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Full text of "Die Zukunft Polens"

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George  Cleinow 

Die  Zukunft 


DIE  ZUKUNFT  POLENS 
ERSTER  BAND 


QS^<«o 


Digitized  by  the  Internet  Archive 

in  2010  with  funding  from 

University  of  Toronto 


http://www.archive.org/details/diezukunftpolens01clei 


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DIE      ff^  ' 

ZUKUNFT  POLENS 


VON 


GEORGE  CLEINOW 


ERSTER  BAND 

WIRTSCHAFT 


<:^^? 


LEIPZIG 
FR.  WILH.  GRUNOW 

1908 


ALLE  RECHTE 

EINSCHLIESSLICH  DES  ÜBERSETZUNGSRECHTES 

VORBEHALTEN 


CS 


Published  9.  Juni  1908.    Privileje  of  Copyright  in  the  Uniled  Stales  rescrved  under  the  Art 
approved  8.  Okiober  1907  by  George  Cleinow,  Sl.  Petersburg.  Alexandrowsk,,  Prospekt  No.  8 


Vorwort 

In  der  liiermit  der  Öffentlichkeit  übergebnen  Arbeit  wird  die  Polen- 
frage Vi»  11  der  russischen  Seite  aus  betrachtet.  Dennoch  bezieht  sich 
alles  in  grüßerni  oder  kleinerm  Maße  auch  auf  die  Polenfrage  in  l^ieußen. 
Beide  Fragen  sind  untrennbar  miteinander  verbunden.  Ich  konnte  des- 
halb meine  Ausführungen  Aviederholt  in  Beziehung  zu  Ausfühnmgen 
deutscher  Schriftsteller  setzen.  Von  besonderm  Wert  sind  mir  in  dieser 
Richtung  die  Arbeiten  von  W.  von  Massow,  H.  Geffcken,  Ludw.  ]3ernhard 
und  J.  Waeber  gewesen,  auch  dort,  wo  ich  nicht  mit  ihnen  über- 
einstimme. 

Die  Tendenz  meiner  Ai'beit  ist  wohl  dieselbe,  die  Professor  Bernhard 
verfolgte:  Aufklärung  durch  nüchterne  Darstellung  der  Tatsachen. 
Ob  es  mir  freilich  gelang,  nur  das  Wichtigste  in  den  Vordergrund  zu 
schieben  und  dem  Nebensächlichen  überall  den  zweiten  Platz  anzuweisen, 
wird  mich  hoffentlich  eine  wohlwollende  Kritik  lehren. 

Meine  Arbeit  war  in  dieser  Beziehung  recht  schwierig,  da  die  ein- 
schlägige Literatur  mir  sozusagen  nui"  als  Rohstoff  zugänglich  war, 
während  meine  Führer  durch  sie  Parteiorgane  waren,  also  voreingenommne 
Menschen  und  Tageszeitungen.  Im  ersten  Bande  tritt  die  Schwierigkeit 
nicht  so  sehr  zutage  wie  im  zweiten;  dafür  hatte  ich  einen  harten  Strauß 
mit  der  Statistik  auszufechten.  Die  Angaben  des  Finanzministeriums 
weichen  von  denen  des  Ministeriums  des  Imiern  manchmal  um  25  Pro- 
zent ab.  Die  Arbeiten  des  Warschauer  Statistischen  Komitees  von  1890 
bis  1907  sind  nicht  zusammenhängend.  Älmlich  liegt  die  Sache  mit 
der  Gesetzgebung.  Handelte  es  sich  niu'  um  die  sechzehn  Bände  des 
Swod  sakonow,  dann  wäre  die  Aufgabe  verhältnismäßig  leicht  gewesen, 
wenn  auch  Polen  betreffende  Bestimmungen  fast  in  allen  Gesetzen  ver- 
streut liegen.  Dazu  abei"  treten  Ministerial-  und  Reichsratsbeschlüsse, 
Senatsentscheidungen,  Zirkulare  der  Generalgouverneurc,  Kuratoren,  Ge- 
richtspräsidenten, des  Heiligen  Synods,  des  Departements  für  aus- 
ländische Glaubensbekenntnisse.  Diese  wieder  sind  geteilt  in  geheime 
uiul  offne  Zirkulare.  Ohne  das  große  Entgegenkommen,  das  ich 
überall  bei  den  russischen  Behörden  gefunden  habe,  wäre  es 
mir  kaum  möglich  gewesen,  durch  die  Masse  durchzudiingen.  Es  sei 
darum  den  Herren  in  den  Archiven,  Bibliotheken  und  Ämtern 
zu  Petersburg,  Wilna,  Warschau  und  Kijew  an  dieser  Stelle 
mein  herzlichster  Dank  gesagt. 

Von  wichtigern  Werken  haben  mir  vor  allen  Dingen  die  als  Leit- 
faden sehr  wertvollen  Arbeiten  des  Senators  Reincke  und  die  gesammelten 


Yj  Vorwort 

Schriften  des  1906  gestorbnen  Rechtsanwalts  Spassowitsch  als  sichere  Weg- 
weiser gedient.  Meine  kurzen  historischen  Ausführungen  stützen  sich 
hauptsächlich  —  von  Tiieodor  Schiemann  und  Ssolowjow  abgesehen  — 
auf  Schihler  für  politische  Oeschichte,  Makarius  und  Golubinski  für  rus- 
sische Kirchengeschichte,  D.  N.  Tolstoj  und  P.  Pierling  für  russisch-römische 
Beziehungen.  Ferner  habe  ich  die  Immediatberichte  des  Reichsrats, 
der  Reichskontrollc  und  des  Oberprokurors  des  Heiligen  Sjuods  von  1861 
ab  zur  Verfügung  gehabt  sowie  schließlich  die  unveröffentlichten  Proto- 
kolle der  Gouveniementskomitees  zur  Hebung  der  Landwirtschaft. 

Im  politischen  Teil  war  ich  fast  ausscidießlich  auf  die  russische 
und  pohlische  Presse,  auf  mehr  als  hundert  Bücher  und  Broschüren  sowie 
auf  persönliche  Mitteilungen  und  Beobachtungen  angewiesen.  In  diesen 
Berg  von  Material  bin  ich  eingeführt  durch  die  Monatsschrift  Wjestnik 
Jewropy  von  1872  ab,  durch  die  polnischen  Briefe  des  Historikers  Karejew 
und  durch  die  drei  polnischen  Literaturgeschichten  von  Chmelewski, 
Tarnowski  und  Feldmami.  Von  zwei  kürzlich  erschienenen  Arbeiten 
Pogodins  und  Jacimirskis  habe  ich  nur  die  äußerst  interessante  Pogodins 
beim  Lesen  der  KoiTektur  verwenden  können.  Auf  beide  Werke  sei  jeden- 
falls besonders  hingewiesen. 

Angesichts  der  Fülle  des  Materials  habe  ich  es  für  nötig  gehalten, 
vielfach  Fußnoten  und  Hinweise  anzubringen.  Es  ist  mir  dadurch 
möglich  geworden,  dem  deutschen  Leser  die  gesamte  russisch -pobiische 
Literatur  zur  Polentrage  von  1864  bis  1907  gewissennaßen  in  kritischer 
Beleuchtung  vorzustellen.  Daneben  erhalten  Interessenten  in  jeder  Einzel- 
frage einen  Hinweis,  wo  sie  bei  Bedarf  weiter  suchen  können.  Wo  Aus- 
lassmigen  bemerkbar  werden  sollten,  wäre  ich  sehr  dankbar  für  Hinweise, 
die  ich  mir  bei  meinen  Aveitern  Arbeiten  in  der  hier  behandelten  Frage 
gern  nutzbar  machen  würde. 

Xeben  dem  angedeuteten  Bücher-  und  Archivstudiuni  habe  ich  aus- 
giebigen Gebrauch  von  privaten  Beziehungen  in  Litauen,  Polen  imd 
Wolynien  machen  können.  Sie  ennöglichten  es  mir  durch  mehrere  Jahre 
hindurch,  über  die  Polenfrage  von  Polen,  Deutschen,  Russen  und  Juden, 
von  Gelehrten,  Geistlichen,  Kaufleuten  und  Landwirten,  von  ISTationalisten, 
Freisinnigen  und  Soziahsten  zu  hören.  Eine  große  Erleichterung  bildete  für 
meine  Zwecke  die  Möglichkeit,  im  Jahre  1905  und  1906  an  verschiednen 
polnisch-russischen  Kongressen  und  Konferenzen  teilzunehmen,  und  nicht 
zuletzt  das  überaus  liebensAvürdige  Entgegenkommen,  das  mir 
Polen  und  Russen  in  gleichem  Maße  entgegenbrachten. 

Das  Ergebnis  all  des  Erlebten,  Geschauten,  Gehörten  und  Gelernten  sei 
in  den  Dienst  der  Besserung  deutsch-polnischer  Beziehungen  gestellt. 

St.  Petersburg,  Ostern  1908 
Alexandrowski  -  Prospekt  Nr.  8 

G.  Cleinow 


Inhaltsverzeichnis 


Seite 

Vorwort V 

Inhaltsverzeichnis VII 

Erster  Teil 
Einfüliruiig 1—35 

Erstes  Kapitel 

Vorbemerkungen 3 

A.  Kennzeichnung  der  Polenfrage 3 

H.  Die  deutsche  Publizistik  in  der  Poleufrage 4 

C.  Die  Bedeutung  der  Kongreßakte  von  1815 8 

D.  Die  politische  Lage  der  Polen 10 

E.  Menschenrechte? 12 

Zweites  Kapitel 
Historisches It 

A.  Die  Beziehungen  zwischen  Polen  und  Russen .15 

1.  Allgemeine  Verhältnisse .15 

2.  Die  EinfüluTiug  des  Christoutums 17 

3.  Geistlichkeit  und  Staatsgewalt  in  Rußland 20 

B.  Einigungsbostrebungon 21 

1.  Die  Union 23 

2.  Kampf  uqi  die  üniaten 26 

C.  Aufgaben 28 

1.  Allgemeine  Ziele 28 

2.  Alexanders  des  Ersten  Ziele 29 

3.  Das  Ende 33 

Zweiter  Teil 
Das  Zartum  Polen  bis  zum  Herbst  1904 37—120 

Drittes  Kapitel 
Die  Reformen  von  1864 39 

A.  Die  Agrai-reform 41 

1.  Landzuteilung 41 

2.  Die  Ser^•itute .43 

3.  Das  bauerliche  Besitzrecht 46 

B.  Die  Verwaltungsreforni 48 

1.  Die  bäuerliche  Gemeinde .     50 

2.  Die  Gmin 52 

3.  Die  Gouvernements-  und  Kreisverwaltung .     .     58 

4.  Die  Städte .61 


VIII  Inhaltsverzeichnis 


Seite 

C.  Der  Generalgouverneur 62 

1.  Seijie  Instiiiktion 62 

2.  Die  Kanzlei  des  Generalgouverneurs 65 

Viertes  Kapitel 

Die  Reformen  nacli  1864 .  67 

A.  Das  Schulwesen 69 

1.  Der  "Warschauer  Lehrbezirk 71 

2.  Die  Warschauer  Universität 71 

3.  Der  Kurator  des  Warschauer  Lehrbezirks 72 

4.  Die  Lehranstalten 73 

5.  Die  Sprache 74 

6.  Der  Religionsunterricht 77 

B.  Die  Gerichtsreform 78 

1.  Allgemeiner  Zustand  der  Gesetzgebung 79 

2.  Die  Gerichtsinstitutionen  im  Warschauer  Gerichtsbezirk 81 

Fünftes  Kapitel 

Kirche  und  Geistliclikeit 84 

A.  Die  Stellung  der  römisch-katholischen  Kirche 85 

1.  Allgemeine  Stellung  im  Reich 85 

2.  Die  Geistlichen 89 

B.  Die  Tätigkeit  der  russischen  Kirche 94 

1.  Die  Organisation  der  nissischeu  Kirche 95 

2.  Die  Aufgaben  der  Geistlichkeit  und  ihrer  Organe 97 

Sechstes  Kapitel 

Das  russische  Element  im  Zartum 101 

A.  Die  russische  Bevölkerimg  im  Weichselgebiet               101 

1.  Die  Uniaten  . 102 

2.  Russische  Großgmndbesitzer 103 

B.  Die  Beamtenschaft 108 

1.  Der  Beamtenersatz 108 

2.  Die  niedem  Beamten 110 

C.  Die  Oberbeamten 112 

1.  Die  Beamten  der  Reformperiode 113 

2.  Richter  und  Professoren 115 

3.  Allgemeines  Urteil 117 

Dritter  Teil 
Die  Wirtschaft   und  ihre  Organisation  im  Zartum 

Polen 121-293 

Rückblick 123 

Siebentes  Kapitel 

Bevölkerungsstatistik 124 

A.  Die  Bevölkerung  im  Zartiun  Polen 125 

1.  Die  Polen 125 

2.  Die  Juden 129 

3.  Die  Deutschen 133 


Jnhalthverzeicbniü  IX 


Seite 

B.  Die  Bovölkerungsbowegung  ....  137 

1.  Dio  natürliche  Zunahiiu- 138 

2.  Monilsh-itistik HO 

C.  Dio  russische»  Pulou  auürihalh  des  Zartums      .     .  147 

1.  Die  Polen  im  Westgebiet 147 

2.  Die  Polen  in  den  innurrussischen  Gouvernements   .  148 

Achtes  Kapitel 
"Wirtschaft  151 

A.  Dio  Landwirtschaft ...     152 

1.  Die  Verteilung  des  Bodens ...     153 

2.  Die  Erträge  der  Landwirtschaft    .  155 

B.  Industrie  und  Handel .156 

1.  Historisches loG 

2.  Die  Industrie 159 

8.  Der  Handel 162 

C.  Die  Städte 169 

1.  Die  städtischen  Budgets 170 

2.  Das  Sanitätswesen  .     .  171 

D.  Die  Verkehrsmittel 172 

1.  Das  "Weichselstromgebiet ....  .172 

2.  Die  Eisenbahnen 174 

Neuntes  Kapitel 
Zur  Agrarfrage 175 

A.  Allgemeines 175 

1.  Klima  und  Boden 176 

2.  Erläuterungen  zur  amtlichen  Statistik    .  177 

B.  Die  Lage  der  Landwirtschaft    ...  ...  180 

1.  Die  Verteilung  des  Landes  .  .  ...  181 

2.  Der  private  Großgmndlicsitz 183 

3.  Zustand  der  Liuidwirtschaft  überhaupt  ...  185 

4.  Servitute  und  Streuländereien 191 

C.  Die  bäuerliche  Wirtschaft .196 

1.  Lage  der  bäuerlichen  LandAvirtschaft .196 

2.  Die  kleine  Schlachta .201 

8.  Die  Verteilung  der  liäuerlichen  Arbeitskräfte  204 

Zehntes  Kapitel 
Die  Arbeiterfrage 210 

A.  Die  Landarbeiter  .211 

1.  Ständige  Arbeiter 212 

2.  Tagelöhner .217 

3.  Saisonarbeiter .     219 

B.  Fabrikarbeiter .220 

1.  Allgemeine  Verhältnisse .  222 

2.  Arbeiterorganisationen 224 


X  Inhaltsverzeichnis 


Seite 

C.  Sachsengänger  und  Auswanderer 225 

1.  Die  Auswanderung 228 

2.  Die  Ausdolmung  der  Wanderarbeit  im  Jahie  1903  und  1904 230 

3.  Die  Arbeitslöhne  in  den  verschiednen  Ländern 282 

D.  Die  Bedeutung  der  Wanderarbeit  für  die  polnische  Nationalität 234 

1 .  Die  Ersparnisse  der  Sachsengänger .  234 

2.  Der  Landerwerb  diu'ch  Sachsengänger 236 

3.  Ethische  und  soziale  Folgen  der  Wanderarbeit 240 

4.  Die  politischen  Folgen  der  Wanderarbeit  für  die  Pulen 242 

Elftes  Kapitel 

Finanz-  vmd  Wirtschaftsorganisationen 245 

A.  Die  polnische  Finanzwelt 248 

1.  Das  Warschauer  Kontor  der  Russischen  Staatsbank 248 

2.  Die  Haute  finance 251 

3.  Polnische  AJctiengesellschaften 255 

B.  Spar-,  Vorschuß-  und  Verbrauchsvereino  und  Genossenschaften 260 

1.  Allgemeine  Gesetzgebung 260 

2.  Die  Gesellschaften  für  gegenseitigen  Kredit 262 

3.  Spar-  und  Vorschußgenossenschaften 264 

4.  Konsumvereine 266 

C.  Die  Grain-Spar-  und  Vorschußkassen 268 

1.  Giündimg  und  Entwicklung 268 

2.  Verwaltung  und  Tätigkeit  der  Kassen 270 

Zwölftes  Kapitel 

Organisationen  der  Landwirts clxaft 276 

A.  Die  Landbank 277 

1.  Befugnisse 277 

2.  Die  Direktionen 278 

3.  Die  Pfandbriefinhaber 280 

B.  Die  landwirtschaftlichen  Gesellschaften  oder  Syndikate 282 

1.  Die  SjTidikate  und  ihre  Befugi-iii5se 282 

2.  WirtschaftUche  Betätigimg  der  Syndikate 284 

C.  Wirkungskreis  der  Laudbank 285 

1.  Die  landwirtschaftlichen  Gesellschaften  und  Verbrauchsvereine     ....  285 

2.  Personalverbindungen 287 

D.  Allgemeine  Zusammenhänge  zwischen  Wirtschaft  und  Politik 288 


C^(^5 


WIRTSCHAFT 


<:(^f&> 


ERSTER  TEIL 

EINFÜHRUNG 


ce^tf^ 


Cleiuow,  Die  Zukunft  Polens 


Erstes  Kapitel 
Vorbemerkungen 

A.  Kennzeichnung  der  Polenfrage 

Der  Kampf  des  polaischeii  Volkes  um  die  Wiederherstellung  eines 
Nationalstaates  bildet  den  Korn  der  Polenfrage.  Aus  dieser  Tatsache  ergibt 
sich  die  Frage,  oh  die  polnische  Nationalität  imstande  ist  oder  in  den 
Stand  gesetzt  werden  kann,  sich  einen  eignen  nationalen  Staat  zu  schaffen. 
Wir  Deutschen  könnten  somit  die  Polenfi'age  als  eine  innere  Angelegen- 
heit der  großen  polnischen  Familie  beti-achten.  Leider  liegt  aber  die  Frage 
nicht  ganz  so  einfach,  denn  es  ist  kein  freies  Terrain  vorhanden,  auf  dem 
der  geplante  polnische  Staatsbau  errichtet  werden  könnte.  Die  Polen  sind 
des  Bestimmungsrechts  über  den  ihnen  früher  gehörenden  Baugrund  aus 
verschiednen  Gründen  verlustig  gegangen  und  sind  nun,  da  sie  sich  nicht 
über  die  ganze  Welt  verteilen  wollten,  gezwungen,  in  fremden  Häusern  zu 
wohnen,  die  Wand  an  Wand  nebeneinander  stehn  und  sich  gegenseitig 
stützen,  in  ihrer  Bauart  aber  grundverschieden  voneinander  sind. 

Diese  äußern  Verhältnisse  haben  zur  Folge  gehabt,  daß  die  Besitzer 
der  drei  Häuser  versucht  haben,  ihre  polnischen  Einwohner  für  ihre 
Wohnungen  zu  interessieren  und  sie  zu  Teilhabern  an  allen  materiellen 
und  ethischen  Vorzügen  zu  machen,  die  sie  ihnen  zu  bieten  vermögen. 
Der  Wunsch  der  Polen,  sich  ein  eignes  weit  angelegtes  Heim  zu  bauen, 
sollte  durch  das  Verlangen  abgelöst  werden,  sich  im  fremden  Hause  mög^ 
liehst  wohlig  einzurichten. 

Je  nach  Veranlagung  und  Charakter  sind  die  drei  Hausmeister  diesem 
Ziele  auf  drei  verschiednen  Wegen  zugestrebt. 

Der  leichtlebige  Österreicher  hat  seinen  Polen  einen  besondem  Flügel 
eingeräumt  Dort  konnten  sie  von  jeher  schalten,  wie  sie  wollten.  Galizien 
hatte  gegenüber  den  beiden  andern  Teilen  Polens  immer  die  größten 
Freiheiten.  Dort  fühlten  sich  die  Polen  in  ihrer  unordenüichen,  kaum 
beaufsichtigten  Wirtschaft  so  wolil,  daß  sie  immer  mehr  die  Absicht  ver- 
gaßen, sich  ein  eignes  größeres  Haus  zu  errichten.  Die  führenden  Kreise 
der  Polen  in  Österreich  konnten  es  gar  nicht  besser  haben,  als  es  ihnen 
seit  der  Teilung  ergangen  ist.  In  der  österreichischen  Reichspolitik  spielten 
sie  schon  immer  eine  maßgebende  Rolle  —  ihre  Landsleute  waren  führende 


Erstes  Kapitel.    Vorbemerkungen 


Staatsmänner,  während  sie  in  Galizien  selbst  mit  der  Plutokratie  zusammen 
regieren  konnten.  Wären  nicht  nach  1904  außerhalb  ihrer  Wirksamkeit 
liegende  Ereignisse  oingeti'cten,  die  österreichischen  Polen  würden  kaum 
die  großen  Anstrengungen  zur  Wiederherstellung  des  alten  Polenstaats  auf 
sich  genommen  haben,  wie  sie  es  nun  tatsächlich  tun.^) 

Anders  in  Rußland.  Der  russische  Hausmeister  legte  zu  demokra- 
tische Neigungen  an  den  Tag,  als  daß  die  polnische  Schlachta  sich  hätte 
hei  ihm  wohl  fühlen  können.  Der  Bauer  wiu'de  Herr  des  Hauses  —  freilich 
unter  der  Bedingung,  daß  er  sich  mit  dem  „raoskal"  (Moskowiter)  gut  stellte. 
Die  Wohnungen  der  Polen  im  russischen  Hause  wurden  mit  großem  Auf- 
wand nach  russischem  Geschmack  in  Farben,  Bilderschmuck  und  Hygiene 
eingerichtet,  ohne  den  polnischen,  zweifellos  höher  stehenden  Bedürfnissen 
Rechnung  zu  tragen.  Darum  haben  sich  die  Polen  niemals  darin  wohl- 
gefühlt. Sie  fordern  Trennung  von  einem  Hausverwalter,  der  ihnen  kul- 
turell nichts  mehr  zu  bieten  vermag. 

Ähnlich  —  wenn  auch  aus  andern  Gründen  —  ist  das  Ergebnis  in 
Preußen- Deutschland.  Der  deutsche  pedantische  Michel  wollte  die  Polen 
in  preußische  Staatsbürger  umwandeln,  nicht  mit  Hufe  der  Polizei,  sondern 
durch  Kultur.  Schule,  unbestechliche  Gerichte,  soziale  und  wirtschaftliche 
Fürsorge,  Wegebau,  das  waren  lange  Zeit  hindurch  die  einzigen  Germani- 
sieningsmittel.  Sie  wurden  sti'eng  gehandhabt,  wie  in  Deutschland  gegen 
jedermann.  Sie  haben  die  preußischen  Polen  zu  dem  kulturell  und  wirt- 
schaftlich höchststehenden  Teil  des  polnischen  Volkes  gemacht.  Aber  die 
konsequente  Strenge,  der  peinliche  Ordnungssinn  der  Deutschen,  die  die 
Polen  gestärkt  haben,  haben  auch  ihren  Haß  gegen  die  deutschen  Lehr- 
meister erstarken  lassen,  der  gegenwärtig  vor  keiner  Äußerung  zurück- 
schreckt. Auch  die  preußischen  Polen  wollen  hinaus  aus  dem  deutschen 
staatlichen  Prachtbau.  Gemeinsam  mit  den  russischen  und  österreichischen 
wollen  sie  sich  ein  eignes  Haus  bauen,  in  dem  sie  nach  eignem  Ermessen 
walten  und  ein  ihrer  nationalen  Eigenart  entsprechendes  Leben  führen 
könnten.  Dazu  aber  müssen  sie  Wände  sowohl  des  russischen  wie  des 
deutschen  Hauses  einreißen. 

B.  Die  deutsche  Publizistik  in  der  Polenfrage 
Trotzdem  wir  bei  dieser  klaren  uns  Gefahr  drohenden  Lage  der  Dinge 
genau  wissen  sollten,  woran  wir  mit  den  Polen  sind,  gehört  die  Polenfrage 
zu  den  Angelegenheiten  der  deutschen  Politik,  von  deren  öffentlicher  Be- 
handlung wir  im  allgemeinen  gern  Abstand  nehmen.   Ein  wichtiger  Grund 

*)  Die  gleiche  Auffassung  findet  sich  bei  den  russischen  Demokiaten  und  in  War- 
schauer russophilen  Kreisen. 


B.  Die  deutsche  Publizistik  in  der  Polenfrage 


dafür  licg;t  in  ihrem  halb-internationalen  Charakter.  Die  Tatsache,  daß  83 
auch  in  Rußland  eine  Polenfragc  gibt,  hat  viele  Autoren,  und  zwar  die  be- 
rufensten unter  ihnen,  veranlaßt,  sich  die  größte  Beschränkung  in  der  Ver- 
wendung des  Materials  über  sie  aufzuerlegen.  Sie  folgen  darin  den  an 
der  Polenfrage  beteiligten  Regierungen,  denen  im  großen  und  ganzen  zu- 
gestanden werden  muß,  daß  sie  sich  bei  ihren  öffentlichen  Kundgebungen 
lind  amtlichen  Handlungen  immer  auf  den  Teil  der  Polen  beschränkt  haben, 
der  im  gegebnen  Falle  gerade  ihrer  Kompetenz  unterlag.  Besondei-s  die 
preußische  und  deutsche  Regierung  hat  auch  in  den  schwierigsten  Situa- 
tionen streng  an  dieser  Gepflogenheit  festgehalten  und  oft  genug  Inter- 
pellationen in  den  Parlamenten  die  Spitze  abgebrochen  durch  den  Hinweis 
auf  die  interne  Angelegenheit  des  Nachbarstaats.  Die  Folge  dieser  Ge- 
pflogenheit ist,  daß  wir  weder  in  deutscher  noch  in  russischer  Sprache  eine 
Abhandlung  in  der  Literatur  haben,  die  die  Polenfrage  zusammenfassend 
und  gleichmäßig  von  allen  drei  Seiten,  d.  h.  vom  deutschen,  östeiTcichischen 
und  nissischen  Standpunkt  aus  beleuchtet.  Die  deutsche  wissenschaftliche 
Literatur  hat  sich  damit  begnügt,  den  Untergang  Polens  und  seine  innere 
Ursache  zu  erforschen  und  damit  die  Grundlage  für  die  Beurteilimg  der 
Polenfrage  überhaupt  zu  schaffen.  Das  geschah  aber  schon  vor  den  1870er 
Jahren.  Später  haben  die  Deutschen  die  Polenfrage  —  wir  glauben  sagen 
zu  dürfen  —  ausschließlich  in  ihrem  Zusammenhange  mit  der  deutschen 
Politik  betrachtet  und  behandelt.  Nach  den  glorreichen  Jahren  der  deutschen 
Einigung  wurde  die  Frage  allerdings  noch  etwas  weiter  gefaßt  als  später. 
Mehrere  Broschüren  stellten  die  Frage  als  eine  das  gesamte  Deutsch- 
tum betreffende  auf  und  forderten  eben  zur  Sicherung  des  Deutschtums 
die  Gewinnung  wenigstens  der  \Veichsellinie.-^)  Doch  diese  expansive 
Form  der  Behandlung  hat  nicht  lange  gewährt.  Eine  übergroße  Rücksicht- 
nahme auf  Rußland  mid  auf  die  Wünsche  der  deutschen  amtlichen  Kreise 
zwang  Politiker  und  Presse,  sich  bezüglich  der  Polenfrage  auf  deren 
deutschen  Teil  zu  beschränken.  Wer  auf  die  russisch -polnischen  Ver- 
hältnisse hinwies,  setzte  sich  leicht  dem  Vorwurf  aus,  der  Diplomatie  die 
Fenster  einzuwerfen.  Auf  diese  Weise  trifft  nicht  die  Ultramontanen  allein 
die  Schuld,  wenn  im  Laufe  der  Jahre  aus  der  deutschen  Polenfi'age  eine 
preußische  geworden  ist. 

Den  einseitigen  Charakter  hat  die  Polenfrage  in  der  Auffassung  der 
deutschen  Publizistik  noch  bis  in  die  jüngste  Zeit  beibehalten.  Die  par- 
lamentarischen Verhältnisse  in  Preußen   und  Deutschland   haben  die  Auf- 


')  Die  deutschen  Broschüren  von  1870  bis  1872  sind  im  AVjestiiik  Jewropy,  Februar 
bis  Juni  1872  eingehend  ge^\"ürdigt  worden. 


Erstes  Kapitel.    Vorbemerkungen 


fassung  noch  vertieft,  als  ginge  die  Polenfrage  ausschließlich  den  preußischen 
Staat,  nicht  aber  das  Deutsche  Reich  etwas  an.  Die  Ansiedlungskommission 
wurde  eine  preußische  Einrichtung,  an  der  Sachsen,  Bayern,  Württemberg 
und  Baden  kein  Interesse  zu  nehmen  brauchten  und  auch  nicht  nahmen, 
weil  in  Deutschland  nichts  mehr  verstimmt  als  die  Einmischung  in  die 
häuslichen  Angelegenheiten  der  Bundesstaaten.  In  der  Publizistik  fand 
die  Stellung  der  Polenfrage  ihren  Ausdruck  in  der  Art  ihrer  Behandlung. 
Die  Wissenschaft  hatte  bewiesen,  daß  der  Polenstaat  angeblich  allein  aus 
Gründen  seiner  innern  Politik  untergehn  mußte  —  er  war  unterge- 
gangen —  er  existierte  nicht  mehr  —  er  kann  nie  wieder  existieren! 
Somit  war  es  ein  verhältnismäßig  einfach  Ding,  die  ehemaligen  polnischen 
Landesteile  Preußens  zu  entpolonisieren  und  die  Polen  in  gute  preußische 
Staatsbürger  umzuwandeln.  Was  jenseits  der  Grenze  geschah,  wurde  als 
unerheblich  beiseite  geschoben.  Daß  aber  im  Gegensatz  hierzu  die  pol- 
nische und  russische  Presse  außerhalb  Deutschlands  allen  Vorgängen  in 
Preußen  mit  gespannter  Aufmerksamkeit  folgte,  daß  jede  Abwehrmaßregel 
gegen  die  Anmaßungen  der  Polen  in  den  der  Regierung  nahestehenden 
Blättern,  wie  Notvoje  Wremja^)  und  Warschaivshi  Dnjewnik\  dazu  ver- 
wandt wurde,  die  russischen  Polen  gegen  das  Deutschtum  aufzustacheln, 
hat  niemand  bekümmert.  Die  Beobachtung  der  ausländischen  Presse  ist 
ja  überdies  Sache  des  Auswärtigen  Amts.  Als  dann  noch  ein  Mann  von 
der  politischen  Bedeutung  eines  Ha7is  Delbrück'^)  durch  einen  mehr- 
wöchigen Besuch  im  russischen  Polen  glaubte  feststellen  zu  müssen,  die 
Polen  hätten  den  Gedanken  an  eine  Wiedervereinigung  der  drei  seit  1815 
endgiltig  getrennten  Landesteile  aufgegeben,  begnügte  sich  die  deutsche 
Publizistik  fast  ausschließlich  mit  der  technischen  Seite  der  preußischen 
Polenpolitik.  Selbst  die  Veröffentlichung  der  überaus  lehrreichen  Denk- 
schrift des  Generalgouvemeurs  von  Warschau,  Fürst  Imeretinshi,  vermochte 
an  diesen  leidigen  Zuständen  nichts  zu  ändern.  Alle  diese  Umstände  und 
noch  manche  andre*)  haben  dazu  geführt,   daß  ein  bedeutender  Teil  der 


*)  Eingehende  Charakteristik  in  des  Autors  „Aus  Rußlands  Not  und  Hoffen",  1906, 
Bd.  I,  S.  194  ff. 

*)  Amtliches  Organ  des  "Warschauer  Generalgouvemeurs. 

■')  Preußische  .Jahrbücher,  Bd.  98,  Oktoberheft  1899.  Ein  nicht  sehr  tief  in  die  pol- 
nische Literatur  eingeweihter  Ausländer  konnte  zu  damaliger  Zeit  auch  kaum  zu  andern 
Ergebnissen  kommen  wie  Herr  Delbi-ück.  Die  Richtung  der  Piltz  und  Spassowitsch ,  die 
wir  später  näher  kennen  lernen,  hatte  zur  Zeit  des  Aufenthalts  Delbrücks  in  Polen  durch 
ihre  Organe  Kray  und  Slowo  den  größten  Einfluß  auf  die  polnische  Gesellschaft. 

*)  Z.  B.  die  Zustände,  die  unsern  amtlichen  Vertretern  im  Auslande  das  sachliche 
Zusammenarbeiten  mit  den  Verti-etera  der  imabhängigen  Presse  erschweren;  femer  der 
Gebrauch,  die  Berichte  der  auswäi-tigen  Vertreter  an  den  Reichskanzler  so  geheim  zu 
halten,  daß  selbst  die  Kommissionen  der  Parlamente  davon  nichts  zu  hören  bekommen. 


B.  Die  deutsche  Publizistik  in  der  Polenfrago 


Mißerfolge  in  der  Ansiedlungspolitik  auf  Rechnung  der  preußischen  Be- 
amten gesetzt  wurde,  und  die  Zahl  der  Stimmen  wurde  gi'ößer,  die  auf 
eine  Preisgabe  jeder  aktiven  Polenpolitik  drängte. 

Der  Deutsche  Ostmarkenvei-ein  *)  hat  sich  im  Jahre  1894  das  Verdienst 
vor  dem  deutschen  Volke  erworben,  die  Aufmerksamkeit  der  Gesellschaft 
bezüglich  der  Polenfrage  über  die  preußischen  Landesgrenzen  hinaus  ge- 
lenkt zu  haben.  Er  mußte  dafür  manchen  Angriff  über  sich  ergehn  lassen. 
Auf  seine  Tätigkeit  ist  manche  Erörterung  in  den  Parlamenten  und  in  der 
Presse  zurückzuführen. 

Dann  hat  im  Jahre  1902  ein  deutscher  Publizist  die  polnische  Gefahr 
dem  Deutschtum  in  der  richtigen  Bewertung  dargestellt,  die  sie  verdient. 
Wilhelm  von  Massow  hat  den  polnischen  Heilruf  „Noch  ist  Polen  nicht 
verloren!''  herausgehoben  aus  dem  Stimmengewirr,  das  die  Polenfrage  um- 
braust. „Noch  ist  Polen  nicht  verloren!"  ist  für  jeden  Polen  das,  was  für 
jeden  Deutschen  das  „Deutschland,  Deutschland  über  alles!''  sein  sollte.  Es 
ist  die  Erinnerung  an  die  alte  Zerrissenheit  und  Schmach,  die  Überzeugung 
von  der  nationalen  Tüchtigkeit  und  Leistungsfähigkeit  des  polnischen  Volks, 
die  Hoffnung  auf  die  Zukunft  der  pobiischen  Nation.  Massoivs  Buch,  das 
nunmehr  in  der  zweiten  Auflage  erschienen  ist,  und  dem  wir  im  Interesse 
des  Deutschtiuns  eine  lange  Reihe  von  Auflagen  wünschen,  hat  auch  die 
deutsche  Literatur  zur  Polenfi'age  wieder  auf  eine  breitere  Basis  gestellt. 
Zunächst  hat  dann  Heinrich  Geffcken"^)  die  Frage  wieder  als  eine  deutsche 
imd  nicht  nur  preußische  behandelt.  Dann  sind  eine  große  Zahl  von 
Broschüren  und  Zeitungsartikeln  gefolgt,  und  das  Interesse  wurde  so  rege, 
daß  auch  in  der  bayrischen  und  in  der  sächsischen  Presse  die  Polenfrage 
von  russischer  Seite  aus  betrachtet  wurde.  Das  aber  geschah  erst  im 
Jahre  1906  —  das  ist  zwei  Jahre  nach  Eingabe  der  Denkschrift  des 
Grafen  Tyszkieivicz  an  den  Fürsten  Stvjatopolk-  Mirshi!  (vgl.  „Wünsche 
der  Polen". 

Inzwischen  wurde  die  Lücke,  die  wir  anfänglich  erwähnten,  nicht 
gefüllt,  eine  allseitige  Betrachtung  und  Darstellung  der  Polenfrage  ist  in 
der  deutschen  Literatur  bisher  noch  nicht  erfolgt.  Wir  ahnen,  was  hinter 
dem  „Noch  ist  Polen  nicht  verloren ! "  steht,  aber  wir  wissen  es  nicht  auf 
Grund  positiven  Materials.  Wir  ahnen,  aber  wir  glauben  es  nicht.  Wir 
wissen,  daß  die  Polen  in  Österreich  eine  bedeutende  politische  Rolle  spielen, 
wir  wissen  seit  Ausbruch  der  russischen  Revolution  auch  von  den  Polen 
selbst,  was  sie  glauben  in  Rußland  erreichen  zu  können.    Aber  wir  trösten 


')  Vgl.  Massow,  „Die  Polennot  in  der  deutschen  Ostmark'-,  2.  Aufl.   Berlin,  Alexander 
Duncker,  1907.     S.  220. 

*)  „Preußen,  Deutschland  und  die  Polen."  Berlin,  Vossische  Buchhandlung,  1906. 


8  Erstes  Kapitel.    Vorbemerkungen 


uns  gern  damit:  Rußland  wird  den  Polen  niemals  erlauben,  sich  selbständig 
zu  machen!  Rußland  ist  stark,  es  stellt  56  Millionen  Vollblutrussen  gegen 
10  Millionen  Polen.  Und  wir  kehren  beruhigt  zu  unsrer  alten  Praxis  zurück 
und  erklären,  daß  uns  die  Polenfrage  außerhalb  Preußens  nichts  angeht. 

C.   Die  Bedeutung  der  Kongreßakte  von  1815 

Ist  das  nun  der  Fall?  Geht  uns  die  politische  Bewegung,  die  kulturelle 
und  wirtschafthche  Entwicklung  der  Polen  im  russischen  Reiche  wirklich 
nichts  an? 

Für  den,  der  die  bindenden  Abmachungen  des  Wiener  Kongresses 
als  unabänderlich  und  unverrückbar  betrachtet,  scheint  es  tatsächlich  so. 
Aber  sind  denn  nach  menschlichem  Ermessen  jene  Bestimmungen  wirklich 
unverrückbar?  Gibt  es  wirklich  keine  Elemente,  die  es  im  Gegenteil  zur 
Aufgabe  der  Kongi'eßstaaten  machen  könnten,  die  im  Jahre  1815  getroffnen 
Verabredungen  als  unlialtbar  für  ungiltig  zu  erklären?  Wir  meinen,  es 
gibt  in  der  Praxis  des  Völkerlebens  keinen  Vertrag,  kein  Gesetz,  keine 
Sitte  selbst,  die  nicht  in  jedem  Augenblick  der  Gefahr  der  Veränderung 
ausgesetzt  sind.  Solange  Menschen  leben  und  arbeiten,  solange  Staaten 
sich  entwickeln,  solange  in  der  Menschheit  jene  Bewegung  besteht,  die 
schlechthin  Fortschritt  genannt  wird,  so  lange  werden  und  können  poUtische 
Verträge  auch  nur  bedingte  und  zeitlich  begrenzte  Geltung  haben.  Man 
nenne  uns  auch  nur  einen  der  vielen  „auf  ewig"  abgeschloßnen  Verträge, 
der  nicht  entweder  gebrochen  oder  aufgehoben  oder  verändert  wurde. 
Jeder  politische  Vertrag  trägt  ebenso  wie  jedes  Werk  der  Natur  den  Keim 
seiner  Auflösung  in  sich.  Genau  von  solchem  Standpunkt  aus  dürfen  auch 
nur  die  die  Teilung  Polens  bekräftigenden  Vereinbarungen  des  Wiener  Kon- 
gresses betrachtet  werden. 

Am  Wiener  Kongreß  waren  außer  Preußen,  Österreich  und  Rußland, 
die  den  Vertrag  unterzeichneten,  auch  die  Polen  beteiligt,  die  zur  Zeich- 
nung des  Vertrages  nicht  berufen  waren.  Die  Polen  —  und  zwar  nicht 
die  preußischen  oder  österreichischen  oder  russischen  Polen,  sondern  die 
Polen  als  geschlossene  Partei,  als  Idee.  Die  bunten  Linien,  die  der  Wiener 
Kongreß  auf  die  Landkarte  Osteuropas  gezogen  hat,  haben  die  unterliegende 
Partei  nicht  in  drei  Teile  gespalten,  sondern  sollten  erst  die  äußere  Mög- 
lichkeit für  eine  solche  Spaltung,  für  die  Zerstörimg  der  polnischen  natio- 
nalen Idee  schaffen.  Der  Wiener  Kongreß  hat  die  Polen  drei  verschiednen 
Lehrmeistern  übergeben  in  der  Hoffnung,  jeder  von  ihnen  würde  den  ihm 
zugewiesnen  Teil  derart  bearbeiten  und  umformen  können,  daß  er  die 
Interessengemeinschaft  mit  den  andern  Teilen  zugunsten   jeder   der   drei 


C.  Die  Bedeutung  der  Kongreßukte  von  1815  9 

Teilung-smächte  aufgeben  würde.  Wir  wissen  —  die  Polen  sagen  es  uns 
täglich  — ,  daß  dio  Hoffnung  sich  nach  einer  mühevollen  Arbeit  von  drei 
Menschcnaltern  nicht  erfüllt  hat.  Den  drei  Teilungsmächten  steht  die  im 
Jahre  1815  scheinbar  cndgiitig  unterlegne  Polcnpartoi  nach  wie  vor  ge- 
schlossen gogouübor. 

Diese  Tatsache  stellt  uns  vor  dio  Frage,  welche  Umstände  und  Elemente 
diesen  Fohlschlag  bewirkt  haben.  Wir  ktinnon  darauf  nur  mit  Herrn 
Professor  Schmoller^)  antworten:  die  Teilung  Polens  war,  vom  Standpunkt 
der  Wissenschaft  aus,  ein  schwerer  Fciilgriff.  Ein  mechanisches  Gefüge 
läßt  sich  wohl  auf  mechanischem  Wege  zerlegen,  nicht  aber  ein  geistiges, 
eine  Idee!  Der  polnische  Staat  konnte  von  den  physisch  starkem  Nach- 
barn staatsrechtlicii  zertrümmert  werden,  nicht  aber  der  nur  scheinbar 
erloschne  Staatsgedanke,  der  auf  einer  Geschichte  von  acht  Jahrhunderten 
beruhte.  Im  Gegenteil,  das  Flämmchen  der  national-polnischen  Staatsidee, 
das  im  alten  Privilegienstaat  kein  Licht  zu  spenden  vermochte,  hat  sich 
erst  auf  den  Trümmern  dieses  verpesteten  Organismus  zu  dem  lodernden 
Flammenmeer  entwickeln  können,  das  nun  die  ehemals  polnischen  Lande 
durchbraust.  Die  Teilung  Polens  hat  den  Zusammenschluß  aller  Polen  um 
die  nationale  Staatsidee  zur  Folge  gehabt,  und  der  Möglichkeit  eines  solchen 
Zusammenschlusses  nicht  genügend  Rechnung  getragen  zu  haben,  das  ist 
der  Fehler  der  Teilungsmächte.  Aber  das  Vergehen  gegen  die  wissenschaft- 
liche Logik  war  eine  politische  Notwendigkeit  —  ein  Akt  der  Notwehr 
Preußens,  der  durch  die  Vorgänge  im  ersten  Viertel  des  neunzehnten  Jahr- 
hunderts vollauf  gercciitfertigt  wurde.  Man  vergegenwärtige  sich  allein, 
welche  Folgen  für  das  Deutschtum  daraus  entstanden  wären,  wenn  Napoleon 
im  Jahre  1812  nicht  hätte  nach  Moskau  zu  ziehen  brauchen!  Das  Vor- 
handensein eines  ungeteilten  Polenreiches  hätte  ihn  von  jener  Notwendig- 
keit vielleicht  entbunden!?  —  Welche  Perspektiven  eröffnet  aber  dieser 
Hinweis  mit  Rücksicht  auf  die  Entwicklung  der  europäischen  Kultur? 
Durch  die  Teilungen  wurde  ein  durcii  und  durch  verseuchter  Organismus 
von  aktiver  Mitwirkung  an  kultureller  und  politischer  Arbeit  fern  gehalten, 
ohne  daß  dem  polnischen  Volk  die  Möglichkeit  genommen  werden  konnte, 
sich  national  und  kulturell  zu  entwickeln.-)  Vielleicht  werdest  spätre ijolnische 
Historiker  den  ihnen  heute  als  Vergewaltigung  erscheinenden  Vorgang  als 
eine  Notivendigkelt  und  als  ein  Olilck  für  die  polnische  Nation  preisen. 


*)  Rede  im  HeiTeuhause  1902. 

')  Im  Laufe  der  folgenden  Ausführungen  soll  untei-sucht  wei-dou,  ob  die  Polen  von 
dieser  Möglichkeit  auch  tatsächlich  Gebrau'ih  machen  konnten,  und  ob  die  Teilungen  auf 
ihre  Kultur  schädlich  oder  nützlich  eingewirkt  haben.  Hier  interessiert  einst^\'eilen  nur 
die  politische  Seite  der  Frage. 


10  Erstes  Kapitel.    Vorbemerkungen 

D.   Die  politische  Lage  der  Polen 

Ist  luiu  aber  gegenüber  dem  Zusammenschluß  der  Polen  auch  die 
Einigkeit,  das  will  sagen:  die  Interessengemeinschaft  der  drei  Teilungs- 
mächte  entsprechend  enger  geworden  oder  wenigstens  so  eng  geblieben, 
wie  sie  im  Jaiire  1815  war?  Die  Frage  muß  verneint  werden.  Das  wich- 
tigste Bindemittel  der  Heiligen  Allianz,  ein  Napoleon  Bonaparte,  fehlt.  Nur 
Deutschland  und  östeireich  sind  nach  Überwmdung  der  Krisis  in  den 
18G0er  Jahren  politisch  verbündet;  Rußland  ist  dagegen  an  die  Seite  des 
früher  gemeinsamen  Feindes  getreten.  In  Rußland  und  Österreich  aber 
gibt  es  mächtige  politische  Gruppen,  die  in  dem  erstarkten  Deutschtum 
einen  schlimmen  Feind  ihrer  Interessen  erkennen. 

Zwischen  Rußland  und  Preußen -Deutschland  ist  sogar  in  gewissem 
Sinne  der  alte  durch  Petere  des  Ersten  Testament  geschaffne  Antagonismus 
wieder  offenbar  geworden.  Schon  1816  trat  er  auf  wirtschaftspolitischera 
Gebiet  zutage,  als  es  galt,  die  Bestimmungen  des  Schlußsatzes  der  Wiener 
.Akte  in  der  Praxis  durchzuführen.  Zwar  brachte  der  Handelsvertrag  von 
1818  einen  Ausgleich,  aber  schon  1822  ließ  Rußland  durch  seine  Zoll- 
politik, die  Preußen  den  polnischen  Markt  teilweise  verschloß,  durchblicken, 
daß  es  nicht  gewillt  sei,  die  Abmachungen  der  "Wiener  Akte  zu  halten, 
wo  diese  es  Preußen  ermöglichen  könnten,  wirtschaftlichen  oder  gar  poli- 
tischen Einfluß  auf  Russisch -Polen  zu  gewinnen.^)  Diese  Rivalität  hat 
sich  im  Laufe  der  Jahre  nur  scheinbar  und  vorübergehend  verringert.  Sie 
fand  Ende  der  1880  er  Jahre  ihren  schärfsten  Ausdruck  im  Verbot  der 
Ansiedlung  von  Ausländem  im  Zartum  Polen  sowie  in  den  Bestimmungen, 
die  forderten,  daß  die  Leiter  von  Aktienunternehmungen  russische  Unter- 
tanen sein  mußten,^)  beides  Maßregeln,  die  sich  in  allererster  Linie  gegen 
das  deutsche  Element  richteten. 

Die  Partei  der  Kongreßmächte  erscheint  somit  durchaus  nicht  mehr 
als  eine  festgefügte,  der  Polenpartei  geschlossen  gegenüberstehende.  Es 
sind  vielmehr  organische  Veränderungen  in  ihr  eingetreten,  die  mehr  oder 
weniger  dringend  nach  politischer  und  daraus  folgernd  nach  einer  staats- 
und  völkeiTechtlicheu  Anerkennung  streben.    Darf  nun  aus  diesen  Tatsachen 


*)  Vgl.  auch  Massow,  S.  127  ff. 

^)  Diese  Bestimmungen  haben  dazu  geführt,  daß  im  Jahre  1904  von  2919  Direktoren 
im  Zartum  Polen  Staatsangehörige  waren:  136  deutsche,  51  österreichische,  16  französische, 
5  belgische,  7  englische,  13  andre,  aber  2692  russische;  von  3962  Meistera  waren  439 
deutsche,  219  österreichische,  43  französische,  17  belgische,  26  englische,  24  andre  und 
3194  russische.  Ein  Unterschied  zwischen  Polen  und  Russen  ist  nicht  gemacht.  Es  kann 
angenommen  werden,  daß  von  den  russischen  Staatsangehörigen  2000  ehemalige  Ausländer 
und  nur  692  eingese.ssene  Polen  und  Russen  sind.  (Arbeiten  d.  "Warschauer  Statist.  Komm, 
von  1907,  Heft  29.  S.  97.) 


D.  Die  politische  Lage  der  Polen.  —  E.  Menschenrecht  JJ 

noch  nicht  gefolgert  werden,  daß  eine  der  Kongreßmächte  sich  offen  auf  die 
Seite  der  Polen  stellen  muß,  so  darf  dennoch  nicht  übersehen  werden,  daß 
durch  die  veränderte  Interessengruppierung  den  politischen  Führern  der  Polen 
einerseits  die  Möglichkeit  gegeben  wird,  für  ihre  Aufgaben  das  Feld  besser 
vorzubereiten,  als  es  vor  drei  Menschenaltern  der  Fall  war,  und  daß  sich 
andrerseits  einer  der  Vertragsst<aaten  auf  die  Seite  der  Polen  stellen  kann. 

Auch  bezüglich  der  innorpolitischen  Verhältnisse  bei  den  Vertrags- 
staaten sind  für  die  Wünsche  der  Polen  günstige  Veränderungen  eingetreten. 
Preußen,  ÖsteiTeich  und  seit  1905  auch  Rußland  sind  von  autokratisch 
regierten  Staatswesen  zu  Avenn  auch  nicht  gleichwertigen  konstitutionellen 
geworden  und  haben  den  Polen  in  ihren  Parlamenten  Sitz  und  Stimme 
eingeräumt.  Die  Polen  können  gegenwärtig  im  deutschen  Reichstag,  im 
preußischen  Herrenhaus,  im  preußischen  Landtag,  im  österreichischen 
Reichsrat,  im  galizischen  Landtag,  in  der  russischen  Reichsduma  ^)  sowie 
im  russischen  Reichsrat-)  ihre  Interessen  vertreten  und  dementsprechend  mit 
politischen  Parteien  auf  durchaus  gesetzlichem  Boden  Bündnisse  abschließen, 
die  direkt  gegen  die  Absichten  und  Ziele  der  Abmachimgen  des  Wiener 
Kongresses  gerichtet  sind.  Das  Zusammengehen  der  Polen  mit  der  Zentrums- 
partei und  der  Sozialdemokratie  in  Preußen-Deutschland  ist  bekannt,  ebenso 
die  Tätigkeit  des  Kolo  in  Österreich;  über  ihre  Verbindung  mit  den  ge- 
bildetsten Kreisen  in  Rußland  hat  uns  die  russische  Revolution  belehrt 
und  soll  weiter  unten  ausführlich  berichtet  werden. 

Es  ist  somit  auch  schon  bei  ganz  oberflächlichem  Hinschauen  offenbar, 
daß  viele  äußere  mit  der  Polenfrage  im  Zusammenhang  stehende  Momente 
sich  seit  1815  derart  geändert  haben,  daß  die  zur  Staatsbildung  treibenden 
Kräfte  im  polnischen  Volk  nunmehr  politische  und  technische  Hilfsmittel 
in  ihnen  finden  können,  die  ihren  Zielen  passiv  und  aktiv  entgegenzu- 
kommen scheinen.  Die  Frage  ist  nun  nicht,  oh  sich  die  Polen  dieser  Hilfs- 
mittel bedienen  wolle^i,  sondern  oh  sich  die  Hilfsmittel  hereits  so  weit  ent- 
tüicJcelt  hahen,  daß  die  Polen  über  sie  mit  Erfolg  für  ihre  Sache  verfügen 
könnten.  Wir  nehmen  somit  die  Absicht  der  Polen,  einen  eignen  Staat  zu 
gründen,  als  feststehende  Tatsache  an. 

E.  Menschenrecht? 

Wir  wollen  somit  nicht  Fragen  des  herrschenden  Rechts  untersuchen, 
sondern  lediglich  die  Elemente,  aus  denen  dieses  herrschende  Recht  seine 


')  In  der  ersten  Duma  waren  51,  in  der  zweiten  46.  in  der  dritten  17  polnische 
Abgeordnete. 

*)  Als  Vertreter  von  Handel  und  Industrie,  wenn  nicht  ein  Deutscher  oder  Jude 
gewählt  wird. 


\2  Erstes  Kapitel.    Vorbemerkungen 

Autorität,  seine  Lebenskraft  zieht.  Das  geltende  Recht  ist  aber  ein  Kom- 
promiß zwischen  den  Anschauungen  und  Bedürfnissen  derer,  die  sich  ihm 
untorwoifen.  Über  dorn  Recht  der  Einzehien  steht  das  Recht  des  Staats, 
und  über  dem  Recht  der  Staaten  steht  das  ungeschriebne  Recht  der  Mensch- 
heit, das  unter  ungesunden  Verhältnissen  als  Auflehnung  gegen  die  be- 
stehende Ordnung  zum  Ausdruck  kommt.  Bei  diesem  Kompromiß,  der 
das  geltende  Recht  heißt,  wird  es  immer  Minderheiten  geben,  die  sich 
dem  Kompromiß  nur  mit  innerm  Widerstreben,  nicht  der  Innern  Über- 
zeugung, sondern  äußerm  Zwange  folgend,  angeschlossen  haben.  Solchem 
äußern  Zwange,  den  wir  gern  die  Macht  der  Verhältnisse  nennen,  sind 
auch  die  Polen  gewichen,  und  da  sie  die  neuen  staatsrechtlichen  Verhält- 
nisse nicht  anerkennen,  haben  sie  sich  seit  Zertrümmerung  ihres  Staats 
unter  das  allgemeine  Menschenrecht  gestellt.  Jetzt  suchen  sie  demgemäß 
außerhalb  des  Rechts  der  bestehenden  Staaten  und  im  eingestandnen 
Widerspruch  mit  diesem  Recht  nach  Bundesgenossen,  die  ihnen  helfen 
könnten,  sich  einen  eignen  Staat  zu  schaffen  —  einen  Staat,  dem  sie  ihr 
persönliches  Recht  zwanglos  unterordnen  wollen. 

In  welcher  Richtung  wirkt  nun  die  Macht  der  Verhältnisse?  Haben 
die  Polen  zunächst  eine  historische  Berechtigung,  solche  Ziele  zu  ver- 
folgen?   Haben  die  Ziele  Aussichten  auf  praktischen  Erfolg? 

Der  Historiker  kann,  unter  Hinweis  auf  die  Gründe  zum  Untergang 
des  alten  Polens,  sagen:  nein!  denn  sie  haben  ja  durch  ihre  eigne  Un- 
fähigkeit den  Staat  zerstört.  Derselbe  Historiker  kann  aber  auch  sagen: 
ja!  denn  der  Eingiiff  Rußlands  und  Preußens  im  achtzehnten  Jahrhundert 
hat  das  polnische  Volk  verhindert,  den  Weg  der  Entwicklung  zum  Kultur- 
staat zu  Ende  zu  schreiten.^)  Diesen  Standpunkt  verti-eten  vor  allen  Dingen 
die  polnischen  Staatsrechtshistoriker,  die  in  der  Konstitution  vom  3.  Mai 
1791  die  Basis  für  die  Möglichkeit  einer  gesunden  Entwicklung  Polens 
erkennen.  Es  handelt  sich  hier  nicht  darum,  zu  beweisen,  ob  eine  solche 
Auffassung  richtig  ist.  Es  gilt  lediglich  festzustellen,  daß  sie  als  Sammelpunkt 
der  Fi-eunde  der  polnischen  Staatsidee  vorhanden  ist.  Sie  stellt  die  Reaktion 
des  Teils  dar,  der  sich  seinerzeit  am  Kompromiß  nur  gezwungen  beteiligte, 
als  den  wir  die  dui'ch  die  Teilung  Polens  geschaffnen  Rechtsverhältnisse 
auffassen.  Die  Polen  wünschen  die  Auflösung  jenes  Kompromisses  und 
sciilagen  einen  andern  vor,  der  nun  aber  nicht  auf  ihre  Kosten,  sondern 
auf  Kosten  der  Teilungsmächte  neue  Rechtsnormen  schaffen  soll. 

Wie  aber  verhält  sich  das  Menschenrecht  zu  den  Zielen  der  Polen? 


M  Dr.  Stanislaw  Kutscheba,  „Geschichtliche  Entwicklung  des  polnischen  Staatsrechts'', 
St  Petersburg,  1907,  von  A.  S.  Ssuworin,  nissisch  von  N.  W.  Jastrebow.  —  Professor 
Oswald  Baltzer  —  seine  Aufsätze  im  „Kwartalnik  historyczny",  Lemberg,  1906. 


E.  Menschenrecht  18 


Das  Monschenrecht  ist  der  sich  ewig  selbsttätig  verändernde  Kompromiß 
zwischen  den  theoretischen  Kulturaiifgabon,  die  uns  die  geistigen  Großen  der 
Gesaratmenschheit  stellen,  und  unsern  Fähigkeiten,  diese  Kulturaufgaben  zu 
lösen.  Menschenrecht  ist  also  auch  das  Anrecht  auf  die  Kultur,  die  wir 
mit  den  Hilfsmitteln  unsrer  Zeit  zu  schaffen  vermögen.  Eines  dieser  Hilfs- 
mittel ist  aber  das  nationale  Empfinden,  in  dessen  Dienst  der  National- 
ciiarakter  und  die  Nationalspracho  stchn,  und  ein  erhabner  Ausdruck  unsrer 
Kultur  ist  der  nationale  Staat.  Der  nationale  Staat  ist  aber  auch  der 
materielle  Beweis  für  die  Kultiu-stufe,  auf  der  sich  das  Volk  befindet,  also 
eine  Sache,  die  Verkörperung  einer  Idee.  Und  das  Dichterwort  sagt: 
„Leicht  beieinander  wohnen  die  Gedanken,  doch  hart  im  Räume  stoßen 
sich  die  Sachen."  Das  heißt:  der  Weg  von  der  Staatsidee  zum  National- 
staat ist  der  geistige  und  materielle  Kampf  um  den  Nationalstaat  Im 
Kampf  um  die  nationale  Eigenart  wird  das  Recht  auf  sie  erworben.  Nie- 
mand aber  wird  so  kurzsichtig  und  ungerecht  sein,  einem  Menschen  wie 
auch  geringen  Gruppen  von  Menschen  die  Berechtigung  absprechen  zu 
wollen,  für  ihre  Kulturideale  und  für  deren  höchsten  sichtbaren  Ausdruck 
zu  kämpfen.  Im  Gegenteil  —  mögen  sie  kämpfen!  mögen  sie  arbeiten! 
sie  dienen  in  erster  Linie  doch  der  Gesamtkultur  der  Menschheit.  Wenn 
sie  aber  aus  dem  Kampf  als  Sieger  hervorgehn,  so  ist  das  kein  Unglück 
für  die  Menschheit,  sondern  höchstens  ein  solches  für  die  Unterliegenden, 
für  die  Schwächern.  Wir  räumen  somit  den  Polen  das  Recht  ein,  für  die 
Begründung  eines  Nationalstaats  zu  kämpfen. 

Wir  haben  "diesen  Ausflug  in  das  Gebiet  der  Rechtsphilosophie  unter- 
nommen, weil  Avir  auf  den  folgenden  Blättern  die  Polen  so  darstellen 
wollen,  wie  sie  uns  nach  sorgsamer  Prüfung  aller  der  sie  betreffenden 
Verhältnisse  erscheinen  —  als  eine  immer  wachsende  politische  Macht, 
die  in  erster  Linie  eine  Gefahr  darstellt  für  unser  Menschenrecht,  wie 
wir  es  als  Deutsche,  als  Träger  der  romanisch- germanischen  Kultur  auf- 
fassen, die  eine  Gefahr  ist  für  unsern  nationalen  Kulturstaat.  Worin 
diese  Gefahr  liegt,  hat  teilweise  Heinrich  Geffken  gezeigt.  Sie  zurückzu- 
drängen und  womöglich  zu  vernichten  ist  nicht  nur  unser  Recht,  sondern 
unsre  Pflicht.  Unser  Kampfmittel  ist  unsre  Kultur,  die  uns  so  lange  den 
Rechtstitel  für  imsre  Polenpolitik  gibt,  solange  sie  besser,  d.  h.  stärker  ist 
als  die  polnische. 


C6^<^^ 


Zweites  Kapitel 
Historisclies 

Die  Poleiifrage  in  Rußland  unterscheidet  sich  merklich  von  der  Polen- 
frage in  Preußen  und  Österreich.  In  den  beiden  deutschen  Staaten  trägt 
sie  einen  ausgesprochen  staatsrechtlichen  Charakter,  der  aus  der  Geschichte 
des  aufgelösten  polnischen  Reichs  und  aus  den  nationalen  Bestrebungen 
der  Polen  verhältnismäßig  einfach  zu  erklären  ist.  In  Rußland  tritt  das 
staatsrechtliche  Motiv  zurück  gegenüber  einem  sozial-ethischen,  das  heraus- 
gewachsen wt  aus  den  Beziehungen  des  ijolnischen  und  des  russischen  Volks 
zueinander.  Diese  Tatsache  findet  ihre  Begründung  in  der  außerordentlich 
großen  Bedeutung,  die  Fragen  der  Religion  und  Kirche  vom  Tage  des  Ent- 
stehns  des  polnischen  Reichs  an  sowohl  in  Rußland  wie  in  Polen  gehabt 
haben.  Die  beiderseitigen  Beziehungen  sind  von  vornherein  auf  geistiges 
Gebiet  geraten,  das  durch  keinerlei  politische  Abmachungen,  durch  keine 
auf  dem  Schlachtfelde  errungnen  Siege  geteilt,  zerstückelt,  chemisch  ver- 
nichtet werden  kann.  Im  Kampf  der  Geister  sind  Fragen  aufgeworfen 
worden,  die  vielleicht  aus  sich  heraus,  nicht  aber  einseitig  durch  die  äußer- 
liche Einwirkung  politischer  Vereinbarungen  zu  lösen  sind.  Solche  Fragen 
liegen  auf  dem  Gebiet  der  Religion  und  auf  dem  des  Rassenbewußtseins. 
Vom  Tage  der  Gründimg  Polens  an  finden  sie  ihren  Ausdruck  in  dem 
gegenwärtig  nur  scheinbar  beendeten  Kampf  der  griechischen  und  der  latei- 
nischen Kirche  und  seit  der  letzten  Teilung  Polens  in  der  Ausbreitung  und 
Vertiefung  des  allslawischen  Einigungsideals.  Aus  diesem  Boden  wachsen 
in  Rußland  erst  die  staatsrechtlichen  und  in  deren  Gefolge  die  wirtschaft- 
lichen Seiten  der  Polenfi-age  heraus.  Während  somit  der  geistige  Boden 
so  alt  ist  wie  die  Geschichte  der  Slawen,  erscheint  das  staatsrechtliche 
Motiv  erst  mit  den  Teilungen  Polens  und  bekommt  eine  festgefügte  Form 
gar  erst  durch  die  Satzungen  der  Wiener  Kongreßakte.  Durch  die  Ab- 
machungen des  Wiener  Kongresses  wird  die  russische  Polenfrage  für  uns 
zu  einem  Bestandteil  der  preußischen  —  von  dieser  zweiten  getrennt 
ledigüch  durch  die  politische  Grenze,  die  an  der  Ostseite  der  preußischen 
Monarchie  entlangläuft. 


A.  Die  Beziehungen  zwischen  Polen  und  Russen  15 

Aus  solchen  Auffassunf>en ,  die  sich  vor  allem  durch  das  Studium 
lussischer  Quollen  ^^ebildet  haben,  leiten  wir  die  Notwendigkoit  her,  die 
historischen  Grundlagen  der  Polonfrage,  wie  sie  in  der  Gegenwart  aufge- 
worfen wird,  nicht  nur  dort  zu  suchen,  wo  sie  uns  die  politische  Geschichte 
des  polaischen  Volks  zeigt,  sondern  vorwiegend  in  den  sich  meist  als 
Nebenei*schcinungen  konnzeichnenden  geistigen  Kämpfen. 

A.  Die  Beziehungen  zwischen  Polen  und  Russen 

1.  Allgemeine   V^erhültnisse 

Über  die  ältesten  Beziehungen  zwischen  West-  und  Ostslawen  oder 
Polen,  Russen,  Litauern,  Masaren  wissen  wir  so  gut  wie  nichts.  Die  Ge- 
schichtsforschung kann  darüber  keine  authentischen  Nachrichten  geben.  Die 
deutschen  Handolsinterossen  waren  während  der  Heidenzeit  noch  nicht  so 
weit  ins  Innere  der  slawischen  Lande  vorgeschoben,  als  daß  sie  eine  nähere 
Kenntnis  der  dortigen  Verhältnisse  notwendig  machten.  Andre  Interessen 
aber  gab  es  bis  tief  ins  zehnte  Jahrhundert  hinein  nicht.  Erst  durch  die 
Slawenbekehrer  des  zehnten  Jahrhunderts  wird  uns  einiges  über  die  Be- 
ziehungen zwischen  den  polnischen  und  den  russischen  Stämmen  mitgeteilt. 
Diese  ersten  Mitteilungen  betreffen  aber  die  Zeit,  da  bei  den  einzelnen 
Stämmen  der  beiden  großen  Völker  Anfänge  der  Staatenbildung  erkennbar 
sind.  Staatenbildung  heißt  aber  Abgrenzung  temtorialer  Interessengebiete. 
Darum  gehn  wir  nicht  fehl,  wenn  wir  annehmen,  daß  die  ersten  ständigen 
Beziehungen  zwischen  russischen  und  polnischen  Stämmen  vorzugsweise 
auf  Grenzstreitigkoiten  der  einzelnen  Mächtigen  beruhten,  die  zu  kriege- 
rischen Unternehmungen,  aber  auch  zu  Bündnisverträgen  und  ehelichen 
Verbindungen  der  streitenden  Teile  führten.  Eine  natürliche,  instinktive 
Abneigung  hat  nach  den  vorliegenden  historischen  Forschungen  zwischen 
polnischen  und  russischen  Stämmen  auch  in  der  ältesten  Zeit  Glicht  be- 
standen. Viel  eher  gab  es  eine  solche  zwischen  Litauern  und  Preußen 
auf  der  einen  und  Russen  und  Polen  auf  der  andern  Seite,  und  zwar 
hauptsächlich  wegen  der  Grausamkeit  der  beiden  zuerst  genannten  Völker. 
Wir  können  das  Verhältnis  der  beiden  großen  slawischen  Völker^)  unter 
Berücksichtigung    der  Gewohnheiten    jener  unkultivierten    Zeit    sogar    als 


*)  Bis  zur  Mitte  des  dreizehnten  Jalirhunderts  behielten  die  polnisch-russischen  Be- 
ziehungen den  oben  angedeuteten  Charakter  bei. 

Im  Jahre  981  sucht  Wladimir  von  Kijew  den  Polen  verschiedne  Gebiete  Rotrußlands 
abzunehmen.  1022  belagert  Jaroslaw  das  polnische  Brest,  um  1030  Frieden  zu  .schließen 
und  1031  wieder  in  Galizien  einzufallen.  Unter  Kasimir  (1041)  sehen  wir  dagegen  Russen 
und  Polen  gegen  Litauen  verbündet,  und  1043  heiratet  Kasimir  die  Schwester  Jaroslaws, 
während  1047   ein  Isjaslaw  die  Schwester  Kasimirs   freit.     Unter  Boleslaw  dem  Kühnen 


16  Zweites  Kapitel.    Histoi-ischos 


h-eundnachbarlich  bezeichnon.  Fi-eilich  fehlten  daneben  alle  Vorbedingungen 
für  einen  nähoiTi  Anschluß  aneinander.  Schon  die  Beschaffenheit  der 
Grenzgebiete  eisclnverte  den  engem  Zusammenschluß.  Zwischen  dem 
spätem  Idolen  und  Moskovvien  zogen  sich  die  undurchdringlichen  und 
nur  im  sti'engsten  Winter  gangbaren  Sumpfgebiete  des  Pripet  und  Njemen 
hin,  die  gleichzeitig  die  Wasserscheide  bildeten  für  die  nach  Süden  und 
Norden  sti'ömenden  einzigen  Verkehrsstraßen  der  Russen  und  für  die  nach 
Westen  und  Nordwesten  strömenden  der  Polanen  —  Polen.  Schließlich 
schoben  sich  aucli  noch  von  Norden  her  wie  ein  Keil  die  wilden  Litauer 
und  Jadwiger  zwischen  beide,  nach  beiden  Seiten  hin  Mord,  Brand  und 
Raub  ausbreitend.  Die  Handelsbeziehungen  waren  gering  und  beschränkten 
sich  fast  ausschließlicii  auf  den  Tauschhandel  in  den  Grenzgebieten.  Er 
mußte  seinerseits  wieder  um  so  geringfügiger  sein,  als  beider  Völker  Ge- 
biete annähernd  dieselben  Waren  hervorbrachten  —  Pelze,  Honig,  Wachs, 
Bast,  Harz,  Fische  und  ähnliches.  Der  Großhandel  wurde  nicht  durch 
Polen  und  Bussen,  sondern  durch  Griechen,  Juden,  Italiener  und  süd- 
deutsche Kaufleute  vermittelt.  Die  nordrussischen  Kaufleute  suchten  ihre 
Wege  und  Verbindungen  im  Norden;  Polen  lag  für  sie  abseits.  Auch  eine 
geistige  Verbindung  fehlte  vollständig.    Es  gab  somit  von  Anfang  an  keine 


nimmt  Polen  lebhaften  Anteil  an  den  "Win-en  in  Rußland,  hilft  Isjaslaw  zur  Erlangung  des 
Thrones  von  Kijew  und  bekriegt  Swjatoslaw.  Dann  wendet  mich  Isjaslaw  an  Heinrich  den 
Vierten,  iles  Polenkönigs  Feind,  was  wieder  zur  Folge  hat,  daß  Swjatoslaw  sich  mit  Boleslaw 
vereint  und  diese  gemeinsam  gegen  die  Tschechen  kämpfen.  Wir  sehen  somit,  daß  von 
einer  innorn  Abneigung  zwischen  Polen  und  Russen  zu  damaliger  Zeit  nicht  die  Rede  sein 
kann.  Da,s  Eingreifen  des  deutschen  Kaisers  Heinrich  hatte  aber  auch  zur  Folge,  daß  sich 
Gregor  der  Siebente  in  die  Angelegenheiten  mischte.  Für  seine  Hilfe  mußte  ihm  Isjaslaw 
geloben,  die  i-u-ssische  Kirche  Rom  zu  unterteilen,  was  dieser  niemals  hielt,  obwohl  er 
sich  zu  Brest  zum  König  von  päpstlichen  Gnaden  krönen  ließ. 

Im  Lavife  des  zwölften  .lahrhimderts  scheinen  die  russisch  -  polnischen  Beziehungen 
ganz  eingeschlafen  zu  sein;  wenigstens  hören  wir  davon  in  der  Geschichte  wenig.  Polen 
entwickelt  sich  unter  dem  immer  .stärker  werdenden  Zustrom  westeuropäischer  Kultur, 
Rußland  führt  mit  dem  Griechenkaiser  Krieg.  Eine  Literatur  gab  es,  abgesehen  von 
Kirchen  Schriften  polemischen  Inhalts,  bei  den  Russen  in  der  vormongolischen  Periode  nicht, 
■wenn  wir  von  zwei  größeren  Gedichten  absehen  wollen.  Das  eine  beschäftigte  sich  in- 
dessen mit  Kriegszügen  im  Südosten,  das  andre  enthält  eine  Kritik  der  Regierungsweise 
eines  rassischen  Füreten  in  satirischer  Form.  Also  —  Interessen  an  der  Westgrenze  sind 
in  der  Literatur  nicht  einmal  angedeutet.  Erst  um  die  Mitte  des  dreizehnten  Jahrhimdeils 
vereinten  sich  beider  Länder  Interessen  auf  Rotrußland,  was  zu  langwierigen  Kriegen 
führt.  Um  die  Mitte  des  vierzehnten  Jahrhundeits,  gefördert  durch  den  Einfall  der  Mon- 
golen, hat  sich  dann  endgiltig  das  vollzogen,  was  wir  schon  andeuteten.  Zwischen  Polen 
und  Rußland  hatte  sich  ein  Keil  geschoben  —  Westrußland  oder  Litauen.  Der  Schwer- 
punkt Rußlands  lag  nicht  mehr  in  Kijew,  sondern  in  Wladimir  und  später  in  Moskau, 
also  weit  im  Osten.  Damit  fielen  aber  die  direkten  Beziehungen  der  beiden  Völker  weg, 
und  alle  trennenden  Kräfte  auf  geistigem  Gebiet  konnten  die  längst  gesäte  Drachensaat 
der  Feindschaft  hegen  und  entwickeln. 


A.  Diu   lk'/.ii'liuiigon  zwLschüu  roleii   und  Iviisscn  17 


goraeinsaraen  Interessen,  aber  auch  wegen  des  gewaltigen  Umfangs  der  in 
Fi'age  stoheiuioii  (lebiete  keinen  gemeinsamen  Feind,  der  nicht  in  dei'selben 
Stunde  auch  der  gemeinsame  Freund  sein  konnte.  Diese  natürlichen  Ver- 
hältnisse schufen  von  vornherein  die  Vorhedingung  für  die  Verschieden- 
artigkeit kultureller  Empfänglichkeit  heider  Völker.  Die  Polen  konnten 
die  westeuropäische  Kultur  in  romanisch -germanischer  Sonderheit  direkt 
und  im  Zustande  einer  gewissen  hohen  Entwicklung  erhalten,  die  Russen 
erhielten  germanische  Kultur  ohne  den  romanischen  Einschlag  gesondert 
durch  Vermittlung  der  Waräger,  das  Christentum  dagegen,  losgeiissen  von 
dem  fruchtbaren  Boden  der  abendländischen  Kulturwelt,  unberührt  und 
unentwickelt  durch  das  römische  Recht.  Von  Norden  her  drang  eine  ab- 
sterbende heidnische,  von  Süden  eine  in  der  Entwicklung  stclin  gebliebne 
christliche  Kultur  nach  Rußland.  Daß  sie  beide  dennoch  einen  Fortschritt 
bringen   konnten,  lag  an  der  Rückständigkeit  der  russischen  Völker. 

2.  Die  Einführung  des  ChHstentums 

Die  kurz  skizzierten  Vorbedingungen  haben  dazu  geführt,  daß  Rußland 
und  Polen  das  Christentum  wohl  zu  gleicher  Zeit,  aber  doch  in  verschiedner 
Form  erhielten.  Das  Christentum  konnte  somit  nicht  einigend  wirken,  son- 
dern mußte  im  Gegenteil  die  an  und  für  sich  schon  vorhandne  Abwesen- 
heit gemeinsamer  Interessen  noch  bis  zu  völliger  Entfremdung  ve)-größern. 

Das  Christentum  ist  nach  Rußland  und  Polen  auf  zwei  verschiednen 
AVegen  gekommen.  Von  Griechenland  aus  über  die  reichen  Handelsstätten 
der  Schwarzmeerküste  und  von  Italien,  die  Donau  hinunter  oder  entlang 
an  den  Küsten  der  Baltik.  Entsprechend  der  Vei-schiedenheit  dieser  Wege 
ist  auch  die  Art  verschieden  gewesen,  in  der  es  angeboten  wurde.  Nach 
den  russischen  Quellen  ei-scheinon  ims  die  ei*sten  griechischen  Apostel  als 
von  der  Politik  unberührte  Glaubenseifeier*);  aus  römischen  Quellen  ersehen 
wir,  daß  die  Lateiner  in  ihrem  Verkehi-  mit  den  Machthabem  mit  der  An- 
nahme des  Christentiuns  nach  ihrem  Ritus  politische  Geschäfte  verbanden.*) 
Die  Abgesandten  des  römischen  Papstes  und  des  griechischen  Patriarchen 
trafen  sich  am  Hofe  Wladimirs  zu  Kijew  und  zu  Korssunj  in  der  Krim 
fast  zu  gleicher  Zeit  (962).  Die  päpstlichen  stellten  mit  der  Annahme 
ihres  Glaubens  politische  Vorteile  in  Aussiclit,  die  der  Papst  glaubte  den 
Russen  ebenso  anbieten  zu  können  wie  den  Deutschen;  die  Byzantiner 
begnügten  sich  dagegen,  auf  den  ideellen  Wert  ihrer  Lehre  hinzuweisen.  — 
Die  Lateiner  mußten  unveiTichtetei"  Dinge  heimziehn,  die  Byzantiner  aber 


')  Ssolowjow.  Ueschichte  Kaßhuids,  29  Bde.    Bd.  1,  S.  163  ff. 
*)  Pierling,  La  Russie  et  le  Saint -Siege,  3  Bde.    Bd.  1,  Einfüluuug. 
Cleinow.  Hie  Znkiiufr  Polen.s  2 


18  Zweites  Kapitel.   Historisches 

durften  ihre  Lehre  unter  dem  Schutz  des  Staates  verkünden.  Wladimirs 
Übertritt  zum  Christentum  im  Jahre  988  spielte  sich  unter  älinlichen  Be- 
dingungen ab  wie  der  des  Kaisers  Konstantin.  In  seinen  Landen  war 
aber  die  orthodoxe  Lehre  zu  dieser  Zeit  schon  längst  bekannt,  und 
tief  bis  nach  Galizien  hinein  beteten  die  Rotrussen  neben  den  Heiden- 
göttern auch  den  neuen  Gott  nach  griechischem  Ritus  an.  Wladimir  hat 
dann  die  neue  Lehre  innerhalb  seines  Reiches  mit  Feuer  luid  Schwert 
an  den  Flüssen  entlang  nach  forden  bis  Nowgorod  getragen,  um  die 
Sendlinge  Roms  und  deren  Tätigkeit  in  Polen,  also  außerhalb  seines  Landes, 
hat  er  sich  nicht  gekümmert.  Er  hat  sogar  dem  römischen  Heidenbekehrer 
Bonifazius  (Brunns)  bei  seinem  Bekehrungszug  gegen  die  Petscheneger 
geholfen.^) 

In  den  großen  Handelsstädten  Kijew,  Pskow,  Nowgorod  durften  sich 
die  ausländischen  Kaufleute  Kirchen  bauen  und  eigne  Priester  halten.  Von 
Anfang  an  war  also,  das  sei  hervorgehoben,  die  Verschiedenheit  des  Glaubens- 
bekenntnisses dem  russischen  Volke  kein  Grund  zur  Feindschaft  gegen  Aus- 
länder. Aber  von  seinen  Angehörigen  forderte  der  russisclie  Staat  unbe- 
dingt die  Unterwerfung  unter  die  Lehre  der  Staatskirche.  Auch  sonst 
haben  die  Russen  keine  Kriegszüge  zur  Ausbreitung  des  orthodoxen  Glaubens 
bei  den  ihnen  benachbarten  Völkern  geführt.  So  haben  sie  die  Polotzker,  die 
Esten,  Liven  und  Kuren  streitlos  den  römischen  Priestern  überlassen.'-) 


')  Übereinstimmend  dargestellt  bei  Golubinski,  Kirchengeschichte,  Bd.  I,  Teil  2,  S.  221, 
und  bei  Pierling,  Bd.  I,  S.  X. 

^)  Im  Jahre  1158  ei-schien  ein  Bremisches  Schiff  an  der  Mündung  der  Düna.  Die 
Bremer  Kaufleute  knüpften  mit  Erfolg  Handelsbeziehungen  an  und  suchten  diese  zu  einer 
regelmäßigen  Vei'bindung  auszugestalten.  Mit  Erlaubnis  der  Bewohner  wurde  zu  diesem 
Zweck  ein  befestigter  Platz  (ÜxIcüU,  unweit  Riga,  oberhalb  an  der  Düna)  und  in  ihm  ein 
beständiges  Handelskontor  angelegt.  Auf  das  neu  entdeckte  heidnische  Land  richtete  der 
Erzbischof  von  Bremen  seine  Aufmerksamkeit  und  beschloß,  es  zum  Christentum  zu  bekehren. 
Mit  Genehmigung  des  Papstes  Alexander  des  Dritten  wurde  als  Missionar  der  Kanoniker  des 
Augustinerordens  Meinhardt  doi-thin  beordert.  Meinhardt  erhielt  vom  Fürsten  von  Polotzk 
die  Genehmigung,  unter  den  Heiden  zu  predigen.  Anfänglich  hatte  er  auch  einigen  Erfolg, 
sodaß  er  für  die  Bekehrten  in  dem  schon  genannten  befestigten  Platz  ÜxküU  eine  Kirche 
bauen  konnte.  Als  er  aber  (1188)  von  einer  Reise  zur  Erlangung  der  Bischofswürde  zurück- 
kehrte, fand  er  die  Eingebornen  in  feindlicher  Stellung.  Er  wandte  sich  um  Hilfe  an  den 
Papst,  der  einen  Kreuzzug  gegen  die  Heiden  anordnete.  Als  die  Kreuzritter  anlangten, 
fanden  sie  Meinhardt  nicht  mehr  am  lieben,  er  war  1196  gestoi'ben.  Sie  warteten  danun 
die  Ankunft  eines  neuen  Bischofs  ab,  des  aus  den  Zisterziensei-n  hervorgegangnen  Berthold 
von  Loccum.  Anfangs  beredete  Berthold  die  Heiden,  freiwillig  das  Christentum  anzu- 
nehmen. Als  seine  Ermahnungen  aber  fruchtlos  bUebeu,  beschloß  er,  sie  mit  Gewalt  dazu 
zu  zwmgeu.  Im  Jahre  1198  fand  zwischen  den  Ea-euzrittern  und  den  Eingebornen  eine 
Schlacht  statt,  in  der  die  Kreuzritter  einen  entschiedeneu  Sieg  erfochten,  wenngleich 
Berthold,  der  Ordensmeister,  fiel.  Infolgedessen  konnten  zunächst  nur  die  Liven  gezwungen 
werden,  sich  taufen  zu  lassen  und  Priester  anzunehmen.  An  die  Stelle  Bertliolds  wurde 
der  berühmte  Bremische  Kanoniker  Albert  von  Apeldern  zum  Bischof  von  Cxküll  ernannt. 


A.  Die  Beziehiiugen  zwischen  Polen  und  Russen  19 

Später  freilich  haben  sie  sich  gegen  das  Yordringen  fremder  Bekennt- 
nisse energisch  gewehrt  und  sind  auch  von  der  Verteidigung  zum  Angriff 
übergegangen,  wenn  die  religiöse  Propaganda  der  Lateiner,  z.  B.  der  Domini- 
kaner in  Kijew,  Interessen  des  weltlichen  Staats  zu  berühren  schien.  Dm'ch 
solche  territoriale  Beschränkung  auf  rein  russische  Völkerschaften  hat  der 
orthodoxe  Glaube  in  Eußland  von  vornherein  einen  durchaus  nationalen 
Charakter  angenommen  und  der  Geistlichkeit  den  unverwischbaren  Stempel 
aufgedrückt,  den  sie  noch  heute  trägt.  Dieser  Sonderheit  wurde  noch  dui'ch 
den  Umstand  Vorschub  geleistet,  daß  die  Russen  besondre  Schriftzeichen 
von  den  Südslawen  annahmen. 

In  Polen  nahmen  die  Olauhensangelegenheiten  einen  andern  Verlauf. 
Der  Haupteinbnich  des  Christentums  in  die  polnische  Masse  fand  von 
Mäliren  aus  auf  der  Handelsstraße  von  Prag  nach  Kijew ^)  statt,  sowohl 
durch  Sendlinge  Roms  wie  auch  durch  solche  von  Byzanz.  Obwohl  die 
lateinische  Lehre  infolge  des  tatkräftigen  Eingreifens  der  Päpste  mizAveifel- 
haft  von  vornherein  den  größten  Einfluß  gewann,  Lieben  es  die  Modernen 
unter  den  liberalen  Slawen,  der  Tätigkeit  der  griechischen  Mönche  KyriU 
und  Methodius  eine  ganz  besondre  Bedeutung  beizumessen.^)  Da  diese 
Frage  vorwiegend  auf  dem  Gebiete  der  Theorie  liegt,  ist  sie  für  uns  einst- 
weilen unerheblich.  Dagegen  ist  wichtig,  festzustellen^  daß  die  römische 
Lehre  in  Polen  Eingang  fand.,  als  sich  der  polnische  Herrscher  Mscislaiv 
der  Erste  (von  960  etiva  bis  992)  unter  den  Schutz  eines  Mächtigern 
stellen  mußte,  um  sich  die  politische  Selbständigkeit  gegenüber  dem  deut- 
schen Kaisertum  zu  ivahren.  Dieser  Mächtigere  aber  war  der  Papst.  Im 
Gegensatz  zu  dem  orthodoxen  Bekenntnis  in  Rußland  wurde  das  römische 


Er  gründete  im  Jahre  1200  an  Stelle  des  befestigten  Orts  an  der  Mündung  der  Düna 
eine  ordentliche  Stadt,  Eiga.  Da  er  sich  auf  die  üntei-stützung  der  Ritter  nicht  immer 
verlassen  konnte,  beschloß  er,  einen  besondern  Orden  zu  gründen,  der  vom  Papst  bestätigte 
und  im  Jahre  1202  gegründete  Orden  der  Schwertbiüder  (Schwertorden).  Überhaupt  hat 
Albert  während  der  dreißig  Jalire  seines  Bistums  (f  1229)  den  Katholizismus  \md  die  Macht 
der  Deutschen  unter  den  finnischen  Völkerschaften  der  baltischen  Provinzen  fest  begründet. 
Im  Jahre  1218  wurden  die  Semgaller  oder  Semigaller  (Simjegola  in  den  russischen  Annalen) 
getauft  und  für  sie  ein  besondres  bischöfliches  Katheder  in  Selon  gestiftet.  Mit  Hilfe  des 
Dänenkönigs  Waldemar  des  Zweiten  zwacg  Albert  die  Esten,  die  Taufe  anzunehmen,  imd 
gründete  das  bischöfliche  Katheder  zu  Dorpat,  ferner  in  Wierland  (Ostestland)  und  Reval. 
Am  längsten  blieben  die  Kuren  migetauft.  Um  einer  zwangsweisen  Bekehrung  vorzu- 
beugen, beschlossen  sie  ein  Jahr  nach  dem  Tode  des  Bischofs  Albert,  im  Jahre  1230  sich 
freiwillig  taufen  zu  lassen.  Die  Fürsten  von  Polotzk,  die  die  deutschen  Priester  freiwillig 
ins  Land  hineingelassen  hatten,  salien  später  ihren  Fehlgriff  ein  imd  beschlossen,  die 
Deutschen  aus  dem  Lande  zu  jagen.  In  dem  nun  entbrennenden  Kampf  erhielten  die 
Deutschen  aber  schon  sehr  bald  die  Oberhand.     (Golubinskn,  Bd.  T,  Teil  2,  S.  812/13.) 

*)  W.  Wassiljewski,  „Der  alte  Handel  Kijews  mit  Regensbui'g".  Journal  des  Miiü- 
steriums  für  Volksaufklärung,  Juli  1888. 

')  Vgl.  Gesammelte  Briefe  der  Zeitung  „Russj",  vom  28.  März  1904  bis  18.  Febr.  1905. 


20  Zweites  Kapitel.   Historisches 

in  Polen  sofort  in  den  Dienst  des  Staates  für  die  internationalen  Ziele  de.s 
Herrscherhauses  gestellt  und  Avurde  darum  zu  einem  recht  erheblichen 
Faktor  für  die  Machtstellung  des  Staates. 

Die  Jculturelle  Bedeutung  des  Christentums  schien  den  ersten  Königen 
von  Polen  ohne  Belang.  Dementsprechend  ging  auch  die  Ausbreitung  des 
Christentums  in  ihren  Landen  nur  langsam  und  oluie  Anwendung  von 
Zwangsmitteln  vor  sich. 

3,    GeiMlichkeit  und  Staatsgewtdt  in  Rustiland 

Die  Rolle  des  Geschicks  der  russisch -polnischen  Beziehungen  über- 
nahm die  Geistlichkeit  der  beiden  christlichen  Bekenntnisse.  Je  mehr 
politische  A^'erhältnisse  das  amtiiche  Byzanz  zum  Anschluß  an  Rom  zwangen, 
um  so  tiefer  wurde  der  Haß,  den  die  giiechische  Geistiichkeit  der  römischen 
Kirche  entgegenbrachte.^)  Diesen  Haß  hat  die  russische  Geistiichkeit  aus 
Gründen  der  Selbsterhaltung  kritiklos  übernommen.  Die  Stellung  der  Geist- 
lichkeit im  russischen  Staatswesen  hat  diese  Haltung  wesentiich  unterstützt. 
Als  Wladimir*  von  Kijew  die  griechische  Lehre  in  seinem  Lande  aufnahm, 
war  diese  in  dogmatischer  Hinsicht  abgeschlossen.  Die  Kirche  sicherte 
die  orthodoxe  Lehre  vor  jeder  Fortentwicklung,  indem  sie  die  ungebildeten 
Fürsten  zwang,  die  einmal  übernommenen  Gesetze  so  zu  bewahren,  wie  sie 
sie  gegeben  hatte.  Dadurch  wurden  die  Füi-sten  zu  gleicher  Zeit  Schutz- 
herren der  Kirche,  Verteidiger  ihrer  Vorschriften  und  —  Schüler  der  aus 
Griechenland  kommenden  Geistlichen.'^)  Dieses  eigentümliche  Verhältnis 
mußte  um  so  ungünstiger  auf  die  EntAvicklung  der  rassischen  Kirche  wirken, 
als  die  oberste  Gewalt  über  die  Landeskirche  in  den  Händen  des  dem 
Kaiser  von  Byzanz  unterstellten  Patriarchen  der  griechischen  Kirche  lag. 
Dieser  ernannte  den  Metropoliten  für  Rußland,  der  Avieder  in  seinem  Bezirk 
dafür  zu  sorgen  hatte,  daß  die  von  der  amtiichen  Kirchenleitung  gut  ge- 
heißeneu Ansichten  auch  in  Rußland  zur  Geltung  gebracht  wurden.  Da 
sich  aber  lun  die  Mitte  des  elften  Jahrhiuiderts  die  griechische  Kirche  in 
Feindschaft  von  der  lateinischen  schied,  mußte  auch  in  Rußland  die  Feind- 
schaft gegen  Rom  als  gottgefällig  verbreitet  werden.  Das  ist  geschehen. 
Anfänglich  begnügte  sich  die  rassische  Geistlichkeit  damit,  die  gemäßigtem 
Ansichten  der  verschiednen  Konzile  aufzimehmen,  später  machte  sie  die 
der  extremen  griechischen  Polemisten  zu  den  ihrigen.  Darum  gilt  die 
römische  Lehre  in  Rußland  schon  lange  Zeit  hindurch  als  große  Ketzerei, 


^)  Golubinski,  Bd.  1,  Teil  2,  S.  803  sehreibt:  „Nichts  geschieht  \m vermittelt.  Auch 
clie  radikalen  Ansichten  über  die  Lateiner  haben  bei  uns  bis  zur  Mongoleuzeit  nicht  die 
allgemeuie  und  unbestrittene  Herrschaft  gehabt  und  die  Kraft,  die  wir  später  sahen." 

»)  Ssergejewitsch,  Rechtsdenkmäler.  Bd.  IT,  S.  497/98. 


B.  Einigungsbestrebungeu  21 


obwohl  solches  kein  Konzil  ausgesprochen  hatte.  ^)  Von  dieser  Auffassung 
ausgehend  hat  die  russische  Geistlichkeit  im  Laufe  der  Jahrhunderte  das 
Mißtrauen  gegen  die  römische  Lehre  in  die  führenden  Ki'eise  des  Volkes 
träufeln  können.^) 

B.  Einiglingsbestrebungen 

Die  Päpste  haben  dagegen  nie  aufgehört,  zu  vereuchen,  die  beiden 
Bekenntnisse  wieder  zu  versöhnen.  Doch  scheint  es,  als  sei  die  Natur 
oder  die  Vorsehung  vor  allen  Dingen  darum  bemüht,  alle  versöhnlichen 
Bestrebungen  im  Weltall  durch  Schaffung  neuer  Reibungen  und  Streit- 
punkte zu  paralysieren.  Es  gibt  in  der  Geschichte  kaum  einen  Fiiedens- 
vertrag,  der  nicht  einen  blutigen  Krieg  zur  Folge  gehabt  hätte,  oder  der 
nicht  wenigstens  den  Keim  zu  neuen  Kämpfen  in  sich  trüge.  So  ging  es 
auch  mit  den  Bestrebungen  der  beiden  gi'oßen  christlichen  Bekenntnisse, 
die  darauf  ausgingen,  die  griechische  und  die  lateinische  Kirche  zu  versöhnen 
und  unter  der  alleinigen  Macht  des  Papstes  zu  vereinen.  Während  die 
beiderseitigen  Kirchenfürsten,  von  den  Griechenkaisern  unterstützt,  den 
Frieden  anbahnten  und  durch  Jahrhunderte  vorbereiteten,  wuchsen  gerade 


*)  Golubinski,  Kirchengesckichte  (unvoUeudet),  Bd.  I,  Teil  2,  S.  803. 

^)  Bald  nach  der  Trennvmg  (1054)  hat  der  Metropolit  Georg  eine  Aufstellung  der 
27  Sünden  der  Lateiner  herausgegeben,  wobei  er  iuteressantenveise  die  in  Italien  einge- 
drungnen  Deutschen  dafür  verantwortlich  macht,  daß  der  römische  Teil  der  christüchen 
Kirche  entartete  (Golubinski ,  Bd.  I ,  Teil  1 ,  S.  855).  Vierzig  Jahre  später  besclireitet  der 
Metropolit  Johann  der  Zweite  denselben  Weg,  doch  in  versöhnlicher  Fonu,  als  ihn  Kaiser 
Heinrichs  des  Vierten  Freund,  Clemens  der  Dritte,  imi  Anschluß  an  den  päpstlichen 
Stuhl  bat  (ebenda  S.  856).  Zu  Anfang  des  zwölften  Jahrhunderts  folgt  Nikifor  der  Auf- 
forderung des  Großfürsten  Monomach,  die  Gründe  für  die  „Ausstoßung"  der  Lateiner 
;\us  der  rechtgläubigen  Kirche  anzugeben ;  er  nennt  zwanzig  Hauptsünden  (ebenda  3.  858). 
Eine  zweite  Schrift  verfaßt  er  gegen  die  Lateiner,  um  den  Fürsten  von  "Wolynien  vor 
.seinen  der  lateinischen  Lehre  verfallenen  Nachbarn  im  Westen  zu  warnen.  Um  das  Jahr  1158 
sagt  der  Mönch  Theodosius  von  Petschei"sk:  „.  .  .  besondere  muß  man  sich  vor  solchen 
Menschen  vorsehen,  die  der  lateinischen  Lehre  folgen  .  .  ."  (Makarius,  Kirchengeschichte, 
Bd.  II,  S.  324/25).  Er  verbietet,  mit  den  lateinischen  Ketzeni  aus  einem  Gefäß  zu  speisen, 
wie  überhaupt  mit  ihnen  in  nähern  Verkehr  zu  treten. 

Alle  diese  genannten  Glaubenseiferer  smd  Griechen,  keine  Russen,  vmd  ihre  Abneigung 
ist  nicht  gegen  eine  pohlische  Kirche,  sondern  gegen  eine  lateinische  oder  wai'ägische 
Lehre  gerichtet.  Die  Waräger,  also  Germauen,  gelten  als  Träger  der  Ketzerei,  nicht  die 
Polen  (Tolstoj,  Bd.  I,  S.  11).  Der  erste  nissische  Fürst,  der  solche  Auffa.ssung  zu  der 
seinigen  machte,  war  Alexander  Newski  (1252,63),  aus  dessen  Testament  Tolstoj  folgende 
Stelle  angibt:  „Voilä  notre  foi;  que  ceux  qui  ue  la  professent  point  ou  qui  la  professent 
auti-emeut  soient  maudits;  et  ainsi  nous  vous  maudissons,  execrables  Latius-'  (ebenda  S.  9). 
Dieser  streitbare  Fürst  hat  aber  keinerlei  Beziehungen  zu  den  Polen  gehabt,  .sondern  nm- 
mit  den  Deutschrittern,  Schweden  und  gaiechisch  -  orthodoxen  oder  heidnischen  Litauern 
siegreich  gekämpft.  In  der  vormongolischen  Zeit  gibt  es  auch  in  der  spärhchen  Literatur 
nirgends  einen  Anhalt  dafür,  daß  unter  den  Russen  eine  Feindschaft  gegen  die  "westUchen 
Nachbarn  oder  gegen  die  Polen  allein  vorhanden  gewesen  wäre  (vgl.  S.  15/16  u.  18).  Ei'St  die 
Geistlichkeit  beider  Bekenntnisse  hat  diesen  Antagonismus  zwischen  die  Völker  geworfen. 


22  Zweites  Kapitel.    Historisches 

in  den  Gebieten,  in  denen  die  Versöhnung  hätte  die  größten  praktischen 
Folgen  haben  können,  Kräfte  heran,  die  die  Fortsetzung  des  Kampfes  über- 
nahmen und  dem  Kampf  einen  ganz  neuen  Inhalt  gaben. 

Wir  haben  bereits  darauf  hingewiesen,  daß  zwischen  Rußland  und 
Polen  sich  ein  unwegsames  Sumpf  gebiet  hinzieht;  es  wurde  gesagt,  daß 
sich  in  dieses  Sumpfgebiet  Litauer  und  Jadwiger  hineinschoben;  femer 
hörten  wir,  daß  sich  die  russischen  Fürsten  bei  der  Ausbreitung  des 
griechischen  Glaubens  auf  ihre  Untertanen  beschränkten,  während  die  pol- 
nischen Könige  keinen  besondern  Eifer  zur  Ausbreitung  des  römischen 
an  den  Tag  legten.  Alle  diese  Tatsachen  konnten  indessen  nicht  ver- 
hindern, daß  die  Kunde  von  beiden  Bekenntnissen  ziemlich  gleichzeitig  in 
das  Zwischengebiet ^)  drang,  daß  Apostel  beider  Bekenntnisse  in  diesem 
Zwischengebiet  die  christliche  Lehre  verkündeten.  Kaufleute,  Kriegs- 
gefangne, geraubte  Weiber  mögen  in  gleichem  Simie  gewirkt  haben.  Da 
aber  die  litauischen  Fürsten  damals  dem  Christentum  völlig  indifferent 
gegenüberstanden,  und  sich  somit  die  Staatsgewalt  auf  die  Entwicklung 
der  neuen  Lehre  keinerlei  Einfluß  sicherte,  also  auch  weder  für  die  eine 
noch  für  die  andre  Form  des  Bekenntnisses  Partei  nahm,  entstand  in  dem 
Zwischengebiet  eine  dritte  christliche  Lehre,  die  einen  Kompromiß  dar- 
stellt zwischen  der  römischen  und  der  griechischen.  Wohlverstanden, 
diese  neue  Lehre  war  ein  Zufallsprodukt,  das  entstehn  konnte,  weil  keine 
der  beiden  organisierten  Kirchen  die  Macht  hatte,  ihre  offizielle,  reine 
Lehre  in  jenen  Gebieten  einzuführen,  wenngleich  jede  von  ihnen  bestrebt 
war,  die  andre  durch  Einsetzung  von  Kirchenfürsten  zu  verdrängen. 

Auf  dem  Boden  dieser  Mischlehre  wurde  die  sogenannte  ruthenische 
und  später  die  unierte  Kirche  organisiert. 

Genau  dieselben  Verhältnisse,  die  früher  die  Verbreitung  der  vom 
Dogma  abweichenden  Lehren  möglich  machten,  ließen  später  die  von  der 
einen  oder  andern  Seite  eingesetzten  Kirchenobrigkeiten  sich  leicht  dem 
Einfluß  der  kirchlichen  Zentralgewalt  entziehen.  Dazu  ti'aten  noch  poli- 
tische Verhältnisse,  die  wir  oben  als  Grenzstreitigkeiten  kennen  lernten 
(siehe  Anmerkung  S.  15/16).  Diese  Verhältnisse  im  litauisch -ruthenischen 
Zwischengebiet  Keßen  die  immer  w^achsamen  Päpste  auf  den  Gedanken 
kommen,  sie  als  Angriffsbasis  zu  einem  Vorstoß  gegen  die  russische  Kirche 
auszunutzen,  als  die  Politik  der  litauischen  Fürsten  eine  entsprechende 
Richtung  annahm.  Es  galt  darum,  zunächst  die  ruthenische  Kirche  Rom 
zu  unterwerfen,  sie  mit  Rom  zu  vereinigen,  zu  unieren. 


^)  Dies  Zwischengebiet  läßt  sich  dui'ch  ein  Fünfeck  bezeichnen,  das  zwischen  den 
heutigen  Städten  liegt,  im  Norden  Schawli  und  Pskow,  im  Osten  Chorolj,  im  Süden  Jassy 
und  im  "Westen  Przemysl  und  Schawli. 


B.  Einiguugsbestrebungeii  23 


1.  Die  Union 

Bis  zum  vierzehnten  Jahrhundert  hatten  die  litauischen  Fürsten,  wie 
bekannt,  einen  verhältnismäßig  starken  Staat  auf  militärischen  Grundlagen 
geschaffen.  Territorial  geschah  diese  Schöpfung  auf  Kosten  der  russischen 
Großfürsten,  die  durch  den  Mongoleneinfall  vollständig  an  der  Ost-  und 
Südgrenze  ihres  Reiches  beschäftigt  und  dui'ch  die  innem  Kämpfe  derart 
geschwächt  waren,  daß  sie  bereit  schienen,  ihre  Interessen  an  der  West- 
grenze aufzugeben.  In  diesem  litauischen  Staat  herrschte,  wie  bereits  an- 
gedeutet wurde,  Glaubensduldung  sowohl  gegen  die  Christen  wie  gegen 
die  Heiden.^)  Etwa  um  die  gleiche  Zeit  entwickelten  sich  in  Polen  die 
günstigen  Folgen  der  Befruchtung  durch  das  Deutschtum,  und  an  allen 
Orten  machten  sich  Anzeichen  einer  wirtschaftlichen  und  sozialen  Ge- 
sundung bemerkbar.  Diese  Gesundung  tritt  tatsächlich  nicht  ein,  weil  die 
polnischen  Fürsten,  aus  Furcht,  ihr  Land  zu  verlieren,  kein  Mittel  un- 
versucht lassen,  sich  dem  politischen  Einflüsse  deutscher  Staaten  zu  ent- 
ziehen. Das  treibt  sie  einerseits  noch  mehr  in  die  Arme  der  römischen 
Kurie,  und  andrerseits  geben  sie  westeuropäische  Interessen  —  Zugang  zur 
Ostsee^)  —  um  so  leichter  auf,  als  ilmen  der  Besitz  Kleinrußlands  bis  an 
das  Schwarze  Meer  möglich  erscheint.  Dort  finden  sie  keinen  Widerstand 
durch  Rußland.  Doch  die  Errungenschaften  Kasimirs  des  Großen  in  der 
innem  und  äußern  Politik  werden  zunichte,  weil  Jceine  für  ihre  Aufgaben 
erzogne  Dynastie  vorhanden  ist,  die  imstande  gewesen  wäre,  ihre  eignen 
Interessen  mit  denen  des  Volks  zu  identifizieren  und  dadurch  die  Festig- 
keit gehabt  hätte,  die  organischen  Neubildungen  in  der  Gesellschaft  ihren 
politischen  Zielen  durch  ein  allen  gemeinsames  Ideal  nutzbar  zu  machen. 
Polen  sinkt  in  völlige  Ohnmacht  zurück.  Erst  durch  die  Verbindung  mit 
Litauen  in  Personalunion  erhebt  es  sich  wieder,  also  nicht  aus  eigner,  von 
innen  heraus  sich  entwickelnder  Kraft,  sondern  durch  neue  Elemente,  die 
von  außen  hereingeti'agen  werden  (1386).  Der  Großfürst  von  Litauen  heißt 
seit  dem  2.  März  1387  König  von  Polen. 

Dnrch  diesen  Umstand  läßt  die  Geschichte  den  Eindruck  entstehn 
und  sich  bei  den  Russen  festsetzen,  als  wenn  es  Polen  sind,  die  nun  zwei 
Jahrhunderte  hindui'ch  Rußland  berennen  und  verwüsten,  während  doch 
tatsächlich  litauische  Fürsten  ihre  Blicke  auf  Rußland  richten.  Seit  Ende 
des  vierzehnten  Jahrhunderts  sind  es  nicht  mehr  schwache  Handelsstädte 
—  von  einigen  hundert  Rittern  verteidigt  — ,  die  an  das  orthodoxe  Ruß- 


*)  Die  Bestellung  eines  besondera  Metropoliten  von  Litauen,  Theophil  (1316/17),  hat 
lediglich  politische  und  wiiischaftliche  Giiinde,  nicht  aber  religiöse. 
2)  Vertrag  von  Kaiisch  1343. 


24  Zweites  Kapitel.    Historisches 


laud  gi'enzen,  sondern  ein  mächtiges  Reicli,  an  dessen  Spitze  römisch- 
katholische  Fürsten  stehn  voll  Ehrgeiz  und  politischem  Expansionsbedürfnis. 
Nmi  geschah  aber  das  merkwürdige,  nur  aus  der  Unkultur  der  Jagellonen 
erklärbare.  Die  bis  zur  Vereinigung  mit  Polen  toleranten  litauischen 
Fürsten,  die  mit  ihrer  Toleranz  Polen  hätten  innerlich  entwickeln  können, 
werden  zu  Trägern  derselben  reaktionären  Politik,  wie  es  die  Nachfolger 
der  ersten  Plasten  waren.  Sie  werden,  das  erscheint  füi-  uns  wichtig, 
durch  den  Übertritt  zur  lateinischen  Kirche  ein  neuer  Hebel  der  päpst- 
lichen Politik,  mit  dem  auf  die  geschwächten  russischen  Großfürston  ein- 
gewirkt werden  soll,  ßom  aber  kann  triumphieren.  Denn  während  die 
Jagelionen  beginnen,  die  römische  Lehre  in  Litaueu  unter  Anwendung  von 
Gewalt  einzuführen,  müssen  die  Griechenkaiser  in  Rcmi  Schutz  gegen  die 
Tüi'ken  suchen,  und  die  Moskauer  Großfürsten  sind  so  geschwächt,  daß 
der  gi'iechische  Patriarch  ihnen  einen  unerwünschten  Metropoliten  bestellen 
kann.  Der  griechische  Mönch  Isidor  tritt  an  die  Rampe  der  Weltbülme. 
Rom  scheint  der  Augenblick  für  eine  Vereinigung  mit  der  griechisch- 
katholischen Kii'che  unter  päpstlicher  Heri'schaft  gekommen.  Der  erste 
Schritt  von  großer  politischer  Bedeutung  wui'de  in  dieser  Hinsicht  auf 
dem  Konzil  zu  Ferrara  (1438)  getan.  Nachdem  sich  Johann  der  Achte 
Paläologos,  der  Kaiser  von  Griechenland,  auf  dem  Konzil  dem  Papst  unter- 
worfen hatte,  sprach  sich  auch  der  Metropolit  von  Moskau,  Isidor,  für  die 
Union,  das  heißt  für  die  Unterstellung  der  russischen  Kirche  unter  den 
Papst  aus. 

Die  von  Rom  erhofften  P^rfolge  trafen  indessen  nur  zu  einem  sehr 
geringen  Teil  ein.  Isidor  konnte  seinem  Vereinigungserlaß  keine  prak- 
tischen Folgen  geben.  Der  rassische  Großfürst,  der  von  voniherein  mit 
Mißtrauen  auf  Isidor  geblickt  hatte,  erklärte  den  Befehl  im  Einvcrständui.s 
mit  der  russischen  Geistlichkeit  für  ungiltig. 

In  dem  Gebiet  zwischen  Polen  und  Rußland  war,  wie  gezeigt  worden 
ist,  eine  dritte  christliche  Lehre  entstanden.  Auch  ihre  überdies  wirt- 
schaftlich sehr  arme  Geistlichkeit  stand  noch  weit  mehr  in  Abhängigkeit 
von  den  Gegnern  der  Union,  als  ihre  römischen  Förderer  glaubten.  Sozial- 
politische Verhältnisse  in  Kleinrußland  wirkten  der  Union  mit  Rom  ent- 
gegen. Schließlich  verhielten  sich  auch  die  litauischen  Fürsten,  auf  deren 
Beistand  Isidor  glaubte  besonders  rechnen  zu  dürfen,  damals  noch  gegen 
die  Unionsbestrebungen  weit  zurückhaltender,  als  es  die  Angelegenheit  ver- 
ti-agen  konnte.  Erst  anderthalb  Jahrhimderte  später,  als  das  Zartum  Moskau 
so  weit  erstarkt  war,  daß  es  sich  von  Byzanz  emanzipieren  konnte  imd  im 
Jahre  1589  einen  eignen  Patriarchen  bestellte,  erkannten  die  litauischen 
Fürsten  den  politischen  Nutzen,  den  sie  aus  den  Unionsbestrebungen  Roms 


B.  Einigung-sbestrebuiigeu  25 


ziehen  konnten.  So  wenig  die  litauischen  Fürsten  gegen  einen  griechischen 
Patriarchen  einzuwenden  hatten,  so  gi'oß  mußte  ihr  Mißtrauen  gegen  den 
rassischen  werden,  der  die  gegen  Polen -Litauen  gerichtete  Politik  der 
Großfürsten  durch  seine  Meti'opoliten  und  Bischöfe  auf  litauischem  Boden 
unterstützen  ließ.  Die  Wii'ksamkeit  des  Moskauer  Pati'iarchen  erstreckte 
sich  naturgemäß  auch  auf  die  Bistümer  des  Zwischengebiets,  die  bis  1589 
Byzanz  unterstanden.  Somit  Avar  für  die  litauischen  Fürsten  erst  durch 
den  Wechsel  der  Beziehungen  zwischen  Moskau  und  Byzanz  der  politische 
Grund  gegeben,  entweder  die  Unionsbestrebungen  der  Päpste  zu  unter- 
stützen oder  die  litauischen  Metropoliten  zu  zwingen,  dem  giiechischen 
Patiiarchen  treu  zu  bleiben.  Dieser  Wechsel  hat  die  litauischen  Füi-steu 
unter  dem  Emfluß  der  Päpste  zu  dem  für  sie  verhängnisvollsten  Schritt 
getrieben,  den  sie  hätten  begehn  können. 

In  Polen  und  Litauen  hatte  trotz  der  1587  beginnenden  Reaktion  die 
Reformation  große  Fortschritte  gemacht.  Nicht  nur  die  eingewanderten 
deutschen  Kolonisten,  Handwerker  und  Kaufleute,  nicht  nur  polnische  und 
litauische  Gelehrte  und  Politiker  waren  Anhänger  der  Reformation,  sondern 
auch  römische  Geistliche  polnischer  Herkunft  waren  von  der  aus  Deutsch- 
land kommenden  Lehre  ergriffen.  Von  der  Kanzel  wie  von  der  Tribüne 
der  Landtage  herab  sorgten  sie  für  ihre  Verbreitung.  Im  Jahre  1555  war 
die  innere  Erstarkung  der  Reformation  so  weit  gediehen,  daß  die  Gebiu-t 
einer  neuen  polnischen  Nationalkirche  dicht  bevorzustehn  schien.  Statt 
sich  dieser  neuen,  aus  der  Gesellschaft  herauswachsenden  Macht  zu  be- 
dienen, die  eine  Gewähr  für  die  innere  Festigung  des  Staates  in  sich  ti-ug, 
nahm  Sigismund  August  die  decreta  concilii  Tridentini  aus  der  Hand  des 
päpstlichen  Nuntius  und  rief  im  Jahre  1565  die  Jesuiten  ins  Land.  Im 
Jahre  1595  wurde  unter  Führung  des  Metropoliten  von  Kijew  die  Union 
von  Brest-Litowsk  proklamiert,  die  den  Einfluß  des  Moskauer  Patriarchen 
ausschalten  sollte,  d.  h.  die  Bewohner  des  Zwischengebiets  wurden  durch  List 
und  Gewalt  gezwungen,  die  Oberhoheit  des  Papstes  über  ihre  Kü'che  an- 
zuerkennen und  die  des  Patriarchen  von  Moskau  zu  verwerfen.  Damit 
aber  trat  das  kirchenpolitische  und  religiöse  Motiv  in  den  HintergTund, 
und  an  seine  Stelle  ti-at  der  Kampf  um  den  nationalpolitischen  Einfluß  auf 
die  Bevölkerung  des  Zwischengebiets,  auf  die  sogenannten  Uniaten,  die  von 
den  Russen  gTiechische  Uniaten  genannt  Avurden,  von  den  Polen  römische 
oder  lateinische.  Polen  erreichte  durch  die  Eroberung  A'on  Smolensk  im 
Jahre  1617  den  Gipfelpunkt  seiner  Macht,  in  Rußland  aber  Avaren  mit 
Mchail  FeodoroAvitsch  die  Romanows  auf  den  Zarenthron  gelangt.  Dei 
Jagelloneu  weitschaueude  Politik  fand  Widerstand.  Die  polnisch-litauische 
Welle,  die  die  Jesuiten  nach  Moskau  ti'agen  sollte,  brach  sich.    Yon  Moskau 


26  Zweites  Kapitel.    Historisches 


her  begann  die  Wiedereroberung  der  weißrussischen  und  der  litauischen 
Lande,  die  mit  der  ersten  Teilung  Polens  und  ihrer  Wiedervereinigung  mit 
Rußland  im  Jahre  1772  ihr  vorläufiges  Ende  erreichte. 

2.  Katnpf  um  die  Uniaten 

Neben  dem  blutigen  Kampf  der  Heere  ging  indessen  ein  schwererer, 
vor  keiner  Grausamkeit  zurückschreckender  der  russischen  Kirche  um  die 
Wiedervereinigung  der  sogenannten  litauischen  Bistümer  mit  dem  Moskauer 
Patriarchat,  oder  anders  ausgedrückt,  es  ging  der  Kampf  um  die  Unter- 
werfung der  als  Uniaten  gekennzeichneten  Bewohner  des  Zwischengebiets 
imter  die  Macht  der  orthodoxen  Kirche  und  damit  der  Moskauer  Zaren. 
Diesen  Kampf  hat  vom  achtzehnten  Jahrhundert  ab  die  von  Peter  dem 
Ersten  geschaffne  Bureaukratie  geführt,  ohne  zeitraubende  Propaganda  oder 
Volksaufklärung,  sondern  mit  Hilfe  von  Ukasen.  Zunächst  wurde  im 
Jahre  1764  die  ruthenische  Kirche  mit  der  russisciien  vereinigt,  unicrt,  und 
in  Südrußland  wurden  1900  Gemeinden  auf  allerhöchsten  Befehl  wieder 
mit  der  allein  rechtgläubigen  Kirche  vereinigt.  Nach  dem  Einverständnis 
der  Bevöllcerung  wurde  nicht  gefragt.  Wer  sich  aber  gegen  die  Wieder- 
vereinigung auflehnte,  verfiel  als  Raskolnik  —  Sektierer  — ,  als  Abtrün- 
niger der  rechtgläubigen  Staatskirche,  dem  Strafgesetz. 

Der  Kampf  der  rassischen  Regierung  um  die  Uniaten  wird  durch 
folgende  Marksteine  bezeichnet.  Katharina  die  Zweite  hat  die  Ruthenen 
oder  Uniaten  des  Südwestgebiets  der  Staatskirche  unterworfen,  Nikolaus 
der  Erste  hat  die  des  Nordwestgebiets  bezwungen.  Geistiger  Leiter  der 
Bemühungen  unter  Nikolaus  wurde  der  Metropolit  von  Litauen  und 
Wilna,  Joseph  Sjemaschko  (1832  bis  1868),  während  das  ausführende  Organ 
M.  N.  Miu^awjow  sowohl  als  Gouverneur  von  Grodno  bis  1835  wie  auch 
als  Generalgouverneur  von  Wilna  war.  Schließlich  hat  Alexander  der 
Zweite  im  Jahre  1878  die  polnischen  Uniaten  an  die  Staatskirche  ange- 
schlossen. 

Der  Kampf  imi  die  Uniaten,  denn  von  einem  Kampf  um  die  Union 
kann  seit  dem  Untergange  Polens  nicht  mehr  die  Rede  sein,  hat  auch 
gegenwärtig,  im  Jalu-e  1907,  seinen  Abschluß  nicht  gefunden.  Alle  Unionen, 
die  römischen  sowolü  wie  die  russischen,  sind  immer  nur  einseitig  von 
der  gerade  mächtigen  Partei  durchgeführt  worden,  während  die  Bevölkerung 
mit  einem  Teil  der  niedern  Geistlichkeit  an  der  Spitze  widerstrebte.  Der 
Kampf  liegt  heute  weniger  auf  religiösem  als  auf  national-  und  sozialpoli- 
tischem Gebiet.  Die  russische  Regierung  sucht  schon  seit  Katharina  der 
Zweiten  das  rehgiöse  Motiv  aus  der  Uniatenfrage  herauszulösen  und  sie 
lediglich  als  eine  Nebenerscheinung   der  Polenfrage  darzustellen   und  zu 


B.  Einiguugsbestrebimgen  27 


beurteilen.  Es  soll  sich  in  den  Köpfen  der  russischen  Gesellschaft  und  vor 
allen  Dingen  bei  den  üniaten  selbst  die  Ansicht  entwickeln,  als  seien  sie 
eine  von  den  Polen  vergewaltigte  russische  Bevölkerung,  die  die  Russen 
zu  befreien  trachteten.    Wehe  aber,  wenn  sie  sich  nicht  befreien  lassen ! 

Tatsächlich  ist  die  Uniatenfrage  ein  Teil  der  russischen  Polennot,  aber 
nicht  in  dem  Sinne,  wie  es  die  Bui'eaukratie  darstellt.  Die  ehemaligen 
üniaten  in  Weißrußland  und  Litauen  neigen  durchaus  zur  römisch-katho- 
lischen Geistlichkeit,  in  Südrußland  dagegen  zu  den  baptistischen  Sekten  — 
näheres  werden  wir  darüber  noch  weiter  unten  hören.  Maßgebend  für 
diese  Stimmung  sind  vor  allen  Dingen  wirtschaftliche  und  politische  Ver- 
hältnisse. Es  sind  dieselben,  die  ganz  Rußland  in  die  schwere  gegenwärtig 
über  dem  Lande  lagernde  Krisis  gestürzt  haben.  Wir  kommen  darauf  in 
einem  spätem  Teile  noch  zurück.  — 

Mit  den  Ausfülu-ungen  der  voraufgegangnen  Seiten  wollten  wir,  ohne 
die  oft  untersuchte  Frage  hier  selbständig  zu  entwickeln,  imsre  Auffassung 
betonen,  daß  der  polnische  Staat  untergehn  mußte: 

1.  weil  er  von  vornherein  in  die  Abhängigkeit  einer  Macht  geriet,  die 
mit  dem  Wohle  des  den  Staat  bildenden  Yolks  unvereinbare  Ziele  ver- 
folgte —  der  römischen  Kurie; 

2.  weil  er  mit  Rücksicht  auf  diese  Macht  die  ihm  auf  natürliche  Weise 
zuströmende  romanisch -germanische  Kultur  ausgerottet  und  ferngehalten 
hat,  statt  sie  zur  Schaffung  und  Entwicklung  einer  eignen  nationalen  zu 
nutzen.  Als  ihm  die  Geschichte  das  erstemal  die  Aufgabe  übertrug,  Ruß- 
land westeuropäischer  Kultui'  zu  erschließen,  hatte  er  nicht  die  Kraft,  sie 
durchzuführen. 

Wir  betrachten  somit  die  Privilegienwirtschaft,  die  von  vielen  Histo- 
rikern als  wesentlichste  Ursache  für  den  Untergang  des  Reichs  bezeichnet 
wird,  lediglich  als  eine  äußere  Folgeerscheinung  der  eben  zusammengefaßten 
Verhältnisse,  die  erst  nach  Entwicklung  der  Gnmdursachen  eine  der  letzten 
Veranlassungen  zur  Zerstörung  des  Polenreichs  bilden  sollte.  Polen  ist 
nach  unsrer  Auffassung  zugrunde  gegangen,  weil  es  die  ausivärtige  Politih 
über  die  innere  gestellt  hat,  wobei  wir  als  die  vornehmste  Aufgabe  der 
Innern  Politik  eines  jeden  Staats  die  Erziehung  des  Volks  zur  Gemeinsam- 
keit und  Gemeinnützigkeit  erkennen.  Die  auswärtige  Politik  muß  der 
ki-aftvolle  Ausdruck  des  Wollens  seines  geeinten  Volks  sein,  wenn  sie 
Achtung  gebietend  die  Nachbarn  in  Schranken  halten  will. 

Die  Polen  haben  sich  die  Achtung  ihrer  Nachbarn  verscherzt.  An 
ihre  Stelle  trat  um  so  größere  Mißachtung,  als  die  führenden  Ki'eise  Ruß- 
lands in  die  russische  Gesellschaft  einen  glühenden  Haß  gegen  die  Polen 
als    die    hauptsächlichsten  Träger   der   päpstlichen  Politik    hineingetragen 


28  Zweites  Kapitel.   Historisches 


haben.    Der  enipfindlicliste  Ausdrack  der  Mißachtung  gegen  das  polnische 
Volk  liegt  in  der  Tatsache  der  Teilimgen. 

Polen  wui'de  wohlverstanden  nicht  erobert,  sondern  geteilt,  d.  h.  wie 
ein  heiTenloses,  totes  Ding  mit  Besclüag  belegt.  Der  polnische  Staat  wurde 
von  seinen  Nachbarn  Kußland  und  Preußen  politisch  überflügelt.  Er 
schädigte  beide  durch  seine  wirtschaftliche  Kückständigkeit  und  gefährdete 
ihre  Entwicklung,  ohne  aber  ihrem  gesunden  Expansionsbedtirfnis  einen 
wesentlichen  Widerstand  entgegensetzen  zu  können. 

C.  Aufgaben 

1.  Allgemeine  Ziele 

Seit  Peter  dem  Ersten  war  in  Rußland  an  die  Stelle  der  Geistlichkeit 
die  Bureaukratie  als  Führerin  der  aus\värtigeu  Politik  getreten.  Aus  West- 
europa nach  Rußland  vei-pflanzt,  sollte  sie  Moskowien  von  neuem  mit  West- 
europa verbinden,  sollte  sie  das  Band  knüpfen,  das  der  Mongoleneinfall 
und  die  Rückständigkeit  der  russisch -griechischen  Geistlichkeit  zerrissen 
hatten.  Dazu  genügten  aber  nicht  die  wenigen  Handelsbeziehungen  über 
Archangelsk  mid  Pctersbui-g,  genügte  nicht  die  Berufung  ausländischer  Ge- 
lelirter,  Handwerker.  Militäre,  nicht  die  Nachbildung  westeuropäischer 
Staatsinstitutionen,  in  denen  der  Geist  der  Moskowiter  weiter  wirkte.  Auch 
räumlich  mußte  Moskowien  dem  Westen  näher  gebracht  werden.  Das  war 
der  allgemeine  Inhalt  der  Absichten  Peters  so^^^e  auch  des  Vermächtnisses, 
das  er  seinen  Nachfolgern  auf  dem  Thron  der  Rurik  und  Romanow  hinter- 
ließ. Ein  Teil  dieses  Vennäclitnis.ses  sollte  durchgeführt  werden  durch 
Einverleibmig  und  allmähliche  innere  Auflösung  des  polnischen  Staats. 

Die  Polen,  die  inuner  weniger  befähigt  schienen,  einen  selbständigen 
Staat  zu  erhalten,  bildeten  mit  ihrem  kranken  Staatswesen  dennoch  eine 
hohe  Scheidewand  zwischen  Rußland  und  der  westeuropäischen  Kultur. 
Diese  Scheidewand  mußte  fallen.  Die  Weltgeschichte  hatte  in  dem  Augen- 
blick ihr  Urteil  über  Polen  gesprochen,  als  Peter  sich  dieses  Muß  bewußt 
geworden  war.  Der  Polenstaat  fiel  —  freilich  fi-üher,  als  es  für  die  durch 
Peter  gestellte  Aufgabe  dienlich  war.  Denn  Peter  wünschte  Polen  in 
seiner  vollen  Ausdehnung,  d.  h.  mit  Einschluß  der  heutigen  Provinzen 
Posen  und  Westpreußen  mit  Rußland  zu  vereinen.  "\''on  Uleaborg  bis  Neu- 
fahrwasser sollte  die  östliche  Küste  der  Baltik  Rußlands  Macht  unterliegen. 
Die  Erreichung  dieses  Ziels  war  in  Frage  gestellt,  als  Katharina  sich  in 
den  Kampf  imi  die  Küste  des  Schwarzen  Meeres  einließ  und  in  die  von 
Friedrich  dem  Großen  angestrebte  Teilimg  Polens  willigte.  Durch  die  Teilung 
wurde  die  polnische  Nationalität  gehindert,  ihre  innern  Angelegenheiten 


C.  Aufgaben  29 

selbständig  und  ihre  äußern  mit  Hilfe  frei  gewählter  Bundesgenossen  zu 
erledigen.  Die  Polen  wiu'den  des  internationalen  Volksrechts  beraubt,  mit 
dem  ihre  Führer  immer  nur  Mißbrauch  getrieben  hatten.  Sie  mußten  sich 
den  Staatsgebildeu  fremder  Nationen  anschließen,  imd  wenn  sie  deren  Be- 
strebungen auf  dem  Gebiete  der  internationalen  Politik  entgegenwirkten, 
waren  sie  Staatsverräter. 

Es  läßt  sich  denken,  daß  das  Ausscheiden  eines  so  bedeutsamen  Faktors, 
wie  es  Polen  trotz  und  wegen  seiner  Schwäche  im  politischen  Rechen- 
exempel  Rußlands  war,  die  Wege  der  russischen  auswärtigen  Politik  ver- 
ändern mußte.  Die  Leiter  der  russischen  Politik  durften  niclit  mehr  mit 
der  organisierten  Gesamtheit  der  Polen  rechnen,  solange  sie  ihnen  nicht 
die  Wiederherstellung  ihres  Staats  in  den  Grenzen  von  1772  zusicherten. 
Eine  solche  Zusicherung  wäre  aber  gleichbedeutend  mit  Krieg  gegen  Preußen 
gewesen.  Rußland  war  somit  nur  auf  einen,  wenn  aucli  großen  Teil  der 
Polen  angewiesen,  wenn  es  die  Ziele  Peters  des  Großen  mit  dessen  Mittehi 
weiter  verfolgen  wollte.  Katharina  hat  sich  durch  die  zweite  Teilung  offen 
von  diesem  Wege  abgesagt.  Dann  aber  ti'aten  Verhältnisse  in  der  euro- 
päischen Politik  ein,  die  Rußland  an  Preußens  Seite  zwangen.  Der  Korse 
trug  die  französischen  Adler  nach  Moskau,  nachdem  er  im  Jahre  1807 
einen  polnischen  Staat  wiederhergestellt  hatte. 

2.  Alexanders  des  Ersten  Ziele 

Das  Herzogtum  Warschau  wurde  Rußland  als  Teilergebnis  des  Wiener 
Kongresses  (1814/15)  zugesprochen.  Unter  der  Benennung  „Zartum  Polen" 
^vurde  es  mit  Rußland  diu'ch  Realimion  verbunden  imd  erhielt  am  27.  No- 
vember 1815  durch  Kaiser  Alexander  den  Ersten  eine  Konstitution,  i) 

Die  polnische  Konstitution  sicherte  den  mit  Rußland  verbundnen 
Polen  völlige  Selbständigkeit  bezüglich  Glaubensübung  sowie  innerer  Ver- 
waltung; die  polnische  Sprache  sollte  die  einzig  herrschende  vor  Gericht, 
in  der  Verwaltung  und  in  der  Armee  sein;  Russen  konnten  nur  dann  in 
den  polnischen  Staatsdienst  treten,  weim  sie  im  Königreich  Grundbesitz 
erworben,  dort  fünf  Jahre  gelebt  mid  die  pohlische  Sprache  vollkommen 
erlernt  hatten.  Die  gesetzgebende  Gewalt  im  Lande  teilte  der  Kaiser  mit 
einem  Senat  und  der  Deputiertenkammer.  Es  war  eine  Oligarchie  aus 
dem  Adel  und  der  hohen  römisch-katholischen  Geistlichkeit.'^) 


^)  Die  nachfolgenden  Ausführangon  sind  angeleimt  an  meine  Studie  in  Bd.  I  der 
von  Fr.  Wilh.  Grunow,  Leipzig,  herausgegebnen  ■Wochenschrift  „Grenzboten"  von  1907, 
S.  125  ff.  „Eussischer  Brief  Nr.  4". 

2)  Ausführlicher  dargestellt  bei  Th.  Schiemanu,  „Geschichte  Rußlands"  unter  Nikolaus  1., 
Berlin,  Georg  Beimer,  1904,  Bd.  I,  S.  121/23. 


30  Zweites  Kapitel.    Historisches 

Die  den  Polen  gewährten  Freiheiten  konnten  dem  russischen  Reiche 
nicht  zum  Segen  gereichen  und  von  den  Polen  nicht  zum  Wohle  ihres 
Landes  ausgenutzt  werden,  weil  sie  weder  organisch  den  Verhältnissen  an- 
gepaßt, noch  zum  Abschnitt  einer  gemeinnützigen  Politik  gemacht  worden 
waren,  sich  vielmehr  als  Willkürakt  großmütiger  Laune  eines  Autokraten 
darstellten.  Sie  fanden  nicht  nur  keine  Untei-stützung  in  der  Ideenwelt 
der  russischen  Gesellschaft,  sondern  wurden  von  den  heri^chenden  Kreisen 
angefeindet.  Die  Russen  erblickten  in  den  Polen  noch  Erbfeinde.  Das 
Herzogtum  Warschau  galt  in  den  politiscii  maßgebenden  Kreisen  der 
russischen  Gesellschaft  als  erobertes  Land.  Die  Polen  dagegen  sahen  in 
des  Zaren  Wohltaten  nicht  den  Ausgangspimkt  für  eine  enge  Verbin- 
dung mit  den  Russen,  sondern  nur  die  Vorbereitung  für  die  Zurück- 
gewinnung  der  früher  an  Rußland,  Preußen  und  Österreich  gefallnen  Pro- 
vinzen sowie  die  Wiederaufrichtung  des  alten  Polens.  Die  Polen  fühlten 
sich  als  Europäer  und  sahen  in  den  Russen  asiatische  Barbaren,  deren  sie 
sich  in  der  Not  zur  Erreichung  ilu'er  eignen  Zwecke  bedienten.  Wie  groß 
die  Mißachtung  der  Polen  den  Russen  gegenüber  war,  geht  aus  ihrem  Be- 
nehmen gegen  das  Gefolge  Alexanders  hervor.^)  Alexander  seinerseits 
unterstützte  die  polnischen  Patrioten  in  ihren  Illusionen,  wo  er  auch  immer 
konnte,  ohne  dabei  die  Gefülile  seiner  russischen  Untertanen  zu  schonen. 
Dabei  bildete  doch  seine  Persönlichkeit  die  einzige  Verbindung  zwischen 
beiden  Teilen.  Eine  Gemeinsamkeit  der  Interessen  zwischen  Rußland  und 
Polen  auf  irgendeinem  Gebiete  fehlte.  Große  wirtschaftliche  Interessen 
hatten  sich  noch  nicht  herausgebildet.  Die  Idee  eines  allslawischen  Staaten- 
verbandes dehnte  sich  vor  1815  noch  nicht  auf  die  katholischen  West- 
slawen aus.^)  Die  Abwesenheit  solcher  gemeinsamen  Interessen  ließ  auch 
dem  russischen  Zaren  freie  Hand  bezüglich  seines  Anschlusses  an  die 
Mächte  des  Westens.  Sie  macht  Alexanders  Vorgehn  auf  dem  Wiener 
Kongreß  auch  für  die  Russen  verständlich.  In  Rußland  gab  es  nur  eine 
Idee:   die  der  Selbstherrlichkeit    des  Zaren  —   ein  nationales  Bewußtsein 


'■)  Eine  Deputation  polnischer  Edelleute  aiis  Litauen  unter  Fühning  des  Grafen 
Oginski  sollte  die  Angliederung  der  Gouvernements  Wilna,  Grodno  und  Minsk  an  das  Zar- 
tum  vom  Zaren  fordern  (Grenzboten  a.  a.  0.  S.  127).  Irgendein  Versuch,  sich  unter  den 
Russen  Bundesgenossen  zu  schaffen,  wurde  nicht  gemacht.  Ein  Russe  erzählt  aus  jenen 
Tagen:  „.  .  .  die  Polen  blickten  auf  uns  allgemein  finster.  Sie  waren  unzufrieden  ge- 
blieben und  hielten  in  Unterhaltungen  selbst  nicht  mit  der  Forderung  zuriick,  daß  ihnen 
Mohilew,  "Witebsk,  Wolyuien,  Podolien  und  Litauen  zurückgegeben  werden  müsse  .  .  .''• 
(s.  Schilder,  Alexander  L,  Bd.  III,  S.  352  ff.). 

^)  Ging  doch  der  spätere  Dekabrist  Jakuschkin  so  weit,  seinen  Freimden  zu  erklären, 
er  wnirde  den  Zaren  morden,  als  sich  in  Moskau  die  Nachricht  verbreitete,  Alexander  der 
Ei-ste  habe  den  Polen  die  Rückgabe  der  früher  polnischen  Provinzen  versprochen.  (Siehe 
SchUder,  Nikolaus  I.,  Bd.  I,  S.  536,  Anm.  459.) 


C.  Aufgaben  31 

war  nicht  entwickelt,  wenn  es  auch  nach  1812  gemeinsam  mit  sozialen 
Utopien  bei  der  militärischen  Jugend  aufflackerte.  Peters  und  Katharinas 
Beamtentum  hatte  der  Bureaulcratie  jede  Regung  des  Volks  unterjocht;  sie 
befand  sich  in  der  Rolle  einer  Hüterin  der  Selbstherrschaft  recht  wohl. 
Alexander  der  Erste  konnte  der  Heiligen  Allianz  beitreten,  weU  den  ver- 
bündeten Monarchen  mit  der  von  Frankreich  her  einziehenden  Demokratie 
ein  gemeinsamer  Feind  drohte,  aber  auch  weil  das  Heranwachsen  einer 
neuen  ideellen  Kraft,  die  sich  auf  die  Demokratie  stützte,  im  Schöße  dieses 
Bündnisses  noch  nirgends  erkennbar  war.  Ein  germanisch -slawischer 
Gegensatz,  wie  Rassengegensätze  überhaupt,  waren  weder  der  Gesellschaft 
noch  den  Regierenden  zum  Bewußtsein  gekommen:  diese  ideelle  Kraft  sollte 
erst  in  Südrußland  geboren^)  und  von  den  Polen  großgezogen  Averden.-) 

Nicht  wirtschaftliche  Wünsche,  auch  keine  russisch-nationalen  kommen 
zu  Worte,  sondern  lediglich  solche,  die  mit  dynastischen  internationalen 
zusammenhängen.  So  sagte  er  seiner  Umgebung  in  Paris  wegen  Kostjuszko, 
der  nur  „in  ein  freies  Polen  zurückkehren"  Avollte: 

„Messieurs,  il  faut  arranger  les  affaires  de  sorte  que  ce  galant  homme 
puisse  revenir  dans  sa  patrie." 

Der  Zar  hatte  große  Sympathien  für  die  ritterlichen  Polen.  Nach 
seinen  Moskowitern  fragte  er  nicht.  Dieses  Außerach tiassen  realer  Bedürf- 
nisse mußte  ganz  natürlich  dazu  führen,   daß   die  unerdrückbaren  realen 


^)  Vgl.  Kapitel  „Russisch-polnische  Beziehungen"  unten,  und  Grenzboten  a.a.O.,  S.  128. 

^)  Wie  unbefangen  der  Zai-  damals  tatsächlich  den  später  entwickelten  russisch- 
nationalen  und  allslawischen  Bestrebungen  gegenüberstand,  geht  aus  seiner  im  August  1814 
gegebnen  „Instraktion  an  Graf  Nesselrode"  für  den  Wiener  Kongreß  hervor;  darin  heißt 
es:  „11  prouvera  que  dans  les  pretentions  que  je  soutiens  il  n'entre  aucim  principe  dange- 
reux  pour  le  repos  futui-  de  l'Europe,  aucuue  vue  d'ambition  qui  doive  alterer  les  relations 
qui  subsistent  entre  moi  et  mes  allies.  La  conservation  du  duche  de  Varsovie  est  tout  ce 
que  je  leur  deoiande  et  ä  ce  prix  je  suis  pret  ä  soutenir  l'Autriche  et  la  Prusse  dans 
toutes  les  propositions  qu'elles  feront  pour  etre  iudemnisees  des  parties  de  ce  duche  qui 
jadis  leur  out  appartenues.  Je  vais  meme  plus  loiu.  M'etant  engage  par  le  traite  de  KaUsch 
de  procurer  ä  la  PiTisse  un  territoire  qui  lie  l'ancienne  Prasse  ä  la  Silesie,  je  consens, 
si  eile  devait  y  insister,  k  ce  qu'elle  recouvre  le  departement  de  Posen  et  le  district 
de  Culm.  Dans  cette  supposition  la  frontiere  serait  etablie  d'apres  les  ligues  que  vous 
trouverez  tracees  avec  detail  dans  le  memoire  ci-joint.  Les  frontieres  vis-ä-vis  de 
l'Autriche  s'y  trouvent  egalement  indiquees.  Je  ne  saurai  en  aucuu  cas  lui  restituer 
du  duche  de  Varsovie  que  les  sahnes  de  Wiliczka  avec  le  rayon  de  Podgorce,  de  fagon 
que  de  ce  cote  la  Vistule  formera  la  frontiere.  A  l'exception  des  districts  designes, 
tout  le  duche  de  Varsovie  resterait  ä  ma  disposition  pour  etre  reunis  ä  la  Russio.  Si  Ton 
cherchait  ä  provoquer  quelques  explications  sur  la  forme  de  gouveniement  que  je  suLs 
intentionne  de  donner  'ä  ce  pays,  vous  vous  refusierez  ä  y  repondre;  vous  declareriez  qu'il 
serait  contre  ma  dignite  d'eutrer  dans  de  semblables  explications,  que  ne  demandant  pas 
compte  des  arrangements  que  les  autres  puissances  se  proposent  de  faire  sous  ce  rapport,  je 
crois  avoir  tous  les  droits  de  prctendre  que  personne  n'intervienne  dans  ceux  que  je  croirai  les 
plus  avantageux  pour  le  bonheur  des  peuples  que  la  Providence  a  reunis  a  mon  empire. . . ." 


32  Zweites  Kapitel.   Historisches 


Faktoren  sich  selbständig  Geltung  verschafften,  nun  aber  angeleitet  und 
darum  in  einer  für  alle  Teile  schädlichen  "Weise.  Das  für  die  Polen  an- 
erkannte nationale  Bewußtsem  erweckte  gleiches  bei  den  Russen;  da  es 
aber  in  der  Gesetzgebung  nicht  ,,vorgesehen"  war,  kam  es  in  der  Foiin 
von  „Gesetzesverletzung"  zum  Ausdruck.  Oben  heiTSchte  Willkür,  unten 
bereitete  Unbotmäßigkeit  die  hundertjährige  russische  Revolution  vor. 
Alexander  wurde  den  Russen  gegenüber  reaktionär,  indem  er  sie  einem 
Araktschejew  überließ.  Der  hätte  ganz  Rußland  am  liebsten  in  eine 
Militärkolonie  umgewandelt.  Bei  den  Polen  fühlte  sich  Alexander  wohl 
und  zeichnete  sie  aus.  Daß  der  polnische  Adel  in  Litauen  fortwährend 
über  die  russischen  Beamten  klagte,  schien  ihm  selbstverständlich.  Aber 
<laß  sich  die  Polen  auf  die  Erwerbung  Litauens  selbst  mit  Gewalt  vor- 
bereiteten, schien  er  nicht  bemerken  zu  wollen.^)  Er  brachte  ihnen  so 
großes  Vertrauen  entgegen,  daß  er  sie.  diese  Kinder  romanisch-germanischer 
Kultur,  in  einem  Gespräch  mit  Danilewski  seine  Avantgarde  gegen  Eiu'opa 
nannte.  Die  Stellen  der  hohen  Beamten  in  Litauen,  Kleinrußland  und  "Weiß- 
rußland, ^vde  Gouverneure  und  Adelsmarschälle,  wurden  mit  polnischen 
Edelleuten  besetzt.  Die  litauischen  Regimenter  erhielten  den  Polen  gefällige 
Abzeichen,  und  nur  mit  Mühe  verhinderte  des  Zaren  Bruder  Konstantin 
die  Abschaffung  der  russischen  Uniform  zugunsten  einer  polnischen.'^ 

Eigentümlich  ist  auch  Alexanders  Verhalten  den  Geheimgesellschaften 
gegenüber.  Schon  im  Jahre  1821  hatten  die  Generaladjutanten  Fürst 
Wassiljtschikow  imd  A.  Ch.  Benkendorff  ausführliche  Berichte  über  den 
Umfang  und  die  Ziele  der  geheimen  Gesellschaften  eretattet.  Der  Zar  ant- 
wortete: „Mon  eher  "Wassiltschikoff !  Vous  qui  etes  ä  mon  Service  depuis 
le  commencement  de  mon  regne,  vous  savez  que  j'ai  partage  et  encourage 
ces  illusions  et  ces  en-eurs."  Auch  als  später  — Anfang  1824  —  Einzelheiten 
über  den  Zusammenhang  zwischen  dem  Dekabristen  Pestel^)  und  dem  Präsi- 
denten der  geheimen  Gesellschaften  in  Polen  Jablonowski  bekannt  wurden, 
tat  Alexander  keine  Schritte,  imi  den  sich  vorbereitenden  Aufstand  zu  ver- 
hindern. Bei  der  Charakterschwäche  Alexanders  fragt  man  sich  unwillkür- 
lich, ob  er  nicht  gar  darauf  hoffte,  von  den  Polen  mitgerissen  zu  werden, 
ob  es  ihm  nicht  nur  an  Offenheit  gebrach,  geheime  "Wünsche  kraft  seiner 
Stellung  als  Selbstherrscher  zm-  Durchführung  zu  bringen.  Eine  Gegen- 
überstellung seiner  Pläne  von  1811  mit  seinem  Tun  un  Jahre  1824  scheint 
Alexanders  "Wünsche  klar  zutage  treten  zu  lassen.  Aus  den  verschiedent- 
lichen  Versprechungen  an  die  Polen,  aus  der  Instruktion  für  Nesselrode, 
aus  dem  Verhalten  gegen  die  geheimen  Gesellschaften  und  aus  seiner  z  weif  el- 


1)  Grenzboten,  a.  a.  0.  S.  129.  —  -)  Ebenda,  S.  130.  —  =*)  Ebenda,  S.  130/31. 


C.  Aufgaben  33 

losen  Abneigung  gegen  die  Russen  scheint  hervorzugehen,  daß  Alexander 
die  Polen  zum  Eckstein  seiner  Macht  ausersehen  hatte.  "Weiter  hat  es  den 
Anschein  —  ohne  daß  es  aus  den  bisher  zugänglichen  Dokumenten  zu 
beweisen  wäre  — ,  als  wenn  Alexander  der  Erste  Rußland  mit  Hilfe 
der  Polen  kultivieren  und  die  Sicherheit  der  Dynastie  sowohl  auf  den 
polnischen  Adel  wie  auf  die  römisch-katholische  Kirche  aufbauen  wollte. 
Eine  solche  Auffassung  wird  unterstützt  durch  die  sachlichen  Angaben, 
die  Schiemann^)  bezüglich  Alexanders  Neigung  zum  Katholizismus  macht,  ^) 
Alexanders  Tod  und  der  sinnlose  Dekabristenaufstand  (1825)  setzten  den 
Träumen  und  Plänen,  Wünschen  und  Hoffnungen,  aber  auch  allem  Wankel- 
mut ein  jähes  Ende. 

