George Cleinow
Die Zukunft
DIE ZUKUNFT POLENS
ERSTER BAND
QS^<«o
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DIE ff^ '
ZUKUNFT POLENS
VON
GEORGE CLEINOW
ERSTER BAND
WIRTSCHAFT
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LEIPZIG
FR. WILH. GRUNOW
1908
ALLE RECHTE
EINSCHLIESSLICH DES ÜBERSETZUNGSRECHTES
VORBEHALTEN
CS
Published 9. Juni 1908. Privileje of Copyright in the Uniled Stales rescrved under the Art
approved 8. Okiober 1907 by George Cleinow, Sl. Petersburg. Alexandrowsk,, Prospekt No. 8
Vorwort
In der liiermit der Öffentlichkeit übergebnen Arbeit wird die Polen-
frage Vi» 11 der russischen Seite aus betrachtet. Dennoch bezieht sich
alles in grüßerni oder kleinerm Maße auch auf die Polenfrage in l^ieußen.
Beide Fragen sind untrennbar miteinander verbunden. Ich konnte des-
halb meine Ausführungen Aviederholt in Beziehung zu Ausfühnmgen
deutscher Schriftsteller setzen. Von besonderm Wert sind mir in dieser
Richtung die Arbeiten von W. von Massow, H. Geffcken, Ludw. ]3ernhard
und J. Waeber gewesen, auch dort, wo ich nicht mit ihnen über-
einstimme.
Die Tendenz meiner Ai'beit ist wohl dieselbe, die Professor Bernhard
verfolgte: Aufklärung durch nüchterne Darstellung der Tatsachen.
Ob es mir freilich gelang, nur das Wichtigste in den Vordergrund zu
schieben und dem Nebensächlichen überall den zweiten Platz anzuweisen,
wird mich hoffentlich eine wohlwollende Kritik lehren.
Meine Arbeit war in dieser Beziehung recht schwierig, da die ein-
schlägige Literatur mir sozusagen nui" als Rohstoff zugänglich war,
während meine Führer durch sie Parteiorgane waren, also voreingenommne
Menschen und Tageszeitungen. Im ersten Bande tritt die Schwierigkeit
nicht so sehr zutage wie im zweiten; dafür hatte ich einen harten Strauß
mit der Statistik auszufechten. Die Angaben des Finanzministeriums
weichen von denen des Ministeriums des Imiern manchmal um 25 Pro-
zent ab. Die Arbeiten des Warschauer Statistischen Komitees von 1890
bis 1907 sind nicht zusammenhängend. Älmlich liegt die Sache mit
der Gesetzgebung. Handelte es sich niu' um die sechzehn Bände des
Swod sakonow, dann wäre die Aufgabe verhältnismäßig leicht gewesen,
wenn auch Polen betreffende Bestimmungen fast in allen Gesetzen ver-
streut liegen. Dazu abei" treten Ministerial- und Reichsratsbeschlüsse,
Senatsentscheidungen, Zirkulare der Generalgouverneurc, Kuratoren, Ge-
richtspräsidenten, des Heiligen Synods, des Departements für aus-
ländische Glaubensbekenntnisse. Diese wieder sind geteilt in geheime
uiul offne Zirkulare. Ohne das große Entgegenkommen, das ich
überall bei den russischen Behörden gefunden habe, wäre es
mir kaum möglich gewesen, durch die Masse durchzudiingen. Es sei
darum den Herren in den Archiven, Bibliotheken und Ämtern
zu Petersburg, Wilna, Warschau und Kijew an dieser Stelle
mein herzlichster Dank gesagt.
Von wichtigern Werken haben mir vor allen Dingen die als Leit-
faden sehr wertvollen Arbeiten des Senators Reincke und die gesammelten
Yj Vorwort
Schriften des 1906 gestorbnen Rechtsanwalts Spassowitsch als sichere Weg-
weiser gedient. Meine kurzen historischen Ausführungen stützen sich
hauptsächlich — von Tiieodor Schiemann und Ssolowjow abgesehen —
auf Schihler für politische Oeschichte, Makarius und Golubinski für rus-
sische Kirchengeschichte, D. N. Tolstoj und P. Pierling für russisch-römische
Beziehungen. Ferner habe ich die Immediatberichte des Reichsrats,
der Reichskontrollc und des Oberprokurors des Heiligen Sjuods von 1861
ab zur Verfügung gehabt sowie schließlich die unveröffentlichten Proto-
kolle der Gouveniementskomitees zur Hebung der Landwirtschaft.
Im politischen Teil war ich fast ausscidießlich auf die russische
und pohlische Presse, auf mehr als hundert Bücher und Broschüren sowie
auf persönliche Mitteilungen und Beobachtungen angewiesen. In diesen
Berg von Material bin ich eingeführt durch die Monatsschrift Wjestnik
Jewropy von 1872 ab, durch die polnischen Briefe des Historikers Karejew
und durch die drei polnischen Literaturgeschichten von Chmelewski,
Tarnowski und Feldmami. Von zwei kürzlich erschienenen Arbeiten
Pogodins und Jacimirskis habe ich nur die äußerst interessante Pogodins
beim Lesen der KoiTektur verwenden können. Auf beide Werke sei jeden-
falls besonders hingewiesen.
Angesichts der Fülle des Materials habe ich es für nötig gehalten,
vielfach Fußnoten und Hinweise anzubringen. Es ist mir dadurch
möglich geworden, dem deutschen Leser die gesamte russisch -pobiische
Literatur zur Polentrage von 1864 bis 1907 gewissennaßen in kritischer
Beleuchtung vorzustellen. Daneben erhalten Interessenten in jeder Einzel-
frage einen Hinweis, wo sie bei Bedarf weiter suchen können. Wo Aus-
lassmigen bemerkbar werden sollten, wäre ich sehr dankbar für Hinweise,
die ich mir bei meinen Aveitern Arbeiten in der hier behandelten Frage
gern nutzbar machen würde.
Xeben dem angedeuteten Bücher- und Archivstudiuni habe ich aus-
giebigen Gebrauch von privaten Beziehungen in Litauen, Polen imd
Wolynien machen können. Sie ennöglichten es mir durch mehrere Jahre
hindurch, über die Polenfrage von Polen, Deutschen, Russen und Juden,
von Gelehrten, Geistlichen, Kaufleuten und Landwirten, von ISTationalisten,
Freisinnigen und Soziahsten zu hören. Eine große Erleichterung bildete für
meine Zwecke die Möglichkeit, im Jahre 1905 und 1906 an verschiednen
polnisch-russischen Kongressen und Konferenzen teilzunehmen, und nicht
zuletzt das überaus liebensAvürdige Entgegenkommen, das mir
Polen und Russen in gleichem Maße entgegenbrachten.
Das Ergebnis all des Erlebten, Geschauten, Gehörten und Gelernten sei
in den Dienst der Besserung deutsch-polnischer Beziehungen gestellt.
St. Petersburg, Ostern 1908
Alexandrowski - Prospekt Nr. 8
G. Cleinow
Inhaltsverzeichnis
Seite
Vorwort V
Inhaltsverzeichnis VII
Erster Teil
Einfüliruiig 1—35
Erstes Kapitel
Vorbemerkungen 3
A. Kennzeichnung der Polenfrage 3
H. Die deutsche Publizistik in der Poleufrage 4
C. Die Bedeutung der Kongreßakte von 1815 8
D. Die politische Lage der Polen 10
E. Menschenrechte? 12
Zweites Kapitel
Historisches It
A. Die Beziehungen zwischen Polen und Russen .15
1. Allgemeine Verhältnisse .15
2. Die EinfüluTiug des Christoutums 17
3. Geistlichkeit und Staatsgewalt in Rußland 20
B. Einigungsbostrebungon 21
1. Die Union 23
2. Kampf uqi die üniaten 26
C. Aufgaben 28
1. Allgemeine Ziele 28
2. Alexanders des Ersten Ziele 29
3. Das Ende 33
Zweiter Teil
Das Zartum Polen bis zum Herbst 1904 37—120
Drittes Kapitel
Die Reformen von 1864 39
A. Die Agrai-reform 41
1. Landzuteilung 41
2. Die Ser^•itute .43
3. Das bauerliche Besitzrecht 46
B. Die Verwaltungsreforni 48
1. Die bäuerliche Gemeinde . 50
2. Die Gmin 52
3. Die Gouvernements- und Kreisverwaltung . . 58
4. Die Städte .61
VIII Inhaltsverzeichnis
Seite
C. Der Generalgouverneur 62
1. Seijie Instiiiktion 62
2. Die Kanzlei des Generalgouverneurs 65
Viertes Kapitel
Die Reformen nacli 1864 . 67
A. Das Schulwesen 69
1. Der "Warschauer Lehrbezirk 71
2. Die Warschauer Universität 71
3. Der Kurator des Warschauer Lehrbezirks 72
4. Die Lehranstalten 73
5. Die Sprache 74
6. Der Religionsunterricht 77
B. Die Gerichtsreform 78
1. Allgemeiner Zustand der Gesetzgebung 79
2. Die Gerichtsinstitutionen im Warschauer Gerichtsbezirk 81
Fünftes Kapitel
Kirche und Geistliclikeit 84
A. Die Stellung der römisch-katholischen Kirche 85
1. Allgemeine Stellung im Reich 85
2. Die Geistlichen 89
B. Die Tätigkeit der russischen Kirche 94
1. Die Organisation der nissischeu Kirche 95
2. Die Aufgaben der Geistlichkeit und ihrer Organe 97
Sechstes Kapitel
Das russische Element im Zartum 101
A. Die russische Bevölkerimg im Weichselgebiet 101
1. Die Uniaten . 102
2. Russische Großgmndbesitzer 103
B. Die Beamtenschaft 108
1. Der Beamtenersatz 108
2. Die niedem Beamten 110
C. Die Oberbeamten 112
1. Die Beamten der Reformperiode 113
2. Richter und Professoren 115
3. Allgemeines Urteil 117
Dritter Teil
Die Wirtschaft und ihre Organisation im Zartum
Polen 121-293
Rückblick 123
Siebentes Kapitel
Bevölkerungsstatistik 124
A. Die Bevölkerung im Zartiun Polen 125
1. Die Polen 125
2. Die Juden 129
3. Die Deutschen 133
Jnhalthverzeicbniü IX
Seite
B. Die Bovölkerungsbowegung .... 137
1. Dio natürliche Zunahiiu- 138
2. Monilsh-itistik HO
C. Dio russische» Pulou auürihalh des Zartums . . 147
1. Die Polen im Westgebiet 147
2. Die Polen in den innurrussischen Gouvernements . 148
Achtes Kapitel
"Wirtschaft 151
A. Dio Landwirtschaft ... 152
1. Die Verteilung des Bodens ... 153
2. Die Erträge der Landwirtschaft . 155
B. Industrie und Handel .156
1. Historisches loG
2. Die Industrie 159
8. Der Handel 162
C. Die Städte 169
1. Die städtischen Budgets 170
2. Das Sanitätswesen . . 171
D. Die Verkehrsmittel 172
1. Das "Weichselstromgebiet .... .172
2. Die Eisenbahnen 174
Neuntes Kapitel
Zur Agrarfrage 175
A. Allgemeines 175
1. Klima und Boden 176
2. Erläuterungen zur amtlichen Statistik . 177
B. Die Lage der Landwirtschaft ... ... 180
1. Die Verteilung des Landes . . ... 181
2. Der private Großgmndlicsitz 183
3. Zustand der Liuidwirtschaft überhaupt ... 185
4. Servitute und Streuländereien 191
C. Die bäuerliche Wirtschaft .196
1. Lage der bäuerlichen LandAvirtschaft .196
2. Die kleine Schlachta .201
8. Die Verteilung der liäuerlichen Arbeitskräfte 204
Zehntes Kapitel
Die Arbeiterfrage 210
A. Die Landarbeiter .211
1. Ständige Arbeiter 212
2. Tagelöhner .217
3. Saisonarbeiter . 219
B. Fabrikarbeiter .220
1. Allgemeine Verhältnisse . 222
2. Arbeiterorganisationen 224
X Inhaltsverzeichnis
Seite
C. Sachsengänger und Auswanderer 225
1. Die Auswanderung 228
2. Die Ausdolmung der Wanderarbeit im Jahie 1903 und 1904 230
3. Die Arbeitslöhne in den verschiednen Ländern 282
D. Die Bedeutung der Wanderarbeit für die polnische Nationalität 234
1 . Die Ersparnisse der Sachsengänger . 234
2. Der Landerwerb diu'ch Sachsengänger 236
3. Ethische und soziale Folgen der Wanderarbeit 240
4. Die politischen Folgen der Wanderarbeit für die Pulen 242
Elftes Kapitel
Finanz- vmd Wirtschaftsorganisationen 245
A. Die polnische Finanzwelt 248
1. Das Warschauer Kontor der Russischen Staatsbank 248
2. Die Haute finance 251
3. Polnische AJctiengesellschaften 255
B. Spar-, Vorschuß- und Verbrauchsvereino und Genossenschaften 260
1. Allgemeine Gesetzgebung 260
2. Die Gesellschaften für gegenseitigen Kredit 262
3. Spar- und Vorschußgenossenschaften 264
4. Konsumvereine 266
C. Die Grain-Spar- und Vorschußkassen 268
1. Giündimg und Entwicklung 268
2. Verwaltung und Tätigkeit der Kassen 270
Zwölftes Kapitel
Organisationen der Landwirts clxaft 276
A. Die Landbank 277
1. Befugnisse 277
2. Die Direktionen 278
3. Die Pfandbriefinhaber 280
B. Die landwirtschaftlichen Gesellschaften oder Syndikate 282
1. Die SjTidikate und ihre Befugi-iii5se 282
2. WirtschaftUche Betätigimg der Syndikate 284
C. Wirkungskreis der Laudbank 285
1. Die landwirtschaftlichen Gesellschaften und Verbrauchsvereine .... 285
2. Personalverbindungen 287
D. Allgemeine Zusammenhänge zwischen Wirtschaft und Politik 288
C^(^5
WIRTSCHAFT
<:(^f&>
ERSTER TEIL
EINFÜHRUNG
ce^tf^
Cleiuow, Die Zukunft Polens
Erstes Kapitel
Vorbemerkungen
A. Kennzeichnung der Polenfrage
Der Kampf des polaischeii Volkes um die Wiederherstellung eines
Nationalstaates bildet den Korn der Polenfrage. Aus dieser Tatsache ergibt
sich die Frage, oh die polnische Nationalität imstande ist oder in den
Stand gesetzt werden kann, sich einen eignen nationalen Staat zu schaffen.
Wir Deutschen könnten somit die Polenfi'age als eine innere Angelegen-
heit der großen polnischen Familie beti-achten. Leider liegt aber die Frage
nicht ganz so einfach, denn es ist kein freies Terrain vorhanden, auf dem
der geplante polnische Staatsbau errichtet werden könnte. Die Polen sind
des Bestimmungsrechts über den ihnen früher gehörenden Baugrund aus
verschiednen Gründen verlustig gegangen und sind nun, da sie sich nicht
über die ganze Welt verteilen wollten, gezwungen, in fremden Häusern zu
wohnen, die Wand an Wand nebeneinander stehn und sich gegenseitig
stützen, in ihrer Bauart aber grundverschieden voneinander sind.
Diese äußern Verhältnisse haben zur Folge gehabt, daß die Besitzer
der drei Häuser versucht haben, ihre polnischen Einwohner für ihre
Wohnungen zu interessieren und sie zu Teilhabern an allen materiellen
und ethischen Vorzügen zu machen, die sie ihnen zu bieten vermögen.
Der Wunsch der Polen, sich ein eignes weit angelegtes Heim zu bauen,
sollte durch das Verlangen abgelöst werden, sich im fremden Hause mög^
liehst wohlig einzurichten.
Je nach Veranlagung und Charakter sind die drei Hausmeister diesem
Ziele auf drei verschiednen Wegen zugestrebt.
Der leichtlebige Österreicher hat seinen Polen einen besondem Flügel
eingeräumt Dort konnten sie von jeher schalten, wie sie wollten. Galizien
hatte gegenüber den beiden andern Teilen Polens immer die größten
Freiheiten. Dort fühlten sich die Polen in ihrer unordenüichen, kaum
beaufsichtigten Wirtschaft so wolil, daß sie immer mehr die Absicht ver-
gaßen, sich ein eignes größeres Haus zu errichten. Die führenden Kreise
der Polen in Österreich konnten es gar nicht besser haben, als es ihnen
seit der Teilung ergangen ist. In der österreichischen Reichspolitik spielten
sie schon immer eine maßgebende Rolle — ihre Landsleute waren führende
Erstes Kapitel. Vorbemerkungen
Staatsmänner, während sie in Galizien selbst mit der Plutokratie zusammen
regieren konnten. Wären nicht nach 1904 außerhalb ihrer Wirksamkeit
liegende Ereignisse oingeti'cten, die österreichischen Polen würden kaum
die großen Anstrengungen zur Wiederherstellung des alten Polenstaats auf
sich genommen haben, wie sie es nun tatsächlich tun.^)
Anders in Rußland. Der russische Hausmeister legte zu demokra-
tische Neigungen an den Tag, als daß die polnische Schlachta sich hätte
hei ihm wohl fühlen können. Der Bauer wiu'de Herr des Hauses — freilich
unter der Bedingung, daß er sich mit dem „raoskal" (Moskowiter) gut stellte.
Die Wohnungen der Polen im russischen Hause wurden mit großem Auf-
wand nach russischem Geschmack in Farben, Bilderschmuck und Hygiene
eingerichtet, ohne den polnischen, zweifellos höher stehenden Bedürfnissen
Rechnung zu tragen. Darum haben sich die Polen niemals darin wohl-
gefühlt. Sie fordern Trennung von einem Hausverwalter, der ihnen kul-
turell nichts mehr zu bieten vermag.
Ähnlich — wenn auch aus andern Gründen — ist das Ergebnis in
Preußen- Deutschland. Der deutsche pedantische Michel wollte die Polen
in preußische Staatsbürger umwandeln, nicht mit Hufe der Polizei, sondern
durch Kultur. Schule, unbestechliche Gerichte, soziale und wirtschaftliche
Fürsorge, Wegebau, das waren lange Zeit hindurch die einzigen Germani-
sieningsmittel. Sie wurden sti'eng gehandhabt, wie in Deutschland gegen
jedermann. Sie haben die preußischen Polen zu dem kulturell und wirt-
schaftlich höchststehenden Teil des polnischen Volkes gemacht. Aber die
konsequente Strenge, der peinliche Ordnungssinn der Deutschen, die die
Polen gestärkt haben, haben auch ihren Haß gegen die deutschen Lehr-
meister erstarken lassen, der gegenwärtig vor keiner Äußerung zurück-
schreckt. Auch die preußischen Polen wollen hinaus aus dem deutschen
staatlichen Prachtbau. Gemeinsam mit den russischen und österreichischen
wollen sie sich ein eignes Haus bauen, in dem sie nach eignem Ermessen
walten und ein ihrer nationalen Eigenart entsprechendes Leben führen
könnten. Dazu aber müssen sie Wände sowohl des russischen wie des
deutschen Hauses einreißen.
B. Die deutsche Publizistik in der Polenfrage
Trotzdem wir bei dieser klaren uns Gefahr drohenden Lage der Dinge
genau wissen sollten, woran wir mit den Polen sind, gehört die Polenfrage
zu den Angelegenheiten der deutschen Politik, von deren öffentlicher Be-
handlung wir im allgemeinen gern Abstand nehmen. Ein wichtiger Grund
*) Die gleiche Auffassung findet sich bei den russischen Demokiaten und in War-
schauer russophilen Kreisen.
B. Die deutsche Publizistik in der Polenfrage
dafür licg;t in ihrem halb-internationalen Charakter. Die Tatsache, daß 83
auch in Rußland eine Polenfragc gibt, hat viele Autoren, und zwar die be-
rufensten unter ihnen, veranlaßt, sich die größte Beschränkung in der Ver-
wendung des Materials über sie aufzuerlegen. Sie folgen darin den an
der Polenfrage beteiligten Regierungen, denen im großen und ganzen zu-
gestanden werden muß, daß sie sich bei ihren öffentlichen Kundgebungen
lind amtlichen Handlungen immer auf den Teil der Polen beschränkt haben,
der im gegebnen Falle gerade ihrer Kompetenz unterlag. Besondei-s die
preußische und deutsche Regierung hat auch in den schwierigsten Situa-
tionen streng an dieser Gepflogenheit festgehalten und oft genug Inter-
pellationen in den Parlamenten die Spitze abgebrochen durch den Hinweis
auf die interne Angelegenheit des Nachbarstaats. Die Folge dieser Ge-
pflogenheit ist, daß wir weder in deutscher noch in russischer Sprache eine
Abhandlung in der Literatur haben, die die Polenfrage zusammenfassend
und gleichmäßig von allen drei Seiten, d. h. vom deutschen, östeiTcichischen
und nissischen Standpunkt aus beleuchtet. Die deutsche wissenschaftliche
Literatur hat sich damit begnügt, den Untergang Polens und seine innere
Ursache zu erforschen und damit die Grundlage für die Beurteilimg der
Polenfrage überhaupt zu schaffen. Das geschah aber schon vor den 1870er
Jahren. Später haben die Deutschen die Polenfrage — wir glauben sagen
zu dürfen — ausschließlich in ihrem Zusammenhange mit der deutschen
Politik betrachtet und behandelt. Nach den glorreichen Jahren der deutschen
Einigung wurde die Frage allerdings noch etwas weiter gefaßt als später.
Mehrere Broschüren stellten die Frage als eine das gesamte Deutsch-
tum betreffende auf und forderten eben zur Sicherung des Deutschtums
die Gewinnung wenigstens der \Veichsellinie.-^) Doch diese expansive
Form der Behandlung hat nicht lange gewährt. Eine übergroße Rücksicht-
nahme auf Rußland mid auf die Wünsche der deutschen amtlichen Kreise
zwang Politiker und Presse, sich bezüglich der Polenfrage auf deren
deutschen Teil zu beschränken. Wer auf die russisch -polnischen Ver-
hältnisse hinwies, setzte sich leicht dem Vorwurf aus, der Diplomatie die
Fenster einzuwerfen. Auf diese Weise trifft nicht die Ultramontanen allein
die Schuld, wenn im Laufe der Jahre aus der deutschen Polenfi'age eine
preußische geworden ist.
Den einseitigen Charakter hat die Polenfrage in der Auffassung der
deutschen Publizistik noch bis in die jüngste Zeit beibehalten. Die par-
lamentarischen Verhältnisse in Preußen und Deutschland haben die Auf-
') Die deutschen Broschüren von 1870 bis 1872 sind im AVjestiiik Jewropy, Februar
bis Juni 1872 eingehend ge^\"ürdigt worden.
Erstes Kapitel. Vorbemerkungen
fassung noch vertieft, als ginge die Polenfrage ausschließlich den preußischen
Staat, nicht aber das Deutsche Reich etwas an. Die Ansiedlungskommission
wurde eine preußische Einrichtung, an der Sachsen, Bayern, Württemberg
und Baden kein Interesse zu nehmen brauchten und auch nicht nahmen,
weil in Deutschland nichts mehr verstimmt als die Einmischung in die
häuslichen Angelegenheiten der Bundesstaaten. In der Publizistik fand
die Stellung der Polenfrage ihren Ausdruck in der Art ihrer Behandlung.
Die Wissenschaft hatte bewiesen, daß der Polenstaat angeblich allein aus
Gründen seiner innern Politik untergehn mußte — er war unterge-
gangen — er existierte nicht mehr — er kann nie wieder existieren!
Somit war es ein verhältnismäßig einfach Ding, die ehemaligen polnischen
Landesteile Preußens zu entpolonisieren und die Polen in gute preußische
Staatsbürger umzuwandeln. Was jenseits der Grenze geschah, wurde als
unerheblich beiseite geschoben. Daß aber im Gegensatz hierzu die pol-
nische und russische Presse außerhalb Deutschlands allen Vorgängen in
Preußen mit gespannter Aufmerksamkeit folgte, daß jede Abwehrmaßregel
gegen die Anmaßungen der Polen in den der Regierung nahestehenden
Blättern, wie Notvoje Wremja^) und Warschaivshi Dnjewnik\ dazu ver-
wandt wurde, die russischen Polen gegen das Deutschtum aufzustacheln,
hat niemand bekümmert. Die Beobachtung der ausländischen Presse ist
ja überdies Sache des Auswärtigen Amts. Als dann noch ein Mann von
der politischen Bedeutung eines Ha7is Delbrück'^) durch einen mehr-
wöchigen Besuch im russischen Polen glaubte feststellen zu müssen, die
Polen hätten den Gedanken an eine Wiedervereinigung der drei seit 1815
endgiltig getrennten Landesteile aufgegeben, begnügte sich die deutsche
Publizistik fast ausschließlich mit der technischen Seite der preußischen
Polenpolitik. Selbst die Veröffentlichung der überaus lehrreichen Denk-
schrift des Generalgouvemeurs von Warschau, Fürst Imeretinshi, vermochte
an diesen leidigen Zuständen nichts zu ändern. Alle diese Umstände und
noch manche andre*) haben dazu geführt, daß ein bedeutender Teil der
*) Eingehende Charakteristik in des Autors „Aus Rußlands Not und Hoffen", 1906,
Bd. I, S. 194 ff.
*) Amtliches Organ des "Warschauer Generalgouvemeurs.
■') Preußische .Jahrbücher, Bd. 98, Oktoberheft 1899. Ein nicht sehr tief in die pol-
nische Literatur eingeweihter Ausländer konnte zu damaliger Zeit auch kaum zu andern
Ergebnissen kommen wie Herr Delbi-ück. Die Richtung der Piltz und Spassowitsch , die
wir später näher kennen lernen, hatte zur Zeit des Aufenthalts Delbrücks in Polen durch
ihre Organe Kray und Slowo den größten Einfluß auf die polnische Gesellschaft.
*) Z. B. die Zustände, die unsern amtlichen Vertretern im Auslande das sachliche
Zusammenarbeiten mit den Verti-etera der imabhängigen Presse erschweren; femer der
Gebrauch, die Berichte der auswäi-tigen Vertreter an den Reichskanzler so geheim zu
halten, daß selbst die Kommissionen der Parlamente davon nichts zu hören bekommen.
B. Die deutsche Publizistik in der Polenfrago
Mißerfolge in der Ansiedlungspolitik auf Rechnung der preußischen Be-
amten gesetzt wurde, und die Zahl der Stimmen wurde gi'ößer, die auf
eine Preisgabe jeder aktiven Polenpolitik drängte.
Der Deutsche Ostmarkenvei-ein *) hat sich im Jahre 1894 das Verdienst
vor dem deutschen Volke erworben, die Aufmerksamkeit der Gesellschaft
bezüglich der Polenfrage über die preußischen Landesgrenzen hinaus ge-
lenkt zu haben. Er mußte dafür manchen Angriff über sich ergehn lassen.
Auf seine Tätigkeit ist manche Erörterung in den Parlamenten und in der
Presse zurückzuführen.
Dann hat im Jahre 1902 ein deutscher Publizist die polnische Gefahr
dem Deutschtum in der richtigen Bewertung dargestellt, die sie verdient.
Wilhelm von Massow hat den polnischen Heilruf „Noch ist Polen nicht
verloren!'' herausgehoben aus dem Stimmengewirr, das die Polenfrage um-
braust. „Noch ist Polen nicht verloren!" ist für jeden Polen das, was für
jeden Deutschen das „Deutschland, Deutschland über alles!'' sein sollte. Es
ist die Erinnerung an die alte Zerrissenheit und Schmach, die Überzeugung
von der nationalen Tüchtigkeit und Leistungsfähigkeit des polnischen Volks,
die Hoffnung auf die Zukunft der pobiischen Nation. Massoivs Buch, das
nunmehr in der zweiten Auflage erschienen ist, und dem wir im Interesse
des Deutschtiuns eine lange Reihe von Auflagen wünschen, hat auch die
deutsche Literatur zur Polenfi'age wieder auf eine breitere Basis gestellt.
Zunächst hat dann Heinrich Geffcken"^) die Frage wieder als eine deutsche
imd nicht nur preußische behandelt. Dann sind eine große Zahl von
Broschüren und Zeitungsartikeln gefolgt, und das Interesse wurde so rege,
daß auch in der bayrischen und in der sächsischen Presse die Polenfrage
von russischer Seite aus betrachtet wurde. Das aber geschah erst im
Jahre 1906 — das ist zwei Jahre nach Eingabe der Denkschrift des
Grafen Tyszkieivicz an den Fürsten Stvjatopolk- Mirshi! (vgl. „Wünsche
der Polen".
Inzwischen wurde die Lücke, die wir anfänglich erwähnten, nicht
gefüllt, eine allseitige Betrachtung und Darstellung der Polenfrage ist in
der deutschen Literatur bisher noch nicht erfolgt. Wir ahnen, was hinter
dem „Noch ist Polen nicht verloren ! " steht, aber wir wissen es nicht auf
Grund positiven Materials. Wir ahnen, aber wir glauben es nicht. Wir
wissen, daß die Polen in Österreich eine bedeutende politische Rolle spielen,
wir wissen seit Ausbruch der russischen Revolution auch von den Polen
selbst, was sie glauben in Rußland erreichen zu können. Aber wir trösten
') Vgl. Massow, „Die Polennot in der deutschen Ostmark'-, 2. Aufl. Berlin, Alexander
Duncker, 1907. S. 220.
*) „Preußen, Deutschland und die Polen." Berlin, Vossische Buchhandlung, 1906.
8 Erstes Kapitel. Vorbemerkungen
uns gern damit: Rußland wird den Polen niemals erlauben, sich selbständig
zu machen! Rußland ist stark, es stellt 56 Millionen Vollblutrussen gegen
10 Millionen Polen. Und wir kehren beruhigt zu unsrer alten Praxis zurück
und erklären, daß uns die Polenfrage außerhalb Preußens nichts angeht.
C. Die Bedeutung der Kongreßakte von 1815
Ist das nun der Fall? Geht uns die politische Bewegung, die kulturelle
und wirtschafthche Entwicklung der Polen im russischen Reiche wirklich
nichts an?
Für den, der die bindenden Abmachungen des Wiener Kongresses
als unabänderlich und unverrückbar betrachtet, scheint es tatsächlich so.
Aber sind denn nach menschlichem Ermessen jene Bestimmungen wirklich
unverrückbar? Gibt es wirklich keine Elemente, die es im Gegenteil zur
Aufgabe der Kongi'eßstaaten machen könnten, die im Jahre 1815 getroffnen
Verabredungen als unlialtbar für ungiltig zu erklären? Wir meinen, es
gibt in der Praxis des Völkerlebens keinen Vertrag, kein Gesetz, keine
Sitte selbst, die nicht in jedem Augenblick der Gefahr der Veränderung
ausgesetzt sind. Solange Menschen leben und arbeiten, solange Staaten
sich entwickeln, solange in der Menschheit jene Bewegung besteht, die
schlechthin Fortschritt genannt wird, so lange werden und können poUtische
Verträge auch nur bedingte und zeitlich begrenzte Geltung haben. Man
nenne uns auch nur einen der vielen „auf ewig" abgeschloßnen Verträge,
der nicht entweder gebrochen oder aufgehoben oder verändert wurde.
Jeder politische Vertrag trägt ebenso wie jedes Werk der Natur den Keim
seiner Auflösung in sich. Genau von solchem Standpunkt aus dürfen auch
nur die die Teilung Polens bekräftigenden Vereinbarungen des Wiener Kon-
gresses betrachtet werden.
Am Wiener Kongreß waren außer Preußen, Österreich und Rußland,
die den Vertrag unterzeichneten, auch die Polen beteiligt, die zur Zeich-
nung des Vertrages nicht berufen waren. Die Polen — und zwar nicht
die preußischen oder österreichischen oder russischen Polen, sondern die
Polen als geschlossene Partei, als Idee. Die bunten Linien, die der Wiener
Kongreß auf die Landkarte Osteuropas gezogen hat, haben die unterliegende
Partei nicht in drei Teile gespalten, sondern sollten erst die äußere Mög-
lichkeit für eine solche Spaltung, für die Zerstörimg der polnischen natio-
nalen Idee schaffen. Der Wiener Kongreß hat die Polen drei verschiednen
Lehrmeistern übergeben in der Hoffnung, jeder von ihnen würde den ihm
zugewiesnen Teil derart bearbeiten und umformen können, daß er die
Interessengemeinschaft mit den andern Teilen zugunsten jeder der drei
C. Die Bedeutung der Kongreßukte von 1815 9
Teilung-smächte aufgeben würde. Wir wissen — die Polen sagen es uns
täglich — , daß dio Hoffnung sich nach einer mühevollen Arbeit von drei
Menschcnaltern nicht erfüllt hat. Den drei Teilungsmächten steht die im
Jahre 1815 scheinbar cndgiitig unterlegne Polcnpartoi nach wie vor ge-
schlossen gogouübor.
Diese Tatsache stellt uns vor dio Frage, welche Umstände und Elemente
diesen Fohlschlag bewirkt haben. Wir ktinnon darauf nur mit Herrn
Professor Schmoller^) antworten: die Teilung Polens war, vom Standpunkt
der Wissenschaft aus, ein schwerer Fciilgriff. Ein mechanisches Gefüge
läßt sich wohl auf mechanischem Wege zerlegen, nicht aber ein geistiges,
eine Idee! Der polnische Staat konnte von den physisch starkem Nach-
barn staatsrechtlicii zertrümmert werden, nicht aber der nur scheinbar
erloschne Staatsgedanke, der auf einer Geschichte von acht Jahrhunderten
beruhte. Im Gegenteil, das Flämmchen der national-polnischen Staatsidee,
das im alten Privilegienstaat kein Licht zu spenden vermochte, hat sich
erst auf den Trümmern dieses verpesteten Organismus zu dem lodernden
Flammenmeer entwickeln können, das nun die ehemals polnischen Lande
durchbraust. Die Teilung Polens hat den Zusammenschluß aller Polen um
die nationale Staatsidee zur Folge gehabt, und der Möglichkeit eines solchen
Zusammenschlusses nicht genügend Rechnung getragen zu haben, das ist
der Fehler der Teilungsmächte. Aber das Vergehen gegen die wissenschaft-
liche Logik war eine politische Notwendigkeit — ein Akt der Notwehr
Preußens, der durch die Vorgänge im ersten Viertel des neunzehnten Jahr-
hunderts vollauf gercciitfertigt wurde. Man vergegenwärtige sich allein,
welche Folgen für das Deutschtum daraus entstanden wären, wenn Napoleon
im Jahre 1812 nicht hätte nach Moskau zu ziehen brauchen! Das Vor-
handensein eines ungeteilten Polenreiches hätte ihn von jener Notwendig-
keit vielleicht entbunden!? — Welche Perspektiven eröffnet aber dieser
Hinweis mit Rücksicht auf die Entwicklung der europäischen Kultur?
Durch die Teilungen wurde ein durcii und durch verseuchter Organismus
von aktiver Mitwirkung an kultureller und politischer Arbeit fern gehalten,
ohne daß dem polnischen Volk die Möglichkeit genommen werden konnte,
sich national und kulturell zu entwickeln.-) Vielleicht werdest spätre ijolnische
Historiker den ihnen heute als Vergewaltigung erscheinenden Vorgang als
eine Notivendigkelt und als ein Olilck für die polnische Nation preisen.
*) Rede im HeiTeuhause 1902.
') Im Laufe der folgenden Ausführungen soll untei-sucht wei-dou, ob die Polen von
dieser Möglichkeit auch tatsächlich Gebrau'ih machen konnten, und ob die Teilungen auf
ihre Kultur schädlich oder nützlich eingewirkt haben. Hier interessiert einst^\'eilen nur
die politische Seite der Frage.
10 Erstes Kapitel. Vorbemerkungen
D. Die politische Lage der Polen
Ist luiu aber gegenüber dem Zusammenschluß der Polen auch die
Einigkeit, das will sagen: die Interessengemeinschaft der drei Teilungs-
mächte entsprechend enger geworden oder wenigstens so eng geblieben,
wie sie im Jaiire 1815 war? Die Frage muß verneint werden. Das wich-
tigste Bindemittel der Heiligen Allianz, ein Napoleon Bonaparte, fehlt. Nur
Deutschland und östeireich sind nach Überwmdung der Krisis in den
18G0er Jahren politisch verbündet; Rußland ist dagegen an die Seite des
früher gemeinsamen Feindes getreten. In Rußland und Österreich aber
gibt es mächtige politische Gruppen, die in dem erstarkten Deutschtum
einen schlimmen Feind ihrer Interessen erkennen.
Zwischen Rußland und Preußen -Deutschland ist sogar in gewissem
Sinne der alte durch Petere des Ersten Testament geschaffne Antagonismus
wieder offenbar geworden. Schon 1816 trat er auf wirtschaftspolitischera
Gebiet zutage, als es galt, die Bestimmungen des Schlußsatzes der Wiener
.Akte in der Praxis durchzuführen. Zwar brachte der Handelsvertrag von
1818 einen Ausgleich, aber schon 1822 ließ Rußland durch seine Zoll-
politik, die Preußen den polnischen Markt teilweise verschloß, durchblicken,
daß es nicht gewillt sei, die Abmachungen der "Wiener Akte zu halten,
wo diese es Preußen ermöglichen könnten, wirtschaftlichen oder gar poli-
tischen Einfluß auf Russisch -Polen zu gewinnen.^) Diese Rivalität hat
sich im Laufe der Jahre nur scheinbar und vorübergehend verringert. Sie
fand Ende der 1880 er Jahre ihren schärfsten Ausdruck im Verbot der
Ansiedlung von Ausländem im Zartum Polen sowie in den Bestimmungen,
die forderten, daß die Leiter von Aktienunternehmungen russische Unter-
tanen sein mußten,^) beides Maßregeln, die sich in allererster Linie gegen
das deutsche Element richteten.
Die Partei der Kongreßmächte erscheint somit durchaus nicht mehr
als eine festgefügte, der Polenpartei geschlossen gegenüberstehende. Es
sind vielmehr organische Veränderungen in ihr eingetreten, die mehr oder
weniger dringend nach politischer und daraus folgernd nach einer staats-
und völkeiTechtlicheu Anerkennung streben. Darf nun aus diesen Tatsachen
*) Vgl. auch Massow, S. 127 ff.
^) Diese Bestimmungen haben dazu geführt, daß im Jahre 1904 von 2919 Direktoren
im Zartum Polen Staatsangehörige waren: 136 deutsche, 51 österreichische, 16 französische,
5 belgische, 7 englische, 13 andre, aber 2692 russische; von 3962 Meistera waren 439
deutsche, 219 österreichische, 43 französische, 17 belgische, 26 englische, 24 andre und
3194 russische. Ein Unterschied zwischen Polen und Russen ist nicht gemacht. Es kann
angenommen werden, daß von den russischen Staatsangehörigen 2000 ehemalige Ausländer
und nur 692 eingese.ssene Polen und Russen sind. (Arbeiten d. "Warschauer Statist. Komm,
von 1907, Heft 29. S. 97.)
D. Die politische Lage der Polen. — E. Menschenrecht JJ
noch nicht gefolgert werden, daß eine der Kongreßmächte sich offen auf die
Seite der Polen stellen muß, so darf dennoch nicht übersehen werden, daß
durch die veränderte Interessengruppierung den politischen Führern der Polen
einerseits die Möglichkeit gegeben wird, für ihre Aufgaben das Feld besser
vorzubereiten, als es vor drei Menschenaltern der Fall war, und daß sich
andrerseits einer der Vertragsst<aaten auf die Seite der Polen stellen kann.
Auch bezüglich der innorpolitischen Verhältnisse bei den Vertrags-
staaten sind für die Wünsche der Polen günstige Veränderungen eingetreten.
Preußen, ÖsteiTeich und seit 1905 auch Rußland sind von autokratisch
regierten Staatswesen zu Avenn auch nicht gleichwertigen konstitutionellen
geworden und haben den Polen in ihren Parlamenten Sitz und Stimme
eingeräumt. Die Polen können gegenwärtig im deutschen Reichstag, im
preußischen Herrenhaus, im preußischen Landtag, im österreichischen
Reichsrat, im galizischen Landtag, in der russischen Reichsduma ^) sowie
im russischen Reichsrat-) ihre Interessen vertreten und dementsprechend mit
politischen Parteien auf durchaus gesetzlichem Boden Bündnisse abschließen,
die direkt gegen die Absichten und Ziele der Abmachimgen des Wiener
Kongresses gerichtet sind. Das Zusammengehen der Polen mit der Zentrums-
partei und der Sozialdemokratie in Preußen-Deutschland ist bekannt, ebenso
die Tätigkeit des Kolo in Österreich; über ihre Verbindung mit den ge-
bildetsten Kreisen in Rußland hat uns die russische Revolution belehrt
und soll weiter unten ausführlich berichtet werden.
Es ist somit auch schon bei ganz oberflächlichem Hinschauen offenbar,
daß viele äußere mit der Polenfrage im Zusammenhang stehende Momente
sich seit 1815 derart geändert haben, daß die zur Staatsbildung treibenden
Kräfte im polnischen Volk nunmehr politische und technische Hilfsmittel
in ihnen finden können, die ihren Zielen passiv und aktiv entgegenzu-
kommen scheinen. Die Frage ist nun nicht, oh sich die Polen dieser Hilfs-
mittel bedienen wolle^i, sondern oh sich die Hilfsmittel hereits so weit ent-
tüicJcelt hahen, daß die Polen über sie mit Erfolg für ihre Sache verfügen
könnten. Wir nehmen somit die Absicht der Polen, einen eignen Staat zu
gründen, als feststehende Tatsache an.
E. Menschenrecht?
Wir wollen somit nicht Fragen des herrschenden Rechts untersuchen,
sondern lediglich die Elemente, aus denen dieses herrschende Recht seine
') In der ersten Duma waren 51, in der zweiten 46. in der dritten 17 polnische
Abgeordnete.
*) Als Vertreter von Handel und Industrie, wenn nicht ein Deutscher oder Jude
gewählt wird.
\2 Erstes Kapitel. Vorbemerkungen
Autorität, seine Lebenskraft zieht. Das geltende Recht ist aber ein Kom-
promiß zwischen den Anschauungen und Bedürfnissen derer, die sich ihm
untorwoifen. Über dorn Recht der Einzehien steht das Recht des Staats,
und über dem Recht der Staaten steht das ungeschriebne Recht der Mensch-
heit, das unter ungesunden Verhältnissen als Auflehnung gegen die be-
stehende Ordnung zum Ausdruck kommt. Bei diesem Kompromiß, der
das geltende Recht heißt, wird es immer Minderheiten geben, die sich
dem Kompromiß nur mit innerm Widerstreben, nicht der Innern Über-
zeugung, sondern äußerm Zwange folgend, angeschlossen haben. Solchem
äußern Zwange, den wir gern die Macht der Verhältnisse nennen, sind
auch die Polen gewichen, und da sie die neuen staatsrechtlichen Verhält-
nisse nicht anerkennen, haben sie sich seit Zertrümmerung ihres Staats
unter das allgemeine Menschenrecht gestellt. Jetzt suchen sie demgemäß
außerhalb des Rechts der bestehenden Staaten und im eingestandnen
Widerspruch mit diesem Recht nach Bundesgenossen, die ihnen helfen
könnten, sich einen eignen Staat zu schaffen — einen Staat, dem sie ihr
persönliches Recht zwanglos unterordnen wollen.
In welcher Richtung wirkt nun die Macht der Verhältnisse? Haben
die Polen zunächst eine historische Berechtigung, solche Ziele zu ver-
folgen? Haben die Ziele Aussichten auf praktischen Erfolg?
Der Historiker kann, unter Hinweis auf die Gründe zum Untergang
des alten Polens, sagen: nein! denn sie haben ja durch ihre eigne Un-
fähigkeit den Staat zerstört. Derselbe Historiker kann aber auch sagen:
ja! denn der Eingiiff Rußlands und Preußens im achtzehnten Jahrhundert
hat das polnische Volk verhindert, den Weg der Entwicklung zum Kultur-
staat zu Ende zu schreiten.^) Diesen Standpunkt verti-eten vor allen Dingen
die polnischen Staatsrechtshistoriker, die in der Konstitution vom 3. Mai
1791 die Basis für die Möglichkeit einer gesunden Entwicklung Polens
erkennen. Es handelt sich hier nicht darum, zu beweisen, ob eine solche
Auffassung richtig ist. Es gilt lediglich festzustellen, daß sie als Sammelpunkt
der Fi-eunde der polnischen Staatsidee vorhanden ist. Sie stellt die Reaktion
des Teils dar, der sich seinerzeit am Kompromiß nur gezwungen beteiligte,
als den wir die dui'ch die Teilung Polens geschaffnen Rechtsverhältnisse
auffassen. Die Polen wünschen die Auflösung jenes Kompromisses und
sciilagen einen andern vor, der nun aber nicht auf ihre Kosten, sondern
auf Kosten der Teilungsmächte neue Rechtsnormen schaffen soll.
Wie aber verhält sich das Menschenrecht zu den Zielen der Polen?
M Dr. Stanislaw Kutscheba, „Geschichtliche Entwicklung des polnischen Staatsrechts'',
St Petersburg, 1907, von A. S. Ssuworin, nissisch von N. W. Jastrebow. — Professor
Oswald Baltzer — seine Aufsätze im „Kwartalnik historyczny", Lemberg, 1906.
E. Menschenrecht 18
Das Monschenrecht ist der sich ewig selbsttätig verändernde Kompromiß
zwischen den theoretischen Kulturaiifgabon, die uns die geistigen Großen der
Gesaratmenschheit stellen, und unsern Fähigkeiten, diese Kulturaufgaben zu
lösen. Menschenrecht ist also auch das Anrecht auf die Kultur, die wir
mit den Hilfsmitteln unsrer Zeit zu schaffen vermögen. Eines dieser Hilfs-
mittel ist aber das nationale Empfinden, in dessen Dienst der National-
ciiarakter und die Nationalspracho stchn, und ein erhabner Ausdruck unsrer
Kultur ist der nationale Staat. Der nationale Staat ist aber auch der
materielle Beweis für die Kultiu-stufe, auf der sich das Volk befindet, also
eine Sache, die Verkörperung einer Idee. Und das Dichterwort sagt:
„Leicht beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Räume stoßen
sich die Sachen." Das heißt: der Weg von der Staatsidee zum National-
staat ist der geistige und materielle Kampf um den Nationalstaat Im
Kampf um die nationale Eigenart wird das Recht auf sie erworben. Nie-
mand aber wird so kurzsichtig und ungerecht sein, einem Menschen wie
auch geringen Gruppen von Menschen die Berechtigung absprechen zu
wollen, für ihre Kulturideale und für deren höchsten sichtbaren Ausdruck
zu kämpfen. Im Gegenteil — mögen sie kämpfen! mögen sie arbeiten!
sie dienen in erster Linie doch der Gesamtkultur der Menschheit. Wenn
sie aber aus dem Kampf als Sieger hervorgehn, so ist das kein Unglück
für die Menschheit, sondern höchstens ein solches für die Unterliegenden,
für die Schwächern. Wir räumen somit den Polen das Recht ein, für die
Begründung eines Nationalstaats zu kämpfen.
Wir haben "diesen Ausflug in das Gebiet der Rechtsphilosophie unter-
nommen, weil Avir auf den folgenden Blättern die Polen so darstellen
wollen, wie sie uns nach sorgsamer Prüfung aller der sie betreffenden
Verhältnisse erscheinen — als eine immer wachsende politische Macht,
die in erster Linie eine Gefahr darstellt für unser Menschenrecht, wie
wir es als Deutsche, als Träger der romanisch- germanischen Kultur auf-
fassen, die eine Gefahr ist für unsern nationalen Kulturstaat. Worin
diese Gefahr liegt, hat teilweise Heinrich Geffken gezeigt. Sie zurückzu-
drängen und womöglich zu vernichten ist nicht nur unser Recht, sondern
unsre Pflicht. Unser Kampfmittel ist unsre Kultur, die uns so lange den
Rechtstitel für imsre Polenpolitik gibt, solange sie besser, d. h. stärker ist
als die polnische.
C6^<^^
Zweites Kapitel
Historisclies
Die Poleiifrage in Rußland unterscheidet sich merklich von der Polen-
frage in Preußen und Österreich. In den beiden deutschen Staaten trägt
sie einen ausgesprochen staatsrechtlichen Charakter, der aus der Geschichte
des aufgelösten polnischen Reichs und aus den nationalen Bestrebungen
der Polen verhältnismäßig einfach zu erklären ist. In Rußland tritt das
staatsrechtliche Motiv zurück gegenüber einem sozial-ethischen, das heraus-
gewachsen wt aus den Beziehungen des ijolnischen und des russischen Volks
zueinander. Diese Tatsache findet ihre Begründung in der außerordentlich
großen Bedeutung, die Fragen der Religion und Kirche vom Tage des Ent-
stehns des polnischen Reichs an sowohl in Rußland wie in Polen gehabt
haben. Die beiderseitigen Beziehungen sind von vornherein auf geistiges
Gebiet geraten, das durch keinerlei politische Abmachungen, durch keine
auf dem Schlachtfelde errungnen Siege geteilt, zerstückelt, chemisch ver-
nichtet werden kann. Im Kampf der Geister sind Fragen aufgeworfen
worden, die vielleicht aus sich heraus, nicht aber einseitig durch die äußer-
liche Einwirkung politischer Vereinbarungen zu lösen sind. Solche Fragen
liegen auf dem Gebiet der Religion und auf dem des Rassenbewußtseins.
Vom Tage der Gründimg Polens an finden sie ihren Ausdruck in dem
gegenwärtig nur scheinbar beendeten Kampf der griechischen und der latei-
nischen Kirche und seit der letzten Teilung Polens in der Ausbreitung und
Vertiefung des allslawischen Einigungsideals. Aus diesem Boden wachsen
in Rußland erst die staatsrechtlichen und in deren Gefolge die wirtschaft-
lichen Seiten der Polenfi-age heraus. Während somit der geistige Boden
so alt ist wie die Geschichte der Slawen, erscheint das staatsrechtliche
Motiv erst mit den Teilungen Polens und bekommt eine festgefügte Form
gar erst durch die Satzungen der Wiener Kongreßakte. Durch die Ab-
machungen des Wiener Kongresses wird die russische Polenfrage für uns
zu einem Bestandteil der preußischen — von dieser zweiten getrennt
ledigüch durch die politische Grenze, die an der Ostseite der preußischen
Monarchie entlangläuft.
A. Die Beziehungen zwischen Polen und Russen 15
Aus solchen Auffassunf>en , die sich vor allem durch das Studium
lussischer Quollen ^^ebildet haben, leiten wir die Notwendigkoit her, die
historischen Grundlagen der Polonfrage, wie sie in der Gegenwart aufge-
worfen wird, nicht nur dort zu suchen, wo sie uns die politische Geschichte
des polaischen Volks zeigt, sondern vorwiegend in den sich meist als
Nebenei*schcinungen konnzeichnenden geistigen Kämpfen.
A. Die Beziehungen zwischen Polen und Russen
1. Allgemeine V^erhültnisse
Über die ältesten Beziehungen zwischen West- und Ostslawen oder
Polen, Russen, Litauern, Masaren wissen wir so gut wie nichts. Die Ge-
schichtsforschung kann darüber keine authentischen Nachrichten geben. Die
deutschen Handolsinterossen waren während der Heidenzeit noch nicht so
weit ins Innere der slawischen Lande vorgeschoben, als daß sie eine nähere
Kenntnis der dortigen Verhältnisse notwendig machten. Andre Interessen
aber gab es bis tief ins zehnte Jahrhundert hinein nicht. Erst durch die
Slawenbekehrer des zehnten Jahrhunderts wird uns einiges über die Be-
ziehungen zwischen den polnischen und den russischen Stämmen mitgeteilt.
Diese ersten Mitteilungen betreffen aber die Zeit, da bei den einzelnen
Stämmen der beiden großen Völker Anfänge der Staatenbildung erkennbar
sind. Staatenbildung heißt aber Abgrenzung temtorialer Interessengebiete.
Darum gehn wir nicht fehl, wenn wir annehmen, daß die ersten ständigen
Beziehungen zwischen russischen und polnischen Stämmen vorzugsweise
auf Grenzstreitigkoiten der einzelnen Mächtigen beruhten, die zu kriege-
rischen Unternehmungen, aber auch zu Bündnisverträgen und ehelichen
Verbindungen der streitenden Teile führten. Eine natürliche, instinktive
Abneigung hat nach den vorliegenden historischen Forschungen zwischen
polnischen und russischen Stämmen auch in der ältesten Zeit Glicht be-
standen. Viel eher gab es eine solche zwischen Litauern und Preußen
auf der einen und Russen und Polen auf der andern Seite, und zwar
hauptsächlich wegen der Grausamkeit der beiden zuerst genannten Völker.
Wir können das Verhältnis der beiden großen slawischen Völker^) unter
Berücksichtigung der Gewohnheiten jener unkultivierten Zeit sogar als
*) Bis zur Mitte des dreizehnten Jalirhunderts behielten die polnisch-russischen Be-
ziehungen den oben angedeuteten Charakter bei.
Im Jahre 981 sucht Wladimir von Kijew den Polen verschiedne Gebiete Rotrußlands
abzunehmen. 1022 belagert Jaroslaw das polnische Brest, um 1030 Frieden zu .schließen
und 1031 wieder in Galizien einzufallen. Unter Kasimir (1041) sehen wir dagegen Russen
und Polen gegen Litauen verbündet, und 1043 heiratet Kasimir die Schwester Jaroslaws,
während 1047 ein Isjaslaw die Schwester Kasimirs freit. Unter Boleslaw dem Kühnen
16 Zweites Kapitel. Histoi-ischos
h-eundnachbarlich bezeichnon. Fi-eilich fehlten daneben alle Vorbedingungen
für einen nähoiTi Anschluß aneinander. Schon die Beschaffenheit der
Grenzgebiete eisclnverte den engem Zusammenschluß. Zwischen dem
spätem Idolen und Moskovvien zogen sich die undurchdringlichen und
nur im sti'engsten Winter gangbaren Sumpfgebiete des Pripet und Njemen
hin, die gleichzeitig die Wasserscheide bildeten für die nach Süden und
Norden sti'ömenden einzigen Verkehrsstraßen der Russen und für die nach
Westen und Nordwesten strömenden der Polanen — Polen. Schließlich
schoben sich aucli noch von Norden her wie ein Keil die wilden Litauer
und Jadwiger zwischen beide, nach beiden Seiten hin Mord, Brand und
Raub ausbreitend. Die Handelsbeziehungen waren gering und beschränkten
sich fast ausschließlicii auf den Tauschhandel in den Grenzgebieten. Er
mußte seinerseits wieder um so geringfügiger sein, als beider Völker Ge-
biete annähernd dieselben Waren hervorbrachten — Pelze, Honig, Wachs,
Bast, Harz, Fische und ähnliches. Der Großhandel wurde nicht durch
Polen und Bussen, sondern durch Griechen, Juden, Italiener und süd-
deutsche Kaufleute vermittelt. Die nordrussischen Kaufleute suchten ihre
Wege und Verbindungen im Norden; Polen lag für sie abseits. Auch eine
geistige Verbindung fehlte vollständig. Es gab somit von Anfang an keine
nimmt Polen lebhaften Anteil an den "Win-en in Rußland, hilft Isjaslaw zur Erlangung des
Thrones von Kijew und bekriegt Swjatoslaw. Dann wendet mich Isjaslaw an Heinrich den
Vierten, iles Polenkönigs Feind, was wieder zur Folge hat, daß Swjatoslaw sich mit Boleslaw
vereint und diese gemeinsam gegen die Tschechen kämpfen. Wir sehen somit, daß von
einer innorn Abneigung zwischen Polen und Russen zu damaliger Zeit nicht die Rede sein
kann. Da,s Eingreifen des deutschen Kaisers Heinrich hatte aber auch zur Folge, daß sich
Gregor der Siebente in die Angelegenheiten mischte. Für seine Hilfe mußte ihm Isjaslaw
geloben, die i-u-ssische Kirche Rom zu unterteilen, was dieser niemals hielt, obwohl er
sich zu Brest zum König von päpstlichen Gnaden krönen ließ.
Im Lavife des zwölften .lahrhimderts scheinen die russisch - polnischen Beziehungen
ganz eingeschlafen zu sein; wenigstens hören wir davon in der Geschichte wenig. Polen
entwickelt sich unter dem immer .stärker werdenden Zustrom westeuropäischer Kultur,
Rußland führt mit dem Griechenkaiser Krieg. Eine Literatur gab es, abgesehen von
Kirchen Schriften polemischen Inhalts, bei den Russen in der vormongolischen Periode nicht,
■wenn wir von zwei größeren Gedichten absehen wollen. Das eine beschäftigte sich in-
dessen mit Kriegszügen im Südosten, das andre enthält eine Kritik der Regierungsweise
eines rassischen Füreten in satirischer Form. Also — Interessen an der Westgrenze sind
in der Literatur nicht einmal angedeutet. Erst um die Mitte des dreizehnten Jahrhimdeils
vereinten sich beider Länder Interessen auf Rotrußland, was zu langwierigen Kriegen
führt. Um die Mitte des vierzehnten Jahrhundeits, gefördert durch den Einfall der Mon-
golen, hat sich dann endgiltig das vollzogen, was wir schon andeuteten. Zwischen Polen
und Rußland hatte sich ein Keil geschoben — Westrußland oder Litauen. Der Schwer-
punkt Rußlands lag nicht mehr in Kijew, sondern in Wladimir und später in Moskau,
also weit im Osten. Damit fielen aber die direkten Beziehungen der beiden Völker weg,
und alle trennenden Kräfte auf geistigem Gebiet konnten die längst gesäte Drachensaat
der Feindschaft hegen und entwickeln.
A. Diu lk'/.ii'liuiigon zwLschüu roleii und Iviisscn 17
goraeinsaraen Interessen, aber auch wegen des gewaltigen Umfangs der in
Fi'age stoheiuioii (lebiete keinen gemeinsamen Feind, der nicht in dei'selben
Stunde auch der gemeinsame Freund sein konnte. Diese natürlichen Ver-
hältnisse schufen von vornherein die Vorhedingung für die Verschieden-
artigkeit kultureller Empfänglichkeit heider Völker. Die Polen konnten
die westeuropäische Kultur in romanisch -germanischer Sonderheit direkt
und im Zustande einer gewissen hohen Entwicklung erhalten, die Russen
erhielten germanische Kultur ohne den romanischen Einschlag gesondert
durch Vermittlung der Waräger, das Christentum dagegen, losgeiissen von
dem fruchtbaren Boden der abendländischen Kulturwelt, unberührt und
unentwickelt durch das römische Recht. Von Norden her drang eine ab-
sterbende heidnische, von Süden eine in der Entwicklung stclin gebliebne
christliche Kultur nach Rußland. Daß sie beide dennoch einen Fortschritt
bringen konnten, lag an der Rückständigkeit der russischen Völker.
2. Die Einführung des ChHstentums
Die kurz skizzierten Vorbedingungen haben dazu geführt, daß Rußland
und Polen das Christentum wohl zu gleicher Zeit, aber doch in verschiedner
Form erhielten. Das Christentum konnte somit nicht einigend wirken, son-
dern mußte im Gegenteil die an und für sich schon vorhandne Abwesen-
heit gemeinsamer Interessen noch bis zu völliger Entfremdung ve)-größern.
Das Christentum ist nach Rußland und Polen auf zwei verschiednen
AVegen gekommen. Von Griechenland aus über die reichen Handelsstätten
der Schwarzmeerküste und von Italien, die Donau hinunter oder entlang
an den Küsten der Baltik. Entsprechend der Vei-schiedenheit dieser Wege
ist auch die Art verschieden gewesen, in der es angeboten wurde. Nach
den russischen Quellen ei-scheinon ims die ei*sten griechischen Apostel als
von der Politik unberührte Glaubenseifeier*); aus römischen Quellen ersehen
wir, daß die Lateiner in ihrem Verkehi- mit den Machthabem mit der An-
nahme des Christentiuns nach ihrem Ritus politische Geschäfte verbanden.*)
Die Abgesandten des römischen Papstes und des griechischen Patriarchen
trafen sich am Hofe Wladimirs zu Kijew und zu Korssunj in der Krim
fast zu gleicher Zeit (962). Die päpstlichen stellten mit der Annahme
ihres Glaubens politische Vorteile in Aussiclit, die der Papst glaubte den
Russen ebenso anbieten zu können wie den Deutschen; die Byzantiner
begnügten sich dagegen, auf den ideellen Wert ihrer Lehre hinzuweisen. —
Die Lateiner mußten unveiTichtetei" Dinge heimziehn, die Byzantiner aber
') Ssolowjow. Ueschichte Kaßhuids, 29 Bde. Bd. 1, S. 163 ff.
*) Pierling, La Russie et le Saint -Siege, 3 Bde. Bd. 1, Einfüluuug.
Cleinow. Hie Znkiiufr Polen.s 2
18 Zweites Kapitel. Historisches
durften ihre Lehre unter dem Schutz des Staates verkünden. Wladimirs
Übertritt zum Christentum im Jahre 988 spielte sich unter älinlichen Be-
dingungen ab wie der des Kaisers Konstantin. In seinen Landen war
aber die orthodoxe Lehre zu dieser Zeit schon längst bekannt, und
tief bis nach Galizien hinein beteten die Rotrussen neben den Heiden-
göttern auch den neuen Gott nach griechischem Ritus an. Wladimir hat
dann die neue Lehre innerhalb seines Reiches mit Feuer luid Schwert
an den Flüssen entlang nach forden bis Nowgorod getragen, um die
Sendlinge Roms und deren Tätigkeit in Polen, also außerhalb seines Landes,
hat er sich nicht gekümmert. Er hat sogar dem römischen Heidenbekehrer
Bonifazius (Brunns) bei seinem Bekehrungszug gegen die Petscheneger
geholfen.^)
In den großen Handelsstädten Kijew, Pskow, Nowgorod durften sich
die ausländischen Kaufleute Kirchen bauen und eigne Priester halten. Von
Anfang an war also, das sei hervorgehoben, die Verschiedenheit des Glaubens-
bekenntnisses dem russischen Volke kein Grund zur Feindschaft gegen Aus-
länder. Aber von seinen Angehörigen forderte der russisclie Staat unbe-
dingt die Unterwerfung unter die Lehre der Staatskirche. Auch sonst
haben die Russen keine Kriegszüge zur Ausbreitung des orthodoxen Glaubens
bei den ihnen benachbarten Völkern geführt. So haben sie die Polotzker, die
Esten, Liven und Kuren streitlos den römischen Priestern überlassen.'-)
') Übereinstimmend dargestellt bei Golubinski, Kirchengeschichte, Bd. I, Teil 2, S. 221,
und bei Pierling, Bd. I, S. X.
^) Im Jahre 1158 ei-schien ein Bremisches Schiff an der Mündung der Düna. Die
Bremer Kaufleute knüpften mit Erfolg Handelsbeziehungen an und suchten diese zu einer
regelmäßigen Vei'bindung auszugestalten. Mit Erlaubnis der Bewohner wurde zu diesem
Zweck ein befestigter Platz (ÜxIcüU, unweit Riga, oberhalb an der Düna) und in ihm ein
beständiges Handelskontor angelegt. Auf das neu entdeckte heidnische Land richtete der
Erzbischof von Bremen seine Aufmerksamkeit und beschloß, es zum Christentum zu bekehren.
Mit Genehmigung des Papstes Alexander des Dritten wurde als Missionar der Kanoniker des
Augustinerordens Meinhardt doi-thin beordert. Meinhardt erhielt vom Fürsten von Polotzk
die Genehmigung, unter den Heiden zu predigen. Anfänglich hatte er auch einigen Erfolg,
sodaß er für die Bekehrten in dem schon genannten befestigten Platz ÜxküU eine Kirche
bauen konnte. Als er aber (1188) von einer Reise zur Erlangung der Bischofswürde zurück-
kehrte, fand er die Eingebornen in feindlicher Stellung. Er wandte sich um Hilfe an den
Papst, der einen Kreuzzug gegen die Heiden anordnete. Als die Kreuzritter anlangten,
fanden sie Meinhardt nicht mehr am lieben, er war 1196 gestoi'ben. Sie warteten danun
die Ankunft eines neuen Bischofs ab, des aus den Zisterziensei-n hervorgegangnen Berthold
von Loccum. Anfangs beredete Berthold die Heiden, freiwillig das Christentum anzu-
nehmen. Als seine Ermahnungen aber fruchtlos bUebeu, beschloß er, sie mit Gewalt dazu
zu zwmgeu. Im Jahre 1198 fand zwischen den Ea-euzrittern und den Eingebornen eine
Schlacht statt, in der die Kreuzritter einen entschiedeneu Sieg erfochten, wenngleich
Berthold, der Ordensmeister, fiel. Infolgedessen konnten zunächst nur die Liven gezwungen
werden, sich taufen zu lassen und Priester anzunehmen. An die Stelle Bertliolds wurde
der berühmte Bremische Kanoniker Albert von Apeldern zum Bischof von Cxküll ernannt.
A. Die Beziehiiugen zwischen Polen und Russen 19
Später freilich haben sie sich gegen das Yordringen fremder Bekennt-
nisse energisch gewehrt und sind auch von der Verteidigung zum Angriff
übergegangen, wenn die religiöse Propaganda der Lateiner, z. B. der Domini-
kaner in Kijew, Interessen des weltlichen Staats zu berühren schien. Dm'ch
solche territoriale Beschränkung auf rein russische Völkerschaften hat der
orthodoxe Glaube in Eußland von vornherein einen durchaus nationalen
Charakter angenommen und der Geistlichkeit den unverwischbaren Stempel
aufgedrückt, den sie noch heute trägt. Dieser Sonderheit wurde noch dui'ch
den Umstand Vorschub geleistet, daß die Russen besondre Schriftzeichen
von den Südslawen annahmen.
In Polen nahmen die Olauhensangelegenheiten einen andern Verlauf.
Der Haupteinbnich des Christentums in die polnische Masse fand von
Mäliren aus auf der Handelsstraße von Prag nach Kijew ^) statt, sowohl
durch Sendlinge Roms wie auch durch solche von Byzanz. Obwohl die
lateinische Lehre infolge des tatkräftigen Eingreifens der Päpste mizAveifel-
haft von vornherein den größten Einfluß gewann, Lieben es die Modernen
unter den liberalen Slawen, der Tätigkeit der griechischen Mönche KyriU
und Methodius eine ganz besondre Bedeutung beizumessen.^) Da diese
Frage vorwiegend auf dem Gebiete der Theorie liegt, ist sie für uns einst-
weilen unerheblich. Dagegen ist wichtig, festzustellen^ daß die römische
Lehre in Polen Eingang fand., als sich der polnische Herrscher Mscislaiv
der Erste (von 960 etiva bis 992) unter den Schutz eines Mächtigern
stellen mußte, um sich die politische Selbständigkeit gegenüber dem deut-
schen Kaisertum zu ivahren. Dieser Mächtigere aber war der Papst. Im
Gegensatz zu dem orthodoxen Bekenntnis in Rußland wurde das römische
Er gründete im Jahre 1200 an Stelle des befestigten Orts an der Mündung der Düna
eine ordentliche Stadt, Eiga. Da er sich auf die üntei-stützung der Ritter nicht immer
verlassen konnte, beschloß er, einen besondern Orden zu gründen, der vom Papst bestätigte
und im Jahre 1202 gegründete Orden der Schwertbiüder (Schwertorden). Überhaupt hat
Albert während der dreißig Jalire seines Bistums (f 1229) den Katholizismus \md die Macht
der Deutschen unter den finnischen Völkerschaften der baltischen Provinzen fest begründet.
Im Jahre 1218 wurden die Semgaller oder Semigaller (Simjegola in den russischen Annalen)
getauft und für sie ein besondres bischöfliches Katheder in Selon gestiftet. Mit Hilfe des
Dänenkönigs Waldemar des Zweiten zwacg Albert die Esten, die Taufe anzunehmen, imd
gründete das bischöfliche Katheder zu Dorpat, ferner in Wierland (Ostestland) und Reval.
Am längsten blieben die Kuren migetauft. Um einer zwangsweisen Bekehrung vorzu-
beugen, beschlossen sie ein Jahr nach dem Tode des Bischofs Albert, im Jahre 1230 sich
freiwillig taufen zu lassen. Die Fürsten von Polotzk, die die deutschen Priester freiwillig
ins Land hineingelassen hatten, salien später ihren Fehlgriff ein imd beschlossen, die
Deutschen aus dem Lande zu jagen. In dem nun entbrennenden Kampf erhielten die
Deutschen aber schon sehr bald die Oberhand. (Golubinskn, Bd. T, Teil 2, S. 812/13.)
*) W. Wassiljewski, „Der alte Handel Kijews mit Regensbui'g". Journal des Miiü-
steriums für Volksaufklärung, Juli 1888.
') Vgl. Gesammelte Briefe der Zeitung „Russj", vom 28. März 1904 bis 18. Febr. 1905.
20 Zweites Kapitel. Historisches
in Polen sofort in den Dienst des Staates für die internationalen Ziele de.s
Herrscherhauses gestellt und Avurde darum zu einem recht erheblichen
Faktor für die Machtstellung des Staates.
Die Jculturelle Bedeutung des Christentums schien den ersten Königen
von Polen ohne Belang. Dementsprechend ging auch die Ausbreitung des
Christentums in ihren Landen nur langsam und oluie Anwendung von
Zwangsmitteln vor sich.
3, GeiMlichkeit und Staatsgewtdt in Rustiland
Die Rolle des Geschicks der russisch -polnischen Beziehungen über-
nahm die Geistlichkeit der beiden christlichen Bekenntnisse. Je mehr
politische A^'erhältnisse das amtiiche Byzanz zum Anschluß an Rom zwangen,
um so tiefer wurde der Haß, den die giiechische Geistiichkeit der römischen
Kirche entgegenbrachte.^) Diesen Haß hat die russische Geistiichkeit aus
Gründen der Selbsterhaltung kritiklos übernommen. Die Stellung der Geist-
lichkeit im russischen Staatswesen hat diese Haltung wesentiich unterstützt.
Als Wladimir* von Kijew die griechische Lehre in seinem Lande aufnahm,
war diese in dogmatischer Hinsicht abgeschlossen. Die Kirche sicherte
die orthodoxe Lehre vor jeder Fortentwicklung, indem sie die ungebildeten
Fürsten zwang, die einmal übernommenen Gesetze so zu bewahren, wie sie
sie gegeben hatte. Dadurch wurden die Füi-sten zu gleicher Zeit Schutz-
herren der Kirche, Verteidiger ihrer Vorschriften und — Schüler der aus
Griechenland kommenden Geistlichen.'^) Dieses eigentümliche Verhältnis
mußte um so ungünstiger auf die EntAvicklung der rassischen Kirche wirken,
als die oberste Gewalt über die Landeskirche in den Händen des dem
Kaiser von Byzanz unterstellten Patriarchen der griechischen Kirche lag.
Dieser ernannte den Metropoliten für Rußland, der Avieder in seinem Bezirk
dafür zu sorgen hatte, daß die von der amtiichen Kirchenleitung gut ge-
heißeneu Ansichten auch in Rußland zur Geltung gebracht wurden. Da
sich aber lun die Mitte des elften Jahrhiuiderts die griechische Kirche in
Feindschaft von der lateinischen schied, mußte auch in Rußland die Feind-
schaft gegen Rom als gottgefällig verbreitet werden. Das ist geschehen.
Anfänglich begnügte sich die rassische Geistlichkeit damit, die gemäßigtem
Ansichten der verschiednen Konzile aufzimehmen, später machte sie die
der extremen griechischen Polemisten zu den ihrigen. Darum gilt die
römische Lehre in Rußland schon lange Zeit hindurch als große Ketzerei,
^) Golubinski, Bd. 1, Teil 2, S. 803 sehreibt: „Nichts geschieht \m vermittelt. Auch
clie radikalen Ansichten über die Lateiner haben bei uns bis zur Mongoleuzeit nicht die
allgemeuie und unbestrittene Herrschaft gehabt und die Kraft, die wir später sahen."
») Ssergejewitsch, Rechtsdenkmäler. Bd. IT, S. 497/98.
B. Einigungsbestrebungeu 21
obwohl solches kein Konzil ausgesprochen hatte. ^) Von dieser Auffassung
ausgehend hat die russische Geistlichkeit im Laufe der Jahrhunderte das
Mißtrauen gegen die römische Lehre in die führenden Ki'eise des Volkes
träufeln können.^)
B. Einiglingsbestrebungen
Die Päpste haben dagegen nie aufgehört, zu vereuchen, die beiden
Bekenntnisse wieder zu versöhnen. Doch scheint es, als sei die Natur
oder die Vorsehung vor allen Dingen darum bemüht, alle versöhnlichen
Bestrebungen im Weltall durch Schaffung neuer Reibungen und Streit-
punkte zu paralysieren. Es gibt in der Geschichte kaum einen Fiiedens-
vertrag, der nicht einen blutigen Krieg zur Folge gehabt hätte, oder der
nicht wenigstens den Keim zu neuen Kämpfen in sich trüge. So ging es
auch mit den Bestrebungen der beiden gi'oßen christlichen Bekenntnisse,
die darauf ausgingen, die griechische und die lateinische Kirche zu versöhnen
und unter der alleinigen Macht des Papstes zu vereinen. Während die
beiderseitigen Kirchenfürsten, von den Griechenkaisern unterstützt, den
Frieden anbahnten und durch Jahrhunderte vorbereiteten, wuchsen gerade
*) Golubinski, Kirchengesckichte (unvoUeudet), Bd. I, Teil 2, S. 803.
^) Bald nach der Trennvmg (1054) hat der Metropolit Georg eine Aufstellung der
27 Sünden der Lateiner herausgegeben, wobei er iuteressantenveise die in Italien einge-
drungnen Deutschen dafür verantwortlich macht, daß der römische Teil der christüchen
Kirche entartete (Golubinski , Bd. I , Teil 1 , S. 855). Vierzig Jahre später besclireitet der
Metropolit Johann der Zweite denselben Weg, doch in versöhnlicher Fonu, als ihn Kaiser
Heinrichs des Vierten Freund, Clemens der Dritte, imi Anschluß an den päpstlichen
Stuhl bat (ebenda S. 856). Zu Anfang des zwölften Jahrhunderts folgt Nikifor der Auf-
forderung des Großfürsten Monomach, die Gründe für die „Ausstoßung" der Lateiner
;\us der rechtgläubigen Kirche anzugeben ; er nennt zwanzig Hauptsünden (ebenda 3. 858).
Eine zweite Schrift verfaßt er gegen die Lateiner, um den Fürsten von "Wolynien vor
.seinen der lateinischen Lehre verfallenen Nachbarn im Westen zu warnen. Um das Jahr 1158
sagt der Mönch Theodosius von Petschei"sk: „. . . besondere muß man sich vor solchen
Menschen vorsehen, die der lateinischen Lehre folgen . . ." (Makarius, Kirchengeschichte,
Bd. II, S. 324/25). Er verbietet, mit den lateinischen Ketzeni aus einem Gefäß zu speisen,
wie überhaupt mit ihnen in nähern Verkehr zu treten.
Alle diese genannten Glaubenseiferer smd Griechen, keine Russen, vmd ihre Abneigung
ist nicht gegen eine pohlische Kirche, sondern gegen eine lateinische oder wai'ägische
Lehre gerichtet. Die Waräger, also Germauen, gelten als Träger der Ketzerei, nicht die
Polen (Tolstoj, Bd. I, S. 11). Der erste nissische Fürst, der solche Auffa.ssung zu der
seinigen machte, war Alexander Newski (1252,63), aus dessen Testament Tolstoj folgende
Stelle angibt: „Voilä notre foi; que ceux qui ue la professent point ou qui la professent
auti-emeut soient maudits; et ainsi nous vous maudissons, execrables Latius-' (ebenda S. 9).
Dieser streitbare Fürst hat aber keinerlei Beziehungen zu den Polen gehabt, .sondern nm-
mit den Deutschrittern, Schweden und gaiechisch - orthodoxen oder heidnischen Litauern
siegreich gekämpft. In der vormongolischen Zeit gibt es auch in der spärhchen Literatur
nirgends einen Anhalt dafür, daß unter den Russen eine Feindschaft gegen die "westUchen
Nachbarn oder gegen die Polen allein vorhanden gewesen wäre (vgl. S. 15/16 u. 18). Ei'St die
Geistlichkeit beider Bekenntnisse hat diesen Antagonismus zwischen die Völker geworfen.
22 Zweites Kapitel. Historisches
in den Gebieten, in denen die Versöhnung hätte die größten praktischen
Folgen haben können, Kräfte heran, die die Fortsetzung des Kampfes über-
nahmen und dem Kampf einen ganz neuen Inhalt gaben.
Wir haben bereits darauf hingewiesen, daß zwischen Rußland und
Polen sich ein unwegsames Sumpf gebiet hinzieht; es wurde gesagt, daß
sich in dieses Sumpfgebiet Litauer und Jadwiger hineinschoben; femer
hörten wir, daß sich die russischen Fürsten bei der Ausbreitung des
griechischen Glaubens auf ihre Untertanen beschränkten, während die pol-
nischen Könige keinen besondern Eifer zur Ausbreitung des römischen
an den Tag legten. Alle diese Tatsachen konnten indessen nicht ver-
hindern, daß die Kunde von beiden Bekenntnissen ziemlich gleichzeitig in
das Zwischengebiet ^) drang, daß Apostel beider Bekenntnisse in diesem
Zwischengebiet die christliche Lehre verkündeten. Kaufleute, Kriegs-
gefangne, geraubte Weiber mögen in gleichem Simie gewirkt haben. Da
aber die litauischen Fürsten damals dem Christentum völlig indifferent
gegenüberstanden, und sich somit die Staatsgewalt auf die Entwicklung
der neuen Lehre keinerlei Einfluß sicherte, also auch weder für die eine
noch für die andre Form des Bekenntnisses Partei nahm, entstand in dem
Zwischengebiet eine dritte christliche Lehre, die einen Kompromiß dar-
stellt zwischen der römischen und der griechischen. Wohlverstanden,
diese neue Lehre war ein Zufallsprodukt, das entstehn konnte, weil keine
der beiden organisierten Kirchen die Macht hatte, ihre offizielle, reine
Lehre in jenen Gebieten einzuführen, wenngleich jede von ihnen bestrebt
war, die andre durch Einsetzung von Kirchenfürsten zu verdrängen.
Auf dem Boden dieser Mischlehre wurde die sogenannte ruthenische
und später die unierte Kirche organisiert.
Genau dieselben Verhältnisse, die früher die Verbreitung der vom
Dogma abweichenden Lehren möglich machten, ließen später die von der
einen oder andern Seite eingesetzten Kirchenobrigkeiten sich leicht dem
Einfluß der kirchlichen Zentralgewalt entziehen. Dazu ti'aten noch poli-
tische Verhältnisse, die wir oben als Grenzstreitigkeiten kennen lernten
(siehe Anmerkung S. 15/16). Diese Verhältnisse im litauisch -ruthenischen
Zwischengebiet Keßen die immer w^achsamen Päpste auf den Gedanken
kommen, sie als Angriffsbasis zu einem Vorstoß gegen die russische Kirche
auszunutzen, als die Politik der litauischen Fürsten eine entsprechende
Richtung annahm. Es galt darum, zunächst die ruthenische Kirche Rom
zu unterwerfen, sie mit Rom zu vereinigen, zu unieren.
^) Dies Zwischengebiet läßt sich dui'ch ein Fünfeck bezeichnen, das zwischen den
heutigen Städten liegt, im Norden Schawli und Pskow, im Osten Chorolj, im Süden Jassy
und im "Westen Przemysl und Schawli.
B. Einiguugsbestrebungeii 23
1. Die Union
Bis zum vierzehnten Jahrhundert hatten die litauischen Fürsten, wie
bekannt, einen verhältnismäßig starken Staat auf militärischen Grundlagen
geschaffen. Territorial geschah diese Schöpfung auf Kosten der russischen
Großfürsten, die durch den Mongoleneinfall vollständig an der Ost- und
Südgrenze ihres Reiches beschäftigt und dui'ch die innem Kämpfe derart
geschwächt waren, daß sie bereit schienen, ihre Interessen an der West-
grenze aufzugeben. In diesem litauischen Staat herrschte, wie bereits an-
gedeutet wurde, Glaubensduldung sowohl gegen die Christen wie gegen
die Heiden.^) Etwa um die gleiche Zeit entwickelten sich in Polen die
günstigen Folgen der Befruchtung durch das Deutschtum, und an allen
Orten machten sich Anzeichen einer wirtschaftlichen und sozialen Ge-
sundung bemerkbar. Diese Gesundung tritt tatsächlich nicht ein, weil die
polnischen Fürsten, aus Furcht, ihr Land zu verlieren, kein Mittel un-
versucht lassen, sich dem politischen Einflüsse deutscher Staaten zu ent-
ziehen. Das treibt sie einerseits noch mehr in die Arme der römischen
Kurie, und andrerseits geben sie westeuropäische Interessen — Zugang zur
Ostsee^) — um so leichter auf, als ilmen der Besitz Kleinrußlands bis an
das Schwarze Meer möglich erscheint. Dort finden sie keinen Widerstand
durch Rußland. Doch die Errungenschaften Kasimirs des Großen in der
innem und äußern Politik werden zunichte, weil Jceine für ihre Aufgaben
erzogne Dynastie vorhanden ist, die imstande gewesen wäre, ihre eignen
Interessen mit denen des Volks zu identifizieren und dadurch die Festig-
keit gehabt hätte, die organischen Neubildungen in der Gesellschaft ihren
politischen Zielen durch ein allen gemeinsames Ideal nutzbar zu machen.
Polen sinkt in völlige Ohnmacht zurück. Erst durch die Verbindung mit
Litauen in Personalunion erhebt es sich wieder, also nicht aus eigner, von
innen heraus sich entwickelnder Kraft, sondern durch neue Elemente, die
von außen hereingeti'agen werden (1386). Der Großfürst von Litauen heißt
seit dem 2. März 1387 König von Polen.
Dnrch diesen Umstand läßt die Geschichte den Eindruck entstehn
und sich bei den Russen festsetzen, als wenn es Polen sind, die nun zwei
Jahrhunderte hindui'ch Rußland berennen und verwüsten, während doch
tatsächlich litauische Fürsten ihre Blicke auf Rußland richten. Seit Ende
des vierzehnten Jahrhunderts sind es nicht mehr schwache Handelsstädte
— von einigen hundert Rittern verteidigt — , die an das orthodoxe Ruß-
*) Die Bestellung eines besondera Metropoliten von Litauen, Theophil (1316/17), hat
lediglich politische und wiiischaftliche Giiinde, nicht aber religiöse.
2) Vertrag von Kaiisch 1343.
24 Zweites Kapitel. Historisches
laud gi'enzen, sondern ein mächtiges Reicli, an dessen Spitze römisch-
katholische Fürsten stehn voll Ehrgeiz und politischem Expansionsbedürfnis.
Nmi geschah aber das merkwürdige, nur aus der Unkultur der Jagellonen
erklärbare. Die bis zur Vereinigung mit Polen toleranten litauischen
Fürsten, die mit ihrer Toleranz Polen hätten innerlich entwickeln können,
werden zu Trägern derselben reaktionären Politik, wie es die Nachfolger
der ersten Plasten waren. Sie werden, das erscheint füi- uns wichtig,
durch den Übertritt zur lateinischen Kirche ein neuer Hebel der päpst-
lichen Politik, mit dem auf die geschwächten russischen Großfürston ein-
gewirkt werden soll, ßom aber kann triumphieren. Denn während die
Jagelionen beginnen, die römische Lehre in Litaueu unter Anwendung von
Gewalt einzuführen, müssen die Griechenkaiser in Rcmi Schutz gegen die
Tüi'ken suchen, und die Moskauer Großfürsten sind so geschwächt, daß
der gi'iechische Patriarch ihnen einen unerwünschten Metropoliten bestellen
kann. Der griechische Mönch Isidor tritt an die Rampe der Weltbülme.
Rom scheint der Augenblick für eine Vereinigung mit der griechisch-
katholischen Kii'che unter päpstlicher Heri'schaft gekommen. Der erste
Schritt von großer politischer Bedeutung wui'de in dieser Hinsicht auf
dem Konzil zu Ferrara (1438) getan. Nachdem sich Johann der Achte
Paläologos, der Kaiser von Griechenland, auf dem Konzil dem Papst unter-
worfen hatte, sprach sich auch der Metropolit von Moskau, Isidor, für die
Union, das heißt für die Unterstellung der russischen Kirche unter den
Papst aus.
Die von Rom erhofften P^rfolge trafen indessen nur zu einem sehr
geringen Teil ein. Isidor konnte seinem Vereinigungserlaß keine prak-
tischen Folgen geben. Der rassische Großfürst, der von voniherein mit
Mißtrauen auf Isidor geblickt hatte, erklärte den Befehl im Einvcrständui.s
mit der russischen Geistlichkeit für ungiltig.
In dem Gebiet zwischen Polen und Rußland war, wie gezeigt worden
ist, eine dritte christliche Lehre entstanden. Auch ihre überdies wirt-
schaftlich sehr arme Geistlichkeit stand noch weit mehr in Abhängigkeit
von den Gegnern der Union, als ihre römischen Förderer glaubten. Sozial-
politische Verhältnisse in Kleinrußland wirkten der Union mit Rom ent-
gegen. Schließlich verhielten sich auch die litauischen Fürsten, auf deren
Beistand Isidor glaubte besonders rechnen zu dürfen, damals noch gegen
die Unionsbestrebungen weit zurückhaltender, als es die Angelegenheit ver-
ti-agen konnte. Erst anderthalb Jahrhimderte später, als das Zartum Moskau
so weit erstarkt war, daß es sich von Byzanz emanzipieren konnte imd im
Jahre 1589 einen eignen Patriarchen bestellte, erkannten die litauischen
Fürsten den politischen Nutzen, den sie aus den Unionsbestrebungen Roms
B. Einigung-sbestrebuiigeu 25
ziehen konnten. So wenig die litauischen Fürsten gegen einen griechischen
Patriarchen einzuwenden hatten, so gi'oß mußte ihr Mißtrauen gegen den
rassischen werden, der die gegen Polen -Litauen gerichtete Politik der
Großfürsten durch seine Meti'opoliten und Bischöfe auf litauischem Boden
unterstützen ließ. Die Wii'ksamkeit des Moskauer Pati'iarchen erstreckte
sich naturgemäß auch auf die Bistümer des Zwischengebiets, die bis 1589
Byzanz unterstanden. Somit Avar für die litauischen Fürsten erst durch
den Wechsel der Beziehungen zwischen Moskau und Byzanz der politische
Grund gegeben, entweder die Unionsbestrebungen der Päpste zu unter-
stützen oder die litauischen Metropoliten zu zwingen, dem giiechischen
Patiiarchen treu zu bleiben. Dieser Wechsel hat die litauischen Füi-steu
unter dem Emfluß der Päpste zu dem für sie verhängnisvollsten Schritt
getrieben, den sie hätten begehn können.
In Polen und Litauen hatte trotz der 1587 beginnenden Reaktion die
Reformation große Fortschritte gemacht. Nicht nur die eingewanderten
deutschen Kolonisten, Handwerker und Kaufleute, nicht nur polnische und
litauische Gelehrte und Politiker waren Anhänger der Reformation, sondern
auch römische Geistliche polnischer Herkunft waren von der aus Deutsch-
land kommenden Lehre ergriffen. Von der Kanzel wie von der Tribüne
der Landtage herab sorgten sie für ihre Verbreitung. Im Jahre 1555 war
die innere Erstarkung der Reformation so weit gediehen, daß die Gebiu-t
einer neuen polnischen Nationalkirche dicht bevorzustehn schien. Statt
sich dieser neuen, aus der Gesellschaft herauswachsenden Macht zu be-
dienen, die eine Gewähr für die innere Festigung des Staates in sich ti-ug,
nahm Sigismund August die decreta concilii Tridentini aus der Hand des
päpstlichen Nuntius und rief im Jahre 1565 die Jesuiten ins Land. Im
Jahre 1595 wurde unter Führung des Metropoliten von Kijew die Union
von Brest-Litowsk proklamiert, die den Einfluß des Moskauer Patriarchen
ausschalten sollte, d. h. die Bewohner des Zwischengebiets wurden durch List
und Gewalt gezwungen, die Oberhoheit des Papstes über ihre Kü'che an-
zuerkennen und die des Patriarchen von Moskau zu verwerfen. Damit
aber trat das kirchenpolitische und religiöse Motiv in den HintergTund,
und an seine Stelle ti-at der Kampf um den nationalpolitischen Einfluß auf
die Bevölkerung des Zwischengebiets, auf die sogenannten Uniaten, die von
den Russen gTiechische Uniaten genannt Avurden, von den Polen römische
oder lateinische. Polen erreichte durch die Eroberung A'on Smolensk im
Jahre 1617 den Gipfelpunkt seiner Macht, in Rußland aber Avaren mit
Mchail FeodoroAvitsch die Romanows auf den Zarenthron gelangt. Dei
Jagelloneu weitschaueude Politik fand Widerstand. Die polnisch-litauische
Welle, die die Jesuiten nach Moskau ti'agen sollte, brach sich. Yon Moskau
26 Zweites Kapitel. Historisches
her begann die Wiedereroberung der weißrussischen und der litauischen
Lande, die mit der ersten Teilung Polens und ihrer Wiedervereinigung mit
Rußland im Jahre 1772 ihr vorläufiges Ende erreichte.
2. Katnpf um die Uniaten
Neben dem blutigen Kampf der Heere ging indessen ein schwererer,
vor keiner Grausamkeit zurückschreckender der russischen Kirche um die
Wiedervereinigung der sogenannten litauischen Bistümer mit dem Moskauer
Patriarchat, oder anders ausgedrückt, es ging der Kampf um die Unter-
werfung der als Uniaten gekennzeichneten Bewohner des Zwischengebiets
imter die Macht der orthodoxen Kirche und damit der Moskauer Zaren.
Diesen Kampf hat vom achtzehnten Jahrhundert ab die von Peter dem
Ersten geschaffne Bureaukratie geführt, ohne zeitraubende Propaganda oder
Volksaufklärung, sondern mit Hilfe von Ukasen. Zunächst wurde im
Jahre 1764 die ruthenische Kirche mit der russisciien vereinigt, unicrt, und
in Südrußland wurden 1900 Gemeinden auf allerhöchsten Befehl wieder
mit der allein rechtgläubigen Kirche vereinigt. Nach dem Einverständnis
der Bevöllcerung wurde nicht gefragt. Wer sich aber gegen die Wieder-
vereinigung auflehnte, verfiel als Raskolnik — Sektierer — , als Abtrün-
niger der rechtgläubigen Staatskirche, dem Strafgesetz.
Der Kampf der rassischen Regierung um die Uniaten wird durch
folgende Marksteine bezeichnet. Katharina die Zweite hat die Ruthenen
oder Uniaten des Südwestgebiets der Staatskirche unterworfen, Nikolaus
der Erste hat die des Nordwestgebiets bezwungen. Geistiger Leiter der
Bemühungen unter Nikolaus wurde der Metropolit von Litauen und
Wilna, Joseph Sjemaschko (1832 bis 1868), während das ausführende Organ
M. N. Miu^awjow sowohl als Gouverneur von Grodno bis 1835 wie auch
als Generalgouverneur von Wilna war. Schließlich hat Alexander der
Zweite im Jahre 1878 die polnischen Uniaten an die Staatskirche ange-
schlossen.
Der Kampf imi die Uniaten, denn von einem Kampf um die Union
kann seit dem Untergange Polens nicht mehr die Rede sein, hat auch
gegenwärtig, im Jalu-e 1907, seinen Abschluß nicht gefunden. Alle Unionen,
die römischen sowolü wie die russischen, sind immer nur einseitig von
der gerade mächtigen Partei durchgeführt worden, während die Bevölkerung
mit einem Teil der niedern Geistlichkeit an der Spitze widerstrebte. Der
Kampf liegt heute weniger auf religiösem als auf national- und sozialpoli-
tischem Gebiet. Die russische Regierung sucht schon seit Katharina der
Zweiten das rehgiöse Motiv aus der Uniatenfrage herauszulösen und sie
lediglich als eine Nebenerscheinung der Polenfrage darzustellen und zu
B. Einiguugsbestrebimgen 27
beurteilen. Es soll sich in den Köpfen der russischen Gesellschaft und vor
allen Dingen bei den üniaten selbst die Ansicht entwickeln, als seien sie
eine von den Polen vergewaltigte russische Bevölkerung, die die Russen
zu befreien trachteten. Wehe aber, wenn sie sich nicht befreien lassen !
Tatsächlich ist die Uniatenfrage ein Teil der russischen Polennot, aber
nicht in dem Sinne, wie es die Bui'eaukratie darstellt. Die ehemaligen
üniaten in Weißrußland und Litauen neigen durchaus zur römisch-katho-
lischen Geistlichkeit, in Südrußland dagegen zu den baptistischen Sekten —
näheres werden wir darüber noch weiter unten hören. Maßgebend für
diese Stimmung sind vor allen Dingen wirtschaftliche und politische Ver-
hältnisse. Es sind dieselben, die ganz Rußland in die schwere gegenwärtig
über dem Lande lagernde Krisis gestürzt haben. Wir kommen darauf in
einem spätem Teile noch zurück. —
Mit den Ausfülu-ungen der voraufgegangnen Seiten wollten wir, ohne
die oft untersuchte Frage hier selbständig zu entwickeln, imsre Auffassung
betonen, daß der polnische Staat untergehn mußte:
1. weil er von vornherein in die Abhängigkeit einer Macht geriet, die
mit dem Wohle des den Staat bildenden Yolks unvereinbare Ziele ver-
folgte — der römischen Kurie;
2. weil er mit Rücksicht auf diese Macht die ihm auf natürliche Weise
zuströmende romanisch -germanische Kultur ausgerottet und ferngehalten
hat, statt sie zur Schaffung und Entwicklung einer eignen nationalen zu
nutzen. Als ihm die Geschichte das erstemal die Aufgabe übertrug, Ruß-
land westeuropäischer Kultui' zu erschließen, hatte er nicht die Kraft, sie
durchzuführen.
Wir betrachten somit die Privilegienwirtschaft, die von vielen Histo-
rikern als wesentlichste Ursache für den Untergang des Reichs bezeichnet
wird, lediglich als eine äußere Folgeerscheinung der eben zusammengefaßten
Verhältnisse, die erst nach Entwicklung der Gnmdursachen eine der letzten
Veranlassungen zur Zerstörung des Polenreichs bilden sollte. Polen ist
nach unsrer Auffassung zugrunde gegangen, weil es die ausivärtige Politih
über die innere gestellt hat, wobei wir als die vornehmste Aufgabe der
Innern Politik eines jeden Staats die Erziehung des Volks zur Gemeinsam-
keit und Gemeinnützigkeit erkennen. Die auswärtige Politik muß der
ki-aftvolle Ausdruck des Wollens seines geeinten Volks sein, wenn sie
Achtung gebietend die Nachbarn in Schranken halten will.
Die Polen haben sich die Achtung ihrer Nachbarn verscherzt. An
ihre Stelle trat um so größere Mißachtung, als die führenden Ki'eise Ruß-
lands in die russische Gesellschaft einen glühenden Haß gegen die Polen
als die hauptsächlichsten Träger der päpstlichen Politik hineingetragen
28 Zweites Kapitel. Historisches
haben. Der enipfindlicliste Ausdrack der Mißachtung gegen das polnische
Volk liegt in der Tatsache der Teilimgen.
Polen wui'de wohlverstanden nicht erobert, sondern geteilt, d. h. wie
ein heiTenloses, totes Ding mit Besclüag belegt. Der polnische Staat wurde
von seinen Nachbarn Kußland und Preußen politisch überflügelt. Er
schädigte beide durch seine wirtschaftliche Kückständigkeit und gefährdete
ihre Entwicklung, ohne aber ihrem gesunden Expansionsbedtirfnis einen
wesentlichen Widerstand entgegensetzen zu können.
C. Aufgaben
1. Allgemeine Ziele
Seit Peter dem Ersten war in Rußland an die Stelle der Geistlichkeit
die Bureaukratie als Führerin der aus\värtigeu Politik getreten. Aus West-
europa nach Rußland vei-pflanzt, sollte sie Moskowien von neuem mit West-
europa verbinden, sollte sie das Band knüpfen, das der Mongoleneinfall
und die Rückständigkeit der russisch -griechischen Geistlichkeit zerrissen
hatten. Dazu genügten aber nicht die wenigen Handelsbeziehungen über
Archangelsk mid Pctersbui-g, genügte nicht die Berufung ausländischer Ge-
lelirter, Handwerker. Militäre, nicht die Nachbildung westeuropäischer
Staatsinstitutionen, in denen der Geist der Moskowiter weiter wirkte. Auch
räumlich mußte Moskowien dem Westen näher gebracht werden. Das war
der allgemeine Inhalt der Absichten Peters so^^^e auch des Vermächtnisses,
das er seinen Nachfolgern auf dem Thron der Rurik und Romanow hinter-
ließ. Ein Teil dieses Vennäclitnis.ses sollte durchgeführt werden durch
Einverleibmig und allmähliche innere Auflösung des polnischen Staats.
Die Polen, die inuner weniger befähigt schienen, einen selbständigen
Staat zu erhalten, bildeten mit ihrem kranken Staatswesen dennoch eine
hohe Scheidewand zwischen Rußland und der westeuropäischen Kultur.
Diese Scheidewand mußte fallen. Die Weltgeschichte hatte in dem Augen-
blick ihr Urteil über Polen gesprochen, als Peter sich dieses Muß bewußt
geworden war. Der Polenstaat fiel — freilich fi-üher, als es für die durch
Peter gestellte Aufgabe dienlich war. Denn Peter wünschte Polen in
seiner vollen Ausdehnung, d. h. mit Einschluß der heutigen Provinzen
Posen und Westpreußen mit Rußland zu vereinen. "\''on Uleaborg bis Neu-
fahrwasser sollte die östliche Küste der Baltik Rußlands Macht unterliegen.
Die Erreichung dieses Ziels war in Frage gestellt, als Katharina sich in
den Kampf imi die Küste des Schwarzen Meeres einließ und in die von
Friedrich dem Großen angestrebte Teilimg Polens willigte. Durch die Teilung
wurde die polnische Nationalität gehindert, ihre innern Angelegenheiten
C. Aufgaben 29
selbständig und ihre äußern mit Hilfe frei gewählter Bundesgenossen zu
erledigen. Die Polen wiu'den des internationalen Volksrechts beraubt, mit
dem ihre Führer immer nur Mißbrauch getrieben hatten. Sie mußten sich
den Staatsgebildeu fremder Nationen anschließen, imd wenn sie deren Be-
strebungen auf dem Gebiete der internationalen Politik entgegenwirkten,
waren sie Staatsverräter.
Es läßt sich denken, daß das Ausscheiden eines so bedeutsamen Faktors,
wie es Polen trotz und wegen seiner Schwäche im politischen Rechen-
exempel Rußlands war, die Wege der russischen auswärtigen Politik ver-
ändern mußte. Die Leiter der russischen Politik durften niclit mehr mit
der organisierten Gesamtheit der Polen rechnen, solange sie ihnen nicht
die Wiederherstellung ihres Staats in den Grenzen von 1772 zusicherten.
Eine solche Zusicherung wäre aber gleichbedeutend mit Krieg gegen Preußen
gewesen. Rußland war somit nur auf einen, wenn aucli großen Teil der
Polen angewiesen, wenn es die Ziele Peters des Großen mit dessen Mittehi
weiter verfolgen wollte. Katharina hat sich durch die zweite Teilung offen
von diesem Wege abgesagt. Dann aber ti'aten Verhältnisse in der euro-
päischen Politik ein, die Rußland an Preußens Seite zwangen. Der Korse
trug die französischen Adler nach Moskau, nachdem er im Jahre 1807
einen polnischen Staat wiederhergestellt hatte.
2. Alexanders des Ersten Ziele
Das Herzogtum Warschau wurde Rußland als Teilergebnis des Wiener
Kongresses (1814/15) zugesprochen. Unter der Benennung „Zartum Polen"
^vurde es mit Rußland diu'ch Realimion verbunden imd erhielt am 27. No-
vember 1815 durch Kaiser Alexander den Ersten eine Konstitution, i)
Die polnische Konstitution sicherte den mit Rußland verbundnen
Polen völlige Selbständigkeit bezüglich Glaubensübung sowie innerer Ver-
waltung; die polnische Sprache sollte die einzig herrschende vor Gericht,
in der Verwaltung und in der Armee sein; Russen konnten nur dann in
den polnischen Staatsdienst treten, weim sie im Königreich Grundbesitz
erworben, dort fünf Jahre gelebt mid die pohlische Sprache vollkommen
erlernt hatten. Die gesetzgebende Gewalt im Lande teilte der Kaiser mit
einem Senat und der Deputiertenkammer. Es war eine Oligarchie aus
dem Adel und der hohen römisch-katholischen Geistlichkeit.'^)
^) Die nachfolgenden Ausführangon sind angeleimt an meine Studie in Bd. I der
von Fr. Wilh. Grunow, Leipzig, herausgegebnen ■Wochenschrift „Grenzboten" von 1907,
S. 125 ff. „Eussischer Brief Nr. 4".
2) Ausführlicher dargestellt bei Th. Schiemanu, „Geschichte Rußlands" unter Nikolaus 1.,
Berlin, Georg Beimer, 1904, Bd. I, S. 121/23.
30 Zweites Kapitel. Historisches
Die den Polen gewährten Freiheiten konnten dem russischen Reiche
nicht zum Segen gereichen und von den Polen nicht zum Wohle ihres
Landes ausgenutzt werden, weil sie weder organisch den Verhältnissen an-
gepaßt, noch zum Abschnitt einer gemeinnützigen Politik gemacht worden
waren, sich vielmehr als Willkürakt großmütiger Laune eines Autokraten
darstellten. Sie fanden nicht nur keine Untei-stützung in der Ideenwelt
der russischen Gesellschaft, sondern wurden von den heri^chenden Kreisen
angefeindet. Die Russen erblickten in den Polen noch Erbfeinde. Das
Herzogtum Warschau galt in den politiscii maßgebenden Kreisen der
russischen Gesellschaft als erobertes Land. Die Polen dagegen sahen in
des Zaren Wohltaten nicht den Ausgangspimkt für eine enge Verbin-
dung mit den Russen, sondern nur die Vorbereitung für die Zurück-
gewinnung der früher an Rußland, Preußen und Österreich gefallnen Pro-
vinzen sowie die Wiederaufrichtung des alten Polens. Die Polen fühlten
sich als Europäer und sahen in den Russen asiatische Barbaren, deren sie
sich in der Not zur Erreichung ilu'er eignen Zwecke bedienten. Wie groß
die Mißachtung der Polen den Russen gegenüber war, geht aus ihrem Be-
nehmen gegen das Gefolge Alexanders hervor.^) Alexander seinerseits
unterstützte die polnischen Patrioten in ihren Illusionen, wo er auch immer
konnte, ohne dabei die Gefülile seiner russischen Untertanen zu schonen.
Dabei bildete doch seine Persönlichkeit die einzige Verbindung zwischen
beiden Teilen. Eine Gemeinsamkeit der Interessen zwischen Rußland und
Polen auf irgendeinem Gebiete fehlte. Große wirtschaftliche Interessen
hatten sich noch nicht herausgebildet. Die Idee eines allslawischen Staaten-
verbandes dehnte sich vor 1815 noch nicht auf die katholischen West-
slawen aus.^) Die Abwesenheit solcher gemeinsamen Interessen ließ auch
dem russischen Zaren freie Hand bezüglich seines Anschlusses an die
Mächte des Westens. Sie macht Alexanders Vorgehn auf dem Wiener
Kongreß auch für die Russen verständlich. In Rußland gab es nur eine
Idee: die der Selbstherrlichkeit des Zaren — ein nationales Bewußtsein
'■) Eine Deputation polnischer Edelleute aiis Litauen unter Fühning des Grafen
Oginski sollte die Angliederung der Gouvernements Wilna, Grodno und Minsk an das Zar-
tum vom Zaren fordern (Grenzboten a. a. 0. S. 127). Irgendein Versuch, sich unter den
Russen Bundesgenossen zu schaffen, wurde nicht gemacht. Ein Russe erzählt aus jenen
Tagen: „. . . die Polen blickten auf uns allgemein finster. Sie waren unzufrieden ge-
blieben und hielten in Unterhaltungen selbst nicht mit der Forderung zuriick, daß ihnen
Mohilew, "Witebsk, Wolyuien, Podolien und Litauen zurückgegeben werden müsse . . .''•
(s. Schilder, Alexander L, Bd. III, S. 352 ff.).
^) Ging doch der spätere Dekabrist Jakuschkin so weit, seinen Freimden zu erklären,
er wnirde den Zaren morden, als sich in Moskau die Nachricht verbreitete, Alexander der
Ei-ste habe den Polen die Rückgabe der früher polnischen Provinzen versprochen. (Siehe
SchUder, Nikolaus I., Bd. I, S. 536, Anm. 459.)
C. Aufgaben 31
war nicht entwickelt, wenn es auch nach 1812 gemeinsam mit sozialen
Utopien bei der militärischen Jugend aufflackerte. Peters und Katharinas
Beamtentum hatte der Bureaulcratie jede Regung des Volks unterjocht; sie
befand sich in der Rolle einer Hüterin der Selbstherrschaft recht wohl.
Alexander der Erste konnte der Heiligen Allianz beitreten, weU den ver-
bündeten Monarchen mit der von Frankreich her einziehenden Demokratie
ein gemeinsamer Feind drohte, aber auch weil das Heranwachsen einer
neuen ideellen Kraft, die sich auf die Demokratie stützte, im Schöße dieses
Bündnisses noch nirgends erkennbar war. Ein germanisch -slawischer
Gegensatz, wie Rassengegensätze überhaupt, waren weder der Gesellschaft
noch den Regierenden zum Bewußtsein gekommen: diese ideelle Kraft sollte
erst in Südrußland geboren^) und von den Polen großgezogen Averden.-)
Nicht wirtschaftliche Wünsche, auch keine russisch-nationalen kommen
zu Worte, sondern lediglich solche, die mit dynastischen internationalen
zusammenhängen. So sagte er seiner Umgebung in Paris wegen Kostjuszko,
der nur „in ein freies Polen zurückkehren" Avollte:
„Messieurs, il faut arranger les affaires de sorte que ce galant homme
puisse revenir dans sa patrie."
Der Zar hatte große Sympathien für die ritterlichen Polen. Nach
seinen Moskowitern fragte er nicht. Dieses Außerach tiassen realer Bedürf-
nisse mußte ganz natürlich dazu führen, daß die unerdrückbaren realen
^) Vgl. Kapitel „Russisch-polnische Beziehungen" unten, und Grenzboten a.a.O., S. 128.
^) Wie unbefangen der Zai- damals tatsächlich den später entwickelten russisch-
nationalen und allslawischen Bestrebungen gegenüberstand, geht aus seiner im August 1814
gegebnen „Instraktion an Graf Nesselrode" für den Wiener Kongreß hervor; darin heißt
es: „11 prouvera que dans les pretentions que je soutiens il n'entre aucim principe dange-
reux pour le repos futui- de l'Europe, aucuue vue d'ambition qui doive alterer les relations
qui subsistent entre moi et mes allies. La conservation du duche de Varsovie est tout ce
que je leur deoiande et ä ce prix je suis pret ä soutenir l'Autriche et la Prusse dans
toutes les propositions qu'elles feront pour etre iudemnisees des parties de ce duche qui
jadis leur out appartenues. Je vais meme plus loiu. M'etant engage par le traite de KaUsch
de procurer ä la PiTisse un territoire qui lie l'ancienne Prasse ä la Silesie, je consens,
si eile devait y insister, k ce qu'elle recouvre le departement de Posen et le district
de Culm. Dans cette supposition la frontiere serait etablie d'apres les ligues que vous
trouverez tracees avec detail dans le memoire ci-joint. Les frontieres vis-ä-vis de
l'Autriche s'y trouvent egalement indiquees. Je ne saurai en aucuu cas lui restituer
du duche de Varsovie que les sahnes de Wiliczka avec le rayon de Podgorce, de fagon
que de ce cote la Vistule formera la frontiere. A l'exception des districts designes,
tout le duche de Varsovie resterait ä ma disposition pour etre reunis ä la Russio. Si Ton
cherchait ä provoquer quelques explications sur la forme de gouveniement que je suLs
intentionne de donner 'ä ce pays, vous vous refusierez ä y repondre; vous declareriez qu'il
serait contre ma dignite d'eutrer dans de semblables explications, que ne demandant pas
compte des arrangements que les autres puissances se proposent de faire sous ce rapport, je
crois avoir tous les droits de prctendre que personne n'intervienne dans ceux que je croirai les
plus avantageux pour le bonheur des peuples que la Providence a reunis a mon empire. . . ."
32 Zweites Kapitel. Historisches
Faktoren sich selbständig Geltung verschafften, nun aber angeleitet und
darum in einer für alle Teile schädlichen "Weise. Das für die Polen an-
erkannte nationale Bewußtsem erweckte gleiches bei den Russen; da es
aber in der Gesetzgebung nicht ,,vorgesehen" war, kam es in der Foiin
von „Gesetzesverletzung" zum Ausdruck. Oben heiTSchte Willkür, unten
bereitete Unbotmäßigkeit die hundertjährige russische Revolution vor.
Alexander wurde den Russen gegenüber reaktionär, indem er sie einem
Araktschejew überließ. Der hätte ganz Rußland am liebsten in eine
Militärkolonie umgewandelt. Bei den Polen fühlte sich Alexander wohl
und zeichnete sie aus. Daß der polnische Adel in Litauen fortwährend
über die russischen Beamten klagte, schien ihm selbstverständlich. Aber
<laß sich die Polen auf die Erwerbung Litauens selbst mit Gewalt vor-
bereiteten, schien er nicht bemerken zu wollen.^) Er brachte ihnen so
großes Vertrauen entgegen, daß er sie. diese Kinder romanisch-germanischer
Kultur, in einem Gespräch mit Danilewski seine Avantgarde gegen Eiu'opa
nannte. Die Stellen der hohen Beamten in Litauen, Kleinrußland und "Weiß-
rußland, ^vde Gouverneure und Adelsmarschälle, wurden mit polnischen
Edelleuten besetzt. Die litauischen Regimenter erhielten den Polen gefällige
Abzeichen, und nur mit Mühe verhinderte des Zaren Bruder Konstantin
die Abschaffung der russischen Uniform zugunsten einer polnischen.'^
Eigentümlich ist auch Alexanders Verhalten den Geheimgesellschaften
gegenüber. Schon im Jahre 1821 hatten die Generaladjutanten Fürst
Wassiljtschikow imd A. Ch. Benkendorff ausführliche Berichte über den
Umfang und die Ziele der geheimen Gesellschaften eretattet. Der Zar ant-
wortete: „Mon eher "Wassiltschikoff ! Vous qui etes ä mon Service depuis
le commencement de mon regne, vous savez que j'ai partage et encourage
ces illusions et ces en-eurs." Auch als später — Anfang 1824 — Einzelheiten
über den Zusammenhang zwischen dem Dekabristen Pestel^) und dem Präsi-
denten der geheimen Gesellschaften in Polen Jablonowski bekannt wurden,
tat Alexander keine Schritte, imi den sich vorbereitenden Aufstand zu ver-
hindern. Bei der Charakterschwäche Alexanders fragt man sich unwillkür-
lich, ob er nicht gar darauf hoffte, von den Polen mitgerissen zu werden,
ob es ihm nicht nur an Offenheit gebrach, geheime "Wünsche kraft seiner
Stellung als Selbstherrscher zm- Durchführung zu bringen. Eine Gegen-
überstellung seiner Pläne von 1811 mit seinem Tun un Jahre 1824 scheint
Alexanders "Wünsche klar zutage treten zu lassen. Aus den verschiedent-
lichen Versprechungen an die Polen, aus der Instruktion für Nesselrode,
aus dem Verhalten gegen die geheimen Gesellschaften und aus seiner z weif el-
1) Grenzboten, a. a. 0. S. 129. — -) Ebenda, S. 130. — =*) Ebenda, S. 130/31.
C. Aufgaben 33
losen Abneigung gegen die Russen scheint hervorzugehen, daß Alexander
die Polen zum Eckstein seiner Macht ausersehen hatte. "Weiter hat es den
Anschein — ohne daß es aus den bisher zugänglichen Dokumenten zu
beweisen wäre — , als wenn Alexander der Erste Rußland mit Hilfe
der Polen kultivieren und die Sicherheit der Dynastie sowohl auf den
polnischen Adel wie auf die römisch-katholische Kirche aufbauen wollte.
Eine solche Auffassung wird unterstützt durch die sachlichen Angaben,
die Schiemann^) bezüglich Alexanders Neigung zum Katholizismus macht, ^)
Alexanders Tod und der sinnlose Dekabristenaufstand (1825) setzten den
Träumen und Plänen, Wünschen und Hoffnungen, aber auch allem Wankel-
mut ein jähes Ende.
3. Das Ende
In jeder Beziehung durchaus das Gegenteil von seinem Bruder, bestieg
Nikolaus der Erste den Zarenthron. Ehrlich, aber wenig intelligent, einfach
in seinen Ansprüchen, war sein liebster Aufenthalt der Exerzierplatz. Und
wie er tausend Soldaten durch ein Wort, einen Wink sich bewegen, durch
ein weiteres unmittelbar stehen machen konnte, so glaubte er als Selbst-
herrscher seine Lande regieren zu können. Abweichungen von seinen
Befehlen, Kompromisse mit natürlichen Widerständen kannte er nicht.
Darum war er auch leicht zu beeinflussen, wenn es galt, irgendeine Maß-
regel zum Wohle des Landes zu ergreifen, dem allein er recht zu dienen
glaubte. Aber aus demselben Grunde war er auch ungeeignet für irgend-
eine sorgfältige diplomatische und refonnatorische Arbeit, die Zeit bean-
sprucht. Bezüglich der Polenfrage war er in dem Geiste der Feindseligkeit
aufgewachsen, der von der Geistlichkeit ausging. Die Polen haben ihn
darin bestärkt durch die Aufstände von 1830/3L Nikolaus des Ersten
Polenpolitik stand unter dem Wort, das er einmal an seinen Bruder Kon-
stantin, den Statthalter von Polen, schrieb: „Qui des deux doit perir, car
il parait que pörir il faut, est-ce la Russie ou la Pologne." Nach dem
Aufstande wurde die polnische Konstitution von 1815 aufgehoben; erst
nachdem die Polen sich als erbitterte und unversöhnliche Feinde des
Russentums offenbart hatten, als sie durch den Aufstand ihre wahren
^) Schieraann, a. a. 0. S. 489 bis 491.
-) Alexandei-s Stellung zum Katholizismus findet auch eine scharfe Beleuchtung
durch die Umwandlung des Polotzker Jesuitenkollegiums in eine Akademie (1. Mäi'z 1812)
„für die großen Verdienste um die Erziehung der Jugend" (vgl. Grenzboten, a. a. 0. S. 131).
