 
behalten die alten Sachſenkannen ihren Werth. Sie find aus gutem, bauer- 
baren Material, wollen nicht feiner jcheinen, als fie find, und brauchen, wo 
eine Tradition fie vor rauhen Griffen bewahrt, den Alltag nicht zu fcheuen. 
Ganz leicht war e8 1873 nicht, König von Sachſen zu fein. Yohann 
Philalethes hatte mit feinem Beuft und feiner Triasidee fo ziemlich Alles 
verdorben, was an Sachſens deuticher Machtjtellung nod) zu verderben war. 
Die größte Sünde war freilich lange vorher begangen worden: als Friedrich) 
Auguft, um feine Eitelfeit mit dem Königsreif Sobieskis zu krönen, der res 
formirten Kirche den Nüden kehrte. Nur als Perfon, als ein Einzelner 
wollte er fatholisch werden; doch umgab er feinen Sohn mit Hugen Vätern 
Jeſu, die dafür forgten, daR aud) der Kurprinz der Papftkirche gemonnen 
wurde. Damit war die albertinifche Linie dem cvangelifchen Glauben ent: 
fremdet, das Kurfürſtengeſchlecht vom Weg der Reformationgewichen, der es 
zum Ruhm geführt hatte, auf die Höhe dynaſtiſcher Macht führen fonnte. Wäre 
die Entjcheidung Friedrichs des Weifen und Johanns des Beftändigen geach— 
tet, nicht der Yauneeinesgewiffenlofen Luſtſuchers geopfert worden, dann war 
Sachſen als lutheriſcher Vormacht in Deutjchland die Bahn geebnet, während 
cs unter katholiſchen Herrſchern die Konkurrenz Defterreich8 und Bayerns auf 
dereinen, Preußens aufder anderen Seitezu fürchten hatte. Immerhin wares 
nicht nöthig, 1866 fo blind Bartei zu ergreifen. Albert, der Kronprinz, hätte 
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454 Die Zukunft | 


vielleicht anders gehandelt; als Einundzwanzigjähriger ſchon hatte er gejagt, 
nur das Bufammenmirfen aller deutichen Stämme könne die Einigung 
bringen, die er erfehne. Siebenzehn Jahre danach mußte er feine Sachſen 
dem Corps Clam⸗Gallas zuführen und mit einem gefchlagenen Heer aus 
Böhmen heimkehren. Als erden Thron beftieg, wardie Einheit erftritten, da: 
Reich gegründet; aber er herrichte über ein Land, wo von je hundert Ein: 
wohnern fünfundneunzig dem Lutherthum angehören. Solcher Glaubens 
zwieſpalt, derfich zwiſchen Volkund Fürft aufthut, iftimmer gefährlich; und 
das Mißtrauen der Iutherifchen Sachſen ift nie völligerlofchen. Ein alarm 
prinz geborener Albertiner müßte, fo grolfen fie, nach alter Verheißung den 
reformirten Glauben befennen; doc die römifchen Herren haben gam 
heimlich und ſchlau dafür geforgt, daß feit dem Uebertritt Augufts des Stark 
fein Erbe der Wettinerfrone mehr dem Mutterfchoß als Kronprinz ent 
bunden ward. Nur Albert3 altmodiſch ficherer Takt konnte Konflikte ver 
meiden und es nad) und nad) dahin bringen, daß der konfeſſionelle Gegen⸗ 
fat kaum noch empfunden wurde. An feinem Hof herrichten bie Pfaften 
nicht — wenigftens war ihre Herrichaft nicht fichtbar — und die Alathe 
lifchen fingen erjt wieder zu bangen an, als die fchlechten Nachrichten aus 
Sibyllenort famen... Es war nicht die einzige Schwierigkeit, die Johann⸗ 
Sohn als König zu überwinden hatte. Erwar im Gefühl feften Zufammer- 
hanges mit Defterreich, angeborener Antipathie gegen Preußen erwachſer 
und follte nun Bundesfürft in einem Deutjchlaud fein, aus dem Defierreid 
verdrängt war. Im Juni 1866 hatte fein Armeebefehl den Oefterreiden 
versprochen, fie würden ihn in guten wie in böjen Tagen an ihrer Sem 
finden; und nun fonnte er, der dem Kaifer Franz Joſeph perjönlich be 
freundet war, in die Yage fommen, fein Kontingent gegen die Truppen 
des Habsburg: Tothringers führen zu müſſen. Doch als Kronprinz ſchon 
hatte er fich tapfer indie neue Zeit geſchickt. FürdiezuverläffigeTreue, dieihn 
ans Reich band, und für die Befcheidenheit feines Wefens zeugt laut der Brief, 
den er zwanzig Tage nad) feiner Thronbefteigung an Bismard fchrieb. Da 
lieft man die Säge: „An wen könnte ich mic) wohl beffer wenden ala a” den 
Kanzler des Deutſchen Neiches, der fo oft erklärt, er gehöre allen Bu x⸗ 
fürjten gleichmäßig an? Mit vollem Vertrauen wende ich mich daher au öie, 
mern ich der Hilfe gebrauchen ſollte, wenn ich weifen Rathes bebürfte. € ien 
Sie dagegen verſichert: auch ich werde Alles, was Sie zum Heil des Reicht nd 
deutfchen Volks unternehmen, jo Fräftig unterftühen, als e8 meine geri, yen 
Kräfte erlauben, und hoffe, ein werfthätiges Mitglied, eine fefte Stür Yes 


— 


Vieux Saxe. 455 


Sebäubdes zu fein, das mir mit dem Schwert aufrichten zu helfen vergönnt 
war. Jedem ich bitte, Diefe Zeilen nicht übel zu deuten, die Sie vieleicht in 
Ihrem Tuskulum ftören, verbleibeich Ihr ergebener Albert.” Kein Schwulſt, 
feine Phrase ; der jchlichte Ausdrud eines Gefühles der Unzulänglichkeit und 
zugleich der Haren Erfenntniß, wo in Nöthen der ftarke, bereite Helfer zu 
juchen wäre. So fchrieb der Königvon Gottes Gnaden an, den „Handlanger 
Wilhelms des Großen“, der Sache an den Erponenten der großpreußijchen 
Politik, deffen Siegerfchritt ihm manche feimende Hoffnung zerftampft Hatte, 
der Katholif an den Keker, dem taufend Priefterzungen in Nom fluchten. 
Wir find an die Tonart ſolchen Fürftenbriefes gar nicht mehr gewöhnt ; wie 
aus weiter Ferne klingt fie zu uns, wie das letzte Echo einer verſunkenen 
Welt, von der nur die Alten noch in den Ausgedingftuben raumen. 

Und der König, der fich jo bejcheiden, jo frei von dem Haß bleiben 
konnte, mitdem legitime Herren faft immer das Genie verfolgt haben, diejer 
Monard) des Altväterftild hat die modernfte Entwidelungerlebt. Sein Land 
_ wurde der Hauptfi der Großinduſtrie, die dicht bevölferte Stätte des neuen 
Mafchinenproletariates, das Manöverfeld der Sozialdemokratie. Das Alles 
war ihm ganz fremd und er hat fich oft darüber gewundert, daß Städte, wo 
- bie Bürger ihn foehrerbietig grüßten, rothe Revolutionäre in den Reichstag 
ſchickten. Aber er hielt ſich ſtill. Nicht etwa, weil er ein feiner politicher Kopf 
war und fich jagte, da es nun einmal ſtets eine radikalfte Partei geben müjfe, 
jet die noch am Leichteften zu ertragen, die an die Allmacht einer Evolution 
glaube, jede Gewalt verſchmähe und ihres Sieges fo jicher fei, daß ſie nicht 
daran denke, ihn zu erftreiten. So hoch hinauf flogen feine Gedanken nicht. 
Nein: er hielt fich ftill, weil Ruhe ihn erfte Königspflicht dünfte. Ein Wort 
fonnte erfchnappt, ein Seufzer weitergetragen werden. Deffentlich hat man 
ihn nie Hagen, nie drohen gehört. Er verftand die neue Zeit nicht, konnte fie 
nicht verjtehen; doch er fchwieg und wandte das Auge von dem Speftafel, 
wenn es ihn allzu tief kränkte. Im Grund ihres Herzens, mochte er denken, 
find auch die Rothen recht brave Leute und gute Sachſen; und ich muß trach⸗ 
ten, mir und meinem Haus fie nicht ganz zu entfremden. Sächſiſche Negir- 
ungen haben, feit die Gejchwindigkeit der proletarijchen Bewegung wuchs 
und die Fabrikfeudalherren in Schreden jagte, oft recht unflug gehandelt; 
der König aber hat jich feiner von ihnen engagirt. Er wurde, als Katholif, 
von den Lutheriſchen geliebt; er ftand treu zum Reich unddie Partikulariften 
fahen ihn nicht ſcheel an; er ernannte Minifter, deren foziales Verftändniß 
ans der Eiszeit zu ftammen jchien, und die Schaar der Bedrüdten ſprach mit 


456 Die Zukunft. 


Achtung, mit zärtlicher manchmal, von ihm und jelbft in Stunden leiden: 

Ihaftlicher Erregung las man kaum irgendwo ein Wort, daS den König ver- 

legen fonnte. Dem Knaben war wohl von ben dresdener und Leipziger Zu- 
multen erzählt worden, die denverhaßten Grafen Einjiedel geftürzt und dem 
Prinzen Marimilianden Weg zum Thron gejperrt hatten, und der Yüngling 
hatte den leipziger Paradeputſch, die Folge prinzlicher Politik, und die bis 
hart ans Schloß reichende Wirkung der Februarrevolution erlebt. Solche 
Anſchauunglehre ſchlug er nicht in den Wind. Für die Fürften, fühlte er, 
ift3 am Beften, wenn fie hinter dem goldenen Gitter bleiben, das fie von der 
Raferei Hungernder, von den Kämpfen um Macht und Beutetrennt, wennfie 
der Möglichkeit, Unheil zu ftiften, fich entziehen und nur ihr Recht wahren, 
Gutes zu thun. Er ließ die Regirung regiren, das Volk am Wahltag die 
Richtung feiner Wünfche andeuten und freute ſich jeder Öclegenheit, ein Uin- 
recht tilgen, einem Bittfteller Gnade gewähren zu lönnen. Jagd und Karten 
fürzten ihm die Mußezeit; Speife und Trank mundeten nod), als ihn Längfi 
das fchmerzhafte Blafenleiden heimgefucht Hatte, das auch den alten Wilhelm 
plagte; und er vertrug die fehmwerften VBirginiacigarren. Die Wirthichajt- 
interefjen feiner Sadjjen lagen ihm am Herzen und er hat, in Gemeinſchaft 
mit Franz Joſeph, den Kaifer für den Gedanken der Handelsverträge ge 

wonnen, die der ſächſiſchen Textilinduſtrie Vortheile brachten. Nie aber 
empfand er da8 Bedürfniß, zu reden, über politifche Vorgänge feine Meinung 

zu fagen. Er ſchwieg. Er konnte fchweigen; denn er war der König. 

Noch eine Schwere Probe Hatte der Greis zu beftehen. Bismard, zu 
dem er in unbeirrter Zuverſicht aufgeblict hatte, wurde entlaffen; und der 
perjönliche Wille des Kaiſers trat mit fo ſtarken Impulſen hervor, dag man 
draußen vom Empereur d’Allemagne zu fprechen begann und kaum nod) 
der Bundesfürften gedachte, deren erftem mit dem Bundespräjidium der 
Titel des Deutfchen Kaifers, aber nicht das Recht eines Reichsmonarchen 
zuerfannt worden war. Vom Kaifer, nur vom Kaifer war Tag vor Tag jekt 
die Rede. Die Geburt des Reiches war 187 L nurdurch den Kaiſerſchnitt mög: 
lich) geworden, der dem Sorgenkind ans belebende Licht Half. ‘Die beiden 
Männer aber, denen damals dieSectio Caesarea gelungen war, hatten nod 
‚Preußens Schwarze Tage gefehen; fie fannten die Gegenfäge der deutjcer 
Stämme, die in den Yandsmannfcaften der Hochſchulen fortlebten, un! 
wußten, weldjes Opfer dem Selbjtgefühlder fouverainen Fürften zugemuthe 
wurde, die wichtige Theile ihrer ererbten Rechte dem Sohn eines aus unſchein 
baren Anfängen emporgelommenen Junkergeſchlechtes ausliefern follten 





Vieux Saxe. 457 


Wilhelm und Bismardwaren und blieben einig indem Bemühen, den Kaiſer⸗ 
gedanken für befonders ernfte oder beionders feitliche Stunden aufzu— 
Sparen. In diefe Vorftellung hatten die Bundesfürften fich gewöhnt — 
Andere werden fagen: die freiwillige Zurücdhalfung des alten Kaiſers hatte 
fie verwöhnt — und ein unbehagliches Gefühl mußte fich einftellen, als es 
anders wurde und fie von dem plöglich, bald da, bald dort, aufblinfenden 
Leuchtfener der Kaifergloriole ihr weniger glanzvolles Mühen verdunkelt 
fahen. Niemand ſprach noch von ihnen, Niemand traute ihnen auf das Ge⸗ 
Schick des Reiches, dem fie doch gemeinfam die Einheit ſchufen, enticheidenden 
oder auch nur mütbeftimmenden Einfluß zu ; fie jchienen nurnoch vorhanden 
zu fein, um an Feiertagen fich um den Thron des Einen zu ſchaaren, der 
mit feinen Worten und Willensregungen die Welt erfüllte und in einem 
Lande, deſſen Fürftengefchlechter faft alle einmal mit einander in Fehde ge- 
legen Hatten, feinem Hohenzollernhaus mit rafcher Hand die Schäße gefchicht 
lichen Ruhmes häufte.: Eine jchwere Probe, die jogar den alten Großherzog 
vonBaden ausbequemerftuhegefcheucht und zum eifernden Redner gewandelt 
hat. König Albert Hat fie beftanden. Manches gefiel ihm nicht, die Treuften 
ſahen ihn den weißen Kopf fchütteln und an leijen Friktionen hat es feit 1890 
niemals gefehlt, — nicht nur in der Zeit des lippiſchen Erbfolgeftreites, den 
der Sachje gegen den Wunſch Wilhelms des Zweiten entichied. Stets aber 
blieb er forreft. Er freute fich, 1892 zu fehen, wie feſt gerade die Sachſen 
an Bismard hingen; doch er felbft hielt fich zurück. Er wollte weder bie 
neue Mode mitmachen noch mit perſönlichem Widerjpruch die Kritif her- 
ausfordern: der unangreifbare König für Alle wollte er fein und vor des 
Neides langenden Bliden „die Sache halten“, fo lange e8 irgend ging. Ob 
- man ihn für einflußreic oder ohnmächtig, für einen Nenner oder eine Null 
im Reich hielt, galt ihm gleich; nur um die Erhaltung ber ftarfen Kraft- 
wurzeln im heimijchen Boden wars ihm zu thun. Da konnte er ftill wirken, 
fonnte er, ohne die Zukunft der Dynaftie zu gefährden, in weiſer Selbſt⸗ 
beichränfung Nützliches fchaffen. Nie vernahm man von feinen Neigungen, 
jeinen Liebhabereien. Providentiae memor! Auch die Hand, die aus dem 
PBurpurhervorwintt,hältdieunhemmbar nothwendige Entwickelung nicht auf. 
Nicht einmal auf der ſchmalen Höhe, wo die deutfche Muſe mühfam ihr Leben 
friſtet. Alberts Reſidenzſtadt wurde der germaniſche Vorort modernfter Kunſt; 
dort lernten wir Meunier und Rodin, Van de Velde und Zuloaga kennen. Und 
der König ſchalt nicht, ließ lächelnd Alles gefchehen. Warum nicht? Die gute alte 
Sachſenkunſt, deren Produkte ſo patriziſch ausſehen, ſo behaglich und aller⸗ 
liebſt unzeitgemäß, behielt auch neben dem Allerneuſten noch ihren Werth. 


* 





458 | Die Zukunft. 





Eine Renaifjancer 


ES van de Velde hat ein intereffantes Buch über die Renaiflanc im 
Kunftgewerbe gefchrieben,; er verteidigt darin mit oft bewundern 
werther Sicherheit fich und feinen Stil und giebt eine Schilderung der in 
duftriellen Künfte feit Morris. Ich weiß nicht recht, mas ben Reiz gieh, 
gegen dieſes Buch zu fchreiben, fogar aus dem eigenen Lager heraus. Ot 
es die kühle Selbitverftändlichkeit ift, mit der dieſe Kleine Geſchichte lediglich 
sub specie van de Veldes aufgefaßt wird, die Dialektif, mit der er gegen 
die Angriffe auf feine Kunſt antwortet, oder die jehr perjönliche Form de 
“Ganzen. Ich glaube nicht, daß das Bud) für van de Belde Proſelyten made 
wird. Dumme Leute werden es nicht verftehen, kluge werben ſich darüke 
ärgern. Selbftverftändlichkeiten und Thorheiten werben darin mit folde 
Gelaſſenheit, ja, mit fo viel Pathos behandelt, daß ſich die Oppoſition fer 
dann regen würde, wenn der Hauptinhalt de8 Buches Einem willfomme 
wäre. Das Pathos ift das Peinlichfte daran. 

Um mas handelt es fich eigentlih? Der native Leſer wird, wenn a 
das Buch Hinter ſich hat, das mehr oder weniger unklare Gefühl Haben, vor 
einer Erfheinung in Kenntniß gefegt zu fein, die vollflommen unbegreiflich 
MWeife ihm bisher entgangen war: eine kulturelle Thatſache von ungeheutt 
Wichtigkeit, eine Formel der Modernität, die geeignet ift, die Welt ums 
ftürzen. In Wirklichfeit handelt es fich, wie der Titel lautet — und ma 
muß dem Ausländer da8 ominöfe Wort nachfehen —, um Kunſtgewerbt 
Das ift zu wenig für das große Pathos. 

Kunſtgewerbe ift heute fehr beliebt; und die Leute, die es betreiben 
ftehen in dem Anfehen, mit dem man fonft nur mit Pathos zu behanbelnde ho 
Kunft bedachte. Im Grunde ift e8 ein um nichts mehr oder weniger legitim 
Mittel, Geld zu verdienen, al8 irgend Etwas. Man macht hübfche Sad 
um fie zu verkaufen; daß man fie gediegen, befjer als Andere macht, erleidte! 
ihre Verfäuflichkeit. Das ift der einzige moralifche und vernünftige Stand: 
punft; nur wenn man Dinge maht, die dem Syſtem von Angebot un) 
“ Nachfrage entfprechen fünnen, fann man nügen. Wozu alfo das Pathoi | 
Was würde man don dem betriebfamen Schufter fagen, der mit folden 
Pathos feine gewerblichen Anfichten affihirte? Auch fo was giebt es. | 
London auf der Bondjtreet hat mid mal ein Schufter drei Stunden IM 
gefefjelt mit einem Vortrag über feine einzig naturgerechten Stiefel, | T 
im Gegenfage zu ſeinen Sollegen vorn breit und hinten fchief machte; a 
das Pathos, mit dem der junge Worth oder Madame Paquin in! # 
über ihre Koftüme reden, ift nicht weniger feierlich al8 das van be Belt - 
Nur laſſen diefe Leute nicht all ihre Meinungen druden; und wenn 4 | 





Kiste Renaifſauce? 459 


thun, erreichen Nie nicht dieſe literariſch ganz pofiirliche Aufmerffamfeit. Yan 
de Velde glaubt aber, Kultur zu maden und daher zu mehr berechtigt zu 
fein al3 ein Schufter oder Schneider gleicher Bildung; und darin irrt er. 

Wie ein einfchneidendes hiitoriiches Ereigniß wird das Auftreten der 
Belgier in den neunziger Jahren geichildert und mit. dev Bedeutung der 
englifchen Bewegung verglichen. Auch diefe ift recht überfchägt worden, aber 
fte bedeutet denn doch etivad mehr als die brüffeler Heldenthat. Man fürgt 
wohl überhaupt nachgerade an, über das fünftlerifche Heldenthum ffeptifcher 
zu denfen, zumal wenn jid) damit der Begriff des Märtyrerthumes verbindet; 
in den meilten Fällen iſt das Märtyrerthum des Künftler3 vielmehr eine 
Folge der Vernachläſſigung gewiſſer unentbehrliher Qualitäten rein fozialer 
Arı als Fünftleriicher Fragen; Künftler, die, ganz abgejehen von ihrem 
Talent, in den Kampf ums Dafein das Bischen Lebensweisheit mitbringen, 
das jeder Schuiter oder Schneider eben fo braucht, gehen jelten zur Grunde. 
Gerade in dem weniger heldenhaften Auftreten der englifchen Künſtler der 
vorangehenden Bewegung liegt ihr Uebergewiht. Es war normaler. Es 
folgerte aus dem englifchen Empire mit der Sicherheit, mit der in Frankreich 
ein Louisſtil aus dem anderen hervorwuchs, und hatte jene latente ‘Popularität, 
die nur der Jahre bedarf, um zur wirflichen zu werden. 

- Eo groß in Brüffel das Verdienft des Einzelnen war, fo groß Die 
Kühnheit, deren e8 bedurfte, um fo geringer war die fulturelle Bedeutung 
dieſes Verſuches, weil e8 ihm an diefer latenten Popularität fehlte. Ic) hoffe, 
erklären zu können, wie ich es meine. 

Man fann fi mit einiger Phantajie einen Menjchen vorftellen, den 
e3 durch ein äußerſt perfönliches, ganz an feine Eriftenz gebundenes Mittel 
gelingt, die Menſchheit in einer nie gefehenen Weife zu beglüden. Man 
denfe an einen Wunderthäter, wie ihn die Religionfagen hervorgebracht haben, 
mit Abfiraftion der fittlihen Wirfung, an einen großen Hypnotifeur, der 
ich in den Kopf gelegt hat, fein Talent nur zum Guten zu benugen. Mag 
ein folder Menſch noch jo viel thun: er bleibt ein Phänomen und fette 
Wirkung verichwindet, praftifch gejprochen, wie eine Geifenblaje im Meer 
der Allgemeinheit, während der gar nicht phänomenale Dichter, Denker oder 
Künitler, der nicht3 Anderes thut, als feiner Zeit eine jener latenten Quali— 
täten zu offenbaren, die unmittelbar aus ihr folgen und unmittelbar auf Ne 
weiterwirfen, der Arzt, der innerhalb der Mifrobentheorie. etwas entjcheidend 
Neues entdeckt, der Induſtrielle, der innerhalb unferer induftriellen Mittel 
ein neues Gebiet auffchliegt, fulturell unendlich mehr bedeuten. Es fommt 
nicht lediglich auf das Geben an; man muß mit der Gabe Etwas anfangen 
fönnen; der Beſchenkte muß das latente Bedürfnig haben, das durch die 
Gabe beiriedigt wird. In unferen Falle find es nicht zu überjehende, ſehr 


35 





460) Die Zukunft. 


komplexe Verhältniſſe, die dieſen latenten Zuſtand bedingen. Die mar 
Patrioten laſſen ihn von lediglich nationalen Fragen abhängen; ſolche Ftage 
fpielen jidyer überall, wo es ih um Stil Handelt, mit, aber fie ſind ke. 
in unferem heutigen Leben, bei der Gemeinſamkeit der Mittel und der Pe 
dürfniffe nicht mehr enticheidend. Es wäre thöricht, van de Welde au jerr 
hiſtoriſchen Zufammenhangloiigkeit — er verfucht vergeblich, ſie in ſemen 
Buche durch feine Beziehung zum Rokoko zu überbrüden — einen Borwert 
zu maden. Man wird die größte Mühe Haben, den Zuſammenhang des 
Bunfen- Brenners oder eines Motorwagend von Dion Bouton ntit der Be: 
gangenheit nachzuweifen; und trogdem iind es recht nüßliche Gaben. Ex 
ernithafter Vorwurf kann nur in der Frage des reinen Nugens Tiegen. 

Tan de Belde hat jih in feinem Buch zu viel, namentlich aber ze 
wenig gethan. Seine Rolle in der beigifchen Bewegung iſt eine ganz ande: 
als die Williams Morris in der englifchen, mit der ein Vergleich nahe ler 
Morris ſchloß vorhandene Elemente mehr oder weniger geſchickt zuſammer 
van de Velde fchuf neue Elemente. Er nur allein hat weſentlich neue K- 
danken im die Sache hineingebracht. Die Namen der von ihm nut jchäger: 
werther Pietät citirten Sünftler bedeuten Dem gegenüber gar nichts. E 
wäre nicht ſchwer, nachzuweiſen, daß van de Velde eine der größten für: 
leriſchen Energien diefes Jahrhunderts if. Es hat felten einen Menidı 
gegeben, der fo fonjequent jeine Art durchzubrüden verftanden hat; man mit 
diefen Fanatismus des Individualitätbewußtſeins fonft nur in der Krie 
geſchicht. Ter Schatten, den er in einem darüber zu fchreibenden Bu 
werfen würde, ift gigantifcher, als es fich felbft die treufte Berehrerin Bi 
Künftlers heute träumen läßt. Nur dürfte man ein ſolches Bud nit 
außerhalb einer rein biographifchen Bedeutung ſtellen. Man kann von ib: 
in eben fo hohen Tönen reden wie von Millet oder Manet, aber man dar 
fi nie einfallen lafjen, zu glauben, daß er für feinen Kreis eben jo m 
bedeutet wie jene Künftler für ihren. Millet rettete eine große zeichnerildt 
Manet cine grandiofe malerifche Tradition. Wohl ift der Wirkungsfrei 
diefer Leute Mein; er ift daS winzige Spezialinterefje eines Spezialfaches, 33 
leider mit dem Heute unendlich wenig zu thun hat. Ban de Veldes Kt) 
ift viel größer; er liegt — oder foll liegen — zwiſchen den Bolen der Kott 
wendigfeit unſeres Daſeins; aber die Nolle, die er felbft darin bis Ful 
geipielt hat, iſt gering, nicht nur praftifch und für den Augenblid — Da M 
gleichgiltig —, ſondern auch in jeder theoretifchen Zukunft; fie ift jun I 
von der er hinwegdrängte, die Wolle, die etwa ein genialer Maler im 3 
tigen Leben ſpielt. Und der Fall liegt fo unglüdlih, dag man dem fer fl 
van de Belde im Intereſſe der Allgemeinheit wünfchen muß, feinen an M 
Einfluß zu gewinnen. Den Grund findet man in allen Xeußerumgen ' ec 









Eine Renaiſſance? 461 


thatfächlich vorhandenen Einfluffes, von dem zu reden ſich nicht lohnt, und 
in der Unzulänglichkeit der Mittel des Künftlers, fobald man ſich einmal 
ihn felbjt wegdenkt. Er ift eine höchſt interefjante äfthetifche Studie; zur 
tulturellen Bedeutung aber für die Allgemeinheit gehört gerade das Gegen- 
theil Deifen, auf das van de Belde ftolz iſt. Kulturell bedeutet vielleicht 
der Einfall des jungen bremer Dichters, dem es in den Sinn kam, ſich in 
München, ohne Nimbus, aber mit jehr viel Geihmad eine Wohnung ein- 
zurichten, die im idealer Form dem Bedürfniß entipricht, ohne im Mindeſten 
‘ originell zu fein, mehr als die verblüffende Driginalität des belgifchen 
Meiſters; und das Verdienſt unjeres Peter Behrens, dem e8 allein gelungen 
ift, die großherzogliche Ausftellung von modernen Häufern in Darmftadt vor 
der Xächerlichleit zu retten, ift größer als der Werth der ungleich tieferen 
Erfindung van de Beldes. Der viel umftrittene Sag von den Gefahren 
des Genies auf den Thronen der Völker feheint in diefem fleineren Reich 
eine beſtimmtere Beftätigung zu erhalten. Wenn man died Gebiet nicht mit 
der Lupe des Fachpatriotismus betrachtet, fcheint hier dag ftarfe Genie nur 
in geringen Dojen genießbar. Die Emanzipation vom Genie, eine unjerer 
größten Kulturaufgaben, viel wichtiger al3 die Emanzipation von dem Geld 
und anderen mit Schlagwörtern unfere® Sozialismus bezeichneten Mächten, 
ift hier die Grundlage jeder vernünftigen Entwickelung. 

Der ganze Sozialismus van de Veldes, auf den er zuweilen anfpielt, 
fcheint Spielerei; er ijt ficher der ftärkite der vielen Widerſprüche in diefem 
Menſchen; und es ift faſt unbegreiflich, daß fich feine ſcharfe Logik diejer 
Thatfache nicht bewußt wird. Kein monarcdifcher Abfolutift ift im Inſtinkt 
fo antifogial wie der Sozialift van de Velde. Es giebt nichts, was fo 
treffend die Symptome ariftofratifcher Einzelerfcheinung trägt wie diefe Kunfl. 
Nicht genug damit, daß fchon unfere ganze gute, moderne Malerei und 
Skulptur reiner Kaviar it: jet wird auch, wenn es nad van de Velde 
ginge, da8 Gewerbe zum Amateurfport. Nur für Amateure ift Alles, was 
er macht, beſtimmt, wegen des verwendeten Mittels nicht minder als wegen 
der ganzen, äußerſt fpezialifirten Eigenart. Denn man wird mir, um van 
de Beldes Kommunismus zu beweifen, Hoffentlich nicht den berühmten Ein- 
fluß entgegenhalten, den van de Velde in Deutſchland, Defterreih und in 
vielen anderen, ja, den meilten Rändern übt. Wenn e8 irgend etwas noch 
Niedrigered giebt als das Niveau, auf dem wir vor van de Velde waren, 
fo ift es das der üblen Kohorte von Fabrilanten, die & la van de Velde 
arbeiten und unfere Häufer innen und außen mit den felben Efel erregenden 
Wurmlinien überziehen. Unbegreiflih, daß jich der Meifter, der dieſe üblen 
Geiſter rief, dagegen nicht wehrt, daß er diefe Banaufen nicht brandmarkt, 
die zu beweifen verfuchen, daß feine ganze Sache nur Manier iſt, die aus 


85* 


ne 


462 | Die Zutimft. 


feinen perfönlichen Zeichen bie billige Bajis einer Diode zu machen verfuhez: | 
daß er nicht fonfequent genug ift, zu fagen: Ich bin allein und muß allm | 
bleiben. Bei feiner Charafteranlage wäre diefer Wunfc gewiß aufridtz. 
Das iſt die faulfte Seite de8 Buches van de Veldes, gegen die ſich bei mır 
bie heftigfte Oppofition regt. Mit großer Gefte weift er auf den unjäglicen 
Einflug feiner Ornamentik hin; und da er ihn nicht hindern kann, jagt er 
ftrahlend: Dies iſt mein Werk! 

Ich hätte Miichelangelo fehen mögen, der in einer größeren Sache ı 
ähnlicher Lage war, wenn man ihn auf den großen Einflug aufmerfiam ge⸗ 
macht hätte, der von ihm ausging; etwa auf die heiteren Engelchen übe 
den Thüren, die ſich bis heute erhalten haben und jegt von den belgiſchen 
Linien verdrängt werden. Ich glaube, er hätte, bei feinem Temperament, 
den unberufenen Kritiker die Treppe hinunterbeförbert. Und diefer italiemiide 
Unfug war denn doch noch ctwas Anderes als die brüfleler Renaifjanır. 

Ban de Velde Fonnte jchweigen; oder — Das war fchwieriger — 
abſchwören! Gerade das Gegentheil thun! Nicht bemeifen, wie er e8 in un: 
begreiflicher Ausführlichkeit verjuccht, daß die belgifche Linie befier ift als dir 
der Blumen oder Gemüje, fondern zeigen, daß diefe ganze berühmte beigiid: 
Linie an fi) fo gleichgiltig ift wie der fühne Schwung eines wohlgepflegten 
Fingernageld. Ich müßte fürchten, mid) auf die allerbanalften Gemeinpläre 
zu verirren, wollte id) nachweiſen, daß ein Ornament an lich überhaupt mic 
eriitirt, chen fo wenig wie es eine Siebe an fich giebt; immer gehört ein 
Objekt dazu. Die Frage, wie dies Objekt fchön Herzuftellen fei, ift nick 
don der Detailfrage des Ornamentes abhängig; es giebt fehr viele jchöne 
Dinge, die gar fein Ornament tragen, und bei ſolchen, die damit verichen 
find, kommt nicht in Frage, ob das Ornament an eine Blume oder an meine 
Großmutter erinnert oder überhaupt abftraft (?) ift. Ban de Velde wirft allen 
Gewerben, die vor ihm da waren, vor, daß fie die Unmahrheit ımd Unlogik 
in die Gemither fäten, weil fie uns zwangen, auf Teppichen zu geben, die 
Blumenbeeten glichen, und unfere Wände in Perfpeftiven verwandelten. Tas 
ift billige Meisheit. Ein Teppich, der feine andere Qualität hat als die, 
einem Blumenteppich zu gleichen, oder eine Wanddeloration, die lediglich den 
Zweck hat, unfer Auge zu täufchen, kommt hier überhaupt nicht in Frage. 
E3 ift denn doch arg naiv, in dem Gewerbe der Bergangenheit nur | '": 
naturaliftiichen Mätzchen zu ſehen. Was uns an den guten uns überliefe ı 
Sachen freut, ift juft der Stil und das prachtvolle Metier. Die brir 
in den Genuß Elemente nit, die das Eujet diefer Dinge ganz in den Hir 
grund drängen. Jh muß fagen, dar mir ein guter Gobelin von War 
immer noch lieber iſt als ein fchlechtes periifches Muſter der felben ° 

Es wäre bedauerlih, wenn die endlich errungene Freiheit vor 


Eine Renaijjance? 463 


Vorurtheilen nur, dazu dienen follte, uns im neue und nur nod engere 
Theorien zu flürzen. Wenn es aber etwas Unantaſtbares auf diefen Gebiet 
giebt, jo ijt es das Geſetz der Logik und Konftruftion. Hier, in der ſcharfen und 
zeitgemäßen Erfaflung dieſes Geſetzes, Liegt die Kultur; nicht in den Schlangen= 
linien. Gerade von diefen Gefegen aber hat ſich van de Belde fo weit wie 
möglid entfernt. Es giebt nichts Unfonftruftivere als jeine Möbel, die 
am Deutlichiten feine Eigenart zeigen. Man findet eine Unmenge Details 
bei ihm, die aller vernünftigen Verwendung von Materialien widerfprechen. 

Aber meine Kritif ijt keine Klippſchule. Dieler fcharf umriflenen 
Perfönlichteit, deren fünftlerifcher Wille fi) elementar aufdrängt, war erlaubt, 
was bei Eeineren Verbrechen wäre; und unfer fchöner Perſönlichkeitkultus 
forgte dafür, daß man ihr aud da folgte, wo jie hart an Unmöglichkeiten 
grenzte. Sie gab uns dafür, Statt logifcher Befriedigung, ſtarke Impulſe 
und lehrte und auf einem neuen Felde das Wirken der Berfönlichkeit Ichägen. 
Die Anerfennung dafür it nicht ausgeblieben; es wird felten einen Künftler 
gegeben haben, der im fremden Land fo fehnell zur Berühmtheit gelangt ift. 
Aber gerade deshalb erwächit Denen, die an diefer Anerfennung betheiligt 
waren, dad Recht zur Oppojition da, wo die Wirkung des Erfolges den 
Künſtler auf Abwege treibt. Groß wäre, wenn van de Velde heute, wo er 
ſichs leiſten kann, auf die Fehler feiner Vorzüge verzichtete; denn gerade in 
diejen Fehlern hat die banale Welt am Meijten feine Größe gefehen; wenn 
er aufhörte, im Sinne diejer Welt originell zu fein, um im höchften Sinne 
werthovoll zu werden. Das wäre cine befiere Antwort als der fümmerlice 
Berjud, ich zum Haupt feiner traurigen Epigonen zu maden. Uebrigens 
geht er in der Auffafiung diefes Epigonenthumes etwas zur weit. Die dreöbener 
Ausstellung, in der zum erſten Male in Deutſchland Werke van de Veldes 
zu chen waren, gab nicht, wie er behauptet, den Anfang zur deutfchen Be— 
wegung. Ich zum Beifpiel hatte ſchon vorher mande Zeile über beutfche 
Gewerbekünſtler gefchrieben, Folglich mupte es folche Künftfer geben. In 
München und an anderen Orten regten fich fchon manche verfprechende Ber: 
fuche, die nicht8 von van de Velde wußten, und thatfächlicy ijt auch heute 
der ernjthafte Theil der deutichen Künitlerfchaft von ihn unberührt. Beein: 
flußt wurden nur die Leute, die nichts Beſſeres zu thun hatten, die Mafle, 
die immer einen Beeinfluffer braucht. Auf die Beſſeren war fein Wirken 
mehr moralifcher Art; er gab ihnen Muth, e8 in ihrer Art chen fo zu machen. 
Aud) rein praftiich wird Manches in die mehr oder weniger dauernde Formen— 
welt der Gegenwart übergehen. Der vüdblidenden Gefchichte werden diefe 
Details, die der heutigen Fachſchriftſtellerei als unendlich wichtig erfcheinen 
mögen, als nebenſächlich verjchwinden. Sie wird unjere Verkehrsmittel, 
unjere Maſchinen, unfer Handelägetriebe regiitriren und die künſtleriſchen 


464 | Die Zutunft. 