3.  Das  Ende 

In  jeder  Beziehung  durchaus  das  Gegenteil  von  seinem  Bruder,  bestieg 
Nikolaus  der  Erste  den  Zarenthron.  Ehrlich,  aber  wenig  intelligent,  einfach 
in  seinen  Ansprüchen,  war  sein  liebster  Aufenthalt  der  Exerzierplatz.  Und 
wie  er  tausend  Soldaten  durch  ein  Wort,  einen  Wink  sich  bewegen,  durch 
ein  weiteres  unmittelbar  stehen  machen  konnte,  so  glaubte  er  als  Selbst- 
herrscher seine  Lande  regieren  zu  können.  Abweichungen  von  seinen 
Befehlen,  Kompromisse  mit  natürlichen  Widerständen  kannte  er  nicht. 
Darum  war  er  auch  leicht  zu  beeinflussen,  wenn  es  galt,  irgendeine  Maß- 
regel zum  Wohle  des  Landes  zu  ergreifen,  dem  allein  er  recht  zu  dienen 
glaubte.  Aber  aus  demselben  Grunde  war  er  auch  ungeeignet  für  irgend- 
eine sorgfältige  diplomatische  und  refonnatorische  Arbeit,  die  Zeit  bean- 
sprucht. Bezüglich  der  Polenfrage  war  er  in  dem  Geiste  der  Feindseligkeit 
aufgewachsen,  der  von  der  Geistlichkeit  ausging.  Die  Polen  haben  ihn 
darin  bestärkt  durch  die  Aufstände  von  1830/3L  Nikolaus  des  Ersten 
Polenpolitik  stand  unter  dem  Wort,  das  er  einmal  an  seinen  Bruder  Kon- 
stantin, den  Statthalter  von  Polen,  schrieb:  „Qui  des  deux  doit  perir,  car 
il  parait  que  pörir  il  faut,  est-ce  la  Russie  ou  la  Pologne."  Nach  dem 
Aufstande  wurde  die  polnische  Konstitution  von  1815  aufgehoben;  erst 
nachdem  die  Polen  sich  als  erbitterte  und  unversöhnliche  Feinde  des 
Russentums    offenbart    hatten,    als    sie    durch    den    Aufstand   ihre  wahren 


^)  Schieraann,  a.  a.  0.  S.  489  bis  491. 

-)  Alexandei-s  Stellung  zum  Katholizismus  findet  auch  eine  scharfe  Beleuchtung 
durch  die  Umwandlung  des  Polotzker  Jesuitenkollegiums  in  eine  Akademie  (1.  Mäi'z  1812) 
„für  die  großen  Verdienste  um  die  Erziehung  der  Jugend"  (vgl.  Grenzboten,  a.  a.  0.  S.  131). 
Weiter  wird  meine  Hypothese  gestützt  durch  die  hohe  Meinung,  die  sowohl  Alexander 
wie  sein  Bruder  Konstantin  von  der  Zuverlässigkeit  der  Polen  hatte,  was  seinen  Ausdruck 
findet  in  der  Besetzung  der  höchsten  Verwaltungsstellen  in  den  russischen  "Westprovinzen 
durch  Polen. 

Cleinow,  Die  Zukunft  Polens  3 


34  Zweites  Kapitel.   Historisches 


Absichten,  nämlich  über  Rußland  herrschen  zu  wollen,  zeigten,  da  entzog 
ihnen  Nikolaus  die  Mittel,  mit  denen  sie  Rußland  bekämpften.  Polen  erhielt 
im  Jahre  1832  das  sogenannte  „Organische  Statut"  vom  26.  Februar  und 
wurde  durch  ehien  Statthalter,  Paskewitsch,  regiert. 

Die  Russiüzierung  unter  Nikolaus  richtete  sich  besonders  gegen  die 
in  Weißrußland,  Kleinrußland  und  Litauen  lebenden  Polen  sowie,  wie  wir 
schon  sahen,  gegen  die  Uniaten.  Unter  Nikolaus  ist  der  russische  Klerus 
wieder  zu  großem  Einfluß  gelangt.  Das  Sektenwesen  A\'urde  strenger  ver- 
folgt, und  der  von  westlichen  Ideen  angesteckte  höchste  Adel  unterlag  wegen 
mancher  zutage  tretender  Neigung  zur  lateinischen  Kirche  scharfer  Beauf- 
sichtigung. Die  Feindseligkeit  gegen  die  römische  Kii'che  aber  stieg  in 
den  amtlichen  Kreisen  um  so  mehr,  als  der  polnisch -katholische  Klerus 
lebhaften  Anteü  an  den  Aufständen  genommen  hatte. 

Die  Politik  gegen  die  Polen  des  Zartums  kann  man  von  1831  bis  1850 
als  eine  solche  vollkommenster  Yemaclilässigung  kennzeichnen.  Diese  ti'at 
besonders  in  der  Erhöhung  der  Zölle  auf  in  Polen  hergestellte  Waren 
zutage,  die  einen  Rückgang  der  Wollwarenproduktion  um  60  Prozent  zur 
Folge  hatte.  ^) 

Nikolaus  PoUtik  brach  auf  den  Schlachtfeldern  der  ICrini  zusammen. 
Sein  Sohn  Alexander  aber  nahm  die  Arbeit  seines  Oheims  Alexanders  des 
Ersten  auf,  geführt  anfänglich  von  den  Westlern,  später  aber  von  den 
Slawjanophüen. 

Doch  den  Polen  hat  sein  Liberahsmus  keinen  Segen  gebracht.  Die 
polnische  Adelspartei  unter  Graf  Samoiski  weigerte  sich,  auf  wij-tschaft- 
lichem  Gebiet  die  notwendigsten  Konzessionen  zu  bewilligen.  Sie  schürte 
den  Aufstand  gegen  die  Partei  des  Marquis  Wielepolski,  an  dem  sich  wieder 
viele  römisch-katholische  Geistliche  beteiligten.  Die  russische  reaktionäre 
Partei,  deren  Ziel  es  war,  die  Reste  des  polnischen  Staatswesens  von  der 
Erdoberfläche  zu  verwischen,  hat  von  Wilna  aus  das  Feuer  geschürt. 

Das  Ergebnis  des  Aufstandes  von  1861/63  war  die  Vernichtung.  Das 
polnische  Volk  war  so  tief  gestürzt,  wie  ein  Volk  nur  fallen  konnte.  Ein 
verwüstetes  Land,  eine  verarmte  Bevölkerung  und  ein  hoffärtiger,  moralisch 
heruntergekommner  Adel,  das  war  der  Inhalt  des  Zartura  Polen  im  Jalirel863. 
Von  1846  bis  1861  hatte  die  Bevölkerung  keinen  Zuwachs  aufzuweisen, 
obwohl  in  jener  Zeit  jährlich  Tausende  von  deutschen  und  böhmischen 
Handwerkern,  Webern,  Spinnern  und  Bauern  in  das  Weichselgebiet  ein- 
wanderten. 37  Prozent  der  Landbevölkerung  waren  landlose  Proletarier. 
Irgendeine  gesellschaftliche  Organisation  war,  abgesehen  von  den  Städten 


>)  Vgl.  Kapitel  8.  B.  1.  —  Tarif  vom  12.  November  1824. 


C.  Aufgaben  35 

und  Kolonistendörfem,  außer  auf  dem  Papier  nicht  vorhanden.  An  allen 
Orten  heri'schte  die  Willküi"  der  Schlachta  und  der  Hängegendarmen.  ^) 
Nirgends  aber  war  eine  Ginippe  in  der  polnischen  Gesellschaft  zu  erkennen, 
die  Autorität  genug  gehabt  hätte,  den  ti'ostlosen  Zuständen  eine  Ende  zu 
setzen  sowie  das  Volk  zu  organisieren  und  kulturell  zu  heben.  Die  polnische 
Gesellschaft  war  materiell  und  moralisch  zusammengebrochen.  Ohne  Hilfe 
von  außen  erscliien  sie  unfähig,  sich  wieder  aufzuraffen. 

Aber  eins  hat  die  fast  tausendjährige  Geschichte  dem  schwergeprüften 
Volke  doch  gelassen:  die  Nationalsprache.  Sie  verband  die  Zusammen- 
hangslosen. Sie  gestattete  ihnen,  gemeinsam  zu  Magen,  zu  hoffen,  der 
Erinnerung  zu  leben  und  den  Haß  gegen  die  Sieger  zu  pflegen.  Konrad 
von  Wallenrod  und  Pan  Tadeus  von  MicMewicz  konnten  sie  lesen  v/nd 
aus  der  Vergangenheit  Mut  schöpfen  für  die  Aufgaben  der  Zukunft. 


*)  Bis  zum  1.  Dezember  1863  wurdeu  durch  dieses  Exekutivorgan  der  Aufständischen 
nicht  weniger  als  821  Menschen  hingerichtet. 


C^^^ 


8* 


ZWEITER  TEIL 
Das  Zartum  Polen  bis  zum  Herbst  1904 


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Drittes  Kapitel 
Die  Reformen  von  1864 

Die  nissische  Regierung  hat  die  Hilfe  geleistet,  deren  das  pohlische 
Yolk  zu  einer  Gesundung  bedurfte,  durch  Inkorporation  des  seit  1815  in 
Realunion  mit  Rußland  verbundnen  Zartums  Polen  auf  dem  Verwaltungs- 
wege. Mit  Feuer  und  Schwert  hat  sie  die  Aufstände  von  1861/63 
unterdrückt,  viele  aufsässige  Elemente  des  Landes  verwiesen,  die  revolutio- 
nären Geistlichen  ins  Innere  Rußlands  verbannt.  Dann  hat  sie  mit  der 
Organisation  der  Gesellschaft  begonnen,  anfänglich  klug  wirtschaftliche  und 
politische  Ziele  verbindend. 

Es  galt  ihr,  zwei  Dinge  zu  erreichen:  das  alte  Zartum  zu  einem  pro- 
duktiven Teil  des  russischen  Staates,  ^)  oder  anders  bezeichnet,  des  russischen 
Wirtschaftsgebiets  zu  machen  und  gleichzeitig  die  bis  1863  durch  den 
polnischen  Staat  am  meisten  vernachlässigten  Teile  der  Bevölkerung  mit 
Hilfe  wirtschaftlicher  Reformen  an  den  Wagen  des  Wohltäters,  des  russischen 
Staates  nämlich,  zu  spannen.  Konkret  ausgedi-ückt  heißt  das:  die  landlose 
und  landarme  Bevölkerung  mit  Land  zu  versehen,  sie  im  Gegensatz  zum 
polnischen  Großgrundbesitz  zu  erhalten  und  sie  dem  Einflüsse  der  römisch- 
Jcatholischen  Geistlichkeit  möglichst  zu  entziehen.  An  eine  Aufhebung  der 
durch  Marquis  Wielepolski  im  Jahre  1862  geschaffnen  Selbstverwaltung 
wurde  anscheinend  anfänglich  nicht  gedacht.^)  Daß  Alexander  der  Zweite 
so  und  nicht  anders  seine  Aufgabe  in  Polen  auffaßte,  beweist  die  Wahl 
der  Persönlichkeit,  der  er  die  Vorbereitung  der  Reformen  übertrug.  Es 
war  N.  A.  Miljutin,  der  Fi'eund  der  Slawjanophilen,  der  sich  durch  seine 


^)  „Das  endliche  Ziel  aller  Reformen  wai'  clie  Festigung  des  nissischen  Staats- 
prinzips .  .  .",  siehe  Nikolaj  Reinke,  Gehilfe  des  Oberprokiireurs  des  Zivildepartements  im 
Dirigierenden  Senat,  in  seiner  DarsteUimg  der  Gesetzgebung  für  das  Zartum  Polen  (1807 
bis  1881),  Senatsdruckerei,  St.  Petersburg,  1902,  S.  112. 

2)  Alexander  der  Zweite  sagte  Ende  August  1863  zum  Senator  Arzimowitsch,  er  sei 
bereit,  den  Polen  die  (1862)  geschenkten  Reformen  zu  belassen,  sofem  sie  sich  nur  schnell 
beruhigten  (Spassowitsch ,  Gesammelte  Schriften,  Bd.  X,  S.  359).  Vgl.  auch  das  Kapitel 
von  der  Stimmung  der  russischen  Gesellschaft,  die  Meinung  Katkows. 


40  Drittes  Kapitel.    Die  Reformen  von  1864 

demokratische  Gesinnung  gelegentlich  der  Bauemreform  yon  1861  in  Ruß- 
land bemerkbar  gemacht  und  das  Mißtrauen  des  russischen  Adels  auf  sich 
gelenkt  hatte.  Miljutin,  der  in  Ungnade  im  Auslande  lebte,  überaahm  die 
Aufgabe,  obwohl  er  sich  dessen  bewußt  war,  einen  ihrer  wichtigsten  Teile 
nicht  lösen  zu  können.^)  Die  Berater  Alexanders  des  Zweiten  meinten 
nämlich,  die  Regierung  würde  sich  dui'ch  die  Landzuteilung  an  die  Bauern 
diese  für  immer  gewogen  erhalten.-)  Miljutin  bestlitt  das,  wenn  er  auch 
zugab,  daß  sie  für  den  Augenblick  wenigstens  beruhigt  werden  würden. ') 
Miljutin  arbeitete  im  Winter  1863  gemeinsam  mit  Jurij  Ssamarin  und  Fürst 
W.  A.  Tscherkaßki  den  Reforraplan  aus  und  behielt  auch  die  Leitung  des 
Reform  Werkes  als  Präsident  der  eignen  Kanzlei  Seiner  Majestät  des  Kaisers 
für  Angelegenheiten  des  Zartums  Polen  in  der  Hand. 

Im  allgemeinen  Staatsinteresse  ebenso  wie  im  Interesse  der  polnischen 
Gesellschaft  lag  es  nun,  die  notwendigen  Reformen  so  schnell  als  möglich 
durchzuführen.  Infolgedessen  wurde  eine  ganze  Anza  hl  von  Organen  mit 
außerordentlichen  Vollmachten  geschaffen,  die  sich  ausschließlich  mit  dem 
Reformwerk  in  Polen  zu  befassen  hatten  und  nach  dessen  Durchführung 
wieder  verschwinden  sollten.  "Wie  gesagt:  von  einer  Beseitigung  des  pol- 
nischen Senats  war  noch  nicht  die  Rede.     Diese  Organe  waren: 

1.  das  Reorganisationskomitee  im  Zartum  Polen;  es  bestand  vom 
19.  Februar  1864  bis  zum  I.April  1871.*) 


*)  S.  S.  Tatischtschew,  „Alexander  der  Zweite",  A.  A.  Ssuworin,  St.  Petersburg,  1903, 
Bd.  I,  S.  504. 

^)  Eeinke,  a.  a.  0.  S.  112.  „.  .  .  In  der  Reihe  der  Mittel  stand  an  erster  Stelle  die 
Umwandlung  der  Gesellschaftsordnung  mit  Hilfe  der  Hineinfügung  neuer  Elemente,  d.  h. 
wirtschaftlich  sichergestellter  und  von  den  dem  russischen  Staatsprinzip  feindlich  gesinnten 
Kreisen  unabhängigen  Bauern  .  .  ." 

^  A.  Leroy-Beaulieu,  „ün  homme  d'etat  rasse",  Re\'ue  des  deux  mondes  vom  1.  De- 
zember 1880,  S.  535. 

*)  Das  Reorganisationskomitee  hatte  die  Aufgabe,  die  Arbeiten  des  unter  dem  Voi-sitz 
des  Statthalters  tagenden  Rats,  der  nominell  weiterbestand,  zu  übernehmen.  Das  Re- 
organisationskomitee stand  unter  dem  Vorsitze  des  Statthalters  für  Polen,  sein  Bestand 
wurde  durch  kaiserliche  Ernennung  ergiinzt.  Doch  durfte  der  Vorsitzende  bei  entsprechenden 
Fragen  den  Generalpolizeimeister  von  Polen,  die  Hauptdirektoren  der  Regierungskommissionen 
und  die  Mitglieder  der  Liquidationskommission  zu  den  Beratungen  hinzuziehen  (Art  3). 
Dem  Reorganisationskomitee  lag  es  ob,  alle  Angelegenheiten  der  Bauern,  wie  der  bäuer- 
lichen Bevölkemng  überhaupt,  zu  regeln  (Art.  5).  Das  Komitee  hatte  in  den  seiner 
Kompetenz  unterliegenden  Angelegenheiten  das  Recht,  Ergänzungsbestimmungen  zu  er- 
lassen und  im  Bereiche  des  Zaiiums  administrative  Maßregeln  zu  ergreifen.  Der  Beauf- 
sichtigung durch  das  Reorganisationskomitee  unterstand  auch  die  LiquidationskommLssion. 
Femer  wurde  durch  allerhöchsten  Befehl  vom  25.  Oktober  1864  noch  eine  juridische 
Kommission  unter  das  Komitee  gestellt,  die  die  Gerichtsreform  im  Sinne  der  großen  Re- 
formidee durchzufühi-en  hatte.  Im  Laufe  der  Zeit  wurden  die  Kompetenzen  des  Re- 
organisationskomitees noch  erweitert.     Als  durch  ükas  vom  10.  März  1867  der  ReicLsrat 


A.  Die  Agrarreform  41 


2.  das  Komitee  für  Angelegenheiten  des  Zartiims  Polen;  es  bestand 
vom  25.  Februar  1864  bis  zum  29.  Mai  1881.  i) 

3.  die  eigne  Kanzlei  Seiner  Majestät  des  Kaisers  für  Angelegenheiten 
des  Zartums  Polen;  sie  bestand  vom  19.  Mai  1866  bis  zum  26.  August  1876.*) 

Der  grundlegende  gesetzgeberische  Niederschlag  der  Reform  Miljutins 
waren  die  vier  Ukase  vom  19.  Februar  1864,  deren  erster  die  Landzuteilung 
und  Einführung  einer  selbständigen  bäuerlichen  Gemeinde  —  sseljskoje 
obschtschestwo  (polnisch  gromada)  —  befiehlt,  deren  zweiter  die  Einrichtung 
der  großen  Landgemeinde  —  gmin  —  ausspricht;  der  dritte  richtet  die 
Liquidationskommission^)  ein,  während  der  vierte  Einzelheiten  über  die 
Dui'chführung  der  Bauemreform  enthält. 

A.  Die  Agrarreform 

1.  Landzuteilung 

Der  grundsätzliche  Unterschied  der  Agrarrefonn  von  1864  gegenüber 
allen  frühem  Versuchen,  die  Lage  der  bäuerlichen  Bevölkerung  im  Zartum 
zu  bessern,  besteht  in  dem  völligen  Bruch  mit  der  alten  Tradition,  auf  der 
die  Beziehungen  zwischen  Bauern  imd  Besitzern  benihten.    Ferner  nahm, 


für  das  Zartum  Polen  aufgehoben  wurde,  übernahm  das  Komitee  die  Kontrolle  über  die 
Rechnungslegung  der  Zentralbehörden  des  Zartums  sowie  deren  allmähliche  Auflösung. 
Nach  der  Auflösmig  der  Finanzkommission  und  der  Rentei  durch  Ukas  vom  28.  März  1867 
übernahm  es  auch  das  Finanzwesen.  Der  Ukas  vom  5.  Juni  1867  brachte  neue  Vollmachten, 
und  am  29.  Februar  1868  wurde  der  Warechauer  Magistrat,  das  Steuer-,  Versicherungs- 
und Sparkassenwesen  imter  die  Aufsicht  des  Reorganisationskoraitees  gestellt.  Mit  solchen 
Vollmachten  ausgerüstet,  von  einer  einzigen  Stelle  aus  geleitet,  konnte  die  Reorganisation 
in  verhältnismäßig  kurzer  Zeit  ihre  Aufgabe  durchführen. 

')  Das  Komitee  für  Angelegenheiten  des  Zartums  Polen  wurde  eingerichtet,  um  zu 
gewährleisten,  daß  sich  alle  Maßregeln  der  Gesetzgebung  und  Verwaltung  auch  folgerichtig 
aus  den  aligemeinen  Richtlinien  ergeben.  Es  bestand  aus  einem  Vorsitzenden  und  fünf 
Mitgliedern,  die  alle  durch  den  Zaren  ernannt  wurden.  Im  allgemeinen  führte  der  Zar 
den  Vorsitz  persönlich. 

*)  Die  eigne  Kanzlei  Seiner  Majestät  des  Kaisers  für  Angelegenheiten  des  Zartums 
Polen  wurde  eingerichtet  im  Anschluß  an  die  Auflösung  des  besondem  Staatssekretariats 
für  Polen,  eine  Einrichtung,  wie  sie  für  Finnland  noch  heute  besteht.  In  diese  Kanzlei 
gelangten  alle  das  Zartum  Polen  betreffenden  gesetzgeberischen  Arbeiten,  die  später  an 
das  Komitee  für  Angelegenheiten  des  Zartums  Polen  zu  gelangen  hatten.  Ferner  hatte 
die  Kanzlei  alle  Daten  über  das  Zartum  Polen  zur  Kenntnis  der  Regierimgsorgane  zu 
bringen;  sie  hatte  auch  für  die  Durchführang  der  beschlossenen  Maßregeln  Sorge  zu  tragen. 
Miljutin  übernahm  alle  Funktionen,  die  früher  dem  Staatssekretär  für  Polen  oblagen. 

*)  Zu  den  Pflichten  der  Liquidationskommission  gehörte  die  Abfassung  und  Ausgabe 
von  Verfügungen  betreffend  Zinszahlung  und  Tilgung  der  Liquidationsbriefe,  die  seitens 
des  Fiskus  des  Zaitums  Gutsbesitzern  als  Entschädigung  für  die  aufgehobnen  bäuerlichen 
Verpflichtungen  ausgegeben  worden  waren.     (Reinke,  a.  a.  0.  S.  115.)   S.  S.  42. 


42  Drittes  Kapitel.    Die  Reformen  von  1864 

was  früher  nicht  geschah,  der  Staat  die  Finanzierung  der  Reform  in  seine 
Hand  und  half  den  Bauern  mit  Geld.*) 

Durch  den  ersten  Ukas  vom  19.  Februar  1864  fiel  alles  Land,  das 
am  Tage  der  Veröffentlichung  des  Ukases  Privatpersonen,  Majoraten,  ver- 
schiednen  Instituten  und  dem  Fiskus  gehörte,  aber  von  Bauern  in  Pacht 
bearbeitet  wurde,  diesen  als  vererblicher  Besitz  zu.  Das  aber  war  ein 
Drittel  des  Zartums  oder  3609721  Deßjatinen.  Sie  wurden  eingeteilt  in 
514113  Bauerngüter  von  je  nach  den  örtlichen  Verhältnissen  verschieden 
großem  Umfang.-)  Die  Bauern  wurden  von  allen  Leistungen  zugvmston 
der  Großgrundbesitzer,  mögen  sie  in  GeldzaMungen,  Naturalien  oder  Arbeit 
bestehen,  entbunden.  Für  das  er^vorbne  Landstück  waren  die  Bauern 
gehalten,  Grundsteuer  an  den  Fiskus  zu  entrichten. 

Die  Großgrundbesitzer  erhielten  für  die  Ablösung  der  bäuerlichen 
Leistungen  eine  Entschädigung  vom  Fiskus,  die  auf  Grund  der  Vorschriften 
für  die  Liquidationskommission  errechnet  wurde.  Die  Entschädigung  er- 
folgte in  Form  von  vierprozentigen  sogenannten  Liquidationsbriefen,  die  an 
der  Börse  gehandelt  werden  konnten.  Die  Regierung  wälilte  diese  Form, 
um  die  Grundbesitzer  in  politischer  Hinsicht  in  die  Hand  zu  bekommen.'^ 
Denn,  so  meinte  sie,  die  Großgrundbesitzer  würden  sich,  um  den  Kurs  der 
Liquidationsbriefe  nicht  zu  schädigen,  ruhig  verhalten.  Tatsächlich  zeigte 
der  Kurs  der  Liquidationsbriefe  folgende  Tendenz:  im  Jahre  1867:  65  Rubel, 
1870:  73,  1875  nach  Zulassung  an  der  Berliner  Börse  79 V^'),  1880:  86, 
1890:  94,  1894:  95^4,  1898:  99V4^),  1899:  96V/),  1900:  97,3,  1902: 
98  Rubel. '^)  Im  ganzen  wurden  für  64014250  Rubel  Liiiuidationsbriefe 
ausgegeben,  von  denen  sich  1873  noch  57618717  Rubel  im  Umlauf 
befanden.  Die  ganze  Operation  wurde  auf  37  Jahre  verteilt  Die  Mittel 
für  die  Entschädigung  wurden  zum  Teil  aus  der  bäuerlichen  Bodeusteuer 


*)  Reinke,  a.  a.  0.  S.  117  ff.:  „Der  eigentliche  Unterschied  zAvisehen  der  Baueinrefonn 
•vom  19.  Februar  1864  und  allen  andern  Versuchen,  die  Lage  der  bäuerlichen  Bevölkerung 
zu  organisieren,  besteht  darin,  daß  die  Beform  von  1864  offen  die  Verbindung  mit  der 
alten  Überliefeiamg  zerrissen  hat,  die  das  Verhältnis  der  Bauern  und  Gutsbesitzer  zueinander 
regelte;  aber  auch  darin,  daß  die  Staatsrentei  den  Bauern  zu  Hilfe  kam  und  selbst  die 
finanzielle  Regelung  der  Frage  übernahm.  .  .  .  Nach  dem  Gesetz  vom  24.  Mai  1862  (Los- 
kauf) -wäre  es  den  Bauern  ei-st  nach  langer  Zeit  mögüch  gewesen,  sich  von  den  feudalen 
Verbindungen  zu  lösen  ..."  S.  118:  „alle  diese  Feudalwirtschaft  wurde  durch  die  Gesetze 
vom  19.  Februar  1864  aufgelöst  ..." 

')  Nach  dem  militäretatistischen  Sammelwerk  „Rossija",  St.  Petei-sbiu-g  1871,  S.  216, 
wurden  3609700  Deßjatinen  oder  ein  Drittel  des  Zartums  den  Bauern  überlassen;  sie 
errichteten  darauf  424735  Höfe. 

^  Reinke,  a.  a.  0.  S.  127.  —  *)  Posnanski,  Historische  Skizze,  Petersburg  1875,  S.  29. 

°)  Zitiert  bei  Reinke,  a.  a.  0.  S.  127  Anm. 

^)  „Jahrbuch  des  Finanzministeriums"  von  1892,  S.  413. 

')  Ebenda  von  1904,  S.  425. 


A.  Die  Agrarrefoiin  43 


beschafft  (Artikel  1  bis  4),  und  der  Fiskus  verpflichtete  sich,  42  Jahre 
hindurch  je  eine  Summe  vorzuschießen,  die  5  Prozent  des  Liquidations- 
kapitals gleichkam. 

Der  erste  Ukas  vom  19.  Februar  1864  macht  alle  Hcäusler  —  Besitzer 
von  Hütten  —  zu  Landbesitzern.  Auf  die  unterschiedliche  wirtschaftliche 
Stellung  der  Häusler  zum  Gutsherrn  als  Kolonisten,  Knieten,  Pflüger,  Gärtner, 
Kämmerer,  Viehwärter  usw.,  also  als  Pachtkontrahenten  oder  Arbeitsnehmer 
nahm  das  Gesetz  keine  Kücksicht.  Die  gesamte  Wirtschaftsorganisation  auf 
den  Gütern  war  somit  in  einem  gewissen  Augenblick  aufgelöst. 

Nach  und  nach  wurde  die  Wirksamkeit  des  ersten  Ukases  durch  Ver- 
fügungen des  Keorganisationskomitees  auch  auf  weitere  Kreise  ausgedehnt. 
So  wurde  den  bäuerlichen  Inhabern  zeitlich  unbeschränkter  Pachtungen 
von  Staatsländereien  das  gleiche  Recht  eingeräumt  wie  den  Häuslern; 
ihnen  folgten  bäuerliche  Einwohner  städtischer  Siedlungen,  Bergarbeiter; 
Ausländer,  die  sich  bereit  erklärten,  rassische  Untertanen  zu  werden, 
erhielten  gleichfalls  Land.  Auch  die  völlig  landlosen  Landarbeiter  wurden 
nicht  vergessen ;  ihre  Zahl  betrug  etwa  1 340  000  Personen  beiderlei 
Geschlechts.    Nur  200000  Seelen  blieben  ohne  Land. 

Von  den  Bestimmungen  des  ersten  Ukases  vom  19.  Februar  1864 
wurden  nicht  betroffen:  a)  gutsherrliche  Schenkwirtschaften,  Mühlen,  Ziege- 
leien und  Schmieden;  b)  Schäfereien,  Gärtnereien  sowie  die  Behausungen 
sonstigen  Hofpersonals  und  der  Waldwärter,  soweit  sich  diese  auf  den 
Gutshöfen  und  Vorwerken  selbst  oder  im  Gutswald  befanden,  nicht  aber 
im  Dorf;  c)  Gutsland,  das  auf  Grund  geschri ebner  Kontrakte  gemeinsam 
mit  den  Baulichkeiten  von  Vorwerken  verpachtet  war;  d)  Anwesen,  die 
von  den  Bauern  schon  vor  dem  Jahre  1864  zu  eigen  erworben  waren. 

2.  Die  Servitute 

Während  sich  die  Regierung  bemühte,  den  Bauern  materiell  möglichst 
unabhängig  vom  Gutsbesitzer  zu  stellen,^)  hat  sie  es  nicht  für  nötig  be- 
funden, auch  den  Gutsbesitzer  in  Unabhängigkeit  vom  Bauern  zu  bringen.') 
Denn  sie  hat  das  den  Bauern  im  Jahre  1846  verliehene  Servitutenrecht 
beibehalten.    Die  Bauern  behielten  das  Recht  auf  Wald-  und  Weidenutzung 


*)  §  2  des  ersten  Ukas  vom  19.  Febniar  1864  befreit  den  Bauern  vom  3./ 15.  April 
ab  „für  immer  von  allen  Verpflichtungen  ohne  Ausnahme,  die  ihm  zugimsten  der  Guts- 
besitzer auferlegt  waren  .  .  .  Alle  eingeklagten  Forderungen  wegen  Rückständen  in  den 
aufgehobnen  Verpflichtungen  sind  niederzuschlagen  und  können  nicht  von  neuem  eingeklagt 
werden  ..." 

*)  §  1  des  Servitutengesetzes  vom  13./25.  März  1870  beginnt  mit  den  Worten: 
„Um  die  Bauern  und  Bürger  vor  willkürHchen  Beschränkungen  seitens  der  Gutsbesitzer 
zu  behüten  .  .  .";  siehe  Stawski,  Bürgerliches  Gesetzbuch  a.  a.  0.  Bd.  11,  S.  398. 


44  Drittes  Kapitel.    Die  Reformen  von  1864 

sowie  die  Benutzung  von  Fahr-  und  Fußwegen,^)  das  sie  sich  durch  Ge- 
wohnheit oder  besondre  Verträge  und  mündliche  Abmachungen  erworben 
hatten.  Sie  können  aus  den  Gutswäldem  zum  Beispiel  Bau-  und  Brenn- 
holz, Reisig  und  Blätter  nehmen  und  ihr  Vieh  in  den  Gutswäldern  und 
auf  dem  Gutsacker  weiden.^)  Diese  Rechte,  an  denen  im  Jahre  1864 
335171  Bauernhöfe  teilnahmen,  erhielten  aber  erst  im  Jahre  1870  Gesetzes- 
kraft.^) Sie  sind  nun  zum  allergrößten  Teil  bezüglich  ihres  wirtschaftlichen 
Wertes  für  die  Bauern  sehr  problematischer  Natur,  Vor  allen  Dingen 
haben  die  Rechte  der  Wald-  und  Weidenutzung  keinen  Wert  mehr.  Die 
meisten  Wälder,  die  noch  heute  mit  dem  Servitut  belastet  sind,  stehen 
unter  dem  Zeichen  des  Verfalls.  Seit  Jahren  ist  nicht  nur  alles  Laub, 
Reisig  und  Moos  aus  ihnen  herausgetragen  worden,  sondern  auch  das  Unter- 
holz und  die  Baumrinde.  Solche  Wälder  machen  mit  ihren  ausgetretnen 
Viehsteigen  und  verkümmernden  Bäumen  einen  traurigen  Eindruck.  Der 
Servituteninhaber  kann  aus  ihnen  nichts  mehr  herausholen,  oder  er  muß 
Holz  stehlen.  Der  Holzdiebstahl  ist  darum  auch  außerordentlich  verbreitet 
und  ein  ständiger  Grund  des  Streites  zwischen  den  Gutsbesitzern  und 
Bauern.    (Vgl.  auch  Nowoje  Wremja  von  1905  Nr.  10 004.) 

Ähnlich  steht  es  mit  dem  Weiderecht.  Wo  die  Gutsbesitzer  zu  einer 
modeiTien  Feldwirtschaft  übergegangen  sind  —  und  das  ist  fast  überall  im 
Zartum  der  Fall  — ,  wo  sie  Meliorationen  der  AViesen  dui'chgeführt  haben, 
da  bemühen  sie  sich,  das  Bauernvieh  von  ihrem  Lande  fernzuhalten.  Sie 
erreichen  es,  indem  sie  entweder  die  zweite  Heuernte  so  spät  legen,  daß 
die  Bauern  von  der  Weideberechtigung  nichts  mehr  haben,  oder  indem 
sie,  wo  das  nur  immer  möglich  ist,  gleich  nach  der  Geti'eideemte  mit  dem 
Unterpflügen  der  Stoppel  beginnen.  Auch  bei  dieser  Form  des  Servituts 
kann  der  Bauer  nui*  einen  Nutzen  daraus  ziehen,  wenn  er  sein  Recht  über- 


*)  Baron  A.  Nolcken  hat  im  Jahre  1891  eine  ganze  Reihe  von  Seuatsentscheidungen 
über  Zi\'ilgericht'Nstreitigkeiten  zusammengestellt  imd  durch  die  Senatsdmckerei  veröffent- 
licht. Alle  Erläuterungen  zum  Servitutenrecht  (S.  25  bis  30)  tragen  den  Charakter  einer 
möglichst  weiten  Auffassimg  des  Rechts  in  den  Jahren  1878  bis  1887. 

*)  Ukas  vom  19.  Februar  1864  für  die  Bauern  und  vom  28.  Ok-tober  1866  für  die 
städtischen  Ackerwirte. 

*)  §  11  des  ersten  Ukas  vom  19.  Februar  1864  erhält  den  mit  Land  versehenen 
Bauern  das  Recht  (Semtut)  an  Brennholz-,  Bauholz-,  "Wiese-  imd  Weidebenutzung,  das 
sie  vor  dem  Ukas  genossen  hatten.  Diese  Rechte  sind  laut  Senatsentscheidung  31/1900 
mit  dem  Bauernlande,  nicht  mit  der  Person  des  Besitzei-s  verbunden.  §  12  erechwert  die 
Ablösung  der  Ser\itute.  §  15  verpflichtet  den  Gutsbesitzer,  der  auf  einem  ihm  gehörigen, 
aber  von  Bauern  bewirtschafteten  Grundstück  Kohle  abgebaut  hat,  bei  Erlaß  des  Gesetzes 
den  Bauern  zu  entschädigen,  wenn  er  den  Abbau  weiter  betreiben  will.  §  16.  Jagd  und 
Fischerei  sind  ein  Recht  der  Gromada,  nicht  des  Einzelnen.  Wenn  der  Gutsbesitzer  künst- 
liche Teiche  zur  Fischzucht  angelegt  hat,  hat  er  an  diesen  Besitzrechte.  Siehe  Stawski, 
a.  a.  0.  S.  158.  Weiteres  Kapitel  9. 


A.  Die  Agrarreform  45 


schreitet,  zum  Beispiel,  wenn  er  das  Vieh  auf  ungemähte  Wiesen  schickt. 
Infolgedessen  sind  die  Streitigkeiten  zwischen  Bauern  und  Gutsbesitzer 
ohne  Ende.^) 

Die  häufigen  Streitigkeiten  sowie  die  gesteigerte  Feindschaft  zwischen 
Bauern  und  Gutsbesitzern  sind  auch  dem  Statthalter  Graf  Berg  nicht  ent- 
gangen. Doch  hatten  die  auf  seine  Veranlassung  im  Jahre  1871  in  An- 
griff genommnen  Beratungen,  die  dem  Gutsbesitzer  das  Recht  geben  sollten, 
sich  von  Servituten  zu  befi'eien,  kein  praktisches  Ergebnis,  da  das  Reor- 
ganisationskomitee  eine  Änderung  nicht  für  zeitgemäß  hielt. 

Die  Verhandlungen  über  die  Aufhob img  der  Servitute  hatten  dagegen 
zur  Folge,  daß,  obwohl  die  Bauern  keinen  rechten  Nutzen  von  den  Ser- 
vituten hatten,  die  Gutsbesitzer  aber  nur  Schaden,  weder  die  einen  noch 
die  andern  sich  sonderlich  beeilten,  die  Servitute  von  sich  aus  abzulösen. 
Beide  Teile  hofften  durch  eine  staatliche  Regelung  der  Ablösung  größere 
Vorteile  erzielen  zu  können  als  durch  private.  Wo  aber  die  Gutsbesitzer 
auf  Ablösung  der  Servitute  drangen,  bestanden  die  bäuerlichen  Servituten- 
inhaber  meist  auf  einer  Abfindung  durch  Land. 

Im  engen  Zusammenhang  mit  den  Servituten  steht  die  Frage  von 
den  Streuiändereien.  Auch  in  dieser  Richtung  hat  die  Regierung  keinerlei 
ernste  Schritte  unternommen,  um  die  Besitzungen  abzugrenzen.  Das  Gesetz 
vom  29.  Dezember  1876  hat,  wie  in  Kapitel  9  näher  gezeigt  werden  soll, 
eher  hemmend  als  fördernd  gewirkt.'^) 

Trotz  den  gekennzeichneten  Verhältnissen  und  der  unfruchtbaren  Be- 
lastung der  Verwaltungsorgane  hält  die  Regierung  an  den  Servituten  fest. 
Welchen  Grund  sie  dazu  hat,  ob  sie  vielleicht  die  Politik  der  Bauembank 
erleichtem  will,  läßt  sich  nicht  erkennen,  mid  es  bleibt  uns  nur  übrig, 
denen  zu  glauben,  die  behaupten,  die  Regierung  wolle  zwischen  Gutsbesitzern 
und  Bauern  Zwietracht  erhalten. 

Bestätigt  wird  solche  Auffassung  durch  die  Worte,  die  der  Kanzlei- 
chef Gurkos  als  seines  Chefs  Ansprache  amtlich  weitergegeben  hat:  „. . .  es 
wird  kein  Finger  gerührt  für  die  Aufhebung  der  Servitute  —  uns  (den 
Russen)  sind  sie  notwendig,  um  zwischen  Gutsbesitzern  und  Bauern  Feind- 
schaft zu  erhalten"  3). 

Nun  dürfte  für  die  politischen  Folgen  der  eben  gekennzeichneten 
russischen  Politik  die  Beobachtung  interessant  sein,   in  welchem  Umfang 


1)  S.  a.  Schpilew,  Wjestnik  Finanssow  von  1905,  Heft  21,  S.  288. 

^)  S.  a.  Spaßowitsch  und  Pilz,  „Tagesfragen  im  Zartiim  Polen",  St.  Petersburg,  bei 
M.  M.  Staßjulewitsch,  1902,  S.  167—184. 

0  Nowoje  Wremja  Nr.  10604  von  1905,  S.  3  im  Artikel  „Die  Politik  der  General- 
gouvemeure". 


46  Drittes  Kapitel.    Die  Reformen  von  1864 

die  freiwilligen  Servitutenablösungen  von  1864  bis  1900  vor  sich  gegangen 
sind.  Yon  1865  bis  1874  wurden  nur  1817  Servitute  abgelöst;  nachdem  dia 
ablehnende  Stellung  der  Regierung  bekannt  geworden  Avar  und  Agitatoren 
auf  die  bösen  Absichten  hinweisen  konnten,  stieg  die  Zahl  der  Ablösungen 
im  Dezennium  1875  bis  1884  auf  8912,  im  Dezennium  von  1885  bis  1894 
auf  3791  und  im  Jahrfünft  von  1895  bis  auf  1899  auf  1871.i) 

3,  Das  häuerliche  Besitzrecht 

Die  russische  Regierung  hat  sich  indessen  nicht  begnügt,  den  Bauern 
Land  zu  geben, ^)  sie  hat  auch  Maßregeln  getroffen,  einer  spätem  Ver- 
ringerung des  bäuerlichen  Landbesitzes  vorzubeugen.  Sie  hat  den  Bauern 
zum  Eigentümer  seines  Landes  gemacht,  aber  sein  Yerfügungsrecht  darüber 
beschränkt.  Kein  Bauemland  durfte  ursprünglich  an  nichtbäuerliche  Per- 
sonen verkauft  oder  verschenkt  werden,  und  die  Bauerngüter  dui-ften  nicht 
in  kleinere  als  sechs  Morgen  große  Teile  zerlegt  werden.  Das  Bauernland 
war  somit  der  Bodenspekulation  entzogen  —  wenigstens  in  der  Theorie. 
Denn  die  Spekulation  fand  außerhalb  des  Gesetzes  Eingang,  natürlich  in 
um  so  gröberer  Form.  Das  Gesetz  sollte  nur  zehn  Jahre,  d.  h.  bis  zum 
19.  Februar  1874  Geltung  behalten,  „aber  weiter  bestehn  bleiben,  wenn  es 
nicht  besonders  aufgehoben  werden  würde". 

Die  slawjanophilen  Refonnatoren  wollten  in  die  gesellschaftliche  Struktur 
des  pohlischen  Yolks  einen   neuen  Begriff  bringen:   den  Bauernstand   als 


^)  J.  A.  Jesjoranski  in  den  Arbeiten  der  Gouvemementskomitees  zur  Hebung  der 
Landwirtschaft.    Bd.  51,  S.  613. 

2)  §  18.  Jedem  Hofbesitzer  steht  das  Recht  zu,  den  zu  erwerbenden  Hof  zu  ver- 
mieten, zu  verpfänden  oder  zu  veräußern.  Um  aber  einem  Niedergange  der  wirtschaft- 
lichen Lage  der  Bauern  vorzubeugen,  unterliegt  dieses  Recht  folgenden  Beschränkungen : 

a)  Das  auf  dem  Gnmdstück  befindliche  Haus  und  die  Wirtschaftsgebäude  dürfen 
imabhängig  vom  Boden  weder  verpfändet  noch  enteignet  werden. 

b)  Die  auf  Grimd  dieses  Ukases  imter  Vorzugsbedingungen  au  Bauern  zum  Eigen- 
tum gegebnen  Höfe  können  nur  an  Bauern  vei-pfändet  und  von  Bauern  erworben  werden. 

Auf  diesen  Paragraphen  der  allgemeinen  Gesetzgebung  haben  Bezug: 

a)  Instruktion  des  Reorganisationskomitees  vom  30.  Dezember  1865,  nebst  Senats- 
entscheidungen: 4/1886,  74/1882,  124/1890,  12/1894,  216/1880,  43/1884,  16/1886,  95/1884, 
92/1894,  31/1891. 

b)  Instruktion  des  Reorganisationskomitees  vom  26.  Juni  1870. 

c)  Allerhöchst  bestätigte  Regeln  vom  6.  August  1876.  nebst  Seuatsentscheidungen: 
11/1890,  98/1884,  27/1891,  26/1885,  28/1898,  31/1902,  118/1894,  118/1892,  58/1891, 
17/1884  und  5/1885. 

d)  Instruktion  des  Reorganisationskomitees  vom  23.  Oktober  1865  und  19.  Juli  1868. 

e)  Allerhöchst  bestätigte  Gutachten  des  Reichsrats  vom  11.  Juni  1891,  nebst  Senats- 
entscheidungea:  16/1896,  37/1897,  41/1898,  21/1898,  64/1892,  84  1894,  6/1903,  48/1894, 
83/1894. 


A.  Die  Agrarreform  47 


wirtschaftlich  abgeschlossene  Kaste.  Darum  wurde  an  den  Gesetzen  fest- 
gehalten. Die  Maßregel,  die  den  Zweck  verfolgte,  eine  völlige  Gleichartig- 
keit der  sozialen  Organisation  in  Polen  und  Rußland  vorzubereiten,  wurde 
ausgebaut  durch  das  Gesetz  vom  11.  Juni  1891  und  das  vom  20.  Mai  1896, 
die  beide  der  Verkleinerung  bäuerlicher  Güter  entgegenwirken  sollten. 

Die  Bestimmungen  brachten  aber  eine  heillose  Verwirrung  in  die 
ländlichen  Rechtsverhältnisse.  Das  in  Polen  geltende  Gesetz  —  Code 
Napoleon  —  kennt  den  Begriff  „Bauer",  wie  er  in  Rußland  Geltung  hat, 
nicht.  Erst  durch  den  Ukas  vom  11.  Juni  1891,  also  nachdem  das  Gesetz 
siebenundzwanzig  Jahre  in  Geltung  gewesen  war,  wurde  der  Begriff 
„krestjanin"  =  Bauer  gesetzlich  festgelegt.  Demzufolge  fallen  unter  die 
Kategorie  der  Bauern:  1.  Personen,  die  in  die  Liquidationstabelle  emge- 
tragen  sind,  sowie  deren  Nachkommen;  2.  Personen,  die  als  Bauern  oder 
Ackerbürger  anzusprechen  sind,  d.  h.  solche,  die  sich  mit  Landwirtschaft 
und  solchen  Arbeiten  beschäftigen,  die  in  unmittelbarem  Zusammenhang 
mit  der  Landwirtschaft  stehn,  imd  3.  in  andern  Gouvernements  des  Reichs 
gebome  Angehörige  des  Bauernstandes.  Bei  Meinimgsverschiedenheiten 
entscheidet  der  Bauernkommissar  und  der  Wojt  im  Einverständnis  mit  der 
Gminversammlung  (siehe  S.  52  ff.). 

Eine  der  schädlichsten  Folgen  der  beschränkenden  Bestimmungen  war 
für  die  Bauern  die  Unmöglichkeit,  ausreichenden  Kredit  auf  gesunder  Basis 
zu  erhalten.  So  führt  Makejew  in  seiner  Monographie  über  den  bäuer- 
lichen Kredit  im  Zartum  Polen  (Radom,  1888)  einen  interessanten  Fall  an. 
Einige  Bauern  hatten  140  Rubel  bei  einem  privaten  Geldgeber  aufgenommen. 
Nachdem  sie  zwölf  Jahre  hindurch  abgezahlt  hatten,  war  die  Kapitalschuld 
auf  400  Rubel  angewachsen,  und  die  Bauern  hatten  1500  Rubel  an  Zinsen 
gezahlt!  L  S.  Bljoch,  dem  wir  diese  Mitteilung  entnehmen,  gibt  im  An- 
schluß daran  die  normale  Höhe  der  von  den  Bauern  zu  zalüenden  Zinsen 
mit  40  bis  60  Prozent,  in  einzelnen  Gegenden  mit  150  Prozent  an.^)  (Vgl. 
auch  Kapitel  11.)  Selbst  staatliche  Kreditunternehmungen,  die  den  Zweck 
hatten,  der  bäuerlichen  Landwirtschaft  zu  helfen,  sind  der  Mehrzahl  der 
Bauern  im  Zartum  verschlossen.  Denn  noch  am  24.  November  1900  er- 
klärt eine  entsprechende  Instruktion  des  Landwirtschaftsministers,  daß 
entsprechende  Kredite  ausschließlich  gegen  Versatz  aller  Arten  von  Immo- 
bilien gewährt  werden  können  mit  Ausnahme  solcher,  „deren  freier  Über- 
gang in  andre  Hände  ohne  jede  Beschränkung  gesetzlich  verboten  ist". 
Der  Übergang  bäuerlichen  Besitzes  in  andre  nicht  bäuerliche  Hände  ist 


^)  Die  Verscliuldung  des  Landbesitzes  im  Zartum  Polen.   St.  Petersburg,  J.  A.  Effron,. 
1894,  S.  188. 


48  Drittes  Kapitel.    Die  Refonnen  von  1864 

durch  alle  die  Yorschriften  ebensowenig  aufgehalten  worden  wie  die  Zer- 
stücklung der  Bauerngüter.  Die  frühern  örtlichen  Komitees  zur  Förderung 
der  Landwirtschaft  haben  über  die  Nutzlosigkeit  der  Bestimmungen  unter 
Angabe  folgender  Tatsachen  berichtet:  1.  die  Bauern  teilen  ihre  Güter  ohne 
Rücksicht  auf  das  Gesetz,  das  die  Teilungen  verbietet;  2.  infolge  der  Um- 
gehung des  Gesetzes  auf  allen  möglichen  Wegen  entstand  eine  außerordent- 
liche Verwirrung  bezüglich  der  Kechtsbegriff e ;  3.  die  illegalen  Besitzer 
der  Bauerngüter  vermeiden  jede  Melioration.^) 

So  hat  das  Gesetz  keinerlei  Nutzen  für  die  soziale  Lage  der  Bauern 
gehabt  und  nur  Schaden  für  die  wirtschaftliche  Entwicklung  der  Land- 
wirtschaft. Die  Regierung  hat  das  auch  eingesehen  und  schon  im  Jahre 
1870  die  Bestimmung  getroffen,  daß  bäuerliche  Grundstücke  von  mehr  als 
neunzig  Morgen  Größe  an  die  Landbank  verpfändet  werden  dürfen,  sowie 
femer,  daß  die  Landbank  (vgl.  Kapitel  11)  das  Recht  habe,  sie  bei  Verfall 
der  Schuld  zu  erwerben  und  weiter  zu  verkaufen.  Da  hierdurch  dem 
Kreditbedürfnis  der  Bauern  nicht  genügend  abgeholfen  werden  konnte,  wurde 
im  Jahre  1888  die  Tätigkeit  der  russischen  Bauembank  auch  auf  das  Zar- 
tum  Polen  ausgedehnt,^)  ohne  indessen  bisher  einen  wesentUchen  Nutzen 
gebracht  zu  haben. 

Hiermit  sind  die  Maßregeln  der  Regierung,  sich  den  polnischen  Bauern 
gefügig  und  zu  einer  wirtschaftlichen  Kraft  zu  erziehen,  abgeschlossen.  Alle 
weitern  Maßregeln  gingen  nunmehr  darauf  aus,  die  gesunden,  auf  dem 
neuen  Boden  emporgewachsnen  Bedürfnisse  zu  reglementieren.  Das  aber 
führte  in  der  Praxis  zu  ihrer  Unterdrückung. 

B.  Die  Verwaltungsreform 

Die  vorwiegend  politischen  Ziele,  denen  die  russische  Regierung  im 
Zartum  Polen  zustrebte,  haben  sie  verhindert,  die  gesunden  und  allgemein 
menschlichen  Grmidsätze,  die  in  der  "Wirtschaftsreform  zum  Ausdnick 
kamen,  auch  auf  die  Verwaltungsreform  anzuwenden.  Infolgedessen  steht 
sie  auch  durchaus  nicht  im  Gleichklang  mit  der  wirtschaftlichen  Entwick- 
lung, die  das  Weichselgebiet  genommen  hat.  Statt  die  Bevölkerung  mit 
allen  Mitteln  auszurüsten,  die  eine  gemeinsame  kulturelle  und  wirtschaft- 
liche Betätigung  unterstützen  könnten,  sah  sie  sich  aus  den  bekannten 
politischen  Gründen,  aber  auch  aus  Gründen,  die  mit  der  allgemeinen  in 
der   russischen  Gesellschaft    eingetretnen    Reaktion    zusammenhängen,  im 


')  Wjestnik  Finanssow  von  1906,  Heft  29,  S.  71. 

')  Neues   Statut   vom  Jahre  1895.     Vgl.  Rechenschaftsbericht   des  Reichsrats   von 
1895/96,  Bd.  II,  S.  150  bis  212. 


B.  Die  Verwaltuugsreform  49 


Gegenteil  genötigt,  alle  solche  Mittel  anzuwenden,  die  nach  ihrer  Meinung 
einen  Zusammenschluß  der  Gesamtbevölkerung  im  Zartum  Polen  von  vorn- 
herein unterbanden.  1)  An  die  Stelle  der  alten  Privilegien,  die  seinerzeit 
am  Mark  des  polnischen  Staats  gefressen  hatten,  traten  nach  1863  Aus- 
naiimegesetze  und  administrative  Sonderbestimmungen  für  das  Zartum  Polen 
wie  überhaupt  für  das  ganze  russische  Keich.  Ihr  gemeinsamer  Sinn  läßt 
sich,  Avie  schon  eingangs  erwähnt,  dahin  zusammenfassen,  die  bäuerliche 
Bevölkerung  vor  jeder  Beeinflussimg  durch  die  Geistlichkeit,  den  Adel  und 
die  städtische  Bevölkerung  zu  bewahren.  In  Polen  mußte  die  Maßregel  um  so 
schärfer  wirken,  als  dort  das  Institut  der  Adelsmarschälle,  das  in  Rußland 
bestand,  nicht  eingeführt  wui'de,  und  alle  ihre  Funktionen  dem  Bauern- 
stände gegenüber  auf  die  Bauernkommissare  übertragen  wurden,  die  bei 
den  Kreis-  und  Gouvernementsverwaltungen  ressortieren.  Der  polnische 
Adel  galt  im  Gegensatz  zum  russischen  für  unzuverlässig.  Das  muß  her- 
vorgehoben werden,  um  die  außerordentliche  Macht  der  Bureaukratie  im 
Zartum  Polen  voll  bewerten  zu  können.  Durch  die  herrschende  Grund- 
anschauuug  hat  die  poHtische  Yei'waltungsrefonn  auch  zu  ganz  andern  Ein- 
richtungen geführt,  als  wie  sie  Marquis  Wielepolski  beabsichtigte  und  wie 
sie  mit  gewisser  Beschränkung  in  Rußland  durch  das  Sjemstwostatut  Ein- 
gang gefunden  haben.  In  Wielepolskis  Refonn  war  ein  ganzes  System 
von  ineinandergreifenden  Verwaltungseinrichtungen  vorgesehen,  als  deren 
unterste  Grundlage  die  Gmin,  d.  h.  die  allständische  Landgemeinde  mit  der 
Gminverwaltung  und  die  Stadtgemeinde  mit  dem  Stadtrat  an  der  Spitze 
gedacht  waren.  Über  den  Land-  und  Stadtgemeinden  sollte  der  Kreisrat 
über  den  Kreisräten  der  Gouvernementsrat  und  über  den  Gouveniements- 
räten  der  Staatsrat  stehn.  Dieser  ist  auch  im  Jahre  1861  zur  Einführung 
gelangt,  aber  in  der  Form,  wie  der  russische  Reichsrat,  der  sich  bekanntlich 
bis  zum  Jahre  1905  ausschließlich  aus  vom  Zaren  ernannten  Beamten,  Ge- 
lehrten und  Militärs  zusammensetzte.  Alle  die  aufgezählten  Verwaltungs- 
organe sollten  mit  Wahlköi'pern  in  Verbindung  gebracht  werden,  die  auf 
demokratischer  Grundlage  gewählt  sind  imd  in  denen  alle  Stände  und 
Berufe  gemeinsam  an  der  Verwaltung  des  Landes  teilnehmen  würden. 

Von  allen  diesen  Vorschlägen  hat  das  Organisationskomitee  Miljutins 
nur  die  Bezeichnung  Gmin,  aber  ohne  den  von  Wielepolski  gegebnen  In- 
halt angenommen.  Das  demokratische  Prinzip  wurde  nur  dort  in  An- 
wendimg gebracht,  wo  es  galt,  den  polnischen  Großgrundbesitz  zu  schädigen. 
Im  übrigen  wurde  die   russische  Bauemrefonn  vom  19.  Februar  1861  als 


*)  Es  ist  das  dasselbe  Prinzip,  das  auch  in  Rußland  zur  Trennung  der  Bauern  von 
der  Intelligenz  geführt  hat  und  ziu-  Berafung  des  Adels  zur  Verwaltung  über  die  Bauern. 
Cleinow,  Die  Zukunft  Polens  4 


50  Drittes  Kapitel.    Die  Reformen  von  1864 

Grundlage  für  die  Reform  in  Polen  genommen,  d.  h.  der  Bauernstand 
wurde  zu  einem  von  allen  andern  Erwerbsständen  losgelösten  und  durch 
eine  hohe  Mauer  von  Verordnungen  geschiednen  Dasein  verurteilt. 

1.  J>le  bäuerliche  Gemeinde 

Die  Stelle,  wo  diese  Grundideen  ihren  schärfsten  Ausdruck  finden,  ist 
die  Gesetzgebung  über  die  ländlichen  Gemeinden.  Die  ländlichen  Gemeinden 
sind  einzuteilen  in  die  allständische  Gmin  und  die  einständische,  bäuer- 
liche Gromada. 

„In  einem  Dorf  oder  in  einer  Kolonie  wohnende  Bauern,  die  darin 
Hofland  oder  sonstigen  Immobilbesitz  zu  Eigentiun  haben,  bilden  zusammen 
mit  ihren  Familien,  Dienstboten  imd  sonstigen  auf  ihrem  Grundstück 
wohnenden  Personen  eine  Dorfgesellschaft.  Bauern,  die  auf  Einzelhöfen 
wohnen,  werden  mit  ihren  Familien  usw.  der  nächsten  Dorfgesellschaft 
ihrer  Gmin  angeschlossen.'" 

Dieser  Artikel  264  des  Regulativs  für  das  Zartimi  Polen  läßt  durch 
Anwendung  des  Begriffs  „Bauern"  bereits  erkennen,  daß  es  iui  Zartum 
drei  Sorten  von  Dorfgesellschaften  gibt,  lüünlich  christliche,  in  denen  Ortho- 
doxe, Katholiken  und  Protestanten  iilitglieder  sein  können,  deutsche  auf 
Grund  besondrer  Bestimmungen  eingerichtete  Kolonien  und  jüdische 
Ackerbaukolonien.  Die  christlichen  Dorfgemeinden  mit  katholischen  Be- 
wohnern sind  die  zahlreichsten. 

Das  Kriterium  für  die  Geeignetheit,  der  Dorfgesellschaft  angehören  zu 
dürfen,  ist  für  die  christliche  Bevölkerung  die  Zugehörigkeit  zum  Bauern- 
stande (vgl.  S.  47).  Der  Begi'iff  Bauer  war  aber  bis  zum  Jahre  1891 
sehr  eng  gefaßt,  nicht  in  seinem  wirtschaftlichen  Sinne,  sondern  in  dem 
politischen,  wie  ilm  die  russische  Paßgesetzgebung  keimt.  Infolgedessen 
war  bis  1891  von  der  bäuerlichen  Gemeinde  auch  die  sogenannte  kleine 
Schlachta  ausgeschlossen,  die  in  wirtschaftlicher  und  sozialer  Hinsicht 
durchaus  zimi  Bauernstände  zu  rechnen  ist,  wenn  sie  auch  dessen  intelli- 
gentesten Teil  darstellt.  Ebenso  ausgeschlossen  von  der  Dorfgesellschaft, 
die  wir  der  Kürze  halber  mit  den  Polen  die  Gromada^)  nennen  wollen, 
sind  „Großgrundbesitzer  und  Kleinbesitzer  —  das  ist  die  kleine  Schlachta  — 
mit  ihren  Vorwerken,  Fermen,  Häusern  wie  auch  ihre  Offizianten,  Diener- 
schaft, Tagelöhner  und  andre  bei  ihnen  wohnende  Personen".'') 


*)  Engelmann  nennt  „sseljskoje  obschtscliest«'o"  =  Landgesellschaft  nach  polnischem 
Brauch  „gromada''.  S.  Handbuch  des  öffentlichen  Rechts,  Bd.  IV,  Das  Staatsrecht  des 
Russischen  Reiches,  Freiburg  i.  Br.,  1889,  S.  221. 

*)  §  265  der  Instruktion  für  die  Verwaltung  des  Zart\uns  Polen. 


B,  Die  Verwaltungsreforni  5J 


Ähnlich  wird  den  katliolischen  Geistlichen  gegenüber  verfahren.  Sie 
dürfen  an  den  Gemeindeversamrahingen  wie  überhaupt  an  der  Gemeinde- 
verwaltung nicht  teilnehmen.  Die  Strafprozeßordnung  zieht  sie  zur  Zeugen- 
vereidigung nicht  heran.  ^)  Auch  sonstige  Kreise  und  Nationalitäten  werden 
von  den  Angelegenheiten  der  Bauern  streng  geschieden.  So  in  erster 
Linie  die  Juden,  die  nur  dort  Mitglieder  der  Verwaltung  sein  können,  wo 
die  Gemeinden  ausschließlich  aus  Juden  bestehn. 

In  dem  Maße,  wie  Gutsbesitzer  und  katholische  Geistliche  von  Bauern 
ferngehalten  werden,  in  demselben  Maße  sucht  die  russische  Regierung 
durch  ihre  eignen  Vertreter  Einfluß  auf  die  Bauernangelegenheiteu  zu  ge- 
winnen. 2)  Diese  Einvdrkung  hegt  nun  teils  auf  administrativem,  teils  auf 
geistlichem  Gebiet  sowie  in  der  Handhabung  des  Schulwesens,  lim  sie 
im  weitesten  Umfange  zu  ermöglichen,  sind  in  der  allgemeinen  Gesetz- 
gebung entsprechende  Klausehi  vorgesehen,  oder  es  wurden  nachträg- 
lich Anmerkungen  und  Erläuterungen  zu  den  einzelnen  Paragraphen  ge- 
geben.*') 

An  der  Spitze  der  Gromada  steht  die  Gemeindeversammlung  und  der 
Ssoltys  oder  Gemeindeälteste.  An  der  Gemeindeversammlung  nehmen 
Männer  und  Frauen  teil,  die  mindestens  drei  Morgen  (Vj^  Deßjatinen) 
Land  ihr  eigen  nennen.  Die  Gemeindeversammlung  wird  durch  den 
Ssoltys  nach  Bedarf,  im  Falle  von  Beschwerden  gegen  den  Ssoltys  durch 
den  Wojt  (siehe  Gmin)  einberufen  (§  269/70). 

Der  Gemeindeversammlung  unterliegt  die  Verwaltimg  des  Gemeinde- 
besitzes, wie  Gemeindeland,  Gemeinde wald,  die  Wahrung  der  Gemeinde- 
rechte, wie  sie  aus  den  Servituten  oder  sonstigen  privaten  Verträgen  mit 
benachbarten  Gutsbesitzern  hervorgehn.  Ferner  verteilt  die  Gemeinde- 
versammlung die  Schornstein-  und  Bodensteuer  auf  die  einzelnen  Wirte 
und  verwaltet  schließlich  die  Dorfschule  imd  die  der  Gemeinde  gehörigen 
Gotteshäuser. 


^)  S.  §  1298  der  Strafprozeßordiuuig.  Gesetzsammlung  Bd.  XVI,  Teil  1,  Ausgabe 
1892/1902. 

-)  §  198  der  lustniktion  für  das  Zartum  Polen  lautet:  „Von  der  Regierimg  beauf- 
tragte Personen,  denen  die  Aufsicht  über  die  Befolgung  der  in  Absatz  V  vorgeschriebnen 
Regeln  anvertraut  ist,  können  an  den  (Gemeinde-)Versammlungen  in  allen  den  Fällen  teil- 
nehmen, wenn  solches  die  ihnen  auferlegten  PfHchten  fordern"  —  also  auch  die  griechisch- 
feathoüsche  Geistlichkeit. 

§  199.  „Personen,  die,  olme  ein  Recht  dazu  zu  besitzen,  an  den  (Gemeinde-) 
Verearamlimgen  teilnehmen,  werden  nach  Ermessen  des  Kreischefs  bestraft  oder  dem  Ge- 
richt auf  Gnmd  besondrer  Vorschriften  übergeben." 

')  Senator  und  Mitglied  des  Reichsrats  N.  S.  Tagantzew,  „Das  Strafgesetz  vom 
22.  März  1903",  Bd.  II  (Glaubensgesetzgebung),  St.  Petersburg,  Verlag  „Phönix",  1906, 

s.  m. 


52  Drittes  Kapitel.    Die  Reformen  von  1864 

Der  Ssoltj^s  wird  von  der  Gemeindeversammlung  gewählt  und  durch 
den  Wojt,  dessen  Gehilfe  er  in  Polizeiangelegenheiten  ist,  im  Einverständnis 
mit  dem  Kreischef  bestätigt. 

Die  Mttel  für  die  Verwaltung  der  Gromada  werden  durch  Umlage 
gedeckt. 

Die  Gromada  trägt  nach  obigen  Ausführangen  somit  zwei  charakte- 
ristische Züge:  Mangel  an  Dorf  Intelligenz  und  von  andern  als  bäuerlichen 
Steuerzahlern.  Die  Absicht  der  Regierung,  die  Bauern  vor  der  „Aus- 
plünderung durch  die  Gutsbesitzer  zu  bewahren'',  ist  zwar  geglückt,  aber 
bei  gleichzeitiger  Unterbindimg  jedes  kulturellen  Fortschritts.  Denn  die 
soziale  Fortentwicklung  innerhalb  der  Gemeinde  hat  die  Regierung  nicht 
aufgehalten.  Statt  des  Gutsbesitzers,  der  für  die  Ausnutzung  der  bäuer- 
lichen Arbeit  als  Großunternehmer  der  Bauernschaft  in  ihrer  Gesamtheit 
in  neunzig  von  himdert  Fällen  kulturelle  Gegenwerte  in  großer  Zahl  gibt, 
plündert  der  bäuerliche  Dorfgenosse,  der  stäi'ker  ist  als  die  übrigen,  aber 
nicht  kultivierter,  die  Mehrzahl  der  Bauern  auf  alle  mögliche  Art  aus,  ohne 
einen  kulturellen  Gegenwert  geben  zu  können.  Der  moderne  Gutsbesitzer 
hat  ein  Interesse  an  möglichst  gebildeten  Arbeitern,  dai*um  wird  er  für 
die  Schule  im  Dorfe  sorgen.  Der  Wucherer  hat  meist  an  der  Aufklärung 
der  Masse  kein  Interesse,  da  der  aufgeklärte  Bauer  in  die  Lage  versetzt 
wird,  sich  möglichst  seinem  Einfluß  zu  entziehn.  Dennoch  ist  die  kul- 
turelle Entwicklung  der  Bauern  nicht  in  dem  Maße  zurückgeblieben,  wie 
wir  es  theoretisch  annehmen  könnten.  Denn  trotz  allen  Beschränkungen 
und  Vorsichtsmaßregeln  ist  die  Kultur  auch  in  die  polnische  Gromada  auf 
natürlichen  Wegen  offen  und  heimlich  eingedrimgen.  Davon  im  dritten  Teil. 

*i.  I>le  Gmin 

In  der  Gmin^)  sind  vereinigt:  a)  Bauern  mit  ihren  Familien,  die  in 
einzelnen  Dörfern  und  Kolonien  sovsde  auf  Einzelhöfen  in  der  Nähe  von 
Dörfern  und  Kolonien  wohnen,  b)  Gutsbesitzer  und  andre  Inliaber  von 
Vorwerken,  Formen  und  Häusern  gemeinsam  mit  ihrer  Bedienung,   ihren 


1)  Reinke,  a.  a.  0.  S.  124.  „Der  Utas  vom  19.  Febniar  1864  betreffend  die  Or- 
ganisation der  »Gmin«  ist  mit  dem  1.  Ukas  in  der  Beziehung  eng  verbunden,  als  er  dem 
Teil  der  Bevölkei-ung  politische  Bedeutung  gibt,  deren  wii-tschaftliche  Lage  durch  den 
1.  Ukas  gesichert  worden  war;  wenn  die  Bauern  durch  den  1.  Ukas  bezüglich  ihrer  bürger- 
lichen Rechte  mit  den  Großgrundbesitzern  auf  eine  Stufe  gebracht  worden  waren,  so  ge- 
währte der  2.  Ukas  dem  kleinen  Bauernhofbesitzer  das  imbedingte  pohtische  Übergewicht 
über  den  Großgrundbesitzer.  Das  wurde  en-eicht  durch  die  Organisation  der  »Gmin«  .  .  . 
in  der  die  Großgmndbositzer  in  einer  völlig  bedeutungslosen  Minderheit  auftreten  .  .  .  Nach 
Aufhebung  der  Patronatsrechte  können  die  Großgmndbesitzer  nicht  mehr  überwiegenden 
Einfluß  auf  die  Bauern  haben,  müssen  sich  vielmehr  der  bäuerlichen  Mehrheit  unter- 
werfen .  .  ." 


B.  Die  Venvaltungsrefoi-m  53 


Arbeitern  und  Angestellten.^)  Die  Ausgaben  für  die  Gminverwaltung  tragen 
zur  einen  Hafte  die  Bauern,  zur  andern  die  Gutsbesitzer.*)  Die  Gmin- 
versammlung  besteht  aus  den  yolljährigen  männlichen  Wirten,  die  nicht 
■weniger  als  di'ei  Morgen  Land  im  Eigenbesitz  haben.  Von  der  Gniin- 
versammlung  sind  nach  dem  Gesetz  ausgesclilossen ,  auch  wenn  sie  den 
oben  genannten  Bedingimgen  entsprechen,  alle  Personen  geistlichen  Standes, 
Friedensrichter  und  Mitglieder  der  Kreispolizei.  ^)  Tatsächlich  hat  diese 
Vorschrift  aber  nur  Anwendung  auf  die  römisch-katholische  Geistlichkeit; 
denn  Anmerkung  zu  §  205  lautet:  „Alle  fiskalischen  Behörden,  die  in  der 
Gmin  nicht  weniger  als  drei  Morgen  Land  als  Staatsbesitz  verwalten,  haben 
das  Recht,  an  allen  Verwaltungsangelegenheiten  der  Gmin  einschließlich  der 
Kontrolle  der  Einnahmen  und  Ausgaben  teilzunehmen."*)  Schließlich  wird 
aber  die  Bestimmung  auch  geradeswegs  mißachtet,  und  es  finden  sich 
Paragraphen  in  der  Gesetzgebung,  die  das  Recht  der  Gmin  in  Unrecht  Ter- 
wandeln  können.  Bezeichnend  hierfür  ist  die  Entscheidimg  der  Berufs- 
instanz  (Warschauer  Gerichtspalata)  vom  9.  März  1904,  durch  die  der  Bauer 
Kalista  zu  einundzwanzig  Tagen  Gefängnis  verurteilt  wurde,  weil  er  einen 
Landpolizisten  aus  der  Gminversammlung  gewiesen  hatte.  In  der  Begründung 
des  Urteils  heißt  es,  der  Landpolizist  habe  im  Auftrage  seines  Kreischefs 
gehandelt,  somit  nur  seine  Pflicht  getan,  au  der  ihn  zu  hindern  der 
pp.  Kalista  kein  Recht  hatte  (!).^)  Die  Beschlüsse  der  Gminversammlung 
haben  Geltung,  sofern  mehr  als  die  Hälfte  aller  stimmberechtigten  Wirte 
an  ihr  teilgenommen  haben.  Die  Zahl  der  stimmberechtigten  ländlichen 
Wirte  betrug  im  Jahre  1899  in  1249  Gmineu  650  530  Personen  oder  durch- 
schnittlich in  jeder  Gmin  521.  Bei  261  anwesenden  bäuerlichen  Wirten 
erhält  der  Beschluß  der  Gminversammlung  somit  Geltimg. 

Der  Kompetenz  der  Gminversammlung  unterKegen:  die  Wahl  des 
Wojt  sowie  der  andern  Angestellten  der  Gmin,  wirtschaftliche  und  soziale 
Angelegenheiten  der  Gmin,  Armenpflege,  Verwaltung  der  Wohlfahrtsein- 
richtungen und  Volksschulen,  Verteilung  der  Gminsteuern,  Verwaltung  des 


1)  §  194  der  Instruktion  für  da.s  Zartum  Polen  bezieht  die  Güter  in  die  große  Ge- 
meinde „Gmin"  ein.  §  211  unterstreicht  das  demoh-atische  Prinzip  der  Gminverfassung: 
die  Stimmen  haben  alle  gleichen  Wert  ohne  Eücksicht  auf  die  Größe  des  Landbesitzes. 

«)  Vorschrift  vom  19.  April  1864. 

')  §  205  der  Instruktion  füi-  die  Verwaltung  des  Zartums  Polen  sagt:  „.  .  .  an  der 
Gminversammlung  nelimen  nicht  teil:  Mitgheder  des  geistlichen  Standes  imd  Beamte  der 
KreispoUzei,  selbst  dann  nicht,  wenn  sie  imierhalb  der  Gmin  Land  in  der  vorgeschriebnen 
Menge  (drei  neupolnische  ilorgen)  besäßen."  —  Diese  Vorschrift  wird  für  die  giiechisch- 
tatholischen  Geistüchen,  da  sie  „Vertreter  fiskalischer  Behörden"  sind,  durch  die  An- 
merkung zu  §  205  außer  Kraft  gesetzt. 

*)  S.  §  198  in  Ajim.  2.    S.  51. 

^)  Verhandhmgsbericht  in  Prawo  von  1905,  Heft  16,  S.  1304;05;  vgl.  S.  51  Anm.  2. 


54  Drittes  Kapitel.    Die  Reformen  von  1864 

Gminbesitzes,  die  Einholung  der  Zustimmung  der  ganzen  Gmin  für  gewisse 
Entscheidungen. 

Die  Gminversammlungen  müssen  viermal  im  Jahre  zusammentreten. 
Die  Nachprüfung  der  amtlichen  Tätigkeit  der  Gminangestellten  erfolgt  auf 
der  Dezemberversammlung.  Im  Dezember  soU  auch  das  Budget  für  das 
kommende  Jahr  aufgestellt  werden.  Da  die  Gminangestellten  immer  für 
die  Dauer  von  drei  Jahren  gewählt  werden,  so  sind  die  Gouvernements 
des  Zartums  Polen  in  drei  Gruppen  geteilt,  in  deren  einer  jedes  Jahr  Neu- 
wahlen stattfinden.  Die  Prüfimg  der  Berechtigung  der  einzelnen  Wirte, 
an  den  Gminversammlungen  teilzimehmen,  erfolgt  gewöhnlich  durch  ein- 
fachen Namensaufruf  oder  Zählung  der  Versammelten.  Da  für  so  große 
Versammlungen,  wie  einige  hundert  Menschen,  kaum  Räume  vorhanden 
sind,  finden  diese  gewöhnlich  unter  freiem  Himmel  in  einem  Hof  in  der 
Nähe  der  Gminverwaltung  statt.  „Die  Versammelten,  schreibt  Spassowitsch,^) 
sind  gewöhnlich  müde  und  hungrig  von  dem  voraufgegangnen  "Wege.  Nach- 
dem der  Wojt  die  Versammlung  eröffnet  hat,  steigt  der  Gminschreiber 
auf  den  Vorbau  der  Gminkanzlei  und  verliest  die  der  Bestätigung  durch 
die  Versammlung  unterliegenden  Papiere,  darunter  auf  der  Dezember- 
versammlung den  Rechenschaftsbericht  der  Gminverwaltung  für  das  alte 
und  den  Budgetentwurf  für  das  neue  Jahr.  Der  vei-sanunelte  Haufe  kann 
von  den  auf  fünfzehn  bis  neunzehn  Ai'tikel  verteilten  Ausgaben  kein 
rechtes  Bild  bekommen;  von  der  Buchführung  versteht  er  nichts,  fürchtet 
Neuerungen  und  vor  ahen  Dingen  neue  Ausgaben,  die  er  nicht  zu  kon- 
ti'ollieren  vermag.  Er  erklärt  sich  mit  den  Angaben  des  Schreibers  ein- 
verstanden, wenn  er  nur  möglichst  bald  und  in  aller  Ruhe  nach  Hause 
gehn  kann." 

"Wenn  die  Versammlung  mit  der  Verteilung  der  Ausgaben  und  Ab- 
gaben nicht  einverstanden  ist,  hat  der  "Wojt  das  Recht,  die  Verteilung  mit 
Hilfe  von  Bevollmächtigten  und  der  Ssoltys  vorzunehmen'')  und  zur  Durch- 
führung zu  bringen.^)  Dieses  Recht  gibt  dem  "Wojt  und  dem  Gminschreiber 
die  Möglichkeit,  die  Gminversammkmg  als  eine  reine  Formalität  zu  be- 
handehi.  Dementsprechend  ist  auch  die  Stellung  des  "Wojt  gegenüber  dem 
Kreischef,  der  wie  in  Rußland  mehr  ein  Polizeibeamter  als  ein  Verwaltiings- 
beamter  ist. 


')  Im  Sammelwerk  „Die  kleine  Sjemstwo-Einheit"  von  P.  D.  Dolgonikow  und  D.  I. 
Schachowskoj,  St.  Petersburg,  1903,  S.,  143. 

«)  Absatz  9  des  Art.  208. 

')  Nach  Spassowitsch,  a.  a.  0.  S.  144,  gehn  etwa  60  Prozent  aller  Gminausgaben  auf 
die  Besoldung  der  Gminbeamten.  —  Eine  andre  Quelle,  Posnanski,  a.  a.  0.  S.  41,  gibt  die 
Zahl  der  Gminbeamten  im  Jahre  1874  mit  2680  Personen  an,  die  zusammen  ein  Gehalt 
von  1072000  Rubel  beanspnichen  oder  auf  jede  Gmin  durchschnittlich  400  Rubel. 


B.  Die  Verwaltungsreforni  55 


Der  Wojt  muß  mindestens  25  Jahre  alt  sein,  einem  christlichen  Be- 
kenntnis angehören,  mindestens  sechs  Morgen  Land  in  der  Gmin  besitzen 
und  muß  schreiben  und  lesen  können.  Irgendeine  sonstige  Bildung  wird 
von  ihm  nicht  verlangt.  Er  wird  vom  Kreischef  aus  der  Zahl  der  ihm  von 
der  Gmin  vorgestellten  Kandidaten  bestimmt.^)  Doch  hat  der  Kreischef 
das  Recht,  wenn  ihm  die  vorgestellten  Kandidaten  nicht  geeignet  erscheinen, 
Neuwahlen  vorzuschreiben,  und  wenn  diese  wieder  zu  keinem  ihm  zweck- 
mäßig ersclieinenden  Ergebnis  führen,  beim  Gouvernementschef  (Gouverneur) 
eine  dritte  Wahl  zu  beantragen.  In  der  Praxis  kommt  es  zu  Neuwahlen 
gewöhnlich  nicht,  da  die  Kreischefs  in  den  „unzuverlässigen"  Gminen  ent- 
weder selbst  oder  durch  ihre  Beamten,  nicht  selten  auch  mit  Hilfe  von 
Branntwein  für  eine  ihnen  genehme  Wahl  sorgen.  Dies  Verfahren  wird 
erleichtert,  da  die  Wahl  des  Wojt  öffentlich  imd  mündlich  stattfindet. 
Gewöhnlich  erfolgt  die  Wahl  durch  Zuruf,  oder  indem  die  Versammelten 
aufgefordert  werden,  je  nach  ihrer  Stellung  zum  aufgestellten  Kandidaten 
auf  die  eine  oder  die  andre  Seite  zu  ti'cten. 

Die  Pflichten  des  Wojt  sind  außerordentlich  zahlreich,^)  sowohl  in 
politischer  wie  in  administrativer  Richtung.  Der  Wojt  empfängt  Vor- 
schriften direkt  vom  Kreischef,  vom  Bauemkommissar,  von  den  Gerichts- 
stellen, von  der  Staatsanwaltschaft,  vom  Lehrbezirk,  von  den  Militärbehörden, 
Dabei  ist  seine  Stellung  vollständig  abhängig  vom  Kreischef,  ^)  der  ihn  mit 
Verweisen  und  Geldstrafen  bis  zu  fünf  Rubel  sowie  Arrest  bis  zu  sieben 
Tagen  belegen  kann.*)  Eine  Beschwerde  gegen  den  Kreischef  muß  inner- 
halb sieben  Tagen  bei  dem  Gouverneur  sein,  was  häufig  schon  wegen  des 
Mangels  an  Verbindungswegen  eine  so  kostspielige  Sache  ist,  daß  die  Ge- 
kränkten lieber  auf  eine  Beschwerde  verzichten.  Die  Wahl  zum  Wojt  kann 
nur  von  solchen  Personen  abgelehnt  werden,  die  entweder  das  sechzigste 
Lebensjahr  erreicht  haben  oder  krank  sind  oder  schon  volle  drei  Jahre 
die  Stellung  innehatten. 

Gehilfe  des  Wojt  sind  die  Ssoltys  oder  Dorfältesten,  die  von  jeder 
bäuerlichen  Gemeinde  zu  wählen  sind  und  innerhalb  derselben  ähnliche 
Pflichten  und  Rechte  haben  wie  der  Wojt  in  der  Gmin.  (S.  S.  50 — 52.) 


^)  §  240  schreibt  die  AVahl  zweier  Kandidaten  für  die  Besetzung  des  Postens  als 
Wojt  vor;  der  Kreischef  ernennt  von  beiden  den  ihm  am  geeignetsten  erscheinenden. 

§  242.    Kreischef  und  Gouverneur  können  die  vorgestellten  Kandidaten  ablehnen. 

§  248.  Der  Kreischef  kann  den  Woit  vom  Amt  suspendieren,  muß  aber  die  Ge- 
nehmigung des  Gouverneurs  nachholen. 

2)  Art.  216. 

^)  §  217.  Der  Wojt  (Gmiuältcste)  hat  alle  gesetzlichen  Vorschriften  des  Kreischefs,  der 
Gerichte  sowie  alle  Verfügungen  der  einzelnen  Behörden  gemäß  ihrer  Kompetenz  zu  befolgen. 

*)  Art.  257. 


56  Drittes  Kapitel.    Die  Reformen  von  1864 

Neben  diesen  spielen  aber  auch  die  Gminschreiber  und  die  Vertrauens- 
männer eine  bedeutende  Rolle.  Ferner  bestand  bis  zum  Jahre  1875  noch 
das  Gmingericht  als  Teil  der  Gminverwaltung ;  es  setzte  sich  aus  dem 
Wojt  und  den  Schöffen  zusammen.  Seiner  Kompetenz  unterlagen  kleinere 
Rechtsstreitigkeiten  und  Vergehen  sowie  Unterstützung  des  Wojt  bei  seiner 
Amtsführung,  Revision  der  Bücher  usw.  Da  nach  Einführung  des  Gerichts- 
statuts von  1864  im  Zartum  Polen  das  Gmingericht  an  die  allgemeine 
Gerichtsbarkeit  angeschlossen  wurde,  soll  davon  im  Kapitel  vom  Gerichts- 
wesen eingehender  gesprochen  werden.     (Siehe  S.  81.) 

Eine  der  wichtigsten  Persönlichkeiten  in  der  Beamtenhierarchie  der 
Gminverwaltung  ist  der  Gminschreiber.  Der  Dichter  Sienkiewicz  hat  ihn 
in  seiner  Erzählung  „Der  Dorfschreiber"  trefflich  charakterisiert.  Er  wird 
entweder  aus  den  Gminangehörigen  gewählt  oder  nach  Vereinbarung  des 
"Wojt  mit  den  Ssoltj'S  und  Vertrauensmännern  mit  festem  Gehalt  ange- 
stellt.^) Dagegen  hat  der  Kreischef  das  Recht,  den  Gminschreiber  abzu- 
setzen,^) eine  Vorschrift,  die  dazu  geführt  hat,  daß  die  Dorfschreiber  fast 
ausschließlich  und  im  Widerspruch  zu  Artikel  246  von  den  Kreischefs  er- 
nannt werden.  ^) 

Die  Verti'auensmänner  wurden  erst  am  22.  Dezember  1879  *)  eingefühlt 
als  Folge  der  1876  erfolgten  Reform  der  Gmingerichte.  Es  wird  den  Gmin- 
versaramlungen  aber  überlassen,  Vertrauensmänner  zu  wählen  oder  nicht. '') 
Infolgedessen  gibt  es  nur  et^va  in  der  Hälfte  aller  Gminen  diese  Ver- 
trauensmänner. Sie  werden  gewöhnlich  aus  fortschrittlichen  Elementen, 
häufig  aus  Großgrundbesitzern  gewählt,  manchmal  auch  aus  der  Intelligenz, 
wenn  die  betreffende  Persönlichkeit  in  der  Gmin  irgendeinen  Flecken  Erde 


')  Art.  246.  —  ■)  Alt  249,  s.  Anm.  1  auf  S.  55. 

')  Spa.ssowitsch  a.  a.  0.  S.  146  schreibt:  ,,Somit  taucht  inmitten  der  Gmin  eine  ein- 
flußreiche Person  auf,  die  weder  von  der  Dorfversammlung  noch  von  der  Gmin  abhängig 
ist,  die  keinerlei  gemeinsame  Literessen  mit  der  Gmin  hat,  eine  Person,  die  in  ihrem  Amt 
lediglich  ein  Mittel  sieht,  für  sich  selbst  möglichst  viele  Vorteile  zu  ziehen.  Da  das  Recht, 
die  Schreiber  zu  ernennen,  tatsächlich  an  die  Kreischefs  übergegangen  war,  so  hätte  die 
Gerechtigkeit  erfordert,  daß  sie  nmi  auch  deren  Dienstvergehn  zu  verantworten  hätten, 
und  zwar  um  so  mehr,  als  die  Kreischefs  durch  Art.  89  vei-pflichtet  werden,  private  Re- 
visionen der  Gminverwaltung  vorzunehmen.  Das  geschieht  aber  nicht,  weil  sie  sich  auf 
die  Schreiber  vollständig  verlassen.  Das  Gesetz  macht  die  Kreischefs  für  Yergehn  der 
Schreiber  nicht  verantwortlich.  Die  notwendige  Folge  solcher  Verhältnisse  ist  die,  daß 
die  Mehrzahl  von  Veruntreuungen  von  Gmingeldeni  und  andre  Yergehn  der  Schreiber  un- 
gesühnt  bleiben.  Das  Vertrauen  auf  die  Nachsicht  der  Kreischefs  ist  wähi-eud  des  letzten 
Jahrzehnts  so  groß  geworden,  daß  Gminversauimlungen  ganz  offen  zusammengerufen 
werden,  um  der  Gmiiibevölkerung  vorzuschlagen,  Verschwendungen  seitens  der  Gminver- 
waltungen,  die  häufig  viele  tausend  Rubel  betragen,  durch  Umlage  zu  decken.  .  .  .'• 

*)  Erlaß  des  Komitees  für  Angelegenheiten  des  Zai-tums  Polen. 

^)  Artikel  229. 


B.  Die  Vei"walhingsreform  57 


besitzt  Die  Hauptfunktionen  der  Vertrauensmänner  liegen  in  der  Be- 
aufsiclitigung  der  Gminverwaltung.  ^)  Diese  Tatsache  hat  das  Institut 
der  Vertrauensmänner  bei  den  Zenti-albehörden  in  Mißkredit  gebracht, 
und  ihre  Stellung  ist  dort  um  so  unsicherer,  wo  sie  in  Reibung  mit 
dem  allmächtigen  Gminschreiber  geraten.  Das  geschah  bis  1904  fast 
überall.  -) 

Betrachten  wir  nun,  Avas  aus  der  Gmin  während  ihres  vierzigjährigen 
Bestehens  geworden  ist. 

Die  von  Miljutin  in  Angriff  genommne  Reform  bleibt  nur  auf  dem 
Papier  vollauf  in  Kraft.  Aus  Landbearbeitern  verschiednen  Ursprungs 
■wurde  ein  Bauernstand  geschaffen,  der  im  Jahre  1864  Landanteile  er- 
halten hatte.  Sein  Zweck  war,  wie  wir  sahen,  der  Regierung  als  ein  fester 
Stützpunkt  zu  dienen  gegenüber  der  politischen  Unzuverlässigkeit  der 
übrigen  Bevölkerungsschichten.  Indem  die  Bauern  zusammen  mit  Guts- 
besitzern und  andern  Grundbesitzern  in  eine  gemeinsame  landwirtschaft- 
liche Gmin  vereinigt  wurden,  erhielten  sie  ein  bedeutendes  und  ausschlag- 
gebendes Übergewicht,  das  auch  noch  dadurch  sichergestellt  wurde,  daß 
der  Mittelstand,  die  örtlichen  Vertreter  der  Intelligenz  und  des  Kapitals, 
die  kein  Land  besaßen,  sorgsam  aus  der  Gmin  ausgeschlossen  Avurden. 
Abgesehen  von  der  Bauernschaft  wurde  die  korporative  Selbstbetätigung 
der  andern  Bevölkerungsklassen  beseitigt.  Im  Lande  wurde  ein  rein 
bureaukratisches  Verwaltungssystem  auf  der  Unterlage  der  Militärdiktatur 
eingeführt.  Der  der  landwirtschaftlichen  Gmin  überlassene  gewisse  Anteil 
an  der  Selbstverwaltung  hätte  dennoch  günstige  Polgen  bringen  können, 
wenn  die  Gmin  inmitten  der  bureaukratischen  Institution  nicht  vollständig 
allein  stehen  würde.  Sie  hätte  die  erste  Zelle  einer  umfangreichen  Organi- 
sation sein  müssen,  aus  der  die  Landschaftsverwaltung  herauswachsen 
konnte.  „Die  vereinsamte  Lage  der  rein  bureaukratisch  verwalteten  Gmin, 
schreibt  Spasso witsch,  3)  zog  die  unvermeidliche  Polgeersch einung  nach  sich, 
daß  auch  die  Gminselbstverwaltung  etwas  fiktives,  nm*  auf  dem  Papier, 
nicht  aber  in  Wirklichkeit  bestehendes  wurde.  Dem  Gesetz  gemäß  soll 
die  Gmin  durch  ihre  eigne  Versammlung,  durch  ihre  Wojte  und  Ssoltys 
verwaltet  werden.     Tatsächlich  liegt  aber   die  Verwaltung  bei  den  Kreis- 


^)  Artikel  230  des  Regulativs  füi-  das  Zai-tiun  Polen  faßt  die  Aufgaben   der  Ver- 
trauensmänner wie  folgt  zusammen: 

1.  Aufstellimg  und  Verteilimg  der  staatlichen  und  Gemeindesteuern  gemeinsam  mit 
dem  "Wojt  und  den  Ssoltys, 

2.  Unterstützung  des  "Wojt  in  allen  Gminangelegenheiten, 

3.  Auswahl  des  Gminschreibers  gemeinsam  mit  dem  Wojt  ivnd  den  Ssoltys. 

4.  Revision  der  Buchfühiiing  und  Kassen. 

")  Ähnüch  Spassowitsch,  a.  a.  0.  S.  148.  —  '')  a.  a.  0.  S.  149. 


58  Drittes  Kapitel.    Die  Refonnen  von  1864 

chefs,  den  Gemeindeschreibem  und  den  Landschutzleuten,  die  den  Uijadniki 
im  Reich  entsprechen.  Im  Laufe  von  Jahrzehnten  war  die  Administration 
bestrebt,  die  entwickeitern  Leute  von  der  Beteiligung  an  den  Gmin- 
ängelegenheiten  fernzuhalten,  und  mit  Hilfe  der  Schreiber  wTirden  die  ge- 
bildeten Elemente  aus  der  Gminverwaltung  herausgedrängt.  Durch  die 
Macht  der  Verhältnisse  wurde  die  Gmin  in  den  Verwaltungsapparat  des 
Kreises  hineingezogen,  sie  verwandelte  sich  in  ein  Organ  der  rein  ad- 
ministrativen Verwaltung  und  wurde  dadurch  fast  vollständig  der  Fähigkeit 
beraubt,  für  -wirtschaftliche  und  soziale  Angelegenheiten  der  Gmin  zu 
sorgen.  Das  Fehlen  eines  Mittelstandes  in  der  Gmin,  als  Zahler  der  Gmin- 
steuern,  entzog  ihr  die  reichste  vorhandne  Einnahmequelle  imd  war  die 
Ursache  dafüi',  wenn  es  über  ihre  Kräfte  ging,  die  Kranken-  und  Armen- 
häuser, die  Wohltätigkeitsanstalten,  die  Ärzte  und  Hebammen  sowie  das 
Feuerlöschwesen  zu  unterhalten.  Wohl  bestehen  Elementarschulen,  aber 
die  Gmin  sorgt  nicht  füi'  sie  .  .  ."  Wir  werden  bei  Besprechung  des  bäuer- 
lichen Kredits  sehen,  daß  die  eben  vorgetragne  Auffassung  über  die  Gmin 
nicht  unrichtig  ist. 

3.  Die  Gouvernements-  und  Kreisvenvaltinif/ 

Die  Tatsache,  daß  die  Reformen  von  18G4  für  das  Zartum  Polen  kein 
einheitlich  begründetes  A^erwaltungssjstem  brachten,  findet  ihren  schäi*fsten 
Ausdruck  in  dem  scheinbar  völligen  Mangel  eines  Zusammenhangs  zwischen 
der  ländlichen  Lokalverwaltung  und  den  Organen  der  Kreis-  und  Gou- 
vemementsverwaltung.  In  dieser  Beziehung  wurde  der  Fehler  wiederholt, 
der  bei  der  Einführung  der  Sjemstwo  in  den  russischen  Provinzen  be- 
gangen worden  war.  Doch  während  in  Rußland  lediglich  der  Wunscli 
maßgebend  war,  tUe  bäuerliche  Masse  vor  einer  Berührung  mit  der 
städtischen  Intelligenz  zu  bewahren,  trat  bezüglich  des  Zartums  Polen  noch 
der  Wunsch  liinzu,  die  Weichselgouvernements  an  das  Venvaltungssystem 
des  Reichs  anzuschließen,  ohne  der  polnischen  Gesellschaft  einen  Selbst- 
verwaltungskörper  wie  die  Sjemstwo  zu  geben,  in  dem  der  Adel,  die 
Geistlichkeit  und  die  Intelligenz  einen  Ausdruck  ihrer  politischen  Gesinnung 
hätten  finden  können. 

Die  Reform  der  Kreis-  und  Gouvemementsverwaltung  wurde  durch 
Verordnung  vom  19.  Dezember  1866  befohlen. 

Zur  leichtern  Kontrolle  wurden  die  bestehenden  fünf  Gouvernements 
in  zehn  umgeteilt,  und  die  Zahl  der  Kreise  von  39  auf  84^)  festgesetzt.*) 


1)  Eeinke  a.  a.  0.  S.  154  gibt  fälscliHch  85  an. 

^)  Die  Zahl  der  Kreise  in  deu  verechiednen  Gouvernements  beträgt:  "Warschau  14, 
Lublin  10,  Siedice  9,  Kaiisch  8,  Petrikau  8,  Suwalld  7,  Kjelce  7,  Lomsha  7,  Plock  7,  Eadom  7. 


B.  Die  Verwaltungsreform  59 


Damit  schuf  sich  die  Regierimg  nebenher  die  Möglichkeit,  eine  größere 
Zahl  von  russischen  Beamten  nach  Polen  zu  schicken.^) 

Das  ausführende  Organ  ist  in  jedem  der  zehn  Gouvernements  die 
Gouvemementsverwaltung.  Anfänglich  waren  die  Gouvernementsverwal- 
tungen der  Regierimgskommission  für  innere  Angelegenheiten  unterstellt. 
Als  diese  durch  ükas  vom  29.  Februar  1868  aufgehoben  wurde,  wurden 
sie  auf  allgemeiner  Grundlage  dem  dirigierenden  Senat  unterstellt  mid  dem 
Ministerium  des  Innern  angeghedert.  Die  Gouvemementsverwaltung  besteht 
aus  dem  Gouverneur  mit  einer  Privatkanzlei  und  der  Prawlenije,  der  Ver- 
waltungsbehörde. Die  Prawlenije  Avurde  in  folgende  Abteilungen  geteilt:  all- 
gemeine Verwaltung,  militärisch -pohzeiliche,^)  juridische,  Versicherungs- 
wesen, Medizinal-,  Finanzen  und  Staatseigentum.^)  Der  Hauptimterschied 
zwischen  der  Stellung  eines  Gouverneurs  in  den  russischen  und  in  den 
polnischen  Gouvernements  besteht  in  der  Bemessung  der  seinem  persön- 
lichen Ermessen  unterliegenden  Kompetenzen.*)  In  den  russischen  Gou- 
vernements verteilen  sich  diese  Kompetenzen  auf:  die  Adelsmarschälle,  che 


^)  Die  polnischen  Gouvernements  sind  zwischen  863000  und  1599000  Deßjatinen 
groß,  während  kein  russisches  unter  2831000  (Kaluga)  groß  ist;  elf  russische  Gouverne- 
ments aber  sind,  einzeln  genommen,  größer  als  die  zehn  Gouvernements  des  Zaiiums 
Polen  zusammen. 

')  Diese  Abteilimg  wurde  durch  Verfüg-i;ng  des  Statthalters  am  9.  Januar  1867  auf- 
gehoben, ebenso  wie  der  Posten  eines  Generalpolizeimeisters  von  "Warschau,  nachdem  da«; 
Land  hinreichend  beruhigt  schien. 

")  Die  Abteihmgeu  für  Finanzen  und  Staatseigentum  wurden  durch  Ukas  vom 
26.  März  1869  aufgehoben  imd  durch  die  Kasjonnaja  palata,  den  Kameralhof,  ersetzt. 

*)  Die  Kompetenz  eines  Gouverneurs  im  Zartum  Polen  ergibt  sich  aus  nachstehenden 
Paragraphen  der  Instruktion  für  die  Verwaltung  des  Zartums  Polen: 

§  11.  Der  Gouverneur  ist  in  dem  ihm  anverti'auten  Gouvernement  der  erste  Wächter 
der  Unantastbarkeit  der  höchsten  Rechte  der  Selbstherrschaft,  für  das  Wohl  des  Reiches 
sowie  für  die  pünktliche  Durchfühiimg  der  Gesetze  und  der  Regierungsvorschriften  auf 
allen  Gebieten  der  Verwaltung. 

§  15.  Unter  strenger  Beobachtung  der  allen  Untertanen  des  russischen  Reichs  zu- 
gebilUgten  Glaubensfreiheit  hat  der  Gouverneur  alle  gesetzlichen  Rechte  und  die  Un- 
antastbarkeit der  rechtgläubigen  Kirche  und  aller  andern  durch  das  Gesetz  anerkannten 
Glaubensbekenntnisse  zu  schirmen  und  hat  darauf  zu  achten,  daß  alle  Bewohner  des  ihm 
anvertrauten  Gouvernements  in  Ausübimg  ihres  Glaubens  keinerlei  ungesetzlichen  Be- 
grenzimgen  vmd  Beschränkungen  unterworfen  würden.  Der  Gouverneur  hat  alle  Glaubens- 
bekenntnisse vor  gesetzwidrigen  Angriffen  durch  Andei-sgläubige  zu  behüten  imd  hat 
darauf  zu  achten,  daß  die  Geistlichkeit,  die  weiße  ebenso  wie  die  Klostergeistlichkeit,  die 
durch  das  bürgerliche  Gesetz  festgesetzten  Regeln  pünktüch  erfüllen. 

§  17.  Der  Gouverneur  handelt  entweder  aus  persönlicher  Machtvollkommenheit  oder 
durch  Vermittkmg  der  Gouvernemeutsverwaltimgsbehörden. 

§  18.  Der  persönlichen  Entscheidung  des  Gouverneurs  ohne  Teilnahme  der  Gou- ' 
vemementsbehörden  unterliegen : 

a)  Politische  oder  ganz  besonders  geheime  Angelegenheiten. 

b)  Angelegenheiten  von  besondrer  Eile,  wenn  sie  auch  der  Entscheidung  der  Gou- 
vemementsbehörde  bedürfen  sollten. 


60  Drittes  Kapitel.    Die  Reformen  von  1864 

Sjemstwo-Uprawa,  die  Stadtverwaltungen.  Der  Gouverneur  hat  somit  mehr 
den  Charakter  einer  Aufsichtsinstanz.  In  den  pohlischen  Gouvernements 
fehlen,  wie  schon  früher  bemerkt,  die  genannten  ständischen  und  örtlichen 
Organe  der  Selbstverwaltung;  ihre  Kompetenzen  sind  in  der  Privatkanzlei 
des  Gouverneurs  vereinigt.  Er  allein  hat  in  der  Verwaltungspraxis  das 
Recht  der  Initiative. 

In  dem  Maße,  vne  die  Bedeutung  des  Gouverneurs  zugenommen  hat,  hat 
die  der  Prawlenije  eingebüßt.  Sie  hat  ausschließlich  solche  "wirtschaftUche 
Angelegenheiten  zu  bearbeiten,  die  ihr  der  Gouverneur  zugehen  läßt.  ^)  Denn 
auch  in  die  rein  wirtschaftlichen  Angelegenheiten  ist  die  politische  Note 
hineingetragen,  die  die  Absicht,  russifizierend  zu  wirken,  zur  Schau  trägt.-) 

Der  Gouvemementsverwaltung  sind  unterstellt  die  sieben  bis  vierzehn 
Kreisverwaltimgen  mit  einem  Kreischef  ^)  an  der  Spitze.    Dieser  Kreischef 


c)  Angelegenheiten,  betreffend  Sicherstellung  eines  richtigen  Ganges  der  ländlichen 
Gemeindeverwaltung.     (§194  313  dieser  Instruktion.) 

d)  Anstellung  und  Entlassung  von  Beamten  der  Landpolizei.  (§  128/151  dieser  In- 
struktion.) 

e)  Der  allgemeine  Schriftverkehr  mit  den  Mihtärbehörden  über  Truppenverschiebungen, 
Besichtigung  und  Aufstellung  der  Jahresberichte  über  das  Gouvernement. 

f)  imd  g)  Die  Au.sgabe  von  "Waffenscheinen  und  das  Paßwesen. 

h)  Angelegenheiten  der  Ausländer  sowie  der  unter  poUzeiücher  Aufsicht  stehenden 
Pereonen. 

i)  Ausgabe  von  Pässen  an  römisch-katholische  Angehörige  der  Geistlichkeit  (weltliche 
und  Klostergeistlichkeit). 

k)  Aufsicht  über  die  römisch-katholischen  Klöster  und  Kirchen. 

1)  Aufsicht  über  Druckereien,  lithogi-aphische  Anstalten  usw. 
m)  Aufsicht  über  Wohltätigkeitsanstalten. 

n)  Steuei-stundung. 

Anmerkung.  Gemäß  Bestimmung  vom  20.  September  1876  kann  der  Gouverneur 
gewisse  Geldstrafen  verhängen. 

^)  Siehe  Instmktion  für  den  Gouvenieur,  Anm.  4  S.  59,  §  18,  b  und  c. 

')  So  müssen  sich  Unternehmer  von  öffentlichen  Arbeiten  verpflichten,  bei  diasen 
Arbeiten  mindestens  die  Hälfte  der  Arbeiter  aus  Personen  nissischer  Nationalität,  d.  h. 
griechisch-katholischen  Glaubens  zu  ven\'enden. 

^)  Dessen  Instruktion  siehe  §  84/91  der  Instniktion  für  die  Verwaltung  des  Zar- 
tvims  Polen. 

§  84  der  Instniktion  besagt:  „Unter  der  Aufsicht  des  Gouveraeiu-s  und  der  Gou- 
vernementsverwaltung vei-waltet  der  Kreischef  unmittelbar  den  ihm  anvertrauten  Kreis 
mit  allen  zu  ihm  gehörigen  Städten,  Flecken,  Gminen,  Yoi-werken  und  Ländereien.  Er 
präsidiert  in  der  Kreisverwaltung.  Der  Kreischef  wird  durch  den  Generalgouvemeur  er- 
nannt, versetzt  und  entlassen. 

Anmerkung.  (Nach  der  Eedaktiou  von  1895.)  Aus  der  Kompetenz  des  Kreischefs 
scheiden  aus:  die  Stadt  Wai-schau,  die  sich  in  einer  besondera  Lage  befindet;  alle  Gou- 
vernementshauptstädte, die  Stadt  Lodz,  ebenso  Wlociawek,  deren  Magistrate  der  Gou- 
vemementsverwaltung unmittelbar  unterstellt  sind.  In  den  Gouvemementshauptstädten 
unterstehn  die  PoUzeiangelegenheiten  der  Verwaltung  besondrer  Polizeimeister  und  ihm 
zugeteilter   städtischer   PoUzei Verwaltungen.      Sie    sind   unmittelbar   den   Gouvernements- 


B.  Die  VerwaltuDgsrefonn  Q\ 


ist  in  seinem  Amtsbezirk  der  Träger  der  Gewalt  des  Gouverneurs  und  hat 
dementsprechend  größere  Machtbefugnisse  als  seine  Kollegen  in  den  rus- 
sischen Gouvernements.  Zu  seiner  Unterstützung  hat  er  die  Landpolizei, 
die  in  Rußland  allmählich  seit  1902  eingeführt  wird.  Die  Kreise  sind  ein- 
geteilt in  „Gminen",  die  zusammengesetzt  sind  aus  den  „Landgesellschaften" 
(„Gromada")  sowie  den  selbständigen  Gutshöfen,  die  den  Wolosten  in  Ruß- 
land entsprechen.   Wir  haben  sie  schon  kennen  gelernt.    (Siehe  S.  50 — 58.) 

4.  Die  Städte 

Unter  den  früher  geschilderten  Verhältnissen  kann  es  uns  nicht  wunder- 
nehmen, wenn  wir  bei  Betrachtung  der  Städteordnung  gleichfalls  einen 
organischen  Zusammenhang  der  Selbstverwaltung  mit  andern  Institutionen 
vermissen.  Die  Städteordnung  ist  auf  der  Grundlage  der  im  alten  Herzog- 
tum Warschau  vorhanden  gewesnen  französischen  aufgebaut. 

Bis  zum  1.  Juni  1869  gab  es  in  den  zehn  Gouvernements  des  Weichsel- 
gebiets 452  Ortschaften,  die  nach  städtischem  Recht  verwaltet  wurden.  Da 
die  große  Mehrzahl  von  ihnen  den  Charakter  von  Dörfern  trug,  wurden 
349  in  Flecken  umbenannt,  auf  die  die  Gminverwaltung  ausgedehnt  wurde; 
ganz  kleine  Orte  bildeten  Landgemeinden  (gromada),  die  an  eine  Gmin 
angeschlossen  Avurden. 

Gegenwärtig  gibt  es  in  Polen  116  Städte. 

Die  städtische  Verwaltung  liegt  im  allgemeinen  gleichfalls  bei  den 
Gouverneuren  und  Kreischefs,  denen  dafür  besondre  Bürgermeister  zur 
Seite  gestellt  sind.^)  Aus  der  Kompetenz  der  Kreischefs  scheiden  aus: 
alle  Gouvernementshauptstädte  ^)  und  die  Städte  Lodz  und  Wloclawek,^)  an 
deren  Spitze  ein  Magistrat  steht,  der  seinerseits  den  Gouvernementsver- 
waltimgen  direkt  unterstellt  ist.  Bezüglich  ihrer  Verwaltung  bUdet  eine 
Ausnahme  die  Stadt  Warschau.  Sie  hat  neben  dem  Magistrat  einen  Ober- 
polizeimeister,*)   der  bezüglich  lokaler  Angelegenlieiten   mit   den  Rechten 


Verwaltungen  unterstellt.  Die  genannten  Angelegenheiten  in  den  Städten  Lodz  und 
Wloclawek  werden  von  Polizeinieistem  vei-waltet.  Dem  Polizeimeister  von  Lodz  ist  noch 
eine  besondre  etatmäßige  Kanzlei  zugeteilt  (siehe  §  143,  Anm.  Fortsetzung).  Dieser 
Polizeimeister  (von  Lodz)  ist  der  Gouvernementsverwaltung,  während  der  Pohzeimeister 
der  Stadt  Wloclawek  dem  örtUchen  Kreischef  unmittelbar  unterstellt  ist.  (Hieraus  ergibt 
sich  auch,  wohin  sich  Ausländer  in  den  genannten  Städten  in  allen  polizeilichen  Angelegen- 
heiten zu  wenden  haben.) 

^)  Die  Städteordnung  für  das  russische  Eeich  (siehe  §  1 ,  Anm.  1)  findet  in  Polen 
keine  Anwendimg.  Weiteres  bei  Spassowitsch  u.  Pilz,  „Tagesfragen'',  Bd.  I,  Petersbg.  1902. 

")  Diese  Städte  sind:  Suwalki,  Lomsha,  Plock,  Warschau,  Sjedlec,  Kaiisch,  Petrikau, 
Radom,  Lublin,  Kjelce;  sie  haben  auch  besondre  Landpolizeiverwaltungen. 

"j  Siehe  Anmerkung  zu  §  84  der  Instruktion  für  die  Verwaltung  des  Zartums  Polen, 
aufgefühi-t  in  Amn.  3  auf  S.  60. 

*)  Siehe  §  152  bis  158  obiger  Instruktion. 


62  Drittes  Kapitel.    Die  Eeformen  von  1864 


und  Pflichten  eines  Gouverneurs  ausgerüstet,  direkt  dem  Generalgouvemeur 
unterstellt  ist.^)  Warschau  nahm  früher  als  Hauptstadt  des  Zartums  und 
Sammelpunkt  aller  staatlichen  und  gesellschaftlichen  Zentralorgane  eine 
Sonderstellung  vor  den  andern  Städten  des  Gebiets  ein.  Diese  Sonder- 
stellung brachte  manche  Unbequemlichkeit  in  politischer  Beziehung  mit 
sich,  und  so  -wurde  der  Wunsch,  sie  zu  beseitigen,  zur  Grundlage  des  Gre- 
setzes  vom  22.  Juni  1870  über  die  Yerwaltung  der  Stadt  Warschau. *) 

C.  Der  Generalgouvemeur 

1.  Seine  Instruktion 

Um  nun  möglichste  Einheit  in  der  Tätigkeit  aller  Organe  zu  erzielen, 
sind  die  zehn  polnischen  Gouvernements  zu  einem  Generalgouvernement  mit 
einem  Generalgouverneur  an  der  Spitze  vereinigt.  •')     Bis  zum  Jahre  1874- 


*)  §  152:  „Der  Warschauer  Obei-polizeiraeister  und  seine  Venvalrung  sind  in  allge- 
meinen Verwaltimgsangelegenheiten  dem  Minister  des  Innern,  in  den  örtlichen  Angelegen- 
heiten dem  Generalgouvemeur  untei-stellt."  Der  Oberpolizeimeister  von  Warschau  kann 
gemäß  Sondervorschrift  vom  20.  September  1876  Geldsti-afen  verhängen. 

2)  Reinke,  a.  a.  0.  S.  176. 

^)  Die  Vollmachten  des  Genoralgouvemeurs  beruhen  auf  den  §§  204  bis  262  des 
allgemeinen  Gouvernements -Regulativs,  auf  §  2  der  Instruktion  für  das  Zartum  Polen  sowie 
auf  einer  Fülle  von  Anmerkungen,  die  in  den  Vorschriften  über  die  Militärdienstpflicht, 
über  die  römisch-katholische  Geistlichkeit,  über  Anstellung  und  Absetzung  von  Beamten, 
über  Kirchen-,  Schul-  imd  Polizeifragen  verstreut  sind.  (Siehe  §  257,  Ukas  vom  29.  Febr. 
1868,  Gesetz  vom  13.  JuU  1876,  Ukas  vom  5.  April  1879.) 

§  208  bis  257  enthalten  die  Kompetenz  des  Gencralgouvemeurs. 

§  211.     Besondrer  Aufsicht  des  Generalgouvemeurs  unterliegen: 

1.  der  allgemeine  Wohlstand  und  die  öffentliche  Ordnung  (§212  bis  221  und  §  236), 

2.  öffentliche  Gesundheit  und  Verpflegung  (§  222  bis  224), 

3.  allgemeine  Wirtschaft  (§  225  bis  231), 

4.  der  Personalbestand  der  lokalen  Verwaltungen  (§  282  bis  285). 

§  212.  Der  Generalgouvemeur  hat  darauf  zu  achten,  daß  die  Jugend  in  den  Regeln 
reinen  Glaubens,  guter  Moral  und  in  Gefühlen  der  Büngabe  zu  Thron  imd  Vaterland 
erzogen  werde  .  .  . 

§  214.  Der  Generalgouvemeur  hat  darauf  zu  achten,  daß  die  EdeUeute  ein  ehrbares 
Leben  fuhren  .  .  . 

§  218  verpflichtet  den  Generalgouvemeui',  beim  Ausbmch  von  Unnihen  einzugreifen, 
sofern  die  Maßnahmen  der  zuständigen  Orisbehörden  nicht  ausreichen. 

§  221.  ...  er  verfolgt  mit  aller  Strenge  Verleumdungen  und  Personen,  die  falsche 
Beschwerden  und  lügnerische  Denunziationen  verbreiten  .  .  . 

§  225.  .  .  .  der  besondern  Fürsorge  des  Generalgouvemeurs  unterliegt  die  Beauf- 
sichtigung des  städtischen  Budgets  wie  die  Eröffnung  neuer  Einnahmequellen  durch  Be- 
steuenmg  .  .  . 

§  226.  Bezüglich  der  Landwirtschaft  hat  sich  der  Generalgouvemeur  an  die  Gmnd- 
anschauung  zu  halten,  daß  sie  das  hauptsächlichste  und  sicherste  Fundament  des  Volks- 
wohlstandes ist;  er  bat  darum  jede  Gelegenheit  zu  benutzen,  um  gründliche  und  direkte 
Mittel  anzugeben  zur  Hebung  und  Verbesserung  der  Landwii-tschaft. 


C.  Der  Generalgouvenieur  63 


■wurde  er  Statthalter  genannt.^)  Den  Haiipthebel  der  örtlichen  Verwaltung 
stellt  dennoch  der  einzelne  Gouverneur  dar,  der,  ebenso  wie  in  den  rus- 
sischen Gouvernements,  unmittelbar  über  die  Hilfsorgane  verfügen  kann. 
Der  Generalgouverneui"  ist  auf  der  einen  Seite  mehr  eine  Aufsichtsbehörde, 
die  den  Minister  des  Innern  entlasten,  auf  der  andern  der  unmittelbare 
Repräsentant  des  Zaren,  der  mit  besondern  Vollmachten  ausgerüstet,  den 
Geschäftsgang  in  dem  ihm  unterstellten  Gebiet  beschleunigen  soll.  Von 
diesem  Gesichtspunkt  aus  betrachtet,  kann  die  Stellung  des  Generalgouver- 
neurs überhaupt  als  eine  Konzession  an  das  Bedürfnis  nach  Dezentralisation 
aufgefaßt  werden.^)    Schon  hieraus  geht  hervor,  daß  der  Generalgouverneur 


§  227  fordert  gleiche  Einwirkimg  auf  die  Fabrik-  iind  Haiidwerksgewerbe  wie  aucli 
die  wiiischaftliche,  soziale  und  moralische  Lage  der  Arbeiterbevölkerung. 

§  229/230  fordern  vom  Generalgouverneur  die  Unterstützimg  aller  wirtschaftlichen 
Unternehmungen  sowie  sein  Eingreifen  gegen  der  Staatswii-tschaft  schädliche  Monopolisten. 

§  234.  Wünsche  des  Generalgouverneurs  bezüglich  Besetzimg  von  Beamtenstellen 
in  dem  ihm  anvertrauten  Gebiet  dürfen  durch  den  Minister  des  Innern  ohne  jedesmalige 
besondre  Begründung  nicht  abgelehnt  werden. 

§  237  bis  240.  .  .  .  der  Genei-algouverneur  hat  direkten  Vortrag  beim  Zaren,  hat 
aber  über  den  Gegenstand  des  Vortrags  an  den  im  einzeluen  Falle  zuständigen  Ressort- 
minister zu  berichten. 

§  241  bis  246.  Der  Generalgouverneiu-  kann  in  allen  Fällen  auch  an  Berichte,  die 
nicht  durch  seine  Hand  zu  gehen  brauchen,  seine  eigne  Meinimg  über  den  Gegenstand 
des  Berichts  dem  zuständigen  Ressortminister  zum  Ausdruck  bringen. 

§  243.  ...  in  einem  Generalgouvernement  können  von  keiner  Seite  irgendwelche 
das  Volkswohl  oder  fiskalische  Interessen  betreffende  Bestimmungen  ohne  Mih\'irkung  das 
Generalgouvemeurs  eingeführt  werden  .  .  . 

§  245.     .  .  .  das  gleiche  gilt  von  Bestrafungen  und  Belohnungen  der  Beamten  .  .  . 

§  252  nebst  Anlage  zu  §  23  des  Allgemeinen  Gouvemementsregulativs  sowie  §  406 
nebst  Anlage  stellt  den  Mihtärgouverneur  unter  den  Generalgouverneur.  Die  Verhängung 
des  Kriegszustandes  über  ein  Gebiet  liegt  in  der  Kompetenz  der  Zentralgewalt,  die  in 
jedem  einzelnen  Falle,  meist  durch  ein  allerhöchstes  Reskript,  die  Kompetenzen  feststellt. 

§  256.  ...  in  den  Grenzgouveniements  liegt  dem  Generalgouverneur  die  Über- 
wachung der  Nachbarn  ob  .  .  . 

§  262.  ...  in  den  Gouvernements  mit  jüdischer  Bevölkening  können  die  General- 
gouvemeure  bis  zu  drei  Juden  als  Sachveretändige  in  Judenangelegenheiten  in  der  Kanzlei 
anstellen  .  .  .    (Sonst  sind  Juden  vom  Staatsdienst  ausgeschlossen.) 

§  2  der  Instruktion  für  die  Verwaltung  des  Zartums  Polen  stellt  dem  General- 
gouverneui' einen  Gehilfen  (Vizegeneralgouverneur  seit  1892)  zur  Verfügung,  unterstellt 
ihm  das  Warschauer  Statistische  Komitee,  gestattet  ihm  die  Verhängung  von  Geldstrafen 
(gemäß  den  besondern  Regeln  vom  20.  September  1876)  imd  die  Ausgabe  von  Auswande- 
nmgsscheinen ,  die  sonst  durch  den  Zaren  be^dlligt  werden  müssen.  (Der  Fühi-ung  des 
Statistischen  Komitees  ist  in  Polen  eine  so  große  Bedeutung  beigemessen  worden,  weil  in 
den  mssischen  Gouveniements  mit  Sjemstwoverwaltimg  die  statistischen  Bureaus  zur 
Zentrale  politischer  Propaganda  gemacht  worden  waren.  Die  Notwendigkeit  der  Eimichtung 
eines  Korrespondentennetzes  in  den  Kreisen  und  Gouvernements  hat  es  möglich  gemacht, 
daß  alle  fortschrittlich  gesinnten  Elemente  auf  dem  Lande  trotz  der  schlechten  Verbin- 
dungen dauernd  miteinander  Zusammenhang  halten  konnten.) 

^)  Ukas  vom  11.  Januar  1874  anläßlich  des  Todes  des  Statthalters  Graf  Berg. 

^)  Siehe  §  243  und  245  in  der  vorletzten  Anm. 


64  Drittes  Kapitel.    Die  Keforinen  von  1864 


stets  Träger  der  vom  Zaren  anerkannten  und  befolgten  politischen  Prinzipien 
sein  rauß.^) 

Die  in  Anm.  3  S.  62/3  wiedergegebne  Instruktion  für  den  General- 
gouvemeur  von  Warschau  ist  in  allen  ihren  wesentlichen  Teilen  dieselbe, 
denen  die  russischen  Generalgouverneure,  z.  B.  der  von  Moskau,  unterworfen 
sind.  Ihre  Wirkung  im  Zartum  Polen  ist  aber,  ebenso  wie  bei  den  Gouver- 
neuren, eine  ganz  andre  oder  richtiger  schärfere,  weil  die  bereits  gelegent- 
lich der  Befugnisse  der  Gouverneure  (S.  59/60)  erwähnten  Selbsts-erwaltungs- 
körper  fehlen.^) 

Neben  der  allgemeinen  Instruktion  bestehen  noch  besondre  Yollraachten. 

Am  10.  Juli  1871  wurde  die  besondre  Yerwaltimg  der  geistlichen  An- 
gelegenheiten für  ausländische  Glaubensbekenntnisse  im  Zartum  Polen  auf- 
gehoben, imd  ihre  Befugnisse  wurden  an  das  Ministerium  des  Innern  über- 
geführt. Dabei  wurde  dem  Generalgouvemeur  indessen  zur  Pflicht  gemacht, 
alle  Vorschläge  der  römisch-katholischen  Geistlichkeit  betreffend  Besetzung 
von  Ämtern  in  katholischen  Kirchengemeinden,  Klöstern  und  Seminaren  zu 
begutachten.  Ferner  hat  er  durch  Verfügung  vom  20.  September  1876  das 
Recht,  ebenso  wie  der  Polizeimeister  von  Warschau  und  die  Gouvernements- 
chefs, Strafen   für  Delikte  polizeilichen  Charakters  zu  verhängen.^) 


')  §  204  des  Allgemeinen  Gouverneraentsregulativs  bestimmt,  daß  die  „General- 
gouverneiue  von  Seiner  Majestät  dem  Kaiser  immittelbar  auf  Grmid  besondem  persön- 
lichen Vertrauens  ernannt"  werden. 

-)  §  1  bis  5  des  Allgemeinen  Gouvemementsrcgulativs  lauten: 

§  1.  Das  Reich  ist  mit  Bezug  auf  die  bürgerliche  Venvaltung  seiner  einzelnen  Teile 
in  Gouvernements,  Gebiete  und  Stadtbauptmannschaften  eingeteilt. 

§  2.  .Jeder  dieser  Teile  wird  entweder  nach  dem  Allgemeinen  Regulativ  oder  nach 
,. Besondern  Instruktionen"  verwaltet. 

§  3.  Nach  dem  Allgemeinen  Regulativ  werden  folgende  Gouvernements  verwaltet: 
1.  Archangelsk,  2.  Astrachan,  3.  Bessarabien,  4.  Wilna,  5.  Witebsk,  6.  Wladimir,  7.  Wo- 
logda,  8.  Wolynien,  9.  "Woronesh ,  10.  "VVjatka,  11.  Grodno,  12.  Jekaterinoslaw,  13.  Kasanj, 
14.  Kaluga,  15.  Kijew,  16.  Kowno,  17.  Kostroma,  18.  Kurland,  19.  Kursk,  20.  Ijvland, 
21.  Minsk,  22.  Mohilew,  23.  Moskau,  24.  Nowgorod,  25.  Xishni- Nowgorod,  26.  Olonetz, 
27.  Orenbuig,  28.  Orjol,  29.  Pensa,  30.  Perm,  31.  Podolien,  32.  Poltawa,  33.  Pskow, 
34.  Rjasanj,  35.  Ssamara,  36.  St.  Petersbui-g,  37.  S.saratüw,  38.  Ssimbirsk,  39.  Sraolensk, 
40.  Taurien,  41.  Tambow,  42.  Twerj,  43.  Tula,  44.  Ufa,  45.  Charkow,  46.  Cherssonj, 
47.  Tschernigow,  48.  Estland  und  49.  Jaroslaw. 

Anm.  In  der  Benennung  Gouvernement  Livland  ist  die  Insel  Ösel  einbegriffen, 
die  zusaimnen  mit  einigen  zu  ihr  gehörigen  andern  Inseln  einen  seiner  Kreise  bilden. 

§  4.  Nach  den  Besondern  Instrukiionen  werden  verwaltet:  1.  die  Gouvernements 
des  Zartunis  Polen,  2.  der  Kaukasus,  3.  das  transkaspische  Gebiet,  4.  Tiirkestan,  5.  die 
Gebiete  Akmolinsk,  Ssemipalatiusk,  Ssemirjetschje,  Uraljsk  und  Turgai,  6.  die  General- 
gouvemeraents  Irkutsk  vmd  Amur  und  7.  die  Stämme  der  verechiednen  Fremdvölker. 

§  5.  Auf  Giaind  besondrer  Regeln  werden  verwaltet:  1.  das  Gebiet  des  Donschen 
Heeres  und  2.  die  Länder  des  Asti'achanschen  Kosakenheeres. 

^  Reinke,  a.  a.  0.  S.  162  Anm.  1  und  2  bezeichnet  solche  Delikte  wie  folgt:  „.  . .  Ver- 
letzung der  Regeln  über  die  polizeihche  Aufsicht  und  das  Aufbewahren  von  "Waffen  und 


C.  Der  Generalgouvernem-  65 


2.  Die  Kanzlei  des  Generalgouvemeiirs 

Dem  Generalgonverneur  zur  Seite  steht  ein  Gehilfe  für  militärische 
und  ein  solcher  für  Zivilangelegenheiten,  ferner  eine  Kanzlei  mit  einem 
hohen  Oberbeamten  an  der  Spitze.  Je  nach  der  Persönlichkeit  des  General- 
gouvemeiu's  hatten  die  drei  eben  genannten  Stellen  verschiedne  Bedeutung. 
Um  sie  zu  kennzeichnen,  wollen  wir  uns  an  die  Ausführimgen  des  spätem 
konservativen  Abgeordneten  der  dritten  Reichsduma  Herrn  S.  N.  Alexejew 
in  der  „Nowoje  Wremja"  (Nr.  10596)  vom  31.  August  1905  halten. 

Schon  während  der  Amtszeit  des  Grafen  Schuwalow  (1894  bis  1897) 
begann  der  Gehilfe  des  General gouverneurs  für  Zivilangelegenheiten  eine 
bedeutsame,  selbständige  Rolle  zu  spielen.^)  Die  direkten  Beziehungen 
zwischen  dem  Generalgouverneur  einerseits  und  dem  Gebiet  mit  seinen 
Verwaltungsbehörden  andrerseits  nahmen  immer  mehr  ab.  Es  bildete  sich 
eine  neue  Instanz,  die  selbständige  Beschlüsse  fassen  und  dem  General- 
gouverneur die  Angelegenheiten  nach  eignem  Ermessen  unterbreiten  konnte 
oder  nicht.  Unter  dem  Fürsten  Imeretinski  nahm  die  Bedeutung  des  Ge- 
hilfen des  Generalgouvemeurs  sowie  die  Kanzlei  des  Generalgouverneurs 
noch  mehr  zu;  es  bildeten  sich  drei  Mittelpunkte  der  Verwaltung:  das 
Kabinett  des  Generalgouverneurs,  das  Kabmett  seines  Gehilfen  und  die 
Kanzlei.  In  einzelnen  Fragen  verfolgte  jede  dieser  Stellen  ihre  besondre 
Politik,  jede  hatte  ihre  besondern  Günstlinge  und  ihre  besondern  Anti- 
pathien.    Jede  der  Gruppen  war  bestrebt,  einen  möglichst  großen  Einfluß 


Pulver  durch  Privatpersonen;  Verletzung  der  Kegeln  betr.  Zusammenkünfte  der  römisch- 
katholischen  Geistlichkeit,  Weigerung  derselben,  geistliche  Amtshandlungen  für  Personen 
zu  vollziehen,  die  eine  Ehe  mit  Rechtgläubigen  eingehen  vroUen;  Errichtivng  von  Denk- 
mälern zur  Erinnerung  an  Ereignisse,  die  eine  politische  Bedeutung  haben;  unpassendes 
Betragen  in  den  Kirchen  während  des  Gottesdienstes  an  hohen  Festtagen  sowie  bei  Schau- 
stellungen, die  anläßlich  kaiserlicher  und  andrer  Festtage  aufgeführt  werden;  Tragen  von 
Trauergewändern  ohne  gesetzlich  gerechtfertigte  Ursache."  Die  Schuldigen  veerden  einer 
Strafzahlung  unterzogen  bis  zu  10  Rubel  oder  Arrest  bis  zu  fünf  Tagen  auf  Verfügung  des 
entsprechenden  Gouverneurs  oder  des  Generalpolizeimeisters.  Strengere  Strafen  werden 
auf  Verfügung  des  Generalgouverneurs  von  Warschau  verhängt. 

Am  11.  Juni  1899  wurde  dem  Generalgouverneur  von  Warschau  anheimgestellt,  eine 
verbindliche  Verfügung  betr.  die  Hausknechte  und  die  Nachtwächter  in  Wai-schau  und  Lodz 
zu  erlassen  und  Personen ,  die  diese  Verfügungen  übertreten  sollten ,  zu  einer  Geldstrafe 
bis  zu  300  Rubel  oder  bis  zu  einem  Monat  AiTest  zu  verurteilen.  (Sammlung  von  Ge- 
setzen, Artikel  1362.)  Am  11.  April  1900  erhielt  der  Genei'algouverneur  von  Warschau 
zeitweilig  auf  drei  Jalu'e  die  besondeni  Vollmachten,  verbindliche  Verfügungen  zu  treffen 
betr.  Angelegenheiten,  die  sich  auf  Verhinderung  einer  Störung  der  Staatsordnung  und  der 
öffentlichen  Ruhe  beziehen.  (Sammlung  von  Gesetzen,  Artikel  1320.)  Auf  Grund  dieses 
Gesetzes  ist  der  Generalgouverneur  bevollmächtigt,  für  Verletzung  der  von  ihm  erlassenen 
Verfügungen  auf  administrativem  Wege  Strafen  aufzuerlegen,  jedoch  nicht  höher  als  bis 
zu  drei  Monaten  Ai-rest  oder  Geldsti'afen  bis  zu  500  Rubel. 

^)  Die  Generalgouverneure  sind  im  Zusammenhange  auf  S.  112  genannt. 
Cleinow,  Die  Zukunft  Polens  5 


QQ  Drittes  Kapitel.    Die  Reformen  von  1864 

und  möglichst  große  Bedeutung  zu  gewinnen.  Es  stellte  sich  dabei  heraus, 
daß  es  nicht  allzu  schwer  fiel,  die  Macht  des  Kabinetts  des  Generalgouver- 
neurs zu  beschneiden;  daher  war  es  natürlich,  daß  die  beiden  andern 
Stellen  um  so  mehr  bemüht  waren,  ihre  Macht  auf  Kosten  der  Macht  der 
Gouverneure  sowie  der  nach  dem  Gesetz  selbständigen  Verti'eter  der  ein- 
zelnen Ressorts  zu  vergTößem.  Die  Mehrzahl  der  Gouverneure  und  Ver- 
treter der  einzelnen  Ressorts  fügte  sich  auch  einer  solchen  Beschneidung 
ihrer  Kompetenzen,  um  sich  nicht  die  an  sich  schwierigen  Beziehungen 
und  den  Verkehr  mit  dem  Generalgouverneur  um  ein  weiteres  zu  er- 
schweren. Wenn  aber  einzelne  von  ihnen  sich  nicht  fügen  wollten,  mußten 
sie  von  der  Bühne  verschwinden.  Unter  den  gekennzeichneten  Bedingungen 
mußte  der  amtüche  "Wirkungskreis  der  Kanzlei  des  Generalgouverneurs 
schnell  zunehmen.  Das  Kanzleiweseu  und  die  für  Kanzleien  charakteristische 
Nachlässigkeit  entfaltete  sich  zu  hoher  Blüte;  der  Gcneralgouverneur  selbst 
wurde  aber  durch  seine  Gehilfen,  durch  seine  Kanzlei  sowie  durch  die 
zunehmenden  Mengen  amtlicher  Schreiben  immer  mehr  in  den  Schatten 
gestellt;  er  begann,  sich  dem  Gebiet  sowie  dessen  Leben  immer  mehr 
zu  entfremden.  Während  der  Amtszeit  des  Nachfolgers  des  Fürsten 
Imeretinski,  des  hochbetagten  mid  kranken  Generals  Tschertlco w ,  Avuchs  die 
Zwischenwand  zwischen  dem  Generalgouvenieui*  und  dem  Gebiet  bis  zum 
äußersten:  das  Kabinett  des  Gehilfen  sowie  die  Kanzlei  erhielten  eine 
zweifellos  vorherrschende  Bedeutmig  —  die  Tätigkeit  des  Kabinetts  des 
Generalgouverneiu'S  sclunimpfte  stark  zusammen.  Die  Chefs  der  einzelnen 
Institutionen  waren  häufig  Monate  hindurch  der  Möglichkeit  beraubt,  den 
Generalgouvernem-  zu  sehen  und  mit  ihm  Tagesfragen  zu  besprechen. 
Personen,  die  Anliegen  an  den  Generalgouverneiu*  hatten,  wurde  gewöhn- 
lich erklärt:  „Wozu  den  Herrn  General  beunruhigen!"  Die  Angelegenheiten 
w^urden  daher  entsveder  im  Kabinett  des  Gehilfen  oder  in  der  Kanzlei  er- 
ledigt. Der  Generalleutnant  Maximowitsch  konnte  zum  Beispiel  nicht  in 
die  Lage  kommen,  das  Gebiet  zu  verwalten,  schon  allein  weil  er  in  der 
kurzen  Zeit  von  zwei  Monaten,  die  er  in  Warschau  zubrachte  (1905), 
nicht  in  die  laufenden  Angelegenheiten  eindringen  konnte.  Später  bezog 
er  als  Sommeraufenthalt  das  Fort  Zegrze  und  konnte  nicht  eine  General- 
inspektionsreise unternehmen.  Nach  wie  vor  verblieb  die  Macht  tatsächlich 
in  den  Händen  unverantwortlicher  Personen,  angefangen  mit  dem  Ge- 
hilfen des  Generalgouverneurs  und  endigend  mit  den  Amtsvollstreckem 
der  Kanzlei  des  Generalgouverneurs. 


Viertes  Kapitel 
Die  Reformen  nach  1864 

Nach  Einführung  der  russischen  Yerwaltimg  und  von  russischen  Ver- 
waltungsbeamten in  das  Zartum  Polen  mußte  die  Fiage  in  ihre  praktischen 
Rechte  treten,  ob  die  Polen  Russisch  oder  die  russischen  Beamten  Polnisch 
lernen  sollten.  Die  Regierung  entschloß  sich,  nach  und  nach  die  russische 
Sprache  einzuführen. 

In  den  ersten  Jahren  Avar  die  russische  Politik  nicht  ungeschickt.  Sie 
richtete  sich  nicht  direkt  gegen  das  polnische  Element,  sondern  gegen, 
solche  Kreise  der  Bevölkerung  des  Zartums,  die  selbst  nicht  polnisch,  den- 
noch aber  nach  Auffassung  der  Regierung  zur  Polonisierung  neigten.  Das 
waren  Litauer,  Deutsche  und  Juden.  Infolgedessen  wurde  vor  allen  Dingen 
in  diesen  Schulen  die  russische  Sprache  eingeführt.^)  Freilich  spielte  hier 
noch  ein  andrer  Grund  mit  hinein :  die  Furcht  vor  dem  deutscheu  Einfluß ; 
wir  gehn  durchaus  nicht  fehl,  wenn  wir  annehmen,  daß  die  Maßregeln 
vom  1.  Mai  1869,  die  die  russische  Sprache  vor  allen  Dingen  in  die 
deutschen  Schulen  von  Warschau  und  Lodz  einführten,  hauptsächlich 
gegen  das  Deutschtum  gerichtet  waren,  nicht  gegen  die  Polen.  So  be- 
zeichnet ein  sehr  interessanter  Aufsatz  im  amtlichen  Journal  des  Unter- 
richtsministeriums, der  „Die  Interessen  der  Yolksbildung  im  Warschauer 
Lehrbezirk"  benannt  ist,  die  deutsch-evangelische  Hauptschule  in  Warschau 
als  „einen  Yorposten  der  deutschen  Zivilisation  und  der  lutherischen 
Lehre".  ^)  Im  Jahre  1869  sollen  dreißig  katholische  Kinder  durch  diese 
Schule  der  evangelischen  Kirche  gewonnen  worden  sein.^)  Während  die 
polnisch-katholischen  Kinder  Russisch  leicht  lernten,  soll  es  den  evange- 
lischen sehr  schwer  gefallen  sein.  Man  wird  daraus  folgern,  daß  die 
Evangelischen  der  Slawisierung  einen  Widerstand  entgegenbrachten,  nicht 
aber,  daß  die  Deutschen  damals  zur  Polonisienmg  neigten.  In  den  1860  er 
Jahren   hat   darum    nach   imsrer   Auffassung   der  Kampf   vor  allem  dem 

»)  Journal  des  Unterrichtsministeriums  von  1869,  Bd.  143,  Teil  1,  S.  10  bis  12. 
2)  Ebenda  ßd.  141,  Teil  IV,  S.  3  und  7  bis  9. 
»)  Ebenda  Bd.  143,  Teil  IV,  S.  63. 


ßg  Viertes  Kapitel.    Die  Reformen  nach  1864 

Deutschtum,  nicht  den  Polen  gegolten.  Wir  kommen  hierauf  noch  in 
einem  spätem  Kapitel  zurück. 

Gleichzeitig  mit  dem  Kampf  gegen  die  deutsche  Schule  begann  die 
Regierang  die  russische  Sprache  in  den  Gouvernements-  und  Kreisverwal- 
tungen einzuführen,  in  denen  sich  das  zahlreichste  Kontingent  von  russischen 
Beamten  versammelte.  Dieser  Teil  der  Aufgabe  begegnete  anfänglich  kaum 
Schwierigkeiten.  Denn  obwohl  das  Gesetz  allein  die  polnische  Sprache  in 
den  Verwaltimgsbehörden  anerkannte/)  wurde  Russisch  dennoch  bald  in 
der  Praxis  die  Dienstsprache,  weil  die  Beamten  nicht  Polnisch  konnten. 
Ende  der  1860er  und  Anfang  der  1870er  Jahre  haben  die  durch  den 
letzten  Aafstand  völlig  niedergeschmetterten  Polen  nicht  gewagt,  sich  der 
Einführung  der  russischen  Sprache  auch  nur  heimlich  zu  widersetzen.  Sie 
lernten  Russisch.  In  jenen  fünf  bis  acht  Jahren  hat  das  polnische  Yolk 
mehr  Russisch  ohne  Schulen  gelernt  als  in  den  folgenden  dreißig  Jahren 
mit  Schulen.  Der  unerwartete  Erfolg,  der  hauptsächlich  durch  die  natio- 
nale Schwäche  der  Polen  und  durch  das  Bestreben  der  deutschen  und 
der  jüdischen  Handelskreise  —  polnische  gab  es  fast  gar  nicht  — ,  die 
beginnende  wirtschaftliche  Belebimg  voll  ausnutzen  zu  können,  zu  verstehn 
ist,  hat  die  Regierung  veranlaßt,  jedoch  in  Verkennung  der  wahren  Gründe 
für  den  Erfolg,  zu  einer  zwangsweisen  Einführung  der  nissischen  Sprache 
zu  schreiten. 

Schon  im  Jahre  1868 '*)  wurde  Russisch  als  amtliche  Sprache  in  den 
Verwaltungsorganen  und  1869=^)  in  den  Finanz-  und  Steuerbehörden  ein- 
geführt. Doch  erst  Artikel  241  des  Regulativs  vom  19.  Februar  1875  be- 
fahl kategorisch  die  Einführung  der  russischen  Sprache  in  allen  Gerichts- 
stellen. Hierbei  zeigte  sich  freilich,  daß  die  Regierung  zu  schnell  vorging, 
denn  schon  im  Jahre  1876  mußte  sie  die  Verwendung  der  örtlichen 
Sprachen  und  Dialekte  —  Polnisch,  Jargon,  Litauisch,  Masurisch  —  füi-  die 
Friedens-  und  Gmingerichte  freigeben.^) 


^)  Sammlung  der  Regierungsvorschriften  für  das  Reorganisationskomitee,  Bd.  V, 
S.  659. 

*)  ErgänzAing-sartikel  7  zimi  Regulativ  vom  29.  Februar  1868. 

*)  Art.  23  des  Regulativs  vom  26.  März  1869  für  die  Kameralhöfe. 

♦)  Art.  461  des  -Regulativs  für  die  Gerichtsinstitution,  Gesetzsammlung  Bd.  XV J, 
Teil  1  lautet:  „Das  Gerichtsverfahren  findet  im  Warschauer  Gerichtsbezirk  in  rassischer 
Sprache  statt. 

Anm.  Bei  den  Vernehmungen  in  prozessionalen  und  ki'iminellen  Angelegenheiten 
der  Gmingerichte  kann  neben  der  nussischen  Sprache  auch  die  angewendet  werden,  deren 
sich  die  örtüche  Bevölkerung  bedient,  sofern  die  Parteien  und  sonstigen  Prozeßbeteiligten 
die  russische  Sprache  nicht  beherrschen.  Doch  auch  in  einem  solchen  Falle  .  .  .  müssen 
alle  Entscheidungen,  Urteile  wie  überhaupt  alle  schriftlichen  Akten  in  russischer  Sprache 
ausgeführt  werden." 


A.  Das  Schulwesen  69 


A.  Das  Scliulwesen^) 

Im  Jahre  1862  gab  es  im  Zartiim  Polen  1396  Schulen  mit  2052  Lehrern 
und  84545  Schülern.  Im  Jahre  1864  „gi^^  ^^  i^^  Zartuni  Polen  nicht 
eine  einzige  Schule,  in  der  die  in  diesem  Gebiet  lebenden  Russen  ihre 
Bildung  im  Sinne  der  Bedürfnisse  des  russischen  Volkstums  und  im  Geiste 
des  rechtgläubigen  Bekenntnisses  erhalten  könnten",^)  obgleich  nach  ^lil- 
jutins  Angabe  230000  Russen  im  Weichselgebiet  lebten.**)  Das  ist  insofern 
imgenau,  als  das  erste  russische  Gymnasium  in  AVarschau  schon  am 
7.  (19.)  November  1863  unter  tätiger  Mitwirkung  des  Ehren  Vormunds 
I.  I.  Fundukley  und  des  Dr.  Orlo"w  eröffnet  wurde.  Die  erste  russische 
Schule  im  Zartum  hatte  109  Schüler.  Schon  im  Jahre  1866  nach  Inkraft- 
treten der  Schulreform*)  steigt  die  Zahl  der  Schulen  auf  2015  mit  3371 
Lehrern  und  123480  Schülern,  aber  in  ihnen  ist  Polnisch  noch  immer  die 
Hauptsprache.  An  russischen  Schulen  gibt  es  1867  nur  zwei  Gymnasien 
und  drei  Vorschulen^)  mit  588  Schülern  und  38  Lehrern.  Die  Grundlage 
für  die  weitere  Ausgestaltung  des  Schulwesens  in  dem  oben  angegebnen 
Sinne  findet  sich  alsdann  in  den  Bestimmungen  vom  Jahre  1866  betreffend 
Einrichtimg  russischer  Gymnasien  und  Progymnasien  sowie  in  der  1869 
erfolgten  Gründung  der  Warschauer  Universität.^)  Damit  war  der  allge- 
meine Rahmen  für  die  Schulpolitik  in  Polen  gegeben. 


*)  Wer  einseitig  die  Klagen  der  Polen  über  das  Schulwesen  im  Zaitum  kennen  zu 
lernen  wünscht,  studiere  die  geschickt  zusammengestellte  Schrift  von  Wl.  Korotyfiski, 
„Losy  szkolnictwa  w  krölewstwie  Polskiem"',  Warschau,  1906. 

*)  Ukas  Alexanders  des  Zweiten  vom  30.  August  1864. 

')  Bericht  vom  22.  Mai  1864.  Es  sind  das  hauptsächlich  Uniaten,  von  deren  Quali- 
fikation als  rechtgläubige  Russen  weiter  imten  die  Rede  sein  wird. 

*)  Ukas  vom  5.  (17.)  Januar  1866. 

Die  Reglements  wui'deu  von  F.  F.  Witte  ausgearbeitet.  Es  waren  folgende:  1.  das 
Universitätsreglement,  2.  Gyranasialreglements  für  das  russische  Gymnasiimi,  für  die  deutsche 
Hauptschule,  für  die  sogenannten  gemischten  Gynmasien  sowie  für  die  polnischen  Knaben- 
und  Mädchengymnasien,  3.  Reglements  für  die  russischen,  polnischen,  deutschen,  litauischen 
imd  jüdischen  Elementarschulen.  „Den  Reglements,  schreibt  Avenarius,  der  Mitglied  der 
Kommission  war,  wurde  das  Miljutinsche  System  —  di^ide  et  impera  —  zugrunde  gelegt. 
Miljutin  vertrat  die  Ansicht,  daß  das  beste,  wenn  nicht  gar  einzige  Mittel,  neuen  Auf- 
ständen vorzubeugen,  darin  zu  bestehn  habe,  die  das  Zaitum  bewohnenden  Nationalitäten 
voneinander  zu  trennen.  Die  Kleinrussen  der  Gouvernements  Lubhn  und  Siedlec  sollten 
zu  echten  Russen  werden,  die  Litauer  aus  Lomsha  zu  echten  Litauern,  die  Kolonisten  aus 
Petrikau  und  Kaiisch  zu  echten  Deutschen,  die  Polen  mosaischen  Glaubens  zu  alten  Juden.'* 
(Istoritscheski  Wjestnik,  Mai  1904,  S.  444.) 

^)  Journal  des  Unterrichtsministeriimis  von  1867,  Bd.  135,  Teil  IV,  S.  139  ff. 

•")  AUerh.  Befehl  vom  29.  Juli  1866.  —  Verordnmig  des  Organisationskomitees  vom 
13.  (25.)  August  1866  und  Allerh.  Befehl  vom  8.  (20.)  Juni  1869. 


