Skip to main content

Full text of "Die zukunft der Juden"

See other formats


2 


[Werner Sombart 


9 


Ill 


„Ein Volk ſtehet auf, 
das andere verſchwindet, 
aber Ifſrael bleibt ewig.” 

Midraſch zu Pfalm 36, 


| 


| 


1761 00305365 


UNIVERSITY OF TORONTO 


n a 
x 
* 8 
u BER 


2 


2 1 


zig o Verlag von Duncker & Humblot a 1912 


PURCHASED FOR THE 
University of Toronto Library 
FROM THE 
Joseph and Gertie Schwartz 
Memorial Library Fund 


FOR THE SUPPORT OF 


Jewish Studies 


Werner Sombart 


Die 
Zukunft der Juden 


* 
„Ein Volk ftebet auf, das andere 
verſchwindet, aber Iſrael bleibt ewig“ 


Midraſch zu Pſalm 36 


Leipzig 
Verlag von Duncker & Sumblot 
1912 


Alle Rechte vorbehalten. 


Copyright 1912 by Duncker & Humblot in Leipzig. 


Altenburg 
Piererſche Sofbuchdruckerei 
Stephan Seibel & Co. 


Seite 

Bere lurgeben . 2000 ͤ K en en 5 
/// . ee er erahe 12 
e ee 22 4.0000 Data 33 
IV. Arterhaltung oder Artvernihtung?. . g 34 
did unter ib... 2 2 N 61 
uns,. shake ann 71 
VII. Volkstum und Menſchtvun uu 88 


et 


86 

N * 
Men a I 
14 


1 I 
ig 
ae, 
10 1 
RN 
} Arsen 


l. Die Aufgabe 


Wieder einmal iſt Iſrael in aller Munde. Wieder 
einmal beſchäftigt die Frage nach der Zukunft der 
Juden weite Kreiſe der Bevölkerung in allen Kultur— 
ländern, weil die Gegenwart jeden Tag „die Juden— 
frage“ uns wieder zum Bewußtſein bringt. Sier 
bricht fie lärmend hervor in Geſtalt blutiger Po- 
grome oder unblutiger Plünderung der Judenhäuſer, 
wie in Rußland oder in England; dort regt fie 
die Geiſter zu leidenſchaftlichem Kampfe in Wort 
und Schrift auf, wie die Disfuffion der national⸗ 
jüdiſchen Bewegung in der Zioniſtenpreſſe; dort 
endlich ſchwält die Flamme langſam unter Roblen 
weiter und wirft nur Funken heraus in den aber- 
tauſend Reibereien, die in allen Ständen der Alltag 
bringt. a 

Zwar in der öffentlichen Diskuſſion iſt von den 
Juden, wenigſtens im Weſten Europas, wenig mehr 
die Rede. Das beruht auf einer ſtillſchweigenden 


— 5 


Verabredung der großen liberalen Preſſe: „über 
Thema“ nicht zu ſprechen. Man hegt in dieſen 
Kreiſen die Hoffnung, daß die Zeit das Judenproblem 
ſchon löſen werde, daß man auf dem beſten Wege 
der Löſung ſei, und daß nur durch das ewige 
Darüberreden der Seilungsprozeß dieſer Wunde (wie 
man es nennt) aufgehalten werde. 

Dieſe Totſchweigepolitik, unter der vor allem 
breite Teile der Judenſchaft ſelber leiden müſſen, 
die anderer Meinung ſind, denen aber keine „große“ 
Preſſe zur Verfügung ſteht, iſt aber verwerf⸗ 
lich. Nicht nur weil ſie nicht tapfer, ſondern 
vor allem, weil ſie kurzſichtig und unklug iſt. 
Wie kann ein Menſch wirklich glauben, daß das 
größte Problem der Menſchheit ſtillſchweigend aus 
der Welt geſchafft werden könnte? Ahnt man 
denn nicht, daß man die Gegenſätze, die man ſo 
gern vertuſchen möchte, nur tauſendmal ſchärfer 
macht, wenn man ihre offene, rückſichtsloſe Aus; 
tragung hindert? Schätzen die Leiter der großen 
liberalen Blätter ihre Leſer ſo niedrig ein, daß ſie 
nicht den Mut haben, ihnen zu berichten, was heute 
in breiten Kreiſen der Judenſchaft an neuen 
Idealen und neuen Zielen lebt? 

Die Empörung vor allem über dieſe Politik 
unſerer großen liberalen Preſſe hat mich veranlaßt, 


7 


dieſe Schrift zu ſchreiben, um, was ich vermag, dazu 
beizutragen, die Erörterung des Judenproblems 
wieder in das breite Licht der Öffentlichkeit hinaus⸗ 
zutragen. Dazu kam ein perſönlicher Grund: ich 
wollte nicht den Vorwurf der Feigheit auf mir 
ſitzen laſſen, der offen und verſteckt gegen mich er⸗ 
hoben wurde: weil ich bisher zu dem Problem 
der praktiſchen Judenpolitik keine Stellung ge 
nommen hätte, obwohl ich ſo ausführlich über 
Juden geſprochen habe. 

Man hat es mir dann wieder von anderer Seite 
verargt, daß ich mit dieſer Schrift, die keine wiffen- 
ſchaftliche Abhandlung, ſondern nichts als eine 
Bekenntnisſchrift fein will, aus der Referve beraus- 
trete, die ich mir noch in meinem Buche: „Die 
Juden und das Wirtſchaftsleben“ auferlegt hatte. 
Die einen haben geſagt, ich würde damit den Ein⸗ 
fluß meines Buches abſchwächen; die anderen haben 
mir zu verſtehen gegeben, daß mich die „inner⸗ 
jüdiſchen“ Angelegenheiten wie der Zionismus und 
die nationaljüdiſche Bewegung nichts angingen, daß 
es taktlos von mir wäre, als Nicht ⸗Jude darüber 
zu reden. 

Beide Arten von Bedenken halte ich nicht für 
berechtigt. Wenn mein Buch über die Juden und 
das Wirtſchaftsleben wiſſenſchaftliche Werte hat, 


BR | 


fo bleiben dieſe unberührt durch das, was ich nun, 
ohne Anſpruch auf „Gbjektivität“ zu erheben, als 
„Menſch und zeitgenoſſe“ über die Zukunft der 
Juden ſage. Meine perſönlichen Meinungen über 
dieſen Gegenſtand kann jeder ſeiner Überzeugung 
nach annehmen oder ablehnen, ohne daß ſich darum 
feine Stellung zu meinen wiſſenſchaftlichen Aus- 
führungen zu ändern brauchte. Man wird das, 
was ich als wiſſenſchaftliche Erkenntniſſe in meinem 
Buche über die Stellung des Judentums in der 
Geſchichte ausgeführt habe, zu trennen wiſſen von 
dem, was ich als perſönliche Überzeugung, als ein 
perſönliches Bekenntnis hier mit Bezug auf Zu⸗ 
kunftsfragen vortrage. 

Mit Entſchiedenheit weiſe ich aber auch den an⸗ 
deren Einwand zurück: ich hätte als Nicht- Jude nicht 
das Recht, über die zukunft der Juden zu ſprechen. 
Ja wie denn? Iſt denn die Seſtaltung dieſer zukunft 
wirklich eine innerjüdiſche Angelegenheit, wie etwa 
die Regelung des Gottesdienſtes oder die Abſetzung 
eines Bibliothekars der jüdiſchen Gemeinde? Wer 
will uns dieſen Unſinn weismachen. Vielmehr iſt 
das ein Problem, von deſſen Löſung der letzte unter 
uns auf das empfindlichſte berührt wird. Ob ſich 
die Juden „aſſimilieren“ ſollen oder national · jüdiſche 
Politik treiben, ſoll uns Nicht ⸗Juden nichts an- 


— 9 — 


gehen?! Ja, ich wüßte nichts, was uns mehr an- 
ginge. Mein — nicht nur das Recht, ſondern die 
Pflicht haben wir alle, die wir uns durch jahre 
langes Studium des Judenproblems einige Sach— 
kenntnis erworben haben, unſere Anſicht über die 
verſchiedenen Möglichkeiten zu äußern, wie die Zu— 
kunft der Juden geſtaltet werden könne, da wir da⸗ 
mit die Möglichkeiten unſerer Rulturentwicklung 
überhaupt in Frage ſtellen. 


+ * 


Don dem Standpunkte aus, von dem aus 
die folgenden Zeilen geſchrieben ſind, ergeben 
ſich von ſelbſt die Aufgaben, die dieſe Studie 
zu erfüllen hat: der Prüfung der ziele aller 
Judenpolitik und ihrer Bewertung muß eine 
Unterſuchung der heutigen Lage der Judenheit 
auf der Erde ſowie ein Überblick über die wahr— 
ſcheinlichen Tendenzen ihrer Entwicklung vorauf⸗ 
gehen. 0 

Die Durchführung dieſes Programms (die felbft- 
verſtändlich nicht mehr als eine ſkizzenhafte fein will 
und kann) erheiſcht zunächſt eine Überſicht über die 
Zahl und die räumliche Verteilung der Juden und 
bringt ſofort eine natürliche Einteilung der Juden 


— 10 — 0 
in verſchiedene große Gruppen mit ſich, deren B. 
Dafeinsbedingungen fo verſchieden find, daß auch 
ihre zukunft eine verſchiedene ſein wird (und ſein 
ſoll), die alſo auch getrennt voneinander zu be- 
handeln ſind: in die Gruppen der öſtlichen und 
weſtlichen Juden, wie wir ſie nennen können, wobei 
den weſtlichen Juden die neu nach Amerika gekom- 
menen Scharen der Oſtjuden zugerechnet werden 
ſollen. 

Die Ziffern ſind folgende (nach den zuverläſſigen 
Zufammenftellungen Dr. Arthur Ruppins in feinem 
Buche: Die Juden der Gegenwart, 2. Aufl. 1911): 

Im ganzen leben jetzt auf der Erde etwa 
JJ ½/ Millionen Juden, davon entfallen auf Rußland 
etwas über 5 Millionen, auf Galizien etwa J Million, 
auf Rumänien ¼ Million, auf Ungarn J Million; 
das find etwa 6 bis 7 Millionen, die wir als 
„öſtliche“ Juden bezeichnen können (wobei die 
Million ungariſcher Juden, von denen ein beträcht⸗ 
licher Teil in Budapeſt wohnt, zur Hälfte den weft- 
lichen Juden zugerechnet wird). In Weſteuropa, 
das heißt alſo in Ungarn (zur Sälfte), in Öfterreich 
(außer Galizien), in Italien, den Niederlanden, 
Frankreich, England, Deutſchland gibt es etwa 
2 Millionen Juden (in Deutſchland rund 600000). 
Zu dieſen „weſtlichen“ Juden geſellen ſich nun noch 


— 11 — 


die amerikaniſchen Juden, deren Zahl ſich jetzt eben- 
falls auf etwa 2 Millionen beläuft (von denen 
18 Millionen in den Vereinigten Staaten, über 
eine Million in der Stadt Neupyork leben). 

Der Reſt verteilt ſich auf Aſien, Afrika und 
Auſtralien. 


II. Die Judennot 


Der größte Teil der Juden — faſt alle öftlichen 
Juden — lebt in kümmerlichen Verhältniſſen, die 
ſich vielerorts zu zuſtänden der Not, des Elends, 
der Verzweifelung ausgeſtalten. 

Rechtlich werden ſie in Rumänien als „Fremde“, 
in Rußland als Salbbürger behandelt; in beiden 
Ländern find ihre ſtaatsbürgerlichen Rechte be- 
ſchränkt. 

Die große Maſſe der in Rußland anſäſſigen 
Juden lenkt unſere Aufmerkſamkeit immer in erſter 
Linie dieſem Lande zu. Rußland hat die Menge 
Juden, weil es die Erbſchaft des Königreichs Polen 
angetreten hat. Dort — in Polen — hatte ſich im 
Laufe des Mittelalters der größte Teil der Juden, 
die von überall vertrieben wurden, angeſammelt, 
und von dorther haben ſie ſich dann nach Weſten 
und nach Oſten ſeit dem achtzehnten Jahrhundert 
über alle Länder verbreitet. Auch in das nicht 


RN 


polniſche Rußland waren fie bereits eingedrungen, 
als vor nunmehr dreißig Jahren (1881) die Srei- 
zügigkeit für Juden in Rußland aufgehoben wurde. 
Seitdem mußten ſie dort ſitzen bleiben, wo ſie im 
Augenblick, als das Geſetz erlaſſen wurde, ſaßen; 
dieſes Gebiet iſt der ſogenannte Anſiedlungsrayon 
und umfaßt Polen und 15 angrenzende Gouverne— 
ments. Auf dieſem Anſiedlungsrayon, der nur ½s der 
Fläche Rußlands ausmacht, wohnen doch Millionen 
(94 910) Juden, fo daß fie in Polen 14,05% in den übrigen 
15 Gouvernements II, 12% der Bevölkerung aus— 
machen, dagegen in den 3 Gouvernements Kurland, 
Livland, St. Petersburg 2,39%, in den übrigen 
32 Gouvernements nur 0,19% . Innerhalb des An- 
ſiedlungsrayons iſt ihre Bewegungsfreiheit noch 
weiter dadurch beſchränkt, daß es ihnen (außer in 
Polen) verwehrt iſt, auf das Land zu gehen; ſie 
müſſen in den Städten wohnen. 

Wie ſich erwarten läßt, ift die ökonomiſche Lage 
dieſer ruſſiſchen Juden großenteils miſerabel: ſie 
freſſen ſich gegenſeitig auf. Ich mache hier an der 
Sand Ruppins einige Angaben, aus denen die wirk⸗ 
liche Judennot im Gſten deutlich genug uns ent—⸗ 
gegentritt. 

Wir finden dieſe Juden in einigen wenigen Be- 
werben zufammengedrängt: die meiften leben vom 


N 


Handel, von der Schneiderei, vom Fuhrweſen, von 
Unterricht und Erziehung; in dieſen vier Berufen 
waren von den in zwei typiſchen Gouvernements 
des Anfiedlungsrayons (Witebsk und Mohilew) 
wohnenden Juden zwei Drittel beſchäftigt. Viele 
Juden haben überhaupt keinen regelmäßigen Erwerb; 
ſie verſuchen auf alle erdenkliche Weiſe ſich ihr karges 
tägliches Brot zu verdienen. Halpern erzählt von 
einem ruſſiſchen Juden, deſſen Hauptbeſchäftigung 
darin beſtand, daß er an Markttagen mit einem 
Pfropfenzieher auf dem Markte erſchien und den 
Bauern die Branntweinflaſchen öffnete (in Rußland 
wird der Branntwein nur in verſchloſſenen Gefäßen 
verkauft). Der Mann verdiente an Markttagen, 
wenn das Geſchäft blühte, bis Js Ropefen. Nach 
den Feſtſtellungen Brodowskis nehmen von den 
150 ooo Juden, die in Odeſſa wohnen, 48 500 Armen · 
unterſtützung in Anſpruch. 63g aller verſtorbenen 
Juden in Odeſſa mußten unentgeltlich, weitere 20% 
mußten zu den niedrigſten Sätzen begraben werden. 

In Galizien iſt das Bild nicht viel anders: auch 
hier wiſſen zahlreiche Juden nicht, womit ſie am 
näch ſten Tage ihren Unterhalt verdienen ſollen. Das 
find jene Exiſtenzen, die Max Nordau „Auftmen- 
ſchen“ genannt hat. Während in ganz Galizien die 
Juden 11,09% der Bevölkerung ausmachen, ſteigt 


„ 


ihr Anteil in der Gruppe der „Selbſtändigen ohne 
Berufsangabe“ auf 51,51%, in derjenigen der „Lohn⸗ 
dienſte wechſelnder Art“ auf 39,80% . Jüdiſche 
Handwerker, die 8— lo fl. die Woche verdienen, gelten 
ſchon als bevorzugt; die Mehrzahl kommt höchſtens 
auf 5—7 fl. 

Auch in Rumänien haben ſich die Verhältniſſe 
der Juden namentlich ſeit den 1880 er Jahren ver⸗ 
ſchlechtert: eine Folge vor allem der Einwanderung 
aus Galizien und Rußland ſowie der Einſchrän⸗ 
kungen durch die Geſetzgebung. 

Überwiegend find die Juden überall im Often 
kleine Sandwerfer, Krämer, Schankwirte, Trödler, 
Makler, Pferdeleiher, Sauſierer, Wucherer: „Lauter 
notdürftige Exiſtenzen, die der geringſte Unfall über 
den Saufen wirft“ (Ruppin). 

Das geiſtige Leben dieſer öſtlichen Juden iſt noch 
heute dasſelbe wie im Mittelalter: das Leben des 
Ghetto. Bis auf eine kleine Gberſchicht Intel⸗ 
lektueller, denen das Leben ſauer gemacht wird durch 
die Einſchränkung ihrer Bildungsmöglichkeiten (in 
Rußland iſt bekanntlich die zahl der zu den höheren 
Bildungsanſtalten zugelaſſenen Juden „kontingen- 
tiert“), beſteht der größte Teil der öſtlichen Juden 
noch aus geſetzestreuen, ſtreng orthodoxen Juden; 
das heißt, fie tragen ſich lang, genießen ihren Unter- 


e 


richt nur in den Talmudſchulen, meiden jede Be⸗ 
rührung mit den „Datſch“ und ihrer Kultur, leſen 
keine Bücher in fremden Sprachen und ſprechen ihren 
eigenen Jargon, das Niddiſch. In Rußland wurden 
(1897) von 5,2 Millionen Iſraeliten 5 Millionen 
(,o o) ermittelt, deren Mutterſprache das Jüdiſche 
war, während im Anſiedlungsrayon gar 98% dieſes 
Idiom als ihre Mutterſprache angegeben hatten. 
Gedenkt man noch der ſteten Gefahr, in denen 
Gut und Leben dieſer öſtlichen Juden in jedem 
Augenblicke ſchweben — die Judenmetzeleien in 
Kiſchinew und an andern Grten ſind noch in jeder⸗ 
manns Erinnerung, und das „Kleine Pogrom“ 
gehort eigentlich zu den ſtändigen Tagesereigniſſen 
in Rußland —, ſo entſteht ein Bild von der Lage 
dieſer Judenmaſſen vor unſerm geiſtigen Auge, das 
düſterer und freud; und hoffnungsloſer nicht von 
der lebhafteſten Phantaſie gemalt werden könnte. 
Die Lage der Juden im Gſten Europas wäre 
nun aber zweifellos heute noch weit unerträglicher, 
als ſie ſchon iſt, wenn nicht ſeit jener Zeit, als die 
Entrechtung der Juden einſetzte, ſo große Mengen 
von ihnen abgewandert wären und dadurch der 
Zebensſpielraum der Zurückbleibenden ein wenig 
ausgeweitet worden wäre. Die örtlichen Ver⸗ 
ſchiebungen, die die Judenheit durch dieſe Wande⸗ 


BR A 


rungen im letzten Menſchenalter erlebt hat, find 
ganz ungewöhnliche und wohl in keiner früheren 
Zeit dageweſene. Man hat ausgerechnet, daß in 
den 28 Jahren von 1881 bis Joos rund 2 Millionen 
Juden aus den Ländern Oſteuropas ausgewandert 
find: 1 545 000 aus Rußland, 305 ooo aus Öfterreich- 
Ungarn und Joo ooo aus Rumänien. Von diefen 
2 Millionen iſt der bei weitem größte Teil nach 
England (Joo ooo) und nach den Vereinigten Staaten 
von Amerika (1 Millionen) gegangen. 