Weiter wird meine Hypothese gestützt durch die hohe Meinung, die sowohl Alexander
wie sein Bruder Konstantin von der Zuverlässigkeit der Polen hatte, was seinen Ausdruck
findet in der Besetzung der höchsten Verwaltungsstellen in den russischen "Westprovinzen
durch Polen.
Cleinow, Die Zukunft Polens 3
34 Zweites Kapitel. Historisches
Absichten, nämlich über Rußland herrschen zu wollen, zeigten, da entzog
ihnen Nikolaus die Mittel, mit denen sie Rußland bekämpften. Polen erhielt
im Jahre 1832 das sogenannte „Organische Statut" vom 26. Februar und
wurde durch ehien Statthalter, Paskewitsch, regiert.
Die Russiüzierung unter Nikolaus richtete sich besonders gegen die
in Weißrußland, Kleinrußland und Litauen lebenden Polen sowie, wie wir
schon sahen, gegen die Uniaten. Unter Nikolaus ist der russische Klerus
wieder zu großem Einfluß gelangt. Das Sektenwesen A\'urde strenger ver-
folgt, und der von westlichen Ideen angesteckte höchste Adel unterlag wegen
mancher zutage tretender Neigung zur lateinischen Kirche scharfer Beauf-
sichtigung. Die Feindseligkeit gegen die römische Kii'che aber stieg in
den amtlichen Kreisen um so mehr, als der polnisch -katholische Klerus
lebhaften Anteü an den Aufständen genommen hatte.
Die Politik gegen die Polen des Zartums kann man von 1831 bis 1850
als eine solche vollkommenster Yemaclilässigung kennzeichnen. Diese ti'at
besonders in der Erhöhung der Zölle auf in Polen hergestellte Waren
zutage, die einen Rückgang der Wollwarenproduktion um 60 Prozent zur
Folge hatte. ^)
Nikolaus PoUtik brach auf den Schlachtfeldern der ICrini zusammen.
Sein Sohn Alexander aber nahm die Arbeit seines Oheims Alexanders des
Ersten auf, geführt anfänglich von den Westlern, später aber von den
Slawjanophüen.
Doch den Polen hat sein Liberahsmus keinen Segen gebracht. Die
polnische Adelspartei unter Graf Samoiski weigerte sich, auf wij-tschaft-
lichem Gebiet die notwendigsten Konzessionen zu bewilligen. Sie schürte
den Aufstand gegen die Partei des Marquis Wielepolski, an dem sich wieder
viele römisch-katholische Geistliche beteiligten. Die russische reaktionäre
Partei, deren Ziel es war, die Reste des polnischen Staatswesens von der
Erdoberfläche zu verwischen, hat von Wilna aus das Feuer geschürt.
Das Ergebnis des Aufstandes von 1861/63 war die Vernichtung. Das
polnische Volk war so tief gestürzt, wie ein Volk nur fallen konnte. Ein
verwüstetes Land, eine verarmte Bevölkerung und ein hoffärtiger, moralisch
heruntergekommner Adel, das war der Inhalt des Zartura Polen im Jalirel863.
Von 1846 bis 1861 hatte die Bevölkerung keinen Zuwachs aufzuweisen,
obwohl in jener Zeit jährlich Tausende von deutschen und böhmischen
Handwerkern, Webern, Spinnern und Bauern in das Weichselgebiet ein-
wanderten. 37 Prozent der Landbevölkerung waren landlose Proletarier.
Irgendeine gesellschaftliche Organisation war, abgesehen von den Städten
>) Vgl. Kapitel 8. B. 1. — Tarif vom 12. November 1824.
C. Aufgaben 35
und Kolonistendörfem, außer auf dem Papier nicht vorhanden. An allen
Orten heri'schte die Willküi" der Schlachta und der Hängegendarmen. ^)
Nirgends aber war eine Ginippe in der polnischen Gesellschaft zu erkennen,
die Autorität genug gehabt hätte, den ti'ostlosen Zuständen eine Ende zu
setzen sowie das Volk zu organisieren und kulturell zu heben. Die polnische
Gesellschaft war materiell und moralisch zusammengebrochen. Ohne Hilfe
von außen erscliien sie unfähig, sich wieder aufzuraffen.
Aber eins hat die fast tausendjährige Geschichte dem schwergeprüften
Volke doch gelassen: die Nationalsprache. Sie verband die Zusammen-
hangslosen. Sie gestattete ihnen, gemeinsam zu Magen, zu hoffen, der
Erinnerung zu leben und den Haß gegen die Sieger zu pflegen. Konrad
von Wallenrod und Pan Tadeus von MicMewicz konnten sie lesen v/nd
aus der Vergangenheit Mut schöpfen für die Aufgaben der Zukunft.
*) Bis zum 1. Dezember 1863 wurdeu durch dieses Exekutivorgan der Aufständischen
nicht weniger als 821 Menschen hingerichtet.
C^^^
8*
ZWEITER TEIL
Das Zartum Polen bis zum Herbst 1904
<i&if&>
Drittes Kapitel
Die Reformen von 1864
Die nissische Regierung hat die Hilfe geleistet, deren das pohlische
Yolk zu einer Gesundung bedurfte, durch Inkorporation des seit 1815 in
Realunion mit Rußland verbundnen Zartums Polen auf dem Verwaltungs-
wege. Mit Feuer und Schwert hat sie die Aufstände von 1861/63
unterdrückt, viele aufsässige Elemente des Landes verwiesen, die revolutio-
nären Geistlichen ins Innere Rußlands verbannt. Dann hat sie mit der
Organisation der Gesellschaft begonnen, anfänglich klug wirtschaftliche und
politische Ziele verbindend.
Es galt ihr, zwei Dinge zu erreichen: das alte Zartum zu einem pro-
duktiven Teil des russischen Staates, ^) oder anders bezeichnet, des russischen
Wirtschaftsgebiets zu machen und gleichzeitig die bis 1863 durch den
polnischen Staat am meisten vernachlässigten Teile der Bevölkerung mit
Hilfe wirtschaftlicher Reformen an den Wagen des Wohltäters, des russischen
Staates nämlich, zu spannen. Konkret ausgedi-ückt heißt das: die landlose
und landarme Bevölkerung mit Land zu versehen, sie im Gegensatz zum
polnischen Großgrundbesitz zu erhalten und sie dem Einflüsse der römisch-
Jcatholischen Geistlichkeit möglichst zu entziehen. An eine Aufhebung der
durch Marquis Wielepolski im Jahre 1862 geschaffnen Selbstverwaltung
wurde anscheinend anfänglich nicht gedacht.^) Daß Alexander der Zweite
so und nicht anders seine Aufgabe in Polen auffaßte, beweist die Wahl
der Persönlichkeit, der er die Vorbereitung der Reformen übertrug. Es
war N. A. Miljutin, der Fi'eund der Slawjanophilen, der sich durch seine
^) „Das endliche Ziel aller Reformen wai' clie Festigung des nissischen Staats-
prinzips . . .", siehe Nikolaj Reinke, Gehilfe des Oberprokiireurs des Zivildepartements im
Dirigierenden Senat, in seiner DarsteUimg der Gesetzgebung für das Zartum Polen (1807
bis 1881), Senatsdruckerei, St. Petersburg, 1902, S. 112.
2) Alexander der Zweite sagte Ende August 1863 zum Senator Arzimowitsch, er sei
bereit, den Polen die (1862) geschenkten Reformen zu belassen, sofem sie sich nur schnell
beruhigten (Spassowitsch , Gesammelte Schriften, Bd. X, S. 359). Vgl. auch das Kapitel
von der Stimmung der russischen Gesellschaft, die Meinung Katkows.
40 Drittes Kapitel. Die Reformen von 1864
demokratische Gesinnung gelegentlich der Bauemreform yon 1861 in Ruß-
land bemerkbar gemacht und das Mißtrauen des russischen Adels auf sich
gelenkt hatte. Miljutin, der in Ungnade im Auslande lebte, überaahm die
Aufgabe, obwohl er sich dessen bewußt war, einen ihrer wichtigsten Teile
nicht lösen zu können.^) Die Berater Alexanders des Zweiten meinten
nämlich, die Regierung würde sich dui'ch die Landzuteilung an die Bauern
diese für immer gewogen erhalten.-) Miljutin bestlitt das, wenn er auch
zugab, daß sie für den Augenblick wenigstens beruhigt werden würden. ')
Miljutin arbeitete im Winter 1863 gemeinsam mit Jurij Ssamarin und Fürst
W. A. Tscherkaßki den Reforraplan aus und behielt auch die Leitung des
Reform Werkes als Präsident der eignen Kanzlei Seiner Majestät des Kaisers
für Angelegenheiten des Zartums Polen in der Hand.
Im allgemeinen Staatsinteresse ebenso wie im Interesse der polnischen
Gesellschaft lag es nun, die notwendigen Reformen so schnell als möglich
durchzuführen. Infolgedessen wurde eine ganze Anza hl von Organen mit
außerordentlichen Vollmachten geschaffen, die sich ausschließlich mit dem
Reformwerk in Polen zu befassen hatten und nach dessen Durchführung
wieder verschwinden sollten. "Wie gesagt: von einer Beseitigung des pol-
nischen Senats war noch nicht die Rede. Diese Organe waren:
1. das Reorganisationskomitee im Zartum Polen; es bestand vom
19. Februar 1864 bis zum I.April 1871.*)
*) S. S. Tatischtschew, „Alexander der Zweite", A. A. Ssuworin, St. Petersburg, 1903,
Bd. I, S. 504.
^) Eeinke, a. a. 0. S. 112. „. . . In der Reihe der Mittel stand an erster Stelle die
Umwandlung der Gesellschaftsordnung mit Hilfe der Hineinfügung neuer Elemente, d. h.
wirtschaftlich sichergestellter und von den dem russischen Staatsprinzip feindlich gesinnten
Kreisen unabhängigen Bauern . . ."
^ A. Leroy-Beaulieu, „ün homme d'etat rasse", Re\'ue des deux mondes vom 1. De-
zember 1880, S. 535.
*) Das Reorganisationskomitee hatte die Aufgabe, die Arbeiten des unter dem Voi-sitz
des Statthalters tagenden Rats, der nominell weiterbestand, zu übernehmen. Das Re-
organisationskomitee stand unter dem Vorsitze des Statthalters für Polen, sein Bestand
wurde durch kaiserliche Ernennung ergiinzt. Doch durfte der Vorsitzende bei entsprechenden
Fragen den Generalpolizeimeister von Polen, die Hauptdirektoren der Regierungskommissionen
und die Mitglieder der Liquidationskommission zu den Beratungen hinzuziehen (Art 3).
Dem Reorganisationskomitee lag es ob, alle Angelegenheiten der Bauern, wie der bäuer-
lichen Bevölkemng überhaupt, zu regeln (Art. 5). Das Komitee hatte in den seiner
Kompetenz unterliegenden Angelegenheiten das Recht, Ergänzungsbestimmungen zu er-
lassen und im Bereiche des Zaiiums administrative Maßregeln zu ergreifen. Der Beauf-
sichtigung durch das Reorganisationskomitee unterstand auch die LiquidationskommLssion.
Femer wurde durch allerhöchsten Befehl vom 25. Oktober 1864 noch eine juridische
Kommission unter das Komitee gestellt, die die Gerichtsreform im Sinne der großen Re-
formidee durchzufühi-en hatte. Im Laufe der Zeit wurden die Kompetenzen des Re-
organisationskomitees noch erweitert. Als durch ükas vom 10. März 1867 der ReicLsrat
A. Die Agrarreform 41
2. das Komitee für Angelegenheiten des Zartiims Polen; es bestand
vom 25. Februar 1864 bis zum 29. Mai 1881. i)
3. die eigne Kanzlei Seiner Majestät des Kaisers für Angelegenheiten
des Zartums Polen; sie bestand vom 19. Mai 1866 bis zum 26. August 1876.*)
Der grundlegende gesetzgeberische Niederschlag der Reform Miljutins
waren die vier Ukase vom 19. Februar 1864, deren erster die Landzuteilung
und Einführung einer selbständigen bäuerlichen Gemeinde — sseljskoje
obschtschestwo (polnisch gromada) — befiehlt, deren zweiter die Einrichtung
der großen Landgemeinde — gmin — ausspricht; der dritte richtet die
Liquidationskommission^) ein, während der vierte Einzelheiten über die
Dui'chführung der Bauemreform enthält.
A. Die Agrarreform
1. Landzuteilung
Der grundsätzliche Unterschied der Agrarrefonn von 1864 gegenüber
allen frühem Versuchen, die Lage der bäuerlichen Bevölkerung im Zartum
zu bessern, besteht in dem völligen Bruch mit der alten Tradition, auf der
die Beziehungen zwischen Bauern imd Besitzern benihten. Ferner nahm,
für das Zartum Polen aufgehoben wurde, übernahm das Komitee die Kontrolle über die
Rechnungslegung der Zentralbehörden des Zartums sowie deren allmähliche Auflösung.
Nach der Auflösmig der Finanzkommission und der Rentei durch Ukas vom 28. März 1867
übernahm es auch das Finanzwesen. Der Ukas vom 5. Juni 1867 brachte neue Vollmachten,
und am 29. Februar 1868 wurde der Warechauer Magistrat, das Steuer-, Versicherungs-
und Sparkassenwesen imter die Aufsicht des Reorganisationskoraitees gestellt. Mit solchen
Vollmachten ausgerüstet, von einer einzigen Stelle aus geleitet, konnte die Reorganisation
in verhältnismäßig kurzer Zeit ihre Aufgabe durchführen.
') Das Komitee für Angelegenheiten des Zartums Polen wurde eingerichtet, um zu
gewährleisten, daß sich alle Maßregeln der Gesetzgebung und Verwaltung auch folgerichtig
aus den aligemeinen Richtlinien ergeben. Es bestand aus einem Vorsitzenden und fünf
Mitgliedern, die alle durch den Zaren ernannt wurden. Im allgemeinen führte der Zar
den Vorsitz persönlich.
*) Die eigne Kanzlei Seiner Majestät des Kaisers für Angelegenheiten des Zartums
Polen wurde eingerichtet im Anschluß an die Auflösung des besondem Staatssekretariats
für Polen, eine Einrichtung, wie sie für Finnland noch heute besteht. In diese Kanzlei
gelangten alle das Zartum Polen betreffenden gesetzgeberischen Arbeiten, die später an
das Komitee für Angelegenheiten des Zartums Polen zu gelangen hatten. Ferner hatte
die Kanzlei alle Daten über das Zartum Polen zur Kenntnis der Regierimgsorgane zu
bringen; sie hatte auch für die Durchführang der beschlossenen Maßregeln Sorge zu tragen.
Miljutin übernahm alle Funktionen, die früher dem Staatssekretär für Polen oblagen.
*) Zu den Pflichten der Liquidationskommission gehörte die Abfassung und Ausgabe
von Verfügungen betreffend Zinszahlung und Tilgung der Liquidationsbriefe, die seitens
des Fiskus des Zaitums Gutsbesitzern als Entschädigung für die aufgehobnen bäuerlichen
Verpflichtungen ausgegeben worden waren. (Reinke, a. a. 0. S. 115.) S. S. 42.
42 Drittes Kapitel. Die Reformen von 1864
was früher nicht geschah, der Staat die Finanzierung der Reform in seine
Hand und half den Bauern mit Geld.*)
Durch den ersten Ukas vom 19. Februar 1864 fiel alles Land, das
am Tage der Veröffentlichung des Ukases Privatpersonen, Majoraten, ver-
schiednen Instituten und dem Fiskus gehörte, aber von Bauern in Pacht
bearbeitet wurde, diesen als vererblicher Besitz zu. Das aber war ein
Drittel des Zartums oder 3609721 Deßjatinen. Sie wurden eingeteilt in
514113 Bauerngüter von je nach den örtlichen Verhältnissen verschieden
großem Umfang.-) Die Bauern wurden von allen Leistungen zugvmston
der Großgrundbesitzer, mögen sie in GeldzaMungen, Naturalien oder Arbeit
bestehen, entbunden. Für das er^vorbne Landstück waren die Bauern
gehalten, Grundsteuer an den Fiskus zu entrichten.
Die Großgrundbesitzer erhielten für die Ablösung der bäuerlichen
Leistungen eine Entschädigung vom Fiskus, die auf Grund der Vorschriften
für die Liquidationskommission errechnet wurde. Die Entschädigung er-
folgte in Form von vierprozentigen sogenannten Liquidationsbriefen, die an
der Börse gehandelt werden konnten. Die Regierung wälilte diese Form,
um die Grundbesitzer in politischer Hinsicht in die Hand zu bekommen.'^
Denn, so meinte sie, die Großgrundbesitzer würden sich, um den Kurs der
Liquidationsbriefe nicht zu schädigen, ruhig verhalten. Tatsächlich zeigte
der Kurs der Liquidationsbriefe folgende Tendenz: im Jahre 1867: 65 Rubel,
1870: 73, 1875 nach Zulassung an der Berliner Börse 79 V^'), 1880: 86,
1890: 94, 1894: 95^4, 1898: 99V4^), 1899: 96V/), 1900: 97,3, 1902:
98 Rubel. '^) Im ganzen wurden für 64014250 Rubel Liiiuidationsbriefe
ausgegeben, von denen sich 1873 noch 57618717 Rubel im Umlauf
befanden. Die ganze Operation wurde auf 37 Jahre verteilt Die Mittel
für die Entschädigung wurden zum Teil aus der bäuerlichen Bodeusteuer
*) Reinke, a. a. 0. S. 117 ff.: „Der eigentliche Unterschied zAvisehen der Baueinrefonn
•vom 19. Februar 1864 und allen andern Versuchen, die Lage der bäuerlichen Bevölkerung
zu organisieren, besteht darin, daß die Beform von 1864 offen die Verbindung mit der
alten Überliefeiamg zerrissen hat, die das Verhältnis der Bauern und Gutsbesitzer zueinander
regelte; aber auch darin, daß die Staatsrentei den Bauern zu Hilfe kam und selbst die
finanzielle Regelung der Frage übernahm. . . . Nach dem Gesetz vom 24. Mai 1862 (Los-
kauf) -wäre es den Bauern ei-st nach langer Zeit mögüch gewesen, sich von den feudalen
Verbindungen zu lösen ..." S. 118: „alle diese Feudalwirtschaft wurde durch die Gesetze
vom 19. Februar 1864 aufgelöst ..."
') Nach dem militäretatistischen Sammelwerk „Rossija", St. Petei-sbiu-g 1871, S. 216,
wurden 3609700 Deßjatinen oder ein Drittel des Zartums den Bauern überlassen; sie
errichteten darauf 424735 Höfe.
^ Reinke, a. a. 0. S. 127. — *) Posnanski, Historische Skizze, Petersburg 1875, S. 29.
°) Zitiert bei Reinke, a. a. 0. S. 127 Anm.
^) „Jahrbuch des Finanzministeriums" von 1892, S. 413.
') Ebenda von 1904, S. 425.
A. Die Agrarrefoiin 43
beschafft (Artikel 1 bis 4), und der Fiskus verpflichtete sich, 42 Jahre
hindurch je eine Summe vorzuschießen, die 5 Prozent des Liquidations-
kapitals gleichkam.
Der erste Ukas vom 19. Februar 1864 macht alle Hcäusler — Besitzer
von Hütten — zu Landbesitzern. Auf die unterschiedliche wirtschaftliche
Stellung der Häusler zum Gutsherrn als Kolonisten, Knieten, Pflüger, Gärtner,
Kämmerer, Viehwärter usw., also als Pachtkontrahenten oder Arbeitsnehmer
nahm das Gesetz keine Kücksicht. Die gesamte Wirtschaftsorganisation auf
den Gütern war somit in einem gewissen Augenblick aufgelöst.
Nach und nach wurde die Wirksamkeit des ersten Ukases durch Ver-
fügungen des Keorganisationskomitees auch auf weitere Kreise ausgedehnt.
So wurde den bäuerlichen Inhabern zeitlich unbeschränkter Pachtungen
von Staatsländereien das gleiche Recht eingeräumt wie den Häuslern;
ihnen folgten bäuerliche Einwohner städtischer Siedlungen, Bergarbeiter;
Ausländer, die sich bereit erklärten, rassische Untertanen zu werden,
erhielten gleichfalls Land. Auch die völlig landlosen Landarbeiter wurden
nicht vergessen ; ihre Zahl betrug etwa 1 340 000 Personen beiderlei
Geschlechts. Nur 200000 Seelen blieben ohne Land.
Von den Bestimmungen des ersten Ukases vom 19. Februar 1864
wurden nicht betroffen: a) gutsherrliche Schenkwirtschaften, Mühlen, Ziege-
leien und Schmieden; b) Schäfereien, Gärtnereien sowie die Behausungen
sonstigen Hofpersonals und der Waldwärter, soweit sich diese auf den
Gutshöfen und Vorwerken selbst oder im Gutswald befanden, nicht aber
im Dorf; c) Gutsland, das auf Grund geschri ebner Kontrakte gemeinsam
mit den Baulichkeiten von Vorwerken verpachtet war; d) Anwesen, die
von den Bauern schon vor dem Jahre 1864 zu eigen erworben waren.
2. Die Servitute
Während sich die Regierung bemühte, den Bauern materiell möglichst
unabhängig vom Gutsbesitzer zu stellen,^) hat sie es nicht für nötig be-
funden, auch den Gutsbesitzer in Unabhängigkeit vom Bauern zu bringen.')
Denn sie hat das den Bauern im Jahre 1846 verliehene Servitutenrecht
beibehalten. Die Bauern behielten das Recht auf Wald- und Weidenutzung
*) § 2 des ersten Ukas vom 19. Febniar 1864 befreit den Bauern vom 3./ 15. April
ab „für immer von allen Verpflichtungen ohne Ausnahme, die ihm zugimsten der Guts-
besitzer auferlegt waren . . . Alle eingeklagten Forderungen wegen Rückständen in den
aufgehobnen Verpflichtungen sind niederzuschlagen und können nicht von neuem eingeklagt
werden ..."
*) § 1 des Servitutengesetzes vom 13./25. März 1870 beginnt mit den Worten:
„Um die Bauern und Bürger vor willkürHchen Beschränkungen seitens der Gutsbesitzer
zu behüten . . ."; siehe Stawski, Bürgerliches Gesetzbuch a. a. 0. Bd. 11, S. 398.
44 Drittes Kapitel. Die Reformen von 1864
sowie die Benutzung von Fahr- und Fußwegen,^) das sie sich durch Ge-
wohnheit oder besondre Verträge und mündliche Abmachungen erworben
hatten. Sie können aus den Gutswäldem zum Beispiel Bau- und Brenn-
holz, Reisig und Blätter nehmen und ihr Vieh in den Gutswäldern und
auf dem Gutsacker weiden.^) Diese Rechte, an denen im Jahre 1864
335171 Bauernhöfe teilnahmen, erhielten aber erst im Jahre 1870 Gesetzes-
kraft.^) Sie sind nun zum allergrößten Teil bezüglich ihres wirtschaftlichen
Wertes für die Bauern sehr problematischer Natur, Vor allen Dingen
haben die Rechte der Wald- und Weidenutzung keinen Wert mehr. Die
meisten Wälder, die noch heute mit dem Servitut belastet sind, stehen
unter dem Zeichen des Verfalls. Seit Jahren ist nicht nur alles Laub,
Reisig und Moos aus ihnen herausgetragen worden, sondern auch das Unter-
holz und die Baumrinde. Solche Wälder machen mit ihren ausgetretnen
Viehsteigen und verkümmernden Bäumen einen traurigen Eindruck. Der
Servituteninhaber kann aus ihnen nichts mehr herausholen, oder er muß
Holz stehlen. Der Holzdiebstahl ist darum auch außerordentlich verbreitet
und ein ständiger Grund des Streites zwischen den Gutsbesitzern und
Bauern. (Vgl. auch Nowoje Wremja von 1905 Nr. 10 004.)
Ähnlich steht es mit dem Weiderecht. Wo die Gutsbesitzer zu einer
modeiTien Feldwirtschaft übergegangen sind — und das ist fast überall im
Zartum der Fall — , wo sie Meliorationen der AViesen dui'chgeführt haben,
da bemühen sie sich, das Bauernvieh von ihrem Lande fernzuhalten. Sie
erreichen es, indem sie entweder die zweite Heuernte so spät legen, daß
die Bauern von der Weideberechtigung nichts mehr haben, oder indem
sie, wo das nur immer möglich ist, gleich nach der Geti'eideemte mit dem
Unterpflügen der Stoppel beginnen. Auch bei dieser Form des Servituts
kann der Bauer nui* einen Nutzen daraus ziehen, wenn er sein Recht über-
*) Baron A. Nolcken hat im Jahre 1891 eine ganze Reihe von Seuatsentscheidungen
über Zi\'ilgericht'Nstreitigkeiten zusammengestellt imd durch die Senatsdmckerei veröffent-
licht. Alle Erläuterungen zum Servitutenrecht (S. 25 bis 30) tragen den Charakter einer
möglichst weiten Auffassimg des Rechts in den Jahren 1878 bis 1887.
*) Ukas vom 19. Februar 1864 für die Bauern und vom 28. Ok-tober 1866 für die
städtischen Ackerwirte.
*) § 11 des ersten Ukas vom 19. Februar 1864 erhält den mit Land versehenen
Bauern das Recht (Semtut) an Brennholz-, Bauholz-, "Wiese- imd Weidebenutzung, das
sie vor dem Ukas genossen hatten. Diese Rechte sind laut Senatsentscheidung 31/1900
mit dem Bauernlande, nicht mit der Person des Besitzei-s verbunden. § 12 erechwert die
Ablösung der Ser\itute. § 15 verpflichtet den Gutsbesitzer, der auf einem ihm gehörigen,
aber von Bauern bewirtschafteten Grundstück Kohle abgebaut hat, bei Erlaß des Gesetzes
den Bauern zu entschädigen, wenn er den Abbau weiter betreiben will. § 16. Jagd und
Fischerei sind ein Recht der Gromada, nicht des Einzelnen. Wenn der Gutsbesitzer künst-
liche Teiche zur Fischzucht angelegt hat, hat er an diesen Besitzrechte. Siehe Stawski,
a. a. 0. S. 158. Weiteres Kapitel 9.
A. Die Agrarreform 45
schreitet, zum Beispiel, wenn er das Vieh auf ungemähte Wiesen schickt.
Infolgedessen sind die Streitigkeiten zwischen Bauern und Gutsbesitzer
ohne Ende.^)
Die häufigen Streitigkeiten sowie die gesteigerte Feindschaft zwischen
Bauern und Gutsbesitzern sind auch dem Statthalter Graf Berg nicht ent-
gangen. Doch hatten die auf seine Veranlassung im Jahre 1871 in An-
griff genommnen Beratungen, die dem Gutsbesitzer das Recht geben sollten,
sich von Servituten zu befi'eien, kein praktisches Ergebnis, da das Reor-
ganisationskomitee eine Änderung nicht für zeitgemäß hielt.
Die Verhandlungen über die Aufhob img der Servitute hatten dagegen
zur Folge, daß, obwohl die Bauern keinen rechten Nutzen von den Ser-
vituten hatten, die Gutsbesitzer aber nur Schaden, weder die einen noch
die andern sich sonderlich beeilten, die Servitute von sich aus abzulösen.
Beide Teile hofften durch eine staatliche Regelung der Ablösung größere
Vorteile erzielen zu können als durch private. Wo aber die Gutsbesitzer
auf Ablösung der Servitute drangen, bestanden die bäuerlichen Servituten-
inhaber meist auf einer Abfindung durch Land.
Im engen Zusammenhang mit den Servituten steht die Frage von
den Streuiändereien. Auch in dieser Richtung hat die Regierung keinerlei
ernste Schritte unternommen, um die Besitzungen abzugrenzen. Das Gesetz
vom 29. Dezember 1876 hat, wie in Kapitel 9 näher gezeigt werden soll,
eher hemmend als fördernd gewirkt.'^)
Trotz den gekennzeichneten Verhältnissen und der unfruchtbaren Be-
lastung der Verwaltungsorgane hält die Regierung an den Servituten fest.
Welchen Grund sie dazu hat, ob sie vielleicht die Politik der Bauembank
erleichtem will, läßt sich nicht erkennen, mid es bleibt uns nur übrig,
denen zu glauben, die behaupten, die Regierung wolle zwischen Gutsbesitzern
und Bauern Zwietracht erhalten.
Bestätigt wird solche Auffassung durch die Worte, die der Kanzlei-
chef Gurkos als seines Chefs Ansprache amtlich weitergegeben hat: „. . . es
wird kein Finger gerührt für die Aufhebung der Servitute — uns (den
Russen) sind sie notwendig, um zwischen Gutsbesitzern und Bauern Feind-
schaft zu erhalten" 3).
Nun dürfte für die politischen Folgen der eben gekennzeichneten
russischen Politik die Beobachtung interessant sein, in welchem Umfang
1) S. a. Schpilew, Wjestnik Finanssow von 1905, Heft 21, S. 288.
^) S. a. Spaßowitsch und Pilz, „Tagesfragen im Zartiim Polen", St. Petersburg, bei
M. M. Staßjulewitsch, 1902, S. 167—184.
0 Nowoje Wremja Nr. 10604 von 1905, S. 3 im Artikel „Die Politik der General-
gouvemeure".
46 Drittes Kapitel. Die Reformen von 1864
die freiwilligen Servitutenablösungen von 1864 bis 1900 vor sich gegangen
sind. Yon 1865 bis 1874 wurden nur 1817 Servitute abgelöst; nachdem dia
ablehnende Stellung der Regierung bekannt geworden Avar und Agitatoren
auf die bösen Absichten hinweisen konnten, stieg die Zahl der Ablösungen
im Dezennium 1875 bis 1884 auf 8912, im Dezennium von 1885 bis 1894
auf 3791 und im Jahrfünft von 1895 bis auf 1899 auf 1871.i)
3, Das häuerliche Besitzrecht
Die russische Regierung hat sich indessen nicht begnügt, den Bauern
Land zu geben, ^) sie hat auch Maßregeln getroffen, einer spätem Ver-
ringerung des bäuerlichen Landbesitzes vorzubeugen. Sie hat den Bauern
zum Eigentümer seines Landes gemacht, aber sein Yerfügungsrecht darüber
beschränkt. Kein Bauemland durfte ursprünglich an nichtbäuerliche Per-
sonen verkauft oder verschenkt werden, und die Bauerngüter dui-ften nicht
in kleinere als sechs Morgen große Teile zerlegt werden. Das Bauernland
war somit der Bodenspekulation entzogen — wenigstens in der Theorie.
Denn die Spekulation fand außerhalb des Gesetzes Eingang, natürlich in
um so gröberer Form. Das Gesetz sollte nur zehn Jahre, d. h. bis zum
19. Februar 1874 Geltung behalten, „aber weiter bestehn bleiben, wenn es
nicht besonders aufgehoben werden würde".
Die slawjanophilen Refonnatoren wollten in die gesellschaftliche Struktur
des pohlischen Yolks einen neuen Begriff bringen: den Bauernstand als
^) J. A. Jesjoranski in den Arbeiten der Gouvemementskomitees zur Hebung der
Landwirtschaft. Bd. 51, S. 613.
2) § 18. Jedem Hofbesitzer steht das Recht zu, den zu erwerbenden Hof zu ver-
mieten, zu verpfänden oder zu veräußern. Um aber einem Niedergange der wirtschaft-
lichen Lage der Bauern vorzubeugen, unterliegt dieses Recht folgenden Beschränkungen :
a) Das auf dem Gnmdstück befindliche Haus und die Wirtschaftsgebäude dürfen
imabhängig vom Boden weder verpfändet noch enteignet werden.
b) Die auf Grimd dieses Ukases imter Vorzugsbedingungen au Bauern zum Eigen-
tum gegebnen Höfe können nur an Bauern vei-pfändet und von Bauern erworben werden.
Auf diesen Paragraphen der allgemeinen Gesetzgebung haben Bezug:
a) Instruktion des Reorganisationskomitees vom 30. Dezember 1865, nebst Senats-
entscheidungen: 4/1886, 74/1882, 124/1890, 12/1894, 216/1880, 43/1884, 16/1886, 95/1884,
92/1894, 31/1891.
b) Instruktion des Reorganisationskomitees vom 26. Juni 1870.
c) Allerhöchst bestätigte Regeln vom 6. August 1876. nebst Seuatsentscheidungen:
11/1890, 98/1884, 27/1891, 26/1885, 28/1898, 31/1902, 118/1894, 118/1892, 58/1891,
17/1884 und 5/1885.
d) Instruktion des Reorganisationskomitees vom 23. Oktober 1865 und 19. Juli 1868.
e) Allerhöchst bestätigte Gutachten des Reichsrats vom 11. Juni 1891, nebst Senats-
entscheidungea: 16/1896, 37/1897, 41/1898, 21/1898, 64/1892, 84 1894, 6/1903, 48/1894,
83/1894.
A. Die Agrarreform 47
wirtschaftlich abgeschlossene Kaste. Darum wurde an den Gesetzen fest-
gehalten. Die Maßregel, die den Zweck verfolgte, eine völlige Gleichartig-
keit der sozialen Organisation in Polen und Rußland vorzubereiten, wurde
ausgebaut durch das Gesetz vom 11. Juni 1891 und das vom 20. Mai 1896,
die beide der Verkleinerung bäuerlicher Güter entgegenwirken sollten.
Die Bestimmungen brachten aber eine heillose Verwirrung in die
ländlichen Rechtsverhältnisse. Das in Polen geltende Gesetz — Code
Napoleon — kennt den Begriff „Bauer", wie er in Rußland Geltung hat,
nicht. Erst durch den Ukas vom 11. Juni 1891, also nachdem das Gesetz
siebenundzwanzig Jahre in Geltung gewesen war, wurde der Begriff
„krestjanin" = Bauer gesetzlich festgelegt. Demzufolge fallen unter die
Kategorie der Bauern: 1. Personen, die in die Liquidationstabelle emge-
tragen sind, sowie deren Nachkommen; 2. Personen, die als Bauern oder
Ackerbürger anzusprechen sind, d. h. solche, die sich mit Landwirtschaft
und solchen Arbeiten beschäftigen, die in unmittelbarem Zusammenhang
mit der Landwirtschaft stehn, imd 3. in andern Gouvernements des Reichs
gebome Angehörige des Bauernstandes. Bei Meinimgsverschiedenheiten
entscheidet der Bauernkommissar und der Wojt im Einverständnis mit der
Gminversammlung (siehe S. 52 ff.).
Eine der schädlichsten Folgen der beschränkenden Bestimmungen war
für die Bauern die Unmöglichkeit, ausreichenden Kredit auf gesunder Basis
zu erhalten. So führt Makejew in seiner Monographie über den bäuer-
lichen Kredit im Zartum Polen (Radom, 1888) einen interessanten Fall an.
Einige Bauern hatten 140 Rubel bei einem privaten Geldgeber aufgenommen.
Nachdem sie zwölf Jahre hindurch abgezahlt hatten, war die Kapitalschuld
auf 400 Rubel angewachsen, und die Bauern hatten 1500 Rubel an Zinsen
gezahlt! L S. Bljoch, dem wir diese Mitteilung entnehmen, gibt im An-
schluß daran die normale Höhe der von den Bauern zu zalüenden Zinsen
mit 40 bis 60 Prozent, in einzelnen Gegenden mit 150 Prozent an.^) (Vgl.
auch Kapitel 11.) Selbst staatliche Kreditunternehmungen, die den Zweck
hatten, der bäuerlichen Landwirtschaft zu helfen, sind der Mehrzahl der
Bauern im Zartum verschlossen. Denn noch am 24. November 1900 er-
klärt eine entsprechende Instruktion des Landwirtschaftsministers, daß
entsprechende Kredite ausschließlich gegen Versatz aller Arten von Immo-
bilien gewährt werden können mit Ausnahme solcher, „deren freier Über-
gang in andre Hände ohne jede Beschränkung gesetzlich verboten ist".
Der Übergang bäuerlichen Besitzes in andre nicht bäuerliche Hände ist
^) Die Verscliuldung des Landbesitzes im Zartum Polen. St. Petersburg, J. A. Effron,.
1894, S. 188.
48 Drittes Kapitel. Die Refonnen von 1864
durch alle die Yorschriften ebensowenig aufgehalten worden wie die Zer-
stücklung der Bauerngüter. Die frühern örtlichen Komitees zur Förderung
der Landwirtschaft haben über die Nutzlosigkeit der Bestimmungen unter
Angabe folgender Tatsachen berichtet: 1. die Bauern teilen ihre Güter ohne
Rücksicht auf das Gesetz, das die Teilungen verbietet; 2. infolge der Um-
gehung des Gesetzes auf allen möglichen Wegen entstand eine außerordent-
liche Verwirrung bezüglich der Kechtsbegriff e ; 3. die illegalen Besitzer
der Bauerngüter vermeiden jede Melioration.^)
So hat das Gesetz keinerlei Nutzen für die soziale Lage der Bauern
gehabt und nur Schaden für die wirtschaftliche Entwicklung der Land-
wirtschaft. Die Regierung hat das auch eingesehen und schon im Jahre
1870 die Bestimmung getroffen, daß bäuerliche Grundstücke von mehr als
neunzig Morgen Größe an die Landbank verpfändet werden dürfen, sowie
femer, daß die Landbank (vgl. Kapitel 11) das Recht habe, sie bei Verfall
der Schuld zu erwerben und weiter zu verkaufen. Da hierdurch dem
Kreditbedürfnis der Bauern nicht genügend abgeholfen werden konnte, wurde
im Jahre 1888 die Tätigkeit der russischen Bauembank auch auf das Zar-
tum Polen ausgedehnt,^) ohne indessen bisher einen wesentUchen Nutzen
gebracht zu haben.
Hiermit sind die Maßregeln der Regierung, sich den polnischen Bauern
gefügig und zu einer wirtschaftlichen Kraft zu erziehen, abgeschlossen. Alle
weitern Maßregeln gingen nunmehr darauf aus, die gesunden, auf dem
neuen Boden emporgewachsnen Bedürfnisse zu reglementieren. Das aber
führte in der Praxis zu ihrer Unterdrückung.
B. Die Verwaltungsreform
Die vorwiegend politischen Ziele, denen die russische Regierung im
Zartum Polen zustrebte, haben sie verhindert, die gesunden und allgemein
menschlichen Grmidsätze, die in der "Wirtschaftsreform zum Ausdnick
kamen, auch auf die Verwaltungsreform anzuwenden. Infolgedessen steht
sie auch durchaus nicht im Gleichklang mit der wirtschaftlichen Entwick-
lung, die das Weichselgebiet genommen hat. Statt die Bevölkerung mit
allen Mitteln auszurüsten, die eine gemeinsame kulturelle und wirtschaft-
liche Betätigung unterstützen könnten, sah sie sich aus den bekannten
politischen Gründen, aber auch aus Gründen, die mit der allgemeinen in
der russischen Gesellschaft eingetretnen Reaktion zusammenhängen, im
') Wjestnik Finanssow von 1906, Heft 29, S. 71.
') Neues Statut vom Jahre 1895. Vgl. Rechenschaftsbericht des Reichsrats von
1895/96, Bd. II, S. 150 bis 212.
B. Die Verwaltuugsreform 49
Gegenteil genötigt, alle solche Mittel anzuwenden, die nach ihrer Meinung
einen Zusammenschluß der Gesamtbevölkerung im Zartum Polen von vorn-
herein unterbanden. 1) An die Stelle der alten Privilegien, die seinerzeit
am Mark des polnischen Staats gefressen hatten, traten nach 1863 Aus-
naiimegesetze und administrative Sonderbestimmungen für das Zartum Polen
wie überhaupt für das ganze russische Keich. Ihr gemeinsamer Sinn läßt
sich, Avie schon eingangs erwähnt, dahin zusammenfassen, die bäuerliche
Bevölkerung vor jeder Beeinflussimg durch die Geistlichkeit, den Adel und
die städtische Bevölkerung zu bewahren. In Polen mußte die Maßregel um so
schärfer wirken, als dort das Institut der Adelsmarschälle, das in Rußland
bestand, nicht eingeführt wui'de, und alle ihre Funktionen dem Bauern-
stände gegenüber auf die Bauernkommissare übertragen wurden, die bei
den Kreis- und Gouvernementsverwaltungen ressortieren. Der polnische
Adel galt im Gegensatz zum russischen für unzuverlässig. Das muß her-
vorgehoben werden, um die außerordentliche Macht der Bureaukratie im
Zartum Polen voll bewerten zu können. Durch die herrschende Grund-
anschauuug hat die poHtische Yei'waltungsrefonn auch zu ganz andern Ein-
richtungen geführt, als wie sie Marquis Wielepolski beabsichtigte und wie
sie mit gewisser Beschränkung in Rußland durch das Sjemstwostatut Ein-
gang gefunden haben. In Wielepolskis Refonn war ein ganzes System
von ineinandergreifenden Verwaltungseinrichtungen vorgesehen, als deren
unterste Grundlage die Gmin, d. h. die allständische Landgemeinde mit der
Gminverwaltung und die Stadtgemeinde mit dem Stadtrat an der Spitze
gedacht waren. Über den Land- und Stadtgemeinden sollte der Kreisrat
über den Kreisräten der Gouvernementsrat und über den Gouveniements-
räten der Staatsrat stehn. Dieser ist auch im Jahre 1861 zur Einführung
gelangt, aber in der Form, wie der russische Reichsrat, der sich bekanntlich
bis zum Jahre 1905 ausschließlich aus vom Zaren ernannten Beamten, Ge-
lehrten und Militärs zusammensetzte. Alle die aufgezählten Verwaltungs-
organe sollten mit Wahlköi'pern in Verbindung gebracht werden, die auf
demokratischer Grundlage gewählt sind imd in denen alle Stände und
Berufe gemeinsam an der Verwaltung des Landes teilnehmen würden.
Von allen diesen Vorschlägen hat das Organisationskomitee Miljutins
nur die Bezeichnung Gmin, aber ohne den von Wielepolski gegebnen In-
halt angenommen. Das demokratische Prinzip wurde nur dort in An-
wendimg gebracht, wo es galt, den polnischen Großgrundbesitz zu schädigen.
Im übrigen wurde die russische Bauemrefonn vom 19. Februar 1861 als
*) Es ist das dasselbe Prinzip, das auch in Rußland zur Trennung der Bauern von
der Intelligenz geführt hat und ziu- Berafung des Adels zur Verwaltung über die Bauern.
Cleinow, Die Zukunft Polens 4
50 Drittes Kapitel. Die Reformen von 1864
Grundlage für die Reform in Polen genommen, d. h. der Bauernstand
wurde zu einem von allen andern Erwerbsständen losgelösten und durch
eine hohe Mauer von Verordnungen geschiednen Dasein verurteilt.
1. J>le bäuerliche Gemeinde
Die Stelle, wo diese Grundideen ihren schärfsten Ausdruck finden, ist
die Gesetzgebung über die ländlichen Gemeinden. Die ländlichen Gemeinden
sind einzuteilen in die allständische Gmin und die einständische, bäuer-
liche Gromada.
„In einem Dorf oder in einer Kolonie wohnende Bauern, die darin
Hofland oder sonstigen Immobilbesitz zu Eigentiun haben, bilden zusammen
mit ihren Familien, Dienstboten imd sonstigen auf ihrem Grundstück
wohnenden Personen eine Dorfgesellschaft. Bauern, die auf Einzelhöfen
wohnen, werden mit ihren Familien usw. der nächsten Dorfgesellschaft
ihrer Gmin angeschlossen.'"
Dieser Artikel 264 des Regulativs für das Zartimi Polen läßt durch
Anwendung des Begriffs „Bauern" bereits erkennen, daß es iui Zartum
drei Sorten von Dorfgesellschaften gibt, lüünlich christliche, in denen Ortho-
doxe, Katholiken und Protestanten iilitglieder sein können, deutsche auf
Grund besondrer Bestimmungen eingerichtete Kolonien und jüdische
Ackerbaukolonien. Die christlichen Dorfgemeinden mit katholischen Be-
wohnern sind die zahlreichsten.
Das Kriterium für die Geeignetheit, der Dorfgesellschaft angehören zu
dürfen, ist für die christliche Bevölkerung die Zugehörigkeit zum Bauern-
stande (vgl. S. 47). Der Begi'iff Bauer war aber bis zum Jahre 1891
sehr eng gefaßt, nicht in seinem wirtschaftlichen Sinne, sondern in dem
politischen, wie ilm die russische Paßgesetzgebung keimt. Infolgedessen
war bis 1891 von der bäuerlichen Gemeinde auch die sogenannte kleine
Schlachta ausgeschlossen, die in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht
durchaus zimi Bauernstände zu rechnen ist, wenn sie auch dessen intelli-
gentesten Teil darstellt. Ebenso ausgeschlossen von der Dorfgesellschaft,
die wir der Kürze halber mit den Polen die Gromada^) nennen wollen,
sind „Großgrundbesitzer und Kleinbesitzer — das ist die kleine Schlachta —
mit ihren Vorwerken, Fermen, Häusern wie auch ihre Offizianten, Diener-
schaft, Tagelöhner und andre bei ihnen wohnende Personen".'')
*) Engelmann nennt „sseljskoje obschtscliest«'o" = Landgesellschaft nach polnischem
Brauch „gromada''. S. Handbuch des öffentlichen Rechts, Bd. IV, Das Staatsrecht des
Russischen Reiches, Freiburg i. Br., 1889, S. 221.
*) § 265 der Instruktion für die Verwaltung des Zart\uns Polen.
B, Die Verwaltungsreforni 5J
Ähnlich wird den katliolischen Geistlichen gegenüber verfahren. Sie
dürfen an den Gemeindeversamrahingen wie überhaupt an der Gemeinde-
verwaltung nicht teilnehmen. Die Strafprozeßordnung zieht sie zur Zeugen-
vereidigung nicht heran. ^) Auch sonstige Kreise und Nationalitäten werden
von den Angelegenheiten der Bauern streng geschieden. So in erster
Linie die Juden, die nur dort Mitglieder der Verwaltung sein können, wo
die Gemeinden ausschließlich aus Juden bestehn.
In dem Maße, wie Gutsbesitzer und katholische Geistliche von Bauern
ferngehalten werden, in demselben Maße sucht die russische Regierung
durch ihre eignen Vertreter Einfluß auf die Bauernangelegenheiteu zu ge-
winnen. 2) Diese Einvdrkung hegt nun teils auf administrativem, teils auf
geistlichem Gebiet sowie in der Handhabung des Schulwesens, lim sie
im weitesten Umfange zu ermöglichen, sind in der allgemeinen Gesetz-
gebung entsprechende Klausehi vorgesehen, oder es wurden nachträg-
lich Anmerkungen und Erläuterungen zu den einzelnen Paragraphen ge-
geben.*')
An der Spitze der Gromada steht die Gemeindeversammlung und der
Ssoltys oder Gemeindeälteste. An der Gemeindeversammlung nehmen
Männer und Frauen teil, die mindestens drei Morgen (Vj^ Deßjatinen)
Land ihr eigen nennen. Die Gemeindeversammlung wird durch den
Ssoltys nach Bedarf, im Falle von Beschwerden gegen den Ssoltys durch
den Wojt (siehe Gmin) einberufen (§ 269/70).
Der Gemeindeversammlung unterliegt die Verwaltimg des Gemeinde-
besitzes, wie Gemeindeland, Gemeinde wald, die Wahrung der Gemeinde-
rechte, wie sie aus den Servituten oder sonstigen privaten Verträgen mit
benachbarten Gutsbesitzern hervorgehn. Ferner verteilt die Gemeinde-
versammlung die Schornstein- und Bodensteuer auf die einzelnen Wirte
und verwaltet schließlich die Dorfschule imd die der Gemeinde gehörigen
Gotteshäuser.
^) S. § 1298 der Strafprozeßordiuuig. Gesetzsammlung Bd. XVI, Teil 1, Ausgabe
1892/1902.
-) § 198 der lustniktion für das Zartum Polen lautet: „Von der Regierimg beauf-
tragte Personen, denen die Aufsicht über die Befolgung der in Absatz V vorgeschriebnen
Regeln anvertraut ist, können an den (Gemeinde-)Versammlungen in allen den Fällen teil-
nehmen, wenn solches die ihnen auferlegten PfHchten fordern" — also auch die griechisch-
feathoüsche Geistlichkeit.
§ 199. „Personen, die, olme ein Recht dazu zu besitzen, an den (Gemeinde-)
Verearamlimgen teilnehmen, werden nach Ermessen des Kreischefs bestraft oder dem Ge-
richt auf Gnmd besondrer Vorschriften übergeben."
') Senator und Mitglied des Reichsrats N. S. Tagantzew, „Das Strafgesetz vom
22. März 1903", Bd. II (Glaubensgesetzgebung), St. Petersburg, Verlag „Phönix", 1906,
s. m.
52 Drittes Kapitel. Die Reformen von 1864
Der Ssoltj^s wird von der Gemeindeversammlung gewählt und durch
den Wojt, dessen Gehilfe er in Polizeiangelegenheiten ist, im Einverständnis
mit dem Kreischef bestätigt.
Die Mttel für die Verwaltung der Gromada werden durch Umlage
gedeckt.
Die Gromada trägt nach obigen Ausführangen somit zwei charakte-
ristische Züge: Mangel an Dorf Intelligenz und von andern als bäuerlichen
Steuerzahlern. Die Absicht der Regierung, die Bauern vor der „Aus-
plünderung durch die Gutsbesitzer zu bewahren'', ist zwar geglückt, aber
bei gleichzeitiger Unterbindimg jedes kulturellen Fortschritts. Denn die
soziale Fortentwicklung innerhalb der Gemeinde hat die Regierung nicht
aufgehalten. Statt des Gutsbesitzers, der für die Ausnutzung der bäuer-
lichen Arbeit als Großunternehmer der Bauernschaft in ihrer Gesamtheit
in neunzig von himdert Fällen kulturelle Gegenwerte in großer Zahl gibt,
plündert der bäuerliche Dorfgenosse, der stäi'ker ist als die übrigen, aber
nicht kultivierter, die Mehrzahl der Bauern auf alle mögliche Art aus, ohne
einen kulturellen Gegenwert geben zu können. Der moderne Gutsbesitzer
hat ein Interesse an möglichst gebildeten Arbeitern, dai*um wird er für
die Schule im Dorfe sorgen. Der Wucherer hat meist an der Aufklärung
der Masse kein Interesse, da der aufgeklärte Bauer in die Lage versetzt
wird, sich möglichst seinem Einfluß zu entziehn. Dennoch ist die kul-
turelle Entwicklung der Bauern nicht in dem Maße zurückgeblieben, wie
wir es theoretisch annehmen könnten. Denn trotz allen Beschränkungen
und Vorsichtsmaßregeln ist die Kultur auch in die polnische Gromada auf
natürlichen Wegen offen und heimlich eingedrimgen. Davon im dritten Teil.
*i. I>le Gmin
In der Gmin^) sind vereinigt: a) Bauern mit ihren Familien, die in
einzelnen Dörfern und Kolonien sovsde auf Einzelhöfen in der Nähe von
Dörfern und Kolonien wohnen, b) Gutsbesitzer und andre Inliaber von
Vorwerken, Formen und Häusern gemeinsam mit ihrer Bedienung, ihren
1) Reinke, a. a. 0. S. 124. „Der Utas vom 19. Febniar 1864 betreffend die Or-
ganisation der »Gmin« ist mit dem 1. Ukas in der Beziehung eng verbunden, als er dem
Teil der Bevölkei-ung politische Bedeutung gibt, deren wii-tschaftliche Lage durch den
1. Ukas gesichert worden war; wenn die Bauern durch den 1. Ukas bezüglich ihrer bürger-
lichen Rechte mit den Großgrundbesitzern auf eine Stufe gebracht worden waren, so ge-
währte der 2. Ukas dem kleinen Bauernhofbesitzer das imbedingte pohtische Übergewicht
über den Großgrundbesitzer. Das wurde en-eicht durch die Organisation der »Gmin« . . .
in der die Großgmndbositzer in einer völlig bedeutungslosen Minderheit auftreten . . . Nach
Aufhebung der Patronatsrechte können die Großgmndbesitzer nicht mehr überwiegenden
Einfluß auf die Bauern haben, müssen sich vielmehr der bäuerlichen Mehrheit unter-
werfen . . ."
B. Die Venvaltungsrefoi-m 53
Arbeitern und Angestellten.^) Die Ausgaben für die Gminverwaltung tragen
zur einen Hafte die Bauern, zur andern die Gutsbesitzer.*) Die Gmin-
versammlung besteht aus den yolljährigen männlichen Wirten, die nicht
■weniger als di'ei Morgen Land im Eigenbesitz haben. Von der Gniin-
versammlung sind nach dem Gesetz ausgesclilossen , auch wenn sie den
oben genannten Bedingimgen entsprechen, alle Personen geistlichen Standes,
Friedensrichter und Mitglieder der Kreispolizei. ^) Tatsächlich hat diese
Vorschrift aber nur Anwendung auf die römisch-katholische Geistlichkeit;
denn Anmerkung zu § 205 lautet: „Alle fiskalischen Behörden, die in der
Gmin nicht weniger als drei Morgen Land als Staatsbesitz verwalten, haben
das Recht, an allen Verwaltungsangelegenheiten der Gmin einschließlich der
Kontrolle der Einnahmen und Ausgaben teilzunehmen."*) Schließlich wird
aber die Bestimmung auch geradeswegs mißachtet, und es finden sich
Paragraphen in der Gesetzgebung, die das Recht der Gmin in Unrecht Ter-
wandeln können. Bezeichnend hierfür ist die Entscheidimg der Berufs-
instanz (Warschauer Gerichtspalata) vom 9. März 1904, durch die der Bauer
Kalista zu einundzwanzig Tagen Gefängnis verurteilt wurde, weil er einen
Landpolizisten aus der Gminversammlung gewiesen hatte. In der Begründung
des Urteils heißt es, der Landpolizist habe im Auftrage seines Kreischefs
gehandelt, somit nur seine Pflicht getan, au der ihn zu hindern der
pp. Kalista kein Recht hatte (!).^) Die Beschlüsse der Gminversammlung
haben Geltung, sofern mehr als die Hälfte aller stimmberechtigten Wirte
an ihr teilgenommen haben. Die Zahl der stimmberechtigten ländlichen
Wirte betrug im Jahre 1899 in 1249 Gmineu 650 530 Personen oder durch-
schnittlich in jeder Gmin 521. Bei 261 anwesenden bäuerlichen Wirten
erhält der Beschluß der Gminversammlung somit Geltimg.
Der Kompetenz der Gminversammlung unterKegen: die Wahl des
Wojt sowie der andern Angestellten der Gmin, wirtschaftliche und soziale
Angelegenheiten der Gmin, Armenpflege, Verwaltung der Wohlfahrtsein-
richtungen und Volksschulen, Verteilung der Gminsteuern, Verwaltung des
1) § 194 der Instruktion für da.s Zartum Polen bezieht die Güter in die große Ge-
meinde „Gmin" ein. § 211 unterstreicht das demoh-atische Prinzip der Gminverfassung:
die Stimmen haben alle gleichen Wert ohne Eücksicht auf die Größe des Landbesitzes.
«) Vorschrift vom 19. April 1864.
') § 205 der Instruktion füi- die Verwaltung des Zartums Polen sagt: „. . . an der
Gminversammlung nelimen nicht teil: Mitgheder des geistlichen Standes imd Beamte der
KreispoUzei, selbst dann nicht, wenn sie imierhalb der Gmin Land in der vorgeschriebnen
Menge (drei neupolnische ilorgen) besäßen." — Diese Vorschrift wird für die giiechisch-
tatholischen Geistüchen, da sie „Vertreter fiskalischer Behörden" sind, durch die An-
merkung zu § 205 außer Kraft gesetzt.
*) S. § 198 in Ajim. 2. S. 51.
^) Verhandhmgsbericht in Prawo von 1905, Heft 16, S. 1304;05; vgl. S. 51 Anm. 2.
54 Drittes Kapitel. Die Reformen von 1864
Gminbesitzes, die Einholung der Zustimmung der ganzen Gmin für gewisse
Entscheidungen.
Die Gminversammlungen müssen viermal im Jahre zusammentreten.
Die Nachprüfung der amtlichen Tätigkeit der Gminangestellten erfolgt auf
der Dezemberversammlung. Im Dezember soU auch das Budget für das
kommende Jahr aufgestellt werden. Da die Gminangestellten immer für
die Dauer von drei Jahren gewählt werden, so sind die Gouvernements
des Zartums Polen in drei Gruppen geteilt, in deren einer jedes Jahr Neu-
wahlen stattfinden. Die Prüfimg der Berechtigung der einzelnen Wirte,
an den Gminversammlungen teilzimehmen, erfolgt gewöhnlich durch ein-
fachen Namensaufruf oder Zählung der Versammelten. Da für so große
Versammlungen, wie einige hundert Menschen, kaum Räume vorhanden
sind, finden diese gewöhnlich unter freiem Himmel in einem Hof in der
Nähe der Gminverwaltung statt. „Die Versammelten, schreibt Spassowitsch,^)
sind gewöhnlich müde und hungrig von dem voraufgegangnen "Wege. Nach-
dem der Wojt die Versammlung eröffnet hat, steigt der Gminschreiber
auf den Vorbau der Gminkanzlei und verliest die der Bestätigung durch
die Versammlung unterliegenden Papiere, darunter auf der Dezember-
versammlung den Rechenschaftsbericht der Gminverwaltung für das alte
und den Budgetentwurf für das neue Jahr. Der vei-sanunelte Haufe kann
von den auf fünfzehn bis neunzehn Ai'tikel verteilten Ausgaben kein
rechtes Bild bekommen; von der Buchführung versteht er nichts, fürchtet
Neuerungen und vor ahen Dingen neue Ausgaben, die er nicht zu kon-
ti'ollieren vermag. Er erklärt sich mit den Angaben des Schreibers ein-
verstanden, wenn er nur möglichst bald und in aller Ruhe nach Hause
gehn kann."
"Wenn die Versammlung mit der Verteilung der Ausgaben und Ab-
gaben nicht einverstanden ist, hat der "Wojt das Recht, die Verteilung mit
Hilfe von Bevollmächtigten und der Ssoltys vorzunehmen'') und zur Durch-
führung zu bringen.^) Dieses Recht gibt dem "Wojt und dem Gminschreiber
die Möglichkeit, die Gminversammkmg als eine reine Formalität zu be-
handehi. Dementsprechend ist auch die Stellung des "Wojt gegenüber dem
Kreischef, der wie in Rußland mehr ein Polizeibeamter als ein Verwaltiings-
beamter ist.
') Im Sammelwerk „Die kleine Sjemstwo-Einheit" von P. D. Dolgonikow und D. I.
Schachowskoj, St. Petersburg, 1903, S., 143.
«) Absatz 9 des Art. 208.
') Nach Spassowitsch, a. a. 0. S. 144, gehn etwa 60 Prozent aller Gminausgaben auf
die Besoldung der Gminbeamten. — Eine andre Quelle, Posnanski, a. a. 0. S. 41, gibt die
Zahl der Gminbeamten im Jahre 1874 mit 2680 Personen an, die zusammen ein Gehalt
von 1072000 Rubel beanspnichen oder auf jede Gmin durchschnittlich 400 Rubel.
B. Die Verwaltungsreforni 55
Der Wojt muß mindestens 25 Jahre alt sein, einem christlichen Be-
kenntnis angehören, mindestens sechs Morgen Land in der Gmin besitzen
und muß schreiben und lesen können. Irgendeine sonstige Bildung wird
von ihm nicht verlangt. Er wird vom Kreischef aus der Zahl der ihm von
der Gmin vorgestellten Kandidaten bestimmt.^) Doch hat der Kreischef
das Recht, wenn ihm die vorgestellten Kandidaten nicht geeignet erscheinen,
Neuwahlen vorzuschreiben, und wenn diese wieder zu keinem ihm zweck-
mäßig ersclieinenden Ergebnis führen, beim Gouvernementschef (Gouverneur)
eine dritte Wahl zu beantragen. In der Praxis kommt es zu Neuwahlen
gewöhnlich nicht, da die Kreischefs in den „unzuverlässigen" Gminen ent-
weder selbst oder durch ihre Beamten, nicht selten auch mit Hilfe von
Branntwein für eine ihnen genehme Wahl sorgen. Dies Verfahren wird
erleichtert, da die Wahl des Wojt öffentlich imd mündlich stattfindet.
Gewöhnlich erfolgt die Wahl durch Zuruf, oder indem die Versammelten
aufgefordert werden, je nach ihrer Stellung zum aufgestellten Kandidaten
auf die eine oder die andre Seite zu ti'cten.
Die Pflichten des Wojt sind außerordentlich zahlreich,^) sowohl in
politischer wie in administrativer Richtung. Der Wojt empfängt Vor-
schriften direkt vom Kreischef, vom Bauemkommissar, von den Gerichts-
stellen, von der Staatsanwaltschaft, vom Lehrbezirk, von den Militärbehörden,
Dabei ist seine Stellung vollständig abhängig vom Kreischef, ^) der ihn mit
Verweisen und Geldstrafen bis zu fünf Rubel sowie Arrest bis zu sieben
Tagen belegen kann.*) Eine Beschwerde gegen den Kreischef muß inner-
halb sieben Tagen bei dem Gouverneur sein, was häufig schon wegen des
Mangels an Verbindungswegen eine so kostspielige Sache ist, daß die Ge-
kränkten lieber auf eine Beschwerde verzichten. Die Wahl zum Wojt kann
nur von solchen Personen abgelehnt werden, die entweder das sechzigste
Lebensjahr erreicht haben oder krank sind oder schon volle drei Jahre
die Stellung innehatten.
Gehilfe des Wojt sind die Ssoltys oder Dorfältesten, die von jeder
bäuerlichen Gemeinde zu wählen sind und innerhalb derselben ähnliche
Pflichten und Rechte haben wie der Wojt in der Gmin. (S. S. 50 — 52.)
^) § 240 schreibt die AVahl zweier Kandidaten für die Besetzung des Postens als
Wojt vor; der Kreischef ernennt von beiden den ihm am geeignetsten erscheinenden.
§ 242. Kreischef und Gouverneur können die vorgestellten Kandidaten ablehnen.
§ 248. Der Kreischef kann den Woit vom Amt suspendieren, muß aber die Ge-
nehmigung des Gouverneurs nachholen.
2) Art. 216.
^) § 217. Der Wojt (Gmiuältcste) hat alle gesetzlichen Vorschriften des Kreischefs, der
Gerichte sowie alle Verfügungen der einzelnen Behörden gemäß ihrer Kompetenz zu befolgen.
*) Art. 257.
56 Drittes Kapitel. Die Reformen von 1864
Neben diesen spielen aber auch die Gminschreiber und die Vertrauens-
männer eine bedeutende Rolle. Ferner bestand bis zum Jahre 1875 noch
das Gmingericht als Teil der Gminverwaltung ; es setzte sich aus dem
Wojt und den Schöffen zusammen. Seiner Kompetenz unterlagen kleinere
Rechtsstreitigkeiten und Vergehen sowie Unterstützung des Wojt bei seiner
Amtsführung, Revision der Bücher usw. Da nach Einführung des Gerichts-
statuts von 1864 im Zartum Polen das Gmingericht an die allgemeine
Gerichtsbarkeit angeschlossen wurde, soll davon im Kapitel vom Gerichts-
wesen eingehender gesprochen werden. (Siehe S. 81.)
Eine der wichtigsten Persönlichkeiten in der Beamtenhierarchie der
Gminverwaltung ist der Gminschreiber. Der Dichter Sienkiewicz hat ihn
in seiner Erzählung „Der Dorfschreiber" trefflich charakterisiert. Er wird
entweder aus den Gminangehörigen gewählt oder nach Vereinbarung des
"Wojt mit den Ssoltj'S und Vertrauensmännern mit festem Gehalt ange-
stellt.^) Dagegen hat der Kreischef das Recht, den Gminschreiber abzu-
setzen,^) eine Vorschrift, die dazu geführt hat, daß die Dorfschreiber fast
ausschließlich und im Widerspruch zu Artikel 246 von den Kreischefs er-
nannt werden. ^)
Die Verti'auensmänner wurden erst am 22. Dezember 1879 *) eingefühlt
als Folge der 1876 erfolgten Reform der Gmingerichte. Es wird den Gmin-
versaramlungen aber überlassen, Vertrauensmänner zu wählen oder nicht. '')
Infolgedessen gibt es nur et^va in der Hälfte aller Gminen diese Ver-
trauensmänner. Sie werden gewöhnlich aus fortschrittlichen Elementen,
häufig aus Großgrundbesitzern gewählt, manchmal auch aus der Intelligenz,
wenn die betreffende Persönlichkeit in der Gmin irgendeinen Flecken Erde
') Art. 246. — ■) Alt 249, s. Anm. 1 auf S. 55.
') Spa.ssowitsch a. a. 0. S. 146 schreibt: ,,Somit taucht inmitten der Gmin eine ein-
flußreiche Person auf, die weder von der Dorfversammlung noch von der Gmin abhängig
ist, die keinerlei gemeinsame Literessen mit der Gmin hat, eine Person, die in ihrem Amt
lediglich ein Mittel sieht, für sich selbst möglichst viele Vorteile zu ziehen. Da das Recht,
die Schreiber zu ernennen, tatsächlich an die Kreischefs übergegangen war, so hätte die
Gerechtigkeit erfordert, daß sie nmi auch deren Dienstvergehn zu verantworten hätten,
und zwar um so mehr, als die Kreischefs durch Art. 89 vei-pflichtet werden, private Re-
visionen der Gminverwaltung vorzunehmen. Das geschieht aber nicht, weil sie sich auf
die Schreiber vollständig verlassen. Das Gesetz macht die Kreischefs für Yergehn der
Schreiber nicht verantwortlich. Die notwendige Folge solcher Verhältnisse ist die, daß
die Mehrzahl von Veruntreuungen von Gmingeldeni und andre Yergehn der Schreiber un-
gesühnt bleiben. Das Vertrauen auf die Nachsicht der Kreischefs ist wähi-eud des letzten
Jahrzehnts so groß geworden, daß Gminversauimlungen ganz offen zusammengerufen
werden, um der Gmiiibevölkerung vorzuschlagen, Verschwendungen seitens der Gminver-
waltungen, die häufig viele tausend Rubel betragen, durch Umlage zu decken. . . .'•
*) Erlaß des Komitees für Angelegenheiten des Zai-tums Polen.
^) Artikel 229.
B. Die Vei"walhingsreform 57
besitzt Die Hauptfunktionen der Vertrauensmänner liegen in der Be-
aufsiclitigung der Gminverwaltung. ^) Diese Tatsache hat das Institut
der Vertrauensmänner bei den Zenti-albehörden in Mißkredit gebracht,
und ihre Stellung ist dort um so unsicherer, wo sie in Reibung mit
dem allmächtigen Gminschreiber geraten. Das geschah bis 1904 fast
überall. -)
Betrachten wir nun, Avas aus der Gmin während ihres vierzigjährigen
Bestehens geworden ist.
Die von Miljutin in Angriff genommne Reform bleibt nur auf dem
Papier vollauf in Kraft. Aus Landbearbeitern verschiednen Ursprungs
■wurde ein Bauernstand geschaffen, der im Jahre 1864 Landanteile er-
halten hatte. Sein Zweck war, wie wir sahen, der Regierung als ein fester
Stützpunkt zu dienen gegenüber der politischen Unzuverlässigkeit der
übrigen Bevölkerungsschichten. Indem die Bauern zusammen mit Guts-
besitzern und andern Grundbesitzern in eine gemeinsame landwirtschaft-
liche Gmin vereinigt wurden, erhielten sie ein bedeutendes und ausschlag-
gebendes Übergewicht, das auch noch dadurch sichergestellt wurde, daß
der Mittelstand, die örtlichen Vertreter der Intelligenz und des Kapitals,
die kein Land besaßen, sorgsam aus der Gmin ausgeschlossen Avurden.
Abgesehen von der Bauernschaft wurde die korporative Selbstbetätigung
der andern Bevölkerungsklassen beseitigt. Im Lande wurde ein rein
bureaukratisches Verwaltungssystem auf der Unterlage der Militärdiktatur
eingeführt. Der der landwirtschaftlichen Gmin überlassene gewisse Anteil
an der Selbstverwaltung hätte dennoch günstige Polgen bringen können,
wenn die Gmin inmitten der bureaukratischen Institution nicht vollständig
allein stehen würde. Sie hätte die erste Zelle einer umfangreichen Organi-
sation sein müssen, aus der die Landschaftsverwaltung herauswachsen
konnte. „Die vereinsamte Lage der rein bureaukratisch verwalteten Gmin,
schreibt Spasso witsch, 3) zog die unvermeidliche Polgeersch einung nach sich,
daß auch die Gminselbstverwaltung etwas fiktives, nm* auf dem Papier,
nicht aber in Wirklichkeit bestehendes wurde. Dem Gesetz gemäß soll
die Gmin durch ihre eigne Versammlung, durch ihre Wojte und Ssoltys
verwaltet werden. Tatsächlich liegt aber die Verwaltung bei den Kreis-
^) Artikel 230 des Regulativs füi- das Zai-tiun Polen faßt die Aufgaben der Ver-
trauensmänner wie folgt zusammen:
1. Aufstellimg und Verteilimg der staatlichen und Gemeindesteuern gemeinsam mit
dem "Wojt und den Ssoltys,
2. Unterstützung des "Wojt in allen Gminangelegenheiten,
3. Auswahl des Gminschreibers gemeinsam mit dem Wojt ivnd den Ssoltys.
4. Revision der Buchfühiiing und Kassen.
") Ähnüch Spassowitsch, a. a. 0. S. 148. — '') a. a. 0. S. 149.
58 Drittes Kapitel. Die Refonnen von 1864
chefs, den Gemeindeschreibem und den Landschutzleuten, die den Uijadniki
im Reich entsprechen. Im Laufe von Jahrzehnten war die Administration
bestrebt, die entwickeitern Leute von der Beteiligung an den Gmin-
ängelegenheiten fernzuhalten, und mit Hilfe der Schreiber wTirden die ge-
bildeten Elemente aus der Gminverwaltung herausgedrängt. Durch die
Macht der Verhältnisse wurde die Gmin in den Verwaltungsapparat des
Kreises hineingezogen, sie verwandelte sich in ein Organ der rein ad-
ministrativen Verwaltung und wurde dadurch fast vollständig der Fähigkeit
beraubt, für -wirtschaftliche und soziale Angelegenheiten der Gmin zu
sorgen. Das Fehlen eines Mittelstandes in der Gmin, als Zahler der Gmin-
steuern, entzog ihr die reichste vorhandne Einnahmequelle imd war die
Ursache dafüi', wenn es über ihre Kräfte ging, die Kranken- und Armen-
häuser, die Wohltätigkeitsanstalten, die Ärzte und Hebammen sowie das
Feuerlöschwesen zu unterhalten. Wohl bestehen Elementarschulen, aber
die Gmin sorgt nicht füi' sie . . ." Wir werden bei Besprechung des bäuer-
lichen Kredits sehen, daß die eben vorgetragne Auffassung über die Gmin
nicht unrichtig ist.
3. Die Gouvernements- und Kreisvenvaltinif/
Die Tatsache, daß die Reformen von 18G4 für das Zartum Polen kein
einheitlich begründetes A^erwaltungssjstem brachten, findet ihren schäi*fsten
Ausdruck in dem scheinbar völligen Mangel eines Zusammenhangs zwischen
der ländlichen Lokalverwaltung und den Organen der Kreis- und Gou-
vemementsverwaltung. In dieser Beziehung wurde der Fehler wiederholt,
der bei der Einführung der Sjemstwo in den russischen Provinzen be-
gangen worden war. Doch während in Rußland lediglich der Wunscli
maßgebend war, tUe bäuerliche Masse vor einer Berührung mit der
städtischen Intelligenz zu bewahren, trat bezüglich des Zartums Polen noch
der Wunsch liinzu, die Weichselgouvernements an das Venvaltungssystem
des Reichs anzuschließen, ohne der polnischen Gesellschaft einen Selbst-
verwaltungskörper wie die Sjemstwo zu geben, in dem der Adel, die
Geistlichkeit und die Intelligenz einen Ausdruck ihrer politischen Gesinnung
hätten finden können.
Die Reform der Kreis- und Gouvemementsverwaltung wurde durch
Verordnung vom 19. Dezember 1866 befohlen.
Zur leichtern Kontrolle wurden die bestehenden fünf Gouvernements
in zehn umgeteilt, und die Zahl der Kreise von 39 auf 84^) festgesetzt.*)
1) Eeinke a. a. 0. S. 154 gibt fälscliHch 85 an.
^) Die Zahl der Kreise in deu verechiednen Gouvernements beträgt: "Warschau 14,
Lublin 10, Siedice 9, Kaiisch 8, Petrikau 8, Suwalld 7, Kjelce 7, Lomsha 7, Plock 7, Eadom 7.
B. Die Verwaltungsreform 59
Damit schuf sich die Regierimg nebenher die Möglichkeit, eine größere
Zahl von russischen Beamten nach Polen zu schicken.^)
Das ausführende Organ ist in jedem der zehn Gouvernements die
Gouvemementsverwaltung. Anfänglich waren die Gouvernementsverwal-
tungen der Regierimgskommission für innere Angelegenheiten unterstellt.
Als diese durch ükas vom 29. Februar 1868 aufgehoben wurde, wurden
sie auf allgemeiner Grundlage dem dirigierenden Senat unterstellt mid dem
Ministerium des Innern angeghedert. Die Gouvemementsverwaltung besteht
aus dem Gouverneur mit einer Privatkanzlei und der Prawlenije, der Ver-
waltungsbehörde. Die Prawlenije Avurde in folgende Abteilungen geteilt: all-
gemeine Verwaltung, militärisch -pohzeiliche,^) juridische, Versicherungs-
wesen, Medizinal-, Finanzen und Staatseigentum.^) Der Hauptimterschied
zwischen der Stellung eines Gouverneurs in den russischen und in den
polnischen Gouvernements besteht in der Bemessung der seinem persön-
lichen Ermessen unterliegenden Kompetenzen.*) In den russischen Gou-
vernements verteilen sich diese Kompetenzen auf: die Adelsmarschälle, che
^) Die polnischen Gouvernements sind zwischen 863000 und 1599000 Deßjatinen
groß, während kein russisches unter 2831000 (Kaluga) groß ist; elf russische Gouverne-
ments aber sind, einzeln genommen, größer als die zehn Gouvernements des Zaiiums
Polen zusammen.
') Diese Abteilimg wurde durch Verfüg-i;ng des Statthalters am 9. Januar 1867 auf-
gehoben, ebenso wie der Posten eines Generalpolizeimeisters von "Warschau, nachdem da«;
Land hinreichend beruhigt schien.
") Die Abteihmgeu für Finanzen und Staatseigentum wurden durch Ukas vom
26. März 1869 aufgehoben imd durch die Kasjonnaja palata, den Kameralhof, ersetzt.
*) Die Kompetenz eines Gouverneurs im Zartum Polen ergibt sich aus nachstehenden
Paragraphen der Instruktion für die Verwaltung des Zartums Polen:
§ 11. Der Gouverneur ist in dem ihm anverti'auten Gouvernement der erste Wächter
der Unantastbarkeit der höchsten Rechte der Selbstherrschaft, für das Wohl des Reiches
sowie für die pünktliche Durchfühiimg der Gesetze und der Regierungsvorschriften auf
allen Gebieten der Verwaltung.
§ 15. Unter strenger Beobachtung der allen Untertanen des russischen Reichs zu-
gebilUgten Glaubensfreiheit hat der Gouverneur alle gesetzlichen Rechte und die Un-
antastbarkeit der rechtgläubigen Kirche und aller andern durch das Gesetz anerkannten
Glaubensbekenntnisse zu schirmen und hat darauf zu achten, daß alle Bewohner des ihm
anvertrauten Gouvernements in Ausübimg ihres Glaubens keinerlei ungesetzlichen Be-
grenzimgen vmd Beschränkungen unterworfen würden. Der Gouverneur hat alle Glaubens-
bekenntnisse vor gesetzwidrigen Angriffen durch Andei-sgläubige zu behüten imd hat
darauf zu achten, daß die Geistlichkeit, die weiße ebenso wie die Klostergeistlichkeit, die
durch das bürgerliche Gesetz festgesetzten Regeln pünktüch erfüllen.
§ 17. Der Gouverneur handelt entweder aus persönlicher Machtvollkommenheit oder
durch Vermittkmg der Gouvernemeutsverwaltimgsbehörden.
§ 18. Der persönlichen Entscheidung des Gouverneurs ohne Teilnahme der Gou- '
vemementsbehörden unterliegen :
a) Politische oder ganz besonders geheime Angelegenheiten.
b) Angelegenheiten von besondrer Eile, wenn sie auch der Entscheidung der Gou-
vemementsbehörde bedürfen sollten.
60 Drittes Kapitel. Die Reformen von 1864
Sjemstwo-Uprawa, die Stadtverwaltungen. Der Gouverneur hat somit mehr
den Charakter einer Aufsichtsinstanz. In den pohlischen Gouvernements
fehlen, wie schon früher bemerkt, die genannten ständischen und örtlichen
Organe der Selbstverwaltung; ihre Kompetenzen sind in der Privatkanzlei
des Gouverneurs vereinigt. Er allein hat in der Verwaltungspraxis das
Recht der Initiative.
In dem Maße, vne die Bedeutung des Gouverneurs zugenommen hat, hat
die der Prawlenije eingebüßt. Sie hat ausschließlich solche "wirtschaftUche
Angelegenheiten zu bearbeiten, die ihr der Gouverneur zugehen läßt. ^) Denn
auch in die rein wirtschaftlichen Angelegenheiten ist die politische Note
hineingetragen, die die Absicht, russifizierend zu wirken, zur Schau trägt.-)
Der Gouvemementsverwaltung sind unterstellt die sieben bis vierzehn
Kreisverwaltimgen mit einem Kreischef ^) an der Spitze. Dieser Kreischef
c) Angelegenheiten, betreffend Sicherstellung eines richtigen Ganges der ländlichen
Gemeindeverwaltung. (§194 313 dieser Instruktion.)
d) Anstellung und Entlassung von Beamten der Landpolizei. (§ 128/151 dieser In-
struktion.)
e) Der allgemeine Schriftverkehr mit den Mihtärbehörden über Truppenverschiebungen,
Besichtigung und Aufstellung der Jahresberichte über das Gouvernement.
f) imd g) Die Au.sgabe von "Waffenscheinen und das Paßwesen.
h) Angelegenheiten der Ausländer sowie der unter poUzeiücher Aufsicht stehenden
Pereonen.
i) Ausgabe von Pässen an römisch-katholische Angehörige der Geistlichkeit (weltliche
und Klostergeistlichkeit).
k) Aufsicht über die römisch-katholischen Klöster und Kirchen.
1) Aufsicht über Druckereien, lithogi-aphische Anstalten usw.
m) Aufsicht über Wohltätigkeitsanstalten.
n) Steuei-stundung.
Anmerkung. Gemäß Bestimmung vom 20. September 1876 kann der Gouverneur
gewisse Geldstrafen verhängen.
^) Siehe Instmktion für den Gouvenieur, Anm. 4 S. 59, § 18, b und c.
') So müssen sich Unternehmer von öffentlichen Arbeiten verpflichten, bei diasen
Arbeiten mindestens die Hälfte der Arbeiter aus Personen nissischer Nationalität, d. h.
griechisch-katholischen Glaubens zu ven\'enden.
^) Dessen Instruktion siehe § 84/91 der Instniktion für die Verwaltung des Zar-
tvims Polen.
§ 84 der Instniktion besagt: „Unter der Aufsicht des Gouveraeiu-s und der Gou-
vernementsverwaltung vei-waltet der Kreischef unmittelbar den ihm anvertrauten Kreis
mit allen zu ihm gehörigen Städten, Flecken, Gminen, Yoi-werken und Ländereien. Er
präsidiert in der Kreisverwaltung. Der Kreischef wird durch den Generalgouvemeur er-
nannt, versetzt und entlassen.
Anmerkung. (Nach der Eedaktiou von 1895.) Aus der Kompetenz des Kreischefs
scheiden aus: die Stadt Wai-schau, die sich in einer besondera Lage befindet; alle Gou-
vernementshauptstädte, die Stadt Lodz, ebenso Wlociawek, deren Magistrate der Gou-
vemementsverwaltung unmittelbar unterstellt sind. In den Gouvemementshauptstädten
unterstehn die PoUzeiangelegenheiten der Verwaltung besondrer Polizeimeister und ihm
zugeteilter städtischer PoUzei Verwaltungen. Sie sind unmittelbar den Gouvernements-
B. Die VerwaltuDgsrefonn Q\
ist in seinem Amtsbezirk der Träger der Gewalt des Gouverneurs und hat
dementsprechend größere Machtbefugnisse als seine Kollegen in den rus-
sischen Gouvernements. Zu seiner Unterstützung hat er die Landpolizei,
die in Rußland allmählich seit 1902 eingeführt wird. Die Kreise sind ein-
geteilt in „Gminen", die zusammengesetzt sind aus den „Landgesellschaften"
(„Gromada") sowie den selbständigen Gutshöfen, die den Wolosten in Ruß-
land entsprechen. Wir haben sie schon kennen gelernt. (Siehe S. 50 — 58.)
4. Die Städte
Unter den früher geschilderten Verhältnissen kann es uns nicht wunder-
nehmen, wenn wir bei Betrachtung der Städteordnung gleichfalls einen
organischen Zusammenhang der Selbstverwaltung mit andern Institutionen
vermissen. Die Städteordnung ist auf der Grundlage der im alten Herzog-
tum Warschau vorhanden gewesnen französischen aufgebaut.
Bis zum 1. Juni 1869 gab es in den zehn Gouvernements des Weichsel-
gebiets 452 Ortschaften, die nach städtischem Recht verwaltet wurden. Da
die große Mehrzahl von ihnen den Charakter von Dörfern trug, wurden
349 in Flecken umbenannt, auf die die Gminverwaltung ausgedehnt wurde;
ganz kleine Orte bildeten Landgemeinden (gromada), die an eine Gmin
angeschlossen Avurden.
Gegenwärtig gibt es in Polen 116 Städte.
Die städtische Verwaltung liegt im allgemeinen gleichfalls bei den
Gouverneuren und Kreischefs, denen dafür besondre Bürgermeister zur
Seite gestellt sind.^) Aus der Kompetenz der Kreischefs scheiden aus:
alle Gouvernementshauptstädte ^) und die Städte Lodz und Wloclawek,^) an
deren Spitze ein Magistrat steht, der seinerseits den Gouvernementsver-
waltimgen direkt unterstellt ist. Bezüglich ihrer Verwaltung bUdet eine
Ausnahme die Stadt Warschau. Sie hat neben dem Magistrat einen Ober-
polizeimeister,*) der bezüglich lokaler Angelegenlieiten mit den Rechten
Verwaltungen unterstellt. Die genannten Angelegenheiten in den Städten Lodz und
Wloclawek werden von Polizeinieistem vei-waltet. Dem Polizeimeister von Lodz ist noch
eine besondre etatmäßige Kanzlei zugeteilt (siehe § 143, Anm. Fortsetzung). Dieser
Polizeimeister (von Lodz) ist der Gouvernementsverwaltung, während der Pohzeimeister
der Stadt Wloclawek dem örtUchen Kreischef unmittelbar unterstellt ist. (Hieraus ergibt
sich auch, wohin sich Ausländer in den genannten Städten in allen polizeilichen Angelegen-
heiten zu wenden haben.)
^) Die Städteordnung für das russische Eeich (siehe § 1 , Anm. 1) findet in Polen
keine Anwendimg. Weiteres bei Spassowitsch u. Pilz, „Tagesfragen'', Bd. I, Petersbg. 1902.
") Diese Städte sind: Suwalki, Lomsha, Plock, Warschau, Sjedlec, Kaiisch, Petrikau,
Radom, Lublin, Kjelce; sie haben auch besondre Landpolizeiverwaltungen.
"j Siehe Anmerkung zu § 84 der Instruktion für die Verwaltung des Zartums Polen,
aufgefühi-t in Amn. 3 auf S. 60.
*) Siehe § 152 bis 158 obiger Instruktion.
62 Drittes Kapitel. Die Eeformen von 1864
und Pflichten eines Gouverneurs ausgerüstet, direkt dem Generalgouvemeur
unterstellt ist.^) Warschau nahm früher als Hauptstadt des Zartums und
Sammelpunkt aller staatlichen und gesellschaftlichen Zentralorgane eine
Sonderstellung vor den andern Städten des Gebiets ein. Diese Sonder-
stellung brachte manche Unbequemlichkeit in politischer Beziehung mit
sich, und so -wurde der Wunsch, sie zu beseitigen, zur Grundlage des Gre-
setzes vom 22. Juni 1870 über die Yerwaltung der Stadt Warschau. *)
C. Der Generalgouvemeur
1. Seine Instruktion
Um nun möglichste Einheit in der Tätigkeit aller Organe zu erzielen,
sind die zehn polnischen Gouvernements zu einem Generalgouvernement mit
einem Generalgouverneur an der Spitze vereinigt. •') Bis zum Jahre 1874-
*) § 152: „Der Warschauer Obei-polizeiraeister und seine Venvalrung sind in allge-
meinen Verwaltimgsangelegenheiten dem Minister des Innern, in den örtlichen Angelegen-
heiten dem Generalgouvemeur untei-stellt." Der Oberpolizeimeister von Warschau kann
gemäß Sondervorschrift vom 20. September 1876 Geldsti-afen verhängen.
2) Reinke, a. a. 0. S. 176.
^) Die Vollmachten des Genoralgouvemeurs beruhen auf den §§ 204 bis 262 des
allgemeinen Gouvernements -Regulativs, auf § 2 der Instruktion für das Zartum Polen sowie
auf einer Fülle von Anmerkungen, die in den Vorschriften über die Militärdienstpflicht,
über die römisch-katholische Geistlichkeit, über Anstellung und Absetzung von Beamten,
über Kirchen-, Schul- imd Polizeifragen verstreut sind. (Siehe § 257, Ukas vom 29. Febr.
1868, Gesetz vom 13. JuU 1876, Ukas vom 5. April 1879.)
§ 208 bis 257 enthalten die Kompetenz des Gencralgouvemeurs.
§ 211. Besondrer Aufsicht des Generalgouvemeurs unterliegen:
1. der allgemeine Wohlstand und die öffentliche Ordnung (§212 bis 221 und § 236),
2. öffentliche Gesundheit und Verpflegung (§ 222 bis 224),
3. allgemeine Wirtschaft (§ 225 bis 231),
4. der Personalbestand der lokalen Verwaltungen (§ 282 bis 285).
§ 212. Der Generalgouvemeur hat darauf zu achten, daß die Jugend in den Regeln
reinen Glaubens, guter Moral und in Gefühlen der Büngabe zu Thron imd Vaterland
erzogen werde . . .
§ 214. Der Generalgouvemeur hat darauf zu achten, daß die EdeUeute ein ehrbares
Leben fuhren . . .
§ 218 verpflichtet den Generalgouvemeui', beim Ausbmch von Unnihen einzugreifen,
sofern die Maßnahmen der zuständigen Orisbehörden nicht ausreichen.
§ 221. ... er verfolgt mit aller Strenge Verleumdungen und Personen, die falsche
Beschwerden und lügnerische Denunziationen verbreiten . . .
§ 225. . . . der besondern Fürsorge des Generalgouvemeurs unterliegt die Beauf-
sichtigung des städtischen Budgets wie die Eröffnung neuer Einnahmequellen durch Be-
steuenmg . . .
§ 226. Bezüglich der Landwirtschaft hat sich der Generalgouvemeur an die Gmnd-
anschauung zu halten, daß sie das hauptsächlichste und sicherste Fundament des Volks-
wohlstandes ist; er bat darum jede Gelegenheit zu benutzen, um gründliche und direkte
Mittel anzugeben zur Hebung und Verbesserung der Landwii-tschaft.
C. Der Generalgouvenieur 63
■wurde er Statthalter genannt.^) Den Haiipthebel der örtlichen Verwaltung
stellt dennoch der einzelne Gouverneur dar, der, ebenso wie in den rus-
sischen Gouvernements, unmittelbar über die Hilfsorgane verfügen kann.
Der Generalgouverneui" ist auf der einen Seite mehr eine Aufsichtsbehörde,
die den Minister des Innern entlasten, auf der andern der unmittelbare
Repräsentant des Zaren, der mit besondern Vollmachten ausgerüstet, den
Geschäftsgang in dem ihm unterstellten Gebiet beschleunigen soll. Von
diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, kann die Stellung des Generalgouver-
neurs überhaupt als eine Konzession an das Bedürfnis nach Dezentralisation
aufgefaßt werden.^) Schon hieraus geht hervor, daß der Generalgouverneur
§ 227 fordert gleiche Einwirkimg auf die Fabrik- iind Haiidwerksgewerbe wie aucli
die wiiischaftliche, soziale und moralische Lage der Arbeiterbevölkerung.
§ 229/230 fordern vom Generalgouverneur die Unterstützimg aller wirtschaftlichen
Unternehmungen sowie sein Eingreifen gegen der Staatswii-tschaft schädliche Monopolisten.
§ 234. Wünsche des Generalgouverneurs bezüglich Besetzimg von Beamtenstellen
in dem ihm anvertrauten Gebiet dürfen durch den Minister des Innern ohne jedesmalige
besondre Begründung nicht abgelehnt werden.
§ 237 bis 240. . . . der Genei-algouverneur hat direkten Vortrag beim Zaren, hat
aber über den Gegenstand des Vortrags an den im einzeluen Falle zuständigen Ressort-
minister zu berichten.
§ 241 bis 246. Der Generalgouverneiu- kann in allen Fällen auch an Berichte, die
nicht durch seine Hand zu gehen brauchen, seine eigne Meinimg über den Gegenstand
des Berichts dem zuständigen Ressortminister zum Ausdruck bringen.
§ 243. ... in einem Generalgouvernement können von keiner Seite irgendwelche
das Volkswohl oder fiskalische Interessen betreffende Bestimmungen ohne Mih\'irkung das
Generalgouvemeurs eingeführt werden . . .
§ 245. . . . das gleiche gilt von Bestrafungen und Belohnungen der Beamten . . .
§ 252 nebst Anlage zu § 23 des Allgemeinen Gouvemementsregulativs sowie § 406
nebst Anlage stellt den Mihtärgouverneur unter den Generalgouverneur. Die Verhängung
des Kriegszustandes über ein Gebiet liegt in der Kompetenz der Zentralgewalt, die in
jedem einzelnen Falle, meist durch ein allerhöchstes Reskript, die Kompetenzen feststellt.
§ 256. ... in den Grenzgouveniements liegt dem Generalgouverneur die Über-
wachung der Nachbarn ob . . .
§ 262. ... in den Gouvernements mit jüdischer Bevölkening können die General-
gouvemeure bis zu drei Juden als Sachveretändige in Judenangelegenheiten in der Kanzlei
anstellen . . . (Sonst sind Juden vom Staatsdienst ausgeschlossen.)
§ 2 der Instruktion für die Verwaltung des Zartums Polen stellt dem General-
gouverneui' einen Gehilfen (Vizegeneralgouverneur seit 1892) zur Verfügung, unterstellt
ihm das Warschauer Statistische Komitee, gestattet ihm die Verhängung von Geldstrafen
(gemäß den besondern Regeln vom 20. September 1876) imd die Ausgabe von Auswande-
nmgsscheinen , die sonst durch den Zaren be^dlligt werden müssen. (Der Fühi-ung des
Statistischen Komitees ist in Polen eine so große Bedeutung beigemessen worden, weil in
den mssischen Gouveniements mit Sjemstwoverwaltimg die statistischen Bureaus zur
Zentrale politischer Propaganda gemacht worden waren. Die Notwendigkeit der Eimichtung
eines Korrespondentennetzes in den Kreisen und Gouvernements hat es möglich gemacht,
daß alle fortschrittlich gesinnten Elemente auf dem Lande trotz der schlechten Verbin-
dungen dauernd miteinander Zusammenhang halten konnten.)
^) Ukas vom 11. Januar 1874 anläßlich des Todes des Statthalters Graf Berg.
^) Siehe § 243 und 245 in der vorletzten Anm.
64 Drittes Kapitel. Die Keforinen von 1864
stets Träger der vom Zaren anerkannten und befolgten politischen Prinzipien
sein rauß.^)
Die in Anm. 3 S. 62/3 wiedergegebne Instruktion für den General-
gouvemeur von Warschau ist in allen ihren wesentlichen Teilen dieselbe,
denen die russischen Generalgouverneure, z. B. der von Moskau, unterworfen
sind. Ihre Wirkung im Zartum Polen ist aber, ebenso wie bei den Gouver-
neuren, eine ganz andre oder richtiger schärfere, weil die bereits gelegent-
lich der Befugnisse der Gouverneure (S. 59/60) erwähnten Selbsts-erwaltungs-
körper fehlen.^)
Neben der allgemeinen Instruktion bestehen noch besondre Yollraachten.
Am 10. Juli 1871 wurde die besondre Yerwaltimg der geistlichen An-
gelegenheiten für ausländische Glaubensbekenntnisse im Zartum Polen auf-
gehoben, imd ihre Befugnisse wurden an das Ministerium des Innern über-
geführt. Dabei wurde dem Generalgouvemeur indessen zur Pflicht gemacht,
alle Vorschläge der römisch-katholischen Geistlichkeit betreffend Besetzung
von Ämtern in katholischen Kirchengemeinden, Klöstern und Seminaren zu
begutachten. Ferner hat er durch Verfügung vom 20. September 1876 das
Recht, ebenso wie der Polizeimeister von Warschau und die Gouvernements-
chefs, Strafen für Delikte polizeilichen Charakters zu verhängen.^)
') § 204 des Allgemeinen Gouverneraentsregulativs bestimmt, daß die „General-
gouverneiue von Seiner Majestät dem Kaiser immittelbar auf Grmid besondem persön-
lichen Vertrauens ernannt" werden.
-) § 1 bis 5 des Allgemeinen Gouvemementsrcgulativs lauten:
§ 1. Das Reich ist mit Bezug auf die bürgerliche Venvaltung seiner einzelnen Teile
in Gouvernements, Gebiete und Stadtbauptmannschaften eingeteilt.
§ 2. .Jeder dieser Teile wird entweder nach dem Allgemeinen Regulativ oder nach
,. Besondern Instruktionen" verwaltet.
§ 3. Nach dem Allgemeinen Regulativ werden folgende Gouvernements verwaltet:
1. Archangelsk, 2. Astrachan, 3. Bessarabien, 4. Wilna, 5. Witebsk, 6. Wladimir, 7. Wo-
logda, 8. Wolynien, 9. "Woronesh , 10. "VVjatka, 11. Grodno, 12. Jekaterinoslaw, 13. Kasanj,
14. Kaluga, 15. Kijew, 16. Kowno, 17. Kostroma, 18. Kurland, 19. Kursk, 20. Ijvland,
21. Minsk, 22. Mohilew, 23. Moskau, 24. Nowgorod, 25. Xishni- Nowgorod, 26. Olonetz,
27. Orenbuig, 28. Orjol, 29. Pensa, 30. Perm, 31. Podolien, 32. Poltawa, 33. Pskow,
34. Rjasanj, 35. Ssamara, 36. St. Petersbui-g, 37. S.saratüw, 38. Ssimbirsk, 39. Sraolensk,
40. Taurien, 41. Tambow, 42. Twerj, 43. Tula, 44. Ufa, 45. Charkow, 46. Cherssonj,
47. Tschernigow, 48. Estland und 49. Jaroslaw.
Anm. In der Benennung Gouvernement Livland ist die Insel Ösel einbegriffen,
die zusaimnen mit einigen zu ihr gehörigen andern Inseln einen seiner Kreise bilden.
§ 4. Nach den Besondern Instrukiionen werden verwaltet: 1. die Gouvernements
des Zartunis Polen, 2. der Kaukasus, 3. das transkaspische Gebiet, 4. Tiirkestan, 5. die
Gebiete Akmolinsk, Ssemipalatiusk, Ssemirjetschje, Uraljsk und Turgai, 6. die General-
gouvemeraents Irkutsk vmd Amur und 7. die Stämme der verechiednen Fremdvölker.
§ 5. Auf Giaind besondrer Regeln werden verwaltet: 1. das Gebiet des Donschen
Heeres und 2. die Länder des Asti'achanschen Kosakenheeres.
^ Reinke, a. a. 0. S. 162 Anm. 1 und 2 bezeichnet solche Delikte wie folgt: „. . . Ver-
letzung der Regeln über die polizeihche Aufsicht und das Aufbewahren von "Waffen und
C. Der Generalgouvernem- 65
2. Die Kanzlei des Generalgouvemeiirs
Dem Generalgonverneur zur Seite steht ein Gehilfe für militärische
und ein solcher für Zivilangelegenheiten, ferner eine Kanzlei mit einem
hohen Oberbeamten an der Spitze. Je nach der Persönlichkeit des General-
gouvemeiu's hatten die drei eben genannten Stellen verschiedne Bedeutung.
Um sie zu kennzeichnen, wollen wir uns an die Ausführimgen des spätem
konservativen Abgeordneten der dritten Reichsduma Herrn S. N. Alexejew
in der „Nowoje Wremja" (Nr. 10596) vom 31. August 1905 halten.
Schon während der Amtszeit des Grafen Schuwalow (1894 bis 1897)
begann der Gehilfe des General gouverneurs für Zivilangelegenheiten eine
bedeutsame, selbständige Rolle zu spielen.^) Die direkten Beziehungen
zwischen dem Generalgouverneur einerseits und dem Gebiet mit seinen
Verwaltungsbehörden andrerseits nahmen immer mehr ab. Es bildete sich
eine neue Instanz, die selbständige Beschlüsse fassen und dem General-
gouverneur die Angelegenheiten nach eignem Ermessen unterbreiten konnte
oder nicht. Unter dem Fürsten Imeretinski nahm die Bedeutung des Ge-
hilfen des Generalgouvemeurs sowie die Kanzlei des Generalgouverneurs
noch mehr zu; es bildeten sich drei Mittelpunkte der Verwaltung: das
Kabinett des Generalgouverneurs, das Kabmett seines Gehilfen und die
Kanzlei. In einzelnen Fragen verfolgte jede dieser Stellen ihre besondre
Politik, jede hatte ihre besondern Günstlinge und ihre besondern Anti-
pathien. Jede der Gruppen war bestrebt, einen möglichst großen Einfluß
Pulver durch Privatpersonen; Verletzung der Kegeln betr. Zusammenkünfte der römisch-
katholischen Geistlichkeit, Weigerung derselben, geistliche Amtshandlungen für Personen
zu vollziehen, die eine Ehe mit Rechtgläubigen eingehen vroUen; Errichtivng von Denk-
mälern zur Erinnerung an Ereignisse, die eine politische Bedeutung haben; unpassendes
Betragen in den Kirchen während des Gottesdienstes an hohen Festtagen sowie bei Schau-
stellungen, die anläßlich kaiserlicher und andrer Festtage aufgeführt werden; Tragen von
Trauergewändern ohne gesetzlich gerechtfertigte Ursache." Die Schuldigen veerden einer
Strafzahlung unterzogen bis zu 10 Rubel oder Arrest bis zu fünf Tagen auf Verfügung des
entsprechenden Gouverneurs oder des Generalpolizeimeisters. Strengere Strafen werden
auf Verfügung des Generalgouverneurs von Warschau verhängt.
Am 11. Juni 1899 wurde dem Generalgouverneur von Warschau anheimgestellt, eine
verbindliche Verfügung betr. die Hausknechte und die Nachtwächter in Wai-schau und Lodz
zu erlassen und Personen , die diese Verfügungen übertreten sollten , zu einer Geldstrafe
bis zu 300 Rubel oder bis zu einem Monat AiTest zu verurteilen. (Sammlung von Ge-
setzen, Artikel 1362.) Am 11. April 1900 erhielt der Genei'algouverneur von Warschau
zeitweilig auf drei Jalu'e die besondeni Vollmachten, verbindliche Verfügungen zu treffen
betr. Angelegenheiten, die sich auf Verhinderung einer Störung der Staatsordnung und der
öffentlichen Ruhe beziehen. (Sammlung von Gesetzen, Artikel 1320.) Auf Grund dieses
Gesetzes ist der Generalgouverneur bevollmächtigt, für Verletzung der von ihm erlassenen
Verfügungen auf administrativem Wege Strafen aufzuerlegen, jedoch nicht höher als bis
zu drei Monaten Ai-rest oder Geldsti'afen bis zu 500 Rubel.
^) Die Generalgouverneure sind im Zusammenhange auf S. 112 genannt.
Cleinow, Die Zukunft Polens 5
QQ Drittes Kapitel. Die Reformen von 1864
und möglichst große Bedeutung zu gewinnen. Es stellte sich dabei heraus,
daß es nicht allzu schwer fiel, die Macht des Kabinetts des Generalgouver-
neurs zu beschneiden; daher war es natürlich, daß die beiden andern
Stellen um so mehr bemüht waren, ihre Macht auf Kosten der Macht der
Gouverneure sowie der nach dem Gesetz selbständigen Verti'eter der ein-
zelnen Ressorts zu vergTößem. Die Mehrzahl der Gouverneure und Ver-
treter der einzelnen Ressorts fügte sich auch einer solchen Beschneidung
ihrer Kompetenzen, um sich nicht die an sich schwierigen Beziehungen
und den Verkehr mit dem Generalgouverneur um ein weiteres zu er-
schweren. Wenn aber einzelne von ihnen sich nicht fügen wollten, mußten
sie von der Bühne verschwinden. Unter den gekennzeichneten Bedingungen
mußte der amtüche "Wirkungskreis der Kanzlei des Generalgouverneurs
schnell zunehmen. Das Kanzleiweseu und die für Kanzleien charakteristische
Nachlässigkeit entfaltete sich zu hoher Blüte; der Gcneralgouverneur selbst
wurde aber durch seine Gehilfen, durch seine Kanzlei sowie durch die
zunehmenden Mengen amtlicher Schreiben immer mehr in den Schatten
gestellt; er begann, sich dem Gebiet sowie dessen Leben immer mehr
zu entfremden. Während der Amtszeit des Nachfolgers des Fürsten
Imeretinski, des hochbetagten mid kranken Generals Tschertlco w , Avuchs die
Zwischenwand zwischen dem Generalgouvenieui* und dem Gebiet bis zum
äußersten: das Kabinett des Gehilfen sowie die Kanzlei erhielten eine
zweifellos vorherrschende Bedeutmig — die Tätigkeit des Kabinetts des
Generalgouverneiu'S sclunimpfte stark zusammen. Die Chefs der einzelnen
Institutionen waren häufig Monate hindurch der Möglichkeit beraubt, den
Generalgouvernem- zu sehen und mit ihm Tagesfragen zu besprechen.
Personen, die Anliegen an den Generalgouverneiu* hatten, wurde gewöhn-
lich erklärt: „Wozu den Herrn General beunruhigen!" Die Angelegenheiten
w^urden daher entsveder im Kabinett des Gehilfen oder in der Kanzlei er-
ledigt. Der Generalleutnant Maximowitsch konnte zum Beispiel nicht in
die Lage kommen, das Gebiet zu verwalten, schon allein weil er in der
kurzen Zeit von zwei Monaten, die er in Warschau zubrachte (1905),
nicht in die laufenden Angelegenheiten eindringen konnte. Später bezog
er als Sommeraufenthalt das Fort Zegrze und konnte nicht eine General-
inspektionsreise unternehmen. Nach wie vor verblieb die Macht tatsächlich
in den Händen unverantwortlicher Personen, angefangen mit dem Ge-
hilfen des Generalgouverneurs und endigend mit den Amtsvollstreckem
der Kanzlei des Generalgouverneurs.
Viertes Kapitel
Die Reformen nach 1864
Nach Einführung der russischen Yerwaltimg und von russischen Ver-
waltungsbeamten in das Zartum Polen mußte die Fiage in ihre praktischen
Rechte treten, ob die Polen Russisch oder die russischen Beamten Polnisch
lernen sollten. Die Regierung entschloß sich, nach und nach die russische
Sprache einzuführen.
In den ersten Jahren Avar die russische Politik nicht ungeschickt. Sie
richtete sich nicht direkt gegen das polnische Element, sondern gegen,
solche Kreise der Bevölkerung des Zartums, die selbst nicht polnisch, den-
noch aber nach Auffassung der Regierung zur Polonisierung neigten. Das
waren Litauer, Deutsche und Juden. Infolgedessen wurde vor allen Dingen
in diesen Schulen die russische Sprache eingeführt.^) Freilich spielte hier
noch ein andrer Grund mit hinein : die Furcht vor dem deutscheu Einfluß ;
wir gehn durchaus nicht fehl, wenn wir annehmen, daß die Maßregeln
vom 1. Mai 1869, die die russische Sprache vor allen Dingen in die
deutschen Schulen von Warschau und Lodz einführten, hauptsächlich
gegen das Deutschtum gerichtet waren, nicht gegen die Polen. So be-
zeichnet ein sehr interessanter Aufsatz im amtlichen Journal des Unter-
richtsministeriums, der „Die Interessen der Yolksbildung im Warschauer
Lehrbezirk" benannt ist, die deutsch-evangelische Hauptschule in Warschau
als „einen Yorposten der deutschen Zivilisation und der lutherischen
Lehre". ^) Im Jahre 1869 sollen dreißig katholische Kinder durch diese
Schule der evangelischen Kirche gewonnen worden sein.^) Während die
polnisch-katholischen Kinder Russisch leicht lernten, soll es den evange-
lischen sehr schwer gefallen sein. Man wird daraus folgern, daß die
Evangelischen der Slawisierung einen Widerstand entgegenbrachten, nicht
aber, daß die Deutschen damals zur Polonisienmg neigten. In den 1860 er
Jahren hat darum nach imsrer Auffassung der Kampf vor allem dem
») Journal des Unterrichtsministeriums von 1869, Bd. 143, Teil 1, S. 10 bis 12.
2) Ebenda ßd. 141, Teil IV, S. 3 und 7 bis 9.
») Ebenda Bd. 143, Teil IV, S. 63.
ßg Viertes Kapitel. Die Reformen nach 1864
Deutschtum, nicht den Polen gegolten. Wir kommen hierauf noch in
einem spätem Kapitel zurück.
Gleichzeitig mit dem Kampf gegen die deutsche Schule begann die
Regierang die russische Sprache in den Gouvernements- und Kreisverwal-
tungen einzuführen, in denen sich das zahlreichste Kontingent von russischen
Beamten versammelte. Dieser Teil der Aufgabe begegnete anfänglich kaum
Schwierigkeiten. Denn obwohl das Gesetz allein die polnische Sprache in
den Verwaltimgsbehörden anerkannte/) wurde Russisch dennoch bald in
der Praxis die Dienstsprache, weil die Beamten nicht Polnisch konnten.
Ende der 1860er und Anfang der 1870er Jahre haben die durch den
letzten Aafstand völlig niedergeschmetterten Polen nicht gewagt, sich der
Einführung der russischen Sprache auch nur heimlich zu widersetzen. Sie
lernten Russisch. In jenen fünf bis acht Jahren hat das polnische Yolk
mehr Russisch ohne Schulen gelernt als in den folgenden dreißig Jahren
mit Schulen. Der unerwartete Erfolg, der hauptsächlich durch die natio-
nale Schwäche der Polen und durch das Bestreben der deutschen und
der jüdischen Handelskreise — polnische gab es fast gar nicht — , die
beginnende wirtschaftliche Belebimg voll ausnutzen zu können, zu verstehn
ist, hat die Regierung veranlaßt, jedoch in Verkennung der wahren Gründe
für den Erfolg, zu einer zwangsweisen Einführung der nissischen Sprache
zu schreiten.
Schon im Jahre 1868 '*) wurde Russisch als amtliche Sprache in den
Verwaltungsorganen und 1869=^) in den Finanz- und Steuerbehörden ein-
geführt. Doch erst Artikel 241 des Regulativs vom 19. Februar 1875 be-
fahl kategorisch die Einführung der russischen Sprache in allen Gerichts-
stellen. Hierbei zeigte sich freilich, daß die Regierung zu schnell vorging,
denn schon im Jahre 1876 mußte sie die Verwendung der örtlichen
Sprachen und Dialekte — Polnisch, Jargon, Litauisch, Masurisch — füi- die
Friedens- und Gmingerichte freigeben.^)
^) Sammlung der Regierungsvorschriften für das Reorganisationskomitee, Bd. V,
S. 659.
*) ErgänzAing-sartikel 7 zimi Regulativ vom 29. Februar 1868.
*) Art. 23 des Regulativs vom 26. März 1869 für die Kameralhöfe.
♦) Art. 461 des -Regulativs für die Gerichtsinstitution, Gesetzsammlung Bd. XV J,
Teil 1 lautet: „Das Gerichtsverfahren findet im Warschauer Gerichtsbezirk in rassischer
Sprache statt.
Anm. Bei den Vernehmungen in prozessionalen und ki'iminellen Angelegenheiten
der Gmingerichte kann neben der nussischen Sprache auch die angewendet werden, deren
sich die örtüche Bevölkerung bedient, sofern die Parteien und sonstigen Prozeßbeteiligten
die russische Sprache nicht beherrschen. Doch auch in einem solchen Falle . . . müssen
alle Entscheidungen, Urteile wie überhaupt alle schriftlichen Akten in russischer Sprache
ausgeführt werden."
A. Das Schulwesen 69
A. Das Scliulwesen^)
Im Jahre 1862 gab es im Zartiim Polen 1396 Schulen mit 2052 Lehrern
und 84545 Schülern. Im Jahre 1864 „gi^^ ^^ i^^ Zartuni Polen nicht
eine einzige Schule, in der die in diesem Gebiet lebenden Russen ihre
Bildung im Sinne der Bedürfnisse des russischen Volkstums und im Geiste
des rechtgläubigen Bekenntnisses erhalten könnten",^) obgleich nach ^lil-
jutins Angabe 230000 Russen im Weichselgebiet lebten.**) Das ist insofern
imgenau, als das erste russische Gymnasium in AVarschau schon am
7. (19.) November 1863 unter tätiger Mitwirkung des Ehren Vormunds
I. I. Fundukley und des Dr. Orlo"w eröffnet wurde. Die erste russische
Schule im Zartum hatte 109 Schüler. Schon im Jahre 1866 nach Inkraft-
treten der Schulreform*) steigt die Zahl der Schulen auf 2015 mit 3371
Lehrern und 123480 Schülern, aber in ihnen ist Polnisch noch immer die
Hauptsprache. An russischen Schulen gibt es 1867 nur zwei Gymnasien
und drei Vorschulen^) mit 588 Schülern und 38 Lehrern. Die Grundlage
für die weitere Ausgestaltung des Schulwesens in dem oben angegebnen
Sinne findet sich alsdann in den Bestimmungen vom Jahre 1866 betreffend
Einrichtimg russischer Gymnasien und Progymnasien sowie in der 1869
erfolgten Gründung der Warschauer Universität.^) Damit war der allge-
meine Rahmen für die Schulpolitik in Polen gegeben.
*) Wer einseitig die Klagen der Polen über das Schulwesen im Zaitum kennen zu
lernen wünscht, studiere die geschickt zusammengestellte Schrift von Wl. Korotyfiski,
„Losy szkolnictwa w krölewstwie Polskiem"', Warschau, 1906.
*) Ukas Alexanders des Zweiten vom 30. August 1864.
') Bericht vom 22. Mai 1864. Es sind das hauptsächlich Uniaten, von deren Quali-
fikation als rechtgläubige Russen weiter imten die Rede sein wird.
*) Ukas vom 5. (17.) Januar 1866.
Die Reglements wui'deu von F. F. Witte ausgearbeitet. Es waren folgende: 1. das
Universitätsreglement, 2. Gyranasialreglements für das russische Gymnasiimi, für die deutsche
Hauptschule, für die sogenannten gemischten Gynmasien sowie für die polnischen Knaben-
und Mädchengymnasien, 3. Reglements für die russischen, polnischen, deutschen, litauischen
imd jüdischen Elementarschulen. „Den Reglements, schreibt Avenarius, der Mitglied der
Kommission war, wurde das Miljutinsche System — di^ide et impera — zugrunde gelegt.
Miljutin vertrat die Ansicht, daß das beste, wenn nicht gar einzige Mittel, neuen Auf-
ständen vorzubeugen, darin zu bestehn habe, die das Zaitum bewohnenden Nationalitäten
voneinander zu trennen. Die Kleinrussen der Gouvernements Lubhn und Siedlec sollten
zu echten Russen werden, die Litauer aus Lomsha zu echten Litauern, die Kolonisten aus
Petrikau und Kaiisch zu echten Deutschen, die Polen mosaischen Glaubens zu alten Juden.'*
(Istoritscheski Wjestnik, Mai 1904, S. 444.)
^) Journal des Unterrichtsministeriimis von 1867, Bd. 135, Teil IV, S. 139 ff.
•") AUerh. Befehl vom 29. Juli 1866. — Verordnmig des Organisationskomitees vom
13. (25.) August 1866 und Allerh. Befehl vom 8. (20.) Juni 1869.
70 Viertes Kapitel. Die Reformen nach 1864
Im Jahre 1882 wurde in den vornehmlich von Russen besuchten
Gymnasien, aber auch in der Universität, der polnischen Sprache ein
größerer Platz im Lehrplan eingeräumt wie vorher. Im Jahre 1890 schreibt
der Generalgouverneur Gurko in seinem Immediatbericht: „In der Re-
gierungsschule verhält man sich den polnischen Kindern gegenüber nicht
nur nicht liebevoll, sondern geradezu feindselig. Ihnen wird ihre polnische
Abstammung zum Vorwurf gemacht, ilir nationales Empfinden wird beleidigt,
ihr Glaubensbekenntnis wird mißachtet. Es ist natürlich, daß solch ein herz-
loses Verhalten gegenüber den Kinderseelen gerade die entgegengesetzten
Ergebnisse bewirken muß, als wie sie die Regienmg von der Tätigkeit ihrer
Schulen erwartet. Es entwickelt bei den Kindern keine Liebe zu Rußland,
sondern zwingt sie im Gegenteil schon von frühester Kindheit an, alles zu
hassen, was russisch ist, da es ihnen während der schönsten Zeit des Lebens
soviel unnütze Beleidigungen und bittere Ti'änen bereitet hat." (Zitiert in
Prawo von 1905, Heft 3, S. 216/27.) 1899 wird die polnische Sprache
als Fremdsprache erklärt, d. h. der polnische Unterricht wird in russischer
Sprache erteilt.^)
Das Schulwesen'^) in ganz Rußland, abgesehen von einzelnen asiatischen
Gebieten,^) untersteht unmittelbar dem j^linlstet für Volksaufklärimg.*)
Dessen Pflichten imd Befugnisse ergeben sich aus der „Sammlung von
Vorschriften über die gelehrten Institutionen und Lehranstalten".^) Das
Reich ist in zwölf Lehrbezirke*) eingeteilt, deren einer das Zartum Polen
unter der Bezeichnung „Warschauer Lehrbezirk" ist.
») Ukas vom 22. Februar 1899, publiziert im März 1899 im Zirkular des Warschauer
Lehrbezuks und auf Progj-mnasien imd Realschulen a\ißgedehnt 1900 durch Zirkular Nr. 5
im Mai 1900.