Verſuche zur Hebung des Gewerbes ala Künfteleien betrachten. Zie mn 
erftaunt fein, daß eine fo konſequent vorgehende Zeit im häuslichen Gewerke 
nicht eben jo bewußt fortfchritt und des fünftferifchen Nim bus bedurfte, m 
etwas höchſt Selbfiverftändliches zu thun. Man wird ſich wundern, wi 
man über fo einfache Dinge fo viele Worte machen fonnte, während 
unſere induftriellen und wifenfchaftlichen Erfolge fo klanglos vollzogen, ur! 
man wird ſchließlich in diefer ganzen Aefthetif der vielen Worte nur be 
ataviftifche Zeichen einer Kafte fehen, die jo thöricht war, von dem Male. 
Bildhauer, Dichter eine Kultur zu erwarten, die auf natürlicderem Ber 
längſt entjtanden war. 


Paris. Julius Meier-Graefe 


— 


Elfte Rangklaſſe. 


5)" junge Fritz Murmann jah endlich fein langjähriges Sehnen erfült: 
er war einem neu gebildeten Departement als feſt angeftellter Beamtr 
zugetheilt worden, mit eincın Gehalt von... na, an die Höhe des Gehalte⸗ 
wollte er vorläufig lieber noch nicht denfen; erſt die Freude der feſten Anſtellum 
auskoſten. (Es iſt dod) ein erhebendes (Sefühl, mit ruhiger Zuverjicht im dee 
Zukunft jehen zu können, des Vorrückens und der Penfionberechtigung fie, 
wenn diejer Ausblick jelbjt nur von der Niederung einer elften Rangklaſſe er 
noffen wird. Zumal, wen man eine Frau hat. Bei diejen Herrfichfeiter konnt 
er es jchen in den Kauf nehmen, von den neuen Kollegen nicht jehr freundlid 
angejchen zu werden. —— 

Das thaäten ſie denn auch gründlich. Einen „Neuen“, den Niemand font, 
von weiß Gott wo hereinbekommen, iſt eben eine böſe Sache. Kann man wiſſen. 
welcher Protektor hinter ihm ſteht? 

Fritz Murmann drückte ſich in die Ede und ſuchte durch das allerzuvor 
kommendſte Weſen die Herren mit ſeinem Daſein zu verſöhnen. Ihm war 
dieſes ſtreug geregelte Beamtenleben — in ſeinem innerſten Innern wagte cr, 
es „Kaſtengeiſt“ zu nennen — ganz fremd und er fühlte ſich recht unbehaglid. 
Ein Glück war für ihn, daß er einen früheren guten Belannten im Departement 
fand, der ihn mit großer sreundlichfeit empfing. Sie waren zwar nid 
einem immer zuſammen, da der Freund ſchon ein höheres Arbeitgebiet h 
aber es fanı doc zuweilen zu einem wohlthuenden Meinungaustauſch zwi 
ihnen. Mich hatte Fritz Murmann dem Anderen Icon eine Gefälligfeit erwe 
fünnen. Vor dem Schreibtiſch des Anderen ftand ein Seffel, der an entiprede: | 
Höhe mehr zu wünſchen übria ließ als an jtilgerechter Unbequemlichkeit, 
wahres Marterinftriment fir eine ftarfe Figur unter Mittelgröße, wie "- 
















Elfte Rangftaffe. 465 


Unglückliche zufällig hatte. Fritz Wurmann war groß und, als gewandter Turner 
und fchüchterner Neuling im Amte, minder empfindlich. Gr erbot fich, zu taufchen, 
und überließ dem Freunde feinen höheren Seilel. 

Kine Weile hatte es Fritz Murmann gejchienen, als wäre das Benehmen 
feiner Kollegen minder jchroff geworden; doch merkte er bald, daß cr fid) ges 
täuscht Hatte. Geradezu Eijesluft ummehte ihn. Ueberall begegnete er miß- 
trauiſchen Blicken, mehr denn je fah er fich gemieden. Anzügliche Bemerkungen 
wirden hörbar über „Leute, die ſich was Bejleres dünken und lieber draußen 
bleiben follten.“ Sprachen Zwei und er trat dazu, jo wurde das Geſpräch raſch 
abgebrodgen. Am Freundlichſten war nod) der Diener, aber auch nur, wen er 
ihn allein ſah; dann nahte er ihm jogar mit unterthäniger Höflichkeit. Sobald 
aber Andere in der Nähe waren, machte er einen weiten Bogen um Fritz Murmann 
herum nnd hörte nicht, wern Der ihm Etwas zu jagen hatte. 

Ter arme junge Mann war ‚verzweifelt. Womit hatte er diefe Daltuny 
verdient? Er fonnte ſich mit gutem Gewiſſen jagen, daß er fleißig, gefällig, 
pünktlich und gewiljenhaft war wie Wenige. Seine Frau jah ihren Hatten mit 
banger Sorge immer verjtiimmter und diljterer werden. Das erjte Gehalt empfing 
jie mit Thränen, die ihr nicht nur deffen Stleinheit erpreßte. Die ınit Freude 
begrübte Stellmmg war eine U.nelle des Kummers geworden. Yeider war auch 
Fritzens einziger Freund, weil er erfrantt war, auf Urlaub gegangen. So hatte 
der Arıne feinen Menſchen mehr, der ihm rathen, ihn aufrichten konnte. Das Ziſcheln 
md die mißbilligenden Blicke der Anderen wurden immer unerträglicher. 

Eines Tages hörte er den Chef mit Donnerſtimme nach Bajtian, dem 
Tiener, rufen. „Aha, jchlagendes Wetter heute“, murmelten die Herren. 

Bildete Ah Ari Murmann nur ein, dab fie wieder Alle nach ihm 
jahen? Er jaß der Thür am Nädjiten, ſo hörte er auch, wie der Chef den 
Diener auſchnauzte: 

„Rufen Sie mir den Lümmel vom Departement VI.“ 

Er konnte ſich, trotz Wochen langer bureaukratiſcher Zucht, eines innerlichen 
Lachens nicht erwehren. Alſo beſaß der gute Baſtian ſolche Perſonalkenntniß, 
daß er genan wiſſen mußte, wer der „Lümmel von Departement VI“ ſei. Welche 

Empfindungen hatte er aber, als Baſtian, ohne zu zögern, arraden Weges auf 
ibn zuging und ihn zum „Geſtrengen“ befahl. 

„Was erlauben Sie fich“, wollte Fritz Murmann rufen: doch zu rechter 
Zeit fiel ihne noch ein, daß es „gefränfte Ehre“ in der elften Rangklaſſe noch 
nicht geben dürfe. Alſo hinunterſchlucken. Cr hatte doch jchon viel gelernt. 

Der Chef empfing ihn äußerſt ungnädig: Fritz Murmann hatte einen 
Aftnicht amtsitilgemäß abgefaßt; er hatte jich erlaubt, eine eigenmächtige ftiliftiiche 
Wendung zu gebrauchen. 

„Ueberhaupt“, fuhr der Chef ihn an, „nehmen Sie ſich zu viel Frei— 
heiten heraus und lebergrifſe, ich habs ſchon gehört. Sie ſind ein Streber!“ 

„Ich, ich ... weiß wirklich nicht ...“ ſtotterte Fritz Murmann beſtürzt. 

„Natürlich, Das habe ich ja gleich gewußt, daß Sie nicht „willen“ werden! 
Aber wir wiljen! Wir haben Augen und Ohren und Menichenfenntuiß, wir 
jehen Ihre geheimen Schleichwege, den Mangel an Subordination, auch wenn 
wir lange dazu ſchweigen. Zie find ein Streber; und ſolche Peute können wir 


466 Die Zukunft. 


hier nicht brauchen! Hier herrſcht Gerechtigkeit und Ordnung! Mierfen Sie ſid 
Das, junger Mann!“ 

Eine Frau zu Hauſe und Penſionberechtigung ſind cin treffliches Beugum—⸗ 
mittel für Mannesſtolz. Widerſprechen darf inan ja nicht, in keiner Hangklar. 
Fritz Murmann wankte jchiveigend an jeinen Pla zurück. Aber innerlic war 
er verzweifelt, gebrodyen. Was jollte er thun? Mtußte er nicht doch Ichlier.id 
jeine Entlaſſung einreichen? " 

Endlich kam jein Freund wieder ins Amt. Auch er war kühler in ſeinen 
Benehmen. Natürlich. Fritz Murmann wunderte ji) über nichts mehr. Er 
faßzte abet doc) den Muth, ihn um jeine Meinung zu fragen; was er begangen 
haben fünne und was er thun ſolle. Der freund war etwas verlegen. „1, 
jehen Sie, da iſt Verſchiedenes. Sie find noch nicht von dem richtigen Bureaı- 
geiſt bejeelt. Zum Beiipiel haben Sie hier eine Dede...“ 

„Ein Geſchenk meiner Frau: was iſt damit?“ 

„Ja, recht ſchön: aber die Dede ift rory und in dem zimmer bat Alle 
grün zu ſein. Und vor Allen: für die elfte Rangklaſſe giebt es überhaupt md 
feine Tiſchdecken. Tod Das nur nebenbei. In der Hauptſache ... ich hab: 
es herausgebracht und wollte mich ſchon entichuldigen, denn ich kanns nic 
leugnen: da bin ich Jchuld am Ihrer ſchwierigen Stellung.” ' 

„Was, Zie, Doktor?“ unterbrad ihn Fritz Murmann bejtürjt: „ia 
ſchadet es mir vielleicht, das; id mit Ihnen verfehre oder vielmehr Sie mit nr” 

„Ich glaube nicht, daß Ahnen Das gerade ſchadet,“ entgegnete der Andere 
ernſt, „obgleich es vielleicht, nit Nücjicht auf Ihre Nollegen, beifer wäre, unſeren 
Verkehr etwas förmlicher zu geftalten. Es tft nod) etwas Anderes; eigentlih 
überrajcht nich die Zache nicht. Ich bin länger im Amt und hätte es wiſſen 
ſollen, was für Folgen . . .“ 

„Nun, was?“ forſchte Fritz Murmann ungeduldig. 

„Ja, ſehen Zie, Herr Murmann, Sie hatten die Freundlichkeit, meinen 
Seſſel mit Ihrent zu vertauſchen. Nun iſt Das aber ein Seſſel der neunten 
Rangklaſſe! Sie haben ſich da alſo vor den Anderen, ſozuſagen, Etwas ange 
maßt, das nicht zu Ihrem Range paßt. Das iſt Ueberhebung, Rebellion.“ 

„Um des Himmels willen,“ ſchrie Friß Murmann, „in meinem Leben 
werde id) hier keinem Menſchen mehr gefällig fein! Da, nehmen Sie üͤhren 
Unglücksſeſſel, ehe ich verritet werde! Ich laſſe Ihnen meinetwegen noch ein 
Polſter darauf machen, --,aus der Tede meiner Frau.“ 

„Verzeihen Zie, daß ich Ihnen ſolche Ungelegenheiten bereitet habe‘, 
entgegnete der Andere janft. „Es tbut mir jehr leid! Tas Roljter nehme ic 
mit Tant ans id) kann es ſchon ristiren, ein Polſter zu haben, und für Sie 
iſts beſſer, wenn keine Dede daliegt. Ber uns iſt es einmal nicht anders.“ 

Fritz Murmann war gerettet. Einmal wurde er zwar bet eint. 
virtimmg mod) übergangen, wahrjcheintich, um fein Ztreberthun voljtän 
unterdrücken, doch allmählich verlor jih das Miſttrauen. Er gewöhnte jo 
den Gang im Gleiſe der Amtsregeln, der Seſſel des Anſtoßes war au 
Wege geräumt. Und aus dein fehwarzen Schaf wurde ein weißes. 

Wien. Helene Mige 


r 


> 





Ehryianders Händel- Einrichtungen. 467 


Chryſanders Händel-Zinrichtungen. 
8 3 war vorauszuſehen, daß nach dem Tode des großen Händelforſchers 
EX Friedrich Chryfander feine Gegner ‚jede Gelegenheit benügen würden, 
um jein Werk zu vernichten. Da ich zu Denen gehöre, die durch längeren 
perfünlichen Verkehr mit dem Nerftorbenen als Eingeweihte gelten, und des⸗ 
halb vielfach interpellirt werde, jo fafle ich noch einmal furz zufammen, was 
au beachten ift. . 

Die Art, wie Händel aufzuführen ift, mußte darum jtreitig fein, weil 
jich innerhalb der Icgten anderthalb Fahrhunderte in ter Mufif die größten 
Ummöälzungen vollzogen haben und weil die Tradition der händeljchen Praxis 
verloren gegangen war. Bei der Benugung der Driginal-Rartituren 
Händel jtelte ich Heraus, daR fie der Ergänzung bedurften. Dieje 
Ergänzung war zu Händels Zeiten etwas ganz Selbftverftändliches und jedem 
Muſiker Geläufiged. Da die Gegenwart nichts Genaues darüber wußte, 
begann fie, auf ihre Art zu ergänzen. Nach verichiedenen Vorgängern, zu 
denen ſchon Mozart gehörte, war der verdienſtvollſte Arbeiter auf dem Gebiete 
Robert Franz. Sein Fünftlerifches Feingefühl und das intenlive Studium 
der alten Kunſt erlaubten ihm, in der Ausfüllung des muſikaliſchen Satzes 
im Stil jener alten Meiſter, vornehmlich Händel3 und Bachs, zu verfahren. 
Er fand darum die Anerfennung von Männern wie Liſzt und wirfte für 
die Wiederaufnahme der alten Werfe viel Gutes. 

Nun gelang e8 aber den langjährigen Korfchungen Chryfanders, genau 
fejtzujtelleu, in welcher Weife zu Händels Beit die Werke aufgeführt worden 
waren und wie man verfahren müſſe, um jie in feinem Geiſt wieder zum 
Leben zu erweden. Und dabei ergab jich, dag die Einrichtungen von Robert 
Franz, fo tüchtig fie an jich waren, zu der alten Praxis in größtem Wider- 
{prudy ftanden. Sie gönnten nicht nur dem alten Fundament, Orgel und 
Cembalo, nit den Antheil, den fie fchlechterdingS haben mußten, fondern 
führten auch Inſtrumente wie die Klarinetten cin, deren Klang der Mufit 
Häntels völlig fremd ift. Dagegen beachteten fie nicht das Verhältniß, in 
dem die Bläferbefegung zur Streicherbefegung ftehen mußte, wußten nichts 
davon, daR die Sologefänge der Oratorien nach den VBorfchriften jener Zeit 
unbedingt folorirt werden mußten, und verwilchten fo Händels Abjichten in 
vielen Fällen bi8 zur Unfenntlichfeit. Daraus ift jenen Herausgebern fein 
Vorwurf zu maden, denn damals eriftirten die Einrichtungen Chryfanderd 
noch nicht für die Deffentlichkeit. Aber jest iſt die Reaktion gegen ihn 
unfünjtleriich und unwiſſenſchaftlich zugleich. 

Selbitverftändlich it Händel auch in den alten Bearbeitungen nicht 
tot gemacht und die „verjchleierte Technik“ iſt Fein Unglüd, das unerträglich 


468 Die Zukunft. 


wäre, wenn man ich ihrer bewußt bleibt, Wo in einer Fleinen Stat dad 
thenre Notenmaterial der alten Bearbeitung da ift und das möthige Sc 
fehlt, fol man natürlich, ehe man die Aufführung ganz unterläft, ſich m ' 
der ungenauen Reproduftion begnügen und hoffen, daß man jpäter ok 
anderswo mal eine gute in der Driginaftechnif haben Tann. Aber nnier 
führenden SKonzertinftitute und die ernite künſtleriſche Kritik follten doch 
wiſſen, was jie zu thun haben. Und Das wiffen fie eben leider nicht üheral 
Wo die Möglichfeit vorhanden tjt, Händel in der chryfanberfchen Form aui— 
zuführen, und wo man trogdem im alten Schlendrian bleibt, ift einfach, eim 
Berfündigung am Geifte Händeld zu fonftatiren. Das jollte ſtets mt 
nadten, energifchen Worten gefagt werden. Was würden wohl bie Yeutz, 
die jett bei Händel ohne Gembalo und mit zwei Oboen wirthichaften, jagen, 
wenn ihnen Jemand das Heldenleben von Strauß mit vier erften Geigen, 
drei Hörnern, ohne Harfe und Tuba vorfpielte? Ich denfe, mar würde 4 
einen Skandal und eine fünftlerifche Verirrung nennen. Oder wenn \jemanl 
aus Wagners Partituren alle erescendi herausftriche oder in Beethoren 
Sonatenfägen bei der Wiederkehr der Themen die Melismen fortliefe un 
Alles fo fpielte wie bein erjten Auftreten de8 Themas? Man mürde ihn 
jede fünftlerifche Würde abfprechen. Iſts denn bei Händel anders? Es il 
mit wiſſenſchaftlicher Unfehlbarkeit nachgewieien, daß die Berzierimgen bei 
der Wiederholung, die ſpätere Komponiſten augfchrieben, von Händel unbe 
dingt gefordert wurden, obwohl fie nicht da flanden. Das lerrte damals 
jeder Eünger. Und da hilft fein Zetern: „Das ift geſchmacklos.“ Lemi? 
lieber erjt einmal ordentlich fingen und hören! 

Ich habe vor Jahren Chryſander einmal den Vorſchlag gemadt, & 
möge drei händeljche Arien mit dem Titel herausgeben: Drei Arie ven 
Händel mit Verzierungen herausgegeben von Chryfander. Er hats leider 
nicht gethan. Wie würde fi die Kritik über ihm geftürzt, die Arien mit 
"den vorhandenen Triginalausgaben verglichen und gefchrien haben: „Echt 
jo geht diefer Menſch mit unferem Händel um. Nicht wiederzuerkcnnen. 
Dieſe Verunftaltung! Muſikdirektoren Deutſchlands, wahrt Eure heiligiten 
Güter.“ Und cin paar Wochen danach hätte der Alte von Bergedorf Lachen) 
aus feiner Druderei das Fakſimile des händelfchen Autographs hinausgeſandt; 
die drei Arien hatte Händel nämlich felhft in einer Mufeftunde oder auf 
Munich eines Sängers fo verziert, wie ers haben wollte. Schade, 
Chryfander den deutfchen Kritifern diefe Blamage erfpart Bat. 

Nun, fie beweifen ja ihre Unmiffenheit fo fhon oft genug, wer N 
Häntel geht. Der neufte Sport, den fie treiben, ift dire Konftruftion 3 
Gegenſatzes zwifchen praftifchen Mufifer und Muſikgelehrten. Ehryi 1 
it ein Dewfitgelehrter; die Aufführung großer Chorwerke ijt aber eine en | 


Chryſanders Handel⸗Einrichtungen. 469 


praktiſche Aufgabe, von der der alte Stubenhoder nichts verſtand, ergo, — 
laßt nur unfere Dirigenten machen! Was dabei herauskommt, will ich Lieber 
nicht befchreiben. Aber konſtatiren will ich, dag Chryfander mehr von Mujits 
praxis verftand ald mancher Sapellmeifter; und wenn er feine fyumphonifche 
Dichtung hätte aufführen können, fo war er in technifchen Fragen bei Händel 
um fo mehr zu Haufe. Das ift doch hier das Ausſchlaggebende. Wenn 
- freilid Einer, der muſikhiſtoriſche Bildung offenbar nicht hat, heutzutage 
fchreibt: „Wie Händel aufgeführt wurde, weiß man nicht; alfo laßt unfere 
SKonzertpraftifer ihre Erfahrungen benugen und die Werke möglichft fo herans- 
bringen, wie jie jegt noch wirken“, fo it Das eine fehr unangebrachte Ber: 
allgemeinerung. Es iſt allerdings fehr bequem, aus einem bejchämenden: 
„Das weiß ich nicht” ein entfchuldigendes: „Das weiß man nicht” zu machen. 
Aber: man weiß es eben; Der nämlich, der fich drum befümmert und Etwas 
gelernt bat. Und fo konnte mit Recht neulich ein Kritiker, der Chryfander 
als bloßen Mufikgelehrten bezeichnet und ihm die fachfundigen praftifchen 
Muſiker gegenüber ftellte, mit den prächtigen Worten abgefertigt werben: 
„Händel und der alten‘ Muſik gegenüber hat man nicht zu unterfcheiden 
zwifchen Mufifgelegrten und Fachmuſikern, fondern zwifchen gebildeten und 
unmiflenden Leuten.” 

Zu den unwiſſenden Leuten, die aber in allen Dingen, beſonders auch 
in der Kunſt, mit beneidenswerthem Freimuth Behauptungen aufftellen und 
den apodiktifchen Kanzelton anfchlagen, gehören leider auch fehr viele Theo— 
(ogen. Nachdem e3 jegt felbft bei einigen Univerfitätprofefioren Mode ge: 
worden ift, in einer unfachlichen Weife, die jich die übrigen Fakultäten ver: 
bitten würden, ohme jeden wiſſenſchaftlichen Ernſt Gegner abzuthun, Tann 
man ih freilih nicht wundern, wenn die dem wiflenfchaftlichen Betriebe 
ferner ftehenden Geiftlichen im Amt ſich gemüßigt fühlen, von ihrer Bered- 
famfeit auch bei Materien Gebraud) zu machen, über die fie fein Urtheil 
haben. So hat jüngft in einer deutfchen Stadt, als ein wilfenfchaftlich vor— 
wirt3 ftrebender SKritiler bei einer Hänbdelaufführung darauf hinmwies, daß 
man ftatt der benutzten Einrichtung von Robert Franz doch die Chryſanders 
wählen möge, der dortige erfte Geiftliche in einer Flugſchrift eine Daritellung 
des MWerthverhältmifjeg der beiden Einrichtungen gegeben, die von Feinerlei 
Sachkenntniß getrübt war. Man muß gegen diefe Anmaßung theologiſcher 
Kreite, die von ihren geiftig durchgebilbeten Fachgenoſſen ſelbſt aufs Schärffte 
veruriheilt wird, einmal um fo energifcher Stellung nehmen, al3 bei dem 
großen Einfluß, den folche behördlich fanktionirte Stinnmen Haben, viel Unheil 
aus der Verbreitung ihrer Anjchauungen entftehen fann. Was würden die 
Herren wohl fagen, wern ich etiwa über Ritſchls Theologie oder über Har- 
nad Dogmengeſchichte, ja, ſelbſt über einfachere Materien nicht etiwa meine 


470) Tie Zutunft. 


eigene Meinung haben, fondern fogar öffentlih gegen Fachgelehrte in rinem 
Tone reden wollte, der jene Ignoranten befehren folle? „Ja, Bauer, Ta 
ift ganz was Andres!” Nein; auch zum fachlichen Urtheil über die Hände 
Frage gehört eine ganz umfafjende allgemein muilalifde VBorbildung un! 
langes Spezialitudium; und es it genau fo unverzeihlich, wenn hier ce: 
Dilettant mit ſeiner Stammtifchweisheit öffentlich gegen die Männer v.:: 
Fach auftreten will, wie wenn ein Laie Pamphlete gegen die moderne Theolog 
vom Stapel Tiere. 

Es ift jelbftverftändlic, dar aud die Flugſchrift, die zu dieſen X: 
merfungen Anlaß gegeben bat, den „Künjtler* Franz gegen den „BDiitorifer“ 
Ehryfander ausfpielt und ſich fogar nicht jcheut, Mozart, weil er Händr!3 
Zeit näher gewefen fei, als beſſeren Ergänzer Händels hinzuftellen als Chry 
ſander. Als ob nicht gerade hier der Grund allen Streites läge, weil die 
auferordentlichen Unterſchiede zwiſchen der Muſilpraxis Händel8 und der, in 
die Mozart hineingewachſen war, eben da3 Meifverftehen der Intentionen 
Händels verichuldet haben! Eine gleich theologifche Beweisführung ift3, der. 
gutgchapten Franz Liſzt plöglich al8 Antorität zu vitiren und fein “ob ber 
Pearbeitungen Franzs gegen Chryjander auszunügen, der damals mit Tcinen 
Einrichtungen noch gar nicht auf dem Plan erfchienen war. 

Melde Grunde führen num eigentlid zu eier ſolchen Kampfesweiſe⸗ 
In früherer Zeit mögen mancherlei Verlegerintereffen mitgelpielt haben, per 
fünfiche Beziehungen, alte Liebe und ähnliches Menſchliche. Dazu ſchließlich 
der Haß gegen alles Neue, gegen alles Wiffenfchaftliche, gegen Alles, was 
feinen Schlendrian duldet. Es ſind viele üble Elemente, mit denen zu 
kämpfen iſt. Mögen die deutichen Konzertinftitute, die auf ihre Würde 
halten, mag die deutjche Kritik, die beitrebt iſt, ſich allmählich zu der Höhe 
fachlicher, wiſſenſchaftlich und fünjtlerifch gleich durd;gebildeter Gründlichkett 
aufzufchwingen, ſichs nicht verdrieren laffen, immer weiter zu kämpfen un) 
einzutreten für eine der wichtigiten Errungenſchaften, die die deutjche Funit 
im legten Jahrzent gemacht hat. Gegenüber der böswilligen Verdächtigung 
aber, die auch in jener theologischen Flugichrüit fteht, dak wir reklamehaite 
Propaganda für Chryſander trieben, verdient feftgeitellt zu werden, daß der 
alte Chrylander nicht nur unglaublide Opfer an Heit, Geld und Arbeit: 
kraft gebracht, ſondern ſich auch jeder Verherrlichung ftet3 entzogen bat und 
daß wir, die wir feine Schüler ind, und dar alle fee Mitarbeit, 
einem Wanne wie Hermann Kretzſchmar an der Zpige, nichts bezweden 
eine möglichlt reine und ftarfe Wirkung des händelichen liniverfalgerttea 
unjere deutsche Kunſt. 

Leipzig. Dr. Georg Goch! 


Fermente und Altohotgährung. 471 


Fermente und Alkoholgährung. 


Lehre von den Fermenten iſt eins der intereſſanteſten Kapitel der 
allgemeinen Biologie. Der Schleier des Räthſelhaften, Geheimnig- 
vollen liegt über diefen eigenartigen Stoffen, die, ınit einer zauberhaften 


Kraft begabt, unter den ruhenden Molekulartompleren die größten Ver: | 


wirrungen anrichten, die gemwaltigften chemifchen Umfegungen bewirken und 
fich ſelbſt ſcheinbar an diefem Prozeß nicht beiheiligen. Es dünkt und ein 
Wunder, wenn wir fehen, wie eine fefte Schicht von Bluteiweiß (Fibrin) fich 
binnen wenigen Stunden unter der Einwirkung eines fauren Ertraftes aus 
Magenſchleimhaut auflöft und in feiner Natur energifch verändert; um fo 
wunderbarer, als ſolche Eiweißkörper gegen chemifche Eingriffe fonft ziemlich 
reſiſtent ſind. Diefes Ertraft enthält eind der fogenamnten Fermente, dad 
Pepiin; ein anderes finden wir in dem Speichel, ein ganz ähnliches in fei= 
menden Gerftenkörnern, da8 Stärke fpaltet, und andere Fermente der ver- 
ſchiedenartigſteu Wirkung überall im Thier- und Pflanzenreich weit verbreitet. 
Die Geſchichte der Lehre von den Fermenten hat höchſt fonderbare 
Wandlungen durchgemacht. Das Wort fermentatio drüdte im Alterthum 
zunächſt nur die bildliche Vorftellung von etwas Gährendem, Wallendem aus 
und wurde von den antiken. Schriftftellern im MWefentlichen nur für die alfo- 
holifche Gährung und in weiterem Sinne auch für Fäulnigprozeffe ange: 
wendet. ALS dann im Mittelalter die geiftige Klarheit der Alten in einen 
Wuſt von myſtiſcher Schwärmerei und unklarer naturphilofophifcher Betrach⸗ 
tung verfanf, als Jatro-Chemiker und Alchemiften ſich al3 einzige Vertreter 
ber „Naturwiſſenſchaft“ breit machten, da begann auch eine lächerliche Spielerei 
mit dem Wort Ferment. Nicht nur wurden alle Vorgänge, die mit Gas— 
entwidelung verlaufen, Fermentprozeſſe genannt: ſchließlich wurden aud) 
allerlei muyftifche Dinge mit dem Wort Ferment bezeichnet. Nur jehr lang— 
jam vermochte die nen beginnende wiffenfchaftliche Erkenntniß jich durch diefen 
Wal von ſpekulativem Unjinn Bahn zu breden. Man lernte allmählid) 
erfennen, dag in der altoholifchen Gährung, dem Prototyp ber Ferment⸗ 
prozeſſe, ein leicht faßbarer chemifcher Vorgang, nämlich die Bildung von 
Alkohol und Kohlenfäure aus Zuder, zu fehen fei; und Stahl, einer der 
genialjten Chemiker des achtzehnten Jahrhunderts, machte ſich ſchon eine Vor: 
ftellung von dem Wefen eines Fermentprozeſſes, die, wenn auch, dem damaligen 
Etande der Kenntniffe angemefjen, nur in ziemlich rohen Umriffen prägijirt, 
doch unferen modernen Anfchauungen in überrafchender Weife nah kommi. 
Stahl nahm an, daß durch die Fermente in dem zu verändernden Material 
Grfgütterungvorgänge eingeleitet würden, die durd ihre Fortleitung von 
Theilchen zu Theilchen die charafteriftifche Umferung bewirften. Die nächſten 


472 Die Zukunft. 


achtzig Jahre brachten feinen wefentlichen Fortfchritt. Freilich wurden 2 
diefer Zeit die chemifchen Vorgänge bei der Alkoholgährung und eimigen we: 
wandten Exfcheinungen durch die Mafjifchen Arbeiten von Laurent Lavoifin 
Gay⸗-Luſſac und Anderen mit den neu gewonnenen Methoden der eraltıs 
chemiſchen Meſſung in allen Einzelheiten aufgeHärt; doc lag gerade die 
Erperimentatoren das Feld der theoretifhen Spekulation jo fern, daß ſie %% 
um eine Theorie der Fermente faum Sorge machten. 

Ein plößticher Umſchwung trat gegen Ende der dreißiger Jahre ei. 
Maren bis dahin nur einzelne Fermentationen befannt: die Alkohol-, Ein. 
Milchſäuregährung u. f. w., jo wurden jegt neue, überrafhende Entdedunge 
auf diefen Gebiet gemadt. In den bitteren Mandeln fand Robiquet emen 
Stoff, den er Amygdalin nennt, und ein darin enthaltenes „FFerment“, dei 
diefes Anıygdalin in eben jo charakteriftifcher Weife zu zerlegen im Stande 
ift wie das Hefeferment den Zuder. Unmittelbar darauf fand Schwann m 
Magenfaft, Corvifart in der Bauchipeicheldrüfe Fermente, die Eiweikförger 
zerlegen, Leuchs im Mundſpeichel, Payen und Perfoz in Malzkörnern ein Stätte 
fpaltendes Ferment. Liebig ftellte zum erften Mat feit Stahl eine Theorie der 
Fermentprozeſſe auf. Er acceptirte im Wefentlichen Stahls Anjicht und feste 
nur an die Stelle diefer etwas unflaren Vorftellung einen präziferen Begrit. 
Er nahm an, daß eine chemifche Zerfegung des Fermentes, auf das Subftrei 
fortgeleitet, auch dort die Zerfegung bewirkt. Liebigs Theorie follte für al 
Fermentationen gelten; doch brachten zwei Umftände fie fehr bald zu Falle. 
Erftens erwies ſich Liebigs Vorausfegung einer chemifchen Zerſetzung dei 
Fermentes felbft als unhaltbar; die Fermente bleiben bei diefen Umfegungen 
unverändert. Zweitens aber wurde durch die Entbedung von Schwanu und 
Cagniard:Ratour, daß die Hefepilze lebende Pflanzen find, Liebigs Theotie 
entwurzelt. Namentlich Bafteur und feine Schule haben diefe Anfchanung 
auf eine fefte Baſis geftellt und in unermüdlihem Kampf gegen die Schule 
Liebigs vertheidigt. Pafteur hält die Alkoholgährung und verwandte Erfcheinungen 
einfach für Lebensvorgänge der Hefepilze: Sauerftoffmangel follte es fein, 
der die Pilze zwingt, den Zuder zu Altohol und Kohlenſäure zu verarbeiten. 
Damit war eigentlich eine völlige Trennung zwiſchen biefen „geformten fer: 
menten*, den lebenden Pflanzen, und den nicht vitalen „unorganifirten” Fer 
menten gegeben. Bedauerlich ift, daß duch Paſteurs Anſturm Liebig? 
Fernienttheorie auch für die ungeformten Fermente zu Yal gefommea 
denn war auch ihre Grundlage falſch, fo hatte jie boch einen bereit. 7 
Kern. Es handelt fih unzweifelhaft bei den Yermentprozeflen um | 
löfungen von latenter Energie; die Fermente wirken außnahmelos fo, ! 
ſie latente chemiſche Energie in Freiheit fegen, und meift fo, daß fie aus hd, | 
Molekularkomplexen niedere herjtellen. Niemals fünnen jie Prozeſſe bewi 


Fermente und Alfoholgährung. 473 


bei denen Energie von außen her zugeführt werden muß. Die Wirkungen, 
Die von Fermenten ausgeldft werden können, werden im Wefentlidden Pro- 
zeſſe fein, bei denen fih Wärme entwidelt (exothermale PBrozefie); dagegen 
werden jie nur in feltenen, durch die theoretifche Chemie genau beftimmbaren 
Fällen endothermale Prozeſſe bewirken fönnen, Prozefle, bei denen Wärme 
gebunden wird. Es wird fih im Wefentlichen ftet3 um Spaltung: oder Abbau 
prozeſſe handeln, bei denen unter Umftänden auch noch Einführung von 
Sauerftoff, alſo orydative Prozeffe eine Rolle fpielen können. Auf jeden 
Tall kann eine theoretifche Betrachtung der Fermentprozeſſe nur vom ener: 
getifchen Standpunkt aus gejchehen, vom Standpunkt der Beurtheilung und 
Meſſung von Energieummwandlungen, und infofern ift ber Kern der Theorie 
Liebigs doch richtig. In neufter Zeit ift man auf ter Bahn diefer Erkennt⸗ 
niß duch Oſtwald um ein beträchtliches Stüd weiter gelommen: Dftwald 
bat das große Berdienit, dem alten Wort: „Satalyfe“ den ihm bis dahin 
fehlenden Begriff gegeben zu haben. Unter Satalyfe faßte man feit Berzelius 
eine Reihe von Prozefien zuſammen, bei denen die bloße Gegenwart eines 
dritten Stoffes zwei andere Stoffe zur Reaktion zwingt, ohne daß dieſes 
Wort irgend eine Erklärung einfchlog. Dftwald hat uns gezeigt, daß Katalyſe 
weiter nichts ift als die Bechleunigung von chemifchen Vorgängen, die auch 
ohne äußeren Anlaß, aber ungemein langfam verlaufen. Da man nun von 
Alters her die Fermentprozeffe zu den Katalyſen gezählt Hatte, jo gilt dieſe 
Erklärung auch für die Fermentprozeſſe mit. Diefe Erkenntniß reicht aber 


— nicht aus, um den Fermentprozeſſen ihre legten Näthfel zu nehmen. Schon 


ihrer Spezifität wegen können die Fermentprozeſſe unter feinen Umfländen 
als rein Fatalytifche bezeichnet werben. 