Und wie wird (kann, ſoll) ſich nun die Zukunft 
dieſer öſtlichen Juden geſtalten? Die Antwort auf 
dieſe Frage wird zunächſt verſchieden lauten müſſen, 
je nach der Meinung, die der einzelne über die Aus- 
ſichten der Juden hat, in den Ländern Oſteuropas 
das volle Bürgerrecht und ſomit auch volle wirt⸗ 
ſchaftliche Bewegungsfreiheit zu erhalten. Wer 
daran glaubt, daß „die Emanzipation“ der Juden 
in Rußland in abſehbarer Zeit zu erwarten ſei, der 
kann daran denken, daß auch die öſtlichen Juden 
ein ähnliches Schickſal wie die weſtlichen erleben 
werden (ganz gleich vorerſt, ob dieſes ſelbſt ein 
glückliches zu nennen ſei oder nicht). Wer dabin- 
gegen es für unwahrſcheinlich hält, daß ſich die 
ſtaatsrechtliche Stellung der Juden in den öſtlichen 


Ländern, namentlich alſo in Rußland, während der 
Sombart, Die Zukunft der Juden. 2 


i 


nächſten Menſchenalter weſentlich verbeſſert, der 
muß auch die Möglichkeit jener Entwicklung, wie 
ſie die Juden im Weſten Europas durchgemacht 
haben, einſtweilen ausſchließen. 

Ich gehöre zu denen, die an eine weſentliche 
Veränderung in der Rechtslage der öſtlichen Juden 
in der nächſten Zukunft nicht glauben. Gerade erſt 
in den letzten Jahren hat ſich die feindſelige 
Stimmung gegen die Juden in Rumänien und 
Rußland verſchärft: in Rumänien beginnt die 
Periode der ſchärferen Politik erſt um 1899, 1900; 
in Kußland gerade erſt nach Einführung der Ver⸗ 
faſſung. Die Schikanen häufen ſich, die kleinen 
Pogrome werden in Permanenz erklärt, die Aus⸗ 
weiſungen nehmen an Zahl und Stärke zu, der An⸗ 
ſiedlungsrayon wird eingeengt, die Beſchränkung 
der Studierenden wird größer (jetzt hat man auch 
die „Externen“, das heißt diejenigen, die ſich außer⸗ 
halb der Lehranſtalten ausbildeten und dann an 
dieſen ihr Examen ablegten, auf 56% „Fontingen- 
tiert“, mit anderen Worten, da faſt gar keine chriſt⸗ 
lichen Externen da find, fo gut wie unmöglich ge⸗ 
macht). Nach dem, was wir von der Stimmung 
in Regierungs- und Dumakreiſen wiſſen, beſteht 
auch keinerlei Grund zu der Annahme, daß dieſe 
Politik ſich bald ändern werde. Bis tief in die 


REN 


konſtitutionelle Linke hinein ift auch im ruſſiſchen 
Parlament die Anſicht verbreitet, daß es unmöglich 
fei, den Juden die volle Gleich berechtigung mit den 
Ruffen zu geben, weil man davon den wirtſchaft⸗ 
lichen Ruin des ruſſiſchen Volkes erwartet; dieſes, 
ſo ſagt man, ſei noch zu unreif, um den Angriffen 
einer ſo ſehr überlegenen Bevölkerungsgruppe wie 
den Juden ſtandzuhalten; der ruſſiſche Bauer würde 
unweigerlich in die ſchmählich ſte Schuldknechtſchaft 
vom jüdiſchen Wucherer geraten, und das Land 
würde nicht wie im Weſten Europas unter dem 
Einfluß der Juden zu höheren Formen des Wirt- 
ſchaftslebens emporſteigen, ſondern in einen Zuftand 
mittelalterlicher Barbarei zurückſinken. 

Gleichgültig, ob dieſe Anſichten richtig ſind oder 
nicht; gleichgültig, ob ſie „der Gerechtigkeit“ wider⸗ 
ſprechen oder nicht: für die praktiſche Politik iſt 
das allein wichtige dieſes, daß ſie in weiten und maß⸗ 
gebenden Kreiſen gehegt werden, und daß fie vor- 
ausſichtlich in abſehbarer Zeit keine Anderung er- 
fahren werden. 

So wird man alſo damit zu rechnen haben, daß 
der heutige Zuftand zunächſt andauert: ökonomiſches 
Elend und Pogrom, gemildert durch die Möglichkeit, 
ſich beiden durch die Abwanderung zu entziehen. 
Wie aber nun, wenn etwa dieſes einzige Ventil noch 

ar 


, 


geſchloſſen würde? Wie, wenn die Ausfichten der Aus ⸗ 
wanderung ſich ebenfalls in zukunft verſchlechterten, 
etwa weil die zuwanderungsländer ſich den ein- 
ſtrömenden Juden verſchlöſſen? 

Ich glaube nun in der Tat, daß man auch mit 
dieſer Möglichkeit rechnen muß. Da in den letzten 
Jahren eigentlich nur noch die Vereinigten Staaten 
als Einwanderungsgebiet in Betracht gekommen 
ſind, ſo wendet ſich unſere Aufmerkſamkeit in erſter 
Linie ihnen zu“). Was ſich aber ganz deutlich ver⸗ 
folgen läßt, iſt die zunehmende Schärfe der Kritik, 
die die öffentliche Meinung in den Vereinigten 
Staaten an dem Menſchenmaterial, das die Ein⸗ 
wanderung dem Lande zuführt, übt, und das Schritt 
für Schritt Nachgeben der geſetzgebenden Körper 
und der Verwaltungsbehörde dieſer Kritik gegen- 
über. Dieſe Entwicklung prägt ſich in der Geſchichte 
der amerikaniſchen Einwanderungsgeſetzgebung aus. 
Das Jahr 1882 brachte die erſte allgemeine Ein⸗ 
wanderungsakte, durch die zum erſten Male phyſiſch 
und moraliſch minderwertige Perſonen (Kranke, 


) Daß auch in England ein einftweilen „ſozialer Antiſemi⸗ 
tismus“ im Entſtehen iſt, iſt bekannt. Neuerdings hat ſich ein 
tief eingewurzelter Judenhaß in der engliſchen Grafſchaft 
Wales Fundgetan, wo im Sommer 1911 die Läden der Juden 
geplündert und ausgeraubt worden ſind. Die Exzeſſe waren 
ſo arge, daß man von Pogromen geſprochen hat. 


Verbrecher, Perfonen, die nicht für ſich ſelber ſorgen 
konnten uſw.) von der Einwanderung ausgeſchloſſen 
wurden. In den Jahren 1885 bis 1888 folgen dann 
die Verbote, Arbeiter mit fertig abgeſchloſſenen 
Arbeitsverträgen (ſog. Contract Labour) einzuführen. 
189] bis 1893 werden die Kategorien der nicht zu— 
zulaſſenden Perſonen vermehrt. 1903 wird die Ropf- 
ſteuer, die von jedem Einwanderer zu erheben iſt, 
auf 2 $ erhöht. 1907 werden die Ausſchließungs⸗ 
beſtimmungen Fodifiziert und erfahren abermals eine 
Verſchärfung. Und es beſteht eine ſtarke Bewegung für 
weitere Verſchärfung. Die Elvins Bill forderte ſchon 
den Nachweis von 100 8 Vermögen bei jedem Ein— 
wanderer (das würde den größten Teil der jetzigen 
Einwanderer ausſchließen; denn in den Jahren 
J900 und 190] betrug das Durchſchnitts vermögen 
der Einwanderer J5 $, und unter dieſen gehörten 
die Juden zu den allerärmſten: während die Schotten 
41,5, die Japaner 37,6, die Engländer 38,7, die 
Franzoſen 37,8, die Deutſchen 28,5 $ uſw. durchſchnitt⸗ 
lich mitbrachten, betrug das durchſchnittliche Ein⸗ 
kommen, das die jüdiſchen Einwanderer nachweiſen 
konnten, nur 8,7 $). Andere Bills forderten ſchon 
die zurückweiſung „aller Perſonen, die ökonomiſch 
nicht wünſchenswert“ () feien uſw. Dieſe Geſetze 
ſind bisher nicht verabſchiedet worden. Aber ein 


„ IR NO 


Teil ihrer rigoroſen Forderungen wird jetzt auf 
dem Verwaltungswege erfüllt. Seit Oskar Strauß 
nicht mehr Staatsſekretär iſt, weht ein ſcharfer 
Wind in Ellis Island: William Williams, der ſeit 
10209 das Amt des Einwanderungskommiſſars im 
Hafen von Neuyork innehat, handhabt nicht nur 
die Geſetze ſtreng und unerbittlich, ſondern verfchärft 
auch, wie behauptet wird, nach freiem Ermeſſen die 
Einwanderungsbedingungen durch den Erlaß ver⸗ 
ſchärfender Verfügungen. So hat er ganz ohne 
Geſetz es durchgeſetzt, daß ein Mindeſtgeldbetrag 
von 25 8 von dem Einwanderer nachgewieſen 
werden muß. Und er erreicht, daß in der Tat große 
Scharen von Einwanderungsaſpiranten die Grenzen 
der Vereinigten Staaten nicht überſchreiten; die ziffern- 
mäßige Wirkung dieſer Politik äußert ſich nicht ſo 
ſehr in der Zahl der im Hafen von Neupork zu- 
rückgewieſenen Perſonen — das waren im letzten 
Jahre 14 500 — als in der Menge der von den Schiff- 
fahrtsgeſellſchaften (die haftbar gemacht werden) nicht 
angenommenen Auswanderer, deren Zahl ſich ſchon 
1907 (vor dem ſtrengen Regime Williams!) auf 65 000 
belaufen hatte. Wohin aber in zukunft die Fahrt geht, 
das lehrt uns außer den Maßregeln des Einwande⸗ 
rungskommiſſars ſelbſt der Ton, in dem deſſen Berichte 
abgefaßt ſind. So ſchloß der letzte mit den Worten: 


rl 2 


„In the estimation of most impartial observers 
a certain minority of the new immigration is undesi- 
rable from the point of view of the interests of the 
United States, and this question cannot properly 
be considered from any other point of view. The 
real issue to-day is whether or not means should 
be found to keep out this undesirable minority, yet 
this issue is often successfully confused by inter- 
ested persons, who seek to make it appear that 
those who merely advocate further reasonable re- 
strictions are exclusionists and hostile to immigra- 
tion as a whole“, 

„Ihe time has come when it is necessary 
to put aside false sentimentality in dealing with the 
question of immigration and to give more consi- 
deration to its racial and economic aspects, and in 
determining what additional immigrants we shall 
receive to remember that our first duty is to our 
own country“. 

(„In den Augen von ganz unparteiiſchen Be⸗ 
obachtern iſt eine gewiſſe Minderzahl der neuen 
Einwanderung unerwünſcht vom Standpunkt der 
Intereſſen der Vereinigten Staaten, und dieſe Frage 
kann eigentlich von keinem andern Standpunkt aus 
betrachtet werden. Die weſentliche Frage iſt heute, 
ob Mittel gefunden werden, die unerwünſchte Minder— 


zahl fernzuhalten oder nicht; aber dieſe Frage iſt oft 
erfolgreich verwirrt worden von intereſſierten Per⸗ 
ſonen, welche es ſo darzuſtellen verſuchen, als ob 
die, die einfach eine vernünftige Beſchränkung ver⸗ 
teidigen, Ausſchließer ſind und der Einwanderung 
als Ganzes feindlich gegenüberſtehen. Die Zeit 
ift gekommen, wo es notwendig iſt, alle 
Sentimentalität beiſeite zu tun, bei Er⸗ 
örterung der Einwanderungsfrage, und ihrer raſſen⸗ 
mäßigen und wirtſchaftlichen Seite mehr Beachtung 
zu ſchenken; und bei dem Beſchluß, was für neue 
Einwanderer wir aufnehmen wollen, nur zu be⸗ 
denken, daß unſere erſte Pflicht unſerem eigenen 
Lande gilt.“ 

Daß dieſe reſtriktive Einwanderungspolitik eines 
ſchönen Tages dazu führen kann, den großen Maſſen 
der jüdiſchen Einwanderer die Grenze der Vereinigten 
Staaten zu ſperren, iſt keineswegs unwahrſcheinlich. 
Vielleicht gelingt es ſchon durch immer weitere 
Zeraufſetzung der Vermögensbeträge, die die Ein; 
wanderer nachzuweiſen haben, die ja durchgängig 
armen Juden von Amerika fernzuhalten. Aber auch 
das halte ich keineswegs für ausgeſchloſſen, daß ſich 
die Abneigung der Amerikaner gegen beſtimmte 
Völker und „Raſſen“ kehrt, und daß man die Slawen 
oder die Juden als ſolche von der Einwanderung 


ausſchließt. Wie rigoros in dieſer Richtung die 
freien Nankees verfahren können, beweiſt ihre 
Chineſenpolitik. Und daß heute ſchon ein unerhört 
lebhafter Saß gegen die Juden in den Vereinigten 
Staaten ganz allgemein verbreitet iſt, weiß jeder- 
mann. Der ſoziale Antiſemitismus iſt drüben ſtärker 
als in irgendeinem Lande Europas. Und er iſt 
immerfort im Wachſen begriffen, naturgemäß in 
dem Maße wie die Zahl der Juden und ihre Wirk⸗ 
ſamkeit zunimmt. Man bedenke doch die eine Tat; 
ſache, daß in der Stadt Neuyork mehr als eine 
Million Juden lebt; faſt doppelt ſo viel wie in 
ganz Deutſchland; mehr als ein Viertel (26 / ) der 
geſamten Bevölkerung Neuyorks! Schon heute 
iſt der Broadway faſt ganz von den jüdiſchen 
Händlern erobert, und die wirtſchaftliche Macht- 
ſphäre der Juden wächſt von Tag zu Tage; ſchon 
heute iſt das ganze Brund- und Boden- (real-estate) 
Geſchäft, iſt die ganze Konfektion in den Händen 
jüdiſcher Säuſer. Da iſt es jeden Augenblick mög⸗ 
lich, daß der ſtarke „ſoziale Antiſemitismus“ eine 
ökonomiſche und damit bald eine politiſche Fär⸗ 
bung bekommt und ſich zunächſt einmal in be- 
ſonderen Einwanderungsbeſchränkungen für die 
Juden äußert. In den letzten Tagen war viel die 
Rede von der Aufhebung der Paßparagraphen in 


BR 


dem (gekündigten) amerifanifch-ruffifchen Sandels⸗ 
vertrage. Die liberale deutſche Preſſe hat ziemlich 
arglos in der Forderung Amerikas, daß die ameri⸗ 
kaniſchen Bürger jüdiſcher Serkunft in Rußland 
Bewegungsfreiheit genießen ſollen, den Ausfluß 
echt „demokratiſcher“ Geſinnung erblickt. In Wahr⸗ 
heit liegt die Sache ganz anders: Amerika möchte 
aus der chikanöſen Behandlung der amerikaniſchen 
Juden in Rußland gern die Berechtigung ableiten, 
auf dem Verwaltungswege ſich ruſſiſche (jüdiſche) 
Einwanderer vom Salſe zu halten, ohne ſich diplo- 
matiſche Schwierigkeiten zu bereiten. Deshalb betont 
die amerikaniſche Regierung dieſen Punkt ſo beſonders 
ſtark. Im Bundesparlamente find dieſe Zuſammen⸗ 
hänge vor einiger Zeit ganz offen erörtert worden. 

Was wird aber dann aus den öſtlichen Juden, 
wenn Amerika ſeine Pforten ſchließt, ſie aber in 
ihrer Heimat nicht leben und nicht ſterben können. 
Dann ſcheint wahrhaftig das Programm Dobedonos- 
zews ſich verwirklichen zu ſollen, der die Zukunft 
der ruſſiſchen Juden wie folgt prophezeite: ein 
Drittel wird auswandern (dieſer Teil der Prophe⸗ 
zeiung iſt jetzt faſt erfüllt), ein Drittel wird ver⸗ 
hungern und ein Drittel wird totgeſchlagen werden. 

Das Ergebnis aller dieſer Betrachtungen muß 
dies fein, anzuerkennen: im Gſten Europas gibt es 


Th 


eine wahre Judennot, eine Judennot ganz elemen⸗ 
tarer Natur; eine Not des Leibes und der Nahrung. 
Und aus dieſer Einſicht muß ohne viel Beſinnen 
eine ganz beſtimmte Politif entſpringen: Mittel und 
Wege müſſen ausfindig gemacht werden, wie man 
die öſtlichen Juden an einer andern Stelle der Erde 
in kompakten Maſſen (ohne alſo damit einen anderen 
Volkskörper zu durchſetzen) unterbringt. Das Pro- 
blem der öftlihen Juden iſt ein Unterbringungs-, ein 
Derforgungs-, genauer: ein Anſiedlungs oder Um⸗ 
ſiedlungsproblem. Das haben denn auch einſichtige 
Männer ſeit langem erkannt, und ſeit einem Menſchen ; 
alter müht man ſich, die Frage der jüdiſchen Roloni- 
ſation in ſachgemäßer Weiſe zu löſen. 

Zier wo es ſich nicht um die Darſtellung von 
Einzelheiten, ſondern nur darum handeln kann, die 
großen Linien der Entwicklung herauszuarbeiten 
und die großen Geſichtspunkte der Judenpolitik ins 
Auge zu faſſen, kann die jüdiſche Roloniſation in 
ihren verſchiedenen Phaſen nicht verfolgt, können 
die hundert und aber hundert Verſuche, Juden in 
Maſſen anzufiedeln, nicht aufgezählt und geprüft 
werden. Sie reichen in die achtziger Jahre des 
vorigen Jahrhunderts und noch weiter zurück, als 
man zuerſt anfing, in Paläſtina jüdifhe Kolonien 
anzulegen. 1884 wurde der Verein „Esra“ zur Unter- 


a AR RL 


ftügung ackerbautreibender Juden in Paläftina und 
Syrien gegründet; 1889 trat das OGdeſſaer Komitee 
zur Förderung des Ackerbaus und des Handwerks 
unter den Juden in Syrien und Paläſtina zuſammen. 
1891 wurde die größte dieſer Rolonifationsgefell- 
ſchaften, die Jewish Colonization Association (lca) 
ins Leben gerufen. 

Aber einen großen und allgemeinen Ausdruck 
fanden doch dieſe Umſiedlungsbeſtrebungen erſt 
in der Bewegung des Zionismus, deſſen Geburt 
in das Jahr 1897 fällt, als auf dem erſten Zioniſten⸗ 
kongreß zu Baſel das ſeitdem in feinen Grundzügen 
geltende Baſeler Programm aufgeſtellt wurde. Da⸗ 
nach „erſtrebt der Zionismus für das jüdiſche Volk 
die Schaffung einer öffentlich rechtlich geſicherten 
Seimſtädte in Paläſtina“. 

Aber die Einheitlichkeit der Unterbringungspolitik 
war nicht von langer Dauer. Bald nach der Be⸗ 
gründung der zioniſtiſchen Bewegung tauchte ein 
Projekt auf, das geeignet ſchien, die jüdiſchen Roloni⸗ 
ſationsbeſtrebungen ganz in andere Bahnen zu lenken: 
Uganda ſollte den Juden als Siedelungsgebiet über- 
laſſen werden. Dieſer Plan wurde von vielen mit 
Begeiſterung aufgenommen, und es bildete ſich neben 
den Zioniſten die Partei der Ugandiſten. Als ſich 
dann der Plan mit Uganda zerſchlug, blieb doch die 


Idee zurück: irgendwo auf der Erde müſſe ein Be- 
biet ausfindig gemacht werden, das der jüdiſchen 
Auswanderung als Ziel dienen könnte, und wo die 
Juden ſelbſtändige Kolonien, wenn möglich auch 
einen ſelbſtändigen Staat errichten könnten. 

Diejenigen, die dieſe Anſicht vertreten, heißen 
Territorialiſten. Sie haben verſucht, der zioniſtiſchen 
Organiſation die jüdiſch⸗territorialiſtiſche Orga⸗ 
niſation gegenüberzuſtellen, die es jedoch nicht ver⸗ 
mochte, größere Volkskreiſe zu gewinnen. Neben 
den Zioniſten gehen noch diejenigen ſelbſtändig ihre 
Wege, die zwar ihr Augenmerk auf die Rolo— 
niſation in Paläſtina gerichtet haben, die aber 
die weitergehenden Ziele des zionismus, die Er— 
richtung eines Judenſtaates ablehnen: die „Phi⸗ 
lanthropen“. 