^ Die Leitung des Schulwesens im Zartum Polen basiert auf dem Allerhöchsten
Reskript an den Statthalter vom 30. August 1864 nebst den Ukaseu vom gleichen Tage,
betreffend:
1. die Volksschulen im Zartum Polen,
2. die Mädchen- imd Progymnasien,
3. das russische Gymnasium sowie das dazu gehörende Progymnasium imd die Volks-
schule,
4. die deutsch - evangehsche Hauptschule,
5. die Einrichtung von Schuldirektionen. (S. Sammlung von Regierungsverfügimgen be-
treffend das Reorganisationskomiteo für das Zartum Polen. Warschau, 1868, Bd. I,
S. 77 ff.)
3) Turkestan, Sseraiijetschje, Transkaspien imterstehn gleichfalls Generalgouveraeuren.
*) Vor 1864 standen die ländhchen Schulen imter dem Patronat der Großgiimd-
besitzer imd unter der FÜhning der Geistlichkeit.
■') S. Gesetzsammlung Bd. XI, Teil 1, Ausgabe 1893/1902.
") Ebenda § 7. Die Lehrbezirke sind: St. Petersburg, Moskau, Charkow, Odessa, Wilna,
Kasan], Kijew, Orenburg, Kaukasus, Westsibirien, Piga, Warschau.
A. Das Schulwesen 71
1. Der Warschauer Lehrbezirk
Der Warschauer Lehrbezirk ist in zehn Schuldirektioneu eingeteilt.^)
Die Zusammensetzung des Verwaltungsapparats aller Lehrbezirke ist ziem-
lich gleichartig."^) An der Spitze des Warschauer Lehrbezirks steht ein
Bezirkskurator und dessen Gehilfe, ihnen zur- Seite ein Schulrat, ^) bestehend
aus allen in der Stadt Warschau-*) ständig oder zufällig anwesenden Schul-
direktionsvorstehern; ferner gibt es einen Bezirksinspektor und die Kanzlei
mit einem selbständigen Chef^) sowie besondere Volksschulinspektoren,*) die
es in den russischen Lehrbezirken nicht gibt. Der wesentlichste Unterschied
zwischen dem AVarschauer imd einem russischen Schulbezirk besteht in
seiner völligen Loslösung von den Organen einer lokalen oder ständischen
Selbstverwaltung.') Eine Kontrollo der Schulen durch die Gesellschaft
ist darum gegenstandslos geworden, denn Beschwerden, die in Eußland
durch Ehren Vormünder, ^) Adelsmarschälle und Sjemstwomitglieder ver-
mittelt werden können, müssen in Polen durch Mitglieder derselben Organe
gehn, gegen die sie gerichtet sind.
2. Die Warschauer Universität
Das administrative, zentralistische Kegiment macht sich am schärfsten
bei der Warschauer Universität geltend. Die Warechauer Universität hat,
abgesehen von ihrer Bedeutung für die Verbreitung von Kenntnissen, auch
eine politische für den allslawischen Gedanken. Schon Miljutin, der die
Schuh-eform des Marquis Wielepolski vom Jahre 1862 „als von Feindselig-
keit gegen Rußland durchdrangen" bezeichnete, förderte die Umwandlung
der Warschauer Hauptschule in eine russische Universität „zur Stärkung
der Staatsgewalt und zur Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit im
Zartimi Polen^'. ^) Deutlicher aber äußerte sich der gleichfalls slawjanophile
Fürst W. A. Tscherkaßki, als er im Verwaltnngsrat des Zartums Polen
^) Diese fallen mit den zehn Gouvernements zusammen ; doch heißt die Schuldirektion
im Gouvernement Lublin „Chohn" und im Gouvernement Petrikau „Lodz" (§ 61).
'^) Ebenda § 8/11. Im "\\'ai-schauer Lehrhezirk herrscht eine größere Zentralisation,
auch fehlt die Einrichtung von Ehrenvormündem, die einen Einfluß der Gesellschaft auf
die einzelnen Schulen möglich machen würden. Vgl. S. 58.
3) Ebenda § 46. — ••) Ebenda Anm. 1. — ^) Ebenda § 11, 5.
«) Ebenda § 61, Anm. 2.
') Reinke, a. a. 0. S. 132: „Es war also eine Notwendigkeit zur Erhaltimg des
Staates, die Beziehungen der ländlichen Volksschule (zur Geistlichkeit und zum Großgrund-
besitz) zu reorganisieren."
^) § 1673 des Bd. XI, Teil 1 der Gesetzsammlung. Die Vorechriften über Ehren-
vormünder für Gymnasien und Progymnasien eretrecken sich nicht auf den Warschauer
Lehrbezirk.
") Immediatvortrag vom 22. Mai 1864.
72 Viertes Kapitel. Die Reformen nach 1864
die Schaffung einer russischen Universität in Warschau forderte, in der
besonders der Erforschung der slawischen Stämme, insonderheit des pol-
nischen Stammes ein weites Gebiet freigegeben werden müsse. ^) Die War-
schauer Universität ist eine Volkmiversität mit vier Fakultäten. Die Auf-
wendungen für die Universität ohne Baugelder betrugen von 1868 bis 1904
etwa 13000000 Rubel. ^) Wie alle Universitäten steht auch die Warschauer
unter der Oberaufsicht des Lehrbezirkskurators.^)
3. Der Kurator des Warschauer Lehrbezirks
Die Kuratoren der Lehrbezirke werden vom Minister für Volksauf-
klärung ernannt und sind diesem allein verantwortlich.*) Die Befugnisse
des Warschauer Kurators unterscheiden sich von denen der andern Lehr-
bezirke durch die Berechtigung, Vorschläge des Universitätsrats bezüglich
Besetzung von Lehrstühlen zu kritisieren und selbständige Vorschläge beim
Minister für Volksauf klärung einzureichen.^) Ferner steht es seinem Er-
messen frei, in allen Angelegenheiten der Universität die Initiative zu er-
greifen,^) wie er auch den Vorsitz im Universitätsrat führen darf.') Dem-
entsprechend ist die Stellung des Rektors für die Universität von geringerer
Bedeutung und könnte als die eines Gehilfen des Kurators gekennzeichnet
werden. Während die Rektoren russischer Universitäten immer für einen
Zeitraum von vier Jahren^) ernannt werden, wird der der Warschauer
Universität ohne Festsetzung der Frist ernannt*) und dadurch von vorn-
herein in Abhängigkeit vom Kurator gebracht. Im Falle der Erkrankung
des Rektors Avird sein Stellvertreter nach Vereinbarung zwischen dem
Minister für Volksaufkläi'ung und dem Kurator ernannt, ^°) während in
russischen Universitäten die Vertretung durch den ältesten Dekan ohne
0 Sitzung vom 14. Oktober 1866.
■•') Eingabe der War.schauer Universitätsprofessoren vom Januar 1906.
8) § 404 und 652.
*) § 25 6. Scharf gekennzeichnet wird die Stellung des Kurators des "Warschauer
Lehi-bezirks durch die ihm eingeräumten Vollmachten. Der §675 lautet: „Der Kurator .. .
hat alle seiner Meiming nach notwendigen Maßregeln zu ergreifen, um die Befolgung der
gegebnen Instruktionen durch die zur Universität gehörenden Organe und Personen zu ge-
währleisten; in außerordentlichen Phallen ist er ermächtigt, auch Mittel anzuwenden, die
seine Befugnisse überschreiten, doch ist er gehalten, dem Minister darüber zu berichten."
^) §676: „Der Kurator hat das Recht, bei Unterbreitung eines vom Universitäts-
rat eingegangnen Gesuches wegen Ernennung von Kandidaten zu Professoren dem Mi-
nister für Volksaufklärung seine Ansichten über diese Kandidaten darzulegen; er kann im
Bedarfsfalle für die freien Stellen andre, den an einen Professor gestellten Anfordenmgen
besser entsprechende Personen auswählen und beim Minister um deren Bestätigung nach-
suchen. Dieses Recht hat der Kurator auch bezüglich der Dozenten, Lektoren imd andern bei
der Universität angestellten Beamten, deren Auswahl seiner eignen Kompetenz unterliegt."
6) § 677. — ") § 679. — *) § 410. — ■') § 680. — »«) § 691.
A. Das Schulwesen 73
weiteres übernommen wird.^) Die Fakultäten sind ebenso zusammengesetzt
wie in den russischen Universitäten,^) docli ist das Stimmrecht der Do-
zenten und Lektoren bei den Fakultätssitzungen erheblich beschnitten.')
Der Universitätsrat ist bezüglich der Personalien vollständig vom Kurator
des Lehrbezirks und vom Minister abhängig — selbst die Wahl des Uni-
versitätsrichters bedarf der Genehmigung durch den Kurator. *) Da die
Universitätsprofessoren Staatsbeamte sind, kann ein aus dem Zartum
stammender russischer Untertan nur dann als Dozent angestellt werden,
wenn der Generalgonverneur nichts dagegen einzuwenden hat. ^)
Unter den geschilderten Verhältnissen ist eine Lehrfreiheit an der
Universität ausgeschlossen.
4. Die Lehranstalten
Das äußere Ergebnis der russischen Schulpolitik ist kurz dargestellt
folgendes. Die Zahl der Schulen beti'ägt:
1873 bei 180305 Schülern 3280
1876 „ 192505 „ 3436
1894 „ 272164 „ 6219
1903 „ 417609 „ 7875
Von diesen Schulen entfallen auf die Städte 1750 mit 141508 Schülern,
darunter 3 Hochschulen, 86 Mittelschulen, 961 Volksschulen und gegen 700
jüdische Cheder-, Sonntags- und Handwerksschulen. Die Tatsache, daß diese
letzte Kategorie von Schulen in der amtlichen Statistik mit enthalten ist,
läßt die Statistik selbst recht problematisch erscheinen, denn diese Schulen
haben keine ständige Schülerzahl und häufig nicht einmal ständige Lehrer
und Lehrerinnen. Interessant ist dagegen die Feststellung, daß auf dem
platten Lande, d. h. dort, wo der pohlische Bauer lebt, 6125 Schulen mit
276 101 Schülern vorhanden sein sollen, in denen Russisch gelehrt wird.
Gegenüber den russischen Gouvernements ist die Gesamtzahl der
Schulen verhältnismäßig gering, weil in Polen keine Sjemstwoschulen und
nur wenige griechisch-katholische Kii'chenschulen, die dem Heihgen Synod
unterstehn, vorhanden sind.^) Das Schulwesen konnte darum auch voll-
ständig unter der Leitung des Ministeriums für Volksaufklärung vereinigt
*) § 421. — ') § 721/36.
^) § 660. Dozenten werden erst nach zweijähriger ununterbrochner Lehrtätigkeit aa
der Univei'sität stimmberechtigt, während die Lektoren lediglich bei den ihren eignen
Dienst betreffenden Angelegenheiten mitstimmen dürfen.
*) § 660, 11, 4, Absatz 10 bestimmt, daß jede bei einem öffentlichen Akt in der
Univei'sität gehaltne Rede der Zensur durch den Kurator unterliegt.
^) § 22 des Regulativs über den Staatsdienst. Gesetzsammlung Bd. III, Aas-
gabe 1902.
"j Die Ajigaben beiaiheu auf persönlichen Beobachtungen und Mitteilungen.
74 Viertes Kapitel. Die Reformen nacii 1864
werden, während in den russischen Gouvernements Schulen aller andern
Ministerien vorhanden sind.^)
Alle beim Ministerium für Volksaufklärung ressoitierenden Schiüen sind
einzuteilen in städtische") imd ländliche ^J Volksschulen, Mädchengym-
nasien, ^) Kealschulen ^) und Gymnasien*) für Knaben; ferner gibt es eine
besondre Mädchenschule in Cholm, ') ein technisches Institut zum Andenken
an Michael Konarski,^) ein Seminar für Volksschullehrer,'') eine Taub-
stummenanstalt in Warschau, ^^) die Manufakturschule in Lodz,*^) das
Warschauer Veterinärinstitut, ^-) die Universität in Warschau*^) und das
im Jahre 1868 eröffnete Wai-schauer Polytechnische Institut.
5, Die Sprache
Die herrschende Sprache im Warschauer Lehrbezirk ist die russische.^*)
DSr gesamte Dienstverkehr geht in russischer Sprache. ^'^) Femer wird
die russische Sprache als Hauptsprache angewandt in der Universität
Warschau.^") Solange noch polnische Professoren, die aus der Hauptschule
übernommen worden waren, ein Katheder innehatten, wurde Polnisch in
deren Vorlesungen geduldet. Etwa um 1879 ist der letzte polnische Pro-
fessor von der Warschauer Universität verschwimden. Lektoren fremder
^) Die Zahl der Schulen des Heiligen Synod ist verschwindend klein; die Militär-
sehiilen, Junkerschulen und Kadettenanstalten brauchen hier nicht berücksichtigt zu werden
2) Bestimmungen s. § 3642 bis 3711. — «) Best. s. § 3193 bis 3236.
••) Best. s. § 2985 bis 3039. — '') Best. s. § 1804 bis 1812.
«) Best. s. § 1671 bis 1886. — ') Best. s. § 3040 bis 3109. — =•) Best. s. § 3237 ff.
") Best. s. § 2546 bis 2600. — '") Best. s. § 2173 bis 2250.
") Best. s. § 2094 ff. — i^) Best. s. § 1409 bis 1462. — >") Best. s. § 651 bis 779.
^*) In dieser kategorischen Form ist die Tatsache in keinem Gesetz ausgedrückt.
Wohl aber enthalten die Einzelvorschriften für jede Lehranstalt entsprechende Paragraphen,
wie weiter unten gezeigt werden soll.
«) Reinke, a. a. 0. S. 131. „Auf Grund des Ustaw vom 8. (20.) Mai 1862 über den
allgemeinen Sprachunterricht wurde in allen Schulen aller Unterricht in polnischer Sprache
erteilt . . ."■ Im Ukas vom 30. August 1864 tritt die Auffassung der russischen Regierung
zutage, daß jeder Volksstamm in seiner eignen Sprache untei'richtet werden müsse. Noch
im Jahre 1866 werden Kuabengjannasien für Polen mit polnischem, für Russen mit ms-
sischem, für Deutsche mit deutschem und für Litauer mit litauischem Unterricht begründet.
Aber schon 1868 wird in allen Mittelschulen Russisch die Unterrichtssprache für Mathematik
und Geschichte, 1871/72 ist für aUe Gegenstaude die russische Sprache obhgatorisch mit
der Begriinduug: „Russisch ist die Reichssprache, infolgedessen muß allen Reichsangehörigeu
die Möghchlceit gegeben werden, sie zu beherrschen." Die Warschauer Hauptschule wurde
in die Warschauer russische Univei-sität umgewandelt (1869j. Schließhch wurden die für
das Reich, außer Polen, geltenden Ukase vom 30. Juli 1871, vom 15. Mai 1872 und vom
6. (18.) Juni 1872 am 11. Februar 1874 auch auf den Wai-schauer Lehrbezirk ausgedehnt.
^^) § 655 lautet: „In der Kaiserlichen Universität zu Warschau findet die nissische
Sprache ebenso im Unterricht Anwendung wie bei allen Präfungen, schriftlichen Arbeiten,
bei öffentlichen Akten und in der Verwaltung."
§ 759 unterstreicht diese Bestimmung nocli besondei-s für Dissertationen.
A. Das Schulwesen 75
Sprachen sind nur für Französisch, Englisch, Deutsch und Italienisch an-
gestellt,^) doch darf polnischer Unterricht in der Universität erteilt
werden. ^)
Für die Gymnasien und Progymnasien bestehn entsprechende Be-
stimmungen. Der polnischen Sprache ist die Bedeutung einer Neben-
sprache zugewiesen, sie wird nach dem Wortlaut der Gesetze geduldet.^)
Im I. "Warschauer Gymnasium wird sie überhaupt nicht gelehrt; dies ist
in erster Linie den Kindern der im Zartum angesessenen Russen reser-
viert. ^) Bezüglich der Realschulen sind besondre Bestimmungen über den
Sprachunterricht nicht geti'offen. Doch deutet eine Anmerkung in den
allgemeinen Bestimmungen für das Reich darauf hin, daß der Unterricht
in russischer Sprache erteilt werden muß.^)
Besondres Gewicht ist auf den russischen Unterricht in den Seminaren
für Volksschullelirer gelegt, doch ist den Bedürfnissen der polnischen Be-
völkerung Rechnung getragen.®) In den Seminaren wird je nach der
Gegend polnischer, litauischer') imd deutscher^) Unterricht erteilt; als
Unterrichtssprache dient aber überall das Russische. ^) Die Schüler werden
aus allen Kreisen der ländlichen Bevölkerung genommen; mir in die
Seminare von Cholm und Bjela dürfen ausschließlich Russen aufgenommen
werden.^*') Für besonders gute Leistungen beim Erlernen der russischen
Sprache Averden Prämien verliehen. ^^)
In Mädchengymnasien und Progymnasien ist der polnischen Sprache
ein weiterer Raum zur Verfügung gestellt. ^^) Schon in die unterste Klasse
*) § 667. Je einer für jede der genannten Sprachen.
^) § 662 Anm. lautet: „Unterricht in polnischer Sprache . . . kann ... in der Mutter-
sprache des Lektors erteilt werden." Die staatliche Anstellung des Lektors ist jedenfalls
dem Ermessen des Eektors anheimgegeben.
^) § 1674. „Außer den obligatorischen Unterrichtsgegenständen ist nach Anweisung
des Ministers für Volksaufklärung in einigen Gymnasien und Progymnasien des Warschauer
Lehrbezirks die Erteilung polnischen Sprachunterrichts für solche, die es wünschen, ge-
stattet; dabei ist es erlaubt, daß auch in den Anstalten, in denen polnischer Unterricht
nicht erlaubt wird, die Schüler außer der obhgatorischen fremden Sprache noch eine
weitere nach freier "Wahl erlernen dürfen."
■*) Siehe § 1671, Anm.
^) § 1690 Anm. 1 : „. . . Vorbereitungsklassen . . . werden nur in den ßealsclmlen
solcher Gegenden eingerichtet, in denen die Umgangssprache der Mehrzahl der Bevölkerung
nicht russisch ist."
") So kann der Inspektor und gleichzeitige Leiter des einzelnen Seminars entweder
russischen Spracliunterricht und Kirchenslawisch erteilen oder polnischen und Päda-
gogik (§ 2552). In den Seminarien für die polnische Bevölkerung können Russen oder
Polen Leiter sein, nur in den Seminarien von Andrejew und Lenczica (Kjelce und Kaiisch)
müssen sie geborne Russen sein (§ 2553 Anm.).
0 § 2561, 4. — «) Ebenda Anm. 2, in Warschau. — «J § 2562.
10) § 2569. — ") § 2580. — '^) § 3000, 3.
76 Viertes Kapitel. Die Reformen nach 1864
eintretende Kinder müssen Russisch^) und Polnisch'*) können. Die polnische
Sprache ist obligatorisch, wird aber wie alle übrigen ünterrichtsgegenstände
Russisch erteilt.^) Eine Ausnahmestellung unter den Mädchengyranasien
nimmt die Marienschule in Cholm ein.*) Dort werden ausschließlich
Kinder griechisch-katholischer Eltern aufgenommen*); die deutsche und die
französische Sprache sind fakultativ, und ihre Erteilung muß besonders
bezahlt werden; die polnische vnrd überhaupt nicht zugelassen.**)
In den städtischen Volksschulen^) ist gleichfalls Russisch die Unter-
richtssprache. Fremde Sprachen werden im allgemeinen nicht gelehrt, doch
können sie in Ausnahmefällen mit besondrer Genehmigung des Bezirks-
kurators erteilt werden.*)
Die ländlichen Volksschulen sind die einzigen, an deren Vei*waltung
die Gesellschaft teil hat. Sie unterstehn der Kompetenz der Gm in Ver-
waltung unter Aufsicht des Bezirksdirektors. Als Unterrichtssprache gilt
die russische.*) Die örtliche Sprache bildet ein besondres Lehrfach. *•*)
Dort, wo die polnische Sprache nicht die örtliche ist, kann Polnisch als
außerordentliches Lehrfach durch die Gminvenvaltung hinzugefügt werden. *^)
Lediglich im Cholmerland wird russisch bevorzugt.^-)
Außer den besprochnen staathchen Schulen sind Privatschulen ^^) zu-
gelassen; diese dürfen höchstens den "Wert eines vierklassigen Pro-
gymnasiums haben ^*); sie stelm vollständig unter der Aufsicht des Lehr-
bezirkskurators,*'*) und ihre Lehrer können in den von ihnen erteilten
Unterrichtsfächern nachgeprüft werden.**) Der Religionsmitemcht kann
^) Nach § 3039 kann der Lehrbezirkskurator jungen Mädchen nach Verlassen des
Gymnasiums für besonders gute Erfolge in der russischen Sprache die Rechte einer Haus-
lehrerin verleihen. (Diese Rechte bestehn in der Erlaubnis, Unterricht zu erteilen ohne
besondre Piiifung.)
*) § 3012. Von den in das I. und 11. Gymnasium eintretenden Kindern wird die
Kenntnis der polnischen Sprache nicht verlangt. Diese Anstalten sind in erster Linie für
die in Polen lebenden Russen reseixiert. (§ 3010 Anm.)
3) § 3000 Anm. 1.
■*) Eine Gründung der Großfürstin Maria Pawlowna zu Ehren der Gemahlin
Alexanders des Zweiten Maria Alexandrowna.
5) § 3041. — ^) § 3059 nebst Anm.
') Die Gewerbeschule von Michael Konarski imtersteht denselben Vorschriften.
*) § 3204 führt die fi'emden Sprachen wie folgt an: ,.polnisch, litauisch, deutsch,
französisch und englisch".
») § 3686. — 10) § 3687, 3.
") Ebenda 5 : „Dort, wo die polnische Sprache nicht die örtliche der Bevölkerung ist,
können die zuständigen Gemeinden, wo sie es für nötig erachten, polnisch Lesen und
Schreiben in den Lehrplan aufnehmen lassen."
^*) Siehe Anm. 10 auf S. 75.
'^ § 3742/3775. — ») § 3747. — ") § 3744. - '^) § 3769.
A. Das Schulwesen 77
ohne Ausnahme von Geistlichen erteilt werden.^) Die vorherrschende Unter-
richtssprache wird vom Kurator des Lehrbezirks bestimmt^) und hann pol-
nisch sein. In der Praxis wird indessen immer das Russische gepflegt
werden müssen, solange die Vorlesungen und Examina wie auch Seminar-
arbeiten auf der Universität in russischer Sprache abgehalten werden
müssen. ^)
6*. Der Meligionsunterricht
Bezüglich des Religionsunterrichts im Zartum Polen ist nur ein Prinzip
deutlich erkennbar: avo nur ein griechisch-katholischer Schüler ist, da wird auch
ein rechtgläubiger Religionslehrer angestellt.*) Nicht ganz so deutlich tritt das
Prinzip hervor, römisch-katholische Geistliche von der Schule fernzuhalten^);
*) § 3770: „Nicht geprüft werden Eeligionslehrer, die Geistliche sind und ihre
Bildung in geistlichen Schulen erhalten haben."
^) Allgemeine Vorschriften fehlen.
^ In Polen, wie überhaupt in Eußland, ist auch der haushohe Privatunterricht
reglementiert (§ 3821 bis 3876), ohne daß bisher allgemeine Bestimmungen erlassen
wären (§ 3876). Von den Haus- und Privatlehrern beiderlei Geschlechts wird gefordert:
Zugehörigkeit zu einem christlichen Bekenntnis (§ 3825, 1), ohne Ansehen der Staats-
angehörigkeit (§3826), dagegen werden !^ie auf Treue gegen den Zaren vereidigt, wobei
sie beschwören müssen, zu keiner Geheimgesellschaft zu gehören (§ 3835, 6, Freimaurerei !).
Geistliche sind als Privatlehrer nicht ausgeschlossen.
*) Zur Erteikmg des Religionsunterrichts in den Gymnasien und Progymnasien des
"Warschauer Lehrbezirks werden staatliche etatsmäßige ReUgionslehrer desjenigen Glaubens-
bekenntnisses angestellt, das unter den Schülern der betreffenden Anstalt vorherrscht.
Außerdem sind noch in zehn Gymnasien etatmäßige Religionslehrer griechisch-katholischen
Glaubens angestellt; in den Gymna-ien, wo solche griechisch-katholische Religionslehrer
nicht vorhanden sind, wird der Religionsunterricht von außeretatmäßigen erteilt. (§ 1675.)
§ 2998, Ä.nm. 2. Beim I. und III. Mädchengymnasium sind griechisch-katholische
ReUgionslehrer angestellt (nur?).
§ 3204. Anm. Religionsunterricht wird in städtischen Volksschulen an Kinder
giiechisch-kathoüschen und desjenigen Glaubens erteilt, zu dem die Mehrheit der Lernenden
gehört. Den Kindern der übrigen Glaubensbekenntnisse kann Religionsimterricht von den
Eltern gewäkrleistet werden.
§ 3206. Bei jeder städtischen Volksschule muß ein griechisch-kathohscher Religions-
lehrer angestellt sein, wenn überhaupt Kinder dieses Bekenntnisses vorhanden sind; ferner
ein solcher für das Glaubensbekenntnis, dem die Mehrzahl der Kinder angehört.
§ 3688. Kinder griechisch-katholischen Glaubens lernen außer Russisch noch Kirchen-
slawisch.
§ 3691, Anm. Für die rechtgläubigen Kinder wird als Religionslehrer ein orts-
angesessener Geistlicher im Einverständnis mit dem zuständigen Bischof ernannt. Ein
solcher ReUgionslehrer wird vom Fiskus besoldet.
*) § 3691. In den Volksschulen der Gminen und Gemeinden erteilt den Religions-
unterricht, Gebetslehre und biblische Geschichte entweder der die andern Gegenstände
lehrende Lehrer oder der örtliche GemeindegeistUche, je nach Anordnung des Bezirks-
direktors. ... In den Städten ernennt der Bezirksdii'ektor entweder einen besondern
Religionslehrer oder übertraf den Unterricht dem Lehrer imter Berücksichtigung der
"Wünsche und Geldmittel der Ortsangesessenen.
§ 1675. Die römisch -kathoUschen ReUgionslehrer werden in ilu'em Amt durch den
73 Viertes Kapitel. Die Reformen nach 1864
hierbei muß man sich erst erinnern, ^) welch großer Spielraum dem persön-
lichen Ermessen des Lehrbezirkskuratore und des Generalgouvemeurs ge-
lassen ist. Die allein berechtigte Sprache auch im Religionsunterricht ist
prinzipiell die russische; nur in ländlichen Volksschulen Tcann die orts-
übliche litauische, deutsche oder polnische Sprache angewandt werden.^
Die Regierung behält sich somit das Recht vor, allmählich zur nissischen
Sprache überzugehn.
B. Die Gericht sreform
Den Schlußstein aller Reformen im Zartum Polen hatte die Einführung
des Gerichtsstatuts von 1864 zu bilden. Diesem Teil des russischen Reform-
werks stellten sich indessen ganz besonders große Schwierigkeiten entgegen.
Zunächst waren es politische Ei'wägimgen, die hindernd wirkten.^) Dann
aber hinderten die vorhandne Gesetzgebung und die darauf beruhenden
Rechtsverhältnisse im Lande. Bei Bildung des Herzogtums "Warschau im
Jahre 1815 konnte nicht sogleich eine einheitliche Justizreform durch-
geführt werden.*) Das Privatrecht beruhte auf dem Code Napoleon '^) und
dem Hypothekengesetz vom Jahre 1818, während für das Sti*afverfahren
die preußischen und österreichischen Ordinationen maßgebend Avaren.*)
Kurator des Lehrbezirks bestätigt nach vorhergegangner Verständigung mit dem zuständigen
Gouverneur imd dem Bischof.
§ 1808. Die Religionslehrer an Realschulen werden in ihrem Amt durch den Kurator
des Lelu'bezirks bestätigt nach vorhenger Verständigimg mit dem zuständigen Bischof für
giiechisch-katlioUsche und mit dem zuständigen Gouvei-ueur mid dem Bischof füi- römisch-
katholische.
1) Siehe Aura. 4 auf S. 72 ff.
*) Der Unterricht in allen städtischen, Gminen- und Gemeindevolks.schulen wird in
russischer Sprache erteilt mit Ausnahme des Religionsunterrichts für ausländische Glaubens-
bekenntnisse und der eignen Sprache der Lernenden; diese Gegenstände können in der
eignen Sprache erteilt werden. In der Praxis aufsteigende Zweifel, welche Sprache für
die genannteu beiden Unterrichtsfächer anzuwenden sei, entscheidet der Kurator im Ein-
verständnis mit dem Generalgouvemeur.
^) Wjestnik Jewropy von 1872, Juliheft, S. 371/72. Die Gerichtsreform sollte schon
1872 durchgefülu-t werden ; doch hinderten Bedenken gegen die allständischen Gmingerichte,
und der Reichsrat beschloß, ehe er eine Entscheidimg fällte, neue Erhebungen an Ort und
Stelle anzustellen.
*) Der entsprechende Regieiningsentwurf wiu-de durch den Landtag von 1820 abgelehnt.
*) Stawski, Bd. I: Die bürgerlichen Gesetze der Gouvernements des Zartums Polen.
"Wai-schau, Verlagsdruckerei, 1906. 2 Bände.
^) Reinke, a. a. 0. S. 163/64: „Die in der Gramota von 1832 vorgezeichneten Grund-
prinzipien für die Einrichtung der Gerichtsstellen erhielten kerne weitere Entwicklung.
Seit Einführung des 9. imd 10. Departements des Dirigierenden Senats im Jahre 1841
wurde die Kassationsinstanz aufgehoben, deren Funktionen für ZiWlangelegenheiten dem
Obersten Gericht, füi- Kriminalverfahren dem Appellationsgericht oblagen.
Mit der Zusammenstellung eines Entwurfs der Gerichtsstatuten für Verbrechen und
Vergehen wurde die Petersburger Kodifikationskommission betraut, die ihren Ent^vurf im
B. Die Gerichtsreform 79
1, Allgemeiner Zustand der Gesetzgebung
Erst als das allgemeiue Keformwerk m Polen begann, erliielt die juri-
dische Kommission des Reorganisationskomitees den Auftrag, die Grundlagen
für eine Justizroform auszuarbeiten. Das Ergebnis der Arbeiten dieser Kom-
mission war eine 69 Bände starke Sammlung von Verwalt Imgsentscheidungen
für das Zartum Polen und 13 Bände Yorschriften für die Gouvememente-
und Kreisverwaltungen. ^) Zum Ausgangspunkt für die Refonn wurde das
Gerichtsstatut von 1864 genommen,-) wobei jedoch nicht „ausschließlich
allgemein angewandte juridische Gesichtspunkte maßgebend sein sollten,
sondern und vor allen Dingen das Staatsinteresse und das der Melirheit
des Volkes, das durch die Regierung zu neuem bürgerlichen Dasein gerufen
worden ist".^)
„Es ergab sich hiermit, schreibt Reinke,*) daß die juridischen Grund-
lagen der russischen Gerichtsstatute bei ihrer Einführung im Zartum Polen
einer Modifikation, unter Berücksichtigung örtlicher Verhältnisse sowohl
politischer wie sozialer imd rechtiicher Art, unterlagen. Die politische
und soziale Seite kam sowohl in der Gerichtsverfassung wie im Strafver-
fahren zur Geltung, während im Zivilgericht Fragen rechtlicher Natur im
Vordergi'unde standen . . ."
Das Bürgerliche Gesetzbuch setzte sich zusammen aus dem Zivilkodex
(Code Napoleon) vom 1. Mai 1808,^) aus dem französischen Handelskodex
vom 1. Mai 1809,^) aus dem polnischen Hypothekengesetz von 1818') und
1825 8) und dem Ehegesetz von 1836.*)
In den angeführten Gesetzen herrscht eine babylonische Verwirrung
infolge der verschiednen in ihnen zur Anwendung gelangten Sprachen.
Der Code Napoleon ist in französischer Sprache abgefaßt; es gibt weder
Jahre 1838 dem Grafen Speranski vorlegte. Infolge Speranslds Todes wm-de der Entwurf
nicht durchgesehen und fiel der Vergessenheit aiiheim.
Seit dem Jahre 1853 hat sich die Kodifikationskomniission wiederholt mit dem Eut-
woi'f beschäftigt. Doch scheint er nicht bis in den Reichsrat gelangt zu sein.
Der Entwurf zum Kodex des Zi^^lgerichts Verfahrens wiu'de durch ein besondres
Komitee in Warschau während der Jahre 1853 bis 1858 zusammengestellt; das Schicksal
des Entwurfs ist jedoch unbekannt gebheben.
Die Mitteilungen sind aus den Akten des Eeorganisatiouskomitees Bd. IV, S. 3 geschöpft
sowie aus dem Memorandum der juridischen Kommission zum Entwurf der Grundprmzipien
einer Gerichtsordnung."
^) Fuudukley, Zitat bei Eeiuke, a. a. 0. S. 165.
') Allerhöchst bestätigtes Gutachten des Journals des Komitees für Angelegenheiten
des Zaitums Polen vom 24. Februar 1865.
ä) Ebenda. — ■•) a. a. 0. S. 165.
^) Jahrbuch der Gesetzgebung des Herzogtums Warschau, Bd. I, S. 46.
^ Ebenda S. 239. — ^ Ebenda Bd. V. — «) Ebenda Bd. IX, S. 355 sowie Bd. X.
^ Das Eihegesetz wurde zweimal im Jalire 1840 und später 1856 und 1891 geändert.
80 Viertes Kapitel. Die Eeformen nach 1864
eine polnische noch eine russische authentische Übersetzung davon. Noch
immer wird bei gerichtlichen Entscheidungen der französische Text als
der alleingiltige anerkannt.^) Das Hypothekengesetz von 1818 ist in pol-
nischer Sprache abgefaßt; eine authentische rassische Übereetzung besteht
nicht, wurde auch nicht geschaffen, als um 1874 in Petersburg eine Kom-
mission tagte, die die Einführung des Gesetzes in ganz Rußland vorbereiten
sollte. Seit 1830 wurden alle das Zartiun Polen betreffenden Gesetze in
polnischer und russischer Sprache veröffentlicht; da aber in den beiden
Texten wesentliche sinnverschiebende Unterschiede bestanden, entschied
der Senat Anfang 1901, daß lediglich der polnische Text zu gelten habe,
da bei Ausgabe des Gesetzes Polnisch die Staatssprache für das Zartum
gewesen sei und nicht Russisch.-) Kur das Ehegesetz wurde bei seiner
letzten Änderung vom 11. Juni 1891 in russischer Sprache abgefaßt.
Es läßt sich denken, zu welchen Verschleppungen der Zivilprozesse **)
diese Verhältnisse Anlaß gaben, imd wie oft gerade die Vei-schleppung der
Ausgangspimkt von Bestechungen einerseits und von Einmischungen der
administrativen Gewall ■*) andrerseits gewesen sein mögen. Selbst Senatoren
klagen darüber, daß sich für die fremdsprachigen Ausdrücke keine Wieder-
gabe in russischer Sprache möglich machen ließe, '^j doppelt schwierig, da
gewisse Ausdrücke im Code Napolöon verschiedne Anwendung finden.*)
Das erste russische Strafgesetzbuch wurde in Polen 1847 eingeführt,
jedoch mit solchen die Zivilgesetzgebung berücksichtigenden Abänderungen,
daß von seinen 2224 Paragraphen nur 1221 übrig blieben. Auch das
Gesetz vom Jahre 1866 wurde mit Rücksicht auf die Zivilgesetzgebung
geändert, als es am 13. September 1876 auf den Warschauer Gerichtsbezirk
ausgedehnt wurde.
Im Jahre 1903 ist für ganz Rußland einschließlich des Zartums Polen
der Strafkodex vom 22. März 1903 eingeführt worden, ohne die polnische
Zivilgesetzgebung zu berücksichtigen. Denn die russische Regierung ging
*) Nikolaus Reinke, ,.Der Strafkodex und die Zivilgesetzgebung im Zartum Polen",
St. Petersburg, Senatsdi-uckerei, 1904, S. 6.
*) Ukas des Dirigierenden Senats (I.Departement) an den Finanzminister vom 18. Fe-
bruai- 1901 (Nr. 565).
") Allein die unerledigten Konkursverfahren sind von 67 im Jahre 1898 auf 152 im
Jahre 1904 gestiegen. Wjestnik Finanssow von 1907, Nr. 4. S. 135.
■*) Nach Euifühning des Gerichtsstatuts von 1864 im Gerichtsbezirk "Warschau ver-
suchten der Generalgouvenieui' Graf Kotzebue und verschiedne Gouverneure den Richtern
Anweisungen über die Erledigung von Straf- und Zivilsachen zu geben. (Keinke, a. a. 0.
1902, S. 167 Amn.)
*) Reinke, a. a. 0. S. 8.
®) Ebenda Anm. 1. Anwendung von ,,ayant cause ^' im Code Napoleon siehe auch
Aubry et Rau, vol. II, § 75.
ß. Die Gerichtsieform gl
von dem Gesichtspunkt aus, das polnische bürgerliche Gesetzbuch an das
neue Gesetz anzupassen, und sah sich infolgedessen genötigt, eine Änderung
der polnischen bürgerlichen Gesetze vorzunehmen. Lex posterior derogat
priori! Die über Kußland 1904 hereingebrochnen politischen Zustände
ließen die Reform ü])er das Stadium der Vorbereitungen nicht hinaus-
kommen. Ein Schlußstein der russifizierenden Reformen war somit noch im
Jahre 1904 nicht gelegt, denn noch immer gilt polnisches Recht, wie es
vor der Verbindung Polens mit Rußland galt. Auch die Einführung des
Gerichtsstatuts von 1864 im März 1875, die Senator Reinko als Schlußstein
der großen Reformen bezeichnet,^) bildete nur eine Teih-eform, die einige
alte mid darum von den Polen geachtete Institutionen aufhob, nicht aber
die Grundlage der Rechtsprechung änderte. Ihre wesentlichste Bedeutung
lag in der gleichzeitigen Durchführung des Gesetzes vom Jahre 1872, das
die polnische Sprache aus den Räumen des Gerichts zu verti"eiben suchte.
Eine praktische Folge dieser Reform war der Zuzug vieler russischer
Richter in das Zartum Polen, die wohl Russisch sprachen, die polnische
bürgerliche Gesetzgebung aber nicht kannten.
2, Die Gerichtsinstitutionen im Warschauer Gerichtsbezirk
Die zehn Gouvernements des Zartums Polen sind zu einem besondern
Gerichtsbezirk (ökriig) vereinigt, für den besondre von den allgemeinen
abweichende Regeln gelten.^) Die Gerichtsstellen sind: 374 Gmingerichte,^)
111 Friedensrichter,*) die Fiiedensrichterversammlung,*^) das Handels-
gericht,*^) die 10 Bezirksgerichte') und die Gerichtspalata oder der Appellhof
in Warschau. ^)
Das Gmingericht setzt sich zusammen aus einem Vorsitzenden, den
Gminrichtern mid drei bis vier Schöffen, die „lawniki" genannt werden.
Das Gmingericht ist im Gegensatz zum russischen "VVolostgericht allständisch,
d. h. alle stimmberechtigten Mitglieder der Gminversammlung können zu
Gmimichtern gewählt werden.
Die Gminrichter werden durch die Gminversammlung für den Zeitraum
von drei Jahren gewählt, wobei jede Gmin einen Kandidaten bezeichnet.
Da aber auf ein Gmingericht immer drei bis vier Gminen kommen, somit auf
eine richterliche Vakanz drei bis vier Kandidaten, so wählt der Gouverneur
1) Eeiake, a. a. 0. 1902, S. 167.
*) Artikel 462 bis 555 des Regulativs für die Gerich tsinstitutioneii. — '■') Art. 468.
■*) Die Gerichtsstelle des Friedensrichters bestimmt der Justizminister im Einverständnis
mit dem Generalgouvemeur (Art. 507).
') Art. 513 bis 522. — «) Art. 523 bis 547.
') Art. 77 bis 109 sowie bezüglich der Hypothekenabteilung Art. 548 bis 554.
«) Art. 110 bis 113.
Oleinow, Die Zukunft Polens 6
82 Viertes Kapitel. Die Reformen nach 1864
aus dieser Zahl die ihm geeignet erscheinende Persönlichkeit aus und er-
bittet die endgiltige Bestätigung durch Vermittlung des Generalgouvemeurs
beim Justizminister, Der Grmiimchter erhält ein staatliches Gehalt von
700 Rubel, jeder Beisitzer 150, der Gerichtsschreiber 500 Eubel.^)
Die Kompetenzen der Friedens- und Gmingerichte im Zartum Polen
sind niedriger gehalten als im Reich. So können sie nur Zivilklagen von
Objekten bis zu 250 Rubel annehmen. In Strafsachen können die Gmin-
gerichte bis zu 100 Rubel Strafe, einen Monat Arrest und ein Jalir Gefängnis
verhängen.
Über den Friedens- und Graingerichten als Berufungsinstanz stehen die
Frieden.srichterversammlungen, die sich zusammensetzen aus den 1 10 Frie-
densrichtern'^) und aus den Voi-sitzenden der (rmingeiichte. Die Amts-
bezirke der Friedensrichterversaramlungen sind ebenso wie der ständige
Dienstort der Fiiedensrichter gesetzlich nicht festgelegt, sondeni von der
im Einverständnis mit dem Justizminister getroff nen Vcif ügimg des General-
gouverneurs abhängig.^) Im Gegensatz zu den gleichnamigen iiissischen
Institutionen wird der Vorsitzende der Friedensrichtervei'sammlung nicht
aus der Versammlung heraus gewählt, sondern ernannt; er ist außerdem
nicht unabsetzbar. Der Justizminister kann die Fiiedensrichter versetzen
und aus dem Amt entlassen. Die Friedensrichter erhalten 2500 Rubel
Gehalt imd 500 Rubel Bureaugelder. Die Friedensrichter sollen nach Mög-
lichkeit Russen sein. Auf die Friedensrichterversammlung hat sich die
Regierung einen bedeutenden Einfluß gesichert durch Teilung der Gmin-
richter in Abteilungen, deren jede ebenso groß ist als die Zahl der
Friedensrichter.
Die wichtigsten Abweichungen von den in den nissischen Gerichts-
bezirken geltenden Formen des Gerichtsstatuts sind folgende:
a) die bedingte Unabsetzbarkeit der Richter.*) Nur solche Richter
sind auch im Zartum Polen unabset;?;bar, die bereits drei Jahre als Richter
gewirkt hatten oder als Staatsbeamte außerhalb des Zartums:
b) die Nichteinführung der Rechtsanwaltskammer;
c) die Nichteinführung der Geschwornengerichte'^);
1) Gesetz vom 29. Dezember 1887.
■-) Davon entfallen 11 auf die Stadt Warschau, 99 auf die übrigen Städte des Zai-tums.
*) Art. 41 und 507 des Geriohtsstatuts.
*) Auf Antrag des Justizministers N. W. Murawjow wiirde diese Ausnalime durch
das allerhöchst bestätigte Gutachten des Beichsrats vom 16. Febniar 1898 aufgehoben.
(Siehe Zirkular des Justizministers vom 10. März 1898, Nr. 6853.)
^) Prinzipiell war die Regierung für die Einführung der Geschwomengerichte. Wie
aus einem Bericht des Generalgouverneiirs Albedinski a\is dem Jahre 1880 zu ersehen ist.
wurde die Einfillirung lediglich von der Ausbreitung der Kenntnis der russischen Sprache
bei den Polen abhängig gemacht.
B. Die Gerichtsreform gg
d) Ehrenfriedensrichter, die in den russischen Gerichtsbezirken vor-
handen sind, sind für den Gerichtsbezirk AVarschau aus Erwägungen politischer
Art nicht vorgesehn (vgl. auch S. 59. 60. 64 über Adelsmarschälle); und
e) durch Schaffung eines besondern Departements beim Kameralhof,
das darüber zu entscheiden hat, welche Gerichtsverfahren einzustellen sind
und welche in höhere Instanzen zu gelangen haben;
f) schließlich dürfen Vergehen gegen die griechisch-katholische Kirche
auf Befehl des Justizministers von der Gerichtsstelle untersucht und ab-
geurteilt werden, die ihm dafür am besten geeignet erscheint;
g) die Zeugen pohlischer Nationalität werden durch ein Mitglied des
Gerichts vereidigt, nicht durch einen römisch-katholischen Geistlichen.
Auch in den Gerichtsinstitutionen ist das Prinzip gewahrt w^orden, die
Gesellschaft so wenig wie möglich an der Regelung ihrer Angelegenheiten
teilnehmen zu lassen. Wie später gezeigt werden soll, konnte die Absicht
aus verschiednen Gründen nicht durchgeführt werden, mid besonders das
Gmingericht ist die Stelle geworden, durch die die polnische Intelligenz
Eingang in die Bauernschaft fand.^) Außerdem war die Eegierung durch
die einmal vorhandnen Verhältnisse gezwungen Avordeu, die Hälfte aller
Richterstellen bei den Bezirksgerichten durch Polen zu besetzen.
*) Vgl. N. A. Loganow, Joumal des Justizmioistenums vou 1896, Bd. 7, S. 1 bis 34:
„Die Durchsicht der Prozeßordnung und der bürgerHcheu Gesetzgebung im Zaiium Polen".
Nowoje Wremja von 1898, Nr. 7979, Leitartikel: „Die Kodifikation der örtlichen
Gesetze im Weichselgebiet".
RuBkij Wjestnik von 1899, Juniheft, S. 730 bis 34: „AVai'schauer Brief".
C<5^^5
6*
Fünftes Kapitel
Kirche und Geistliclikeit
In der historischen Einführung haben wir gezeigt, welche große Be-
deutung die Geistlichkeit beider Bekenntnisse in den polnisch -russischen
Beziehungen immer gehabt hat. Seit Kiederwerfung der Aufstände von
1861/63 wiu'de die römische Geistlichkeit zur Rolle des leidenden Teils ver-
urteilt, während sich die giuechische aller Vorteile bedienen konnte, die
dem Sieger ohne weiteres zufallen. In der jüngsten Geschichte der Ein-
verleibung Polens durch Rußland spielte darum die Tätigkeit der griechischen
Geistlichkeit als Angreifer und die der römischen als Agitatoren, Pro-
testierende, Revolutionäre eine für die russische Polenpolitik wichtige
Rolle, die schwer mit den Zielen der russischen Politik und mit den vor-
handnen Gesetzen in Einklang zu bringen ist.
In Rußland besteht das Prinzip der Glaubensfreiheit im Gesetz seit
Katharina der Zweiten. Es ist in den §§ 44 und 45 der Staatsgrundgesetze*)
für die nicht rechtgläubigen Bekenntnisse ausgesprochen. '') Doch wurde
es dui'ch „eine Reihe von Zusatzbestimmungen zu allen Teilen der Gesetz-
gebung und noch mehr diu'ch offne und geheime Zirkulare fast auf Null
zurückgeführt".'*) Die griechisch-katholische Kirche wird durch den Heiligen
*) Staatsgnmdgesetze, siehe Gesetzsammlung Bd. I, Teil 1, Ausgabe 1892.
§ 44. „Alle nicht zur herrschenden Kirche gehörenden Untertanen des Russischen
Reichs, ursprüngUche und in die Untertanschaft aiifgenommne, ebenso wie im iiissischen
Dienste stehende Ausländer oder solche, die sich in Rußland vorübergehend auflialteii,
haben das Recht, jeder Einzelne an jedem Ort ihren Glauben \md Gottesdienst nach
dessen Vorschriften frei auszuüben.-' § 45 sagt dasselbe für Juden, Mohammedaner und
Heiden.
^) Bd. XII der Gesetzsammlung, Kapitel von der „Vorbeugung von Vergehen", § 36
verbietet jedem griechisch-katholischen Untertan den Übertritt zu irgendeinem andern
Glauben.
§ 44 der Staatsgnmdgesetze gewahrt Glaubensfreiheit ausdrücklich „allen nicht zur
herrschenden Kirche gehörenden . . .'•
■) Senator und Mitglied des Reichsrats N. S. Tagantzew, ,,üas Strafgesetz vom
22. Mürz 1903". Bd. IT (Glaubensgesetzgebung), St. P.Hei-sburg, Veriag- PhöuLx 1906, S. III.
A. Die iStelluug der röiniscli-katholisclion Kirche §5
Synod/) die andern Glaubensbekemitnisse werden durch das „Departement
der ausländischen Glaubensbekenntnisse" im Ministeriuni des Innern ver-
waltet.^) Die griechisch-katholische Kirche ist die alleinherrschende Kirche
in ganz Rußland; ihr allein steht das Recht zu, unter den andern christ-
lichen Bekenntnissen eine Missionstätigkeit zu entfalten. 3)
Die politische Leitung der russischen Ejrche lag von 1865 bis 1880
in den Händen des Grafen Dmitri Tolstoj/) von 1880 bis zum Jahre 1905
in denen Konstantin Pobjedonostzews. Tolstoj hat sein zweibändiges Werk
,,Le Catholicisme romain en Russie" '") mit den Worten geschlossen : „ Ainsi
le temoignage de la cour de Rome siir la justesse de nos couclusious au
sujet de l'etat de l'Eglise latine eu Russie sous l'empereur Alexandre n'est
qu'une reconnaissance indirecte, et involontaire , de la dofectuosite du
Systeme romain et du mal incontestable qu'il a fait, corame on a pu s'en
persuader, ä la religion, au clerge et ä la population du rite latin."^) Die
Ahsprechmig jeglichen Kulturwertes hei der römisch-katholischen Kirche
rechtfertigt in den Äugen der russischen Gesetzgeber alle die Maßnahmen,
die seit dem Jahre 1865 getroffen wurden, um die Jcatholische Kirche
aus den Landesteilen mit gemischter Bevölkerung zu verdrängen und der
römischen Geistlichkeit die Ausübung iiirer Pflichten gegenüber der polnisch-
katholischen Bevölkerung zu erschweren.")
A. Die Stellung der römisch-katholisohen Kirche
1. Allgemeine Stellung im Iteich
Die Stellung der römisch-katholischen Kirche in Rußland beruht
seit Aufhebung des Konkordats^) vom 22. Juli 1847 und Abbruch der
*) StaatsgTUüdgesetze § 43.
-) Ebenda § 46 nebst Anmerkung.
") § 195 des Strafkodex, Gesetzsammlung Bd. XV, Ausgabe 1885 bedroht nicht
oiihodoxe Geistliche für Aufnahme von Prosolyten ohne Einholung der Genehmigung dazu
in jedem einzelnen Falle mit strengem Vei'weis für die beiden ersten ÜbertretirngsfäUe,
mit Amtsenthebung im dritten Fall und mit Entkleidung der geistlichen Würde im
vierten Falle.
*) Oberprokureur des Heüigen Synods vom 3. Jimi 1865 ab, Minister für Volks-
aufklärung vom 14. April 1866 ab, beides bis zum 24. April 1880. Vom 30. Mai 1882 bis
zu seinem am 25. April 1889 erfolgten Tode Minister des Innern.
•^) Paris, 1863, bei Dentu, Libraire-Editeur, 2 Bde.
«) Bd. II, S. 422.
') Vgl. den Abschnitt über Gmingerichte auf S. 83, unter g.
*) Die Bestimmungen des Konkordats sind unter Nikolaus dem Ersten nicht zur Aus-
führung gekommen, wurden von Alexander dorn Zweiten im Jahre 1856 erneuert und
durch Ukas vom 22. November 1866 wieder aufgehoben.
86 Fünftes Kapitel. Kiiche und Geistlichkeit
russischen Beziehungen^) zum päpstlichen Stuhl auf den Ukasen vom 27. Ok-
tober 1864, 14. Dezember 1865, 22. ^"ovember 1866, 12. Juli 1867, aiü"
den „Vorschriften und Regeln für die Verwaltung der geistlichen An-
gelegenheiten der ausländischen Glaubensbekenntnisse"-) sowie schließlich
auf der „Sammlung von Vorschriften über die Verhütung und Verhinderung
von Verbrechen". ^) Kein russischer Untertan römisch-katholischen Glaubens
darf sich in Angelegenheiten seines Glaubens mit dem Papst ohne Ver-
mittlung des Ministers des Innern in Verbindung setzen.*) Der römisch-
katholische Geistliche gerät in den schärfsten "Widerepruch zu den
Vorschriften seiner Kirche durch die Bestimmung, daß niemand einen
Christen oder Heiden hindern darf, in die rechtgläubige Kirche einzu-
treten.'^) Der Übertritt von einem Bekenntnis zu einem cliristLiclien , aber
nicht rechtgläubigen, bedarf der Genehmigung des Ministers des Innern')
*) Im Anschluß an einen Briefwechsel mit Alexander dem Zweiten im Fiülijahr 1863
ließ Papst Pius der Neimte keine Gelegenheit vorübergehn, um den Aufständischen in
Polen sein Mitgefühl und seine moralische Unterstützung zum Ausdmck zu bringen. Den
Vorschlag, einen Gesandten nach St. Petereburg zu emennen, lehnte der Papst ab. Der
polnische Aufstand war schon niedergewoi-fen, als der Papst in allen römisoh-kathülischen
Kirchen Gebete für Polen anordnete. Am 12. April 1864 hielt er eine schai-fe Anklage-
rede gegen Alexander den Zweiten. Am 15. Dezember 1865 fei-tigte er den Gesandten
am päpstlichen Stuhl, Baron Meyendorff, mit folgenden Worten ab: „Ich achte imd ehre
Seine Majestät den Kaiser, aber ich kann dasselbe nicht von seinem Vertrauensmann
sagen, der mich, natürlicJi gegen seinen (des Kai.sers) Willen, in meinem eignen Kabinett
beleidigt!" Siehe Akten und Dokumente über den Schriftwech.sel mit der römischen Kurie
im Archiv des Ministeriums der auswärtigen Angelegenheiten zu St. Petersburg. Dargestellt
nach Tatischtschew, „Alexander 11.", Bd. I, S. 536/38.
-) Gesetzsammlung Bd. XI, Teil 1, Ausgabe 1896/1902, § 1/237.
^) Gesetzsammlung Bd. XIV, Teil 3, Ausgabe 1890.
■*) In § 17 des Bd. XI, Teil 1 heißt es: „Alle Christen römisch-kathoUschen Glaubens,
geistliche und weltUche Untertanen des Reichs dürfen sich in Angelegenheiten ihres
Glaubens nicht anders als durch Vermittlung des Ministers des Innern mit der römischen
Kui'ie in Verbindung setzen . . ." Bullen oder irgendwelche i)äpstliche Vorschriften müssen
durch Vermittlung dies Ministei-s des Innern dem Zaren zur Genehmigimg vorgelegt werden,
nachdem sie darauf geprüft worden sind, ob sie nicht im Widerspruch mit den russischen
Gesetzesvorschriften stehn.
'") Gemäß § 4 der Gesetzsammlung Bd. XI, Teil 1 wüi'de sich ein römisch-katholischer
Geistücher strafbar machen, wenn er zum Beispiel versuchen sollte, eins seiner Beicht-
kinder vom Übertritt zur giiechisch-katholischen Kirche abzuhalten.
§ 5 der Elnfühiimg lautet: ,,Wemi Bekenner eines fremden Glaubens dem recht-
gläubigen Glauben beizutreten wlinschen, daii niemand sie, unter welcher Form es auch sei,
an der Ausfühnmg ihres Wunsches hindern." (§ 95 des Strafgesetzes vom 22. März 1903 droht
mit Gefängnis nicht unter sechs Monaten imd im AViederholungsfalle mit Amtsenthebung.)
**) Die Bestimmung wird so weit ausgedehnt, daß der Geistliche Gefahr läuft, in die
Verbannung zu geraten, nur weil er Rat suchende Gemeindeglieder, die dmch orthodoxe
Missionare bedrängt und durch Geld zum Übertritt gereizt werden, in den Regeln der
römisch-katholischen Kirche imterweist (zmu Beispiel der Propst in Tula).
§ 6 fordert die Genehmigimg des Ministers des Iiuiern, wenn em nicht rechtgläubiger
Christ zu einem andern, aber nicht g-riechisch-katholischen Bekenntnis übertreten will.
A. Die Stellung der römisch -katholischen Kirche 87
unter der Berücksichtigung von Sonderbestimmungen für das Zartiun
Polen.»)
Mit zwei Worten läßt sich die Stellung der russischen Regierung zur
römischen Kirche als unversöhnlicher Kriegszustand kennzeichnen: sein
Ziel ist die bedingungslose Unterwerfung der „polnischen Kirche*' unter
die Oberhoheit des Heiligen Synod. Darum hat sie sich auch einzeln auf-
ti'etenden Bestrebimgen unter der polnischen Geistlichkeit gegenüber gleich-
giltig verhalten, die sich gegen die Befehle von Rom auflehnten. Freilich
wurden die Unbotmäßigkeiten polnischer Priester in den Jahren 1865,
1868, 1873, 1875 und 1880 nur darum nicht direkt unterstützt, um in
der polnisch-katholischen Bevölkerung nicht den Yerdacht zu erregen, als
sei die Strömung beim polnischen Klerus eine russifizierende.
Ganz Rußland ist in zwei römisch-katholische Erzbistümer, Mobile w
und "Warschau, und zwölf diesen untergeordnete Bistümer eingeteilt.') An
ihrer Spitze steht der Erzbischof von Mohilew als Meti'opolit mit dem
Sitz in Petersburg seit 1868. Für jedes der beiden Erzbistümer Mohilew **)
und Wai-schau*) bestehn bezüghch der kirchlichen Obrigkeit und des Ver-
hältnisses zirr Staatsgewalt besondre Vorschriften. Sie untersciieiden sich
hauptsächlich in der Stellung der Geistlichen zu den Gemeindon.
Besonders streng ist die Aufsicht über die Geldmittel der Kirche'*)
^) § 6 Anm. 2 verweist auf die beim Übertritt für das Zartmn allein giltigen be-
sondern Vorschriften.
-) Wilna, Lutzk-Shituuür, Telschi, Tiraspol zu Mohilew, Augustow, Kaiisch, Kjelce,
Lublin, Plock und Sandomir zu Warschau gehörig.
') § 18/132. — •■) § 133/237.
") § 153. Alle Kapitalien und Einnahmen der weißen Geistlichkeit «teliu unter der
Verwaltung des Fiskus.
§ 154. Das Verfügungsrecht über alle Einkünfte aus Kirchen vermögen steht dem
Fiskus zu; sie dürfen ausschließlich für Institutionen der römisch-katholischen Kirche ver-
wandt werden.
§ 155. Über der römisch-katholischen Kirche zugefallne Schenkungen verfügt der
Staat im Sinne des § 154.
§ 156. „Gelder imd Güter, die für Bauten imd Ausbesserungen von Kloster- imd
Kirchspielgebäuden sowie für Kirchliöfe, zur Ausschmückung von Kirchen, für Beleuchtmig,
Herstellung von Kirchengeräten , Kirchengewändern imd zu ähnUcheu Zwecken geschenkt
oder gestiftet wurden, ebenso wie Gelder, die ohne eine nähere Bestimnuuig zum Besten der
Kirchen, nicht der sie bedienenden Geistlichkeit geschenkt oder gestiftet wurden, sind zu
den besondem Mitteln des Ministeriums des Innern zu schlagen und von diesem zu detn
ihnen bestimmten Zweck zu vei-wenden."
§ 157. „Immobilien, die für- die in § 156 angeführten Zwecke gespendet wurden, sind
zu verkaufen oder durch den Fiskus zu einem dem Wert entsprechenden Preise zu über-
nehmen. Der Erlös ist zu den besondern Mitteln des Miiüsteriimis des Innern zu schlagen
und füi' die in § 156 genannten Zwecke zu verwenden. Ausgenommen sind die Gebäude
und die Ländereien , die gemäß besondem Regeln (14. Dezember 1865. Polnisches Jahr-
88 Fünftes Kapitel. Kii-che und Geistlichkeit
sowie über die Klöster^) mit Rücksicht auf die Tatsache, daß die katholische
niedre Geistlichkeit einen so lebhaften Anteü'') an den Aufständen von
1861/63 genommen hatte. ^) Der Bau imd die Instandhaltung der römisch-
kathoHschen Kirchen'*) sind selbst im Vergleich zur lutherischen Kirche
durch eine Reihe von Fonnalitäten erschwert.^) Kirchenorden haben
buch der Gesetzgebung Bd. liXIll, S. 390) der unmittelbaren Verfügung der Geistlichkeit
überlassen bleiben."
§ 162. Alle Gebührenzahlungen für Amtshandlungen müssen in ein besondres bei
jeder Kirche vorhandnes Buch eingetragen werden.
§ 169. Aus Überschüssen können nach Ermessen des Ministers des Innern einzelne
um die Interessen des Staats verdiente Geistliche Belohnungen erhalten.
§ 170. Für die Annahme von Schenkungen durch Organe der römisch-katholischen
Kirchen ist die Genehmigung des Ministers des Innern erforderlich.
§ 171/73. Sogenannte Grundkapitalien, von denen lediglich die Zinsen verbraucht
werden dürfen, müssen der Staatsbank übergeben werden, die sie in Staatspapieren an-
legt. Die Zinsen dürfen nur im Einverständnis mit dem Minister des Innern ver-
wandt werden.
') § 182/194 geben allgemeine Verwaltungsregeln für Klöster an, gemäß Ukas
vom 27. Oktober 1864.
§ 187 Anm. gibt dem Minister des Innern und dem Generalgouverneur das Recht,
Klöster aufzuheben, wenn deren Gebäude für Einrichtungen der öffentlichen "Wohlfahrt
verwandt werden sollen.
§ 195/213 handeln von der üntoi-stellung der Klöster unter die Kirchenbehörden.
§ 199 und 207. Die vom Bischof auszuwählenden Klosterinspek^toren müssen vom
Generalgouvemeur bestätigt werden.
§ 214. In die Klöster des Zartums Polen können nur im Zartum gebome Personen
eintreten.
§ 215 und 217. Die Erlaubnis dazu erbittet der zuständige Gouverneur beim Minister
des Innern.
§ 221. Alle Mönche und Nonnen beziehen ihren Unterhalt durch Vennittlung des
Fiskus; sie dürfen deshalb keine Almosen sammeln.
§ 222. Der Weltgeistlichkeit ist es untersagt, sich in den Klöstern unter irgendeinem
Vorwande ohne die Genehmigung des Ministers des Innern zu vorsammeln.
§ 224/225. Ohne die Genehmigung des Ministers des Innern dürfen keinerlei Ver-
setzungen von Mönchen oder Nonnen aus einem Kloster in ein andres vorgenommen
werden. Jede Veränderung ist der zuständigen Verwaltungsbehörde zu melden.
-) Im Jahre 1861 wandte sich der Marquis Wielepolski an den römisch-katholischen
Klenis miter Hinweis auf seine politische Tätigkeit mit den Worten : „Ich werde nirgends,
wo immer es auch sei, einen Staat im Staate dulden . . .'' Siehe Lisicki, Alexander
Wielepolski, Krakau, 1878, Bd. U, S. 78.
") Siehe Tatischtschew, Alexander II., a. a. 0.
*) Die römisch-katholische Geistlichkeit envies sich den Uniaten gegenüber noch un-
duldsamer. Das geht dai'aiLS hervor, daß von 344 Kirchen der ünierten bei Übernahme
durch den Staat 208 unbrauchbar waren. Siehe Reinke, a. a. 0. S. 148.
^) Gesetzsammlung Bd. XII, Teil 1, § 14/18 imd § 139/143 der Bauordnung
von 1857.
§ 139. „Niemand hat ein Recht, selbständig Kia-chen für ausländische christliche
Bekenntnisse zu bauen. Dieses Verbot bezieht sich auch auf Kapellen und fliegende Altäre
der römisch-katholischen Kirche."
Dem entspricht § 124, Bd. XI, Teil 1 der Gesetzsammlung, Ausgabe 1896, der lautet:
A. Die Stellung der römisch -katholischen Kirche 89
keinerlei über die Betätigung privater Wohltätigkeit hinausgehende Be-
fugnisse.^) Jesuiten haben auch einzeln keinen Zutritt in Rußland.-)
2. Die Geistlichen
Alle Geistlichen werden von der Regierung besoldet '^) Zur Anstellung,
Beförderung oder Versetzung eines Geistlichen in Polen ist die Genehmigung
des Generalgouverneurs erforderlich.*) Über jeden sonstigen Wechsel des
geistiichen Personals in seiner Diözese haben die Bischöfe direkt an den
Generalgouverneur zu berichten.^)
In Polen steht die gesamte polnische Geistlichkeit unter Polizeiauf-
sicht,*) was besonders durch die Tatsache zum Ausdruck kommt, daß sie
„Bezüglich def Errichtung uud Ausbesserung von römisch-katholischen Kirchen gelten
folgende Regeln:
1. Römisch-katholische Kirchen dürfen nur dort eiTichtet werden, wo die Bevölkexaings-
vermehrung oder Größe des Kirchspiels imd die Schwierigkeit des Verkehrs solches not-
wendig erscheinen lassen.
Anm. Eine Kirchengemeinde muß wenigstens aas hundert Höfen bestehu.
2. Personen oder Gesellschaften, die eine Kirche bauen wollen, haben sich deswegen
an den zuständigen Gouverneur zu wenden, der sich seinerseits mit den Eparchie-
verwaltungen der griechischen imd der römischen Kirche in Verbindung setzt. Der Gou-
verneur hat sich danach umzutim, ob keine Bedenken gegen den Bau vorhegen, luid hat
solche dem Minister des Innern mitzuteilen, der die letzte Entscheidung gibt.
3. In Transkaspien dürfen römisch -kathoUsche Kirchen nur mit Genehmigimg des
Zaren errichtet werden.
4. Die Ausbessei-ung von Kirchen und Errichtung neuer an Stelle von unbrauchbar
gewoi-dnen unterliegt der Genehmigung der Kirchenbehörden.
5. . . .
6. Hauskapellen dürfen von besonders ehi-würdigea Personen, falls sie durch Krankheit
am Kirchenbesuch gehindert werden, mit Genehmigimg des Ministers des Innern ein-
gerichtet werden."
Verschärft sind die Bestimmungen noch für die litauischen Gouvernements. Die
Anmerk-ung zu § 139 der „Bauordnung" schreibt vor, daß keinerlei Kreuze, Gebetsteine
und Denkmäler aus wetterfestem Material ohne die Genehmigung des Gouverneurs er-
richtet werden dürfen. Einem entsprechenden Gesuch sind genaue Zeichnungen in
doppelter Ausführung beizufügen. Geisthche, die solche Bauten einweihen, ohne daß diese
genekmigt worden wären, werden zur Verantwortung gezogen.
^) § 195. Alle männlichen und weibüchen Klöster unterstehn dem örtlichen Bistum.
Anm. Die Abhängigkeit der Klöster von irgendeinem Orden ist 1864 aufgehoben.
2) § 459 des Gesetzes von den Ständen (Gesetzsammlung Bd. IX, Ausgabe 1899/1902)
lautet: „Jesmten werden unter keinen Umständen mid unter keiner Benennung nach
Rußland eingelassen."
^) § 98. — Anm. 1. Die römisch - kathoUscheu Geistlichen düi-feu keinerlei Geld ins
Ausland schicken. — Anm. 2. In den kathohschen Kolonien au der Wolga werden die
„patres" von den Kolonisten besoldet.
*) § 107, 139, 143, 144, 146, 150, 151 (vgl. S. 68 bis 71). — '*) S. § 152.
'0 Die allgemebien Direktiven dafür finden sich in den „Allgemeinen Bestimmmigeu über
Verhütung und Verb indening von Verbrechen" in Bd. XIV der Gesetzsammlung, Ausgabe 1890.
§ 1 befiehlt allen Polizeiorganen, „mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln"
jede Tätigkeit zu verhindern, die zur Beeinträchtigung der Achtung vor dem Glauben wie
90 Fünftes Kapitel. Kii'clie und Geistlichkeit
ebenso wie Ausländer nur kurz befristete Pässe erhalten^) und beim Ver-
lassen des ihnen zugewiesnen Amtsbezirks die Geneiimigmig des Gouver-
neiu's einholen müssen. Das Privatleben der Geistlichen ist ei'schwert
diu-ch das Verbot, keine orthodoxen — auch keine unierten — Dienst-
boten halten zu dürfen.-)
Welche Gründe diese harten Bestimmungen veranlaßten, lehrt die
Geschichte der polnischen Aufstände im Zusammenhang mit den Be-
strebmigen der russischen Geistlichkeit, die sogenannten Uniaten vollständig
in den Schoß der orthodoxen Kirche zu führen. In der Praxis sollten
die Bestimmungen vor allen Dingen einem massenhaften Auftreten der
römischen Geistlichen bei Kirchenfeiertagen und an Ablaßtagen vorbeugen.
Diese Absicht tritt besonders klar in einem Erlaß des Generalgouvenieiu's
Graf Kotzebue vom 4. (16.) Juni 1874 an die römischen Bischöfe seines
Gebiets herver. Darin heißt es:
„Den bestehenden Vorscliriften zuwider und zum Nachteil der öffent-
lichen Sicherheit werden Ablaßfoierlichkeiten abgehalten und dazu Geist-
liche aus andern Kreisen, ja sogar aus andern Gouvernements eingeladen.
Unter den fremden Priestern befinden sich solche, die sich durch gi'oße
Kedekimst auszeichnen. Sie predigen von angeblichen Kirchen- und
Priesterverfolgungen, obgleich die Regierung der katholischen Religion
ihren Schutz im vollsten Maße angedeihen läßt; ferner behaupten sie, es
werde angestrebt, die Gläubigen ihres Glaubens zu berauben; sie fordern
die Gemeindeglieder auf, in Brüderschaften einzuti*eten ; sie predigen nicht
nur innerhalb, sondern aucii außerhalb der Gotteshäuser, auf Kirchhöfen
und öffentlichen Plätzen; schließlich üben sie einen schädlichen Einfluß
auf die Uniaten aus. In Erwägung der angeführten Umstände und infolge
des Erlasses des Herrn Ministers des Innern vom 20. Mai 1874 s. L. 1471
wird folgendes bestimmt:
1. Den katholischen Geistlichen wird der Besuch von Ablaßfeiei'n,
die im Ki'eise Augustow des Gouvernements Ssuwalki und im Kreise Ma-
sowjeck des Gouvernements Lomsha (beides Kreise mit sogenannten
auch der öffentUchen Ordnung, pei-sönhchen Freiheit usw. fühlten könnten. Solche Mittel
können sein: Stellung unter Pohzeiauf sieht, Verbot des "\i\''ohnrechts an bestimmten Orten
wie auch Ausweisung von Ausländem ins Aasland.
*) §40 der Paßvorschrift (Gesetzsammlung Bd. XIV. Ausgabe 1903) lautet: ,.Ln
Staatsdienst stehende Personen, Zinl-, Militär- und Marinebeamte, ebenso wie die Geist-
lichen aller Bekenntnisse, mit Ausnahme der rümisch-hatholischeii . . . erhalten vmbefristete
Paßbücher ..."
-) § 78 der Gesetz sammlimg Bd. XIV, Teil 3, Ausgabe 1890. „Es ist den Mitgliedern
der römisch-katholischen weißen und Klostergeistlichkoit in dem AVestgouvemement ver-
boten, in ihren Häusern. Kirchen und Klöstern zu ihrer Bedienung Leute des orthodoxen
Glaubens zu halten.'-
A. Die ötellung der römisch - katliolischeu Kirche 91
staiidliaften Uniaten, vgl. Kapitel 6, S. 102) abgehalten werden, überhaupt
untersag!. Die Chefs solcher Kreise, in denen eine unierte Bevölkerung
vorhanden ist, dürfen Priestern keine Pässe aushändigen, die zur Teil-
nahme an Gottesdiensten in fremden Kirchspielen berechtigen.
2. In andern Kreisen haben die Chefs bei der Ausstellimg von Pässen
für Priester möglichst genaue Angaben von ihnen zu verlangen: wann die
Abreise stattfinden soll, und wie lange die Abwesenheit vom ständigen
Wohnort dauern wird; außerdem darf nm- einer möglichst geringen Zahl
von Geistlichen die Teilnahme an Ablaßfeiern gestattet Averden."
Wie berechtigt solche Vorschriften, vom Standpunkt der Staatsgewalt
aus betrachtet, sind, wird in einem spätem Kapitel näher dargetan werden:
ob sie aber zum Ziele führen, ist eine andre Frage.
Geradezu mit persönlicher Gefahr ist die Lage der römisch-katholischen
Geistlichen verbunden, deren Stellung sie in fortgesetzte Beziehung zur
Bevölkerung in gemischten Gemeinden bringt — also in den polnischen
Gouvernements Ssuwalki, Lomsha, Lublin und Sjedlec, wo neben römischen
Katholiken Uniaten und Orthodoxe wohnen, und in Litauen imd Weiß-
rußland, wo Orthodoxe, Altgläubige, Lutheraner und römische Katholiken
zusammenkommen. In allen diesen Gebieten wird die Lage noch ver-
schärft dui-ch den Kampf, den die russische Sprache gegen die Dialekte
Kleinrussisch, Weißrussisch und gegen die litauische und die masurische
Sprache führt, während sich andrerseits die katholischen Geistlichen vielfach
nach Möglichkeit der polnischen Sprache zu bedienen streben. In Litauen
hat die polnische Sprache in der jungem Generation der katholischen Land-
geistlichkeit keine Stütze mehr, seit etwa 1897/99 die litauische demoki-a-
tische Partei entstand mid den sozialen Gegensatz zwischen dem litauischen
Bauern und dem polnisch sprechenden Großgrundbesitzer in ihi-em Pro-
gramm ausnutzte und durch ihre agitatorische Tätigkeit vertiefte. Die ver-
fänglichsten Vorschriften liegen infolge der großen allgemeinen Unordnung
bei den polizeilichen An- imd Abmeldungen auf dem Gebiet alltäglicher
Amtshandlungen: Taufen, Firmelungen, Trauungen, Beerdigimgen.^)
^) § 93 des Strafkodex lautet: „Geistliche andersgläubiger christlicher Bekemitnisse,
die schuldig sind:
1. der Vollziehung der Konfirmation, Salbung oder einer andern die Aufnahme in
eine andersgläubige christliche Konfession bezeichnenden Amtshandlung nach dem Ritus
an einem anerkanntermaßen (s. Anmerkmig am Schluß des Paragraphen) Rechtgläubigen,
oder der Vollziehimg der Taufe nach ihi-em Ritus, oder ihrer Zulassung an einem Kinde,
das anerkanntermaiäen nach den Regehi der rechtgläubigen Kirche zu taufen ist;
2. der Zulassung zur Beichte oder Kommunion emes anerkanntermaßen Recht-
gläubigen oder der Vollziehung der letzten Ölung nach dem Ritus ihres Bekenntnisses;
3. des Unterrichts an Minderjälirige des rechtgläubigen Bekenntnisses im Katechismus
ihres Glaubensbekenntnisses;
92 Fünites Kapitel. Kirche uiid Geistlichkeit
Der ganze Umfang der Bedi'ängnis der römisch-katholischen Geist-
lichen läßt sich aus den uns zugänglichen Bestimmungen und Gesetzen
nicht sicher feststellen, da gerade auf diesem Gebiet die geheimen Ver-
ordnungen des Heiligen Synods und des Ministers des Innern bestehn, von
denen Senator Tagantzew in seiner Einführung zum Strafgesetz spricht.
Infolgedessen sei auf eine im Jahre 1892 in deutscher Sprache ei-schieneno
Schrift: „Das pohiisch-rassische Staatskirchenrecht"' hingewiesen. Sie ent-
hält eine Fülle von Bestätigungen der Beobachtimgen, die Avir selbst in
der Lage waren anzustellen, sucht aber die katholischen Priester vom Vor-
wurf, revolutionär zu sein, zu reinigen. Die Schrift ist in der Absicht ge-
schrieben, die russische Regierung herabzusetzen.^)
Der Zweck aller der erwähnten Voi'schriftcn schien sich anfänglich
weniger gegen die Glaubensregeln der Kirche als gegen die einzelnen
Geistlichen imd Orden zu richten.'-) deren politisches Treiben den be-
gründeten Verdacht zuließ, sie seien an der national-polnischen Bewegung
4. der Vollziehiuig der Trauung eines Andersgläubigen mit einem anerkanntermaßen
Rechtgläubigen, bevor sie von einem rechtgläubigen Priester getraut sind.
werden beshaft mit einer Geldstrafe nicht über 300 Rubel.
Außerdem ist der der Übertretung des Punktes 1 Schuldige für die Zeit von drei
Monaten bis zu einem Jahr vom Amt zu entfernen, im Falle der "Wiederholung aber für
die Zeit von einem bis zu drei Jahien oder auch für immer; bei der Wiederholung der
in Punkt 2 und 3 envälmten Vergehn für die Zeit von drei Monaten bis zu einem Jahr;
und bei Wiederholung der in Punkt 4 erwähnten Vergehn für die Zeit von drei bis sechs
Monaten."
(Anmerkung zu ..anerkanntennaßen''. Tagantzew erläutert — a. a. 0. S. 175 —
,iUnter einem anerkanntermaßen Rechtgläubigen ist eine solche Pei-son zu vei-stehn, die
ihi'en Stjmdespapieren gemäß als rechtgläubig bezeichnet ist oder im orthodoxen Glauben
getauft und erzogen werden mußte.")
§ 94 desselben Kodex: .,GeistUche andersgläubiger christlicher Bekenntnisse, die
schuldig sind:
1. der Vollziehung der Trauimg eines Andersgläubigen mit einem anerkanntermaßen
Rechtgläubigen, falls späterhin die Trauung nach rechtgläubigem Ritus nicht vollzogen
wurde ;
2. der Vollziehmig der Trauung vou anerkannteimaßen rechtgläubigen Personen
werden bestraft mit einer Geldstrafe nicht über 500 Rubel.
Außerdem ist der Schuldige für die Zeit von di"ei Monaten bis zu einem Jalir und
im Falle der Wiederholimg für die Zeit von einem bis drei Jahren oder auch für immer
vom Amt zu entfernen.'-
») Verlag des Kuiyer Posuanski, 2. Aufl., Posen, 1902.
■-") Wenigstens im Zartimi Polen (s. Reinke a. a. 0. S. 141), wo der Heilige Sj-nod
ei-st in 1880er Jahien energisch eingriff. In Weißrußland richtete sich die griechisch-
katholische Propaganda direkt gegen die römische Lehre, die infolge des polnischen Auf-
stands sowie durch die Anhänghchkeit der katholischen (ieistlichen an den polnischen
Großgrundbesitz im Zusammenhang nüt der das niedere Volk einschüchternden Tätigkeit
Murawjows an vielen Orten vonlbergehend in Mißkredit geraten war. (Siehe G. Ja. Kipri-
janowitsch, ,.Das Leben Joseph Ssemaschkos, Metropolit von Litauen und Wilna". 2. Aufl.,
Wilna, 1897^ S. 458/66.)
A. Die Stellung der römisch-katholischen Kirche 93
persönlich beteiligt. Die Reorganisation der Vorwaltung bei der katholischen
Kirche war eine logisch notwendige Folge des politischen Teils der Bauern-
gesetze vom 19. Februar 1864. Als Diener des gutsheiTlichen Patronats
bildeten die römisch-katholischen Geistlichen das Bindeglied zwischen dem
Grundherrn und dem zinspfh"chtigen Bauern. Als der Bauer dem Einfluß
des adligen Patrons entzogen worden war, mußte auch dessen Vertiauens-
mann, der Geistliche, isoliert werden, sollte das Gesetz von praktischem
Wert bleiben.^)
Freilich, der Kenner der Anschauungen Tolstojs (siehe S. 85) mußte
sich eingestehn, daß neben dem angedeuteten Ziel auch der Wunsch ging,
die römische Lehre als solche bei der Bevölkerung in Mißkredit zu bringen.
Wie sehr Tolstoj und später auch der Sjmod gegen die Kirchenlehre
arbeiteten, ergibt sich aus der Form, wie das Unfehlbarkeitsdogma ausge-
nutzt wurde, ^) und wie die katholischen Kirchen nach Möglichkeit der
') Reinke, a. a. 0. S. 140/41. ,.Die Reform der Lage der Weltgeistlichen hatte u. a.
auch den Zweck , die Abhängigkeit tier römisch-kathohschen Geistlichkeit von der Regierung
zu vergrößern. (Siehe Ukas vom 14. Dezember 1865.) Darum wurden auch die Vermögen
der Kirche, die beiläufig im Jahre 1864 an barem Kapital 3612663 Rubel betrugen, vom
Staat in Verwaltimg genommen. — Die Wahl und Bestätigung der Geistlichen, die früher
bei den Patronatsinhabern lag, wurde anfänglich dem Minister des Innern und 1893 dem
Generalgouvemeur von Warschau übertragen."
2) Im Lnmediatbericht des Oberprokiu-eurs des Heiligen Sjmods vom Jahre 1870 heißt
es auf S. 6 und 7 wörtHch:
„Das römische Papsttum, das durch seine Herrschsucht vor zehn Jahrhunderten das
Schisma in die ökumenische Kirche hineingetragen hatte sowie nach und nach eine ganze
Reihe von Neuerungen und Iri-tümern ausgedacht hat, scheint sich damit nicht zu be-
gnügen ; es hat sich schüeßlich erkühnt, ein Prinzip aufzustellen und sich zur Richtschnur
zu nehmen, auf Grund dessen es unbehindert jede Art von Irrtum in Sachen des Glaubens
und christlicher Tätigkeit heiligen und als unwiderlegbare Wahrheit erklären kann. In
seinem Bestreben, das Papsttum zur äußersten Macht zu erheben, ist Papst Pius IX. bis
zu solcher Verblendimg gelangt, daß er selbst davor nicht zurückschreckte, sich über die
Menschheit zu stellen und sich und seinen Nacbfolgern eine Eigenschaft anzumessen , che
der menschlichen Natur nicht eignet. Auf dem von ihm zusammenberufnen pseudo-
ökumenischen Konzil hat er sich im Angesicht der ganzen Welt feierhch als unfehlbar
in Sachen des Glaubens imd der Moral erklärt und den pseudoökumenischen Beschluß zu
einem Dogina der römischen Kirche erhoben. Diese in direktem Widerspruch mit der
göttUchen Lehre stehende und selbst mit dem Geist des Christentums und mit dem ge-
sunden Menschenverstand imvereiubare Neuerung niußte das Gewissen vieler aufrichtiger
Gläubigen und bis daliin dem Papsttum ergebner ^Vjiliänger des römischen Katholizismus
empören. Unwillkürlich mußten sie ihre Blicke auf unsre wahrhaft kathohsche und aposto-
lisch-rechtgläubige Kirche richten, die die Reinheit der vom Heiland verkündeten und von
den Aposteln verbreiteten Glaubenslehre unverbrüchUch erlialten hat — auf unsre Kirche,
bei der keine menschliche Autorität auf dieselbe Stufe mit der ökumenischen Wahrheit
gestellt wird, die keine Ausprüelie auf äußere Größe und Macht erhebt, und die der
Gläubigen Herz und Geist nicht durch neu ausgeklügelte und nach menschlicher Willkür
eingeführte Lehren vergewaltigi.'-
94 Fünftes Kapitel. Kirche und Geistlichkeit
Mittel zu ihrer Instandhaltung beraubt wurden.^) Anfang der 1880er
Jahre kam es dann zu offnem Kampf, in dem die römisch-katholische,
national-polnische Geistlichkeit wieder die Initiative ergriff.*)
B. Die Tätigkeit der russischen Kirche
„Im Reichsgebiet hat allein die herrschende griechisch-katholische
Kirche das Recht, andern OlaubensheJcenntnissen anhängende Christen
und, Andersgläubige zur Annahme ihrer Glaubenslehre zu überreden.
Geistlichen ebenso tvie weltlichen Perso7ie7i dm' andern christlichen
Glaubensbelcenntnisse und Andersgläubigen unrd strengstens verboten, Be-
kehrungsve7-suche an nicht zu ihrer Religion gehöretiden zu unternehmen ;
im entgegengesetzten Falle würden sie sich den im Strafgesetz vorgesehenen
Strafen aussetzen.''^)
Diese Bestimmung rechtfertigt das Auftreten der russischen Geistlichkeit
in den Westprovinzen und im "Weichselgebiet. Denn nachdem jene Pro-
vinzen dem russischen Reiche einverleibt waren, widersprach es nicht mehr
den Tiaditionen *) der orthodoxen Kirche und der Staatsgewalt, den nach
^) So entschied der Senat sub 56 am 23. Februar 1899, daß Majorate, die in
russischen Besitz übergegangen waren, sich an der Instandhaltung der zu ihnen gehörigen
römisch- katholischen Kirchen nicht zu beteihgen haben. (Baron .\. Nolken, Senatsent-
scheidungen und ErläuteiTingen von 1894 bis 1901, St. Petei-sburg, Senatsdruckerei, 1902,
S. 509 ff.)
-) Bericht Pobjedonostzews an den Zaren über die Zu.stände im Westgebiet im
Jahre 1884, St. Petersburg, Druckerei des Heiligen Synod, 1886, S. 100. — Im Jahre 1884
gab es unter den Uniaten ira Gouvernement Sjedlec bereits 2365 sogenannte ,.Krakauer",
d. h. von Jesuiten in Galizien einge.segnete Ehen, die zur Kenntnis der Behörden gelangt
waren.
') Art. 1 des Bd. XI, Teil 1 der Gesetzsammlung und gleichzeitig Ai-t. 40 der Staats-
giimdgesetze.
*) Siehe auch Manifest Petei-s des Großen vom 16. April 1702, Punkt 2. — In gleichem
Sinne sprechen sich die russischen Kirchenrechtler aus:
1. Professor M. Krasnoslion. ,.Die Stellung der nicht rechtgläubigen Christen in der
i-ussischen Gesetzgebung^'. Druck Mattiessen, Dorpat, S. 2/3. ,.Das Verhalten der rassischen
Staatsgewalt gegenüber den Andersgläubigen wird während der ganzen Geschichte des
russischen Staats durch zwei Prinzipien gekennzeichnet: Schutz der hen-schenden recht-
gläubigen Kirche von der einen Seite und völlige Glaubensduldung für die Andersgläubigen,
in deren innere kirchliche Angelegenheiten der Staat sich nicht einmischt . . ." S. 13:
„. . . das Proselytentum wird nicht gut geheißen, dennoch darf die Staatsgewalt nicht gleich-
mütig Versuchen gegenübei-stehn, die darauf ausgehn, Rechtgläubige zum Austritt aus ihrer
Kirche zu veranlassen.''
2. Graf D. I. Tolstoj, „Der römische Katholizismus in Rußland", St. Petersburg, 1873,
Bd. 1, S. 73: „. . . die russische Geistlichkeit hat Andersgläubige nicht mit Gewalt in ihre
Kirche gezogen, sondeni nur solche aufgenommen, die aus Überzeugiuig in sie eintraten,
hat sich auch nicht wie die katholische Jahrhunderte hindurch mit Propagandainstitutionen
ausgerüstet; dafür aber hat sie immer verständig imd mit lebendigem Eifer ihre Herde
vor der Verirrung und vor Abfall behütet. . . .■' (Diese Darstellung wäre tatsächlich zu-
B. Die Tätigkeit der russischen Kirche 95
ihrer Auffassung wahren christHchen Glauben bei den pobiischeu, litauischen,
lettischen, deutschen usw. Untertanen des Zaren einzuführen. (Vgl. S. 17
bis 19.) Die russische Kirche führt somit innerhalb des Keichs emen
offnen Kampf gegen die fremden Bekenntnisse. Soweit es sich um die
römisch-katholische Kirche handelt, soll er hierunter, gestützt auf das amt-
liche Material des Heihgen Synods, kurz dargestellt werden.
1. I>ie Organisation der russischen KircJie
Die Diözesen, in denen sich der Kampf gegen die römisch-katholische
Kirche hauptsächlich abspielt, sind die Ton Litauen (Wilna), Mohilew, Minsk,
Wolynien, Podolien, Kijew und Cholm -Warschau. An der Spitze jeder
Diözese steht ein Bischof, Erzbischof oder Metropoüt mit einem Konsistorium.
Gewöhnlich ist der oberste Geistliche die Seele der Rassifizierung in dem
seinen Sprengel bildenden Verwaltungsgebiet, und die weltlichen Beamten
haben sich seinen Weisungen zu fügen. Da aber die russische niedere
Geistlichkeit aus vielen hier nicht zu erörternden Gründen bei der rus-
sischen Bevölkerung, geschweige denn bei der nichtrussischen, keinerlei
Achtung genießt, hält die oberste Kirchenbehörde schon seit 1865 die
Schaffung von Missionsgeselischaften, Brüderschaften und Vormundschaften
bei den einzelnen Kirchengemeinden für das beste Mittel, die Wirksamkeit
der höchsten Geistlichkeit zu verstärken.^) Wie weit die Absicht durch die
guten Erfolge der Jesuitenschulen gestärkt wurde, möchten wir hier nicht
untersuchen.
Ln Jahre 1865 wurde in Moskau die Russische Missionsgesellschaft
gegründet. Sie erhält sich hauptsächlich aus Spenden, bekommt aber auch
staatliche Zuschüsse. Im Jahre 1866 hatte sie 1360 Mitglieder, 1872: 8300
mit 22 Diözesankomitees und verfügte über ein Kapital von 308270 Rubel ^);
im Jahre 1878 war die Zahl der Mitglieder infolge der Abwesenheit der
Armee auf dem türkischen Kriegsschauplatz auf etwa 6300 Mitglieder
treffend, wenn nicht die örtlichen Polizeiorgane mit Gewalt und Bestechung auf Anders-
gläubige wirkten, um sie zum Übertritt in die griechisch-katholische Kirche zu veranlassen.
Besondeis zahlreich sind die Klagen darüber im Anschluß an die Niederwerfimg des pol-
nischen Aufstandes von 1830/31, siehe lüprijanowitsch, a. a. 0. S. 461 ff.)
3. Professor A. S. Pawlow, „Lehrbuch des Kirchenrechts", Swjato-Troitzkaja Sser-
gijewa Lawra, 1902, Darstellung der Reehtsquellen der nissischen Kirche, S. 184/86 und
S. 527 ff. (§ 152): „Wenn nmi die nissischen Staatsgesetze eine Sektenbildimg innerhalb der
herrschenden rechtgläubigen Kirche nicht zulassen, so sind in Rußland stets in größerem
oder geringerm Maße andre Glaubensbekenntnisse (christliche) ausländischen Ursprungs
geduldet gewesen."
') Iramediatbericht des Oberprokureurs des Heiligen Synods von 1866 S. 43 und von
1902 S. 191.
*) Ebenda 1872, S. 37.
96 Fünftes Kapitel. Kirche und GeLstlichkeit
zurückgegangen, um im Jahre 1879 in 29 Diözesen wieder auf 6731 zu
steigen — bei einem Kapital von 660661 Kübel. ^) Dann hat die Zahl der
Mitglieder beständig zugenommen und ist im Jahre 1902 auf 18345 Mit-
glieder gestiegen,-) die aber meistens Staatsbeamte sind. Im Jahre 1902
sind von der Gesellschaft über 350000 Rubel für Missionszwecke, davon
über 100000 Rubel im europäischen Rußland ausgegeben worden. 3)
Wir mußten von der Missionsgesellschaft sprechen, weil sie es ist, die
die Brüderschaften in den westlichen Provinzen mit solchen Geldmitteln
versorgt, die keiner öffentlichen Abrechnung unterliegen.
In den Westgouvernements Kowno, Wilna, Grodno, Mohilew, Minsk,
Wolynien, Podolien gab es im Jahre 1883 und später fünf solcher Brüder-
schaften.*) Haben diese Brüderschaften vor allen Dingen mit den ehe-
maligen Uniierten russischer, litauischer und masurischer Xatioualität zu
kämpfen, so haben zwei weitere fast ausschließlich mit den polnischen
Uniierten innerhalb des Generalgouvernements Warschau zu tun. Sie luiter-
stehen darum auch der Cholm -Warschauer Diözese. Beide wurden im
Jahre 1879 gegründet.'*)
Zuerst trat die Nikolaibrüderschaft in der ehemaligen Festung Sarao§c
an der galizischen Grenze ins Leben. Sie gründete eine Schule flu- Kinder
russischer Bauern, legte eine Buchhandlung an imd verteilte die Geschenke
russischer Glaubenseiferer an die ehemals unierten Gemeinden.*^)
Am 8. (20.) September 1879 wurde in der Kathedrale zu Cholm die
Brüderschaft der Heiligen Muttergottes, die schon im Jalire 1617 be-
standen hatte, mit großem kirchlichem Gepränge eingeweiht. Die Brüder-
schaft sorgt für die Verbreitung von Bibeln in russischer Sprache sowie von
Büchern und Broschüren religiösen Inhalts ") und für die Ausschmückung
der orthodoxen Kirchen.
Neben diesen Brüdei-schaften bestehn im Zartum Polen die Kuratorien
oder Vormundschaften bei den russischen Kirchengemeinden. Ihre Zahl ist
in der Zeit von 1871 bis 1895 auf 334 gestiegen, ist aber im Jahre 1902
*) Immediatbericlit des Oberprokiu-eui-s des Heiligen Synods von 1879, S. 59.
-j Ebenda 1902, S. 191. — •') Ebenda 1902.
*) Lnmediatbericht von 1883, S. 99. (Wilnaer Brüderschaft des Heiligen Geiste.«?,
Kownoer Nikolaus-Brüderschaft, Kijewer Wladimir-Brüdei-sehaft, Joliannes-Bmdei"schjxft m
Kamenetz-Podolsk und die Klosterbrüderschaft in Mohilew, von denen jede aus den Mitteln
des Heiligen Synods nicht weniger als 2.50 Rubel jährlich erhält.)
^) Ebenda 1879, S. 106 bis 108.
•^j Tätigstes Mitglied Geheimrat Batjuschko, ebenda von 1879, S. 109.
') Solche Schriften waren: 1. Die Stadt Cholm und ihre ältesten Heiligtümer; 2. Das
Ei-scheineu des wuuderwirkenden Bildes in Leszno; 3. Ein Denkmal der rechtgläubigen Kirche
in Lublin; 4. Über das älteste Vorhandensein des rechten Glaubens im Weichselgebiet und
Galizien; 5. Erlösende Nahrung für alle betend« 'U Christen (1883, S. 97).
B. Die Tätigkeit der russischen Kirche 97
auf 318 und im Jahre 1904 gar auf 270 zurückgegangen. Die Vormund-
schaften bestohn aus den Priestern, den russischen höchsten Beamten und
rassischen Lehrern der jeweihgen Gemeinde. Auch sie erhalten ihre Gehl-
inittel zu einem Teil aus der oben erwähnten Missionsgesellschaft wie auch
aus freiwilligen Spenden, Ihre jährlichen Aufwendungen eiTeichten im
Jahre 1882 mit 26400 Rubel die höchste Zahl und betrugen 1902 und
1904 etwa 17000 bis 18000 Rubel. ^)
„Mehr aber als alle Gesellschaften, schrieb Graf Tolstoj, leistet die
Bussische Wohltätigkeitsgesellschaft." '^) Sie wurde im Jahre 1862 in Form
eines Daraenzirkels gegründet und darf wohl als die einzige russische
Vereinigung betrachtet werden, die im Zartum Polen aus dem Bedürfnis
der dort lebenden russischen Gesellschaft entstanden ist. Ihr Statut wurde
am 6. Mai 1866 bestätigt, und schon im Jahre 1867 hatte sie ein Ver-
mögen von 16000 Rubel und 387 Mitglieder, darunter den Erzbischof und
den Statthalter. ^) Die Gesellschaft hatte bis zum Jahre 1872 schon je eine
Filiale in Kjelce, Petrikau und Lublin eingerichtet und für die Einrichtung
von 38 Kirchen im genannten Jahre 13017 Rubel ausgegeben.*) Von der
Russischen Wohltätigkeitsgesellschaft wird noch an andrer Stelle ein-
gehender gesprochen werden, da hier ledighch ihre Stellung zu den kirch-
lichen Unternehmungen in Frage kommt.
2. Vie Aufgaben der Geistlichkeit und ihrer Organe
Die praktischen Aufgaben der russischen Geistlichkeit und ihrer Organe
liegen in erster Linie in der Beaufsichtigung der römisch-katholischen Pro-
paganda oder, wie es in der Amtssprache heißt, in der Behütung der
Rechtgläubigen vor schädlicher Beeinflussung durch die lateinische Kirche^)
imd zweitens in der endgiltigen Unterwerfung der früher unierten Be-
Avohner unter die Oberhoheit der russisch-orthodoxen Kirche. Eine prak-
tische Missionstätigkeit unter den römischen Katholiken des Zartums Polen
ist einstweilen noch nicht in das Programm der russischen Kirche auf-
genommen.
Die täglichen Aufgaben der russischen Geistlichkeit werden nach
Tolstoj und Pobjedonostzew am besten unterstützt durch materielle Besser-
stellung der Geistlichkeit im Zartum Polen,") durch die Einrichtimg von
1) Im Jahre 1879 gab es in Podolien 1148 Vormundschaften mit 297133 Rubel
Kapital, in Kijew 314 mit 46329 Rubel (a. a. 0. von 1879, S. 105/06).
■') Immediatbericht des Grafen D. I. Tolstoj von 1870, S. 20.
^) Ebenda von 1866, S. 43. — *) Ebenda von 1870, S. 27.
^) Zum Beispiel im Immediatbericht von 1870, S. 100.
'') Durch Ukas vom 14. Dezember 1866 wurden die Ausgaben für die Geistlichkeit
im Zaiium Polen fast verdoppelt.
Cleiuow, Die Zukuuft Polens 7
98 Fünftes Kapitel. Kirche und Geistlichkeit
Kirchenschulen, Klöstern und diu*ch den Bau von Kirchen. ^) Die Kirchen-
schulen wurden besonders in dem sogenannten Westgebiet verbreitet, im
Zartum Polen ist ihre Zahl nur auf 31 gestiegen,^) Avenn man nicht alle
dörflichen Schulen, in denen der GeistHche der einzige Lehrer ist, als
Kirchenschulen bezeichnen will. Im Jahre 1902 sind m der Statistik des
Heiligen Synods nur noch fünf Kirchenschulen aufgeführt, üie meisten
dieser Schulen wurden vom Ministerium für Volksaufkläning übernommen
und somit der geistlichen Schulaufsicht gewissermaßen enti'ückt.
Wie wenig der gi-iecliische Klerus mit dem weltlichen Einfluß auf
die Volksschulen einverstanden ist, geht aus einem amtlichen Schreiben
(Nr. 260 vom 5. April 1901, geheim) hervor, das der bischöfliche Schul-
vorstand von Slonim an den (reistlichen von Dobromyßlj gerichtet hat. In
dem Schreiben heißt es, der Oouverneur von Minsk habe genehmigt, in
seinem Gebiet Ministerialschiilen einzurichten. „Durch diese Verfügung
wird das Recht der Geistlichkeit, Schulen zu eröffnen, geschmälert. Sie
ist verletzend für die Geistlichkeit, aber sie kann auch selir gef<ährlich für
die rechtgläubige Kirche werden; sie ermöglicht den katholischen Priestern
den Zutritt zu unsem Gemeinden als Religionslehrer der katholischen
Kinder . . . Wir müssen uns der Verfügung mit allen Mitteln widersetzen.
Das ist unsre Instruktion von oben . . . Ich mache Sie ernsthaft darauf
aufmerksam, daß, wenn es zur Eröffnung einer Ministerialschule in Ihier
Gemeinde kommen sollte, Sie persönlich dafür verantwortlich gemacht
werden. Gez. Wladimir Knominski.'"*) Großer Wert wurde auf die An-
lage von Frauenklöstern gelegt, deren es im Jahre 1805 keins, 1902
aber vier mit 260 Insassen gab (vgl. auch Tabelle auf S. 100). U7iter allen
Klöstern des Westgehiets ist das von Ljesninsk, etwa acht bis zelm Kilo-
meter von Bjela im Gouvernement Sjedlec gelegen, der wichtigste Stütz-
punkt der orthodoxen Kirche. Es wurde im Jahre 1885 von der Gräfin
E. B. Jefimewskaja als Sclnvesterngemeinde gegi'ündet und im Jahre 1889
zu einem wirklichen Kloster mit 37 Nonnen erhoben. Das Kloster hegt
inmitten sogenannter standhafter Uniatengemeinden, die unausgesetzten
Verkehr mit den Jesuiten in Galizien unterhalten. Die Aufgabe des
Klosters ist vor allen Dingen, die weibliche Bevölkerung des Gebiets zu
boarl)eiton. Dazu ist eine Mädchenschule und ein Asyl für ^lädchen ein-
gerichtet, das im Jahre 1893 87 Kinder beherbergte,*) im Jahre 1904 aber
») Immediatbericht von 1866, S. 43 imd von 1897, S. 61. — •^) Ln Jahre 1871.
•') Die Verantwortimg für die Richtigkeit des Dokuments trägt der Kanonikus des
Wihiaer Kapitels, Propst K. Majewski.
*) Pfarrer I. Fudel, Unsre Angelegenheiten im Westgebiot, Moskau, Univereitäts-
druckerei, 1893, S. 31 ; ferner Istcritscheslci Wjestnik, Dezember 1886, S. 618.
B. Diö Tätigkeit der rassischen Kirche 99
nur einige vierzig. Das Kloster hat einen sein* bedeutenden Einfluß auf
die örtliche Verwaltung genommen und ist wiederholt die Veranlassung
zu strengern Maßregeln gegen die Uniaten gewesen.
Ebenso eifrig ist man auch mit dem Bau von Kirchen vorgegangen.
Während es im Jahre 1865 im Zartum Polen nur 40 orthodoxe Kirchen
gab, beträgt ihre Zahl im Jahre 1902 nicht weniger als 502 oder auf
810 Seelen eine Kirche! Freilich verhert dieses schöne Bild, wenn wir
bedenken, daß alle Gotteshäuser der Uniaten als solche der orthodoxen
Kirche bezeichnet werden. Doch davon weiter unten.
Ti'otz dieses doch gewiß günstigen Bildes klagt der Heilige Synod
fortgesetzt über den Mangsl an russischen Kirchen. „Bei den fortgesetzten
Verhöhnungen, schreibt Pobjedonostzew, denen die Russen wegen ihrer
geringen Zahl von Kirchen seitens der Polen und Uniaten ausgesetzt sind,
können sie sich des Gefühls nicht erwehren, als seien sie in einem Lande,
in dem die orthodoxe Kirche nicht die heiTschende ist."^) Tatsächlich
sind auch die meisten nissischen Kirchen in einem traurigen Zustande.
Das ist aber auch nicht anders möglich, da das für sie ausgeworfne Geld
besonders ziu' Amtszeit Tolstojs verzettelt wui"de. Damals galt es vor allen
Dingen mit Zahlen zu prangen, und es Avurden Pfarren eingerichtet, ob-
wohl keine Gemeinden vorhanden waren. ^) Pobjedonostzew hat dai'in teil-
weise Wandel geschafft. Allein im Jahre 1884 wurden in den Kreiseir
Cholm und Sjodlec zehn solche „Gemeinden'' aufgelöst. Wo aber einige
Russen zusamraenwohnten, erhielten sie Pfarren. So wurde 1887 in Plonsk
eine Pfarre eingerichtet, die den Staat jährlich 1780 Rubel kostet, obAvohl
nur 280 rechtgläubige Seelen am Orte sind.^) Die wenigen schönern
Kirchen im W'eichselgebiet sind auf Kosten der Grenzzollverwaltung ^)
oder von deutschen und jüdischen Kaufleuten errichtet.'^) Nur die neue
Kathedrale von Warschau und die 1872 errichtete von Czenstochau^) sind
fast vollständig aus Staatsmitteln erbaut, während der Dom von Chobn
^) Immediatbericht von 1884, S. 272.
") Diese Auffassung wird auch von zwei russischen Geistlichen für" das Nordwest-
gebiet bestätigt. Rußkoje Obosrenije von 1893, Heft 2 bis 4, von A. AVladimirow und in
1. Fudel, Unsere Angelegenheiten im Nordwestgebiet, a. a. 0.
*) Immediatbericht von 1887, S. 26, vgl. auch Kapitel über Religionsunterricht.
*) In "Wirballen-Kibartj', Alexandrowo usw.
^) In Lodz für 520 Seelen, Immediatbericht von 1884, S. 39.
*) In Czenstochau ist die wundertätige Schwarze Muttergottes, die ebenso wie die
in Wilna von der lateinischen Kirche der russischen gestohlen sein soll. So erklärt sich
der Heilige Synod die Tatsache, daß zu den Festtagen des Bildes so \\e\ Volks aus Weiß-
rußland und Podoüen nach Czenstochau strömt. Damit diese Rtissen ein eignes Gottes-
haus finden, wurde die Kathedrale gebaut. (Immediatbericht von 1872, S. 59.)
100
Fünftes Kapitel. Kirche und Geistlichkeit
und der von Rawa ehemals römisch-katholischem Gottesdienst geweiht
waren. ^)
Das Ergebnis der Bemühungen der russischen Kirchenbehörde zeigt
folgende Tabelle.
Im Zartum Polen gab es:
in den Jahien
Männerklöster
Frauenklöster
Mönche usw
Nonnen
städtische ...
Kloster- ...
Kirchen < Gemeinde- . .
Privat- ....
sonstige . . .
Weiße Priester . . . . ,
Rechtgläubige Einwohner .
Proseh'ten
Geistliche Schulen . . . .
Geisthche Lehrer
Geistliche Schüler . . . .
Kirchenschulen
Schüler darin
Aufwendungen für Gemeinden
Unterstützungsfonds . . .
KirchenbibUotheken . . . .
Kirchliche Vormundschaften .
Deren Ausgaben für Schulen .
Ergebnis der Sammhmgon
Neue Kirchen
1865
1
25
2
1
26
9
4
156
32893
(175) »)
214
1
6
24
17
324
?
.727
1871
1
26
1879
1
24
1882
1
32
•>
4
12
1-2
1
1
10
16
.42 33
[57
298 302
415 312
472 320
14
20
27
26
7
88
111
128
161
42669
(289)
332
1
8
29
31
805
70113
1803
22
13
10831
14173
334235-^
(451)
517
2
16
79
2
82
487988
3308
20
19700
21554
807
353410
(271)
321
2
14
142
3
66
494234
56
20
26400
35100
10
1895
1
2
45
99
12
10
12
27
11
815
426230
(-)
239
3
33
486
350100
8350
230
344«)
14840
476
1902
1
4
46
260
1-2
16
320
26
128
851
039
(237)
295
502
35
473
5
222
566900 Ruh.
5100 „
306
318
17400 Rub.
1"
13
Damit ist freilich das wahre Ergebnis der Tätigkeit der russischen
Geistlichkeit nicht gekennzeichnet, sondern nur der Umfang und die Kosten
des angewandten Apparats. Das wahre Ergebnis soll in dem Kapitel gezeigt
werden, in dem der Kampf der Geistlichkeit beider Bekenutnisso gegen-
einander dargestellt wird.
') Immediatbericht von 1870, S. 15.
■^) Das ist nach der „"Wiedervereinigung" der polnischen üniaten mit der ortho-
doxen Kirche.
*) Aus der römischen Kirche. — *) 9 neue wurden geschlossen.
C@^^^
Sechstes Kapitel
Das mssisclie Element im Zartum
Es wurde in den voraufgegangneu beiden Kapiteln versucht, den groß-
artigen Apparat darzustellen, den die russische Kegierung aufgewandt hat,
ura das Herzogtum Polen in das russische "Weichselgebiet umzuwandeln
oder, um mit Miljutin zu sprechen, die Gouvernements des Zartums Polen
organisch mit den übrigen des russischen Reichs zu verbinden. Sollte die
Arbeit den ihr zugedachten Zweck erfüllen, dann mußte auch das rassische
Element im Zartum vergrößert werden. Tatsächlich hat die Regierung
keine durchgreifenden Maßregeln in dieser Richtung, wie es zum Beispiel
die Ansiediung russischer Bauern gewesen wäre, ergriffen. Sie hat es
vielmehr hauptsächlich der Zeit und den Umständen überlassen, die Zahl
der russischen Bevölkerung zu vermelu'en. Die wenigen Maßnahmen zui-
Vergrößerung der russischen Bevölkerung, die auf dem Gebiete der Yer-
waltungstechnik zu finden sind oder in der Schaffung russischer Majorate
bestehn, werden wir kennen lernen.
A. Die russische Bevölkerung im Weichselgebiet
Die russische Bevölkerung im Zartum Polen ist einzuteilen in die
Beamten, die die Absichten der Regierung an Ort und Stelle durchzuführen
haben, und in die Kreise der russischen Gesellschaft, die private Interessen
in die Gouvernements des Zartums führen. Wenden avü' uns zunächst
der zweiten Kategorie zu, so bemerken wii" mit Staunen, daß es eine solche
Kategorie nicht zu geben scheint.^) In den Städten finden wir zwar
Moskauer Firmen, aber dahinter stehn polnische, deutsche oder jüdische
Verwalter, sehr selten Russen. Es ist gewiß keine Übertreibung, wenn
wir angeben, daß mit Ausnahme von einigen Getreidehändlern und Unter-
nehmern für militärische Bauten überhaupt kein russisches Bürgertum in
*) G. A. Jewreinow bestätigt meine Behauptung, indem er schreibt .,. . . unser
kultureller imd wirtschaftlicher Einfloß fehlt im Zai'tum Polen vollständig . . .•' pie
Autonomie des Zartums Polen, St. Petersburg, 1906.)
102 Sechstes Kapitel. Das rassisclie Element im Zaiium
Polen zu finden ist. Die 92173 Eussen, tUe die amtliche Statistik für
1904 in den Städten führt, sind Avohl ausschließlich auf die Beamten und
deren Familien zu verteilen, während unter den 30 16G Russen in Flecken
auch Fabrikarbeiter sein dürften. In allen Fabiiken des Zartums gibt
es nur 46 russische Direktoren und 39 russische Meister,^) dagegen habe
ich in verschiednen Betrieben bemerkt, daß gewisse Arbeiten nicht von
Polen und Juden, sondern fast ausschließlich vou Russen vemchtet
werden. ^)
1. Die Untaten
Amtlich werden die sogenannten Uniaten der Gouvernements Lublin
imd Sjedlec ziu* russischen Bevölkerung gezählt. Mit welchem Recht, soll
hier gleich gezeigt werden. Sie kommen für die Russifizierimg nicht in
Fi'age, da sie womöglich immer noch mit größerer Erbitterung auf die "Ver-
treter der russischen Regierung blickten als die Polen selbst, und es be-
darf bis in die j üngste Zeit hinein großer Anstrengungen und Aufwendungen
von Macht und Geld, um die Uniaten wenigstens äußerlich zur Unter-
ordnung unter die Bestimmungen des Heiligen Synods zu zwingen (vgl.
Kapitel 5 B). Eine lehrreiche ßestätigimg dieser Auffassung gibt uns
die amtliche Statistik. Am 1. Januar 1905 wurden im Zartum Polen
angegeben 585 296 griechische und 8 500 000 römische Katholiken. Am
1. Januar 1906 gibt es dagegen nur 486943 griechische, aber 8644150
römische Katholiken. Wie ist die Verschiebung möglich ? Dieselbe Statistik
lenkt uns auf den richtigen Weg, indem sie ims sagt, daß sich allein die
ländliche Bevölkerung griechisch-katholischen Glaubens im genannten Jahre
um 88100 Menschen verringert habe. Das Gros der russischen ländlichen
Bevölkerung lebt aber, wie gesagt, in Lublin und Sjedlec. Dort stellt sie 20
und 21 Prozent der Gesamtbevölkerung dar. Eine Epidemie oder besonders
starke Auswanderung hat in dem Gebiet nicht stattgefunden. Wohl aber
wurde am 17. (30.) April 1905 das Manifest erlassen, das jedem russischen
Untertan völlige Glaubensfreiheit verkündet^) Unter Berücksichtigung der
seinerzeit in der Presse veröffentlichten Tatsachen dari gefolgert werden,
daß obige 88100 Menschen, um die sich die russische ländliche Bevölkerung
^) Arbeiten des "\IS'arschauer Statistischen Komitees von 1907, Heft XXIX, S. 99.
*) So wird das Reinigen von Borsten in Wolkowyski , Mariampol, Preny im Gou-
vernement Ssuwalki fast ausschließlich von Küssen aus dem Gouveniement Tschemigow
besorgt, woher die Borsten stammen. Leiter imd Aufseher bei diesen Betrieben sind aus-
schließlich Juden. Im Gouvernement Petrikau sind verhältnismäßig viel Russen als Berg-
ai'beiter beschäftig-t. In den Stahlwerken und Maschinenfabriken sind Russen vorwiegend
als Schwarzai'beiter zu finden.
') Ai'beiten des Warschauer Statistischen Komitees von 1907. Heft XXVII,
S. 27 und 88.
A. Die russische Bevöliienmg im Weichselgebiet 103
Polens von 1905 auf 1906 verringert hat, aussclüießlich auf Uniaten zu ver-
rechnen sind, die zur römischen Kirche übertraten.^) Audi die Protokolle
der Kommission zur Vorbereitung eines allrussischen Kirchenkonzils be-
stätigen unsre Ansicht. Allein in der Diözese Cholm, heißt es dort auf
Seite 286 des zweiten Bandes, sind nach dem erwähnten Glaubenserlaß
gegen 80000 standhafte Uniaten zur lateinischen Kirche übergetreten.
Noch deutlicher wird die Tatsache bei Betrachtung der Zahlen für
die beiden Gouvernements Lublin und Sjedlec, in denen die russische Be-
völkerung von 20,19 auf 18,91 Prozent und von 21,59 auf 13,44 Prozent
zurückgegangen ist, während die römisch-katholische von 62,39 auf 64,52 Pro-
zent imd von 60,3 auf 68,18 Prozent stieg. ^)
Somit können wir die russischen Uniaten als russifizierendes Element
ausscheiden. Das sind aber allein für Lublin und Sjedlec rund 430000 Ein-
wohner, die in der Statistik als Russen geführt werden. In der russischen
Regierung gibt es auch genug Vertreter, die solche Auffassung teilen, wie
aus den seit 1865 wiederholt aufgetauchten hierunter noch näher zu er-
läuternden Plänen zu ersehen ist, die auf eine Abtrennung der Bezirke
mit unierter Bevölkerung aus dem Generalgouvernement Warschau aus-
gehn. Von den 585000 für 1905 angegebnen Russen bleiben somit nur
etwa 155000 bestehn.") Ein sehr kleiner Teil davon fällt auf russische
Großgrundbesitzer.
2, Kttssisclie Grossgrundbesitzer
Die russische Regierung hat zweimal energische Anstrengungen ge-
macht, unter den Großgrundbesitz in Polen das russische Element zu ver-
pflanzen. Das erstemal nach dem Aufstande von 1830/31 und das zweite-
mal im Jahre 1864. Doch ist sie in der Wahl ihres Mittels unglücklich
gewesen. Sie hat im ganzen etwa 370000 Deßjatinen im Weichselgebiet
gelegnen Landes an Beamte und Offiziere verteilt, die sich bei der Unter-
werfung der Aufstände und Durchführung der russifizierenden Refonnen
*) In Städten und Flecken lionuiien neben Uniaten aucli Juden in Fi'agt', die sich
während der Herrschaft Gurkos hatten taufen lassen, da ihnen die Regiemng dafür zwischen
5 bis 80 Rubel zahlte. Nach Erlaß des Glaubensmanifestes sind die meisten dieser
Gläubigen wieder zum mosaischen Glauben zurückgekehrt. Genaue Daten werden eret
jetzt durch die Regierung gesanunelt, da sie gegen die Abtrünnigen vorzugehn be-
absichtigt.
