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Full text of "Dya-Na-Sore, oder, Die Wanderer"

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 — t  tp  5ig  ""^  

i8oo. 


D   Y  A    -    N  A    -   S   O   R  E 


ERSTER     T  H  E  T  r.  . 


Dya-Na-Sore  i.  Tli. 


1 


VORREDE. 


Hoffnungslos  ward  dieses  Werk  bey 
seiner  ersten  Erscheinung  in  die 
Welt  geworfen.  Es  hat  Freunde 
gefunden.  Ihrer  Nachsicht  —  bin 
ich  seine  Verbesserung  schuldig. 

Die  Würfel  liegen.  Heil  mir, 
wenn  ich  nicht  das  schlechteste 
geworfen  habe. 

D.  ü. 


N.  S. 

Noch  mufs  ich  erinnern ,  dafs 
ein  Volk,  dessen  Daseyn  in  keine 


4 

bekannte  Geschichte  fallt,  gar  nicht 
mit  den  Sitten,  Gesetzen  und  Cha- 
rakter bekannter,  alter  oder  neuer 
Völker  verglichen  werden  darf.  Ihr 
Wohnplatz  war  östlich ;  ihr  Himmel 
mild;  die  Stufe  ihrer  Bildung,  wie 
die  Erzählung  sie  bezeichnet.  Diefs 
ist  alles ,  was  sich  sagen  läfst. 


Benares  den  *  * 


Deine  Vorwürfe  sind  gereclit.  Lange 
bin  ich  hier.  Keine  Erwartung  ist  er- 
fülk.  —  Aber  'lasset  sich  auch  finden, 
was  wir  suchten?  —  Kenntnisse  sind 
leicht  erworben,  wo  der  Eigennutz  sie 
für  Geld  anbietet:  aber  auch  da,  wo  er 
sie  unter  Räthsel  verschliefst?  —  Ich 
glaubte  ein  Feenland  zu  betreten.  Die 
Nähe  hat  die  Aussicht  verändert.  Es 
ist  nicht  juehr  der  blaue  Hügel  stiller 
Ferne.  Es  ist  eine  Felswand,  Wald  auf 
AVald,  wo  das  Auge  im  Gewühle  irrt. 
Wem  Umgang  glückte ,  w^em  ruhiger 
Forschgeist  nicht  entstünde  .  .  von  kei- 
ner Meinung  umhüllt,  von  keinem  Schat- 
tenbilde eigner  Schöpfung  verführt  — 
wohl  ihm !  Aber  nur  die  Zeit  kann  euch 
geben;    die  Zeit,  die  mit  unserm  Eeben 


6 


ihr  Spiel  treibt,  mit  Entfernungen  lockt 
und  mit  unserm  Ende  sich  quitt  macht. 

Einen  jungen  edlen  Mann  lernte  ich 
kennen;  an  seiner  Hand  könnte  ich  hof- 
fen. —  Aber  der  Stolz  des  Geheimen 
macht  verschlossen  ;    wird  er  wollen  ? 

Mit  Belesenheit  und  viel  Talent  ver- 
bindet er  romantischen  Hang  einer  Ein- 
bildung, die  aus  Trümmern  Welten  schafft, 
und  im  Dunkel  des  Alterthums  reinere 
Zeiten  ahnet.  Die  Genossen  seiner  Jahre 
scheinen  ihm  arm ,  ihre  Wissenschaften 
Bruchstücke  eines  verlornen  Ganzen.  — 
Die  Ergründung  des  Vergangenen  hat 
ihn  an  sich  gezogen ;  jeder  andern  Be- 
schäftigung hat  er  entsagt. 

Er  ist  nach  Indien  gegangen  —  seiner 
anerkohrnen  Heimath  ,  dem  Lande  seines 
Herzens  —  weil  er  hier  noch  Uberreste 
alter  Sitten,  ununterbrochene  Fortpflan- 
zung von  Gebräuchen  sucht,  in  denen 
seine  Träume  von  dem  Daseyn  eines 
ersten ,  gebildeten ,  ohne  Andenken  ver- 
lornen   Volkes    sich    bestätigen  sollen, 


Die  Sprache  der  Hindus  ist  ihm  geläufig. 
Er  kennt  die  Braminen ,  tritt  in  ihre 
Lebensart,  nimmt  ihre  Sitten. 

Wenige  thun  ihm  Genüge;  diese  Weni- 
gen, in  seinen  Augen,  aber  auch  Män- 
ner —  von  einer  über  die  Art  gemeiner 
Sterblichen  so  erhabenen  Seele,  dafs  ich 
ihn  sagen  hörte  :  ,,Was  sind  eure  Sitten, 

eure  Klugheit,  selbst  euer  Wissen?  .  .  . 

zerrissene  Theile  eines  nie  übersehenen 

Ganzen. 

„Das   Edle  ging  unter,  das  Erhabene 
., verlor  sich  im  Gepränge;  Verhältnisse 
rissen  euch  fort.  Nichts  ist  euch  eigen; 
.,von  fremden ,   verlornen  Völkern  habt 
„ihr  erst  sklavisch,-  dann  selbststolz  — 
,, geborgt.    Aus  dem  tiefsten  Eigennutze 
einer  finstern  Gewalt  ging  zufällig  und 
,,nur  unter  den  Kämpfen  des  w^iderstre- 
,,benden  Eigennutzes  eure  Bildung  her- 
,,vor.   Eure  Schöpfer  hatten  selten  etwas 
anderes    als    ein    empörtes  Gemüthe, 
einen  Irrthum,   oder  einen  lichtfrohen 
Rausch  zum  Mafsstab  der  Menschheit. 


8 


„Wie  selten  erheben  sich  eure  Geschicht- 
Schreiber  zur  Höhe  eines  Bildes  ,  „wie 
„Menschen  einst  waren!"  Oder  schrie- 
„ben  sie  je,  um  ihr  Volk  „an  der  erha- 
„bensten  Möglichkeit  .  .  wie  Menschen 
„seyn  könnten,"  zu  prüfen?  In  der 
„Angst  ihrer  Zeiten'  behängen  sie  das 
„Verbrechen  mit  Ehre,  und  wagen  selbst 
„gegen  das  vergangene  Böse  keine  Wahr- 
„heit  unter  seiner  nie  aussterbenden  Sipp- 
„schaft.  In  Lob  oder  Tadel  sucht  jeder 
„nur  sich  selbst;  und  die  Eitelkeit, 
„die  Verkäuflichkeit,  die  Absicht,  oder 
„die  trotzige  Verzagtheit  jedes  einzelnen 
„Geschichtschreibers  —  ist  eure  Ge- 
„schichte." 

„Und  nach  allem  —  wie  grofs  ist  der 
„Umfang  den  wir  kennen?  Einige  Völ- 
„ker.  Unser  Blick  auf  Sie  —  sollte  uns 
„die  Möglichkeit  höherer  Völker  gelehrt 
„haben.  Aber  unser  Stolz  schlofs  die 
„Rechnung,  und  glaubte  die  Summen  rück- 
„schreitender  Entdeckung  geendet :  doch 
„bezeichneten     Götter    und    Helden  in 


9 


„jedem,  dafs  ein  fein  herkommender 
„Strahl  sie  erhellts ,  dafs  etwas  voraus- 
„ging,  aus  dessen  Daseyn  das  ihrige 
„sich  ergänzt.'  !pais  ich  die  Belsennt- 
„nisse  der  fabei/iaften  Hoffart  durchfor- 
„sche,  dafs  ick  in  jenen  Göttern  nur 
„Fremdlinge ,  und  „in  der  Abstammung, 
„aus  der  sie  hervorgehen,"  die  grofse 
,,Frage  der  Weltgeschichte  finde,  die 
„man  lieber  verachtet  als  berührt  — 
„kannst  du  mirs  verargen?  Nur  die 
,, Eitelkeit  beschränkt  sich  in  den  engen 

Kreis  ihrer  selbst.  Ich  sehe  mit  Zu- 
„versicht  aiif  die  dunklen  Fernen  der 
„Menschheit,  und  hoffe  da,  wo  ich 
„bin  .  .  wo  emporgehobene  Geister  mir 
„Hoffnungen  zeigen." 

„Der  Stolz  eurer  Systeme  hat  mein 
„Herz  verlassen.  Du  glaubst  ich  sey 
„ein    Träumer.      Verborgenes  Wissen 

scheint  dir  ein  Eingriff  in  das  Eigen- 
„thum  der  Menschheit.  Fordert  nicht 
„jede  Kunst  ihr  Mafs  von  Kräften  ?  — 
„und  Wahrheit,    von   Tausenden  nicht 


lO 


„geschätzt,  soll  allein  alltäglich  vertrödelt, 
„dem  Ungefähr  zum  Spiele,  ohne  Prü- 
„fung  erworben  —  en  weggeworfenes 
„Gut,  und  nicht  der  Lohn  des  ringen- 
,,den  Verdienstes  ,  nic'it  das  Vorrecht 
„auserwählter  Geister  se^n  ?  "  Sein  Auge 
schafft  sich  Gegenstände,  iie  Einbildungs- 
hraft  ist  sein  Wille.  Taisendfach  beun- 
ruhigt in  der  Unzulänglichkeit  dessen, 
was  er  sieht,  gegen  das,  was  er  Hoff-' 
nung  hat  zu  sehen,  wer  sollte  des  ern- 
sten ,  in  sich  verlornen ,  gutmüthigen 
Schwärmers  spotten  ?  —  Gliickliche  Stun- 
den ,  wenn  er  unter  die  Bäume'  zu  mir 
zurück  eilt  j  wenn  er  den  Laubgang  meines 
Gartens  mit  mir  auf  und  nieder  gehet, 
wenn  es  eng  wird  in  seinem  Herzen,  und 
das  Gefühl  des  Entfernten  ihn  umgiebt: 
weit,  weit  eile  ich  dann  mit  ihm  hinaus 
in  die  Wälder,  an  die  Klippen  des  Stran- 
des, über  die  Felsenhöhen,  die  unsern 
Wohnplatz  umschliefsen.  Dann  fmde  ich 
mit  ihm,  was  er  so  oft  zum  Inhalt  seiner 
Rede  macht : 


11 


„Es  sey  so  leicht  nicht ,  Schönheit  der 
„Natur  in  ihr^m  vollen  Umfange  verste- 
„hen.  Sie  alle  freylich  glauhen  zu  füh- 
„len.  Der  Anstrich  von  Empfindung,  den 
„sie  sich  gehen,  macht  sie  stolz,  den 
„armseligen  Roman  einer  Buhlschaft  mit 
,,ihr  zu  spielen,  der,  auf  zufällige  Reit- 
„zungen  gegründet,  mit  einer  veralterten 
,,Einbilduni5skraft  endet.  Ich  verachte 
,, diese  Menschen,  die  hey  dem  Wechsel 

der  Jahrszeiten,  beym  bunten  Spiel  ihrer 
,, Farben,  beym  Hauch  eines  Frühlings- 
„lüftchens  stehen  bleiben,  und  nichts 
,, sehen  als  das  platte,  gedankenlose  Bild 

ihrer  Sinne.  —  Lerne  Völker,  Zeiten 
,,und  Wirkungen  kennen,  zurückgehen  auf 
,, Jahrtausende ,  sehen,  was  einst  war, 
,, und  dann,  dann  sprich:  —  Ich  empfinde 
,,sie!  Tritt  an  die  Ufer  des  Meers,  wenn 
,, nicht  im  W^ogen  seiner  Wasser  dir  die 
,, Frage  seiner  Entstehung  beyfällt ;  wenn 
,,der  Strom  dir  nur  die  Erscheinung  eines 

glänzenden  Spieles  ist,  wenn  du  nicht 
,,zurück  gehest  über  alle  zum  Dunkel  des 


„ersten ,  der  aus  dem  Chaos  entsprang ; 
„wenn  diese  Erde  dir  nicht  das  Bild  all- 
„schafFender  Macht,  diese  Berge  nicht 
„ihre  Geschichte,  dieses  Dämmern  des 
„Hains  nicht  Erinnerung  vorübergegange- 
,,ner  Helden  ist,  so  bist  du  nur  ein  armer 
„Mann  bey  den  Schätzen  einer  Welt. — 

,,Ich  habe  Berge  bestiegen,  und  von 
ihren  Gipfeln  über  die  Ruinen  der  Vor- 
,,zeit  hinab  gesehen  :  im  Innern  der  Erde 
,,sah  ich  die  Zerstörung  voriger  Fluten, 
,,das  ewig  wandelbare  Gemälde  des  Da- 
„seyns ,  und  des  Vergehens  ;  keine  Ein- 
,,samkeit  ist  so  grofs ,  dafs  nicht  Gestal- 
„ten  der  Vorwclt  zu  Tausenden  uns  be- 
„gleiteten.  — 

,,Viel  sind  der  Kräfte !  Viel  ist  gesche- 
„hen,  Nazionen  gingen  vorüber,  das  stille 
,, Erwachen  der  Zukunft  ruhet  über  Grä- 
,,bern.  Was  dich  umgiebt,  trat  aus  Ruinen 
,, hervor.  Jahrtausende  sind  ein  kleines 
„Mafs,  und  der  Geist  des  Menschen 
„kann  Gröfse  erkennen  ,  aber  der  Umfang 
„der  Gröfse  verbirgt  sich  in  eine  unend- 


„liehe  Welt ,  in  den  gränzenlosen  Raum 
„und  eine  ewige  Zukunft. 

So  hatte,  so  habe  ich  manches  Gespräch 
mit  ihm.  An  den  Glänzen  der  Sprache, 
am  äufsersten  der  Imaginazion,  schwebt 
sein  Geist  w*ie  Licht  auf  dem  Abgrund. 
Ich  sehe  ungewöhnliche  Dinge,  wenn  er 
spricht ,  tausend  halb  sichtbare  Gestalten 
vor  mir.  Ich  will  sie  festhalten,  aber  sie 
entschlüpfen.  Ich  finde,  dals  er  Träume 
verkündigt:  aber  in  dem  Augenblicke,  da 
er  redet ,  hält  der  Glaube  an  seinen  Geist 
den  meinigen  gefangen ;  verwirrtes  Ent- 
zücken beherrscht  mich.  Wenn  er  weg 
ist,  fällts  wie  eine  Wolke  vor  meinen 
Augen.  Die  stillen  Nächte  des  schönen 
Himmels  von  Indien  haben  mich  hinge- 
rissen wie  ihn  —  Lebe  wohl. 


Benares  den  ***, 
Heute  diesen  Morgen  —  ich  schlafe, 
ich  werde  geweckt.  Er  reicht  mir  seine 
Hand.       Eine  Thräije  fliefst  auf  meine 


14 


Wangen.  —  Er  ist  weg.  —  Wann  seV 
ich  ihn  wieder  ?  Rings  um  mich  ist  alles 
SO:  öde.    Briefe  sind  mir  versprochen. 

Ich  sitze  vor  deinem  Bilde.  Dir  zu  schrei- 
ben ist  meine  Beruhigung.  Zwey  Freunde 
sind  nun  in  der  Ferne.  O  des  ungewis- 
sen Trostes  sie  einst  wieder  zu  sehen  !  — 


Beiiares  den 
Er  ist  nicht  mehr !  Nachricht  seines  To* 
des  ist  das  erste,  was  ich  von  ihm  höre. 

In  der  Stunde  der  Freude  mufste  ich 
sie  hören!  Vergnügen  ist  forthin  mir 
nur  eine  Erinnerung  der  Trauer. 

Auf  seiner  Rückreise  in  den  Gebirgen 
Tibeths  fiel  sein  Pferd  über  Felsen  hinab. 
Niemand  konnte  ihn  retten,  niemand  seine 
Schriften  erhalten.  Diese  Briefe,  dieses 
Buch,  einige  Zeichnungen,  sind  alles, 
was  ich  von  ihm  habe.  Ich  schicke  sie 
dir*,  das  einzige  Andenken  eines  Freun- 
des ,  dessen  Verlust  ich  ewig  beweine, 


15 


dessen  Umgang  die  seligste  Erinnerung 
meines  Lebens  bleibt. 

Mache  sie  zu  dem  was  sie  sind,  zu 
einem  schönen  Traum  deiner  Seele ;  und 
wenn  ich  einst  nicht  mehr  bin  —  zur 
Erinnerung  meines  Daseyns.  Die  Ferne 
zweyer  Erdtheile  konnte  uns  nicht  tren- 
nen.   Wirds  der  Tod?  —  Nein. 

Der  Hauch  des  Grabes  weht  um  mich. 
Ich  sehe  hinaus  über  die  Gefilde.  Geist 
meines  Freundes!  das  heitere  Sonnen- 
licht zeigt  mir  den  Hügel.  Wo  wir  einst 
wandelten,  will  ich  ruhen.  Sey  mir 
gegrüfset,  o  Grab.  — 


w  


 s  Briefe. 


Erster  Brief. 

Von  der  Gränze  aus  gab  ich  dir  Nach- 
richt durch  unsere  zurückkehrenden  Be- 
gleiter. Von  Lahassa  aus  schrieb  ich  dir 
wieder.  Ich  habe  Doopo  *)  und  seine 
himmelan  strebenden  Berge  durchzogen. 
Einsiedler  und  Grabstellen  habe  ich  in 
seinen  Wäldern  besucht,  nach  Aufschlufs 
geforscht,  und  wenig  gefunden.  Ich 
habe  den  Kaukasus  überstiegen ,  und  bin 
nun  an  seinem  Fufse  im  Reiche  Pu,  **) 

*)  Doopo,  Boutan,  der  an  Bengalen  stofscndo 
Theil  des  Reichs  Tibeth ,  und 

**)  Pu,  das  eigentliche  Tibeth,  wo  der  Da- 
lailama  herrscht.  Beide  erstrecken  sich  von 
der  Nordgränze  von  Hindostan,  den  Kaukasus 
entlang  um  das  nordöstliche  Persien  bis  Kan- 
dahar und  Kaschmir,  von  dort  östlicli  neben 
den  Gränzen  des  Mo£:olischen  Reiches  bis  Asam 
und  China. 


wo  halt  und  wHldevlos  auf  nackte  Berge 
unser  Blick  sich  verliert.  Zwischen  reis- 
senden  Strömen,  über  Höhen  und  Haiden, 
in  Thälern,  wo  hie  und  da  eine  einzelne 
Hütte,  ein  Wolf ,  Xiin  trauriger  Anacho- 
ret  zwischen  Leichen  und  weifsen  Gehei- 
nen im  Schauer  des  Nordwinds  schreckt, 
trieb  ich  mich  hin.  Kalt  und  unfreund- 
lich ist  der  Himmel.  Schneidende  Winde 
dringen  über  jenen  weiten  gefrornen  P\.aum 
des  Eismeers  und  über  die  Wüsten  Sibi- 
riens hieb  er.  — 

Hier  ruhe  ich  nun,  wo  der  hohe  Prie- 
ster der  Tibethanischen  Religion  ,  der 
grofse  Dalailama  ,  seinen  Thron  hat,  auf 
den  Gebirgen  von  Patoli,  wo  seine  Burg- 
und sein  Tempel,  Tausende  von  Priestern 
ihn  bedienen.  In  den  Augen  seiner 
Gläubigen  mehr  Gottheit,  als  ihr  Statt- 
halter, ist  er  das  Bild  ihrer  Anbetung. 
Pilger  von  allen  Orten  strömen  zusammen. 
Von  der  Wolga  bis  nach  Koran,  von  den 
entferntesten  Tartarstämmen  und  aus 
China  kommen  Gesandte  mit  reichen 
Dya  -  Na  -  Sore  i.  Th,  :2 


GescliPiilien.  Alles  liegt  vor  ihm  in  dem 
Staube,  alles  zittert,  kein  Auge  wagt  sich 
zu  öilncn. 

Stumm  und  ohne  Zeichen  des  Wohlge- 
fallens, antwortet  er  selbst  Fürsten  nicht. 
Er  legt  seine  Hände  auf  ihre  Schultern, 
und  sie  glauben  geheiligt  zu  seyn  für  alle 
Zukunft,  gereiniget  von  aller  Schuld. 

,,Sein  Auge  blickt  in  das  Verborgene 
„des  Herzens,  er  ist  fehlerlos  und  unsterb- 
,,lich,  sein  Geist  verläfst  einen  morschen 
Körper,  um  einen  neuen  zu  beziehen, 
,,er  sieht  den  Wechsel  von  Jahrhunder- 
,,ten ,  ohne  ihre  Last  zu  fühlen,  und 
,,geht  in  ruhiger  Dauer  der  Ewigkeit  ent- 
,5gegen."    So  lehren  seine  Schüler. 

Ihre  in  der  Urquelle  reine  Religion 
trägt  die  Entstellungen  des  Eigennutzes. 
Das  Werk  eines  edlen  Lehrers  ward 
Spielwerk  unter  Schurken.  — 

Bald  sollte  man  verwünschen,  dafs  grofse 
Männer  geboren  würden  ,  wenn  alles  Gute, 
was  sie  stiften ,  nur  ein  Weg  des  Betrugs 
für  Bösewichter  wird.    Lebe  wohl. 


 "  i9 

Z  w  e  y  t  e  r  Brief. 

Die  Gelehrten  in  China  hofften  lange, 
Schätze  der  vergangenen  Zeit  sollten  in 
den  Archiven  des  hiesigen  Tempels  sich 
finden.  Das  Alter  dieses  gottesdienst- 
lichen Reiches ,  dunkle  Uberlieferungen 
und  mancher  Schein  der  Yermuthung 
berechtigten  sie.  Ihre  Bemühungen,  ihre 
Reisen,  ihre  Versuche  blieben  fruchtlos. 
Die  Hand  eines  Privatmannes  war  zu 
schwach,  durch  alle  die  Kreise  von  Prie- 
stern zum  Eingang  des  Heiligthums  vor- 
zudringen:  nur  das  Glück,  das  endlich 
die  Wünsche  des  jetzigen  Kaisers  mit  den 
ihrigen  vereinigte,  konnte  ihre  Erwartun- 
gen stillen.  Begierig  nach  Resten  des 
Alterthums ,  überzeugt  von  ihrem  mög- 
lichen Daseyn,  beschlofs  er  jeden  Schritt 
zur  Gewifsheit^. 

Sein  Gesandter  ist  hier.  Ein  edler, 
ernster  und  erfahrner  Mann ,  durch  Rei- 
sen und  Umgang  in  die  verborgenen,  hei- 
ligen Sprachen,  in  die  Alterthümer  und 


'20 


Gesclil'-hte  dieser  Gegenden  gedrungen. 
Zu   jzroiseriu    Gewichte  seiner  Sendung 

o  o 

erhielt  er  folgendes  Beglauhigungsschrei- 
hen  von  des  Kaisers  eigenen  Händen: 

,,Deni  grofsen  Vertreter  der  Gottheit, 
,,dem  Heiligen  und  Angebeteten. 

„Wir  der  Kaiser  von  China ,  Herr  aller 

Herren  der  Erde,  werfen  uns  in  derPer- 
„son  dieses  Iialao  mit  Anbetung  und  De- 
„muth  vor  deinen  geheiligten  Thron,  und 

erbitten  für  uns,  unsere  Freunde,  Reiche 
,,iind   Nachkommen    deinen  geheiligten 

Segen.  Verlangen  nach  Kunden  der 
„A'orzeit,  die  Nachricht,  dals  in  den  hei- 
„ligen  Sälen  deines  Tempels  verschlos- 
„sene  Schätze  des  Alterthums  liegen,  die 
jjselbst  den  Verständigsten  der  Gelehrten 
„unbekannt  sind,    haben  uns  bewogen, 

den  weisen  Kant- Tsou,  die  Stütze  unse- 
,,res  Thrones  ,  in  dieser  Gesandtschaft  an 

deine  Heiligkeit  abzuschicken,  um,  so 
„viel  an   uns   ist,   den  Gebrauch  dieser 

unschätzbaren   Uberreste    zu  erneuen. 


Seine  ,  Absicht  ist,  zur  Ivcsiiiig  dicseu 
,Jiei]i£jen  Bücher  zugelassen  zu  werden. 
„Seine  unojeineine  Erfahrenheit  ehemali- 
„ger  Sprachen  wird  ihn  geschickt  machen, 
,,zu  verstehen,  was  er  findet,  und  nach 
,,der  "\A'eisheit  verborgener  Jahre  auch 
,,aus  den  Zeiten  des  ersten  Alterthums  zu 

forschen. 

"Wir  haben  ihm  befohlen,  sich  zu  dci- 
,,nen  Fiifsen  zu  werfen,  mit  allen  Zci- 
,,chen  der  Ehrfurcht,  die  ihm  den  gc- 
„wiinschten  Zugang  eröffnen  hönncn. 

Gegeben  im  zwey  und  Zwanzigsten 
Jahre  unserer  fieejTefunc;.  " 

K  i  o  n  g  -  T  s  i  e  n. 

Seine  Bitte  wurde  erhört.  Er  suchte; 
fand.    Hier  eines  unter  melircrn. 

Ijies ,  und  möae  es  dir  iicfallen. 

'  c  c  ■  _ 

Grofser  Streit  ist   unter  Lamas  und 

Gelehrten.     Sie  erschöpfen  sich  in  ^iluth- 

mafsungen ,    und    bestreiten    sicii  durch 

Wahrscheinlichheiten  :  „Iiaokium  ist  der 


22 


Verfasser  !  "  „Folil  ists  !  "  „es  ist  der," 
,,cs  ist  jener  I"  Alle  Müfsiggänger  sind 
erhitzt,  vergessene  Namen  werden  ge^ 
weckt,  der  Stolz  sucht  zu  triumphiren, 
ujkI  der  Eigendünkel  kiirnpft  aus  Ver- 
zweiflung. Du  siehst,  dals  die  Men- 
schen hier  ungefähr  eben  das  sind,  was 
überall :  heftig  in  Meinungen  ,  und  begie- 
rig nach  Dingen  einer  unnützen  Neu- 
gierde. Nicht  der  Sinn,  der  Name  des 
Buchs  bekümmert  sie. 

Kant-Tsou  selbst  hat  sich  für  diejeni- 
gen erklärt,  die  es  für  das  Werk  eines 
nicht  zu  errathenden  Verfassers  halten, 
die  weder  Jahre  noch  Zeit  bestimmen. 
„Das  Beste  bleibt,  sagte  er  zu  mir,  v/ir 
„nehmen  das  Buch,  wie  es  ist,  ohne  nach 
,, leeren  Namen  zu  fragen."  Ich  habe  es, 
so  gut  ich  vermochte,  übersetzt,  weil  ich 
die  Begierde,  die  ich  bey  mir  fand,  auch 
bey  dir  vermuthe. 

Meinen  nächsten  Brief,  Gott  weifs 
woher  du  ihn  erhältst:  aber  komm'  er 
auch  woher  er  wolle,  der  Schein  neuer 


25 


Hoffnungen  flämmert.  Dieses  Buch,  der 
Umgang  des  Gesandten,  so  manche  son- 
derbare Hinweisung !  —  Thorheit  und 
Mifstrauen  vcrschliefsen  die  Wege;  die 
Bosheit  verbirgt ,  was  ihre  Schande  ent- 
hüllte: aber  wo  Manner  sich  erkennen, 
und  das  erhabene  Bedürfnifs  der  Wahr- 
heit Entfernungen  hebt,  da  schwinden 
die  Fesseln  des  Daseyns,  und  im  Ver- 
borgenen wird  Licht. 
Lebe  wohl. 


Dritter  Brief. 

Viel  habe  ich  gesehen,  Wahrheiten  im 
Scheine  der  Erdichtuns,  unoewöhnliche 
Dinge  unter  der  Hülle  des  Dunkels; 
keine  Geschichte  für  eure  gewöhnlichen 
Menschen,  die  den  eitlen  Glanz  ihres 
Daseyns  mehr ,  als  den  Gebrauch  des- 
selben achten.  — 

Ich  bin  befriediget,  in  so  ferne  ich 
dem  Aufschlüsse  meiner  Holfnungen  nun 


in  weitem  Lande  entgegen  gelie.  Wo 
(las  sey,  wo  ich  bin  —  lieber  Freund, 
da  stille  deine  Fragen.  Genug,  mir  ist 
wolil ,  und  wird  nocli  immer  besser:  der 
Gram  mancher  einsamen  Stunde  ist  be- 
lohnt. 

F)afs  ich  dich  bry  mir  hatte,  zum 
Mitgeweihten  dieser  Geheimnisse!  dafs 
wir  ruhen  könnten  Hand  in  Hand  neben 
den  Denkmahlen  höherer  Zeiten!  und 
zwey  Herzen  sich  stärker  fühlten  in  der 
seligen  Vereinigung  ihres  Wandels  !  

Alles,  was  ich  dir  sagen  darf,  ist  fol- 
gendes :  Wir  zogen  durch  wilde  Gebirge. 
Viele  Tagreisen  über  Patoli  hinweg  be- 
traten wir  ein  Thal ;  waldige  Felsen 
hielten  uns  umschlossen.  In  der  Ferne 
sah  ich  über  dunkle  Höhen  den  bleichen 
Schimmer  höherer  Berge.  Immer  finstrer, 
wilder,  wundersamer  wurden  unsre  Pfade. 
Die  ersten  jener  Berge  kamen  näher. 

Die  Bahn  schien  geendet  am  Füfs  ihrer 
Höhe  ;  zwischen  Felsen  mulsten  wir  hinan. 


Einen  Baum  am  übero;ebo2:enen  Gel^lüfte, 
einen  Strauch  in  den  Ritzen  halb  ver- 
witterter Trümmer,  glattes  Moos  von 
Spitze  zu  Spitze,  von  Zweig  zu  Zweig  — 
schwang  ich  mich  ül)cr  den  Abgrund. '  Mit 
dem  letzten  Tritt  sah  ich  jenseits  hinab; 
ich  bebte  zurück  .  .  .  Ein  dämmernder 
Tag  düsterer  Schatten,  tiefes  Dunkel  über 
der  Fläche  des  Sees;  über  verbranntem 
Gestein  Wogen  von  flammendem  Blau, 
die  in  die  Nacht  ihrer  Klüfte  hinweg 
Jodern;  langsam  und  weifs,  aus  dampfen- 
den Schlünden  ,  Rauch ,  der  am  Grunde 
hinzieht;  kein  Laut,  der  sich  regt,  als  der 
Sturz  loser  Trümmer  im  Strome  und  der 
Todtenruf  des  Uhus.  —  Da  verstummte 
selbst  meine  schreckenfrohe  Seele. 

Jeder  Schritt  schien  der  Schritt  des 
Grabes.  Am  Fufse  seiner  Felsen,  ein- 
sam wie  eine  Erscheinung,  sahen  wir 
den  Bewohner  der  Einöde  nahen.  — 
Langsam,  stattlich  und  ernst,  ein  Blick  — 
ein  Ton  der  Stimme,  vor  dem  selbst  der 
Gerechte  zittert. 


Wo  das  Thal  enger  und  enger  zwi- 
sch^^n  fmstern  Wänden  einen  kleinen 
Hügel  hinan  zog,  wo,  von  Knochen  weifs, 
schrecklich  von  Trümmern  des  Todes,  his 
an  des  Sees  Gestade  der  traurige  Ahliang 
lag,  führte  er  uns  hin.  Wenige  Bäume 
standen  ohen,  zvv^ey  Grabmähler  rechts  und 
links ,  und  zv^ischen  ihnen  der  Eingang 
des  Gebäudes. 

Das  deine  Wohnung?  konnte  ich  mich 
nicht  enthalten  ihn  zu  fragen. 

Er.    Und  w^as  ist  hier? 

Ich.  Die  Wohnung  des  Schreckens. 

ILr.  Sie  gleht,  was  oft  ein  blühendes 
Thal  versagt. 

Ich.  Was? 

Er.  Ruhe. 

Ich.  Es  kommt  auf  das  an,  was  wir 
sind. 

Er.  Weislich  gesprochen.  Unsere 
Kräfte  bezeichnen  unser  Daseyn.  Nach 
vierzig  Jahren  Kummer  hab'  ich  hier 
Friede  gefunden!  —  Und  in  diesem  öden 


»7 


Schweigen  ,  in  dieser  menschenleeren 
scheuen  Wildnifs,  hat  ein  Herz,  dem  alle 
Güter  des  Lebens  nicht  genügten,  die 
Ruhe  wieder  erreicht,  an  der  es  zu  ver- 
zweifeln begann. 

Wir  erstiegen  im  Gespräch  den  Hügel 
seiner  Wohnung.  Hohe  Gewölbe,  die 
um  Gräber  beym  düstern  Lampenschein 
sich  schlössen,  waren  ihr  Inneres. 

Zwey  Tage  ruheten  wir  —  Er  zeigte 
uns,  was  uns  umgab. 

Uberall  Zerstörung  die  entgegen  kom- 
menden Bilder,  wie  dieses  Thal  einst  blü- 
hend gewesen ,  wie  der  Ausbruch  unter- 
irdischer Feuer  seine  Ausgänge  verstürzt, 
den  Strom  in  einen  See  verwandelt  hatte. 

Zitternd  sah  ich  die  Lagen  einst  strö- 
mender Lava.  Meine  Augen  waren  unstät, 
meine  Schritte  wankten;  in  dampfenden 
Schlünden,  aus  tiefen  Höhlen  glühte  ko- 
chendes Feuer;  im  Rollen  verborgener 
Flammen  bewegte  sich  der  Boden. 


28 


Ach  in  der  Natur,  wie  itn  IVIensclien, 
sab  ich  ,  siinl  die  edelsten  Kräfte  die  näch- 
sten an  Zerrüttung. 

Zerstören  ist  oft  nur  ein  Liherniafs  an 
Stärke. 

Trauerndes  Nachdenken  uir.gab  mich  in 
der  Ivune. 

Schreckend  war  der  Antritt  uusers  wei- 
tern Wec;es  ,  auf  hohe  fürci.;  <  r  ii  ise  Fel- 
sen, über  dampfende  Tiefen,  {i1)er  schwan- 
kende Brücken  — -  Oft  ergrilt  mich  muth- 
3oser  Schwindel  —  Dank  seys  meinen  Ge- 
fährten ,  die  jnir  halfen;  der  Abend  kam. 

Aber  was  ich  s:ih  — --  vrr.s  ich  Ijorte,  M-as 
ich  fand  —  da  erwarte  Zeit  und  Stunde  — 
bis  ich  sagen  darf,  was  ich  sagen  kann. 
O  es  sind  viel  Dinge  zwischen  Himmel  und 
F.rde,  von  denen  euer  Kompendium  sich 
niciits  träumen  läfst,  sagt  Shakspeare. 

Lies,  was  ich  dir  schickte;  und  so  man- 
che Ähnlichkeit  meiner  Ereignisse  wird  dich 
auf  das  aufmerksam  machen,  was  mich 
vielleicht  erwartet.    Lebe  wohl. 


Wolil  ilmi ,  und  Ruhe  seinen  Gebeinen. 
Sein  Jahrhundert  war  von'iber.  Er  war 
kein  Mann  für  diese  Wek.  Ich  habe 
einen  Freund  verloren. 

Die  Kräfte  meines  Lebens  altern,  und 
ich  kann  in  keinem  Werke  zeigen,  dafs 
ich  war.  Und  warum  ?  Weil  meine  Ver- 
hältnisse mir  nicht  erlaubten  zu  handeln, 
und  mein  Herz  sich  erniedrigte  unter  die 
Gewalt  seiner  Zeit. 

O  Menschheit,  Menschheit,  statt  deinen 
irrenden  Gang  aufs  bessere  zu  leiten,  sin- 
ken wir  hinweg,  ein  Opfer  vergangener 
Fehler.  Oft  bezweifelt  der  Edlere  —  um 
seine  Kräfte  betrogen,  den  Zweck  seines 
Daseyns;  oft  scheint  unser  Geist  uns  der 
Spott,  unser  Veriitand  das  Hohngelächter 
einer  feindseligen  Macht.  Wenn  kommen 
die  goldenen  Tage ,  da  der  Mensch  sich 
wird  sagen  können  :  —  ,,die  Würde  meines 
Wesens  ist  das  anerkannte  Gesetz  meiner 
Zeit !  "  D  e  r  M  e  n  s  c  h  .  .  .  der  Mensch, 
wie  er  seyn  könnte,  ist  gut,  aber  die 
Menschen  gefallen  mir  nicht.  Eeb  wohl. 


30  

Hätten  die  Umstände  mir  erlaubt  mit 
meinem  Schwärmer  zu  ziehen  —  vielleicht 
wäre  mir  besser.  Unaufhörlich  träume  ich 
mich  unter  seine  Säulen  und  Tempel.  Alle» 
ist  mir  leer.    Lebe  wohl. 


ERSTER    T  H  E  I  L. 


Mein  Leben,  clas  Leben  meiner  Brüder, 
Verwicklungen ,  bey  denen  der  Eid  des 
Geheimnisses  mir  oft  plötzlich  das  Wort 
entreifst,  Dinge,  bey  denen  ich  häufig  in. 
meinen  eignen  Fehlern  mich  blofs  stelle  — 
AVas  verlangt  ihr ,  meine  Freunde  V  — 

Kommt  hieher,  wo  düstres  Andenken 
der  Vergangenheit  mir  in  so  manchem  Bilde 
sichtbar  ist,  wo  stille  Ferne  um  das  Grab 
meiner  Brüder  ihren  Schleyer  webt;  ach 
hier,  wo  in  tausend  schmerzlichen  Erinne- 
rungen der  Gram  zerrifsner  Bande,  das  bunte 
Gemisch  unbelohnter  Thaten  und  verlor- 
ner  Entwürfe  «ich   mir  nahen  

Kommt   —   kommt   hieher    unter  diese 


Schatten.  Aber  wisset  ihr  auch  was  ihr 
verlangt?  — 

Ich  habe  Ruhe  gesucht,  und  ihren  Schein 
unter  diesen  Bäuinen  gefunden.  Soll  ich 
verschlossene  Wunden  aufreilsen  ?  Soll  ich 
auf  Begebenheiten  zurück  gehen,  deren 
Erinnerung  ich,  wie  die  trübe  Ferne  einer 
verlassenen  Einöde,  nur  am  Rande  meines 
Gedächtnisses  mir  vorzuhalten  v^^ünsche?  — 
Ihr,  die  ihr  am  Eingang  des  Lebens  steht, 
wisset  ihr  auch,  was  die  Wiederholung 
A  erßossener  Dinge  Bitteres  hat  ?  Euch  ist 
das  Leben  ein  Spiel  neuer  Gegenstände: 
]M  i  r  traurige  Stille  nach  überstandenem 
Gewitter  .  .  .  wenn  der  Gang  der  Verhee- 
iLino;  unsere  Lieblingsorte  verödet;  wenn 
man  dem  Baume  entweiciit,  unter  dessen 
Schatten  man  sonst  safs ,  die  Ufer  zerrissen, 
die  Wiesen  blumenlos  sind;  wenns  jNacht 
ist  rings  umher,  dafs  der  kalte  feuchte  Wind 
die  Hütte,  die  uns  deckt,  zum  einzigen 
treuen  Uberrest  unserer  verlornen  Seligkeit 
macht. 


33 


Doch  ihr  wollts  ,  und  ich  bin  es  eurem 
Unterrichte  schuldig. 

Vergangenheit  —  ist  die  Schule,  und 
Rechenschaft  über  unsere  Thaten,  zum 
Unterrichte  der  Nachwelt  —  das  erste 
Gebot  im  Gesetze  des  Daseyns. 

Frühe  hatten  in  der  Stille  meines  Geistes 
meine  Aussichten  sich  auf  die  verborgene 
Laufbahn  eines  häuslichen  Lebens  ge- 
lenkt. Die  Verbindungen  meiner  Geburt 
rissen  mich ,  ohne  dafs  ich  meine  Schritte 
mir  vorzählen  konnte,  in  die  Verhältnisse 
eines  nur  allzu  öffentlichen  Lebens;  An- 
hänglichkeit an  meine  Brüder  erhielt  mich 
auf  einem  Pfade  ,  der  mir  so  wenig  na- 
türlich war. 

Wenn  ihr  glücklich  seyn  wollt,  glück- 
lich wie  der  alltägliche  Mensch  es 
ist :  so  bitte  ich  euch  ,  meine  Freunde, 
euch  loszureifsen  von  Menschen,  in  de- 
ren weit  ausströmendem,  gewaltsamen 
Sinne  der  eurige  die  Freyheit  seiner  eig- 
nen Bewegung  verliert,  so  bitte  ich  euch, 
an  meinem  Beyspiele  zu  lernen,  wie  weit 
rya-Na.?oic  i.  Tli.  " 


54 


Thellnehmung,  Besorgtheit  und  Liebe 
uns  über  unsern  eignen  Charakter  erhe- 
ben, von  seinen  Wünschen  entfernen, 
und  doch  seine  Grundtriebe  nicht  än- 
dern, nicht  zerstören,  nicht  befriedigen 
können.  Ist  aber  die  Pflicht,  ,,für  diese 
Welt  euch  aufzuopfern,"  euch  näher, 
als  der  Wunsch,  ,,euch  selbst  zu  leben;" 
so  werft  euch  in  den  Strom,  und  thut, 
was  ihr  nicht  lassen  könnt. 

Ich  verliefs  meines  Vaters  Haus,  Pflicht 
beugte  mich  unter  das  Gesetz.  HolFnung 
gab  mir  Stärke  .  .  .  Ein  Jahr  —  und  es 
schien  vollbracht:  dann  konnte  ich  zu- 
rück eilen,  dann  sah  ich  mich  wieder 
in  den  Gefilden  meiner  Jugend.  Im  ver- 
schlossenen Wohnplatz  der  Freundschaft 
.  .  .  dem  Weisen  meine  Thore  zu  öffnen, 
den  Thoren  zu  entfernen,  die  Welt  zu 
einem  Schauspiele  zu  machen,  indessen 
Auf  -  und  Niederrollen  mein  Geist  die 
Quelle  seiner  Erweiterung  fände  —  war 
meine  Gewifsheit :  und  welchen  uno^e- 
treuen  Erfolg  hat  meinWandel  für  meine 


35 


Aussicliteii  gehabt!  Die  Gestalt  verLor- 
gener  Wissenschaft  warf  sich  mir  in  den 
Weg;  in  der  Überraschung  meines  Her- 
zens zogen  ihre  Reitze  von  Schritt  zu 
Schritt  mich  immer  tiefer  in  die  stolzen 
Labyrinthe  ihrer  Versprechungen  hin. 
Noch  war  es  Zeit  zurück  zugehen.  Aber 
das  Schicksal  eines  Volkes  lag  auf  meinen 
Brüdern,  das  Glück  von  Millionen  war 
in  den  Gang  ihres  Lebens  verschlungen. 
Ich  sah  nur  sie.  Ich  folgte  ihnen ,  bis 
ich  endlich,  jedem  Leiden  blofs  gestellt, 
in  Verhältnissen  ,  für  deren  Drang  ich 
zu  sanft  war  —  die  unglückliche  Lo- 
sung eines  Bürgerkriegs  gab ,  unter  des- 
sen Verheerung  ich  auf  der  —  für  mein 
Herz  so  traurigen  Laufbahn  eines  Krie- 
gers ,  aufser  dem  allgemeinen  Jammer  — - 
den  Tod  zweyer  Brüder,  den  Fall  so 
manchen  Freundes ,  und  die  ewig  ver- 
lorne Beruhigung  meines  Herzens  zu  be- 
weinen fand.  Grofs  sollte  der  Mensch 
seyn,  das  erkenne  ich  jetzt;  aber  seine 
Gröfse  mufste  ich  mit  Thränen  bezahlen. 


36 


Staatsmann  und  Feldherr,  keines  strebte 
ich  zu  werden :  ich  war  nur  der  Freund 
meiner  Brüder,  wollte  nie  mehr  seyn, 
und  wurde  der  Entscheider  ihres  Schick- 
sals. So  wurde  der  Schwächere  der  Zug 
im  Werke  des  Stärkern. 

Nie  in  mir  selbst  befriedigt,  mir  selbst 
ein  Räthsel  auf  der  Höhe,  in  der  ich 
wirkte  —  waren  ihre  Leiden  .  .  .  die 
meinigen ;  ihre  Gröfse  .  .  .  mir  nur  ein 
erborgter  Stand.  Bey  der  edelsten  Erwie- 
derung von  ihrer  Seite,  im  schimmern- 
den Augenblick  ihrer  erreichten  Wün- 
sche —  arm  durch  die  Aufopferungen  der 
meinigen,  war  die  Befriedigung  ihres 
Stolzes  kein  Genufs  für  mein  Herz,  das 
im  traulichen  Wirkungskreise  geliebter 
Freunde  sich  mehr  gefiel ,  als  in  der  un- 
gewissen Vergötterung  ihres  glänzenden 
Ruhmes. 

Und  so,  meine  Freunde,  beginne  ich 
denn  die  Geschichte  meiner  selbst  und 
meiner  Brüder. 


37' 


Wir  hatten  die  Jahre  erreicht,  unter 
Fremden  nach  alter  Sitte  den  angebornen 
Gemächlichkeiten  einer  häuslichen  Erzie- 
hung entsagen  zu  lernen.  Der  Tren- 
nungsabend erschien. 

Jede  Stelle,  zum  letztenmale  gesehen, 
ward  uns  heiliger.  Aber  das  Gesetz  unse- 
rer Väter  —  wollte,  der  Stolz  unserer 
Bestimmung  —  wachte  über  uns,  und 
keiner  klagte. 

Vor  uns  lagen  die  Gefilde,  aus  denen 
in  allen  Erinnerungen  —  die  Freuden  der 
Jugend  uns  wiederkehrten  zur  Ahnung 
künftiger  Stürme. 

In  Ruhe  und  Stille  verlebt,  an  der 
Hand  eines  Vaters ,  in  wechselseitiger 
Liebe  .  .  .  Jahre,  wie  die  schönste  Phan- 
tasie sie  erschafft,  Bilder  an  die  keine 
Folge  hinreicht  —  wer  giebt  mir  Worte 
zu  bezeichnen,  wie  Herzen  sich  foltern, 
wenn  Muth  und  Zeit  und  die  Stimme  der 
Pflicht  sie  losreifst  von  den  Gespielen 
der  Unbefangenheit,  und  in  ungewisser 
Trennung  Bäume ,  Berge  und  Bäche  uns 


nun  erscheinen  wie  Geister  scheidender 
Freunde  I 

Tihar  lag  am  Stamme  seines  selbstge- 
pflanztcn  Baumes  .  .  .  traurend  wie  sein 
schwächerer  Bruder.  Er  war  Mann  als 
Jüngling;  und  doch  —  wie  schneidend 
reifst  das  Band,  mit  dem  Gewohnheit 
uns  an  ihre  Gegenstände  knüpft! 

Dya,  hastig  und  schwankend  ging  auf 
und  nieder,  die  Zukunft  hatte  ihn  ergrif- 
fen, und  auf  den  Flügeln  des  gereitzten, 
leidenden  Gefühls  entführte  seine  flam- 
mende Einbildungskraft  ihn  dem  Kummer 
des  Augenblicks. 

Hamor  safs  unter  den  entfernten  Sträu- 
chen des  Ufers ;  der  weibliche  Sonder- 
ling, dessen  unbestimmter  Charakter  mir 
jetzt  mehr  als  jemals  Sorge  machte. 

O  mein  Vater!  mein  Vater !  rufte  ich 
dem  kommenden  geliebten  Manne  entge-r 
gen,  wir  werden  dich  verlassen!  — 

,,So  denke,  dafs  wir  uns  wiedersehen, 
antwortete  Athor.    Oder  glaubst  du,  es 


■"»9 


,,sey  so  ein  leichtes,  Vater  seyn,  und 
„seine  Söhne  entlassen  ?  " 

Er  sah  zur  Erde  und  schwieg.  Das  Ge- 
fühl der  Zukunft  über  ihm,  Stille  über 
uns  allen. 

,,üieser  Abend  —  der  letzte  vielleicht, 
„meine  Kinder,  begann  er  endlich,  zwi- 
,, sehen  mir  und  euch  —  bleibe  das  Ver- 
,,mächtnifs  meines  Daseyns,  und  der 
,, Schutzgott  eurer  Herzen. 

„Die  Einigkeit  seiner  Söhne  ist  die 
,, Seligkeit  eines  Vaters.  Wenn  ioh  einst 
,,todt  bin ,  wenn  das  Schicksal  euch  tren- 
,,net,  wenn  das  Leben  euch  fortreifst,  und 
,,euer  Herz  siecht  unter  dem  allzu  ge- 
,,wöhnlichen  Gange  der  Dinge ,  oder  sich 

trotzig  empor  hebt  unter  Thaten  und 

,,Beyfall ,  unter  Kämpfen  und  Ehre  

„führe  die  Liebe,  die  in  den  Spielen  der 

Jugend  das  süfse  Gefühl  eurer  ersten 
,, Jahre  war,  euch  zurück  zur  Stille  der 

Wahrheit,  um  die  euer  eigner  Sinn  euch 

betrügt.  Die  Dauer  jener  Erinnerungen 
,,sey  euer  heiligstes  Gut. 


„Erhaltet,  was  ich  sammelte;  denkt, 
,,rlafs  die  Ehre  eines  Vaters,  die  Pflicht 
„seiner  Söhne,  nie  schöner  erhalten  werde, 
,,als  wenn  nach  Jahrhunderten  späte  Nach- 
,, kommen  noch  dankhar  um  den  von  ihm 
„erbauten  Herd  .  .  die  Wirkung  seines 
,,Daseyns  über  sein  Grab  hinaus  sich  ver- 
„längert,  und  der  Baum  ,  der  ihm  schat- 
„tete,  das  Eigenthum  seiner  Enkel  wird. 

„Heil  dem  Geschlechte,  dem  das  ange- 
„stammte  Erbe  seiner  Ahnen  ein  Heilig- 
„thum  ist !  das  den  Hain  nicht  ausrottet, 
,,das  die  Laube  verschont,  dem  die  Wet- 
„terfarbe  des  Alterthums   hehr  ist,  das 
nicht  verschönert,  weil  kein  Schimmer 
,,ihm  das  Andenken  derer  ersetzt,  de- 
„ren  Bild  es  in  jeder  Erinnerung  liebt! 
Geheiligtes    Land   meiner    Väter,  ge- 
weiht  durch  den  Staub  eurer  Leichen, 
,,wohl  dem  Manne,  der  in  den  Mauern, 
„die  ihr  bewohntet,  Zeugen  der  Tugend, 
„Warner  gegen  Verführung  erblickt !  Die 
„Reitze  der  Üppigkeit  an  diese  Denk- 


1^ 


^, mahle  der  Einfalt  gehalten  —  wird  er 
„fühlen,    was   ihr  wäret,   und  in  dci 

Aufrechthaltung  eures  unentweihten  Lc- 
,,bens  den  Stolz  des  seinigen  suchen! 
,,Wie  grofs  mufs  ein  Stamm  sich  entwik- 
,,keln ,  wo ,  vom  Geiste  edler  Vorfahren 

durchglüht ,  der  Sohn  seine  Tugenden 
,,in  der  Verewigung  ihres  unentehrten 
„Andenkens  findet! 

„Andenken,  unentehrtes  Andenken  — 
„ist  das  Eigenthum,  dessen  Rechte  auch 
,,im  Tode  bleiben,  das  Eigenthum,  des- 
,,sen  Verletzung  euch  mit  dem  Fluch  ge- 
,,brochener  Kindlichkeit  belastet.  Un- 
„sterblich  ist  unser  Geist,  unsterblich 
,,sind    mit    seinen    Verhältnissen  seine 

Pflichten.  Das  Band  ward  hier  geknüpft : 
„sein  Ende  könnte  es  nur  in  unserer  Ver- 
,,nichtung  finden. 

,,Der  Zwang  hat  aufgehört;  die  Ver- 
„bindlichkeit  ist  geblieben."  „Das  Grab 
„ändert  nur,  aber  endet  nichts. 

„Und  nun,  meine  Söhne,  der  Abschied 
,,wird  mir  hart.    Lafst  uns  heute  vergei^- 


42 


„seil,  was  uns  bevorstehet,  und  das 
,, letzte  Mahl  dem  Behagen  eines  kummei- 
losen  Herzens  weihen." 

Heiter  war  der  Himmel.  Im  Wehen 
der  Abendluft  neigten  sich  Büsche  über  die 
Fläche  des  Teiches  ;  dämmernd  schwell- 
ten Schatten  am  Hügel ,  die  trübe  Gestalt 
ehemaliger  Freuden,  das  Gefühl  vergan- 
gener Zeiten. 

Unsere  Schwester  kam;  ihre  zitternden 
Hände  in  die  unsern  gelegt,  voll  Kummer, 
und  doch  keine  Klage. 

Wer  vertilgt  den  Augenblick  aus  der 
Seele,  wenn  eine  edel  unterdrückte  Zähre 
im  Auge  der  Schönheit  sich  endlich  her- 
vor drängt;  wenn  der  Gram  sich  mühsam 
hinter  Liächeln  verbirgt,  und  das  holde 
Antlitz  immer  stiller  in  die  Züge  der 
Schwermuth  zurück  sinkt  ? 

Ich  bin  der  Schönheit  in  manchem 
Verhältnisse  gefolgt,  im  Reitze  der  innig- 
sten Ruhe,  das  Saitenspiel  in  der  Hand, 
im  Augenblick  der  begeisterten  Liebe, 
w^o  Leiden  sie  umwölkten ,  wo  das  erha- 


benste  Selbstgefühl,  die  ^yürcle  beleidig- 
ter Gröfse  sie  unwiderstehlich  erhöhte, 
wo  die  lebende  Natur  mich  umgab ,  wo 
der  Künstler  mich  hinrifs  —  Nie  sah 
ich  sie  wieder  in  diesem  himmlischen 
Lichte  .  . .  wenn  ein  leidendes  Herz  sich 
verschliefst  unter  das  zurück  drängende 
Bewufstseyn. 

„Meine  Thränen  würden  nur  Thränen 
wecken,  mein  Schmerz  nur  Schmerzen 
verdoppeln.  Dafs  keine  Thräne  mir  rinne  ! 
dafs  mein  Schmerz  sich  umhülle!  wenn 
ich  allein  die  verödeten  Stellen  besuche, 
mag  der  Gram  in  aller  seiner  Stärke  mich 
umgeben ! " 

O  Ithora ,  ich  blickte  in  deine  Seele. 
Noch  seh'  ich  dein  Bild  —  und  nie  sah 
ich  dich  wieder.  Ich  war  schwächer  als 
du ,  meine  Thränen  flössen.  Nur  Eine 
von  dir  benetzte  das  Tuch,  das  du  mir 
gabst ,  und  ich  erkämpfte  es ,  wie  man 
ein  Heiligthum  rettet,  als  der  Feind  bey 
llkat  unser  Lao;er  erstürmte. 


44 


Du  bist  nicht  melir ,  alles  ist  mir  ver- 
loren;' nur  dein  Andenken  blieb  mir,  und 
der  Muth  —  mit  dem  ich  dir  gleich,  in 
der  Folge,  neben  den  Leiden  meiner  Brü- 
der die  meinigen  verschlofs. 

JLafst  mich  noch  verweilen  beym  Abend 
der  Trennung  —  als  die  Freude  von  uns 
wich ,  und  der  Becher  mit  Trauern  um- 
her ging. 