Für den Draußenſtehenden iſt es ſehr ſchwer, 
ſich über die Berechtigung der einen oder anderen 
Partei ein Urteil zu bilden. Zumal wenn man die 
verſchiedenen Rolonifationsgebiete nicht aus eigener 
Anſchauung kennt. Was ſich dem unbeteiligten Be— 
obachter als Tatſache aufdrängt, ſcheint mir aber 
doch ein allmähliches Obſiegen der zioniſtiſchen Be- 
ſtrebungen über die andern zu ſein; wohlverſtanden, 
zunächſt nur, was hier einſtweilen allein in Frage 
ſteht, in der Geſtaltung der jüdiſchen Roloniſation. 


lo 


Der Grund mag vor allem darin liegen, daß zurzeit 
ein irgendwie geeignetes anderes Territorium als 
Paläſtina für die Unterbringung der notleidenden 
Juden nicht vorhanden iſt, Paläſtina ſelbſt aber 
viele Vorzüge vor anderen Gebieten aufweiſt; es 
iſt das heilige Land, das Land der Väter mit feinen 
tauſend Erinnerungen und Überlieferungen, die 
wieder lebendig werden für den gläubigen Juden, 
wenn er den geweihten Boden betritt. Paläſtina 
hat aber als Roloniſationsgebiet vor anderen Ländern 
den großen, praftifhen Vorzug voraus, daß hier 
allein eine langjährige Erfahrung ſchon gemacht iſt, 
daß hier die Rinderfranfheiten, die jede Roloni⸗ 
ſation durchmachen muß, zum Teil ſchon über⸗ 
wunden find, daß hier allein jüdiſche Kolonien zu 
wirklicher Blüte gelangt ſind. 

Der gewichtigſte Einwand, der gegen Paläſtina 
als Zufluchtsſtätte zunächſt der öſtlichen Juden er- 
hoben werden kann, iſt der, daß, rein quantitativ 
betrachtet, das Roloniſationswerk einſtweilen winzig 
klein iſt und eine Unterbringung der jüdiſchen Aus⸗ 
wanderer in dem bisherigen Umfange durchaus unzu⸗ 
reichend wäre, um etwa Amerika als Wanderziel ent⸗ 
behren zu können. Die Zahl der Juden in Paläſtina 
iſt von 34 000 im Jahre 1878 auf 55 000 im Jahre 
1907, auf 95000 im Jahre J909 angewachſen. Und 


ee 


in Kolonien find gar erſt 7250 untergebracht worden. 
Was bedeuten dieſe Ziffern, wenn wir fie den Hundert 
taufenden und Millionen gegenüberftellen, die in 
demſelben Zeitraum aus Oſteuropa nach Amerika 
ausgewandert ſind?! 

Nun verſichern aber gute Kenner Paläſtinas und 
feiner Nachbargebiete, daß bei ſyſtematiſcher Kolo- 
niſation ſehr viel mehr Menſchen dort angeſiedelt 
werden könnten, wenn man außer Paläſtina ſelbſt 
Zypern, Anatolien, Meſopotamien u. a. Länder 
noch einbegriffe. Und daß auch bei eifriger Agi- 
tation viel mehr Leute tatſächlich in jene Gebiete 
auswandern würden. 

Iſt dem wirklich ſo, dann wäre von Serzen zu 
wünſchen, daß alle Beſtrebungen, die die Unter- 
bringung der öſtlichen Juden als Ziel haben, auf 
die Roloniſation Paläſtinas und der umliegenden 
Länder ſich vereinigten, und daß dieſe Roloniſation 
ſyſtematiſch und energiſch in Angriff genommen 
würde; einſtweilen nur mit dem nüchternen, praf- 
tiſchen Ziele, möglichft vielen Juden menſchenwürdige 
Lebensbedingungen zu verſchaffen. Gb man dabei 
ſo arg großen Nachdruck auf die Anſiedlung als 
Bauern legen ſollte, ſcheint mir zweifelhaft. Es 
wäre ſchon viel gewonnen, wenn fie als Gewerbe— 
treibende oder Händler in dieſen Gegenden ihren 


Unterhalt gewinnen könnten. Und es ſcheint doch 
viel Ausſicht zu ſein, daß dieſe Länder wieder einmal 
zu einer ähnlichen Stellung in der Vermittlung 
zwiſchen Okzident und Orient gelangen, wie fie fie 
jahrhundertelang im Mittelalter beſeſſen haben. 
Dann aber wäre eine große jüdiſche Bevölkerung 
als vorgeſchobener Poſten gegen den Grient gerade 
in kommerzieller Sinfiht auch für die europäiſchen 
Nationen ein großer Gewinn. 

Möchten alſo die Optimiſten unter den Zioniſten 
recht behalten, damit auf dieſem Wege, den fie zu 
gehen vorſchlagen, wenigſtens ein Teil der „Juden⸗ 
frage“: die Frage nach dem Schickſal der öſtlichen 
Juden, feiner Löſung zugeführt werden könnte. 


III. Die Aſſimilation 


Den geraden Gegenſatz zu der Lage der öft- 
lichen Juden bildet das Leben der Juden in den 
Staaten Weſteuropas und Amerikas. Von einer 
Judennot iſt hier gewiß nicht die Rede; wenigſtens 
nicht in dem Sinne, daß die Juden Not litten 
an Licht und Auft. So viele armſelige und ge— 
drückte Exiſtenzen es ſicher noch unter den weſtlichen 
Juden — namentlich auch in Deutſchland und jetzt 
auch in England und Amerika unter den neu Zu— 
gewanderten — geben mag: als Ganzes genommen 
hat die Judenheit ſich hier doch einen gar nicht ſchmalen 
Platz an der Sonne erobert. Der Aufſtieg dieſer 
Teile des jüdiſchen Volkes, die ja auch noch vor 
hundert Jahren, viele unter ihnen noch vor ein, 
zwei Menſchenaltern eine mißachtete, arme Volks 
klaſſe gebildet haben, iſt ein beiſpiellos raſcher und 
glänzender geweſen. Überall haben fie ſich im 


Wirtſchaftsleben eine führende Stellung erobert. 
Sombart, Die Zukunft der Juden. 3 


Be.) al 


Mein Buch über „Die Juden und das Wirtſchafts⸗ 
leben“ hatte die Aufgabe, hierfür im einzelnen die 
Beweiſe zu erbringen. Man weiß jetzt, daß ein 
Viertel aller Aufſichtsratpoſten in den deutſchen 
Aktiengeſellſchaften und über ein Achtel aller Direktor⸗ 
ſtellen Juden innehaben; man weiß, daß überall, 
wo man überhaupt Vergleiche anſtellen kann, die 
Juden drei⸗ bis viermal ſo reich ſind wie die Chriſten, 
daß ein Viertel bis ein Drittel der Einkommen⸗ 
ſteuern in den großen Städten, wo die Juden eine 
Rolle ſpielen: in Breslau, Frankfurt a. / M., 
Mannheim, Berlin, von den Juden aufgebracht 
werden. 

Aber auch auf den übrigen Gebieten des Kultur- 
lebens haben ſie meiſt einen Anteil erobert, der weit 
größer iſt, als er ihrem ziffermäßigen Stärkeverhält⸗ 
nis in der Bevölkerung entſprechen würde. Dafür 
laſſen ſich freilich nicht immer ſo ſchlagkräftige 
Zahlen anführen, wie ich fie für das Wirtſchaftsleben 
in meinem Buche beigebracht habe. Aber manche 
Ziffer beſitzen wir doch, die intereſſante Aufſchlüſſe 
gibt auch über die Stellung der Juden auf dem 
Gebiete der geiſtigen oder geſellſchaftlichen Kultur. 
So können wir z. B. ganz genau feſtſtellen, wie 
viel mehr die Juden an den „Segnungen“ der höheren 
Bildung teilnehmen als die Chriſten: 


in den höheren Knabenſchulen entfallen auf 10000 
der Geſamtbevoͤlkerung 
chriſtliche Schüler jüdiſche Schüler 
in Preußen 61 385 
in Berlin 102 430 

Von je Joo Schulkindern beſuchen höhere Knaben 
ſchulen: 

3,3 chriſtliche, 
26,67 jüdiſche. 

In Berlin, wo (1905) 31,75 / aller preußiſchen 
Juden wohnten, genoſſen (Joo) eine beſſere als 
Volksſchulbildung von Joo Schulkindern: 

14,07 chriſtliche, 
67,53 jüdiſche. 

Studierende entfallen auf Jo oo: Juden 31,77; 
Chriſten 3,7]. 

Dieſen Ziffern entſpricht ihre tatſächliche Anteil⸗ 
nahme an unſerm geiſtigen und künſtleriſchen Leben. 
Unnütz zu ſagen, daß fie unſern Kunſt⸗, unfern 
Literatur. und unſern Muſikmarkt, daß fie unſere 
Theater, daß ſie unſere große Preſſe, wenn nicht 
ausſchließlich in den Händen haben, ſo doch ganz 
weſentlich, man darf getroſt ſagen: entſcheidend be⸗ 
einfluſſen. 

Auch im politiſchen Leben haben ſie in der 
kurzen Zeit, während welcher ſie überhaupt ſich 

3 * 


* 


3 

haben betätigen können, eine hervorragende Rolle 
zu ſpielen gelernt. An der Geneſis des Aiberalis⸗ 
mus und noch mehr vielleicht des Sozialismus ſind 
ſie weſentlich beteiligt. Sie haben eine ganze Reihe 
hervorragender Staatsmänner geliefert von D' Israeli 
und Gambetta bis Auzzatti und Dernburg. In 
Frankreich ſollen vor kurzem von 84 Präfekturen 
2J in ihren Händen geweſen fein. In Deutſchland 
ſpeiſen fie mit goldenen Löffeln am Tiſche des Raifers. 
Kurz: märchenhaft ſind die Erfolge, die dieſes 
wunderſame Volk in ſo kurzer Zeitſſ panne ſeit ſeiner 
völligen Unterdrückung bis heute überall errungen 
hat, wo man ihm Freiheit gab, ſich zu betätigen. 

Aber das alles find ja Tatſachen, die jedes Rind 
kennt, und an die ich hier auch nur erinnere, weil 
fie die Grundlage bilden für die folgenden Er⸗ 
örterungen über die wahrſcheinliche (oder wünſchens⸗ 
werte) zukunft der weſtlichen Juden. Weil nämlich 
die Erfolge, die die Juden in den letzten Menſchen⸗ 
altern auf allen Gebieten des Rulturlebens errungen 
haben, ſo große ſind; weil ſie eine ſo breite Poſition 
in allen Ländern Weſteuropas und Amerikas ein- 
nehmen; weil ſie ein ſo wichtiger Faktor im Daſein 
der Rulturnationen geworden find; und weil ſich ihr 
Einfluß und ihre Bedeutung in der Zukunft zweifel 
los noch ſteigern werden: darum — ſo ſchließen zahl 


NE 


reiche Juden und Nichtjuden — dränge die narür- 
liche Entwicklung auf „Aſſimilation“, darum ſei 
das allmähliche „Aufgehen“ der jüdiſchen Elemente 
in den ſie umgebenden Völkern das Ziel, auf das 
alles Streben zu richten ſei. Die Schwierigkeiten, 
die ſich der Erreichung dieſes Zieles entgegenſtellten, 
ſeien geringe: da es keine eigentliche jüdiſche Art, 
kein blutsmäßig begründetes Judentum gebe, das 
ſich etwa in einen inneren Gegenſatz zu den übrigen 
Völkern ſtellen könnte, da es im Grund überhaupt 
keine „Juden“, ſondern nur Deutſche, Franzoſen, 
Engländer moſaiſchen Bekenntniſſes gebe, ſo ſei die 
einzige Schwierigkeit, die ſich einer völligen Ver 
ſchmelzung von „Iſraeliten“ und Andersgläubigen 
in den Weg ſtellen, die Verſchiedenheit des Bekennt⸗ 
niſſes: eine Schwierigkeit, die ſich offenbar leicht aus 
dem wege räumen laſſe durch den Übertritt zum 
Chriſtentum. Was etwa heute noch an Gegenſätzen 
zwiſchen Juden und Nichtjuden vorhanden ſei, in 
Sonderheit auch eine etwa feſtzuſtellende Abneigung 
der übrigen Völker gegen die Juden, beruhe auf dem 
Weiterwirken aus dem Mittelalter überkommener 
Vorurteile, die man durch Aufklärung der Geiſter 
ſchon bannen werde. Die Gegenſätze ſeien im 
übrigen ſchon im Begriffe, ſchwächer zu werden und 
hätten Ausſicht, mit der Zeit ganz zu verſchwinden. 


„ 


Der „Aſſimilationsprozeß“, den man als eine Art 
von Wundheilungsprozeß auffaßt, ſei in ſtetigem 
Fortſchreiten begriffen. Was ihn etwa auf halten 
könne, ſei die mutwillige Betonung der zwiſchen 
Juden und Nichtjuden vermeintlich vorhandenen 
Gegenſätze, fei die bloße Erinnerung an die Tat⸗ 
ſache, daß es überhaupt Juden gäbe, oder gar die 
Zervorkehrung einer befondern jüdiſchen Eigenart. 
Eine „Judenfrage“ ſei nur in den Köpfen einiger 
„Geſchäftsantiſemiten“ vorhanden, denen ſich jetzt 
unter den Juden ſelbſt allerhand „zweifelhafte“ 
Elemente zugeſellten (gemeint ſind die Vertreter einer 
national · jüdiſchen Bewegung), die ſchlimmer feien 
als die ſchlimmſten Antiſemiten. Am beſten daher, 
man ſpricht „über Thema“ überhaupt nicht und 
ſchweigt alles tot, was der Vertufhungspolitif 
widerſprechen möchte. Ich ſagte ſchon, daß dies 
vor allem auch der Standpunkt der großen, 
jüdiſchliberalen Preſſe ſei, der es zu danken iſt, daß 
von der nationaljüdiſchen Bewegung nicht einmal 
in der Judenheit ſelber, geſchweige denn in außer⸗ 
jüdiſchen Kreiſen eine irgendwie genauere Rennt⸗ 
nis verbreitet wird. Wie viele Juden oder gar 
Chriſten wiſſen denn auch nur das geringſte von 
der umfangreichen nationaljüdiſchen Literatur, von 
den zahlreichen Wochen⸗ und Monatsſchriften, die 


den Standpunkt der „jüdiſchen Renaiſſance“, eines 
aufrechten Judentums, vertreten? Sie alle, die ihre 
geiſtige Tageskoſt in den Spalten der liberalen 
Zeitungen rationenweiſe zugewieſen bekommen, 
werden ſyſtematiſch in Unkenntnis erhalten über 
die große nationale Bewegung, die in der Juden⸗ 
heit mächtig ihre Glieder reckt. Die Welt wird eines 
Tages erſtaunen, wenn ſie wahrnimmt, daß in der 
Judenheit ganz andere Kräfte rege ſind, ganz andere 
Ziele erſtrebt werden, als man nach dem Verhalten 
der liberalen Preſſe hätte vermuten ſollen. Aber 
von dieſer jüdiſch⸗ nationalen Bewegung iſt hier noch 
nicht die Rede, ſondern von jener einſtweilen noch 
allmächtigen Richtung, die jene Bewegung gern in 
Grund und Boden vernichten möchte, weil ſie ihre 
Politik: die der fortſchreitenden Aſſimilation (wie 
man meint), mutwillig ſtört. Über dieſe Politik 
der Aſſimilation müſſen wir uns noch etwas ein- 
gehender unterrichten, über fie müſſen wir zunächſt 
uns ein ſelbſtändiges Urteil zu bilden verſuchen. 

Die Frage: iſt die Aſſimilationspolitik die richtige? 
zerfällt in zwei grundverſchiedene Unterfragen: 

I. iſt die „Affimilstion” der Juden mit den übrigen 

Völkern wünſchenswert; 
2. iſt die Aſſimilation möglich. 
Den erſten Teil der Frage will ich einſtweilen 


u HE 


unbeantwortet laſſen; ich wende mich erft dem zweiten 
Teile, alſo der Frage zu: iſt eine „Aſſimilation“ der 
Juden inmitten der europäiſchen Völker (in ab- 
ſehbarer zeit: denn nur für dieſe bildet man fi 
ja politiſche Urteile) wahrſcheinlich? 

Die Antwort auf dieſe Frage wird ſehr ver- 
ſchieden lauten, je nach dem Sinne, den man dem 
Worte „Aſſimilation“ beilegt. In Wirklichkeit ver- 
ſteht man nämlich recht mannigfache Dinge unter 
Aſſimilation. 

Das Wort kann zunächſt nur ſoviel bedeuten wie 
Aufgeben einer Eigenart; Verzicht auf beſtimmte 
Sitten und Gebräuche; Ableugnen der Zugehörig⸗ 
keit zu einer beſtimmten Gemeinſchaft. Verſteht man 
das unter Aſſimilation, fo ſteht es natürlich in jeder; 
manns freier Entſchließung, ſich ſo viel zu aſſimilieren, 
als er will. Erklärt ein Jude, wie wir es ſo oft 
hören: er habe nichts mehr gemein mit dem Juden 
tume und ſeinen Erinnerungen und Traditionen, er 
„fühle“ ſich nicht mehr als Jude, und heiligt er den 
Sabbat nicht mehr und ißt Schweinefleiſch, und will 
er dann das alles zuſammenfaſſend „Aſſimilation“ 
nennen, ſo kann ihn kein Menſch daran hindern, das 
zu tun. Er iſt aſſimiliert (in ſeinem Sinne). 

Dann kann „Aſſimilation“ ſo viel heißen wie 
Anähnelung: ſoziale Mimikry. Der Jude kann die 


* 


— 411 — 


Eigenarten ſeiner Umgebung ſich zu eigen machen: 
kann die Sitten und Gebräuche der Völker, unter 
denen er lebt, nachahmen; er kann ihre Feſte mit 
feiern, kann ihren Lebensgewohnheiten ſich an— 
paſſen, kurz kann ſich in die fremden Völker „hinein. 
leben“, kann ſich ihrem ganzen Weſen anſchmiegen 
wie der Borkenkäfer der Rinde. Um hier ans 
Ziel zu gelangen, muß der energiſche Wille noch 
mit einem gewiſſen Talent zur Anpaſſung verbunden 
ſein, wie es den Juden zweifellos eigen iſt. Ich 
habe in meinem Judenbuche den Nachweis zu er- 
bringen verſucht, daß die außerordentlich große 
Anpaſſungsfähigkeit gerade eine das Weſen des 
Juden kennzeichnende Eigenſchaft iſt. Natürlich 
gibt es Grenzen der „Aſſimilation“ in dieſem Sinne. 
Namentlich wo das ſpezifiſch Blutsmäßige der Ver⸗ 
anlagung zutage tritt, kann auch der Jude ſich beim 
beſten Willen nicht vergeſſen machen. Das gilt, wie 
ich immer wieder behaupte in hohem Maße vom 
phyſiognomiſchen Ausdruck und von allem, was 
man Saltung und Geſte nennen kann. Immerhin 
kann hier bei einem leidenſchaftlichen Willen zur 
Aſſimilation auch ein hoher Grad von Anähnelung 
an die Umgebung erreicht werden, deren eigene 
Entſchließung jedenfalls nicht mitſpricht bei die ſe m 
Aſſimilationsprozeß. 