2) Arbeiten des Warechauer Statistischen Komitees von 1906, Heft XXVI, S. 70
bis 73. Leider fehlen genaue Daten über die speziell von den Uniaten bewohnten Kreise.
*) Hier sei aus eigner Beobachtung der irmern Verhältnisse hinzugefügt, daß die
Uniaten im Chohner Land neben ihrem stark polonisierten nithenischen Dialekt fast aus-
schließlich Polnisch und fast gar nicht Russisch sprechen. Im Cholm er Land kommt der
Reisende überall leicht mit Polnisch dui'ch, aber nur sehr schwer mit Russisch.
104 Sechstes Kapitel. Das russische Element im Zarümi
verdient gemacht haben. Solche Männer waren unter andern im Jahre 1867:
W. M. Markus, N. 0. Nabokow, Baron Gerschan, D. W. Gotowtzew, G. I.
Tschistelin; im Jahre 1869: "W. M. Mengden in Tula, A. I. Neratow in Kasan,
W. D. Filossofew in Pskow usw. Zuletzt — im Jahre 1892 etwa — ^^'urde
W. F. Trepow, der sich als Generalgouverneur von Petersburg im Jahre 1905
bekannt gemacht hatte, mit einem Majorat im Gouvernement Lublin be-
dacht. Die Verleihungen hatten für die Russifiziening keinen praktischen
Erfolg; denn im Jahre 1893 lebten nur 38 von etwa 200 Majoratsbesitzem
auf den ihnen geschenkten Gütern.^) Im Jahre 1905 waren 314886 Deß-
jatinen oder 3,1 Pi'ozent der Fläche Majoratsbesitz.-)
Schon die Verleihung der Güter an Pei*sonen in so hoher dienstlicher
Stellung mußte eigentlich jede Hoffnung ausschließen, daß sich die Be-
sitzer persönlich auf ihren Gutem niederlassen würden. Xach Erreichung
einer gewissen Stellung im Staatsdienst den Abschied zu nehmen und sich
in einem fi'emden Lande unter gesellschaftlich ungünstigen Verhältnissen
mit Landwdrtschaft zu beschäftigen, lediglich um in diesem Gebiet eine
russische Gesellschaft zu schaffen, erscheint ims als ein Opfer, das kaum
jemand auferlegt werden dürfte. Und in der Tat, die Majoratsinhaber
haben nicht nur dieses Opfer nicht gebracht, sondern sind sogar in den
meisten Fällen auch der einzigen ihnen auferlegten Verpflichtung aus dem
Wege gegangen. Die Verpflichtung bestand darin, das erhaltne Land nicht
zu vei'pachten, sondern in eigner Wirtschaft, wenn auch nicht persönlich,
so doch durch einen Verwalter zu führen. Tatsächlich befinden sich aber
fast alle Majorate in Pacht, und zwar ausschließlich in den Händen der
eingasessenen Bevölkerung — der Polen oder der Juden. Um die Pacht-
beschränkung zu umgehn, wurde ein sehr einfacher Kunstgriff angewandt
Die Güter wurden nicht veipachtet, sondern an eine durch jährlich zahl-
bare Kaution sichergestellte Verwaltiuig übergeben. Der Pseudoverwalter
vei-pflichtet sich, alljährlich aus dem Gut eine bei Abschluß des Ver-
trags festgesetzte Smnme für Eechnung des Besitzers herauszuwirtschaften,
dabei aber die Wirtschaft auf eigne Unkosten mit eignem Inventar zu
führen. „In einer solchen verbürgten Administration befanden sich, so
schreibt ein sehr gut unterrichteter Anonymus, etwa 75 Prozent aller
Majorate im Gebiete vom Moment der Verleihung an! Li den übrigen
führen die Besitzer die Wirtschaft zwar auf eigne Rechnung und Gefahr,
aber doch mit Hilfe eingesessener Elemente. Und es konnte ja auch kaum
anders sein: denn woher soUten sie im Weichselgebiet einen wenn auch
>) Rußkaja Staiina, April 1893.
*) W. W. Jassipow, Das Weichselgebiet, Warschau, 1907, S. 31.
A. Die iiissische Bevölkenuig im "Weichselgebiet 105
mir mittelmäßigen russischen Verwalter herbekommen, wo ein solcher selbst
in Rußland eine Seltenheit ist!"^)
Somit fallen die mssischen Majoratsbesitzer im Zartum Polen als
Russifikatoren ebenfalls nicht ins Gewicht. Keine gi'ößere Bedeutung
hatten für die Schaffung eines russischen eingesessenen Elements die
Ländereien, die gemäß Ukas vom 27. Oktober 1864 der römisch-katholischen
Geistlichkeit abgenommen worden waren und freihändig an Russen ver-
steigert wurden. Der Käufer verpflichtete sich bei Übernahme des Gutes,
es nur an Personen orthodoxen Glaubens und iiissischer Herkunft weiter
zu verkaufen oder zu verpfänden.^)
Ursprünglich wurde beabsichtigt, aus diesen Ländereien ebenfalls,
etwa dreihundert, Majorate zu bilden. Miljutin wies jedoch darauf hin,
daß sich von den 128 Personen, denen in den dreißiger Jahren Majorate
verliehen worden Avaren, nur zwölf am Orte niedergelassen hätten, die
ihrerseits wieder zu der landeingesessenen Bevölkerung gehörten.-') Li-
folgedessen Avurde beschlossen, die Güter imter Vorzugsbedingungen an
russische Beamte zu verkaufen, um auf diese Art im Lande ein seßhaftes
russisches Element zu schaffen. Zu diesem Zwecke wurden die am
1. Juli 1871 bestätigten Regeln ausgearbeitet, auf deren Grundlage die
Kameralhöfe im Jahre 1873 die erwähnten Kirchengüter meistbietend zu
versteigern begannen.
Es waren tatsächlich Vorzugsbedingungen. Denn die russischen Käufer
wurden lediglich verpflichtet, ein Zehntel des Kaufwertes des zu erstehenden
Gutes anzuzahlen, während die übrigen neun Zehntel auf 42 Jahre bei
einer Abzalilung von fünf Prozent verteilt Avaren.
„Die Aussicht, unter derart günstigen Bedingimgen Eigentümer eines
Gutes zu werden, schreibt W. R., betörte eine große Zahl russischer Be-
amten des Gebiets. Ohne irgendeine Almung von der Landwirtschaft zu
haben und ohne zu bedenken, daß diese stets mit einem bedeutenden
Risiko verbunden ist, scheuten diese Leute sich nicht einmal vor voll-
ständiger Abwesenheit von eignen Barmitteln. Vielfach mußten sie auch
das zur Anzahlung notwendige Zehntel des Wertes des Gutes gegen hohe
Zinsen leihen. Nachdem das Geld aufgetrieben Avar, begab man sich auf
die Auktionen" *) in der Hoffnung, aus nichts nicht nur etAvas, sondern sogar
') „Skizzeu aus dem Weichselgebiet" von AV. R., Moskau, bei W. Tschitscheriu, 1897, S. 335.
-) Hier wxu'de freilich eine Ausnahme gemacht zugunsten der lutherischen Deutschen,
die sich im Staatsdienste befanden.
") Einzelnen Polen, die während des Aufstands im Jahre 1830 ihi-e Ergebenheit für
den mssischen Thron gezeigt hatten, waren ebenfalls Majorate verliehen worden.
*) W. R. a. a. 0. S. 336.
106 Sechstes Kapitel. Das russische Element im Zartum
viel zu schaffen. Manche von ihnen hielten es nicht einmal für notwendig,
die von ihnen zu erwerbenden Güter in Augenschein zu nehmen. Unter
solchen Vorbedingungen konnten die Regierungsvertreter tatsächlich den
Eindruck gewinnen, als gingen die Auktionen glänzend vonstatten. Die
Güter wurden zu Preisen verkauft, die nicht nur den tatsächlichen AVert,
sondern auch die Schätzung des Fiskus um ein bedeutendes übertrafen.
Auf diese Weise wurden im Laufe der 1870er Jahre 392 Güter mit einem
Gesamtareal von 45800 Deßjatinen bei dem hohen Durchschnittspreise von
100 Rubel die Deßjatine verkauft. Der Preis entsprach aus verschiednen
Gründen nicht dem Werte des gekauften Landes. Der erste und haupt-
sächlichste Grund war, daß die Güter von der Zeit ihres Übergangs
an den Fiskus bis zum Augenblick ihres Verkaufs, das heißt im Laufe
von acht Jahren in jährliche Pacht vergeben worden waren. Die Pächter
waren, ■\^'ie jeder zeitweilige Inhaber eines Besitztums, bestrebt, während
der kui-zen Zeit ihres Wirtschaftens möglichst viel aus dem Gute heraus-
zuholen, nicht aber seinen ursprünglichen Wert zu erlialten. Daher war
das Land bis zum Äußersten ausgesogen, der Acker infolge der schlechten
Bearbeitung voller Unkraut, die Wiesen versumpft. Auf allen diesen Gütern
fehlte jedes Inventar und auf der Mehrzahl selbst die Gebäude, denn die
vorhandnen Gebäude waren während der Dauer des Besitztums des Fiskus
nicht ausgebessert worden und daher zerfallen. Alles das veiringerte die
Ertragfähigkeit der Güter einerseits, andrereeits aber auch deren Wert an
und für sich. Außerdem gestattete die geringe Größe dieser Güter, etwa
120 Deßjatinen, ihren Besitzern nicht, ausschließlich von den Einnahmen
der Güter zu leben, selbst dann nicht, wenn sämtliche Einnahmen ihnen
zur Verfügung standen und nicht für Zinsenzahhmg und Schuldentilgung
verbraucht wurden; häufig reichten die Einnahmen nicht einmal dafür
aus. Die einzige Existenzquelle für die Käufer dieser Güter blieb nach
wie vor der Staatsdienst. Daher konnte von einer persönlichen Bewirt-
schaftung keine Rede sein. Die geringe Größe der Güter gestattete ihnen
aber auch nicht einmal, die Wirtschaft durch einen Verwalter zu führen,
da die Ausgaben für die Verwaltung den größten Teil der Einnahmen
verschlungen hätten. Endlich bildete ein weiteres bedeutendes Hindernis
das Fehlen von Barmitteln bei den Besitzern sowohl zur Beschaffung des
notwendigen luventai's wie auch für Betriebskosten. Auf diese Art wurden
die Käufer des Kirchenlandes durch die Macht der Verhältnisse gezwungen,
dieselbe Form der Ausbeutung anzuwenden, wie sie bei der Mehrzahl der
Majoratsinhaber in Anwendung war — die Vei'pachtung an ortseingesessene
Polen und Juden. In den meisten Fällen deckt aber die Pachtsumme
kaum die Zahlungen an den Fiskus und die Steuern. Daher gestaltet sich
Ä. Dio i-ussische Bevölkerung im Weichselgebiet 107
die Lage dieser Pseudogrundbesitzer als äußerst wenig beneidenswert, es
sei denn, daß sie die ihnen als Beamten zustehende Gewalt mißbrauchen, um
ihre wirtschaftliche Lage günstiger zu gestalten.
Dieser zweite Versuch, im Zartum Polen einen russischen Grund-
besitz zu schaffen, blieb somit ebenso erfolglos wie der erste. Wenn
aber ein gewisser Vorteil für die russische Sache darin zu finden ist,
dann war es der, daß die russischen Besitzer ]\Iitglieder der Land-
bank werden konnten, von der im elften Kapitel eingehend gesprochen
werden soll.
Schließlich muß noch einer dritten Art von russischen Grundbesitzern
im Zartum Polen gedacht werden, die zum Unterschied von den schon
erwähnten auf ihren Gütern wohnen und dort eine eigne "Wirtschaft führen.
Diese Kategorie besteht ebenfalls aus fi'ühern Beamten des Landes; das
ist der Teil von ihnen, der es verstanden hatte, während seiner Dienstzeit
auf mehr oder w^eniger zweifelhafte Weise ein gewisses Kapital zusammen-
zutragen. Der erwähnte Anonymus charakterisiert diese Klasse wie folgt:
„Das sind praktische Leute. Russen kann man sie nur ihres Ursprung-s
wegen nennen; denn tatsächlich haben sie sich schon längst mit der ein-
heimischen Bevölkerung verschmolzen, die sie ihrerseits verachtet. Ihr
sittliches Niveau ist außerordentlich niedrig. Das ist im vollsten Sinne
des Wortes — der Auswurf des russischen Elements im Gebiet. Das
hindert sie indessen nicht, besondre Aufmerksamkeiten und verschiedne
Vergünstigungen seitens der Lokalverwaltungen für sich in Anspruch zu
nehmen, indem sie sich überall als »Pioniere der russischen Sache« auf-
spielen. Glücklicherweise ist die Anzahl solcher Leute aber nur gering." ^)
Die Behauptung unsere Gewährsmannes an andi-er Stelle, daß diese Leute
von den russischen Behörden nicht berücksichtigt würden, ist falsch. Bei
dem im allgemeinen ablehnenden Verhalten der russischen Gesellschaft
gegenüber der russischen Politik bilden die gekennzeichneten Leute den
einzigen Kreis, auf den sich die Regienmg stützen kann. Darum tut sie
es auch, wie die Wahlen für die dritte Duma in Warschau, Cholm und
Wilna lehren.
Zusammenfassend können wir somit feststellen, daß es einen rus-
sischen Großgrundbesitz im Zartum Polen wohl juridisch gibt, nicht
aber als politischen Faktor. Die Russen aller sozialen Schichten ex-
ploitieren ihren polnischen Besitz, aber sie geben dafür dem russischen
Staat nicht das, was er von ihnen erwartete: sie russifizieren den Besitz
nicht.
') W. E. a. u. 0. S. 838.
108 Sechstes Kapitel. Das nissische Element im Zartum
B. Die Beamtenscliaft
Nach dein Gesagten bleibt somit füi- die Russifizierung im Zartiim
Polen selbst ausschließlich die Beamtenschaft und vielleicht das Offizier-
korps übrig. Das Offizierkoi-ps wollen wir in unsrer Betrachtung unbe-
rücksichtigt lassen, da es ausschließlich durch den geselligen Verkehr
wirken kann. Wir kennen Regimenter in Warschau, deren Angehörige zeit-
Aveilig in den besten Familien des polnischen Adels verkehrten, wie sie
es von St. Petersburg aus gewöhnt sind. In diesen Kreisen ist Fi'anzösisch
die Umgangssprache, und man hat selbst als Deutscher das Gefühl, sich
auf völlig internationalem Boden zu befinden. Es gibt kaum etwas be-
stechenderes, ja selbst bezaubernderes als diesen Kreis der hohen polnisch-
russischen Aristokratie, imd die wenigsten russischen Offiziere vermögen
sich diesem Einfluß ziun Vorteil der Polen zu entziehen (vgl. Massow).
Für füe Linienregimenter einschließlich der Artillerie und der technischen
Truppenteile des Weichselgebiets, deren Offizierkoi-ps in den russischen
Gouvernements meist als liberal, häufig als sozialistisch angekränkelt gelten,
ti'ifft dieses Urteil nicht zu. Die leben, von ganz vereinzelten Ausnahmen
abgesehen, ein völlig abgeschlossenes Dasein und treten an die Öffentlich-
keit wohl nur, wemi sie zur Niederwerfung von Unruhen befohlen werden.
Sie kommen somit etwa nur in dem Sinne Avie die Pohzei für die Russi-
fizierung in Betracht. Das aber um so mehr, als im Zartum Polen aus-
schließlich Russen ihrer Alilitärpflicht genügen dürfen, während die Polen
— Offiziere wie Mannschaften — in den Gouvernements des Innern oder
in Sibirien Verwendung finden.
Anders als die Stellung der verschiednen Teile des Offizierkorps ist
die der Beamtenschaft. Sie steht in fortgesetzten amtlichen Beziehungen
mit allen sozialen Schichten der polnischen Gesellschaft und iiat die die
Russifizierung anbahnenden Bestimmimgen der Gesetzgebung zu handhaben.
In privatem Verkehr stehen die Verwaltiingsbeamten, sofern sie ihren Pflichten
nachkommen und die Russifizierung betreiben, mit der polnischen Gesell-
schaft nicht. Wo sie aber ihre Amtspflicht als Russen leicht nehmen, geraten
sie leicht in Abhängigkeit von der polnischen und jüdischen Gesellschaft,
die ihnen in dieser Richtung bereitwilligst entgegenkommt Ganz allgemein
betrachtet, muß somit die Stelliuig der russischen Beamten im Zartmn
Polen als außerordentlich schwierig bezeichnet werden. Aus diesem Grunde
hat die Regierung dem Beamtenersatz scheinbar eine ganz besondre Sorg-
falt zugewandt ^^ ^^ Beamtenersatz
Alle Beamten des Zartums Polen sollen nach MögHchkeit Russen
sein. Doch sind Polen nicht prinzipiell vom Staatsdienst im Zartum
B. Die Beamtenschaft 109
ausgeschlossen. ^) Um der ersten Forderung gerecht zu werden, bemüht sich
die Regierung, möglichst viel Personen russischen Ursprungs 2) nach Polen
zu ziehen. Sie glaubt das Ziel zu erreichen durch Gewährung von Sti-
pendien'*) an Russen, die in Warschau studieren, sowie durch zahh'eiche
Vergünstigungen an Beamte, Lehrer und Universitätsprof essoreu , die im
Zartiun Dienst nehmen.*) Solche Vergünstigungen sind: erhöhte Reise-
gelder, schnellere Steigerung des Gehalts, Gewährung von Ortszulagen,
höhere Pensionen.^) Als die Wai-schauer Hauptschule im Jahre 1868 in
eine Universität umgewandelt wurde, durften russische Inhaber des ersten
auf einer russischen Universität erworbnen Grades (Doktor) als Dozenten
in Warschau zugelassen werden; sie brauchten erst nach drei Jahren die
Professorenprüfung abzulegen.*) Trotz allen diesen materiellen Vorzügen
im Dienst ist es der Regiermig nie möglich gewesen, ein zuverlässiges und
in sich geschlossenes Beamtenkorps, wie es z, B. in der deutschen Ostmark
vorhanden ist, im Zartum zu vereinen. Infolgedessen war sie genötigt,
dem Ermessen der höchsten Beamten weitesten Spielraum bei der Aus-
wahl der Beamten zu geben und auf moralische Qualifikation selbst beim
^) § 4 der „Sammlung von Instruktionen für den Staatsdienst" (Gesetzsammlimg Bd. III,
Ausgabe 1896/1902) lautet: „Vei-schiedenheit des Glaubens oder der Nationalität [wörtlich
des »Stammes«] hindert ... am Eintritt in den Staatsdienst nicht."
§ 21 ebenda. Edelleute des Zartums Polen und des Großfüretentmus Finnland werden
beim Eintritt in den nissischen Staatsdienst ebenso anerkannt wie die rassischen Edel-
leute.
-) Als Personen „russischen Ui"sprung-s" gelten laut Ukas vom 16. Janu;u' 1869 imd
3. Juli 1871 auch griechisch-katholische Galizier „Russinen" oder „Ruthenen", die in die
russische Unteiianschaft traten. Senatsentscheidimg vom 8. Dezember 1898. Siehe bei
S. F. Stankewitsch, „Sammlimg von Senatsentscheidungen betreffend die aus dem Staats-
dienst in Polen hervorgehenden Vorrechte". St, Petersburg. Verlag S. Fleitmann. 1899,
S. 347, Nr. 173.
^) § 75 der Sammlung von Instruktionen über den Staatsdienst bestimmt, daß Sti-
pendiaten des Warschauer Veterinäriustituts beim Eintritt in den Staatsdienst vor den
andern Schüleni zu bevorzugen seien, dafür aber gehalten sind, für jedes Schuljahr andert-
halb Jahre „nach Anweisung der Behörde" Dienst zu tun.
*) Erlaß vom 80. JuU 1867, allerhöchst bestätigtes Gutachten des Reichsrats vom
18. Juni 1886 und vienmdviei'zig Senatsentscheidungen — alle nachzuprüfen bei Stanke-
witsch a. a. 0. S. 323 ff. Die Erlasse sind laut Ukas vom 2. November 1867 nicht in die
Gesetzsammlung aufgenommen. Das AVesen der Vergünstigiingen ist wiedergegeben im Hand-
buch des öff entheben Rechts, ..Das Staatsrecht des russischen Reiches", Bd. IV, zweiter
Halbband von Professor Dr. I. Engelmann, S. 225.
") Die Pensionen übersteigen häufig die für- die gleichen Dienststufen im Innern
des Reichs ausgeworfnen Gehälter.
'^ Ukas vom 16. (28.) Juli 1869. Der späte Erlaß dieses Ukases ist als ein Zeichen
aufzufassen, wie wenig sich die i-ussischen Professoi'en beeilten, an der Russifizieiimg in
Polen praktisch teilzunehmen.
110 Sechstes Kapitel. Das rassische Element im Zartum
Richterpersonal zu verzichten.^) Die Folge der zuletzt genannten Weit-
herzigkeit war, wie wir weiter unten sehen Averden, um so schwerer Aviegend,
als die Beibehaltung des Code Napoleon auch die Verwendimg polnischer
Richter notwendig machte.-)
2. Die ntedeni Beamten
Besondere schlimm ist es unter den gekennzeichneten allgemeinen Ver-
hältnissen um die Auswahl der niedern Beamten russischer Herkunft be-
stellt. Ein Russe, der dem Generalgouvemeur Gurko sehr nahe gestanden
hat, sagt über sie: „Von der Entfernung der Mehrzahl von ihnen aus dem
Gebiet könnte die russische Sache nur gewinnen.'"^) Es handelt sich hier
besonders lun die niedern Chargen, die in den Kreis- und Gouvernements-
behördeu mit Gehältern von diu'chschnittlich 400 Rubel, Maximum 600 Rubel,
bisweilen aber auch niu- mit 180 und sogar 150 Rubel leben sollen. Die
Lage dieser Leute ist um so schwerer, als sie von der ihnen feindlichen
polnischen und jüdischen Bevölkerung niemals eine freiwillige Unter-
stützung erhoffen können, sei es auf materiellem oder sittlichem Gebiet;
selbst die ihnen im Innern des Reichs mögliche Nebenbeschäftigung muß
im Zartum wegfallen oder ist verbunden mit Vergehn gegen die gesetz-
lichen Vorschriften. Unter solchen Umständen gibt es keine Möglichkeit,
zu diesen Ämtern einigermaßen fähige Leute aus dem Reichsinneru heran-
zuziehen, geschweige denn anständige, in sittlicher Beziehung feste. Solche
finden in der Heimatprovinz, in den kernrussischen (iouveniements wenn
auch keine besser bezahlten, so doch auch keine schlechtem Anstellungen,
und infolge ilu'er Kenntnis aller Daseinsbedingungen, infolge der peisön-
lichen Beziehungen, die sich bei jedem Menschen in stammverwtuidter
Gesellschaft herausbilden, ist ihr AYeiterkommen sichrer gestellt als in
I'olen. Infolgedessen gibt es für sie keine Gründe, die sie veranlassen
könnten, eine Dienststellung in der Grenzmark zu suchen. „Zu den niedern
Posten in den Grenzmarken, schreibt der schon öfter erwälinte Russe,
streben fast ausschließlich Personen, die jede Hoffnung auf einen selbst
>) § 201, 1 des Geiichtsstatuts (Gesetzsamrahmg Bd. XV7, Teil 1, Ausgabe 1892)
laufet: ,,Zu Geiiehtsbeamteu können nicht ernannt werden: Pei-sonen, die unter Straf-
verfolgung oder unter Gericht stehn wegen Vergehen oder solcher gesetzwidiiger Hand-
lungen, die eine Bestrafung mit Gefängnis oder strengern Strafen zur Folge haben können;
Personen, die durch richterlichen Sprach wegen solcher Handlungen verurteilt wurden."
§ 1309, 1 ebenda. „Der § 201, 1 findet keine Anwendung in den Gouvernements
des Gerichtsbezirks "Warschau."
■^) Die Gerichtshöfe im Zartum Polen setzen sich zur Hälfte aus rassischen , zur
andern Hälfte aus polnischen Eiichtern zusammen. Juden sind in Kußland zum Richter-
anit nicht zugelassen (vgl. S. 83).
") Skizzen aus dem AVeiciiselgebiot von W. E., S. 354.
B. Die Beamtenschaft W\
auch ganz geringfügigen Verdienst in der Heimat verloren iiaben." ^) Unter
Umständen kommen auch ordentliche Leute aus den russischen Gouverne-
ments in die Kanzleien Polens. Das sind gewöhnlich solche, die ihren
bisherigen Chefs, Gouverneuren und Vizegouverneuren, Staatsanwälten
und Schuldirektoren folgen, weil die ihnen für ein hohes Reisegeld und
baldige Rückkehr an russische Orte bürgen.^)
Aus allen diesen Gründen setzt sich die niedere Beamtenschaft russischer
Herkunft aus Elementen zusammen, die eine nur sehr mangelhafte Schul-
bildung genossen haben und die jedes moralischen Halts entbehren. Die
unerfreulichsten Züge treten bei ihnen zutage: Gewissenlosigkeit in der
Erfüllung ihrer Dienstpflichten, Trunksucht, kleinliche Bestechlichkeit auf
der einen Seite und würdelose Preisgabe ihrer nationalrussischen Aufgaben
auf der andern.
Trotz der Anspruchslosigkeit der Regierung bezüglicli der Wahl der
Beamten ist es ihr nie möglich gewesen, alle Stellen durch Russen zu
besetzen. Wir sprechen hier nicht von Briefti'ägern nnd Telegraphen-
beamten; sie sind zum allergrößten Teil polnischer Nationalität und be-
dienen sich niu* gezwungen der nissischen Sprache. Auch ein großer
Teil der Polizeiorgane, die Schreiber in den Gouvernements und Kreis-
kanzleien, das Bureaupersonal bei den Gerichten — sie alle sind vorwiegend
polnischer Abstammung, seltner litauischer nnd noch seltner russischer.
Bis zum Jahre 1874 gelang es nicht weniger als 22 550 russische Beamte
anzustellen, die zusammen etwa 8030000 Rubel an Gehältern bezogen
und sich auf die verschiedneu Behörden wie folgt verteilten: Generalgou-
vernement 41, Gouverneure 10, Gouvernementsverwaltungen 468, Vizo-
gouverneure 10, städtische Polizei 680, Landpolizei 2923, Zensur 14,
Bauernkommissionen 220, Medizinalabteilung 227, Quarantäne 36, Ge-
fängnisverwaltung 395, Post 583, Telegraph 490, Verkehrswege 104,
Zollbehörde 6023, Accise 487, Rentei 410, Kameralhof 354, Kontrollhof 118,
Bergbau 108, Domänen 2003, Schulwesen 3560, Staatsanwaltschaft 59,
Gericht 1600, Wohlfahrt 26 Angestellte. (Posnanski S. 4L)
Die Zahl hat sich nicht vergrößert, soll sogai" nach verschiednen
übereinstimmenden Mitteilungen um ein Drittel zurückgegangen sein, nach-
dem sich russisch sprechende Polen iu viele Stellen gedrängt haben.
Die notwendige Folge dieser Tatsache war und ist, daß die pohiischo
Sprache wieder ganz allmählich in die Regierungsbehörden eingedrungen
ist, da sich die russisch sprechenden Polen im Verkehr mit ihren Lands-
») W. R. a. a. 0. S. 355.
-j Die Gouverneure nehmen gewöhnlich bei Versetzungen auch im Innern dos Reichs
ihren Kimzleichef und zwei bis drei von dessen Geliilfen mit.
112 Sechstes Kapitel. Das rassische Element im Zartiim
leuten ausschließlich der Muttersprache bedienten. "Während uni das
Jahr 1870 herum die Polen Russisch lernten, um ihren privaten Ange-
legenheiten gerecht werden zu können, lernten im Jahre 1895 die russischen
Beamten Polnisch, um nicht ganz verraten inmitten ihrer polnischen Um-
gebung dazustelm.
C. Die Oberbeamten
Die Oberbeamten im Zartum Polen müssen wir uns ganz allgemein
danach einteilen, ob sie auf Grund eines Universitätsstudiums in die ver-
schiednen Zweige des Verwaltungs-, Gerichts- und Schuldienstes einge-
treten sind oder auf Grund pei-sönlicher Eigenschaften, ohne Rücksicht
auf Vorbildung und fi'ühere Laufbahn. So finden wir, daß viele höhere
Venvaltungsposten im Zartum, wie Generalgouvemeure,*) Generalpolizei-
meister, Polizeimeister von Warschau, Gouverneure, daß ein großer Teil
der Vizegouverneui'e,^) daß schließlich fast alle Kreischefs bisher durch
ehemalige Offiziere besetzt worden sind, und daß die Regierung auch an
die Spitze des Schulwesens und der StaatsauAvaltschaft Pereonen aus der
Militärkarriere zu stellen liebt. Es sei hingewiesen auf den Kurator des
Lehrbezii'ks, Apuchtin, der seiner Ausbildung nach Militärtopograph war,
sowie auf eine Reihe höherer Richter, die aus der Militäijustiz über-
nommen wurden. Der einleuchtende Grund für solche Tatsachen liegt in
dem Wunsch der Regierung, ohne Bedenken gehorchende Männer zu ihrer
Verfügung zu haben — Männer, die gewolint sind, der strategischen Sicher-
heit des Landes alles zu opfern, eiusciiließlich Gesetzlichkeit und Recht.
Das Prinzip, in allen Westprovinzen die militärische Sicherheit in den
Vordergrund zu schieben, wurde gegen Finnland und gegen die Ostsee-
provinzen und Litauen in gleicher Weise angewandt wie im Zartum Polen.
Es hat manche Härte, manche politische Unklugheit und in deren Folge
einen guten Teil der Demoralisation hervorgerufen, der wir gerade unter
') Die Generalgouvemeure waren:
1. Graf Feodor Berg von 1863 bis 1874.
2. Graf Pawel Jewstafifewitsch Kotzebue 1874 bis 1880.
3. Peter Pawlowitsch Albedinski 1880 bis 1883.
4. Joseph Wladimirowitsch Gui-ko 1883 bis 1894.
5. Graf Peter Andrejewitsch Schuwalow 1894 bis 1897.
6. Fürst Alexander Konstantinowitsch Imeretinski 1897 bis 1900.
7. Michail Iwanowitsch Tschertkow 1900 bis 1905.
8. Konstantin Klawdjewitsch Maximowitsch Juni bis August 190'>.
9. Georgij Antono witsch Scalon August 1905.
"-) Im Jahre 1897 hatten von den zehn Gouverneuren des Zartums ihre Laufbalin
begonnen als: Juristen 3, im Geistlichen Seminar 1, als Offiziere 6. Im Jahre 1904
waren acht Gouvemeure aus dem Offiziei-stande hervorgegangen. Alle Polizeimeister von
1S63 bis 1904 waren Offiziere.
C. Die Oberbeamten 113
der Beamtenschaft der westlichen Grenzgebiete weit mehr begegnen als
irgendwo im Innern des Reichs. Wir können somit nicht die einzelne
beamtete Persönliclikeit dafür verantwortlich machen, sondern müssen uns
an das System halten, das dem freien Ermessen des einzelnen einen so
großen Spielraum gewährt, daß er den Maßstab für Recht und Unrecht
geradezu verlieren muß.
Aus der angegebnen Innern Zweiteilung der Beamtenschaft im Zartum
ergab sich von vornherein die Bildung von zwei Lagern, die dauernd imd
in immer heftiger werdendem Maße gegeneinander aufti-aten: das Militär-
lager und das der Justiz.
1. Die Beamten der ßeformpeHode
Solange Miljutin die Leitung der Innern Politik im Zartum Polen in
der Hand hatte, kam der Zwiespalt nach übereinstimmenden ]\Iitteilungeu
aus beiden Lagern nicht zur Geltung. Die Gerichtshöfe waren noch aus-
schließlich mit Polen besetzt, und in ihnen wurde nach altem polnischem
Gesetz Recht gesprochen. Die rassischen Beamten aber hatten die Pflicht,
die bestehenden Gesetze und Einrichtungen durch neue abzulösen. Infolge-
dessen wurde der Richter bis zur Einführung der Reform von 1874 kaum
beachtet. Im tägKchen Leben trug die Gesetzesverletzung mehr den
Charakter des im höchsten Staatsinteresse notwendigen Kriegsbrauches als
den der "Willkür, wenn auch sehr viel Willkür mit unterlief. Aber im Ver-
hältnis zu den gToßen zu lösenden Aufgaben, die den Polen an und für
sich schon als Um-echt erscheinen mußten, kamen die kleinen Spitzbübereien
gar nicht zur Geltung, und vor allen Dmgen hatten die obersten Beamten
an ihnen keinen Teil. Ihre Zusammensetzung war verhältnismäßig gut
ausgewählt. Die großen ideal aufgefaßten Aufgaben im Zartiun, die An-
wesenheit der in Kapitel 3 erwähnten Regierungskommissionen in War-
schau, und wohl nicht zuletzt der geringe Widerstand seitens der ge-
schwächten Polen, deren nationale Gefühle (vgl. S. 69 Anmerkung 4) nach
Möglichkeit geschont wurden, alles das rief gut vorgebildete und geistig
hochstehende Beamte zum Dienst ins Zartum Polen. Viele spätere Minister
und hohe Würdenträger haben sich zwischen 1864 und 1874 im Zartum
Polen die Sporen verdient. Es seien nur genannt die spätern Minister
Nabokow, Goremykiu, Plehwe, die Senatoren Worontzow-Weljaminow, Popow,
die beiden Markus, Velio, von Hübbenet, Baron Mengden als Präsident der
Landbank, Peü'ow, Anastaßjew, Anutschin, Kamitzki, Legio, Lukjanow, Gube,
Malkowski, Baron Modem, Neratow, Pertzow, Tucholka, Jurenjew, Arßenjew,
Boshowski, Golitzyn, Annenkow, Anopow und noch mancher andre, der später
als Gouverneur eines der polnischen Gouvernements wieder auftaucht.
Cleinow, Die Zukunft Polens g
114 Sechstes Kapitel. Das russische Element im Zartum
"Wenn bis zum Jahre 1872 etwa ein Antagonismus innerhalb der Be-
amtenschaft bestand und zum Dui'chbruch kam, so lag es an der vielfach
beobachteten Besetzung der schwierigsten und darum gut bezahlten Posten
durch Leute nichtrussischer Herkunft. Statthalter war der Deutsche Graf
F. F. Berg/) Leiter der Schulreform der Lette F. F. Witte (vgl. S. 69), dessen
Kanzleichef Huber, Schulinspektoren Avenarius und Baron Fredericks,
Oberzensor ein getaufter Jude Schreier, die Maßnahmen gegen die katlio-
lischen Klöster führte Graf Oppermann, Ehrenvormund der adlichen Mädchen-
schule war der Grieche Fundukley. ^) Die hohen Militärchargen waren voll
von Deutschen.
Entsprechend der Verteilung der Russifizierungsarbeit zu Lebzeiten
Miljutins spielten neben dem Militär die verhältnismäßig wenigen Beamten
des Lehrbezirks die gi'ößte Rolle in der russischen Gesellschaft, obwohl sie
bezüglich ihres Personenstandes nur geringes Vertrauen einflößten. So
schreibt Avenarius: „Ich könnte viel von allen möglichen Lehrern erzählen,
die gekommen waren, in Polen Aufklärung zu verbreiten, die aber nur
Rußland schändeten."^)
Wie es mit der Einigkeit selbst unter den höchsten Beamten stand,
lehrt ein scheinbar unbedeutender Fall. Im Januar 1872 traf in Warschau
die Nachricht ein, Miljutin sei unheilbar erki'ankt. Der Erzbischof von
Warschau, Joanniki, fi-agt beim Grafen Berg an, ob er einen Bittgottes-
dienst für den Kranken abhalten soll. Graf Berg verbietet es.*) Für die
Russen des Zartums Avar dies das Zeichen, daß eine Änderimg des Systems
bevorstand. „Heimlich und vorsichtig begannen die Freunde Miljutins ins
gegenseitige Lager überzugelm, schreibt Avenarius, . . . das System wurde
seinem Schicksal überlassen. Mit leichtem Herzen gingen die ausführenden
Organe vom divide et impera Miljutins zur Versöhnungspolitik und dann
ziu' Russifizierung über . . . ti*aurig und eklig die von mir beobachteten
Metamorphosen!" Das schreibt ein Mann, der von 1864 bis 1885, also
fast zweiundzwanzig Jahre Inspektor der adlichen Mädchenschule in
Wai'schau war.^)
In Petersburg gelangte die Richtung Katkows und mit ihr Graf Tolstoj
zu immer größerer Bedeutung. Das bedeutete schärfere Russifizierung in
den Schulen mid Nichtachtung des Rechtsstandpunkts. Die dem Deutschtum
freundlich gesinnten Slawjanophilen wurden durch die deutschfeindlichen
') Angaben bei N. W. Berg, Rußkaja Starina. bei Avenarius im Istoritscheski "Wjestnik
von 1904, Bd. 96, S. 423 ff.
-) Angaben ebenda S. 426 ff.
") Avenarius a. a. 0. S. 440. — ") Ebenda, S. 428. — ^) Ebenda. S. 429.
C. Die Oberbeamten " 115
Panslawisten mit steigendem Erfolg zurückgedrängt. Der Justizminister
Graf Pahlen war ein hinfälliger Greis geworden, der der reaktionären
Welle keinen Widerstand zu leisten vermochte. Die Verhältnisse wirkten
naturgemäß auf die Stimmimg in der Beamtenschaft des Zartums zurück,
Die Gerichte fanden immer geringere Beachtung, da alles auf administra-
tivem Wege entschieden wurde, und sie verloren vollends alle Autorität,
als tlie Einführung der Gerichtsstatuten von 1864 im Zartum Polen be-
schlossene Sache wurde.
2, Michter und Professoren
]\Iit Einführung des Gerichtsstatuts von 1864 in das Zartum Polen
im Jahre 1876 trat in die russische Beamtenschaft des Weichselgebiets
ein neues Element: die russischen Richter. Um die Bedeutung dieser
Tatsache recht zu verstehn, müssen wir uns daran erinnern, daß der
Richterstand auch in den Gouvernements des innern Rußlands in ständiger
Feindschaft mit den Verwaltungsbeamten lebt. Der russische Richter ist
liberal und darum geneigt, jede Kritik, die an den Behörden geübt wird,
vor dem Forum der Gerichte zuzulassen. Er betrachtet seit 1864 die Ge-
richte als die einzige Stelle, wo nach Lage der Dinge im Reiche der
russische Bürger offen seine Klagen gegen die Bureauki'atie vorbringen
kami. Dabei ist er aber genau so im Formahsmus befangen wie die
Bureaukratie, und wenn irgendwo in der Welt das fiat justitia, pereat
mundus gilt, dann ist es in Rußland. Weiter müssen wir uns daran er-
innern, wie in den 1870er Jahren die Nihilisten und Narodniki zu immer
gi'ößerer Bedeutimg gelangten, und daß sich Richter gefunden haben, die
Mörder freisprachen, nur weil diese aus politischen, durch die Verhältnisse
in Rußland erklärlichen Motiven gehandelt hatten. Alles dieses zusammen-
genommen sicherte der Mehrzalil der nach Polen kommenden russischen
Richter bei den Verwaltungsbeamten, die, wie schon erwähnt, zumeist
juristisch nicht vorgebildet waren, einen kühlen Empfang. Die Autorität
der Richter wurde auch in den Augen der Verwaltungsbeamten herab-
gesetzt durch ihre nur bedingte Unabsetzbarkeit (vgl. S. 82) wie auch
durch den fliegenden Gerichtsstand der römisch-katholischen Geistlichkeit
wie durch die Abhängigkeit der Präsidenten der Friedensrichterversamm-
lungen. Die Folge dieser Lage des Richterstandes war, daß, durch die
hohe Bezahlung angelockt, aus dem Innern des Reichs zweifelhafte Elemente
nach Polen kamen, auch solche, die als unwürdig erkannt waren, im Reiche
das Richteramt zu versehen.^) Für die höhern Gerichtsstellen tiifft der
») Vgl. S. HO Anm. 1 § 1309.
1X6 Sechstes Kapitel. Das russische Element im Zailum
Justizminister gewöhnlich die Auswahl persönhch, und die Wahl gilt als
eine besondre Ehrung für den Ausgewählten, i)
Über die Stellung der russischen Richter im Weichselgebiet Wcährend
der Jahre 1879 bis 1885 entnehmen wir den Erinneningen des Präsidenten
des Bezirksgerichts von Plock, Herrn S. Rajewskd, einige interessante Einzel-
heiten. Als er sich im Jahre 1879 dem ältesten Vorsitzenden der War-
schauer Gerichtspalata, N. N. Gerhardt, vorstellte, meinte dieser, die (xerichts-
reform in Polen habe schon ihren Honigmond weit hinter sich. „Freudig
begrüßt durch den besten Teil der Beamtenschaft und der örtlichen Be-
völkerung, schreibt Rajewski, sollte die neue Gerichtsordnung die Gesetz-
mäßigkeit im Gebiete festigen; infolgedessen konnte sie in den drei Jahren
seit ihrer Einführung die Gewohnheit zur Willkür bei den Beamten, die
sich seit den Tagen des Aufstandes festgenistet hatte, nicht unberührt
lassen . . . Daher kommen von verschiednen Seiten Angiüffe und Intrigen
gegen die Richter . . . Besonders die Polizeiorgane, die infolge der all-
gemeinen Beruhigimg des Landes in nationaler Beziehung nichts zu tun
fanden . . . wandten sich mit Denunziationen aller Art gegen das neue
Richterpersonal . . ." ^)
Alle diese Verhältnisse, die Reaktion unter Alexander dem Dritten,
die großen Sozialistenprozesse, die von 1881 an kaum aufhörten, das un-
erschrockne Auftreten von solchen pohlischen Veiteidigern wie Spasso witsch,
die Ablösung Albedinskis durch Gurko und viele örtliche Erscheinungen
im ganzen Reiche führten dazu, daß sich die Stellung der Richter im
Zartum mit jedem Jahre verschlechterte, und d^ sie schon wenige Jalu'e
nach Einführung der Gerichtsstatute keine geschlossene, für die Russifi-
zierung in Betracht kommende Gesellschaft bildeten, sondern zwei Lager,
die sich mit allen Alitteln grimmig befehdeten. Das eine betrieb die
Russifizierung mit allen von oben angeordneten Mitteln, das andre bil-
dete die Brücke zwischen der polnischen und der russischen Intelligenz,
die im Jahre 1905 plötzlich auf dem Sjemstwokongi'eß zu Moskau zu-
tage trat.
Ebenso stand es bis zum Jahre 1904 mit den Universitätslehrern und
Professoren, nui- mit dem Unterschiede, daß, seit Apuchtin Kurator des
Warschauer Lehrbezirks geworden war, liberale Professoren wie der
Historiker Karejew und der Jurist Golewninski eine Seltenheit wurden,
und daß gerade die Warschauer Universität durch ihre Professoren scheinbar
zu einem der besten Stützpunkte der Russifizierung wurde.
>) „Aus dem Leben in Polen 1879 bis 1885'-, Wjestnik Jewropy. Oktober 1907,
Seite 850.
•) "Wjestnik Jewropy a. a. 0. S. 852.
C. Die Oberbeamten 117
3. Allgemeines Urteil
Ohne mich auf das Gebiet des Persönlichen von noch lebenden
Menschen zu begeben, könnte ich meine Ausführungen über die Beamten
des Zartums Polen nicht fortsetzen. Ich möchte darum hier nui* noch
zwei aus den beiden gekennzeichneten Lagern stammende Urteile über die
Beamtenschaft bringen.
Der schon erwähnte Professor Karejew, der von 1877 bis 1884 an
der Warschauer Universität dozierte, erzählt, welchen Eindruck die Nach-
richt von der Ennordung Alexanders des Zweiten auf die hohe Beamten-
schaft in Warschau hervorgerufen habe. Nachdem er vom Portier des
russischen Klubs spät abends von der Katastrophe gehört hatte, begab er
sich in das allgemeine Speisezimmer. „Im ersten Augenblick glaubte ich,
der Portier hätte die Unwahrheit gesprochen oder sei verrückt geworden . . .
Angesichts dessen, was in den Zimmern des Klubs vor sich ging, konnte
"man kaum etwas andres annehmen. Um in das Speisezimmer zu gelangen,
mußte man durch zwei Räume gehn. Auch in diesen Zimmern bot sich
das Bild wie an Tagen lebhaftem Besuches. Die Tische mit zwei Leuchtern
an den Ecken standen an ihren gewöhnlichen Stellen. Dahinter saßen je
vier Herren mit Karten in der Hand, die einen in Militäruniformen, die
andern in Zivil. Die Räume waren wie immer vollgeraucht. Auch sonst
war alles genau so, wie es üblich ist: sorgenvoll gespamite Gesichter, kurze
Ausrufe bezüglich »Coeur und Carreau«; daneben einzelne gelangweilte
Gestalten, die von irgendeiner Ecke des Tisches dem Spiel der andern
zusahen.
„In meinem Ohr klang noch das Wort des Portiers: »Wissen Sie denn
nicht, daß der Zar ermordet ist?« — und hier das alte, alltägliche Bild der
Kartenzimmer eines Klubs — so, als wenn nichts vorgefallen wäre! In
meinem Hirn blitzte der Gedanke auf: der Portier ist zweifellos um seinen
Verstand gekommen.
„Im Speisezimmer bemerkte ich indessen tatsächlich unweit einer
kleinen Tür einen nicht eben auffälligen, mit einer Stecknadel an der
Tapete befestigten Zettel: das war das Telegramm. Noch eri'egter durch
die Bestätigung der Nachricht, stürzte ich nach oben in das Lesezimmer
zu den Zeitungen, als ob ich in ihnen schon etwas über das Geschehene
erfahren könnte.
„Nach einiger Zeit sah ich die Spieler wieder und wurde wider Willen
Zeuge ihrer Gespräche über das Ereignis. Auch diesmal wai'en keinerlei
Abweichungen von den eingeführten Sitten zu bemerken. An einem Ende
der nicht übermäßig langen Tafel saß eine Gesellschaft von etwa zehn bis
zwölf Herren, die eben ihr Spiel beendet haben mochten. Es waren vor-
WQ Sechstes Kapitel. Das russische Element im Zartum
wiegend hohe Militärpersonen, lauter bejahrte, ja alte Herren mit mir be-
kannten Gesichtern, obwohl ich auch damals kaum alle ihre Namen wußte.
Wie oft hatte ich schon an diesem Tisch diese »Generale« gesehen, und
wie oft hatte ich mii- die Frage vorgelegt, wie hoch wohl das Gehalt jedes
der Herren sein möge, wenn sie sich nach dem bescheidnen Klubessen
und nach beendigtem Kartenspiel Champagner reichen ließen. Auch dies-
mal blieb der Champagner nicht aus: vielleicht war es die für Feiertage
eingeführte Sitte (der 1. März 1881 war ein Sonntag); vielleicht wurde auch
nur der Gewinn vertan. Diesmal aber störte mich der Champagner. Auch
der Ton der Gespräche war der gewöhnliche — es war der Ton von er-
müdeten Menschen, ohne besondres inneres Interesse am Gegenstande der
Unterhaltung. "Wie auch sonst wechselte man Bemerkungen über Wetter,
Spiel, Ballett . . . Dann, während ich auf mein Essen wartete, hörte ich,
wie ohne jede Erregung darüber gestritten wurde, welche Uniform dem Ver-
storbnen angezogen werden würde, welche Truppenteile zum Totendienst am
Grabe heraugezogen werden könnten und andres mehr in dieser Art. Wenn
ich nicht gewußt, was geschehen war, und nur diese Gespräche angehört
hätte, ich hätte glauben können, daß irgendeine Militärperson, ein Kriegs-
kamerad oder sonstiger Bekannter der Herren gestorben sei, jedenfalls ein
Mann, der ihnen im allgemeinen völlig gleichgiltig war."^)
Hören wir, was uns ein Mann fünfzehn Jahre später zu sagen hat,
der immer in der nächsten Umgebung des Generals Gurko gestanden hat.
Er schreibt:
„Unter den Staatsbeamten im Weichselgebiet sind zwei voneinander
durchaus verschiedne Kategorien zu unterscheiden, die hohen und die
niedern Beamten . . . Auf die erste Kategorie darf man mit Recht stolz
sein. Auf ihren Schultern liegt die ganze Bürde der Verwaltung des
Gebiets, sie haben seinen Wohlstand eingerichtet, sie geben sich alle er-
denkliche Mühe, den blühenden Zustand auch weiter zu erhalten und zu
entwickeln. Sie haben einen schweren und verantAvortungsvollen Dienst,
und ihre Tätigkeit entspricht zweifellos ihrem Zweck. Ihr geistiges und
sittliches Niveau entspricht in der Mehrzahl der Fälle den an sie durch
die besondem Bedingungen ihres Dienstes gestellten Anfordenmgen. Mit
Stolz und in Elu-en tragen sie das russische Banner und schonen nicht
ihre Kräfte in Erfüllung der ihnen auferlegten Pflichten. Selbstverständlich
bedürfen sie einer verständigen Direktive und Leitimg seitens der Ober-
gewalt; solange eine solche vorhanden ist, sind sie meist nützliche und
durchaus verständige Arbeiter."^)
»J Byloje 1907, März, S. 280/82. — ») Skizzen aus dem Weichselgebiet a. a. 0. S. 344.
C. Die Oberbearuten 119
Dann kommt der Autor auf die Fehler der Beamten zu sprechen.
Das Fehlen von Ausdauer sei eine besondre charakteristische Eigentüm-
lichkeit aller slawischen Stämme. „Sie ist zum Beispiel auch eine der
Hauptursachen für die unnormalen Beziehungen zwischen den russischen
Lehrern und den polnischen Schülern in den Mittelschulen. Entsprechend
den Direktiven der Schulobrigkeit sind die Lelirer verpflichtet, die ihnen
anverti'aute Schuljugend zu russifizieren ; dabei fehlt ihnen aber die dazu
notwendige Kaltblütigkeit und Leidenschaftslosigkeit. Da sie die Erfolg-
losigkeit ihrer Bemühungen sehen, tragen sie in ihre Tätigkeit eine per-
sönliche Antipathie hinein, die zu einem großen Teil dadurch entsteht, daß
ihnen eine dem russischen Wesen nicht entsprechende Handlungsweise
auferlegt wird. Jede Tätigkeit muß, sofern sie erfolgreich sein soll, streng
in Einklang mit den vorhandnen Mittehi gebracht werden. Die Mittel,
die der Schulobrigkeit des Gebiets zui' Verfügung stehn, entsprechen ganz
zweifellos den an sie gerichteten Anforderungen nicht.
„Im Charakter des Russen steckt zu viel Herzensgüte, als daß er ähn-
lich seinem Nachbarn, dem Deutschen, herzlos die ihn umgebende Be-
völkerung ersticken könnte. Unwillkürlich legt sich auf alle seine Hand-
lungen entweder der Stempel der Liebe oder des Hasses. Bei der Er-
ziehung kann man diu-ch das erste Gefülil "Wunder wirken, wir aber haben
es mit dem zweiten versucht. Daher bildet die Tätigkeit des Schulwesens
im Weichselgebiet eine schrille Disharmonie gegenüber den andern Äuße-
rungen der russischen Gewalt und des russischen Geistes im Gebiet."^)
Einen zweiten wesentlichen Übelstand unter den Beamten im Zartum
Polen erkennt W. R. im Fehlen eines einigenden Bandes. „Sie bilden eine
zufällige Mischung von Personen, die nach Abstammung und materieller
Lage durchaus verschiednen Gesellschaftsschichten angehören, ganz abge-
sehen davon, daß sie aus allen Enden Rußlands im Gebiet zusammen-
strömen. Nur zu häufig erkennen sie die Notwendigkeit des Zusammen-
schlusses nicht an. . . . Beamte, die verschiednen Ressorts angehören, fechten
bisweilen wegen irgendeiner geringfügigen Ursache erbitterten Kampf auf
dem Papier, der selbst auf ihre persönlichen Beziehungen zurückwirkt.
Der Antagonismus, der häufig unter den Beamten der Finanzverwaltung,
Kontrolle, Staatsanwaltschaft und Verwaltung entsteht, bildet zweifellos
ein bedeutendes Hindernis für eine regelmäßige und schnelle Erledigimg
laufender Angelegenheiten. Er übt seine Wirkung auf den ganzen Gang
des Mechanismus der Regierung. Manchmal entstehn sogar mißliche Be-
ziehungen zwischen den Chefs der einzelnen Verwaltungen. Es entstehn
Skizzen aus dein Weichselgebiet a. a. 0. S. 346.
120 Sechstes Kapitel. Das russische Element im Zartum
ganze feindliche Lager, von denen jedes alle Mittel anwendet, sich die Gegner
zu unterwerfen. Daraus entstehn dann Intrigen und Klatschereien und
Geklatsch ohne Ende. Leider kann man nicht umhin, zugeben zu müssen,
daß aus der Menge aller albernen Gerüchte und Geschichtchen, die im
ganzen Lande überhaupt herumgetragen werden, gut die Hälfte, wenn
nicht gar die große Mehrzahl aus russischen Quellen stammt. Wir Avollen
damit nicht behaupten, daß die Polen solche Gerüchte nicht verbreiten;
der Schwerpunkt liegt aber darin, daß aUe bei den Polen entstandnen
Gerüchte sich vorwiegend nur in polnischen Kreisen verbreiten. In die
rassische Gesellschaft dringen nur verhältnismäßig wenige von ihnen."
Die Differenzen zwischen den einzelnen Ressorts nehmen einen
größern Umfang an, sobald die Obergewalt Anzeichen von SchAväche und
Unentschiedenheit in ihren Handlungen zeigt. Je konsequenter die Ober-
gewalt ist, je größer ihre moralische Kraft ist, desto schärfer richten sich
die Blicke jedes einzelnen und aller Küssen im Gebiet auf sie, um so
enger gestaltet sich ihr Zusammenschluß, um so weniger Spielraum bleibt
für gegenseitige Meinungsverschiedenheiten, um so klarer werden jedem
die Ziele, die er zu erstreben hat.^)
Zum Schluß wollen wir noch einige Urteile aus dem Jahre 1905
heranziehen, die wir in der „Nowoje Wremja" finden. Das ist ein Blatt,
das durch seine Beziehimgen zu der Biu'eaukratie über den Verdacht er-
haben ist, es könne die Beamten absichtlich diskreditieren wollen.
Besonders Gurko und Tschertkow haben zur Verschlechtenmg der Be-
amtenschaft im Zartum Polen beigetragen, indem sie das polnische Element
aus den Staatskanzleien vertrieben. „Unter Gurko wurden Polen in die
Beamtenkategorie der dritten Klasse nicht zugelassen, unter Tschertkow
aber durften sie in den Gouvemementsbehörden überhaupt keine Ver-
wendung finden. . . , Einigermaßen tüchtige russische Beamte waren über-
haupt nicht zu bekommen."'^) Vom Generalgouverneur Maximowitsch heißt
es in demselben Blatt (Nr. 10584) im Leitartikel, er sei selbst nach den
frühern Generalgouvemeui-en die denkbar ungeeignetste PersönHchkeit ge-
wesen. Alle Klagen des Blattes aber gipfehi in dem Satz, daß für die
hohem Verwaltimgsposten fast ausschließlich Militärpersonen genommen
werden, die von der Verwaltimg nichts verstehn.
0 Skizzen aus dem "Weichselgebiet a. a. 0. S. 347. — ") Nr. 10604 von 1905, S. 3.
DRITTER TEIL
Die Wirtschaft und ihre Organisation
im Zartum Polen
Rückblick
Im voraufgegangnen Abschnitt (Kap. 3 bis 6) haben wir die Bevölkerung
des Zartums Polen als eine passive, widerstandslose Masse behandelt. Wir
haben nur von den Maßnahmen der Kegierung gesprochen, die diese Masse
organisieren sollten, ohne der vielen natüi'lichen und künstlichen Wider-
stände zu erwähnen, die in jeder Organisation vorhanden sind. Auf Rei-
bungen, die vom Leben in der Masse zeugten, haben wir nur flüchtig hin-
gewiesen. Zu einer solchen Behandlung des Stoffes waren wir berechtigt,
solange wir ims auf den Standpunkt der russischen Regierung stellten —
das will sagen, auf den Standpunht des Siegers gegenüber dem Besiegten,
der durch den Aufstand von 1863 derart zu Boden geschmettert war,
daß er sich seinem Feinde auf Gnade und, Ungnade ausliefern mußte.
Es wurde gezeigt, wie die russische Regierung einen Bauernstand schuf
und dem Lande neue wirtschaftliche Fundamente gab (S. 39 bis 48). Ferner
wurde darzustellen vereucht, mit welchen Mitteln der Verwaltungspolitik die
Regierung glaubte allein Einfluß auf die neuen Wirtschaftsfaktoren zu be-
halten, wie sie durch Schaffung der Gromada (S. 50) und der Gmin (S. 52
bis 58) im Zusammenhang mit der Einrichtung der Kreis- und Gouveme-
mentsverwaltung (S. 58 bis 61) sowie Einführung einer eigenartigen Städte-
ordnung (S. 61) alle Fäden der sozialen und wirtschaftlichen, politischen
und kulturellen Entwicklung in die Hände der Zentralgewalt, des General-
gouverneurs (S. 62 bis 66) leitete. Alles das ist vergleichbar mit dem
Gartenbeet, auf dem der Kunstgärtner ein Spalier errichtet hat. Am Gitter-
werk des Spaliers soll sich die Pflanze, deren Wurzel in das wohlbereitete
Beet versenkt wurde, in vorher bestimmten Formen emporranken. Ln
Leben der Völker wird der Vorgang des Wachstums bezeichnet durch die
Entwicklung der Wirtschaft, der Kultur, der Gesellschaftsbildung.
In den folgenden Kapiteln wollen wir uns der im Jahre 1864 um-
gesetzten Pflanze selbst zuwenden, den Bewohnern des Zartums Polen —
insonderheit der polnischen Bevölkerung des im Jahre 1864 neu organi-
sierten Gebiets. Die nächsten Kapitel sollen uns die polnische Bevölkerung
in ihrer wirtschaftlichen Organisation zeigen, wie sie sich auf den früher
dargestellten Grundlagen bis zum Jahre 1904 entwickelt hat. Wir werden
dann auch beurteilen können, inwieweit und in welcher Richtung das
Spalier der russischen Gesetzgebung die Entwicklung der polnischen Ge-
sellschaft beeinflußt hat.
Siebentes Kapitel
Bevölkerungsstatistik
Der Träger der Wirtschaft ist die an die Gaben der Natur angewandte
geistige und körperliche Arbeit. Die Überlegung, daß den geistigen Teil
der Arbeit ausschließlich Menschen leisten, berechtigt uns, an die Spitze
einer Darstellung der Wirtschaft eines Gebiets eine Übersicht über seine
Bevölkerung zu stellen. In unserm Falle ist das auch deshalb unumgäng-
lich nötig, weil es uns weniger darauf ankommt, ein bestimmtes Wirt-
schaftsgebiet zu kennzeichnen, als eine Nationalität, die — in verschiednen
Wirtschaftsgebieten und politischen Staaten wohnend — sich als ein ge-
schlossenes, zu gemeinsamer wirtschaftlicher Organisation strebendes Volk
fühlt. Die Polen sind allein in Rußland drei verschiednen Wirtschafts-
gebieten mit verschiednen, häufig einander widersprechenden Ansprüchen
angeschlossen: dem Weichselgebiet mit seinen vielen imd großen Städten,
dem Nordwestgebiet mit seiner unentwickelten Land- und Forstsvirtschaft
und dem Weizen bauenden Südwestgebiet mit meilenweiten Rübenfeldern
und Tausenden von Hopfengärten. Die Wirtschaft des pohlischen Volks
ist ein Teil der Wirtschaft des russischen Staats, durch ihn wieder ver-
bunden mit dem Weltmarkt, auf dem sich die polnischen Ausfuhrwerte
einen festen Stand erworben haben. ^) Das Maß des internationalen
Warenaustausches und Icommerziellen Verkehrs zwischen den Bewohnern
des Weichselgehiets und denen der ehemals iiolnischen Landesteile in
Preußen und Oalizien bildet, abgesehen von allem Persönlichen, die
unterste Grenze der Beziehungen aller Polen untereinander.
') Um die Wirtschaft der preußischen und österreichischen Polen wollen wir uns
hier nicht kümmern. Über die preußischen Polen hat Professor Ludwig Bernhard erst
vor wenigen Wochen seine glänzend geschriebne Darstellung veröffentlicht, die wohl lange
Zeit die Grundlage für die Beurteilung der wirtschaftlichen Entwicklung der preußischen
Polen bleiben wird (Duncker und Humblot, 1907). Die österreichischen Polen interessieren
unt dagegen ausschließlich in politischer Hinsicht.
A. Die Bevölkerung ini Zartum Polen 125
A. Die Bevölkerung im Zartum Polen
Nach Schätzungen polnischer Yolkswirte und Politiker gibt es auf der
ganzen Erde etwa 24 bis 25 Millionen Polen. Von diesen lebten am 1. Januar
1905 unter Zugrundelegung der Ergebnisse der Volkszählung von 1897 im
russischen Reich etwa 10280500. Die Zahl — das sei vorausbemerkt —
ist zweifellos zu niedrig gegriffen, weil sie ausschließlich die Untertanen
des Zaren als Polen aufführt, die von der Regiermig als solche anerkannt
werden, nicht aber die, die sich selbst als Polen bezeichnen.
In den folgenden Kapiteln müssen wir indessen, um überhaupt ein
Bild geben zu können, nur mit den amtlichen Zahlen der russischen
Statistik rechnen. Sie sind, wie gesagt, durchaus nicht einwandfrei. Denn
die russische Regierung hat selbst noch keine stichhaltige Umgrenzung für
den Begriff „Pole" oder „Untertan polnischer Herkunft" gefimden, obwohl es
bis 1895 eine Steuer auf die den Polen im Westgebiet gehörenden Liegen-
schaften gibt. Die vorhandne Definition beruht auf dem Gesetz vom
10. Dezember 1865, das Personen polnischer Herkunft den Landerwerb im
Westgebiet verbietet, und in dem es merkwürdigerweise heißt: „Unter
Personen polnischer HerJcunft sind zu verstehen nicht die Katholilcen im
dllgemeinen, sondern nur Polen und solche im Westgehiet geborne Indi-
viduen, die sich die polnische Nationalität angeeignet haben. . . ." Später
wurde durch das bestätigte Gutachten des Ministerkomitees vom 14. Juni
1868 erläutert, daß Bauern katholischen Glaubens im Westgebiet nicht
als Polen betrachtet werden können, während die Senatsentscheidung vom
10. November 1871 sagte, daß Großgrundbesitzer und Kleinbürger ka-
tholischen Bekenntnisses als Polen anzusprechen sind. Im Jahre 1885
erwiesen sich die genannten Erläuterimgen aber als unzureichend. (Vgl.
S. 109, Anm. 2.) Die reichern Bauern des Westgebiets, die zum gi'ößern
Teil Katholiken sind, begannen in größerm Maßstabe Land zu kaufen. Darum
wurden auch die von ihnen, die mehr als sechzig Deßjatinen Land zu er-
werben suchten, als Polen behandelt^) und den gegen die „Polen" ge-
richteten Ausnahmebestimmungen unterworfen
1. Die Polen
Die Hauptmasse der von der russischen Regierung als Polen gekenn-
zeichneten Untertanen des Zaren lebt mit 8644150 Seelen in den zehn
Gouvernements des Weichselgebiets, die zusammen einen Flächenraum von
108451^/2 Quadratwerst einnehmen. Im ganzen gab es am 1. Januar 1905
im Zartum Polen 11312300 Einwohner oder 104,8 auf die Quadratwerst
Von ihnen lebten in den Städten 2391700, in Flecken 943800, auf dem
^) Zirkular des Generalgouvemeurs von Wilna an die Gouverneure vom 23. Februar 1885.
126 Siebentes Kapitel. Bevölkei-ungsstatistik
platten Lande 7976800. Sie verteilen sich auf die verschiednen Bekennt-
nisse: Orthodoxe und Uniaten 585300, Katholiken 8500100, Protestanten,
zu denen auch zahlreiche Refonnierte und Altkatholiken gehören, 586900,
Juden 1638900 sowie 800 bis 1200 Mohammedaner. In den einzelnen
Gouvernements des Zartums bilden die Polen 87,5 Prozent der Bevölkerung
in Kjelce, 83,9 in Kaiisch, 83,6 in Radom, 80,9 in Plock, 77,3 in Lomsha,
73,5 in Warschau, 72,1 in Petrikau, 66,1 in Sjedlec, 62,9 in Lublin und
22,9 in Ssuwalki. In Ssuwalki treten zu den Polen 52,4 Prozent Litauer, deren
Hauptmasse ausschließlich litauisch spricht, in Sjedlec und Lublin sind
21 und 20 Prozent russische Uniaten (vgl. S. 102/3) zu berücksichtigen,
die kleinrussisch und polnisch sprechen; in allen Gouvernements gibt es
7,6 bis 16,4 Prozent Juden und 0,3 bis 10,6 Prozent Deutsche. Von den
beiden zuletzt genannten soll weiter unten gesprochen werden.
In sozialer und gewerblicher Beziehung läßt sicii die polnische Be-
völkerung des Weichselgebiets nach den vorliegenden Daten nicht ver-
teilen, da es zimächst eine allgemeine Gewerbestatistik nicht gibt, und die
vereinzelten Angaben keinen Unterschied nach Religion oder Nationalität
machen. Doch wird die Zeichnung eines annähernd richtigen Bildes
j möglich, wenn wii- im Auge behalten, daß das Gros der polnischen Be-
völkerung im Zartum Polen auf dem platten Lande lebt, während das Gros
der Juden in den Städten und Flecken anzutreffen ist. Infolgedessen können
wii' im allgemeinen von der ländlichen Bevölkerung schlechthin als von
f Polen sprechen. Die Juden bilden in den Städten des Weichselgebiets in
< den verschiednen Gouvernements 28,2 bis 59,0 Prozent der städtischen Be-
I
I völkerung. Nach den für den 1. Januar 1905 geltenden Zahlen erhalten wir
; folgendes Bild:
es gab^) Orthodoxe Katholiken Protestanten Juden zusammen
in den Städten . . . 92,2 1165,5 157,3 976,1 2391,7
in den Flecken . . . 30,1 451,4 19,8 448,0 943,8
auf dem Lande . . . 463,0 6883,2 410,3 219,8 7976,8
zusammen im Zartum . 585,3 8 500,1 586,9 1638,9 11312,3
Die bäuerliche, auf eigne oder fremde Rechnung Landwirtschaft trei-
bende Bevölkerung nach Abzug von 20 Prozent Uniaten für Lublin und
21 Prozent für Sjedlec, aber einschließlich deutscher mid jüdischer^) Kolo-
nisten betrug nach den amtlichen Paßlisten 1902 7 576600 Seelen.") Von
1) Heft XXni, S. 4/5 der Tabelle XI in den Arbeiten des Warschauer Statistischen
Komitees von 1906.
-) Die jüdische Kolonisationsgesellscbaft gibt die Zahl der jüdischen von Ackerbau
lebenden Kolonistenfamilien im Zartum Polen mit 2509 auf 13334 Deßjatinen an. „Wirt-
schaftUche Lage der Juden in Rußland"', St. Petersburg, 1904, Bd. I, S. 157.
') Arbeiten des Wai-schauer Statistischen Komitees von 1906, Heft XXV, S. 34.
A. Die Bevölkeiiing im Zartum Poleu 127
ihnen sind 849300 landlose Individuen, die wir vollständig auf die Rech-
nung der Polen stellen. Ferner sind abzuziehen etwa 300000 Personen,
die sich außerhalb des Dorfes in dienender Stellung befinden und somit
nicht mehr für die landwirtschaftliche Gütererzeugung in Frage kommen,
dennoch aber in den Listen als Angehörige des Bauernstandes geführt
werden und einen entsprechenden Paß als „Bauer" haben.
Daneben gibt es 234700 Fabrikarbeiter.^) Von ihnen sind abzuziehn
63650 + 14300 =77950 jüdische Ai-beiter.^) Es bleiben somit 156750
Fabrikarbeiter polnischer und deutscher Abstammung übrig.
Die niedere polnische Bevölkerungsschicht besteht somit aus einem
städtischen Proletariat von etwa 940500 Seelen und einem ländlichen
Proletariat von etwa 849300 Seelen. Die im Jahre 1904 an der landwirt-
schaftlichen Produktion beteiligte bäuerliche Bevölkerung verteilte sich nach
amtlichen Angaben auf 1010514 Bauernwirtschaften, was etwa 7,5 Seelen
auf den Hof bedeuten würde. '^j Die Dichte der Bevölkerung erscheint noch
größer, wenn wir die von uns weiter unten, auf S. 178 errechnete Zahl,
nämlich 968862 bäuerliche Betriebe einsetzen; alsdann kommen 7,9 Seelen
auf den Bauernhof.
Die kleine Schlachta ist auch imter die niedre Bevölkerung zu rechnen,
weil sie auf 53028 Höfen eine durchaus bäuerliche Lebensweise führt. ^)
Sie bewirtschaftet 651740 Deßjatinen. Die Statistik behandelt die kleine
Schlachta aus politischen Gründen gesondert. (Vgl. Kap. 9, S. 201 bis 204.)
Über das polnische ärmere oder reichere Bürgertum in den Städten
und über die .sogenannte Intelligenz finden wir in der Statistik keine
Daten. Wir können diese Bevölkerungsschicht nur annähernd mit 825000
ermitteln, indem wir von der Zahl der katholischen Stadtbewohner (1 165500)
die Zahl der polnischen Proletarier (940500) abziehn und etwa 300000
kleine „Ackerwirte" aus den Flecken hinzufügen. Alsdann bleiben noch
die oben erwähnten „Dienenden", die wir hier gleichfalls zum Bürgertum
zählen wollen.^)
^) A. W. Pogoshew, „Die Zahl der Fabrikarbeiter in Rußland", herausgegeben von
der Akademie der "Wissenschaften, Petersburg, 1906, Tabelle I, S. 11.
2) Nach Daten der Jüdischen Kolonisationsgesellschaft a. a. 0. Bd. I, S. 291 und
Bd. II, S. 111 bis U2.
•'') Arbeiten des Wai-schauer Statistischen Komitees von 1905, Heft XXI, Schluß
S. 11, 32 u. 52.
*) Ebenda, Tabelle ÜI, S. 145.
^) Nach M. Feodorow, „Briefe über die russische Industrie und ausländische Kapi-
talien" im Novemberheft von 1898 der „Rußkoje Ekonomitscheskoje Obosrenije" (S.7 bis 10)
gehörten im Zartmii Polen dienenden Klassen au: 1179156 Menschen, von denen 905672
der Arbeiterklasse und 273484 sonstigem dienenden Personal angehöi-ten.
128 Siebentes Kapitel. Bevölkerungsstatistik
Über die Klasse der Großgrundbesitzer können wir gleichfalls nui'
Vermutungen anstellen, indem vdr die Zahl der Güter als die Zahl der
Großgi'undbesitzer annehmen imd davon die russischen, jüdischen und
solche Güter abziehen, die mit andern zusammen einem Besitzer gehören.
Wir erhalten dann rund 7000 polnische Großgrundbesitzerfamilien. Wenn
auch die Zahlen durchaus nicht den Anspruch erheben, korrekt zu sein,
so glauben wir sie in unserm Bilde als annähernd richtig verwenden zu
dürfen, ohne das Ganze schief zu gestalten.
Zusammengefaßt zeigt die Bevölkerung des Zartums nach obigen
Überlegungen um das Jahr 1904 ungefähr folgende soziale Schichtung:
(in Tausend)
polnisch russisch jüdisch
Großgnindbositzer 40,0 2,5 1,2
Kleingrundbesitzer 6238,0 460,0- 15,0
ßürgertuiu 825,0 90,0 200,0
Proletarier 1789,8 3,0 1422,0
In dieser Aufstellung sind die 90000 Seelen russischen Bürgertums
ausschließlich als Staatsboarate und deren Angehörige zu denken. Ergänzt
wird die Aufstellung noch durch 586900 Protestanten oder sogenannte
Deutsche; von ihnen entfallen auf das Bürgertum gegen 150000, auf Hand-
werker etwa 40000, auf Landwirte 300000 (Kolonisten) und 100000 Seelen
auf Proletarier. Wir tim gut, etwa drei Viertel dieser ,,Deutschen'' den
Polen gutzuschreiben, ebenso wie das jüdische Bürgertum und die Mehr-
zahl der russischen Bauern (vgl. S. 102, Uniaten).
Einer solchen schätzungsweisen Aufrechnung stehn die Angaben von
Wladimir Grabski ^) gegenüber. Dort heißt es, es gäbe im Jahre 1904
592378 ländliche Proletarierfamüien. Nehmen wir mit der amtlichen
Statistik die Familie mit 4,2 Pei-sonen an, so ergäbe sich nach Grabski
ein ländliches Proletariat von 248800 Seelen oder um 1638700 mehr, als
wie wir es auf Seite 127 mit 849300 einstellen. Doch muß berücksichtigt
werden, daß Grabski auch die 205836 Familien auf Zwergwirtschaften
unter anderthalb Deßjatinen Land zu den Proletariern rechnet. Das würde
eine Seelenzahl von 864 500 ergeben, um die unsre Zahl der Kleingi'und-
besitzer zu kürzen und die Zahl misrer polnischen Proletarier zu ver-
größern wäre. Nach Grabski würde somit das gesamte polnische Proletariat
in Stadt und Land allein 2654300 Seelen — nämlich 1789800 plus
864500 — betragen und das gesamte Proletariat, Polen, Küssen, Deutsche,
') „Materjaty w sprawie wto^ciüaskiej", "Wai-schau, G. Gebethner und Wolff, 1907,
Teil I, S. 36 und Teil II, S. 3, 30 und 31.
A. Die Bevölkerung im Zartum Poleu \29
Juden, im Zartum Polen mindestens 4179300 Seelen oder 37 Prozent der
Gesamtbevölkerung des Zartiims. Die pessimistische Ansicht des geschätzten
polnischen Forschers möchte ich nicht teilen, vreil er keinen Unterschied
macht zwischen Gärtnereibetrieben und landwirtschaftlichen. Dabei müssen
wir gerade bei den kleinsten Betrieben recht viele Gärtnereien oder Fuhr-
hai tereien, Gasthöfe, Mühlen und ähnliche Anlagen vermuten, die dem
Besitzer weit eher ein bürgerhches Dasein sichern, als daß sie ihn zum
Proletarier stempeln. Fabrikarbeiter und Angestellte der Eisenbahnen, die
in steigendem Maße kleine Gnmdstücke erworben haben, nähern sich auch
mehr einer bürgerlichen als einer proletarischen Existenz, können somit
nicht ohne weiteres zu den Proletariern gerechnet werden. Aber wir geben
zu, daß von unseru 6,2 Millionen polnischen Kleingrandbesitzern etwa
1,5 Millionen auf der Grenze stehn, bei der man nicht weiß, ob sie schon
ins kleine Bürgertuju hineinragend Ansätze eines Mittelstandes zeigen, oder
ob sie im Begriff sind, Proletarier zu werden. Hier muß mangels sta-
tistischer Daten die persönliche Beobachtung einsetzen, und die zeigt uns
eine ständig wachsende Zunahme des polnischen gut situierten Bürgertums.
2. Die Juden
Wir können das Wesen der Polenfrage in Rußland nicht erkennen,
wenn wir neben den polnischen und russischen Bewohnern des Weichsel-
gebiets die andern Nationalitäten übergehen würden. Der Litauer, die
überdies nur in dem nördlichsten Gouvernement Ssuwalki in Frage kommen,
wurde schon eingangs gedacht (S. 126), Die 800 bis 1200 Mohammedaner
können wir unberücksichtigt lassen. Es bleibt uns noch von den Deutschen
und Juden zu sprechen. Beide Nationalitäten haben zwei ausgesprochne
Züge gemeinsam. Sie sind auf allen Stufen der sozialen Schichtung wirt-
schaftlich tüchtig und haben nur schwach ausgebildetes nationales Bewußt-
sein, und zwar stehen die Deutschen in dieser Beziehung hinter den Juden
erheblich zurück. Beide Nationalitäten sind fast zu gleicher Zeit in das
Weichselgebiet eingedrungen, die Juden etwas früher, die Deutschen später,
und beide haben sie der polnischen Gesellschaft das übermittelt, was ihr
am meisten fehlt : o?'ganisatorische Kräfte, anders ausgedrückt — Disziplin.
Im Zartum Polen gibt es, wie wir sahen, 1 638 900 Juden. Die ersten
Juden sind in Polen, und zwar im heutigen Galizien, zwischen dem achten
und dem zehnten Jahrhundert, also vor den Christenaposteln von der
Schwarzmeerküste aus eingetroffen. Es waren zumeist Großkaufleute. Erst die
Judenverfolgungen im dreizelmten bis zum fünfzehnten Jahrhundert in West-
europa veranlaßten den Zustrom größerer Mengen in die Städte des König-
reichs Polen-Litauen. In spätem Jahrhunderten sind dann noch russische
Cleinow, Die Zukunft Poleus 9
130 Siebentes Kapitel. Bevölkeruagsstatistik
Juden nach Polen gekommen. Seit der dritten Teilung Polens haben sie
sich ausschließlich durch natürliche Zunahme vermehrt. Sie bildeten nach
der Volkszählung von 1897 in den Gouvernements des Zartimis durch-
schnittlich 8,5 bis 18,1 Prozent der ßevölkermig, allein in den Städten
28,2 bis 59 Prozent. In den einzelnen Gou\ ernements sieht das Bild
folgendermaßen aus: ^)
Gouvernements in den Städten überhaupt
SsuwaUd 56,3 Proz. 10,09 Proz.
Lomsha 55,7 „ 15,69 „
Plock 49,1 ,, 9,13 „
Sjedlec 59,0 „ 15,84 „
Warschau 38,8 „ 18,12 ,,
Lublin 38,9 „ 13,26 „
KaUsch 42,9 ., 8,59 „
Petrikau 28,2 „ 15,83 „
Kjelce 47,7 „ 10,82 „
Radom 54,7 „ 13,89 „
Die große Masse des jüdischen Volkes gehört infolge der Zusammen-
pferchung in den Städten und Flecken sowie wegen der Ei-schwerung
jeder Bildung durch die russische Regierung dem traurigsten Lumpen-
proletariat an.
Wie groß die Not ist, geht aus der Zahl der Familien hervor, die zum
Passahfest Almosen erhalten. Die Statistik der jüdischen Kolonisations-
gesellschaft gibt darüber folgende Zahlen-): im Gouvernement Warschau
12,5 Prozent aller Familien, Sjedlec 18,5 Prozent, Petrikau 20,9 Prozent,
LubHn 22 Prozent, Radom 21,7 Prozent, Kjelce 22,7 Prozent. Dieser trau-
rigen Lage entsprechen die Yerdienste der jüdischen Handwerker, deren
Zahl sich auf rund 120000 stellt. Allein selbständige Meister, also Arbeit-
geber, gibt es etwa 64000.^) Etwa 33 Prozent der Handwerker haben ein
jährliches Einnahmebudget von weniger als 250 Rubel, 47 Prozent zwischen
250 bis 300, und nur 20 Prozent können mit mehr als 300 Rubel Jahres-
einnahmen rechnen.^) In den verschiednen Branchen schwanken nmi die
Verdienste ganz außerordentlich. Im südlichsten Kreise von Kaiisch sowie
in den Kreisen Augustowo und Mariampol des Gouvernements Ssuwalki
finden sich Ortschaften, in denen 10 Prozent der jüdischen Handwerker
nicht 100 Rubel Jahreseinnahmen haben.
Ein Bild von der Teilnahme jüdischer Arbeiter an der industriellen
^) Jüdische Kolonisationsgesellschaft, Die wirtschaftliche Lage der Juden in Bußland,
Petersburg, 1904, Bd. I, S. XXVI.
^) a. a. 0. Bd. II, S. 225. — *) Ebenda Bd. I, S. 291. — *) Ebenda Bd. 1, S. 295.
A. Die Bevölkerung im Zartiim Polen
131
Produktion geben die Mitteilungen der jüdischen Kolonisationsgesellschaft.^)
Sie beziehen sich nur auf einen Teil der Betriebe, können somit auch nur-
als Auhalt, nicht aber als korrekte Übersicht dienen.
Branche
Zahl der
befragten Be-
triebe jüdisch.
Besitzer
Arbeiter
überhaupt
Davon Juden
Män-
ner
iFi'auen
Kinder
zu-
sammen
Metalle . . .
Keramik . . .
Galanteriewaren .
Holzbearbeitimg .
Papier ....
Mineralien . .
Nahrungsmittel .
Tiei-produkte . .
Chemikalien . .
49
20
63
104
42
116
254
235
;98
129
3085
857
3409
2418
1861
3270
3695
?
438
388
630
404
277
312
220
327
1808
1361
256
56
80
83
575
30
89
30
474
104
37
6
22
41
128
186
444
87
117
376
52
41
732
528
980
528
753
444
1899
1841
343
103
Über die Leheiisverhältnisse der jüdischen Fabrikarbeiter finden wir
leider keine Daten in dem Werke der jüdischen Kolonisationsgesellschaft.
Es sei darum die persönliche Beobachtimg eingefügt, die ich in der Leder-
und Holzbearbeitungsbranche anstellen konnte. Dort, wo die Juden zahl-
reicher auftreten, wirken sie sofort für Steigerung der Löhne. Sie schließen
sich zu Sti'eikkassen zusammen und zwingen die polnischen Ai'beiter,
ihnen gleichfalls beizutreten oder die Fabrik zu verlassen. Yon den weib-
lichen Arbeitern in Webereien und Spinnereien — es handelt sich nur
um zweitklassige Betriebe, da die erstklassigen möglichst keine jüdischen
Weber anstellen — wird dagegen behauptet, sie drücken die Löhne. In
der Tabakbranche gelten die jüdischen Arbeiterinnen dagegen wieder als
preisü'eibend.
Die polnischen Juden, besonders in den an GaHzien grenzenden Kreisen,
dürfen als der niedrigst stehende Teil der osteuropäischen Juden bezeichnet
werden. Sie sind vielfach noch streng orthodox und neigen asketischen
Sekten zu. Erst in den letzten zwölf bis fünfzehn Jahren beginnen sich
auch die pohlischen Juden zu regen. Die aufklärende Arbeit der Alliance
Isra61ite kann sich der ersten Erfolge freuen. Diese Wohlfahrtsgesellschaft
des internationalen Judentums hat wahre Wunder in kultui'eller Beziehung
gewirkt. Nicht weniger hat der Zionismus geleistet. Freilich stehen die
*) a. a. 0. Bd. U, S. 118/45. — Die in der letzten Reihe der Tabelle angegebnen
Zahlen sind aus den drei vorhergehenden Reihen errechnet, da die Angaben der Ko-
lonisationsgesellschaft augenscheinlich auf Rechendruckfehlern benihn.
9*
132 Siebentes Kapitel. Bevölkerungsstatistik
Ergebnisse der Tätigkeit beider weit zurück hinter denen, die in Litauen,
Weißrußland und Kleinrußland erzielt werden konnten. Auch die Sozial-
demokratie hat unter den polnischen Juden nicht so organisierend ge-
wirkt wie unter den andern. Das Vorhandensein von Bund-Organisationen
in Warschau und Lodz spricht nicht gegen meine Behauptung. Denn dort
sind die sozialistischen Organisationen auf wirtschaftlicher Grundlage und
infolge örtlicher Verhältnisse, nicht aber auf revolutionärer Basis ent-
standen.
Über der Masse des jüdischen Proletariats steht eine kleine aber streng
abgesonderte jüdische ÄristoJcratie, die mit der Frankfurter an Bildung,
geistigen und materiellen Bedürfnissen auf eine Stufe zu stellen ist und
sowohl mit dem Westen wie mit dem Osten durch vielfaclie Bande verknüpft
ist. Die Namen Kronenberg, Nathanson, Bljoch, Epstein gehören, auch
wenn sie katholische Träger haben, zu den geachtetsten der Wai-schauer
Gesellschaft.
Die Lebensweise dieser Kreise ist vielfach die der polnischen Grand-
seigneurs, zu der sie der Besitz großer und schöner Güter befähigt. Im
Jahre 1900 befanden sich in den Händen jüdischer Besitzer 1 Gut von
mehr als 5000 Deßjatinen, 50 Güter von 1000 bis 5000 Deßjatinen und
120 Güter von 500 bis 1000 Deßjatinen Größe. Baron Kronenberg ist
Inhaber zweier Gestüte, ebenso die Herren Nathanson, Epstein, Berson, und
ihre Rennpferde laufen mit denen der Grafen Samojski, Krassinski, Kwilecki
Gurt an Gurt.
Die Gesamtbeteiligung der Juden am Landwirfschaftsgeiverbe drückt
sich in der Tatsache aus, daß von ihnen im Jahre 1900 etwa 3 Prozent
der Bodenfläche des Zartums oder 344100 Deßjatinen be^^^rtschaftet wurden,
nämlich 295700 im erblichen Besitz und 48400 in Pacht. Im Gouver-
nement Ssuwalki sind etwa 19,5 Prozent alles Gutslandes, im Gouvernement
Lomsha 10,4 Prozent in ihren Händen. Die Fläche des jüdischen Besitzes
verteilt sich auf 2272 Grundstücke unter 10 Deßjatinen, 555 von 10 bis
50 Deßjatinen, 151 von 50 bis 100, 469 von 100 bis 500 und 171 von
mehr als 500 Deßjatinen.
Auf dem Lande außerhalb der Städte und Flecken haben die Juden
1725 Gewerbebetriebe inne, davon: Mühlen 548, Läden 509, Fabriken 329,
Gärten 150, Meiereien 76, Schmieden 63, sonstige 50.^)
Wenig erfreulich ist der Zustand der jüdischen Intelligenz, insonder-
heit der von Warschau. Es wird von den Juden selbst zugegeben, daß
^) Zeitschrift des Statistischen Zentralkomitees von 1901, Nr. 49, „Der jüdische
Landbesitz usw. im Jahre 1900", S. IX bis XVI.
A. Die Bevölkeiiing im Zartiim Polen 133
sich innerhalb der gebildeten Kreise eine so gefährliche A^'erwahrlosung
breitmacht, wie sie sonst in keiner Großstadt des Kontinents zu finden sei.
Im politischen Teil dieser Arbeit werden wir von ihnen noch mehr hören.
3. Die Deutschen
Die 586900 Protestanten des Weichselgebiets werden gewöhnlich als
Deutsche bezeichnet, und zwar nicht etsva von sich selbst, sondern von den
Polen, Russen und Reichsdeutschen. Beide Bezeichnungen — Protestant
sowohl Avie Deutscher ~ sind in dieser Verallgemeinerung unrichtig. Unter
Protestanten haben wir Reformierte, Kalvinisten, Altkatholiken und andre
Sekten zu verstehen, und die Bezeichnung Deutscher deutet in achtzig von
hundert Fällen lediglich auf die Herkunft, nicht auf die Zugehörigkeit zur
deutschen Nationalität.
Die Hauptmasse der sogenannten Deutschen oder 202000 ist im
Gouvernement Petrikau (Lodz) angesessen, dann folgt das Gouvernement
Warschau mit 117300 und Kaiisch mit 94500. In der Stadt Warschau
gab es 1904/05 21551 Protestanten, deren deutsche Gesinnungstüchtigkeit
der Generalsuperintendent von Warschau, Julius Bursche, im Oktober 1907
anläßlich eines gegen die evangelische Geistlichkeit erhobnen Angriffs
kennzeichnet. Er sclu'eibt:^)
„Die Warschauer Gemeinde zählt etwa 20000 Seelen, darimter, stark
gerechnet, etwa 6000 Deutsche. Aber man würde sehr fehlgehen, wenn
man diese letzte Ziffer mit der Zahl der Deutschen identifizieren wollte,
die ihre Ehre darein setzen, ihr gefährdetes Deutschtum zu wahren. Das
ergibt sich zur Evidenz klar daraus, daß es nur eine verschwindend geringe
Zahl solcher Deutschen gibt, die zum Beispiel bei Trauungen, ja selbst bei
Begräbnissen, bei welchen man doch berechtigt ist, seine pei'sönlichsten
Bedürfnisse ausschließlich in den Vordergrimd zu stellen, vom Pastor die
Yollziehung dieser Amtshandlungen in deutscher Sprache verlangen; man
nimmt eben fortwährend Rücksicht auf die gesellschaftlichen Beziehungen
und die polnische Umgebung. . . . Wir sind oft darüber erstaunt, daß von
Familien, die durchaus als deutsche gelten woUen, ohne irgendwelchen
tiefern Grund Amtshandlungen in polnischer Sprache bestellt werden. —
Weiter: Trotzdem die Deutschen kaum ein Drittel der Warschauer evan-
gelischen Gemeinde ausmachen, Averden doch alle Gottesdienste in beiden
Sprachen abgehalten, und zwar jeden Sonntag vier Gottesdienste: zwei
deutsche und zwei polnische. Wenn bei den polnischen Gottesdiensten
die Kirche fast stets überfüllt ist, bei den deutschen dagegen, wenn sich
') St. Petersburger Zeitung, Jahrgang 181, Nr. 280.
134 Siebentes Kapitel. Bevölkerungsstatistik
die Kolonisten aus der Umgegend von Warschau nicht einfinden, die Bänke
leer stehen . . . wenn von etwa siebzig evangelischen Kindern, die zu Anfang
dieses Schuljahres in die Yorbereitungsklasse unsrer Kirchenschide aufge-
nommen wurden, nur fünfzehn deutsch sprechen, und das zum Teil recht
mangelhaft, aber alle gut polnisch verstehen (mit Ausnahme eines einzigen
Kindes), dann ist dafür nicht die lutherische Geistlichkeit verantwoi-tlich
zu machen. Unser Kirchen kollegium ist polnisch gesinnt. Aber das
Kirchenkollegium wird von der Gemeinde gewählt; warum beteihgen sich
denn unsre Deutschen nicht wenigstens prozentualiter so an den Wahlen,
daß man mit Recht die Forderung aufstellen könnte, es müsse eine gewisse
Anzahl Repräsentanten speziell des Deutschtums im Kirchen vorstand sitzen?
In unsern Elementarschulen ist teilweise die polnische Unterrichtssprache
eingeführt, Avas bei über 80 Prozent polnisch redender Kinder doch wohl
selbstverständlich ist, wobei aber auf das Erlernen der deutschen Sprache
überall der größte Nachdruck gelegt wird. Wenn die Deutschen deutsche
Volksschulen wünschen, warum kommen sie dann nicht zu uns mit ihren
Vorschlägen?"^)
Nicht ganz so gering ist das Deutschtum bei den Kolonisten einzu-
schätzen. Wir wollen aber aus dem Umstände, daß sie sich ihre Mutter-
sprache erhalten haben, keine zu optimistischen Schlüsse ziehn. Denn nur
die Tatsache, daß sie in größerer Zahl zusammenleben können, daß sie mit
den Polen weder in direkte Beziehuugen noch in Konkui-renz einzutreten
brauchen, ist die wahre Ursache für die Erhaltung des Deutschtums. In
den Kolonistendörfern gibt es keinen täglichen Kampf für das Deutschtum.
Jeder Splitter, der von der Kolonie abspringt, ist dem Deutschtum unrett-
bar verloren, und diese Splitter sind nicht etwa aus dem schlechtesten
Holz. Vielfach ist die Erhaltung des Deutschtums teuer erkauft durch
Degeneration ganzer Kolonien. In Polen ist diese Gefahr zwar nicht so
dräuend als in Wolyuien, Südrußland und an der Wolga, weil doch noch
viele Mädchen aus Deutschland und Böhmen nach Polen heiraten. Aber
sie ist vorhanden; denn die evangelischen Geistlichen unterstützen die
evangelischen Eltern in ihrem Kampf gegen katholische Schwiegertöchter,^)
•) Diese Ausführungen des deutschen Pastors seien den Leitern der nationalliberalen
und alldeutschen Partei in Deutschland zu ganz besondrer Beachtung empfohlen. Sie
haben an die „Deutschen'' im Zartum Polen gelegentlich der letzten Reichstagswahlen
Briefe mit der Bitte um Unterstützung der Wahlen durch Geld geschickt. Es wäre
interessant, zu erfahren, welche Ergebnisse jener Versuch, der viel böses Blut gemacht
hat, gezeitigt hat.
') Ein Schulbeispiel für Rassenstudien sowie Wirkung der Rasseuvermischung und
Inzucht bietet die frühere Weberkolonie von Poltawa, die im Jahre 1908 auf ein hundert-
jähriges Bestehen zuriickschaut. Anläßlich dieses Ereignisses wollte der deutsche Pfai-rer
A. Die Bevölkerung im Zartiim Polen 135
auch wenn evangelische Anwärterinnen niu' im nächsten Verwandtenkreise
7Ai finden sind.
Die wirtschaftliche Tüchtigkeit der deutschen Kolonisten wird auch
von russischen Beamten in hohem Maße anerkannt. So schreibt der Prä-
sident des Kameralhofs von Kjelce^) über die deutschen Kolonisten des
Gouvernements Plock: „Ihre Höfe in der Gmin Bobrowniki, Kreis Lipno,
haben zwischen 30 bis 90 Morgen Land. Ein Deutscher, der einen Hof
von 30 Morgen besitzt, erzielt im Laufe eines Jahres einen Ertrag von un-
gefähr je 100 Kübel für Roggen, für ein Paar junge Pferde, für drei Stück
Hornvieh, 120 Rubel für vier Schweine und bis zu 300 Rubel für seinen
Garten, zusammen 720 Rubel. Heu, Stroh, Spreu sowie alle Knollenfrüchte
bleiben als Viehfutter oder zin- Düngung zurück.
„Das Äußere einer deutschen Wirtschaft stellt sich als etwas Abge-
rundetes und sti-eng Durchdachtes dar. Es ist offensichtlich, daß die Er-
tragfähigkeit dieser Wirtschaft eben durch ilu'e ganze Organisation bedingt
wird. Vieh- imd Pferdestall und Düngergrube sind bei einem Deutschen
derart angelegt, daß auch nicht ein Stück Dünger oder ein Tropfen Jauche
verloren geht. Der Deutsche hat einen vollständigen Komplex von land-
Avirtschaftlichen Geräten, einschließlich einer Dreschmaschine mit Pferde-
antrieb. Alles ist stets in bester Ordnung. Pferde imd Vieh sind von
guter Rasse, gut gefüttert und rein gehalten, da der Deutsche seinem Vieh
Streu mit freigiebiger Hand gewährt. Der Brunnen ist innen und außen
mit Feldsteinen vermauert, stets sorgfältig zugedeckt und mit einer Vor-
richtung für ein möglichst leichtes Wasserschöpfen versehen. . . .
„Ganz anders ist die Wirtschaft eines eingesessenen polnischen Bauern,
der em Landstück von gleichem Umfang bewirtschaftet. . . . Während pol-
nisches Bauemland zu 100 Rubel für den Morgen verkauft wird, werden
deutsche Ländereien, mit vollständiger Wirtschaftseinrichtung sowie mit
den Gärten, auf 200 bis 300 Rubel für den Morgen eingeschätzt. . . .
„Die Deutschen siedeln sich im allgemeinen gern in Niederungen an ;
zu einer deutschen Wirtschaft gehört darum stets ein Stück moorigen
Bodens, in dessen nächster Nähe im Überfluß Sand vorhanden ist. Die
der evangelischen Gemeinde von Poltawa eine historische Studie über den Verbleib der
ursprünglich eingewanderten deutschen Familien schreiben. Ob es geschehen ist, vermag
ich nicht zu sagen. Das Ergebnis meiner persönlichen Beobachtungen an Ort und Stelle
ist folgendes« die deutsch gebliebnen Familien sind sowohl geistig wie körperlich wie
wirtschaftlich weit zurück hinter den sogenannten russif izierten , d. h. hinter denen, die
russische Frauen in sich aufgenommeu haben, wo also die jüngste Generation nicht mehr
evangehsch, sondern orthodox ist.
*) I. Orlow, „Die wirtschaftliche Lage und die Zahlungsmittel der Bauern in den
Gouvernements des Zartums Polen'\ Kjelce, 1898, S. 30 bis 33.
136 Siebentes Kapitel. Bevölkerangsstatistik
sumpfigen Stellen werden mit einer Schicht von ungefähr 25 bis 30 Zenti-
meter aufgeschüttet und darauf junge Pflaumenbäume gepflanzt. Gewöhn-
lich schon nach vier Jahren hat der Kolonist einen außerordentlich frucht-
reichen Garten. Ein Morgen solchen Fruchtgartens bringt seinem Besitzer
eine jährliche Einnahme von über 100 Rubel. Jede einzelne deutsche
Wirtschaft ist im Besitz eines solchen Gartens sowie steinerner Trocken-
räume zum Trocknen der Pflaumen. Im Herbst erscheinen Aufkäufer aus
Warschau und Lodz und nehmen ihm die Pflaumen ab. Freilich sind die
Pflaumen aus den deutschen Gärten nicht ebenso schmackhaft wie die aus
höher gelegnen Gärten, dennoch finden sie eine gute Abnahme. Wenn
man längs der Weichsel von Bobrowniki mit dem Dampfschiff nach
Dobrzin fährt, scheinen die deutschen Kolonien längs der Weichsel einen
einzigen ununterbrochnen Garten darzustellen; die auf den Höhen ver-
streuten polnischen Höfe sehen daneben einsam aus, da sie fast von keiner-
lei Vegetation umgeben sind.
„Die Überlegenheit der deutschen Kultur im Verhältnis zur polnischen
fällt in der hiesigen Gegend recht grell in die Augen. Die deutschen
Bauernwirtschaften sind sogar besser organisiert als die Gutswirtschaften.''
Die Stellung der Deutschen zur russischen Politik ist die, die die
russische Regierung am meisten schätzt. Über Erwerbsinteressen geht das
Interesse der Deutschen nicht hinaus. Die Regiening hat die Deutschen
eben aus diesen Gründen immer so schlecht behandelt wie nur irgend
möglich. Solange sie im Weichselgebiet bleiben, so lange genießen sie
zwar noch volles russisches Bürgerrecht. Sobald sie aber ins innere Ruß-
land kommen, verfallen sie als Auswandrer aus dem Zartum Polen ver-
schiednen beschränkenden Ausnahmegesetzen. So düi-fen die nach Wolynien
übergesiedelten deutschen Kolonisten keinen Anteil an der Wolostverwal-
tung nehmen, von den Wahlen füi' die Reichsduma sind sie ausgeschlossen.
Diese Bestimmungen erschweren die Ansiedlung von Kolonisten aus den
deutschen Kolonien und drängen die Überschüsse der deutschen Bevölkerung
in die Städte. Die russische Regierung begibt sich durch diese Politik
zweier großer Vorteile. ^) Die nach Rußland kommenden Deutschen bringen
eine Fülle von Kulturfaktoren mit, aus denen die heimische Bevölkerung
großen Nutzen zieht. Der lebenskräftigere Teil wird in der dritten
Generation russisch. Die in die Städte Polens gehenden Deutschen ver-
fallen fast vollzählig dem Polentum und mehren dessen Zahl und wirt-
schaftliche Stärke.
*) Vgl. auch Denkscln-ift der dfutscheu Kolonisten aus Wolynien; kurzer Auszug in
„Torgowo-Prom. Gaseta" von 1906, Nr. 164.
B. Die Bevölkerungsbewegung I37
Auch sonst stößt die Regienmg die Deutschen überall vor den Kopf
und wird darin von den militärischen Kreisen bestäi'kt. Wie sie das Zar-
tiim Polen als eine Zitadelle betrachten, die im Falle eines Krieges gegen
Deutschland in die Luft gesprengt Averden müßte, sehen sie in den deutschen
Einwandrern lediglich deutsche Torposten und Spione. Unter solchen Ver-
hältnissen und den sich daraus ergebenden vielfachen Unannehmlichkeiten
ist es zu erklären, daß sich das Deutschtum immer mehr von den Russen
zurückzieht imd Anschluß sucht an die Polen, die den Deutschen in den
Städten auf allen Gebieten entgegenJcommen und denen im Gegensatz zu
früher die wahren Sympathien gehören.^)
Der Einfluß der Deutschen in politischer und in wirtschaftlicher Be-
ziehung ist viel geringer, als meist vorausgesetzt wird. Im Handel bildet
Lodz eine deutsche Enklave, die nicht von den Polen, sondern von den
russischen Lidustriellen mit scheelen Augen angesehen wird. Durch die
finanzielle und technische Leistungsfähigkeit der Lodzer deutschen Fabri-
kanten wird der Eindruck erweckt, als sei der deutsche Einfluß so außer-
ordentlich groß in Polen. Tatsächlich spielt aber Lodz in Moskau und Mslmi-
Nowgorod eine viel gi-ößere und einflußreichere Rolle als in Warschau.
B. Die Bevölkerungsbewegung
Eine der wesentlichsten Folgen der Agrarreform von 1864 ist die
außerordentliche Zunahme der polnischen Bevölkerung im Zai'tum Polen,
Dasselbe Volk, das sich von 1846 bis 1862 nicht um eine einzige Seele
vermehren konnte, hat sich in der Zeit von 1862 bis 1897. also im Laufe
von nur fünfunddreißig Jahren verdoppelt. Die Bedeutung einer solchen
Vermehrung "svird ims recht klar, sobald wir die wahrscheinliche Ver-
mehrung in andern Gebieten danebenstellen. Bei dem in den einzelnen
Ländern normal gewordnen Geburtenüberschuß kann sich die Bevölkerung
in Frankreich ei-st in 236 Jahren verdoppeln, in Östen-eich in 135, in
Deutschland in 98 und in Rußland, trotz seines großen Kinderreichtums,
in 65 Jahren. Wenn somit die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse
in Polen so bleiben könnten, wie sie sind, und wenn die Auswanderung
nur in demselben Maße steigen würde wie in dem Zeitraum von 1862
bis 1897, dann würde das Zartum Polen im Jahre 1932 eine Bevölkerung
*) Die Klagen deutscher Gutsbesitzer im Zartum über Mangel an Arbeitskräften und
ihre Behauptung, dieser Mangel sei durch Boykott hervorgenifen, beruhen auf Yerkennung
der wahren Tatsachen. Die deutschen Besitzer befinden sich genau in derselben Lage
wie die polnischen bezüglich der Arbeiter, seitdem die Sachsengängerei so außerordentlich
große Umfange angenommen hat.
138
Siebentes Kapitel. Bevölkerungsstatistik
von etwa 21000000 erreichen. Wir werden später die Gründe aufführen,
warum eine solche Bevölkerungszunahme voraussichtlich nicht eintreten
dürfte.
1. IHe natürliche Zunahme
Die Bevölkerung der zehn Gouvernements des Zartums Polen betrug
im Jahre 1862 nach den Forschungen des Reorganisationskomitees etwa
4972000 Seelen. Von dieser Zahl waren 76,2 Prozent oder 3 789250 Slawen
(Polen und Russen), 5,2 Prozent oder 259990 Litauer, 5,6 Prozent oder
281980 Deutsche und 12,8 Prozent oder 640330 Juden. Im Jahre 1897
ergab die Volkszählung folgendes Bild: 78,5 Prozent oder 7387000 Slawen,
davon 71,8 Prozent oder 6755500 Polen und 6,7 Prozent oder 631440
Russen; Litauer waren 305320 oder 3,2 Prozent, Deutsche 407270 oder
4,3 Prozent und schließlich 1267200 oder 13,5 Prozent Juden. Somit
haben sich die Slawen und Juden im Zeitraum von fünfiinddreißig Jahren
verdoppelt, während die Deutschen um ein Drittel und die Litauer gar
nur um ein Fünftel zunahmen. Gegenüber den Slawen und Juden haben
die Deutschen 1,3 Prozent und die Litauer 2 Prozent eingebüßt.
Den Gang der Bevölkerungszunahme für verschiedne Jahre möge nach-
stehende Tabelle zeigen:
Es betrug die Zahl der
1867')
1873')
1881 ')
1889»)
1893 ')
1904=')
geschlossenen Ehen .
42290
46490
62931
74927
74272
71666
Geburten
251001
273074
276548
352405
369989
436510
davon ehelich . . .
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—
336329
—
420924
„ außerehelich
—
—
—
16076
—
15586
Todesfälle
161625
239573
194342
220721
229732
264202
Einwohner überhaupt '^)
5388534
6337316
7 232292
8124868
8808969
11588585
Natürlicher Zuwachs .
90376
33501
82206
131684
140266
172308
Auswanderung . . .
—
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—
4866
8784*
17239*
Im Jahre 1862 betrug die Dichtigkeit der Bevölkerung 45,8 auf die
Quadratweret (etwas mehr als ein Quadi'atkilometer). ^) Im Jahre 1870
») Arbeiten d. Warsch. Stat. Kom. von 1895/96, Heft XIII, S. 162/3.
») Ebenda Heft VII von 1892, S. 80/81.
ä) Ebenda Heft XXIV von 1906, S. 47.
♦) Ebenda Heft XXII von 1906, S. 41, Taf. VI.
^) Der Rückgang der Bevölkei-ung von 1904 auf 1905 (s. Tabelle auf S. 126) erklärt
sich durch die verstärk-te Rekrutenaushebung anläßlich des russisch -japanischen Krieges
und die damit im Zusammenhang stehende Desertion und verstärkte Auswanderung. (Vgl.
meine Ausführungen in Bd. I von „Aus Rußlands Not \uid Hoffen", S. 33—41 sowie 63—85.)
®) Arbeiten des "Warschauer Statistischen Komitees Heft XXII, S. 85.
B. Die Bevölkerungsbewegung 139
betrug allein die Zahl der Landbewohner 4991300 bei einer Gesaratbevöl-
kenmg von 5903400. Im Jahre 1873 gehörten von G 337 300 Einwohnern
5264700 der Landbevölkerung an; 1883 von 7422300:6129028. Im
Jahre 1893 waren i) von 8809000 7213100 Landbewohner bei einer
Bevölkerungsdichte von 81,2 auf die Quadratwerst. Bis zum Jahre 1904
ist die Bevölkerung des Weichselgebiets schon auf 11588585 Menschen
gestiegen, was einer mittlem Dichtigkeit von 106,9 entspricht.^) Davon
entfielen 9242400 auf das Land und 2346200 auf die Städte. Während
in Deutschland die ländliche Bevölkerung von 1890 bis 1900, also in nur
zehn Jahren von 53 Prozent auf 45,7 Prozent zurückgegangen ist,^) die
städtische dagegen von 47 auf 54,3 Prozent, also um 7,3 Prozent ge-
stiegen ist, betrug die Steigerung in Polen nach der amtlichen Statistik
von 1889 bis 1904, das sind fünfzehn Jahre, nur 6 Prozent zugunsten der
Städte. Wenn dann dagegengehalten wird, die Landbevölkerung habe sich
von 1862 bis 1904 um 85,7 Prozent ihres anfänglichen Bestandes, die
städtische aber um 1 55,5 Prozent vermehrt, so darf dabei nicht vergessen
werden, daß die Zahl der Städte im Jahre 1864 auf 115 herabgesetzt
worden ist, und daß sich die Städte Polens überhaupt erst seit jenem Zeit-
punkt gemeinsam mit der Industrie zu entwickeln beginnen. Das ist wichtig,
da die gesamte Vermehrung auf dem Lande der polnischen Nationalität
zugeschrieben werden muß, während sie in den Städten zur Hälfte Nicht-
polen, wie Juden, Russen und Deutschen, zufällt, und ein großer Prozent-
satz der Vermehrung der städtischen Bewoliner auf Zuzug vom platten
Lande zurückzuführen ist.
Die Bevölkerungsdichte vom I.Januar 1906 zeigte für die einzelnen
Teile des Zartums folgende Zahlen: Ssuwalki 57,2 auf die Quadratwerst,
Lomsha 70,5, Block 80,9, Sjedlec 74,9, Warschau (ohne Stadt Warschau)
109,5, Lublin 70,5, Kaiisch 114,1, Petrikau 162,8, Kjelce 107,3 und
Radom 98,2. Besondre Abweichungen zeigt der Kreis Sejny mit 41,9, der
Ki'eis Bendzin mit 259,3, Warschau ohne Stadt Warschau 195,2. Über 110 Be-
völkerungsdichte weisen 23 Kreise auf, unter 60 aber nur vier Kreise. *)
Interessant ist eine Betrachtung des Verhältnisses zwischen dem Zu-
nehmen des männlichen und weiblichen Teiles der Bevölkerung. Im Zeit-
raum von 1867 bis 1873 wurden jährlich im Durchschnitt auf 100 Weiber
101,1 Männer geboren, während auf 100 Weiber 100,1 Männer starben;
in der Periode von 1874 bis 1883 war das Verhältnis 100:102,9:100,9, in
^) Arbeiten des Warschauer Statistischen Komitees Heft XIll, S. 162 und 176.
^) Ebenda Heft XXU, S. 85.
ä) Statistisches Handbuch für das Deutsche Reich, 1. Teil, 1907, S. :36/37.
*) Arbeiten des Warschauer Statistischen Komitees von 1906, Heft XXVI, S. 74,77.
140 Siebentes Kapitel. Bevölkerungsstatistik
der nächsten Periode 1884 bis 1893 schon 100:103,5:101,2.^) Dann hat
die Sterblichkeit und Auswanderung der männlichen Bevölkerung erheblich
zugenommen, sodaß im Jahre 1904 schon ein Überschuß von 3,9 Prozent
Frauen über die Männer zu verzeichnen ist. ^) Somit betrug der Über-
schuß an Männern in der ersten Periode 1 Prozent, in der zweiten 2 Pro-
zent, in der dritten 2,3 Prozent, um dann im Zeitraum von elf Jahren sich
in einen Verlust von 3,9 Prozent zu verwandeln.
2. Moralstatistik
Die beigefügte Tabelle (S. 141) zeigt ims die amtlich festgestellte
Verteilung der Bewohner des Zartums Polen nach Bekenntnissen am
1. Januar 1893 und 1905. Nach Prozenten ausgedrückt ergibt sich im
Jahre 1893 für die orthodoxe Bevölkenmg 5 Prozent, für die katholische
75,5 Prozent, für die Protestanten 5,6, für die Juden 13,9 Prozent, im
Jahre 1905 dagegen 5,17, 75.14, 5,19 und 14,5 Prozent. Somit hat sich
das Verhältnis zugunsten der orthodoxen Bevölkerung auf Kosten der ka-
tholischen und protestantischen um 0,17 Prozent verschoben.
Einen interessanten Einblick in die sittlichen Verhältnisse der ver-
schiednen Bevölkerungsteile gewährt uns die Zahl der außerehelich ge-
hornen Kinder. Für das ganze Gebiet waren im Jahre 1904 bei den Juden
nur 2 Prozent der Kinder außerehelich geboren, bei Protestanten und Ka-
tholiken je 3 Prozent, bei den Orthodoxen aber 16,2 Prozent.'') Schon
diese Zahlen deuten darauf hin, daß wirtschaftliche Not, geheime Prosti-
tution, Verwilderung der polnischen und jüdischen Jugend, und wie die
vielen Gründe für das zahlreiche Auftreten außerehelicher Geburten alle
heißen mögen, im Zartum Polen nicht die Hauptursache dafür darstellen
können. Die in der traurigsten wirtschaftlichen Lage lebenden Juden
haben den geringsten, die privilegierten Orthodoxen haben den größten
Prozentsatz der außerehelichen Geburten. Die Zahlen der amtlichen
Statistik zeigen uns den Weg zur Aufklärung dieser Tatsache, ohne daß
sie von einem Wort der Erklärung begleitet wären. In den Städten des
Zartums kommen nur 8,8 Prozent außereheliche Geburten bei den Ortho-
doxen, 8,1 Prozent bei den Katholiken, 3,2 Prozent bei den Protestanten
und 2,6 Prozent bei den Juden vor. Polen und Russen, wie wir sahen Be-
amte, Bürger, Intelligenz, Fabrikarbeiter stehen einander in dieser Be-
ziehung in den Städten gleich, nicht aber in den Landgemeinden. Dort
kommen 17,5 Prozent außereheliche Geburten auf die Orthodoxen. 2,2 Pro-
zent auf die Katholiken, 3 Prozent auf die Protestanten und 1,4 Prozent
») Arbeiten des Warschauer Statistischen Komitees von 1896 96. Heft XIII. 8. 163.
■^) Ebenda von 1906. Heft XXVI. S. 77. - ^) Ebenda von 1906, Heft XXIT, S. 22.
B. Die Bevölkerungsbewegung
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1-H Od iJi'rS
142
Siebentes Kapitel. Bevölkenmgsstatistik
auf die Juden. In den einzelnen Gouvernements treten indessen Ver-
scliiebiingen dieser Zahlen ein. Wir wollen sie hierunter zusammenstellen,
weil sie uns einen tiefen Einblick gewähren in die Stellung der Bevölkerung
zur Geistlichkeit und in die Ergebnisse der politischen Wirksamkeit der
russischen Eegierung. ^)
AlleGebui-ten
Orthodoxe
Katholiken
Protestanten
Juden
Gouverne-
ments ')
ZahP)
außer-
eheUch
Stadt
0/
Land
0/
Stadt
0/
Land
0/
Stadt
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Stadt
Land
0/
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Warschau, St.
28458
10,3
12,4
14,0
—
6,1
—
3,0
—
Warschau, Gv.
59438
2,7
3,2
4,9
4,1
2,1
4,9
5,0
4,5
4,1
Kaiisch . . .
44591
2,2
3,2
10,7
2,1
2,2
3,1
3,5
0,7
0,3
Kjelce . . .
32883
1,7
1,2
?
4,1
16,4
—
—
3,3
0,3
Lomsha . .
23238
1,7
0,9
2,4
1,9
—
2,3
0,3
0,1
Lublin . .
54668
2,6
3,4
2,9
6,1
2,5
—
2,1
3,4
1,1
Petrikau . .
72643
2,5
4,3
1,8
4,5
2,1
2,2
1,8
2,2
1,1
Plock . . .
21937
2,7
2,1
3,1
5,7
5,4
5,2
3,2
1,6
Radom . . .
40080
2.1
2,2
4,3
4,3
1,9
2,9
3,6
2,6
1,6
Ssuwalki . .
20676
4,7
6,9
45,1
9,0
3,1
6,8
2,8
1,2
1,3
Sjedlec . . .