70  Viertes  Kapitel.    Die  Reformen  nach  1864 

Im  Jahre  1882  wurde  in  den  vornehmlich  von  Russen  besuchten 
Gymnasien,  aber  auch  in  der  Universität,  der  polnischen  Sprache  ein 
größerer  Platz  im  Lehrplan  eingeräumt  wie  vorher.  Im  Jahre  1890  schreibt 
der  Generalgouverneur  Gurko  in  seinem  Immediatbericht:  „In  der  Re- 
gierungsschule  verhält  man  sich  den  polnischen  Kindern  gegenüber  nicht 
nur  nicht  liebevoll,  sondern  geradezu  feindselig.  Ihnen  wird  ihre  polnische 
Abstammung  zum  Vorwurf  gemacht,  ilir  nationales  Empfinden  wird  beleidigt, 
ihr  Glaubensbekenntnis  wird  mißachtet.  Es  ist  natürlich,  daß  solch  ein  herz- 
loses Verhalten  gegenüber  den  Kinderseelen  gerade  die  entgegengesetzten 
Ergebnisse  bewirken  muß,  als  wie  sie  die  Regienmg  von  der  Tätigkeit  ihrer 
Schulen  erwartet.  Es  entwickelt  bei  den  Kindern  keine  Liebe  zu  Rußland, 
sondern  zwingt  sie  im  Gegenteil  schon  von  frühester  Kindheit  an,  alles  zu 
hassen,  was  russisch  ist,  da  es  ihnen  während  der  schönsten  Zeit  des  Lebens 
soviel  unnütze  Beleidigungen  und  bittere  Ti'änen  bereitet  hat."  (Zitiert  in 
Prawo  von  1905,  Heft  3,  S.  216/27.)  1899  wird  die  polnische  Sprache 
als  Fremdsprache  erklärt,  d.  h.  der  polnische  Unterricht  wird  in  russischer 
Sprache  erteilt.^) 

Das  Schulwesen'^)  in  ganz  Rußland,  abgesehen  von  einzelnen  asiatischen 
Gebieten,^)  untersteht  unmittelbar  dem  j^linlstet  für  Volksaufklärimg.*) 
Dessen  Pflichten  imd  Befugnisse  ergeben  sich  aus  der  „Sammlung  von 
Vorschriften  über  die  gelehrten  Institutionen  und  Lehranstalten".^)  Das 
Reich  ist  in  zwölf  Lehrbezirke*)  eingeteilt,  deren  einer  das  Zartum  Polen 
unter  der  Bezeichnung  „Warschauer  Lehrbezirk"  ist. 


»)  Ukas  vom  22.  Februar  1899,  publiziert  im  März  1899  im  Zirkular  des  Warschauer 
Lehrbezuks  und  auf  Progj-mnasien  imd  Realschulen  a\ißgedehnt  1900  durch  Zirkular  Nr.  5 
im  Mai  1900. 

^  Die  Leitung  des  Schulwesens  im  Zartum  Polen  basiert  auf  dem  Allerhöchsten 
Reskript  an  den  Statthalter  vom  30.  August  1864  nebst  den  Ukaseu  vom  gleichen  Tage, 
betreffend: 

1.  die  Volksschulen  im  Zartum  Polen, 

2.  die  Mädchen-  imd  Progymnasien, 

3.  das  russische  Gymnasium  sowie  das  dazu  gehörende  Progymnasium  imd  die  Volks- 
schule, 

4.  die  deutsch  -  evangehsche  Hauptschule, 

5.  die  Einrichtung  von  Schuldirektionen.  (S.  Sammlung  von  Regierungsverfügimgen  be- 
treffend das  Reorganisationskomiteo  für  das  Zartum  Polen.  Warschau,  1868,  Bd.  I, 
S.  77  ff.) 

3)  Turkestan,  Sseraiijetschje,  Transkaspien  imterstehn  gleichfalls  Generalgouveraeuren. 

*)  Vor  1864  standen  die  ländhchen  Schulen  imter  dem  Patronat  der  Großgiimd- 
besitzer  imd  unter  der  FÜhning  der  Geistlichkeit. 

■')  S.  Gesetzsammlung  Bd.  XI,  Teil  1,  Ausgabe  1893/1902. 

")  Ebenda  §  7.  Die  Lehrbezirke  sind:  St.  Petersburg,  Moskau,  Charkow,  Odessa,  Wilna, 
Kasan],  Kijew,  Orenburg,  Kaukasus,  Westsibirien,  Piga,  Warschau. 


A.  Das  Schulwesen  71 


1.  Der  Warschauer  Lehrbezirk 

Der  Warschauer  Lehrbezirk  ist  in  zehn  Schuldirektioneu  eingeteilt.^) 
Die  Zusammensetzung  des  Verwaltungsapparats  aller  Lehrbezirke  ist  ziem- 
lich gleichartig."^)  An  der  Spitze  des  Warschauer  Lehrbezirks  steht  ein 
Bezirkskurator  und  dessen  Gehilfe,  ihnen  zur-  Seite  ein  Schulrat,  ^)  bestehend 
aus  allen  in  der  Stadt  Warschau-*)  ständig  oder  zufällig  anwesenden  Schul- 
direktionsvorstehern;  ferner  gibt  es  einen  Bezirksinspektor  und  die  Kanzlei 
mit  einem  selbständigen  Chef^)  sowie  besondere  Volksschulinspektoren,*)  die 
es  in  den  russischen  Lehrbezirken  nicht  gibt.  Der  wesentlichste  Unterschied 
zwischen  dem  AVarschauer  imd  einem  russischen  Schulbezirk  besteht  in 
seiner  völligen  Loslösung  von  den  Organen  einer  lokalen  oder  ständischen 
Selbstverwaltung.')  Eine  Kontrollo  der  Schulen  durch  die  Gesellschaft 
ist  darum  gegenstandslos  geworden,  denn  Beschwerden,  die  in  Eußland 
durch  Ehren  Vormünder,  ^)  Adelsmarschälle  und  Sjemstwomitglieder  ver- 
mittelt werden  können,  müssen  in  Polen  durch  Mitglieder  derselben  Organe 
gehn,  gegen  die  sie  gerichtet  sind. 

2.  Die  Warschauer  Universität 

Das  administrative,  zentralistische  Kegiment  macht  sich  am  schärfsten 
bei  der  Warschauer  Universität  geltend.  Die  Warechauer  Universität  hat, 
abgesehen  von  ihrer  Bedeutung  für  die  Verbreitung  von  Kenntnissen,  auch 
eine  politische  für  den  allslawischen  Gedanken.  Schon  Miljutin,  der  die 
Schuh-eform  des  Marquis  Wielepolski  vom  Jahre  1862  „als  von  Feindselig- 
keit gegen  Rußland  durchdrangen"  bezeichnete,  förderte  die  Umwandlung 
der  Warschauer  Hauptschule  in  eine  russische  Universität  „zur  Stärkung 
der  Staatsgewalt  und  zur  Gewährleistung  der  öffentlichen  Sicherheit  im 
Zartimi  Polen^'.  ^)  Deutlicher  aber  äußerte  sich  der  gleichfalls  slawjanophile 
Fürst  W.  A.  Tscherkaßki,    als    er  im  Verwaltnngsrat   des    Zartums  Polen 


^)  Diese  fallen  mit  den  zehn  Gouvernements  zusammen ;  doch  heißt  die  Schuldirektion 
im  Gouvernement  Lublin  „Chohn"  und  im  Gouvernement  Petrikau  „Lodz"  (§  61). 

'^)  Ebenda  §  8/11.  Im  "\\'ai-schauer  Lehrhezirk  herrscht  eine  größere  Zentralisation, 
auch  fehlt  die  Einrichtung  von  Ehrenvormündem,  die  einen  Einfluß  der  Gesellschaft  auf 
die  einzelnen  Schulen  möglich  machen  würden.    Vgl.  S.  58. 

3)  Ebenda  §  46.  —  ••)  Ebenda  Anm.  1.  —  ^)  Ebenda  §  11,  5. 

«)  Ebenda  §  61,  Anm.  2. 

')  Reinke,  a.  a.  0.  S.  132:  „Es  war  also  eine  Notwendigkeit  zur  Erhaltimg  des 
Staates,  die  Beziehungen  der  ländlichen  Volksschule  (zur  Geistlichkeit  und  zum  Großgrund- 
besitz) zu  reorganisieren." 

^)  §  1673  des  Bd.  XI,  Teil  1  der  Gesetzsammlung.  Die  Vorechriften  über  Ehren- 
vormünder für  Gymnasien  und  Progymnasien  eretrecken  sich  nicht  auf  den  Warschauer 
Lehrbezirk. 

")  Immediatvortrag  vom  22.  Mai  1864. 


72  Viertes  Kapitel.    Die  Reformen  nach  1864 

die  Schaffung  einer  russischen  Universität  in  Warschau  forderte,  in  der 
besonders  der  Erforschung  der  slawischen  Stämme,  insonderheit  des  pol- 
nischen Stammes  ein  weites  Gebiet  freigegeben  werden  müsse.  ^)  Die  War- 
schauer Universität  ist  eine  Volkmiversität  mit  vier  Fakultäten.  Die  Auf- 
wendungen für  die  Universität  ohne  Baugelder  betrugen  von  1868  bis  1904 
etwa  13000000  Rubel.  ^)  Wie  alle  Universitäten  steht  auch  die  Warschauer 
unter  der  Oberaufsicht  des  Lehrbezirkskurators.^) 

3.  Der  Kurator  des  Warschauer  Lehrbezirks 

Die  Kuratoren  der  Lehrbezirke  werden  vom  Minister  für  Volksauf- 
klärung ernannt  und  sind  diesem  allein  verantwortlich.*)  Die  Befugnisse 
des  Warschauer  Kurators  unterscheiden  sich  von  denen  der  andern  Lehr- 
bezirke durch  die  Berechtigung,  Vorschläge  des  Universitätsrats  bezüglich 
Besetzung  von  Lehrstühlen  zu  kritisieren  und  selbständige  Vorschläge  beim 
Minister  für  Volksauf klärung  einzureichen.^)  Ferner  steht  es  seinem  Er- 
messen frei,  in  allen  Angelegenheiten  der  Universität  die  Initiative  zu  er- 
greifen,^) wie  er  auch  den  Vorsitz  im  Universitätsrat  führen  darf.')  Dem- 
entsprechend ist  die  Stellung  des  Rektors  für  die  Universität  von  geringerer 
Bedeutung  und  könnte  als  die  eines  Gehilfen  des  Kurators  gekennzeichnet 
werden.  Während  die  Rektoren  russischer  Universitäten  immer  für  einen 
Zeitraum  von  vier  Jahren^)  ernannt  werden,  wird  der  der  Warschauer 
Universität  ohne  Festsetzung  der  Frist  ernannt*)  und  dadurch  von  vorn- 
herein in  Abhängigkeit  vom  Kurator  gebracht.  Im  Falle  der  Erkrankung 
des  Rektors  Avird  sein  Stellvertreter  nach  Vereinbarung  zwischen  dem 
Minister  für  Volksaufkläi'ung  und  dem  Kurator  ernannt, ^°)  während  in 
russischen  Universitäten    die   Vertretung  durch   den   ältesten  Dekan  ohne 


0  Sitzung  vom  14.  Oktober  1866. 

■•')  Eingabe  der  War.schauer  Universitätsprofessoren  vom  Januar  1906. 

8)  §  404  und  652. 

*)  §  25  6.  Scharf  gekennzeichnet  wird  die  Stellung  des  Kurators  des  "Warschauer 
Lehi-bezirks  durch  die  ihm  eingeräumten  Vollmachten.  Der  §675  lautet:  „Der  Kurator .. . 
hat  alle  seiner  Meiming  nach  notwendigen  Maßregeln  zu  ergreifen,  um  die  Befolgung  der 
gegebnen  Instruktionen  durch  die  zur  Universität  gehörenden  Organe  und  Personen  zu  ge- 
währleisten; in  außerordentlichen  Phallen  ist  er  ermächtigt,  auch  Mittel  anzuwenden,  die 
seine  Befugnisse  überschreiten,  doch  ist  er  gehalten,  dem  Minister  darüber  zu  berichten." 

^)  §676:  „Der  Kurator  hat  das  Recht,  bei  Unterbreitung  eines  vom  Universitäts- 
rat eingegangnen  Gesuches  wegen  Ernennung  von  Kandidaten  zu  Professoren  dem  Mi- 
nister für  Volksaufklärung  seine  Ansichten  über  diese  Kandidaten  darzulegen;  er  kann  im 
Bedarfsfalle  für  die  freien  Stellen  andre,  den  an  einen  Professor  gestellten  Anfordenmgen 
besser  entsprechende  Personen  auswählen  und  beim  Minister  um  deren  Bestätigung  nach- 
suchen. Dieses  Recht  hat  der  Kurator  auch  bezüglich  der  Dozenten,  Lektoren  imd  andern  bei 
der  Universität  angestellten  Beamten,  deren  Auswahl  seiner  eignen  Kompetenz  unterliegt." 

6)  §  677.  —  ")  §  679.  —  *)  §  410.  —  ■')  §  680.  —  »«)  §  691. 


A.  Das  Schulwesen  73 


weiteres  übernommen  wird.^)  Die  Fakultäten  sind  ebenso  zusammengesetzt 
wie  in  den  russischen  Universitäten,^)  docli  ist  das  Stimmrecht  der  Do- 
zenten und  Lektoren  bei  den  Fakultätssitzungen  erheblich  beschnitten.') 
Der  Universitätsrat  ist  bezüglich  der  Personalien  vollständig  vom  Kurator 
des  Lehrbezirks  und  vom  Minister  abhängig  —  selbst  die  Wahl  des  Uni- 
versitätsrichters bedarf  der  Genehmigung  durch  den  Kurator.  *)  Da  die 
Universitätsprofessoren  Staatsbeamte  sind,  kann  ein  aus  dem  Zartum 
stammender  russischer  Untertan  nur  dann  als  Dozent  angestellt  werden, 
wenn  der  Generalgonverneur  nichts  dagegen  einzuwenden  hat.  ^) 

Unter  den  geschilderten  Verhältnissen  ist  eine  Lehrfreiheit  an  der 
Universität  ausgeschlossen. 

4.  Die  Lehranstalten 

Das  äußere  Ergebnis  der  russischen  Schulpolitik  ist  kurz  dargestellt 
folgendes.     Die  Zahl  der  Schulen  beti'ägt: 

1873  bei   180305  Schülern  3280 

1876     „     192505         „         3436 

1894     „     272164         „         6219 

1903  „  417609  „  7875 
Von  diesen  Schulen  entfallen  auf  die  Städte  1750  mit  141508  Schülern, 
darunter  3  Hochschulen,  86  Mittelschulen,  961  Volksschulen  und  gegen  700 
jüdische  Cheder-,  Sonntags-  und  Handwerksschulen.  Die  Tatsache,  daß  diese 
letzte  Kategorie  von  Schulen  in  der  amtlichen  Statistik  mit  enthalten  ist, 
läßt  die  Statistik  selbst  recht  problematisch  erscheinen,  denn  diese  Schulen 
haben  keine  ständige  Schülerzahl  und  häufig  nicht  einmal  ständige  Lehrer 
und  Lehrerinnen.  Interessant  ist  dagegen  die  Feststellung,  daß  auf  dem 
platten  Lande,  d.  h.  dort,  wo  der  pohlische  Bauer  lebt,  6125  Schulen  mit 
276 101  Schülern  vorhanden  sein  sollen,  in  denen  Russisch  gelehrt  wird. 

Gegenüber  den  russischen  Gouvernements  ist  die  Gesamtzahl  der 
Schulen  verhältnismäßig  gering,  weil  in  Polen  keine  Sjemstwoschulen  und 
nur  wenige  griechisch-katholische  Kii'chenschulen,  die  dem  Heihgen  Synod 
unterstehn,  vorhanden  sind.^)  Das  Schulwesen  konnte  darum  auch  voll- 
ständig unter  der  Leitung  des  Ministeriums  für  Volksaufklärung  vereinigt 


*)  §  421.  —  ')  §  721/36. 

^)  §  660.  Dozenten  werden  erst  nach  zweijähriger  ununterbrochner  Lehrtätigkeit  aa 
der  Univei'sität  stimmberechtigt,  während  die  Lektoren  lediglich  bei  den  ihren  eignen 
Dienst  betreffenden  Angelegenheiten  mitstimmen  dürfen. 

*)  §  660,  11,  4,  Absatz  10  bestimmt,  daß  jede  bei  einem  öffentlichen  Akt  in  der 
Univei'sität  gehaltne  Rede  der  Zensur  durch  den  Kurator  unterliegt. 

^)  §  22  des  Regulativs  über  den  Staatsdienst.  Gesetzsammlung  Bd.  III,  Aas- 
gabe 1902. 

"j  Die  Ajigaben  beiaiheu  auf  persönlichen  Beobachtungen  und  Mitteilungen. 


74  Viertes  Kapitel.    Die  Reformen  nacii  1864 

werden,  während  in  den  russischen  Gouvernements  Schulen  aller  andern 
Ministerien  vorhanden  sind.^) 

Alle  beim  Ministerium  für  Volksaufklärung  ressoitierenden  Schiüen  sind 
einzuteilen  in  städtische")  imd  ländliche ^J  Volksschulen,  Mädchengym- 
nasien, ^)  Kealschulen ^)  und  Gymnasien*)  für  Knaben;  ferner  gibt  es  eine 
besondre  Mädchenschule  in  Cholm, ')  ein  technisches  Institut  zum  Andenken 
an  Michael  Konarski,^)  ein  Seminar  für  Volksschullehrer,'')  eine  Taub- 
stummenanstalt in  Warschau, ^^)  die  Manufakturschule  in  Lodz,*^)  das 
Warschauer  Veterinärinstitut, ^-)  die  Universität  in  Warschau*^)  und  das 
im  Jahre  1868  eröffnete  Wai-schauer  Polytechnische  Institut. 

5,  Die  Sprache 

Die  herrschende  Sprache  im  Warschauer  Lehrbezirk  ist  die  russische.^*) 
DSr  gesamte  Dienstverkehr  geht  in  russischer  Sprache.  ^'^)  Femer  wird 
die  russische  Sprache  als  Hauptsprache  angewandt  in  der  Universität 
Warschau.^")  Solange  noch  polnische  Professoren,  die  aus  der  Hauptschule 
übernommen  worden  waren,  ein  Katheder  innehatten,  wurde  Polnisch  in 
deren  Vorlesungen  geduldet.  Etwa  um  1879  ist  der  letzte  polnische  Pro- 
fessor von  der  Warschauer  Universität  verschwimden.     Lektoren  fremder 


^)  Die  Zahl  der  Schulen  des  Heiligen  Synod  ist  verschwindend  klein;  die  Militär- 
sehiilen,  Junkerschulen  und  Kadettenanstalten  brauchen  hier  nicht  berücksichtigt  zu  werden 

2)  Bestimmungen  s.  §  3642  bis  3711.  —  «)  Best.  s.  §  3193  bis  3236. 

••)  Best.  s.  §  2985  bis  3039.  —  '')  Best.  s.  §  1804  bis  1812. 

«)  Best.  s.  §  1671  bis  1886.  —  ')  Best.  s.  §  3040  bis  3109.  —  =•)  Best.  s.  §  3237  ff. 

")  Best.  s.  §  2546  bis  2600.  —  '")  Best.  s.  §  2173  bis  2250. 

")  Best.  s.  §  2094  ff.  —  i^)  Best.  s.  §  1409  bis  1462.  —  >")  Best.  s.  §  651  bis  779. 
^*)  In  dieser   kategorischen  Form  ist  die  Tatsache  in    keinem  Gesetz   ausgedrückt. 
Wohl  aber  enthalten  die  Einzelvorschriften  für  jede  Lehranstalt  entsprechende  Paragraphen, 
wie  weiter  unten  gezeigt  werden  soll. 

«)  Reinke,  a.  a.  0.  S.  131.  „Auf  Grund  des  Ustaw  vom  8.  (20.)  Mai  1862  über  den 
allgemeinen  Sprachunterricht  wurde  in  allen  Schulen  aller  Unterricht  in  polnischer  Sprache 
erteilt .  .  ."■  Im  Ukas  vom  30.  August  1864  tritt  die  Auffassung  der  russischen  Regierung 
zutage,  daß  jeder  Volksstamm  in  seiner  eignen  Sprache  untei'richtet  werden  müsse.  Noch 
im  Jahre  1866  werden  Kuabengjannasien  für  Polen  mit  polnischem,  für  Russen  mit  ms- 
sischem,  für  Deutsche  mit  deutschem  und  für  Litauer  mit  litauischem  Unterricht  begründet. 
Aber  schon  1868  wird  in  allen  Mittelschulen  Russisch  die  Unterrichtssprache  für  Mathematik 
und  Geschichte,  1871/72  ist  für  aUe  Gegenstaude  die  russische  Sprache  obhgatorisch  mit 
der  Begriinduug:  „Russisch  ist  die  Reichssprache,  infolgedessen  muß  allen  Reichsangehörigeu 
die  Möghchlceit  gegeben  werden,  sie  zu  beherrschen."  Die  Warschauer  Hauptschule  wurde 
in  die  Warschauer  russische  Univei-sität  umgewandelt  (1869j.  Schließhch  wurden  die  für 
das  Reich,  außer  Polen,  geltenden  Ukase  vom  30.  Juli  1871,  vom  15.  Mai  1872  und  vom 
6.  (18.)  Juni  1872  am  11.  Februar  1874  auch  auf  den  Wai-schauer  Lehrbezirk  ausgedehnt. 

^^)  §  655  lautet:  „In  der  Kaiserlichen  Universität  zu  Warschau  findet  die  nissische 
Sprache  ebenso  im  Unterricht  Anwendung  wie  bei  allen  Präfungen,  schriftlichen  Arbeiten, 
bei  öffentlichen  Akten  und  in  der  Verwaltung." 

§  759  unterstreicht  diese  Bestimmung  nocli  besondei-s  für  Dissertationen. 


A.  Das  Schulwesen  75 


Sprachen  sind  nur  für  Französisch,  Englisch,  Deutsch  und  Italienisch  an- 
gestellt,^) doch  darf  polnischer  Unterricht  in  der  Universität  erteilt 
werden.  ^) 

Für  die  Gymnasien  und  Progymnasien  bestehn  entsprechende  Be- 
stimmungen. Der  polnischen  Sprache  ist  die  Bedeutung  einer  Neben- 
sprache zugewiesen,  sie  wird  nach  dem  Wortlaut  der  Gesetze  geduldet.^) 
Im  I.  "Warschauer  Gymnasium  wird  sie  überhaupt  nicht  gelehrt;  dies  ist 
in  erster  Linie  den  Kindern  der  im  Zartum  angesessenen  Russen  reser- 
viert. ^)  Bezüglich  der  Realschulen  sind  besondre  Bestimmungen  über  den 
Sprachunterricht  nicht  geti'offen.  Doch  deutet  eine  Anmerkung  in  den 
allgemeinen  Bestimmungen  für  das  Reich  darauf  hin,  daß  der  Unterricht 
in  russischer  Sprache  erteilt  werden  muß.^) 

Besondres  Gewicht  ist  auf  den  russischen  Unterricht  in  den  Seminaren 
für  Volksschullelirer  gelegt,  doch  ist  den  Bedürfnissen  der  polnischen  Be- 
völkerung Rechnung  getragen.®)  In  den  Seminaren  wird  je  nach  der 
Gegend  polnischer,  litauischer')  imd  deutscher^)  Unterricht  erteilt;  als 
Unterrichtssprache  dient  aber  überall  das  Russische.  ^)  Die  Schüler  werden 
aus  allen  Kreisen  der  ländlichen  Bevölkerung  genommen;  mir  in  die 
Seminare  von  Cholm  und  Bjela  dürfen  ausschließlich  Russen  aufgenommen 
werden.^*')  Für  besonders  gute  Leistungen  beim  Erlernen  der  russischen 
Sprache  Averden  Prämien  verliehen.  ^^) 

In  Mädchengymnasien  und  Progymnasien  ist  der  polnischen  Sprache 
ein  weiterer  Raum  zur  Verfügung  gestellt.  ^^)   Schon  in  die  unterste  Klasse 

*)  §  667.    Je  einer  für  jede  der  genannten  Sprachen. 

^)  §  662  Anm.  lautet:  „Unterricht  in  polnischer  Sprache  . . .  kann  ...  in  der  Mutter- 
sprache des  Lektors  erteilt  werden."  Die  staatliche  Anstellung  des  Lektors  ist  jedenfalls 
dem  Ermessen  des  Eektors  anheimgegeben. 

^)  §  1674.  „Außer  den  obligatorischen  Unterrichtsgegenständen  ist  nach  Anweisung 
des  Ministers  für  Volksaufklärung  in  einigen  Gymnasien  und  Progymnasien  des  Warschauer 
Lehrbezirks  die  Erteilung  polnischen  Sprachunterrichts  für  solche,  die  es  wünschen,  ge- 
stattet; dabei  ist  es  erlaubt,  daß  auch  in  den  Anstalten,  in  denen  polnischer  Unterricht 
nicht  erlaubt  wird,  die  Schüler  außer  der  obhgatorischen  fremden  Sprache  noch  eine 
weitere  nach  freier  "Wahl  erlernen  dürfen." 

■*)  Siehe  §  1671,  Anm. 

^)  §  1690  Anm.  1 :  „.  .  .  Vorbereitungsklassen  .  .  .  werden  nur  in  den  ßealsclmlen 
solcher  Gegenden  eingerichtet,  in  denen  die  Umgangssprache  der  Mehrzahl  der  Bevölkerung 
nicht  russisch  ist." 

")  So  kann  der  Inspektor  und  gleichzeitige  Leiter  des  einzelnen  Seminars  entweder 
russischen  Spracliunterricht  und  Kirchenslawisch  erteilen  oder  polnischen  und  Päda- 
gogik (§  2552).  In  den  Seminarien  für  die  polnische  Bevölkerung  können  Russen  oder 
Polen  Leiter  sein,  nur  in  den  Seminarien  von  Andrejew  und  Lenczica  (Kjelce  und  Kaiisch) 
müssen  sie  geborne  Russen  sein  (§  2553  Anm.). 

0  §  2561,  4.  —  «)  Ebenda  Anm.  2,  in  Warschau.  —  «J  §  2562. 
10)  §  2569.  —  ")  §  2580.  —  '^)  §  3000,  3. 


76  Viertes  Kapitel.    Die  Reformen  nach  1864 

eintretende  Kinder  müssen  Russisch^)  und  Polnisch'*)  können.  Die  polnische 
Sprache  ist  obligatorisch,  wird  aber  wie  alle  übrigen  ünterrichtsgegenstände 
Russisch  erteilt.^)  Eine  Ausnahmestellung  unter  den  Mädchengyranasien 
nimmt  die  Marienschule  in  Cholm  ein.*)  Dort  werden  ausschließlich 
Kinder  griechisch-katholischer  Eltern  aufgenommen*);  die  deutsche  und  die 
französische  Sprache  sind  fakultativ,  und  ihre  Erteilung  muß  besonders 
bezahlt  werden;  die  polnische  vnrd  überhaupt  nicht  zugelassen.**) 

In  den  städtischen  Volksschulen^)  ist  gleichfalls  Russisch  die  Unter- 
richtssprache. Fremde  Sprachen  werden  im  allgemeinen  nicht  gelehrt,  doch 
können  sie  in  Ausnahmefällen  mit  besondrer  Genehmigung  des  Bezirks- 
kurators erteilt  werden.*) 

Die  ländlichen  Volksschulen  sind  die  einzigen,  an  deren  Vei*waltung 
die  Gesellschaft  teil  hat.  Sie  unterstehn  der  Kompetenz  der  Gm  in  Ver- 
waltung unter  Aufsicht  des  Bezirksdirektors.  Als  Unterrichtssprache  gilt 
die  russische.*)  Die  örtliche  Sprache  bildet  ein  besondres  Lehrfach. *•*) 
Dort,  wo  die  polnische  Sprache  nicht  die  örtliche  ist,  kann  Polnisch  als 
außerordentliches  Lehrfach  durch  die  Gminvenvaltung  hinzugefügt  werden.  *^) 
Lediglich  im  Cholmerland  wird  russisch  bevorzugt.^-) 

Außer  den  besprochnen  staathchen  Schulen  sind  Privatschulen  ^^)  zu- 
gelassen; diese  dürfen  höchstens  den  "Wert  eines  vierklassigen  Pro- 
gymnasiums haben  ^*);  sie  stelm  vollständig  unter  der  Aufsicht  des  Lehr- 
bezirkskurators,*'*)  und  ihre  Lehrer  können  in  den  von  ihnen  erteilten 
Unterrichtsfächern    nachgeprüft  werden.**)     Der   Religionsmitemcht   kann 


^)  Nach  §  3039  kann  der  Lehrbezirkskurator  jungen  Mädchen  nach  Verlassen  des 
Gymnasiums  für  besonders  gute  Erfolge  in  der  russischen  Sprache  die  Rechte  einer  Haus- 
lehrerin verleihen.  (Diese  Rechte  bestehn  in  der  Erlaubnis,  Unterricht  zu  erteilen  ohne 
besondre  Piiifung.) 

*)  §  3012.  Von  den  in  das  I.  und  11.  Gymnasium  eintretenden  Kindern  wird  die 
Kenntnis  der  polnischen  Sprache  nicht  verlangt.  Diese  Anstalten  sind  in  erster  Linie  für 
die  in  Polen  lebenden  Russen  reseixiert.     (§  3010  Anm.) 

3)  §  3000  Anm.  1. 

■*)  Eine  Gründung  der  Großfürstin  Maria  Pawlowna  zu  Ehren  der  Gemahlin 
Alexanders  des  Zweiten  Maria  Alexandrowna. 

5)  §  3041.  —  ^)  §  3059  nebst  Anm. 

')  Die  Gewerbeschule  von  Michael  Konarski  imtersteht  denselben  Vorschriften. 

*)  §  3204  führt  die  fi'emden  Sprachen  wie  folgt  an:  ,.polnisch,  litauisch,  deutsch, 
französisch  und  englisch". 

»)  §  3686.  —  10)  §  3687,  3. 

")  Ebenda  5 :  „Dort,  wo  die  polnische  Sprache  nicht  die  örtliche  der  Bevölkerung  ist, 
können  die  zuständigen  Gemeinden,  wo  sie  es  für  nötig  erachten,  polnisch  Lesen  und 
Schreiben  in  den  Lehrplan  aufnehmen  lassen." 

^*)  Siehe  Anm.  10  auf  S.  75. 

'^   §  3742/3775.  —  »)  §  3747.  —  ")  §  3744.  -  '^)   §  3769. 


A.  Das  Schulwesen  77 


ohne  Ausnahme  von  Geistlichen  erteilt  werden.^)  Die  vorherrschende  Unter- 
richtssprache wird  vom  Kurator  des  Lehrbezirks  bestimmt^)  und  hann  pol- 
nisch sein.  In  der  Praxis  wird  indessen  immer  das  Russische  gepflegt 
werden  müssen,  solange  die  Vorlesungen  und  Examina  wie  auch  Seminar- 
arbeiten auf  der  Universität  in  russischer  Sprache  abgehalten  werden 
müssen.  ^) 

6*.  Der  Meligionsunterricht 

Bezüglich  des  Religionsunterrichts  im  Zartum  Polen  ist  nur  ein  Prinzip 
deutlich  erkennbar:  avo  nur  ein  griechisch-katholischer  Schüler  ist,  da  wird  auch 
ein  rechtgläubiger  Religionslehrer  angestellt.*)  Nicht  ganz  so  deutlich  tritt  das 
Prinzip  hervor,  römisch-katholische  Geistliche  von  der  Schule  fernzuhalten^); 


*)  §  3770:  „Nicht  geprüft  werden  Eeligionslehrer,  die  Geistliche  sind  und  ihre 
Bildung  in  geistlichen  Schulen  erhalten  haben." 

^)  Allgemeine  Vorschriften  fehlen. 

^  In  Polen,  wie  überhaupt  in  Eußland,  ist  auch  der  haushohe  Privatunterricht 
reglementiert  (§  3821  bis  3876),  ohne  daß  bisher  allgemeine  Bestimmungen  erlassen 
wären  (§  3876).  Von  den  Haus-  und  Privatlehrern  beiderlei  Geschlechts  wird  gefordert: 
Zugehörigkeit  zu  einem  christlichen  Bekenntnis  (§  3825,  1),  ohne  Ansehen  der  Staats- 
angehörigkeit (§3826),  dagegen  werden  !^ie  auf  Treue  gegen  den  Zaren  vereidigt,  wobei 
sie  beschwören  müssen,  zu  keiner  Geheimgesellschaft  zu  gehören  (§  3835,  6,  Freimaurerei !). 
Geistliche  sind  als  Privatlehrer  nicht  ausgeschlossen. 

*)  Zur  Erteikmg  des  Religionsunterrichts  in  den  Gymnasien  und  Progymnasien  des 
"Warschauer  Lehrbezirks  werden  staatliche  etatsmäßige  ReUgionslehrer  desjenigen  Glaubens- 
bekenntnisses angestellt,  das  unter  den  Schülern  der  betreffenden  Anstalt  vorherrscht. 
Außerdem  sind  noch  in  zehn  Gymnasien  etatmäßige  Religionslehrer  griechisch-katholischen 
Glaubens  angestellt;  in  den  Gymna-ien,  wo  solche  griechisch-katholische  Religionslehrer 
nicht  vorhanden  sind,  wird  der  Religionsunterricht  von  außeretatmäßigen  erteilt.   (§  1675.) 

§  2998,  Ä.nm.  2.  Beim  I.  und  III.  Mädchengymnasium  sind  griechisch-katholische 
ReUgionslehrer  angestellt  (nur?). 

§  3204.  Anm.  Religionsunterricht  wird  in  städtischen  Volksschulen  an  Kinder 
giiechisch-kathoüschen  und  desjenigen  Glaubens  erteilt,  zu  dem  die  Mehrheit  der  Lernenden 
gehört.  Den  Kindern  der  übrigen  Glaubensbekenntnisse  kann  Religionsimterricht  von  den 
Eltern  gewäkrleistet  werden. 

§  3206.  Bei  jeder  städtischen  Volksschule  muß  ein  griechisch-kathohscher  Religions- 
lehrer angestellt  sein,  wenn  überhaupt  Kinder  dieses  Bekenntnisses  vorhanden  sind;  ferner 
ein  solcher  für  das  Glaubensbekenntnis,  dem  die  Mehrzahl  der  Kinder  angehört. 

§  3688.  Kinder  griechisch-katholischen  Glaubens  lernen  außer  Russisch  noch  Kirchen- 
slawisch. 

§  3691,  Anm.  Für  die  rechtgläubigen  Kinder  wird  als  Religionslehrer  ein  orts- 
angesessener Geistlicher  im  Einverständnis  mit  dem  zuständigen  Bischof  ernannt.  Ein 
solcher  ReUgionslehrer  wird  vom  Fiskus  besoldet. 

*)  §  3691.  In  den  Volksschulen  der  Gminen  und  Gemeinden  erteilt  den  Religions- 
unterricht, Gebetslehre  und  biblische  Geschichte  entweder  der  die  andern  Gegenstände 
lehrende  Lehrer  oder  der  örtliche  GemeindegeistUche,  je  nach  Anordnung  des  Bezirks- 
direktors. ...  In  den  Städten  ernennt  der  Bezirksdii'ektor  entweder  einen  besondern 
Religionslehrer  oder  übertraf  den  Unterricht  dem  Lehrer  imter  Berücksichtigung  der 
"Wünsche  und  Geldmittel  der  Ortsangesessenen. 

§  1675.     Die  römisch -kathoUschen  ReUgionslehrer  werden  in  ilu'em  Amt  durch  den 


73  Viertes  Kapitel.    Die  Reformen  nach  1864 

hierbei  muß  man  sich  erst  erinnern,  ^)  welch  großer  Spielraum  dem  persön- 
lichen Ermessen  des  Lehrbezirkskuratore  und  des  Generalgouvemeurs  ge- 
lassen ist.  Die  allein  berechtigte  Sprache  auch  im  Religionsunterricht  ist 
prinzipiell  die  russische;  nur  in  ländlichen  Volksschulen  Tcann  die  orts- 
übliche litauische,  deutsche  oder  polnische  Sprache  angewandt  werden.^ 
Die  Regierung  behält  sich  somit  das  Recht  vor,  allmählich  zur  nissischen 
Sprache  überzugehn. 

B.  Die  Gericht sreform 

Den  Schlußstein  aller  Reformen  im  Zartum  Polen  hatte  die  Einführung 
des  Gerichtsstatuts  von  1864  zu  bilden.  Diesem  Teil  des  russischen  Reform- 
werks stellten  sich  indessen  ganz  besonders  große  Schwierigkeiten  entgegen. 
Zunächst  waren  es  politische  Ei'wägimgen,  die  hindernd  wirkten.^)  Dann 
aber  hinderten  die  vorhandne  Gesetzgebung  und  die  darauf  beruhenden 
Rechtsverhältnisse  im  Lande.  Bei  Bildung  des  Herzogtums  "Warschau  im 
Jahre  1815  konnte  nicht  sogleich  eine  einheitliche  Justizreform  durch- 
geführt werden.*)  Das  Privatrecht  beruhte  auf  dem  Code  Napoleon '^)  und 
dem  Hypothekengesetz  vom  Jahre  1818,  während  für  das  Sti*afverfahren 
die  preußischen  und  österreichischen  Ordinationen  maßgebend  Avaren.*) 


Kurator  des  Lehrbezirks  bestätigt  nach  vorhergegangner  Verständigung  mit  dem  zuständigen 
Gouverneur  imd  dem  Bischof. 

§  1808.  Die  Religionslehrer  an  Realschulen  werden  in  ihrem  Amt  durch  den  Kurator 
des  Lelu'bezirks  bestätigt  nach  vorhenger  Verständigimg  mit  dem  zuständigen  Bischof  für 
giiechisch-katlioUsche  und  mit  dem  zuständigen  Gouvei-ueur  mid  dem  Bischof  füi-  römisch- 
katholische. 

1)  Siehe  Aura.  4  auf  S.  72  ff. 

*)  Der  Unterricht  in  allen  städtischen,  Gminen-  und  Gemeindevolks.schulen  wird  in 
russischer  Sprache  erteilt  mit  Ausnahme  des  Religionsunterrichts  für  ausländische  Glaubens- 
bekenntnisse und  der  eignen  Sprache  der  Lernenden;  diese  Gegenstände  können  in  der 
eignen  Sprache  erteilt  werden.  In  der  Praxis  aufsteigende  Zweifel,  welche  Sprache  für 
die  genannteu  beiden  Unterrichtsfächer  anzuwenden  sei,  entscheidet  der  Kurator  im  Ein- 
verständnis mit  dem  Generalgouvemeur. 

^)  Wjestnik  Jewropy  von  1872,  Juliheft,  S.  371/72.  Die  Gerichtsreform  sollte  schon 
1872  durchgefülu-t  werden ;  doch  hinderten  Bedenken  gegen  die  allständischen  Gmingerichte, 
und  der  Reichsrat  beschloß,  ehe  er  eine  Entscheidimg  fällte,  neue  Erhebungen  an  Ort  und 
Stelle  anzustellen. 

*)  Der  entsprechende  Regieiningsentwurf  wiu-de  durch  den  Landtag  von  1820  abgelehnt. 

*)  Stawski,  Bd.  I:  Die  bürgerlichen  Gesetze  der  Gouvernements  des  Zartums  Polen. 
"Wai-schau,  Verlagsdruckerei,  1906.     2  Bände. 

^)  Reinke,  a.  a.  0.  S.  163/64:  „Die  in  der  Gramota  von  1832  vorgezeichneten  Grund- 
prinzipien für  die  Einrichtung  der  Gerichtsstellen  erhielten  kerne  weitere  Entwicklung. 
Seit  Einführung  des  9.  imd  10.  Departements  des  Dirigierenden  Senats  im  Jahre  1841 
wurde  die  Kassationsinstanz  aufgehoben,  deren  Funktionen  für  ZiWlangelegenheiten  dem 
Obersten  Gericht,  füi-  Kriminalverfahren  dem  Appellationsgericht  oblagen. 

Mit  der  Zusammenstellung  eines  Entwurfs  der  Gerichtsstatuten  für  Verbrechen  und 
Vergehen  wurde  die  Petersburger  Kodifikationskommission  betraut,  die  ihren  Ent^vurf  im 


B.  Die  Gerichtsreform  79 


1,  Allgemeiner  Zustand  der  Gesetzgebung 

Erst  als  das  allgemeiue  Keformwerk  m  Polen  begann,  erliielt  die  juri- 
dische Kommission  des  Reorganisationskomitees  den  Auftrag,  die  Grundlagen 
für  eine  Justizroform  auszuarbeiten.  Das  Ergebnis  der  Arbeiten  dieser  Kom- 
mission war  eine  69  Bände  starke  Sammlung  von  Verwalt Imgsentscheidungen 
für  das  Zartum  Polen  und  13  Bände  Yorschriften  für  die  Gouvememente- 
und  Kreisverwaltungen.  ^)  Zum  Ausgangspunkt  für  die  Refonn  wurde  das 
Gerichtsstatut  von  1864  genommen,-)  wobei  jedoch  nicht  „ausschließlich 
allgemein  angewandte  juridische  Gesichtspunkte  maßgebend  sein  sollten, 
sondern  und  vor  allen  Dingen  das  Staatsinteresse  und  das  der  Melirheit 
des  Volkes,  das  durch  die  Regierung  zu  neuem  bürgerlichen  Dasein  gerufen 
worden  ist".^) 

„Es  ergab  sich  hiermit,  schreibt  Reinke,*)  daß  die  juridischen  Grund- 
lagen der  russischen  Gerichtsstatute  bei  ihrer  Einführung  im  Zartum  Polen 
einer  Modifikation,  unter  Berücksichtigung  örtlicher  Verhältnisse  sowohl 
politischer  wie  sozialer  imd  rechtiicher  Art,  unterlagen.  Die  politische 
und  soziale  Seite  kam  sowohl  in  der  Gerichtsverfassung  wie  im  Strafver- 
fahren zur  Geltung,  während  im  Zivilgericht  Fragen  rechtlicher  Natur  im 
Vordergi'unde  standen  .  .  ." 

Das  Bürgerliche  Gesetzbuch  setzte  sich  zusammen  aus  dem  Zivilkodex 
(Code  Napoleon)  vom  1.  Mai  1808,^)  aus  dem  französischen  Handelskodex 
vom  1.  Mai  1809,^)  aus  dem  polnischen  Hypothekengesetz  von  1818')  und 
1825  8)  und  dem  Ehegesetz  von  1836.*) 

In  den  angeführten  Gesetzen  herrscht  eine  babylonische  Verwirrung 
infolge  der  verschiednen  in  ihnen  zur  Anwendung  gelangten  Sprachen. 
Der  Code  Napoleon  ist  in  französischer  Sprache  abgefaßt;    es  gibt  weder 


Jahre  1838  dem  Grafen  Speranski  vorlegte.  Infolge  Speranslds  Todes  wm-de  der  Entwurf 
nicht  durchgesehen  und  fiel  der  Vergessenheit  aiiheim. 

Seit  dem  Jahre  1853  hat  sich  die  Kodifikationskomniission  wiederholt  mit  dem  Eut- 
woi'f  beschäftigt.     Doch  scheint  er  nicht  bis  in  den  Reichsrat  gelangt  zu  sein. 

Der  Entwurf  zum  Kodex  des  Zi^^lgerichts Verfahrens  wiu'de  durch  ein  besondres 
Komitee  in  Warschau  während  der  Jahre  1853  bis  1858  zusammengestellt;  das  Schicksal 
des  Entwurfs  ist  jedoch  unbekannt  gebheben. 

Die  Mitteilungen  sind  aus  den  Akten  des  Eeorganisatiouskomitees  Bd.  IV,  S.  3  geschöpft 
sowie  aus  dem  Memorandum  der  juridischen  Kommission  zum  Entwurf  der  Grundprmzipien 
einer  Gerichtsordnung." 

^)  Fuudukley,  Zitat  bei  Eeiuke,  a.  a.  0.  S.  165. 

')  Allerhöchst  bestätigtes  Gutachten  des  Journals  des  Komitees  für  Angelegenheiten 
des  Zaitums  Polen  vom  24.  Februar  1865. 

ä)  Ebenda.  —  ■•)  a.  a.  0.  S.  165. 

^)  Jahrbuch  der  Gesetzgebung  des  Herzogtums  Warschau,  Bd.  I,  S.  46. 

^  Ebenda  S.  239.  —  ^  Ebenda  Bd.  V.  —  «)  Ebenda  Bd.  IX,  S.  355  sowie  Bd.  X. 

^  Das  Eihegesetz  wurde  zweimal  im  Jalire  1840  und  später  1856  und  1891  geändert. 


80  Viertes  Kapitel.    Die  Eeformen  nach  1864 

eine  polnische  noch  eine  russische  authentische  Übersetzung  davon.  Noch 
immer  wird  bei  gerichtlichen  Entscheidungen  der  französische  Text  als 
der  alleingiltige  anerkannt.^)  Das  Hypothekengesetz  von  1818  ist  in  pol- 
nischer Sprache  abgefaßt;  eine  authentische  rassische  Übereetzung  besteht 
nicht,  wurde  auch  nicht  geschaffen,  als  um  1874  in  Petersburg  eine  Kom- 
mission tagte,  die  die  Einführung  des  Gesetzes  in  ganz  Rußland  vorbereiten 
sollte.  Seit  1830  wurden  alle  das  Zartiun  Polen  betreffenden  Gesetze  in 
polnischer  und  russischer  Sprache  veröffentlicht;  da  aber  in  den  beiden 
Texten  wesentliche  sinnverschiebende  Unterschiede  bestanden,  entschied 
der  Senat  Anfang  1901,  daß  lediglich  der  polnische  Text  zu  gelten  habe, 
da  bei  Ausgabe  des  Gesetzes  Polnisch  die  Staatssprache  für  das  Zartum 
gewesen  sei  und  nicht  Russisch.-)  Kur  das  Ehegesetz  wurde  bei  seiner 
letzten  Änderung  vom  11.  Juni  1891  in  russischer  Sprache  abgefaßt. 

Es  läßt  sich  denken,  zu  welchen  Verschleppungen  der  Zivilprozesse  **) 
diese  Verhältnisse  Anlaß  gaben,  imd  wie  oft  gerade  die  Vei-schleppung  der 
Ausgangspimkt  von  Bestechungen  einerseits  und  von  Einmischungen  der 
administrativen  Gewall  ■*)  andrerseits  gewesen  sein  mögen.  Selbst  Senatoren 
klagen  darüber,  daß  sich  für  die  fremdsprachigen  Ausdrücke  keine  Wieder- 
gabe in  russischer  Sprache  möglich  machen  ließe, '^j  doppelt  schwierig,  da 
gewisse  Ausdrücke  im  Code  Napolöon  verschiedne  Anwendung  finden.*) 

Das  erste  russische  Strafgesetzbuch  wurde  in  Polen  1847  eingeführt, 
jedoch  mit  solchen  die  Zivilgesetzgebung  berücksichtigenden  Abänderungen, 
daß  von  seinen  2224  Paragraphen  nur  1221  übrig  blieben.  Auch  das 
Gesetz  vom  Jahre  1866  wurde  mit  Rücksicht  auf  die  Zivilgesetzgebung 
geändert,  als  es  am  13.  September  1876  auf  den  Warschauer  Gerichtsbezirk 
ausgedehnt  wurde. 

Im  Jahre  1903  ist  für  ganz  Rußland  einschließlich  des  Zartums  Polen 
der  Strafkodex  vom  22.  März  1903  eingeführt  worden,  ohne  die  polnische 
Zivilgesetzgebung  zu  berücksichtigen.    Denn  die  russische  Regierung  ging 


*)  Nikolaus  Reinke,  ,.Der  Strafkodex  und  die  Zivilgesetzgebung  im  Zartum  Polen", 
St.  Petersburg,  Senatsdi-uckerei,  1904,  S.  6. 

*)  Ukas  des  Dirigierenden  Senats  (I.Departement)  an  den  Finanzminister  vom  18.  Fe- 
bruai-  1901  (Nr.  565). 

")  Allein  die  unerledigten  Konkursverfahren  sind  von  67  im  Jahre  1898  auf  152  im 
Jahre  1904  gestiegen.    Wjestnik  Finanssow  von  1907,  Nr.  4.  S.  135. 

■*)  Nach  Euifühning  des  Gerichtsstatuts  von  1864  im  Gerichtsbezirk  "Warschau  ver- 
suchten der  Generalgouvenieui'  Graf  Kotzebue  und  verschiedne  Gouverneure  den  Richtern 
Anweisungen  über  die  Erledigung  von  Straf-  und  Zivilsachen  zu  geben.  (Keinke,  a.  a.  0. 
1902,  S.  167  Amn.) 

*)  Reinke,  a.  a.  0.  S.  8. 

®)  Ebenda  Anm.  1.  Anwendung  von  ,,ayant  cause  ^'  im  Code  Napoleon  siehe  auch 
Aubry  et  Rau,  vol.  II,  §  75. 


ß.  Die  Gerichtsieform  gl 


von  dem  Gesichtspunkt  aus,  das  polnische  bürgerliche  Gesetzbuch  an  das 
neue  Gesetz  anzupassen,  und  sah  sich  infolgedessen  genötigt,  eine  Änderung 
der  polnischen  bürgerlichen  Gesetze  vorzunehmen.  Lex  posterior  derogat 
priori!  Die  über  Kußland  1904  hereingebrochnen  politischen  Zustände 
ließen  die  Reform  ü])er  das  Stadium  der  Vorbereitungen  nicht  hinaus- 
kommen. Ein  Schlußstein  der  russifizierenden  Reformen  war  somit  noch  im 
Jahre  1904  nicht  gelegt,  denn  noch  immer  gilt  polnisches  Recht,  wie  es 
vor  der  Verbindung  Polens  mit  Rußland  galt.  Auch  die  Einführung  des 
Gerichtsstatuts  von  1864  im  März  1875,  die  Senator  Reinko  als  Schlußstein 
der  großen  Reformen  bezeichnet,^)  bildete  nur  eine  Teih-eform,  die  einige 
alte  mid  darum  von  den  Polen  geachtete  Institutionen  aufhob,  nicht  aber 
die  Grundlage  der  Rechtsprechung  änderte.  Ihre  wesentlichste  Bedeutung 
lag  in  der  gleichzeitigen  Durchführung  des  Gesetzes  vom  Jahre  1872,  das 
die  polnische  Sprache  aus  den  Räumen  des  Gerichts  zu  verti"eiben  suchte. 

Eine  praktische  Folge  dieser  Reform  war  der  Zuzug  vieler  russischer 
Richter  in  das  Zartum  Polen,  die  wohl  Russisch  sprachen,  die  polnische 
bürgerliche  Gesetzgebung  aber  nicht  kannten. 

2,  Die  Gerichtsinstitutionen  im  Warschauer  Gerichtsbezirk 

Die  zehn  Gouvernements  des  Zartums  Polen  sind  zu  einem  besondern 
Gerichtsbezirk  (ökriig)  vereinigt,  für  den  besondre  von  den  allgemeinen 
abweichende  Regeln  gelten.^)  Die  Gerichtsstellen  sind:  374  Gmingerichte,^) 
111  Friedensrichter,*)  die  Fiiedensrichterversammlung,*^)  das  Handels- 
gericht,*^) die  10  Bezirksgerichte')  und  die  Gerichtspalata  oder  der  Appellhof 
in  Warschau.  ^) 

Das  Gmingericht  setzt  sich  zusammen  aus  einem  Vorsitzenden,  den 
Gminrichtern  mid  drei  bis  vier  Schöffen,  die  „lawniki"  genannt  werden. 
Das  Gmingericht  ist  im  Gegensatz  zum  russischen  "VVolostgericht  allständisch, 
d.  h.  alle  stimmberechtigten  Mitglieder  der  Gminversammlung  können  zu 
Gmimichtern  gewählt  werden. 

Die  Gminrichter  werden  durch  die  Gminversammlung  für  den  Zeitraum 
von  drei  Jahren  gewählt,  wobei  jede  Gmin  einen  Kandidaten  bezeichnet. 
Da  aber  auf  ein  Gmingericht  immer  drei  bis  vier  Gminen  kommen,  somit  auf 
eine  richterliche  Vakanz  drei  bis  vier  Kandidaten,  so  wählt  der  Gouverneur 


1)  Eeiake,  a.  a.  0.  1902,  S.  167. 

*)  Artikel  462  bis  555  des  Regulativs  für  die  Gerich tsinstitutioneii.  —  '■')  Art.  468. 
■*)  Die  Gerichtsstelle  des  Friedensrichters  bestimmt  der  Justizminister  im  Einverständnis 
mit  dem  Generalgouvemeur  (Art.  507). 

')  Art.  513  bis  522.  —  «)  Art.  523  bis  547. 

')  Art.  77  bis  109  sowie  bezüglich  der  Hypothekenabteilung  Art.  548  bis  554. 
«)  Art.  110  bis  113. 
Oleinow,  Die  Zukunft  Polens  6 


82  Viertes  Kapitel.    Die  Reformen  nach  1864 

aus  dieser  Zahl  die  ihm  geeignet  erscheinende  Persönlichkeit  aus  und  er- 
bittet die  endgiltige  Bestätigung  durch  Vermittlung  des  Generalgouvemeurs 
beim  Justizminister,  Der  Grmiimchter  erhält  ein  staatliches  Gehalt  von 
700  Rubel,  jeder  Beisitzer  150,  der  Gerichtsschreiber  500  Eubel.^) 

Die  Kompetenzen  der  Friedens-  und  Gmingerichte  im  Zartum  Polen 
sind  niedriger  gehalten  als  im  Reich.  So  können  sie  nur  Zivilklagen  von 
Objekten  bis  zu  250  Rubel  annehmen.  In  Strafsachen  können  die  Gmin- 
gerichte bis  zu  100  Rubel  Strafe,  einen  Monat  Arrest  und  ein  Jalir  Gefängnis 
verhängen. 

Über  den  Friedens-  und  Graingerichten  als  Berufungsinstanz  stehen  die 
Frieden.srichterversammlungen,  die  sich  zusammensetzen  aus  den  1 10  Frie- 
densrichtern'^) und  aus  den  Voi-sitzenden  der  (rmingeiichte.  Die  Amts- 
bezirke der  Friedensrichterversaramlungen  sind  ebenso  wie  der  ständige 
Dienstort  der  Fiiedensrichter  gesetzlich  nicht  festgelegt,  sondeni  von  der 
im  Einverständnis  mit  dem  Justizminister  getroff nen  Vcif  ügimg  des  General- 
gouverneurs abhängig.^)  Im  Gegensatz  zu  den  gleichnamigen  iiissischen 
Institutionen  wird  der  Vorsitzende  der  Friedensrichtervei'sammlung  nicht 
aus  der  Versammlung  heraus  gewählt,  sondern  ernannt;  er  ist  außerdem 
nicht  unabsetzbar.  Der  Justizminister  kann  die  Fiiedensrichter  versetzen 
und  aus  dem  Amt  entlassen.  Die  Friedensrichter  erhalten  2500  Rubel 
Gehalt  imd  500  Rubel  Bureaugelder.  Die  Friedensrichter  sollen  nach  Mög- 
lichkeit Russen  sein.  Auf  die  Friedensrichterversammlung  hat  sich  die 
Regierung  einen  bedeutenden  Einfluß  gesichert  durch  Teilung  der  Gmin- 
richter  in  Abteilungen,  deren  jede  ebenso  groß  ist  als  die  Zahl  der 
Friedensrichter. 

Die  wichtigsten  Abweichungen  von  den  in  den  nissischen  Gerichts- 
bezirken geltenden  Formen  des  Gerichtsstatuts  sind  folgende: 

a)  die  bedingte  Unabsetzbarkeit  der  Richter.*)  Nur  solche  Richter 
sind  auch  im  Zartum  Polen  unabset;?;bar,  die  bereits  drei  Jahre  als  Richter 
gewirkt  hatten  oder  als  Staatsbeamte  außerhalb  des  Zartums: 

b)  die  Nichteinführung  der  Rechtsanwaltskammer; 

c)  die  Nichteinführung  der  Geschwornengerichte'^); 

1)  Gesetz  vom  29.  Dezember  1887. 

■-)  Davon  entfallen  11  auf  die  Stadt  Warschau,  99  auf  die  übrigen  Städte  des  Zai-tums. 

*)  Art.  41  und  507  des  Geriohtsstatuts. 

*)  Auf  Antrag  des  Justizministers  N.  W.  Murawjow  wiirde  diese  Ausnalime  durch 
das  allerhöchst  bestätigte  Gutachten  des  Beichsrats  vom  16.  Febniar  1898  aufgehoben. 
(Siehe  Zirkular  des  Justizministers  vom  10.  März  1898,  Nr.  6853.) 

^)  Prinzipiell  war  die  Regierung  für  die  Einführung  der  Geschwomengerichte.  Wie 
aus  einem  Bericht  des  Generalgouverneiirs  Albedinski  a\is  dem  Jahre  1880  zu  ersehen  ist. 
wurde  die  Einfillirung  lediglich  von  der  Ausbreitung  der  Kenntnis  der  russischen  Sprache 
bei  den  Polen  abhängig  gemacht. 


B.  Die  Gerichtsreform  gg 


d)  Ehrenfriedensrichter,  die  in  den  russischen  Gerichtsbezirken  vor- 
handen sind,  sind  für  den  Gerichtsbezirk AVarschau  aus  Erwägungen  politischer 
Art  nicht  vorgesehn  (vgl.  auch  S.  59.  60.  64  über  Adelsmarschälle);  und 

e)  durch  Schaffung  eines  besondern  Departements  beim  Kameralhof, 
das  darüber  zu  entscheiden  hat,  welche  Gerichtsverfahren  einzustellen  sind 
und  welche  in  höhere  Instanzen  zu  gelangen  haben; 

f)  schließlich  dürfen  Vergehen  gegen  die  griechisch-katholische  Kirche 
auf  Befehl  des  Justizministers  von  der  Gerichtsstelle  untersucht  und  ab- 
geurteilt werden,  die  ihm  dafür  am  besten  geeignet  erscheint; 

g)  die  Zeugen  pohlischer  Nationalität  werden  durch  ein  Mitglied  des 
Gerichts  vereidigt,  nicht  durch  einen  römisch-katholischen  Geistlichen. 

Auch  in  den  Gerichtsinstitutionen  ist  das  Prinzip  gewahrt  w^orden,  die 
Gesellschaft  so  wenig  wie  möglich  an  der  Regelung  ihrer  Angelegenheiten 
teilnehmen  zu  lassen.  Wie  später  gezeigt  werden  soll,  konnte  die  Absicht 
aus  verschiednen  Gründen  nicht  durchgeführt  werden,  mid  besonders  das 
Gmingericht  ist  die  Stelle  geworden,  durch  die  die  polnische  Intelligenz 
Eingang  in  die  Bauernschaft  fand.^)  Außerdem  war  die  Eegierung  durch 
die  einmal  vorhandnen  Verhältnisse  gezwungen  Avordeu,  die  Hälfte  aller 
Richterstellen  bei  den  Bezirksgerichten  durch  Polen  zu  besetzen. 


*)  Vgl.  N.  A.  Loganow,  Joumal  des  Justizmioistenums  vou  1896,  Bd.  7,  S.  1  bis  34: 
„Die  Durchsicht  der  Prozeßordnung  und  der  bürgerHcheu  Gesetzgebung  im  Zaiium  Polen". 

Nowoje  Wremja  von  1898,  Nr.  7979,  Leitartikel:  „Die  Kodifikation  der  örtlichen 
Gesetze  im  Weichselgebiet". 

RuBkij  Wjestnik  von  1899,  Juniheft,  S.  730  bis  34:  „AVai'schauer  Brief". 


C<5^^5 


6* 


Fünftes  Kapitel 
Kirche  und  Geistliclikeit 

In  der  historischen  Einführung  haben  wir  gezeigt,  welche  große  Be- 
deutung die  Geistlichkeit  beider  Bekenntnisse  in  den  polnisch -russischen 
Beziehungen  immer  gehabt  hat.  Seit  Kiederwerfung  der  Aufstände  von 
1861/63  wiu'de  die  römische  Geistlichkeit  zur  Rolle  des  leidenden  Teils  ver- 
urteilt, während  sich  die  giuechische  aller  Vorteile  bedienen  konnte,  die 
dem  Sieger  ohne  weiteres  zufallen.  In  der  jüngsten  Geschichte  der  Ein- 
verleibung Polens  durch  Rußland  spielte  darum  die  Tätigkeit  der  griechischen 
Geistlichkeit  als  Angreifer  und  die  der  römischen  als  Agitatoren,  Pro- 
testierende, Revolutionäre  eine  für  die  russische  Polenpolitik  wichtige 
Rolle,  die  schwer  mit  den  Zielen  der  russischen  Politik  und  mit  den  vor- 
handnen  Gesetzen  in  Einklang  zu  bringen  ist. 

In  Rußland  besteht  das  Prinzip  der  Glaubensfreiheit  im  Gesetz  seit 
Katharina  der  Zweiten.  Es  ist  in  den  §§  44  und  45  der  Staatsgrundgesetze*) 
für  die  nicht  rechtgläubigen  Bekenntnisse  ausgesprochen. '')  Doch  wurde 
es  dui'ch  „eine  Reihe  von  Zusatzbestimmungen  zu  allen  Teilen  der  Gesetz- 
gebung und  noch  mehr  diu'ch  offne  und  geheime  Zirkulare  fast  auf  Null 
zurückgeführt".'*)  Die  griechisch-katholische  Kirche  wird  durch  den  Heiligen 

*)  Staatsgnmdgesetze,  siehe  Gesetzsammlung  Bd.  I,  Teil  1,  Ausgabe  1892. 

§  44.  „Alle  nicht  zur  herrschenden  Kirche  gehörenden  Untertanen  des  Russischen 
Reichs,  ursprüngUche  und  in  die  Untertanschaft  aiifgenommne,  ebenso  wie  im  iiissischen 
Dienste  stehende  Ausländer  oder  solche,  die  sich  in  Rußland  vorübergehend  auflialteii, 
haben  das  Recht,  jeder  Einzelne  an  jedem  Ort  ihren  Glauben  \md  Gottesdienst  nach 
dessen  Vorschriften  frei  auszuüben.-'  §  45  sagt  dasselbe  für  Juden,  Mohammedaner  und 
Heiden. 

^)  Bd.  XII  der  Gesetzsammlung,  Kapitel  von  der  „Vorbeugung  von  Vergehen",  §  36 
verbietet  jedem  griechisch-katholischen  Untertan  den  Übertritt  zu  irgendeinem  andern 
Glauben. 

§  44  der  Staatsgnmdgesetze  gewahrt  Glaubensfreiheit  ausdrücklich  „allen  nicht  zur 
herrschenden  Kirche  gehörenden  .  .  .'• 

■)  Senator  und  Mitglied  des  Reichsrats  N.  S.  Tagantzew,  ,,üas  Strafgesetz  vom 
22.  Mürz  1903".  Bd.  IT  (Glaubensgesetzgebung),  St.  P.Hei-sburg,  Veriag-  PhöuLx  1906,  S.  III. 


A.  Die  iStelluug  der  röiniscli-katholisclion  Kirche  §5 

Synod/)  die  andern  Glaubensbekemitnisse  werden  durch  das  „Departement 
der  ausländischen  Glaubensbekenntnisse"  im  Ministeriuni  des  Innern  ver- 
waltet.^) Die  griechisch-katholische  Kirche  ist  die  alleinherrschende  Kirche 
in  ganz  Rußland;  ihr  allein  steht  das  Recht  zu,  unter  den  andern  christ- 
lichen Bekenntnissen  eine  Missionstätigkeit  zu  entfalten.  3) 

Die  politische  Leitung  der  russischen  Ejrche  lag  von  1865  bis  1880 
in  den  Händen  des  Grafen  Dmitri  Tolstoj/)  von  1880  bis  zum  Jahre  1905 
in  denen  Konstantin  Pobjedonostzews.  Tolstoj  hat  sein  zweibändiges  Werk 
,,Le  Catholicisme  romain  en  Russie" '")  mit  den  Worten  geschlossen :  „ Ainsi 
le  temoignage  de  la  cour  de  Rome  siir  la  justesse  de  nos  couclusious  au 
sujet  de  l'etat  de  l'Eglise  latine  eu  Russie  sous  l'empereur  Alexandre  n'est 
qu'une  reconnaissance  indirecte,  et  involontaire ,  de  la  dofectuosite  du 
Systeme  romain  et  du  mal  incontestable  qu'il  a  fait,  corame  on  a  pu  s'en 
persuader,  ä  la  religion,  au  clerge  et  ä  la  population  du  rite  latin."^)  Die 
Ahsprechmig  jeglichen  Kulturwertes  hei  der  römisch-katholischen  Kirche 
rechtfertigt  in  den  Äugen  der  russischen  Gesetzgeber  alle  die  Maßnahmen, 
die  seit  dem  Jahre  1865  getroffen  wurden,  um  die  Jcatholische  Kirche 
aus  den  Landesteilen  mit  gemischter  Bevölkerung  zu  verdrängen  und  der 
römischen  Geistlichkeit  die  Ausübung  iiirer  Pflichten  gegenüber  der  polnisch- 
katholischen Bevölkerung  zu  erschweren.") 

A.  Die  Stellung  der  römisch-katholisohen  Kirche 

1.  Allgemeine  Stellung  im  Iteich 

Die  Stellung  der  römisch-katholischen  Kirche  in  Rußland  beruht 
seit  Aufhebung   des  Konkordats^)  vom  22.  Juli   1847    und  Abbruch   der 

*)  StaatsgTUüdgesetze  §  43. 

-)  Ebenda  §  46  nebst  Anmerkung. 

")  §  195  des  Strafkodex,  Gesetzsammlung  Bd.  XV,  Ausgabe  1885  bedroht  nicht 
oiihodoxe  Geistliche  für  Aufnahme  von  Prosolyten  ohne  Einholung  der  Genehmigung  dazu 
in  jedem  einzelnen  Falle  mit  strengem  Vei'weis  für  die  beiden  ersten  ÜbertretirngsfäUe, 
mit  Amtsenthebung  im  dritten  Fall  und  mit  Entkleidung  der  geistlichen  Würde  im 
vierten  Falle. 

*)  Oberprokureur  des  Heüigen  Synods  vom  3.  Jimi  1865  ab,  Minister  für  Volks- 
aufklärung vom  14.  April  1866  ab,  beides  bis  zum  24.  April  1880.  Vom  30.  Mai  1882  bis 
zu  seinem  am  25.  April  1889  erfolgten  Tode  Minister  des  Innern. 

•^)  Paris,  1863,  bei  Dentu,  Libraire-Editeur,  2  Bde. 

«)  Bd.  II,  S.  422. 

')  Vgl.  den  Abschnitt  über  Gmingerichte  auf  S.  83,  unter  g. 

*)  Die  Bestimmungen  des  Konkordats  sind  unter  Nikolaus  dem  Ersten  nicht  zur  Aus- 
führung gekommen,  wurden  von  Alexander  dorn  Zweiten  im  Jahre  1856  erneuert  und 
durch  Ukas  vom  22.  November  1866  wieder  aufgehoben. 


86  Fünftes  Kapitel.   Kiiche  und  Geistlichkeit 

russischen  Beziehungen^)  zum  päpstlichen  Stuhl  auf  den  Ukasen  vom  27.  Ok- 
tober 1864,  14.  Dezember  1865,  22.  ^"ovember  1866,  12.  Juli  1867,  aiü" 
den  „Vorschriften  und  Regeln  für  die  Verwaltung  der  geistlichen  An- 
gelegenheiten der  ausländischen  Glaubensbekenntnisse"-)  sowie  schließlich 
auf  der  „Sammlung  von  Vorschriften  über  die  Verhütung  und  Verhinderung 
von  Verbrechen".  ^)  Kein  russischer  Untertan  römisch-katholischen  Glaubens 
darf  sich  in  Angelegenheiten  seines  Glaubens  mit  dem  Papst  ohne  Ver- 
mittlung des  Ministers  des  Innern  in  Verbindung  setzen.*)  Der  römisch- 
katholische  Geistliche  gerät  in  den  schärfsten  "Widerepruch  zu  den 
Vorschriften  seiner  Kirche  durch  die  Bestimmung,  daß  niemand  einen 
Christen  oder  Heiden  hindern  darf,  in  die  rechtgläubige  Kirche  einzu- 
treten.'^) Der  Übertritt  von  einem  Bekenntnis  zu  einem  cliristLiclien ,  aber 
nicht  rechtgläubigen,  bedarf  der  Genehmigung  des  Ministers  des  Innern') 


*)  Im  Anschluß  an  einen  Briefwechsel  mit  Alexander  dem  Zweiten  im  Fiülijahr  1863 
ließ  Papst  Pius  der  Neimte  keine  Gelegenheit  vorübergehn,  um  den  Aufständischen  in 
Polen  sein  Mitgefühl  und  seine  moralische  Unterstützung  zum  Ausdmck  zu  bringen.  Den 
Vorschlag,  einen  Gesandten  nach  St.  Petereburg  zu  emennen,  lehnte  der  Papst  ab.  Der 
polnische  Aufstand  war  schon  niedergewoi-fen,  als  der  Papst  in  allen  römisoh-kathülischen 
Kirchen  Gebete  für  Polen  anordnete.  Am  12.  April  1864  hielt  er  eine  schai-fe  Anklage- 
rede gegen  Alexander  den  Zweiten.  Am  15.  Dezember  1865  fei-tigte  er  den  Gesandten 
am  päpstlichen  Stuhl,  Baron  Meyendorff,  mit  folgenden  Worten  ab:  „Ich  achte  imd  ehre 
Seine  Majestät  den  Kaiser,  aber  ich  kann  dasselbe  nicht  von  seinem  Vertrauensmann 
sagen,  der  mich,  natürlicJi  gegen  seinen  (des  Kai.sers)  Willen,  in  meinem  eignen  Kabinett 
beleidigt!"  Siehe  Akten  und  Dokumente  über  den  Schriftwech.sel  mit  der  römischen  Kurie 
im  Archiv  des  Ministeriums  der  auswärtigen  Angelegenheiten  zu  St.  Petersburg.  Dargestellt 
nach  Tatischtschew,  „Alexander  11.",  Bd.  I,  S.  536/38. 

-)  Gesetzsammlung  Bd.  XI,  Teil  1,  Ausgabe  1896/1902,  §  1/237. 

^)  Gesetzsammlung  Bd.  XIV,  Teil  3,  Ausgabe  1890. 

■*)  In  §  17  des  Bd.  XI,  Teil  1  heißt  es:  „Alle  Christen  römisch-kathoUschen  Glaubens, 
geistliche  und  weltUche  Untertanen  des  Reichs  dürfen  sich  in  Angelegenheiten  ihres 
Glaubens  nicht  anders  als  durch  Vermittlung  des  Ministers  des  Innern  mit  der  römischen 
Kui'ie  in  Verbindung  setzen  .  .  ."  Bullen  oder  irgendwelche  i)äpstliche  Vorschriften  müssen 
durch  Vermittlung  dies  Ministei-s  des  Innern  dem  Zaren  zur  Genehmigimg  vorgelegt  werden, 
nachdem  sie  darauf  geprüft  worden  sind,  ob  sie  nicht  im  Widerspruch  mit  den  russischen 
Gesetzesvorschriften  stehn. 

'")  Gemäß  §  4  der  Gesetzsammlung  Bd.  XI,  Teil  1  wüi'de  sich  ein  römisch-katholischer 
Geistücher  strafbar  machen,  wenn  er  zum  Beispiel  versuchen  sollte,  eins  seiner  Beicht- 
kinder vom  Übertritt  zur  giiechisch-katholischen  Kirche  abzuhalten. 

§  5  der  Elnfühiimg  lautet:  ,,Wemi  Bekenner  eines  fremden  Glaubens  dem  recht- 
gläubigen Glauben  beizutreten  wlinschen,  daii  niemand  sie,  unter  welcher  Form  es  auch  sei, 
an  der  Ausfühnmg  ihres  Wunsches  hindern."  (§  95  des  Strafgesetzes  vom  22.  März  1903  droht 
mit  Gefängnis  nicht  unter  sechs  Monaten  imd  im  AViederholungsfalle  mit  Amtsenthebung.) 

**)  Die  Bestimmung  wird  so  weit  ausgedehnt,  daß  der  Geistliche  Gefahr  läuft,  in  die 
Verbannung  zu  geraten,  nur  weil  er  Rat  suchende  Gemeindeglieder,  die  dmch  orthodoxe 
Missionare  bedrängt  und  durch  Geld  zum  Übertritt  gereizt  werden,  in  den  Regeln  der 
römisch-katholischen  Kirche  imterweist  (zmu  Beispiel  der  Propst  in  Tula). 

§  6  fordert  die  Genehmigimg  des  Ministers  des  Iiuiern,  wenn  em  nicht  rechtgläubiger 
Christ  zu  einem  andern,  aber  nicht  g-riechisch-katholischen  Bekenntnis  übertreten  will. 


A.  Die  Stellung  der  römisch -katholischen  Kirche  87 

unter  der  Berücksichtigung  von  Sonderbestimmungen  für  das  Zartiun 
Polen.») 

Mit  zwei  Worten  läßt  sich  die  Stellung  der  russischen  Regierung  zur 
römischen  Kirche  als  unversöhnlicher  Kriegszustand  kennzeichnen:  sein 
Ziel  ist  die  bedingungslose  Unterwerfung  der  „polnischen  Kirche*'  unter 
die  Oberhoheit  des  Heiligen  Synod.  Darum  hat  sie  sich  auch  einzeln  auf- 
ti'etenden  Bestrebimgen  unter  der  polnischen  Geistlichkeit  gegenüber  gleich- 
giltig  verhalten,  die  sich  gegen  die  Befehle  von  Rom  auflehnten.  Freilich 
wurden  die  Unbotmäßigkeiten  polnischer  Priester  in  den  Jahren  1865, 
1868,  1873,  1875  und  1880  nur  darum  nicht  direkt  unterstützt,  um  in 
der  polnisch-katholischen  Bevölkerung  nicht  den  Yerdacht  zu  erregen,  als 
sei  die  Strömung  beim  polnischen  Klerus  eine  russifizierende. 

Ganz  Rußland  ist  in  zwei  römisch-katholische  Erzbistümer,  Mobile w 
und  "Warschau,  und  zwölf  diesen  untergeordnete  Bistümer  eingeteilt.')  An 
ihrer  Spitze  steht  der  Erzbischof  von  Mohilew  als  Meti'opolit  mit  dem 
Sitz  in  Petersburg  seit  1868.  Für  jedes  der  beiden  Erzbistümer  Mohilew **) 
und  Wai-schau*)  bestehn  bezüghch  der  kirchlichen  Obrigkeit  und  des  Ver- 
hältnisses zirr  Staatsgewalt  besondre  Vorschriften.  Sie  untersciieiden  sich 
hauptsächlich  in  der  Stellung  der  Geistlichen  zu  den  Gemeindon. 

Besonders  streng  ist  die  Aufsicht  über  die  Geldmittel  der  Kirche'*) 


^)  §  6  Anm.  2  verweist  auf  die  beim  Übertritt  für  das  Zartmn  allein  giltigen  be- 
sondern Vorschriften. 

-)  Wilna,  Lutzk-Shituuür,  Telschi,  Tiraspol  zu  Mohilew,  Augustow,  Kaiisch,  Kjelce, 
Lublin,  Plock  und  Sandomir  zu  Warschau  gehörig. 

')  §  18/132.  —  •■)  §  133/237. 

")  §  153.  Alle  Kapitalien  und  Einnahmen  der  weißen  Geistlichkeit  «teliu  unter  der 
Verwaltung  des  Fiskus. 

§  154.  Das  Verfügungsrecht  über  alle  Einkünfte  aus  Kirchen  vermögen  steht  dem 
Fiskus  zu;  sie  dürfen  ausschließlich  für  Institutionen  der  römisch-katholischen  Kirche  ver- 
wandt werden. 

§  155.  Über  der  römisch-katholischen  Kirche  zugefallne  Schenkungen  verfügt  der 
Staat  im  Sinne  des  §  154. 

§  156.  „Gelder  imd  Güter,  die  für  Bauten  imd  Ausbesserungen  von  Kloster-  imd 
Kirchspielgebäuden  sowie  für  Kirchliöfe,  zur  Ausschmückung  von  Kirchen,  für  Beleuchtmig, 
Herstellung  von  Kirchengeräten ,  Kirchengewändern  imd  zu  ähnUcheu  Zwecken  geschenkt 
oder  gestiftet  wurden,  ebenso  wie  Gelder,  die  ohne  eine  nähere  Bestimnuuig  zum  Besten  der 
Kirchen,  nicht  der  sie  bedienenden  Geistlichkeit  geschenkt  oder  gestiftet  wurden,  sind  zu 
den  besondem  Mitteln  des  Ministeriums  des  Innern  zu  schlagen  und  von  diesem  zu  detn 
ihnen  bestimmten  Zweck  zu  vei-wenden." 

§  157.  „Immobilien,  die  für-  die  in  §  156  angeführten  Zwecke  gespendet  wurden,  sind 
zu  verkaufen  oder  durch  den  Fiskus  zu  einem  dem  Wert  entsprechenden  Preise  zu  über- 
nehmen. Der  Erlös  ist  zu  den  besondern  Mitteln  des  Miiüsteriimis  des  Innern  zu  schlagen 
und  füi'  die  in  §  156  genannten  Zwecke  zu  verwenden.  Ausgenommen  sind  die  Gebäude 
und  die  Ländereien ,  die  gemäß  besondem  Regeln  (14.  Dezember  1865.    Polnisches  Jahr- 


88  Fünftes  Kapitel.    Kii-che  und  Geistlichkeit 


sowie  über  die  Klöster^)  mit  Rücksicht  auf  die  Tatsache,  daß  die  katholische 
niedre  Geistlichkeit  einen  so  lebhaften  Anteü'')  an  den  Aufständen  von 
1861/63  genommen  hatte.  ^)  Der  Bau  imd  die  Instandhaltung  der  römisch- 
kathoHschen  Kirchen'*)  sind  selbst  im  Vergleich  zur  lutherischen  Kirche 
durch    eine    Reihe    von   Fonnalitäten    erschwert.^)      Kirchenorden    haben 


buch  der  Gesetzgebung  Bd.  liXIll,  S.  390)  der  unmittelbaren  Verfügung  der  Geistlichkeit 
überlassen  bleiben." 

§  162.  Alle  Gebührenzahlungen  für  Amtshandlungen  müssen  in  ein  besondres  bei 
jeder  Kirche  vorhandnes  Buch  eingetragen  werden. 

§  169.  Aus  Überschüssen  können  nach  Ermessen  des  Ministers  des  Innern  einzelne 
um  die  Interessen  des  Staats  verdiente  Geistliche  Belohnungen  erhalten. 

§  170.  Für  die  Annahme  von  Schenkungen  durch  Organe  der  römisch-katholischen 
Kirchen  ist  die  Genehmigung  des  Ministers  des  Innern  erforderlich. 

§  171/73.  Sogenannte  Grundkapitalien,  von  denen  lediglich  die  Zinsen  verbraucht 
werden  dürfen,  müssen  der  Staatsbank  übergeben  werden,  die  sie  in  Staatspapieren  an- 
legt. Die  Zinsen  dürfen  nur  im  Einverständnis  mit  dem  Minister  des  Innern  ver- 
wandt werden. 

')  §  182/194  geben  allgemeine  Verwaltungsregeln  für  Klöster  an,  gemäß  Ukas 
vom  27.  Oktober  1864. 

§  187  Anm.  gibt  dem  Minister  des  Innern  und  dem  Generalgouverneur  das  Recht, 
Klöster  aufzuheben,  wenn  deren  Gebäude  für  Einrichtungen  der  öffentlichen  "Wohlfahrt 
verwandt  werden  sollen. 

§  195/213  handeln  von  der  üntoi-stellung  der  Klöster  unter  die  Kirchenbehörden. 

§  199  und  207.  Die  vom  Bischof  auszuwählenden  Klosterinspek^toren  müssen  vom 
Generalgouvemeur  bestätigt  werden. 

§  214.  In  die  Klöster  des  Zartums  Polen  können  nur  im  Zartum  gebome  Personen 
eintreten. 

§  215  und  217.  Die  Erlaubnis  dazu  erbittet  der  zuständige  Gouverneur  beim  Minister 
des  Innern. 

§  221.  Alle  Mönche  und  Nonnen  beziehen  ihren  Unterhalt  durch  Vennittlung  des 
Fiskus;  sie  dürfen  deshalb  keine  Almosen  sammeln. 

§  222.  Der  Weltgeistlichkeit  ist  es  untersagt,  sich  in  den  Klöstern  unter  irgendeinem 
Vorwande  ohne  die  Genehmigung  des  Ministers  des  Innern  zu  vorsammeln. 

§  224/225.  Ohne  die  Genehmigung  des  Ministers  des  Innern  dürfen  keinerlei  Ver- 
setzungen von  Mönchen  oder  Nonnen  aus  einem  Kloster  in  ein  andres  vorgenommen 
werden.     Jede  Veränderung  ist  der  zuständigen  Verwaltungsbehörde  zu  melden. 

-)  Im  Jahre  1861  wandte  sich  der  Marquis  Wielepolski  an  den  römisch-katholischen 
Klenis  miter  Hinweis  auf  seine  politische  Tätigkeit  mit  den  Worten :  „Ich  werde  nirgends, 
wo  immer  es  auch  sei,  einen  Staat  im  Staate  dulden  .  .  .''  Siehe  Lisicki,  Alexander 
Wielepolski,  Krakau,  1878,  Bd.  U,  S.  78. 

")  Siehe  Tatischtschew,  Alexander  II.,  a.  a.  0. 

*)  Die  römisch-katholische  Geistlichkeit  envies  sich  den  Uniaten  gegenüber  noch  un- 
duldsamer. Das  geht  dai'aiLS  hervor,  daß  von  344  Kirchen  der  ünierten  bei  Übernahme 
durch  den  Staat  208  unbrauchbar  waren.     Siehe  Reinke,  a.  a.  0.  S.  148. 

^)  Gesetzsammlung  Bd.  XII,  Teil  1,  §  14/18  imd  §  139/143  der  Bauordnung 
von  1857. 

§  139.  „Niemand  hat  ein  Recht,  selbständig  Kia-chen  für  ausländische  christliche 
Bekenntnisse  zu  bauen.  Dieses  Verbot  bezieht  sich  auch  auf  Kapellen  und  fliegende  Altäre 
der  römisch-katholischen  Kirche." 

Dem  entspricht  §  124,  Bd.  XI,  Teil  1  der  Gesetzsammlung,  Ausgabe  1896,  der  lautet: 


A.  Die  Stellung  der  römisch -katholischen  Kirche  89 


keinerlei   über   die  Betätigung  privater  Wohltätigkeit  hinausgehende   Be- 
fugnisse.^)   Jesuiten  haben  auch  einzeln  keinen  Zutritt  in  Rußland.-) 

2.  Die  Geistlichen 

Alle  Geistlichen  werden  von  der  Regierung  besoldet  '^)  Zur  Anstellung, 
Beförderung  oder  Versetzung  eines  Geistlichen  in  Polen  ist  die  Genehmigung 
des  Generalgouverneurs  erforderlich.*)  Über  jeden  sonstigen  Wechsel  des 
geistiichen  Personals  in  seiner  Diözese  haben  die  Bischöfe  direkt  an  den 
Generalgouverneur  zu  berichten.^) 

In  Polen  steht  die  gesamte  polnische  Geistlichkeit  unter  Polizeiauf- 
sicht,*) was  besonders  durch  die  Tatsache  zum  Ausdruck  kommt,  daß  sie 


„Bezüglich  def  Errichtung   uud  Ausbesserung  von  römisch-katholischen  Kirchen  gelten 
folgende  Regeln: 

1.  Römisch-katholische  Kirchen  dürfen  nur  dort  eiTichtet  werden,  wo  die  Bevölkexaings- 
vermehrung  oder  Größe  des  Kirchspiels  imd  die  Schwierigkeit  des  Verkehrs  solches  not- 
wendig erscheinen  lassen. 

Anm.   Eine  Kirchengemeinde  muß  wenigstens  aas  hundert  Höfen  bestehu. 

2.  Personen  oder  Gesellschaften,  die  eine  Kirche  bauen  wollen,  haben  sich  deswegen 
an  den  zuständigen  Gouverneur  zu  wenden,  der  sich  seinerseits  mit  den  Eparchie- 
verwaltungen  der  griechischen  imd  der  römischen  Kirche  in  Verbindung  setzt.  Der  Gou- 
verneur hat  sich  danach  umzutim,  ob  keine  Bedenken  gegen  den  Bau  vorhegen,  luid  hat 
solche  dem  Minister  des  Innern  mitzuteilen,  der  die  letzte  Entscheidung  gibt. 

3.  In  Transkaspien  dürfen  römisch -kathoUsche  Kirchen  nur  mit  Genehmigimg  des 
Zaren  errichtet  werden. 

4.  Die  Ausbessei-ung  von  Kirchen  und  Errichtung  neuer  an  Stelle  von  unbrauchbar 
gewoi-dnen  unterliegt  der  Genehmigung  der  Kirchenbehörden. 

5.  .  .  . 

6.  Hauskapellen  dürfen  von  besonders  ehi-würdigea  Personen,  falls  sie  durch  Krankheit 
am  Kirchenbesuch  gehindert  werden,  mit  Genehmigimg  des  Ministers  des  Innern  ein- 
gerichtet werden." 

Verschärft  sind  die  Bestimmungen  noch  für  die  litauischen  Gouvernements.  Die 
Anmerk-ung  zu  §  139  der  „Bauordnung"  schreibt  vor,  daß  keinerlei  Kreuze,  Gebetsteine 
und  Denkmäler  aus  wetterfestem  Material  ohne  die  Genehmigung  des  Gouverneurs  er- 
richtet werden  dürfen.  Einem  entsprechenden  Gesuch  sind  genaue  Zeichnungen  in 
doppelter  Ausführung  beizufügen.  Geisthche,  die  solche  Bauten  einweihen,  ohne  daß  diese 
genekmigt  worden  wären,  werden  zur  Verantwortung  gezogen. 

^)  §  195.  Alle  männlichen  und  weibüchen  Klöster  unterstehn  dem  örtlichen  Bistum. 

Anm.   Die  Abhängigkeit  der  Klöster  von  irgendeinem  Orden  ist  1864  aufgehoben. 

2)  §  459  des  Gesetzes  von  den  Ständen  (Gesetzsammlung  Bd.  IX,  Ausgabe  1899/1902) 
lautet:  „Jesmten  werden  unter  keinen  Umständen  mid  unter  keiner  Benennung  nach 
Rußland  eingelassen." 

^)  §  98.  —  Anm.  1.  Die  römisch  -  kathoUscheu  Geistlichen  düi-feu  keinerlei  Geld  ins 
Ausland  schicken.  —  Anm.  2.  In  den  kathohschen  Kolonien  au  der  Wolga  werden  die 
„patres"  von  den  Kolonisten  besoldet. 

*)  §  107,  139,  143,  144,  146,  150,  151  (vgl.  S.  68  bis  71).  —  '*)  S.  §  152. 

'0  Die  allgemebien  Direktiven  dafür  finden  sich  in  den  „Allgemeinen  Bestimmmigeu  über 
Verhütung  und  Verb indening  von  Verbrechen"  in  Bd.  XIV  der  Gesetzsammlung,  Ausgabe  1890. 

§  1  befiehlt  allen  Polizeiorganen,  „mit  allen  ihnen  zur  Verfügung  stehenden  Mitteln" 
jede  Tätigkeit  zu  verhindern,  die  zur  Beeinträchtigung  der  Achtung  vor  dem  Glauben  wie 


90  Fünftes  Kapitel.    Kii'clie  und  Geistlichkeit 

ebenso  wie  Ausländer  nur  kurz  befristete  Pässe  erhalten^)  und  beim  Ver- 
lassen des  ihnen  zugewiesnen  Amtsbezirks  die  Geneiimigmig  des  Gouver- 
neiu's  einholen  müssen.  Das  Privatleben  der  Geistlichen  ist  ei'schwert 
diu-ch  das  Verbot,  keine  orthodoxen  —  auch  keine  unierten  —  Dienst- 
boten halten  zu  dürfen.-) 

Welche  Gründe  diese  harten  Bestimmungen  veranlaßten,  lehrt  die 
Geschichte  der  polnischen  Aufstände  im  Zusammenhang  mit  den  Be- 
strebmigen  der  russischen  Geistlichkeit,  die  sogenannten  Uniaten  vollständig 
in  den  Schoß  der  orthodoxen  Kirche  zu  führen.  In  der  Praxis  sollten 
die  Bestimmungen  vor  allen  Dingen  einem  massenhaften  Auftreten  der 
römischen  Geistlichen  bei  Kirchenfeiertagen  und  an  Ablaßtagen  vorbeugen. 
Diese  Absicht  tritt  besonders  klar  in  einem  Erlaß  des  Generalgouvenieiu's 
Graf  Kotzebue  vom  4.  (16.)  Juni  1874  an  die  römischen  Bischöfe  seines 
Gebiets  herver.     Darin  heißt  es: 

„Den  bestehenden  Vorscliriften  zuwider  und  zum  Nachteil  der  öffent- 
lichen Sicherheit  werden  Ablaßfoierlichkeiten  abgehalten  und  dazu  Geist- 
liche aus  andern  Kreisen,  ja  sogar  aus  andern  Gouvernements  eingeladen. 
Unter  den  fremden  Priestern  befinden  sich  solche,  die  sich  durch  gi'oße 
Kedekimst  auszeichnen.  Sie  predigen  von  angeblichen  Kirchen-  und 
Priesterverfolgungen,  obgleich  die  Regierung  der  katholischen  Religion 
ihren  Schutz  im  vollsten  Maße  angedeihen  läßt;  ferner  behaupten  sie,  es 
werde  angestrebt,  die  Gläubigen  ihres  Glaubens  zu  berauben;  sie  fordern 
die  Gemeindeglieder  auf,  in  Brüderschaften  einzuti*eten ;  sie  predigen  nicht 
nur  innerhalb,  sondern  aucii  außerhalb  der  Gotteshäuser,  auf  Kirchhöfen 
und  öffentlichen  Plätzen;  schließlich  üben  sie  einen  schädlichen  Einfluß 
auf  die  Uniaten  aus.  In  Erwägung  der  angeführten  Umstände  und  infolge 
des  Erlasses  des  Herrn  Ministers  des  Innern  vom  20.  Mai  1874  s.  L.  1471 
wird  folgendes  bestimmt: 

1.  Den  katholischen  Geistlichen  wird  der  Besuch  von  Ablaßfeiei'n, 
die  im  Ki'eise  Augustow  des  Gouvernements  Ssuwalki  und  im  Kreise  Ma- 
sowjeck    des    Gouvernements   Lomsha    (beides    Kreise    mit    sogenannten 

auch  der  öffentUchen  Ordnung,  pei-sönhchen  Freiheit  usw.  fühlten  könnten.  Solche  Mittel 
können  sein:  Stellung  unter  Pohzeiauf sieht,  Verbot  des  "\i\''ohnrechts  an  bestimmten  Orten 
wie  auch  Ausweisung  von  Ausländem  ins  Aasland. 

*)  §40  der  Paßvorschrift  (Gesetzsammlung  Bd.  XIV.  Ausgabe  1903)  lautet:  ,.Ln 
Staatsdienst  stehende  Personen,  Zinl-,  Militär-  und  Marinebeamte,  ebenso  wie  die  Geist- 
lichen aller  Bekenntnisse,  mit  Ausnahme  der  rümisch-hatholischeii .  .  .  erhalten  vmbefristete 
Paßbücher  ..." 

-)  §  78  der  Gesetz sammlimg  Bd.  XIV,  Teil  3,  Ausgabe  1890.  „Es  ist  den  Mitgliedern 
der  römisch-katholischen  weißen  und  Klostergeistlichkoit  in  dem  AVestgouvemement  ver- 
boten, in  ihren  Häusern.  Kirchen  und  Klöstern  zu  ihrer  Bedienung  Leute  des  orthodoxen 
Glaubens  zu  halten.'- 


A.  Die  ötellung  der  römisch  -  katliolischeu  Kirche  91 


staiidliaften  Uniaten,  vgl.  Kapitel  6,  S.  102)  abgehalten  werden,  überhaupt 
untersag!.  Die  Chefs  solcher  Kreise,  in  denen  eine  unierte  Bevölkerung 
vorhanden  ist,  dürfen  Priestern  keine  Pässe  aushändigen,  die  zur  Teil- 
nahme an  Gottesdiensten  in  fremden  Kirchspielen  berechtigen. 

2.  In  andern  Kreisen  haben  die  Chefs  bei  der  Ausstellimg  von  Pässen 
für  Priester  möglichst  genaue  Angaben  von  ihnen  zu  verlangen:  wann  die 
Abreise  stattfinden  soll,  und  wie  lange  die  Abwesenheit  vom  ständigen 
Wohnort  dauern  wird;  außerdem  darf  nm-  einer  möglichst  geringen  Zahl 
von  Geistlichen  die  Teilnahme  an  Ablaßfeiern  gestattet  Averden." 

Wie  berechtigt  solche  Vorschriften,  vom  Standpunkt  der  Staatsgewalt 
aus  betrachtet,  sind,  wird  in  einem  spätem  Kapitel  näher  dargetan  werden: 
ob  sie  aber  zum  Ziele  führen,  ist  eine  andre  Frage. 

Geradezu  mit  persönlicher  Gefahr  ist  die  Lage  der  römisch-katholischen 
Geistlichen  verbunden,  deren  Stellung  sie  in  fortgesetzte  Beziehung  zur 
Bevölkerung  in  gemischten  Gemeinden  bringt  —  also  in  den  polnischen 
Gouvernements  Ssuwalki,  Lomsha,  Lublin  und  Sjedlec,  wo  neben  römischen 
Katholiken  Uniaten  und  Orthodoxe  wohnen,  und  in  Litauen  imd  Weiß- 
rußland, wo  Orthodoxe,  Altgläubige,  Lutheraner  und  römische  Katholiken 
zusammenkommen.  In  allen  diesen  Gebieten  wird  die  Lage  noch  ver- 
schärft dui-ch  den  Kampf,  den  die  russische  Sprache  gegen  die  Dialekte 
Kleinrussisch,  Weißrussisch  und  gegen  die  litauische  und  die  masurische 
Sprache  führt,  während  sich  andrerseits  die  katholischen  Geistlichen  vielfach 
nach  Möglichkeit  der  polnischen  Sprache  zu  bedienen  streben.  In  Litauen 
hat  die  polnische  Sprache  in  der  jungem  Generation  der  katholischen  Land- 
geistlichkeit keine  Stütze  mehr,  seit  etwa  1897/99  die  litauische  demoki-a- 
tische  Partei  entstand  mid  den  sozialen  Gegensatz  zwischen  dem  litauischen 
Bauern  und  dem  polnisch  sprechenden  Großgrundbesitzer  in  ihi-em  Pro- 
gramm ausnutzte  und  durch  ihre  agitatorische  Tätigkeit  vertiefte.  Die  ver- 
fänglichsten Vorschriften  liegen  infolge  der  großen  allgemeinen  Unordnung 
bei  den  polizeilichen  An-  imd  Abmeldungen  auf  dem  Gebiet  alltäglicher 
Amtshandlungen:  Taufen,  Firmelungen,  Trauungen,  Beerdigimgen.^) 

^)  §  93  des  Strafkodex  lautet:  „Geistliche  andersgläubiger  christlicher  Bekemitnisse, 
die  schuldig  sind: 

1.  der  Vollziehung  der  Konfirmation,  Salbung  oder  einer  andern  die  Aufnahme  in 
eine  andersgläubige  christliche  Konfession  bezeichnenden  Amtshandlung  nach  dem  Ritus 
an  einem  anerkanntermaßen  (s.  Anmerkmig  am  Schluß  des  Paragraphen)  Rechtgläubigen, 
oder  der  Vollziehimg  der  Taufe  nach  ihi-em  Ritus,  oder  ihrer  Zulassung  an  einem  Kinde, 
das  anerkanntermaiäen  nach  den  Regehi  der  rechtgläubigen  Kirche  zu  taufen  ist; 

2.  der  Zulassung  zur  Beichte  oder  Kommunion  emes  anerkanntermaßen  Recht- 
gläubigen oder  der  Vollziehung  der  letzten  Ölung  nach  dem  Ritus  ihres  Bekenntnisses; 

3.  des  Unterrichts  an  Minderjälirige  des  rechtgläubigen  Bekenntnisses  im  Katechismus 
ihres  Glaubensbekenntnisses; 


92  Fünites  Kapitel.    Kirche  uiid  Geistlichkeit 

Der  ganze  Umfang  der  Bedi'ängnis  der  römisch-katholischen  Geist- 
lichen läßt  sich  aus  den  uns  zugänglichen  Bestimmungen  und  Gesetzen 
nicht  sicher  feststellen,  da  gerade  auf  diesem  Gebiet  die  geheimen  Ver- 
ordnungen des  Heiligen  Synods  und  des  Ministers  des  Innern  bestehn,  von 
denen  Senator  Tagantzew  in  seiner  Einführung  zum  Strafgesetz  spricht. 
Infolgedessen  sei  auf  eine  im  Jahre  1892  in  deutscher  Sprache  ei-schieneno 
Schrift:  „Das  pohiisch-rassische  Staatskirchenrecht"'  hingewiesen.  Sie  ent- 
hält eine  Fülle  von  Bestätigungen  der  Beobachtimgen,  die  Avir  selbst  in 
der  Lage  waren  anzustellen,  sucht  aber  die  katholischen  Priester  vom  Vor- 
wurf, revolutionär  zu  sein,  zu  reinigen.  Die  Schrift  ist  in  der  Absicht  ge- 
schrieben, die  russische  Regierung  herabzusetzen.^) 

Der  Zweck  aller  der  erwähnten  Voi'schriftcn  schien  sich  anfänglich 
weniger  gegen  die  Glaubensregeln  der  Kirche  als  gegen  die  einzelnen 
Geistlichen  imd  Orden  zu  richten.'-)  deren  politisches  Treiben  den  be- 
gründeten Verdacht  zuließ,  sie  seien  an  der  national-polnischen  Bewegung 


4.  der  Vollziehiuig  der  Trauung  eines  Andersgläubigen  mit  einem  anerkanntermaßen 
Rechtgläubigen,  bevor  sie  von  einem  rechtgläubigen  Priester  getraut  sind. 

werden  beshaft  mit  einer  Geldstrafe  nicht  über  300  Rubel. 

Außerdem  ist  der  der  Übertretung  des  Punktes  1  Schuldige  für  die  Zeit  von  drei 
Monaten  bis  zu  einem  Jahr  vom  Amt  zu  entfernen,  im  Falle  der  "Wiederholung  aber  für 
die  Zeit  von  einem  bis  zu  drei  Jahien  oder  auch  für  immer;  bei  der  Wiederholung  der 
in  Punkt  2  und  3  envälmten  Vergehn  für  die  Zeit  von  drei  Monaten  bis  zu  einem  Jahr; 
und  bei  Wiederholung  der  in  Punkt  4  erwähnten  Vergehn  für  die  Zeit  von  drei  bis  sechs 
Monaten." 

(Anmerkung  zu  ..anerkanntennaßen''.  Tagantzew  erläutert  —  a.  a.  0.  S.  175  — 
,iUnter  einem  anerkanntermaßen  Rechtgläubigen  ist  eine  solche  Pei-son  zu  vei-stehn,  die 
ihi'en  Stjmdespapieren  gemäß  als  rechtgläubig  bezeichnet  ist  oder  im  orthodoxen  Glauben 
getauft  und  erzogen  werden  mußte.") 

§  94  desselben  Kodex:  .,GeistUche  andersgläubiger  christlicher  Bekenntnisse,  die 
schuldig  sind: 

1.  der  Vollziehung  der  Trauimg  eines  Andersgläubigen  mit  einem  anerkanntermaßen 
Rechtgläubigen,  falls  späterhin  die  Trauung  nach  rechtgläubigem  Ritus  nicht  vollzogen 
wurde ; 

2.  der  Vollziehmig  der  Trauung  vou  anerkannteimaßen  rechtgläubigen  Personen 
werden  bestraft  mit  einer  Geldstrafe  nicht  über  500  Rubel. 

Außerdem  ist  der  Schuldige  für  die  Zeit  von  di"ei  Monaten  bis  zu  einem  Jalir  und 
im  Falle  der  Wiederholimg  für  die  Zeit  von  einem  bis  drei  Jahren  oder  auch  für  immer 
vom  Amt  zu  entfernen.'- 

»)  Verlag  des  Kuiyer  Posuanski,  2.  Aufl.,  Posen,  1902. 

■-")  Wenigstens  im  Zartimi  Polen  (s.  Reinke  a.  a.  0.  S.  141),  wo  der  Heilige  Sj-nod 
ei-st  in  1880er  Jahien  energisch  eingriff.  In  Weißrußland  richtete  sich  die  griechisch- 
katholische Propaganda  direkt  gegen  die  römische  Lehre,  die  infolge  des  polnischen  Auf- 
stands sowie  durch  die  Anhänghchkeit  der  katholischen  (ieistlichen  an  den  polnischen 
Großgrundbesitz  im  Zusammenhang  nüt  der  das  niedere  Volk  einschüchternden  Tätigkeit 
Murawjows  an  vielen  Orten  vonlbergehend  in  Mißkredit  geraten  war.  (Siehe  G.  Ja.  Kipri- 
janowitsch,  ,.Das  Leben  Joseph  Ssemaschkos,  Metropolit  von  Litauen  und  Wilna".  2.  Aufl., 
Wilna,  1897^  S.  458/66.) 


A.  Die  Stellung  der  römisch-katholischen  Kirche  93 


persönlich  beteiligt.  Die  Reorganisation  der  Vorwaltung  bei  der  katholischen 
Kirche  war  eine  logisch  notwendige  Folge  des  politischen  Teils  der  Bauern- 
gesetze vom  19.  Februar  1864.  Als  Diener  des  gutsheiTlichen  Patronats 
bildeten  die  römisch-katholischen  Geistlichen  das  Bindeglied  zwischen  dem 
Grundherrn  und  dem  zinspfh"chtigen  Bauern.  Als  der  Bauer  dem  Einfluß 
des  adligen  Patrons  entzogen  worden  war,  mußte  auch  dessen  Vertiauens- 
mann,  der  Geistliche,  isoliert  werden,  sollte  das  Gesetz  von  praktischem 
Wert  bleiben.^) 

Freilich,  der  Kenner  der  Anschauungen  Tolstojs  (siehe  S.  85)  mußte 
sich  eingestehn,  daß  neben  dem  angedeuteten  Ziel  auch  der  Wunsch  ging, 
die  römische  Lehre  als  solche  bei  der  Bevölkerung  in  Mißkredit  zu  bringen. 
Wie  sehr  Tolstoj  und  später  auch  der  Sjmod  gegen  die  Kirchenlehre 
arbeiteten,  ergibt  sich  aus  der  Form,  wie  das  Unfehlbarkeitsdogma  ausge- 
nutzt wurde, ^)    und  wie  die  katholischen  Kirchen  nach    Möglichkeit  der 


')  Reinke,  a.  a.  0.  S.  140/41.  ,.Die  Reform  der  Lage  der  Weltgeistlichen  hatte  u.  a. 
auch  den  Zweck ,  die  Abhängigkeit  tier  römisch-kathohschen  Geistlichkeit  von  der  Regierung 
zu  vergrößern.  (Siehe  Ukas  vom  14.  Dezember  1865.)  Darum  wurden  auch  die  Vermögen 
der  Kirche,  die  beiläufig  im  Jahre  1864  an  barem  Kapital  3612663  Rubel  betrugen,  vom 
Staat  in  Verwaltimg  genommen.  —  Die  Wahl  und  Bestätigung  der  Geistlichen,  die  früher 
bei  den  Patronatsinhabern  lag,  wurde  anfänglich  dem  Minister  des  Innern  und  1893  dem 
Generalgouvemeur  von  Warschau  übertragen." 

2)  Im  Lnmediatbericht  des  Oberprokiu-eurs  des  Heiligen  Sjmods  vom  Jahre  1870  heißt 
es  auf  S.  6  und  7  wörtHch: 

„Das  römische  Papsttum,  das  durch  seine  Herrschsucht  vor  zehn  Jahrhunderten  das 
Schisma  in  die  ökumenische  Kirche  hineingetragen  hatte  sowie  nach  und  nach  eine  ganze 
Reihe  von  Neuerungen  und  Iri-tümern  ausgedacht  hat,  scheint  sich  damit  nicht  zu  be- 
gnügen ;  es  hat  sich  schüeßlich  erkühnt,  ein  Prinzip  aufzustellen  und  sich  zur  Richtschnur 
zu  nehmen,  auf  Grund  dessen  es  unbehindert  jede  Art  von  Irrtum  in  Sachen  des  Glaubens 
und  christlicher  Tätigkeit  heiligen  und  als  unwiderlegbare  Wahrheit  erklären  kann.  In 
seinem  Bestreben,  das  Papsttum  zur  äußersten  Macht  zu  erheben,  ist  Papst  Pius  IX.  bis 
zu  solcher  Verblendimg  gelangt,  daß  er  selbst  davor  nicht  zurückschreckte,  sich  über  die 
Menschheit  zu  stellen  und  sich  und  seinen  Nacbfolgern  eine  Eigenschaft  anzumessen  ,  che 
der  menschlichen  Natur  nicht  eignet.  Auf  dem  von  ihm  zusammenberufnen  pseudo- 
ökumenischen Konzil  hat  er  sich  im  Angesicht  der  ganzen  Welt  feierhch  als  unfehlbar 
in  Sachen  des  Glaubens  imd  der  Moral  erklärt  und  den  pseudoökumenischen  Beschluß  zu 
einem  Dogina  der  römischen  Kirche  erhoben.  Diese  in  direktem  Widerspruch  mit  der 
göttUchen  Lehre  stehende  und  selbst  mit  dem  Geist  des  Christentums  und  mit  dem  ge- 
sunden Menschenverstand  imvereiubare  Neuerung  niußte  das  Gewissen  vieler  aufrichtiger 
Gläubigen  und  bis  daliin  dem  Papsttum  ergebner  ^Vjiliänger  des  römischen  Katholizismus 
empören.  Unwillkürlich  mußten  sie  ihre  Blicke  auf  unsre  wahrhaft  kathohsche  und  aposto- 
lisch-rechtgläubige Kirche  richten,  die  die  Reinheit  der  vom  Heiland  verkündeten  und  von 
den  Aposteln  verbreiteten  Glaubenslehre  unverbrüchUch  erlialten  hat  —  auf  unsre  Kirche, 
bei  der  keine  menschliche  Autorität  auf  dieselbe  Stufe  mit  der  ökumenischen  Wahrheit 
gestellt  wird,  die  keine  Ausprüelie  auf  äußere  Größe  und  Macht  erhebt,  und  die  der 
Gläubigen  Herz  und  Geist  nicht  durch  neu  ausgeklügelte  und  nach  menschlicher  Willkür 
eingeführte  Lehren  vergewaltigi.'- 


94  Fünftes  Kapitel.   Kirche  und  Geistlichkeit 

Mittel  zu  ihrer  Instandhaltung  beraubt  wurden.^)  Anfang  der  1880er 
Jahre  kam  es  dann  zu  offnem  Kampf,  in  dem  die  römisch-katholische, 
national-polnische  Geistlichkeit  wieder  die  Initiative  ergriff.*) 

B.  Die  Tätigkeit  der  russischen  Kirche 

„Im  Reichsgebiet  hat  allein  die  herrschende  griechisch-katholische 
Kirche  das  Recht,  andern  OlaubensheJcenntnissen  anhängende  Christen 
und,  Andersgläubige  zur  Annahme  ihrer  Glaubenslehre  zu  überreden. 
Geistlichen  ebenso  tvie  weltlichen  Perso7ie7i  dm'  andern  christlichen 
Glaubensbelcenntnisse  und  Andersgläubigen  unrd  strengstens  verboten,  Be- 
kehrungsve7-suche  an  nicht  zu  ihrer  Religion  gehöretiden  zu  unternehmen ; 
im  entgegengesetzten  Falle  würden  sie  sich  den  im  Strafgesetz  vorgesehenen 
Strafen  aussetzen.''^) 

Diese  Bestimmung  rechtfertigt  das  Auftreten  der  russischen  Geistlichkeit 
in  den  Westprovinzen  und  im  "Weichselgebiet.  Denn  nachdem  jene  Pro- 
vinzen dem  russischen  Reiche  einverleibt  waren,  widersprach  es  nicht  mehr 
den  Tiaditionen *)  der  orthodoxen  Kirche  und  der  Staatsgewalt,  den  nach 


^)  So  entschied  der  Senat  sub  56  am  23.  Februar  1899,  daß  Majorate,  die  in 
russischen  Besitz  übergegangen  waren,  sich  an  der  Instandhaltung  der  zu  ihnen  gehörigen 
römisch- katholischen  Kirchen  nicht  zu  beteihgen  haben.  (Baron  .\.  Nolken,  Senatsent- 
scheidungen und  ErläuteiTingen  von  1894  bis  1901,  St.  Petei-sburg,  Senatsdruckerei,  1902, 
S.  509  ff.) 

-)  Bericht  Pobjedonostzews  an  den  Zaren  über  die  Zu.stände  im  Westgebiet  im 
Jahre  1884,  St.  Petersburg,  Druckerei  des  Heiligen  Synod,  1886,  S.  100.  —  Im  Jahre  1884 
gab  es  unter  den  Uniaten  ira  Gouvernement  Sjedlec  bereits  2365  sogenannte  ,.Krakauer", 
d.  h.  von  Jesuiten  in  Galizien  einge.segnete  Ehen,  die  zur  Kenntnis  der  Behörden  gelangt 
waren. 

')  Art.  1  des  Bd.  XI,  Teil  1  der  Gesetzsammlung  und  gleichzeitig  Ai-t.  40  der  Staats- 
giimdgesetze. 

*)  Siehe  auch  Manifest  Petei-s  des  Großen  vom  16.  April  1702,  Punkt  2.  —  In  gleichem 
Sinne  sprechen  sich  die  russischen  Kirchenrechtler  aus: 

1.  Professor  M.  Krasnoslion.  ,.Die  Stellung  der  nicht  rechtgläubigen  Christen  in  der 
i-ussischen  Gesetzgebung^'.  Druck  Mattiessen,  Dorpat,  S.  2/3.  ,.Das  Verhalten  der  rassischen 
Staatsgewalt  gegenüber  den  Andersgläubigen  wird  während  der  ganzen  Geschichte  des 
russischen  Staats  durch  zwei  Prinzipien  gekennzeichnet:  Schutz  der  hen-schenden  recht- 
gläubigen Kirche  von  der  einen  Seite  und  völlige  Glaubensduldung  für  die  Andersgläubigen, 
in  deren  innere  kirchliche  Angelegenheiten  der  Staat  sich  nicht  einmischt  .  .  ."  S.  13: 
„.  .  .  das  Proselytentum  wird  nicht  gut  geheißen,  dennoch  darf  die  Staatsgewalt  nicht  gleich- 
mütig Versuchen  gegenübei-stehn,  die  darauf  ausgehn,  Rechtgläubige  zum  Austritt  aus  ihrer 
Kirche  zu  veranlassen.'' 

2.  Graf  D.  I.  Tolstoj,  „Der  römische  Katholizismus  in  Rußland",  St.  Petersburg,  1873, 
Bd.  1,  S.  73:  „.  .  .  die  russische  Geistlichkeit  hat  Andersgläubige  nicht  mit  Gewalt  in  ihre 
Kirche  gezogen,  sondeni  nur  solche  aufgenommen,  die  aus  Überzeugiuig  in  sie  eintraten, 
hat  sich  auch  nicht  wie  die  katholische  Jahrhunderte  hindurch  mit  Propagandainstitutionen 
ausgerüstet;  dafür  aber  hat  sie  immer  verständig  imd  mit  lebendigem  Eifer  ihre  Herde 
vor  der  Verirrung  und  vor  Abfall  behütet.  .  .  .■'     (Diese  Darstellung  wäre  tatsächlich  zu- 


B.  Die  Tätigkeit  der  russischen  Kirche  95 


ihrer  Auffassung  wahren  christHchen  Glauben  bei  den  pobiischeu,  litauischen, 
lettischen,  deutschen  usw.  Untertanen  des  Zaren  einzuführen.  (Vgl.  S.  17 
bis  19.)  Die  russische  Kirche  führt  somit  innerhalb  des  Keichs  emen 
offnen  Kampf  gegen  die  fremden  Bekenntnisse.  Soweit  es  sich  um  die 
römisch-katholische  Kirche  handelt,  soll  er  hierunter,  gestützt  auf  das  amt- 
liche Material  des  Heihgen  Synods,  kurz  dargestellt  werden. 

1.  I>ie  Organisation  der  russischen  KircJie 

Die  Diözesen,  in  denen  sich  der  Kampf  gegen  die  römisch-katholische 
Kirche  hauptsächlich  abspielt,  sind  die  Ton  Litauen  (Wilna),  Mohilew,  Minsk, 
Wolynien,  Podolien,  Kijew  und  Cholm -Warschau.  An  der  Spitze  jeder 
Diözese  steht  ein  Bischof,  Erzbischof  oder  Metropoüt  mit  einem  Konsistorium. 
Gewöhnlich  ist  der  oberste  Geistliche  die  Seele  der  Rassifizierung  in  dem 
seinen  Sprengel  bildenden  Verwaltungsgebiet,  und  die  weltlichen  Beamten 
haben  sich  seinen  Weisungen  zu  fügen.  Da  aber  die  russische  niedere 
Geistlichkeit  aus  vielen  hier  nicht  zu  erörternden  Gründen  bei  der  rus- 
sischen Bevölkerung,  geschweige  denn  bei  der  nichtrussischen,  keinerlei 
Achtung  genießt,  hält  die  oberste  Kirchenbehörde  schon  seit  1865  die 
Schaffung  von  Missionsgeselischaften,  Brüderschaften  und  Vormundschaften 
bei  den  einzelnen  Kirchengemeinden  für  das  beste  Mittel,  die  Wirksamkeit 
der  höchsten  Geistlichkeit  zu  verstärken.^)  Wie  weit  die  Absicht  durch  die 
guten  Erfolge  der  Jesuitenschulen  gestärkt  wurde,  möchten  wir  hier  nicht 
untersuchen. 

Ln  Jahre  1865  wurde  in  Moskau  die  Russische  Missionsgesellschaft 
gegründet.  Sie  erhält  sich  hauptsächlich  aus  Spenden,  bekommt  aber  auch 
staatliche  Zuschüsse.  Im  Jahre  1866  hatte  sie  1360  Mitglieder,  1872:  8300 
mit  22  Diözesankomitees  und  verfügte  über  ein  Kapital  von  308270  Rubel  ^); 
im  Jahre  1878  war  die  Zahl  der  Mitglieder  infolge  der  Abwesenheit  der 
Armee   auf   dem   türkischen    Kriegsschauplatz    auf   etwa   6300  Mitglieder 


treffend,  wenn  nicht  die  örtlichen  Polizeiorgane  mit  Gewalt  und  Bestechung  auf  Anders- 
gläubige wirkten,  um  sie  zum  Übertritt  in  die  griechisch-katholische  Kirche  zu  veranlassen. 
Besondeis  zahlreich  sind  die  Klagen  darüber  im  Anschluß  an  die  Niederwerfimg  des  pol- 
nischen Aufstandes  von  1830/31,  siehe  lüprijanowitsch,  a.  a.  0.  S.  461  ff.) 

3.  Professor  A.  S.  Pawlow,  „Lehrbuch  des  Kirchenrechts",  Swjato-Troitzkaja  Sser- 
gijewa  Lawra,  1902,  Darstellung  der  Reehtsquellen  der  nissischen  Kirche,  S.  184/86  und 
S.  527  ff.  (§  152):  „Wenn  nmi  die  nissischen  Staatsgesetze  eine  Sektenbildimg  innerhalb  der 
herrschenden  rechtgläubigen  Kirche  nicht  zulassen,  so  sind  in  Rußland  stets  in  größerem 
oder  geringerm  Maße  andre  Glaubensbekenntnisse  (christliche)  ausländischen  Ursprungs 
geduldet  gewesen." 

')  Iramediatbericht  des  Oberprokureurs  des  Heiligen  Synods  von  1866  S.  43  und  von 
1902  S.  191. 

*)  Ebenda  1872,  S.  37. 


96  Fünftes  Kapitel.    Kirche  und  GeLstlichkeit 

zurückgegangen,  um  im  Jahre  1879  in  29  Diözesen  wieder  auf  6731  zu 
steigen  —  bei  einem  Kapital  von  660661  Kübel.  ^)  Dann  hat  die  Zahl  der 
Mitglieder  beständig  zugenommen  und  ist  im  Jahre  1902  auf  18345  Mit- 
glieder gestiegen,-)  die  aber  meistens  Staatsbeamte  sind.  Im  Jahre  1902 
sind  von  der  Gesellschaft  über  350000  Rubel  für  Missionszwecke,  davon 
über  100000  Rubel  im  europäischen  Rußland  ausgegeben  worden.  3) 

Wir  mußten  von  der  Missionsgesellschaft  sprechen,  weil  sie  es  ist,  die 
die  Brüderschaften  in  den  westlichen  Provinzen  mit  solchen  Geldmitteln 
versorgt,  die  keiner  öffentlichen  Abrechnung  unterliegen. 

In  den  Westgouvernements  Kowno,  Wilna,  Grodno,  Mohilew,  Minsk, 
Wolynien,  Podolien  gab  es  im  Jahre  1883  und  später  fünf  solcher  Brüder- 
schaften.*) Haben  diese  Brüderschaften  vor  allen  Dingen  mit  den  ehe- 
maligen Uniierten  russischer,  litauischer  und  masurischer  Xatioualität  zu 
kämpfen,  so  haben  zwei  weitere  fast  ausschließlich  mit  den  polnischen 
Uniierten  innerhalb  des  Generalgouvernements  Warschau  zu  tun.  Sie  luiter- 
stehen  darum  auch  der  Cholm -Warschauer  Diözese.  Beide  wurden  im 
Jahre  1879  gegründet.'*) 

Zuerst  trat  die  Nikolaibrüderschaft  in  der  ehemaligen  Festung  Sarao§c 
an  der  galizischen  Grenze  ins  Leben.  Sie  gründete  eine  Schule  flu-  Kinder 
russischer  Bauern,  legte  eine  Buchhandlung  an  imd  verteilte  die  Geschenke 
russischer  Glaubenseiferer  an  die  ehemals  unierten  Gemeinden.*^) 

Am  8.  (20.)  September  1879  wurde  in  der  Kathedrale  zu  Cholm  die 
Brüderschaft  der  Heiligen  Muttergottes,  die  schon  im  Jalire  1617  be- 
standen hatte,  mit  großem  kirchlichem  Gepränge  eingeweiht.  Die  Brüder- 
schaft sorgt  für  die  Verbreitung  von  Bibeln  in  russischer  Sprache  sowie  von 
Büchern  und  Broschüren  religiösen  Inhalts ")  und  für  die  Ausschmückung 
der  orthodoxen  Kirchen. 

Neben  diesen  Brüdei-schaften  bestehn  im  Zartum  Polen  die  Kuratorien 
oder  Vormundschaften  bei  den  russischen  Kirchengemeinden.  Ihre  Zahl  ist 
in  der  Zeit  von  1871  bis  1895  auf  334  gestiegen,  ist  aber  im  Jahre  1902 


*)  Immediatbericlit  des  Oberprokiu-eui-s  des  Heiligen  Synods  von  1879,  S.  59. 

-j  Ebenda  1902,  S.  191.  —  •')  Ebenda  1902. 

*)  Lnmediatbericht  von  1883,  S.  99.  (Wilnaer  Brüderschaft  des  Heiligen  Geiste.«?, 
Kownoer  Nikolaus-Brüderschaft,  Kijewer  Wladimir-Brüdei-sehaft,  Joliannes-Bmdei"schjxft  m 
Kamenetz-Podolsk  und  die  Klosterbrüderschaft  in  Mohilew,  von  denen  jede  aus  den  Mitteln 
des  Heiligen  Synods  nicht  weniger  als  2.50  Rubel  jährlich  erhält.) 

^)  Ebenda  1879,  S.  106  bis  108. 

•^j  Tätigstes  Mitglied  Geheimrat  Batjuschko,  ebenda  von  1879,  S.  109. 

')  Solche  Schriften  waren:  1.  Die  Stadt  Cholm  und  ihre  ältesten  Heiligtümer;  2.  Das 
Ei-scheineu  des  wuuderwirkenden  Bildes  in  Leszno;  3.  Ein  Denkmal  der  rechtgläubigen  Kirche 
in  Lublin;  4.  Über  das  älteste  Vorhandensein  des  rechten  Glaubens  im  Weichselgebiet  und 
Galizien;  5.  Erlösende  Nahrung  für  alle  betend« 'U  Christen  (1883,  S.  97). 


B.  Die  Tätigkeit  der  russischen  Kirche  97 


auf  318  und  im  Jahre  1904  gar  auf  270  zurückgegangen.  Die  Vormund- 
schaften bestohn  aus  den  Priestern,  den  russischen  höchsten  Beamten  und 
rassischen  Lehrern  der  jeweihgen  Gemeinde.  Auch  sie  erhalten  ihre  Gehl- 
inittel  zu  einem  Teil  aus  der  oben  erwähnten  Missionsgesellschaft  wie  auch 
aus  freiwilligen  Spenden,  Ihre  jährlichen  Aufwendungen  eiTeichten  im 
Jahre  1882  mit  26400  Rubel  die  höchste  Zahl  und  betrugen  1902  und 
1904  etwa  17000  bis  18000  Rubel.  ^) 

„Mehr  aber  als  alle  Gesellschaften,  schrieb  Graf  Tolstoj,  leistet  die 
Bussische  Wohltätigkeitsgesellschaft." '^)  Sie  wurde  im  Jahre  1862  in  Form 
eines  Daraenzirkels  gegründet  und  darf  wohl  als  die  einzige  russische 
Vereinigung  betrachtet  werden,  die  im  Zartum  Polen  aus  dem  Bedürfnis 
der  dort  lebenden  russischen  Gesellschaft  entstanden  ist.  Ihr  Statut  wurde 
am  6.  Mai  1866  bestätigt,  und  schon  im  Jahre  1867  hatte  sie  ein  Ver- 
mögen von  16000  Rubel  und  387  Mitglieder,  darunter  den  Erzbischof  und 
den  Statthalter.  ^)  Die  Gesellschaft  hatte  bis  zum  Jahre  1872  schon  je  eine 
Filiale  in  Kjelce,  Petrikau  und  Lublin  eingerichtet  und  für  die  Einrichtung 
von  38  Kirchen  im  genannten  Jahre  13017  Rubel  ausgegeben.*)  Von  der 
Russischen  Wohltätigkeitsgesellschaft  wird  noch  an  andrer  Stelle  ein- 
gehender gesprochen  werden,  da  hier  ledighch  ihre  Stellung  zu  den  kirch- 
lichen Unternehmungen  in  Frage  kommt. 

2.  Vie  Aufgaben  der  Geistlichkeit  und  ihrer  Organe 

Die  praktischen  Aufgaben  der  russischen  Geistlichkeit  und  ihrer  Organe 
liegen  in  erster  Linie  in  der  Beaufsichtigung  der  römisch-katholischen  Pro- 
paganda oder,  wie  es  in  der  Amtssprache  heißt,  in  der  Behütung  der 
Rechtgläubigen  vor  schädlicher  Beeinflussung  durch  die  lateinische  Kirche^) 
imd  zweitens  in  der  endgiltigen  Unterwerfung  der  früher  unierten  Be- 
Avohner  unter  die  Oberhoheit  der  russisch-orthodoxen  Kirche.  Eine  prak- 
tische Missionstätigkeit  unter  den  römischen  Katholiken  des  Zartums  Polen 
ist  einstweilen  noch  nicht  in  das  Programm  der  russischen  Kirche  auf- 
genommen. 

Die  täglichen  Aufgaben  der  russischen  Geistlichkeit  werden  nach 
Tolstoj  und  Pobjedonostzew  am  besten  unterstützt  durch  materielle  Besser- 
stellung der  Geistlichkeit  im  Zartum  Polen,")  durch  die  Einrichtimg  von 

1)  Im  Jahre  1879  gab  es  in  Podolien  1148  Vormundschaften  mit  297133  Rubel 
Kapital,  in  Kijew  314  mit  46329  Rubel  (a.  a.  0.  von  1879,  S.  105/06). 

■')  Immediatbericht  des  Grafen  D.  I.  Tolstoj  von  1870,  S.  20. 

^)  Ebenda  von  1866,  S.  43.  —  *)  Ebenda  von  1870,  S.  27. 

^)  Zum  Beispiel  im  Immediatbericht  von  1870,  S.  100. 

'')  Durch  Ukas  vom  14.  Dezember  1866  wurden  die  Ausgaben  für  die  Geistlichkeit 
im  Zaiium  Polen  fast  verdoppelt. 

Cleiuow,  Die  Zukuuft  Polens  7 


98  Fünftes  Kapitel.    Kirche  und  Geistlichkeit 

Kirchenschulen,  Klöstern  und  diu*ch  den  Bau  von  Kirchen.  ^)  Die  Kirchen- 
schulen wurden  besonders  in  dem  sogenannten  Westgebiet  verbreitet,  im 
Zartum  Polen  ist  ihre  Zahl  nur  auf  31  gestiegen,^)  Avenn  man  nicht  alle 
dörflichen  Schulen,  in  denen  der  GeistHche  der  einzige  Lehrer  ist,  als 
Kirchenschulen  bezeichnen  will.  Im  Jahre  1902  sind  m  der  Statistik  des 
Heiligen  Synods  nur  noch  fünf  Kirchenschulen  aufgeführt,  üie  meisten 
dieser  Schulen  wurden  vom  Ministerium  für  Volksaufkläning  übernommen 
und  somit  der  geistlichen  Schulaufsicht  gewissermaßen  enti'ückt. 

Wie  wenig  der  gi-iecliische  Klerus  mit  dem  weltlichen  Einfluß  auf 
die  Volksschulen  einverstanden  ist,  geht  aus  einem  amtlichen  Schreiben 
(Nr.  260  vom  5.  April  1901,  geheim)  hervor,  das  der  bischöfliche  Schul- 
vorstand von  Slonim  an  den  (reistlichen  von  Dobromyßlj  gerichtet  hat.  In 
dem  Schreiben  heißt  es,  der  Oouverneur  von  Minsk  habe  genehmigt,  in 
seinem  Gebiet  Ministerialschiilen  einzurichten.  „Durch  diese  Verfügung 
wird  das  Recht  der  Geistlichkeit,  Schulen  zu  eröffnen,  geschmälert.  Sie 
ist  verletzend  für  die  Geistlichkeit,  aber  sie  kann  auch  selir  gef<ährlich  für 
die  rechtgläubige  Kirche  werden;  sie  ermöglicht  den  katholischen  Priestern 
den  Zutritt  zu  unsem  Gemeinden  als  Religionslehrer  der  katholischen 
Kinder  .  .  .  Wir  müssen  uns  der  Verfügung  mit  allen  Mitteln  widersetzen. 
Das  ist  unsre  Instruktion  von  oben  .  .  .  Ich  mache  Sie  ernsthaft  darauf 
aufmerksam,  daß,  wenn  es  zur  Eröffnung  einer  Ministerialschule  in  Ihier 
Gemeinde  kommen  sollte,  Sie  persönlich  dafür  verantwortlich  gemacht 
werden.  Gez.  Wladimir  Knominski.'"*)  Großer  Wert  wurde  auf  die  An- 
lage von  Frauenklöstern  gelegt,  deren  es  im  Jahre  1805  keins,  1902 
aber  vier  mit  260  Insassen  gab  (vgl.  auch  Tabelle  auf  S.  100).  U7iter  allen 
Klöstern  des  Westgehiets  ist  das  von  Ljesninsk,  etwa  acht  bis  zelm  Kilo- 
meter von  Bjela  im  Gouvernement  Sjedlec  gelegen,  der  wichtigste  Stütz- 
punkt der  orthodoxen  Kirche.  Es  wurde  im  Jahre  1885  von  der  Gräfin 
E.  B.  Jefimewskaja  als  Sclnvesterngemeinde  gegi'ündet  und  im  Jahre  1889 
zu  einem  wirklichen  Kloster  mit  37  Nonnen  erhoben.  Das  Kloster  hegt 
inmitten  sogenannter  standhafter  Uniatengemeinden,  die  unausgesetzten 
Verkehr  mit  den  Jesuiten  in  Galizien  unterhalten.  Die  Aufgabe  des 
Klosters  ist  vor  allen  Dingen,  die  weibliche  Bevölkerung  des  Gebiets  zu 
boarl)eiton.  Dazu  ist  eine  Mädchenschule  und  ein  Asyl  für  ^lädchen  ein- 
gerichtet, das  im  Jahre  1893  87  Kinder  beherbergte,*)  im  Jahre  1904  aber 


»)  Immediatbericht  von  1866,  S.  43  imd  von  1897,  S.  61.  —  •^)  Ln  Jahre  1871. 

•')  Die  Verantwortimg  für  die  Richtigkeit  des  Dokuments  trägt  der  Kanonikus  des 
Wihiaer  Kapitels,  Propst  K.  Majewski. 

*)  Pfarrer  I.  Fudel,  Unsre  Angelegenheiten  im  Westgebiot,  Moskau,  Univereitäts- 
druckerei,  1893,  S.  31 ;  ferner  Istcritscheslci  Wjestnik,  Dezember  1886,  S.  618. 


B.  Diö  Tätigkeit  der  rassischen  Kirche  99 


nur  einige  vierzig.  Das  Kloster  hat  einen  sein*  bedeutenden  Einfluß  auf 
die  örtliche  Verwaltung  genommen  und  ist  wiederholt  die  Veranlassung 
zu  strengern  Maßregeln  gegen  die  Uniaten  gewesen. 

Ebenso  eifrig  ist  man  auch  mit  dem  Bau  von  Kirchen  vorgegangen. 
Während  es  im  Jahre  1865  im  Zartum  Polen  nur  40  orthodoxe  Kirchen 
gab,  beträgt  ihre  Zahl  im  Jahre  1902  nicht  weniger  als  502  oder  auf 
810  Seelen  eine  Kirche!  Freilich  verhert  dieses  schöne  Bild,  wenn  wir 
bedenken,  daß  alle  Gotteshäuser  der  Uniaten  als  solche  der  orthodoxen 
Kirche  bezeichnet  werden.     Doch  davon  weiter  unten. 

Ti'otz  dieses  doch  gewiß  günstigen  Bildes  klagt  der  Heilige  Synod 
fortgesetzt  über  den  Mangsl  an  russischen  Kirchen.  „Bei  den  fortgesetzten 
Verhöhnungen,  schreibt  Pobjedonostzew,  denen  die  Russen  wegen  ihrer 
geringen  Zahl  von  Kirchen  seitens  der  Polen  und  Uniaten  ausgesetzt  sind, 
können  sie  sich  des  Gefühls  nicht  erwehren,  als  seien  sie  in  einem  Lande, 
in  dem  die  orthodoxe  Kirche  nicht  die  heiTschende  ist."^)  Tatsächlich 
sind  auch  die  meisten  nissischen  Kirchen  in  einem  traurigen  Zustande. 
Das  ist  aber  auch  nicht  anders  möglich,  da  das  für  sie  ausgeworfne  Geld 
besonders  ziu'  Amtszeit  Tolstojs  verzettelt  wui"de.  Damals  galt  es  vor  allen 
Dingen  mit  Zahlen  zu  prangen,  und  es  Avurden  Pfarren  eingerichtet,  ob- 
wohl keine  Gemeinden  vorhanden  waren.  ^)  Pobjedonostzew  hat  dai'in  teil- 
weise Wandel  geschafft.  Allein  im  Jahre  1884  wurden  in  den  Kreiseir 
Cholm  und  Sjodlec  zehn  solche  „Gemeinden''  aufgelöst.  Wo  aber  einige 
Russen  zusamraenwohnten,  erhielten  sie  Pfarren.  So  wurde  1887  in  Plonsk 
eine  Pfarre  eingerichtet,  die  den  Staat  jährlich  1780  Rubel  kostet,  obAvohl 
nur  280  rechtgläubige  Seelen  am  Orte  sind.^)  Die  wenigen  schönern 
Kirchen  im  W'eichselgebiet  sind  auf  Kosten  der  Grenzzollverwaltung ^) 
oder  von  deutschen  und  jüdischen  Kaufleuten  errichtet.'^)  Nur  die  neue 
Kathedrale  von  Warschau  und  die  1872  errichtete  von  Czenstochau^)  sind 
fast  vollständig  aus  Staatsmitteln  erbaut,   während   der  Dom  von  Chobn 


^)  Immediatbericht  von  1884,  S.  272. 

")  Diese  Auffassung  wird  auch  von  zwei  russischen  Geistlichen  für"  das  Nordwest- 
gebiet bestätigt.  Rußkoje  Obosrenije  von  1893,  Heft  2  bis  4,  von  A.  AVladimirow  und  in 
1.  Fudel,  Unsere  Angelegenheiten  im  Nordwestgebiet,  a.  a.  0. 

*)  Immediatbericht  von  1887,  S.  26,  vgl.  auch  Kapitel  über  Religionsunterricht. 

*)  In  "Wirballen-Kibartj',  Alexandrowo  usw. 

^)  In  Lodz  für  520  Seelen,  Immediatbericht  von  1884,  S.  39. 

*)  In  Czenstochau  ist  die  wundertätige  Schwarze  Muttergottes,  die  ebenso  wie  die 
in  Wilna  von  der  lateinischen  Kirche  der  russischen  gestohlen  sein  soll.  So  erklärt  sich 
der  Heilige  Synod  die  Tatsache,  daß  zu  den  Festtagen  des  Bildes  so  \\e\  Volks  aus  Weiß- 
rußland und  Podoüen  nach  Czenstochau  strömt.  Damit  diese  Rtissen  ein  eignes  Gottes- 
haus finden,  wurde  die  Kathedrale  gebaut.     (Immediatbericht  von  1872,  S.  59.) 


100 


Fünftes  Kapitel.    Kirche  und  Geistlichkeit 


und  der  von  Rawa  ehemals  römisch-katholischem  Gottesdienst  geweiht 
waren.  ^) 

Das  Ergebnis  der  Bemühungen  der  russischen  Kirchenbehörde  zeigt 
folgende  Tabelle. 

Im  Zartum  Polen  gab  es: 


in  den  Jahien 

Männerklöster 

Frauenklöster 

Mönche  usw 

Nonnen  

städtische  ... 

Kloster-     ... 
Kirchen  <  Gemeinde-      .     . 

Privat-  .... 

sonstige      .     .    . 
Weiße  Priester    .     .     .     .     , 
Rechtgläubige  Einwohner  . 


Proseh'ten 


Geistliche  Schulen     .     .     .     . 

Geisthche  Lehrer 

Geistliche  Schüler      .     .     .     . 

Kirchenschulen 

Schüler  darin 

Aufwendungen  für  Gemeinden 
Unterstützungsfonds  .  .  . 
KirchenbibUotheken  .  .  .  . 
Kirchliche  Vormundschaften  . 
Deren  Ausgaben  für  Schulen  . 
Ergebnis  der  Sammhmgon 
Neue  Kirchen 


1865 
1 

25 

2 

1 

26 

9 

4 

156 

32893 

(175) ») 

214 

1 

6 

24 

17 

324 


? 
.727 


1871 
1 

26 


1879 
1 

24 


1882 
1 

32 


•> 

4 

12 

1-2 

1 

1 

10 

16 

.42  33 

[57 

298  302 

415  312 

472  320 

14 

20 

27 

26 

7 

88 

111 

128 

161 

42669 

(289) 

332 

1 

8 

29 

31 

805 

70113 

1803 

22 

13 

10831 

14173 


334235-^ 

(451) 

517 

2 

16 

79 

2 

82 

487988 

3308 

20 
19700 
21554 


807 

353410 

(271) 

321 

2 

14 

142 

3 

66 

494234 

56 

20 
26400 
35100 

10 


1895 
1 
2 
45 
99 
12 
10 
12 
27 
11 
815 
426230 

(-) 

239 

3 

33 

486 


350100 

8350 

230 

344«) 

14840 


476 


1902 

1 
4 

46 
260 

1-2 

16 
320 

26 
128 
851 
039 
(237) 
295 


502 


35 
473 
5 
222 
566900  Ruh. 
5100  „ 
306 
318 
17400  Rub. 

1" 
13 


Damit  ist  freilich  das  wahre  Ergebnis  der  Tätigkeit  der  russischen 
Geistlichkeit  nicht  gekennzeichnet,  sondern  nur  der  Umfang  und  die  Kosten 
des  angewandten  Apparats.  Das  wahre  Ergebnis  soll  in  dem  Kapitel  gezeigt 
werden,  in  dem  der  Kampf  der  Geistlichkeit  beider  Bekenutnisso  gegen- 
einander dargestellt  wird. 


')  Immediatbericht  von  1870,  S.  15. 

■^)  Das  ist  nach  der  „"Wiedervereinigung"  der  polnischen  üniaten  mit  der  ortho- 
doxen Kirche. 

*)  Aus  der  römischen  Kirche.  —  *)  9  neue  wurden  geschlossen. 


C@^^^ 


Sechstes  Kapitel 
Das  mssisclie  Element  im  Zartum 

Es  wurde  in  den  voraufgegangneu  beiden  Kapiteln  versucht,  den  groß- 
artigen Apparat  darzustellen,  den  die  russische  Kegierung  aufgewandt  hat, 
ura  das  Herzogtum  Polen  in  das  russische  "Weichselgebiet  umzuwandeln 
oder,  um  mit  Miljutin  zu  sprechen,  die  Gouvernements  des  Zartums  Polen 
organisch  mit  den  übrigen  des  russischen  Reichs  zu  verbinden.  Sollte  die 
Arbeit  den  ihr  zugedachten  Zweck  erfüllen,  dann  mußte  auch  das  rassische 
Element  im  Zartum  vergrößert  werden.  Tatsächlich  hat  die  Regierung 
keine  durchgreifenden  Maßregeln  in  dieser  Richtung,  wie  es  zum  Beispiel 
die  Ansiediung  russischer  Bauern  gewesen  wäre,  ergriffen.  Sie  hat  es 
vielmehr  hauptsächlich  der  Zeit  und  den  Umständen  überlassen,  die  Zahl 
der  russischen  Bevölkerung  zu  vermelu'en.  Die  wenigen  Maßnahmen  zui- 
Vergrößerung  der  russischen  Bevölkerung,  die  auf  dem  Gebiete  der  Yer- 
waltungstechnik  zu  finden  sind  oder  in  der  Schaffung  russischer  Majorate 
bestehn,  werden  wir  kennen  lernen. 

A.  Die  russische  Bevölkerung  im  Weichselgebiet 

Die  russische  Bevölkerung  im  Zartum  Polen  ist  einzuteilen  in  die 
Beamten,  die  die  Absichten  der  Regierung  an  Ort  und  Stelle  durchzuführen 
haben,  und  in  die  Kreise  der  russischen  Gesellschaft,  die  private  Interessen 
in  die  Gouvernements  des  Zartums  führen.  Wenden  avü'  uns  zunächst 
der  zweiten  Kategorie  zu,  so  bemerken  wii"  mit  Staunen,  daß  es  eine  solche 
Kategorie  nicht  zu  geben  scheint.^)  In  den  Städten  finden  wir  zwar 
Moskauer  Firmen,  aber  dahinter  stehn  polnische,  deutsche  oder  jüdische 
Verwalter,  sehr  selten  Russen.  Es  ist  gewiß  keine  Übertreibung,  wenn 
wir  angeben,  daß  mit  Ausnahme  von  einigen  Getreidehändlern  und  Unter- 
nehmern für  militärische  Bauten  überhaupt  kein  russisches  Bürgertum  in 


*)  G.  A.  Jewreinow  bestätigt  meine  Behauptung,  indem  er  schreibt  .,.  .  .  unser 
kultureller  imd  wirtschaftlicher  Einfloß  fehlt  im  Zai'tum  Polen  vollständig  .  .  .•'  pie 
Autonomie  des  Zartums  Polen,  St.  Petersburg,  1906.) 


102  Sechstes  Kapitel.    Das  rassisclie  Element  im  Zaiium 

Polen  zu  finden  ist.  Die  92173  Eussen,  tUe  die  amtliche  Statistik  für 
1904  in  den  Städten  führt,  sind  Avohl  ausschließlich  auf  die  Beamten  und 
deren  Familien  zu  verteilen,  während  unter  den  30 16G  Russen  in  Flecken 
auch  Fabrikarbeiter  sein  dürften.  In  allen  Fabiiken  des  Zartums  gibt 
es  nur  46  russische  Direktoren  und  39  russische  Meister,^)  dagegen  habe 
ich  in  verschiednen  Betrieben  bemerkt,  daß  gewisse  Arbeiten  nicht  von 
Polen  und  Juden,  sondern  fast  ausschließlich  vou  Russen  vemchtet 
werden.  ^) 

1.  Die  Untaten 

Amtlich  werden  die  sogenannten  Uniaten  der  Gouvernements  Lublin 
imd  Sjedlec  ziu*  russischen  Bevölkerung  gezählt.  Mit  welchem  Recht,  soll 
hier  gleich  gezeigt  werden.  Sie  kommen  für  die  Russifizierimg  nicht  in 
Fi'age,  da  sie  womöglich  immer  noch  mit  größerer  Erbitterung  auf  die  "Ver- 
treter der  russischen  Regierung  blickten  als  die  Polen  selbst,  und  es  be- 
darf bis  in  die  j  üngste  Zeit  hinein  großer  Anstrengungen  und  Aufwendungen 
von  Macht  und  Geld,  um  die  Uniaten  wenigstens  äußerlich  zur  Unter- 
ordnung unter  die  Bestimmungen  des  Heiligen  Synods  zu  zwingen  (vgl. 
Kapitel  5  B).  Eine  lehrreiche  ßestätigimg  dieser  Auffassung  gibt  uns 
die  amtliche  Statistik.  Am  1.  Januar  1905  wurden  im  Zartum  Polen 
angegeben  585  296  griechische  und  8  500  000  römische  Katholiken.  Am 
1.  Januar  1906  gibt  es  dagegen  nur  486943  griechische,  aber  8644150 
römische  Katholiken.  Wie  ist  die  Verschiebung  möglich  ?  Dieselbe  Statistik 
lenkt  uns  auf  den  richtigen  Weg,  indem  sie  ims  sagt,  daß  sich  allein  die 
ländliche  Bevölkerung  griechisch-katholischen  Glaubens  im  genannten  Jahre 
um  88100  Menschen  verringert  habe.  Das  Gros  der  russischen  ländlichen 
Bevölkerung  lebt  aber,  wie  gesagt,  in  Lublin  und  Sjedlec.  Dort  stellt  sie  20 
und  21  Prozent  der  Gesamtbevölkerung  dar.  Eine  Epidemie  oder  besonders 
starke  Auswanderung  hat  in  dem  Gebiet  nicht  stattgefunden.  Wohl  aber 
wurde  am  17.  (30.)  April  1905  das  Manifest  erlassen,  das  jedem  russischen 
Untertan  völlige  Glaubensfreiheit  verkündet^)  Unter  Berücksichtigung  der 
seinerzeit  in  der  Presse  veröffentlichten  Tatsachen  dari  gefolgert  werden, 
daß  obige  88100  Menschen,  um  die  sich  die  russische  ländliche  Bevölkerung 


^)  Arbeiten  des  "\IS'arschauer  Statistischen  Komitees  von  1907,  Heft  XXIX,  S.  99. 

*)  So  wird  das  Reinigen  von  Borsten  in  Wolkowyski ,  Mariampol,  Preny  im  Gou- 
vernement Ssuwalki  fast  ausschließlich  von  Küssen  aus  dem  Gouveniement  Tschemigow 
besorgt,  woher  die  Borsten  stammen.  Leiter  imd  Aufseher  bei  diesen  Betrieben  sind  aus- 
schließlich Juden.  Im  Gouvernement  Petrikau  sind  verhältnismäßig  viel  Russen  als  Berg- 
ai'beiter  beschäftig-t.  In  den  Stahlwerken  und  Maschinenfabriken  sind  Russen  vorwiegend 
als  Schwarzai'beiter  zu  finden. 

')  Ai'beiten  des  Warschauer  Statistischen  Komitees  von  1907.  Heft  XXVII, 
S.  27  und  88. 


A.  Die  russische  Bevöliienmg  im  Weichselgebiet  103 

Polens  von  1905  auf  1906  verringert  hat,  aussclüießlich  auf  Uniaten  zu  ver- 
rechnen sind,  die  zur  römischen  Kirche  übertraten.^)  Audi  die  Protokolle 
der  Kommission  zur  Vorbereitung  eines  allrussischen  Kirchenkonzils  be- 
stätigen unsre  Ansicht.  Allein  in  der  Diözese  Cholm,  heißt  es  dort  auf 
Seite  286  des  zweiten  Bandes,  sind  nach  dem  erwähnten  Glaubenserlaß 
gegen  80000  standhafte  Uniaten  zur  lateinischen  Kirche  übergetreten. 