Die von Kühne Enzyme genannten ungeformten Termente find jchon 
an ſich höchft merkwürdige Körper. Sie find im ganzen Thier- und Pflanzen: 
reich zu finden und treien als Produkte organifcher Zellen auf. Alle Fermente 
find thierifche oder pflanzliche Sekrete, Stoffe, die der Organismus produzirt, 
um jie phyliologifchen Zweden nugbar zu machen. ‘Dan findet fie alfo in den 
Geweben nnd Körperfäften und kann fie daraus fehr ſchwer, vielleicht gar nicht 
in reinem Zuſtande gewinnen. Bis jetzt wenigftens ift dieſes Problem noch 
micht Über die erften Anfänge hinaus. Zuerſt hielt man die Fermente für 
Eiweißkörper; mühſäliger Arbeiten hat e8 bedurft, ‚um es wahrfcheinlich zu 
maden, daß jie Eiweikförper, wenigftend im ftrengeren Sinn des Wortes, 
nicht find. Welcher Art aber ihre hemifche Natur ift, darüber wiſſen wir fo gut 
wie nichts. Nur dag Eine: e8 find Körper von auferordentlicher Empfind- 
fichleit, Stoffe, die ſchon bei geringfügigen phyfitalifchen und chemischen Ein- 
flüfen ihre Natur jo verändern, daß jie wirkunglos werden. Und mit ihrer 
Wirkung verfchwindet jede Möglichkeit, fie zu erkennen und zu ifoliren. Luft 





474 Die Zufunft. 


und Licht, verschiedene Gifte, Schwache Säuren und Alfalien, beſonders abe: 
Erwärmen auf 80 Grad vernichtet ihre fpezififche Wirkfamfeit in kurzer Zar. | 

Eins der hervorftehendften Phänomene der Yermentprozefle it de 
ftrenge Spezifizität ihrer Wirkung. Wir fennen Eiweiß verdauende Fermeniz. 
das Pepſin des Magens und das Trypſin der Bauchipeicheldrüfen und äh. 
liche des Pflanzenreiches; wir fennen eine Reihe von Enzymen, die Stärk 
und ähnliche Kohlehydrate angreifen und ſchließlich in Traubenzuder üter: 
führen, fo die Diaftafe des Malzes, die Stärke löfenden Fermente thieriiche 
Cäfte, die Invertafe, die die Inverſion des Rohzuckers in Zraubenzinde 
und Bruchtzuder bedingt, und andere. Wir Eennen Fett fpaltende Euer 
und folche, die ganz beftimmte Pflanzenftoffe, ‚die fogenannten Glukoñde, is 
charakteriftifcher Weife fpalten. Und alle diefe einzelnen Enzyme jind aus 
[chlieglih auf das Subftrat wirffam, dem fie angepaßt find. 

Neben ihrem großen theoretifchen Intereſſe find die Fermente auch 
deshalb von ungemeiner Wichtigkeit, weil fie eine gar nicht zu überfchägen 
biologische Bedeutung haben. Ich erwähnte ſchon, daß die Fermente Sekrete 
find, alſo Stoffe, die der Organismus zu phyjiologifchen Zwecken erzeugt 
und in feine Säfte ausfcheidet. Die Bedeutung der Enzyme beruht daran’, 
das jte hochmolefulare Nährftoffe, die der Organismus aufnimmt, vorbereitin) 
verändern, fo dar ſie zu nußgbaren, affimilirbaren Produkten werden. Aa 
höheren Thieren beginnt diefe Thätigkeit yon im Munde. Die eingeführte, 
an fi) unbraudbare Stärfe wird dort bereit3 verzudert und diefer Prozek 
fegte fid) dann im Darm bis zur Vollendung fort. Die Eiweißkörper 
werden im Magen und Darm energifch abgebaut; die Verdauung der Milch 
wird eingeleitet durch eine Gerinnung, die das im Magen vorhandene Lab: 
fermeut bewirkt. Bei niederen Thieren find die Fermente natürlich nicht jo 
getrennt, fondern in Mifchungen vereint in den SKörperfäften. Doch aud 
im Pflanzenreih finden wir Fermente. Zwar braucht die grüne Pflanze 
feine Fermente, da fie ihren Nährftoffbedarf aus der Kohlenfäure, dem 
Wafler der Luft und den anorganifchen Salzen de8 Bodens zu decken 
vermag; wohl aber brauchen die chlorophyllofen Pflanzen die Enzyme gerade 
fo gut zur Nugbarmahung ihrer Nährmedien wie die Thiere. So finden 
wir Enzyme aller Art in Pilzen, Mgen und Balterien; wir finden fie aber 
auc in dem feimenden Samen. Der junge pflanzliche Embryo ift in dem 
Samen reichlid” mit Nähritoffen verfehen; er liegt eingebettet in eine bett*b 
ide Menge von Stärke, Fett und Eimeißitoffen. Aber jie alle kann er 
zu feinem Wachsthum nur dann mugbar machen, wenn er fie erft d' 
fermentative Prozeſſe vorzubereiten vermag. 

Gerade bei dem keimenden Samen ftogen wir auf eine ſehr inter«, 
Thatſache, die Tich bei genauerer Beobachtung überall in der Organis 


5 


Fermente und Altoholgährung. 475 


welt konſtatiren läßt; wir fehen nämlich, daß die Fermente als echte phyſio— 
logifche Sefrete nur dann in nennensweriher enge produzirt werden, wenn 
fie gebraucht werden. So lange der Same zuht, enthält er feine Fermente; 
fobald aber das Wachsthum beginnt, treten Fermente aller Art auf. Dabei 
geht die Oekonomie fo weit, daß jich in biefem Fall auch Fermente bilden, 
die felbft die Zellmände auflöfen und ihre Cellulofe durch Ueberführung iu 
Zuder nutzbar machen. Ganz ähnlich finden wir, daß Echimmelpilze, ſobald 
man fie auf reiner Zuderlöfung züchtet, feine Fermente bilden, daß biefe 
dagegen fofort auftreten, wenn man bie Pilze anf Stärke oder Eiweißlöſungen 
züchtet, oder auch, wenn man ihnen jegliche Nahrung entzieht und fie auf 
deftillirtem Waſſer wachſen läßt. An dem legten Fall ſieht man fo recht, 
dag es der Hungerreiz ift, der zur Sekretion der Fermente führt. 


Fermentatio (von fervere, wallen, jieden) nannten ſchon die Römer 
den Gährungprozeß. Sie griffen alfo ein ganz äufßerliches Moment heraus, 
nämlich die Gaßentwidelung und die dadurch bedingte Unruhe in ber gähren- 
den Flüſũgkeit. Was da eigentlich chemiſch vorging, davon Hatten die Alten 
und auch das frühe Mittelalter Teine Ahnung. Der Alkohol, deſſen wich⸗ 
tigfter Beſtandtheil durch einen Gährungprozeß aus ftärkehaltigem Samen 
oder Wurzeln entfteht, wurde erſt im neunten Jahrhundert durch den ara- 
bifchen Gelehrten Geber in annähernd reinem Zuſtande dargeftellt. Aber 
auch nachher noch Herrfchten über das Wefen der Gährung die Findlichiten 
Borftelungen. So glaubte man, in dem zu vergährenden Gemifch fei der 
Alkohol Schon vorhanden; er mahe nur unter der geheimnigvollen Wirkung 
des Fermentes einen Läuterungprozeß durch und fei erſt danad in reinerer 
Form nachzuweiſen. Diefer Irrtum wurde erjt durch Syloius de la Bos 
und Lemery widerlegt, die fanden, daß der Alkohol erft bei der Gährung 
entjtehe. Stahl und Becher fanden dann, daß Alkohol nur aus ſüßen 
Stoffen bei der Gährung ſich bildet. Eine wirflih willenfchaftliche Erfor- 
hung der alkoholiſchen Gährung begann erft mit Lavoifier. Er wies nad), 
daß bei der alkoholiſchen Gährung Zuder in Alkohol und Kohlenfäure zer: 
fällt. Allerdings war feine Formel noch falfh; er glaubte außerdem, daß 
Effigfäure, die jich bei den meiften Gährprozeſſen als unerwünfchtes Neben- 
produft bildet, ein normales Produft der Gährung fei; als Exfter aber hat 
er den Verſuch einer eraften Formulirung ber Zuderumwandlung in Alfohol 
und Kohlenfäure gemacht. Seine fehlerhafte Formel wurde etwa ein Men- 
Ihenalter fpäter durch die Arbeiten von Gay-Luffac, und Dumas forrigirt. 
Dumas wies auch die nebenfächliche Bedeutung der Eſſigſäurebildung nad. 

Bu der Zeit, wo Liebig feine Theorie der Fermentationen aufflellte, fiel 
auf das Problem der alkoholifhen Gährung von ganz anderer Seite her 


36 





4176 dDie Zutunft. 


ein helles Licht. Schon mehr als hundert Jahre vorher hatte der berühmt 
bolländifche Naturforfcher Leeuwenhoek, der zuerft fuftematifch mit dem Bi 
Troffop arbeitete, entdedt, daß die Hefe aus runden, etwas abgepfattete 
Kügelchen befteht, deren Natur er fich aber nicht erklären fonnte. Sem 
Unterfuchungen wurden wenig beachtet und nocd gegen Ende des achtzehnte 
Jahrhunderts hielt man die Hefe für einen den pflanzlien Eimeikförpen 
mindeftens ſehr nah ftehenden Stoff. Doch tauchte bald daranf die Ir 
ſicht auf, daß man es Hier mit winzigen Lebewefen zu thun Habe. Diele 
Aufhauung konnte ſich nicht recht Bahn brechen, bi$ von Schwanz unt 
Cagniard-Latour 1837 der Beweis erbracht wurde, daß die Hefe thatjächlid 
aus mikroſkopiſch Meinen Pflängchen beſteht. Schwann konnte zeigen, bei 
BZuderlöfungen abfolut nicht gähren, wenn man fie forgfältig von der Lıtı 
abſchließt. Das hatte allerdings auch Gay-Luſſac beobachtet, der gerade dar: 
auf feine Theorie von der grundlegenden Bedeutung des Sauerftoffes für 
die altoholifche Gährung gegründet hat. Aber Schwann ging weiter. & 
zeigte, daß man der Luft dabei fo viel Sauerftoff zuleiten konnte, wie man 
wollte, wenn man nur die Luft vorher durch ein glühendes Rohr Teitete und jo 
jeden Keim organischen Lebens in ihr vernichtete. Dadurch war bewiefen, dar 
der Sauerftoff an fi für das Zuftandelommen der Gährung belanglos ik. 
Diefe vitaliftifche kam nun mit Liebigs hemifcher Theorie der Hefegährung 
in Konflikt. Liebig verwahrte fich ſehr energifch gegen diefen Zirfammenhang von 
Pflanzenleben und Gährung. Doch ließ jich die Wahrheit der Befunde Schwanz! 
nicht lange anzweifeln. Wieder war es Paſteur, der in einer Reihe von 
Haffifchen Arbeiten unmiderleglich nachwies, daß die Alloholgährung und 
einige verwandte Erſcheinungen unzweifelhaft abhängig find von der Amwe— 
fenheit lebender Keime. Er zeigte, dag überall in der Luft foldhe Keime 
zu finden jind und daR e8 genügt, ein Gefäß mit einer gährfähigen Flüfjig: 
feit offen ftchen zu laffen, um nad) einigen Tagen die Gährung nachweiſen 
zu fönnen. Er zeigte ferner, dag auf hohen Bergen, wo die Luft jehr arm 
an Keimen tft, die Gährung häufig ausbleibt; er bewies aber feine Anſicht 
vor Allem durch einen fehr Ichlagenden Verſuch. Er erfegte das glühenk 
Rohr Schwanns einfach durch Heine Wattebäufche, durch die er die Luft 
hindurchitreichen lieg. Daun blieb das gährfähige Gemifch unverändert; ent: 
nahm er nım aber von diefem Wattebaufch Fleine Partikelchen, ſo löj : 
diefe die Gührung aus. Damit war feftgeftellt, dag es körperliche Teben : 
Keime fein müſſen, die alfoholifche Gährung erzeugen. Daß folde Keir 
dabei vorhanden ind, fonnte nun auch Liebig nicht mehr leugnen, doch ſchr 
er ihnen nach wie vor eine Vedeutung für den Prozeß nit zu. So tı 
denn der Kampf noch fait bis zum Tode Liebigs weiter, obgleich Liebig fel 
in feiner legten großen Arbeit (1870) ſich nur noch ſchwach gegen die Kö 





Fermente und Altoholgährung. 477 


Lenfchläge der Paſteur-⸗Schule zu wehren vermag. Er hatte eine chemiſch⸗ 
energetifche Theorie aufgeftellt, deren Grundlage — die hemifche Zerfegung 
des Fermentes — falfh war. Paſteur verfocht zunächſt wenigftens nicht 
eine Theorie, fondern einfach einen biologifchen Zufammenhang zwifchen Gäh- 
zung und Hefepilzen. Nun hatte allerdings auch Bafteur eine Theorie anf: 
geitellt, die fid bald als faljch erwies. Danach follte der Gährungprozeh 
eine Lebenserjcheinung der Hefe in dem Sinn fein, daß bei Abwefenheit von 
Sauerftoff der Hefepilz fich den veränderten Bedingungen anpaflen muß; er 
follte alfo eine vie sans air-darftellen. Diefe Theorie war falfch, denn die 
Hefe gährt auch, wenn Sauerftoff vorhanden if. Bon der Theorie bleibt 
nur die unzweifelhafte Thatfache des Zufammenhanges von Gährung und 
Leben der Hefe übrig. Auf diefem Wege kam man nicht weiter. Das 
fühlten auch die eifrigften Verfechter der Anſchauung Paſteurs fpäter felbft. 
Die ftärkften Köpfe gaben ſich nicht zufrieden; beſonders Traube, Berthelot 
und Hoppe-Seyler verfochten immer wieder nachdrüdlich die Anfchauung, daß 
mit dem Nachweis des biologischen Zufammenhanges nicht8 zu erklären, fon- 
dern nöthig fei, auch in den lebenden Hefepilzen ein befonderes Ferment an- 
zunehmen, das in diefen Zellen, aber unabhängig vom Leben, feine fpezi- 
fifche Wirkſamkeit entfaltet. Nur dadurch läßt ſich die alkoholifche Gährung 
im Zufammenhang mit den anderen Fermentationen erhalten umd nur da— 
durch können wir zu einer einheitlichen Auffaffung diefer Prozeſſe gelangen. 
Dies Ferment nachzuweifen, gelang nicht; und fo blieb die Anficht, die den 
tihtigen Kern der Theorie Liebig zu vetten verfuchte, eine unbeweisbare 
Spekulation. Allmählich flachte der Kampf ab; die chemifche Anſchauung 
fchien vollfommen bejiegt, die prinzipielle Trennung der „geformten Fermente“ 
von den ungeformten entfchieden. 

Mit um fo größerer Wucht fchlug e8 darum in der wifjenfchaftlichen 
Welt ein, al8 vor einigen Jahren Eduard Buchner das fo lange vermuthete, 
niemals gefundene Enzym der Hefe nachweifen konnte. 

Die Hefe bildet eine ganze Reihe von Fermenten. In ihren Waſſer⸗ 
extrakten findet man allerdings nur in geringer Menge ein Stärke fpaltendes 
Ferment, die Hefendiaftafe; dagegen enthält ihr Zellleib noch andere Fer: 
mente, die er während des Lebens nicht abgiebt. Doch konnte Emil Fischer 
diefe Fermente dadurch) nachweisbar machen, daß er die Hefezellen durch 
ſcharfes Trodnen und durch Toluol lähmte; und nun gab das geſchwächte 
Protoplasma der Zelle noch diefe anderen Fermente ab, nämlich die Inver— 
tafe, die Rohrzuder, und die Maltafe, die Malzzuder zu fpalten im Stande 
ift. Nach diefer Methode gelang e8 aber nicht, das Alkohol bildende Fer- 
ment der Hefe zu ifoliren. Doch war e3 eine geniale Konfequenz diefer 
Idee, wenn Buchner diefe relativ wenig eingreifende Maßregelung de3 Pro- 


36° 


478 Die Zukunft. | 


toplasınad durch eine viel gewaltigere erfegte, unı das fupponirte Enzym iu 
gewinnen. Er zermalmte die Hefe mit Quarzſand, ſchlug je in ein Zud 
und preßte fic bei 400 bis 500 Atmofphären Drud aus. Dadurch erhielt 
er einen zellfreien Preßfaft, der nun die Fähigkeit der Alloholgährung aui: 
wies. Trotz allen Einwänben fteht heute Buchners Entdedung felfenfel. Das 
Gerede, daß bier Protoplasmafplitter und Aehnliches wirkſam fein follten. 
ift haltlos; denn Protoplasmafplitter, die durch ein Thonfilter gehen, die 
von -Protoplasmagiften nicht in ihrer Wirkſamkeit tangirt werden, finb untır 
allen Unftänden fein lebendes Protoplasma mehr, ſondern höchſtens noch fehr 
hoch molelulare, dem Protoplasma in der Struktur noch ähnliche Eiweif⸗ 
ſubſtanzen. Und Das ift prinzipiell gleichgiltig. Wir haben unzweifelhaft in 
Buchner Preßſaft das Enzym der Altoholgährung vor und. Und damit 
ift die alte Streitfrage im Sinn Traube und Hoppe-Seylers beantwortet. 
Die Altoholgährung ift nicht einfach ein Stoffwechfelvorgang der Hefepilze, 
fondern der Stoffwechfelvorgang hat nur bie Bedeutung, daß er. bei ihnen 
diefes Ferment prodizirt: die Wirkung des Ferments ift unabhängig vom 
Leben zu denken. Daher ift auch die Altoholgährung wieder in die Kate: 
gorie der Fermentprozeſſe eingereiht und die von Liebig geſuchte Einheitlic- 
keit diefer Vorgänge hergeftellt. Noch haben wir Liebigs falſche Theorie 
nicht durch eine richtigere erfegt; aber wir wiflen, daß bie neue Theorie der 
Fermente nur eine dynamifche fein kann und daß fie über biologifche Zu⸗ 
ſammenhänge nad) Art der Hefebetheiligung an der Gährung theoretifch Hin: 
weggehen muß, um ein einheitliches Fundament zu gewinnen. 

Gay-Ruffac hatte, wie erwähnt, den Sauerftoff als Hauptfaltor für 
das Zuftandefommen der Gährung angefehen; im Gegenfag dazu faßte Paſteur 
die Gährung als eine vie sans air auf und behauptete, daß die Hefe nur durch 
den Mangel an Sauerftoff gezwungen würde, ihren Stoffwechfel fo zu ver: 
ändern, daß fie Alkohol und Sohlenfäure bildet. Diefe Frage ift von 
Anhängern und Gegnern Pafteurs, befonders von Brefeld und Tranbe, be: 
arbeitet worden. Brefeld betätigte Paftenrs Befunde zwar, aber 309 aus 
ihnen ganz entgegengefegte Schlüffe. Er nahm an, daß die Hefe zwar 
wirflih bei Sauerftoffabfchluß gährt, daß aber eben biefe Aenderung der 
vitalen Zunftion eine Krankheit- und Abfterbeerfcheinung der Hefe fei, während 
junge und gefunde Hefe bei Sauerftoffanwefenheit nicht gährt. Er fchrieh 
der Hefe ein außerordentlich großes Sauerftoffbebürfniß zu und meinte, . 3 
bei gezwungenem Verzicht auf diefen Sauerftoff die Hefe als kranfh 
Produft Alkohol bildet. Diefer Anſchauung trat Traube fehr nergih 
gegen; er zeigte, daß die Hefe zmar zu ihrer Vermehrung fehr viel S— 
ftoff braucht, daß dagegen erwachfene Hefeftämme auch bei Abweſenheit 
Sauerſtoff ihre vitale Kraft behalten. Heute ift auch diefe Frage zien 
entjchieden. Wir wiffen, dag Hefe ſowohl bei Anmefenheit wie bei Ahr 





Fermente und Alkoholgährung. 479 


heit von Sauerftoff gährt, daß freilich ein Ueberſchuß von Sauerftoff den 
Gährprozeß beeinträchtigt und daß in diefem Fall ein relativ großer Prozent: 
fag des Zuckers direkt von der Hefe verbraucht und zu Kohlenſäure und 
Waſſer verbrannt wird. 

Die ganze Gährfrage iſt, vom biologifchen Standpunkt aus betrachtet, 
ein fehr intereffantes Anpaffungphänomen. Außer den echten Hefepilzen 
haben nämlich and) einige Schimmelpilze die Fähigkeit, unter ganz beftimmten 
Umftänden eine geringfügige altoholifche Gährung hervorzubringen; nämlich, 
wenn man ſie gewaltfam zum Leben ohne Sauerftoff zwingt. Dann können 
fie, allerdingd nur eine befchränfte Zeit lang, ohne Sauerftoff leben und 
gähren dabei; fobald man fie aber unter normale Bebingungen zuritdbringt, 
geben jie diefe Tähigfeit auch wieder auf. Daraus können wir fohließen, 
daß auch die Hefepilze urfprünglih an ein Leben in Sauerftoff gewöhnt 
waren; es giebt auch heute noch Raſſen von echten Hefepilzen, die abfolut 
feine alkoholiſche Gährung einleiten Tönnen, fondern ausſchließlich asrob 
leben und den Zucker verbrennen. Die echten Hefepilze find nun feit Millionen 
von Generationen an dies anaörobe Leben affomodirt und vermögen auch, 
wenn man ihnen Sauerftoff zuführt, ihre Gährfähigfeit nicht ganz abzu- 
legen: fie können den Zucker einfach verbrennen oder aber ihn vergähren. 

Damit kommen wir nun zu der legten wichtigen Trage: welde Be- 
deutung die Alfoholgährung für den Hefepil; hat. Die bei den anderen 
Fermenten in die Augen fpringende Bedeutung, die Auffchliegung nicht reſor⸗ 
birbarer Nahrungftoffe durch Abbau, fällt Hier fort; denn der Zuder ift ein 
viel werthoolleres, Leicht affimilirbares Nährmedium als der Alkohol, der 
fogar fchon bei geringer Konzentration als Gift auf die Hefezelle wirft. 
Wir müſſen hier alfo eine andere Erklärung fuchen; ich glaube, man kann 
fie in dem Umftand finden, dag die Alfoholgährung bei Sauerſtoffabſchluß 
einen Erſatz für die verbrachte Lebensenergie bietet. Im normalen Leben 
wird diefe Energie verfchafft durch die Verbrennung im Sauerftoff. Das 
iſt bei Sauerftoffmangel unmöglich und die Hefe müßte fchnell zu Grunde 
gehen, wenn jie nicht ihr Leben durch die Produktion diefes Fermentes weiter 
friftete. Denn der Vorgang der alloholifchen Gährung ift ein folcher, bei 
dem Energie frei wird, und biefe Energie fönnte e8 wohl jein, die der Hefe 
eine weitere Exiſtenz ermöglicht. 

So fommen wir denn doch wieder zu einer der Pafteurs ähnlichen 
phyſiologiſchen Anſchauung; wir nehmen an, daß die Altoholgährung für die 
Hefe ein Erfag de3 normalen Lebens ift, daß fie alfo die vie sans air er: 
möglicht, ohne aber die vie sans air zu fein. Man kann aljo den phyfio- 
Logifchen Werth der Theorie Paſteurs voll anerkennen und doch feine theoretifchen 
Anfichten von einen Zufammenhang von Leben und Gährung zurüdweifen. 


Dr. Karl Oppenheimer. 
3 


480 Die Zukunft. , 


































Selbitanzeigen. 


Eine für Viele. Aus dem Tagebuch eines Mädchens. Verlag von Herman 
Seemann Nachfolger 1902. Vierte Auflage. 


Das Bud) ift kein anipruchsvolles Kunftwerk, das Bewunderung fordern. 
Es ift Feine foziologische Abhandlung, die ftatiftifche Daten, Syfteme und Err 
granıme durdheinander würfelt. Es ift aber auch feine lüjterne Darſtellurz 
ſeeliſcher Nadtbeit, die Lokkungen ausftreut. Nein. Nichts weiter als ein Befenntni 
ſtürmiſcher Ehrlichleit, das ji), zu einem verzweifelten Nothſchrei verdichtet, in 
die Oeffentlichleit gedrängt Hat und nım demüthig un einen Schiminer des Tır 
eınpfindens, um einige Augenblide verjtehender Ergriffenheit bettelt._ Das Heme 
Bud will nichts Großes, Gewaltiges, Welterjchütterndes. Es ift eine piyde 
logifche Studie. Sonft nidts. Der Inhalt ift einfach, ſchmucklos und al 
täglid. Er jhildert den Kampf in der Seele eines Mädchens, den uralten 
Kampf zwifchen der reinen Leidenfchaft und dem erdrüdenden Bemußtjein, dab 
der Mann ihrer Wahl ſich in dem vorehelichen Gefchlehtsleben — dem die Jugend 
der Großftädte vettunglos verfallen ift — durch gekaufte Liebe und jeelenloie 
Genüſſe entwerthet hat. Sie fühlt, daß in diejer Liebeleeren Hingabe eine Eri 
weihung liegt. An diefer Ganzheitforderung gehtifie zu Grunde. Sie verjudt 
nicht, in geiftiger Sijyphusarbeit das große Menfchheitproblem zu Iöſen. Un 
trotzdem fie in ihrem optimiftifchen Taumel an die Verwirklichung ihres Keuſch 
heitideales glaubt, felfenfeft glaubt, weiß fie doc, daß zu diefem Ziel fittlide: 
Größe ein Weg führt, der von einem dichten Geftrüpp fozialer Hemmniſſe und 
ökonomiſcher Schwierigkeiten überwuchert ift. Aber fie Elagt die Gejellicatt 
ordnung an, die die Unfittlichkeit nicht nur duldet, fondern unterftügt. Die 
klagt die Erziehung an, die die jungen Menfchenfeelen zu Krüppeln fchläat 
Und fie wendet jih aud) heimlich gegen die fcheinheilige Heuchlermasfe der Phr 
lifter, die mit der zur Schau getragenen Tugendhaftigkeit ihre moralifche Fäulniß 
übertünden. Es ift freilich eine große Kühnheit von einem jungen Mädchen, 
ein jo „ſündhaftes“ Buch zu ſchreiben, — um fo mehr, als ja heutzutage Müdden- 
bücher nur in feltenen Füllen nad) ihrem wahren Werth oder Unwerth beur 
theilt werden, fondern meilt nah dem Wuft von Gefellichaftstratich, der das 
Bild der Nerfajjerin umrahmt. Vera. 


$ 


Der Fall Rothe. Eine Friminalpfochologifche Unterfuhung. Mit Bildern. 
1901. Berlag von Schottländer. 2,50 Mark. 

Das Buch ift gerade vor einem Jahr erfchienen. Durch die Berhaftr"g 
des Blumenmediums Rothe ift es erſt jeßt „aktuell“ geworden, ein Beweis, e 
jehr der Erfolg eined Buches von der Gunft des Inhalts abhängt. Es verfol ! 
einen doppelten Zweck; erſtens den, einen frechen Schwindel aufzubeden, d ı 
Zehntaufende zum Tpfer gefallen find und der geeignet ift, uns in den Uuy ı 
des Auslandeg wieder einmal gründlich lächerlich zu maden. Es forderte dal : 
das Einfchreiten der Staatsgewalt. Diefer Zwed ift erreicht. Bemerkenswr ı 


Selbftanzeigen. 48l 


bleibt allerdings, daß ein volles Jahr verftreihen mußte, bis es dahin kam. 
Zweitens wird der Fall Rothe in feiner Stellung als Symptom gewiffer fultu- 
rellen Buftände unterfudt. ' Eine Kritik des vulgären Spiritisinus und feiner 
Beweismethodik mußte vorangehen, die Pfgchologie der Zeugenausſage an Bei- 
ſpielen erörtert werden. Die kulturgefhichtliden Bedingungen des Spiritismusg, 
die Triminalpfgchologiihe Seite ded Mediumismus werden analyfirtt. Mein 
Buch fol alfo querdurch gehen durch den fpiritiftifchen und antifpiritiftifchen 
Unfug und zur willenihaftlihen Erkenntniß führen. 


Breslau. | Dr. Erich Bohn. 
$ 


Die Lage der weiblihen Dienftboten in Berlin. Alademifcher Verlag 
für foziale Wiffenfchaften Dr. John Edelheim. Berlin 1902. 

Es war im Hochſommer 1890, als zum erften Male in großen öffent: 
lichen Berjammlungen die Zuftände, unter denen die berliner Hausangeftellten 
lebten, blitartig beleuchtet wurden. Dieſe Berfammlungen veranlaßten mid, 
die materiellen Lebensverhältniſſe diefes Berufsftandes zu ftudiren. Das geſchah, 
von der Einſichtnahme in die wenig belangreiche Literatur abgejehen, auf dem 
einzig möglichen Weg der Enquete. ch habe deren Rejultate nad) zweijähriger 
Arbeit in meinem Buche niedergelegt. Es behandelt das Problem der Dienft: . 
botenfrage als einen Theil der Arbeiterfrage, und zwar unter fozialpolitifchen 
Geſichtspunkten. Das infofern, als ich für eine Dienſtbotenſchutzgeſetzbung und 
für eine Befeitigung der auf dem Prinzip der Rechtsungleichheit aufgebauten 
Gefindeordnungen eintrete. Nun ift e3 heute mit fozialpolitifchen Arbeiten eine 
eigene Sade. Man dient und nüßt ohne Zweifel dem Klaſſenfortſchritt einer 
großen Zahl von Arbeitern damit und in diefem Kalle folchen, die bis auf die 
neuste Zeit niemals ihre Stimme erhoben, fondern ftumm die Geſchicke ertrugen, 
die da8 Dienjtverhältnig über fie verhängte. Solchen Arbeitern konnten die 
herrſchenden Schichten Alles bieten, jogar Prügel. Sie konnten unter ein Aus 
nahmegefeg. gejtellt werden, meil fie jelbjt ohnmädtig waren. Sie mußtenzes 
ji) einfach ohne Proteft gefallen laſſen. Wer c3 nun wagt, diejen Stummen 
eine Sprade zu leihen, Der hat für fich felbft davon am Wenigſten. Er wird 
vielmehr angefeindet und angehaßt oder totgejchwiegen. ‘jedem, ber die berfitier 
rauen und Preßzuſtände kennt, jage ich nichts Neues. Die Frauen haben fich 
zu meinem Buch öffentlich noch nicht geäußert, wenigftens Die nicht, auf deren 
Urtheil ich Etivas gebe. Nur eine Stimme hat es in einer hamburger Zeitung 
als „beinahe gemeingefährlicdy‘ bezeichnet. Die politiſche Tagespreſſe hat die 
Normen ihrer Beurtheilung dem ‘Programm der Partei entnommen, deren Intereſſen 
jie vertritt. Die Deutjche Tageszeitung hat Jogar die Preſſe gewarnt, mein Buch 
zu beſprechen. Eine Warnung, die von diejer Seite fommt, dürfte für manche 
Lejer der „Zukunft“ eine Empfehlung ſein. Aber faft wie Ironie Elingt es, 
daß gerade die Zeitungen, die meine Enquete befämpften und das Samıneln 
des Materials auf jede Weije zu erfchweren ſuchten, jeßt den Vorwurf erheben, 
daß die ſtatiſtiſche Baſis zu ſchmal fei. Nun ift zunächſt befaunt, daß Vicle 
ine Enquete nicht von einer Statiftif unterfcheiden Fünnen. Dem Vorwurf 


482 Die Zukunft. 





gegenüber aber möchte ich auf eine Bemerkung binweilen, die eine vollswir:: 
ichaftlich fo gebildete Frau wie Wally Bepler in einer Kritik macht. Sie fag:: 
„Das Buch wird nun vielfach dadurch zu entwerthen gejudt, daß man bie Jeb 
der Antworten für viel zu gering erflärt, um daraus allgemeine Schlüffe ziehen 
zu können. Aber der Werth und das Intereſſe der Enquete wie des Kerr 
ſelbſt beruhen gar nicht eigentlich oder doch nicht allein auf ber Fyeititellung gam 
bejtimmter Thatſachen, die fi etwa überall annädernd glei blieben uns ir 
beitimmte Durchſchnittswerthe für Arbeitzeit, Lohn, Beföftigung u. j. w. ergebes 
önnten. Die Tage der häuslichen Angeftellten weit, ber ganzen Natur dieies 
Arbeitverhältniffes entiprechend, in den einzelnen Fällen nach jeder Richtung hin » 
graffe Unterſchiede auf, daß eine Darjtellung der Arbeitbedingungen auch auf breitere: 
Pafis doch niemals ein eigentliches Durchſchnittsbild entrollen fünnte, ganz einfed. 
weil ein ſolches Durdyjchnittsbild auch in Wirklichkeit gar nicht eriftirt. Be 
mehr handelt e8 fi darum, an einer großen Zahl typiſcher Beijpiele aus. allen 
Sphären des Dienjtbotenlebens das Dafein diefer noch vällig verſklavten Xr- 
beiterinnen mit allen feinen charakterijtiichen Zügen und Scattenjeiten vor un: 
zu entrollen; daneben allerdings auch durch zahlenmäßige Feitftelung Die Grenza 
zu bezeichnen, zwiſchen denen Lohn, Arbeitzeit, Beföftigungwerth u. ſ. w. ſchwanken 
Diefe Aufgabe erfüllt Stillichs Buch in vollften Maße; es bietet mehr als er 
nügendes Material.” Gin Fortſchritt in der Erkenntniß der Materie beftcht 
jedenfall darin, dal in meiner Arbeit nicht mehr die individuell bejchränfter 
Erfahrungen des Einzelnen an der Spiße jtehen, fondern eine Summe von 
Erfahrungen aus beiden Interefjentenfreifen. Die alte Methode in der Pr 
handlung der Dienitbotenfrage war rein individuell. Man fanıte zehn, zwanzie 
oder auch dreißig Dienjtboten und fonftruirte fih daraus ein Urtheil über derer 
Beihaffenheit. Will man ein Elaffiiches Beilpiel für diefe Art der Behandlıma 
haben, jo höre ınan einmal den Damen am Kaffeetiich zu oder feje bie Fyrauen- 
zeitfchriften zeiten und dritten Ranges oder die AUnfichten, die der neufte Ver— 
fechter des Geſchwätzes der typiſchen Durchſchnittsfrau Hat, ih meine Hirſchberz 
in dem die Dienſtboten behandelnden Kapitel feines Buches über die Lage der 
arbeitenden Klaſſen in Berlin. Es wird fchwer halten, etwas Unzureichenderts 
— von Vogik gar nicht zu reden — im einem Buch zu finden, das fich Jelbit 
für wiſſenſchaftlich ausgiebt. Die Fulturgefchichtliche Seite meiner Darlegungen 
aber erblide ich darin, daß fie die Träumereien zerftören, die Bi heute auf „Dem 
jeudalen Felſen des Norurtheiles“ ruhten. Mein Bud madt ein Ende mit der 
Worjtellung, da im häuslichen Dienft kein Elend exijtire, daß es den Dienenden 
ganz gut gehe, beifer al3 den Fabrik- und anderen Arbeiterinnen, daß das 
patriarchaltiche Zeitalter umlponnen geweſen fei von den Eilberfähen menſchlich 
Yhöner Beziehungen zwiſchen Herrſchaften und Dienftboten, daß das bürgerliche 
Daus dem Dienſtmädchen einen bejonderen Schuß ihrer höchſten perjönlis 
Güter, ihrer Arbeittraft, ihrer Mädchenehre, ihrer Sittlichfeit biete, dad der F- 

der häuslichen Arbeit ein befonders hoher fei. Solche Legenden zu zerftö 
gehört zu den Aufgaben meines Buches; und wer noch heute an ihnen feith 
Der möge es lejen, — und dann urtheilen. Dr. Oskar Stilli 


. 


Borſe und Preife. 483 
Börfe und Preſſe. 