42080
9,3
22,2
35,4
44,8
2.0
—
0,7
2,9
0,9
In unsrer Übersicht fallen uns folgende Zahlen auf: im Gouvernement
Kjelce bei den katholischen Landbewohnern 16,4 Prozent außerehelich ge-
bome Kinder. Wir haben dafür um so weniger Erklärung, als das Gouver-
nement fast gar keine Wanderarbeiter (im Jahre 1904 sind nur 129 ver-
zeichnet) liefert.^) Vielleicht spielt dort die sozialistische Propaganda eine
größere Rolle, vielleicht die Nähe Krakaus sowie der Mangel an Geistlichen,
die die Eheschließung vollziehen könnten. Schließlich kann der Zuzug
von Erntearbeitern aus Galizien in dieses Gouvernement gewisse, auf die
Höhe der Zahl der außerehelich gebornen Kinder wirkende Folgen haben.
Begreiflicher erscheinen uns die Angaben über die Gouvernements Ssuwalki
und Sjedlec. In Ssuwalki entfallen auf die orthodoxen Geburten auf dem
platten Lande 45,1 Prozent außereheliche, in Sjedlec 35,4 Prozent, und in
den Städten 22,2 Prozent. In den Städten von Sjedlec sind 44,8 Prozent
der katholischen Kinder außerehelich. Die letzte Zahl ist belanglos, da in
den Städten von Sjedlec sehr wenig Polen leben. Im Einverständnis mit
*) Im Deutschen Reich betrag die Zahl der außerehelich gebornen Kinder im Jahre
1904 8,3 Prozent. Sie erreichte in den Jahren 1859 und 1863 die höchste Zahl mit
12,4 Prozent. Statistisches Handbuch für das Deutsclie Reich, L Teil, 1907, S. 93.
2) Arb. d. Warsch. Stat. Korn, von 1906, Heft XXIY, S. 18/21.
') Ebenda S. 10/13. — •*) Ebenda S. 14/17. — •') Ebenda Heft XXU, Abt. I, S. 4.
B. Die Bevölkeiurigsbeweguug 143
dem Oberprokureor des Heiligen Synods führen wir die traurige Erscheinung
auf die Behandlung der Uniaten zurück.^)
Nach dem von den Geistlichen gelieferten statistischen Material, das
sich in der Zukunft als annähernd richtig erwiesen hat, belief sich im
Jahre 1897 die von der Union übernommne Bevölkerung in den Gouver-
nements Lublin, Sjedlec und Ssuwalki auf 377 733 Seelen; die Zahl der
standhaften Uniaten — das sind solche, die nichts von der russischen
Kirche wissen wollen — betrug 83000 oder 6000 mehr als im Jalire 1896.
Außerdem gab es im Jahre 1897 9214 Schwankende oder 1348 mehr
als im Jahre 1896. Das sind solche, die eine abwartende Haltung ein-
genommen haben, sich zwar nicht vollkommen ablehnend gegen die Ortho-
doxie verhalten, aber auch nicht als Rechtgläubige gelten dürfen. Die
Zahl der ungetauften Kinder belief sich im Jahre 1897 auf 26177 oder
6000 mehr als im Jahre 1896. Ungesetzliche Ehen gab es 9699 oder
769 mehr als im Jahre 1896. Yon den 276 ehemals imiierten Kirch-
spielen, die im Jahre 1897 gezählt wurden, waren nur 35, in denen es
weder Standhafte noch Schwankende gab. In allen übrigen konnten sie
nach Zehn und Hundert gezählt werden.
Besonders ti'ostlos ist der Zustand der Orthodoxie in den Gouvernements
Sjedlec und Ssuwalki. Im ersten wurden Ende 1897 152915 fi'ühere griechische
Uniaten gezählt, darunter 63470 durchaus Standhafte und bis zu achttausend
Schwankende. Uneheliche Kinder gab es 22803 und ungesetzliche Ehen 8496.
Im Gouvernement Ssuwalki waren von 14670 angeschlossenen Uniaten 9774
Standhafte; ungetaufte Kinder gab es 2022 und ungesetzliche Ehen 397.
Gewisse Rückschlüsse auf den sittlichen Stand der Bevölkening gibt
auch der Alkoholverhrauch, über den ims seit Einführung des Branntwein-
monopols in Rußland ziemlich genaue Daten vorliegen. Im Jahre 1903
gab es in den 1516 Ortschaften des Zartums 1183, in denen alkoholische
Geti'änke verkauft wui'den, und in ihnen 1337 staatliche Schalter zum
Verkauf von Branntwein.^) Der durchschnittliche Verbrauch von vierzig-
1) Immediatbericht von 1897, S. 58/60.
*) Zahl der AlkoholverkaufssteUen 1903:
Gouvernement Warschau von 334 Ortschaften haben 310, in ihnen 264 staatliche.
„ 106 „ „ 184
,, „ 75 ,, ,, lOo ,,
„ „ 110 „ „ 168 „
„ „ 87 „ „ 68 ,,
„ 144 „ ., 215
,. 67 ., ., 63
., 90 „ „ 113
,. 94 „ „ 91
„ 100 „ „ 118
Kaiisch
„ 160
„ Kjelce
„ 116
„ Lublin
„ 178
„ Lomsha
„ 94
„ Petrikau
.. 194
Plock
.. 76
ßadoui
,. 150
„ Ssuwalki
„ 104
„ Sjedlec
„ 112
144
Siebentes Kapitel. Bevölkerungsstatistik
grädigem Trinkbrannhvem zeigt für die zwölf Wirtschaftsgebiete des euro-
päischen Rußlands im Jahre 1903 auf den Kopf der Bevölkerung folgen-
des Bild:
Nordgebiet 0,78 "Wedro für 6,10 Rubel
Ostgebiet 0,40 ,, ,. 3,09
Zentrum 0,76
Mittleres Schwai'zerdegebiet 0,56
Kleinrußlaiid 0,50
Baltikum 0,57
Nordwesten 0,33
Südwesten 0,56
Süden 0,65
Weichselgebiet 0,39
5,90
4,29
3.84
4.39
2.54
4,27
4,96
2,97
Das Weichselgebiet oder Zartuni Polen hat somit nächst dem Nord-
westgebiet den geringsten Branntweinverbrauch, während die rein russischen
Gebiete des Zentrums um Moskau und des Nordens den größten Verbrauch
haben. Auf die verschiednen Gouvernements des Zartums verteilt sich der
Verbrauch des Trinkbranntweins wie fol^t:
Stadt
Land
Wedro
Rubel
Wedro
Rubel
Prozent der
Polen >)
Ssuwalki .
Lomsha .
Plock . .
Sjedlec
Warschau
Lublin
KaUsch .
Petrikau .
Kjelce
Radom .
1,01
0,69
0,79
0,77
1,12
0,94
1,45
0,88
0,93
1-
7,83
5,38
5,99
5,96
8,61
7,30
11,22
6,80
7,14
7,79
0.19
0,17
0,11
0,18
0,31
0,23
0,27
0,41
0.18
0,21
1,48
1.34
0,86
1,39
2,34
1,78
2,10
3,17
1,35
1,61
22,9
77,3
80,9
66,1
73,5
62,9
83,9
72,1
87,5
83,6
Den größten Verbrauch von Trinkbranntwein weisen im Zartum Polen
die Städtchen Wjelun (1,69 Wedro oder 13,09 Rubel), Mjechow (1,81 Wedro
oder 13,81 Rubel) und Mariarapol (1,98 Wedro oder 15,36 Rubel) auf.
In Mariampol spielt der Schmuggel nach Preußen eine große Rolle. Im
Vergleich zum zentralen Rußland stellen die Zahlen ein außerordentlich
günstiges Bild dar. Denn in einem Gebiet, das nur wenig größer ist als
das Zartum Polen, gibt es allein 26 Städte, in denen auf den Kopf der
') Vgl. S. 126.
B. Die Bevölkerungsbewegung 145
Bevölkerung Trinkbranntwein von mehr als 30 Rubel bis 49,91 (Lukojanow)
verbraucht worden ist.^)
Das für die polnische Bevölkerimg günstige Bild wird verschoben,
wenn wir uns daran erinnern, daß die Juden und Mohammedaner fast keinen
Alkohol genießen. Alsdann entfällt auf den Kopf der christlichen Bevöl-
kerung im Zartum Polen für das Jahr 1903 etwa 0,45 Wedro Trinkbrannt-
wein für 3,51 Rubel. Auf der andern Seite ist das Vorhandensein einer
großen Armee in Polen nicht zu vergessen. In den Regimentern Polens
befindet sich wie bekannt nach dem Gesetz kein Pole. Zu diesem Bilde
möchte ich noch eine persönliche Beobachtung hinzufügen. Ich habe im
Zartum Polen nirgends einen sinnlos Betrunknen auf der Straße liegen
sehen, was mir in allen Städten Rußlands täglich mehrmals, in Dörfern
öfters begegnet ist.
Über Prostitution fehlen uns einwandfreie Daten. Wenn die amt-
liche Statistik die Zahl der Prostituierten in "Warschau, einer Großstadt
von 767900 Einwohnern, mit 700 angibt, so ist die Mitteilung für uns
miverwendbar.
Über Vergehen und Verbrechen im Zartum Polen gibt das Justiz-
ministerium für den Zeitraum von 1879 bis 1894 Auskimft^) Danach
steht das Zartum Polen mit durchsclmittlich 36 Bestraften auf 100000 Ein-
wohner im Jahr am schlechtesten im ganzen Reich, für das nur 19 Be-
strafte auf 100000 hn Durchschnitt fallen. Diese Gegenüberstellung ver-
liert, wemi wir erwähnen, daß die gewiß kultivierten Ostseeprovinzen zum
Beispiel nächst dem Zartum die größte Zahl von Vergehen gegen das
^) Im Gouvernement Wjatka: in Glasow 4,02 "Wedro oder 30,93 Rubel, in Ko-
teljnitsch 5,67 "W. oder 43,57 Eub. ; — im Gouvernement Kasanj: in Zarewokokschaisk
4,61 W. oder 35,83 Rub. ; — im Gouvernement Kaluga: in Taiiissa 4,36 W. oder 33,65 Eub.,
in Malojaroslawetz 5,99 W. oder 45,90 Rub.; — im Gouvernement Kostroma : in "Warnawin
4,16 W. oder 31,93 Rub., in Nerechta 5,24 W. oder 40,08 Rub., in Tschuchloma 5,70 W.
oder 43,80 Rub.; — im Gouvernement Moskau: in Kün 3,95 W. oder 30,43 Rub., in
Swenigorod 4,26 W. oder 32,71 Rub., in Rusa 4,03 W. oder 31,08 Rub., in Dmitrowsk
4,37 ^Y. oder 33,77 Rub., in Wolokolamsk 4,96 W. oder 38,09 Rub., in Podolsk 6,32 W.
oder 48,59 Rub.; — im Gouvernement Nislini - Nowgorod : in Lukojanow 6,52 W. oder
49,91 Rub.; — im Gouvernement Smolensk: in Juchnow 4,45 W. oder 34,24 Rub., in
Jeljna 4,87 W. oder 37,47 Rub., in Ssytschowka 6,16 W. oder 47,87 Rub.; — im Gou-
vernement Twerj : in Staritza 4,49 W. oder 34,54 Rub., in Bjeshetzk 4,52 W. oder 34,80 Rub.,
in Kaschin 4,74 W. oder 36,61 Rub., in Subtzow 5,59 W. oder 43,02 Rub.; — im Gou-
vernement Tula: in Nowossilj 4,56 W. oder 34,89 Rub., in Kaschira 4,63 W. oder 35,50 Rub.,
in Alexiu 4,78 W. oder 36,68 Rub.; — im Gouvernement Jaroslaw: in Myscbkin 4,06 W.
oder 31,85 Rub.
*) Tarnowski, ,,Die Ergebnisse der russischen Kriminalstatistik"', Beilag'e zum Sep-
temberheft des „Journals des Justizministeriums" von 1899.
Cleinow, Die Zukunft Polens 10
X46 Siebentes Kapitel. BevöLkenrngsstatistik
Eigentum aufAveisen, Wir dürfen somit aus den Angaben keine Schlüsse
auf den Charakter der Bevölkerung des Zartums ziehen, müssen uns viel-
mehr daran erinnern, daß die Dichtigkeit der Bevölkerung, der schärfere
Kampf imis Dasein im Zartum gegenüber den russischen Gouvernements
und nicht zuletzt die bessern Verkehi-smittel die gegenseitige Aufsicht
innerhalb der Bevölkerung vergrößern, und daß jeder einzelne Bewohner
sein Eigentimi energischer verteidigt als im Innern Kußlands. ^) "Wo kein
Kläger, da ist auch kein Kichter. Die Daten leiden auch darunter, daß
sie sich nicht nach dem Geburtsort der Delinquenten anordnen lassen.
Wir können somit die Straffälligkeit der Bevölkerung nicht nach Kreisen
übei'schauen. Das hat zui' Folge, daß wir auch die Gründe der Über-
tretungen nicht in der sozialen und wirtschaftlichen Lage der einzelnen
Bevölkerungsteile nachprüfen können. Ssimoneuko ■^) hat dennoch einen
Versuch in dieser Richtung gemacht. Doch ist er dabei einseitig vorge-
gangen. Er glaubt zu beweisen, daß die große Zahl der Verbrechen gegen
das Eigentum einzig auf die große Zahl des landlosen Proletariats zurück-
zufüliren sei. Wir vermögen ihm darin, ti-otzdem er sich auf Lavasseur,
Goltz, Buchenberger, Valentini und andre beruft, nicht zu folgen, da er
damit die SchädHchkeit des Großgnmdbesitzes nachweisen möchte, aber
eine der wichtigsten Quellen der Vergehen gegen das Eigentum überhaupt
nicht erwähnt: die Servitute. Ihre Bedeutung für die Zalil der Gesetzes-
verletzungen wird der Leser leicht aus den zahlenmäßigen Angaben im
Kapitel 9 erkennen. Schließlich sind die Angaben Ssimonenkos für uns
auch deshalb nicht verwendbar, weil sie sich nicht auf die Nationalitäten
verteilen lassen.
•) Entsprechend den Veröffentlichungen des Justizministeriums für 1874 bis 1894
entfielen die einzelnen Vergehen im Russischen Reich auf die verschiednen Nationalitäten
nach Prozenten wie folgt : ^ , -r • t^ , t ,
Russen Polen Litauer Deutsche Juden
Religiöse Vergehen 1,8 0,5 0,4 1,4 0,7
Vergehen gegen die Verwaltung . 13,5 20,3 16,7 16,0 15,1
Amtsvergehen 9,9 5,6 5,6 5,1 1,9
Landstreicherei, Vergehen gegen das
Paßwesen 4,4 3,0 2,3 5,8 6,4
Sittüchkeitsvergehen 5,7 4,0 7,9 8,2 6,9
Verbrechen gegen das Leben . . 7,7 5,5 7,4 7,6 2,1
Verbrechen gegen die Person . , 11,3 14,4 16,0 12,4 2,3
Vernichtung von Eigentum ... 1,9 0,7 1,0 1,2 0,5
Raub 4,0 3,4 2,7 1,8 1,8
Diebstahl, Kirchendiebstahl . . . 31,7 29,3 25,6 24,2 24,5
Betrug, Aneignung, Fälschung . . 1,9 1,6 1,7 2,5 4,2
Sonstige Vergehen 6,2 11,7 12,7 13,8 33,6
^) Arb. d. Wai-sch. Stat. Korn, von 1900 Heft XVn, S. 34/41.
C. Die russischen Polen außerhalb des Zartums 147
C. Die russischen Polen außerhalb des Zartums
1, Die Polen im Westgehiet
Wir haben uns nunmehr noch der polnischen Bevölkerung im rus-
sischen Reich außerhalb des Zartimis Polen zuzuwenden. Ihre Zalil betrug
ohne die Angehörigen des aktiven Heeres etwa zwei Millionen und ist
über das ganze Reich bis an die Gestade des Stillen Ozeans und an die
Grenzen Afghanistans verteilt. Sie besteht aus der alteingeseßnen Bevöl-
kerung der neun Gouvernements des Westgebiets und aus den in den
übrigen Gouvernements des Reichs freiwillig oder unfreiwillig lebenden
Polen.
In dem zuerst erwähnten Gebiet haben die Polen vermöge ihrer Zahl
und ihres wirtschaftlichen Übergewichts eine ähnliche Bedeutung wie der
deutsche Adel in den baltischen Provinzen, wenngleich sie kulturell nur
teilweise imd bezüglich ihrer politischen Rechte gar nicht mit ihm zu ver-
gleichen sind. So war die Anwendung der polnischen Sprache im West-
gebiet bis zum Jahre 1905 ausschließlich im privaten Verkehr gestattet.
Bei öffentlichen Versammlungen, Schaustellungen, im geschäftlichen Verkehr
durfte sie nicht angewandt werden. In Theatern mid Konzerten war sie
gleichfalls verboten. Dementsprechend gab es auch bis zum Jahre 1905
im Westgebiet, also auch in den Zentren Wilna, Minsk, Kijew keinerlei
Zeitungen in polnischer Sprache. Dennoch stellen die Polen nach der
amtlichen Statistik in Grodno 10,8 Prozent der Bevölkenmg dar, in Kowno
9,1, in Wilna 8,2, in Wolynien 6,2, in Witebsk 3,4, in Minsk 3,1, in Po-
dolien 2,3, in Kijew 1,9, in Mohilew 1,1 Prozent. In den genannten
Gouvernements bilden sie vornehmlich den Großgrundbesitz und in den
Städten einen Teil der bessern Handelswelt sowie der Intelligenz. Be-
sonders in diesem westlichen Teil Rußlands können wir das polnische
Element doppelt so hoch annehmen, als es die amtliche Statistik an-
gibt, ohne der Übertreibung schuldig zu werden.^) Die gebildeten und
1) Bis zum Jahre 1895 konnte noch eine den Personen polnisctier Herkunft im
Westgebiet auferlegte Immobiliensteuer zur Beurteilung der Ausbreitung des Polentums
herangezogen werden. Freilich nur mit gi-ößter Vorsicht. Denn die Steuer war angesichts
der oben envähnten Definition leicht zu umgehen und wurde von den Kreischefs des Ge-
biets und den Gouverneuren als politisches Zwangsmittel gegen oppositionelle Gutsbesitzer
gehandhabt, nicht aber als ordentliche Steuer. Die damit verbundnen Überschreitungen
der Amtsbefugnis veranlaßten Herrn Witte, auf die Abschaffung der Steuer zu dringen, die
immer weniger eintrug. Im ganzen Gebiet brachte sie im Jahre 1888 1330900 Rubel,
1890 1300 700, im Jahre 1893 1196800 und im Jahre 1895 1208200 Rubel.
Gegenwärtig werden nur noch Rückstände aus jener Steuer eingetrieben. In den einzelnen
Gouvei-nements brachte die Steuer im Jahre 1895: Wilna 80500, Witebsk 37600, Wo-
lynien 230800, Grodno 86400, Kijew 210500, Kowno 142800, Minsk 61200, Mohilew 88100
und Podolien 320300 Rubel (einschließhch Rückstände).
10*
148 Siebentes Kapitel. Bevölkerungsstatistik
besitzenden Schichten der Litauer, viele Weißrussen und Letten, soweit sie
sich der römisch-katholischen Kirche angeschlossen haben, bezeichnen sich
gern als Litauer, Letten, Weißrussen polnischer Kultur.^) Auch die ras-
sischen Uniaten in Wolynien erregen vielfach Zweifel, wenn sie auch nicht
voi'wiegend zu den Polen, sondern zu den Kuthenen zu rechnen sind.
Auch die folgenden Angaben über das Verhältnis der verschiednen Be-
kenntnisse im Westgebiet zueinander lassen darauf schließen, daß die
Zahl der „Polen" ün Westgebiet erheblich größer ist, als die amtliche
Statistik zugibt.
Im Jahre 1897 gab es in Tausend:^)
In den Gouveniements Orthodoxe Katholiken Protest. Raskoln. Juden
Kowüo 2,8 o/o 72,8 o/o 2,9 «'„ ? »/„ 18,90/0
Wilna 415.3 935,8 ? 25,7 205,3
Witebsk 826.0 357,3 46,9 83,0 175,7
Grodno 921,6 384,4 12,7 ? 276,9
Minsk 72,8 «0 10.2 «/o ? ? 15,8»/,
Mohilew 1404,0 51,4 6,8 22,8 201,3
Woljaiien 2106,9 296,8 173,3 7.6 388,0
Kijew 2988,7 109,4 5,2 15,0 428,0
Podolien 2370,7 273,3 4,0 16,8 394,5
Schließlich möchten wir hier noch auf den Ausfall der drei Wahlen
für die Reichsduraa in den genannten neun Gouvernements hinweisen.
Aus dem Westgebiet wurden gewjihlt: zur ersten Reichsduma sieben Polen,
zur zweiten acht, und ziu' dritten, ti'otz des geänderten Wahlgesetzes, noch
sechs. ^) Das deutet auf den außerordentlich großen Einfluß hin, den da,s
polnische Element im Westgebiet hat.
2. I>ie Polen in den innert^issi sehen Gouvernements
Der Hauptteil der polnischen Bevölkerung in den Stammgouvemements
des Reiches setzt sich zusammen aus Verbannten, das heißt solchen, die
nur das Recht haben, in bestimmten Gouvernements zu leben, imd aus
Beamten, Offizieren, Lehrern, Ingenieuren sowie seit etwa zwanzig Jahren
aus Kaufleuten und deren Angestellten. Hierbei sei erinnert, daß ^'er-
^) Äluüich urteilt Jan Kartowicz in der 83. Ausgabe der Macierz polska: ,,Polska,
obrazy i opisy" Bd. 1, Lemberg, 1906, S. 211.
'') Adreßkalender von A. S. Ssuworin 1902, „AVsja ßossija".
'■') Näheres mein Eussischer Brief Nr. 7 in Nr. 32 der (irenzboten von 1907, Bd. III,
S. 273 bis 281. Die polonisierien Letten und Litauer sind in der Zahl nicht eothalten.
Als Angehörige der Autonomistengnippe und der Kadettenpartei haben sie aber die Politik
der Polen -«ärksam unteretützt.
C. Die nissischen Polen außerhalb des Zartums 149
bannte auch in den Staatsdienst aufgenommen werden. Die Zahl der seit
1864 zwangsweise nach Rußland übergesiedelten Polen muß sehr groß sein,
Avenn wir bedenken, daß jeder politische Prozeß, jede Demonstration, jeder
Streik gewöhnlich mehrere hundert Verbannungen zur Folge hatten. Nähere
Anhaltspunkte über die Höhe fehlen uns. Die Mehrzahl der Polen lebt
in den GouYornementsstädten , wenn auch die Zahl der polnischen Guts-
verwalter an Stelle Deutscher Avächst. Dort haben sie eigne Kirchen, in
denen meist aus Polen verbannte Priester walten. Zu den letztern ge-
hörten auch solche hervorragende Persönlichkeiten wie der Bischof von
Wilna Krassinski und der von Warschau Felinski. In den russischen Gou-
vernements bilden die Polen eigne geschloßne Gesellschaften, die — das
sei hervorgehoben — fast überall einen geistigen Mttelpunkt bilden, dem
sich die gebildeten russischen Kreise gern anschließen. Besonders große
polnische Kolonien bestehen in St. Petersburg, Moskau und Charkow. In
Petersburg gehören zur Kolonie mehr als 40000 Polen, darunter viele hohe
Beamte, Professoren, Ärzte, Rechtsanwälte mit gut klingenden Namen,
i'eiche Magnaten und Kaufleute, und ihre Festlichkeiten im AVinter gehören
zu den gesuchtesten Verguügmigen der sogenannten guten Gesellschaft der
Newa-Hauptstadt. In Petersburg erscheint auch seit dem Jahre 1880 die
Halbmonatschrift Kraj, von der AAdr später noch mehr hören werden. Die
Moskauer polnische Kolonie zählte 1904 gegen 12000 Mitglieder, darunter
viele hundert Studenten. Die CharkoAver Kolonie wurde auf 6000 bis
7000 Mitglieder geschätzt.
Leider fehlen uns auch nur annähernd zusammenhängende Daten
darüber, in Avelchem Maße die polnische Bevölkerung in Rußland zunimmt.
Die amtliche Statistik über Wanderarbeit und Auswanderung aus dem
Weichselgebiet in die russischen Gouvernements bringt folgende Angaben.
In die russischen Gouvernements gingen von allen Wanderarbeitern im
Jahre 1904 4325 Männer und Frauen. In den russischen Gouver-
nements haben sich während des Jahres 1904 — fi'ühere Angaben fehlen —
783 Menschen polnischen Ursprungs angesiedelt, davon 175 Junggesellen
und 195 Verheiratete und mit ihnen 413 Frauen und Kinder. Unter
ihnen waren 282 Katholiken.^) Aus welchen sozialen Schichten diese
AusAvandi"er nach Rußland hervorgehen, gibt die Statistik nicht an; aber
wir glauben nicht fehlzugehen, Avenn Avir unter ihnen viele Gebildete
vermuten, die als Staatsbeamte, Anwälte, Lehrer, Ingenieure, Ärzte usw.
oder als Gutsverwalter in Rußland ErAverb suchen, um so mehr als es den
Polen verAvehrt ist, im Westgebiet Land zu erAverben. Daneben können
») Arb. d. Warsch. Stat. Kom. v. 1906, Heft XXTI, S. 59.
J50 Siebentes Kapitel. Bevölkerungsstatistik
wir feststellen, daß ihre Zahl unter den Beamten der Eisenbahn und des
Finanzministeriums seit 1894 außerordentlich zugenommen hat, ebenso wie
die Zahl der Professoren an den höhern Leliranstalten wie auch der Be-
triebsingenieure in den großen Privatfabriken. Überall treffen wii- die
Polen, überall haben sie Verbindungen, und überall sind sie zusammen-
geschlossen, ohne sich abzuschließen, obgleich sie überall zuerst Polen und
dann auch russische Staatsbürger und Staatsbeamte sind. Also gerade
umgekehrt wie die Deutschen, die zuerst russische Staatsbürger, und
solange es ihrem persönlichen Fortkommen nicht schadet, auch evangelische
Deutsche sind.
C^<^©5
Achtes Kapitel
Wirtschaft
Die tief einschneidenden Reformen der 1860 er Jahre haben ihren Ein-
fluß auf die wirtschaftliche Entwicklung des Landes nicht verfehlt. Die
Reformen bedeuteten eine Befreiung von mehr als einer MiUlon Arbeits-
händen aber auch deren AnsteUung in der Wirtschaft als Erzeuger und täg-
üch anspruchsvoUer werdende Verbraucher. Neben der Agrarreform und
ihren günstigen Folgen ging die Erschließung der Kohlen- und Eisenschätze
von Dombrowa, die Weiterentwicldimg der Manufakturmdustrie , die Ära
der Eisenbahnbauten. Eine überale Regierang öffnete ausländischen Kennt-
nissen und Kapitalien gern die Grenzen, und so geschah es, daß sich die
Polen unter Anleitung des Auslandes, vor allen Dingen der Deutschen,
mit der modernen Wirtschaft und deren modernster Organisation verti-aut
machen konnten, ohne selbst die Kosten solcher praktischen Studien zahlen
zu müssen. Die Polen gaben ihre körperliche und später in zunehmendem
Maße die geistige Arbeitskraft. Aber die Ideen und das Risiko der Kapital-
anlage trugen deutsche Kapitalisten, Ingenieure und Kaufleute. So wirkten
aUe Avichtigen Wirtschaftsfaktoren im Innern des Landes zu einer seltnen
Befruchtung der durch die Gesetzgebung von 1864 neu geschaffnen Grund-
lagen der Wirtschaft. Auf vielen Gebieten des gewerblichen Lebens setzte
eine überraschend üppige Entwicklung em.
Doch auch Ursachen der internationalen Verbindung des Weichsel-
gebiets machten ihren Einfluß geltend. Im benachbarten Deutschland regte
sich die Untern ehmimgslust. Die französischen MiUiarden erleichterten
den deutschen Geldmarkt, und viele Mittel strebten nach günstiger Anlage,
die damals noch in Deutschland selbst nicht ausführbar schien. Auf der
andern Seite verbesserte Rußland seine Verkehrswege und begann sich
langsam aber mit unwiderstehbarer Gewalt gegen den asiatischen Markt
in Bewegung zu setzen. Aus (üeser Bewegimg hat Polen reichen Nutzen
gezogen; es wurde bald ein scharfer KonkiuTcnt der Moskauer Industrie.
152 Achtes Kapitel. Wirt,'<chaft
Alle diese erfreulichen Erscheinungen haben sich schon in den 1870 er
Jahren gezeigt, und die russische Regierung glaubte sich berechtigt, die
Erfolge ganz allein ihrer Politik zuschreiben zu dürfen. Eine solche Auf-
fassung tritt uns besonders in den Arbeiten des Professors Gr. Ssimonenko
entgegen, der später von 1890 bis 1905 Leiter des "Wai-schauer Statistischen
Komitees war. Ssimonenko hat in seinen Yeröffentlichungen immer die
Parallele zwischen dem Zartum Polen einerseits und den Provinzen Posen
und Galizien andrerseits gezogen imd ist dabei zu den besten Ergebnissen
für die russische Regierung und zu den ungünstigsten für die preußische
gekommen.^) Freilich hat er den Wert zweier Dinge vollständig unbe-
achtet gelassen: geordnete Rechtsverhältnisse und Bildung. Polen hat
zweifellos wirtschaftlich gegenüber der Zeit vor 1864 außerordentliche
Fortschritte gemacht. Aber diese Fortschritte verlieren doch an Bedeutung,
wenn man sie nicht nur im Verhältnis zu den russischen Stammgouveme-
ments betrachtet. Denn obwohl Polen das Vielfache der in Posen und
Westpreußen hervorgebrachten materiellen Werte schafft, ist es schon im
Jahre 1894 weit zurück gegen die beiden preußischen Provinzen, Avoil es
kulturell zurückblieb. Auch im letzten Jahrzehnt ist der Abstand nicht
ausgeglichen, ist vielmehr Aveiter geworden. Die Gründe dafür wei'den
Avir später näher kennen lernen; hier haben wir die Entwicklung der
Landwirtschaft, der Industrie und des Handels an der Hand der Statistik
darzustellen.
A. Die Landwirtschaft
In Kapitel 3 wurde gezeigt, wie die Regierung die Landbevölkenmg ein-
geteilt hat, in adliche Besitzer und Bauern. Nicht wirtschaftliche oder soziale,
sondern ausschließlich politische Merkmale waren maßgebend für die Teilung.
Wir zeigten auch, welche politischen Gründe für die amtliche Terminologie
maßgebend waren. Im folgenden interessiert uns ausschließlich die tvirt-
schaftliche Struktur des Landes. Wii' wollen zunächst die ivirtschaftUche
Leistungsfähigkeit des gesamten Gebiets sowie der einzelnen Bevölkenmgs-
schichten im ganzen darstellen. Über die Abweichungen in den einzelnen
Teilen des Landes können wir darimi einstweilen hinwegsehen, so groß
sie tatsäclilich sind. Darum soll auch die amtliche Statistik über den
Bodenbesitz ein wenig verschoben werden, indem wir die kleine Schlachta
zu den bäuerlichen Wirtschaften zälilen. Wir erhalten dann für das Jahr
1904 folgendes allgemeines Büd: Von den 11297029 Deßjatinen des Zar-
tums gehören 54,6 Prozent bäuerlichen Kleinbetiieben, 35,1 privaten Groß-
*) Das Zartum Polen, von Professor Gr. Ssimonenko, Warschau, 1878, Dnick der
Medizinischen Zeitung.
Ä. Die Landwirtschaft
153
betrieben, 5,9 staatlichen Großbetrieben; 2,6 Prozent des Bodens gehören
den Flecken und deren Bewohnern, 1,3 Prozent den 116 Städten und
0,5 Prozent anderweitigen Besitzern,^)
1, I>le Verteilung des Bodens
Die gesamte Verteilung des Landes für das Jahr 1904 in den zehn
Gouvernements im Zartum Polen ergibt sich aus folgender Tabelle:
Größe des
Gnindbesitzes (in Deßjatinen)
BezeicliDung
■ö
der
Gouvernements
es
CS
03 os
Ol
Ö
o
<1>
Groß-
giTind-
besitz
2
S
<D
i 1
^ i
Ssuwalki . . .
624865
4067
20428
18022
249156
204248
2181
1122967
Lomsha .
279956
319393
18305
12562
160993
110533
1679
903421
Plock . .
313953
124482
13120
9175
373152
23664
1646
859192
Sjedlec
593700
155981
48896
23438
413834
20 785
12551
1269185
Wai-scliau
742525
35801
24425
22324
641581
58135
15830
1540621
Lubliu . .
780650
2212
36728
19000
606312
24568
12817
1482287
Kaiisch
522989 1 —
22252
12413
442995
17420
2787
1020856
Petrikaii .
583594
9652
39090
17428
403764
51335
3460
1108323
Kjelce . .
463441
152
27441
8937
308388
76702
2856
887917
Radom
602419
—
41682
10139
S61409
82578
4033
1102260
Zusammen
5508092
651 740
292367
153438
3961584
669968
59 840
11297029
In Frozen
ten
48,8
5,8
2,6
1,3
35,1
5,9
0,5
100
a) i)as hand der Kleinhetriebe. Die kleinen Beti'iebe umfassen über
die Hälfte des gesamten Bodens im Zartum Polen oder 54,6 Prozent, was
einer Zahl von 6159800 Deßjatinen gleichkommt. Davon gehören der
kleinen Schlachta 651 740 Deßjatinen oder 5,8 Prozent des Gesamtbodens.
b) Der Oroßgrundhesitz. Der adliche Grundbesitz ist von rund
8000000 Deßjatinen im Jahre 1862 auf 3961584 Deßjatinen im Jahre 1904
zurückgegangen. Ziehen wir von der ersten Zahl die im Jahre 1864 den
Bauern zugeteilten, also zwangsweise enteigneten 3609720 Deßjatinen ab,
^) Das statistische Material über Verteilung des den Bauern, den Flecken und der
kleineu Schlachta gehörenden Landes, über den Umfang der einzehien AA'irtschaften sowie
über die Größe des Hof- und Kronlandes wiu-de amtlich zum erstenmal im Jahre 1899
von den Gmin Verwaltungen eingefordert. Im gleichen Jahre lieferten auch die Kameral-
höfe Daten über die Liegenschaften der Gmin unter Zugrundelegung der Liquidations-
tabellen. Im Jahre 1899 gaben die Kameralhöfe vergleichende Überblicke über die Ver-
teilung des Giundbesitzes der Bauern und Flecken im Vergleich zum Jahre 1870. Die
Daten der ersten Art wurden für die Gouvernements Ssuwalki imd Lomsha in den
Heften IV, VI und X der ..Arbeiten des Wai-schauer Stati.stischen Komitees" veröffent-
licht, die übrigen in Heft XVII.
154
Achtes Kapitel. Wirtschaft
dann ergibt sich eine natürliche Verminderung des adlichen Grundbesitzes
von mindestens 429000 Deßjatinen (4390000 auf 3961000 Deßjatinen).
Die gesamte natürliche Vermindenmg ist nach einer geringen Zunahme
zwischen 1887 bis 1893 auf den Zeitraum von 1894 ab zu rechnen; sie
betrügt nach amtlicher Angabe 636000 Deßjatinen gegenüber dem Stande
gleich nach der Agrarreform.
"Wenn die Angaben des Warschauer Statistischen Komitees zutreffend
sind, dann ist die Zahl der Güter von etwa 9580^) im Jahre 1904 auf
7417'') im Jahre 1906 zurückgegangen. Die Verteilung des Landes nach
seiner Verwendung ebenso wie die ßodenpreise gibt folgende Zusammen-
stellung:
Gutsland
Boden wert in R
ib.u.Kp.
Kauf-
Gouveraement
Überhaupt
Davon ^
Morgen
f. d. Be-
steue-
nach
Er-
1906
Morgen
rung
trägen wen
=r.
Acker
"Wiese
Wald
Sonst.
1900
1900 1 1904
Ssuwalki . .
308031
167367
35576
69683
35405
62,57
3,67
148,-
Lomsha .
283097
125650
30250
84641
42556
63,89
5,66
101,—
Plock .
697796
459997
52993
102 952
81852
80,14
6,86
140,-
Sjedlec .
659276
294167
71989
237 180
55938
71,22
5,76
153,-
Lubliu .
1011423
478425
68630
421298
43070
91,40
10,87 289,-
Wai"schau
1099982
724025
69603
230603
75751
97,96
8,91
209,-
Kaiisch .
685388
399218
.^1042
183387
51741
100,-
5,69
190,-
Petrikau
621417
311263
52 284
206847
51 023
83,50
8,53
160,—
Kjelce .
490193
235 797
2750:J
187222
39671
91,14
7,46
289,—
Radom .
523568
211306
25 407
237252
49603
105,—
8,14
219,—
Die Verschuldung der Güter in der Landbank von 1892/93 bis 1900/01
war folgende: Im Jahre 1892/93 belief sich der Schätzungswert auf
318 538 633 Kübel oder 43,65 Rubel pro Morgen, die Gesamtsumme der
Schulden auf 210108563 Rubel oder 65,9 Prozent des Wertes; pro Morgen
entfallen somit 28,79 Rubel Schiüden.
Im Jahre 1900/01 wurde der Schätzungswert der Güter mit 298481079
Rubel angegeben oder pro Morgen 45,2 Rubel, die Gesamtsumme der
Schulden belief sich auf 122174339 Rubel oder 40,9 Prozent des Wertes,
somit entfallen pro Morgen 18,5 Rubel Schulden. Privatschulden sind hier
nicht berücksichtigrt.
1) Arbeiten des Warschauer Statistischen Komitees von 1906, Heft XXV, S. 44.
2) Ebenda von 1907, Heft XXX, S. 21. Bei diesen Angaben liegt die Gefahr nahe,
daß die Zahl der von der Landbank ausgegebnen Hypothekeninstrumente mit der Zahl der
beliehenen Grundstücke identifiziert ist. Bei dem in St. Petersburg zugänglichen Material
konnte ich hierüber Klarheit nicht gewinnen.
A. Die Landwirtschaft
155
2. Die EHräge der Landtvirtschnft
a) Ernten*)
Getreide
1870
1889
1892
1895 1897
1900
1902 1904
in tausend Tschetwert
in tausend Pud
Winterweizen .
2227,4
1660,1
4036.1
28571,5 29367,9
32443,1
33498,3
35033,0
Sommera-eizen .
126,0
27,7
67,4
317,0 219,4
324,2
311,0
258,4
Roggen . . .
5868.0
6296,2
10486,7
84894,8
84091,1
104860,4
116701,8
118792,4
Hafer ....
6266,5
3649,9
7261,7
38399,2
36848,9
45399,8
55972,9
39337,7
Gerste ....
2324,6
1 307,0
3191,0
21 149.3
21222,5
24476,3
29488,2
23532,7
Erbsen . . .
61.1
391,8
966,7
6277,5
6778,0
7860,8
10162,9
5743,1
Buchweizen . .
777,6
580,6
488,8
3383,8
8742,9
3707,8
4108,9
2 185,0
Mais ....
—
—
—
—
—
—
—
20,1
Kartoffeln . .
17619.8
27034,5
87982,2
379494,8
361806,8
515721,1
479243,4
299057,5
_ , fFaser
^^^^ISämereien
—
—
—
—
—
1 379,5
1 367,0
1006,2
—
—
—
—
—
890,6
1317,1
1048,5
Hanf E^«^ .•
ISamereien
—
—
—
—
—
275,6
309,2
219,9
—
—
—
—
—
288,7
839,7
815,2
Heu ....
—
—
—
__
—
113670,2
131081,6
88705,6
b) Brennereigewerbe^)
1893/4
1895/6
1897/8
1899/1900
1900/1
1901/2
1902/3
Zahl der Brennereien . . .
davon landwirtschaftliche . .
,. gemischte ....
„ industrielle ....
Gebrannt tausend Tschetwert:
Kartoffeln
Roggen
Mais
365
289
69
5
19426
169
33
355
308
40
4
18 192
170
6
383
293
38
3
14266
152
147
323
299
19
8
12660
839
254
337
287
45
3
17534
138
28
354
305
42
5
19310
98
46
363
333
22
5
16554
208
81
*) Die Daten sind den Mitteilungen des Finanzministeriums entnommen ; sie differieren
mit denen des Statistischen Zentralkomitees, das beim Ministerium des Innern ressortiert,
häufig um 25 Prozent. So ist die Kartoffelernte von 1902 bei ims mit 479000000, beim
Minister des Innern mit 385 000 000 Pud angegeben.
^) Die Daten entstammen den Berichten der Acciseverwaltung für die angeführten
Jahre. Im Brennereigewerbe des Zartums habe ich nur eine Aktiengesellschaft, die ., War-
schauer Gesellschaft zu Reinigung und Vertrieb von Spiritus", gegiiindet 1887 mit einem
Kapital von 600000 Rubel. Ihre I^eiter sind Fürst Mieczislaw Woronecki imd Graf Felix
Czacki, denen wir noch öfter begegnen werden.
15G
Achtes Kapitel. Wirtschaft
c) Zuckerludostrie *)
11893/4
i
1895/6
1897/8
1899/1900
1900/1
1901/2
1902,3
Zahl der Fabriken ....
davon Aktiengesellschaften -)
in diesen Kapital tausend Ruh.
durchschn. Arbeiterzahl . .
jeder Arbeiter jn-oduziert Pud
Zucker
Rübenernte, tausend Pud . .
durchschn. Pud auf 1 Deßj. .
Produktion in tausend Pud ^) .
40
16
13860
406
46130
1230
5262
44
17
14610
405
43370
1180
5890
44
17
14610
410
47 270
1160
5483
46
20
16110
384
307
47230
1050
5539
51
20
16110
370
363
53180
1020
6970
51
21
17310
376
529
83800
1420
10157
49
21
17310
380
426
64280
1050
7921
B. Ind-ustrie und Handel
1. Historisches
Ein wesentlicher Faktor für die günstige Entwicklung der Landwirt-
schaft in Polen war das Entstehn und die Ausbreitung der Industrie, mit
der ein rapides Anwachsen einzelner Städte im Zusammenhange steht.
Die Anfänge der Fabrikindustric liegen in der Zeit vor dem Wiener
Kongreß. Die Regierung des Herzogtums Warschau zog fremde, vor allen
Dingen sächsische und preußische Handwerker, Fabrikanten und auch
*) Die Daten entstammen den Berichten der Acciseverwaltung für die genannten
Jahre.
'■) Die erste Aktiengesellschaft wurde durch Baron Leopold Krouenberg, den geistigen
Mittelpunkt der polnischen Finanzen, im Jahre 1872 in Wai-schau mit 1800000 Rubel
Kapital ins Leben gerufen. Es war ein reines (Jeldunteniehmen, kein landwirtschaftliches.
Dem Beispiel folgten die Grafen Lubenski und Krasiuski im Jahre 1873, die mit einigen
andern Besitzern sowie mit Hilfe der Landbank 750000 Rubel Kapital zusammenbrachten
und in Leonow eine Fabiik einrichteten. Die nächsten Gründungen wurden dann vom
Adel gemeinsam mit dem jüdischen Kai)ital unter Leitung des Bankiers Ei)stein, des Giufen
Lubenski, der Ssürmondt, Bljoch, Nathanson, Wjelepolski ausgefi'üirt. Erst 1882 entsteht
wieder eine rein polnische Unternehmung in Czenstochau mit AVI. Drecki an der Spitze.
Dann sind es \vdeder jüdische Untenielunungen, denen ab imd au Deutsche aus der Eisen-
industrie beitreten, wie Lilpop, der Bankier Herbst. 1893 gi-ündet Wl. Nowca in Brest-
Kujawski mit Hilfe der Landhank und polnischer Besitzer eine kleine Gesellschaft mit
500000 Rubel. Ihm folgen wieder Nathanson, Rotwand und Genossen. Von 1900 ab
wird die Organisation des polnischen Kapitals in der Zuekerindustrie festei'. Die Gesell-
schaften Ostrowite mit 450000 Rubel, von Borowecki mit 600000 Rubel, Chehnicki mit
450000 und Lubna & Szrenjawa mit 1200000 Rubel sind durchaus polnische Griindimgen.
Im Kapitel von den polnischen Finanzen kommen wir noch auf die Leiter der Gesell-
schaften zurück.
^) Über die Zuckerjiroduktion sei bemerkt: die polnische Zuckerräbe steht mit
16,62 Prozent durchschnittlichen technischen Qualitäten höher als aUe andern inissischen
Rüben. Li Kaiisch hat die Rübe sogar 17,39 Prozent. Reine Rübe 86,29 Prozent.
B. Industrie und Handel 157
Landwirte ins Land, um eine einheimische Industrie zu schaffen. Die
Ausländer erhielten große Privilegien/) wie Befreiung vom Militärdienst
und von Zinszahlung an die Majoratsherren für die Dauer von sechs Jahren,
sowie schließhch vom Einfuhrzoll auf die aus der alten Heimat mitge-
brachten Güter, einschließlich Haustiere. Schließlich wui'de der Handel
mit Eisenwaren mit Österreich^) und der mit Leinen- und Wollwaren ^)
mit Preußen'*) freigegeben. Die vorgenannten Maßregeln begannen in-
dessen erst nach 1815 ihre Erfolge zu zeitigen, um so mehr, als der Zu-
strom von Ausländern auch später von der russischen Kegierung unter-
stützt wurde, °)
Auch die Tarifpolitik Kußlands begünstigte eine Entwicklung der' pol-
nischen Lidustiie/) und Ende 1829 hatte die polnische Wollproduktion
bereits den Wert von 5752000 Rubel erreicht.')
Alle guten Aussichten AAiirden in Frage gestellt durch die Erhebung
der Polen im Jahre 1830/31. Zunächst erhöhte der Tarif vom 12. (24.) Xo-
vember 1831 alle Zölle auf nach Rußland aus Polen eingeführte Waren ganz
bedeutend, während 1834 auch der zollfreie Ti-ansit polnischer Waren über
Kjachta nach Asien verboten wurde. Viele kleinere Unternehmungen
mußten ihre Betriebe schließen. Schon im Jahre 1832 sank die Woll-
warenerzeugung auf 1917000 Rubel und konnte sich bis 1850 niu* auf
2564000 Rubel erheben. Der allgemeine Niedergang fand seinen Abschluß
1) Dekrete vom 8. (20.) März 1809 \md 17. (29.) Januar 1812.
*) Sammlung der administrativen Vorschriften für das Zartum Polen , Bd. I, Teil 2,
Historische Einfilhning S. 60 ff.
3) Dekret vom 4. (16.) Januar 1810.
*) Dekret vom 17. (29.) Mai 1811.
^) Zur Anwerbimg von Ausländern setzte der Statthalter von Polen im Jahi-e 1816
4500 Silberrubel aus; durch Dekret vom 6. (18.) September 1820 wurde den Fabiikanten
die kostenlose Lieferung von Holz aus den Staatsforsten für zehn Jahre zugesichert, so-
fern sie Fabriken anlegten. Die Maßregel wi.irde 1833 auf weitere zehn Jahre verlängert,
mit alleiniger Ausnahme für die Tuchfabrikanten. SchließUch erhielten die Fabrikanten
auch Bai-vorechüsse, die Ende der 1820er Jahre 127500 Eubel Silber jährlich erreichten.
^) Die Handelsbeziehungen zwischen Rußhmd und Polen beruhten auf den Gesetzen
vom 1. (13.) Aug-ust 1822 imd vom 30. Juni (11. Juli) 1824. Die Gesetze enthielten fol-
gende Vorschriften: 1. Alle in den beiden Gebieten gewonnenen Rohprodukte durften
völlig zollfrei ein- und ausgeführt werden; 2. alle in Rußland und Polen aus eignem Roh-
material hei'gestellteu Fabrikate unterlagen einer Verzollung von 1 Prozent vom Preise;
3. aus im Auslande bezognem Material hergestellte Fabrikate unterlagen einem Einfuhrzoll
von 3 Prozent des Preises. Eine Ausnahme hiervon bildeten Kopfzucker und "Weberei-
erzeugnisse, die von Polen nach Rußland überhaupt nicht eingeführt werden dui-ften, von
Rußland nach Polen aber niu* unter einem Zoll von 25 und 15 Prozent des Preises. Alle
"Waren mußten von einem "ürsprungsattest begleitet sein. (Lodyshenski , „Geschichte des
russischen Zolltarifs'', St. Petersburg, 1886, S. 216 ff.)
^ Vgl. Nagiel in der polnischen Zeitschrift „Ekonomist" Nr. 18 von 1888.
158 Achtes Kapitel. Wiitschaft
durch den Tarif von 1850, der die Zollgrenze zwischen Polen und Ruß-
land überhaupt beseitigte. "Wenn sich aber die Segnungen des Tarifs nicht
sofort bemerkbar machten, so waren daran in erster Linie die politischen
Verhältnisse in Polen und Eußland schuld. Sie drängten immer mehr zu
der Auseinandersetzung, die in den Jahren 1861 und 1863 durch den
letzten Polenaufstand herbeigeführt wurde.
Den größten Aufschwung haben dann von 1867 bis 1879 die Manu-
fakturen genommen. JanshuF) gibt die Zablen im Verhältnis zum Reich
wie folgt an: Die Zunahme betrug für Baumwollspinnerei im Reich
239 Prozent, im Zartum 585 Prozent, Baumwollweberei 183 zu 431 Prozent,
Wollspinnerei 227 zu 678 Prozent, Tuchweberei 141 zu 250 Prozent, Ap-
pretur, Färberei usw. 190 zu 3733 Prozent. Der Gelehrte fügt hinzu, die
Entwicklung aller dieser Industrien sei ausschließlich diu-ch die künstlichen
Maßnahmen der Regierung möglich geworden. Doch hat er darin nur bis
zu einem gewissen Grade und bezüglich der Stadt Lodz Recht.-) Denn
die Moskauer Industrie steht ebenso unter den hohen Schutzzöllen wie
Polen, verfügt aber nicht über das gute technische und kaufmännische
Personal, das im Zartum vorhanden ist.
Eine neue Wendung trat ins Leben der Industrie im Zartum, als sich
die russische Regierung entsprechend den allerhöchsten Veriügimgen aus
den 1860 er Jahren im Jahre 1870 entschloß, den Vorstelhmgen des Staats-
sekretärs Graf Walujew die Versteigerung eines Teils des westhchen Berg-
baubezii'ks zu verfügen. Der Bezirk bestand aus dem Eisenwerk Huta-
Bankowa und den dabeiliegenden Steinkohlengruben. Das Eisenwerk hatte
schon im Jahre 1872 seine Tätigkeit einstellen müssen, und die Kohlen-
gruben arbeiteten so teuer, daß sie dem Fiskus nur Verluste brachten.
Zur Ausbeute der vom Fiskus für 1398536 Rubel erworbnen Borg-
baurechte Avurde dem Erwerber der Konzession, einem Kapitän Plemjannikow,
gestattet, den Betrieb der Steinkohlengi-ube für die Dauer von neunzig Jahren
einem französisch -italienischen Bankkonsortium in Paris zu übertragen
und ihm die Genehmigung zu geben, später zu diesem Zweck eine be-
sondre Aktiengesellschaft zu gi'ünden. Der Betiieb der Werke von Huta-
Bankowa wurde einer Gesellschaft für die Dauer von sechsunddreißig Jahren
überti-agen.
*) 1. 1. Janshiü, „Die historische Entwicklung der Industrie im Zari;um Polen", Vor-
trag, gehalten in der Moskauer Univereität am 12. (24.) Januar 1887. Dmck bei A. I. Ma-
montow & Co., Moskau, 1887, S. 5.
*) Ebenda S. 43 ff. Die Lage von Lodz begünstigte die Anlage zahlreicher und
großer "Werke in keiner Weise; es fehlte sowohl an genügendem fließenden Wasser wie
an Baumaterial.
B. Industrie und Handel 159
Die von der Regierang erzielten Preise entsprachen nicht den
großen Reichtümern der abgetretnen Konzessionen. Später wurde der ge-
samte staatliche Besitz auf ähnliche Weise verschleudert. Im Jahre 1878
wurden die Eisenhammer Cyganka für 3001 Rubel, Kostrzyn für 6510,
Bloto für 1245, Pstronznica für 2403, Kamenka für 6126 Rubel und im
Jahre 1880 die stillgelegte Stahlfabrik in Serock, Gouvernement Lublin,
Kreis Lubartow, für 7100 Rubel fortgegeben. Auch die reichen Zinklager
vermochte die Regierang nicht selbst auszubeuten und hat sie im Laufe
der 1880er Jahre für billiges Geld an Privatunternehmer abgetreten.^)
Nachdem die Regierung in der angedeuteten "Weise die Reichtümer
des Landes verschleudert hatte, stellten sich auch bald die Folgen für die
rassische, insonderheit die Moskauer Industrie ein. Während die Guß-
eisenerzeugnisse im Reich von 1879 bis 1883 um 111 Prozent wuchsen,
betrug die Vermehrung im Zartum Polen 1096 Prozent, Die Maschinen-
Industrie vergrößerte sich im genannten Zeitraum im Reiche um 82 Pro-
zent, im Zartum um 100 Prozent, die Metallindustrie im Reich um 92 Pro-
zent, im Zartum aber um 163 Prozent.
2. IHe Industrie
Gegen Ende der fünfziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts konnte
von einer selbständigen Industrie im Zartum Polen kaum gesprochen
werden. Der ganze Wert ihrer Produktion beschränkte sich auf 31 Millionen
Rubel.
Nach dem Aufstande, im Jahre 1865, waren in der polnischen In-
dustrie 90642 Ai-beiter beschäftigt, die für 69571000 Rubel Werte her-
stellten.*) Auf diesem Stande ist die polnische Industiie nicht lange ge-
blieben. Im Jahre 1872 erreichte der Wert der Produktion der polnischen
Fabriken schon die Summe von 73 Millionen Rubel. Im Jahre 1857 entfielen
auf jeden Einwohner Polens etwa 9 Rubel Fabrikate jährlich, im Jahre 1873
schon 13 Rubel 20 Kopeken (Janshul). Im Jahre 1876 betrug die Pro-
duktion sämtlicher Fabriken des Gebiets schon 97^/3 Millionen Rubel bei
einer Arbeiterzahl von etwa 85000, im Jahre 1879 mehr als 118 Millionen;
im Jahre 1882 139 Millionen Rubel. Ln Jahre 1890, nach dem Rechen-
schaftsbericht des Departements für Handel und Industrie, erreichte die
*) Geschichtliche Übersicht über die Tätigkeit des Domänemninisteriiuus 1837/87.
6 Bde., St. Petersburg, bei Jablonski und PeiTott, 1888, Bd. V, S. 151 ff.
*) Davon entfielen auf
1. Weberindustrie . . 26642 Arbeiter 12345800 Rubel Produktion
2. Nahi-ung-smittel . . 24832 ,. 35024950 ,.
3. Gerberei usw. . . . 6008 .. 3534600 ..
4. Metalle und Bei'gbau 6522 ., 6320100
160
Achtes Kapitel. Wirtschaft
Produktion der Fabriken 184 Millionen Rubel bei 109000 Arbeitern, im
Jahre 1903/04 en-eichte sie den Eiesenumfang von 420^/2 Millionen Kübel
bei 252000 Arbeitern.^) Somit entfielen zu jener Zeit auf jeden Einwohner
durchschnittlich für 37,17 Eubel Fabrikate, das heißt viermal so viel wie
im Jahre 1857.
Ein interessantes Bild über die Entwicklung der Industrie im Zartum
Polen von 1861 bis 1903 gibt uns auch Pogoshew.-) Danach w^urden in
den Gouvernements gegründet
bis 1861
1861/70
1871/80
1881/90
1891/1900
1901/03
in SsuwalVi ....
13
6
7
9
23
,, Lomsha
28
9
16
30
56
1
„ Plock . .
7
4
6
8
17
—
,, Sjedlec
24
8
14
21
51
1
„ Warschau
99
57
100
137
234
2
„ Lubliii
17
7
15
20
39
—
„ Kaiisch .
29
15
24
45
88
5
„ Petrikau .
51
46
116
173
431
3
„ Kjelce . .
20
10
13
12
43
—
„ Radom
26
4
4
20
65
1
*) Die Zahlen für den ganzen Zeitraum zeigt folgende der amtlichen Statistik ent-
nommne Tabelle (Arbeiten des Warschauer Statistischen Komitees von 1907, Heft XXCK,
S. 65/6):
Jahr
Fabriken
Arbeiter
Wert der Produktion
in tausend Rubel
1877
8349
90767
103404,5
1878
8619
102133
128537,2
1880
9606
118831
171413,5
1881
9465
119972
170501,0
1882
9506
124951
183672,3
1883
9659
132124
190794,0
1884
9423
128699
180867,3
1885
9700
140288
186805,4
1887
9006
135946
197837,1
1888
9518
144786
208483,7
1889
10263
159356
223411,6
1890
11074
149846
215929,8
1891
11753
161917
218579,1
1892
12808
170487
221715,0
1893
12659
182864
254583,3
1894
11994
195576
267272,8
1895
12987
205827
278600,2
1903/4
13209
252126
420424,8
1905
10479
276747
413858,3
') Die Arbeiterzahl iu Rußland, im Auftrage der Akademie der Wissenschaften,
St. Petersburg, 1906, S. 75,6.
B. Industi-ie und Handel Ißl
Die Lidiistrie liegt in zwei verhältnismäßig kleinen Zentren eng zu-
sammengedrängt: in der Südwestecke des Landes und in der Mtte.
In Warschau haben sich während der letzten dreißig Jahre folgende
wichtigern Fabrikindustrien entwickelt: 1. Gerbereien, deren Produktion
im Jahre 1873 etwa 3 j\Iillionen Eubel erreichte; sie hat sich bis zum
Jahre 1903 verdoppelt; 2. Fabriken für Dampfmaschinen und landwii-t-
schaftliche Geräte, deren Produktion sich bis zum Jahre 1903 gleichfalls
verdoppelte; 3. Bierbrauereien, deren Produktion sich verdreifacht hat. Im
Warschauer Bezirk heiTscht das polnische Kapital vor, gestützt dui'ch
polnisch-jüdische Banken.
In Lodz hat sich ganz besonders die Baumwollenindustrie und die
"Wollweberei entvNäckelt. Mit Bamiiwollspinnerei waren in den Fabriken
im Jahre 1874 7500 Arbeiter bei einem Produktionswert von 8 Millionen
Rubel beschäftigt; im Jahi'e 1879 arbeiteten in den Baumwollspinnereien
in Lodz 9500 Ai'beiter bei einem Produktionswert von 22 Mühonen Rubel.
Noch bedeutender ist das Wachstum der Wollwebereien: im Jahre 1874
belief sich ihre Produktion auf ungefähr 3 Millionen Rubel, im Jahre 1879
auf beinahe 12 Millionen Rubel.
Ln Jahre 1901 nahmen unter der Produktion von Lodz, wie schon
früher, die erste Stelle ein: die Baumwollspinnerei, die sich in den be-
deutendsten Unternehmungen konzentrierte und einen Produktionswert von
33 Millionen Rubel erreichte, die Wollweberei mit einer Produktion von
24 MiUionen Rubel mid die Halb Wollspinnerei und -weberei mit einer
Produktion von 2^/.2 Millionen Rubel.
Der Bergbau hat in den Jahren 1895 bis 1903 folgende Mengen zu-
tage gefördert, die wir nach dem Jahrbuch des Finanzministeriums für die
entsprechenden Jahre in tausend Pud angeben:
1895 1900 1902 1903
Salz 240,1 233,1 135,6 100,0
Steinkohle 221800,0 246 393,7 253875,0 286870,6
Zink . 307,0 864,0 504,5 604,0
Erz 21803,7 29421,4 14902,5 10274.8
Eisen 11586,0 18219,2 17234,5 18796,3
Braunkohle — 5431,4 5395,4 5545,0
Schwefel — 96,8 102,1 14,6
Kupfer — — _ 20,0
Überhaupt aber sind die verbreitetsten Spezialitäten der Fabrikindusti'ie
im Weichselgebiet in der Reihenfolge ihrer Produktion : die Wollindustrie,
die BaumwoUenindustrie , die mechanischen Fabriken, die Rübenzucker-
industi'ie, Brennereien, Lein und Hanf, chemische Produkte, Gerbereien,
Bier- und Metbrauereien, Bearbeitung von Holz, Ziegelbrennereien, Schi'eib-
papier, Porzellan-, Fayence-, Töpferproduktion imd endlich Butterproduktion.
Cleiuow, Die Zukunft Polens jj
162 Achtes Kapitel. Wirtschaft
3. Der Handel
Nachdem wir die gewaltige Entwicklung der landwirtschaftlichen und
industriellen Produktion kennen gelernt haben, sollte es sich eigentlich in
einer politischen Arbeit erübrigen, von der Ausdehnung des Handels in
einem Gebiet zu sprechen, das kein streng abgeschlossenes "Wirtschafts-
gebiet darzustellen scheint. Denn sowohl die Landwirtschaft wie die In-
dustrie können sich nicht über den Bedarf des engern heimischen Marktes
hinaus entwickeln, wenn sie nicht in der Lage sind, ihre Erzeugnisse
außerhalb dieses Marktes abzusetzen. In unsenn Falle können wir indessen
aus verschiednen Gründen darauf nicht verzichten.
Zunächst bildet das Zartiun Polen tatsächlich ein ziemlich streng ab-
geschlossenes Wirtschaftsgebiet, obwohl darüber keine besondern Verträge
bestehn. Auf der einen Seite ist das Weichselgebiet durch den russischen
Zolltarif wie ganz Rußland gegen den Westen und Süden streng ab-
geschlossen. Auf der andern Seite wird der Warenaustausch mit dem
innerrussischen Markt durch Spezialtarife auf den Eisenbahnen geregelt.
Dann haben verschiedne Bestimmimgen der einzebien Zolltarife sowie die
früher (S. 156 ff.) gekennzeichneten Verhältnisse dazu geführt, daß sich
das ausländische Kapital an der Westgrenze des Weichselgebiets eingenistet
hat. Sclüießlich nimmt das Zartum Polen noch eine Sonderheit für sieh
in Anspruch. Es wurde erst im Oktober 1885 (Kirch die Auflösung der
„Polnischen Bank'' an die russische Reichsfinanzorganisation als deren einer
Teil angeschlossen. Bis zum Jahre 1885 hatte somit das Zartum, wenn
wir von der Gleichheit der Münze absehen, ein vom übrigen Reiche wii-t-
schaftlich etwa ebenso abgeti'enntes Rechnungswesen wie Finnland zur
Zeit der Verwaltung dui'ch den Generalgouvemour Bobrikow. Durch Ein-
führimg der Reichsbankfilialen Warschau mit ihren Unterabteilungen ist
diese Sonderstellimg nur äußerlich gewichen. In den Abrechnungen des
Finanzministeriums ebenso wie in den Berichten des ReichskontroUeurs
nimmt das Zartum auch noch in der Gegenwart einen besonders ab-
gegrenzten Platz ein. Der wesentlichste Grund für diese Eigentümlichkeit
ist in dem Vorhandensein des Hypothekengesetzes von 1818 zu suchen,
das gleichzeitig eine von den russischen Agrarbanken abweichende Organi-
sation der Landbank notwendig macht.*) Infolge des Vorhandenseins der
Landhanh kann man von hesondern polnischen Finanzen sprechen. Das
ist ein wichtiger Grund mehr, weshalb wir Polen als ein abgeschlossenes
Wirtschaftsgebiet mit Binnen- und Außenhandel behandeln müssen. Wir
*) Von der Landbank wie von den polnischen Finanzen überhaupt werden wir in
einem spätem Kapitel eingehender zu sprechen haben.
B. Industrie und Handel
163
werden darin noch bestärkt durch einen politischen Grund, nämlich durch die
Behauptung eines Teüs der russischen Presse, aber auch eines Teils der
russischen wissenschaftlich arbeitenden Volkswirte, als würde die polnische
Grenzmark auf Kosten der zentralen Gouvernements unterlialten.
Über den Binnenhandel im Zartum Polen ist mit wenigen Worten
berichtet. Er erstreckt sich hauptsächlich auf die Versorgung der städtischen
Bevölkerung mit Lebensmitteln, Kleidung imd Luxusgegenständen. Ab-
gesehen vom Fleisch produziert das Zartum seine Lebensmittel selbst,
ebenso wie die meisten Kleidungsstücke und zahlreiche Luxusartikel.
Bessere Kleidungsstücke und Luxusgegenstände werden aus dem Auslande,
England, Deutschland, Österreich eingeführt. Ein bedeutender Teil des
Büinenhandels beschäftigt sich mit dem Vertrieb von technischen Ai-tikebi
für die Fabrikunternehmungen. Sie werden zum größten Teil im Zartum
selbst hergestellt. Nur geringe Mengen kommen aus dem Auslande. Das
gleiche gut von Maschinen. Fast alle normalen Größen von Dampfmaschinen
wie auch die gangbarsten Spezialmaschinen werden im Zartum hergestellt.
Nur besonders große Anlagen kommen aus dem Auslande.
Entsprechend der Zunahme der Bevölkenmg hat sich ihre Teilnahme am
Handel verdoppelt. So wurden im Jahre 1873 im Gouvernement Warschau
15195 Handelsscheine, im Gouvernement Petrikau 13199 Handelsscheine
ausgestellt; im Jahre 1903 waren die entsprechenden Zahlen 30055 und
27 438. Der Umfang des Detailhandels in den Städten läßt sich aus der
Zahl der Lager und Kaufläden, nämlich ohne Warschau 28390, mit War-
schau aber 37 521 erkennen. Die Gesamtzahl der in den Städten Handel
treibenden juristischen Personen beti'ug ohne die Stadt Warschau 34 797,
zusammen mit Warschau 47029.
Die baren Ausgaben der KeichsbankfiLialen per Kassakonto betrugen
(in tausend Rubel):
in
1896
1900
1902
1903
1905
Warschau . .
118621,7
224144,8
222283,2
242826,6
242228,9
Kaiisch
8815,6
11499,7
12172,3
11235,0
12622,7
Lodz .
61914,4
104115,5
98152,7
111739,2
92708,1
Lomsha
5602,1
7213,3
9 279,1
10279,2
10742,6
Lublin.
12678,1
17329,9
17893,2
19076,4
21769,6
Petrikau
8103,6
8276,6
9631,9
12183,7
11129,8
Plock .
7 203,9
10778,9
9915,7
11040,2
10920,8
Eadom
13709,3
15695,8
13736,3
16710,3
17248,1
Czenstochau
9415,5
16675,1
17280,7
21285,3
20387,0
Toniaszow
Zusa
6116,2
4525,1
5242,8
5560,8
5462,2
mr
neii
252180,4
420254,7
415587,9
461936,7
445219,8
11=
164
Achtes Kapitel. "Wirtschaft
Die Reichsbaiikfilialen diskontierten lokale Wechsel (in tadsend
Rubel) für:
in
1896
1900
1902
1903
1905
Warschau . .
19813,2
26052,9
19344.4
22506,2
19615,8
Kaiisch .
895,1
1139.9
1027,2
588,6
598,4
Lodz . .
16309,9
13927,5
7 642.5
6998,5
4635,7
Lomsha .
1 254,9
1001,4
984,6
1156,1
993,0
Lublin . .
2085,2
2318,7
2689,7
2492,4
2579,4
Petrikau .
774,5
273,8
417.6
400,9
349,7
Plock . .
1281,5
2047,9
2025,9
1 685,6
1434,4
Radom . .
1469,2
611,4
685,6
934,3
733,1
Czenstochau
2005,5
663,2
2711,4
3250,0
2455,6
Tomaszow
1425.0
413,6
346,8
367,4
417,0
Zusami
me
a
47314,0
48450,3
37875,7
40380,0
33812,1
Der polnische Binnenhandel hat trotz seiner scheinbaren Lebhaftigkeit
einen durchaus ungesunden Charakter: er hat keine innern Märkte, das
Avill sagen: es gibt im Zartum keine Zentren, zu denen der kleine land-
wirtschaftliche Produzent seine Erzeugnisse führen könnte. Wohl werden
Jahr- und Wochenmärkte in den Flecken und Städten abgehalten, aber
sie verlieren von Jahr zu Jahr an Bedeutung. Für diese Erscheinung
sind drei Hauptgründe verantwortlich zu machen. Die schlechten Wege,
die Armut der Bauern und das Vorhandensein der großen Zahl von
Menschen, die sich ausschließlich durch den Detailhandel ernähren, und
die, abgesehen von den reichen Dorfgenossen, als die einzigen Kreditgeber
der Bauern in Frage kommen. Es sind die Juden. Die kleinen jüdischen
Händler fahren in den Dörfern umher und kaufen das Getreide oder Vieh
auf oder lassen sich durch Naturalien Schulden zurückzahlen. Die große
Mehrzahl der Bauern hat kein Pferd, imi das Getreide zum Markt zu fahren,
wo sie vielleicht einen hohem Preis erzielen könnten. Die aber, die auf
dem Markt erscheinen, bringen häufig nur die längst verkaufte Ware und
tauschen dafür Gegenstände des Bedarfs ein, die sie natürlich überzalüen
müssen. Wer noch unverkauftes Getreide bei sich hat, steht dann meist
einem gesättigten Markt und einem festgeschlossenen Händlerring gegen-
über. Er müßte das Getreide wieder nach Hause fahren und später in
eine größere Stadt, die mehrere Meilen entfernt liegt, und wo seiner zu-
meist dieselben Bedingungen harren wie im benachbarten Flecken. So
wird jede Konkurrenz bei der Preisbestimmung ausgeschaltet, und es ist
der normale Zustand, daß der bäuerliche Produzent etwa nur ein Drittel
des Preises erhält, der im Engroshandel erzielt wird.
Der größte Teil des Binnenhandels Hegt, wie schon angedeutet, in
B. Industrie und Handel 165
den Händen der Juden. Sie haben den gesamten Produktenmarkt, die
Kleidungsbranche, die Schlächterei, Meierei, Müllerei in der Hand, die alle
durch eine Reihe von sechs und mehr Zwischenhändlern belastet sind.
Hierneben macht sich aber noch eine Erscheinimg bemerkbar, die den
bäuerlichen Produzenten wohl belastet, aber dem städtischen Yerbraucher
zugute kommt. Li allen Städten imd Flecken Polens, einschließlich War-
schau, vermitteln die Juden der Hausfrau alles, dessen sie in der Küche
bedarf. Wer als Antisemit mit einer Bäuerin wegen Milch, Eier, Gemüse
oder Geflügel direkt in Verbindimg treten wollte, würde einige Tage
doppelte Preise zahlen, meist mit der Ware nicht zufrieden sein und schon
nach kurzer Zeit überhaupt nichts bekommen, weil die Juden die sie um-
gehenden Bauern boykottieren imd sie zwingen würden, sich mit dem Yer-
braucher ausschließlich durch ihre Yennittlung in Yerbindung zu setzen.
Das private Fuhrwesen ebenso wie die Flußschiffahrt sind fast ausschließlich
in jüdischen Händen. Dasselbe gilt vom Bankwesen, wenngleich unter-
strichen werden muß, daß sich darin polnischer Einfluß in Warschau und
deutscher in Petrikau, Lodz, Kaiisch immer stärker bemerkbar machen.
Der Handel mit technischen Artikeln lag bis Mitte der 1890er Jahre fast
ausschließlich in Händen von Deutschen und Engländern. Die Mehrzahl
dieser Deutschen ist mit der zunehmenden Polonisienmg der Industrie ins
polnische Lager übergetreten oder ist jungen polnischen Ligenieuren und
Technikern gewichen, die in russischen und deutschen Hochschulen aus-
gebildet, vor den Deutschen den großen Yorsprung der Kenntnis der rus-
sischen Sprache haben. Gegenwärtig ist der deutsche Kaufmann im pol-
nischen Binnengeschäft eine stetig seltner werdende Erscheinung.
Ganz so einfach läßt sich der Außenhandel oder der Handel mit den
innerrussischen Gouvernements nicht darstellen. Hier gilt es zunächst zu
unterscheiden, welche der nach Rußland ausgeführten Waren aus im Zartum
vorhandnem oder aus Westeuropa eingefühiiem Rohmaterial und welche
aus russischem Rohmaterial hergestellt wurden. Daraus ergeben sich die
natürlichen Gnmdlagen der russisch-polnischen Handelsbeziehungen.
Li dem Buch „Das Zartum Polen auf dem russischen Markt'' i) finden
wir für das Jahr 1897 eine Reihe von Angaben, die sich mit dem decken,
was über die Entwicklung der einzehien Branchen schon auf S. 158 u. 159
gesagt wurde. Danach wurden von Rußland nach Polen 104^/„ Millionen
Pud verschiedner Waren eingeführt, während aus Polen nach Rußland
nur etwa 52 Millionen Pud ausgeführt wurden. In dieser Zahl befanden
sich 159750 Haupt Steppenvieh 2) für Polen, während aus Polen niu' gegen
von Drushinin und Toczicki, Moskau, 1900. — '^) Vgl. Agrarfrage S. 187.
166 Achtes Kapitel. "Wirtschaft
5000 Stück Vieh ausgeführt werden konnten. Landwirtschaftliche Erzeug-'
nisse wurden aus Rußland 22 Millionen Pud, Mühlenprodukte 19 Millionen
Pud eingeführt, während nur 2,2 und 1,4 Millionen aus Polen nach Ruß-
land ausgeführt wurden. An Schafwolle wurden 1,1 Millionen Pud mehr
aus Rußland in Polen eingeführt, als aus Polen nach Rußland ausgeführt,
während die Differenz zugunsten Rußlands für Felle 402000 Pud betrug.
Ebenso liegt der Handel niit Bergbauprodukten. An verschiednen Erzen
hat Polen aus Rußland mehr eingeführt als umgekehrt 4,6 Millionen Pud,
Petroleum und Maschinenöle 4,6 IVIillionen Pud, Apothekerwaren und
Chemikalien 450000 Pud. Ferner überstieg die Einfuhr von Baumwolle
über Rußland die Ausfuhr um 1,4 Millionen Pud, von Fischen 1,6 Mil-
lionen, von Salz 5,6 Millionen und von Holz 4,4 Millionen Pud.
Hierzu ist indessen eine Anmerkung am Platze. Abgesehen von den
landwirtschaftlichen Produkten aus Südrußland, von Petroleum und von Holz,
dürften die als russische Ausfuhrproduktc bezeichneten "Waren zum aller-
größten Teil solche ausländische "Waren sein, die über nissische Häfen und
Grenzzollämter, die nicht die polnische Grenze berühren, in Rußland als
Transitgut nach Polen eingeführt worden sind. Bei den Erzen handelt es
sich nicht um russische, sondern um schwedische, österreichische und
deutsche, während Polen von seinen Erzen wohl nur in die kleinen
Gießereien Weißrußlands abgibt.
Aus den angegebnen Zahlen geht hen'or, daß Polen eine große Menge
von Rohstoffen einführt; wir werden gleich sehen, daß der größte Teil
dieser Rohstoffe als Halb- oder Fertigfabrikate Polen wieder auf dem "Wege
nach Rußland verläßt. So übersteigt die Ausfuhr von Metallen die Ein-
fuhr um 4,3 Millionen Pud, von Metallwaren 7 Millionen, Gewebe 3,7 Mil-
Uonen, Zucker 800000 Pud.
Yon allen diesen Zahlen ist zweifellos die interessanteste und be-
zeichnendste die für die Ausfuhr von Geweben aller Art mit 3700000,
wenn wir ihr die Zahl der aus Rußland eingeführten Schafwolle mit
1100000 gegenüberstellen und berücksichtigen, daß sehr viel Kunstwoll-
fabrikate in Polen hergestellt werden. Die Schafwolle kommt, wie schon
Janshul im Jahre 1885 feststellen konnte, zum größten Teil aus Südrußland,
Das heißt, der Weg vom Schafstall zur Lodzer Manufaktur ist ebenso lang wie
der vom Schafstall zur Moskauer Manufaktur. Trotzdem mm dergestalt das
Lodzer Fabrikat den Weg vom Schafzüchter bis Moskau um 1400 bis 1500 Kilo-
meter verlängert hat, kann der Lodzer Spinner und Weber dennoch mit
seinen Waren erfolgreich auf dem Markt zu Moskau konkurrieren!
Ähnlich steht es mit der Maschinenindustrie. Gewisse Typen der
polnischen Dampfmaschinen sind in Moskau ebenso beliebt wie die ent-
B. Industrie und Handel 167
sprechenden deutschen oder englischen, aber weit höher geschätzt als die
Moskauer Erzeugnisse.
Wie ist es nun möglich, daß der polnische Handel die großen Ent-
fernungen bei der Preisbestimmung zu überwinden vermag?
Der Gründe gibt es viele. Zunächst spielt das Klima eine große
Rolle. Die Fabrikstätten brauchen im milden Klima des Zartums Polen
nicht derart wetterfest zu sein wie im Moskauer Bezirk. Die Mauern sind
dünner, die Isolierungen der Dampf- und Wasserleitungen schwächer, der
Aufwand an Heizmaterialien ist geringer. Ingenieure, die in Mittelrußland
Fabriken eingerichtet haben, werden es mir bestätigen, daß es sich bei den
angeführten Dingen um ganz bedeutende Differenzen bei den Baukosten
handelt. Ein zweiter wichtiger Grund ist die Organisation der Fabriken
und ihrer Hilfsindustiien. Man nehme sich einen Adreßkalender der
Industriestädte des Zartums vor, so wird man finden, daß in ihnen ebenso
wie in Dortmund, Essen, Bochum, Herne usw. alle technischen Artikel,
die in irgendeiner Fabrik gebraucht werden, in verschiednen Spezial-
geschäften und in allen Quahtäten zu finden sind. Der kleine Fabrikant
ist infolgedessen nicht gezwungen, ein Kapital in Resen^eteilen festzulegen
und einen immer kostspieligen, aber nicht inmier ehrüchen Lager Verwalter
zu halten. Im Moskauer Industriebezirk liegt die Sache anders. In den
großen Industrieplätzen Tula, Twerj, Podoljsk, Kostroma usw. sind die
Fabrikanten genötigt, große Lager von Reserveteilen zu halten, da sie bei
irgendwie eintretenden Schäden ausschließlich auf die Moskauer technischen
Bureaus angewiesen sind. Auch die innere Organisation des Geschäfts ist
im Zartum sachgemäßer als in Rußland, da sie vollständig unter dem
Einfluß deutscher Yorbilder und Lehrer steht.
Im Zusammenhang mit den oben angeführten Yerhältnissen spielt das
Yorhandensein zahlreicher billiger imd dabei guter Arbeitskräfte eine um so
größere RoUe. Der polnische und der deutsche Weber, Metallgießer und
Mechaniker sind dem russischen an Arbeitsleistung sowohl in der Güte
wie in der Menge der Leistung weit überlegen.
Schließlich darf nicht außer acht gelassen werden, wieviel Arbeiter
in den verschiednen Gegenden das runde Jahr hindurch in der Fabrik
arbeiten. Pogoshew berechnet für den Industriebezirk Petrikau, daß 85,32 Pro-
zent aller Arbeiter das nmde Jahr arbeiten, für Warschau 82,92 Prozent, für
Moskau aber nur 80,47 und für Charkow gar nur 48,78 Prozent.^) Der
polnische Industriearbeiter hat keinen Zusammenhang mit dem Lande, den
sich der russische noch in hohem Maße bewahrt hat (vgl. Kapitel 10).
') Die Zahl der Arbeiter in Kußlaud, a. a. 0. S. 101.
168
Achtes Kapitel. "Wirtschaft
Können ^vi^ somit feststellen, daß der auf der Industrie begründete
Handel zwischen Rußland imd Polen trotz allen Differentialtarifen zugunsten
der Polen besteht, so müssen vvir auf der andern Seite darauf hin-
weisen, daß das polnische Getreide- und Viehgeschäft immer mehr zurück-
geht. Die hohen Zölle an der deutschen Grenze wirken hier weniger
hemmend als die niedrigen Tarife für russische Erzeugnisse. Bei einer
paritätischen Behandlung polnischer und russischer Erzeugnisse würde
Polen auch landwirtschaftliche Erzeugnisse nach Xorchiißland ausführen,
das gegenwärtig sibirisches Fleisch, südrussisches Getreide und Gemüse
sowie Obst verwendet. Das Steppenvieh, das besonders in Wlodawa ge-
handelt vnrd, macht eine Fleischerzeugung in Polen so unwirtschaftlich,
daß sich die Großbetriebe damit nicht mehr beschäftigen. Die Schweine-
zucht liegt dagegen fast ausschließlich in den Händen der kleinen Leute.
Ein neuer Schlag für die polnische Land-^virtschaft und damit für den
Getreidehandel war die Einrichtung der Kornhäuser in AVarschau durch
die Kaiserliche Gesellschaft zur Hebung des russischen Handels. Die Ge-
sellschaft hat Silos und Umschlagstationen an der "Weichsel eingerichtet,
auf denen das südrussische Getreide aus den Eisenbahnwagen in die Fi'acht-
kähne geschüttet wird. Ob die Einrichtung in der Lage sein wird, das
polnische Getreide ganz von der Weichsel abzudrängen, darüber gehn in-
dessen die Ansichten noch weit auseinander.
Den Umfang des polnischen Außenhandels ersehen wir aus der Summe
der in den Filialen der Reichshank diskontierten „Wechsel aus andern
Städten''. Sie betrug in tausend Rubeln:
in
1896 ^j
1900
1902
1903
1905
Warschau . .
24763,5
65351.5
78229.1
91326,7
67558,3
Kaiisch
552,3
1 803,0
1812.8
2138,2
1 633,4
Lodz . .
21565,6
60785.5
62952,2
65380.0
50260,0
Lomsha
0,5
719,3
1 006.7
1 036,0
901,9
Lublin . .
250,7
2980,8
2631,3
3271,7
1 998,5
Petrikau .
643,1
1 275,9
1371.6
1474,2
1 070,7
Plock . .
165,0
1 657,8
1551,6
1 376,8
1 354,4
Eadom . .
396,5
2913,0
8786,9
4572,5
4790,4
Tomaszow
3229,6
2889,5
3431,0
3 756,4
3249,1
Czenstochan
2314.2
5 026.5
6104.7
7388,8
6136.4
Zusami
aen
53881,0
145402,8
162877,9
181721,3
138953,1
^) Die Zahlen sind aus den Angaben über die Tätigkeit der Russischen Eeichsbank
im Jahrbuch des Finanzministeriums errechnet und stellen die Summe dar aus den „auf
andre Städte gezogne Wechsel" und „zugesandte "Wechsel"'.
C. Die Städte 169
Im polnischen Außenhandel spielen die Deutschen und die Juden als
Kapitalisten die Hauptrolle. Der Yiehhandel und das Getreidegeschäft ist
wohl ausschließlich in den Händen der Juden, ebenso das Fell- und Holz-
geschäft. In der Spinnerei imd "Weberei herrscht dagegen der deutsche
und deutsch gebliebue Unternehmer vor. Dementsprechend suchen sich
auch die entsprechenden Hilfsindustrien dem Deutschtiun anzupassen. Polen
sind in den genannten Branchen weniger anzutreffen. Um so gi'ößer ist
ihr Einfluß in der Eisen- imd Maschinenindusti'ie wie vor allen Dingen
in der Metallwarenbranche. In der Eisen- und der Kohlenindustrie hat zwar
das deutsche Element noch die Oberhand, aber in der Maschinenindustrie
geht es völlig im polnischen auf. Yiele Firmen in Warschau, die deutsche
Namen tragen, stehen völlig unter polnischer Leitung mit polnischen Direk-
toren, Ingenieuren und Yertretem. Namen zu nennen, möchte ich mir
versagen — Orts- und Branchekimdige werden ohnedies Besclieid wissen.
Der Absatz der polnischen Maschiuenindustrie hat besonders seit der Zeit
ständig zugenommen, da polnische Ligenieure die Betriebe des Donetz-
beckens, von Kriwoj-Rog, um Moskau, die Eisenbahnbauten im Imiern und
in Sibirien zu leiten begannen. Die Zahl dieser Polen wächst jährlich
und damit die polnische Konkurrenz mitten in Rußland. In der Nachbar-
schaft von Bromley in Moskau laufen Lokomobilen aus Warschau, und in
den Zentren für Metallwaren, Tula und Iwauowo, schläft man zugleich am
bequemsten und billigsten in polnischen Betten, die von polnischen Reisenden,
die gut russisch sprechen, verkauft werden.*)
C. Die Städte
(vgl. S. 58 bis 62)
Es wurde schon erwähnt, daß die Zahl der Städte im Zartum im
Jahre 1864 auf 115 herabgesetzt wurde, und daß Nowo-Alexandrija im
Jahre 1898 ziu- hundertundsechzehnten Stadt erhoben wurde. Auf die ein-
zelnen Gouvernements verteilen sich die Städte folgendermaßen : Warschau
22 Städte, KaKsch und Lublin je 13, Sjedlec 12, Peti-ikau 11, Radoni und
Ssuwalki je 10, Plock 9, Kjelce und Lomsha je 7. Von diesen Städten haben
Einnahmebudgets über eine Million Rubel 2, "Warschau imd Lodz, bis zu
150000 Rubel 2, bis 100000 6, bis 50000 11, bis 30000 9, bis 20000 29,
bis 10000 43 imd unter 5000 Rubel 12 Städte. Die Einnahmen der wich-
tigern 21 Städte zeigt die folgende ZusammensteUmig, aus der wir ersehen,
daß von ihnen allein 7 auf das Indiistriegouvernement Petrikau entfallen.
^) Über die Bedeutung der Verkehrswege findet sich das Notwendige auf S. 172 ff.
170
Achtes Kapitel. "Wirtschaft
1. Die städtischen Budgets
Die städtischen Einnahmenbudgets zeigten in tausenden Rubel fol-
gendes Bild:
Namen
1894
1900
1901 1
1
4894,7
?
8071,0
42,2
37,2
70,4
67,1
87,9
84,0
28,9
13,2
?
45,3
26,9
22,4
33,6
43,7
48,5
38,5
49,9
44,5
118,0
132,3
183,3
29,3
21,8
25,8
37,3
25,0
37,1
94,0
71,9
74,7
Namen
1894
1900
1901
Warschau .
Wloclawek .
Kaiisch
Konin . .
Lenczica .
Kjelce .
Lomsha
Lublin .
Zamo^c .
Cholm . .
Petrikau.
Bendzin .
Lodz . . .
Zgerz. . .
Nowo Radom
Toraaszow .
Czenstochau
Plock . . .
Radom . .
Ssuwalki .
Sjedlec .
38,6
396,3
26,5
39,8
30,1
63,3
56,2
57,9
31,6
36,1
36,1
1 340,5
68,8
17,9
44,2
142,0
69,4
85,5
46,7
52,4
1 393,0
26,7
28,3
30,3
89,4
39,5
101,3
43,1
46,9
Die Verwaltung der Städte im Zartum Polen darf nicht mit Ver-
waltungen deutscher Städte verglichen werden, wenn auch an ihrer Spitze
Organe stehn, die die Bezeichnung Magistrat führen. Diese Magistrate
sind im Grunde genommen nichts andres als Schreibstuben, die bis zum
Jahre 1904 fast ausschließlich vom Ministerium des Innern, seitdem vor-
wiegend von den Gouvemementsverwaltungen abhängen. So mußten alle
Einnahmen- und Ausgabenbudgets der polnischen Städte vom Minister des
Innern bestätigt werden; für jede plötzlich eintretende, im Budget nicht
vorgesehene Ausgabe, wie zum Beispiel für eine Dachreparatur, mußte auf
dem Instanzenwege die Genehmigung in St. Petereburg eingeholt werden.
Schäden, die innerhalb viorundzwanzig Stunden zu beheben waren, führten
zum Verfall städtischen Eigentums, weil der Bescheid aus Petersburg
Monate Mndurch ausblieb. Unter solchen Verhältnissen muß es als ein
großes Verdienst des Ministers Plehwe bezeichnet werden, daß er beim
Reichsrat ein Gutachten erwirkte, demzufolge seit dem Jahre 1904 alle
Wirtschaftsangelegenheiten bis zu 5000 Rubel von der Gouvemements-
verwaltuug entschieden werden können. Auch die Budgets werden fortab
in den Gouvemementsverwaltungen als oberste Instanz geprüft und be-
stätigt. Nur für die Städte Warschau und Lodz ist die Genehmigung des
Generalgouvemeurs und des Ministers des Innern beibehalten.^)
Es läßt sich denken, daß unter solchen Bedingungen eine geordnete
Stadtverwaltung unmöglich ist, und daß die polnischen Städte selbst auf
den aus Rußland kommenden Reisenden einen traurigen Eindruck er-
^) Gutachten des Reichsrats, bestätigt am 27. Januar 1903. Abgednickt im Rechen-
schaftsbericht des Reichsrats von 1902/03, Bd. I, S. 424 ff.
C. Die Städte
171
wecken. "Wie kurz die Städte aber seitens des Ministers des Innern ge-
halten wurden, geht aus einer Zusanunenstellung ihrer Ausgaben hervor.
Die Verteilung der städtischen Ausgaben zeigt für alle Städte des
Gebiets ohne "Warschau in tausend Rubeln folgendes Bild:
1894
1898
1901
Stadtverwaltung . . .
Immobilien und Mieten
Öffentliche Ordnimg
Quartiergeld an Militärs
TVohltätigkeits-Anstalten
Schuldentilgung . . .
Kleine Ausgaben . . .
Baufonds
625,0
154,8
146,7
25,8
125,0
185,5
57,3
398,4
783,4
162,4
193,5
147,8
280.7
87.1
980,1
Zusammen
1718,5
2635,0
717,7
93,4
221,7
151,0
150,2
33,1
883,1
2250,2
Bei den aufgeführten Zahlen fallt das geringe ATachstum des Budgets
auf und die unverhältnismäßig großen Kosten der städtischen Yerwaltimg;
sie verschlingt etwa ein Drittel aller Einnalimen, während für öffentliche
Ordnung, also sanitäre Einrichtungen, Sti'aßeupflege und -reinigung nur
etwa acht Prozent der Einnahmen verwandt werden.
2. Das Sanitätswesen
Für diese geringfügige Entwicklung der städtischen Verwaltung ist
somit die Bevölkerung nicht verantwortlich zu machen, sondern aus-
schließlich die Regierung, die die städtische Yer^valtuug selbst in die Hand
genommen hat und keinerlei Selbstbetätigung der Gesellschaft zuläßt. Ein
Büd für die geringe Entwicklung geben die sanitären Zustände in den
wichtig-sten Städten.
Zahn-
Feld-
Heb-
La-
Apo-
theken
Im Jahre 1900 gab es in
Arzte
ärzte
schere
antmen
zarette
Betten
Gouvernement Ssuwalki . . .
46
?
137
31
7
185
32
,, Lomsha
38
3
105
38
5
164
33
Flock .
49
?
69
57
7
189
23
„ Sjedlec .
59
—
89
16
10
182
41
Stadt Warschau . . .
829
152
332
310
14
2900
52
Gouvernement Lublin .
97
9
234
78
13
407
58
„ Kaiisch
72
9
114
63
7
0
48
„ Petrikau
275
37
369
236
11
384
69
„ Kjelce .
63
0
113
?
6
210
45
„ Kadom .
68
6
154
39
6
211
46
172 Achtes Kapitel. "Wirtschaft
Die Provinz Posen, die etwa so groß ist wie die Gouvernements
Kaiisch und Plock zusammen, aber durchaus nicht so dicht bevölkert, hat
dagegen im Jahre 1898 approbierte Ärzte 498, Zahnärzte 82, Zahn-
techniker 233, Heildiener 220. Krankenpfleger 451, Hebammen 663. Das
Zartum Polen steht im Jahre 1900 in sanitärer Beziehung schlechter als
die Provinz Posen vor 1876.^)
Eine solche geringe Entwicklung des Sanitätswesens ist nur verständlich,
wenn man sich daran erinnert, daß alles Sanitätspersonal ausschließlich mit
Genehmigung des Ministers des Innern angestellt und entlassen werden
durfte. Dadurch war jede Yeränderung mit den größten Schreibereien,
An- und Kückfragen, häufig von Aveit bis nach Petersburg gesponnenen
Intrigen verknüpft, und jedes sachliche Interesse Avurde lahmgelegt.
Erst im Jahre 1904 trat eine wesentliche Erleichterung ein, als der
Minister Plehwe ein Gesetz erwirkt hatte, daß mir die Angestellten von
der sechsten Rangklasse aufwärts einer Bestätigung durch den ^linister
bedürfen, während alle niedeni lediglich durch die Gouverneure und in
Warschau durch den Generalgouverneur bestätigt zu werden brauchten. *)
In allen den angedeuteten Verhältnissen, die vor allem die Stadt-
verwaltung so außerordentlich teuer gestalten, liegt der Grund, wamm sich
große Gemeinden scheuen, das Stadtrecht zu erwerben.
D. Die Verkehrsmittel
Die Verkehrsmittel der zehn Gouvernements des Weichselgebiets haben
sich unter dem Z^vange zweier prinzipieller Gesichtspunkte entwickelt: des
strategischen und des politischen. ^) Gesunde Avirtschaftliche Motive mußten
immer zurücktreten. Diese Verkehrspolitik findet ihren Ausdruck in der
Vemachlässigmig des Weichselstromgebiets und der Verteilung der Eisen-
bahnen.
1. Das Wewh sei Strom gebiet
Nach den amtlichen Angaben umfassen die schiffbaren Wassei-straßen
des Zai-tiuns im Jahre 1890: 1801 Werst, 1902 nur 1861, von denen 618
auf die Weichsel, 231 auf den Narew und 271 auf den Bug entfallen.
Dampfer können 551 Werst befahren. In diesem Gebiet gab es:
1894 1902
Dampfschiffe 24 50
Andre Schiffe 710 514
Deren Wert 1536000 Rubel —
Tragfähigkeit 3183000 Pud 4092000 Pud
») Statistisches Handbuch für das Deutsche Eeich. 1907, I. Teil, S. 708/11.
*) Rechenschaftsbericht des Reichsrats von 1904, S. 69.
^ Bericht des Reichskontrolleurs für das Jahr 1886 (geheim), S. 98 ff.
D. Die Verkehrsmittel
173
"Vergleichen wir dagegen das preußische Weichselstromgebiet, dann
sehen wir, daß die Gesamtlänge der schiffbaren Sti-ecke im Jahre 1903
etwa 625 Kilometer betrug. In diesem Schiffahrtsgebiet gab es
1892 1902
92
498
Dampfschiffe .... 56
Segelschiffe 740
Die Venninderung der Zahl der Segelschiffe hat keine Bedeutung, da
sie lediglich auf Schiffe mit 20 bis 200 Tonnen Gehalt entfällt und aus-
geglichen wird durch die Größe der neu in Dienst gestellten Schiffe. Sie
ist somit lediglich ein weiteres Zeichen für die Verbesserung der Wasser-
straßen.
Tatsächlich hat die russische Kegierung für die Weichselregulierung
seit zwanzig Jahren nichts getan. Sie zwingt dadurch die Eohstoffforderer,
sich immer mehr der Eisenbahnen zu bedienen. Welche Folgen sich
daraus ergeben haben, zeigen nachstehende Zahlen im Statistischen Hand-
buch für das Deutsche Eeich. Der Güterverkehr an der Zollgrenze Thom-
Weichsel hat betragen in Tonnen:
für
1881/85 I 1891/95
durchschnittlich
1897
1900
1902
1904
Häute, Felle, Leder ,
Salz
Steine
Steinkohlen ...
Teer, Harze, Asphalt ,
Zw Berg:
42
943
2065
1830
5154
1254
1
—
3376
13913
2916
433
3627
1048
121
9370
2904
3251
8124
6648
2647
3906
4686
4539
4213
Getreide . . .
Holz . . . .
Mühlenfabrikate
Zucker usw.
Steine . . . .
Zu
Tal:
61363
28983
21665
8664
5744
124221
679949
716809
723183
433586
1013
8522
222
5136
16535
6360
4937
2274
29636
12725
8853
19426
6177
15443
17 743
1691
14326
4226
3460
3540
4929
551931
18607
9428
10845
Die Bestimmungen des deutsch-russischen Handelsverti'ages allein für
den Rückgang der Getreide- und Holzausfuhr verantwortlich machen zu
woUen, wäre falsch, da der Gesamtverbrauch an diesen russischen Erzeug-
nissen nicht zurückgegangen ist.
2. Eisenbahnen
Wenn wir uns die Eisenbahnkarte vom Zartum Polen ansehen, dann
fällt uns die Dichtigkeit des Eisenbahnnetzes östlich von Warschau auf,
während uns das westliche unentwickelt erscheint. Durch das dicht be-
174 Achtes Kapitel, Wirtschaft
völkerte Industriegebiet von Kaiisch und Petrikau ziehen nur zwei Eisen-
bahnlinien, miteinander nur einmal verbunden, während das dünnbevölkerte
sandreiche Gouvernement Sjedlec von einem fein aufgestellten Eisenbahn-
netz überspannt ist. Die Bahnen haben alle strategischen Charakter und
dienen in allererster Linie dem Verkehr zwischen den großen Truppen-
samnielpunkten Ssuwalki, Grodno, Lomsha, Nowominsk, Iwangorod, Kowel
und Brest-Litowsk. Durch dieses Netz tritt die Linie deutlich hen'or, die
die Russen im Falle eines Krieges mit Deutschland halten wollen. Sie
läuft von Ssuwalki südlich am Bobr und Narew entlang und dann die
Weichsel hinauf bis zur Feste Iwangorod. Eine enge Verbindung mit dem
deutschen Eisenbahnnetz wird nicht angestrebt. Noch vor zwei Jahren
mußte man von Kaiisch, das nur einige Kilometer von der deutschen
Grenze entfernt Hegt, zur nächsten preußischen Eisenbahnstation mit Fuhr-
werk fahren oder den Umweg über Skjernewice machen. In Ssuwalki
enden zwei, in Lomsha sogar drei Linien, aber eine Verbindung mit der
preußischen Grenze fehlt.
C@^^^
Neuntes Kapitel
Zur Agrarfrage
Auch das Zartum Polen hat seine Agrarfrage oder vielleicht richtiger
ausgedrückt seine Agrarfragen. Die Agrarfrage ist als solche dank den
günstigen klimatischen und schon erwähnten wirtschaftlichen Verhältiiissen
im Zartiim Polen nicht so brennend und so staatsgefährlich für das rus-
sische Reich wie die in den kernrussischen Gouvernements, aber sie hat
doch eine solche große Bedeutung für das pobiische Problem und die
daran grenzenden Fragen, daß sich die besten Köpfe des polnischen Yolkes
innerhalb und außerhalb Rußlands niit ihr beschäftigen. Spielt sich doch
gerade im Rahmen der Agrarfrage ein wichtiger Teil jenes heimlichen, aber
immer gigantischer werdenden Ringens ab, das zwei Kulturen miteinander
ausfechten. Glaubt doch die russische Regierimg gerade auf dem Gebiete
der Agrarfrage ihren alten und wie sie meint gefährlichsten Gegner, die
Schlachta, tödlich treffen zu können. Auflösimg des adlichen Grundbesitzes
ist die Parole der russischen Agrarpolitik, Aveil sie hofft, damit die alte
traditionelle Staatsauffassung der Polen aufzulösen. An ihre Stelle soll die
russische Staatsidee gesetzt werden, mit ihrer Vertreibung aus den pol-
nischen Landen soll auch die eingedrungne westeuropäische Kultur ver-
schwinden und Platz machen einer moskowitisch- tatarischen, die unter
dem Deckmantel der Demokratie doch nur Anarchie verbreitet. Diese poli-
tischen Untertöne der Agrarfrage sind es, die uns zwingen, ihr in unsrer
politischen Stiidie einen größern Raum freizugeben, als es vielleicht auf
den ersten Blick notwendig erscheint.
A. Allgemeines
Wie vielseitig die Agrai-frage im Weichselgebiet ist, ergibt sich aus
den bisher angegebnen Daten über die Landwirtschaft (achtes Kapitel) nicht
ohne weiteres. Sie sollten ausschließlich die Produktion, also den äußern
Reichtiims des Landes in seiner Gesamtheit bezeugen. Aber der Leser
wird ihre Bedeutung in dem oben erläuterten Sinne ermessen, wenn er
176 Neuntes Kapitel. Zur Agi'arfrage
sich erinnert, daß einmal sich die polnische Bevölkerung in 35 Jahren
verdoppelt hat, und daß sich femer das ländliche Proletariat um mehr als
vienual vergrößerte. Sahen wir doch (S. 43), daß im Jahre 1864 nur etwa
200000 Seelen ohne Land blieben, i) während sich die Zahl des ländlichen
Proletariats im Jahre 1904 auf 849300 (siehe S. 128) erhoben hat. Diese
Erscheinimg erklärt sich nicht allein aus der starken natürlichen Yer-
mehnmg; es müssen vielmehr wirtschaftUche Faktoren vorhanden sein,
die eine so starke Proletarisierung auf dem Lande möglich machen, noch
dazu in einer Zeitspanne, in der der Zustrom zu den Städten und die
Auswanderung besonders groß waren.') Aus der allgemeinen Statistik für
das ganze Gebiet können wir die Gründe für die Erscheinung nicht ohne
weiteres erkennen. Wir müssen darum hier noch weitere Einzelheiten
heranziehen und nach ihnen das zu behandelnde Gebiet sachlich einteilen.
1. Klima und Boden
Das Zartum Polen wird durch die Weicliselniederung in zwei von-
einander durchaus abweichende Gebiete geteilt: in das nordöstliche und
in das südwestliche. Das nordöstliche ist reines Ackerbaugebiet, das süd-
westliche ist zur Hälfte Industrie- und zur Hälfte Ackerbaugebiet, das
heißt, in diesen Gouvernements befinden .sich mehrere Lidustriezentren
(vgl. S. 159). Zur ersten Zone gehören die Gouvernements Ssuwalid, Lomsha,
Plock, Sjedlec, Lublin und TeUe von Warschau, zur zweiten Zone sind
die Gouvernements Kadom, Kjelce, Petrikau und Kaiisch zu rechnen sowie
die an sie grenzenden Teile von Warschau.
Im Süden auf dem schlesisch- polnischen Bergrücken herrscht ein
kalkhaltiger Boden vor, der im Nordwesten durch einen wechselnd breiten,
auch wiederholt unterbroclmen Streifen von Weizen- und Rübenboden be-
gi'enzt wird. Dieser Streifen beginnt in Podolien in den nordwestlichen
Ausläufern des südrussischen SchAvarzerdegebiets, geht dann breit durch
Wolynien, durch das Gouvernement Lublin — wo im Ki'eise Hrabieszow
noch schwarze Erde vorkommt — und die südlichen Kreise von Sjedlec,
dann schmäler werdend durch das nördliche Radom imd südüche War-
schau, durch das alte Masowien und Kujawien zur preußischen Grenze auf
Hohensalza und Gnesen zu. Das Land an der Weichsel ist leicht; viel
Sand, trockne Wiesen, wenig Wald. Im Nordosten wird dagegen die
Waldmenge größer und geht allmählich von den Kreisen Bjela und Janow
aus in die Urwälder von Minsk und Grodno über.
^) Arbeiten des Warschauer Statistischen Komitees von 1907, Heft XXVII, S. 49.
*) Vgl. hierzu, was W. von Massow über die Stärkung des Polentmns in der deutschen
Ostmark auf S. 165 ff. sagt.
A. Allgemeines 177
Das Klima ist iin ganzen Gebiet Seeklima, also durchaus inilde und
keinen großen Schwankungen ausgesetzt. Nur in den östlichen Kreisen
des Gouvernements Lublin, die gegen die feuchten Nordwestwinde ab-
gesperrt sind, herrscht ein rauheres Klima mit heißen, trocknen Sommern
und kalten Wintern. Die Hauptniederschläge kommen im Winter vor,
während sie im Sommer in ähnlichen Mengen auftreten wie in Nord-
deutschland. Trockenheit ist fast unbekannt; sie kommt ab und zu im
Kreise Hrubieszow vor, der am meisten südöstlichen Steppenwinden aus-
gesetzt ist. Manche Jahre sind aber im Zartum so feucht, daß besonders
die Hackfi'üchte im Felde verfaulen. Doch sind Hungersnöte, die in den
zentralen Gouvernements chronisch geworden sind, im Zartum Polen schon
lange unbekannt.
2. Erläutetningen zur atntliclien Statistik
Die amtliche Statistik teilt die landwirtschafttreibende Bauernbevölkerung
gemäß den Paßbestimmungen ein in privilegierte und landlose Bauern und
in die kleine Schlachta. Die politischen Gründe wegen der Sonderstellung
der kleinen Schlachta lernten wir auf Seite 50 kennen, von den wirtschaft-
lichen Konsequenzen wird gelegentlich der Bauernwirtschaften gesprochen
werden. Privilegierte Bauern sind solche, deren Vorfahren im Jahre 1864
Land zugeteilt erhielten, also Besitzer zugeteilten Landes; ihre Zahl
beti'ug im Jahre 1870 592817. Die landlosen Bauern werden nun
immer noch in der Statistik unter der Rubrik „Landlose" geführt, obwohl
ein Teil von ihnen bis zum Jahre 1904 schon weit über 100000 Wirtschaften
mit 553048 Deßjatinen eingerichtet hatte. Diese Unterscheidung ist für
die russische Regierung notwendig, weil die allmählich auf 4590325 Deß-
jatinen angewachsne Menge zugeteilten Landes den beschränkenden Be-
stimmungen vom 19. Februar 1864 und 28. Oktober 1866 unterliegt
(vgl. S. 46 ff.), w\ährend das bei nicht privilegierten Bauern gekaufte Land,
nämlich im ganzen 917 767 Deßjatinen, frei gehandelt und vererbt werden
kann. Leider ist die Statistik, nachdem sie jene Gesetze berücksichtigt
hat, nicht konsequent darin weiter gegangen. Sie berücksichtigt in ihren
Veröffentlichungen z. B. die Bestimmung nicht, wonacli zugeteiltes Land
nicht unter drei Deßjatinen geteilt werden darf (vgl. S. 46). Sie macht
viebnehr eine Rubrik „Zahl der zugeteilten häuerlichen Betriebe von
anderthalb bis siebeneinhalb Deßjatinen".'^) Wir wären infolgedessen
eigentlich genötigt, diese Rubrik entsprechend zu teilen. Leider hätte eine
1) Arbeiten des Warschauer Statistischen Komitees von 1905, Heft XXI, Schluß-
bemerkungen S. 14. 38.
Cleinow Die Zukunft Polens 12
178
Neuntes Kapitel. Zur Agrarfrage
solche Arbeit aber nur geringen Wert, da uns die entsprechenden Daten
ebenso für die Kreise und Gniinen wie für ältere Jahre fehlen. Wir
müssen uns daher damit begnügen, nur die Schlußzahl für das Jahr 1904
zu teilen.
Wir haben nun aus den uns vorliegenden Statistiken^) die Zahl der
landwirtschaftlichen Kleinbetriebe für alle politischen Kategorien von Acker-
bauern zusammengezogen, also auch die kleine Schlachta mit hinein-
genommen.
Wir erhalten dami folgendes Bild: Im Jahre 1873 verteilte sich das
landwirtschaftlichen Kleinbetrieben zuzuzählende Land auf 656160 Betriebe,
im Jahre 1904 aber auf 968 889 Betriebe. Die Gesamtfläche aller Klein-
betriebe ist aber dabei nur von 4605998 Deßjatinen auf 6159507 Deß-
jatinen gestiegen. Es ist somit eine starJce VerJcleineruvg alloi- Wirt-
schaften des gayizen Weichselgehiets, im Durchschnitt nämlich von 7,02 auf
6,09 Deßjatinen eingeti'eten. Bemerkt sei hier gleich, daß damit die unterste
Grenze des bäuerlichen Betiiebs en'eicht ist, auf dem sich eine nonnale
Familie ohne ISTebenerwerb im Zartum Polen unter den bestehenden all-
gemeinen Verhältnissen ernähren kann.
Wenn wir die beiden politischen Gritppen der Bewirtschafter von
Kleinbetrieben einzeln betrachten, dann verschiebt sich das Bild einiger-
maßen:
Es besaßen im Jahre
1873
1904
Deßjatinen
Betriebe
Deßjatinen
Betriebe
Alle Bauern
Die kleine Schlachta . .
4245141
360857
622809
33360
5507767
651 740
957521 (915896)
52993
Zusammen
4605998
656169
6159507
1010514 (968889)
Zur richtigen Bewertung der Bodenbewegung bedarf es hier einer
Feststellung. Die amtliche Zahl der bäuerlichen Betriebe (957 521) kann
aus gleich zu erörternden Gründen nicht zuti'effen. Der Fehler liegt unsrer
Meinung nach in der Aimahme des Warschauer Statistischen Komitees,
als habe jeder Landkauf gleichzeitig die Begründung eines neuen Wirt,schafts-
betriebs herbeigeführt, während doch die Annahme nahe liegt, daß die Land-
*) Arbeiten des Warschauer Statistischen Komitees von 1905, Heft XXI, S. 14, 18,
30, 32, 35, 38, 42, 52 und 54 sowie die Tabellen I bis VI.
A. Allgemeines 179
käiife der Bauern iii allererster Xinie zur Vergrößerung bestehender Be-
triebe angewandt worden sind.
Freilich dürfen bei einer solchen Annahme verechiedne Umstände
nicht außer acht gelassen werden. Wir hörten im dritten Kapitel, S. 46,
von der Beschränkung des bäuerlichen Besitzrechts. "Wir hörten, daß die
„zugeteilten" Bauernhöfe bei Erbteilungen nicht kleiner geteilt werden
dürfen als bis zu sechs Morgen oder drei Deßjatinen. Infolgedessen kann
angenommen werden, daß zur Befriedigung von Erbansprüchen tatsächlich
ein gewisser Prozentsatz der kleinsten Landkäufe zur Schaffung neuer Be-
triebe gedient hat. Besonders in den Gminen, in denen der Gaiienbau
gewinnbringend ist, mid in die die Sachsengänger ihre Ersparnisse bringen
können, darf dieses Argument gelten.
Andrerseits dürfen wir nicht vergessen, daß eine große Zahl von Land-
erwerbungen durch die Bauern bei Ablösung der Servitute (vgl. S. 45)
zustande gekommen ist. Bis zum Jahre 1903 hatten die Ablösungen von
155000 Weide- und 185000 Waldservituten durch Landhergabe statt-
gefunden, wodurch sich die Fläche des zugeteilten Bauernlandes imi
444400 Deßjatinen vergrößerte. Diese Erwerbungen sind keinesfalls oder
doch nui' in ganz vereinzelten Fällen mit der Neugründung landwirfschaft-
licher Kleinbetriebe verbunden, weü das Servitut, gemäß Senatsentscheidung
31/1900^) am zugeteilten Bauernliofe haftend, nicht mit der Person des
Besitzers verbunden ist und somit als vom Anteilland unlösbarer Bestand-
teil zu betrachten ist. Ferner kann es sich bei der Ablösung von Servituten
nur um ganz kleine Parzellen handeln, die wohl selten das Maß von
einer halben Deßjatine eiTeichen dürften, also zur Begründung eines
selbständigen landwirtschaftlichen Betriebs nicht ausreichen. Unsre Be-
denken gegenüber der Warschauer Statistik finden Nahrung dui'ch eine
Mitteilung der staatlichen Bauernbank, die besagt, daß die Hälfte alles
durch ihre Yermittlung gekauften Landes zur Vergrößerung hestehender
Bauern wirtschaften, nicht aber zur Schaffung neuer Verwendung fand.
Schließlich finden wir in Heft XXI des Warschauer Statistischen Komitees,
Seite 42, die Angabe, daß von den 179076 bis zum Jahre 1904 stattge-
habten Käufen 83304 auf Inhaber von Anteilland und 95772 auf soge-
nannte landlose Bauern fallen.
Allen diesen Überlegungen glauben wir die Berechtigung zu entnehmen,
die amtHche Zahl für die bäuerlichen Wiiischaftsbetriebe schätzungsweise
zu verkleinem. Wir ziehen von ihr die Hälfte von 83304 oder 41652 Wirt-
schaften ab, die in Heft XXI des Warschauer Statistischen Komitees auf
») Siehe Anm. 3 auf S. 44.
12*
180 Neuntes Kapitel. Zur Agrarfrage
Seite 42 als durch sogenannte Anteilbauem gekaufte Betriebe bezeichnet
werden. Die andre Hälfte können wir als zur Gründung neuer Betiiebe
durch Fabrikarbeiter, Gärtner usw. oder gelegentlich von Auseinander-
setzungen oder aus andern Gründen rechnen. Dann ergibt sich die wahr-
scheinliche Zahl der bäuerlichen Beüiebe niit 957 521 — 41 652 = 915869 Be-
triebe, mit denen wir rechnen wollen. Die Gesamtzahl der landwirtschaft-
lichen Kleinbetriebe verringert sich alsdann von 1010514 auf mindestens
968889. Rechnen wir hierzu noch 83995 Kleiubetiiebe von Ackerwirten
in den Flecken, dann haben wir die annähernd richtige Zahl mit 1052884
landwirtschaftlichen Kleinbetrieben.
B. Die Lage der Land-Wirtschaft
Nach den voraufgegaugnen Bemerkimgen und nach den Ausführungen
über Industiie, Handel und Yerkehi-swege wird es einleuchten, daß die Lage
der Landwirtschaft in den verschiednen Teilen des Zaiiums Polen durch-
aus verschiedenartig sein muß. Das Bergland mit seinen Xaturschätzen
und den sich daraus ergebenden wiiischaftlichen Folgen gibt viel günstigere
Yorbedingimgen für das Leben der Bauern als die feuchten Niederungen
Kujawieus und Masowiens, die wieder für landwirtschaftliche Großbeti'iebe
in Frage kommen. Bauernwirtschaften vom gleichen Umfang mit AVeizen-
boden sichern ihren Bewohnern einen höhern Wohlstand als Wirt-
schaften im sandigen Gebiet der zeljona puszcza (Heide und Wald im
Nordosten).
Aber auch Faktoren wirken, deren Ursprung in grauer Vorzeit zu
suchen ist. So ist die Lage der Bauern in den vormals bischöflichen,
1864 verstaatlichten Ländereien, wie z. B. im sogenannten Fiu-stentum
Lowicz erheblich besser als in der „krolewszczyna", ^) wo die alte Schlachta
herrschte. Yerschieden ist auch die Lage der Landwirtschaft je nach der
Art der Verteilung von Groß- und Kieinbesitz, nach dem persönlichen Ver-
hältnis zwischen Klein- und Großgrandbesitzern, nach Zahl und Umfang
der benachbarten iudustiiellen Großbeti'iebe sowie schließlich nach der
Art der Bewirtschaftung selbst.
Aus den angeführten Gründen würde jeder Vereuch, die Lage der
Landwirtschaft im Zaiiimi Polen in einem auf Durchschnittszahlen auf-
geführten Bilde darzustellen, fehlerhaft sein. Es würde vielfach komplizierte
Tatsachen vereinfachen und falsche Schlußfolgerungen zulassen. Die Durch-
schnittszahlen würden örtliche Eigentümlichkeiten, die von den Agrar-
0 Vgl. „Obrazy i Opisy" a. a. 0. S. 165-83.
B. Die Lage der Landwirtschaft 181
Verhältnissen des "Weichselgebiets untrennbar sind, verwischen. So würde
jener bäuerliche Charakter des Gouvernements Ssuwalki schwinden, wo im
Jahre 1904 gegen 56 Prozent der ganzen Fläche auf den Kleingiaindbesitz
entfielen, und wo auf jede Bauern Wirtschaft im Jahre 1899 durchschnittlich
11,3 Deßjatinen Land kamen. Das ist aber eine Bodenfläche, die bei der
Höhe der landwii-tschaftlichen Kultur im Zartum Polen eine normale
Familie von sechs bis acht Personen durchaus anständig ernähren könnte.