Noch  deutlicher  wird  die  Tatsache  bei  Betrachtung  der  Zahlen  für 
die  beiden  Gouvernements  Lublin  und  Sjedlec,  in  denen  die  russische  Be- 
völkerung von  20,19  auf  18,91  Prozent  und  von  21,59  auf  13,44  Prozent 
zurückgegangen  ist,  während  die  römisch-katholische  von  62,39  auf  64,52  Pro- 
zent imd  von  60,3  auf  68,18  Prozent  stieg.  ^) 

Somit  können  wir  die  russischen  Uniaten  als  russifizierendes  Element 
ausscheiden.  Das  sind  aber  allein  für  Lublin  und  Sjedlec  rund  430000  Ein- 
wohner, die  in  der  Statistik  als  Russen  geführt  werden.  In  der  russischen 
Regierung  gibt  es  auch  genug  Vertreter,  die  solche  Auffassung  teilen,  wie 
aus  den  seit  1865  wiederholt  aufgetauchten  hierunter  noch  näher  zu  er- 
läuternden Plänen  zu  ersehen  ist,  die  auf  eine  Abtrennung  der  Bezirke 
mit  unierter  Bevölkerung  aus  dem  Generalgouvernement  Warschau  aus- 
gehn.  Von  den  585000  für  1905  angegebnen  Russen  bleiben  somit  nur 
etwa  155000  bestehn.")  Ein  sehr  kleiner  Teil  davon  fällt  auf  russische 
Großgrundbesitzer. 

2,   Kttssisclie  Grossgrundbesitzer 

Die  russische  Regierung  hat  zweimal  energische  Anstrengungen  ge- 
macht, unter  den  Großgrundbesitz  in  Polen  das  russische  Element  zu  ver- 
pflanzen. Das  erstemal  nach  dem  Aufstande  von  1830/31  und  das  zweite- 
mal im  Jahre  1864.  Doch  ist  sie  in  der  Wahl  ihres  Mittels  unglücklich 
gewesen.  Sie  hat  im  ganzen  etwa  370000  Deßjatinen  im  Weichselgebiet 
gelegnen  Landes  an  Beamte  und  Offiziere  verteilt,  die  sich  bei  der  Unter- 
werfung der  Aufstände  und  Durchführung  der  russifizierenden  Refonnen 


*)  In  Städten  und  Flecken  lionuiien  neben  Uniaten  aucli  Juden  in  Fi'agt',  die  sich 
während  der  Herrschaft  Gurkos  hatten  taufen  lassen,  da  ihnen  die  Regiemng  dafür  zwischen 
5  bis  80  Rubel  zahlte.  Nach  Erlaß  des  Glaubensmanifestes  sind  die  meisten  dieser 
Gläubigen  wieder  zum  mosaischen  Glauben  zurückgekehrt.  Genaue  Daten  werden  eret 
jetzt  durch  die  Regierung  gesanunelt,  da  sie  gegen  die  Abtrünnigen  vorzugehn  be- 
absichtigt. 

2)  Arbeiten  des  Warechauer  Statistischen  Komitees  von  1906,  Heft  XXVI,  S.  70 
bis  73.   Leider  fehlen  genaue  Daten  über  die  speziell  von  den  Uniaten  bewohnten  Kreise. 

*)  Hier  sei  aus  eigner  Beobachtung  der  irmern  Verhältnisse  hinzugefügt,  daß  die 
Uniaten  im  Chohner  Land  neben  ihrem  stark  polonisierten  nithenischen  Dialekt  fast  aus- 
schließlich Polnisch  und  fast  gar  nicht  Russisch  sprechen.  Im  Cholm  er  Land  kommt  der 
Reisende  überall  leicht  mit  Polnisch  dui'ch,  aber  nur  sehr  schwer  mit  Russisch. 


104  Sechstes  Kapitel.    Das  russische  Element  im  Zarümi 

verdient  gemacht  haben.  Solche  Männer  waren  unter  andern  im  Jahre  1867: 
W.  M.  Markus,  N.  0.  Nabokow,  Baron  Gerschan,  D.  W.  Gotowtzew,  G.  I. 
Tschistelin;  im  Jahre  1869:  "W.  M.  Mengden  in  Tula,  A.  I.  Neratow  in  Kasan, 
W.  D.  Filossofew  in  Pskow  usw.  Zuletzt  —  im  Jahre  1892  etwa  —  ^^'urde 
W.  F.  Trepow,  der  sich  als  Generalgouverneur  von  Petersburg  im  Jahre  1905 
bekannt  gemacht  hatte,  mit  einem  Majorat  im  Gouvernement  Lublin  be- 
dacht. Die  Verleihungen  hatten  für  die  Russifiziening  keinen  praktischen 
Erfolg;  denn  im  Jahre  1893  lebten  nur  38  von  etwa  200  Majoratsbesitzem 
auf  den  ihnen  geschenkten  Gütern.^)  Im  Jahre  1905  waren  314886  Deß- 
jatinen  oder  3,1  Pi'ozent  der  Fläche  Majoratsbesitz.-) 

Schon  die  Verleihung  der  Güter  an  Pei*sonen  in  so  hoher  dienstlicher 
Stellung  mußte  eigentlich  jede  Hoffnung  ausschließen,  daß  sich  die  Be- 
sitzer persönlich  auf  ihren  Gutem  niederlassen  würden.  Xach  Erreichung 
einer  gewissen  Stellung  im  Staatsdienst  den  Abschied  zu  nehmen  und  sich 
in  einem  fi'emden  Lande  unter  gesellschaftlich  ungünstigen  Verhältnissen 
mit  Landwdrtschaft  zu  beschäftigen,  lediglich  um  in  diesem  Gebiet  eine 
russische  Gesellschaft  zu  schaffen,  erscheint  ims  als  ein  Opfer,  das  kaum 
jemand  auferlegt  werden  dürfte.  Und  in  der  Tat,  die  Majoratsinhaber 
haben  nicht  nur  dieses  Opfer  nicht  gebracht,  sondern  sind  sogar  in  den 
meisten  Fällen  auch  der  einzigen  ihnen  auferlegten  Verpflichtung  aus  dem 
Wege  gegangen.  Die  Verpflichtung  bestand  darin,  das  erhaltne  Land  nicht 
zu  vei'pachten,  sondern  in  eigner  Wirtschaft,  wenn  auch  nicht  persönlich, 
so  doch  durch  einen  Verwalter  zu  führen.  Tatsächlich  befinden  sich  aber 
fast  alle  Majorate  in  Pacht,  und  zwar  ausschließlich  in  den  Händen  der 
eingasessenen  Bevölkerung  —  der  Polen  oder  der  Juden.  Um  die  Pacht- 
beschränkung zu  umgehn,  wurde  ein  sehr  einfacher  Kunstgriff  angewandt 
Die  Güter  wurden  nicht  veipachtet,  sondern  an  eine  durch  jährlich  zahl- 
bare Kaution  sichergestellte  Verwaltiuig  übergeben.  Der  Pseudoverwalter 
vei-pflichtet  sich,  alljährlich  aus  dem  Gut  eine  bei  Abschluß  des  Ver- 
trags festgesetzte  Smnme  für  Eechnung  des  Besitzers  herauszuwirtschaften, 
dabei  aber  die  Wirtschaft  auf  eigne  Unkosten  mit  eignem  Inventar  zu 
führen.  „In  einer  solchen  verbürgten  Administration  befanden  sich,  so 
schreibt  ein  sehr  gut  unterrichteter  Anonymus,  etwa  75  Prozent  aller 
Majorate  im  Gebiete  vom  Moment  der  Verleihung  an!  Li  den  übrigen 
führen  die  Besitzer  die  Wirtschaft  zwar  auf  eigne  Rechnung  und  Gefahr, 
aber  doch  mit  Hilfe  eingesessener  Elemente.  Und  es  konnte  ja  auch  kaum 
anders  sein:   denn  woher  soUten  sie  im  Weichselgebiet  einen  wenn  auch 


>)  Rußkaja  Staiina,  April  1893. 

*)  W.  W.  Jassipow,  Das  Weichselgebiet,  Warschau,  1907,  S.  31. 


A.  Die  iiissische  Bevölkenuig  im  "Weichselgebiet  105 

mir  mittelmäßigen  russischen  Verwalter  herbekommen,  wo  ein  solcher  selbst 
in  Rußland  eine  Seltenheit  ist!"^) 

Somit  fallen  die  mssischen  Majoratsbesitzer  im  Zartum  Polen  als 
Russifikatoren  ebenfalls  nicht  ins  Gewicht.  Keine  gi'ößere  Bedeutung 
hatten  für  die  Schaffung  eines  russischen  eingesessenen  Elements  die 
Ländereien,  die  gemäß  Ukas  vom  27.  Oktober  1864  der  römisch-katholischen 
Geistlichkeit  abgenommen  worden  waren  und  freihändig  an  Russen  ver- 
steigert wurden.  Der  Käufer  verpflichtete  sich  bei  Übernahme  des  Gutes, 
es  nur  an  Personen  orthodoxen  Glaubens  und  iiissischer  Herkunft  weiter 
zu  verkaufen  oder  zu  verpfänden.^) 

Ursprünglich  wurde  beabsichtigt,  aus  diesen  Ländereien  ebenfalls, 
etwa  dreihundert,  Majorate  zu  bilden.  Miljutin  wies  jedoch  darauf  hin, 
daß  sich  von  den  128  Personen,  denen  in  den  dreißiger  Jahren  Majorate 
verliehen  worden  Avaren,  nur  zwölf  am  Orte  niedergelassen  hätten,  die 
ihrerseits  wieder  zu  der  landeingesessenen  Bevölkerung  gehörten.-')  Li- 
folgedessen  Avurde  beschlossen,  die  Güter  imter  Vorzugsbedingungen  an 
russische  Beamte  zu  verkaufen,  um  auf  diese  Art  im  Lande  ein  seßhaftes 
russisches  Element  zu  schaffen.  Zu  diesem  Zwecke  wurden  die  am 
1.  Juli  1871  bestätigten  Regeln  ausgearbeitet,  auf  deren  Grundlage  die 
Kameralhöfe  im  Jahre  1873  die  erwähnten  Kirchengüter  meistbietend  zu 
versteigern  begannen. 

Es  waren  tatsächlich  Vorzugsbedingungen.  Denn  die  russischen  Käufer 
wurden  lediglich  verpflichtet,  ein  Zehntel  des  Kaufwertes  des  zu  erstehenden 
Gutes  anzuzahlen,  während  die  übrigen  neun  Zehntel  auf  42  Jahre  bei 
einer  Abzalilung  von  fünf  Prozent  verteilt  Avaren. 

„Die  Aussicht,  unter  derart  günstigen  Bedingimgen  Eigentümer  eines 
Gutes  zu  werden,  schreibt  W.  R.,  betörte  eine  große  Zahl  russischer  Be- 
amten des  Gebiets.  Ohne  irgendeine  Almung  von  der  Landwirtschaft  zu 
haben  und  ohne  zu  bedenken,  daß  diese  stets  mit  einem  bedeutenden 
Risiko  verbunden  ist,  scheuten  diese  Leute  sich  nicht  einmal  vor  voll- 
ständiger Abwesenheit  von  eignen  Barmitteln.  Vielfach  mußten  sie  auch 
das  zur  Anzahlung  notwendige  Zehntel  des  Wertes  des  Gutes  gegen  hohe 
Zinsen  leihen.  Nachdem  das  Geld  aufgetrieben  Avar,  begab  man  sich  auf 
die  Auktionen"  *)  in  der  Hoffnung,  aus  nichts  nicht  nur  etAvas,  sondern  sogar 


')  „Skizzeu  aus  dem  Weichselgebiet"  von  AV.  R.,  Moskau,  bei  W.  Tschitscheriu,  1897,  S.  335. 

-)  Hier  wxu'de  freilich  eine  Ausnahme  gemacht  zugunsten  der  lutherischen  Deutschen, 
die  sich  im  Staatsdienste  befanden. 

")  Einzelnen  Polen,  die  während  des  Aufstands  im  Jahre  1830  ihi-e  Ergebenheit  für 
den  mssischen  Thron  gezeigt  hatten,  waren  ebenfalls  Majorate  verliehen  worden. 

*)  W.  R.  a.  a.  0.  S.  336. 


106  Sechstes  Kapitel.    Das  russische  Element  im  Zartum 

viel  zu  schaffen.  Manche  von  ihnen  hielten  es  nicht  einmal  für  notwendig, 
die  von  ihnen  zu  erwerbenden  Güter  in  Augenschein  zu  nehmen.  Unter 
solchen  Vorbedingungen  konnten  die  Regierungsvertreter  tatsächlich  den 
Eindruck  gewinnen,  als  gingen  die  Auktionen  glänzend  vonstatten.  Die 
Güter  wurden  zu  Preisen  verkauft,  die  nicht  nur  den  tatsächlichen  AVert, 
sondern  auch  die  Schätzung  des  Fiskus  um  ein  bedeutendes  übertrafen. 
Auf  diese  Weise  wurden  im  Laufe  der  1870er  Jahre  392  Güter  mit  einem 
Gesamtareal  von  45800  Deßjatinen  bei  dem  hohen  Durchschnittspreise  von 
100  Rubel  die  Deßjatine  verkauft.  Der  Preis  entsprach  aus  verschiednen 
Gründen  nicht  dem  Werte  des  gekauften  Landes.  Der  erste  und  haupt- 
sächlichste Grund  war,  daß  die  Güter  von  der  Zeit  ihres  Übergangs 
an  den  Fiskus  bis  zum  Augenblick  ihres  Verkaufs,  das  heißt  im  Laufe 
von  acht  Jahren  in  jährliche  Pacht  vergeben  worden  waren.  Die  Pächter 
waren,  ■\^'ie  jeder  zeitweilige  Inhaber  eines  Besitztums,  bestrebt,  während 
der  kui-zen  Zeit  ihres  Wirtschaftens  möglichst  viel  aus  dem  Gute  heraus- 
zuholen, nicht  aber  seinen  ursprünglichen  Wert  zu  erlialten.  Daher  war 
das  Land  bis  zum  Äußersten  ausgesogen,  der  Acker  infolge  der  schlechten 
Bearbeitung  voller  Unkraut,  die  Wiesen  versumpft.  Auf  allen  diesen  Gütern 
fehlte  jedes  Inventar  und  auf  der  Mehrzahl  selbst  die  Gebäude,  denn  die 
vorhandnen  Gebäude  waren  während  der  Dauer  des  Besitztums  des  Fiskus 
nicht  ausgebessert  worden  und  daher  zerfallen.  Alles  das  veiringerte  die 
Ertragfähigkeit  der  Güter  einerseits,  andrereeits  aber  auch  deren  Wert  an 
und  für  sich.  Außerdem  gestattete  die  geringe  Größe  dieser  Güter,  etwa 
120  Deßjatinen,  ihren  Besitzern  nicht,  ausschließlich  von  den  Einnahmen 
der  Güter  zu  leben,  selbst  dann  nicht,  wenn  sämtliche  Einnahmen  ihnen 
zur  Verfügung  standen  und  nicht  für  Zinsenzahhmg  und  Schuldentilgung 
verbraucht  wurden;  häufig  reichten  die  Einnahmen  nicht  einmal  dafür 
aus.  Die  einzige  Existenzquelle  für  die  Käufer  dieser  Güter  blieb  nach 
wie  vor  der  Staatsdienst.  Daher  konnte  von  einer  persönlichen  Bewirt- 
schaftung keine  Rede  sein.  Die  geringe  Größe  der  Güter  gestattete  ihnen 
aber  auch  nicht  einmal,  die  Wirtschaft  durch  einen  Verwalter  zu  führen, 
da  die  Ausgaben  für  die  Verwaltung  den  größten  Teil  der  Einnahmen 
verschlungen  hätten.  Endlich  bildete  ein  weiteres  bedeutendes  Hindernis 
das  Fehlen  von  Barmitteln  bei  den  Besitzern  sowohl  zur  Beschaffung  des 
notwendigen  luventai's  wie  auch  für  Betriebskosten.  Auf  diese  Art  wurden 
die  Käufer  des  Kirchenlandes  durch  die  Macht  der  Verhältnisse  gezwungen, 
dieselbe  Form  der  Ausbeutung  anzuwenden,  wie  sie  bei  der  Mehrzahl  der 
Majoratsinhaber  in  Anwendung  war  —  die  Vei'pachtung  an  ortseingesessene 
Polen  und  Juden.  In  den  meisten  Fällen  deckt  aber  die  Pachtsumme 
kaum  die  Zahlungen  an  den  Fiskus  und  die  Steuern.    Daher  gestaltet  sich 


Ä.  Dio  i-ussische  Bevölkerung  im  Weichselgebiet  107 

die  Lage  dieser  Pseudogrundbesitzer  als  äußerst  wenig  beneidenswert,  es 
sei  denn,  daß  sie  die  ihnen  als  Beamten  zustehende  Gewalt  mißbrauchen,  um 
ihre  wirtschaftliche  Lage  günstiger  zu  gestalten. 

Dieser  zweite  Versuch,  im  Zartum  Polen  einen  russischen  Grund- 
besitz zu  schaffen,  blieb  somit  ebenso  erfolglos  wie  der  erste.  Wenn 
aber  ein  gewisser  Vorteil  für  die  russische  Sache  darin  zu  finden  ist, 
dann  war  es  der,  daß  die  russischen  Besitzer  ]\Iitglieder  der  Land- 
bank werden  konnten,  von  der  im  elften  Kapitel  eingehend  gesprochen 
werden  soll. 

Schließlich  muß  noch  einer  dritten  Art  von  russischen  Grundbesitzern 
im  Zartum  Polen  gedacht  werden,  die  zum  Unterschied  von  den  schon 
erwähnten  auf  ihren  Gütern  wohnen  und  dort  eine  eigne  "Wirtschaft  führen. 
Diese  Kategorie  besteht  ebenfalls  aus  fi'ühern  Beamten  des  Landes;  das 
ist  der  Teil  von  ihnen,  der  es  verstanden  hatte,  während  seiner  Dienstzeit 
auf  mehr  oder  w^eniger  zweifelhafte  Weise  ein  gewisses  Kapital  zusammen- 
zutragen. Der  erwähnte  Anonymus  charakterisiert  diese  Klasse  wie  folgt: 
„Das  sind  praktische  Leute.  Russen  kann  man  sie  nur  ihres  Ursprung-s 
wegen  nennen;  denn  tatsächlich  haben  sie  sich  schon  längst  mit  der  ein- 
heimischen Bevölkerung  verschmolzen,  die  sie  ihrerseits  verachtet.  Ihr 
sittliches  Niveau  ist  außerordentlich  niedrig.  Das  ist  im  vollsten  Sinne 
des  Wortes  —  der  Auswurf  des  russischen  Elements  im  Gebiet.  Das 
hindert  sie  indessen  nicht,  besondre  Aufmerksamkeiten  und  verschiedne 
Vergünstigungen  seitens  der  Lokalverwaltungen  für  sich  in  Anspruch  zu 
nehmen,  indem  sie  sich  überall  als  »Pioniere  der  russischen  Sache«  auf- 
spielen. Glücklicherweise  ist  die  Anzahl  solcher  Leute  aber  nur  gering."  ^) 
Die  Behauptung  unsere  Gewährsmannes  an  andi-er  Stelle,  daß  diese  Leute 
von  den  russischen  Behörden  nicht  berücksichtigt  würden,  ist  falsch.  Bei 
dem  im  allgemeinen  ablehnenden  Verhalten  der  russischen  Gesellschaft 
gegenüber  der  russischen  Politik  bilden  die  gekennzeichneten  Leute  den 
einzigen  Kreis,  auf  den  sich  die  Regienmg  stützen  kann.  Darum  tut  sie 
es  auch,  wie  die  Wahlen  für  die  dritte  Duma  in  Warschau,  Cholm  und 
Wilna  lehren. 

Zusammenfassend  können  wir  somit  feststellen,  daß  es  einen  rus- 
sischen Großgrundbesitz  im  Zartum  Polen  wohl  juridisch  gibt,  nicht 
aber  als  politischen  Faktor.  Die  Russen  aller  sozialen  Schichten  ex- 
ploitieren  ihren  polnischen  Besitz,  aber  sie  geben  dafür  dem  russischen 
Staat  nicht  das,  was  er  von  ihnen  erwartete:  sie  russifizieren  den  Besitz 
nicht. 


')  W.  E.  a.  u.  0.  S.  838. 


108  Sechstes  Kapitel.   Das  nissische  Element  im  Zartum 


B.  Die  Beamtenscliaft 

Nach  dein  Gesagten  bleibt  somit  füi-  die  Russifizierung  im  Zartiim 
Polen  selbst  ausschließlich  die  Beamtenschaft  und  vielleicht  das  Offizier- 
korps übrig.  Das  Offizierkoi-ps  wollen  wir  in  unsrer  Betrachtung  unbe- 
rücksichtigt lassen,  da  es  ausschließlich  durch  den  geselligen  Verkehr 
wirken  kann.  Wir  kennen  Regimenter  in  Warschau,  deren  Angehörige  zeit- 
Aveilig  in  den  besten  Familien  des  polnischen  Adels  verkehrten,  wie  sie 
es  von  St.  Petersburg  aus  gewöhnt  sind.  In  diesen  Kreisen  ist  Fi'anzösisch 
die  Umgangssprache,  und  man  hat  selbst  als  Deutscher  das  Gefühl,  sich 
auf  völlig  internationalem  Boden  zu  befinden.  Es  gibt  kaum  etwas  be- 
stechenderes, ja  selbst  bezaubernderes  als  diesen  Kreis  der  hohen  polnisch- 
russischen Aristokratie,  imd  die  wenigsten  russischen  Offiziere  vermögen 
sich  diesem  Einfluß  ziun  Vorteil  der  Polen  zu  entziehen  (vgl.  Massow). 
Für  füe  Linienregimenter  einschließlich  der  Artillerie  und  der  technischen 
Truppenteile  des  Weichselgebiets,  deren  Offizierkoi-ps  in  den  russischen 
Gouvernements  meist  als  liberal,  häufig  als  sozialistisch  angekränkelt  gelten, 
ti'ifft  dieses  Urteil  nicht  zu.  Die  leben,  von  ganz  vereinzelten  Ausnahmen 
abgesehen,  ein  völlig  abgeschlossenes  Dasein  und  treten  an  die  Öffentlich- 
keit wohl  nur,  wemi  sie  zur  Niederwerfung  von  Unruhen  befohlen  werden. 
Sie  kommen  somit  etwa  nur  in  dem  Sinne  Avie  die  Pohzei  für  die  Russi- 
fizierung in  Betracht.  Das  aber  um  so  mehr,  als  im  Zartum  Polen  aus- 
schließlich Russen  ihrer  Alilitärpflicht  genügen  dürfen,  während  die  Polen 
—  Offiziere  wie  Mannschaften  —  in  den  Gouvernements  des  Innern  oder 
in  Sibirien  Verwendung  finden. 

Anders  als  die  Stellung  der  verschiednen  Teile  des  Offizierkorps  ist 
die  der  Beamtenschaft.  Sie  steht  in  fortgesetzten  amtlichen  Beziehungen 
mit  allen  sozialen  Schichten  der  polnischen  Gesellschaft  und  iiat  die  die 
Russifizierung  anbahnenden  Bestimmimgen  der  Gesetzgebung  zu  handhaben. 
In  privatem  Verkehr  stehen  die  Verwaltiingsbeamten,  sofern  sie  ihren  Pflichten 
nachkommen  und  die  Russifizierung  betreiben,  mit  der  polnischen  Gesell- 
schaft nicht.  Wo  sie  aber  ihre  Amtspflicht  als  Russen  leicht  nehmen,  geraten 
sie  leicht  in  Abhängigkeit  von  der  polnischen  und  jüdischen  Gesellschaft, 
die  ihnen  in  dieser  Richtung  bereitwilligst  entgegenkommt  Ganz  allgemein 
betrachtet,  muß  somit  die  Stelliuig  der  russischen  Beamten  im  Zartmn 
Polen  als  außerordentlich  schwierig  bezeichnet  werden.  Aus  diesem  Grunde 
hat  die  Regierung  dem  Beamtenersatz  scheinbar  eine  ganz  besondre  Sorg- 
falt zugewandt  ^^  ^^  Beamtenersatz 

Alle  Beamten  des  Zartums  Polen  sollen  nach  MögHchkeit  Russen 
sein.     Doch    sind    Polen    nicht    prinzipiell    vom    Staatsdienst   im    Zartum 


B.  Die  Beamtenschaft  109 


ausgeschlossen.  ^)  Um  der  ersten  Forderung  gerecht  zu  werden,  bemüht  sich 
die  Regierung,  möglichst  viel  Personen  russischen  Ursprungs  2)  nach  Polen 
zu  ziehen.  Sie  glaubt  das  Ziel  zu  erreichen  durch  Gewährung  von  Sti- 
pendien'*) an  Russen,  die  in  Warschau  studieren,  sowie  durch  zahh'eiche 
Vergünstigungen  an  Beamte,  Lehrer  und  Universitätsprof essoreu ,  die  im 
Zartiun  Dienst  nehmen.*)  Solche  Vergünstigungen  sind:  erhöhte  Reise- 
gelder, schnellere  Steigerung  des  Gehalts,  Gewährung  von  Ortszulagen, 
höhere  Pensionen.^)  Als  die  Wai-schauer  Hauptschule  im  Jahre  1868  in 
eine  Universität  umgewandelt  wurde,  durften  russische  Inhaber  des  ersten 
auf  einer  russischen  Universität  erworbnen  Grades  (Doktor)  als  Dozenten 
in  Warschau  zugelassen  werden;  sie  brauchten  erst  nach  drei  Jahren  die 
Professorenprüfung  abzulegen.*)  Trotz  allen  diesen  materiellen  Vorzügen 
im  Dienst  ist  es  der  Regiermig  nie  möglich  gewesen,  ein  zuverlässiges  und 
in  sich  geschlossenes  Beamtenkorps,  wie  es  z,  B.  in  der  deutschen  Ostmark 
vorhanden  ist,  im  Zartum  zu  vereinen.  Infolgedessen  war  sie  genötigt, 
dem  Ermessen  der  höchsten  Beamten  weitesten  Spielraum  bei  der  Aus- 
wahl der  Beamten  zu  geben  und  auf  moralische  Qualifikation  selbst  beim 


^)  §  4  der  „Sammlung  von  Instruktionen  für  den  Staatsdienst"  (Gesetzsammlimg  Bd.  III, 
Ausgabe  1896/1902)  lautet:  „Vei-schiedenheit  des  Glaubens  oder  der  Nationalität  [wörtlich 
des  »Stammes«]  hindert  ...  am  Eintritt  in  den  Staatsdienst  nicht." 

§  21  ebenda.  Edelleute  des  Zartums  Polen  und  des  Großfüretentmus  Finnland  werden 
beim  Eintritt  in  den  nissischen  Staatsdienst  ebenso  anerkannt  wie  die  rassischen  Edel- 
leute. 

-)  Als  Personen  „russischen  Ui"sprung-s"  gelten  laut  Ukas  vom  16.  Janu;u'  1869  imd 
3.  Juli  1871  auch  griechisch-katholische  Galizier  „Russinen"  oder  „Ruthenen",  die  in  die 
russische  Unteiianschaft  traten.  Senatsentscheidimg  vom  8.  Dezember  1898.  Siehe  bei 
S.  F.  Stankewitsch,  „Sammlimg  von  Senatsentscheidungen  betreffend  die  aus  dem  Staats- 
dienst in  Polen  hervorgehenden  Vorrechte".  St,  Petersburg.  Verlag  S.  Fleitmann.  1899, 
S.  347,  Nr.  173. 

^)  §  75  der  Sammlung  von  Instruktionen  über  den  Staatsdienst  bestimmt,  daß  Sti- 
pendiaten des  Warschauer  Veterinäriustituts  beim  Eintritt  in  den  Staatsdienst  vor  den 
andern  Schüleni  zu  bevorzugen  seien,  dafür  aber  gehalten  sind,  für  jedes  Schuljahr  andert- 
halb Jahre  „nach  Anweisung  der  Behörde"  Dienst  zu  tun. 

*)  Erlaß  vom  80.  JuU  1867,  allerhöchst  bestätigtes  Gutachten  des  Reichsrats  vom 
18.  Juni  1886  und  vienmdviei'zig  Senatsentscheidungen  —  alle  nachzuprüfen  bei  Stanke- 
witsch a.  a.  0.  S.  323  ff.  Die  Erlasse  sind  laut  Ukas  vom  2.  November  1867  nicht  in  die 
Gesetzsammlung  aufgenommen.  Das  AVesen  der  Vergünstigiingen  ist  wiedergegeben  im  Hand- 
buch des  öff entheben  Rechts,  ..Das  Staatsrecht  des  russischen  Reiches",  Bd.  IV,  zweiter 
Halbband  von  Professor  Dr.  I.  Engelmann,  S.  225. 

")  Die  Pensionen  übersteigen  häufig  die  für-  die  gleichen  Dienststufen  im  Innern 
des  Reichs  ausgeworfnen  Gehälter. 

'^  Ukas  vom  16.  (28.)  Juli  1869.  Der  späte  Erlaß  dieses  Ukases  ist  als  ein  Zeichen 
aufzufassen,  wie  wenig  sich  die  i-ussischen  Professoi'en  beeilten,  an  der  Russifizieiimg  in 
Polen  praktisch  teilzunehmen. 


110  Sechstes  Kapitel.    Das  rassische  Element  im  Zartum 

Richterpersonal  zu  verzichten.^)  Die  Folge  der  zuletzt  genannten  Weit- 
herzigkeit war,  wie  wir  weiter  unten  sehen  Averden,  um  so  schwerer  Aviegend, 
als  die  Beibehaltung  des  Code  Napoleon  auch  die  Verwendimg  polnischer 
Richter  notwendig  machte.-) 

2.  Die  ntedeni  Beamten 

Besondere  schlimm  ist  es  unter  den  gekennzeichneten  allgemeinen  Ver- 
hältnissen um  die  Auswahl  der  niedern  Beamten  russischer  Herkunft  be- 
stellt. Ein  Russe,  der  dem  Generalgouvemeur  Gurko  sehr  nahe  gestanden 
hat,  sagt  über  sie:  „Von  der  Entfernung  der  Mehrzahl  von  ihnen  aus  dem 
Gebiet  könnte  die  russische  Sache  nur  gewinnen.'"^)  Es  handelt  sich  hier 
besonders  lun  die  niedern  Chargen,  die  in  den  Kreis-  und  Gouvernements- 
behördeu  mit  Gehältern  von  diu'chschnittlich  400  Rubel,  Maximum  600  Rubel, 
bisweilen  aber  auch  niu-  mit  180  und  sogar  150  Rubel  leben  sollen.  Die 
Lage  dieser  Leute  ist  um  so  schwerer,  als  sie  von  der  ihnen  feindlichen 
polnischen  und  jüdischen  Bevölkerung  niemals  eine  freiwillige  Unter- 
stützung erhoffen  können,  sei  es  auf  materiellem  oder  sittlichem  Gebiet; 
selbst  die  ihnen  im  Innern  des  Reichs  mögliche  Nebenbeschäftigung  muß 
im  Zartum  wegfallen  oder  ist  verbunden  mit  Vergehn  gegen  die  gesetz- 
lichen Vorschriften.  Unter  solchen  Umständen  gibt  es  keine  Möglichkeit, 
zu  diesen  Ämtern  einigermaßen  fähige  Leute  aus  dem  Reichsinneru  heran- 
zuziehen, geschweige  denn  anständige,  in  sittlicher  Beziehung  feste.  Solche 
finden  in  der  Heimatprovinz,  in  den  kernrussischen  (iouveniements  wenn 
auch  keine  besser  bezahlten,  so  doch  auch  keine  schlechtem  Anstellungen, 
und  infolge  ilu'er  Kenntnis  aller  Daseinsbedingungen,  infolge  der  peisön- 
lichen  Beziehungen,  die  sich  bei  jedem  Menschen  in  stammverwtuidter 
Gesellschaft  herausbilden,  ist  ihr  AYeiterkommen  sichrer  gestellt  als  in 
I'olen.  Infolgedessen  gibt  es  für  sie  keine  Gründe,  die  sie  veranlassen 
könnten,  eine  Dienststellung  in  der  Grenzmark  zu  suchen.  „Zu  den  niedern 
Posten  in  den  Grenzmarken,  schreibt  der  schon  öfter  erwälinte  Russe, 
streben  fast  ausschließlich  Personen,  die  jede  Hoffnung  auf  einen   selbst 


>)  §  201,  1  des  Geiichtsstatuts  (Gesetzsamrahmg  Bd.  XV7,  Teil  1,  Ausgabe  1892) 
laufet:  ,,Zu  Geiiehtsbeamteu  können  nicht  ernannt  werden:  Pei-sonen,  die  unter  Straf- 
verfolgung oder  unter  Gericht  stehn  wegen  Vergehen  oder  solcher  gesetzwidiiger  Hand- 
lungen, die  eine  Bestrafung  mit  Gefängnis  oder  strengern  Strafen  zur  Folge  haben  können; 
Personen,  die  durch  richterlichen  Sprach  wegen  solcher  Handlungen  verurteilt  wurden." 

§  1309,  1  ebenda.  „Der  §  201,  1  findet  keine  Anwendung  in  den  Gouvernements 
des  Gerichtsbezirks  "Warschau." 

■^)  Die  Gerichtshöfe  im  Zartum  Polen  setzen  sich  zur  Hälfte  aus  rassischen ,  zur 
andern  Hälfte  aus  polnischen  Eiichtern  zusammen.  Juden  sind  in  Kußland  zum  Richter- 
anit  nicht  zugelassen  (vgl.  S.  83). 

")  Skizzen  aus  dem  AVeiciiselgebiot  von  W.  E.,  S.  354. 


B.  Die  Beamtenschaft  W\ 


auch  ganz  geringfügigen  Verdienst  in  der  Heimat  verloren  iiaben."  ^)  Unter 
Umständen  kommen  auch  ordentliche  Leute  aus  den  russischen  Gouverne- 
ments in  die  Kanzleien  Polens.  Das  sind  gewöhnlich  solche,  die  ihren 
bisherigen  Chefs,  Gouverneuren  und  Vizegouverneuren,  Staatsanwälten 
und  Schuldirektoren  folgen,  weil  die  ihnen  für  ein  hohes  Reisegeld  und 
baldige  Rückkehr  an  russische  Orte  bürgen.^) 

Aus  allen  diesen  Gründen  setzt  sich  die  niedere  Beamtenschaft  russischer 
Herkunft  aus  Elementen  zusammen,  die  eine  nur  sehr  mangelhafte  Schul- 
bildung genossen  haben  und  die  jedes  moralischen  Halts  entbehren.  Die 
unerfreulichsten  Züge  treten  bei  ihnen  zutage:  Gewissenlosigkeit  in  der 
Erfüllung  ihrer  Dienstpflichten,  Trunksucht,  kleinliche  Bestechlichkeit  auf 
der  einen  Seite  und  würdelose  Preisgabe  ihrer  nationalrussischen  Aufgaben 
auf  der  andern. 

Trotz  der  Anspruchslosigkeit  der  Regierung  bezüglicli  der  Wahl  der 
Beamten  ist  es  ihr  nie  möglich  gewesen,  alle  Stellen  durch  Russen  zu 
besetzen.  Wir  sprechen  hier  nicht  von  Briefti'ägern  nnd  Telegraphen- 
beamten;  sie  sind  zum  allergrößten  Teil  polnischer  Nationalität  und  be- 
dienen sich  niu*  gezwungen  der  nissischen  Sprache.  Auch  ein  großer 
Teil  der  Polizeiorgane,  die  Schreiber  in  den  Gouvernements  und  Kreis- 
kanzleien, das  Bureaupersonal  bei  den  Gerichten  —  sie  alle  sind  vorwiegend 
polnischer  Abstammung,  seltner  litauischer  nnd  noch  seltner  russischer. 
Bis  zum  Jahre  1874  gelang  es  nicht  weniger  als  22  550  russische  Beamte 
anzustellen,  die  zusammen  etwa  8030000  Rubel  an  Gehältern  bezogen 
und  sich  auf  die  verschiedneu  Behörden  wie  folgt  verteilten:  Generalgou- 
vernement 41,  Gouverneure  10,  Gouvernementsverwaltungen  468,  Vizo- 
gouverneure  10,  städtische  Polizei  680,  Landpolizei  2923,  Zensur  14, 
Bauernkommissionen  220,  Medizinalabteilung  227,  Quarantäne  36,  Ge- 
fängnisverwaltung 395,  Post  583,  Telegraph  490,  Verkehrswege  104, 
Zollbehörde  6023,  Accise  487,  Rentei  410,  Kameralhof  354,  Kontrollhof  118, 
Bergbau  108,  Domänen  2003,  Schulwesen  3560,  Staatsanwaltschaft  59, 
Gericht  1600,  Wohlfahrt  26  Angestellte.     (Posnanski  S.  4L) 

Die  Zahl  hat  sich  nicht  vergrößert,  soll  sogai"  nach  verschiednen 
übereinstimmenden  Mitteilungen  um  ein  Drittel  zurückgegangen  sein,  nach- 
dem sich  russisch  sprechende  Polen  iu  viele  Stellen  gedrängt  haben. 

Die  notwendige  Folge  dieser  Tatsache  war  und  ist,  daß  die  pohiischo 
Sprache  wieder  ganz  allmählich  in  die  Regierungsbehörden  eingedrungen 
ist,  da  sich  die  russisch  sprechenden  Polen  im  Verkehr  mit  ihren  Lands- 


»)  W.  R.  a.  a.  0.  S.  355. 

-j  Die  Gouverneure  nehmen  gewöhnlich  bei  Versetzungen  auch  im  Innern  dos  Reichs 
ihren  Kimzleichef  und  zwei  bis  drei  von  dessen  Geliilfen  mit. 


112  Sechstes  Kapitel.   Das  rassische  Element  im  Zartiim 


leuten  ausschließlich  der  Muttersprache  bedienten.  "Während  uni  das 
Jahr  1870  herum  die  Polen  Russisch  lernten,  um  ihren  privaten  Ange- 
legenheiten gerecht  werden  zu  können,  lernten  im  Jahre  1895  die  russischen 
Beamten  Polnisch,  um  nicht  ganz  verraten  inmitten  ihrer  polnischen  Um- 
gebung dazustelm. 

C.  Die  Oberbeamten 

Die  Oberbeamten  im  Zartum  Polen  müssen  wir  uns  ganz  allgemein 
danach  einteilen,  ob  sie  auf  Grund  eines  Universitätsstudiums  in  die  ver- 
schiednen  Zweige  des  Verwaltungs-,  Gerichts-  und  Schuldienstes  einge- 
treten sind  oder  auf  Grund  pei-sönlicher  Eigenschaften,  ohne  Rücksicht 
auf  Vorbildung  und  fi'ühere  Laufbahn.  So  finden  wir,  daß  viele  höhere 
Venvaltungsposten  im  Zartum,  wie  Generalgouvemeure,*)  Generalpolizei- 
meister, Polizeimeister  von  Warschau,  Gouverneure,  daß  ein  großer  Teil 
der  Vizegouverneui'e,^)  daß  schließlich  fast  alle  Kreischefs  bisher  durch 
ehemalige  Offiziere  besetzt  worden  sind,  und  daß  die  Regierung  auch  an 
die  Spitze  des  Schulwesens  und  der  StaatsauAvaltschaft  Pereonen  aus  der 
Militärkarriere  zu  stellen  liebt.  Es  sei  hingewiesen  auf  den  Kurator  des 
Lehrbezii'ks,  Apuchtin,  der  seiner  Ausbildung  nach  Militärtopograph  war, 
sowie  auf  eine  Reihe  höherer  Richter,  die  aus  der  Militäijustiz  über- 
nommen wurden.  Der  einleuchtende  Grund  für  solche  Tatsachen  liegt  in 
dem  Wunsch  der  Regierung,  ohne  Bedenken  gehorchende  Männer  zu  ihrer 
Verfügung  zu  haben  —  Männer,  die  gewolint  sind,  der  strategischen  Sicher- 
heit des  Landes  alles  zu  opfern,  eiusciiließlich  Gesetzlichkeit  und  Recht. 
Das  Prinzip,  in  allen  Westprovinzen  die  militärische  Sicherheit  in  den 
Vordergrund  zu  schieben,  wurde  gegen  Finnland  und  gegen  die  Ostsee- 
provinzen und  Litauen  in  gleicher  Weise  angewandt  wie  im  Zartum  Polen. 
Es  hat  manche  Härte,  manche  politische  Unklugheit  und  in  deren  Folge 
einen  guten  Teil  der  Demoralisation  hervorgerufen,  der  wir  gerade  unter 


')  Die  Generalgouvemeure  waren: 

1.  Graf  Feodor  Berg  von  1863  bis  1874. 

2.  Graf  Pawel  Jewstafifewitsch  Kotzebue  1874  bis  1880. 

3.  Peter  Pawlowitsch  Albedinski  1880  bis  1883. 

4.  Joseph  Wladimirowitsch  Gui-ko  1883  bis  1894. 

5.  Graf  Peter  Andrejewitsch  Schuwalow  1894  bis  1897. 

6.  Fürst  Alexander  Konstantinowitsch  Imeretinski  1897  bis  1900. 

7.  Michail  Iwanowitsch  Tschertkow  1900  bis  1905. 

8.  Konstantin  Klawdjewitsch  Maximowitsch  Juni  bis  August  190'>. 

9.  Georgij  Antono  witsch  Scalon  August  1905. 

"-)  Im  Jahre  1897  hatten  von  den  zehn  Gouverneuren  des  Zartums  ihre  Laufbalin 
begonnen  als:  Juristen  3,  im  Geistlichen  Seminar  1,  als  Offiziere  6.  Im  Jahre  1904 
waren  acht  Gouvemeure  aus  dem  Offiziei-stande  hervorgegangen.  Alle  Polizeimeister  von 
1S63  bis  1904  waren  Offiziere. 


C.  Die  Oberbeamten  113 


der  Beamtenschaft  der  westlichen  Grenzgebiete  weit  mehr  begegnen  als 
irgendwo  im  Innern  des  Reichs.  Wir  können  somit  nicht  die  einzelne 
beamtete  Persönliclikeit  dafür  verantwortlich  machen,  sondern  müssen  uns 
an  das  System  halten,  das  dem  freien  Ermessen  des  einzelnen  einen  so 
großen  Spielraum  gewährt,  daß  er  den  Maßstab  für  Recht  und  Unrecht 
geradezu  verlieren  muß. 

Aus  der  angegebnen  Innern  Zweiteilung  der  Beamtenschaft  im  Zartum 
ergab  sich  von  vornherein  die  Bildung  von  zwei  Lagern,  die  dauernd  imd 
in  immer  heftiger  werdendem  Maße  gegeneinander  aufti-aten:  das  Militär- 
lager und  das  der  Justiz. 

1.  Die  Beamten  der  ßeformpeHode 

Solange  Miljutin  die  Leitung  der  Innern  Politik  im  Zartum  Polen  in 
der  Hand  hatte,  kam  der  Zwiespalt  nach  übereinstimmenden  ]\Iitteilungeu 
aus  beiden  Lagern  nicht  zur  Geltung.  Die  Gerichtshöfe  waren  noch  aus- 
schließlich mit  Polen  besetzt,  und  in  ihnen  wurde  nach  altem  polnischem 
Gesetz  Recht  gesprochen.  Die  rassischen  Beamten  aber  hatten  die  Pflicht, 
die  bestehenden  Gesetze  und  Einrichtungen  durch  neue  abzulösen.  Infolge- 
dessen wurde  der  Richter  bis  zur  Einführung  der  Reform  von  1874  kaum 
beachtet.  Im  tägKchen  Leben  trug  die  Gesetzesverletzung  mehr  den 
Charakter  des  im  höchsten  Staatsinteresse  notwendigen  Kriegsbrauches  als 
den  der  "Willkür,  wenn  auch  sehr  viel  Willkür  mit  unterlief.  Aber  im  Ver- 
hältnis zu  den  gToßen  zu  lösenden  Aufgaben,  die  den  Polen  an  und  für 
sich  schon  als  Um-echt  erscheinen  mußten,  kamen  die  kleinen  Spitzbübereien 
gar  nicht  zur  Geltung,  und  vor  allen  Dmgen  hatten  die  obersten  Beamten 
an  ihnen  keinen  Teil.  Ihre  Zusammensetzung  war  verhältnismäßig  gut 
ausgewählt.  Die  großen  ideal  aufgefaßten  Aufgaben  im  Zartiun,  die  An- 
wesenheit der  in  Kapitel  3  erwähnten  Regierungskommissionen  in  War- 
schau, und  wohl  nicht  zuletzt  der  geringe  Widerstand  seitens  der  ge- 
schwächten Polen,  deren  nationale  Gefühle  (vgl.  S.  69  Anmerkung  4)  nach 
Möglichkeit  geschont  wurden,  alles  das  rief  gut  vorgebildete  und  geistig 
hochstehende  Beamte  zum  Dienst  ins  Zartum  Polen.  Viele  spätere  Minister 
und  hohe  Würdenträger  haben  sich  zwischen  1864  und  1874  im  Zartum 
Polen  die  Sporen  verdient.  Es  seien  nur  genannt  die  spätern  Minister 
Nabokow,  Goremykiu,  Plehwe,  die  Senatoren  Worontzow-Weljaminow,  Popow, 
die  beiden  Markus,  Velio,  von  Hübbenet,  Baron  Mengden  als  Präsident  der 
Landbank,  Peü'ow,  Anastaßjew,  Anutschin,  Kamitzki,  Legio,  Lukjanow,  Gube, 
Malkowski,  Baron  Modem,  Neratow,  Pertzow,  Tucholka,  Jurenjew,  Arßenjew, 
Boshowski,  Golitzyn,  Annenkow,  Anopow  und  noch  mancher  andre,  der  später 
als  Gouverneur  eines  der  polnischen  Gouvernements  wieder  auftaucht. 

Cleinow,  Die  Zukunft  Polens  g 


114  Sechstes  Kapitel.    Das  russische  Element  im  Zartum 

"Wenn  bis  zum  Jahre  1872  etwa  ein  Antagonismus  innerhalb  der  Be- 
amtenschaft bestand  und  zum  Dui'chbruch  kam,  so  lag  es  an  der  vielfach 
beobachteten  Besetzung  der  schwierigsten  und  darum  gut  bezahlten  Posten 
durch  Leute  nichtrussischer  Herkunft.  Statthalter  war  der  Deutsche  Graf 
F.  F.  Berg/)  Leiter  der  Schulreform  der  Lette  F.  F.  Witte  (vgl.  S.  69),  dessen 
Kanzleichef  Huber,  Schulinspektoren  Avenarius  und  Baron  Fredericks, 
Oberzensor  ein  getaufter  Jude  Schreier,  die  Maßnahmen  gegen  die  katlio- 
lischen  Klöster  führte  Graf  Oppermann,  Ehrenvormund  der  adlichen  Mädchen- 
schule war  der  Grieche  Fundukley.  ^)  Die  hohen  Militärchargen  waren  voll 
von  Deutschen. 

Entsprechend  der  Verteilung  der  Russifizierungsarbeit  zu  Lebzeiten 
Miljutins  spielten  neben  dem  Militär  die  verhältnismäßig  wenigen  Beamten 
des  Lehrbezirks  die  gi'ößte  Rolle  in  der  russischen  Gesellschaft,  obwohl  sie 
bezüglich  ihres  Personenstandes  nur  geringes  Vertrauen  einflößten.  So 
schreibt  Avenarius:  „Ich  könnte  viel  von  allen  möglichen  Lehrern  erzählen, 
die  gekommen  waren,  in  Polen  Aufklärung  zu  verbreiten,  die  aber  nur 
Rußland  schändeten."^) 

Wie  es  mit  der  Einigkeit  selbst  unter  den  höchsten  Beamten  stand, 
lehrt  ein  scheinbar  unbedeutender  Fall.  Im  Januar  1872  traf  in  Warschau 
die  Nachricht  ein,  Miljutin  sei  unheilbar  erki'ankt.  Der  Erzbischof  von 
Warschau,  Joanniki,  fi-agt  beim  Grafen  Berg  an,  ob  er  einen  Bittgottes- 
dienst für  den  Kranken  abhalten  soll.  Graf  Berg  verbietet  es.*)  Für  die 
Russen  des  Zartums  Avar  dies  das  Zeichen,  daß  eine  Änderimg  des  Systems 
bevorstand.  „Heimlich  und  vorsichtig  begannen  die  Freunde  Miljutins  ins 
gegenseitige  Lager  überzugelm,  schreibt  Avenarius,  .  .  .  das  System  wurde 
seinem  Schicksal  überlassen.  Mit  leichtem  Herzen  gingen  die  ausführenden 
Organe  vom  divide  et  impera  Miljutins  zur  Versöhnungspolitik  und  dann 
ziu'  Russifizierung  über  .  .  .  ti*aurig  und  eklig  die  von  mir  beobachteten 
Metamorphosen!"  Das  schreibt  ein  Mann,  der  von  1864  bis  1885,  also 
fast  zweiundzwanzig  Jahre  Inspektor  der  adlichen  Mädchenschule  in 
Wai'schau  war.^) 

In  Petersburg  gelangte  die  Richtung  Katkows  und  mit  ihr  Graf  Tolstoj 
zu  immer  größerer  Bedeutung.  Das  bedeutete  schärfere  Russifizierung  in 
den  Schulen  mid  Nichtachtung  des  Rechtsstandpunkts.  Die  dem  Deutschtum 
freundlich  gesinnten  Slawjanophilen  wurden  durch  die  deutschfeindlichen 


')  Angaben  bei  N.  W.  Berg,  Rußkaja  Starina.  bei  Avenarius  im  Istoritscheski  "Wjestnik 
von  1904,  Bd.  96,  S.  423  ff. 

-)  Angaben  ebenda  S.  426  ff. 

")  Avenarius  a.  a.  0.  S.  440.  —  ")  Ebenda,  S.  428.  —  ^)  Ebenda.  S.  429. 


C.  Die  Oberbeamten  "  115 


Panslawisten  mit  steigendem  Erfolg  zurückgedrängt.  Der  Justizminister 
Graf  Pahlen  war  ein  hinfälliger  Greis  geworden,  der  der  reaktionären 
Welle  keinen  Widerstand  zu  leisten  vermochte.  Die  Verhältnisse  wirkten 
naturgemäß  auf  die  Stimmimg  in  der  Beamtenschaft  des  Zartums  zurück, 
Die  Gerichte  fanden  immer  geringere  Beachtung,  da  alles  auf  administra- 
tivem Wege  entschieden  wurde,  und  sie  verloren  vollends  alle  Autorität, 
als  tlie  Einführung  der  Gerichtsstatuten  von  1864  im  Zartum  Polen  be- 
schlossene Sache  wurde. 

2,  Michter  und  Professoren 

]\Iit  Einführung  des  Gerichtsstatuts  von  1864  in  das  Zartum  Polen 
im  Jahre  1876  trat  in  die  russische  Beamtenschaft  des  Weichselgebiets 
ein  neues  Element:  die  russischen  Richter.  Um  die  Bedeutung  dieser 
Tatsache  recht  zu  verstehn,  müssen  wir  uns  daran  erinnern,  daß  der 
Richterstand  auch  in  den  Gouvernements  des  innern  Rußlands  in  ständiger 
Feindschaft  mit  den  Verwaltungsbeamten  lebt.  Der  russische  Richter  ist 
liberal  und  darum  geneigt,  jede  Kritik,  die  an  den  Behörden  geübt  wird, 
vor  dem  Forum  der  Gerichte  zuzulassen.  Er  betrachtet  seit  1864  die  Ge- 
richte als  die  einzige  Stelle,  wo  nach  Lage  der  Dinge  im  Reiche  der 
russische  Bürger  offen  seine  Klagen  gegen  die  Bureauki'atie  vorbringen 
kami.  Dabei  ist  er  aber  genau  so  im  Formahsmus  befangen  wie  die 
Bureaukratie,  und  wenn  irgendwo  in  der  Welt  das  fiat  justitia,  pereat 
mundus  gilt,  dann  ist  es  in  Rußland.  Weiter  müssen  wir  uns  daran  er- 
innern, wie  in  den  1870er  Jahren  die  Nihilisten  und  Narodniki  zu  immer 
gi'ößerer  Bedeutimg  gelangten,  und  daß  sich  Richter  gefunden  haben,  die 
Mörder  freisprachen,  nur  weil  diese  aus  politischen,  durch  die  Verhältnisse 
in  Rußland  erklärlichen  Motiven  gehandelt  hatten.  Alles  dieses  zusammen- 
genommen sicherte  der  Mehrzalil  der  nach  Polen  kommenden  russischen 
Richter  bei  den  Verwaltungsbeamten,  die,  wie  schon  erwähnt,  zumeist 
juristisch  nicht  vorgebildet  waren,  einen  kühlen  Empfang.  Die  Autorität 
der  Richter  wurde  auch  in  den  Augen  der  Verwaltungsbeamten  herab- 
gesetzt durch  ihre  nur  bedingte  Unabsetzbarkeit  (vgl.  S.  82)  wie  auch 
durch  den  fliegenden  Gerichtsstand  der  römisch-katholischen  Geistlichkeit 
wie  durch  die  Abhängigkeit  der  Präsidenten  der  Friedensrichterversamm- 
lungen. Die  Folge  dieser  Lage  des  Richterstandes  war,  daß,  durch  die 
hohe  Bezahlung  angelockt,  aus  dem  Innern  des  Reichs  zweifelhafte  Elemente 
nach  Polen  kamen,  auch  solche,  die  als  unwürdig  erkannt  waren,  im  Reiche 
das   Richteramt  zu  versehen.^)    Für  die  höhern  Gerichtsstellen  tiifft  der 


»)  Vgl.  S.  HO  Anm.  1  §  1309. 


1X6  Sechstes  Kapitel.    Das  russische  Element  im  Zailum 

Justizminister  gewöhnlich  die  Auswahl  persönhch,  und  die  Wahl  gilt  als 
eine  besondre  Ehrung  für  den  Ausgewählten,  i) 

Über  die  Stellung  der  russischen  Richter  im  Weichselgebiet  Wcährend 
der  Jahre  1879  bis  1885  entnehmen  wir  den  Erinneningen  des  Präsidenten 
des  Bezirksgerichts  von  Plock,  Herrn  S.  Rajewskd,  einige  interessante  Einzel- 
heiten. Als  er  sich  im  Jahre  1879  dem  ältesten  Vorsitzenden  der  War- 
schauer Gerichtspalata,  N.  N.  Gerhardt,  vorstellte,  meinte  dieser,  die  (xerichts- 
reform  in  Polen  habe  schon  ihren  Honigmond  weit  hinter  sich.  „Freudig 
begrüßt  durch  den  besten  Teil  der  Beamtenschaft  und  der  örtlichen  Be- 
völkerung, schreibt  Rajewski,  sollte  die  neue  Gerichtsordnung  die  Gesetz- 
mäßigkeit im  Gebiete  festigen;  infolgedessen  konnte  sie  in  den  drei  Jahren 
seit  ihrer  Einführung  die  Gewohnheit  zur  Willkür  bei  den  Beamten,  die 
sich  seit  den  Tagen  des  Aufstandes  festgenistet  hatte,  nicht  unberührt 
lassen  .  .  .  Daher  kommen  von  verschiednen  Seiten  Angiüffe  und  Intrigen 
gegen  die  Richter  .  .  .  Besonders  die  Polizeiorgane,  die  infolge  der  all- 
gemeinen Beruhigimg  des  Landes  in  nationaler  Beziehung  nichts  zu  tun 
fanden  .  .  .  wandten  sich  mit  Denunziationen  aller  Art  gegen  das  neue 
Richterpersonal  .  .  ."  ^) 

Alle  diese  Verhältnisse,  die  Reaktion  unter  Alexander  dem  Dritten, 
die  großen  Sozialistenprozesse,  die  von  1881  an  kaum  aufhörten,  das  un- 
erschrockne  Auftreten  von  solchen  pohlischen  Veiteidigern  wie  Spasso witsch, 
die  Ablösung  Albedinskis  durch  Gurko  und  viele  örtliche  Erscheinungen 
im  ganzen  Reiche  führten  dazu,  daß  sich  die  Stellung  der  Richter  im 
Zartum  mit  jedem  Jahre  verschlechterte,  und  d^  sie  schon  wenige  Jalu'e 
nach  Einführung  der  Gerichtsstatute  keine  geschlossene,  für  die  Russifi- 
zierung  in  Betracht  kommende  Gesellschaft  bildeten,  sondern  zwei  Lager, 
die  sich  mit  allen  Alitteln  grimmig  befehdeten.  Das  eine  betrieb  die 
Russifizierung  mit  allen  von  oben  angeordneten  Mitteln,  das  andre  bil- 
dete die  Brücke  zwischen  der  polnischen  und  der  russischen  Intelligenz, 
die  im  Jahre  1905  plötzlich  auf  dem  Sjemstwokongi'eß  zu  Moskau  zu- 
tage trat. 

Ebenso  stand  es  bis  zum  Jahre  1904  mit  den  Universitätslehrern  und 
Professoren,  nui-  mit  dem  Unterschiede,  daß,  seit  Apuchtin  Kurator  des 
Warschauer  Lehrbezirks  geworden  war,  liberale  Professoren  wie  der 
Historiker  Karejew  und  der  Jurist  Golewninski  eine  Seltenheit  wurden, 
und  daß  gerade  die  Warschauer  Universität  durch  ihre  Professoren  scheinbar 
zu  einem  der  besten  Stützpunkte  der  Russifizierung  wurde. 


>)  „Aus  dem  Leben  in  Polen   1879  bis   1885'-,  Wjestnik  Jewropy.   Oktober   1907, 
Seite  850. 

•)  "Wjestnik  Jewropy  a.  a.  0.  S.  852. 


C.  Die  Oberbeamten  117 


3.  Allgemeines  Urteil 

Ohne  mich  auf  das  Gebiet  des  Persönlichen  von  noch  lebenden 
Menschen  zu  begeben,  könnte  ich  meine  Ausführungen  über  die  Beamten 
des  Zartums  Polen  nicht  fortsetzen.  Ich  möchte  darum  hier  nui*  noch 
zwei  aus  den  beiden  gekennzeichneten  Lagern  stammende  Urteile  über  die 
Beamtenschaft  bringen. 

Der  schon  erwähnte  Professor  Karejew,  der  von  1877  bis  1884  an 
der  Warschauer  Universität  dozierte,  erzählt,  welchen  Eindruck  die  Nach- 
richt von  der  Ennordung  Alexanders  des  Zweiten  auf  die  hohe  Beamten- 
schaft in  Warschau  hervorgerufen  habe.  Nachdem  er  vom  Portier  des 
russischen  Klubs  spät  abends  von  der  Katastrophe  gehört  hatte,  begab  er 
sich  in  das  allgemeine  Speisezimmer.  „Im  ersten  Augenblick  glaubte  ich, 
der  Portier  hätte  die  Unwahrheit  gesprochen  oder  sei  verrückt  geworden  .  .  . 
Angesichts  dessen,  was  in  den  Zimmern  des  Klubs  vor  sich  ging,  konnte 
"man  kaum  etwas  andres  annehmen.  Um  in  das  Speisezimmer  zu  gelangen, 
mußte  man  durch  zwei  Räume  gehn.  Auch  in  diesen  Zimmern  bot  sich 
das  Bild  wie  an  Tagen  lebhaftem  Besuches.  Die  Tische  mit  zwei  Leuchtern 
an  den  Ecken  standen  an  ihren  gewöhnlichen  Stellen.  Dahinter  saßen  je 
vier  Herren  mit  Karten  in  der  Hand,  die  einen  in  Militäruniformen,  die 
andern  in  Zivil.  Die  Räume  waren  wie  immer  vollgeraucht.  Auch  sonst 
war  alles  genau  so,  wie  es  üblich  ist:  sorgenvoll  gespamite  Gesichter,  kurze 
Ausrufe  bezüglich  »Coeur  und  Carreau«;  daneben  einzelne  gelangweilte 
Gestalten,  die  von  irgendeiner  Ecke  des  Tisches  dem  Spiel  der  andern 
zusahen. 

„In  meinem  Ohr  klang  noch  das  Wort  des  Portiers:  »Wissen  Sie  denn 
nicht,  daß  der  Zar  ermordet  ist?«  —  und  hier  das  alte,  alltägliche  Bild  der 
Kartenzimmer  eines  Klubs  —  so,  als  wenn  nichts  vorgefallen  wäre!  In 
meinem  Hirn  blitzte  der  Gedanke  auf:  der  Portier  ist  zweifellos  um  seinen 
Verstand  gekommen. 

„Im  Speisezimmer  bemerkte  ich  indessen  tatsächlich  unweit  einer 
kleinen  Tür  einen  nicht  eben  auffälligen,  mit  einer  Stecknadel  an  der 
Tapete  befestigten  Zettel:  das  war  das  Telegramm.  Noch  eri'egter  durch 
die  Bestätigung  der  Nachricht,  stürzte  ich  nach  oben  in  das  Lesezimmer 
zu  den  Zeitungen,  als  ob  ich  in  ihnen  schon  etwas  über  das  Geschehene 
erfahren  könnte. 

„Nach  einiger  Zeit  sah  ich  die  Spieler  wieder  und  wurde  wider  Willen 
Zeuge  ihrer  Gespräche  über  das  Ereignis.  Auch  diesmal  wai'en  keinerlei 
Abweichungen  von  den  eingeführten  Sitten  zu  bemerken.  An  einem  Ende 
der  nicht  übermäßig  langen  Tafel  saß  eine  Gesellschaft  von  etwa  zehn  bis 
zwölf  Herren,  die  eben  ihr  Spiel  beendet  haben  mochten.    Es  waren  vor- 


WQ  Sechstes  Kapitel.    Das  russische  Element  im  Zartum 

wiegend  hohe  Militärpersonen,  lauter  bejahrte,  ja  alte  Herren  mit  mir  be- 
kannten Gesichtern,  obwohl  ich  auch  damals  kaum  alle  ihre  Namen  wußte. 
Wie  oft  hatte  ich  schon  an  diesem  Tisch  diese  »Generale«  gesehen,  und 
wie  oft  hatte  ich  mii-  die  Frage  vorgelegt,  wie  hoch  wohl  das  Gehalt  jedes 
der  Herren  sein  möge,  wenn  sie  sich  nach  dem  bescheidnen  Klubessen 
und  nach  beendigtem  Kartenspiel  Champagner  reichen  ließen.  Auch  dies- 
mal blieb  der  Champagner  nicht  aus:  vielleicht  war  es  die  für  Feiertage 
eingeführte  Sitte  (der  1.  März  1881  war  ein  Sonntag);  vielleicht  wurde  auch 
nur  der  Gewinn  vertan.  Diesmal  aber  störte  mich  der  Champagner.  Auch 
der  Ton  der  Gespräche  war  der  gewöhnliche  —  es  war  der  Ton  von  er- 
müdeten Menschen,  ohne  besondres  inneres  Interesse  am  Gegenstande  der 
Unterhaltung.  "Wie  auch  sonst  wechselte  man  Bemerkungen  über  Wetter, 
Spiel,  Ballett  .  .  .  Dann,  während  ich  auf  mein  Essen  wartete,  hörte  ich, 
wie  ohne  jede  Erregung  darüber  gestritten  wurde,  welche  Uniform  dem  Ver- 
storbnen angezogen  werden  würde,  welche  Truppenteile  zum  Totendienst  am 
Grabe  heraugezogen  werden  könnten  und  andres  mehr  in  dieser  Art.  Wenn 
ich  nicht  gewußt,  was  geschehen  war,  und  nur  diese  Gespräche  angehört 
hätte,  ich  hätte  glauben  können,  daß  irgendeine  Militärperson,  ein  Kriegs- 
kamerad oder  sonstiger  Bekannter  der  Herren  gestorben  sei,  jedenfalls  ein 
Mann,  der  ihnen  im  allgemeinen  völlig  gleichgiltig  war."^) 

Hören  wir,  was  uns  ein  Mann  fünfzehn  Jahre  später  zu  sagen  hat, 
der  immer  in  der  nächsten  Umgebung  des  Generals  Gurko  gestanden  hat. 
Er  schreibt: 

„Unter  den  Staatsbeamten  im  Weichselgebiet  sind  zwei  voneinander 
durchaus  verschiedne  Kategorien  zu  unterscheiden,  die  hohen  und  die 
niedern  Beamten  .  .  .  Auf  die  erste  Kategorie  darf  man  mit  Recht  stolz 
sein.  Auf  ihren  Schultern  liegt  die  ganze  Bürde  der  Verwaltung  des 
Gebiets,  sie  haben  seinen  Wohlstand  eingerichtet,  sie  geben  sich  alle  er- 
denkliche Mühe,  den  blühenden  Zustand  auch  weiter  zu  erhalten  und  zu 
entwickeln.  Sie  haben  einen  schweren  und  verantAvortungsvollen  Dienst, 
und  ihre  Tätigkeit  entspricht  zweifellos  ihrem  Zweck.  Ihr  geistiges  und 
sittliches  Niveau  entspricht  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  den  an  sie  durch 
die  besondem  Bedingungen  ihres  Dienstes  gestellten  Anfordenmgen.  Mit 
Stolz  und  in  Elu-en  tragen  sie  das  russische  Banner  und  schonen  nicht 
ihre  Kräfte  in  Erfüllung  der  ihnen  auferlegten  Pflichten.  Selbstverständlich 
bedürfen  sie  einer  verständigen  Direktive  und  Leitimg  seitens  der  Ober- 
gewalt; solange  eine  solche  vorhanden  ist,  sind  sie  meist  nützliche  und 
durchaus  verständige  Arbeiter."^) 


»J  Byloje  1907,  März,  S.  280/82.  —  »)  Skizzen  aus  dem  Weichselgebiet  a.  a.  0.  S.  344. 


C.  Die  Oberbearuten  119 


Dann  kommt  der  Autor  auf  die  Fehler  der  Beamten  zu  sprechen. 
Das  Fehlen  von  Ausdauer  sei  eine  besondre  charakteristische  Eigentüm- 
lichkeit aller  slawischen  Stämme.  „Sie  ist  zum  Beispiel  auch  eine  der 
Hauptursachen  für  die  unnormalen  Beziehungen  zwischen  den  russischen 
Lehrern  und  den  polnischen  Schülern  in  den  Mittelschulen.  Entsprechend 
den  Direktiven  der  Schulobrigkeit  sind  die  Lelirer  verpflichtet,  die  ihnen 
anverti'aute  Schuljugend  zu  russifizieren ;  dabei  fehlt  ihnen  aber  die  dazu 
notwendige  Kaltblütigkeit  und  Leidenschaftslosigkeit.  Da  sie  die  Erfolg- 
losigkeit ihrer  Bemühungen  sehen,  tragen  sie  in  ihre  Tätigkeit  eine  per- 
sönliche Antipathie  hinein,  die  zu  einem  großen  Teil  dadurch  entsteht,  daß 
ihnen  eine  dem  russischen  Wesen  nicht  entsprechende  Handlungsweise 
auferlegt  wird.  Jede  Tätigkeit  muß,  sofern  sie  erfolgreich  sein  soll,  streng 
in  Einklang  mit  den  vorhandnen  Mittehi  gebracht  werden.  Die  Mittel, 
die  der  Schulobrigkeit  des  Gebiets  zui'  Verfügung  stehn,  entsprechen  ganz 
zweifellos  den  an  sie  gerichteten  Anforderungen  nicht. 

„Im  Charakter  des  Russen  steckt  zu  viel  Herzensgüte,  als  daß  er  ähn- 
lich seinem  Nachbarn,  dem  Deutschen,  herzlos  die  ihn  umgebende  Be- 
völkerung ersticken  könnte.  Unwillkürlich  legt  sich  auf  alle  seine  Hand- 
lungen entweder  der  Stempel  der  Liebe  oder  des  Hasses.  Bei  der  Er- 
ziehung kann  man  diu-ch  das  erste  Gefülil  "Wunder  wirken,  wir  aber  haben 
es  mit  dem  zweiten  versucht.  Daher  bildet  die  Tätigkeit  des  Schulwesens 
im  Weichselgebiet  eine  schrille  Disharmonie  gegenüber  den  andern  Äuße- 
rungen der  russischen  Gewalt  und  des  russischen  Geistes  im  Gebiet."^) 

Einen  zweiten  wesentlichen  Übelstand  unter  den  Beamten  im  Zartum 
Polen  erkennt  W.  R.  im  Fehlen  eines  einigenden  Bandes.  „Sie  bilden  eine 
zufällige  Mischung  von  Personen,  die  nach  Abstammung  und  materieller 
Lage  durchaus  verschiednen  Gesellschaftsschichten  angehören,  ganz  abge- 
sehen davon,  daß  sie  aus  allen  Enden  Rußlands  im  Gebiet  zusammen- 
strömen. Nur  zu  häufig  erkennen  sie  die  Notwendigkeit  des  Zusammen- 
schlusses nicht  an.  .  .  .  Beamte,  die  verschiednen  Ressorts  angehören,  fechten 
bisweilen  wegen  irgendeiner  geringfügigen  Ursache  erbitterten  Kampf  auf 
dem  Papier,  der  selbst  auf  ihre  persönlichen  Beziehungen  zurückwirkt. 
Der  Antagonismus,  der  häufig  unter  den  Beamten  der  Finanzverwaltung, 
Kontrolle,  Staatsanwaltschaft  und  Verwaltung  entsteht,  bildet  zweifellos 
ein  bedeutendes  Hindernis  für  eine  regelmäßige  und  schnelle  Erledigimg 
laufender  Angelegenheiten.  Er  übt  seine  Wirkung  auf  den  ganzen  Gang 
des  Mechanismus  der  Regierung.  Manchmal  entstehn  sogar  mißliche  Be- 
ziehungen zwischen  den  Chefs  der  einzelnen  Verwaltungen.     Es  entstehn 


Skizzen  aus  dein  Weichselgebiet  a.  a.  0.  S.  346. 


120  Sechstes  Kapitel.    Das  russische  Element  im  Zartum 


ganze  feindliche  Lager,  von  denen  jedes  alle  Mittel  anwendet,  sich  die  Gegner 
zu  unterwerfen.  Daraus  entstehn  dann  Intrigen  und  Klatschereien  und 
Geklatsch  ohne  Ende.  Leider  kann  man  nicht  umhin,  zugeben  zu  müssen, 
daß  aus  der  Menge  aller  albernen  Gerüchte  und  Geschichtchen,  die  im 
ganzen  Lande  überhaupt  herumgetragen  werden,  gut  die  Hälfte,  wenn 
nicht  gar  die  große  Mehrzahl  aus  russischen  Quellen  stammt.  Wir  Avollen 
damit  nicht  behaupten,  daß  die  Polen  solche  Gerüchte  nicht  verbreiten; 
der  Schwerpunkt  liegt  aber  darin,  daß  aUe  bei  den  Polen  entstandnen 
Gerüchte  sich  vorwiegend  nur  in  polnischen  Kreisen  verbreiten.  In  die 
rassische  Gesellschaft  dringen  nur  verhältnismäßig  wenige  von  ihnen." 

Die  Differenzen  zwischen  den  einzelnen  Ressorts  nehmen  einen 
größern  Umfang  an,  sobald  die  Obergewalt  Anzeichen  von  SchAväche  und 
Unentschiedenheit  in  ihren  Handlungen  zeigt.  Je  konsequenter  die  Ober- 
gewalt ist,  je  größer  ihre  moralische  Kraft  ist,  desto  schärfer  richten  sich 
die  Blicke  jedes  einzelnen  und  aller  Küssen  im  Gebiet  auf  sie,  um  so 
enger  gestaltet  sich  ihr  Zusammenschluß,  um  so  weniger  Spielraum  bleibt 
für  gegenseitige  Meinungsverschiedenheiten,  um  so  klarer  werden  jedem 
die  Ziele,  die  er  zu  erstreben  hat.^) 

Zum  Schluß  wollen  wir  noch  einige  Urteile  aus  dem  Jahre  1905 
heranziehen,  die  wir  in  der  „Nowoje  Wremja"  finden.  Das  ist  ein  Blatt, 
das  durch  seine  Beziehimgen  zu  der  Biu'eaukratie  über  den  Verdacht  er- 
haben ist,  es  könne  die  Beamten  absichtlich  diskreditieren  wollen. 

Besonders  Gurko  und  Tschertkow  haben  zur  Verschlechtenmg  der  Be- 
amtenschaft im  Zartum  Polen  beigetragen,  indem  sie  das  polnische  Element 
aus  den  Staatskanzleien  vertrieben.  „Unter  Gurko  wurden  Polen  in  die 
Beamtenkategorie  der  dritten  Klasse  nicht  zugelassen,  unter  Tschertkow 
aber  durften  sie  in  den  Gouvemementsbehörden  überhaupt  keine  Ver- 
wendung finden.  .  .  ,  Einigermaßen  tüchtige  russische  Beamte  waren  über- 
haupt nicht  zu  bekommen."'^)  Vom  Generalgouverneur  Maximowitsch  heißt 
es  in  demselben  Blatt  (Nr.  10584)  im  Leitartikel,  er  sei  selbst  nach  den 
frühern  Generalgouvemeui-en  die  denkbar  ungeeignetste  PersönHchkeit  ge- 
wesen. Alle  Klagen  des  Blattes  aber  gipfehi  in  dem  Satz,  daß  für  die 
hohem  Verwaltimgsposten  fast  ausschließlich  Militärpersonen  genommen 
werden,  die  von  der  Verwaltimg  nichts  verstehn. 

0  Skizzen  aus  dem  "Weichselgebiet  a.  a.  0.  S.  347.  —  ")  Nr.  10604  von  1905,  S.  3. 


DRITTER  TEIL 

Die  Wirtschaft  und  ihre  Organisation 
im  Zartum  Polen 


Rückblick 

Im  voraufgegangnen  Abschnitt  (Kap.  3  bis  6)  haben  wir  die  Bevölkerung 
des  Zartums  Polen  als  eine  passive,  widerstandslose  Masse  behandelt.  Wir 
haben  nur  von  den  Maßnahmen  der  Kegierung  gesprochen,  die  diese  Masse 
organisieren  sollten,  ohne  der  vielen  natüi'lichen  und  künstlichen  Wider- 
stände zu  erwähnen,  die  in  jeder  Organisation  vorhanden  sind.  Auf  Rei- 
bungen, die  vom  Leben  in  der  Masse  zeugten,  haben  wir  nur  flüchtig  hin- 
gewiesen. Zu  einer  solchen  Behandlung  des  Stoffes  waren  wir  berechtigt, 
solange  wir  ims  auf  den  Standpunkt  der  russischen  Regierung  stellten  — 
das  will  sagen,  auf  den  Standpunht  des  Siegers  gegenüber  dem  Besiegten, 
der  durch  den  Aufstand  von  1863  derart  zu  Boden  geschmettert  war, 
daß  er  sich  seinem  Feinde  auf  Gnade  und,  Ungnade  ausliefern  mußte. 
Es  wurde  gezeigt,  wie  die  russische  Regierung  einen  Bauernstand  schuf 
und  dem  Lande  neue  wirtschaftliche  Fundamente  gab  (S.  39  bis  48).  Ferner 
wurde  darzustellen  vereucht,  mit  welchen  Mitteln  der  Verwaltungspolitik  die 
Regierung  glaubte  allein  Einfluß  auf  die  neuen  Wirtschaftsfaktoren  zu  be- 
halten, wie  sie  durch  Schaffung  der  Gromada  (S.  50)  und  der  Gmin  (S.  52 
bis  58)  im  Zusammenhang  mit  der  Einrichtung  der  Kreis-  und  Gouveme- 
mentsverwaltung  (S.  58  bis  61)  sowie  Einführung  einer  eigenartigen  Städte- 
ordnung (S.  61)  alle  Fäden  der  sozialen  und  wirtschaftlichen,  politischen 
und  kulturellen  Entwicklung  in  die  Hände  der  Zentralgewalt,  des  General- 
gouverneurs (S.  62  bis  66)  leitete.  Alles  das  ist  vergleichbar  mit  dem 
Gartenbeet,  auf  dem  der  Kunstgärtner  ein  Spalier  errichtet  hat.  Am  Gitter- 
werk des  Spaliers  soll  sich  die  Pflanze,  deren  Wurzel  in  das  wohlbereitete 
Beet  versenkt  wurde,  in  vorher  bestimmten  Formen  emporranken.  Ln 
Leben  der  Völker  wird  der  Vorgang  des  Wachstums  bezeichnet  durch  die 
Entwicklung  der  Wirtschaft,  der  Kultur,  der  Gesellschaftsbildung. 

In  den  folgenden  Kapiteln  wollen  wir  uns  der  im  Jahre  1864  um- 
gesetzten Pflanze  selbst  zuwenden,  den  Bewohnern  des  Zartums  Polen  — 
insonderheit  der  polnischen  Bevölkerung  des  im  Jahre  1864  neu  organi- 
sierten Gebiets.  Die  nächsten  Kapitel  sollen  uns  die  polnische  Bevölkerung 
in  ihrer  wirtschaftlichen  Organisation  zeigen,  wie  sie  sich  auf  den  früher 
dargestellten  Grundlagen  bis  zum  Jahre  1904  entwickelt  hat.  Wir  werden 
dann  auch  beurteilen  können,  inwieweit  und  in  welcher  Richtung  das 
Spalier  der  russischen  Gesetzgebung  die  Entwicklung  der  polnischen  Ge- 
sellschaft beeinflußt  hat. 


Siebentes  Kapitel 
Bevölkerungsstatistik 

Der  Träger  der  Wirtschaft  ist  die  an  die  Gaben  der  Natur  angewandte 
geistige  und  körperliche  Arbeit.  Die  Überlegung,  daß  den  geistigen  Teil 
der  Arbeit  ausschließlich  Menschen  leisten,  berechtigt  uns,  an  die  Spitze 
einer  Darstellung  der  Wirtschaft  eines  Gebiets  eine  Übersicht  über  seine 
Bevölkerung  zu  stellen.  In  unserm  Falle  ist  das  auch  deshalb  unumgäng- 
lich nötig,  weil  es  uns  weniger  darauf  ankommt,  ein  bestimmtes  Wirt- 
schaftsgebiet zu  kennzeichnen,  als  eine  Nationalität,  die  —  in  verschiednen 
Wirtschaftsgebieten  und  politischen  Staaten  wohnend  —  sich  als  ein  ge- 
schlossenes, zu  gemeinsamer  wirtschaftlicher  Organisation  strebendes  Volk 
fühlt.  Die  Polen  sind  allein  in  Rußland  drei  verschiednen  Wirtschafts- 
gebieten mit  verschiednen,  häufig  einander  widersprechenden  Ansprüchen 
angeschlossen:  dem  Weichselgebiet  mit  seinen  vielen  imd  großen  Städten, 
dem  Nordwestgebiet  mit  seiner  unentwickelten  Land-  und  Forstsvirtschaft 
und  dem  Weizen  bauenden  Südwestgebiet  mit  meilenweiten  Rübenfeldern 
und  Tausenden  von  Hopfengärten.  Die  Wirtschaft  des  pohlischen  Volks 
ist  ein  Teil  der  Wirtschaft  des  russischen  Staats,  durch  ihn  wieder  ver- 
bunden mit  dem  Weltmarkt,  auf  dem  sich  die  polnischen  Ausfuhrwerte 
einen  festen  Stand  erworben  haben.  ^)  Das  Maß  des  internationalen 
Warenaustausches  und  Icommerziellen  Verkehrs  zwischen  den  Bewohnern 
des  Weichselgehiets  und  denen  der  ehemals  iiolnischen  Landesteile  in 
Preußen  und  Oalizien  bildet,  abgesehen  von  allem  Persönlichen,  die 
unterste  Grenze  der  Beziehungen  aller  Polen  untereinander. 

')  Um  die  Wirtschaft  der  preußischen  und  österreichischen  Polen  wollen  wir  uns 
hier  nicht  kümmern.  Über  die  preußischen  Polen  hat  Professor  Ludwig  Bernhard  erst 
vor  wenigen  Wochen  seine  glänzend  geschriebne  Darstellung  veröffentlicht,  die  wohl  lange 
Zeit  die  Grundlage  für  die  Beurteilung  der  wirtschaftlichen  Entwicklung  der  preußischen 
Polen  bleiben  wird  (Duncker  und  Humblot,  1907).  Die  österreichischen  Polen  interessieren 
unt  dagegen  ausschließlich  in  politischer  Hinsicht. 


A.  Die  Bevölkerung  ini  Zartum  Polen  125 


A.  Die  Bevölkerung  im  Zartum  Polen 

Nach  Schätzungen  polnischer  Yolkswirte  und  Politiker  gibt  es  auf  der 
ganzen  Erde  etwa  24  bis  25  Millionen  Polen.  Von  diesen  lebten  am  1.  Januar 
1905  unter  Zugrundelegung  der  Ergebnisse  der  Volkszählung  von  1897  im 
russischen  Reich  etwa  10280500.  Die  Zahl  —  das  sei  vorausbemerkt  — 
ist  zweifellos  zu  niedrig  gegriffen,  weil  sie  ausschließlich  die  Untertanen 
des  Zaren  als  Polen  aufführt,  die  von  der  Regiermig  als  solche  anerkannt 
werden,  nicht  aber  die,  die  sich  selbst  als  Polen  bezeichnen. 

In  den  folgenden  Kapiteln  müssen  wir  indessen,  um  überhaupt  ein 
Bild  geben  zu  können,  nur  mit  den  amtlichen  Zahlen  der  russischen 
Statistik  rechnen.  Sie  sind,  wie  gesagt,  durchaus  nicht  einwandfrei.  Denn 
die  russische  Regierung  hat  selbst  noch  keine  stichhaltige  Umgrenzung  für 
den  Begriff  „Pole"  oder  „Untertan  polnischer  Herkunft"  gefimden,  obwohl  es 
bis  1895  eine  Steuer  auf  die  den  Polen  im  Westgebiet  gehörenden  Liegen- 
schaften gibt.  Die  vorhandne  Definition  beruht  auf  dem  Gesetz  vom 
10.  Dezember  1865,  das  Personen  polnischer  Herkunft  den  Landerwerb  im 
Westgebiet  verbietet,  und  in  dem  es  merkwürdigerweise  heißt:  „Unter 
Personen  polnischer  HerJcunft  sind  zu  verstehen  nicht  die  Katholilcen  im 
dllgemeinen,  sondern  nur  Polen  und  solche  im  Westgehiet  geborne  Indi- 
viduen, die  sich  die  polnische  Nationalität  angeeignet  haben.  .  .  ."  Später 
wurde  durch  das  bestätigte  Gutachten  des  Ministerkomitees  vom  14.  Juni 
1868  erläutert,  daß  Bauern  katholischen  Glaubens  im  Westgebiet  nicht 
als  Polen  betrachtet  werden  können,  während  die  Senatsentscheidung  vom 
10.  November  1871  sagte,  daß  Großgrundbesitzer  und  Kleinbürger  ka- 
tholischen Bekenntnisses  als  Polen  anzusprechen  sind.  Im  Jahre  1885 
erwiesen  sich  die  genannten  Erläuterimgen  aber  als  unzureichend.  (Vgl. 
S.  109,  Anm.  2.)  Die  reichern  Bauern  des  Westgebiets,  die  zum  gi'ößern 
Teil  Katholiken  sind,  begannen  in  größerm  Maßstabe  Land  zu  kaufen.  Darum 
wurden  auch  die  von  ihnen,  die  mehr  als  sechzig  Deßjatinen  Land  zu  er- 
werben suchten,  als  Polen  behandelt^)  und  den  gegen  die  „Polen"  ge- 
richteten Ausnahmebestimmungen  unterworfen 

1.  Die  Polen 

Die  Hauptmasse  der  von  der  russischen  Regierung  als  Polen  gekenn- 
zeichneten Untertanen  des  Zaren  lebt  mit  8644150  Seelen  in  den  zehn 
Gouvernements  des  Weichselgebiets,  die  zusammen  einen  Flächenraum  von 
108451^/2  Quadratwerst  einnehmen.  Im  ganzen  gab  es  am  1.  Januar  1905 
im  Zartum  Polen  11312300  Einwohner  oder  104,8  auf  die  Quadratwerst 
Von  ihnen  lebten  in  den  Städten  2391700,  in  Flecken  943800,  auf  dem 

^)  Zirkular  des  Generalgouvemeurs  von  Wilna  an  die  Gouverneure  vom  23.  Februar  1885. 


126  Siebentes  Kapitel.    Bevölkei-ungsstatistik 

platten  Lande  7976800.  Sie  verteilen  sich  auf  die  verschiednen  Bekennt- 
nisse: Orthodoxe  und  Uniaten  585300,  Katholiken  8500100,  Protestanten, 
zu  denen  auch  zahlreiche  Refonnierte  und  Altkatholiken  gehören,  586900, 
Juden  1638900  sowie  800  bis  1200  Mohammedaner.  In  den  einzelnen 
Gouvernements  des  Zartums  bilden  die  Polen  87,5  Prozent  der  Bevölkerung 
in  Kjelce,  83,9  in  Kaiisch,  83,6  in  Radom,  80,9  in  Plock,  77,3  in  Lomsha, 
73,5  in  Warschau,  72,1  in  Petrikau,  66,1  in  Sjedlec,  62,9  in  Lublin  und 
22,9  in  Ssuwalki.  In  Ssuwalki  treten  zu  den  Polen  52,4  Prozent  Litauer,  deren 
Hauptmasse  ausschließlich  litauisch  spricht,  in  Sjedlec  und  Lublin  sind 
21  und  20  Prozent  russische  Uniaten  (vgl.  S.  102/3)  zu  berücksichtigen, 
die  kleinrussisch  und  polnisch  sprechen;  in  allen  Gouvernements  gibt  es 
7,6  bis  16,4  Prozent  Juden  und  0,3  bis  10,6  Prozent  Deutsche.  Von  den 
beiden  zuletzt  genannten  soll  weiter  unten  gesprochen  werden. 

In  sozialer  und  gewerblicher  Beziehung  läßt  sicii  die  polnische  Be- 
völkerung des  Weichselgebiets  nach  den  vorliegenden  Daten  nicht  ver- 
teilen, da  es  zimächst  eine  allgemeine  Gewerbestatistik  nicht  gibt,  und  die 
vereinzelten  Angaben  keinen  Unterschied  nach  Religion  oder  Nationalität 
machen.      Doch   wird    die    Zeichnung    eines    annähernd    richtigen    Bildes 

j  möglich,  wenn  wii-  im  Auge  behalten,  daß  das  Gros  der  polnischen  Be- 
völkerung im  Zartum  Polen  auf  dem  platten  Lande  lebt,  während  das  Gros 
der  Juden  in  den  Städten  und  Flecken  anzutreffen  ist.  Infolgedessen  können 
wii'   im   allgemeinen  von  der  ländlichen  Bevölkerung  schlechthin  als  von 

f    Polen  sprechen.    Die  Juden  bilden  in  den  Städten  des  Weichselgebiets  in 

<    den  verschiednen  Gouvernements  28,2  bis  59,0  Prozent  der  städtischen  Be- 

I 

I    völkerung.   Nach  den  für  den  1.  Januar  1905  geltenden  Zahlen  erhalten  wir 

;     folgendes  Bild: 

es  gab^)  Orthodoxe  Katholiken  Protestanten  Juden  zusammen 

in  den  Städten      .     .  .       92,2  1165,5            157,3  976,1  2391,7 

in  den  Flecken      .     .  .       30,1  451,4              19,8  448,0  943,8 

auf  dem  Lande      .     .  .     463,0  6883,2            410,3  219,8  7976,8 

zusammen  im  Zartum  .    585,3  8  500,1            586,9  1638,9  11312,3 

Die  bäuerliche,  auf  eigne  oder  fremde  Rechnung  Landwirtschaft  trei- 
bende Bevölkerung  nach  Abzug  von  20  Prozent  Uniaten  für  Lublin  und 
21  Prozent  für  Sjedlec,  aber  einschließlich  deutscher  mid  jüdischer^)  Kolo- 
nisten betrug  nach  den  amtlichen  Paßlisten  1902  7  576600  Seelen.")    Von 

1)  Heft  XXni,  S.  4/5  der  Tabelle  XI  in  den  Arbeiten  des  Warschauer  Statistischen 
Komitees  von  1906. 

-)  Die  jüdische  Kolonisationsgesellscbaft  gibt  die  Zahl  der  jüdischen  von  Ackerbau 
lebenden  Kolonistenfamilien  im  Zartum  Polen  mit  2509  auf  13334  Deßjatinen  an.  „Wirt- 
schaftUche  Lage  der  Juden  in  Rußland"',  St.  Petersburg,  1904,  Bd.  I,  S.  157. 

')  Arbeiten  des  Wai-schauer  Statistischen  Komitees  von  1906,  Heft  XXV,  S.  34. 


A.  Die  Bevölkeiiing  im  Zartum  Poleu  127 


ihnen  sind  849300  landlose  Individuen,  die  wir  vollständig  auf  die  Rech- 
nung der  Polen  stellen.  Ferner  sind  abzuziehen  etwa  300000  Personen, 
die  sich  außerhalb  des  Dorfes  in  dienender  Stellung  befinden  und  somit 
nicht  mehr  für  die  landwirtschaftliche  Gütererzeugung  in  Frage  kommen, 
dennoch  aber  in  den  Listen  als  Angehörige  des  Bauernstandes  geführt 
werden  und  einen  entsprechenden  Paß  als  „Bauer"  haben. 

Daneben  gibt  es  234700  Fabrikarbeiter.^)  Von  ihnen  sind  abzuziehn 
63650  +  14300  =77950  jüdische  Ai-beiter.^)  Es  bleiben  somit  156750 
Fabrikarbeiter  polnischer  und  deutscher  Abstammung  übrig. 

Die  niedere  polnische  Bevölkerungsschicht  besteht  somit  aus  einem 
städtischen  Proletariat  von  etwa  940500  Seelen  und  einem  ländlichen 
Proletariat  von  etwa  849300  Seelen.  Die  im  Jahre  1904  an  der  landwirt- 
schaftlichen Produktion  beteiligte  bäuerliche  Bevölkerung  verteilte  sich  nach 
amtlichen  Angaben  auf  1010514  Bauernwirtschaften,  was  etwa  7,5  Seelen 
auf  den  Hof  bedeuten  würde. '^j  Die  Dichte  der  Bevölkerung  erscheint  noch 
größer,  wenn  wir  die  von  uns  weiter  unten,  auf  S.  178  errechnete  Zahl, 
nämlich  968862  bäuerliche  Betriebe  einsetzen;  alsdann  kommen  7,9  Seelen 
auf  den  Bauernhof. 

Die  kleine  Schlachta  ist  auch  imter  die  niedre  Bevölkerung  zu  rechnen, 
weil  sie  auf  53028  Höfen  eine  durchaus  bäuerliche  Lebensweise  führt.  ^) 
Sie  bewirtschaftet  651740  Deßjatinen.  Die  Statistik  behandelt  die  kleine 
Schlachta  aus  politischen  Gründen  gesondert.  (Vgl.  Kap.  9,  S.  201  bis  204.) 

Über  das  polnische  ärmere  oder  reichere  Bürgertum  in  den  Städten 
und  über  die  .sogenannte  Intelligenz  finden  wir  in  der  Statistik  keine 
Daten.  Wir  können  diese  Bevölkerungsschicht  nur  annähernd  mit  825000 
ermitteln,  indem  wir  von  der  Zahl  der  katholischen  Stadtbewohner  (1 165500) 
die  Zahl  der  polnischen  Proletarier  (940500)  abziehn  und  etwa  300000 
kleine  „Ackerwirte"  aus  den  Flecken  hinzufügen.  Alsdann  bleiben  noch 
die  oben  erwähnten  „Dienenden",  die  wir  hier  gleichfalls  zum  Bürgertum 
zählen  wollen.^) 


^)  A.  W.  Pogoshew,  „Die  Zahl  der  Fabrikarbeiter  in  Rußland",  herausgegeben  von 
der  Akademie  der  "Wissenschaften,  Petersburg,  1906,  Tabelle  I,  S.  11. 

2)  Nach  Daten  der  Jüdischen  Kolonisationsgesellschaft  a.  a.  0.  Bd.  I,  S.  291  und 
Bd.  II,  S.  111  bis  U2. 

•'')  Arbeiten  des  Wai-schauer  Statistischen  Komitees  von  1905,  Heft  XXI,  Schluß 
S.  11,  32  u.  52. 

*)  Ebenda,  Tabelle  ÜI,  S.  145. 

^)  Nach  M.  Feodorow,  „Briefe  über  die  russische  Industrie  und  ausländische  Kapi- 
talien" im  Novemberheft  von  1898  der  „Rußkoje  Ekonomitscheskoje  Obosrenije"  (S.7  bis  10) 
gehörten  im  Zartmii  Polen  dienenden  Klassen  au:  1179156  Menschen,  von  denen  905672 
der  Arbeiterklasse  und  273484  sonstigem  dienenden  Personal  angehöi-ten. 


128  Siebentes  Kapitel.    Bevölkerungsstatistik 


Über  die  Klasse  der  Großgrundbesitzer  können  wir  gleichfalls  nui' 
Vermutungen  anstellen,  indem  vdr  die  Zahl  der  Güter  als  die  Zahl  der 
Großgi'undbesitzer  annehmen  imd  davon  die  russischen,  jüdischen  und 
solche  Güter  abziehen,  die  mit  andern  zusammen  einem  Besitzer  gehören. 
Wir  erhalten  dann  rund  7000  polnische  Großgrundbesitzerfamilien.  Wenn 
auch  die  Zahlen  durchaus  nicht  den  Anspruch  erheben,  korrekt  zu  sein, 
so  glauben  wir  sie  in  unserm  Bilde  als  annähernd  richtig  verwenden  zu 
dürfen,  ohne  das  Ganze  schief  zu  gestalten. 

Zusammengefaßt  zeigt  die  Bevölkerung  des  Zartums  nach  obigen 
Überlegungen  um  das  Jahr  1904  ungefähr  folgende  soziale  Schichtung: 

(in  Tausend) 
polnisch       russisch      jüdisch 

Großgnindbositzer 40,0  2,5  1,2 

Kleingrundbesitzer 6238,0        460,0-  15,0 

ßürgertuiu       825,0  90,0  200,0 

Proletarier 1789,8  3,0  1422,0 

In  dieser  Aufstellung  sind  die  90000  Seelen  russischen  Bürgertums 
ausschließlich  als  Staatsboarate  und  deren  Angehörige  zu  denken.  Ergänzt 
wird  die  Aufstellung  noch  durch  586900  Protestanten  oder  sogenannte 
Deutsche;  von  ihnen  entfallen  auf  das  Bürgertum  gegen  150000,  auf  Hand- 
werker etwa  40000,  auf  Landwirte  300000  (Kolonisten)  und  100000  Seelen 
auf  Proletarier.  Wir  tim  gut,  etwa  drei  Viertel  dieser  ,,Deutschen''  den 
Polen  gutzuschreiben,  ebenso  wie  das  jüdische  Bürgertum  und  die  Mehr- 
zahl der  russischen  Bauern  (vgl.  S.  102,  Uniaten). 

Einer  solchen  schätzungsweisen  Aufrechnung  stehn  die  Angaben  von 
Wladimir  Grabski ^)  gegenüber.  Dort  heißt  es,  es  gäbe  im  Jahre  1904 
592378  ländliche  Proletarierfamüien.  Nehmen  wir  mit  der  amtlichen 
Statistik  die  Familie  mit  4,2  Pei-sonen  an,  so  ergäbe  sich  nach  Grabski 
ein  ländliches  Proletariat  von  248800  Seelen  oder  um  1638700  mehr,  als 
wie  wir  es  auf  Seite  127  mit  849300  einstellen.  Doch  muß  berücksichtigt 
werden,  daß  Grabski  auch  die  205836  Familien  auf  Zwergwirtschaften 
unter  anderthalb  Deßjatinen  Land  zu  den  Proletariern  rechnet.  Das  würde 
eine  Seelenzahl  von  864  500  ergeben,  um  die  unsre  Zahl  der  Kleingi'und- 
besitzer  zu  kürzen  und  die  Zahl  misrer  polnischen  Proletarier  zu  ver- 
größern wäre.  Nach  Grabski  würde  somit  das  gesamte  polnische  Proletariat 
in  Stadt  und  Land  allein  2654300  Seelen  —  nämlich  1789800  plus 
864500  —  betragen  und  das  gesamte  Proletariat,  Polen,  Küssen,  Deutsche, 


')  „Materjaty  w  sprawie  wto^ciüaskiej",  "Wai-schau,  G.  Gebethner  und  Wolff,  1907, 
Teil  I,  S.  36  und  Teil  II,  S.  3,  30  und  31. 


A.  Die  Bevölkerung  im  Zartum  Poleu  \29 

Juden,  im  Zartum  Polen  mindestens  4179300  Seelen  oder  37  Prozent  der 
Gesamtbevölkerung  des  Zartiims.  Die  pessimistische  Ansicht  des  geschätzten 
polnischen  Forschers  möchte  ich  nicht  teilen,  vreil  er  keinen  Unterschied 
macht  zwischen  Gärtnereibetrieben  und  landwirtschaftlichen.  Dabei  müssen 
wir  gerade  bei  den  kleinsten  Betrieben  recht  viele  Gärtnereien  oder  Fuhr- 
hai tereien,  Gasthöfe,  Mühlen  und  ähnliche  Anlagen  vermuten,  die  dem 
Besitzer  weit  eher  ein  bürgerhches  Dasein  sichern,  als  daß  sie  ihn  zum 
Proletarier  stempeln.  Fabrikarbeiter  und  Angestellte  der  Eisenbahnen,  die 
in  steigendem  Maße  kleine  Gnmdstücke  erworben  haben,  nähern  sich  auch 
mehr  einer  bürgerlichen  als  einer  proletarischen  Existenz,  können  somit 
nicht  ohne  weiteres  zu  den  Proletariern  gerechnet  werden.  Aber  wir  geben 
zu,  daß  von  unseru  6,2  Millionen  polnischen  Kleingrandbesitzern  etwa 
1,5  Millionen  auf  der  Grenze  stehn,  bei  der  man  nicht  weiß,  ob  sie  schon 
ins  kleine  Bürgertuju  hineinragend  Ansätze  eines  Mittelstandes  zeigen,  oder 
ob  sie  im  Begriff  sind,  Proletarier  zu  werden.  Hier  muß  mangels  sta- 
tistischer Daten  die  persönliche  Beobachtung  einsetzen,  und  die  zeigt  uns 
eine  ständig  wachsende  Zunahme  des  polnischen  gut  situierten  Bürgertums. 

2.  Die  Juden 

Wir  können  das  Wesen  der  Polenfrage  in  Rußland  nicht  erkennen, 
wenn  wir  neben  den  polnischen  und  russischen  Bewohnern  des  Weichsel- 
gebiets die  andern  Nationalitäten  übergehen  würden.  Der  Litauer,  die 
überdies  nur  in  dem  nördlichsten  Gouvernement  Ssuwalki  in  Frage  kommen, 
wurde  schon  eingangs  gedacht  (S.  126),  Die  800  bis  1200  Mohammedaner 
können  wir  unberücksichtigt  lassen.  Es  bleibt  uns  noch  von  den  Deutschen 
und  Juden  zu  sprechen.  Beide  Nationalitäten  haben  zwei  ausgesprochne 
Züge  gemeinsam.  Sie  sind  auf  allen  Stufen  der  sozialen  Schichtung  wirt- 
schaftlich tüchtig  und  haben  nur  schwach  ausgebildetes  nationales  Bewußt- 
sein, und  zwar  stehen  die  Deutschen  in  dieser  Beziehung  hinter  den  Juden 
erheblich  zurück.  Beide  Nationalitäten  sind  fast  zu  gleicher  Zeit  in  das 
Weichselgebiet  eingedrungen,  die  Juden  etwas  früher,  die  Deutschen  später, 
und  beide  haben  sie  der  polnischen  Gesellschaft  das  übermittelt,  was  ihr 
am  meisten  fehlt :  o?'ganisatorische  Kräfte,  anders  ausgedrückt  —  Disziplin. 

Im  Zartum  Polen  gibt  es,  wie  wir  sahen,  1 638  900  Juden.  Die  ersten 
Juden  sind  in  Polen,  und  zwar  im  heutigen  Galizien,  zwischen  dem  achten 
und  dem  zehnten  Jahrhundert,  also  vor  den  Christenaposteln  von  der 
Schwarzmeerküste  aus  eingetroffen.  Es  waren  zumeist  Großkaufleute.  Erst  die 
Judenverfolgungen  im  dreizelmten  bis  zum  fünfzehnten  Jahrhundert  in  West- 
europa veranlaßten  den  Zustrom  größerer  Mengen  in  die  Städte  des  König- 
reichs Polen-Litauen.     In  spätem  Jahrhunderten  sind  dann  noch  russische 

Cleinow,  Die  Zukunft  Poleus  9 


130  Siebentes  Kapitel.    Bevölkeruagsstatistik 

Juden  nach  Polen  gekommen.  Seit  der  dritten  Teilung  Polens  haben  sie 
sich  ausschließlich  durch  natürliche  Zunahme  vermehrt.  Sie  bildeten  nach 
der  Volkszählung  von  1897  in  den  Gouvernements  des  Zartimis  durch- 
schnittlich 8,5  bis  18,1  Prozent  der  ßevölkermig,  allein  in  den  Städten 
28,2  bis  59  Prozent.  In  den  einzelnen  Gou\  ernements  sieht  das  Bild 
folgendermaßen  aus:  ^) 

Gouvernements  in  den  Städten  überhaupt 

SsuwaUd 56,3  Proz.  10,09  Proz. 

Lomsha 55,7  „  15,69  „ 

Plock 49,1  ,,  9,13  „ 

Sjedlec 59,0  „  15,84  „ 

Warschau 38,8  „  18,12  ,, 

Lublin 38,9  „  13,26  „ 

KaUsch 42,9  .,  8,59  „ 

Petrikau 28,2  „  15,83  „ 

Kjelce 47,7  „  10,82  „ 

Radom       54,7  „  13,89  „ 

Die  große  Masse  des  jüdischen  Volkes  gehört  infolge  der  Zusammen- 
pferchung in  den  Städten  und  Flecken  sowie  wegen  der  Ei-schwerung 
jeder  Bildung  durch  die  russische  Regierung  dem  traurigsten  Lumpen- 
proletariat an. 

Wie  groß  die  Not  ist,  geht  aus  der  Zahl  der  Familien  hervor,  die  zum 
Passahfest  Almosen  erhalten.  Die  Statistik  der  jüdischen  Kolonisations- 
gesellschaft gibt  darüber  folgende  Zahlen-):  im  Gouvernement  Warschau 
12,5  Prozent  aller  Familien,  Sjedlec  18,5  Prozent,  Petrikau  20,9  Prozent, 
LubHn  22  Prozent,  Radom  21,7  Prozent,  Kjelce  22,7  Prozent.  Dieser  trau- 
rigen Lage  entsprechen  die  Yerdienste  der  jüdischen  Handwerker,  deren 
Zahl  sich  auf  rund  120000  stellt.  Allein  selbständige  Meister,  also  Arbeit- 
geber, gibt  es  etwa  64000.^)  Etwa  33  Prozent  der  Handwerker  haben  ein 
jährliches  Einnahmebudget  von  weniger  als  250  Rubel,  47  Prozent  zwischen 
250  bis  300,  und  nur  20  Prozent  können  mit  mehr  als  300  Rubel  Jahres- 
einnahmen rechnen.^)  In  den  verschiednen  Branchen  schwanken  nmi  die 
Verdienste  ganz  außerordentlich.  Im  südlichsten  Kreise  von  Kaiisch  sowie 
in  den  Kreisen  Augustowo  und  Mariampol  des  Gouvernements  Ssuwalki 
finden  sich  Ortschaften,  in  denen  10  Prozent  der  jüdischen  Handwerker 
nicht  100  Rubel  Jahreseinnahmen  haben. 

Ein  Bild  von  der  Teilnahme  jüdischer  Arbeiter  an   der  industriellen 


^)  Jüdische  Kolonisationsgesellschaft,    Die  wirtschaftliche  Lage  der  Juden  in  Bußland, 
Petersburg,  1904,  Bd.  I,  S.  XXVI. 

^)  a.  a.  0.  Bd.  II,  S.  225.  —  *)  Ebenda  Bd.  I,  S.  291.  —  *)  Ebenda  Bd.  1,  S.  295. 


A.  Die  Bevölkerung  im  Zartiim  Polen 


131 


Produktion  geben  die  Mitteilungen  der  jüdischen  Kolonisationsgesellschaft.^) 
Sie  beziehen  sich  nur  auf  einen  Teil  der  Betriebe,  können  somit  auch  nur- 
als  Auhalt,  nicht  aber  als  korrekte  Übersicht  dienen. 


Branche 


Zahl  der 


befragten  Be- 
triebe jüdisch. 
Besitzer 


Arbeiter 
überhaupt 


Davon  Juden 


Män- 
ner 


iFi'auen 


Kinder 


zu- 
sammen 


Metalle  .  .  . 
Keramik  .  .  . 
Galanteriewaren  . 
Holzbearbeitimg  . 
Papier  .... 
Mineralien  .  . 
Nahrungsmittel  . 
Tiei-produkte   .     . 

Chemikalien    .     . 


49 

20 

63 

104 

42 

116 

254 

235 

;98 

129 


3085 
857 
3409 
2418 
1861 
3270 
3695 
? 

438 

388 


630 

404 

277 

312 

220 

327 

1808 

1361 

256 

56 


80 

83 

575 

30 

89 

30 

474 

104 

37 

6 


22 

41 

128 

186 

444 

87 

117 

376 

52 

41 


732 
528 
980 
528 
753 
444 
1899 
1841 
343 
103 


Über  die  Leheiisverhältnisse  der  jüdischen  Fabrikarbeiter  finden  wir 
leider  keine  Daten  in  dem  Werke  der  jüdischen  Kolonisationsgesellschaft. 
Es  sei  darum  die  persönliche  Beobachtimg  eingefügt,  die  ich  in  der  Leder- 
und  Holzbearbeitungsbranche  anstellen  konnte.  Dort,  wo  die  Juden  zahl- 
reicher auftreten,  wirken  sie  sofort  für  Steigerung  der  Löhne.  Sie  schließen 
sich  zu  Sti'eikkassen  zusammen  und  zwingen  die  polnischen  Ai'beiter, 
ihnen  gleichfalls  beizutreten  oder  die  Fabrik  zu  verlassen.  Yon  den  weib- 
lichen Arbeitern  in  Webereien  und  Spinnereien  —  es  handelt  sich  nur 
um  zweitklassige  Betriebe,  da  die  erstklassigen  möglichst  keine  jüdischen 
Weber  anstellen  —  wird  dagegen  behauptet,  sie  drücken  die  Löhne.  In 
der  Tabakbranche  gelten  die  jüdischen  Arbeiterinnen  dagegen  wieder  als 
preisü'eibend. 

Die  polnischen  Juden,  besonders  in  den  an  GaHzien  grenzenden  Kreisen, 
dürfen  als  der  niedrigst  stehende  Teil  der  osteuropäischen  Juden  bezeichnet 
werden.  Sie  sind  vielfach  noch  streng  orthodox  und  neigen  asketischen 
Sekten  zu.  Erst  in  den  letzten  zwölf  bis  fünfzehn  Jahren  beginnen  sich 
auch  die  pohlischen  Juden  zu  regen.  Die  aufklärende  Arbeit  der  Alliance 
Isra61ite  kann  sich  der  ersten  Erfolge  freuen.  Diese  Wohlfahrtsgesellschaft 
des  internationalen  Judentums  hat  wahre  Wunder  in  kultui'eller  Beziehung 
gewirkt.     Nicht  weniger  hat  der  Zionismus  geleistet.     Freilich  stehen  die 


*)  a.  a.  0.  Bd.  U,  S.  118/45.  —  Die  in  der  letzten  Reihe  der  Tabelle  angegebnen 
Zahlen  sind  aus  den  drei  vorhergehenden  Reihen  errechnet,  da  die  Angaben  der  Ko- 
lonisationsgesellschaft augenscheinlich  auf  Rechendruckfehlern  benihn. 

9* 


132  Siebentes  Kapitel.    Bevölkerungsstatistik 

Ergebnisse  der  Tätigkeit  beider  weit  zurück  hinter  denen,  die  in  Litauen, 
Weißrußland  und  Kleinrußland  erzielt  werden  konnten.  Auch  die  Sozial- 
demokratie hat  unter  den  polnischen  Juden  nicht  so  organisierend  ge- 
wirkt wie  unter  den  andern.  Das  Vorhandensein  von  Bund-Organisationen 
in  Warschau  und  Lodz  spricht  nicht  gegen  meine  Behauptung.  Denn  dort 
sind  die  sozialistischen  Organisationen  auf  wirtschaftlicher  Grundlage  und 
infolge  örtlicher  Verhältnisse,  nicht  aber  auf  revolutionärer  Basis  ent- 
standen. 

Über  der  Masse  des  jüdischen  Proletariats  steht  eine  kleine  aber  streng 
abgesonderte  jüdische  ÄristoJcratie,  die  mit  der  Frankfurter  an  Bildung, 
geistigen  und  materiellen  Bedürfnissen  auf  eine  Stufe  zu  stellen  ist  und 
sowohl  mit  dem  Westen  wie  mit  dem  Osten  durch  vielfaclie  Bande  verknüpft 
ist.  Die  Namen  Kronenberg,  Nathanson,  Bljoch,  Epstein  gehören,  auch 
wenn  sie  katholische  Träger  haben,  zu  den  geachtetsten  der  Wai-schauer 
Gesellschaft. 

Die  Lebensweise  dieser  Kreise  ist  vielfach  die  der  polnischen  Grand- 
seigneurs,  zu  der  sie  der  Besitz  großer  und  schöner  Güter  befähigt.  Im 
Jahre  1900  befanden  sich  in  den  Händen  jüdischer  Besitzer  1  Gut  von 
mehr  als  5000  Deßjatinen,  50  Güter  von  1000  bis  5000  Deßjatinen  und 
120  Güter  von  500  bis  1000  Deßjatinen  Größe.  Baron  Kronenberg  ist 
Inhaber  zweier  Gestüte,  ebenso  die  Herren  Nathanson,  Epstein,  Berson,  und 
ihre  Rennpferde  laufen  mit  denen  der  Grafen  Samojski,  Krassinski,  Kwilecki 
Gurt  an  Gurt. 

Die  Gesamtbeteiligung  der  Juden  am  Landwirfschaftsgeiverbe  drückt 
sich  in  der  Tatsache  aus,  daß  von  ihnen  im  Jahre  1900  etwa  3  Prozent 
der  Bodenfläche  des  Zartums  oder  344100  Deßjatinen  be^^^rtschaftet  wurden, 
nämlich  295700  im  erblichen  Besitz  und  48400  in  Pacht.  Im  Gouver- 
nement Ssuwalki  sind  etwa  19,5  Prozent  alles  Gutslandes,  im  Gouvernement 
Lomsha  10,4  Prozent  in  ihren  Händen.  Die  Fläche  des  jüdischen  Besitzes 
verteilt  sich  auf  2272  Grundstücke  unter  10  Deßjatinen,  555  von  10  bis 
50  Deßjatinen,  151  von  50  bis  100,  469  von  100  bis  500  und  171  von 
mehr  als  500  Deßjatinen. 

Auf  dem  Lande  außerhalb  der  Städte  und  Flecken  haben  die  Juden 
1725  Gewerbebetriebe  inne,  davon:  Mühlen  548,  Läden  509,  Fabriken  329, 
Gärten  150,  Meiereien  76,  Schmieden  63,  sonstige  50.^) 

Wenig  erfreulich  ist  der  Zustand  der  jüdischen  Intelligenz,  insonder- 
heit der  von  Warschau.     Es   wird   von  den  Juden  selbst  zugegeben,  daß 


^)  Zeitschrift   des   Statistischen    Zentralkomitees    von   1901,  Nr.  49,    „Der  jüdische 
Landbesitz  usw.  im  Jahre  1900",  S.  IX  bis  XVI. 


A.  Die  Bevölkeiiing  im  Zartiim  Polen  133 

sich  innerhalb  der  gebildeten  Kreise  eine  so  gefährliche  A^'erwahrlosung 
breitmacht,  wie  sie  sonst  in  keiner  Großstadt  des  Kontinents  zu  finden  sei. 
Im  politischen  Teil  dieser  Arbeit  werden  wir  von  ihnen  noch  mehr  hören. 

3.  Die  Deutschen 

Die  586900  Protestanten  des  Weichselgebiets  werden  gewöhnlich  als 
Deutsche  bezeichnet,  und  zwar  nicht  etsva  von  sich  selbst,  sondern  von  den 
Polen,  Russen  und  Reichsdeutschen.  Beide  Bezeichnungen  —  Protestant 
sowohl  Avie  Deutscher  ~  sind  in  dieser  Verallgemeinerung  unrichtig.  Unter 
Protestanten  haben  wir  Reformierte,  Kalvinisten,  Altkatholiken  und  andre 
Sekten  zu  verstehen,  und  die  Bezeichnung  Deutscher  deutet  in  achtzig  von 
hundert  Fällen  lediglich  auf  die  Herkunft,  nicht  auf  die  Zugehörigkeit  zur 
deutschen  Nationalität. 

Die  Hauptmasse  der  sogenannten  Deutschen  oder  202000  ist  im 
Gouvernement  Petrikau  (Lodz)  angesessen,  dann  folgt  das  Gouvernement 
Warschau  mit  117300  und  Kaiisch  mit  94500.  In  der  Stadt  Warschau 
gab  es  1904/05  21551  Protestanten,  deren  deutsche  Gesinnungstüchtigkeit 
der  Generalsuperintendent  von  Warschau,  Julius  Bursche,  im  Oktober  1907 
anläßlich  eines  gegen  die  evangelische  Geistlichkeit  erhobnen  Angriffs 
kennzeichnet.     Er  sclu'eibt:^) 

„Die  Warschauer  Gemeinde  zählt  etwa  20000  Seelen,  darimter,  stark 
gerechnet,  etwa  6000  Deutsche.  Aber  man  würde  sehr  fehlgehen,  wenn 
man  diese  letzte  Ziffer  mit  der  Zahl  der  Deutschen  identifizieren  wollte, 
die  ihre  Ehre  darein  setzen,  ihr  gefährdetes  Deutschtum  zu  wahren.  Das 
ergibt  sich  zur  Evidenz  klar  daraus,  daß  es  nur  eine  verschwindend  geringe 
Zahl  solcher  Deutschen  gibt,  die  zum  Beispiel  bei  Trauungen,  ja  selbst  bei 
Begräbnissen,  bei  welchen  man  doch  berechtigt  ist,  seine  pei'sönlichsten 
Bedürfnisse  ausschließlich  in  den  Vordergrimd  zu  stellen,  vom  Pastor  die 
Yollziehung  dieser  Amtshandlungen  in  deutscher  Sprache  verlangen;  man 
nimmt  eben  fortwährend  Rücksicht  auf  die  gesellschaftlichen  Beziehungen 
und  die  polnische  Umgebung.  .  .  .  Wir  sind  oft  darüber  erstaunt,  daß  von 
Familien,  die  durchaus  als  deutsche  gelten  woUen,  ohne  irgendwelchen 
tiefern  Grund  Amtshandlungen  in  polnischer  Sprache  bestellt  werden.  — 
Weiter:  Trotzdem  die  Deutschen  kaum  ein  Drittel  der  Warschauer  evan- 
gelischen Gemeinde  ausmachen,  Averden  doch  alle  Gottesdienste  in  beiden 
Sprachen  abgehalten,  und  zwar  jeden  Sonntag  vier  Gottesdienste:  zwei 
deutsche  und  zwei  polnische.  Wenn  bei  den  polnischen  Gottesdiensten 
die  Kirche  fast  stets  überfüllt  ist,  bei  den   deutschen  dagegen,  wenn  sich 


')  St.  Petersburger  Zeitung,  Jahrgang  181,  Nr.  280. 


134  Siebentes  Kapitel.    Bevölkerungsstatistik 


die  Kolonisten  aus  der  Umgegend  von  Warschau  nicht  einfinden,  die  Bänke 
leer  stehen  .  . .  wenn  von  etwa  siebzig  evangelischen  Kindern,  die  zu  Anfang 
dieses  Schuljahres  in  die  Yorbereitungsklasse  unsrer  Kirchenschide  aufge- 
nommen wurden,  nur  fünfzehn  deutsch  sprechen,  und  das  zum  Teil  recht 
mangelhaft,  aber  alle  gut  polnisch  verstehen  (mit  Ausnahme  eines  einzigen 
Kindes),  dann  ist  dafür  nicht  die  lutherische  Geistlichkeit  verantwoi-tlich 
zu  machen.  Unser  Kirchen kollegium  ist  polnisch  gesinnt.  Aber  das 
Kirchenkollegium  wird  von  der  Gemeinde  gewählt;  warum  beteihgen  sich 
denn  unsre  Deutschen  nicht  wenigstens  prozentualiter  so  an  den  Wahlen, 
daß  man  mit  Recht  die  Forderung  aufstellen  könnte,  es  müsse  eine  gewisse 
Anzahl  Repräsentanten  speziell  des  Deutschtums  im  Kirchen  vorstand  sitzen? 
In  unsern  Elementarschulen  ist  teilweise  die  polnische  Unterrichtssprache 
eingeführt,  Avas  bei  über  80  Prozent  polnisch  redender  Kinder  doch  wohl 
selbstverständlich  ist,  wobei  aber  auf  das  Erlernen  der  deutschen  Sprache 
überall  der  größte  Nachdruck  gelegt  wird.  Wenn  die  Deutschen  deutsche 
Volksschulen  wünschen,  warum  kommen  sie  dann  nicht  zu  uns  mit  ihren 
Vorschlägen?"^) 

Nicht  ganz  so  gering  ist  das  Deutschtum  bei  den  Kolonisten  einzu- 
schätzen. Wir  wollen  aber  aus  dem  Umstände,  daß  sie  sich  ihre  Mutter- 
sprache erhalten  haben,  keine  zu  optimistischen  Schlüsse  ziehn.  Denn  nur 
die  Tatsache,  daß  sie  in  größerer  Zahl  zusammenleben  können,  daß  sie  mit 
den  Polen  weder  in  direkte  Beziehuugen  noch  in  Konkui-renz  einzutreten 
brauchen,  ist  die  wahre  Ursache  für  die  Erhaltung  des  Deutschtums.  In 
den  Kolonistendörfern  gibt  es  keinen  täglichen  Kampf  für  das  Deutschtum. 
Jeder  Splitter,  der  von  der  Kolonie  abspringt,  ist  dem  Deutschtum  unrett- 
bar verloren,  und  diese  Splitter  sind  nicht  etwa  aus  dem  schlechtesten 
Holz.  Vielfach  ist  die  Erhaltung  des  Deutschtums  teuer  erkauft  durch 
Degeneration  ganzer  Kolonien.  In  Polen  ist  diese  Gefahr  zwar  nicht  so 
dräuend  als  in  Wolyuien,  Südrußland  und  an  der  Wolga,  weil  doch  noch 
viele  Mädchen  aus  Deutschland  und  Böhmen  nach  Polen  heiraten.  Aber 
sie  ist  vorhanden;  denn  die  evangelischen  Geistlichen  unterstützen  die 
evangelischen  Eltern  in  ihrem  Kampf  gegen  katholische  Schwiegertöchter,^) 


•)  Diese  Ausführungen  des  deutschen  Pastors  seien  den  Leitern  der  nationalliberalen 
und  alldeutschen  Partei  in  Deutschland  zu  ganz  besondrer  Beachtung  empfohlen.  Sie 
haben  an  die  „Deutschen''  im  Zartum  Polen  gelegentlich  der  letzten  Reichstagswahlen 
Briefe  mit  der  Bitte  um  Unterstützung  der  Wahlen  durch  Geld  geschickt.  Es  wäre 
interessant,  zu  erfahren,  welche  Ergebnisse  jener  Versuch,  der  viel  böses  Blut  gemacht 
hat,  gezeitigt  hat. 

')  Ein  Schulbeispiel  für  Rassenstudien  sowie  Wirkung  der  Rasseuvermischung  und 
Inzucht  bietet  die  frühere  Weberkolonie  von  Poltawa,  die  im  Jahre  1908  auf  ein  hundert- 
jähriges Bestehen  zuriickschaut.     Anläßlich  dieses  Ereignisses  wollte  der  deutsche  Pfai-rer 


A.  Die  Bevölkerung  im  Zartiim  Polen  135 


auch  wenn  evangelische  Anwärterinnen  niu'  im  nächsten  Verwandtenkreise 
7Ai  finden  sind. 

Die  wirtschaftliche  Tüchtigkeit  der  deutschen  Kolonisten  wird  auch 
von  russischen  Beamten  in  hohem  Maße  anerkannt.  So  schreibt  der  Prä- 
sident des  Kameralhofs  von  Kjelce^)  über  die  deutschen  Kolonisten  des 
Gouvernements  Plock:  „Ihre  Höfe  in  der  Gmin  Bobrowniki,  Kreis  Lipno, 
haben  zwischen  30  bis  90  Morgen  Land.  Ein  Deutscher,  der  einen  Hof 
von  30  Morgen  besitzt,  erzielt  im  Laufe  eines  Jahres  einen  Ertrag  von  un- 
gefähr je  100  Kübel  für  Roggen,  für  ein  Paar  junge  Pferde,  für  drei  Stück 
Hornvieh,  120  Rubel  für  vier  Schweine  und  bis  zu  300  Rubel  für  seinen 
Garten,  zusammen  720  Rubel.  Heu,  Stroh,  Spreu  sowie  alle  Knollenfrüchte 
bleiben  als  Viehfutter  oder  zin-  Düngung  zurück. 

„Das  Äußere  einer  deutschen  Wirtschaft  stellt  sich  als  etwas  Abge- 
rundetes und  sti-eng  Durchdachtes  dar.  Es  ist  offensichtlich,  daß  die  Er- 
tragfähigkeit dieser  Wirtschaft  eben  durch  ilu'e  ganze  Organisation  bedingt 
wird.  Vieh-  imd  Pferdestall  und  Düngergrube  sind  bei  einem  Deutschen 
derart  angelegt,  daß  auch  nicht  ein  Stück  Dünger  oder  ein  Tropfen  Jauche 
verloren  geht.  Der  Deutsche  hat  einen  vollständigen  Komplex  von  land- 
Avirtschaftlichen  Geräten,  einschließlich  einer  Dreschmaschine  mit  Pferde- 
antrieb. Alles  ist  stets  in  bester  Ordnung.  Pferde  imd  Vieh  sind  von 
guter  Rasse,  gut  gefüttert  und  rein  gehalten,  da  der  Deutsche  seinem  Vieh 
Streu  mit  freigiebiger  Hand  gewährt.  Der  Brunnen  ist  innen  und  außen 
mit  Feldsteinen  vermauert,  stets  sorgfältig  zugedeckt  und  mit  einer  Vor- 
richtung für  ein  möglichst  leichtes  Wasserschöpfen  versehen.  .  .  . 

„Ganz  anders  ist  die  Wirtschaft  eines  eingesessenen  polnischen  Bauern, 
der  em  Landstück  von  gleichem  Umfang  bewirtschaftet.  .  .  .  Während  pol- 
nisches Bauemland  zu  100  Rubel  für  den  Morgen  verkauft  wird,  werden 
deutsche  Ländereien,  mit  vollständiger  Wirtschaftseinrichtung  sowie  mit 
den  Gärten,  auf  200  bis  300  Rubel  für  den  Morgen  eingeschätzt.  .  .  . 

„Die  Deutschen  siedeln  sich  im  allgemeinen  gern  in  Niederungen  an ; 
zu  einer  deutschen  Wirtschaft  gehört  darum  stets  ein  Stück  moorigen 
Bodens,  in  dessen  nächster  Nähe  im  Überfluß  Sand  vorhanden  ist.     Die 


der  evangelischen  Gemeinde  von  Poltawa  eine  historische  Studie  über  den  Verbleib  der 
ursprünglich  eingewanderten  deutschen  Familien  schreiben.  Ob  es  geschehen  ist,  vermag 
ich  nicht  zu  sagen.  Das  Ergebnis  meiner  persönlichen  Beobachtungen  an  Ort  und  Stelle 
ist  folgendes«  die  deutsch  gebliebnen  Familien  sind  sowohl  geistig  wie  körperlich  wie 
wirtschaftlich  weit  zurück  hinter  den  sogenannten  russif izierten ,  d.  h.  hinter  denen,  die 
russische  Frauen  in  sich  aufgenommeu  haben,  wo  also  die  jüngste  Generation  nicht  mehr 
evangehsch,  sondern  orthodox  ist. 

*)  I.  Orlow,  „Die  wirtschaftliche  Lage  und    die  Zahlungsmittel  der  Bauern  in  den 
Gouvernements  des  Zartums  Polen'\  Kjelce,  1898,  S.  30  bis  33. 


136  Siebentes  Kapitel.    Bevölkerangsstatistik 

sumpfigen  Stellen  werden  mit  einer  Schicht  von  ungefähr  25  bis  30  Zenti- 
meter aufgeschüttet  und  darauf  junge  Pflaumenbäume  gepflanzt.  Gewöhn- 
lich schon  nach  vier  Jahren  hat  der  Kolonist  einen  außerordentlich  frucht- 
reichen Garten.  Ein  Morgen  solchen  Fruchtgartens  bringt  seinem  Besitzer 
eine  jährliche  Einnahme  von  über  100  Rubel.  Jede  einzelne  deutsche 
Wirtschaft  ist  im  Besitz  eines  solchen  Gartens  sowie  steinerner  Trocken- 
räume zum  Trocknen  der  Pflaumen.  Im  Herbst  erscheinen  Aufkäufer  aus 
Warschau  und  Lodz  und  nehmen  ihm  die  Pflaumen  ab.  Freilich  sind  die 
Pflaumen  aus  den  deutschen  Gärten  nicht  ebenso  schmackhaft  wie  die  aus 
höher  gelegnen  Gärten,  dennoch  finden  sie  eine  gute  Abnahme.  Wenn 
man  längs  der  Weichsel  von  Bobrowniki  mit  dem  Dampfschiff  nach 
Dobrzin  fährt,  scheinen  die  deutschen  Kolonien  längs  der  Weichsel  einen 
einzigen  ununterbrochnen  Garten  darzustellen;  die  auf  den  Höhen  ver- 
streuten polnischen  Höfe  sehen  daneben  einsam  aus,  da  sie  fast  von  keiner- 
lei Vegetation  umgeben  sind. 

„Die  Überlegenheit  der  deutschen  Kultur  im  Verhältnis  zur  polnischen 
fällt  in  der  hiesigen  Gegend  recht  grell  in  die  Augen.  Die  deutschen 
Bauernwirtschaften  sind  sogar  besser  organisiert  als  die  Gutswirtschaften.'' 

Die  Stellung  der  Deutschen  zur  russischen  Politik  ist  die,  die  die 
russische  Regierung  am  meisten  schätzt.  Über  Erwerbsinteressen  geht  das 
Interesse  der  Deutschen  nicht  hinaus.  Die  Regiening  hat  die  Deutschen 
eben  aus  diesen  Gründen  immer  so  schlecht  behandelt  wie  nur  irgend 
möglich.  Solange  sie  im  Weichselgebiet  bleiben,  so  lange  genießen  sie 
zwar  noch  volles  russisches  Bürgerrecht.  Sobald  sie  aber  ins  innere  Ruß- 
land kommen,  verfallen  sie  als  Auswandrer  aus  dem  Zartum  Polen  ver- 
schiednen  beschränkenden  Ausnahmegesetzen.  So  düi-fen  die  nach  Wolynien 
übergesiedelten  deutschen  Kolonisten  keinen  Anteil  an  der  Wolostverwal- 
tung  nehmen,  von  den  Wahlen  füi'  die  Reichsduma  sind  sie  ausgeschlossen. 
Diese  Bestimmungen  erschweren  die  Ansiedlung  von  Kolonisten  aus  den 
deutschen  Kolonien  und  drängen  die  Überschüsse  der  deutschen  Bevölkerung 
in  die  Städte.  Die  russische  Regierung  begibt  sich  durch  diese  Politik 
zweier  großer  Vorteile.  ^)  Die  nach  Rußland  kommenden  Deutschen  bringen 
eine  Fülle  von  Kulturfaktoren  mit,  aus  denen  die  heimische  Bevölkerung 
großen  Nutzen  zieht.  Der  lebenskräftigere  Teil  wird  in  der  dritten 
Generation  russisch.  Die  in  die  Städte  Polens  gehenden  Deutschen  ver- 
fallen fast  vollzählig  dem  Polentum  und  mehren  dessen  Zahl  und  wirt- 
schaftliche Stärke. 

*)  Vgl.  auch  Denkscln-ift  der  dfutscheu  Kolonisten  aus  Wolynien;  kurzer  Auszug  in 
„Torgowo-Prom.  Gaseta"  von  1906,  Nr.  164. 


B.  Die  Bevölkerungsbewegung  I37 


Auch  sonst  stößt  die  Regienmg  die  Deutschen  überall  vor  den  Kopf 
und  wird  darin  von  den  militärischen  Kreisen  bestäi'kt.  Wie  sie  das  Zar- 
tiim  Polen  als  eine  Zitadelle  betrachten,  die  im  Falle  eines  Krieges  gegen 
Deutschland  in  die  Luft  gesprengt  Averden  müßte,  sehen  sie  in  den  deutschen 
Einwandrern  lediglich  deutsche  Torposten  und  Spione.  Unter  solchen  Ver- 
hältnissen und  den  sich  daraus  ergebenden  vielfachen  Unannehmlichkeiten 
ist  es  zu  erklären,  daß  sich  das  Deutschtum  immer  mehr  von  den  Russen 
zurückzieht  imd  Anschluß  sucht  an  die  Polen,  die  den  Deutschen  in  den 
Städten  auf  allen  Gebieten  entgegenJcommen  und  denen  im  Gegensatz  zu 
früher  die  wahren  Sympathien  gehören.^) 

Der  Einfluß  der  Deutschen  in  politischer  und  in  wirtschaftlicher  Be- 
ziehung ist  viel  geringer,  als  meist  vorausgesetzt  wird.  Im  Handel  bildet 
Lodz  eine  deutsche  Enklave,  die  nicht  von  den  Polen,  sondern  von  den 
russischen  Lidustriellen  mit  scheelen  Augen  angesehen  wird.  Durch  die 
finanzielle  und  technische  Leistungsfähigkeit  der  Lodzer  deutschen  Fabri- 
kanten wird  der  Eindruck  erweckt,  als  sei  der  deutsche  Einfluß  so  außer- 
ordentlich groß  in  Polen.  Tatsächlich  spielt  aber  Lodz  in  Moskau  und  Mslmi- 
Nowgorod  eine  viel  gi-ößere  und  einflußreichere  Rolle  als  in  Warschau. 

B.  Die  Bevölkerungsbewegung 

Eine  der  wesentlichsten  Folgen  der  Agrarreform  von  1864  ist  die 
außerordentliche  Zunahme  der  polnischen  Bevölkerung  im  Zai'tum  Polen, 
Dasselbe  Volk,  das  sich  von  1846  bis  1862  nicht  um  eine  einzige  Seele 
vermehren  konnte,  hat  sich  in  der  Zeit  von  1862  bis  1897.  also  im  Laufe 
von  nur  fünfunddreißig  Jahren  verdoppelt.  Die  Bedeutung  einer  solchen 
Vermehrung  "svird  ims  recht  klar,  sobald  wir  die  wahrscheinliche  Ver- 
mehrung in  andern  Gebieten  danebenstellen.  Bei  dem  in  den  einzelnen 
Ländern  normal  gewordnen  Geburtenüberschuß  kann  sich  die  Bevölkerung 
in  Frankreich  ei-st  in  236  Jahren  verdoppeln,  in  Östen-eich  in  135,  in 
Deutschland  in  98  und  in  Rußland,  trotz  seines  großen  Kinderreichtums, 
in  65  Jahren.  Wenn  somit  die  wirtschaftlichen  und  sozialen  Verhältnisse 
in  Polen  so  bleiben  könnten,  wie  sie  sind,  und  wenn  die  Auswanderung 
nur  in  demselben  Maße  steigen  würde  wie  in  dem  Zeitraum  von  1862 
bis  1897,  dann  würde  das  Zartum  Polen  im  Jahre  1932  eine  Bevölkerung 


*)  Die  Klagen  deutscher  Gutsbesitzer  im  Zartum  über  Mangel  an  Arbeitskräften  und 
ihre  Behauptung,  dieser  Mangel  sei  durch  Boykott  hervorgenifen,  beruhen  auf  Yerkennung 
der  wahren  Tatsachen.  Die  deutschen  Besitzer  befinden  sich  genau  in  derselben  Lage 
wie  die  polnischen  bezüglich  der  Arbeiter,  seitdem  die  Sachsengängerei  so  außerordentlich 
große  Umfange  angenommen  hat. 


138 


Siebentes  Kapitel.    Bevölkerungsstatistik 


von  etwa  21000000  erreichen.  Wir  werden  später  die  Gründe  aufführen, 
warum  eine  solche  Bevölkerungszunahme  voraussichtlich  nicht  eintreten 
dürfte. 

1.  IHe  natürliche  Zunahme 

Die  Bevölkerung  der  zehn  Gouvernements  des  Zartums  Polen  betrug 
im  Jahre  1862  nach  den  Forschungen  des  Reorganisationskomitees  etwa 
4972000  Seelen.  Von  dieser  Zahl  waren  76,2  Prozent  oder  3  789250  Slawen 
(Polen  und  Russen),  5,2  Prozent  oder  259990  Litauer,  5,6  Prozent  oder 
281980  Deutsche  und  12,8  Prozent  oder  640330  Juden.  Im  Jahre  1897 
ergab  die  Volkszählung  folgendes  Bild:  78,5  Prozent  oder  7387000  Slawen, 
davon  71,8  Prozent  oder  6755500  Polen  und  6,7  Prozent  oder  631440 
Russen;  Litauer  waren  305320  oder  3,2  Prozent,  Deutsche  407270  oder 
4,3  Prozent  und  schließlich  1267200  oder  13,5  Prozent  Juden.  Somit 
haben  sich  die  Slawen  und  Juden  im  Zeitraum  von  fünfiinddreißig  Jahren 
verdoppelt,  während  die  Deutschen  um  ein  Drittel  und  die  Litauer  gar 
nur  um  ein  Fünftel  zunahmen.  Gegenüber  den  Slawen  und  Juden  haben 
die  Deutschen  1,3  Prozent  und  die  Litauer  2  Prozent  eingebüßt. 

Den  Gang  der  Bevölkerungszunahme  für  verschiedne  Jahre  möge  nach- 
stehende Tabelle  zeigen: 


Es  betrug  die  Zahl  der 

1867') 

1873') 

1881 ') 

1889») 

1893 ') 

1904=') 

geschlossenen  Ehen    . 

42290 

46490 

62931 

74927 

74272 

71666 

Geburten 

251001 

273074 

276548 

352405 

369989 

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Todesfälle 

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220721 

229732 

264202 

Einwohner  überhaupt '^) 

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6337316 

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8808969 

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Natürlicher  Zuwachs  . 

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Im  Jahre  1862  betrug  die  Dichtigkeit  der  Bevölkerung  45,8  auf  die 
Quadratweret   (etwas    mehr  als    ein  Quadi'atkilometer).  ^)     Im  Jahre   1870 


»)  Arbeiten  d.  Warsch.  Stat.  Kom.  von  1895/96,  Heft  XIII,  S.  162/3. 

»)  Ebenda  Heft  VII  von  1892,  S.  80/81. 

ä)  Ebenda  Heft  XXIV  von  1906,  S.  47. 

♦)  Ebenda  Heft  XXII  von  1906,  S.  41,  Taf.  VI. 

^)  Der  Rückgang  der  Bevölkei-ung  von  1904  auf  1905  (s.  Tabelle  auf  S.  126)  erklärt 

sich  durch  die  verstärk-te  Rekrutenaushebung  anläßlich  des  russisch -japanischen  Krieges 

und  die  damit  im  Zusammenhang  stehende  Desertion  und  verstärkte  Auswanderung.    (Vgl. 

meine  Ausführungen  in  Bd.  I  von  „Aus  Rußlands  Not  \uid  Hoffen",  S.  33—41  sowie  63—85.) 

®)  Arbeiten  des  "Warschauer  Statistischen  Komitees  Heft  XXII,  S.  85. 


B.  Die  Bevölkerungsbewegung  139 

betrug  allein  die  Zahl  der  Landbewohner  4991300  bei  einer  Gesaratbevöl- 
kenmg  von  5903400.  Im  Jahre  1873  gehörten  von  G 337 300  Einwohnern 
5264700  der  Landbevölkerung  an;  1883  von  7422300:6129028.  Im 
Jahre  1893  waren i)  von  8809000  7213100  Landbewohner  bei  einer 
Bevölkerungsdichte  von  81,2  auf  die  Quadratwerst.  Bis  zum  Jahre  1904 
ist  die  Bevölkerung  des  Weichselgebiets  schon  auf  11588585  Menschen 
gestiegen,  was  einer  mittlem  Dichtigkeit  von  106,9  entspricht.^)  Davon 
entfielen  9242400  auf  das  Land  und  2346200  auf  die  Städte.  Während 
in  Deutschland  die  ländliche  Bevölkerung  von  1890  bis  1900,  also  in  nur 
zehn  Jahren  von  53  Prozent  auf  45,7  Prozent  zurückgegangen  ist,^)  die 
städtische  dagegen  von  47  auf  54,3  Prozent,  also  um  7,3  Prozent  ge- 
stiegen ist,  betrug  die  Steigerung  in  Polen  nach  der  amtlichen  Statistik 
von  1889  bis  1904,  das  sind  fünfzehn  Jahre,  nur  6  Prozent  zugunsten  der 
Städte.  Wenn  dann  dagegengehalten  wird,  die  Landbevölkerung  habe  sich 
von  1862  bis  1904  um  85,7  Prozent  ihres  anfänglichen  Bestandes,  die 
städtische  aber  um  1 55,5  Prozent  vermehrt,  so  darf  dabei  nicht  vergessen 
werden,  daß  die  Zahl  der  Städte  im  Jahre  1864  auf  115  herabgesetzt 
worden  ist,  und  daß  sich  die  Städte  Polens  überhaupt  erst  seit  jenem  Zeit- 
punkt gemeinsam  mit  der  Industrie  zu  entwickeln  beginnen.  Das  ist  wichtig, 
da  die  gesamte  Vermehrung  auf  dem  Lande  der  polnischen  Nationalität 
zugeschrieben  werden  muß,  während  sie  in  den  Städten  zur  Hälfte  Nicht- 
polen,  wie  Juden,  Russen  und  Deutschen,  zufällt,  und  ein  großer  Prozent- 
satz der  Vermehrung  der  städtischen  Bewoliner  auf  Zuzug  vom  platten 
Lande  zurückzuführen  ist. 

Die  Bevölkerungsdichte  vom  I.Januar  1906  zeigte  für  die  einzelnen 
Teile  des  Zartums  folgende  Zahlen:  Ssuwalki  57,2  auf  die  Quadratwerst, 
Lomsha  70,5,  Block  80,9,  Sjedlec  74,9,  Warschau  (ohne  Stadt  Warschau) 
109,5,  Lublin  70,5,  Kaiisch  114,1,  Petrikau  162,8,  Kjelce  107,3  und 
Radom  98,2.  Besondre  Abweichungen  zeigt  der  Kreis  Sejny  mit  41,9,  der 
Ki'eis  Bendzin  mit  259,3,  Warschau  ohne  Stadt  Warschau  195,2.  Über  110  Be- 
völkerungsdichte weisen  23  Kreise  auf,  unter  60  aber  nur  vier  Kreise. *) 

Interessant  ist  eine  Betrachtung  des  Verhältnisses  zwischen  dem  Zu- 
nehmen des  männlichen  und  weiblichen  Teiles  der  Bevölkerung.  Im  Zeit- 
raum von  1867  bis  1873  wurden  jährlich  im  Durchschnitt  auf  100  Weiber 
101,1  Männer  geboren,  während  auf  100  Weiber  100,1  Männer  starben; 
in  der  Periode  von  1874  bis  1883  war  das  Verhältnis  100:102,9:100,9,  in 


^)  Arbeiten  des  Warschauer  Statistischen  Komitees  Heft  XIll,  S.  162  und  176. 

^)  Ebenda  Heft  XXU,  S.  85. 

ä)  Statistisches  Handbuch  für  das  Deutsche  Reich,  1.  Teil,  1907,  S.  :36/37. 

*)  Arbeiten  des  Warschauer  Statistischen  Komitees  von  1906,  Heft  XXVI,  S.  74,77. 


140  Siebentes  Kapitel.    Bevölkerungsstatistik 

der  nächsten  Periode  1884  bis  1893  schon  100:103,5:101,2.^)  Dann  hat 
die  Sterblichkeit  und  Auswanderung  der  männlichen  Bevölkerung  erheblich 
zugenommen,  sodaß  im  Jahre  1904  schon  ein  Überschuß  von  3,9  Prozent 
Frauen  über  die  Männer  zu  verzeichnen  ist.  ^)  Somit  betrug  der  Über- 
schuß an  Männern  in  der  ersten  Periode  1  Prozent,  in  der  zweiten  2  Pro- 
zent, in  der  dritten  2,3  Prozent,  um  dann  im  Zeitraum  von  elf  Jahren  sich 
in  einen  Verlust  von  3,9  Prozent  zu  verwandeln. 

2.  Moralstatistik 

Die  beigefügte  Tabelle  (S.  141)  zeigt  ims  die  amtlich  festgestellte 
Verteilung  der  Bewohner  des  Zartums  Polen  nach  Bekenntnissen  am 
1.  Januar  1893  und  1905.  Nach  Prozenten  ausgedrückt  ergibt  sich  im 
Jahre  1893  für  die  orthodoxe  Bevölkenmg  5  Prozent,  für  die  katholische 
75,5  Prozent,  für  die  Protestanten  5,6,  für  die  Juden  13,9  Prozent,  im 
Jahre  1905  dagegen  5,17,  75.14,  5,19  und  14,5  Prozent.  Somit  hat  sich 
das  Verhältnis  zugunsten  der  orthodoxen  Bevölkerung  auf  Kosten  der  ka- 
tholischen und  protestantischen  um  0,17  Prozent  verschoben. 

Einen  interessanten  Einblick  in  die  sittlichen  Verhältnisse  der  ver- 
schiednen  Bevölkerungsteile  gewährt  uns  die  Zahl  der  außerehelich  ge- 
hornen  Kinder.  Für  das  ganze  Gebiet  waren  im  Jahre  1904  bei  den  Juden 
nur  2  Prozent  der  Kinder  außerehelich  geboren,  bei  Protestanten  und  Ka- 
tholiken je  3  Prozent,  bei  den  Orthodoxen  aber  16,2  Prozent.'')  Schon 
diese  Zahlen  deuten  darauf  hin,  daß  wirtschaftliche  Not,  geheime  Prosti- 
tution, Verwilderung  der  polnischen  und  jüdischen  Jugend,  und  wie  die 
vielen  Gründe  für  das  zahlreiche  Auftreten  außerehelicher  Geburten  alle 
heißen  mögen,  im  Zartum  Polen  nicht  die  Hauptursache  dafür  darstellen 
können.  Die  in  der  traurigsten  wirtschaftlichen  Lage  lebenden  Juden 
haben  den  geringsten,  die  privilegierten  Orthodoxen  haben  den  größten 
Prozentsatz  der  außerehelichen  Geburten.  Die  Zahlen  der  amtlichen 
Statistik  zeigen  uns  den  Weg  zur  Aufklärung  dieser  Tatsache,  ohne  daß 
sie  von  einem  Wort  der  Erklärung  begleitet  wären.  In  den  Städten  des 
Zartums  kommen  nur  8,8  Prozent  außereheliche  Geburten  bei  den  Ortho- 
doxen, 8,1  Prozent  bei  den  Katholiken,  3,2  Prozent  bei  den  Protestanten 
und  2,6  Prozent  bei  den  Juden  vor.  Polen  und  Russen,  wie  wir  sahen  Be- 
amte, Bürger,  Intelligenz,  Fabrikarbeiter  stehen  einander  in  dieser  Be- 
ziehung in  den  Städten  gleich,  nicht  aber  in  den  Landgemeinden.  Dort 
kommen  17,5  Prozent  außereheliche  Geburten  auf  die  Orthodoxen.  2,2  Pro- 
zent auf  die  Katholiken,  3  Prozent  auf  die  Protestanten   und  1,4  Prozent 


»)  Arbeiten  des  Warschauer  Statistischen  Komitees  von  1896  96.  Heft  XIII.  8.  163. 
■^)  Ebenda  von  1906.  Heft  XXVI.  S.  77.     -  ^)  Ebenda  von  1906,  Heft  XXIT,  S.  22. 


B.  Die  Bevölkerungsbewegung 


141 


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142 


Siebentes  Kapitel.    Bevölkenmgsstatistik 


auf  die  Juden.  In  den  einzelnen  Gouvernements  treten  indessen  Ver- 
scliiebiingen  dieser  Zahlen  ein.  Wir  wollen  sie  hierunter  zusammenstellen, 
weil  sie  uns  einen  tiefen  Einblick  gewähren  in  die  Stellung  der  Bevölkerung 
zur  Geistlichkeit  und  in  die  Ergebnisse  der  politischen  Wirksamkeit  der 
russischen  Eegierung.  ^) 


AlleGebui-ten 

Orthodoxe 

Katholiken 

Protestanten 

Juden 

Gouverne- 

ments ') 

ZahP) 

außer- 
eheUch 

Stadt 

0/ 

Land 

0/ 

Stadt 

0/ 

Land 

0/ 

Stadt 

0/ 

I.and 

Stadt 

Land 

0/ 

in"/„^) 

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/o 

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!o 

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Warschau,  St. 

28458 

10,3 

12,4 



14,0 

— 

6,1 

— 

3,0 

— 

Warschau,  Gv. 