Es  giebt  Stunden,  an  denen  auch  das 
Kleinste  uns  tlieuer  und  hell  bleibt. 

Ein  Hügel  weit  offner  Aussicht,  von 
hohen  Bäumen  umschattet,  war  von  jeher 
die  festliche  Stelle  jeder  frohen,  jeder 
ernsten  Begebenheit  gewesen.  Blumen, 
Schatten  und  Einsamkeit,  süfser  Duft 
und  feierliche  Stille  unter  Bäumen,  die 
Athors  Hände  gepflanzt  hatten,  waren 
unsere  Gefährten.  Das  Thal  öffnete  sich 
in  seinen  Fernen,  aus  ihren  Wäldern 
glänzten  Felsen,  die  Flut  rollte  zu  unsern 
Füfsen,  die  Sonne  war  im  Sinken. 

Zum  letztenmale  sahen  wir  uns  beym 
väterlichen  Mahle  vereint. 


45 


„Vater  des  Alls,  sprach  Athor,  der 
„du  die  Mittel  der  Erhaltung  zur  ersten 

Stufe  auf  dem  Gang  einer  edlern  Ent- 
„wicklung  zu  machen  wufstest,  lafs  uns 
„nie  vergessen,  den  Menschen  auch  in 
„seinen  kleinsten  Bedürfnissen  zu  ehren. 
„Auch  im  alltäglichsten  das  Ziel  eines 
„veredelten  Daseyns  zu  finden  —  ward 
,,uns  jener  gränzenweite  Blick  gegeben, 
,,der  vom  Himmel  zur  Erde  die  SchÖp- 
„fung  umfafst,  und  mit  einem  Auge  voll 
„Licht,  vom  Staube  zur  Gottheit,  der 

Kette  unendlicher  Bestimmungen  durch 
,, Wechsel  und  Verhältnisse  folgt.  —  So 
,, öffnen  sich  uns  Wege  des  vrahren  Ge- 
,,nusses,  so  schützet  uns  reine  Erkennt* 
„nifs  gegen  jene  tödtende  Mifsachtung, 
„mit  der  der  kurzsichtig  stolze  Mensch, 
„der  entartete  Tadler  der  Schöpfung, 
,,sich  um  den  Werth  des  Daseyns  be- 
itrügt. " 

Worte,  in  der  Stille,  von  einem  theu- 
ren  Manne  gesprochen,  unter  Menschen, 
die  zum  feierlich  langen  Abschiede  sich 


46 


bereiten  Wie  viel  hängt  von  der 

Zusammenstimmung  vereinter  Umstände 
ab ,  um  Werth  und  Eindruck  einer  Hand- 
lung, das  Grofse  in  ihrem  Schauspiele, 
das  Rührende  ihres  Wesens  zu  erheben! 
Dafs  dem  Herzen  der  Menschen  doch 
nie  diefs  reine  Gefühl  entstehen  möchte .  .  . 
das  in  den  einfachen  Auftritten  der  Na- 
tur und  der  Freundschaft  Befriedigung 
schöpft —  daf  s  die  Menschen  doch  ein- 
mal lernen  möchten:  — 

„Wer  die  Glückseligkeit  nicht  in  einem 
„Augenblick  finde,  für  den  sey  ein  Le- 
„ben  zu  kurz ,  sie  zu  suchen.  " 

Der  Gram  und  die  Ungewifsheit  und 
die  Gewalt,  in  verhaltenen  Seufzern  zu 
athmen,  hatte  uns  einsylbig  gemacht. 

„Warum  so  stumm ,  meine  Kinder  ? 
„fragte  Athor.  Ists  der  Gram  ?  Eure 
,, Bestimmung  ist  Wirken ;  eure  Pflicht  — 
,, sehen  ,  erfahren  ,  erkennen.  Meine 
„Thränen  zeugen,  dafs  ich  leide:  aber 
„darum  bleibt  doch  das,  was  uns  trennt, 
„dieser  Augenblick   und  diese  Gefühle 


(1er  Schmuck  unsers  Geistes;    die  Na- - 
,,tur  weihte  unser  Herz   zum  Gedächt- 
„nifs    der   Liebe.      Einst    wird  dieser 

Abend  wie  die  Stille  besserer  Welten 
„euch  umschwe1)en  ;  wenn  eure  liöliere 
„Bestimmung,  wenn  die  Pflichten  des 
,,Daseyns ,  wenn  Freude  oder  Kummer 
„späterer  Jahre  in  seine  Erinnerungen 
„sicii  mischen. 

„Wie  grofs  ist  alles  verkettet,  wie 
,,grofs  in  seinem  Wesen  der  Mensch! 
,,Wie  so  ganz  in  allem  der  Zw*eck  einer 
höhern  Bildung  bedeutet,  dafs  kein  liei* 
„den  ihn  erniedrigen  kann  ,  der  Gram 
„selbst  ihn  zu  erhöhen  dient!'' 

Tibar  nickte  Beyfall ,  den  Stolz  im  Her- 
zen, der  für  heroische  Tugenden  mit  Lei- 
denschaft erwacht.  ,, W ahr,  Vater,  wahr  I" 

Er  hat  wahr  geredet.  Aber  damals 
fühlte  ich  noch  nicht  die  Wahrheit.  Wie 
oft  erklärt  Jugend  die  erhabne  Sprache 
der  Erfahrung  für  Schwärmerey  I 

Ich  haschte  nach  Widerspruch. 


4Ö   

Ich.  Und  wenn  nun  diese  Lehre  nur 
der  Stolz  einer  edlen  Seele,  mit  der  sie 
auf  dunklen  Wegen  nach  Licht  ringt, 
wäre!  ist  sie  darum  glücklicher  als  wir, 
denen  kein  philosophischer  Trotz  den 
Kelch  des  Trauerns  versüfst  ?  Sinkt  der 
vernünftelnde  Widerstand  gegen  wirk- 
liche Leiden  nicht  oft  plötzlich  unter 
der  Last  zögernder  Erwaitungen  ? 

Athor.  ,,Als  ob  die  unerschütterte 
„Seele  sich  auf  Erwartungen  stützt^e?  — 
,,Sieh  den  Mann  —  in   Thun  und  in 

Leiden.  Nicht  der  Ruf  einer  gelunge- 
„nen  That,  die  W^ahrheit  seiner  Pflichten 
,,ist  sein  Trieb!  was  er  wollte  .  .  .  die 
,,zufallose  Güte    seines   Willens  —  ist 

seine  Gröfse.  Wenn  er  in  der  Fülle 
„seiner  edelsten  Kräfte  auf  sich  selbst  zu- 
„rückkehrt,  als  Sieger,  wo  die  ohnmäch- 
„tige  Tugend  alltäglicher  Menschen  zu 
„Tausenden  sich  verlor  —  Ist  nicht  sich 
„selbst  beurtheilen,  sich  selbst  erkennen 
,, .  .  .  dieses  edelste  Bedürfen  eines  den- 
,ykenden  Wesens    —   —    der  reichste 


„Gewinn  aus  clen  Verbaltnissen  des  Da- 
„seyns?  Am  Umfang  alles  Witkens  und 
,, Leidens,  aller  Tliaten,  all  e  v  Kräfte ,  all  er 
„Gröfse,  in  die  die  Menschheit  über  Jahr- 

tausende  hin  unserm  Blick  sich  entzieht  — 
„lernen  wir  gerecht  seyn  gegen  die  Schöp- 
„fung  und  ihre  Wahrheit  in  tausend  ver- 
„änderten  Gestalten. 

,,0   so,  meine  Sühne,  so  —  ich  be- 

schwöre    euch    bey    dieser   Stunde  der 

Trennung  —  so  trac;htet,  dals  ihr  nie 
„die  Armseligkeit  eurer  Wünsche  zur 
„Gränze  des  Daseyns,  nie  die  Kleinheit 
,, eures  Wesens ,  eurer  Einsichten ,  zur 
„Gränze  der  Natur  macht. 

„Erhebt  euch  in  ihrer  Gröfse;  denkt, 
„dafs  nichts  euch  so  sehr  veredle,  als  das 
„Gefühl  ihrer  ünermefslichkeit.  Dann, 
,,und  nur  dann,  werdet  ihr  den  Thoren  ver- 
„achten ,  der  sich  für  den  Mittelpunkt  der 
„Schöpfung  erklärt.  Dieser  armselige  Kö- 
„nig  der  Welt,  der  beym  Brausen  eines 
„Stromes  erbleicht ,  den  ein  Wurm  vom 
„Thron  seiner  Majestät* stürzt,  der  es  wagt, 

I^y.i-Na-Surc  i.  Th. 


„über  Bestimmung,  über  Gut  und  Scblimm 
„der  Dinge,  nach  seinem  Verhältnisse  zu 
„entscheiden ,  die  Gottheit  nicht  als  Herrn, 
„sondern  als  den  Diener  seines  Schicksals 
„zu  betrachten;  hat  er  nicht  in  seinem 
„Dünkel  sie  beschimpft,  da  er  sich  als 
„den  einzigen  grofsen  Gegenstand  ihrer 
„allschalFenden  Güte  angab,  da  er  vergals, 
„  „dafs  er  nur  Theil ,  der  Theil  nie  Zweck 
„des  Ganzen  ist? 

„Unseliger  Irrthum !  —  Quelle  alles 
„Übels.  Wo  findet  die  Unzufriedenheit,  der 
„Tadel  des  Menschen  gegen  das  All,  seinen 
„Ursprung  als  in  dir?  Er,  der  alles  für 
„sich  erschaffen  glaubte,  und  so  vieles  ^egen 
„sich  fand ,  machte  den  AViderspruch  sei- 
„ner  Hoffnungen  zum  Verbrechen  der 
„Gottheit.  So  wurde  die  Majestät  eines 
„grausamen  Wesens  erfunden,  das  in  der 
„Nacht  des  Schreckens,  nur  wach  zu  sei- 
„ner  Verfolgung,  ewig  mit  ihm  sich  be- 
„schäftiget,  um  in  Leiden  wie  in  Freuden 
„das  Spiel  einer  Laune  aus  ihm  zu  machen. 
„So  wurde  die  Lehre  des  Zufalls  erfunden, 


„flie  Lehre  der  beiden  streitenden  Wesen^ 
„der  Ursprung  des  Übels ,  der  Fall  unsers 

Geschlechts.  So  nahm  man  sogar  die 
„Erdichtungen  eines  verflossenen  goldenen 
„Alters,  Erwartungen  jenseits  des  Grabes 
„zu  Hülfe,  um  zwischen  Träumen  der  Ver- 
„gangenheit  und  der  Zukunft  jeder  reinen 
„Betrachtung  der  Gegenwart,  jedem  Dank 
„ihrer  Güter  sich  zu  entziehen. 

„Beleidigte  Eitelkeit  und  verfehlte  Er- 
„wartung  haben  die  Aussichten  des  Daseyns 
„verfälscht,  und  der  unmündige  Wahn  .  .  . 
„„Glück  zum  Zweck  des  Menschen  zu  ma- 
^,chen<, "  hat  die  Wahrheit  verhüllt. 

„Entwicklung  unserer  Kräfte  für  ein  hö- 
,)heres  Ziel  ist  —  unsere  Bestimmung;  — 
„Unruhe  —  das  Mittel;  Selbstständig- 
„keit  —  unser  höchster  Gewinn.  Kampf 
„ist  unsere  Gröfse ,  und  Tugend ,  die  nur 
,,in  Hinsicht  auf  jetzige  oder  künftige 
„Glückseligkeit  wirksam  wird,  blendender 
„Eigennutz.  Der  Lohn  der  Güte  ist  — 
„gut  seyn  ,  und  kein  Gott  ist  fähig;,  einen 
jjhöhern    Preis    aufzustellen,     als  „das 


„Bewufstseyn ,  unsere  PHicht  erfüllt  zu  ha- 
lben." Pflicht!  ist  das  unsterbliche  Wort, 
„das  uns  über  Abgründe  hinweg  trägt, 
„und  über  Schrecknisse  siegt.  Pflicht  ist 
„der  erhabene  Beweggrund  des  Weisen. 
„Da  braucht  es  keine  Unsterblichkeit  und 
„keinen  Himmel ,  um  das  umstürmte  Ge- 
„bäude  seiner  Tugend  zu  stützen.  Reines 
„Erkennen  ist  sein  Führer;  Vernunft  ist 
„sein  Gesetz;  des  Gesetzes  Erfüllung  — 
„seinUrtheil. —  Doch  genug.  Öftere  Wie- 
„derholung  schwächt  die  ehrwürdige  Ge- 
„stalt  einer  Lehre,  und  macht  Wahrheit 
„nicht  selten  zum  verachteten  Gegenstand 
„des  Widerwillens.  Ich  habe  kein  Mifs- 
„trauen  ge^en  euch ,  und  so  fahret  wohl. 

„Vielleicht  entziehe  ich  mich  eurem  Ab- 
„schiede.  Vielleicht  sehe  ich  euch  nicht 
wieder.  Was  ich  euch  noch  zu  sagen 
„habe ,  ist  wenig. 

„Seyd  wach  gegen  alle,  die  so  reich  an 
„Gewifsheit  scheinen,  so  reich  an  Versi- 
„cherungen  des  Glücks  und  des  Genusses, 
„der  Freude  und  ihres  Besitzes;  gegen  die 


51 


, ».leise. lispelnden  Schwätzer,  die  ihre  Fiöh- 
,^ichkeit  so  gerne  zur  Tugend  erheben,  um 
„der  Tugend  in  ihrem  Innern  nichts  mehr 
,^chuldig  zu  seyn.  tiberall  ist  Selhsthe' 
„friedigung  —  der  Abgott,  den  jeder 
„in  seiner  eigenen  Giestalt  -der  Verehrung 
,, aufdringt;  vom  Wollüstling  bis  zum  Ge- 
„rippe  des  Geitzes ,  vom  Manne,  der  das 
„Leben  in  eine  Reihe  angenehmer  Em- 
,,pfindungen  auflöset,  bis  zum  Wesen',  das 
,-)marklos  und  abgetödtet  die  finstre  Ein- 
„förminkeit  seines  Stillstandes  zum  Mafs- 
„stab  für  Götter  und.  Menschen  machen 
möchte  —  drückt  jeder  seiner  Weisheit 
„mit  diesem  Worte  ihren  fehlerlosen  Stem- 
,,pe!  auf. 

,,Ich  kenne  nichts.,  -was  der  Tugend  so 
„ganz  ihre  Wahrheit  entrissen  hätte,  als 
, »dieser  falsche  Ehrenkranz  der  Selbstbe- 
„friedigung.  Selbst  die,  denen  Beruhi- 
„gung  bey  dem  Gegenwärtigen,  genügsame 
Stille  ....  das  Glück  unseres  Lebens 
„scheint,  möchte  ich  doch  fragen:  ,,wor- 
„iu  denn  diese  Eeruhigung,    diese  Stille 


„bestehe?*'  Vergangenheit  und  Zukunft, 
„der  Wechsel  der  Scenen  macht  die  Ge2;en- 
„wart  zu  Etwas»  den  Menschen  zum Men^- 
„sehen.  Gcnufs  ohne  Wunsch,  .W^unsch, 
„ohne  Uiuuhe,  Unruhe  ohne  .Gram  — 
„keines  besteht  ohne  das  andere  —  wie 
„sollten  also  sie  geniefsen , .  sie ,  die  kein 
„Streben,  keinen  Mangel ,  keinen  Abstand 
,,der  mehr  oder  mindern  Zufriedenheit 
„kennen  v/ollen  ? 

„Ein  Wesen  ohne  Furcht,  ohne  Thor- 
,,heit,  ohneThräne,  ohne  Holfnung,  das 
„nie  verliert  und  nie  gewinnt,  mag  zu 
„allem  s^ut  seyn ;  aber  wie  es  zum  Ge- 
,,fLihl  seiner  selbst,  in  dem  doch  alle 
„Freude  besteht,  gelangen  könne,  mag 
„ich  nicht  beantworten. 

„Kräfte  im  Kampfe  erworben  — ^  sind 
„der  Charakter  des  Lebens;  Rückerinne- 
„run^en  sind  euer  heiligstes  Gut;  stilles 
„Emportreten  über  den  Wahn  seines  Vol- 
„kes  der  edelste  Wettstreit.  Selbstüber- 
„lassen  und  grofs  wandelt  der  Mann  über 
„den  Gefahren  seiner  Zeit,  der  ohne  Drang 


55 


„zu  gefallen,  ohne  Ringen  nach  Glanz  — 
„handelt,  „wie  das  höhere  Gesetz  sel- 
tnes Daseyns  gebietet.  *^  Erkennen  ist 
,,sein  Ziel;  in  seiner  Vernunft  seine  Tu- 
,,gend. 

„Oder  glaubt  ihr,  dafs  Güte  ein  trüber 
„Instinkt,  und  gut  handeln  keine  Wissen- 
„schaft  sey?  ' 

„  „Das  Ziel  eures  Daseyns "  sey  euer 
„Gesetz.  Vergleicht  eure  Kräfte,  seht  eure 
„Gebrechen ,  und  zieht  aus  beiden  den 
„Schlufs,  welche  Stufe  euch  gezieme.  So 
,, mancher,  der  im  rastlosen  Streben  nach 
„allzu  hohem  sich  verzehrte;  so  mancher, 
„der  ohne  Stimme  zu  sin2;en,  ohne  Ta- 
„lente  den  König  zu  spielen,  ohne  Gci- 
,,stesgröise  den  Helden  vorzustellen  w^agte, 
„hätte  er  sein  Auge  auf  sich  gerichtet, 
„hatte  er  erkannt,  was  er  ist;  würde 
„still,  geehrt  und  glücklich  ein  Leben 
, »geendet  haben,  das  er  mit  Spott  an  die 
Schwelle  der  Unsterblichkeit  trug. 

, »Beobachtet  den  Menschen;  Welterfah- 
,,rung  werde  der  Probestein  eurer  F,nt- 


„würfe.  Lernt  Zeiten  ,  Sitten  und  Gesin- 
„nungen,  die  Macht  der  Verhältnisse,  die 
„Stufen  der  Entartung ,    den  Einflufs  des 

Einzelnen,  das  Mafs  eures  Jahrhunderts 
„kennen;  dafs  kein  Wahn  euch  verleite 
„zum  nutzlosen  Kampfe,  der  die  Mensch- 
„heit  zerrüttet  ohne  ihr  Schicksal  zu  ver- 

edlen. 

„Thätig  seyn  wollen  ?  —  Auch  der  un- 
„ruhige  Schwachkopf  ist  thätig!  Dünkel 
„ist  sein  Genius ;  Träume  sind  seine  Tu- 
„gend.  Aher,  sparsam  auch  in  Thaten  — 
„sich  seihst  das  eitle  Vergnügen  versagen, 

„immer  wirken  zu  wollen ,  **  das  macht 
„den  edlen  Weisen,  dem  sein  Volk  theu- 
„rer  ist  als  sein  Name;  der  unter  IVlen- 
sehen,  die  er  zu  schwach  für  Wahrheit 
„findet,  mit  stolzer  Entschlossenheit  der 
„Begierde  widersteht,  „den  Sklaven  vom 
„Traume  zu  wecken,  dem  er  seine  Ketten 
„nicht  nehmen  kann." 

,,Das  Gute  wird  ein  Gut  durch  seine 
„Stelle,  und  die  edelste  That,  zur  Unzeit 
„gethan ,    ein  Streich,  der  hesserungslos 


57. 


„erschüttert,  und  dem  Holme  alles  Guten 
„neue  Sclieinwaffen  leiliet. 

,,Der  Weisheit- trunkene  Mensch  steht 
„auf  vom  Sitze  seines  Nachdenkens.  — 
„So  will  er,  so  soll  es  seyn!  — ■  Er  giebt 
„der  Zukunft  Gesetze  —  und  knüpft  sich 
„Regeln,,  die  den  Zufall  ausseid iefsen. 
,,Er  ''bat  auf  jede  Frage  seine  Antwort 
bereitet  ;  nichts  soll  ihn  treffen,  w^as 
„seine  Vorsicht  nicht  berechnete.  Der 
erste  Schritt  ist  gethan ,  und  siehe  da  — 
,,ein  Etwas  ...  in  seiner  Rolle  ohne 
„Verfügung!  —  Da  steht  er,  und  verliert 
unterm  Gewirre  abgerissener  Fäden,  zwi- 
„schen  der  Ehrenrettung  seines  Systems 
„und  der  lliehenden  Gelegenheit,  den  Au- 
„genblick  .  .  .  der  ihn  zum  Mann  machen 
„könnte,  und  zum  Thoren  macht. 

,,Tch  bitte  euch,  meine  Söhne,  ich  bitte 
„euch,  nichts  von  jener  Klugheit,  die 
„sich  an  Formeln  bindet,  nichts  von  jener 
,,lIoirart  des  Wahnsinns,  der  die  Erde  zu 
„beherrschen  glaubt,  weil  er  sie  in  sei- 
,,nen  eigenen  Gestalten  verachtet!  Lernt 


5a 


„unter  Verhältnissen  wandeln,  lenkt  das 
„Ungefähr  der  Umstände  in  euren  Gang. 
„Vor  allem    macht  euch  nie  zu  Sklaven 

eines  Tages,  der  eine  Zukunft  entwirft, 
„die  er  nicht  erräth ,  und  durch  ICetten 
„eines  Planes  die  Schritte  eurer  Lebens- 
„bahn   bezeichnet.      Der  Mensch  bedarf 

eines  Zieles.  Er  braucht  einen  Zweck 
„seines  Weges ,  dem  er  nie  entsage.  Der 
„Elick  dorthin  sey  sein  Leiter,  das  AVie  — 

entscheide  die  Möglichkeit  jeder  Lage. 
„Belehrt  euch.  Nur  macht  Wissenschaft 
,,nie  zur  todten  Geschäftigkeit.  Männer 
,,fordre  ich,  nicht  Gelehrte. 

, »Ordnung  ist  —  den  Gesetzen  des 
„Daseyns  gehorchen,  so  wie  ihre  Aus- 
„übung  sich  darbietet. 

„Aber  der  entartete  Geist,  für  Wahrheit 
„zu  blöde,  für  Nachdenken  zu  schlaff  — 
„hat  Pünktlichkeit  an  die  Stelle  der  Ord- 
,,nung  gesetzt,  kleinliche  Behelfe  von 
,,Mafs  und  Zeit  .  .  .  statt  des  reinen  Ge- 
,,brauchs  unserer  Kräfte.  Die  Menschen 
„haben  sich  Fesseln  erschaffen,  und  klagen 


59 


„das  Scliiclvsal  an.  Kleine  Geister  liaLen 
..Schwache  zur  Weisheit  gemacht,  das  Al- 
,,tertliuin  ■  bat  Thorlieiten  geheiligt,  die 

Gewohnheit  hat  I  nsinn  vergöttert,  und 
,,das  betrügliche  .  Glück  eines  Zufalls  hat 
„Jahrhunderte  irre  geführt«  Hütet  euch 
„vor  allem  diesem.    Glaubt  nie  an  Gröfse ; 

sondern  überzeuot  euch,  und  lalst  nie  das 
„Glück  eines  aufgespreitzten  Schwächlings 
,,euch  zur  Anbetung  hinreifsen. 

,,Vor  allen  Dingen  aber  weg  von  der 
ersuchung,  grofs  scheinen  zu  wollen 
,,in  dem,  worin  es  andere  waren.  Der 
j.sute  iNIann  findet  überall  seinen  Weg; 
.,er  hat  nicht  nöthi^  durch  fremde  Ahn- 
,,]ichkeiten  sich  in  die  Achtung  der  Vv'elt 

zu  drängen.  Die  ihn  erkennen^  werden 
,,ihn  ehren;  und  die  ihn  nicht  erken- 
,,nen  —  warum   sollte  er  sich  für  blöde 

Augen  vergröfsern  wollen  ?  —  Kein  ver- 
,,derblicheres  Übel  als  ,  diese  Sucht,  in 
., andere  Gestalt  sich  zu  werfen ,  die  lap- 
,,pischen  Verzierungen  des  Zufalls  an  sich 
.,zureifsen.  fremde  Fufsstapfen  zu  betreten. 


6o 


,,uncl  was,  Einmal  gesagt,  Bewunderung 
,,eiTpgte,  durch  ein  Puppenspiel  von  Wie- 
,,derholungen  schal  zu  machen.  Das  Edelste 
„verliert  seinen  Glanz,  die  Tue^end  ihre 
„Wirkung,  das  Genie  seine  Achtung,  wenn 
,,die  lächerlichen  Bemühungen  der  Nach- 
,, ahmer  sich  wie  ein  Nebel  um  ihre  ent- 
,,fernte  Würde  herziehen. 

,,Tch  könnte  die  Entstehung  seltner  Men- 
,, sehen  vervi^ünschen,  wenn  ich  den  Schwin- 
j.del,  den  sie  verursachen,  durch  seine 
,,L!bel  alle  heilsame  Folgen  ihres  Daseyns 
,, aufwiegen  sehe. 

, „Jeder  Ort  hat  seinen  kleingrofscn  Mann, 
„den  der  Weise  verlacht  und  der  Haufe 
„bestaunt.  Lafst  ihm  den  Weihrauch  sei- 
„ner  Jünger,  in  dem  er  Unsterblichkeit 
,,athmet;  Lafst  ihm  das  Ohl  ihres  Lobes 
„für  sein  dürftiges  Daseyn. 

,,Die  sein  bedürfen  ,  mögen  ihn  preisen. 
,,Der  Tribut,  den  ihr  ihm  zolltet,  wäre 
„Schimpf  für  euren  eignen  Geist. 

„Den  grofsen  Mann  beurtheilen,  wer 
,,kann  es,  als  wer  Gröfse  im  Busen  trögt? 


öl 


„Der  Wunsch,  eine  fremde  That  getlian  zu 
„baben ,  ist  der  schönste  Ausspruch  über 
„sie  und  euch.  Und  webe  dem,  der  die 
„ffanze  Geschichte  liest,  und  bey  ruhigem 
„Blute  bleibt! 

„Findet  ihr  endlich  den,  in  dessen  Tu- 
„genden  euer  Ijeben  sich  zum  Einklang 
„der  edelsten  Gefühle  erheljt,  der  euch 
,, Warner  ist  und  Gefährte,  wenn  der 
„lebensmüde  Blick  hoffnungslos  dem  uner- 
„reichten  Ziele  der  Ehre  entgegen  sieht, 
„o  so  umfafst  ihn  mit  ganzem  Herzen : 
„Wohlthaten  des  Edlen  sind  eurem  Haupte 
Kronen  der  Ehre. 

„Freundschaft  —  Blume  des  treiflich- 
„sten  Bodens!  Sie  wird  nicht  gesucht;  sie 
„mufs  gefunden  werden.  Hofft  nie  sie  zu 
„besitzen,  wenn  ihr  sie  nicht  als  das  Ei- 
,,genthum  eines  veredelten  Geistes  in  euch 
„tragt.  Freundschaft  ist  nur  eine  Fähig- 
„keit  der  Tugend. 

„Geht  eure  Bahn.  Drängt  euch  nicht 
„zu;  verachtet  aber  auch  den  nicht,  der 
„euch    entgegen    kommt.      Denkt  eures 


62 


„Alters:  geniefset  die  Schätze  der  Jugend 
„mit  Wahl.  Klagen  eignen  nur  unver- 
„schuldeten  Ijeiden.  Durch  die  Enthül- 
,,]ung  unbekannter  Kräfte  erheben  Übel 
„unsere  Seele.  Jeder  edle  Kampf  wird 
„reineres  Selbstgefühl.  Nur  Übel »  deren 
„Urheber  wir  sind,  bleiben  als  Vorwurf 
„für  unsern  Verstand,  und  Schimpf  für 
„unser  Hera ,  das  herbe  Gefühl  ev/iger 
„Deniüthigung. 

„Dennoch  verachtet  keinen.  Der  Thor 
„ist  nicht  immer  schädlich ,  der  Weise 
„nicht  immer  glücklich;  aber  wie  es  auch 
„treffen  mag,  so  vergesset  nie,  dafs  innere 
Wahrheit  und  Adel  des  Willens  nicht 
„Erfolg  .  .  .  die  Richter  unserer  Hand- 
„lungen  sind. 

„Noch  seyd  ihr  jung,  noch  enthüllen 
,,sich  euch  Kräfte.  Macht  euch  reich  an 
„Erinnerungen,  die  mit  bleibender  Stärke 
„auf  euch  im  Alter  zurückkehren;  macht 
,,euch  reich  für  die  Zukunft.  Was  habt 
„ihr  eignes  als  euer  Gedächtnils?  was 
„habt  ihr  wirkliches  als  euer  eignes  Selbst, 


65 


„eure  Kräfte  und  das  entflohene  Traumbild 
„der  Jugend?  Sie  ist  die  Zeit,  in  der  mit 
„ewiger  Dauer  die  BegrüFe  der  Freude  des 
„Selbstgefühls  und  des  Stolzes  sich  bilden; 
„die  Zeit,  in  der  der  Same  für  künftige 
„Entschlüsse  gedeiht;  die  Zeit,  auf  die  das 
„Alter  mit  dem  Schmerz  verlorner  Liebe 
„zurück  sieht. 

„Noch  seyd  ihr  jung  .  .  .  die  Zeit ,  da 
„Enthusiasmus,  da  der  Geist  mit  hohen 
, »Wünschen  nach  den  Idealen  der  Gröfse 
„blickt.  Handelt,  wirkt,  durchdringt  euch 
„von  der  Würde  des  Menschen,  um  im 
„Gefühl  eurer  Thaten  —  Selbstach- 
„tung,  diesen  ersten  Ring  in  der  Kette 
„der  Tugenden ,  zu  gewinnen.  Werdet 
„nie  gleichgültig  gegen  euch 
„selbst  —  die  gefährlichste  Krankheit, 
„die  es  giebt,  weil  sie  schmerzlos  am 
„Marke  des  Lebens  zehrt. 

„Euch  selbst  zu  bilden ,  ist  das  erste 
„Glied  in  der  Reihe  eurer  Pflichten.  Wie 
„könnt  ihr  sie  erfüllen,  wenn  ihr  euch 
„selbst  vergefst? 


*4   

Sollten  eureThaten  euch  selbst  unsicbt- 
„bar  sicii  verlieren  im  Strom  eurer  Zeit,  — 
„tröstet  euch:  keiner  hat  umsonst  gelebt. 
„Tausende  haben  ruhmlos  gewirkt,  aber 
„darum  nicht  vergänglich  :  ihr  erntet ,  wo 
„sie  säeten.  Wolltet  ihr  w^eniger  thun  ? 
„Wenn .  eitles  Verdienst  im  iNamen  der 

beleidigten  Tugend  sein  undankbares  Ge- 
5, schlecht  bekriegt,  Ruhm  wie  einen  Tri- 
„but  fordert,  und  Vergessenheit  mit  Un- 
„thätigkeit  rächt:  so  seyd  verkannt,  s^eläs- 
„tert  .  .  .  edler  als  Tausende:  - —  „lafst 
„der  Menschheit  nicht  entgelten ,  was  euer 
„Zeitalter  fehlte." 

,, Söhne  eines  gefallenen  ,  unterdrückten, 

leidenden  Volks,  hat  eure  Seele  Gefühl, 
„als  Retter  des  Vaterlandes,  alsEr- 
,,neuerer  seiner  Verfassung,  als  Rä- 
,,cher  des-  Unrechts  dem  höchsten 
„Triumph  menschlicher  Fülle  zu  nahen:  so 
„weihe  ich  euch  in  diesem  Kusse  der  Zer- 
„störung  aller  Hindernisse,  der  Wieder- 
„herstellung  der  Menscbheit;  und  jede 
„Ader,  die  in  diesem  feierlichen  Augen- 


blicke  liölicr  sclilagt,  ruf  einst  Rache 
,,über  euch,  wenn  ihr  yersprecht,  was 
,,ilir  nicht  haltet. 

„Sühne  eines  einst  blühenden  Stam- 
,,inesl  Unter  den  Ruinen  seines  Vater- 
Alandes,  im  einsamen  Grabe  —  verloren 
,,vor  den  Augen  der  Nachwelt,  schläft 
„der  Held  und  der  Weise;  kein  Dank, 
„kein  Name  umgiebt  es,  kein  Jüngling 
„besucht  ihn.  Die  Rechte  des  Ruhras 
,,sind  erloschen.  Unsichtbare  Stille  webt 
,,den  Schleyer  der  Vergessenheit,  der 
,,ewig  dicht  den  Namen  der  Unsterb- 
„Uchen  deckt.  Es  sind  eure  Väter.  — 
Fühlt  ihr  Muth,  ihn  zu  zerreifsen? 
,, Fühlt  ihr  Muth ,  für  Geister  zu  käm- 
,,pfen,  und  erloschene  Ansprüche  durch 
,,neue  Tugenden  herzustellen? 

Weiht  euch  dem  Opfer.  —  Hier  vor 
,,den  Augen    des  Ewigen  blickt  in  das 
Dunkel  der  Zukunft,   in  dem  ihr  nun 
,,mit  dem  Bewulstseyn  wandeln  müfst, 
,,dafs   eine    verborgene  Hand  die  Fort- 

Dya-Na-Sore  i.  Th.  5 


66 


„schritte    zu    eurer    Bcstiiiimung  nach 
euren  Thaten  ahwäge. 

„Nun  den  Becher  des  Abschieds,  und 
,,dann!  Wir  sehen  uns  wieder,  wo  der 
,,Dank  vollendeter  Thaten  am  Altare  des 
„Vaterlandes  euch  den  lange  verborgenen 
„Ts amen  eures  Geschlechts  zurück  giebt.'* 

Tibar  mit  stillem  Ernste  schlug  seine 
Rechte  in  die  Hand  unseres  Vaters  ,  und 
sthwieg. 

Tibar.  Du  hast  mir  eine  grofse  Aus- 
sieht  erölFnet.  Vater!  so  fest  ich  deine 
Hand  jetzt  halte  ,  so  fest  steht  der  Ent- 
schlufs ,  den  Geistern  meiner  Vorfahren 
am  Altare  des  Vaterlandes  ein  Opfer  zu 
bringen ,  das  ihrer  und  ihres  Enkels  wür- 
dig sey. 

Dya'.  Ich  will  sie  dem  Grabe  ent- 
reifsen,  ich  will  auf  den  Nacken  des  Un- 
terdrückers treten ,  und ,  sollte  er  am 
Himmel  seinen  Thron,  in  der  Hölle  seine 
Ketten  befestigen.  Unscrn  Namen,  Vater 


67 


Athor.  —  Findet  ihr  nach  vollende- 
ten Thaten  am  wiederhergestellten  Altare 
eures  Landes. 

„Noch  sprechen  wir  uns,  noch  sehen 
,,wir  uns.  Was  die  Zukunft  verhängt, 
„kann  keiner  vorher  sagen.  Wehe  dem 
„Menschen,  dessen  Wünsche  nicht  an 
„seine  Pflichten  reichen ,  den  edler  Wille 
,, nicht  stark  und  sein  hohes  Ziel  nicht 
,, unerschütterlich  macht !  —  Edel  ist  euer 
„Zweck,  grofs  euer  Lohn  .  .  .  einzuge 
„hen  unter  die  Söhne  des  Alterthums,  das 
,,Land  zu  sehen,  wo  in  Licht  und  Recht 
,,am  heiligen  Quelle  des  Ursprungs  der 
, ^Mensch  in  reiner  Tugend,  frey  und 
,,edel,  dem  Verderben  der  Zeiten  trotzt, 
,,und  nur  der  Wahrheit,  nicht  seinem 
Jahrhunderte  dient.  —  Wenn  diese  Er- 
Wartungen  euch  nicht  siegen  helfen  — • 
,,so  ist  meine  Sorge  umsonst.  Beleli- 
„rung  soll  euch  nicht  fehlen.  Warnung 
„sollt  ihr  hahen.  Freunde  gehen  euch 
,,vor.  Freunde  theilen  eure  Gefahr.  Meine 


Summe  soll  euch  wach  halten,  frem- 
„des  Beyspiel  euren  Mutli  stärken.  — 

,,Aber  wenn  ihr  euch  selbst  entsteht  — 
„wenn  in  euren  Herzen  der  Geist  ehren- 

voller  Forteiferung  nicht  liegt  ;  wer 
„hann  eure  Seele  erheben,  wenn  sie  ver- 
,, zweifelt ,  oder  kühn  machen  ,  wenn  sie 
„schwindelt?  Wo  innerer  Wiederschein 
,, nicht  wirkt,   ist  der  Strahl  von  aulsen 

verloren. 

Wollt  ihr  nicht  - —  so  blei])t,  —  im 
übersättigten  Genufs  eurer  Ruhe,  Reue 
„einst  am  Grame  eines  unedel  welkenden 
Alters,  verlorne  Gelegenheit  einst  zu 
,, bejammern.     Wenns    süfs    wäre,  sich 
,, durch  Schlafsucht  für  Gefühl  und  Thä- 
„tigkeit  zu  entschädigen ;  wenn  die  Last 
,,des  Lernens   die  Freude  des  Wissens 
nicht   überwöge  ;    wenn  Mensch  und 
Thier,  zu  gleicher  Dumpfheit  verdammt, 
„nur  ans   Hinbrüten  ihres  Daseyns  ge- 
,,bunden  wären:  o  so  wäre  wahrlich  das 
Geschenk  dieses  Ijebens  und  die  Sorge 


69 


seiner  Erhaltung  ein  Una,lück,  das  nur 
,,ein  Thor  zu  YerUin2,ern  wünschen 
„konnte. 

,,Wenn  einst  mit  dem  stumpfen  Ge- 
fühle   physischen   Daseyns    eng  unser 
Blich,  unsere  Einbildungskraft  arm,  der 
bunte  Haufe  menschlicher   Dinge  nur 
,,ein  ekles  Gemisch  verwirrter  Erinnerun- 
,,gen  wird;  wenn  der  Gram  entflohener 
,,luäfte  uns  nun  der  freudlosen  Kälte 
eines  gedankenleeren  Alters  preis  giebt ; 
„we.nn  eure  grauen  Haare  der  Spott  der 
Jünglinge,  ihr  vor  dem  elendesten  Lu- 
,,stigmacher  zittern,  und  vor  jedem  klei- 
,,nen  Götzen    die  Knie  beugen  müfst; 
,,wenn  überall  Rath  sei  und  nirgend  Auf- 
,,schlufs  —  Vorurtheile  euch  quälen,  und 
,, fremde  Furcht  durchs  Leben  peitscht: 
,,wehe ,   v/er  im  Schmerzen  seines  Da- 
,,seyns  dann  rufen  mufs :     Verflucht  sey 
,,die  Stunde,  da  ich  Hohn  gegen  Wissen- 
5, Schaft,   und  Bitterkeit  gegen  die,  die 
5, mich  leiteten,  in  meine  Seele  legte,  da 
„ich  muthlos  zurück  blieb ,  und  die  Ver- 


70 


„zweifliing  über  meine  Aussichten  siegen 
„liefs 

„Ist  nicht  Wissen  der  Stolz  unserer 
Natur?  und  Stolz  das  Selbstgefühl  iin- 
serer  Seele?    Ist  nicht  Seligheit  darin, 

„sich  in  sich  selbst  der  Vervollkommnung 

„näher  finden? 

„Gehet  und  seyd  Männer,  Der  Weq, 
„liegt  vor  euch ,  in  euch  der  Wille. 

„Was  euch  auch  begegne,  sucht  in  eurer 
„Bestimmung  den  Aufschlufs.  Macht  das 
„Gröfste  zu  eurem  Ziele.  Gemeine  Vor- 
„züge  wären  Gebrechen  —  an  euch.  Das 
„Edelste,  was  die  Natur  an  Einsicht, 
„Biedersinn  und  Heldengeist  hervor- 
„brachte  .  .  .  Entschlossenheit,  Todes- 
Verachtung  ,  Vaterlandsliebe  ,  Festig- 
„keit,  Uneigennützigkeit ,  sey  euer  Loos. 

„Ungewöhnliche  Forderungen  müssen 
,, durch  ungewöhnliche  Tugenden  erfüllt 
„werden. 

Ehret  mich  in  euren  Thaten,  und  lafst 
„mich  den  Gram  nicht  erfahren ,  dafs  das 


„thiänende  Auge  eurer  Freunde  sicli  mit 
„verfehlter  Hoffnung  von  euch  zu  wen- 
„den  genöthiget  wäre." 

Sein  Anthtz  ward  ernst.  Es  dämmerte 
in  furchtbarer  Erhabenheit.  In  seinem 
Schweigen,  in  dieser  schauerbaren  Stille 
drohte  das,  was  uns  bevorstand,  mit 
zehnfacher  Gröfse. 

D  ya.  Wenn  unsere  Hoffnungen  einst 
Wahrheit,  unsere  Wünsche  Thaten  sind, 
dann  lafst  uns  freuen ,  gerungen  zu  ha- 
ben;  dann,  meine  Brüder,  wollen  wir  das 
feierliche  Geständnifs  unserer  Ijiebe  im 
Hocheefühl  der  Yollcndunü  erneuern. 

Athor.  O  Dya,  Dya,  so  edel  in  dei- 
nem Innern,  aber  auch  run  so  viel  näher 
dem  Verderben,  daf  s  ich  dich  nach  Jah- 
ren gesichert,  weit  über  jenem  Abgrund 
sehen  möchte,  der  dir  droht. 

Dya.  Was  du  sprichst,  glaube  mirs  — 
fühlte  ich  lange.  Darum  suche  ich  die 
Tugend,  um  die  Glut  meines  Herzens 
ihr  zu  heiligen. 


72 


A  t  h  o  r.  Du ,  Hanior ,  der  du  den  Weg 
deiner  Brüder  gehest,  ohne  ihje  Stärke 
zu  haben,  sey  wenigstens  ihr  Freund. 
Oder  schreckt  dich  die  Bahn?  Bleihe 
bcy  inir. 

H  a  m  o  r.  Ich  bleiben?  —  Dafs  dein 
finste;rer  Blick,  die  Freude  bey  den  Hel- 
dcnereignissen  deiner  Lieblinge  —  mich 
mit  dem  Vorwurf  der  Schwäche  zut  Bo~ 
den  drückte  ?  Lais  sie  kämpfen ,  auch 
ich  habe  Kräfte. 

Athor.  Du  versprichst  sehr  viel» 

Hamor.  Das  Ijeben  hat  der  Vorzüge 
manche,  wenn  ich  auch  die  ihrigen  ver- 
fehle. Aber  sie  sind  deine  Liebhnge, 
und  ich  bin  verkannt.  Sie  sollen  sich 
brüsten,  und  ich  soll  ihr  Knecht  seyn! 
Vater,  Vater  !  du  forderst  Liebe,  und 
giebst  — 

A  th  o  r.  Hört  ihn  nicht ;  hört  ihn  nicht, 
er  ist  mein  Sohn ! 

Wehe  dem  Jüngling,  den  mit  solchem 
Tone  sein  Vater  Sohn  heifst! 


Kalt  itand  Hamor  vör  seinem  leiden- 
den Vater. 

Noch  hier,  rief  der  ergrimmte  Dya, 
weg  von  uns  !  — 

Athor.  Lafs  ihn.  Die  Zeit  sey  sein 
Ijehrer. 

Mit  langsamen  Schritte  entfernte  sich 
Ilamor. 

Ath  or.  Gehe  hin  in  Frieden,  und  dafs 
unser  Wiedersehn  einst  besser  sey  als 
unsre  Trennung. 

D  y  a.   Und  er  soll  mit  uns  ? 

Tihar.  Besser  mit  uns,  als  hier  zur 
Qual  eines  Vaters. 

Athör.  Da  geht  er  hin  der  Undank- 
bare, und  höhnt  zur  Ehre  der  Empfind- 
samkeit uns  Barbaren,  die  beym  Ton 
einer  FlÖte  nicht  schmelzen ,  aber  beym 
Namen  Vaterland  glühen.  Wer  hätte 
geglaubt,  dafs  die  Eitelkeit  eines  wei- 
bisch empfindenden  Knaben  über  Trotz 
und  Selbstheit ,    zur  Verachtung  seines 


74 


Vaters  ,  zur  Verletzung  jedes  Bandes  stei- 
gen könnte  ?  —  Und  doch  —  drey  Söhne 
gabst  du  mir,  Gott!  Wie  viele,  die  nicht 
Einen  haben ! 

Den  Becher  des  Abschieds!  Ich  lebe 
in  euch  ! 

Der  Becher  ging  herum  Hand  in  Hand. 
Jeder  gab  nach  alter  Sitte  die  Blume  sei- 
r.es  Herzens,  die  schönste  des  Hains ;  der 
Kranz  wurde  geflochten  .  .  .  das  Zeichen 
der  Trennung  an  Athors  Lager.  In  der 
Dämmrung  seines  zurück  bleibenden  Lich- 
tes sank  der  Halbmond  hinter  Wälder 
hinab.  Der  Nachtwind  wehte.  Die  Blät- 
ter säuselten.  Am  Ufer  brach  sich  die 
Welle,  und  der  einsame  Vogel  schlug  mit 
verlornem  Tone  sein  Lied  im  Räume  der 
Stille.  — 

Stille,  wie  edel  ist  deine  Macht,  wenn 
an  deiner  Hand  der  Mensch  der  Vertraute 
seiner  selbst  zu  werden  wagt!  — 

Wenn  die  Gröfse  in  deinem  Schauer 
ihre  Entwürfe  schöpft,  Freundschaft  bey 
dir  ihre  Erhabenheit,  der  Kummer  seine 


Beruhigung  findet,  unerklärbares  Wesen, 
was  ist  die  Ursache,  dafs  in  dir  jedes 
Gefühl  sich  erweitert  ?  Du  wandeltest  an 
uns  vorüber,  du  tratst  in  unsern  Kreis,  und 
sanft  löste  der  wilde  Schmerz  sich  in 
Thriinen!  — 

O  Stunde  der  Trennung,  wie  oft  kehrt 
mir  dein  Schweigen  zurück! 

AVir  fürchteten  zu  reden ,  die  Zukunft 
in  ihrer  Unermefslichkeit  vor  uns ,  und 
die  Gegenwart  in  ihren  Leiden.  Jeder 
glaubte  die  Bitterkeit  seines  eignen  Ge- 
fühls in  der  Vereinigung  mit  fremden 
Kummer  zu  mehren  ;  jeder  schwieg  :  Athor 
entfernte  sich.  In  ihrem  Jammer  stand 
Ithora.  ,, Morgen !  —  Morgen  werd'  ich 
fragen  ,  wo  ihr  seyd.  — 

,,\Venn  jede  Blume  euer  Bild  erneuert, 
„wenn  ich  allein  bin  —  —  " 

Die  Nacht  verging.  Der  Morgen  kam, 
die  Sonne  über  Wettern,  der  Hain  im 
Dunkel ,  jede  Blume  gebeugt. 

O  Natur,  Natur!  du  trauerst  mit  uns, 
du  milderst  den  Anblick  unsers  Grams 


7(5 


durch  einen  dämmernden  Strahl.  Wenn 
unsere  Seele  bey  Menschen  umsonst  nach 
I/inderung  sucht,  nimmt  — -  was  uns 
u:ngiebt  .  .  .  die  stille  Gegend  den  Schein 
des  Mitgefühls  an. 

Aus  dieser  Ähnlichkeit  alloemeiner  Stiui- 
mung  kehrt  die  Thräne  der  bangen  Erwar- 
tung, und  der  Wunsch,  nie  getrennt  zu 
werden,  veredelt  zurück.  O  nie  fand  ich 
dich  schöner,  Land  meiner  Jugend,  und 
nie  fand  ich  dich  wieder,  als  für  die  Wall- 
fahrt weniger  Tage  zum  heiligen  Ruhplatz 
eines  Vaters.  Das  weissa2;ende  Gefühl 
meines  Herzens  blickte  in  die  Ferne,  wie 
in  eine  drohende  Wolke. 

Hoffnungslos,  mit  thränendem  Auge,  sah 
ich  der  Stunde  entgegen,  die  uns  zurück 
führen  sollte.  — 

„Zurück  oder  nicht  zurück  —  sprach 
„üva.  —  Für  Pflicht  geboren  ist  da  meine 
„Heimath ,  wo  meine  Bestimmung  sich 
„erfüllt. " 

Athor  war  nicht  vorhanden :  im  entfern- 
ten Haine,  am  Grabe  seines  theuren  Weibes 


77 


hatte  er  sicli  verborgen,  um  diircli  das  An- 
denkeii  des  V  ergangenen  den  Schmerz  der 
Gegenwart  zu  mildern.  Ithora  und  zwey 
jüngere  Brüder  standen  um  uns  her.  Ein 
Abschied,  den  keine  Sprache  ausdrückt! 
Die  Gewohnheit  langer  Kindheit  hatte  uns 
verbunden. 

Ich  reichte  ihr  ein  PahnbJatt  von  meiner 
Hand.  Armselige  Geräthe  des  täglichen 
Lebens,  in  deren  Gebrauch  das  Andenken 
mit  dem  Werthe  sich  abnutzt,  war  damals 
nicht  Sitte  zu  geben.  Man  gab  Dinge,  in 
denen  mit  unv^erkennbaren  Zügen  der  Ab- 
druck des  Charakters,  die  Gesinnungen  des 
Herzens  sich  erhielten. 

Die  Tugend  gewann  bey  solchen  Ge- 
schenken, und  jede  Erinnerung  an  einen 
Abwesenden  ward  ein  Trieb  des  Recht- 
thuns mehr. 


7a 


Altai  an  seine  S  c Ii  w e s t e r. 

Jugend  umgiebt  dich  .  .  .  Hosen  des  Früh- 
lings,  dais  in  dauernden  Erinnerungen j 
des  ersten  Daseyns  schöner  Gebrauch  .  .  . 
dir  Frohsinn  im  Alter  und  die  Kraft  hoher 
Selbstständigkeit  werde. 

Des  arglosen  Herzens  unverhullte  Theil- 
nahme  an  Leben  und  Hoffen,  am  Schönen 
der  Wahrheit  und  Dichtung  ist  dein 
Schmuck. 

Vergils  nie ,  wozu  die  Natur  dich  ersah 
.  .  .  Gefährtin  —  nie  Sklavin  eines  Man- 
nes —  die  Strenge  seiner  Seele  und  den 
Trotz  eines  Kämpfers  an  die  Gefühle  wei- 
cherer Menschheit  zu  ziehen.  Darum  hat 
die  Gottheit  ihre  Strahlen  in  dein  Auge 
gelegt,  darum  «ward  Schönheit  und  ihs 
besserer  Sinn  .  .  des  Menschen  stiller  Uber- 
gang in  die  Ahnungen  eines  erhabenem 
Daseyns. 

Ehre  deine  Gestalt  — -  das  Werk  einer 
hohem  Bestimmung  ;  bilde  deinen  Geist  — 
der  Schönheit  höchste  Vollendung.    W  a  s 


wolltest  cIli  ricm  Überdriifs  entgegen  setzen, 
was  der  Vn-iie  eines  Wahnes,  wenn  kein 
höheres  Verdienst  in  des  Vergänglichen 
Reilie  tritt;  was  dem  Alter,  wenn  kein 
Selbstbewufstseyn  dir  einsam  Zufriedenheit 
giebt  y  wenn  Leerheit  deine  Klage,  Spiel 
deine  Rettung,  Spott  dein  Begleiter  —  des 
Lebens  peinigender^üruck  dich  unter  To- 
desfurcht dem  Grabe  zuführt? 

Ferne  den  schwindelnden  Höhen,  von 
denen  der  Mann  auf  Welt  und  Unsterblich- 
keit blickt,  und  mit  einem  Fehlschritte  den 
Unteroang  von  Tausenden  macht  —  sind 
die  Bahn  des  Kriegers  und  seine  Triumphe 
dir  versagt;  die  Stürme  der  Völkerbeherr- 
schung fordern  rauhere  Seelen  und  ein 
kühneres  Bewufstseyn :  aber  du  lenkst 
Herzen  auf  stillem  Pfade  zur  Gewifsheit 
des  Güten ,  du  führst  den  Einzelnen  von 
zerrissenen  Hoffnungen  zum  Lichte  deines 
Werthes,  du  besänftigest  des  empörten 
Geistes  wogende  Zerrüttung  und  den  Un- 
muth  des  Stolzes;  dir  neigen  sich  Män- 
ner, wenn  unbefriedigtes  Streben  in  that- 


losen  Zeiten  sie  an  ihrer  eigenen  Tugend 
zur  Verzweiflung  triebe.  In  der  Würde 
deines  Geistes  liegt  dein  schöneres  Da- 
seyn.  Fühle,  erkenne,  edel  ist  deine 
Stelle  im  Gange  der  Menschheit.  Kein 
Ehrgeitz  zieht  dich  in  seine  verheerenden 
Kämpfe;  kein  Hafs  der  Parteyen  zerreifst 
dein  lange  gehegtes  Wollen,  und  opfert 
in  mifslungener  Rettung  dich  dem  Götzen 
des  Tages  .und  seiner  eigenen  Schlechtheit; 
kein  zagendes  Volk  vernichtet  (^as  Werk 
deiner  Gröfse;  dich  ergreift  nicht  die  Ge- 
walt eines  vielfach  verschlungenen  Da- 
seyns,  das  deine  Thaten  nach  unwill- 
kührlichen  Richtungen  an  dunkle  Ver- 
hältnisse treibt:  diefs  alles  sind  nur  Lei- 
den des  Mannes.  Tausenden  öffnet  er  eine 
Bahn,  kaum  Einer  betritt  sie.  Sein  Volk 
ist  seine  Welt:  die  deine  ist  ein  Herz; 
von  Mensch  zu  Mensch  ist  dein  sichrer 
Wirkungskreis  berechnet;  in  häuslicher 
Nähe  lernt  dein  Geist  sich  innig  und  wah- 
rer an  das  Umgebende  schliefsen ;  du  kennst, 
mit  welchen  du  lebst;  im  Innern  des  Gemü- 


thes  stellt  dein  Reicli.  Edle  Gesinnun- 
gen von  Seele  in  Seele  initgetheilt  sind 
deine  Schöpfung,  an  die  der  Zufall  nicht 
reicht,  an  denen  die  IVIacht  der  Umstände 
nichts  verändert.  Schön  ist  deine  Stelle 
im  Ganzen.  Ehre  dich  in  deiner  Bestim- 
mung. Sey  Weib,  sey  es  ganz  in  sei- 
nem edelsten  Umfange:  diefs  ist  deine 
Gröfse ;  den  Mann  zu  spielen,  dein  ge- 
fährlichster Traum.  Achtung  verdient, 
wer  erfüllt,  was  er  vermag:  jedes  Wesen 
kann  nur  in  seiner  Eigenheit  gut  seyn. 