1 


Ganz anders liegen nun aber die Dinge, wenn 
man unter Aſſimilation drittens und letztens ſoviel 
verſteht wie Verſchmelzung mit andern Volksteilen, 
Vereinigung verſchiedener volklicher Beſtandteile zu 
einem Volksganzen, Aufgehen einzelner Volks- 
elemente in einer Volksgemeinſchaft. Dieſe Art 
von Aſſimilation, die man doch eigentlich im Sinne 
haben ſollte, wenn man von der Aſſimilation der 
Juden ſpricht, ſteht nun aber ganz und gar nicht 
mehr im Belieben eines Teiles; dazu gehören immer 
zwei, ſei es, daß man die Afjimilstion im höchſten 
blutsmäßigen Sinne faßt: als Blutsmiſchung durch 
die Vereinigung von Mann und Weib, ſei es, daß 
man fie im Fulturell-fozialen Sinne verſteht: als 
reſtloſes ineinander Aufgehen der Eigenarten, der 
Empfindungen und Gefühle, der Willensregungen 
und Denkweiſen, mit der letzten Wirkung, daß alle 
Begenfäge aufgehoben werden, daß objektiv jede 
Unterſchiedlichkeit des Weſens verſchwindet, fub- 
jektiv jedes Bewußtſein der Verſchiedenheit, ge⸗ 
ſchweige denn jedes Gefühl der Abneigung oder gar 
des Saſſes, ausgelöſcht iſt. Aſſimiliert in dieſem 
Sinne haben ſich etwa die verſchiedenen Beſtand⸗ 
teile der europäifchen Völker in der Zeit ſeit Unter⸗ 
gang des roͤmiſchen Reichs bis zur Ausbildung der 
heutigen großen nationalen Verbände innerhalb 


NEN 


dieſer Verbände ſelbſt: alſo etwa die Kelten und 
Germanen in Frankreich; die Slawen und Germanen 
diesſeits der Weichſel; die Germanen und Romanen 
in Italien uſw. 

Ich glaube nun, daß die Aſſimilation der Juden 
in dieſem Sinne der völligen Verſchmelzung während 
der letzten Menſchenalter keine Fortſchritte gemacht 
hat, und daß ſich ihr auch in der zukunft mächtige 
Sinderniffe entgegenftellen werden. 

Freilich: die zahl der Miſchehen zwiſchen Juden 
und Chriſten nimmt beftändig zu: fie machen jetzt 
(im Durchſchnitt der Jahre 1905 bis 1908) in Deutſch⸗ 
land 22,2% der rein jüdiſchen Ehen, im Jahre I909 
25,3% ͤin Berlin (1905 / IV) gar 43,8 %%, in Sam- 
burg 4,5 % aus. Und fie haben ſich raſch während 
der letzten Jahrzehnte vermehrt: in Preußen kamen 
im Durchſchnitt der Jahre 1876/84 erſt 101, 1885 
bis 1994 24, 1895/99, 169, 1900/1904 193 auf 000 
reinjüdifche 4 Ehen, während es jetzt 252 252 find. 

Aber über der Blutsmiſchung der jüdiſchen Raffe 
mit den Nordlandsvölkern ſcheint ein Unſtern zu 
ſchweben. Es iſt faſt, als ob die Natur die Ver⸗ 
einigung nicht wollte. Sie rächt ſich dadurch, daß ſie 
die Miſchehen mit der Geiſel der Unfruchtbarkeit 
ſchlägt. Nach Dr. Wieth⸗Knudſen foll die zahl der un; 
fruchtbaren Ehen (1895) überhaupt II %, die der un; 


„ 


fruchtbaren chriſtlich ⸗jüdiſchen Ehen 35% betragen 
haben. Und während auf jede jüdiſche Ehe 2,65, 
auf jede chriſtliche Ehe 4,13 Rinder kamen, mußten 
ſich die Miſchehen mit durchſchnittlich J,31 Kindern 
begnügen. Die geringere Fruchtbarkeit der Miſchehen 
dürfte zum Teil auch darauf zurückzuführen ſein, 
daß gerade ſie am meiſten in reichen und modernen 
Kreiſen vorkommen und gerade von ihnen ein 
größerer Prozentſatz neueren Datums iſt, alſo noch 
nicht fo viel Rinder haben können als ältere Ehen. 

librigens finder ein großer Teil der Miſchehen 
zwiſchen getauften und ungetauften Juden ſtatt, 
was nicht vergeſſen werden darf. 

Aber auch den Seelen deren, die Miſchehen ein⸗ 
geben, find Enttäuſchungen und Prüfungen reich- 
licher zugemeſſen als denen, die ihr Blut rein 
halten. 

Die Rinder, die ihnen entſpringen: fo 
wunderbar ſchön und fo hoch begabt fie oft 
genug find, ſcheinen doch des ſeeliſchen Gleich- 
gewichts zu entbehren, das raſſenreine Bluts- 
miſchungen gewährleiſten: wir finden unter ihnen 
gar zu häufig intellektuell oder moraliſch disäquili- 
brierte Menſchen, die entweder ſittlich verkommen 
oder im Selbſtmord oder geiſtiger Umnachtung 
endigen (obwohl ſich darüber zuverläffige Ausſagen, 


1 


die auf mehr als der perſönlichen Erfahrung be- 
ruhen, beim heutigen Stande unſeres Wiſſens nicht 
machen laſſen). Was ſich aber deutlich verfolgen 
läßt, iſt der häufige Durchſchlag der jüdiſchen 
Phyſiognomie bei den Kindern aus Miſchehen, ſo 
daß oft nach Generationen die Beimiſchung jüdiſchen 
Blutes wieder offenbar gemacht wird, ſicher zum 
Arger und Leid der Eltern, die ſich ja „aſſimilieren“ 
wollten. Und dann kommt das Bewußtſeinsmoment 
hinzu, das dieſen Prozeß rückſichtslos aufhält, auch 
wenn er blutsmäßig ſich vollziehen wollte. Man 
weiß, daß hier Juden und Nichtjuden ſich ver⸗ 
einigt haben, und hält dieſes Wiſſen im Bewußt⸗ 
ſein feſt. Und an dieſem Wiſſen und an dem Willen, 
nicht vergeſſen zu wollen, ſcheitern alle Miſchungs⸗ 
verſuche — einftweilen. Solange in kulturell ⸗ſozialer 
Sinſicht der Unterſchied und der Begenfag zwiſchen 
Juden und Nichtjuden von der großen Maſſe der 
Bevölkerung hüben und drüben empfunden werden. 

So ſeltſam es klingen mag: die Bewußtſeins⸗ 
inhalte (die natürlich ſelbſt blutsmäßig verankert 
ſind) erweiſen ſich ſtärker als die Blutstatſachen. 
Eine wirkliche Verſchmelzung zweier Volksteile iſt 
auf dem rein mechaniſchen Wege der Vermiſchung 
nicht möglich. Sie bedarf vielmehr des allgemeinen 
Volks willens: immer natürlich unter der Voraus- 


ſetzung, daß es ſich um die Affimilstion einer 
Minderheit handelt wie hier der Juden. Wollten 
ſich alſo auch ſämtliche heiratsfähige Jüdinnen und 
Juden in einem Lande wie Deutſchland bereit finden, 
Chriſten und Chriſtinnen zu heiraten, und wollten 
auch ſoviel Chriſtinnen und Chriſten gewillt ſein, 
die Ehe einzugehen: wenn die übrigen 99% der 
Deutſchen dieſe Verſchmelzung nicht gutheißen, ſo 
würde fie nicht zu dem erſtrebten Ziele: der Be⸗ 
ſeitigung der Gegenſätze, führen können. Will man 
alſo die Ausſichten, die die Aſſimilation der Juden 
hat, richtig abmeſſen, fo muß man fein Augen- 
merk auf die Bewußtſeinsinhalte der großen Maſſen 
richten, das heißt: muß fragen, ob die Gegenſätze 
zwiſchen Juden und Nichtjuden in den letzten 
Menſchenaltern geringer geworden ſind oder etwa 
die Tendenz haben, in Zukunft geringer zu werden. 

Dieſe Frage iſt meines Dafürhaltens mit großer 
Entſchiedenheit zu verneinen. 

Freilich: einen empiriſchen, vielleicht gar einen 
ziffermäßigen Beweis dafür zu erbringen, daß dieſe 
meine Anſicht den Tatſachen entſpricht, iſt un⸗ 
möglich. weil wir keine andere Möglichkeit haben, 
den Sachverhalt zu ermitteln, als die perſönliche 
Erfahrung und dieſe naturgemäß immer lückenhaft 
fein wird. Aber wenn die Beobachtung fo aus: 


nahmslos dasſelbe Ergebnis liefert, und wenn man 
die eigene Wahrnehmung von hundert andern be⸗ 
ſtätigt findet, und wenn man ihre Richtigkeit aus 
tauſend Anzeichen ableiten kann, ſo gewinnt auch 
die perſönliche Erfahrung ſchließlich eine gewiſſe 
Beweiskraft. Danach wird aber unſtreitig der 
Gegenſatz zwiſchen Juden und Nichtjuden heute in 
allen Kreiſen der Bevölkerung und in allen Ländern 
ſtärker empfunden als früher; danach nimmt das, 
was man als ſozialen Antiſemitismus nicht ganz 
glücklich bezeichnet, allerorten an Stärke und Ver—⸗ 
breitung ſicher eher zu als ab. Ich will nicht be- 
haupten, daß in dem Gefühle des Gegenſatzes oder 
wenigſtens der Verſchiedenheit immer auch ſchon 
ein Gefühl des Saſſes oder der Abneigung ein- 
geſchloſſen wäre; aber das iſt auch nicht das Ent⸗ 
ſcheidende. Entſcheidend iſt die Tatſache, daß die 
„völkiſche“ Eigenart der verſchiedenen Völker (um 
mich dieſes etwas in Mißkredit geratenen, aber durch 
keinen andern erſetzbaren Ausdruckes zu bedienen) 
hüben wie drüben von der Maſſe der Nichtjuden 
und auch von zahlreichen Juden heute deutlicher 
empfunden wird als fage vor 30 oder vor 50 oder 
159 Jahren. 

Dieſe Wahrnehmung gewinnt nun aber dadurch 
an Zuverläffigfeit, daß wir deutlich die Gründe für 


Ban 48 


die zunehmende Gegenſäͤtzlichkeit der einzelnen Volks⸗ 
teile verfolgen können; der unzulängliche „empiriſche“ 
Beweis wird alſo durch eine Art von „deduktivem“ 
Beweis ergänzt oder erſetzt. 

Es darf wohl als eine allgemeine gültige Wahr⸗ 
heit angeſehen werden, daß die Gegenſätze zwiſchen 
verſchiedenen Dölferraffen (das heißt alfo: nicht nahe 
bluts verwandter Gruppen) um ſo ſchärfer werden 
oder wenigſtens um ſo deutlicher zutage treten, je mehr 
dieſe Völker oder Völkergruppen miteinander in Be⸗ 
rührung kommen, weil dadurch die Reibungsflächen 
ſich vermehren. Solange die Neger in Amerika als 
Sklaven gehalten wurden, u war von einem Saß der 
Weißen gegen die Neger ka kaum die Rede; man hatte ſie 
ſo weit von ſich diſtanziert, daß man gar nicht auf den 
Gedanken kam, man hege Abneigung gegen ſie (wie 
man gegen ein Laſttier, deſſen man ſich bedient, 
keinen Saß empfindet). Nun, da der Neger in alle 
Poren des amerikaniſchen Lebens eindringt, hat ſich 
ein ungeheurer Groll in den Seelen der Weißen auf: 
gehäuft. Die „Nationalitätsgegenſätze“, wie fie in 
Europa ſeit einem Menſchenalter lebendig geworden 
ſind: wem anders verdanken ſie ihr Daſein als dem 
Umſtande, daß die verſchiedenen Völker durch den 
Kapitalismus durcheinander gewürfelt und damit 
in Berührung miteinander gebracht worden ſind. 


— 9 — 


Ahnlich iſt es mit den Juden gegangen. Go- 
lange fie ein rechtloſes Volk waren, das eingepfercht 
in ſeinem Ghetto lebte, „verachtete“ man es wohl, 
weil es die Tradition ſo wollte, aber zu einem 
intenſiven Gefühl der Gegenſätzlichkeit, der Feind. 
ſchaft, des Saſſes kam es höchſtens einmal dann, 
wenn das Volk ſich gegen die „Wucherer“ und 
„Blutſauger“ auflehnte und große Abrechnung mit 
ihnen hielt. Der Alltag brachte zu ſelten Gelegen. 
heit, vom Juden etwas zu erfahren. Man kannte 
ihn wenig, man merkte ihn wenig, man wußte oft 
gar nicht, daß er da war; es gab keine Veranlaſſungen, 
die das Bewußtſein einer inneren Gegenſätzlichkeit 
hätten zur Entwicklung bringen können. Das änderte 
ſich mit dem Augenblicke der Emanzipation, als nun 
die Juden auf allen Gebieten des Rulturlebens 
heimiſch wurden. Nun bekamen der Kaufmann, der 
Induſtrielle, der Gelehrte, der Arzt, der Rechts- 
anwalt, der Beamte, der Rünftler täglich Gelegen⸗ 
heit, mit Juden in Berührung zu kommen und 
ihre Eigenart zu erfahren. Täglich wurden neue 
Reibungsflächen geſchaffen, täglich wurde der Unter- 
ſchied, wurde der Gegenſatz der beiden Völker oder 
Raſſen dem einzelnen praktiſch vor Augen geführt; 
kein Wunder, daß nun erſt das Bewußtſein dieſes 


Unterſchiedes und dieſes Gegenſatzes allgemein wurde. 
Sombart, Die Zukunft der Juden. 4 


BON yo 


Und auch daß die Spannung um fo größer wurde, 
je enger die Gemeinſchaft der Juden mit ihrer Um- 
gebung ſich geſtaltete, leuchtet ein. 

So erkläre ich mir die Tatſache, daß in den⸗ 
jenigen Ländern, in denen die Juden noch nicht die 
volle „Gleich berechtigung“ genießen, in denen ihnen 
auf dem Verwaltungswege gewiſſe Stellungen vor⸗ 
enthalten werden, wie bei uns in Deutſchland, daß 
in dieſen Ländern die Spannung zwiſchen Juden 
und Nichtjuden viel geringer entwickelt iſt als dort, 
wo dieſe Beſchränkungen nicht mehr vorhanden 
ſind, wo die Juden freien zugang zu allen Amtern 
und Würden haben, wie etwa in Frankreich (Drey- 
fus!) und den Vereinigten Staaten. 

Zu dieſen objektiven Gründen, die eine zu— 
nehmende Schärfung des Gegenſatzes zwiſchen Juden 
und Nichtjuden erklärlich machen, geſellen ſich nun 
eine Reihe von Gründen mehr ſubjektiver Natur: 
ebenſo wie die äußeren Umſtände hat die Art, wie 
wir Menſchen und Dinge anſchauen, dahingewirkt, 
daß wir heute Unterſchiede wahrnehmen, wo wir 
früher keine bemerkten. 

Offenbar unter dem Einfluſſe der Naturwiſſen⸗ 
ſchaften iſt in dem letzten Menſchenalter unſer Blick 
für das Blutsmäßige im Menſchen geſchärft worden. 
(Vielleicht find wir auch durch die zunehmende Ab⸗ 


en 5 1 — 


ſchleifung, die die volklichen Eigenarten durch das 
fortſchreitende Kommerzium erfahren, auf die Unter 
ſchiede hingewieſen worden, die in Gefahr ſind, 
verloren zu gehen.) Gleichzeitig ſind wir bewußter, 
differenzierter in unſerem Empfinden, kritiſcher in 
der Beurteilung menſchlicher Beſonderheiten ge- 
worden. Wir ſehen am einzelnen viel mehr Eigen 
arten und gerade blutsmäßig begründete Eigenarten 
als die Männer der „Aufklärungszeit“ und auch noch 
als die Männer in der Paulskirche, die viel mehr mit 
Zilfe ideologiſcher Kategorien ſich in der Welt orien- 
tierten als wir. Was wir den „Realismus“ unſerer 
Zeit nennen, das äußert ſich auch hier. Uns iſt der 
Sinn für die Abſtrakta abhanden gekommen, mit 
denen unſere Väter und Großväter noch gern die 
Welt bevölkerten; „der Menſch“, „der Staatsbürger“ 
ſind für uns Begriffe geworden, denen wir nicht 
mehr die Bedeutung realer Erſcheinungen, ſondern 
höchſtens die Bedeutung regulativer Ideen zuer- 
kennen. Auch hat ſich unſer Intereſſe an der Kon- 
feſſion des einzelnen verringert, das in den früheren 
Zeiten fo lebhaft war, daß unter feinem Einfluſſe 
alle Unterſchiede unter den Menſchen ſich in Unter⸗ 
ſchiede des religiöfen Bekenntniſſes auflöften. 
Wenn wir heute Nathan den Weiſen leſen, ſo 


oerſtehen wir nicht recht, warum alle Beteiligten 
4 * 


— 2 — 


fi immer nur um die verſchiedenen Religionen 
und ihren relativen Wert ſorgen und nicht ein 
einziger einmal auf den Gedanken kommt, wes Blutes 
etwa Recha und der Tempelritter waren, und daß hier 
die ſonderbaren Raſſenmiſchungen doch eigentlich 
die wirklichen Konflikte herbeiführen müſſen. 

Dieſe veränderte Art, den Menſchen anzuſchauen, 
mußte natürlich auch das Empfinden für die volk⸗ 
liche Eigenheit der Juden ſteigern; mußte vor allem 
auch bewirken, daß der getaufte Jude in unſerem 
Urteile und Gefühle Jude bleibt, da er ja nicht auch 
„aus der Kaſſe austreten“ kann, der er von Bluts 
wegen angehört, wie aus der jüdiſchen Religions- 
gemeinſchaft. 

So kann denn das Ergebnis, zu dem uns unſere 
Unterſuchungen auf verſchiedenen Wegen immer 
wieder hinführen, nur dieſes ſein: eine völlige Affi- 
milation, ein völliges Verſchmelzen mit den euro- 
paiſchen Völkern iſt den Juden bisher nicht gelungen, 
wird ihnen aber wahrſcheinlich auch nie gelingen, 
da a offenbar die 2 Blutsverſchiedenheit zwiſchen ihnen 
und den ariſchen! Stämmen zu groß iſt. 

In dieſer Feſtſtellung iſt eine tiefe Tragik ein- 
geſchloſſen. Wir können immer wieder beobachten, 
daß viele der beſten Juden dieſes Ziel erſtreben: ſich 
ſelbſt zu überwinden und aufzugeben in ihrer Um- 


— 53 = 


gebung, von dem ſchweren Schickſal, das Gott ihnen 
auferlegt hat: Jude zu ſein, ſich zu befreien. Und 
müſſen geſtehen, daß dieſe Sehnſucht unbefriedigt 
bleibt. Wir begegnen wieder einmal Ahasver auf 
ſeiner Wanderung und erleben es wieder einmal, 
daß der Todesmüde nicht ſterben kann. Dieſe Ein; 
ſicht hat nun aber abermals die Beſten unter den 
Juden zu dem Entſchluſſe gezwungen, da ſie doch als 
Juden nicht ſterben können: als Juden zu leben. 
Denn das iſt nur die Wahl, vor die das Judenvolk 
geſtellt ift, nicht: ob es untertauchen, reſtlos ver- 
ſchwinden wolle in ſeiner Umgebung, woran ein 
hartes Schickſal, das aber vielleicht voller Segen 
gekommen iſt, es hindert, oder ob es als Volk weiter 
leben ſolle; ſondern nur dieſes: ob es feine Eigen⸗ 
art in alle Winde zerflattern laſſen, ob es ſich ſelbſt 
wegwerfen und ſich und ſeine große Vergangenheit 
verleugnen wolle (ohne doch aufzuhören, Jude zu 
ſein und als Jude von allen andern empfunden zu 
werden), oder ob es ſich auf ſich ſelbſt beſinnen wolle 
und entſchloſſen ſei: mit ſeinem Willen und ſeiner 
brennenden Leidenſchaft der ganzen Welt zum Trotz 
auch in alle Zukunft als ſelbſtändiger Volkskörper 
ſich zu erhalten. 


IV. 
Artvernichtung oder Arterhaltung? 


So alſo lautet in epigrammatiſcher Form die 
Alternative, vor die das Judenvolk in der Gegen- 
wart geſtellt iſt, und alle Judenpolitik muß dort, 
wo es nicht eigentlich eine Judennot zu beſeitigen 
gilt, durch den Entſcheid beſtimmt werden, den man 
zugunſten des einen oder des andern Zieles trifft. 