59438 

2,7 

3,2 

4,9 

4,1 

2,1 

4,9 

5,0 

4,5 

4,1 

Kaiisch .     .     . 

44591 

2,2 

3,2 

10,7 

2,1 

2,2 

3,1 

3,5 

0,7 

0,3 

Kjelce  .     .     . 

32883 

1,7 

1,2 

? 

4,1 

16,4 

— 

— 

3,3 

0,3 

Lomsha      .     . 

23238 

1,7 

0,9 

2,4 

1,9 

— 

2,3 

0,3 

0,1 

Lublin  .     . 

54668 

2,6 

3,4 

2,9 

6,1 

2,5 

— 

2,1 

3,4 

1,1 

Petrikau     .     . 

72643 

2,5 

4,3 

1,8 

4,5 

2,1 

2,2 

1,8 

2,2 

1,1 

Plock     .     .     . 

21937 

2,7 

2,1 

3,1 

5,7 

5,4 

5,2 

3,2 

1,6 

Radom  .     .     . 

40080 

2.1 

2,2 

4,3 

4,3 

1,9 

2,9 

3,6 

2,6 

1,6 

Ssuwalki    .     . 

20676 

4,7 

6,9 

45,1 

9,0 

3,1 

6,8 

2,8 

1,2 

1,3 

Sjedlec .     .     . 

42080 

9,3 

22,2 

35,4 

44,8 

2.0 

— 

0,7 

2,9 

0,9 

In  unsrer  Übersicht  fallen  uns  folgende  Zahlen  auf:  im  Gouvernement 
Kjelce  bei  den  katholischen  Landbewohnern  16,4  Prozent  außerehelich  ge- 
bome  Kinder.  Wir  haben  dafür  um  so  weniger  Erklärung,  als  das  Gouver- 
nement fast  gar  keine  Wanderarbeiter  (im  Jahre  1904  sind  nur  129  ver- 
zeichnet) liefert.^)  Vielleicht  spielt  dort  die  sozialistische  Propaganda  eine 
größere  Rolle,  vielleicht  die  Nähe  Krakaus  sowie  der  Mangel  an  Geistlichen, 
die  die  Eheschließung  vollziehen  könnten.  Schließlich  kann  der  Zuzug 
von  Erntearbeitern  aus  Galizien  in  dieses  Gouvernement  gewisse,  auf  die 
Höhe  der  Zahl  der  außerehelich  gebornen  Kinder  wirkende  Folgen  haben. 
Begreiflicher  erscheinen  uns  die  Angaben  über  die  Gouvernements  Ssuwalki 
und  Sjedlec.  In  Ssuwalki  entfallen  auf  die  orthodoxen  Geburten  auf  dem 
platten  Lande  45,1  Prozent  außereheliche,  in  Sjedlec  35,4  Prozent,  und  in 
den  Städten  22,2  Prozent.  In  den  Städten  von  Sjedlec  sind  44,8  Prozent 
der  katholischen  Kinder  außerehelich.  Die  letzte  Zahl  ist  belanglos,  da  in 
den  Städten  von  Sjedlec  sehr  wenig  Polen  leben.     Im  Einverständnis  mit 


*)  Im  Deutschen  Reich  betrag  die  Zahl  der  außerehelich  gebornen  Kinder  im  Jahre 
1904  8,3  Prozent.  Sie  erreichte  in  den  Jahren  1859  und  1863  die  höchste  Zahl  mit 
12,4  Prozent.     Statistisches  Handbuch  für  das  Deutsclie  Reich,  L  Teil,  1907,  S.  93. 

2)  Arb.  d.  Warsch.  Stat.  Korn,  von  1906,  Heft  XXIY,  S.  18/21. 

')  Ebenda  S.  10/13.  —  •*)  Ebenda  S.  14/17.  —  •')  Ebenda  Heft  XXU,  Abt.  I,  S.  4. 


B.  Die  Bevölkeiurigsbeweguug  143 

dem  Oberprokureor  des  Heiligen  Synods  führen  wir  die  traurige  Erscheinung 
auf  die  Behandlung  der  Uniaten  zurück.^) 

Nach  dem  von  den  Geistlichen  gelieferten  statistischen  Material,  das 
sich  in  der  Zukunft  als  annähernd  richtig  erwiesen  hat,  belief  sich  im 
Jahre  1897  die  von  der  Union  übernommne  Bevölkerung  in  den  Gouver- 
nements Lublin,  Sjedlec  und  Ssuwalki  auf  377  733  Seelen;  die  Zahl  der 
standhaften  Uniaten  —  das  sind  solche,  die  nichts  von  der  russischen 
Kirche  wissen  wollen  —  betrug  83000  oder  6000  mehr  als  im  Jalire  1896. 
Außerdem  gab  es  im  Jahre  1897  9214  Schwankende  oder  1348  mehr 
als  im  Jahre  1896.  Das  sind  solche,  die  eine  abwartende  Haltung  ein- 
genommen haben,  sich  zwar  nicht  vollkommen  ablehnend  gegen  die  Ortho- 
doxie verhalten,  aber  auch  nicht  als  Rechtgläubige  gelten  dürfen.  Die 
Zahl  der  ungetauften  Kinder  belief  sich  im  Jahre  1897  auf  26177  oder 
6000  mehr  als  im  Jahre  1896.  Ungesetzliche  Ehen  gab  es  9699  oder 
769  mehr  als  im  Jahre  1896.  Yon  den  276  ehemals  imiierten  Kirch- 
spielen, die  im  Jahre  1897  gezählt  wurden,  waren  nur  35,  in  denen  es 
weder  Standhafte  noch  Schwankende  gab.  In  allen  übrigen  konnten  sie 
nach  Zehn  und  Hundert  gezählt  werden. 

Besonders  ti'ostlos  ist  der  Zustand  der  Orthodoxie  in  den  Gouvernements 
Sjedlec  und  Ssuwalki.  Im  ersten  wurden  Ende  1897  152915  fi'ühere  griechische 
Uniaten  gezählt,  darunter  63470  durchaus  Standhafte  und  bis  zu  achttausend 
Schwankende.  Uneheliche  Kinder  gab  es  22803  und  ungesetzliche  Ehen  8496. 
Im  Gouvernement  Ssuwalki  waren  von  14670  angeschlossenen  Uniaten  9774 
Standhafte;  ungetaufte  Kinder  gab  es  2022  und  ungesetzliche  Ehen  397. 

Gewisse  Rückschlüsse  auf  den  sittlichen  Stand  der  Bevölkening  gibt 
auch  der  Alkoholverhrauch,  über  den  ims  seit  Einführung  des  Branntwein- 
monopols in  Rußland  ziemlich  genaue  Daten  vorliegen.  Im  Jahre  1903 
gab  es  in  den  1516  Ortschaften  des  Zartums  1183,  in  denen  alkoholische 
Geti'änke  verkauft  wui'den,  und  in  ihnen  1337  staatliche  Schalter  zum 
Verkauf  von  Branntwein.^)     Der  durchschnittliche  Verbrauch  von  vierzig- 


1)  Immediatbericht  von  1897,  S.  58/60. 
*)  Zahl  der  AlkoholverkaufssteUen  1903: 

Gouvernement  Warschau  von  334  Ortschaften  haben  310,  in  ihnen  264  staatliche. 

„  106  „  „  184 

,,      „  75  ,,  ,,  lOo     ,, 

„      „  110  „  „  168     „ 

„      „  87  „  „   68    ,, 

„  144  „  .,  215 

,.  67  .,  .,   63 

.,  90  „  „  113 

,.  94  „  „   91 

„  100  „  „  118 


Kaiisch 

„     160 

„            Kjelce 

„     116 

„             Lublin 

„     178 

„             Lomsha 

„      94 

„             Petrikau 

..     194 

Plock 

..       76 

ßadoui 

,.     150 

„             Ssuwalki 

„     104 

„            Sjedlec 

„     112 

144 


Siebentes  Kapitel.    Bevölkerungsstatistik 


grädigem  Trinkbrannhvem  zeigt  für  die  zwölf  Wirtschaftsgebiete  des  euro- 
päischen Rußlands  im  Jahre  1903  auf  den  Kopf  der  Bevölkerung  folgen- 
des Bild: 

Nordgebiet 0,78  "Wedro  für  6,10  Rubel 

Ostgebiet 0,40        ,,        ,.     3,09 


Zentrum 0,76 

Mittleres  Schwai'zerdegebiet 0,56 

Kleinrußlaiid 0,50 

Baltikum 0,57 

Nordwesten       0,33 

Südwesten 0,56 

Süden 0,65 

Weichselgebiet 0,39 


5,90 
4,29 
3.84 
4.39 
2.54 
4,27 
4,96 
2,97 


Das  Weichselgebiet  oder  Zartuni  Polen  hat  somit  nächst  dem  Nord- 
westgebiet den  geringsten  Branntweinverbrauch,  während  die  rein  russischen 
Gebiete  des  Zentrums  um  Moskau  und  des  Nordens  den  größten  Verbrauch 
haben.  Auf  die  verschiednen  Gouvernements  des  Zartums  verteilt  sich  der 
Verbrauch  des  Trinkbranntweins  wie  fol^t: 


Stadt 


Land 


Wedro 


Rubel 


Wedro 


Rubel 


Prozent  der 
Polen  >) 


Ssuwalki  . 
Lomsha    . 
Plock  .     . 
Sjedlec 
Warschau 
Lublin 
KaUsch     . 
Petrikau  . 
Kjelce 
Radom    . 


1,01 
0,69 
0,79 
0,77 
1,12 
0,94 
1,45 
0,88 
0,93 
1- 


7,83 
5,38 
5,99 
5,96 
8,61 
7,30 
11,22 
6,80 
7,14 
7,79 


0.19 
0,17 
0,11 
0,18 
0,31 
0,23 
0,27 
0,41 
0.18 
0,21 


1,48 
1.34 
0,86 
1,39 
2,34 
1,78 
2,10 
3,17 
1,35 
1,61 


22,9 
77,3 
80,9 
66,1 
73,5 
62,9 
83,9 
72,1 
87,5 
83,6 


Den  größten  Verbrauch  von  Trinkbranntwein  weisen  im  Zartum  Polen 
die  Städtchen  Wjelun  (1,69  Wedro  oder  13,09  Rubel),  Mjechow  (1,81  Wedro 
oder  13,81  Rubel)  und  Mariarapol  (1,98  Wedro  oder  15,36  Rubel)  auf. 
In  Mariampol  spielt  der  Schmuggel  nach  Preußen  eine  große  Rolle.  Im 
Vergleich  zum  zentralen  Rußland  stellen  die  Zahlen  ein  außerordentlich 
günstiges  Bild  dar.  Denn  in  einem  Gebiet,  das  nur  wenig  größer  ist  als 
das  Zartum  Polen,  gibt  es    allein  26  Städte,  in    denen   auf  den  Kopf  der 


')  Vgl.  S.  126. 


B.  Die  Bevölkerungsbewegung  145 


Bevölkerung  Trinkbranntwein  von  mehr  als  30  Rubel  bis  49,91  (Lukojanow) 
verbraucht  worden  ist.^) 

Das  für  die  polnische  Bevölkerimg  günstige  Bild  wird  verschoben, 
wenn  wir  uns  daran  erinnern,  daß  die  Juden  und  Mohammedaner  fast  keinen 
Alkohol  genießen.  Alsdann  entfällt  auf  den  Kopf  der  christlichen  Bevöl- 
kerung im  Zartum  Polen  für  das  Jahr  1903  etwa  0,45  Wedro  Trinkbrannt- 
wein für  3,51  Rubel.  Auf  der  andern  Seite  ist  das  Vorhandensein  einer 
großen  Armee  in  Polen  nicht  zu  vergessen.  In  den  Regimentern  Polens 
befindet  sich  wie  bekannt  nach  dem  Gesetz  kein  Pole.  Zu  diesem  Bilde 
möchte  ich  noch  eine  persönliche  Beobachtung  hinzufügen.  Ich  habe  im 
Zartum  Polen  nirgends  einen  sinnlos  Betrunknen  auf  der  Straße  liegen 
sehen,  was  mir  in  allen  Städten  Rußlands  täglich  mehrmals,  in  Dörfern 
öfters  begegnet  ist. 

Über  Prostitution  fehlen  uns  einwandfreie  Daten.  Wenn  die  amt- 
liche Statistik  die  Zahl  der  Prostituierten  in  "Warschau,  einer  Großstadt 
von  767900  Einwohnern,  mit  700  angibt,  so  ist  die  Mitteilung  für  uns 
miverwendbar. 

Über  Vergehen  und  Verbrechen  im  Zartum  Polen  gibt  das  Justiz- 
ministerium für  den  Zeitraum  von  1879  bis  1894  Auskimft^)  Danach 
steht  das  Zartum  Polen  mit  durchsclmittlich  36  Bestraften  auf  100000  Ein- 
wohner im  Jahr  am  schlechtesten  im  ganzen  Reich,  für  das  nur  19  Be- 
strafte auf  100000  hn  Durchschnitt  fallen.  Diese  Gegenüberstellung  ver- 
liert, wemi  wir  erwähnen,  daß  die  gewiß  kultivierten  Ostseeprovinzen  zum 
Beispiel   nächst   dem    Zartum  die   größte  Zahl   von  Vergehen    gegen  das 


^)  Im  Gouvernement  Wjatka:  in  Glasow  4,02  "Wedro  oder  30,93  Rubel,  in  Ko- 
teljnitsch  5,67  "W.  oder  43,57  Eub. ;  —  im  Gouvernement  Kasanj:  in  Zarewokokschaisk 
4,61  W.  oder  35,83  Rub. ;  —  im  Gouvernement  Kaluga:  in  Taiiissa  4,36  W.  oder  33,65  Eub., 
in  Malojaroslawetz  5,99  W.  oder  45,90  Rub.;  —  im  Gouvernement  Kostroma :  in  "Warnawin 
4,16  W.  oder  31,93  Rub.,  in  Nerechta  5,24  W.  oder  40,08  Rub.,  in  Tschuchloma  5,70  W. 
oder  43,80  Rub.;  —  im  Gouvernement  Moskau:  in  Kün  3,95  W.  oder  30,43  Rub.,  in 
Swenigorod  4,26  W.  oder  32,71  Rub.,  in  Rusa  4,03  W.  oder  31,08  Rub.,  in  Dmitrowsk 
4,37  ^Y.  oder  33,77  Rub.,  in  Wolokolamsk  4,96  W.  oder  38,09  Rub.,  in  Podolsk  6,32  W. 
oder  48,59  Rub.;  —  im  Gouvernement  Nislini  -  Nowgorod :  in  Lukojanow  6,52  W.  oder 
49,91  Rub.;  —  im  Gouvernement  Smolensk:  in  Juchnow  4,45  W.  oder  34,24  Rub.,  in 
Jeljna  4,87  W.  oder  37,47  Rub.,  in  Ssytschowka  6,16  W.  oder  47,87  Rub.;  —  im  Gou- 
vernement Twerj :  in  Staritza  4,49  W.  oder  34,54  Rub.,  in  Bjeshetzk  4,52  W.  oder  34,80  Rub., 
in  Kaschin  4,74  W.  oder  36,61  Rub.,  in  Subtzow  5,59  W.  oder  43,02  Rub.;  —  im  Gou- 
vernement Tula:  in  Nowossilj  4,56  W.  oder  34,89  Rub.,  in  Kaschira  4,63  W.  oder  35,50  Rub., 
in  Alexiu  4,78  W.  oder  36,68  Rub.;  —  im  Gouvernement  Jaroslaw:  in  Myscbkin  4,06  W. 
oder  31,85  Rub. 

*)  Tarnowski,  ,,Die  Ergebnisse  der  russischen  Kriminalstatistik"',  Beilag'e  zum  Sep- 
temberheft des  „Journals  des  Justizministeriums"  von  1899. 

Cleinow,  Die  Zukunft  Polens  10 


X46  Siebentes  Kapitel.    BevöLkenrngsstatistik 

Eigentum  aufAveisen,  Wir  dürfen  somit  aus  den  Angaben  keine  Schlüsse 
auf  den  Charakter  der  Bevölkerung  des  Zartums  ziehen,  müssen  uns  viel- 
mehr daran  erinnern,  daß  die  Dichtigkeit  der  Bevölkerung,  der  schärfere 
Kampf  imis  Dasein  im  Zartum  gegenüber  den  russischen  Gouvernements 
und  nicht  zuletzt  die  bessern  Verkehi-smittel  die  gegenseitige  Aufsicht 
innerhalb  der  Bevölkerung  vergrößern,  und  daß  jeder  einzelne  Bewohner 
sein  Eigentimi  energischer  verteidigt  als  im  Innern  Kußlands.  ^)  "Wo  kein 
Kläger,  da  ist  auch  kein  Kichter.  Die  Daten  leiden  auch  darunter,  daß 
sie  sich  nicht  nach  dem  Geburtsort  der  Delinquenten  anordnen  lassen. 
Wir  können  somit  die  Straffälligkeit  der  Bevölkerung  nicht  nach  Kreisen 
übei'schauen.  Das  hat  zui'  Folge,  daß  wir  auch  die  Gründe  der  Über- 
tretungen nicht  in  der  sozialen  und  wirtschaftlichen  Lage  der  einzelnen 
Bevölkerungsteile  nachprüfen  können.  Ssimoneuko  ■^)  hat  dennoch  einen 
Versuch  in  dieser  Richtung  gemacht.  Doch  ist  er  dabei  einseitig  vorge- 
gangen. Er  glaubt  zu  beweisen,  daß  die  große  Zahl  der  Verbrechen  gegen 
das  Eigentum  einzig  auf  die  große  Zahl  des  landlosen  Proletariats  zurück- 
zufüliren  sei.  Wir  vermögen  ihm  darin,  ti-otzdem  er  sich  auf  Lavasseur, 
Goltz,  Buchenberger,  Valentini  und  andre  beruft,  nicht  zu  folgen,  da  er 
damit  die  SchädHchkeit  des  Großgnmdbesitzes  nachweisen  möchte,  aber 
eine  der  wichtigsten  Quellen  der  Vergehen  gegen  das  Eigentum  überhaupt 
nicht  erwähnt:  die  Servitute.  Ihre  Bedeutung  für  die  Zalil  der  Gesetzes- 
verletzungen wird  der  Leser  leicht  aus  den  zahlenmäßigen  Angaben  im 
Kapitel  9  erkennen.  Schließlich  sind  die  Angaben  Ssimonenkos  für  uns 
auch  deshalb  nicht  verwendbar,  weil  sie  sich  nicht  auf  die  Nationalitäten 
verteilen  lassen. 


•)  Entsprechend  den  Veröffentlichungen  des  Justizministeriums  für  1874  bis  1894 

entfielen  die  einzelnen  Vergehen  im  Russischen  Reich  auf  die  verschiednen  Nationalitäten 

nach  Prozenten  wie  folgt :                                      ^  ,  -r  •  t^         ,  t    , 

Russen        Polen  Litauer  Deutsche  Juden 

Religiöse  Vergehen 1,8              0,5  0,4  1,4  0,7 

Vergehen  gegen  die  Verwaltung     .       13,5            20,3  16,7  16,0  15,1 

Amtsvergehen 9,9              5,6  5,6  5,1  1,9 

Landstreicherei,  Vergehen  gegen  das 

Paßwesen 4,4              3,0  2,3  5,8  6,4 

Sittüchkeitsvergehen 5,7              4,0  7,9  8,2  6,9 

Verbrechen  gegen  das  Leben     .     .         7,7              5,5  7,4  7,6  2,1 

Verbrechen  gegen  die  Person    .     ,      11,3             14,4  16,0  12,4  2,3 

Vernichtung  von  Eigentum   ...         1,9               0,7  1,0  1,2  0,5 

Raub 4,0              3,4  2,7  1,8  1,8 

Diebstahl,  Kirchendiebstahl   .     .     .      31,7             29,3  25,6  24,2  24,5 

Betrug,  Aneignung,  Fälschung  .     .         1,9               1,6  1,7  2,5  4,2 

Sonstige  Vergehen 6,2             11,7  12,7  13,8  33,6 

^)  Arb.  d.  Wai-sch.  Stat.  Korn,  von  1900  Heft  XVn,  S.  34/41. 


C.  Die  russischen  Polen  außerhalb  des  Zartums  147 


C.  Die  russischen  Polen  außerhalb  des  Zartums 

1,  Die  Polen  im  Westgehiet 

Wir  haben  uns  nunmehr  noch  der  polnischen  Bevölkerung  im  rus- 
sischen Reich  außerhalb  des  Zartimis  Polen  zuzuwenden.  Ihre  Zalil  betrug 
ohne  die  Angehörigen  des  aktiven  Heeres  etwa  zwei  Millionen  und  ist 
über  das  ganze  Reich  bis  an  die  Gestade  des  Stillen  Ozeans  und  an  die 
Grenzen  Afghanistans  verteilt.  Sie  besteht  aus  der  alteingeseßnen  Bevöl- 
kerung der  neun  Gouvernements  des  Westgebiets  und  aus  den  in  den 
übrigen  Gouvernements  des  Reichs  freiwillig  oder  unfreiwillig  lebenden 
Polen. 

In  dem  zuerst  erwähnten  Gebiet  haben  die  Polen  vermöge  ihrer  Zahl 
und  ihres  wirtschaftlichen  Übergewichts  eine  ähnliche  Bedeutung  wie  der 
deutsche  Adel  in  den  baltischen  Provinzen,  wenngleich  sie  kulturell  nur 
teilweise  imd  bezüglich  ihrer  politischen  Rechte  gar  nicht  mit  ihm  zu  ver- 
gleichen sind.  So  war  die  Anwendung  der  polnischen  Sprache  im  West- 
gebiet bis  zum  Jahre  1905  ausschließlich  im  privaten  Verkehr  gestattet. 
Bei  öffentlichen  Versammlungen,  Schaustellungen,  im  geschäftlichen  Verkehr 
durfte  sie  nicht  angewandt  werden.  In  Theatern  mid  Konzerten  war  sie 
gleichfalls  verboten.  Dementsprechend  gab  es  auch  bis  zum  Jahre  1905 
im  Westgebiet,  also  auch  in  den  Zentren  Wilna,  Minsk,  Kijew  keinerlei 
Zeitungen  in  polnischer  Sprache.  Dennoch  stellen  die  Polen  nach  der 
amtlichen  Statistik  in  Grodno  10,8  Prozent  der  Bevölkenmg  dar,  in  Kowno 
9,1,  in  Wilna  8,2,  in  Wolynien  6,2,  in  Witebsk  3,4,  in  Minsk  3,1,  in  Po- 
dolien  2,3,  in  Kijew  1,9,  in  Mohilew  1,1  Prozent.  In  den  genannten 
Gouvernements  bilden  sie  vornehmlich  den  Großgrundbesitz  und  in  den 
Städten  einen  Teil  der  bessern  Handelswelt  sowie  der  Intelligenz.  Be- 
sonders in  diesem  westlichen  Teil  Rußlands  können  wir  das  polnische 
Element  doppelt  so  hoch  annehmen,  als  es  die  amtliche  Statistik  an- 
gibt,  ohne  der  Übertreibung  schuldig  zu  werden.^)     Die  gebildeten  und 


1)  Bis  zum  Jahre  1895  konnte  noch  eine  den  Personen  polnisctier  Herkunft  im 
Westgebiet  auferlegte  Immobiliensteuer  zur  Beurteilung  der  Ausbreitung  des  Polentums 
herangezogen  werden.  Freilich  nur  mit  gi-ößter  Vorsicht.  Denn  die  Steuer  war  angesichts 
der  oben  envähnten  Definition  leicht  zu  umgehen  und  wurde  von  den  Kreischefs  des  Ge- 
biets und  den  Gouverneuren  als  politisches  Zwangsmittel  gegen  oppositionelle  Gutsbesitzer 
gehandhabt,  nicht  aber  als  ordentliche  Steuer.  Die  damit  verbundnen  Überschreitungen 
der  Amtsbefugnis  veranlaßten  Herrn  Witte,  auf  die  Abschaffung  der  Steuer  zu  dringen,  die 
immer  weniger  eintrug.  Im  ganzen  Gebiet  brachte  sie  im  Jahre  1888  1330900  Rubel, 
1890  1300  700,  im  Jahre  1893  1196800  und  im  Jahre  1895  1208200  Rubel. 
Gegenwärtig  werden  nur  noch  Rückstände  aus  jener  Steuer  eingetrieben.  In  den  einzelnen 
Gouvei-nements  brachte  die  Steuer  im  Jahre  1895:  Wilna  80500,  Witebsk  37600,  Wo- 
lynien 230800,  Grodno  86400,  Kijew 210500,  Kowno  142800,  Minsk  61200,  Mohilew  88100 
und  Podolien  320300  Rubel  (einschließhch  Rückstände). 

10* 


148  Siebentes  Kapitel.    Bevölkerungsstatistik 


besitzenden  Schichten  der  Litauer,  viele  Weißrussen  und  Letten,  soweit  sie 
sich  der  römisch-katholischen  Kirche  angeschlossen  haben,  bezeichnen  sich 
gern  als  Litauer,  Letten,  Weißrussen  polnischer  Kultur.^)  Auch  die  ras- 
sischen Uniaten  in  Wolynien  erregen  vielfach  Zweifel,  wenn  sie  auch  nicht 
voi'wiegend  zu  den  Polen,  sondern  zu  den  Kuthenen  zu  rechnen  sind. 
Auch  die  folgenden  Angaben  über  das  Verhältnis  der  verschiednen  Be- 
kenntnisse im  Westgebiet  zueinander  lassen  darauf  schließen,  daß  die 
Zahl  der  „Polen"  ün  Westgebiet  erheblich  größer  ist,  als  die  amtliche 
Statistik  zugibt. 

Im  Jahre  1897  gab  es  in  Tausend:^) 

In  den  Gouveniements  Orthodoxe   Katholiken    Protest.      Raskoln.        Juden 

Kowüo 2,8  o/o        72,8  o/o  2,9  «'„         ?     »/„        18,90/0 

Wilna 415.3  935,8  ?  25,7  205,3 

Witebsk 826.0  357,3  46,9  83,0  175,7 

Grodno 921,6  384,4  12,7  ?  276,9 

Minsk 72,8  «0        10.2  «/o  ?  ?  15,8»/, 

Mohilew 1404,0  51,4  6,8  22,8  201,3 

Woljaiien 2106,9  296,8  173,3  7.6  388,0 

Kijew 2988,7  109,4  5,2  15,0  428,0 

Podolien 2370,7  273,3  4,0  16,8  394,5 

Schließlich  möchten  wir  hier  noch  auf  den  Ausfall  der  drei  Wahlen 
für  die  Reichsduraa  in  den  genannten  neun  Gouvernements  hinweisen. 
Aus  dem  Westgebiet  wurden  gewjihlt:  zur  ersten  Reichsduma  sieben  Polen, 
zur  zweiten  acht,  und  ziu'  dritten,  ti'otz  des  geänderten  Wahlgesetzes,  noch 
sechs.  ^)  Das  deutet  auf  den  außerordentlich  großen  Einfluß  hin,  den  da,s 
polnische  Element  im  Westgebiet  hat. 

2.  I>ie  Polen  in  den  innert^issi sehen  Gouvernements 

Der  Hauptteil  der  polnischen  Bevölkerung  in  den  Stammgouvemements 
des  Reiches  setzt  sich  zusammen  aus  Verbannten,  das  heißt  solchen,  die 
nur  das  Recht  haben,  in  bestimmten  Gouvernements  zu  leben,  imd  aus 
Beamten,  Offizieren,  Lehrern,  Ingenieuren  sowie  seit  etwa  zwanzig  Jahren 
aus  Kaufleuten  und   deren  Angestellten.     Hierbei  sei  erinnert,  daß  ^'er- 


^)  Äluüich  urteilt  Jan  Kartowicz  in  der  83.  Ausgabe  der  Macierz  polska:  ,,Polska, 
obrazy  i  opisy"  Bd.  1,  Lemberg,  1906,  S.  211. 

'')  Adreßkalender  von  A.  S.  Ssuworin  1902,  „AVsja  ßossija". 

'■')  Näheres  mein  Eussischer  Brief  Nr.  7  in  Nr.  32  der  (irenzboten  von  1907,  Bd.  III, 
S.  273  bis  281.  Die  polonisierien  Letten  und  Litauer  sind  in  der  Zahl  nicht  eothalten. 
Als  Angehörige  der  Autonomistengnippe  und  der  Kadettenpartei  haben  sie  aber  die  Politik 
der  Polen  -«ärksam  unteretützt. 


C.  Die  nissischen  Polen  außerhalb  des  Zartums  149 

bannte  auch  in  den  Staatsdienst  aufgenommen  werden.  Die  Zahl  der  seit 
1864  zwangsweise  nach  Rußland  übergesiedelten  Polen  muß  sehr  groß  sein, 
Avenn  wir  bedenken,  daß  jeder  politische  Prozeß,  jede  Demonstration,  jeder 
Streik  gewöhnlich  mehrere  hundert  Verbannungen  zur  Folge  hatten.  Nähere 
Anhaltspunkte  über  die  Höhe  fehlen  uns.  Die  Mehrzahl  der  Polen  lebt 
in  den  GouYornementsstädten ,  wenn  auch  die  Zahl  der  polnischen  Guts- 
verwalter an  Stelle  Deutscher  Avächst.  Dort  haben  sie  eigne  Kirchen,  in 
denen  meist  aus  Polen  verbannte  Priester  walten.  Zu  den  letztern  ge- 
hörten auch  solche  hervorragende  Persönlichkeiten  wie  der  Bischof  von 
Wilna  Krassinski  und  der  von  Warschau  Felinski.  In  den  russischen  Gou- 
vernements bilden  die  Polen  eigne  geschloßne  Gesellschaften,  die  —  das 
sei  hervorgehoben  —  fast  überall  einen  geistigen  Mttelpunkt  bilden,  dem 
sich  die  gebildeten  russischen  Kreise  gern  anschließen.  Besonders  große 
polnische  Kolonien  bestehen  in  St.  Petersburg,  Moskau  und  Charkow.  In 
Petersburg  gehören  zur  Kolonie  mehr  als  40000  Polen,  darunter  viele  hohe 
Beamte,  Professoren,  Ärzte,  Rechtsanwälte  mit  gut  klingenden  Namen, 
i'eiche  Magnaten  und  Kaufleute,  und  ihre  Festlichkeiten  im  AVinter  gehören 
zu  den  gesuchtesten  Verguügmigen  der  sogenannten  guten  Gesellschaft  der 
Newa-Hauptstadt.  In  Petersburg  erscheint  auch  seit  dem  Jahre  1880  die 
Halbmonatschrift  Kraj,  von  der  AAdr  später  noch  mehr  hören  werden.  Die 
Moskauer  polnische  Kolonie  zählte  1904  gegen  12000  Mitglieder,  darunter 
viele  hundert  Studenten.  Die  CharkoAver  Kolonie  wurde  auf  6000  bis 
7000  Mitglieder  geschätzt. 

Leider  fehlen  uns  auch  nur  annähernd  zusammenhängende  Daten 
darüber,  in  Avelchem  Maße  die  polnische  Bevölkerung  in  Rußland  zunimmt. 
Die  amtliche  Statistik  über  Wanderarbeit  und  Auswanderung  aus  dem 
Weichselgebiet  in  die  russischen  Gouvernements  bringt  folgende  Angaben. 
In  die  russischen  Gouvernements  gingen  von  allen  Wanderarbeitern  im 
Jahre  1904  4325  Männer  und  Frauen.  In  den  russischen  Gouver- 
nements haben  sich  während  des  Jahres  1904  —  fi'ühere  Angaben  fehlen  — 
783  Menschen  polnischen  Ursprungs  angesiedelt,  davon  175  Junggesellen 
und  195  Verheiratete  und  mit  ihnen  413  Frauen  und  Kinder.  Unter 
ihnen  waren  282  Katholiken.^)  Aus  welchen  sozialen  Schichten  diese 
AusAvandi"er  nach  Rußland  hervorgehen,  gibt  die  Statistik  nicht  an;  aber 
wir  glauben  nicht  fehlzugehen,  Avenn  Avir  unter  ihnen  viele  Gebildete 
vermuten,  die  als  Staatsbeamte,  Anwälte,  Lehrer,  Ingenieure,  Ärzte  usw. 
oder  als  Gutsverwalter  in  Rußland  ErAverb  suchen,  um  so  mehr  als  es  den 
Polen  verAvehrt  ist,  im  Westgebiet  Land   zu   erAverben.     Daneben  können 


»)  Arb.  d.  Warsch.  Stat.  Kom.  v.  1906,  Heft  XXTI,  S.  59. 


J50  Siebentes  Kapitel.    Bevölkerungsstatistik 

wir  feststellen,  daß  ihre  Zahl  unter  den  Beamten  der  Eisenbahn  und  des 
Finanzministeriums  seit  1894  außerordentlich  zugenommen  hat,  ebenso  wie 
die  Zahl  der  Professoren  an  den  höhern  Leliranstalten  wie  auch  der  Be- 
triebsingenieure in  den  großen  Privatfabriken.  Überall  treffen  wii-  die 
Polen,  überall  haben  sie  Verbindungen,  und  überall  sind  sie  zusammen- 
geschlossen, ohne  sich  abzuschließen,  obgleich  sie  überall  zuerst  Polen  und 
dann  auch  russische  Staatsbürger  und  Staatsbeamte  sind.  Also  gerade 
umgekehrt  wie  die  Deutschen,  die  zuerst  russische  Staatsbürger,  und 
solange  es  ihrem  persönlichen  Fortkommen  nicht  schadet,  auch  evangelische 
Deutsche  sind. 


C^<^©5 


Achtes  Kapitel 

Wirtschaft 

Die  tief  einschneidenden  Reformen  der  1860  er  Jahre  haben  ihren  Ein- 
fluß auf  die  wirtschaftliche  Entwicklung  des  Landes  nicht  verfehlt.     Die 
Reformen  bedeuteten  eine  Befreiung  von  mehr  als  einer  MiUlon  Arbeits- 
händen aber  auch  deren  AnsteUung  in  der  Wirtschaft  als  Erzeuger  und  täg- 
üch  anspruchsvoUer  werdende  Verbraucher.     Neben  der  Agrarreform  und 
ihren  günstigen  Folgen  ging  die  Erschließung  der  Kohlen-  und  Eisenschätze 
von  Dombrowa,   die  Weiterentwicldimg  der  Manufakturmdustrie ,  die  Ära 
der  Eisenbahnbauten.   Eine  überale  Regierang  öffnete  ausländischen  Kennt- 
nissen und  Kapitalien  gern  die  Grenzen,  und  so  geschah  es,  daß  sich  die 
Polen  unter  Anleitung  des  Auslandes,    vor  allen  Dingen  der  Deutschen, 
mit  der  modernen  Wirtschaft  und  deren  modernster  Organisation  verti-aut 
machen  konnten,  ohne  selbst  die  Kosten  solcher  praktischen  Studien  zahlen 
zu  müssen.    Die  Polen  gaben  ihre  körperliche  und  später  in  zunehmendem 
Maße  die  geistige  Arbeitskraft.   Aber  die  Ideen  und  das  Risiko  der  Kapital- 
anlage trugen  deutsche  Kapitalisten,  Ingenieure  und  Kaufleute.   So  wirkten 
aUe  Avichtigen  Wirtschaftsfaktoren  im  Innern  des  Landes  zu  einer  seltnen 
Befruchtung  der  durch  die  Gesetzgebung  von  1864  neu  geschaffnen  Grund- 
lagen der  Wirtschaft.   Auf  vielen  Gebieten  des  gewerblichen  Lebens  setzte 
eine  überraschend  üppige  Entwicklung  em. 

Doch  auch  Ursachen  der  internationalen  Verbindung  des  Weichsel- 
gebiets machten  ihren  Einfluß  geltend.  Im  benachbarten  Deutschland  regte 
sich  die  Untern  ehmimgslust.  Die  französischen  MiUiarden  erleichterten 
den  deutschen  Geldmarkt,  und  viele  Mittel  strebten  nach  günstiger  Anlage, 
die  damals  noch  in  Deutschland  selbst  nicht  ausführbar  schien.  Auf  der 
andern  Seite  verbesserte  Rußland  seine  Verkehrswege  und  begann  sich 
langsam  aber  mit  unwiderstehbarer  Gewalt  gegen  den  asiatischen  Markt 
in  Bewegung  zu  setzen.  Aus  (üeser  Bewegimg  hat  Polen  reichen  Nutzen 
gezogen;  es  wurde  bald  ein  scharfer  KonkiuTcnt  der  Moskauer  Industrie. 


152  Achtes  Kapitel.    Wirt,'<chaft 


Alle  diese  erfreulichen  Erscheinungen  haben  sich  schon  in  den  1870  er 
Jahren  gezeigt,  und  die  russische  Regierung  glaubte  sich  berechtigt,  die 
Erfolge  ganz  allein  ihrer  Politik  zuschreiben  zu  dürfen.  Eine  solche  Auf- 
fassung tritt  uns  besonders  in  den  Arbeiten  des  Professors  Gr.  Ssimonenko 
entgegen,  der  später  von  1890  bis  1905  Leiter  des  "Wai-schauer  Statistischen 
Komitees  war.  Ssimonenko  hat  in  seinen  Yeröffentlichungen  immer  die 
Parallele  zwischen  dem  Zartum  Polen  einerseits  und  den  Provinzen  Posen 
und  Galizien  andrerseits  gezogen  imd  ist  dabei  zu  den  besten  Ergebnissen 
für  die  russische  Regierung  und  zu  den  ungünstigsten  für  die  preußische 
gekommen.^)  Freilich  hat  er  den  Wert  zweier  Dinge  vollständig  unbe- 
achtet gelassen:  geordnete  Rechtsverhältnisse  und  Bildung.  Polen  hat 
zweifellos  wirtschaftlich  gegenüber  der  Zeit  vor  1864  außerordentliche 
Fortschritte  gemacht.  Aber  diese  Fortschritte  verlieren  doch  an  Bedeutung, 
wenn  man  sie  nicht  nur  im  Verhältnis  zu  den  russischen  Stammgouveme- 
ments  betrachtet.  Denn  obwohl  Polen  das  Vielfache  der  in  Posen  und 
Westpreußen  hervorgebrachten  materiellen  Werte  schafft,  ist  es  schon  im 
Jahre  1894  weit  zurück  gegen  die  beiden  preußischen  Provinzen,  Avoil  es 
kulturell  zurückblieb.  Auch  im  letzten  Jahrzehnt  ist  der  Abstand  nicht 
ausgeglichen,  ist  vielmehr  Aveiter  geworden.  Die  Gründe  dafür  wei'den 
Avir  später  näher  kennen  lernen;  hier  haben  wir  die  Entwicklung  der 
Landwirtschaft,  der  Industrie  und  des  Handels  an  der  Hand  der  Statistik 
darzustellen. 

A.  Die  Landwirtschaft 

In  Kapitel  3  wurde  gezeigt,  wie  die  Regierung  die  Landbevölkenmg  ein- 
geteilt hat,  in  adliche  Besitzer  und  Bauern.  Nicht  wirtschaftliche  oder  soziale, 
sondern  ausschließlich  politische  Merkmale  waren  maßgebend  für  die  Teilung. 
Wir  zeigten  auch,  welche  politischen  Gründe  für  die  amtliche  Terminologie 
maßgebend  waren.  Im  folgenden  interessiert  uns  ausschließlich  die  tvirt- 
schaftliche  Struktur  des  Landes.  Wii'  wollen  zunächst  die  ivirtschaftUche 
Leistungsfähigkeit  des  gesamten  Gebiets  sowie  der  einzelnen  Bevölkenmgs- 
schichten  im  ganzen  darstellen.  Über  die  Abweichungen  in  den  einzelnen 
Teilen  des  Landes  können  wir  darimi  einstweilen  hinwegsehen,  so  groß 
sie  tatsäclilich  sind.  Darum  soll  auch  die  amtliche  Statistik  über  den 
Bodenbesitz  ein  wenig  verschoben  werden,  indem  wir  die  kleine  Schlachta 
zu  den  bäuerlichen  Wirtschaften  zälilen.  Wir  erhalten  dann  für  das  Jahr 
1904  folgendes  allgemeines  Büd:  Von  den  11297029  Deßjatinen  des  Zar- 
tums  gehören  54,6  Prozent  bäuerlichen  Kleinbetiieben,  35,1  privaten  Groß- 


*)  Das  Zartum  Polen,  von  Professor  Gr.  Ssimonenko,  Warschau,  1878,    Dnick  der 
Medizinischen  Zeitung. 


Ä.  Die  Landwirtschaft 


153 


betrieben,  5,9  staatlichen  Großbetrieben;  2,6  Prozent  des  Bodens  gehören 
den  Flecken  und  deren  Bewohnern,  1,3  Prozent  den  116  Städten  und 
0,5  Prozent  anderweitigen  Besitzern,^) 


1,  I>le   Verteilung  des  Bodens 

Die  gesamte  Verteilung  des  Landes  für  das  Jahr  1904  in  den  zehn 
Gouvernements  im  Zartum  Polen  ergibt  sich  aus  folgender  Tabelle: 


Größe  des 

Gnindbesitzes  (in  Deßjatinen) 

BezeicliDung 

■ö 

der 
Gouvernements 

es 
CS 

03    os 

Ol 

Ö 

o 
<1> 

Groß- 
giTind- 
besitz 

2 
S 

<D 
i      1 

^  i 

Ssuwalki   .     .     . 

624865 

4067 

20428 

18022 

249156 

204248 

2181 

1122967 

Lomsha     . 

279956 

319393 

18305 

12562 

160993 

110533 

1679 

903421 

Plock    .     . 

313953 

124482 

13120 

9175 

373152 

23664 

1646 

859192 

Sjedlec 

593700 

155981 

48896 

23438 

413834 

20  785 

12551 

1269185 

Wai-scliau 

742525 

35801 

24425 

22324 

641581 

58135 

15830 

1540621 

Lubliu  .     . 

780650 

2212 

36728 

19000 

606312 

24568 

12817 

1482287 

Kaiisch 

522989  1      — 

22252 

12413 

442995 

17420 

2787 

1020856 

Petrikaii    . 

583594 

9652 

39090 

17428 

403764 

51335 

3460 

1108323 

Kjelce  .     . 

463441 

152 

27441 

8937 

308388 

76702 

2856 

887917 

Radom 

602419 

— 

41682 

10139 

S61409 

82578 

4033 

1102260 

Zusammen 

5508092 

651 740 

292367 

153438 

3961584 

669968 

59  840 

11297029 

In  Frozen 

ten 

48,8 

5,8 

2,6 

1,3 

35,1 

5,9 

0,5 

100 

a)  i)as  hand  der  Kleinhetriebe.  Die  kleinen  Beti'iebe  umfassen  über 
die  Hälfte  des  gesamten  Bodens  im  Zartum  Polen  oder  54,6  Prozent,  was 
einer  Zahl  von  6159800  Deßjatinen  gleichkommt.  Davon  gehören  der 
kleinen  Schlachta  651 740  Deßjatinen  oder  5,8  Prozent  des  Gesamtbodens. 

b)  Der  Oroßgrundhesitz.  Der  adliche  Grundbesitz  ist  von  rund 
8000000  Deßjatinen  im  Jahre  1862  auf  3961584  Deßjatinen  im  Jahre  1904 
zurückgegangen.  Ziehen  wir  von  der  ersten  Zahl  die  im  Jahre  1864  den 
Bauern  zugeteilten,  also  zwangsweise  enteigneten  3609720  Deßjatinen  ab, 


^)  Das  statistische  Material  über  Verteilung  des  den  Bauern,  den  Flecken  und  der 
kleineu  Schlachta  gehörenden  Landes,  über  den  Umfang  der  einzehien  AA'irtschaften  sowie 
über  die  Größe  des  Hof-  und  Kronlandes  wiu-de  amtlich  zum  erstenmal  im  Jahre  1899 
von  den  Gmin Verwaltungen  eingefordert.  Im  gleichen  Jahre  lieferten  auch  die  Kameral- 
höfe  Daten  über  die  Liegenschaften  der  Gmin  unter  Zugrundelegung  der  Liquidations- 
tabellen. Im  Jahre  1899  gaben  die  Kameralhöfe  vergleichende  Überblicke  über  die  Ver- 
teilung des  Giundbesitzes  der  Bauern  und  Flecken  im  Vergleich  zum  Jahre  1870.  Die 
Daten  der  ersten  Art  wurden  für  die  Gouvernements  Ssuwalki  imd  Lomsha  in  den 
Heften  IV,  VI  und  X  der  ..Arbeiten  des  Wai-schauer  Stati.stischen  Komitees"  veröffent- 
licht, die  übrigen  in  Heft  XVII. 


154 


Achtes  Kapitel.    Wirtschaft 


dann  ergibt  sich  eine  natürliche  Verminderung  des  adlichen  Grundbesitzes 
von  mindestens  429000  Deßjatinen  (4390000  auf  3961000  Deßjatinen). 
Die  gesamte  natürliche  Vermindenmg  ist  nach  einer  geringen  Zunahme 
zwischen  1887  bis  1893  auf  den  Zeitraum  von  1894  ab  zu  rechnen;  sie 
betrügt  nach  amtlicher  Angabe  636000  Deßjatinen  gegenüber  dem  Stande 
gleich  nach  der  Agrarreform. 

"Wenn  die  Angaben  des  Warschauer  Statistischen  Komitees  zutreffend 
sind,  dann  ist  die  Zahl  der  Güter  von  etwa  9580^)  im  Jahre  1904  auf 
7417'')  im  Jahre  1906  zurückgegangen.  Die  Verteilung  des  Landes  nach 
seiner  Verwendung  ebenso  wie  die  ßodenpreise  gibt  folgende  Zusammen- 
stellung: 


Gutsland 

Boden  wert  in  R 

ib.u.Kp. 
Kauf- 

Gouveraement 

Überhaupt 

Davon  ^ 

Morgen 

f.  d.  Be- 
steue- 

nach 
Er- 

1906 
Morgen 

rung 

trägen      wen 

=r. 

Acker 

"Wiese 

Wald 

Sonst. 

1900 

1900  1    1904 

Ssuwalki     .     . 

308031 

167367 

35576 

69683 

35405 

62,57 

3,67 

148,- 

Lomsha  . 

283097 

125650 

30250 

84641 

42556 

63,89 

5,66 

101,— 

Plock     . 

697796 

459997 

52993 

102  952 

81852 

80,14 

6,86 

140,- 

Sjedlec  . 

659276 

294167 

71989 

237  180 

55938 

71,22 

5,76 

153,- 

Lubliu    . 

1011423 

478425 

68630 

421298 

43070 

91,40 

10,87     289,- 

Wai"schau 

1099982 

724025 

69603 

230603 

75751 

97,96 

8,91 

209,- 

Kaiisch  . 

685388 

399218 

.^1042 

183387 

51741 

100,- 

5,69 

190,- 

Petrikau 

621417 

311263 

52  284 

206847 

51 023 

83,50 

8,53 

160,— 

Kjelce    . 

490193 

235  797 

2750:J 

187222 

39671 

91,14 

7,46 

289,— 

Radom  . 

523568 

211306 

25  407 

237252 

49603 

105,— 

8,14 

219,— 

Die  Verschuldung  der  Güter  in  der  Landbank  von  1892/93  bis  1900/01 
war  folgende:  Im  Jahre  1892/93  belief  sich  der  Schätzungswert  auf 
318  538  633  Kübel  oder  43,65  Rubel  pro  Morgen,  die  Gesamtsumme  der 
Schulden  auf  210108563  Rubel  oder  65,9  Prozent  des  Wertes;  pro  Morgen 
entfallen  somit  28,79  Rubel  Schiüden. 

Im  Jahre  1900/01  wurde  der  Schätzungswert  der  Güter  mit  298481079 
Rubel  angegeben  oder  pro  Morgen  45,2  Rubel,  die  Gesamtsumme  der 
Schulden  belief  sich  auf  122174339  Rubel  oder  40,9  Prozent  des  Wertes, 
somit  entfallen  pro  Morgen  18,5  Rubel  Schulden.  Privatschulden  sind  hier 
nicht  berücksichtigrt. 


1)  Arbeiten  des  Warschauer  Statistischen  Komitees  von  1906,  Heft  XXV,  S.  44. 

2)  Ebenda  von  1907,  Heft  XXX,  S.  21.  Bei  diesen  Angaben  liegt  die  Gefahr  nahe, 
daß  die  Zahl  der  von  der  Landbank  ausgegebnen  Hypothekeninstrumente  mit  der  Zahl  der 
beliehenen  Grundstücke  identifiziert  ist.  Bei  dem  in  St.  Petersburg  zugänglichen  Material 
konnte  ich  hierüber  Klarheit  nicht  gewinnen. 


A.  Die  Landwirtschaft 


155 


2.  Die  EHräge  der  Landtvirtschnft 
a)  Ernten*) 


Getreide 

1870 

1889 

1892 

1895         1897 

1900 

1902         1904 

in  tausend  Tschetwert 

in  tausend  Pud 

Winterweizen    . 

2227,4 

1660,1 

4036.1 

28571,5    29367,9 

32443,1 

33498,3 

35033,0 

Sommera-eizen  . 

126,0 

27,7 

67,4 

317,0        219,4 

324,2 

311,0 

258,4 

Roggen      .     .     . 

5868.0 

6296,2 

10486,7 

84894,8 

84091,1 

104860,4 

116701,8 

118792,4 

Hafer  .... 

6266,5 

3649,9 

7261,7 

38399,2 

36848,9 

45399,8 

55972,9 

39337,7 

Gerste  .... 

2324,6 

1 307,0 

3191,0 

21 149.3 

21222,5 

24476,3 

29488,2 

23532,7 

Erbsen      .     .     . 

61.1 

391,8 

966,7 

6277,5 

6778,0 

7860,8 

10162,9 

5743,1 

Buchweizen  .     . 

777,6 

580,6 

488,8 

3383,8 

8742,9 

3707,8 

4108,9 

2 185,0 

Mais     .... 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

20,1 

Kartoffeln     .     . 

17619.8 

27034,5 

87982,2 

379494,8 

361806,8 

515721,1 

479243,4 

299057,5 

_    ,    fFaser 
^^^^ISämereien 

— 

— 

— 

— 

— 

1 379,5 

1 367,0 

1006,2 

— 

— 

— 

— 

— 

890,6 

1317,1 

1048,5 

Hanf  E^«^    .• 
ISamereien 

— 

— 

— 

— 

— 

275,6 

309,2 

219,9 

— 

— 

— 

— 

— 

288,7 

839,7 

815,2 

Heu     .... 

— 

— 

— 

__ 

— 

113670,2 

131081,6 

88705,6 

b)  Brennereigewerbe^) 


1893/4 

1895/6 

1897/8 

1899/1900 

1900/1 

1901/2 

1902/3 

Zahl  der  Brennereien  .     .     . 
davon  landwirtschaftliche .     . 

,.      gemischte      .... 

„      industrielle    .... 

Gebrannt  tausend  Tschetwert: 

Kartoffeln 

Roggen    

Mais 

365 

289 

69 

5 

19426 

169 
33 

355 

308 

40 

4 

18 192 

170 

6 

383 

293 

38 

3 

14266 
152 
147 

323 

299 

19 

8 

12660 
839 
254 

337 

287 

45 

3 

17534 
138 

28 

354 

305 

42 

5 

19310 
98 
46 

363 

333 

22 

5 

16554 
208 

81 

*)  Die  Daten  sind  den  Mitteilungen  des  Finanzministeriums  entnommen ;  sie  differieren 
mit  denen  des  Statistischen  Zentralkomitees,  das  beim  Ministerium  des  Innern  ressortiert, 
häufig  um  25  Prozent.  So  ist  die  Kartoffelernte  von  1902  bei  ims  mit  479000000,  beim 
Minister  des  Innern  mit  385  000  000  Pud  angegeben. 

^)  Die  Daten  entstammen  den  Berichten  der  Acciseverwaltung  für  die  angeführten 
Jahre.  Im  Brennereigewerbe  des  Zartums  habe  ich  nur  eine  Aktiengesellschaft,  die  ., War- 
schauer Gesellschaft  zu  Reinigung  und  Vertrieb  von  Spiritus",  gegiiindet  1887  mit  einem 
Kapital  von  600000  Rubel.  Ihre  I^eiter  sind  Fürst  Mieczislaw  Woronecki  imd  Graf  Felix 
Czacki,  denen  wir  noch  öfter  begegnen  werden. 


15G 


Achtes  Kapitel.    Wirtschaft 


c)  Zuckerludostrie  *) 


11893/4 

i 

1895/6 

1897/8 

1899/1900 

1900/1 

1901/2 

1902,3 

Zahl  der  Fabriken    .... 
davon   Aktiengesellschaften  -) 
in  diesen  Kapital  tausend  Ruh. 
durchschn.  Arbeiterzahl      .     . 
jeder  Arbeiter  jn-oduziert  Pud 

Zucker  

Rübenernte,  tausend  Pud    .     . 
durchschn.  Pud  auf  1  Deßj.  . 
Produktion  in  tausend  Pud  ^)  . 

40 

16 

13860 

406 

46130 
1230 
5262 

44 

17 

14610 

405 

43370 
1180 

5890 

44 

17 

14610 

410 

47  270 
1160 
5483 

46 

20 

16110 

384 

307 

47230 

1050 

5539 

51 

20 

16110 

370 

363 

53180 

1020 

6970 

51 

21 

17310 

376 

529 

83800 

1420 

10157 

49 

21 

17310 

380 

426 

64280 
1050 
7921 

B.  Ind-ustrie  und  Handel 

1.  Historisches 

Ein  wesentlicher  Faktor  für  die  günstige  Entwicklung  der  Landwirt- 
schaft in  Polen  war  das  Entstehn  und  die  Ausbreitung  der  Industrie,  mit 
der  ein  rapides  Anwachsen  einzelner  Städte  im  Zusammenhange  steht. 

Die  Anfänge  der  Fabrikindustric  liegen  in  der  Zeit  vor  dem  Wiener 
Kongreß.  Die  Regierung  des  Herzogtums  Warschau  zog  fremde,  vor  allen 
Dingen    sächsische    und    preußische  Handwerker,    Fabrikanten    und   auch 


*)  Die  Daten  entstammen  den  Berichten  der  Acciseverwaltung  für  die  genannten 
Jahre. 

'■)  Die  erste  Aktiengesellschaft  wurde  durch  Baron  Leopold  Krouenberg,  den  geistigen 
Mittelpunkt  der  polnischen  Finanzen,  im  Jahre  1872  in  Wai-schau  mit  1800000  Rubel 
Kapital  ins  Leben  gerufen.  Es  war  ein  reines  (Jeldunteniehmen,  kein  landwirtschaftliches. 
Dem  Beispiel  folgten  die  Grafen  Lubenski  und  Krasiuski  im  Jahre  1873,  die  mit  einigen 
andern  Besitzern  sowie  mit  Hilfe  der  Landbank  750000  Rubel  Kapital  zusammenbrachten 
und  in  Leonow  eine  Fabiik  einrichteten.  Die  nächsten  Gründungen  wurden  dann  vom 
Adel  gemeinsam  mit  dem  jüdischen  Kai)ital  unter  Leitung  des  Bankiers  Ei)stein,  des  Giufen 
Lubenski,  der  Ssürmondt,  Bljoch,  Nathanson,  Wjelepolski  ausgefi'üirt.  Erst  1882  entsteht 
wieder  eine  rein  polnische  Unternehmung  in  Czenstochau  mit  AVI.  Drecki  an  der  Spitze. 
Dann  sind  es  \vdeder  jüdische  Untenielunungen,  denen  ab  imd  au  Deutsche  aus  der  Eisen- 
industrie beitreten,  wie  Lilpop,  der  Bankier  Herbst.  1893  gi-ündet  Wl.  Nowca  in  Brest- 
Kujawski  mit  Hilfe  der  Landhank  und  polnischer  Besitzer  eine  kleine  Gesellschaft  mit 
500000  Rubel.  Ihm  folgen  wieder  Nathanson,  Rotwand  und  Genossen.  Von  1900  ab 
wird  die  Organisation  des  polnischen  Kapitals  in  der  Zuekerindustrie  festei'.  Die  Gesell- 
schaften Ostrowite  mit  450000  Rubel,  von  Borowecki  mit  600000  Rubel,  Chehnicki  mit 
450000  und  Lubna  &  Szrenjawa  mit  1200000  Rubel  sind  durchaus  polnische  Griindimgen. 
Im  Kapitel  von  den  polnischen  Finanzen  kommen  wir  noch  auf  die  Leiter  der  Gesell- 
schaften zurück. 

^)  Über  die  Zuckerjiroduktion  sei  bemerkt:  die  polnische  Zuckerräbe  steht  mit 
16,62  Prozent  durchschnittlichen  technischen  Qualitäten  höher  als  aUe  andern  inissischen 
Rüben.     Li  Kaiisch  hat  die  Rübe  sogar  17,39  Prozent.     Reine  Rübe  86,29  Prozent. 


B.  Industrie  und  Handel  157 


Landwirte  ins  Land,  um  eine  einheimische  Industrie  zu  schaffen.  Die 
Ausländer  erhielten  große  Privilegien/)  wie  Befreiung  vom  Militärdienst 
und  von  Zinszahlung  an  die  Majoratsherren  für  die  Dauer  von  sechs  Jahren, 
sowie  schließhch  vom  Einfuhrzoll  auf  die  aus  der  alten  Heimat  mitge- 
brachten Güter,  einschließlich  Haustiere.  Schließlich  wui'de  der  Handel 
mit  Eisenwaren  mit  Österreich^)  und  der  mit  Leinen-  und  Wollwaren ^) 
mit  Preußen'*)  freigegeben.  Die  vorgenannten  Maßregeln  begannen  in- 
dessen erst  nach  1815  ihre  Erfolge  zu  zeitigen,  um  so  mehr,  als  der  Zu- 
strom von  Ausländern  auch  später  von  der  russischen  Kegierung  unter- 
stützt wurde,  °) 

Auch  die  Tarifpolitik  Kußlands  begünstigte  eine  Entwicklung  der' pol- 
nischen Lidustiie/)  und  Ende  1829  hatte  die  polnische  Wollproduktion 
bereits  den  Wert  von  5752000  Rubel  erreicht.') 

Alle  guten  Aussichten  AAiirden  in  Frage  gestellt  durch  die  Erhebung 
der  Polen  im  Jahre  1830/31.  Zunächst  erhöhte  der  Tarif  vom  12.  (24.)  Xo- 
vember  1831  alle  Zölle  auf  nach  Rußland  aus  Polen  eingeführte  Waren  ganz 
bedeutend,  während  1834  auch  der  zollfreie  Ti-ansit  polnischer  Waren  über 
Kjachta  nach  Asien  verboten  wurde.  Viele  kleinere  Unternehmungen 
mußten  ihre  Betriebe  schließen.  Schon  im  Jahre  1832  sank  die  Woll- 
warenerzeugung auf  1917000  Rubel  und  konnte  sich  bis  1850  niu*  auf 
2564000  Rubel  erheben.   Der  allgemeine  Niedergang  fand  seinen  Abschluß 


1)  Dekrete  vom  8.  (20.)  März  1809  \md  17.  (29.)  Januar  1812. 

*)  Sammlung  der  administrativen  Vorschriften  für  das  Zartum  Polen ,  Bd.  I,  Teil  2, 
Historische  Einfilhning  S.  60  ff. 

3)  Dekret  vom  4.  (16.)  Januar  1810. 

*)  Dekret  vom  17.  (29.)  Mai  1811. 

^)  Zur  Anwerbimg  von  Ausländern  setzte  der  Statthalter  von  Polen  im  Jahi-e  1816 
4500  Silberrubel  aus;  durch  Dekret  vom  6.  (18.)  September  1820  wurde  den  Fabiikanten 
die  kostenlose  Lieferung  von  Holz  aus  den  Staatsforsten  für  zehn  Jahre  zugesichert,  so- 
fern sie  Fabriken  anlegten.  Die  Maßregel  wi.irde  1833  auf  weitere  zehn  Jahre  verlängert, 
mit  alleiniger  Ausnahme  für  die  Tuchfabrikanten.  SchließUch  erhielten  die  Fabrikanten 
auch  Bai-vorechüsse,  die  Ende  der  1820er  Jahre  127500  Eubel  Silber  jährlich  erreichten. 

^)  Die  Handelsbeziehungen  zwischen  Rußhmd  und  Polen  beruhten  auf  den  Gesetzen 
vom  1.  (13.)  Aug-ust  1822  imd  vom  30.  Juni  (11.  Juli)  1824.  Die  Gesetze  enthielten  fol- 
gende Vorschriften:  1.  Alle  in  den  beiden  Gebieten  gewonnenen  Rohprodukte  durften 
völlig  zollfrei  ein-  und  ausgeführt  werden;  2.  alle  in  Rußland  und  Polen  aus  eignem  Roh- 
material hei'gestellteu  Fabrikate  unterlagen  einer  Verzollung  von  1  Prozent  vom  Preise; 
3.  aus  im  Auslande  bezognem  Material  hergestellte  Fabrikate  unterlagen  einem  Einfuhrzoll 
von  3  Prozent  des  Preises.  Eine  Ausnahme  hiervon  bildeten  Kopfzucker  und  "Weberei- 
erzeugnisse, die  von  Polen  nach  Rußland  überhaupt  nicht  eingeführt  werden  dui-ften,  von 
Rußland  nach  Polen  aber  niu*  unter  einem  Zoll  von  25  und  15  Prozent  des  Preises.  Alle 
"Waren  mußten  von  einem  "ürsprungsattest  begleitet  sein.  (Lodyshenski ,  „Geschichte  des 
russischen  Zolltarifs'',  St.  Petersburg,  1886,  S.  216  ff.) 

^  Vgl.  Nagiel  in  der  polnischen  Zeitschrift  „Ekonomist"  Nr.  18  von  1888. 


158  Achtes  Kapitel.    Wiitschaft 


durch  den  Tarif  von  1850,  der  die  Zollgrenze  zwischen  Polen  und  Ruß- 
land überhaupt  beseitigte.  "Wenn  sich  aber  die  Segnungen  des  Tarifs  nicht 
sofort  bemerkbar  machten,  so  waren  daran  in  erster  Linie  die  politischen 
Verhältnisse  in  Polen  und  Eußland  schuld.  Sie  drängten  immer  mehr  zu 
der  Auseinandersetzung,  die  in  den  Jahren  1861  und  1863  durch  den 
letzten  Polenaufstand  herbeigeführt  wurde. 

Den  größten  Aufschwung  haben  dann  von  1867  bis  1879  die  Manu- 
fakturen genommen.  JanshuF)  gibt  die  Zablen  im  Verhältnis  zum  Reich 
wie  folgt  an:  Die  Zunahme  betrug  für  Baumwollspinnerei  im  Reich 
239  Prozent,  im  Zartum  585  Prozent,  Baumwollweberei  183  zu  431  Prozent, 
Wollspinnerei  227  zu  678  Prozent,  Tuchweberei  141  zu  250  Prozent,  Ap- 
pretur, Färberei  usw.  190  zu  3733  Prozent.  Der  Gelehrte  fügt  hinzu,  die 
Entwicklung  aller  dieser  Industrien  sei  ausschließlich  diu-ch  die  künstlichen 
Maßnahmen  der  Regierung  möglich  geworden.  Doch  hat  er  darin  nur  bis 
zu  einem  gewissen  Grade  und  bezüglich  der  Stadt  Lodz  Recht.-)  Denn 
die  Moskauer  Industrie  steht  ebenso  unter  den  hohen  Schutzzöllen  wie 
Polen,  verfügt  aber  nicht  über  das  gute  technische  und  kaufmännische 
Personal,  das  im  Zartum  vorhanden  ist. 

Eine  neue  Wendung  trat  ins  Leben  der  Industrie  im  Zartum,  als  sich 
die  russische  Regierung  entsprechend  den  allerhöchsten  Veriügimgen  aus 
den  1860  er  Jahren  im  Jahre  1870  entschloß,  den  Vorstelhmgen  des  Staats- 
sekretärs Graf  Walujew  die  Versteigerung  eines  Teils  des  westhchen  Berg- 
baubezii'ks  zu  verfügen.  Der  Bezirk  bestand  aus  dem  Eisenwerk  Huta- 
Bankowa  und  den  dabeiliegenden  Steinkohlengruben.  Das  Eisenwerk  hatte 
schon  im  Jahre  1872  seine  Tätigkeit  einstellen  müssen,  und  die  Kohlen- 
gruben arbeiteten  so  teuer,  daß  sie  dem  Fiskus  nur  Verluste  brachten. 

Zur  Ausbeute  der  vom  Fiskus  für  1398536  Rubel  erworbnen  Borg- 
baurechte Avurde  dem  Erwerber  der  Konzession,  einem  Kapitän  Plemjannikow, 
gestattet,  den  Betrieb  der  Steinkohlengi-ube  für  die  Dauer  von  neunzig  Jahren 
einem  französisch -italienischen  Bankkonsortium  in  Paris  zu  übertragen 
und  ihm  die  Genehmigung  zu  geben,  später  zu  diesem  Zweck  eine  be- 
sondre Aktiengesellschaft  zu  gi'ünden.  Der  Betiieb  der  Werke  von  Huta- 
Bankowa  wurde  einer  Gesellschaft  für  die  Dauer  von  sechsunddreißig  Jahren 
überti-agen. 


*)  1. 1.  Janshiü,  „Die  historische  Entwicklung  der  Industrie  im  Zari;um  Polen",  Vor- 
trag, gehalten  in  der  Moskauer  Univereität  am  12.  (24.)  Januar  1887.  Dmck  bei  A.  I.  Ma- 
montow  &  Co.,  Moskau,  1887,  S.  5. 

*)  Ebenda  S.  43  ff.  Die  Lage  von  Lodz  begünstigte  die  Anlage  zahlreicher  und 
großer  "Werke  in  keiner  Weise;  es  fehlte  sowohl  an  genügendem  fließenden  Wasser  wie 
an  Baumaterial. 


B.  Industrie  und  Handel  159 


Die  von  der  Regierang  erzielten  Preise  entsprachen  nicht  den 
großen  Reichtümern  der  abgetretnen  Konzessionen.  Später  wurde  der  ge- 
samte staatliche  Besitz  auf  ähnliche  Weise  verschleudert.  Im  Jahre  1878 
wurden  die  Eisenhammer  Cyganka  für  3001  Rubel,  Kostrzyn  für  6510, 
Bloto  für  1245,  Pstronznica  für  2403,  Kamenka  für  6126  Rubel  und  im 
Jahre  1880  die  stillgelegte  Stahlfabrik  in  Serock,  Gouvernement  Lublin, 
Kreis  Lubartow,  für  7100  Rubel  fortgegeben.  Auch  die  reichen  Zinklager 
vermochte  die  Regierang  nicht  selbst  auszubeuten  und  hat  sie  im  Laufe 
der  1880er  Jahre  für  billiges  Geld  an  Privatunternehmer  abgetreten.^) 

Nachdem  die  Regierung  in  der  angedeuteten  "Weise  die  Reichtümer 
des  Landes  verschleudert  hatte,  stellten  sich  auch  bald  die  Folgen  für  die 
rassische,  insonderheit  die  Moskauer  Industrie  ein.  Während  die  Guß- 
eisenerzeugnisse im  Reich  von  1879  bis  1883  um  111  Prozent  wuchsen, 
betrug  die  Vermehrung  im  Zartum  Polen  1096  Prozent,  Die  Maschinen- 
Industrie  vergrößerte  sich  im  genannten  Zeitraum  im  Reiche  um  82  Pro- 
zent, im  Zartum  um  100  Prozent,  die  Metallindustrie  im  Reich  um  92  Pro- 
zent, im  Zartum  aber  um  163  Prozent. 

2.  IHe  Industrie 

Gegen  Ende  der  fünfziger  Jahre  des  neunzehnten  Jahrhunderts  konnte 
von  einer  selbständigen  Industrie  im  Zartum  Polen  kaum  gesprochen 
werden.  Der  ganze  Wert  ihrer  Produktion  beschränkte  sich  auf  31  Millionen 
Rubel. 

Nach  dem  Aufstande,  im  Jahre  1865,  waren  in  der  polnischen  In- 
dustrie 90642  Ai-beiter  beschäftigt,  die  für  69571000  Rubel  Werte  her- 
stellten.*) Auf  diesem  Stande  ist  die  polnische  Industiie  nicht  lange  ge- 
blieben. Im  Jahre  1872  erreichte  der  Wert  der  Produktion  der  polnischen 
Fabriken  schon  die  Summe  von  73  Millionen  Rubel.  Im  Jahre  1857  entfielen 
auf  jeden  Einwohner  Polens  etwa  9  Rubel  Fabrikate  jährlich,  im  Jahre  1873 
schon  13  Rubel  20  Kopeken  (Janshul).  Im  Jahre  1876  betrug  die  Pro- 
duktion sämtlicher  Fabriken  des  Gebiets  schon  97^/3  Millionen  Rubel  bei 
einer  Arbeiterzahl  von  etwa  85000,  im  Jahre  1879  mehr  als  118  Millionen; 
im  Jahre  1882  139  Millionen  Rubel.  Ln  Jahre  1890,  nach  dem  Rechen- 
schaftsbericht des  Departements  für  Handel  und  Industrie,  erreichte  die 


*)  Geschichtliche  Übersicht  über   die  Tätigkeit   des  Domänemninisteriiuus   1837/87. 
6  Bde.,  St.  Petersburg,  bei  Jablonski  und  PeiTott,  1888,  Bd.  V,  S.  151  ff. 
*)  Davon  entfielen  auf 

1.  Weberindustrie    .     .  26642  Arbeiter     12345800  Rubel  Produktion 

2.  Nahi-ung-smittel     .     .  24832        ,.          35024950      ,. 

3.  Gerberei  usw. .     .     .  6008        ..            3534600      .. 

4.  Metalle  und  Bei'gbau  6522        .,            6320100 


160 


Achtes  Kapitel.    Wirtschaft 


Produktion  der  Fabriken  184  Millionen  Rubel  bei  109000  Arbeitern,  im 
Jahre  1903/04  en-eichte  sie  den  Eiesenumfang  von  420^/2  Millionen  Kübel 
bei  252000  Arbeitern.^)  Somit  entfielen  zu  jener  Zeit  auf  jeden  Einwohner 
durchschnittlich  für  37,17  Eubel  Fabrikate,  das  heißt  viermal  so  viel  wie 
im  Jahre  1857. 

Ein  interessantes  Bild  über  die  Entwicklung  der  Industrie  im  Zartum 
Polen  von  1861  bis  1903  gibt  uns  auch  Pogoshew.-)  Danach  w^urden  in 
den  Gouvernements  gegründet 


bis  1861 

1861/70 

1871/80 

1881/90 

1891/1900 

1901/03 

in  SsuwalVi   .... 

13 

6 

7 

9 

23 



,,  Lomsha 

28 

9 

16 

30 

56 

1 

„  Plock  .     . 

7 

4 

6 

8 

17 

— 

,,  Sjedlec 

24 

8 

14 

21 

51 

1 

„  Warschau 

99 

57 

100 

137 

234 

2 

„  Lubliii 

17 

7 

15 

20 

39 

— 

„  Kaiisch     . 

29 

15 

24 

45 

88 

5 

„  Petrikau   . 

51 

46 

116 

173 

431 

3 

„  Kjelce  .     . 

20 

10 

13 

12 

43 

— 

„  Radom 

26 

4 

4 

20 

65 

1 

*)  Die  Zahlen  für  den  ganzen  Zeitraum  zeigt  folgende  der  amtlichen  Statistik  ent- 
nommne  Tabelle  (Arbeiten  des  Warschauer  Statistischen  Komitees  von  1907,  Heft  XXCK, 
S.  65/6): 


Jahr 

Fabriken 

Arbeiter 

Wert  der  Produktion 
in  tausend  Rubel 

1877 

8349 

90767 

103404,5 

1878 

8619 

102133 

128537,2 

1880 

9606 

118831 

171413,5 

1881 

9465 

119972 

170501,0 

1882 

9506 

124951 

183672,3 

1883 

9659 

132124 

190794,0 

1884 

9423 

128699 

180867,3 

1885 

9700 

140288 

186805,4 

1887 

9006 

135946 

197837,1 

1888 

9518 

144786 

208483,7 

1889 

10263 

159356 

223411,6 

1890 

11074 

149846 

215929,8 

1891 

11753 

161917 

218579,1 

1892 

12808 

170487 

221715,0 

1893 

12659 

182864 

254583,3 

1894 

11994 

195576 

267272,8 

1895 

12987 

205827 

278600,2 

1903/4 

13209 

252126 

420424,8 

1905 

10479 

276747 

413858,3 

')   Die  Arbeiterzahl    iu  Rußland,   im  Auftrage  der  Akademie  der  Wissenschaften, 
St.  Petersburg,  1906,  S.  75,6. 


B.  Industi-ie  und  Handel  Ißl 


Die  Lidiistrie  liegt  in  zwei  verhältnismäßig  kleinen  Zentren  eng  zu- 
sammengedrängt: in  der  Südwestecke  des  Landes  und  in  der  Mtte. 

In  Warschau  haben  sich  während  der  letzten  dreißig  Jahre  folgende 
wichtigern  Fabrikindustrien  entwickelt:  1.  Gerbereien,  deren  Produktion 
im  Jahre  1873  etwa  3  j\Iillionen  Eubel  erreichte;  sie  hat  sich  bis  zum 
Jahre  1903  verdoppelt;  2.  Fabriken  für  Dampfmaschinen  und  landwii-t- 
schaftliche  Geräte,  deren  Produktion  sich  bis  zum  Jahre  1903  gleichfalls 
verdoppelte;  3.  Bierbrauereien,  deren  Produktion  sich  verdreifacht  hat.  Im 
Warschauer  Bezirk  heiTscht  das  polnische  Kapital  vor,  gestützt  dui'ch 
polnisch-jüdische  Banken. 

In  Lodz  hat  sich  ganz  besonders  die  Baumwollenindustrie  und  die 
"Wollweberei  entvNäckelt.  Mit  Bamiiwollspinnerei  waren  in  den  Fabriken 
im  Jahre  1874  7500  Arbeiter  bei  einem  Produktionswert  von  8  Millionen 
Rubel  beschäftigt;  im  Jahi'e  1879  arbeiteten  in  den  Baumwollspinnereien 
in  Lodz  9500  Ai'beiter  bei  einem  Produktionswert  von  22  Mühonen  Rubel. 
Noch  bedeutender  ist  das  Wachstum  der  Wollwebereien:  im  Jahre  1874 
belief  sich  ihre  Produktion  auf  ungefähr  3  Millionen  Rubel,  im  Jahre  1879 
auf  beinahe  12  Millionen  Rubel. 

Ln  Jahre  1901  nahmen  unter  der  Produktion  von  Lodz,  wie  schon 
früher,  die  erste  Stelle  ein:  die  Baumwollspinnerei,  die  sich  in  den  be- 
deutendsten Unternehmungen  konzentrierte  und  einen  Produktionswert  von 
33  Millionen  Rubel  erreichte,  die  Wollweberei  mit  einer  Produktion  von 
24  MiUionen  Rubel  mid  die  Halb  Wollspinnerei  und  -weberei  mit  einer 
Produktion  von  2^/.2  Millionen  Rubel. 

Der  Bergbau  hat  in  den  Jahren  1895  bis  1903  folgende  Mengen  zu- 
tage gefördert,  die  wir  nach  dem  Jahrbuch  des  Finanzministeriums  für  die 
entsprechenden  Jahre  in  tausend  Pud  angeben: 

1895  1900  1902  1903 

Salz 240,1  233,1  135,6  100,0 

Steinkohle 221800,0     246  393,7     253875,0     286870,6 

Zink .  307,0  864,0  504,5  604,0 

Erz 21803,7       29421,4       14902,5       10274.8 

Eisen 11586,0       18219,2       17234,5       18796,3 

Braunkohle —  5431,4         5395,4         5545,0 

Schwefel —  96,8  102,1  14,6 

Kupfer —  —  _  20,0 

Überhaupt  aber  sind  die  verbreitetsten  Spezialitäten  der  Fabrikindusti'ie 
im  Weichselgebiet  in  der  Reihenfolge  ihrer  Produktion :  die  Wollindustrie, 
die  BaumwoUenindustrie ,  die  mechanischen  Fabriken,  die  Rübenzucker- 
industi'ie,  Brennereien,  Lein  und  Hanf,  chemische  Produkte,  Gerbereien, 
Bier-  und  Metbrauereien,  Bearbeitung  von  Holz,  Ziegelbrennereien,  Schi'eib- 
papier,  Porzellan-,  Fayence-,  Töpferproduktion  imd  endlich  Butterproduktion. 

Cleiuow,  Die  Zukunft  Polens  jj 


162  Achtes  Kapitel.    Wirtschaft 


3.  Der  Handel 

Nachdem  wir  die  gewaltige  Entwicklung  der  landwirtschaftlichen  und 
industriellen  Produktion  kennen  gelernt  haben,  sollte  es  sich  eigentlich  in 
einer  politischen  Arbeit  erübrigen,  von  der  Ausdehnung  des  Handels  in 
einem  Gebiet  zu  sprechen,  das  kein  streng  abgeschlossenes  "Wirtschafts- 
gebiet darzustellen  scheint.  Denn  sowohl  die  Landwirtschaft  wie  die  In- 
dustrie können  sich  nicht  über  den  Bedarf  des  engern  heimischen  Marktes 
hinaus  entwickeln,  wenn  sie  nicht  in  der  Lage  sind,  ihre  Erzeugnisse 
außerhalb  dieses  Marktes  abzusetzen.  In  unsenn  Falle  können  wir  indessen 
aus  verschiednen  Gründen  darauf  nicht  verzichten. 

Zunächst  bildet  das  Zartiun  Polen  tatsächlich  ein  ziemlich  streng  ab- 
geschlossenes Wirtschaftsgebiet,  obwohl  darüber  keine  besondern  Verträge 
bestehn.  Auf  der  einen  Seite  ist  das  Weichselgebiet  durch  den  russischen 
Zolltarif  wie  ganz  Rußland  gegen  den  Westen  und  Süden  streng  ab- 
geschlossen. Auf  der  andern  Seite  wird  der  Warenaustausch  mit  dem 
innerrussischen  Markt  durch  Spezialtarife  auf  den  Eisenbahnen  geregelt. 
Dann  haben  verschiedne  Bestimmimgen  der  einzebien  Zolltarife  sowie  die 
früher  (S.  156  ff.)  gekennzeichneten  Verhältnisse  dazu  geführt,  daß  sich 
das  ausländische  Kapital  an  der  Westgrenze  des  Weichselgebiets  eingenistet 
hat.  Sclüießlich  nimmt  das  Zartum  Polen  noch  eine  Sonderheit  für  sieh 
in  Anspruch.  Es  wurde  erst  im  Oktober  1885  (Kirch  die  Auflösung  der 
„Polnischen  Bank''  an  die  russische  Reichsfinanzorganisation  als  deren  einer 
Teil  angeschlossen.  Bis  zum  Jahre  1885  hatte  somit  das  Zartum,  wenn 
wir  von  der  Gleichheit  der  Münze  absehen,  ein  vom  übrigen  Reiche  wii-t- 
schaftlich  etwa  ebenso  abgeti'enntes  Rechnungswesen  wie  Finnland  zur 
Zeit  der  Verwaltung  dui'ch  den  Generalgouvemour  Bobrikow.  Durch  Ein- 
führimg der  Reichsbankfilialen  Warschau  mit  ihren  Unterabteilungen  ist 
diese  Sonderstellimg  nur  äußerlich  gewichen.  In  den  Abrechnungen  des 
Finanzministeriums  ebenso  wie  in  den  Berichten  des  ReichskontroUeurs 
nimmt  das  Zartum  auch  noch  in  der  Gegenwart  einen  besonders  ab- 
gegrenzten Platz  ein.  Der  wesentlichste  Grund  für  diese  Eigentümlichkeit 
ist  in  dem  Vorhandensein  des  Hypothekengesetzes  von  1818  zu  suchen, 
das  gleichzeitig  eine  von  den  russischen  Agrarbanken  abweichende  Organi- 
sation der  Landbank  notwendig  macht.*)  Infolge  des  Vorhandenseins  der 
Landhanh  kann  man  von  hesondern  polnischen  Finanzen  sprechen.  Das 
ist  ein  wichtiger  Grund  mehr,  weshalb  wir  Polen  als  ein  abgeschlossenes 
Wirtschaftsgebiet  mit  Binnen-  und  Außenhandel  behandeln  müssen.     Wir 


*)  Von  der  Landbank  wie  von  den  polnischen  Finanzen  überhaupt  werden  wir  in 
einem  spätem  Kapitel  eingehender  zu  sprechen  haben. 


B.  Industrie  und  Handel 


163 


werden  darin  noch  bestärkt  durch  einen  politischen  Grund,  nämlich  durch  die 
Behauptung  eines  Teüs  der  russischen  Presse,  aber  auch  eines  Teils  der 
russischen  wissenschaftlich  arbeitenden  Volkswirte,  als  würde  die  polnische 
Grenzmark  auf  Kosten  der  zentralen  Gouvernements  unterlialten. 

Über  den  Binnenhandel  im  Zartum  Polen  ist  mit  wenigen  Worten 
berichtet.  Er  erstreckt  sich  hauptsächlich  auf  die  Versorgung  der  städtischen 
Bevölkerung  mit  Lebensmitteln,  Kleidung  imd  Luxusgegenständen.  Ab- 
gesehen vom  Fleisch  produziert  das  Zartum  seine  Lebensmittel  selbst, 
ebenso  wie  die  meisten  Kleidungsstücke  und  zahlreiche  Luxusartikel. 
Bessere  Kleidungsstücke  und  Luxusgegenstände  werden  aus  dem  Auslande, 
England,  Deutschland,  Österreich  eingeführt.  Ein  bedeutender  Teil  des 
Büinenhandels  beschäftigt  sich  mit  dem  Vertrieb  von  technischen  Ai-tikebi 
für  die  Fabrikunternehmungen.  Sie  werden  zum  größten  Teil  im  Zartum 
selbst  hergestellt.  Nur  geringe  Mengen  kommen  aus  dem  Auslande.  Das 
gleiche  gut  von  Maschinen.  Fast  alle  normalen  Größen  von  Dampfmaschinen 
wie  auch  die  gangbarsten  Spezialmaschinen  werden  im  Zartum  hergestellt. 
Nur  besonders  große  Anlagen  kommen  aus  dem  Auslande. 

Entsprechend  der  Zunahme  der  Bevölkenmg  hat  sich  ihre  Teilnahme  am 
Handel  verdoppelt.  So  wurden  im  Jahre  1873  im  Gouvernement  Warschau 
15195  Handelsscheine,  im  Gouvernement  Petrikau  13199  Handelsscheine 
ausgestellt;  im  Jahre  1903  waren  die  entsprechenden  Zahlen  30055  und 
27  438.  Der  Umfang  des  Detailhandels  in  den  Städten  läßt  sich  aus  der 
Zahl  der  Lager  und  Kaufläden,  nämlich  ohne  Warschau  28390,  mit  War- 
schau aber  37  521  erkennen.  Die  Gesamtzahl  der  in  den  Städten  Handel 
treibenden  juristischen  Personen  beti'ug  ohne  die  Stadt  Warschau  34  797, 
zusammen  mit  Warschau  47029. 

Die  baren  Ausgaben  der  KeichsbankfiLialen  per  Kassakonto  betrugen 
(in  tausend  Rubel): 


in 

1896 

1900 

1902 

1903 

1905 

Warschau      .     . 

118621,7 

224144,8 

222283,2 

242826,6 

242228,9 

Kaiisch 

8815,6 

11499,7 

12172,3 

11235,0 

12622,7 

Lodz     . 

61914,4 

104115,5 

98152,7 

111739,2 

92708,1 

Lomsha 

5602,1 

7213,3 

9  279,1 

10279,2 

10742,6 

Lublin. 

12678,1 

17329,9 

17893,2 

19076,4 

21769,6 

Petrikau 

8103,6 

8276,6 

9631,9 

12183,7 

11129,8 

Plock  . 

7  203,9 

10778,9 

9915,7 

11040,2 

10920,8 

Eadom 

13709,3 

15695,8 

13736,3 

16710,3 

17248,1 

Czenstochau 

9415,5 

16675,1 

17280,7 

21285,3 

20387,0 

Toniaszow 
Zusa 

6116,2 

4525,1 

5242,8 

5560,8 

5462,2 

mr 

neii 

252180,4 

420254,7 

415587,9 

461936,7 

445219,8 

11= 


164 


Achtes  Kapitel.   "Wirtschaft 


Die    Reichsbaiikfilialen     diskontierten    lokale    Wechsel     (in    tadsend 
Rubel)  für: 


in 

1896 

1900 

1902 

1903 

1905 

Warschau      .     . 

19813,2 

26052,9 

19344.4 

22506,2 

19615,8 

Kaiisch     . 

895,1 

1139.9 

1027,2 

588,6 

598,4 

Lodz    .     . 

16309,9 

13927,5 

7  642.5 

6998,5 

4635,7 

Lomsha     . 

1  254,9 

1001,4 

984,6 

1156,1 

993,0 

Lublin  .     . 

2085,2 

2318,7 

2689,7 

2492,4 

2579,4 

Petrikau    . 

774,5 

273,8 

417.6 

400,9 

349,7 

Plock    .     . 

1281,5 

2047,9 

2025,9 

1  685,6 

1434,4 

Radom .     . 

1469,2 

611,4 

685,6 

934,3 

733,1 

Czenstochau 

2005,5 

663,2 

2711,4 

3250,0 

2455,6 

Tomaszow 

1425.0 

413,6 

346,8 

367,4 

417,0 

Zusami 

me 

a 

47314,0 

48450,3 

37875,7 

40380,0 

33812,1 

Der  polnische  Binnenhandel  hat  trotz  seiner  scheinbaren  Lebhaftigkeit 
einen  durchaus  ungesunden  Charakter:  er  hat  keine  innern  Märkte,  das 
Avill  sagen:  es  gibt  im  Zartum  keine  Zentren,  zu  denen  der  kleine  land- 
wirtschaftliche Produzent  seine  Erzeugnisse  führen  könnte.  Wohl  werden 
Jahr-  und  Wochenmärkte  in  den  Flecken  und  Städten  abgehalten,  aber 
sie  verlieren  von  Jahr  zu  Jahr  an  Bedeutung.  Für  diese  Erscheinung 
sind  drei  Hauptgründe  verantwortlich  zu  machen.  Die  schlechten  Wege, 
die  Armut  der  Bauern  und  das  Vorhandensein  der  großen  Zahl  von 
Menschen,  die  sich  ausschließlich  durch  den  Detailhandel  ernähren,  und 
die,  abgesehen  von  den  reichen  Dorfgenossen,  als  die  einzigen  Kreditgeber 
der  Bauern  in  Frage  kommen.  Es  sind  die  Juden.  Die  kleinen  jüdischen 
Händler  fahren  in  den  Dörfern  umher  und  kaufen  das  Getreide  oder  Vieh 
auf  oder  lassen  sich  durch  Naturalien  Schulden  zurückzahlen.  Die  große 
Mehrzahl  der  Bauern  hat  kein  Pferd,  imi  das  Getreide  zum  Markt  zu  fahren, 
wo  sie  vielleicht  einen  hohem  Preis  erzielen  könnten.  Die  aber,  die  auf 
dem  Markt  erscheinen,  bringen  häufig  nur  die  längst  verkaufte  Ware  und 
tauschen  dafür  Gegenstände  des  Bedarfs  ein,  die  sie  natürlich  überzalüen 
müssen.  Wer  noch  unverkauftes  Getreide  bei  sich  hat,  steht  dann  meist 
einem  gesättigten  Markt  und  einem  festgeschlossenen  Händlerring  gegen- 
über. Er  müßte  das  Getreide  wieder  nach  Hause  fahren  und  später  in 
eine  größere  Stadt,  die  mehrere  Meilen  entfernt  liegt,  und  wo  seiner  zu- 
meist dieselben  Bedingungen  harren  wie  im  benachbarten  Flecken.  So 
wird  jede  Konkurrenz  bei  der  Preisbestimmung  ausgeschaltet,  und  es  ist 
der  normale  Zustand,  daß  der  bäuerliche  Produzent  etwa  nur  ein  Drittel 
des  Preises  erhält,  der  im  Engroshandel  erzielt  wird. 

Der  größte  Teil   des  Binnenhandels    Hegt,  wie  schon  angedeutet,  in 


B.  Industrie  und  Handel  165 


den  Händen  der  Juden.  Sie  haben  den  gesamten  Produktenmarkt,  die 
Kleidungsbranche,  die  Schlächterei,  Meierei,  Müllerei  in  der  Hand,  die  alle 
durch  eine  Reihe  von  sechs  und  mehr  Zwischenhändlern  belastet  sind. 
Hierneben  macht  sich  aber  noch  eine  Erscheinimg  bemerkbar,  die  den 
bäuerlichen  Produzenten  wohl  belastet,  aber  dem  städtischen  Yerbraucher 
zugute  kommt.  Li  allen  Städten  imd  Flecken  Polens,  einschließlich  War- 
schau, vermitteln  die  Juden  der  Hausfrau  alles,  dessen  sie  in  der  Küche 
bedarf.  Wer  als  Antisemit  mit  einer  Bäuerin  wegen  Milch,  Eier,  Gemüse 
oder  Geflügel  direkt  in  Verbindimg  treten  wollte,  würde  einige  Tage 
doppelte  Preise  zahlen,  meist  mit  der  Ware  nicht  zufrieden  sein  und  schon 
nach  kurzer  Zeit  überhaupt  nichts  bekommen,  weil  die  Juden  die  sie  um- 
gehenden Bauern  boykottieren  imd  sie  zwingen  würden,  sich  mit  dem  Yer- 
braucher ausschließlich  durch  ihre  Yennittlung  in  Yerbindung  zu  setzen. 
Das  private  Fuhrwesen  ebenso  wie  die  Flußschiffahrt  sind  fast  ausschließlich 
in  jüdischen  Händen.  Dasselbe  gilt  vom  Bankwesen,  wenngleich  unter- 
strichen werden  muß,  daß  sich  darin  polnischer  Einfluß  in  Warschau  und 
deutscher  in  Petrikau,  Lodz,  Kaiisch  immer  stärker  bemerkbar  machen. 
Der  Handel  mit  technischen  Artikeln  lag  bis  Mitte  der  1890er  Jahre  fast 
ausschließlich  in  Händen  von  Deutschen  und  Engländern.  Die  Mehrzahl 
dieser  Deutschen  ist  mit  der  zunehmenden  Polonisienmg  der  Industrie  ins 
polnische  Lager  übergetreten  oder  ist  jungen  polnischen  Ligenieuren  und 
Technikern  gewichen,  die  in  russischen  und  deutschen  Hochschulen  aus- 
gebildet, vor  den  Deutschen  den  großen  Yorsprung  der  Kenntnis  der  rus- 
sischen Sprache  haben.  Gegenwärtig  ist  der  deutsche  Kaufmann  im  pol- 
nischen Binnengeschäft  eine  stetig  seltner  werdende  Erscheinung. 

Ganz  so  einfach  läßt  sich  der  Außenhandel  oder  der  Handel  mit  den 
innerrussischen  Gouvernements  nicht  darstellen.  Hier  gilt  es  zunächst  zu 
unterscheiden,  welche  der  nach  Rußland  ausgeführten  Waren  aus  im  Zartum 
vorhandnem  oder  aus  Westeuropa  eingefühiiem  Rohmaterial  und  welche 
aus  russischem  Rohmaterial  hergestellt  wurden.  Daraus  ergeben  sich  die 
natürlichen  Gnmdlagen  der  russisch-polnischen  Handelsbeziehungen. 

Li  dem  Buch  „Das  Zartum  Polen  auf  dem  russischen  Markt'' i)  finden 
wir  für  das  Jahr  1897  eine  Reihe  von  Angaben,  die  sich  mit  dem  decken, 
was  über  die  Entwicklung  der  einzehien  Branchen  schon  auf  S.  158  u.  159 
gesagt  wurde.  Danach  wurden  von  Rußland  nach  Polen  104^/„  Millionen 
Pud  verschiedner  Waren  eingeführt,  während  aus  Polen  nach  Rußland 
nur  etwa  52  Millionen  Pud  ausgeführt  wurden.  In  dieser  Zahl  befanden 
sich  159750  Haupt  Steppenvieh  2)  für  Polen,  während  aus  Polen  niu'  gegen 


von  Drushinin  und  Toczicki,  Moskau,  1900.  —  '^)  Vgl.  Agrarfrage  S.  187. 


166  Achtes  Kapitel.    "Wirtschaft 


5000  Stück  Vieh  ausgeführt  werden  konnten.  Landwirtschaftliche  Erzeug-' 
nisse  wurden  aus  Rußland  22  Millionen  Pud,  Mühlenprodukte  19  Millionen 
Pud  eingeführt,  während  nur  2,2  und  1,4  Millionen  aus  Polen  nach  Ruß- 
land ausgeführt  wurden.  An  Schafwolle  wurden  1,1  Millionen  Pud  mehr 
aus  Rußland  in  Polen  eingeführt,  als  aus  Polen  nach  Rußland  ausgeführt, 
während  die  Differenz  zugunsten  Rußlands  für  Felle  402000  Pud  betrug. 
Ebenso  liegt  der  Handel  niit  Bergbauprodukten.  An  verschiednen  Erzen 
hat  Polen  aus  Rußland  mehr  eingeführt  als  umgekehrt  4,6  Millionen  Pud, 
Petroleum  und  Maschinenöle  4,6  IVIillionen  Pud,  Apothekerwaren  und 
Chemikalien  450000  Pud.  Ferner  überstieg  die  Einfuhr  von  Baumwolle 
über  Rußland  die  Ausfuhr  um  1,4  Millionen  Pud,  von  Fischen  1,6  Mil- 
lionen, von  Salz  5,6  Millionen  und  von  Holz  4,4  Millionen  Pud. 

Hierzu  ist  indessen  eine  Anmerkung  am  Platze.  Abgesehen  von  den 
landwirtschaftlichen  Produkten  aus  Südrußland,  von  Petroleum  und  von  Holz, 
dürften  die  als  russische  Ausfuhrproduktc  bezeichneten  "Waren  zum  aller- 
größten Teil  solche  ausländische  "Waren  sein,  die  über  nissische  Häfen  und 
Grenzzollämter,  die  nicht  die  polnische  Grenze  berühren,  in  Rußland  als 
Transitgut  nach  Polen  eingeführt  worden  sind.  Bei  den  Erzen  handelt  es 
sich  nicht  um  russische,  sondern  um  schwedische,  österreichische  und 
deutsche,  während  Polen  von  seinen  Erzen  wohl  nur  in  die  kleinen 
Gießereien  Weißrußlands  abgibt. 

Aus  den  angegebnen  Zahlen  geht  hen'or,  daß  Polen  eine  große  Menge 
von  Rohstoffen  einführt;  wir  werden  gleich  sehen,  daß  der  größte  Teil 
dieser  Rohstoffe  als  Halb-  oder  Fertigfabrikate  Polen  wieder  auf  dem  "Wege 
nach  Rußland  verläßt.  So  übersteigt  die  Ausfuhr  von  Metallen  die  Ein- 
fuhr um  4,3  Millionen  Pud,  von  Metallwaren  7  Millionen,  Gewebe  3,7  Mil- 
Uonen,  Zucker  800000  Pud. 

Yon  allen  diesen  Zahlen  ist  zweifellos  die  interessanteste  und  be- 
zeichnendste die  für  die  Ausfuhr  von  Geweben  aller  Art  mit  3700000, 
wenn  wir  ihr  die  Zahl  der  aus  Rußland  eingeführten  Schafwolle  mit 
1100000  gegenüberstellen  und  berücksichtigen,  daß  sehr  viel  Kunstwoll- 
fabrikate in  Polen  hergestellt  werden.  Die  Schafwolle  kommt,  wie  schon 
Janshul  im  Jahre  1885  feststellen  konnte,  zum  größten  Teil  aus  Südrußland, 
Das  heißt,  der  Weg  vom  Schafstall  zur  Lodzer  Manufaktur  ist  ebenso  lang  wie 
der  vom  Schafstall  zur  Moskauer  Manufaktur.  Trotzdem  mm  dergestalt  das 
Lodzer  Fabrikat  den  Weg  vom  Schafzüchter  bis  Moskau  um  1400  bis  1500  Kilo- 
meter verlängert  hat,  kann  der  Lodzer  Spinner  und  Weber  dennoch  mit 
seinen  Waren  erfolgreich  auf  dem  Markt  zu  Moskau  konkurrieren! 

Ähnlich  steht  es  mit  der  Maschinenindustrie.  Gewisse  Typen  der 
polnischen  Dampfmaschinen  sind   in  Moskau  ebenso  beliebt  wie  die  ent- 


B.  Industrie  und  Handel  167 


sprechenden  deutschen  oder  englischen,  aber  weit  höher  geschätzt  als  die 
Moskauer  Erzeugnisse. 

Wie  ist  es  nun  möglich,  daß  der  polnische  Handel  die  großen  Ent- 
fernungen bei  der  Preisbestimmung  zu  überwinden  vermag? 

Der  Gründe  gibt  es  viele.  Zunächst  spielt  das  Klima  eine  große 
Rolle.  Die  Fabrikstätten  brauchen  im  milden  Klima  des  Zartums  Polen 
nicht  derart  wetterfest  zu  sein  wie  im  Moskauer  Bezirk.  Die  Mauern  sind 
dünner,  die  Isolierungen  der  Dampf-  und  Wasserleitungen  schwächer,  der 
Aufwand  an  Heizmaterialien  ist  geringer.  Ingenieure,  die  in  Mittelrußland 
Fabriken  eingerichtet  haben,  werden  es  mir  bestätigen,  daß  es  sich  bei  den 
angeführten  Dingen  um  ganz  bedeutende  Differenzen  bei  den  Baukosten 
handelt.  Ein  zweiter  wichtiger  Grund  ist  die  Organisation  der  Fabriken 
und  ihrer  Hilfsindustiien.  Man  nehme  sich  einen  Adreßkalender  der 
Industriestädte  des  Zartums  vor,  so  wird  man  finden,  daß  in  ihnen  ebenso 
wie  in  Dortmund,  Essen,  Bochum,  Herne  usw.  alle  technischen  Artikel, 
die  in  irgendeiner  Fabrik  gebraucht  werden,  in  verschiednen  Spezial- 
geschäften und  in  allen  Quahtäten  zu  finden  sind.  Der  kleine  Fabrikant 
ist  infolgedessen  nicht  gezwungen,  ein  Kapital  in  Resen^eteilen  festzulegen 
und  einen  immer  kostspieligen,  aber  nicht  inmier  ehrüchen  Lager  Verwalter 
zu  halten.  Im  Moskauer  Industriebezirk  liegt  die  Sache  anders.  In  den 
großen  Industrieplätzen  Tula,  Twerj,  Podoljsk,  Kostroma  usw.  sind  die 
Fabrikanten  genötigt,  große  Lager  von  Reserveteilen  zu  halten,  da  sie  bei 
irgendwie  eintretenden  Schäden  ausschließlich  auf  die  Moskauer  technischen 
Bureaus  angewiesen  sind.  Auch  die  innere  Organisation  des  Geschäfts  ist 
im  Zartum  sachgemäßer  als  in  Rußland,  da  sie  vollständig  unter  dem 
Einfluß  deutscher  Yorbilder  und  Lehrer  steht. 

Im  Zusammenhang  mit  den  oben  angeführten  Yerhältnissen  spielt  das 
Yorhandensein  zahlreicher  billiger  imd  dabei  guter  Arbeitskräfte  eine  um  so 
größere  RoUe.  Der  polnische  und  der  deutsche  Weber,  Metallgießer  und 
Mechaniker  sind  dem  russischen  an  Arbeitsleistung  sowohl  in  der  Güte 
wie  in  der  Menge  der  Leistung  weit  überlegen. 

Schließlich  darf  nicht  außer  acht  gelassen  werden,  wieviel  Arbeiter 
in  den  verschiednen  Gegenden  das  runde  Jahr  hindurch  in  der  Fabrik 
arbeiten.  Pogoshew  berechnet  für  den  Industriebezirk  Petrikau,  daß  85,32  Pro- 
zent aller  Arbeiter  das  nmde  Jahr  arbeiten,  für  Warschau  82,92  Prozent,  für 
Moskau  aber  nur  80,47  und  für  Charkow  gar  nur  48,78  Prozent.^)  Der 
polnische  Industriearbeiter  hat  keinen  Zusammenhang  mit  dem  Lande,  den 
sich  der  russische  noch  in  hohem  Maße  bewahrt  hat  (vgl.  Kapitel  10). 


')  Die  Zahl  der  Arbeiter  in  Kußlaud,  a.  a.  0.  S.  101. 


168 


Achtes  Kapitel.    "Wirtschaft 


Können  ^vi^  somit  feststellen,  daß  der  auf  der  Industrie  begründete 
Handel  zwischen  Rußland  imd  Polen  trotz  allen  Differentialtarifen  zugunsten 
der  Polen  besteht,  so  müssen  vvir  auf  der  andern  Seite  darauf  hin- 
weisen, daß  das  polnische  Getreide-  und  Viehgeschäft  immer  mehr  zurück- 
geht. Die  hohen  Zölle  an  der  deutschen  Grenze  wirken  hier  weniger 
hemmend  als  die  niedrigen  Tarife  für  russische  Erzeugnisse.  Bei  einer 
paritätischen  Behandlung  polnischer  und  russischer  Erzeugnisse  würde 
Polen  auch  landwirtschaftliche  Erzeugnisse  nach  Xorchiißland  ausführen, 
das  gegenwärtig  sibirisches  Fleisch,  südrussisches  Getreide  und  Gemüse 
sowie  Obst  verwendet.  Das  Steppenvieh,  das  besonders  in  Wlodawa  ge- 
handelt vnrd,  macht  eine  Fleischerzeugung  in  Polen  so  unwirtschaftlich, 
daß  sich  die  Großbetriebe  damit  nicht  mehr  beschäftigen.  Die  Schweine- 
zucht liegt  dagegen  fast  ausschließlich  in  den  Händen  der  kleinen  Leute. 
Ein  neuer  Schlag  für  die  polnische  Land-^virtschaft  und  damit  für  den 
Getreidehandel  war  die  Einrichtung  der  Kornhäuser  in  AVarschau  durch 
die  Kaiserliche  Gesellschaft  zur  Hebung  des  russischen  Handels.  Die  Ge- 
sellschaft hat  Silos  und  Umschlagstationen  an  der  "Weichsel  eingerichtet, 
auf  denen  das  südrussische  Getreide  aus  den  Eisenbahnwagen  in  die  Fi'acht- 
kähne  geschüttet  wird.  Ob  die  Einrichtung  in  der  Lage  sein  wird,  das 
polnische  Getreide  ganz  von  der  Weichsel  abzudrängen,  darüber  gehn  in- 
dessen die  Ansichten  noch  weit  auseinander. 

Den  Umfang  des  polnischen  Außenhandels  ersehen  wir  aus  der  Summe 
der  in  den  Filialen  der  Reichshank  diskontierten  „Wechsel  aus  andern 
Städten''.     Sie  betrug  in  tausend  Rubeln: 


in 

1896  ^j 

1900 

1902 

1903 

1905 

Warschau      .     . 

24763,5 

65351.5 

78229.1 

91326,7 

67558,3 

Kaiisch 

552,3 

1 803,0 

1812.8 

2138,2 

1 633,4 

Lodz    .     . 

21565,6 

60785.5 

62952,2 

65380.0 

50260,0 

Lomsha 

0,5 

719,3 

1 006.7 

1  036,0 

901,9 

Lublin  .     . 

250,7 

2980,8 

2631,3 

3271,7 

1 998,5 

Petrikau    . 

643,1 

1 275,9 

1371.6 

1474,2 

1  070,7 

Plock    .     . 

165,0 

1 657,8 

1551,6 

1 376,8 

1  354,4 

Eadom .     . 

396,5 

2913,0 

8786,9 

4572,5 

4790,4 

Tomaszow 

3229,6 

2889,5 

3431,0 

3  756,4 

3249,1 

Czenstochan 

2314.2 

5  026.5 

6104.7 

7388,8 

6136.4 

Zusami 

aen 

53881,0 

145402,8 

162877,9 

181721,3 

138953,1 

^)  Die  Zahlen  sind  aus  den  Angaben  über  die  Tätigkeit  der  Russischen  Eeichsbank 
im  Jahrbuch  des  Finanzministeriums  errechnet  und  stellen  die  Summe  dar  aus  den  „auf 
andre  Städte  gezogne  Wechsel"  und  „zugesandte  "Wechsel"'. 


C.  Die  Städte  169 


Im  polnischen  Außenhandel  spielen  die  Deutschen  und  die  Juden  als 
Kapitalisten  die  Hauptrolle.  Der  Yiehhandel  und  das  Getreidegeschäft  ist 
wohl  ausschließlich  in  den  Händen  der  Juden,  ebenso  das  Fell-  und  Holz- 
geschäft. In  der  Spinnerei  imd  "Weberei  herrscht  dagegen  der  deutsche 
und  deutsch  gebliebue  Unternehmer  vor.  Dementsprechend  suchen  sich 
auch  die  entsprechenden  Hilfsindustrien  dem  Deutschtiun  anzupassen.  Polen 
sind  in  den  genannten  Branchen  weniger  anzutreffen.  Um  so  gi'ößer  ist 
ihr  Einfluß  in  der  Eisen-  imd  Maschinenindusti'ie  wie  vor  allen  Dingen 
in  der  Metallwarenbranche.  In  der  Eisen-  und  der  Kohlenindustrie  hat  zwar 
das  deutsche  Element  noch  die  Oberhand,  aber  in  der  Maschinenindustrie 
geht  es  völlig  im  polnischen  auf.  Yiele  Firmen  in  Warschau,  die  deutsche 
Namen  tragen,  stehen  völlig  unter  polnischer  Leitung  mit  polnischen  Direk- 
toren, Ingenieuren  und  Yertretem.  Namen  zu  nennen,  möchte  ich  mir 
versagen  —  Orts-  und  Branchekimdige  werden  ohnedies  Besclieid  wissen. 
Der  Absatz  der  polnischen  Maschiuenindustrie  hat  besonders  seit  der  Zeit 
ständig  zugenommen,  da  polnische  Ligenieure  die  Betriebe  des  Donetz- 
beckens,  von  Kriwoj-Rog,  um  Moskau,  die  Eisenbahnbauten  im  Imiern  und 
in  Sibirien  zu  leiten  begannen.  Die  Zahl  dieser  Polen  wächst  jährlich 
und  damit  die  polnische  Konkurrenz  mitten  in  Rußland.  In  der  Nachbar- 
schaft von  Bromley  in  Moskau  laufen  Lokomobilen  aus  Warschau,  und  in 
den  Zentren  für  Metallwaren,  Tula  und  Iwauowo,  schläft  man  zugleich  am 
bequemsten  und  billigsten  in  polnischen  Betten,  die  von  polnischen  Reisenden, 
die  gut  russisch  sprechen,  verkauft  werden.*) 

C.  Die  Städte 

(vgl.  S.  58  bis  62) 

Es  wurde  schon  erwähnt,  daß  die  Zahl  der  Städte  im  Zartum  im 
Jahre  1864  auf  115  herabgesetzt  wurde,  und  daß  Nowo-Alexandrija  im 
Jahre  1898  ziu-  hundertundsechzehnten  Stadt  erhoben  wurde.  Auf  die  ein- 
zelnen Gouvernements  verteilen  sich  die  Städte  folgendermaßen :  Warschau 
22  Städte,  KaKsch  und  Lublin  je  13,  Sjedlec  12,  Peti-ikau  11,  Radoni  und 
Ssuwalki  je  10,  Plock  9,  Kjelce  und  Lomsha  je  7.  Von  diesen  Städten  haben 
Einnahmebudgets  über  eine  Million  Rubel  2,  "Warschau  imd  Lodz,  bis  zu 
150000  Rubel  2,  bis  100000  6,  bis  50000  11,  bis  30000  9,  bis  20000  29, 
bis  10000  43  imd  unter  5000  Rubel  12  Städte.  Die  Einnahmen  der  wich- 
tigern 21  Städte  zeigt  die  folgende  ZusammensteUmig,  aus  der  wir  ersehen, 
daß  von  ihnen  allein  7  auf  das  Indiistriegouvernement  Petrikau  entfallen. 


^)  Über  die  Bedeutung  der  Verkehrswege  findet  sich  das  Notwendige  auf  S.  172  ff. 


170 


Achtes  Kapitel.   "Wirtschaft 


1.  Die  städtischen  Budgets 

Die    städtischen  Einnahmenbudgets  zeigten    in  tausenden  Rubel   fol- 
gendes Bild: 


Namen 


1894 

1900 

1901     1 

1 

4894,7 

? 

8071,0 

42,2 

37,2 

70,4 

67,1 

87,9 

84,0 

28,9 

13,2 

? 

45,3 

26,9 

22,4 

33,6 

43,7 

48,5 

38,5 

49,9 

44,5 

118,0 

132,3 

183,3 

29,3 

21,8 

25,8 

37,3 

25,0 

37,1 

94,0 

71,9 

74,7 

Namen 


1894 


1900 


1901 


Warschau  . 
Wloclawek  . 
Kaiisch 
Konin  .  . 
Lenczica . 
Kjelce  . 
Lomsha 
Lublin  . 
Zamo^c  . 
Cholm  .  . 
Petrikau. 


Bendzin  . 
Lodz  .  .  . 
Zgerz.  .  . 
Nowo  Radom 
Toraaszow  . 
Czenstochau 
Plock  .  .  . 
Radom  .  . 
Ssuwalki . 
Sjedlec . 


38,6 
396,3 
26,5 
39,8 
30,1 
63,3 
56,2 
57,9 
31,6 
36,1 


36,1 
1 340,5 
68,8 
17,9 
44,2 
142,0 
69,4 
85,5 

46,7 


52,4 
1 393,0 
26,7 
28,3 
30,3 
89,4 
39,5 
101,3 
43,1 
46,9 


Die  Verwaltung  der  Städte  im  Zartum  Polen  darf  nicht  mit  Ver- 
waltungen deutscher  Städte  verglichen  werden,  wenn  auch  an  ihrer  Spitze 
Organe  stehn,  die  die  Bezeichnung  Magistrat  führen.  Diese  Magistrate 
sind  im  Grunde  genommen  nichts  andres  als  Schreibstuben,  die  bis  zum 
Jahre  1904  fast  ausschließlich  vom  Ministerium  des  Innern,  seitdem  vor- 
wiegend von  den  Gouvemementsverwaltungen  abhängen.  So  mußten  alle 
Einnahmen-  und  Ausgabenbudgets  der  polnischen  Städte  vom  Minister  des 
Innern  bestätigt  werden;  für  jede  plötzlich  eintretende,  im  Budget  nicht 
vorgesehene  Ausgabe,  wie  zum  Beispiel  für  eine  Dachreparatur,  mußte  auf 
dem  Instanzenwege  die  Genehmigung  in  St.  Petereburg  eingeholt  werden. 
Schäden,  die  innerhalb  viorundzwanzig  Stunden  zu  beheben  waren,  führten 
zum  Verfall  städtischen  Eigentums,  weil  der  Bescheid  aus  Petersburg 
Monate  Mndurch  ausblieb.  Unter  solchen  Verhältnissen  muß  es  als  ein 
großes  Verdienst  des  Ministers  Plehwe  bezeichnet  werden,  daß  er  beim 
Reichsrat  ein  Gutachten  erwirkte,  demzufolge  seit  dem  Jahre  1904  alle 
Wirtschaftsangelegenheiten  bis  zu  5000  Rubel  von  der  Gouvemements- 
verwaltuug  entschieden  werden  können.  Auch  die  Budgets  werden  fortab 
in  den  Gouvemementsverwaltungen  als  oberste  Instanz  geprüft  und  be- 
stätigt. Nur  für  die  Städte  Warschau  und  Lodz  ist  die  Genehmigung  des 
Generalgouvemeurs  und  des  Ministers  des  Innern  beibehalten.^) 

Es  läßt  sich  denken,  daß  unter  solchen  Bedingungen  eine  geordnete 
Stadtverwaltung  unmöglich  ist,  und  daß  die  polnischen  Städte  selbst  auf 
den    aus   Rußland   kommenden    Reisenden    einen    traurigen    Eindruck    er- 


^)  Gutachten  des  Reichsrats,  bestätigt  am  27.  Januar  1903.    Abgednickt  im  Rechen- 
schaftsbericht des  Reichsrats  von  1902/03,  Bd.  I,  S.  424  ff. 


C.  Die  Städte 


171 


wecken.     "Wie  kurz  die  Städte  aber  seitens  des  Ministers  des  Innern  ge- 
halten wurden,  geht  aus  einer  Zusanunenstellung  ihrer  Ausgaben  hervor. 

Die  Verteilung  der   städtischen  Ausgaben  zeigt  für   alle  Städte   des 
Gebiets  ohne  "Warschau  in  tausend  Rubeln  folgendes  Bild: 


1894 


1898 


1901 


Stadtverwaltung  .  .  . 
Immobilien  und  Mieten 
Öffentliche  Ordnimg 
Quartiergeld  an  Militärs 
TVohltätigkeits-Anstalten 
Schuldentilgung  .  .  . 
Kleine  Ausgaben  .  .  . 
Baufonds 


625,0 
154,8 
146,7 

25,8 
125,0 
185,5 

57,3 
398,4 


783,4 
162,4 
193,5 

147,8 

280.7 

87.1 

980,1 


Zusammen 


1718,5 


2635,0 


717,7 

93,4 

221,7 

151,0 

150,2 

33,1 

883,1 


2250,2 


Bei  den  aufgeführten  Zahlen  fallt  das  geringe  ATachstum  des  Budgets 
auf  und  die  unverhältnismäßig  großen  Kosten  der  städtischen  Yerwaltimg; 
sie  verschlingt  etwa  ein  Drittel  aller  Einnalimen,  während  für  öffentliche 
Ordnung,  also  sanitäre  Einrichtungen,  Sti'aßeupflege  und  -reinigung  nur 
etwa  acht  Prozent  der  Einnahmen  verwandt  werden. 

2.  Das  Sanitätswesen 

Für  diese  geringfügige  Entwicklung  der  städtischen  Verwaltung  ist 
somit  die  Bevölkerung  nicht  verantwortlich  zu  machen,  sondern  aus- 
schließlich die  Regierung,  die  die  städtische  Yer^valtuug  selbst  in  die  Hand 
genommen  hat  und  keinerlei  Selbstbetätigung  der  Gesellschaft  zuläßt.  Ein 
Büd  für  die  geringe  Entwicklung  geben  die  sanitären  Zustände  in  den 
wichtig-sten  Städten. 


Zahn- 

Feld- 

Heb- 

La- 

Apo- 
theken 

Im  Jahre  1900  gab  es  in 

Arzte 

ärzte 

schere 

antmen 

zarette 

Betten 

Gouvernement  Ssuwalki    .     .     . 

46 

? 

137 

31 

7 

185 

32 

,,             Lomsha 

38 

3 

105 

38 

5 

164 

33 

Flock     . 

49 

? 

69 

57 

7 

189 

23 

„            Sjedlec  . 

59 

— 

89 

16 

10 

182 

41 

Stadt  Warschau    .     .     . 

829 

152 

332 

310 

14 

2900 

52 

Gouvernement  Lublin    . 

97 

9 

234 

78 

13 

407 

58 

„            Kaiisch 

72 

9 

114 

63 

7 

0 

48 

„            Petrikau 

275 

37 

369 

236 

11 

384 

69 

„            Kjelce    . 

63 

0 

113 

? 

6 

210 

45 

„           Kadom   . 

68 

6 

154 

39 

6 

211 

46 

172  Achtes  Kapitel.   "Wirtschaft 


Die  Provinz  Posen,  die  etwa  so  groß  ist  wie  die  Gouvernements 
Kaiisch  und  Plock  zusammen,  aber  durchaus  nicht  so  dicht  bevölkert,  hat 
dagegen  im  Jahre  1898  approbierte  Ärzte  498,  Zahnärzte  82,  Zahn- 
techniker 233,  Heildiener  220.  Krankenpfleger  451,  Hebammen  663.  Das 
Zartum  Polen  steht  im  Jahre  1900  in  sanitärer  Beziehung  schlechter  als 
die  Provinz  Posen  vor  1876.^) 

Eine  solche  geringe  Entwicklung  des  Sanitätswesens  ist  nur  verständlich, 
wenn  man  sich  daran  erinnert,  daß  alles  Sanitätspersonal  ausschließlich  mit 
Genehmigung  des  Ministers  des  Innern  angestellt  und  entlassen  werden 
durfte.  Dadurch  war  jede  Yeränderung  mit  den  größten  Schreibereien, 
An-  und  Kückfragen,  häufig  von  Aveit  bis  nach  Petersburg  gesponnenen 
Intrigen  verknüpft,  und  jedes  sachliche  Interesse  Avurde  lahmgelegt. 

Erst  im  Jahre  1904  trat  eine  wesentliche  Erleichterung  ein,  als  der 
Minister  Plehwe  ein  Gesetz  erwirkt  hatte,  daß  mir  die  Angestellten  von 
der  sechsten  Rangklasse  aufwärts  einer  Bestätigung  durch  den  ^linister 
bedürfen,  während  alle  niedeni  lediglich  durch  die  Gouverneure  und  in 
Warschau  durch  den  Generalgouverneur  bestätigt  zu  werden  brauchten.  *) 

In  allen  den  angedeuteten  Verhältnissen,  die  vor  allem  die  Stadt- 
verwaltung so  außerordentlich  teuer  gestalten,  liegt  der  Grund,  wamm  sich 
große  Gemeinden  scheuen,  das  Stadtrecht  zu  erwerben. 

D.  Die  Verkehrsmittel 

Die  Verkehrsmittel  der  zehn  Gouvernements  des  Weichselgebiets  haben 
sich  unter  dem  Z^vange  zweier  prinzipieller  Gesichtspunkte  entwickelt:  des 
strategischen  und  des  politischen.  ^)  Gesunde  Avirtschaftliche  Motive  mußten 
immer  zurücktreten.  Diese  Verkehrspolitik  findet  ihren  Ausdruck  in  der 
Vemachlässigmig  des  Weichselstromgebiets  und  der  Verteilung  der  Eisen- 
bahnen. 

1.  Das  Wewh  sei  Strom  gebiet 

Nach  den  amtlichen  Angaben  umfassen  die  schiffbaren  Wassei-straßen 

des  Zai-tiuns  im  Jahre  1890:  1801  Werst,  1902  nur  1861,  von  denen  618 

auf   die  Weichsel,   231   auf  den   Narew  und  271   auf  den  Bug  entfallen. 

Dampfer  können  551  Werst  befahren.     In  diesem  Gebiet  gab  es: 

1894  1902 

Dampfschiffe 24  50 

Andre  Schiffe 710  514 

Deren  Wert 1536000  Rubel  — 

Tragfähigkeit 3183000  Pud  4092000  Pud 

»)  Statistisches  Handbuch  für  das  Deutsche  Eeich.  1907,  I.  Teil,  S.  708/11. 

*)  Rechenschaftsbericht  des  Reichsrats  von  1904,  S.  69. 

^  Bericht  des  Reichskontrolleurs  für  das  Jahr  1886  (geheim),  S.  98  ff. 


D.  Die  Verkehrsmittel 


173 


"Vergleichen  wir  dagegen  das  preußische  Weichselstromgebiet,  dann 
sehen  wir,  daß  die  Gesamtlänge  der  schiffbaren  Sti-ecke  im  Jahre  1903 
etwa  625  Kilometer  betrug.     In  diesem  Schiffahrtsgebiet  gab  es 

1892  1902 

92 
498 


Dampfschiffe     ....         56 
Segelschiffe 740 


Die  Venninderung  der  Zahl  der  Segelschiffe  hat  keine  Bedeutung,  da 
sie  lediglich  auf  Schiffe  mit  20  bis  200  Tonnen  Gehalt  entfällt  und  aus- 
geglichen wird  durch  die  Größe  der  neu  in  Dienst  gestellten  Schiffe.  Sie 
ist  somit  lediglich  ein  weiteres  Zeichen  für  die  Verbesserung  der  Wasser- 
straßen. 

Tatsächlich  hat  die  russische  Kegierung  für  die  Weichselregulierung 
seit  zwanzig  Jahren  nichts  getan.  Sie  zwingt  dadurch  die  Eohstoffforderer, 
sich  immer  mehr  der  Eisenbahnen  zu  bedienen.  Welche  Folgen  sich 
daraus  ergeben  haben,  zeigen  nachstehende  Zahlen  im  Statistischen  Hand- 
buch für  das  Deutsche  Eeich.  Der  Güterverkehr  an  der  Zollgrenze  Thom- 
Weichsel  hat  betragen  in  Tonnen: 


für 


1881/85   I  1891/95 
durchschnittlich 


1897 


1900 


1902 


1904 


Häute,  Felle,  Leder    , 

Salz 

Steine 

Steinkohlen   ... 
Teer,  Harze,  Asphalt , 


Zw  Berg: 

42 

943 

2065 

1830 

5154 

1254 

1 

— 

3376 

13913 

2916 

433 

3627 

1048 

121 

9370 

2904 

3251 

8124 

6648 

2647 

3906 

4686 

4539 

4213 

Getreide    .     .     . 
Holz     .     .     .     . 
Mühlenfabrikate 
Zucker  usw. 
Steine  .     .     .     . 


Zu 

Tal: 

61363 

28983 

21665 

8664 

5744 

124221 

679949 

716809 

723183 

433586 

1013 

8522 

222 

5136 

16535 

6360 

4937 

2274 

29636 

12725 

8853 

19426 

6177 

15443 

17  743 

1691 
14326 
4226 
3460 
3540 


4929 

551931 

18607 

9428 
10845 


Die  Bestimmungen  des  deutsch-russischen  Handelsverti'ages  allein  für 
den  Rückgang  der  Getreide-  und  Holzausfuhr  verantwortlich  machen  zu 
woUen,  wäre  falsch,  da  der  Gesamtverbrauch  an  diesen  russischen  Erzeug- 
nissen nicht  zurückgegangen  ist. 

2.  Eisenbahnen 

Wenn  wir  uns  die  Eisenbahnkarte  vom  Zartum  Polen  ansehen,  dann 
fällt  uns  die  Dichtigkeit  des  Eisenbahnnetzes  östlich  von  Warschau  auf, 
während  uns  das  westliche  unentwickelt  erscheint.     Durch   das  dicht  be- 


174  Achtes  Kapitel,  Wirtschaft 


völkerte  Industriegebiet  von  Kaiisch  und  Petrikau  ziehen  nur  zwei  Eisen- 
bahnlinien, miteinander  nur  einmal  verbunden,  während  das  dünnbevölkerte 
sandreiche  Gouvernement  Sjedlec  von  einem  fein  aufgestellten  Eisenbahn- 
netz überspannt  ist.  Die  Bahnen  haben  alle  strategischen  Charakter  und 
dienen  in  allererster  Linie  dem  Verkehr  zwischen  den  großen  Truppen- 
samnielpunkten  Ssuwalki,  Grodno,  Lomsha,  Nowominsk,  Iwangorod,  Kowel 
und  Brest-Litowsk.  Durch  dieses  Netz  tritt  die  Linie  deutlich  hen'or,  die 
die  Russen  im  Falle  eines  Krieges  mit  Deutschland  halten  wollen.  Sie 
läuft  von  Ssuwalki  südlich  am  Bobr  und  Narew  entlang  und  dann  die 
Weichsel  hinauf  bis  zur  Feste  Iwangorod.  Eine  enge  Verbindung  mit  dem 
deutschen  Eisenbahnnetz  wird  nicht  angestrebt.  Noch  vor  zwei  Jahren 
mußte  man  von  Kaiisch,  das  nur  einige  Kilometer  von  der  deutschen 
Grenze  entfernt  Hegt,  zur  nächsten  preußischen  Eisenbahnstation  mit  Fuhr- 
werk fahren  oder  den  Umweg  über  Skjernewice  machen.  In  Ssuwalki 
enden  zwei,  in  Lomsha  sogar  drei  Linien,  aber  eine  Verbindung  mit  der 
preußischen  Grenze  fehlt. 


C@^^^ 


Neuntes  Kapitel 
Zur  Agrarfrage 

Auch  das  Zartum  Polen  hat  seine  Agrarfrage  oder  vielleicht  richtiger 
ausgedrückt  seine  Agrarfragen.  Die  Agrarfrage  ist  als  solche  dank  den 
günstigen  klimatischen  und  schon  erwähnten  wirtschaftlichen  Verhältiiissen 
im  Zartiim  Polen  nicht  so  brennend  und  so  staatsgefährlich  für  das  rus- 
sische Reich  wie  die  in  den  kernrussischen  Gouvernements,  aber  sie  hat 
doch  eine  solche  große  Bedeutung  für  das  pobiische  Problem  und  die 
daran  grenzenden  Fragen,  daß  sich  die  besten  Köpfe  des  polnischen  Yolkes 
innerhalb  und  außerhalb  Rußlands  niit  ihr  beschäftigen.  Spielt  sich  doch 
gerade  im  Rahmen  der  Agrarfrage  ein  wichtiger  Teil  jenes  heimlichen,  aber 
immer  gigantischer  werdenden  Ringens  ab,  das  zwei  Kulturen  miteinander 
ausfechten.  Glaubt  doch  die  russische  Regierimg  gerade  auf  dem  Gebiete 
der  Agrarfrage  ihren  alten  und  wie  sie  meint  gefährlichsten  Gegner,  die 
Schlachta,  tödlich  treffen  zu  können.  Auflösimg  des  adlichen  Grundbesitzes 
ist  die  Parole  der  russischen  Agrarpolitik,  Aveil  sie  hofft,  damit  die  alte 
traditionelle  Staatsauffassung  der  Polen  aufzulösen.  An  ihre  Stelle  soll  die 
russische  Staatsidee  gesetzt  werden,  mit  ihrer  Vertreibung  aus  den  pol- 
nischen Landen  soll  auch  die  eingedrungne  westeuropäische  Kultur  ver- 
schwinden und  Platz  machen  einer  moskowitisch- tatarischen,  die  unter 
dem  Deckmantel  der  Demokratie  doch  nur  Anarchie  verbreitet.  Diese  poli- 
tischen Untertöne  der  Agrarfrage  sind  es,  die  uns  zwingen,  ihr  in  unsrer 
politischen  Stiidie  einen  größern  Raum  freizugeben,  als  es  vielleicht  auf 
den  ersten  Blick  notwendig  erscheint. 

A.  Allgemeines 

Wie  vielseitig  die  Agrai-frage  im  Weichselgebiet  ist,  ergibt  sich  aus 
den  bisher  angegebnen  Daten  über  die  Landwirtschaft  (achtes  Kapitel)  nicht 
ohne  weiteres.  Sie  sollten  ausschließlich  die  Produktion,  also  den  äußern 
Reichtiims  des  Landes  in  seiner  Gesamtheit  bezeugen.  Aber  der  Leser 
wird  ihre  Bedeutung  in  dem  oben  erläuterten  Sinne  ermessen,  wenn  er 


176  Neuntes  Kapitel.    Zur  Agi'arfrage 

sich  erinnert,  daß  einmal  sich  die  polnische  Bevölkerung  in  35  Jahren 
verdoppelt  hat,  und  daß  sich  femer  das  ländliche  Proletariat  um  mehr  als 
vienual  vergrößerte.  Sahen  wir  doch  (S.  43),  daß  im  Jahre  1864  nur  etwa 
200000  Seelen  ohne  Land  blieben,  i)  während  sich  die  Zahl  des  ländlichen 
Proletariats  im  Jahre  1904  auf  849300  (siehe  S.  128)  erhoben  hat.  Diese 
Erscheinimg  erklärt  sich  nicht  allein  aus  der  starken  natürlichen  Yer- 
mehnmg;  es  müssen  vielmehr  wirtschaftUche  Faktoren  vorhanden  sein, 
die  eine  so  starke  Proletarisierung  auf  dem  Lande  möglich  machen,  noch 
dazu  in  einer  Zeitspanne,  in  der  der  Zustrom  zu  den  Städten  und  die 
Auswanderung  besonders  groß  waren.')  Aus  der  allgemeinen  Statistik  für 
das  ganze  Gebiet  können  wir  die  Gründe  für  die  Erscheinung  nicht  ohne 
weiteres  erkennen.  Wir  müssen  darum  hier  noch  weitere  Einzelheiten 
heranziehen  und  nach  ihnen  das  zu  behandelnde  Gebiet  sachlich  einteilen. 

1.  Klima  und  Boden 

Das  Zartum  Polen  wird  durch  die  Weicliselniederung  in  zwei  von- 
einander durchaus  abweichende  Gebiete  geteilt:  in  das  nordöstliche  und 
in  das  südwestliche.  Das  nordöstliche  ist  reines  Ackerbaugebiet,  das  süd- 
westliche ist  zur  Hälfte  Industrie-  und  zur  Hälfte  Ackerbaugebiet,  das 
heißt,  in  diesen  Gouvernements  befinden  .sich  mehrere  Lidustriezentren 
(vgl.  S.  159).  Zur  ersten  Zone  gehören  die  Gouvernements  Ssuwalid,  Lomsha, 
Plock,  Sjedlec,  Lublin  und  TeUe  von  Warschau,  zur  zweiten  Zone  sind 
die  Gouvernements  Kadom,  Kjelce,  Petrikau  und  Kaiisch  zu  rechnen  sowie 
die  an  sie  grenzenden  Teile  von  Warschau. 

Im  Süden  auf  dem  schlesisch- polnischen  Bergrücken  herrscht  ein 
kalkhaltiger  Boden  vor,  der  im  Nordwesten  durch  einen  wechselnd  breiten, 
auch  wiederholt  unterbroclmen  Streifen  von  Weizen-  und  Rübenboden  be- 
gi'enzt  wird.  Dieser  Streifen  beginnt  in  Podolien  in  den  nordwestlichen 
Ausläufern  des  südrussischen  SchAvarzerdegebiets,  geht  dann  breit  durch 
Wolynien,  durch  das  Gouvernement  Lublin  —  wo  im  Ki'eise  Hrabieszow 
noch  schwarze  Erde  vorkommt  —  und  die  südlichen  Kreise  von  Sjedlec, 
dann  schmäler  werdend  durch  das  nördliche  Radom  imd  südüche  War- 
schau, durch  das  alte  Masowien  und  Kujawien  zur  preußischen  Grenze  auf 
Hohensalza  und  Gnesen  zu.  Das  Land  an  der  Weichsel  ist  leicht;  viel 
Sand,  trockne  Wiesen,  wenig  Wald.  Im  Nordosten  wird  dagegen  die 
Waldmenge  größer  und  geht  allmählich  von  den  Kreisen  Bjela  und  Janow 
aus  in  die  Urwälder  von  Minsk  und  Grodno  über. 


^)  Arbeiten  des  Warschauer  Statistischen  Komitees  von  1907,  Heft  XXVII,  S.  49. 
*)  Vgl.  hierzu,  was  W.  von  Massow  über  die  Stärkung  des  Polentmns  in  der  deutschen 
Ostmark  auf  S.  165  ff.  sagt. 


A.  Allgemeines  177 

Das  Klima  ist  iin  ganzen  Gebiet  Seeklima,  also  durchaus  inilde  und 
keinen  großen  Schwankungen  ausgesetzt.  Nur  in  den  östlichen  Kreisen 
des  Gouvernements  Lublin,  die  gegen  die  feuchten  Nordwestwinde  ab- 
gesperrt sind,  herrscht  ein  rauheres  Klima  mit  heißen,  trocknen  Sommern 
und  kalten  Wintern.  Die  Hauptniederschläge  kommen  im  Winter  vor, 
während  sie  im  Sommer  in  ähnlichen  Mengen  auftreten  wie  in  Nord- 
deutschland. Trockenheit  ist  fast  unbekannt;  sie  kommt  ab  und  zu  im 
Kreise  Hrubieszow  vor,  der  am  meisten  südöstlichen  Steppenwinden  aus- 
gesetzt ist.  Manche  Jahre  sind  aber  im  Zartum  so  feucht,  daß  besonders 
die  Hackfi'üchte  im  Felde  verfaulen.  Doch  sind  Hungersnöte,  die  in  den 
zentralen  Gouvernements  chronisch  geworden  sind,  im  Zartum  Polen  schon 
lange  unbekannt. 

2.  Erläutetningen  zur  atntliclien  Statistik 

Die  amtliche  Statistik  teilt  die  landwirtschafttreibende  Bauernbevölkerung 
gemäß  den  Paßbestimmungen  ein  in  privilegierte  und  landlose  Bauern  und 
in  die  kleine  Schlachta.  Die  politischen  Gründe  wegen  der  Sonderstellung 
der  kleinen  Schlachta  lernten  wir  auf  Seite  50  kennen,  von  den  wirtschaft- 
lichen Konsequenzen  wird  gelegentlich  der  Bauernwirtschaften  gesprochen 
werden.  Privilegierte  Bauern  sind  solche,  deren  Vorfahren  im  Jahre  1864 
Land  zugeteilt  erhielten,  also  Besitzer  zugeteilten  Landes;  ihre  Zahl 
beti'ug  im  Jahre  1870  592817.  Die  landlosen  Bauern  werden  nun 
immer  noch  in  der  Statistik  unter  der  Rubrik  „Landlose"  geführt,  obwohl 
ein  Teil  von  ihnen  bis  zum  Jahre  1904  schon  weit  über  100000  Wirtschaften 
mit  553048  Deßjatinen  eingerichtet  hatte.  Diese  Unterscheidung  ist  für 
die  russische  Regierung  notwendig,  weil  die  allmählich  auf  4590325  Deß- 
jatinen angewachsne  Menge  zugeteilten  Landes  den  beschränkenden  Be- 
stimmungen vom  19.  Februar  1864  und  28.  Oktober  1866  unterliegt 
(vgl.  S.  46  ff.),  w\ährend  das  bei  nicht  privilegierten  Bauern  gekaufte  Land, 
nämlich  im  ganzen  917  767  Deßjatinen,  frei  gehandelt  und  vererbt  werden 
kann.  Leider  ist  die  Statistik,  nachdem  sie  jene  Gesetze  berücksichtigt 
hat,  nicht  konsequent  darin  weiter  gegangen.  Sie  berücksichtigt  in  ihren 
Veröffentlichungen  z.  B.  die  Bestimmung  nicht,  wonacli  zugeteiltes  Land 
nicht  unter  drei  Deßjatinen  geteilt  werden  darf  (vgl.  S.  46).  Sie  macht 
viebnehr  eine  Rubrik  „Zahl  der  zugeteilten  häuerlichen  Betriebe  von 
anderthalb  bis  siebeneinhalb  Deßjatinen".'^)  Wir  wären  infolgedessen 
eigentlich  genötigt,  diese  Rubrik  entsprechend  zu  teilen.   Leider  hätte  eine 


1)  Arbeiten  des  Warschauer  Statistischen  Komitees  von  1905,   Heft  XXI,    Schluß- 
bemerkungen S.  14.  38. 

Cleinow    Die  Zukunft  Polens  12 


178 


Neuntes  Kapitel.    Zur  Agrarfrage 


solche  Arbeit  aber  nur  geringen  Wert,  da  uns  die  entsprechenden  Daten 
ebenso  für  die  Kreise  und  Gniinen  wie  für  ältere  Jahre  fehlen.  Wir 
müssen  uns  daher  damit  begnügen,  nur  die  Schlußzahl  für  das  Jahr  1904 
zu  teilen. 

Wir  haben  nun  aus  den  uns  vorliegenden  Statistiken^)  die  Zahl  der 
landwirtschaftlichen  Kleinbetriebe  für  alle  politischen  Kategorien  von  Acker- 
bauern zusammengezogen,  also  auch  die  kleine  Schlachta  mit  hinein- 
genommen. 

Wir  erhalten  dami  folgendes  Bild:  Im  Jahre  1873  verteilte  sich  das 
landwirtschaftlichen  Kleinbetrieben  zuzuzählende  Land  auf  656160  Betriebe, 
im  Jahre  1904  aber  auf  968  889  Betriebe.  Die  Gesamtfläche  aller  Klein- 
betriebe ist  aber  dabei  nur  von  4605998  Deßjatinen  auf  6159507  Deß- 
jatinen  gestiegen.  Es  ist  somit  eine  starJce  VerJcleineruvg  alloi-  Wirt- 
schaften des  gayizen  Weichselgehiets,  im  Durchschnitt  nämlich  von  7,02  auf 
6,09  Deßjatinen  eingeti'eten.  Bemerkt  sei  hier  gleich,  daß  damit  die  unterste 
Grenze  des  bäuerlichen  Betiiebs  en'eicht  ist,  auf  dem  sich  eine  nonnale 
Familie  ohne  ISTebenerwerb  im  Zartum  Polen  unter  den  bestehenden  all- 
gemeinen Verhältnissen  ernähren  kann. 

Wenn  wir  die  beiden  politischen  Gritppen  der  Bewirtschafter  von 
Kleinbetrieben  einzeln  betrachten,  dann  verschiebt  sich  das  Bild  einiger- 
maßen: 


Es  besaßen  im  Jahre 

1873 

1904 

Deßjatinen 

Betriebe 

Deßjatinen 

Betriebe 

Alle  Bauern 

Die  kleine  Schlachta  .     . 

4245141 

360857 

622809 
33360 

5507767 
651  740 

957521  (915896) 
52993 

Zusammen 

4605998 

656169 

6159507 

1010514  (968889) 

Zur  richtigen  Bewertung  der  Bodenbewegung  bedarf  es  hier  einer 
Feststellung.  Die  amtliche  Zahl  der  bäuerlichen  Betriebe  (957  521)  kann 
aus  gleich  zu  erörternden  Gründen  nicht  zuti'effen.  Der  Fehler  liegt  unsrer 
Meinung  nach  in  der  Aimahme  des  Warschauer  Statistischen  Komitees, 
als  habe  jeder  Landkauf  gleichzeitig  die  Begründung  eines  neuen  Wirt,schafts- 
betriebs  herbeigeführt,  während  doch  die  Annahme  nahe  liegt,  daß  die  Land- 


*)  Arbeiten  des  Warschauer  Statistischen  Komitees  von  1905,  Heft  XXI,   S.  14,  18, 
30,  32,  35,  38,  42,  52  und  54  sowie  die  Tabellen  I  bis  VI. 


A.  Allgemeines  179 


käiife  der  Bauern  iii  allererster  Xinie  zur  Vergrößerung  bestehender  Be- 
triebe angewandt  worden  sind. 

Freilich  dürfen  bei  einer  solchen  Annahme  verechiedne  Umstände 
nicht  außer  acht  gelassen  werden.  Wir  hörten  im  dritten  Kapitel,  S.  46, 
von  der  Beschränkung  des  bäuerlichen  Besitzrechts.  "Wir  hörten,  daß  die 
„zugeteilten"  Bauernhöfe  bei  Erbteilungen  nicht  kleiner  geteilt  werden 
dürfen  als  bis  zu  sechs  Morgen  oder  drei  Deßjatinen.  Infolgedessen  kann 
angenommen  werden,  daß  zur  Befriedigung  von  Erbansprüchen  tatsächlich 
ein  gewisser  Prozentsatz  der  kleinsten  Landkäufe  zur  Schaffung  neuer  Be- 
triebe gedient  hat.  Besonders  in  den  Gminen,  in  denen  der  Gaiienbau 
gewinnbringend  ist,  mid  in  die  die  Sachsengänger  ihre  Ersparnisse  bringen 
können,  darf  dieses  Argument  gelten. 

Andrerseits  dürfen  wir  nicht  vergessen,  daß  eine  große  Zahl  von  Land- 
erwerbungen durch  die  Bauern  bei  Ablösung  der  Servitute  (vgl.  S.  45) 
zustande  gekommen  ist.  Bis  zum  Jahre  1903  hatten  die  Ablösungen  von 
155000  Weide-  und  185000  Waldservituten  durch  Landhergabe  statt- 
gefunden, wodurch  sich  die  Fläche  des  zugeteilten  Bauernlandes  imi 
444400  Deßjatinen  vergrößerte.  Diese  Erwerbungen  sind  keinesfalls  oder 
doch  nui'  in  ganz  vereinzelten  Fällen  mit  der  Neugründung  landwirfschaft- 
licher  Kleinbetriebe  verbunden,  weü  das  Servitut,  gemäß  Senatsentscheidung 
31/1900^)  am  zugeteilten  Bauernliofe  haftend,  nicht  mit  der  Person  des 
Besitzers  verbunden  ist  und  somit  als  vom  Anteilland  unlösbarer  Bestand- 
teil zu  betrachten  ist.  Ferner  kann  es  sich  bei  der  Ablösung  von  Servituten 
nur  um  ganz  kleine  Parzellen  handeln,  die  wohl  selten  das  Maß  von 
einer  halben  Deßjatine  eiTeichen  dürften,  also  zur  Begründung  eines 
selbständigen  landwirtschaftlichen  Betriebs  nicht  ausreichen.  Unsre  Be- 
denken gegenüber  der  Warschauer  Statistik  finden  Nahrung  dui'ch  eine 
Mitteilung  der  staatlichen  Bauernbank,  die  besagt,  daß  die  Hälfte  alles 
durch  ihre  Yermittlung  gekauften  Landes  zur  Vergrößerung  hestehender 
Bauern  wirtschaften,  nicht  aber  zur  Schaffung  neuer  Verwendung  fand. 
Schließlich  finden  wir  in  Heft  XXI  des  Warschauer  Statistischen  Komitees, 
Seite  42,  die  Angabe,  daß  von  den  179076  bis  zum  Jahre  1904  stattge- 
habten Käufen  83304  auf  Inhaber  von  Anteilland  und  95772  auf  soge- 
nannte landlose  Bauern  fallen. 

Allen  diesen  Überlegungen  glauben  wir  die  Berechtigung  zu  entnehmen, 
die  amtHche  Zahl  für  die  bäuerlichen  Wiiischaftsbetriebe  schätzungsweise 
zu  verkleinem.  Wir  ziehen  von  ihr  die  Hälfte  von  83304  oder  41652  Wirt- 
schaften  ab,  die  in  Heft  XXI  des  Warschauer  Statistischen  Komitees  auf 

»)  Siehe  Anm.  3  auf  S.  44. 

12* 


180  Neuntes  Kapitel.    Zur  Agrarfrage 

Seite  42  als  durch  sogenannte  Anteilbauem  gekaufte  Betriebe  bezeichnet 
werden.  Die  andre  Hälfte  können  wir  als  zur  Gründung  neuer  Betiiebe 
durch  Fabrikarbeiter,  Gärtner  usw.  oder  gelegentlich  von  Auseinander- 
setzungen oder  aus  andern  Gründen  rechnen.  Dann  ergibt  sich  die  wahr- 
scheinliche Zahl  der  bäuerlichen  Beüiebe  niit  957  521  —  41 652  =  915869  Be- 
triebe, mit  denen  wir  rechnen  wollen.  Die  Gesamtzahl  der  landwirtschaft- 
lichen Kleinbetriebe  verringert  sich  alsdann  von  1010514  auf  mindestens 
968889.  Rechnen  wir  hierzu  noch  83995  Kleiubetiiebe  von  Ackerwirten 
in  den  Flecken,  dann  haben  wir  die  annähernd  richtige  Zahl  mit  1052884 
landwirtschaftlichen  Kleinbetrieben. 

B.  Die  Lage  der  Land-Wirtschaft 

Nach  den  voraufgegaugnen  Bemerkimgen  und  nach  den  Ausführungen 
über  Industiie,  Handel  und  Yerkehi-swege  wird  es  einleuchten,  daß  die  Lage 
der  Landwirtschaft  in  den  verschiednen  Teilen  des  Zaiiums  Polen  durch- 
aus verschiedenartig  sein  muß.  Das  Bergland  mit  seinen  Xaturschätzen 
und  den  sich  daraus  ergebenden  wiiischaftlichen  Folgen  gibt  viel  günstigere 
Yorbedingimgen  für  das  Leben  der  Bauern  als  die  feuchten  Niederungen 
Kujawieus  und  Masowiens,  die  wieder  für  landwirtschaftliche  Großbeti'iebe 
in  Frage  kommen.  Bauernwirtschaften  vom  gleichen  Umfang  mit  AVeizen- 
boden  sichern  ihren  Bewohnern  einen  höhern  Wohlstand  als  Wirt- 
schaften im  sandigen  Gebiet  der  zeljona  puszcza  (Heide  und  Wald  im 
Nordosten). 

Aber  auch  Faktoren  wirken,  deren  Ursprung  in  grauer  Vorzeit  zu 
suchen  ist.  So  ist  die  Lage  der  Bauern  in  den  vormals  bischöflichen, 
1864  verstaatlichten  Ländereien,  wie  z.  B.  im  sogenannten  Fiu-stentum 
Lowicz  erheblich  besser  als  in  der  „krolewszczyna",  ^)  wo  die  alte  Schlachta 
herrschte.  Yerschieden  ist  auch  die  Lage  der  Landwirtschaft  je  nach  der 
Art  der  Verteilung  von  Groß-  und  Kieinbesitz,  nach  dem  persönlichen  Ver- 
hältnis zwischen  Klein-  und  Großgrandbesitzern,  nach  Zahl  und  Umfang 
der  benachbarten  iudustiiellen  Großbeti'iebe  sowie  schließlich  nach  der 
Art  der  Bewirtschaftung  selbst. 