Weich  für  die  Freude,  empfänglich 
für  das  leise  Vorühergehen  eines  kaum 
merkbaren  Wechsels,  voll  Staunen  beym 
Ungewöhnlichen,  voll  schöner  Achtung 
für  jede  entschiedene  That  —  sollte 
an  euch  sich  berichtigen,  was  dem 
Manne  im  gränzenlosen  Gange  seines 
Muthes  nie  klar  wird  .  .  .  das  beschei- 
dene Mafs  eines  zart  gebildeten  Gefühles, 
das  im  Räume  eines  vergänglichen  Da- 
seyns  sich  Welten  aus  Rosenstaub  schafft, 
des  Kleinen  geniefsend,  jede  Verschieden- 

p3M-xs'.i-Sürc      Tli.  6 


iieit  ergreift,  und  beym  Kampfe  des  Siegers 
mit  süfser  Bewunderung  reicher  belolmt  — 
als  der  Eeyfall  des  Starken,  der  ein  Rich- 
terspruch scheint,  und  dessen  Lob  nur 
Gerechtigkeit  ist. 

So  knüpfte  die  Natur  männliche  Tugend 
an  euer  Dasejai. 

In  leichtern  Wünschen  leichter  befrie- 
digt —  sind  des  Weltlaufs  eiserne  Gesetze 
euch  verhüllt:  euch  reifsen  nur  einzelne 
Bande,  keine  Hoffnungen  im  Schoofse  des 
Ruhms  gefafst.  Nur,  der  Zukunft  lin- 
dernde Gestalten  umgeben  ein  weich  ge- 
schaffenes Herz.  Jede  Hoffnung  wird  ihm 
Zuversicht,  jede  zertrümmerte  Hoffnung 
der  Stoff  vieler  neuen.  Die  Zeit  ist  euer 
Arzt.  Euer  Gram  ist  vorübergehend,  wie 
eure  Wünsche,  der  unsere  bleibt  mit  dauern- 
den Zügen  in  die  Gestalten  unsers  Vater- 
landes geschrieben  ;  überall  öffnet  sich 
euch  eine  schöne  Laufbahn ,  uns  nur 
unter  einem  erhabenen  Volke;  überall 
hat  die  Natur  euch  Honig  in  Blumen  ge- 
legt, überall  gedeihen  eure  Tugenden,  ach 


die  unsein,  wie  Eichen,  nur  in  tiefem 
Boflen.    Wir  sind  groTs  oder  nichts. 

Mehr  harrend  als  handelnd  —  hlühen 
euch  Erwartungen  seltner  getäuscht,  und 
die  Menschen  erscheinen  euch  hesser: 
mehr  an  den  Einzelnen  und  seine  Ver- 
hältnisse als  an  ein  Ganzes  geknüpft, 
sind  des  Menschen  Vorzüge  in  naher 
Beziehung  mehr,  als  sein  weitres  Ver- 
mögen euer  Kreis.  Daher  euer  sich- 
rer ,  näherer  Sinn  gegen  den  Unmuth 
des  Alltäglichen;  daher  jenes  Stillstehen 
hey  weichern  Gefühlen,  und  jenes  schnel- 
lere Mitleid,  jene  Bewunderung  einzel- 
ner Thaten ,  jener  Antheil  an  den  Leiden 
einzelner  (auch  erdichteter)  Ereignisse, 
und  jene  Gleichgültigkeit  gegen  die  Ge- 
schichte eines  Volkes.  Thränen  sollten 
eure  Gabe  seyn ,  wo  der  Mann  im  Be- 
wufstseyn  gleichen  Muthes  —  am  Unter- 
gange der  Einzelnen  nur  das  unerbittliche 
Gesetz  eines  allgemeinen  Opfers,  oder 
das  kühne  Vorbild  seiner  eignen  Unbe- 
zwingbarkeit findet.    S  o  werdet  ihr  des 


84 


Ijeldeiideii  sanfte  Zuversicht,  seine  wie- 
derkebrende  Stärke  unter  Klagen  .  .  . 
Ein  lindernder  Blick  in  die  Tiefe  theil- 
nehniender  Herzen  giebt  ihm  Glauben  an 
Tugenden  auch  jenseit  des  Kampffeldes. 
Er  lernte  wagen ,  trotzen  und  wollen 
unter  M  ä  n  n  e  rn  ;  er  lernt  tragen,  hof- 
fen, und  den  Menschen  in  seinen  Lei- 
den ehren  unter  euch.  An  äufsere  Wi- 
dersprüche unter  steter  Beschränkung 
gewöhnt,  übertrifft  eure  Ausdauer  in 
Leiden  die  unsere  :  aus  der  Erfahrung 
unserer  Kräfte  ziehen  wir  das  Vertrauen 
unserer  Selbstständigkeit  und  den  Muth 
gegen  erhabnes  Unglück  unter  Kämpfen ; 
aber  jedes  unabwendbare  Hinsiechen  un- 
ter kleinlicher  alltäglicher  Kränkung  zer- 
stört unseres  widerstrebenden  Geistes 
stolze  Triumphe ,  und  ein  männliches 
Herz  erliegt. 

Aus  der  Abgezogenheit  eurer  Jugend, 
aus  der  frühen  Bestimmtheit  eines  stil- 
len Lebens  entspringt  eure  Stärke.  Alles 
bedroht  euch;  darum  ist  alles  euch  bedeu- 


tend.  Uberall  macht  ein  engerer  Kreis 
euch  das  Kleinere  wichtig.  In  der 
schrfeckbaren  Stille  des  Kommenden 
drängt  euer  Ohr  sich  nach  jedem  Laute. 
Darum  ist  Vorsicht  euch  näher  als 
Entschlüsse,  Wählen  näher  als  Wollen, 
Erfahrung  verwandter  als  Dichtung; 
darum  das  Herz  des  Einzelnen,  seine 
IS^eigungen  und  sein  Zweck,  die  Men- 
schen in  ihren  Verschiedenheiten  .  .  . 
euch  tiefer  erkannt,  als  der  Mensch 
in  seiner  allgemeinen  Natur.  Darum 
kann  euer  Urtheil  Männer  berichtigend 
leiten,  wenn  kühn,  im  Zutrauen  wie  in 
der  Verachtung  —  der  Stolz  das  ihrige 
verwirrt.  Wer  in  seiner  Kühnheit  euch 
nicht  scheuet,  wer  euch  zu  beherrschen 
glaubt ,  liegt  euch  offen :  Furcht  bildet 
euern  Scharfsinn ;  im  Bewufstseyn  min- 
derer Kräfte  entwickelt  sich  euer  Ver- 
stand. 

Oft  sind  Männer  im  Umfange  dessen, 
was  ihnen  obliegt,  kalt  und  ungerecht 
gegen  das,  was  andre  leisten;    wo  aus 


Cö  —  

rictitlgern  Gesichtspunkten  der  Entfer- 
nung euer  berechnender  Blick  der  Tliat 
bis  in  ihr  Heiligthum  folgt.  Gröfse  be- 
wundern können  ist  —  eure  Gröfse. 
So  knüpfte  die  Natur  euer  Daseyn  an 
den  Wirkungskreis  des  Mannes. 

Regsam  unter  stillen  Träumen,  ölfnen 
tief  in  eurem  Herzen  sich  die  schönen 
Keime  der  Liebe,  in  eurem  bessern  Sinne 
ihr  edleres  Gedeihen.  Wie  im  Reiche 
der  Ehre  der  Mann,  so  herrscht  im  Reiche 
der  Liebe  das  Weib,  und  giebt,  gut  oder 
schlecht,  Gesetze  —  das  Glück  oder  Un- 
glück der  Menschen. 

Dafs  auch  du  der  Liebe  höhere  Bestim- 
mung erkennest,  auch  du  voll  hellern 
Sinns  nur  das  Edlere  wählest,  und  da, 
wo  Leidenschaft  den  Mann  um  sich  selbst 
betrügt,  ihn  zurück  führst,  als  Genius, 
zur  Würde,  die  ihm  eignet  —  —  wie 
schön  ist  dein  Loos  !  Prüfe  mit  Wahr- 
heit: mache  die  Liebe  nicht  zu  weniger 
oder  mehr,  als  sie  soll. 


Es  gab  eine  Zelt,  da  man  Siege  im 
Namen  der  Minne  erfocht:  soll  ich  sie 
verachten  oder  zurück  wünschen?  Man- 
ner, hey  denen  der  Gedanke  der  Ehre 
nur  unter  der  Gestalt  einer  Gewohnheit 
fortwirkte,  die  der  Zufall  erschuf  — - 
Konnte  das  Weib,  zum  Richter  erhoben, 
ohne  dafür  gebildet  zu  seyn  ,  vollgültig 
nach  Gesetzen  entscheiden,  die  die  Eitel- 
keit schrieb  ?  !  Schwach  durch  wechsel- 
seitige Irruno;  —  lao  alle  Gröfse  im  Ehr- 
seitz  einer  Laune ,  und  die  Willkühr  gab 
der  Tugend  ihre  Formen  :  w  i  r  demüthig- 
ten  uns  unter  ihre  kühne  Verblendung. 
Ihrer  Herzen  zarte  Gefühle  erloschen  un- 
ter Herrschsucht.  Der  Mann  hatte  die 
Hälfte  seines  Wesens  verloren. 

Es  kann  seyn,  dafs  Handlungen  ihr 
Erwachen  im  Blicke  eines  weiblichen 
Auges  finden ;  aber  eigennutzlos  ist  die 
Tugend  .  .  .  Wie  kann  ich  s  o  nennen, 
was  an  Lohn  und  Besitz,  an  Verhältnifs 
und  Hoffnungen  hängt  ?  Der  Mann  steht 
im  Dienste  der  Menschheit;    der  Stol/i 


08 


eines  zärtlichen  Liebhabers  wird  nur  zu 
leicht  eine  unnütze  That,  oder  ein  üppi- 
ger Reitz  verkehrter  Begriffe.  Wehe  den 
Zeiten,  die  in  ihrem  Wahne  der  allge- 
meinen Ordnung  widerstreben! 

Es  gab  eine  Zeit,  da  die  Last  eines 
schlaiTen  Jahrhunderts  unmännlich  zu 
einem  empfindsamen  Schwindel  hinab 
rifs  ;  da  die  Kränklichkeit  müfsiger  Ent- 
artung sich  schmelzende,  ruhlose  Ge- 
fühle und  eine  Hoheit  leidender  Hinge- 
bung erträumte  ;  da  der  König  Mann  bald 
aufgespreitzter  Held,  bald  als  weinen- 
der Schäfer  zu  den  Füfsen  seiner  über- 
müthigen  Gebieterin  lag:  der  Mensch 
mufste  fallen,  sobald  der  Zufall  eines 
Lächelns  über  seine  Wünsche  entschied. 
Er  sank  hinab  zum  Spiele  fremden  Wol- 
lens ,  und  lernte  unmerklich  auch  im 
Wichtigsten  sich  Ketten  anlegen ,  die 
jedes  Jahrhundert  einer  falschen  Uber- 
macht trägt.  Täuschungen  fanden  ihren 
Weg  durch  Weiber  vorbereitet,  und  die 
todte  Macht  der  Tyranney  siegte  über 


Männer,  die,  sorglos  und  klein  —  Reclite 
für  einen  ertriiuinten  Preis  vergaisen. 

Fühle ,  welche  edlere  Wahrheit  sich 
dir  öfFnet.  Sey  Weib,  um  Männer  zu 
begeistern,  nicht  um  in  einem  irrigen 
Reiche  unter  Sklaven  zu  schwindeln. 
Weg  von  jenen  kindischen  Ansprüchen, 
durch  welche  eure  irrige  Majestät  sich  zu 
befestigen  glaubt  betrogene  Gebie- 
terinnen, verspottet  in  einer  Macht,  der 
man  huldigt  um  zu  verderben,  baut  nur 
die  Absicht  euch  Altäre:  dafs  nie  iTire 
Stimme  dich  verlocke. 

Werde  wozu  die  Natur  dich  bestimmte 

 der  Genius  ruhiger  Stunden:  wenn 

das  Herz  unter  Stürmen  sich  nach  Stille 
sehnt  ,  dann  mag  dein  Gesang  eine  Ge- 
gend erheben ,  dein  Andenken  —  Ge- 
wifsheit  des  Bessern,  dein  Geist  der  Zau- 
berkreis werden  ,  der  rauhere  Männlich- 
keit in  süfse  Kollnungen  schliefst.  Er 
werde  gerecht  an  deiner  Hand  gegen 
den  Einzelnen;    nachsichtig  gegen  den 


Scliwächern ,  der  im  Kleinen  seine  Tu- 
genden übt;  stark  in  deinem  erkannten 
Werth  für  deine  Sicherheit  ;  muthiger 
für  deine  Rettung :  er  kämpfe  und  leide 
für  das  hohe  Bild  seiner  Seele  —  Edler 
IVTuth  ist  die  Frucht,  und  seine  Kräfte 
streben  in  einer  schonen  Bestimmung. 
Aber  vergessen  darf  er  nie,  dafs  dein 
Besitz  nicht  sein  Zweck ,  dafs  er  bessern 
Dingen  bestimmt  ist,  als  der  wimmernde 
Süfsiing  im  Schoofse  falscher  Empfind- 
samjieit  zu  seyn.  Wehe  ihm  und  dir, 
wenn  er,  fremd  für  Gröfse  —  sich  an 
die  üppigen  Truggestalten  zerstörender 
Gelüste  kettet,  wenn  er  edler  Ereignisse 
leer,  ohne  Vaterland,  ohne  begeisternde 
Wahrheit,  Liebe  .  .  .  für  seine  Beschäf- 
tigung, und  ihre  blendende  Eitelkeit  .  .  . 
für  seinen  Ehrgeitz  hält! 

Man  spottet  eures  Wesens :  und  wer 
verbildet  es,  als  der  falsche  Sinn  eines 
siechen  Jahrhunderts  ?  !  Wer  spottet 
euer,  der  nicht  in  seinem  Spotte  sich 
selbst  zur  Erniedrigung  würde.  Unrich- 


9^ 


ti<2:  erhöht  oder  erniedrigt  — -  hat  man 
eure  Bestimmung  verkannt.  Man  hat 
euch  zu  untergeordneten  Spielwerken 
gemacht,  und  ihr  rächtet  euch  durch  eine 
erschlichene  Macht.  Sey  edel,  und  strebe 
freywillig  die.  Thorheit  aller  Zeiten  zu 
tilgen. 

Man  spricht  von  eurer  Schwäche ,  und 
doch  ist  sie  in  ihrer  Grundlage  nur  die 
schöne  Individualität  einer  reitzbaren 
Seele.  Man  spricht  von  eurer  Eitelkeit; 
man  tadelt  euren  Hang  zum  Putz :  als 
ob  der  Mann ,  der  auf  glänzende  Waffen 
hält,  oder  der  mit  Thaten  und  Wissen 
prangt,  Nachsicht  verdiente  ?  —  Und  ist 
nicht  diese  Neigung  zur  Anmuth  die  Seele 
eures  Charakters  ?  bestehet  nicht  in  ihr 
diese  ganze  Biegsamkeit,  dieses  Ansich- 
halten ,  die  Wirkung  eurer  B^eitze  ?  — 
Mit  ihr  —  versagte  man  euch  Sitt- 
samkeit  und  Tugend;  müfsigen  Stunden 
giebt  sie  Beschäftigung,  sie  ruft  den 
Wahn  -der  Tugend  zu  Hülfe,  und  legt 
in  euer  Wesen  die  Würde,  vor  der  schon 


9^   

mancher  unedle  Antrag  zurück  trat.  Sie 
lehrt  euch,  euch  selbst  achten,  und  einen 
Preis  auf  euren  Beyfall  setzen. 

Lafs  deine  Schönheit  die  Freundin  dei- 
ner Tugend  werden ,  und  dein  Glück 
wird  nie  vergehen.    Lehe  wohl. 


Ein  schmerzender  Abschied,  und  eine 
Welt  neuer  Gegenstände  machten  unsere 
ersten  Trennungstage  zur  anhaltenden  Be- 
täubung- Den  ersten  Standort  sollte  uns 
die  Hauptstadt  unseres  Landes  geben.  „Un- 
bestimmt, durch  ein  geschäftloses  Leben, 
in  der  INähe  der  Üppigkeit  —  die  erste 
Probe  unserer  jugendlichen  Selbstbeherr- 
schung abzulegen."  Menschen  ,  ihre  Ver- 
gnügungen, ihre  Geschäfte,  ihre  Verhält- 
nisse, so  manches  Schauspiel,  auf  dessen 
Erscheinung  uns  in  unseres  Vaters  stillem 
Hause  auch  nicht  Eine  Ahnung  vorberei- 
tet hatte;  so  schneidende  Gegenbilder  über- 
raschten, verwirrten,  bedrängten  uns  in  zu 
schneller  Folge.     Erschüttert  widerstrebte 


unser  Geist,  und  ward  fester  im  Wider- 
streben. Ein  sanfterer  Übergang  hätte  uns 
vielleicht  schleichend  achtlos  in  seine  Ab- 
wege gezogen. 

Wie  schön  hatte  uns  die  Welt  ausunserm 
entfernten  Schutzorte  ruhiger  Träume 
gedankt :  und  wie  verächtlich,  schal  und 
selbsterniedrigend  nun  dieses  Geschlecht, 
„für  dessen  Wohl  sich  aufzuopfern,  unserm 
heifsen  Gefühle  ein  so  edles  Loos  schien!" 
Unbestimmtheit,  wo  unser  Auge  hinsah! 
Mangel  an  jedem  festen  Ziele !  Unwissen- 
heit in  aller  Mannigfaltigkeit  ihrer  Täu- 
schung, ihres  Stolzes,  ihres  Wankens, 
ihrer  nie  befriedigten,  selbstverworrenen 
Leere !  Menschen  in  der  Wiederkehr  klei- 
ner Leidenschaften  —  beschäftigt  mit 
Nichts ,  arbeitsam  aus  Verschwendung , 
Verschwender  aus  Geistesarmuth ,  ehrlich 
aus  Furclit  und  gehorsam  um  der  Streiche 
willen ,  ohne  Kenntnifs  ihrer  selbst ,  ohne 
Achtung  ihrer  wahren  Natur,  ohne  Freund- 
schaft, ohne  Wärme,  ohne  Liebe f  ohne 
Zeit  —  im  Gewirre  der  Langenweile, 


94 


die  sie  sich  wechselseitig  Schuld  gaben, 
lind  für  die  sie  sich  wechselseitig  hals- 
ten!  Wo  blieben  sie  nun,  die  Hoffnun- 
gen der  Jugend  ?  !  die  Thaten ,  die  wir 
thun  wollten ,  und  für  die  wir  keine  Ver- 
anlassung fanden  ? !  Wo  waren  sie  nun, 
jene  romantischen  Bilder  der  Einbildungs- 
liraft,  die  Tausende  bereit  zur  Aufnahme 
crotser  Entwürfe  —  nur  des  Schrittes 
unter  sie  zu  bedürfen  glaubte,  um  von 
Allen  cri\annt,  von  Allen  verstanden, 
eins  mit  ihnen  .  .  .  Freunde,  Theilneh- 
mer,  Gefährten  jedes  edlen  Unterneh- 
mens zu  finden!  — 

Das  hohe  entfernte  Gemälde  leidender 
Tugend  ,  „durch  unsere  Hände  dem  Auf- 
enthalt entrissen  ,  wo  eine  schleichende 
Macht  in  ihren  Thränen  sie  gefesselt 
hielt , "  verwandelte  sich  schnell  in  die 
Gestalt  eines  Wahnwitzigen,  der  im 
Mifsgefühl  seiner  Leiden  .  .  .  die  Stille 
des  Gefängnisses  für  Ruhe,  die  Nahrung, 
die  m«n  ihm  aus  Eigennutz  reichte,  für 
Wohlthat  hielt.    Die  Erde  däuchte  uns 


ein  grofser  Kerker;  die  Bankette  ihrer 
Mächtigen  —  Blahle  eines  Wilden ,  der 
Menschen  für  seine  Feste  mästet,  und  in 
ihren  Martern  sciiwelgt.  • 

Aber  mehr  als  alles  empörte  uns  ,  dafs 
der  Mensch  selbst  für  das  mühselige  Ta- 
gewerk seiner  Erhaltung  allen  Gräueln 
sich  verkauft,  dafs  jeder  Ungerechte  Tau- 
sende findet,  und  in  der  allgemeinen 
Entwürdigung  —  finden  mufs,  die  mit 
rastlosem  Scharfsinne  —  Bande  des  Ge- 
setzes in  Ketten  der  Willkühr  verwan- 
deln, um  mit  fühllosem  Eigennutze  Ivlil- 
lionen  zu  den  Fülsen  der  Wenigen  hinzu- 
schleppen ,  die  uns  alle  nur  darum  in 
unserer  kriechenden  Duldung  verachten, 
weil  der  entwichene  Genius  der  Mensch- 
heit ihnen  nie  in  seiner  Gröfse  erschien. 

O  unglücklich  hatten  wür  sie  gedacht, 
aber  nicht  selbstschuldig ! 

Da  standen  sie  nun,  TibarundDya,  am 
lange  gewünschten  Eintritte  des  Lebens  : 
nicht  Eine  theilnehmende  Seele  ihnen 
nahe,    Fremdlinge  überall,    verlacht  in 


9Ö   

ihren  Gesinnungen,  betrogen  in  iluem 
Vertrauen,  unter  Wesen  —  die  stolz 
auf  Gesetze,  ihre  Kräfte  zu  zerstören, 
stolz  auf  Erfindungen,  die  ihre  Tugend 
vernichten ,  stolz  auf  Thorheiten ,  und 
gleichgültig  für  alles,  was  edel,  was 
grofs,  was  unsterblich  ist  —  der  Idee 
eines  Vaterlandes  höhnten  ;  denen  jeder 
Enthusiasmus  —  W^ahn,  jede  Aufopfe- 
rung —  Unsinn,  jede  Liebe  des  Gemein- 
besten - —  Traum ,  jede  grofse  That  — 
nur  ein  gröfserer  Glaube,  Eigennutz  — 
die  einzige  Triebfeder,  Menschenverach- 
tung —  die  einzige  Wahrheit ,  von  ihrer 
Unverbesserlichkeit  überzeugt  seyn  —  der 
einzige  Gewinn  aller  Erfahrung  schien ! 

Dann  kamen  die  Stimmen  quälender 
Tröster : 

,, Warum  mufstet  ihr  in  der  Verschie- 
„denheit  eurer  Vorstellungen  die  Züge 
„zum  Bilde  der  Menschheit  suchen  ?  ! 
Oft  quält  der  Freund  am  Krankenbette 
sich  mit  Leiden ,  die ,  Dank  seiner  wohl- 
thätigen    Fühllosigkeit ,    der  lächelnde 


97 


Beklagte  nicLt  kennt.  Oft  erregen  fremde 
„Kla£€^n  erst  das  eingebildete  Gefühl  der 
„Schmerzen.  Lafst  die  IVfenschen ;  Un- 
„vvissenheit  ist  ihr  bester  Trost." 

Besser  leidend  als  fühllos  !  rief  dann  Dya, 
oder  sollen  sie  ewig  dumpf  —  nie  ihrer 
Erniedrigung  sieb  schämen  ?  Auf  mit  ihnen! 
unter  Foltern  —  wenn  nur  Foltern  sie  er- 
wecken !  der  Trost:  ,,Und  sind  sie 
„e  r  n  i  e  d  r  i  g  e  t  y  —  oder  nur ,  w  a  s  sie 
,,seyn  können?  Konnten  sie  den  Ersatz 
„ihres  Verlusts  in  den  Graueln  ihrer  jetzi- 
„gen  Verwirrung  finden  —  so  verdie- 
„nen  sie  ihr  Schicksal,  so  war  Gröfse  nie 
„ihr  Erbtheil,  und  Verächtlichkeit  ihr 
„Loos;  so  sanken  und  sinken  sie,  wie  jede 
„todte  Last,  durch  ihre  eigene  Schwere. 

„Üafs  ihr  zürnt,  dafs  ihr  leidet,  dafs 
„ihr  Meinungen  habt  —  —  ist  das  ein 
„Beweis,  dafs  es  seyn  sollte  wie  ihr 
,,wünscht'?  Ihr  wollt  uns  belehren: 
„wo  ist  der  Freybrief  eurer  Erfahrung? 
„Tst  nicht  Stolz  eure  höhere  Tugend  und 
„Selbstgefälligkeit  euer  Trieb?  Prüft  die 
rya-Na-Sorc  i.  Tli. 


„Launen  eurer  Wünsche  Mit  dem 

„Traum  eurer  Kräfte  sinkt  vielleicht  das 
„Bild ,  das  den  Menschen  so  hoch  über  sich 
„selbst  (und  euch  über  ihn)  hebt." 

So  schailt  der  kalte  Klügling  sich  überall 
Gründe ,  seine  Unthätigkeit  zu  entschul- 
digen :  in  diesem  Drange  nach  Entschul- 
digung ein  Beweis,  „dals  auch  im  ver- 
dorbenen Herzen  ,  das  Gefühl  höherer  Be- 
stimmung nie  aanz  beruhigt  schlafe." 

Wer  lästert,  um  sich  zu  vertheidi- 
gen  —  ist  seiner  eignen  Sträflichkeit 
geständig. 

Sähe  der  edle  Mann  nur  auf  Lohn  und 
Folgen,  betrachtete  er  den  Menschen  nur 
einzeln  in  seinen  Verderbnissen,  wüiste 
er  nicht  .  .  was  er  seyn  kann,  wäre  die 
Menschheit  nicht  sein  Bild,  würde  er 
handeln?  Aber  von  ibrer  verdunkelten 
Würde  reifst  sein  heller  Verstand  die  Hülle 
hinvt^eg;  Vorurthcil ,  einschläfe/nde  Träg- 
heit, muthlose  Zweifel  .  .  nichts  wirkt 
auf  ihn;  in  seinem  Busen  gilt  kein  Grund 
der  Beruhigung,  kein  Gemeinspruch  und 


99 


keine  eigne  Erhaltung;  so  lange  sie,  deren 
Held  er  ist,  noch  im  Staube  der  Erniedri- 
gung leidet :  das  Bedürfnifs  seiner  Seele 
ist  ihre  Rettung.  Und  ihr,  die  ihr  nicht 
fühht,  wie  er,  ihr  könnt  ihn  so  wenig 
beurtheilen,  als  den  ]\Tann,  der  um  seine 
Geliebte  zu  retten  sich  in  die  Flammen 
stürzt,  und  so  manchem  ein  Thor  scheint. 

Wer  nicht  mit  Leidenschaft  den  Gpoen- 
stand  seiner  Wünsche  umfafst;  wer  kalt 
und  trag  noch  an  jedem  beruhigenden 
Scheinestill  stehen,  an  jeder  Unmöglich- 
keit zurück  gehen,  an  jedem  schmeicheln- 
den Wahne  eigner  Güte  sich  befriedigen 
kann:  weg  mit  ihm;  ihm  hat  die  Natur 
das  Erbgut  des  grofsen  Menschen  versagt .  .  . 
einen  hellen  Verstand  und  eine  edle  Einbil- 
dungskraft. Thier  zu  Thier  geselle  er  sich 
zur  Herde,  und  lebe  in  endloser  Kleinheit 
stumpf  bey  alltäglichem  Genüsse  und  all- 
täglicher Freude! 

So  spreche  ich  jetzt,  da  meine  Gefühle 
durch  den  Anblick  grofser  Thaten,  mein 
Herz  durch  den  Umgang  edler  Freunde 


erweitert  —  Walirlieit  mir  tlieiirer  ist  als 
meine  frühere  INeigung.  Aber  nicht  ganz 
so  sprach  und  dachte  ich  in  jenen 
ersten  Tagen;  als  ich  den  Kummer  meiner 
Brüder  in  ihren  Augen  las  ,  ohne  in  mei- 
nem [nnnern  seine  volle  Auslegung  zu  lin- 
den. Ich  wollte  sie  trösten.  Oh!  ich 
Icannte  noch  nicht  den  Stolz  der  Trostlosig- 
keit, die  durch  nichts  vom  Gefühle  uner- 
füllter Pflichten  sich  abziehen  liifst.  Wie 
klein  erscheine  ich  mir  jetzt  !  Die  unfafs- 
liche  Kraft  höherer  Menschen  ist  der  Kum- 
mer der  schwächern  :  sie  verkennen  gerne, 
wns  sie  nicht  erreichen, 

Lafst  mich  abbrechen.  Ich  bin  unfähig 
mich  selbst  in  einer  Gestalt  einzuführen, 
deren  Wahrheit  mir  jetzt  dreyfach  grölsere 
Selbstverläugnung  kosten  vi^ürde;  als  wenn 
ihr  durch  nachfolgende  Handlungen  dem 
verbesserten  Manne  die  Schwächen  des 
Jünglings  zu  verzeihen  geneigt  seyd.  Ks 
oiebt  Seelen,  die  aus  eigner  Stärke  dem 
zueileiv,  was  ihnen  eignet:  indels  andre 
nur  an  der  Hand  eines  Führers  unter  Dranor 


101 


und  Noth  den  Muth  erreichen  ,  der  Bequem-r 
lichkeit  gegen  Ehre  vertauscht. 

Wenn  Tibar  und  Dya  in  jedem  Verhalt- 
nisse dem  Wirkungskreise  höherer  Zukunft 
nachspürten,  ach!  so  hin^^  ich  noch  mit 
tiefem  Sehnen  am  Vergangenen,  und  be- 
rechnete Stunde  für  Stunde  welche 
Spiele  ,  welche  Arbeit  in  meiner  Heimatli 
einst  mich,  jetzt  meine  Entfernten 
beschäftigten.  Die  schöne  Natur  war  mir 
t  heu  er;  aber  nur  theuer  mit  der  Zärtlich- 
keit eines  Weichlings,  der  in  ihren  Rück- 
erinnerungen  am  Verlornen  kränkelt.  Der 
Mann  ,  der  für  die  Zukunft  träumt ,  ist  ein 
Schwärmer:  der  Mann,  der  an  der  Ver- 
gangenheit siecht  .  .  was  ist  er?  —  Ein 
Schwächling.  So  war  ich,  und  weg  damit. 

Geist  meiner  Väter,  wie  wahr  hat  eure 
Klugheit  verordnet!  Wie  ganz  anders  ent- 
wickelt sich  der  Mensch  von  seinem  ange- 
bornen  Hause  entfernt;  wenn  all  die  ein- 
seitigen Verhältnisse  der  Aclitung  und 
Liebe,  des  Gehorsams  und  der  Gefälligkeit 
schwinden;   wenn  niemand  uns  entg<^gen 


kommt;  wenn  aber  auch  unser  Urtheil, 
nicht  mehr  vom  Ansehen  eines  Vaters  be- 
schränkt, sich  freyer  fühlt,  und  selbst- 
überlassen entscheiden  mufs,  um  die  Wahl 
unserer  Schritte  zu  lenken  !  Freylich  lastet's 
im  Anfang  :  die  Ruhe  des  Gehorsams  scheint 

süfser  als  die  Unfrewilsheiten  einer  schwer 
o 

zu  bebauptenden  Freyheit.  Aber  der 
Mann  reift,  und  die  Seele  erhebt  sich, 
wo  schnelle  Entschlossenheit,  aus  Noth 
erzeugt,  durch  Gewohnheit  genährt,  im 
Scboofse  des  Muthes  mit  Löwen  spielen 
und  Gefahr  zur  Freundin  des  Selbstgefühls 
machen  lernt. 


Ein  Jahr  war  nun  vorüber,  ruhmlos  ver- 
lebt, ohne  Ereignisse,  ohneGrÖfse,  ohne 
Thaten:  aber  das  finstre  schwarze  Gewirre 
des  ersten  Anblicks,  unsere  Begriffe  hatten 
sich  näher  bestimmt,  unsere  Meinungen 
über  den  Menschen  erweitert,  der  Unge- 
stüm der  ersten  Empfindung  unter  so  man- 


  103 

eher  Erfahrung  gemildert,  und  der  Stolz 
des  Jünglings  —  —  die  Begierde  zu  wir- 
ken —  in  die  reinere  Überzeugung  verlo- 
ren  ,  dafs  „Wirksamkeit  —  von  reifen 
Kräften ,  und  die  Fähigkeit  wohlthätig  für 
andre  zu  werden  —  von  strenger  Selbst- 
bildung  abhänge." 

Wir  sahen  immer  klarer,  was  man  so 
selten  sehen  will ,  „dafs  mehr  Irrthuni  als 
Verderbtheit  —  d.is  Böse  —  von  Ver- 
wicklungen ,  die  den  Geist  ohne  Ubersicht 
eines  Ganzen  durch  das  Einzelne  unmerk- 
lich fortziehen ,  das  Gute  —  immer  von  einer 
unzerstörbaren ,  widerstrebenden  Kraft, 
,,sich  ein  Ganzes  zu  bilden  und  für  ein 
Ganzes  zu  wollen "  —  —  in  unserm  In- 
nern entspringe;  und  dafs  man  nicht  das 
Schlimme,  welches  Einzelne  haben,  son- 
dern welches  sie  nicht  haben,  und  nach 
allem,  was  Lage,  Erziehung,  Gesetze, 
iVIeinuiiojen ,  und  verderbte  Absicht  ande- 
rer an  ihnen  verschieben,  haben  soll- 
ten —  berechnen  müsse ,  um  den  wahren 
GeLalt  ihres  W^esens  und  eine  reine  Schät- 


104  

zung  des  unzerstörbar  Guten  in  unserer 
Natur  zu  erlangen. 

So  entsclilunmierte  dann  allmählich  jener 
unzufriedne  erste  Drang,  der  so  manchem 
Achtzehnjährigen  die  Welt  als  einen  de- 
müthigenden  Schauplatz  verkannter  Grölse 
zeigt ,  der  ihm  Ekel  giebt  gegen  alltägliche 
Geschäfte,  ungerechtes  Gemiithe  gegen 
die,  die  ihn  umgeben,  und  im  Stolz  eig- 
ner Vorstellungen  - —  jeden  Weg  ihrer 
Ausführbarkeit  verschliefst. 

Wer  kann  handeln,  als  der,  der  den 
Menschen  ganz  kennt?  Wer  kennt  ihn, 
als  der,  der  nach  tausend  und  aber  tau- 
send Verhältnissen  ,  ,  .  Kräfte  u.id  Wün- 
sche,  Eindrücke  und  Vv^irkungen,  Ver- 
schiedenheit und  Leidenschaften ,  Blen- 
dung und  Seelenflug ,  Einsicht  und  IViei- 
nungen  zu  berechnen  weifs;  der  den  Geist 
seiner  Zeiten  mit  der  Wahrheit  höherer 
EegrilFe,  und  das  Bild  der  reinsten  Weis- 
heit mit  der  Emjjfänglithkeit  seines  Volkes 
in  Ver<7leich  zu  setzen  —  Kraft  und  Ent- 
sagung  hat? 


„M uth,  sagte  unser  Vater,  sey 
euer  Gefährte!"  Aber  Muth  ohne 
Forschen  sey  Thorheit  .  .  sahen  wir  nun. 

„Die  Bestimmung  des  Men- 
schen sey  euer  Gesetz!"  Aber  die 
Artung  derer,  die  mit  uns  sind,  müsse  die 
Anwendung  vorzeichnen  .  .  .  begriffen 
wir  nun:  überall  sey  der  edelste  Lehrsatz 
nur  ein  Werkzeug,  und  sein  Gebrauch 
unsere  Kunst ,  und  jede  Kunst  eine  Übung 
aus  vielseitigem  Wissen. 

Jetzt  erst  fingen  wir  an  zu  verstehen, 
was  es  heifse :  „Nichts  stehe  allein,  alles 
,,sey  wechselseitig  verbunden.  Unglück- 
,,lich  und  Unglück  bringend  sey,  wer  sich 
„unwissend  brüste:  aber  am  schädlichsten 
„der,  der  die  Wahrheit  nur  stückweise 
„erkenne,  und  im  Stolz  seiner  Begriffe  — 
„die  demüthige  Wissenschaft  alltäglicher 
Beziehungen  übersehe.  Die  Geschichte 
„zeige  uns  Götterbilder  der  Ferne,  und 
„was  aus  dem  Ganzen  der  Völker  her- 
*>vor  ging :  aber  nur  im  Blick  auf  die ,  die 


lOÖ   — 

,,mit  uns  leben,  lerne  man  —  was  der 
,i,Einzelne  sey. 

„Irrthum  müsse  früh  oder  spät  sich  ent- 
hüllen:  ein  Wahn  trage  seine  Zerstörung 
„in  sich;  denn  spät  oder  frühe  müsse  er  in 
,, seinem  eigenen  Drucke  seine  Anbeter 
„empören.  Aber  jedes  losgerissene,  ver- 
„einzelte  Gute  werde  ein  Glaube  ,  gegen 
„den  man  weniger  kämpfe  als  seufze; 
„ein  Scheinlicht  schwächender  Erwartung  ; 
„oder  wie  ein  Treibeis  stürmender  Flu- 
„ten,  durch  seine  eigne  Gewalt  zerschel- 
„lend  —  der  Untergang  derer,  die  es  be- 
„stiegen.  Millionen  hätten  jedes  einzelne 
„Wahre  mit  ihrem  Blute  besiegelt:  Jahr- 
„tausende  hätten  gekämpft,  und  um  was 
„sey  die  Menschheit  einem  reinem  Ver- 
„hältnisse  näher  ?  !  " 

Diefs  waren  die  Regeln :  und  tief  in 
unsere  Seelen  legte  ein  thatenloses  aber  for- 
schungsreiches Jahr  den  Gewinn  ihrer  Be« 
stätigung. 

Die  Geschichte  unseres  Volkes ,  und  der 
Blick  auf  seinen  Zustand,  der  Zweck,  mit 


107 


dem  man  Gesetze  gab,  und  der  Geist,  mit 
dem  man  bestehende  anwandte,  ber/^iteten 
unter  dem  täglich  erweiterten  Gesichts- 
punkt, „wie  Arglist  und  Beschränktheit 
alles  Menschliche  beherrschen,  und  alles 
Gewollte  unter  tausend  Nebeneinwirkun- 
gen oft  o;anz  zum  Gegentheil  werde,"  — 
uns  vor  .  .  zur  gerechten  Furcht  des  Au- 
genblicks, wenn  der  Gang  der  Dinge  uns 
einst  zwingen  würde,  zu  handeln,  und  die 
Macht  eines  begonnenen  AVerkes  uns  käm- 
pfend  an  die  Klippen  des  Daseyns  triebe. 

Um  nicht  ziellos  auf  dem  weiten  Meere 
menschlicher  Kenntnisse  zu  irren ,  wählte 
jeder  eine  bestimmte  Beschäftigung.  So 
ward  das  Allgemeine  uns  klärer  durch  ein- 
zelne Verwendung;  so  traten  wir  Men- 
schen näher  durch  Gleichheit  der  (Gegen- 
stände: nur  durften  wir,  wie  Tibar  stets 
erinnerte,  nie  vergessen,  dafs  alles  Ein- 
zelne nur  jNIittel,  nie  Zweck  werden 
sollte. 

Sein  reiferer  Geist  ward  unser  Verei- 
nigungspunkt.   Fr  wählte  Baukunst :  unter 


103  —  

allen  Künsten  die,  welche  dem  all j^e mei- 
nen Daseyn  der  Gesellschaft  am  innigsten 
nahet,  über  ein  weites  Feld  von  Kenntnis- 
sen in  unmittelbarer  Anwendung  herrscht, 
und  durch  kühne  Verknüpfungen  den  Geist 
zur  Gröfse  zieht. 

Er  hätte  den  Stand  eines  Kriegers  ge- 
nommen ,  wenn  die  unglückliche  Lage 
unseres  Vaterlandes  ihn  nicht  zum  Werk- 
zeug g('gen  sein  Volk  gemacht  hätte. 
Dennoch  "bVieh  der  Blick  seiner  Seele  un- 
ablässig dahin  gewandt,  und  in  früher 
Beobachtung  sammelte  er  Fertigkeiten,  in 
späterer  Anwendung  so  glänzend  erwiesen. 

An  alle  helle  Menschen  natürlich  gezo- 
gen, erschien  er  bald  im  Schimmer  holF- 
nungsvoller  Jugend  vor  Freunden  und 
Schmeichlern.  Wahre  und  irrende  Güte, 
Arglist  und  Parte)  stolz  suchten  bald  durch 
viel  versprechende  Aussichten ,  durch  den 
Lockgesang,  ,,man  müsse  sich  verwenden, 
man  müsse  früh  beginnen,  um  früher  zu 
schimmern,"  durch  tausend  halb  wahre 
Sätze,  durch  Anerbieten  und  Zudringen 


({e,n  festen  Gang  seines  Gemüthes  zu 
leiten. 

Selbst  König  Elvarazim ,  dessen  Willen 
er ,  wo  viele  verzweifelten  —  in  einem 
Gebäurle  mit  jugendlichem  Mutlie,  aber 
auch  mit  glücklicher  Standhaftigkeit,  „nie 
Gesetze  der  Kunst  einer  Laune  unterzuord- 
nen/' erreicht  hatte,  falste  so  viele  Nei- 
gung; für  ihn,  dafs  er  beynahe  mit  Gewalt 
seine  Dienstnehmung  zu  erzwingen  strebte. 
Die  Achtuno  ,  welche  Tibar  für  das  ^yirk- 
iichgrofse  Elvarazims  hegte,  war  eine 
Klippe  mehr  für  seine  Weigerung :  tausend 
Vorbildungen  erschwerten  sie  —  „was  in 
der  Nähe  eines  solchen  Königs,  der  das 
Gute  mehr  verkannte,  als  nicht  suchte,  er 
in  frühem  Einflüsse  leisten  könne!"  — - 
Niemand  leitete  ihn ,  blofs  die  Überzeu- 
gung —  „dafs  ein  Jüngling  noch  zu  viel 
wolle,  um  richtig  zu  wollen.** 

„Nur  der  Mann  kann  die  Nähe  eines 
Königs  ertragen,"  blieb  seine  letzte  Ant- 
wort. 


HO 


Elvarazim  erkannte  die  Wahrheit,  und 
entliefs  ihn,  „nach  seinen  eignen  Gesetzen 
für  ihn  zu  reifen.** 

Dya  frohlockte:  Er  hafste  nicht  selten 
so  irrig,  als  er  liebte.  Ihm  dünkte  Elvara- 
zim ein  Tieger,  und  wer  ihm  anhange,  sein 
Gefährte.  Er  konnte  nicht  glauben ,  dafs 
ein  iVfächtiger  —  Verdienst  an  andern  ehre 
und  suche. 

Dya  hing  sich  mit  immer  festerm  Drange 
anTibar.  Er  ward  sein  Vorbild:  glückliche 
Verbindung,  einem  ungestümen  Geiste 
bestimmtere  Haltung  zu  geben,  und  ein 
Herz  —  durch  Stolz  und  Erreichungslosig- 
keit  an  Trübsinn  gezogen  —  in  sanfterer 
INeigung  warm,  gleich  und  wohlwollend 
unveränderlich  zu  machen. 

Er  wählte,  um  Tibars  engerer  Gefährte 
zu  bleiben ,  auch  Baukunst :  aber  er 
durchschweifte  in  seinen  Idealen  das  Ge- 
biet jeder  Kirnst ;  sein  schäumender  Lebens- 
geist trieb  ihn  mehr  auf  Formen  als  An- 
wendung. Er  war  ein  glücklicher  Dich- 
ter; aber  seine  Thätigkeiten  waren  kühne 


1 1 1 


Sprünge,  sein  Ausbilden  schnell  zeich- 
nende Begeisterung.  Alles  drängte  ihn 
zum  Ungewöhnlichen;  sein  Charakter  hing 
wie  gährender  Most  noch  vom  Zufalle  ab. 
Nicht,  wie  Tibar,  sah  er  im  Kriege  — 
nur  ein  Mittel  hühern  Zieles:  sondern 
das  Daseyn  alles  Grofsen ,  aller  Thätigkeit, 
das  höchste  im  Leben  des  Mannes. 

Lange  strebte  Tibar,  diese  erste  Flamme 
des  jugendlichen  Muthes  zu  läutern,  und 
dennoch  entwickelte  sich  erst  unter  Waifen 
der  volle  Werth  seines  Charakters,  und 
was  ich  gefürchtet  hatte  —  seine  Hitze, 
sein  Ehrgeitz  .  .  .  reinigten  sich  in  dieser 
Gluth  zu  Strahlen  veredelter  Menschheit. 
Mit  flammenden  Bildern  des  Ehrgeitzes 
betrat  er  das  Schlachtfeld:  unter  den  uner- 
warteten Eindrücken  derleidenden  Mensch- 
heit lernte  er  ihre  Thränen  hoher  schätzen 
als  seinen  Ruhm. 

Ich  wählte,  wie  meine  stillen  Wünsche 
mir  vorschrieben ,  die  Natur  und  ihre  Er- 
forschung ,  die  Künste  der  ländlichen  Ruhe, 


112 


das,  wns  in  später  Rückkehr  jetzt  meines 
Alters  letzte  Bescliäftigung  ward. 

Hamor  wählte  nichts.  .^Fiir  sein  ^rofses 
„Ziel ,  das  Studium  der  Menschenbeobach- 
„tung,  wie  .  er  sagte,  verrücke  jede  be- 
istimmte Beschäftigung  den  Gesichtspunkt, 
,,und  mache  einseitig.  **  Er  beobachtete, 
schrieb  und  glaubte,  weil  er  einzelner 
Menschen  flache  Verschiedenheiten  und 
ihre  Verhältnisse  errieth,  und  in  dem  all- 
täglichen Gange  des  Ubereinkommens  sel- 
ten irrte  —  er  sey  Menschenkenner.  Die 
Schaugerichte  eines  Hofes  waren  seine  köst- 
lichste Erwartung,  und  die  tiefere  Quelle 
seines  Grolles  gegen  Tibar  —  „Tibars  tol- 
„1er  Eigensinn,  wie  er  ihn  nannte,  unser 
„aller  hohes  Glück  nicht  auf  freundliche 
,,Un^erwerfung  in  Elvarazims  Wünsche  zu 
„gründen." 


Unter  so  viel  versprechend  unverborge- 
Tien  Ereignissen,  wie  ich  von  Tibar  P/^rzählte, 
konnte  es  in  einer  grofsen  Stadt  nicht  an 


Mciisclien  fehlen,  die  uns  zudrängten; 
die  aus  Iloilnung,  Neugierde  oder  Eitel- 
keit uns  eine  höhere  Wichtigkeit  gaben ; 
denen  wir  zuweilen  uns  überliefsen,  um 
in  der  hoffärtigen  Verzagtheit  ihres  Wan- 
Itclsinncs  uns  zu  belehren  oder  zu  belusti- 
gen. Ihr  werdet  leicht  einsehen ,  dafs 
wir  wenigen  uns  näher  schlössen.  Zu 
entfernt  in  Bedürfnissen  —  waren 
ihre  Spiele  uns  eine  Qual,  unsere  Be- 
schäftigungen —  ihre  Last:  ewig  fremd 
in  unserm  Begehren  und  Gefühlen  blie- 
ben wir  nur  zu  oft  ihr  geheimer  S]^ott. 

Einer  unter  den  Wenigen,  die  der  öftere 
Umgang  meiner  Brüder  wurden,  ohne 
darum  ihrem  Herzen  noch  ganz  zu  na- 
hen, war  Mioldaa.  Uber  der  Gränze 
vom  Jüngling  zum  Mann,  lag  harter  Ernst 
in  seinem  Aufsern:  aber  in  seine  düstre 
Seele  hatte  die  Natur  grofse  Züge  ver- 
borgen, heftige  Kraft  unter  schwermü- 
thige  Stille,  und  den  begierdclosen  Gleich- 
sinn eines  in  höhern  Gram  verschlossenen 
Gemüthes.    Älter  als  wir  —  vermied  er 

rya-Na-Sore  i.  Th.  Q 


jeden  Sclieln  von  Übergewicht.  Oft  ver- 
sclilofs  er  sein  Urtheil,  um  uns  nicht  zu 
beschränken.  Dennoch  lenkte  er  uns 
häufig,  ohne  es  zu  suchen  .  .  .  entschei- 
dend durch  seinen  einfachen  Ton. 

Die  sanftem  Freuden  des  Lebens  waren 
für  ihn  verloren.  Er  hatte  nach  Idealen 
gestrebt,  nach  Ruhm  und  kriegerischer 
Ehre,  und  den  Untergang  seiner  Wünsche 
im  Untergange  seines  V aterlandes  gefun- 
den. Fest  an  den  Bildern  seiner  Jugend 
war  er,  wie  jeder  edlere  Geist,  sich  treu 
in  seinem  Zwecke,  und  unfähig,  ein  fröh- 
liches Daseyn  durch  selbstsorgsamen 
Wechsel  am  Leichtsinn  neuer  Gegen- 
stände zu  erkaufen.  Ein  guter  Gesell- 
schafter für  mich,  den  er  belehrte,  schien 
er  mirs  weniger  für  meine  Brüder,  die  er 
in  die  Melancholie  seines  Charakters ,  die 
er  immer  fester  in  seine  Gesinnungen  ver- 
flocht —  in  die  hohen  Bilder,  die  er  trauernd 
zeigte.  Niemand  schlofs  sich  ihm  näher 
als  Dya ,  in  der  düstern  Heftigkeit  eines 
unbefriedigten  Ehrgeitzes. 


Iii  seines  Vaters  Hause  waren  wir  auf- 
genommen als  Söhne  eines  Verwandten. 
Divancl  war  ein  Mann  von  seltnem  Geiste, 
einst  ein  bedeutender  Mann:  jetzt  nahe 
am  hohen  Alter.  Er  hatte  in  den  letzten 
Tagen  unseres  Volkes  unter  Verwicklun- 
gen und  Parteyung  jene  Vielseitigkeit  des 
Betragens  erworben ,  die  allen  gefällt, 
aber  nur  selten  mit  einem  kräftig  reinen 
Charakter  besteht.  Er  hatte  Ausweichen 
in  der  Unterdrückung  und  Formen  des 
Gleichsinns  gelernt :  edles  Gefühl  ver- 
schlbfs  sich  bey  ihm  unter  Spott,  und  der 
angenommene  Ton  der  Welt  zog  sich  kalt 
hin  über  Dinge,  welche  tief  in  seinem 
Herzen,  wie  ich  spät  erst  lernte,  ihre 
volle ,  oft  schmerzende  Wichtigkeit  be- 
haupteten. 

Es  konnte  nicht  fehlen ,  der  Gefällige 
seiner  Zeit,  minder  kühn  als  gut,  über 
Selbstverblendung  erhoben,  über  Men- 
schen und  Möglichkeiten  so  klar  —  mufste 
mein  Vorbild, werden.  Sein  Haus  schien 
ein  Haus  der  stillen  Freude,  der  Vereini 


llö 


gungs^iunkt  fein  fühlenüer  Mciisclien ,  de- 
nen das  Lieben  in  seinem  Gebrauche  vor- 
leuclitete.  Alles  zog  micli  dabin.  Ferne  war 
hier  jedes  riesenhafte,  unendliche  Begeh- 
ren, jede  selbstbeglaubte  Wichtigkeit  des 
menschlichen    Daseyns.    Eine  lachende 
Enthüllung  schimmernder  Objekte;  eine 
spottende  Entwaffnung  des  aufgespreitzten 
Stolzes;  ein  kühnfroher  Hohn  jeder  eitlen 
Seligsprechung;    eine    arglos  scheinende 
Seitenbeleuchtung     furchtbarer  Gegen- 
stände —  bis  ihre  Schrecken  sich  auflos- 
ten in   die    armselige   Nichtigkeit  ihres 
Wahnes  ;  eine  zarte  Berührung  alles  Gu- 
ten und  Schönen  in  Wissen  und  Kunst  und 
Geselligkeit,  und  die  ehrenvolle  Achtung 
jeder  Tugend  neben  den,  aufser  ihr  nichts 
schonenden  Geifseln  des  Witzes  .  .  .  wie 
so  ganz  in  meiner  Stimmung  war  alles! 
Wie  so  ganz  ,  was  ich  suchte ,  und  mei- 
nen Brüdern    so   heilsam,    so  entgegen 
strebend  glaubte  —  jener  ruhige  Gleich- 
muth ,   der  allen   so   genannten  grofsen 
Angelegenheiten  der  Menschheit  gerade 


nur  SP  viel  Achtsamkeit  lieh,  als  <jcr 
V'orsiohtige.  eir^er  Ansteckung  —  zu  war- 
nen und  sich  selbst  zu  bewahren. 

Tibar  gefiel  sich  hier,  weil  unter  Wi- 
flersprüchen  eigne  Wahrheit  sich  tiefer 
Sründet.  Aber  zu  «leichtÖnia  schien  ihm 
alles  Gesagte,  zu  wiederholt  alles  Lachen, 
,,h1s  dafs  übereinstimnumg  unter  so  viel- 
ai  tigen  Menschen  ein  Werk  der  gleichen 
Uberzeugung  seyn  könnte."  Nur  wagte 
er  noch  nicht  zu  entscheiden ,  ob  absicht- 
licher Sektengeist,  oder  Nothwendigkeit, 
höhere  Gesinnungen  blendender  zu  ver- 
bergeri,"    das    innere    Triebrad  wären. 

Da  ich  alles  mit  der  Gewifsheit,  die 
in  mir  selbst  lag,  nahm  —  däuchten  Ti- 
bars  Zweifel  mir  nur  innere  Kränkung  .  .  . 
Götter  seines  Herzens  '  unter  geachteten 
Menschen  ii  ich  t  ganz  so  angebetet 
seben,  als  er  wünschte. 

Durthgeliens  finde  ^ch  dajfs.  ,f  ih'  Qc- 
luüther  meiner  Art  keine  Eigenschaft  des 


menschlichen  Geistes  heglaubigter,  furcht- 
harer  unrl  fcssehider  sey ,  als  fein  ergrei- 
fender,  lächelnder  Witz. 

Ilainor  fand  sich  in  einem  hliihenden 
Eden.  Eine  Geliebte  in  der  Ersten 
zu  wählen,  die  seinem  Warthe  mit  sicht- 
harerer  Aufmerksamkeit  entgegen  träte  — - 
war  die  höchste  Sphäre,  seines  Ehr- 
gcitzes !  seine  höchste  Befriedigung  — 
der  schimmernde  Firnifs  des  Umgangs, 
der  unter  der  Biegsamkeit  allen  zu  gefal- 
len nur  den  süfsern  Genufs  sich  seihst 
zu  gefallen  verbirgt.  Zum  erstenmal 
erhöh  er  sich  über  uns  in  Vorzügen  — 
die  wir  weniger  suchten:  mit  reichen  Zü- 
gen schlürfte  er  das  genügsame  Behagen, 
uns  zu  meistern , ,  und  als  Vorbild  uner- 
reichbar und  einzig  —  weit  über  der 
edlen  Schmucklosigkeit  Tibars,  üyas 
selbstverge$seiidem  Ungestüm,  und  der 
unbezwungenen  Herzlichkeit  zu  stehen, 
die  mich  fortrifs ,  wo  ich  Theil  nahm, 
und  stumm  liefs ',  wo  ich  gleichgültig 
blieb.  ^ 


llp 


In  einsamem  Gesprächen,  bey  immer 
näherer  Vertrautheit,  hatte  Mioldaa  sich 
oft  in  die  Schilderungen  entfernter,  bes- 
serer Völker  erweitert.  Sein  An<^e  flo»; 
auf,  seine  Stimme  erwärmte  sich  dann, 
sein  Wesen  glühte  in  höherer  \\^ahrheit. 
Unser  Freund  und  unser  Rathgeber, 
drängte  er  uns  immer  näher  dem  Ent* 
Schlüsse  —  im  schönern  Lande,  imter 
edlern  Sitten  das  Gute  zu  sehen,  das 
wir  einst  geltend  erheben  sollten,  ehe 
die  Macht  der  Gewohnheit  und  des  Ein- 
flusses im  verringerten  Abscheu  des 
Iläfslichen  unsere  Jugend  abstujnpfte. 

l)ya  hatte  durch  kühne  Aulserungen 
IVIenschen  beleidigt,  deren  Ungerechtig- 
keit zu  erhaben  war,  als  dafs  sie  Tadel 
ertragen  hätte :  Entfernung  ward  Klug- 
heit. Nichts  hielt  uns  zurück;  das  Neue 
des  Schauspiels  war  erschöpft;  das  Herz 
der  Jugend,  das  einen  festern,  innigem 
Besitz,  einen  Freund,  eine  Geliebte ,  oder 
höhere  Ereignisse  suciit,  trieb  uns  hin- 
weg von  einem  Lande,  das  von  allem 


120 


nichts  verspiacli.  ünwideiruflicli  sclinel- 
1er  entschieden  wurde  unser  Vorsatz  durch 
einen  Aufenthalt  auf  Divands  Landgute, 
durch  Veranlassungen  ,  die  er  häufte. 