Dabei gehe ich von der Vorausſetzung aus, daß 
es eine „jüdiſche Art“, die auch außerhalb des Reli ⸗ 
gionsbekenntniſſes beſteht, überhaupt gibt. Mich 
mit denjenigen hier auseinanderzuſetzen, die eine 
ſolche beſondere jüdiſche Art leugnen, liegt mir fern. 
Um ſo mehr als ich einen langen Abſchnitt in 
meinem Buche „Die Juden und das Wirtfchafte- 
leben“ dem Nachweis und der Kennzeichnung der 
jüdiſchen Eigenart gewidmet habe. Wie ich dort 
ſchon ſagte: eine fpätere Zeit wird es kaum be- 
greifen, daß es in unſern Tagen Leute gegeben 
hat, die den Juden als Angehörigen eines be⸗ 


ſtimmten Volkes oder einer beſtimmten Kaffe (auf 
den Namen, den man den Juden geben will, kommt 
es wahrhaftig nicht an) von einem Neger oder 
einem Eskimo oder einem Pommern oder einem 
Südfranzoſen nicht zu unterſcheiden vermochten. 
Ich nehme alſo, wie geſagt, hier als „bewieſen“ 
an, daß es eine jüdiſche Art gibt. 

Werde ich nun vor die Alternative geſtellt, ob 
ich es für wünſchenswert erachte, daß dieſe Art er⸗ 
halten bleibe, ſo antworte ich: dreimal ja — aus 
tauſend Gründen. 

Zunächſt erſcheint es mir immer ein Gewinn. 
wenn irgendwelche Art auch immer auf dieſer Erde 
vor der Vernichtung bewahrt bleibe, weil mir ein 
ganz großer Wert in dem Reichtum an Arten über- 
haupt zu liegen ſcheint. Es mag ſich um Pflanzen- 
oder Tier- oder Menſchenarten handeln. Bunt foll 
die Welt ſein. Und ein Jammer iſt es, wenn eine 
noch ſo unſcheinbare Pflanzenart, wenn eine noch 
ſo unbedeutende Tierſpezies ausſtirbt. Vor nichts 
ſollten wir eine ſolche Angſt haben wie vor der 
Verarmung der Welt an Formen des Lebendigen. 
Und in der Menſchheit muß ſich dieſer Wunſch, 
einen Reichtum an Formen zu erhalten, zur Leiden⸗ 
ſchaft ſteigern. Wir erleben ja in unſerer Zeit 
gerade, wie ſich der Typus Menſch immer mehr zu 


einem Einheitstypus zu verflachen die Tendenz hat. 
Wer die bunte Mannigfaltigkeit geſehen hat, die 
unter den Auswanderern im zwiſchendeck eines großen 
Amerika⸗Dampfers noch anzutreffen iſt; weſſen Serz 
fi erfreut hat an den vielerlei Trachten und vieler; 
lei Sprachen, an den vielerlei Gewohnheiten und 
vielerlei Liedern, die hier noch ihr Weſen treiben, 
und wer dann wahrgenommen hat, wie dieſe ſelbe 
bunte Welt nach ein oder zwei Generationen in dem 
grauen, langweiligen, eintönigen American man 
untergegangen iſt, den faßt ein Grauen vor der 
Zukunft des Menſchengeſchlechts, der möchte alle 
Mächte des Himmels und der Sölle zum Beiſtande 
aufrufen, daß fie ein ſolches brutales Zerſtörungs⸗ 
werk verhindern helfen. Und nun wollen die Juden 
teilnehmen an dieſer Vernichtung des Artenreichtums 
unter den Menſchen, indem ſie ſich ſelber aufgeben 
und nichts eifriger anſtreben als ſo zu ſein, wie 
andere Arten ſchon ſind! 

Jede Art zu erhalten iſt ein Gewinn! Aber 
natürlich ein um ſo größerer Gewinn iſt die Er⸗ 
haltung einer Art, je wertvoller dieſe iſt. Brauche 
ich zu ſagen, daß wir im Judenvolke, wenn wir es 
als Ganzes betrachten, eine der wertvollſten Arten 
vor uns ſehen, die das Menſchengeſchlecht hervor⸗ 
gebracht hat? Welche gewaltige Lücke müßte in 


der Menſchenwelt entſtehen, wenn die jüdiſche Art 
verſchwände! Von allen Einzelheiten abgeſehen: 
das Judenvolk iſt es, das ſeit den Propheten den 
großen ethiſchen Ton in das Menſchheitskonzert 
gebracht hat und durch ſeine beſten Söhne auch 
heute immer wieder bringt. Das große tragiſche 
Pathos, das die natürliche Welt verſittlichen will, 
ſtammt doch am Ende aus Juda und iſt von 
dort her in das Chriſtentum übergegangen. Dem 
Griechentum ein großes Gegenbild entgegenzuſtellen, 
war und iſt die Aufgabe Iſraels bis heute ge- 
blieben. Und wer den Reichtum in der welt und 
vorerſt in der Menſchenwelt über alles liebt, wer 
die Türmung der Widerſprüche im Menſchengeiſte 
als höchſtes ziel der Menſchheit ſchaut, der mag 
das griechenfeindliche Judentum mit der Leiden- 
ſchaft einer Nietzſcheſeele haſſen: er wird nicht 
wünſchen können, daß es aus dieſer Welt ver- 
ſchwinde. Wie arm würde dieſe welt werden, 
wenn es in ihr nur noch grinſende Amerikaner 
oder ſelbſt: wenn es in ihr nur lachende Griechen 
gäbe. Wir wollen die tiefen, traurigen Judenaugen 
niemals verlieren. Denn mit ihnen gingen andere 
Schönheiten aus dieſer Welt heim: die wunderſame 
Melancholie der jüdiſchen Dichtung, wie fie in Sein⸗ 
rich Seine uns offenbart worden iſt; der jüdifche 


ER 


Witz und vielerlei ſonſt, was uns wert iſt, und was 
dieſe Welt reich macht. 

Aber was uns noch darin beſtärken muß, auf 
Arterhaltung zu dringen, iſt die Wahrnehmung, 
daß die ſtarke Betonung der Eigenheit die Art 
verbeſſern, veredeln hilft. Echte Art verkümmert, 
wo ſie ſich nicht rein entfalten kann. Das erleben 
wir heute fo oft. Gerade auch dieſes Gemiſch 
zwiſchen jüdiſchem und deutſchem oder anderm 
Weſen, wie es der Tag bringt, hat weidlich dazu 
beigetragen, alle Arten zu verſchlechtern. Ich 
wünſchte von Herzen, daß dieſe unnatürliche Ver⸗ 
mengung einmal würde ein Ende nehmen, zum 
Zeil jeder beſonderen Art. Ich wünſchte es im 
Intereſſe unſerer deutſchen Volksſeele, daß fie von 
der Umklammerung durch den jüdiſchen Geiſt be- 
freit würde, damit ſie ſich wieder in ihrer Reine 
entfalten könnte. Ich wünſchte, daß die „Verjudung“ 
ſo breiter Gebiete unſeres öffentlichen und geiſtigen 
Lebens ein Ende nähme: zum Seile der deutſchen 
Kultur, aber ebenſoſehr auch der jüdiſchen. Denn 
ganz gewiß leidet dieſe ebenſoſehr unter der un⸗ 
natürlichen Paarung. Ich habe die ganz deutliche 
Empfindung, als ob dieſes emſige Beſtreben der 
Juden, ihren Einfluß überall zur Geltung zu 
bringen und zwar in einer möglichſt farbloſen, un⸗ 


nationalen Form im jüdiſchen Weſen felbft nicht 
die beſten Seiten entwickelte. Ein großer Teil der- 
jenigen jüdiſchen Eigenſchaften, die wir Nichtjuden 
(und viele, ach! fo viele Juden) beſonders peinlich 
empfinden, verdankt ihre Entſtehung und Ent⸗ 
wicklung der Sucht nach Aſſimilation, nach An⸗ 
paffung und Annäherung: der Mangel an Diſtanz 
Menſchen und Dingen gegenüber; die zerſetzende 
Geiſtesverfaſſung find rechte „Golus“ unarten des 
Aſſimilationsjuden, die ganz gewiß verſchwinden 
werden, wenn wieder der Wille zum nationalen 
Judentum allgemein geworden iſt. Allein dieſer 
Wille, die jüdiſche Art zu erhalten und zu entwickeln, 
weckt den Sinn für die guten wie für die ſchlechten 
nationalen Eigenſchaften und dringt auf die Pflege 
der als gut erkannten und die Ausmerzung der als 
ſchlecht erkannten hin: wirkt einen Erziehungs⸗ 
prozeß, der niemals ſich vollziehen kann, ſolange 
man überhaupt keine beſondere jüdiſche Eigenart, 
weder gute noch ſchlechte, zu kennen für gut befindet. 

Gerade aber auch die Periode, in die das Juden⸗ 
tum jetzt eintritt mit dem Beginne der jüdiſchen Re- 
naiſſance, wird in beſonders reichem Maße wertvolle 
Eigenarten zur Entfaltung bringen wie alle Perioden 
nationaler Wiedergeburt. Es wird viel Selbſt⸗ 
bewußtſein, viel Selbſtvertrauen, viel Mut, viel 
Geſinnungstüchtigkeit dazu gehören, um ſich gegen 


a N 


Juden und Chriſten als nationalgeſinnte Juden 
durchzuſetzen. Duckmäuſerei, Leiſetreterei, Kriecherei, 
Streberei, wie ſie die Aſſimilationsſucht notwendig 
erzeugen mußte, werden verſchwinden; der auf 
rechte Jude: welch ein Gewinn für die Menſch⸗ 
heit in einer Zeit, da alle jene mannhaften Tugenden 
fo niedrig im Kurſe ſtehen. 

Und mehr noch: Gläubigkeit, Singabe, Be⸗ 
geiſterung, Schwung der Seele und Wärme des 
Herzens werden in die junge Judenſchaft einziehen, 
die den Kampf um ihr gefährdetes Volkstum auf: 
zunehmen entſchloſſen iſt. Gerötete Wangen und 
leuchtende Augen, die man jetzt ſchon oft unter 
der jüdiſch nationalen Jugend antrifft: welcher 
koſtbare Schatz iſt damit in unſerer armen Zeit 
gewonnen, in der die Ideale als unnützer Balaſt 
immer mehr über Bord geworfen werden, um 
eine volle Ladung praktiſcher Intereſſen einnehmen 
zu können! Wenn nichts für die jüdiſche Re⸗ 
naiſſance ſpräche als dieſe ihre idealbildende Kraft: 
ſie müßte von jedem Menſchenfreund gut und will⸗ 
kommen geheißen werden. Und die Kreiſe, in denen 
dieſe Feuer brennen, werden von Tag zu Tag größer. 
Zumal unter der jüdiſchen Jugend iſt dieſe nationale 
Bewegung ſchon mächtig angeſchwollen und ver⸗ 
ſpricht, immer breiter und tiefer zu werden. 


. Die Juden unter ſich 


Es geht einen Draußenſtehenden nichts an, 
wie jemand ſein Saus in Ordnung bringen will. 
Nur wenn das Saus in einer Siedelung mit andern 
Häuſern zuſammenliegt, haben die Nachbarn ein 
Recht und eine Pflicht, wenigſtens zu der äußeren 
Geſtaltung des Sauſes und zu ſeiner Lage inmitten 
des Dorfes ihr Votum abzugeben. Da es Feines- 
wegs für die übrigen Völker gleichgültig iſt, wie 
die Juden das Werk ihrer nationalen Wiedergeburt 
vollbringen, fo erachte ich es nicht als taktloſes 
Zineingerede in fremde Angelegenheiten, wenn ich 
auch über die verſchiedenen Möglichkeiten, das 
Judentum neu zu begründen, kurz meine Anſicht 
äußere. 

Man weiß, daß jetzt im Mittelpunkte der 
national - jüdiſchen Beſtrebungen die Errichtung 
eines ſelbſtändigen Judenſtaates in Paläſtina ſteht. 
Dieſes Ziel bildet in dem Programm des Zionismus 


e 


den Kern: er fordert den Judenſtaat nicht nur im 
Intereſſe einer ſegensreichen und umfaſſenden 
Koloniſation in Paläſtina und den Nachbarländern, 
ſondern aus der tiefen Überzeugung heraus, daß 
eine Geſundung des jüdiſchen Weſens nur möglich 
ſein werde, wenn es wieder einen rein jüdiſchen 
Staats - und Geſellſchaftsorganismus gäbe, wenn 
das Judenvolk nicht mehr nur Ranken und Schling⸗ 
pflanzen bilde, die ſich um fremde Bäume winden, 
ſondern Wurzeln ſchlage in eigenem Mutterboden 
und ſein Weſen zu ſtarken Stämmen verholzen 
laſſen könne. 

Ob die Ausführung eines ſo gewaltig kühnen 
Planes wie die Gründung eines Judenſtaats mög⸗ 
lich iſt: wer möchte es wagen, darauf mit voller 
Entſchiedenheit zu antworten? Ich will mein Urteil 
nur dahin abgeben, daß mir die Gründe, die da⸗ 
gegen geltend gemacht werden, nicht ſtichhaltig zu 
ſein ſcheinen. Man ſagt: die Juden hätten in 
ihrer beſten Zeit niemals eine eigentlich ſtaaten⸗ 
bildende Kraft gehabt: ſie ſeien alſo jetzt, nach 
einer Jahrtauſende währenden Entwöhnung ganz 
gewiß nicht mehr in der Lage, einen ſelbſtändigen 
Staat zu errichten. Iſt das ſo ſicher? An ſtaats⸗ 
männiſchen Genies unter den Juden hat es in den 
letzten Menſchenaltern doch gewiß nicht gefehlt; es 


genügt, an Namen wie Gambetta und D’TJeraeli 
zu erinnern, und der mangelnde Sinn für ſtaatliche 
Unterordnung bei der Maſſe könnte doch vielleicht 
durch einen Hochdruck idealer Begeiſterung erſetzt 
werden. Und dann noch eine ganz beſcheidene 
Frage: muß der Staat denn ganz ſelbſtändig ſein? 
Wäre mit einem Souzeränitätsſtaate nicht ſchon 
viel gewonnen? Griechenland unter römiſcher Serr⸗ 
Schaft: iſt das ein zu tief geſtecktes Ziel? Oder will 
man nicht wieder Vierfürſten über ſich herrſchen laſſen? 

Auch daß man ſagt: die Juden ſeien nicht fähig, 
Ackerbauer zu werden und ſomit das Fundamentum 
eines geordneten Staates zu legen, ſcheint mir 
kein allzu gewichtiger Einwand zu ſein. Zum erſten 
halte ich es keineswegs für ausgeſchloſſen, daß doch 
noch einmal ein Geſchlecht von Bauern unter 
den Juden herangezüchtet werde: ſind die Erfolge, 
die man in dieſer Richtung bisher erzielt hat, auch 
gering: immerhin gibt es doch ſchon ein paar 
tauſend jüdiſche Ackerbauer auf der Erde (man 
rechnet Jo- I looo im ganzen). Zum zweiten läßt 
ſich ſehr wohl ein ganz geordneter Staat denken, 
ſei es ganz ohne Ackerbau, ſei es mit einem Acker⸗ 
bau, der von einer hörigen Unterſchicht minderer 
Begabung betrieben wird. Phönizien, Venedig, 
Holland und — der alte Judenſtaat find glänzende 


— 64 — 


Belege für die Möglichkeit ſolcher bauernloſer oder 
bauernarmer Staatsgebilde. Und wenn es ohne 
die bäuerliche Unterſchicht in früheren Zeiten mög⸗ 
lich war, als ſelbſtändiger Staat zu beſtehen, wie 
viel mehr erſt heute in einer Zeit der entwickelten 
Geld und Kreditwirtſchaft. Daß es freilich im 
Intereſſe der jüdiſchen Kultur, die jetzt faſt ganz 
eine großſtädtiſche, wurzelloſe geworden iſt, gelegen 
ware, in der Scholle Wurzel zu ſchlagen: wer 
möchte es bezweifeln? Aber iſt denn die Periode 
der wurzelhaften Kultur nicht für alle Menſchen 
vorbei? Wo wurzeln denn heute noch die Eng⸗ 
länder? Wo werden in hundert Jahren, wenn es 
ſo weiter geht, die Deutſchen wurzeln? Müſſen 
nun gerade die Juden wurzeln? Können fie nicht 
verſuchen, die Note der „Wüſte“, die ſie ſeit jeher 
in das Menſchheitskonzert hineingetragen haben, 
auch weiter als ihre beſondere Note zu pflegen? 
Es ſind tauſend Fragen, die ſich hier aus ſich ſelber 
herausgebären, und die hier zu beantworten nicht 
am Platze zu ſein ſcheint. Ich wollte nur das 
fagen: daß bisher kein irgendwie zwingender Grund 
vorgebracht iſt, deſſentwegen von vornherein die Er⸗ 
richtung eines ſelbſtändigen Judenſtaates als Utopie 
erſcheinen müßte. Daß alſo der leidenſchaftliche 
Wille, der in den Zioniſten lebt, einen ſolchen Staat 


„ 


zu begründen, nicht auf ein nachweislich hoffnungs⸗ 
loſes Ziel gerichtet iſt und alſo nicht durch Verſtandes · 
erwägungen gebrochen werden kann. 

Und das Wertvolle in dieſer ganzen Bewegung 
ſcheint mir doch jener Wille ſelbſt zu ſein. Damit 
die jüdiſche Renaiſſance einen Mittelpunkt habe, 
auf den ſich alle Strebungen richten können, ein 
Wahrzeichen, an dem ſich alle wieder zurecht finden 
können, bedarf es eines ſolchen konkreten Zieles, wie 
es der Gedanke eines ſelbſtändigen Judenſtaates iſt. 
Auch damit irgendwo ein Grt fei, wo das jüdiſche 
Weſen ſich in Reine entfalten könne, iſt es wünſchens⸗ 
wert, daß ſtarr · nationalgeſinnte jüdiſche Männer 
und Frauen wie jetzt ſchon in Paläſtina (ehe noch 
der Staat errichtet iſt) ſich zuſammenfinden und ihre 
glühenden Seelen in ein gemeinſames Becken aus⸗ 
ſchütten können. 

Die Idee des Judenſtaates darf nicht fehlen in 
dem Seſamtbilde einer jüdiſchen Renaiſſance, und 
wäre ſie auch nur als regulative Idee zu bewerten. 

Nun entſteht freilich ſofort die andere Frage: 
Welche Juden ſollen den geplanten Judenſtaat bilden? 
Welche Juden ſollen in Paläſtina (und den an⸗ 
grenzenden Landesteilen meinetwegen) wohnen? 

Wenn man früher wohl die Forderung aufgeſtellt 
hat (fo tut es noch Theodor Serzl), daß 5 geſamte 


Bombart, Die Zukunft der Juden. 