— im neunten Juni bat das Ehrengericht der berliner Börſe in zweiter 
BER Anftanz den Verweis beftätigt, der mir vor ein paar Wochen von der 
eriten Inſtanz ertheilt worden war. Ich foll nämlich Über die Dresdener Bank 
unwahre Thatſachen behauptet haben, die geeignet geweſen feien, den Kredit diefer 
Bank zu fchädigen. In beiden Nuftanzen wurde nicht daran gezmeifelt, daß 
mir eine ehrlofe Handlung nicht vorgeworfen werden könne. Beide Inſtanzen aber 
erklärten fich für zuftändig und gaben mit meiner Berurtheilung der Dresdener 
Bank eine Genugthuung. Der Ausgangspunkt des Verfahrens war eine Notiz, 
die ich in dem von mir redigirten Handelstheil der Berliner Morgenpoft im 
Januar diefes Jahres veröffentlichte. Da war behauptet, zur Zeit des ſächſiſchen 
Bankkraches jei die Dresdener Bank mit außergewöhnlichen Srediten unter 
erichiwerenden Bedingungen von der Reichsbank und der Sächſiſchen Bant 
unterftüßt worden. Das tjt angeblich unmahr; angeblih, fage ih, denn zu 
meinem Bedauern tft mir ber Wahrheitbeweis nicht geftattet worden. Wenigftens 
wurde mein Antrag abgelehnt, den Direktor der Sächſiſchen Bank unter feinen 
Eid zu vernehmen. Diejer Beihluß wurde in zweiter Inftanz mit der Feſt—⸗ 
ftellung begründet: die Unwahrheit der von mir behaupteten Thatfache fei durch 
fehriftlide Erklärungen erwiejen, die Reichsbank und Sächſiſche Bank zu den 
Alten eingereicht hätten. Nun will ich nicht etwa behaupten, daB die beeidete 
Ausfage der Banfdireftoren anders gelautet hätte als die mit ihrem Namen 
gezeichneten Erklärungen der Banken. Yag aber eine beſchworene Ausjage — in 
weldhem Sinn aud immer — vor, dann war mir die Bunge gelöjt; ich wäre 
von der Pflicht, das Nebaktiongeheimniß zu wahren, entbunden gewejen und 
hätte dem Ehrengericht den Sachverhalt genau fchildern können. Dann aber wäre 
ich ficher freigefprochen worden. Ich werde mich troßbem num bemühen, die Wahr: 
beit an den Tag zu bringen; und es wird fich zeigen, daß id) entweder von 
einem Berufsgenoffen mit einer im jonrnaliftifhen Betrieb jeltenen Dreiftigfeit 
getäufcht oder zum Opfer eines gejchäftlichen Halunkenjtreiches gemacht worden bin, 
den ſelbſt meine Skepſis nicht fofort durchſchauen konnte. Borläufig kann ich den 
Thatbeftand nicht big ind Einzelne aufllären; nur einen Irrthum möchte ic) 
beieitigen, der auch in große Zeitungen Eingang gefunden hat. Ich ſoll fahr: 
lälfig gehandelt haben, weil ich eine mir von einem Anderen überbrachte Nachricht 
ohne Weiteres als glaubwürdig hinnahm. Die Sache liegt aber anders. Ich 
hatte einen Berichteritatter, dem der Verlag der von mir redigirten Zeitung 
Honorar und hohe Spejen bezahlte, mit dem Auftrag nad) Dresden gejhidt, die 
Wahrheit über mir zu Ihren gekommene Gerüchte feitzujtellen. In einem 
langen Brief theilte mir diefer Herr den Wortlaut eines Interviews mit, das 
er mit einer in dieſer Sache als Autorität geltenden Perfönlichfeit gehabt hatte. 
Ich hatte ſchon vorher Gründe gehabt, die Gerüchte Über die Dresdener Bank 
für wahr zu halten; erft nach dem Empfang diejes Briefes aber und nad) ge: 
willen Andeutungen, die der Reichsbankpräſident in einer Sigung des Central- 
ausſchuſſes machte, veröffentlichte ich die inkriminirte Notiz. 

Auch mit dem geltenden Recht fcheint das Urtheil mir unvereinbar; 
wichtiger aber als die perjönliche dünft mich die grundſätzliche Bedeutung der 











484 Die Zukunft, 


Sade. Das Berhältnig zwiſchen Börfe und Preſſe ift in den Perbandlunge 
fo grell beleuchtet worden, daß ein Wort darüber nötig ift. 

Jeder, der fich in den Beift hineindenft, au8 dem da8 Börfengejeb erw: 
ging, muß die Thatſache ungeheuerlich finden, daß ein Paragraph dieſes Bejegr 
benußt wird, um der Preſſe die freie Börſenkritik zu beichränfen und daß ber Inhabe 
eines hohen Reichsamtes dieſe Beſchränkung als Richter verlünden kann. Die der 
ſchen Börſen waren nie in dem Maß wie etwa die engliſchen rein private Bersr 
ftaltungen; fie waren eigentlich immer öffentlide Märkte. Doch will ich zugekr:, 
daß die dffentlich-rechtliche Stellung unjerer Börfe früher nicht ſcharf genug e 
gegrenzt war. Durch das Börjengefet aber ift fie zu einer Einridtung gemorber 
an der nicht nur eine Clique ein Intereſſe Hat, ſondern die öffentlich funftioniren iA 
Aud bier, wie bei allen dffentlihen Inſtitutionen, muß alſo daS Recht mn 
Kritik unbefchränft fein. Nun Hat freilich der Staatstommifjar, dem die Kr 
jequenzen des erften Urtheiles wohl aud Bedenken erregten, gegen meine Xer 
theidbigung eingewandt, es handle fih nit um eine Beichränfung der Ark: 
mein Berjchulden fei darin zu fehen, daß ich unridtige Thatjachen verbreim: 
und — Das falle befonders jchwer ins Gewicht — trog den Dementi dea 
Dresdener Bank aufredht erhalten Habe. Auch die Richter criter Inſtanz ſchiene 
mein Stapitalverbrechen in der Nachſchrift zur Berichtigung der Dresdener Ace 
zu finden. Nicht die Verbreitung der angeblich falſchen Thatſache alfo, ſonde 
die an die Berichtigung gefnüpfte Kritil hat mich ftrafbar gemadt. Es wer 
aber mein gutes Recht, der Berichtigung zu mißtrauen. Im Urtheil wirb ae 
jagt: „Daß der Beichuldigte glaubte, diefer Bank Unaufrichtigkeit in andern 
Dingen vorwerfen zu dürfen, berechtigte ihn noch nicht, die Behauptung ihre 
Beridtigung von vorn herein al3 unmwahr, dagegen die des Korrejpondenten al 
wahr anzuerkennen.” Das ift nicht viel mehr als eine Redensart. Ich che 
in meiner Verufungfchrift genau begründet, weshalb ich alle Kundgebungen der 
Dresdener Bank ala unwahr zu betradjten pflege, bis mir der Gegenbeweis er 
bracht ift. Ach Habe feitgeftellt, daß ich mehr als einmal in ber Preſſe mi 
vollem Namen der Dresdener Bank Bilanzverjchleierungen vorgeworfen hate, 
ohne daß fie auf die ſcharf prägzifirten Vorwürfe jemals geantwortet hat; gegen 
ein fleines Verjchen aber wurde der Dementirapparat in Bewegung gefickt 
Auch habe ich auf die jeltjame Art bingewiejen, wie die Dresdener Bank in 
Sadıen der Dannoverfhen Straßenbahn zu berichtigen pflegte. Gegen er 
dächtigungen, die meinen Kritifen unſachliche Motive zufchreiben möchten, braudk 
ich mich nicht zu verteidigen. Seit meinem Eintritt in die Journaliſtik habe 
ich die Bilanzen der Dresdener Bank ſtets ſcharf kritifirt; ich fagte bei der vor 
legten Bilanz voraus, eine Krifis werde die Bank ungerüftet finden. Da alio 
die Meldung des nad Dresden gejhidten Berichterjtatterd meinen längjt ge 
hegten Verdacht nur bejtätigte, war ich zur Wiedergabe der angeblich falſchen 
Thatſachen berechtigt; un dbei meiner Anficht von der Glaubwürdigkeit der Dres 
dener Bank fonnte mir, wenn id ihrer Berichtigung mibtraute, der „aute 
Glaube“ nicht abgeſprochen werden. 

Weniger als der Staatsfommillar. waren die mid richtenden Börfen- 
herren — unter ihnen war auch der liberale Reichdtagsabgeordnete Freie — um 
die zsreiheit der Kritif beforgt. Sie meinten, ein ournalift, der an ber Börje 





= 


" Börfe und Brefie. 485 


verfehre, müſſe fih hüten, ein an der Börfe vertretenes Inſtitut "zu verun- 
slimpfen. Das fann doch nur heißen: Es iſt gleichgiltig, ob folde „Verun⸗ 
glimpfung” durd die Behauptung wahrer oder falſcher Thatſachen oder über- 
Haupt dur jcharfe Kritif bewirkt wird. Der Journaliſt bat eben Ulles zu 
meiden, was den Börfenleuten unbequem fein könnte; fonjt wird er hinaus» 
geworfen. Wo ift da bie Grenze zu ziehen? Man ftelle fi) vor, bie Leipziger 
Bank oder die Herren Sanden, Schulz und Romeick hätten einige Wochen vor 
ihrem BZufammenbrud einen Strafantrag gegen mid; gejtellt: das Börfenehren- 
gericht hätte mich verurtheilt, denn ich habe mich ja nicht gehütet,‘ein an der 
Börſe vertretenes Inſtitut zu verunglimpfen. Zwei, drei Moden nad) dem 
Urtheilsiprud wären dann die Zufammenbrüde gefommen. Die Yrankfurter 
Beitung rühmt fi; mit Recht ihres Vorgehens gegen die Preußiiche Hypothefen- 
bank; Jahre lang aber haben ihre Angriffe diefem Inſtitut nicht das Anſehen 
zu rauben vermodt. Herr Sanden hatte nur nicht den Muth, der zur Un— 
redlichkeit gehört; jonft hätte er die Zyrankfurter Zeitung angeklagt und vor dem 
Ehrengericht wahrſcheinlich die Verurtheilung durchgefegt. Die moraliſchen 
Werthurtheile der Börſenleute richten ſich eben nach dem Erfolg. Als ich die 
Treppe zum Börſenehrengericht hinaufſtieg, klopfte mich ein guter Freund auf 
die Schulter und prophezeite: „Du bekommſt Unrecht, denn die Aktien der 
Dresdener Bank ſind inzwiſchen um zwanzig Prozent geſtiegen.“ 

Mein Glaube, das Urtheil werde überall, auch da, wo man meine An- 
ſichten richt billigt, getadelt werben, hat ſich als Irrthum erwiefen. Die Prefie 
blieb recht ftil. Im Berliner Tageblatt und, wenn auch mit für mich wenig 
ſchmeichelhaften Worten, in ber Frankfurter Zeitung wurde gegen den Sprud) 
protejtirt. Einzelne jozialdemofratiiche Blätter — leider nicht der „Borwärts" — 
haben auf die prinzipielle Bedeutung der Sache hingewiefen. Sonſt: tiefes 
Schweigen im Blätterwald; felbft in der Centrumspreffe, bie doch Grund hätte, 
den Standpunft meiner Richter zu befämpfen. Bielleicht halten die meiſten 
Redakteure die Urtheilsbegründung für jo verfehlt, daß fie eine Wiederholung 
ſolchen Spruches nicht fürdten. Ich bin anderer Meinung. Der Weg ift jebt 
frei und die Inſtitute, die fih in ihren gefchäftliden Manipulationen geftört 
fehen, werden gegen unbequeme Sritifer künftig öfter al3 bisher das Ehren. 
geriht anrufen. Die Leiter der Dresdener Bank haben ja offen gejagt, fie 
könnten mid) vor dem Strafrichter nicht faſſen und möchten deshalb cin Forum 
haben, vor dem die Grundlofigfeit meiner Angriffe nachzuweifen wäre. Das 
Ehrengericht ijt allerdings das dazu geeignetite Forum. Ein journaliftiih Sad: 
verftändiger war nicht herangezogen; und wenn Kaufleute über Zeitungſchreiber, 
die Aritifirten über den Kritiker zu Gericht figen, kann man ſich das Urtheil 
vorausdenken. Ein aus Sournalijten zuſammengeſetztes Ehrengericht hätte mid) 
freigeiprochen. Der Verweis, den ich für unberechtigt halte, ift mir gleichgiltig 
und ic hätte Über den Prozeß gar nichts mehr gejagt, wenn mir nicht darum 
zu thun wäre, zu zeigen, mit mweldden Mitteln man der Preſſe das Recht zur 
Börjenfritif weit über die vom Strajgejeg gezogene Grenze hinaus zu ſchmälern 
verſucht. Solcher Verſuch ift auf diefem Gebiet für das große Publitum doppelt 
gefährlih. Denn die allermeiften Zournalijten, die ſich mit Börfenvorgängen 
beihäftigen, beten in tiefer Ehrfurcht die Haute Finance an und die Wafchzettel 









486 


der Banken forgen dafür, daß bie Börfenberichte nad) 

gefärbt werben. Das Ehrengericht hat ausbrüclic 

find Gäfte ber Börfe, die fi) vor der Verlegung des @ 

Das Schlimmite an dieſer Auffaſſung ift, daß jie berechtigt 
nicht nach dem Börfengefeß, aber nach der vom Neichskangler 
Börfenorbnung, deren fünfzehnter Paragraph fagt: „Die Bor 
nad) dem Ermeſſen des Börjenvorjtandes ertheilt und wieber 
C. Berichterftattern der Breffe.“ Danach müßte ich mich 






einfach, als einen gemeingefährlichen Störenfried, aus den 9 
wiefen hat. Soll aber eine Ordnung, die Solches gejtattet, zı 
Publikums auch ferner noch unangetaitet bleiben? Geor 


Kl 
Notizbuch. 


Mira lang werben bie Deutſchen nun ohne das weile Wal des 


tages auskommen müffen. Zu ihrer Beluftigung bleibt mr ie 
2 








kommiſſion in der Hauptftadt zurüd, das Häuflein der gut bezal 
noch immer einen überflüffigen Mangel an Wit entblößen, um 
geitalten, der niemals Gejeß werden foll. Bor der Bertagung kam € au 
plänfel zwiſchen dem Neichstanzler und dem Abgeordneten Fürften Bis 
Brüffeler Zuderfonvention, die von den meiften deutfchen Sanbwirthen, füramt 
gehalten wird, wurde in dritter Leſung berathen und Fürſt Bism a 
Antrag umterichrieben, der die Geltungdauer des durch die Konvent 
Zuſtandes von der Zuſtimmung des Reichstages abhängig machen 









gefallen d 
Ballinpolitit jadjt ministrable werben fühlt un gern zeigen möchte, 
feinegreunbe u „poftiver Arbeit“ zu brauchen find, ea 0 


geiffencerwiberterubig, erkönneperrie Bart, Verben enfien arg EEE ts bef 
nicht als legitimirten Dolmetſch bismarckiſcher Gedanten anerkennen; 
habe er zugeſtimmt, weil die Stonvention ihm „ein Sprung ins Din 


waren, als Otto Bismard die deutſchen Intereſſen vertrat, 2 
Bundesrathstiſch Graf Bernhard von Billomw. Andere Zeiten? 
er dod) ins Land gerufen, von allen Sroßmächten fei nur Deutfe 
werth glücklicher Yage. Vielleicht war ihm, der nicht mehr 
Gelegenheit willtonmen, mit dem mihliebigen Abgeot 

Klinge zu kreuzen. Er habe, ſprach er md wie mühjam wre 
zen Hang es durch feine Rede, er habe die Vorlage nicht % 
empfohlen, fondern dem Reichstag ;eit gelaflen, ihm ein 


Notizbuch. 487 


zugänglich gemacht, und wer jetzt noch von einem Sprung ins Dunkel ſprechen 
wolle... . „an Dem“, ſchrie von links ber die Kanzlergarde, „iſt Hopfen und Malz 
verloren.“ Fürſt Bismarck aber antwortete kühl, das „ungeheure Material“ 
liege dem Reichstag noch nicht lange genug vor, um ein fo ſicheres Urtheil zu er- 
möglichen, wie der jehr ſachverſtändige Herr Reichskanzler („Heiterkeit rechts‘) es 
ſich wahrſcheinlich gebildet Habe; für ihn falle ins Gewicht, daß ungefähr fiebenzig 
Zuderfabrifanten fich gegen die Konvention erklärt Haben, deren Geltungdauer er 
deshalb beſchränkt jehen wolle. Das war dad Stichwort für den Diagonalkanzler. 
Als erfter Beamter des Reiches, rief er, Habe ich nicht die Intereſſen der Zuder- 
fabrifen, fondern die der Allgemeinheit zu vertreten. Ein Jubelgebrüll aller Cob⸗ 
deniten begrüßte die alte Phraſe. Mit einer Gelaffenheit, die er früher oft vermiffen 
ließ, ſagte Fürſt Bismard, auch er jei an Zuderfabriken nicht interefjirt, halte das 
Urtheil Sacdhverftändiger aber filr werthvoll und wundere fi, ans dem Munde des 
Sanzlers jo jelbitverjtändliche Poftulate zu hören wie das von der Wahrung der 
allgemeinen Intereſſen. Jeder Abgeordnete hat das Necht, hat, wenn die Ueber: 
zeugung ihn drängt, jogar die Pflicht, in jedem Stadium der Berathungen zu er 
£lären: Ich kann biejer Vorlage nicht oder wenigftens nicht für längere Zeit zus 
ftimmen, weil ich dte Möglichkeiten ihrer Wirkung noch nicht zu beurtheilen vermag. 
Fürſt Bismard war alſo im Redt; und es wäre zu wünfchen, daß er öfter mit jo 
ruhiger Entichiedenheit feine Stimme erhöbe. Nur wird über jein Staunen Mancher 
geftaunt haben. Graf Bülow hat die berechtigte Eigenthümlichkeit, gern auf Gemein- 
pläßen zu weilen. Das iſt befannt und deshalb jollte Niemand fi) wundern, wenn 
er dem Kanzler auf dem Jahrmarkt begegnet, indefjen Buden die allgemeinen Inter⸗ 
eſſen angepriejen werden. Die giebt e8 zwar nicht — kaum ein einziges Intereſſe, 
nicht einmal das der nationalen Bertheidigung, ift allen Söhnen eines Volkes ge- 
meinfam —, aber fie jpielen in der Preſſe eine große Rolle und ein fo eifriger Bei. 
tungleferund Zeitungpolitiferwie Graf Bülom weiß, daß fie ihm ſtets ein Appläuschen 
bringen. Item: wir find den Reichstag bis zum Spätherbit los und können ung den 
Sommer hindurch an der Wonne weiden, einen Kanzler zu haben, der erſtens „die 
Politif der Diagonale‘‘ treiben, zweiten, wie weiland Herr Paris, der ſchönſten 
Göttin den Apfel reichen und drittens die „Intereſſen der Allgemeinheit” vertreten will. 
* . % 


* 

Der Heine Artikel, den die Malerin Frau Sabine Lepfius im erften Juni 
heft veröffentlichte, hat eben fo viel Widerfprud) wie Zuftimmung gefunden. Aus 
einem Brief des Herrn Dr. Edmund Friedeberg feien bier einige Säge abgedrudt: 

„grau Sabine Lepſius fragt, mit welchem Recht man dem Dienfchen, der 
gern helfen würbe, den Anblick des Verhungernden fernhält, und fie giebt jich felbft 
die ‚offizielle‘ Antwort darauf, daß man Vereinen und nicht Bettlern geben folle. 
Ich will verfuchen, dieſe offizielle Antivort zu ergänzen. Freilich Habe ich nicht etwa 
Neues zu Jagen. Man läuft immer Gefahr, bei einer Erwiderung auf geiftuolle Pa- 
radore in längft gefagte Banalitäten zu verfallen. Ich glaube aber, daB jene Worte 
auch hier nicht unwiderſprochen bleiben dürfen, damit man nicht nach einem alten 
Redtsipruch aus allgemeinem Schweigen auf allgemeine Zuftimmung fchließe. 

Ach war neulich in Taormina. Bis dorthin iſt die Decadence-Wohlthätigfeit 
unferer Zeit noch nicht gedrungen; die Stadt thut nichts für ihre Armen und läßt fie 
in malerifchen Trachten vor dem Eingang des antiken Theaters liegen. Sie bilden 


488 Die Zukunft. 


gewiſſermaßen bie Theaterdekoration. Hier kann man ſich noch die Perjönlidieiten, 
denen man geben will, nach Luſt und Sympathie auswählen, wie Frau Lepfies ee 
wänfdt. Bon dieſer Freiheit machen auch die Fremden ausgiebigiten Gebraud. Gier 
bejonder3 ſympathiſch ausſehende alte Frau, die dem VBorübergehenben unmer Bar 
erzählt, die Zuft thue fo wohl und der Hunger jo weh, fteht ih etwa eben jo gat =: 
ber Befiger des Hotels, auf deifen Stufen fie figt, vielleicht noch beſſer, da fie geringer 
Geſchäftsunkoſten hat. Ein graubärtiger Alter mit famofem Charafterfopf und m 
Iumptem Mantel — er joll ſchon von dreitaufend Kodaks verewigt fein — iſt Gum 
befiger in dein benachbarten Mola und dort einer der höchſtbeſteuerten Bürger. Em 
anderer Alter ſitzt neben ihm; er hat feinen ſchönen Kopf, feinen maleriſch zerlumpizs 
Mantel, nicht einmal ein &fel erregendes Gebreden; er ift zwar in Folge rinestn- 
falfes ganz arbeitunfähig, aber die Konkurrenz mit der Sympathijchen und mit den 
Kodakmann fann er nicht aufnehmen. Diildthätige Einwohner bes Ortes, bie k: 
Verhältniſſe beffer kennen als die vorübereilenden Engländer, laffen ihm mandızı 
Etwas zukommen; ſonſt wäre er ſicher längſt verhungert. 

Ich glaube: hier fonnte man bie Antwort auf die geftellte Yrage finden. 4 
neide nicht der Sympathiſchen noch dem Charakterkopf ihre Hohen Einnahmen. Se 
verdienenihr Glück mindeſtens eben fo jehr wie die forpulente Dame, die zwiſchen Tar- 
fettunginaric) und Hüftmaffage Frau Lepſius bei der Ausübung ihrer bewundert 
Kunſt ſtört. Ich bedaure aud nicht die Fremden, die mit dem ſchönen Gefühl ge 
leiſteten Wohlthuns das Theater betreten und denen es ziemlich gleichgiltig ijt, we: 
aus dem hingeworfenen Kupfer wird. Sie ſind zwar ſtets in der von Frau Lepkz: 
erſehnten Gefahr, ihr Geld an Unwürdige zu verſchwenden; aber dieſe Gefahr wit 
ſchwerlich den Reiz ihres Lebens erhöhen, weil fie nie erfahren, ob fie getäuscht more: 
find. Nicht fie find die Hineingefallenen; der ungefchidte Ulte, der e3 nicht veritek. 
ji) richtig in Szene zu fegen, und feine zahlreichen, zum Bettelhandwerk nid ce 
borenen Leidensgenojjen: Das find die Betrogenen! Daß heißt in volkswirthſchef 
licher Sprade: dus Wohlthätigkeitbudget des Einzelnen wie da3 der Geſammthen 
iſt beichränft und fteht nahezu feit; deshalb wird dag Almofen, das der Schwintirt 





empfängt, dem Bebürftigen entzogen. Trog dem Bettelverbot, daS übrigens fen 


jo defadent modernes tft, fondern, zum Beifpiel, in England feit 1388 beftcht, habe: 
wir in allen Großjtädten noch ein ausreichend entwideltes Bettelweſen, au dem wı 
ſehen können, welche Elemente dabei ausjchlieglich auf dieKtoften fommen. Wer ſid 
dafür interejjirt, wird in Baulians berühmten Buch: ‚Paris, qui mendie‘ amr: 
fante Belehrung finden. Paulian bat nicht nur die Berhältniffe Derer unterfucht 
bie ihn angebettelt haben; er hat jelbjt das Handwerkbetrieben, ift als Krüppel, al: 
Lahmer, Blinder und Taubſtummer vor die Thüren gepilgert und hat anjehnlid: 
Summen eingeheimft. Und wir brauchen auf der Sude nicht bi8 nad) Paris 33 
gehen; auch in Berlin entziehen täglich Hunderte von profeljionellen Bettlern den 
Würdigeren die für fie beſtimmten Mittel; ich erinnere nur an den angeblichen Epi- 
leptifer, der jeit vielen Jahren in Berlin W. allabendlich um die Dinerzeit juft ve: 
den Häuſern ohnmächtig zuſammenbricht, deren erleuchtete enfter auf den Beginn 
eines reichen Mahles deuten; oder an den genialen Spradlehrer, der im legteı 
inter auf vielen hundert lithographirten Poſtkarten mittheilte, daß er im Bearif 
jei, vor Hunger zu Sterben, und umkommen müſſe, wenn ihm nicht unverzüglich eine 
Sleinigfeit gefandt werde. Die Technik des Bettelbrieffchreibeng fteht in umjerer 





Notizbuch. 489 


Zeit minbejtens auf derHöhe modernen Maſchinenbaues und jelbft unter den armen 
Wittwen, für die in Zettungen Öffentlich gefammelt wird, giebt es manche gewiegte 
Zuchthäuslerin. Sollte der Würbdige, der nach Frau Lepfius vor lauter Würde in 
jeiner Kammer verhungern muß, jolcher Konkurrenz gewachſen jetn? Ich glaube, 
wie bei jedem Kampf ums Dafein würbe auch int Bettelmettbewerb der Schwächſte 
unterliegen. Das aber kann mannicht gerade als das Bieleiner Armenpflege bezeichnen. 
Doch ich fürchte, offene Thüren einzurennen. Das Bettelverbot, das längit 
in allen cioilifirten Rändern bejteht, bedarf meiner Bertheidigung nicht; auch zweifle 
ich, ob Frau Lepſius ernfthaftbeabfichtigte, für eine allgemeine Tyreigabe des Straßen 
und Dausbettelns einzutreten. Sie hat nur ein Problem aufgeftellt, das thatſächlich 
noch befriedigender Löſung harrt: Wie kann die Sympathie, wörtlich überfegt: das 
. Mit-Veid, das uns der Anblick Darbender entlodt, vernunftgemäß zu ihren Gunſten 
ausgenüßt werden? Die Löſung wird in anderer Richtung zu fuchen fein; wirklich 
moderne Wohlthätigkeit hat fie angebahnt durch die Ausgejtaltung pflegerifcher 
Thätigfeit. Wer fich das frohe Gefühl verichaffen will, Hunger zu ftillen, wer nicht 
nur feinen Namen auf Liſten zeichnen, fondern ſelbſt theilhaben will an der Freude 
des Empfangenden, Der laffe fi von dem Armenvoriteher ſeines Bezirkes oder von 
einem ‚Verein‘, der wahre Armenpflege treibt (mie die Ausfunftitelle der Deutſchen 
Geſellſchaft für ethifche Kultur in Berlin, die Vereinigung der Wohlthätigfeitbe- 
ftrebungen von Charlottenburg, bie Eentrale für private Fürforge in Frankfurt a/M. 
u. ſ. w.), eine bedürftige Familie überweiſen, juche fie auf und verfuche an ihrem 
Emporfommen mitzuarbeiten. Nicht durch einfaches Geldgeben, jondern durch ver- 
ſtändnißvolles Eingehen auf ihre Wünſche und ihre Höheren Bedärfniffe. Wer Das 
nicht will, weil auch dann Vorſtand und Komitee ihm unüberfteigbare Hindernifje 
find, Der wird fi der mühevollen Urbeit des Aufſuchens würdiger Elemente jelbft 
unterziehen müſſen, wird jelbjt die ſchwierigen Ermittelungen anzujtellen haben, die 
zur Erfenntniß eines Nothftandes nun einmal unerläßlich find und die ein Verein - 
ihn gern abnähıne. Das dem Straßenbettler gejpendete Almoſen und jein ‚Gott . 
lohns taufendmal!“ genügt nicht; To billig, ſcheint mir, joll heutzutage das Gefühl 
erfüllter Nächftenpflicht nicht mehr erfauft werden können.“ 
% * 


* 

Herr W. Fred erbittet den Abdrud des folgenden Briefes: 

„Berehrter Herr Harden, als ich vor einigen Monaten in der ‚Zukunft‘ das 
Wort vom ‚Krad) des Kunſtgewerbes‘ wagte, bekam ich von ungebetenen Korreſpon— 
denten Allerlei zu hören. An die wenigen Briefe der Zuſtimmung ſchloſſen fich die 
vielem verärgerten Zuschriften Jener, beren Gefchäft bedroht ſchien. Mancher Künitler 
wußte [chmerzliche Ergänzungen zu geben. Ein Arditelt, deſſen Juterieur jet in 
der Großen Kunſtausſtellung zu fehen ift, trug mir den Beweis an, daß er die Aus— 
führung feiner Entwürfe durch allererfte Fabrikanten erſt erreicht Habe, als er auf 
jedes Honorar, fogar auf jede Betheiligung am Gewinn verzichtet hatte. Andere 
wieſen auf die verderblihe Wirkung der Preſſe Hin, tadelten die Fachpreſſe, die um 
de3 Nechtes zu Abbildungen wegen, die dann als unbezahlte Vorlagen den kopir⸗ 
wüthigen zyabrifanten zu dienen haben, fid) des Rechtes und oft der Möglichkeit zur 
gewiſſenhaften Kritik entjchlagen müſſen. Ein vielgelobter norddeutjcher Künjtler 
hatte den Muth, von mir zu verlangen, ich jolle ihm meine Kritik vor dem Erjcheinen 
vorlegen. Der Herausgeber einer weitverbreiteten deutſchen Kunſtzeitſchrift trägt 





4490 Die Zukunft. 


einem Künjtler an: wenn er das Reproduftionrecht für Ictne Arbeiten ertbeile, a: 

er fich den Nezenfenten wählen. Das find Anmerkungen über bie Einflüſſe der Fırk 

auf die Entwidelung des Kunſthandwerks. Die Kritil der Tagespreſſe Fonnte er 

bejonderes Stapitel füllen. immer wieder liejt und Ichreibt man non ber Erziee 

des Volkes zur Kunft; die Blätter mit ben Diaffenauflagen aber tum ihr Beftr: 

um jedes Kunſtgefühl des Volkes zu erſticken.“ 
*: 

Ort der Handlung: der Schwurgerichtsſaal des berliner Yandgerichtes. 
dem fiir den Angeklagten bejtimmten Raum liegt auf einer Matraße, an bie er st 
ſchnallt tft, unter einer Dede, die feine Wunden verhält, ein Menſch. Nur der blare 
Kopf und die unruhig zudenden Hände find ſichtbar. Ohne diefe nerudje Beryran: . 
der Hände, melden die Reporter, fönnte man glauben, daß ein Toter auf dem im 
provifirten Zager ruht; und fie fügen hinzu, nur mit ber Hilfe von Schußgleuten us} 
Serichtsdienern babe der Mann ſich aufzurichten verinodt. ft das Tribunal ur 
Spitalgemorden? Nein: der leidende Menſch, der da liegt, ift der Agent Thomaſchke. 
der im Unterfuhungsgefängniß geftern einen Seldftmordverjud gemacht bat um 
der heute in den Schwurgerichtsjaal gejchleppt worben ift, um fich gegen die Anficg 
zu vertheidigen, einen Wucherergemordet zuhaben. Wäre die Schilberung einer folder 
Szene aus Rußland oder gar aus Pretoria gelommen, dann hätten die Zeitumgen 
ihrem Entfegen beredten Ausdruc gegeben. Daß in Berlin ein fiecher, erfchöpiter, 
der Herrjchaft über feinen Körper beraubter Menſch vor Staatsanwalt, Gerichte bei 
und Jury um fein armes Leben zu fämpfen hatte, jchien nicht ber Rebe werth. 

- * * 
* 

Der Deutjche Kaijer rügt in einer Feſtrede mit weithin ſchallender Stimme 
den „polnifchen Uebermuth“, gegen den alle Deutichen fi) waffnen müßten, ur 
wird im djterreichiichen Reichſsrath von ſlaviſchen Politikern, die ſolche Senerali- 
firung ungerecht dünkt, in der dort üblichen rohen Tonart gefcholten. Der Erbe te: 
Bayernfrone kehrt, nachdem er in Mannheim eine landwirthſchaftliche Ausftelluns 
befehen bat, in Ludwigshafen ein und fagt in einer Tifchrede: „Ich komme Heut: 
von einem jchönen SSledchen Erde, das man ung vor hundert Jahren gewaltian 
entriffen hat.” Man: nämlich die zähringer oder hochberger Beherrfher des Groß⸗ 
herzogthums Baden. Uns: nämlich den Witteldbachern, denen bie einft kurpfälziſche 
Hauptſtadt von den einem Zaren verſchwägerten badischen Herren genommen war). 

- Ein Dann, dermorgen ſouverainer deutſcher Bundesfürit jein kann, erinnert öffentlich 
alfo an die Zeit des deutſchen Bartifularhaders und an den Unglimpf, den feinem Ge 
ichlecht eines anderen deutjchen Bundesfürften Ahn angethan hat. Der Kanzler dei 
Deutjchen Jteiches hält den europäiichen Großmächten ein Regiſter ihrer Sünden und 
Schwächen vor und wird darob in der ausländifchen Preſſe gefegmäht und verjpotret. - 
Ein Stantsjelretär ladet einen englifchen Journaliſten zu einem „Bierabend“. Emm 
anderer Staatsjefretär foramirt den Gaſt feines Kollegen beim Bier und bejchr 

tan in harten Worten, das gute Verhältniß, das zwiſchen Deutſchland und ( 
britanien fo lange beitand, durch feine Berichte verdorben zu haben. Unb. 
Staatsjefretär ijt der im Auswärtigen Amt twaltende, von demman ſich bes fei 
Diplomatentaftes verfehen zu dürfen glaubte. Die hier erwähnten Ereigntff-' 

fi in den beiden erjten Nunimochen abaejpielt. Für vierzehn Tage iſts geı 




















Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: M. Hurden in Berlin. — Berlag ber Zuluuft in 7 
Trud von Albert Damde in BerlinsSchöneberg. 








ie 











Berlin, den 28. Juni 1902. 
ET — ç e ü eC— 


Moritz und Rina. 


Kreſſin, Achatius 1902. 

Viellieber Bruder und (nicht viel) Senior! 
SI" Du auch immer Recht behältft! Sogar mit dem Tretgöpel; worüber 

der Herr unferer Fideilommißwirthſchaft Näheres melden wird. Und 
überhaupt. Auf die Dauer wirds eklig. Man traut ſich ſchließlich felbft nicht 
mehr; und was habe ic) verfchrumpelteBommeranze noch vom Leben, wenn * 
ich mein Urtheil, wie eine ſchiefe Schulter, einem Hohen Adel und verehrlichen 
Publilo verbergen muß? So oft ich Deine kaum noch ftandesgemäßen pattes 
de mouche auf dem Convert ſehe (jehr oft iſts ja nicht), überläufts mid): 
wieder ein Triumphgefang; wieder der Beweis, daß Deine Ergebeuite bes 
rufen gewefen wäre, zur Rettung deö Kapitols mitzuwirken. Ende Februar, 
als id; Marie bei Euch und anderen Möglichen tanzen ließ (das lange 
Würmden träumt noch von der partie fine bei Briftol), war id) fo ſieges⸗ 
gewiß; und als wir, zum Abſchied, in der Nacht vor dem Bismardtag in 
Deinem Berliner Zimmer faßen, zwiſchen Büſte und Bild des letzten Märters, 
und Deine frühe Probemobilmachung der Kiebitze reſpektvoll anſtaunten, da 
habt Ihr mich nicht untergefriegt. Du nicht und Adolf erſt recht nicht. Wer 
Euch damals wimmern hörte, mußte wirklich glauben, Preußen pfeife ſchon 
auf dem letzten Loch und Alles, was man aus der Kinderſtube ſo in ſeine 
grauen Jahre gerettet hat, werde übermorgen unter den Hammer komnien. 
Aber es ſaß nicht. Ich war in Form, wie unſere Centauren ja wohl ſagen, 

37 


492 Die Zukunft. 


und am Ende mußteft Du der ftörrigen Schweiter einen Knicks machen umd, 
nad) einer mehmüthigen Chamade, den Degen einfteden. Hatteft übrigens 
gut gepauft und brauchteft Dir feinen Vorwurf zu machen. Gegen Schwär- 
mer (bitte: Schwärmer I) kämpfen Götter jelbft vergebens. Das war mein 
Fall; und ic) ſchäme mich nicht mal. Wenn man das Bischen angenehmes 
Irrthum nicht mehr hätte, dann lieber gleich in die Klappe. Es war mem 
befte Zeit. Ich lieh Adolf grienen, zuckte nicht, wenn er bier den Nachbare 
erzählte, mein wohlinformirter Herr Bruder fei anderer Meinung als id; 
und hoffte. Der große Umfchwung mußte fommen. Und ich würde die Auf⸗ 
eritehung der alten Preußenherrlichkeit nod) erleben. Zum erſten Mal feit 
viertaufend Lenzen freute ich mich wieder auf die Frühjahrshüte. 