Auf  einem  Hügel ,  der  \'on  höhern  Rei- 
hen querah  durch  das  Thal  ihres  wald- 
hekränzten  Umfangs  zog,  lag  in  freyer 
Aussicht  eine  Wohnung,  oder  viehnehr 
eine  Masse  kleiner  Wohnungen  ,  liehlicli 
zwischen  ihre  Gebüsche  verstreut ;  wie 
ein  Tempel  der  geselligen  Freude  in 
ihrer  Mitte  ein  hoher  Versainmlungs- 
saal,  mit  seinen  Säulengängen  und  Ahend- 
hallen.  Wiesenhügel  unter  den  man- 
nigfaltigen Gruppen  ihrer  Fruchtbäume 
und  den  Blüthenhecken  ihrer  reich  be- 
wachsenen Quellen  erhoben  sich  bis  zum 
einsamen  Aufsteigen  der  W^älder.  In 
stolzer  Fülle  rauschte  der  Fall  des  Ga- 
laor,  weithin  leuchtete  er  neben  den 
Schatten  des  Ferrit  in  die  stillen  Fer- 
nen, auf  denen  Vergangenheit  und  die 


edleni  Ta.qjc  unsers  Volkes  iii  so  man- 
chem Nomen  der  Erinnerung  ruhten. 
Aber  unter  den  ersten  Überraschungen 
der  Gegenden  und  Menschen,  die  wir 
fanden,  schwieg  das  GcdächtniCs:  die 
Reitze  der  Gegenwart  herrschten,  oder 
schienen  es.  Alles  athmete  Frohsinn. 
Nur  Mioldaa  am  Hügel  safs  einsam,  und 
nährte  am  Sonnenanhlick  seinen  Gram. 
Tibar  und  Dva  kehrten  bald  zu  ihm  zu- 
rück. Er,  und  was  durch  Ernst  der 
Seele  höhere  AVürde  giebt,  verdrängten 
in  ihrem  Herzen  jeden  mindern  Genufs. 

Sein  Vater  hatte  versprochen,  uns  das 
nächste  zu  zeigen,  was  diese  Ge2;end 
Grofses  enthielte.  Ich  ging  an  seiner 
Seite  und^Iira,  seine  geliebteste  Tochter. 
Von  Entzücken  zu  Entzücken  schweifte 
mein  Auge.  Hamor  suchte  Blumen.  Ti- 
bar  ging  still  in  seinem  Geiste.  Ihur  ent- 
wickelten sich  nach  und  nach  die  Wege, 
die  er  gehen  müsse,  um  seiner  Bestim- 
mung zu  folgen.  Sein  Herz  von  der  Zu- 
kunft zerrissen,  verbarg  sich  in  äufsere 


122 


Ruhe.  Dya  forschte,  fragte,  horte,  ihm 
eröffnete  sich  so  viel.  Sein  Geist  fand 
Nahrung  hegeisternder  Fülle,  wo  Tibar 
in  stillem  Grame  nur  die  traurige  Beleh- 
rung eines  sich  selbst  nie  getreuen  Ge- 
schlechtes fand. 

Aus  dem  Dunkel  eines  langen  Waldes 
auf  einen  freyen  Abhang  unter  Aveit  auf- 
steigenden Höhen  dämmerte  zwischen 
Bäumen  jenseit  des  kleinen  Thaies  eine 
graue  Warte.  Am  Hügel  hin  gelangten 
wir  zu  den  Trümmern  alter  Tempel. 

,,Gras  weht  über  dem  Gebälke,  rief 
Dva;  Licht  fällt  durchs  zerrissene  Ge- 
mäuer." 

Divand.  Ein  Zeichen,  dafs  die  Men- 
schen nicht  blieben,  was  sie  waren. 

Kine  feierlichere ,  ernstere  Haltung 
überraschte  mich  hier  in  Divands  Tone ; 
ein  Blick  des  innern,  wühlend  unter- 
drückten Grames,  der  sich  endlich  ein- 
mal frcy  fühlt  für  Wahrheit  und  eine 
Thränc. 


  X23 

Verwüstung  umgab  uns.  Dya  seufzte 
tiefer:  sein  trauerndes  Auge  starrte  zwi- 
schen die  Lichträume  verlassener  Säulen. 

Divand.  Die  Sprache  der  Vergan- 
genheit: für  manchen  vielleicht  ein  Ruf 
wieder  herstellender  Zukunft. 

Dya.  "Wer  haut  für  neue  Verwüstung  ? 

Divand.  Wer  seinem  Herzen  folgt, 
ohne  auf  Dank  zu  rechnen, 

Dya.  Wie  wenige! 

Divand.  Die  meisten!  wenn  es  nicht 
einigen  gefiele,  den  Gang  unserer  Nei- 
gungen zu  unterbrechen,  um  Kräfte  in 
todten  Stillstand  zu  vernichten.  Die 
Menschen  sind  nicht  schlimm. 

Ti  b  a  r.  Aber  schwach. 

Divand.  Desto  mehr  Schande  für  die, 
die  das  gutwillig  trauende  Geschöpf, 
wie  ein  treuloser  Vormund,  um  das 
Erbe  seiner  Erziehung  betrügen* 

Ein  langer  Weg,'  reich  an  W'^echsel, 
führte' üns' tiefer  in  die  zerfallende  Erha- 


benheit  des  Vergangenen.  Dya  klagte, 
dafs  das  Bild,  alter  Tugend  im  Schutte 
altre. 

Di  V  and.  Kann  ein  Volk,  das  Frem- 
den dient,  sein  Amqc  zu  seinen  Vätern 
erheben  ?  Sind  ihm  Erinnerungen  nicht 
Mahner  seiner  Schande  ?  Können  Denk- 
mahle eine  Sprache  hahen,  wo  ma;i. 
andere  Güter  kennt?!  Das  Lächeln  eines 
Mächtigen,  eines  jVIenschen,  dem  ein 
Bösewicht  oft  brauchbarer  ist  als  ein 
guter  j\[ann,  ist  der  Preis  geworden,  um 
den  man  buhlt.  Und  jenes  unbestech- 
liche Gesetz  einer  Nachwelt,  „dem  allein 
Tugend  dasUrtheil  über  sich  anvertraut,"^ 
hat  seinen  Ersatz  in  den  Launen  der  We- 
nigen gefunden,  die,  jetzt  Richter  der 
Ehre  und  des  Verdienstes  —  ihre  Laster 
zu  Göttern  des  Tages  machen. 

Hier  stehen  sie  —  nun  nur  Denkmahle 
jetziger  Entehrung.  Soll  der  Mensch, 
der  dem  Sclunerz  ihrer  Vorwürfe ;  sich 
nie  ganz  entziehen  kann,  siß  aufsuchen  ? 
DerjKunstgenosse  fieylich  bew-undert  dic 


125 


Kühnheit  ihres  Baues  ,  prahlt  mit  Verbält- 
nissen ,  und  dünkt  sich  grofs  durch  Namen, 
deren  Werth  er  in  schwacher  Wiederho- 
lung entweihet.  Aber  selbst  er  braucht  sie 
nur  zum  Flickwerk  eigner  gehaltloser  Er- 
findung, und  würde  in  ihrem  allzu  hohen 
Freiste  die  Erniedrigung  jetziger  Zeit  be- 
zeichnet zu  haben  fürchten. 

Der  Krieg  hat  sie  zerstört!  die 
Schleclitheit  späterer  Schmeichler  würde 
sie  vernichtet  haben,  wenn  nicht  ein 
edlerer  Eroberer  in  der  Erhaltung  ihres 
Kunstwerths  sich  ähnliche  Denkmalile 
vorzubereiten  wünschte. 

Aber  ihr  Geist  ist  untergegangen!  Kann 
man  die  Schaustücke  demüthiger  Unter- 
\'V'^rfun'i  —  Denkmahle  nennen  ? 

„Was  ist  ein  Stein  auf  meinem  Grabe? 
ist' die  Sprache  des  Tages.  Gebt  mir  Spiel 
und  Scherz,  so  wandle  ich  ruhig  bis  Ver- 
gessenheit mich  empfangt.  Ein  Thor,  der 
für  die'  Nachwelt  baut,  der  das  Leben 
sich  verleidet,  und  Schmerz  auf  Schmerz 


126 


um  eine  ungewisse ,  uno;enossene  Zukunft 
liäuUl  " 

Dafs  Denkmahle  zerfallen,  nabni  Miol- 
daa  das  Wort,  ist  ein  Werk  der  Zeit. 
Aber  dafs  auch  die  bessere  Geschichte, 
die  sonst  der  Knabe  schon  in  der  Uber- 
lieferung hörte,  ins  Dunkel  der  Verges- 
senheit geht,  und  keine  Jünglinge  mehr 
am  Gemälde  ferner  Gröfse  wachen,  — 
das  ists,  was  mich  hoffnungslos  macht. 

Was  ist  Handeln  ?  !  was  ist  Wirken  ? 

Divand.  Jener  Stern  am  Himmel; 
ferne  von  uns  dem  Auge  ein  leuchtendes 
Schauspiel  müfsiger  Beschauung ,  von  Tau- 
senden nicht  einmal  bemerkt ;  und  in  sich, 
selbst?  —  —  der  Inbegriff  millionen- 
fachen Seyns.  So  unser  Handeln  —  — 
ausgebreitet  über  Völker,  vergröfsert, 
besungen ,  vergöttert  —  und  nach  Jahr- 
hunderten ?  —  —  Der  Wanderer  kommt, 
der  Stein  ist  vervvittert :  ein  wenig  Zeit, 
ein  wenig  VJoos,  ein  dunkles  Mährchen  .  . 
das  ist  eure  Unsterblichkeit! 


.127 


Dya.  O  so  ruhe  il(3nn  Vorzeit  unter 
allen  Thaten  der  Gröfse !  sterbt !  werdet 
vergessen  im  entarteten  Sinne,  dessen 
Verderben  immer  tiefer  greift!  In  diesem 
Herzen  sollen  Erinnerungen  leben,  meine 
Erweckung  oder  mein  Untergang!! 

Divands  Auge  glänzte  von  Freude.  Aber 
er  wollte  den  Unwillen  der  Entartung 
durch  Widerspruch  stärken.  Er  hüllte  sich 
von  nun  an  tiefer  in  die  Gestalt  eines 
Gleichgültigen  ,  der  alles  höher  Geschehene 
mifsdeutet,  um  seiner  vernichteten  Wir- 
kungen willen  ,  und  das  fruchtlose  Ringen 
des  menschlichen  Muthes  für  Bestimmung 
zur  Schäferruhe  erklärt.  „In  jener  Warte, 
erzählte  er  lächelnd,  verschlofs  sich  ein 
Mann ,  und  —  schwur,  nicht  eher  Freude 
unter  Menschen  zu  geniefsen,  bis  er  den 
Schimpf  einer  verlornen  Schlacht  gerächt 
hätte  .  .  .  Was  lohnt  ihm  das  verfallene 
Gemäuer?  '  ■ 

„Eey  diesem  Tempel  gingen  hundert  Krie- 
ger ihrem  gewissen  Tode  entgegen,  urti 
den  Rückzug  eines  Heeres  zu  decken, 


„Bey  clieser  Brücke  stürzte  ein  edler  Rit- 
ter sicli  in  den  Abgrund,  um  seinem  Va- 
terlande die  Wette  eines  streitigen  Landes 
zu  geninnen.  AVas  nützt  ihm  die  Brücke 
über  seiner  Leiche  ?  Diese  Geiniiuer,  wo 
unseres  Landes  letzte  Streiter  frej'^willig 
in  riammen  sich  begruben  .  .  .  Was  ist 
ihr  Werth  V  Bäume,  in  jeder  Spalte  fassen 
Wurzeln,  und  bezeichnen  in  ihrem  Wachs- 
thum einst  das  Alter  der  Verwüstung. 
Moos  und  Epheu  decken  dann  die  Fl  am- 
menasche alten  Brandes,  und  machen  einem 
fernen  Jahrhunderte  unter  seinen  eigenen 
:Leiden  das  —  nur  zum  romantischen  Ge- 
mälde, was  euch  die  Tlnane  näherer 
Erinnerungen  abpreist.  Der  Mensch  gftht 
an  seinem  Geschlechte  vorüber  wie  die  Zeit. 
Er  hat  für  Jahrtausende  nur  einen  Namen, 
und  für  ihre  Qualen  weniger  Seufzer,  als 
für  den  Vogel  dej"  eben  todt  zu  seinen  i'üisen 
liegt.  Er  müfste  ja  vergehen  unter  seinen 
Vorstellungen,  w^enn  die  Klagen  des  Ent- 
fernten so  laut  um  ihn  tönten,  als  die  Kla- 
gen des  Gegenwärtigen,  wenn  alle  Schrecken 


der  Zeit  sich  um  ihn  vereinten,  und  sein 
gemartertes  Auge  keine  Zwischenräume 
sähe. " 

Tibar.  Aher  es  gieht  Dinge,  die  im- 
mer Gegenwart  bleiben:  nie  kann  der 
Schmerz  verlorner  Tugenden  altern. 

Divand.  Sag  .  .  .  Sollte,  denn  er 
kann. 

Das  Gespräch  erlosch,  wie  immer, 
wenn  ein  zu  schneidender  Gegensatz 
uns  mit  Erschütterungen  droht. 

Erweicht  unter  den  reitzenden  Ein- 
drücken einer  Gegend,  erhoben  an  der 
Gröfse  ihrer  Erinnerungen,  schlofs  ein 
still  heitrer  Abend  sich  uns  auf  in  seinen 
änzenden  Fernen.  Die  Sonne  stand 
vor  uns  in  sinkender  Klarheit:  und  so 
wie  ich  sie  in  gleicher,  jeden  Kummer 
beschweigender  Ubereinstimmung  von 
allen  bewundert  sah,  so  schien  mir 
auch,  „dafs,  da  aller  Menschen  Gefühle 
an  der  schönen  Natur  sich  vereinen, 
auch  von  dort  einst  alles  bleibende 
Gute  kommen  müsse."  Tröstend  empfand 
Dya-Na-Sore  i.  Th.  o 


ijo  —  — 

ich,  dafs,  da  eine  nie  versiegende  Quelle 
alles  Guten  bestehe,  alle  Schmerzen  nur 
selbstgewüllte  Entfernungen  von  ihr, 
alle  Leiden  nur  selhsttäuschendes  Ver- 
hältnifs  von  Erscheinungen,  alle  Qualen 
nicht  dauernder  als  ihre  Vorstellungen 
sind.  Und  im  Entzücken ,  „dafs  der 
Pvlenschen  Heilung  mir  geolfenbaret  sey, 
dafs  auch  ohne  Ehrgeitz  und  Volks- 
gröfse  —  Tugend  und  Glück  möglich 
bleibe,"  fand  ich  doppelte  Gewifsheit  in 
üivands  Lieblingsgesange  der  Freund- 
schaft. 

„O  Freundschaft,  Freundschaft!  die 
mit  hohem  Muthe  sinkende  Holfnung 
in  Arme  des  Trostes  fafst!  Wer  lenkt 
den  Mann,  w^enn  er  auf  glühender  Ver- 
zweiflung sich  nicht  mehr  achtet,  die 
Wahrheit  nicht  mehr  kennt,  Spott  sei- 
ner Schritte,  falsches  Urtheil  seiner  Til- 
gend lauern  sieht  ?  Dann  trittst  du  hin 
mit  deinem  Flammenschildc,  und  bezeich- 
nest den  Bösewicht,  der  ihn  verfolgt, 


denliTthum,  der  ihn  verkennt,  und  die 

fehlerfrohe  Leichtgläubigkeit  des  gefühl- 
losen Schwätzers. 

„Und  wenn  nun  Ehre ,  Reichthum, 
wenn  des  Lehens  froher  Sinn ,  wenn 
Glanz  und  Macht,  ein  hoher  Name  und 
Thaten  der  Unsterblichkeit  sein  Erbe 
werden:  dann  wird  dein  Auge  sein  War- 
ner, dann  kettet  deine  Hand  das  lächelnde 
Schicksal  an  seinen  Wagen,  dann  bist 
Du  sein  höherer  Retter,  sein  Schutz 
unterm  Schwindel  des  Uberflusses. 

„Wohlthätige  Gottheit!  Nie  gebrach 
es  der  Tugend  an  Mitteln!  —  Nacht 
drückt  die  Wahrheit;  Völker  entehren 
sich ;  Jahrhunderte  sinken :  kann  der 
Einzelne  Lasten  vernichten,  an  denen 
Tausende  sammeln?!  Die  Kleinheit  sei- 
ner Tage  fällt  auf  ihn ;  der  Name  ent- 
steht seinen  Thaten:  aber  so  lange  noch 
ein  Band  ist,  das  Einzelne  inniger  an 
Einzelne  knüpft,  so  lange  der  kleine 
Kreis  von  Mensch  zu  Mensch  noch  zur 
Möglichkeit  der  erhabensten  Opfer  leitet, 


 ^ 

Lat  die  Gröfse  nur  an  Glanz  —  nie  an 
Umfang  verloren.  Wenn  das  stumpfe 
Gefühl,  in  Erniedrigung  zu  leben,  wenn 
sein  Ich,  wenn  sein  Daseyn  ihn  beschrän- 
ken, wenn  die  Zeit,  wenn  sein  Volk, 
wenn  entartete  Menschheit  ihm  l^einen 
Funken  einer  edlern  Wäriiie  mehr  bie- 
ten, bleibt  selbst  dem  Sklaven  eine  Bahn, 
auf  der  sein  höheres  Vermögen  im  Glänze 
reiner  Würde  sich  entvv^ickelt. 

,,Drum  Dank  dir,  Gottheit,  die  du  des 
Menschen  Gröi.^e  .  .  .  die  erhabne  Em- 
pfindung, ,,für  andre  zu  leben,*'  auch  in 
den  engsten  Bezirk  des  ruhmlosesten  Krei- 
ses legtest :  die  du  den  edlern  Mann  nie 
unter  seine  Zeiten  erniedrigest,  und  den 
Triumph  der  Tugend  im  Muthe  des  Ein- 
zelnen sicherst. " 


Aber  alles,  was  uns  umgab,  selbst  die 
erregten  Gefühle  edlerer  Freundschaft 
dienten,  nach  ihren  ersten  Reitzen  nur, 
Dyas  und   Mioldaas    Herzen    tiefer  tIu 


zeneifsen.  Sie  winkten  sich.  Tibar  folgte 
ihnen.  Mit  veistohlnem  freudigem  Blick 
sah  Divand  ihnen  nach.  An  den  Stufen 
des  Tempels  fanden  sie  sich  wieder. 
Sträuche  wuchsen  schon  über  den  Schutt- 
hügeln, einst  Bäume,  die  Jahrhunderte 
des  Verfalls  , abzuzählen. 

„Hier  dieser  lind  jener  Tempel,  erklärte 
,,IVIioldaa,  und  der  weite  Umfang  von 

Säulen,  in  deren  Mitte  wir  stehen, 
,, waren  einst  die  geheiligten  Orte ,  w^o 
,,die .  edelsten  Bürge;r  und  die  gröfsten 
,, Handlungen  unseres  Volkes  ihr  ewiges 
,,Deakmahl  finden  sollten.    Jetzt  haben 

Eroberer  sie  zerschlagen.  An  diesen 
„Obelisken  erkennt  in  den  Schriftspu- 
„ren  —  Jahrbücher  ;  an  diesen  zwey 
„hohen  Säulen,  jetzt  kahl  wüe  das  Bild 
„vereitelter  Hoffnung,  war  jedes  einzelne 
,,Fels,stLick ,  aus  dem  ihr  Schaft  aufge- 
„thürmt  ist,  der  edelsten  That  eines  kom- 
„menden  Jahrhunderts  bestimmt.  Hieher 
,, wurde  mit  jedem  Frühling  die  Schaar  neu 

gebildeter  Jünglinge  nach  den  Graden 




„ihres  Werthes  in  die  Vorhöfe,  oder  die 
,,Tempel  selbst  —  unter  die  Bilder  ihrer 
„Ahnen  eingeführt.  Ich  erinnere  mich 
„noch  lebhaft  des  erstenmales,  da  ich  hie- 
„her  kam.  In  diesen  Gängen  war  ver- 
„sammelt,  was  die  Natur  der  menschlichen 
„Entdeckungsjvraft  aufschlofs,  neben  den 
„Bildnissen  ihrer  Enthüller. 

„Hier  stand  das  Bild  meines  Grofsvaters, 
„des  Geliebten  seines  Volkes:  von  den  Fein- 
,,den  gefangen,  endete  er  mit  eigner  Hand 
„sein  Leben,  ehe  er  es  der  Gefahr  eines 
„schwachen  Verratlies  aussetzte.  Ihr  werdet 
„sein  Dcnkraahl  noch  anderwärts  finden. 

„In  jenem  Haine;  wurden  wir  vorbereitet, 
„jenseits  führte  man  uns  hin,  vor  der  Ver- 
„sammlung  der  Ruhmvollsten  im  Volke  — 
Unheil  und  Ausspruch  über  Geschichte 
„und  das  Verdienst  einzelner  Thaten  zu 
„hören,  wenn  der  Forscher  die  Kunde  ver- 
,,gangener  Jahre,  wenn  der  Dichter  dieGe- 
,, sänge  des  ewigen  Ruhmes  hersagte ,  und 
„alles  uns  hoflen  liefs,  dafs  es  immer  so  seyn 
,, würde. 


„Auf  diesem  kleinen  Platze,  den  ihr  schon 
„vorhin  heiratet,  »wischen  diesem  ver- 
„hrannten  Gemäuer,  flammte  zum  letzten- 
„male,  wie  ein  sterhendes  Licht,  der  Geist 
„unsers  Volkes  und  erlosch.  Hier  geschah, 
„was  mein  Vater  erzahlte  :  aller  Wider- 
„stand  gegen  den  Sturm  war  zu  schwach. 
„Rittis  trat  an  die  Spitze  seiner  Streiter: 
„  „Wollt  ihr  dem  Feind  entgehen,  so  folgt 
„mir!*'  Er  stürzte  den  Eindringenden  ent- 
„gegen.  Sie  schriehen  einjniithig  an  einen 
„Stein;  „Der  kennet  keinen  Sieger,  der  den 
„Tod  nicht  achtet. "  Zurück  geworfen 
„zwischen  Flammen  und  Ergeben  wähl- 
„ten  sie  den  Tod  in  den  ersten." 

Dya  seufzte.  Sie  schritten  über  die 
Steine  hinweg,  finster  wie  Schatten  der 
Nacht,  die  auf  der  Heide  sich  begegnen. 
Noch  stiebte  die  heiliae  Asche  zwischen 
ihren  Trillen.  Mioldaa  rifs  beide  heftig 
umarmend  an  sich. 

M  i  o  1  d  a[a.  Bin  ich  endlich  wieder  unter 
Herzen,  die  dos  Vergangene  ehren!  Ich 
habe  einmal  gelebt,  um  die  lange  Folge 


trüber  Tage  desto  sclimerzliclier  zu  tragen. 
Gram  hat  meine  Seele  geschwächt.  OTibar, 
Dya,  was  können  unsere  Hoffnungen  seyn ! 

Tibar.  Ein  Wille,  der  nicht  still  steht. 

Dya.  Du  hast  doch  gelebt.  Ich?  — 
vill eicht  nie! 

Miüldaa.    Trauriges  Glück! 

Dya.  Wann  waren  diese  Tage?  wie? 

Mioldaa.  Soll  ich  den  Schmerz  ver- 
gangener Erinnerung  erneuen?  fruchtlose 
Kämpfe,  den  Untergang  eines  Volkes  und 
seine  zerreiisenden  Bilder  ?  Ich  suchte  den 
Tod:  er  blieb  mir  versagt.  O  Dya,  gieb 
dich  zur  Ruhe. 

Dya.    Hast  du  Ruhe? 

Mioldaa.  Nun  denn,  wenn  dir  so  viel 
daran  lieot,  meinen  Gram  und  die  Leiden 
deines  Volkes  zu  hören!  Aber  ich  mufs 
bey  seiner  Geschichte,  bey  den  Tagen,  da 
ich  geboren  wurde,  beginnen. 

Ihr  w'ifst,  wie  wir  einst  durch  Wissen- 
schaft und  Muth  eine  glänzende  Stelle 
behaupteten.  Ihr  werdet  einst  näher  lernen, 

*)  Der  Name  des  Volkes  ist:  „die  Ingannaars.  " 


wie  wir  durch  die  Vernaclilässigung  innern 
Geistes,  durch  die  Aboötterey  glänzender 
Formen,  und  eine  muthwilJige  Verwick- 
lung in  fremde  Anoele^enheiten  —  an 
Wahrheit  verloren,  was  wir  an  Schein 
<rewannen  .. .  Wir  glaubten  uns  herrschend 
und  grofs,  da  wir  Heere  und  keine  Krieger, 
Gold  undikeinen  Geineingeist  hatten. 

Ruhstolze  Menschen,  denen  Überflufs 
und  Reichthuni  das  Höchste  des  Lebens 
schien,  sahen  mit  Unwillen  .  .  .  Muth  und 
die  Tugenden  harter  Thntigkeit  auf  dem 
Wege  zur  Ebre  voraus  eilen.  ,,  Sie  änderten 
allmäiilich  die  Gesinnunsen  des  Volkes.  Sie 
stellten  Handel  und  Gewerbe,  die  friedli- 
chen Verfeinerungen  der  Geiriächlichkeit 
und  das  erweiterte  Streben  nach  Besitz  an 
die  Spitze;  glänzender  Aufwand  ward 
das  Ziel  der  Bewunderung,  das  Ziel,  nach 
welchem  rang,  wer  geachtet  werden  wollte. 
Freygebigkeit  blieb  die  einzig  geehrte  Tu- 
gend: nur  wer  Überflufs  hatte,  schien  ein 
guter  Bürger.  Die  irrende  Menschlichkeit 
weich  -  stiller  Seelen,    denen   aus  zarten 


Gefühlen  alle  Kämpfe,  alles  Grofse,  alles 
Küline,  alle  Heldengestalten  —  nur  zer- 
störender Walin  schienen ,  vollendete 
in  den  reitzenden  Vorbildungen  einer 
Schäferwelt  „feinsinniger,  ruhiger,  ge- 
niefsender,  hürgerlicher  Trefflichkeit"  — 
unwissend  die  Absichten  ehrgeitzigen 
Heichthums;  gründete  den  Hafs  alles 
Kriegsgeistes,  und  t o  d t  e t e  in  der  Ver- 
achtung ,,des  mangelnden,  freudlosen 
Standes,  der  nur  Aufopferungen  zeigte," 
das  Trachten  nach  männlichem  Geiste. 
Als  ein  Fortschritt  des  Jahrhunderts  wur- 
den diese  Meinungen  vergöttert.  Jeder 
Witzling  fand  sich  grofs ,  jeder  Spötter 
gerecht,  jeder  üppige  Geck  erhaben  durch 
Gemeinsprüche  über  die  Thorheit  des 
Menschen,  ,,der  gegen  sein  eigen  Ge- 
schlecht wüthe  wie  kein  Thier."  Alle 
schalten  den  Krieg,*  alle  brachten  ihrer 
eigenen  Entnervung  den  süfsen  Weih- 
rauch der  Vernunft ,  und  alle  vergafsen  — 
„dafs  Kriegsgeist  eines  Volkes  Lebens- 
ilamme  edlerer  Männlichkeit  sey.  " 


  1^9 

♦ 

Die  giofse  Veränderung  ging  vor.  Der 
Bürger  wurde  der  lastbaren  Pflicht  des 
Waffendienstes  enthoben;  zwey  Stände, 
die  es  nie  seyn  sollten  —  getrennt;  Er- 
werb hinfort  —  das  höchste  Staatsgesetz 
alles  AA'^erthes  :  nur  höheres  Eigenthum 
gab  höhere  Rechte.  Kriegern  wurde 
jeder  Antheil  an  der  Regierung  versagt. 

Ihr  seht,  welche  Mischung  von  Halb- 
wahrem und  Irrthuni.  Ihr  wifst,  wie  viel 
eine  Mifsstellung  des  Guten  schädlicher 
ist,  als  die  entschiedenste  Bosheit. 

Alle,  denen  nur Muth  und  innere  Kraft 
bey  geringem  äufsern  Vermögen  Hoffnun- 
gen der  Ehre  gegeben  hatten,  ruhmbe- 
deckte, hoch  verdiente  Menschen,  w^aren 
in  plötzlicher  Erniedrigung  gekränkt. 
Hafs ,  Grimm  und  Kampf  der  Eifersucht 
zerrissen  alle  Gemüther.  Was  in  jeder 
Zeit  neuer  Parteyung  geschehen  mufs, 
geschah  .  .  .  Alle  Begriffe  des  Ächten, 
des  Löblichen,  des  Guten  verwirrten  sich. 
Man  nannte  Recht  .  .  .  was  den  Sie^ 
der  Freunde  und  den  Schinipf  der  Gegner 


mehrte:  was  nicht  unmittelbar  darauf 
Bezug  hatte,  schien  reitzlos.  Man  ver- 
achtete tind  bestritt  so  einseitig 
gränzenlos,  als  man  es  ward.  Wissen- 
schaft, Umgang,  reine  Einheit  des  Men- 
schen mit  sich  und  dem  Wahren  und 
Schönen  aller  Art  erstarben.  Tugend  und 
Laster,  Ehre  und  Unehre  veränderten 
ihre  Bedeutung.  Alle  Wege  der  Rüch- 
kehr  entfernten  sich  immer  weiter.  Der 
Stolz  vermehrte  den  Hafs  ,  der  Hafs 
erweiterte  die  Ansprüche,  der  Sieg  den 
Trotz,  der  Druck  die  Erbitterung.  Der 
Eigennutz  herrschte  unter  schimmernder 
V  erblendung,  und  niemand  dachte  an  den 
Staat,  den  er  nannte. 

S  o  ging  ein  halbes  Jahrhundert  in 
Friede  vorüber,  und  die  Weisheit  der 
neuen  Verfassung  —  war  erwiesen. 
Wir  herrschten  durch  Handel.  Durch 
Verkäuflichkeit  bestand  unser  Einflufs 
auf  andre.  Ein  Reich,  das  ferne  von 
uns,  allen  unerkannt,  in  tiefen  Wüsten, 
aus  kleinen  Eroberungen  zu  einem  mäch- 


tigen  Volke  erstarkt  war,  das  seit  einem 
Jahrhunderte  durch  räuberische  Kriege, 
durch  List  und  Unersättlichkeit  nach  rei- 
chern Ländern ,  aus  eigner  Armuth  ent- 
sprossen, zur  Wichtigkeit  für  andre  em- 
por gestiegen  war,  die  Chersen,  be- 
drohten zwey  schwache  Völker,  mit  uns 
in  alten  Verträgen  des  WafFenrechts. 
Unser  Name  allein  schien  uns  schon 
entscheidend  .  .  .  stolz  schickten  wir  Ge- 
sandte. Unsere  Freunde  waren  halb  be- 
zwungen ,  ehe  wir  noch  über  die  demü- 
thigende  Nothwendigkeit  eines  Krieges, 
an  der  Stelle  einer  verspotteten  Unter- 
handlung, berathschlagten. 

Endlich  war  er  entschieden.  Wir  glaub- 
ten Armeen  zu  kaufen ,  weil  wir  Mieth- 
linge  zahlten.  Durch  unsere  weisen  Ein- 
richtungen trieb  nur  das  tiefste  Elend 
Menschen  in  diesen  Stand.  Er  war  ge- 
worden, was  er  werden  mufste  —  ein 
verächtlicher  Haufe  aus  einem  ver- 
achteten. Der  stolze  Wahn  unserer 
Stärke  hielt  uns  zurück,  jetzt,  da  noch 


142   ' 

Zeit  war,  den  möglichen  Fall  zu  erwä- 
gen, ,,wenn  "unsere  Bürger  waffenfähig, 
wenn  unsere  Städte  Waffenplätze  der 
letzten  Vertheidigung  werden  müTsten. 

Heere  ohne  Geist ,  Anführer  —  die 
einen  Krieg  gar  nie  als  ihre  Bestimmung 
betrachtet  hatten,  flohen  kenntnifslos 
vor  den  lärmenden  Angriff  en  eines  dumm- 
trotzigen ,  in  sich  selbst  verächtlichen 
Feindes.  Sein  Name  stieg:  der  unsere 
v/ar  auf  immer  dahin.  Unsere  Bundesee- 

o 

nossen,  denen  er  arglistig  Frieden  bot, 
nahmen ,  verzagend  an  unserer  Hülfe, 
das  giftige  Geschenk.  Zweyhundertjäh- 
rige  Bünde  zerrissen.  Drey  Jahre  Elend 
und  Schimpf  bezeichneten  die  Thorheit 
unserer  Einrichtung.  Äufsere  Achtung 
war  verloren ,  unsere  Stimme  verspottet, 
unser  Daseyn  seiner  gröfsten  Stütze  .  .  . 
des  Glaubens  an  unsern  Muth  verlustig. 
Im  Innern  ertönten  Klagen,  Murren,  Ta- 
del,  des  weichlich  gekränkten  Geistes  za- 
gender Widerwille,  der  seinem  Yater- 
lande    wie    ein  verzogener  Knabe  den 


Rücken  kehrt,  weil  es  fordert  und  nicht 
mehr  schenkt.  Die  Vaterlandsliebe  der 
meisten  ist  wie  ihre  Freundschaft:  sie 
gehört  nur  dem  Glänze  und  dem  Glück. 
Alle  beschuldigten  alle ;  aber  keinem 
suchte  in  sich  die  Verbindlichkeiten  ein- 
zelner Besserung  und  einzelner  Opfer. 
Alle  bejammerten  den  Geist  entflohener 
Zeiten:  aber  nicht  das  gekränkte  Ge- 
fühl, sondern  der  leidende  Eigennutz, 
die  leidende  Gemächlichkeit  jammerten, 
die  in  fremder  Aufopferung  ihres  eige- 
nen Ruheküssens  stille  Lage  Huden 
wollten. 

Man  hätte  nun  gerne  Heere  erschaffen 
und  ein  bewaffnetes  Volk.  Aber  die  Wege 
des  bürgerlichen  Lebens  waren  zu  weit 
von  diesem  Ziele ,  die  Verwicklungen  zu 
vielfach,  zu  tief  alle  Einrichtungen  auf 
Erwerbgang  berechnet.  Was  jedes  Vol- 
kes Krankheiten  unheilbar  macht  .  ,.  . 
zu  viel  zerreifsen  zu  müssen,  um  un- 
gewifs  zu  bessern —  traf  uns:  kein 
Bürger  eignete  sich  zum  Krieger;  jeden 


+44 


Ijescliränkten  seine  Verhältnisse,  seine 
Gesundheit,  seine  Erziehung;  jeder  fand 
in  sich,  in  seinem  Stande  —  eine  ein- 
zelne Ausnahme  von  dem,  was  er  für 
alle  andre  Pflicht  genannt  hahen  würde, 
wetin  er  nicht  in  allgemeinem  Wider- 
spruche die  Stärke  seines  eigenen  gefun- 
den hätte.  Laut'  erhöh  sich  die  Stimme. 
Der  Geitz  versteckte  sich  hinter  seine 
Gewerhe,  die  Selhstheit  hinter  allgemeine 
Wohlfahrt;  die  Gemächlichkeit  nannte 
die  Last  eines  Harnisches  —  zerstörende 
Foltern ;  Mütter  beweinten  ihre  Söhne 
unterm  Sonnenbrand  eines  Waifentages ; 
Spötter  lachten  des  zierlichen ,  ungethü- 
men,  gebrauchlosen  Haufens.  Man  glaubte 
allen  Pflichten  genug  gethan ,  wenn  man 
Geld  aufopferte. 

Nur  den  Bedürftigsten  hatte  bisher  die 
Noth  zum  Söldner  gemacht:  jetzt^w^ei- 
gerte  auch  er  sich.  Bisher  hatte  man 
ihn  verachtet,  aber  in  der  Verachtung 
mit  träger  Ruhe  sich  selbst  überlassen : 
jetzt  verachtete  man  ihn  noch,  aber 


unter  den  Qualen  der  mülisamsten  An- 
strengung. Man  glaubte  Ehre  und  Selbst- 
trieb durch  Übung  und  Foltern  zu  erset- 
zen, und  erregte  nur  den  Hafs  des '^Lei- 
denden, den  Widerwillen  des  Zusehefs  — 
o;e£en  einen  Stand,  der  der  Stolz  des'Ge- 
meinsinns  seyn  sollte.  Man  schlofs  ein 
Bündnifs  mit  den  Chersen,  und  glaubte 
Beschützer  in  denen  erkauft  zu  haben, 
die  unsere  Eroberer  werden  konnten. 

Täglich  erhoben  sich  neue  Streitigkei- 
ten.  Edle  Männer,  denen  die  Wahrheit 
sich  darstellte,  sprachen  dringender  für 
die  Wiederherstellung  alter  Verfassung. 
Aber  die  bedrohte  Alleinmacht  des  Reich- 
thums, die  Unfähigkeit  der  Anführer,  die 
mit  jeder  Verbesserung  sich  selbst  verlo- 
ren sahen,  der  Betrug  von  Tausenden 
kämpfte  dagegen.  Die  träge  Sorglosig- 
keit, die  für  ihr  Vaterland  ohne  Wär- 
me .  .  .  öffentliche  Fragen  wie  den  Zwist 
unnützer  Zänker  belächelt,  und  sich  weise 
dünkt,  wenn  sie  alles  verachtet  —  fand 
sich  beruhiget. 
Dya-Na-Sorc  i.  Th.  i  r; 


Der  Krieg  mit  den  Oraycis ,  durch 
kleine,  auf  Anstiften  der  Chersen  unbil- 
lig verweigerte  Forderungen ,  brach  aus, 
Ihr  Bund  machte  uns  trotzend;  ihr  Bey- 
stand  v.'ar  unsere  Zuversicht:  er  kam; 
so  schwach,  so  feig,  so  mörderisch  gegen 
uns  selbst,  dafs  o;anze  Gebenden  sich 
lieber  dem  Feinde  ergaben,  als  Chersen 
ertrugen. 

Dennoch  kämpf ten  wir,  durch  Unglück 
belehrt,  durch  den  Verlust  aller  !Gemäch- 
lichkeit  ermannt,  am  Anblick  des  Unter- 
gangs vereinigt  —  kriegskundiger ,  und 
bis  zur  iN^ähe  alten  Geistes  zurück  ge- 
führt, wie  Genesende  für  dauernde  Kraft 
in  neuen  Siegen.  Nach  jahrelangem 
Streite  ohne  Gewinn  ,  sahen  die  Führer 
der  Orayas,  dafs  Gewalt  nichts  hervor- 
bringe als  erhöhten  Vv'iderstand.  Sie 
dachten  auf  List.  Der  Krieg  ward  ein 
blofses  Spiel  kleiner  Einfälle :  ermattend 
in  wachsamer  Vertheidigung ;  zum  Angriff 
waren  wir  zu  schwach.    Die  Regenzeit 


war  vorüber,  kein  Feind  erschien:  wir 
glaubten  uns  sicher. 

Icli  war  in  den  Tagen  der  ersten  Ju- 
gend. Der  Kriegsruf  ertönte.  Ein  alter 
Führer  hatte  mich  erbeten ;  mein  Vater, 
damals  ein  Mann  hoher  Würde,  um  ein 
Vorbild  zu  geben,  fügte  sich  meinem 
Wunsche;  ich  trat  in  die  Reihen  der 
Krieger.  Das  erste,  was  ich  sah,  was 
diesen  unauslöschlichen  Geist  in  mir 
weckte ,  war  der  Tod  meines  geliebte- 
sten Freundes.  O  noch  wenn  ich  ihn 
denke  —  in  dem  Augenblicke ,  da  wir 
uns  trennten  —  o  Kriseha ,  Kriseha!  — 
wie  ganz  anders  waren  damals  die  Aus- 
sichten meines  Muthes !  Auf  der  Vor- 
w-ache  überfallen,  sollte  er  mit  Schweigen 
sein  Leben  kaufen.  Was  ist  Gefahr  unter 
entscheidender  Pflicht  ?  Er  rief,  und 
Tausende  nach  ihm.  Er  starb ;  aber 
seine  Stimme  war  ihre  Rettung;  die 
Feinde  flohen.  Finsteres  Gehölz  war  die 
Trauerscene.  Auf  seiner  Leiche  schwur 
ich  ihm  ähnlich  zu  werden,     O  noch 


denk'  ich  an  die  Empfindungen  ,  da  hey 
den  Aborten  des  Grabgesanois  Thränen 
sicli  mir  versagten,  und  ich  mich  nie- 
derwarf auf  die  weiche  Erde,  wo  er 
ruhte,  wo  ich  mich  hätte  begraben  mö- 
gen —  wenn  ich  an  den  Schaaren  unse- 
rer Feinde  ihm  nicht  zuvor  hätte  Rache 
schaffen  wollen. 

i>lich  traf  die  AYache.  Weifs  Gott, 
wie  sehr  ich  träumte,  gleiches  Schicksal 
mit  ihm  zu  haben.  Der  Nachthauch 
lunschwirrte  mich;  in  weiter  Fihsternifs, 
mit  dem  Entschlüsse  des  Todes  ,  horchte 
ich  vor  mir  hin,  unwillig,  dafs  jeder 
Eaut  mich  betrüge.  In  Osten  reiner 
Himmel,  zerstäubte,  losgerissene  Gewölke 
über  mir  —  erschienen  Sterne  und  ver- 
schwanden; ich  blickte  hinüber  über  den 
Flufs ,  wie  der  dunkle  Schimmer  sich  in 
leisem  Rauschen  hob;  vor  mir  leuchtete 
der  Morgenstern  zwischen  Wolken  und 
Hügeln  herauf.  —  So  strahlt,  dacht'  ich, 
eine  grofse  That  einzeln  über  .vergesse- 
nem Dunkel.  Da  sah  ich  bey  schwacher 


Helle  den  dämmernden  Lichtstreif  eines 
WaiTenziiges ;  da  hört'  ich  treten:  ich  rief, 
und  jede  Vv  ache,  zehn  tausend  Stimmen 
in  der  Nacht  —  und  jedes  glimmende, 
erloschene  Feuer  flammte  auf,  Licht  wards 
in  meiner  Seele!  Der  Tag  graute  in  Osten; 
in  langen  Reihen  sah  ich  das  Heer,  thal- 
ein vom  Hügel  her  und  weit  um  mich  im 
unermefslichen  Gefilde,  Ein  Tritt,  Eine 
Wendung.  Zug  um  Zug  sah  ich  sie  nahen. 
In  dumpfem  Zwielichte  schvvehte  der  Adler 
voran;  Gesänge  tönten;  die  Lanze  sauste; 
aus  allen  Gliedern  fielen  die  Erstlinge  des 
Opfers. 

Fest  stand  hinter  ehernem  Schilde  die 
Masse  unsersFufsvolks,  rasch  auf  marschir- 
ten  die  Reihen  unserer  Flügel ;  aber  ge- 
trennt  im  Vorrücken  durch  die  Ungleich- 
heiten des  Bodens,  zurück  geworfen  in 
einzelnen,  nicht  mehr  ein  Ganzes  ,  standen 
unsere  Haufen  dem  Schwerte  oiren.  Jim 
Wasserrifs,  der  sich  immer  mehr  erweiterte, 
trennte  unsere  Linie:  niemand  kannte  die 
Gegend  so  o;enau;  seit  .gestern  warrn  wir 


liier  gelagert,  zu  spät  wurd'  er  bemerkt;  die 
Feinde  hatten  in  seine  Tiefe  sich  versteckt. 
Unaufhaltbar  warfen  sie  sich  auf  unsere 
Seiten.  Von  nun  an  keine  Ordnung,  kein 
Befehl,  kein  Angriff  im  Ganzen.  Einzelne 
Schaaren  fochten,  um  einzeln  zu  erliegen. 

Noch  rückten  die  Harste  der  Nachhut  an. 
Nie  vergefslicher  Anblick  l  Wie  sie  aus  der 
Tiefe  gegen  die  Hügel  herauf  stiegen  !  Um 
ihre  Fahnen  versammelte  sich,  was  sich 
durchzureifsen  vermochte. 

„Tausende  sind  gefallen,  Fluch  wenn 
wir  fliehen !  '*  war  der  Schlachtruf.  Sänger 
sangen  den  Leidgesang.  Eldadupa  an  der 
Spitze,  zogen  wir  das  Leichenfeld  hin, 
tuivviderstehlich  wie  Wogen  brachen  wir 
die  Reihen  der  Orayas;  hoch  und  hehr, 
selbst  unsern  Feinden  Ehre  werth. 

„Rettet  euer  Vaterland  und  Gott  geleite 
euch!"  rief  Eldadupa,  ein  trefflicher  Mann; 
aber  der  Aufschlufs  unseres  Schicksals  lag 
vor  seinen  Augen.  Zu  schnell  hatte  die 
Reiterey  uns  verlassen ;  zu  wenig  kannten 
ihre  Führer,  vom  Stolz  verirrt,  die  Stärke 


fies  Fiifsvolks.  Hatten  sie  im  Rückzu^j 
die  Feintie  auch  nur  durch  scheinbare  Hal- 
tungen verweilet,  wir  hätten  in  unsern 
Vorschritten  Höhen  einer  sichern  Stellung, 
zur  Stütze  der  Zerstreuten,  erreicht,  und  dem 
Feinde  nur  einen  folgelosen  Sieg  gelassen. 
Aber  diese  Elenden  flohen,  weil  sie  sich 
für  die  Krone  des  Heeres  achteten:  und 
seitdem  hasse  ich  sie,  die  ihre  Stärke 
vom  Thiere  borgen,  und  mit  fremder  Hülfe 
kämpfen. 

Eilend  stürzten  nun  die  zurückkehren- 
den Pveiterschaaren  der  Feinde  über 
uns :  Tod ,  Grimm  und  rettungslose  Ver- 
zweiflung über  ein  Feld  voll  Leichen. 
Ich  rettete  die  Fahne  des  Landes,  drang 
mit  den  Besten  mich  durch,  und  erreichte 
eine  Felsenhöhe  ,  wo  wir  zwey  Tage  im 
Kampfe,  am  dritten  durch  das  Dunkel 
einer  schrecklichen  Wetternacht  entran- 
nen. Ich  kam  zurück,  und  empfing  den 
Kranz  am  Altare  —  der  letzte,  der  ihn 
empfing!  Bald  nachher  siegten  die  Orayas 
über  ein  Volk  ohne  Heere,    und  nun, 


o  Vaterland!  schläfst  du  Jahrhunderte 
vielleicht  — -  —  und  giehst  dir  keinen 
Retter!  — 

D  y  a.    Und  du  — 

M  i  o  1  d  a  a.  Iclr  verstehe.  Fühle  das  Un- 
glück meines  Daseyns :  mein  Leben  ist 
kein  freyes  Eigenthum ,  meine  Wünsche 
sind  gefesselt.  Unter  denen,  die  für  sich 
und  ihre  Söhne  schwuren,  „keine  WalFen 
gegen  unsere  jetzigen  Eroberer  zu  führen," 
war  auch  mein  Vater.  Der  eure  hatte 
noch  keine  Söhne  und  floh  in  eine  ferne 
Gegend. 

Dya.    Entsetzlich!    Sie  schwuren!  ! 

M  i  o  1  d  a  a.  O  Dya  !  Es  sind  der  Fälle 
so  viele ,  da  der  Mensch  zwischen  gleich 
theuern  Pflichten  wankt,  und  aus  Tugend 
irrt.  Sie  schwuren,  um  Gräuel  der  Ver- 
wüstung, die  sie  nicht  anders  aufhalten 
konnten ,  zu  enden.  Er  schwur  als  Vater, 
und  fehlte  als  Bürger  —  vielleicht?  — 
Und  was  soll  ich?  Meinen  Vater  mein- 
eidig machen ,  Verfolgung  über,  sein  graues 
Haupt,  Unglück  über  meine  Brüder  .  .  . 


für  einen  Ungewissen  Etiolg  Tausende 
wagen?  Längst  hatte  ich  mich  diesem 
Daseyn  entzo£.en,  wenn  ich  nicht  dön 
Kummer  meines  Vaters  sargte;  wenn  nicht 
zwey  \Ve£,e  meine  HoiFtiungen  nährten  : 
der  eine  lang  und  uugewils  —  „Beleh- 
rung und  mögliche  xA.  u f  r  e ch  tha  1  tu  n  g 
vaterländischer  Tugend  unter  w  enigen ;  " 
der  zweyte  traurig  und  kaum  wünschens- 
werth  .  .  .  „  U  n  einigk  eiten  unter  un- 
sern  Beherrschern  selbst."  Sie  brüten  im 
Keime.  Ohne  meines  Vaters  Wort  zu 
brechen,  kann  ich  dem  einen  Theile  bey- 
stehen.  Sie  werden  unter  sich  zu  streiten 
glauben,  und  mit  uns  streiten.  Ein  Theil 
von  uns  hat  sich  auf  die. Inseln  des  Mee- 
res ,  ins  Innere  unzugänglicher  Gebirge 
gerettet.  Wir  werden  einst  bessere  Tage 
sehen;  aber  wann  und  wie  —  ob  nicht 
Staub  dann  meine  Gebeine  deckt?  — ; 
liier  sitze  ich  indefs  in  diesem  Kerker 
des  unzureichendsten  Daseyns  Dieser 
wenigen  Schritte  Raum/,  dieses  Haus^ 
dieser  Hain  alles  —  was  raein  trübe$ 


»54 


Schicksal  mir  zum  Gram  des  Verlornen 
läfst.  O  dafs  ich  rippig  werden,  dafs  ich 
diesem  allzu  treuen  Andenken  entgehen 
könnte  wie  Tausende!  Aber  mir  wird 
jeder  Stern,  jeder  einsame  Lichtstrahl, 
jedes  Wehen  der  Nebel  um  verborgene 
Höhen,  und  rriehr  als  alles  dieser  Ring, 
das  theure  Pfand  eines  gefallenen  Freun- 
des .  .  .  zur  Rückkehr  schmerzender  Bil- 
der! Melancholie  —  g'^it©  Gefährtin  mei- 
nes Lfcbens,  wenn  du  mich  einst  meinem 
Tode  so  gleichgültig  entgegen  führest,  als 
jetzt  dem  Abende  jedes  Tages;  so  werde 
ich  sterben  wie  ich  lebe  —  ohne  Wunsch 
der  Verlängerung. 

Dya.  O  Mioldaa,  was  ist  unser  Schick- 
sal, auch  wenn  wir  das  Beste  wollen! 

Das  Auge  eines  Mannes  ist  schön,  wenn 
er  aus  Mitleid  weint:  aber  wie  viel  schöner 
ist  die  Thräne  beym  Unglück  seines  Vater- 
landes! 

Mioldaa  lehnte  sich  auf  Dyas  Schul- 
ter. Vergebt,  sprach  er,  man  sollte  fremde 
Heiterkeit  besser  ehren  :  aber  wer  kann  sei- 


3,)') 


nein  Herzen  gebieten,  wenn  es,  krank  und 
immer  krank,  in  Klagen  Erleichterung  sucht ! 

D  y  a ,  O  ich  fühle  was  es  seyn  mufs, 
wenn  der  Tag  zur  Rettuna;  sich  aufthut  — 
Wiederherstellunc^  eines  Volkes,  unseres 
Daseyns  höhere  Würde!  —  Könntet  ihr 
empfinden,  ihr  Bedrücker,  um  wiev^iel  edler 
es  ist  .  .  .  Rechte  geben  als  nehmen  —  wer 
würde  noch  unterjochen  wollen!  Ich  bin 
unabhängig,  mich  bindet  kein  Eid,  keine 
Rücksicht;  hier  meine  Hand  und  was  so  ein 
einzelner  Mann,  oder  ihr,  meine  Brüder, 
vermögt ,  das  soll ,  so  wahr  mir  Gott  helfe, 
geschehen. 

M  i  o  1  d  a  a  .  Ich  nehme  euer  Wort. 
Elvarazim  ist  ein  edler  Sief^er.  Er  lernte 
grofs  fühlen  unter  Kämpfen:  aber  wenn. 
Gewalt  unser  Gesetz,  sein  Wille  unsere 
Sicherheit,  und  wir  kein  Volk  sind  —  was 
ist  der  Mensch,  der  sein  Herz  verbergen, 
der  am  Stolz  fremder  Völker  erröthen  mufs, 
der  sich  nicht  sagen  kann:  „Meinem  Ge- 
müthe  fehlt  nicht  die  Quelle  aller  Gröfse, 
.  .  .  ein  Vaterland,  das  ich  lieben  darf,  und 


ein  Etwas  aufser  mir,  das  micli  fortreifst 
über  die  kleinen  Wünsche  meiner  selbst!" 

Elvarazim  ist  ein  hoher  Geist:  aber  was 
werden  seine  Söhne  seyn ,  die,  im  Glücke 
geboren,  zwischen  weichem  Sinne  und 
harter  Ehrsucht,  zwis'chen  Schwärmergüte 
und  listiger  Raubgier  ihrer  Erzieher 
schwanken? 

Elvarazims  Herrschaft  ist  vielleicht  — 
rsothwendig;  heftige  Heilung  für  ein  kran- 
kes Volk:  aber,  wie  jede,  weckte  sie  neue 
IJbel  und  bereitet  spätere,  indem  sie  jetzige 
heilt. 