— 66 — 


Judenheit oder doch wenigſtens der allergrößte Teil 
der Judenheit nach Paläſtina auswandern folle, fo 
verweiſen heute wohl auch die meiſten Zioniſten 
ſelbſt dieſen Gedanken in das Bereich der Träume; 
hier würde, wenn man auf dieſer extremen Forderung 
beſtehen wollte, die zioniſtiſche Bewegung ſofort 
den Stempel der kraſſeſten Utopie erhalten. Denn 
(was das Kennzeichen der Utopie iſt), ſie würde 
Ziele aufſtellen, zu deren Erreichung die realen 
Kräfte fehlen. Ich ſehe ganz davon ab, daß die 
Unterbringung von II oder 12 Millionen Menſchen, 
ſelbſt wenn man große Teile der Nachbarländer 
hinzunähme, in Paläſtina und ſeiner näheren Um⸗ 
gebung faſt ein Ding der Unmöglichkeit wäre 
(Paläſtina hat in feiner Blütezeit wohl kaum mehr 
als 3 Millionen Einwohner gehabt; freilich ſind 
heute die Ernährungsmöglichkeiten, wenn man die 
Bevölkerung als Induſtrie⸗ und Sandelsmenſchen 
denkt, ausgeweitet). Sinreichend, um den Plan 
einer Überführung der geſamten Judenheit nach 
Paläſtina aufzugeben, iſt die ſehr nüchterne Er⸗ 
wägung, daß dieſer ſtarke Idealismus, der dazu 
gehörte, einen ſolchen Plan zu verwirklichen, einfach 
in großem Maßſtabe nicht aufzubringen wäre. 
Auch die Juden, ſelbſt die aufrechten Juden, die 
an dem Gedanken einer Erhaltung und Stärkung 


, 


des Judentums mit Leib und Seele hängen, ſind 
in ihrer großen Mehrzahl Alltagsmenſchen. Und 
vom Alltagsmenſchen darf man (auf die Dauer, zu⸗ 
mal wenn er nicht von religiöfem Fanatismus ge⸗ 
packt iſt; dann freilich kann er eine Zeitlang fliegen) 
keine idealen Sochſpannungen erwarten, wie fie 
die Seelen etwa der Männer und Frauen zu einer 
heroiſchen Lebensführung befähigen, die heute als 
Träger des national · jüdiſchen Bedanfens hinaus · 
ziehen, um in dem als uralte Heimat empfundenen 
„heiligen Lande“ neues Leben zum Keimen zubringen. 

Und wenn doch ein Wunder geſchähe und alle 
Juden morgen den Entſchluß faßten, nach Paläſtina 
zu ziehen, um dort zu wohnen: wir würden es nie 
und nimmer zulaſſen können. Es würde ja allein 
auf dem Gebiete der Volkswirtſchaft einen Zu⸗ 
ſammenbruch geben, wie wir ihn bisher in keiner 
noch fo großen Kriſis erlebt hätten, einen Zu- 
ſammenbruch, von dem ſich unſere Volkswirt 
ſchaften vielleicht niemals erholen würden. Denn 
unſere reichſten, unſere betriebſamſten Bürger 
würden wir ja verlieren. Wie Frankreich ſie verlor, 
als die Zugenotten auswanderten. Und ſchon von 
dieſem Verluſte, den damals Frankreich erlitten hat, 
obwohl er ja verſchwindend klein war, wollte man 


ihn mit den Wirkungen vergleichen, die ein Exodus 
5 * 


e 


der Juden im Gefolge haben müßte; ſchon von 
dieſem Verluſte hat ſich die franzöſiſche Volks⸗ 
wirıfchaft bis heute nicht erholt. Was aus Spanien 
und Portugal geworden iſt, als es feine Juden aus- 
trieb, weiß man nur allzugut. Aber auch auf allen 
übrigen Gebieten der Kultur: welche unausfüllbaren 
Lücken würden die Juden reißen, wenn ſie aus 
unſern Ländern auszögen. Nein, daran ſollte man 
wahrhaftig nicht mehr denken, daß auch nur ein erheb; 
licher Teil der Juden — wohlgemerkt: der weſtlichen 
Juden — ihren Wohnſitz nach Paläſtina verlegte. 

Und iſt es denn, damit das jüdiſche Volk eine 
Wiedergeburt erfahre und ſich auf ſich ſelbſt be⸗ 
ſinne, notwendig, daß alle oder auch nur die meiſten 
Juden in Paläſtina wohnen? Wie war es denn 
in der alten zeit? Lebten denn nicht ſchon in der 
Zeit, als der zweite Tempel fiel, viel mehr Juden 
außerhalb Paläftinas als in dieſem Lande ſelbſt? 
Und hielten doch treu an Zion feſt? So kann man 
ſich wohl denken, daß auch ein Judenvolk, das ſich 
wieder als nationalen Körper fühlt, doch nur zum 
kleinen Teile in Paläſtina, zum größten jedoch in 
der Diaſpora lebt. 

Welche Mittel es nun gibt, auch in dem in der 
Diaſpora lebenden Juden das Bewußtſein ſeines 
Judentums zu erhalten und zu ſtärken: das hier 


REF? WARE 


im einzelnen darzuſtellen, iſt unmöglich und würde 
auch die Grenze deſſen überſchreiten, was mir, dem 
Nichtjuden, über jüdiſche Dinge zu ſagen der Takt 
erlaubt. Denn es find im weſentlichen wirklich 
innere Angelegenheiten der jüdiſchen Gemeinſchaft. 

Sauptſächlich wird es ſich gewiß um eine 
innerliche Wandlung, um eine Geſinnungsreform 
handeln: wenn der Wille zum Judentum, wenn die 
Bekenntnistreue erſt wieder ſtark geworden ſind, 
ſo folgen alle die übrigen Maßnahmen zur Be⸗ 
lebung des jüdiſchen Selbſtbewußtſeins von ſelbſt, 
wie die Pflege der Tradition, die Pflege jüdiſcher 
Dichtung und jüdifher Kunſt uſw. Als ein äußeres 
Wahrzeichen, daß man entſchloſſen ſei, Jude zu 
bleiben, als ein Symbol gleichſam werden alle auf⸗ 
rechten Juden bei dem moſaiſchen Bekenntniſſe aus- 
harren, auch wenn fie innerlich vielleicht das jüdiſche 
Religionsſyſtem längſt überwunden haben; fie 
werden doch zu dieſer Religion ſtehen, wie der 
Soldat zur Fahne ſteht. 

Was nun aber uns wiederum bei dieſer Wieder⸗ 
geburt eines nationalen Judentums näheſtens an- 
geht, iſt die Tatſache, daß wir fürderhin immer 
weniger, wenn die national jüdiſche Bewegung, was 
nicht zu bezweifeln iſt, an Stärke zunimmt, mit 
aſſimilationslüſternen Juden und immer mehr mit 


BERN: Kon 


aufrechten Juden zuſammen leben werden, mit 
Juden alſo, die vor dem Worte Jude nicht mehr 
erſchrecken, ſondern die ihr Judentum zu bewahren 
und zu bekennen entſchloſſen find. Es wächſt 
ſomit die Frage empor: wie wird, wie kann, wie 
foll das Zuſammenleben der Völker mit einer 
national jüdiſch empfindenden Judenſchaft ſich ge 
ſtalten? Das iſt die Frage nach der Zukunft der 
Juden unter uns. 


VI. Die Juden unter uns 


Es iſt im Grunde eine müßige Frage: ob wir 
— ſage: wir Deutſchen — uns der Juden freuen 
ſollen, die das Schickſal in unſern Volkskörper 
hineinverſprengt hat. Aber die müßigen Fragen 
ſind meiſt die reizvollſten. Und man ſtellt ſie gern, 
wenn man, wie hier, eine Antwort gewärtigen darf, 
die uns froh macht. Denn ich glaube freilich, habe 
es auch in dieſer Abhandlung ſchon geſagt und oft 
ſchon bei früheren Gelegenheiten ausgeſprochen: 
ich glaube freilich, daß wir dem Zufall (oder der 
Vorſehung) Dank ſchulden für die nicht allzu karge 
Zuteilung jüdiſcher Elemente zu dem ſchon recht 
bunten Gemiſch, das „wir Deutſchen“ darſtellen. 
zumal dort, wo wir am reinſten germaniſch ſind, 
iſt das Stück Grient, das mit den Juden in unſere 
graue Nordlandswelt hineinragt, ein wahres Labnis. 
Denn wir möchten an lauter Blondheit ſonſt am 
Ende zugrunde gehen. Rein körperlich betrachtet: 
welche Buntheit bringt der dunkle orientaliſche Typ 
in unſere nordiſche Umgebung! Wie ſollten wir die 


— 72 — 


raſſigen Judiths und Mirjams miſſen wollen. Freilich: 
fie müffen raſſig fein und bleiben wollen. Den ſchwarz⸗ 
blonden Miſchmaſch mögen wir nicht. Und auf 
geiſtigem Gebiet iſt's nicht anders. Auch hier 
möchten wir Gefahr laufen, an unſerer Blondheit 
zu erſticken, wenn wir nicht zwiſchen uns den Atem 
der heißen, orientaliſchen Seelen unſerer jüdifchen 
Mitbürger verſpürten. Das lebhafte Temperament, 
die anregende Betriebſamkeit, die große Beweglich 
keit ihres Beiftes: all deſſen bedürfen wir für unſere 
Kultur — ich habe das Bild ſchon früher einmal 
gebraucht: wie das Mehl des Sauerteigs, wenn es 
Brot werden will. 

Eins möchte ich wünſchen: daß die Juden, die 
bei uns leben, beſſer, das heißt gleichmäßiger, über 
das Land und über die verſchiedenen Kulturgebiete 
verteilt wären, als ſie es jetzt an vielen Stellen 
ſind. Wir würden ihrer gewiß noch mehr froh 
werden, wenn ſie ſich nicht an einzelnen Punkten 
zu großen Klumpen zuſammenballten und uns dann 
etwas den Atem benähmen. Aber dieſen Mangel 
wird die Zeit vielleicht heilen. 

in wiederum vernimmt man oft aus jüdifchem 
Munde die Verſicherung: man ſei auch als Jude 
„mit Leib und Seele“ Deutſcher (oder Gſterreicher 
oder Ruffe). Und ſpürt es auch, daß in Wahrheit 


as ci 


das Serz an der neuen Seimat hängt (die ja oft 
eine recht alte Seimat ſchon geworden iſt, älter zu- 
weilen als bei manchem von uns, die wir vielleicht 
erft im 17. oder 18. Jahrhundert aus Frankreich 
eingewanderte Deutſche ſind). 

Sollte ſich da wirklich keine Form finden laſſen, 
in der dieſe beiden Volksgruppen — die jüdiſche und 
die europäifche, ſagen wir einmal = friedlich und zum 
Segen beider zuſammenleben? Auch wenn die Juden 
Juden bleiben und wieder mehr werden wollen? 

Man hört wohl den Einwand: wenn das 
national · jüdiſche Weſen wieder mehr gepflegt werden 
ſoll, ſo führt das geradenweges in das Ghetto 
zurück und zerſtört Kulturblüten, die nur außer- 
halb der Ghettomauern erblühen konnten. Ich 
halte dieſen Einwand ganz und gar nicht für be⸗ 
rechtigt. Die Juden unſerer Zeit und ebenſo die 
Juden der Zukunft werden ſelbſt nicht eine Re⸗ 
naiſſance des Ghetto meinen, wenn fie eine jüdifche 
Renaiſſance erſehnen. Sie werden eine Kultur 
ſchaffen wollen, die zwar aus jüdiſcher Wurzel 
ſtammt, die aber doch im Freien gedeihen und aus 
dem Regen und Sonnenſchein des freien Geiſtes 
unſerer Tage Kraft zum Wachstum ziehen ſoll. 
Sie werden auch nicht darauf verzichten wollen, an 
den Gütern der anderen Kulturen teilzunehmen, 


ee e 


wie ſie im Ghetto verzichtet haben. Sie werden 
als deutſche Juden Bach und Beethoven, Goethe 
und Schwind ebenſo lieben, ebenſo erleben wollen, 
wie wir Deutſche Freude und Genuß aus Shake⸗ 
ſpeare und Michelangelo, aus Roſſini und Tolſtoi 
ſchöpfen. Der „moderne“ Menſch, wenn er auch 
— hoffentlich! — mit den Füßen auf dem Mutter- 
boden ſeines Volkes ſteht, ragt doch mit ſeinem 
Leibe in viele fremde Kulturen hinein und lebt in 
ihnen. Warum ſoll ein Jude, der ſich als Jude 
fühlt, nicht an deutſchem Geiſte ſeinen vollen Anteil 
haben? So wie wir Deutſche vielleicht uns an 
dem, was die jüdiſche Volksſeele eigenes ſchafft, 
dankbaren Serzens erfreuen werden. 

Aber im öffentlichen Leben, ſo ſagt man, werden 
ſich Schwierigkeiten ergeben, wenn die Juden Juden 
bleiben wollen. Sehen wir zu. 

Im Wirtſchaftsleben wird die Stellung der 
Juden jedenfalls ſich nicht verſchlechtern, wenn ſie 
an ihrem Judentum feſthalten. Ich habe ja gerade 
dafür in meinem dicken „Judenbuche“ den Nach⸗ 
weis zu erbringen verſucht, daß gerade der jüdifchen 
Eigenart ein großer Teil der Erfolge zu danken 
iſt, die die Juden auf dem Gebiete der wirtfchaft- 
lichen Kultur errungen haben. Wenn ſich ihr 
Einfluß im Wirtſchaftsleben in zukunft verringern 


ge 


follte, wie es faft den Anſchein hat, weil die Chriſten 
inzwifchen gelernt haben, oder weil die ſpätkapita⸗ 
liſtiſche Wirtſchaftsweiſe mit ihrem Zuge zum 
Bureaukratismus der ſpezifiſch jüdiſchen Talente 
nicht mehr in ſo hohem Maße bedarf wie die 
früh ⸗ und hochkapitaliſtiſche Epoche, fo werden die 
Beſten im jüdiſchen Volke einem ſolchen Wandel 
der Dinge nicht einmal gram ſein, weil ſie die Auf⸗ 
faugung ihrer Talente durch das Wirtſchafts⸗ 
leben und die Sinneigung der großen Maſſe ihres 
Volks zum Erwerbsleben in tiefſter Seele bedauern. 
Daß aber jemals eine wirkliche ökonomiſche Not 
über unſere Juden kommen könnte, weil ſie am 
Judentum feſthalten, wie über ihre Stammes⸗ 
genoſſen im Oſten, davon kann keine Rede ſein. 
Denn die Entrechtung, die dafür die Vorausſetzung 
wäre, liegt außer allem Bereiche der Wahrſcheinlich⸗ 
keit. Und mit den Rechten, die ſie heute haben, 
werden fie ſich zu jeder Zeit in der kapitaliſtiſchen 
Welt mit Leichtigkeit ihren Platz erobern. 

Daß ſie unbeſchränkten Anteil am Staatsleben 
nehmen werden, indem ſie die Rechte jedes Staats · 
bürgers ausüben und feine Pflichten erfüllen, er- 
ſcheint auch als das Natürliche. Was ſollte ſich 
denn ändern, wenn die Juden nun mehr als bisher 
auf ihrer völkiſchen Eigenart beſtehen? Kann 


man nicht ein ſelbſtbewußter Jude und ein ſehr 
guter Deutſcher (im ftaatsbürgerlihen Sinne) zu 
gleicher Zeit fein? Was haben das Volks- 
bewußtſein und das Staatsbürgertum mitein- 
ander zu tun? Freilich unſere gleichmacheriſche 
zeit und die Unbegabtheit unſerer Staatsmänner 
drängen auf dasſelbe Ziel hin: alle Bürger eines 
Staates nun auch in kultureller und nationaler 
Zinſicht zu vereinheitlichen. Aber dieſes Ziel iſt 
ein höchſt verwerfliches. Es würde eine greuliche 
Verarmung eines Landes wie Deutſchland bedeuten, 
wenn hier auch nur alle deutſchen Stammesarten 
ausgelöf cht und ein und dasſelbe Preußentum alle 
Blüten deutſcher Eigenheiten zudecken wollte. Ge⸗ 
ſchweige denn wenn man die paar fremden Ein; 
ſprengſel mit aller Gewalt in das Prokruſtesbett 
der einen Kultur ſpannen wollte. Wir ſollten uns 
jedes national empfindenden Polen und jedes fran⸗ 
zöſiſchen Franzoſen von ganzem Serzen freuen und 
ſollten ihre Eigenarten, vor allem ihre Sprache, 
wie einen Foftbaren Schatz hüten. Immer natür⸗ 
lich vorausgeſetzt, daß die Angehörigen des fremden 
Volkes mit der Zugehörigkeit zu dem deutſchen 
Staatsweſen ſich abgefunden haben. Wollten 
ſie gegen den Staat ſich auflehnen, ſo würden ſie 
Sochverräter fein und als ſolche an den Galgen 


gehören. Von Rechts wegen. Dasſelbe gilt nun, 
meine ich, von den Juden. Je nationaler, deſto 
beſſer. Und darum können ſie die friedfertigſten, 
willfährigſten, ſteuerkräftigſten () Bürger von der 
Welt ſein. Sind der deutſche Schweizer, der fran⸗ 
zöſiſche Schweizer, der italieniſche Schweizer nicht 
gute Deutſche, gute Franzoſen, gute Italiener und 
doch gute Schweizer? Alſo. Nur freilich iſt „das 
Regieren“ etwas erſchwert, wenn man nicht alle 
„Untertanen“ über einen Ramm ſcheren kann. Aber 
ſchließlich brauchen wir doch unſere zukunft nicht nur 
auf die Unfähigkeit der Regierenden zuzuſchneiden. 

Nun iſt aber in dieſem Zuſammenhange noch 


ein Punkt zu berühren, um den der Kampf der 


Leidenſchaften beſonders heftig entbrannt iſt: das 
iſt die Beſetzung beſtimmter Stellen im Staate — 
namentlich wohl einzelner Beamten ⸗ und Offiziers · 
ſtellen — mit Juden. Bekanntlich beſteht bei uns 
in Deutſchland die ſtillſchweigende Gepflogenheit 
der Behörden, manche Ämter, wie die des Offtziers 
und ach! auch die des Reſerveoffiziers überhaupt 
nicht, andere Amter, wie die der Verwaltung, das 
Richteramt, das Amt der Univerſitätsprofeſſoren 
nur in beſchränktem Umfange an Juden zu ver⸗ 
leihen. Sicher iſt, daß die Schwierigkeit, in ſolche 
Amter zu gelangen, für den getauften Juden (wenn 


s 


auch nicht ganz beſeitigt, ſo doch) verringert wird, 
daß alſo der aufrechte und bekenntnistreue Jude, 
wenn dieſe Praxis auch in Zukunft beſtehen bleibt, 
im Nachteil ift gegenüber feinem weniger ftand- 
haften Stammesgenoſſen. Aus welcher Sachlage 
die Frage herauswächſt: ob denn die Vorteile, die 
der Getaufte genießt, und ſomit die Nachteile, die 
der Aufrechte erduldet, von größerer, für das Leben 
entſcheidender Weſenheit ſind. 

Mir wird es außerordentlich ſchwer, dieſe Frage 
zu bejahen. Offenbar fehlen mir ganz und gar die 
Organe, die für dieſe delikaten Dinge erſt das rechte 
Verſtändnis vermitteln. Welche Wichtigkeit kann 
für den tüchtigen Mann die Tatſache beſitzen, daß 
er ſich in einigen wenigen Rollen nicht betätigen 
kann? Iſt es denn gar fo notwendig, Gffizier 
oder gar Reſerveoffizier zu werden? Iſt es un- 
erläßlich für den Forſcher, der wirklich die Wiſſen⸗ 
ſchaft liebt, daß er die Approbation als ordentlicher 
Univerſitätsprofeſſor erhält? Sind das nicht Quis⸗ 
quilien für den Mann, der etwas kann und etwas 
taugt, ob er irgendwo in der Hierarchie der Be⸗ 
amtenſchaft eine Rangftellung einnimmt? Iſt die 
Welt ſonſt ſo arm an Möglichkeiten, ſein Leben 
lebenswert zu geſtalten? Wie geſagt: ich begreife 
dieſe Sehnſucht nach dem Staatsamt nicht. (Wie 


Be). 


ich übrigens auch dafür Fein Verſtändnis habe, daß 
derjenige Jude, der nun ein ſolches Amt mit der 
Preisgabe feiner Überzeugungen für ſich oder feine 
Kinder erkauft hat, je eine ruhige Stunde erleben 
kann, da ihn doch fortwährend das Gewiſſen peinigen 
muß und die Angſt ihm im Nacken ſitzt: ſein 
Judentum könne ihm doch noch einmal in un⸗ 
angenehme Erinnerung gebracht werden, und alle 
Opfer an Mut und Geſinnung könnten zu guter 
Letzt doch vergeblich geweſen fein.) 

Ich meine alſo wirklich: daß das Spiel die Kerze 
nicht wert iſt. Wenn nichts mehr winkt als ein 
paar Amter und würden, ſo lohnt es wahrhaftig 
nicht, ſich und ſeine Überzeugung zu verkaufen, 
Verräter an ſeinem Volke zu werden. 