Aus  den  angeführten  Gründen  würde  jeder  Vereuch,  die  Lage  der 
Landwirtschaft  im  Zaiiimi  Polen  in  einem  auf  Durchschnittszahlen  auf- 
geführten Bilde  darzustellen,  fehlerhaft  sein.  Es  würde  vielfach  komplizierte 
Tatsachen  vereinfachen  und  falsche  Schlußfolgerungen  zulassen.  Die  Durch- 
schnittszahlen würden    örtliche  Eigentümlichkeiten,    die    von    den  Agrar- 


0  Vgl.  „Obrazy  i  Opisy"  a.  a.  0.  S.  165-83. 


B.  Die  Lage  der  Landwirtschaft  181 


Verhältnissen  des  "Weichselgebiets  untrennbar  sind,  verwischen.  So  würde 
jener  bäuerliche  Charakter  des  Gouvernements  Ssuwalki  schwinden,  wo  im 
Jahre  1904  gegen  56  Prozent  der  ganzen  Fläche  auf  den  Kleingiaindbesitz 
entfielen,  und  wo  auf  jede  Bauern  Wirtschaft  im  Jahre  1899  durchschnittlich 
11,3  Deßjatinen  Land  kamen.  Das  ist  aber  eine  Bodenfläche,  die  bei  der 
Höhe  der  landwii-tschaftlichen  Kultur  im  Zartum  Polen  eine  normale 
Familie  von  sechs  bis  acht  Personen  durchaus  anständig  ernähren  könnte. 
Auch  solche  Yerhältnisse  würden  verwischt  werden,  wie  sie  zum  Beispiel 
in  den  Gouvernements  Block  und  Lomsha  zu  beobachten  sind.  Dort  fällt  die 
große  Zahl  der  Betriebe  über  25  Deßjatinen  auf;  im  Kreise  Masoweck 
nehmen  die  Kleinbetriebe  81  Prozent  der  Gesamtfläche  für  sich  in  An- 
spruch, während  auf  die  Großbetriebe  nur  14  Prozent  entfallen. 

Auch  die  fast  verzweifelte  Lage  der  Bauern  im  Gouvernement  Kjelce 
würde  sich  verwischen;  dort  gibt  es  gegen  100000  "Wirtschaften  mit 
weniger  als  7^/2  Deßjatinen  Land,  denen  nur  5000  mit  Y^/g  bis  25  Deß- 
jatinen gegenüberstehn.  Auch  noch  andre  Einzelheiten  würden  ver- 
schwinden, die  durch  die  Yerschiedenheit  des  Bodens  hervorgerufen  sind. 
So  deutet  Krzewicki  an,  in  der  Gmin  Jedwabno  des  Gouvernements  Lomsha 
reichten  3  Deßjatinen  zum  Unterhalt  einer  Familie  aus,  während  nicht 
weit  davon  in  der  Gmin  Czerwone  10,8  Deßjatinen  nicht  ausreichten,  i) 
Schließlich  wirkt  der  Eintritt  größerer  Kapitalien  in  den  einen  Kreis, 
während  in  andern  solcher  Zusti'om  fehlt.  Wir  wollen  nun,  um  auf  möglichst 
geringem  Kaum  ein  möglichst  richtiges  Bild  zu  geben,  unsre  Schilderung 
auf  folgendes  beschränken.  Zunächst  scheint  es  uns  wichtig,  die  Yei-teilung 
der  landwirtschaftlich  verwerteten  Fläche  zwischen  Groß-  und  Kleinbetrieben 
festzustellen.  Alsdann  wollen  wir  einen  kurzen  Blick  auf  die  Gutswirtschaft 
werfen.  Eine  Darstellung  des  Servitutenunwesens  wird  uns  vor  Augen 
führen,  welche  innern  Schäden  am  Mark  der  Wirtschaft  zehren.  Wir 
finden  darin  gleichzeitig  den  Übergang  zur  Lage  der  landwirischaftlichen 
Kleinbetriebe. 

1,  Die  Verteilung  des  Landes 

Das  Zartum  Polen  stellt  ein  Gebiet  dar,  in  dem  der  Gutsbesitzer  ini 
allgemeinen  nicht  durch  die  Größe  seines  Besitzes,  sondern  durch  seine 
Intelligenz  sowie  durch  Tradition  hen'scht.  Vom  Gesamtareal  des  Zartums 
gehören  nämlich  im  Jahre  1904  nur  etwa  40  Prozent  zu  landwirtschaft- 
lichen Großbetrieben,  aber  gegen  54  Prozent  zu  Kleinbetrieben.  Li  den 
verschiednen  Gebieten  treten  dann    noch  merkliche  Verschiebungen    ein, 


')  RiiEkija  Wjedomosti  von  1906,  Nr.  148. 


182 


Neuntes  Kapitel.    Zur  Agiarfrage 


wie  aus  beigefügter  Zusammenstellung  für  das  Jahr  1904/05  ereichtlieh 
wird.    In  den  Gouvernements  gehörten  Deßjatinen: 


Deßjatinen 

Prozent 

zu  Kleinbetrieben 

a)  der  Bauern 
b)derkl.Schlachta 

zu  Großbeti-ieben 

a)  Privatbesitz 
b)  Land  des  Fiskus 

Gouvernements 

Kleinbetriebe  Großbetriebe 

Ssuwalki •! 

Lomsha \ 

Plock 1 

Sjedlec < 

a)  624865 

b)  4067 

a)  279956 

b)  319393 

a)  313958 

b)  124482 

a)  593700 

b)  155981 

a)  249156 

b)  204248 

a)  160993 

b)  110533 

a)  373152 

b)  23664 

a)  413834 

b)  20  785 

56,0 
66,4 
50,9 
49,1 

40,4 
30,0 
46,1 
84,2 

a  +  b 

"Warschau | 

Lublin 1 

2416397  1) 

a)  742525 

b)  35801 

a)  780650 

b)  2212 

1556365 

a)  641 581 

b)  58135 

a)  606312 

b)  24568 

55,58 

50,5 
54,7 

37,68 

45.4 
42,5 

a  +  b 

Kaiisch | 

Petrikau { 

Kjelce I 

Radom ! 

1561 18S 
a)     522989 

a)  583594 

b)  9652 

a)  463441 

b)  152 

a)     602419 

1330596 

a)  442995 

b)  17420 

a)  403764 

b)  61335 

a)  308388 

b)  76702 

a)  361 409 

b)  82578 

52,6 
51,2 
53,6 
52,2 
54,6 

43,95 

45,1 

41,0 

43,3 

40,3 

a  +  b 

2182247 

1744591 

52,9 

42,43 

*)  Die  unter  a  und  b  der  Tabelle  aufgeführten  Zahlen  sind  aus  einer  langen  Reihe 
von  Zahlen  in  Heft  XXI  der  Arbeiten  des  "Warschauer  Statistischen  Komitees  vom  Jahre  1905 
errechnet.  Diese  Zahlen  nehmen  184  Druckseiten  Tabellen  ein.  Nun  ergibt  sich  zwischen 
der  entsprechenden  Zahl  auf  Seite  178  und  der  Summe  der  Deßjatinen  unter  Kleinbetrieben 
eine  Differenz  von  325.  Bei  der  Geringfügigkeit  des  Unterschiedes  glaubte  sich  der  Verfa.sser 
berechtigt,  den  Fehler  xmberäcksichtigt  zu  lassen,  umsomehr  als  dessen  Auffindung  nicht 
absolut  einzutreten  brauchte,  wohl  aber  mehrere  Tage  Arbeit  in  Anspruch  nehmen  würde. 


B.  Die  Lage  der  Landwirtschaft  Igg 


Diese  Zahlen  werden  noch  zugunsten  der  Kleinbetriebe  verschoben, 
wenn  wir  uns  daran  eriimern,  daß  ein  Teil  der  Staateländereien  an  Bauern 
vei-pachtet  ist,  und  daß  es  etwa  3600  bis  4000  solcher  auf  Pachtland  be- 
gründeter lüeinbeti-iebe  gibt.  Der  Privatgi'oßgiTindbesitz  hat  dagegen  nur 
wenig  an  Bauern  abgegeben,  nämlich  40111  Deßjatinen  oder  1,2  Prozent 
seiner  Gesamtfläche.  ^) 

Yon  einem  starken  Übergewicht  der  Großbetiiebe  kami  im  ganzen 
Zartum  nur  in  fünf  Kreisen  gesprochen  werden,  nämlich  Plock,  Lipno, 
Rvpin,  Garwolin  imd  Konsk.  Dort  entfallen  auf  landwirtschaftliche  Groß- 
betriebe zwischen  52  bis  56,4  Prozent  der  Gesamtfläche.  Demgegenüber 
stehn  sieben  Kreise,  von  deren  Fläche  zwischen  67  und  71  Prozent,  und 
einer  (Lowicz),  von  dem  gar  81,2  Prozent  unter  Kleinbetriebe  ver- 
teilt sind. 

Riesenbetiiebe  gibt  es  im  ganzen  Gebiet  nur  einen,  nämlich  die 
104000  Deßjatinen  gi'oße  Besitzung  des  Grafen  Samojski  im  Gouvernement 
Lublin,  die  sich  aus  sieben  Gütern  zusammensetzt  (vgl.  auch  siebentes 
Kapitel,  den  Abschnitt  vom  Landbesitz  der  Juden). 

Auf  der  Übergangsstufe  vom  kleinen  zum  Großbetriebe  stehn,  ab- 
gesehen von  den  auf  Seite  178  erwähnten  Besitzungen  der  kleinen  Schlachta, 
nur  49  den  Bauern  gehörige  Güter  zwischen  60  bis  155  Deßjatinen  Größe. 
Die  Mehrzahl  von  ihnen  befindet  sich  in  den  Gouvernements  Lublin  und 
Sjedlec  mit  je  11.  Dann  folgen  Ssuwalki,  Lomsha,  Plock,  Radom  mit  je 
4  solcher  Güter. 

2.  Der  private  Grof 8g rundbesitz 

Über  den  gesamten  Großgrundbesitz  des  Zartums  Polen  fehlen  uns 
einwandfreie  Daten.  Deshalb  sind  wir  bezügKch  des  statistischen  Materials 
auf  vier  miteinander  nicht  übereinstimmende  Quellen  angewiesen:  auf  die 
Arbeiten  des  Warschauer  Statistischen  Komitees,^)  auf  die  Veröffent- 
lichungen der  Landbank  und  auf  die  Akten  des  Komitees  zur  Hebung 
der  Landwiitschaft  und  verwandter  Gewerbe  sowie  schließlich  auf  die 
Jahresberichte  der  Bauernbank.  ]\Iit  Rücksicht  auf  die  Landbank  sind  wir 
genötigt,  im  vorliegenden  Abschnitt  mit  Morgen  zu  rechnen,  nicht  mit 
Deßjatinen.     Ein  Morgen  entspricht  etwa  einer  halben  Deßjatine. 

Wir  hörten  schon  (S.  154),  daß  es  im  Jahre  1904  im  Zartum  Polen  9850 
private  Großbetriebe  mit  einem  Flächengehalt  von  etwa  8351103  Morgen 
gab.     In   dieser  Zahl  sind  die  Majorate  einbegriffen,  während  die  Güter 


')  Die  gleiche  Menge  wurde  an  jüdische  Pächter  abgegeben  (vgl.  S.  184). 

*)  Die  Angaben  des  ^Varschauer  Statistischen  Komitees  sind  in  dieser  Beziehung  be- 
sonders mager  und  unzureichend,  da  sie  sich  hauptsächlich  mit  den  Betrieben  der  privile- 
gierten Bauern  beschäftigen,  deren  großer  "Wohlstand  nachgewiesen  werden  soll. 


184 


Neuntes  Kapitel.    Zur  Agrarfrage 


der  Krone  keine  Berücksichtigung  finden.  Das  Hauptkontingent  aller  dieser 
Güter  ist  mit  Hypotheken  der  Landschaftski'editgesellschaft  (Landbank) 
belastet,  nämlich  6  597  276  Morgen  oder  79  Prozent  der  gesamten  vom 
Privatbesitz  eingenomnmen  Bodenfläche.  Nichtverpfändete  Grundbesitze 
nehmen  einen  Flächenraum  von  1076  915  Morgen  oder  12,9  Prozent  des 
Privatgrundbesitzes  im  Gebiet  ein.  Die  Majorate  nehmen  eine  Fläche  von 
nur  676912  Morgen  oder  8,1  Prozent  des  Privatbesitzes  ein,  wobei  in 
zehn  Kreisen  des  Gebiets  überhaupt  keine  Majorate  vorhanden  sind. 

Unter  den  in  der  Landbank  verpfändeten  Gütern  lassen  sich  folgende 
Größen  feststellen:  im  Jahre  1893  hatten  eine  Fläche  von  300  bis 
1000  Morgen  4000  Güter;  1000  bis  3000  Morgen  wenig  über  1500  Güter; 
über  3000  Morgen  nur  282.  Somit  heiTschten  damals  beim  Privatbesitz 
mittelgroße  Güter  mit  einem  Umfang  von  300  bis  1000  Morgen  vor. 

Die  Verteilung  der  Güter  auf  die  einzelnen  Gouvernements  zeigt  die 
nächste  Zusammenstellung.  Dabei  wird  gleichzeitig  gezeigt,  wieviel  Güter 
in  der  Landbank  Hypotheken  aufgenommen  haben  und  in  welcher  Weise 
sie  mit  Servituten  belastet  sind. 


Zalil  der  Güter 

Zalü  der 

i 

Pachten 

Gouvernements 
und 

Senituten- 

genießer, 

davon : 

rchschnit 
große  in 
Morgen 

über- 
haupt 

Davon 
belastet  durch 

Deßjatinen 

Land- 

Servitute 

Baueiii 

Juden 

bank 

1906 

Wald 

Weide 

a 
Q 

1904 

1900 

Ssuwalki 

427 

834 

108 

3174 

3055 

721,4 

604 

14990 

Lomsha 

340 

139 

125 

6004 

8677 

832,7 

613 

3340 

Plock   

1120 

610 

420 

7842 

11391 

623,0 

908 

1390 

Sjedlec 

517 

302 

116 

9737 

11989 

1275,2 

929 

5220 

2404 

1385 

769 

26757 

35112 

863,1     3054  1 24  940 

Lublin 

651 

370 

185 

23991 

23118 

1553,6     3648 

8550 

"Warschau 

1575 

1007 

294 

6923 

11982 

698,4     8243 

3300 

2226 

1377 

479 

30914 

35100 

1126,0  11891    11850 

Kaiisch 

878 

620 

257 

10899    11846 

780,7 

9316 

765 

Petrikau 

696 

402 

182 

10383      9118 

892,8 

6246 

2090 

Kjelce 

606 

382 

148 

7  749      9185 

808,9 

6310 

5990 

Radom 

607 

283  1        77 

6442      8442 

862,5 

3294 

2720 

2787 

1687         664 

35473  1  88591 

836,2 

25166   11565 

I  7417  14449  |    1912    |93144    108803  |  941,7  140111  |48355 

Yon  der  Landbank  sprechen  Avir  im  zwölften  Kapitel,  von  den  Servituten 
soll  weiter  unten  die  Eede  sein.  Aus  der  Angabe  über  Pachten  ist  zu 
entnehmen,  daß  vom  gesamten  Gutsland  niu-  etwa  3  Prozent  verpachtet 
werden,  was  auf  eine  große  Intensität  der  Wirtschaft  schließen  läßt.    Die 


B.  Die  Lage  der  Landwirtschaft  185 

Zahlimgen  schwanken  bei  langfristigen  Pachtungen  zwischen  13  bis  15  Rubel, 
bei  einjährigem  Kontrakt  zwischen  13  bis  19  Rubel.  Für  einschnittige 
Wiesen  werden  20,  für  zweischnittige  36  Rubel  pro  Deßjatine  und  Jahr 
gezahlt. 

3.  Zustand  der  Landwirtschaft  überhaupt 

Die  Intensität  der  Landwirtschaft  steht,  soweit  es  sich  um  den  Groß- 
betrieb handelt,  der  der  Provinzen  Ost-  und  "Westpreußen  und  Posen  nicht 
erheblich  nach,  ist  aber  sehr  viel  geringer  auf  den  Baueniwii'tschaften. 
Sie  ist  am  größten  in  Masowien  und  Kujawien  (Kutno).  Doii;  gibt  es  ein- 
zelne polnische  Güter,  die  sich  mit  den  besten  Wiiischaften  Sachsens  messen 
können.  Am  geringsten  ist  die  Intensität  der  Bewirtschaftung  in  dem 
Sandsti-eifen  an  der  preußischen  Grenze  sowie  in  Ssuwalki,  Lomsha  und 
im  nördlichen  Sjedlec. 

Eine  eingehende  Darstellung  der  Wirtschaftsweise  der  Großgrund- 
besitzer gehört  nicht  in  den  Rahmen  unsrer  Arbeit.  Die  Verteilung  des 
Bodens  unter  Acker,  Wiese  und  Wald  wurde  in  der  Zusammenstellung 
auf  Seite  154  gezeigt.  Dazu  wollen  wir  hier  ergänzend  hinzufügen,  wie- 
viel Acker  der  Zuckerrübe  freigegeben  ist,  woraus  Schlüsse  auf  die  Inten- 
sität der  Wirtschaft  und  die  Güte  des  Bodens  in  den  einzelnen  Gouverne- 
ments gezogen  werden  können. 

Der  Rübenbau  verteilte  sich  auf  die  verschiednen  Gouvernements  in 
Deßjatinen  wie  folgt:  ^^^^^^^^^  ^^^^^^^^^  ^^^^^^^,^ 

Ssuwalki —                        —  — 

Lomsha 811                   1208  1150 

Plock 2247                    8576  7179 

Sjedlec 915                    1365  1375 

Warschau    ....  18824  23164  21369 

Lublin 5794  15011  11249 

KaHsch 3049                    3286  3514 

Petrikau 1180                    1884  425 

Kjelce 2350                   2540  2340 

Radom 1646                    2600  2895 

Die  Zahl  der  Zuckerfabriken  betrug  1891/92  41,  in  der  Kampagne 
1895/96  44,  im  Jahre  1900/01  51*)  und  im  Jahre  1902/03  wieder  nur 
495).     Die  Höhe  der  Zuckererzeugung  wurde  auf  Seite  156  gezeigt. 


')  Jahrbuch  des  Finanzministeriums  von  1898,  S.  579. 

2)  Ebenda  von  1904,  S.  644. 

»)  Ebenda  von  1906/07,  S.  396. 

*)  Statistik  der  Acciseverwaltimg  von  1903,  S.  134. 

")  Ebenda  fiir  1905,  S.  131. 


186  Neuntes  Kapitel.    Zur  Agrarfrage 


Ein  Bild  von  der  Größe  der  Zuckerfabiikation  im  Yerliältnis  zur 
russischen  gibt  auch  die  Teilnahme  der  pobiischen  Fabriken  an  der  Zucker- 
ausfuhr. Sie  beti-ug  im  Jahre  1902  etwa  28  Prozent  der  Gesamtausfuhr 
und  im  Jahre  1903  etwa  11  Prozent.^) 

Über  das  Brennei'eigewerbe  imtemchtet  die  Zusammenstellung  auf 
Seite  155.  In  den  verschiednen  hieninter  angegebnen  Jahren  gab  es  in 
den  einzelnen  Gouvernements  Brennereien: 

1895/96-^)  1901i02^)  1904/05*) 

Ssuwalki 19                        19  20 

Lomsha 30                       23  20 

Plock 19                        12  12 

Sjedlec .54                       56  60 

"Warschau 44                       57  64 

Lubün 46                        53  62 

KaUsch 48                       43  42 

Petrikau 47                        39  39 

Kjelce 22                       25  26 

Radom 26 27 28_ 

355                      354  372 

Ein  Zeichen  für  die  Intensität  der  Wii-ischaft  ist  auch  die  Verbindung 
verschiedner  Wirtschaftsbetiiebe.  Hierzu  gehört  vor  allen  Dingen  im  Zaiiimi 
die  Anpassung  der  Pferdezucht  an  die  öiiJichen  Bedürfnisse.  Während 
noch  vor  20  bis  25  Jahren  im  ganzen  Zartum  nur  leichte  Schläge  ge- 
zogen wurden,  unter  denen  arabisches  Halbblut  vorherrschte,  werden  gegen- 
Avärtig  im  Xordostgebiet  Ostpreußen  für  die  Arbeit,  englisches  Vollblut  für 
den  Luxus  bevorzugt.  Im  Rübengebiet  haben  kalte  Schläge,  vor  allen 
Dingen  Ardenner,  aber  auch  Normannen  Eingang  gefunden.  Die  Zucker- 
fabrikaktiengeseUschaft  Ostrowite  beschäftigt  sich  zum  Beispiel  in  großem 
Maße  und  mit  gutem  Erfolge  mit  der  Züchtung  schwerer  Pferde  für  die 
Zuckerindush'ie.  Nur  im  Lublinschen  halten  die  Züchter  noch  fest  an 
dem  schönen  aber  kleinen  polnisch -arabischen  Pferde.  Die  Kaiserliche 
Gestütsverwaltung  hat  eine  Verschlechtening  der  Bauernpferde  in  Sjedlec 
durch  Experimente  mit  rassischen  Beschälern  herbeigeführt. 

Im  Gegensatz  hierzu  fällt  die  geringe  Ausbreitung  von  Molkereien 
und  Meiereien  auf  Gütern  auf.  Im  Jahre  1903  gab  es  im  Zartum  Polen 
nur  sechs  einigermaßen  modern  eingerichtete  Meiereien,  davon  fünf  im 
Gouvernement  "Warschau  und  eine  in  Kjelce.^)   Alle  Warschauer  Meiereien 

^)  Statistik  der  Acciseverwaltung  für  1904,  Ö.  164. 
'')  Jahrbuch  des  Finanzministeriums  von  1898,  S.  562. 
')  Ebenda  von  1904,  S.  614. 
*)  Ebenda  von  1906;  07,  S.  384. 
'']  Vgl.  Skarzinski  a.  a.  0.  S.  46  ff. 


B.  Die  Lage  der  Landwirtschaft  187 


sind  städtisch,  also  in  jüdischer  Leitung,  und  nur  die  in  Kjelce  gehört 
zur  GutsAvirtschaft  des  Grafen  Loß,  Bobiuo.  Die  einzige  genossenschaft- 
liche Meierei  in  Sochaczew  ist  von  Großgrundbesitzern  ins  Leben  gerufen, 
und  zwar  unter  dem  Einfluß  der  drei  großen  in  der  Nähe  gelegnen  Zucker- 
fabrikaktiengesellschaften, die  unter  der  Leitung  der  polonisierteu  Deutschen 
imd  Juden  Rotwand,  Wortmann,  Epstein,  Berson  stehn.  Die  Genossenschaft 
ist  somit  kein  Ergebnis  polnischen  Organisationsbedürfnisses.  Wir  werden 
nachzuweisen  haben,  daß  der  liierin  scheinbar  zum  Ausdnick  kommende 
Mangel  an  Gemeinsinn  bei  den  pobiischen  Großgrundbesitzern  nicht  durch 
Charakteranlage  der  Polen  erklärt  werden  darf. 

Die  Viehhaltung  ist  im  Zarfum  Polen  wohl  gestiegen,  aber  doch  nicht 
im  richtigen  Yerhältnis  zur  Bevölkerungszunahme.  Sie  stellt  nur  etwa 
15  Prozent  der  landwirtschaftlichen  Produktion  dar,  während  sie  in  Deutsch- 
land etAva  40  Prozent  bildet.  In  der  Zeit  von  1870  bis  1899  betrug  die 
Zunahme  des  Hornviehs  nur  ein  Drittel  der  Bevölkerungszunahme  und 
war  nur  halb  so  groß  wie  in  Deutschland.  Selbst  gegenüber  Rußland  ist 
die  jährliche  Zunahme  des  Hornviehs  mn  die  Hälfte  geringer,  während 
sie  nur  ein  Zehntel  von  der  in  Deutschland  darstellt.  Ln  Jahre  1899 
kamen  nach  einem  Bericht^)  auf  100  Bewohner  des  Zartums  nur  22,6  Stück 
Hornvieh,  auf  100  Bewohner  Deutschlands  mehr  als  50.  Dabei  ist  das 
lebende  Durchschnittsgewicht  in  Polen  700,  in  Deutschland  aber  1000  bis 
1100  Pfund.  Die  polnischen  Kühe  geben  jährlich  keine  1000  Liter  Milch, 
die  deutschen  durchschnittlich  1800  bis  2000  Liter. 

Die  Schafzucht  ist,  nachdem  sie  früher  einmal  eine  große  Bedeutung 
gehabt  hatte,  von  1870  bis  1899  um  38,8  Prozent  zurückgegangen.'^)  Im 
Jahre  1870  kamen  auf  100  Bewohner  68,7  Schafe,  im  Jahre  1899  nur 
29,9  Stück,  was  einem  zahlenmäßigen  Rückgang  von  4180122  auf  2767133 
Stück  oder  33,8  Prozent  gleichkommt.  Doch  darf  dieser  Rückgang  der 
Schafzucht  nicht  als  unbedingter  Rückgang  der  Landwirfschaft  bezeichnet 
werden.  Er  deutet  vielmehr  auf  eine  Steigerung  der  Intensität  hin,  die  in 
einer  Verminderung  der  brachliegenden  Flächen  zmu  Ausdruck  kommt.'') 

Auch  die  Schweinehaltung  ist  gegenüber  der  Bevölkerungszunahme 
zurückgegangen.  Die  Zahl  der  Schweine  betrug  1870  etwa  1104415  Stück, 
im  Jahre  1899  nur  8  Prozent  mehr  oder  1192  750.  Im  Jalu'e  1870  kaiuen 
18,1  Schweine  auf  100  Bewohner,  im  Jahre  1899  nur  12,9,  was  einem 
Rückgang  von  5,2  Prozent  entspricht.^) 


*)  Vom  22.  Jamiarl903  im  Warschauer  GouvernemeDtskomitee.  S. „Arbeiten  usw."  S.71. 

')  Im  Verhältnis  zur  Bevölkerungszunahme. 

*)  „Arbeiten  usw.",  Gouvernementskomitee  in  Lomsha,  S.  468  ff 

*)  Ebenda,  S.  469, 


188  Neuntes  Kapitel.    Zur  Agrarfrage 

Eine  Sonderstellung  gegenüber  dem  allgemeinen  Rückgang  nimmt  die 
Pferdezucht  ein.  Die  Zahl  der  Pferde  vermehrt  sich  jährlich  um  2,8  Prozent 
oder  um  1,2  Prozent  stärker  als  die  Bevölkerung.  Im  Jahre  1870  gab  es 
im  Zartum  753421  Pferde,  im  Jahre  1899  dagegen  1366925,  imd  während 
früher  12,4  Pferde  auf  100  Bewohner  kamen,  betrug  diese  Zahl  im 
Jahre  1899  etwa  14,7.  Für  die  Volkswirtschaft  des  Zartums  Polen  darf 
diese  Zunalime  nach  den  Ausführungen  ]\Iichalskis  nicht  als  absoluter  Ge- 
winn eingesetzt  werden.^)  In  den  Städten  sei  die  Zunahme  der  Pferde 
unzweifelhaft  die  Folge  der  großen  Entwicklung  der  Industrie  und  des 
damit  verbundnen  Lastfuhnerkehrs.  Auf  dem  Lande  wurde  aber  der  Ochse 
durch  leichte  Pferde  verdrängt.  Der  Berichterstatter  gibt  die  Zahl  der 
aus  der  Wirtschaft  ausgeschiednen  Ochsen  mit  600000  an. 

Die  natürliche  Düngung  ist  im  Vergleich  zu  den  russischen  Gou- 
vernements reich,  da  auf  100  Deßjatinen  bearbeiteten  Bauernlandes  19,8 
Pferde,  46,2  Hornvieh,  15,5  Schafe  und  18,7  Schweine  entfallen.  Jessipow 
bezeichnet  den  Reichtum  durch  die  Angabe,  daß  im  Jahre  1894  mehr  als 
900000  Pferde  in  Polen  vorhanden  gewesen  seien,  wobei  auf  1000  Höfe 
nur  300  ohne  Pferde  entfallen.  Das  sieht  gegenüber  Rußland  recht  gut 
aus,  weil  dort  von  1000  Höfen  313  bis  550  ohne  Pferde  vorhanden  sind.^) 
Doch  verblaßt  das  Ergebnis,  wenn  man  sich  daran  erinnert,  daß  in  den 
Höfen  die  der  Güter  und  Vorwerke  eingerechnet  sind,  und  daß  im  Zartimi 
Polen  eine  ausgedehnte  Pferdezucht  betrieben  wird.  3)  Im  Gouvernement 
Kjelce  sind  Dörfer  mit  48  Prozent  pferdelosen  Höfen  das  übliche,  und  es 
gibt  Dörfer,  in  denen  78  Prozent  der  Höfe  keine  Pferde  haben.*) 

Künstlicher  Dünger,  wie  Thomasschlacke,  aber  auch  Kalisalze,  werden 
in  den  Großbeti'ieben  überall  verwandt.  Ebenso  ist  Gründüngung  mit 
Lupinen  stark  verbreitet. 

Für  die  Ausdehnung  und  Vertiefung  des  Getreideanbaues  stehn  uns 
nur  allgemeine  Angaben  für  das  Zartum  zur  Verfügung.  Infolgedessen 
wird  die  Höhe  der  Entwicklung  in  einzelnen  Gouvernements  und  die  Rück- 
ständigkeit  in    andern  vollständig  verwischt.     Nach   Angaben    des    Land- 


^)  Vom  22.  Januar  1903  im  Gouvernementskomitee  von  Petrikau,  S.  798. 

■2)  W.  W.  Jessipow,  „Das  "Weichselgebiet",  Warschau,  Druckerei  des  Warschauer 
Lehrbezirks,  1907,  S.  24. 

■■')  Im  Jahre  1900  wurden  amtlich  335  Pferdegestüte  gezählt  mit  593  edeln  Deck- 
hengsten und  5990  Zuchtstuten.  Im  Norden  wird  Trakehner  Vollblut,  im  Süden  eng- 
lisches Vollblut  und  in  den  Rübengegenden  kalte  Schläge,  hauptsächüch  Normannen  ge- 
zogen.    Das  Gestüt  des  Grafen  Krasinski  hat  europäischen  Ruf. 

*)  Bericht  des  Präsidenten  des  Kameralhofs  S.  A.  Schpilew  ün  Kjelcer  Gouvemements- 
komitee,  siehe  „Arbeiten  usw.''  a.  a.  0.  S.  382/83. 


B.  Die  Lage  der  Landwirtschaft  189 


Weizen 

Gerste 

Hafer 

83 

70 

62 

72 

61 

56 

114 

111 

119 

Wirtschaftsministeriums  ^)  betrug  die  Ernte  im  Zeitraum  von  1893  bis  1899 

in  Pud  von  einer  Deßjatin: 

für  Roggen 

auf  Gutsland 69 

auf  Bauernland     ....     21 
in  Deutschland-)  ....     97 

Eine  geordnete  Waldivirtschaft  gibt  es  im  Zartiun  Polen  nicht.  Nur 
etwa  ein  Zehntel  des  Waldes  im  Zartimi  gehört  den  Bauern,  drei  Zehntel 
der  Ki'one  und  sechs  Zehntel  dem  privaten  Gi^undbesitz.  Sie  ist  noch  am 
besten  in  den  fiskalischen  Wäldern,  am  schlechtesten  dort,  wo  die  Servi- 
tute nicht  abgelöst  wurden. 

Die  polnische  Landwirtschaft,  insonderheit  die  gutsherrliche,  hat,  ab- 
gesehen von  den  Servituten,  zwei  starke  Feinde:  hohe  Steuern  und  die 
Eisenhahntarife. 

Während  die  Steuer  im  Südwestgebiet  26,3  Kopeken  auf  eine  Deßjatin, 
im  südlichen  Steppengebiet  17,1,  im  Osten  und  Südosten  14,2  und  in  den 
Wolgagouvernenients  gar  nur  11,9  Kopeken  beti'ägt,  müssen  die  polnischen 
Landwirte  102  Kopeken  zahlen.  Nach  Ssuligorski  ^)  gestaltet  sich  infolge- 
dessen und  trotz  des  Vorhandenseins  billiger  Arbeitskräfte  die  Getreide- 
erzeugung erhebHch  teurer  als  auf  russischen  Betrieben.  Nach  Ssuligorskis 
Berechnungen,    die   von   den   Landwirten    als  richtig    anerkannt    werden, 

kostet  die  Erzeugung  eines  Pud: 

Hafer  "Weizen  Roggen 

im  Zartum  Polen      .     .    .    48,8  Rbl.         66,4  Rbl.         59,1  Rbl. 

an  der  Wolga 35,8     „  45,2     „  48,6     „ 

im  Südwestgebiet ....    28,5    .,  53,4    „  32,5    „ 

Bei  diesen  Produktionsverhältnissen  wirkt  der  russische  Eisenbahntarif 
von  1889  um  so  schwerer.  Sein  Grundprinzip  ist  die  Herabsetzung  der 
BefÖrdemngskosten  auf  den  großen  Entfernungen  und  ihre  Yerteuerung 
auf  den  kleinen.  Er  wurde  in  Rußland  eingeführt,  als  die  große  Agrar- 
krisis  in  der  zweiten  Hälfte  der  1880er  Jahre  das  russische  Getreide  vom 
Weltmarkt  abzudrängen  drohte.'*)  Für  das  polnische  Getreide  ergab  sich 
aus  dem  Prinzip  eine  außerordentliche  Konkurrenz  des  russischen  und 
sogar   sibirischen  Getreides,     Der  Waggon  Geti-eide   zu  750  Pud   kostet 

^)  Sammlung  statistischer  Daten  über  die  Landwirtschaft  in  Rußland,  2.  Auflage, 
St.  Petersburg,  1902,  S.  122. 

^)  Nach  Ballod  zitiert  in  den  „Arbeiten  usw.",  Wai-schauer  Komitee,  S.  64. 

^)  Zitiert  bei  L.  B.  Skarzinski,  „Auszug  aus  den  Arbeiten  der  örtlichen  Komitees  in 
den  Gouvernements  des  Zartimis  Polen^',  St.  Petersburg,  Druck  bei  W,  F.  Kirschbaum, 
1905,  S.  267. 

*)  Spätere  Änderungen  von  1893,  1896  und  1900  trugen  mehr  einen  technischen 
als  wirtschaftlichen  Charakter. 


190  Neuntes  Kapitel.    Zur  Agrarfrage 

nämlich  für  die  Strecke  Uralsk— Warschau  oder  2321  "Werst  241,88  Kübel, 
für  die  Strecke  Uralsk— Alexandrowo  oder  2531  Werst  255,70  Rubel,  für 
die  Sti'ecke  Warschau— Alexandrowo  oder  210  Werst  67,21  Rubel.  Somit  wird 
das  Uralgetreide  oder  Mehl  auf  einer  Sti-ecke  für  13,72  Rubel  befördert 
pro  Waggon,  für  che  das  Warschauer  Getreide  mehr  als  fünfmal  soviel 
zahlen  muß!^)  Das  rassische  Tarifsystem  wirkt  auch  in  andrer  Richtung 
schädlich.  So  können  die  großen  Mengen  von  Abfällen  in  den  Städten  nicht 
für  die  Landwirtschaft  nutzbar  gemacht  werden.  Trotz  des  Vorhandenseins 
der  Eisenindustrie  im  Gouvernement  Petrikau  findet  die  heimische  Thomas- 
schlacke wenig  Verwendung,  imd  im  Jahre  1902  wurden  allein  durch  die  land- 
wirtschaftlichen Gesellschaften  2000  Waggon  aus  Südrußland  eingeführt.-) 
Schlimmer  noch  ist  es  mit  den  gemeinen  Abfällen.  Allein  Wai-schau  liefert 
alljährlich  gegen  200000  Kubikmeter  Abfälle,  die  mit  Pferden  in  die 
nächste  Umgebung  der  Stadt  geschafft  werden  müssen  und  dort  die  Luft 
verpesten,  weil  die  Eisenbahntarife  ihren  Ankauf  durch  Landwirte  unrentabel 
machen.^)  Daß  in  den  Arbeiterzenti'en  hierdurch  die  ungünstigsten  sanitären 
Verhältnisse  geschaffen  werden,  bedart  keiner  besondern  Erwäliiuing. 

Die  gewerbliche  Organisation  des  Großgnmdbesitzes  ist  bis  1905  sehr 
wenig  entwickelt.  Sie  besteht  in  der  Landbank  zu  Warschau  und  deren 
Direktionen  in  den  zehn  Gouvernements.  Wir  sprechen  von  ihr  gelegent- 
lich der  polnischen  Kreditorganisation  im  zwölften  Kapitel.  Landwirt- 
schaftliche Vereine  gibt  es  zehn.  Alle  fülu'en  ein  verhälbiismäßig  gesundes 
Dasein,  obwohl  ihnen  die  Behörden  aus  politischen  Gründen  mit  großem 
Mißtrauen  gegenüberstehn.  Über  landwirtschaftliclie  Genossensciiaften  soll 
noch  besonders  die  Rede  sein.  Immerhin  konnten  bis  zum  Jahre  1903 
etwa  die  Aktiengesellschaften  vuid  die  Landbank  als  die  einzigen  wirt- 
schaftlichen Organisationen  des  polnischen  Großgrundbesitzes  bezeichnet 
werden,  die  in  den  letzten  vierzig  Jahren  aus  der  pohiischen  GeseUschaft 
heraus  entstanden  waren.     (Weiteres  Kapitel  11  und  12.) 

Der  landwirtschaftliche  Kredit  ist  im  Zartum  Polen  sehr  beengt? 
Die  gi'oße  Steigerung  der  Bodenpreise  hat  freilich  viele  Kapitalien  aufs 
Land  gezogen.  Doch  ist  dadurcli  nicht  der  mittlere  Großgrundbesitz  ge- 
stärkt worden,  sondern  ausschließlich  der  ganz  gi'oße.  Der  kleine  und 
mittlere  Großgriuidbesitz  fällt  dagegen  der  Zerstückelung  anheim.  Inwie- 
weit die  Zerstückelung  nur  eine  Vorstufe  für  neue  Akkiunulationen  ist, 
läßt  sich  nach  den  vorliegenden  Daten  noch  nicht  mit  Sicherheit  feststellen. 


')  Siehe  Arbeiten  der  Gouvernementskomitees  usw.,    Bd.  51,    S.  96.     Siehe    auch 
unser  Kapital  vom  Handel,  S.  162  ff. 

*)  Auszüge  aus  den  Arbeiten  der  Gouveraementskomitees,  von  Skarzinski,  a.  a.  0.,  S.  10. 
')  Ebenda  S.  12. 


B.  Die  Lage  der  Landwirtschaft  191 


Über  die  Organisation  des  ländlichen  Kredits  findet  der  Leser  im 
elften  Kapitel  eine  ausführliche  Darstellung,  Die  Arbeiterverhältnisse  sind 
im  zehnten  Kapitel  eingehend  behandelt. 

4.  Servitute  und  Streuländerelen 

(vgl.  S.  43  bis  46) 

Der  Generalgouverneur  Gurko  hat  gesagt,  die  russische  Regierung 
bedürfe  der  Servitute,  um  Unfrieden  zwischen  die  Grundbesitzer  und 
Bauern  zu  säen.  Andrerseits  wird  überall  beobachtet,  daßdie  Servituten- 
inhaber  ihr  Recht  dem  Gutsbesitzer  gegenüber  dazu  ausnutzen,  ihn  zu 
zwingen,  ihnen  unter  für  sie  günstigen  BedingT^mgen  Land  abzutreten 
(S.  179).  Wir  sahen  schon,  daß  die  privilegierten  Bauern  mit  Hilfe  der 
Ablösung  der  Servitute  gegen  444400  Deßjatinen  Land  oder  mehr  als 
zwei  Drittel  alles  von  ihnen  gekauften  Landes  erworben  haben.  Dadurch 
ist  indessen  sowohl  für  die  Bauern  wie  für  die  Gutsbesitzer  ein  andres 
Übel  gewachsen:   die  Streuländereien  oder  die  Gemengelage.^) 

Im  ganzen  Gebiet  des  Zartiuns  waren  im  Jahre  1906  —  frühere  Daten 
fehlen  —  von  den  7417  Gütern  15,9  Prozent  oder  1180  durch  Enklaven 
von  Bauernland  durchsetzt.  Am  günstigsten  ist  die  Lage  der  Güter  üu 
Weizen-  und  Rübengebiet,  wo  von  2226  Gütern  uui"  10,4  Prozent  oder 
232  mit  bäuerlichem  Streuland  behaftet  sind,  am  schlechtesten  ün  Nordost- 
gebiet, Avo  das  Yerhältnis  2404  zu  523  oder  21,8  Prozent  ist.  Ln  in- 
dustiiellen  Südwestgebiet  sind  die  Zahlen  2787  zu  373  oder  13,4  Prozent.'') 
Wii'  sehen  somit  auch  hier  Zeichen  der  größten  Konsolidierung  des  Groß- 
grundbesitzes in  den  beiden  Gouvernements  Lublin  und  Warschau. 

Über  den  Umfang  der  Streuländereien  ini  bäuerlichen  Besitze  haben 
wir  genauere  Daten  nicht  zur  Verfügung.  Nach  Spassowitsch  und  Pilz 
sollen  Zerstückelungen  von  Bauerngütern  in  zehn  Parzellen  keine  Selten- 
heit sein,^)  Im  Gouvernement  Lublin  Liegen  die  einzelnen  ParzeUeu  oft 
fünf  bis  sieben  Werst  auseinander  und  vom  Hof  entfernt  imd  sind  häufig 
kleiner  als  ein  halber  Morgen.*)    Eine  Sonderheit  der  Parzellen  ist  ihre 


*)  Anders  bei  Spassowitsch  und  Pilz  a.  a.  0.  S.  170,  die  in  der  Entwicklung  der 
Streuländereien  die  Großgrundbesitzer  nicht  so  schwer  betroffen  sehen  wie  die  Bauern. 

2)  Errechnet  aus  den  Angaben  der  Arbeiten  des  "Warschauer  Statistischen  Komitees 
von  1907,  Heft  XXX,  S.  48/49. 

•'')  Tagesfragen  a.  a.  0.  S.  167.  Einige  wenige  vergleichende  Angaben  auch  bei 
A.  A.  Kofod,  „Der  Kampf  gegen  die  Streuländereien  in  Rußhuid  und  im  Auslande", 
St.  Petersburg,  bei  A.  Ssuworiu,  1907,  zweite  Auflage,  S.  59  bis  67. 

*)  A.  I.  Napiurkowski  in  den  Sitzungen  des  Lubliner  Gouveraementskomitees.  ,.  Ar- 
beiten usw.",  S.  528.     Vgl.  auch  Bericht  I.  A.  Jesjoranskis  ebenda  S.  673  bis  682. 


192  Neuntes  Kapitel.    Zur  Agrarh-age 

Form,  Sti'eifen,  die  bis  zu  fünf  Werst  Länge  haben  und  häufig  nur  andert- 
halb bis  zwei  Meter  breit  sind. 

Die  Eegierung  hat  aus  den  bekannten  Gründen  keine  ernsten 
Schritte  getan,  der  Ausbreitung  der  Sti'euländereien  Halt  zu  gebieten.  Das 
Gesetz  vom  29.  Dezember  1876  enthält  so  ^^el  Beschränkungen,  daß  es 
in  den  seit  seinem  Erlaß  hingegangnen  dreißig  Jahren  fast  nii'gends  zur 
Anwendung  gebracht  wurde.  So  scheiden  nach  Artikel  4  des  Gesetzes 
von  vornherein  von  allen  Yeränderungsmaßnahmen  aus:  alle  die  zugeteilten 
Ländereien,  die  dem  Schutz  des  Gesetzes  vom  26.  Mai  1864  unterliegen 
(siehe  S.  46/48).  Aber  auch  das  Land,  das  das  bäuerliche  Haus  umgibt, 
darf  zum  Ausgleich  der  Grenzen  niclit  herangezogen  werden,  ebensowenig 
die  Grundstücke  der  Kohl-  imd  Hanfbauern  (Artikel  13).  Dui'ch  diese 
Bestimmungen  hat  das  Gesetz  jede  faktische  Bedeutung  verloren,  da  ge- 
rade die  Kohl-  und  Hanffelder  die  zahlreichsten  Enklaven  auf  den  Guts- 
wiesen bil.den.  Der  Geschäftsgang  bei  der  Abruudung  der  Besitzungen 
ist  dadurch  erschwert,  daß  der  beteiligte  Gutsbesitzer  nur  eine  Stimme,  die 
bäuerliche  Gemeinde  aber  zehn  Stimmen  hat,  imd  die  Leitung  der  Ab- 
lösimg in  den  Händen  des  Bauernkommissai's  liegt.  Auch  hier  zeigt  sich 
wieder  das  unsinnige  Bestrehen,  tvirtschaftliche  Angelegenheiten  ausschließ- 
lich nach  politischen  Gesichtsjyunkten  zu  hehandehi,  und  die  Großgiiind- 
besitzer  gegenüber  den  Bauern   zu  benacliteiligen. 

Auf  den  von  1901  ab  tagenden  Sitzungen  der  Gouvemementskomitees 
zur  Hebung  der  Landwirtschaft  ist  viel  über  die  angedeuteten  Mißstände 
gesprochen  worden.  Auch  wurden  von  solchen  Männeni  wie  M.  D.  Skrjabin 
(Radom)  und  Jesjoranski  (Petrikau)  praktische  Vorschläge  zu  ilirer  Be- 
seitigung gemacht.  Die  Regierung  hat  dennoch  keinen  einzigen  Schritt 
getan,  um  die  Aclcerhewirtschaftung  im  Zartiim  Pole^i  in  normale  Ge- 
leise zu  lenken. 

Dasselbe  gut  von  den  Servituten. 

Wie  schwer  die  Landwirtschaft  unter  ihnen  leidet,  mögen  einige  Zahlen, 
die  kaum  eines  Konmientars  bedüi-fen,  erläutern.  Im  Jahre  1906  waren 
im  Gouvernement  Ssuwalki  108  Güter  mit  Servituten  belastet,  an  denen 
Bauern  aus  717  Dörfern  und  Flecken  teilnahmen,  in  Lomsha  125  Güter  mit 
Bauern  aus  754  Gemeinden,  in  Block  420  Güter  mit  Bauern  aus  1068  Ge- 
meinden, in  Sjedlec  116  zu  564,  in  Lublin  185  zu  872,  in  Warschau  294  zu 
1025,  in  Kaiisch  257  zu  739,  in  Petrikau  182  zu  529,  in  Kjelce  148  zu  796, 
in  Radom   77  zu  576.^)     In  Lomsha  gibt  es  Güter,  wo  auf  109  Morgen 


*)  Siehe  S.  45/6   und  Arbeiten    des  Warschauer  Statistischen   Komitees    von    1907, 
Heft  XSX,  S.  25. 


B.  Die  Lage  der  Landwirtschaft  193 


Wiese  die  Bauern  das  Recht  haben,  1600  Stück  Hornvieh  zu  weiden!^) 
„Um  dieses  Recht  voll  ausnutzen  zu  können,  sagt  S.  Gawronski,  halten  die 
Bauern  eine  möglichst  große  Zahl  von  Yieh,  die  dann  im  Winter  hungern 
muß."^)  Wir  selbst  konnten  beobachten,  daß  Bauern,  die  Inhaber  des 
Weideservituts  waren,  Yieh  von  andern  Personen,  auch  von  Yiehhändlern, 
in  Pension  nahmen  und  dafür  zwischen  10  bis  30  Kopeken  pro  Woche, 
häufig  auch  Kleider,  Branntwein  oder  andre  Gegenstände  des  täglichen 
Bedarfs  erliielten.  Solchem  „Yiehhandel"  können  die  Gutsbesitzer  nur  in 
seltnen  Fällen  beikommen,  und  sie  sind  gezwungen,  offnem  Betrage  tatenlos 
zuzusehen,  da  sie  mit  ihren  Klagen  nur  selten  durchdringen,  überdies  noch 
die  Kosten  des  Yerfahrens  zu  tragen  haben,  wenn  sich  der  des  Betrugs 
überwiesue  Servituteninhaber  als  mittellos  hinstellt.  Leider  haben  die  amt- 
lichen Untersuchungen  keine  Feststellungen  darüber  veröffentlicht,  welche 
Folgen  sich  aus  diesen  Yerhältnissen  für  die  Zunahme  der  Yergehen  und 
Yerbrechen  im  Zartum  ergeben.  Ssimonenko  sucht  nur  zu  beweisen,  daß 
die  Landzuteilung  an  die  Bauern  die  Zahl  der  Yergehen  gegen  das  Eigentum 
vermindert  habe.^) 

Zu  den  Erschwerungen  der  Klagefülirung  gehört  auch  die  vom 
Reichsrat  im  Jahre  1893  erneut  bestätigte  Yorschrift,  *)  wonach  die  juri- 
stischen Yertreter  der  Gutsbesitzer  einschließlich  der  bei  den  Gerichten 
zugelassenen  Rechtsanwälte  notariell  beglaubigte  YoUmachten  vorweisen 
müssen,  während  sonst  eine  polizeiliche  Beglaubigmig  der  Unterschrift  des 
Mandatars  genügt.^) 

Ein  erschreckendes  Bild  von  der  Belastung  des  Großgrundbesitzes 
im  Zaitum  Polen  für  das  Jahr  1903  hat  die  Kommission  des  Senators 
I.G.PodgorodnikoAv  geliefert.  Danach  haben  die  1912  mit  Servituten  belasteten 
Güter  an  die  Bauern  zu  liefern:  102416  Stäimne  Bauholz,  446357  Knüppel, 
110726  Stubben,  5979476  Piüiren*')  und  439388  Bündel  Brennholz  und 
Reisig,  393691  Fuliren  imd  22425  Bündel  Sti'eu!  Auf  den  1912  Gütern 
haben  das  Recht  zu  weiden:  1.  auf  Heideland  53308  Pferde,  9270  Kühe, 
30141  Schafe  und  4160  Schweine;  2.  auf  Stoppel  62530  Kühe,  10044 
Pferde,  34296  Schafe  und  10388  Schweine;  3.  im  Walde  174916  Külie, 
36339  Pferde,  63347  Schafe  und  5473  Schweine;  4.  auf  Wiesen  14070 
Kühe,  3158  Pferde,  4807  Schafe  und  881  Schweine. 


^)  Arbeiten  des  Warschauer  Statistischen  Komitees  von  1907,  Heft  XXX,  S.  23. 
*)  Sammlung  der  Arbeiten  des  Gouvernementskomitees  von  Ssuwalki,  1902,  S.  60  ff. 
^)  Arbeiten  des  "Warschauer  Statistischen  Komitees  von  1900,  Heft  XYII,  S.  43. 
*)  Ai-tikel  19  der  Anlage  zu  Artikel  118  der  Yorschiiften  des  Organisationskomitees. 
')  Rechenschaftsbericht  des  Eeichsrats  von  1893,  Bd.  E,  S.  484/96. 
^)  Durchschnittlich  etwa  3120  Fuhren  vom  Gut  pro  Jahr. 
Cleinow,  Die  Zukunft  Polens  18 


194 


Neuntes  Kapitel.    Zui*  Agrarfrage 


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B.  Die  Lage  der  Laudwirtschaft 


195 


Über  die  Belastimg  der  Güter  in  den  einzelnen  Gouvernements  gibt 
die  nebenstehende  Zusammenstellung  Aufschluß.*) 

Yergleichen  wir  diese  Angaben  mit  den  Zahlen  über  die  Verteilung 
des  Gutslandes  nach  ihrer  Nutzimg  (Tabelle  auf  S.  154),  so  können  wir 
uns  u.  a.  einen  Begriff  davon  machen,  wie  die  Wälder  in  den  einzelnen 
Gouvernements  vei-wüstet  werden.  So  werden  allein  an  Brennholz  jährlich 
herausgefahren  von 

69683  Morgen  des  Gouvernements  Ssuwalki 

84641 
102952 
237180 
421 298 
230603 
183387 
206847 
187222 
237252 

Neben  diesen  direkten  Schädigungen  der  Landwirtschaft  liegt  eine 
große  Zahl  von  indii'ekten  auf  allen  Gebieten  des  gesellschaftlichen  Lebens. 
Aus  der  Zahl  der  Sti-eitfälle  wegen  Ausübung  des  Servitutenrechts  kann 
gefolgert  werden,  wievielen  Plackereien  die  Gutsverwaltungen  fortgesetzt 
ausgesetzt  sind,  und  welchen  Apparat  sie  gezwungen  sind  zu  unterhalten, 
um  ihre  Wälder  und  Wiesen  vor  völliger  Verwüstung  zu  bewahren.  Li 
dem  Jahrzehnt  von  1894:  bis  1904  ist  die  Zahl  der  lilagen  zwischen  Guts- 
besitzern mid  Bauern  fast  in  allen  Gouvernements  erlieblich  gestiegen.-) 
So  gab  es  Streitfälle  in  den 


Ssuwalki  . 

.     264118  Fuder 

Lomsha    . 

.     202535       „ 

Plock   .     . 

.     186211       „ 

Sjedlec 

.     641511       „ 

Lublin 

.  2552722      „ 

Warschau 

.     239722       „ 

Kaiisch     . 

.     470551       .. 

Petrikau  . 

.     644745       „ 

Kjelee .     . 

.     398997      „ 

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.     379076       „ 

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Instanz 

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Kommissar 

Berufung 

Kommissar 

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1894 

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1873 

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1894 
1894 
1894 

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27 

281 

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1904 
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1894 
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1904 
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433 
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*)  Siehe  Arbeiten  des  Warschauer  Statistischen  Komitees  von   1906,    Heft  XXVI, 
Text  S.  40  und  ebenda  von  1907,  Heft  XXX,  S.  83. 

*)  Arbeiten  des  Wai'schauer  Statistischen  Komitees  von  1907,  Heft  XXX,  S.  29. 

13* 


196  Neuntes  Kapitel.    Zur  Agrarfrage 

Besonders  hervorgehoben  sei,  daß  es  sich  bei  den  angeführten  Zahlen 
nicht  um  Ablösimgsverhandlungen,  sondern  ausschließlich  um  Streitigheiten 
wegen  Kürzung  oder  Überschreitung  des  Servituteurechts  handelt.  Femer 
ist  es  interessant,  darauf  liinzuweisen,  daß  die  Zahl  der  Sti'eitigkeiten  be- 
sonders groß  ist  in  Gouvernements  mit  unierter  Bevölkerung  wie  Lublin 
imd  Sjedlec.  Sollte  dort  die  Regierung  eine  besondre  Propaganda  für 
die  Streitigkeiten  treiben?  "Wir  werden  darüber  im  Abschnitt  von  der 
Politik  hören. 

C.  Die  bäuerliche  Wirtschaft 

Wir  haben  nun  alle  Verhältnisse  zusammen,  zwischen  denen  sich  das 
Leben  der  versclüednen  politischen  Arten  von  bäuerlichen  Wirten  abspielt. 
Wir  sahen  die  Schatten  einer  bäuerlichen  Selbstverwaltung,  leniten  die 
Industrie  als  Abnehmeiin  der  menschlichen  Arbeitskraft  und  landwirtschaft- 
licher Erzeugnisse,  einen  lebhaften,  aber  entarteten  Handel  als  A^emiittler 
zwischen  ländlichen  Produzenten  und  städtischen  Verbrauchern  kennen. 
Wir  sahen  auch,  wie  sich  die  Industiie  in  einigen  Zenti'en  im  Südwesten 
des  Gebiets  zusanunenhäuft,  während  die  nordöstlichen  Gouvernements  von 
ihr  faßt  entblößt  sind.  Ferner  lernten  Avir  die  nächsten  Nachbam  der 
bäuerlichen  Betriebe,  die  landwirtschaftlichen  Großbetiiebe  kennen  und 
haben  die  vielfachen  rechtlichen  Beziehungen  gesehen,  die  besonders  durch 
das  Servitutenrecht  imd  durch  das  Vorhandensein  von  Sti-euländereien 
zwischen  Gutsherren  und  Bauern  zu  beider  Schaden  geknüpft  sind.  Nun 
ist  es  an  der  Zeit,  zwischen  die  Maschen  des  also  geflochtnen  Netzes  die 
Inhaber  der  bäuerlichen  Betiiebe  zu  setzen. 

Diese  Inhaber  werden,  wie  wir  schon  hörten,  politisch  in  mehrere 
Kategorien  geteilt,  von  denen  jede  nur  eüien  gewissen  Teü  der  Segnmigen 
staatlicher  Fürsorge  zugewiesen  erhält,  von  denen  jede  besondem  Gesetzen 
unterworfen  ist,  die  die  Folgen  des  natürlichen  Kampfes  ums  Dasein 
mildern  oder  verschärfen  sollen.  AVir  lernten  diese  Kategorien  als  privi- 
legierte und  niclit  privilegierte  Bauern  (S.  127),  kleine  Schlachta  (S.  201) 
und  Kolonisten  (S.  134)  kennen.  Von  den  Kolonisten  und  deren  Wirtschaft 
wurde  schon  das  Notwendige  gesagt.  Von  den  Bauern  und  von  der  kleinen 
Schlachta  wollen  -wir  hierunter  sprechen. 

1.  Lage  der  bäuerlichen  Landwirtschaft 

Die  bäuerliche  Ackerbewirtschaftung  steht  im  Zartiuu  Polen  nicht  an- 
nähernd auf  der  Höhe  der  gutsheiTÜchen  Wirtschaft.  Grundlage  der  bäuer- 
lichen Wirtschaft  ist  die  Feldhearheitung.  Der  Getreideanbau  nimmt  die 
erste  Stelle  ein.     Vor  allen  Dingen  kommt  für  die  Bauern  WinteiToggen 


C.  Die  bäuerliche  Wirtschaft  197 


in  Fi'age,  wenn  auch  Wintenveizen  in  geringen  Mengen  angebaut  Avird. 
Die  zAveite  Stelle  behauptet  die  Kartoffel.  Daneben  stehn  Hafer,  Gerste, 
Buchweizen,  Hirse,  Erbsen.  Das  Verhältnis  für  den  Anbau  der  verschiednen 
Feldfrüchte  iin  Zaiiiim  Polen  ergibt  sich  aus  folgenden  in  Tausend  Deß- 
jatinen  angegebnen  Zahlen, 

Es  wurden  angebaut  Deßjatinen  in  den  Jahren: 

1890^)  1897»)  1903«) 

Koggen 1654,4  1773,5  1923,9 

Hafer 934,5  928,3  1045,0 

Gerste 396,4  387,1  445,5 

"Weizen 512,7  448,3  478,5 

Buchweizen      ....  127,9  108,8  109,8 

Erbsen 169,5  145,6  169,9 

Kartoffeln 729,8  709,9  849,4 

Die  größte  Rolle  für  die  Mehrzahl  der  Bauernhöfe  spielt  die  Kartoffel. 
Gras  wird  mit  Ausnahme  einzelner  Kreise  des  Gouvernements  Ssuwalki, 
in  denen  die  Dörfer  in  Kolonien  angelegt  sind,^)  nicht  gesät.  In  den 
meisten  Gegenden  ist  der  Boden  dafür  nicht  geeignet,  in  andern  sind 
Weidesenitute  oder  Gemeindeweiden  in  ausreichendem  Maße  vorhanden. 
Bei  der  großen  Zerstücklung  des  bäuerlichen  Besitzes  reicht  gewölmlich 
auch  das  Ackerland  nicht  dafür  aus,  oder  die  Bauern  sind  überhaupt  ohne 
Haustiere,  haben  somit  für  Gras  keine  Verwendung.  Besser  gestellte 
Bauern  säen  Klee  und  Serradella  zwischen  das  Getreide  oder  nelunen  an 
Stelle  von  Gras  Luzerne. 

Im  engen  Zusammenhang  hiermit  steht  die  Organisation  der  Feld- 
ivirtschaft.  Dreifelderwirtschaft,  die  in  den  russischen  zentralen  Gou- 
vernements am  häufigsten  vorkommt,  ist  im  Zartum  Polen  wenig  bekannt. 
Die  landarmen  Bauern  haben  zwei  Felder,  auf  denen  sie  abwechselnd 
Roggen  und  Kartoffeln  bauen,  reichere  schieben  Brache  ein;  hin  und 
wieder  Lupinen  als  Gründüngung.  Verhältnismäßig  häufig  ist  die  Felder- 
lage: Brache,  SommeiTing,  "Winterung,  Kartoffeln.  Die  kleinen  Wirtschaften 
werden  ergänzt  durch  Kohl-  und  Hanffelder.  Doch  nimmt  dieser  Teil  in 
den  Gminen  ständig  ab  und  verliert  sich  vollständig  aus  der  bäuerlichen 
Wirtschaft,  aus  denen  eine  starke  Abwandei'ung  zur  Saisonarbeit  statt- 
findet. Die  Kohlfelder  werden  in  solchen  Gegenden  von  großem,  kapital- 
kräftigem Unternelmiern  —  in  steigendem  Maße  Juden  —  gepflegt;  die 
Hanffelder  versch^vinden  in  den  von  der  Sachsengängerei  ergriffnen  Ge- 
bieten vollständig  aus  der  Landschaft.  Orlow  berichtet,  daß  nur  Bauern 
mit  mehr  als  fünfzehn  Morgen  Land  zu  einer  Vielfelderwirtschaft  über- 

>)  Jahrbuch  des  Finanzministeriums  von  1898.  S.  532.  —  »)  Ebenda  von  1904,  S.  594/97. 
^)  Gouvernementskomitee  in  Ssuwalki,  „Arbeiten  usw.",  S.  1027. 


198  Neuntes  Kapitel.    Zur  Agrarfrage 

gehn^)  und  dann  danach  trachten,  deutsche  Wirtschaftsprinzipien  an- 
zuwenden, die  sie  im  Auslande  oder  bei  benachbarten  Kolonisten  kennen 
lernten.  In  den  meisten  Fällen  werden  sie  jedoch  in  allen  Verbesserungen 
gehindert  durch  die  Streuländereien  und  durch  die  Streifen  Wirtschaft.  Über 
die  Streuländereien  und  das  Yerhalten  der  russischen  Verwaltung  gegen- 
über der  Regulierung  hörten  wir  auf  Seite  192.  Den  großen  Schaden  der 
Streifenwii-tschaft  schildern  verschiedne  Berichterstatter  in  den  Sitzungen 
der  Gouvernementskomitees  zur  Hebung  der  Landwirtschaft.  Im  Gou- 
vernement Lublin  besitzt  jeder  Bauernhof  mehrere  solcher  Sti'eifen,  die 
voneinander  durch  hunderte  Streifen  andrer  Besitzer  getrennt  und  nicht 
selten  die  Länge  von  drei  bis  fünf  Werst  eiTeiclien.  ^)  Im  Gouvernement 
Warschau  kommen  bis  zu  dreißig  Parzellen  vor,  die  zusammen  ein  Bauern- 
gut bilden.")  Die  Entfernung  der  Felder  vom  Hofe  beträgt  nicht  selten 
fünf  bis  sieben  Werst.*)  Unter  solchen  Verliältnissen  ist  der  Boden- 
verlust durch  die  Grenzraine  und  Wege  außerordentlich  groß.  Die  land- 
wirtschaftliche Gesellschaft  von  Lomsha  hat  berechnet,  im  Zaiiuni  Polen 
seien  nicht  weniger  als  765000  Morgen  unter  Wegen,  Grenzen  und 
Rainen,  was  einem  Kapital  von  76,5  Millionen  Rubel  gleichkomme.^) 
Jesjoranski  berechnet,  daß,  während  (juadratisch  geschnittne  Grundstücke 
nur  0,6  Prozent  für  Grenzraine  abzugeben  haben,  die  Länge  der  in  Polen 
üblichen  Streifen  eine  Abgabe  bis  zu  10  Prozent  der  reinen  Ackerfläche 
notwendig  mache.")  Ähnliche  A^crhältnisse  werden  aus  allen  Kreisen  des 
Zartums  gemeldet.  Eine  Ausnahme  bilden  tlie  nördlichen  Kreise  des 
Gouvernements  Ssuwalki:  Mariampol,  Wladislawow,  Kalwarija.  Dort  besteht 
das  gute  Beispiel  eines  Fürsten  Oginski  im  benachbarten  Kowno,  der 
seine  Bauern  bei  der  Befi'eiung  im  Jahre  1861  sofort  zwang,  die  Dörfer 
in  Kolonien  anzulegen.'')  Nach  dem  Bericht  des  Gouvernementskomitees 
von  Ssuwalki  schreiten  alljährlich  mehr  Dörfer  zur  Landumteilung,  Aus- 
siedlung und  zur  Anlage  von  Kolonien.^) 

Audi  die  ärmsten  Bauern  betreiben  die  Feld^virtschaft  mit  möglichster 
Genauigkeit.  Wer  russische  und  polnische  Bauernfelder  gesehen  hat,  wird 
den  Unterscliied  zwischen  beiden  bemerkt  haben.  Der  polnische  Bauer 
sucht  vielleicht  schon  aus  angeborneni  Schönheitssinn  eine  schöne,  gleich- 
mäßige Ackerfurche  zu  ziehen,  hält  seinen  Boden  von  Steinen  und  Un- 
kraut rein.     Wenn  man  die  Eisenbahn  von  Alexandrowo   nach  Warschau 


*)  Gouvernements-Komitee  in  Ssuwalki,   ,, Arbeiten  usw.",   S.  29. 

')  Komitee  für  Lublin,  „Arbeiten  usw.",  S.  528. 

')  Komitee  in  Warschau,  ebenda  S.  42.  —  ■*)  Komitee  in  Lublin,  ebenda  S.  529. 

*)  Komitee  in  Kaiisch,  ebenda  S.  173.   —  ^  Komitee  in  Petrikau,  ebenda  S.  674/75. 

^  Kofod,  a.  a.  0.  S.  62.  —  «)  Komitee  in  Ssuwalki,  a.  a.  0.  S.  1029. 


C.  Die  bäuerliche  Wirtschaft  199 


benutzt,  dann  f edlen  dem  Keisenden  längs  den  zahlreichen  Rainen  die 
großen  dort  aufgehäuften  Mengen  von  Steinen  auf.  Diesem  Bilde  begegnet 
man  überall,  da  Verbindungswege  und  aiich  Pferde  zum  Abti'ansport  der 
lästigen  Eindringlinge  fehlen.  Die  reichern  Bauern  fahren  dagegen  die 
Steine  an  besondre  Stellen  zusammen.  Die  Ackergeräte  sind  viel  besser 
imd  moderner  als  die  in  Rußland  verwandten.  Die  Socha  kommt  wohl 
gar  nicht  mehr  vor.  Ihre  Stelle  hat  ein  leichter  hölzerner  Pflug  mit 
eiserner  breiter  Schar  eingenommen,  und  er  beginnt  wegen  der  hohen 
Holzpreise  immer  mehr  dem  eisernen  Platz  zu  machen.  Dasselbe  gilt  von 
Eggen.  Solche  mit  Holzzähnen  erinnern  wir  uns  zuletzt  im  Kreise  HiTibieszow 
vor  zwanzig  Jahren  gesehen  zu  haben.  Li  den  letzten  Jahren  begegiieten 
uns  vorwiegend  eiserne  Eggen.  Das  Getreide  wird  mit  Flegeln  gedroschen. 
Dreschmaschinen  mit  Pferdeanü'ieb  sind  eine  Seltenheit.  Auch  Wind- 
reiniger sind  nicht  auf  allen  Höfen  vorhanden.  Dieser  Zustand  wird  sich 
wohl  noch  einige  Zeit  halten,  da  im  Winter  den  Bauern  überall  große 
Mengen  von  Arbeitskräften  zur  "Verfügung  stehn. 

Sehr  gering  ist  die  Viehhaltung  und  der  Gartenbau  bei  den  pol- 
nischen Bauern  entwickelt.  Über  die  Viehhaltung  im  allgemeinen  wurde 
schon  auf  Seite  187 ff.  gesprochen.  Eine  böse  Folge  des  Viehmangels  ist  der 
Mangel  an  natürlichem  Dünger.  In  den  Gouvernementskomitees  von  Ssuwalki 
und  Kaiisch  wurde  von  Theoretikern  und  Praktikern  behauptet,  der  Bauer 
könne  nur  den  zelmten  Teil  der  jährlich  Düngung  beanspruchenden  Fläche 
mit  natürlichem  Dünger  versehen.^) 

Die  ÄcJcerhestellung  wird  fast  ausschließlich  mit  Pferden  besorgt  und 
im  Gouvernement  Sjedlec  mit  Kühen.  Dort  spielt  die  kleine  magere  Kuh 
in  der  bäuerlichen  Wirtschaft  eine  ähnliche  Rolle  wie  das  Renntier  beim 
Lappländer.  Sie  ist  Zugtier,  liefert  Milch  und  schließlich  das  wenige  Fleisch. 
Die  amtliche  Statistik  gibt  leider  keine  Zahlen  über  die  Verteilung  des 
Hornviehs  über  die  einzelnen  Gemeinden  (vgl.  auch  S.  165:  Handel  mit 
Steppenvieh).  Halten  wir*  liiemeben  die  Angabe,  daß  212700  Bauernhöfe 
ohne  Pferde  sind,  so  kömien  wir  ungefähr  ermessen,  auf  welch  einem 
tiefen  Stande  die  bäuerliche  Wirtschaft  im  Zartiim  Polen  ti'otz  der  ge- 
sunden Grundlagen  von  1864  angelangt  ist. 

Die  Oartenhaltung  beschränkt  sich  meist  auf  Ziersträucher  und  Blumen. 
Obstbäume  werden  sehr  selten  gehalten.  Darum  erwecken  die  Bauernhöfe 
besonders  an  der  Weichsel  und  südlich  davon  aus  der  Feme  einen  ü'aurigen 
und  verlassenen  Eindruck.  In  der  Xähe  betrachtet,  wirken  sie  dagegen 
freundlicher,     Nur   in    Ssuwalki   und   Lomsha    sind    die    Bauernhöfe  von 


1)  „Arbeiten  usw.-  a.  a.  0.  S.  673  und  lt)27. 


200  Neuntes  Kapitel.    Zur  Agrarfrage 

höhern  Bäumen,  gewöhnlich  Birken,  Ebereschen  und  Edeltannen  oder  auch 
von  wilden  Obstbäumen  umgeben.  Im  Herbst  gewähren  darum  solche  Höfe 
einen  eigenartigen  Anblick.  Es  geht  ein  heimlicher  Zauber  von  ihnen 
aus,  dem  sich  der  "Wandrer  schwer  entziehen  kann.  Das  Laub  der  Birken 
ist  gelb,  die  Edeltannen  erscheinen  tiefschwarz,  und  dazwischen  glühen 
sattrot  die  Beeren  der  Eberesche.  Darüber  wölbt  sich  ein  graublauer 
Himmel,  an  dem  die  Somienscheibe  nicht  sichtbar  wird,  und  völlige  "Wind- 
stille verbreitet  Frieden.  Um  die  Höfe  herum  weiten  sich  die  gelben 
Stoppelfelder,  übersät  von  weißen  Flecken  —  zahlreichen  Gänseherden. 

In  den  1890er  Jahren  konnte  ein  Besitzer  von  sieben  bis  aclit  Deß- 
jatinen  Land  durch  Gänsehaltung  15  bis  20  Rubel,  durch  Schweinehaltung 
bis  80  Rubel,  durch  Hornvieh  bis  50  Rubel  verdienen.^)  Die  Zeiten  sind 
vorüber. 

Die  Hauptgründe  für  die  eben  geschilderten  Verhältnisse  bei  der 
bäuerlichen  Landwiiischaft  im  Zartum  sind  das  Vorhandensein  der  Streu- 
ländereien  in  Verbindung  mit  Streifenteilung,  Mangel  an  langfiistigem  Kredit, 
tatsächlicher  Mangel  an  natürlichem  Kunstdünger  und  nicht  zuletzt  Mangel 
irgendeiner  beruflichen  Ausbildung.  In  allen  diesen  Punkten  stehn  die 
privilegierten  Bauern  am  tiefsten,  die  Mitglieder  der  kleinen  Schlachta  am 
höchsten. 

Bei  den  privilegierten  Bauern  auf  zugeteiltem  Lande  wirkt  auch  die 
Beschränkung  ihres  Besitzrechts  hemmend  auf  jede  Entwicklimg  der  Wirt- 
schaft. Sie  haben  sich  wohl  den  Besitztitel  am  Boden  erhalten  können, 
aber  sie  waren  außerstand  gesetzt,  dem  allgemeinen  Zuge  der  wirtschaft- 
lichen Entwicklung  des  Gebiets  zu  folgen.  Durch  die  früher  gekenn- 
zeichnete Kreditbeschränkung  vermochten  sie  sich  den  Bedürfnissen  ihrer 
Umgebung  nicht  im  rechten  Augenblick  anzupassen.  Ein  scharfes  Schlag- 
licht wirft  in  dieser  Beziehung  die  geringe  Entwicklung  der  bäuerlichen 
Meiereibetriebe  in  der  Umgegend  von  industriellen  Zentren.  Diese  Beüiebe 
sind  fast  ausschließlich  in  jüdischen  Händen,  die  vennöge  des  Yor- 
handenseins  irgendAvelcher  Kapitalien  vom  Zwischenhandel  ausgehend 
(siehe  S.  164)  allmählich  Land  in  Pacht  nehmen  konnten  und  seit  einigen 
Jahren  auch  zu  einer  rationellen  Viehlialtung  übergehn.  Der  Bauer  ist 
dergestalt  von  vornherein  von  einer  Domäne  der  Landwirtschaft  abgedrängt 
worden,  die  er  sich  mm  wohl  schwerlich  wird  zurückerobern  können.  Für 
diese  Entwicklung  der  Dinge  den  jüdischen  Geschäftssinn  allein  verantwort- 
lich machen  zu  wollen,  wäre  ein  Fehler.  Die  russische  Gesetzgebung  hat 
erst  die  Möglichkeit  für  seine  Betätigung  gegeben. 


1)  Orlow,  a.  a.  0.  S.  30. 


C.  Die  bäuerliche  "Wirtschaft  201 


Bei  dieser  Lage  der  Wirtschaft  wirkt  noch  eine  Einrichtung  drückend 
auf  die  ärmern  Bauern :  das  Gemeindeland  zu  Weiden.  Das  aber  sind  mehr 
als  11  Prozent  alles  zugeteilten  Landes  oder  429000  Deßjatinen.  Es  leuchtet 
ein,  daß  hieraus  eigentlich  nur  die  reichern  Bauern  Vorteil  ziehen  können, 
die  Besitzer  von  Vieh  sind,  nicht  aber  die  ohne  Yieh.  Dasselbe  gilt  von 
den  Servitutenrechten  ganzer  Gemeinden. 

Trotz  diesen  gewiß  ungünstigen  Bedingungen,  unter  denen  die  bäuer- 
liche Landwirtschaft  arbeitet,  bleibt  die  Tatsache  bestehn,  daß  der  Umfang 
des  läuerlichen  Landbesitzes  von  etwa  5,2  Millionen  im  Jahre  1874  auf 
6159000  Deßjatinen  im  Jahre  1905  gewachsen  ist,  und  daß  er  noch  immer 
wächst.  Die  Gründe  für  diese  Erschemung  sind  zu  finden  in  der  Ab- 
lösung des  Sendtuteiirechts,  im  Zusammenwirken  der  staatlichen  Bauern- 
bank mit  den  Parzellationsbanken,  im  starken  Zustrom  von  Geld  in  gewisse 
Teile  der  bäuerlichen  Bevölkerung  durch  Yermittlung  der  Sachsengänger. 

Über  den  bäuerlichen  Kredit  werden  wir  im  elften  Kapitel  näheres 
berichten. 

Über  die  Absatzverhältnisse  glauben  wir  genügend  im  achten  Kapitel 
gelegentlich  der  Besprechung  des  Binnenhandels  gesagt  zu  haben. 

Hierunter  möge  noch  eine  kurze  Darstellung  der  bäuerlichen  Arbeits- 
kräfte soAvie  der  Stellung  der  kleinen  Schlachta  folgen. 


2.  Die  kleine  Schlachta 

Zurückkehrend  zur  Bedeutung  der  in  der  Tabelle  auf  Seite  178  an- 
gefühi-ten  Zahlen  müssen  wir  auch  die  kleine  Schlachta,  die,  wie  gesagt, 
in  der  amtlichen  Statistik  gesondeii;  geführt  Avird,  noch  mit  einigen  Er- 
läuterungen versehen.  Das  gescliieht  aus  politischen  Gründen.  Wir  hörten 
schon,  daß  dieser  polnische  Kleinadel  eine  durchaus  bäuerliche  Lebens- 
weise führt. 

Die  Hauptmasse  der  kleinen  Schlachta  ist  ioi  Gouvernement  Lomsha 
angesessen.  Dort  hat  sie  mit  319400  Deßjatinen  34  Prozent  des  Bodens 
inne.  Es  folgt  Sjedlec  mit  155980  Deßjatinen  oder  12,3  Prozent,  Plock 
mit  124480  Deßjatinen  oder  14,5  Prozent,  Warschau  mit  35800  Deßjatinen 
oder  2,3  Prozent.  In  den  Gouvernements  Kjelce,  Lublin,  Petrikau  und 
Ssuwalki  eiTeicht  ihr  Anteil  am  Boden  ein  halbes  Prozent  nicht,  und  in  den 
Gouvernements  KaKsch  imd  Radom  wird  in  der  amtlichen  Statistik  über- 
haupt keine  kleine  Schlachta  geführt.  Im  ganzen  Zartum  hat  sich  die  Zahl 
der  kleinadlichen  Besitzungen  von  1873  bis  zum  Jahre  1904  mn  etwa 
65  Prozent  vergrößert,  von  33360  auf  52990.  Die  Gesamtfläche  ihres 
Besitzes  hat  sich  dagegen  nur  bis  zum  Jahre  1894  entsprechend  vergrößert 


202  Neuntes  Kapitel.    Zur  Agrarfrage 


und  ist  dann  bis  1904  wieder  von  670820  auf  651740  Deßjatinen  zurück- 
gegangen. 

Der  Grrund  für  diese  Erscheinung  liegt  in  zwei  Dingen.  Bis  zum 
Jahre  1904  hatten  die  Kleinadlichen  einen  VoiTang  vor  den  Bauern  durch 
den  Zutritt  zum  langbefristeten  Kredit,  also  zu  billigem  baren  Gelde.  Dies 
bare  Geld  kam  in  Gestalt  von  Arbeitslöhnen  unter  die  benachbarten  Bauern. 
Mit  Hilfe  des  baren  Geldes  konnte  der  kleine  Schlachtziz  billige  Arbeits- 
kräfte haben.  1890  begann  die  Bauernbank  ilire  Tätigkeit  im  Zartum  und 
half  vielen  Bauern  sich  ansiedeln.  Nach  dem  Jahre  1890  setzt  auch  eine  um- 
fangreichere Abwandening  der  polnischen  Bauern  zur  Sommerarbeit  ein. 
Beides  hat  zur  Folge,  daß  nun  ein  gewisser  Teil  der  Bauern  auch  ohne 
Vermittlung  ihrer  Nachbarn  zu  barem  Gelde  kommen  kann,  während  dem 
kleinen  Schlachtziz  als  Nichtangehörigen  des  Bauernstandes  die  neue 
KreditqueUe  verschlossen  bleibt.  Die  Arbeitslöhne  schnellen  in  die  Höhe, 
und  der  schon  stark  verschuldete  Teil  des  Besitzes  der  kleinen  Schlachta 
vermag  sich  nicht  mehr  zu  halten.  Es  ist  somit  zu  einem  Teil  die  wirt- 
schaftliche Entwicklung,  die  die  kleine  Schlachta  zu  zeiTeiben  beginnt. 
Die  Regienmg  bemüht  sich,  dieser  Bewegung  noch  Vorschub  zu  leisten, 
indem  sie  die  Kreditgewährung  für  die  kleine  Schlachta  durch  die  Bauem- 
bank  erschwert.  Ganz  wird  die  Vernichtung  jedoch  nicht  möglich  werden. 
Denn  gerade  auf  den  Überresten  der  Schwachen  werden  die  Starken  eine 
um  so  gefestigtere  Existenz  aufbauen  können  und  aus  ihr  Kräfte  ziun 
politischen  Kampfe  ziehen  —  zu  dem  politischen  Kampf,  für  den  die 
Regierung  die  Meine  Schlachta  ungeeignet  machen  wollte. 

Die  ersten  Wirkungen  dieser  Entwicklung  sind  schon  seit  fünfzehn  bis 
zwanzig  Jahren  bemerkbar.  Denn  die  kleine  Schlachta  hat  einen  bedeutenden 
Vorsprung  vor  den  Bauern  durch  die  Pflege  der  Bildung  und  das  leichte 
Anpassungsvermögen  an  die  Aufgaben  des  Augenblicks.  Der  vom  Lande 
weichende  Bauer  verschlechtert  seine  Lage  meist,  indem  er  städtischer 
Arbeiter  wird.  Der  Sohn  des  kleinen  Schlachtziz  hat  das  nicht  un- 
bedingt nötig.  Dank  der  im  väterlichen  Hause  ti-eu  bewahi-ten  Famihen- 
tradition  hat  er  Beziehungen  und  Zutritt  zu  Stipendien.  Die  Dorfgeistlichen 
suchen  vor  allen  Dingen  die  Kinder  der  kleinen  Schlachta  fortzubilden, 
weil  sie  von  Haus  aus  auf  einem  höhern  Bildungsstande  stehn  als  die 
Bauemkinder.  Die  ärmern  Eltern  schicken  ihre  Söhne  zu  Handwerkern 
und  Kaufleuten  in  die  Lehre.  Ein  großer  Teil  der  etwa  53000  Hand- 
werker polnischer  Herkimft,  nach  einer  Angabe  mindestens  die  Hälfte, 
nach  einer  andern  über  drei  Viertel,  besteht  aus  der  kleinen,  ihres  Landes 
verlustig  gegangnen  Schlachta.  Wo  Ersparnisse  vorhanden  sind,  werden  die 
Söhne  auf  landwirtschaftliche  Schulen  auch  ins  Ausland  geschickt,  und  die 


C.  Die  bäuerliche  Wirtschaft  203 


Grouvernementsdirektionen  der  Landbank  weisen  den  tüchtigen  jungen 
Leuten  Stellen  als  Yerwalter  bei  den  Magnaten  nach.  Bis  in  die  1880  er 
Jahre  herrschte  dort  der  deutsche  Gutsverwalter  vor;  seit  etwa  zehn  Jahren 
wird  er  durch  Polen,  meist  Söhne  der  kleinen  Schlachta,  fast  vollständig 
ersetzt.  Durch  diese  gesunde  Ableitung  des  Geburtenüberschusses  aus  der 
Landwirtschaft  in  andre  Berufe  wird  die  Meine  Schlachta  zur  Quelle  des 
sich  mächtig  e^itwiclcelnden  polnischen  Mittelstandes,  ohne  ihren  Zusammen- 
hang mit  dem  Boden  zu  verlieren.  Ln  Gegenteil,  der  Bodenbesitz  festigt 
sich,  weil  er  nicht  zersplittert  zu  Averden  braucht.  Ohivohl  sich  die  Zahl 
der  der  Meinen  Schlachta  gehörenden  Höfe  um  etwa  65  Prozent  vermehrt 
hat,  ist  die  durchschnittliche  Größe  der  Höfe  von  10,8  Deßjatinen  im 
Jahre  1873  auf  12,3  Deßjatinen  im  Jahre  1904  gestiegen.  Sie  weicht 
somit  von  der  Durchschnittszahl  für  alle  bäuerlichen  Betriebe  um  100  Pro- 
zent ab!  Auf  der  andern  Seite  ist  ti'otz  allen  Landkäufen  durch  die  Bauern 
und  trotz  allen  künstlichen  Hilfen  durch  die  ßegiemng  der  bäuerliche 
Betrieb  von  durchschnittlich  6,8  Deßjatinen  im  Jahre  1873  auf  durch- 
schnittlich 6,01  Deßjatinen  im  Jahre  1904  zurflckgegangen,  also  unter  den 
allgemeinen  Durchschnitt  um  0,34  Deßjatinen  gCAvichen. 

Besonders  in  den  landwirtschaftlichen  Gouvernements  des  N'ordost- 
gebiets  hat  sich  die  kleine  Schlachta  gut  enüvickelt.  Im  Gouvernement 
Ssuwalki  stehn  50  Betiieben  unter  3  Deßjatinen  26  von  mehr  als  25  Deßjatinen 
gegenüber;  in  Lomsha  ist  das  Verhältnis  5507  zu  2237,  in  Block  gar 
836  zu  1299  und  in  Sjedlec  4459  zu  845.  Das  ist  günstig,  wenn  wir 
uns  daran  erinnern,  daß  bei  den  privilegierten  Bauern  auf  zugeteiltem 
Lande  im  Gouvernement  Sjedlec  nur  298  Betiiebe  von  über  25  Deßjatinen, 
dagegen  17528  Betiiebe  mit  weniger  als  3  Deßjatinen  stehn.  In  den  beiden 
Gouvernements  des  Weizen-  und  Rübengebiets  ist  die  Lage  der  kleinen 
Schlachta  nicht  ganz  so  günstig.  In  Warschau  gibt  es  zwar  neben  542  Be- 
trieben imter  3  Deßjatinen  noch  318  mit  über  25  Deßjatinen,  aber  in 
Dublin  ist  das  Yerhältnis  schon  112  zu  11.  In  diesen  beiden  Gouverne- 
ments macht  sich  die  Einwirkung  des  Großkapitals  am  stärksten  bemerkbar. 
Am  schlechtesten  ist  die  Lage  der  kleinen  Schlachta  im  industiiellen  Süd- 
westen, wo  sie  überhaupt  wenig  zahlreich  ist.  Im  Gouvernement  Petrikau 
ist  das  Yerhältnis  285  zu  26,  in  Kjelce  11  zu  0.  Doch  muß  bemerkt 
werden,  daß  in  den  ^-ier  Industiiegouvemements  die  Zahl  der  bäuerlichen 
Betriebe  mit  über  25  Deßjatinen  Land  überhaupt  nur  0,29  Prozent,  die 
Zahl  der  kleinsten  Betriebe  aber  41,94  Prozent  von  allen  Kleinbetrieben 
beträgt. 

Im  ganzen  gab  es  4760  der  kleinen  Schlachta  gehörende  Höfe,  die  durch- 
schnittlich 42  Deßjatinen  Land  haben,  und  2603,  die  etwa  23  Deßjatinen 


204  Neuntes  Kapitel.    Zur  Agrai-frage 

haben.  In  der  Gmin  Meshilis  des  Gouvernements  Sjedlec  gibt  es  drei 
solcher  Betriebe  zu  je  86  Deßjatinen,  im  Gouvernement  Plock  in  der 
Gmin  Borkowo  6  zu  133,  Osjek  12  zu  96,  Prasnysz  2  zu  78  und  in  Lask 
des  Gouvernements  Petrikau  gar  3  zu  je  220  Deßjatinen.  Wir  können 
somit  folgern,  daß  sich  innerhalb  der  kleinen  Schlachta  überall  Zeichen 
einer  wirtschaftlichen  Wiedergeburt  bemerkbar  machen. 

Als  ein  charakteristischer  Zug  für  die  kleine  Schlachta  ist  noch  zu 
bemerken,  daß  sie  in  einzelnen  Nestern  zusanmiensitzt  und  zu  genossen- 
schaftlichen Organisationen  eher  neigt  als  die  Bauern.') 

3.  Die  Verteilung  der  bäuerlichen  Arheitahrtifte 

Im  ganzen  Zartum  gibt  es  et^va  1052857  landwirtschaftliche  Klein- 
betriebe, die  unter  den  eben  geschilderten  Verhältnissen  bestehn  (S.  180); 
auf  sie  sollen  7313300  Menschen*)  angewiesen  sein.  Dabei  beträgt  die 
gesamte  Fläche  unter  Kleinbetrieben  gemäß  Aufstellung  auf  Seite  178 
etwa  6159500  Deßjatinen.  Somit  würden  auf  jeden  bäuerlichen  Landbe- 
wohner des  Zartums  Polen  nur  0,84  Deßjatinen  entfallen  oder  nurS^gDeß- 
jatine  auf  den  Hof.  Schon  aus  diesen  allgemeinen  Zahlen  geht  hervor, 
daß  ein  sehr  großer  Teil  der  am  Landbesitz  beteiligten  Bevölkemng  unter 
den  bestehenden  Bedingungen  nicht  imstande  sein  kann,  sich  durch  Boden- 
bearbeitung und  Viehhaltung  zu  ernähren. 

Das  trifft  vor  allen  Dingen  bei  der  großen  Mehrzahl  der  städtischen 
Ackenvirte  zu,  von  deren  83995  Grundstücken  allein  59710  auf  solche 
entfallen,  die  kleiner  sind  als  di-ei  Deßjatinen,  aber  nur  186,  die  größer 
sind  als  25  Deßjatinen.  Die  59710  Höfe  mit  ihren  fast  300000  Seelen 
kommen  in  der  Landwirtschaft  kaum  zur  Geltung.  Zunächst  stellen  nele 
von  ihnen  Gärtnereien  und  Besitzungen  von  Fabrikarbeitern  dar.  Jedes 
einzelne  Grundstück  ist,  da  sie  alle  zusammen  59778  Deßjatinen  umfassen, 
in  Durchschnitt  kleiner  als  eine  Deßjatine.  Vielfach  sind  die  Besitzer 
Handwerker  oder  Produktenhändler.  Ihre  Familienangehörigen  sind  dement- 
sprechend, soweit  sie  auf  Nebenverdienst  angewiesen  sind,  vielleicht  aimi 
städtischen  Proletariat  oder  aber  zum  kleinen  Bürgertum  (siehe  S.  127/9), 
nicht  aber  zum  ländlichen  zuzuzählen.  Aus  allen  diesen  Erwägungen 
haben  wir  die  sogenannten  städtischen  Ackerwirte  in  unsern  Betrachtungen 


1)  L.  Krzewicki,  Rußkija  Wjedomosti  von  1906,  Nr.  148. 

'^)  Skarzinski,  a.  a.  0.  S.  466  rechnet,  daß  62  Prozent  der  Besitzer  aller  Höfe  auf 
Nebenerwerb  angewiesen  seien  oder  etwa  drei  Millionen  Seelen;  diesen  seien  noch  zwei 
Millionen  landlose  Proletarier  zuzurechnen  (vgl.  hierzu  unsre  Ausführungen  gegen  Jes- 
joranskis  Auffassung  auf  S.  128  sowie  Ajunerkung  auf  S.  205). 


C.  Die  bäuerliche  Wirtschaft  205 


unberücksichtigt  gelassen,  sondern  ausschließlich  von  der  ländlichen  Be- 
völkerung gesprochen. 

Wir  brauchen  somit  hierunter  nur  niit  den  auf  Seite  180  errechneten 
968862  Höfen  zu  arbeiten.  Ferner  Averden  wir  unter  HiuAveis  auf  unsre 
Erläuterungen  auf  Seite  177  bis  180  und  im  Einverständnis  mit  Spassowitsch 
und  Pilz  auf  jeden  Hof  nur  fünf  Menschen  als  Mitbesitzer  bäuerlicher  Höfe 
im  weitesten  Sinne  rechnen.  Dann  erhalten  wir  die  Zahl  der  landbesitzenden 
bäuerlichen  Bevölkerung  einschließlich  der  kleinen  Schlachta  im  Zaituni 
Polen  mit  4844300  Seelen.  Yon  ihnen  vermögen  sich  nur  etwa  857900 
infolge  der  Größe  und  Qualität  ihres  Landbesitzes  ausschließlich  durch  Land- 
wirtschaft zu  ernähren.  Die  übrigen  3996400^)  Menschen  können  nur 
bestehn,  wenn  sie  neben  der  Landwirtschaft  noch  Nebenerwerb  finden. 
Dabei  haben  wir  im  Einverständnis  mit  den  Nationalökonomen  Jesjoranski, 
Grabski  und  KrziAvicki  gerechnet,  daß  eine  bäuerliche  Wirtschaft  in  den 
Gouvernements  Ssuwalki,  Lomsha,  Plock  und  Sjedlec  durchschnittlich 
zwischen  acht  bis  zehn  Deßjatinen  groß  sein  muß,  um  unter  den  einmal 
vorhandnen  Bedingungen  eine  normale  Familie  zu  ernähren,  während  die 
Größe  des  Besitzes  in  den  übrigen  Gouvernements  im  allgemeinen  sieben 
Deßjatinen  nicht  zu  übersteigen  braucht. 

Es  sei  dabei  ausdrücklich  hervorgehoben,  daß  die  angeführten  Zahlen 
nur  die  unterste  Grenze  der  landarmen  polnischen  Bevölkerung  darstellen 
können.  Wir  können  mangels  einer  entsprechenden  Statistik,  die  auf  den 
Eintragungen  in  den  Pässen  beruht,  also  nur  „Stände"  und  keine  „Gewerbe" 
kennt,  nicht  feststellen,  wde  viel  Personen  zu  den  reichem,  wie  viel  zu 
den  ärmern  Höfen  zu  rechnen  sind.  Wir  neigen  daher  zu  der  Annahme, 
daß  ein  großer  Teil  der  Differenz,  die  sich  aus  unsem  Angaben  hier  und 
auf  Seite  128  ergibt  (6238000  —  4844300  =  1393  700),  zu  einem  länd- 
lichen Proletariat  zu  rechnen  ist,  das  bei  den  Yerwandten  und  Freunden 
herumsitzt,  dort  auch  in  der  Wirtschaft  hilft,  auch  zeitweilig  außerhalb 
Arbeit  nimmt,  zu  Hause  aber  keinen  Lohn  in  Geld  bekommt.  Ein  andrer 
Teil  stellt  dagegen  Personen  dar,  dienende  und  selbständige,  die  nur  noch 
im  Paß  als  Angehörige  des  Bauernstandes  geführt  werden.  Sehr  groß  muß 
in  der  ersten  Kategorie  die  Zahl  der  Frauen  und  Kinder  angesetzt  werden. 
Die  Höhe  der  nicht  ständigen  Bevölkerung  betrug  am  1.  Januar  1905 
1017000  Männer  gegen  978000  Weiber. 

Die  oben  genannte  Bevölkerungszahl  verteilt  sich  wie  gesagt  auf 
968862  bäuerliche  Höfe.      Yon    ihnen   haben    15,4  Prozent   Aveniger    als 


•)  Skarzinski,  a.  a.  0.  S.  465  rechnete  schon  im  Jahre  1897  mit  7400000  Land- 
bewohnern. DaiTinter  sind  wohl  aber  alle  „Paßbauern"  mit  inbegriffen,  auch  wenn  sie 
durch  ihre  Gewerbe  längst  in  das  städtische  Bürgeiium  übergegangen  sind. 


206 


Neuntes  Kapitel.    Zur  Agrarfrage 


1^/2  Deßjatinen  Land,  18,67  Prozent  zwischen  1^/2  bis  3  Deßjatinen, 
44,67  Prozent  zwischen  3  bis  7^/2  Deßjatinen,  8,29  Prozent  zwischen  7^/2 
bis  10  Deßjatinen,  6,44  Prozent  zwischen  10  bis  15  Deßjatinen,  2,81  Prozent 
zwischen  15  bis  20  Deßjatinen,  0,89  Prozent  zwischen  20  bis  25  und 
1,41  Prozent  über  25  Deßjatinen  Land. 

In  den  drei  von  uns  angegebnen  Bodenzonen  liegen  die  Verhältnisse 
ein  wenig  anders,  nämlich  in  Prozenten  wie  folgt: 


bis  IV2 

lV,-3 

3-7V. 

7Va-10 

10—15 

15—20 

20-25 

über  25 

Nordost 

Mitte 

Südwest 

13,74 
12,54 
19,94 

16,0 
18,0 
22,0 

35,0 
50,0 
49,0 

9,0 
9,03 

6,85 

9,15 

6,3 

4,14 

5,04 

2,2 

1,2 

2,6 
0,7 
0,37 

3,22 
0,72 
0,29 

Somit  sind  im  Nordost  73,74  Prozent  der  ländlichen  Bevölkerung  auf 
Nebenerwerb  angewiesen  oder  etwa  1000000  Seelen,  im  IVIittelgebiet 
80,54  Prozent  oder  1000000  Seelen  und  im  Südwestgebiet  90,94  Prozent 
oder  rund  2000000  Seelen.  Teilen  wir  die  Zahlen  durch  5,  so  erhalten 
wir  die  Mindestzahl  der  arbeitsfähigen  Personen  mit  200000  im  Nordosten, 
200000  in  der  Mitte  und  400000  im  Südwesten.  Diese  Arbeitsfähigen 
können,  abgesehen  von  der  Industrie  und  von  öffentlichen  Bauten,  Ver- 
wendung finden :  im  Nordosten  auf  2404  landwii-tschaftliclien  Großbetrieben 
mit  einer  Durchschnittsfläche  von  je  863  Morgen  oder  432  Deßjatinen 
sowie  auf  33497  Kleinbeti'ieben  von  15  bis  25  und  mehr  Deßjatinen,  in 
der  Mitte  auf  2226  Gütern  mit  einer  Durchschnittsfläche  von  1126  Morgen 
oder  563  Deßjatinen  sowie  auf  9696  Kleinbetlieben,  im  Südwesten  auf 
2787  Gütern  mit  einer  Durchschnittsfläche  von  836  Morgen  oder  418  Deß- 
jatinen sowie  auf  8101  Kleinbetrieben  (vgl.  Tabelle  auf  S.  184). 

Bezüglich  öffentlicher  Ai'beiten  muß  herv^orgehoben  Averden,  daß  die 
Bauten  des  Fiskus  sowohl  an  den  Eisenbahnen  wie  an  den  gerade  im 
Zartum  Polen  besonders  zahlreichen  Festungsbauten  zum  größten  Teü  von 
russischen  Artellen  übernommen  werden.  Infolgedessen  kommt  dieser 
Nebenerwerb  für  die  einheimische  Bevölkerung  so  gut  wie  gar  nicht  in 
Fi-age.^) 

Wir  vertiefen  das  Bild,  indem  wir  in  der  nebenstehenden  Tabelle  die  Land- 
bewohner auf  die  verschiednen  Größen  der  bäuerlichen  Beti'iebe  in  den  ein- 
zelnen Gouvernements  verteilen.  Dann  erhalten  wir:  inSsuwalki  41200  zeit- 
weilig fi'eie  Arbeiter  bei  427  Gütern,  Lomsha  51600  Arbeiter  bei  340  Gütern, 


^)  Ähnlich  urteileu  Spassowitseh  und  Pilz  a.  a.  0.,  Tagesfragen,  S.  91  ff.,  vgl.  S.  60, 
Anm.  2:  Bestimmung  für  Unteniehmer  öffentlicher  Arbeiten. 


C.  Die  bäuerliche  Wirtschaft 


207 


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208  Neuntes  Kapitel.    Zur  Agrarfrage 

Plock  39500  Arbeiter  bei  120  Gütern,  Sjedlec  97100  zu  517,  Warschau 
83500  zu  1575,  Lublin  132100  zu  651,  KaHsch  82200  zu  878,  Petrikau 
98000  zu  696,  Kjelce  111000  zu  606,  Radom  103500  zu  607  Gütern. 

Indem  wir  die  Zahlen  betrachten  und  bemerken,  daß  zum  Beispiel  in 
Radom  auf  jedes  Gut  170  freie  Arbeitskräfte,  in  Sjedlec  gar  185  kommen, 
dürfen  wir  nicht  vergessen,  daß  neben  den  auf  Nebenverdienst  ange- 
wiesnen  Ackerbauern  noch  849300  landlose  Proletarier  oder  mindestens 
189800  Arbeitski'äfte  vorhanden  sind,  die  nichts  ihr  eigen  nennen.^) 

Diese  189800  arbeitsfähigen  ländlichen  Proletarier  sind  nur  zu  einem 
geringen  TeU  Knechte  und  Mägde  auf  den  Großbetrieben;  andernfalls 
müßten  durchschnittlich  27  volljährige  und  ebensoviel  minderjährige  ständige 
Arbeiter  auf  den  Gutshof  entfallen,  und  das  ei'scheint  uns  bei  der  geringen 
durchschnittlichen  Größe  der  Güter  sowie  der  vielfachen  Verwendung  von 
Dampfmaschinen  wie  modernster  Ackergeräte  überhaupt  zu  hoch. 

Angesichts  der  geschilderten  allgemeinen  Verhältnisse  und  der  sich 
daraus  ergebenden  niedrigen  Arbeitslöhne  soUte  man  glauben,  das  Zartum 
Polen  sei  ein  Eldorado  aller  Arten  von  Großbetrieben.  Das  ist  nun 
durchaus  nicht  der  Fall,  denn  es  fehlen  alle  ergänzenden  und  ausgleichenden 
Elemente:  gut  entwickelte  Verkehrswege  wie  auch  nur  den  bescheidensten 
Ansprüchen  genügendes  Sanitätswesen,  genossenschaftliche  Organisation 
und  eine  den  praktischen  Bedürfnissen  angepaßte  soziale  Gesetzgebung. 
Die  Zahl  der  freien  Arbeitskräfte  ist  gi'oß,  die  Arbeitslöhne  sind  niedrig, 
die  Leistungsfähigkeit  des  Arbeiters  vergi'ößert  sich  von  Jahr  zu  Jahr, 
aber  zui'  Erntezeit,  zur  Rüben-  und  Kartoffelbestellung  fehlt  es  den  Groß- 
grundbesitzern an  genügenden  Arbeitskräften.  Denn  die  Landlosen  sind 
auf  "Wanderarbeit  in  entferntem  Gegenden,  die  Landarmen  können  sich 
nicht  für  mehrere  Wochen  freimachen,  oder  sie  müßten  ihre  eigne  Ernte 
preisgeben. 

Am  größten  ist  die  Not  in  dieser  Beziehung  in  den  Gouvernements 
Lublin,  Radom  und  Kjelce.  Also  in  den  Gegenden,  wo  die  zahlreichsten 
überschüssigen  Arbeitskräfte  vorhanden  zu  sein  scheinen,  kann  die  Land- 
wirtschaft nicht  mit  den  einheimischen  Arbeitern  auskommen,  sondern  muß 
zur  Ernte  Schnitter  und  Sichler  aus  Gaüzien,  von  den  Karpaten  und  aus 
Wolynien  heranziehen.  In  den  Kreisen  Samosc  und  Hrubieszow  haben 
wir  sogar  Juden  bei  leichtem  Feldarbeiten,  vor  allen  Dingen  bei  den 
Dresch-  und  Getreidereinigungsmaschinen  angetroffen.  In  den  genannten 
Gouvernements  spielt  dennoch  die  Auswanderung  keine  bedeutende  Rolle, 
weil  in  Kjelce  und  Radom  selbst  und  deren  nächster  Nachbarschaft  Ver- 

»)  Vgl.  S.  128  ff. 


C.  Die  bäuerliche  Wirtschaft  209 


dienst  in  Bergwerken  und  Fabriken,  in  Lublin  in  der  Hausindustrie  zu 
finden  ist,  der  den  überaus  geringen  Ansprüchen  der  polnischen  Bevölkerung 
genügt.  ^)  Im  übrigen  spielt  die  Hausindustrie  eine  nur  sehr  geringe  Rolle 
im  Zartuni  Polen,  wenn  sich  auch  jede  polnische  Bäuerin  ihr  Leinen 
selbst  webt  und  für  sich  und  die  Tochter  große  Vorräte  davon  anlegt. 
Die  Behauptung  Krzewickis,  die  Hausindustrie  sei  in  Polen  unbekannt, 
entspricht  somit  in  dieser  Yerallgemeiuerung  nicht  den  Tatsachen.  Sie 
konnte  sich  nicht  so  entwickeln  wie  im  Moskauer  Gebiet,  weü  ihr  zwei 
Hauptvorbediugungen  fehlen:  lange  AVinter  und  Wegelosigkeit.  Außerdem 
hat  sich  die  kapitalistische  Organisation  so  schnell  in  allen  Industrien  fest- 
gesetzt, daß  eine  hausgewerbüche  Erzeugung  auf  dem  platten  Laude  über 
den  Eigenverbrauch  hinaus  keinen  Absatz  gefunden  hätte.  Davon  zeugen 
auch  die  außerordentlich  großen  Yorräte  von  Geweben,  weißen  vuid  bunten 
die  in  jeder  noch  so  armen  Bauernfamilie  zu  finden  sind.^)  Anders  in 
den  städischen  Siedelungen,  in  deren  nächster  Nähe  und  in  der  Nähe  von 
großindustiieUen  Unternehmungen.  Dort  entwickelte  sich  eine  Hausindustrie 
ebenso  wie  in  den  modernen  Städten  des  AYestens  und  auf  analogen  Yer- 
hältnissen.  '•^) 


')  Nach  Angaben  in  Heft  22  der  SitzungsprotokoUe  des  Hausindustriekongresses  zu 
St.  Petersburg  im  Jahre  1902,  „Bericht  der  Warschauer  Filiale  der  Gesellschaft  zur  Hebung 
der  russischen  Gewerbe'^  sind  es  Weber  und  Siebflechter,  die  im  Gouvernement  Lublin 
besonders  vorankommen.  Die  Siebflechter  sollen  bis  286650  Eubel  Umsätze  bei  159250 
Rubel  Jahresverdienst  haben  (S.  17). 

')  Wenn  wir  den  Wert  dieser  Schätze  zum  heutigen  Preise  nur  mit  10  Rubel  im 
Durchschnitt  ansetzen,  dann  dürfte  der  gegenwärtige  Leinenvorrat  auf  dem  platten  Lande 
mit  10  Millionen  Rubel  nicht  zu  hoch  eingeschätzt  sein. 

^)  Außer  der  angegebenen  liegt  obiger  Ausführung  noch  folgende  Literatur  in 
polnischer  Sprache  zugrande:  1)  Wlad.  Grabski,  „Wywtaszczenie  folwarkow  i  program 
reform  rolnvch",  Warszawa,  Gebethner  &  Wolff,  1907,  (Broschüi-e).  2)  AYtad.  Glinka, 
„WjTvlaszczenie  i  Unarodowenie  ziemie'-,  Warszawa,  bei  Jau  Fiszer,  1907  (Broschüre). 
3)  Gesammelte  Schriften  von  Franz  Gorski,  Druck  imd  Verlag  in  der  Tageszeitung  „Czas'^ 
in  Krakau  1906,  —  besonders  S.  13 — 207.  4)  Verschiedene  Zeitschriften,  wie  Ateneum, 
Kultura,  Panteon.  5)  Schließlich  sei  auf  die  Ausgewälilten  Schriften  von  Ludwig  Goreki 
(Waszawa  1908)  hingewiesen,  von  denen  im  zweiten  Bande  noch  wiederholt  gesprochen  wird. 


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Cleinow,  Die  Zukunft  Polens  14 


Zehntes  Kapitel 
Die  Arbeiterfrage 

"Wir  leiteten  das  siebente  Kapitel  mit  dem  Satz  ein,  die  an  die  Oabe7i 
der  Natur  angewandte  geistige  und  Jcörperliche  Arbeit  sei  der  Träger  der 
Wirtschaft.  Im  neunten  Kapitel  mußten  wir  feststellen,  daß  allein  auf 
dem  2)latten  Lande  mindestens  eine  Million  arbeitsfähige  Menschen  (S.  206) 
ihre  Jcörperliche  Arbeitskraft ,  der  geistigen  gar  nicht  zu  denken,  nicht 
voll,  ja  nicht  zur  Hälfte  ausnutzen  können.  Die  Zahl  wächst  noch  ganz 
erheblich,  wenn  wir  uns  daran  erinnern,  daß  zu  vielen  Arbeiten  mit  Vor- 
teil Kinder  verwandt  werden.  "Wir  sahen  auch,  daß  öffentliche  Arbeiten 
im  Zartiim  Polen  zum  größten  Teil  mit  russischen  Arbeitern  ausgeführt 
werden  (S.  206),  sodaß  sie  für  die  heimische  Bevölkerang  als  Nebenenverb 
so  gut  wie  gar  nicht  in  Fi'age  kommen.  Infolgedessen  scheint  sie  aus- 
schließlich angewiesen  auf  Landarbeit  oder  Fabrikarbeit  in  den  polnischen 
Gouvernements,  auf  hausgewerbliche  Betätigung  oder  auf  Auswandeiiing. 

Nun  gibt  es  aber  doch  ein  die  Lage  des  Arbeitsmarktes  erleichterndes 
Moment:  den  Abzug  der  Rekruten  aus  dem  Zartum  in  die  russischen 
Gouvernements,  bei  gleiclizeitig  sehr  geringer  Verwendung  russischer  Sol- 
daten für  die  Erntearbeiten  in  Polen.  Die  Polen  behaupten,  sie  nähmen 
keine  russischen  Soldaten  aus  Patriotismus  in  Anspruch,  während  uns  von 
andrer  Seite  berichtet  wurde,  die  Regimenter  dürften  polnischen  Besitzern 
keine  Soldaten  zur  Emtearbeit  abtreten.  Eine  sichere  Bestätigung  der 
einen  oder  der  andern  Behauptung  liaben  wir  uns  nicht  beschaffen  können. 
Dagegen  haben  wir  russische  Soldaten  als  Erntearbeiter  aussciüießlich  auf 
uichtpolnischen  Grütern,  vorwiegend  auf  nissischen  Majoraten,  angetroffen 
und  nur  selten  von  russischer  Seite  Klagen  über  Arbeitennangel  gehört. 
Im  Zusammenhange  mit  der  ganzen  Richtung  der  russischen  Polenpolitik 
würde  es  einleuchten,  wenn  ein  Verbot,  russische  Soldaten  zui"  Erntearbeit 
bei  polnisclien  Großgrundbesitzern  zu  verwenden,  bestünde. 

Über  die  Zahl  der  jährlich  aus  detn  Zartum  Polen  ausgehobnen  und 
nach  dem  Innern   des  Reiches    transportie)'ten   Rekruten    gibt   uns    die 


A.  Die  Landarbeiter  211 


amtliche  Statistik  für  die  Jahre  1874  bis  1898  ungefähre  Auskunft.^)  Leider 
sind  die  Angaben  nicht  für  jedes  einzehie  Jahr  vorhanden,  sondern  nur 
solche  für  den  Zeitraum  von  1874  bis  1889  und  für  den  Zeitraum  von 
1890  bis  1898.  Im  ersten  Zeiü-aum  waren  militärpflichtig  970 116  2)  oder 
durchschnittlieh  64670  im  Jahr.  Im  zweiten  Zeitraum  waren  633617^) 
militärpflichtig  oder  70400  im  Jahr.  Nehmen  wir  für  die  folgenden  neun 
Jahre  von  1899  bis  1908  gleichfalls  eine  Vermehrung  des  Kontingents  der 
Gestellungspflichtigen  mit  10  Prozent  an,  so  dürfte  die  Zahl  der  Gestellungs- 
pflichtigen gegenwärtig  etwa  78000  Mann  im  Jahre  betragen  oder  kaum 
8  Prozent  der  arbeitenden  und  arbeitsfähigen  Bevölkerung. 

Geht  schon  hieraus  hervor,  daß  die  Entlastung  des  Arbeitsmarktes 
durch  Abzug  der  Rekruten  nur  geringfügig  sein  kann,  so  schrumpft  das 
Ergebnis  noch  mehr  zusammen,  wemi  wir  hinzufügen,  daß  gewöhnlich 
nur  75,8  Prozent  der  Stellungspflichtigen  oder  58  500  zur  Kontrollversanmi- 
lung  kommen,  und  daß  von  diesen  58500  noch  28,9  Prozent  aus  ver- 
schiednen  Gründen  zurückgestellt  werden  mußten.*)  Somit  kommen  im 
besten  Falle  41600  Rekruten,  die  zwei  bis  vier  Jahre  zu  dienen  haben, 
in  Betracht,  und  die  tatsächliche  Erleichterung  des  Arbeitsmarktes  beträgt 
rund  120000  junge  Burschen. 

Wo  bleiben  nun  die  Arbeitskräfte,  wie  lebt  der  große  Bevölkerungs- 
überschuß ? 

Nachdem  wir  festgestellt  haben,  daß  etwa  95,6  Prozent^)  allen  Landes 
im  Zartum  Polen  der  Landwirtschaft  unterworfen  ist,  und  daß  von  der  Be- 
völkerung des  Gebiets  allein  75  Prozent  auf  dem  platten  Lande  leben, 
ergibt  es  sich  von  selbst,  daß  die  nächsten  und  natürlichsten  Erwerbs- 
möglichkeiten auf  dem  Lande  liegen  sollten.  Tatsächlich  bilden  auch  die 
Landarbeiter  vier  Fünftel  und  die  Fabrikarbeiter  nur  ein  Fünftel  aller 
Arbeiter  des  Gebiets. 

A.  Die  Landarbeiter 

Die  Landarbeiter  sind  einzuteilen  in  ständige,  die  mindestens  ein 
rundes  Jahr  auf  den  Gütern  oder  großen  Bauernhöfen  arbeiten,  in  Tage- 
löhner, die,  in  der  Nähe  des  größern  Betriebs  wohnend,  sich  zu  jeder  Zeit 
und  für  jede  Arbeit  einzeln  zur  Verfügung  stellen,  und  schließlich  in  die 
Saisonarbeiter,  die  meist  in  gi-ößern  Partien  für  ganz  bestimmte  Arbeiten 
herangezogen  werden. 


')  Arbeiten  des  "Warschauer  Statistischen  Komitees  von  1906,  Heft  XXII,  S.  14 — 32. 
')  Ebenda  Tab.  I,  S.  4.  —  ")  Ebenda  Tab.  II,  S.  12. 
*)  Ebenda  Tab.  V,  S.  18 ;  allein  wegen  Krankheit  12,54. 
^)  S.  153. 

14* 


212  Zehntes  Kapitel.    Die  Arbeitei-fi-age 

Mangels  einer  Berufs-  oder  Gewerbestatistik  können  wir  die  dienende 
Bevölkerung  des  Zartunis  nach  den  eben  genannten  Kategorien  zalilen- 
mäßig  nicht  aufteilen.  Doch  um  einen  Anhalt  zu  geben,  seien  Mitteilungen 
des  Steuerinspektors  I.  Z.  Kanski  für  das  Jahr  1891  herangezogen.^)  Danach 
kommen  auf  das  Zartum  überhaupt  369400  oder  43,5  Prozent  der  ge- 
samten landlosen  Arbeitskräfte  auf  ständige  Hofgänger  beim  Großgnmd- 
besitzer,  18440  oder  2,2  Prozent  ständige  Arbeiter  bei  Bauern,  317900 
oder  37,4  Prozent  Tagelöhner,  zusammen  705740  Seelen  oder  83,1  Prozent 
der  landlosen  Arbeitski'äfte.  Somit  waren  schon  im  Jalire  1891  16,9  Pro- 
zent der  landlosen  Landbevölkerung  oder  rund  150000  Menschen  außer- 
stande, Beschäftigung  auf  dem  Lande  zu  finden.  Das  ist  nur  Durchschnitts- 
angabe, die  in  den  verschiednen  Gouvernements  starken  Yerändenmgeu 
unterlag.  Uns  stelm  nur  für  Petrikau  Angaben  zur  Verfügung.  In  diesem 
dicht  bevölkerten,  teilweise  industiiellen  Gebiet  war  die  Zaiü  der  Be- 
schäftigimgslosen  mit  25,1  Prozent,  die  der  Tagelöhner  mit  41,4  Prozent, 
der  ständigen  Hofgänger  mit  32,6  Prozent,  der  ständigen  Arbeiter  auf 
Bauernhöfen  mit  0,9  Prozent  angegeben.  Nach  diesen  auf  amtlichem 
Material  beruhenden  Angaben  werden  unsre  nun  folgenden  auf  privaten 
Beobachtungen  und  Mitteilungen  beruhenden  Schätzmigen  an  Wahrschein- 
lichkeit gewinnen. 

1.  Ständige  Arbeiter 

Der  Bedarf  an  ständigen  Landarbeitern  ist  abhängig  einmal  von  der 
Größe  der  Wirtschaften  und  der  Zahl  der  darin  gehaltnen  Haustiere,  wird 
aber  beeinflußt  von  dem  Wohlstande  der  das  Gut  umgebenden  Bauern. 
Wo  zahh'eiche  Bauernhöfe  vorhanden  sind,  die  die  Familie  üirer  Besitzer 
nicht  allein  zu  erhalten  vermögen,  wird  die  Zahl  der  sich  anbietenden 
Tagelöhner  größer  sein  als  dort,  wo  der  Bauer  und  seine  Angehörigen 
vollauf  auf  seinem  Gütchen  zu  tim  hat  und  durch  seinen  Besitz  so  gut 
ernährt  wii'd,  daß  er  Rücklagen  machen  kann.  Infolge  der  ständig  vor- 
handnen  und  sich  anbietenden  Tagelöhner  wii-d  der  Gutsbesitzer  der  Not- 
wendigkeit behoben,  die  Zald.  der  Jahresarbeiter  entsprechend  der  Zunahme 
der  Intensität  seiner  Wiiischaft  zu  vermehren. 

Im  Zartiun  Polen  konnten  wir  nun  mit  alleiniger  Ausnahme  des  Gou- 
vernements Lublin  feststellen,  daß  die  Zahl  der  ständigen  Gutsarbeiter 
gegenüber  der  der  Tagelöhner  im  allgemeinen  überaus  geling  ist.  Dieser 
geringe  Bedarf  an  ständigen  Hofarbeitern  muß  natui'gemäß  auf  die  Höhe 
der  Löhne    überhaupt   zurückwirken.     Bestätigt  wird    solche  Behauptung 


^)  Arbeiten  der  Goiavernementskomitees  usw.  für  Petiikau,  Bericht  vom  12.  Januar 
1903,  S.  742. 


A.  Die  Landarbeiter 


213 


durch  einen  Blick  auf  die  einzelnen  Gniinen  des  Gebietes,  in  denen  die 
Löhne  im  Winter  für  Männer  fünfzehn  Kopeken  nicht  erreichen  und  an 
verschiednen  Stellen  sogar  unter  neun  Kopeken  henmtergehn.  In  diesen 
Gminen  hat  mehr  als  die  Hälfte  aller  bäuerlichen  Gminen  Aveniger  als 
sechs  Deßjatiuen  Land.  In  der  Gmin  Njedzwedz,  wo  der  Lohn  zui'  Ernte- 
zeit für  Männer  und  Weiber  dreizehn  Kopeken  täglich  beträgt,  sind  von 
517  bäuerlichen  Höfen  426  kleiner  als  sechs  Deßjatinen,  und  der  Groß- 
grundbesitz verfügt  nur  übet  4253  Deßjatinen. 

Die  ständigen  Hoßeute  verpflichten  sich  gewöhnlich  auf  ein  Jahr. 
Sie  haben  von  Sonnenaufgang  bis  Sonnenuntergang  zu  arbeiten,  die  Vieh- 
fütterer  entsprechend  länger.  Die  Hofgängerfamilien,  die  einen  Mann  und 
zwei  Weiber  zu  stellen  haben,  erhalten  freie  Wohnung.  Sie  besteht  meist 
aus  zwei  Räumen  mit  Vorratskanmier,  häufig  genug  aber  nur  aus  einem 
Raum.  Ferner  erhalten  die  Hofgänger:  ein  Stück  Kartoffelland,  Land  für 
Hanf  und  Kohl  sowie  Geti'eide,  Weizen,  Roggen,  Gerste,  Buchweizen, 
Bohnen,  Erbsen  und  im  Gouvernement  Ssuwalki  auch  Hafer. 

In  den  versclüednen  Gouvernements  stellen  sich  die  Einnahmen  einer 
Hofgängerfamilie  in  Geld  und  Naturalien  wie  folgt: 


1900 


Tschetwert, 
davon  entfallen  auf 


D  Sashen 
Land  für 


M 


Geldwert  in 
Rubel  für 


Ä 


ja  * 

o  a 


Somit  kostet 

eine  Hof- 
gängerfamilie 
in  Rubel 


1900      1890 


Ssuwalki 
Lomsha . 
Plock  . 
Sjedlec  . 
Warschau 
Lublin  . 
Kaiisch  . 
Petrikau 
Kjelce  . 
Radom  . 


6,9 
5,9 
5,6 
6,6 
6,6 
7,3 
6,3 
6,3 
6,3 
6,9 


0,2 
0,2 
0,1 
0,4 
0,4 
0,3 
0,2 
0,6 
0,1 


3,5 
3,2 
2,9 
3,4 
3,4 
3,7 
3,4 
3,4 
3,0 
3,5 


1,9 
1,2 
0,9 
1,3 
1,3 
2,4 
1,3 
2,1 
2,5 
2,5 


521 

680 
729 
685 
689 
585 
725 
661 
615 
538 


261 
200 
128 
201 
119 
110 
189 
110 
123 
107 


107 
97 
87 
95 

104 
97 

107 

101 
97 


34 
33 
34 
34 
25 
19 
23 
24 
16 
21 


18 
24 
27 
21 
41 
35 
38 
42 
30 
36 


159 
154 
148 
150 
170 
151 
168 
165 
143 
155 


126 
134 
126 
136 
130 
147 
132 
137 
127 
128 

') 


Die  angegebnen  Zahlen  könnten  die  Meinung  heiTorrufen,  als  habe 
sich  die  Lage  der  Hofgänger  im  Laufe  der  vergangnen  zehn  Jahre  von 
1890  bis  1900   wesentlich  gebessert,  weil  die  Geldaufwendungen  für  sie 


')  Arbeiten  des  "Warschauer  Statistischen  Komitees  von  1904,  Heft  XX,  S.  18 — 28. 
«)  Ebenda,  S.  29.  —  ")  Ebenda,  S.  31.  —  *)  Ebenda,  S.  33. 
*)  Ebenda,  S.  60—54.  —  «)  Ebenda,  S.  35. 
0  Ebenda  von  1897,  Heft  IX,  S.  103. 


214 


Zehntes  Kapitel.    Die  Arbeiterfrage 


diirchgehends  höher  geworden  sind.  Tatsächlich  dürfen  wir  diesen  Maß- 
stab nicht  ohne  weiteres  anlegen.  Wir  müssen  uns  vielmehr  danach  um- 
sehen, ob  die  Naturalleistungen  gestiegen  sind,  denn  gewöhnlich  ist  der 
Lohnsteigerung  eine  erhebliche  Erhöhung  der  Lebensmittelpreise  vorauf- 
gegangen, und  die  Bevölkerung  hat  sich  vergrößert.  Es  lag  vielfach  auch 
im  Literesse  der  Arbeitgeber,  die  Naturalleistungen  durch  Geldleistungen 
abzulösen,  besonders  wo  infolge  Yorhandenseins  größerer  Kapitalien  die 
Intensität  der  AVirtschaft  gesteigert  werden  konnte.  Der  polnische  Land- 
arbeiter seinerseits  legt  auf  die  hohe  Bezahlung  mit  Geld  gewöhnlich 
durchaus  nicht  den  großen  "Wert,  den  andre  Arbeiter  darauf  legen.  Das 
geht  schon  aus  den  Forderungen  hen^or,  die  die  Arbeiter  an  jedem 
Kündigungstermin  zu  stellen  pflegen.  Ein  Sack  Roggen,  ein  Quadratfaden 
Land  sind  häufig  genug  ausschlaggebend,  ob  der  Hof  mann  seine  Stelle 
wechselt  oder  nicht.  Häufig  will  die  Frau  vor  allen  Dingen  Land  zu 
Hanf  haben,  weil  sie  zwei  oder  drei  Töchter  hat.  Die  sollen  sich  ihre 
Aussteuer  selbst  zusammenweben  können  oder  auch  nur  in  den  Winter- 
abenden beschäftigt  werden,  damit  ihnen  kein  Unglück  geschieht. 

Die  Naturalleistungen  für  das  Jahr  1890  zeigt  folgende  Zusammenstellung: 

Somit  ist  durchschnittlich  das  Ge- 
ti-eidedeputat  ein  wenig  gestiegen, 
nämlich  von  6,4  auf  6,5  Tschetweii, 
während  die  Fläche  des  Karfoffel- 
und  des  Gartenlandes  durchgehend« 
kleiner  geworden  ist.  Ausschließlich 
im  Gouvernement  Lublin  läßt  sich  eine 
wirkliche  Bessei'ung  in  der  Lage  der 
Hofgänger  feststellen.  Das  ist  in  dem 
Teil  des  Landes,  wo  der  Durclischnitts- 
umfang  der  landwirtechaftlichen  Groß- 
beti'iebe  mit  1553  Morgen*)  am  größten 
ist.  Dort  ist  die  Steigening  der  Ge- 
samtaufwendung des  Gutsbesitzei's  am 
geringsten,  nämlich  um  vier  Rubel,  während  das  Kartoffelland  und  das 
Deputat  im  Durchschnitt  größer  gCAvorden  ist. 

Freilich  darf  nicht  übersehen  werden,   daß  gerade  in  Lublin  in  drei 
Kreisen  das  Deputat  zurückgegangen  ist  (Lubaiiow,  Lublin,  Cholm),  aber 


Gouvernement 

0)     f^ 

D  Sashen 
Land  zu 

1890 

Kar- 
toffel 

Hanf 

Ssuwalki 
Lomsha 
Plock    . 
Sjedlec  . 
Warschau 
Lublin  . 
Kaiisch 
Petrikau 
Kjelce   . 
Radom  . 

7,6 
5,7 
5,7 
6,8 
6,5 
7,4 
5,7 
6,0 
6,3 
6,6 

532 
734 
710 
668 
695 
631 
672 
610 
525 
500 

232 

170 

100 

170 

103 

107 

140 

164 

90 

98 

*) 

*)  Arbeiten  des  Warschauer  Statistischen  Komitees  von  1897,  Heft  IX,  S.  39. 
2)  Ebenda  von  1904,  Heft  XX,  S.  29. 
')  Ebenda  von  1904,  Heft  XX,  S.  31. 
')  Vgl.  S.  184. 


A.  Die  Landarbeiter  215 


gerade  in  diesen  Kreisen  ist  auch  die  Landzuweisung  größer.  Bei 
den  vielen  Feiertagen  in  diesen  teils  von  Uniaten  bewohnten  Kreisen  hat 
die  Landzuweisung  nicht  nur  keine  drückenden  Folgen,  sondern  im  Gegen- 
teil in  jeder  Beziehung  fördernde. 

Dementsprechend  muß  auch  die  Ernährung  der  Hofleute  eine  bessere 
geworden  sein.  Wenn  wir  uns  die  Zahlen  für  die  einzelnen  Gminen  und 
Kreise  betrachten,  dann  machen  wir  die  Beobachtung,  daß  die  Differenzen 
zwischen  dem  höchsten  und  dem  niedrigsten  Deputat  nicht  mehr  so  groß 
sind  wie  zehn  Jahre  früher.  Es  hat  vielmehr  ein  wesentKcher  Ausgleich 
stattgefunden;  besonders  die  höchsten  Deputate  haben  abgenommen.  Im 
Jalu'e  1890  betrug  das  niedrigste  Maß  im  Kreise  Prasnysz  (Gouvernement 
Plock)  nur  4,8  Tschetwert,  im  Jahre  1900  dagegen  durchschnittlich  5,1  Tschet- 
wert.^)  Im  Jahre  1890  gab  es  acht  Kreise,"  m  denen  7,5  Tschetwert  und 
mehr  an  Deputat  gegeben  -snirden,  nämlich  Hrubieszow  7,5,  Lubartow  7,6, 
Lublin  7,7,  Cholm  7,8,  Kalwaria  7,9,  WoLkowyszki  8,4,  Mariampol  8,5  und 
Wladislawow  gar  9,8  Tschetwert.  Im  Jahre  1900  ist  nur  Hrubieszow  auf 
seiner  Höhe  geblieben,  während  Wladislawow  auf  7,5  zurückgegangen  ist, 
und  nur  noch  Augustowo  7,5  Tschetwert  aufweist.  Die  Zahl  der  Kreise 
mit  niedrigstem  Deputat  ist  von  27  auf  18  zurückgegangen. 

Als  eine  Besserung  der  Stellung  der  Arbeiter  könnte  die  Erhöhung 
der  Geldlöhnung  in  den  Industriegebieten  um  Warschau,  Kaiisch,  Petrikau 
und  Kadom  aufgefaßt  werden,  wenn  das  Geld  wirklich  zur  Yerbesserung 
der  Lebenshaltung  verwandt  würde.  Das  ist  nun  tatsächlich  fast  nirgends 
der  Fall.  Der  Kätner  im  Nordostgebiet  gibt  noch  heute  seiner  Tochter 
eine  gute  Leinenaussteuer  mit.  Die  Tocliter  des  Kätners  aus  dem  pol- 
nischen Industriegebiet  hat  nichts  und  kann  gewöhnlich  —  von  den  Weber- 
bezirken abgesehen  —  weder  spinnen  noch  weben  noch  nähen.  Der  sich 
hier  vollziehende  Übergang  von  der  Natural-  zur  Geldwiiischaft  kostet 
einem  großen  Teil  der  Bevölkerung  die  letzten  Grundlagen  einer  materiellen 
Existenz  und  führt  große  Teile  von  ihr  dem  Lumpenproletariat  zu.  Diese  Ent- 
wicklung hat  in  den  abgelaufnen  zehn  Jahren  ein  immer  schnelleres  Tempo 
angenommen,  aus  Gründen,  die  wir  teils  bei  der  Darstellung  der  Industrie 
schon  kennen  lernten,  auf  die  wir  aber  noch  zurückkommen  werden. 

Die  Fleischnahrung  der  Hofleute  ist  im  allgemeinen  gegenüber  der  in 
Deutschland  üblichen  gering,  doch  durchaus  nicht  so  schlecht,  wie  es  viel- 
fach behauptet  wird.  So  dürfen  sich  die  Familien  Kühe,  Schweine  und 
Schafe  halten,   die   auf  den  Gutsländereien  aber  immer  seltner  mit  dem 


^)  Freilich  erregt  die  Statistik  hier  einige  Bedenken;  von  den  zehn  Gminen  des 
Kreises  sind  drei  nicht  ausgefüllt,  und  vier  zeigen  Zahlen  unter  5  Tschetwert,  nur 
eine  6,1,  und  eine  5.    Heft  XX,  Tab.  I,  S.  47. 


216 


Zehntes  Kapitel.    Die  Arbeiterfrage 


herrschaftlichen  Yieh  zusammen  weiden  dürfen.  Grewöhnlich  haben  die 
Leute  eine  Kuh  und  ein  bis  zwei  Schweine.  In  den  Gouvernements  Plock, 
Kaiisch  und  Lomsha  gibt  es  dagegen  \äele  hundert  Kätner,  die  überhaupt 
keine  Haustiere  haben  (siehe  unten  "Wanderarbeiter),  während  im  Gou- 
vernement Lublin,  Kreis  Zamosc,  Kätner  mit  drei  Kühen  keine  Seltenheit 
sind.  Die  Zahl  der  Schweine  ist  in  Sjedlec,  Lublin,  Lomsha,  Ssuwalki^) 
ziemlich  groß  und  steigt  in  einzelnen  Gminen  auf  sechs  für  den  Kätner, 
während  Schafe  und  Ziegen  bis  zu  vier  Stück  in  den  Kreisen  Lodz,  Bresin 
und  Lask  gehalten  werden.  Die  Kätner  können  dort  eine  kleine  Neben- 
einnahme haben,  da  sich  in  jener  Gegend  örtliche  "Wollmärkte  befinden. 

"Wir  haben  noch  der  unverheirateten  Hofgänger,  Knechte  und  Mägde 
zu  denken,  die  sich  für  ein  ganzes  Jahr  verdingen.  Sie  werden  vom 
Arbeitgeber  beköstigt  und  erhalten  von  ihm  auch  "Wohnung,  gewöhnlich 
ohne  Ti'ennung  der  Geschlechter.  Die  jährlichen  Einnahmen  der  Leute 
betrugen  in  Rubeln 


in  den  Gouvernements 


für  Männer 


1890«) 


1900») 


für  Frauen 


1890«) 


1900') 


SsuwaUd  . 
Lomsha  . 
Plock  .  . 
Sjedlec  . 
Warschau 
Lublin 
Kaiisch  . 
Petrikau  . 
Kjelce 
ßadom 


29 

36 

30 

32 

32V, 

29 

27 

26 

23 

27 


38 
43 
38 
33 
39 
33 
38 
37 
28 
32 


16» 

24 

24 

23 

25 

21' 

19 

21 

17 

19 


21 
29 
30 
26 
29 
24 
28 
28 
21 
22 


Die  Beköstigung  dieser  Leute  besteht  voi'wiegend  aus  Kohlsuppen, 
Erbsen,  Buchweizengrütze,  940  bis  1060  Granmi  Brot,*)  Speck  und  zweimal 
in  der  Woche,  ausschließlich  der  Fasten,  Fleisch. 

Das  Verhältnis  zwischen  GutsheiTen  und  ständigen  Ai'beitem  kann 
im  allgemeinen  als  gut  bezeiclmet  werden,  wenn  sich  auch  die  Klagen 
über  Unbotmäßigkeit  mehren.  Patriarchalische  Beziehungen  vom  Guts- 
hause zu  den  Leutewohnungen  wie  auch  zu  den  benachbarten  Dörfern 
sind  durchaus  keine  Seltenheit.     Es  ist  inmier  noch  üblich,   daß  sich  die 


»)  Starke  Borstenverarbeitung  in  Wolko'wyszki  und  Mariampol. 
")  Arbeiten  des  Warscliauer  Statistischen  Komitees  von  1897,  Heft  IX,  S.  28.  29. 
3)  Ebenda  von  1904,  Heft  XX,  S.  13.  14. 

*)  Ebenda   von   1897,  Heft  IX,    S.  63;   in    Lublin    am    meisten,    in    Petrikau    am 
wenigsten  Brot. 


A.  Die  Landarbeiter 


217 


Leute  in  ihren  Herzensangelegenheiten  an  den  Gutsherrn  wenden,  daß  sie 
ihre  Eßwaren  zu  Ostern  auf  den  Gutshof  zur  Einsegnung  bringen,  daß  sie 
bei  Hochzeiten  eine  myrtenumwundne  „Hussanka"  (ungesäuerter  Kuchen) 
zum  „Palast"  schicken,  daß  sie  schließlich  am  Tage  der  Heiligen  drei 
Könige  und  zu  Fastnacht  unter  allerhand  Mummenschanz  zur  Herrschaft 
ziehen  und  Tänze  und  Scherze  vorführen.  Die  körperliche  Züchtigung 
dürfte  seit  Ende  der  1880er  Jahre  auf  den  Gütern  Polens  überhaupt  nicht 
mehr  vorkommen.  AVo  ältere  Geistliche  am  Orte  sind,  ist  es  dagegen 
üblich,  Taugenichtse  zur  Beichte  zu  schicken,  und  Frau  Fama  verbreitet 
alsdann  im  Dorfe,  das  Beichtkind  habe  mit  dem  Rohrstock  von  Hoch- 
würden Bekanntschaft  gemacht.  Doch  Avird  diese  Form  der  Einwirkung 
mit  dem  Aussterben  der  alten  Geistlichen  inmier  seltner. 


2.  Tagelöhner 

Im  Zartum  finden  Tagelöhner  mit  vierzehntägiger,  dreitägiger  und  täg- 
licher Kündigung  Anwendung.  Sie  müssen  mit  eignem  Werkzeug  arbeiten 
und  sich  für  eigne  Rechnung  beköstigen.  Entsprechend  der  großen  Zahl 
landarmer  Bauern  ist  der  zuletzt  genannte  Typus  der  häufigste.  Nebenher 
finden  auch  Anwerbungen  auf  halbe  Tage  und  Stunden  statt,  wobei  die 
Löhne  mit  halben  Kopeken  bestimmt  werden  und  auf  Bauerngütern  häufig 
ausschließlich  in  Naturalien  bestehn.  Gerade  in  dieser  Tatsache  tritt  die 
innere  Ursache  der  Nebenbeschäftigung,  die  bittere  Not,  grell  zutage. 

Eine  Lohnnorm  ist  bei  der  Billigkeit  der  Landeserzeugnisse  in  ver- 
schiednen  Gegenden  und  ilirer  Teuerung  in  andern  für  das  ganze  Zartum 
nicht  festzustellen.  Auch  die  Nähe  der  preußischen  und  der  galizischen 
Grenze  some  von  Fabrikzentren  wirken  verschieden  auf  die  Tagelöhne. 
Da  aber  die  Yerkehrsverhältnisse  durchaus  nicht  in  Einklang  mit  der 
Dichtigkeit  der  Bevölkerung  stehn,  kommt  es  vor,  daß  in  benachbarten 
Orten  die  höchsten  neben  den  niedrigsten  Lohnsätzen  für  eine  und  die- 
selbe Arbeit  gezahlt  werden.  So  schweben  uns  zwei  Gminen  des  Kreises 
Kozenicy  im  Gouvernement  Radom  vor. 

Im  Jahre  1903  wui'den  Tagelöhne  in  Kopeken  gezahlt: 


Frühjahr 

Heuernte 

Ernte 

Herbst 

"Winter 

Männer 

Frauen 

Männer 

Frauen 

Männer 

Frauen 

Männer 

Frauen 

Männer 

Frauen 

in  Sarnow   .  . 
„  Swolen    .  . 

20 
60 

15 
40 

25 
80 

25 
60 

25 
90 

25 
70 

20 
80 

15 
60 

12 
60 

10 
35 

218 


Zehntes  Kapitel.   Die  Arbeiterfrage 


Kosten  der  Er- 
nährung 
in  Kopeken 

Frühjahr 

Sommer 

Winter 

Männer 

Frauen 

Männer 

Frauen 

Männer 

Frauen 

in  Samow     .... 
„  Swolen      .... 

5 
10 

3 
5 

7 
20 

5 
17 

5 

10 

2 
5 

In  der  Nähe  großer  Fabriken  finden  Tagelöhner  als  Kutscher  bei  Fuhr- 
unternehmern gewöhnlich  mit  vierzehntägiger  Kündigung  Anstellung.  Dort 
strömen  vielfach  Arbeiter  aus  entferntem  Gegenden  zusammen,  woraus  zu  er- 
klären ist,  daß  z.  B.  in  der  Gmin  Shirardow,  wo  die  große  ]\lanufaktur  ist,  auf 
eine  ländliche  Bevölkerung  von  115290  Seelen  36900  vorübergehende  Be- 
völkenmg  kommt,  und  von  diesen  allein  24600  auf  den  Flecken  Shirardow.  In 
Chojce  bei  Lodz  ist  das  Verhältnis  21700  zu  14000,  in  Huta  Stara  (Kreis 
Czenstochau)  12000  zu  6000.  Die  sozialen  und  gesundheitlichen  Verhält- 
nisse sind  bei  diesen  Tagelöhnern  die  denkbar  schlechtesten.  Sie  schlafen 
gewöhnlich  in  den  Pferdeställen  auf  Sti'oh;  gekocht  kann  nur  für  solche 
Arbeiter  werden,  die  zu  bestimmten  Stunden  heimkehren.  Infolgedessen 
ist  ihre  Hauptnahrung  trocknes  Brot  und  Branntwein,  des  Morgens  eine 
warfne  Suppe  ohne  Fleisch. 

Bemerkenswert  ist  die  Höhe  der  Landarbeiterlöhne  an  der  preußischen 
Grenze.  Gerade  in  diesem  Streifen  sind  die  Gutsbesitzer  gezwungen,  eine 
verhältnismäßig  große  Zahl  von  ständigen  Arbeitern  für  ein  ganzes  Jahr 
zu  mieten  und  entsprechend  hoch  zu  zahlen,  damit  sie  zur  Erntezeit  nicht 
ohne  Leute  bleiben.  Im  polnischen  Kreise  Rypin,  der  an  den  preußischen 
Strasburg  grenzt,  beträgt  der  durchschnittliche  Tagelohn  im  Winter  25  Ko- 
peken, steigt  aber  an  verschiednen  Stellen  auf  35  und  45  Kopeken.  Zur 
Erntezeit  ist  der  Durchschnittslohn  72  Kopeken  für  den  Mann  und  38  für 
die  Frau  und  erreicht  einen  Rubel  und  1,20  Rubel,  während  die  Be- 
köstigung 20  und  15  Kopeken  kostet  Das  Gleiche  ist  im  Kreise  Slupec 
gegenüber  Witkowo-Tremessen  und  in  den  an  die  ostpreußische  Grenze 
stoßenden  Kreisen  zu  beobachten.  Dort  wirkt  überall  die  Möglichkeit,  nach 
Preußen  übertreten  zu  können,  erhöhend  auf  die  Tagelöhne. 

Am  schlechtesten  ist  die  Lage  der  Tagelöhner  an  der  galizischen 
Grenze.  Dort  ist  das  Volk  auch  noch  besonders  genügsam  und  wenig 
rege.  Am  tiefsten  stehn  das  Gouvernement  Kjelce  und  dessen  Kreise 
Stopnica,  Pinczow  und  Mjechow.  Löhne  von  35  Kopeken  während  der 
Erntezeit  sind  dort  eine  Seltenheit,  dafür  kostet  die  Ernährung  eines 
Mannes  nur  zwischen  5  bis  10  Kopeken  und  steigt  nur  in  der  Gmin 
Pawlow  auf  20  Kopeken. 


A.  Die  Landarbeiter  219 


Sehr  ungünstig  auf  die  Landarbeiterlöhne  im  Nordostgebiet  des  Zar- 
tums  wirkte  die  Abwandenmg.  Über  den  Umfang  der  Abwanderung 
können  wir  uns  ein  Bild  machen,  wenn  wir  die  Zahlen  für  nichtständige 
Arbeiter  im  Zartum  Polen  heranziehen.  Im  Jahre  1904  gab  es  nach  Abzug 
von  85000  „Russen"  ebva  780000  nicht  ständige  Arbeiter.  Davon  ent- 
fallen auf  die  Gouvernements  Warschau  280000,  Kaiisch  52000,  Petrikau 
160000  und  Radom  75000.  Somit  kommen  auf  die  vier  industriellen 
und  die  Rübengouvernements  567  000,  auf  die  andern  fünf  nur  etwa 
200000.  Lublin  scheidet  hier  ganz  aus,  weil  die  nicht  ständigen  Bewohner 
dieses  Gebiets  fast  ausschließlich  Kleimaissen  sind.  Die  Folge  dieser  Be- 
wegung der  Arbeiterbevölkerung  für  die  Kreise  des  Nordostgebiets  ist  die 
Abwesenheit  der  arbeitsfähigsten  Teile  der  Bevölkerung  vom  Frühjahr  bis 
zimi  Herbst  und  ein  Zurückströmen  der  Arbeiter  in  den  Wintermonaten, 
wo  es  nur  wenig  zu  tun  gibt.  Wir  nehmen  an,  daß  diese  Verhältnisse 
neben  andern  einen  großen  Einfluß  auf  die  überaus  zalilreiche  Yermehrung 
der  Bevölkerung  ausüben. 

3.  Saisonarbeiter 

Eine  schwere  Konkurrenz  für  die  an  Galizien  und  Wolynien  grenzenden 
Kreise  sind  die  Saisonarbeiter,  die  Oorali  und  Bandossi.  Ihre  Zahl  kann 
nach  den  amtlichen  Mitteilungen  über  die  sich  vorübergehend  auf  dem 
platten  Lande  aufhaltenden  Ausländer  auf  25000  bis  30000  geschätzt 
werden. 

Sie  kommen  in  einzelnen  Partien  für  acht  bis  zehn  bis  vierzehn  Tage, 
tibernehmen  die  Arbeit  im  Akkord,  die  Sichler  bundweise,  die  Mäher 
morgenweise.  Sie  stellen  an  Unterkunft  äußerst  bescheidne  Anforderungen, 
Tag  und  Nacht  kampieren  sie  unter  freiem  Himmel  in  der  Nähe  eines 
Teiches  um  große  Feuer  oder  in  leichten  Strohhütten  gelagert.  Sie  er- 
halten Mehl,  Brot,  Fleisch,  Kohl  vom  Gut.  Die  Sichler  können  bis  40  Ko- 
peken, die  Mäher  bis  1,50  Rubel  pro  Tag  verdienen.  Die  Gorallen  sind 
in  deu  letzten  Jahren  erhebKch  ansprachsvoUer  geworden.  So  fordern  sie 
die  Anweisung  von  wetterfesten  Wohnräumen.  Doch  ist  ihre  Zeit  wohl 
bald  vorüber,  da  sich  auf  der  einen  Seite  die  Mähmascliine  immer  mehr 
das  Feld  erobert,  während  auf  der  andern  die  Güterparzellation  die  rück- 
ständigen Großbetriebe  vernichtet. 

Außer  zur  Getreideernte  werden  Saisonarbeiter  im  Gebiet  der  Zucker- 
rübe verwandt.  Nur  in  Lublin  und  Sjedlec  kommen  diese  Arbeiter  aus 
den  russischen  Westgouveruements. 

Über  die  Arbeitslöhne  bei  der  Rüben  Verpflanzung,  beim  Jäten  und 
Roden  haben  wir  für  einige  Gminen,  in  denen  sich  Zuckerfabriken  be- 


220  Zehntes  Kapitel.   Die  Arbeiterfrage 

finden,    zuverlässige  Angaben    zusammenstellen  können    und    ordnen    sie 
hierunter  im  Südosten  begümend: 

Gouvernement    Kreis  Fabrik  Tagelohn  in  Kopeken 

Radom         Opatow  Czenstocice      ....  25  bis  30 

Warschau  Grojcy  Czersk 28  „  35 

Lowicz  Lyszkowice      ....  30  „  40 

Sochaczew  Mlodzeszin n  50 

Go.stya  Sanniki 35  .,  45 

Kaiisch        Slupec  Ostrowite 45  „  60 

Lenczica  Lesmerz 35  ,,  45 

Petrikau      Noworadomsk    Zytin 25  „  30 

Zu  diesen  Zahlen  ist  zu  bemerken,  daß  in  die  Gegend  von  Zytin  und 
Czenstocice  auch  galizische  Arbeiter  kommen,  während  sonst  ausschließlich 
polnische  Venvendung  finden. 