Nach  einem  langen,  für  beide  Theile 
entkräftenden  Kampfe  —  „den  Orayas  Friede 
und  die  Theilung  unseres  I/andes  anzutra- 
gen , war  der  Chersen  tieferes  Ziel  vom 
Anfang  an  gewesen.  Aber  sie  hatten  die 
Kräfte  der  Orayas  zu  geringe  berechnet : 
das  Glück  unserer  Eroberer  vernichtete 
ihren  Plan.  Elvarazim ,  der  in  ihnen  alle 
Keime  einer  künftigen  Ubermacht  erkennt, 
sie  durchsieht  und  hasset  —  handelt  nur 
im  Gedanken    eines   Krieges  g<?gen  sie. 


„Untergang  der  Chersen"  ist  seiner  Waf- 
fenleute Losungswort ,  das  Bild  eines 
Chersen  das  Ziel,  an  dem  sie  ihre  Ge- 
schosse üben.  Keiner  darf  unser  I^and 
])etreten.  Sein  Ilafs  gegen  sie  soll  kein 
Geheinmifs  seyn ,  auf  dafs  er  Gering- 
schätzung und  ähnlichen  Hafs  in  allen 
erzeuge.  Diefs  ist  meine  einzige  frohe 
Aussicht,  dafs,  wenn  wir  für  einige 
Zeit  untergehen  mufsten,  nur  aus 
unserm  Untergang  eine  Macht  hervor 
treten  konnte,  die  diese  Feinde  der 
Menschheit,  diese  drohende  Wolke  rück- 
kehrender Barbarey,  und  den  Stolz  ihrer 
Plane  vielleicht  auf  immer  vernichtet. 

„Aus  seinem  Volke  und  uns  ein  ein- 
ziges in  unbezwingbarer  Stärke  zu  bil- 
den , "  lag  in  früher  Klugheit  Elvara- 
zims.  Jede  fortdauernde  Abscheidung, 
die  seine  Wünsche  hemmt,  zu  enden, 
mufste  er  einen  Begegnungsverein  bil- 
den ,  wo  Unterschiede  unmerklich  in 
neue  Formen  sich  auflösten.    Seine  Mit- 


Sieger  konnten  ungestüm  fordern,  und 
in  rohem  Ubermuthe  seine  Plane  durch- 
kreuzen: er  mufste  eine  Mittelmacht 
schaiFen,  die  den  ansprüchigen  Stolz  sei' 
ner  Miteroberer  früher  entwaffne ,  ohne 
in  uns,  als  sichtbarem  Gegengewichte  — 
mit  dem  Gebrauch  unserer  Kräfte  auch 
ihr  Selbstgefühl  zu  erneuen.  So  suchte 
er  aus  den  gemilderten  und  einsichts- 
vollem Köpfen  und  den  Abtrünnigen 
beider  Yölher  eine  eigne  Kaste  zu  sam- 
meln, von  Allen  los  gerissen,  gegen 
Alle  kämpfend,  nur  mit  seinem  Da- 
seyn  stehend  oder  fallend.  Er  hat  allen 
wetterwendischen,  zeitklugen,  an  nichts 
hängenden,  verkäuflichen,  ungewissen, 
mattherzigen  Menschen  eine  Wichtigheit 
gebende  Laufbahn  eröffnet:  diefs  ist  sein 
erstes  —  vielleicht  unvermeidliches  übel. 
Da  er  uns,  Zahl  und  Bildung  nach  die 
m  ehre  r  n  ,  nie  zu  eignem  Bewufstseyn 
erstarken  lassen  durfte;  da  er  alle  Erin- 
nerungen, alle  Leidenschaften,  alle  Ge- 
bräuche, alles  Libereinkommen  verändern 


oder  vernichten  mufste,  um  jede  Rück- 
hehv  alten  Geistes  zu  verhüten:  so  hot 
er  gleich  Anfangs  alles  auf,  was  allge- 
meines Zutrauen  zwischen  Mensch  und 
Mensch  in  Argwohn  verhehren,  was 
Schwäche  ,  Verschlossenheit ,  Trägheit, 
Eigennutz  und  Muthlosiglieit  in  unbe- 
gränzter  Wirhsaniheit  verbreitete. 

Man  entrils  Kinder  ihren  Altern  ,  tun 
sie  in  öffentlichen  Schulen  nach  verän- 
derten Vorbildern  zu  erziehen  :  man 
suchte  durch  stets  wechselnde  Einfüh- 
rung vieles  Neuen  .  .  .  Gemüther 
gleichgültig  schwankend  zu  beschäftigen, 
alten  Gewohnheiten  zu  entziehen,  und 
nach  ihrer  m  eh  rem  oder  mindern 
Anhänglichkeit  an  vorige  Sitten  ...  zu 
quälen  oder  zu  entzweyen.  Zu 
Tausenden  in  fremde  Kriege  geführt, 
durch  scheinbare  Vorrechte  in  ihrem 
Stolze  mifsgeleitet,  hob  man  das  Nie- 
drigste über  das  Hohe,  kriechende  Glücks- 
söhne über  alt  erworbene  Verdienste,  und 
regellose  V/illkühr,  unterm  Vorwande  der 


Zeiten,  —  über  Rechte  und  Gesetz. 
Groll  wachte  im  Verborgenen;  scharf 
sehende  Augen  erkannten  das  Übel.  Aber 
wer  sollte  entgegen  treten?  Kalte,  ent- 
schlufslose,  vereinzelnde  RechtschafFen- 
heit  war  selbst  unter  Be>ssern  an  die 
Stelle  wirksamer  Vaterlandsliebe  getre- 
ten. Ihr '  werdet  noch  oft  in  eurem  Le- 
ben sehen  müssen  .  .  .  wie  man  ein  ehr- 
licher, rechtlicher  Mann  seyn  könne, 
aber  darum  doch  kein  guter  Bürger. 

Das  gröfste  Unglück  für  uns  war,  dais 
alles  Schlimme  mit  Verstand,  alles 
Gute  mit  zweyzüngiger  Absicht,  bei- 
des mit  grofser  Einheit  für  gleichen 
Zweck,  das  letzte  glänzend,  das  erste 
zum. Scheine  des  Bessern  geschah,  oder 
einer  Unvermeidlichkeit  glich;  dafs ,  da' 
alles  —  nur  weichlich  vereinzelnd, 
nichts  —  hart  zusammen  drängend  zu 
wirken  berechnet  war  —  der  Geist  sich 
auflöste,  und  seine  Kräfte  verflogen ;  dafs 
man  das  Übel  nicht  tadeln  konnte',  ohne 
das  zu  nahe  liegende  Gute  zu  ergreifen. 


König  mit  nicht  gewöhnlicher  Einsicht, 
wufste  Elvarazim  frühe  die  traurige  Noth- 
wendigkeit  zerstörender  Al)siohten  unter 
Gemeinhestes  und  Volksannäherung;  zu 
bergen.  Er  hatte  die  KräTte  der  Besieg- 
ten gehrochen  :  kühn  und  fortgesetzt  suchte 
er  nun  ihren  Herzen  sich  theuer  zu  ma- 
chen ,  Erwartungen  zu  übertreften ,  und 
die  Easten  eines  fremden  Joches  unter 
den  Glanz  seines  Charakters  zu  verstecken. 
Kühn  w^eckte  er  nun ,  was  brauchbar  war, 
aus  ihrer  vorigen  Verfassung.  Er  erhob 
den  Kriegsstand.  Er  untermischte  sein 
Heer  mit  seinen  neuen  Bürgern.  Dafs  er 
nichts  wage,  wufste  er.  Er  führte  sie 
zu  auswärtigen  Eroberungen,  eben  so  viel 
neuen  Gliedern  in  ihre  Ketten.  Der  Erfolg 
machte  sie  schwindeln.  Ruf  und  Bewun- 
derung,  Gröfse  der  Ereignisse,  und  Pracht 
des  Heeres  .  .  .  machten  bald ,  dafs  man 
alter  Einfalt  spottete,  dafs  eine  schim- 
mernde Bahn,  auf  der  er  sich  zum  be- 
glaubigten Vorbilde  gemacht  hatte,  die 
Nazion  ihrer  selbst  entwöhnte ,  und  den 

Dya  -  Na  -  Sore  i.  Th.  l  i 


l62 


Geist  einer  Eitelheit  weckte  ...  fl  i  e 
in  der  Vergroiserung  ihres  angebeteten 
Gegenstandes  sich  selbst  zu  umstrahlen 
walint :   man  stritt  und  starb  für  ihn. 

Verführer,  nicht  Wohlthäter  der  Mensch- 
heit .  .  .  nenne  ich  jeden  höhern  Geist, 
der  die  Gröfse  seiner  Talente,  statt  Men- 
schen durch  sie  zum  Selbstgefühl  ihrer 
Würde  zu  erheben,  —  zu  Mäklern  macht, 
Menschen  an  die  Gewalten  seiner  eigen- 
nützigen Vergötterung  zu  fesseln.  Nicht 
die  Gröfse  des  Einzelnen  .  .  .  Gröfse  der 
Menschheit  sollte  der  Zweck  seyn ,  der 
uns  alle  in  unsern  Thaten  vereint. 

Aber  es  brauchte  hier  wie  überall  nur 
Einen,  der  den  seltenen  Mann  unterm 
Schimmer  der  höchsten  Thätigkeit  zeigte  — 
um  alle  Jünglinge  ihm  zuzulocken ,  allen 
Wirksamkeits-Schwindel  zur  Theilnahme  zu 
ziehen.  Tyrann  und  Weichling  hätten 
nicht  so  viel  geschadet  als  der,  der  es 
dahin  brachte,  dafs  er  unter  der  Wahr- 
heit persönlicher  Vorzüge  Herzen  ver- 
führte, und  in  seinem  Dienste  dem  Ehr- 


163 


gcitz  ein  Ziel  aufsteckte,  das  er  nur  in 
Vaterlandsliebe  und  Vaterlandsstolz  hätte 
finden  sollen. 

Die  Zwischenräume  des  Friedens  wur- 
den eine  Fveihe  anhaltender  Feste,  in  all 
der  Verschwendung,  mit  der  ein  Neuling 
sich  in  die  Künste  eines  gebildeten  Volkes 
wirft.  Er  war  jung,  er  liebte  das  Vergnü- 
gen. Das  Volk  bezahlte  die  Kosten  ;  aber 
es  erstaunte,  und  fand  zunehmende  Gröfse 
in  diesem  glänzenden  Rausche:  seine  herr- 
schende Leidenschaft  .  .  .  belustiget  wer- 
den —  war  erfüllt,  *)  um  so  mehr  erfüllt, 

*)  „Panem  et  Circcnses"  ist  der  gewöhn, 
liehe  Geist  jedes  Volkes.  Nur  durch  mühsame 
Bildung  entwickeln  sich  jene  eJlern  abgezoge- 
nen BcgiilTe  von  Würde  des  Menschen  und 
Bärgers.  Können  Handwerks  -  Beschättigungeu 
und  alUaglicher  Schmutz,  können  vornehmer 
IVIüfsiggang  und  eitle  Repräsentazicnssucht  sie 
geben?  Für  jede  Kunst  bildet  man  Schüler; 
für  die  edelste  Wissenschaft  .  .  .  Bürger  zu 
seyn  .  .  so  selten.  Gute  Menschen  gut  erhal- 
ten —  kann  Verfassung:    aber  gut  machen 




da  es  Elvaiazim  als  den  ersten  Theilneli- 
jner  überall  begegnete.  Die  Menge  Belus- 
tigungen, weit  entfernt  zu  sättigen,  machte 
begehrender. 

Die  Ehre  des  Königs ,  der  die  Wege  des 
Schwelgers  eben  so  hinreifsend  als  die 
^Yege  des  Helden  ging ,  und  seiner  Ver- 
trauten zu  retten,  alle  Gränzen  der  Stände, 
alle  Achtung,  Scheu  und  Beschämung  für 
ältre  Sitten  und  ihre  Uberreste  zu  ver- 
nichten, suchte  man  die  Nachkommen 
berühmter  Vorfahren  ,  oder  die ,  die  noch 
zuletzt  mit  Glanz  den  Staat  verwaltet 
hatten,  und  jetzt  in  ihren  entlegenen  Sitzen 
zwischen  Gram  und  verbissenem  Stolz  jnit 
Armuth  rangen,  auf.  Geld  bewog  viele, 
zu  ihrer  Schande  als  üppige  Theilnehmer 
zu  erscheinen.  Ihr  Name  verdiente  genannt 

kann  nur  frühe  Entwicklung  ihres  Geistes  für 
jene  höliern  Gesinnungen  .  .  .  die  allbeherr- 
schende Liebe  eines  Vaterlandes,  das  ßewufst- 
seyn  allgemeiner  Pflichten ,  und  die  Wissen- 
schaft, sie  mit  Weisheit  auszuüben.  Wei 
sorgt  dafür  ? 


165 


All  werrlen,  wenn  nicht  der,  der  fremde 
Schande  erkauft,  ein  gröfserer  Verbrecher 
wäre,  als  der,  der  sich  erkaufen  läfst. 
Weder  Alter  noch  Würde  schützten  vor 
Einladung  xur  Thorheit.  Er  hatte  Gesell- 
Schäften  des  Vergnügens  gestiftet,  die  in 
den  Hainen  von  Schentu,  in  den  neu  erbau- 
ten Palästen  ,  zwischen  Nacht  und  Taumel 
das  IJbermafs  alles  Genusses  erreichten.  Un- 
geheure Geschenke  wurden  verschwendet, 
unendliche  Verwicklungen  gewebt  —  Leute 
von  Ruf  und  Sitten  dahin  zu  ziehen.  Bitten 
des,  der  Macht  hätte  uns  zu  nöthigen,  sind 
sie  vi^eniger  als  Zwang?  Von  solchen  Festen 
sich  absondern  hiefs  —  gefährlicher  Mifs- 
muth.  Der  Gute  besuchte  sie  aus  Zwang, 
der  Schlimme  aus  eignem  Trieb.   Das  Ver- 

o 

derben  griff  tiefer:  Bescheidenheit  mufste 
unter  Vorzügen  der  Ausschweifung  dahin 
sinken,  und  Tugend,  die  so  schwer  selbst 
da  sich  erhält,  wo  sie  das  Ziel  der  Bewun- 
derung ist,  entweichen,  wo  der  Scharfsinn,^ 
neue  Freuden  zu  ersinnen,  das  einzige  Talent 
ward ,  das  allgemeinen  Beyfall  erwarb. 


i66 


Doch  bald  lernte  Elvarazim  einsehen, 
dafs  Elirgeitz  und  Tugend  und  Nachruhm 
nicht  verlöscht  werden  dürften ;  dafs  er  zu 
weit  gegangen  sey;  dafs  Thätigkeit  und 
Kraft  sich  nicht  wie  unverlorne  Güter 
zwischen  Üppigkeit  und  Lust  in  willkühr- 
lichem  Wechsel  aufbewahren  liefsen.  Sein 
Geist  ward  reifer.  Er  erkannte  an  sich,  an 
der  Liangenweile ,  „mit  der  jeder  nächste 
Augenblick  nach  dem  Vergnügen  ihn  anfiel, 
und  unter  den  Qualen  einer  gebrauchlosen 
Nüchternheit  vom  Hafs  der  Anstrengung 
zur  geliebten  Rettung  des  Rausches  zu- 
rück zog,"  —  worin  das  Zerstörende 
eines  üppigen  Lebens  beruhe.  Er  erkannte, 
warum  man  ihn   darein  verwickelt  hatte. 

Er  ehrte  das  Gute  mit  Ernst,  und  wie 
ein  wirklich  edler  Geist  spät  oder  frühe  zur 
bessern  W ahrheit  zurück  kommt,  so  hätte  er 
nun  mitThränen  verlöschen  mögen,  was  er 
Übels  im  Wahne  hervorbrachte.  Er  sam- 
melte unsere  unvernichteten  Denkmahle, 
u  m  im  Aufleben  der  Künste  dem  Ehrgeitz 
eine   veredelte  Nahrung  zu  geben :  aber 


167 


Jfonnte  er  sie  in  ihrem  vollen  Sinne  gelten 
Jassen  ? 

Er  beförderte  Wissenscliaften :  al^er 
mutste  er  nicht  dennoch  in  ihnen  mehr 
ein  Pracht  -  und  Hofgeräthe ,  als  ein  freyes 
Eigenthum  der  Menschheit  befördern? 

Er  verbündete  sich  mit  Gelehrten  :  aber 
dennoch  mehr  um  Freunde  seiner  Wünsche, 
als  kühne  Gesetzgeber  strenger  Wahrheit 
in  ihnen  zu  besitzen. 

Überall  beschränkte  ihn  seine  Lage,  seine 
Erziehung,  sein  Stand  und  eine  traurige 
Nothwendigkeit.  Er  ist  nun,  wie  ihr  ihn 
kennt,  voll  edlem  Willen :  aber  wo  soll  sich 
ihm  volle  Wahrheit  erölfnen  ?  und  wenn  er 
sie  erkennt  —  wo  ist  der  Weg  sie  geltend 
zu  machen?!  Des  Menschen  schwerste  Tu- 
gend ist  Reue  —  die,  ohne  Eitelkeit  sich  zu 
zeigen,  das  Geschehene  lieber  langsam  ver- 
bessert, als  glänzend  zertrümmert. 

Wo  soll  er  Freunde  finden?  Die  Orayas 
nennen  seine  Güte  —  sträfliche  Weichheit, 
und  jedeBeschiänkung  ihres  Übcrmnthes  — 
Unrecht,  und  pflichtwidrige  Versagung. 


i6q   

Der  bessere  Mann  unsers  Volkes  ist  bey- 
nalie  uniibersteiglich  von  ihm  getrennt,  denn 
jeder  scheint  ein  Überläufer,  ein  Verräther, 
wer  ihm  naht.  Nur  wer  das  wirklich  Gute 
höher  achtet  als  seinen  Namen,  kann  es  wa- 
gen. Aber  wie  viel  wird  er  nützen,  wenn 
er  ohne  Glauben ,  ohne  Gehiilfen ,  allein 
steht  und  verhaTst? 

Eine  schleichende  Sekte  finstrer  Arglist 
saet  den  Samen  des  Wunderbaren,  den 
Verruf  alles  Wissens,  die  Lockungen  ab- 
gezogener Beschaulichkeit,  Losreifsen  von 
allem  Irdischen,  Zufälligen,  Verderbten 
seiner  Zeit  —  unter  uns  aus.  Herrschender 
Lustsinn,  und  grübelnder  Lehrgeist  mischen 
sich  in  die  träge  Gleichgültigkeit,  in  die 
spottende  ErschlalTung  gegen  alles  Äufsere. 
Jeder  sucht  das  öfFentiiche  Unglück  in  seiner 
eignen  Absonderung  zu  vergessen,  und  ein 
spitzfindiger,  schwärmender,  heiliger  Egois- 
mus wird  die  letzte  Krankheit  eines  unheil- 
baren Volkes. 

So  seht  ihr  nun ,  was  euch  einst  bevor- 
steht.   Alle  Systeme  des  Eigennutzes,  des 


Aberglaubens ,  der  Mensclienveraclitung, 
der  selbsterLöhenden  Zweifelsucht,  hinter- 
listige Ansprüche  geistiger  Unabhängig- 
keit und  geistiger  Fesseln ,  der  Stolz  einer 
V  ernunft ,  die  alles  Grofse  weggrübelt,  der 
Dünkel  eines  Gefühls,  das  nur  im  Spott 
der  Vernunft  Erhabenheit  sucht  —  alles 
im  matten,  trägweichen  Kampfe  ohne  Ei- 
fer, ohne  Erschütterung  vermischt,  ist  — 
der  Geist  eurer  Zeiten;  und  seine  tiefe 
Erforschung  die  erste  Aufgabe  eurer  Thä- 
tigkeit. 

So  viel  wiederholte  nur  Tibar  von  ihrem 
Gespräche  unter  den  Ruinen  am  folgenden 
Tage. 

Einzeln  sah  ich  sie  jetzt  zurück  kommen, 
verloren  in  die  traurige  Betrachtuna;  des 
Gehörten.  „O  Natur !  rechtete  ich  mit 
,,mir,  vt^aruni  in  den  edelsten  Seelen  jener 
„unselige  Hang  des  nie  befriedigten  Da- 
,,seyns?!  Warum  müssen  gerade  sie  durch 
„ewig  ferne  Vorstellungen  vom  rahigen 


170 


„Besitze  des  Augenblicks  sich  verlieren? 
„Um  durch  innere  Unruhe  sie  zurück  zu 
„halten  vom  Schlummer  ?  —  Theurer 
„Preis!  -  -  Leiden  um  Grulse!  "  Hier  nah- 
ten sie,  finster  ihre  Stirne,  ihr  Auge  voll 
Gram,  ungewifs  in  allem.  Und  wir  — 
Ich —  am  Eingange  der  nämlichen  Ruinen, 
so  heiter !  Welch  eine  Berechnung  für  nie 
Vorsicht!  .  .  .  Die  Foltern  ihrer  zwischen 
Vergangenheit  und  Zukunft  zerrissenen 
Herzen  gegen  die  Ruhe  unserer  Scherze! 
Aber  Trost  für  solche  Seelen  wäre  Ent- 
ehrung.   Ihre  Leiden  sind  ihre  Gröfse. 

Noch  fühle  ich  das  bittre  Lächeln,  mit 
dem  Dya  mich  zurück  wies.  Ich  wollte 
ihn  trösten;  ich  häufte  Gemeinsprüche,  und 
glaubte  ihn  niederzuwiegen  —  weil  er 
nicht  sprach. 

Ach  ich  verdiente  sein  Schweigen.  Ich 
wollte  über  fremden  Gram  mich  zum  Rich- 
ter machen  ,  ,,dafs  er  leidende  Menschheit 
in  seinem  Herzen  trug,  dals  er  das  ruhige 
Glück  verachtete,  und  stolz  war  in  seinem. 
Kummer,"  darüber  flössen  meine  Thränen. 


i7i 


„Einst  wirst  du  uns  nicht  melir  bedau- 
„ren,  sagte  mir  leise  Tibar-  Schmerz  ist 
,,die  Stimme  der  Gottheit,  die  durch 
„edlere  Gefühle  vereinzelt,  und  durch 
,,Unmuth  zu  Thaten  ruft.  Unzufrieden 
„seyn  heilst  oft  so  viel  —  als  von  Tau- 
senden  ausgeschlossen,  deren  Dumpf- 
,,heit  sich  nicht  einmal  zu  einem  Blick 
„auf  allgemeines  Elend  erhebt." 

Wie  oft  habe  ich  die  Wahrheit  dieser 
Worte  erhannt ! 


Unser  Aufenthalt  bey  Divand  stieg  un- 
ter der  täglich  gemehrten  Anhunft  seiner 
ausgesuchtesten  Gesellschafter  bis  zum 
Geräusche  eines  anhaltenden  Festes. 

Ich  bewunderte  Divands  und  Minka- 
rags,  seines  zweyten  Sohnes,  Geist,  die 
einfachen  Genüsse  der  reitzend  hohen 
Natur,  die  ihren  Landsitz  umgab,  bey 
allem  Schein  und  Schaugerüsten  mensch- 
licher Belustigung  —  zur  letzten  und 
überraschendsten  Aussicht,   und  die  fei- 


nei  n  Freuden  des  unterrichteten  Geistes  — 
zum  Grundton  des  Ganzen  zu  erhalten. 
Die  Schätze  feinsinniger,  kunstliebender, 
M  issender  Menschen  erhöhten  die  Reitze 
des  Umgangs.  Die  Entfernungen  einer 
weit  verbreitet  schönen  Gegend ,  ihre 
INühe  an  den  Thälcrn  einsamer  Vorberge, 
die  Mannigfaltigkeiten  eines  reichen 
Landsitzes  von  den  hohen  Erinnerungen 
ältrer  Zeit  umschlossen ,  erlaubten  jede 
Laune,  jede  Absonderung,  jede  Wahl. 
Die  Stille  des  denkenden  Geistes,  das 
zauberische  Streben  fühlender  Herzen, 
die  heitre  Stimme  der  Fröhlichkeit ,  alles 
sah  ich  hier  in  reitzendem  Gemische  sich 
begegnen ,  sich  vereinen  ,  sich  trennen, 
und  zwanglos  einsam  oder  gesellig  sich 
äufsern  ,  ohne  dafs  je  aus  eignen  Wün- 
schen .  .  .  Ansprüche  an  andere  wur- 
den. Männer  waren  Jünglinge  ;  der  Stolz 
suchte  hier  nur  zu  gefallen  und  nicht  zu 
gebieten ;  leise  berührten  sich  Menschen, 
die  fremde  Freude  in  ihrer  eigenen  ach- 
teten. 


Nach  den  alten  Sitten  unsers  Volkes 
hatten  Frauen  hier  eine  gröfsere  Frey- 
heit.  Ihr  heiterer  Sinn  verbreitete  sich 
wie  ein  Hauch  zarter  Lüfte  über  den  auf- 
geschlossenen Wohlgeruch  einer  Gegend. 
Alles  Regsame  ward  Bewegung,  alles 
Schöne  ward  Begeisterung,  alles  Zartge- 
fühlte  ein  lieblich  fortgesetzter  Traum. 
Sie  erfreuten  und  herrschten  über  dea 
Gang  der  Geselligkeit,  wie  die  Hoffnung 
über  das  Leben. 

Wenn  Gefahren  die  rasch  aufflammende 
Kühnheit  des  Geistes  erweisen,  so  geben, 
solche  Tage  die  Probe  —  ob  unser  Cha- 
rakter festes  Beharren  am  Erkannten 
aus  selbstständiger  Kraft,  ob  er  Eigenheit 
oder  nur  glänzende  Liebhaberey  sey. 
Leicht  lernt  man  am  flüchtigen  Streben 
nach  erneuerten  Reitzen  —  Ausfüllunor 

o 

für  Beschäftigung  halten  :  leicht  schwillt 
man  empor  zum  Stolz,  andre  zu  belusti- 
gen ,  und  zur  Verachtung  des  V  e  r- 
schlossenen,  der  nur  einsam  für 
andre  wirkt.      Der  brausende  Umtrieb 


174 


der  Empfindung  scheint  —  Kraft,  und 
der  Augenblick  Stillstand,  der  mit  jedem 
Ubergang  zu  ernsten  Geschäften  ent- 
stehen mufs,  wirft  einen  Schatten  von 
Unweith  auf  das,  was  den  schönen 
Schwung  aufhalt  .  .  .  Spott  knüpft  sich 
an  das  Förmliche ,  Widerwille  an  das 
Lan2;same  jedes  Geschäftes:  so  lernen 
wir  in  Hindernissen  und  Sorgen  nur 
Schlechtheit  oder  Thorheit  des  Men- 
schen, im  Vergnügen  allein  die  Gotter- 
kraft  suchen  —  der  ferne  vom  Wahne 
.ihres  Jahrhunderts  alles  fremde  Wichtige 
.  .  .  Spiel,  jeder  eigene  Genufs  .  .  .  Wahr- 
heit ist. 

]Nur  einem  tiefen,  selbsterkennenden 
Geiste  werden  solche  Tage  Erfahrungen 
bleibender  Wärme,  kein  Feuer,  an  dem 
sein  Firnifs  verraucht. 


Tn  der  stillen  Einsamkeit  unseres  Va- 
ters hatte  ich  mich  für  nichts  ähnliches 
zu  bilden  Anlafs  gefunden :  alles  war  mir 


175 


neu  und  üben  a seilend ,  fortziebend  und 
durch  sich  selbst  befriedigend.  Nutzlos 
würde  für  mich  an  der  -  mannigfaltigsten 
Berührung  mit  Menschen  und  ihren  vor- 
über gleitenden  Verhältnissen  eine  Zeit 
geblieben  seyn,  die  —  unter  dem  Scheine 
l?einer  Beschäftigung  —  vielleicht  die 
wichtigste  verschlofs  .  .  .  ,,die  Kunst, 
im  unbewachten  Sinne  froher  Gemüther 
nach  fremdem  und  eigenem  Gehalte  zu 
forschen;''  hätte  nicht  Tibars  festerer 
Geist  mich  auf  Beobachtung  geleitet  — 
wo  die  wenigsten  Beobachtung  suchen: 
hätte  nicht  er  mir  den  Spiegel  vorgehal- 
ten,  der  alles  Verworrene  zur  Bestimmt- 
heit klarer  Gestalten  artete.  Ich  sah  ihn 
sich  gleich  ohne  Kälte,  froh  ohne  Hinge- 
bung, w^ollend  ohne  Begehren,  andern 
alles  nachsehend,  streng  gegen  sich,  über- 
all mit  ruhiger  Haltung:  indefs  ich  unge- 
wifs  und  wechselnd,  bald  heiter  in  stil- 
lem Umgange,  bald  betäubt,  bald  ge- 
schmeichelt in  ähnlichen  Gefühlen,  bald 
unverstanden  —  beschämt,  grollend,  oft 


176 


liindiscli  gekränkt  im  Getümmel  irrte,  wo 
ich  nie  zureichend  mit  dem,  was  ich  be- 
strebte —  bald  zu  spat,  bald  zu  früh, 
mit  der  besten  Auslegung  selten  recht 
sah,  zurück  blieb,  wenn  andre  eilten, 
allein  stand,  wenn  ich  voraus  stürzte, 
und,  weil  ich  nicht  irren  wollte,  immer 
fehlte  und  niemals  frey  war. 

Dya  versuchte  alles,  hing  sich  an  alles, 
stürmte  in  alles,  fand  sich  überall  an  sei- 
ner Stelle,  und  doch  überall  vereinzelt, 
gab  sich  heute  eine  Bedeutung,  die  er 
morgen  nicht  mehr  suchte:  ohne  Stolz, 
ob  er  irrte  oder  errieth,  lachte  er  über 
sich  selbst  so  gutwillig  als  er  andre  pries, 
behauptete  sich  aber  dennoch  immer  in 
seinem  eigenen  Wollen,  schaffte  sich 
Gehör  im  Reitze  seiner  schwärmerischen, 
kräftigen  Erhebung,  in  der  Wärme,  mit 
der  er  sich  umgab,  in  der  Gefälligkeit, 
auch  einem  Wagestück  sich  nie  zu  ver- 
sagen. 

Diese  Unbefangenheit  in  geselligen 
Verhältnissen  war  mir  unvereinbar  mit 


177 


seinem  Streben  nach  Beyfall;  bis  spätere 
Erfahrungen  mich  belehrten  ,  „dafs  Men- 
schen —  ehrgeitzig  am  Grofsen ,  beym 
Vergnügen  —  gerade  in  der  Gleichgül- 
tigkeit gegen  fehlen  und  nicht  fehlen  — 
ihren  Muth,  und  in  den  raschen  Uber- 
gängen des  Sorglosfrohen  —  den  Stolz 
ihrer  Kräfte  suchen.  " 

Hamor  lächelte  und  genofs,  und  fragte 
wenig,  wie  viel  andern  die  Stelle  gälte, 
die  er  hielt.  Er  glaubte  am  meisten  zu 
besitzen,  weil  sein  trunkener  Blick  an 
niemand  so  viel  Freude  wahrnahm,  als 
an  sich  selbst.  Eigentlich  bestimmten 
sich  seine  nähern  Neigungen  für  Miol- 
daas  jüngste  Schwester,  das  heifst,  ,,er 
tratite  ihr  Sinn  genug  zu,  ihn  für  den 
vorzüglichsten  Menschen  zu  halten,  so 
wie  er  sie  eben  darum  für  die  vorzüg- 
lichste ihres  Geschlechts  hielt. "  Im 
Grunde  suchte  er  in  seiner  zärtlichen 
Wette  mehr  den  Triumph  seiner  eige- 
nen Empfindsamkeit,  als  den  Gewinn  einer 
fremden. 


So  le])teii  wir  in  gleich  heitern  Tagen : 
nur  ein  Fest  —  das  Fest  verlorner 
Freunde,  liefs  einen  tief  verhehlten  Gang 
des  Ernstes  unter  hliihenden  Auen  ahnen. 
Seit  zehn  Jahren  Verlorne  nur  wurden 
namentlich  im  Gedächtnisse  erneuert ; 
aber  was  in  düstrer  Rückkehr  jenseit 
dieser  Jahre  stand  —  der  gränzenlose, 
unendliche  Schmerz ,  der  unter  äufsern 
Klaggesiingen  .  .  .  das  Geheimnifs  der 
Herzen  war,  zeigte  sich  in  den  flam- 
menden Augen.  Eine  sanfte  Rührung 
einzelnen  Verlustes  hätte  jeden  einzeln 
mit  seinem  Kummer  an  das  geliebte,  erlo- 
schene Bild  aezocen.  Aber  liier  .  .  . 
lag  ein  höherer  Gegenstand ,  allen  ge- 
mein,  in  der  Ferne,  der  mehr  Unmuth 
als  Trauer,  mehr  schmerzlich  versteck- 
ten Grim.m  als  stillen  Harm  erzeugte  .  .  . 
Es  war  das  Fest  des  verlornen  Vater- 
landes. Zwey  lange  Säle  hellblauen  Mar- 
mors, die  sich  in  ihrer  Mitte  unter  einer 
Kuppel  durchkreuzten,  waren  der  Ort: 
die  Lichtbogen  hoher  Fenster  auf  beiden 


Seiten  öffneten  die  Aussichten  nach  den 
bedeutenden  Gegenden  von  Irhot  und 
Dara,  Wyla  in  der  Ferne,  das  Schlacht- 
feld von  Ilvar,  die  Ruinen,  die  wir  be- 
suchten, der  Ijauf  des  Galaor  an  den 
Siegfeldern  hinab,  alles,  wms  in  tausend 
grofsen  Erinnerungen  die  Vergangenheit 
erneute. 

Die  Erzbilder  hoher  Ahnen  umgabeii 
uns  unter  den  Säulen;  Trauer  unter  den 
leeren  Gestellen  der  Waffen  und  Fah- 
nen und  Ehrenzeichen  an  ihren  wegge- 
nommenen Siegesmahlen.  Schreckliche 
Leere  —  selbst  die  Unsterblichkeit  edler 
Menschen  sollte  ein  Raub  unsers  Un- 
tergangs werden !  Eine  Grabstäte  öffnete 
ihren  dunkeln  Schoofs  unter  der  Kup- 
pel. Ein  Sterbender  sah  zum  letzten- 
male  die  Sonne,  und  seine  thranendcn 
Freunde  und  die  Aussichten  ferner  Ge- 
gend .  .  ,,Er  bejammerte  seinen  ruhmlo- 
sen Tod,  sein  Sterben  ohne  Frucht  fiir 
die  Nachwelt,  sein  Leben  ohne  Gewinn, 
ohne  That,  ohne  Veranlassung  zur  Aus- 


Übung  liölierer  Kräfte!''  Ein  tauschen- 
des, liinieifsendes  Schauspiel.  Erstarb, 
er  ward  versenkt,  mit  ehernen  Tönen 
wälzte  der  Grabdeckel  sich  über  ihn 
hin ,  in  leisen  Tönen  erstarb  der  Gesang. 
Ach  am  Grabe  lernt  man  stolz  seyn  auf 
ein  Leben,  das  im  Tode  mit  der  Reue 
so  vieles  Nichtgeschehenen  endet. 

Einige  Unbekannte,  die  in  ihrem  Äus- 
sern —  Fremdlinge  schienen,  fielen  mir 
auf  durch  ihr  stillheitres  Auge,  das  mehr 
beobachtend  als  theilnehmend  um  sich 
her  gerichtet  war. 


Die  Gegenwart  einiger  mächtigen  Ora- 
vas  störte  nichts.  Ihr  edler  Geist  hatte 
Menschheit  achten  lernen.  Sie  erkann- 
ten den  Wahnsinn  ihrer  WafFengefähr- 
ten ,  die  in  uns  Besiegten  lieber  Unter- 
worfene als  Freunde  sehen  wollten. 
Sie  ahneten  die  Folgen.  Ich  sah  Thrä- 
nen  in  ihren  Augen,  da  sie  in  einer  ver- 
trauten Stunde  über   die  Kämpfe  kom- 


inender  Zeiten  sprachen.  Warum  wird 
doch  der  edle  IVIann  so  selten  gehört ,  er, 
der  doch  allein  der  Hellsehende  ist? 

Es  ist  ein  sonderbares  Gefühl  jugendli- 
cher Herzen,  wenn  in  den  Vorsagungen 
ierner  Zeiten  uns  das  traurigfrohe  Vor- 
gefühl unsers  eigenen  Beytritts  ergreift: 
wenn  wir  als  stille  Gegner  mit  leuchtend 
ernstem  Auge  dem  Manne  nahe  stehen, 
den  wir  ehrend  und  liebend  zu  bekäm- 
pfen wünschen  und  zu  retten. 

Einer  von  ihnen  ergriif  unvermuthet 
Tibars  Arm.  Einst  falle  ich  vielleicht 
,,von  dieser  Kand!  Und  Elvarazim  nährt 
„die  schöne  Schlange  in  seinem  Busen  !  " 
setzte  er  frohmüthig  hinzu. 

„Würde  eine  Schlange  der  Nähe  sei- 
„nes  Busens  sich  verweigert  haben  ? " 
antwortete  eben  so  frohUichclnd  Tibar. 

Der  Oraya.  Ich  habe  dich  bewun- 
dert und  geliebt. 


Geist  des  Menschen  !  ohne  wahrsa- 
gende Gabe,  so  oft  dein  Prophet!  Wie 
lange  noch  müssen  gute  Menschen  in 
Verhältnisse  kommen,  wo  ihre  eigene 
Güte  sie  gegen  einander  wafFnet?  Wenn 
werden  die  Irrthümer  der  Menschheit 
mit  ihrem  Blute  abgetilgt  seyn,  und 
keine  Hand  sich  mehr  heben  dürfen  zum 
Angriif  oder  zur  Yertheidigung  ? 


Die  Ankunft  mehrerer  Orayas  anderer 
Art  störte  die  schöne  Harmonie  dieser 
Tage.  In  ihrem  Stolze,  ihrer  Unart, 
ihren  Ansprüchen,  ihrem  Mangel  an 
Selbstbeschäftigung  —  ihrem  kenntnifs- 
losen  Sinne  —  den  alles  Edlere  nicht 
befriedigte,  der  alles  Feinere  übersah, 
der  nur  Schimmer  und  Geräusch  suchte 
im  Getümmel  eines  Festes  .  .  .  das  ihnen 
als  Herren  huldigte,  und  uns  als  ihre 
Gaulder  unter  die  müfsige  Gleichgültigkeit 
ihres  Beyfalls  erniedrigte  —  erlosch 
alles.  Sie  bemächtigten  sich  des  Ganzen, 


sie  zogen  ihre  Freunde  ,  ilire  SchmeicU- 
jer  hierher ,  täglich  sahen  wir  eine  tmhe- 
kannte  Schaar :  sie  hildeten  von  uns  abge- 
sondert ihren  Kreis,  in  dem  —  haum  Di- 
vand  —  um  ihre  Wünsche  zu  empfangen, 
ein  wenig  Zutritt  fand.  Um  jedes  neu 
angekommenen  Knaben  willen,  dessen 
Neugierde  man  erregt  hatte  ,  sollten 
Feste  wiederholt ,  Künstler  wie  Sklaven 
einer  müfsigcn  Laune  erschöpft  werden ; 
Bäume  sollten  blühen ,  der  Wind  und  die 
Sonne  ihren  Lauf  ändern.  Schnell  for- 
dern, schnell  geniefsen,  und  schnell  weg- 
werfen schien  ihnen  Gröfse.  Als  Divand 
eine  solche  AViederholung  verweigerte, 
weil  sie ,  unmöglich  durch  sich  —  nur 
der  Unverstand  begehren  konnte  —  stieg 
Pischthat's  Unwille  bis  zur  Beleidigung. 
,,Er  habe  sein  Wort  gegeben;  kein  Oraya 
nehme  es  zurück,  am  wenigsten  einer 
„Geliebten."  Mit  weiblicher  HolFart 
gofs  sie  Spott  in  seine  Flammen,  bis  er 
drohend,  selbstbetäubt,  alle  verschlos- 
sene Gesinnungen  eines  Orayas  laut  ver- 


kündete.  „Sklaven  äien  wir,  Alles  ge- 
„liöie  ihnen  ;  der  Gebrauch  unserer  Güter 
„sey  geliehen,  unser  Daseyn  ein  Geschenk 
,,für  ihren  Genufs,  für  ihren  Dienst.  Der 
,, stolze  Wahn,  der  Knechte  so  eigenwil- 
,,lig  machen  könne  —  Gehorsam  zu  ver- 
,, sagen,  müsse  endcn.^'  Dya  entbrannte  ; 
nur  mit  Mühe  hielten  Mioldaas  Schwes- 
tern durch  Thränen  seine  Ausbrüche 
zurück. 

AlleOrayas  nahmen  Theil,  frohlockend, 
dais  ihr  dünn  verhehlter  Stolz  auch  dieses 
Schleyers  nicht  mehr  bedürfe.  Glänzend 
endete  für  sie  ein  Fest,  ,,wo  Pracht, 
Keichthum,  Ansehen  und  Licbensgenufs 
eines  Ingannaars  sie  längst  mit  bittern 
Vergleichen  erfüllt  hatte,"  am  Schau- 
spiele seiner  Demüthigung. 

Alles  war  in  Aufruhr,  da  die  Weiber 
der  Orayas ,  die  den  Trotz  rauher  Männ- 
lichkeit zur  Schau  trugen ,  denen  jede 
Gewaltsamkeit  gerecht,  keine  Erniedri- 
gung für  uns  tief  genug  dünkte,  freudig 
den  Zwist  vermehrten :  da  der  stille  Hafs 


imsier  Nazion,  desto  brennender,  je  müh- 
samer er  zurück  hielt,  mit  Verzweiflung 
Waffen  bereitete,  um  lieber  zu  sterben 
als  zu  dulden.  Die  Klagen  unsrer  Frauen, 
die  sich  verbargen,  die  schon  die  Lo- 
sung eines  allgemein  erneuerten  Krieges 
erkannten,  die  sich  beriethen,  „v/ie  sie 
schneller  und  vor  aller  Beleidigung  den 
Tod  finden  könnten,"  erhöhten  die  Scene. 

Jene  bessern  unter  den  Orayas  waren 
lange  vorher  schon  abgereiset,  um  der 
Beschämung  beym  unwürdigen  Betragen, 
bey  den  Anmafsungen  der  übrigen  zu  ent- 
gehen. Nur  zwey  waren  den  Bitten  Di- 
vands  geblieben,  der,  nicht  ohne  Ahnung, 
ihren  Rückhalt  suchte.  ,,Tin  Namen  des 
Königs  und  des  Raths,  deren  Gesetze 
v^erletzt  wären,  geboten  sie  Friede.'* 
Man  nannte  sie  Sklaven  -  Söldner ,  und 
verliefs  drohend  das  Haus. 

Tibar  eilte  zu  Elvarazim.     Er  w^ollte 

nicht,  dafs  die  beiden  Orayas  durch  ihre 

Klage  den    Hafs  der  übrigen   auf  sich 

zÖ2[en. 
o 


i06   

„So  bald  schon  Mann  P  !  "  bewill- 
kommte  ilin  der  König. 

T  i  b  a  r .  Wenn  die  krankenden  Gefühle 
des  Lebens  früher  zum  Mann  reifen  —  so 
bin  ich  es.  Willst  du  Liebe,  Ruhm ;  sollen 
wir  nicht  glauben,  dals  du  zu  schwach  und 
zu  unwillig  seyst,  Übel  zu  mindern:  so 
hemme  den  gesetzlosen  Ubermuth  deiner 
Eroberer,  fähiger  unsere  schlafenden  Kräfte 
zu  erree;en  als  zu  beruhigen. 

Elvarazim  hörte  seine  Erzählung,  und 
liebte  den  Unrecht  Hassenden,  Gekränkten, 
und  doch  so  treu  am  Wahren  Bleibenden 
um  so  mehr. 

Elvarazim.  Deine  Klage  ist  billig; 
ich  ehre  deinen  Muth  und  deine  Bewes;- 
"runde,  sie  zu  wagen:  aber  sie  verschliefst 
mir  auf  länger  die  Hoffnuno[ ,  dich  um  mich 
zu  sehen  .  .  .  Die  Strafen,  die  ich  verhän- 
gen mufs  ,  werden  vielen  mehr  eine  Gunst 
für  dich,  als  gerecht  scheinen.  Ich  kann  dich 
lieben,  aber  nicht  geo-en  Rache  sichern. 

Elvarazims  fester  Zweck  mufste  seyn, 
den  rohen  Trotz  seiner  Gefährten  nie  in  zu 


weitem  Spielräume  bis  zur  Geringachtung 
seiner  selbst  und  seiner  Gesetze  aufsteigen 
zu  lassen.  Er  strafte  streng,  und  gründete 
zunelimenden  Hafs  um  so  brennender:  er 
sorgte  für  sich  und  die  Formen  der  Ruhe; 
aber  schleichender  Rachoreist  quälte  in 
zurück  fi^edrücktem  Grolle  bittrer,  als  in 
lautem  Trotze. 

So  war  die  Lage  unsers  Volkes.  Mit 
peinlicher  Erinnerung  erzähle,  und  mufs 
ich  die  Ereignisse  dieser  Zeit  erzählen; 
denn  aus  ihren  Eindrücken  gingen  dauernde 
Gesinnungen  hervor.  Hier  knüpften  sich 
vielleicht  die  unauflösbaren  Faden  unseres 
Schicksals.  In  mein  Herz,  das  noch  kei- 
nen Hafs  empfunden  hatte ,  drangen  jetzt 
zum  erstenmale  seine  Foltern :  das  unge- 
beugte Wachsthum  meiner  Güte  war  dahin; 
ich  liebte  die  Menschen  noch,  aber  ich 
fürchtete  sie  ;  Wohlwollen  blieb  mein 
Trieb,  aber  mein  Vertrauen  sank  immer 
tiefer. 


Tibar  kam  zurück.  Unsere  Entfernung 
wurde  für  notliwendig  erkannt.  Alle 
\\  inke  jMioldaas ,  unsers  und  seines  Va- 
ters, „über  ein  Volk  edler,  entfernter 
Freunde,  die  unsere  Zuflucht  seyn  soll- 
ten,'-* wurden  erneut.  Unter  dein  Saale 
des  Todtenfestes  lagen,  unterirdisch  vei- 
lieiniliclit ,  in  unzuü,änglichen  Zimmern 
alle  Denkmahle  edlerer  Vorzeit,  die,  nur 
hier  dem  Untergange  entzoe^en,  in  trau- 
riger Nacht  —  die  Verlassenheit  unseres 
Zustandes  um  so  schmerzender  bezeich- 
neten. Hierher  führte  man  uns.  Uber 
uns  am  Tage  standen  Bilder  ohne  Na- 
men; hier  im  Schoolse  der  Erde  ihre 
Namen  und  das  Gedächtnifs  ihrer  Tha- 
ten.  ,,Wie  oft  sucht ,  hiefs  die  Inschrift 
„am  Eintritt,  die  Tugend  ihre  Zuilucht 
„im  Dunkel!  wie  oft  findet  das  Verdienst 
seine  Frevstate  in  der  Vergessenheit! 
,,Ihr,  denen  der  Schleyer  sich  öifnet  — 
,,seYd  gerecht  gegen  die  JVIenschen,  und 
„macht  Unglück  nicht  zum  \"or\\  urf. 
„Wenn  die  Nacht  unter  tausend  strnh- 


„lenden  Sternen  uns  nur  mit  FInsternifs 
„umgiebt,  so  lernt  doch  die  Seele  Unend- 
„lichkeit  der  \Yelten  und  eine  Hoffnung 
„jenseit  ihrer  selbst.  Seyd  gerecht  gegen 
„das  Schicksal,  das  in  der  INacht  trauern- 
,,der  Zeiten  —  Erhabenheit  aus  Strahlen 
,,des  fernen  Verborgenen  weckt.  " 

Hier,  wo  alle  Hüllen  fielen,  wo  nur 
Divand  und  seine  Vertrautesten  uns  um- 
gaben, wiederholte  Mioldaa  nochmals  die 
nähern  Ereignisse  unsers  Volkes:  thrä- 
nend  wurden  wir  beschworen,  seiner 
"Rettung  uns  zu  weihen.  Leicht  war  ein 
Versprechen,  das  tief  in  unsern  Ent- 
schlüssen keimte,  leicht  hier  —  wo 
das  Gefiihl  unverdienter,  immer  tiefer 
drückender  Demüthigung  aus  den  Bege- 
benheiten der  letzten  Tage  so  nahe  mit 
den  Bildern  einer  grofsen  Vergangenheit 
zusammen  trat!  Ach  der  Jugend  schöner 
Vorzug  ist  —  jene  rasche,  hohe  Flamme 
des  Willens,  der  getrost  den  Kampf  gegen 
sein  Jahrhundert  unternimmt,  und  zwi- 
schen sich  und  der  Tugend  keine  Unmög- 


190   

lichkeit  findet.  Wir  werden  nur  klüger, 
nicht  besser  mit  dem  Alter,  und  unsers 
Herzens  gefährlichste  Feinde  sind  — 
unsre  Jahre . 

AYenn  Mioldaa  seine  Erzählung  vom 
Untergange  unseres  Volkes  schlols: 

„Nie  saht  ihr  solche  Tage!    nie  das 
Zerbrechen  alles  Geliebten,   alles  Ver- 
ehrten ,    alles  Gewohnten  !    Heute  die 
Majestät  dieser  Tempel,  dieser  Gerichts- 
,,säle,  dieser  Hallen,  die  stille  Heiligkeit 
,, eurer  Wohnungen,  das  Licht  der  Sonne, 
,,das  über  der  geräuschlosen  Ferne  wan- 
„delt!  und*  morgen  herrscht  ein  Frcmd- 
,,ling    in  eurem  Hause   .   .   .    den  ihr 
,, Feind  nennt,    den  ihr  halst,    den  ihr 
,, verabscheut ,    ein   schmutziger  Earbar, 
,,der    aus   zügelloser   Lust  zertrümmert 
,,was  ihr  sammeltet.    Eure  Kinder  sind 
„die    Spiele    seiner  Trunkenheit,  eure 
Geliebte  zittert,  euer  grauer  Vater  ist 
,,sein   Hohn.      Zerstörendes  Getüuunel 
„schwelgt,    trümmert,    raubt  in  euern 


„Tempeln,  entheiligt,  was  ihr  verehrtet, 
„besteigt  in  Spott  den  Thron  eurer  Ge- 
„setzgehung,  lacht  der  Würde  eurer  Ge- 
„brauche,  stümmelt  aus  Muth willen  das 
„Bild  eures  Helden  !  Überall  Flucht ! 
„überall  Angst!  überall  der  Ilülferuf  Lei- 
„dender ,  denen  ihr  nicht  helfen ,  Tlirä- 
,,nen  ,  die  ihr  nicht  stillen  könnt, 
„Flammen,  die  ihr  nicht  löschen  dürft! 
,,und  des  Mannes  letzter  Trost  .  .  .  Waf- 
„fen,  um  in  den  Tod  zu  stürzen,  sind 
„euern  gefesselten  Händen  versagt:  ihr 
„lebt,  weil  eine  grausame  Willkühr  selbst 
,,mit  euerm  Leben  ihr  Spiel  treibt.  Und 
„dann,  wenn  ein  allgemeiner  Rausch 
,,den  Sieger  in  die  Ermattung  seiner 
,,Gräuel  zieht  —  diese  Ruhe,  diese 
„schreckliche  Stille  über  einer  weiten 
„Verwüstung;!  die  verglommenen  Rrand- 
häufen !  und  die  Wehklagen  der  Ver- 
,,lassenen  aus  den  Schlupfwinkeln  ihres 
„Elends;  scheue,  nackte  Gespenster  in 
„der  Gluth  eines  Tages,  die  der  verschüt- 
„teten  Quelle  nachgraben,  die  unter  der 


,,Geifsel  ihres  Gebieters  Leichen  ver- 
scharren  und  nahrungslos  sinken !  "  —  — 

Wer  kann  auf  solch  ein  Gemälde  ohne 
glühende  Empfindungen  sehen  ?  Tihar 
blickte  mit  hoher  Entschlossenheit  in  di.^ 
Zukunft.  Ich  betrachtete  mich  schau- 
dernd als  ein  leidendes  Opfer  der  Zeit 
und  der  Pflicht,  und  entsagte  allen  Wün- 
schen, aller  Kühe,  weil  ich  ihren  Hofl- 
nungen  entsagt  hatte. 

Hamor  war  nicht  gegenwärtig :  aber 
ohne  unsern  Zweck  zu  wissen,  sollte  er 
uns  begleiten. 


üivand  und  alle  hatten  uns  verlassen, 
Mioldaa  bereitete  alles  zu  unserer  Reise 
und  blieb.  Zum  erstenmal  sah  ich  ihn  in 
der  heitern  Geschäftigkeit  eines  Men- 
schen ,  dessen  Geist  sich  erhebt  für  eine 
neue  Zukunft  geliebter  Wünsche.  In  tau- 
send Äufserungen  der  innigsten  Freude 
spannte  er  Geist  und  Erwartung.  Dunkel 
blieben  uns   oft    seine  Beschreibungen; 


  19^ 

aber  im  regsamen  Ijeben  unserer  Her- 
zen wurden  sie  Gemälde  der  höchsten 
Gewifsheit,  ein  Feenland  an  der  Hand 
der  Freundschaft  und  Liebe,  ein  Hel- 
dengang grofser  Entschlüsse,  eine  ^Yie- 
derkehr  im  Glänze  rettender  Kraft ! 

Man  sollte  täglich  sich  den  Vorsatz 
einer  Reise  zusagen,  und  Anstalten  ma- 
chen ,  weil  nichts  s  o  Lehen  ins  Leben 
giefst :  man  sollte  mit  jedem,  den  man 
lieben  will,  eine  Reise  entwerfen,  weil 
nichts  schneller  verkettet.  Ein  Farben- 
duft schwebender  Entzückung  w^arf  wie 
ein  warmer  Morgen  sein  Licht  über  alles. 
Die  Natur  schien  uns  höher,  und  unser 
Herz  in  tausend  neuen  Aussichten  stark 
wie  von  einer  himmlischen  Berührung. 

NurHamor  war  unzufrieden  ;  ,,er  sollte 
diese  reitzende  Nähe  des  Vergnügens 
verlassen,  um  unser  willen  verlassen! 
V^^as  hatte  unsere  Laufbahn  mit  der  sei- 
nigen zum  Verhältnifs  ?  "  Er  würde  zu- 
rück geblieben  seyn,  wenn  nicht  sein 
Groll  gegen  Mira  in  einer  plötzlichen 
Dya  -  Na  -  Sore  i.  Th.  i  j 


Entfernung  ilim  eine  billige  Rache  füi 
ihre  Vernachlässigung  gezeigt  hätte.  Wir 
würden  ihn  zurück  gelassen  haben, 
wenn  er  uns  stark  genug  geschienen 
hätte,  auf  dem  schlüpfrigen  Boden  einer 
Stadt  sicher  zu  wandeln,  oder  vorsichtig 
zu  seyn  gegen  den  Groll  der  Orayas,  die 
in  ihm  den  Bruder  Tibars  zur  Rache  erse- 
hen hätten. 