Auch solche Yerhältnisse würden verwischt werden, wie sie zum Beispiel
in den Gouvernements Block und Lomsha zu beobachten sind. Dort fällt die
große Zahl der Betriebe über 25 Deßjatinen auf; im Kreise Masoweck
nehmen die Kleinbetriebe 81 Prozent der Gesamtfläche für sich in An-
spruch, während auf die Großbetriebe nur 14 Prozent entfallen.
Auch die fast verzweifelte Lage der Bauern im Gouvernement Kjelce
würde sich verwischen; dort gibt es gegen 100000 "Wirtschaften mit
weniger als 7^/2 Deßjatinen Land, denen nur 5000 mit Y^/g bis 25 Deß-
jatinen gegenüberstehn. Auch noch andre Einzelheiten würden ver-
schwinden, die durch die Yerschiedenheit des Bodens hervorgerufen sind.
So deutet Krzewicki an, in der Gmin Jedwabno des Gouvernements Lomsha
reichten 3 Deßjatinen zum Unterhalt einer Familie aus, während nicht
weit davon in der Gmin Czerwone 10,8 Deßjatinen nicht ausreichten, i)
Schließlich wirkt der Eintritt größerer Kapitalien in den einen Kreis,
während in andern solcher Zusti'om fehlt. Wir wollen nun, um auf möglichst
geringem Kaum ein möglichst richtiges Bild zu geben, unsre Schilderung
auf folgendes beschränken. Zunächst scheint es uns wichtig, die Yei-teilung
der landwirtschaftlich verwerteten Fläche zwischen Groß- und Kleinbetrieben
festzustellen. Alsdann wollen wir einen kurzen Blick auf die Gutswirtschaft
werfen. Eine Darstellung des Servitutenunwesens wird uns vor Augen
führen, welche innern Schäden am Mark der Wirtschaft zehren. Wir
finden darin gleichzeitig den Übergang zur Lage der landwirischaftlichen
Kleinbetriebe.
1, Die Verteilung des Landes
Das Zartum Polen stellt ein Gebiet dar, in dem der Gutsbesitzer ini
allgemeinen nicht durch die Größe seines Besitzes, sondern durch seine
Intelligenz sowie durch Tradition hen'scht. Vom Gesamtareal des Zartums
gehören nämlich im Jahre 1904 nur etwa 40 Prozent zu landwirtschaft-
lichen Großbetrieben, aber gegen 54 Prozent zu Kleinbetrieben. Li den
verschiednen Gebieten treten dann noch merkliche Verschiebungen ein,
') RiiEkija Wjedomosti von 1906, Nr. 148.
182
Neuntes Kapitel. Zur Agiarfrage
wie aus beigefügter Zusammenstellung für das Jahr 1904/05 ereichtlieh
wird. In den Gouvernements gehörten Deßjatinen:
Deßjatinen
Prozent
zu Kleinbetrieben
a) der Bauern
b)derkl.Schlachta
zu Großbeti-ieben
a) Privatbesitz
b) Land des Fiskus
Gouvernements
Kleinbetriebe Großbetriebe
Ssuwalki •!
Lomsha \
Plock 1
Sjedlec <
a) 624865
b) 4067
a) 279956
b) 319393
a) 313958
b) 124482
a) 593700
b) 155981
a) 249156
b) 204248
a) 160993
b) 110533
a) 373152
b) 23664
a) 413834
b) 20 785
56,0
66,4
50,9
49,1
40,4
30,0
46,1
84,2
a + b
"Warschau |
Lublin 1
2416397 1)
a) 742525
b) 35801
a) 780650
b) 2212
1556365
a) 641 581
b) 58135
a) 606312
b) 24568
55,58
50,5
54,7
37,68
45.4
42,5
a + b
Kaiisch |
Petrikau {
Kjelce I
Radom !
1561 18S
a) 522989
a) 583594
b) 9652
a) 463441
b) 152
a) 602419
1330596
a) 442995
b) 17420
a) 403764
b) 61335
a) 308388
b) 76702
a) 361 409
b) 82578
52,6
51,2
53,6
52,2
54,6
43,95
45,1
41,0
43,3
40,3
a + b
2182247
1744591
52,9
42,43
*) Die unter a und b der Tabelle aufgeführten Zahlen sind aus einer langen Reihe
von Zahlen in Heft XXI der Arbeiten des "Warschauer Statistischen Komitees vom Jahre 1905
errechnet. Diese Zahlen nehmen 184 Druckseiten Tabellen ein. Nun ergibt sich zwischen
der entsprechenden Zahl auf Seite 178 und der Summe der Deßjatinen unter Kleinbetrieben
eine Differenz von 325. Bei der Geringfügigkeit des Unterschiedes glaubte sich der Verfa.sser
berechtigt, den Fehler xmberäcksichtigt zu lassen, umsomehr als dessen Auffindung nicht
absolut einzutreten brauchte, wohl aber mehrere Tage Arbeit in Anspruch nehmen würde.
B. Die Lage der Landwirtschaft Igg
Diese Zahlen werden noch zugunsten der Kleinbetriebe verschoben,
wenn wir uns daran eriimern, daß ein Teil der Staateländereien an Bauern
vei-pachtet ist, und daß es etwa 3600 bis 4000 solcher auf Pachtland be-
gründeter lüeinbeti-iebe gibt. Der Privatgi'oßgiTindbesitz hat dagegen nur
wenig an Bauern abgegeben, nämlich 40111 Deßjatinen oder 1,2 Prozent
seiner Gesamtfläche. ^)
Yon einem starken Übergewicht der Großbetiiebe kami im ganzen
Zartum nur in fünf Kreisen gesprochen werden, nämlich Plock, Lipno,
Rvpin, Garwolin imd Konsk. Dort entfallen auf landwirtschaftliche Groß-
betriebe zwischen 52 bis 56,4 Prozent der Gesamtfläche. Demgegenüber
stehn sieben Kreise, von deren Fläche zwischen 67 und 71 Prozent, und
einer (Lowicz), von dem gar 81,2 Prozent unter Kleinbetriebe ver-
teilt sind.
Riesenbetiiebe gibt es im ganzen Gebiet nur einen, nämlich die
104000 Deßjatinen gi'oße Besitzung des Grafen Samojski im Gouvernement
Lublin, die sich aus sieben Gütern zusammensetzt (vgl. auch siebentes
Kapitel, den Abschnitt vom Landbesitz der Juden).
Auf der Übergangsstufe vom kleinen zum Großbetriebe stehn, ab-
gesehen von den auf Seite 178 erwähnten Besitzungen der kleinen Schlachta,
nur 49 den Bauern gehörige Güter zwischen 60 bis 155 Deßjatinen Größe.
Die Mehrzahl von ihnen befindet sich in den Gouvernements Lublin und
Sjedlec mit je 11. Dann folgen Ssuwalki, Lomsha, Plock, Radom mit je
4 solcher Güter.
2. Der private Grof 8g rundbesitz
Über den gesamten Großgrundbesitz des Zartums Polen fehlen uns
einwandfreie Daten. Deshalb sind wir bezügKch des statistischen Materials
auf vier miteinander nicht übereinstimmende Quellen angewiesen: auf die
Arbeiten des Warschauer Statistischen Komitees,^) auf die Veröffent-
lichungen der Landbank und auf die Akten des Komitees zur Hebung
der Landwiitschaft und verwandter Gewerbe sowie schließlich auf die
Jahresberichte der Bauernbank. ]\Iit Rücksicht auf die Landbank sind wir
genötigt, im vorliegenden Abschnitt mit Morgen zu rechnen, nicht mit
Deßjatinen. Ein Morgen entspricht etwa einer halben Deßjatine.
Wir hörten schon (S. 154), daß es im Jahre 1904 im Zartum Polen 9850
private Großbetriebe mit einem Flächengehalt von etwa 8351103 Morgen
gab. In dieser Zahl sind die Majorate einbegriffen, während die Güter
') Die gleiche Menge wurde an jüdische Pächter abgegeben (vgl. S. 184).
*) Die Angaben des ^Varschauer Statistischen Komitees sind in dieser Beziehung be-
sonders mager und unzureichend, da sie sich hauptsächlich mit den Betrieben der privile-
gierten Bauern beschäftigen, deren großer "Wohlstand nachgewiesen werden soll.
184
Neuntes Kapitel. Zur Agrarfrage
der Krone keine Berücksichtigung finden. Das Hauptkontingent aller dieser
Güter ist mit Hypotheken der Landschaftski'editgesellschaft (Landbank)
belastet, nämlich 6 597 276 Morgen oder 79 Prozent der gesamten vom
Privatbesitz eingenomnmen Bodenfläche. Nichtverpfändete Grundbesitze
nehmen einen Flächenraum von 1076 915 Morgen oder 12,9 Prozent des
Privatgrundbesitzes im Gebiet ein. Die Majorate nehmen eine Fläche von
nur 676912 Morgen oder 8,1 Prozent des Privatbesitzes ein, wobei in
zehn Kreisen des Gebiets überhaupt keine Majorate vorhanden sind.
Unter den in der Landbank verpfändeten Gütern lassen sich folgende
Größen feststellen: im Jahre 1893 hatten eine Fläche von 300 bis
1000 Morgen 4000 Güter; 1000 bis 3000 Morgen wenig über 1500 Güter;
über 3000 Morgen nur 282. Somit heiTschten damals beim Privatbesitz
mittelgroße Güter mit einem Umfang von 300 bis 1000 Morgen vor.
Die Verteilung der Güter auf die einzelnen Gouvernements zeigt die
nächste Zusammenstellung. Dabei wird gleichzeitig gezeigt, wieviel Güter
in der Landbank Hypotheken aufgenommen haben und in welcher Weise
sie mit Servituten belastet sind.
Zalil der Güter
Zalü der
i
Pachten
Gouvernements
und
Senituten-
genießer,
davon :
rchschnit
große in
Morgen
über-
haupt
Davon
belastet durch
Deßjatinen
Land-
Servitute
Baueiii
Juden
bank
1906
Wald
Weide
a
Q
1904
1900
Ssuwalki
427
834
108
3174
3055
721,4
604
14990
Lomsha
340
139
125
6004
8677
832,7
613
3340
Plock
1120
610
420
7842
11391
623,0
908
1390
Sjedlec
517
302
116
9737
11989
1275,2
929
5220
2404
1385
769
26757
35112
863,1 3054 1 24 940
Lublin
651
370
185
23991
23118
1553,6 3648
8550
"Warschau
1575
1007
294
6923
11982
698,4 8243
3300
2226
1377
479
30914
35100
1126,0 11891 11850
Kaiisch
878
620
257
10899 11846
780,7
9316
765
Petrikau
696
402
182
10383 9118
892,8
6246
2090
Kjelce
606
382
148
7 749 9185
808,9
6310
5990
Radom
607
283 1 77
6442 8442
862,5
3294
2720
2787
1687 664
35473 1 88591
836,2
25166 11565
I 7417 14449 | 1912 |93144 108803 | 941,7 140111 |48355
Yon der Landbank sprechen Avir im zwölften Kapitel, von den Servituten
soll weiter unten die Eede sein. Aus der Angabe über Pachten ist zu
entnehmen, daß vom gesamten Gutsland niu- etwa 3 Prozent verpachtet
werden, was auf eine große Intensität der Wirtschaft schließen läßt. Die
B. Die Lage der Landwirtschaft 185
Zahlimgen schwanken bei langfristigen Pachtungen zwischen 13 bis 15 Rubel,
bei einjährigem Kontrakt zwischen 13 bis 19 Rubel. Für einschnittige
Wiesen werden 20, für zweischnittige 36 Rubel pro Deßjatine und Jahr
gezahlt.
3. Zustand der Landwirtschaft überhaupt
Die Intensität der Landwirtschaft steht, soweit es sich um den Groß-
betrieb handelt, der der Provinzen Ost- und "Westpreußen und Posen nicht
erheblich nach, ist aber sehr viel geringer auf den Baueniwii'tschaften.
Sie ist am größten in Masowien und Kujawien (Kutno). Doii; gibt es ein-
zelne polnische Güter, die sich mit den besten Wiiischaften Sachsens messen
können. Am geringsten ist die Intensität der Bewirtschaftung in dem
Sandsti-eifen an der preußischen Grenze sowie in Ssuwalki, Lomsha und
im nördlichen Sjedlec.
Eine eingehende Darstellung der Wirtschaftsweise der Großgrund-
besitzer gehört nicht in den Rahmen unsrer Arbeit. Die Verteilung des
Bodens unter Acker, Wiese und Wald wurde in der Zusammenstellung
auf Seite 154 gezeigt. Dazu wollen wir hier ergänzend hinzufügen, wie-
viel Acker der Zuckerrübe freigegeben ist, woraus Schlüsse auf die Inten-
sität der Wirtschaft und die Güte des Bodens in den einzelnen Gouverne-
ments gezogen werden können.
Der Rübenbau verteilte sich auf die verschiednen Gouvernements in
Deßjatinen wie folgt: ^^^^^^^^^ ^^^^^^^^^ ^^^^^^^,^
Ssuwalki — — —
Lomsha 811 1208 1150
Plock 2247 8576 7179
Sjedlec 915 1365 1375
Warschau .... 18824 23164 21369
Lublin 5794 15011 11249
KaHsch 3049 3286 3514
Petrikau 1180 1884 425
Kjelce 2350 2540 2340
Radom 1646 2600 2895
Die Zahl der Zuckerfabriken betrug 1891/92 41, in der Kampagne
1895/96 44, im Jahre 1900/01 51*) und im Jahre 1902/03 wieder nur
495). Die Höhe der Zuckererzeugung wurde auf Seite 156 gezeigt.
') Jahrbuch des Finanzministeriums von 1898, S. 579.
2) Ebenda von 1904, S. 644.
») Ebenda von 1906/07, S. 396.
*) Statistik der Acciseverwaltimg von 1903, S. 134.
") Ebenda fiir 1905, S. 131.
186 Neuntes Kapitel. Zur Agrarfrage
Ein Bild von der Größe der Zuckerfabiikation im Yerliältnis zur
russischen gibt auch die Teilnahme der pobiischen Fabriken an der Zucker-
ausfuhr. Sie beti-ug im Jahre 1902 etwa 28 Prozent der Gesamtausfuhr
und im Jahre 1903 etwa 11 Prozent.^)
Über das Brennei'eigewerbe imtemchtet die Zusammenstellung auf
Seite 155. In den verschiednen hieninter angegebnen Jahren gab es in
den einzelnen Gouvernements Brennereien:
1895/96-^) 1901i02^) 1904/05*)
Ssuwalki 19 19 20
Lomsha 30 23 20
Plock 19 12 12
Sjedlec .54 56 60
"Warschau 44 57 64
Lubün 46 53 62
KaUsch 48 43 42
Petrikau 47 39 39
Kjelce 22 25 26
Radom 26 27 28_
355 354 372
Ein Zeichen für die Intensität der Wii-ischaft ist auch die Verbindung
verschiedner Wirtschaftsbetiiebe. Hierzu gehört vor allen Dingen im Zaiiimi
die Anpassung der Pferdezucht an die öiiJichen Bedürfnisse. Während
noch vor 20 bis 25 Jahren im ganzen Zartum nur leichte Schläge ge-
zogen wurden, unter denen arabisches Halbblut vorherrschte, werden gegen-
Avärtig im Xordostgebiet Ostpreußen für die Arbeit, englisches Vollblut für
den Luxus bevorzugt. Im Rübengebiet haben kalte Schläge, vor allen
Dingen Ardenner, aber auch Normannen Eingang gefunden. Die Zucker-
fabrikaktiengeseUschaft Ostrowite beschäftigt sich zum Beispiel in großem
Maße und mit gutem Erfolge mit der Züchtung schwerer Pferde für die
Zuckerindush'ie. Nur im Lublinschen halten die Züchter noch fest an
dem schönen aber kleinen polnisch -arabischen Pferde. Die Kaiserliche
Gestütsverwaltung hat eine Verschlechtening der Bauernpferde in Sjedlec
durch Experimente mit rassischen Beschälern herbeigeführt.
Im Gegensatz hierzu fällt die geringe Ausbreitung von Molkereien
und Meiereien auf Gütern auf. Im Jahre 1903 gab es im Zartum Polen
nur sechs einigermaßen modern eingerichtete Meiereien, davon fünf im
Gouvernement "Warschau und eine in Kjelce.^) Alle Warschauer Meiereien
^) Statistik der Acciseverwaltung für 1904, Ö. 164.
'') Jahrbuch des Finanzministeriums von 1898, S. 562.
') Ebenda von 1904, S. 614.
*) Ebenda von 1906; 07, S. 384.
''] Vgl. Skarzinski a. a. 0. S. 46 ff.
B. Die Lage der Landwirtschaft 187
sind städtisch, also in jüdischer Leitung, und nur die in Kjelce gehört
zur GutsAvirtschaft des Grafen Loß, Bobiuo. Die einzige genossenschaft-
liche Meierei in Sochaczew ist von Großgrundbesitzern ins Leben gerufen,
und zwar unter dem Einfluß der drei großen in der Nähe gelegnen Zucker-
fabrikaktiengesellschaften, die unter der Leitung der polonisierteu Deutschen
imd Juden Rotwand, Wortmann, Epstein, Berson stehn. Die Genossenschaft
ist somit kein Ergebnis polnischen Organisationsbedürfnisses. Wir werden
nachzuweisen haben, daß der liierin scheinbar zum Ausdnick kommende
Mangel an Gemeinsinn bei den pobiischen Großgrundbesitzern nicht durch
Charakteranlage der Polen erklärt werden darf.
Die Viehhaltung ist im Zarfum Polen wohl gestiegen, aber doch nicht
im richtigen Yerhältnis zur Bevölkerungszunahme. Sie stellt nur etwa
15 Prozent der landwirtschaftlichen Produktion dar, während sie in Deutsch-
land etAva 40 Prozent bildet. In der Zeit von 1870 bis 1899 betrug die
Zunahme des Hornviehs nur ein Drittel der Bevölkerungszunahme und
war nur halb so groß wie in Deutschland. Selbst gegenüber Rußland ist
die jährliche Zunahme des Hornviehs mn die Hälfte geringer, während
sie nur ein Zehntel von der in Deutschland darstellt. Ln Jahre 1899
kamen nach einem Bericht^) auf 100 Bewohner des Zartums nur 22,6 Stück
Hornvieh, auf 100 Bewohner Deutschlands mehr als 50. Dabei ist das
lebende Durchschnittsgewicht in Polen 700, in Deutschland aber 1000 bis
1100 Pfund. Die polnischen Kühe geben jährlich keine 1000 Liter Milch,
die deutschen durchschnittlich 1800 bis 2000 Liter.
Die Schafzucht ist, nachdem sie früher einmal eine große Bedeutung
gehabt hatte, von 1870 bis 1899 um 38,8 Prozent zurückgegangen.'^) Im
Jahre 1870 kamen auf 100 Bewohner 68,7 Schafe, im Jahre 1899 nur
29,9 Stück, was einem zahlenmäßigen Rückgang von 4180122 auf 2767133
Stück oder 33,8 Prozent gleichkommt. Doch darf dieser Rückgang der
Schafzucht nicht als unbedingter Rückgang der Landwirfschaft bezeichnet
werden. Er deutet vielmehr auf eine Steigerung der Intensität hin, die in
einer Verminderung der brachliegenden Flächen zmu Ausdruck kommt.'')
Auch die Schweinehaltung ist gegenüber der Bevölkerungszunahme
zurückgegangen. Die Zahl der Schweine betrug 1870 etwa 1104415 Stück,
im Jahre 1899 nur 8 Prozent mehr oder 1192 750. Im Jalu'e 1870 kaiuen
18,1 Schweine auf 100 Bewohner, im Jahre 1899 nur 12,9, was einem
Rückgang von 5,2 Prozent entspricht.^)
*) Vom 22. Jamiarl903 im Warschauer GouvernemeDtskomitee. S. „Arbeiten usw." S.71.
') Im Verhältnis zur Bevölkerungszunahme.
*) „Arbeiten usw.", Gouvernementskomitee in Lomsha, S. 468 ff
*) Ebenda, S. 469,
188 Neuntes Kapitel. Zur Agrarfrage
Eine Sonderstellung gegenüber dem allgemeinen Rückgang nimmt die
Pferdezucht ein. Die Zahl der Pferde vermehrt sich jährlich um 2,8 Prozent
oder um 1,2 Prozent stärker als die Bevölkerung. Im Jahre 1870 gab es
im Zartum 753421 Pferde, im Jahre 1899 dagegen 1366925, imd während
früher 12,4 Pferde auf 100 Bewohner kamen, betrug diese Zahl im
Jahre 1899 etwa 14,7. Für die Volkswirtschaft des Zartums Polen darf
diese Zunalime nach den Ausführungen ]\Iichalskis nicht als absoluter Ge-
winn eingesetzt werden.^) In den Städten sei die Zunahme der Pferde
unzweifelhaft die Folge der großen Entwicklung der Industrie und des
damit verbundnen Lastfuhnerkehrs. Auf dem Lande wurde aber der Ochse
durch leichte Pferde verdrängt. Der Berichterstatter gibt die Zahl der
aus der Wirtschaft ausgeschiednen Ochsen mit 600000 an.
Die natürliche Düngung ist im Vergleich zu den russischen Gou-
vernements reich, da auf 100 Deßjatinen bearbeiteten Bauernlandes 19,8
Pferde, 46,2 Hornvieh, 15,5 Schafe und 18,7 Schweine entfallen. Jessipow
bezeichnet den Reichtum durch die Angabe, daß im Jahre 1894 mehr als
900000 Pferde in Polen vorhanden gewesen seien, wobei auf 1000 Höfe
nur 300 ohne Pferde entfallen. Das sieht gegenüber Rußland recht gut
aus, weil dort von 1000 Höfen 313 bis 550 ohne Pferde vorhanden sind.^)
Doch verblaßt das Ergebnis, wenn man sich daran erinnert, daß in den
Höfen die der Güter und Vorwerke eingerechnet sind, und daß im Zartimi
Polen eine ausgedehnte Pferdezucht betrieben wird. 3) Im Gouvernement
Kjelce sind Dörfer mit 48 Prozent pferdelosen Höfen das übliche, und es
gibt Dörfer, in denen 78 Prozent der Höfe keine Pferde haben.*)
Künstlicher Dünger, wie Thomasschlacke, aber auch Kalisalze, werden
in den Großbeti'ieben überall verwandt. Ebenso ist Gründüngung mit
Lupinen stark verbreitet.
Für die Ausdehnung und Vertiefung des Getreideanbaues stehn uns
nur allgemeine Angaben für das Zartum zur Verfügung. Infolgedessen
wird die Höhe der Entwicklung in einzelnen Gouvernements und die Rück-
ständigkeit in andern vollständig verwischt. Nach Angaben des Land-
^) Vom 22. Januar 1903 im Gouvernementskomitee von Petrikau, S. 798.
■2) W. W. Jessipow, „Das "Weichselgebiet", Warschau, Druckerei des Warschauer
Lehrbezirks, 1907, S. 24.
■■') Im Jahre 1900 wurden amtlich 335 Pferdegestüte gezählt mit 593 edeln Deck-
hengsten und 5990 Zuchtstuten. Im Norden wird Trakehner Vollblut, im Süden eng-
lisches Vollblut und in den Rübengegenden kalte Schläge, hauptsächüch Normannen ge-
zogen. Das Gestüt des Grafen Krasinski hat europäischen Ruf.
*) Bericht des Präsidenten des Kameralhofs S. A. Schpilew ün Kjelcer Gouvemements-
komitee, siehe „Arbeiten usw.'' a. a. 0. S. 382/83.
B. Die Lage der Landwirtschaft 189
Weizen
Gerste
Hafer
83
70
62
72
61
56
114
111
119
Wirtschaftsministeriums ^) betrug die Ernte im Zeitraum von 1893 bis 1899
in Pud von einer Deßjatin:
für Roggen
auf Gutsland 69
auf Bauernland .... 21
in Deutschland-) .... 97
Eine geordnete Waldivirtschaft gibt es im Zartiun Polen nicht. Nur
etwa ein Zehntel des Waldes im Zartimi gehört den Bauern, drei Zehntel
der Ki'one und sechs Zehntel dem privaten Gi^undbesitz. Sie ist noch am
besten in den fiskalischen Wäldern, am schlechtesten dort, wo die Servi-
tute nicht abgelöst wurden.
Die polnische Landwirtschaft, insonderheit die gutsherrliche, hat, ab-
gesehen von den Servituten, zwei starke Feinde: hohe Steuern und die
Eisenhahntarife.
Während die Steuer im Südwestgebiet 26,3 Kopeken auf eine Deßjatin,
im südlichen Steppengebiet 17,1, im Osten und Südosten 14,2 und in den
Wolgagouvernenients gar nur 11,9 Kopeken beti'ägt, müssen die polnischen
Landwirte 102 Kopeken zahlen. Nach Ssuligorski ^) gestaltet sich infolge-
dessen und trotz des Vorhandenseins billiger Arbeitskräfte die Getreide-
erzeugung erhebHch teurer als auf russischen Betrieben. Nach Ssuligorskis
Berechnungen, die von den Landwirten als richtig anerkannt werden,
kostet die Erzeugung eines Pud:
Hafer "Weizen Roggen
im Zartum Polen . . . 48,8 Rbl. 66,4 Rbl. 59,1 Rbl.
an der Wolga 35,8 „ 45,2 „ 48,6 „
im Südwestgebiet .... 28,5 ., 53,4 „ 32,5 „
Bei diesen Produktionsverhältnissen wirkt der russische Eisenbahntarif
von 1889 um so schwerer. Sein Grundprinzip ist die Herabsetzung der
BefÖrdemngskosten auf den großen Entfernungen und ihre Yerteuerung
auf den kleinen. Er wurde in Rußland eingeführt, als die große Agrar-
krisis in der zweiten Hälfte der 1880er Jahre das russische Getreide vom
Weltmarkt abzudrängen drohte.'*) Für das polnische Getreide ergab sich
aus dem Prinzip eine außerordentliche Konkurrenz des russischen und
sogar sibirischen Getreides, Der Waggon Geti-eide zu 750 Pud kostet
^) Sammlung statistischer Daten über die Landwirtschaft in Rußland, 2. Auflage,
St. Petersburg, 1902, S. 122.
^) Nach Ballod zitiert in den „Arbeiten usw.", Wai-schauer Komitee, S. 64.
^) Zitiert bei L. B. Skarzinski, „Auszug aus den Arbeiten der örtlichen Komitees in
den Gouvernements des Zartimis Polen^', St. Petersburg, Druck bei W, F. Kirschbaum,
1905, S. 267.
*) Spätere Änderungen von 1893, 1896 und 1900 trugen mehr einen technischen
als wirtschaftlichen Charakter.
190 Neuntes Kapitel. Zur Agrarfrage
nämlich für die Strecke Uralsk— Warschau oder 2321 "Werst 241,88 Kübel,
für die Strecke Uralsk— Alexandrowo oder 2531 Werst 255,70 Rubel, für
die Sti'ecke Warschau— Alexandrowo oder 210 Werst 67,21 Rubel. Somit wird
das Uralgetreide oder Mehl auf einer Sti-ecke für 13,72 Rubel befördert
pro Waggon, für che das Warschauer Getreide mehr als fünfmal soviel
zahlen muß!^) Das rassische Tarifsystem wirkt auch in andrer Richtung
schädlich. So können die großen Mengen von Abfällen in den Städten nicht
für die Landwirtschaft nutzbar gemacht werden. Trotz des Vorhandenseins
der Eisenindustrie im Gouvernement Petrikau findet die heimische Thomas-
schlacke wenig Verwendung, imd im Jahre 1902 wurden allein durch die land-
wirtschaftlichen Gesellschaften 2000 Waggon aus Südrußland eingeführt.-)
Schlimmer noch ist es mit den gemeinen Abfällen. Allein Wai-schau liefert
alljährlich gegen 200000 Kubikmeter Abfälle, die mit Pferden in die
nächste Umgebung der Stadt geschafft werden müssen und dort die Luft
verpesten, weil die Eisenbahntarife ihren Ankauf durch Landwirte unrentabel
machen.^) Daß in den Arbeiterzenti'en hierdurch die ungünstigsten sanitären
Verhältnisse geschaffen werden, bedart keiner besondern Erwäliiuing.
Die gewerbliche Organisation des Großgnmdbesitzes ist bis 1905 sehr
wenig entwickelt. Sie besteht in der Landbank zu Warschau und deren
Direktionen in den zehn Gouvernements. Wir sprechen von ihr gelegent-
lich der polnischen Kreditorganisation im zwölften Kapitel. Landwirt-
schaftliche Vereine gibt es zehn. Alle fülu'en ein verhälbiismäßig gesundes
Dasein, obwohl ihnen die Behörden aus politischen Gründen mit großem
Mißtrauen gegenüberstehn. Über landwirtschaftliclie Genossensciiaften soll
noch besonders die Rede sein. Immerhin konnten bis zum Jahre 1903
etwa die Aktiengesellschaften vuid die Landbank als die einzigen wirt-
schaftlichen Organisationen des polnischen Großgrundbesitzes bezeichnet
werden, die in den letzten vierzig Jahren aus der pohiischen GeseUschaft
heraus entstanden waren. (Weiteres Kapitel 11 und 12.)
Der landwirtschaftliche Kredit ist im Zartum Polen sehr beengt?
Die gi'oße Steigerung der Bodenpreise hat freilich viele Kapitalien aufs
Land gezogen. Doch ist dadurcli nicht der mittlere Großgrundbesitz ge-
stärkt worden, sondern ausschließlich der ganz gi'oße. Der kleine und
mittlere Großgriuidbesitz fällt dagegen der Zerstückelung anheim. Inwie-
weit die Zerstückelung nur eine Vorstufe für neue Akkiunulationen ist,
läßt sich nach den vorliegenden Daten noch nicht mit Sicherheit feststellen.
') Siehe Arbeiten der Gouvernementskomitees usw., Bd. 51, S. 96. Siehe auch
unser Kapital vom Handel, S. 162 ff.
*) Auszüge aus den Arbeiten der Gouveraementskomitees, von Skarzinski, a. a. 0., S. 10.
') Ebenda S. 12.
B. Die Lage der Landwirtschaft 191
Über die Organisation des ländlichen Kredits findet der Leser im
elften Kapitel eine ausführliche Darstellung, Die Arbeiterverhältnisse sind
im zehnten Kapitel eingehend behandelt.
4. Servitute und Streuländerelen
(vgl. S. 43 bis 46)
Der Generalgouverneur Gurko hat gesagt, die russische Regierung
bedürfe der Servitute, um Unfrieden zwischen die Grundbesitzer und
Bauern zu säen. Andrerseits wird überall beobachtet, daßdie Servituten-
inhaber ihr Recht dem Gutsbesitzer gegenüber dazu ausnutzen, ihn zu
zwingen, ihnen unter für sie günstigen BedingT^mgen Land abzutreten
(S. 179). Wir sahen schon, daß die privilegierten Bauern mit Hilfe der
Ablösung der Servitute gegen 444400 Deßjatinen Land oder mehr als
zwei Drittel alles von ihnen gekauften Landes erworben haben. Dadurch
ist indessen sowohl für die Bauern wie für die Gutsbesitzer ein andres
Übel gewachsen: die Streuländereien oder die Gemengelage.^)
Im ganzen Gebiet des Zartiuns waren im Jahre 1906 — frühere Daten
fehlen — von den 7417 Gütern 15,9 Prozent oder 1180 durch Enklaven
von Bauernland durchsetzt. Am günstigsten ist die Lage der Güter üu
Weizen- und Rübengebiet, wo von 2226 Gütern uui" 10,4 Prozent oder
232 mit bäuerlichem Streuland behaftet sind, am schlechtesten ün Nordost-
gebiet, Avo das Yerhältnis 2404 zu 523 oder 21,8 Prozent ist. Ln in-
dustiiellen Südwestgebiet sind die Zahlen 2787 zu 373 oder 13,4 Prozent.'')
Wii' sehen somit auch hier Zeichen der größten Konsolidierung des Groß-
grundbesitzes in den beiden Gouvernements Lublin und Warschau.
Über den Umfang der Streuländereien ini bäuerlichen Besitze haben
wir genauere Daten nicht zur Verfügung. Nach Spassowitsch und Pilz
sollen Zerstückelungen von Bauerngütern in zehn Parzellen keine Selten-
heit sein,^) Im Gouvernement Lublin Liegen die einzelnen ParzeUeu oft
fünf bis sieben Werst auseinander und vom Hof entfernt imd sind häufig
kleiner als ein halber Morgen.*) Eine Sonderheit der Parzellen ist ihre
*) Anders bei Spassowitsch und Pilz a. a. 0. S. 170, die in der Entwicklung der
Streuländereien die Großgrundbesitzer nicht so schwer betroffen sehen wie die Bauern.
2) Errechnet aus den Angaben der Arbeiten des "Warschauer Statistischen Komitees
von 1907, Heft XXX, S. 48/49.
•'') Tagesfragen a. a. 0. S. 167. Einige wenige vergleichende Angaben auch bei
A. A. Kofod, „Der Kampf gegen die Streuländereien in Rußhuid und im Auslande",
St. Petersburg, bei A. Ssuworiu, 1907, zweite Auflage, S. 59 bis 67.
*) A. I. Napiurkowski in den Sitzungen des Lubliner Gouveraementskomitees. ,. Ar-
beiten usw.", S. 528. Vgl. auch Bericht I. A. Jesjoranskis ebenda S. 673 bis 682.
192 Neuntes Kapitel. Zur Agrarh-age
Form, Sti'eifen, die bis zu fünf Werst Länge haben und häufig nur andert-
halb bis zwei Meter breit sind.
Die Eegierung hat aus den bekannten Gründen keine ernsten
Schritte getan, der Ausbreitung der Sti'euländereien Halt zu gebieten. Das
Gesetz vom 29. Dezember 1876 enthält so ^^el Beschränkungen, daß es
in den seit seinem Erlaß hingegangnen dreißig Jahren fast nii'gends zur
Anwendung gebracht wurde. So scheiden nach Artikel 4 des Gesetzes
von vornherein von allen Yeränderungsmaßnahmen aus: alle die zugeteilten
Ländereien, die dem Schutz des Gesetzes vom 26. Mai 1864 unterliegen
(siehe S. 46/48). Aber auch das Land, das das bäuerliche Haus umgibt,
darf zum Ausgleich der Grenzen niclit herangezogen werden, ebensowenig
die Grundstücke der Kohl- imd Hanfbauern (Artikel 13). Dui'ch diese
Bestimmungen hat das Gesetz jede faktische Bedeutung verloren, da ge-
rade die Kohl- und Hanffelder die zahlreichsten Enklaven auf den Guts-
wiesen bil.den. Der Geschäftsgang bei der Abruudung der Besitzungen
ist dadurch erschwert, daß der beteiligte Gutsbesitzer nur eine Stimme, die
bäuerliche Gemeinde aber zehn Stimmen hat, imd die Leitung der Ab-
lösimg in den Händen des Bauernkommissai's liegt. Auch hier zeigt sich
wieder das unsinnige Bestrehen, tvirtschaftliche Angelegenheiten ausschließ-
lich nach politischen Gesichtsjyunkten zu hehandehi, und die Großgiiind-
besitzer gegenüber den Bauern zu benacliteiligen.
Auf den von 1901 ab tagenden Sitzungen der Gouvemementskomitees
zur Hebung der Landwirtschaft ist viel über die angedeuteten Mißstände
gesprochen worden. Auch wurden von solchen Männeni wie M. D. Skrjabin
(Radom) und Jesjoranski (Petrikau) praktische Vorschläge zu ilirer Be-
seitigung gemacht. Die Regierung hat dennoch keinen einzigen Schritt
getan, um die Aclcerhewirtschaftung im Zartiim Pole^i in normale Ge-
leise zu lenken.
Dasselbe gut von den Servituten.
Wie schwer die Landwirtschaft unter ihnen leidet, mögen einige Zahlen,
die kaum eines Konmientars bedüi-fen, erläutern. Im Jahre 1906 waren
im Gouvernement Ssuwalki 108 Güter mit Servituten belastet, an denen
Bauern aus 717 Dörfern und Flecken teilnahmen, in Lomsha 125 Güter mit
Bauern aus 754 Gemeinden, in Block 420 Güter mit Bauern aus 1068 Ge-
meinden, in Sjedlec 116 zu 564, in Lublin 185 zu 872, in Warschau 294 zu
1025, in Kaiisch 257 zu 739, in Petrikau 182 zu 529, in Kjelce 148 zu 796,
in Radom 77 zu 576.^) In Lomsha gibt es Güter, wo auf 109 Morgen
*) Siehe S. 45/6 und Arbeiten des Warschauer Statistischen Komitees von 1907,
Heft XSX, S. 25.
B. Die Lage der Landwirtschaft 193
Wiese die Bauern das Recht haben, 1600 Stück Hornvieh zu weiden!^)
„Um dieses Recht voll ausnutzen zu können, sagt S. Gawronski, halten die
Bauern eine möglichst große Zahl von Yieh, die dann im Winter hungern
muß."^) Wir selbst konnten beobachten, daß Bauern, die Inhaber des
Weideservituts waren, Yieh von andern Personen, auch von Yiehhändlern,
in Pension nahmen und dafür zwischen 10 bis 30 Kopeken pro Woche,
häufig auch Kleider, Branntwein oder andre Gegenstände des täglichen
Bedarfs erliielten. Solchem „Yiehhandel" können die Gutsbesitzer nur in
seltnen Fällen beikommen, und sie sind gezwungen, offnem Betrage tatenlos
zuzusehen, da sie mit ihren Klagen nur selten durchdringen, überdies noch
die Kosten des Yerfahrens zu tragen haben, wenn sich der des Betrugs
überwiesue Servituteninhaber als mittellos hinstellt. Leider haben die amt-
lichen Untersuchungen keine Feststellungen darüber veröffentlicht, welche
Folgen sich aus diesen Yerhältnissen für die Zunahme der Yergehen und
Yerbrechen im Zartum ergeben. Ssimonenko sucht nur zu beweisen, daß
die Landzuteilung an die Bauern die Zahl der Yergehen gegen das Eigentum
vermindert habe.^)
Zu den Erschwerungen der Klagefülirung gehört auch die vom
Reichsrat im Jahre 1893 erneut bestätigte Yorschrift, *) wonach die juri-
stischen Yertreter der Gutsbesitzer einschließlich der bei den Gerichten
zugelassenen Rechtsanwälte notariell beglaubigte YoUmachten vorweisen
müssen, während sonst eine polizeiliche Beglaubigmig der Unterschrift des
Mandatars genügt.^)
Ein erschreckendes Bild von der Belastung des Großgrundbesitzes
im Zaitum Polen für das Jahr 1903 hat die Kommission des Senators
I.G.PodgorodnikoAv geliefert. Danach haben die 1912 mit Servituten belasteten
Güter an die Bauern zu liefern: 102416 Stäimne Bauholz, 446357 Knüppel,
110726 Stubben, 5979476 Piüiren*') und 439388 Bündel Brennholz und
Reisig, 393691 Fuliren imd 22425 Bündel Sti'eu! Auf den 1912 Gütern
haben das Recht zu weiden: 1. auf Heideland 53308 Pferde, 9270 Kühe,
30141 Schafe und 4160 Schweine; 2. auf Stoppel 62530 Kühe, 10044
Pferde, 34296 Schafe und 10388 Schweine; 3. im Walde 174916 Külie,
36339 Pferde, 63347 Schafe und 5473 Schweine; 4. auf Wiesen 14070
Kühe, 3158 Pferde, 4807 Schafe und 881 Schweine.
^) Arbeiten des Warschauer Statistischen Komitees von 1907, Heft XXX, S. 23.
*) Sammlung der Arbeiten des Gouvernementskomitees von Ssuwalki, 1902, S. 60 ff.
^) Arbeiten des "Warschauer Statistischen Komitees von 1900, Heft XYII, S. 43.
*) Ai-tikel 19 der Anlage zu Artikel 118 der Yorschiiften des Organisationskomitees.
') Rechenschaftsbericht des Eeichsrats von 1893, Bd. E, S. 484/96.
^) Durchschnittlich etwa 3120 Fuhren vom Gut pro Jahr.
Cleinow, Die Zukunft Polens 18
194
Neuntes Kapitel. Zui* Agrarfrage
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B. Die Lage der Laudwirtschaft
195
Über die Belastimg der Güter in den einzelnen Gouvernements gibt
die nebenstehende Zusammenstellung Aufschluß.*)
Yergleichen wir diese Angaben mit den Zahlen über die Verteilung
des Gutslandes nach ihrer Nutzimg (Tabelle auf S. 154), so können wir
uns u. a. einen Begriff davon machen, wie die Wälder in den einzelnen
Gouvernements vei-wüstet werden. So werden allein an Brennholz jährlich
herausgefahren von
69683 Morgen des Gouvernements Ssuwalki
84641
102952
237180
421 298
230603
183387
206847
187222
237252
Neben diesen direkten Schädigungen der Landwirtschaft liegt eine
große Zahl von indii'ekten auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens.
Aus der Zahl der Sti-eitfälle wegen Ausübung des Servitutenrechts kann
gefolgert werden, wievielen Plackereien die Gutsverwaltungen fortgesetzt
ausgesetzt sind, und welchen Apparat sie gezwungen sind zu unterhalten,
um ihre Wälder und Wiesen vor völliger Verwüstung zu bewahren. Li
dem Jahrzehnt von 1894: bis 1904 ist die Zahl der lilagen zwischen Guts-
besitzern mid Bauern fast in allen Gouvernements erlieblich gestiegen.-)
So gab es Streitfälle in den
Ssuwalki .
. 264118 Fuder
Lomsha .
. 202535 „
Plock . .
. 186211 „
Sjedlec
. 641511 „
Lublin
. 2552722 „
Warschau
. 239722 „
Kaiisch .
. 470551 ..
Petrikau .
. 644745 „
Kjelee . .
. 398997 „
Eadoni
icrpn flor T
. 379076 „
Gouvernements
Jahr
Instanz
Jahr
Instanz
Kommissar
Berufung
Kommissar
B eruf ung
Ssuwalki
Lomsha
Plock
Sjedlec
Warschau ....
Lublin
Kaiisch
Petrikau
Kjelee
Radom
1894
1894
1873
1894
1873
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1894
1894
1894
535
289
235
516
71
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332
423
187
87
79
27
281
20
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60
59
32
1899
(1903
\1904
1904
1904
1894
1904
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1904
1904
1904
641
( 272
\ 233
380
872
505
1068
418
433
110
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176
176
96
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27
*) Siehe Arbeiten des Warschauer Statistischen Komitees von 1906, Heft XXVI,
Text S. 40 und ebenda von 1907, Heft XXX, S. 83.
*) Arbeiten des Wai'schauer Statistischen Komitees von 1907, Heft XXX, S. 29.
13*
196 Neuntes Kapitel. Zur Agrarfrage
Besonders hervorgehoben sei, daß es sich bei den angeführten Zahlen
nicht um Ablösimgsverhandlungen, sondern ausschließlich um Streitigheiten
wegen Kürzung oder Überschreitung des Servituteurechts handelt. Femer
ist es interessant, darauf liinzuweisen, daß die Zahl der Sti'eitigkeiten be-
sonders groß ist in Gouvernements mit unierter Bevölkerung wie Lublin
imd Sjedlec. Sollte dort die Regierung eine besondre Propaganda für
die Streitigkeiten treiben? "Wir werden darüber im Abschnitt von der
Politik hören.
C. Die bäuerliche Wirtschaft
Wir haben nun alle Verhältnisse zusammen, zwischen denen sich das
Leben der versclüednen politischen Arten von bäuerlichen Wirten abspielt.
Wir sahen die Schatten einer bäuerlichen Selbstverwaltung, leniten die
Industrie als Abnehmeiin der menschlichen Arbeitskraft und landwirtschaft-
licher Erzeugnisse, einen lebhaften, aber entarteten Handel als A^emiittler
zwischen ländlichen Produzenten und städtischen Verbrauchern kennen.
Wir sahen auch, wie sich die Industiie in einigen Zenti'en im Südwesten
des Gebiets zusanunenhäuft, während die nordöstlichen Gouvernements von
ihr faßt entblößt sind. Ferner lernten Avir die nächsten Nachbam der
bäuerlichen Betriebe, die landwirtschaftlichen Großbetiiebe kennen und
haben die vielfachen rechtlichen Beziehungen gesehen, die besonders durch
das Servitutenrecht imd durch das Vorhandensein von Sti-euländereien
zwischen Gutsherren und Bauern zu beider Schaden geknüpft sind. Nun
ist es an der Zeit, zwischen die Maschen des also geflochtnen Netzes die
Inhaber der bäuerlichen Betiiebe zu setzen.
Diese Inhaber werden, wie wir schon hörten, politisch in mehrere
Kategorien geteilt, von denen jede nur eüien gewissen Teü der Segnmigen
staatlicher Fürsorge zugewiesen erhält, von denen jede besondem Gesetzen
unterworfen ist, die die Folgen des natürlichen Kampfes ums Dasein
mildern oder verschärfen sollen. AVir lernten diese Kategorien als privi-
legierte und niclit privilegierte Bauern (S. 127), kleine Schlachta (S. 201)
und Kolonisten (S. 134) kennen. Von den Kolonisten und deren Wirtschaft
wurde schon das Notwendige gesagt. Von den Bauern und von der kleinen
Schlachta wollen -wir hierunter sprechen.
1. Lage der bäuerlichen Landwirtschaft
Die bäuerliche Ackerbewirtschaftung steht im Zartiuu Polen nicht an-
nähernd auf der Höhe der gutsheiTÜchen Wirtschaft. Grundlage der bäuer-
lichen Wirtschaft ist die Feldhearheitung. Der Getreideanbau nimmt die
erste Stelle ein. Vor allen Dingen kommt für die Bauern WinteiToggen
C. Die bäuerliche Wirtschaft 197
in Fi'age, wenn auch Wintenveizen in geringen Mengen angebaut Avird.
Die zAveite Stelle behauptet die Kartoffel. Daneben stehn Hafer, Gerste,
Buchweizen, Hirse, Erbsen. Das Verhältnis für den Anbau der verschiednen
Feldfrüchte iin Zaiiiim Polen ergibt sich aus folgenden in Tausend Deß-
jatinen angegebnen Zahlen,
Es wurden angebaut Deßjatinen in den Jahren:
1890^) 1897») 1903«)
Koggen 1654,4 1773,5 1923,9
Hafer 934,5 928,3 1045,0
Gerste 396,4 387,1 445,5
"Weizen 512,7 448,3 478,5
Buchweizen .... 127,9 108,8 109,8
Erbsen 169,5 145,6 169,9
Kartoffeln 729,8 709,9 849,4
Die größte Rolle für die Mehrzahl der Bauernhöfe spielt die Kartoffel.
Gras wird mit Ausnahme einzelner Kreise des Gouvernements Ssuwalki,
in denen die Dörfer in Kolonien angelegt sind,^) nicht gesät. In den
meisten Gegenden ist der Boden dafür nicht geeignet, in andern sind
Weidesenitute oder Gemeindeweiden in ausreichendem Maße vorhanden.
Bei der großen Zerstücklung des bäuerlichen Besitzes reicht gewölmlich
auch das Ackerland nicht dafür aus, oder die Bauern sind überhaupt ohne
Haustiere, haben somit für Gras keine Verwendung. Besser gestellte
Bauern säen Klee und Serradella zwischen das Getreide oder nelunen an
Stelle von Gras Luzerne.
Im engen Zusammenhang hiermit steht die Organisation der Feld-
ivirtschaft. Dreifelderwirtschaft, die in den russischen zentralen Gou-
vernements am häufigsten vorkommt, ist im Zartum Polen wenig bekannt.
Die landarmen Bauern haben zwei Felder, auf denen sie abwechselnd
Roggen und Kartoffeln bauen, reichere schieben Brache ein; hin und
wieder Lupinen als Gründüngung. Verhältnismäßig häufig ist die Felder-
lage: Brache, SommeiTing, "Winterung, Kartoffeln. Die kleinen Wirtschaften
werden ergänzt durch Kohl- und Hanffelder. Doch nimmt dieser Teil in
den Gminen ständig ab und verliert sich vollständig aus der bäuerlichen
Wirtschaft, aus denen eine starke Abwandei'ung zur Saisonarbeit statt-
findet. Die Kohlfelder werden in solchen Gegenden von großem, kapital-
kräftigem Unternelmiern — in steigendem Maße Juden — gepflegt; die
Hanffelder versch^vinden in den von der Sachsengängerei ergriffnen Ge-
bieten vollständig aus der Landschaft. Orlow berichtet, daß nur Bauern
mit mehr als fünfzehn Morgen Land zu einer Vielfelderwirtschaft über-
>) Jahrbuch des Finanzministeriums von 1898. S. 532. — ») Ebenda von 1904, S. 594/97.
^) Gouvernementskomitee in Ssuwalki, „Arbeiten usw.", S. 1027.
198 Neuntes Kapitel. Zur Agrarfrage
gehn^) und dann danach trachten, deutsche Wirtschaftsprinzipien an-
zuwenden, die sie im Auslande oder bei benachbarten Kolonisten kennen
lernten. In den meisten Fällen werden sie jedoch in allen Verbesserungen
gehindert durch die Streuländereien und durch die Streifen Wirtschaft. Über
die Streuländereien und das Yerhalten der russischen Verwaltung gegen-
über der Regulierung hörten wir auf Seite 192. Den großen Schaden der
Streifenwii-tschaft schildern verschiedne Berichterstatter in den Sitzungen
der Gouvernementskomitees zur Hebung der Landwirtschaft. Im Gou-
vernement Lublin besitzt jeder Bauernhof mehrere solcher Sti'eifen, die
voneinander durch hunderte Streifen andrer Besitzer getrennt und nicht
selten die Länge von drei bis fünf Werst eiTeiclien. ^) Im Gouvernement
Warschau kommen bis zu dreißig Parzellen vor, die zusammen ein Bauern-
gut bilden.") Die Entfernung der Felder vom Hofe beträgt nicht selten
fünf bis sieben Werst.*) Unter solchen Verliältnissen ist der Boden-
verlust durch die Grenzraine und Wege außerordentlich groß. Die land-
wirtschaftliche Gesellschaft von Lomsha hat berechnet, im Zaiiuni Polen
seien nicht weniger als 765000 Morgen unter Wegen, Grenzen und
Rainen, was einem Kapital von 76,5 Millionen Rubel gleichkomme.^)
Jesjoranski berechnet, daß, während (juadratisch geschnittne Grundstücke
nur 0,6 Prozent für Grenzraine abzugeben haben, die Länge der in Polen
üblichen Streifen eine Abgabe bis zu 10 Prozent der reinen Ackerfläche
notwendig mache.") Ähnliche A^crhältnisse werden aus allen Kreisen des
Zartums gemeldet. Eine Ausnahme bilden tlie nördlichen Kreise des
Gouvernements Ssuwalki: Mariampol, Wladislawow, Kalwarija. Dort besteht
das gute Beispiel eines Fürsten Oginski im benachbarten Kowno, der
seine Bauern bei der Befi'eiung im Jahre 1861 sofort zwang, die Dörfer
in Kolonien anzulegen.'') Nach dem Bericht des Gouvernementskomitees
von Ssuwalki schreiten alljährlich mehr Dörfer zur Landumteilung, Aus-
siedlung und zur Anlage von Kolonien.^)
Audi die ärmsten Bauern betreiben die Feld^virtschaft mit möglichster
Genauigkeit. Wer russische und polnische Bauernfelder gesehen hat, wird
den Unterscliied zwischen beiden bemerkt haben. Der polnische Bauer
sucht vielleicht schon aus angeborneni Schönheitssinn eine schöne, gleich-
mäßige Ackerfurche zu ziehen, hält seinen Boden von Steinen und Un-
kraut rein. Wenn man die Eisenbahn von Alexandrowo nach Warschau
*) Gouvernements-Komitee in Ssuwalki, ,, Arbeiten usw.", S. 29.
') Komitee für Lublin, „Arbeiten usw.", S. 528.
') Komitee in Warschau, ebenda S. 42. — ■*) Komitee in Lublin, ebenda S. 529.
*) Komitee in Kaiisch, ebenda S. 173. — ^ Komitee in Petrikau, ebenda S. 674/75.
^ Kofod, a. a. 0. S. 62. — «) Komitee in Ssuwalki, a. a. 0. S. 1029.
C. Die bäuerliche Wirtschaft 199
benutzt, dann f edlen dem Keisenden längs den zahlreichen Rainen die
großen dort aufgehäuften Mengen von Steinen auf. Diesem Bilde begegnet
man überall, da Verbindungswege und aiich Pferde zum Abti'ansport der
lästigen Eindringlinge fehlen. Die reichern Bauern fahren dagegen die
Steine an besondre Stellen zusammen. Die Ackergeräte sind viel besser
imd moderner als die in Rußland verwandten. Die Socha kommt wohl
gar nicht mehr vor. Ihre Stelle hat ein leichter hölzerner Pflug mit
eiserner breiter Schar eingenommen, und er beginnt wegen der hohen
Holzpreise immer mehr dem eisernen Platz zu machen. Dasselbe gilt von
Eggen. Solche mit Holzzähnen erinnern wir uns zuletzt im Kreise HiTibieszow
vor zwanzig Jahren gesehen zu haben. Li den letzten Jahren begegiieten
uns vorwiegend eiserne Eggen. Das Getreide wird mit Flegeln gedroschen.
Dreschmaschinen mit Pferdeanü'ieb sind eine Seltenheit. Auch Wind-
reiniger sind nicht auf allen Höfen vorhanden. Dieser Zustand wird sich
wohl noch einige Zeit halten, da im Winter den Bauern überall große
Mengen von Arbeitskräften zur "Verfügung stehn.
Sehr gering ist die Viehhaltung und der Gartenbau bei den pol-
nischen Bauern entwickelt. Über die Viehhaltung im allgemeinen wurde
schon auf Seite 187 ff. gesprochen. Eine böse Folge des Viehmangels ist der
Mangel an natürlichem Dünger. In den Gouvernementskomitees von Ssuwalki
und Kaiisch wurde von Theoretikern und Praktikern behauptet, der Bauer
könne nur den zelmten Teil der jährlich Düngung beanspruchenden Fläche
mit natürlichem Dünger versehen.^)
Die ÄcJcerhestellung wird fast ausschließlich mit Pferden besorgt und
im Gouvernement Sjedlec mit Kühen. Dort spielt die kleine magere Kuh
in der bäuerlichen Wirtschaft eine ähnliche Rolle wie das Renntier beim
Lappländer. Sie ist Zugtier, liefert Milch und schließlich das wenige Fleisch.
Die amtliche Statistik gibt leider keine Zahlen über die Verteilung des
Hornviehs über die einzelnen Gemeinden (vgl. auch S. 165: Handel mit
Steppenvieh). Halten wir* liiemeben die Angabe, daß 212700 Bauernhöfe
ohne Pferde sind, so kömien wir ungefähr ermessen, auf welch einem
tiefen Stande die bäuerliche Wirtschaft im Zartiim Polen ti'otz der ge-
sunden Grundlagen von 1864 angelangt ist.
Die Oartenhaltung beschränkt sich meist auf Ziersträucher und Blumen.
Obstbäume werden sehr selten gehalten. Darum erwecken die Bauernhöfe
besonders an der Weichsel und südlich davon aus der Feme einen ü'aurigen
und verlassenen Eindruck. In der Xähe betrachtet, wirken sie dagegen
freundlicher, Nur in Ssuwalki und Lomsha sind die Bauernhöfe von
1) „Arbeiten usw.- a. a. 0. S. 673 und lt)27.
200 Neuntes Kapitel. Zur Agrarfrage
höhern Bäumen, gewöhnlich Birken, Ebereschen und Edeltannen oder auch
von wilden Obstbäumen umgeben. Im Herbst gewähren darum solche Höfe
einen eigenartigen Anblick. Es geht ein heimlicher Zauber von ihnen
aus, dem sich der "Wandrer schwer entziehen kann. Das Laub der Birken
ist gelb, die Edeltannen erscheinen tiefschwarz, und dazwischen glühen
sattrot die Beeren der Eberesche. Darüber wölbt sich ein graublauer
Himmel, an dem die Somienscheibe nicht sichtbar wird, und völlige "Wind-
stille verbreitet Frieden. Um die Höfe herum weiten sich die gelben
Stoppelfelder, übersät von weißen Flecken — zahlreichen Gänseherden.
In den 1890er Jahren konnte ein Besitzer von sieben bis aclit Deß-
jatinen Land durch Gänsehaltung 15 bis 20 Rubel, durch Schweinehaltung
bis 80 Rubel, durch Hornvieh bis 50 Rubel verdienen.^) Die Zeiten sind
vorüber.
Die Hauptgründe für die eben geschilderten Verhältnisse bei der
bäuerlichen Landwiiischaft im Zartum sind das Vorhandensein der Streu-
ländereien in Verbindung mit Streifenteilung, Mangel an langfiistigem Kredit,
tatsächlicher Mangel an natürlichem Kunstdünger und nicht zuletzt Mangel
irgendeiner beruflichen Ausbildung. In allen diesen Punkten stehn die
privilegierten Bauern am tiefsten, die Mitglieder der kleinen Schlachta am
höchsten.
Bei den privilegierten Bauern auf zugeteiltem Lande wirkt auch die
Beschränkung ihres Besitzrechts hemmend auf jede Entwicklimg der Wirt-
schaft. Sie haben sich wohl den Besitztitel am Boden erhalten können,
aber sie waren außerstand gesetzt, dem allgemeinen Zuge der wirtschaft-
lichen Entwicklung des Gebiets zu folgen. Durch die früher gekenn-
zeichnete Kreditbeschränkung vermochten sie sich den Bedürfnissen ihrer
Umgebung nicht im rechten Augenblick anzupassen. Ein scharfes Schlag-
licht wirft in dieser Beziehung die geringe Entwicklung der bäuerlichen
Meiereibetriebe in der Umgegend von industriellen Zentren. Diese Beüiebe
sind fast ausschließlich in jüdischen Händen, die vennöge des Yor-
handenseins irgendAvelcher Kapitalien vom Zwischenhandel ausgehend
(siehe S. 164) allmählich Land in Pacht nehmen konnten und seit einigen
Jahren auch zu einer rationellen Viehlialtung übergehn. Der Bauer ist
dergestalt von vornherein von einer Domäne der Landwirtschaft abgedrängt
worden, die er sich mm wohl schwerlich wird zurückerobern können. Für
diese Entwicklung der Dinge den jüdischen Geschäftssinn allein verantwort-
lich machen zu wollen, wäre ein Fehler. Die russische Gesetzgebung hat
erst die Möglichkeit für seine Betätigung gegeben.
1) Orlow, a. a. 0. S. 30.
C. Die bäuerliche "Wirtschaft 201
Bei dieser Lage der Wirtschaft wirkt noch eine Einrichtung drückend
auf die ärmern Bauern : das Gemeindeland zu Weiden. Das aber sind mehr
als 11 Prozent alles zugeteilten Landes oder 429000 Deßjatinen. Es leuchtet
ein, daß hieraus eigentlich nur die reichern Bauern Vorteil ziehen können,
die Besitzer von Vieh sind, nicht aber die ohne Yieh. Dasselbe gilt von
den Servitutenrechten ganzer Gemeinden.
Trotz diesen gewiß ungünstigen Bedingungen, unter denen die bäuer-
liche Landwirtschaft arbeitet, bleibt die Tatsache bestehn, daß der Umfang
des läuerlichen Landbesitzes von etwa 5,2 Millionen im Jahre 1874 auf
6159000 Deßjatinen im Jahre 1905 gewachsen ist, und daß er noch immer
wächst. Die Gründe für diese Erschemung sind zu finden in der Ab-
lösung des Sendtuteiirechts, im Zusammenwirken der staatlichen Bauern-
bank mit den Parzellationsbanken, im starken Zustrom von Geld in gewisse
Teile der bäuerlichen Bevölkerung durch Yermittlung der Sachsengänger.
Über den bäuerlichen Kredit werden wir im elften Kapitel näheres
berichten.
Über die Absatzverhältnisse glauben wir genügend im achten Kapitel
gelegentlich der Besprechung des Binnenhandels gesagt zu haben.
Hierunter möge noch eine kurze Darstellung der bäuerlichen Arbeits-
kräfte soAvie der Stellung der kleinen Schlachta folgen.
2. Die kleine Schlachta
Zurückkehrend zur Bedeutung der in der Tabelle auf Seite 178 an-
gefühi-ten Zahlen müssen wir auch die kleine Schlachta, die, wie gesagt,
in der amtlichen Statistik gesondeii; geführt Avird, noch mit einigen Er-
läuterungen versehen. Das gescliieht aus politischen Gründen. Wir hörten
schon, daß dieser polnische Kleinadel eine durchaus bäuerliche Lebens-
weise führt.
Die Hauptmasse der kleinen Schlachta ist ioi Gouvernement Lomsha
angesessen. Dort hat sie mit 319400 Deßjatinen 34 Prozent des Bodens
inne. Es folgt Sjedlec mit 155980 Deßjatinen oder 12,3 Prozent, Plock
mit 124480 Deßjatinen oder 14,5 Prozent, Warschau mit 35800 Deßjatinen
oder 2,3 Prozent. In den Gouvernements Kjelce, Lublin, Petrikau und
Ssuwalki eiTeicht ihr Anteil am Boden ein halbes Prozent nicht, und in den
Gouvernements KaKsch imd Radom wird in der amtlichen Statistik über-
haupt keine kleine Schlachta geführt. Im ganzen Zartum hat sich die Zahl
der kleinadlichen Besitzungen von 1873 bis zum Jahre 1904 mn etwa
65 Prozent vergrößert, von 33360 auf 52990. Die Gesamtfläche ihres
Besitzes hat sich dagegen nur bis zum Jahre 1894 entsprechend vergrößert
202 Neuntes Kapitel. Zur Agrarfrage
und ist dann bis 1904 wieder von 670820 auf 651740 Deßjatinen zurück-
gegangen.
Der Grrund für diese Erscheinung liegt in zwei Dingen. Bis zum
Jahre 1904 hatten die Kleinadlichen einen VoiTang vor den Bauern durch
den Zutritt zum langbefristeten Kredit, also zu billigem baren Gelde. Dies
bare Geld kam in Gestalt von Arbeitslöhnen unter die benachbarten Bauern.
Mit Hilfe des baren Geldes konnte der kleine Schlachtziz billige Arbeits-
kräfte haben. 1890 begann die Bauernbank ilire Tätigkeit im Zartum und
half vielen Bauern sich ansiedeln. Nach dem Jahre 1890 setzt auch eine um-
fangreichere Abwandening der polnischen Bauern zur Sommerarbeit ein.
Beides hat zur Folge, daß nun ein gewisser Teil der Bauern auch ohne
Vermittlung ihrer Nachbarn zu barem Gelde kommen kann, während dem
kleinen Schlachtziz als Nichtangehörigen des Bauernstandes die neue
KreditqueUe verschlossen bleibt. Die Arbeitslöhne schnellen in die Höhe,
und der schon stark verschuldete Teil des Besitzes der kleinen Schlachta
vermag sich nicht mehr zu halten. Es ist somit zu einem Teil die wirt-
schaftliche Entwicklung, die die kleine Schlachta zu zeiTeiben beginnt.
Die Regienmg bemüht sich, dieser Bewegung noch Vorschub zu leisten,
indem sie die Kreditgewährung für die kleine Schlachta durch die Bauem-
bank erschwert. Ganz wird die Vernichtung jedoch nicht möglich werden.
Denn gerade auf den Überresten der Schwachen werden die Starken eine
um so gefestigtere Existenz aufbauen können und aus ihr Kräfte ziun
politischen Kampfe ziehen — zu dem politischen Kampf, für den die
Regierung die Meine Schlachta ungeeignet machen wollte.
Die ersten Wirkungen dieser Entwicklung sind schon seit fünfzehn bis
zwanzig Jahren bemerkbar. Denn die kleine Schlachta hat einen bedeutenden
Vorsprung vor den Bauern durch die Pflege der Bildung und das leichte
Anpassungsvermögen an die Aufgaben des Augenblicks. Der vom Lande
weichende Bauer verschlechtert seine Lage meist, indem er städtischer
Arbeiter wird. Der Sohn des kleinen Schlachtziz hat das nicht un-
bedingt nötig. Dank der im väterlichen Hause ti-eu bewahi-ten Famihen-
tradition hat er Beziehungen und Zutritt zu Stipendien. Die Dorfgeistlichen
suchen vor allen Dingen die Kinder der kleinen Schlachta fortzubilden,
weil sie von Haus aus auf einem höhern Bildungsstande stehn als die
Bauemkinder. Die ärmern Eltern schicken ihre Söhne zu Handwerkern
und Kaufleuten in die Lehre. Ein großer Teil der etwa 53000 Hand-
werker polnischer Herkimft, nach einer Angabe mindestens die Hälfte,
nach einer andern über drei Viertel, besteht aus der kleinen, ihres Landes
verlustig gegangnen Schlachta. Wo Ersparnisse vorhanden sind, werden die
Söhne auf landwirtschaftliche Schulen auch ins Ausland geschickt, und die
C. Die bäuerliche Wirtschaft 203
Grouvernementsdirektionen der Landbank weisen den tüchtigen jungen
Leuten Stellen als Yerwalter bei den Magnaten nach. Bis in die 1880 er
Jahre herrschte dort der deutsche Gutsverwalter vor; seit etwa zehn Jahren
wird er durch Polen, meist Söhne der kleinen Schlachta, fast vollständig
ersetzt. Durch diese gesunde Ableitung des Geburtenüberschusses aus der
Landwirtschaft in andre Berufe wird die Meine Schlachta zur Quelle des
sich mächtig e^itwiclcelnden polnischen Mittelstandes, ohne ihren Zusammen-
hang mit dem Boden zu verlieren. Ln Gegenteil, der Bodenbesitz festigt
sich, weil er nicht zersplittert zu Averden braucht. Ohivohl sich die Zahl
der der Meinen Schlachta gehörenden Höfe um etwa 65 Prozent vermehrt
hat, ist die durchschnittliche Größe der Höfe von 10,8 Deßjatinen im
Jahre 1873 auf 12,3 Deßjatinen im Jahre 1904 gestiegen. Sie weicht
somit von der Durchschnittszahl für alle bäuerlichen Betriebe um 100 Pro-
zent ab! Auf der andern Seite ist ti'otz allen Landkäufen durch die Bauern
und trotz allen künstlichen Hilfen durch die ßegiemng der bäuerliche
Betrieb von durchschnittlich 6,8 Deßjatinen im Jahre 1873 auf durch-
schnittlich 6,01 Deßjatinen im Jahre 1904 zurflckgegangen, also unter den
allgemeinen Durchschnitt um 0,34 Deßjatinen gCAvichen.
Besonders in den landwirtschaftlichen Gouvernements des N'ordost-
gebiets hat sich die kleine Schlachta gut enüvickelt. Im Gouvernement
Ssuwalki stehn 50 Betiieben unter 3 Deßjatinen 26 von mehr als 25 Deßjatinen
gegenüber; in Lomsha ist das Verhältnis 5507 zu 2237, in Block gar
836 zu 1299 und in Sjedlec 4459 zu 845. Das ist günstig, wenn wir
uns daran erinnern, daß bei den privilegierten Bauern auf zugeteiltem
Lande im Gouvernement Sjedlec nur 298 Betiiebe von über 25 Deßjatinen,
dagegen 17528 Betiiebe mit weniger als 3 Deßjatinen stehn. In den beiden
Gouvernements des Weizen- und Rübengebiets ist die Lage der kleinen
Schlachta nicht ganz so günstig. In Warschau gibt es zwar neben 542 Be-
trieben imter 3 Deßjatinen noch 318 mit über 25 Deßjatinen, aber in
Dublin ist das Yerhältnis schon 112 zu 11. In diesen beiden Gouverne-
ments macht sich die Einwirkung des Großkapitals am stärksten bemerkbar.
Am schlechtesten ist die Lage der kleinen Schlachta im industiiellen Süd-
westen, wo sie überhaupt wenig zahlreich ist. Im Gouvernement Petrikau
ist das Yerhältnis 285 zu 26, in Kjelce 11 zu 0. Doch muß bemerkt
werden, daß in den ^-ier Industiiegouvemements die Zahl der bäuerlichen
Betriebe mit über 25 Deßjatinen Land überhaupt nur 0,29 Prozent, die
Zahl der kleinsten Betriebe aber 41,94 Prozent von allen Kleinbetrieben
beträgt.
Im ganzen gab es 4760 der kleinen Schlachta gehörende Höfe, die durch-
schnittlich 42 Deßjatinen Land haben, und 2603, die etwa 23 Deßjatinen
204 Neuntes Kapitel. Zur Agrai-frage
haben. In der Gmin Meshilis des Gouvernements Sjedlec gibt es drei
solcher Betriebe zu je 86 Deßjatinen, im Gouvernement Plock in der
Gmin Borkowo 6 zu 133, Osjek 12 zu 96, Prasnysz 2 zu 78 und in Lask
des Gouvernements Petrikau gar 3 zu je 220 Deßjatinen. Wir können
somit folgern, daß sich innerhalb der kleinen Schlachta überall Zeichen
einer wirtschaftlichen Wiedergeburt bemerkbar machen.
Als ein charakteristischer Zug für die kleine Schlachta ist noch zu
bemerken, daß sie in einzelnen Nestern zusanmiensitzt und zu genossen-
schaftlichen Organisationen eher neigt als die Bauern.')
3. Die Verteilung der bäuerlichen Arheitahrtifte
Im ganzen Zartum gibt es et^va 1052857 landwirtschaftliche Klein-
betriebe, die unter den eben geschilderten Verhältnissen bestehn (S. 180);
auf sie sollen 7313300 Menschen*) angewiesen sein. Dabei beträgt die
gesamte Fläche unter Kleinbetrieben gemäß Aufstellung auf Seite 178
etwa 6159500 Deßjatinen. Somit würden auf jeden bäuerlichen Landbe-
wohner des Zartums Polen nur 0,84 Deßjatinen entfallen oder nurS^gDeß-
jatine auf den Hof. Schon aus diesen allgemeinen Zahlen geht hervor,
daß ein sehr großer Teil der am Landbesitz beteiligten Bevölkemng unter
den bestehenden Bedingungen nicht imstande sein kann, sich durch Boden-
bearbeitung und Viehhaltung zu ernähren.
Das trifft vor allen Dingen bei der großen Mehrzahl der städtischen
Ackenvirte zu, von deren 83995 Grundstücken allein 59710 auf solche
entfallen, die kleiner sind als di-ei Deßjatinen, aber nur 186, die größer
sind als 25 Deßjatinen. Die 59710 Höfe mit ihren fast 300000 Seelen
kommen in der Landwirtschaft kaum zur Geltung. Zunächst stellen nele
von ihnen Gärtnereien und Besitzungen von Fabrikarbeitern dar. Jedes
einzelne Grundstück ist, da sie alle zusammen 59778 Deßjatinen umfassen,
in Durchschnitt kleiner als eine Deßjatine. Vielfach sind die Besitzer
Handwerker oder Produktenhändler. Ihre Familienangehörigen sind dement-
sprechend, soweit sie auf Nebenverdienst angewiesen sind, vielleicht aimi
städtischen Proletariat oder aber zum kleinen Bürgertum (siehe S. 127/9),
nicht aber zum ländlichen zuzuzählen. Aus allen diesen Erwägungen
haben wir die sogenannten städtischen Ackerwirte in unsern Betrachtungen
1) L. Krzewicki, Rußkija Wjedomosti von 1906, Nr. 148.
'^) Skarzinski, a. a. 0. S. 466 rechnet, daß 62 Prozent der Besitzer aller Höfe auf
Nebenerwerb angewiesen seien oder etwa drei Millionen Seelen; diesen seien noch zwei
Millionen landlose Proletarier zuzurechnen (vgl. hierzu unsre Ausführungen gegen Jes-
joranskis Auffassung auf S. 128 sowie Ajunerkung auf S. 205).
C. Die bäuerliche Wirtschaft 205
unberücksichtigt gelassen, sondern ausschließlich von der ländlichen Be-
völkerung gesprochen.
Wir brauchen somit hierunter nur niit den auf Seite 180 errechneten
968862 Höfen zu arbeiten. Ferner Averden wir unter HiuAveis auf unsre
Erläuterungen auf Seite 177 bis 180 und im Einverständnis mit Spassowitsch
und Pilz auf jeden Hof nur fünf Menschen als Mitbesitzer bäuerlicher Höfe
im weitesten Sinne rechnen. Dann erhalten wir die Zahl der landbesitzenden
bäuerlichen Bevölkerung einschließlich der kleinen Schlachta im Zaituni
Polen mit 4844300 Seelen. Yon ihnen vermögen sich nur etwa 857900
infolge der Größe und Qualität ihres Landbesitzes ausschließlich durch Land-
wirtschaft zu ernähren. Die übrigen 3996400^) Menschen können nur
bestehn, wenn sie neben der Landwirtschaft noch Nebenerwerb finden.
Dabei haben wir im Einverständnis mit den Nationalökonomen Jesjoranski,
Grabski und KrziAvicki gerechnet, daß eine bäuerliche Wirtschaft in den
Gouvernements Ssuwalki, Lomsha, Plock und Sjedlec durchschnittlich
zwischen acht bis zehn Deßjatinen groß sein muß, um unter den einmal
vorhandnen Bedingungen eine normale Familie zu ernähren, während die
Größe des Besitzes in den übrigen Gouvernements im allgemeinen sieben
Deßjatinen nicht zu übersteigen braucht.
Es sei dabei ausdrücklich hervorgehoben, daß die angeführten Zahlen
nur die unterste Grenze der landarmen polnischen Bevölkerung darstellen
können. Wir können mangels einer entsprechenden Statistik, die auf den
Eintragungen in den Pässen beruht, also nur „Stände" und keine „Gewerbe"
kennt, nicht feststellen, wde viel Personen zu den reichem, wie viel zu
den ärmern Höfen zu rechnen sind. Wir neigen daher zu der Annahme,
daß ein großer Teil der Differenz, die sich aus unsem Angaben hier und
auf Seite 128 ergibt (6238000 — 4844300 = 1393 700), zu einem länd-
lichen Proletariat zu rechnen ist, das bei den Yerwandten und Freunden
herumsitzt, dort auch in der Wirtschaft hilft, auch zeitweilig außerhalb
Arbeit nimmt, zu Hause aber keinen Lohn in Geld bekommt. Ein andrer
Teil stellt dagegen Personen dar, dienende und selbständige, die nur noch
im Paß als Angehörige des Bauernstandes geführt werden. Sehr groß muß
in der ersten Kategorie die Zahl der Frauen und Kinder angesetzt werden.
Die Höhe der nicht ständigen Bevölkerung betrug am 1. Januar 1905
1017000 Männer gegen 978000 Weiber.
Die oben genannte Bevölkerungszahl verteilt sich wie gesagt auf
968862 bäuerliche Höfe. Yon ihnen haben 15,4 Prozent Aveniger als
•) Skarzinski, a. a. 0. S. 465 rechnete schon im Jahre 1897 mit 7400000 Land-
bewohnern. DaiTinter sind wohl aber alle „Paßbauern" mit inbegriffen, auch wenn sie
durch ihre Gewerbe längst in das städtische Bürgeiium übergegangen sind.
206
Neuntes Kapitel. Zur Agrarfrage
1^/2 Deßjatinen Land, 18,67 Prozent zwischen 1^/2 bis 3 Deßjatinen,
44,67 Prozent zwischen 3 bis 7^/2 Deßjatinen, 8,29 Prozent zwischen 7^/2
bis 10 Deßjatinen, 6,44 Prozent zwischen 10 bis 15 Deßjatinen, 2,81 Prozent
zwischen 15 bis 20 Deßjatinen, 0,89 Prozent zwischen 20 bis 25 und
1,41 Prozent über 25 Deßjatinen Land.
In den drei von uns angegebnen Bodenzonen liegen die Verhältnisse
ein wenig anders, nämlich in Prozenten wie folgt:
bis IV2
lV,-3
3-7V.
7Va-10
10—15
15—20
20-25
über 25
Nordost
Mitte
Südwest
13,74
12,54
19,94
16,0
18,0
22,0
35,0
50,0
49,0
9,0
9,03
6,85
9,15
6,3
4,14
5,04
2,2
1,2
2,6
0,7
0,37
3,22
0,72
0,29
Somit sind im Nordost 73,74 Prozent der ländlichen Bevölkerung auf
Nebenerwerb angewiesen oder etwa 1000000 Seelen, im IVIittelgebiet
80,54 Prozent oder 1000000 Seelen und im Südwestgebiet 90,94 Prozent
oder rund 2000000 Seelen. Teilen wir die Zahlen durch 5, so erhalten
wir die Mindestzahl der arbeitsfähigen Personen mit 200000 im Nordosten,
200000 in der Mitte und 400000 im Südwesten. Diese Arbeitsfähigen
können, abgesehen von der Industrie und von öffentlichen Bauten, Ver-
wendung finden : im Nordosten auf 2404 landwii-tschaftliclien Großbetrieben
mit einer Durchschnittsfläche von je 863 Morgen oder 432 Deßjatinen
sowie auf 33497 Kleinbeti'ieben von 15 bis 25 und mehr Deßjatinen, in
der Mitte auf 2226 Gütern mit einer Durchschnittsfläche von 1126 Morgen
oder 563 Deßjatinen sowie auf 9696 Kleinbetlieben, im Südwesten auf
2787 Gütern mit einer Durchschnittsfläche von 836 Morgen oder 418 Deß-
jatinen sowie auf 8101 Kleinbetrieben (vgl. Tabelle auf S. 184).
Bezüglich öffentlicher Ai'beiten muß herv^orgehoben Averden, daß die
Bauten des Fiskus sowohl an den Eisenbahnen wie an den gerade im
Zartum Polen besonders zahlreichen Festungsbauten zum größten Teü von
russischen Artellen übernommen werden. Infolgedessen kommt dieser
Nebenerwerb für die einheimische Bevölkerung so gut wie gar nicht in
Fi-age.^)
Wir vertiefen das Bild, indem wir in der nebenstehenden Tabelle die Land-
bewohner auf die verschiednen Größen der bäuerlichen Beti'iebe in den ein-
zelnen Gouvernements verteilen. Dann erhalten wir: inSsuwalki 41200 zeit-
weilig fi'eie Arbeiter bei 427 Gütern, Lomsha 51600 Arbeiter bei 340 Gütern,
^) Ähnlich urteileu Spassowitseh und Pilz a. a. 0., Tagesfragen, S. 91 ff., vgl. S. 60,
Anm. 2: Bestimmung für Unteniehmer öffentlicher Arbeiten.
C. Die bäuerliche Wirtschaft
207
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208 Neuntes Kapitel. Zur Agrarfrage
Plock 39500 Arbeiter bei 120 Gütern, Sjedlec 97100 zu 517, Warschau
83500 zu 1575, Lublin 132100 zu 651, KaHsch 82200 zu 878, Petrikau
98000 zu 696, Kjelce 111000 zu 606, Radom 103500 zu 607 Gütern.
Indem wir die Zahlen betrachten und bemerken, daß zum Beispiel in
Radom auf jedes Gut 170 freie Arbeitskräfte, in Sjedlec gar 185 kommen,
dürfen wir nicht vergessen, daß neben den auf Nebenverdienst ange-
wiesnen Ackerbauern noch 849300 landlose Proletarier oder mindestens
189800 Arbeitski'äfte vorhanden sind, die nichts ihr eigen nennen.^)
Diese 189800 arbeitsfähigen ländlichen Proletarier sind nur zu einem
geringen TeU Knechte und Mägde auf den Großbetrieben; andernfalls
müßten durchschnittlich 27 volljährige und ebensoviel minderjährige ständige
Arbeiter auf den Gutshof entfallen, und das ei'scheint uns bei der geringen
durchschnittlichen Größe der Güter sowie der vielfachen Verwendung von
Dampfmaschinen wie modernster Ackergeräte überhaupt zu hoch.
Angesichts der geschilderten allgemeinen Verhältnisse und der sich
daraus ergebenden niedrigen Arbeitslöhne soUte man glauben, das Zartum
Polen sei ein Eldorado aller Arten von Großbetrieben. Das ist nun
durchaus nicht der Fall, denn es fehlen alle ergänzenden und ausgleichenden
Elemente: gut entwickelte Verkehrswege wie auch nur den bescheidensten
Ansprüchen genügendes Sanitätswesen, genossenschaftliche Organisation
und eine den praktischen Bedürfnissen angepaßte soziale Gesetzgebung.
Die Zahl der freien Arbeitskräfte ist gi'oß, die Arbeitslöhne sind niedrig,
die Leistungsfähigkeit des Arbeiters vergi'ößert sich von Jahr zu Jahr,
aber zui' Erntezeit, zur Rüben- und Kartoffelbestellung fehlt es den Groß-
grundbesitzern an genügenden Arbeitskräften. Denn die Landlosen sind
auf "Wanderarbeit in entferntem Gegenden, die Landarmen können sich
nicht für mehrere Wochen freimachen, oder sie müßten ihre eigne Ernte
preisgeben.
Am größten ist die Not in dieser Beziehung in den Gouvernements
Lublin, Radom und Kjelce. Also in den Gegenden, wo die zahlreichsten
überschüssigen Arbeitskräfte vorhanden zu sein scheinen, kann die Land-
wirtschaft nicht mit den einheimischen Arbeitern auskommen, sondern muß
zur Ernte Schnitter und Sichler aus Gaüzien, von den Karpaten und aus
Wolynien heranziehen. In den Kreisen Samosc und Hrubieszow haben
wir sogar Juden bei leichtem Feldarbeiten, vor allen Dingen bei den
Dresch- und Getreidereinigungsmaschinen angetroffen. In den genannten
Gouvernements spielt dennoch die Auswanderung keine bedeutende Rolle,
weil in Kjelce und Radom selbst und deren nächster Nachbarschaft Ver-
») Vgl. S. 128 ff.
C. Die bäuerliche Wirtschaft 209
dienst in Bergwerken und Fabriken, in Lublin in der Hausindustrie zu
finden ist, der den überaus geringen Ansprüchen der polnischen Bevölkerung
genügt. ^) Im übrigen spielt die Hausindustrie eine nur sehr geringe Rolle
im Zartuni Polen, wenn sich auch jede polnische Bäuerin ihr Leinen
selbst webt und für sich und die Tochter große Vorräte davon anlegt.
Die Behauptung Krzewickis, die Hausindustrie sei in Polen unbekannt,
entspricht somit in dieser Yerallgemeiuerung nicht den Tatsachen. Sie
konnte sich nicht so entwickeln wie im Moskauer Gebiet, weü ihr zwei
Hauptvorbediugungen fehlen: lange AVinter und Wegelosigkeit. Außerdem
hat sich die kapitalistische Organisation so schnell in allen Industrien fest-
gesetzt, daß eine hausgewerbüche Erzeugung auf dem platten Laude über
den Eigenverbrauch hinaus keinen Absatz gefunden hätte. Davon zeugen
auch die außerordentlich großen Yorräte von Geweben, weißen vuid bunten
die in jeder noch so armen Bauernfamilie zu finden sind.^) Anders in
den städischen Siedelungen, in deren nächster Nähe und in der Nähe von
großindustiieUen Unternehmungen. Dort entwickelte sich eine Hausindustrie
ebenso wie in den modernen Städten des AYestens und auf analogen Yer-
hältnissen. '•^)
') Nach Angaben in Heft 22 der SitzungsprotokoUe des Hausindustriekongresses zu
St. Petersburg im Jahre 1902, „Bericht der Warschauer Filiale der Gesellschaft zur Hebung
der russischen Gewerbe'^ sind es Weber und Siebflechter, die im Gouvernement Lublin
besonders vorankommen. Die Siebflechter sollen bis 286650 Eubel Umsätze bei 159250
Rubel Jahresverdienst haben (S. 17).
') Wenn wir den Wert dieser Schätze zum heutigen Preise nur mit 10 Rubel im
Durchschnitt ansetzen, dann dürfte der gegenwärtige Leinenvorrat auf dem platten Lande
mit 10 Millionen Rubel nicht zu hoch eingeschätzt sein.
^) Außer der angegebenen liegt obiger Ausführung noch folgende Literatur in
polnischer Sprache zugrande: 1) Wlad. Grabski, „Wywtaszczenie folwarkow i program
reform rolnvch", Warszawa, Gebethner & Wolff, 1907, (Broschüi-e). 2) AYtad. Glinka,
„WjTvlaszczenie i Unarodowenie ziemie'-, Warszawa, bei Jau Fiszer, 1907 (Broschüre).
3) Gesammelte Schriften von Franz Gorski, Druck imd Verlag in der Tageszeitung „Czas'^
in Krakau 1906, — besonders S. 13 — 207. 4) Verschiedene Zeitschriften, wie Ateneum,
Kultura, Panteon. 5) Schließlich sei auf die Ausgewälilten Schriften von Ludwig Goreki
(Waszawa 1908) hingewiesen, von denen im zweiten Bande noch wiederholt gesprochen wird.
C^<^>
Cleinow, Die Zukunft Polens 14
Zehntes Kapitel
Die Arbeiterfrage
"Wir leiteten das siebente Kapitel mit dem Satz ein, die an die Oabe7i
der Natur angewandte geistige und Jcörperliche Arbeit sei der Träger der
Wirtschaft. Im neunten Kapitel mußten wir feststellen, daß allein auf
dem 2)latten Lande mindestens eine Million arbeitsfähige Menschen (S. 206)
ihre Jcörperliche Arbeitskraft , der geistigen gar nicht zu denken, nicht
voll, ja nicht zur Hälfte ausnutzen können. Die Zahl wächst noch ganz
erheblich, wenn wir uns daran erinnern, daß zu vielen Arbeiten mit Vor-
teil Kinder verwandt werden. "Wir sahen auch, daß öffentliche Arbeiten
im Zartiim Polen zum größten Teil mit russischen Arbeitern ausgeführt
werden (S. 206), sodaß sie für die heimische Bevölkerang als Nebenenverb
so gut wie gar nicht in Fi'age kommen. Infolgedessen scheint sie aus-
schließlich angewiesen auf Landarbeit oder Fabrikarbeit in den polnischen
Gouvernements, auf hausgewerbliche Betätigung oder auf Auswandeiiing.
Nun gibt es aber doch ein die Lage des Arbeitsmarktes erleichterndes
Moment: den Abzug der Rekruten aus dem Zartum in die russischen
Gouvernements, bei gleiclizeitig sehr geringer Verwendung russischer Sol-
daten für die Erntearbeiten in Polen. Die Polen behaupten, sie nähmen
keine russischen Soldaten aus Patriotismus in Anspruch, während uns von
andrer Seite berichtet wurde, die Regimenter dürften polnischen Besitzern
keine Soldaten zur Emtearbeit abtreten. Eine sichere Bestätigung der
einen oder der andern Behauptung liaben wir uns nicht beschaffen können.
Dagegen haben wir russische Soldaten als Erntearbeiter aussciüießlich auf
uichtpolnischen Grütern, vorwiegend auf nissischen Majoraten, angetroffen
und nur selten von russischer Seite Klagen über Arbeitennangel gehört.
Im Zusammenhange mit der ganzen Richtung der russischen Polenpolitik
würde es einleuchten, wenn ein Verbot, russische Soldaten zui" Erntearbeit
bei polnisclien Großgrundbesitzern zu verwenden, bestünde.
Über die Zahl der jährlich aus detn Zartum Polen ausgehobnen und
nach dem Innern des Reiches transportie)'ten Rekruten gibt uns die
A. Die Landarbeiter 211
amtliche Statistik für die Jahre 1874 bis 1898 ungefähre Auskunft.^) Leider
sind die Angaben nicht für jedes einzehie Jahr vorhanden, sondern nur
solche für den Zeitraum von 1874 bis 1889 und für den Zeitraum von
1890 bis 1898. Im ersten Zeiü-aum waren militärpflichtig 970 116 2) oder
durchschnittlieh 64670 im Jahr. Im zweiten Zeitraum waren 633617^)
militärpflichtig oder 70400 im Jahr. Nehmen wir für die folgenden neun
Jahre von 1899 bis 1908 gleichfalls eine Vermehrung des Kontingents der
Gestellungspflichtigen mit 10 Prozent an, so dürfte die Zahl der Gestellungs-
pflichtigen gegenwärtig etwa 78000 Mann im Jahre betragen oder kaum
8 Prozent der arbeitenden und arbeitsfähigen Bevölkerung.
Geht schon hieraus hervor, daß die Entlastung des Arbeitsmarktes
durch Abzug der Rekruten nur geringfügig sein kann, so schrumpft das
Ergebnis noch mehr zusammen, wemi wir hinzufügen, daß gewöhnlich
nur 75,8 Prozent der Stellungspflichtigen oder 58 500 zur Kontrollversanmi-
lung kommen, und daß von diesen 58500 noch 28,9 Prozent aus ver-
schiednen Gründen zurückgestellt werden mußten.*) Somit kommen im
besten Falle 41600 Rekruten, die zwei bis vier Jahre zu dienen haben,
in Betracht, und die tatsächliche Erleichterung des Arbeitsmarktes beträgt
rund 120000 junge Burschen.
Wo bleiben nun die Arbeitskräfte, wie lebt der große Bevölkerungs-
überschuß ?
Nachdem wir festgestellt haben, daß etwa 95,6 Prozent^) allen Landes
im Zartum Polen der Landwirtschaft unterworfen ist, und daß von der Be-
völkerung des Gebiets allein 75 Prozent auf dem platten Lande leben,
ergibt es sich von selbst, daß die nächsten und natürlichsten Erwerbs-
möglichkeiten auf dem Lande liegen sollten. Tatsächlich bilden auch die
Landarbeiter vier Fünftel und die Fabrikarbeiter nur ein Fünftel aller
Arbeiter des Gebiets.
A. Die Landarbeiter
Die Landarbeiter sind einzuteilen in ständige, die mindestens ein
rundes Jahr auf den Gütern oder großen Bauernhöfen arbeiten, in Tage-
löhner, die, in der Nähe des größern Betriebs wohnend, sich zu jeder Zeit
und für jede Arbeit einzeln zur Verfügung stellen, und schließlich in die
Saisonarbeiter, die meist in gi-ößern Partien für ganz bestimmte Arbeiten
herangezogen werden.
') Arbeiten des "Warschauer Statistischen Komitees von 1906, Heft XXII, S. 14 — 32.
') Ebenda Tab. I, S. 4. — ") Ebenda Tab. II, S. 12.
*) Ebenda Tab. V, S. 18 ; allein wegen Krankheit 12,54.
^) S. 153.
14*
212 Zehntes Kapitel. Die Arbeitei-fi-age
Mangels einer Berufs- oder Gewerbestatistik können wir die dienende
Bevölkerung des Zartunis nach den eben genannten Kategorien zalilen-
mäßig nicht aufteilen. Doch um einen Anhalt zu geben, seien Mitteilungen
des Steuerinspektors I. Z. Kanski für das Jahr 1891 herangezogen.^) Danach
kommen auf das Zartum überhaupt 369400 oder 43,5 Prozent der ge-
samten landlosen Arbeitskräfte auf ständige Hofgänger beim Großgnmd-
besitzer, 18440 oder 2,2 Prozent ständige Arbeiter bei Bauern, 317900
oder 37,4 Prozent Tagelöhner, zusammen 705740 Seelen oder 83,1 Prozent
der landlosen Arbeitski'äfte. Somit waren schon im Jalire 1891 16,9 Pro-
zent der landlosen Landbevölkerung oder rund 150000 Menschen außer-
stande, Beschäftigung auf dem Lande zu finden. Das ist nur Durchschnitts-
angabe, die in den verschiednen Gouvernements starken Yerändenmgeu
unterlag. Uns stelm nur für Petrikau Angaben zur Verfügung. In diesem
dicht bevölkerten, teilweise industiiellen Gebiet war die Zaiü der Be-
schäftigimgslosen mit 25,1 Prozent, die der Tagelöhner mit 41,4 Prozent,
der ständigen Hofgänger mit 32,6 Prozent, der ständigen Arbeiter auf
Bauernhöfen mit 0,9 Prozent angegeben. Nach diesen auf amtlichem
Material beruhenden Angaben werden unsre nun folgenden auf privaten
Beobachtungen und Mitteilungen beruhenden Schätzmigen an Wahrschein-
lichkeit gewinnen.
1. Ständige Arbeiter
Der Bedarf an ständigen Landarbeitern ist abhängig einmal von der
Größe der Wirtschaften und der Zahl der darin gehaltnen Haustiere, wird
aber beeinflußt von dem Wohlstande der das Gut umgebenden Bauern.
Wo zahh'eiche Bauernhöfe vorhanden sind, die die Familie üirer Besitzer
nicht allein zu erhalten vermögen, wird die Zahl der sich anbietenden
Tagelöhner größer sein als dort, wo der Bauer und seine Angehörigen
vollauf auf seinem Gütchen zu tim hat und durch seinen Besitz so gut
ernährt wii'd, daß er Rücklagen machen kann. Infolge der ständig vor-
handnen und sich anbietenden Tagelöhner wii-d der Gutsbesitzer der Not-
wendigkeit behoben, die Zald. der Jahresarbeiter entsprechend der Zunahme
der Intensität seiner Wiiischaft zu vermehren.
Im Zartiun Polen konnten wir nun mit alleiniger Ausnahme des Gou-
vernements Lublin feststellen, daß die Zahl der ständigen Gutsarbeiter
gegenüber der der Tagelöhner im allgemeinen überaus geling ist. Dieser
geringe Bedarf an ständigen Hofarbeitern muß natui'gemäß auf die Höhe
der Löhne überhaupt zurückwirken. Bestätigt wird solche Behauptung
^) Arbeiten der Goiavernementskomitees usw. für Petiikau, Bericht vom 12. Januar
1903, S. 742.
A. Die Landarbeiter
213
durch einen Blick auf die einzelnen Gniinen des Gebietes, in denen die
Löhne im Winter für Männer fünfzehn Kopeken nicht erreichen und an
verschiednen Stellen sogar unter neun Kopeken henmtergehn. In diesen
Gminen hat mehr als die Hälfte aller bäuerlichen Gminen Aveniger als
sechs Deßjatiuen Land. In der Gmin Njedzwedz, wo der Lohn zui' Ernte-
zeit für Männer und Weiber dreizehn Kopeken täglich beträgt, sind von
517 bäuerlichen Höfen 426 kleiner als sechs Deßjatinen, und der Groß-
grundbesitz verfügt nur übet 4253 Deßjatinen.
Die ständigen Hoßeute verpflichten sich gewöhnlich auf ein Jahr.
Sie haben von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang zu arbeiten, die Vieh-
fütterer entsprechend länger. Die Hofgängerfamilien, die einen Mann und
zwei Weiber zu stellen haben, erhalten freie Wohnung. Sie besteht meist
aus zwei Räumen mit Vorratskanmier, häufig genug aber nur aus einem
Raum. Ferner erhalten die Hofgänger: ein Stück Kartoffelland, Land für
Hanf und Kohl sowie Geti'eide, Weizen, Roggen, Gerste, Buchweizen,
Bohnen, Erbsen und im Gouvernement Ssuwalki auch Hafer.
In den versclüednen Gouvernements stellen sich die Einnahmen einer
Hofgängerfamilie in Geld und Naturalien wie folgt:
1900
Tschetwert,
davon entfallen auf
D Sashen
Land für
M
Geldwert in
Rubel für
Ä
ja *
o a
Somit kostet
eine Hof-
gängerfamilie
in Rubel
1900 1890
Ssuwalki
Lomsha .
Plock .
Sjedlec .
Warschau
Lublin .
Kaiisch .
Petrikau
Kjelce .
Radom .
6,9
5,9
5,6
6,6
6,6
7,3
6,3
6,3
6,3
6,9
0,2
0,2
0,1
0,4
0,4
0,3
0,2
0,6
0,1
3,5
3,2
2,9
3,4
3,4
3,7
3,4
3,4
3,0
3,5
1,9
1,2
0,9
1,3
1,3
2,4
1,3
2,1
2,5
2,5
521
680
729
685
689
585
725
661
615
538
261
200
128
201
119
110
189
110
123
107
107
97
87
95
104
97
107
101
97
34
33
34
34
25
19
23
24
16
21
18
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41
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134
126
136
130
147
132
137
127
128
')
Die angegebnen Zahlen könnten die Meinung heiTorrufen, als habe
sich die Lage der Hofgänger im Laufe der vergangnen zehn Jahre von
1890 bis 1900 wesentlich gebessert, weil die Geldaufwendungen für sie
') Arbeiten des "Warschauer Statistischen Komitees von 1904, Heft XX, S. 18 — 28.
«) Ebenda, S. 29. — ") Ebenda, S. 31. — *) Ebenda, S. 33.
*) Ebenda, S. 60—54. — «) Ebenda, S. 35.
0 Ebenda von 1897, Heft IX, S. 103.
214
Zehntes Kapitel. Die Arbeiterfrage
diirchgehends höher geworden sind. Tatsächlich dürfen wir diesen Maß-
stab nicht ohne weiteres anlegen. Wir müssen uns vielmehr danach um-
sehen, ob die Naturalleistungen gestiegen sind, denn gewöhnlich ist der
Lohnsteigerung eine erhebliche Erhöhung der Lebensmittelpreise vorauf-
gegangen, und die Bevölkerung hat sich vergrößert. Es lag vielfach auch
im Literesse der Arbeitgeber, die Naturalleistungen durch Geldleistungen
abzulösen, besonders wo infolge Yorhandenseins größerer Kapitalien die
Intensität der AVirtschaft gesteigert werden konnte. Der polnische Land-
arbeiter seinerseits legt auf die hohe Bezahlung mit Geld gewöhnlich
durchaus nicht den großen "Wert, den andre Arbeiter darauf legen. Das
geht schon aus den Forderungen hen^or, die die Arbeiter an jedem
Kündigungstermin zu stellen pflegen. Ein Sack Roggen, ein Quadratfaden
Land sind häufig genug ausschlaggebend, ob der Hof mann seine Stelle
wechselt oder nicht. Häufig will die Frau vor allen Dingen Land zu
Hanf haben, weil sie zwei oder drei Töchter hat. Die sollen sich ihre
Aussteuer selbst zusammenweben können oder auch nur in den Winter-
abenden beschäftigt werden, damit ihnen kein Unglück geschieht.
Die Naturalleistungen für das Jahr 1890 zeigt folgende Zusammenstellung:
Somit ist durchschnittlich das Ge-
ti-eidedeputat ein wenig gestiegen,
nämlich von 6,4 auf 6,5 Tschetweii,
während die Fläche des Karfoffel-
und des Gartenlandes durchgehend«
kleiner geworden ist. Ausschließlich
im Gouvernement Lublin läßt sich eine
wirkliche Bessei'ung in der Lage der
Hofgänger feststellen. Das ist in dem
Teil des Landes, wo der Durclischnitts-
umfang der landwirtechaftlichen Groß-
beti'iebe mit 1553 Morgen*) am größten
ist. Dort ist die Steigening der Ge-
samtaufwendung des Gutsbesitzei's am
geringsten, nämlich um vier Rubel, während das Kartoffelland und das
Deputat im Durchschnitt größer gCAvorden ist.
Freilich darf nicht übersehen werden, daß gerade in Lublin in drei
Kreisen das Deputat zurückgegangen ist (Lubaiiow, Lublin, Cholm), aber
Gouvernement
0) f^
D Sashen
Land zu
1890
Kar-
toffel
Hanf
Ssuwalki
Lomsha
Plock .
Sjedlec .
Warschau
Lublin .
Kaiisch
Petrikau
Kjelce .
Radom .
7,6
5,7
5,7
6,8
6,5
7,4
5,7
6,0
6,3
6,6
532
734
710
668
695
631
672
610
525
500
232
170
100
170
103
107
140
164
90
98
*)
*) Arbeiten des Warschauer Statistischen Komitees von 1897, Heft IX, S. 39.
2) Ebenda von 1904, Heft XX, S. 29.
') Ebenda von 1904, Heft XX, S. 31.
') Vgl. S. 184.
A. Die Landarbeiter 215
gerade in diesen Kreisen ist auch die Landzuweisung größer. Bei
den vielen Feiertagen in diesen teils von Uniaten bewohnten Kreisen hat
die Landzuweisung nicht nur keine drückenden Folgen, sondern im Gegen-
teil in jeder Beziehung fördernde.
Dementsprechend muß auch die Ernährung der Hofleute eine bessere
geworden sein. Wenn wir uns die Zahlen für die einzelnen Gminen und
Kreise betrachten, dann machen wir die Beobachtung, daß die Differenzen
zwischen dem höchsten und dem niedrigsten Deputat nicht mehr so groß
sind wie zehn Jahre früher. Es hat vielmehr ein wesentKcher Ausgleich
stattgefunden; besonders die höchsten Deputate haben abgenommen. Im
Jalu'e 1890 betrug das niedrigste Maß im Kreise Prasnysz (Gouvernement
Plock) nur 4,8 Tschetwert, im Jahre 1900 dagegen durchschnittlich 5,1 Tschet-
wert.^) Im Jahre 1890 gab es acht Kreise," m denen 7,5 Tschetwert und
mehr an Deputat gegeben -snirden, nämlich Hrubieszow 7,5, Lubartow 7,6,
Lublin 7,7, Cholm 7,8, Kalwaria 7,9, WoLkowyszki 8,4, Mariampol 8,5 und
Wladislawow gar 9,8 Tschetwert. Im Jahre 1900 ist nur Hrubieszow auf
seiner Höhe geblieben, während Wladislawow auf 7,5 zurückgegangen ist,
und nur noch Augustowo 7,5 Tschetwert aufweist. Die Zahl der Kreise
mit niedrigstem Deputat ist von 27 auf 18 zurückgegangen.
Als eine Besserung der Stellung der Arbeiter könnte die Erhöhung
der Geldlöhnung in den Industriegebieten um Warschau, Kaiisch, Petrikau
und Kadom aufgefaßt werden, wenn das Geld wirklich zur Yerbesserung
der Lebenshaltung verwandt würde. Das ist nun tatsächlich fast nirgends
der Fall. Der Kätner im Nordostgebiet gibt noch heute seiner Tochter
eine gute Leinenaussteuer mit. Die Tocliter des Kätners aus dem pol-
nischen Industriegebiet hat nichts und kann gewöhnlich — von den Weber-
bezirken abgesehen — weder spinnen noch weben noch nähen. Der sich
hier vollziehende Übergang von der Natural- zur Geldwiiischaft kostet
einem großen Teil der Bevölkerung die letzten Grundlagen einer materiellen
Existenz und führt große Teile von ihr dem Lumpenproletariat zu. Diese Ent-
wicklung hat in den abgelaufnen zehn Jahren ein immer schnelleres Tempo
angenommen, aus Gründen, die wir teils bei der Darstellung der Industrie
schon kennen lernten, auf die wir aber noch zurückkommen werden.
Die Fleischnahrung der Hofleute ist im allgemeinen gegenüber der in
Deutschland üblichen gering, doch durchaus nicht so schlecht, wie es viel-
fach behauptet wird. So dürfen sich die Familien Kühe, Schweine und
Schafe halten, die auf den Gutsländereien aber immer seltner mit dem
^) Freilich erregt die Statistik hier einige Bedenken; von den zehn Gminen des
Kreises sind drei nicht ausgefüllt, und vier zeigen Zahlen unter 5 Tschetwert, nur
eine 6,1, und eine 5. Heft XX, Tab. I, S. 47.
216
Zehntes Kapitel. Die Arbeiterfrage
herrschaftlichen Yieh zusammen weiden dürfen. Grewöhnlich haben die
Leute eine Kuh und ein bis zwei Schweine. In den Gouvernements Plock,
Kaiisch und Lomsha gibt es dagegen \äele hundert Kätner, die überhaupt
keine Haustiere haben (siehe unten "Wanderarbeiter), während im Gou-
vernement Lublin, Kreis Zamosc, Kätner mit drei Kühen keine Seltenheit
sind. Die Zahl der Schweine ist in Sjedlec, Lublin, Lomsha, Ssuwalki^)
ziemlich groß und steigt in einzelnen Gminen auf sechs für den Kätner,
während Schafe und Ziegen bis zu vier Stück in den Kreisen Lodz, Bresin
und Lask gehalten werden. Die Kätner können dort eine kleine Neben-
einnahme haben, da sich in jener Gegend örtliche "Wollmärkte befinden.
"Wir haben noch der unverheirateten Hofgänger, Knechte und Mägde
zu denken, die sich für ein ganzes Jahr verdingen. Sie werden vom
Arbeitgeber beköstigt und erhalten von ihm auch "Wohnung, gewöhnlich
ohne Ti'ennung der Geschlechter. Die jährlichen Einnahmen der Leute
betrugen in Rubeln
in den Gouvernements
für Männer
1890«)
1900»)
für Frauen
1890«)
1900')
SsuwaUd .
Lomsha .
Plock . .
Sjedlec .
Warschau
Lublin
Kaiisch .
Petrikau .
Kjelce
ßadom
29
36
30
32
32V,
29
27
26
23
27
38
43
38
33
39
33
38
37
28
32
16»
24
24
23
25
21'
19
21
17
19
21
29
30
26
29
24
28
28
21
22
Die Beköstigung dieser Leute besteht voi'wiegend aus Kohlsuppen,
Erbsen, Buchweizengrütze, 940 bis 1060 Granmi Brot,*) Speck und zweimal
in der Woche, ausschließlich der Fasten, Fleisch.
Das Verhältnis zwischen GutsheiTen und ständigen Ai'beitem kann
im allgemeinen als gut bezeiclmet werden, wenn sich auch die Klagen
über Unbotmäßigkeit mehren. Patriarchalische Beziehungen vom Guts-
hause zu den Leutewohnungen wie auch zu den benachbarten Dörfern
sind durchaus keine Seltenheit. Es ist inmier noch üblich, daß sich die
») Starke Borstenverarbeitung in Wolko'wyszki und Mariampol.
") Arbeiten des Warscliauer Statistischen Komitees von 1897, Heft IX, S. 28. 29.
3) Ebenda von 1904, Heft XX, S. 13. 14.
*) Ebenda von 1897, Heft IX, S. 63; in Lublin am meisten, in Petrikau am
wenigsten Brot.
A. Die Landarbeiter
217
Leute in ihren Herzensangelegenheiten an den Gutsherrn wenden, daß sie
ihre Eßwaren zu Ostern auf den Gutshof zur Einsegnung bringen, daß sie
bei Hochzeiten eine myrtenumwundne „Hussanka" (ungesäuerter Kuchen)
zum „Palast" schicken, daß sie schließlich am Tage der Heiligen drei
Könige und zu Fastnacht unter allerhand Mummenschanz zur Herrschaft
ziehen und Tänze und Scherze vorführen. Die körperliche Züchtigung
dürfte seit Ende der 1880er Jahre auf den Gütern Polens überhaupt nicht
mehr vorkommen. AVo ältere Geistliche am Orte sind, ist es dagegen
üblich, Taugenichtse zur Beichte zu schicken, und Frau Fama verbreitet
alsdann im Dorfe, das Beichtkind habe mit dem Rohrstock von Hoch-
würden Bekanntschaft gemacht. Doch Avird diese Form der Einwirkung
mit dem Aussterben der alten Geistlichen inmier seltner.
2. Tagelöhner
Im Zartum finden Tagelöhner mit vierzehntägiger, dreitägiger und täg-
licher Kündigung Anwendung. Sie müssen mit eignem Werkzeug arbeiten
und sich für eigne Rechnung beköstigen. Entsprechend der großen Zahl
landarmer Bauern ist der zuletzt genannte Typus der häufigste. Nebenher
finden auch Anwerbungen auf halbe Tage und Stunden statt, wobei die
Löhne mit halben Kopeken bestimmt werden und auf Bauerngütern häufig
ausschließlich in Naturalien bestehn. Gerade in dieser Tatsache tritt die
innere Ursache der Nebenbeschäftigung, die bittere Not, grell zutage.
Eine Lohnnorm ist bei der Billigkeit der Landeserzeugnisse in ver-
schiednen Gegenden und ilirer Teuerung in andern für das ganze Zartum
nicht festzustellen. Auch die Nähe der preußischen und der galizischen
Grenze some von Fabrikzentren wirken verschieden auf die Tagelöhne.
Da aber die Yerkehrsverhältnisse durchaus nicht in Einklang mit der
Dichtigkeit der Bevölkerung stehn, kommt es vor, daß in benachbarten
Orten die höchsten neben den niedrigsten Lohnsätzen für eine und die-
selbe Arbeit gezahlt werden. So schweben uns zwei Gminen des Kreises
Kozenicy im Gouvernement Radom vor.
Im Jahre 1903 wui'den Tagelöhne in Kopeken gezahlt:
Frühjahr
Heuernte
Ernte
Herbst
"Winter
Männer
Frauen
Männer
Frauen
Männer
Frauen
Männer
Frauen
Männer
Frauen
in Sarnow . .
„ Swolen . .
20
60
15
40
25
80
25
60
25
90
25
70
20
80
15
60
12
60
10
35
218
Zehntes Kapitel. Die Arbeiterfrage
Kosten der Er-
nährung
in Kopeken
Frühjahr
Sommer
Winter
Männer
Frauen
Männer
Frauen
Männer
Frauen
in Samow ....
„ Swolen ....
5
10
3
5
7
20
5
17
5
10
2
5
In der Nähe großer Fabriken finden Tagelöhner als Kutscher bei Fuhr-
unternehmern gewöhnlich mit vierzehntägiger Kündigung Anstellung. Dort
strömen vielfach Arbeiter aus entferntem Gegenden zusammen, woraus zu er-
klären ist, daß z. B. in der Gmin Shirardow, wo die große ]\lanufaktur ist, auf
eine ländliche Bevölkerung von 115290 Seelen 36900 vorübergehende Be-
völkenmg kommt, und von diesen allein 24600 auf den Flecken Shirardow. In
Chojce bei Lodz ist das Verhältnis 21700 zu 14000, in Huta Stara (Kreis
Czenstochau) 12000 zu 6000. Die sozialen und gesundheitlichen Verhält-
nisse sind bei diesen Tagelöhnern die denkbar schlechtesten. Sie schlafen
gewöhnlich in den Pferdeställen auf Sti'oh; gekocht kann nur für solche
Arbeiter werden, die zu bestimmten Stunden heimkehren. Infolgedessen
ist ihre Hauptnahrung trocknes Brot und Branntwein, des Morgens eine
warfne Suppe ohne Fleisch.
Bemerkenswert ist die Höhe der Landarbeiterlöhne an der preußischen
Grenze. Gerade in diesem Streifen sind die Gutsbesitzer gezwungen, eine
verhältnismäßig große Zahl von ständigen Arbeitern für ein ganzes Jahr
zu mieten und entsprechend hoch zu zahlen, damit sie zur Erntezeit nicht
ohne Leute bleiben. Im polnischen Kreise Rypin, der an den preußischen
Strasburg grenzt, beträgt der durchschnittliche Tagelohn im Winter 25 Ko-
peken, steigt aber an verschiednen Stellen auf 35 und 45 Kopeken. Zur
Erntezeit ist der Durchschnittslohn 72 Kopeken für den Mann und 38 für
die Frau und erreicht einen Rubel und 1,20 Rubel, während die Be-
köstigung 20 und 15 Kopeken kostet Das Gleiche ist im Kreise Slupec
gegenüber Witkowo-Tremessen und in den an die ostpreußische Grenze
stoßenden Kreisen zu beobachten. Dort wirkt überall die Möglichkeit, nach
Preußen übertreten zu können, erhöhend auf die Tagelöhne.
Am schlechtesten ist die Lage der Tagelöhner an der galizischen
Grenze. Dort ist das Volk auch noch besonders genügsam und wenig
rege. Am tiefsten stehn das Gouvernement Kjelce und dessen Kreise
Stopnica, Pinczow und Mjechow. Löhne von 35 Kopeken während der
Erntezeit sind dort eine Seltenheit, dafür kostet die Ernährung eines
Mannes nur zwischen 5 bis 10 Kopeken und steigt nur in der Gmin
Pawlow auf 20 Kopeken.
A. Die Landarbeiter 219
Sehr ungünstig auf die Landarbeiterlöhne im Nordostgebiet des Zar-
tums wirkte die Abwandenmg. Über den Umfang der Abwanderung
können wir uns ein Bild machen, wenn wir die Zahlen für nichtständige
Arbeiter im Zartum Polen heranziehen. Im Jahre 1904 gab es nach Abzug
von 85000 „Russen" ebva 780000 nicht ständige Arbeiter. Davon ent-
fallen auf die Gouvernements Warschau 280000, Kaiisch 52000, Petrikau
160000 und Radom 75000. Somit kommen auf die vier industriellen
und die Rübengouvernements 567 000, auf die andern fünf nur etwa
200000. Lublin scheidet hier ganz aus, weil die nicht ständigen Bewohner
dieses Gebiets fast ausschließlich Kleimaissen sind. Die Folge dieser Be-
wegung der Arbeiterbevölkerung für die Kreise des Nordostgebiets ist die
Abwesenheit der arbeitsfähigsten Teile der Bevölkerung vom Frühjahr bis
zimi Herbst und ein Zurückströmen der Arbeiter in den Wintermonaten,
wo es nur wenig zu tun gibt. Wir nehmen an, daß diese Verhältnisse
neben andern einen großen Einfluß auf die überaus zalilreiche Yermehrung
der Bevölkerung ausüben.
3. Saisonarbeiter
Eine schwere Konkurrenz für die an Galizien und Wolynien grenzenden
Kreise sind die Saisonarbeiter, die Oorali und Bandossi. Ihre Zahl kann
nach den amtlichen Mitteilungen über die sich vorübergehend auf dem
platten Lande aufhaltenden Ausländer auf 25000 bis 30000 geschätzt
werden.
Sie kommen in einzelnen Partien für acht bis zehn bis vierzehn Tage,
tibernehmen die Arbeit im Akkord, die Sichler bundweise, die Mäher
morgenweise. Sie stellen an Unterkunft äußerst bescheidne Anforderungen,
Tag und Nacht kampieren sie unter freiem Himmel in der Nähe eines
Teiches um große Feuer oder in leichten Strohhütten gelagert. Sie er-
halten Mehl, Brot, Fleisch, Kohl vom Gut. Die Sichler können bis 40 Ko-
peken, die Mäher bis 1,50 Rubel pro Tag verdienen. Die Gorallen sind
in deu letzten Jahren erhebKch ansprachsvoUer geworden. So fordern sie
die Anweisung von wetterfesten Wohnräumen. Doch ist ihre Zeit wohl
bald vorüber, da sich auf der einen Seite die Mähmascliine immer mehr
das Feld erobert, während auf der andern die Güterparzellation die rück-
ständigen Großbetriebe vernichtet.