Ganz eine andere Frage iſt es, ob aus irgend- 
welchem Grunde die heute beſtehende Praxis, den 
Juden manche Amter ganz oder teilweiſe zu ver- 
ſchließen, nicht geändert werden ſollte. Ich kann 
mir denken (und bin oft ſolchen Anſichten begegnet, 
die auch innerhalb der nationaljüdiſchen und zionifti- 
ſchen Kreiſe in Deutſchland — ich muß ſagen: ſelt⸗ 
ſamerweiſe! — heute durchaus noch die herrſchenden 
ſind), daß auch ein aufrechter Jude ſagt: zwar liegt 
mir nicht viel daran, irgendein Döftchen vom Staate 
zu erlangen, aber es empört mein Rechtsgefühl, 


De 


daß ich in eine beſtimmte Stellung nicht gelangen 
kann, wenn ich wollte, bloß weil ich Jude bin. 
Einem ſolchen Manne würde ich antworten: daß 
es hier ganz und gar nicht am Platze ſei, in 
Entrüſtung zu geraten, weil ein Rechtsprinzip 
erſtens gar nicht verletzt iſt und zweitens das in 
Frage ſtehende Problem überhaupt nicht nach for- 
malen Rechtsgrundſätzen gelöft werden kann. 

Zum erſten: ich wüßte keinen Artikel der Ver⸗ 
faſſung namhaft zu machen, dem gemäß heute bei 
uns die Amter beſetzt werden müßten. Von der 
Rechtsordnung ſind zwar beſtimmte Bedingungen 
aufgeſtellt, die erfüllt ſein müſſen, damit jemand in 
ein Amt gelangen könne, aber keine, durch deren 
Erfüllung er mechanjſch eines Amtes teilhaftig 
werden müſſe. Die Berufung ſelbſt erfolgt immer 
durch einen am letzten Ende perſönlichen Entſcheid: 
wenn der Rultusminiſter einen Profeſſor nicht an- 
ſtellt, wenn der Regimentskommandeur einen Offizier 
nicht aufnimmt, ſo kann man nimmermehr von der 
Verletzung eines Grundrechts ſprechen, da unſere Ver⸗ 
faſſung als letztlich entſcheidende Inſtanz eine Per 
ſönlichkeit oder eine Gruppe von Perſönlichkeiten 
anerkennt. 

Das wird immer ſo ſein müſſen, wo nicht die 
Amter durch Wahlen beſetzt werden; aber auch hier 


N 


iſt es im Grunde dasſelbe: es iſt nur das Belieben 
von tauſend oder zehntauſend lebendigen Menſchen 
ſtatt des eines einzelnen oder eines Kollegiums, das 
entſcheidet. 

Man könnte daran denken, dem Belieben der 
einzelnen Perſonen, von denen die Amterbeſetzung 
abhängt, in beſtimmten Normen, die einer „objek⸗ 
tiven“ Gerechtigkeit entſprechen könnten, Schranken 
zu ſetzen oder ihren Entſchlüſſen Richtlinien vorzu- 
zeichnen. Aber damit wäre wenig geholfen. Denn 
entweder die Normen wären derart, daß ſie ganz 
mechaniſch wirkten: wie etwa Anſtellung nach dem 
Datum der Meldung oder etwas ähnliches — dann 
würden ſie einen öffentlichen Unfug bedeuten. Oder 
ſie ließen innere Vorzüge bei der Amterbeſetzung 
den Ausſchlag geben: wie etwa die Tüchtigkeit, die 
Würdigkeit, ſo würden ſie bei ihrer Anwendung 
durch lebendige Menſchen doch ſofort wieder ein 
ſubjektives Gepräge erfahren, da ſich Tüchtigkeit, 
Würdigkeit uſw. nicht durch Ellen meſſen oder mit 
Pfunden wägen laſſen, ſondern von jedem einzelnen 
als etwas Beſonderes gefaßt werden: was der ein · 
zelne für das richtige hält, das entſcheidet. Und 
dieſer Entſcheid wird niemals nach ab- 
ſtrakten Serechtigkeitsprinzipien, fon- 


dern immer im Sinblick auf das Inter 
Sombart, Die Zukunft der Juden. 8 


effe der Sache, der man dient, erfolgen. 
Was man alſo allein einer Kritik unterziehen könnte, 
wie die Dinge nun einmal liegen, wären die Grund⸗ 
ſätze der Zweckmäßigkeit, nach denen heute die maß⸗ 
gebenden Inſtanzen ihre Beamten (und Offiziere, die 
ich immer mit darunter verſtehe) auswählen. Man 
könnte fordern, daß dieſe geändert würden. Zu 
dieſer Forderung müßte man kommen, wenn man 
die Brundfäge, die jetzt zur Anwendung gelangen, 
für unklug, für unzweckmäßig hielte. Sind ſie das? 
Wir müſſen, um dieſe Frage zu beantworten, uns 
die tatſächlichen Verhältniſſe vergegenwärtigen. Ich 
wähle zwei Beiſpiele, die meiner perfönlichen Er⸗ 
fahrung nabeliegen: Univerſität und Offizierkorps. 

Die Gepflogenheit bei der Beſetzung der Lehr- 
ſtühle an den Univerfitäten ebenſo wie bei der Zu- 
laſſung zur Privatdozentur iſt heute in ganz Deutſch⸗ 
land wohl die, daß man zwar Juden nicht grund- 
ſätzlich ausſchließt, aber bei ihrer Zulaſſung oder 
Wahl ſich gewiſſe Reſerven auferlegt. Das kann 
man im Intereſſe der amtlich approbierten Wiffen- 
ſchaft bedauern. Denn es iſt immer eine Schädigung 
des wiſſenſchaftlichen Betriebes an einer Lehranſtalt, 
wenn zwiſchen zwei Bewerbern um eine Stelle der 
dümmere gewählt wird. Kann nun aber bei der 
Beſetzung der Lehrſtühle an einer Univerſität das 


3 


wiſſenſchaftliche Intereſſe allein oder auch nur vor⸗ 
wiegend den Ausſchlag geben? Auf unſere Frage 
zugeſchnitten: iſt es ein denkbarer und erträglicher 
Zuftand, daß im Deutſchen Reiche ſämtliche Dozen⸗ 
turen und Profeſſuren an den Sochſchulen mit 
Juden — getauften oder ungetauften, das bleibt 
ſich natürlich ganz gleich — beſetzt wären? Da die 
Juden im Durchſchnitt ſo ſehr viel geſcheidter und 
betriebſamer als wir ſind, ſo könnte dieſes leicht 
die Wirkung einer vollſtändig freien Zulaſſung der 
Juden zu den Lehrſtellen an den Univerſitäten ſein. 
Als ich in Breslau Profeſſor war, beſtand der 
Lehrkörper ſchon zu einem vollen Drittel aus Juden. 
Sollten die Juden ſelbſt angeſichts ſolcher Tat⸗ 
ſachen nicht zu der Überzeugung kommen: eine 
leiſe Beſchränkung ihrer Zulaffung zu jenen Amtern 
liege in ihrem höchſteigenen Intereſſe? Vielleicht 
leiden die Univerſitäten weit mehr unter einer ſolchen 
Beſchränkung als die Juden (die ja tauſendfache 
Gelegenheit haben, ſich auch wiſſenſchaftlich, ſelbſt 
naturwiſſenſchaftlich, das heißt in Wiſſensgebieten, 
wo „Inſtitute“ nötig ſind, außerhalb des Rahmens 
des offiziellen Cehrbetriebes zu betätigen; es genügt, 
an Namen wie Friedenthal oder Ehrlich zu er⸗ 
innern). Aber es iſt nun einmal wirklich beſſer ſo. 

zu Offizieren werden Juden bei uns überhaupt 

8 6 * 


nicht befördert. Auch das halte ich für eine kluge 
Praxis, die ebenfalls vor allem im Intereſſe der 
Juden ſelbſt gelegen iſt. 

Die Kriegerkaſte ſollte man am liebſten über- 
haupt nur aus Kriegerfamilien ergänzen. Die 
wichtigſten Eigenſchaften, die den tüchtigen Offizier 
machen (mit Ausnahme der paar wiſſenſchaftlich 
arbeitenden Offiziere an leitenden Stellen und im 
Generalſtabe), werden dem jungen Manne von ſeiner 
Familie mitgegeben. Die Familientradition iſt eine 
der allerbeſten Ausrüſtungen für den Offizier, die 
Familientradition, wie ſie am treueſten nur der Adel 
pflegt. Wes halb es vielleicht im Intereſſe des Offizier; 
korps gelegen wäre, wenn man ſeine Stellen dem 
Kriegsadel vorbehalten könnte. Schon der reiche 
Rommerzienratsfohn aus dem Weſten bringt längft 
nicht dieſelben Eigenſchaften mit, die den tüchtigen 
Frontoffizier machen, wie der arme „Junkerſohn“ 
aus dem Oſten, in deſſen Familie der Gffiziers⸗ 
beruf ſeit Jahrhunderten vielleicht ausgeübt wird. 
Ebenſo fehlt aber auch den Juden dieſe ſpezifiſche 
Tradition, ſo daß hier nicht einmal, wie im Falle der 
Univerfitäten, von einem moglichen Verluſt geſprochen 
werden kann, den die Armee erleidet, wenn Juden 
zu Offizieren nicht befördert werden. Man muß 
ſich, um das einzuſehen, nur von der techniſchen 


ER 


Vorſtellung frei machen: als ob die Qualifikation 
zu einem Amte durch die guten „Leiſtungen“ allein 
erworben würde, während bei manchen Amtern 
die Anforderungen ſind naturgemäß verſchieden 
von Amt zu Amt — alle anderen Eigenſchaften 
des Menſchen eher wie ſeine nachweisbaren 
„eiſtungen“ ihn befähigen, feinen Poſten auszufüllen. 

Und das Intereſſe der Juden? Das bißchen 
Offizierwerden kann fie doch wirklich nicht fo arg 
reizen. Eine ehrverletzende Zurückſetzung liegt für 
ſie ebenſowenig in der Ausſchließung vom Offizier⸗ 
ſtand wie für uns Bürgerliche in der Ausſchließung 
von beſtimmten Regimentern. Und fürchten ſie 
denn gar nicht die ſchlimmen Folgen, die das Ein⸗ 
dringen gerade in das Offizierkorps für ſie im Ge⸗ 
folge haben könnte? Sat der Dreyfus Skandal in 
Frankreich ſie gar nichts gelehrt? Ich ſagte ſchon: 
wenn die ſoziale Stellung der Juden in Deutfch- 
land ſo vorzüglich iſt, beſſer wie in irgendeinem 
Lande Europas und Amerikas, fo ſei das nicht zu 
letzt dem Umſtande zu danken, daß ſie nicht in alle 
Gebiete eingedrungen ſeien und deshalb weniger 
Reibungsflächen ſchüfen wie in andern Ländern. 
Ganz beſonders gilt das vom Gffizierſtande. Sier 
werden nun einmal — warum ſich der Erkenntnis 
deſſen, was iſt, verſchließen? — die antiſemitiſchen 


SEI. > 


Traditionen gepflegt, als ob fie, möchte man fagen, 
einen Beſtandteil der Standesehre bildeten. Das 
iſt eine Tatſache, die man bedauern mag, die aber 
mit dieſem Bedauern nicht aus der Welt geſchafft 
wird, mit der jeder kluge Menſch rechnen muß. 
Dieſer antiſemitiſche Zundftoff müßte nun aber zur 
Flamme werden, ſobald jüdiſche Elemente in das 
Offizierkorps hineingeſtreut würden. Denn nirgends 
iſt ja die perſönliche Berührung zwiſchen den An⸗ 
gehörigen desſelben Berufs ſo ſtark wie bei den 
Offizieren. Sie ſind die einzigen Menſchen, die ein 
wirklich kommuniſtiſches Gemeinſchaftsleben führen. 
Und bei dieſem ſpielt natürlich die perſönliche 
Neigung und Abneigung eine entſcheidende Rolle. 
Ich verſtehe wahrhaftig wieder nicht, wie einem 
Juden gelüſten kann, in einem Gffizierskaſino ewig 
wie auf einem Pulverfaſſe zu ſitzen als Opfer eines 
ſchlecht verſtandenen formalen „Gerechtigkeits“. 
fanatismus. Oder foll man ſich rein jüdiſche 
Regimenter vorſtellen? 

Alſo — in Summa: man ſollte wirklich — 
einſtweilen! was die ferne Zukunft bringt, wiſſen 
wir ja nicht — an dem beſtehenden Zuſtande nichts 
ändern wollen. Er wird, ſo „unvollkommen“ er 
iſt, fo viel Härten und „Ungerechtigkeiten“ er mit 
ſich bringt, doch den Intereſſen, wie mir ſcheint, 


En 


aller beteiligten Perſonen am eheſten gerecht. Die 
Juden ſelbſt ſollten nicht ganz unnützer Weiſe 
Dinge verlangen, die ihnen zu allererſt ſchaden 
würden. Man ſollte auch endlich aufhören, alle 
dieſe delikaten Verhältniſſe nach rein äußerlichen 
und notwendig ſchematiſchen „Gerechtigkeits“grund⸗ 
ſätzen behandeln zu wollen. Es gibt Beziehungen 
zwiſchen Menſchen, die nie und nimmermehr durch 
ein formales Recht zum Guten geſtaltet werden 
können, deren glückliche Regelung der Klugheit und 
des Taktes aller beteiligten Perſonen bedarf. Zu 
dieſen Beziehungen gehören die zwiſchen den Juden 
und Nichtjuden in den modernen Staaten. Sollte 
ich mein Programm kurz formulieren, wie dieſes 
Zufammenleben zu regeln wäre, fo würde ich fagen: 
die Staaten geben ihren jüdiſchen Mitbürgern die volle 
Gleichberechtigung, und die Juden werden die Klug ⸗ 
heit und den Takt beſitzen, dieſe Gleich berechtigung 
nicht überall und in vollem Umfange auszunützen. 
Würde dieſes Programm verwirklicht, ſo könnten 
wir, glaube ich, gerade wenn jetzt ein Geſchlecht 
aufrechter Juden in unſerer Mitte heranwächſt, der 
Zukunft hoffnungsvoll entgegenſchreiten und gewiß 
fein, daß ſich das Zuſammenleben mit den Juden 
und der Juden mit uns zu einem harmoniſchen 
und für alle Teile ſegensreichen geſtalten werde. 


VII. Volkstum und Menſchtum 


W aller bisherigen Betrachtung war nur vom 
Volkstum die Rede, weil ich tatſächlich glaube, daß 
für alle Rulturgeftaleung die Betonung der natio⸗ 
nalen Beſonderheiten die notwendige Vorausſetzung 
iſt. Wir wiſſen heute, aus Gründen, die ich ſelbſt 
im Verlauf dieſer Abhandlung wenigſtens an⸗ 
gedeutet habe, daß alle ſittlichen und alle künſt 
leriſchen Werte nur im Rahmen einer ſtarken Volks- 
gemeinſchaft zur Entfaltung gelangen können. Wir 
empfinden die blutsmäßige Verſchiedenheit der ein⸗ 
zelnen Menſchengruppen und deſſen, was ſie an 
Kulturen ausſtrahlen, wieder ſtärker als unfere 
Väter und Großväter und wollen von einem ver⸗ 
blichenen Rosmopolitismus und Internationalismus 
nichts mehr wiſſen. 

Aber ich möchte doch nun auch dieſes nicht un- 
ausgeſprochen laſſen: daß wir über dem Volks- 
genoſſen den Menſchen nicht zu vergeſſen brauchen. 


80 


In zwiefachem Sinne wollen wir nur von Menſchen 
und nicht von Voͤlkern hören. Dann, wenn wir 
uns der ewigen und unveräußerlichen Sumanitäts- 
ideale erinnern, wie ſie das Chriſtentum gepflegt 
und die Großen der Aufklärung außerhalb jedes 
religiöfen Rahmens wieder zur Geltung gebracht 
haben. Dieſe Menſchtumsideale legen uns allen 
Menſchen (ib möchte hinzufügen: aller Kreatur) 
gegenüber Pflichten auf, Pflichten der Liebe, der 
Barmherzigkeit, des Wohlwollens. 

Es ſollte kaum nötig ſein, zu betonen, daß auch 
in den Beziehungen zwiſchen Juden und Nicht 
iuden dieſe Menſchtumsideale hochgehalten werden 
müſſen, daß wir mit allen Mitteln die Ausbrüche 
der Roheit, der tieriſchen Inſtinkte zu verhindern 
trachten ſollten, wie ſie in den Verfolgungen der 
Juden im Oſten immer wieder zutage treten. Aber 
auch jede hämiſche und brutale Behandlung der 
Juden, in denen wir immer trotz aller Begenf ätzlich⸗ 
keit des Blutes Menſchenbrüder erkennen, in den 
ziviliſierten Ländern ſollte vor einem ausgebildeten 
humanen Empfinden verſchwinden. Antiſemitismus, 
wenn man darunter die Antipathie des Nichtjuden 
gegen den Juden verſteht, wird es vorausſichtlich 
geben, ſo lange es Juden auf dieſer Erde gibt, 
das heißt alſo, ſo lange dieſe Erde dauert. Aber 


BE 


Judenhaß, Judenverachtung, Judenverhöhnung, 
Judenmißhandlung brauchen nicht ſeine Begleiter 
zu ſein. 

Wir glauben heute den Männern der Auf klärung 
nicht mehr, daß alle Menſchen gleich ſind; aber 
wir empfinden noch wie ſie die große adelnde Kraft 
der Humanitätsidee, die uns in allen Völkern doch 
die eine Menſchheit erkennen läßt. 

Und noch in einem andern Zuſammenhang wollen 
wir nichts von Volkstum und nur etwas vom Menſch⸗ 
tum hören: wenn es ſich um die Auswahl unſerer 
Freunde handelt. Die Eigenheiten des perſönlichen 
Empfindens ſind heute wenigſtens in den Gber⸗ 
ſchichten aller Völker ſo ſtark differenziert, die Zufälle 
des perſönlichen Schickſals ſind ſo große, daß es uns 
wie eine törichte Zumutung vorkäme, wollte man 
unſern perſönlichen Umgang nach den Volksgruppen 
abgrenzen. Man ſoll doch nie vergeſſen, daß alles, 
was man von nationaler Eigenart und von natio⸗ 
nalen Gegenſätzen ſagt, immer nur für die große 
Menge gilt. Einzelne werden ſich aus verſchiedenen 
Gruppen immer zu perſönlicher Freundſchaft zu- 
ſammenfinden. Und auf einer beſtimmten Söhe des 
Menſchtums verſchwinden die Gruppeninſtinkte und 
auch die nationalen Beſonderheiten ganz. Alle oder 
doch faſt alle Menſchenkollektivs, fo ſehr ihre Haupt · 


OL 


beftandteile voneinander abgeſtoßen werden mögen, 
vereinigen ſich doch in ihren Spitzen zu einer Ge⸗ 
ſellſchaft weſens verwandter Geiſter. Durch alle 
Linien, die die Völker und Kaſſen vertikal von- 
einander trennen, geht oben eine Linie quer hin-; 
durch, die die Maſſe und die Bürger von den 
Menſchen trennt, und oberhalb dieſer Linie gibt es 
Feine nationalen Begenfäge mehr. Sier finden ſich 
Japaner und Deutſche, Engländer und Ruſſen, 
Neger, Juden und Chineſen zu einer einzigen, durch 
reines Menſchtum verbundenen Gemeinſchaft zu; 
fammen. 

So beſteht alfo, ſcheint mir, in keinem Sinne 
ein Gegenſatz zwiſchen Volkstum und Menſchtum: 
beide haben ihre Daſeinsrechte und führen, jedes 
in feiner höͤchſten Entfaltung, vereint den Reichtum 
unſerer Kultur herbei. 


Mittel⸗Schreiberhau (Rg.) 
Weihnachten 191I. 