Auch  bezüglich  der  polnischen  Saisonarbeiter  muß  hervorgehoben 
werden,  daß  sie  keinerlei  genossenschaftliche  Organisation  kennen.  Sie 
werden  entweder  direkt  vom  Gutsverwalter  angeworben,  die  zu  bestimmten 
Zeiten  in  den  benachbarten  Dörfern  herumfahren,  oder  aber  durch  Ver- 
mittlung polnischer  oder  jüdischer  Agenten. 

B.  Fabrikarbeiter 

Die  Fabrikarbeiter  des  Zartums  Polen  rekrutieren  sich  aus  der  ein- 
heimischen Bevölkerung  der  einzelnen  Industriezentren  und  werden  er- 
gänzt durch  Zuzug  aus  andern  polnischen  Gouvernements  sowie  durch 
einige  Tausend  russischer  Arbeiter.  Der  Umfang  dieses  Zuzugs  regelt 
sich  im  allgemeinen  nach  der  steigenden  und  sinkenden  Tendenz  der 
Konjunktm-en.  Doch  spielen  auch  von  außen  an  die  Bevölkerung  heran- 
tretende Einwirkungen  keine  geringe  Rolle.  So  hat  besonders  das  Gou- 
vernement Kaiisch  in  den  Jahren  1885  und  1886  unter  der  Agitation  für 
Auswanderung  nach  BrasUien  gelitten  und  leidet  seit  1889  unter  einer 
starken  Sachsengängerei.  Beide  Bewegimgen  fanden  und  finden  Nalirung 
sowohl  in  der  gedrückten  Lage  der  bäuerlichen  Bevölkenmg  sowie  in  der 
vöUig  unzureichenden  Ai'beiterfürsorge  in  den  Fabiiken.  Die  Fabrikarbeiter 
ti'achten  infolgedessen  an  Plätze  zu  kommen,  die  ilinen  bessere  Verdienste 
und  gesundere  Lebensbedingungen  sichern.  Da  nun  aber  solche  im  be- 
nachbarten Posen  und  Schlesien  zu  finden  smd,  so  gehn  viele  öiiliche 
Arbeiter  in  das  Nachbargebiet  und  müssen  infolgedessen  durch  weniger 
anspruchsvolle  Arbeiter  aus  den   östlichen  Gouvernements  ersetzt  werden. 


B.  Fabrikarbeiter  221 


Ähnlich  liegen  die  Dinge  im  Gouvernement  Petrikau.  Hieraus  entsteht 
besonders  für  das  östlich  benachbarte  Gouvernement  Kjelce  die  Folge,  daß 
dessen  überschüssige  Arbeitskräfte  nicht  ins  Ausland  gehn,  sondern  aus- 
schließlich nach  Bendzin  und  Dombrowa.^)  Warschau  bekommt  seine 
Fabrikarbeiter  aus  Lublin,  Sjedlec  und  Lomsha,  während  nach  Lublin 
russische  und  gaüzische  Arbeiter  konunen. 

^  Die  polnischen  Fabrikarbeiter  sind  der  im  ganzen  Reich  geltenden 
Arbeiterschutzgesetzgebung  vom  Jahre  190-4  unterworfen.  Diese  Gesetz- 
gebung alunt  westeuropäische  Torbilder  nach,  aber  sie  geht  über  deren 
Bestimmungen  teilweise  weit  liinaus.  Sie  sucht  in  den  sozialen  Theorien 
erst  angesti'ebte  Fortschritte  schon  in  die  Praxis  zu  überti'ageu.  Aus 
diesem  Grunde  kommt  es,  daß  die  an  sich  theoretisch  gute  Gesetzgebung 
in  der  Praxis  keinen  hervorragenden  Segen  für  den  Arbeiter  und  besonders 
große  Lasten  für  die  Arbeitgeber  nach  sich  zieht.  Für  eine  wohltuende 
Wirksamkeit  der  Gesetzgebung  fehlen  die  einfachsten  Yorbedingungen,  wie 
hohe  Entwicklung  der  Gemeinden  und  ihrer  Verwaltungen,  Yerkehrswege, 
Büdung  sowie  Genossenschafts-  und  Yereinswesen.  Der  Fabrikarbeiter  im 
Zartum  Polen  steht  bezüglich  sozialer  Fürsorge  durch  den  Staat  ebenso 
schlecht  wie  sein  russischer  Kamerad,  aber  weit  schlechter  als  der  Ar- 
beiter im  benachbarten  Oberschlesien.  Seine  Lage  erscheint  indessen  noch 
weit  mißlicher  als  die  des  russischen,  wenn  wir  in  Beti'acht  ziehn,  daß 
ein  großer  Teil  der  russischen  Fabrikarbeiter  noch  bis  vor  kurzem  -)  durch 
seinen  Zusammenhang  mit  dem  Mir  eine  Sommerwohnung  hatte  mit  Garten 
und  einem  Stückchen  Feld  dabei.  Diesen  Zusammenhang  mit  dem  Lande 
hat  der  polnische  Arbeiter  nicht.  Er  ist  in  dieser  Beziehung  wie  der 
deutsche,  belgisclie  usw.  Proletarier  ausschließlich  auf  seiner  Hände  Ai'beit, 
auf  seine  Gesimdheit  und  auf  die  günstige  Lage  seiner  Branche  ange- 
wiesen, ohne  aber  tatsächlich  durch  eine  in  der  Praxis  durchführbare 
soziale  Gesetzgebung  entsprechend  versichert  zu  seüi.  Tritt  auf  einem  der 
genannten  Gebiete  eine  Änderung  zmn  Schlechten  ein,  dami  hegt  der 
polnische  Fabrikarbeiter  buchstäbüch  auf  der  Sü'aße.  Solche  Aussichten 
haben  nun  im  Zusammenhang  mit  dem  Arbeiterschutzgesetz  unter  anderm 
bewirkt,  daß  Arbeiter  vielfach  zur  Selbstverstümmelung  schreiten,  um  sich 
gemäß  den  Yorschriften  des  Unfallgesetzes  eine  Abfindungssumme  zahlen 


^)  Bericht  von  I.  A.  Radwan  im  Kalischer  Gouvernementskomitee  zui-  Hebung  der 
Landwirtschaft  und  verwandter  Gewerbe.  Siehe  Arbeiten  des  Komitees  im  Weichselgebiet, 
Bd.  51,  S.  213  fl 

^)  Ebenda  S.  350  ff.,  Bericht  von  S.  E.  SselsM.  Eine  energische  "Wendung  ist  erst 
mit  dem  Gesetz  vom  9.  November  1906  eingetreten;  vgl.  meine  Verfassungskämpfe,  bei 
C.  A.  Schwetschke  &  Sohn,  Berlin,  1907,  S.  191  bis  201. 


222  Zehntes  Kapitel.    Die  Arbeiterfrage 

lassen  zu  können.  Die  Zahl  der  Unfälle  im  Zai-tura  Polen  ist  infolge- 
dessen nach  Yersicherung  von  verschiednen  Fabrikinspektoren  außer- 
ordentlich groß,  obwohl  die  Fabrikanten  im  eigensten  Interesse  für  die 
denkbar  besten  Schutzmaßregeln  sorgen.  Sehr  selten  gelingt  es,  einen 
solchen  Betrüger  seines  Yergehns  zu  überführen,  da  ihn  seine  Arbeits- 
genossen nicht  verraten.  Die  Aussichten  eines  verstümmelten  Arbeiters 
erhalten  eine  noch  besonders  verlockende  Färbung  durch  die  Politik  der 
staatlichen  Bauernbank.  Mit  einigen  Zehni-ubelstücken  in  der  Tasche  kann 
der  Invalide,  besonders  wemi  er  rechtgläubig  ist,  Besitzer  eines  Baueru- 
gütchens  von  zwei  bis  drei  Deßjatinen  Größe  werden.  Die  Bauernbank  stellt 
es  ihm  zur  Verfügung,  mit  einer  Anzahlung  von  30  bis  25  Prozent,  aber 
auch  ohne  jede  Anzahlung  —  lediglich  gegen  Erlegimg  der  geringen  Stempel- 
gebühren. Wenn  man  die  Umgebung  der  Fabrikorte  besucht,  findet  man 
Hunderte  von  ganz  kleinen  Höfen,  die  mit  Hilfe  der  Bauernbank  gekauft 
wurden,  und  darmiter  verstreut  einige  rechtgläubige,  also  russische 
Besitzer. 

Alles  in  allem  genommen  ist  die  nissische  soziale  Gesetzgebung  vom 
Jahre  1901  verunglückt  und  hat  für  die  große  Masse  der  Arbeiter  nicht 
annähernd  die  segensreichen  Folgen  gezeitigt,  wie  es  in  Westeuropa  der 
Fall  ist.  Sie  darf  somit  als  ein  Mittel  zur  Besseiimg  der  Lage  des  pol- 
nisclien  Proletariats  nicht  in  Rechnung  gestellt  werden. 

1,  Allgemeine  Verhältnisse 

Die  Ai'beitslöhne  sind  im  Zartum  Polen  in  allen  Branchen  erheblich 
niedriger  als  in  Rußland,  am  niedrigsten  in  der  Spinnerei  und  Weberei. 

Hier  wirken  abgesehen  von  der  Billigkeit  der  Lebensmittel  noch  zwei 
Faktoren  besonders  preisdrückend:  hausindustrielle  Verlagsarbeit  und  das 
Vorhandensein  zalüreicher  Mietfabrikeu. 

Die  hausindustrielle  Verlagsarheit  wird  begünstigt  durch  das  Vor- 
handensein zahlreicher  Familien,  in  denen  die  Weberei  zur  Tradition  ge- 
worden ist,  durch  die  im  Verhältnis  zur  Bevolkenuigsdichtigkeit  schlecht 
entwickelten  Verkelirswege  sowie  durch  das  A^'orhandensein  eines  beide 
Vorbedingungen  ausnutzenden  kleinen  Unternehmerstandes.  Die  Unter- 
nehmer darf  man  sich  nmi  nicht  als  Kapitalisten  mit  ständigen  Organi- 
sationen vorstellen.  Häufig  beruht  ihr  ganzes  Unternehmertum  auf  einem 
einzigen  sichern  Aufti'ag,  und  ihr  Kapital  wii'd  dargestellt  durch  die  Zeit, 
von  einem  Dorf  zum  andern  wandern  zu  kömien.  Ihre  Spekulation  ge- 
lingt fast  immer,  da  das  Angebot  von  Arbeitskräften  so  groß  ist,  daß  jede 
Bedingung  gestellt  werden  kann.  Gelingt  sie  dagegen  nicht,  so  fallen  alle 
Konsequenzen    des   Mißerfolgs    auf   die  Arbeitnehmer.     In    der  verlegten 


B.  Fabrikarbeiter  223 


Weberei  Polens  haben  wir  ähnliche  Verhältnisse  gefunden  wie  in  der 
Metallindusti'ie  im  Gouvernement  Tula.^)  Sie  werden  nur  um  einen  wesent- 
lichen Zug  bereichert:  durch  das  Yorhandensein  der  jüdischen  Zwischen- 
händler, die  in  Tula  erst  seit  zehn  bis  zwölf  Jahren  einzuti'effen  beginnen. 
Wie  der  Handel  mit  Landesprodukten  (S.  164),  ist  das  hausiudustrielle 
Verlagsgeschäft  so  weit  verteilt  und  verästelt,  daß  von  seiner  Organisation 
kaum  noch  gesprochen  werden  kann.  Es  ist  ein  Daseinskampf  aller  gegen 
alle  mit  den  sich  für  die  große  Masse  der  Arbeitnehmer  daraus  ergebenden 
ernsten  Folgen. 

Die  Mietfabriken  verdüstern  das  Bild  noch  erheblich.  Das  sind  große 
Gebäude  mit  einei-  zeuti'alen  Kraftanlage,  Ti-ansmissionen,  Dampfleitungen. 
Sie  sind  in  mehrere,  oft  in  mehr  als  zwanzig  Abteilungen  geteilt,  die  einzeln 
auf  Monate,  Wochen  und  Tage  veiinietet  werden.  Mieter  sind  gewöhnlich 
die  eben  erwähnten  kleinen  unternehmungslustigen  Händler,  häufig  Leute, 
die  von  der  Fabrikation  nichts  verstehn,  die  irgendwoher  einen  schnell 
auszuführenden  Auftrag  erhalten  haben.  Naturgemäß  kann  es  sich  nur 
um  ganz  minderwertige  Kunstwollfabrikate  handeln,  die  irgendwohin  schnell 
geliefert  werden  müssen.  Ein  größerer  Unternehmer  hat  den  Auftrag  er- 
halten und  findet  keine  Fabrik,  die  ihm  so  schlechte  Ware,  wie  sie  gefordert 
wird,  liefern  kann.  Er  verteilt  ihn  infolgedessen  an  zwanzig  bis  dreißig 
kleinere  Agenten.  Die  mieten  für  vierzehn  Tage,  drei  Wochen  eine  Ab- 
teilung in  irgendeiner  Mietfabrik,  suchen  sich  die  Arbeiter  dazu  von  der 
Straße  zusammen  und  fabrizieren.  In  solchen  Mietfabriken,  die  sehr  leicht 
der  Kontrolle  der  Fabrikinspektion  entzogen  werden,  da  nur  Beti'iebe  mit 
mehr  als  sechzehn  Arbeitern  den  Fabrikinspektoren  unterstehn,  mögen  in 
und  um  Lodz  gegen  2500  bis  3000  Arbeiter  beiderlei  Geschlechts  und  jeden 
Alters  dauernd  Beschäftigung  finden.^) 

Die  Löhne  in  der  Hausindustrie  und  in  den  MietfabriJcen  erreichen 
selten  dreißig  Kopeken  den  Tag  bei  zwölf-  bis  vierzehnstündiger  Arbeit. 
Je  größer  nun  die  Nachfrage  nach  ganz  billigen  Artikeln  ist,  um  so  größer 
wird  die  Zahl  der  billigsten  Arbeitskräfte,  denn  um  so  geringer  werden 
die  erstklassigen  Fabriken,  imd  deren  teure  Arbeiter  beschäftigt.  Unter 
dieser  Erscheinung  wird  Lodz  in  mn  so  höherm  Maße  leiden,  je  mehr  es 
sich  an  den  russischen  jährlich  ärmer  werdenden  Markt  angeschlossen  hat. 
Die  guten  Weber  solcher  Fabriken,  wie  Scheibler,  Kunitzer,  Posnanski, 
Moes,  können  in  normalen  Zeiten  acht  und  mehr  Kübel  die  Woche  ver- 
dienen. 


^)  „Zur  Lage  der  Hausindustrie  in  Tula",  Duncker  &  Humblot,  1904,  S.  48  ff. 
')  Analoge  Verhältnisse    finden    sich   in    Bialystok.     Ich    habe    sie  in   Nr.  330  der 
St.  Petersburger  Zeitung  von  1904  eingehend  geschildert. 


224  Zehntes  Kapitel.    Die  Arbeiterfrage 

In  der  Metallwar enhranche  finden  sich  ähnliche  Verhältnisse,  nur 
daß  die  Hausindustrie  sich  unter  handwerksmäßigen  Organisationen  ver- 
steckt. "Wir  hörten  davon  im  Abschnitt  von  den  Juden,  In  der  Eisen- 
und  Hüttejiindicstrie  ist  die  Lage  der  gelernten  Arbeiter  noch  am  besten, 
trotz  den  sehr  niedrigen  Löhnen,  weil  sie  ziemlich  beständig  ist.  Löhne 
von  1,20  Rubel  sind  eine  Seltenheit.  Im  Bergbau  macht  sich  dann  noch 
die  billige  Konkurrenz  aus  Galizien  bemerkbar.^) 

2.  Arbeiterorganisationen 

Arbeiterorganisationen  auf  rein  wirtschaftlicher  Grundlage  sind  im  Zar- 
tum  Polen  unbekannt.  AUe  bestehenden  Organisationen  verfolgen  in  erster 
Linie  politische  Ziele.  Desgleichen  felilen  Lese-  und  Bildungsvereine, 
Krankenkassen  (siehe  S.  171  Sanitätswesen).  Die  von  den  Fabrikanten  ein- 
gerichteten Konsumanstalten,  Garküchen  und  Unfallstationen  genügen  nur 
in  den  ganz  großen  Betrieben,  kommen  somit  nur  einem  kleinen  Teil  der 
Fabrikarbeiterschaft  zugute.  Die  Folge  dieser  Mängel  ist  das  Vorhanden- 
sein zahlreicher  sozialistischer  Organisationen,  die  in  erster  Linie  politische 
und  revolutionäre  Ziele  verfolgen.  Sie  gehören  darum  in  ein  späteres 
Kapitel.  Für  einen  mit  den  Slawen  näher  bekannten  Beobachter  ist  es  auch 
auffallend,  daß  die  pohlische  Bevölkerung  das  gewerbliche  Genossenschafts- 
wesen in  seiner  primitivsten  Gestalt,  vor  allen  aber  Arheitsgenossenschafte^i 
nicht  kennt.-)  Die  russische  Regierimg  ist  für  eine  solche  Ei'scheiniuig 
nicht  allein  verantwortlich  zu  machen.  Können  wir  bei  russischen  Arbeitern 
überall  die  Bildung  von  Genossenschaften  (Artellen)  mit  durcliaus  demo- 
ki-atischen  Verfassungen  beobachten,  so  venuissen  wir  solche  bei  den  Polen 
ganz.  In  Rußland  ist  der  Vorarbeiter  lediglich  beaufti'agter  Wortfülu'er 
seines  ArteUs,  das  er  dem  Arbeitgeber  gegenüber  zu  vertreten  hat.  Der 
polnische  Vorarbeiter  dagegen  ist  eine  Art  Vorgesetzter  und  Ausbeuter 
seiner  Ai'beitsgeuossen.  Er  bildet  ein  Glied  in  der  Kette  der  kapitalistischen 
Organisation,  ist  selbst  in  gCAvissem  Sinne  Unternelnuer,  dessen  Interessen 
durchaus  nicht  immer  mit  denen  der  Arbeiter  gleichzulaufen  brauchen.  Die 
Arbeiter  unter  sich  sind  zunächst  KonkuiTenten.  Dai-um  schließen  sie  sich  von- 
einander ab,  um  sich  erst  im  Augenblick  der  gemeinsamen  Gefahr  einander 
zu  nähern.  Dieser  tief  wurzelnde  Zug  des  polnischen  Charakters  tritt  in  allen 
Verliältnissen  wieder  zutage  und  verschwindet  nur  vollständig  im  Auslande. 

Die  Hauptarbeiterzenti'en  des  Weichselgebiets  sind  die  Städte  Warschau, 
Lodz,  LubHn,  Czenstochau,  Kaiisch  und  Wloclawek. 

1)  Außer  den  amtlichen  Berichten  s.  a.  W.  "W.  Swiattowsky,  „Der  Fabrikarbeiter", 
Warschau,  1889  (russ.). 

^)  Vgl.  Arbeiten  der  Gouvernementskomitees  im  Weichselgebiet ,  Bd.  51,  Ausfüh- 
rungen verschiedner  Berichterstatter  S.  113.  551  u.  a. 


C.  Sachsengänger  und  Auswanderer  225 

Eine  Änderung  in  der  geschilderten  Lage  der  Arbeiter  ist  in  abseh- 
barer Zeit  nicht  zu  erwarten,  da  eine  nennenswerte  Vergi'ößerung  der 
Fabrikation  ebenso  in  Polen  wie  im  Innern  des  Reichs  so  gut  wie  aus- 
geschlossen erscheint.  Im  Gegenteil  die  Fabrikanten  des  Zartums  werden 
bei  der  ständig  fortschreitenden  Verarmimg  des  russischen  Marktes,  bei 
der  Schwächung  des  russischen  Einflusses  im  fernen  und  nahen  Orient 
gezwungen  werden,  ihre  Betriebe  zu  verkleinern  oder  mit  Hilfe  technischer 
Yerbesserungen  zur  Verringerung  der  Arbeiterzahl  sclireiten  müssen.  Der 
Arbeiterstamm  für  die  Fabrikarbeiter  wird  sich  somit  noch  lange  Zeit  liin- 
durch  leicht  durch  die  natürliche  Bevölkerungszunahme  in  den  Fabrikoilen 
und  ihrer  nächsten  Umgebung  decken,  und  die  Fabrikarbeit  wird  als  Ab- 
nehmeriu  der  Arbeitskraft  des  Bevölkerungsüberschusses  auf  dem  Lande 
immer  weniger  in  Fi*age  kommen.  Schon  in  Zeiten  größter  Blüte  der 
Industrie  hat  sich  die  Notwendigkeit  eines  starken  Arbeiterzustroms  vom 
Lande  in  die  städtischen  Siedlimgen  nicht  bemerkbar  gemacht,  und  so  ist 
dieser  Zusti'om  in  Polen  weit  geringer  gewesen  als  in  Deutschland.  Wir 
lassen  dabei  die  liemmende  "Wirkung  mangelhafter  Volksbildung  durchaus 
nicht  aus  dem  Auge. 

Da  wir  nun  aber  annehmen  können,  daß  sich  die  Dinge  in  Rußland 
ohne  die  Dazwischenkunft  internationaler  Verwicklungen  oder  besondrer 
Unglücksfälle  in  St.  Petersburg  nicht  ändern  werden,  so  sind  wir  auch 
gezwungen  zu  folgern,  daß  die  polnische  Industrie  bis  auf  weiteres  keine 
größern  Mengen  des  ländlichen  Proletariats  wird,  in  sich  aufnehmen 
Icönnen.  Nach  wie  vor  wird  somit  ein  bedeutender  Bruchteil  der  pol- 
nischen Bevölkerung  darauf  angewiesen  sein,  sich  seinen  Verdienst  außer- 
halb des  Zartums  zu  suchen. 

C.  Sachsengänger  und  Auswanderer 

Wir  schätzen  die  Zahl  der  pobiischen  dauernd  und  zeitweilig  be- 
schäftigungslosen Arbeitskräfte  im  Zartum  Polen  für  das  Jahr  1904  auf 
600000  bis  700000  erwachsne  Personen  beiderlei  Geschlechts.  Die  amt- 
liche Statistik  gibt  die  Auswanderung  und  Sachsengängerei  daneben  für 
die  gesamte  Bevölkerung  wie  folgt  an: 


Aus- 

SacLsen- 

Aus- 

Sachsen- 

Aus- 

Sachsen- 

wanderer ^\ 

)     ganger 

wanderer 

gänger 

wanderer 

gänger 

1890   . 

.  19323 

17000-^) 

1895    . 

.   .   7124 

56000^) 

1900. 

.   .     9838 

119066') 

1891    . 

.  17499 

•? 

1896   . 

.  .  6180 

? 

1901. 

.   .   11430 

U1633 

1892   . 

.  13127 

? 

1897   . 

.  .  5733 

? 

1902. 

.  .     9120 

135657 

1893   . 

.     8784 

? 

1898  . 

.  .  7766 

? 

1903. 

.  .  10896 

154545 

1894  . 

.     5623 

9 

1899   . 

.  .  8670 

? 

1904. 

.  .  17239 

158408 

^)  Arbeiten  des  Warschauer  Statistischen  Komitees  von  1906,  Heft  XXil,  S.  43. 
^)  Ebenda  von  1903,  Heft  XIX,  S.  6.  —  »)  Ebenda  von  1906,  Heft  XXII,  S.  44. 
Cleinow,  Die  Zukunft  Polens  15 


226  Zehntes  Kapitel.    Die  Arbeiterfrage 

Im  Jahre  1904  sollen  somit  nach  der  amtlichen  Statistik  nur  etwa 
171000  Arbeiter  außerhalb  Polens  Beschäftigung  gesucht  haben  oder  nur 
ein  Yiertel  aller  erwachsnen  Arbeitslosen.  Yon  diesen  haben  überdies 
noch  8700  keine  Arbeit  im  Auslande  gefunden.^)  Wir  würden  diesen  An- 
gaben völlig  ratlos  gegenüberstehn ,  wenn  wir  hier  nicht  eine  durch  die 
Praxis  bestätigte  theoretische  Überlegung  einschalten  könnten. 

Der  hauptsächlichste  Grund  für  die  Abwanderung  einzebier  Teile  der 
Bevölkenmg  aus  einem  Gebiet  in  ein  andres  ist  der  Mangel  an  Arbeits- 
gelegenheit. Dabei  ist  die  Ai'beit  an  sich  durchaus  nicht  als  die  ti*eibende 
oder  ziehende  Kraft  zu  bewerten,  sondern  lediglich  als  das  ^Mittel  zur  Be- 
friedigung der  geringsten,  durch  jedes  Individuum  verschieden  bemessenen 
Bedürfnisse.  Die  Angehörigen  anspruchsvoller  Kulturvölker  —  nicht  zu  ver- 
wechseln mit  den  in  ihren  Ansprüchen  entarteten  —  werden  eher  geneigt 
sein,  eine  größere  Arbeitsleistung  zur  Befriedigung  ihrer  geringsten  Be- 
dürfnisse zu  übernehmen,  die  Vertreter  zurückgebliebner,  unkultivierter 
Völker  werden  sich  schwerer  zur  Suche  um  Arbeit  außerhalb  des  gewohnten 
Kreises  entschließen.  Bei  der  Bemessung  der  Bedürfnisse  handelt  es  sich 
nicht  nur  um  die  persönlichen  Bedürfnisse  des  Individuums,  sondern  auch 
um  die  ererbten,  anerzognen,  fi*ei willig  oder  unfreiwillig  übernommnen 
Pflichten  seiner  Sippe,  seiner  Familie  gegenüber.  Die  große  Masse  des 
polnischen  Volks  ist  gegenüber  den  Völkern  des  "Westens,  aber  auch  gegen- 
über den  sie  umgebenden  Juden  kulturell  zurückgeblieben  imd  hat  daiiun 
auch  nur  ein  sehr  geringes  Maß  von  Bedürfnissen  und  einen  um  so 
größern  Widerwillen  zu  schwerer,  körperliche,  geistige  und  moralische 
Kräfte  stark  beanspruchender  Arbeit.  Alle  diese  Anforderungen  stellt  aber 
die  Suche  nach  Ei"werb  in  einer  fremden  und  ungewohnten  Umgebung. 
Das  ist  nach  allen  unsern  Beobachtungen  in  den  Landgemeinden  der 
wesentlichste  übereinstinnnende  Gnmd,  warum  die  Auswanderung  aus  dem 
Zartum  noch  nicht  im  Verhältnis  zur  großen  Proletarisierung  der  Massen 
gewachsen  ist,  obwohl  Arbeitsgelegenheit  in  den  Nachbargebieten  vor- 
handen wäre. 

Hierzu  treten  bei  den  Polen  nocli  andre  hemmende  Gründe.  Da  ist 
das  stark  ausgeprägte  Heimatsgefühl,  von  dem  aucli  der  niedrigst  stehende 
Pole  tief  durchdrungen  ist,  die  Tüchtigkeit  und  Überlegenheit  der  polnischen 
Fi'auen  und  damit  im  Zusammenhang  die  Einwirkung  der  Geistlichen  auf 
die  Männer.  Neue  heimnende  Gründe  treten  hinzu:  dazu  gehören  die  Er- 
sparnisse der  Einzelnen,  die  ihre  wirtschaftliclie  Lage  gebessert  haben  und 
nun  den  anspruchslosen  andern   über  die    diingendste  Not  liinweghelfen. 


')  Arbeiten  des  "Warschauer  Statistischen  Komitees  von  1906.  Heft  XX U,  S.  12. 


C.  Sachsengänger  und  Auswanderer  227 

Schließlich  hindert  das  Vorhandensein  des  zugeteilten  Landes.  Der  Wirt, 
der  P/e  bis  3  Deßjatineii  sein  Eigen  nennt,  kann,  obAvohl  ihn  seine  Arbeit 
zu  Hause  nicht  ernährt,  seine  freie  Zeit  nicht  voll  ausnutzen,  aber  er  ist 
auch  außerstande,  sein  Anwesen  für  längere  Zeit  zu  verlassen.  j\lif  Rück- 
sicht auf  seinen  kleinen  Besitz  kaim  er  nur  in  einer  nähern  Umgebung 
seines  Wohnorts  NebenerAverb  suchen  und  ist  infolgedessen  verurteilt,  in 
erster  Linie  die  Masse  billiger  Tagelöhner  zu  vergrößern.  Je  geringer  sein 
Vertrauen  in  sich  selbst  und  seine  Ansprüche  sind,  um  so  länger  wird  er 
sicli  mit  diesem  Notbehelf  begnügen.  Sobald  der  Bauer  aber  Zutrauen  zu 
sich  selbst  ge^vinnt,  seine  Leistungsfähigkeit  höher  einzuschätzen  beginnt, 
ti-itt  mit  wachsenden  Ansprüchen  die  Frage  an  ihn  heran,  ob  ilnn  sein 
Grundbesitz  eine  sichere  Existenzgrimdlage  oder  ein  Hennnschuli  für  sein 
wirtschaftliches  Portkommen  ist,  ob  er  besser  tut,  sein  Anwesen  zu  ver- 
kaufen oder  nicht.  Aus  den  angeführten  Gründen  können  wir  die  Zahlen 
der  amtlichen  Statistik,  die  vielfach  angezweifelt  werden,  als  annähernd 
zuti-effend  bezeichnen.  Die  angeführten  natürlichen  Vorbedingungen  für 
die  Proletarisierung  könnten  gemüdert  werden  durch  eine  feine  Ausge- 
staltung der  Verkehrsmittel.  Da,  wie  wir  sahen,  die  Verkehrsmittel  im 
Zartum  Polen  nicht  nach  wirtschaftlichen,  sondern  nach  sti"ategischen  Ge- 
sichtspunkten angelegt  werden,  so  hat  sich  der  polnische  Arbeitsmarkt  in 
eine  von  Osten  nacli  Westen  hin  und  zurückflutende  Wellenbewegung 
gesetzt.  Es  findet  kein  fortlaufender,  durch  gute  Verkehrsmittel  miter- 
stützter  Austausch  statt.  Die  nahe  an  der  preußischen  Grenze  liegenden 
Kreise  schicken  im  Fi-ühjahr  jedes  Jalires  ihre  Bevölkerung  zui'  Arbeit 
nach  PreiLßen  und  erhalten  dafür  Ersatz  aus  den  östlich  benachbaiien  Ge- 
bieten, wo  Städte  und  Industiie  keine  Verwendung  für  die  auf  dem  Lande 
überschüssigen  Arbeitskräfte  haben.  Im  Herbst  ti'itt  die  Rückbewegung 
dieser  Welle  ein.  Die  Mehrzahl  der  Sachsengänger  ist  in  den  drei  bis  Ader 
Wintermonaten  ohne  Beschäftigung,  da  die  einheimischen  Arbeiter  nicht 
von  ihren  Plätzen  weichen  wollen.  Ln  folgenden  Jahre  finden  sich  schon 
neue  Anwärter  für  die  Sachsengängerei  aus  den  Landkreisen  der  aus  andern 
Gebieten  zugewanderten  Arbeiter.  Ein  Teil  der  alten  Sachsengänger  tiitt 
zurück,  um  sich  von  seinen  Ersparnissen  ein  Amvesen  zu  kaufen,  andre 
sind  krank  gcAvorden,  Avieder  andre  haben  in  der  Fi'emde  schlechte  Er- 
fahnmgen  gemacht.  Auch  die  Agenten  trachten  danach,  neue  und  uner- 
fahrne Leute  heranzuziehn,  die  geringere  Ansprüche  stellen  als  die  alten 
erfahrnen.  Wir  folgern  hieraus:  Die  direhte  Abwanderung  vom  Dorf  zur 
Arbeit  ms  Ausland  ist  gering  und  in  größeren  Maßstabe  ausschließlich 
in  den  an  Preußen  grenze'riden  Kreisen  vorhanden.  Daran  ändert  auch 
nichts  die  Tatsache,  daß  die  Zahl  der  Auslandspässe  an  Wanderarbeiter  in 

15* 


228 


Zehntes  Kapitel.    Die  Arbeiterfrage 


allen  Gouvernements  gcAvachsen  ist.  Denn  die  Paßvorschrift  bestimmt, 
daß  Pässe  nur  von  der  Ortspolizei  des  ständigen  Wohnsitzes  ausgestellt 
werden  dürfen,  während  die  billigen  Arbeiterpässe  den  Vermerk  des 
Arbeitsorts  tragen.  Dabei  gilt  meist  ein  Ort  als  ständiger  Wohnsitz,  den 
der  Passinliaber  schon  nach  der  Firmelung  verlassen  hat.  Die  Sachsen- 
gänger aller  Aveiter  von  der  Westgrenze  entfernt  liegenden  Kreise  ergänzen 
sich  aus  solchen  Elementen,  die  bereits  einige  Jahre  in  westlichen  Gebieten 
des  Zartums  gearbeitet  haben.  Die  Wanderarbeit  im  Innern  des  Zartums 
muß  infolgedessen  als  eine  "Vorstufe  der  Sachsengängerei  bezeichnet  werden. 
Für  uns  entsteht  hieraus  die  Frage:  Kann  nun  die  Sachsengängerei  ihrer- 
seits als  ein  Übergangsstadium  zu  völliger  Auswantlorung  großer  Teile  der 
polnischen  Bevölkerung  betrachtet  werden? 

1,  I>ie  Auswanderung 

Die  bereits  angeführten  Zahlen  zeigen  uns  eine  so  geringe  Aus- 
wanderung aus  dem  Zartimi  Polen,  daß  sie  bei  der  Beurteilung  der  Lage 
des  gesamten  Arbeitsmarktes  kaum  ins  Gewicht  fallen.  Die  Auswanderer 
der  Jahre  1893  bis  1903  verteilen  sich  wie  folgt:  von  allen  85610  Aus- 
wanderern des  zehnjährigen  Zeiti'aums  waren  43400  Unverehelichte 
(51  Prozent),  26350  VereheUchte  (31  Prozent)  und  15840  Weiber  und 
Kinder  (18  Prozent).  Verteilt  auf  die  Stellung  innerhalb  der  Familie  und 
auf  die  Gewerbe  zeigt  uns  die  Auswanderung  aus  den  ländlichen  Gminen 
des  Zartiuns  das  folgende  Bild: 


Unverheiratete 


Verheiratete 


Frauen  und  Kinder 


Landlose  Bauern')  .  . 
Sonstige  landlose  Personen 
Landarbeiter  .... 
Handwerker  u.  Fabrikarb. 
Personen  sonstiger  Ge- 
werbe      


7  943  (45  Prozent) 

17  738  (57  ,.  ) 
5  448  (54  .,  ) 
2182  (43      „       ) 


6  709  (38  Prozent) 
8159  (26  ..  ) 
2807  (28  ,.  ) 
1.572  (31       ..      ) 


3208  (17  Prozent) 

5365  (17       .,      ) 

1747  (18      „      ) 

1332  (26       „       ) 


4086  (48 


2212  (26 


2251  (26 


) 


Dagegen  vei'schiebt  sich  das  Bild   bezüglich  der  Auswanderung  aus 
den  städtischen  Gemeinden: 


Arbeiter  2)  .  . 
Handwerker  .  . 
Sonstige  Gewerbe 


Unverheiratete 

9178  (65  Prozent) 
3673  (40  .,  ) 
3755  (51       .,      ) 


Verheiratete 

2873  (20  Prozent) 
2342  (25  „  ) 
1784  (24      ,.       ) 


Mit  ihnen  Frauen 

und  Kinder 
2163  (15  Prozent) 
3260  (35      ..      ) 
1852  (25      „      ) 


Das  Ziel  der  Wanderung  ist  im  Laufe  der  1880  er  Jahre  vorwiegend 
Südamerika,  später  vorwiegend  Nordamerika  gewesen.     Doch  kehren  all- 


')  Arbeiten  des  Warschauer  Statistischen  Komitees  von  1906,  Heft  XXII,  S.  50. 
2)  Ebenda  S.  51. 


C.  Sachsengäoger  vind  Auswanderer 


229 


jährlich  wieder  mehrere  tausend  Arbeiter  aus  Amerika  zurück.  Wir  finden 
sie  alsdann  in  der  amtlichen  Statistik  unter  den  Wanderarbeitern.  Im 
Jahre  1903  beti'ug  die  Zahl  dieser  Eückwandrer  etwa  8000  Menschen,  im 
Jahre  1904  gegen  10000.  Die  meisten  von  diesen  sind  drei  bis  vier  Jahre 
jenseits  des  Ozeans  geblieben  und  haben  dementsprechend  größere  Erspar- 
nisse mitgebracht  als  die  nach  Deutschland  für  acht  bis  zehn  Monate 
wandernden.  Die  amtliche  Statistik  übersieht  diesen  in  der  Yerscliiedenheit 
der  Dauer  der  Abwesenheit  liegenden  Umstand.  Sie  schafft  dadurch  das 
Bild,  als  könne  der  Arbeiter  in  Amerika  größere  Ersparnisse  erzielen  als 
in  Europa.  Da  solche  Auffassung  auch  von  der  der  Regiei-ung  nahe- 
stehenden Presse  wie  auch  von  dem  deutschfeindlichen  Teil  der  Polenpresse 
unterstrichen  wird,  liegt  darin  eine  gewisse  Absichtlichkeit,  die  uns  stutzig 
machen  muß.  Tatsächlich  bringt  der  Arbeiter  aus  Amerika  meist  nur  so 
\iel  Ersparnisse  mit,  wie  sie  der  Sachsengänger  mit  Leichtigkeit  in  zwei 
Jahren  zurücklegi. 

Schließlich  muß  hervorgehoben  Averden,  daß  ein  großer  Teil  der  Aus- 
wandrer auf  das  Konto  der  Protestanten  und  Juden  zu  setzen  ist.  Ein 
Bild  über  die  Zeit  von  1890  bis  1904  gibt  folgende  Zusammenstellung. 
Es  wanderten  aus  nach  Bekenntnissen; 


aus  dem  Gouvernement  *) 

Orthodoxe  und 
Altgläubige 

Katholiken 

Protestanten 

Juden 

Ssuwalki 

1176 

27171 

1376 

9209 

Lomsha 

17 

15105 

137 

2953 

Plock 

3 

20132 

1642 

2397 

Sjedlec 

Warschau 

120 
20 

379 

8352 

96 

1588 

2150 
5038 

Lublin 

87 

1107 

356 

1487 

Kaiisch 

7 

5874 

1163 

1790 

Petrikau 

5 

1759 

1058 

1064 

Kjelce 

Eadom 

1 

94 
152 

12 

87 

428 
1726 

Auch  von,  den  Juden  kehren  viele  in  die  Heimat  zurück,  während 
die  Deutschen  meist  in  der  neuen  Heimat  bleiben.  Bemerkenswert  ist  die 
verhältnismäßig  große  Zahl  von  Altgläubigen,  die  aus  dem  Grouvemement 
Ssuwalki  ausgewandert  sind.  Sie  haben  der  Heimat  wolü  ausschließlich 
wegen  politischer,  mit  ihrem  Glauben  zusammenhängender  Verfolgung  den 
Rücken  gekehrt. 

Die  Folgen  der  Auswanderung  für  das  Zarüim  Polen  sind  somit  an- 
nähernd die  gleichen,  die  wir  bei  der  Wanderarbeit  beobachten.    Von  einer 


^)  Arbeiten  des  Warschauer  Statistischen  Komitees  von  1906,  Heft  XXII,  S.  54. 


230 


Zehntes  Kapitel.    Die  A.rbeiterfrage 


erheblichen  Einbuße,  die  die  polnische  Nationalität  durch  die  Auswanderung 
erleiden  könnte,  darf  nicht  gesprochen  werden. 

2.  I>ie  Ausdehnung  der  Wanderarbeit  int  JTdhre  1903  und  1904 

Es  erübrigt  sich  für  unsre  Zwecke,  noch  weiter  den  Gründen  nach- 
zuforschen, die  die  Ausbreitung  der  "VVanderarbeit  fördern  oder  hemmen. 
Interessenten  finden  einige,  wenn  auch  auf  veraltetes  Material  aufgebaute 
Angaben  in  der  kleinen  Studie  von  Trzcinski^)  und  in  den  fortlaufenden 
Yeröffentlichungen  des  Warschauer  Statistischen  Komitees.  Uns  interessiert 
hier  die  Tatsache  der  "Wanderarbeit  selbst  und  die  sich  aus  ihr  ergebenden 
Schäden  oder  Vorteile  für  die  polnische  Nationalität.  Da  nun  aber  aus 
verschiednen  Gründen  angenonmien  werden  kann,  daß  die  Wanderarbeit 
nicht  erheblich  unter  die  Grenze  ihres  Umfangs  in  den  Jahren  1903  und 
1904  zurückgelm  vnvd.^  daß  sie  vielmehr  bei  einer  weitern  Entwicklung 
der  deutschen  Industiie  und  bei  einer  bessern  Organisation  des  Arbeits- 
nachweises im  Auslande  steigen  wird,  so  sei  ihre  Verteilung  über  die  ver- 
schiednen Gouvernements  und  die  verschiednen  in  lYage  kommenden 
Länder  hier  kurz  für  die  Jahre  1903  und  1904  dargestellt 

Die  Abwanderung  auf  Arbeit  in  die  verschiednen  Länder  zeigt  fol- 
gende Tabelle"^): 


im  Jaliro  1903 

im  Jahre  1904 

nach 
Deutschland 

nach 
Amerika 

TS 

.2^ 

Zusammen 

nach 
Deutschland 

nach 
Amerika 

nach 
Rußland 

a 
i 

Ssuwalki  .  .  . 

1868 

1659 

2270 

1 

5  297 

1551 

1685 

3028 

61 

6325 

Lomsha 

13801 

2071 

89 

— 

15961 

14218 

3514 

5 

— 

17737 

Plock  .  . 

27  787 

1887 

67 

8 

29749 

26114 

2859 

20 

— 

28993 

Sjedlec 

137 

19 

992 

— 

1149 

3 

28 

724 

— 

755 

Warschau 

8549 

1076 

378 

— 

10003 

7973 

1031 

199 

17 

9220 

Lublin .  . 

325 

411 

388 

11 

1135 

156 

268 

188 

— 

612 

Kaiisch  . 

70991 

1144 

24 

247 

72406 

71239 

903 

52 

283 

72477 

Petrikau  . 

18773 

— 

72 

_. 

18845 

16204 

19 

78 

558 

16859 

Kjelce  .  . 

— 

— 

— 

— 

— 

18 

88 

17 

6 

129 

Radom 

— 

— 

— 

— 

— 

225 

58 

16 

2 

301 

Zusami 

ner 

i 

141731 

8267 

4280 

267 

154545 

137  701 

10453 

4327 

927 

153408 

^)  I.  von  Trzcinski,  Russisch  -  polnische  und  galizische  "Wanderarbeiter  im  Groß- 
herzogtum Posen,  im  79.  Stück  der  Münchener  Volkswirtschaftlichen  Studien  von  Lujo 
Brentano  und  Walter  Lotz.  Stuttgart  imd  Berlin,  J.  G.  Cottasche  Buchhandlung  Nach- 
folger, 1906.     Dort  auch  einige  Literaturnachweise. 

0  Arbeiten  des  Warschauer  Statistischen  Komitees  von  1906,  Heft  XXII,  S.  4. 


C.  Sachsengänger  und  Auswanderer 


231 


Wir  ersehen  hieraus  eine  kleine  Yerringerung  der  Abwanderung  über- 
haupt um  1100  Menschen;  nach  Deutschland  war  die  Zahl  um  4030  ge- 
ringer, ist  dafür  aber  für  die  nach  Amerika  gehenden  um  2186  größer 
geworden.  Daneben  fällt  uns  die  Höhe  der  nach  „Rußland"  Avandernden 
Arbeiter  aus  Ssuwalki  auf.  Es  sei  daran  erimiert,  daß  44  Prozent  der 
Bevölkerung  des  genannten  Gouvernements  Litauer  sind.  Diese  Wander- 
arbeiter gehn  tatsächlich  über  die  Grenzen  Litauens  nicht  hinaus.  Kowno, 
Wilna,  Grodno  und  Bialystok,  die  auch  teilweise  von  Litauern  bewohnt 
werden,  sind  die  weitesten  Ziele  ihrer  Wanderimg,  Wir  wissen,  daß  es 
vorwiegend  Landarbeiter  sind,  die  auf  den  großen  Gütern  der  Tyszkiewiez, 
Drucki-Lubecki,  Broel-Plater  und  andrer  Arbeit  finden. 

Yon  allen  Arbeitern  haben  im  Jahre  1903  gegen  6,7  Prozent  keine 
Arbeit  gefunden,  im  Jahre  1904  waren  es  nur  5,6  Prozent.  Auf  die  ver- 
schiednen  Länder  und  Gouvernements  verteilen  sich  diese  Arbeitslosen 
wie  folgt  ^): 


im  Jahre  1902 

in 

im  Jahre  1904  in 

-o 

"Ö 

§ 

6X)P 

<5J 

s 

a 

xi 
o 

13 

5-S 

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ü 

1 

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1 
1 

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3 

O 

-5 

M 

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S5 

fi 

< 

« 

■ö 

NJ 

Ssuwalki   .     .     . 

72 

23 

_ 

95 

17 

6 

_ 

1 

24 

Lomsha     . 

1695 

36 

1 

— 

1732 

1503 

82 

— 

— 

1535 

Plock   .     . 

1716 

30 

— 

— 

1746 

1487 

44 

— 

— 

1531 

Sjedlec 

8 

— 

— 

— 

9 

1 

— 

.^ 

— 

1 

Warschau 

370 

46 

14 

— 

430 

193 

27 

— 

1 

221 

Lublin  .     . 

20 

5 

— 

— 

25 

8 

3 

— 

— 

11 

Kaiisch     . 

4446 

37 

— 

24 

4507 

4277 

29 

— 

29 

4335 

Petrikau    . 

1823 

— 

— 

— 

182 

1045 

— 

— 

— 

1045 

Kjelce  .     . 

— 

— 

— 

— 

— 

2 

3 

— 

— 

5 

Eadom 

— 

— 

— 

— 

— 

2 

— 

6 

— 

8 

Zusamr 

nee 

L 

10150 

177 

15 

24 

10367^) 

8535 

144 

6 

31 

8716 

Der  Hauptgrund  für  die  verhältnismäßig  große  Zahl  der  in  Deutschland 
keine  Beschäftigung  findenden  Arbeiter  ist  in  Mängeln  der  Organisation  zu 
suchen,  deren  Aufgabe  es  wäre,  die  polnischen  Feldarbeiter  unterzubringen. 
Daneben  spielt  aber  der  Konkurrenzkampf  der  Agenten  keine  geringe  Rolle. 

Die  Yerteüung  der  Wanderarbeiter  der  beiden  genannten  Jahre  auf 
die  verschiednen  Berufe  ist  folgende'^): 


^)  Arbeiten  des  "Warschauer  Statistischen  Komitees  von  1906,  Heft  XXII,  S.  12. 
*)  Fehler  in  d.  amtl.  Statistik  nicht  ermittelt.  —  ')  Ebenda  S.  18. 


232 


Zehntes  Kapitel.    Die  Arbeiterfrage 


Im 

Jahre 

1903 

Im  Jahre  1904 

Landwirtsch. 
Arbeiter 

Fabrik- 
arbeiter 

Eisen - 

bahn- 

arbeiter 

Landwirtsch. 
Arbeiter 

_  ,   .,           Eisen- 
^^^"'^-         bahn- 
arbeiter       ^^^eiter 

« 

a 

s 

M 
« 

a 
a 

g 

ä 

3 
cä 

s 

a 
a 

a 
2 

u 

i 

2 

B 

§ 

3 
et 
u 

Ssuwalki    .  . 

2690 

1177 

949 

235 

210 

86 

3129 

1579 

810 

339 

371 

97 

Lomsha  . 

8023 

5649 

1329 

363 

579 

18 

8741 

6421 

1678 

367 

520 

10 

Plock   .  . 

16095 

12294 

948 

309 

76 

82 

15598 

11902 

1197 

259 

33 

4 

Sjedlec    . 

276 

177 

131 

106 

414 

45 

165 

57 

44 

8 

474 

7 

Warschau 

5259 

3188 

852 

236 

436 

32 

5170 

3033 

661 

130 

201 

25 

Lublin  .  . 

514 

135 

356 

69 

35 

26 

220 

84 

244 

22 

39 

3 

Kaiisch   . 

36943 

32115 

1824 

478 

961 

85 

36437 

32461 

1594 

442 

1207 

336 

Petiikau . 

6386 

8043 

2417 

1713 

220 

66 

7130 

8755 

473 

219 

235 

47 

Kjelce  .  . 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

40 

10 

75 

3 

1 

— 

Radom    . 

— 

-') 

— 

— 

— 

— 

97 

121 

51 

10 

21 

1 

Zusamm 

BD 

76186 

62729 

8801 

3509 

2931 

890  76727 

64423 

6827 

1799 

3102 

580 

Somit  sind  91  Prozent  aller  Wanderarbeiter  Feldarbeiter,  7  Prozent 
Fabrikarbeiter  und  2  Prozent  Eisenbahnarbeiter. 


3.  Die  Arbeitslöhne  in  den  verschiednen  Ländern 

Die    amtliche    Statistik    p^ibt  die  Tagesverdienste    der  "Wanderarbeiter 
für  das  Jahr  1904  in  den  verschiednen  Ländern  in  Kopeken  wie  folgt  an''): 


Deutschland 

Amerika 

Dänemark 

England 

Männer 

Frauen 

Männer 

Frauen 

Männer  1 Frauen 

1 

Männer 

Frauen 

Landarbeiter     mit     eignem 

1 

Werkzeug 

110 

70 

320 

220 

125 

75 

200    !    150 

Landarbeiter   mit    giitsherr- 

lichem  Werkzeug    .     .     . 

70 

50 

220 

140 

95 

55 

150 

100 

Fabiikai'beiter 

160 

90 

330 

230 

220 

— 

250 

200 

Eisenbahnarbeiter  .... 

180 

90 

260 

190 

230 

— 

210 

200 

Die  hier  nicht  angeführten  Angaben  über  die  Tagelöhne  in  Rußland  ^) 
sind  nicht  ganz  einwandfrei.  AVir  konnten  uns  in  Litauen  überzeugen, 
daß  die  Tagelöhne  an  Saisonarbeiter  aus  Ssuwalki  selten  60  Kopeken  für 
den  Mann  und  45  Kopeken  für  die  Frau  überschreiten.     Auf  eine  Kritik 


*)  Differenz  liegt  i.  d.  amtl.  Angabe.     Fehler  nicht  ermittelt. 

^)  Arbeiten  des  Warschauer  Statistischen  Komitees  von  1906,  Heft  XXII,  S.  23. 

")  Ebenda  S.  27. 


C.  Sachsengänger  und  Auswanderer 


233 


der  Angaben  über  die  Löhne  im  Auslande  wollen  wir  verzichten,  weil  für 
uns  lediglich  wichtig  ist,  was  in  dieser  Beziehung  in  der  Heimat  der 
Wanderarbeiter  geglaubt  Avird.  Der  Glaube  an  die  amtlichen  Angaben  hat 
unter  andorra  den  Zustrom  von  Wanderarbciteni  nach  Amerika  vergrößert. 

In  Ergänzung  der  obigen  Angabeii  ist  es  wohl  nicht  uninteressant, 
welche  Lohnhöhen  für  die  Wanderarbeiter  aus  den  einzelnen  Gouvernements 
in  Frage  konunen.  Im  Jahre  1904  stellt  sich  uns  folgendes  Bild  in  Ko- 
peken dar^): 


Landwirtschaftliche  Ai'beiter 

Arbeitsort 

Fabrik- 
arbeiter 

Eisen 
arb« 

,   , 

Gouverne- 
ment 

mit  gutsherrl. 
Werkzeug 

mit  eignem 
Werkzeug 

riter 

Männer 

Frauen 

Männer 

Frauen 

Männer 

Frauen 

Männer 

Frauen 

Ssuwalki    .  . 

1 

Deutschland 

Amerika 

England 

85 
190 
150 

60 
140 
100 

120 
280 
200 

80 
200 
150 

200 
270 

250 

125 

180 
200 

140 
310 
210 

110 
260 
200 

Lomsha  .  .  . 

/ 
l 

Deutschland 
Amerika 

70 
180 

45 
120 

110 

310 

70 
145 

165 
330 

100 
190 

165 
315 

95 
200 

Plock   .  .  .  . 

/ 
l 

Deutschland 
Amerika 

70 
200 

50 
140 

105 
270 

70 

180 

120 
310 

80 
190 

120 

280 

75 

200 

Sjedlec   .  .  . 

r 
i 

Deutschland 
Amerika 

120 

100 

125 
170 

I 

275 

200 

100 

— 

"Warschau  .  . 

Deutschland 
Amerika 

65 
225 

40 
155 

100 
310 

60 
225 

120 
425 

70 
200 

135 
180 

75 
110 

Lublin  .  .  .  . 

{ 

Deutschland 
Amerika 

65 

280 

45 

90 
315 

70 
165 

100 
430 

80 
240 

-- 



Kahsch   .  .  . 

l 

Deutschland 

Amerika 

Dänemark 

80 
200 
110 

60 

155 

60 

105 
335 
140 

80 

220 

80 

130 

280 

80 
190 

135 
220 

80 

Petrikau    .  . 

f 
1 

Deutschland 

Amerika 

Dänemark 

75 

200 

80 

50 
50 

100 
115 

70 
70 

140 
300 
220 

70 

135 
230 

— 

Kjelce  .... 

i 

Deutschland 
Amerika 

65 
400 

40 
200 

110 
550 

70 

400 

300 
325 

150 
210 

200 



Eadom    .  .  . 

/ 
i 

Deutschland 
Amerika 

80 

50 

105 

70 

350 

— 

300 

200 

Die    sich    ergebenden    Unterschiede    zwischen    den    einzelnen    Gou- 
vernements erklärt  die  amtliche  Statistik^)    durch  die  Yerscliiedenheit  der 


*)  Arbeiten  des  Warschauer  Statistischen  Komitees  von  1906,  Heft  XXII,  S.  23. 
")  Ebenda  S.  25. 


234  Zehntes  Kapitel.    Die  Arbeiterfrage 

Löhne  an  den  Arbeitsorten.  Tatsächlich  haben  die  Agenten  den  einzelnen 
Gouvernements  ganz  bestimmte  Arbeitsmärkte  im  Auslande  gesichert,  auf 
die  die  "Wanderarbeiter  entweder  durch  ihre  Agenten  geführt  oder  einfach 
dem  Strome  folgend  alljährlich  zurückkehren. 

D.  Die  Bedeutung  der  Wanderarbeit  für  die  polnische 

Nationalität 
Die  Arbeit  fern  von  der  Heimat  und  noch  dazu  in  fremden  Ländern 
unter  völlig  ungewohnten  Lebensbedingungen,  unter  fremden  Nationen  mit 
ihren  Eigenheiten  kann  nicht  ohne  tiefen  Eindnick  auf  die  bleiben,  die 
sich  ihr  unterziehen.  Berührt  schon  die  Reise  in  die  Fremde  mit  ihrem 
Abschiednehmen,  mit  ihren  neuen  angenehmen  und  imangenelnnen  Ein- 
drücken, mit  ihrem  Heimweh  und  ihrer  Freude  auf  die  Heimkehr  alle 
Gebiete  menschlichen  Empfindens  und  Denkens,  so  muß  die  Übernahme 
von  Terpflichtungen  unter  ungewohnten  Terhältnissen,  unter  dem  Zwange 
wenig  bekannter  Gesetze  und  Lebensbedingungen  die  Entwicklung  der 
Menschen  um  so  stärker  beeinflussen.  Neben  diesen  allgemeinen  Ein- 
drücken, denen  jeder  Mensch  ohne  Unterschied  seiner  Zugehörigkeit  zu 
einem  Volk  oder  zu  einer  sozialen  Schicht  ausgesetzt  wird,  erwachsen  den 
Polen  als  einer  zu  staatlicher  Organisation  strebenden  Nationalität  eine 
Reihe  von  besondern  Vorteilen,  die  wir  bei  einer  Darstellung  des  pol- 
nischen Problems  nicht  übergehn  dürfen. 

1,  Die  Ersparnisse  der  Sachsengänger 

Deutsche  und  russische  Politiker  nennen  als  den  Hauptvorteil  der 
Wanderarbeit  für  die  Polen  die  gi'oßen  Ersparnisse ,  die  diese  alljährlich 
in  die  Heimat  zurückbringen.  Wii'  teilen  den  Ersparnissen  nicht  die  erste 
Stelle  der  Wichtigkeit  zu,  weil  sie  keinen  bleibenden  Gewinn  für  die  pol- 
nische Nation  darstellen,  jeden  Augenblick  aufhören  können  und  auch  bei 
dem  geringen  Bildungsgrade  der  polnischen  Wanderarbeiter  so  viel  Nach- 
teile mit  sich  führen,  daß  ein  guter  Teil  der  Vorteile  für  die  große  Masse 
durchaus  aufgehoben  Avürde,  wenn  nicht  neben  ihnen  andere  Vorteile  be- 
stünden. Dennoch  nennen  Avir  sie  hier  zuerst,  weil  sie  am  sichtbarsten 
von  allen  Vorteilen  zutage  ti'eten  und  am  leichtesten  für  die  Gesamtheit 
der  Nation  in  Rechnung  gestellt  werden  können. 

Im  Jahre  1904  betrugen  die  reinen  Ersparnisse  der  Sachsengänger 
11,4  Millionen  Rubel,  von  denen  erspart  waren:  in  Deutschland  9041620 
Rubel  durch  137  701  Arbeiter,  in  Amerika  2319425  Rubel  durch  10453 
Arbeiter,  in  Dänemark  54950  Rubel  und  in  England  9180  Rubel,  in 
diesen  beiden  zusammen  durch  927  Ai'beiter.  ^)  Dabei  berechnet  die  amtliche 

')  Arbeiten  des  'V\'arschauer  Statistischen  Komitees  von  1906,  Heft  XXII,  S.  30. 


D.  Die  Bedeutung  der  "Wanderarbeit  für  die  polnische  Nationalität  235 


Statistik  die  Ersparnisse  pro  Kopf  der  Wanderarbeiter  für  das  ganze  Zartum 
im  Durchschnitt  in  Rubel  wie  folgt  ^): 


Arbeitsgebiet 

Landarbeiter 

Fabrikarbeiter 

Eisenbahnarbeiter 

Männer 

Frauen 

Männer 

Frauen 

Männer 

Frauen 

Deutschland    .... 

Amerika 

Dänemark 

England 

Rußland') 

70 

240 
80 
75 
40 

50 

150 
60 
55 
20 

110 

320 

HO 

100 

90 

70 
240 
60 
60 
40 

80 
240 
150 

90 

80 

50 
160 

55 
60 

Die  Angaben  in  der  letzten  Zeile  dieser  Aufstellung  über  die  Er- 
sparnisse der  Fabrik-  und  Eisenbahnarbeiter  in  Rußland  sind  zweifellos 
unzutreffend.  Setzen  wir  selbst  die  höchste  Zahl  der  Arbeitstage  dieser 
Arbeiter  von  außerhalb  mit  200  an,  und  rechnen  wir  für  Männer  den 
üblichen  Tagelohn  von  50  Kopeken,  so  ergäbe  sich  ein  Gesamtlohn  von 
100  Rubel  iin  Jahr.  Davon  sind  Reisespesen  für  die  Hin-  und  Rückreise 
mindestens  6  Rubel  und  täglich  10  Kopeken  für  den  Unterhalt  abzuziehen, 
im  ganzen  mindestens  26  Rubel.  Wenn  somit  Fabrik-  und  Eisenbahn- 
arbeiter wirklich  75  Rubel  (statt  90)  ersparen,  dann  müßte  das  als  ein 
glänzendes  Ergebnis  der  Wii-tschaftüclikeit  aufgefaßt  werden. 

Die  Ersparnisse  in  den  einzelnen  Gouvernements  des  Zartums  be- 
liefen sich  wie  folgt  ^): 


In  den 

Gouvernements 

Arbeitsgebiet 

Landarbeiter 

Fabrikarbeiter 

Eisenbahn- 
arbeiter 

Männer 

Frauen 

Männer 

Frauen 

Männer 

Frauen 

Ssuwalki    { 

Lomsha > 

Plock 1 

Sjedlec / 

Deutschland    .  . 
Ameiika.  .... 

England 

Deutschland    .  . 

Amerika 

Deutschland    .  . 

Amerika 

Deutschland.  .  . 
Amerika 

55 

250 

75 

70 

280 

70 
230 

80 
200 

35 
120 

55 

50 
160 

40 
150 

140 
240 
100 
105 
380 

100 
290 

230 

80 
130 

60 

65 
290 

80 
170 

80 

140 

90 

85 

340 

70 
260 

70 
200 

25 
80 
55 

50 
200 

50 
150 

')  Arbeiten  des  T\^arschauer  Statistischen  Komitees  von  1906,  Heft  XXIT,  8.  28. 
«)  Ebenda  S.  30. 
»)  Ebenda  S.  28. 


>36 


Zehntes  Kapitel.    Die  Arbeiterfrage 


In  den 
Gouvernements 

Arbeitsgebiet 

Landarbeiter 

Fabrikarbeiter 

Eisenbahn- 
arbeiter 

Männer 

Frauen 

Männer 

Frauen 

Männer 

Frauen 

Warschau ' 

Deutschland 
Amerika.  .  . 
Dänemark     . 
England  .  .  . 

65 
215 

80 

50 
190 

80 
310 

80 
175 

70 
200 

75 

60 
280 

70 



40 

110 

60 

40 
90 
50 
150 
50 

90 

60 

40 

250 

50 

80 
300 

100 

70 

310 

110 

400 

80 

100 
400 
145 
175 
360 

300 

50 
200 

50 

300 

70 

280 
60 

85 

75 
300 

60 
180 

100 
400 

100 

150 

90 

185 

100 

40 
100 

Lubliü / 

Kaiisch 1 

Petrikau J 

Kjelce f 

Radom f 

Deutschland 
Amerika .  .  . 
Deutschland 
Amerika.  .  . 
Däiiemark .  . 
Frankreich    . 

Deutschland 
Amerika.  .  . 
Dänemark  .  . 
Deutschland 
Amerika .  .  . 

60 
300 

75 

45 
150 

Deutschland 
Amerika .  .  . 

Für  mehrere  Jahre  gibt  uns  Ssimonenko  einige  Zahlen.    Nach  seiner 
Berechnung  betinigen  die  Ei-sparnisse  der  Wanderarbeiter  in^): 


Gouvernement 

1900 

1901 

1902 

Kaiisch     .... 

4185627 

4  951250 

4797537 

Plock 

1 557  690 

1779596 

1606375 

Lomsha    .... 

983731 

1062557 

848136 

Petrikau  .... 

698724 

694188 

723875 

Warschau     .     .     . 

379058 

427 148 

479827 

Ssuwalki  .... 

109891 

102737 

35405 

in  den  übrigen 

13641 

14486 

23717 

zusammen  . 

7928362 

9031957 

8514872 

Somit  haben  die  Sachsengänger  allein  in  den  ersten  vier  Jahren  gegen 
36,9  Millionen  Rubel  oder  80  Millionen  Mark  in  das  Zaitum  Polen 
gebracht. 

2.   Der  Landeinverb  durch  Sachsengänger 

Eine  der  nächsten  Folgen  der  "Wanderarbeit  ist  die  Steigerung  der 
Löhne  in  der  Heimat  und  damit  im  engen  Zusammenhang  der  Über- 
gang  von   Outsländereien   in   bäuerlichen   Besitz.     Die   in   der   Heimat 


^)  Arbeiten  des  Warschauer  Statistischen  Komitees  von  1902/03,  Heft  XIX,  S.  57. 


D.  Die  Bedeutung  der  Wanderarbeit  für  die  polnische  Nationalität  237 

bleibenden  Arbeiter  erzielen  höhere  Arbeitslöhne,  da  sich  das  Angebot  von 
Arbeitskräften  verringert  hat  Um  die  Arbeiter  vor  der  Übersiedlung  ins 
Ausland  abzuhalten  und  sich  eine  genügende  Anzahl  von  Arbeitern  zu 
sichern,  sind  die  örtlichen  Großgrundbesitzer  gezwungen,  den  Arbeitslohn 
zu  erhöhen.  Das  trifft  indessen,  wie  wir  schon  oben  sahen,  nicht  in  allen 
Gebieten  gleichmäßig  zu,  sondern  vorwiegend  in  den  dicht  an  der  preu- 
ßischen Grenze  gelegnen.  Wir  zeigten  schon,  daß  gerade  in  allen  an 
Deutschland  grenzenden  Gouvernements  die  Tagelölme  in  zehn  Jahren  er- 
heblich gestiegen  sind  mit  20  Prozent  in  Ssuwalki,  mit  45  Prozent  in  Plock 
und  mit  60  Prozent  in  Kaiisch. 

Der  Unterschied  im  Wachstum  der  Löhne  steht  in  Abhängigkeit  von 
der  Zahl  der  im  Ausland  Arbeit  suchenden  Bevölkerung.  Die  be. 
deutendste  Übersiedlimg  fand  aus  den  Gouvernements  Plock  und  Kaiisch 
statt,  dementsprechend  sind  dort  die  Arbeitslöhne  auch  am  meisten  ge- 
stiegen. 

In  den  einzelnen  Gouvernements  ist  das  Wachstum  der  Arbeitslöhne 
verschieden  innerhalb  der  einzelnen  Kreise,  Gminen  imd  Oi-te,  je  nachdem 
aus  dem  einen  größere  oder  geringere  Mengen  von  Arbeitern  ins  Ausland 
wandern.  So  stieg  der  Arbeitslolin  in  den  Kreisen  Welun,  Konin  und 
Slupec,  die  die  größte  Anzahl  von  Wanderarbeitern  ins  Ausland  schickten, 
von  1893  bis  1903  um  60  bis  130  Prozent.  In  den  Gminen  Dlusk, 
Kazimerz,  Olesnica,  Osti^owite  und  Trombczin  (des  Kreises  Slupec  im  Gou- 
vernement KaHsch),  von  denen  jede  in  den  letzten  Jahren  über  1000  Ar- 
beiter ins  Ausland  sclückte,  verdoppelte  und  verdreifachte  sich  der  Ar- 
beitslohn. 

Solchen  starken  Steigerungen  vermögen  nun  die  Gutsbesitzer  nicht 
zu  folgen.  Sie  sind  nicht  darauf  eingerichtet,  die  geforderten  höhern  Löhne 
zu  zalilen,  imd  finden  daiTun  in  den  an  Preußen  grenzenden  Kreisen  nicht 
die  zur  Bewirtschaftung  erforderlichen  Arbeitskräfte.  Seit  Beginn  einer 
starkem  Sachsengängerei  sind  daher  viele^  Großgrundbesitzer  erhöht  daran 
interessiert,  ihre  Güter  zu  verkaufen,  und  schon  im  Jalu'e  1898  schätzte 
man  die  wegen  der  Arbeiterfrage  zum  Verkauf  stehenden  Großgrundbesitze 
auf  zwei  Millionen  Morgen.^)  Die  polnischen  Bauern  ihrerseits  kaufen 
sich  sehr  gern  an,  und  der  selbstbewußtere  Teil  von  ihnen  hat  in  der 
Wanderarbeit  das  Mittel  erkannt,  zu  barem  Gelde  zu  gelangen.  Den  Zu- 
sammenhang der  Wanderarbeit  mit  dem  Landkauf  durch  Bauern  weist 
Ssimonenko  für  eine  Reilie  von  Kreisen  nach.^) 


*)  1.  Orlow,   „Die  wirtschaftliche  Lage  und  Zahlungsnüttel  der  Bauern  in  den  Gou- 
vernements des  Zartiims  Polen",  Kjelce,  1898,  S.  56. 

-)  Arbeiten  des  Warschauer  Statistischen  Komitees  von  1902  03,  Heft  XIX,  o.  61. 


238 


Zehntes  Kapitel.    Die  Arbeiterfrage 


Kreise 


Anzahl  der 
Saclisengänger 
während  der 

Jahre  1900 
und  1901 


Umfang  des  von  Bauern 

gekauften  Landes 

(in  Deßjatinen) 

bis  1899      I      bis  1903 


Vermehrung 
des  gekauften 
Bauemlaudes 
von  1899-1903 
in  Piozeuten 


"Welun 

Slupec 

Konin 

Kaiisch 

Kolo  . 

Sieradz 

Turek 


39627 
28650 
16964 
16066 
12350 
7703 
5155 


5154 
3573 
7539 
6418 
4578 
9091 
14197 


13227 
8  353 
11475 
13310 
9559 
17  594 
19600 


156,6 

133,8 

52,2 

107,4 

108,8 

93,5 

38,5 


Aus  der  Tabelle  ist  zu  erkennen,  daß  die  Reihenfolge  der  Kreise  be- 
züglich der  Menge  des  von  den  Bauern  gekauften  Landes  amiähemd  über- 
einstimmt mit  dem  Umfange  des  Auszuges  auf  "Wanderarbeit.  Eine  Aus- 
nahme bildet  der  Kreis  Konin.  Ssimonenko  erklärt  aber,  für  den  genamiten 
Kreis  sei  der  Umfang  der  bis  1899  von  den  Bauern  gekauften  Läiidereien 
zu  hoch  angenommen  worden.  Einzelne  Gminvenvaltungen  hätten  ver- 
sehentlich in  die  angegebne  Zahl  auch  einen  Teil  des  Anteillandes  auf- 
genommen, das  von  andern  Bauern,  nicht  aber  von  Großgnmdbesitzem 
erworben  worden  sei. 

Nach  der  Meinung  eines  pohlischen  Gutsbesitzers  kaufen  vorwiegend 
solche  Bauern  Land,  die  aus  Amerika  mit  besonders  großen  Ei'sparnissen 
zurückkehren,  nicht  aber  solche,  die  in  Deutschland  gearbeitet  haben.  Die  Un- 
richtigkeit dieser  Behauptung  wird  in  der  nebenstehenden  Tabelle  erwiesen.^) 
Dort  sind  die  Gniinen  des  Gouvernements  Kaiisch  angegeben,  aus  denen 
die  größte  Abwanderung  nach  Amerika  und  nach  Deutschland  stattfindet, 
und  daneben  die  Menge  des  in  diesen  Gminen  bei  den  (iroßgiimdbesitzern 
gekauften  Landes. 

AVir  sehen,  daß  sich  in  den  Gminen,  die  die  größte  Zahl  der  Aus- 
wandrer nach  Amerika  lieferten,  der  Umfang  des  von  den  Bauern  von  Guts- 
besitzern gekauften  Landes  während  der  letzten  vier  Jahre  (1899  bis  1903) 
von  50  Prozent  (Gmin  Izbica)  bis  zu  dreieinlialbmal  (Gniin  Slawoszewek) 
und  viermal  (Gmin  Sompolno)  vergrößert  hat.  Daneben  wuchs  der  Land- 
erwerb durch  Bauern  auch  in  den  Gminen,  aus  denen  nur  eine  geringe 
oder  gar  keine  Abwanderung  nach  Amerika  stattgefunden  hatte,  wenn 
eine  solche  nach  Deutschland  an  ihre  Stelle  geti'eten  war.  So  hat  sich 
die  Zunahme  des  Landerwerbs  verdoppelt  in  den  Gminen  Neramice,  Skouilin, 
Dombroszin  und  andern,  verdreifacht  in  den  Gminen  Dlusk,  Goslawice, 
Starzenice,  vervierfacht  in  der  Gmin  Olesnica,  und  hat  sich  sogar  in  der 

»)   Arbeiten  des  Warschauer  Statistischen  Komitees  von  1902/03,  Heft  XIX,  S.  62. 


D.  Die  Bedeutung  der  "Wanderai'beit  für  die  polnische  Nationalität 


239 


Gmin    Rudniki    verfünffacht.     Alle    diese    Gemmen    schicken    aber    ihre 
Wanderarbeiter  nach  Preußen. 


Gminen,  deren  Abwanderung 
nach  Deutschland  während 

Zahl 
der 

Seitens  der  Bauern  erkauftes 
Hofland 

Zunahme  des 

Bauernlandes 

von  1899 

bis  1903 

in  Prozenten 

der  Jahre  1900  und  1901 

Sachsen- 

(in Deßjatinen) 

2000  Personen   überstieg 

gänger 

bis  1899 

bis  1903 

Kreis   Welun 

Rudniki 

2475 

351 

1818 

418 

Starzenice    

2178 

205 

670 

227 

Skomlio 

2392 

447 

936 

109 

Neramice 

2785 

971 

1966 

103 

Praszka  

2850 

— 

166 

— 

Merzice 

2100 

— 

69 

— 

Kreis  Kanin 

Goslawice 

2636 

440 

1371 

212 

Dombroszin      .... 

2348 

1320 

2680 

103 

Kreis  Slupee 

Olesnica 

2133 

255 

1202 

371 

Dlusk 

2425 

461 

1545 

235 

Trombczin 

2023 

925 

1607 

67 

Szimanowice    .... 

2074 

— 

664 

•  — 

Zusammen 

28419 

5375 

14694 

173 

Gminen,  deren  Abwanderung 

nach  Amerika  während  der 

Jahre  1897  bis  1902 

100  Personen  überstieg 

Kreis  Kolo 

Izbica 

223 

454 

684 

50 

Sompolno 

164 

277 

1118 

304 

Kreis  Konin 

Slawoszewek    .... 

166 

367 

1354 

269 

Kreis  Slupee 

Skulska-Wies  .... 

259 

520 

883 

70 

"Wilcza-Gora     .... 

123 

— 

303 

168 

Zusammen 

935 

1618 

4342 

168 

„Diese  Zahlen  zeigen,  sagt  Ssimonenko /)  Avie  wenig  man  sich  auf 
allgemeine  Schlußfolgerungen  sogar  der  sachverständigen  Leute  verlassen 
darf,  wenn  ihnen  keine  statistischen  Daten  für  die  Mehrzahl  der  Be- 
völkerung zugrimde  gelegt  sind."  Wir  kömien  hinzufügen,  weim  politische 
Gruppen  oder  wirtschaftliche  Interessenten  bestrebt  sind,  die  Wanderarbeit 
von  Deutschland  nach  Amerika  abzulenken. 


*)  Arbeiten  des  "Warschauer  Statistischen  Komitees  von  1902/03,  Heft  XIX,  S.  63. 


240  Zehntes  Kapitel.   Die  Arbeiterfrage 

5.  Ethische  und  soziale  Folgen  der  Wanderarbeit 

So  hoch  wir  auch  die  wirtschaftlichen  Folgen  füi-  die  materielle  Lage 
der  großen  Masse  einschätzen,  so  gibt  es  doch  ideelle  Werte,  die  die 
AVanderarbeit  zu  einem  weit  größern  Kulturfaktor  für  die  Polen  machen, 
als  jene  es  tun  könnten.  Der  Grund  für  unsre  Auffassung  liegt  in  dem 
bleibenden  Werte  ideeller  En-ungenschaften,  den  materielle  Erfolge  nur 
auf  einer  hohen  Stufe  der  Moral  und  der  Bildung  haben  können.  Da- 
neben dürfen  wir  nicht  vergessen,  daß  die  materiellen  Ersparnisse  um  so 
weniger,  die  ideellen  Werte  um  so  mehr  wirken  müssen,  je  geringer  die 
Volksbildung  und  staatliche  Fürsorge  dafür  ist 

Wir  wollen  uns  hier  an  Ausführungen  deutscher,  polnischer  und 
russischer  Beobachter  halten  und  sie  mit  unsem  eignen  Beobachtungen 
an  Ort  und  Stelle  vergleichen.  Der  deutsche  Nationalökonom  Kaerger  stellt  die 
disziplinierende  Wirkimg  des  Aufenthalts  in  der  Fremde  fest.  Li  der  Fremde 
finde  der  Arbeiter  mehr  Anregung  zur  Arbeit  als  zu  Hause.  Kaerger  erklärt 
dies  vor  allem  dui*ch  die  psychologische  Einwirkung  des  Aufenthalts  in  der 
Fremde.  Während  der  Arbeiter  außerhalb  der  gewohnten  Umgebung  seine 
Beschäftigung  nachgeht,  verliert  er  tatsächlich  einen  Teil  seiner  natürlichen 
Trägheit.  Die  Eeise  ins  Ausland  rüttelt  ihn  in  geistiger  Beziehung  auf. 
Seine  Tätigkeit  erhält  neue  Ziele,  die  über  die  Stillung  des  Hungei"s  hinaus- 
gehn.  Er  ist  ausgezogen,  um  bares  Geld  zu  verdienen,  das  er  dann  im 
Literesse  seiner  kleinen  Wirtschaft  auf  Grund  neuer  ihm  vor  der  Wander- 
schaft nicht  geläufiger  Überlegungen  wieder  ausgeben  könnte.  Infolge- 
dessen wird  er  zur  Sparsamkeit  erzogen,  und  in  allen  seinen  Handlungen 
tritt  größerer  Torbedacht  zutage.  Der  einmal  envachte  Sparsinn  spornt  ihn 
zu  größerer  Anspannung  seiner  Kräfte  auf  der  einen  Seite  und  auf  der 
andern  zu  wirtschaftKchem  Denken  an.  Der  faule  mid  indolente  polnische 
Bauer  wird  im  Auslande  ein  fleißiger,  anstelliger  imd  darum  zu  streng 
organisierter  Tätigkeit  brauchbarer  Arbeiter.  Die  Arbeit  gewinnt  auch  für 
den  wenig  kultivierten  Menschen  an  ethischer  Bedeutung.  Die  Yerh'eter 
der  weichen  slaA^ischen  Rasse  lernen  im  Auslande  durch  eigne  Erfahrung 
die  hohe  Bedeutung  der  deutschen  Pedanterie  und  Genauigkeit  kennen. 
Li  Deutschland  wird  der  polnische  Arbeiter  unter  denselben  günstigen 
Bedingungen  angestellt  wie  der  deutsche.  Nicht  selten  erklärt  er  sich  in 
Deutschland,  häufiger  noch  in  Amerika  bereit,  in  Akkord  zu  arbeiten,  was 
eine  größere  Anspannung  der  Kräfte,  aber  auch  höhere  Gewinne  bringen 
kann.  Li  jedem  Falle  gewöhnt  sich  der  pohlische  Arbeiter  an  eine  so 
intensive  Ai'beit,  wie  er  sie  in  der  Heimat  nicht  kannte.  „Wenn  ein  Ar- 
beiter ebensoviel  arbeiten  wollte,  wie  wir  dort  gearbeitet  haben,  sagen 
aus  Amerika   zurückkehrende    polnische  Bauern,    könnte    mau  auch   hier 


D.  Die  Bedeutung  der  "Wanderarbeit  für  die  polnische  Nationalität  241 


genügende  Existenzmittel  erwerben."  Ähnlich  uiteilt  auch  ein  genauer 
Kenner  der  polnischen  Bauern^):  „Unser  Bartek,  der  sich  nach  Preußen 
oder  nach  Amerika  begibt,  arbeitet  doii  wie  ein  Lasttier." 

Mit  der  größern  Arbeitsleistung  wachsen  auch  die  persönlichen  Be- 
dürfnisse der  Arbeiter.  Die  Nahrung,  wie  sie  der  polnische  Bauer  daheim 
gewohnt  ist,  würde  zu  der  von  ihm  in  der  Fremde  geforderten  Arbeit 
nicht  ausreichen.-)  Damit  tritt  ein  neuer  Stimulus  in  das  bäuerliche  Leben. 
Der  eümial  an  Fleisch  gewöhnte  Magen  verzichtet  darauf  nicht  ohne 
Schaden  für  den  Körper.  Neue  Bedürfnisse  ti'eiben  zu  intensiver  Arbeit 
und  vermehren  den  Verbrauch  der  Landeserzeugiiisse,  wodurch  wieder  ihr 
Marktpreis  in  die  Höhe  geht.  Das  gleiche  ti'ifft  für  Kleider  und  Schuh- 
werk zu.  „In  dieser  Beziehung  sind  die  aus  Deutschland  zurückkehrenden 
Arbeiter  niclit  wiederzuerkemien,  schreibt  Ssimonenko.  Abgesehen  von 
den  wenigen  allerheißesten  Monaten  trennte  sich  der  Bauer  noch  vor  gar 
nicht  langer  Zeit  überhaupt  nicht  von  seinem  Pelz.  Auch  das  Schuhzeug, 
das  er  trug,  Avar  billig.  Es  Avurde  im  Winter  getragen,  im  Sommer  aber 
nur  an  Feiertagen  oder  auf  Reisen.  Doch  auch  dann  wurde  es  entweder 
in  die  Hand  genommen  oder  an  den  Stock  gehängt.  Bessere  Anzüge 
wurden  früher  nur  an  großen  Feiertagen  angelegt.  Jetzt  ziehen  die  Mämier 
moderne  Anzüge  und  Paletots  an,  die  Fi'aueu  Blusen  und  moderne  Kleider, 
sodaß  die  polnischen  Arbeiter  von  den  deutschen  nicht  immer  zu  unter- 
scheiden sind." 

Es  kaiui  nicht  ausbleiben,  daß  sich  die  Zunahme  der  Bedürfnisse 
stellenweise  in  ein  ungesundes  Bedüi'fnis  nach  Luxus  umsetzt.  Auf  diese 
Entaiiimg  weisen  besonders  die  Großgnmdbesitzer  hin,  die  die  Wander- 
arbeit als  ein  Unglück  für  die  ganze  Nation  darstellen  möchten.  So  urteilt 
ganz  charakteristisch  Chraszczewski:  Die  Bauern  begnügen  sich  nicht  mehr 
damit,  die  Zeit  nach  der  Sonne  zu  bestimmen,  sondern  wollen  eine  Taschen- 
uhr und  eine  möglichst  glänzende  Kette  dazu  haben.  Die  Frauen  sind 
nicht  abgeneigt,  Schirme  und  Handschuhe  zu  ti'agen;  Korsett  oder  auch 
nur  Fischbein  im  Mieder  sowie  Schuhe  mit  Absätzen  sind  keine  Seltenheit 
mehr.  Sie  begehren  wohlriechende  Seifen,  Pomaden  und  sogar  Eau  de 
Cologne.  Die  Männer  verlangen  ausgesuchte  Halsbinden  luid  gestärkte 
Kragen.  Während  der  an  Feiertagen  stattfindenden  Tanzgesellschaften  er- 
halten die  Musikanten  nicht  mehr  wie  fi'üher  Kupf emiünzen ,  sondern 
silberne  Füufzehnkopeken-  und  sogar  Halbrubelstücke.  Unter  den  Gegen- 
ständen der  Bewirtimg  spielen  Konfekt  und  andre  Näschereien  keine  un- 


M  Siehe  Echo  Plockie  i  Lomzinskie  von  1900,  Nr.  28. 

■■*)  Chraszczewski,  „Pracodawcy  i  pracownicy  na  ruli",  Warschau  1902,  S.  72  und  85. 
Cleinow,  Die  Zukunft  Poleua  16 


242  Zehntes  Kiipitel.   Die  Arbeiterfrage 

bedeutende  Rolle;  statt  des  einfachen  Branntweins  wird  „anodyna'\  eine 
Mischung  von  Schwefeläther  und  Spiritus,  kredenzt. 

Angesichts  dieser  verschiedenartigen  neuen  Bedürfnisse  sind  von 
Juden  und  Christen  in  den  Dörfern  Buden  eingerichtet  worden,  die  gegen 
Abzahlung  für  Wucherzinsen  die  verschiedenartigsten  Waren  üefera.  Selten 
vergeht  ein  Tag,  wo  nicht  ein  ungarischer  Hausierer  oder  Bilderverkäufer 
das  Dorf  aufsucht  und  den  ihn  gierig  umlagernden  Klienten  das  Geld  aus 
der  Tasche  lockt,  das  zweifellos  zu  etwas  Notwendigem!  hätte  verwandt 
werden  können.  Solche  Angaben  ti'effen  ausschließlich  für  die  Industrie- 
gebiete zu.  Dort  sind  neben  der  Wanderarbeit  auch  andre  Gründe  für 
die  Entartung  zu  finden,  vor  allem  die  Anhäufung  zahlreicher  Menschen  in 
städtischen  Siedlungen  bei  völligem  Mangel  von  Volksbildung  und  nütz- 
licher Yolksimterhaltimg.  Das  sind  auch  die  Gründe,  die  mit  den  in 
frühem  Kapiteln  gesciiildeiien  Verhältnissen  zusammen  eine  volle  Aus- 
nutzimg der  Segnungen  der  Wanderarbeit  nach  kultivierten  Ländern  nicht 
zulassen,  vielmehr  dazu  führen,  daß  die  Wanderarbeit  in  steigendem  Maße 
auf  politischem  Gebiete  wirkt. 

4.  Politische  Folgen  der  Wanderarbeit  für  die  Polen 

Bei  der  eigentümlichen  Lage  der  polnischen  Gesellscliaft  überhaupt 
und  im  Hinblick  auf  ihre  politischen  Ziele  haben  die  politischen  Folgen 
der  Wanderarbeit  einstweilen  für  sie  wenn  auch  nur  theoretisch  die  größte 
Bedeutung.  Damm  lautet  auch  unsre  Frage:  Welche  neuen  kräftigenden 
oder  schädigenden  Elemente  ti'ägt  die  Wanderarbeit  in  das  politische 
Empfinden  und  Denken  des  polnischen  Volkes? 

Solche  Elemente  sind  in  zwei  Kategorien  zu  teilen.  Die  einen  gehn 
aus  der  Hebung  der  wirtscliaftlichen  Lage  und  den  sich  daraus  ergebenden 
neuen  Aufgaben  ohne  weiteres  henor;  die  andern  sind  eine  Folgeerscheinung 
des  im  Auslande  Geschauten  und  Erlebten. 

Wir  hörten  schon  von  dem  Mangel  einer  Neigung  zu  genossenschaft- 
lichen Organisationen.  Unter  diesem  Mangel  hat  sicli  auch  die  Vennittlung 
der  Arbeitsgelegenheit  lediglich  als  ein  Geschäft  solcher  Personen  ent- 
wickelt, die  mit  der  einzelnen  Persönlichkeit  des  Arbeiten  in  keinerlei 
Beziehungen  stehn,  meist  auch  dem  gesamten  Leben  der  Bauern  fi'emd 
sind.  Es  sind  eine  Reihe  von  Ober-  und  Unteragenten,  die  den  Wander- 
arbeiter anwerben,  die  auch  Propaganda  für  Wanderarbeit  in  der  Nähe  ihres 
Wohnorts  ti'eiben.  Besondere  zu  Anfang  der  Bewegung  kommen  Leute  aus 
den  verschiedensten  Dörfern  zusaimnen,  die  ei-st  an  der  Grenze  zu  Paiiien 
abgeteilt  und  auf  die  verschiednen  Güter  geleitet  werden.  Daneben  kam 
es  freilich  auch  früher  schon  vor,  daß  ganze  Partien  aus  Angehörigen  eines 


T>.  Die  Bedeutung  der  "Wanderarbeit  für  die  polnische  Nationalitat  243 


Dorfes  bestanden.  Aber  das  Nonnale  war  es,  daß  sieh  von  zwanzig  Wander- 
arbeitern aus  einem  Dorfe  nicht  zwei  an  einen  imd  denselben  Agenten 
wandten  oder  einem  gemeinsamen  Ai"beitsort  zusti'ebten.  Hierin  ist  nun  im 
Laufe  der  vergangnen  fünfzehn  Jahre  ein  merklicher  Wechsel  eingeti'eten. 
Die  Wanderarbeiter  begimien  sich  dorfweise  aneinanderzuschüeßen.  Sie 
trachten  danach,  möglichst  aus  einem  Dorfe  zusammen  auf  einen  Gutshof 
oder  wenigstens  in  dieselbe  Gegend  zu  kommen.  Diese  Beobachtung  gilt 
besonders  für  die  Feldarbeiter,  während  bei  Fabrikarbeitern  andre,  in  der 
Ai'beitstechnik  liegende  Gesichtspunkte  in  Fi'age  kommen. 

Wir  erklären  uns  die  Erscheinimg  aus  den  im  Auslande  gemachten 
trüben  Erfahrungen.  Sti'eitigkeiten  mit  den  Agenten,  mit  den  Arbeitgebern 
und  unangenehme  Berührungen  mit  den  Behörden  haben  die  Wanderarbeiter 
zu  der  Überzeugung  geführt,  ob  nicht  ein  dorfweises  Zusammenarbeiten 
in  jeder  Beziehimg  praktischer  sei,  als  wenn  jeder  einzeln  seinem  Ziele 
zusti'ebt.  Die  Dorfgeistlichen  imd  die  Yeili'eter  der  Intelligenz  haben  in 
gleicher  Eichtung  gewirkt.  Das  Unangenehme  der  nahen  Kontrolle  durch 
die  Dorfgenossen  wurde  bald  überwunden  durch  die  Yorfeile  des  gemein- 
samen Handelns.  Die  Interessen  dem  Agenten  und  dem  Arbeitgeber  gegen- 
über können  energischer  vertreten,  die  Mädchen  wirksamer  gegen  die 
Dreistigkeit  Fi*emder  verteidigt  werden.  Die  Ausgaben  haben  sich  ver- 
ringert, seitdem  man  dorfweise  gemeinsame  Rechnung  machte  und  der 
Kassenführer  neben  der  Aufsicht  seiner  Reisegefährten  auch  die  öffentliche 
Meinung  des  Heimatdorfes  zu  fürchten  hat.  So  sehr  auch  dieser  Zu- 
sammenschluß in  den  ersten  Anfängen  stecken  möge,  geben  wir  ihm  für 
die  künftige  gesellschaftliche  Entwicklung  des  polnischen  Yolkes  deshalb 
eine  so  große  Bedeutimg,  weil  es  gerade  die  Gemeinsamkeit,  das  Ge- 
meinsamkeitsgefühl, der  Sinn  für  das  Gemeinwohl  ist,  der  den  Polen  in 
allen  sozialen  Schichten  am  meisten  gefehlt  hat.  Es  ist  kein  Zufall,  wenn 
Krzewicki  die  Neigung  zu  genossenschaftlicher  Organisation  bei  der 
kleinen  Schlachta  besondei-s  hervorhebt.  Er  ist  sich  dessen  be^vußt,  daß 
gerade  der  Mangel  dieser  Neigung  ein  Hauptgrund  für  das  Unglück  des 
polnischen  Volkes  gewesen  ist.  Selbsterkenntnis  ist  aber  der  erste  Schritt 
ziu-  Besserung. 

Wie  bei  allen  Dingen  wird  das  noch  wenig  bekannte  Werkzeug  der 
genossenschaftlichen  Organisation  zunächst  für  verbotne  Zwecke  oder  zur 
Umgehung  von  Gesetzen  oder  auch  einfach  zur  Ausübung  von  Betrug 
verwandt.  Das  geschieht  in  Russisch-Polen  um  so  mehr,  als  die  Regierung 
den  genossenschaftlichen  Besti-ebungen  daselbst  durchaus  feindlich  gegen- 
übersteht. So  berichtet  der  fi'ühere  Präsident  des  Kameralhofs  von  Kjelce 
über  die  Gründung  von  fiktiven  Genossenschaften,  um  bei  der  Bauerubauk 

16* 


244  Zehntes  Kapitel.   Die  Arbeiterfrage 


einen  Pfandbrief  über  5000  Rubel  erhalten  zu  können.^)  Die  sozialistische 
Propaganda  hat  von  Oberschlesien  aus  über  die  Fabrikstätten  polnischer 
Städte  zu  vielen  pseudo-sozialistischen  Organisationen  in  den  Döiiem  ge- 
fühlt, während  die  deutschen  Öozialdeuioki'aten  in  Posen  darüber  klagen, 
daß  sie  unter  der  pobiischen  Bevölkerung  keinen  Anklang  fänden.  Auch 
die  Bundorganisationen  der  Juden  konnten  auf  den  aufgeAvecktern  Teil  der 
polnischen  BevölkeiTuig  mehr  wirken,  als  es  beim  Vorhandensein  wirtschaft- 
licher Genossenschaften  möglich  wäre.  Mit  Rücksicht  auf  die  Bemühungen 
der  deutschen  Sozialdemoki-atie,  Einfluß  auf  die  nach  Preußen  kommenden 
Sachsengänger  durch  geeignete  Propaganda  zu  gewinnen,  dürften  in  der 
angedeuteten  Richtung  bald  neue  Fortschritte  zu  erwarten  sein.  Doch 
haben  alle  diese  Organisationen  vorwiegend  nationalistischen  Charakter, 
nicht  aber  sozialistischen.^) 

An  dieser  Stelle  sei  daran  eriniiert,  daß  sich  unter  den  Wanderarbeitern 
aus  dem  Zartum  auch  vielfach  deutsche  Kolonisten  befinden.  An  vei'schiedneu 
Orten  ist  mir  gegenüber  geklagt  worden,  daß  diese  Kolonisten  in  Deutschland 
als  „Pollaken"  behandelt  werden.  Wenn  ich  auch  durchaus  nicht  ver- 
aligemeineni  möchte,  so  scheint  es  mir  notwendig,  auf  die  bedauerliche 
Tatsache  aufmerksam  zu  machen. 

SoUen  wir  nun  damit  rechnen,  daß  die  "Wanderarbeit  in  absehbarer 
Zeit  aufhört,  daß  sich  die  Sachsengänger  statt  nach  Deutschland  andern 
Ländern  zuwenden?  Solange  die  russische  Regierung  die  Ansiedlung  pol- 
nischer Bauern  im  AVestgebiet  (vgl.  S.  125  und  147)  verbietet,  dürtten  wir 
solcher  Annahme  keinen  Raum  gewähren,  weil  alle  wirtschaftlichen  und 
sozialen  Verhältnisse  im  Zartiun  zur  Sachsengängerei  zwingen.  Daneben 
darf  auch  nicht  außer  acht  gelassen  werden,  daß  die  politischen  Fülu-er 
der  Polen  gerade  die  Sachsengängerei  nach  Deutschland  fördern,  um  die 
Auswanderung  nach  Amerika  zu  verhindern.  In  welcher  Weise  hier  ein- 
gewirkt wird,  soll  im  Kapitel  von  der  Agrarpolitik  im  zweiten  Bande  ein- 
gehend dargestellt  werden.  Hier  sei  nur  noch  einmal  hervorgehoben,  daß 
an  eine  Verminderung  der  Sachsengängerei  nur  dann  gedacht  werden  kann, 
Avenn  die  russische  Regierung  die  Westgouveruements  zur  Besiedlung  durch 
Polen  freigibt") 

*)  I.  Orlow,  "Wii-tschaftliche  Lage  der  Bauern  im  Zartum  Polen,  Kjelce,  bei  Michael 
Zelichowski,  1898,  S.  57. 

-)  Siehe  Greuzboten,  Russische  Briefe.     Vgl.  auch  Massow  a.  a.  0.  S.  49. 

'■')  AVei-tAoUe  Literatur :  Wybor  Pism  Ludwika  üöiskiego,  Warschau,  1908,  Druck  iu 
der  ., Gazeta  Roluiczej"';  ferner:  Wl.  Orabbki,  Stosunki  stuzbowo-robotnicze  etc.,  Warschau, 
1906,  für  die  Beurteilung  der  Landarbeiterfrage  sehr  interessant. 


Elftes  Kapitel 
Finanz-  und  Wirtschaftsorganisationen 

Nach  den  voraufgegangnen  Untersuchungen  müssen  wir  zu  dem  Er- 
gebnis kommen,  daß  im  Zartum  Polen  in  den  wesentlichsten  Gebieten  der 
Wirtschaft,  in  Landwirtschaft  und  Binnenhandel,  ein  an  Anarchie  gren- 
zender Zustand  der  Desorganisation  heiTScht.  Mit  der  außergewöhnlich 
großen  Bevölkerungs Vermehrung  hat  die  Entwicklung  der  staatlichen  Ein- 
richtungen im  Gebiet  weder  Schritt  gehalten,  noch  durfte  sich  die  Gesell- 
schaft auf  irgendeinem  Gebiete  der  Selbstverwaltimg  betätigen.  Die  Ver- 
kehrswege wiu'den  in  den  vergangnen  vierzig  Jahren  fast  ausschließlich 
nach  strategischen  Gesichtspunkten  angelegt;  Post  mid  Telegraph  stecken 
in  den  Kinderschulien.  Das  Schulwesen  ließ  jedes  Jahr  größere  Teile  der 
heranwachsenden  Jugend  ohne  den  notdürftigsten  Unterricht.  Abgesehen 
von  kaufmännischen  Großorganisationen,  die  in  der  Gründung  von  Aktien- 
untemehmungen  ihren  Ausdruck  fanden,  konnten  wir  bisher  von  keiner 
offen  zutage  liegenden  organischen  Linienbildung  im  praktischen  Erwerbs- 
leben berichten.  Nirgends  scheinen  gemeinsame  ^virtschaftliche,  politische 
oder  kulturelle  Ziele  zmn  Zusamraenscliluß  der  polnischen  Gesellschaft,  zu 
gemeinsamer  Arbeit  und  zu  sachgemäßer  Spezialisierung,  zur  Organisation 
zu  drängen.  Ti'äge  und  schwerbeweglich,  ohne  Energie  und  ohne  Interessen, 
ohne  Zusammenhang  und  ohne  geistige  Leitung  —  so  muß  dem  oberfläch- 
lichen Beobachter,  der  sich  mit  zahlenmäßigen  Feststellungen  begnügt,  die 
Gesamtheit  der  mssischen  Polen  am  Anfang  des  zwanzigsten  Jahrhunderts 
erscheinen.  Neben  diesem  allgemeinen  Eindruck  erscheinen  Hinweise  auf 
gesunde  Keime  fast  wie  tendenziöse  Ungeheuerlichkeiten,  denen  niemand 
recht  Glauben  schenkt,  solange  er  sie  nicht  mit  eignen  Augen  gesehen 
hat  —  und  der  Forscher  gerät  leicht  in  den  Verdacht,  er  wolle  imter 
allen  Umständen  ein  günstiges  Bild  von  der  polnischen  Gesellschaft  ent- 
werfen, obgleich  ein  erdrückendes  Tatsachenmaterial  gegen  einen  solchen 
Versuch  zu  sprechen  scheint.  Diese  Anschaumig  findet  Nahrung  im  trost- 
losen Zustande  der  Presse  des  Zartums.  Von  ilirer  Wirksamkeit  spüren  wir 
aber  bis  1904  nicht  deshalb  nichts,  weil  keine  geistigen  Kräfte  in  Polen  vor- 
handen wären,  sondern  weil  eine  strenge  Zensur  jede  selbständige  Regung 


246  Elftes  Kapitel.    Finanz-  und  "Wirtschaftsorganisationen 

unterbindet,  jede  der  politischen  Gesundung  dienende  Kritik  verhindert. 
Darum  erscheint  uns  auch  die  Beeinflussung  von  Krakau  und  Lemberg  aus 
größer,  als  sie  tatsächlich  ist.  Eine  große  Zahl  der  von  dort  aus  verbrei- 
teten politischen  Schriften  ist  nicht  von  galizischen,  sondern  von  russischen 
Polen  geschrieben.  Wir  erinnern  an  dieser  Stelle  nur  an  diese  Tatsache, 
die  vTir  im  Abschnitt  von  der  Politik  näher  untersuchen  werden.  Die  von 
uns  bisher  mühsam  hervorgehobnen  gesunden  Keime  werden  durch  den 
allgemeinen  nebelhaften  Zustand  im  Weichselgebiet  um  so  mehr  im  Dunkeln 
gehalten,  als  in  der  überall  herrschenden  Verwirrung  ein  so  schneller 
Wechsel  des  Grundbesitzes  vor  sich  geht,  daß  selbst  die  amtlichen 
Statistiken  darüber  nur  unvollkommne  und  mehrere  Jahre  zurückliegende 
Daten  zu  geben  vermögen.  Muß  es  nicht  wie  eine  iviUenlose  Unter- 
iverfung  der  „entkräfteten  polnischen  OesellschafV  unter  die  Ziele  der 
russischen  Regierung  erscheinen,  wenn  innerhalb  vmi  zwei  Jahren  mehr 
als  zweitausend  Güter  des  Adels,  den  die  Regierung  heMmpft,  an  die 
Bauern  übergehn,^)  denen  die  Regierung  doch  auf  alle  Weise  hilft? 
Muß  es  uns  nicht  scheinen,  als  verschwinde  mit  dem  adlichen  Groß- 
grundbesitz ein  letzter  Rest  der  alten  polnischen  Staatsorganisation,  und 
als  sei  das  polnische  Volk  gerade  deshalb  zur  nationalen  Organisation  aus 
sich  heraus  unfähig  geworden?  Wir  könnten  eine  ganze  Reihe  von  Poli- 
tikern —  deutschen  und  russischen  —  aufzählen,  die  auf  Gmnd  eines 
reichen  Tatsachenmaterials  beweisen,  daß  es  wirklich  so  ist,  wie  es  scheint. 
Unter  diesen  Politikern  Avürden  sich  solche  befinden,  die  aus  dem  schein- 
baren Zustande  der  polnischen  Gesellschaft  folgern,  die  Polen  könnten 
gar  nicht  an  die  Wiederaufrichtung  eines  Nationalstaats  denken  und  täten 
es  deshalb  auch  nicht,  und  solche,  die  die  Absicht  der  Polen,  einen  eignen 
Staat  zu  gründen,  lediglich  als  einen  gemeingefährlichen  Größenwahn  hin- 
stellen und  dementsprechend  mit  falschen  Mitteln  bekämpfen.  In  beiden 
Kategorien  von  Politikern  finden  sich  auch  Vertreter  der  Ansicht,  Polen 
könne  unter  keinen  Umständen  ohne  Rußland  bestehn;  die  polnische 
Pflanze  sei  im  Laufe  der  vergangnen  vierzig  Jahre  mit  dem  russischen 
Spalier  verwachsen.  Wir  wollen  in  einem  spätem  Kapitel  vei-suchen,  das 
Für  und  Wider  solcher  Auffassung  vorzuführen.  Gegenwärtig  harrt  unser 
eine  andre  Aufgabe. 

Wir  haben  uns  zunächst  daran  zu  erinnern,  daß 

1.  die  gesamte  Verwaltung  des  Zartums  Polen  in  den  Händen  eines 
Generalgouverneurs  liegte,  der  ein  persönlicher  Bevollmächtigter  des  Zaren 
und  Träger  von  dessen  Polenpolitik  ist,  daß 


^)  Siehe  S.  154  u.  183. 


Elftes  Kapitel.    Finanz-  und  Wirtschaftsorganisationen  247 


2.  abgesehen  von  der  kleinen  bäuerlichen  Gemeinde  im  ganzen  Zartiim 
keine  Stelle  vorhanden  ist,  in  der  sich  einzelne  Teile  der  polnischen  Ge- 
sellschaft auch  nur  in  dem  geringen  Umfange  in  der  Selbstverwaltung 
betätigen  könnten,  wie  es  m  den  zenti'alen  Gouvernements  Rußlands  der 
FaU  ist,  daß 

3.  auch  aus  dem  Gerichtswesen  die  ^Mitwirkung  der  Gesellschaft  durch 
die  Vermittlung  der  Institution  der  Schöffengerichte  ausgeschieden  wurde,  daß 

4.  die  Bauernschaft  viel  strenger  gegen  die  andern  Stände  abge- 
schlossen erscheint  als  selbst  in  Eußland,  und  schließlich,  daß 

5.  die  Stadtverwaltungen  noch  bis  zimi  Tode  des  Ministers  Plehwe  aus- 
schließlich dem  in  Petersburg  regierenden  Ministeriiun  des  Innern  unter- 
stellt waren  und  noch  im  Jahre  1907  Filialen  der  Gouvernementsverwaltung, 
nicht  aber  Stellen  der  Selbstverwaltung  sind. 

Aus  diesen  Tatsachen  ist  zu  folgern: 

Wir  können  aus  der  Entwicklung  der  Gemeinden,  mögen  sie  ländliche 
oder  städtische  sein,  nicht  darauf  schließen,  ob  die  Polen  befähigt  sind,  zu 
gemeinnützigem  "Wirken  zusammenzustehn  oder  nicht. 

Wir  müssen  darum  die  zur  Beurteilung  der  entsprechenden  Fähig- 
keiten der  Polen  notwendigen  Faktoren  vor  allen  Dingen  außerhalb  aller 
der  Einrichtimgen  und  Organisationen  des  öffentlichen  und  politischen 
Lebens  suchen,  nach  denen  wir  in  Westeuropa  gewolmt  sind,  die  gesell- 
schafts-politischen  Fähigkeiten  eines  Volks  zu  beurteilen. 

Wir  finden,  was  w^ir  brauchen,  durch  eine  Betrachtung  der  modernen 
privatwirtschaftlichen  Organisationen,  die  über  die  Familienverfassung  und 
im  geschäftlichen  Leben  über  die  Familiengründung  hinausgehn. 

Wir  sind  gezwungen,  diese  privatwirtschaftlichen  Erscheinungen  in 
den  Kreis  unsrer  politischen  Betrachtung  zu  ziehn,  weil  sich  in  ihnen  allein 
das  gesetzlich  geschützte  gesellschaftliche  Leben  der  Polen  konzentriert. 
Die  Politik  hatte  bis  zum  Oktober  1905  außer  im  Zusammenhang  mit  wirt- 
schaftlicher Betätigung  im  Zartum  Polen  nirgends  eine  öffentliche  Arena.  ^) 
Große  ideeUe  und  allgemeine  Gedanken,  philanthropische  Ideen,  in  andern 
Ländern  und  Staaten  längst  anerkannte  und  von  Organen  der  Selbstver- 
waltung gelöste  Fragen  des  Schulwesens,  des  Kindei'schutzes,  der  Bekämp- 
fung von  Epidemien  und  wirtschafthcher  Krisen  haben  auch  nach  dem 
Herbst  1905  kein  Forum  in  einem  Provinziallandtag,  in  einer  Stadtver- 
ordnetenversammlung, in  der  bäuerlichen  Gemeindeversammlimg  oder  gar 
auf  einem  Städtetag  oder  Landwirtschaftskongreß.    Alle  diese  Fragen  werden 


*)  Die  Sitzungen  der  Gouvernementskoraitees  zur  Hebung  der  Landwirtschaft  waren 
zwar  nicht  geheim,  aber  trugen  einen  vertraulichen  Charakter. 


248  Elftes  Kapitel.    Finanz-  und  "Wirtschaftsorganisationen 

in  den  Kanzleistuben  der  Gouverneure  häufig  von  Leuten  gelöst,  die  weder 
die  Bedürfnisse  noch  die  Sprache  des  Landes  kennen,  die  darum  ent- 
weder einem  aus  Petersbui'g  gegebnen  Befehl  blind  gehorchen,  wie  die 
Mehrzahl  der  ehemaligen  Offiziere,  oder  jedem  Einfluß  aus  dem  Publikum 
zugänglich  sind,  Avie  viele  russische  Richter.  Die  Gesellschaft  darf  an  allge- 
meine Fragen  höchstens  von  wirtschaftlichen  Gesiclitspunkten  aus  und  in 
strenger  territorialer  Beschräukung  auf  die  jeweilige  Gmin,  den  landwirt- 
schaftlichen Verein,  die  Aktiengesellschaft  herantreten.  Darum  werden  auch 
Fragen  von  allgemeiner  Bedeutuug  nur  heimlich  im  Anschluß  an  Sitzungen 
der  Aufsichtsräte  oder  an  Versammlungen  der  landwirtschaftlichen  Vereine 
besprochen.  Es  gibt  selten  solche  Sitzungen  im  Zartum,  an  die  sich  keine 
politischen  Erörterungen  anschließen.  Weil  kein  politisches  Organ  im 
Zartum  Polen  vorhanden  ist,  deshalb  sind  alle  Wirtschaftsorganisationen 
im  Zartum  politisch  infiziert.  Die  Regierung  ist  sich  dieser  notwendigen 
Folge  ihrer  Politik  stets  bewußt  gewesen.  Aber  statt  Abhilfe  durch  die 
im  Westen  längst  bewährten  Mittel  zu  schaffen,  hat  sie  stets  und  überall 
die  Entwicklung  wirtschaftlicher  Organisationen  mit  allen  möglichen  künst- 
lichen Mittebi  bureaukratischer  Technik  hintan  zu  halten  versucht. 

Ausgehend  von  solchen  allgemeinen  Überlegungen  wollen  wir  zunächst 
einen  Blick  auf  die  in  der  Finanzwelt  Polens  wirkenden  Kräfte  werfen, 
dann  uns  die  Aktienunterneimiungen  als  die  am  meisten  entnationalisierte 
Form  der  Avirtschaftlichen  Organisation  ansehn  und  mit  ihrer  Hilfe  die 
Verbindung  der  polnischen  Finanzen  mit  der  nichtpolnischen  Welt  andeuten. 
Die  zweite  Stelle  nehmen  die  Spar-  und  Vorschußkassen  in  den  Städten 
in  Anspruch.^)  Eine  sti'eng  abgeschlossene  Organisation  für  sich  bilden  die 
Gminsparkassen,  und  für  uns  am  Avichtigsten  sind  die  landwirtschaftlichen 
Kredit-  imd  Handelseinrichtungen. 

A.  Die  polnische  Finanzwelt 

1.  1)118  Warschauer  Kontor  der  Kussinchen  Staatsbank 

Die  Finanzen  des  Zartums  Polen  sind  erst  im  Laufe  der  1880er  Jahre 
vollständig  zimi  untrennbaren  Bestandteil  der  russischen  Staatsfinanzen 
geworden.  Bis  zum  31.  Dezember  des  Jahres  1885  bestand  im  Zartum 
Polen  die  1828  mit  einem  Grimdkapital  von  acht  Millionen  Rubel  ge- 
gründete „Polnische  Bank".  An  ihrer  Spitze  befand  sich  ein  Direktorium, 
bestehend  aus  dem  Präsidenten,  Vizepräsidenten  imd  fünf  Abteilungschefs, 


')  Die  städtischen  Banken,  die  auch  einen  nicht  zu  uuterschätzenden  Einfluß  auf 
das  Wirtschaftsleben  haben,  lassen  wir  aus  unsem  Betrachtungen  weg,  weil  sie  zum 
größten  Teil  unter  jüdischer  Leitung  stehn ,  und  wir  keine  genügenden  Daten  über  die 
städtischen  Banken  erhalten  konnten,  in  denen  da.s  polnische  Element  vorherrscht. 


A.  Die  polnische  Finanzwelt  249 

dem  wieder  sechs  von  der  Warschauer  Kaufmannschaft  gewählte  Handels- 
bciräte  zur  Seite  stimden.  Die  Bank  hatte  zehn  Filialen  in  Lodz,  Wloc- 
lawek,  Lublin,  Kaiisch,  Plock,  Radom,  Czenstochau,  Kjelce,  Peti-ikau  und 
Lonisha  eiTichtot.  Die  Operationen  der  Bank  ließen  sich  in  zwei  Kate- 
gorien einteilen:  solche  für  Rechnung  und  im  Aufh'age  des  Fiskus,  und 
solche  gewerblichen  Charakters.  Zu  den  ersten  gehörten  die  Staatsschulden- 
verwaltung fiii-  Polen,  Verlosungen,  Einlösung  der  polnischen  Kupons  soAvie 
der  Kupons  der  Liquidationsbriefe  (s.  S.  42).  Außerdem  gab  die  Bank 
staatlichen  Einrichtungen  Vorschüsse  für  deren  Unternehmimgen.  ^)  Unter 
den  gewerblichen  Operationen  der  Polnischen  Bank  nahmen  am  1.  Januar 
1881  die  erste  Stelle  ein:  Wechseldiskont  mit  15,5  Millionen  Rubel,  Diskont 
von  Wertpapieren  0,7,  Beleihung  von  Wertpapieren  0,85,  von  Waren  0,5 
und  Tratten  auf  das  Ausland  0,31  Millionen  Rubel;  die  Höhe  der  unbe- 
fristeten, durch  Wechsel,  Hypotheken  und  sonstige  Wertpapiere  sicherge- 
stellten Kredite  belief  sich  auf  6,4  Millionen  Rubel.  Die  Mittel  der  Bank 
bestanden  aus  einem  Grundkapital  von  8  Millionen,  0,5  Millionen  Re- 
serven, 2,8  Millionen  privaten  Einlagen   und  21  Millionen  Staatsgeldern, 

Die  Polnische  Bank  hatte  auch  das  Lotteriewesen  im  Zartum  zu  ver- 
walten. 

Seit  Erlaß  des  Befehls  vom  24.  April  1870  wurden  alle  solche  Ge- 
schäfte der  Polnischen  Bank  allmählich  liquidiert,  die  von  der  Russischen 
Staatsbank  —  als  Institut  für  kurzfristige  Kredite  —  statutenmäßig  nicht 
betrieben  wurden."^)  Solche  Geschäfte  waren:  die  Ausgabe  von  eignen 
Kreditscheinen,  die  Beleihung  von  Landgütern,  industriellen  Anlagen  und 
Wertgegenständen,  die  Hergabe  von  Krediten  gegen  hypothekarisch  sicher- 
gestellte Wechsel,  die  Hergabe  von  Vorschüssen  auf  sogenannte  Hypotheken- 
kapitalien. •^)  Im  Jahre  1885  waren  die  Abwicklungen  so  weit  gediehen, 
daß  der  Finanzminister  Bunge  die  Umwandlung  der  Polnischen  Bank  in 
das  Warschauer  Kontor  der  Staatsbank  beantragen  konnte.  Ein  Rest  von 
etwa  zwei  Millionen  Rubel  wurde  durch  die  Staatsbank  übernommen.*) 
Am  1.  Januar  1886  erfolgte  die  Übergabe  der  Polnischen  Bank  mit 
40353000  Rubel  Aktiven  und  Passiven  an  die  Staatsbank. 

Das  Zartimi  Polen  bildet  einen  Finanzbezirk  für  sich,  an  dessen  Spitze 
das  Kontor  zu  Warschau  steht  (Art.  47).  Seit  Einrichtung  der  Russischen 
Staatsbank  ün  Zartum  Polen  hat  sich   der  Zusammenhang  der  polnischen 


^)  Tätigkeit  des  Finanzministeriiuns  von  1881  bis  1894,  amtliche  Ausgabe,  Druck  bei 
W.  Kirschbaiun,  St.  Petersburg,  1902,  S.  252. 

*)  Artikel  1  des  Statuts  der  Russischen  Staatsbank. 

")  Rechenschaftsbericht  des  Reichsrats  von  1885,  S.  301. 

*)  Bestätigtes  Reichsratsgutachten  vom  3.  Juni  1885. 


250 


Elftes  Kapitel.   Finanz-  und  Wirtschaftsorganisationen 


Finanzen  mit  den  russischen  ganz  erheblich  gesteigert,  was  besonders  durch 
den  dem  Warschauer  Kontor  seitens  der  Zentrale  eingeräumten  Kredit  zum 
Ausdruck  kommt.  Im  Debitorenkonto  der  Staatsbank  sind  nämlich  geführt 
im  Jahre  1896  139,6  Millionen  Rubel,  im  Jahre  1900  215,7,  im  Jahre  1902 
263,1,  im  Jahre  1903  306,6,  im  Jahre  1905  über  273,5  ^lillionen  Rubel. 

Die  gewaltigen  hier  angegebnen  Summen  kommen  nun  durchaus 
nicht  vollständig  dem  Handel  zugute.  Eine  ganze  Anzahl  von  Millionen 
—  zwischen  25  bis  30  im  Jahre  —  stellen  Kredite  an  das  Heer  dar,  die 
auch  über  das  genannte  Konto  laufen.  Wie  geringfügig  tatsächlich  die 
Zahlen  für  ein  industriell  hochentwickeltes  Gebiet  wie  das  Zartum  Polen 
sind,  vergegenwärtigen  wir  uns,  wenn  wir  uns  erinnern,  daß  im  Jahre  1905 
über  das  genannte  Konto  allein  in  Moskau  800  Älillionen,  in  Kijew  294  Mil- 
lionen gelaufen  sind.  Immerhin  nimmt  Warschau,  wenn  wir  von  Tschita*) 
absehn,  die  vierte  Stelle  im  Reich  ein,  während  es  nach  der  Bevölkerung 
ebenso  wie  nach  industrieller  Produktion  die  zweite  Stelle  einnehmen 
müßte.  Hiemeben  ist  festzustellen,  daß  die  vier  Aktienbanken  im  Zartum 
Polen  zusammen  im  Jahre  1907  nur  ein  Kontokorrent  bei  der  Staatsbank 
von  1635000  Rubel  unterhielten;  das  entspricht  nur  4,05  Prozent  aller 
Kontokorrente  der  russischen  Aktienbanken  bei  der  Staatsbank,  Die  zehn 
Petersburger  Aktienbanken  einschließlich  Credit  Lyonnais  nehmen  29,3  Mil- 
lionen oder  74  Prozent  für  sich  in  Anspruch,  die  fünf  Moskauer  l^j^  Prozent 
und  alle  übrigen  Provinzialbanken  auf  Aktien  nicht  ganz  15  Prozent.  Hierin 
kommt  auch  die  Finanzpolitik  zum  Ausdruck,  die  darauf  ausgeht,  große 
russische  Banken  für  den  polnischen  Mai'kt  zu  interessieren  und  sie  zur 
Eröffnung  von  Filialen  im  Zartum  zu  veranlassen.'') 

Die  Wirksamkeit  der  Staatsbank  im  Zartum  Polen  läßt  sich  auch 
durch  die  an  verschiedne  Arten  von  Gewerbetreibenden  gegebnen  Vor- 
schüsse beurteilen.  So  gaben  die  verschiednen  Filialen  im  Zartum  Polen 
zusammen  Vorschüsse: 


1896 

1900 

1902 

1903 

1905 

auf  "Waren 

„    Landwirte 

„    Industrie 

„    Hausindustrie 

„    landwirtschaftliche  Maschinen 

2769,1 

532,9 

134,6 

194,8 

1,6 

1 759,0 
512,7 

0,1 
1,6 

2020,2 
535,1 

0,1 

2208,2 
606,8 

1907,4 
389,9 

zusammen 

3633,0 

2273,4 

2555,4 

2815,0 

2297,3 

^)  Tschita  wies  420  Millionen  Rubel  auf.  Doch  ist  diese  Höhe  wohl  ausschließlich 
durch  die  Folgen  des  japanischen  Krieges  hervorgerufen. 

')  So  wird  erzählt,  und  ich  gebe  es  mit  allem  Vorbehalt  wieder,  daß  die  Filialen 
russischer  Banken  im  Zartum  Polen  seitens  der  Staatsbank  im  Kredit  bevorzugt  werden. 


A.  Die  polnische  Finanzwelt  251 


Über  den  Umfang  des  Wechseldiskonts  haben  wir  bereits  auf  Seite  164 
berichtet.  Auf  diesen  Teil  der  Tätigkeit  der  Staatsbankfilialen  hat  die 
Bevölkerung  des  Zartums  geAvissermaßen  Einfluß  durch  das  sogenannte 
Diskontokomitee.  ^)  Solche  Diskontokomitees  bestehen  sowohl  im  Kontor 
zu  Warschau  wie  in  den  übrigen  neun  Abteilungen  in  der  Provinz  (Art.  60). 
Sie  setzen  sich  zusammen  aus  dem  Direktor  der  betreffenden  Bankfiliale, 
dem  Vorsteher  der  Wechselabteilung,  ferner  aus  für  die  Dauer  von  zwei 
Jahren  gewählten  Vertretern  des  Handels,  der  Industrie  und  der  Land- 
wirtschaft sowie  auch  für  Einzelfragen  aus  Sachverständigen  aus  ver- 
schiednen  Behörden  und  Berufen  (Art.  61).  Die  Zahl  dieser  Vertreter  be- 
stimmt das  Direktorium  der  betreffenden  Bankfiliale;  die  einzebien  gewählten 
Persönlichkeiten  werden  durch  den  Fiuanzniinister  bestätigt  (Art.  62). 

Bei  der  ganzen  Lage  des  Handels  und  der  Industrie  im  Zartum  sind 
es  in  erster  Linie  jüdische  Kaufleute,  deutsche  Industrielle  und  polnische 
Landwirte,  die  zu  diesem  Komitee  Zutritt  haben.  Doch  kommen  auch  pol- 
nische Bankiers  als  Inhaber  großer  Privatfirmen,  wie  Mnkowski,  Pendzinski, 
Poplawski,  DAvorzicki  und  andre,  dafür  in  Frage.  Wie  aber  die  Mit- 
glieder der  Diskontokomitees,  die  gleichzeitig  Sitz  und  Stimme  im  Börsen- 
komitee imd  im  Handelsgericht  haben,  verwachsen  sind  mit  den  polnisch- 
nationalen Interessen,  ergibt  sich  imter  anderm  aus  der  Tatsache,  daß  sie, 
weil  sie  wohl  die  polnische,  nicht  aber  die  russische  Sprache  beherrschen, 
die  Schaffung  russischer  Texte  für  die  polnische  Handelsgesetzgebung 
nicht  für  nötig  hielten,  und  daß  Herr  Witte  gerade  auf  ihr  Drängen  jene 
Senatsentscheidung  erAvirkte,  wonach  bei  Streitigkeiten  Avegen  des  Wortlauts 
einer  Gesetzesbestimmung  der   polnische  Text  maßgebend  bleiben  müsse 

(vgl.  S.  80,  Anm.  6). 

2.  Die  Haute  finattce 

Die  Haute  tinance  im  Zartiim  Polen  hat  sich  Avährend  der  vergangnen 
vierzig  Jahre  um  fünf  verschiedne  Namen  gruppiert:  Kronenberg,  Epstein,') 
Wawelberg-RotAvand,  Landau  und  Herbst.  Mt  wechselnder  Kraft  haben 
die  einzelnen  direkt  oder  durch  Vermittiung  ihrer  Gefolgschaft  zu  ver- 
schiednen  Zeiten  auf  den  polnischen  Geldmarkt  und  auf  die  Entwicklung 
der  politischen  Gesinnung  unter  den  Polen  eingewirkt.  Den  zuletzt  genannten 
Präsidenten  der  Lodzer  Handelsbank  können  wir  aus  unsem  Betrachtungen 
ebenso  ausscheiden  wie  das  von  ihm  geleitete  Finanzinstitut.  Die  1872 
mit  einem  Kapital  von  fünf  Millionen  Rubel  begründete  Lodzer  Handels- 
bank stellt  den  Mittelpunkt  der  Wollindustrie  im  Zartum  Polen  dar,  ist 
somit  fast  vollständig  unter  internationalem  Einfluß  und  in  Abhängigkeit 

^)  Art.  60  bis  69  des  Statuts  der  Russischen  Staatshank. 
*)  Epstein  tritt  gegenwärtig  immer  mehr  zuxiick. 


252  Elftes  Kapitel.    Finanz-  und  Wirtschaftsorganisationen 


von  der  Politik  der  Kreditkanzloi  des  nissischen  Finanzministeriums.  Um 
sie  gruppieren  sich  die  Scheibler,  Kunitzer,  Steinert,  Werner,  Heimann, 
Gromann,  Ziegler  und  noch  manche  Größen  erster  und  zweiter  Ordnung. 
Alle  hier  angedeuteten  Fabrikuntemehmungen  kommen  in  erster  Linie  als 
Verbraucher  polnischer  Arbeitski'äfte  in  Betracht,  also  als  Brotgeber,  nicht 
aber  als  Verarbeiter  polnischer  Rohstoffe.  Sie  nehmen  die  Schafwolle  aus 
Südrußland  oder  England.  Baumwolle  aus  Amerika  oder  Turkestan  und 
suchen  vor  allen  Dingen  Absatz  in  Rußland  oder  in  den  in  die  russische 
Interessensphäre  einbezognen  asiatischen  Ländern.  Sie  haben  somit,  da 
sie  einmal  auf  russischem  Boden  stehn.  ähnlich  wie  die  Filiale  der 
"Wolga -Kama- Bank  oder  des  Warschauer  Hauses  Landau  »S:  Co.  das  größte 
Interesse  an  einer  möglichst  gesunden  innern  Entwicklung  des  russischen 
Reichs  und  an  dessen  stärkster  Machtentfaltung  nach  außerhalb.  Mit  der 
rein  polnischen  Gesellschaft  in  Polen  stehn  sie  nur  in  sehr  geringer 
wirtschaftlicher  Verbindung  und  nur  vereinzelt  durch  Vermittlung  der 
jungem  Generationen  in  gesellschaftlichem  Verkehr.  Dabei  wollen  wir 
indessen  nicht  außer  acht  lassen,  daß  diese  Verbindungen  nicht  seltner, 
sondern  häufiger  werden.  Wenn  diese  Kreise  auf  das  polnische  Pro- 
blem einwirken,  so  tim  sie  es  nur  indirekt  Sie  bringen  ausländische 
Kapitalion  und  deutsche  Arbeitstüchtigkeit  und  Zuverlässigkeit  ins  Land, 
sie  erziehen  den  polnischen  Arbeiter,  sie  sorgen  für  bessere  Verkehrs- 
mittel und  erstreben  möglichst  gesunde  Rechtsverhältnisse  im  russischen 
Reich.  Alle  diese  Dinge  kommen  jedem  russischen  Staatsbürger  zugute, 
müssen  aber  hemmend  auf  die  staatsfeindlichen  Bestrebungen  Avirkon,  da 
ihre  Venvirklichimg  zur  Festigung  des  Gesamtstaates  beiträgt  Somit 
scheidet  die  Gruppe  Herbst  aus  unsrer  Betrachtung  aus.  Das  gleiche  könnte 
auch  ohne  weiteres  von  der  Jüngern  Gruppe  Geier  gelten,  die  die  Lodzer 
Kaufmannsbank  im  Jahre  1897  mit  zwei  Millionen  Rubel  Kapital  gründete, 
wenn  nicht  dort  durch  Anknüpfung  verwandtschaftlicher  Beziehungen  mit 
der  polnischen  Aristokratie  der  polnische  Einfluß  wüchse. 

Bei  den  großen  geschäftlichen  Beziehungen  mit  Rußland,  die  diese 
Gruppe  unterhält,  darf  diese  Verbindung  als  eine  weitere  Bessemng  der 
russisch -polnischen  Beziehungen,  also  als  eine  Stärkung  der  politischen 
Partei  der  Ugodowce  betrachtet  werden,  und  zwar  wieder,  was  wir  unter- 
streichen wollen,  durch  Vermittlimg  des  polonisierten  deutschen  Elements. 

Ganz  anders  müssen  wir  die  Gruppen  der  Warschauer  Haute  finance 
bewerten,  sofern  sie  nicht  mit  der  Lodzer  verbunden  ist  Schon  ein  Blick 
auf  die  Verzeichnisse  der  Aufsichtsräte  der  Banken  und  industriellen  Unter- 
nehmungen gibt  uns  die  Möglichkeit,  auf  ihre  Beziehungen  zu  schließen. 
Wenn  auch    mancher   jüdische  Name   den  Glauben  aufkommen  läßt,    als 


A.  Die  polnische  Fiiianzwelt  253 

dürften  bei  den  gewerblichen  Unternehmungen  nicht  nationalpolnische  Ge- 
sichtspunkte  herangezogen  worden,  können  wir  uns  bei  einem  solchen 
Argiunent  nicht  beruhigen.  Der  hauptsächlichste  Unterschied  zwischen  der 
Warschauer  und  der  Lodzer  Gruppe  besteht  in  der  Tatsache,  daß  diese  auf 
dem  Weltmarkt  arbeitet,  während  jene  auf  dem  polnischen  Markt  fußt,  ihn 
vertieft  und  entwickelt.  Die  Lodzer  Gruppe  ist  an  die  politische  Entwicklung 
Polens,  solange  eine  starke  Staatsgewalt  vorhanden  ist,  nicht  unbedingt 
gebunden,  die  Warschauer  steht  und  fällt  mit  der  polnischen  Gesellschaft, 
denn  sie  ist  deren  einer  Teil.  Die  frühern  Thoraverehrer  Kronenberg, 
Epstein,  Nathansohn ^)  sind  nicht  römische  Katholiken  geworden,  um  der 
russischen  Regierung  eine  Freude  zu  bereiten,  sondern  lediglich,  um  iu 
der  polnischen  Gesellschaft  festen  Fuß  zu  fassen.  Das  ist  ihnen  gelungen. 
Ähnlich  liegt  die  Sache  bei  den  fi-ühern  Deutschen  Schwede,  Bormann, 
Rau,  Lilpop,  Fuchs  und  andern.-) 

Ein  praktischer  BeAveis  für  die  Behauptung  findet  sich  in  der  Zu- 
sammensetzung der  Verwaltungsräte  verscliiedner  Aktiengesellschaften,  in 
denen  allein  mit  Rücksicht  auf  den  Zweck  ihrer  Unternehmung  das  polnische 
grundbesitzende  Element  den  größten  Einfluß  haben  müßte.  Wir  denken 
hier  besonders  an  die  schon  erwähnten  Zuckerfabrikaktiengesellschaften. 
Schon  etwa  zehn  Jahre  nach  dem  tiefen  Stiu'z  bis  1864  fing  die  dünne 
Oberschicht  der  Polen  an  der  Hand  der  jüdischen  Finanzaristokratie  an, 
modern  zu  wirtschaften,  das  heißt  ihre  Kräfte  in  realer  Betätigung  zu  ver- 
werten und  zu  stählen.  Sie  wurde  darin  moralisch  unterstützt  in  der 
liberalen  Richtmig  der  Positivisten.  Bei  Betrachtung  dieser  Verhältnisse 
dürfen  wir  indessen  nicht  einseitig  vorgehn.  Sie  haben  sich,  wie  überall  in 
der  Welt,  auf  durchaus  materieller  Grundlage  ohne  politische  Hintergedanken 
gebildet,  und  das  Zusammenwirken  der  polnischen  Magnaten  mit  der 
bürgerlichen  Haute  finance  ist  nichts  andres,  als  was  in  Deutschland  mid 
Österreich  fortgesetzt  geschieht.  Für  eine  radikale  nationale  Politik  sind 
solche  Kreise  wenig  geeignet.  Sie  müssen  wegen  ihrer  materiellen  Interessen 
mit  der  stärksten  Richtung  gehn.  Das  äußerliche  Zusammengehn  ist  aber 
kein  Hindernis  dagegen,  daß  sie  heimlich  gegen  dieselbe  Richtung  arbeiten, 
weil  deren  Ziele  ihnen  in  nationaler  Hinsicht  gefährlich  erscheinen.    Wir 


^)  Ich  irre  wohl  nicht  in  der  Annahme,  wenn  sich  innerhalb  der  jüdischen  Gesell- 
schaft von  "Warschau  das  Refornijudentnm  ähnlich  wie  in  Berlin  und  unter  dem  Einfluß 
von  Moses  Mendelssohn  entwickelt  hat.  Jedenfalls  spricht  der  Zeitpunkt  vieler  Taufen 
für  meine  Annahme. 

'^)  So  ist  Ludwig  Schwede  (nunmehr  „Szwede")  zusammen  mit  den  russischen  Stau- 
tschiken  Ludwig  Gorski,  Thomas  Zamojski,  Anton  Wrotnowski  Begründer  des  konservativen 
„Slowo"  in  AVarschau.     Siehe  auch  Anm.  3  auf  S.  244. 


254  Elftes  Kapitel.    Finanz-  und  Wirtschaftsorganisationen 

sind  deshalb  gezwungen,  die  eingetretne  Möglichkeit  solchen  Zusammen- 
wirkens, die  sich  erst  Anfang  der  1870  er  Jahre  herausgebildet  hat,  ins 
Auge  zu  fassen  und  sie  als  ein  Moment  der  Erstarkung  der  polnischen 
GeseUschaft  zu  betrachten.  Es  bedarf  somit  kaum  einer  Erläuterung,  wenn 
wir  meinen,  daß  der  also  wirtschaftlich  interessierte  adliche  Patriot  ohne 
weiteres  aus  den  Reihen  der  revolutionären  Nationale  ausschied  und  ihnen 
so  lange  fernblieb,  bis  sich  wieder  ein  Übei-schuß  von  Kräften  angesammelt 
hatte,  der  in  der  Wirtschaft  keine  Betätigung  finden  konnte.  Diese  über- 
schüssigen Kräfte  sehen  aber  anders  aus  nach  einer  Zeit  des  wirtschaft- 
lichen Aufschwungs  als  nach  einer  solchen  des  Niedergangs.  In  der  pol- 
nischen Gesellschaft  finden  wir  diese  Beobachtung  bestätigt  in  der  Ent- 
wicklung der  politischen  und  literarischen  Parteien.  Erst  unpolitischer 
Positivismus,  dann  —  als  Reaktion  auf  die  mächtige  Entwicklung  des  inter- 
nationalen Kapitalismus  —  nationaler  Sozialismus  imd  schließlich  in  allen 
politischen  Richtungen,  die  nicht  ausgesprochen  jüdisch  sind,  rücksichts- 
losester Nationalismus. 

Von  den  Warschauer  großen  Finanzinstituten  darf  wohl  das  unter  der 
Leitung  der  Rotwands  stehende  als  das  polnischste  bezeichnet  werden  — 
das  Haus  Wawelberg  &  Co.  Da  die  Firma  keine  Aktiengesellschaft  ist, 
scheidet  sie  aus  unsern  Beti'achtungen  aus,  und  es  sei  nur  erwähnt,  daß 
sie  in  erster  Linie  mit  dem  jungem  polnisch -deutscheu  Bürgertum  zu- 
sammenarbeitet, das  sich  in  der  Maschineufabrikatiou  gebildet  hat  (Schwede, 
Lilpop  usw.). 

Wir  dürfen  unsre  kurze  Betrachtimg  nicht  abschließen,  ohne  auch 
einen  Blick  über  die  Grenzen  des  Zartums  geworfen  zu  haben.  In  Wilna, 
Minsk  und  Kijew  ist  gleichfalls  eine  Haute  finance  vorhanden,  die  den 
polnischen  Idealen  sympathischer  gegenübersteht  als  der  russischen  Re- 
gierungspolitik. Im  litauischen  Gebiet  sind  es  die  Namen  Montwill,  Broel- 
Plater,  Ruediger,  Dracki-Lubecki  und  Tyszkewicz,  die  die  Leitung  der 
Finanzinstitute  im  Rahmen  polnischer  Vorstellungen  handhaben.  Dort 
spielt  merkwürdigerweise  das  jüdische  Element  kamn  eine  Rolle.  Dagegen 
tritt  es  im  Süden  um  so  mehr  hervor.  Die  Namen  Brodski,  Ginzburg 
decken  scheinbar  die  der  Grafen  Rzewuski,  Czerwinski  und  andrer  zu. 

Aus  den  angegebnen  Gründen  finden  sich  in  unsrer  Aufstellung 
hierunter  auch  die  außerhalb  des  Zartums  Polen  gelegnen  Banken  auf- 
geführt. ^)  Der  Umfang  der  Tätigkeit  der  Banken  wird  durch  nachstehende 
Zahlen  erläutert. 


*)  Die  beiden  Lodzer  Banken  sind  nur  der  Vollständigkeit  halber  er^'ähnt.    Über  das 
sehr  einflußreiche  Haus  Wawelberg  und  seine  russischen  Filialen  fehlen  mir  Einzelheiten. 


A.  Die  polnische  Finanzwelt 


255 


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W 

w 

Gründungsjahr . 

1871 

1872 

1897 

1873 

1873 

1874 

1868 

Aktien -Kapital- 
Erhöhung  .  . 

1901 

/9000 
13000 

(2000 
\2000 

2000 

5000 

/1400 
\  600 

1000 

2500 

Reserven   .  . 

1898 

3463 

627 



2570 

190 

260 

585 

1901 

5975 

2069 

155 

2540 

293 

333 

20 

1903 

6032 

2091 

254 

2540 

356 

103 

21 

1904 

6076 

2098 

270 

2540 

383 

111 

8 

Einlagen  .  .  . 

1898 

8085 

2215 

59 

2174 

4530 

758 

4476 

1901 

17540 

3938 

69 

5943 

4698 

1517 

2692 

1903 

20517 

3750 

630 

10000 

6510 

2358 

2370 

1904 

20192 

3423 

725 

9600 

6080 

2156 

2140 

Kasse.  .  .  . 

1898 

1352 

296 

121 

512 

402 

278 

200 

1901 

1188 

386 

167 

450 

246 

238 

270 

1903 

1053 

623 

166 

533 

361 

358 

132 

1904 

1297 

581 

161 

491 

345 

289 

130 

Reichsbankkonto 

1898 

19 

9 







1 



1901 

1060 

247 

21 

66 

39 

86 

16 

1904 

511 

202 

24 

150 

247 

170 

22 

1905 

850 

666 

20 

311 

123 

131 

20 

1906 

820 

274 

15 

526 

273 

260 

25 

3.  Polnische  Aktiengesellschaften 

Es  gibt  wohl  gegenwärtig  im  Zartum  Polen  keine  Branche  mehr,  in 
der  nicht  eine  oder  mehrere  rein^)  polnische  Aktiengesellschaften  zu  finden 
wären,  und  es  gibt  nur  wenig  gute  als  Aktiengesellschaften  begründete 
Firmen,  in  denen  nicht  mindestens  ein  Träger  eines  polnischen  Namens 
in  größerm  Maßstabe  mit  Kapital  oder  mit  seiner  Arbeit  beteiligt  wäre. 
Wie  schon  angedeutet,  entstand  die  Mehrzahl  der  Aktiengesellschaften  im 
Zartum  unter  der  Führung  internationalen,  jüdischen  Kapitals.  Ihm 
schlössen  sich  anfänglich  einzelne  polnische  Ad  liehe  an,  häufig  auf  be- 
sondres Ersuchen  der  Finanzleute,  die  unbedingt  den  Vertreter  eines  alten 
Geschlechts  im  Yerwaltungsrat  ihrer  Firma  haben  wollten.  Es  galt  einer- 
seits den  stark  ausgeprägten  Antisemitismus  bei  den  Polen  zu  überwinden 


')  Wenn  wir  von  rein  polniscJien  Gesellschaften  sprechen,  dann  rechnen  wir  solche 
von  polonisierten  Deutschen  und  Juden  nicht  zu. 


256  Elftes  Kapitel.    Finanz-  und  Wirtschaftsorganisationen 


und  sich  andrerseits  das  Vertrauen  der  Großgrundbesitzer  zu  erwerben. 
So  finden  wir  die  Grafen  Rziszczewski  und  Welepolski  im  Aufsich bsrat  der 
Warschauer  Diskontobank  und  Fürst  Woronecki  in  der  Warschauer  Handels- 
bank. Bald  sind  solche  äußern  Gründe  immer  mehr  in  den  Hintergrund 
getreten  gegen  innere,  wirtschaftliche.  In  den  1870er  Jahren  wirkten  be- 
sonders die  Gründungen  von  Zuckerfabriken  auf  das  Eindringen  polnischer 
Elemente  in  die  Finanzinstitute,  und  von  Anfang  der  1890er  Jahre  au 
machen  sich  dann  auch  die  sehr  energischen  Bestrebungen  nach  selb- 
ständiger Betätigung  bemerkbar.  Die  hauptsächlichsten  Gründe  hierfür 
liegen,  abgesehen  von  der  allgemeinen  Ernüchterung  der  polnischen  Ge- 
sellschaft, in  dem  außerordentlich  großen  Zustrom  von  Kapitalien  in  die 
Hände  des  Landadels.  Die  Bevölkerungsvermehrung  im  Zusammenhang 
mit  der  Sachsengängerei  erhöhte  die  Nachfrage  nach  Land  bei  den  Bauern. 
Die  Bodenpreise  stiegen,  und  die  Landbank  (siehe  S.  277  ff.)  konnte  die  (niter 
höher  beleihen.  Bald  begann  auch  die  staatliche  Bauernbank  Geld  unter 
günstigen  Bedingungen  zur  Verfügung  zu  stellen.  Andrerseits  ei'sclnverte 
die  Regierung  dem  Großgrundbesitz  die  in  den  voraufgegangneu  Kapiteln 
mitgeteilten  wirtschaftlichen  imd  politischen  Maßnahmen  das  Wirtschaften 
derart,  daß  die  Besitzer  gern  die  Gelegenheit  ergriffen,  wenigstens  Teile 
ihres  Landes  zu  veräußern.  Der  Erlös  aus  den  Bodenkäufen  wurde  teils 
in  Lidustriewerten,  teils  in  Meliorationen  der  verkleinerten  Besitzungen 
augelegt.  Daher  auf  der  einen  Seite  der  hohe  Stand  der  Gutswirtschaften 
in  Polen,  und  auf  der  andern  Seite  die  immer  größer  werdende  Zahl  von 
polnischen  Unternehmungen  in  Handel  und  Industrie.  Neben  diesen 
letzten  Gründen  darf  auch  die  Finanzpolitik  Wittes  nicht  aus  den  Augen 
gelassen  werden,  deren  eines  Ziel  es  war,  das  private  Kapital  so  viel  wie 
mögüch  zu  mobilisieren.  Die  Gründerära  zur  Amtszeit  dieses  Finanz- 
ministers  konnte  auch  die  polnische  Gesellschaft  nicht  unberührt  lassen, 
um  so  weniger,  als  mit  Abschluß  des  russisch -französischen  Bündjiisses 
und  der  bald  darauf  folgenden  Ernennung  des  Grafen  Schuwalow  (1894) 
das  Vertrauen  in  die  russische  Politik  bei  den  Polen  wuchs. 

Von  hohem  Interesse  für  imsre  Frage  ist  dai'um  eine  Betrachtung, 
wie  sich  die  Gründungen  der  polnischen  Aktiengesellschaften  auf  die  Amts- 
zeiten der  verschiednen  Generalgouvernem-e  (siehe  S.  112)  in  dem  von  uns 
behandelten  Zeitraum  verteilen.  Bis  1868  findet  überhaupt  keine  nennens- 
werte Gründung  statt.  1868  bis  1883  ist  die  Zeit  der  Kronenberg,  Nathausohu, 
Berson,  Baron  Lesser,  Bljoch,  Epstein.  Das  jüdische  Kapital  hat  die  Leitung; 
die  Polen  dürfen  keinerlei  Initiative  dartun.  Manche  Kapitalien  wandern  auch 
in  das  autonome  Galizien  aus.  Jüdischer  Geschäftssinn  und  deutsches  Or- 
ganisationstalent gründen  Banken,  Versicherungsgesellschaften,  bemächtigen 


A.  Die  polnische  Finanzwelt  ^57 


sich  des  Eisenbahnbaues,  der  Zuckerfabrikation  sowie  der  Maschinen- 
t'abrikation.  Pobiische  Namen  j^länzen  nur  nebenher  am  Aushängeschild. 
In  dieser  Zeit  wird  nur  eine  Gesellschaft  unter  polnischer  Leitung  be- 
gründet, die  Zuckerfabrik  in  Leonow  unter  Leitung  der  Grafen  Lubenski 
und  Krassiuski  im  Jahre  1873.^)  Erst  vierzehn  Jahre  später  entsteht  eine 
zweite,  die  Warschauer  Spiritusreinigungs-  und  Verkaufsaktiengesellschaft, 
geleitet  von  Fürst  Woronecki  und  Graf  Czacki  als  rein  polnisches  Unter- 
nehmen, wenn  auch  beide  Namen  auf  eine  engere  Verbindung  mit  der 
Warschauer  Handelsbank,  also  mit  Kronenberg,  hinweisen.^)  Im  Jahre  1890 
folgt  die  Erste  Hopfenbau-Aktiengesellschaft  als  Gründung  polnischer  Unter- 
nehmer. ^) 

Erst  zur  Amtszeit  des  Grafen  Schuwalow  beginnt  ein  regeres  Gründen. 
Ein  Grund  für  diese  Erscheinung  Liegt  in  der  verschiednen  Auffassung  des 
Ai'tikels  229/30  der  Instruktion  für  den  Generalgouverneur  (siehe  S.  63),  wo- 
nach er  zwar  alle  wirtschaftlichen  Unternehmungen  unterstützen  soll,  aber 
das  Gebiet  vor  „schädlichen  Monopolisten"  zu  schützen  hat.  Zur  Amtszeit 
Gurkos  haben  verschiedne  Gesuche  zur  Begründung  von  Aktiengesell- 
schaften durch  Polen  mit  Rücksicht  auf  die  „Monopolisierungsgefahr" 
Fiasko  erlitten. 

Im  Jahre  1895  wurde  die  rein  polnische  Zuckerfabrik  von  Brest- 
Kujawsk*)  und  die  Firley- Portland -Zementfabrik  bei  Lublin  gegründet.^) 
1896  entstellt  unter  der  Firma  S.  Orgelbrand  Söhne  die  erste  polnische 
Druckerei- Aktiengesellschaft  in  Warschau,  deren  Teilhaber  und  Leiter  die 
auch  in  Galizien  bekannten  polnischen  Verleger  Orgelbrand,  Gebethner  und 
Wolf  sind.^)  Wir  werden  von  ihnen  noch  später  als  Zeitungsverleger 
hören.  Die  Kesselschmiede  Sirena  wird  im  gleichen  Jahre  in  eine  Aktien- 
gesellschaft unter  polnischer  Leitung  umgewandelt.') 