Außer zur Getreideernte werden Saisonarbeiter im Gebiet der Zucker-
rübe verwandt. Nur in Lublin und Sjedlec kommen diese Arbeiter aus
den russischen Westgouveruements.
Über die Arbeitslöhne bei der Rüben Verpflanzung, beim Jäten und
Roden haben wir für einige Gminen, in denen sich Zuckerfabriken be-
220 Zehntes Kapitel. Die Arbeiterfrage
finden, zuverlässige Angaben zusammenstellen können und ordnen sie
hierunter im Südosten begümend:
Gouvernement Kreis Fabrik Tagelohn in Kopeken
Radom Opatow Czenstocice .... 25 bis 30
Warschau Grojcy Czersk 28 „ 35
Lowicz Lyszkowice .... 30 „ 40
Sochaczew Mlodzeszin n 50
Go.stya Sanniki 35 ., 45
Kaiisch Slupec Ostrowite 45 „ 60
Lenczica Lesmerz 35 ,, 45
Petrikau Noworadomsk Zytin 25 „ 30
Zu diesen Zahlen ist zu bemerken, daß in die Gegend von Zytin und
Czenstocice auch galizische Arbeiter kommen, während sonst ausschließlich
polnische Venvendung finden.
Auch bezüglich der polnischen Saisonarbeiter muß hervorgehoben
werden, daß sie keinerlei genossenschaftliche Organisation kennen. Sie
werden entweder direkt vom Gutsverwalter angeworben, die zu bestimmten
Zeiten in den benachbarten Dörfern herumfahren, oder aber durch Ver-
mittlung polnischer oder jüdischer Agenten.
B. Fabrikarbeiter
Die Fabrikarbeiter des Zartums Polen rekrutieren sich aus der ein-
heimischen Bevölkerung der einzelnen Industriezentren und werden er-
gänzt durch Zuzug aus andern polnischen Gouvernements sowie durch
einige Tausend russischer Arbeiter. Der Umfang dieses Zuzugs regelt
sich im allgemeinen nach der steigenden und sinkenden Tendenz der
Konjunktm-en. Doch spielen auch von außen an die Bevölkerung heran-
tretende Einwirkungen keine geringe Rolle. So hat besonders das Gou-
vernement Kaiisch in den Jahren 1885 und 1886 unter der Agitation für
Auswanderung nach BrasUien gelitten und leidet seit 1889 unter einer
starken Sachsengängerei. Beide Bewegimgen fanden und finden Nalirung
sowohl in der gedrückten Lage der bäuerlichen Bevölkenmg sowie in der
vöUig unzureichenden Ai'beiterfürsorge in den Fabiiken. Die Fabrikarbeiter
ti'achten infolgedessen an Plätze zu kommen, die ilinen bessere Verdienste
und gesundere Lebensbedingungen sichern. Da nun aber solche im be-
nachbarten Posen und Schlesien zu finden smd, so gehn viele öiiliche
Arbeiter in das Nachbargebiet und müssen infolgedessen durch weniger
anspruchsvolle Arbeiter aus den östlichen Gouvernements ersetzt werden.
B. Fabrikarbeiter 221
Ähnlich liegen die Dinge im Gouvernement Petrikau. Hieraus entsteht
besonders für das östlich benachbarte Gouvernement Kjelce die Folge, daß
dessen überschüssige Arbeitskräfte nicht ins Ausland gehn, sondern aus-
schließlich nach Bendzin und Dombrowa.^) Warschau bekommt seine
Fabrikarbeiter aus Lublin, Sjedlec und Lomsha, während nach Lublin
russische und gaüzische Arbeiter konunen.
^ Die polnischen Fabrikarbeiter sind der im ganzen Reich geltenden
Arbeiterschutzgesetzgebung vom Jahre 190-4 unterworfen. Diese Gesetz-
gebung alunt westeuropäische Torbilder nach, aber sie geht über deren
Bestimmungen teilweise weit liinaus. Sie sucht in den sozialen Theorien
erst angesti'ebte Fortschritte schon in die Praxis zu überti'ageu. Aus
diesem Grunde kommt es, daß die an sich theoretisch gute Gesetzgebung
in der Praxis keinen hervorragenden Segen für den Arbeiter und besonders
große Lasten für die Arbeitgeber nach sich zieht. Für eine wohltuende
Wirksamkeit der Gesetzgebung fehlen die einfachsten Yorbedingungen, wie
hohe Entwicklung der Gemeinden und ihrer Verwaltungen, Yerkehrswege,
Büdung sowie Genossenschafts- und Yereinswesen. Der Fabrikarbeiter im
Zartum Polen steht bezüglich sozialer Fürsorge durch den Staat ebenso
schlecht wie sein russischer Kamerad, aber weit schlechter als der Ar-
beiter im benachbarten Oberschlesien. Seine Lage erscheint indessen noch
weit mißlicher als die des russischen, wenn wir in Beti'acht ziehn, daß
ein großer Teil der russischen Fabrikarbeiter noch bis vor kurzem -) durch
seinen Zusammenhang mit dem Mir eine Sommerwohnung hatte mit Garten
und einem Stückchen Feld dabei. Diesen Zusammenhang mit dem Lande
hat der polnische Arbeiter nicht. Er ist in dieser Beziehung wie der
deutsche, belgisclie usw. Proletarier ausschließlich auf seiner Hände Ai'beit,
auf seine Gesimdheit und auf die günstige Lage seiner Branche ange-
wiesen, ohne aber tatsächlich durch eine in der Praxis durchführbare
soziale Gesetzgebung entsprechend versichert zu seüi. Tritt auf einem der
genannten Gebiete eine Änderung zmn Schlechten ein, dami hegt der
polnische Fabrikarbeiter buchstäbüch auf der Sü'aße. Solche Aussichten
haben nun im Zusammenhang mit dem Arbeiterschutzgesetz unter anderm
bewirkt, daß Arbeiter vielfach zur Selbstverstümmelung schreiten, um sich
gemäß den Yorschriften des Unfallgesetzes eine Abfindungssumme zahlen
^) Bericht von I. A. Radwan im Kalischer Gouvernementskomitee zui- Hebung der
Landwirtschaft und verwandter Gewerbe. Siehe Arbeiten des Komitees im Weichselgebiet,
Bd. 51, S. 213 fl
^) Ebenda S. 350 ff., Bericht von S. E. SselsM. Eine energische "Wendung ist erst
mit dem Gesetz vom 9. November 1906 eingetreten; vgl. meine Verfassungskämpfe, bei
C. A. Schwetschke & Sohn, Berlin, 1907, S. 191 bis 201.
222 Zehntes Kapitel. Die Arbeiterfrage
lassen zu können. Die Zahl der Unfälle im Zai-tura Polen ist infolge-
dessen nach Yersicherung von verschiednen Fabrikinspektoren außer-
ordentlich groß, obwohl die Fabrikanten im eigensten Interesse für die
denkbar besten Schutzmaßregeln sorgen. Sehr selten gelingt es, einen
solchen Betrüger seines Yergehns zu überführen, da ihn seine Arbeits-
genossen nicht verraten. Die Aussichten eines verstümmelten Arbeiters
erhalten eine noch besonders verlockende Färbung durch die Politik der
staatlichen Bauernbank. Mit einigen Zehni-ubelstücken in der Tasche kann
der Invalide, besonders wemi er rechtgläubig ist, Besitzer eines Baueru-
gütchens von zwei bis drei Deßjatinen Größe werden. Die Bauernbank stellt
es ihm zur Verfügung, mit einer Anzahlung von 30 bis 25 Prozent, aber
auch ohne jede Anzahlung — lediglich gegen Erlegimg der geringen Stempel-
gebühren. Wenn man die Umgebung der Fabrikorte besucht, findet man
Hunderte von ganz kleinen Höfen, die mit Hilfe der Bauernbank gekauft
wurden, und darmiter verstreut einige rechtgläubige, also russische
Besitzer.
Alles in allem genommen ist die nissische soziale Gesetzgebung vom
Jahre 1901 verunglückt und hat für die große Masse der Arbeiter nicht
annähernd die segensreichen Folgen gezeitigt, wie es in Westeuropa der
Fall ist. Sie darf somit als ein Mittel zur Besseiimg der Lage des pol-
nisclien Proletariats nicht in Rechnung gestellt werden.
1, Allgemeine Verhältnisse
Die Ai'beitslöhne sind im Zartum Polen in allen Branchen erheblich
niedriger als in Rußland, am niedrigsten in der Spinnerei und Weberei.
Hier wirken abgesehen von der Billigkeit der Lebensmittel noch zwei
Faktoren besonders preisdrückend: hausindustrielle Verlagsarbeit und das
Vorhandensein zalüreicher Mietfabrikeu.
Die hausindustrielle Verlagsarheit wird begünstigt durch das Vor-
handensein zahlreicher Familien, in denen die Weberei zur Tradition ge-
worden ist, durch die im Verhältnis zur Bevolkenuigsdichtigkeit schlecht
entwickelten Verkelirswege sowie durch das A^'orhandensein eines beide
Vorbedingungen ausnutzenden kleinen Unternehmerstandes. Die Unter-
nehmer darf man sich nmi nicht als Kapitalisten mit ständigen Organi-
sationen vorstellen. Häufig beruht ihr ganzes Unternehmertum auf einem
einzigen sichern Aufti'ag, und ihr Kapital wii'd dargestellt durch die Zeit,
von einem Dorf zum andern wandern zu kömien. Ihre Spekulation ge-
lingt fast immer, da das Angebot von Arbeitskräften so groß ist, daß jede
Bedingung gestellt werden kann. Gelingt sie dagegen nicht, so fallen alle
Konsequenzen des Mißerfolgs auf die Arbeitnehmer. In der verlegten
B. Fabrikarbeiter 223
Weberei Polens haben wir ähnliche Verhältnisse gefunden wie in der
Metallindusti'ie im Gouvernement Tula.^) Sie werden nur um einen wesent-
lichen Zug bereichert: durch das Yorhandensein der jüdischen Zwischen-
händler, die in Tula erst seit zehn bis zwölf Jahren einzuti'effen beginnen.
Wie der Handel mit Landesprodukten (S. 164), ist das hausiudustrielle
Verlagsgeschäft so weit verteilt und verästelt, daß von seiner Organisation
kaum noch gesprochen werden kann. Es ist ein Daseinskampf aller gegen
alle mit den sich für die große Masse der Arbeitnehmer daraus ergebenden
ernsten Folgen.
Die Mietfabriken verdüstern das Bild noch erheblich. Das sind große
Gebäude mit einei- zeuti'alen Kraftanlage, Ti-ansmissionen, Dampfleitungen.
Sie sind in mehrere, oft in mehr als zwanzig Abteilungen geteilt, die einzeln
auf Monate, Wochen und Tage veiinietet werden. Mieter sind gewöhnlich
die eben erwähnten kleinen unternehmungslustigen Händler, häufig Leute,
die von der Fabrikation nichts verstehn, die irgendwoher einen schnell
auszuführenden Auftrag erhalten haben. Naturgemäß kann es sich nur
um ganz minderwertige Kunstwollfabrikate handeln, die irgendwohin schnell
geliefert werden müssen. Ein größerer Unternehmer hat den Auftrag er-
halten und findet keine Fabrik, die ihm so schlechte Ware, wie sie gefordert
wird, liefern kann. Er verteilt ihn infolgedessen an zwanzig bis dreißig
kleinere Agenten. Die mieten für vierzehn Tage, drei Wochen eine Ab-
teilung in irgendeiner Mietfabrik, suchen sich die Arbeiter dazu von der
Straße zusammen und fabrizieren. In solchen Mietfabriken, die sehr leicht
der Kontrolle der Fabrikinspektion entzogen werden, da nur Beti'iebe mit
mehr als sechzehn Arbeitern den Fabrikinspektoren unterstehn, mögen in
und um Lodz gegen 2500 bis 3000 Arbeiter beiderlei Geschlechts und jeden
Alters dauernd Beschäftigung finden.^)
Die Löhne in der Hausindustrie und in den MietfabriJcen erreichen
selten dreißig Kopeken den Tag bei zwölf- bis vierzehnstündiger Arbeit.
Je größer nun die Nachfrage nach ganz billigen Artikeln ist, um so größer
wird die Zahl der billigsten Arbeitskräfte, denn um so geringer werden
die erstklassigen Fabriken, imd deren teure Arbeiter beschäftigt. Unter
dieser Erscheinung wird Lodz in mn so höherm Maße leiden, je mehr es
sich an den russischen jährlich ärmer werdenden Markt angeschlossen hat.
Die guten Weber solcher Fabriken, wie Scheibler, Kunitzer, Posnanski,
Moes, können in normalen Zeiten acht und mehr Kübel die Woche ver-
dienen.
^) „Zur Lage der Hausindustrie in Tula", Duncker & Humblot, 1904, S. 48 ff.
') Analoge Verhältnisse finden sich in Bialystok. Ich habe sie in Nr. 330 der
St. Petersburger Zeitung von 1904 eingehend geschildert.
224 Zehntes Kapitel. Die Arbeiterfrage
In der Metallwar enhranche finden sich ähnliche Verhältnisse, nur
daß die Hausindustrie sich unter handwerksmäßigen Organisationen ver-
steckt. "Wir hörten davon im Abschnitt von den Juden, In der Eisen-
und Hüttejiindicstrie ist die Lage der gelernten Arbeiter noch am besten,
trotz den sehr niedrigen Löhnen, weil sie ziemlich beständig ist. Löhne
von 1,20 Rubel sind eine Seltenheit. Im Bergbau macht sich dann noch
die billige Konkurrenz aus Galizien bemerkbar.^)
2. Arbeiterorganisationen
Arbeiterorganisationen auf rein wirtschaftlicher Grundlage sind im Zar-
tum Polen unbekannt. AUe bestehenden Organisationen verfolgen in erster
Linie politische Ziele. Desgleichen felilen Lese- und Bildungsvereine,
Krankenkassen (siehe S. 171 Sanitätswesen). Die von den Fabrikanten ein-
gerichteten Konsumanstalten, Garküchen und Unfallstationen genügen nur
in den ganz großen Betrieben, kommen somit nur einem kleinen Teil der
Fabrikarbeiterschaft zugute. Die Folge dieser Mängel ist das Vorhanden-
sein zahlreicher sozialistischer Organisationen, die in erster Linie politische
und revolutionäre Ziele verfolgen. Sie gehören darum in ein späteres
Kapitel. Für einen mit den Slawen näher bekannten Beobachter ist es auch
auffallend, daß die pohlische Bevölkerung das gewerbliche Genossenschafts-
wesen in seiner primitivsten Gestalt, vor allen aber Arheitsgenossenschafte^i
nicht kennt.-) Die russische Regierimg ist für eine solche Ei'scheiniuig
nicht allein verantwortlich zu machen. Können wir bei russischen Arbeitern
überall die Bildung von Genossenschaften (Artellen) mit durcliaus demo-
ki-atischen Verfassungen beobachten, so venuissen wir solche bei den Polen
ganz. In Rußland ist der Vorarbeiter lediglich beaufti'agter Wortfülu'er
seines ArteUs, das er dem Arbeitgeber gegenüber zu vertreten hat. Der
polnische Vorarbeiter dagegen ist eine Art Vorgesetzter und Ausbeuter
seiner Ai'beitsgeuossen. Er bildet ein Glied in der Kette der kapitalistischen
Organisation, ist selbst in gCAvissem Sinne Unternelnuer, dessen Interessen
durchaus nicht immer mit denen der Arbeiter gleichzulaufen brauchen. Die
Arbeiter unter sich sind zunächst KonkuiTenten. Dai-um schließen sie sich von-
einander ab, um sich erst im Augenblick der gemeinsamen Gefahr einander
zu nähern. Dieser tief wurzelnde Zug des polnischen Charakters tritt in allen
Verliältnissen wieder zutage und verschwindet nur vollständig im Auslande.
Die Hauptarbeiterzenti'en des Weichselgebiets sind die Städte Warschau,
Lodz, LubHn, Czenstochau, Kaiisch und Wloclawek.
1) Außer den amtlichen Berichten s. a. W. "W. Swiattowsky, „Der Fabrikarbeiter",
Warschau, 1889 (russ.).
^) Vgl. Arbeiten der Gouvernementskomitees im Weichselgebiet , Bd. 51, Ausfüh-
rungen verschiedner Berichterstatter S. 113. 551 u. a.
C. Sachsengänger und Auswanderer 225
Eine Änderung in der geschilderten Lage der Arbeiter ist in abseh-
barer Zeit nicht zu erwarten, da eine nennenswerte Vergi'ößerung der
Fabrikation ebenso in Polen wie im Innern des Reichs so gut wie aus-
geschlossen erscheint. Im Gegenteil die Fabrikanten des Zartums werden
bei der ständig fortschreitenden Verarmimg des russischen Marktes, bei
der Schwächung des russischen Einflusses im fernen und nahen Orient
gezwungen werden, ihre Betriebe zu verkleinern oder mit Hilfe technischer
Yerbesserungen zur Verringerung der Arbeiterzahl sclireiten müssen. Der
Arbeiterstamm für die Fabrikarbeiter wird sich somit noch lange Zeit liin-
durch leicht durch die natürliche Bevölkerungszunahme in den Fabrikoilen
und ihrer nächsten Umgebung decken, und die Fabrikarbeit wird als Ab-
nehmeriu der Arbeitskraft des Bevölkerungsüberschusses auf dem Lande
immer weniger in Fi*age kommen. Schon in Zeiten größter Blüte der
Industrie hat sich die Notwendigkeit eines starken Arbeiterzustroms vom
Lande in die städtischen Siedlimgen nicht bemerkbar gemacht, und so ist
dieser Zusti'om in Polen weit geringer gewesen als in Deutschland. Wir
lassen dabei die liemmende "Wirkung mangelhafter Volksbildung durchaus
nicht aus dem Auge.
Da wir nun aber annehmen können, daß sich die Dinge in Rußland
ohne die Dazwischenkunft internationaler Verwicklungen oder besondrer
Unglücksfälle in St. Petersburg nicht ändern werden, so sind wir auch
gezwungen zu folgern, daß die polnische Industrie bis auf weiteres keine
größern Mengen des ländlichen Proletariats wird, in sich aufnehmen
Icönnen. Nach wie vor wird somit ein bedeutender Bruchteil der pol-
nischen Bevölkerung darauf angewiesen sein, sich seinen Verdienst außer-
halb des Zartums zu suchen.
C. Sachsengänger und Auswanderer
Wir schätzen die Zahl der pobiischen dauernd und zeitweilig be-
schäftigungslosen Arbeitskräfte im Zartum Polen für das Jahr 1904 auf
600000 bis 700000 erwachsne Personen beiderlei Geschlechts. Die amt-
liche Statistik gibt die Auswanderung und Sachsengängerei daneben für
die gesamte Bevölkerung wie folgt an:
Aus-
SacLsen-
Aus-
Sachsen-
Aus-
Sachsen-
wanderer ^\
) ganger
wanderer
gänger
wanderer
gänger
1890 .
. 19323
17000-^)
1895 .
. . 7124
56000^)
1900.
. . 9838
119066')
1891 .
. 17499
•?
1896 .
. . 6180
?
1901.
. . 11430
U1633
1892 .
. 13127
?
1897 .
. . 5733
?
1902.
. . 9120
135657
1893 .
. 8784
?
1898 .
. . 7766
?
1903.
. . 10896
154545
1894 .
. 5623
9
1899 .
. . 8670
?
1904.
. . 17239
158408
^) Arbeiten des Warschauer Statistischen Komitees von 1906, Heft XXil, S. 43.
^) Ebenda von 1903, Heft XIX, S. 6. — ») Ebenda von 1906, Heft XXII, S. 44.
Cleinow, Die Zukunft Polens 15
226 Zehntes Kapitel. Die Arbeiterfrage
Im Jahre 1904 sollen somit nach der amtlichen Statistik nur etwa
171000 Arbeiter außerhalb Polens Beschäftigung gesucht haben oder nur
ein Yiertel aller erwachsnen Arbeitslosen. Yon diesen haben überdies
noch 8700 keine Arbeit im Auslande gefunden.^) Wir würden diesen An-
gaben völlig ratlos gegenüberstehn , wenn wir hier nicht eine durch die
Praxis bestätigte theoretische Überlegung einschalten könnten.
Der hauptsächlichste Grund für die Abwanderung einzebier Teile der
Bevölkenmg aus einem Gebiet in ein andres ist der Mangel an Arbeits-
gelegenheit. Dabei ist die Ai'beit an sich durchaus nicht als die ti*eibende
oder ziehende Kraft zu bewerten, sondern lediglich als das ^Mittel zur Be-
friedigung der geringsten, durch jedes Individuum verschieden bemessenen
Bedürfnisse. Die Angehörigen anspruchsvoller Kulturvölker — nicht zu ver-
wechseln mit den in ihren Ansprüchen entarteten — werden eher geneigt
sein, eine größere Arbeitsleistung zur Befriedigung ihrer geringsten Be-
dürfnisse zu übernehmen, die Vertreter zurückgebliebner, unkultivierter
Völker werden sich schwerer zur Suche um Arbeit außerhalb des gewohnten
Kreises entschließen. Bei der Bemessung der Bedürfnisse handelt es sich
nicht nur um die persönlichen Bedürfnisse des Individuums, sondern auch
um die ererbten, anerzognen, fi*ei willig oder unfreiwillig übernommnen
Pflichten seiner Sippe, seiner Familie gegenüber. Die große Masse des
polnischen Volks ist gegenüber den Völkern des "Westens, aber auch gegen-
über den sie umgebenden Juden kulturell zurückgeblieben imd hat daiiun
auch nur ein sehr geringes Maß von Bedürfnissen und einen um so
größern Widerwillen zu schwerer, körperliche, geistige und moralische
Kräfte stark beanspruchender Arbeit. Alle diese Anforderungen stellt aber
die Suche nach Ei"werb in einer fremden und ungewohnten Umgebung.
Das ist nach allen unsern Beobachtungen in den Landgemeinden der
wesentlichste übereinstinnnende Gnmd, warum die Auswanderung aus dem
Zartum noch nicht im Verhältnis zur großen Proletarisierung der Massen
gewachsen ist, obwohl Arbeitsgelegenheit in den Nachbargebieten vor-
handen wäre.
Hierzu treten bei den Polen nocli andre hemmende Gründe. Da ist
das stark ausgeprägte Heimatsgefühl, von dem aucli der niedrigst stehende
Pole tief durchdrungen ist, die Tüchtigkeit und Überlegenheit der polnischen
Fi'auen und damit im Zusammenhang die Einwirkung der Geistlichen auf
die Männer. Neue heimnende Gründe treten hinzu: dazu gehören die Er-
sparnisse der Einzelnen, die ihre wirtschaftliclie Lage gebessert haben und
nun den anspruchslosen andern über die diingendste Not liinweghelfen.
') Arbeiten des "Warschauer Statistischen Komitees von 1906. Heft XX U, S. 12.
C. Sachsengänger und Auswanderer 227
Schließlich hindert das Vorhandensein des zugeteilten Landes. Der Wirt,
der P/e bis 3 Deßjatineii sein Eigen nennt, kann, obAvohl ihn seine Arbeit
zu Hause nicht ernährt, seine freie Zeit nicht voll ausnutzen, aber er ist
auch außerstande, sein Anwesen für längere Zeit zu verlassen. j\lif Rück-
sicht auf seinen kleinen Besitz kaim er nur in einer nähern Umgebung
seines Wohnorts NebenerAverb suchen und ist infolgedessen verurteilt, in
erster Linie die Masse billiger Tagelöhner zu vergrößern. Je geringer sein
Vertrauen in sich selbst und seine Ansprüche sind, um so länger wird er
sicli mit diesem Notbehelf begnügen. Sobald der Bauer aber Zutrauen zu
sich selbst ge^vinnt, seine Leistungsfähigkeit höher einzuschätzen beginnt,
ti-itt mit wachsenden Ansprüchen die Frage an ihn heran, ob ilnn sein
Grundbesitz eine sichere Existenzgrimdlage oder ein Hennnschuli für sein
wirtschaftliches Portkommen ist, ob er besser tut, sein Anwesen zu ver-
kaufen oder nicht. Aus den angeführten Gründen können wir die Zahlen
der amtlichen Statistik, die vielfach angezweifelt werden, als annähernd
zuti-effend bezeichnen. Die angeführten natürlichen Vorbedingungen für
die Proletarisierung könnten gemüdert werden durch eine feine Ausge-
staltung der Verkehrsmittel. Da, wie wir sahen, die Verkehrsmittel im
Zartum Polen nicht nach wirtschaftlichen, sondern nach sti"ategischen Ge-
sichtspunkten angelegt werden, so hat sich der polnische Arbeitsmarkt in
eine von Osten nacli Westen hin und zurückflutende Wellenbewegung
gesetzt. Es findet kein fortlaufender, durch gute Verkehrsmittel miter-
stützter Austausch statt. Die nahe an der preußischen Grenze liegenden
Kreise schicken im Fi-ühjahr jedes Jalires ihre Bevölkerung zui' Arbeit
nach PreiLßen und erhalten dafür Ersatz aus den östlich benachbaiien Ge-
bieten, wo Städte und Industiie keine Verwendung für die auf dem Lande
überschüssigen Arbeitskräfte haben. Im Herbst ti'itt die Rückbewegung
dieser Welle ein. Die Mehrzahl der Sachsengänger ist in den drei bis Ader
Wintermonaten ohne Beschäftigung, da die einheimischen Arbeiter nicht
von ihren Plätzen weichen wollen. Ln folgenden Jahre finden sich schon
neue Anwärter für die Sachsengängerei aus den Landkreisen der aus andern
Gebieten zugewanderten Arbeiter. Ein Teil der alten Sachsengänger tiitt
zurück, um sich von seinen Ersparnissen ein Amvesen zu kaufen, andre
sind krank gcAvorden, Avieder andre haben in der Fi'emde schlechte Er-
fahnmgen gemacht. Auch die Agenten trachten danach, neue und uner-
fahrne Leute heranzuziehn, die geringere Ansprüche stellen als die alten
erfahrnen. Wir folgern hieraus: Die direhte Abwanderung vom Dorf zur
Arbeit ms Ausland ist gering und in größeren Maßstabe ausschließlich
in den an Preußen grenze'riden Kreisen vorhanden. Daran ändert auch
nichts die Tatsache, daß die Zahl der Auslandspässe an Wanderarbeiter in
15*
228
Zehntes Kapitel. Die Arbeiterfrage
allen Gouvernements gcAvachsen ist. Denn die Paßvorschrift bestimmt,
daß Pässe nur von der Ortspolizei des ständigen Wohnsitzes ausgestellt
werden dürfen, während die billigen Arbeiterpässe den Vermerk des
Arbeitsorts tragen. Dabei gilt meist ein Ort als ständiger Wohnsitz, den
der Passinliaber schon nach der Firmelung verlassen hat. Die Sachsen-
gänger aller Aveiter von der Westgrenze entfernt liegenden Kreise ergänzen
sich aus solchen Elementen, die bereits einige Jahre in westlichen Gebieten
des Zartums gearbeitet haben. Die Wanderarbeit im Innern des Zartums
muß infolgedessen als eine "Vorstufe der Sachsengängerei bezeichnet werden.
Für uns entsteht hieraus die Frage: Kann nun die Sachsengängerei ihrer-
seits als ein Übergangsstadium zu völliger Auswantlorung großer Teile der
polnischen Bevölkerung betrachtet werden?
1, I>ie Auswanderung
Die bereits angeführten Zahlen zeigen uns eine so geringe Aus-
wanderung aus dem Zartimi Polen, daß sie bei der Beurteilung der Lage
des gesamten Arbeitsmarktes kaum ins Gewicht fallen. Die Auswanderer
der Jahre 1893 bis 1903 verteilen sich wie folgt: von allen 85610 Aus-
wanderern des zehnjährigen Zeiti'aums waren 43400 Unverehelichte
(51 Prozent), 26350 VereheUchte (31 Prozent) und 15840 Weiber und
Kinder (18 Prozent). Verteilt auf die Stellung innerhalb der Familie und
auf die Gewerbe zeigt uns die Auswanderung aus den ländlichen Gminen
des Zartiuns das folgende Bild:
Unverheiratete
Verheiratete
Frauen und Kinder
Landlose Bauern') . .
Sonstige landlose Personen
Landarbeiter ....
Handwerker u. Fabrikarb.
Personen sonstiger Ge-
werbe
7 943 (45 Prozent)
17 738 (57 ,. )
5 448 (54 ., )
2182 (43 „ )
6 709 (38 Prozent)
8159 (26 .. )
2807 (28 ,. )
1.572 (31 .. )
3208 (17 Prozent)
5365 (17 ., )
1747 (18 „ )
1332 (26 „ )
4086 (48
2212 (26
2251 (26
)
Dagegen vei'schiebt sich das Bild bezüglich der Auswanderung aus
den städtischen Gemeinden:
Arbeiter 2) . .
Handwerker . .
Sonstige Gewerbe
Unverheiratete
9178 (65 Prozent)
3673 (40 ., )
3755 (51 ., )
Verheiratete
2873 (20 Prozent)
2342 (25 „ )
1784 (24 ,. )
Mit ihnen Frauen
und Kinder
2163 (15 Prozent)
3260 (35 .. )
1852 (25 „ )
Das Ziel der Wanderung ist im Laufe der 1880 er Jahre vorwiegend
Südamerika, später vorwiegend Nordamerika gewesen. Doch kehren all-
') Arbeiten des Warschauer Statistischen Komitees von 1906, Heft XXII, S. 50.
2) Ebenda S. 51.
C. Sachsengäoger vind Auswanderer
229
jährlich wieder mehrere tausend Arbeiter aus Amerika zurück. Wir finden
sie alsdann in der amtlichen Statistik unter den Wanderarbeitern. Im
Jahre 1903 beti'ug die Zahl dieser Eückwandrer etwa 8000 Menschen, im
Jahre 1904 gegen 10000. Die meisten von diesen sind drei bis vier Jahre
jenseits des Ozeans geblieben und haben dementsprechend größere Erspar-
nisse mitgebracht als die nach Deutschland für acht bis zehn Monate
wandernden. Die amtliche Statistik übersieht diesen in der Yerscliiedenheit
der Dauer der Abwesenheit liegenden Umstand. Sie schafft dadurch das
Bild, als könne der Arbeiter in Amerika größere Ersparnisse erzielen als
in Europa. Da solche Auffassung auch von der der Regiei-ung nahe-
stehenden Presse wie auch von dem deutschfeindlichen Teil der Polenpresse
unterstrichen wird, liegt darin eine gewisse Absichtlichkeit, die uns stutzig
machen muß. Tatsächlich bringt der Arbeiter aus Amerika meist nur so
\iel Ersparnisse mit, wie sie der Sachsengänger mit Leichtigkeit in zwei
Jahren zurücklegi.
Schließlich muß hervorgehoben Averden, daß ein großer Teil der Aus-
wandrer auf das Konto der Protestanten und Juden zu setzen ist. Ein
Bild über die Zeit von 1890 bis 1904 gibt folgende Zusammenstellung.
Es wanderten aus nach Bekenntnissen;
aus dem Gouvernement *)
Orthodoxe und
Altgläubige
Katholiken
Protestanten
Juden
Ssuwalki
1176
27171
1376
9209
Lomsha
17
15105
137
2953
Plock
3
20132
1642
2397
Sjedlec
Warschau
120
20
379
8352
96
1588
2150
5038
Lublin
87
1107
356
1487
Kaiisch
7
5874
1163
1790
Petrikau
5
1759
1058
1064
Kjelce
Eadom
1
94
152
12
87
428
1726
Auch von, den Juden kehren viele in die Heimat zurück, während
die Deutschen meist in der neuen Heimat bleiben. Bemerkenswert ist die
verhältnismäßig große Zahl von Altgläubigen, die aus dem Grouvemement
Ssuwalki ausgewandert sind. Sie haben der Heimat wolü ausschließlich
wegen politischer, mit ihrem Glauben zusammenhängender Verfolgung den
Rücken gekehrt.
Die Folgen der Auswanderung für das Zarüim Polen sind somit an-
nähernd die gleichen, die wir bei der Wanderarbeit beobachten. Von einer
^) Arbeiten des Warschauer Statistischen Komitees von 1906, Heft XXII, S. 54.
230
Zehntes Kapitel. Die A.rbeiterfrage
erheblichen Einbuße, die die polnische Nationalität durch die Auswanderung
erleiden könnte, darf nicht gesprochen werden.
2. I>ie Ausdehnung der Wanderarbeit int JTdhre 1903 und 1904
Es erübrigt sich für unsre Zwecke, noch weiter den Gründen nach-
zuforschen, die die Ausbreitung der "VVanderarbeit fördern oder hemmen.
Interessenten finden einige, wenn auch auf veraltetes Material aufgebaute
Angaben in der kleinen Studie von Trzcinski^) und in den fortlaufenden
Yeröffentlichungen des Warschauer Statistischen Komitees. Uns interessiert
hier die Tatsache der "Wanderarbeit selbst und die sich aus ihr ergebenden
Schäden oder Vorteile für die polnische Nationalität. Da nun aber aus
verschiednen Gründen angenonmien werden kann, daß die Wanderarbeit
nicht erheblich unter die Grenze ihres Umfangs in den Jahren 1903 und
1904 zurückgelm vnvd.^ daß sie vielmehr bei einer weitern Entwicklung
der deutschen Industiie und bei einer bessern Organisation des Arbeits-
nachweises im Auslande steigen wird, so sei ihre Verteilung über die ver-
schiednen Gouvernements und die verschiednen in lYage kommenden
Länder hier kurz für die Jahre 1903 und 1904 dargestellt
Die Abwanderung auf Arbeit in die verschiednen Länder zeigt fol-
gende Tabelle"^):
im Jaliro 1903
im Jahre 1904
nach
Deutschland
nach
Amerika
TS
.2^
Zusammen
nach
Deutschland
nach
Amerika
nach
Rußland
a
i
Ssuwalki . . .
1868
1659
2270
1
5 297
1551
1685
3028
61
6325
Lomsha
13801
2071
89
—
15961
14218
3514
5
—
17737
Plock . .
27 787
1887
67
8
29749
26114
2859
20
—
28993
Sjedlec
137
19
992
—
1149
3
28
724
—
755
Warschau
8549
1076
378
—
10003
7973
1031
199
17
9220
Lublin . .
325
411
388
11
1135
156
268
188
—
612
Kaiisch .
70991
1144
24
247
72406
71239
903
52
283
72477
Petrikau .
18773
—
72
_.
18845
16204
19
78
558
16859
Kjelce . .
—
—
—
—
—
18
88
17
6
129
Radom
—
—
—
—
—
225
58
16
2
301
Zusami
ner
i
141731
8267
4280
267
154545
137 701
10453
4327
927
153408
^) I. von Trzcinski, Russisch - polnische und galizische "Wanderarbeiter im Groß-
herzogtum Posen, im 79. Stück der Münchener Volkswirtschaftlichen Studien von Lujo
Brentano und Walter Lotz. Stuttgart imd Berlin, J. G. Cottasche Buchhandlung Nach-
folger, 1906. Dort auch einige Literaturnachweise.
0 Arbeiten des Warschauer Statistischen Komitees von 1906, Heft XXII, S. 4.
C. Sachsengänger und Auswanderer
231
Wir ersehen hieraus eine kleine Yerringerung der Abwanderung über-
haupt um 1100 Menschen; nach Deutschland war die Zahl um 4030 ge-
ringer, ist dafür aber für die nach Amerika gehenden um 2186 größer
geworden. Daneben fällt uns die Höhe der nach „Rußland" Avandernden
Arbeiter aus Ssuwalki auf. Es sei daran erimiert, daß 44 Prozent der
Bevölkerung des genannten Gouvernements Litauer sind. Diese Wander-
arbeiter gehn tatsächlich über die Grenzen Litauens nicht hinaus. Kowno,
Wilna, Grodno und Bialystok, die auch teilweise von Litauern bewohnt
werden, sind die weitesten Ziele ihrer Wanderimg, Wir wissen, daß es
vorwiegend Landarbeiter sind, die auf den großen Gütern der Tyszkiewiez,
Drucki-Lubecki, Broel-Plater und andrer Arbeit finden.
Yon allen Arbeitern haben im Jahre 1903 gegen 6,7 Prozent keine
Arbeit gefunden, im Jahre 1904 waren es nur 5,6 Prozent. Auf die ver-
schiednen Länder und Gouvernements verteilen sich diese Arbeitslosen
wie folgt ^):
im Jahre 1902
in
im Jahre 1904 in
-o
"Ö
§
6X)P
<5J
s
a
xi
o
13
5-S
a
a
ü
1
a
1
1
a
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a
3
O
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M
tJ
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<
«
■ö
NJ
Ssuwalki . . .
72
23
_
95
17
6
_
1
24
Lomsha .
1695
36
1
—
1732
1503
82
—
—
1535
Plock . .
1716
30
—
—
1746
1487
44
—
—
1531
Sjedlec
8
—
—
—
9
1
—
.^
—
1
Warschau
370
46
14
—
430
193
27
—
1
221
Lublin . .
20
5
—
—
25
8
3
—
—
11
Kaiisch .
4446
37
—
24
4507
4277
29
—
29
4335
Petrikau .
1823
—
—
—
182
1045
—
—
—
1045
Kjelce . .
—
—
—
—
—
2
3
—
—
5
Eadom
—
—
—
—
—
2
—
6
—
8
Zusamr
nee
L
10150
177
15
24
10367^)
8535
144
6
31
8716
Der Hauptgrund für die verhältnismäßig große Zahl der in Deutschland
keine Beschäftigung findenden Arbeiter ist in Mängeln der Organisation zu
suchen, deren Aufgabe es wäre, die polnischen Feldarbeiter unterzubringen.
Daneben spielt aber der Konkurrenzkampf der Agenten keine geringe Rolle.
Die Yerteüung der Wanderarbeiter der beiden genannten Jahre auf
die verschiednen Berufe ist folgende'^):
^) Arbeiten des "Warschauer Statistischen Komitees von 1906, Heft XXII, S. 12.
*) Fehler in d. amtl. Statistik nicht ermittelt. — ') Ebenda S. 18.
232
Zehntes Kapitel. Die Arbeiterfrage
Im
Jahre
1903
Im Jahre 1904
Landwirtsch.
Arbeiter
Fabrik-
arbeiter
Eisen -
bahn-
arbeiter
Landwirtsch.
Arbeiter
_ , ., Eisen-
^^^"'^- bahn-
arbeiter ^^^eiter
«
a
s
M
«
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a
g
ä
3
cä
s
a
a
a
2
u
i
2
B
§
3
et
u
Ssuwalki . .
2690
1177
949
235
210
86
3129
1579
810
339
371
97
Lomsha .
8023
5649
1329
363
579
18
8741
6421
1678
367
520
10
Plock . .
16095
12294
948
309
76
82
15598
11902
1197
259
33
4
Sjedlec .
276
177
131
106
414
45
165
57
44
8
474
7
Warschau
5259
3188
852
236
436
32
5170
3033
661
130
201
25
Lublin . .
514
135
356
69
35
26
220
84
244
22
39
3
Kaiisch .
36943
32115
1824
478
961
85
36437
32461
1594
442
1207
336
Petiikau .
6386
8043
2417
1713
220
66
7130
8755
473
219
235
47
Kjelce . .
—
—
—
—
—
—
40
10
75
3
1
—
Radom .
—
-')
—
—
—
—
97
121
51
10
21
1
Zusamm
BD
76186
62729
8801
3509
2931
890 76727
64423
6827
1799
3102
580
Somit sind 91 Prozent aller Wanderarbeiter Feldarbeiter, 7 Prozent
Fabrikarbeiter und 2 Prozent Eisenbahnarbeiter.
3. Die Arbeitslöhne in den verschiednen Ländern
Die amtliche Statistik p^ibt die Tagesverdienste der "Wanderarbeiter
für das Jahr 1904 in den verschiednen Ländern in Kopeken wie folgt an''):
Deutschland
Amerika
Dänemark
England
Männer
Frauen
Männer
Frauen
Männer 1 Frauen
1
Männer
Frauen
Landarbeiter mit eignem
1
Werkzeug
110
70
320
220
125
75
200 ! 150
Landarbeiter mit giitsherr-
lichem Werkzeug . . .
70
50
220
140
95
55
150
100
Fabiikai'beiter
160
90
330
230
220
—
250
200
Eisenbahnarbeiter ....
180
90
260
190
230
—
210
200
Die hier nicht angeführten Angaben über die Tagelöhne in Rußland ^)
sind nicht ganz einwandfrei. AVir konnten uns in Litauen überzeugen,
daß die Tagelöhne an Saisonarbeiter aus Ssuwalki selten 60 Kopeken für
den Mann und 45 Kopeken für die Frau überschreiten. Auf eine Kritik
*) Differenz liegt i. d. amtl. Angabe. Fehler nicht ermittelt.
^) Arbeiten des Warschauer Statistischen Komitees von 1906, Heft XXII, S. 23.
") Ebenda S. 27.
C. Sachsengänger und Auswanderer
233
der Angaben über die Löhne im Auslande wollen wir verzichten, weil für
uns lediglich wichtig ist, was in dieser Beziehung in der Heimat der
Wanderarbeiter geglaubt Avird. Der Glaube an die amtlichen Angaben hat
unter andorra den Zustrom von Wanderarbciteni nach Amerika vergrößert.
In Ergänzung der obigen Angabeii ist es wohl nicht uninteressant,
welche Lohnhöhen für die Wanderarbeiter aus den einzelnen Gouvernements
in Frage konunen. Im Jahre 1904 stellt sich uns folgendes Bild in Ko-
peken dar^):
Landwirtschaftliche Ai'beiter
Arbeitsort
Fabrik-
arbeiter
Eisen
arb«
, ,
Gouverne-
ment
mit gutsherrl.
Werkzeug
mit eignem
Werkzeug
riter
Männer
Frauen
Männer
Frauen
Männer
Frauen
Männer
Frauen
Ssuwalki . .
1
Deutschland
Amerika
England
85
190
150
60
140
100
120
280
200
80
200
150
200
270
250
125
180
200
140
310
210
110
260
200
Lomsha . . .
/
l
Deutschland
Amerika
70
180
45
120
110
310
70
145
165
330
100
190
165
315
95
200
Plock . . . .
/
l
Deutschland
Amerika
70
200
50
140
105
270
70
180
120
310
80
190
120
280
75
200
Sjedlec . . .
r
i
Deutschland
Amerika
120
100
125
170
I
275
200
100
—
"Warschau . .
Deutschland
Amerika
65
225
40
155
100
310
60
225
120
425
70
200
135
180
75
110
Lublin . . . .
{
Deutschland
Amerika
65
280
45
90
315
70
165
100
430
80
240
--
Kahsch . . .
l
Deutschland
Amerika
Dänemark
80
200
110
60
155
60
105
335
140
80
220
80
130
280
80
190
135
220
80
Petrikau . .
f
1
Deutschland
Amerika
Dänemark
75
200
80
50
50
100
115
70
70
140
300
220
70
135
230
—
Kjelce ....
i
Deutschland
Amerika
65
400
40
200
110
550
70
400
300
325
150
210
200
Eadom . . .
/
i
Deutschland
Amerika
80
50
105
70
350
—
300
200
Die sich ergebenden Unterschiede zwischen den einzelnen Gou-
vernements erklärt die amtliche Statistik^) durch die Yerscliiedenheit der
*) Arbeiten des Warschauer Statistischen Komitees von 1906, Heft XXII, S. 23.
") Ebenda S. 25.
234 Zehntes Kapitel. Die Arbeiterfrage
Löhne an den Arbeitsorten. Tatsächlich haben die Agenten den einzelnen
Gouvernements ganz bestimmte Arbeitsmärkte im Auslande gesichert, auf
die die "Wanderarbeiter entweder durch ihre Agenten geführt oder einfach
dem Strome folgend alljährlich zurückkehren.
D. Die Bedeutung der Wanderarbeit für die polnische
Nationalität
Die Arbeit fern von der Heimat und noch dazu in fremden Ländern
unter völlig ungewohnten Lebensbedingungen, unter fremden Nationen mit
ihren Eigenheiten kann nicht ohne tiefen Eindnick auf die bleiben, die
sich ihr unterziehen. Berührt schon die Reise in die Fremde mit ihrem
Abschiednehmen, mit ihren neuen angenehmen und imangenelnnen Ein-
drücken, mit ihrem Heimweh und ihrer Freude auf die Heimkehr alle
Gebiete menschlichen Empfindens und Denkens, so muß die Übernahme
von Terpflichtungen unter ungewohnten Terhältnissen, unter dem Zwange
wenig bekannter Gesetze und Lebensbedingungen die Entwicklung der
Menschen um so stärker beeinflussen. Neben diesen allgemeinen Ein-
drücken, denen jeder Mensch ohne Unterschied seiner Zugehörigkeit zu
einem Volk oder zu einer sozialen Schicht ausgesetzt wird, erwachsen den
Polen als einer zu staatlicher Organisation strebenden Nationalität eine
Reihe von besondern Vorteilen, die wir bei einer Darstellung des pol-
nischen Problems nicht übergehn dürfen.
1, Die Ersparnisse der Sachsengänger
Deutsche und russische Politiker nennen als den Hauptvorteil der
Wanderarbeit für die Polen die gi'oßen Ersparnisse , die diese alljährlich
in die Heimat zurückbringen. Wii' teilen den Ersparnissen nicht die erste
Stelle der Wichtigkeit zu, weil sie keinen bleibenden Gewinn für die pol-
nische Nation darstellen, jeden Augenblick aufhören können und auch bei
dem geringen Bildungsgrade der polnischen Wanderarbeiter so viel Nach-
teile mit sich führen, daß ein guter Teil der Vorteile für die große Masse
durchaus aufgehoben Avürde, wenn nicht neben ihnen andere Vorteile be-
stünden. Dennoch nennen Avir sie hier zuerst, weil sie am sichtbarsten
von allen Vorteilen zutage ti'eten und am leichtesten für die Gesamtheit
der Nation in Rechnung gestellt werden können.
Im Jahre 1904 betrugen die reinen Ersparnisse der Sachsengänger
11,4 Millionen Rubel, von denen erspart waren: in Deutschland 9041620
Rubel durch 137 701 Arbeiter, in Amerika 2319425 Rubel durch 10453
Arbeiter, in Dänemark 54950 Rubel und in England 9180 Rubel, in
diesen beiden zusammen durch 927 Ai'beiter. ^) Dabei berechnet die amtliche
') Arbeiten des 'V\'arschauer Statistischen Komitees von 1906, Heft XXII, S. 30.
D. Die Bedeutung der "Wanderarbeit für die polnische Nationalität 235
Statistik die Ersparnisse pro Kopf der Wanderarbeiter für das ganze Zartum
im Durchschnitt in Rubel wie folgt ^):
Arbeitsgebiet
Landarbeiter
Fabrikarbeiter
Eisenbahnarbeiter
Männer
Frauen
Männer
Frauen
Männer
Frauen
Deutschland ....
Amerika
Dänemark
England
Rußland')
70
240
80
75
40
50
150
60
55
20
110
320
HO
100
90
70
240
60
60
40
80
240
150
90
80
50
160
55
60
Die Angaben in der letzten Zeile dieser Aufstellung über die Er-
sparnisse der Fabrik- und Eisenbahnarbeiter in Rußland sind zweifellos
unzutreffend. Setzen wir selbst die höchste Zahl der Arbeitstage dieser
Arbeiter von außerhalb mit 200 an, und rechnen wir für Männer den
üblichen Tagelohn von 50 Kopeken, so ergäbe sich ein Gesamtlohn von
100 Rubel iin Jahr. Davon sind Reisespesen für die Hin- und Rückreise
mindestens 6 Rubel und täglich 10 Kopeken für den Unterhalt abzuziehen,
im ganzen mindestens 26 Rubel. Wenn somit Fabrik- und Eisenbahn-
arbeiter wirklich 75 Rubel (statt 90) ersparen, dann müßte das als ein
glänzendes Ergebnis der Wii-tschaftüclikeit aufgefaßt werden.
Die Ersparnisse in den einzelnen Gouvernements des Zartums be-
liefen sich wie folgt ^):
In den
Gouvernements
Arbeitsgebiet
Landarbeiter
Fabrikarbeiter
Eisenbahn-
arbeiter
Männer
Frauen
Männer
Frauen
Männer
Frauen
Ssuwalki {
Lomsha >
Plock 1
Sjedlec /
Deutschland . .
Ameiika. ....
England
Deutschland . .
Amerika
Deutschland . .
Amerika
Deutschland. . .
Amerika
55
250
75
70
280
70
230
80
200
35
120
55
50
160
40
150
140
240
100
105
380
100
290
230
80
130
60
65
290
80
170
80
140
90
85
340
70
260
70
200
25
80
55
50
200
50
150
') Arbeiten des T\^arschauer Statistischen Komitees von 1906, Heft XXIT, 8. 28.
«) Ebenda S. 30.
») Ebenda S. 28.
>36
Zehntes Kapitel. Die Arbeiterfrage
In den
Gouvernements
Arbeitsgebiet
Landarbeiter
Fabrikarbeiter
Eisenbahn-
arbeiter
Männer
Frauen
Männer
Frauen
Männer
Frauen
Warschau '
Deutschland
Amerika. . .
Dänemark .
England . . .
65
215
80
50
190
80
310
80
175
70
200
75
60
280
70
40
110
60
40
90
50
150
50
90
60
40
250
50
80
300
100
70
310
110
400
80
100
400
145
175
360
300
50
200
50
300
70
280
60
85
75
300
60
180
100
400
100
150
90
185
100
40
100
Lubliü /
Kaiisch 1
Petrikau J
Kjelce f
Radom f
Deutschland
Amerika . . .
Deutschland
Amerika. . .
Däiiemark . .
Frankreich .
Deutschland
Amerika. . .
Dänemark . .
Deutschland
Amerika . . .
60
300
75
45
150
Deutschland
Amerika . . .
Für mehrere Jahre gibt uns Ssimonenko einige Zahlen. Nach seiner
Berechnung betinigen die Ei-sparnisse der Wanderarbeiter in^):
Gouvernement
1900
1901
1902
Kaiisch ....
4185627
4 951250
4797537
Plock
1 557 690
1779596
1606375
Lomsha ....
983731
1062557
848136
Petrikau ....
698724
694188
723875
Warschau . . .
379058
427 148
479827
Ssuwalki ....
109891
102737
35405
in den übrigen
13641
14486
23717
zusammen .
7928362
9031957
8514872
Somit haben die Sachsengänger allein in den ersten vier Jahren gegen
36,9 Millionen Rubel oder 80 Millionen Mark in das Zaitum Polen
gebracht.
2. Der Landeinverb durch Sachsengänger
Eine der nächsten Folgen der "Wanderarbeit ist die Steigerung der
Löhne in der Heimat und damit im engen Zusammenhang der Über-
gang von Outsländereien in bäuerlichen Besitz. Die in der Heimat
^) Arbeiten des Warschauer Statistischen Komitees von 1902/03, Heft XIX, S. 57.
D. Die Bedeutung der Wanderarbeit für die polnische Nationalität 237
bleibenden Arbeiter erzielen höhere Arbeitslöhne, da sich das Angebot von
Arbeitskräften verringert hat Um die Arbeiter vor der Übersiedlung ins
Ausland abzuhalten und sich eine genügende Anzahl von Arbeitern zu
sichern, sind die örtlichen Großgrundbesitzer gezwungen, den Arbeitslohn
zu erhöhen. Das trifft indessen, wie wir schon oben sahen, nicht in allen
Gebieten gleichmäßig zu, sondern vorwiegend in den dicht an der preu-
ßischen Grenze gelegnen. Wir zeigten schon, daß gerade in allen an
Deutschland grenzenden Gouvernements die Tagelölme in zehn Jahren er-
heblich gestiegen sind mit 20 Prozent in Ssuwalki, mit 45 Prozent in Plock
und mit 60 Prozent in Kaiisch.
Der Unterschied im Wachstum der Löhne steht in Abhängigkeit von
der Zahl der im Ausland Arbeit suchenden Bevölkerung. Die be.
deutendste Übersiedlimg fand aus den Gouvernements Plock und Kaiisch
statt, dementsprechend sind dort die Arbeitslöhne auch am meisten ge-
stiegen.
In den einzelnen Gouvernements ist das Wachstum der Arbeitslöhne
verschieden innerhalb der einzelnen Kreise, Gminen imd Oi-te, je nachdem
aus dem einen größere oder geringere Mengen von Arbeitern ins Ausland
wandern. So stieg der Arbeitslolin in den Kreisen Welun, Konin und
Slupec, die die größte Anzahl von Wanderarbeitern ins Ausland schickten,
von 1893 bis 1903 um 60 bis 130 Prozent. In den Gminen Dlusk,
Kazimerz, Olesnica, Osti^owite und Trombczin (des Kreises Slupec im Gou-
vernement KaHsch), von denen jede in den letzten Jahren über 1000 Ar-
beiter ins Ausland sclückte, verdoppelte und verdreifachte sich der Ar-
beitslohn.
Solchen starken Steigerungen vermögen nun die Gutsbesitzer nicht
zu folgen. Sie sind nicht darauf eingerichtet, die geforderten höhern Löhne
zu zalilen, imd finden daiTun in den an Preußen grenzenden Kreisen nicht
die zur Bewirtschaftung erforderlichen Arbeitskräfte. Seit Beginn einer
starkem Sachsengängerei sind daher viele^ Großgrundbesitzer erhöht daran
interessiert, ihre Güter zu verkaufen, und schon im Jalu'e 1898 schätzte
man die wegen der Arbeiterfrage zum Verkauf stehenden Großgrundbesitze
auf zwei Millionen Morgen.^) Die polnischen Bauern ihrerseits kaufen
sich sehr gern an, und der selbstbewußtere Teil von ihnen hat in der
Wanderarbeit das Mittel erkannt, zu barem Gelde zu gelangen. Den Zu-
sammenhang der Wanderarbeit mit dem Landkauf durch Bauern weist
Ssimonenko für eine Reilie von Kreisen nach.^)
*) 1. Orlow, „Die wirtschaftliche Lage und Zahlungsnüttel der Bauern in den Gou-
vernements des Zartiims Polen", Kjelce, 1898, S. 56.
-) Arbeiten des Warschauer Statistischen Komitees von 1902 03, Heft XIX, o. 61.
238
Zehntes Kapitel. Die Arbeiterfrage
Kreise
Anzahl der
Saclisengänger
während der
Jahre 1900
und 1901
Umfang des von Bauern
gekauften Landes
(in Deßjatinen)
bis 1899 I bis 1903
Vermehrung
des gekauften
Bauemlaudes
von 1899-1903
in Piozeuten
"Welun
Slupec
Konin
Kaiisch
Kolo .
Sieradz
Turek
39627
28650
16964
16066
12350
7703
5155
5154
3573
7539
6418
4578
9091
14197
13227
8 353
11475
13310
9559
17 594
19600
156,6
133,8
52,2
107,4
108,8
93,5
38,5
Aus der Tabelle ist zu erkennen, daß die Reihenfolge der Kreise be-
züglich der Menge des von den Bauern gekauften Landes amiähemd über-
einstimmt mit dem Umfange des Auszuges auf "Wanderarbeit. Eine Aus-
nahme bildet der Kreis Konin. Ssimonenko erklärt aber, für den genamiten
Kreis sei der Umfang der bis 1899 von den Bauern gekauften Läiidereien
zu hoch angenommen worden. Einzelne Gminvenvaltungen hätten ver-
sehentlich in die angegebne Zahl auch einen Teil des Anteillandes auf-
genommen, das von andern Bauern, nicht aber von Großgnmdbesitzem
erworben worden sei.
Nach der Meinung eines pohlischen Gutsbesitzers kaufen vorwiegend
solche Bauern Land, die aus Amerika mit besonders großen Ei'sparnissen
zurückkehren, nicht aber solche, die in Deutschland gearbeitet haben. Die Un-
richtigkeit dieser Behauptung wird in der nebenstehenden Tabelle erwiesen.^)
Dort sind die Gniinen des Gouvernements Kaiisch angegeben, aus denen
die größte Abwanderung nach Amerika und nach Deutschland stattfindet,
und daneben die Menge des in diesen Gminen bei den (iroßgiimdbesitzern
gekauften Landes.
AVir sehen, daß sich in den Gminen, die die größte Zahl der Aus-
wandrer nach Amerika lieferten, der Umfang des von den Bauern von Guts-
besitzern gekauften Landes während der letzten vier Jahre (1899 bis 1903)
von 50 Prozent (Gmin Izbica) bis zu dreieinlialbmal (Gniin Slawoszewek)
und viermal (Gmin Sompolno) vergrößert hat. Daneben wuchs der Land-
erwerb durch Bauern auch in den Gminen, aus denen nur eine geringe
oder gar keine Abwanderung nach Amerika stattgefunden hatte, wenn
eine solche nach Deutschland an ihre Stelle geti'eten war. So hat sich
die Zunahme des Landerwerbs verdoppelt in den Gminen Neramice, Skouilin,
Dombroszin und andern, verdreifacht in den Gminen Dlusk, Goslawice,
Starzenice, vervierfacht in der Gmin Olesnica, und hat sich sogar in der
») Arbeiten des Warschauer Statistischen Komitees von 1902/03, Heft XIX, S. 62.
D. Die Bedeutung der "Wanderai'beit für die polnische Nationalität
239
Gmin Rudniki verfünffacht. Alle diese Gemmen schicken aber ihre
Wanderarbeiter nach Preußen.
Gminen, deren Abwanderung
nach Deutschland während
Zahl
der
Seitens der Bauern erkauftes
Hofland
Zunahme des
Bauernlandes
von 1899
bis 1903
in Prozenten
der Jahre 1900 und 1901
Sachsen-
(in Deßjatinen)
2000 Personen überstieg
gänger
bis 1899
bis 1903
Kreis Welun
Rudniki
2475
351
1818
418
Starzenice
2178
205
670
227
Skomlio
2392
447
936
109
Neramice
2785
971
1966
103
Praszka
2850
—
166
—
Merzice
2100
—
69
—
Kreis Kanin
Goslawice
2636
440
1371
212
Dombroszin ....
2348
1320
2680
103
Kreis Slupee
Olesnica
2133
255
1202
371
Dlusk
2425
461
1545
235
Trombczin
2023
925
1607
67
Szimanowice ....
2074
—
664
• —
Zusammen
28419
5375
14694
173
Gminen, deren Abwanderung
nach Amerika während der
Jahre 1897 bis 1902
100 Personen überstieg
Kreis Kolo
Izbica
223
454
684
50
Sompolno
164
277
1118
304
Kreis Konin
Slawoszewek ....
166
367
1354
269
Kreis Slupee
Skulska-Wies ....
259
520
883
70
"Wilcza-Gora ....
123
—
303
168
Zusammen
935
1618
4342
168
„Diese Zahlen zeigen, sagt Ssimonenko /) Avie wenig man sich auf
allgemeine Schlußfolgerungen sogar der sachverständigen Leute verlassen
darf, wenn ihnen keine statistischen Daten für die Mehrzahl der Be-
völkerung zugrimde gelegt sind." Wir kömien hinzufügen, weim politische
Gruppen oder wirtschaftliche Interessenten bestrebt sind, die Wanderarbeit
von Deutschland nach Amerika abzulenken.
*) Arbeiten des "Warschauer Statistischen Komitees von 1902/03, Heft XIX, S. 63.
240 Zehntes Kapitel. Die Arbeiterfrage
5. Ethische und soziale Folgen der Wanderarbeit
So hoch wir auch die wirtschaftlichen Folgen füi- die materielle Lage
der großen Masse einschätzen, so gibt es doch ideelle Werte, die die
AVanderarbeit zu einem weit größern Kulturfaktor für die Polen machen,
als jene es tun könnten. Der Grund für unsre Auffassung liegt in dem
bleibenden Werte ideeller En-ungenschaften, den materielle Erfolge nur
auf einer hohen Stufe der Moral und der Bildung haben können. Da-
neben dürfen wir nicht vergessen, daß die materiellen Ersparnisse um so
weniger, die ideellen Werte um so mehr wirken müssen, je geringer die
Volksbildung und staatliche Fürsorge dafür ist
Wir wollen uns hier an Ausführungen deutscher, polnischer und
russischer Beobachter halten und sie mit unsem eignen Beobachtungen
an Ort und Stelle vergleichen. Der deutsche Nationalökonom Kaerger stellt die
disziplinierende Wirkimg des Aufenthalts in der Fremde fest. Li der Fremde
finde der Arbeiter mehr Anregung zur Arbeit als zu Hause. Kaerger erklärt
dies vor allem dui*ch die psychologische Einwirkung des Aufenthalts in der
Fremde. Während der Arbeiter außerhalb der gewohnten Umgebung seine
Beschäftigung nachgeht, verliert er tatsächlich einen Teil seiner natürlichen
Trägheit. Die Eeise ins Ausland rüttelt ihn in geistiger Beziehung auf.
Seine Tätigkeit erhält neue Ziele, die über die Stillung des Hungei"s hinaus-
gehn. Er ist ausgezogen, um bares Geld zu verdienen, das er dann im
Literesse seiner kleinen Wirtschaft auf Grund neuer ihm vor der Wander-
schaft nicht geläufiger Überlegungen wieder ausgeben könnte. Infolge-
dessen wird er zur Sparsamkeit erzogen, und in allen seinen Handlungen
tritt größerer Torbedacht zutage. Der einmal envachte Sparsinn spornt ihn
zu größerer Anspannung seiner Kräfte auf der einen Seite und auf der
andern zu wirtschaftKchem Denken an. Der faule mid indolente polnische
Bauer wird im Auslande ein fleißiger, anstelliger imd darum zu streng
organisierter Tätigkeit brauchbarer Arbeiter. Die Arbeit gewinnt auch für
den wenig kultivierten Menschen an ethischer Bedeutung. Die Yerh'eter
der weichen slaA^ischen Rasse lernen im Auslande durch eigne Erfahrung
die hohe Bedeutung der deutschen Pedanterie und Genauigkeit kennen.
Li Deutschland wird der polnische Arbeiter unter denselben günstigen
Bedingungen angestellt wie der deutsche. Nicht selten erklärt er sich in
Deutschland, häufiger noch in Amerika bereit, in Akkord zu arbeiten, was
eine größere Anspannung der Kräfte, aber auch höhere Gewinne bringen
kann. Li jedem Falle gewöhnt sich der pohlische Arbeiter an eine so
intensive Ai'beit, wie er sie in der Heimat nicht kannte. „Wenn ein Ar-
beiter ebensoviel arbeiten wollte, wie wir dort gearbeitet haben, sagen
aus Amerika zurückkehrende polnische Bauern, könnte mau auch hier
D. Die Bedeutung der "Wanderarbeit für die polnische Nationalität 241
genügende Existenzmittel erwerben." Ähnlich uiteilt auch ein genauer
Kenner der polnischen Bauern^): „Unser Bartek, der sich nach Preußen
oder nach Amerika begibt, arbeitet doii wie ein Lasttier."
Mit der größern Arbeitsleistung wachsen auch die persönlichen Be-
dürfnisse der Arbeiter. Die Nahrung, wie sie der polnische Bauer daheim
gewohnt ist, würde zu der von ihm in der Fremde geforderten Arbeit
nicht ausreichen.-) Damit tritt ein neuer Stimulus in das bäuerliche Leben.
Der eümial an Fleisch gewöhnte Magen verzichtet darauf nicht ohne
Schaden für den Körper. Neue Bedürfnisse ti'eiben zu intensiver Arbeit
und vermehren den Verbrauch der Landeserzeugiiisse, wodurch wieder ihr
Marktpreis in die Höhe geht. Das gleiche ti'ifft für Kleider und Schuh-
werk zu. „In dieser Beziehung sind die aus Deutschland zurückkehrenden
Arbeiter niclit wiederzuerkemien, schreibt Ssimonenko. Abgesehen von
den wenigen allerheißesten Monaten trennte sich der Bauer noch vor gar
nicht langer Zeit überhaupt nicht von seinem Pelz. Auch das Schuhzeug,
das er trug, Avar billig. Es Avurde im Winter getragen, im Sommer aber
nur an Feiertagen oder auf Reisen. Doch auch dann wurde es entweder
in die Hand genommen oder an den Stock gehängt. Bessere Anzüge
wurden früher nur an großen Feiertagen angelegt. Jetzt ziehen die Mämier
moderne Anzüge und Paletots an, die Fi'aueu Blusen und moderne Kleider,
sodaß die polnischen Arbeiter von den deutschen nicht immer zu unter-
scheiden sind."
Es kaiui nicht ausbleiben, daß sich die Zunahme der Bedürfnisse
stellenweise in ein ungesundes Bedüi'fnis nach Luxus umsetzt. Auf diese
Entaiiimg weisen besonders die Großgnmdbesitzer hin, die die Wander-
arbeit als ein Unglück für die ganze Nation darstellen möchten. So urteilt
ganz charakteristisch Chraszczewski: Die Bauern begnügen sich nicht mehr
damit, die Zeit nach der Sonne zu bestimmen, sondern wollen eine Taschen-
uhr und eine möglichst glänzende Kette dazu haben. Die Frauen sind
nicht abgeneigt, Schirme und Handschuhe zu ti'agen; Korsett oder auch
nur Fischbein im Mieder sowie Schuhe mit Absätzen sind keine Seltenheit
mehr. Sie begehren wohlriechende Seifen, Pomaden und sogar Eau de
Cologne. Die Männer verlangen ausgesuchte Halsbinden luid gestärkte
Kragen. Während der an Feiertagen stattfindenden Tanzgesellschaften er-
halten die Musikanten nicht mehr wie fi'üher Kupf emiünzen , sondern
silberne Füufzehnkopeken- und sogar Halbrubelstücke. Unter den Gegen-
ständen der Bewirtimg spielen Konfekt und andre Näschereien keine un-
M Siehe Echo Plockie i Lomzinskie von 1900, Nr. 28.
■■*) Chraszczewski, „Pracodawcy i pracownicy na ruli", Warschau 1902, S. 72 und 85.
Cleinow, Die Zukunft Poleua 16
242 Zehntes Kiipitel. Die Arbeiterfrage
bedeutende Rolle; statt des einfachen Branntweins wird „anodyna'\ eine
Mischung von Schwefeläther und Spiritus, kredenzt.
Angesichts dieser verschiedenartigen neuen Bedürfnisse sind von
Juden und Christen in den Dörfern Buden eingerichtet worden, die gegen
Abzahlung für Wucherzinsen die verschiedenartigsten Waren üefera. Selten
vergeht ein Tag, wo nicht ein ungarischer Hausierer oder Bilderverkäufer
das Dorf aufsucht und den ihn gierig umlagernden Klienten das Geld aus
der Tasche lockt, das zweifellos zu etwas Notwendigem! hätte verwandt
werden können. Solche Angaben ti'effen ausschließlich für die Industrie-
gebiete zu. Dort sind neben der Wanderarbeit auch andre Gründe für
die Entartung zu finden, vor allem die Anhäufung zahlreicher Menschen in
städtischen Siedlungen bei völligem Mangel von Volksbildung und nütz-
licher Yolksimterhaltimg. Das sind auch die Gründe, die mit den in
frühem Kapiteln gesciiildeiien Verhältnissen zusammen eine volle Aus-
nutzimg der Segnungen der Wanderarbeit nach kultivierten Ländern nicht
zulassen, vielmehr dazu führen, daß die Wanderarbeit in steigendem Maße
auf politischem Gebiete wirkt.
4. Politische Folgen der Wanderarbeit für die Polen
Bei der eigentümlichen Lage der polnischen Gesellscliaft überhaupt
und im Hinblick auf ihre politischen Ziele haben die politischen Folgen
der Wanderarbeit einstweilen für sie wenn auch nur theoretisch die größte
Bedeutung. Damm lautet auch unsre Frage: Welche neuen kräftigenden
oder schädigenden Elemente ti'ägt die Wanderarbeit in das politische
Empfinden und Denken des polnischen Volkes?
Solche Elemente sind in zwei Kategorien zu teilen. Die einen gehn
aus der Hebung der wirtscliaftlichen Lage und den sich daraus ergebenden
neuen Aufgaben ohne weiteres henor; die andern sind eine Folgeerscheinung
des im Auslande Geschauten und Erlebten.
Wir hörten schon von dem Mangel einer Neigung zu genossenschaft-
lichen Organisationen. Unter diesem Mangel hat sicli auch die Vennittlung
der Arbeitsgelegenheit lediglich als ein Geschäft solcher Personen ent-
wickelt, die mit der einzelnen Persönlichkeit des Arbeiten in keinerlei
Beziehungen stehn, meist auch dem gesamten Leben der Bauern fi'emd
sind. Es sind eine Reihe von Ober- und Unteragenten, die den Wander-
arbeiter anwerben, die auch Propaganda für Wanderarbeit in der Nähe ihres
Wohnorts ti'eiben. Besondere zu Anfang der Bewegung kommen Leute aus
den verschiedensten Dörfern zusaimnen, die ei-st an der Grenze zu Paiiien
abgeteilt und auf die verschiednen Güter geleitet werden. Daneben kam
es freilich auch früher schon vor, daß ganze Partien aus Angehörigen eines
T>. Die Bedeutung der "Wanderarbeit für die polnische Nationalitat 243
Dorfes bestanden. Aber das Nonnale war es, daß sieh von zwanzig Wander-
arbeitern aus einem Dorfe nicht zwei an einen imd denselben Agenten
wandten oder einem gemeinsamen Ai"beitsort zusti'ebten. Hierin ist nun im
Laufe der vergangnen fünfzehn Jahre ein merklicher Wechsel eingeti'eten.
Die Wanderarbeiter begimien sich dorfweise aneinanderzuschüeßen. Sie
trachten danach, möglichst aus einem Dorfe zusammen auf einen Gutshof
oder wenigstens in dieselbe Gegend zu kommen. Diese Beobachtung gilt
besonders für die Feldarbeiter, während bei Fabrikarbeitern andre, in der
Ai'beitstechnik liegende Gesichtspunkte in Fi'age kommen.
Wir erklären uns die Erscheinimg aus den im Auslande gemachten
trüben Erfahrungen. Sti'eitigkeiten mit den Agenten, mit den Arbeitgebern
und unangenehme Berührungen mit den Behörden haben die Wanderarbeiter
zu der Überzeugung geführt, ob nicht ein dorfweises Zusammenarbeiten
in jeder Beziehimg praktischer sei, als wenn jeder einzeln seinem Ziele
zusti'ebt. Die Dorfgeistlichen imd die Yeili'eter der Intelligenz haben in
gleicher Eichtung gewirkt. Das Unangenehme der nahen Kontrolle durch
die Dorfgenossen wurde bald überwunden durch die Yorfeile des gemein-
samen Handelns. Die Interessen dem Agenten und dem Arbeitgeber gegen-
über können energischer vertreten, die Mädchen wirksamer gegen die
Dreistigkeit Fi*emder verteidigt werden. Die Ausgaben haben sich ver-
ringert, seitdem man dorfweise gemeinsame Rechnung machte und der
Kassenführer neben der Aufsicht seiner Reisegefährten auch die öffentliche
Meinung des Heimatdorfes zu fürchten hat. So sehr auch dieser Zu-
sammenschluß in den ersten Anfängen stecken möge, geben wir ihm für
die künftige gesellschaftliche Entwicklung des polnischen Yolkes deshalb
eine so große Bedeutimg, weil es gerade die Gemeinsamkeit, das Ge-
meinsamkeitsgefühl, der Sinn für das Gemeinwohl ist, der den Polen in
allen sozialen Schichten am meisten gefehlt hat. Es ist kein Zufall, wenn
Krzewicki die Neigung zu genossenschaftlicher Organisation bei der
kleinen Schlachta besondei-s hervorhebt. Er ist sich dessen be^vußt, daß
gerade der Mangel dieser Neigung ein Hauptgrund für das Unglück des
polnischen Volkes gewesen ist. Selbsterkenntnis ist aber der erste Schritt
ziu- Besserung.
Wie bei allen Dingen wird das noch wenig bekannte Werkzeug der
genossenschaftlichen Organisation zunächst für verbotne Zwecke oder zur
Umgehung von Gesetzen oder auch einfach zur Ausübung von Betrug
verwandt. Das geschieht in Russisch-Polen um so mehr, als die Regierung
den genossenschaftlichen Besti-ebungen daselbst durchaus feindlich gegen-
übersteht. So berichtet der fi'ühere Präsident des Kameralhofs von Kjelce
über die Gründung von fiktiven Genossenschaften, um bei der Bauerubauk
16*
244 Zehntes Kapitel. Die Arbeiterfrage
einen Pfandbrief über 5000 Rubel erhalten zu können.^) Die sozialistische
Propaganda hat von Oberschlesien aus über die Fabrikstätten polnischer
Städte zu vielen pseudo-sozialistischen Organisationen in den Döiiem ge-
fühlt, während die deutschen Öozialdeuioki'aten in Posen darüber klagen,
daß sie unter der pobiischen Bevölkerung keinen Anklang fänden. Auch
die Bundorganisationen der Juden konnten auf den aufgeAvecktern Teil der
polnischen BevölkeiTuig mehr wirken, als es beim Vorhandensein wirtschaft-
licher Genossenschaften möglich wäre. Mit Rücksicht auf die Bemühungen
der deutschen Sozialdemoki-atie, Einfluß auf die nach Preußen kommenden
Sachsengänger durch geeignete Propaganda zu gewinnen, dürften in der
angedeuteten Richtung bald neue Fortschritte zu erwarten sein. Doch
haben alle diese Organisationen vorwiegend nationalistischen Charakter,
nicht aber sozialistischen.^)
An dieser Stelle sei daran eriniiert, daß sich unter den Wanderarbeitern
aus dem Zartum auch vielfach deutsche Kolonisten befinden. An vei'schiedneu
Orten ist mir gegenüber geklagt worden, daß diese Kolonisten in Deutschland
als „Pollaken" behandelt werden. Wenn ich auch durchaus nicht ver-
aligemeineni möchte, so scheint es mir notwendig, auf die bedauerliche
Tatsache aufmerksam zu machen.
SoUen wir nun damit rechnen, daß die "Wanderarbeit in absehbarer
Zeit aufhört, daß sich die Sachsengänger statt nach Deutschland andern
Ländern zuwenden? Solange die russische Regierung die Ansiedlung pol-
nischer Bauern im AVestgebiet (vgl. S. 125 und 147) verbietet, dürtten wir
solcher Annahme keinen Raum gewähren, weil alle wirtschaftlichen und
sozialen Verhältnisse im Zartiun zur Sachsengängerei zwingen. Daneben
darf auch nicht außer acht gelassen werden, daß die politischen Fülu-er
der Polen gerade die Sachsengängerei nach Deutschland fördern, um die
Auswanderung nach Amerika zu verhindern. In welcher Weise hier ein-
gewirkt wird, soll im Kapitel von der Agrarpolitik im zweiten Bande ein-
gehend dargestellt werden. Hier sei nur noch einmal hervorgehoben, daß
an eine Verminderung der Sachsengängerei nur dann gedacht werden kann,
Avenn die russische Regierung die Westgouveruements zur Besiedlung durch
Polen freigibt")
*) I. Orlow, "Wii-tschaftliche Lage der Bauern im Zartum Polen, Kjelce, bei Michael
Zelichowski, 1898, S. 57.
-) Siehe Greuzboten, Russische Briefe. Vgl. auch Massow a. a. 0. S. 49.
'■') AVei-tAoUe Literatur : Wybor Pism Ludwika üöiskiego, Warschau, 1908, Druck iu
der ., Gazeta Roluiczej"'; ferner: Wl. Orabbki, Stosunki stuzbowo-robotnicze etc., Warschau,
1906, für die Beurteilung der Landarbeiterfrage sehr interessant.
Elftes Kapitel
Finanz- und Wirtschaftsorganisationen
Nach den voraufgegangnen Untersuchungen müssen wir zu dem Er-
gebnis kommen, daß im Zartum Polen in den wesentlichsten Gebieten der
Wirtschaft, in Landwirtschaft und Binnenhandel, ein an Anarchie gren-
zender Zustand der Desorganisation heiTScht. Mit der außergewöhnlich
großen Bevölkerungs Vermehrung hat die Entwicklung der staatlichen Ein-
richtungen im Gebiet weder Schritt gehalten, noch durfte sich die Gesell-
schaft auf irgendeinem Gebiete der Selbstverwaltimg betätigen. Die Ver-
kehrswege wiu'den in den vergangnen vierzig Jahren fast ausschließlich
nach strategischen Gesichtspunkten angelegt; Post mid Telegraph stecken
in den Kinderschulien. Das Schulwesen ließ jedes Jahr größere Teile der
heranwachsenden Jugend ohne den notdürftigsten Unterricht. Abgesehen
von kaufmännischen Großorganisationen, die in der Gründung von Aktien-
untemehmungen ihren Ausdruck fanden, konnten wir bisher von keiner
offen zutage liegenden organischen Linienbildung im praktischen Erwerbs-
leben berichten. Nirgends scheinen gemeinsame ^virtschaftliche, politische
oder kulturelle Ziele zmn Zusamraenscliluß der polnischen Gesellschaft, zu
gemeinsamer Arbeit und zu sachgemäßer Spezialisierung, zur Organisation
zu drängen. Ti'äge und schwerbeweglich, ohne Energie und ohne Interessen,
ohne Zusammenhang und ohne geistige Leitung — so muß dem oberfläch-
lichen Beobachter, der sich mit zahlenmäßigen Feststellungen begnügt, die
Gesamtheit der mssischen Polen am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts
erscheinen. Neben diesem allgemeinen Eindruck erscheinen Hinweise auf
gesunde Keime fast wie tendenziöse Ungeheuerlichkeiten, denen niemand
recht Glauben schenkt, solange er sie nicht mit eignen Augen gesehen
hat — und der Forscher gerät leicht in den Verdacht, er wolle imter
allen Umständen ein günstiges Bild von der polnischen Gesellschaft ent-
werfen, obgleich ein erdrückendes Tatsachenmaterial gegen einen solchen
Versuch zu sprechen scheint. Diese Anschaumig findet Nahrung im trost-
losen Zustande der Presse des Zartums. Von ilirer Wirksamkeit spüren wir
aber bis 1904 nicht deshalb nichts, weil keine geistigen Kräfte in Polen vor-
handen wären, sondern weil eine strenge Zensur jede selbständige Regung
246 Elftes Kapitel. Finanz- und "Wirtschaftsorganisationen
unterbindet, jede der politischen Gesundung dienende Kritik verhindert.
Darum erscheint uns auch die Beeinflussung von Krakau und Lemberg aus
größer, als sie tatsächlich ist. Eine große Zahl der von dort aus verbrei-
teten politischen Schriften ist nicht von galizischen, sondern von russischen
Polen geschrieben. Wir erinnern an dieser Stelle nur an diese Tatsache,
die vTir im Abschnitt von der Politik näher untersuchen werden. Die von
uns bisher mühsam hervorgehobnen gesunden Keime werden durch den
allgemeinen nebelhaften Zustand im Weichselgebiet um so mehr im Dunkeln
gehalten, als in der überall herrschenden Verwirrung ein so schneller
Wechsel des Grundbesitzes vor sich geht, daß selbst die amtlichen
Statistiken darüber nur unvollkommne und mehrere Jahre zurückliegende
Daten zu geben vermögen. Muß es nicht wie eine iviUenlose Unter-
iverfung der „entkräfteten polnischen OesellschafV unter die Ziele der
russischen Regierung erscheinen, wenn innerhalb vmi zwei Jahren mehr
als zweitausend Güter des Adels, den die Regierung heMmpft, an die
Bauern übergehn,^) denen die Regierung doch auf alle Weise hilft?
Muß es uns nicht scheinen, als verschwinde mit dem adlichen Groß-
grundbesitz ein letzter Rest der alten polnischen Staatsorganisation, und
als sei das polnische Volk gerade deshalb zur nationalen Organisation aus
sich heraus unfähig geworden? Wir könnten eine ganze Reihe von Poli-
tikern — deutschen und russischen — aufzählen, die auf Gmnd eines
reichen Tatsachenmaterials beweisen, daß es wirklich so ist, wie es scheint.
Unter diesen Politikern Avürden sich solche befinden, die aus dem schein-
baren Zustande der polnischen Gesellschaft folgern, die Polen könnten
gar nicht an die Wiederaufrichtung eines Nationalstaats denken und täten
es deshalb auch nicht, und solche, die die Absicht der Polen, einen eignen
Staat zu gründen, lediglich als einen gemeingefährlichen Größenwahn hin-
stellen und dementsprechend mit falschen Mitteln bekämpfen. In beiden
Kategorien von Politikern finden sich auch Vertreter der Ansicht, Polen
könne unter keinen Umständen ohne Rußland bestehn; die polnische
Pflanze sei im Laufe der vergangnen vierzig Jahre mit dem russischen
Spalier verwachsen. Wir wollen in einem spätem Kapitel vei-suchen, das
Für und Wider solcher Auffassung vorzuführen. Gegenwärtig harrt unser
eine andre Aufgabe.
Wir haben uns zunächst daran zu erinnern, daß
1. die gesamte Verwaltung des Zartums Polen in den Händen eines
Generalgouverneurs liegte, der ein persönlicher Bevollmächtigter des Zaren
und Träger von dessen Polenpolitik ist, daß
^) Siehe S. 154 u. 183.
Elftes Kapitel. Finanz- und Wirtschaftsorganisationen 247
2. abgesehen von der kleinen bäuerlichen Gemeinde im ganzen Zartiim
keine Stelle vorhanden ist, in der sich einzelne Teile der polnischen Ge-
sellschaft auch nur in dem geringen Umfange in der Selbstverwaltung
betätigen könnten, wie es m den zenti'alen Gouvernements Rußlands der
FaU ist, daß
3. auch aus dem Gerichtswesen die ^Mitwirkung der Gesellschaft durch
die Vermittlung der Institution der Schöffengerichte ausgeschieden wurde, daß
4. die Bauernschaft viel strenger gegen die andern Stände abge-
schlossen erscheint als selbst in Eußland, und schließlich, daß
5. die Stadtverwaltungen noch bis zimi Tode des Ministers Plehwe aus-
schließlich dem in Petersburg regierenden Ministeriiun des Innern unter-
stellt waren und noch im Jahre 1907 Filialen der Gouvernementsverwaltung,
nicht aber Stellen der Selbstverwaltung sind.
Aus diesen Tatsachen ist zu folgern:
Wir können aus der Entwicklung der Gemeinden, mögen sie ländliche
oder städtische sein, nicht darauf schließen, ob die Polen befähigt sind, zu
gemeinnützigem "Wirken zusammenzustehn oder nicht.
Wir müssen darum die zur Beurteilung der entsprechenden Fähig-
keiten der Polen notwendigen Faktoren vor allen Dingen außerhalb aller
der Einrichtimgen und Organisationen des öffentlichen und politischen
Lebens suchen, nach denen wir in Westeuropa gewolmt sind, die gesell-
schafts-politischen Fähigkeiten eines Volks zu beurteilen.
Wir finden, was w^ir brauchen, durch eine Betrachtung der modernen
privatwirtschaftlichen Organisationen, die über die Familienverfassung und
im geschäftlichen Leben über die Familiengründung hinausgehn.
Wir sind gezwungen, diese privatwirtschaftlichen Erscheinungen in
den Kreis unsrer politischen Betrachtung zu ziehn, weil sich in ihnen allein
das gesetzlich geschützte gesellschaftliche Leben der Polen konzentriert.
Die Politik hatte bis zum Oktober 1905 außer im Zusammenhang mit wirt-
schaftlicher Betätigung im Zartum Polen nirgends eine öffentliche Arena. ^)
Große ideeUe und allgemeine Gedanken, philanthropische Ideen, in andern
Ländern und Staaten längst anerkannte und von Organen der Selbstver-
waltung gelöste Fragen des Schulwesens, des Kindei'schutzes, der Bekämp-
fung von Epidemien und wirtschafthcher Krisen haben auch nach dem
Herbst 1905 kein Forum in einem Provinziallandtag, in einer Stadtver-
ordnetenversammlung, in der bäuerlichen Gemeindeversammlimg oder gar
auf einem Städtetag oder Landwirtschaftskongreß. Alle diese Fragen werden
*) Die Sitzungen der Gouvernementskoraitees zur Hebung der Landwirtschaft waren
zwar nicht geheim, aber trugen einen vertraulichen Charakter.
248 Elftes Kapitel. Finanz- und "Wirtschaftsorganisationen
in den Kanzleistuben der Gouverneure häufig von Leuten gelöst, die weder
die Bedürfnisse noch die Sprache des Landes kennen, die darum ent-
weder einem aus Petersbui'g gegebnen Befehl blind gehorchen, wie die
Mehrzahl der ehemaligen Offiziere, oder jedem Einfluß aus dem Publikum
zugänglich sind, Avie viele russische Richter. Die Gesellschaft darf an allge-
meine Fragen höchstens von wirtschaftlichen Gesiclitspunkten aus und in
strenger territorialer Beschräukung auf die jeweilige Gmin, den landwirt-
schaftlichen Verein, die Aktiengesellschaft herantreten. Darum werden auch
Fragen von allgemeiner Bedeutuug nur heimlich im Anschluß an Sitzungen
der Aufsichtsräte oder an Versammlungen der landwirtschaftlichen Vereine
besprochen. Es gibt selten solche Sitzungen im Zartum, an die sich keine
politischen Erörterungen anschließen. Weil kein politisches Organ im
Zartum Polen vorhanden ist, deshalb sind alle Wirtschaftsorganisationen
im Zartum politisch infiziert. Die Regierung ist sich dieser notwendigen
Folge ihrer Politik stets bewußt gewesen. Aber statt Abhilfe durch die
im Westen längst bewährten Mittel zu schaffen, hat sie stets und überall
die Entwicklung wirtschaftlicher Organisationen mit allen möglichen künst-
lichen Mittebi bureaukratischer Technik hintan zu halten versucht.
Ausgehend von solchen allgemeinen Überlegungen wollen wir zunächst
einen Blick auf die in der Finanzwelt Polens wirkenden Kräfte werfen,
dann uns die Aktienunterneimiungen als die am meisten entnationalisierte
Form der Avirtschaftlichen Organisation ansehn und mit ihrer Hilfe die
Verbindung der polnischen Finanzen mit der nichtpolnischen Welt andeuten.
Die zweite Stelle nehmen die Spar- und Vorschußkassen in den Städten
in Anspruch.^) Eine sti'eng abgeschlossene Organisation für sich bilden die
Gminsparkassen, und für uns am Avichtigsten sind die landwirtschaftlichen
Kredit- imd Handelseinrichtungen.
A. Die polnische Finanzwelt
1. 1)118 Warschauer Kontor der Kussinchen Staatsbank
Die Finanzen des Zartums Polen sind erst im Laufe der 1880er Jahre
vollständig zimi untrennbaren Bestandteil der russischen Staatsfinanzen
geworden. Bis zum 31. Dezember des Jahres 1885 bestand im Zartum
Polen die 1828 mit einem Grimdkapital von acht Millionen Rubel ge-
gründete „Polnische Bank". An ihrer Spitze befand sich ein Direktorium,
bestehend aus dem Präsidenten, Vizepräsidenten imd fünf Abteilungschefs,
') Die städtischen Banken, die auch einen nicht zu uuterschätzenden Einfluß auf
das Wirtschaftsleben haben, lassen wir aus unsem Betrachtungen weg, weil sie zum
größten Teil unter jüdischer Leitung stehn , und wir keine genügenden Daten über die
städtischen Banken erhalten konnten, in denen da.s polnische Element vorherrscht.
A. Die polnische Finanzwelt 249
dem wieder sechs von der Warschauer Kaufmannschaft gewählte Handels-
bciräte zur Seite stimden. Die Bank hatte zehn Filialen in Lodz, Wloc-
lawek, Lublin, Kaiisch, Plock, Radom, Czenstochau, Kjelce, Peti-ikau und
Lonisha eiTichtot. Die Operationen der Bank ließen sich in zwei Kate-
gorien einteilen: solche für Rechnung und im Aufh'age des Fiskus, und
solche gewerblichen Charakters. Zu den ersten gehörten die Staatsschulden-
verwaltung fiii- Polen, Verlosungen, Einlösung der polnischen Kupons soAvie
der Kupons der Liquidationsbriefe (s. S. 42). Außerdem gab die Bank
staatlichen Einrichtungen Vorschüsse für deren Unternehmimgen. ^) Unter
den gewerblichen Operationen der Polnischen Bank nahmen am 1. Januar
1881 die erste Stelle ein: Wechseldiskont mit 15,5 Millionen Rubel, Diskont
von Wertpapieren 0,7, Beleihung von Wertpapieren 0,85, von Waren 0,5
und Tratten auf das Ausland 0,31 Millionen Rubel; die Höhe der unbe-
fristeten, durch Wechsel, Hypotheken und sonstige Wertpapiere sicherge-
stellten Kredite belief sich auf 6,4 Millionen Rubel. Die Mittel der Bank
bestanden aus einem Grundkapital von 8 Millionen, 0,5 Millionen Re-
serven, 2,8 Millionen privaten Einlagen und 21 Millionen Staatsgeldern,
Die Polnische Bank hatte auch das Lotteriewesen im Zartum zu ver-
walten.
Seit Erlaß des Befehls vom 24. April 1870 wurden alle solche Ge-
schäfte der Polnischen Bank allmählich liquidiert, die von der Russischen
Staatsbank — als Institut für kurzfristige Kredite — statutenmäßig nicht
betrieben wurden."^) Solche Geschäfte waren: die Ausgabe von eignen
Kreditscheinen, die Beleihung von Landgütern, industriellen Anlagen und
Wertgegenständen, die Hergabe von Krediten gegen hypothekarisch sicher-
gestellte Wechsel, die Hergabe von Vorschüssen auf sogenannte Hypotheken-
kapitalien. •^) Im Jahre 1885 waren die Abwicklungen so weit gediehen,
daß der Finanzminister Bunge die Umwandlung der Polnischen Bank in
das Warschauer Kontor der Staatsbank beantragen konnte. Ein Rest von
etwa zwei Millionen Rubel wurde durch die Staatsbank übernommen.*)
Am 1. Januar 1886 erfolgte die Übergabe der Polnischen Bank mit
40353000 Rubel Aktiven und Passiven an die Staatsbank.
Das Zartimi Polen bildet einen Finanzbezirk für sich, an dessen Spitze
das Kontor zu Warschau steht (Art. 47). Seit Einrichtung der Russischen
Staatsbank ün Zartum Polen hat sich der Zusammenhang der polnischen
^) Tätigkeit des Finanzministeriiuns von 1881 bis 1894, amtliche Ausgabe, Druck bei
W. Kirschbaiun, St. Petersburg, 1902, S. 252.
*) Artikel 1 des Statuts der Russischen Staatsbank.
") Rechenschaftsbericht des Reichsrats von 1885, S. 301.
*) Bestätigtes Reichsratsgutachten vom 3. Juni 1885.
250
Elftes Kapitel. Finanz- und Wirtschaftsorganisationen
Finanzen mit den russischen ganz erheblich gesteigert, was besonders durch
den dem Warschauer Kontor seitens der Zentrale eingeräumten Kredit zum
Ausdruck kommt. Im Debitorenkonto der Staatsbank sind nämlich geführt
im Jahre 1896 139,6 Millionen Rubel, im Jahre 1900 215,7, im Jahre 1902
263,1, im Jahre 1903 306,6, im Jahre 1905 über 273,5 ^lillionen Rubel.
Die gewaltigen hier angegebnen Summen kommen nun durchaus
nicht vollständig dem Handel zugute. Eine ganze Anzahl von Millionen
— zwischen 25 bis 30 im Jahre — stellen Kredite an das Heer dar, die
auch über das genannte Konto laufen. Wie geringfügig tatsächlich die
Zahlen für ein industriell hochentwickeltes Gebiet wie das Zartum Polen
sind, vergegenwärtigen wir uns, wenn wir uns erinnern, daß im Jahre 1905
über das genannte Konto allein in Moskau 800 Älillionen, in Kijew 294 Mil-
lionen gelaufen sind. Immerhin nimmt Warschau, wenn wir von Tschita*)
absehn, die vierte Stelle im Reich ein, während es nach der Bevölkerung
ebenso wie nach industrieller Produktion die zweite Stelle einnehmen
müßte. Hiemeben ist festzustellen, daß die vier Aktienbanken im Zartum
Polen zusammen im Jahre 1907 nur ein Kontokorrent bei der Staatsbank
von 1635000 Rubel unterhielten; das entspricht nur 4,05 Prozent aller
Kontokorrente der russischen Aktienbanken bei der Staatsbank, Die zehn
Petersburger Aktienbanken einschließlich Credit Lyonnais nehmen 29,3 Mil-
lionen oder 74 Prozent für sich in Anspruch, die fünf Moskauer l^j^ Prozent
und alle übrigen Provinzialbanken auf Aktien nicht ganz 15 Prozent. Hierin
kommt auch die Finanzpolitik zum Ausdruck, die darauf ausgeht, große
russische Banken für den polnischen Mai'kt zu interessieren und sie zur
Eröffnung von Filialen im Zartum zu veranlassen.'')
Die Wirksamkeit der Staatsbank im Zartum Polen läßt sich auch
durch die an verschiedne Arten von Gewerbetreibenden gegebnen Vor-
schüsse beurteilen. So gaben die verschiednen Filialen im Zartum Polen
zusammen Vorschüsse:
1896
1900
1902
1903
1905
auf "Waren
„ Landwirte
„ Industrie
„ Hausindustrie
„ landwirtschaftliche Maschinen
2769,1
532,9
134,6
194,8
1,6
1 759,0
512,7
0,1
1,6
2020,2
535,1
0,1
2208,2
606,8
1907,4
389,9
zusammen
3633,0
2273,4
2555,4
2815,0
2297,3
^) Tschita wies 420 Millionen Rubel auf. Doch ist diese Höhe wohl ausschließlich
durch die Folgen des japanischen Krieges hervorgerufen.
') So wird erzählt, und ich gebe es mit allem Vorbehalt wieder, daß die Filialen
russischer Banken im Zartum Polen seitens der Staatsbank im Kredit bevorzugt werden.
A. Die polnische Finanzwelt 251
Über den Umfang des Wechseldiskonts haben wir bereits auf Seite 164
berichtet. Auf diesen Teil der Tätigkeit der Staatsbankfilialen hat die
Bevölkerung des Zartums geAvissermaßen Einfluß durch das sogenannte
Diskontokomitee. ^) Solche Diskontokomitees bestehen sowohl im Kontor
zu Warschau wie in den übrigen neun Abteilungen in der Provinz (Art. 60).
Sie setzen sich zusammen aus dem Direktor der betreffenden Bankfiliale,
dem Vorsteher der Wechselabteilung, ferner aus für die Dauer von zwei
Jahren gewählten Vertretern des Handels, der Industrie und der Land-
wirtschaft sowie auch für Einzelfragen aus Sachverständigen aus ver-
schiednen Behörden und Berufen (Art. 61). Die Zahl dieser Vertreter be-
stimmt das Direktorium der betreffenden Bankfiliale; die einzebien gewählten
Persönlichkeiten werden durch den Fiuanzniinister bestätigt (Art. 62).
Bei der ganzen Lage des Handels und der Industrie im Zartum sind
es in erster Linie jüdische Kaufleute, deutsche Industrielle und polnische
Landwirte, die zu diesem Komitee Zutritt haben. Doch kommen auch pol-
nische Bankiers als Inhaber großer Privatfirmen, wie Mnkowski, Pendzinski,
Poplawski, DAvorzicki und andre, dafür in Frage. Wie aber die Mit-
glieder der Diskontokomitees, die gleichzeitig Sitz und Stimme im Börsen-
komitee imd im Handelsgericht haben, verwachsen sind mit den polnisch-
nationalen Interessen, ergibt sich imter anderm aus der Tatsache, daß sie,
weil sie wohl die polnische, nicht aber die russische Sprache beherrschen,
die Schaffung russischer Texte für die polnische Handelsgesetzgebung
nicht für nötig hielten, und daß Herr Witte gerade auf ihr Drängen jene
Senatsentscheidung erAvirkte, wonach bei Streitigkeiten Avegen des Wortlauts
einer Gesetzesbestimmung der polnische Text maßgebend bleiben müsse
(vgl. S. 80, Anm. 6).
2. Die Haute finattce
Die Haute tinance im Zartiim Polen hat sich Avährend der vergangnen
vierzig Jahre um fünf verschiedne Namen gruppiert: Kronenberg, Epstein,')
Wawelberg-RotAvand, Landau und Herbst. Mt wechselnder Kraft haben
die einzelnen direkt oder durch Vermittiung ihrer Gefolgschaft zu ver-
schiednen Zeiten auf den polnischen Geldmarkt und auf die Entwicklung
der politischen Gesinnung unter den Polen eingewirkt. Den zuletzt genannten
Präsidenten der Lodzer Handelsbank können wir aus unsem Betrachtungen
ebenso ausscheiden wie das von ihm geleitete Finanzinstitut. Die 1872
mit einem Kapital von fünf Millionen Rubel begründete Lodzer Handels-
bank stellt den Mittelpunkt der Wollindustrie im Zartum Polen dar, ist
somit fast vollständig unter internationalem Einfluß und in Abhängigkeit
^) Art. 60 bis 69 des Statuts der Russischen Staatshank.
*) Epstein tritt gegenwärtig immer mehr zuxiick.
252 Elftes Kapitel. Finanz- und Wirtschaftsorganisationen
von der Politik der Kreditkanzloi des nissischen Finanzministeriums. Um
sie gruppieren sich die Scheibler, Kunitzer, Steinert, Werner, Heimann,
Gromann, Ziegler und noch manche Größen erster und zweiter Ordnung.
Alle hier angedeuteten Fabrikuntemehmungen kommen in erster Linie als
Verbraucher polnischer Arbeitski'äfte in Betracht, also als Brotgeber, nicht
aber als Verarbeiter polnischer Rohstoffe. Sie nehmen die Schafwolle aus
Südrußland oder England. Baumwolle aus Amerika oder Turkestan und
suchen vor allen Dingen Absatz in Rußland oder in den in die russische
Interessensphäre einbezognen asiatischen Ländern. Sie haben somit, da
sie einmal auf russischem Boden stehn. ähnlich wie die Filiale der
"Wolga -Kama- Bank oder des Warschauer Hauses Landau »S: Co. das größte
Interesse an einer möglichst gesunden innern Entwicklung des russischen
Reichs und an dessen stärkster Machtentfaltung nach außerhalb. Mit der
rein polnischen Gesellschaft in Polen stehn sie nur in sehr geringer
wirtschaftlicher Verbindung und nur vereinzelt durch Vermittlung der
jungem Generationen in gesellschaftlichem Verkehr. Dabei wollen wir
indessen nicht außer acht lassen, daß diese Verbindungen nicht seltner,
sondern häufiger werden. Wenn diese Kreise auf das polnische Pro-
blem einwirken, so tim sie es nur indirekt Sie bringen ausländische
Kapitalion und deutsche Arbeitstüchtigkeit und Zuverlässigkeit ins Land,
sie erziehen den polnischen Arbeiter, sie sorgen für bessere Verkehrs-
mittel und erstreben möglichst gesunde Rechtsverhältnisse im russischen
Reich. Alle diese Dinge kommen jedem russischen Staatsbürger zugute,
müssen aber hemmend auf die staatsfeindlichen Bestrebungen Avirkon, da
ihre Venvirklichimg zur Festigung des Gesamtstaates beiträgt Somit
scheidet die Gruppe Herbst aus unsrer Betrachtung aus. Das gleiche könnte
auch ohne weiteres von der Jüngern Gruppe Geier gelten, die die Lodzer
Kaufmannsbank im Jahre 1897 mit zwei Millionen Rubel Kapital gründete,
wenn nicht dort durch Anknüpfung verwandtschaftlicher Beziehungen mit
der polnischen Aristokratie der polnische Einfluß wüchse.
Bei den großen geschäftlichen Beziehungen mit Rußland, die diese
Gruppe unterhält, darf diese Verbindung als eine weitere Bessemng der
russisch -polnischen Beziehungen, also als eine Stärkung der politischen
Partei der Ugodowce betrachtet werden, und zwar wieder, was wir unter-
streichen wollen, durch Vermittlimg des polonisierten deutschen Elements.
Ganz anders müssen wir die Gruppen der Warschauer Haute finance
bewerten, sofern sie nicht mit der Lodzer verbunden ist Schon ein Blick
auf die Verzeichnisse der Aufsichtsräte der Banken und industriellen Unter-
nehmungen gibt uns die Möglichkeit, auf ihre Beziehungen zu schließen.
Wenn auch mancher jüdische Name den Glauben aufkommen läßt, als
A. Die polnische Fiiianzwelt 253
dürften bei den gewerblichen Unternehmungen nicht nationalpolnische Ge-
sichtspunkte herangezogen worden, können wir uns bei einem solchen
Argiunent nicht beruhigen. Der hauptsächlichste Unterschied zwischen der
Warschauer und der Lodzer Gruppe besteht in der Tatsache, daß diese auf
dem Weltmarkt arbeitet, während jene auf dem polnischen Markt fußt, ihn
vertieft und entwickelt. Die Lodzer Gruppe ist an die politische Entwicklung
Polens, solange eine starke Staatsgewalt vorhanden ist, nicht unbedingt
gebunden, die Warschauer steht und fällt mit der polnischen Gesellschaft,
denn sie ist deren einer Teil. Die frühern Thoraverehrer Kronenberg,
Epstein, Nathansohn ^) sind nicht römische Katholiken geworden, um der
russischen Regierung eine Freude zu bereiten, sondern lediglich, um iu
der polnischen Gesellschaft festen Fuß zu fassen. Das ist ihnen gelungen.
Ähnlich liegt die Sache bei den fi-ühern Deutschen Schwede, Bormann,
Rau, Lilpop, Fuchs und andern.-)
Ein praktischer BeAveis für die Behauptung findet sich in der Zu-
sammensetzung der Verwaltungsräte verscliiedner Aktiengesellschaften, in
denen allein mit Rücksicht auf den Zweck ihrer Unternehmung das polnische
grundbesitzende Element den größten Einfluß haben müßte. Wir denken
hier besonders an die schon erwähnten Zuckerfabrikaktiengesellschaften.
Schon etwa zehn Jahre nach dem tiefen Stiu'z bis 1864 fing die dünne
Oberschicht der Polen an der Hand der jüdischen Finanzaristokratie an,
modern zu wirtschaften, das heißt ihre Kräfte in realer Betätigung zu ver-
werten und zu stählen. Sie wurde darin moralisch unterstützt in der
liberalen Richtmig der Positivisten. Bei Betrachtung dieser Verhältnisse
dürfen wir indessen nicht einseitig vorgehn. Sie haben sich, wie überall in
der Welt, auf durchaus materieller Grundlage ohne politische Hintergedanken
gebildet, und das Zusammenwirken der polnischen Magnaten mit der
bürgerlichen Haute finance ist nichts andres, als was in Deutschland mid
Österreich fortgesetzt geschieht. Für eine radikale nationale Politik sind
solche Kreise wenig geeignet. Sie müssen wegen ihrer materiellen Interessen
mit der stärksten Richtung gehn. Das äußerliche Zusammengehn ist aber
kein Hindernis dagegen, daß sie heimlich gegen dieselbe Richtung arbeiten,
weil deren Ziele ihnen in nationaler Hinsicht gefährlich erscheinen. Wir
^) Ich irre wohl nicht in der Annahme, wenn sich innerhalb der jüdischen Gesell-
schaft von "Warschau das Refornijudentnm ähnlich wie in Berlin und unter dem Einfluß
von Moses Mendelssohn entwickelt hat. Jedenfalls spricht der Zeitpunkt vieler Taufen
für meine Annahme.
'^) So ist Ludwig Schwede (nunmehr „Szwede") zusammen mit den russischen Stau-
tschiken Ludwig Gorski, Thomas Zamojski, Anton Wrotnowski Begründer des konservativen
„Slowo" in AVarschau. Siehe auch Anm. 3 auf S. 244.
254 Elftes Kapitel. Finanz- und Wirtschaftsorganisationen
sind deshalb gezwungen, die eingetretne Möglichkeit solchen Zusammen-
wirkens, die sich erst Anfang der 1870 er Jahre herausgebildet hat, ins
Auge zu fassen und sie als ein Moment der Erstarkung der polnischen
GeseUschaft zu betrachten. Es bedarf somit kaum einer Erläuterung, wenn
wir meinen, daß der also wirtschaftlich interessierte adliche Patriot ohne
weiteres aus den Reihen der revolutionären Nationale ausschied und ihnen
so lange fernblieb, bis sich wieder ein Übei-schuß von Kräften angesammelt
hatte, der in der Wirtschaft keine Betätigung finden konnte. Diese über-
schüssigen Kräfte sehen aber anders aus nach einer Zeit des wirtschaft-
lichen Aufschwungs als nach einer solchen des Niedergangs. In der pol-
nischen Gesellschaft finden wir diese Beobachtung bestätigt in der Ent-
wicklung der politischen und literarischen Parteien. Erst unpolitischer
Positivismus, dann — als Reaktion auf die mächtige Entwicklung des inter-
nationalen Kapitalismus — nationaler Sozialismus imd schließlich in allen
politischen Richtungen, die nicht ausgesprochen jüdisch sind, rücksichts-
losester Nationalismus.
Von den Warschauer großen Finanzinstituten darf wohl das unter der
Leitung der Rotwands stehende als das polnischste bezeichnet werden —
das Haus Wawelberg & Co. Da die Firma keine Aktiengesellschaft ist,
scheidet sie aus unsern Beti'achtungen aus, und es sei nur erwähnt, daß
sie in erster Linie mit dem jungem polnisch -deutscheu Bürgertum zu-
sammenarbeitet, das sich in der Maschineufabrikatiou gebildet hat (Schwede,
Lilpop usw.).
Wir dürfen unsre kurze Betrachtimg nicht abschließen, ohne auch
einen Blick über die Grenzen des Zartums geworfen zu haben. In Wilna,
Minsk und Kijew ist gleichfalls eine Haute finance vorhanden, die den
polnischen Idealen sympathischer gegenübersteht als der russischen Re-
gierungspolitik. Im litauischen Gebiet sind es die Namen Montwill, Broel-
Plater, Ruediger, Dracki-Lubecki und Tyszkewicz, die die Leitung der
Finanzinstitute im Rahmen polnischer Vorstellungen handhaben. Dort
spielt merkwürdigerweise das jüdische Element kamn eine Rolle. Dagegen
tritt es im Süden um so mehr hervor. Die Namen Brodski, Ginzburg
decken scheinbar die der Grafen Rzewuski, Czerwinski und andrer zu.
Aus den angegebnen Gründen finden sich in unsrer Aufstellung
hierunter auch die außerhalb des Zartums Polen gelegnen Banken auf-
geführt. ^) Der Umfang der Tätigkeit der Banken wird durch nachstehende
Zahlen erläutert.
*) Die beiden Lodzer Banken sind nur der Vollständigkeit halber er^'ähnt. Über das
sehr einflußreiche Haus Wawelberg und seine russischen Filialen fehlen mir Einzelheiten.
A. Die polnische Finanzwelt
255
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Gründungsjahr .
1871
1872
1897
1873
1873
1874
1868
Aktien -Kapital-
Erhöhung . .
1901
/9000
13000
(2000
\2000
2000
5000
/1400
\ 600
1000
2500
Reserven . .
1898
3463
627
2570
190
260
585
1901
5975
2069
155
2540
293
333
20
1903
6032
2091
254
2540
356
103
21
1904
6076
2098
270
2540
383
111
8
Einlagen . . .
1898
8085
2215
59
2174
4530
758
4476
1901
17540
3938
69
5943
4698
1517
2692
1903
20517
3750
630
10000
6510
2358
2370
1904
20192
3423
725
9600
6080
2156
2140
Kasse. . . .
1898
1352
296
121
512
402
278
200
1901
1188
386
167
450
246
238
270
1903
1053
623
166
533
361
358
132
1904
1297
581
161
491
345
289
130
Reichsbankkonto
1898
19
9
1
1901
1060
247
21
66
39
86
16
1904
511
202
24
150
247
170
22
1905
850
666
20
311
123
131
20
1906
820
274
15
526
273
260
25
3. Polnische Aktiengesellschaften
Es gibt wohl gegenwärtig im Zartum Polen keine Branche mehr, in
der nicht eine oder mehrere rein^) polnische Aktiengesellschaften zu finden
wären, und es gibt nur wenig gute als Aktiengesellschaften begründete
Firmen, in denen nicht mindestens ein Träger eines polnischen Namens
in größerm Maßstabe mit Kapital oder mit seiner Arbeit beteiligt wäre.
Wie schon angedeutet, entstand die Mehrzahl der Aktiengesellschaften im
Zartum unter der Führung internationalen, jüdischen Kapitals. Ihm
schlössen sich anfänglich einzelne polnische Ad liehe an, häufig auf be-
sondres Ersuchen der Finanzleute, die unbedingt den Vertreter eines alten
Geschlechts im Yerwaltungsrat ihrer Firma haben wollten. Es galt einer-
seits den stark ausgeprägten Antisemitismus bei den Polen zu überwinden
') Wenn wir von rein polniscJien Gesellschaften sprechen, dann rechnen wir solche
von polonisierten Deutschen und Juden nicht zu.
256 Elftes Kapitel. Finanz- und Wirtschaftsorganisationen
und sich andrerseits das Vertrauen der Großgrundbesitzer zu erwerben.
So finden wir die Grafen Rziszczewski und Welepolski im Aufsich bsrat der
Warschauer Diskontobank und Fürst Woronecki in der Warschauer Handels-
bank. Bald sind solche äußern Gründe immer mehr in den Hintergrund
getreten gegen innere, wirtschaftliche. In den 1870er Jahren wirkten be-
sonders die Gründungen von Zuckerfabriken auf das Eindringen polnischer
Elemente in die Finanzinstitute, und von Anfang der 1890er Jahre au
machen sich dann auch die sehr energischen Bestrebungen nach selb-
ständiger Betätigung bemerkbar. Die hauptsächlichsten Gründe hierfür
liegen, abgesehen von der allgemeinen Ernüchterung der polnischen Ge-
sellschaft, in dem außerordentlich großen Zustrom von Kapitalien in die
Hände des Landadels. Die Bevölkerungsvermehrung im Zusammenhang
mit der Sachsengängerei erhöhte die Nachfrage nach Land bei den Bauern.
Die Bodenpreise stiegen, und die Landbank (siehe S. 277 ff.) konnte die (niter
höher beleihen. Bald begann auch die staatliche Bauernbank Geld unter
günstigen Bedingungen zur Verfügung zu stellen. Andrerseits ei'sclnverte
die Regierung dem Großgrundbesitz die in den voraufgegangneu Kapiteln
mitgeteilten wirtschaftlichen imd politischen Maßnahmen das Wirtschaften
derart, daß die Besitzer gern die Gelegenheit ergriffen, wenigstens Teile
ihres Landes zu veräußern. Der Erlös aus den Bodenkäufen wurde teils
in Lidustriewerten, teils in Meliorationen der verkleinerten Besitzungen
augelegt. Daher auf der einen Seite der hohe Stand der Gutswirtschaften
in Polen, und auf der andern Seite die immer größer werdende Zahl von
polnischen Unternehmungen in Handel und Industrie. Neben diesen
letzten Gründen darf auch die Finanzpolitik Wittes nicht aus den Augen
gelassen werden, deren eines Ziel es war, das private Kapital so viel wie
mögüch zu mobilisieren. Die Gründerära zur Amtszeit dieses Finanz-
ministers konnte auch die polnische Gesellschaft nicht unberührt lassen,
um so weniger, als mit Abschluß des russisch -französischen Bündjiisses
und der bald darauf folgenden Ernennung des Grafen Schuwalow (1894)
das Vertrauen in die russische Politik bei den Polen wuchs.
Von hohem Interesse für imsre Frage ist dai'um eine Betrachtung,
wie sich die Gründungen der polnischen Aktiengesellschaften auf die Amts-
zeiten der verschiednen Generalgouvernem-e (siehe S. 112) in dem von uns
behandelten Zeitraum verteilen. Bis 1868 findet überhaupt keine nennens-
werte Gründung statt. 1868 bis 1883 ist die Zeit der Kronenberg, Nathausohu,
Berson, Baron Lesser, Bljoch, Epstein. Das jüdische Kapital hat die Leitung;
die Polen dürfen keinerlei Initiative dartun. Manche Kapitalien wandern auch
in das autonome Galizien aus. Jüdischer Geschäftssinn und deutsches Or-
ganisationstalent gründen Banken, Versicherungsgesellschaften, bemächtigen
A. Die polnische Finanzwelt ^57
sich des Eisenbahnbaues, der Zuckerfabrikation sowie der Maschinen-
t'abrikation. Pobiische Namen j^länzen nur nebenher am Aushängeschild.
In dieser Zeit wird nur eine Gesellschaft unter polnischer Leitung be-
gründet, die Zuckerfabrik in Leonow unter Leitung der Grafen Lubenski
und Krassiuski im Jahre 1873.^) Erst vierzehn Jahre später entsteht eine
zweite, die Warschauer Spiritusreinigungs- und Verkaufsaktiengesellschaft,
geleitet von Fürst Woronecki und Graf Czacki als rein polnisches Unter-
nehmen, wenn auch beide Namen auf eine engere Verbindung mit der
Warschauer Handelsbank, also mit Kronenberg, hinweisen.^) Im Jahre 1890
folgt die Erste Hopfenbau-Aktiengesellschaft als Gründung polnischer Unter-
nehmer. ^)
Erst zur Amtszeit des Grafen Schuwalow beginnt ein regeres Gründen.
Ein Grund für diese Erscheinung Liegt in der verschiednen Auffassung des
Ai'tikels 229/30 der Instruktion für den Generalgouverneur (siehe S. 63), wo-
nach er zwar alle wirtschaftlichen Unternehmungen unterstützen soll, aber
das Gebiet vor „schädlichen Monopolisten" zu schützen hat. Zur Amtszeit
Gurkos haben verschiedne Gesuche zur Begründung von Aktiengesell-
schaften durch Polen mit Rücksicht auf die „Monopolisierungsgefahr"
Fiasko erlitten.
Im Jahre 1895 wurde die rein polnische Zuckerfabrik von Brest-
Kujawsk*) und die Firley- Portland -Zementfabrik bei Lublin gegründet.^)
1896 entstellt unter der Firma S. Orgelbrand Söhne die erste polnische
Druckerei- Aktiengesellschaft in Warschau, deren Teilhaber und Leiter die
auch in Galizien bekannten polnischen Verleger Orgelbrand, Gebethner und
Wolf sind.^) Wir werden von ihnen noch später als Zeitungsverleger
hören. Die Kesselschmiede Sirena wird im gleichen Jahre in eine Aktien-
gesellschaft unter polnischer Leitung umgewandelt.')
Von besondrer Bedeutung für die polnische nationale Industrie sind
die Jahre 1897/99 geworden. Fürst Imeretinski traute den Polen zwar
1) Kapital 750000 Rubel, Reserven 214000 Rubel, von 1896 bis 1901 keine Dividende;
1903 Hqmdiert.
2) Grundkapital 600000 Rubel, davon die zweite Hälfte erst 1896 eingezahlt, Re-
serven 233000 Rubel, DiNidende 7 und 6 Prozent, 1903 5 Prozent, 1904 6 Prozent.