Verlag von Duncker & Humblot in Leipzig. 


Die Juden und das Wirtſchaftsleben 


Werner Sombart. 


Preis geheftet 9 Mark, in Halbpergament 11 Mark. 


Aus den Stimmen der Preſſe: 


Jahrbuch für Geſetzgebung, Derwaltung und Dolks- 
wirtſchaft XXXV, 3: Sombarts Darſtellung macht durch ihre über⸗ 
aus ſcharfſinnige und vielſeitige Frageſtellung die Einzelforſchung 
über jüdiſches Wirtſchaften und jüdiſche Wirtſchaftslehre erſt möglich und 
fruchtbar. In dieſem Sinne iſt das Buch eine wiſſenſchaftliche Tat 
erſten Ranges. 


Citerariſches Zentralblatt 1911, Nr. 31: Der bekannte Ver⸗ 
faſſer des „Modernen Kapitalismus“ erfreut uns hier mit einer ſehr 
willkommenen Gabe. 


Die Neue Rundſchau, 1911, Seite 889 (Dr. Franz Oppenheimer): 
Ein ungeheures Material iſt aus allen möglichen Wiſſensgebieten zuſammen⸗ 
gebracht und in der vorbildlichen Weiſe geordnet und gegliedert 
worden, die Sombarts größte Begabung iſt; und dieſer Stoff iſt in einer 
quellenden, lebendigen Sprache dargeſtellt, die um ſo mehr und 
beſſer überredet, als ſie von tauſend glücklichen Nebengedanken und Kus⸗ 
blicken ſprüht, im beſten Sinne des Wortes „geiſtre ich“ iſt. Da iſt 
nirgends eine Sandbank im ſchnellfließenden Strom dieſer Darſtellung. 


Der Kar, I. Jahrgang, Heft 10, Juli 1911 (Dr. Hans Roſt): Ein 
überaus wichtiges und lehrreiches Buch! ... Man kann das Werk 
nur mit dem Gefühle aus der Hand legen, daß hier eine ſchwere, bisher 
kaum in Angriff genommene Arbeit mit ſehr gutem Erfolg geleiſtet 
worden iſt. . .. Kein Sozialpolitiker und kein Hiſtoriker kann achtlos an 
dieſem wichtigen und weitſchauenden Buche vorübergehen. 


Peſter Clond, 16. IV. 11: Wir wollen gleich erwähnen, daß es 
wenige Bücher gibt, die eine jo genußreiche Lektüre gewähren, inſo⸗ 
fern als Geiſt, Gelehrſamkeit und Witz ſich vereinen, um dies Buch 
zu einem Meiſterwerke zu geſtalten, das nicht allein durch ſeinen In⸗ 
halt, ſondern auch durch ſeine glänzende Sprache des Beifalls aller 
gebildeten Lejer gewiß fein kann. . .. Als ſubjektives Werk, als Frucht 


Derlag von Duncker & Humblot in Leipzig. 


der Forſcherfähigkeit Sombarts betrachtet, iſt es wohl das Blendendſte, 
was in puncto Judenfrage bisher geſchrieben wurde. Blendend, was 
die Form, blendend, was den Inhalt betrifft. 


Die Neue Freie Preſſe (W. v. W.): ... Dies iſt in groben Um⸗ 
riſſen der Inhalt des Sombartſchen Buches. Dieſe Anzeige genügt ſicher, 
um die Überzeugung wachzurufen, daß wir es hier mit einer ernſthaften 
wiſſenſchaftlichen Arbeit zu tun haben, welche die Frucht der emſigen 
Sammlung eines Tatſachenmaterials und eines ſcharfen theoretiſchen 
Denkens iſt. Hierbei finden wir zu unſerer Freude alle Vorzüge der 
anderen Sombartſchen Arbeiten wieder, ſeine klare Darſtellung, eine 
ſorgfältige pflege der Sprache. Wir ſehen ſchließlich wieder, daß 
Wiſſenſchaftlichkeit und lange Weile nicht identiſch ſein müſſen! ... Sombart 
ſucht und forſcht, ſieht ohne Vorurteil, ohne Haß und Liebe die 
Dinge, wie ſie ſind, und doch iſt alles geſchaut von einem ſtarken Tem⸗ 
perament und von einer ſcharf ausgeprägten Individualität. 
Dieſe Vorzüge werden ſeinem neuen Buche zahlreiche Ceſer ſichern. 


Die Zeit, 25. III. 11 (Karl Jentſch): Es iſt keine Redensart, ſondern 
der Kusdruck meiner Überzeugung, wenn ich Werner Sombarts neueſtes 
Werk: „Die Juden und das Wirtſchaftsleben“ ein epochemachendes 
Buch nenne. Nicht allein überſchüttet es uns mit einer Fülle bisher un⸗ 
bekannter, ſehr wichtiger Tatſachen, ſondern es vertieft auch 
unſere Einſicht in das Weſen des Kapitalismus, die er uns in ſeinem 


Hauptwerke erſchloſſen hat. 


Bohemia, 1. III. 11: Das Buch iſt aktuell im guten Sinne des 
Wortes 


ies 13. nn Das erſte wiſſenſchaftliche Werk, 
das den Gegenſtand umfaſſend behandelt, ſtammt aus der Feder Werner 
Sombarts. . .. Auch über die Raſſe wird man ſtreiten können. Aber 
gleichviel: das Werk iſt die Tat eines Meiſters, — und ſeine Wirkung 
wird der Stärke des Geiſtes, der es hervorbrachte, entſprechen. 


Berliner Börſen⸗ Zeitung, 28. II. 11: Auf nahezu 500 Groß⸗ 
oktavjeiten hat der rühmlich bekannte Gelehrte ein imponierendes geſchicht⸗ 
liches Material zur Frage zuſammengeſtellt, das in bewundernswerter 
Objektivität Cicht und Schatten gleichmäßig verteilt. Der Derfajjer 
wird dem Judentum gerecht. 


Berliner Tageblatt, 26. IV. 11: .. Scmbarts Buch wird ſicherlich 
zu weiteren nationalökonomiſchen Arbeiten über Religion und Dolkswirt- 
ſchaft anregen. 


B. Z. am Mittag, 10. III. 11: Wie Sombart mit großer Kühnheit 
und Unbefangenheit aus dem überreichen Tatſachenmaterial, das er ane 
häuft, ſeine Schlüſſe zieht und ſie — man kann jagen — zu einem Syſtem 
kombiniert, das erſcheint auf den erſten Blick ſo zwingend und iſt 
jedenfalls jo originell und geiſtvoll, daß an dieſem umfaſſenden 


Verlag von Duncker & Humblot in Leipzig. 


Werke keiner wird vorübergehen dürfen, der zu dem ebenſo leidenſchaft⸗ 
lich wie zumeiſt kenntnislos erörterten Thema der „Judenfrage“ etwas 
ſagen will. 


Augsburger Pojt-Seitung, 5. V. 11 (Roſt): Der Verfaſſer erfaßt 
das jüdiſche Problem in tiefgründiger Weiſe 


Kölner Tageblatt, 3. VI. 11: Es iſt ein ebenſo eigenartiges 
wie intereſſantes Werk, das der bekannte Gelehrte nicht nur der 
wiſſenſchaftlichen Welt, ſondern den weiteſten gebildeten Kreiſen 
vorlegt. Die vornehme Ruhe und ſtrenge Sachlichkeit, mit der der Der- 
faſſer ſeine Darlegungen macht und ſeine Beweiſe antritt, erhöhen den Wert 
der Unterſuchung. Daß ſie ſelbſt wieder eine Fülle von Anregungen zu 
neuen wiſſenſchaftlichen Arbeiten enthält, macht ſie auf Jahre hinaus zu 
einem wichtigen Rüſtzeug. 


Kölniſche Volkszeitung, 5. X. 11: Sombart, der bekannte 
Nationalökonom, Profeſſor an der Handelshochſchule in Berlin, war ſicher 
einer der Berufenſten zur Übernahme einer Arbeit wie der vorliegenden. 
Seine eindringenden Studien über die Entſtehung des modernen Kapitalis= 
mus überhaupt, ausgedehnte Spezialforſchungen für das vorliegende Werk 
im beſonderen, ſein Wirken an einer Stelle, an der ſich zur Beobachtung 
der Betätigung der Juden im modernen Wirtſchaftsleben reichlichſte Ge⸗ 
legenheit bietet, jein Dernögen, wirtſchaftliche und ſoziale Vorgänge ſcharf⸗ 
ſinnig zu analyſieren, nicht zuletzt ſeine hervorragende Darſtellungsgabe 
haben hier zuſammengewirkt, um ein Buch entſtehen zu laſſen, das um 
feiner Ergebniſſe willen die größte Beachtung ſehr weiter Kreije verdient 
und auch ſofort gefunden hat. 


neckar⸗ Zeitung, 13. III. 11: Sombarts Werk iſt eine Tat. 
Es hat neue Werte geſchaffen und dem künftigen Forſcher die Richtlinien 
gezeigt. Seine leichte und flüſſige Sprache wird dazu beitragen, ihm die 
verdiente Verbreitung zu ſichern. 


Bremer Weſerzeitung, 25. V. 11: Was er in ſeinem Cöſungs⸗ 
verſuche an geiſtiger Kinematographie des überbeweglichen Juden⸗ 
tums gibt, iſt vielleicht das Wertvollſte, was über die ſchillernde Unruhe 
der jüdiſchen Pſyche ſeit langem gejagt worden iſt. 


Saale⸗Seitung, 25. VII. 11: Nichts lehrhaft Trockenes und 
Pedantiſches ſtört die Freude an der Cektüre dieſes Buches. 
In der ihm eigenen geiſtvollen, wenn auch häufig paradoxen Weiſe weiß 
Sombart auch hier ſeinen Stoff zu behandeln, ſo daß man von Anfang 
bis Ende gefeſſelt wird. Das Buch wird in allen Kreiſen die größte 
Beachtung finden müjjen. 


Breslauer Morgen: Zeitung, 20. VII. 11: Sombarts Buch iſt 
ein Gelehrtenwerk, dem der Sweck der Pikanterie und der Senſation jo 
fern liegt wie die Wahrheit dem Schein; es iſt eine grundlegende Arbeit 
auf einem Gebiete, das bisher vom Pfluge der Forſchung unberührt blieb, 


Verlag von Duncker & Humblot in Leipzig. 


und es iſt eine Kunſtſchöpfung, die allen denen einen ungetrübten Ge— 
nuß bereitet, welche für die auf den Gefilden der Wiſſenſchaft nicht eben 
häufige Verbindung des Geijtes mit der Schönheit Derjtändnis haben. 


Dokumente des Fortſchrittes, Mai 1911: Und dies iſt eins der 
wenigen zeitgenöſſiſchen Bücher, das zu ſchreiben aus mehr als einem Grunde 
eine Notwendigkeit war.... Oft wird man zum Widerſpruch ge⸗ 
reizt, oft wird man ſtutzig über anſcheinend allzu kühne Schlüſſe und 
nicht immer wird man überzeugt, aber ſtets iſt man gefeſſelt und an⸗ 
geregt und erhält den Geſamteindruck, daß man zwar keinem abſchließen⸗ 
den Werke gegenüberſteht, was Sombart ja auch ſelbſt erkennt, wohl aber 
einer Pfadfinderarbeit von hoher und wahrſcheinlich außer⸗ 
ordentlich weitreichender Nachwirkung. 


Schleſiſche Volkszeitung, 2. VII. 11: Wer fi einen Einblick in 
die immenſe Bedeutung des Judentums für unſer Wirtſchaftsleben verſchaffen 
will, der greife nach dieſem Werke. 


Jüdiſche Rundſchau, 17. III. 11: Das neueſte Judenbuch — 
Profeſſor Werner Sombarts Werk „Die Juden und das Wirtſchaftsleben“ — 
hält ſich von Haß und Liebe gleich entfernt, tadelt nicht und lobt nicht, ſtellt 
Reſultate wiſſenſchaftlichen Forſchens zuſammen und iſt dabei ſo packend 
geſchrieben, daß ſich dieſes ökonomiſch-politiſche Werk wie ein 
„ſpannender“ Roman lieſt. 


Die jüdiſche Preſſe, 19. V. 11 (Rabbiner Dr. M. Hoffmann): 
Geſtützt auf eine univerſale Kenntnis der geſamten in Betracht 
kommenden Literatur wird die große Judenfrage aufgerollt und mit 
allen einſchlägigen Problemen beleuchtet. In beſcheidener, echt wiſſenſchaft⸗ 
lich zurückhaltender Art wird ein Derjucd der CTöſung unternommen. So 
wird das Buch unter der Hand zu einer, möchte ich ſagen, in dieſer Kürze 
und Klarheit einzigen Enzyklopädie des Judentums, welche 
jedem gebildeten Juden und Chriſten Aufklärung, jedem Forſcher auf dieſem 
Gebiete Anregung bietet. Beſonders bemerkenswert iſt die ſeltene Un⸗ 
parteilichkeit, welche ſich der Derfajjer auf dieſem ſeit Jahrhunderten vom 
Geſchrei der kämpfenden Parteien widerhallenden Gebiete zu bewahren 
gewußt hat. Es wird nicht bloß das Buch der Saiſon ſein, 
ſondern es wird das Standardwerk des ganzen Seitalters 
über Juden und Judentum bleiben. 


Israelitiſches Samilienblatt, 11. V. 11 (Dr. Rudolf Waſſer⸗ 
mann): Sicherlich wird es auch in der Praxis des Lebens, im politiſchen 
Kampfe der Parteien eine Rolle ſpielen. Im einzelnen mag das Buch 
manche Angriffspunkte bieten, als Geſamterſcheinung kann man nur davon 
ſagen, daß Sombart mit dieſem Werk ein klaſſiſches Buch über das 
Judentum und fein Verhältnis zum heutigen Wirtſchaftsleben geſchrieben 
hat, indem er die Zuſammenhänge, die zwiſchen beiden beſtehen, als erſter 
aufgedeckt hat. 


Verlag von Duncker & Humblot in Leipzig. 


ECONOMIC JOURNAL, 1911 (M. Epstein): The book is a brilliant 
contribution, in Sombart’s best style, to the study of an important 
problem in economic history, and both the matter and the method 
merit close attention. 


Israelitiſches Samilienblatt, 21. XII. 11 (S. Meijels): Das 
Buch des Jahres iſt das Werk Werner Sombarts: „Die Juden und das 
Wirtſchaftsleben“. Dieſes Werk iſt ein reicher Quell neuer Gedanken und 
behandelt zum erſtenmal ein Gebiet ſozialökonomiſcher Natur, das bisher 
von keiner Seite eine umfaſſende Darſtellung erfahren hat. Man mag ſich 
zum Werke Sombarts ſtellen, wie man will, man mag darin ein Bild des 
Judentums oder nur ein Dokument des Sombartſchen Geiſtes erblicken, die 
Tatſache wird man nicht leugnen können, daß ſeit dem Erſcheinen des erſten 
Bandes von Lazarus’ Ethik kein Buch fo viel Aufſehen in der jüdiſchen 
Welt erregt hat wie das Sombartſche Werk. 


Mitteilungen zur jüdiſchen Volkskunde, Heft 40: Dieſem 
Buche ſind zwei Vorzüge nicht abzuſprechen: eine überſichtliche Suſammen⸗ 
ſtellung der bisher bekannt gewordenen hiſtoriſchen Daten über die Be⸗ 
deutung der Juden für das Wirtſchaftsleben und der Verſuch, hinter dieſen 
Belegen einen pſychologiſchen Zuſammenhang aufzuſpüren. 


Politiſch⸗Anthropologiſche Revue, Dezember 1911 (C. Müller 
v. Hauſen): Das Werk iſt nicht nur eine reiche Fundgrube für jeden, der 
in die Judenfrage eindringen will, es bietet auch den Schlüſſel zu manchen, 
bisher ungeklärten Fragen über die ungeahnt ſchnelle Entwicklung des 
Kapitalismus in der Geſellſchaft, die ſich vor unſern Augen vollzieht und 
deren Abſchluß noch gar nicht abzuſehen iſt. 

Straßburger Poſt, 5. XII. 11: Dieſes epochemachende Werk des 
berühmten Forſchers eröffnet neue Einblicke in das kulturelle und ſoziale 
Leben der Gegenwart und hat allgemeines berechtigtes Aufjehen erregt. 


Neue Zürcher Zeitung, 11. XI. 11: Im Nachſtehenden ſoll ver⸗ 
ſucht werden, im Suſammenhange den reichen Inhalt des Werkes anzudeuten. 
Es iſt allerdings nicht leicht, dieſer Reichhaltigkeit im engen Rahmen einer 
kurzen Beſprechung auch nur einigermaßen gerecht zu werden. Denn der 
Titel läßt nicht ahnen, in wie univerſeller Weiſe der Autor fein Problem 
behandelt hat. 


Allgemeine Rundſchau, 2. IX. 11: Die Lektüre dieſes Buches 
iſt ein hoher Genuß. Das jüdiſche Problem, an welchem Hiſtoriker, Sozio⸗ 
logen, Theologen, Völkerpſychologen in gleichem Maße intereſſiert ſind, 
hat hier unter dem eigentlich nächſtliegenden Geſichtspunkte der Bedeutung 
für das ie der 1 die erſtmalige er bzügige, wiſſen⸗ 


PLEASE DO NOT REMOVE 
CARDS OR SLIPS FROM THIS POCKET 


UNIVERSITY 7 TORONTO LIBRARY 


| 1 
DS Sombart, Werner 
1/1 Die zukunft der Juden 


868 


RN EI WERTET nnen 


Georg Müller Verlag in Münde 


In meinem Verlage erſchien farben: 


Judentsufen 


von Werner Sombart 


Matth. Erzberger, Friedr. Naumann, Fritz meuthner 
Max Nordau, Ludwig Geiger, Frank Wedekind, 5. 5. 


Ewers, Seinr. Mann, Herbert Eilenberg, Joſ. Rohler, i 


Rich. Dehmel, Herm. Bahr, Gberrabbiner Maybaum 
und namhaften Profeſſoren deutſcher Univerſitaten 7 / 


Geh. M. 2.— 


u dieſem Buche wird jeder gebildete Deutſche, gleichviel welchen nei wo 


und melden politifchen Richtung er angehört Stellung. nehrin: er 


Di J d die ſich inſolge der immer je a 
le u en tage, Affimilstionsbeftr-bungen in Deut 
land, der unhaltbaren Zuſtände in Austen und der an iſemitiſchen ſozia 
len Strömungen in Amerika immer mehr zuſpitzt und zu einer Entſchei⸗ 
dune Fränge, iſt entſprechend der iy den letzten Jahrzehnten vorgegang e 
Veranderungen in ein neues Stadium getreten und verlangt eine neue PYrien⸗ 


tierung. In dieſem Sinne haben es hier deutſche Zochſchullebrer Politiker un; 


Schriftſtellet bon Auf unternommen, das alte, jedoch nicht minder aktuel. 
Dr blem zu formulieren und die Richtung für feine 2öfung anzudeuten. Die 
geſchieht durch die Beantwortung der folgenden drei Fragen: 


J. Welches ſind die vorausſichtlichen Folgen in geiſtiger⸗ wis 


ſhaftlicher und politiſcher Beziehung im Falle der Afime- x 


la tion aller Juden durch maſſenubertritte, Miſchehen HR 
uf. ? 
2. Weiches ind eben diefe Folgen im Falle der Verwitligung 
der zie iſtiſchen Idee 
a) fur di iudenreinen Staaten? 
b) füt Fioniſtenſtuate ? 
3. Was a wicht, wenn weder ! noch 2 eintritt? Sind. RO 
flikte zu befürchten und alls ja, welcher Art werden die 


Konflikte ſein? Iſt demnach J, 2 oder 3 wünſchens wert 8 


Tieres Buch wird vielleicht einmal den Ausgang bilden dei 9 des 
e die über kurz oder lang erfolgen muß. 


Piererſche Zofbuchdruckere! Stephan Geibel & Co., Altenburg 8 »A.