Von  besondrer  Bedeutung  für  die  polnische  nationale  Industrie  sind 
die  Jahre  1897/99  geworden.     Fürst  Imeretinski   traute  den  Polen    zwar 


1)  Kapital  750000  Rubel,  Reserven  214000  Rubel,  von  1896  bis  1901  keine  Dividende; 
1903  Hqmdiert. 

2)  Grundkapital  600000  Rubel,   davon  die  zweite  Hälfte  erst  1896  eingezahlt,  Re- 
serven 233000  Rubel,  DiNidende  7  und  6  Prozent,  1903  5  Prozent,  1904  6  Prozent. 

3)  Grundkapital  300000  Rubel,  Reserven  54000  Rubel,  Dividenden  6  Prozent,  1903 
5  Prozent. 

■*)  Gi-undkapital   500000,    Reserven    339000   Rubel,    Beamtenpensionskasse     10000, 
Dividende  5,  10,  15  und  9  Prozent,  1903  10  Prozent,  1904  12  Prozent. 

»)  Gi-undkapital  500000,    Resei-ven    166000  Rubel,    Dividende   1897   und   1898  zu 
20  Prozent,  1899  10  Prozent,  später  keine. 

«)  Grundkapital  850000,  Reserven  122000  Rubel,  Dividende  1902  bis  4  Prozent,  1904 
keine  Dividende. 

')  Gi-undkapital  450000,  Reserven  1600  Rubel,  keine  Dividende. 
Cleinow,  Die  Zukunft  Polens  17 


258 


Elftes  Kapitel.   Finanz-  und  Wirtschaftsorganisationen 


nicht,  aber  er  war  in  seinem  AJter  weder  elastisch  noch  einseitig  genug, 
den  Argumenten  Wittes  entgegentreten  zu  können.  In  seiner  Amts- 
zeit wurden  allein  vierzehn  polnische  Gesellschaften,  aber  nur  sechs  ge- 
mischte jüdisch -polnische  gegründet.^)  In  den  1890  er  Jahren  gewinnen 
auch  polnische  Privatbanken,  vor  allen  die  von  Jan  Dworzicki  und 
Pinczowski  in  "Warschau  größere  Bedeutung,  während  die  Geschäfte  der 
Goldfeder,  Lesser,  Bljoch  und  andre  dem  Zuge  nach  Zentralisation  des 
Kapitals  in  Richtung  auf  Kronenberg  und  Rotwand  folgen. 

Die  polnischen  Gründimgen  liegen  auf  allen  Gebieten:  Zuckerfabrikation, 
Keramik,  Bierbrauerei,  Zementfabrikation,  Eisenerzeugung,  Maschinenbau, 
Eisenbahnbau,  Metallwaren.  Auch  außerhalb  Polens  werden  polnische 
Firmen  in  Aktiengesellschaften  umgewandelt.  Älit  einem  Wort,  die  Polen 
betätigen  sich  auf  allen  Gebieten  des  gewerblichen  Lebens,  Neue  Züge 
bringt  das  Jahr  1900,  in  dem  sieben  rein  pohüsche  und  drei  gemischte 
Aktiengesellschaften  gegründet  werden.^)  Der  schon  als  Mitgründer  der 
Zeitung  Slowo  genannte  Graf  Zamojski  begründet  die  Warschauer  Phil- 
harmonie, Graf  Ssoltan  Schlächtereien,  Graf  Melzinski  gemeinsam  mit  dem 


^)  Die    zur   Amtszeit   des    Generalgouvemeurs  Fürst   Inieretinski   gegründeten   pol- 
nischen Aktiengesellschaften  sind: 

Kapital     Keserven 


Firma  und  Branche 


Dividenden 
bis  1902       1903 


Wolynj,  Zement       .... 
Gostynski  &  Co.,  Eisenwaren 
Drzewulski  &  Lange,  Keramik 
Chmelj,  Brauerei      .     .     . 
Lazy,  Zement      .... 
Bodzechow,  Eisengießerei 
Broel-Plater,  Stahlgießerei 
Skarzisko,  Stalügießerei    . 
Wiljanow,  Kleinbahn    .     . 
St.  Majewski,  Bleistifte 
Hotelbau  in  Wai'schau 
Opoczno,  Zement     ... 
Konrad,  Jamszkewicz  &  Co., 

schau,  Metallwareu  .     . 
Jablonna-Wawer,  Kleinbahn 

*)  Polnische  im  Jahre  1900  gegründete  Aktiengesellschaften: 


^V 


800 

750 

800 

500 

562 

1000 

1800 

750 

200 

320 

1000 

300 


750 
680 


125 

88 

26,5 
90 


11,5 
36 


87,2 


5°/o 


7-8  «/„ 


6-/o 


5«/ 


1904 

0 

0 

6"/o 
0 
0 

37a 
0 

V 

6^0 
67u 

0 

0 


Baujahr      0 


Firma  und  Branche 


Borowiczki,  Zucker  .  .  . 
Ostrowite,  Zucker  .  .  . 
Warschauer  Philhai'nionie 
Städtische  Schlächterei 
Heimstätten,  Warschau  . 
Lodz,  Brauerei  .... 
Pustelnik,  Ziegelei   .     .     . 


Kapital    Reserven 

600  — 

450  — 

500  — 

1300  — 

250  37 

300  — 

700  35 


Dindenden 
bis  1902       1908 


1904 


47o 


3,4-5,2%     7"/,       3,3«/, 


A.  Die  polnische  iHnanzwelt  ^59 


spätem  Keiclisduma-Abgeordneten  Franz  Nowodworski  Heimstätten.  Schon 
vorher  begegnen  wir  einem  spätem  Abgeordneten,  nämlich  Herrn  Sw(^cicki, 
der  im  Jahre  1905  keine  geringe  Rolle  auf  dem  Versöhnungskongreß  in 
Moskau  spielte.  In  Gesellschaft  mit  dem  Fürsten  Ljubomirski  und  dem 
Grafen  Thomas  Zamojski  gründet  und  leitet  er  den  Bau  von  Zufuhrbahneu. 
In  den  Jahren  1901/02  treten  acht  rein  polnische  Aktiengesellschaften  ins 
Leben  und  nur  eine  gemischte,^) 

Nun  soll  die  wirtschaftliche  Bedeutung  der  rein  polnischen  Gründungen 
nicht  überschätzt  werden.  Nur  wenige  der  angeführten  Gesellschaften 
haben  sich  bisher  den  Ruf  dui-chaus  solider  Unternehmungen  erworben. 
Verhältnismäßig  viele  zahlen  seit  ihrer  Begründung  keine  Dividenden. 
Dennoch  düi'fen  wir  daraus  nicht  ohne  weiteres  schließen,  die  polnischen 
Geschäftsleute  seien  unfähig.  Denn  nur  eine  polnische  Gesellschaft  mußte 
liquidieren  (Leonow,  Zuckerfabrik).  Wir  wollen  einen  guten  Teil  der  Schuld 
auf  die  allgemeine,  schon  Jahre  währende  Wirtschaftskiisis  setzen.  Wichtig 
ist  für  die  polnische  Gesellschaft,  daß  die  adlichen  Geldgeber  nicht  nur 
Aktionäre  geworden  sind,  sondern  auch  Leiter  und  Mitarbeiter  in  den  von 
ihnen  begründeten  Unternehmungen.  Ferner  ist  wichtig,  daß  sich  die 
meisten  der  von  uns  als  gemischt  bezeichneten  Gesellschaften  als  polnische 
bezeichnen,  wenngleich  vielleicht  der  Gründer  nicht  ein  Wort  polnisch 
sprach,  und  daß  sich  diese  Unternehmungen  in  der  deutschen  und  russischen 
Handelswelt  ähnlichen  guten  Rufes  erfreuen  wie  die  guten  deutschen  Firmen 
(vgl.  Abschnitt  vom  Handel).  Hieraus  ergibt  sich  auf  der  einen  Seite  der 
große  ethische  Erfolg,  den  jede  Arbeit  abwirft,  ob  sie  von  materiellem 
Erfolg  gekrönt  ist  oder  nicht,  und  auf  der  andern  die  Entwicklung  der 
Achtung  vor  der  polnischen  Gesellschaft  in  den  Erwerbskreisen,  Ferner 
können  sich  die  von  ihrem  Grundbesitz  verdrängten  Träger  der  polnischen 
Tradition  von  ihrer  Stelle  als  Direktoren  und  Aufsichtsräte  aus  neuen 
politischen  Einfluß  auf  die  Gesellschaft  zurückerobern.  Nun  höre  ich  den 
Einwand,  gerade  in  den  am  besten  geleiteten  Gesellschaften  sind  die  Haupt- 

*)  Polnische  im  Jahre  1900  gegründete  Aktiengesellschaften: 

Firma  und  Branche  Kapital    Reserven       .  •    jqqq       iqqq       1994 

Nalenczow,  Heilanstalt     ....  200  —  S^/p  —  3,25  "/o 

Ssokol,  Stärke 150  —  —  —  — 

Kjelce,  Kunstdünger 350  —  —  —  — 

Kleber,  Sandstein 300  —  —  —  — 

Grojce,  Kleinbahn 8900  —  Baujahr  —  V 

Lugna  &  Szrenjawa,  Zucker  .     .     .  1200  —  —  ?  2''/o 

Neptun,  Zement 160  —  —  —  — 

Vereinignng    der    Möbeltischler    in 

Warschau .  200  —  —  —  — 

17* 


260  Elftes  Kapitel.    Finanz-  und  Wirtschaftsorganisationen 


arbeiter  Träger  deutscher  Namen.  Ge^viß,  da  sich  aber  diese  Träger  deutscher 
und  jüdischer  Namen  in  Träger  der  polnischen  Tradition  umgewandelt 
haben,  so  dürfen  wir  sie  nicht  von  der  pobiischen  Kraft  abziehn,  sondern 
müssen  sie  ihr  hinzufügen.  Solange  sich  das  deutsche  Mutterland  wie  in 
der  Gegenwart  jedes  Einflusses  auf  das  Zartum  Polen  begibt,  so  lange  müssen 
die  Träger  deutscher  Namen,  die  Leiter  polnischer  Firmen  sind,  auch  als 
Polen  angesprochen,  bewertet  und  ins  politische  Recheuexempel  eingesetzt 
werden.     Das  ffilt  ebenso  für  das  Geschäft  wie  für  die  Politik. 


b' 


B.  Spar-,  Vorschuß-  und  Verbrauchsvereine  und  Genossen- 
schaften 

1.  Allgemeine  Gesetzgebung 

Das  Vereins-  und  Genossenschaftswesen  ist  in  ganz  Rußland  wenig 
entwickelt.  Bis  etwa  1897  konnte  überhaupt  kaum  von  einem  Genossen- 
schaftswesen gesprochen  werden.  Die  wenigen  vorhandnen  Genossen- 
schaften beruhten  auf  Statuten,  für  deren  Genehmigung  jedesmal  der  ganze 
schwerfällige  Gesetzgebungsapparat  in  Bewegung  gesetzt  werden  mußte. 
Erst  im  Jahre  1895  wurde  ein  allgemeines  Genossenschaftsgesetz  geschaffen, 
und  die  Statuten  bedüi-fen  seitdem  lediglich  der  Genehmigung  durch  den 
Pinanzminister  —  in  Polen  der  des  Generalgouvemeurs.  Die  russische 
Genossenschaftsgesetzgebung  beruht  in  ihrer  Theorie  für  die  einzelnen 
Arten  von  Genossenschaften  teils  auf  den  Prinzipien  der  Raiffeisenvereine, 
teils  auf  denen  der  Schulze -Delitzschschen  Genossenschaften.  Die  ge- 
sunden Grundlagen  dieser  Organisationen  sind  entsprechend  den  Bedürf- 
nissen des  russischen  Polizeistaats  beschränkt  und  abgeändert.^) 


*)  Die  Regierungspolitik  gegenüber  dem  Genossenschafts-  und  Vereinswesen  wird  ge- 
kennzeichnet durch  die  Äußerang  des  Reichsrats,  die  wir  in  einem  Immediatbericht  an 
den  Zaien  finden.  „Die  herrschende  Gesetzgebung,  heißt  es  da,  hat  die  Freiheit  der 
Privatpersonen  sehr  beschränkt,  solche  Gesellschaften,  Vereine,  Genossenschaften  und  andre 
freiwillige  Vereinigungen  zu  bilden,  die,  auf  längere  Zeit  abgeschlossen,  der  Erreichung 
irgendeines  Zieles  mit  vereinten  Kräften  dienen  sollen.  Ehe  zur  BUdung  einer  Genossen- 
schaft geschiitten  werden  konnte,  war  eine  vorläufige  Genehmigung  der  Regierung  not- 
wendig; erst  nach  Ei-teilung  der  Erlaubnis  durften  die  Vorarbeiten  für  die  zu  bildende 
Gesellschaft  in  Angriff  genommen  . .  .  und  der  Statutenentwurf  bei  der  zuständigen  Behörde 
vorgelegt  werden.  Ohne  solche  Genehmigung  bestehende  Vereinigungen  wurden  als  gesetz- 
widrige »Geheimgesellsohaften«  behandelt  ohne  Rücksicht  auf  die  von  ihnen  verfolgten 
Ziele.  .  .  .  Für  Übertretungen  dieser  Bestimmungen  wurden  Strafen  bis  zu  Zwangsarbeit 
verhängt.  Um  dennoch  den  Bedürfnissen  des  gewerblichen  Lebens  gerecht  werden  zu 
können,  hat  die  Regierung  die  Initiative  zur  Einiichtung  von  Genossenschaften  selbst  über- 
nommen." Die  an  verschiedue  bureauki-atische  Institutionen  mit  zum  Teil  hochtönenden 
Namen  angeschlossenen  Genossenschaften  und  Vereine  tragen  deshalb  den  Stempel  aller 
bureaukratischen  Einrichtungen  und  genießen  in  keinem  Teil  der  Gesellschaft  volles  Ver- 
trauen.    In  Polen  gehören  zu  dieser  Kategorie  die  Gminkassen.   Solche  Verhältnisse  gaben 


B.  Spai'-,  Vorschuß-  und  Verbrauchsvereine  und  Genossenschaften  261 

Neben  den  von  der  Regierung  zugegebnen  Kardinalgründen  wirkte 
ein  weiterer  um  so  hemmender:  es  ist  der  Mangel  an  Bildung  in  der 
großen  Masse,  der  doch  die  Grenossenschaften  und  Vereine  in  erster  Linie 
helfen  soUen.  Im  Zartum  Polen  Avirkten  diese  Gründe  noch  schärfer  als 
im  Innern  des  Reichs,  weil  dort,  wie  schon  wiederholt  unterstrichen  werden 
mußte,  keine  Art  von  örtlicher  Selbstverwaltung  vorhanden  ist.  Es  muß 
dem  Finanzminister  Witte  das  Verdienst  eingeräumt  werden,  daß  es  ihm 
gelimgen  ist,  einen  Teil  der  Bedenken  gegen  die  Genossenschaften  bei  den 
führenden  Kreisen  überwunden  zu  haben.  Doch  erst  das  vorläufige  Ver- 
einsgesetz vom  7.  März  1906  hat  eine  der  drückendsten  Beschränkungen 
beseitigt  durch  Einführung  der  Bestimmimg,  daß  Vereine  und  Genossen- 
schaften ohne  vorherige  Genehmigung  der  Behörden  gegründet  werden 
können  (Art.  2).  Nur  solche  Vereinigungen,  die  Abteilungen  (Filialen) 
absondern,  ferner  Verbände  aus  Mnzelvereinen  bedürfen  eines  von  der 
Behörde  bestätigten  Statuts  (Art.  3,  5  bis  8  und  21  bis  40). 

Wenden  wir  uns  zunächst  den  Verhältnissen  zu,  wie  sie  etwa  bis  zum 
März  des  Jahres  1906  bestanden  haben. 

Das  russische  Gesetz  kennt  fünf  Arten  von  Institutionen,  deren  Z^veck 
es  ist,  der  großen  Masse  der  Bevölkerung  den  Weg  zu  billigem  Kredit  und 
damit  zu  genossenschaftlicher  Betätigung  zu  eröffnen: 

1.  Gesellschaften  für  gegenseitigen  Kredit, 

2.  Landbanken, 

3.  städtische  Kreditgesellschaften, 

4.  Privatleihanstalten  und 

5.  die  Institute  für  Kleinkredit. 

Von  allen  interessieren  ims  an  dieser  Stelle  ausschließlich  die  zuerst 
genannten  Gesellschaften  für  gegenseitigen  Kredit  und  die  zuletzt  ge- 
nannten Institute  für  Kleinkredit. 

Die  Institute  für  Kleinkredit  werden  eingeteilt  in:  a)  Kreditgenossen- 
schaften, b)  Spar-  und  Vorschußgenossenschaften  und  Kassen,  c)  Dorf- 
banken und  d)  Gmin-Spar-  imd  Vorschußkassen. ^)  Alle  diese  Genossen- 
schaften unterstehn  der  Aufsicht  des  Finanzministeriums  mit  Ausnahme  der 
ausschließlich  im  Zartum  Polen  vorhandnen  Gminkassen,  die  dem  Ministerium 
des  Innern,  also  dem  Kreischef  unterstehn.  Mit  Hilfe  der  örtlichen  Ver- 
waltungsorgane stand  dem  Minister  des  Innern  ein  großer  Einfluß  auf  die 


der  Initiative  der  Gesellschaft  nicht  den  nötigen  Spielraum,  und  sie  zog  es  vor,  sich  von 
allen  Vereinen  fernzuhalten,  „während  die  energischsten  Teile  sich  revolutionären  Organi- 
sationen anschlössen".     (Rechenschafisbericht  des  Reichsrats  für  1905/06,  S.  570/71.) 

^)  Artikel  86  nebst  Anmerkung  des  Kreditgesetzes,  Bd.  XI,  Teil  2  der  Gesetzsamm- 
lung von  1902. 


262 


Elftes  Kapitel.    Finanz-  und  Wirtschaftsorganisationen 


Gründimg  aller  Arten  von  Genossenschaften  bis  zum  Erlaß  des  erwähnten 
Gesetzes  vom  7.  März  190G  zu.  Die  Gouverneure  hatten  über  den  Bedarf 
an  solchen  Einrichtungen  zu  entscheiden,  ohne  den  Antragstellern  die  Be- 
gründung eines  ablehnenden  Bescheids  geben  zu  müssen.  Solange  Herr 
"Witte  Finanzminister  war,  konnten  die  Agenten  der  Kreditkanzlei  noch 
ein  Wort  mitreden  und  rein  wirtschaftlichen  Gesichtspunkten  Geltung  ver- 
schaffen. Im  übrigen  lag  es  am  persönlichen  Ermessen  der  Kreischefs  und 
Gouverneure,  ob  wirtschaftliche  Genossenschaften  und  Vereine  gegründet 
werden  konnten  oder  nicht. 


2.  Gesellschaften  für  gegenseitigen  Kredit 

Die  Gesellschaften  für  gegenseitigen  Kredit  werden  aus  Mitteln  der 
Gesellschafter  gegründet.  In  ganz  Rußland  gab  es  im  Jahre  1905  nach 
dem  Ausweis  des  Finanzministeriums  235  solcher  Gesellschaften  mit 
151504  Mitgliedern.  Von  ihnen  entfielen  auf  die  beiden  Hauptstädte 
Petersburg  und  Moskau  8  mit  21663  Mitgliedern  und  auf  das  Zartum 
Polen  38  mit  25078  Mitgliedern.  Das  Kapital  aller  Gesellschaften  im 
Reich  betrug  im  genannten  Jahre  38768900  Rubel  zuzüglich  13,5  Millionen 
Reserven.  Davon  entfielen  auf  die  8  liauptstädtischen  Kassen  10,5  Mil- 
lionen Grundkapital  imd  1,5  Millionen  Reserven,  auf  die  38  Kassen  des 
Zartums  Polen  5,9  Millionen  Kajntal  und  1,6  Millionen  Reserven, 

Für  die  Institute  des  Zartums  Polen  ist  das  Statut  der  Warschauer 
Gesellschaft  maßgebend,  i)  Alle  diese  Kassen  befinden  sich  in  städtischen 
Siedlungen.  Sie  verteilen  sich  auf  die  Gouvernements  des  Zartums  Polen 
wie  folgt: 


Zahl  der 

Grundkapital 

Raserv'en 

Gouvernements 

Kassen 

Mitglieder 

Ssuwalki 

— 

— 

— 

— 

Lomsha 

— 

— 

— 

— 

Plock 

2 

1641 

249,5 

32,2 

Sj^'älec 

3 

2572 

169,0 

17,0 

"Warschau 

13 

10063 

2383,5 

1013,9 

Lublin 

1 

568 

220,6 

21,9 

Kaiisch 

5 

2203 

334,2 

71,5 

Petrikau 

10 

4898 

2173,3 

392,5 

Kjelce 

2 

1551 

213,6 

54,3 

Radom 

2 

1582 

203,6 

12,8 

zusammen 

38 

25078 

5947,3 

1616,1 

^)  Artikel  3  des  Gesetzes  über  private  und  genossenschaftliche  Kreditinstitute. 


B.  Spar-,  Vorschuß-  und  Verbrauchsvereine  und  Genossenschaften  263 

Abgesehen  von  der  Kreditgewährung  an  ihre  Mitglieder  haben  die 
Gesellschaften  die  Möglichkeit,  doch  nur  mit  Genehmigung  des  Finanz- 
ministers kurzfristige  Kredite  au  die  landwirtschaftlichen  Gesellschaften  zu 
gewähren.  Ein  ohne  Genehmigung  des  Finanzministers  abgeschlossenes 
Geschäft  ist  rechtsungiltig.  Infolgedessen  hat  sich  die  Regierung  mit  dieser 
Vorschrift  tiefen  Einblick  ni  den  Wirkungskreis  und  die  Beziehungen  der 
genannten  Kassen  gesichert.  Dennoch  kommt  es  wiederholt  vor,  daß  solche 
verbotne  Geschäfte  abgeschlossen  werden.  —  Ein  enger  Zusammenschluß 
der  einzelnen  Gesellschaften  ist  von  vornherein  ausgeschlossen  durch  die 
Bestimmung,  daß  eine  Person  oder  Institution  nicht  Mitglied  mehrerer 
Gesellschaften  für  gegenseitigen  Kredit  zugleich  sein  darf.^)  Eine  geistige 
Einheit  von  ganzen  Gruppen  solcher  Gesellschaften  ist  dadurch  dennoch 
nicht  beseitigt,  und  die  Tragweite  der  Bestimmung  wird  aufgehoben  durch 
die  Anstellung  einer  Person  als  Beamten  in  mehreren  Gesellschaften  zu- 
gleich (vgl.  S.  287/88).  Im  Zartum  Polen  können  wir  zwei  große  Gruppen 
imterscheiden :  die  jüdische,  die  nach  einem  einzigen  Gesichtspunkt  sehr 
gewissenhaft  geleitet  wird,  und  die  polnische,  in  der  die  demokratisch- 
nationale Richtiing  von  der  Landbank  aus  nach  Anerkennung  strebt 
(siehe  S.  285  ff.).  Die  genaue  Zahl  der  ausschließlich  unter  polnischem  Einfluß 
stehenden  Gesellschaften  vermögen  wir  nicht  anzugeben.  Im  allgemeinen 
stehn  die  neuern  Gesellschaften  für  gegenseitigen  Kredit  in  mehr  oder 
weniger  engem  Zusammenhang  mit  den  landwirtschaftlichen  Syndikaten.  So 
läßt  schon  Gemeinsamkeit  von  einzelnen  Beamten  mit  der  Landbank  und 
mit  Syndikaten  auf  gemeinsame  Interessen  schließen.  Warschau  hat  nur 
zwei  durchaus  polnische  Kassen  dieser  Art.  Einzelne  Kassen  wurden  von 
den  Polen  ins  Leben  gerufen,  ausschließlich  um  den  jüdischen  Einfluß  auf 
die  Bevölkerung  zu  vermindern.  Dahin  gehören  z.  B.  die  Gesellschaft  in 
Sjedlec  und  die  „Zweite"  in  Radom.  Die  Zusammenhänge  werden  weiter 
unten  dargestellt. 

Nach  diesen  Bemerkungen  glauben  wir  nur  noch  hervorheben  zu 
sollen,  daß  die  beiden  Gesellschaften  für  gegenseitigen  Kredit  in  Block  und 
die  Mehrzahl  der  Gesellschaften  in  Petrikau  als  polnische  Kassen  bezeichnet 
werden  können.^)  In  allen  andern  Gesellschaften  ist  der  jüdische  Einfluß 
so  stark,  daß  polnisch -nationale  Tendenzen  in  ihnen  nicht  zum  Ausdruck 
kommen  können,  und  an  ihre  Stelle  tritt  der  Einfluß  des  extremen  Frei- 
sinns.  Die  Kassen  —  polnische  und  jüdische  in  gleichem  Maße  —  streben 


*)  Artikel  39  des  Kreditgesetzes  a.  a.  0. 

2)  Die  jüdische  Kolonisationsgesellschaft  hat  im  Zartum  Polen  71  Kassen  für  gegen- 
seitigen Kredit  eingerichtet,  wo  die  armen  Handwerker  zinslose  Darlehen  erhalten,  a.  a.  0. 
Bd.  n,  S.  245  ff. 


264  Elftes  Kapitel.    Finanz-  und  "Wiiischaftsorganisationen 

vor  allen  Dingen  danach,  mit  den  wenigen  in  ihrem  Gebiet  liegenden 
bäuerlichen  Kassen  und  Vereinen  in  Verbind ung  zu  treten.^)  Doch  ist 
uns  kein  Fall  bekannt  geworden,  wo  eine  solche  Verbindung  bis  zu  völliger 
Abhängigkeit  verengert  worden  wäre.  Die  Behörden  haben  es  verstanden, 
jeden  dahin  zielenden  Versuch  zu  vereiteln. 

Die  Gesellschaften  füi-  gegenseitigen  Kredit  haben  sich  zeitlich  in  der- 
selben Weise  entwickelt,  wie  es  für  die  Aktiengesellschaften  gezeigt  wurde. 
Im  Jahre  1872  entstand  die  erste  in  "Warschau,  und  erst  am  Ende  der 
Amtszeit  des  Grafen  Schuwalow  die  zweite  in  Plock.  Von  1898  bis  zum 
Jahre  1905  traten  dann  die  übrigen  36  ins  Leben.  Wir  sehen  somit,  daß 
neben  dem  Kreditbedürfnis  trotz  der  geringen  Entwicklung  des  Volks- 
bildungswesens auch  die  geistigen  Kräfte  vorhanden  waren,  solche  Ge- 
sellschaften zu  gründen  und  zu  leiten.  In  allen  diesen  Gesellschaften  ist 
die  Schriftsprache  nach  dem  Gesetz  die  russische.  In  der  Praxis  wickelte 
sich  indessen  der  gesarate  schriftliche  und  mündliche  Geschäftsverkehr  in 
polnischer  Sprache  ab.  Das  trifft  auch  für  die  jüdischen  Institute  zu.  Nur 
der  Schriftverkehr  mit  den  Behörden  und  die  Bücher  werden  in  russischer 
Sprache  geführt. 

S.  Spar-  und  Vorschussgenossenschaften 

Von  den  im  Reich  zugelassenen  Instituten  für  Kleinkredit  kommen 
im  Zai'tum  Polen  als  Ergebnisse  der  gesellschaftlichen  Selbstbetätigung  nur 
Spar-  und  Vorsch^ißgcnossenschaften  vor.  Dorfbanken,  die  in  russischen 
Gemeinden  vorhanden,  sind,  wenn  wir  von  den  Gminkassen  absehen,'^)  im 
Zartum  Polen  vollständig  unbekannt;  das  gleiche  gilt  von  Wolost- Hilfs- 
kassen. Kreditgenossenschaften  sind  ausschließlich  bei  den  Juden  als 
Wohlfahrtseinrichtimgen  anzutreffen.^)  Es  kommen  für  uns  somit  hier 
lediglich  die  Spar-  und  Vorschuß genossenschaften  in  Frage.*) 

Die  Entwicklung  aller  Arten  von  Genossenschaften  ist  ebenso  gewesen, 
wie  sie  für  die  Gesellschaften  für  gegenseitigen  Kredit  dargestellt  wurde. 
Auch  sind  die  Gründe  die  gleichen.  Noch  im  Jahre  1896  gab  es  nur 
zwei  Spar-  und  Vorschußgenossenschaften  im  Zartum  Polen.  Es  waren 
die  im  Jahre   1873  gegi'ündeten  von   Grojcy   und  Wiskitka.     Eine  dritte 


*)  Artikel  40  des  Kreditgesetzes. 

*)  Spassowitsch  und  Pilz  rechnen  sie  unter  die  Kategorie  der  Dorfbanken,  a.  a.  0., 
Tagesfragen  S.  134. 

")  Vgl.  oben  S.  263,  Anui.  2.  Kreimann  behauptet,  allein  in  Plock  seien  zehn  solcher 
Kassen.    (Warschawski  Dnjewnik  von  1902,  Nr.  126.) 

*)  Warschawski  ünjewnik  von  1902,  Nr.  126,  „Die  Institute  für  Kleinkredit",  ge- 
schrieben von  Kreimann,  Vorsteher  der  Abteilung  für  Kleinkredit  beim  Staatsbankkontor 
zu  Warschau. 


B.  Si)ai-,  Vorschuß-  und  Verbrauchsvereine  und  Genossenschaften 


265 


zur  selben  Zeit  in  Kiitno  entstandne  hat  nur  wenige  Jahre  gearbeitet.  Die 
beiden  Kassen  hatten  zusammen  463  Mitglieder  und  etwa  61000  Kübel 
Beti'iebsmittel.  Schon  im  Jahre  1903  hat  sich  die  Zahl  auf  78  Genossen- 
schaften mit  44849  Mitgliedern  und  gegen  6  Millionen  Rubel  Betriebs- 
mitteln erhöht.  Im  ganzen  Reich  gab  es  1896  schon  605  Kassen  mit 
201843  Mitgliedern,  aber  1903  nur  698  Kassen  mit  297986  Mitgliedern. 
Der  Hauptanteil  der  Yermehrung  entfällt  somit  auf  das  Zartum  Polen,  und 
wir  dürfen  schon  allein  aus  dieser  Tatsache  folgern,  daß  die  Entwicklung 
bis  zum  Jahre  1897  künstlich  aufgehalten  wurde. 

Auf  die  einzelnen  Gouvernements  verteilen  sich  die  Kassen  und  ihre 
Mittel  im  Jahre  1903  wie  folgt: 


Zahl  der 

Betriebsmittel  in  TaiLsend  Eubeln 

Gewinn 

Kassen 

Mit- 
glieder 

Anteile 

Reserven 

Einlagen 

Kredit 

1902 

Ssmvalki    .     . 
Lomsha      .     . 
Plock    .     .    . 
Sjedlec .    .     . 
"Warschau  .    . 
Lublin  . 

2 

5 
1 

3 
19 

9 
10 
12 

7 
10 

580 

787 

66 

342 

16012 

4450 

2812 

13299 

2692 

3809 

21,8 

25,8 
0,7 

14,2 

2765,2 

201,9 

119,3 

567,1 

62.5 
108,4 

0,6 
0,9 

0,1 
86,1 
3,6 
1,8 
4,2 
3,8 
2,4 

30,9 

50,0 

2,6 

20,2 

1260,8 

489,5 

279,1 

1 053,6 

67,8 

207,9 

1,4 

84,3 
18,7 
20,6 
1,5 
41,6 
32,4 

1,6 

3,9 

1,5 
52,0 
15,2 

9,7 

37,2 

7,1 

8,9 

Kaiisch .     .     . 
Petrikau     .     . 
Kjelce  . 

Eadom  . 

zusamr 

tien 

78 

44849 

3886,9 

103,5 

3462,4 

200,5 

137,1 

Im  allgemeinen  treffen  die  frühern  Ausführungen  auch  auf  die  Spar- 
und  Vorschußkassen  zu.  Auch  ihre  Mitglieder  dürfen  nicht  mehreren 
Kassen  zugleich  angehören  (Artikel  96).  Außerdem  darf  jedes  Mitglied  nur 
einen  Anteilschein  zu  hundert  Rubel  besitzen  und  kann  diesen  Anteil 
weder  veräaßern  noch  versetzen  (Artikel  97).  Dagegen  sieht  eine  An- 
merJcung  zu  Artihel  88  die  Bildung  von  Kassenverbänden  vor.  Im  Zartum 
Polen  haben  wir  bis  zum  Jahre  1907  solche  oder  ähnliche  Verbände  nicht 
feststellen  können.  Das  zeitweilige  Gesetz  vom  7.  März  1906  hebt  die  die 
Bildung  von  Verbänden  beschränkenden  Bestimmungen,  wie  wir  schon 
sagten,  nicht  auf.*) 

Auch  innerhalb  der  Spar-  und  Vorschußkassen  gibt  es  eine  jüdische 
und  eine  polnische  Richtung,  und  wir  glauben  daran  festhalten  zu  dürfen, 
daß  die  jüdische  geschäftlich  immer  noch  die  stärkere  ist,  wenngleich  auch 


^)  Das  Gesetz  ist  abgedruckt  bei  1. 1.  Lasarewski ,  „Die  Gesetzgebung  der  Übergangs- 
zeit", Verlag  „Prawo",  St.  Petersburg,  1907,  S.  420  bis  438. 


266 


Elftes  Kapitel.    Finanz-  und  Wirtschaftsorganisationen 


in  einer  großen  Zahl  von  diesen  Kassen  Yertrauensmänner  der  Landbank 
oder  landwirtschaftlicher  Vereine  als  Beamte  angestellt  sind.  In  Petrikau 
und  Kaiisch  spielen  deutsche  Meister  und  Arbeiter,  im  Gouvernement 
Lublin  russische  Beamte  und  Geistliche  in  diesen  Genossenschaften  eine 
gewisse  Rolle.  Doch  drängen  sich  in  Lodz,  Zgierz  usw.  polnische  Sozialisten 
immer  mehr  vor.  Die  geringe  Zahl  der  Kassen  in  Plock  ist  auf  den  "Wider- 
stand der  Regierung  zurückzuführen.  Im  Jahre  1903  sind  vierzehn  Ge- 
suche aus  diesem  Gouvernement  zurückgewiesen  worden.  ^)  Über  die  Ent- 
wicklung der  Genossenschaften  nach  1903  fehlen  einsbveilen  irgendwie 
verwendbare  oder  gar  zusammenhängende  Angaben. 

4.  Kotisumve reine 

Der  Vollständigkeit  halber  sei  hier  auch  der  Konsumvereine  als  Zeichen 
fortschreitender  organisatorischer  Bestrebungen  innerhalb  der  polnischen 
Gesellschaft  gedacht.  Im  März  des  Jahres  1907  gab  es  im  Zartimi  Polen 
126  Konsimivereine  von  1452  im  ganzen  Reich.  Von  ihnen  waren  von 
1869  bis  1899  nur  22  ins  Leben  getreten,  alle  übrigen  wie  folgt: 


1900 

1901 

1902 

1903 

1904      1905 

1906 

1907 

im  ganzen  Reich    .... 
davon  im  Zartum  .... 

103 
6 

96 
6 

166 

8 

159 
2 

167 
9 

120 
6 

225 
36 

66 
31 

Über  die  Gouvernements  verteilt  erhalten  wir  folgendes  Bild: 


Zahl 

Grand- 
kapital 

Reserven 

Gewinn 

im  Jahre 

Gouvernements 

1904 

1905 

in  Tausend  Rubeln 

Ssuwalki 

5 

57 
2 
3 

15 
3 
3 

14 
8 

16 

4 

2 

14 

238 
8 

74 

29 
29 

1 

1 

2 

39 

22 
5 
5 

1 

5 
11 

5 
2 
0,5 

Lomsha 

Plock 

Sjedlec 

Warschau 

Lublin 

2 

10 

Kaiisch 

Petrikau 

Kjelce 

Radom 

— 

zusammen 


126 


398 


75 


24,5 


12 


Die    altem    Konsumvereine    spielen    für    unsre    Studie    eine    geringe 
Rolle.    Sie  wurden  zum  großen  Teil  entweder  von  russischen  Beamten  und 


')  Nach  glaubwürdiger  Mitteilung  von  privater  Seite. 


B.  Spar-,  Vorschuß-  und  Verbrauchsvereine  und  Genossenschaften  267 

Offizieren  ins  Leben  gerufen  oder  von  Fabrikanten,  Eisenbahngeselischaften 
und  sonstigen  gewerblichen  Unternehniimgen.  Ferner  gibt  es  im  Zartum 
Polen  wohl  nur  im  Gouvernement  Lomsha,  wo,  wie  Avir  hörten,  die  kleine 
Schlachta  34  Prozent  des  Bodens  in  Besitz  hat,^)  Konsumvereine  in  großer 
Zahl  auf  dem  platten  Lande.  In  den  übrigen  Gouvernements  gibt  es  einst- 
weilen nur  wenige  solche  Yereine,  deren  Leitung  ausschließlich  in  pol- 
nischen Händen  liegt.  Alle  diese  Unternehmungen  sind  noch  zu  jung, 
als  daß  wir  heute  schon  ein  Urteil  über  ihre  Leitung  und  über  ihre  nächsten 
Ziele  fällen  könnten.  Nur  zwei  „christliche"  Vereine  in  Przedborz  (Radom) 
und  Czenstochau,  die  durch  antisemitische  Geistliche  ins  Leben  gerufen 
wurden,  haben  eine  bestimmt  erkennbare  politische  Färbung.^)  In  den 
Fabrikorten  haben  vielfach  sozialdemokratische  Arbeiter  versucht,  Konsum- 
vereine unabhängig  von  den  Fabrikanten  ins  Leben  zu  rufen,  doch  fanden 
sie,  von  der  revolutionären  AVelle  erfaßt,  keine  Zeit  für  ernste  organische 
Arbeit.  Als  die  Regierung  wieder  zu  sich  gekommen  war,  wurden  viele 
der  Männer,  die  zur  Leitung  der  Kassen  berufen  waren,  verbannt,  während 
die  geistigen  Führer  ins  Ausland  flohen.  Immerhin  dürfen  wir  aus  dem 
zahlreichen  Entstehn  von  Kassen  erkennen,  wie  groß  der  Einfluß  der 
demokratischen  und  nationalen  Kreise  im  Lande  ist. 

Das  normale  Statut  der  Konsumvereine  erleichtert  in  der  Theorie 
ihre  Gruppierung  durch  die  Bestimmung  in  Artikel  2b,  wonach  die  Ver- 
eine berechtigt  sind,  mit  außenstehenden  Personen  und  Instituten  wegen 
Einkaufs  der  von  ihnen  geführten  Waren  in  Verbindung  zu  treten  und 
sich  über  die  zur  Geschäftsfülirung  notwendigen  Mittel  ins  Einvernehmen 
zu  setzen,  sowie  in  Artikel  2g,  wonach  die  Vereine  als  juristische  Per- 
sonen Mitglieder  andrer  entsprechende  Ziele  verfolgender  Vereine  werden 
können.  Freilich  muß  hierzu  die  Genehmigung  des  Ministers  des  Innern 
oder  des  Generalgouvemeurs  eingeholt  werden.  Daß  auch  in  Rußland 
die  Genossenschaften  zum  Zusammenschluß  und  zur  Bildung  von  Genossen- 
schaftsverbänden streben,  zeigen  die  Bemühungen  der  Offiziersvereine 
in  Petersburg  und  Moskau.  Für  die  rein  polnischen  Vereine  liegen 
in  dieser  Richtung  noch  keine  sichtbaren  Erfahrungen  vor.  Die  Vereins- 
gesetzgebung von  1906  hat  eine  unbedingte  Rechtssicherheit  für  die  Ver- 
eine noch  nicht  geschaffen,  da  das  Zartum  Polen  unter  den  Bestimmungen 
des  verstärkten  Schutzes  steht. 

Die  Regierung  hat  sich  ständigen  Einblick  in  die  Geschäfte  der  Kon- 
sumvereine gesichert  durch  das  Recht  der  Revision  zu  jeder  dem  Kxeis- 

»)  Siehe  S.  201 ;  ferner  die  Äußening  Krziwickis  S.  204. 

*)  Vgl.  hierzu,  was  wir  über  den  pohüschen  Antisemitismus  in  den  Grenzboten  ge- 
schrieben haben. 


268  Eütes  Kapitel.    Finanz-  und  "Wirtschaftsorganisationen 

cbef  oder  dem  Gouverneur  geeignet  erscheinenden  Stunde  (Artikel  53,  An- 
merkung) sowie  durch  die  Bestimmung  des  Artikels  55,  wonach  zehn  Prozent 
des  Gewinns  als  Reservefonds  unbedingt  in  Staatspapieren  oder  staatlich 
garantierten  Fonds  angelegt  werden  müssen.  Es  ist  bekannt,  daß  der 
russische  Finanzminister  fortgesetzt  für  die  Erhaltung  der  Kurse  der  Staats- 
papiere zu  sorgen  hat;  es  ist  darum  schon  ohne  sonstige  Erwägungen  wirt- 
schaftlicher Art  anzunehmen,  daß  er  auf  der  einen  Seite  die  Griindung 
von  Konsumvereinen  begünstigen  und  auf  der  andern  der  Geschäftsführung 
sehr  streng  folgen  wird.  Oh  das  Interesse  der  staatlichen  Finanzen 
und  Wirtschaft  unter  der  neuesten  Gesetzgebung  zu  eine^'  weitern  Eni- 
wicJclung  des  Genossenschaftswesens  einschließlich  dei-  Genossenschafts- 
verbände führen  wird,  kann  solange  nicht  entschieden  tverden,  so  lange 
nicht  die  Richtung  der  weitern  Regierungspolitik  in  Petersburg  genau 
festgelegt  ist.  Aber  das  eine  können  wir  hei'vorheben :  schon  gegenwärtig 
ist  der  Keim  eines  Interessengegensatzes  zwischen  staatlicher  Wirtschaft 
und  staatlicher  Grenzmarkenpolitik  vorhanden,  der  sich  trotz  des  Unter- 
schiedes in  den  Verhältnissen  dennoch  so  weit  entwickeln  kann,  wie  es  in 
Preußen-Deutschland  geschehen  ist  und  wie  es  Bernhard  dargestellt  hat. 

C.  Die  Gmin-Spar-  und  Vorschußkassen 

1.  Gründung  und  Enttvicklung 

Außerhalb  des  Genossenschaftswesens  stehend,  aber  doch  von  außer- 
ordentlicher Bedeutimg  für  die  Polen  sind  die  bei  den  Gmin-  und  ein- 
zelnen Gromadaämtem  eingerichteten  sogenannten  Gmin-Spar-  und  Vor- 
schtißkassen.  Sie  bilden  für  einen  großen  Teil  der  bäuerlichen  Bevölkerung 
des  Zartums  auch  gegenwärtig  noch  die  einzige  Institution  zur  Beschaffung 
kleinen,  kurzfi'istigen  Kredits  (vgl.  S.  47).  Ihre  Einrichtung  geschah  gleich- 
zeitig mit  der  Landzuteilung  auf  Grund  des  ükas  vom  19.  Februar  1864 
(vgl.  S.  41  bis  46).  Sie  sind  staatliche  Institute  und  darum  im  eigent- 
lichen Sinne  keine  Genossenschaften.  Als  Grundkapital  der  Kassen  wurden 
gemäß  ükas  vom  18.  Mai  1866  62640  Rubel,  die  Zinsen  eines  Kapitals 
genommen,  das  von  der  Bodcnkreditgesellschaft  (Landbank)  für  gemein- 
nützige Zwecke  gesammelt  worden  war  und  sich  bei  der  Reichsbank  in 
Verwahrung  befand.  Die  Summe  wurde  entsprechend  der  Zahl  der  da- 
mals im  Zartum  Polen  vorhandnen  Kreise  in  85  Teile*)  geteilt,  sodaß  in 
jedem  Kreise  zunächst  eine  Kasse  mit  einem  Grundkapital  von  je  737  Rubel 


*)  Trotz  der  Herkunft  des  Geldas  hat  die  Landbank  als  solche  keinerlei  Rechte  am  Ver- 
mögen der  Gminkassen  und  ist  auch  in  keiner  "S\''eise  an  der  Verwaltung  der  Kassen  beteiligt. 


C.  Die  Gmin-Spar-  iind  Vorschußkasseu  269 

gegründet  werden  konnte.  Die  Tätigkeit  dieser  Kreditinstitute  wurde  ge- 
regelt durch  das  „zeitweilige  Statut  vom  19.  Juli  1868".  Um  die  Ver- 
breitung kleiner  Kassen  zu  ermöglichen,  wurde  unter  anderm  darin  bestimmt, 
daß  wenn  der  Gewimi  nach  Deckung  aller  Ausgaben  die  Höhe  des  Grund- 
kapitals erreicht,  das  Grundkapital  aus  der  Kasse  herauszunehmen  und  für 
die  Einrichtung  einer  neuen  Kasse  zu  verwenden  sei.  Die  neue  Kasse 
wurde  aber  Teein  von  der  alten  abhängiges  Tochterunternehmen,  sondern 
eine  durchaus  selbständige  Institution.  Auch  die  Kassen,  die  in  derselben 
Gmin  als  zweite  gegründet  wurden,  stehn  in  keinerlei  materieller  Ab- 
hängigkeit von  der  ersten,  wenn  ihr  auch  dieselben  Gminbeamten  vorstehn. 
Schon  diese  Bestimmung  gibt  den  Gminkassen  mehr  den  Charakter  von 
Regierungskanzleien  als  von  geschäftlichen  Instituten.  "Wurde  auf  diese 
Weise  die  Weiterverbreituug  der  Kassen  bis  zu  einem  gewissen  Grade  ge- 
fördert, so  wurde  andrerseits  die  Bildung  großer,  kapitalkräftiger  und  ein- 
flußreicher Kreditinstitute  auf  dem  Lande  verhindert. 

Zur  weitern  Verbreitung  der  Gminkassen  stellte  ein  Allerhöchst  be- 
stätigtes Gutachten  des  Komitees  für  die  Angelegenheiten  des  Zartiuns 
Polen  vom  21.  Dezember  1869  auch  die  Zinsen  des  vorher  erwähnten 
Kapitals  der  Bodenkreditgesellschaft  für  die  Jahre  1868  und  1869  mit 
103920  Rubel  zur  Verfügung  des  konstituierenden  Komitees.  Somit  konnten 
vom  27.  März  1870  ab  weitere  170  Kassen  —  in  jedem  Kreise  zwei  — 
mit  einem  Grundkapital  von  je  611  Rubel  eröffnet  werden.  Am  22.  De- 
zember 1879  wurde  die  Einrichtung  von  weitern  48  Kassen  mit  einem 
gemeinsamen  Kapital  von  27  731  Rubel  87^/2  Kopeken  angeordnet. 

Während  der  Jahre  1868  bis  1870  entstanden  daneben  53  Gmin- 
kassen, die  von  den  bäuerlichen  Gemeinden  —  Gromada  —  (siehe  S.  50 
bis  52)  finanziert  wurden.  Vom  Jahre  1870  ab  wurden  schon  Kassen  aus 
den  Erträgen  der  zuerst  gegründeten  Kassen  eingerichtet.^)  Eine  große 
Förderung  für  die  Gminkassen  war  bis  in  die  Mitte  der  1870er  Jahre  die 
Höhe  der  Sti-afgelder  für  Versäumnis  des  Zahlungstermins  im  Zusammen- 
hang mit  der  Lässigkeit  der  bäuerlichen  Kreditnehmer.  Die  Strafen  be- 
trugen ein  Prozent  wöchentlich.  Seit  der  Einfühmng  des  Gerichtsstatuts 
von  1864  im  Zartum  Polen  im  Jahre  1876  wurden  diese  Sti'afzahlungen 
zum  Unterhalt  von  Haftlokalen  verwandt,  was  nach  Spassowitsch  zur  Folge 
hatte,  daß  die  Eröffnung  neuer  Kassen  in  langsamem!  Tempo  vor  sich 
ging.^)  Freilich  war  dies  nicht  der  einzige  Grund.  Auch  die  mit  der 
Aufgabe  der  Politik  Miljutins  ins  Land  einbrechende  Unruhe,  die  schärfer 


')  Die  hier  kurz  skizzierte  Geschichte  der  Gmin-Spar-  und  Vorschußkasseu  lehnt  sich  an 
ein  Memorandum  des  Ministers  des  Innern  an  (Wjestnik  Finanssow  von  1902,  Nr.  22,  S.  379). 
*)  Tagesfragen  a.  a.  0.  S.  127. 


2 70  Elftes  Kapitel.    Finanz-  und  Wirtschaftsorganisationen 


einsetzende  Russifizierung,  die  Propaganda  der  Sozialisten  und  Geistlichen, 
die  gesteigerte  "Willkür  der  Beamten  und  damit  zusammenhängend  die 
wachsende  Rechtsunsicherheit  haben  die  Bauern  von  der  Gründung  neuer 
Kassen  für  mehr  als  ein  Jahrzehnt  abgehalten. 

Das  ursprünglich  ausgegebne  „zeitweilige  Statut"  blieb  bis  zum 
Jahre  1884  in  Geltung  und  wurde  im  Jahre  1870  niu-  dahin  abgeändert, 
daß  auch  Besitzer  von  weniger  als  einer  halben  Deßjatine  Land  ihr  Grund- 
stück in  der  Gminkasse  verpfänden  durften,  während  bis  dahin  anderthalb 
Deßjatinen  die  imterste  Grenze  bildeten.  Diese  Bestimmung  konnte  erlassen 
werden,  da  die  Gminkasse  vorwiegend  eine  Einrichtung  der  Bauern  war, 
wenn  auch  Großgrundbesitzer  ihr  Einlagen  zukommen  ließen.  Am  8.  Fe- 
bruar 1884  traten  die  noch  im  Jahre  1908  geltenden  Statuten  in  Kraft. 
Ihr  durchsichtiger  wesentlicher  Zweck  war,  das  durch  Vermittlung  der 
Kassen  in  die  Gmin  eingedrungne  uichtbäuerliche  Element  wieder  aus  der 
Gminverwaltung  zu  vertreiben. 

Die  Betriebsmittel  der  Gminkassen  werden  durch  unverzinsliche  Spar- 
einlagen und  verzinsliche  zeitweilige  Einlagen  ergänzt.  Einlagen  der  zweiten 
Art  werden  nur  dann  angenommen,  wenn  mindestens  zwei  Drittel  des 
Grundkapitals  ausgeliehen  sind.  Für  die  Unterbringung  der  Ei"spamisse 
müssen  die  Sparer  ein  halbes  Prozent  jährlich  zahlen,  während  die  andern 
sechs  Prozent  jährlich  Zinsen  erhalten.  Die  Einlagen  dürfen  niciit  weniger 
als  einen  Rubel  betragen  und  werden  angenommen  für  die  Zeit  von  einem 
bis  sechs  Monate.  Dabei  sind  folgende  in  Artikel  49  niedergelegte  Vor- 
schriften zu  beobachten:  "Wenn  eine  hinreichend  große  Zahl  von  Personen 
vorhanden  ist,  die  Darlehen  erhalten  wollen,  und  gleichzeitig  Einlagen 
gegen  Zinsen  angemeldet  werden,  dann  ist  die  Verwaltung  der  Kasse  be- 
rechtigt, Einlagen  entsprechend  der  Summe  der  Darlehnsgesuche  aus  den 
angebotnen  Summen  anzunehmen  und  diese  als  Darlehen  zu  verteilen. 
Dabei  ist  die  Verwaltung  der  Kasse  gehalten,  darauf  zu  achten,  daß  „die 
Summe  der  Einlagen  die  Gesamthöhe  der  Darlehen  nicht  überschreitet". 
Gegenwärtig  erhebt  die  Kasse  von  ihren  Schuldnern  acht  Prozent  und 
zahlt  den  Einlegern  sechs  Prozent  jälirlich,  gewinnt  somit  von  jeder  Ein- 
lage zwei  Prozent  jährlich.  Spai*er,  die  keine  Zinsen  beanspruchen,  gibt 
es  wohl  gegenwärtig  in  keiner  Gmin  des  Zartums  mehr. 

2.   Verwaltung  und  Tätigkeit  der  Kassen 

Die  Verwaltung  der  Kasse  wird  aus  dem  Gminwojt  und  zwei  von 
der  Gminversammlung  gewählten  Mitghedern  gebildet.  Einer  der  Gewählten 
hat  die  Obliegenheiten  des  Kassierers  zu  versehen.  Danebeii  besteht  ein 
gleichfalls  von  der  Gminversammlung  und  aus  ihrem  Bestände   heraus  zu 


C.  Die  Gmin-Spar-  und  Vorschußkasseü  271 

wählender  Aufsichtsrat  aus  drei  Personen,  die  jährlich  eine  Revision  der 
Kasse  vorzunehmen  haben. 

Die  Oberaufsicht  über  die  Gminkassen  liegt  bei  den  Bauernkommissaren. 
Sie  sind  gehalten,  alle  Kassen  in  ihrem  Kreise  mindestens  einmal  jährlich 
zu  revidieren.  Die  Kassen  stehn  somit  vollständig  in  Abhängigkeit  vom 
Kreischef  oder  vom  Gouverneur. 

Mitglied  der  Kasse  kann  jeder  Bewohner  des  Gebiets  werden,  über 
das  sich  die  Tätigkeit  der  Kasse  erstreckt,  ohne  Rücksicht  auf  seine  Zu- 
gehörigkeit zu  irgendeinem  Stande  oder  Beruf.  Hier  ist  somit  Bresche 
gelegt  in  das  Prinzip,  das  den  „Bauernstand"  von  den  andern  „Ständen" 
sorgfältig  absperrt.  Und  zwar  geschah  es  seinerzeit,  um  die  Gminkassen 
nicht  der  Einleger  zu  berauben.  Gegenwärtig  sind  die  Bauern  reich  genug, 
daß  die  Gminkassen  bei  ihrem  engen  Wirkungskreis  auf  die  Einlagen  von 
außerhalb  verzichten  könnten. 

Das  Recht,  Darlehen  zu  erhalten,  haben  folgende  Kategorien  von 
Personen : 

1.  Grundbesitzende  Bauern,  gemäß  Paß, 

2.  Bauern,  die  wenn  auch  keinen  Grundbesitz  haben,  so  doch  zur 
Kategorie  der  Landarbeiter  gehören, 

3.  Angehörige  der  nicht  legitimierten  (kleinen)  oder  legitimierten 
Schlachta,  sofern  sie  nicht  mehr  als  sechzig  Morgen  Land  besitzen, 

4.  Ackerbautreibende  Kleinbürger, 

5.  Kleinbürger,  die  wenn  sie  auch  nicht  persönlich  Ackerbau  treiben, 
also  auch  nicht  zur  Landbevölkerung  zu  zählen  sind,  so  doch  Grundbesitz 
haben  (hierzu  gehören  unter  andern  auch  die  Russen,  die  auf  Grund 
des  Ukas  vom  28.  Oktober  1866  Kirchenland  erworben  hatten;  in  diesem 
Falle  darf  der  Grundbesitz  sechs  Morgen  nicht  übersteigen), 

6.  Bewohner  der  Flecken,  die  zur  Kategorie  landloser  Landarbeiter 
gehören. 

Die  Bedingungen  für  die  Darlehnserteilung  sind  je  nach  den  Besitz- 
verhältnissen der  Darlehnsnehmer  verschieden.  Besitzern  von  Grund- 
eigentum werden  Darlehen  gewährt  gegen  Unterpfand  des  Grundstücks. 
Wer  kein  Grundstück  besitzt,  muß  die  Bürgschaft  von  zwei  Grundbesitzern 
beibringen.  Von  bäuerlichen  Darlehnsnehmem  werden  ausschließlich  be- 
baute Grundstücke,  von  den  Bewohnern  der  Flecken  —  städtischen  Acker- 
wirten —  aber  auch  unbebaute  Plätze  als  Unterpfand  angenommen.  Mit 
Grundbuchschulden  belastete  Immobilien  werden  als  Pfand  nicht  an- 
genommen. Falls  andre  Schulden  auf  dem  Grundstück  des  Kreditsuchers 
stehn,  wird  ihm  der  Kredit  unter  der  Bedingung  gewährt,  daß  die  Schuld 
als  erste  Hypothek  eingetragen  werden  kann. 


272  Elftes  Kapitel.    Finanz-  und  "Wirtschaftsorganisationen 

Diese  Bestimmungen  führen  mm  dazu,  daß  nur  ein  verhältnismäßig 
geringer  Teil  der  bäuerlichen  Bevölkerung  an  diesem  Kredit  teilnehmen 
kann.  Denn  es  wird  nur  sehr  wenig  Grundstücke  geben,  die  nicht 
wenigstens  mit  einer  Hypothek  belastet  sind,  und  ein  großer  Teil  des 
bäuerlichen  Besitzes,  nämlich  4  590325  Deßjatinen  (vgl.  S.  177),  darf  aus 
den  auf  Seite  46  bis  49  auseinandergesetzten  Gründen  als  „zugeteiltes" 
Land  überhaupt  zu  keinerlei  Bürgschaft  herangezogen  werden.  Die  Folge 
davon  ist,  daß  die  große  Mehrzahl  der  Kreditsucher  auf  persönlichen  Kredit 
angewiesen  ist,  den  sie  ausschließlich  mit  Hülfe  von  Bürgen  erhalten  kann. 
Damit  ist  aber  ein  großer  Teil  der  Bauern  den  Wucherern  ausgeliefert. 
Denn  die  Bürgen  lassen  sich  vielfach  für  ihre  Unterschrift  fünf,  zehn  und 
melu'  Prozent  zahlen.  In  vielen  Fällen  wird  somit  die  Gminkasse,  deren  Auf- 
gabe es  ist,  den  armem  Wirten  den  Weg  zu  billigem  Kredit  zu  öffnen, 
erst  der  Hebel,  den  der  Dorfwucherer  braucht,  um  zahlreiche  Dorfgenossen 
von  ihrer  Scholle  zu  heben.  Wie  sicher  dabei  die  bäuerlichen  Schuldner 
den  Dorfwucherern  sind,  geht  aus  der  Tatsache  hervor,  daß  ein  Haupt- 
kontingent der  Spareinlagen  eben  denselben  Personen  gehört,  die  immer 
wieder  als  Geranten  auftreten.^) 

Darlehnnehmer  einer  Kasse  darf  nur  in  dem  Falle  Gcrant  für  einen 
andern  Darlehnsucher  werden,  wenn  die  schon  früher  erhaltne  und  die 
neu  gewünschte  Summe  zusammen  das  Höchstmaß  des  vom  vorgeschlagnen 
Geranten  auf  Grund  der  Statuten  zustehenden  Darlehns  nicht  überschreitet. 
Die  Höhe  der  Darlehen  darf  höchstens  ein  Drittel  des  Wertes  des  Im- 
mobilienbesitzes betragen.  Der  AYert  des  Bodens  wird  in  jedem  Kreis 
einzeln  nach  einem  besondern  Register  festgesetzt,  der  der  Bauten  ent- 
sprechend der  Höhe  der  Versicherung. 

Das  Höchstmaß  des  Darlehns  für  eine  Pei"son  darf  bei  einem  Kassen- 
betriebskapital von  bis  zu  1000  Rubel  100  Rubel,  bei  gi'ößern  Betriebs- 
mitteln 200  Rubel  nicht  übersteigen.  Die  Darlehen  werden  füi'  Fi'isten 
von  einem  bis  zwölf  Monaten  gewährt,  wobei  ein  Viertel  der  jährlichen 
Zinsen  im  voraus  zu  entrichten  ist,  also  bei  Auszahlung  des  Darlehns 
abgezogen  wird.  Wenn  das  Darlelm  für  eine  Zeit  von  Aveniger  als  für 
ein  halbes  Jahr  genommen  ist,  darf  es  mit  Genehmigung  der  Verwaltung 
prolongiert  werden.  Personen,  die  ihre  Schuld  zurückerstattet  haben, 
dürfen  sich  in  die  Reihe  derer,  die  ein  neues  Darlehn  wünschen,  nicht 


')  Ich  habe  mir  sagen  lassen,  ohne  in  der  Lage  gewesen  zu  sein,  es  nachzuprüfen, 
daß  die  Dorfwucherer  mit  Hilfe  der  Gminkassen  ihre  Einlagen  mit  25  bis  30  Prozent 
verzinsen  können  ohne  das  geringste  Risiko.  In  versciiieduen  Gminen  hörte  ich  die  Ein- 
lagen als  Korruptionsfonds  bezeichnen,  in  vielen  wurde  ihre  Geschäftsfühiiing  sehr  gelobt. 
Dann  aber  steckten  meist  Pfarrer  dahinter. 


C.  Die  Gmin-Spar-  und  Vorschußkasseü  273 

früher  einschreiben  als  einen  Monat  nach  der  Zurückerstattung  des  letzten 
Darlehns.  Bei  Nichtzurückerstattuug  des  Darlehns  zum  Termin  wird  eine 
Frist  von  drei  Wochen  gewährt,  wobei  wie  früher  eine  Strafzahlung  von 
einer  Kopeke  vom  Rubel  wöchentlich  erhoben  wird.  Wenn  auch  dann 
das  Darlehu  nicht  zurückerstattet  ist,  hat  der  Wojt  Maßregeln  zu  seiner 
Beitreibung  zu  ergreifen.  In  erster  Linie  wird  das  Getreide  mit  Beschlag 
belegt  und  verkauft,  dann  das  überflüssige  Vieh,  und  wenn  das  nicht  hin- 
reicht, das  Grundeigentum.  Der  Verkauf  findet  durch  öffentliches  Aus- 
gebot statt.  Bei  Darlehen  gegen  Bürgschaft  wird  in  erster  Linie  das 
Eigentum  des  Schuldners,  soAveit  es  nicht  Gegenstände  der  ersten  Notdui-ft 
in  seiner  Wirtschaft  sind,  verkauft ;  weiterhin  wendet  sich  die  Beitreibung 
an  die  Geranten. 

Die  Erfolge  der  Gmin-Spar-  und  Vorschußkassen  erscheinen  trotz  den 
beschränkenden  Bestimmungen  nicht  gering.  Bis  zum  Jahre  1901  waren 
570  neue  Kassen  auf  normalem  Wege  entstanden,  daneben  und  ohne  Zu- 
sammenhang mit  den  ersten  85  Kassen  wurden  447  Kassen  aus  Mitteln, 
die  von  Privatpersonen  beschafft  worden  waren,  eingerichtet.  Alles  in 
allem  waren  im  Jahre  1901  im  Zartum  Polen  1320  Gminkassen  vor- 
handen.^) Ihre  Betriehsmittel  betrugen  zusammen  24472000  Rubel, ^)  was 
2  Rubel  70  Kopeken  pro  Kopf  der  Bevölkerung  des  Gebiets  ausmacht. 
Von  den  1281  Gminen  haben  51  je  zwei  Kassen,  13  haben  überhaupt 
keine.    Diese  bedienen  sich  teilweise  der  Kassen  benachbarter  Gminen.^) 

Wenn  wir  diese  Daten  mit  den  entsprechenden  für  das  Reich  ver- 
gleichen, so  ersehen  wir,  daß  die  Lage  des  KlemJcredits  im  Weichselgebiet 
günstiger  ist  als  im  ganzen  Reich.  Die  Institutionen  für  Kleinkredit  im 
ganzen  Reiche  verfügen  nur  über  ein  Kapital  von  44467000  Rubel  oder 
durchschnittlich  35  Kopeken  pro  Kopf  der  Bevölkerung. 

Angesichts  der  geringen  Bewegungsfreiheit  der  Kassen  müssen  wir 
die  Einlagen  (16,5  Millionen  Rubel)  als  verhältnismäßig  hoch  bezeichnen. 
Chranewitsch  erklärt  die  Tatsache  durch  die  Bestimmung  des  Aitikels  42 
der    Kassenstatute,    wonach    Einlagen    von    Personen    jedes    Standes    und 


1)  Über  das  Entstehen  von  218  Kassen  fehlen  Angaben,  doch  ist  anzunehmen,   daß 
sie  auf  normalem  Wege  aus  alten  Kassen  entstanden  sind. 
*)  Der  Stand  der  Kassen  zum  1.  Januar  1901  war: 

a)  Gi-undkapital 1416957  Rubel 

h)  Stiftungen 11006      ,. 

c)  Reingewinn 6413502      „ 

d)  Einlagen 16630937      „ 

Summe  des  Betriebskapitals    24472402  Rubel 
')  Skarzinski,  a.  a.  0.  S.  413. 
Cleinow,  Die  Zukunft  Polens  1° 


274  Elftes  Kapitel.    Finanz-  und  Wirtschaftsoj-ganisationen 

Berufes  angenommen  werden  dürfen.^)  Der  hohe  Zinsfuß  ist  tatsächlich 
geeignet,  bei  gleichzeitiger  Sicherheit  viele  Einlagen  zu  veranlassen.  Doch 
spielen  auch  politische  Gründe  mit,  und  vor  allen  Dingen  die  geringe  Ent- 
wicklung privater  Kassen.  iSo  ist  zu  erwähnen,  daß  viele  katholische  Geist- 
liche und  polnische  Gutsbesitzer  Ersparnisse  in  den  Gminkassen  angelegt 
haben,  ausschließlich  um  mit  der  bäuerlichen  Bevölkerung  in  Verbindung 
treten  zu  können.  Für  die  russischen  Kirchen  besteht  noch  die  besondre 
Erlaubnis,  ihre  Kapitalien  den  Kassen  zur  Aufbewahrung  anzuvertrauen. 
Im  Gouvernement  Kjelce  befanden  sich  zimi  1.  Januar  1900  in  den  Gniin- 
Spar-  und  Yorschußkassen  im  ganzen  1767633  Rubel.  Von  diesen  Ein- 
lagen gehörten  Bauern  1335752  Rubel  =  75,5  Prozent,  die  übrigen 
24,5  Prozent  entfielen  auf  Personen  andrer  Stände  oder  auf  Institutionen. 
Von  den  7576  Einlegern  waren  6615  oder  87,3  Prozent  Bauern,  auf  die 
übrigen  Stände  entfielen  961  Einleger  oder  12,7  Prozent.  Das  ist  als  ein 
hoher  Anteil  zu  bezeichnen.  Von  den  128  Gminen  des  Gouvernements 
Kjelce  waren  in  13  ausschließlich  Bauerneinlagen  vorhanden.  Wenn  die 
Verhältnisse  im  Gouvernement  Kjelce  als  Durchschnittsverhältnisse  an- 
genommen werden,  so  hat  nach  Chranewitsch  die  bäuerliche  Bevölkerung 
des  Weichselgebiets  bis  zum  1.  Januar  1901  nicht  weniger  als  12  Millionen 
Rubel  Ersparnisse  in  den  Gminkassen  angelegt.  Spassowitsch  ist  durchaus 
im  Recht  mit  seiner  Ansicht,  daß  die  bäuerlichen  Einlagen  erhebhch 
größer  sein  würden,  wenn  nicht  die  beschränkenden  Bestimmungen  vor- 
handen wären. 

Der  Weiterentwicklung  der  Gminkassen  stehn  verschiedue  politische 
und  finanzielle  Gründe  entgegen.  Der  Finanzminister  sucht  die  Erspar- 
nisse der  Bevölkerung  in  die  Staatssparkassen  zu  leiten,  wo  er  sie  in 
Staatspapieren  anlegt.  Die  Sparkassen  zahlen  aber  nur  4^2  Prozent  Zinsen, 
während  die  Gminkassen  6  Prozent  geben.  Würde  das  Grundkapital  der 
Gminkassen  durch  Rücklagen  nur  um  je  1000  Rubel  erhöht,  so  würden 
sich  die  Einlagen  entsprechend  verdoppeln  können,  und  die  polnischen 
Bauern  würden,  um  dem  Kreditbedürfnis  ilirer  Dorf  genossen  gerecht 
werden  zu  können,  nicht  nur  ihre  neuen  Ersparnisse  den  Kassen  zur  Ver- 
fügung stellen,  sondern  wohl  auch  ihre  Einlagen  aus  den  Staatssparkasseu 
zurückziehen.  Wir  meinen,  die  P/«  Prozent  dürften  eine  genügende  An- 
regung bieten.  Der  Finanzminister  könnte  somit  nur  dann  ohne  Schaden 
für  seine  Finanzpolitik  einer  Erweiterung  der  Tätigkeit  der  Gminkassen  das 
Wort  reden,  wenn  gleichzeitig  ihr  Zinsfuß  dem  der  staatlichen  Sparkassen 


')  „Skizzen  aus  dem  bäuerlichen  Wirtschaftsleben   ini  Zai-timi  Polen",    St.  Peters- 
burg, 1906,  S.  42. 


C.  Die  Gmin-Spar-  und  Vorschußkassen  275 

als  Maximum  gleichgestellt  würde.  Gegenwärtig  wird  er  jedenfalls  den 
Anstoß  zu  einer  Aufhebung  der  dem  Minister  des  Innern  politisch  not- 
wendig scheinenden  beschiäukenden  Bestimmungen  nicht  geben.  Von  der 
Gesetzgebung  der  jüngsten  Zeit  werden  die  Kassen  als  staatliche  Ein- 
richtungen nicht  direkt  beti'offen.  Aber  sie  müssen  wenigstens  vorüber- 
gehend Einbuße  erleiden  durch  die  Eröffnung  privater  Kassen.  Selir  hoch 
dürfen  wir  diese  Einbuße  indessen  nicht  einschätzen,  da  sich  die  bäuer- 
liche Bevölkerung  an  die  Gminkassen  gewöhnt  hat.  Aus  den  vorliegenden 
Abrechnungen  lassen  sich  in  dieser  Richtung  noch  keine  Beobachtungen 
austeilen.  Trotz  allem  Vönnen  die  GminTcassen  zu  einem  scharfen  Werk- 
zeug der  2^oJnischen  PolitiJc  werden,  sobald  die  Regierung  dem  Drängest 
der  Gesellschaft  folgen  und  die  Bildung  von  Gininkassenverhänden  zu- 
lassen würdet)  Ob  und  unter  welchen  Bedingungen  sich  die  Regierung 
solcher  wirtschaftlichen  Notwendigkeit  wird  entziehen  können,  ist  hier 
nicht  zu  untersuchen. 


*)  Siehe  Arbeiten  der  Gouvernementskomitees  sowie  L.  B.  Skarzinski  a.  a.  0.  S.  417. 
Dieser  schreibt  recht  voi^sichtig;  „In  einzelnen  Gminkassen  tritt  hin  imd  wieder  ein  Mangel 
an  Einlagen  zutage;  in  andern  \vieder  müssen  Einlagen  zuhickgewiesen  werden.  . . .  Infolge- 
dessen wäre  es  rationell,  eine  möglichst  weit  gefaßte  Gegenseitigkeit  unter  den  Gminkassen 
einzurichten,  so  zwar,  daß  die  einzelnen  Kassen  ihre  Einlagen  an  andre  weitergeben  dürften, 
wenn  gerade  in  der  eignen  Gmin  kein  Bedarf  au  Kredit  vorhanden  ist  .  .  ." 


C®^<^0? 


18* 


Zwölftes  Kapitel 
Organisationen  der  Landwirtschaft 

Viele  Beurteiler  der  Polenfrage  nennen  den  adlichen  Großgruudbesitzer- 
stand  als  die  wesentlichste  Triebfeder  der  nationalen  Idee  innerhalb  der 
polnischen  Gesellschaft.  Das  Verhältnis  des  polnischen  Adels  zu  Alexander 
dem  Ersten,  die  Tätigkeit  der  adlichen  Emigration,  die  Organisation  der 
letzten  Aufstände,  die  diese  beiden  Äußerungen  des  polnischen  Lebens 
verherrlichende  Literatur  im  Zusammenhang  mit  der  bis  in  die  1870er 
Jahre  hinein  vorherrschenden  Auffassung  der  polnischen  Geschichte,  alles 
das  hat  den  polnischen  Adel  mit  einem  Nimbus  umgeben,  der  ihn  als  den 
Mittelpunkt  des  gesamten  politischen  Lebens  der  Polen  erscheinen  läßt. 
Der  Sieg  des  Grafen  Zamojski  über  Marquis  Wjelepolski,  die  große  Be- 
deutung der  polnischen  Magnaten  in  der  österreichischen  Politik,  die 
kritiklose  Achtung,  die  besondere  wir  Preußen  gewohnt  sind,  den  Trägern 
von  Namen  alter  Geschlechter  entgegenzubringen,  unsre  auf  historischen 
Grundlagen  beruhende  berechtigte  Achtung  gegen  den  preußischen  Adel 
überhaupt  hat  den  Nimbus  noch  vergi'ößert. 

Der  polnische  Adel  hat  im  Zartum  als  Träger  der  mit  dem  Wort 
„szlachcic"  zusammenhängenden  Tradition  eine  Bedeutung,  gleichgiltig,  ob 
er  Millionen  besitzt  oder  ein  Bauerngut  bewirtschaftet.  Der  Magnat  aber, 
der  sich  in  den  Dienst  der  polnischen  Sache  nicht  stellt,  spielt  in  der  pol- 
nischen Gesellschaft  eine  geringere  Rolle  als  der  polonisierte  Fabrikant 
Szulc  oder  der  Banlder  Warszawski.  Da  nun  aber,  wie  wir  noch  näher 
nachzuweisen  haben,  die  nationale  Demokratie  in  Polen  zum  herrschenden 
Prinzip  erhoben  ist,  kann  auch  nur  der  Adel,  der  sich  diesem  Prinzip 
unterwirft,  politischen  Einfluß  haben.  An  dieser  Tatsache  muß  sti'eng  fest- 
gehalten werden,  damit  wir  nicht  in  den  Fehler  verfallen,  preußischen  und 
polnischen  Konservatismus  auf  eine  Stufe  setzen  zu  wollen.  Davor  warnt 
auch  Massow.^)  Die  polnischen  Konservativen  im  Zartum,  wo  Altruismus 
durch  Erwerbsinteressen  stark  zurückgedrängt  wurde,  stehn  in  ihren  An- 
schauungen   der  Frankfurter  Zeitung   viel    näher   als  vielleicht    den    fr-ei- 

')  a.  a.  0.,  II.  Auflage,  S.  61/62. 


A.  Die  Landbank  277 


sinnigen  Demokraten  der  Vossischen  Zeitiuig.  So  paradox  dieser  Vergleich 
klingt,  so  ist  er  doch  nur  eine  leidlich  richtig  gezogne  Parallele. 

Bei  solchen  Auffassungen  sind  wir  genötigt,  den  Wirtschaftsorgani- 
sationen, die  aus  dem  adlichen  Großgrundbesitz  hervorgegangen  sind,  um 
so  größere  Beachtung  zu  schenken,  als  sie  die  einzigen  sind,  in  denen 
die  Regierung  den  Polen  gestattet,  sich  ziemlich  selbständig  zu  betätigen. 
Wir  möchten  aber  gleich  hier  feststellen,  daß  wir  dem  Großgrundbesitz 
als  soziale  Klasse  im  Zartum  Polen  nicht  mehr  die  politische  Bedeutung 
beimessen  können,  die  er  früher  unzweifelhaft  gehabt  hat,  und  die  er  in 
Galizien  noch  gegenwärtig  besitzt.  Umgekehrt:  in  Litauen,  Weißrußland 
und  Wolynien  hat  auch  noch  gegenwärtig  der  polnische  Grundadel  die 
Bedeutung  für  die  polnische  Nation,  die  ihr  Bismarck  zuschrieb. 

Die  Polen  in  Rußland  haben  drei  landwirtschaftliche  Zentralorgani- 
sationen: die  Agrarbank  in  Wilna,  die  landwirtschaftliche  Gesellschaft  in 
Minsk  und  die  Landkreditgesellschaft  in  Warschau.  Wir  lassen  die  beiden 
zuerst  genannten  Institute,  weil  sie  außerhalb  des  Zartums  liegen,  aus  imsrer 
Betraclitimg  weg  und  werden  ihrer  lediglich  in  einem  spätem  Kapitel,  wo 
von  den  polnischen  Abgeordneten  in  der  Reichsdiima  gesprochen  wird, 
kurz  erwähnen.^) 

A.  Die  Landbank 

1.  Befugnisse 

Die  „LandJcreditgesellschaft  für  die  Gouvernements  des  Zartums 
Polen"  ist  eine  im  Jahre  1826  gegründete  Hypothekenbank,  die  ihre 
Tätigkeit  ausschließlich  im  Zartum  Polen  entfalten  darf.  -)  Die  Polen  nennen 
sie  „ziemski  bank".  Artikel  1  des  Bankstatuts  bestimmt  ausdrücklich,  daß 
die  Bank  nur  Hypotheken  auf  ländliche  Immobilien  geben  darf.  Wir 
hörten  schon,  daß  alle  Immobihen  aus  „zugeteiltem  Lande"  bis  zu  neunzig 
Morgen  Größe  nicht  mit  Hypotheken  belastet  werden  dürfen  (siehe  S.  48). 
Infolgedessen  blieb  die  Bank  auch  nach  den  1870  er  Jahren  fast  aus- 
schheßlich  ein  Kreditinstitut  des  adlichen  Großgrundbesitzes.  Die  Landbank 
stellt  ein  letztes  Denkmal  aus  dem  Herzogtiun  Warschau  dar,  die  letzte 
sichtbare  Erinnerung  an  die  bevorzugte  Stellung  des  polnischen  Adels. 
Ihr  Statut  berulit  auf  dem  in  polnischer  Sprache  abgefaßten  Hypotheken- 
gesetz von  1818  und  kann  nur  auf  dem  Wege  der  ordentlichen  Gesetz- 
gebung abgeändert  werden. 


1)  Über  die  Wilnaer  Agrarbank  finden  sich  einige  Angaben  in  meinem  Buch  „Aus 
Rußlands  Not  und  Hoffen",  Band  1,  a.  a.  0.  S.  66.  Dieses  lusHtnt  steht  in  nahen  Be- 
ziehungen zu  der  früher  beiläufig  erwähnten  Wilnaer  Privathandelsbank  (siehe  S.  255). 

"^  Statut  im  XI.  Bande,  2.  Teil  der  Gesetzsammlung  von  1902,  Abteilung  12. 


278  Zwölftes  Kapitel.    Organisationen  der  I^and Wirtschaft 

Die  Bank  untersteht  der  Beaufsichtigung  durch  den  Finanzminister 
(Artikel  2).  Mitglieder  der  Gesellschaft  sind  die  Besitzer  aller  der  Im- 
mobilien, die  mit  Hypotheken  der  Gesellschaft  belastet  sind  (Artikel  3). 
Die  Korrespondenz  der  Gesellschaft  genießt  auf  der  Post  die  Yorrechte 
der  Regierungskorrespondenz  (Artikel  6).  In  allen  im  vorliegenden  Statut 
nicht  vorgesehenen  Fällen  hat  sich  die  Gesellschaft  den  besondem  im 
Generalgouvernement  Warschau  herrschenden  Bestimmungen  zu  unter- 
werfen (Artikel  8).  Alle  Korrespondenzen  sowie  die  Abrechnungen  werden 
ausschließlich  in  russischer  Sprache  geführt.  Doch  durften  sich  die  Gou- 
vernementsdirektionen bis  zum  1.  Januar  1905^)  im  Verkeiu-  mit  den  Ab- 
schätzern,  Verwaltern  imd  Hypothekeninhabern  auch  einer  andern  Sprache 
bedienen  (Artikel  9,  Anmerkung). 

Die  Verwaltung  der  Gesellschaft  liegt  in  den  Händen  eines  Komitees 
mit  dem  Sitz  in  Warschau,  in  Verbindung  mit  den  zehn  Gouvornements- 
direktionen  und  der  Generalversammlung  (Artikel  10).  Der  Generaldirektor 
wird  durch  den  Finanzminister  im  Einverständnis  mit  dem  General- 
gouverneur ernannt,  während  alle  übrigen  Mitglieder  der  Verwaltung  durch 
sogenannte  Gebiets-  oder  Gouvernementsversammlungen  aus  der  Zahl  ihrer 
Mitglieder  gewählt  werden  (Artikel  11). 

Die  Gebietsversammlung  setzt  sich  aus  allen  Mitgliedern  der  Gesell- 
schaft eines  Gouvernements  zusammen,  die  eine  Hypothek  von  mindestens 
3000  Rubel  in  der  Gesellschaft  aufgenommen  haben  (Artikel  12);  sie  wird 
durch  die  in  Warschau  befindliche  Hauptdirektion  aller  zwei  Jahre  einmal 
zwischen  dem  April  und  Juni,  also  zur  Zeit  der  Frühjahrsbestellung  im 
Einverständnis  mit  dem  Generalgouverneur  einberufen  (Artikel  14).  Die 
Arbeiten  der  Versammlung  dürfen  nicht  länger  als  drei  Tage  währen, 
wobei  die  Feiertage  einzurechnen  sind  (Artikel  15).  Die  Gebietsver- 
sammlungen ti-agen  äußerlich  einen  ähnlichen  offiziellen  Charakter  wie  die 
Sjemstwoversammlungen  im  Innern  des  Reichs.  Sie  werden  vom  Gou- 
verneur eröffnet,  der  auch  die  Vereidigung  des  Vorsitzenden  vornimmt 
(Artikel  16).  Die  Gebietsversammlung  wählt  für  die  Dauer  von  vier 
Jahren  die  Verwaltungsmitglieder  der  Gouvemementsdirektion  (Artikel  17) 
sowie  die  Delegierten  für  die  Hauptdirektion. 

2,  Die  Direktionen 

Eine  Gouvemementsdirektion  besteht  aus  sieben  Räten  (Artikel  30),  die 
die  russische  Sprache  in  Wort  und  Schrift  geläufig  beherrschen  können 
(Artikel  17,  Anm.),   deren  Güter  aber  höchstens  bis  zu  drei  Viertel  ihres 


Die  Wirksamkeit  dieser  Bestimmung  ist  stillschweigend  verlängert  worden. 


A.  Die  Landbank  279 


Taxwertes  belastet  sein  dürfen.  Der  Präsident  der  Direktion  und  mindestens 
drei  Räte  müssen  aus  dem  der  Direktion  unterstehenden  Gouvernement 
sein,  die  übrigen  Räte  dürfen  auch  aus  andern  Gouvernements  stammen 
(Artikel  22).  Somit  ist  die  Möglichkeit  gegeben,  Spezialisten  heranzuziehen. 
Beschränkt  ist  diese  Möglichkeit  durch  die  Bestimmung  des  Artikel  21, 
der  verbietet,  daß  ein  Mitglied  der  Landbank  mehr  als  eine  verantwortliche 
Stellimg  in  der  Bank  einnehmen  darf.  Die  Wahlen  unterliegen  der  Be- 
stätigung durch  die  Hauptdirektion  (Artikel  24),  erhalten  indessen  erst 
Geltung  diu'ch  die  Genehmigung  des  Generalgouverneurs  (Artikel  25).  Die 
laufende  Geschäftsfühnmg  liegt  in  den  Händen  des  Vorsitzenden  und  zweier 
Beiräte  (Artikel  31  bis  33).  Außerdem  hat  jede  Direktion  einen  Geschäfts- 
führer (prawitel),  der  juristisch  durchgebildet  sein  muß;  er  hat  nur 
beratende  Stimme.  Bei  jeder  Direktion  besteht  eine  Kasse.  Jede  Gou- 
vemementsdirektion  hat  jährlich  selbständig  ihr  Budget  aufzustellen  und 
der  Hauptdirektion  einzureichen  (Artikel  38/39).  Die  Mitglieder  der  Bank 
können  an  die  Gouvernementsdirektionen  schriftliche  auf  die  Beleihungs- 
politik  bezüghche  Anträge  stellen.  AVenn  solche  Anträge  mehr  als  zehn 
Unterschriften  tragen,  ist  die  Direktion  verijflichtet,  sie  an  die  Haupt- 
direktion weiterzugeben  (Artikel  27). 

Über  den  zehn  Gouvernementsdirektionen  steht  die  Hauptdirehüon  mit 
dem  Sitz  in  Warschau.  Sie  setzt  sich  zusammen  aus  dem  vom  Zaren  auf 
Vorstellung  des  Finanzministers  zu  ernennenden  Präsidenten  imd  aus 
zwanzig  Beiräten,  zu  je  zwei  von  jeder  Gebietsversammlung  gewählt 
(Artikel  45).  Eine  Vollversammlung  der  Hauptdirektion  hat  alle  zwei  Jahre 
einmal  stattzufinden.  Daneben  können  nach  Bedarf  Vollversammlungen 
öfter  einberufen  werden  (Artikel  46).  Die  ständige  Verwaltung  der  Bank 
setzt  sich  aus  dem  Präsidenten  und  vier  Räten  zusammen,  zu  denen  noch 
der  Rechtsbeistand  und  der  Kanzleidirektor  mit  beratender  Stimme  hinzu- 
treten (Artikel  50).  Die  Rechnungslegung  erfolgt  zweimal  im  Jahre  in 
öffentlicher  Sitzung  (Artikel  55).  Die  Hauptdii-ektion  hat  das  Recht,  mit 
allen  Behörden  des  Zartums  direkt  zu  verkehren  (Ai'tikel  63). 

Neben  der  Hauptdirektion  besteht  noch  ein  Aufsichtsrat,  das  Komitee. 
Es  hat  die  Aufsicht  über  die  Geschäftsführung  der  Bank  und  besteht  aus 
einem  Präsidenten  und  zwanzig  Beiräten  (Artikel  65/66). 

Die  Verfassungsfi'agen  der  Bank  werden  durch  die  Generalversammlung 
der  Verwaltungen  der  Gesellschaft  erledigt.  Diese  Generalversammlung 
setzt  sich  zusammen  aus  dem  Präsidenten  des  Verwaltungskomitees,  dem 
Präsidenten  der  Hauptdirektion  sowie  aus  den  Räten  beider  Institutionen, 
schließlich  aus  den  Präsidenten  der  Gouvernementsdirektionen  (Artikel  78). 
Die  Generalversammlung  der  Verwaltung  kann  somit,  wemi  alle  zur  Teil- 


280  Zwölftes  Kapitel.    Organisationen  der  Landwirtschaft 

nähme  an  ihr  berechtigten  Personen  erscheinen,  aus  52  Mitgliedern  be- 
stehn.  In  Warschau  heißt  die  Versammlung  das  Gutsbesitzerparlament,  auch 
Avohl  der  polnische  Reichstag. 

Alle  Beamten  der  Barth  mögen  sie  durch  Wahl  oder  auf  Grund  freier 
Verträge  verpflichtet  sein,  erhalten  ein  Gehalt,  werden  vor  ihrem  Dienst- 
eintritt vereidigt,  müssen  die  russische  Sprache  beherrschen  und  können 
ausschließlich  mit  Genehmigung  des  Generalgouvemeurs  angestellt  werden. 
Im  übrigen  unterliegen  sie  den  im  Zartum  geltenden  Bestimmungen  über 
den  Staatsdienst  (siehe  S.  109). 

3,  Die  Pfandbriefinhaher 

Neben  den  erwähnten  Organen  der  Gesellschafter  der  Bank  gibt  es 
zwei  weitere,  die  sozusagen  ein  Gegengewicht  gegen  sie  bilden  sollen:  die 
Versammlung  der  Pfandbriefinhaher  und  das  aus  dieser  Versammlung 
alle  zwei  Jahre  zu  erneuernde  Komitee  der  Pfandbriefinhaber.  Die  Bank 
beschafft  sich  ihre  Mittel  durch  Ausgabe  von  vier-  und  viereinhalb- 
prozentigen  Pfandbriefen,  von  denen  im  Jahre  1906  am  13.  Mai  etwa 
153  Millionen  im  Umlauf  und  2,2  im  Portefeuille  der  Bank  waren.  Die 
Zahl  der  Umlaufssumme  entspricht  imgefähr  der  Höhe  der  hergegebnen 
Hypotheken;  am  genannten  Tage  betrug  diese  153,1  Millionen  Rubel. 

Die  Versammlung  der  Pfandbriefinhaber  wird  alljährlich  im  Monat 
September,  also  zur  Zeit  der  Herbstbestelhmg,  durch  den  Präsidenten  des 
Warschauer  Staatsbankkontors  in  Warschau  einbenifen. 

Das  Komitee  der  Pfandbriefinhaber  besteht  aus  einem  Präsidenten 
imd  vier  Beiräten,  die  alle  auf  die  Dauer  von  vier  Jahren  gewählt  werden. 
Die  Hauptaufgabe  dieses  Komitees  besteht  in  der  Beaufsichtigung  des  Kurses 
der  Pfandbriefe  (Artikel  181).  Es  hat  somit  alle  Geschäfte  der  Haupt-  und 
Gouvernementsdirektionen  zu  verfolgen  und  einzugreifen,  sobald  Handlungen 
geschehen,  die  ungünstig  auf  den  Kurs  der  Pfandbriefe  einwirken  könnten. 
Darum  hat  auch  das  Komitee  allen  öffentlichen  Sitzungen  der  Hauptdirektion 
beizuwohnen  und  Beamte  zu  den  Revisionen  der  Gouvernementsdirektionen 
abzuordnen  (Artikel  182).  Die  Regierung  hat  die  Pfandbriefe  durch  Ein- 
führung an  der  Petersburger  und  Ejjewer  Börse  dem  russischen  Publikum 
zugänglich  machen  wollen,  lun  durch  ihre  Vermittlung  das  Interesse  an  pol- 
nischen Dingen  zu  heben.   Ein  Erfolg  war  bisher  nicht  zu  verzeichnen.  ^) 

^)  Em  Kuriosum:  Ein  mir  bekannter  konservativer  Mann  aus  Tula  entpuppte  sich 
mir  gegenüber  als  ein  großer  Freund  der  wirtschaftlichen  Autonomie  Polens;  als  ich  seine 
Gründe  hören  wollte,  erklärte  er,  er  sei  Inhaber  von  6000  Rubel  Pfandbriefen  der  Pol- 
nischen Landbank,  die  er  durch  Zufall  erwerben  mußte.  Gelegentlich  einer  Rückreise  von 
Deutschland  habe  er  sich  mit  Rücksicht  auf  seine  Papiere  einige  Tage  in  Polen  aufgehalten. 
"Während  dieses  Aufenthalts  sei  er  zur  Überzeugung  gekommen,  daß  Polen  wirtschaftlich 
nicht  in  Abhängigkeit  von  Rußland  gehalten  werden  dürfe,  wie  es  geschieht, 


A.  Die  Landbank  281 


Die  Kurse  der  Pfandbriefe  steigen  und  fallen  mit  dem  Wechsel  der 
russischen  Folenpolitik.  In  der  Zeit  des  Grafen  Schuwalow  und  des 
Fürsten  Imeretinski  gingen  sie  unter  99^2  nicht  heriuiter  und  stiegen 
über  101  im  Jahre  1898.  Nach  Bekanntwerden  der  Denkschrift  des  Fürsten 
Imeretinski,  die,  wie  erinnerlich,  vor  einem  Vertrauen  gegen  die  polnische 
Versöhnungspartei  warnte,  fielen  sie  im  Jahre  1900  auf  96^2?  und  als 
Ssipjagin  ans  Ruder  kam,  auf  88  Prozent.  Nachdem  Witte  die  Einberufimg  der 
Gouvernementskomitees  zur  Hebung  der  Landwirtschaft  im  Jahre  1902/03 
durchgesetzt  hatte,  und  die  Vertreter  der  Landbank  verhältnismäßig  frei 
über  die  Lage  der  Landwirtschaft  sprechen  durften,  stiegen  die  Kurse 
wieder  bis  auf  99;  dann  nach  dem  Sturz  Wittes  sind  sie  schnell  wieder 
abgebröckelt.  Im  Dezember  1904  notierten  die  viereinhalbprozentigen  mit 
92,*)  die  vierprozentigen  gar  nur  mit  85,4. 

Das  in  den  Pfandbriefen  der  Landbank  angelegte  Kapital  können  wir 
als  den  Grundstock  des  polnischen  Nationalvermögens  bezeichnen. 

Die  Landhank  hat  als  WerJczeug  der  Politik  seit  dem  Jahre  1864 
unter  den  verschiednen  Generalgouveru  euren  verschiedne  Aufgaben  er- 
füllen müssen.  In  den  1870  er  Jahren  kam  sie  nur  wenig  zur  Geltung. 
Wie  in  allen  Teilen  der  polnischen  Gesellschaft  herrschte  auch  unter  den 
Großgrundbesitzern  Ruhe.  In  den  ersten  fünfzehn  bis  zwanzig  Jahren  nach 
dem  Aufstande  haben  die  polnischen  Magnaten  den  meisten  Einfluß  auf 
die  Geschäftsleitung  der  Bank  gehabt  und  diesen  vor  allen  Dingen  dazu 
benutzt,  in.  den  Besitz  von  barem  Gel  de  zu  gelangen,  das  wieder  in  in- 
dustriellen Unternehmungen  angelegt  wiuxle.  Die  Bank  drohte  schon 
ihren  national -polnischen  Charakter  zu  verlieren,  als  sich  im  Laufe  der 
1880  er  Jahre  innerhalb  der  pohlischen  Gesellschaft  eine  scharfe  Opposition 
gegen  ihre  Geschäftsführung  bemerkbar  machte.  Die  PoHtik  Gurkos  hatte 
dem  demokratischen  Teil  in  der  nationalen  Gesellschaft  die  Augen  darüber 
geöffnet,  wie  die  Versöhnungspolitik  wirtschaftlich  (siehe  Ugodowce)  aus- 
schließlich einem  Teil  der  Magnaten  zugute  kam,  aber  auf  Kosten  der 
großen  Masse  des  jungen  Bürgertums  und  der  Bauern  ging.  In  der  Land- 
bank begann  sich,  ausgehend  von  den  Gouvernementsdirektionen,  eine 
nationale  aber  demokratische  Politik  den  Weg  zu  brechen.  Ihre  Bedeutung 
wurde  den  russischen  Polen  besonders  durch  das  preußische  Ansiedlungsgesetz 
von  1886  sowie  durch  die  Erfolge  der  Parzellationsbanken  in  Posen  vor 
Augen  geführt.  In  der  Bank  gelangten  Elemente  zu  Einfluß,  die  nicht  mehr 
allein  für  die  materiellen  Interessen  der  reichen  Großgrundbesitzer  sorgten, 
sondern  in  erster  Linie  die   Gesamtheit  der   polnischen  Bevölkerung  ins 


>)  Ende  März  1908  war  der  Kurs  89. 


282  Zwölffes  Kapitel.    Organisationen  der  Landwirtschaft 

Auge  faßten.  Das  nahe  Ziel  dieser  Politik  aber  war  und  ist,  solche  wirt- 
schaftliche Maßregeln  praktisch  durchzuführen,  die  die  Auswanderung  der 
polnischen  Bevölkerung  aufhalten  könnten.  Gegen  diese  demokratische 
Politik  haben  in  den  1880  er  Jahren  die  Magnatenblätter  ebenso  protestiert 
wie  die  der  Juden.  ScliKeßlich  hat  sich  die  Regierung  der  immerhin  sehr 
vorsichtigen  Kritiken  bemächtigt  und  einen  gewissen  Snjezno-Blocki  be- 
auftragt, sie  in  einer  Broschüre  zusammenzustellen.  Der  praktische  Erfolg 
dieses  Schreibwerks  war,  daß  einige  nicht  im  Emklang  mit  den  Statuten 
angestellte  Verti'eter  der  Intelligenz  entlassen  wurden,  während  es  inner- 
halb der  Bank  zu  einer  scharfen  aber  klärenden  Aussprache  kam,  die  zum 
Siege  der  angegriffnen  demokratischen  Narodowce  und  deren  Politik  führte. 
Freilich  war  der  Sieg  nicht  vollkommen.  Denn  im  Gouvernement  Warschau 
haben  die  Magnaten  und  die  Großbankiers  die  Oberhand. 

Wir  werden  von  diesen  Dingen  im  Abschnitt  von  der  Politik  mehr 
hören;  hier  gilt  es,  zunächst  die  wirtschaftliche  Interessensphäre  der  Land- 
bank weiter  zu  untersuchen.  Darum  wenden  wir  uns  den  landwirtschaft- 
lichen Vereinen  aller  Art  zu,  die  mit  den  Gouvernementsdirektionen  der 
Landbank  meist  durch  Personalunion  verbunden  sind. 

B.  Die  landwirtschaftliclien  G-eseUschaften  oder  Syndikate 

1.  Die  „Syndikate*'  und  ihre  Befug niase 
Die  russische  Gesetzgebung  unterscheidet:  1.  Landwirtschaftliche  Ge- 
sellschaften (obschtschestwa),  2.  Laudwirtschaftliciie  Genossenschaften  (towa- 
rischtschestAva) ,  3.  Handelsabteilungen  von  landwirtschaftlichen  Gesell- 
schaften, 4.  Landwirtschaftliche  Niederlagen  der  Sjemstwo,  5.  Landwirt- 
schaftliche Niederlagen  der  Ansiedlungsbehörde  und  6.  Staatliche  Nieder- 
lagen des  Landwirtschaftsministeriums.  Uns  interessieren  ausschließlich  die 
drei  zuerst  genannten  Typen,  die  im  Zartum  vorkommen. 

Die  erste  landwirtschaftliche  Gesellschaft  wurde  in  Rußland  im  Jahre 
1765  mit  der  „Kaiserlichen  Freien  Ökonomischen  Gesellschaft''  ins  Leben 
gerufen.  Im  Jahre  1861  gab  es  in  ganz  Rußland  nm*  21  landwirtschaft- 
liche Gesellschaften,  darunter  eine  polnische  in  Warschau.*)  Ihre  Zahl 
stieg  1880  auf  84,  bis  zum  Jahre  1890  auf  93  und  betrug  im  Jahre  1898 
etwa  270.  Unter  ihnen  waren  nur  vier  polnische  Gesellschaften,-)  davon 
eine  außerhalb  des  Zartums.^)   Erst  im  Jahre  1898  beginnt  infolge  Schaffung 

1)  Die  Gesellschaft  trat  nach  dem  Tode  des  Statthalter  Paskewitsch  im  Jahre  1856 
ins  Leben,  wurde  aber  schon  im  Jahre  1863  wegen  ihrer  lebhaften  Teilnahme  an  der 
Politik  geschlossen. 

-)  Der  Gaiteubauverein  in  Warschau  seit  1884,  der  Seidenzuchtverein  ebenda  seit 
1889,  die  Gartenbau-  und  Bienenzuchtvereine  ebenda  seit  1894. 

^)  Die  Landwirtschaftliche  Gesellschaft  in  Minsk. 


B.  Die  landwirtschaftlichen  Gesellschaften  oder  Syndikate  283 

eines  gesetzlich  festgelegten  Norraalstatuts  vom  28.  Februar  eine  stärkere 
Entwicklung  der  landwirtschaftlichen  Gesellschaften.  In  Polen  entstanden 
im  Jahre  1899  sechs  landwirtschaftliche  Vereinigungen  aller  Art.  Im 
Jahre  1900  wurden  sieben,  1901  zwei,  1902  zwei,  1904  drei  selbständige 
Gesellschaften  aller  Art  und  vier  Filialen  zu  früher  gegründeten,  1905 
eine  selbständige  und  vier  Filialen  gegründet.  Im  Jahre  1906  gab  es  zehn 
landivirtschaftliche  Gesellschaften^  die  im  Volksmunde  Syndikate  genannt 
werden.  Ihnen  waren  angeschlossen  sechs  Handelsabteilungen  und  vier 
landwirtschaftliche  Genossenschaften.  Gewöhnlich  werden  alle  diese  Ver- 
einigungen als  selbständige  Unternehmungen  bezeichnet,  woher  z.  B.  die 
Auskimfterteilung  verständlich  wird,  in  Polen  gäbe  es  16  oder  20  oder  26 
landwirtschaftliche  Vereine. 

Alle  diese  Vereinigungen  haben  den  Zweck,  ihren  Mitgliedern  mit  ver- 
einten Kräften  die  möglichst  wohlfeile  Beschaffung  aller  Bedarfsartikel  und 
den  möghchst  vorteilhaften  Absatz  ihrer  Erzeugnisse  sicherzustellen.  Ferner 
dürfen  sie  im  Eahmen  des  ihnen  von  der  Kegienmg  freigegebnen  Be- 
tätigungsgebiets für  die  Hebung  der  Landwirtschaft,  Verbesserung  der 
Viehzucht  und  Wirtschaftsmethode,  doch  nur  im  Einverständnis  mit  dem 
Gouverneur  sorgen.  So  bedurfte  noch  bis  zum  Jahre  1906  die  Aufstellung 
eines  Zuchtstiers  durch  mehrere  Interessenten  gemeinsam  der  behördlichen 
Genehmigung.  Ein  Zusammenschluß  der  Syndikate  mehrerer  Gouvernements 
zur  Betreibung  eines  gemeinsamen  Unternehmens,  zum  Beispiel  der  Trocken- 
legung von  Sümpfen,  ist  auch  nach  dem  Gesetz  vom  7.  März  1906  nicht 
gestattet.  Doch  ist  der  Fall  denkbar  und  gesetzlich  zulässig,  daß  mehrere 
Syndikate  die  Bildung  eines  Konsortiums  aus  ihren  Mitgliedern  veranlassen 
zui'  Durchführung  derselben  Aufgabe.^)  Dami  übernehmen  die  Konsorten 
die  persönliche  Verantwortung.-)  Unter  solchen  Vorbedingimgen  haben 
die  Polen  einen  großen  Sieg  feiern  können,  als  ihren  landwirtschaftlichen 
Syndikaten  auf  Fürsprache  des  Herrn  Witte  im  Jahre  1902  gestattet  wurde, 
ihre  Einkäufe  durch  das  Warschauer  Syndikat  besorgen  zu  lassen.  Die 
im  Jahre  1906  im  Zartura  vorhandnen  zehn  landwirtschaftlichen  Gesell- 
schaften oder  Syndikate  haben  infolgedessen  einen  natürlichen  gesetzlich 
erlaubten  Verbindungspunkt  —  die  Warschauer  Einkaufszentrale. 

Die  Vertreter  der  „Pro vinzial"- Gesellschaften  kommen  gewöhnlich  in 
Warschau  zusammen,  wo  sie  in  den  Räumen   des  örtlichen  Syndikats  die 


»)  Artikel  3  des  Normalstatuts  vom  28.  Februar  1898. 

'^)  Eine  solche  Gesellschaft  ist  zum  Beispiel  die  erwähnte  Kleinbahngeselischaft  der 
Ljubomirski,  Zamojski  und  Swencicki  im  Gouvernement  "Warschau  (siehe  S.  259).  Das 
Unternehmen  ist  der  Idee  nach  ein  Kind  der  Landhank  und  des  "Warschauer  landwirt- 
hchen  Syndikats. 


284  Zwölftes  Kapitel.    Organisationen  der  Landwirtschaft 

mit  einer  gemeinschaftlichen  Bestellung  der  Waren  zusammenhängenden 
Fragen  besprechen.  Hier  erscheinen  auch  die  Vertreter  der  ausländischen 
Firmen,  die  mit  den  Syndikaten  in  Yerbindung  treten  wollen.  Nach  dem 
Gesetz  darf  die  Verbindung  über  dieses  Geschäft  nicht  hinausgehn. 

2.  WiHschaf fliehe  Betät'ujung  der  Syndikate 

Über  die  wirtschaftliche  Entwicklung  der  landwirtschaftlichen  Gesell- 
schaften gibt  ein  Aufsatz  in  der  amtlichen  „Handels-  imd  Industriezeitung"  *) 
einige  belehrende  Einzelheiten. 

Die  Tätigkeit  der  landwiitschaftlichen  Gesellschaften,  heißt  es  da,  besteht  vor 
allem  in  der  Versorgung  der  Landwiile  mit  landwirtschaftlichen  Maschinen  und 
Geräten  sowie  mit  Kimstdünger  und  Saattom.  Dagegen  beschränkt  sich  der 
Absatz  von  landwirtsehafthchen  Erzengnissen  auf  einen  verhältnismäßig  kleinen 
Umfang.  Infolge  des  Vertrauens,  das  die  landwirtschaftlichen  Gesellschaften 
bei  den  ausländischen  Firmen  genießen,  sind  sie  imstande,  trotz  ihren  verhältnis- 
mäßig geringen  JVIitteln  recht  bedeutende  Umsätze  zu  erzielen.  So  vennittelte 
die  bedeutendste  von  ilmen,  die  Warschauer  land'wirtschafthche  Gesellschaft., 
trotzdem  sie  nur  über  ein  eignes  Kapital  von  51000  Rubel  verfügte,  im 
Jahre  1903  den  Verkauf  von  verschiednen  Waren  im  Werte  von  408000  Rubel. 
Für  die  Gesellschaft  in  Lubhn  waren  die  entspjechenden  Zahlen  46000  luid 
344000,  fiu-  Petrikau  31000  und  324000  Rubel  usw.  Die  Möglichkeit,  trotz 
eines  so  geringen  eignen  Kapitals  so  bedeutende  Umsätze  zu  erreiclien,  erklärt 
sich  dadiuch,  daß  die  Genossenscliaften  ähnlich  wie  verantwortUche  Kommissionäre 
bedeutender  Handelsfirmen  auftreten,  nicht  aber  in  der  Rolle  selbständiger  Handels- 
unternehmer. Einen  besoudern  Vorzugskredit  erhalten  die  Gesellschaften  von 
ameiikanischen  Finnen;  die  übergeben  Urnen  die  Waren  ohne  Sclnddvei-schreibung 
und  erkläi-en  sich  meist  bereit,  mit  der  Bezahlung  zu  warten,  bis  die  gelieferten 
AVaren  verkauft  sind.  .  .  . 

Den  Hauptzweck  der  Handelstätigkeit  der  Genossenschaften  bildet  die  Ver- 
l)Llligung  des  Preises  der  Waren,  was  ihnen  auch  in  hohem  Maße  gelingt.  So 
wurde  die  in  Polen  weit  und  breit  angewandte  Erntemascliine  von  Osburn  friiher 
nicht  billiger  als  für  230  Rubel  das  Stück  verkauft,  jetzt  ist  der  Preis  bis  zu 
158  Rubel  gesmiken;  der  Verkaufspreis  einer  Federegge  ist  von  56  bis  auf 
40  Rubel  zurückgegangen.  Ähnlich  steht  es  auch  mit  andern  landwh'tscliafthchen 
Maschinen  und  Geräten.  Dabei  ist  noch  besonders  zu  erwälmen,  daß  die  land- 
wirtsehafthchen Gesellschaften  durchaus  nicht  mit  Verlust  arbeiten,  sondern  im 
Gegenteil  recht  bedeutende  Gewinne  erzielen.  So  erreichte  der  Reingewinn  der 
Warschauer  landwirtschaftlichen  Gesellschaft  im  Jalire  1903  9472  Rubel,  was 
hei  einem  Kapital  von  50000  Rubel  18  Prozent  gleichkommt.  Die  Lubhner 
Gesellschaft  liatte  emen  Reingewinn  von  9703  Rubel  zu  verzeichnen,  bei  einem 
Kapital  von  46000  Rubel  über  20  Prozent,  die  Petrikauer  gm-  bei  einem 
Kapital  von  31000  Rubel  einen  Reinge\\Tnn  von  ungefähr  10000  Rubel  oder 
etwa  30  Prozent. 

Hierbei  sei  unterstlichen,  daß  der  Nutzen  der  Syndikate  nicht  so  sehr  im 
Umfang  ihrer  Handelsiunsätze  besteht   als   in   der  Regulierimg  der  Preise.     Die 

*)  Torg.  Prom.  Gaseta  von  1904,  Nr.  239. 


C.  "Wirkungskreis  der  Landbank  285 


Privatunternehimmgen  müssen  sich  an  die  Preise  der  landwirtschaftlichen  Ge- 
sellschalt anleimen.  Infolgedessen  bilden  diese  Gesellschaften  einen  Mittelpnnkt, 
dessen  Wirksamkeit  weit  über  die  Grenzen  ilu-er  Statute  hinausgeht.^) 

Die  landwirtschaftlichen  Gesellschaften  dürfen  nach  dem  Statut  Tochter- 
gesellschaften nicht  ins  Leben  rufen,  aber  sie  dürfen  mit  Konsumvereinen 
usw.  innerhalb  ihres  Gebiets  in  geschäftliche  Beziehungen  treten.  Ferner 
dürfen  die  landwirtschaftlichen  Gesellschaften  Filialen,  Handelsahteilungen 
und  Warenlager  einrichtefn.  Diese  Bestimmungen  sollen  jede  Initiative 
der  landwirtschaftlichen  Vereine  beschränken,  die  nicht  gleichzeitig  durch 
materielle  und  persönliche  Verantwortung  beschwei't  würde.  Der  Zweck 
ist  nicht  erreicht.  Alle  polnischen  landwirtschaftlichen  Genossenschaften 
und  Vereine  sind  durch  ihre  Mitglieder  sowohl  mit  den  Landbank- 
direktionen in  den  einzelnen  Gouvernements  wie  mit  den  landwirtschaft- 
lichen Gesellschaften  des  Zartums  mid  durch  diese  wiederum  mit  den 
Syndikaten  in  Litauen  und  Weißrußland  eng  verbunden. 

C.  Wirkungskreis  der  Landbank 

1.  Die  landwirtschaftlicheti  Gesellschaften  und   Verhraiichsvereine 

Am  Anfang  des  Jahres  1907  zeigt  die  Ausbreitung  der  landwirtschaft- 
lichen Vereine  und  Genossenschaften  im  Zartuni  Polen  folgendes  Bild. 

1.  Die  landwirtschaftliche  Gesellschaft  von  Ssuioalhi  (1902)  steht  in 
Verbindung  mit  einem  Konsumverein  in  Augustow.-) 

2.  Die  landwirtschaftliche  Gesellschaft  von  Lomsha  (1899)  steht  in 
Verbindung  mit  einer  Handelsabteilung  (1900),  die  wieder  drei  Filialen  in 
Lomsha,  Czizow  und  Zebrow  (1905)  hat.  Im  Jahre  1902  ti'itt  der  erste 
Konsumverein  in  der  Gouvernementshauptstadt  hinzu,  1904  ein  weiterer 
inRaigrod,  1905  fünf,*^)  1906  siebenundzwanzig*)  und  1907  einundzwanzig^) 
Konsumvereine. 


^)  Landwirtschaftliche  Maschinen  und  Geräte  werden  zu  etwa  fünfzig  Prozent  aus 
Amerika  bezogen.  Weiter  folgen  England  (Dampfdreschmaschinen)  und  Deutschland  (Pflüge). 
An  nächster  Stelle  stehn  nissische  Fabrikate,  etwa  zwölf  Prozent,  in  erster  Linie  Dresch- 
maschinen von  Elwerti  aus  Jelissawetgrad. 

')  Es  sei  hierbei  daran  erinnert,  daß  im  Gouvernement  Ssuwalki  Polen  nur  22,9  Pro- 
zent, dagegen  Litauer  52,4,  Deutsche  6  und  Juden  10,9  Prozent  (vgl.  S.  126  und  142)  der 
Bevölkeiimg  darstellen. 

*)  Lapy,  Lomsha  11,  Turosl,  Borkowo,  Jedwabno. 

*)  Bog-uty,  Zboina,  Kacziny-Starowjes,  Kolaki-Strumene,  Kolno,  Konty,  Kupisk, 
Lomzica,  Lomsha  IJI,  Lukowe,  Ljubotin,  Malyplock,  Montwica,  Mjastkowa,  Nowogrod, 
Ostrolenka,  Pjatnica,  Ploniawy,  Porj'te,  Rakowo-Chmelewo,  Stawiski,  Swaüny-Duze,  Czerwin, 
Szczepanowo,  Szczuczin,  Jablonka  und  Janowo. 

^)  Bronowo,  Gonzewo,  Dzbenm,  Zabele,  Kalinowo,  Kamjanka,  Niksowizua,  Olszewka, 
Rabendy,  Radziwilowo,  Rzekun,  Rogeuice,  Chliudno,  Chrostowo,  Ceciory,  Czerwoue. 


286  Zwölftes  Kapitel.    Organisationen  der  Landwiiischaft 

3.  Die  landwirtschaftliche  Gesellschaft  von  Plock  (1900)  steht  in  Ver- 
bindung mit  vier  im  Jahre  1904  gegründeten  landwirtschaftlichen  Genossen- 
schaften in  Mlawa,  Plock,  R}T)in  und  Ciechanow,  aber  mit  keinem  Konsum- 
verein. ^) 

4.  Die  landwirtschaftliche  Gesellschaft  von  Sjedlec  (1899)  steht  in  Yer- 
bindimg  mit  zwei  Warenniederlagen  in  Sjedlec  und  Radin  sowie  drei  1907 
gegründeten  Konsumvereinen.  ^) 

5.  Die  landwirtschaftKche  Gesellschaft  von  Luhlin  (1899)  steht  in 
Yerbindimg  mit  einer  Handelsabteilung,  die  wieder  je  eine  Filiale  in 
Lublin  und  Hi'ubieszow  unterhält.  Von  landwirtschaftlichen  Konsum- 
vereinen gibt  es  nur  einen  in  Rakolupy.  3) 

6.  Die  landwirtschaftliche  Gesellschaft  von  Warschau  (1900)  ist  Ein- 
kaufszenti'ale  für  alle  landwirtschaftlichen  Genossenschaften  des  Zartums. 
Sie  hat  seit  dem  Jahre  1904  eine  Handelsabteilung  mit  drei  Filialen  in 
Warschau,  Wloclawek  und  Kutno  und  steht  in  Verbindung  mit  zwei  Kon- 
sumvereinen in  Warschau,*)  beide  1907  gegründet.  Ferner  gibt  es  noch 
zwei  landwirtschaftliche  Privatfirmen  auf  genossenschaftlicher  Grundlage, 
die  mit  der  landwirtschaftlichen  Gesellschaft  in  enger  Beziehung  stehu.**) 

7.  Die  landwirtschaftliche  Gesellschaft  von  Kaiisch  (1900)  hat  eine 
Handelsabteilung  mit  zwei  Warenniederlagen  in  Kaiisch  und  Blaszki  sowie 
sieben  Filialen**)  und  steht  mit  zwei  Konsumvereinen  in  Verbindung.') 

8.  Die  landwirtschaftliche  Gesellschaft  von  Petrikau  (1900)  hat  eine 
im  Jahre  1905  gegründete  Handelsabteilung  mit  Filialen  in  Petrikau,  Rawa, 
Czenstochau  und  Noworadomsk.  *) 

9.  Die  landwirtschaftliche  Gesellschaft  von  Kjelce  (1899)  gründete 
1900  eine  HandelsabteUung  mit  Filialen  in  Kjelce  und  Lubna  sowie  zwei 
Viehzüchtervereine  in  Mjechow  (1900)  und  Andrejew  (1901)  und  steht  in 


')  Die  beiden  Konsumvereine  in  Plock  (Ssogla.ssije  1870)  und  in  Wulka  (1899)  sind 
unter  jüdischer  Leitung. 

^)  Zbuczino,  Mordy  und  Sjedlec.  Die  beiden  Konsumvereine  in  Elzbetow  (1898)  und 
Czechy  (1903)  gehören  zu  einer  Zucker-  mid  einer  Glasfabrik. 

^)  Die  beiden  „Predusmotriteljnostj"  in  Lublin  (1900)  und  ,,Jedinenije"  in  Byohawa 
(1906)  sind  jüdisch. 

*)  Die  andern  dreizehn  Konsumvereine  gehören  zu  Behörden,  Offizierkorps,  Eisen- 
bahngesellschaften und  Fabiiken. 

^)  Die  Molkereigenossenschaft  in  "Warschau  (1901)  und  die  Genossenschaft  für 
Meliorationen  (1904). 

^)  In  L^czica,  Slupec,  Konin,  Turek,  "Welun,  Kolo  imd  Zdunska  Wola. 

')  I^czica  und  Turek  (1904). 

*)  Die  dreizehn  Konsumvereine  im  Gouvernement  gehören  zu  industriellen  Unter- 
nehmungen. 


C.  Wirkungskreis  der  Laudbauk  287 

Verbindung  mit  der  Sämereigenossenschaft  von  A.  Dobrzanski  &  Co.  in 
Kjelce  (1902)  sowie  angeblich  mit  sieben  Konsumvereinen.^) 

10.  Die  landwirtschaftliche  Gesellschaft  von  Radom  (1899)  hat  eine 
im  Jahre  1905  eröffnete  Handelsabteilung  mit  einer  Filiale  in  Ostrowec 
und  steht  mit  sechs  Konsumvereinen  in  Verbindung.*) 

Neben  den  Syndikaten  gibt  es  somit  im  Zartum  Polen  bis  zum  März  1907 
neun  landwirtschaftliche  Genossenschaften.  Von  ihnen  wurden  sieben,  ge- 
stützt auf  Artikel  3  des  Statuts  vom  28.  Februar  1898,  auf  Veranlassimg 
von  landwirtschaftlichen  Syndikaten  ins  Leben  gerufen:  die  beiden  Vieh- 
züchtergenossenschaften in  Mjechow  (1900)  und  Andrejew  (1901),  die 
Warschauer  Meliorationsgenossenschaft  und  vier  landwirtschaftliche  Ein- 
und  Verkaufsgenossenschaften  (alle  1904).  Über  die  Tätigkeit  und  die  Er- 
folge der  Genossenschaften  liegen  bisher  keine  Veröffentlichungen  vor. 

2,  Pei'sonalverhindungen 

In  jedem  Gouvernement  bildet  die  Direktion  der  Landbank  einen 
organisierten  Mittelpunkt.  Dort  werden  die  in  Warschau,  Lemberg,  Krakau 
und  Posen  gegebnen  wirtschaftlichen  Direktiven  in  das  praktische  Leben 
des  Gouvernements  übergeführt.  Li  welcher  Weise  solches  geschieht,  sei 
für  das  Jahr  1904  in  einzelnen  Gouvernements  dargestellt. 

Üie  Landhankdirektion  von  Ssuwalki  setzt  sich  zusammen  aus  vier- 
zehn Mitgliedern,  nämlich  dem  Präsidenten,  sechs  Räten  und  sieben  sonstigen 
hohem  Beamten.  Von  diesen  vierzehn  Personen  nehmen  fünf  gleichzeitig 
Stellungen  in  andern  Instituten  ein. 


sind  in 

der  Tiandbank 

im  Syndikat^) 

der  Sparkasse 

LB. 

Präsident 

Aufsichtsrat 

— 

G.  J. 

Buchhalter 

— 

2.  Direktor 

R.  N. 

2.  Buchhalter 

— 

Revisor 

LS. 

Sekretär 

Sekretär 

— 

W.  St. 

Sekretär,  ist  ein 

Bruder  des 

— 

St.  St. 

— 

Sekretär 

Aufsichtsrat 

Es  kann  hinzugefügt  werden,  daß  AV.  St.  im  genannten  Jahre  Sekretär 
und  Kassierer  der  städtischen  Kreditgesellschaft  war,  woraus  zu  folgern 
ist,  daß  sich  die  Polen  in  Ssuwalki  auch  Eintritt  in  diese  Domäne  der  Juden 
geschafft  haben  (vgl.  S.  248,  Anm.). 


^)  Ich  konnte  die  Mitteilung  auf  keiue  Weise  nachprüfen. 

-)  Ilza,  Przedborz,  Czenstocice,  Chlewiska,  Opatow  und  Swokupno;  die  übrigen  ueiui 
Konsumaustalten  gehören  zu  Fabiiken  und  Beamtenvereinen. 
^)  Syndikat  gleich  landwirtschaftlicher  Verein  s.  o. 


288  Zwölftes  Kapitel.    Organisationen  der  Landwirtschaft 

Im  Gouvernement  Sjedlec  ist  die  Verbindung  der  verschieduen  Ge- 
sellschaften noch  vielfacher. 


Es  sind  in 

der  Landbank 

im  Syndikat 

d.  Ges.  f.  gegens.  Kr. 

d.  St.  Kreditgesellsch. 

B.  I.  Ch. 

Präsident 

Revisor 

— 



V.  1.  N. 

Beirat 

Verwaltungsrat 

— 

— 

B.  K.  P. 

Archivar 

— 

— 

Präs.  d.  Aufsichtsrats 

W.  N.  Cz. 

Buchhalter 

— 

— 

Kassierer 

L.  A.  Sz. 

Buchhalter 

Revisor 

Verwaltiuigspräsidöut 

— 

I.  N.  P. 

— 

Revisor 

Prils.  d.  Aufsichtsrats 

— 

I.  K.  PI. 

— 

— 

Verwaltung 

Prokurist 

Außerdem  hat  Ch.  zwei  nahe  Yenvandte,  einen  im  Syndikat,  eiuen 
andern  in  der  Gesellschaft  für  f^egenseitigeu  Kredit  angestellt. 

Auch  für  das  Gouvernement  Radom  konnten  wir  einwandfi-ei  die  Zu- 
sammenhänge zwischen  den  einzelnen  Gesellschaften  feststellen.    Dort  sind 

^^    ^®^                                         I^dbank  Syndikat  II.  Kreditges. 

W.  V.  Gr.  Präsident  —  Präsident 

A.  A.  H.  Beirat  Präsident                   — 

W.  A.  P.  Beirat  Vizedirektor              — 

Z.  F.  W.  Geschäftsführer  —  Verwaltung 

Für  die  andern  sieben  Gouvernements  konnten  wir  keine  genauen 
Feststellungen  erhalten.  Nach  den  uns  gewordnen  Mitteilungen  soll  nur 
in  Warschau  die  Vetternwirtschaft  nicht  in  der  oben  gekennzeichneten 
Weise  entwickelt  sein,  weil  die  Menge  der  tatsächlich  zu  leistenden  Ar- 
beiten auf  einem  Posten  die  Übernahme  mehrerer  Posten  zugleich  ver- 
bietet.    Der  Zusammenhang  ist  darum  nicht  minder  eng. 

Außer  diesen  Zusammenhängen  werden  noch  weitere  Verbbulungen 
durch  das  Institut  der  Ehrenmitglieder  bei  den  landwirtschaftliciien  Ver- 
einen geschaffen.  So  ist  der  kürzlich  verstorbne  Ludwig  Gorski,  von  dem  wir 
noch  im  Abschnitt  von  der  Politik  näheres  hören  werden,  Ehrenmitglied 
einiger  —  wir  glauben  aller  landwirtschaftlichen  Vereine  gewesen.  Des- 
gleichen ist  es  üblich,  Vertreter  des  Komitees  der  Landbank  wie  auch  die 
Präsidenten  der  landwirtschaftlichen  Gesellschaften  in  Minsk  und  Wilna 
zu  Ehrenmitgliedern  polnischer  Vereine  zu  wählen  und  iimen  so  die  Möglich- 
keit zu  geben,  den  Vereammlungen  der  Vereine  beizuwohnen. 

D.  Allgemeine  Zusammenliänge  zwischen  Wirtscliaft 

und  Politik 

Wir  können  nunmehr  unsre  Darstellung  der  polnischen  Wirtschaft 
als  abgeschlossen  betrachten.  Es  lag  uns  daran,  zu  zeigen,  wie  trotz  den 
streng  begrenzten  Bestimmungen  der  russischen  Wirtschaftsgesetzgebung 
auf  der  Grundlage   der  Wirtschaftsreform   von  1864  doch   ein  vollständig 


D.  Allgemeine  Zusammenhänge  zwischen  "Wirtschaft  und  Politik  289 

unabhängiges  polnisches  Wirtschaftsgebiet  mit   eigner   Organisation  ent- 
stehn  konnte,  die  fast  nur  durch  das  Handelskapital  mit  dem  russischen 
Wirtschaftsgebiet  verbunden  ist.     Wir  haben  auch   einen  Teil  der  Gründe 
gezeigt,    die    diese  Entwicklung  entweder  notwendig  machten    oder  doch 
wenigstens  begünstigten.     AYir  zeigten,  wie  sich  zuerst  das  internationale 
Kapital  in  Polen  festsetzte,  wie  sich  dann  besonders  unter  Anleitung  der 
Juden  die  oberste  Schicht  der  polnischen  Gesellschaft  sowohl  mit  Kapital 
wie  mit  eigner  Ai'beit  an  der  Entwicklimg  der  Wirtschaft  beteiligte.   Wir 
möchten  an  dieser  Stelle  hinzufügen,  daß  in   diesen  wirtschaftlich  tätigen 
Kreisen  der  Gedanke  einer  endgiltigen  Aussöhnung  mit  Rußland,  wie  ihn 
später  die  Partei  der  Ugodowce  vertrat,  den  ersten  und  größten  Rückhalt 
fand.     In  dem  Maße,  wie  sich    das    polnische  Kapital    an   den   Handels- 
unternehmimgen  mit  Rußland  beteiligt  oder  wie  sich   die  eingewanderten 
Deutschen   und  Juden  polonisieren  lassen  und  in  nächste   Beziehung  zur 
polnischen  Gesellschaft  treten,  in  demselben  Maße  muß  das  wirtschaftliche 
Interesse  der  Polen  an  Rußland  steigen,  in  demselben  Maße  wächst  auch 
die  Möglichkeit  einer  Aussöhnung  zwischen  den  Polen  und  Russen,  ohne 
große  Konzessionen  von  den  Russen  notwendig  zu  machen.     Andrerseits 
erscheint  uns  solche  Möglichkeit  um  so  geringer,  je  stäi-ker  sich  solche 
Wirtschaftsorganisationen  entwickeln  können,  die  sich  von  den  russischen 
Geldquellen,   wie    von    der  Staatsbank,    freihalten    können,    weil  sie  aus- 
schließlich auf  die  innern  Märkte  in  Polen  angewiesen  sind.     Zu   diesen 
Einrichtungen  gehören  vor  allen  Dingen   die  LandhanJc  und  die  Omin- 
sparJcassen.   Zu  ihnen  können  nach  gewisser  Zeit  auch  die  privaten  Spar- 
und  Vorschußkassen  ti-eten,  wenn  sich  ihre  Leiter  vom  Staatsbankkredit 
emanzipieren  können.   Am  günstigsten  liegt  die  Sache  für  die  Polen  bei  den 
Gminkassen.   Selbst  wenn  die  gegenwärtige  Gesetzgebung  beibehalten  wii"d, 
können  sie  ein  Sanmielbecken  für  die  Groschen  der  großen  Masse  bilden, 
solange  ihre  Verwaltung  einigermaßen  solid  gehandhabt  wird.   Bei  der  seit 
1906    eingetretnen    größern  Preßfi-eiheit    darf    mit    einer    Gesundung   ge- 
rechnet Averden.     iSTur  gilt  es,   die  Sparer  von   den  staatlichen  Sparkassen 
des  Finanzministeriums  fernzuhalten.   Bei  der  großen  Bevölkerimgszuuahme 
und    den    steigenden    Bedürfnissen,    bei    den   steigenden  Verdiensten   der 
Sachsengängerei,    mit  einem  Wort    bei   der    ganzen   wirtschaftlichen   Ent- 
wicklung, die  die  Bevölkerung  des  Weichselgebiets  genommen  hat,  scheint 
es,  als  könnte  die  russische  Regierung  nicht  anders  handeln,   als  der  Or- 
ganisation von  Spar-  und  Vorschußvereinen  eine  größere  Freiheit  zu  geben. 
Wenn  dann  die  Polen,  ähnlich  wie  in  Preußen,  ehrlich  wirtschaften  möchten, 
dann  müßte  sich  von  hier  aus  die  Grundlage  einer  eignen  Finanzorganisation 
schaffen  lassen.   Jedenfalls  müssen  wir  mit  solcher  Möglichkeit  rechnen. 

Cleiuuw,  Die  Zukunft  Polens  19 


290  Zwölftes  Kapitel.   Organisationen  der  Landwirtschaft 

Bisher  hat  die  Regierung  indessen  keinerlei  liberale  Neigungen  ge- 
zeigt. Im  Gegenteil,  sie  hat  versucht,  ihre  ständische  Absonderungspolitik 
nicht  nur  auf  die  Einrichtung  der  Selbstverwaltuugskörper  zu  beschränken, 
hat  sich  vielmehr  bestrebt,  sie  auch  in  alle  Gebiete  der  Wirtschaft  hinein- 
zutragen. Wir  konnten  diese  Bestrebungen  nachweisen  bei  der  Behandlung 
der  kleinen  Schlachta  (S.  201/04),  bei  der  Handliabimg  des  Servitutenrechts 
(S.  191/96),  bei  der  Behinderung  rein  polnischer  Gründungen  (S.  256). 
Aber  wir  sahen  auch  gelegentlich  der  Besprechung  der  Gminkassen,  wie 
die  Bestrebungen  der  Regierung  an  den  dringenden  Bedürfnissen  der 
Wirtschaft  scheiterten.  So  mußte  sie  die  Gutsbesitzer,  Kaufleute,  Geist- 
lichen sowie  Vertreter  der  freien  Berufe  als  Mitglieder  der  Gminkassen 
zulassen,  weil  ohne  sie  die  steuerzahlende  bäuerliche  Bevölkerung  ohne 
bares  Geld  geblieben  wäre  (S.  273).  Damit  aber  hat  die  Regierung  durch- 
aus gegen  ihren  Willen  einen  sehr  wichtigen  Zusammenhang  zwischen 
den  Bauern  und  den  gebildeten  Klassen  auf  wirtschaftlicher  Basis  ge- 
schaffen, den  sie  durch  Maßnahmen  der  Verwaltungstechnik  nicht  so  leicht 
wird  ausgleichen  können. 

Auch  die  Landhank  hat  in  politischer  Beziehung  ganz  andre  Ergeb- 
nisse gezeitigt,  als  sie  der  Gesetzgeber  erwartet  hatte.  Der  russische  Ge- 
setzgeber hatte  die  Landbank  mit  Statuten  bestehn  lassen,  die  ihr  die  pol- 
nische Regierung  des  Herzogtums  Warschau  im  Jahre  1826  verliehen 
hatte,  weil  er  —  von  tatsächlich  vorhandnen  wirtschaftlichen  Notwendig- 
keiten, denen  auch  mit  Hilfe  der  Staatsbank  hätte  entsprochen  werden 
können,  sei  hier  ganz  abgesehen  —  weil  er  hoffte,  mit  ihrer  Hilfe  die  wirt- 
schaftlichen Interessen  der  Großgrundbesitzer  noch  imi  einen  weitem  Grad 
von  denen  der  Bauern  trennen  zu  können.  Solange  der  polnische  Adel 
in  der  Landbank  ledigüch  die  Stelle  sah,  durch  deren  Vermittlung  er  bares 
Geld  für  seine  außerhalb  der  Landwirtschaft  liegenden  finanziellen  Speku- 
lationen erhalten  konnte,  schien  die  Landbank  den  politischen  Absichten 
der  Regierung  auch  entgegenzukommen.  Doch  ti-at  hierin  eine  Wandlung 
ein.  Der  polnische  Magnat  ist  gezwungen,  schon  lediglich  mit  Rücksicht 
auf  die  von  Rußland  aus  in  die  polnische  Gesellschaft  eingedrungnen 
Sozialrevolutionären  Ideen,  in  der  polnischen  Landbank  ein  höheres,  dem 
polnischen  Gesamtinteresse  dienendes  Institut  zu  sehen,  als  nur  das  Kredit- 
institut einer  kleinen  Klasse.  Als  sich  in  der  polnischen  Gesellschaft  das 
Streben  nach  wirtschaftlicher  Selbständigkeit  auf  allen  Gebieten  bemerkbar 
machte,  mußte  auch  der  Magnat  dem  demokratischen  Zuge  folgen,  wenn 
er  nicht  wirtschaftlich  untergehn  und  politisch  allen  Einfluß  verlieren 
wollte.  Die  Entwicklung  des  Kapitalismus  zog  auch  dessen  Schatten,  den 
Sozialismus  nach  sich,  und  zwischen  beiden  erstarkte  das  Selbstbewußtsein, 


D.  Allgemeine  Zusammeuhänge  zwischen  Wirtschaft  und  Politik  291 

das  seinen  gesundesten,  der  Gesamtheit  nützlichsten  und  herrlichsten  Aus- 
di'uck  in  der  Liebe  zur  Nation  findet.  Die  Stelle,  die  liier  der  gesunden 
Entwickhing  half,  war  die  Versammlung  der  Inhaber  pohlischer  Pfand- 
briefe und  auf  deren  Beti-eiben  die  russische  Rnanzbehörde  (S.  280).  Trotz 
allen  politischen  Gegenniaßregehi  vollzieht  sich  infolgedessen  auch  von  der 
aristokratischen  Landhanh  aus  ein  nationaler  Zusammenschluß  auf  demo- 
Tcratischen  Orundlagen.  Obwohl  die  Regierung  alle  Besti'ebimgen ,  die 
irgendeine  nationale  Färbung  zeigten,  bis  in  die  zweite  Hälfte  der  1890  er 
Jahre  mit  allen  ihr  zur  Verfügung  stehenden  Mitteln  verhindert  hat,  konnte 
sie  den  ständig  fortschreitenden  nationalen  Zusammenschluß  nirgends  in 
der  Wirtschaft  verhindern.  Wohl  bleiben  die  städtischen  Banken  lange 
Zeit  unter  jüdischer  Leitung,  aber  wo  nur  die  Polen  in  landwirtschaftlicher 
oder  industrieller  Beziehung  große  Fortschritte  gemacht  haben,  wo  also  der 
Handel  mit  ihnen  rechnen  muß,  gelangen  sie  doch,  anfänglich  vereinzelt, 
später  in  geschlossenen  Gruppen  in  die  Verwaltungen  der  städtischen 
Banken,  der  Gesellschaften  für  gegenseitigen  Kredit,  der  städtischen  Spar- 
und  Vorschußkasseii.  Als  dann  am  Ende  der  1890  er  Jahre  dank  dem 
Wirken  Wittes  wirtschaftlichen  Zusammenschlüssen  auch  in  Polen  weniger 
Schwierigkeiten  entgegengesetzt  werden,  begegnen  wir  auch  sehr  bald 
solchen  LTnternehmungen ,  in  denen  der  polnische  Einfluß  ausschließlich 
maßgebend  ist.  Gleichzeitig  ist  aber  auch  jene  politische  Richtung  er- 
starkt, die  nichts  von  einer  Versöhnung  mit  Rußland  wissen  will  —  die 
der  Narodoivce,  Sie  schöpft  ihre  Kraft  aus  der  wirtschaftlichen  und  kul- 
turellen Entwicklung  der  polnischen  Gesellschaft.  Sie  Avurzelt  mit  ihren 
letzten  Fasern  ebenso  in  den  sozialistischen  wie  in  den  kapitalistischen 
Richtungen.  Die  Polen,  die  glauben,  wirtschaftlich  ohne  die  Juden  und 
ohne  das  internationale  Kapital  auskommen  zu  können,  sie  sind  auch  davon 
überzeugt,  daß  sie  in  der  Politik  selbständig  ihren  Weg  zu  nationaler 
Wiedergeburt  schi'eiten  können.  Praktischen  Ausdruck  schuf  sich  diese 
politische  DenkAveise  unter  auderm  auch  in  der  Tätigkeit  der  Landbank. 
Unter  dem  Druck  der  öffentlichen,  wenn  auch  imgedruckten  Meinung  fing 
sie  an,  sich  nach  sozialen  Gesichtspunkten  zu  richten.  Landwirtschaftliche 
Gesellschaften  (Syndikate)  entstehn,  und  neben  dem  Gutsbesitzerparlament 
der  Landbank  in  Warschau  wachsen  mit  den  S}Tidikaten  ProvinziaUandtage 
in  den  einzelnen  Gouvernements  empor,  denen  Angehörige  aller  Stände, 
die  ,,ein  Interesse  an  Fragen  der  Landwirtschaft  haben",  beitreten.  Da 
kommen  die  weltgewandten  Magnaten  mit  ihren  Petersburger  imd  Wiener 
Beziehimgen,  die  Geistlichen  mit  ihren  Instruktionen  aus  Krakau,  die 
Rechtsanwälte,  die  volkswirtschaftlichen  Schriftsteller,  die  Leiter  von 
Parzelherungsbanken  und  die  bäuerlichen  Wirte  aus  den  privilegierten  so 

19* 


292  Zwölftes  Kapitel.    Organisationen  der  Landwirtschaft 


sorgsam  von  der  Intelligenz  abgesonderten  Bauern  und  aus  der  tatkräftigen 
kleinen  Schlachta  zusammen.     Da  fühlen  sie  sich  alle  durch  Sondertarife, 
Kreditbeschränkung,  Zurücksetzung  der  Schulen  als  ein  Ganzes,  das  ver- 
bunden wird  einstweilen  nur  diu'ch  das  Band  der  Sprache  und  der  Religion 
und  durch  das  Interesse  für  die  Landwirtschaft.     Und  unter  dem  Druck 
der  äußern  Verhältnisse  treten  Sonderinteressen  der  einzelnen  Wirtschafts- 
Jclassen  zurück^   und  aller  Streben  vereinigt  sich  auf  das  eine  7iächste 
Ziel:  die  Erhaltung  der  polnischen  nationalen  Wirtschaft.   Man  ist  einig! 
Was  Jahrhunderte  der  Freiheit  nicht  zuließen,  haben  vier  Jahrzehnte  der 
Bedrückung  scheinbar  geschaffen.   Dabei  geht  die  Organisation  überall  mit 
solcher  Leichtigkeit  und    Schnelligkeit   vor   sich,    sie  vollzieht  sich  ohne 
laute  Kritik  aus  irgendeinem  polnischen  Lager,  ohne  Schwierigkeiten  bei 
der  Beschaffung  der  Mittel,  daß  man  versucht  ist,  zu  glauben,  alle  diese 
neuen  Schöpfungen  hätten   schon  Jahrzehnte  unter  der  Decke  bestanden 
und  aUe  ihre  Kinderkrankheiten  unter  Ausschluß  der  Öffentlichkeit  über- 
wunden.    Tatsächlich    bestanden    sie   nicht.     Aber  etwas    andres  bestand: 
ein  gemeinsames  Ziel  mid  ein  Vorbild,  wie  dieses  Ziel  am  besten  und  am 
sichersten  zu  eiTeichen  sei.     Das  Vorbild  sind  anfänglich  die  deutschen 
Unternehmungen,  später  die  Organisationen  der  Polen  in  Preußen  gewesen. 
Wie  groß  die  geistige  Einigkeit  der  russischen  Polen  schon  im  Jahre  1902 
war,    geht   deutlich   hervor  aus  den  Protokollen  der  schon  mehrfach  er- 
wähnten Gouvernementskomitees   zur  Hebung    der  Landwirtschaft.     Die 
Ergebnisse  aller  zehn  Komitees  waren  in  den  Hauptfragen  die  gleichen. 
Wir  müssen  ihrer  in  einem  spätem  Teil  noch  eingehend  Erwähnung  tim. 
Dasselbe    Bild    nationaler    Einigkeit    bot    sich    bei    den   Wahlen   für   die 
Duma.    Die  völkische  Partei,  nicht  die  der  Versöhnimg  hat  gesiegt.    Der 
Nationalist  Boman  Dmoivski,  nicht  aber  ein  Sozialist  oder  Versöhnungs- 
mann wurde  in  Warschau  für  die  zweite  und  dritte  Reichsduma  gewählt. 
Roman  Dmoivski,   der  das  Wort  von  der  Notwendigkeit  eines  nationalen 
Egoismus  gesprochen  hat,  ist  der  anerkannte  Führer  der  Polengruppe,  in 
der  alle  polnischen  Parteien  ohne  Rücksicht  auf  ihre  Weltanschauung  ver- 
einigt sind. 

Haben  nun  die  Polen,  diesmal  ethnographisch  beti-achtet,  alle  diese 
Schöpf imgen  allein  aus  sich  heraus  vollbracht?  Wir  können  darauf  nur 
mit  einem  Nein  antworten.  Die  modernen  Polen  sind  ebenso  ein  Misch- 
volk wie  alle  Kulturvölker  des  AVestens,  und  gerade  die  Beimischung 
germanischen  Blutes  hat  ihrer  Entwicklimg  außerordentlich  geholfen.  Wie 
groß  die  Hilfe  gerade  im  russischen  Polen  ist,  erkennen  wir  an  den  Zu- 
ständen in  Galizien,  wohin  der  Zustrom  Deutscher  nicht  so  stark  ge- 
wesen ist,  erkennen  wir  an  Polen  in  Deutschland,  wo  sie  zu  kultureller 


D.  AUgemeiiio  Zu.sanimenliänge  zwisolien  "\^'iJ•tschaft  und  Politik  293 


Betätigung  gezwungen  werden.  Solche  Auffassimg  kann  keine  Herabsetzung 
für  die  Polen  sein.  Im  Gegenteil,  die  Polen  können  unsre  Behauptimg 
als  eine  hohe  Anerkennimg  ihrer  starken  Eigenschaften  hinnehmen.  Denn 
sie  sind  in  nationaler  Beziehung  den  in  wirtschafthcher  Beziehung  über- 
legnen Germanen  nicht  unterlegen.  Nicht  sie  haben  sich  den  Germanen, 
sondern  die  Germanen  haben  sich  den  Slawen,  Polen  verschmolzen,  wenn 
die  Germanen  auch  ihre  Kultiu'  bewirkenden  Rasseneigentümlichkeiten 
nicht  einbüßen.  Infolgedessen  haben  die  Polen  durch  die  Deutschen  eine 
weitere  Stärkung  erfahren,  die  die  Regierung  in  den  1860  er  Jahren  glaubte 
verhindern  zu  können.  Die  auf  Seite  67  ff.  gekennzeichneten  Maßnahmen 
zur  Russifizierimg  der  Deutschen  des  Woichselgebiets  haben  lediglich  ihrer 
Polonisienmg  Vorschub  geleistet,  und  die  Polen  haben  Elemente  in  sich 
aufgenommen,  die  ihre  Widerstandsfähigkeit  gegen  die  Yerrussung  er- 
heblich erhöhen. 


Die  hier  angedeuteten  Fragen  lassen  sich  in  iliren  letzten  Zusammen- 
hängen nur  durch  eine  Betrachtung  des  politischen  Denkens  der  Polen 
in  der  Zeit  von  1864  bis  zur  Gegenwart  sowie  durch  eine  Darstellung 
ihrer  politischen  Tätigkeit  unter  den  verschiednen  Verhältnissen  durch- 
schauen. Wir  wenden  uns  danim  im  nächsten  Bande  einer  Kennzeiclmimg 
der  politischen  Parteien  der  Polen  zu. 


C0^<^? 


DDDDDDDDDDDDDDaDDDDDDDaDDGaDDDDaDDDDDDDDGDaDGDDDDaDD 

g  VERLAG  VON  FR.  WILH.  GRUNOW,  LEIPZIG  § 

DDDDDDDDaaDDDDDGDDDDaDDDDDDDDDDDDDDaDaDDDDDDDaaaDDDa 

DIE  GRENZBOTEN 

ZEITSCHRIFT  FOR 
POLITIK,  LITERATUR  UND  KUNST 


1   DIE  GRENZBOTEN   [ 

§  ZEITSCHRIFT  FÜR  § 

§   POLITIK,  LITERATUR  UND  KUNST  § 

g  c@^  67.  Jahrgang  1908  ^5 


□  D 

§               Preis  für  das  Vierteljahr  6  Mark  g 

D  Wöchentlich  ein  Heft                                        g 

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D 


DIE  GRENZBOTEN  sind  das  Organ  aller  nationalgesinnten  g 

Deutschen,  das  Organ  jener  großen,  nur  nicht  organisierten,  g 

g      dem  Parteitreiben  vielmehr  abgeneigten  Partei  der  vernünftigen  g 

R      Leute.   Ohne  einer  der  bestehenden  Parteien  zu  dienen,  möchten  g 


g  Leute.   Ohne  einer  der  bestehenden  Parteien  zu  dienen,  möchten  □ 

g  sie  allen  denen  dienen,   die  das  Vaterland  über  jede  politische  g 

g  oder  kirchliche  Partei  stellen,  denen  die  Ehre  und  das  Ansehen  g 

g  und  die  innere  Einheit   der  Nation  durch  das  Zusammenwirken  g 

g  aller  ihrer  Elemente  über  alles  geht,  die  festhalten  an  der  Mon-  □ 

g  archie,  an  den  alten  gesunden  sittlichen  Grundlagen  alles  Kultur-  □ 

g  lebens.    Die  „Grenzboten"  besprechen  in  objektiver  Weise  alle  □ 

g  bedeutenden    Ereignisse    des    politischen,    wirtschaftlichen    und  □ 

g  geistigen  Lebens.     In  der  unter  der  Überschrift  „Reichsspiegel"  g 

g  erscheinenden   politischen  Wochenschau   bringen   sie   eine  geist-  q 

g  reiche  Kritik  der  jüngsten  politischen  Ereignisse,  die  allwöchent-  n 

g  lieh  —  ein  Beweis  für  deren  Wert  —  von  einem  großen  Teil  der  □ 

g  Presse  mit  Interesse  verfolgt  und  vielfach  benutzt  wird.   Auf  dem  □ 

g  Gebiete  der  Literatur  und  Kunst  halten  sie  an  den  alten  Idealen  n 


g  fest,  erkennen  aber  auch  alles  Gesunde  in  der  modernen  Bewegung  n 

g  gern  an.   Neben  ihrem  ernsten  Stoff  bietet  die  Zeitschrift  soviel  q 

g  als  möglich  Beiträge,  die  allgemein  verständlich  und  interessant  q 

g  sind,   und  dazu   sorgfältig  ausgewähhe  Novellen  als  Feuilleton,  n 

g  Die  Grenzboten    dürften    in    keiner   gebildeten   Familie    fehlen,  q 

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DRUCK  VON  KARL  MARQUART  IN  LEIPZIG 


DK 
^.1 


"''"'  f^inow,   George 

Die  Zuk^inft  Polens 


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