Je  näher  wir  der  Abreise  kamen,  je 
mehr  trug  Mioidaas  Betragen  die  Überei- 
lungen eines  mit  sich  selbst  ungewissen 
Menschen  —  in  Schweigen,  in  abgebro- 
chene Beschreibungen  verloren,  oft  plötz- 
lich eine  bestimmte  Antwort  versagend! 
Hätte  nicht  langer  Umgang  seines  Gemü- 
thes  mich  versichert,  ich  würde,  mifs- 
trauend  gegen  ihn,  auch  meine  Brüder 
achtsamer  gemacht  haben.  Jetzt  schien 
mir  alles  nur  die  verworrene  Freude  eines 
Menschen ,  der  nicht  zu  viel  sagen  will, 
um  nicht  Überraschungen  zu  verderben, 
und  in  seiner  eignen  Unbeachtung  zu  viel 
sagt,    um  nicht  abbrechend   zu  enden. 


Das  Unbekannte  in  seinen  dunkeln  Wor- 
ten fesselte  uns  nur  desto  stärker  an  den 
Reitz  unserer  eigenen  Erwartung. 

Übrigens  waren  wir  gewifs,  dafs  Miol- 
daa  unser  Begleiter  seyn  würde,  und  um 
so  gleichgültiger  gegen  alles  Zweifelhafte. 

Tadelt  uns  nicht:  wir  folgten  dem 
Hange  des  jugendlichen  Herzens ,  dem 
es  leichter  ist  betrogen  zu  werden, 
als  Betrug  zu  vermuthen.  Und  wer 
täuscht  sich  am  öftersten,  der  Trauende 
oder  der  nie  Trauende?! 


irj6   — —  

Der  Tag  biacli  an,  Mioidaa  unser  Wec- 
ker. Welch  ein  Morgen  !  Roth  lieh 
trübten  sich  die  Berge.  An  lichthelle 
Vorhügel  erhob  sich  das  Thal  in  sei- 
nen Bäumen  und  Dörfern  und  Gebü* 
sehen ,  halb  verschleyert  unter  Nebel- 
glanz. Eine  zitternde  Wärme  gab  dem 
Herzen  jenen  ängstig  frohen  Drang  un- 
bestimmter Gefühle. 

Mioidaa  blieb  unser  Begleiter;  sein 
verschlossenes  Betragen  schien  Wech- 
selfolge der  Laune  und  des  Trüb- 
sinns. Schweigend  in  einzelnen  Gefüh- 
len —  störte  nichts  den  letzten  Ge- 
nufs  einer  Gegend,  die,  reich  durch  sich, 
grofs  durch  die  Geschichte,  in  tausend 
Ereignissen  unsers  Vaterlandes  schönste 
Erinnerungen  bot. 

Die  Sonne  stand  über  den  Mauern 
von  Wyla;  Kassur  schimmerte  einsam 
aus  seinen  Wäldern  über  den  Hügel 
von  Darnos.  An  seinen  Ufern,  unter 
trümmerbedeckten  Höhen,  lag  Mandra 
in  der  Herrlichkeit  vergangener  Jahre, 


wo  die  Vorzeit  sich  uns  eröffnet,  wo 
in  heiliger  Weihe  unsers  Lebens  schön- 
ste Tage  mit  stolzer  Freude  oder  Trauer 
v^erflossen  waren.  ]MIt  dem  Blicke  der 
Jugend  hingen  wir  an  dem  geliebten, 
seligen  Ort,  wo  das  Grofse  in  tausend 
dunklen  Gestalten  uns  ergriiFen ,  wo 
das  Schicksal  sich  entschieden,  und  alle 
Hoffnungen  unsrer  jetzigen  Bahn  ihren 
Lauf  benommen  hatten. 

Glückliche  Stufe  des  Lebens ,  wo  ein 
warmes  Herz  sich  überall  an  das  Erha- 
bene drängt ,  und  der  Mensch  nichts 
mehr  bedarf,  als  eine  stolz  berührende 
Stunde ,  eine  freundliche  Hand ,  und 
seine  eigene  Bildkraft,  um  ein  Gott  zu 
werden  an  edlem  Willen,  und  eine  Weh 
zu  schaffen  voll  schöner  Zuversicht. 

Ach  nur  unter  solcher  Jugend  erstarkt 
der  Geist  zu  männlichem  Wachsthum. 
Einst  fallen  Blüthcn  unter  Stürmen , 
Hoffnungen  sinken  hinweg,  der  Blick 
in  die  Ferne  entzückt  nicht  mehr  unter 
müder  Erfahrung;  aber  nie  verläfst  uns 


^9^  

eine  frühe  gefafste  Gewilsheit  alles 
Gilten. 

Mandra,  alle  Reitze  des  Thaies  zeig- 
ten sich  noch  einmal  in  der  Pracht  ihrer 
Ferne,  der  letzte  Vorhügcl  war  erreicht : 
jenseits  üher  die  Niederung  einer  halh 
bewachsenen  einsamen  Weide  wies  ein 
sandiger  Pfad  zwischen  stehenden  Was- 

o 

Sern  und  einzelnen  Steintrümmern  zum 
Eintritt  der  Wälder,  schmaler  Bäche 
Wiesenränder  engten  sich  weit  zurück 
in  ihre  Schatten. 

Lange  stand  Mioldaa ,  alles  uns  noch 
übersehen  zu  lassen:  endlich  den  Hü- 
gel hinab  Langsam  und  mit  Ernst 

buh  er  an : 

„Euer  Weg  ist  bereitet ;  er  ist  weit 
und  gefährlich.    Wollt  ihr  gehen?  — - 

Alle.  —  Wir  wollen.  — 

Mioldaa.  Ist  euer  Muth  so  dau- 
ernd 2  — 

Dya.    In  laebe  der  Erkenntnifs  — 
Mioldaa.    Glaubt  ihr  nicht?  Neu- 
gierde scheint  oft  Forschungstrieb,  und 


  199 

Stolz  und  Langeweile  kleiden  nur  zu 
oft  sich  wie  erhabene  Begierde. 

Alle.    -Zeig'  uns  den  Weg. 

Mioldaa.  Dort,  wo  ihr  zween  hohe 
Berge  weit  über  niedere  Reihen  des  Ho- 
rizonts steigen  seht,  dorthin  geht  er. 
Im  Schoofse  der  Wildnifs  ,  in  die  Stille 
der  Dämmerung,  zwischen  Wäldern  und 
Felsrissen,  wo  nur  der  Thiere  nächtli- 
ches Gebrüll  euch  begleitet,  wo  ihr, 
allein  und  verlassen,  niemand  begegnet, 

der  euch  Rath  gäbe  Wollt  ihr 

gehen  ? 

Alle.    Wir  wollen. 

Mioldaa.  Noch  fiihrt  ein  betretener 
AVeg  den  ersten  Tag.  Freundliche  Woh- 
nungen nehmen  euch  auf,  gute  Men- 
schen. Bleibt,  bis  über  den  See  ein 
Kahn  kommt.  Geniefst  der  flüchtigen 
Tage.  Nur  öde  Verlassenheit  umgiebt 
euch  fortan.  Niemand  darf  euch  begleir 
ten.  Jede  erstiegene  Hohe  zeigt  euch 
jene  weifsen  Berggipfel  näher.  Sie  sind 
eure  Weiser. 


20O 


Wo  das  Thal  sich  am  reifsenden  Inora 
engt,  sein  Gestade  immer  wilder,  sein 
Tohen  immer  lauter  wird,  müfst  ihr 
ihm  folgen.  Klippen  sind  seine  Bahn , 
er  stürzt  üher  Felsen,  ein  See  an  ihrem 
Fufse.  Verbranntes  Gestein  in  trauriger 
Höhe  wird  sein  Ufer.  Schrecklich  herrscht 
die  Stille  waldumzogener  Gipfel.  Nur 
y.uweilen  stürzt  in  donnerndem  Wieder- 
hall   die  Stauhlast    ah^erissener  Steine. 

Wollt  ihr  gehen?  Hoch  über  steile 
Wände  hinweg,  wo  ihr  schwindelnd  an 
ihren  Abgründen  hängt,  wo  der  Boden 
unter  euren  Blicken  weicht,  sagt  nicht 
in  der  Angst  eures  Herzens,  ,,ich  habe 
euch  verführt."  Geht  nicht !  — 

Tihar.    Ich  gehe. 

M  i  o  1  d  a  a.  Wenn  ihr  wanket ,  der 
Riesen  geyer  umgiebt  euch  in  seinem 
Fluge.  Wenn  euer  Auge  trübt,  keine 
Macht  des  Himmels  die  euch  hält!  — 

T  i  b  a  r.    Ich  gehe.  * 

Mioldaa.  Ein  langes  enges  Thal 
wird    dann    euer    Weg.    Tiefe  Felsen' 


gange  nehmen  euch  auf.  Wenn  die 
Donnerwolke  wogt,  der  Ströme  vielfa- 
ches Brausen  in  öder  Finsternifs  sich 
zum  Abgrund  stürzt  —  so  vergefst  nie, 
,,dafs  Schrecken  nur  das  Mafs  unsrer 
Schwäche  sind." 

„Immer  heitrer  wird  nun  euer  Pfad: 
unter  Wäldern  blühender  Bäume  ,  über 
Wiesen,  am  Lauf  ihrer  Quellen,  zwischen 
leichten  Gebüschen,  im  Durchblick  ihrer 
Fernen,  im  Schatten  ihrer  Nähe,  im  Ge- 
webe ihrer  Farben,  wo  von  tausend 
Blumen  der  Duft,  von  tausend  WohJge- 
rüchen  euch  Kühlung  weht,  wo  aus  leich- 
tem Dunkel  die  verwachsnen  Felsen  des 
Giefsbachs,  wo  sanftem  Bergen  zur  Krone 
manche  hellere  Wand  zwischen  ihren 
Tannen  und  Hainen  im  Abendroth  auf- 
steigt. Das  Thal  hinauf,  nicht  rechts, 
nicht  links,  gerade  hin,  wo  vor  euch 
der  glänzende  Felsrücken  eines  Berges 
die  Aussicht  schliefst,  nächtlich  die 
Flamme  dämmert,  dorthin  geht  eure 
bessere    Bahn.   —    O  meine  Freunde, 


20Ü 


wenn  ilir  in  Einer  Tliat  eures  Lebens 
nur  gefühlt  habt ,  um  wie  viel  edler 
ein  hohes  Ziel  zum  Werthe  des  Daseyns 
leite,  so  werden  in  dieser  einzigen  Er^ 
innerung,  Ruhe  und  Furcht  ihre  Macht 
an  euch  verlieren.  Doch  ich  mufs  en- 
digen. 

„Aus  drey  Thälern  begegnen  sich  Bä- 
che ;  ein  See  entsteht.  In  den  Tiefen 
des  waldigen  Abhangs ,  aus  denen  der 
stärkste  rauscht,  schimmern  Gebäude, 
wie  aufsteigende  Nebel. 

„Ein  würdiger  Gefährte,  ein  Freund 
eures  Vaters  und  des  meinen,  empfängt 
euch.  Der  Kranz  der  Vergangenheit 
ruhet  auf  seinem  Haupte  .  .  .  ein  schö- 
nes Leben  wohlwollender  Thaten.  Ehre 
ist  sein  Kleid,  und  die  Liebe  umgiebt  den 
Kreis  seiner  Freunde.  Selig  in  der  Stille 
besserer  Menschen,  in  der  truglosen  Ge- 
wifsheit  veredelter  Herzen,  werdet  ihr 
zu  bleiben  wünschen  :  aber  noch  ist 
eure  Bahn  nicht  vollendet.  Er  hat  ge- 
handelt ;  ihr  m  ü  f  s  t  s.  Er  kann  belehren : 


ihr  müfst  lernen.  Eure  Pflichten  gehören 
der  Zukunft.  Er  wird  rathen ,  nie  ge- 
bieten :  Erkenntnifs ,  nicht  Gehorchen 
ist  sein  Weg.  Einst  wird  euer  Herz 
euch  richten,  wie  das  seinige  ihn.  Wohl 
euch,  wenn  der  Gedanke  dessen,  was 
ihr  hättet  erreichen  sollen ,  euch  dann 
nicht  quälet.  Ein  höherer  Wille  werde 
euer  Gesetz:  was  euer  Lehen  euch  ge- 
währt, sey  der  Gewinn  eurer  Wahl. 

„Es  ist  Zeit,  dafs  wir  uns  trennen,  — 
fuhr  er  nach  einigem  Schweigen  fort.*' 
(Eine  verhaltene  Trauer  dämmerte  auf 
seinem  Gesichte:  die  Kunst  erzwunge- 
ner Ruhe  entging  mir  nicht.)  —  j>Ach 
dafs  ich  euch  wiedersähe,  wie  wir  uns 
trennen!  Lehtwohl!" 

Du  hist  ja  unser  Führer,  rief  ich. 

Mioldaa.  Euer  Gedächtnifs  ists  !  Als 
Bekannte  scheiden  wir,  als  Gefährten, 
hoffe  ich  —  sehen  wir  uns  wieder. 

Ich.  Auf  einem  verworrenen  Wege  — - 


Mioldaa.  Ist  der  Weg  des  Lebens 
lilärer  ?  —  und  doch  verläfst  euch  Vater 
und  Lehrer. 

Ich.  Aber  allein  — 

Mioldaa.  Der  Muth  sucht  den  Weg ; 
der  Mann  findet  ihn. 

T  i  b  a  r.    Ich  verstehe  dich  nicht. 

Mioldaa.  Verstehe  ich  euch?  Ge- 
wöhnt euch,  das  Unbegreifliche  auf  jedem 
Schritte  zu  finden.  Ich  war  euer,  so  lang 
iieine  höhere  Pflicht  entschied.  Jetzt 
seyd  ihr  Sklaven  des  Schicksals,  Geht, 
bis  euer  Verhalten  euch  frey  spricht. 

13  y  a.  Noch  sind  wir  frey. 

Mioldaa.  Frey  ?!  -  -  Zerreifst  eure 
Verhältnisse.  Nichts  zu  thun  liegt  in 
^urer  Wahl;  aber  Handeln  ist  eine  Gabe 
des  erkannten  Zieles ,  und  wer  seine 
Bahn  aus  fremder  Weisung  sucht  —  ist 
er  frey?  — 

Dya.   Wer  giebt  uns  Gesetze? 

Mioldaa.  Ich,  der  ich  eure  HolT- 
nungen  erregte,  jeder,  der  ihnen  schmei- 
chelt.   Eure  Wunsche  sind  eure  Ketten. 


Tretet  zurück  und  der  Freund  ist  gei:uri- 
den;  schwört  Träume  an  seinem  Her- 
zen ab,  die  er  erregte  —  um  euch 
zu  prüfen,  und  er  hat  in  euch,  was 
er  suchte  -  -  -  stille  Begleiter  im  Ge« 
nusse  des  Daseyns. 

Ich.   So  lehre  uns. 

Mioldaa.  Erst  Beweise  eures  Mu- 
thes.  Oder  soll  diefs  Zagen  am  Ein- 
tritt mir  Bürge  seyn  ?  — 

Tibar  wandte  sich  schnell :  ,,Der 
Freund  versagt,  aber  er  beschimpft  nicht.** 

Mioldaa.  Da  ,  wo  ihr  wandelt, 
bricht  die  Freundschaft:  wo  wir  uns 
wiedersehen  ,  gilt  nur  Erkenntnifs  oder 
Gehorsam. 

Tibar.  Ist  unsere  Bestimmung  Wahr- 
heit, welches  Opfer  bleibt  zu  grofs  ? 
Täuscht  uns  die  Ferne  —  Mioldaa  — 
du  warsts ,  der  sie  aufschlofs.  Ich  zer- 
reifse  Verhältnisse,  ich  wage  es  über 
unsere  Bahn  zu  entscheiden ,  und  zwi- 
schen Trug  und  Gewifsheit  ist  ein  rei- 
nes Herz  mein  einziger  Richter ! 


M 1  o  1  d  a  a.  So  geht  —  (  ein  schneller 
Strahl  von  Freude  schien  in  seinem  Auge 
zu  flammen,  aber  mit  tödtlicher  Kälte 
deckte  er  ihn)  —  ,,die  Zeit  mag  entschei- 
den, was  der  Verstand  nicht  auflöst." 

Tibar  eilte,  ohne  auch  nur  eines  Blicks 
noch  mächtig  zu  seyn,  den  Thalweg 
hinab.    Dya  folgte  ihm  eilig. 

Noch  stand  ich  oben  vom  Unerwar- 
teten gefesselt:  da  schlich  sich  Hamor 
an  Mioldaa. 

Hämo  r.  Ich  war  dein  Freund  vom 
ersten  Tage,  da  ich  dich  sah:  deine 
stille  Trauer  senkte  sich  tief  in  mein 
Herz ,  und  ein  leises  Mitgefühl  macht 
mich  unzertrennlich  von  dir. 

Mioldaa.  Dich?  —  ( Er  betrachtete 
ihn  mit  einem  unbeschreiblichen  Blicke. ) 
Hamor.    Meine  Brüder  wandeln  in 

der  Verblendunir  ihrer  Träume.    Du  hast 

o 

Recht :  sie  sind  Sklaven  ihres  Wahnes. 
Ich  wähle:  ich  bin  frey!  —  Zurück 
an  deine  Brust  —  hier  lockt  keine  HoIF« 
nung  und  keine  Aussicht  mich  weg. 


£o7 


Mioldaa.    Und  deine  Brüder?  — 
Hamor.    Gehen  ihre  Bahn. 
Mioldaa.    Vielleicht  kannst  du  sie 
lenken. 

Hamor.  Nie  war  ich  der  Richter 
ihres  Willens.  Nie  fragten  sie  mich; 
wie  einen  Knahen  rissen  sie  mich  fort. 

Mioldaa.  Und  der  Knahe  will  mün- 
dig seyn  ? !  Wie  könnte  ich  dem  Heuch- 
ler geben,  was  ich  dem  Träumer  ver- 
sagte? Lebe  wohl,  Hamor! 

Stolz  wandte  er  sich ,  ohne  Grufs, 
ohne  Blick  auf  mich ,  langsam  den  Hügel 
zurück. 

Mein  Blick  starrte  ihm  nach:  er  ver- 
schwand .  .  .  Verlassenheit  wie  die  Kälte 
einer  Nacht !  Einsam  stand  ich  am  Hü- 
gel —  Einsamkeit  unter  Todten  ist  leich- 
ter. Ferne  sah  ich  meine  Brüder;  Ha- 
morn  am  Fufse  des  Hügels.  Bitter  eilte 
ich  an  ihm  vorüber: 

„Willst  du  allein  umkehren,  und  dei- 
„nem  Vater  sagen,  dafs  er  einen  Sohn 
„hat,  der  seiner  unwerth  ist?** 


Hamors  Seele  schüttelte  bey  dem  Ge- 
danken ,  verlassen  zu  seyn.  Getrieben 
von  ängstlichem  Kummer,  matt  und  star- 
rend ergrilF  er  mein  Gewand.  Ich  rifs 
ihn  fort. 

Tibar,  zu  gut  um  Arges  zu  vermuthen, 
zu  sanft  um  nicht  dem  Schwachen  Thrä- 
nen  zu  verzeihen,  fafste  ihn  mitleidig, 
leitete  ihn,  führte  ihn,  und  war,  was 
in  solchen  Augenblicken  Tausende  zu 
seyn  nicht  verstehen  -  -  -  der  Tröster, 
der  besänftigt  ohne  zu  demüthigen. 

O  Tibar,  fest  wie  ein  Mann,  und 
doch  so  mild,  wie  beugen  sich  vor  dei- 
nem xVndenken  jene  selbstgeglaubten  Hel- 
den, die  eine  Klage  nicht  vergeben,  weil 
der  Mensch  ihnen  fremd ,  und  Fühllosig- 
keit  ihr  Geheimnifs  ist. 

Dafs  ich  Hamors  Betragen  nicht  oifen- 
barte,  wird  euch  klar  seyn. 

Es  giebt  Menschen ,  die  der  Wahrheit 
treu  zu  seyn  glauben ,  wenn  sie  bereit- 
willig wie  ein  Henker  Gebrechen  auf- 
decken  und  den  Unglücklichen  foltern, 


  209 

iin  dem  ein  edlerer  Richter  die  Mensch- 
lieit  30  gerne  durch  Nachsicht  rettet. 

Als  Knahe  hatte  ich  in  mancher  klei 
nen  Angelegenheit  diese  Peiniger  kennen 
lernen,  die  dem  Fehlenden  keine  Ernie- 
drigung schenken,  um  sich  selbst  in  der 
Höhe  ihrer  Tugend  zu  geniefsen ;  die 
den  Vater  nicht  schonungslos  in  jedem 
Leichtsinne  seines  Sohnes  einen  schreck- 
baren Bösewicht  ahnen  machen  möch- 
ten ;  und  tief  in  meinem  Herzen  ent- 
stand das  Gelübde  —  —  zu  bessern, 
wo  ichs  vermöchte,  zu  kränken,  nur  wo 
ich  müsse. 

Ähnliche  Behutsamkeit  wünsche  ich 
euch.  Schwach  schien  mir  Hamor : 
Schwäche  fordert  Mitleid.  Furcht  schien 
sein  Trieb :  Furcht  ist  kein  Verbrechen. 
,,Ein  leises  Selbstgefühl ,  das  die  Scho- 
nunp;  anfacht,  und  die  Härte  vertilsen 
würde,  ist  der  letzte  Funke  für  Tugend. 
Oft  ersteigt  dann  Schwäche,  die  sich 
unbemerkt  glaubt,  eine  Stufe  des  Mu- 
thes :  oft  wird  dankbares  Erröthen  und 

Dj-a.  Na-Soic  i.  Tli.  1  \ 


Achtung  lies  IMaimes,  der  die  ITülle  ver- 
ditlitct,  dicker  wei^reilsen  könnte,  ihre 
Slärke.  Furcht,  die  sich  -zu  vorhergen 
sucht,  ist  noch  lieill)ar:  für  schamlose 
Furcht,  die  nichts  mehr  zu  retten  hat, 
sind  keine  Gesetze,  keine  Sitten,  keine 
ITolFnung  und  keinellückkehr."  An  diese 
l>chre  erinnerte  ich  mich.  So  warf  ich 
den  Schleyer  üherHauior.  Sein  Vertrauen 
\;  c)llt'  i(  h  geu  inuen.  Ob  ichs  konnte, 
werdet  ihr  sehen.  AVer  hat  sich  nicht 
im  IMenschen  geirrt! 


INIioldaa  war  unser  Gespriich,  Divand 
lind  alles  Vergangene. 

Tiharn  und  Dya  schien  ihr  Betragen, 
.  .  .  Folge  einer  höhern  Vorschrift  .  . 
kühner  Betrug  .  .  oder  späte  Iveue  eines 
ühel  bewachten  Geheimnisses.  ,,Ein  Au- 
genblick halte  vielleicht  hingerissen,  Auf- 
schlüsse zu  geben,  die  man  nicht  geben 
sollte  oder  wollte.  Sich  ein  bitteres  Ge- 
fttiindnils  zu  ersparen,    gaben    sie  uns 


211 


hin,  um  nach  schlecht  bestandenen  Ge- 
fahren hinter  unsrer  Muthlosigkeit  eine 
Entscluildigung  zu  finden."  Ihr  Stolz 
war  beleidigt  —  „sollte  Schein  der  Ge- 
fahr sie  zurück  halten?  Mioldaa ,  der 
in  längerer  Verstellung  ihnen  sträflicher 
erschien  —  zu  rechtfertigen  oder  zu  ent 
larven ,  "  wurde  die  Reise  fortgesetzt. 

Nicht  ganz  so  urtheilte  ich.  Minder 
entschieden ,  minder  stolz  in  meinem 
Charakter,  hatte  ich  unter  Umstände 
mich  beugen,  hatte  ich  Menschen  unter 
hundert  Wendungen  in  ihren  kleinlichen 
Abwegen  folgen  lernen. 

Meiner  Brüder  Muth  quoll  aus  Götter- 
träumen. Noch  kannten  sie  sich  nur 
im  Ungestüm  ihrer  Kräfte :  noch  woll- 
ten sie  —  nur  verachten  oder  vertrauen, 
und  übersahen  jene  Mittelwesen ,  die 
man  fürchten  mufs ,  und  erforschen; 
weil  das  Selbstbewufstseyn  halber  Kraft 
sich  in  tausend  Schlingungen  verbirgt. 

Ich  fafste  den  Einzelnen  genauer,  denn 
noch  hatte  ich  nicht  zu  zittern  verlernt. 


212 


Mir  leuchtete  in  Mioldaas  Blick  auf 
Ilamor,  in  der  aufwallenden  Freude  bey 
Til>ars  Trotz ,  in  dem  traurig  festen 
Tone  seiner  Rede,  eine  verwikeltere  Ab- 
sicht entgegen. 

Mir  war  es  Gewifsheit,  dafs ,  so  we- 
nig meine  Brüder  die  demüthigende 
Möelichkeit   auch  nur  ahneten  —  IVlifs- 

o 

trauen  und  Prüfung  die  Triebfedern  in 
Mioldaas  weltklügerm  Betragen  wären. 

So  folgte  ich  ihnen  denn  auf  einer 
Irrfahrt,  die  ich  gewifs  bestritten  haben 
würde,  nüt  der  Sicherheit  der  Überzeu- 
gung, dafs  wir  von  Mioldaa  in  den  un- 
])ekannten  Wegen  eines  heinilosen  For- 
stes nie  verlassen  seyn  würden.  Ich 
irrte,  wie  ihr  später  sehen  werdet.  Den- 
noch ward  ich  oft  in  der  Folge  durch 
sorgsamere  Menschen  -  Beobachtung  mei- 
ner Brüder  Rath  und  wohlthätiger  Bey- 
stand;  aber  auch  ich  lernte  an  ihrer 
Ruhe ,  an  ihrer  Entschiedenheit  neben 
meinen  Sorgen,  neben  meinem  Irrtroste  — 
um  wie  viel  höher  ...    in  uns  selbst 


gefunflene  Seelenkraft  über  den  kleinlichen 
Behelfen  stehe,  aus  denen  der  schwächere 
Mensch  sich  mühsam  das  Gerüste  seines 
künstlichen  Muthes  baut, 'der»  auf 
selbstvertrauende  Klugheit  gegründet  —  mit 
einem  Fehlsatze  sinkt,  und  bey  jedem  selt- 
nem Ereignisse  verzweifelt. 

Uberhaupt  begann  mit  dieser  Reise  eine 
entscheidende  Periode  künftiger  Verhält- 
jüsse  unter  uns.  Von  jetzt  an  stieg  unter 
täglichen  Verwicklungen  meine  Zuversicht 
immer  schneller  zur  Überzeugung,  „dals 
nur  Hingehung  an  sie  meine  Bahn  sey. 
Folgsamkeit  ward  meine  Kraft,  und  Übung 
meine  Stärke.  Der  eitle  Stolz  .  .  .  gerade 
das  seyn  zu  wollen,  was  andre  sind, 
hatte  mich  nie  entnervt :  so  ward  ich, 
was  ich  werden  konnte,  ihr  mindrer  Ge- 
fährte und  ihr  treuer  Gehülfe. 


2l4 


Nie  habt  ilir  den  Ge1)iro;en  von  Guasnai* 
genaliet,  ihren  Seen,  ihren  Klüften  schwar- 
zer Schatten,  ihren  Thälern  später  Sonne 
unter  wolkenthürmenflen  Gipfeln.  An 
ihren  Riesenzacken  lag  der  Tag,  INebel  in 
gestaltlosen  Massen  stiegen,  verschwanden 
zu  hellen  Gewölken  über  der  einsamen 
Stille.  Tief  nach  unten  stahl  sich  Licht 
nur  in  einzelnen  Strahlen.  Wald  um- 
deckte  das  Ganze.  Was  ihr  hier  vor  euch 
seht  —  sind  nur  Thäler  holder  Üppigkeit, 
Berge  froher  Gröfse,  lachende  Auen  und 
Felsen  zur  Kraft  des  Gemäldes,  keine 
Gestalten  entscheidender  Gefahr,  keine 
Bilder  des  Entsetzens. 

Den  ersten  Abend  gaben  uns  zwey 
Wohnungen  Herberge  am  Gestade  des 
Eldrana  -  Sees.  In  lieblicher  freudiger  Un- 
schuld lebten  hier  jugendlich  vereint  zvvey 
Ehen  mit  ihren  Angehörigen. 

]Nie  begegnete  ich  offnerer  Herzlichkeit, 
nie  sah  ich  Kinder  zarterer  Blüthe,  nie  des 
unbefangen  freyern  Sinns  schönere  Ergüsse. 
IMir  schwand  das  Herz.    Zwey  Tage  weil- 


ten  wir :  wie  gerne  noch  länger !  Ac\i 
warum  zieht  einzelner  Menschen  glück- 
liches Daseyn,  ihre  Ruhe,  ihre  Ahsonde- 
rungr  unter  hoher  Natur,  das  Gemüth  so 
innio;  an  sich,  dafs  noch  innner  der  Erinne- 
runji  .  .  .  Thränen  fliefsen  ?  Edel  bezeich- 
net  durch  das  reitzende  Bewulstseyn  ihrer 
X-jage,  hoben  sie  sich  weit  über  den  Schlag 
gewöhnlicher  Landleute.  In  ihren  Gärten, 
in  ihren  Wiesen  zwischen  Ufer  -  Gebüsche 
versteckt,  an  Abhänge  zur  Bestinnntheit 
schöner  Verhältnisse  gelehnt,  herrschten 
höhere  Bilder.  Herden  umgaben  uns  auf 
ihren  HÜ2;eln ,  blühende  Fruchtbäume  in 
tiefer  menschenleerer  Waldung.  Heitrer 
Gesang,  stille  Verträglichkeit,  ein  unter- 
richteter Sinn,  Kenntnisse,  unerwartet  und 
überraschend,  würzten  unsre  Tage. 

Am  dritten  Morgen  kamen  von  jenseits 
die  erwarteten  Kähne.  Der  See  nahm  uns 
auf;  zwischen  den  Steinhöhen  seiner  Ge- 
stade, zwischen  den  Krümmungen  seiner 
Felsenengen  —  eine  immer  neue  Gegend. 
Hoch  hinauf  Wälder  und  Weiden  bis  an 


2l6 


die  GipFel,  lichtgrüne  Hügel,  oder  uner- 
steigbare bauniurnhangene  Bergwände. 
Über  Steinrisse  stürzten  schäumende  Was- 
ser. An  Klippen  hob  in  schwindenden 
Lauten  sich  die  X'^'elle.  Frisches  Grün 
und  ein  heiterer  Himmel,  des  Lichtes 
magische  Yertheilung  und  sein  Wieder- 
glanz in  dunkler  Flut  machten  das  Schreck- 
liche £;ro{s,  und  aus  kühnen  Formen  ein 
erhabenes  Ganzes  voll  blühender,  reitzender 
Farben. 

Am  Mittag  erreichten  wir  die  Wohnung 
unserer  Schilfer;  eben  so  reitzend,  eben 
so  bezeichnet,  die  n:imlichen  Wesen  au 
Art  und  Empfindung,  wie  unsre  verlassenen 
Gastfreunde;  eine  eben  so  glückliche  Lage, 
im  engern,  näher  gerückten  Feisthaie,  auf 
einer  Höhe  an  den  Ufern  des  Sees,  und 
einen  Waldbach,  der  über  Felsen  herah 
fiel. 

Hoch  in  die  Luft  standen  hier  die  Bögen 
einer  zerfallnen  Wasserleitung ,  das  erste 
Vorbild  dessen,  was  in  unendlicher  Gröise 
uns  später  erwartete. 


217 


Einige  entfernte  Bewohner  der  Gebirfre 
hatten  sich  gesammelt.  Wettkämpfe  der 
Behendigkeit  und  Stärke,  aus  den  erlo- 
schenen Sitten  unsers  Volkes  auf  alte  Hel- 
denlieder gedichtete  Tänze —  unsere  Abend- 
feier :  „Vorl)ilder  ernsterer  Zeiten ,  wenn 
einst  die  Sonne  unsers  Vaterlandes  sich 
erhübe,  wenn  Männer  wieder  erringen 
würden,  was  Weichlinge  unter  den  Ge- 
brechen der  Zeit  verloren." 

Ach  manche  herbe  Erinnerung  wurde 
geweckt.  Die  Ruhe  der  voria^en  Abende 
verlor  sich  hier  am  Trauern  der  Geschichte; 
aber  .  .  .  die  hellere  Bestimmtheit  einer 
Bahn ,  die  wir  aus  Mioldaas  Gespräch  nur 
ahneten,  ohne  sie  zu  kennen,  ein  tieferer 
Sinn  ergriff  unsre  Gemüther :  so  wie 
jeder  Gegenstand,  der  aus  veränderten 
Lagen  und  Verhältnissen  immer  derselbe 
und  unerwartet  und  plötzlich,  wie  ein  all- 
waltender Geist,  durch  übereinstimmende 
Ereignisse  hervor  tritt,  uns  immer  über- 
zeugender, fester,  inniger  an  eine  Kraft  in 
unserm  Leben  bindet,    die  nach  einem 


2l8   

unendlichen  Ziele  in  unsern  Handlungen 
fortringt. 

Heller  standen  unsere  Entschlüsse.  Un- 
sere Bestimmung  umgab  uns  wie  ein  däm- 
mernder IVforgen  in  wachsender  Klarheit, 
rein  und  erhaben  im  Vorgefühle  lichtfro- 
her Tage.  i 

„Seyd.  Männer,  und  eine  bessere  Zu- 
kunft tritt  unter  euren  Hunden  hervor :  " 
war  unsre  letzte  Verabredung. 

Mit  der  aufgehenden  Sonne  schieden 
wir:  als  Gehulfen  am  Baue  des  Schick- 
sals uns  wieder  zu  beoeoncn. 

Zwey  Jünglinge  safsen  an  der  Weg- 
scheide des  Bergthals  unter  blühenden 
Zweigen  des  Mindrastrauches.  Ihre  Stim- 
men aus  der  Tiefe  stiegen  empor: 

„Ihr  scheidet:  nach  Tagen  so  erkannt, 
„als  nach  Jahren.  Langer  Umgang  ist 
„kalter  Seelen  ängstige  Nothhülfe  ,  denen 
„Ungewifsheit  —  das  Leben  in  Zagen 
„verwandelt,  denen  gemehrte  Erfahrung, 
„wie  dichterer  Graswuchs  —  das  Pflänz- 
„chen  Menschheit  nur  immer  tiefer  ent- 


219 


„zieht.  Wahrheit  zum  Ausspruch,  Tugend 
„zur  Hoffnung  —  wandelt  einsam  der  Held 
„und  der  Weise.  Er  begegnet  dem  Ver- 
„waudten  seiner  Seele,  schnell  sind  sie 
verstanden :  was  hat  der  Wahre  dem 
„Wahren  zu  verbergen!  Hat  die  Güte 
„ein  Geheimnifs  für  den  Guten !  ? 

„Tm  Schleyer  der  Zeit  und  des  Raumes 
,,umgieht  sie  die  Trennung:  nie  sehen 
„sie  sich  wieder.  Aber  über  Meere  und 
„dämmernde  Berge,  über  Fernen  und  Jahre 
,, reicht  die  Liebe,  ihre  Sehnsucht,  das  Ge- 
„dächtnifs  und  Wahrheit  in  unendlichem 
,, Bunde.  Trennung  ist  oft  nur  des  Un- 
„vergänglichen  Blüthe. 

„So  scheiden  wir  denn  in  schöner  Ge- 
„wifsheit,  in  unsern  Erinnerimgen  der 
,,eurigen  sicher.  Jenseits  blickt  ihr  zu- 
„rück;  der  Sehnsucht  einsamer  Schatten 
,, wallt  über  den  Fernen:  Ihr  ahnet  Thrä- 
„nen  und  sehet  sie  nicht;  Wir  glauben 
„Seufzer  und  hören  sie  nicht.  So  wer- 
„den  Perlen  unter  J^eiden  erzeugt:  die 


220 


„rerlen  der  Freundschaft  unter  Graxn  und 
„Entfernung." 

Der  Nachklang  einzelner  Töne  folgte 
uns  im  Lufthauch  auf  die  Höhe.  Schwei- 
gend, zurück  denkend  erstiegen  wir  die 
ersten  Waldlehnen  unter  den  Gipfeln  des 

rya.  In  seinen  JNebeln  schwand  d...s 
Thal  hinter  uns  hinweg,  friedlich  wallte 
noch  Rauch  aus  der  Tiefe,  die  Wohnun- 
gen bargen  sich  halb  sichtbar  in  ihre  Ge- 
büsche ,  der  See  dämmerte  wie  eine  halb 
helle  Wolke  aus  der  Weite. 

Abwärts  nach  Osten  neigten  sich  nun 
die  Höhen,  hinter  den  steilen  Gipfeln 
stand  die  Sonne,  und  alles  Bekannte  ver- 
sank. Ferne  weideten  Gemsen ,  das  ein- 
same Reh  flüchtete  über  die  Heide.  Tie- 
fer in  seine  Stille  senkte  sich  unser  Pfad. 
Oft  schien  er  an  Trümmern  zu  enden, 
oft  glitt  er  über  Moos  am  Abhänge  des 
X'V'aldbachs;  aus  der  Tiefe  stürmten  seine 
Donner  in  die  Nacht  ihrer  Klippen;  oft 
verlor  sich  die  kaum  betretene  Spur  unter 


2^1 


den  Irrsalen  einer  winddurclistürmten  Fu;!- 
senlieide;  ischen  dt.r  trauernden  Verlo- 
renheit einzelner  Tannen ,  üher  kriechen- 
des Buschwerk  und  die  eiuscun  hohen  hlü- 
thenstengel  der  Berglilie  und  des  Dip- 
tams ,  stiegen  die  Höhen  dicht  schwarzer 
Wahhücken  jenseits  ihrer  Thaler  empor; 
wie  ein  zarter  Dampf  zog  der  Tag  sich 
um  ihre  Fernen. 

Wenn  zwischen  Rosen  und  Enzian, 
grasreiche  Alpweiden  blühend  am  Hügel, 
und  der  Himmel  über  den  heitern  Gebirg- 
rand  leuchtend  hinabglitt —  ach  war  nicht 
selbst  dieses  Licht  und  dieser  Wechsel  -  -  - 
nur  die  schmerzende  Wiederkehr  des  Ver- 
lassenen —  für  eine  heimkranke  Seele? 

INoch  hatte  Mioldaas  Wegezeichnung 
sich  untrüglich  bewährt. 

Dunkel  und  ahnend,  unerklärbar,  aber 
argwohnlos  trat  sein  erheitertes  Bild  aus 
grofsen  Erscheinungen  hervor.  Kühner 
durch  überstandne  Gefahren  —  sprachen 
Berge  für  seine  Wahrheit,  der  Empfang 
guter  Menschen  für  seine  Güte,  jeder  über- 


222 


raschende  Anblick  ein  Büriije  mehr  —  für 
das  Zuverlässige  in  seinem  Charakter, 

Eine  eintönioe  gehaltlose  Ebne  hätte 
vielleicht  anders  gewirkt,  Mioldaas  Klug- 
heit aber  auch  dann  anders  berechnet.  Er 
kannte,  wie  Berggegenden  auf  unverartete 
Gemüther  in  hoher  Erschütt<-rung  w^irken. 
ünd  warum?  —  fragte  ich  mich  oft:  ist 
nicht  ein  Bergthal  beschränkter  als  eine 
Fläche?  Weil  vielleicht  in  der  Fläche  der 
Mensch  sich  höher  scheint,  als  das  Umge- 
bende, und  die  Erde  nur  ein  Spielraum 
ruhicrer  Dauer,  seine  Sklavin  und  sein 
Brotfeld.  Er  herrscht  um  zu  geniefsen, 
er  giebt  um  zu  empfangen.  Seinem  sinnli- 
chen Daseyn  mehr  als  seinem  geistigen  ist 
geschmeichelt. 

Dort,  wo  er  verschwindet —  am  Fufse 
der  Riesenmassen,  wo  die  Natur  sich  selbst 
und  nicht  ihm  zu  leben  scheint,  wo  das 
Un erklärbare  von  tausend  Veränderungen 
ihn  täglich  bedroht,  wo  er  erkämpfen  mufs, 
was  er  besitzt  .  .  .  wird  sein  Geeist  gespannt 
für  ein  Etwas,   das  aufser  ihm  herrscht, 


und  erorifFen  vom  Unfafslichen  in  der  küli- 
neu  Gewagtlieit  der  Natur.  Aus  dem  vtr- 
viclfachten  Gefühl  ihrer  Kraft  tritt  eine 
edlere  Bestimmtheit  hervor ,  und  am  Erha- 
benen in  hoher  Luft  und  Stille  bildet  dei; 
Geist  sich  grofs  .  .  durch  Empfindung  des 
Grofsen,  edel  .  .  durch  das  Schone  in  der 
Reihe  eines  unendlichen  Fortschritts.  Ge- 
fahren umgeben  ihn  :  er  lernt  Sicherheit  — 
unter  Wagnissen ,  unter  Felsen  —  dem 
Tode  trotzen ,  unter  zerstörenden  Strö- 
men —  die,  Hüifbediirftigkeit  des  Men- 
schen. Die  Gewalt  der  Bedrückung  naht 
ihm  nicht.  Eine  immer  rege  Reitzbarkeit 
umweht  ihn  auf  jeder  blühenden  Höhe, 
unterm  Wiederhall  seiner  Thäler  und  dea 
magischen  Erscheinungen  seiner  Nebel, 
seiner  Bforgen  und  seiner  Ahende. 


Froher  und  zuversichtlicher  mit  jeder 
Stunde  wandelten  Tibar  und  Dya.  Ihnen 
blühte  hier  reicher  Genufs  mit  jeder  Blume, 
jedem  Fels,  jeder  kühnern  Form  —  überall 


224 


JlieLen  uncl  Welt  zum  profsen  Gemälde  ihrer 
Zukunft;  mir  nur  Erinnerung  zur  Sehn- 
sucht der  Stille. 

IN  och  hlieh  ^üoldaa  mir  erwartet  —  aus 
jedem  Dunkel,  in  jedem  beweglichen  Schat- 
ten, in  jeder  Felskluft  .  ,  .  unser  verborge- 
ner Führer  unter  Prüfung,  Aber  als  drey 
Tage  nun  vorüber  waren,  drey  Nächte  ohne 
Dach,  als  unsre  Träger  murrten,  unsre 
Yorr.ithe  sich  minderten,  und  mit  neuer 
Gefahr  immer  grauenvollere  VA  ildnisse  uns 
umfingen,  da  stieg  mit  jeder  sinkenden 
Hoffnung  mir  auch  die  furchtbarere  Gewifs- 
heit  seines  Verrathes.  Die  Zuversicht  mei- 
ner Brüder  blieb  sich  gleich;  sie  entsprang 
aus  Selbstvertrauen  und  iV'Iuth.  Mich  neigte 
die  Schwäche  zum  Argwohn  des  Ärgsten 
im  Menschen,  weil  ich  den  Umfang  seiner 
Verstellung  mehr  kannte  als  sie,  weil 
Träume,  nicht  Muth  .  .  .  meine  betrügliche 
Stärke  waren;  und  nur  Scham  hielt  mich, 
dafs  ich  nicht  bis  zu  Hamors  Jammer  hin- 
ab sank.  Am  v^^ierten  Abend  erreichten 
wir  das  schäumende  Bette  des  Invra,  Sturz 


225 


Lind  Verwüstung  an  seinen  zerrissenea 
Ufern ,  an  den  steilen  Höhen  himmelan 
strebender  Felsen  kaum  den  Raum  eines 
Pfades. 

Zwischen  Schattengestalten  tieferer 
Spitzen  hob  sich  Eltora,  Licht  im  Schnee- 
gewande,  in  stiller  GrÖlse,  sich  selbst 
zum  Ziele;  Nacht  über  der  Tiefe ^  der 
Sonne  wiederleuchtend  Roth,  bis  zur  Däm- 
merung des  Wetters. 

Uberhängendes  Gestein  einer  Höhle 
ward  unser  Obdach,  wildes  Gestrüppe 
w^ehte  hinab,  dürres  Holz  unsre Leuchte. 
Unsere  Träger  hatten  uns  verlassen. 
Zum  erstenmal  ohne  Bequemlichkeit  im 
harten  Schoofse  der  Natur  !  Wie  trauernd 
kehrten  mir  die  ruhigem  Abende  mei- 
ner Heimath  zurück! 

„Eitler  Stolz  zu  wissen  !  dachte  ich  mir 
zu.  —  Was  sind  die  ungewissen  Freu- 
den der  Neugierde  gegen  das  stille  Beha- 
gen väterlicher  Gefilde  ?  Was  sind 

Hoffnungen ,  die  ein  entfernter  Schimmer 
verspricht,  gegen  jene  selige  Gewifsheit 
Dya  -  Na  -  Sore  x.  Tli.  i  > 


22Ö 


Glänzend  rifs  sich  der  Mond  hervor, 
bis  fahle  Nebel,  bis  neues  Gewölk  über 
ihn  hinzog.  Elitze  flammten  über  den 
Hügel ,  der  Donner  umgab  uns ,  Donner 
im  Gebirge  ,  wo  tausendfachen  Wieder- 
halles  endloses  Rollen  ihn  dem  Unter- 
gange einer  Welt  ähnlich  macht. 

Was  ist  sohh  ein  Augenblick  für  die 
Krinnerung  I  O  der  Wiederkehr  trauern- 
der Stunden  unterm  Toben  der  Natur! 
Vater  und  Heimath!  —  Krank  war  mein 
Herz.  Dya  hing  mit  brausendem  Muthe 
am  Anblicke.  —  Im  Leuchten  der  Blitze 
sah  er  seine  künftige  Gröfse,  sein  Geist 
flog  auf  unter  Stürmen.  Hamor  seufzte 
und  sank  mit  thränendem  Auge  an  die 
Wand  des  Felsens  zurück.  Schlafend 
lag  am  Grunde  Tibar,  bis  ein  Donner 
ihn  weckte  und  er  sich  aufhob,  selbst- 
überlassen und  fern  von  uns,  unterm 
Dunkel  einer  Nebenhöhle  sich  hinzuge- 
hen an  den  stillen  Genufs  seiner  einsam 
liohen  Seele. 


227 


Herrlich!  —  rief  Dya  —  ists  nicht 
grofs  ? 

Ich.     Grofs  ,  aher  schrecklich. 

Dya.  Schrecklich?  —  Waruni?  — 
Belehendes  Feuer!  Wann  ist  der  Mann 
mehr  IMann  ?  — 

„0  fernhin,  weithin,  wo  der  Donner 
verhallt,  wo  der  Blitz  auf  und  niederwogt, 
dort,  wo  sein  Strahl  hinabsinkt  in  die 
Hülle  —  dort  leuchtet  mir  das  Bild  mei- 
ner Väter.  O  Altai!  einst  so  im  Ange- 
sichte eines  Wetters  gegen  die  Feinde 
der  Wahrheit,  einst  im  herrlichen  Kampfe 
mit  dem  Triumph  eines  Helden  zu  fal- 
len!  —  —  O  \^aterland!  Vaterland!  — 
warum  hin  ich  dir  nicht,  was  ich  seyn 
möchte  ?  —  " 


Ach  er  war  so  gut.  Nie  verliefs  ihn 
der  Augenblick,  da  alle  glücklich,  alle 
gut,  beym  Namen  Vaterland  sich  verei- 
nigten. So  sah  ich  ihn  zehn  Jahre  später, 
erreichuugslos  am  Grabe  alles  Gescheh- 
nen         immer  denselben;     sein  G^^ist 


2üö  

blieb  sich  treu.  Hundertmal  haben  ihn 
die  Menschen  betrogen,  hundertmal  sah 
er  seine  schönsten  Erwartungen  an  ihrer 
Willenlosigkeit  scheitern,  und  wenn  ich 
ihn  zurück  führte  auf  seinen  Verlust, 
immer  die  Antwort :  „Soll  ich  mich 
schrecken,  soll  ich  die  Menschen  entgel- 
„ten  lassen,  was  Menschen  fehlten  ?  " 

Nie  übten  die  Zweifel  des  Tages  eine 
Macht  über  seine  Seele  — .  nie  ward  ein 
mifsrathener  Versuch  ihm  zur  absprechen- 
den Kleinnmth.  Die  Flammen  der  edel- 
sten Einbildungskraft  umgaben  sein  Herz. 
In  ihrer  Hitze  verglühten  die  Schlacken. 
Reine  Erfahrung  erhabener  Menschheit 
blieb  sein  Gewinn. 

Ihm  leuchtete  der  Blitz  zu  höherra  Be- 
wufstseyn ;  mir  nur,  wie  das  Daseyn 
sich  verliert.  Ihm  gab  er  Licht ;  mir  nur 
das  Dunkel,  das  ihm  folgte.  Ihn  füllte 
ein  fernes  Land  mit  hoher  Erwartung; 
mich  nur  mit  ungewissen  Gestalten.  Der 
Stolz  unsers  Vaters  zu  werden  —  war 


sein  Bild;  das  meinige  —  nur  seiner 
stillen  Zufriedenheit  glücklicher  Antlieil. 

„Ist  unser  Vater  nicht  ein  Mann?"  — 
gah  ich  damals  noch  Dya  oft  zur  Ant- 
wort —  ,,Was  können  wir  unter  tausend 
„Erfahrungen   gewinnen,   als   die  Uber- 

Zeugung,  dafs  kein  besserer  scy  ?  Was 
„das  Herz  unter  denen  nicht  lernt,  wo 
,,kein    Gefühl    sich    verläugnen ,  keine 

Hoffnung  sich  verbergen  darf,  was  sol- 
„len  Fremde  unterm  Kampfe  des  Mifs- 
,,trauens  mich  lehren  ? —  Hat  nicht  Miol- 
,,daa  uns  getäuscht?  War  Ein  Lob  auf- 

richtig,  das  man  uns  gab  ?  Wer  hat 
,,mit  Wärme  uns  gerathen  ?  Wer  mit 
„reinem  Ernst  uns  belehrt?  O  Vater, 
„Vater,  warum  giebt  es  Anordnungen, 
„die  den  Menschen  im  Menschen  ver- 
„kennen  ?  " 

Ihr  seht,  wie  neu,  wie  nur  nach  den 
Bedürfnissen  meines  unerweiterten  Her- 
zens entscheidend  ich  damals  dachte. 
Ach ,  w^ohl  hat  spätere  Erfahrung  mich 
belehrt,  dafs  der  Mensch,  um  Mensch  zu 


230 


werflen,  so  manches  wissen  müsse,  was 
die  Ruhe  seines  Innern  bricht.  Unser 
Leben  ist  hein  Schäferabend,  kein  Abend 
vollendeter  Arbeit,  sondern  der' Morgen, 
der  besinnt,  und  die  Last  eines  Tages. 
Erhennen  ist  unsre  Bestimmung,  und 
wehe  dem  ,  der  Unwissenheit  für  unser 
Glück,  und  Unwissenheit  zerstören  für 
ein  Verbrechen  gegen  die  Ruhe  der 
Menschheit  hält. 

Aber  noch  war  ich  in  jener  Stunde  nicht 
dahin  gekommen  .  .  .  den  Werth  des 
Lebens  aus  dem  Gesichtspunkt  entwickel- 
ter Kräfte  zu  würdigen,  noch  war  alles 
Neue  mir  schrecklich. 

Eben  hörbar  zog  der  Donner  über  die 
Ferne.  Es  regnete  leise,  ein  verlornes. 
Säuseln  in  den  Asten:  der  Morgen  graute. 
Meine  Brüder  schliefen  ,  alles  stille ; 
allein,  so  scheinbar  verlassen —  erwachte 
die  Empfindung,  einst  so  unter  Fremden 
zu  leben  —  getrennt,  los  gerissen,  ver- 
einzelt. Ein  Schauer  der  Betäubung 
durchfuhr  mich  :    meine  DcnKkraft  war 


vernichtet.  Wie  hatte  ich  damals  ühneu 
liönnen,  mit  welcher  Kraft  der  Mensch 
unter  That  und  Handlung  sich  an  den 
Fremdesten  knüpfe ,  wie  Vertrauen  auf 
Menschen  nur  mit  dem  Gebrauch  ent- 
stehe, und  Freundschaft  gedeihe,  wo  der 
Kampf  für  Wahrheit  Seelen  vereinigt? 
Glaubt  mir:  nur  der  ist  unglücklich  bey 
dem  Gemälde,  das  Geschichte  und  Erfah- 
rung ihm  entwerfen,  nur  der  erliegt  dem 
Schreckbilde  des  Verderbens ,  der  nie  Ge- 
legenheit fand,  selbsthandelnd  im  Streite 
für  die  Sache  der  Menschheit  .  .  .  Men- 
schen zu  kennen,  und  in  die  Tiefen  ihres 
Vermögens  zu  dringen. 

Nie  hat  der  wahre  Held  den  Menschen 
verachtet ,  nie  der  wahrhaft  grofse  Mann 
seiner  gespottet;  beide  sahen  ihn  v^on  sei- 
ner glänzendsten  und  seiner  niedrigsten 
Seite,  und  lernten  Schlacken  vom  Gold 
unterscheiden ,  das  Traurigwirkliche  vom 
Möglichgrofsen.  Darum  thätig,  meine 
Freunde,  trachtet  zu  handeln!  Dann 
bleibt  euch  der  Mensch  kein  Geheimnifs, 


und  das  Leben  keine  Frage;  dann  drückt 
euch  kein  Morgen  wie  der  meini£;e, 
traurig  in  der  Natur,  trauriger  noch  im 
muthlosen  Hinstarren  einer  ungestärkten 
Seele. 

O  noch  steht  sein  Bild  so  ewig  gegen- 
wärtig vor  meinem  Innern.  Seine  flie- 
henden, lichtfahlen  jSebel  an  den  Seiten 
der  Berge,  sein  tief  schwarzes  Gewölk 
auf  ihrer  Spitze;  der  Eisbach  zerschellte 
an  Felsen,  das  Geschrey  der  Geyer 
wüthete  in  der  Luft.  Noch  steht  er  vor 
mir.  Und  warum?  Er  war  der  Schei- 
depunkt, wo  unentschiedene  Jugend  ihre 
Aussichten  schloCs,  und  die  trübe  Däm- 
merung der  Mannheit  sich  aufthat.  Kein 
Sprung  geschieht  in  der  INatur;  aber  es 
giebt  Stufen,  an  denen  unser  Ich  sich 
sichtbar  erhebt,  Augenblicke,  aus  deren 
zufälligen  Eindrücken  unser  Charakter 
sich  dauernde  Formen  schafft. 

Bey  jedem  Brechen  der  Wasser,  bey 
jedem  Lufthauch  der  Nebel  über  wetter- 
trübe .'Wälder,    bey  jeder  regennassen 


Klippe,  bey  jedem  Kreischen  der  Vögel 
in  der  Stille  eines  Thaies  seh'  ich 
mich,  hol'  ich  mich  ,  den  vormals  ernie- 
drigten Menschen  in  seinen  Klagen,  in 
seiner  Schwäche,  ein  Wesen,  nicht  mehr 
ich  selbst,  das  mich  erröthend  zu  jeder 
Kraft  und  zu  jeder  Anstrengung  spornt. 