Soune, wo bift Du geblieben? Seit Wochen kann man fein anftän 
diges Stüd anziehen; die neue Federboa hat fi) von der Durchweichung 
noch nicht erholt. Ließe fich ertragen, wenn die innere Stimmung nicht fs 
troftlos wäre. Im wahrften Sinn. Wen habe id) denn ? Dem Mädel kam 
ich die paar Illuſionen doch nicht aus dem Blondfopf plärren. Und der rothe 
Adolf? Nein, danke; je viens d’en prendre. Der gudt mich immer fe 
lauernd an, als mühte ich ihm in der nächften Biertelftunde um den Hals 
fallen und rufen: „Du hatteft ja fo Recht, mein hoher Herr!“ Wird aber 
nichts; weder um den Hals noch Herr. Yehlte mir gerade noch. Er läuft 
Schon jegt rum wie der Dahn auf dem nüglichen Haufen. Und als er vor- 
gejtern die Kampherjädchen aus feinem Majorsrod nahm und auf meinen 
fragenden Blick mit liſtigen Aeuglein flötete: „Bülow ift Oberſt ge 
worden!" ... Ich fand fein Wort. Der zweite Fall in unferer Armee, jagt 
er; den erjten Sprung machte Bismard in Böhmen. Das ging. PBüloms 
Verdienfte um dieArmee jind mir Thörin fchleierhaft. Und ich kann Deinem 
Schwager nicht verdenfen, daß er nicht weiter mitfpielen will. 

Warſt Du wenigftens in Bonn? Oder unentwegt Berlin XW.? 
Muß jest doch zum Auswachſen fein. Selbft die exemplariſch geduldige Totte 
feufzt brieflich und weiß nicht, was Dich eigentlich) fo Tange im Hanfaviertel 
feithält. Die verschiedenen Raifonnirbuden find ja gefchloffen. Die ner, 
Iprochene Herrenhaustede haft Du Dir aud) verfniffen. Wilft am e 
was werden? Aber jekt wirds big Reval ja unpolitifch. Schonzeit fü + 
celtenzen. Gott fei Dank! Denn was die legte Beit an Politifchem brr , 
fonnte Unſereinen auf die höchſten Akazien treiben. 

Du haft alfo Recht behalten. Veit den Buren. Mit Bülow. 
Zoll, Zuder etlereste. Schließlich, wie ich via Möbelmaple höre. 





Morig und Nina. | 493 


noch die Wette gewonnen, daß His Majesty nicht im Juni gefrönt werden 
wird. Wir kriegen keine anftändigen Handelsverträge und Fönnen fehen, wie 
wir uns aus der Batjche helfen. Wir find der „arme Adel”, mit dem nichts 
mehr anzufangen ift. Solche Worte follen jetzt jede Woche fallen. Glissons 
... Kuno (nicht Tü-Tü natürlich, dem wohl, trog dem Generalmajor, die 
Scheidungsgeſchichte noch böfes Blut macht und der Anfichten überhaupt 
nicht risfirt) ſchwört Stein und Bein, diesmal kämen die Tiberalen wirklich 
dran; der Herr Ballin und Konforten. Dann würden wir erft was erleben. 
Ich bin nicht neugierig, halte aber, feit der janfte Bernhard im Landtag fo 
patzig geworden ift, Alles für möglich. Den Ichlimmften Stoß hat mir der 
Burenfriede gegeben. Woran foll man noch glauben? Die Sache ftand gut, 
die englifche Sippichaft hätte es keine ſechs Monate mehr ausgehalten: da 
Lafjen dieLeute fich mit ſchönen Redensarten fangen; oder mit Geld? Weiter 
hört man ja nichts mehr. Der gottverdammte Mammon regirt die Welt. 
Lächle nur und nenne mich wieder eine fentimentale Dame mit Runfelrüben- 
kultur. Ehe ich mic) dazu hergäbe, am Tiſch Deiner Mafchinenfrigen und 
Geldjuden zu figen, würde ich mir als Scheuerfrau mein Brot verdienen. 
Wie man ift, muß man verbraucht werden. Englands „Sieg“ ift die tolffte 
Schande. Und feiner von Euch Helden hat den Finger gerührt. 

Du jchüttelft das weiſe Haupt, weil ich Trübſal blafe. „Paßt nicht 
für Dich Boruffenwoman.” Gewiß nicht. Wäre aud) gern mit dem Herzen 
dabei und habe mir Mühe genug gegeben, Lichtpunfte zu finden. Marien- 
burger Rede (Du weißt ja: auf die Polafen Hatte ic) immer einen Zahn). 
Auch Aachen, trogdem ich mit Karl dem Großen, von wegen der Vielweiberei 
und der fchlechten Töchtererziehung, nichts Rechtes im Sinn Habe und mein 
gut lutherifches Herz für den Statthalter Petri feinen Plat hat. Aber es 
Hang doch wie eine Abjage an die Wajferpolitit. Und Adolf mußte den Kan- 
didaten gleich alarmiren, damit er das Schöne Glaubensbekenntniß unferes 
Herrn in die nächſte Sonntagspredigt bringt. Daß der langftielige Thielen 
endlich geht, hat mich auch einen halben Regentag lang vergnügt gemad)t. 
(Sonft feine Aenderung in Sicht? Schade.) Biel iſts nicht. Ich rüfte ab. 
Sojchr Alles mic freut, was ©. M. überdieglorreiche Zufunftder Deutjchen 
ſagt: Schwarz-⸗Weiß-Roth war nie meine Xieblingscouleur. Für mich muß 
es nicht das ganze Deutichland fein. Und fchwarzeweiße Hoffnungen bringt 
jelbjt meine Unverwüſtlichkeit feit der Ietten Enttäufhung nicht mehr auf. 

Sieht man ſich auf diefer Erde noch mal? An Berlin habe ich mir 
vorläufig den Magen verdorben; theils dieferhalb, tHeils außerdem. Mit 
37* 





494 Die Zukunft. 


Eurer Oper könnt Ihr keinen Staat machen und die übergefchnappte Xe- 
manpuppe, bie der Herr Sudermann für eine oftpreußifche Gräfin ausgich. 
bat mir den Theaterappetit gründlich vertrieben. Vielleicht im Oftobe 
Paris, wenns langt. ebenfalls wollen wir ſparen. Höchitens ein Bisde 
Dftfee, die dem ungen immer anſchlug. Wäre id) Dir nicht die gleichgil 
tigfte Kreatur, dann würde id) Dich bitten, Dich geneigteft für ein Weiler 
nad) Bommerland zubemühen. Schon um Deinem allmädytigen Inſpekte 
zu zeigen, daß Du nod) lebſt; und man Fönnte fich Allerlei von der Sad: 
ſchwatzen. Aber meine Epiftel wird Dich abfchreden. Melanchofie ift nid 
Dein genre. Na, im Verkehr mit meinem Kirchenpatron und Repolutionär 
(der grüßt) würdeft Du über Mangel an Heiterkeit nicht zu lagen haben. 
Veberlege. Und wenn nicht, ſchicke Totte (mille choses!), die ſich hier 
wohler fühlen wird als in Gaftein zwifchen Deinen diplomatifchen Greifen. 
Wir wollen rechtſchaffen hausfraulich fein und Die Politik in ben Fliegen⸗ 
ſchrank ſchließen. Es wird Zeit. Hätte ichs nur früher gethan! Deine Schuld 
wars nicht, fondern die 
Deiner noch immer unflugen, 
doc) nicht mehr vergnügten Schweiter 
Nina. 


Berlin, am Johannistag. 

Dunkelſte aller Goldreinetten, 

Der lieder wars: Johannisnacht. 
Nun aber kam Johannistag! 

Er kam wirklich. Und mit ihm der Wunfch, Dich, den Trojt meine 
Alters, wieder fo luſtig, fo ruchlos optimiftisch zu fehen wie an manchem frü- 
beren midsummerday, wo die Welt auch nicht mit Rofen und Bonbons 
gepflaftertwar. Komm. Wir wollen unfere Gräber, die Ruheſtätten unferer 
Kinderträume, mit Blumen ſchmücken, einen Pferdekopf ins Johannisfeuer 
werfen, ganz heidniſch, und dann ganz chriftlic) dem Herrgott danken, darf 
wir nicht fürs Heilige Römische Reich zu forgen brauchen. Im Ernft: mir 
braucheng nicht. Das vergiffeit Du immer. Daher der ftete Wechjel zmife 
himmelhoch jauchzend und zum Tode betrübt. Daher die grimmige 3 
adytung meiner „Frivolität“. Als obs einen Zweck hätte, ſich zu ſchind 
wenn man ohnmächtig iſt. Mir iſts auch nicht leicht geworden ; und Trium— 
gefühle, wie Dein Groll fie bei mir vermuthet: nicht die Spur. Nichts €‘ 
bafteres als Recht behalten. Dazu gehört Heutzittage gar nichts als ſchle 








Morig und Nino. 495 


Berdauung und die üble Laune, die hartnädig immer auf Zero jegt. Wenn 
ich nicht bi8 Mitte Juli durch Gefchäfte hier angefchiniedet wäre — Bauerei, 
Hypotheken und andere crux —, hätte ic) fofort die Koffer gepadt. Weils 
aber nicht kann fein, muß ich den Gichtfnoten wieder mal den Federhalter 
zumuthen. Viel Hoffnung habe ich nicht. Denn an Dir fcheitern all meine 
Künfte. Konnte Dich nicht befehren, als Du dem Morgenroth zujubelteft 
(das ich Schon damals für Bengalfeuerwert hielt), und werde Dich jet erft 
recht nicht in meinen Kahn lodlen. Aber in magnis... Zu Deutjch: ſelbſt 
die ältejten Geden wollen immer noch mehr, als fie Fönnen. 

Ich gebe Dir Alles zu. Eigentlich unnöthig, denn ich habe es, weil 
ich jo unbändig Hug bin, vorausgefagt. Du bift enttäufcht. Primo von den 
Buren, die Du Schon den legten Tommy am Darm des letzten Minenkönigs 
auffnüpfen ſaheſt. Yun haben fie fapitulirtund Dewet, der Dir faftein Heiner 
Bismard geworden war, ermahnt die Dranjebürger, in Treue dem king 
unterthan zu fein (der nun wohl nicht mehr lange Eduard heißen wird; die 
Krönung, an die bei Lloyds fchon vor Monaten nicht geglaubt wurde, ift 
heute auch offiziell abgejagt worden). Dein Pech, liebes Kind, daß jeder Pa- 
pierverderber Dir Jahre lang glaubwärdiger fchien als Dein frere pro- 
digue, den Du zu den Britenanbetern in die Wolfsſchlucht warfft. Dahin 
gehörte er nicht. Aber er hat die englifche Zähigkeit in der Nähe gejehen und 
wußte vom erjten Augenblid an, wie die Geichichte enden müffe. Den Finger 
Hater freilich nicht gerührt. Wozu denn? Wir habendasseriegsfeuerangefacht, 
wir mußten und konnten es löfchen und wären heuteeine hübſche Strecke über 
70 weg, wenn wir über den Kanal gerufen hätten: Das Ganze Halt! Die 
Franzoſen wären vor Freude aus dem Häuschen gelommen und Väterchen 
hätte fich eine neue Friedenspfeife gejtopft. Es follte nicht fein; und für 
hoffnungloje Sachen ftelle ich mich nicht heraus. Daß die armen Kerle, die 
von Brüfjel aus belogen wurden, daß die dickſten Balken fich bogen, nach- 
gaben, jobald fie die Wahrheit erfuhren, war vernünftig, wenn e8 uns aud) 
um eine Senfation gebracht hat. Frage mal Deine Bauern, ob fie Luft haben, 
ſich fur Ideale chlachten zu laſſen. Ja, wenn man fie mit der Klinge ins 
Teuer treibt; et encore! Woran man noch glauben joll? An Zeitungen 
jedenfalls nicht, hohe Yrau; da werben die hehren Gefühle verhöfert, wird 
immer irgend ein Tugendſüppchen eingerührt, daS auch nicht mehr im Min— 
deften ſtinkt. In der Heimath ift Alles herrlich ; aber draußen! General 
Mercier, Viscount Kitchener, Bobedonojzew! Das Entrüftungbedürfniß 
will Futter; und das wächlt nur fern von den Neichsgrenzen. Einerlei: 





496 Die Zuhmft. 


Dewet bleibt auch ohne Hintertreppenheroigmus ein Prachtkerl. HalteTr 
das Nähen zu, wenn Du an den Yügenfabrilen vorbeigehft, und ſparede 
Hochgefühl für Gegenftände, die Tu fennft, nicht von fremden Leuten a 
Treue und Glauben Hinzunehmen brauchft. Und Eduard Hat ja den Yoln. 
Chez nous hat nichts jic geändert und Deine Halbmaftitimmus 
fommt um fehrviele Bofttage zu fpät. Habe ic) Allen gefagt, die Hier Tran: 
randmienen (jchlechtefte Spekulation) umbertrugen. Was ift denn? Der 
„arme Abel" doc) nicht feit vorgeftern ausder Sonne. Natürliche und neth 
wendige Konfequenz. Deine — nidjt meine — Parteigenofjen langweale 
S. M. „Klagen, nichts als Klagen, Bittfchriften, nichts als Bittſchriften“ 
Der ſmarte Morgan, den er nach Kiel geladen hat, kann ihm interejlanten 
Dinge erzählen. Deshalb halte ich auch nichts von der großen Aftion, de 
jegt heimlich verfucht wird, um unfere Leute wieder palaisrein zu machen. 
Die befannten Granden an der Spite, von Udo big zu Guido mit den zmt 
Yamiliengrüften. Toutelalyre. Verjöhnung. Diagonale. Los vom B. d. 
Kanal. Wirdnichtzum erſten Mal angeſtrebert. Undzumehr oder minder rein⸗ 
licher Scheidung muß es ja kommen, wenn auch die Blindeſten ſehen, daß der 
Hochſchutzzoll vor die Hunde geht. Er iſt ſchon gegangen und würde nicht wieder 
kehren, ſelbſt wenn Bülow nicht an der Spritze bliebe. Was haft Du plötzlib 
gegen den Mann, daß Du ihm fogar Schnüärrod und Wadenftiefelnichtgönn®? 
Redetſich heiſer, lieſt alle Zeitungen, reift Hals über Kopf, wenns verlangt wird, 
und leiftet, was man von ihm erwarten konnte. Die Leute, die fich im Hinter: 
grund vorbereiten, ihn zu beerben, würden Dir nicht beffer gefallen. Pot 
bielsti hat mehr praftifchen Mienfchenverftand, rafchere Auffaffungfähigfat 
und die ganze Großhändlerei hinter ſich, kann aber die Botfchafter doch midit, 
wie die Kommerzienräthe, nedifch in die Rippen ftoßen oder beim Bierllet 
hochnehmen. Und Poſadowsky, der Ernfthaftefte, Gebildetſte (feine düſſel⸗ 
dorfer Rede war einzige Erguidung), Hat Feine Ausficht. Liberale Aera? 
Möglich, trogden die Prophezeiung ſchon etwas altbaden ift; vielleicht aud 
nur ewige Vogelfcheuche. Manche von uns wünjchen diefe Probe; Andert 
halten, mit Mallet du Ban, foldhes Rechnen auf gefteigerte Berwirrum r 
falſch. Natürlich frebfen auch die Verfühnlichen mit diefem Spul, 
hr nicht artig, fo fommt der Ballın! Hofuspofus. Als Bülow in. 
bertusjto mal, nur halb wohl im Scherz, hinwarf, der jüdische Her ' 
‚Hamburg - Amerifa » Linie könne eines Tages ganz gut Miinifter we 
klopfte S. M. ihn aufdie Schulter und fragte: „Warum benn nicht Kaı 
lieber Bülow?“ Seitdem fitts in den Knochen. Ich zweifle. Nicht ® 








Morig und Nina. 497 


DaB man jic) noch den einen oder anderen Möller holt, der fid) dann in Frei— 
heit dreifiren und blamiren mag. Aber an liberaler Firmirung. Die Ge- 
felifchaft hat nichts Reelles zu bieten, jo lange fie nur ein Häufchen in die 
Barlamente fchict, und wäre mit dem Centrum nicht leicht zufammenzus 
ſpannen. Das aber ift die Hauptjache. Der reineBlödfinn, immer zu thun, 
als gäbe ed nur Rechts und Links. In der Mitte fizen die Mufifanten. 
In Bonn war ich nicht, aber im Herrenhaus, als der Sorquitter die 

Häupter der anwejenden Boruffen, Vandalen pp. zählte. Dir wurde etwas: 
- flau. Du kennſt mich lange genug, um zu wiffen, daß ich kein Froſch bin und 
mit Wonne den Stürmer heute noch auf die Platte fette. Bebänderte Po- 
litik aber mag ich nicht und finde unklug, den Demokraten ausdrücklich zu 
fagen, wie Unfereiner von der Corps» zur Hofcharge den Weg gemacht hat. 
Die Eouleur wird jet zu oft gezeigt. Wenn die Jungen den hohen Brozent- 
fat derarrivistesfehen, geht die Unbefangenheit zum Deibel. Werden ſchon 
frühgenugdas Schufternlernen. Einftweilen brauchen fie noch nicht8 Streb- 
fames zu denken, wenn der Kantus fteigt: Was kommt dort von der Höh’? 

So rebet Einer, der nad) feiner Schwefter wohlüberlegter Meinung 
„was werden will.” Heiliger Fridolin! Was denn? Am Ende, wie Bis⸗ 
mard nach 90, Oberfter der Berfchnittenen. Deshalb blieb ic) aud) unter 
den Peers ftumm. Wollte mir nicht die Karriere verderben. Inniges Bei⸗ 
leid zu diefer Kateridee. Nein: ic redete nicht, weil ic) nichts zu jagen hatte. 
Bon der Leber weg wäre e8 tant bien quemal gegangen. Aber manjchleppt 
die Tradition nun ja mal mit fi), geht nie über eine bejtimmte Grenze hin 
aus, ift an allen Eden mit Zwirnsfäden feftgebunden. Ziehe ich vom Leder, 
dann follens feine Xufthiebe fein; vor der Königlichen Staatsregirung in 
Ehrfurcht erfterben, ihr zwei Röslein mit drei Dörnlein überreichen: Mahls 
zeit! Höchſt verlodend, das volle Herz vor verfammeltem Kriegsvolk auszu- 
ſchütten; nachher aber käme man fich doc) wie fahnenflüdhtig vor. Das felbe 
Gefühl (im Kleinen), das den Mann im Sachjenwald zurüdhielt und Cha- 
miſſos Wort citiren ließ: Die Situation Hat für mich fein Schwert. 

Hier tft es ſtill und Lottes Ungeduld nur zu begreiflich. Aufgeriffenes 
Straßenpflafter, fchlechte Quft, faum eine lohnende Whiftpartie zufammen> 
zufriegen ; und vor jeder Sandkiefer bie Sehnfucht nach anftändigem Laub⸗ 
wald. Es ift ein Kammer. Zähle die Tage, bis Neferve Ruhe hat. Politik 
hätte mich nicht gehalten. Nitshewo. Thielen find wir los. ‘Der eine Tote, 
ohne den die Seffion nicht mehr jchließen kann. Lange ſchon Blattſchuß 
(kein Glückwunſch zum Siebenzigften); und der Echec mit dem Homburger 


498 Die Zutunft. 


Bahnhof. An Talentfülle ift er nicht geftorben ; der richtige Dutzendburen 
frat, der fich enorm vorlommt, wenn er morgens in den Thiergarten reikl 
Miquel, der ihn uns befcherte, hatte ihn im Magen; „ich weiß“, jagte e 
nad) der Entlaffung, „daR ic) mandjen Fehler gemacht Habe: ba geht mein 
ſchlimmſter“; und wies auf Thielen, der eben den Hut vor ihm zog. De 
Schwarze Adler fet ihm leicht. Seit Pobbielski, ſehr ſchlau, abgelehnt hat, 
war Budde der propidentielle Mann. Auf jeden Fall viel beſſere Nummer. 
Herr Iſidor Xoewe, beidem er mehr als da8 Doppelte eines Miniftergehalted: 
hat, fcheint ihn beurlaubt zu haben. Wäre nicht übel. Iſt er nach drei, vier 
Jahren verbraucht, dann kann er, mit Minifterpenfion, wieder Waffen fahr 
ziren. „Beurlaubt zur Dienftleiftung als königlich preußifcher Stant« 
minifter.” So muß e8 fommen, da Induſtrie und Bank ung die brauchbar: 
ften Leute wegfchnappt. Mammon? Stimmt. Mußt e3 eben leiden. 

Deine anderen Lichtpunfte glänzen mir wicht allzu freundlich ind 
loyale Gemüth. Fromm war ich nie und Das war mein ®erberben; für dt 
Würdigung hriftlicher Krieger, Elektriker, Torpedoſchleuderer fehlt mir das 
Drgan. Polen ift noch nicht verloren, weilman ein paar taufend Kolonijten 
binloctft; die Sache fordert eine andere Tage. Der marienburger Schlad- 
ruf hat die ganze Slavenwelt mobil gemacht und ich bin noch fo altfränfiid, 
daß ich den Monarchen nichtgern im Getümmel, nichtgern politisch aggreſſu 
jehe. Der Glaube an das germanische Weltimperium ift beneidenswerth, 
das Öffentliche Bekenntniß aber nicht geeignet, ung Tyreunde zu werben, zu⸗ 
mal man ung fo wie fo ſchon ausfchweifende Pläne zutraut. Uebrigens wird 
der Erfahrene ſich hüten, aus Reden Scylüffe zu ziehen. Abivarten und rudig 
Blut bewahren. Das wird der allerlegten Boruffin ſchwer und daher bie 
Thränen. Doc wir „Edelften“ find nicht mehr — verzeih, Reinette meines | 
Herzens, das anftögige Wort — der Nabel der Welt. Die Karre geht weitet, 
auch wenn wir unterdie Räder kommen. Ihr Schwarz. Weißen denkt: Preußen 
find wir. Das ift vorbei. Die perfönliche Leiftung, nicht der ererbte Beſitz⸗ 
anſpruch wird heute gewogen. Unangenehme Wahrheit, die aber gejchludt 
werden muß. Augen zu und runter damit! Paß malauf, wie Du Dich dam 
wieder des Yebens freuen wirjt. Trotz Adolf, dem Philofophen. Webrig““* 
kannſt Du Did) ja zu den frifirten Löwen Schlagen. Sig und Stimme zwiſt 
Loe und dem nicht tot zu friegenden Alfred. Werde Dirs nicht nachtray 
Denn Eier Yicbden haben wirklich nod) einen wafferdichten Bafallen in 
dem um mwohlaffeftionirte Gefinnung bittenden Bruder und Jammerma 


Moris 
[2 








Aus der Zeit der Hörigleit. 499 


Aus der Heit der Hörigkeit”). 


ieleiht an Feiner Stelle Deutſchlands Tagen fo fchroffe foziale Gegen- 

fäte neben einander wie zwifchen Rhein und Weſer. In Kleve-Mark 
war die Landbevölferung fo gut wie ganz frei, in Minden-Ravensberg ſowohl 
wie in Tedienburg- Lingen zum größten ‘Theil börig und bie Bedingungen 
Diefer Abhängigkeit waren drüdend genug, mochten fie immerhin meiftens 
ſchriftlich firirt und auch infofern erträglicher fein, als der berechtigte Guts⸗ 
Herr nicht noch obenein, wie im Oſten, ſtaatliche Rechte befaß. Im Ganzen 
betrachtet, ftand das mindenfche Kammer-Departement dem Often näher als 
Die beiden weftlichen Nachbarprovinzen Kleve und Marl. Der Eigenbehörige, 
wie er genannt ‚wurde, hatte dem Gutsherrn die herfümmlichen Dienfte zu 
Leiften, unter denen das Geſetz befonders die Fuhren zwei Meilen weit vom 
Hofe des Herrn namhaft machte. Beim Gutsherrn ſtand es, ob er die 
Dienſte in Natura oder ein Aequivalent in Geld nehmen wollte; für die 
Dienſte felbft gab es feinen Lohn. Hatte demnach der Gutsherr feinen 
Vortheil von der vorhandenen Bevölkerung, fo forgte da8 Geſetz umgelehrt 
aud dafür, dag nicht etwa eine Uebervölkerung auf dem Hofe entitand. 
„Hat ein igenbehöriger viel Söhne und Töchter, fo erwachſen und zu 
dienen tüchtig fein, fo erfordern nicht allein des Herrn, fondern aud ihr 
eigen Beſtes, daß fie die Eltern, ſofern fie derfelben nicht benöthigt find, 
von fih thun und bei Fremden innerhalb Landes dienen und zur Arbeit 
angemwöhnen laflen: al worauf der Gutäherr mit zu jehen hat, damit nicht 
unnöthige Leute auf dem Hofe fein und derfelben Unterhalt ſolchem zur Laſt 
falle.” Dem Gutsheren ftand gegenüber allen Cigenbehörigen das Recht 
der „leichten Züchtigung“ zu. Wollte der Eigenbehörige Geld auf die Stätte 
feihen, fo hatte er die Einwilligung des Herrn einzuholen. Die Eigen- 
behörige, die unehelich gebar, hatte dem Gutsherrn den fogenannten Bettmund 
mit vier, ſechs oder acht Thalern zu bezahlen: eine Abgabe, deren ſich der 
Gefeggeber freilich ſchon einigermaßen ſchämte; denn er fügte hinzu: - „wo 
ed gebräuhlih und durch eine lange Obſervanz hergebracht.“ Wollte fich 
ein Eigenbehöriger verheirathen, fo hatte er ben Konſens des Herrn einzu⸗ 
holen, ihm „die Perſon, welche er heirathen wollte, vorzuftellen und, daß fie 
von gutem Leumund, Niemandem mit Eigenthum verwandt, auch die Stätte 
duch Fleiß und ein Stüd Geld zu verbefiern vermöge, darzuthun.“ ben 





*) Ein Fragment aus dem Werk ‚Freiherr vom Stein‘, in dem der 
göttinger Hiſtoxiker die erjte detaillirte Darftelung der für die Anfänge des 
modernen Preußenjtaates wichtigften Zeit giebt. Der erfte Band des Werkes, 
das im Verlag von S. Hirzel in Leipzig erjcheint, trägt den Sondertitel „Bor 
der Reform. 1757 bis 1807 und wird in ben nächſten Tagen ausgegeben. 





500 Die Zuhmft. 


jo war die Einwilligung des Herrn erforderlich, wen der Eigenbehirg 
Sohn oder Tochter ausfteuern und ihnen den Brautfchag oder {mit Eier 
aus den Mitteln der Stätte mitgeben wollte. Bei der Annahme des eiger 
behörigen Erbes ſtand dem Gutsherrn die Abgabe des Weinfaufs*) zu 
Nur der Anerbe felbft war von ihr befreit, Braut oder Brãutigam ak, 
die fremd auf die Stätte famen, hatten fie zu bezahlen; fie wurde um ih 
peinlicher empfunden, da ihre Höhe nicht gefeglich feftftand. Au was für 
ſchändlichen Mißbräuchen gerade diefes Recht Anlaß gab, erhellt aus der En 
ſchränkung, zu der ſich felbft der den Gutsherren wahrlich nicht abgeneige 
Geſetzgeber veranlaft ſah: der Gutsherr müſſe jih billig finden laflen um 
den Anerben nicht ohne Noth von der Heirath abhalten; für den dall if 
nach Ablauf von zwei Jahren die Ehe noch nicht zu Stande gekommen It: 
und der Gutsherr fonft wider die Braut nichts einzuwenden habe, wırk 
der Weinkauf normirt. Nur dem Gutsheren ftand es zu, Freibriefe p 
ertheilen. Er nahm dafür eine willfürliche Gebühr, die oft fo groß wii 
daß fie die Mitgift der Freigelaffenen verfchlang; es ift vorgelommen, -f 
ein Gutsherr von einem hörigen Mädchen, das nichts als fünf Thalu 
Brautfchog hatte, für die Freilaflung mehr als das Doppelte forderte. Tu 
graufamfte aller Rechte aber war der Sterbfall. Starb ein Eigenbehörigt, 
fo fiel die Hälfte feiner fahrenden Habe dem Herrn zu, dem es wieder hr 
ftand, die Abgabe entweder in Natura zu beziehen oder ihren Werth ar 
Ihägen zu laſſen. Schulden, die etwa der Verftorbene gemacht hatte, murden 
nicht in Abzug gebradht: was zur Folge hatte, daß die igenbehörigen I 
gut wie feinen SPredit beſaßen; denn welcher Gläubiger hatte Luft, ihnen # 
leihen, wenn er Gefahr lief, mit feiner Forderung auszufallen? 

Auch hier, wie bei dem Stapelrecht, handelte es ſich um ein Kalt 
dad nur noch ein hohes Alter für fich geltend machen konnte und länge 
Unrecht geworden war. Die Rechte der Gutsherren hatten einen vernünftiger 
Sinn gehabt, fo lange fie dem Hörigen Gegenleiftungen gewährten, namentlih 
ihm durch ihre Waffen befchirmten. Sie wurden Unfinn und Plage, MM 
das Schwert des Ritters eingeroftet, aus dem Ritter ein Rittergutsbeiktt 
geworden war und der Ehuß nicht mehr von ihm, fondern vom Landesherm 
gewährt wurde. Nicht Iange nach dem Iegten Aufgebot der Rittergeſchwader— 
am Anfang des achtzcehnten Jahrhunderts, begannen die agrarifcgen Rekormen 
in den weitfälifchen Territorien der Krone Preußen. Es Tiegt in dr M 
der Dinge begründet, daß neue politifche Ideen leichter bei einzelne 
Etehenden Eingang finden als bei Storporationen; ber Mächtige erlaı 


km u - 20 


*) So genannt von dem Wein, der zur Beitätigung des Peru 
trıınlen wurde. 





Aus der Zeit der Hörigkeit. 501 


ben Berluft, den ihm eine Reform auferlegt, bald anderswo einen Erfag, 
den der Ohnmächtige und Unbemittelte nur durch fremden Beiftand gewinnt. 
In dem Etatsjahr 1722/, erfegte Friedrich Wilhelm I. auf feinen Domänen 
Weinfauf und Sterbfall durch eine jährliche Abgabe; an bie Stelle dir 
ungewiſſen, unberechenbaren und deshalb doppelt empfindlichen großen Leiftung 
trat, als eine Art Verficherungprämie, die befcheidene regelmäßige Leiftung: 
höchſtens 22/3 Grofchen, wenigftens 22/, Pfennige von jedem Morgen. - 
Miochte fie auch nicht ganz gerecht vertheilt worden fein: es war eine unleug⸗ 
bare Berbefferung. 

Schwieriger war die Lage bei den Eigenbehörigen der Rittergutäbeliger. 
Denn deren Rechte, eine nicht unerhebliche Einnahmequelle*), galten als un: 
antaftbares Privateigenthbum**) und außerdem beftand ein fonftitutionelles 
Hindernig. Die Stände von Minden, übrigens nur noch aus Abeligen bes 
ftehend, Tamen nicht, wie der Landtag von Kleve⸗Mark, alljährlich zur Prüfung 
des Budgets zufammen; immerhin war ihnen, wie wir fchon fahen, das 
Recht geblieben, neue Steuern zu bewilligen und bei neuen Gefegen mit— 
zumwirfen: fo beftimmte e8 der Homagialrezef von 1650, der beim Weber: 
gang an Brandenburg zu Stande gelommen und feitdem, wie alle diefe 
Grundgefege, von jedem neuen Monarchen beflätigt war. So wirkten denn 
die Stände mit bei ber Cigenthumsordnung, die 1741 für Minden und 
Ravensberg erging. Da fie im Wefentlichen das biöherige den Hörigen fo 
“ ungünftige Recht kodifizirte, fo regte fi bald die Kritik. Diefe hatte zu- 
nächft die Wirkung, daß die Gutsherren von ihren Rechten nicht mehr den 
äuferften Gebrauch machten; es findet fih das Wort, fie feien milder als 
das Geſetz. Weiter erflärten jie fich (zuerft die Domlapitnlaren, dann die 
Stände von Minden überhaupt) bereit, die fchwerften Laſten ihrer Eigen- 
behörigen auch gefeglich zu erleichtern, indem fie vorfchlugen, nad) dem Vor: 
bilde der Domänen die fogenannten unbeflimmten Gefälle zu firiren. Doc) 
jollte Das nicht gefchehen, ohne dar ihnen dabei neue Bortheile zufielen. 
An die Stelle des Sterbfalles und des Weinkaufes follte die Hälfte des 


— 





*) Es iſt jogar behauptet worden, daß die adeligen Herren „ihre Sub— 
ſiſtanee faſt allein aus den Eigenthumsgefällen zögen”. Spannagel S. 176. 

**) Publikandum, Berlin, fünften September 1794 (Novum Corpus Con- 
stitutionum Prussico-Brandenburgensium 9, 2397): „So fünnen und werden 
auch S. K. Dlajeität ben Gutsherrichaften die von ihren Unterthanen zu fordern 
habende Hofedienjte, die ihr Eigenthum find, die fie rechtmäßig erworben haben 
und deren fie zur Fortſetzung ihrer Wirthichaften nicht entbehren können, nun 
und nimmermehr durch einen Machtſpruch entziehen oder die Gut3herrichaften 
nie nöthigen, auf diefen Dienſt Verzicht zu thun oder dieſelben wider ihren 
Willen in Dienjtgelder zu verwandeln.” 


























502 Die Zukunft. 


Reinertrages der eigenbehörigen Stätte treten; beim Freilauf follten 10 vu 
zent de8 Brautfchages, mindeftens aber & Thaler bezahlt werben; um gm 
Entwerthung gejihert zu fein, forderten die Betenten, daß daS Jade 
Duantum in Roggen entrichtet werde; enblich verlangten fie, der Staat mögt 
den Gutsherren die Gerichtsbarkeit über ihre Hörigen, die er hier — anded 
als in den öftlichen Provinzen — ſelbſt ausübte, überlaffen. Das wars 
Poftulate, die in ihrer Gefammtheit das Maß der Billigkeit fo überfliege, 
dat man faft zweifeln follte, ob fie völlig ernft gemeint waren. Über d 
waren die felben Stände, die den wahrlich nicht übertriebenen Reformen ie 
neuen Geſetzbuches, das den preußifchen Staat vom Gemeinen Recht emp 
pirte, heftig opponirten und ſich auch fonft durch engherzige Geſinnung me 
vortheilhaft außzeichneten. Weiter erſchwert wurde die Lage dadurch, dei 
innerhalb der königlichen Behörden felbft Dleinungverfchiebenheiten beftaubr 
Ein Theil behauptete übereinftimmend mit einer wiederholt geäußerten ftändiiga 
Marime, daß die Sache fich überhaupt nicht zu einer gefetlichen Regelum 
eigne; da es jih um Rechte von Einzelnen handle, fo könne die Firm 
nur duch ein gäütliches Abkommen zwifchen Herren und Hörigen erfolge 
Die „Regirung“ von Minden, wie die meiften Provinzial Juftizbehörde 
den ftändifchen Anfprücen günftiger als die Kammern, erklärte gar, de 
Firirung fei überflüſſig. Darüber war nicht nur das nene Allgemeine Geſer 
buch vollendet, e8 war auch da8 Provinzial: Gefegbuh für Minden mm 
Ravensberg in Angriff genommen, das die bejonderen Eigenthünlichkeits 
diefer Provinzen kodifiziren follte: eine neue Eigenthumd- Ordnung wur 
bearbeitet. Der Hörigen bemächtigte ſich die Beforgniß, daß hier ihre ungüuſtige 
Rechtslage verewigt werden möchte, und in ber That erklärte ber höde 
Fuitizbeamte des Staates, Großkanzler Carmer, es fei nicht eigentlich dr 
Abſicht, ein neues Geſetz für den Bauernitand zu machen, ſondern nut, die 
Dunfelheit und Unvolljtändigfeit ber bisherigen Eigenthumsordnung # 
erklären und zu ergänzen. Gleichzeitig aber rüdten von Welten her Shen 
und Gefege, die dem Freiheitbeitrebungen der niederen Stände günſtig wart, 
in faft greifbare Nähe und machten überall den tiefften Eindrud.*) Se 
Wunder, daß die Zahl der Abhilfe heifchenden Vetitionen, die aus dieſen 
Streifen an die Behörden gelangten, beftändig zunahm. Die adeligen Her 
ſchlugen ſelbſt vor, einige Deputirte des Bauernſtandes zu hören, und der 

*) In der Altmark z. B. verbreitete ſich im Sommer 1794 die Nad kr 
daß der König die Natural-Hofdiente der Unterthanen aufgehoben habe. Mi 
Gemeinden, namentlih auf den Gütern der Alvensleben und Sculent $ 
traten zuſammen und beriethen über die Mittel, wie die Befreiung durczni 
fei; eine Gemeinde fagte den Dienſt geradezu auf. ©, die Dokument 7 
Novum Corpus Constitutionum 9, 2395 ff. 