3) Grundkapital 300000 Rubel, Reserven 54000 Rubel, Dividenden 6 Prozent, 1903
5 Prozent.
■*) Gi-undkapital 500000, Reserven 339000 Rubel, Beamtenpensionskasse 10000,
Dividende 5, 10, 15 und 9 Prozent, 1903 10 Prozent, 1904 12 Prozent.
») Gi-undkapital 500000, Resei-ven 166000 Rubel, Dividende 1897 und 1898 zu
20 Prozent, 1899 10 Prozent, später keine.
«) Grundkapital 850000, Reserven 122000 Rubel, Dividende 1902 bis 4 Prozent, 1904
keine Dividende.
') Gi-undkapital 450000, Reserven 1600 Rubel, keine Dividende.
Cleinow, Die Zukunft Polens 17
258
Elftes Kapitel. Finanz- und Wirtschaftsorganisationen
nicht, aber er war in seinem AJter weder elastisch noch einseitig genug,
den Argumenten Wittes entgegentreten zu können. In seiner Amts-
zeit wurden allein vierzehn polnische Gesellschaften, aber nur sechs ge-
mischte jüdisch -polnische gegründet.^) In den 1890 er Jahren gewinnen
auch polnische Privatbanken, vor allen die von Jan Dworzicki und
Pinczowski in "Warschau größere Bedeutung, während die Geschäfte der
Goldfeder, Lesser, Bljoch und andre dem Zuge nach Zentralisation des
Kapitals in Richtung auf Kronenberg und Rotwand folgen.
Die polnischen Gründimgen liegen auf allen Gebieten: Zuckerfabrikation,
Keramik, Bierbrauerei, Zementfabrikation, Eisenerzeugung, Maschinenbau,
Eisenbahnbau, Metallwaren. Auch außerhalb Polens werden polnische
Firmen in Aktiengesellschaften umgewandelt. Älit einem Wort, die Polen
betätigen sich auf allen Gebieten des gewerblichen Lebens, Neue Züge
bringt das Jahr 1900, in dem sieben rein pohüsche und drei gemischte
Aktiengesellschaften gegründet werden.^) Der schon als Mitgründer der
Zeitung Slowo genannte Graf Zamojski begründet die Warschauer Phil-
harmonie, Graf Ssoltan Schlächtereien, Graf Melzinski gemeinsam mit dem
^) Die zur Amtszeit des Generalgouvemeurs Fürst Inieretinski gegründeten pol-
nischen Aktiengesellschaften sind:
Kapital Keserven
Firma und Branche
Dividenden
bis 1902 1903
Wolynj, Zement ....
Gostynski & Co., Eisenwaren
Drzewulski & Lange, Keramik
Chmelj, Brauerei . . .
Lazy, Zement ....
Bodzechow, Eisengießerei
Broel-Plater, Stahlgießerei
Skarzisko, Stalügießerei .
Wiljanow, Kleinbahn . .
St. Majewski, Bleistifte
Hotelbau in Wai'schau
Opoczno, Zement ...
Konrad, Jamszkewicz & Co.,
schau, Metallwareu . .
Jablonna-Wawer, Kleinbahn
*) Polnische im Jahre 1900 gegründete Aktiengesellschaften:
^V
800
750
800
500
562
1000
1800
750
200
320
1000
300
750
680
125
88
26,5
90
11,5
36
87,2
5°/o
7-8 «/„
6-/o
5«/
1904
0
0
6"/o
0
0
37a
0
V
6^0
67u
0
0
Baujahr 0
Firma und Branche
Borowiczki, Zucker . . .
Ostrowite, Zucker . . .
Warschauer Philhai'nionie
Städtische Schlächterei
Heimstätten, Warschau .
Lodz, Brauerei ....
Pustelnik, Ziegelei . . .
Kapital Reserven
600 —
450 —
500 —
1300 —
250 37
300 —
700 35
Dindenden
bis 1902 1908
1904
47o
3,4-5,2% 7"/, 3,3«/,
A. Die polnische iHnanzwelt ^59
spätem Keiclisduma-Abgeordneten Franz Nowodworski Heimstätten. Schon
vorher begegnen wir einem spätem Abgeordneten, nämlich Herrn Sw(^cicki,
der im Jahre 1905 keine geringe Rolle auf dem Versöhnungskongreß in
Moskau spielte. In Gesellschaft mit dem Fürsten Ljubomirski und dem
Grafen Thomas Zamojski gründet und leitet er den Bau von Zufuhrbahneu.
In den Jahren 1901/02 treten acht rein polnische Aktiengesellschaften ins
Leben und nur eine gemischte,^)
Nun soll die wirtschaftliche Bedeutung der rein polnischen Gründungen
nicht überschätzt werden. Nur wenige der angeführten Gesellschaften
haben sich bisher den Ruf dui-chaus solider Unternehmungen erworben.
Verhältnismäßig viele zahlen seit ihrer Begründung keine Dividenden.
Dennoch düi'fen wir daraus nicht ohne weiteres schließen, die polnischen
Geschäftsleute seien unfähig. Denn nur eine polnische Gesellschaft mußte
liquidieren (Leonow, Zuckerfabrik). Wir wollen einen guten Teil der Schuld
auf die allgemeine, schon Jahre währende Wirtschaftskiisis setzen. Wichtig
ist für die polnische Gesellschaft, daß die adlichen Geldgeber nicht nur
Aktionäre geworden sind, sondern auch Leiter und Mitarbeiter in den von
ihnen begründeten Unternehmungen. Ferner ist wichtig, daß sich die
meisten der von uns als gemischt bezeichneten Gesellschaften als polnische
bezeichnen, wenngleich vielleicht der Gründer nicht ein Wort polnisch
sprach, und daß sich diese Unternehmungen in der deutschen und russischen
Handelswelt ähnlichen guten Rufes erfreuen wie die guten deutschen Firmen
(vgl. Abschnitt vom Handel). Hieraus ergibt sich auf der einen Seite der
große ethische Erfolg, den jede Arbeit abwirft, ob sie von materiellem
Erfolg gekrönt ist oder nicht, und auf der andern die Entwicklung der
Achtung vor der polnischen Gesellschaft in den Erwerbskreisen, Ferner
können sich die von ihrem Grundbesitz verdrängten Träger der polnischen
Tradition von ihrer Stelle als Direktoren und Aufsichtsräte aus neuen
politischen Einfluß auf die Gesellschaft zurückerobern. Nun höre ich den
Einwand, gerade in den am besten geleiteten Gesellschaften sind die Haupt-
*) Polnische im Jahre 1900 gegründete Aktiengesellschaften:
Firma und Branche Kapital Reserven . • jqqq iqqq 1994
Nalenczow, Heilanstalt .... 200 — S^/p — 3,25 "/o
Ssokol, Stärke 150 — — — —
Kjelce, Kunstdünger 350 — — — —
Kleber, Sandstein 300 — — — —
Grojce, Kleinbahn 8900 — Baujahr — V
Lugna & Szrenjawa, Zucker . . . 1200 — — ? 2''/o
Neptun, Zement 160 — — — —
Vereinignng der Möbeltischler in
Warschau . 200 — — — —
17*
260 Elftes Kapitel. Finanz- und Wirtschaftsorganisationen
arbeiter Träger deutscher Namen. Ge^viß, da sich aber diese Träger deutscher
und jüdischer Namen in Träger der polnischen Tradition umgewandelt
haben, so dürfen wir sie nicht von der pobiischen Kraft abziehn, sondern
müssen sie ihr hinzufügen. Solange sich das deutsche Mutterland wie in
der Gegenwart jedes Einflusses auf das Zartum Polen begibt, so lange müssen
die Träger deutscher Namen, die Leiter polnischer Firmen sind, auch als
Polen angesprochen, bewertet und ins politische Recheuexempel eingesetzt
werden. Das ffilt ebenso für das Geschäft wie für die Politik.
b'
B. Spar-, Vorschuß- und Verbrauchsvereine und Genossen-
schaften
1. Allgemeine Gesetzgebung
Das Vereins- und Genossenschaftswesen ist in ganz Rußland wenig
entwickelt. Bis etwa 1897 konnte überhaupt kaum von einem Genossen-
schaftswesen gesprochen werden. Die wenigen vorhandnen Genossen-
schaften beruhten auf Statuten, für deren Genehmigung jedesmal der ganze
schwerfällige Gesetzgebungsapparat in Bewegung gesetzt werden mußte.
Erst im Jahre 1895 wurde ein allgemeines Genossenschaftsgesetz geschaffen,
und die Statuten bedüi-fen seitdem lediglich der Genehmigung durch den
Pinanzminister — in Polen der des Generalgouvemeurs. Die russische
Genossenschaftsgesetzgebung beruht in ihrer Theorie für die einzelnen
Arten von Genossenschaften teils auf den Prinzipien der Raiffeisenvereine,
teils auf denen der Schulze -Delitzschschen Genossenschaften. Die ge-
sunden Grundlagen dieser Organisationen sind entsprechend den Bedürf-
nissen des russischen Polizeistaats beschränkt und abgeändert.^)
*) Die Regierungspolitik gegenüber dem Genossenschafts- und Vereinswesen wird ge-
kennzeichnet durch die Äußerang des Reichsrats, die wir in einem Immediatbericht an
den Zaien finden. „Die herrschende Gesetzgebung, heißt es da, hat die Freiheit der
Privatpersonen sehr beschränkt, solche Gesellschaften, Vereine, Genossenschaften und andre
freiwillige Vereinigungen zu bilden, die, auf längere Zeit abgeschlossen, der Erreichung
irgendeines Zieles mit vereinten Kräften dienen sollen. Ehe zur BUdung einer Genossen-
schaft geschiitten werden konnte, war eine vorläufige Genehmigung der Regierung not-
wendig; erst nach Ei-teilung der Erlaubnis durften die Vorarbeiten für die zu bildende
Gesellschaft in Angriff genommen . . . und der Statutenentwurf bei der zuständigen Behörde
vorgelegt werden. Ohne solche Genehmigung bestehende Vereinigungen wurden als gesetz-
widrige »Geheimgesellsohaften« behandelt ohne Rücksicht auf die von ihnen verfolgten
Ziele. . . . Für Übertretungen dieser Bestimmungen wurden Strafen bis zu Zwangsarbeit
verhängt. Um dennoch den Bedürfnissen des gewerblichen Lebens gerecht werden zu
können, hat die Regierung die Initiative zur Einiichtung von Genossenschaften selbst über-
nommen." Die an verschiedue bureauki-atische Institutionen mit zum Teil hochtönenden
Namen angeschlossenen Genossenschaften und Vereine tragen deshalb den Stempel aller
bureaukratischen Einrichtungen und genießen in keinem Teil der Gesellschaft volles Ver-
trauen. In Polen gehören zu dieser Kategorie die Gminkassen. Solche Verhältnisse gaben
B. Spai'-, Vorschuß- und Verbrauchsvereine und Genossenschaften 261
Neben den von der Regierung zugegebnen Kardinalgründen wirkte
ein weiterer um so hemmender: es ist der Mangel an Bildung in der
großen Masse, der doch die Grenossenschaften und Vereine in erster Linie
helfen soUen. Im Zartum Polen Avirkten diese Gründe noch schärfer als
im Innern des Reichs, weil dort, wie schon wiederholt unterstrichen werden
mußte, keine Art von örtlicher Selbstverwaltung vorhanden ist. Es muß
dem Finanzminister Witte das Verdienst eingeräumt werden, daß es ihm
gelimgen ist, einen Teil der Bedenken gegen die Genossenschaften bei den
führenden Kreisen überwunden zu haben. Doch erst das vorläufige Ver-
einsgesetz vom 7. März 1906 hat eine der drückendsten Beschränkungen
beseitigt durch Einführung der Bestimmimg, daß Vereine und Genossen-
schaften ohne vorherige Genehmigung der Behörden gegründet werden
können (Art. 2). Nur solche Vereinigungen, die Abteilungen (Filialen)
absondern, ferner Verbände aus Mnzelvereinen bedürfen eines von der
Behörde bestätigten Statuts (Art. 3, 5 bis 8 und 21 bis 40).
Wenden wir uns zunächst den Verhältnissen zu, wie sie etwa bis zum
März des Jahres 1906 bestanden haben.
Das russische Gesetz kennt fünf Arten von Institutionen, deren Z^veck
es ist, der großen Masse der Bevölkerung den Weg zu billigem Kredit und
damit zu genossenschaftlicher Betätigung zu eröffnen:
1. Gesellschaften für gegenseitigen Kredit,
2. Landbanken,
3. städtische Kreditgesellschaften,
4. Privatleihanstalten und
5. die Institute für Kleinkredit.
Von allen interessieren ims an dieser Stelle ausschließlich die zuerst
genannten Gesellschaften für gegenseitigen Kredit und die zuletzt ge-
nannten Institute für Kleinkredit.
Die Institute für Kleinkredit werden eingeteilt in: a) Kreditgenossen-
schaften, b) Spar- und Vorschußgenossenschaften und Kassen, c) Dorf-
banken und d) Gmin-Spar- imd Vorschußkassen. ^) Alle diese Genossen-
schaften unterstehn der Aufsicht des Finanzministeriums mit Ausnahme der
ausschließlich im Zartum Polen vorhandnen Gminkassen, die dem Ministerium
des Innern, also dem Kreischef unterstehn. Mit Hilfe der örtlichen Ver-
waltungsorgane stand dem Minister des Innern ein großer Einfluß auf die
der Initiative der Gesellschaft nicht den nötigen Spielraum, und sie zog es vor, sich von
allen Vereinen fernzuhalten, „während die energischsten Teile sich revolutionären Organi-
sationen anschlössen". (Rechenschafisbericht des Reichsrats für 1905/06, S. 570/71.)
^) Artikel 86 nebst Anmerkung des Kreditgesetzes, Bd. XI, Teil 2 der Gesetzsamm-
lung von 1902.
262
Elftes Kapitel. Finanz- und Wirtschaftsorganisationen
Gründimg aller Arten von Genossenschaften bis zum Erlaß des erwähnten
Gesetzes vom 7. März 190G zu. Die Gouverneure hatten über den Bedarf
an solchen Einrichtungen zu entscheiden, ohne den Antragstellern die Be-
gründung eines ablehnenden Bescheids geben zu müssen. Solange Herr
"Witte Finanzminister war, konnten die Agenten der Kreditkanzlei noch
ein Wort mitreden und rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten Geltung ver-
schaffen. Im übrigen lag es am persönlichen Ermessen der Kreischefs und
Gouverneure, ob wirtschaftliche Genossenschaften und Vereine gegründet
werden konnten oder nicht.
2. Gesellschaften für gegenseitigen Kredit
Die Gesellschaften für gegenseitigen Kredit werden aus Mitteln der
Gesellschafter gegründet. In ganz Rußland gab es im Jahre 1905 nach
dem Ausweis des Finanzministeriums 235 solcher Gesellschaften mit
151504 Mitgliedern. Von ihnen entfielen auf die beiden Hauptstädte
Petersburg und Moskau 8 mit 21663 Mitgliedern und auf das Zartum
Polen 38 mit 25078 Mitgliedern. Das Kapital aller Gesellschaften im
Reich betrug im genannten Jahre 38768900 Rubel zuzüglich 13,5 Millionen
Reserven. Davon entfielen auf die 8 liauptstädtischen Kassen 10,5 Mil-
lionen Grundkapital imd 1,5 Millionen Reserven, auf die 38 Kassen des
Zartums Polen 5,9 Millionen Kajntal und 1,6 Millionen Reserven,
Für die Institute des Zartums Polen ist das Statut der Warschauer
Gesellschaft maßgebend, i) Alle diese Kassen befinden sich in städtischen
Siedlungen. Sie verteilen sich auf die Gouvernements des Zartums Polen
wie folgt:
Zahl der
Grundkapital
Raserv'en
Gouvernements
Kassen
Mitglieder
Ssuwalki
—
—
—
—
Lomsha
—
—
—
—
Plock
2
1641
249,5
32,2
Sj^'älec
3
2572
169,0
17,0
"Warschau
13
10063
2383,5
1013,9
Lublin
1
568
220,6
21,9
Kaiisch
5
2203
334,2
71,5
Petrikau
10
4898
2173,3
392,5
Kjelce
2
1551
213,6
54,3
Radom
2
1582
203,6
12,8
zusammen
38
25078
5947,3
1616,1
^) Artikel 3 des Gesetzes über private und genossenschaftliche Kreditinstitute.
B. Spar-, Vorschuß- und Verbrauchsvereine und Genossenschaften 263
Abgesehen von der Kreditgewährung an ihre Mitglieder haben die
Gesellschaften die Möglichkeit, doch nur mit Genehmigung des Finanz-
ministers kurzfristige Kredite au die landwirtschaftlichen Gesellschaften zu
gewähren. Ein ohne Genehmigung des Finanzministers abgeschlossenes
Geschäft ist rechtsungiltig. Infolgedessen hat sich die Regierung mit dieser
Vorschrift tiefen Einblick ni den Wirkungskreis und die Beziehungen der
genannten Kassen gesichert. Dennoch kommt es wiederholt vor, daß solche
verbotne Geschäfte abgeschlossen werden. — Ein enger Zusammenschluß
der einzelnen Gesellschaften ist von vornherein ausgeschlossen durch die
Bestimmung, daß eine Person oder Institution nicht Mitglied mehrerer
Gesellschaften für gegenseitigen Kredit zugleich sein darf.^) Eine geistige
Einheit von ganzen Gruppen solcher Gesellschaften ist dadurch dennoch
nicht beseitigt, und die Tragweite der Bestimmung wird aufgehoben durch
die Anstellung einer Person als Beamten in mehreren Gesellschaften zu-
gleich (vgl. S. 287/88). Im Zartum Polen können wir zwei große Gruppen
imterscheiden : die jüdische, die nach einem einzigen Gesichtspunkt sehr
gewissenhaft geleitet wird, und die polnische, in der die demokratisch-
nationale Richtiing von der Landbank aus nach Anerkennung strebt
(siehe S. 285 ff.). Die genaue Zahl der ausschließlich unter polnischem Einfluß
stehenden Gesellschaften vermögen wir nicht anzugeben. Im allgemeinen
stehn die neuern Gesellschaften für gegenseitigen Kredit in mehr oder
weniger engem Zusammenhang mit den landwirtschaftlichen Syndikaten. So
läßt schon Gemeinsamkeit von einzelnen Beamten mit der Landbank und
mit Syndikaten auf gemeinsame Interessen schließen. Warschau hat nur
zwei durchaus polnische Kassen dieser Art. Einzelne Kassen wurden von
den Polen ins Leben gerufen, ausschließlich um den jüdischen Einfluß auf
die Bevölkerung zu vermindern. Dahin gehören z. B. die Gesellschaft in
Sjedlec und die „Zweite" in Radom. Die Zusammenhänge werden weiter
unten dargestellt.
Nach diesen Bemerkungen glauben wir nur noch hervorheben zu
sollen, daß die beiden Gesellschaften für gegenseitigen Kredit in Block und
die Mehrzahl der Gesellschaften in Petrikau als polnische Kassen bezeichnet
werden können.^) In allen andern Gesellschaften ist der jüdische Einfluß
so stark, daß polnisch -nationale Tendenzen in ihnen nicht zum Ausdruck
kommen können, und an ihre Stelle tritt der Einfluß des extremen Frei-
sinns. Die Kassen — polnische und jüdische in gleichem Maße — streben
*) Artikel 39 des Kreditgesetzes a. a. 0.
2) Die jüdische Kolonisationsgesellschaft hat im Zartum Polen 71 Kassen für gegen-
seitigen Kredit eingerichtet, wo die armen Handwerker zinslose Darlehen erhalten, a. a. 0.
Bd. n, S. 245 ff.
264 Elftes Kapitel. Finanz- und "Wiiischaftsorganisationen
vor allen Dingen danach, mit den wenigen in ihrem Gebiet liegenden
bäuerlichen Kassen und Vereinen in Verbind ung zu treten.^) Doch ist
uns kein Fall bekannt geworden, wo eine solche Verbindung bis zu völliger
Abhängigkeit verengert worden wäre. Die Behörden haben es verstanden,
jeden dahin zielenden Versuch zu vereiteln.
Die Gesellschaften füi- gegenseitigen Kredit haben sich zeitlich in der-
selben Weise entwickelt, wie es für die Aktiengesellschaften gezeigt wurde.
Im Jahre 1872 entstand die erste in "Warschau, und erst am Ende der
Amtszeit des Grafen Schuwalow die zweite in Plock. Von 1898 bis zum
Jahre 1905 traten dann die übrigen 36 ins Leben. Wir sehen somit, daß
neben dem Kreditbedürfnis trotz der geringen Entwicklung des Volks-
bildungswesens auch die geistigen Kräfte vorhanden waren, solche Ge-
sellschaften zu gründen und zu leiten. In allen diesen Gesellschaften ist
die Schriftsprache nach dem Gesetz die russische. In der Praxis wickelte
sich indessen der gesarate schriftliche und mündliche Geschäftsverkehr in
polnischer Sprache ab. Das trifft auch für die jüdischen Institute zu. Nur
der Schriftverkehr mit den Behörden und die Bücher werden in russischer
Sprache geführt.
S. Spar- und Vorschussgenossenschaften
Von den im Reich zugelassenen Instituten für Kleinkredit kommen
im Zai'tum Polen als Ergebnisse der gesellschaftlichen Selbstbetätigung nur
Spar- und Vorsch^ißgcnossenschaften vor. Dorfbanken, die in russischen
Gemeinden vorhanden, sind, wenn wir von den Gminkassen absehen,'^) im
Zartum Polen vollständig unbekannt; das gleiche gilt von Wolost- Hilfs-
kassen. Kreditgenossenschaften sind ausschließlich bei den Juden als
Wohlfahrtseinrichtimgen anzutreffen.^) Es kommen für uns somit hier
lediglich die Spar- und Vorschuß genossenschaften in Frage.*)
Die Entwicklung aller Arten von Genossenschaften ist ebenso gewesen,
wie sie für die Gesellschaften für gegenseitigen Kredit dargestellt wurde.
Auch sind die Gründe die gleichen. Noch im Jahre 1896 gab es nur
zwei Spar- und Vorschußgenossenschaften im Zartum Polen. Es waren
die im Jahre 1873 gegi'ündeten von Grojcy und Wiskitka. Eine dritte
*) Artikel 40 des Kreditgesetzes.
*) Spassowitsch und Pilz rechnen sie unter die Kategorie der Dorfbanken, a. a. 0.,
Tagesfragen S. 134.
") Vgl. oben S. 263, Anui. 2. Kreimann behauptet, allein in Plock seien zehn solcher
Kassen. (Warschawski Dnjewnik von 1902, Nr. 126.)
*) Warschawski ünjewnik von 1902, Nr. 126, „Die Institute für Kleinkredit", ge-
schrieben von Kreimann, Vorsteher der Abteilung für Kleinkredit beim Staatsbankkontor
zu Warschau.
B. Si)ai-, Vorschuß- und Verbrauchsvereine und Genossenschaften
265
zur selben Zeit in Kiitno entstandne hat nur wenige Jahre gearbeitet. Die
beiden Kassen hatten zusammen 463 Mitglieder und etwa 61000 Kübel
Beti'iebsmittel. Schon im Jahre 1903 hat sich die Zahl auf 78 Genossen-
schaften mit 44849 Mitgliedern und gegen 6 Millionen Rubel Betriebs-
mitteln erhöht. Im ganzen Reich gab es 1896 schon 605 Kassen mit
201843 Mitgliedern, aber 1903 nur 698 Kassen mit 297986 Mitgliedern.
Der Hauptanteil der Yermehrung entfällt somit auf das Zartum Polen, und
wir dürfen schon allein aus dieser Tatsache folgern, daß die Entwicklung
bis zum Jahre 1897 künstlich aufgehalten wurde.
Auf die einzelnen Gouvernements verteilen sich die Kassen und ihre
Mittel im Jahre 1903 wie folgt:
Zahl der
Betriebsmittel in TaiLsend Eubeln
Gewinn
Kassen
Mit-
glieder
Anteile
Reserven
Einlagen
Kredit
1902
Ssmvalki . .
Lomsha . .
Plock . . .
Sjedlec . . .
"Warschau . .
Lublin .
2
5
1
3
19
9
10
12
7
10
580
787
66
342
16012
4450
2812
13299
2692
3809
21,8
25,8
0,7
14,2
2765,2
201,9
119,3
567,1
62.5
108,4
0,6
0,9
0,1
86,1
3,6
1,8
4,2
3,8
2,4
30,9
50,0
2,6
20,2
1260,8
489,5
279,1
1 053,6
67,8
207,9
1,4
84,3
18,7
20,6
1,5
41,6
32,4
1,6
3,9
1,5
52,0
15,2
9,7
37,2
7,1
8,9
Kaiisch . . .
Petrikau . .
Kjelce .
Eadom .
zusamr
tien
78
44849
3886,9
103,5
3462,4
200,5
137,1
Im allgemeinen treffen die frühern Ausführungen auch auf die Spar-
und Vorschußkassen zu. Auch ihre Mitglieder dürfen nicht mehreren
Kassen zugleich angehören (Artikel 96). Außerdem darf jedes Mitglied nur
einen Anteilschein zu hundert Rubel besitzen und kann diesen Anteil
weder veräaßern noch versetzen (Artikel 97). Dagegen sieht eine An-
merJcung zu Artihel 88 die Bildung von Kassenverbänden vor. Im Zartum
Polen haben wir bis zum Jahre 1907 solche oder ähnliche Verbände nicht
feststellen können. Das zeitweilige Gesetz vom 7. März 1906 hebt die die
Bildung von Verbänden beschränkenden Bestimmungen, wie wir schon
sagten, nicht auf.*)
Auch innerhalb der Spar- und Vorschußkassen gibt es eine jüdische
und eine polnische Richtung, und wir glauben daran festhalten zu dürfen,
daß die jüdische geschäftlich immer noch die stärkere ist, wenngleich auch
^) Das Gesetz ist abgedruckt bei 1. 1. Lasarewski , „Die Gesetzgebung der Übergangs-
zeit", Verlag „Prawo", St. Petersburg, 1907, S. 420 bis 438.
266
Elftes Kapitel. Finanz- und Wirtschaftsorganisationen
in einer großen Zahl von diesen Kassen Yertrauensmänner der Landbank
oder landwirtschaftlicher Vereine als Beamte angestellt sind. In Petrikau
und Kaiisch spielen deutsche Meister und Arbeiter, im Gouvernement
Lublin russische Beamte und Geistliche in diesen Genossenschaften eine
gewisse Rolle. Doch drängen sich in Lodz, Zgierz usw. polnische Sozialisten
immer mehr vor. Die geringe Zahl der Kassen in Plock ist auf den "Wider-
stand der Regierung zurückzuführen. Im Jahre 1903 sind vierzehn Ge-
suche aus diesem Gouvernement zurückgewiesen worden. ^) Über die Ent-
wicklung der Genossenschaften nach 1903 fehlen einsbveilen irgendwie
verwendbare oder gar zusammenhängende Angaben.
4. Kotisumve reine
Der Vollständigkeit halber sei hier auch der Konsumvereine als Zeichen
fortschreitender organisatorischer Bestrebungen innerhalb der polnischen
Gesellschaft gedacht. Im März des Jahres 1907 gab es im Zartimi Polen
126 Konsimivereine von 1452 im ganzen Reich. Von ihnen waren von
1869 bis 1899 nur 22 ins Leben getreten, alle übrigen wie folgt:
1900
1901
1902
1903
1904 1905
1906
1907
im ganzen Reich ....
davon im Zartum ....
103
6
96
6
166
8
159
2
167
9
120
6
225
36
66
31
Über die Gouvernements verteilt erhalten wir folgendes Bild:
Zahl
Grand-
kapital
Reserven
Gewinn
im Jahre
Gouvernements
1904
1905
in Tausend Rubeln
Ssuwalki
5
57
2
3
15
3
3
14
8
16
4
2
14
238
8
74
29
29
1
1
2
39
22
5
5
1
5
11
5
2
0,5
Lomsha
Plock
Sjedlec
Warschau
Lublin
2
10
Kaiisch
Petrikau
Kjelce
Radom
—
zusammen
126
398
75
24,5
12
Die altem Konsumvereine spielen für unsre Studie eine geringe
Rolle. Sie wurden zum großen Teil entweder von russischen Beamten und
') Nach glaubwürdiger Mitteilung von privater Seite.
B. Spar-, Vorschuß- und Verbrauchsvereine und Genossenschaften 267
Offizieren ins Leben gerufen oder von Fabrikanten, Eisenbahngeselischaften
und sonstigen gewerblichen Unternehniimgen. Ferner gibt es im Zartum
Polen wohl nur im Gouvernement Lomsha, wo, wie Avir hörten, die kleine
Schlachta 34 Prozent des Bodens in Besitz hat,^) Konsumvereine in großer
Zahl auf dem platten Lande. In den übrigen Gouvernements gibt es einst-
weilen nur wenige solche Yereine, deren Leitung ausschließlich in pol-
nischen Händen liegt. Alle diese Unternehmungen sind noch zu jung,
als daß wir heute schon ein Urteil über ihre Leitung und über ihre nächsten
Ziele fällen könnten. Nur zwei „christliche" Vereine in Przedborz (Radom)
und Czenstochau, die durch antisemitische Geistliche ins Leben gerufen
wurden, haben eine bestimmt erkennbare politische Färbung.^) In den
Fabrikorten haben vielfach sozialdemokratische Arbeiter versucht, Konsum-
vereine unabhängig von den Fabrikanten ins Leben zu rufen, doch fanden
sie, von der revolutionären AVelle erfaßt, keine Zeit für ernste organische
Arbeit. Als die Regierung wieder zu sich gekommen war, wurden viele
der Männer, die zur Leitung der Kassen berufen waren, verbannt, während
die geistigen Führer ins Ausland flohen. Immerhin dürfen wir aus dem
zahlreichen Entstehn von Kassen erkennen, wie groß der Einfluß der
demokratischen und nationalen Kreise im Lande ist.
Das normale Statut der Konsumvereine erleichtert in der Theorie
ihre Gruppierung durch die Bestimmung in Artikel 2b, wonach die Ver-
eine berechtigt sind, mit außenstehenden Personen und Instituten wegen
Einkaufs der von ihnen geführten Waren in Verbindung zu treten und
sich über die zur Geschäftsfülirung notwendigen Mittel ins Einvernehmen
zu setzen, sowie in Artikel 2g, wonach die Vereine als juristische Per-
sonen Mitglieder andrer entsprechende Ziele verfolgender Vereine werden
können. Freilich muß hierzu die Genehmigung des Ministers des Innern
oder des Generalgouvemeurs eingeholt werden. Daß auch in Rußland
die Genossenschaften zum Zusammenschluß und zur Bildung von Genossen-
schaftsverbänden streben, zeigen die Bemühungen der Offiziersvereine
in Petersburg und Moskau. Für die rein polnischen Vereine liegen
in dieser Richtung noch keine sichtbaren Erfahrungen vor. Die Vereins-
gesetzgebung von 1906 hat eine unbedingte Rechtssicherheit für die Ver-
eine noch nicht geschaffen, da das Zartum Polen unter den Bestimmungen
des verstärkten Schutzes steht.
Die Regierung hat sich ständigen Einblick in die Geschäfte der Kon-
sumvereine gesichert durch das Recht der Revision zu jeder dem Kxeis-
») Siehe S. 201 ; ferner die Äußening Krziwickis S. 204.
*) Vgl. hierzu, was wir über den pohüschen Antisemitismus in den Grenzboten ge-
schrieben haben.
268 Eütes Kapitel. Finanz- und "Wirtschaftsorganisationen
cbef oder dem Gouverneur geeignet erscheinenden Stunde (Artikel 53, An-
merkung) sowie durch die Bestimmung des Artikels 55, wonach zehn Prozent
des Gewinns als Reservefonds unbedingt in Staatspapieren oder staatlich
garantierten Fonds angelegt werden müssen. Es ist bekannt, daß der
russische Finanzminister fortgesetzt für die Erhaltung der Kurse der Staats-
papiere zu sorgen hat; es ist darum schon ohne sonstige Erwägungen wirt-
schaftlicher Art anzunehmen, daß er auf der einen Seite die Griindung
von Konsumvereinen begünstigen und auf der andern der Geschäftsführung
sehr streng folgen wird. Oh das Interesse der staatlichen Finanzen
und Wirtschaft unter der neuesten Gesetzgebung zu eine^' weitern Eni-
wicJclung des Genossenschaftswesens einschließlich dei- Genossenschafts-
verbände führen wird, kann solange nicht entschieden tverden, so lange
nicht die Richtung der weitern Regierungspolitik in Petersburg genau
festgelegt ist. Aber das eine können wir hei'vorheben : schon gegenwärtig
ist der Keim eines Interessengegensatzes zwischen staatlicher Wirtschaft
und staatlicher Grenzmarkenpolitik vorhanden, der sich trotz des Unter-
schiedes in den Verhältnissen dennoch so weit entwickeln kann, wie es in
Preußen-Deutschland geschehen ist und wie es Bernhard dargestellt hat.
C. Die Gmin-Spar- und Vorschußkassen
1. Gründung und Enttvicklung
Außerhalb des Genossenschaftswesens stehend, aber doch von außer-
ordentlicher Bedeutimg für die Polen sind die bei den Gmin- und ein-
zelnen Gromadaämtem eingerichteten sogenannten Gmin-Spar- und Vor-
schtißkassen. Sie bilden für einen großen Teil der bäuerlichen Bevölkerung
des Zartums auch gegenwärtig noch die einzige Institution zur Beschaffung
kleinen, kurzfi'istigen Kredits (vgl. S. 47). Ihre Einrichtung geschah gleich-
zeitig mit der Landzuteilung auf Grund des ükas vom 19. Februar 1864
(vgl. S. 41 bis 46). Sie sind staatliche Institute und darum im eigent-
lichen Sinne keine Genossenschaften. Als Grundkapital der Kassen wurden
gemäß ükas vom 18. Mai 1866 62640 Rubel, die Zinsen eines Kapitals
genommen, das von der Bodcnkreditgesellschaft (Landbank) für gemein-
nützige Zwecke gesammelt worden war und sich bei der Reichsbank in
Verwahrung befand. Die Summe wurde entsprechend der Zahl der da-
mals im Zartum Polen vorhandnen Kreise in 85 Teile*) geteilt, sodaß in
jedem Kreise zunächst eine Kasse mit einem Grundkapital von je 737 Rubel
*) Trotz der Herkunft des Geldas hat die Landbank als solche keinerlei Rechte am Ver-
mögen der Gminkassen und ist auch in keiner "S\''eise an der Verwaltung der Kassen beteiligt.
C. Die Gmin-Spar- iind Vorschußkasseu 269
gegründet werden konnte. Die Tätigkeit dieser Kreditinstitute wurde ge-
regelt durch das „zeitweilige Statut vom 19. Juli 1868". Um die Ver-
breitung kleiner Kassen zu ermöglichen, wurde unter anderm darin bestimmt,
daß wenn der Gewimi nach Deckung aller Ausgaben die Höhe des Grund-
kapitals erreicht, das Grundkapital aus der Kasse herauszunehmen und für
die Einrichtung einer neuen Kasse zu verwenden sei. Die neue Kasse
wurde aber Teein von der alten abhängiges Tochterunternehmen, sondern
eine durchaus selbständige Institution. Auch die Kassen, die in derselben
Gmin als zweite gegründet wurden, stehn in keinerlei materieller Ab-
hängigkeit von der ersten, wenn ihr auch dieselben Gminbeamten vorstehn.
Schon diese Bestimmung gibt den Gminkassen mehr den Charakter von
Regierungskanzleien als von geschäftlichen Instituten. "Wurde auf diese
Weise die Weiterverbreituug der Kassen bis zu einem gewissen Grade ge-
fördert, so wurde andrerseits die Bildung großer, kapitalkräftiger und ein-
flußreicher Kreditinstitute auf dem Lande verhindert.
Zur weitern Verbreitung der Gminkassen stellte ein Allerhöchst be-
stätigtes Gutachten des Komitees für die Angelegenheiten des Zartiuns
Polen vom 21. Dezember 1869 auch die Zinsen des vorher erwähnten
Kapitals der Bodenkreditgesellschaft für die Jahre 1868 und 1869 mit
103920 Rubel zur Verfügung des konstituierenden Komitees. Somit konnten
vom 27. März 1870 ab weitere 170 Kassen — in jedem Kreise zwei —
mit einem Grundkapital von je 611 Rubel eröffnet werden. Am 22. De-
zember 1879 wurde die Einrichtung von weitern 48 Kassen mit einem
gemeinsamen Kapital von 27 731 Rubel 87^/2 Kopeken angeordnet.
Während der Jahre 1868 bis 1870 entstanden daneben 53 Gmin-
kassen, die von den bäuerlichen Gemeinden — Gromada — (siehe S. 50
bis 52) finanziert wurden. Vom Jahre 1870 ab wurden schon Kassen aus
den Erträgen der zuerst gegründeten Kassen eingerichtet.^) Eine große
Förderung für die Gminkassen war bis in die Mitte der 1870er Jahre die
Höhe der Sti-afgelder für Versäumnis des Zahlungstermins im Zusammen-
hang mit der Lässigkeit der bäuerlichen Kreditnehmer. Die Strafen be-
trugen ein Prozent wöchentlich. Seit der Einfühmng des Gerichtsstatuts
von 1864 im Zartum Polen im Jahre 1876 wurden diese Sti'afzahlungen
zum Unterhalt von Haftlokalen verwandt, was nach Spassowitsch zur Folge
hatte, daß die Eröffnung neuer Kassen in langsamem! Tempo vor sich
ging.^) Freilich war dies nicht der einzige Grund. Auch die mit der
Aufgabe der Politik Miljutins ins Land einbrechende Unruhe, die schärfer
') Die hier kurz skizzierte Geschichte der Gmin-Spar- und Vorschußkasseu lehnt sich an
ein Memorandum des Ministers des Innern an (Wjestnik Finanssow von 1902, Nr. 22, S. 379).
*) Tagesfragen a. a. 0. S. 127.
2 70 Elftes Kapitel. Finanz- und Wirtschaftsorganisationen
einsetzende Russifizierung, die Propaganda der Sozialisten und Geistlichen,
die gesteigerte "Willkür der Beamten und damit zusammenhängend die
wachsende Rechtsunsicherheit haben die Bauern von der Gründung neuer
Kassen für mehr als ein Jahrzehnt abgehalten.
Das ursprünglich ausgegebne „zeitweilige Statut" blieb bis zum
Jahre 1884 in Geltung und wurde im Jahre 1870 niu- dahin abgeändert,
daß auch Besitzer von weniger als einer halben Deßjatine Land ihr Grund-
stück in der Gminkasse verpfänden durften, während bis dahin anderthalb
Deßjatinen die imterste Grenze bildeten. Diese Bestimmung konnte erlassen
werden, da die Gminkasse vorwiegend eine Einrichtung der Bauern war,
wenn auch Großgrundbesitzer ihr Einlagen zukommen ließen. Am 8. Fe-
bruar 1884 traten die noch im Jahre 1908 geltenden Statuten in Kraft.
Ihr durchsichtiger wesentlicher Zweck war, das durch Vermittlung der
Kassen in die Gmin eingedrungne uichtbäuerliche Element wieder aus der
Gminverwaltung zu vertreiben.
Die Betriebsmittel der Gminkassen werden durch unverzinsliche Spar-
einlagen und verzinsliche zeitweilige Einlagen ergänzt. Einlagen der zweiten
Art werden nur dann angenommen, wenn mindestens zwei Drittel des
Grundkapitals ausgeliehen sind. Für die Unterbringung der Ei"spamisse
müssen die Sparer ein halbes Prozent jährlich zahlen, während die andern
sechs Prozent jährlich Zinsen erhalten. Die Einlagen dürfen niciit weniger
als einen Rubel betragen und werden angenommen für die Zeit von einem
bis sechs Monate. Dabei sind folgende in Artikel 49 niedergelegte Vor-
schriften zu beobachten: "Wenn eine hinreichend große Zahl von Personen
vorhanden ist, die Darlehen erhalten wollen, und gleichzeitig Einlagen
gegen Zinsen angemeldet werden, dann ist die Verwaltung der Kasse be-
rechtigt, Einlagen entsprechend der Summe der Darlehnsgesuche aus den
angebotnen Summen anzunehmen und diese als Darlehen zu verteilen.
Dabei ist die Verwaltung der Kasse gehalten, darauf zu achten, daß „die
Summe der Einlagen die Gesamthöhe der Darlehen nicht überschreitet".
Gegenwärtig erhebt die Kasse von ihren Schuldnern acht Prozent und
zahlt den Einlegern sechs Prozent jälirlich, gewinnt somit von jeder Ein-
lage zwei Prozent jährlich. Spai*er, die keine Zinsen beanspruchen, gibt
es wohl gegenwärtig in keiner Gmin des Zartums mehr.
2. Verwaltung und Tätigkeit der Kassen
Die Verwaltung der Kasse wird aus dem Gminwojt und zwei von
der Gminversammlung gewählten Mitghedern gebildet. Einer der Gewählten
hat die Obliegenheiten des Kassierers zu versehen. Danebeii besteht ein
gleichfalls von der Gminversammlung und aus ihrem Bestände heraus zu
C. Die Gmin-Spar- und Vorschußkasseü 271
wählender Aufsichtsrat aus drei Personen, die jährlich eine Revision der
Kasse vorzunehmen haben.
Die Oberaufsicht über die Gminkassen liegt bei den Bauernkommissaren.
Sie sind gehalten, alle Kassen in ihrem Kreise mindestens einmal jährlich
zu revidieren. Die Kassen stehn somit vollständig in Abhängigkeit vom
Kreischef oder vom Gouverneur.
Mitglied der Kasse kann jeder Bewohner des Gebiets werden, über
das sich die Tätigkeit der Kasse erstreckt, ohne Rücksicht auf seine Zu-
gehörigkeit zu irgendeinem Stande oder Beruf. Hier ist somit Bresche
gelegt in das Prinzip, das den „Bauernstand" von den andern „Ständen"
sorgfältig absperrt. Und zwar geschah es seinerzeit, um die Gminkassen
nicht der Einleger zu berauben. Gegenwärtig sind die Bauern reich genug,
daß die Gminkassen bei ihrem engen Wirkungskreis auf die Einlagen von
außerhalb verzichten könnten.
Das Recht, Darlehen zu erhalten, haben folgende Kategorien von
Personen :
1. Grundbesitzende Bauern, gemäß Paß,
2. Bauern, die wenn auch keinen Grundbesitz haben, so doch zur
Kategorie der Landarbeiter gehören,
3. Angehörige der nicht legitimierten (kleinen) oder legitimierten
Schlachta, sofern sie nicht mehr als sechzig Morgen Land besitzen,
4. Ackerbautreibende Kleinbürger,
5. Kleinbürger, die wenn sie auch nicht persönlich Ackerbau treiben,
also auch nicht zur Landbevölkerung zu zählen sind, so doch Grundbesitz
haben (hierzu gehören unter andern auch die Russen, die auf Grund
des Ukas vom 28. Oktober 1866 Kirchenland erworben hatten; in diesem
Falle darf der Grundbesitz sechs Morgen nicht übersteigen),
6. Bewohner der Flecken, die zur Kategorie landloser Landarbeiter
gehören.
Die Bedingungen für die Darlehnserteilung sind je nach den Besitz-
verhältnissen der Darlehnsnehmer verschieden. Besitzern von Grund-
eigentum werden Darlehen gewährt gegen Unterpfand des Grundstücks.
Wer kein Grundstück besitzt, muß die Bürgschaft von zwei Grundbesitzern
beibringen. Von bäuerlichen Darlehnsnehmem werden ausschließlich be-
baute Grundstücke, von den Bewohnern der Flecken — städtischen Acker-
wirten — aber auch unbebaute Plätze als Unterpfand angenommen. Mit
Grundbuchschulden belastete Immobilien werden als Pfand nicht an-
genommen. Falls andre Schulden auf dem Grundstück des Kreditsuchers
stehn, wird ihm der Kredit unter der Bedingung gewährt, daß die Schuld
als erste Hypothek eingetragen werden kann.
272 Elftes Kapitel. Finanz- und "Wirtschaftsorganisationen
Diese Bestimmungen führen mm dazu, daß nur ein verhältnismäßig
geringer Teil der bäuerlichen Bevölkerung an diesem Kredit teilnehmen
kann. Denn es wird nur sehr wenig Grundstücke geben, die nicht
wenigstens mit einer Hypothek belastet sind, und ein großer Teil des
bäuerlichen Besitzes, nämlich 4 590325 Deßjatinen (vgl. S. 177), darf aus
den auf Seite 46 bis 49 auseinandergesetzten Gründen als „zugeteiltes"
Land überhaupt zu keinerlei Bürgschaft herangezogen werden. Die Folge
davon ist, daß die große Mehrzahl der Kreditsucher auf persönlichen Kredit
angewiesen ist, den sie ausschließlich mit Hülfe von Bürgen erhalten kann.
Damit ist aber ein großer Teil der Bauern den Wucherern ausgeliefert.
Denn die Bürgen lassen sich vielfach für ihre Unterschrift fünf, zehn und
melu' Prozent zahlen. In vielen Fällen wird somit die Gminkasse, deren Auf-
gabe es ist, den armem Wirten den Weg zu billigem Kredit zu öffnen,
erst der Hebel, den der Dorfwucherer braucht, um zahlreiche Dorfgenossen
von ihrer Scholle zu heben. Wie sicher dabei die bäuerlichen Schuldner
den Dorfwucherern sind, geht aus der Tatsache hervor, daß ein Haupt-
kontingent der Spareinlagen eben denselben Personen gehört, die immer
wieder als Geranten auftreten.^)
Darlehnnehmer einer Kasse darf nur in dem Falle Gcrant für einen
andern Darlehnsucher werden, wenn die schon früher erhaltne und die
neu gewünschte Summe zusammen das Höchstmaß des vom vorgeschlagnen
Geranten auf Grund der Statuten zustehenden Darlehns nicht überschreitet.
Die Höhe der Darlehen darf höchstens ein Drittel des Wertes des Im-
mobilienbesitzes betragen. Der AYert des Bodens wird in jedem Kreis
einzeln nach einem besondern Register festgesetzt, der der Bauten ent-
sprechend der Höhe der Versicherung.
Das Höchstmaß des Darlehns für eine Pei"son darf bei einem Kassen-
betriebskapital von bis zu 1000 Rubel 100 Rubel, bei gi'ößern Betriebs-
mitteln 200 Rubel nicht übersteigen. Die Darlehen werden füi' Fi'isten
von einem bis zwölf Monaten gewährt, wobei ein Viertel der jährlichen
Zinsen im voraus zu entrichten ist, also bei Auszahlung des Darlehns
abgezogen wird. Wenn das Darlelm für eine Zeit von Aveniger als für
ein halbes Jahr genommen ist, darf es mit Genehmigung der Verwaltung
prolongiert werden. Personen, die ihre Schuld zurückerstattet haben,
dürfen sich in die Reihe derer, die ein neues Darlehn wünschen, nicht
') Ich habe mir sagen lassen, ohne in der Lage gewesen zu sein, es nachzuprüfen,
daß die Dorfwucherer mit Hilfe der Gminkassen ihre Einlagen mit 25 bis 30 Prozent
verzinsen können ohne das geringste Risiko. In versciiieduen Gminen hörte ich die Ein-
lagen als Korruptionsfonds bezeichnen, in vielen wurde ihre Geschäftsfühiiing sehr gelobt.
Dann aber steckten meist Pfarrer dahinter.
C. Die Gmin-Spar- und Vorschußkasseü 273
früher einschreiben als einen Monat nach der Zurückerstattung des letzten
Darlehns. Bei Nichtzurückerstattuug des Darlehns zum Termin wird eine
Frist von drei Wochen gewährt, wobei wie früher eine Strafzahlung von
einer Kopeke vom Rubel wöchentlich erhoben wird. Wenn auch dann
das Darlehu nicht zurückerstattet ist, hat der Wojt Maßregeln zu seiner
Beitreibung zu ergreifen. In erster Linie wird das Getreide mit Beschlag
belegt und verkauft, dann das überflüssige Vieh, und wenn das nicht hin-
reicht, das Grundeigentum. Der Verkauf findet durch öffentliches Aus-
gebot statt. Bei Darlehen gegen Bürgschaft wird in erster Linie das
Eigentum des Schuldners, soAveit es nicht Gegenstände der ersten Notdui-ft
in seiner Wirtschaft sind, verkauft ; weiterhin wendet sich die Beitreibung
an die Geranten.
Die Erfolge der Gmin-Spar- und Vorschußkassen erscheinen trotz den
beschränkenden Bestimmungen nicht gering. Bis zum Jahre 1901 waren
570 neue Kassen auf normalem Wege entstanden, daneben und ohne Zu-
sammenhang mit den ersten 85 Kassen wurden 447 Kassen aus Mitteln,
die von Privatpersonen beschafft worden waren, eingerichtet. Alles in
allem waren im Jahre 1901 im Zartum Polen 1320 Gminkassen vor-
handen.^) Ihre Betriehsmittel betrugen zusammen 24472000 Rubel, ^) was
2 Rubel 70 Kopeken pro Kopf der Bevölkerung des Gebiets ausmacht.
Von den 1281 Gminen haben 51 je zwei Kassen, 13 haben überhaupt
keine. Diese bedienen sich teilweise der Kassen benachbarter Gminen.^)
Wenn wir diese Daten mit den entsprechenden für das Reich ver-
gleichen, so ersehen wir, daß die Lage des KlemJcredits im Weichselgebiet
günstiger ist als im ganzen Reich. Die Institutionen für Kleinkredit im
ganzen Reiche verfügen nur über ein Kapital von 44467000 Rubel oder
durchschnittlich 35 Kopeken pro Kopf der Bevölkerung.
Angesichts der geringen Bewegungsfreiheit der Kassen müssen wir
die Einlagen (16,5 Millionen Rubel) als verhältnismäßig hoch bezeichnen.
Chranewitsch erklärt die Tatsache durch die Bestimmung des Aitikels 42
der Kassenstatute, wonach Einlagen von Personen jedes Standes und
1) Über das Entstehen von 218 Kassen fehlen Angaben, doch ist anzunehmen, daß
sie auf normalem Wege aus alten Kassen entstanden sind.
*) Der Stand der Kassen zum 1. Januar 1901 war:
a) Gi-undkapital 1416957 Rubel
h) Stiftungen 11006 ,.
c) Reingewinn 6413502 „
d) Einlagen 16630937 „
Summe des Betriebskapitals 24472402 Rubel
') Skarzinski, a. a. 0. S. 413.
Cleinow, Die Zukunft Polens 1°
274 Elftes Kapitel. Finanz- und Wirtschaftsoj-ganisationen
Berufes angenommen werden dürfen.^) Der hohe Zinsfuß ist tatsächlich
geeignet, bei gleichzeitiger Sicherheit viele Einlagen zu veranlassen. Doch
spielen auch politische Gründe mit, und vor allen Dingen die geringe Ent-
wicklung privater Kassen. iSo ist zu erwähnen, daß viele katholische Geist-
liche und polnische Gutsbesitzer Ersparnisse in den Gminkassen angelegt
haben, ausschließlich um mit der bäuerlichen Bevölkerung in Verbindung
treten zu können. Für die russischen Kirchen besteht noch die besondre
Erlaubnis, ihre Kapitalien den Kassen zur Aufbewahrung anzuvertrauen.
Im Gouvernement Kjelce befanden sich zimi 1. Januar 1900 in den Gniin-
Spar- und Yorschußkassen im ganzen 1767633 Rubel. Von diesen Ein-
lagen gehörten Bauern 1335752 Rubel = 75,5 Prozent, die übrigen
24,5 Prozent entfielen auf Personen andrer Stände oder auf Institutionen.
Von den 7576 Einlegern waren 6615 oder 87,3 Prozent Bauern, auf die
übrigen Stände entfielen 961 Einleger oder 12,7 Prozent. Das ist als ein
hoher Anteil zu bezeichnen. Von den 128 Gminen des Gouvernements
Kjelce waren in 13 ausschließlich Bauerneinlagen vorhanden. Wenn die
Verhältnisse im Gouvernement Kjelce als Durchschnittsverhältnisse an-
genommen werden, so hat nach Chranewitsch die bäuerliche Bevölkerung
des Weichselgebiets bis zum 1. Januar 1901 nicht weniger als 12 Millionen
Rubel Ersparnisse in den Gminkassen angelegt. Spassowitsch ist durchaus
im Recht mit seiner Ansicht, daß die bäuerlichen Einlagen erhebhch
größer sein würden, wenn nicht die beschränkenden Bestimmungen vor-
handen wären.
Der Weiterentwicklung der Gminkassen stehn verschiedue politische
und finanzielle Gründe entgegen. Der Finanzminister sucht die Erspar-
nisse der Bevölkerung in die Staatssparkassen zu leiten, wo er sie in
Staatspapieren anlegt. Die Sparkassen zahlen aber nur 4^2 Prozent Zinsen,
während die Gminkassen 6 Prozent geben. Würde das Grundkapital der
Gminkassen durch Rücklagen nur um je 1000 Rubel erhöht, so würden
sich die Einlagen entsprechend verdoppeln können, und die polnischen
Bauern würden, um dem Kreditbedürfnis ilirer Dorf genossen gerecht
werden zu können, nicht nur ihre neuen Ersparnisse den Kassen zur Ver-
fügung stellen, sondern wohl auch ihre Einlagen aus den Staatssparkasseu
zurückziehen. Wir meinen, die P/« Prozent dürften eine genügende An-
regung bieten. Der Finanzminister könnte somit nur dann ohne Schaden
für seine Finanzpolitik einer Erweiterung der Tätigkeit der Gminkassen das
Wort reden, wenn gleichzeitig ihr Zinsfuß dem der staatlichen Sparkassen
') „Skizzen aus dem bäuerlichen Wirtschaftsleben ini Zai-timi Polen", St. Peters-
burg, 1906, S. 42.
C. Die Gmin-Spar- und Vorschußkassen 275
als Maximum gleichgestellt würde. Gegenwärtig wird er jedenfalls den
Anstoß zu einer Aufhebung der dem Minister des Innern politisch not-
wendig scheinenden beschiäukenden Bestimmungen nicht geben. Von der
Gesetzgebung der jüngsten Zeit werden die Kassen als staatliche Ein-
richtungen nicht direkt beti'offen. Aber sie müssen wenigstens vorüber-
gehend Einbuße erleiden durch die Eröffnung privater Kassen. Selir hoch
dürfen wir diese Einbuße indessen nicht einschätzen, da sich die bäuer-
liche Bevölkerung an die Gminkassen gewöhnt hat. Aus den vorliegenden
Abrechnungen lassen sich in dieser Richtung noch keine Beobachtungen
austeilen. Trotz allem Vönnen die GminTcassen zu einem scharfen Werk-
zeug der 2^oJnischen PolitiJc werden, sobald die Regierung dem Drängest
der Gesellschaft folgen und die Bildung von Gininkassenverhänden zu-
lassen würdet) Ob und unter welchen Bedingungen sich die Regierung
solcher wirtschaftlichen Notwendigkeit wird entziehen können, ist hier
nicht zu untersuchen.
*) Siehe Arbeiten der Gouvernementskomitees sowie L. B. Skarzinski a. a. 0. S. 417.
Dieser schreibt recht voi^sichtig; „In einzelnen Gminkassen tritt hin imd wieder ein Mangel
an Einlagen zutage; in andern \vieder müssen Einlagen zuhickgewiesen werden. . . . Infolge-
dessen wäre es rationell, eine möglichst weit gefaßte Gegenseitigkeit unter den Gminkassen
einzurichten, so zwar, daß die einzelnen Kassen ihre Einlagen an andre weitergeben dürften,
wenn gerade in der eignen Gmin kein Bedarf au Kredit vorhanden ist . . ."
C®^<^0?
18*
Zwölftes Kapitel
Organisationen der Landwirtschaft
Viele Beurteiler der Polenfrage nennen den adlichen Großgruudbesitzer-
stand als die wesentlichste Triebfeder der nationalen Idee innerhalb der
polnischen Gesellschaft. Das Verhältnis des polnischen Adels zu Alexander
dem Ersten, die Tätigkeit der adlichen Emigration, die Organisation der
letzten Aufstände, die diese beiden Äußerungen des polnischen Lebens
verherrlichende Literatur im Zusammenhang mit der bis in die 1870er
Jahre hinein vorherrschenden Auffassung der polnischen Geschichte, alles
das hat den polnischen Adel mit einem Nimbus umgeben, der ihn als den
Mittelpunkt des gesamten politischen Lebens der Polen erscheinen läßt.
Der Sieg des Grafen Zamojski über Marquis Wjelepolski, die große Be-
deutung der polnischen Magnaten in der österreichischen Politik, die
kritiklose Achtung, die besondere wir Preußen gewohnt sind, den Trägern
von Namen alter Geschlechter entgegenzubringen, unsre auf historischen
Grundlagen beruhende berechtigte Achtung gegen den preußischen Adel
überhaupt hat den Nimbus noch vergi'ößert.
Der polnische Adel hat im Zartum als Träger der mit dem Wort
„szlachcic" zusammenhängenden Tradition eine Bedeutung, gleichgiltig, ob
er Millionen besitzt oder ein Bauerngut bewirtschaftet. Der Magnat aber,
der sich in den Dienst der polnischen Sache nicht stellt, spielt in der pol-
nischen Gesellschaft eine geringere Rolle als der polonisierte Fabrikant
Szulc oder der Banlder Warszawski. Da nun aber, wie wir noch näher
nachzuweisen haben, die nationale Demokratie in Polen zum herrschenden
Prinzip erhoben ist, kann auch nur der Adel, der sich diesem Prinzip
unterwirft, politischen Einfluß haben. An dieser Tatsache muß sti'eng fest-
gehalten werden, damit wir nicht in den Fehler verfallen, preußischen und
polnischen Konservatismus auf eine Stufe setzen zu wollen. Davor warnt
auch Massow.^) Die polnischen Konservativen im Zartum, wo Altruismus
durch Erwerbsinteressen stark zurückgedrängt wurde, stehn in ihren An-
schauungen der Frankfurter Zeitung viel näher als vielleicht den fr-ei-
') a. a. 0., II. Auflage, S. 61/62.
A. Die Landbank 277
sinnigen Demokraten der Vossischen Zeitiuig. So paradox dieser Vergleich
klingt, so ist er doch nur eine leidlich richtig gezogne Parallele.
Bei solchen Auffassungen sind wir genötigt, den Wirtschaftsorgani-
sationen, die aus dem adlichen Großgrundbesitz hervorgegangen sind, um
so größere Beachtung zu schenken, als sie die einzigen sind, in denen
die Regierung den Polen gestattet, sich ziemlich selbständig zu betätigen.
Wir möchten aber gleich hier feststellen, daß wir dem Großgrundbesitz
als soziale Klasse im Zartum Polen nicht mehr die politische Bedeutung
beimessen können, die er früher unzweifelhaft gehabt hat, und die er in
Galizien noch gegenwärtig besitzt. Umgekehrt: in Litauen, Weißrußland
und Wolynien hat auch noch gegenwärtig der polnische Grundadel die
Bedeutung für die polnische Nation, die ihr Bismarck zuschrieb.
Die Polen in Rußland haben drei landwirtschaftliche Zentralorgani-
sationen: die Agrarbank in Wilna, die landwirtschaftliche Gesellschaft in
Minsk und die Landkreditgesellschaft in Warschau. Wir lassen die beiden
zuerst genannten Institute, weil sie außerhalb des Zartums liegen, aus imsrer
Betraclitimg weg und werden ihrer lediglich in einem spätem Kapitel, wo
von den polnischen Abgeordneten in der Reichsdiima gesprochen wird,
kurz erwähnen.^)
A. Die Landbank
1. Befugnisse
Die „LandJcreditgesellschaft für die Gouvernements des Zartums
Polen" ist eine im Jahre 1826 gegründete Hypothekenbank, die ihre
Tätigkeit ausschließlich im Zartum Polen entfalten darf. -) Die Polen nennen
sie „ziemski bank". Artikel 1 des Bankstatuts bestimmt ausdrücklich, daß
die Bank nur Hypotheken auf ländliche Immobilien geben darf. Wir
hörten schon, daß alle Immobihen aus „zugeteiltem Lande" bis zu neunzig
Morgen Größe nicht mit Hypotheken belastet werden dürfen (siehe S. 48).
Infolgedessen blieb die Bank auch nach den 1870 er Jahren fast aus-
schheßlich ein Kreditinstitut des adlichen Großgrundbesitzes. Die Landbank
stellt ein letztes Denkmal aus dem Herzogtiun Warschau dar, die letzte
sichtbare Erinnerung an die bevorzugte Stellung des polnischen Adels.
Ihr Statut berulit auf dem in polnischer Sprache abgefaßten Hypotheken-
gesetz von 1818 und kann nur auf dem Wege der ordentlichen Gesetz-
gebung abgeändert werden.
1) Über die Wilnaer Agrarbank finden sich einige Angaben in meinem Buch „Aus
Rußlands Not und Hoffen", Band 1, a. a. 0. S. 66. Dieses lusHtnt steht in nahen Be-
ziehungen zu der früher beiläufig erwähnten Wilnaer Privathandelsbank (siehe S. 255).
"^ Statut im XI. Bande, 2. Teil der Gesetzsammlung von 1902, Abteilung 12.
278 Zwölftes Kapitel. Organisationen der I^and Wirtschaft
Die Bank untersteht der Beaufsichtigung durch den Finanzminister
(Artikel 2). Mitglieder der Gesellschaft sind die Besitzer aller der Im-
mobilien, die mit Hypotheken der Gesellschaft belastet sind (Artikel 3).
Die Korrespondenz der Gesellschaft genießt auf der Post die Yorrechte
der Regierungskorrespondenz (Artikel 6). In allen im vorliegenden Statut
nicht vorgesehenen Fällen hat sich die Gesellschaft den besondem im
Generalgouvernement Warschau herrschenden Bestimmungen zu unter-
werfen (Artikel 8). Alle Korrespondenzen sowie die Abrechnungen werden
ausschließlich in russischer Sprache geführt. Doch durften sich die Gou-
vernementsdirektionen bis zum 1. Januar 1905^) im Verkeiu- mit den Ab-
schätzern, Verwaltern imd Hypothekeninhabern auch einer andern Sprache
bedienen (Artikel 9, Anmerkung).
Die Verwaltung der Gesellschaft liegt in den Händen eines Komitees
mit dem Sitz in Warschau, in Verbindung mit den zehn Gouvornements-
direktionen und der Generalversammlung (Artikel 10). Der Generaldirektor
wird durch den Finanzminister im Einverständnis mit dem General-
gouverneur ernannt, während alle übrigen Mitglieder der Verwaltung durch
sogenannte Gebiets- oder Gouvernementsversammlungen aus der Zahl ihrer
Mitglieder gewählt werden (Artikel 11).
Die Gebietsversammlung setzt sich aus allen Mitgliedern der Gesell-
schaft eines Gouvernements zusammen, die eine Hypothek von mindestens
3000 Rubel in der Gesellschaft aufgenommen haben (Artikel 12); sie wird
durch die in Warschau befindliche Hauptdirektion aller zwei Jahre einmal
zwischen dem April und Juni, also zur Zeit der Frühjahrsbestellung im
Einverständnis mit dem Generalgouverneur einberufen (Artikel 14). Die
Arbeiten der Versammlung dürfen nicht länger als drei Tage währen,
wobei die Feiertage einzurechnen sind (Artikel 15). Die Gebietsver-
sammlungen ti-agen äußerlich einen ähnlichen offiziellen Charakter wie die
Sjemstwoversammlungen im Innern des Reichs. Sie werden vom Gou-
verneur eröffnet, der auch die Vereidigung des Vorsitzenden vornimmt
(Artikel 16). Die Gebietsversammlung wählt für die Dauer von vier
Jahren die Verwaltungsmitglieder der Gouvemementsdirektion (Artikel 17)
sowie die Delegierten für die Hauptdirektion.
2, Die Direktionen
Eine Gouvemementsdirektion besteht aus sieben Räten (Artikel 30), die
die russische Sprache in Wort und Schrift geläufig beherrschen können
(Artikel 17, Anm.), deren Güter aber höchstens bis zu drei Viertel ihres
Die Wirksamkeit dieser Bestimmung ist stillschweigend verlängert worden.
A. Die Landbank 279
Taxwertes belastet sein dürfen. Der Präsident der Direktion und mindestens
drei Räte müssen aus dem der Direktion unterstehenden Gouvernement
sein, die übrigen Räte dürfen auch aus andern Gouvernements stammen
(Artikel 22). Somit ist die Möglichkeit gegeben, Spezialisten heranzuziehen.
Beschränkt ist diese Möglichkeit durch die Bestimmung des Artikel 21,
der verbietet, daß ein Mitglied der Landbank mehr als eine verantwortliche
Stellimg in der Bank einnehmen darf. Die Wahlen unterliegen der Be-
stätigung durch die Hauptdirektion (Artikel 24), erhalten indessen erst
Geltung diu'ch die Genehmigung des Generalgouverneurs (Artikel 25). Die
laufende Geschäftsfühnmg liegt in den Händen des Vorsitzenden und zweier
Beiräte (Artikel 31 bis 33). Außerdem hat jede Direktion einen Geschäfts-
führer (prawitel), der juristisch durchgebildet sein muß; er hat nur
beratende Stimme. Bei jeder Direktion besteht eine Kasse. Jede Gou-
vemementsdirektion hat jährlich selbständig ihr Budget aufzustellen und
der Hauptdirektion einzureichen (Artikel 38/39). Die Mitglieder der Bank
können an die Gouvernementsdirektionen schriftliche auf die Beleihungs-
politik bezüghche Anträge stellen. AVenn solche Anträge mehr als zehn
Unterschriften tragen, ist die Direktion verijflichtet, sie an die Haupt-
direktion weiterzugeben (Artikel 27).
Über den zehn Gouvernementsdirektionen steht die Hauptdirehüon mit
dem Sitz in Warschau. Sie setzt sich zusammen aus dem vom Zaren auf
Vorstellung des Finanzministers zu ernennenden Präsidenten imd aus
zwanzig Beiräten, zu je zwei von jeder Gebietsversammlung gewählt
(Artikel 45). Eine Vollversammlung der Hauptdirektion hat alle zwei Jahre
einmal stattzufinden. Daneben können nach Bedarf Vollversammlungen
öfter einberufen werden (Artikel 46). Die ständige Verwaltung der Bank
setzt sich aus dem Präsidenten und vier Räten zusammen, zu denen noch
der Rechtsbeistand und der Kanzleidirektor mit beratender Stimme hinzu-
treten (Artikel 50). Die Rechnungslegung erfolgt zweimal im Jahre in
öffentlicher Sitzung (Artikel 55). Die Hauptdii-ektion hat das Recht, mit
allen Behörden des Zartums direkt zu verkehren (Ai'tikel 63).
Neben der Hauptdirektion besteht noch ein Aufsichtsrat, das Komitee.
Es hat die Aufsicht über die Geschäftsführung der Bank und besteht aus
einem Präsidenten und zwanzig Beiräten (Artikel 65/66).
Die Verfassungsfi'agen der Bank werden durch die Generalversammlung
der Verwaltungen der Gesellschaft erledigt. Diese Generalversammlung
setzt sich zusammen aus dem Präsidenten des Verwaltungskomitees, dem
Präsidenten der Hauptdirektion sowie aus den Räten beider Institutionen,
schließlich aus den Präsidenten der Gouvernementsdirektionen (Artikel 78).
Die Generalversammlung der Verwaltung kann somit, wemi alle zur Teil-
280 Zwölftes Kapitel. Organisationen der Landwirtschaft
nähme an ihr berechtigten Personen erscheinen, aus 52 Mitgliedern be-
stehn. In Warschau heißt die Versammlung das Gutsbesitzerparlament, auch
Avohl der polnische Reichstag.
Alle Beamten der Barth mögen sie durch Wahl oder auf Grund freier
Verträge verpflichtet sein, erhalten ein Gehalt, werden vor ihrem Dienst-
eintritt vereidigt, müssen die russische Sprache beherrschen und können
ausschließlich mit Genehmigung des Generalgouvemeurs angestellt werden.
Im übrigen unterliegen sie den im Zartum geltenden Bestimmungen über
den Staatsdienst (siehe S. 109).
3, Die Pfandbriefinhaher
Neben den erwähnten Organen der Gesellschafter der Bank gibt es
zwei weitere, die sozusagen ein Gegengewicht gegen sie bilden sollen: die
Versammlung der Pfandbriefinhaher und das aus dieser Versammlung
alle zwei Jahre zu erneuernde Komitee der Pfandbriefinhaber. Die Bank
beschafft sich ihre Mittel durch Ausgabe von vier- und viereinhalb-
prozentigen Pfandbriefen, von denen im Jahre 1906 am 13. Mai etwa
153 Millionen im Umlauf und 2,2 im Portefeuille der Bank waren. Die
Zahl der Umlaufssumme entspricht imgefähr der Höhe der hergegebnen
Hypotheken; am genannten Tage betrug diese 153,1 Millionen Rubel.
Die Versammlung der Pfandbriefinhaber wird alljährlich im Monat
September, also zur Zeit der Herbstbestelhmg, durch den Präsidenten des
Warschauer Staatsbankkontors in Warschau einbenifen.
Das Komitee der Pfandbriefinhaber besteht aus einem Präsidenten
imd vier Beiräten, die alle auf die Dauer von vier Jahren gewählt werden.
Die Hauptaufgabe dieses Komitees besteht in der Beaufsichtigung des Kurses
der Pfandbriefe (Artikel 181). Es hat somit alle Geschäfte der Haupt- und
Gouvernementsdirektionen zu verfolgen und einzugreifen, sobald Handlungen
geschehen, die ungünstig auf den Kurs der Pfandbriefe einwirken könnten.
Darum hat auch das Komitee allen öffentlichen Sitzungen der Hauptdirektion
beizuwohnen und Beamte zu den Revisionen der Gouvernementsdirektionen
abzuordnen (Artikel 182). Die Regierung hat die Pfandbriefe durch Ein-
führung an der Petersburger und Ejjewer Börse dem russischen Publikum
zugänglich machen wollen, lun durch ihre Vermittlung das Interesse an pol-
nischen Dingen zu heben. Ein Erfolg war bisher nicht zu verzeichnen. ^)
^) Em Kuriosum: Ein mir bekannter konservativer Mann aus Tula entpuppte sich
mir gegenüber als ein großer Freund der wirtschaftlichen Autonomie Polens; als ich seine
Gründe hören wollte, erklärte er, er sei Inhaber von 6000 Rubel Pfandbriefen der Pol-
nischen Landbank, die er durch Zufall erwerben mußte. Gelegentlich einer Rückreise von
Deutschland habe er sich mit Rücksicht auf seine Papiere einige Tage in Polen aufgehalten.
"Während dieses Aufenthalts sei er zur Überzeugung gekommen, daß Polen wirtschaftlich
nicht in Abhängigkeit von Rußland gehalten werden dürfe, wie es geschieht,
A. Die Landbank 281
Die Kurse der Pfandbriefe steigen und fallen mit dem Wechsel der
russischen Folenpolitik. In der Zeit des Grafen Schuwalow und des
Fürsten Imeretinski gingen sie unter 99^2 nicht heriuiter und stiegen
über 101 im Jahre 1898. Nach Bekanntwerden der Denkschrift des Fürsten
Imeretinski, die, wie erinnerlich, vor einem Vertrauen gegen die polnische
Versöhnungspartei warnte, fielen sie im Jahre 1900 auf 96^2? und als
Ssipjagin ans Ruder kam, auf 88 Prozent. Nachdem Witte die Einberufimg der
Gouvernementskomitees zur Hebung der Landwirtschaft im Jahre 1902/03
durchgesetzt hatte, und die Vertreter der Landbank verhältnismäßig frei
über die Lage der Landwirtschaft sprechen durften, stiegen die Kurse
wieder bis auf 99; dann nach dem Sturz Wittes sind sie schnell wieder
abgebröckelt. Im Dezember 1904 notierten die viereinhalbprozentigen mit
92,*) die vierprozentigen gar nur mit 85,4.
Das in den Pfandbriefen der Landbank angelegte Kapital können wir
als den Grundstock des polnischen Nationalvermögens bezeichnen.
Die Landhank hat als WerJczeug der Politik seit dem Jahre 1864
unter den verschiednen Generalgouveru euren verschiedne Aufgaben er-
füllen müssen. In den 1870 er Jahren kam sie nur wenig zur Geltung.
Wie in allen Teilen der polnischen Gesellschaft herrschte auch unter den
Großgrundbesitzern Ruhe. In den ersten fünfzehn bis zwanzig Jahren nach
dem Aufstande haben die polnischen Magnaten den meisten Einfluß auf
die Geschäftsleitung der Bank gehabt und diesen vor allen Dingen dazu
benutzt, in. den Besitz von barem Gel de zu gelangen, das wieder in in-
dustriellen Unternehmungen angelegt wiuxle. Die Bank drohte schon
ihren national -polnischen Charakter zu verlieren, als sich im Laufe der
1880 er Jahre innerhalb der pohlischen Gesellschaft eine scharfe Opposition
gegen ihre Geschäftsführung bemerkbar machte. Die PoHtik Gurkos hatte
dem demokratischen Teil in der nationalen Gesellschaft die Augen darüber
geöffnet, wie die Versöhnungspolitik wirtschaftlich (siehe Ugodowce) aus-
schließlich einem Teil der Magnaten zugute kam, aber auf Kosten der
großen Masse des jungen Bürgertums und der Bauern ging. In der Land-
bank begann sich, ausgehend von den Gouvernementsdirektionen, eine
nationale aber demokratische Politik den Weg zu brechen. Ihre Bedeutung
wurde den russischen Polen besonders durch das preußische Ansiedlungsgesetz
von 1886 sowie durch die Erfolge der Parzellationsbanken in Posen vor
Augen geführt. In der Bank gelangten Elemente zu Einfluß, die nicht mehr
allein für die materiellen Interessen der reichen Großgrundbesitzer sorgten,
sondern in erster Linie die Gesamtheit der polnischen Bevölkerung ins
>) Ende März 1908 war der Kurs 89.
282 Zwölffes Kapitel. Organisationen der Landwirtschaft
Auge faßten. Das nahe Ziel dieser Politik aber war und ist, solche wirt-
schaftliche Maßregeln praktisch durchzuführen, die die Auswanderung der
polnischen Bevölkerung aufhalten könnten. Gegen diese demokratische
Politik haben in den 1880 er Jahren die Magnatenblätter ebenso protestiert
wie die der Juden. ScliKeßlich hat sich die Regierung der immerhin sehr
vorsichtigen Kritiken bemächtigt und einen gewissen Snjezno-Blocki be-
auftragt, sie in einer Broschüre zusammenzustellen. Der praktische Erfolg
dieses Schreibwerks war, daß einige nicht im Emklang mit den Statuten
angestellte Verti'eter der Intelligenz entlassen wurden, während es inner-
halb der Bank zu einer scharfen aber klärenden Aussprache kam, die zum
Siege der angegriffnen demokratischen Narodowce und deren Politik führte.
Freilich war der Sieg nicht vollkommen. Denn im Gouvernement Warschau
haben die Magnaten und die Großbankiers die Oberhand.
Wir werden von diesen Dingen im Abschnitt von der Politik mehr
hören; hier gilt es, zunächst die wirtschaftliche Interessensphäre der Land-
bank weiter zu untersuchen. Darum wenden wir uns den landwirtschaft-
lichen Vereinen aller Art zu, die mit den Gouvernementsdirektionen der
Landbank meist durch Personalunion verbunden sind.
B. Die landwirtschaftliclien G-eseUschaften oder Syndikate
1. Die „Syndikate*' und ihre Befug niase
Die russische Gesetzgebung unterscheidet: 1. Landwirtschaftliche Ge-
sellschaften (obschtschestwa), 2. Laudwirtschaftliciie Genossenschaften (towa-
rischtschestAva) , 3. Handelsabteilungen von landwirtschaftlichen Gesell-
schaften, 4. Landwirtschaftliche Niederlagen der Sjemstwo, 5. Landwirt-
schaftliche Niederlagen der Ansiedlungsbehörde und 6. Staatliche Nieder-
lagen des Landwirtschaftsministeriums. Uns interessieren ausschließlich die
drei zuerst genannten Typen, die im Zartum vorkommen.
Die erste landwirtschaftliche Gesellschaft wurde in Rußland im Jahre
1765 mit der „Kaiserlichen Freien Ökonomischen Gesellschaft'' ins Leben
gerufen. Im Jahre 1861 gab es in ganz Rußland nm* 21 landwirtschaft-
liche Gesellschaften, darunter eine polnische in Warschau.*) Ihre Zahl
stieg 1880 auf 84, bis zum Jahre 1890 auf 93 und betrug im Jahre 1898
etwa 270. Unter ihnen waren nur vier polnische Gesellschaften,-) davon
eine außerhalb des Zartums.^) Erst im Jahre 1898 beginnt infolge Schaffung
1) Die Gesellschaft trat nach dem Tode des Statthalter Paskewitsch im Jahre 1856
ins Leben, wurde aber schon im Jahre 1863 wegen ihrer lebhaften Teilnahme an der
Politik geschlossen.
-) Der Gaiteubauverein in Warschau seit 1884, der Seidenzuchtverein ebenda seit
1889, die Gartenbau- und Bienenzuchtvereine ebenda seit 1894.
^) Die Landwirtschaftliche Gesellschaft in Minsk.
B. Die landwirtschaftlichen Gesellschaften oder Syndikate 283
eines gesetzlich festgelegten Norraalstatuts vom 28. Februar eine stärkere
Entwicklung der landwirtschaftlichen Gesellschaften. In Polen entstanden
im Jahre 1899 sechs landwirtschaftliche Vereinigungen aller Art. Im
Jahre 1900 wurden sieben, 1901 zwei, 1902 zwei, 1904 drei selbständige
Gesellschaften aller Art und vier Filialen zu früher gegründeten, 1905
eine selbständige und vier Filialen gegründet. Im Jahre 1906 gab es zehn
landivirtschaftliche Gesellschaften^ die im Volksmunde Syndikate genannt
werden. Ihnen waren angeschlossen sechs Handelsabteilungen und vier
landwirtschaftliche Genossenschaften. Gewöhnlich werden alle diese Ver-
einigungen als selbständige Unternehmungen bezeichnet, woher z. B. die
Auskimfterteilung verständlich wird, in Polen gäbe es 16 oder 20 oder 26
landwirtschaftliche Vereine.
Alle diese Vereinigungen haben den Zweck, ihren Mitgliedern mit ver-
einten Kräften die möglichst wohlfeile Beschaffung aller Bedarfsartikel und
den möghchst vorteilhaften Absatz ihrer Erzeugnisse sicherzustellen. Ferner
dürfen sie im Eahmen des ihnen von der Kegienmg freigegebnen Be-
tätigungsgebiets für die Hebung der Landwirtschaft, Verbesserung der
Viehzucht und Wirtschaftsmethode, doch nur im Einverständnis mit dem
Gouverneur sorgen. So bedurfte noch bis zum Jahre 1906 die Aufstellung
eines Zuchtstiers durch mehrere Interessenten gemeinsam der behördlichen
Genehmigung. Ein Zusammenschluß der Syndikate mehrerer Gouvernements
zur Betreibung eines gemeinsamen Unternehmens, zum Beispiel der Trocken-
legung von Sümpfen, ist auch nach dem Gesetz vom 7. März 1906 nicht
gestattet. Doch ist der Fall denkbar und gesetzlich zulässig, daß mehrere
Syndikate die Bildung eines Konsortiums aus ihren Mitgliedern veranlassen
zui' Durchführung derselben Aufgabe.^) Dami übernehmen die Konsorten
die persönliche Verantwortung.-) Unter solchen Vorbedingimgen haben
die Polen einen großen Sieg feiern können, als ihren landwirtschaftlichen
Syndikaten auf Fürsprache des Herrn Witte im Jahre 1902 gestattet wurde,
ihre Einkäufe durch das Warschauer Syndikat besorgen zu lassen. Die
im Jahre 1906 im Zartura vorhandnen zehn landwirtschaftlichen Gesell-
schaften oder Syndikate haben infolgedessen einen natürlichen gesetzlich
erlaubten Verbindungspunkt — die Warschauer Einkaufszentrale.
Die Vertreter der „Pro vinzial"- Gesellschaften kommen gewöhnlich in
Warschau zusammen, wo sie in den Räumen des örtlichen Syndikats die
») Artikel 3 des Normalstatuts vom 28. Februar 1898.
'^) Eine solche Gesellschaft ist zum Beispiel die erwähnte Kleinbahngeselischaft der
Ljubomirski, Zamojski und Swencicki im Gouvernement "Warschau (siehe S. 259). Das
Unternehmen ist der Idee nach ein Kind der Landhank und des "Warschauer landwirt-
hchen Syndikats.
284 Zwölftes Kapitel. Organisationen der Landwirtschaft
mit einer gemeinschaftlichen Bestellung der Waren zusammenhängenden
Fragen besprechen. Hier erscheinen auch die Vertreter der ausländischen
Firmen, die mit den Syndikaten in Yerbindung treten wollen. Nach dem
Gesetz darf die Verbindung über dieses Geschäft nicht hinausgehn.
2. WiHschaf fliehe Betät'ujung der Syndikate
Über die wirtschaftliche Entwicklung der landwirtschaftlichen Gesell-
schaften gibt ein Aufsatz in der amtlichen „Handels- imd Industriezeitung" *)
einige belehrende Einzelheiten.
Die Tätigkeit der landwiitschaftlichen Gesellschaften, heißt es da, besteht vor
allem in der Versorgung der Landwiile mit landwirtschaftlichen Maschinen und
Geräten sowie mit Kimstdünger und Saattom. Dagegen beschränkt sich der
Absatz von landwirtsehafthchen Erzengnissen auf einen verhältnismäßig kleinen
Umfang. Infolge des Vertrauens, das die landwirtschaftlichen Gesellschaften
bei den ausländischen Firmen genießen, sind sie imstande, trotz ihren verhältnis-
mäßig geringen JVIitteln recht bedeutende Umsätze zu erzielen. So vennittelte
die bedeutendste von ilmen, die Warschauer land'wirtschafthche Gesellschaft.,
trotzdem sie nur über ein eignes Kapital von 51000 Rubel verfügte, im
Jahre 1903 den Verkauf von verschiednen Waren im Werte von 408000 Rubel.
Für die Gesellschaft in Lubhn waren die entspjechenden Zahlen 46000 luid
344000, fiu- Petrikau 31000 und 324000 Rubel usw. Die Möglichkeit, trotz
eines so geringen eignen Kapitals so bedeutende Umsätze zu erreiclien, erklärt
sich dadiuch, daß die Genossenscliaften ähnlich wie verantwortUche Kommissionäre
bedeutender Handelsfirmen auftreten, nicht aber in der Rolle selbständiger Handels-
unternehmer. Einen besoudern Vorzugskredit erhalten die Gesellschaften von
ameiikanischen Finnen; die übergeben Urnen die Waren ohne Sclnddvei-schreibung
und erkläi-en sich meist bereit, mit der Bezahlung zu warten, bis die gelieferten
AVaren verkauft sind. . . .
Den Hauptzweck der Handelstätigkeit der Genossenschaften bildet die Ver-
l)Llligung des Preises der Waren, was ihnen auch in hohem Maße gelingt. So
wurde die in Polen weit und breit angewandte Erntemascliine von Osburn friiher
nicht billiger als für 230 Rubel das Stück verkauft, jetzt ist der Preis bis zu
158 Rubel gesmiken; der Verkaufspreis einer Federegge ist von 56 bis auf
40 Rubel zurückgegangen. Ähnlich steht es auch mit andern landwh'tscliafthchen
Maschinen und Geräten. Dabei ist noch besonders zu erwälmen, daß die land-
wirtsehafthchen Gesellschaften durchaus nicht mit Verlust arbeiten, sondern im
Gegenteil recht bedeutende Gewinne erzielen. So erreichte der Reingewinn der
Warschauer landwirtschaftlichen Gesellschaft im Jalire 1903 9472 Rubel, was
hei einem Kapital von 50000 Rubel 18 Prozent gleichkommt. Die Lubhner
Gesellschaft liatte emen Reingewinn von 9703 Rubel zu verzeichnen, bei einem
Kapital von 46000 Rubel über 20 Prozent, die Petrikauer gm- bei einem
Kapital von 31000 Rubel einen Reinge\\Tnn von ungefähr 10000 Rubel oder
etwa 30 Prozent.
Hierbei sei unterstlichen, daß der Nutzen der Syndikate nicht so sehr im
Umfang ihrer Handelsiunsätze besteht als in der Regulierimg der Preise. Die
*) Torg. Prom. Gaseta von 1904, Nr. 239.
C. "Wirkungskreis der Landbank 285
Privatunternehimmgen müssen sich an die Preise der landwirtschaftlichen Ge-
sellschalt anleimen. Infolgedessen bilden diese Gesellschaften einen Mittelpnnkt,
dessen Wirksamkeit weit über die Grenzen ilu-er Statute hinausgeht.^)
Die landwirtschaftlichen Gesellschaften dürfen nach dem Statut Tochter-
gesellschaften nicht ins Leben rufen, aber sie dürfen mit Konsumvereinen
usw. innerhalb ihres Gebiets in geschäftliche Beziehungen treten. Ferner
dürfen die landwirtschaftlichen Gesellschaften Filialen, Handelsahteilungen
und Warenlager einrichtefn. Diese Bestimmungen sollen jede Initiative
der landwirtschaftlichen Vereine beschränken, die nicht gleichzeitig durch
materielle und persönliche Verantwortung beschwei't würde. Der Zweck
ist nicht erreicht. Alle polnischen landwirtschaftlichen Genossenschaften
und Vereine sind durch ihre Mitglieder sowohl mit den Landbank-
direktionen in den einzelnen Gouvernements wie mit den landwirtschaft-
lichen Gesellschaften des Zartums mid durch diese wiederum mit den
Syndikaten in Litauen und Weißrußland eng verbunden.
C. Wirkungskreis der Landbank
1. Die landwirtschaftlicheti Gesellschaften und Verhraiichsvereine
Am Anfang des Jahres 1907 zeigt die Ausbreitung der landwirtschaft-
lichen Vereine und Genossenschaften im Zartuni Polen folgendes Bild.
1. Die landwirtschaftliche Gesellschaft von Ssuioalhi (1902) steht in
Verbindung mit einem Konsumverein in Augustow.-)
2. Die landwirtschaftliche Gesellschaft von Lomsha (1899) steht in
Verbindung mit einer Handelsabteilung (1900), die wieder drei Filialen in
Lomsha, Czizow und Zebrow (1905) hat. Im Jahre 1902 ti'itt der erste
Konsumverein in der Gouvernementshauptstadt hinzu, 1904 ein weiterer
inRaigrod, 1905 fünf,*^) 1906 siebenundzwanzig*) und 1907 einundzwanzig^)
Konsumvereine.
^) Landwirtschaftliche Maschinen und Geräte werden zu etwa fünfzig Prozent aus
Amerika bezogen. Weiter folgen England (Dampfdreschmaschinen) und Deutschland (Pflüge).
An nächster Stelle stehn nissische Fabrikate, etwa zwölf Prozent, in erster Linie Dresch-
maschinen von Elwerti aus Jelissawetgrad.
') Es sei hierbei daran erinnert, daß im Gouvernement Ssuwalki Polen nur 22,9 Pro-
zent, dagegen Litauer 52,4, Deutsche 6 und Juden 10,9 Prozent (vgl. S. 126 und 142) der
Bevölkeiimg darstellen.
*) Lapy, Lomsha 11, Turosl, Borkowo, Jedwabno.
*) Bog-uty, Zboina, Kacziny-Starowjes, Kolaki-Strumene, Kolno, Konty, Kupisk,
Lomzica, Lomsha IJI, Lukowe, Ljubotin, Malyplock, Montwica, Mjastkowa, Nowogrod,
Ostrolenka, Pjatnica, Ploniawy, Porj'te, Rakowo-Chmelewo, Stawiski, Swaüny-Duze, Czerwin,
Szczepanowo, Szczuczin, Jablonka und Janowo.
^) Bronowo, Gonzewo, Dzbenm, Zabele, Kalinowo, Kamjanka, Niksowizua, Olszewka,
Rabendy, Radziwilowo, Rzekun, Rogeuice, Chliudno, Chrostowo, Ceciory, Czerwoue.
286 Zwölftes Kapitel. Organisationen der Landwiiischaft
3. Die landwirtschaftliche Gesellschaft von Plock (1900) steht in Ver-
bindung mit vier im Jahre 1904 gegründeten landwirtschaftlichen Genossen-
schaften in Mlawa, Plock, R}T)in und Ciechanow, aber mit keinem Konsum-
verein. ^)
4. Die landwirtschaftliche Gesellschaft von Sjedlec (1899) steht in Yer-
bindimg mit zwei Warenniederlagen in Sjedlec und Radin sowie drei 1907
gegründeten Konsumvereinen. ^)
5. Die landwirtschaftKche Gesellschaft von Luhlin (1899) steht in
Yerbindimg mit einer Handelsabteilung, die wieder je eine Filiale in
Lublin und Hi'ubieszow unterhält. Von landwirtschaftlichen Konsum-
vereinen gibt es nur einen in Rakolupy. 3)
6. Die landwirtschaftliche Gesellschaft von Warschau (1900) ist Ein-
kaufszenti'ale für alle landwirtschaftlichen Genossenschaften des Zartums.
Sie hat seit dem Jahre 1904 eine Handelsabteilung mit drei Filialen in
Warschau, Wloclawek und Kutno und steht in Verbindung mit zwei Kon-
sumvereinen in Warschau,*) beide 1907 gegründet. Ferner gibt es noch
zwei landwirtschaftliche Privatfirmen auf genossenschaftlicher Grundlage,
die mit der landwirtschaftlichen Gesellschaft in enger Beziehung stehu.**)
7. Die landwirtschaftliche Gesellschaft von Kaiisch (1900) hat eine
Handelsabteilung mit zwei Warenniederlagen in Kaiisch und Blaszki sowie
sieben Filialen**) und steht mit zwei Konsumvereinen in Verbindung.')
8. Die landwirtschaftliche Gesellschaft von Petrikau (1900) hat eine
im Jahre 1905 gegründete Handelsabteilung mit Filialen in Petrikau, Rawa,
Czenstochau und Noworadomsk. *)
9. Die landwirtschaftliche Gesellschaft von Kjelce (1899) gründete
1900 eine HandelsabteUung mit Filialen in Kjelce und Lubna sowie zwei
Viehzüchtervereine in Mjechow (1900) und Andrejew (1901) und steht in
') Die beiden Konsumvereine in Plock (Ssogla.ssije 1870) und in Wulka (1899) sind
unter jüdischer Leitung.
^) Zbuczino, Mordy und Sjedlec. Die beiden Konsumvereine in Elzbetow (1898) und
Czechy (1903) gehören zu einer Zucker- mid einer Glasfabrik.
^) Die beiden „Predusmotriteljnostj" in Lublin (1900) und ,,Jedinenije" in Byohawa
(1906) sind jüdisch.
*) Die andern dreizehn Konsumvereine gehören zu Behörden, Offizierkorps, Eisen-
bahngesellschaften und Fabiiken.
^) Die Molkereigenossenschaft in "Warschau (1901) und die Genossenschaft für
Meliorationen (1904).
^) In L^czica, Slupec, Konin, Turek, "Welun, Kolo imd Zdunska Wola.
') I^czica und Turek (1904).
*) Die dreizehn Konsumvereine im Gouvernement gehören zu industriellen Unter-
nehmungen.
C. Wirkungskreis der Laudbauk 287
Verbindung mit der Sämereigenossenschaft von A. Dobrzanski & Co. in
Kjelce (1902) sowie angeblich mit sieben Konsumvereinen.^)
10. Die landwirtschaftliche Gesellschaft von Radom (1899) hat eine
im Jahre 1905 eröffnete Handelsabteilung mit einer Filiale in Ostrowec
und steht mit sechs Konsumvereinen in Verbindung.*)
Neben den Syndikaten gibt es somit im Zartum Polen bis zum März 1907
neun landwirtschaftliche Genossenschaften. Von ihnen wurden sieben, ge-
stützt auf Artikel 3 des Statuts vom 28. Februar 1898, auf Veranlassimg
von landwirtschaftlichen Syndikaten ins Leben gerufen: die beiden Vieh-
züchtergenossenschaften in Mjechow (1900) und Andrejew (1901), die
Warschauer Meliorationsgenossenschaft und vier landwirtschaftliche Ein-
und Verkaufsgenossenschaften (alle 1904). Über die Tätigkeit und die Er-
folge der Genossenschaften liegen bisher keine Veröffentlichungen vor.
2, Pei'sonalverhindungen
In jedem Gouvernement bildet die Direktion der Landbank einen
organisierten Mittelpunkt. Dort werden die in Warschau, Lemberg, Krakau
und Posen gegebnen wirtschaftlichen Direktiven in das praktische Leben
des Gouvernements übergeführt. Li welcher Weise solches geschieht, sei
für das Jahr 1904 in einzelnen Gouvernements dargestellt.
Üie Landhankdirektion von Ssuwalki setzt sich zusammen aus vier-
zehn Mitgliedern, nämlich dem Präsidenten, sechs Räten und sieben sonstigen
hohem Beamten. Von diesen vierzehn Personen nehmen fünf gleichzeitig
Stellungen in andern Instituten ein.
sind in
der Tiandbank
im Syndikat^)
der Sparkasse
LB.
Präsident
Aufsichtsrat
—
G. J.
Buchhalter
—
2. Direktor
R. N.
2. Buchhalter
—
Revisor
LS.
Sekretär
Sekretär
—
W. St.
Sekretär, ist ein
Bruder des
—
St. St.
—
Sekretär
Aufsichtsrat
Es kann hinzugefügt werden, daß AV. St. im genannten Jahre Sekretär
und Kassierer der städtischen Kreditgesellschaft war, woraus zu folgern
ist, daß sich die Polen in Ssuwalki auch Eintritt in diese Domäne der Juden
geschafft haben (vgl. S. 248, Anm.).
^) Ich konnte die Mitteilung auf keiue Weise nachprüfen.
-) Ilza, Przedborz, Czenstocice, Chlewiska, Opatow und Swokupno; die übrigen ueiui
Konsumaustalten gehören zu Fabiiken und Beamtenvereinen.
^) Syndikat gleich landwirtschaftlicher Verein s. o.
288 Zwölftes Kapitel. Organisationen der Landwirtschaft
Im Gouvernement Sjedlec ist die Verbindung der verschieduen Ge-
sellschaften noch vielfacher.
Es sind in
der Landbank
im Syndikat
d. Ges. f. gegens. Kr.
d. St. Kreditgesellsch.
B. I. Ch.
Präsident
Revisor
—
V. 1. N.
Beirat
Verwaltungsrat
—
—
B. K. P.
Archivar
—
—
Präs. d. Aufsichtsrats
W. N. Cz.
Buchhalter
—
—
Kassierer
L. A. Sz.
Buchhalter
Revisor
Verwaltiuigspräsidöut
—
I. N. P.
—
Revisor
Prils. d. Aufsichtsrats
—
I. K. PI.
—
—
Verwaltung
Prokurist
Außerdem hat Ch. zwei nahe Yenvandte, einen im Syndikat, eiuen
andern in der Gesellschaft für f^egenseitigeu Kredit angestellt.
Auch für das Gouvernement Radom konnten wir einwandfi-ei die Zu-
sammenhänge zwischen den einzelnen Gesellschaften feststellen. Dort sind
^^ ^®^ I^dbank Syndikat II. Kreditges.
W. V. Gr. Präsident — Präsident
A. A. H. Beirat Präsident —
W. A. P. Beirat Vizedirektor —
Z. F. W. Geschäftsführer — Verwaltung
Für die andern sieben Gouvernements konnten wir keine genauen
Feststellungen erhalten. Nach den uns gewordnen Mitteilungen soll nur
in Warschau die Vetternwirtschaft nicht in der oben gekennzeichneten
Weise entwickelt sein, weil die Menge der tatsächlich zu leistenden Ar-
beiten auf einem Posten die Übernahme mehrerer Posten zugleich ver-
bietet. Der Zusammenhang ist darum nicht minder eng.
Außer diesen Zusammenhängen werden noch weitere Verbbulungen
durch das Institut der Ehrenmitglieder bei den landwirtschaftliciien Ver-
einen geschaffen. So ist der kürzlich verstorbne Ludwig Gorski, von dem wir
noch im Abschnitt von der Politik näheres hören werden, Ehrenmitglied
einiger — wir glauben aller landwirtschaftlichen Vereine gewesen. Des-
gleichen ist es üblich, Vertreter des Komitees der Landbank wie auch die
Präsidenten der landwirtschaftlichen Gesellschaften in Minsk und Wilna
zu Ehrenmitgliedern polnischer Vereine zu wählen und iimen so die Möglich-
keit zu geben, den Vereammlungen der Vereine beizuwohnen.
D. Allgemeine Zusammenliänge zwischen Wirtscliaft
und Politik
Wir können nunmehr unsre Darstellung der polnischen Wirtschaft
als abgeschlossen betrachten. Es lag uns daran, zu zeigen, wie trotz den
streng begrenzten Bestimmungen der russischen Wirtschaftsgesetzgebung
auf der Grundlage der Wirtschaftsreform von 1864 doch ein vollständig
D. Allgemeine Zusammenhänge zwischen "Wirtschaft und Politik 289
unabhängiges polnisches Wirtschaftsgebiet mit eigner Organisation ent-
stehn konnte, die fast nur durch das Handelskapital mit dem russischen
Wirtschaftsgebiet verbunden ist. Wir haben auch einen Teil der Gründe
gezeigt, die diese Entwicklung entweder notwendig machten oder doch
wenigstens begünstigten. AYir zeigten, wie sich zuerst das internationale
Kapital in Polen festsetzte, wie sich dann besonders unter Anleitung der
Juden die oberste Schicht der polnischen Gesellschaft sowohl mit Kapital
wie mit eigner Ai'beit an der Entwicklimg der Wirtschaft beteiligte. Wir
möchten an dieser Stelle hinzufügen, daß in diesen wirtschaftlich tätigen
Kreisen der Gedanke einer endgiltigen Aussöhnung mit Rußland, wie ihn
später die Partei der Ugodowce vertrat, den ersten und größten Rückhalt
fand. In dem Maße, wie sich das polnische Kapital an den Handels-
unternehmimgen mit Rußland beteiligt oder wie sich die eingewanderten
Deutschen und Juden polonisieren lassen und in nächste Beziehung zur
polnischen Gesellschaft treten, in demselben Maße muß das wirtschaftliche
Interesse der Polen an Rußland steigen, in demselben Maße wächst auch
die Möglichkeit einer Aussöhnung zwischen den Polen und Russen, ohne
große Konzessionen von den Russen notwendig zu machen. Andrerseits
erscheint uns solche Möglichkeit um so geringer, je stäi-ker sich solche
Wirtschaftsorganisationen entwickeln können, die sich von den russischen
Geldquellen, wie von der Staatsbank, freihalten können, weil sie aus-
schließlich auf die innern Märkte in Polen angewiesen sind. Zu diesen
Einrichtungen gehören vor allen Dingen die LandhanJc und die Omin-
sparJcassen. Zu ihnen können nach gewisser Zeit auch die privaten Spar-
und Vorschußkassen ti-eten, wenn sich ihre Leiter vom Staatsbankkredit
emanzipieren können. Am günstigsten liegt die Sache für die Polen bei den
Gminkassen. Selbst wenn die gegenwärtige Gesetzgebung beibehalten wii"d,
können sie ein Sanmielbecken für die Groschen der großen Masse bilden,
solange ihre Verwaltung einigermaßen solid gehandhabt wird. Bei der seit
1906 eingetretnen größern Preßfi-eiheit darf mit einer Gesundung ge-
rechnet Averden. iSTur gilt es, die Sparer von den staatlichen Sparkassen
des Finanzministeriums fernzuhalten. Bei der großen Bevölkerimgszuuahme
und den steigenden Bedürfnissen, bei den steigenden Verdiensten der
Sachsengängerei, mit einem Wort bei der ganzen wirtschaftlichen Ent-
wicklung, die die Bevölkerung des Weichselgebiets genommen hat, scheint
es, als könnte die russische Regierung nicht anders handeln, als der Or-
ganisation von Spar- und Vorschußvereinen eine größere Freiheit zu geben.
Wenn dann die Polen, ähnlich wie in Preußen, ehrlich wirtschaften möchten,
dann müßte sich von hier aus die Grundlage einer eignen Finanzorganisation
schaffen lassen. Jedenfalls müssen wir mit solcher Möglichkeit rechnen.
Cleiuuw, Die Zukunft Polens 19
290 Zwölftes Kapitel. Organisationen der Landwirtschaft
Bisher hat die Regierung indessen keinerlei liberale Neigungen ge-
zeigt. Im Gegenteil, sie hat versucht, ihre ständische Absonderungspolitik
nicht nur auf die Einrichtung der Selbstverwaltuugskörper zu beschränken,
hat sich vielmehr bestrebt, sie auch in alle Gebiete der Wirtschaft hinein-
zutragen. Wir konnten diese Bestrebungen nachweisen bei der Behandlung
der kleinen Schlachta (S. 201/04), bei der Handliabimg des Servitutenrechts
(S. 191/96), bei der Behinderung rein polnischer Gründungen (S. 256).
Aber wir sahen auch gelegentlich der Besprechung der Gminkassen, wie
die Bestrebungen der Regierung an den dringenden Bedürfnissen der
Wirtschaft scheiterten. So mußte sie die Gutsbesitzer, Kaufleute, Geist-
lichen sowie Vertreter der freien Berufe als Mitglieder der Gminkassen
zulassen, weil ohne sie die steuerzahlende bäuerliche Bevölkerung ohne
bares Geld geblieben wäre (S. 273). Damit aber hat die Regierung durch-
aus gegen ihren Willen einen sehr wichtigen Zusammenhang zwischen
den Bauern und den gebildeten Klassen auf wirtschaftlicher Basis ge-
schaffen, den sie durch Maßnahmen der Verwaltungstechnik nicht so leicht
wird ausgleichen können.
Auch die Landhank hat in politischer Beziehung ganz andre Ergeb-
nisse gezeitigt, als sie der Gesetzgeber erwartet hatte. Der russische Ge-
setzgeber hatte die Landbank mit Statuten bestehn lassen, die ihr die pol-
nische Regierung des Herzogtums Warschau im Jahre 1826 verliehen
hatte, weil er — von tatsächlich vorhandnen wirtschaftlichen Notwendig-
keiten, denen auch mit Hilfe der Staatsbank hätte entsprochen werden
können, sei hier ganz abgesehen — weil er hoffte, mit ihrer Hilfe die wirt-
schaftlichen Interessen der Großgrundbesitzer noch imi einen weitem Grad
von denen der Bauern trennen zu können. Solange der polnische Adel
in der Landbank ledigüch die Stelle sah, durch deren Vermittlung er bares
Geld für seine außerhalb der Landwirtschaft liegenden finanziellen Speku-
lationen erhalten konnte, schien die Landbank den politischen Absichten
der Regierung auch entgegenzukommen. Doch ti-at hierin eine Wandlung
ein. Der polnische Magnat ist gezwungen, schon lediglich mit Rücksicht
auf die von Rußland aus in die polnische Gesellschaft eingedrungnen
Sozialrevolutionären Ideen, in der polnischen Landbank ein höheres, dem
polnischen Gesamtinteresse dienendes Institut zu sehen, als nur das Kredit-
institut einer kleinen Klasse. Als sich in der polnischen Gesellschaft das
Streben nach wirtschaftlicher Selbständigkeit auf allen Gebieten bemerkbar
machte, mußte auch der Magnat dem demokratischen Zuge folgen, wenn
er nicht wirtschaftlich untergehn und politisch allen Einfluß verlieren
wollte. Die Entwicklung des Kapitalismus zog auch dessen Schatten, den
Sozialismus nach sich, und zwischen beiden erstarkte das Selbstbewußtsein,
D. Allgemeine Zusammeuhänge zwischen Wirtschaft und Politik 291
das seinen gesundesten, der Gesamtheit nützlichsten und herrlichsten Aus-
di'uck in der Liebe zur Nation findet. Die Stelle, die liier der gesunden
Entwickhing half, war die Versammlung der Inhaber pohlischer Pfand-
briefe und auf deren Beti-eiben die russische Rnanzbehörde (S. 280). Trotz
allen politischen Gegenniaßregehi vollzieht sich infolgedessen auch von der
aristokratischen Landhanh aus ein nationaler Zusammenschluß auf demo-
Tcratischen Orundlagen. Obwohl die Regierung alle Besti'ebimgen , die
irgendeine nationale Färbung zeigten, bis in die zweite Hälfte der 1890 er
Jahre mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln verhindert hat, konnte
sie den ständig fortschreitenden nationalen Zusammenschluß nirgends in
der Wirtschaft verhindern. Wohl bleiben die städtischen Banken lange
Zeit unter jüdischer Leitung, aber wo nur die Polen in landwirtschaftlicher
oder industrieller Beziehung große Fortschritte gemacht haben, wo also der
Handel mit ihnen rechnen muß, gelangen sie doch, anfänglich vereinzelt,
später in geschlossenen Gruppen in die Verwaltungen der städtischen
Banken, der Gesellschaften für gegenseitigen Kredit, der städtischen Spar-
und Vorschußkasseii. Als dann am Ende der 1890 er Jahre dank dem
Wirken Wittes wirtschaftlichen Zusammenschlüssen auch in Polen weniger
Schwierigkeiten entgegengesetzt werden, begegnen wir auch sehr bald
solchen LTnternehmungen , in denen der polnische Einfluß ausschließlich
maßgebend ist. Gleichzeitig ist aber auch jene politische Richtung er-
starkt, die nichts von einer Versöhnung mit Rußland wissen will — die
der Narodoivce, Sie schöpft ihre Kraft aus der wirtschaftlichen und kul-
turellen Entwicklung der polnischen Gesellschaft. Sie Avurzelt mit ihren
letzten Fasern ebenso in den sozialistischen wie in den kapitalistischen
Richtungen. Die Polen, die glauben, wirtschaftlich ohne die Juden und
ohne das internationale Kapital auskommen zu können, sie sind auch davon
überzeugt, daß sie in der Politik selbständig ihren Weg zu nationaler
Wiedergeburt schi'eiten können. Praktischen Ausdruck schuf sich diese
politische DenkAveise unter auderm auch in der Tätigkeit der Landbank.
Unter dem Druck der öffentlichen, wenn auch imgedruckten Meinung fing
sie an, sich nach sozialen Gesichtspunkten zu richten. Landwirtschaftliche
Gesellschaften (Syndikate) entstehn, und neben dem Gutsbesitzerparlament
der Landbank in Warschau wachsen mit den S}Tidikaten ProvinziaUandtage
in den einzelnen Gouvernements empor, denen Angehörige aller Stände,
die ,,ein Interesse an Fragen der Landwirtschaft haben", beitreten. Da
kommen die weltgewandten Magnaten mit ihren Petersburger imd Wiener
Beziehimgen, die Geistlichen mit ihren Instruktionen aus Krakau, die
Rechtsanwälte, die volkswirtschaftlichen Schriftsteller, die Leiter von
Parzelherungsbanken und die bäuerlichen Wirte aus den privilegierten so
19*
292 Zwölftes Kapitel. Organisationen der Landwirtschaft
sorgsam von der Intelligenz abgesonderten Bauern und aus der tatkräftigen
kleinen Schlachta zusammen. Da fühlen sie sich alle durch Sondertarife,
Kreditbeschränkung, Zurücksetzung der Schulen als ein Ganzes, das ver-
bunden wird einstweilen nur diu'ch das Band der Sprache und der Religion
und durch das Interesse für die Landwirtschaft. Und unter dem Druck
der äußern Verhältnisse treten Sonderinteressen der einzelnen Wirtschafts-
Jclassen zurück^ und aller Streben vereinigt sich auf das eine 7iächste
Ziel: die Erhaltung der polnischen nationalen Wirtschaft. Man ist einig!
Was Jahrhunderte der Freiheit nicht zuließen, haben vier Jahrzehnte der
Bedrückung scheinbar geschaffen. Dabei geht die Organisation überall mit
solcher Leichtigkeit und Schnelligkeit vor sich, sie vollzieht sich ohne
laute Kritik aus irgendeinem polnischen Lager, ohne Schwierigkeiten bei
der Beschaffung der Mittel, daß man versucht ist, zu glauben, alle diese
neuen Schöpfungen hätten schon Jahrzehnte unter der Decke bestanden
und aUe ihre Kinderkrankheiten unter Ausschluß der Öffentlichkeit über-
wunden. Tatsächlich bestanden sie nicht. Aber etwas andres bestand:
ein gemeinsames Ziel mid ein Vorbild, wie dieses Ziel am besten und am
sichersten zu eiTeichen sei. Das Vorbild sind anfänglich die deutschen
Unternehmungen, später die Organisationen der Polen in Preußen gewesen.
Wie groß die geistige Einigkeit der russischen Polen schon im Jahre 1902
war, geht deutlich hervor aus den Protokollen der schon mehrfach er-
wähnten Gouvernementskomitees zur Hebung der Landwirtschaft. Die
Ergebnisse aller zehn Komitees waren in den Hauptfragen die gleichen.
Wir müssen ihrer in einem spätem Teil noch eingehend Erwähnung tim.
Dasselbe Bild nationaler Einigkeit bot sich bei den Wahlen für die
Duma. Die völkische Partei, nicht die der Versöhnimg hat gesiegt. Der
Nationalist Boman Dmoivski, nicht aber ein Sozialist oder Versöhnungs-
mann wurde in Warschau für die zweite und dritte Reichsduma gewählt.
Roman Dmoivski, der das Wort von der Notwendigkeit eines nationalen
Egoismus gesprochen hat, ist der anerkannte Führer der Polengruppe, in
der alle polnischen Parteien ohne Rücksicht auf ihre Weltanschauung ver-
einigt sind.
Haben nun die Polen, diesmal ethnographisch beti-achtet, alle diese
Schöpf imgen allein aus sich heraus vollbracht? Wir können darauf nur
mit einem Nein antworten. Die modernen Polen sind ebenso ein Misch-
volk wie alle Kulturvölker des AVestens, und gerade die Beimischung
germanischen Blutes hat ihrer Entwicklimg außerordentlich geholfen. Wie
groß die Hilfe gerade im russischen Polen ist, erkennen wir an den Zu-
ständen in Galizien, wohin der Zustrom Deutscher nicht so stark ge-
wesen ist, erkennen wir an Polen in Deutschland, wo sie zu kultureller
D. AUgemeiiio Zu.sanimenliänge zwisolien "\^'iJ•tschaft und Politik 293
Betätigung gezwungen werden. Solche Auffassimg kann keine Herabsetzung
für die Polen sein. Im Gegenteil, die Polen können unsre Behauptimg
als eine hohe Anerkennimg ihrer starken Eigenschaften hinnehmen. Denn
sie sind in nationaler Beziehung den in wirtschafthcher Beziehung über-
legnen Germanen nicht unterlegen. Nicht sie haben sich den Germanen,
sondern die Germanen haben sich den Slawen, Polen verschmolzen, wenn
die Germanen auch ihre Kultiu' bewirkenden Rasseneigentümlichkeiten
nicht einbüßen. Infolgedessen haben die Polen durch die Deutschen eine
weitere Stärkung erfahren, die die Regierung in den 1860 er Jahren glaubte
verhindern zu können. Die auf Seite 67 ff. gekennzeichneten Maßnahmen
zur Russifizierimg der Deutschen des Woichselgebiets haben lediglich ihrer
Polonisienmg Vorschub geleistet, und die Polen haben Elemente in sich
aufgenommen, die ihre Widerstandsfähigkeit gegen die Yerrussung er-
heblich erhöhen.
Die hier angedeuteten Fragen lassen sich in iliren letzten Zusammen-
hängen nur durch eine Betrachtung des politischen Denkens der Polen
in der Zeit von 1864 bis zur Gegenwart sowie durch eine Darstellung
ihrer politischen Tätigkeit unter den verschiednen Verhältnissen durch-
schauen. Wir wenden uns danim im nächsten Bande einer Kennzeiclmimg
der politischen Parteien der Polen zu.
C0^<^?
DDDDDDDDDDDDDDaDDDDDDDaDDGaDDDDaDDDDDDDDGDaDGDDDDaDD
g VERLAG VON FR. WILH. GRUNOW, LEIPZIG §
DDDDDDDDaaDDDDDGDDDDaDDDDDDDDDDDDDDaDaDDDDDDDaaaDDDa
DIE GRENZBOTEN
ZEITSCHRIFT FOR
POLITIK, LITERATUR UND KUNST
1 DIE GRENZBOTEN [
§ ZEITSCHRIFT FÜR §
§ POLITIK, LITERATUR UND KUNST §
g c@^ 67. Jahrgang 1908 ^5
□ D
§ Preis für das Vierteljahr 6 Mark g
D Wöchentlich ein Heft g
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g <:<S^^^ g
D
DIE GRENZBOTEN sind das Organ aller nationalgesinnten g
Deutschen, das Organ jener großen, nur nicht organisierten, g
g dem Parteitreiben vielmehr abgeneigten Partei der vernünftigen g
R Leute. Ohne einer der bestehenden Parteien zu dienen, möchten g
g Leute. Ohne einer der bestehenden Parteien zu dienen, möchten □
g sie allen denen dienen, die das Vaterland über jede politische g
g oder kirchliche Partei stellen, denen die Ehre und das Ansehen g
g und die innere Einheit der Nation durch das Zusammenwirken g
g aller ihrer Elemente über alles geht, die festhalten an der Mon- □
g archie, an den alten gesunden sittlichen Grundlagen alles Kultur- □
g lebens. Die „Grenzboten" besprechen in objektiver Weise alle □
g bedeutenden Ereignisse des politischen, wirtschaftlichen und □
g geistigen Lebens. In der unter der Überschrift „Reichsspiegel" g
g erscheinenden politischen Wochenschau bringen sie eine geist- q
g reiche Kritik der jüngsten politischen Ereignisse, die allwöchent- n
g lieh — ein Beweis für deren Wert — von einem großen Teil der □
g Presse mit Interesse verfolgt und vielfach benutzt wird. Auf dem □
g Gebiete der Literatur und Kunst halten sie an den alten Idealen n
g fest, erkennen aber auch alles Gesunde in der modernen Bewegung n
g gern an. Neben ihrem ernsten Stoff bietet die Zeitschrift soviel q
g als möglich Beiträge, die allgemein verständlich und interessant q
g sind, und dazu sorgfältig ausgewähhe Novellen als Feuilleton, n
g Die Grenzboten dürften in keiner gebildeten Familie fehlen, q
R a
DDDDDDDDDDaaaaDDaDDGDDDDDDDDDDDaDDDDaDaDDDDDaGDDODDD.
?^dx
DRUCK VON KARL MARQUART IN LEIPZIG
DK
^.1
"''"' f^inow, George
Die Zuk^inft Polens
PLEASE DO NOT REMOVE
CARDS OR SLIPS FROM THIS POCKET
UNIVERSITY OF TORONTO LIBRARY