Zagend  folgt'  ich  meinen  Brüdern,  bis 
das  letzte  Naheseyn  Lltoras  uns  mit 
allen  Eindrücken  seiner  Grölse  ergrilF. 
Sein  Scheitel  ewiges  Weifs ,  Wälder  zu 
seinen  Füfsen,  kein  Laut,  als  ihr  Brau- 
sen und  der  fern  tobende  Invra. 

Urbild  der  Schöpfung,  und  in  Wer- 
den und  Vergehen  ihrer  nimmer  rasten- 
den Kräfte  Herold!  Habt  ihr  je  gefühlt, 
was  das  Herz  in  der  Nähe  eines  solchen 
AVesens  sich  bewufst  ist?  Wenn  Men- 
schenverachtung  mich  ergreift,  wenn 
Lebenshafs  und  der  ermattende  Hauch 
der  Gesellschaft  euch  anweht,  dorthin, 
hin  zu  den  Füfsen  Eltoras  und  seiner 
Brüder.  Im  unbestimmbaren  Gefühl  sei- 
ner Stille,  in  der  auch  das  leiseste  Mur- 


mein  der  Quelle  in  tler  Tiefe  euch  niclit 
entgeht,  dort  wird  euer  Herz  im  An- 
blick des  Erhabensten  Muth  fassen, 
u])er  die  Kleinheiten  eurer  Bekümmer- 
nisse zu  hicheln.  "Wie  oft  hat  das  stille 
Wehen  eines  Gebirges  Vv'unden  in  mei- 
ner Seele  geheilt ;  die  Stunde  der  Begei- 
sterung dort  empfangen  ,  Entschlüsse  in 
meine  Seele  gelegt!  —  O  Freunde,  der 
Mensch  wird  grofs  ,  wo  das  Grofse  ihn 
timgiebt. 

Unser  Muth  war  erhöht,  das  schwer- 
ste schien  nicht  hart.  Steingerolle  war 
unsere  Bahn:  heiter  wie  auf  Blumen 
wandelten  wir  über  ihre  Spitzen.  Bald 
endete  auch  dieser  Weg.  Kein  Fufs- 
tritt  haftete  mehr  am  schroffen  Geklüfte; 
lose  Sträuche,  brüchige  Steine,  die  der 
Hand  entschlüpften;  alles  schien  vergeb- 
lich. Dya  wollte  wagen :  Stolz  und 
Unmuth  machten  ihn  glühend. 

Ich  —  hoffte  auf  Rath,  und  sah  mit 
trostlosem  Auge  nur  neue  Zweifel. 


^55 


„Der  Mann,  der  uns  bis  hierher  wies, 
liann  nicht  fehlen/'  rief  Tibar.  Er  warF 
sich  ins  Gebüsch.  „Es  mufs  ein  Weg 
seyn  ,  und  wir  müssen  ihn  finden." 

Er  suchte,  und  fand  an  hohen  Felsen 
eine  Weisung,  alte  bemooste  Schrift. 

„Wenn  den  Wanderer  am  steilen  Ab- 
,,hang  seine  Hoffnungen  verlassen,  so 
„sey  ein  Blick  in  diese  Verborgenheit 
„der  Zeuge  seiner  ungeschwächt  suchqn- 
„den  Seele.  Dort,  wo  drey  Bäume  vor 
,,der  Felsenhluft,  wo  der  Stein  mit  hän- 
,,gendem  Moose  weit  zurück  in  licht- 
,, loser  Dämmerung  ein  Eingang  dich  ßuf- 
„wärts  führet ,  mufst  du  steigen  im  Dun» 
„kel,  lange  dich  über  Klippen  winden: 
„dann  kommt  eine  Brücke;  über  den  Ab- 
,,grund  des  reifsenden  Invra  wiegt  sie  im 
„Winde  sich  an  Ketten.  Ein  Mann  soll 
nichts  fürchten.  Unter  dir  siehst  du 
„den  Strom,  tobend  durch  Felsen,  schlei- 
„che.nd  und  schwarz  im  Thale  des  To- 
,,des  zu  deiner  Linken  von  Fels  zu 
„Fels  deinen  Weg,    neben  dir  in  stil- 


„1er  Höhe  ilie  Schneegefilde.  Geh  und 
„wage." 


Wir  gingen  und  fanden,  was  die  Wei- 
sung gesagt  hatte. 

Dya  stieg  zuerst.  Er  reichte  mir  die 
Hand.  Mit  mächtigem  Schwung  rils  er 
mich  an  sich.    Tibar  harrte  Hamors. 

Hamor  umarmte  ihn  wie  zum  ewigen 
Abschied.  Er  sah  in  die  Höhe ,  er  warf 
sich  zur  Erde. 

,,So  will  auch  ich  dir  helfen,"  rief  Dya 
und  kehrte  zurück.  ,,Es  hönnen  ja  — 
nicht  immer  Blumen  seyn!"  Hamor 
stieg  und  seufzte. 

Mit  lauter  Freude  erwachte  nun  wie- 
der mein  Glaube  ati  Mioida a,  bis  ein  kal- 
tes —  ,,an  dem  du  zweifeltest?"  von 
Tibar  gesagt,  mich  zurück  warf  in  die 
sehr  herbe  Betrachtung,  wie  schwankend 
mein  Geist  sich  Beängstigungen  schuf. 


^37 


Einsam  verging  nun  schon  der  zweyte 
Tag  inner  den  Höhen  Eltoras.  Ein  dunk- 
ler Hohlweg  am  dritten,  des  Giefshachs 
Steingang,  von  Bäumen  überwölbt,  von 
Moos  und  Farrenkräutern  farbenreich  ge- 
schmückt, still,  kühl,  nur  von  leisen 
entfernten  Lauten  der  Vögel  und  des 
AVindes  belebt,  ward  abwärts  unser 
Pfad.  Felsen,  hoch  empor  getrieben  unter 
luftigen  Gesträuchen,  unter  schwarzen 
Tannen,  endeten  ihn  am  Austritt  eines 
grünen  Hügels  freyer  Aussicht  in  die 
Fernen  dreyer  Thäler,  in  die  Öffnungen 
ihrer  Bergketten.  Leicht  geschlungen 
durch  Wiesengründe  einsamer  Haine 
und  moosgrauer  Felsenstürze,  weither 
schimmernd  aus  ihren  Ufern,  vereinig- 
ten sich  ihre  Flüsse  zum  See  .  .  .  zwi- 
schen kleine  Inseln  vielarmig  verborgen,^ 
unter  röthlichen  Steinwänden  ,  unter  vor- 
gestreckten Waldrücken:  in  hundert  Bre- 
chungen, und  fernehin  wechselten  seine 
blütheweifsen,  dicht  verwachsenen  Ufer. 
Wolken  zogen  farbenhell  über  leuchten- 


des  Wasser.  Berge  warfen  ilire  Schatten 
in  die  Schatten  des  Vorgrunds.  Lichter 
der  niederstehenden  Sonne,  seithalb  in 
langen  Strahlen  über  die  Erhöhnngen 
des  Thaies  hingestreckt,  fielen  auf  ent- 
legene Gipfel. 

Keine  Wohnung  belebte  diese  Gegend. 
In  stufenhellen  Gebirgen,  im  Lichtglanz 
überragender  Schneewände,  im  Feier- 
kleide  des  nahen  Abends,  grofs,  weit  und 
alles  übertreilend,  wie  ein  stiller  Aufent- 
halt unerkannt  erhabner  W  esen ,  schien 
nur  ein  R.auch  aus  eng  geschlossenen  Fer- 
nen auf  Menschen  zu  deuten.  Wir  folg- 
ten. Nichts  gleicht  den  Reitzen  unseres 
Weges  —  blühend  und  im  Wohlgeruch 
des  schwindenden  Tages.  Mit  jedem 
kleinen  Fortschritte  neue  Seitenthäler  ge- 
gen das  unsre  geölinet  .  .  .  ein  verän- 
derter Blick  in  die  Wechsel  des  Schattcn- 
dunkels  und  einer  frühern  Nacht  aus 
freundlichen  Tiefen. 

Immer  schneller  eilten  wir  weiter. 
Dampfender  sank  der  Abend.     Aus  der 


Finsternifs  nah  gescho])ener  Felsen  öffnete 
ein  stürmender  Bach,  breit  schäumend, 
hell,  in  grünen  Fluten  seine  Bahn,  und 
uns  auf  schmalem  Rand  einen  Eintritt 
in  das  Innere  eines  Thaies  —  nach  einem 
so  reichen  Tage  noch  ein  Zauber  neuer 
Schöpfung.  Dem  Eingang  entgegen  stieg 
dunkel  thürmend  eine  steile  Spitze  mit 
durchschimmernden  Bäumen  gegen  die 
helle  Gclbröthe  des  Himmels.  Zwischen 
dem  Waldsaum  ihrer  Krone  dämmerten  in 
einzelnen  Strahlen  Gemäuer  und  Säulen- 
gänge mächtiger  Gebäude. 

Nach  beiden  Seiten  abgerissene  Fel- 
sen  —  theilten  sich  an  ihrem  breiten 
Fufse  zwey  Tliäler  im  dunkeln  Wiesen- 
grün zwischen  Bäumen  und  Hügeln  und 
Fernen  hoch  emporragender  Steintrümmer. 

Tiefer  sank  die  Dämmerung  unter  trü- 
genden Nebeln,  unter  den  Lichtern  hoch 
bestrahlter  Alpen.  Ein  leiser  Wind 
schauerte  durch  den  Einton  des  Baches. 

über  Jahrtausende  und  ihre  Geschlech- 
ter, über  den  Strom  des  Unerkannten  hin- 


2/^o   

getrieben,  uncl  üLer  EreiG^nlsse  ohne  Zahl, 
umgab  uns  die  Zeit  in  dunkeln  Gestalten. 

So  wählten  wir  weglos  das  kürzere. 
Thal,  aus  dessen  näherer  Ferne  ein 
Lichtkreis  zu  glänzen  schien.  An  den 
immer  steilern  Felsenufern  stiegen  wir 
aufwärts.  Finster  schlols  sich  der  Laub- 
wald; kein  Licht  zeigte  eine  Bahn,  kein 
Mond  war  am  Himmel,  kein  Laut  ver- 
rieth  eine  wirthbare  ]Nähe. 

Einsam  schwankten  Sterne  durch  die 
Zweige.  Zum  zweytenmale  war  alle 
Gewifsheit  entflohen ,  und  zehnfach  här- 
tere Verlassenheit  unser  Loos. 

Hamor  hing  sich  zitternd  an  mich.  Ihn 
angstigte  das  Hinwegsinken  eines  muth- 
losen  Lebens.  Tibar  suchte  eine  moos- 
reiche Stelle  zum  Schlaf:  Ruhe  umgab 
seine  Seele,  im  Schoofse  der  Natur  ohne 
Sorge.  Ihn  erfreute  die  hohe  Einsamkeit 
einer  Nacht  und  die  Erwartung  des  Nie- 
gesehenen am  Morgen.  Er  fand,  was  er 
suchte,  am  Abhang,  freudig  rufend,  um 
mich  nicht  zu  verlieren.  Vorgedrungen 


241 


im  Gebüsche,  um  zu  spiilien,  tönten  mir 
nun  Laute  aus  der  Ferne.  Ich  rief;  alle 
riefen.  Weither  klang —  eine  Antwort: 
matte  Dämmerung  nahend  —  näher  im 
Wiederscheiu  an  den  Zweigen  —  in  lan- 
gen ScliaLten  immer  klarer  ;  Fufstritte 
kommender  Menschen  —  ein  bangstiller 
Augenblick  ! 

Hamor  weinte  Thränen  der  Verzweif- 
lung. Er  drängte  sich  an  mich.  —  Unter 

fremder  Gewalt  verlassen  zu  sterben ! 
Vorwürfe  auf  den  W ahnsinn  seiner  Brü- 
der strömten  aus  seinem  Munde:  ,,Zum 
„Opfer  ihrer  Träume  hierher  'geführt, 
,,hier,  wo  Kurzsichtigkeit  sich  durch  ihre 
, »natürliche  Folge  .  .  .  Unglück  und  Ent- 
,,schlufslosigkeit  büfste,    sey,    was  sie 

treffe,  selbstverschuldet.  Warum  aber 
,,er,  der  Unschuldige,  leide?  Warum  er 
,,uns  nachgezogen  werden  muCste,  einer 
„strahlenden  Tugend  zum  Spotte,  ein 
„Schwächling,  wo  er  nur  der  Vernunft 
„gehorchte?     O  Vater,  Vater!    rief  er 

ungestüm,    das   sind    deine  Lieblinge, 

Dya-Na-Sore  1.  Th.  16 


„gegen    die    icli    nur    der  Verworfene 

blieb  !  —  Leide,  klage  :  du  siehst  deine 
„Söhne  nicht  mehr.  Hülf'los  schliefst  der 
„verzweifelnde    Stolz    seine  Rechnung. 

Weine,  denn  dein  Wahnbild  stiirzte  sie 
„hinab.    Einsam    stehst  du   an  deinem 

Grabe,  und  unsre  bleichen  Geister  um- 

geben  dich  mit  Schrecken.  " 
Welche  Schmerzen  für  mich  in  seinen 
Klagen!  Ich  hatte  ihn  mit  Hoffnungen 
gelockt,  die  andern  durch  Verachtung 
beynahe  entfernt.  Mir  galten  seine 
Thränen. 

Alle  Unruhe  löste  sich  in  Freude  beym 
Anblick  derer,  die  aus  dem  Gesträuche 
hervorbrachen  über  einen  niedrigen  Fels- 
pfad —  zwey  flammende  Gestalten,  im 
Lichtkreis  ihrer  Fackeln  stolz  und  grofs, 
in  edler  Jugend  -  -  -  die  des  Fremden, 
des  Gewagten,  des  Kühngeretteten  sich 
freut,  die  in  jeder  Handlung  des  Gefühls 
ihrer  Kräfte  so  froh  sich  bewufst  stehet. 

Hellblau  schimmerte  ihr  Gewand  in  die 
Luft,  ihre  Wehrgehänge  erklangen,  Helme 


  245 

];ezeichiieten  Krieger,  was  sie  umgab, 
war  hohe  Vollendung  jeder  Art.  Sie 
standen  vor  uns,  heitere  Gewifslieit  im 
Blick  ohne  Rückhalt.  ües  Menschen 
erste  Zusammenkunft  ist  so  oft  sein  Ge- 
setz für  die  Folge.  Hier  vereinigte  das 
schöne  Gefühl  freundlicher  Erwartung 
Wesen,  die  sich  nicht  kannten,  und  aus 
edlen  Hoffnungen  hob  unser  Geist  sich 
mit  Würde  empor. 

Sie  führten  uns  schweigend :  einzelne 
Fragen,  cinsylbiges  Antworten  unser  Ge- 
sprach. 

Wenn  eine  dunkle  Verwicklung,  wenn 
das  Halbgewünschte  und  doch  Unerwar- 
tete in  seinen  Zaubergestalten  uns  um- 
fangt —  wem  lüstet  zu  reden  ?  Wie  auf 
^Vasser  unter  leichten  Winden,  spiegeln 
tausend  bewegliche  Bilder  sich  in  der 
Seele,  zu  reitzend,  um  nicht  zu  beschäf- 
tigen, zu  flüchtig  für  Bestimmtheit. 

Geordnete  Gänge,  gefalirlos  für  den 
Traumbefangncn,  überraschten  mich  nicht: 


das  stille  Gute  eilt  vorüber  im  Strome  de* 
Wi-ind  erbaren. 


Fernbin  leucbtete  endlicli  unter  wieder- 
stralilenden  Bäumen  die  reiclie  Helle  einer 
Wobnung.  Der  Mond  trat  eben  über  die 
Waldstrecke  bervor,  sein  Silberlicbt  zwi- 
sclien  den  Scbatteneno,en  der  Berge,  in 
den  Funkenkreisen  des  Baclies  und  in  den 
farblosen  Bogen  seines  Staubfalles  uns 
zur  Seite. 

Durcb  liobe  Olfnungen  von  ibm  be- 
leucbtet,  nabm  eine  Yorballe  uns  auf: 
hinter  farbigem  Glase  brannten  die  Lam- 
pen änstofsender  Gemächer,  Farben  in 
Luft  zerflossen,  wie  eines  Regenbogens 
sanft  verliaucbte  Tinten  ein  reicher 
Anblick  eines  übereinstimmenden  Ganzen. 
Alles  vv^ar  stille.  Wir  hatten  Zeit  uns 
zu  besehen.  Fenster  in  weiter  Höhe 
bis  hinab;  Blumen,  Pflanzen,  wie  aus 
dem  Boden  spriefsend,  bis  ins  Innere  fort- 
gezogen ,    füllten   ihren    untern  Raum. 


Teppiche,  grasähnllcli  aus  grilnem  Ilierl 
gewebt,  fernes  Pliitschcin  der  Spring- 
wasser, Gemälde  an  den  Pfeilern,  ein- 
zelne Standbilder  in  der  Heile  auf  sie 
geleiteter  Strahleninassen  —  überall  der 
schöne  bedeutungsvolle  Aufenthalt  den- 
kender, l^unstliebender,  feinsinniger  Men- 
schen, mit  dem  ersten  Blicke  zu  unter- 
scheiden von  den  unbestimmten,  wech- 
selnden Gerätben  einer  genulsschmach- 
tenden,  sich  selbst  uneinigen,  nimmer 
genügenden  Weichlichkeit.  Einem  altern- 
den und  einem  minder  bejahrten  Manne 
mit  einigen  Jünglingen  öffneten  sich  end- 
lich die  Thüren  der  innern  Reihe.  Edel 
gekleidet,  edel  an  Gestalt,  holie  ,  kühn 
gebildete  Menschen,  dennoch  nichts  Frem- 
des ,  nichts  des  Abscheidenden,  das  im 
ersten  Empfang  schon  nimmer  nahende 
Entfernung  grimdet. 

Ach  wie  wohl,  w  ie  schnell  anziehend 
fiel  meines  Vaters  Aehnlichkeit  mir  auf! 
Eben  die  Haltung,  eben  die  sanft  ernste 
Sprache,  der  bittend  gute  Ton,  die  Ach- 


tung  für  Menschen  und  ihre  Empfin- 
dungen, sein  Au^e,  seiner  Heinde  Be- 
wegung. In  meiner  Überraschung  fort- 
gerissen,  rief  ich  hxut,:  Vater,  Vater, 
,,ii])erall  wo  gute  Menschen  wolmen,  finde 
„ich  dein  Eild  !  " 

Der  ältere  umarmte  mich  mit  schneller 
TJerzlichkeit.  ,,Er  danke  der  Natur 
„diese  freundliche  Artung  unseres  Gei- 
,,stes,  überall  aus  Ähnlichkeiten  die  Kette 
„fortdauernder  Empfindungen ,  und  ein 
„Ganzes  unsers  Lebens  zu  finden.  Wohl 
„jedem,  dem  der  hellen  Erinnerungen 
,, viele  gea;enwärtig  wären ,  dem  Gutes 
,,tief  bezeichnet  im  Busen  liege  !  er  trelFe 
„überall  auf  Verwandte  und  eine  schnelle 
,,Gewifsheit." 

Schlaf  und  Müdigkeit  waren  entflohen. 
Zehnfache  Kraft  glühte  wie  himmlische 
AVärme  in  unserm  Innern  .  .  .  jene  ju- 
gendlich rege  Begierde,  jenes  ungewisse 
Hindrängen  des  Geistes  —  zu  sehen , 
zu  fassen,  was  immer  noch  täuschungs- 
ähnlicher als  wirklich  schien.  —  Wie 


\'\  olil  ist  dem  Menschen,  wenn  alles  su 
neu  und  in  der  Dämmerung  der  reichen 
unbeschränkten  Erwartung  ihn  umgiebt  ! 
Wie  grofs  erweitern  sich  seine  Wün- 
sche, und  wie  kühn  hat  eine  schalfenda 
Hand  ihn  ausgestattet,  dals  liberall  das 
Überraschende  an  das  Unendliche  ziehet! 
W^o  kein  Niederdrücken  des  ivleinlichen. 
ihn  verirrt  —  beflügelt  jeder  volle  Ein- 
druck seinen  Geist,  und  nie  felilt  ihm 
der  himmlische  Schwung  vom  W  irkli- 
ch enf  —  zu  erhabener,  verschönemder 
Hoffnung,  jener  Götterspruch  unsers 
Tunern,  ,,der  uns  selbstachtend  nur  des 
l'',delsten  würdig  erklärt.  "  — 

Ein  Leben  der  regsten  .  Erwartung 
ergriff  uns;  stolze  Vollendung  in  allem, 
bis  auf  die  kleinsten  Geräthschaften ;  die 
hohen  Formen  eines  Jahrhunderts,  das, 
ferne  dem  unsrigen ,  dauernde  Schönlieit 
hervorzul)ringen  gcstinmit  war.  Die  ein- 
fach edle  Sitte  der  Wesen,  die  uns  um- 
gaben, ihre  feine  Sprache,  der  höh- 
Geist  ihres  Betragens  zeigte  fremde,  un- 


sers  Vollmes  ungehörige,  anders  geartete 
Menschen.  Jünglinge  von  Männern  niclit 
beherrscht,  und  Männer  in  freudiger 
Zuneigung  von  Jünglingen  geachtet,  be- 
gegneten sich  ohne  Zwang,  ohne  Entfer- 
nung, in  Ernst  und  Froheit  —  auch 
hier  meines  Vaters  täuschende  Rückkehr: 
eben  so  durch  Vertrauliclikeit  cecen  uns 
bezeichnet,  eben  so  fremd  jener  gewalt- 
samen Weghaltung  —  dem  Prachtkleide 
versteckter  Schwäche,  unter  welcher 
rings  um  uns  Kinder  zum  blinden  Ge- 
horsam und  zur  späten  Verstellung  er- 
wuchsen. Selbstständig  selbst  —  wufste 
er  Menschen  selbstständig  zu  entwik- 
keln  .  .  .  aus  früherm  Denken,  aus 
selbstgesuchter  Eeurtheilung,  aus  Reit- 
zen  der  Beschäftigung  durch  selbster- 
worbenen Genufs  des  Wissens  unterhal- 
ten: darin  allein  suchte  er  das  Kunst- 
werk der  Erziehung ,  und  ihren  achten 
Gewinn  -  -  -  Bestimmtheit,  jenes  fol- 
gerechte, gleich  schreitende,  eigene  An- 
halten in  Wollen  und  Wirken,  ohne  die 


249 


es  keine  Wahrheit  des  Dascyns  ,  keine 
Kraft  —  „nach  höhern  Gesetzen  sicli 
seihst  zu  leiten,*^  keine  Unahhängigkeit 
von  fremdem  Einflüsse  gieht. 

Was  mich,  im  schwachen  Nachlnhlc, 
so  gefällig  an  euch  knüpft,  .  .  .  freund*- 
liches  Wohlwollen,  Rath  und  herzliche 
Mittheilung  ,  selhstüberlassene  Wahl 
im  Gebrauch  meiner  Lebenserfahrun- 
gen zur  Sicherheit  der  Euren  ,  "  das  um- 
gab mich  von  meiner  Kindheit  an ,  und 
fortdauernd  jetzt  unter  diesen  neu  erkann- 
ten Menschen:  wie  ein  dämmernder 
Morgen  unter  Blüthen ,  stieg  meine  Ju- 
gend zum  Lichte. 

„Warum  geht  der  Mensch  aus  freund- 
lichen Händen  so  sorgsam  hervor,  ein 
zartes  Wesen  hoher  Bestimmung,  Schöp- 
fer und  Held  einer  Welt  der  edelsten 
Hoffnung  —  um  im  Zeitpunkt  erreichter 
Kraft  unter  Trümmern  des  Unerreich- 
baren, unter  selbsterkannten  Traumen 
schneller  zu  altern  als  er  wuchs?*'  — 
Ach  wie  oft  zerrifs  diese  Fraiie  mein 


Herz  !  Und  ihre  AnU'^  ort?  —  Pflanze 
oder  iMenscli  —  Blumen  zu  Tausenden 
für  die  Gewifsheit  weniger  Früchte  ent- 
faltet; sind  .  .  .  Reifen  und  Welken 
uberall  nur  zwey  gleichbedeutende  AYör- 
ter.  In  wenigen  P^rüchten  erschöpft, 
für  andre  getragen,  liegt  jenscit  unser 
seihst  die  Frage  alles  Daseyns. 

Leht  und  hlüht :  noch  ists  für  ihre 
dunkle  Lösung  zu  frühe. 


Kin  Mahl  ist  eine  unhedeutende  Sa- 
che. Aber  hier,  wo  das  Frohseyn  herz- 
licher Nähe,  wo  ehi  reifer,  geläuterter 
Sinn  auch  das  Kleine  in  schönere  Bezie- 
hungen erweiterte,  hier  ward  ein  vor- 
übergehender Genufs  —  ein  dauernder 
Eindruck,  dessen  Nachbild  ich,  wie  ein 
heiliges  Geschenk,  euch  nur  zum  Lohn 
edel  vollbrachter  Tage  zuspreche. 

Ach,  nur  das  Bleibende  der  Erinne- 
rung nenne  ich  Lebcnsgenufs ,  den  ich 
euch  bereiten  möchte,  euch,  die  ich  liehe. 


251 


denen  ich  alles  zum  Eibe  Lluteilassen 
möchte,  v/as  mein  Daseyn  Gutes  und 
Wahres  eiitluelt. 


Und  heute,  heute  noch,  v.  niuai  soljttj 
ich  es  vers(  Illeben  ?  werde  das  Fest  der 
Erinnerung  gefeiert,  wie  ich  es  dort  ge- 
funden hatte.  Eben  die  innre  Verthei- 
lung  der  Zimmer;  eben  die  sanfte  Helle, 
heller  auf  bedeutendere  Gegenstände  <ie- 
leitet;  eben  die  Sorge  des  Wohlgeruchs, 
die  Mischung  blühender  Gesträuche  ne- 
ben Werken  des  Bildners;  das  sanfte 
Ixauschen  der  Quellen,  die  vorüberge- 
henden Geistcrlaute  der  Windharfe  und 
das  forttönende  Schweben  der  Wasser- 
orgel sollen  euch  umgehen ;  in  meinen 
Geräthschaften  die  nämlichen  Formen, 
einfach  und  rein,  aus  den  ältesten  Zei- 
ten der  Kunst,  unter  Menschen,  denen 
nicht  der  Wechsel,  sondern  das  Schöne 
gefiel.  Alles  Nothwendige  habe  seine 
Stelle.  Keine  Diener.  An  den  Wänden 
bereitet  die  Sit/lager  umher.    Scyd,  wie 




wir  dort  waren.  Jeder  wählte  seinen 
Platz,  entfernt  oder  neben  andern,  kam, 
ging,  wechselte;  kein  vorlauter  Redner, 
kein  erzwungenes  Gespräch,  kein  fehl- 
erharrendcs  Scliweigen,  kein  Beobachter 
engte  Freyheit,  Laune,  oder  traulicheres 
Mittheilen. 

Unabhängig  und  unter  Menschen  sollt 
ihr  seyn.  —  Wie  selten  sind  eure  ge- 
selligen Vergnügungen  dahin  berechnet ! 
Immer  nur  Zwang  des  Einzelnen  gegen, 
mehrere,  Fassungslosigkeit  neben  Wahn, 
Machteignung  neben  träger  Hingebung, 
fremde  Vorbildungen  neben  erkünsteltem 
Beyfall ,  und  widervv  iiiig  verhaltener 
Hohn  neben  verfehlter  Erwartung:  Ge- 
bote zur  Freude  und  ihrer  Zerstöreriu- 
nen —  wie  selten  sind  Versammlungen  — 
offne  gemeinschaftliclie  Quellen,  aus  de- 
nen jeder  selbst  schöpft !  Achtet  auf 
euch  selbst,  ob  ihr  des  Bessern  fähig  seyd. 


Ich  ende  nun  das  Gemähide  jenes 
Abends.    Zuweilen  traf  eine  unabsicht- 


lieh    scheincnfle    Erziililung    die  allge- 
meine   Achtsamkeit  :     zuweilen  erhöh 
sich  der  Gesang  eines  kleinen  Chores. 
^Vorte  voll    Sinn    erregten  einen  neuen 
Gang  des  Gesprächs;   oder  still   und  in 
erweckter  Empfindung   safsen  Freunde, 
denen    ein    Blick,    ein    Händedruck  in 
tieferer  Deutung  zureichte.   Der  Gedan- 
kenerwerh   eines  .  thätigen   Tages  ward 
hier  zu  allgemeinem  Gewann,  wo  jeder 
das   Schönste    und   Beste  darzubringen 
strebte.    Nie  konnte  es  an  wechselsei- 
tiger  Achtung,    diesem    einzig  wahren 
Grund  aller  Geselligkeit,  fehlen,  wo  jeder 
dem    andern    in    sorgsamer  Enthiillung 
eines  reichen  Geistes  wichtig  ward,  und 
nie  sorgsame  Pflege  des  Geistes  sinken, 
wo  Achtung  für  andre^  sie  nothwendig 
machte,    wo    die    verschönernde  Kunst 
des  Gemiithes   nur   in  Hiilfsquellen  des 
\Yissens   sich  dauerndes   Gedeihen  ver- 
sprach. 

Einfacher  Art  und  in  geringer  Verschie- 
denheit war  das  Zugerichtete  ;  aber  Uber- 


fliifs  fies  TrefFlichsten  aus  s  e  1  b  s  t  g  e  z  o- 
g  e  n  e  n  Früchten.  Nie  sollte  der  Mensch 
den  trägen,  leicht  vervielfachten  Genufs 
einer  erfinderischen  Dienstbarkeit  gewöh- 
nen: aber  was  nur  Nachdenken,  Arbeit 
und  Erwartung  verschaffen  können ,  was 
früher  stärket  als  nähret,  dort  wird  die 
Freude  des  Genusses  unschädlich  durch 
die  kraftbringende  Arbeit  seines  Erwerbes. 

Aber  auch  ein  glücklicher  Abend  endet. 
Der    Schlaf    gebot.     Jedem    ward  sein 
eignes  Gemach ;  auch  hierüber  gab  man 
meinen  Fragen  bestimmte  Gründe.  „Die 
„Nacht  ist  unsers  Geistes  stilles  Eigen- 
„thum.    Nie  mufs  der  Zufall  Menschen 
„anhaltend  sich  zudrängen.    Einsam  und 
„ferne  heilen  die  kleinen  Verletzungen 
,,des  Tages,  und  eine  gleichdauernd  zarte 
„Berührung  wird  nur  möglich ,  wo  bey 
„ausgesetztem  Drucke  Nerven  nie  erhär- 
„ten.    Mit   sich  und  den  Erinnerungen 
„eines   Tages  in  der  Abgeschlossenheit 
„seines  Zimmers,  des  Himmels  nächtliche 
„Erhabenheit  vor  Augen,  geht  dem  Men- 


„sehen  sein  Tch  wie  eine  sliafende  oder 
„warnende  Erscheinung  hervor:  er  lernt 
„denken  und  handeln  unter  andern; 
„aber  Güte  -  -  das  rein  abgezogene  rich- 
„terliche  Bewufstseyn  seiner  verborgenen 
„Triebe,  nur  von  sich  in  einer  prü- 
„fenden  Minute,  wo  das  T3unkel  der 
„Erde  ihn  zwischen  Zukunft  und  Ver- 
,,gangenheit  der  Gerechtigkeit  näher 
„stellt." 

Die  riickkehrenden  Gestalten  des  Ta- 
ges drängten  sich  wie  heller  Schimmer  in 
mein  Herz.  Die  Einsamkeit  überwältigte 
den  Schlaf.  Ich  trat  hinaus  unter  die 
Bäume.  '  Ihr  Flüstern  umgab  mich:  spä- 
ter mit  dem  Morgen  eine  sanft  verhallende 
Stimme  aus  der  Tiefe. 


„Am  Abgrund  stand  der  Weichling  und 
„der  Mann,  dem  Schicksal'  an  der  Hand. 
„Mit  freyem  Sinne,  unbeschränkt  in 
„eurer  Wahl  —  was  wollt  ihr? —  Hier 
„Ruhe  !  dort  Gefahr  !  den  Dank  der 
„Menschheit?  oder  Ijebensstille ?  - — 


256 


„Die  Stimme  ruft,  der  Augenblick  ent- 
sciieidet. 

„Der  Weise  wählt,  und  wählt  Gefahr. 
Phantome  steigen  auf.  —  Verkannt,  ver- 
lassen, der  Mindern  Spott  —  sieht  er 
auf  seinem  Wege  verleumdet,  unerreicht 
am  nahen  Ziele  sich  überfallen,  Macht- 
habende in  den  Raub  seines  Ruhmes,  Un- 
würdige in  seine  Thaten  getheilt,  und 
Völker  blind  mit  Undank  ihn  verfol2;end; 
in  jeder  Freude  vernichtet,  in  jeder  Holr- 
nung  gekränkt  —  verblutet  sein  Leben 
unter  langsamen  Qualen. 

„Er  sieht,  was  Tausende  schreckt  — 
Millionen  entweichen,  und  ruhmlos  ver- 
hallet ihr  Name;  selbst  den  bessern  Mann 
erreicht  nicht  immer  die  kleine  Gabe  eines 
armseligen  Denkmahls  im  Tode.  Et 
schwindelt,  er  wankt;  Nachruhm  ist 
doch  ein  so  verzeihlicher  Traum ;  jede 
bessere  Seele  hegt  ihn;  bis  auch  dieser 
edlere  Eigennutz  schwindet,  reiner  Wille 
das  einzige  Triebrad  unserer  Ilendlungen 
wird. 


257 


,,lhm  willixt  die  Pflicht  aus  dem  Flam- 
menschlunde ,  die  Ünschuld  jammert  am 
verlassenen  Felsen,  und  die  Menschheit 
ringt  mit  ächzendem  Geschrey  unter 
Schlangenhissen  ihre  v-v  unden  Hände  nach 
ihm.  O  er  sieht  heine  Flamme,  kein  Meer 
und  kein  Ungeheuer.  Die  Erde  ehnet 
sich  unter  seinem  Schritte ,  und  die  Gott- 
heit streut  Blumen,  wo  die  Tugend  mit 
dem  grofsen  Bevvufstseyn  erfüllter  Ge- 
setze die  Zuversicht  ihrer  Stärke  auch 
unter  Schrecknissen  nicht  verliert.  Er 
sieht  die  Gefahr,  er  schmeichelt  sich 
nicht,  aher  er  verachtet  sie.  Ihm  ist 
der  Tod  eine  schöne  Nacht.  Die  Sonne 
ist  entwichen;  aber  in  tausend  Ster- 
nen wiederholt  —  strahlt  s  i  e  aus  leuch- 
tender Ferne,  und  in  tausend  Folgen  -— 
seine  Thaten  zum  Throne  der  All- 
macht hinauf,  die  sie  zu  finden  weifs, 
d  i  e  ihre  Bahn  sieht ,  wenn  auch  der 
Mensch  sie  nicht  mehr  erkennt. 

,,So  wählt  der  Edle,  wählt  ohne  Furcht 
und  ohne  Belohnung,  und  verbreitet  sei- 

Üya-Na-Sore  i.  Th.  1? 


lies  Lebens  Woliltliat  über  ^ille  Jahre  der 
Zukunft. 

„Er  ist  tofk,  der  Einzelne  ist  unter- 
gegangen ;  aber  sein  Daseyn  schwebt 
über  den  Fortschritten  einer  endlosen 
Zeit. 

„Der  Weichling  wählt  auch ;  aber  von 
seiner  Wahl  ist  so  wenig  zu  sagen  ,  al» 
von  seinem  Leben.*' 


Auch  Tibar  und  Dya ,  dem  Gesänge 
folgend,  begegneten  mir  einzeln  upd  oft. 
Uiiisere  Hände  drückten  sich  im  Vorü- 
bergehn. Unsere  Zungen  hatten  keine 
Worte.  Selbst  da  wir  später  Rede  ge- 
wannen, betraf  sie  entfernte  Gegenstände 
mehr,  als  das  kurz  vergangene.  Jeder 
füfichtete  —  möchte  man  sagen  —  in 
der  Verschiedenheit  der  Eindrücke  den 
stillen  Besitz  der  seinigen  oder  eines 
andern  zu  stören.  Es  giebt  Momente 
der  Verschlossenheit,  des  ungewissen 
Festhaltens  seinei-  selbst  in  der  Freund- 


Subaft,  die,  wie  ein  tiübwarmer  Maytag, 
des  innersten  AYaclisthums  scliönste  Reg- 
samkeit enthalten. 

Und  als  wir  endlich  unbemerkt  stu- 
fenweise uns  hingezogen  fanden  in  die 
Mittheilung  alles  Gefühlten,  aller  Hoff- 
nungen und  Wünsche  —  welch  eine 
Eile  der  Zeit!  w'elch  ein  Morgen  !  Rein 
und  immer  heller,  Licht  in  jeder  Wolke, 
bedeutender,  klärer  im  steigenden  Roth 
der  Fernen ,  vom  hohen  Strahl  an  den 
Scheiteln  der  Berge,  bis  zum  fahlen 
Dunstgew  ölke  tiefer  Wälder ,  bis  zur 
Sonne  selbst  in  ihrem  Schimmer. 

Erithrama  trat  aus  der  Thiire.  ,,Tch 
„lobe  Jünglinge,  welche  die  Unruhe  lio- 
„her  Eindrücke  dem  Schlaf  entreifst, 
,,und  freue  mich,  dafs  euer  eignes  Ge- 
,,müth  euch  unserer  Lebensvreise  nä- 
„hert.  Der  Morgen  ist  uns  heilig,  hei- 
„lig  wie  eine  entscheidende  AVeihe  zur 
Offenbarung  alles  Guten  in  uns  selbst. 
„INoch  ist  der  Geist  stark;    ein  Ganzes 


vi/ 

260  

,,mit  sich  selbst,  und  von  kleinlichen 
„Verhältnissen  unzerrüttet  —  sieht  er 
,,in  den  kommenden  Tag;    unter  grofsen 

Erscheinungen  erwacht,  enthüllt, er  sich 
,,in  der  Freyheit  seines  Sinnes  der  Sonne, 
,,und  wie  sie  nimmt  er  seinen  Gang  .  .  . 

einsam  und  grofs  im  stillen  Räume  der 
,,Zeit.  Nie  sehen  wir  uns  darum  am 
„Morgen.  Durch  Zufall  begegnet,  sind 
,,es  einige  Minuten ,  die  wir  weilen. 
„Einsam  —  heften  sich  unsre  Gedanken 
„auf  jedes  Vorhaben ;  einsam  —  kehrt 
„das  bessere  Bleibende  des  Vergangeneu 
„zurück.  Versuchts  und  zerreifst  euern 
,,iMorgcn  ,  geht  unter  ]\[en sehen  und 
„kehrt  zurück;  und  in  hundert  kleine 
„Regungen  zerstückt  ist  jene  hohe  Ein- 
,,heit  verloren,  die,  mit  uns  erwachend, 
„wie  jedes  Erstlingsgefühl  —  einmal 
„unterbrochen,  nie  mehr  zurückkehrt. 
„Ohne  eine  Zeit  der  Absonderung  von 
„andern,  wie  kann  Bestimmtheit  mit 
,,uns  sell)st,  die  Kraft  einer  edlen  Selbst- 
,,zugjehür  entstehen  ?  und  wann  eignet 


2Ö1 


,,uns  diese  Zeit,  als  unterm  frülien  Hcr- 
vortreten  unabhängiger  Gefiihle  ?  ! 
,,Ein   Bad    ist  unsre   Stärke    in  den 
„mattern  Stunden.     Die  Freude,  zu  voll- 
enden   was   uns   oblag,   das  Vorgefiibl 
eines  geselligen  Abends,   eilt   mit  uns 
,,über  den  Tag  hin.    Jeder  bat,  was  er 
bedarf,    sich  gestern   besorgt;  Bäume 
reichen  ihre  Früchte,  die  Quelle  Erfri- 
,,schuiig,  Milch  jener  Hügel  unter  Gebü- 
,, sehen.    Ich  zeige  euch  jetzt  als  Unbe- 
kannten  jede  eurem  Gebrauche  nöthige 
,, Sache.    Geniefset  und  sevd  froh,  zur 
,, Erhöhung  und  zur  Reife  eures  Geistes; 
„und  was   einst  Gutes  und  Glückliches 
,,aus  dieser  hellen  Periode  eures  Lebens 
„hervorgeht,    sey  unser  Dank  und  ein 
immer  dauerndes  Band.'' 


Er  führte  uns  jenem  Gebüsche  zu, 
zart  gewählten  Sträuchen  an  Farbe  und 
Blüthen.    Wir   fanden  schattendunkeln 


202 


Rasen,  sclimal  verlängert  i^nter  Trauerwei- 
den ,  bis  zum  Ursprung  ihrer  Quellen 
am  Hügel ;  Felsentrümmer,  deren  einige 
in  natürlicher  Wölbung,  zwischen  Ro- 
sen und  Epheu,  zwischen  Lilien  und 
Jesmin  unter  hohen  Räumen  empor  stie- 
gen. Glänzend  schwarze  Töpfe  voll  rei- 
ner Milch  spiegelten  reihenweise  sich 
in  hellem  Wasser  zwischen  moosigen 
Sitzen.  Blumengewinde  aus  Ranken  und 
Blüthenstengeln  um  Steinwaken  wu- 
chernd, Fruchtäste  hinab  gebogen  in  ihrer 
Fülle,  leise  schwindende  Schatten  im 
beweglichen  Laubwurfe  eines  üppigen 
Wachsthums  —  bildeten  ein  Ganzes  des 
Stillschönen  und  Ungetrübten  im  Ge- 
nüsse des  Lebens.  Kein  Rild  des  Un- 
muths  schlich  sich  in  diesen  Wohnplatz 
des  anspruchlosen  Begegnens,  wo  Blü- 
the  und  Frucht,  wie  Hoffnung  und  Wirk- 
lichkeit, des  nie  verwelkenden  Daseyns 
schönen  Zauber  um  uns  schufen.  Schäu- 
mende Milch,  vom  Hauch  des  Frühlings 
angev/eht,  war  unser  Genufs.    Gebt  inir 


jlur  eine  Stunde  jetzt,  wie  ich  dort 
Wochen  verlebte  ! 

Ein  steigender  Pfad  führte  uns  weiter 
am  Hügel  zur  einsamen  Schönheit  eines 
Gebäudes :  am  lichthohen  Abhanfi  weit 
geräumter  alter  Stamme,  zwischen  ihren 
viel  getlieilten  Durchsichten  stieg  die 
Ferne  empor.  Eine  hohe  Halle  mit 
freyen  Säuleneintritten  der  Vorderseite, 
in  der  Absonderung  eines  Zwischengan- 
ges von  einer  Doppelreihe  stiller  Gemä- 
cher auf  drey  Seiten  umschlossen,  ent- 
hielt, nach  richtigem  Lichte  geordnet, 
die  schöne  Folge  hoher  Kunst  in  ihren 
Werken. 

Nie  hatten  wir  solchen  Reichthum 
vereinigt  gesehen,  in  solcher  Vollkom- 
menheit. Unsers  Vaterlands  edelste 
Werke  waren  nicht  mehr,  oder  Trüm- 
mer, von  unsern Eroberern,  wie  ihr  wifst, 
als  Merkzeichen  alten  Geistes  feindlich 
trotzend  vertilgt.  Nur  in  schwachen 
Spuren  und  L'berlieferungen  und  bey 
Mioldaa  sahen  wir  einige.    Der  gesun- 


204 


kene  Sinn  unsrer  Zeltgenossen  stiefs 
sie  von  sich,  da  er  gedemüthigt  an  ihrer 
Unerreichharkeit  stand.  Wer  sie  aufbe- 
wahrte, schien  ein  Anhänger  des  Ver- 
gangenen, wer  sie  achtete,  ein  Träumer, 
der  das  Lehen  an  nichts  verschwende: 
ein  wechsehider  Eilgenufs  zerstörte  alle 
Stärke  der  Gefühle,  und  das  Schöne  ward 
höchstens  ein  Spielwerk  des  Gewinns. 

Tief  in  unsre  Seelen  hatte  unser  Va- 
ter das  heilige  Feuer  des  erstorbenen 
Edlern  gelegt  — •  Liebe  der  Kunst ,  als 
beste  Mitgift  für  eine  reinere  Bestimmt- 
heit ,  uns  angeeignet  in  allen  Empfin- 
dungen des  Daseyns. 

Hier  umj2,aben  uns  die  lange  verschlos- 
senen  Wünsche  unsers  Glücks,  das  stolze 
Bewufstseyn  menschlicher  Schönheit  und 
Kraft  nahm  uns  auf  in  seinen  Tempel. 
Des  Lebens  edelste  Fülle  stand  uns  zum 
erstenmale  offen. 

Die  übrigen  Zimmer  waren  jedes  be- 
sonders den  Geräthen,  den  Schriften 
einer  Wissenschaft  gewidmet. 


£05 


Ungestört  und  vereinzelt  honnte  jeder 
ihrem  schönen  Gehrauche  hier  oder  un- 
ter den  Schattenhäumen  fernhin  vertheil- 
ter  Sitze  sich  üherL^.ssen  —  die  dam- 
pfende ,  liehliche  Ruhe  des  Thaies  im 
freyen  Bliche.  Ein  langer  Weg  leitete 
uns  nun  weiter  durch  halh  dichte  Geh  ti- 
sche, durch  Bo^entrümmer  alter  Gänge, 
zu  den  schlank  eihohenen  Pfeilern  eines 
leichten,  in  Wölhung  und  Stufen,  in 
Massen  und  Säulen  romantischen  Gehen- 
des voll  schöner  Bildnerey.  Blüthen- 
streifen  waren  seine  schwebende  Hülle, 
weiche  Rauhen  streuten  ihre  flüchtigen 
Schatten  über  das  Äufsere.  xVlle  Kinder 
des  Wohlgeruchs  und  des  Auges  frohe 
Verlorenheit  unter  den  Wechsellichtern 
des  zart  bewegten  Laubes  —  krönten 
die  Stunde  des  Bades  zur  lieblichsten 
des  Tages.  Seines  Felsbachs  rechter 
Arm  schäumte  die  Steinrisse  hinab :  ru- 
hig und  vielgetheilt  kam  sein  linker  zwi- 
schen Blüthensträuchen  und  den  Lauben 
einsamer  Bäder  zu  jenem  Gebäude,  um 


266 


dessen  hohen  Ruhesaal  er  in  die  Abfälle 
niedergereihter,  leicht  bebüschter  Becken 
flofs,  bis  tief  hinab  seine  wieder  gesam- 
melten Wasser  sich  zum  See  des  andern 
Armes  stürzten,  der  zwischen  Ufern  und 
Inseln  vielfacher  Windung ,  unter  Fel- 
sen und  Bäumen  unsre  Schwimmschule 
war.  ♦ 

Ein  dunkler  Felsgang  endete  von  hier 
am  Licht  erweiterter  Hallen.  Auf 
grauen ,  weit  gesprengten  Bögen  hoben 
sich  der  Berglast  wunderbare  Wölbun- 
gen. Eine  grasige  Tiefe,  von  stillem 
Gebüsch  und  hoch  ansteigenden  Wald- 
lelinen  umschlossen ,  öiFnete  sich  gegen 
die  Ferne  hoher  Ruinen,  die  überall  und 
auf  jeder  Bahn  wie  Geister  dämmernder 
Ungewifsheit  uns  umschwebten.  Säu- 
lenschäfte  unter  finstern  Epheuvvolken, 
einzelne  Stufen  und  Gemäuer  zeigten 
auch  nahe  um  uns  Spuren  mächtiger 
besserer  Zeiten. 