Aus der Zeit der Hörigkeit. 5083 


damalige Präjident der mindenfhen Kammer, Steind Vorgänger, pflichtete 
"ihnen bei. Dem aber wiberfegte fich heftig die mindenfche Regirung, mit 
der Wirkung, dag nun auch der Sfammerpräfident e3 bedenklich fand, bei den 
gegenmärtigen Zeitläuften die Hörigen zufanımenzurufen und votiren zu 
laſſen. Eben jo wenig wollten die Minifter, Carmer und Heinig, Etwas 
von der dee wiſſen. armer erörterte: der Bauernftand habe nun einmal 
in Minden feine ftändifchen Rechte; eine Aenderung diefer Berfafiung könne 
nur mit der äußerjten Borjicht und nicht ohne Befragung der übrigen Stände » 
vorbereitet werden; dagegen müfje man von den Föniglichen Behörden voraus: 
ſetzen, daß fie eben deshalb, weil der Bauernftand nicht repräfentirt fei, defto 
mehr bemüht fein würden, Webergriffe der anderen Stände abzumehren. Faft 
noch ftärker war die Abneigung von Heinig, der nicht einmal zulaſſen wollte, 
dag ein Mitglied der Sammer den Auftrag befäme, die Eigenbehörigen zu 
tepräfentiren.*) Nach dem Grunbfag: nicht? duch das Volk, aber möglichft 
viel für das Bolf, entfchieden ſchließlich — es war die Epoche, da die Franzofen 
an den Rhein vordrangen — die beiden höchſten in Betracht kommenden 
Kollegien de3 Staates, | daß die von den Eigenbehörigen der „Privatguts- 
herren“ nachgeficchte Fixirung ihrer ungewiffen Eigenthumsabgaben erfolgen 
Tolle. Ueber die Ausführung im Einzelnen feien die zum Korpus der Stände 
gehörenden Gutsbeſitzer zwar zu hören, aber nur in ihrer Eigenfchaft als 
Stände, nicht als Individuen. Damit ſchien nun die Sache erledigt: Aber 
in der Konferenz, die auffallender Weile erſt Monate nach wiederhergeftelltem 
Frieden ftattfand, wiederholten die Stände ihre alten übermüthigen Forderungen 
und Niemand von den anweſenden Beamten des Staates beſaß den Muth, 
ihnen entgegenzutreten. Wer anders blieb für die Geplagten übrig als der 
Monarch? Als Friedrich Wilhelm I. im Sommer 1797 in Pyrmont weilte, 
um dort Heilung zu fuchen für fein in Wahrheit unheilbares Leiden, über- 
reichten ihm Deputirte der hörigen Privatbauern, mitten unter ben raufchenden 
Feſten einer verſchwenderiſchen Hofhaltung, eine Bittfchrift, die die Einführung 
einer jährlichen Abgabe für die aufzuhebende LXeibeigenfchaft, befonder3 für 
Sterbfall, Weinkauf und Freilauf begehrte. 


Göttingen. Ä Profeflor Dr. Mar Lehmann. 
*) Er meinte, daß „biefe Art Leute der Erfahrung nad) wähnen würden, 
daß fie aufgefordert wären ober jetzt die Gelegenheit vorhanden fei, mehrere- 


Rechte oder Nachgebungen, als ihnen zufommen und bewilligt werden können, 
zu verlangen oder gar zu erzwingen”. 


Ds 


304 Die Zukunft. 


Medizinische Moden. 


SD Weifen finden fich Heutzutage mit den ſich zum Prophetenamt berufra 
Slaubenden in dem Gefügl zufammen, daß wir Aerzte in umjere 
Kunft — in unferer Wiffenfchaft noch nicht fo ganz — wieder einmal dit 
vor einem der Wendepunfte ftehen, an denen unſere Berufsgefchichte fo reich 
iſt. Da liegt denn Einem, der fo lange mitthut wie ih — ich bin ia 
dreißig Jahren Arzt — die Berfuhung nah, einen Rückblick zu wagen md 
fich jelbft und dem geringen Theil zuhörender Mitwelt einen Rechenſchait 
bericht zu erftatten. Aerztliche — oder, wie man heute lieber fagt: mm 
zimfche — Geſchichte ift leider ja ein Liebhaberſtudium geblieben; das Bemühe, 
fie freuz und quer zu durchforfchen, wird wie eine Gelehrtenfchrulle beläcklt. 
Das ift zu bedauern. Denn wenige Disziplinen hätten jo nöthig wie gerad 
die Medizin, aus der Gefchichte zu lernen, fei e8 auch nur, um mit Fauſt, dem 
Sohn eines Modedoktors, zu fehen, „daß wir nichts willen können“, und zu 
erfahren, wie kluge Leute durch Schaden oft noch klüger geworden find. 

Wer nun nicht die Zeit oder die Yähigfeit zum SHiftoriographen bat 
— und ih befenne offen, daß Beides mir fehlt —, Der muß ſich, wenn a 
überhaupt das Wort ergreift, begnügen, die Gefchichte in Gefchichten vor: 
zutragen, nicht fyftematilch, ſondern aphoriftifch, auf die Gefahr, nicht ober 
eigene Schuld mifverftanden zu werden. Trotz den üblen Erfahrungen, di 
ich gerade in Iegter Zeit wieder einmal mit einer feltfamen Art wiſſenſchait⸗ 
licher Vorausſetzungloſigkeit und mit einer Ethik machen mußte, die mir oft 
einen doppelten Boden zu haben fchien, möchte ich den Verſuch folcher Tar: 
ftellung nicht fcheuen. Auch in Deutfchland wird e8 noch immer ja Menides 
geben, die ihren Nächten nicht nach den über ihn berumgetragenen Legenden 
beurtheilen, ſondern vorurtheillos auf Das hören, was er in guter Abſicht 
ihnen zu ſagen trachtet. Meine gute Abjicht ift, wie die vieler Anderen vor 
mir, einft mit dem ſtolzen Bewußtſein ausgezogen, das Ungeheuer Publikum 
fdnel überwinden zu können. Wie e8 mir dabei erging, wie und wo die 
Abſicht ſchließlich landete: davon will ih hier Einiges erzählen. 

In der Medizin — id gebrauche das eingebürgerte Wort, ohne & 
als eine unfere Berufsthätigkeit deckende Bezeichnnng anzuerfennen — herrichen 
Diode und Veethode faſt noch unumſchränkter als auf anderen Gebieten. 
Ih bin fein Sprachforſcher, kann mich weder mit Stumpf noch mit Mau 7 
meſſen und will deshalb gar nicht erſt verſuchen, dem Urſprung biefert # 
allmächtigen Wörter, die mir nicht nur im Klang ähnlich ſcheinen, ı 
nachzuſpüren. Was ich darüber fagen könnte, wird Jeder leicht bei ! 7 
oder bei Brockhaus finden, 

Wie Dioden entftchen? Man follte die Inhaber großer Sd.. ⸗ 





Mediziniſche Moden. 505 


geſchäfte einmal darüber in einer Enquete vernehmen. Charakteriſtiſch iſt, 
daß die Moden fcheinbar ganz unvermittelt und ohne zureichenden Grund 
in die Erſcheinung treten, al3 wären fie ohne überfommene Entwickelung 
und aud nicht aus der ein Ziel fucheriden Erwägung des Einzelnen geboren, 
fondern mit einem Schlage der Zufallslaune willfürlich wechfelnden Tages: 
lärmens entfprungen. Ich fage: fcheinbar, denn feine Wurzeln, weitabgelegene 
Zufammenhänge werden bei eifrigem Suchen immer zu finden jein. Im 
eriten Augenblid klingt e8 beinahe wie ein Paradoron, wenn man von Moden 
in der Medizin fprechen hört. Man fann fih nur ſchwer zu der Vor- 
ftellung zwingen, daß ein Lebensgebiet, in deſſen Boden fo uralte Wurzeln 
ruhen, Willfürlichfeiten auögefegt fein foll, die aus Illogismen der äußeren 
MWerdegänge, aus zufälliger Laune einer Epoche ftammen. Heilkunde, ärztliche 
Kunft und Wiffenfchaft find höher differenzirte Aeußerungen altruiftifcher 
Triebe, die auf Feldern blühen, wo Schugbedürftigfeit neben Nächftenliebe, 
Bernunft neben Humanität, Xoleranz bei primitivfter Sittlichleit dem Boden 
vor Aeonen urbar gemachten Mutterlandes eutfpriegen. Wenn die Aehren 
diefer Felder jedem leifen Hauch ich neigen, der die atmoſphäriſchen Schwankungen 
des Menjchheittages ausgleicht, fo muß man folche Unficherheit beklagen. Nicht 
an Reformationen oder Revolutionen denke ich dabei, fondern an die Einwirkung 
zufammenhanglofer Willfürlichfeiten; nicht an Aenderungen der Aggregatzuftände, 
fondern an Wallungen, Maſſenverſchiebungen, die dadurch entftehen, dag aus 
mehr oder minder tiefgelegenen Schichten Blafen an die Oberflädye geworfen 
werden, Phänomene, denen ein Augenblicksleben beſtimmt ift. 

Begeben wir, um im Vergleich zu lernen, ung auf ein Nachbargebiet. 
Der Kultus der Furcht, die Domäne der religiöfen — jetzt beinahe auch 
ſchon ber „mediziniſchen“ — Bedürfniffe kann und manches Nügliche er— 
fennen Ichren. An Naturereigniffen, wenn ich fie fo nennen darf, an Um— 
wälzungen aller Art hat es hier nicht gefehlt und Grundpfeiler, die man 
für unerfchütterlich hielt, find im Lauf der Zeiten geftürzt. Auch Gegen: 
fäge, die den außen Etehenden geringfügig fcheinen, haben zu erniten Kon— 
fliften geführt. Die eine Religiongenofjenichaft giebt ihrer Andacht dadurch 
Ausdrud, daß Nie, nad) ihren Ritus, das Haupt entblößt, die andere dadurch, 
daß ſie e8 verhüllt. Die Einen glauben fi ihrem Gott näher, wenn fie im 
Freien, die Anderen, wenn fie in Paläften ihın opfern. Der braudt Blut, 
Diefer Wein, Jener Wein und Brot für den Altardienftl. Hier wird der 
Gottesbegriff in Hundert, dort in taufend, da nur im drei Stategorien ge- 
fpalten und von einer vierten Seite wird die Einheit gepredigt. Um folche 
Verſchiedenheiten find langwierige Kriege geführt, Länder verwüſtet worden; 
ganze Epochen haben davon das Gepräge empfangen. Wer aber ficht Heute 
noh eine zwingende Nothwendigkeit, die den Prieſter, das ausführende 


— 


506 Die Zulkunft. 


Organ, veranlaffen müßte, eine Monſtranz heute mit ber rechten, morgen 
mit der linfen Hand feiner Gemeinde barzubieten, heute eim langes, mergr 
ein kurzes, ‘ein rothes, ein grünes Gewand anzulegen? 

Bor ähnlichen Räthfeln ftehen wir in der Medizin. Nochmald: ı 
rede nicht von Ummälzungen, auch nicht von Heinen Korrekturen, die te 
Kampf um die Erlenntniß in fchütternden Wehen geboren ober in tägliche 
Erfahrung Pfennig vor Pfennig zufammengefpart hat. Nicht einmal der 
gewaltige Exbfolgefrieg zwifchen Klyſtier und Aderlaß auf der einen, Chem 
und Sezirtifch auf der anderen Seite foll hier erwähnt werben; und vos 
Mikroſkop, Röntgenftrahlen, Spektralanalyfe will ich jet nicht reden. Sea 
wollen wir nur, wie das Handeln des Arztes beftimmt wird durch vermein 
liche Nöthigungen, die nicht aus logiſch entwidelten Wechſelwirkungen m 
fiehen, fondern aus heute geborenen, morgen vermorfenen Forderungen. 

Betrachten wir die Mode xar’ zgoxriv, die aus taufend befannten m» 
unbelannten Gründen in den verfchiedenen Zeitabfchnitten mit verfchiedene 
Schnelligleit wechfelnde Form unferer Kleidung. Es ift nicht ſchwer, im 
fehen, daß ein nen auftauchendes Kleidungſtück, daß oft fchon der weris 
derte Schnitt der Gewänder Folgen für das Gleichgewicht des Organisur 
haben und damit den Arzt zu veränderten Anordnungen drängen kann. Te 
befanntefte Beifpiel bietet uns das Korſet. Bevor diefes merkwürdig, 
anfangs als ftügendes Gerüft für budlige Weiber erdachte Schönheitmitkl 
in die Mode kam, war ein Theil jener Vorgänge am weiblichen Eingemde 
trat und Nervenſyſtem unbelannt, die wir heute auß der Schnürfeber folgen 
zu müſſen glauben, und die damaligen Aerzte mußten viele Erſcheinmga. 
die wir heute auf dieſem bequemen Wege und erflären, ihrem Verſtändnij 
auf ganz andere Art zugänglich zu machen fuchen. Denn wie gefährfid; und 
aud daS leidige Mieder fcheint: wir hätten Scheuflappen vor den Auge 
wenn wir glaubten, daß all die Frauenleiden, Blutarmuth, Nervenſchwäch, 
Berdauungftörung, die wir oft durd) das bloße Korſetverbot befeitigen, vor 
ber Korſetmode nicht ſchon aus anderen Urfachen beftanden hätten. De 
ift ein Beifpiel für viele. Ale Sleidungftüde, die eine — wenn aud noch 
fo Heine — Wenderung im Blutumlauf veranlaffen: der Gurt, der Hemb 
tragen, der Hofenträger des Diannes, der enge, ber ſpitze, der hochhadigt 
Schuh, alle auch, die eine plögliche Aenderung im Kontakt der Haut mi "" 
atmofphärifchen Einflüffen herbeiführen: Hut, Haartracht (Chignon!), Ta F 
ausfchnitt, Krinoline, Handſchuh, Größe des Sonnenſchirmes, Schleier, | ? 
die Größe und Befchaffenheit unferer Wohnräume und Möbel: das 3 
und vieles Andere kann von einem zum anderen Tage den Arzt vor ! 
Aufgaben ftellen. Wenn ih noch darauf hinmweife, daß Moden des g ⸗ 
ſchaftlichen Zuſammenlebens, Zeitdauer und Schauplatz ber Gefelir » 





f 


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Mediziniſche Moden. 507 


Aufenthalt im gefchloffenen, gut oder fchlecht gelüfteten Räumen, Theatern 
Salons, Wirthshäuſern, Sportmoden mit Bewegung in Freien, Alpinismus, 
Moden im Eſſen und Trinken, Rauchen und Schnupfen, Alkohol, Thee, 
Kaffee, Coca, Aether, Morphium und taufend andere jofort ſich kundgebende 
oder erſt langſam ſichtbar werdende Beeinfluſſungen des Organismus heute 
oder morgen zu bis dahin unbekannten Phänomenen des geſtörten Gleich: 
gewichtes führen fünnen, fo habe ich Einzelnes von dem Vielen erwähnt, 
daS die Grenzen ärztlicher Berhätigung immer wieder verrüdt. 

Die Abhängigkeit des Arztes vom Publifum, die im Verkehr mit dem 
Kranken des Arztes Stellung herunterdrüdt, hat aber noch andere Folgen 
gehabt. In den Tageszeitungen, in Auffägen über die Fortichritte der 
Hygiene, in ftatiftiichen und nationalöfonomifchen Betrachtungen über gewiſſe 
Zurusanfprücde, in Gefchäftsberichten induftrieller Unternehmungen findet nıan 
Lobgeſänge auf die ins Ungeheure wachfende Steigerung des Bäderbefuches 
und der über die finfterften Mächte fiegende Menfchengeift wird gepriejen, 
weil ganze Orte von Badereifenden eben und die Aktien chemifcher Fabriken 
Hoch über Pari fichen. Das mag, als eine Förderung des Wohlftandes und 
menschlichen Selbjtbemußtfeins, ja auch nicht ohne gewifien Nutzen jein. 
Wer aber mit dem Lichtſtümpfchen Erkenntniß fuchender Vernunft dieſe Dinge 
beleuchtet, sicht doch auch mächtige Schatten von all dem Glanz ausgehrn. 
Es ijt damit wie mit den von Tag zu Tag in reicherer Fülle vom Briefträger 
Unfereinem ins Haus gebrachten, bald fettleibigen, bald ſchlanken, ſtets aber 
elegant gefleideten Brochuren, den Korintherbriefen, mit denen die Chemilalien- 
fabrifen und Droguiften den Arzt beehren: nicht auf Namen und Slcid, 
jondern auf den Inhalt kommt e8 an. Wie oft handelt es fi nur um die 
Mode diefed Jahres, vielleicht diejes Quartals! Mag fein, daß eine „Heils 
quelle“ — aud) jo ein blendendes, leeres Wort! — auf den menſchlichen 
Organismus einen — nod) nirgends befriedrigend erklärten — günftigen Ein 
fluß übt. Man mag auch im Fund einer glücklichen Eyntheje, meinetwegen 
im Antipyrin, ein meltgejchichtlicheS Ereigniß ſehen. Wer aber iſt jo blind 
im Glauben, daß er annehmen könnte, diefe oder jene Heilquelle fei wirklich 
in all den Millionen Fällen der unumgänglid; nothwendige Faktor für die 
Wieberheritellung des Gleichgewichtes, all die gefchrumpften Lebern, die ver= 
fetteten Nieren und Herzen, verkalkten Gefäße oder Gelenke kehrten in den ges 
wünfchten Zuftand der Integrität zurüd unter dem Einfluß heißen oder falzigen 
Brunnenwaſſers? Sole „Heilung“ follte nur in einem Modebab möglich 
und nicht auch auf anderem. Wege zu erreichen fein? Im einzelnen Tall 
wird der kluge Skeptiker antworten: Sch weiß es nicht. Wer aber generell 
jagt, gewiſſe Kranke feien nur an bejtinunten Orten mit Erfolg zu behandelıt, 
Ter dankt als Arzt ab. Wir Alle haben in ſehr vielen Fällen gefehen, dar 


38 





508 Die Zukunft. 


e3 aud ohne Modebad geht, und in noch häufigeren, daß auch das Modekad 


nicht die erhoffte Heilung bringt. Wenn ich an den von WBadedireftioıe 
und Droguiften aufgeitellten Fetijch glaubte, würde ich licher heute als morge 
Sozialdemokrat werden; denn eine Geiellichaftordnung, die nur dem Reicta 
der ind Bad reifen und theure „Mittel“ bezahlen fann, die Möglichler x 
Geſundung gewährt, hätte feinen Anſpruch auf längeres Beſtehen. Juı 
Glück ift aber der Prachtkerl, der in Wildenbruchs „Haubenlerde* ee 
Franken alten rau predigt, nur wenn ſie da8 Geld zu einer Badereiſe hirt 
könnte jie gefund werden, eine fomijche Figur. Und komisch kommen wı 
Alle vor, die den Namen der „Krankheit“ ſchnurſtracks mir dem Namen td 
Bades beantworten, das unfehlbar helfen müſſe. So einfady wie im Anti: 
maten, der nach der Nickelſpende jofort mit der Tafel Chokolade aufment 
erledigt ſich die Pflege leidender Menſchen — natura sanat, medicus curat- 
denn doch felbft heute noch nit. 

Jahrhunderte lang war die damals noch teleologifch geiinnte Menc 
heit dem Schöpfer des AUS dankbar dafür, daß er im fernen Amerika er 
Baunı gepflanzt habe, deſſen Ninde das kalte Fieber „heile“. Nach und uk 
aber lernte der Menſch auch diefe „Wohlthat der Natur“ entbehren. &: 
Knorrs Verfuhen waren wir auf die Geberlaune des Lieben Gottes mt 
mehr angewiefen: wir verfchafften uns die Vortheile feiner antipyretüdt: 
Gaben aus eigener Kraft. Wir konnten ſchließlich ſogar Temperatime 
herunterfegen. Damit aber war der Ehrgeiz de8 homo sapiens nod mi 
befriedigt. Phenazetin, Kairin, Salipyrin, Antifebrin, Laktophenin, Pau: 
midol, Analgeiin, Wigränin e tutti quanti wurden erfunden. Und as 
wir zwanzig Jahre lang Temperaturen herabgefegt hatten, Kamen wir dahinter. 
dar wir auf dem Holzweg geweſen waren und daß e8 für den Kranken mit 
beſſer ift, wenn wir jeine gefteigerte Temperatur nicht herabfegen; denn mt 
haben in diefer Erhöhung der Temperaturgrade eine Steigerung der organiide 
Lebensvorgänge zu ſehen, die cher zu unterftügen als zu unterbrüden it 

Nun Tann man mir fagen: „Was fällt Ihnen ein, diefes Schmanfe 
dieſes Hin und Zurück in unferer Erkenntniß mit Launen vergleichen a 
wollen, die heute Frackſchöße lang wachſen laſſen, um fie morgen wie 
zu Stugen? Das Beſſere iſt eben der Feind des Guten; umd Irren ı 
menſchlich.“ Ganz fchön; aber ich frage, wie die Kriminaliſten: cui no! 
Tie Erfindung des Antipyrins hat das Chinin fo verbilligt, daß fi. 19 
jeder Bauer fein Gramm Chinin im Topf haben kann. Jetzt hat N 
erkannt, dag Cure Erfindung nicht von der fegenreichen Tragweite dit 


Ihr geträumt hattet. Habt Ihr nun die praftifchen und wiſſenſche cn 


Konſequenzen daraus gezogen? Wein: noch immer werden die rau t 
heute lang und morgen Furz getragen, wird heute Phenazetin y* 


— — — — — 


Medizinifche Moden. 509 


Zaftophenin verordnet. Kein vernünftiger Arzt kann in diefen Mitteln eine 
dauernde, unentbehrliche Bereicherung des Arzeneiſchatzes fehen. Jeder aber 
bat mit feinem Mittel „die beiten Erfahrungen gemacht”. Und fo läuft 


der eine Theil der Aerzte nebit dem Kranlengefolge dem Eulaktol, Euchinin, 


Piperazin, Sozojodol, der andere dem Protargol, dem Itrol, dem Argentan 
nach Der Frack wird weiter nach der Mode geſchnitten. Um dieſe Be— 
hauptungen mit weiteren Beweiſen zu belegen, brauchte man nur den Katalog 
einer beliebigen chemifchen Fabrik vorzulefen. Soll aber die Heilfunde eine In— 
duftrie fein und nicht da3 Wirken eines Nebenmenfchen für und auf den Anderen? 

Soll id) noch mehr Moden nennen? Es war Mode, „Medizin zu 
ftudiren“; dann gehörte es zum guten Ton, „lich als Spezialiften niederzu- 
fallen”; Mancer macht die Mode mit, die Sommermonate hindurch in einem 
Dade zu praftiziren und während des Winters im Lande umberzuziehen, bei 
den Stollegen feine Aufwartung zu machen und ſie um Lieferung von Patienten 
zu bitten. Soll ich von den Apothefermoden fprechen? Oder von der Mode, einem 
grogen Arzt ein paar Wenferlichkeiten abzuguden und diefe Errungenſchaft 
dann ſelbſtbewußt und marktichreierifch als neues Heilverfahren zu verfünden? 

Alle Ehrfurcht und Bewunderung, die wir für die wirklich brauch— 
baren, wirklich bedeutenden Keiftungen der Wiſſenſchaft hegen, darf uns nicht 
abhalten, auf Mißſtände Hinzumeifen und frei von der Leber über “Dinge 
zu reden, die unferen Stand fchänden, unfere Vertrauenswürdigkeit unter- 
grahen und nur Denen Nugen bringen, die man — oft mit Recht, doc) 
nicht inınter mit genügender Selbitfritit — „Piufcher* nennt. Nie ift mir 
der aberwigige Einfall gekommen, die Wilfenfchaft, der wir unferes Denkens 
Baſis verdanken, herabzuſetzen. Sch habe ſelbſt viel zu lange ftreng wiffen: 
Ichaftlich gearbeitet — und mich für folche Arbeit ſchon vor einem Biertel- 
jahrhundert fogar, woran ich fachliche, nicht Ichimpfluftige Gegner dod einmal 
erinnern möd)te, des von Virchow gefpendeten Urtheil8 zu erfreuen gehabt —, 
als dar ich daran denfen könnte, mein eigenes Neft zu befhmugen. Erſt 
der Flug aus dem Neſt aber lehrt den jungen Bogel die Welt feines Wirken 
kennen. So macht auch die Praris, die täglich die Schulweisheit korrigirt 
und individuell anzınvenden zwingt, erft den Arzt. Das Gefhichtchen von 
dem Meifter unſeres Wiffenfchaftfaches, der feinem Droſchkenkutſcher rieth, 
nit der verlegten Hand einen Arzt aufzufuchen, iſt mehr als ein Scherz; 
und der Ehrentitel des „praftifchen"“ Arztes will, wenn er auch vorher ſchon 
auf dem Mejiingichild fteht, erft im Sanıpf des Lebens gewonnen fein. 

Die Medizin, heißt c3, fei eine erafte Wiflenfchaft. Zum Begriff der 
Erafiheit gehört doch vor Allem aber das vollkommene Aufgeben des Sub- 
jektivismus, gehört die Möglichkeit, eine allgemeine, abfolut giltige Norm 
aufzuftellen. Das aber ift in unferer Kunſt nicht zu erreichen. Internationale 


38* 


510 Die Zukunft. 


Konventionen können Gericht und Maß regeln, den Preis von Gol ın 
Silber, die Bedingungen der Juderproduftion feftfegen, die Kalenderordumz 
ändern, die gemeinjfame Verfolgung beftimmter Berbrechensarten beichliere, 
rene Ideale aufitellen, alte neu herausftaffiren, Sittlichfeitiwerthe prägen um 
ihrer Münze das Monopol fihern. Kein Kongreß aber, fein Bertrag an 
fein Ukas Tann beftimmen, zu welchem präzifen Zeitpunkt eine Gleihgemdi- 
flörung an irgend einem Drgan ihre Merkmale jo wechlelt, daß fie aus da 
Kategorie der afuten in die der chronifchen Affektionen übergeht. Wohl ir 
der Tag ſich beftimmen, an bem der Soldat aus Reihe und Glied m de 
Neferve tritt, der Arbeiter Anfpruch auf Invalitenlopn hat. Aber mi 
einmal für den Eintritt von Sommer und Winter können wir eine folk 
Verfügung erlafien, trogdem wir über die fosmifchen Vorgänge dod ni 
gut unterrichtet find. Und noch weniger jind Borausbeftimmungen, methotiz 
Berechnungen da möglich, wo es fih um Menfchen handelt, deren individut⸗ 
Verhältniffe uns felbjt bei genauer Bekanntſchaft oft genug noch Rätt 
aufgeben. Ich ſcheue mich nicht, offen zu fagen: Die Medizin ijt fm 
exakte Wifjenjhaft und ihre Methoden können nur jo lange auf Erafıke 
Anfpruch machen, wie fie am toten Material ausgeprobt werben. In de 
Praris verfagen fie fehr häufig und nur fritiflofer Glaube wird auf % 
ſchwören. Ein Beifpiel. Die Wörter „akut“ und „hronifch“ follen Zufänk 
im Ablauf von Störungen bezeichnen, deren Charakteriftif an ſich belam 
it. Dan ift übereingefonmen, eine Affektion bi8 zur Dauer von ungelä 
ſechs Wochen afut, darüber hinaus chronifch zu nennen. Wenn ein Schuupa 
aber vier Wochen dauert, ift er doch wohl ſchon chronisch; und Zuyrus 
Rungenentzändung, Scharlach find in der achten Woche ihrem Charakter nao 
noch eben fo akut wie in der eriten. Das zeigt die Unzulänglichfeit eint 
Terminologie, die in allen Methoden ja eine große Wolle fpielt. 

An dem bequemen Geländer der Methoden findet der praftiide Ay 
nur höchſt felten einen feiten Halt. Wer fie, .für den Gebrauch im Krantım 
zimmer, wicht im Laboratorium, erfinden will, ſchöpft ins lecke Faß Mt 
Danaiden und darf ſich nicht wundern, wenn er in der Fieberhige ſchließlih 
verſchmachten muß. Und felbit int reinen Aether der Theorie fahen wit 
wenn ein Pfeiler der Gefammtanfhauung ind Wanken gerieth, fo oit eint 
ganze, für felfenfeft gehaltene Methodologie zufammenftürzen, dag man bei— 
nahe ſchon von Methodenmoden fprechen fünnte. Nie aber, fcheint mi fſ. 
feit den Tagen der „Dredapothefe* und der Harnbejchauer, der pral 
Werih der Methoden fo maßlos überfhäst worden wie heutzutage ' 
find fo weit gefommen, dat Aerzte, die den Kranken nie geſehen haben, 
behandelnden Kollegen vorwerfen, er habe gegen das Geſetz der Merhod 
ſandigt. Sie wiſſen nicht, ob die befonderen DVerhältniffe diefes Ma ® 











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2 


204 


Medizinifche Dioden 511 


Weibes, Kindes nicht einen chirurgiſchen Eingrifſ, überhaupt jedes ſchroffe 
Vorgehen verboten; aber fie ſagen mit dreiſter Stirn: Der hat nicht ges 
ſchnitten! Ad bestias! Er ift ein Ketzer, denn er hat gegen die heilige 
Methode verftogen. Der von ſolchem Bannfluch Getroffene kann ſich dann 
nur mit dem Bemuftjein tröften, dag er dem Kranken, fo weit ers ver: 
mochte, geholfen hat. ‚Und darauf kommt es ſchließlich dod) eher am ala 
auf den Stadavergehorfam gegen die von der Mode gefrönten Methodologen. 
Wer von einer Methodologie redet, macht jich feiner Webertreibung 
ſchuldig. Die Zahl der Methoden ift Legion: Allo: und Homdopathie, Hydro, 
Elektro-, Drganotherapie, phyiitalifche, hypnotiſche, diätetifche Methode, — 
wer nennt all die Namen! Hatte die Empirie zuerft, meinetwegen mit Hilfe 
der Inſtinkte und Deffen, was man Zufall zu nennen gemöhnt ift, gelehrt, 
wie man Wunden reinigt, verbindet, einen eingedrungenen Fremdkörper ent: 
fernt, fo gefellte ſich bei auffteigender Dententwidelung das Bedürfnik hinzu, 
die Kauſalität zu erkennen, aus der Wirkung auf die Urfache zu fchliegen 
und diefe Urjache zu befeitigen oder unfchädlich zu machen. Heute haben 
unjere Behandlungmethoden fich taufendfach differenzirt und unfere Erkenntniß— 
"meihoden haben jchon ihre eigene Gefchichte. Sie kommen und gehen mit 
dein Tage, leiften faft alle gleih Gutes und bleiben alle den an fie ge= 
Inüpften Hoffnungen einen mehr minder großen Reſt ſchuldig. Natürlic. 
Denn in jedem einzelnen Fall wäre das von ber Methode Empfohlene je 
nach den individuellen Befund zu modifiziren, — und daran fehltS mand)= 
mal. Nicht die Methode aber, fondern das Hinifche Bild des einen be: 
ftiminten, in feinen perjönlichen Verhältniſſen abgegrenzten Kranken lehrt 
erkennen, warum diefe Urfache hier diefe Wirkung haben konnte. Die Methode 
erleichtert den Eclaireurdienit; doch jie ift vom Uebel, wenn ber General- 
ftabschef ſie, wie ein für alle künftigen Kriege gefchriebenes ftrategifches Rezept, 
in die Dianteltafche ftedt. Er muß den Kriegsſchauplatz vor Augen haben, 
die Proviantirung, Munition und die pfychiiche Beichaffenheit des Feindes 
kennen, che er die Entfcheidung trifft. Ale Methoden können ihn unter 
Umftänden zum Sieg führen. Alle Methoden können die Hebung der Kräfte 
eines Kranken bewirken. Nicht auf die Methode, fondern auf die Berfön: 
lichkeit de8 Arztes fommt es an, der jie anwendet. Men, not measures: 
das Wort gilt hier fo gut wie in der Politil. Wenn wir tüchtige Aerzte 
beranzichen, die den Muth zur Verantwortung haben und nicht ängftlich ſtets 
nah dem Spezialiften oder Techniker fchielen, dann brauchen wir die wiſſen— 
Ichaftliche Bergfexrerei nicht, die raftlo8 zur Erklimmung neuer Gipfel treibt. 
Sehr oft ftellt fi dann heraus, dag diele Höhen niedriger find als die 
vorher befannten oder daß man don ihnen mindeſtens nicht mehr fieht, als 
man früher ſchon fah. Daun wird fchmell wieder heruntergeflettert und in 





512 Die Zukunft. 


Eilmärfchen geht3 zurüd, — zu den alten Methoden, die man beiier m 
verlaffen hätte, weil fie cum grano salis noch immer ganz jchmadhaft Ast. 
Um des Kaifers Bart ftreitet, wer mit Feuereifer darüber diskutirt, eb dx 
den Stoffwechfel fördernde reichlichere Blutzufuhr nach einzelnen Körper: 


theilen durch Veſikantien oder Beitrahlung, durd einen Spiritusumih 


oder ein heißes Lokalbad eher erreicht wird, ob in allen Fällen und in rien 
Stadium diphtherifcher Erkrankung Serumeingefprigt, der Lupus mit chemi'che 


oder mechanischen Mitteln zerftört werden fol, Nur vor dem und fürde | 
befonderen Fall fünnen folhe Fragen ausreichend beantwortet werden. Ur 


Wege führen nah Rom. Bon dem Zwed der Reife, der Ausdauer, bee 
Temperament, Gepäd, Vermögen der Reifenden hängt die Wahl des Weges a 

Zur Bermehrung unferer Erfenntniß trägt viel weniger das Beobattn 
und Regiftriren der Thatfachen und Phänomene als deren Deutung md de 
Einſicht in ihre Zufammenhänge bei. Gerade aber die bloße Beobadtez 
das Negiftriren, Syſtematiſiren, Katalogijiren ift in der legten Epodk * 
Medizin zu fehr in den Vordergrund getreten. Jeder will etwas as 
fehen, Jeder etwas vor ihm noch nicht Beohachtete8 zum allgemeinen Beſe 
beifteuern. Zum Eichten und Aſſimiliren bleibt unferer Zeit felten zit 
Nur raſch vorwärts zu neuen Methoden! Diefer Drang fann der in ka 
Laboratorien wirkenden Schaar wiſſenſchaftlich Arbeitender Nutzen bringe, 
ihren Forfchereiter vor der Erfchlaffung bewahren; in der ärztlichen Frurs 
aber ermeift er ſich nur allzu oft als unheilvol. Er macht Moden mi 
muR, wenn die Mode ſich nad) kurzer Frift überlebt hat, nach neuen Methode 
ausjpähen, deren Folge dann wieder eine andere Mode if. Die novarıl 
rerum eupidi find nicht zu entbehren, vielleicht auch nicht die Werkmeitter 
und Norarbeiter der kliniſchen Induſtrie, für die fchon ein eigenes Handbech 
nöthig wäre. Der Arzt aber ſoll nicht zum Modiſten werben, der lem 
Kunden mit denn Schlagwort füngt: Das ift das Allerneufte! 


Da ift ein Landſtrich. Der Line geht achtlos, der Andere raſtlos barübt 
hin, ein Dritter jagt darauf, ein Nierter bearbeitet den Boden und em | 


hundertfache Frucht, ein Fünfter gräbt in die Tiefe und findet werthoole 
Geſtein. Das Land war das felbe, aber die Verwerthung und befonder di 
Menſchen waren verfcieden: daher der verfchiedene Ertrag. Auch di 
Methoden können ſehr verfihieden verwerthet werden. Richtig, für ge 
gebenen Fall paſſend wird fie nur der Arzt anwenden, der dieſes N ie 
würdig iſt. An folhen Nerzten fehlt es nicht; aber fie danfen ie mi 
nicht der Methode. Und wiederum jind die Methodiker, die ‘ un 
Phyiologen, Mikroſkopiker wegen ihrer Wiſſenſchaft noch feine Ye... ich 
leicht ſind fie mehr, — einerlei: die Grenze kann nicht deutlich genug 
werden. Einen Arzt nenne id) Den nur, der, ohne abergläubig ar“ de 





— — —_ — — — 





——-. 





Selbftanzeigen. 513 


zu ſchwören und blind nachzubeten, was Andere vorgebetet haben, ohne nach 
dern Ruhm eines Diagnoſtikers, Spezialiſten, Modedoktors zu trachten, gelernt 
Hat, dar Erkrankungen de3 Einzelorganismus nicht immer fo verlaufen, tie 
die „Krankheit“ im Lehrbuch befchrieben fteht, und der nach gründlicher Er- 
forſchung der Gefammtindividualität des Kranken ihr zu geben vermag, was 
ihr im Augenblid gerade fehlt. Ein folcher Arzt wird die Kranken behandeln, 
fi) nit von ihnen behandeln, den Namen des neuften Modebades, Mode— 
mittels, der neuften Modemethode abtrogen laffen und aufathmen, wenn 
nach al den Leuten, die mit einer fertigen Diagnofe, mit dem Namen ihrer 
„Krankheit“ in der Taſche, in feine Sprechſtunde fommen, fi) ein natürlich 
enipfindender Menſch einflellt, der nach guter alter Weife nicht3 weiter jagt 
als: „Mir fehlt Etwas und ich möchte wieder gefund werden." Dazu ihm 
zu helfen, ift des Arztes Pflicht. Nichts Anderes. Das fcheint ein nicht 
fchwer zu erreichendes Biel. Aber ein Menjchenleben vol harter Arbeit ift 
oft nicht lang genug, um diefe Piliht in den raſch auf einander folgenden 
Wechſelfällen des Tages erfüllen zu lehren. 


Großlichterfelde W. Profeſſor Dr. Ernft Schweninger. 
os 


Selbftanzeigen. 


Falſche Feuer, ein Roman aus dem deutfchen Sankt Peteröburg, Hermann 
Gojtenoble, Berlin 1902. 





Es werden nächſtens zweihundert Jahre, feit ‘Peter der Grobe den Schwer- 
punkt der ruſſiſchen Entwidelung aus dem Binnenlande Moskaus an die jumpfige 
Kujte der Oſtſee verlegte; zu feinen Helfern berief er vor Anderen deutiche Männer 
und deutjche Kultur. Cs ijt deshalb nicht unbillig, daß auch fie ihre Jubel— 
bilanz ziehen; umd jie werden eingeitehen müſſen, daß fie, aus taujendunddrei 
Gründen, heute eine Einbuße zu verzeichnen Haben, eine Einbuße am Werth: 
volljten, was der Menſch befigt, an fraftwoller Lebendigkeit und Entwidelung- 
fähigkeit. Im Ruſſenthum aufgehen fonnten, wollten und follten fie nicht; fic find, 
wie faum ſonſtwo eine deutjche Kolonie, durch und durd) deutich geblieben. Das 
heißt: fie reden deutich, denken deutſch und find jo gut wie ausſchließlich Vroteftanten; 
nur dürfen jie gegen nichts protejtiren, Eönmen feine neuen Gedanken fchaffen 
und haben nichts zu reden als Das, was längſt gefagt worden tft. ES ift ber 
itrengfte Konjervatismus, aber nicht der einer Weltanjchauung, fondern einer 
Nothlage. Sie bilden eine ethnologifche Inſel, an deren zerriffener Hüfte immer— 
fort die jlaviiche Brandung naat, und nicht in der Schöpfung neuer, höherer, 
lebendiger Werthe willen jie fich zu wehren, fondern nur durch die granitene 





514 Die Zukunft. \ 


Starre grundſätzlicher Zelbjtbefchränfung in alfen eigentlich Menichheit und Kal: 
bewegenden Tragen: Wiſſenſchaft, Kunft, Religion. Diefe Werhältniite meize 
Vaterſtadt, unter denen ich viel gelitten Habe, wollte ih zu Nug und ıyıonmm 
aller Deutichen fehildern. Am Faden einer erfundenen Geſchichte reihen iA 
all die tupiichen Vorgänge, Menſchen und reife, die unvergänglich find, weil 
wejentliche Kräfte immer wieder ſich in diefen Formen verwirklichen; die Fe 


jonen kommen und gehen, die Ereigniffe braufen vorüber, aber immer wien | 


fräujelt ji) die Chberfläche des Stromes, wo fein Bett uneben ift. Schauts 
und Licht trifft daher nicht fo ſehr die einzelnen Geftalten wie eben die Zuftänte 
die ich jo nur Schildern konnte, weil ich ſie durchlebt Habe. Und meil ſie cn 
der Bergangenheit angehören, konnte ich diefe Ermnerung frei vom Alfzuperida 
lichen gejtalten. Daß ich trogdem nur Urperſönliches geben konnte, verjiet 
fich ja eigentlich von felbit; woher man aud) die farben auf ſeine Palette nehme 
mag: den Pinfel führt doch die eigene Hand, der eigene Geiſt. 
Charlottenburg. Dr. Eduard von Maycer. 
3 
Alpine Majeſtäten und ihr Gefolge. Vereinigte Kunſtanftalten A.:C. 
in München. 

Jeden Monat kommt ein Folioheft zur Ausgabe, das mindeſtens zwanzit 
Anfichten von der Gebirgswelt bringt, natürlich zum weitaus arößten Theil au: 
den bayerijchen, ſchweizeriſchen, öſterreichiſchen, italiſchen und franzöfiichen Alpe: 
gebieten; gewiſſermaßen zum Vergleich werden aber auch mitunter andere Fe— 
biraslandicaften gezeigt: Skandinavien, England, die Pyrenäen, Karpathen. 
der Kaukaſus und Ural, Dimalaya und Kordilleren n.j.w. Für tadellofe pbote 
graphiſche Aufnahmen, feinjte Reproduktion, beftes Kunftdrudpapier und klarca 
Druck ift geforgt und die Bilder, die uns in alle Theile der alpinen Welt führten, 
jind fo gut ausgeführt, Daß man vielfach fogar die bejondere Art des Berg 
gejt ins unterscheiden Fan. Jedes Deft kojtet eine Mark, jeder Jahrgang ſden 
zwölf Heften wird eine furze populärwilfenichaftliche Beichreibung beigegeden 
ift in einem abgeſchloſſenen Bande käuflich. Wir glauben, in diefem PBradtwetl, 
das grüne Matten, Schneelawinen und Gleticher, haftig zu Thal ftürzende Bödr 
und von Felſen umſäumte Bergjeen zeigt, jeden berechtigten Wunjch erfüllt zu 
haben, und entnehmen dieſem Bewußtſein den Muth, e8 ben deutfchen Alpiniſter 
nicht nur, ſondern allen Naturfreunden zu empfehlen. 


München. Vereinigte Kunſtanſtalten A.-®. 
® 


Naricte des Geiftes. Leipzig. Hermann Seemann Nachfolger 102. 
Der Autor zeigt hier in Form philojophijcher Aphorismen die Want 9 
und Zelbiterzichung — wenn man will: Genejung — einer im Neid mi 
hrijtlicher und pantheiftiicher Anichanungen fozufagen geborenen Seele zu i. 
Gegenſatze, dem Heiliges und Unheiliges mit gleicher Ehrfurchtloſigkeit angreife 
Skeptizismus und der Vereinigung dieſer beiden Weltanſchauungen in 
Hoffnung: dem harmoniſchen Menſchen. Der geiſtige Menſch, der das „Geiſt 
üherwindet, iſt die höchſte und letzte Form des Geiſtigen. Nun wird et 


— — — — 


Selbſtanzeigen. 515 


den neuen Typus zu zeugen, der alles Gute und Schöne der Menſchheit ver— 
einigen ſoll, den harmoniichen Menſchen. Ohne die herrliche Krankheit Geiſt 
wäre der Menſch Thier geblieben. Doch hat uns der Geiſt ſelbſt Mittel ge⸗ 
geben, feine Schäden zu erkennen, ihrer Herr zu werden. Geiſt bekämpit den 
Geiſt, Gegengift tötet Gift. Der Autor will dazu beitragen, die Gefahren und 
Furchtbaren Schäden unharmoniſcher Beiltigkeit zu bannen, den Weg, den er 
felbjt gefunden, Anderen weiſen und fie ſtark machen, auf ihın auszuharren. Daß 
fo virle geiftige Menſchen unferer Zeit tief leidend find, weiß man. Woher der 
Schmerz? Weihe Mittel zur Geſundung? Der Autor gelangt zu feinem trojt- 
loſen Agnoitizismus, indem er diefen ſchweren Fragen entgegenichnut. An die 
Stelle de3 von ihm Niedergeriſſenen ift er Neues zu feßen bejtrebt und zwei 
große Aerzte der Scele begleiten und ftüßen ihn bei diefem Wagniß: Mar 
Stirner und Friedrich Niegiche. | 

Wien. Dr. Mar Meffer. 

s 

Baldurs Tod. Ein Märdenfpiel in fünf Aufzügen von Paul Schmidt. 

Leipzig 1902. Heinrich J. Naumann, Preis 2 ME, 

Mein Drama kommt wie der märkiſche Siegfried aus dem reaftionärjten 
Vager: e3 ijt in Jamben gefchrieben und gereimt. Daß die wechjelnden Bilder 
des vierten Aftes mit unferer rüdftändigen Zwijchenvorhangs-Mtafchinerie nicht 
aufgeführt werden können, ohne ihren Einbrud ganz zu verfehlen: Defjen bin ich 
mir bewußt. Armes Jahrhundert, deffen Maſchinen Wolle Ipulen und Garn drehen, 
taujenpfündige Laften Heben und Eiſenzüge fortbemegen können, aber nicht eines 
Didters Traum zu geitalten vermögen! 


Yeipzig. Paul Schmidt. 
S 


Liebeslieder moderner Frauen. Hermann Coftenoble, Berlin-ena. 


An Anthologien, auh an ſolchen, die nur Frauenlyrik bringen, ijt fein 
Deangel, Was aber meine Gedihtfanunlung von ihnen unterjcheidet, ift der 
Geſichtspunkt, unter dem fie angelegt ift. In das Bändchen wurden nur ſolche 
Gedichte aufgenommen, in denen jich dag Liebesleben der Frau in charakteriſtiſcher 
Weiſe ſpiegelt. Es iſt alſo hier ein erſter Verſuch gemacht, einen kleinen Bei- 
trag zur Pſychologie des liebenden Weibes zu liefern, der jedenfalls Anſpruch 
auf Authenzität erheben kann, denn man bat es mit lyriſchen Selbſtbekennt— 
niſſen aus Frauenmund zu thun. Und zwar moderner Frauen, zeitgenöjliicher 
Dichterinnen, die von der altgewohnten, vieltanjendjährigen Scheu des Weibes, 
auf den Schauplatz des öffentlichen Lebens redend und handelnd zu treten, frei 
geworden find, ja, die zum Theil mit einer Unbedenklichkeit ihr innerjted Ge—⸗ 
fühlsleben bloslegen, die Manchen überraſchen mag. 

Dr. Paul Srabein. 
ð 
Totentanz. Verlag von A. Harms, Hamburg. Titelbild von Joſef Sattler. 1902. 

Ich beabjichtige weder, mein Buch anzupreijen, no, irgend Etwas zu 

feiner Erklärung zu fogen. Beides iſt Sade des Buches. Entlafjen aus der 








N 


516 Die Zukunft. 


Werfftatt, iſt es majorenn und mag für fich jelbjt ſorgen. Nur der Tite, ver 
anlapt mid — um mit Fritz Reuter zu redet — „tau ne lütte Vörred', dom | 
mi fein Nahred dröppt.“ ZTotentänze und ähnliche Weiſen find heute medem. 
Ties aber it fein Modebuch. Ueber die Entftehung ber Erzählungen ſparn 
ih ein Zeitraum don vierzehn Jahren und ſelbſt die zweitjüngite vom ine, 
„Sefängnißaufjeher Streuber“, haben die Leſer der „Zukunft“ ſchon vor ver 
Jahren kennen gelernt. Aud hatte ich das Wort Hebbels, das den Bud zur 
Geleit mitgegeben wurde, ſchon als Sinabe in mein Notizbuch geichrieben: „Turs 
den Todesgedanken den goldenen Faden des Lebens zu zichen! ine hist 
Aufgabe der Poeſie“. Alfo dies (übrigens anipruchslofe) Buch ijt nid vs 
der Mode diktirt, fondern von jener inneren Nothmwendigfeit, die ımerflärid 2 
ung wirkt, die mandes Konımende vorausfühlt und halb unbemußt darauf bir 
arbeitet. Seltfam genug, daß die meiften diefer Erzählungen unter ber Regirunz 
zeit des Dejpoten Naturalismus entjtanden find, deffen Aufgaben bei den allgemes 
befannten Dingen unferer Ameijenwelt zu Ende waren, der kaum cinmel de 
Dajein bis an jeine Grenzen zu verfolgen unternahm und dem granjamen Im 
von Tod und Liebe auf diejer Erdfrufte nicht mehr Aufmerkſamkeit ſchenkte a 
der newürfelten Betrdede eines Armenhäuslere. Doc wir verdanken ihr viel, 
dieſer Zeit der Froſchperſpektive, und wollen ihre Leute nicht höhnen. (Mebrigens: 
De mortuis . .. etcetera). Peute aber wird man ſich erlauben dürfen, cin 
fabulirten Werk der Feder, gleichviel, ob es ein Drama in fünf Alten oa 
eine fleine Erzählung von wenigen Seiten ift, — frei nach Maeterlind — br 
Fragen zu ftellen, um es auf jeinen Werth au prüfen. Erſtens: Iſt es in de 
Form Schön? Zweitens: Iſt es mit Zeidenidjaft und von einer Berjönlicfet 
dargeftellt ? Drittens: Fehlt ihm neben dem Untergrund aud; nicht ber vet | 
Dintergrumd und Obergrund? Ich meine den Grund, der ſich über und hin 
allen Dingen wölbt: der hinaus über den Dunftfreis des roh TI hatjädılicen | 
ein Zinnen und Ahnen wedt von den geheimen Fäden, bie das fleine Fragmen 
eines Menjchenlebens mit dem Unbekannten verknüpfen, das alle Dinge rigtet | 
und überragt. Joſef Sattler hat, meiner Meinung nad, diefen drei ragt 
in feinem Titelbilde Nede geftanden. In der Form jchön, iſt das Bild ſelbĩ 
von künſtleriſcher Leidenſchaft: dieſer wilde Tanz Freund Heins auf der Er | 
tugel! Seine Kappe mit der rothen Feder ift im tollen Reigen vom Schäödel | 
| 


geflonen und der große grane Mantel hinter ihm weht im Schwung der nd 
drehenden Erde und der Tanzbewegung des Gerippes in mächtigen Serpentin 
Linien, deren Ausläufer an die Nandformen der fledermausflügel erinnet. 
Dieſer graue Umhang, in dem fich die gefchwungenen Arme des Tanzenden zu 
Faltenlinien verflüchten, ift unendlich größer als die Erdkugel. Wie cin ge 
waltiger Vorhang, hinter dem die ewigen Näthjel und Zufammenhänge de i# 
verborgen find, reckt er ji flatternd empor. Das Titelbild, eigenti WW | 
ſpruchsvoll für das bejcheidene Buch, wird, hoffe ih, auh Die ein A mit 

meinem „Zotentanz‘ verſöhnen, denen der Anhalt des Buches unverjöhnlid it. | 


Karl Se— 


En 





Diſtelfinken. 517 


Diſtelfinken. 


Site umflattern mein Haus. Ein ganzer Schwarm. Den langen 
Winter waren fie da. Und wenn jie fi) auf die ſchwankſten Aeſtchen 
der jungen Bäumchen feßen, jo neigen ſich die Aeſtchen leicht und ſchaukeln ſacht 
mit ihrer groziöjfen Laft. Lauter niedlie, bunte ES chöpfungsgedanfen, dieſe 
kleinen Vögel. Ich fehe ihnen zu und horche auf thr leiſes Gezwitſcher; denn 
noch fingen fie nicht; erft wenn der Frühling fommt, der Frühling und die Sonne... 

Diſtelfinken umflattern mein Haus, zwitſchern mir in Kopf und Herz. 
Und ein leijer, wäjlriger Frühſonnenſtrahl jtreicht über das bunte Scheunendach 
da drüben und läßt mid Frühling ahnen. 

Und eben, al3 id) das Frühſtück nahm, umjchmeichelte mich mein dreis 
jähriger Blondfopf und that wichtig und geheimnißvoll, als wolle er mir Etwas 
verrathen. „Schaß, erzähl’ mir was”, fagte id) ermunternd. Und er fing an: 

„Da fam die böfe Stiefelfönigin zum Schneewittchen und fragte, ob es 
Aepfel faufen wolle. Nein, fagte das Schneewittchen, ich faufe feine. Und da 
gab fie ihm doch einen, einen ganz giftigen. Und da hat dag Schneewittchen 
ein Meſſer genommen und hat alles Biftige abgejchnitten und fortgeivorfen und 
hats gar nicht gegejfen. Gar nicht! Und da hab’ ich ihm gejagt: Du bilt lieb, 
ud weil Du jo brav warft, braudit Du aud gar nit im Eden zu jtehen. 
Und da famen die Zwerge und haben furchtbar gelacht.“ 

Hoiho! Das ift doch eine liebe Gefchichte, nicht wahr? Mein Blonbkopf 
mag die Stataftrophen nicht, die durch; Menſchendummheit und Dienjchenbosheit 
herbeigeführt werden, und fo arbeitet er Tag vor Tag mit feinen lieben Ge- 
danken herum, Bis er alle traurigen Ausgänge in liebe und freundliche ver- 
wandelt hat. Eher läßt ihm eine Gejchichte Feine Ruhe. Wer von ung ganz 
geicheiten Leuten dem Kinde Das doch nachmachen könnte und wollte! Wem 
Das doch noch fo innerfter Inſtinkt und heiligftes Herzensbedürfniß wäre! 

.. Ben Grünwald gings, wo die Iſar raujdt. Ein Sommermorgen wars 
von herrlicher Klarheit und Pfingitionntag obendrein. Noch lag ich in den 
Federn, als es an meiner Schelle rafielte. „Was heißt denn Das? Eben erft 
halb jchs Uhr! Wer kann da jein?” Ich ſprang auf und öffnete. 

„Vorwärts, ‚sreundchen! Angezogen, raid), und hinaus in die ſchöne 
Welt!“ lachte es mir entgegen. 

Deinen Augen traute ich faum, als ich die hohe Geſtalt in langem, 
jhmwarzem Talar vor mir jah. 

„Was wollen denn Sie jo früh, Herr Doktor?” 

„Werdens Schon chen! Machens zu!“ 

Bald war id} jo weit und wir verließen fröhlich das Haus. Eine Morgen« 
wanderung in wunderbarſter Friſche. Bor Harlading überfreuzten wir auf dem 
Stege den Fluß und fchlugen ung auf das rechte Ufer hinüber. Mein Freund, 
ein fatholiicher farrer, war in üppigfter Stimmung. Cinige Leute begegneten 
uns mit Gebetbüchern. „Die denken auch, der Schwarze thät' gejcheiter, er ginge 
heim und läfe feine Meile in der Kirch',“ brummte er. „Aber die ganze Woche, 
das ganze Jahr tut Unfereins nichts Anderes. Heute hab’ ich Urlaub, heut’ 
am Pfingſtſonntag. Da wird hier draußen Meſſ' gelejen.” 


518 Die Zukunft. 


Ich lachte. Wars meinem teufliihen Gemüth doch viel licher jo. 

„Und warum ich fo früh geh’? Einfah: wenn naher ber Schwarın der 
Münchener mit Find und Segel herausfommt, iſts nimmer Jchön. Ich mag dra 
Wald nicht, wen überall Scherben und Papierfegen und Wurftfelle herumliegen. 
Darum fo früh. Noch war Keiner draußen, noch iſt Alles friſch und ſchön, en 
Herrgottsgarten, in dems Einen wohl werden kann.” 

An der Meuterſchwaige madıte er Halt. „Sollen wir? Eine erjte friid: 
May? Eine halbe?" Er befann fih. Dann energiih: „Kein: jonft bleiben 
wir da boden womöglich ımd gar früh ifts auch noch.“ 

Alſo vorwärts, dem Ufer entlang, an der großhejelloher Eiſenbahnbrüdt 
vorbei, gen Gritumald. Herrlich, wie fih das Thal verengte, der Fluß in dir 
Felſentiefe rumorte, herrlich der Leije raufchende Wald an Ufer entlang. Wei 
Herz war offen und alle meine antifathoiiichen Grobheiten warf ich dem heiliacı 
Panne neben mir in trauter Gemüthsruhe an den Kopf. „Wenn die Kirde 
noch jo handelte, wie Chriftus lehrte“ ... fing ich an. 

„Ach, was: lafjen Sie mid) aus mit Ihrem Chriſtus!“ kam die Antwort. 
„Das beſte Nennpfe.d kann man zu Tod finden; und was iſts nachher? Was 
denn? Ein dürrer Stlepper ifts, reif für den Aajenmeifter. Und fo macht ihre 
mit Eurem Ghriftus; daran joll dann Unjereiner feine Syreud’ Haben, was? Zu 
ftimmen fol er gar? Gehens mir! Sie find doch fonjt ſchon ein Biſſel ge 
ſcheiter und paden das Leben nicht gerad’ bei feiner dürriten Seite an. Chriſtus 
ift auch manchmal jpaziren gegangen, und wenns ſchön war draußen, am Liebſten. 
Und das Dümmſte hat er gerad nicht geredt, wenns fo um ihr gebligt und 
geleuchtet hat, wie um ung Zwei hier. Das Herz ift ihm voll worden und um 
die weifen Huckelmänner drin in den Synagogen hat er fic) den Teufel gefdert.” 

„Sie, wenn Sie nod) lange ſo fort reden“, fiel ich ein, „dürfen Sie Ihm 
Ihwarzen Rock bald an den Nagel hängen.” 

„Zofort, wenns fein muß! Mber feine Minute cher, alg big Sie hr 
Geſellſchaftkoſtüm an den felben Nagel Hängen und die ganze Sippichaft da drin 
das ihre au. Nachher, wenn Seder fo erfcheint, wie er ift, thu ich ſchon 
mit; und ich werd’ nicht zu Denen gehören, bie fi am Meijten dabei zu ſchämen 
haben. Grad gewachſen bin ich ſchon nod und innerlich ift auch noch nit 
Alles verhutzelt. Aber jo lang mir die Wahrheitmenſchen fo in ihren Wämmſern 
vor den Mugen herumflunfern wie jegt, behalt’ ic) dad meinige auch an und daft 
darin, was mir am Bolten jcheint. Dummes Zeug Eriegen meine Pparrkinder 
keins von mir zu hören und Politik Schon gar nicht. Aber für guten Humor jorg 
ich und für einen guten Willen, damit was Nechtes gefchafft wird in der Welt. 

„Doktor, was ich Ihnen erzählen wollte! Am Mittwoch war der Kooperator 
von Sankt Ludwig bei mir. Es drücke ihn ſchon Wochen lang, er müſſe m 
Klarheit ſchaffen, fing er an. Er könne ſich gar nicht anders denken, als 
ic; einmal tief gefränft worden ſei.“ 

„Der Gel!“ brummte der Doktor dazwiſchen. 

„Und fo jolle ich ihm mein Derz einmal eröffnen. Er hoffe ficher, 
ih in den Schoß der Kirche zurückkehren werde, wenn erft dieje Wolfe 
meiner Erinnerung verſcheucht ſei.“ 

„Haha — Ha ha!“ ſtand da Einer und lachte. „So ein Wolkenſchi 


Diftelfinfen. 519 


Gekränkt mul; Einer jein! Anders fann Der fich nichts vorftellen. Na und? 
Sie haben ihn doch nausgeſchmiſſen hoffentlich.“ 

„Ich? Nein!“ 

„Was? Nicht? Na, was habens denn gethan? Etwa gar mit ihn dis— 
furirt? g Sie..." 

„Na, zuerſt hab’ id} einmal gerade herausgelacht, wie Ste eben.“ 

„Schr gut. Der wird Augen gemadıt haben!“ 

„Milde Augen, wehmüthige Augen, wie der Heilige Aloyfins.” 

„Sie — redend nit von Dem! Von Dem witjend jo wie fo nichts. 
Alſo ohne Aloyfiıs weiter mit den Schafsaugen!” 

„Ja, na! Er ift doch immer Ihr Kollege, Ihr Konfrater fo zu jagen.” 

„sa, ja, ih weiß: in Chriſto. Berftanden? Nur in Ehrifto! Aber eben 
darum .. . Na, was bat er dem gejagt?“ 

‚Nicht viel! Aber ich Hab’ ihm gejagt, er ſolle fich weiter feine Mühe 
geben, ich hätte meinen Seelforger ſchon und Der feien Sie!” 

„Wa—a—a—as?! Nein, da Hört fi jchon Alles auf. Doc jegt muß 
ich erit recht willen, wa3 er da gejagt hat.“ 

„Nun, nicht gerade was Schlechtes. Er meinte, Sie hätten leider viel 
zu viel Philofophie ftudirt. Er habe fi alle Mühe gegeben, fih in Ihre An 
ſchauungen Hineinzufinden. Aber bis jeßt jei er damit noch nicht Durchgedrungen. 
Doch wolle er fich gern beruhigen, da er vorausjeße, Sie jeien immerhin cin 
wahrer Vertreter Chrifti . . .” 

„O, dieſe wahren Bertreter Chriſti! Sie wiſſen doch, was es Heißt in 
unferer ſüddeutſchen Sprade. Wertreten ilt jo viel wie Zertreten; und Das 
heißts bier bet ihm.“ 

„Und jo fönne er das weitere Werk meiner Rettung Ihnen überlafjen.“ 

Wie vom Blik getroffen, jtand mein Begleiter. „Sch, Projelyten madyen? 
Und Sie glaubens womöglich gar, daß ich jo jhmußige Geſchäfte treibe, einen 
ehrlichen Sterl von feiner ehrlihen Meinung abzubringen? Solche Lumperei traut 
Der mir zu, diefer Herr Konfrater? Willens was: Das iſt ſchon zu dumm, 
jandumm. Aber Ejel find wir auch, wir Zwei, day wir joldjes Zeug mit 
daherausjchleppen in die pfingitionnige Herrlichkeit. Sit Das etwa beſſer als 
Käſepapier und Wurftfelle? Gehens zu und jchämen wir uns bis in die tiefjte 
Seel hinein!” 

Schweigend fchritt der Doktor neben mir. Dann ftand er. An Fink 
jchmetterte fein Lied vom nahen Buchenaſt. „Du weißt beijer, was jich hier 
drangen paßt“, fagte der Doktor. „Und von Dir, Du dummes Vieh, wie Dich 
die Menſchen nennen, können fie Alle mit einander noch) lernen. Auch Sie, Ste 
MWahrheitmann! Lernens von Dem da!“ 

Wieder ſchritten wir weiter. Die Sonne leuchtete. Der Fink jang hinter 
uns her. Die Buchenwipfel raufchten leife. Und vor uns winkte dag Ziel —: 
Grünwald. 

„Wiſſens was?” jagte der Doktor. „Ehe id mit Ihnen da Hineingehe, 
ſag' ich Ahnen was. Dept wollen wir Gottesdienft feiern. Pfingſtgottesdienſt, 
wir zwei. Wir werden uns eine friiche Map geben laſſen und fie mit allem 
Wohlbehagen trinfen. Weiter nichts! Verſtehen Sie Das?" 


520 Die Zukunft. 


„Ich Then!“ 

„Alſo weiter! Wenn Sie es nur verftehen. Die Anderen veritcehens ia 
wie fo nit. Saufen nennen fies. Schlemmen, ſchlampampen in aller ‚ıraa 
ihon. Aber wir nennens anders: für ein fröhliches Herz forgen! Und ich taz 
Ihnen, was Ihnen auch Einer daberreden mag, und wenns das GBelceitei:: 
wär': es giebt feinen jchöneren Gottesdienjt, cs giebt überhaupt nichts Klũgetes 
auf der ganzen Welt, als dafür zu jorgen, daß der Dienjch ein fröhliches Herz baı 
Ein fröhliches Herz tft zu allem Guten aufgelegt. Alſo ehe der Menſch. m:r 
er daran komme und fig bewahre!“ 

So jagte mein treuer Seeljorger und ich folgte ihın. 

Wenige Schritte nur that er in den Wirthsgarten hinein. Dann Itust 
er. md von einem der noch einfamen Tifche Her erjcholl es freudig: 

„Wer kommt? Wag jeh ih? O, hr guten Geijter! 
Mein Yoderich!“ j 

„wein Carlos!“ Diein Seelforger breitete die Arıne aus. 

Und herüber ſchlugs gar prächtig: 

„Iſt es möglich? 
Iſts wahr? Iſts wirklich? Biſt Dus? O, Du biſts! 
Ich drück' an meine Seele Dich, ich fühle 
Die Deinige allmächtig an mir ſchlagen. 
O, jetzt iſt Alles wieder gut!“ 

Und ein Gelächter, cin Begrüßen, ein Erklären ging los, als hätten kr 
uns eine Ewigkeit her nicht geliehen. Und doch: erit den vorigen Dienſtag aben? 
hatten der Hofſchauſpieler und id) mit unferem Scelforger verphilojophirt. Schelling 
par das Thema geweſen; und großartig wars, wie unjer Pfarrer und nad und 
nach mit dieſem Weiſen befannt gemacht hatte. 

„Daß Sie mur aud) da find!“ Ficherte er nun fröhlich und jchlug dem 
Dofichaufpieler auf die Schulter. „Der da hat ſich wieder an meinem ſchwarzen 
Kittel gerieben. Aber abgefahren ift er. Werd’ mir meinen feiniten Rod gleit 
kahl ſcheuern laſſen!“ 

Nun, was jest kam, weiß man ja. Wo ſich Drei fo treffen in München 
oder in jeiner Nähe, da ſchäumts. And es ſchäumte aus fröhlichen Derzen. 
„Mathten, Du bift wieder einmal vecht ausgelaflen“, hätte unſer pädagogiſches 
Marterfräulem gelagt, wenn jie dabei gewejen wäre. „Geh Hinein und fchreibe 
fünfundzwanzigmal auf Deine Tafel: Alles mit Maß." Sie war nämlid 
überall ſehr mäßig; nur das Zpruchichreibenlafjen und Knuffen und Beten betrich 
fie jtets ohne Maß. Und wenn meine Mutter nicht geweſen wäre, ich glaube, 
id) jäße heute noch vor meiner Tafel und jchriebe, Tchriebe, Ichriebe ... 

Diſtelfinken! Ich hörte ihr Gezwitſcher und ſah ihr buntbeflügeltes, reizendes 
(Serlatter. Und alte, bunte Stunden flatterten auf in mir und erzählen vor S- N 
und Leiden und hellen Sonnenjtrahlen. 

Diſtelfinken! Mein Bater hatte in feinem Garten einen junge. „ > 
baum gepflanzt, eine Cdelfiriche, deren Frucht jo groß fein follte wie eim *” : 
Pflaume. Im nächſten Frühjahr Icon blühte das Bäunden; und fü 
ein Diſtelfinkenpaar jiedelte fich in der trone an und baute fein Neſtch 
ein. Von Weitem ſahen wir den emfigen Nöglein zu und erlebter m 


Diftelfinten. 321 


wit, bis eines Tages eine fünflöpfige junge Sejellichaft die beiden Alten um— 
tänzulte auf den ſchwanken Aeſten unjeres Kirſchbäumchens. Liebe Kerlchen waren 
es alle und fie piepten jo nett amd Ichlugen fo unbeholfen noch mit den Flügeln, 
flogen die Alten mit Futter herbei. Neulich ging ich vorüber und fah den Baum. 
Groſz und ftarf war er geworden, aber er ftand auf fremdem Boden nın. Und 
weiter ging ih; da jtand auch unſer Haus. Dede, grau, verlafjen, die Läden 
geichlufjen, die Wege im Garten mit Gras bewachjen, die Roſen vermildert, mit 
braunen, erfrorenen Knoſpen an den ftruppigen Zweigen. Kein Leben mehr, 
feine Zonne, feine Farbe. Nichts rührte ih nodh. Doch .. da.. um das Rojen- 
beet ſpitzten Tauſende von Schneeglöckchen aus der aufthauenden Erde. Ich 
hatie jie einuſt gepflanzt, ich jelbjt, direkt unter den Tyenfter, an dem meine Mutter 
immer ſaß. Da ftand id nun und jchaute über die Mauer in einen Garten, 
der nicht mehr mir war und wo dod) jo Bicles mein Eigentum gemwejen. Ein 
Anderer ift num Herr unferes Hauſes und unferes Bartend. Alle Sonnenftrahlen 
gönne ich ihm. Und wenn erjt wieder im Garten Blumen blühen und Diftel- 
finken zwitichern und liebe Kinderſtimmen erfchallen und wenn ein Bube fi 
findet mit glänzenden Augen, der meinen felbftgezimmerten Taubenſchlag wieder 
aufbant und fich an meinen Veilchen erfreut, fo will ich in die Häude Elatichen und 
jubeln, dat Yeben, fonniges Leben da wieder einzog, wo jegt Erinnerung nur mit 
grauem Flügelſchlage flattert. 

Diſtelfinken: schnell! Kommt raſch zurück! Laßt Eud nicht jchreden! 
Nur eine feine Wolke wars, die eben vorüberzog. Seht: dort treibt jie jchon 
hin vor dem Winde, ein flatterndes Segel, — und hinter ihr her ſchießt es aus der 
Höhe mit goldenen Pfeilen. 

„Drama, bringjt Du uns was mit?” fprudelt mein Blondkopf. 

„Nein, hente nicht! Ich hab' kein Geld, “ 

„I, dann komm’ ſchnell zum Papa! Der giebt Dir Weld. Der hat 
immer furchtbar viel Geld.“ 

Dieſes umerjchütterlide Vertrauen des Kindes in jeinen Bapa! Das 
muß doch wirklid ein reiher Mann jein, dem ein Kind fo vertraut! Nicht 
wahr? Und mie hilft mir der Kleine jchon, wie tröftet er! Neulich entfuhr es 
mir: „Beute nic! Ich hab’ fein Geld!“ 

„I, ſei nur ruhig! Weorgen geh’ ich auf die Volt und fauf' Dir Geld. 
Und dann bring’ ichs Dir, eine ganze Hand voll.“ 

Morgen! Eine ganze Dand voll! Bei ſolchen ſchönen Ansjichten läßt 
jihs doch ruhig leben. Und jo überlegen wir heute, was wir morgen mit all 
dem Gelde thun. Drüben winfen die Taunusberge in wunderbarer Bläue und 
rechts davon Liegt ‚yrantfurt. Alſo morgen gehts nad) Frankfurt zum Onkel 
Dottor und dann holen wir den Baul und laufen Alle in den Zoologiſchen Garten. 
Morgen! Gelt? Und dam fchen wir Yöwen und Bären und Affen und... 

„Die gans, ganz Keinen — fo flein — Aeffchen jehen wir dann“, fällt 
mir mein Schatz ins Wort. 

Alſo morgen! Und Das wird fein dann! 

Diſtelfinken! Da fliegt mein bunter Schwarm auf und davon! Lat fie! 
Sie werden jcyon wiederfommen. Und wenn fie fommen, wirds neue Freude geben. 

Laubenheim. 


Mathieu Shwann, 
8 






























&: genau ein Jahr nach dem Zuſammenbruch bei 
ſich an der Pleiße das Strafgericht über die Auf 
des vertrachten De Heute wirds wu — 


—8 der ra Krach nit nur das — 
am Weiteſten fortwirkende von allen Ereianifjen der lets 
Aftienkapitalien nicht vor dem Zufammenbruc) jchüßen, 

bilanzmäßigen Rejervefonds wie die Spreu vor dem si 
alte Grfahrung hat mod) jede Schwindelaera erneut. In 
der einzelnen Bank, auch eine ehrwürdige Tradition zufantm: 
ging durch die Burram. „Weld Haupt ftcht feit, wenn 
Nad dem Krach Habe ich hier Einiges aus der Geſchi 
erzählt und daran erinnert, daß vor Bald ficbenzig Jahren nic 
Bedürfniß des Augenblickes, ſondern die gebieteriſche Korb 
lichen Zuftände zur Gründung dieſes Initutes trieb. 
Neid) gab, ſank die alte Leipzigerin facht zum Rang einer 
Immerhin blieb ihr ein Theil des früheren Nimbus und 
wirkte nod) fo ftarf, daß die Leipziger Geidäftsariftofratie 
rath drängte uud viele Großkaufleute der alten Defiftabt 
für eine Ehrenpflicht hielten, wenigjtens einen Theil ihrer | 
Yeipziger Bank zu machen. Das muß man bedenfen, um zu d 





Akten ihre lotale Ehre getroffen; ihr — — 
Grunde verlegt. Tas merkt man noch jeist, wem man. mit 
den Prozeß ſpricht. Sogar die Hotelportiers, denen die viele 
und Sadverjtändige, die der Prozeß heibeig 


der Zorn ſich zügellos austoben, Der frühere Direktor Dr, Fiebig 
Vitdirettor Dr. Gengich, deren Vergehen viel milder beurtheilt mer 
aus Sachſen; mit einem Schein von Recht kann deshalb der fü 
bürger austufen, er habe ja jtets gejagt, das Gute, Echte, Sol 
doch nur im Yande der Weniner Die enge ift zu Eurgfichtig, 
zu können, da 
ſächſiſchen Geichäf partitularismus faſt völlig der Kontrole ent 
tonnte ihm von außen her nicht in die Karten jehen und To 
lichteit, feine Berrügereien Jahre lang zu verſchletern. 

Öntereffant war in der Gerichtsverhandlung zunächſt d 
Brände, die zum Engagement Exners geführt hatten, Die 
haft geworden und man brauchte friiches Blut. Was 
maraſtiſch ſchien, war zum Theil einfach gur Jächliich- 














Erner und Genojfen. "523 


man nicht lange in Sachſen gelebt hat, kaum vorjtellen, daß es außer Medien: 
burg noch einen deutſchen Bundesftaat giebt, in dem Zuftände, die uns faft 
mittelalterlid feinen, fih im wirthfchaftlichen Leber jo lange und jo gut Ton= 
jervirt Haben. Der gebildete, modern empfindende Sadje klagt und jeufzt felbjt 
darüber: alſo muB es wohl wahr fein. Einen kleinen Borgefhmad befommt 
ſchon dex Fremde, der in einem der beiden erften Hotels in der Roßſtraße ab⸗ 
fteigt. Preiſe, Efjen, Bedienung entiprehen wirfli dem Rang cines erften 
Hotels. Die innere Ausstattung aber ijt, wenn man von einem Bisden Stud 
und weichen Teppichen abfieht, fait noch genau jo, wie man fie vor fünfzehn 
Jahren zu jehen gewohnt war. Daneben find prachtvolle, modern ausgeftattete 
Hotelpaläjte entitanden; aber die beiden alten Hotels gelten den meiften Leip- 
zigern heute noch als die feiniten. Bon dem Segen der freien Konkurrenz will 
der Durchſchnittsſachſe nichts hören. Die Regungen eines allen Fortſchrittswünſchen 
mißtrauenden Geiftes jpürte man aud in der Gefchäftsführung der Leipziger 
Bank. AL Erner, der in der Deutichen Bank gelernt hatte, da8 Gelernte in 
jeiner neuen Stellung verwerthen wollte, gefiel den verehrlihen Aufjichträthen 
an der neuen Manier jehr Vieles nicht. Bejonders fanden fie, es jei unter der 
Würde ihres mititutes, mit allzu vielen Offerten fpekulativer Art an das 
Publikum beranzutreten. Ein Auffihtrathsmitglied jagte in der Hauptverhand- 
{ung aus, die etwa wilde Betriebjamfeit Erners ſei an dem gejunden Sinn 
der Leipziger Bevölkerung ſchließlich gefcheitert. 

Nicht nur um eine wirthichaftliche, fondern auch um eine Iofalpatriotifche 
Angelegenheit handelt e8 ji alfo in Leipzig. Deshalb ift der Andrang zur 
Hauptverhandlung auch viel ftärfer als etwa in Berlin beim Prozeß Sanden. 
Man muB aud zugeben, daß die leipziger Angeklagten interejlanter find. In 
Berlin ift eigentlid nur Eduard Sanden, vielleicht auch noh Eduard Schmidt 
pſychologiſcher Beachtung werth; die meilten anderen Angeflagten find geiltig 
unbedeutende Dutzendmenſchen. Exners Nachbarn auf der Anklagebanf erregen 
ichon deshalb Intereſſe, weil fie den feinften Streifen angehören. Unter den 
Auflichträthen finden wir zwei Nittmeifter der Landwehr, einen Nitter des Ei: 
fernen Kreuzes zweiter Klaſſe, drei Ritter des Albrechtordens; und die ſchönen 
Titel eines königlichen Kommerzien: oder Kammerrathes ſchwirren an andäd: 
tigen Ohren vorbei. Schon jest mödte ich, nach dem perjönliden Eindrud, 
behaupten, daß dieſe Männer wirklich dupirt worden find. Welches Intereſſe 
jollte fie zum Betrug treiben? Sie waren reiche, angejehene Leute, find zum 
Theil noch jest Inhaber erjter Leipziger Firmen und hätten, um ihren geichäft: 
lihen Ruf zu wahren, ficher ohne Zaudern ihr ganzes Vermögen geopfert. Sie 
wußten vielleicht nicht, in welchen Umfang ihre Bank ſich bei der Trebertrodnung 

igagirt hatte. Exner kann fie Hintergangen Haben. Troßdem find fie nicht unſchuldig. 
ach dem Geſetz ift Jeder jtrafbar, der in der Wahrnehmung der Auffichtraths- 
däfte die Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns vermiffen läßt. Gegen 
cje Vorichrift Haben die Herren geliindigt. Es iſt lohnend, darauf zu achten, 
oft die jelben Menſchen, die in ihren eigenen Geſchäften fid) gewiß pein— 
iter Sorgfalt befleißen, als Auffichträthe ihre Pflicht nicht erfüllen. Einen 
oßen Theil der Schuld trägt die Mißbildung unferes Aufjichtrathswefens. 
ich bet der Leipziger Bank gab es eine „Obligofommilfion”, der allein das 


39 


524 Die Zukunft. 


Recht zuftand, die einzelnen Debetjalben zu prüfen. Wer diefer Kommiſſion nıcı 
angehörte, kümmerte fi) nicht jelbjtändig um diefe Dinge; ja, er dinfte me 
fonnte fi eigentlich gar nicht darum fünmern: denn nicht jedes Aufſſichtrathe 
mitglied ijt ohne Weiteres befugt, die Bücher und Skripturen der Geſellichen 
einzufehen. In Leipzig jcheinen die Auffichtrathsfigungen oft, ſchon ehe fie be 


gamıen, protofolirt worden zu fein. Die Herren fahen in ihrer Thätigkeit alic | 


jelbit nicht viel mehr als eine Komoedie. Der Aufſichtrath hat bei ung ja über: 
haupt eine Zmitterftellung; er ſoll nicht nur für eigene Thaten, Tonbern aut 
für die Anderer haften, deren Gefchäftsführung er doch nit Bis ins Einzeln 
zu prüfen vermag. Und je länger Anflichtrath und Direktion zufammen arbeite. 
vielleicht auch gefellichaftlidh mit einander verkehren, um jo ſchwächer wird nat 
lich das Gefühl der Kontroleurpfliht. in gebeihliches Arbeiten wäre ja nıd 
möglich, wenn der Auffichtrath die Direktoren von vorn herein als Schwindler 
betrachtete; ein gewiffes Maß von Vertrauen muß er ihnen entgegendringen. 
Thut er Das aber, dann darf man fi auch nicht wundern, wenn er nicht ohne 
Beweisgrund annimmt, die Direktoren könnten ohne bie geringfte thatſächliche 
Unterlage Poſten in die Bilanz einftellen. 


In dem leipziger Fall kdunte der Aufſichtrath übrigens bie Perſonlichkeit 
Erners als Entlaftungmoment anführen. Dan muß Exner vor Gericht gelegen 
haben, um zu begreifen, wie er auf feine Leute wirkte. Er hat ſtahlharte blau 
Augen und einen prächtigen blonden Vollbart, konnte alfo bei fächfifchen Ant: | 


jemiten fein Mißtrauen erregen. Er ift ein ſchöner, eleganter Mann, weiß mit 
den Worten trefflich zu jongliven und bat für die Enifflichften Dinge die ein 
fachften Auftlärungen. Wer je im Gefühl feiner Unſchuld vor Gericht ſtand, 
hat unter den Bemwußtfein gelitten, dab der auf der Sünderbant Sizgende ven 
vorn herein als ſchuldig gilt; der felbe Menſch würbe, wenn ihn die Robe des 
Staatsanwaltes zierte und er in lauten Brufttönen gegen einen Berhreder 
wetterte, ein tadellofer Ehrenmann feinen. So wird denn jeßt auch Er 
überall für einen Schwindler gehalten. Aber man denke ſich den vornehmen, 
liebenswürdigen Herrn nicht als Angeklagten, denfe ihn ſich ber muffigen ft 
des Gerichtsſaales entrüdt und man wird fofort verjtehen, daß er bem Arflidr- 
rath über jeden Verdacht erhaben fcheinen mußte. Natürlich können auch dieit 
mildernden Umſtände den Auffichtrath nicht völlig entlaften; er bat ſich denn 
doch allzu lau und nachgiebig gezeigt. ALS die Konkurrenz erbittert gegen die 
Trebergefellichaft fämpfte, meinten die leipziger Herren, gerabe in dieſer & 
bitterung den Anlaß zu geftärktem Vertrauen finden zu follen. „Denn“, fagl 
einer der Mitangeklagten, der Inhaber der vornehmen Bankfirma Frege & 89. 
„wenn es mit der Trebergefellichaft wirklich fo faul ftand, dann konnte bie Kor 
kurrenz doch gar nichts Beſſeres thun als: ruhig zufehen, wie die Txeber, "T- 
ſchaft Jich felbjt zu Grunde richtete.” Die Konkurrenten der Kaſſeler hatter ei 
allen Grund, nicht ruhig zu bleiben. Die Direktoren der Trebergefellihaftd N, 
weniger in betrügeriicher Mbjicht als unter dem Einfluß wachſenden Sr *F 
wahnes, weit unter dem Marktpreis große Abfchlüffe gemadt, deren Erf M 
ihnen nicht möglih war, da fie jolche Mengen gar nicht probuziren bon 1 
Nicht nur machten fie damit ſelbſt fein Geſchäft, jondern fie ruinirten auhn 
anderen Firmen den Markt. Die angellagten Aufjichtrathsmitglieberfügr " 


— — — — — — — — — — — —— — — 


Notizbuch. 525 


Entlaſtung aud an: der hohe Kursſtand der Bankaktien Habe doch bewiefen, daß 
Niemand Mißtrauen gegen die leipziger Bank hatte; weshalb jollten gerade fie da 
mißtrauiſch werden? Merktwürdig; die Herren gehörten felbjt einem Hauſſe— 
fonfortium für Treberaftien an, wußten alfo, wie mans anftellen muß, um den 
Aktienkurs und den Schein jtrenger Solidität bis Zur, vor dem Zuſammenbruch 
aufrecht zu erhalten; und da genügte ihren vertrauenden Herzen ein Blid auf 
den hohen Kursſtand der Leipziger Bank? Feſtgeſtellt iſt ja auch, daß ein Kon 
jortiun die Aufgabe hatte, alles Material an Leipziger Banf-Aktien aufzulaufen, 
Das an die Börfe fam. Trotz Alledem wird die civilvechtliche Klage auf Schadens. 
erſatz vielleiht dem Aufjichtrath gefährlicher werden als das Strafgericht, das 
ihn wahrſcheinlich nur der Fahrläſſigkeit ſchuldig finden wird. 

Biel Schlechter fteht Ernerd Sade. Er wußte, weldhe Unfummen feine 
Bank den Kafjelern geliefert hatte, und hat — mag er lange auch vom Treber- 
ſchmidt getäufcht worden fein — jchließlich bewußt gelogen und gefäliht. Auch 
des Betruges und des betrügeriichen Banferottes ijt er bezichtigt und man kann 
ihm den roll gegen die großen berliner Banken nahfühlen, die ihn nicht faniren 
wollten; fommt er ind Zuchthaus, jo wird er ihrer Weigerung die mittelbare 
Schuld zujchreiben. Der Paragraph, der den betrügeriſchen Bankerott mit Zucht⸗ 
hausſtrafe bedroht, macht die Strafbarkeit von der in gewilfen Umfang will» 
kürlich zu jchaffenden oder zu meidenden Thatjache abhängig, dab der Konkurs 
eröffnet iſt oder die Zahlungen eingeftellt find. In dem leipziger Yall aber 
kommt man über diefe Konftruftion Leicht hinweg; denn da Exner, wie feftge- 
ftellt ift, das Vermögen feiner Frau und feiner Kinder bei Seite geichafft hat, 
muß er fi} der Gefahr feines Treibens bewußt geweſen fein. 

Man hat für Herrn Exner den ſchärfſten Staatsanwalt ausgeſucht. Aud 
der Schmwurgerichtspräfident gilt als ein fcharfer Herr und guter Juriſt, der, 
wie man in Leipzig erzählt, nächſtens ins Reichsgericht berufen werden wird. 
Entjcheiden wird natürlich der Spruch der Gefchiworenen. Die BVertheidigung 
Hat ihr Ablehnungrecht benußt, um die Zahl der Leipziger unter den Geſchworenen 
möglichit zu bejchränfen. Namentlich die Gejchäftsleute waren ihr unwilllommen. 
Wie bei Branditiftungprozefjen die ländlichen, jo werden bei Konfursvergehen 
gern die faufmännijchen Gejchworenen von den Vertheidigern ausgemerzt. Das 
Schickſal der Leipziger Bank aber Hat jedes Sachſenherz bewegt, den Sachſenſtolz 
gedemüthigt und id) glaube nicht, daß es ſelbſt dem fchlauften Kriminalanwalt 
gelingen fünnte, für diejen Prozeß Geſchworene zu finden, deren Seele von jedem 
vorurtheilenden Haßgefühl gegen Erner und Genoffen frei ift. Plutus. 


Notizbuch. 


N FFief erjchüttert, riefen die lärmenden Nefrologe, die dem König Albert von 
Sachſen ins Grab nachhallten, jtehe das ganze deutiche Bolf an der Bahre eines 
umerjeglichen Monarchen. Das ift neudeutſcher Stil. Immer muß es dag ganze 
deutſche Bolf fein; und ohne tiefe Bewegung, tiefe Erfehüitterung ſcheinen Feierreden 


39” 





526 Die Zukunft. 


[1 

und Leitartilel nicht mehr zu leijten. An dieje leere Phrajeologie hat Leder ich iängt 
gewöhnt und der tragirende Schwäßer, ber feine zufammengelejenen Broden m 
großen Grimaffen unermüblich vorträgt, wird faum noch ausgeladit. Die her: 
Tage, da wir über die Schwaßfchweifigkeit der Franzoſen fpotten burften, kehren % 
bald wohl nicht zurüd. Natürlich war aud) diesmal von einer Erjchütterung mir 
zu jpüren. Ein dreiundfiebenzigjähriger Herr, der feit Jahren frank war, iſt geftorbs| 
und ein anderer alter Herr heißt jet König von Sachſen. Yenfeits von deu gu 
weißen Grenzpfählen ift der Wechjel nicht als ein Ereignig empfunden worden m 
für unerfeglich haben felbjt die Sachſen ihren alten Albert nicht gehalten © 
war tüchtig, gewiſſenhaft, Hatte Wenjchenverftand, wußte ſich, als Greiz wie ds 
Süngling, weile zu befcheiden und wollte nie ald der Protagonijt anf de 
Bordergrund der Bühne bewundert werden.. Vielleicht ift auf die Verjöhnlidi: 
feines Gemüthes, auf die raſche Energie nicht genug hingewiefen worden, die ie 
auch mit ſchmerzender Erfahrung ſich Schnell abfinden Hieß. Diefe Eigenfchajtwirk 
gerade in der Epoche der deutſchen Einheitfänpfe wichtig. Die ſächſiſchen Partie 
riften hätten den Stronprinzen, der auf Böhmens Schlachtfelbern gegen die Preußen 
gefochten hatte, gern zum Führer erkoren. Die Stimmung war damals auch incirt 
großen Theil der Oberſchicht noch entſchieden antipreußiſch und murrender Grd 
empfing jeden kleinſten Verſuch, Boruſſenſitte nah Sachſen zu tragen. Ada 
ſächſiſchen Generalen der ſchöne Treſſenhut genommen, Artilleriſten und Amen 
riſten die Pickelhaube aufgeſtülpt wurde, ging ein Klageruf durch das Rautemer) 
und in „Sachſens Militärvereinskalender“ las man harte Worte über den neuen Schen 
zur Uniformirung des deutſchen Heeres; Sachſens erzwungener Eintritt in den m 
deutſchen Bund, hieß es da, dürfe doch nur die nächſte, nicht die fernere Zukunft des König 
reiches binden. „Bott, der Sachſen durch den Sammer des Siebenjährigen Are 
und des ruſſiſch-preußiſchen Gouvernements geführt und zu neuer Blüthe emporgebratt 
hat, wird auch diesmal nach finſterer Nacht den ſchönſten hellen Tag anbrechen laſſen 
Der Abgeordnete Wölfel las am neunten Dezember 1867 dieſe Säge im Reiki} 
vor umd fügte hinzu, die Tonart müſſe um fo mehr auffallen, als ber Kronpıi 
Albert der Protektor des fächjijchen Viilitärvereing jet. Bismard konnte ammortel, 
der Stalender fei „eine Privatſpekulation“ und es fei „gang undenkbar, daß ange 
jichts der nationalen, patriotifchen und vertragtreuen Haltung der Eöniglid dd 
chen Regirung irgend eine höhere amtliche Stelle im ſächſiſchen Land ſolche Ansdrüdt, 
wie fie dieſer Kalender über das Bundesverhältniß enthält, ſanktioniren ſollte.“ Ei 
paar Tage danadı Schrieb ihm der Kronprinz von Sachſen: „Verehrter Herr, Sri, 
ich kann mir nicht verjagen, ‚ihnen meinen wärmften Dank für die Art ausp | 
jpredien, wie Sie fid) meiner anläßlich des unglücklichen Militärkalenders angt 
nommen haben. Ich brauche wohl nicht erjt zu verfichern, daß mir die Sage gan; 
fremd iſt, ja, daß ich die Exiſtenz dieſes Machwerkes kaum ahnte.* Es iſt ũ ges 
nichts dahinter zu ſuchen als Neminijzenzen einer vergangenen Per St 
wiifen, daß Dergleichen in den unteren Schichten bes Volkes noch zuha ih 
wenn die oberen längit eines Beſſeren belehrt find. Die unteren auf unſe ands 
puntt zu bringen, iſt jept unjere eifrigjte Sorge... ."Inbem ih um die „. RT | 
„ihrer loyalen Geſinnung gegen mein Vaterland und Ihres Wohlwollens geg N) 
bitte, verbleibe ich ‚ihr ergebener Albert." Aus Bismards Autwort "+ | 
hervorzuheben: „ich jege es als die nächite Aufgabe der Bunbespe" PB 





, Notizbuch. 527 


reben, daB alle Bundesgenofjen Breußens, namentlich aber der hervorragendfte 
nter ihnen, das Königreid) Sachſen, es nicht blos als eine VBertragspflicht, fon- 
ern als ein werthvolles Recht anfehen, dem Bunde anzugehören. Diefe Bedeutung 
ann ber Bund für feine hohen Genoſſen nur dann haben, wenn ben Souverainen 
ie Meberzeugung bleibt, daß fie durch die Gentralifirung eines Theiles ihrer Nechte 
tt der Hand Eines unter ihnen eine nah menſchlichen Begriffen ſichere Bürgichaft 
ür die Geſammtheit ihrer fonitigen Rechte erworben haben und daß bieje Rechte 
jegen den Drud innerer Bewegung eben fo gewiß geſchützt find wie gegen äußere 
Befahren. In diefem Sinn der Begenfeitigfeit und Solidarität unter den hohen Ge» 
noflen des Bundes ſehe ich es für eine Pflicht des Bundeskanzlers an, das Anjehen 
und die Rechte der fürftlihen Häufer innerhalb des Bundes mit eben fo gewiſſen⸗ 
haften Eifer zu wahren wie das des eigenen Yandesherrn." Statt Albert3 berb 
menſchliche Geſtalt greinend ins Weſenloſe zu reden, jollte man ſolche Erinnerungen 
auffriihen. Sie zeigen, welche Stellung ber Katjer, welche der Kanzler im neuen 
Reich haben follte, und liegen uns näher, können uns nüßlicher werden als die 
Bhantafteflüge in die verfchollene Herrlichkeit der Karlingertage. 
* * 


% 

In Diefe Zeit zieht den Deutſchen Kaifer des Herzens Sehnjudt. Er möchte, 
wie fein Bater, den Guſtav Freytag darum faft zornig fchalt, das neue Kaiſerthum 
andas alte fitten. „Aachen“, jagte der Kaiferin einer ber vielen Reben, die in rheiniſch⸗ 
weſtfäliſchen Städten Beifall gefunden haben follen, „Aachen ift dieWiege des deutſchen 
Kaiſerthums; denn bier hat der große Karl feinen Stuhl aufgerichtet”. Den Stuhl 
der alten Sailer hatte, al$ in Berlin der erjte Reichstag eräffnet werben follte, der 
Kronprinz Friedrich Wilhelm feinem Bater Hingefchoben. Freytag wünſchte das aus 
dem Urwald deutjcher Geſchichte jtammende Schaugeräth zum ehrwürdigen Trödel 
und rief: „Wir haben eine entjchiebene Abneigung, Erinnerungen an das alte Haijer- 
thum des Heiligen Römiſchen Reiches im Haufe der Hohenzollern wieder aufgefrijcht 
zu jehen. Wir im Norden haben den Kaijertitel uns — ohne große Begeifterung — 
gefallen lajjen, jo weit er ein politijches Machtmittel ift, unferem Bolf zur Einigung 

helfen mag und unferen Fürſten ihre ſchwere Arbeit erleichtert. Aber den Kaiſer⸗ 
mantel follen unfere Hohenzollern nur tragen wie einen Offiziersüberrod, den 
fie im Dienft einmal anziehen und wieder von fi thun; fich damit aufpußen 
und nad altem Kaiſerbrauch unter der Krone dahinjchreiten follen fie ung um 
Alles nicht. Ihr Kaiſerthum und die alte Kaiſerwirthſchaft follen nichts gemein 
haben ald den — leider — römischen Gaejarnamen. Denn um bie alte Kaiſerei 
ſchwebte jo viel Ungejundes, fo viel Fluch und Berhängniß, zulegt Ohnmacht und 
elender Formenkram, daß fie ung noch jeßt ganz von Herzen zuwider ift. Bon Pfaffen 
eingerichtet, Durch Bfaffen geweiht und verpfujcht, war fie einGebilde des faljcheften und 
und verhängnißvollften Idealismus, der je Fürſten und Völkern den Sinn verftört, 
das Leben verdorben hat... Heute iſt der YLation das Ceremoniell und die äußerliche 
Darftellung jeines Kaiſerthumes nur fo weit erträglich, wie das Unweſentliche nicht die 
Beit und den thätigen Ernft feines Lebens beengt.“ Für das Büchlein, in das diefe 
Süße aufgenommen find, bat der Sailer einft dem Bildner deutfcher Vergangen» 
heit gedankt; jegt würde er ihm wohl hart tadeln. Der Glanz der alten Theofra- 
tie hat es Wilhelm dem Zweiten augethan. Und der Kaifer bewundert das blendenbe 
Bud) bes Herrn Chamberlain, defjen germanocentrifche Auffafjung der Weltgefchichte 


528 Die Zukunft. 


ihm gefallen mußte. So ift aus ſehr verfchiedenen Eindrüden eine Anſchanumg w 
ftanden, deren befremdende Spur in den lebten Reden- wieder bejonbers kiihe 
ward. Auch die Energie Karls des Großen, hat Lamprecht gejagt, vermodte ni 
eine neue germaniſch⸗chriſtliche Kultur aus bem Boden zu ſtampfen: „jo ungeheure 
jein Wagniß und fo unbegrenzt feine Kraft erfcheint: hier kämpfte er gegen da 
Genius ber nationalen Geſchichte ſelbſt.“ Der Kaifer blict zu dem Marne, ai 
Gottesftaat träumte und deflen Liebling beshalb Auguftinus war, wie zu einerär- 
loſen $dealgeftalt auf und ſcheint zu hoffen, noch heute könne der theofratiiche Tree 
Mirklichkeit werben. Die Germanen ſind nach feiner Meinung zur Weltherridaitimt 
deftinirt. Noch find nicht zwei Jahre vergangen, ſeit er das römische Weltimperiunp 
und den Wunſch ausfprah: „Dem Vaterland möge beidieben fein, jo fer 
fügt und fo maßgebend zu werden, wie es einft das römifche Weltreich war.” I 
heißt es: „Zerbröckelt und morſch wankte der römiſche Bau und erft das Erideim. 
ber jiegesfrohen Germanen mit ihrem reinen Gemüth war im Stande, der Etb 
geichichte den neuen Lauf zu weifen, den fie bisher genommen bat.” Die Deutides 
find das einzige Volf, das nod) Ideale bat, das einzige, „wo noch Zucht, I rome 
und Disziplin herrſcht, Reſpekt vor der Obrigkeit, Achtung vor der Kirche“: „fa 
Werk aus dem Gebiet neuerer Forſchung, das nicht in unferer Sprache abgeich 
würde, und fein Gedanke entipringt der Wilfenfchaft, der nicht von uns zuerſt ve 
merthet würde, um nachher von anderen Nationen angenommen zu werben.” Dick 
Behauptung wäre recht ſchwer zu beweilen; und der Politiker könnte, aud wen | 
fie bewiefen wäre, nicht empfehlen, fie öffentlich auszufprechen. Erfreulicer few 
nüchternen Deutſchen, was der Kaiſer über die Aufgaben des neuen Kaiferthuzt | 
fagte: es joll nicht, wie dag alte, „unter der Sorge um das Weltimperium be 
gernanifche Volk und Land aus dem Auge verlieren‘, ſondern, „nach auben D 
ſchränkt auf die Grenzen unferes Landes“, nad; innerer Kräftigung feines Bed 
itreben. Das ift ein ftarfes Argument gegen den expanfiven Jmperialismus m 
völlig unvereinbar mit dem Wort: „Unfere Zukunft Liegt auf dem Waſſer“; für da 
Kaiſer Liegt fie jet im Grenzbereich unjeres Yandes, auf den wir „nad außen be 
ſchränkt“ find. Und: „die Wurzeln der Kaiferfrone ruhen im märkiſchen Sand“. Ar | 
muß abwarten, ob diefe Worte wieder verhallen werben oder eine Umkehr ankünden 
ſollten. Das hohe Ziel ihres nationalen Lebens werben nad) des Kaiſers Menu 
die Deutfchen nur erreichen, wenn fie fromme Chriften find. „Ob mir modern | 
Menſchen find, ob wir auf dieſem oder jenem Gebiet wirken: Das ift einerlei. ga 
fein Leben nicht auf die Baſis der Religion ftellt, Der ift verloren.“ Armer Alter 
Fritz, armer Goethe, arıne Moderne, die Ihr nach der ſchmerzlich vermißten Einheit 
im Denken und Handeln drängt, unter Qualen um eine neue Weltanjchauung ing! | 
hr feid unrettbar verloren. Wie ein alter Kaifer, „ſtellt“ Wilhelm der Zu 
„das ganze Neid, das ganze Wolf unter das Kreuz.” Und Niemand ers 
ben frommen Volfsrepräjentanter ebrerbietig daran, daß heute Ahermillii 178 
der Wurzel feines Glaubens gelöft find, der fie lange genug in lähmend. I | 
iprüche zwijchen Belennen und Thun gebannt hielt, und daß jeit den with. enge | 
Tagen das Verhältniß zu Gott die perfönlichfte Sache des Einzelnen gewor ı# 
Niemand. Der Saijer, der summus episcopus des preußiichen Proteitant: au, 
ſpricht von der „großen Beit der Reformation” und nennt dennod den Par 
der gläubigjte Statholif, den „Heiligen Vater“ umd freut fi der Anertr— ,M | 





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Notizbuch. 529 


Leo der Dreigehnte in einem Privatgefpräcd) dem Zuſtand des Deutichen Reiches ge- 
Ipenbet haben ſoll. Welde Kraft, muß man, nicht zum erften Dial, fragen, bleibt 
einem Proteftantismus, der gegen Rom nichtmehr proteftirt? Was hindert ihn noch, 
die Kluft endlich zu fchließen und den „Heiligen Vater“ von dem ärgernden Anblid 
eines Ketzervolkes zu befreien? .... Wenn der Regtrungzeit Wilhelms bes Zweiten 
einft ein Angilbert entfteht, wird er melden müflen: von Jahr zu Jahr fei es den 
Aufrechten fehwerer geworden, fih in den Gedanfengängen des Kaiſers zurechtzu- 
finden; doch fo ungeheuer fei dazumal im Zande ber ‚Germanen mit dem reinen 
Gemüth‘ die Macht der Heuchelei und Lüge geweſen, daß der Kaiſer die Wirkung 
leiner Reden beim beſten Willen nicht zu ahnen vermochte und, da ungehemmt fein 
Ruf zu ihm drang, mit unerſchütterter Zuverficht an die Auswählung des Volkes 
glauben Tonnte, das ihm die wichtigſte Pflichtleiſtung, Wahrhaftigkeit, ſchuldig blieb. 
* 


Herr Karl Jemtſch ſchreibt mir: 

„Meinem Artifet Induſtrieſtaat oder Agrarftaat?‘ eine kleine Ergänzung 
nachzuſchicken, veranlagt mich ein Buch, das ich erft jet gelejen Habe: „Deutichland 
am Scheibemwege‘ vom Dr. Ludwig Pohle. Es ift ein vortrefjliches Buch und ich bin 
namentlich mit Den einverftanden, was barin über die Tendenz des Weltverfehres 
gefagt wird: daß wir nicht der ungefunden Scheidung der Länder in Induſtrieländer 
und Agrarländer entgegengehen, fondern einem Zujtande, wo alle Staaten Agrar: 
Induſtrie-Handelsſtaaten fein umd nicht Agrarprodukte gegen Induſtrieerzeugniſſe, 
ſondern Induſtriewaaren gegen Induftriewaaren und Bodenerzeugniffe gegen Boben- 
ergeugniffe austaufchen werden, — mit den Ausnahmen natürlich, deren Befeitigung 
die Klimaunterjchiede vermehren. Daß bie dentiche Landwirthichaft im Augenblid 
hohe Setreidezölle braucht, weift Pohle beinahe überzeugend nach; über Das aber, 
was in Zufunft, jagen wir nach dreißig Jahren, werben fol, jet er fich zu leicht⸗ 
fertig Hinweg, mit Hilfe eines Mittels, das alle Nationalöfonomen von Fach, 
ſowohl die agrarierfreundlichen wie ihre Gegner, jede Partei für ihren bejonde- 
ren Zweck, anzuwenden pflegen: er umgeht vorfichtig die Bodenfrage. Und Das 
veranlaßt nun einige Trugichlüffe, die zu interejfant find, als daß ich mid) nicht 
verfucht fühlen follte, menigftens zwei davon anzumerken. Pohle beweilt, daB es 
nicht der Unterfchied der Bodenpreije, fondern die VBerjchiedenheit des Betriebes 
ift, was die amerifanijche Produktion wohlfeil und die deutiche theuer macht; in 
Amerika wird die Landwirthichaft extenſiv, bei uns intenfiv betricben; ‚hohe 
Bodenpreife oder, anders ausgedrückt, ein hoher Stand der Grundrente find meines 
Erachtens nicht die Urfache, fondern umgekehrt die Folge und ein Symptom hoher 
Produktionkoſten. Sa, warum erniedrigen dann nicht unjere Landwirthe ihre 
Produktionkoſten dadurch, da auch jie extenſiv wirthfchaften? Doch wohl deshalb 
nicht, weil zum extendere, zum Ausdehnen und Ausbreiten der Wirthichaft, viel 
Raum gehört und wir den nicht haben. Extenfiv wird ſelbſtverſtändlich überall ge- 
wirthichaftet, wo man viel Land hat und ſich ausbreiten kann, und intenjio würde 
nie und nirgends in der Welt gewirthichaftet worden fein, wenn nicht die Boden⸗ 
Tnappheit dazu gezwungen hätte. Deshalb bleibts dabei, daß nur auf ‚Freiland‘ 
wohlfeil gewirthichaftet werden fann. Und da die Steigerung ber Getreidepreife eben 
io wie die Steigerung der Intenſität des Anbaues ihre natürliche Grenze findet, 
jo folgt daraus, daß auf immer Enapper werdendem Boden der Holfihuß nur vor- 








Notiabuch | 531 


Jeder, ber feine Seminarzett Hinter jich hat, jchon ein guter Zehrer. Zum Lehren gehört 
Das Donum docendi, bie Lehrgabe, das Geiftesgejchent, eine beſondere Anlage. Von 
Der Lehrgabe hängt ber Erfolgbeslinterrichtes ab, Wehe demLehrer, der nur nach wiſſen⸗ 
ſchaftlichen Regeln lehrt, ber nur die Natur des Gegenitandes und nicht bie individuelle 
EigenthümlichleitbesZöglingsberüdfichtigt ! DerLehrer, der zum Methodikerwird, hat 
feinen Berufverfehlt. Im Allgemeinen holt ber 2ehrerfeine Bildung aus dem Seminar. 
Seminarium heißt Pflanzenſchule. Kinder find gleich Pflanzen, bieaucd im Einzelnen 
beobachtet werden müſſen und nicht, nach botanifchen Lehrſätzen, alle nach einem 
Schema. Da gilt e8 auch, je nach Bedarf den Boden zu lodern, die Pflanzen mit 
Stäbchen zu ftäßen, die Raupen abzulefen, zu gießen und andere Arbeit dieſer Art 
zu thun. Dan Hört fo oft: Die beiden Brüder hatten die gleiche Erziehung und doch 
ift der eine tüchtig und der andere ein TaugenichtS geworden. Woher kommt Das? 
Ganz einfach: weil die Erziehung für den einen paßte und für den andern nicht. 
Alter frenis eget,alter calcaribus. Der Eine bedarf der Zügel, der Andere der 
Sporen. Die Lehrer wollen die Kinder bilden. a, ijt denn ein Anhäufen von Kennt⸗ 
niſſen, von allerhand Material Bildung? Iſt es nicht fürs fpätere Leben gleich- 
giltig, ob ein Kind weiß, dab 1645 die Schlacht bei Nafeby gejchlagen wurde, daß 
die mittlere Höhe des Thian-Schan 3900 Meter beträgt, daß der Amur aus zwei 
Quellflüſſen, dem ſüdlichen Kerlun, ſpäter Argun genannt, und dem nörblichen 
Onon, ſpäter Schilka genannt, zufammenfließt? Und welche Unmanieren fieht man 
mitunter an Lehrern! ‚Das Beifpiel erzieht‘: dieſes Wort ftellt Peſtalozzi als erften 
pädagogiſchen Grundſatz hin. Die Kinder find Scharfe Beobachter und ihre Erziehung 
fordert von dem Erzieher eine ftete Vervolllommnung der eigenen Berfönlichkeit. 
Mean jollte mit den Lehrkräften öfter wechjeln, die Lehrer zeitiger penfioniren. 
und jungen Kindern junge Lehrer geben, bie fie auch außerhalb des Syntarbereiches 
veritehen können. Lehrer, die nach Prinzipien die Hände falten laffen, wie eg noch 
heute in einer höheren Töchterſchule des berliner Weftens vorlommt, müßten ent- 
lajjen werden. Die Kinder müſſen dort in den eriten zwanzig Minuten der Stunde 
die Hände jo auf den Tiſch Legen, dag nur Zeige: und Dkittelfinger der Hand auf dem 
Tiſch ihtbarfind. In den nächſten zwanzig Minuten Halten jiedie Händegefaltet und 
inden letzten zwanzig Minuten, auf eintgegebenes Zeichen, auf dem Rücken verfchränft. 
Gin anderes Belfpiel, diesmal aus einem Gymnaſium der Friedridjitadt. Die Ober- 
jefunda tft verfammelt, der Mathematiklehrer wird erwartet. Der Brofefior kommt, 
bejteigt die Katheder und ruft, während er jich entjept in die Haare fährt: ‚Körner! 
Wer hat Sie denn in die Oberſekunda verjegt, obgleich Sie nicht reif waren?‘ 
Wegner! Wer nimmt denn immer Rüdjiht auf Sie, wenn Sie nicht willen? 
Und da wagen Sie, die Streide wieder links von mir zu legen, ftatt, wie ich jo oft 
gelagt habe, rechts! Die Kreide muß auf der Katheder immer rechts liegen, merfen 
Sie ſichs! Das ift wichtig!‘ Ein dritter all, aus einem anderen Gymnaſium 
jerling. Ein wegen Krankheit zurücfgebliebener Diirartaner bekommt vom Klaſſen— 
“rer Nachhilfejtunde. Der Erfolg bleibt nicht aus, läßt aber bald fichtlich nad). Der 
md? Der Herr Lehrer benußte die Stunde, um bem Jungen feine Gedichte vor« 
„fen. Der kleine Bengel konnte fie zum Theil ſchon auswendig und citirte mit 
orliebe ein Gedicht, das den ſchönen Titel trug: ‚Weiberdaß‘. Natürlich be 
delte er Alles, was an weiblichen Weſen im Haufe war, von der Mutter bis zur 
xuchenfee, jeitdem mit Nichtachtung. Vierter Fall aus einer Mädchenſchule. Die