Gräben  und  Aufwürfe  zu  Sprüngen, 
eine  ehene  Rennbahn,  entfernte  Ziele, 


267 


Rüstungen  -  -  -  alles  bezeichnete  einen 
Übungsplatz.  Mit  leichtem  Auge  sali 
ich  darüber  hin;  nichts  schien  mir  wich- 
tig als  die  Ferne  jener  Ruinen  ;  und  fast 
beklagte  icli ,  dafs  die  hohe  Ruhe  dieses 
Platzes,  der  zwischen  seinen  Borgen 
wie  ein  Tempel  der  Sonne  in  der  stil- 
len Gröfse  ihres  Glanzes  mich  umfing;, 
den  ich  mir  gewählt  haben  würde  zur 
abo-ezogensten  Einsamkeit  meiner  Lieb- 
Hngsträume  —  gestört  werden  sollte 
durch  seine  Bestimmung, 

Erithrama'n     entging    meiner  Blicke 
Deutung  nicht.  „Verachtend  '?  "  —  redete 
er  mich  an  —    gegen  das,  was  hier  ge- 
,,schehen  soll,  was  du  sell)st  theilneh- 
,,raend  oft  sehen  w^irst.    Es  giebt  Men- 
sehen,   (fast  ähnelst  du  ihnen)  denen 
alles  unnütz   scheint  ,    was   nicht  mit 
,,der  weichen  Ruhe  ihrer  Gemüther  sich 
„vereinigt;   denen  die  Zeit  körperlicher 
Übung   verloren   scheint  für  das  reine 
ungehemmte  Fortschreiten  eines  zarten, 
träumend  guten  Geistes  .  .  .  der  nur  in 


26a   

stiller  Betrachtung  das  Leben  ergreifen, 
„und  wissen  will  —  mehr  um  zu 
„weissen ,    als    um   zu  handeln.  Unter 

Büchern  sah  ich  dein  Auge  glänzen  in 
„der  Ahnung  ihrer  Schätze;  alles,  was 
„auf  Beschauung  und  Abgezogenheit 
„führt,  sah  ich  in  ausschliefsendem ,  un- 

fehlbarem    Reitze    für    dich  :  Spuren 

eines  weichlich  hingesunkenen  Geistes, 
„der  Genufs  für  Genufs  —  eine  selbsti- 
„sche  Befriedigung  nur  unter  andern  Na- 
,,men  sucht.  Es  schmeichelt  deinem 
„Stolze  ...  in  göttlichen  Ideen,  in  be- 
jjgierdelosem  Denken,  in  der  Entfernung 
„dessen,  was  andre  wünschen,  dir  selbst 

sagen  zu  können:  ,,Ich  verachte, 
„  w  as  diese  Leute  so  rastlos  be- 
,,wegt,  und  finde  in  mir  eine 
,,reinere  Schätzung  alles  des- 
,,sen,  was  mich  umgiebt..  ich 
,,erkenne,  ich  bin  beruhigt,  ich 
,,c  n  t  s  a  g  e  ,  wo  andre  fordern 
„und  kämpfen,  und  trete  in 
„himmlischer    Stille    dem    er  ha- 


269 


,,b  e  n  e  n  Ij  1  c  Ii  t  g  1  a  n  z  e  meiner 
„S  e  1  b  s  t  z  u  f  r  i  e  d  e  II  Ii  e  i  t  nähe  r." 
,,Was  ist  Selbstzufricflenbeit  als  Eitel- 
,,keit  -  -  die ,  künstlich  jedem  fremden 
„Zusanimenstofs  entzogen,  sich  nie  über 
,,sich  selbst  belehrt  ?  Was  ist  der  einsame 
„Forschritt  des  abgesciilossenen ,  genie- 
senden  Ruhigen?  .  .  Ein  Reihen^ang 
„seiner  eignen  Vorstellungen,  täuschend, 
„weil  sie  sich  verknüpfen,  glänzend,  weil 
,,sie  nie  in  die  Rostluft  des  üngewitters 
„kommen.  Er  hat  Meinungen,  aber  kein 
„Wissen,  und  der  Verlust  seiner  schönen 
,,Welt  hängt  von  einer  Minute  ab  —  die 
„prüft  und  zerstört.  Wichtiger,  als  du 
,,noch  durchsiehst,  wichtig  für  uns  und 
,,die  Fortdauer  edlerer  Menschheit  ist 
,, dieser  und  jeder  ähnlich  bestimmte  Ort 
,,  .  .  .  dafs  die  Kraft  und  der  Muth 
ganzer  Geschlechter  nicht  wie  ein  ge- 
haltloses  Gut  zertreten  werde. 
„Sehen  wir  nicht  IS'azionen  nach  der 
„Verschiedenheit  ihrer  körperlichen  Ge- 
„übtheit  —  Denkart,  Sitten  und  Einsicht 


,,äntleiu?  Sehen  wir  sie  niclit  mit  ihrem 
,,yeira]]e  stufenweise  liiuab  sinken  bis 
,,zur  letzten  entartenden  Eitelkeit  .  .  . 
,,die  in  Schwäclie  und  kränkelnder  Zart- 
,,lieit  ihren  lächerlichen  und  scliändlich- 
„sten  Vorzug  sucht?    Du  glaubst,  jede 

Stunde  dem  Denken  entzogen  sey  Ver- 
einst, Leibesübung  der  kühnern  Seele 
„rauh  vermehrter  Trotz  :  beobachte  dich 

selbst,  und  entscheide. 
„Kraf'tfühlender    nach    jeder  raschen 

Bewegung,  wärmer  nach  überstandener 
,,  Anstrengung,  wird  nicht  höherer  Muth, 
„edleres  Wollen,    ein  Herz  voll  schnel- 

lerer  Entschlüsse,  dein  Bewufstseyn? 
„Ich  mufs  —  um  allem ,  was  du  hier 
„sehen  wirst,  einen  richtigen  Gesichts- 
„punkt  zu  geben  —  dich  jetzt  mit  ei- 
„n  e  m  m  a  1  e  in  unsern  Gesinnungen  un- 
„terrichten.  Ist  nicht  Gesundheit  die 
5, Mutter  aller  reinen  Wahrnehmung,  aller 
„kränklichen  irrigen  Reitzbarkeit  Arz- 
„tin  ?  —  Ist  nicht  Stärke  die  Tochter 
,, gebrauchten    Vermögens?     und  wie 


^, Schnelligkeit  durch  Lhung  Gewifsheit, 
„so  Stärke  durch  Zuversicht  die  erste 
„Urheberin  eures  Pjluthes  ?  Sehen  wir 
„nicht  überall  Entschlossenheit,  Geistes- 
„gegenwart  ,  Schnelligkeit  der  Mittel, 
„Sicherheit  unter  Gefahren,  Ertragen 
„und  Entsagen  .  .  .  des  frühe  gebildeten 

Körpers  ersten  Gewinn,  in  schneller 
„Fortpflanzung  auf  jede  Regung  des 
„jugendlichen  Geistes  sich  erweitern? 
„Sind  nicht  Mäfsigkeit,  einfache  Genüg- 
„samkeit,  diese  Grundlagen  alles  Sittli- 
„chen  .  .  .  des  Starkgeübten  sicherer  Er- 
„werb  ?  Sahst  du  den  Mann  im  vollen 
„Gehalt  —  aus  einem  Jüngling  hervor- 
„gehen,    der   in   Stärke  und   Muth ,  in 

Ausdauer  und  Gewandtheit  keinen  Stolz 
„fand?    Ein  wenig  Trotz  —  ist  das  Salz 

der  Seele.  Kühner  Gleichmuth  —  des 
„Edelsten  nothwendige  Grundlage,  das 

überall  nur  durch  Ausdauer  und  Erhe- 
„bung  liber  kleinliche  Reitze  besteht, 
„Wer  kann  sagen,  wo  das  Geistige  und 
,,der  Körper  sich  begegnen?   wer  kann 


272   

,,tlle  Glanzlinie  ihrer  Wirkungen  -lv^- 
„hen V  —  oder  giebts  eine  solche?.  Aus 

seiner  Wirksamheit  sammeln  wir  uii- 
,,sere  Begriffe,    aus   seinen  Eindrücken 

entspringt  die  Reihe  unsrer  Vorstel- 
,Jungen:  willkührli'ch  oder  unwillkühr- 
,,lich    treibt    er    uns    zu   Unmuth  oder 

Freude.    Was  kann  der  bessere  Mann 
„besseres       als  eine  thörichte  Vernach- 
„lässigung  verbannen,   deren  Folgen  er 
,,aus  irriger  Erziehung  leidend  trägt? 
„Wo    ist    der    Augenblick  ,     da  der 

Mensch  frey  auf  seine  Brust  schlagen, 
„und  ohne  sich  selbst  zu  schmeicheln 
„sagen  kann:  „Das  wollte  ich, 
,,weil  ichs  erkannte:  der  Au- 
,,genblick  hatte  keinen  Ein- 
„flufs  auf  mich?"  Der  Held  seufzt 
„im  Fieber:  der  muthlose  Schwächling 
5,lindet  eine  Minute,  du  seine  entglühte 
„Seele  sich  über  alles  hinweg  schwingt. 
„Wer  denkt  am  Tage  wie  in  der  Nacht? 
„Die  Sinne  sind  eure  Lehrer,  und  ihr 
„wollt  den  Körper  verachten  ?  —  O  des 


„ordnenden  Verstandes,  der  Ideen  in  Rei- 
chen kiuipft!  Wie  oft  ist  der  erste  lang 
„übersehene  Eindruck  der  Jugend  sein  Ge- 
„bieter !  wie  oft  eine  kränkelnde  Empfind- 
„liclikeit  sein  Gesetz?  — 

„Suchet  Stärke  in  eurer  Klugheit  — 
„wenn  vielleicht  nur  in  der  Unfähigkeit 
„zu  geniefsen  der  Ileldenschein  eurer 
„Mäfsiauiig  ruht!  Sind  eure  Entschlüsse 
„mehr  —  als  Anwendung  dessen ,  was  ihr 
„sähet  und  fühltet,  auf  das,  was  ihr  be- 
„gehrt  und  hoifet  ?  Kann  ein  Mensch 
„über  den  Vergleich  gehabter  Emphndun- 
„gen  hinaus  etwas  denken,  oder  den  Mau- 
„gel  eines  nie  gehabten  Gliedes  durch 
„Einbildung  sich  ersetzen  ?  —  Der  abge- 
„zogenste  Begriff  ist  die  täuschende  Ent- 
,,fernung  eines  Gefangenen,  der  die  Länge 
„seiner  Kette  fürFreyheit  erhält.  Ein  Bild 
„unserer  Sinne  ist  ihr  erstes  Glied.  Und 
„du  unser  Stolz,  Welt  der  Zukunft  und 
„des  Unsichtbaren!  —  in  einer  schönen 
„Sternennacht  gezeugt,  als  der  leise  Hauch 
„des  Windes  die  Wange  eines  Klagenden 

r)ya-Na-Soic  i.  Tli.  ip, 


„berührte  —  Die  EinLilfliingskraft  bat 
„dicb  geboren,  und  der  Verstand  bat  mit 
„liübnem  Stolze  sieb  zum  Vater  des  Sob> 
„nes  gemacbt,  dessen  Daseyn  er  in  den 
„Wiinscben  des  Herzens  abnete,  und  den 
„er  nicbt  kennt.  Darum  trotzet  minder 
„auf  jene  unbekannte  Kraft  in  eurem  In- 
„nern.  Ebrt  euren  Körper  —  den  Lebrer 
„eurer  Kenntnisse ,  macht  ihn  zu  dem» 
„was  er  seyn  sollte  .  .  .  rein  empfan- 
„gend,  edel  kräftig,  zum  bülfreicben  ersten 
„Werkzeuge,  das  euch  in  der  Reibe  der 
„Wesen  zur  h-ntwicklung  führt.  Begriffe 
„sollte  er  euch  geben:  Urtbcile  sind  für 
„eine  künftige  Welt.  Nur  unter  einem 
„gesunkenen  ,  sklaviscb  verzagenden  Volke 
konnte  der  falsche  Stolz  der  Körperver- 
„acbtung  entstehen ;  nur  wo  man  ihm  in 
„seinen  üppigen  Bedürfnissen  am  mei- 
„sten  dient,  wird  er  in  seinen  edlern 
„am  meisten  verkannt;  nur  wo  Gescbäft- 
„losigkeit,  Mangel  ölfentlicber  Tbeilneb- 
„mung  ,  Weltllucbt ,  selbstzerstörende  Ver- 
„borgenbeit  —   des    zerrissenen  Herzens 


„letzte  Zuflacht  wurrlen;  wo  alles  Besorgt- 
,.,heit  und  alles  bedrohend  —  selbst  die 
„Jugend  nur  unter  bangen  Regeln  kraftlos 
„erwächst  .  .  .  konnte  Viel  wissen  der  Him- 
,,mel  des  Vereinzelten,  und  Forschen  alles 
„Unwesentlichen  der  Schlaftrunk  wanken- 
„der  HolFnung  werden.  Nur  da  konnte 
„man  der  Idee  eines  Geistes  sich  hinopfern, 
„der  willenlos  in  stummer  Betrachtung  sich 
„erniedrigt  glaubt ,  wenn  er  selbsterdachte 
„Grölse  und  spekulative  Vollendung  an 
„eine  bescheidene  Wirklichkeit  vertauschte. 
„Du  wirst  bey  näherer  Prüfung  uns  fjerne 
„zu^ben  ,  dafs,  da  wir  an  alles  Aufsere 
„unzertrennlich  geknüpft  sind,  Sorgfalt  für 
„diesen  Körper  und  den  reinen  Gehalt  sei- 
„ner  Kräfte  —  unserer  Pflichten  erste 
,,Bedinorung  sey.  Dafs  Menschen  die 
„Lücke  entstehen  liefsen,  und  die  Vv^is- 
„senschaft  verloren,  „sich  selbst  als  ein 
„Ganzes  zu  verstehen,*'  —  desto  schlim- 
„mer.  Es  war  ein  unnatürlicher,  längst 
„bestrafter  Schritt  gegen  ein  höheres  Ge- 
„setz,  diesen  wirivsamen  Theil  unsers  We- 


„sens  seiner  Übermacht  in  einer  Welt,  wo 
„wir  all'  unsere  Belehrung  nur  vom  Sicht- 
„haren  empfangen  —  berauben,  und  uns 
„Frey  maclien  zu  wollen  von  dem,  was  uns 
„umgiebt ,  um  unter  die  Vormundschaft 
„einer  noch  unvollkommenen  Kraft  zu  tre- 
„ten,  die  hier  fremd  ist,  und  ihre  Vorzüge 
„selbst  —  nur  auf  halb  wahrscheinliche 
„Ansprüche  gründet.  Aber  Menschen  v/oll- 
„ten  Götter  werden,  sobald  sie  nicht 
„mehr  erkannten,  was  es  heifse :  M  e  n  s  c  h 
,,seyn.  Lalst  uns  aufrichtig  sprechen. 
„Der  Körper  ist  der  Lehrer  der  Seele;  aber 
,,sie  hat,  wie  der  Erbe  eines  Throne*,gAn- 
,, Sprüche  und  Hoi'^nung,  einst  über  ihrem 
„Lehrer  zu  stehen.  V^erachten  sollte  sie 
„ihn  nicht,  hören  sollte  sie  ihn;  denn  — 
,,was  auch  die  Einwürfe  ihres  Stolzes  seyn 
,,iiiÖ2tin  —  was  sie  sammelt,  ist  durch  ihn, 
„und  ihrem  W^achsthume  folget  sie  auf 
,,dem  Wege,  den  er  ihr  zeigte." 

Meine  Gesinnungen  waren  zu  sehr  wi- 
dersprochen:  ich  neigte  mich  zur  Abge- 
zoger*heit  des  Ubersinnlichen.    Ich  mulste 


sprechen  ;  „dafs  den  Körper  erheben  mir 
jeder  gefährlichen  Leidenschaft  schmeicheln 
heifse.  Er,  der  Gefährte  unsrer  Ernie- 
drigung, wie  könne  er  herrschen  und 
gebieten ,  und  der  Au^renmerk  unsers  bes- 
sern Selbstes  werden?*'  — 

Erithrama.  —  Wenn  ihr  die  Quel- 
len seiner  Starke  und  Schwäche  nicht  ver- 
kennt, wenn  ihr  ihn  nicht  in  die  Ver- 
dorbenheit eures  AV'ollons  hinein  zieht, 
wenn  ihr  ihn  sorgfältig  bewahrt  -  gegen 
alles,  was  sein  Wesen  entehrt.  Des  Men- 
schen treuester,  sicherster  Gefährte  zur 
Tugend  ist  —  Selbstbeobachtung  in  allen 
Pflichten  des  fest  gebildeten  Körpers,  und 
Wahrheit  kommt  nur  durch  ilm. 

Ich.  Heifst  das  nicht:  Sinnlichkeit  des 
Begehrens  ist  Wahrheit,  Wollust  ist  Tu- 
gend? — 

Erithrama.  Wäs  kann  ich  dafür,  dafs 
die  Verworrenheit  eurer  Begriffe  Dinge 
unzertrennlich  glaubt,  die,  ,,weil  sie  sich 
verbinden  können,  sich  darum  doch  nicht 
nothwendig  sind?**    Ich  will  jerzt  nicht 


verweilen ,  oh  deine  Begriffe  von  Tugend 
und  Wollust  die  Sach'erschöpfenden  sind.  . 
Sage  mir  nur:  Ist  nicht  Liebe  des  Ange- 
nehmen, des  Passenden,  des  Vorzüglichem 
der  Anfang  aller  Bildung  —  hier  in  die- 
sem Auge?  in  diesem  Ohre  nicht  —  unser 
erstes  Bewufstseyn?  Aus  der  Menge  folgt 
Entwicklung,  ein  veredelter  Verstand  macht 
jede  Empfindung  zum  Glied  in  der  Kette 
unsers  Daseyns.  Wahrheit  liegt  in  unsern 
Sinnen:  auf  einen  höhern  Zweck  sie  bezie- 
hen —  ist  der  Anfang  zur  Tugend.  Wenn 
wir  gelernt  haben ,  wie  viel  jede  unver- 
dorbene Nerve  zum  bessern  Wachsthum 
und  zur  Erweiterung  des  Daseyns  ver- 
möge; wenn  der  Erfahrung  ernstes  Gesicht 
uns  ül)erall  die  Folgen  der  Zukunft  zeigt; 
wenn  wir  nun  Acht  haben,  wie  jeder  Mifs- 
brauch  Verderben  bis  ins  Innerste  trägt, 
jeder  edle  Keim,  jede  Fähigkeit  des  Bes- 
sern, jede  Ruhe  des  Daseyns  einen  zer- 
störten Körper  flieht;  wenn  wir  zittern  hey 
der  Erkenntnifs  irre  geleiteter  Leidenschaf- 
ten, und  jedem  groben  Sinne  beym  Schrek- 


ken  der  Zukunft  entsagen:  dann  sucl't 
die  Seele  bey  unschädlichen  Freuden  den 
Ersatz  des  Verlornen,  wagt  sich  an  erhab- 
nere Bilder,  sucht  in  sich  selbst,  und  findet 
in  der  Entwicklung  übereinstimmender 
Fähigkeiten  die  Ruhe  einer  gefahrlosen 
Glückseligkeit ;  dann  erhebt  sich  der  Stol;^ 
edlerer,  reinerer  Gefühle,  ein  höheres 
Bewufstseyn  erwacht  mit  der  erkannten 
Möglichkeit  höherer  Güte ,  bis  das  Herz 
jenem  Erhabensten  naht  .  .  .  Pflich- 
ten vor  Wünschen  zu  achten;  wo  frem- 
dem. Mangel  Olfen,  mitleidig,  thätig  und 
gerecht,  Glück  nur  im  Glücke  deä  andern  — 
Tugend  in  ihrem  eignen  Bewufstseyn 
sich  befriedigt,  und  ihres  Volkes  oder  der 
Menschheit  Beschützerin  —  selbst  unter 
Tod  und  Plauen  Wonne  findet. 

,,Nur  der  fehlt,  der  vergifst,  dafs  der 
Körper  nicht  in  seinem  eignen  Namen, 
sondern  als  Vormund  der  Seele  handelt, 
dafs  er  Quelle,  nicht  Zweck  unsrer  Hand- 
lungen seyn  soll. 


„Noch  stelle  ich  euch  eine  Betrachtung 
vor.  Kennt  ihr  eure  Bestimmung?  — 
Die  WalFen  in  der  Hand  —  ruft  euch 
vielleicht  ein  leidendes  Jahrhundert  zur 
Rettung.  Wie  kann  der  zitternde  Weich- 
ling sagen,  er  sev  Bürger,  der,  ein  Sklave 
jeder  Gewalt  — ■  nur  die  Masse  der  Hülf- 
losen vermehrt,  oder  wenn  er  auch  noch 
Muth  behielt,  doch,  athemlos  unter  der 
Last  des  Harnisches  und  eines  brennen- 
den Tages,  nur  hoffen  mufs „dafs  andre 
den  Sieg  erkämpfen,  den  er  w  ü  n  s  c  h  t  ?" 
Muth  und  Stärke  sind  die  ersten  Pflich- 
ten des  Mannes  gegen  sein  Volk ;  nur 
durch  sie  tritt  er  in  die  volle  Fähigkeit 
des  Daseyns. 

„Ihr  kennt  euer  Volk  genug,  um  jene 
zahllose  Menge  weinender,  hoffender,  za- 
gender, Sieg-  träumend.er,  müfsiger  Schwäch- 
linge in  ihrem  Unwerthe  zu  übersehen, 
denen  Heldenmuth,  Ehre  und  Kriegsruluii 
wohl  in  vorübergehenden  Gesprächen  zum 
Stoff  dienen ,  denen  aber  das  beschränk- 
teste Daseyn  erträglicher  dünkt,  als  die 


rnulie  Ungemächlichkeit  eines  rettenden 
Feld  zu  gs." 

Wie  wenifij  almete  mir  damals  die  weis- 
sagende Wirklichkeit  dieser  Lehre! 

jvDat's  diese  meine  Hände  ein  Schwert 
fuhren  lernten !  "  —  Wie  viel  verhorgene 
Kräfte  zieht  eine  eiserne  Nothwendigkeit 
in  uns  ans  Licht,  die  unser  schmeichel- 
haftester Glaube  uns  nicht  zueignete! 


Er  öffnete  eine  Thüre^  und  nach  einem 
kurzen  Wege  sahen  wir  uns  an  der 
Halle,  die  wir  gestern  zum  erstenmale 
betreten  hatten  —  dem  Sammelplatze  jede,r 
geselligen  Mittheiinng ,  „wo  fortan  jeden 
„Abend  heiterer  Muth  und  ein  einfaches 
„Mahl  /euch  empfangen.',  wenn  ihr  ge- 
„dacht,  gearbeitet,  gekämpft,  wenn  ein 
„kurzes  Bad  euch  belebt ,  wenn  ihr  euch 
„frisch  bekleidet  habt,  auch  im  Äufsern 
„auf  wechselseitige  Gefälligkeit  bedacht. 

„Jeden  Abend  —  fuhr  er  fort  —  tritt 
„ein  andrer  als  Vorsteher  unsrer  Vergnü- 


£ß2   — 

j^gungen  auf.  Es  ist  nlclit  genug,  da(s 
„man  erwarte  und  geniefse,  was  andre 
,iangeV>en;  dafs  man  sich  zur  trägen  oder 
„muthlosen  Folge  gewöhne:  man  mufs 
„auch  durch  Gebieten  und  Entwerfen 
„die  Kraft  eines  eignen  Charakters  .  .  . 
,;IVIuth  und  Gewifsheit  erwerbenj  gefällig 
„und  glucklich  für  andre  zu  erschalFen, 
„was  ihr  Herz  und  ihr  Daseyn  erweitert. 

„Freude  für  andre  erdenken  ist  nicht 
„so  leicht :  —  jeder  glaubt  es  zu  können ; 
„mancher,  der  es  nicht  vermag,  schmei- 
,,chelt  sich  trotzend,  ,,es  sey  zu  tief  un- 
„ter  ihm ,  er  könne  Sittenrichtern ,  gebie- 
„ten  öder  verdammen;  geregelte  Strenge 
„sey  seine  Hoheit."  Hat  er  berechnet, 
„welchen  Mangel  an  Herzenskenntnifs, 
welchen  Mangel  an  feinem  ,  biegsamen, 
„überlegenden  Sinn  er  dadurch  einge- 
„stehe?  welchen  dummen  Trotz  —  zu 
»^verachten  was  er  nicht  besitze  ?  — 

„Versucht  es ,  und  ihr  werdet  erstaunen, 
„welch  eine  Schule  edler,  reiner  Selbst- 
„bildung,    Selbstprüfung,  Selbstdemüthi- 


„gung  sich  euch  öiTne;  wie  viel  es  forclre 
,,.  . '.  Gemüthp.r  zu  leiten  durch  das  Zar- 
,, teste,  und  doch  Unheugsamste,  was  sie 
,,helebt  -  -  -  durch  Erheiterung,  die  nie 
,,ohne  innige  Theilnahme,  und  Theilnah- 
.,me  —  die  nur  durch  das  ,, jedem  Charak- 
„ter  in  seiner  "Verschiedenheit  Fafsliche" 
,, erreicht  werden  kann/' 

So  lebten  wir  niui  neun  Monate  lang 
ein  Leben  des  heitersten  Umgangs,  des 
reichsten  Fortschritts  an  Kenntnissen  und 
Kraft  voll  hoher  Ahnung,  voll  stolzer 
Bestimmung,  voll  Liebe  und  Neigung. 
Täslich  wurden  unsre  Gefährten  uns  wer- 
ther ,  täglich  ihre  Lehren  verständlicher, 
vertrauter  mit  dem,  was  wir  sahen,  näher 
dem  Aufschlufs  des  Verborgenen. 

Freudig  sanft  endloh  der  Morgen  unter 
den  Schätzen  des  Wissens.  Wenn  der 
Tag  sich  spätete,  eilten  wir  zur» Renn- 
bahn. In  kühner  freyer  Gewandtheit 
erweiterte  sich  ein  eigner  Gang  unsrer 
Gemiither :  bald  ward  jeder  Kampf  — 
hohe    Beziehung ,    und    jeder  Zuwachs 


imsrer  Kräfte  —  eine  heilige  Pflicht, 
dem  Vaterlande  gebracht.  Unmerklich 
erwuchs  in  uns  der  Sinn  des  edlern  Krie- 
gers zum  Zweck  unsrer  Zukunft.  Mit 
welch'  andern  Gefühlen  betrat  ich  nun 
diesen  Ort,  vor  kurzem  noch  mit  dem 
Widerwillen  zaghaft  weicher  Jugend  be- 
trachtet! Starke  schien  mir  nun  nicht 
weiter  Roheit,  und  der  Wahn  eigener 
Zartheit  schmeichelte  mir  nicht  mehr. 
Mit  jedem  Tage  überzeugte  mich  die 
steigende  Mündigkeit  meines  Wesens,  dals 
ein  fest  gebildeter  Körper  des  Willens 
bester  Gefährte  sey.  Weichlichen  Spielen 
im  Bewufstseyn  höherer  Fertigkeit  immer 
entsagender;  dem  Gleichsinne  —  der  in 
Sieg  und  Verlust  gerecht  gegen  fremdes 
Vermögen  ist,  immer  näher;  immer  mälsi- 
ger  im  Bedürfen,  und  in  fester  Gesundheit 
immer«  zufriedner,  mit  der  Ge£;enwart  — 
sah  ich  nun  lächelnd  auf  meine  Götterwelt 
der  entkörperten  Beschaulichkeit  zurück. 

-„Und  glaubst  dti  nun —  fragte  mich  Eri- 
„thrama,  dafs  die  trübe  Iierzlose  Verkehrt- 


„lieit  des  BTenscIiengesclilechts  giolsten- 
„theils  aus  dein  Stumpfsinne  lebensarmer 
„Dünklinge  entsprang,  die  .  .  .  nerven- 
schwache  Täuschung  ,,für  göttliche  Er- 
leuchtung  des  Gemüthes"  gaben,  un«l 
„sieches  Trauern  für  .  .  „Streben  des  ge- 
„fesselten  Lichtfunkens  nach  astralischcr 
„Wonne?"  Der  Schwärmer  ist  kein  star- 
„ker  Geist;  denn  Urtheilen  ist  Stärke, 
„und  Urtlieil  nur  die  Frucht  einer  reinen 
„Empfänglichkeit  und  eines  hellen  Mafses 
„im  Gebrauch  unsers  Vermögens.  Wenn 
„Siechlinge  eines  thörichten  Stolzes  der 
„Natur  zum  Hohne  sich  erhöhten  —  ver- 
,, dienen  sie  Anl>etung?  Und  wenn  ich  den 
„höchsten  aller  Träume  —  nur  der  tief- 
„sten  Verzagtheit  zuschreibe  —  hab'  ich 
„Unrecht?  — " 

Ach  wie  wahr  ist  Erithramas  Aus- 
spruch! — 

„Aber  Hamor?"  —  fragt  euer  stilles 
Flüstern.  —  Hamor  trieb  mit  innerm  Stolze 
jede  Übung,  die  zur  Zierde  des  Körpers 
zweckt.     Wo  hingegen  Anstrengung  und 


2ö6   

Gefahr  auf  kühnere  Vorzüge  zielten,  spot- 
tete er  unsrer  thörichten  Ermüdung.  Tan- 
zend hüpfte  er  uns  dann  vor:  „Bin  ich 
,,nicht  stärker  als  ihr?  Ihr  ruhet 
,,niatt:  ich  wandle  leicht  über  Blumen. 
„Euer  Antlitz  hagert;  eure  Hände  sind 
„Lasttragerhiinde,  wo  bleibt  euer  Sinn 
„fürs  erhabene  Schone?" 

Da  hier  nur  Aufmunterung  —  nicht 
Zwang,  Vorbild  —  nicht  Gebote  lenkten, 
so  blieb  er  sich  selbst  überlassen  ,  gerich- 
tet in  seiner  eigenen  Wahl, 

Doch  füllte  auch  er  eine  Stelle  in  unserm 
Ganzen.  Wenn  nach  dem  Ringen  wir  aus  den 
o;eheili<zten  Schatten  des  Bades  hervortraten, 
in  all  unsern  Empfindungen  neu  und  jugend- 
lich stark,  dann  erwartete  er  uns  oft  mit 
einem  fröhlichen  Liede ,  und  wir  gefielen 
uns  im  leichten ,  muthwilligen  Spott  sei- 
ner immer  heitern  Laune.  Voll  reicher 
Bilder  auf  dem  Saitenspiele,  zauberte  er 
uns  oft  in  seine  Schäferwelt,  oft  plötzlich 
in  einen  feierlichen  Übergang  trauernder, 
erinnernder    Gefiilile,    wenn   der  Traum 


 £2ß7 

einer  Lit^Le,  wie  sie  ihm  vorschwebte, 
wenn  Sehnsucht  nach  Stille,  wenn  sein 
eignes  unerklärtes  Drängen  ihn  überraschte, 
oder  ein  seltneres  Wohlwollen  .  .  .  durch 
einen  Leidgesang  edlerer  Unglücklichen 
uns  ganz  gefällig  zu  leben. 

Dann  fand  er  unter  unsern  Jünglingen 
zween  würdige  Begleiter :  Menschen,  deren 
tiefverschlossene  Empfindung  nur  im  Ge- 
sänge hervorging;  zween  minder  Glück- 
liche, die  mich  anzogen  durch  alles,  was 
des  Geistes  unwiderstehliche  Theilnahine 
erregt,  durch  Schönheit  und  Ernst,  durch 
die  hoho  Würde  des  unterdrückten  nie 
klagenden  Schmerzes ,  durch  kühnen  Muth, 
der  sich  hingab  an  jede  Entsagung,  der 
nur  Opfer  zu  bringen  wufste,  und  keine 
Erwiederung  begehrte.  Ach  was  ist  rüh- 
render, als  jene  stolze  Uneigennützigkeit 
des  veredelten  Grames,  der  in  einer  Welt 
voll  eigner  Leiden  fremdes  Glück  unter 
Thränen  erkauft,  und  mit  blutendem  Her- 
zen für  andre  lächelt ! 


Die  Erinnerung  solcher  Menschen, 
lange  verblüht  und  lange  begraben,  dei 
Abende,  die  ich  feiernd  nüt  ihnen  zu- 
brachte ,  schwebt  über  meinem  Alter,  wie 
die  letzten  Rosenwölkchen  am  hohen 
Himmel,  wenn  weit  schon  die  Sonne 
hinab  ging;. 

Lafst  mich  auf  fröhlichere  Bilder  zu- 
rückkehren. Das  Herz  sollte  nie  verges- 
sen,  aber  auch  nie  an  Erinnerungen  krän- 
keln. 

Die  heitersten ,  fröhlichsten  Abende, 
wahre  Feste  nach  der  Artunfj  mei- 
nes  Geistes,  waren  mir  die  Abende  ge- 
meinsamer Beschäftiirung  in  den  Gärten 
unsrer  Freunde,  wenn  ich  eine  reitzende 
weite  Gegend  so  nennen  darf  —  in 
nichts  durch  Menschensinn  bezeichnet, 
als  in  der  tief  gedachten  Wahl  und  Hal- 
tung ihrer  Lagen,  in  der  sorgsamen  Man- 
nigfaltigkeit, in  der  Pflege  ihrer  Gewächse, 
im  zufallsichern  Gang  ihrer  Bäche,  in 
dem  hohen  Uberraschen  verhüllter  oder 
geölfneter  Aussichten. 


Hier,  wo  Empfindurgen  wohlwollend 
an  gleichem  Zwecke  sich  begegneten, 
wo  aus  reinem  Eindrücken  die  Meister- 
kraft bildender  Ideen  liervor])rach ,  und 
zartere  Empfänglichkeit  —  Blütben  der 
Anmuth  und  des  Einzelnen  über  ein  Gan- 
zes ver])rcitete  ;  hier  wurden  unter  offner 
Herzlichkeit  Gemüther  für  wechselseiti- 
ges Gefallen,  Augen  für  den  malerischen 
Werth  der  Natur  verfeinert,  Herzen 
bestimmter  für  alles  Bedeutende  des 
Schönen  und  Grofsen. 

Nie  erschien  Eritlirama  liebenswürdi- 
ger als  hier,  wo  er  edlen  Heldensinn 
und  Gefühle  hoher  Männlichkeit  an  die 
Eindrücke  des  Vorhandenen,  an  die  Be- 
zeichnung dessen ,  was  wir  hervorbrin- 
gen wollten,  so  leicht  zu  knüpfen  wufste ; 
wo  er  —  der  Greis  ,  mit  dem  Eifer  eines 
Jünglings,  uneigennützig,  wie  jedes  grofse 
Herz,  kommenden  Geschlechtern  pflanzte, 
was  nur  sie  einst  vollendet  sehen  konnten. 

Nie  war  er  beredter,  nie  das  Vergan- 
gene ihm  gegenwärtiger  in  allem,  was  das 

Pya -"N",!  -  Sore  1.  Tl).  iq 


Herz  an  den  bessern  Sinn  der  Menscli- 
heit,  was  das  Geniüth  und  seine  Beru- 
hieune;  an  den  Reitz  eines  nie  ver- 
schwindenden  Eindrucks  knüpft:  nie 
zeigte  er  sich  heller  und  umfassender  in 
tiefer  Kenntnifs  unsers  Wesens,  als  hier, 
in  dieser  Kunst,  in  der  durch  Spielwerke 
und  falsche  Wunder  die  meisten  so  ganz 
in  der  Leere  ihres  verworrenen  Geistes 
sich  bezeichnen.  Aus  dieser  Zeit  stammt 
meine  Liebe  zu  ihr,  die  alles  Schöne  in  der 
ISatur  in  seinen  Bedeutungen  an  sich  zieht. 
Nichts  ist  mir  todt,  alles  spricht:  von 
der  Pflanze  bis  zum  Baume,  vom  Lichte 
bis  zum  Dunkel  hat  einzeln  oder  in  der 
Stellung  eines  Ganzen  alles  seinen  ange- 
stammten Ausdruck.  Höhen  beflügeln 
linsern  Geist;  im  Thale  wohnt  Friede, 
oder  Sehnsucht  des  Entflohnen.  Schauer 
ergreift  uns  in  der  stillen  Finsternifs  der 
Tannen  und  ihrer  Felsen,  Ernst  unter 
Zypressen  -  -  -  Uber  Gräbern  trauert  die 
Weide,  der  Kasuarin  und  der  Gewürz- 
strauch in  dunkler  Blüthe ;  Rosen  gehen 


291 


vorüber  —  freundliche  Vergänglichkeit 
im  Hauche  des  Enthlätterns ,  und  ein 
ätherischer  Schleyer  schlingt  sich  war- 
nend schön  in  jeder  Blume  an  unser 
Daseyn. 

Ach  wie  bedeutend  hann  jede  Sache 
werden ,  wenn  die  Vergangenheit  sich 
an  ihre  Gegenwart  knüpft,  wenn  gehei- 
liget durch  Jugendgewohnheit  ,  wenn 
vaterländisch  geweiht  .  .  in  jedem  Hain 
und  jedem  Baume  das  Heldenalter  der 
Vorzeit,  die  Denkzeichen  edlerer  Ver- 
hältnisse uns  begegnen,  weim  Väter- 
geist von  jedem  Hügel  winkt,  und  das 
dauernde  Bild  des  bessern  Daseyns  sich 
an  jede  weit  verlorne  Ferne  schmiegt!  — 
Ach  wie  reich  ist  das  Herz,  und  wie 
reich  das  Volk,  dem  alles  in  unvergäng- 
lichen Erinnerungen  spricht! 

Oft  hat  euer  Blick  meine  Liebe  zur 
Pflanzenkenntnifs  ,  meine  Achtsamkeit 
des.  Einzelnen  mir  zum  Vorwurf  ge- 
macht. 


29.2 


.  Tch  will  niclit  tadeln ,  dafs  es  ein  ge- 
wöhnlicher Trotz  der  Jugend  ist  ,  im 
Ghiuhen  allzu  lioher  Kraft  das  Einzelne 
zu  verlachen.  Nocli  hat  sie  den  zerstö- 
renden Einflufs  des  verfehlten  Klei- 
nen zu  wenig  erproht,  zu  wenig  noch 
den  einzig  wahren  M  a  f  s  s  t  a  h  alles 
Grofsen  erkannt  .  .  .  dafs  der  Tlieil  so 
wichtig  sey  und  ehen  so  ganz  in  sich 
seihst,  als  sein  Ganzes. 

Die  Bewunderung  ausgedehnter  Mas- 
sen —  ist  die  dunkle  Gewalt  eines  un- 
willkührlichen  Eindrucks  ;  die  Bewunde- 
runfi:  des  Kleinen  —  die  Frucht  des 
Nachdenkens  auf  langer  Untersuchung 
gereift.  Dort  halten  wir  uns  an  For- 
men  und  Ferne:  hier  nahen  wir  oft  der 
bildenden  Kraft  selbst  in  der  Gleichheit 
tausendfach  wiederholter  Erscheinungen. 

Was  ist  jenes  Anstaunen  im  Grofsen 
ohne  Kenntnifs  des  Innern,  als  edler 
Müfsiggang,  der  nie  sich  selbst  hinläng- 
lich bleibt,  dem  bald  nichts  mehr  genügt, 
d  e  r  immer  betrachtet  und  nie  erforscht  — 


dev  nächste  Weg;  zur  Bettlerarmuth'  des 
Daseyns  ?  Millionen  fiihrt  ihre  Eitellieit 
dahin»  Nur  wenigCj  erbült  .  ihr  titeuer 
flcifsiger  Sinn  ,.ain' v.ers])otteten  Kleiiien; 
aher  die  Nachwelt  zielit  aus  dem, 'Avas 
sie  herichtigteti-,!  einen  Schkii^  mehr  für 
die  fortschreitende  .  Bestimmtheit  ihres 
Wissens,  und  wer  verdient. den  Spott  ? -r- 

!»KaH.ri  es'  eine  thÖrichtere  Üngerechtig- 
lieit  gehen  ,  als  dieses  kühne  Absprechen 
über  nützlich  und  kleinlich,  über  grofs 
und  verächtlich  ?.  Wir  alle  sind  Mitarbei- 
ter; Einzelne  müssen  dem  Einzelnen  sich 
jopfern,  damit  ein  Ganzes  hoher  Mitthei- 
lung hervorgebe.  Ehret  jeden  nach  ,  sei- 
ner Neigung.  Könnte  der  Blick  unifas- 
senderer  Geister,  könnte  die  Allgemein- 
heit des  Zusamhienhangs  Untrüglichkeit 
gewinnen,  ohne  die  im  Kleinen  vorbe- 
reitete Ordnung?  Nur  wer  die  Natur 
eines  Gebäudes  nicht  kennt,  wird  die 
Mühe .  verlachen  ,  die  .Steine  winkeh  echt 
behaut 


294 


Wenn  ihr  nur  einmal  gefühlt  •  habt, 
was  es  sey,  auf  dem  Rasen,  da  ihr 
wandelt,  .  nicht  fremd,  im  Haine,  der 
euch  schattet,  Vertraute  der  Eiche, 
Freunde  jedes  Busches,  begannt  und 
überall  bekannt,  den  Geführten  ,  den  Ter- 
briüfilerten  einer  ^rofsen  Familie  '  unter 
verschiedenen  Gestalten  und  Wesen  euch 
zu  sehen!  Was  macht  euch  reicher?  — 
Schätzt  diese  friedlichen  Kindel*  der 
Erde  —  ein  heitres  Band  mehr  zwischen 
euch  und  andern  im  Wohlgefallen  der 
INTitthcilung ,  das  sie  erregen.  Lernet 
sie  kennen,  hegt  sie  an  eurem  Herzen, 
verborgene  Freunde  des  stillen  leidenden 
Gemüthes. 

Die  Trefflichkeit  feinsinniger  ]Men- 
sehen  erschuf  aus  Blumen  einst  eine 
Sprache.  Gefühle  in  fortdauernde  Er- 
neuerung gehüllt  —  ward  das  Leben 
selbst  eine  Blüthenzeit  immer  wieder- 
helirender  Erinnerung.  Neigungen  der 
zartesten  Art  banden  sich  an  die  Doll- 
metscher  der  Liebe  und  FreundEschaft ; 


wie  treue  Gehülfen  wallten  sie  ülier  die 
freundliche  Erde,  und  das  Herz  hlieh 
rein  und  gut  im  Sinne  ihrer  Schönheit. 
Oft  bin  ich  unglücklich  gewesen:  ijnmer 
fand  ich  Ruhe  wieder  in  ihrem  Umgange, 
bey  ihnen,  die  ohne  Strauben  jeder 
Neigung  sich  beugen,  in  Freuden  wie  in 
Leiden  die  Farbe  der  Seele  annehmen,  in 
deren  stiller  Gesellschaft  mein  Geist  kei- 
nen Widerspruch,  mein  Herz  keine  Krän- 
kung kennt,  die  endlich  bis  ans  Grab 
noch  unsre  Gefährten  ,  und  über  der 
Asche  in  ewiger  Blüthe  das  stille  Denk- 
mahl unsers  Daseyns  bleiben.  —  O  meine 
Freunde!  die  Natur  hat  in  weniges  viel 
gelegt;  wohl  dem ,  der  sie  versteht! 

Der  Blick,  der  vom  Einzelnen  durch 
alle  Stufen  der  Verhältnisse,  v^om  Halme 
bis  zum  Sirius ,  die  Keime  des  Daseyns, 
den  Fortgang  des  Wachsthums,  die  Kräfte 
der  Erhaltung  zu  verfolgen  sich  gewöhnt, 
und  mit  dem  Reichthujn  ächter  Kennt- 
nisse froh  in  unsre  Seele  zurückkehrt, 
ist  unser  höchster  Gewinn. 


Reich  in  ihrer  hohen  Stille  endeten 
unsere  Ahende,  vom  Schönen  —  das  nun 
schwindend  hinüber  trat  in  seine  Dämme- 
rung, zum  gränzenlosen  Unerreichten  ge- 
tragen. Fremde  Erhabenheit,  vergan^ 
gene  Thaten,  der  Stolz  des  Künftigen  — i 
nie  treten  sie  uns  näher  als  im  Schweigen 
des  Zwielichts!  —  Jeder  Augenblick, 
der  uns  mit  Dichtung  umgiebt ,  jeder 
Schattenkreis  unbestimmter  Eindrücke, 
der  das  Bekannte  mit  dem  Unbekannten, 
das  Gegenwartige  mit  dem  Kommenden 
mischt,  knüpft  sich  näher  an  das  Herz, 
das  nur  im  Halblichte  den  Raum  liebli- 
cher Hoitnungen  findet. 

Einförmig  schön  dünken  euch  vielleicht 
unsre  Ta^e,  denen  gleich,  die  ich  euch 
schilderte.  Ihr  irrt.  Nur  wenige  nach 
dem  ersten  Monate  blieben  uns  ganz 
überlassen;  kurze  Ruhe  für  öftere  An- 
strengung. Täglich  wechselte  die  Anzahl 
unsrer  Gefährten;  wir  sahen  neue,  wir 
vermifsten  bekannte  ,  ein  steter  Ab  -  und 
Zuflufs.    Fragen  der  blofsen  Neugierde 


durften  wir  nicht  wagen:  so  blieb  alles 
unerkläibar.  Bald  luden  uns  einige  Be- 
lianntere  zu  einer  Reise  in  die  tiefern 
Gebirge.  Es  war  uns  übeilassen,  solclie 
Wanderungen  einzeln  oder  mit  andern  zu 
unternehmen.  Der'  Drang,  für  neue 
Kenntnisse,  für  neue  Eindrüche,  selbst 
für  das  unbekannte  Sehnen  nach  einem 
dunkeln  Etwas  —  Gemächlichkeiten  des 
alltäglichen  Vergnügens  zu  entsagen,  wur- 
de als  Folge  innrer ,  thätig  freyer 
Vorstellung  geachtet,  auf  die  der  Gang 
des  jugendlichen  Geistes  zur  Selbststän- 
digkeit gebaut  ist.  Er  will,  und  findet 
sich  belohnt  oder  b.etrogen:  so  lernt  er  in 
Entschlüssen  sich  trauen  oder  miistrauen. 
Er  mufs  frey  wollen  können ,  um  einst 
richtig  zu  wollen. 

„Wer  ersteigt  jenen  Berg?  Wer  orräth 
,,jene  Blumen  ?  Wer  macht  heute  noch 
„diesen  Weg?  oder  dort  in  jenem  Thale 
„wer  findet  den  Pfad  ?  "  Jede  aLnliche 
Frage  fand  eine  schnell  unternehmende 


298 


Antwort.  Der  Stolz,  auch  mit  einer 
Ij  a  u  11  e  unserer  Gefährten  zu  wetteifern, 
liefs  keinen  Vorschlag  schwer,  keine 
Mühe  lästig:  „nie  träge  als  Weichlinge 
zurück  zu  bleiben"  —  trieb  uns  über  Hö- 
hen,  auf  Felsen,  über  Wasser,  rastlose 
Nächte  lang  in  die  Weite  einsamer  Wäl- 
der. Um  der  Schönheit  eines  Augenblicks 
zu  geniefsen,  um  eine  Pflanze,  die  unsre 
altern  Freunde  wünschten,  zu  finden, 
um,  durch  Sterne  oder  Sonne  geleitet,  auch 
im  Unwegsamen  mit  geübtem  Geiste  Bah- 
nen zu  bestimmen  —  wagten  wir  und 
wurden  kühner,  übten  wir  uns  und  wur- 
den gewisser.  Ich  danke  dieser  Zeit  die 
Raschheit  meines  Geistes  .  .  .  früher  zu 
versuchen,  als  zu, verzweifeln  ,  die  Kraft 
meiner  kommenden  Jahre  und  die  Be- 
stimmtheit —  Menschen  und  Ereignisse 
in  ihrem  Sinne  zu  fassen,  nie  betäubt  und 
/nie  erstaunend,  gegen  jeden  Vorschlag 
gerecht,  dasGrofse,  Wahre  und  das  An- 
gemaiste  mit  schneller  Würdigung  zu 
erkennen. 


299 


Glebts  einen  andern  Weg,  freyc  kräf- 
tige Menschen  aus  Jünglingen  zu  bilden, 
als  das  Aneinanderreil>en  ihrer  Seelen,  die 
sich  wechselseitig  entflammen  für  alles 
Erhabne  und  Schöne,  das  eine  ältere 
Hand  ihnen  nur  zeigt,  aber  nicht  auf- 
dringt ? 

Wir  lebten  in  einem  Gebirglande :  kein 
Wunder,  dafs  leder  neu  hervortretende 
Berggipfel  höhere  Erwartungen  erregte, 
jedes  tief  verlorne  Thal,  jede  neu  ent- 
deckte Aussicht  uns  fortlockte  —  wo  hat 
die  Einbildungskraft  höhere  Rechte  als 
in  Gebirgen?  —  oder  mufsten  wir 
jetzt  umkehren  ...  zu  einer  künftigen 
Reise  den  Entwurf  £iah.     Unsere  altern 

o 

Freunde  sorgten  ,  dafs  keiner  unvollführt 
entschlief,  dafs  der  Stolz,  zu  wagen,  für 
andre  zu  entdecken  ,  zu  dichten  ,  zu  for- 
schen, dafs  das  hohe  rege  Leben  der  Ju- 
gend die  dauernde  Wärme  unsers  Charak- 
ters würde.  Jede  Erzählung,,  jede  Ver- 
muthung  wurde  gefällig  angehört,  jedes 
Bild  unsers  Erwartens  in  höhere  Farben 


gesetzt,  lAebe  des  Grülsen,  der  Mutli 
des  Entscliicidenen ,  Festgewollten  uns 
immer  naher  aebracht.  • 

Noch  war  ein  Grund  mehr  dafür:  Bil- 
dung zur  Ivtöglichkeit ,  Krieger  zu  wer- 
den .  .  .  Übting  des  Auges ,  Beharrlich- 
lieit  des  3Iut  hes ,  des  VVollens  und  der 
Ausdauer  in  Beschwerde  und  Entsagung. 
Nicht —  häusliche,  eintönige  Wesen  der 
Beschränhthfiit  undNothdurft  zu  werden, 
sondern  ein  Schicksal  des  gewagten,  un- 
ternjehmendc:n  Daseyns  war  unser  Ziel. 
,,Ist  nicht  aUes  weit  über  träger  Gewohn- 
,,heit  mit  Kühnheit  Errungene  .  .  .  unse- 
,,rer  Seele  edelster  f  "ortschritt  ?  —  Sind 
nicht  Strehen  ,  Erinnerung  und  Errei- 
,,chen,''  wie  eine  alte  Dichtung  sagt, 
,,drey  Huldinnen  des  keimenden  Lfebens, 
,,das  in  ihren  Zauberkreisen  ewig  jung 
,,und  ewig  schön  unter  Blüthen  zur  Vol- 
,,lenduiig  wallt 

t^nsere  ersten  Wanderungen  hatten  nur 
in  r^ienschenleere  Gegenden  geführt.  Un- 
sere*^^  spatern  eistreckten  sich  in  bewohnte 


Thaler:  nicht  umsonst;  sondern  Unord- 
nungen der  Ströme  zu  hemmen  ,  neue 
Wohnplätze  auszusuchen,  Wege  zu  he- 
stimmen  ,  das  Daseyn  fiöhlicher  Men- 
schen zu  sichern,  war  unser  Ziel  —  für 
Tihar  und  Dya  eine  lehneiche  Zeit,  das 
Grofse  auch  auf  dem  Wege  des  Alltägli- 
chen zu  finden.  Hier  war  es,  wo  der 
erste  in  den  Kenntnissen  der  Geweihe 
und  dos  einzelnen  Lebens  sich  für  seine 
künftige  Rolle  entwickelte,  wo  er  die 
Bestimmtheit  seiner  Mittel,  die  Gewifs- 
heit  seiner  Entwürfe,  wo  seine  kühne 
Einbildungskraft  Wahrheit  suchen  lernte 
in  den  Gesetzen  des  Nothwendigen  ,  des 
Möglichen  und  des  allmählichen  Fort- 
schritts. 

Glückliche  Tage,  die  ich  dort  verlebte! 
Edler,  schöner,  menschlicher,  zutrau- 
licher, einfacher  in  ihrer  Vereinzelung, 
wie  alle  Gebirgsmenschen  ,  zog  jed« 
Stunde  mich  unaufhalt^ajaer  an  sie,  in- 
niger  für   meine   Eebenszeit    an  jedes 


302 


Gebirge ,  wo  die  Nacht  in  ihren  Sternen, 
die  Strahlen  der  Abende  ,  der  Morgen  in 
seinen  Schatten,  Wasser  und  Luft,  wo 
alles,  was  uns  unigiebt,  bleich  einer 
verjüngten  Lieblings  weit  fortdauernder 
Sc.höpiung,  den  reinern  Ciiarakter  seines 
Wesens,  jede  erstiegene  Höhe  ein  Ganzes 
neuer  Erscheinungen  zeigt,  jede  unbekann- 
te Tiefe  an  ein  Geheimnifs  des  Verboree- 

ö 

iien  zieht.  Nur  dort,  wo  der  Blick  im  star- 
ren Emporsteigen  getrennter  Massen,  wie 
eben  so  viel  einzelnen  Welten,  alles  ein- 
zeln und  bestimmt  und  in  kühner  Absonde- 
rung fafst,  ach  nur  dort,  scheint  es, 
liönne  der  Mensch  zur  schonen  Gewifs- 
lieit  alles  Grofsen  in  seinem  Innern  ge- 

o 

langen;  nur  dort  entwickle  sich  die  Ein- 
bildung, zu  stolz  für  das  üppige  Kleine, 
in  edlern  Gefühlen ;  dort  nur  gewinne 
das  Herz,  von  innigerer  festerer  Theil- 
nahme  ergriffen,  eine  bleibende  Artung, 
und  in  mächtigern  Eindrücken ,  als  die 
flachen  Entfernungen  der  Ebnen  geben, 
werde  stille  Erhabenheit  unser  Sinn. 


Nie  hätte  so  und  so  ganz  als  liier 
die  Kraft  meines  Geistes  sich  anderwärts 
entfaltet.  An  die  Gegenwart  'des  Ver- 
gangenen ,  an  die  sichtbaren  Wiederher- 
stellungen der  Erde,  an  die  Geschichte 
ihrer  Veränderungen  knüpfte  sich  im 
natürlichen  Eunde  jener  erweiterte,  leb- 
haft freye  Blick  auf  das  Ganze  aller 
Kräfte,  auf  Menschen  und  ihre  Fort- 
schritte ,  ihren  Geist ,  und  den  Wechsel 
der  Zeit  und  der  Ursachen.  Tiefer  an 
Forschen  —  ward  ich  ernster  an  Wol- 
len; reicher  an  grofser  Gewifsheit  — 
gab  auch  das  Ungewisse  mir  nur  gröfsere 
Er\vartungen,  und  der  Stolz  einer  unend- 
lichen Bestimmung  ward  der  Gefährte 
meines  Lebens. 

Wie  wahr  ists ,  dafs  aus  einem  offnen 
Sinn  für  die  grofsen  Bilder  der  JNatur 
alles  reine,  thätige  angewandte  Forschen 
hervorgehe!  Nie  wird  mich  das  Anden- 
ken jener  Zeit  verlassen;  nie  das  noch 
tiefere  einzelner  Tage,  die  durch  eine 
Eigenheit    unsers    Geistes    neben  dem 


HeilJankei  von  Jahren  sich  empor  halten, 
als  ob  nur  sie  allein  den  Werth  des 
Lebens  ^n  sich  schlössen;  zurück  ee- 
halten ,  wie  ein  heiliges  Geheimriifs  vor 
unheiligen  Augen,  und  wie  eine  Götter- 
erscheinung ,  stolz  und  fröhlich  mitge- 
theilt,  an  jedes  ähnlich  geglaubte  Herz. 

Ach  dafs  der  Mensch  so  arm  ist, 
seine  schönsten  Augenblicke  für  andre 
nur  in  Worten  zu  besitzen!  so  arm, 
dafs  er  es  von  einer  zufälligen  Stimmung 
abhängen  lassen  mufs ,  ob  das,  was  er 
aus  der  Innigkeit  seiner  heiligsten  Ge- 
fühle mittheilt,  ihrem  verschlossenen  Ge- 
müthe  nicht  Schönsprache  des  Empfindlers 
dünke!  Oder  weifs  er  denn,  ob  die 
Sonne,  die  heute  ein  Zauberlicht  scheint, 
ihm  selbst  nicht  morgen  .  .  .  nur  ein 
gemeines  Vorübergehen  der  x^lltäglich- 
keit  ist?  —  Dafs  ich  sah,  kann  ich 
euch  sagen:  wie  ich  sah,  kann  nur  der 
innre  Sinn  eigner  Erinnerungen  euch 
verständigen.  Soll  ich  es  versuchen,  euch 
einen  jener  unvergefslich  schönen  Tage 


5^5 


zu  wiederholen,  den  ich  mit  Eiithrama 
hier  lebte  ? 


Mit  ihm,  meinen  Brüdern  und  eini- 
gen unsrer  Vertrautesten  besuchten  wir  die 

o 

lang'  erwür\schten  Gegenden  des  Neun- 
tru;  » —  keines  der  höchsten,  aber  durch 
seine  glückliche  Stellung  —  das  reitzend- 
*ste  Mittelgebirg  im  Umfang  seiner  Tha- 
1er  und  ihrer  Bergreihen  bis  zur  Schnee- 
stufe der  fernsten  Gipfel. 

Ihr  habt  Berge  mit  mir  erstiegan.  Ihr 
kennt  den  Geist,  der  mich  umweht  .  .  . 
wie  das  stille  Emporschweben  neuer  Ge- 
genstände in  jeder  gewonnenen  Höhe, 
der  Laut  ihrer  Bäche,  das  Blau  des  hin- 
ab ziehenden  Himmels,  wie  jede  Sache 
mich  ergreift.  Denkt  eine  frühere  Ju- 
gend  hinzu,  und  dafs  der  vergangene 
Abend  mich  zum  erstenmal  als  Sieger 
im  Ringen,  zum  erstenmal  als  König 
unsrer  Feste  gesehen  hatte;  dafs  ich 
in  zarten  glücklichen  Bildern  alle  über- 

Dya-Na-Sore  i.  Th.  20 


3o6 


rascht,  dafs  ich  Thränen  der  Freude 
und  der  Trauer  erregt  hatte;  dafs  das 
Entzücken  des  Gelungenen,  dafs  das 
Andenken  tief  gerührter  Menschen,  dafs 
ihrBeyfall,  und  die  Gewifsheit,  ,,auch  mir 
stehe  Macht  zu  üher  Herzen,  und  die  Fä- 
higkeit auf  Menschen  zu  wirken,"  noch 
warm  in  mir  glühte,-  werdet  ihr  euch 
wundern,  wenn  heute  das  Lehen  in  der 
Fühlbarkeit  seines  höchsten,  nie  erkann- 
ten Gehaltes  auf  mich  eindrang  ? 

Ein  heifser  Tag  hatte  uns  hedrückt. 
Eine  schmal  vorgerückte  Bergscheide 
nahm  uns  auf  in  ihre  Felsenschatten. 
Links  sahen  wir  hinab  in  einen  weiten 
hoch  beschränkten  Kessel  dunkelhellen 
Lichtes  ,  in  die  Wälder  seines  einsamen 
Umfangs :  einzelne  bebaute  Stellen  deu- 
teten auf  Menschen ,  verlorne  Rauch- 
wölkchen stiegen  auf,  wie  Schatten  eines 
freundlichen  Daseyns. 

Rechts  schweifte  das  Auge  weit  über 
das  Entfernte,  jenseits  in  die  Fläche  und 
Hügel  des  bewohnten  Landes ,  bis  zum 


307 


blauen  Saum  der  Bergkette  von  Urka- 
da  Gherai.  Fernher  wölkte  sich  in  un- 
merklichem Grau  die  Spitze  von  Tanäar. 
Ein  leichter  AVind  zuv/eilen  blies  von 
dort  in  das  fahler  dämmernde  der  Luft. 
Ihre  glühende  Stille,  jeder  ermattete 
Laut  verkündete  ein  Wetter:  unter 
Eftrithramas  Gesprächen  achteten  wir  des 
nahenden  nicht.  Weither  über  die  un- 
endliche Ferne  zogen  sich  dunklere  Far- 
ben ;  selbst  unter  heiterm  Himmel  schie- 
nen die  nächsten  Berge  immer  düsterer. 
Wir  achteten  es'  nicht,  bis  das  dumpfe 
Murmeln,  bis  das  halb  gesehne  Seilwin- 
den der  Blitze,  bis  der  verlöschende 
Strahl  des  Tages  mich  zweymal  aufrief, 
zur  Eile  zu  erinnern.  Tibar,  des  Donners 
Freund ,  harrte  in  stolzer  Freude  dem 
kommenden  entgegen. 

Theurer  Augenblick!  das  Freundliche 
und  das  Furchtbare  in  seltnem  Bunde!  -  - 
Hier  die  Nähe  geliebter  Menschen,  und 
dort  (^6  abgetrübte  Bahn  der  strahlenlo- 
sen Sonne  in  Gewölken,  die  harrende, 


30Ö 


farbendunkle  Gegend  gegen  den  schwar- 
zen Himmel  in  einzelnen  Hügeln  wie 
eine  näclitliche  Erscheinung  leuchtend  !  — 
Alles  vereinigte  sich  in  die  Gespräche 
Erithramas,  der  ehen  jetzt  mit  hinreifsen- 
der  Wärme  von  den  Spitzen  der  Felsen 
—  alle  Wendungen  der  Gebirge,  die 
Rauchgipfel  des  Halkat,  die  Seen  v#n 
Erni  und  Gummia  und  ihre  dunklen 
Krümmen  vor  Augen,  iind  sprechender 
als  je  —  die  Geschichte  der  Erde  aus 
ihren  sichtbaren  Spuren  erklärte :  ,,wie 
Land  und  Meer  im  schrecklichen  Kampfe 
eins  .an  die  Stelle  des  andern  trat,  Ge- 
birge  zerfielen,  und  neue  sich  häuften." 

„Im  Innern  jener  Schichten  —  Denk- 
mahlen aus  Jahrhunderten  gehäuft,  am 
Ufer  der  Ströme,  in  Klüften,  wo  die 
Nacht  erloschner  Flammen  sich  in  ihren 
Werken  zeigt,  überall  gehen  wir  an 
Wundern  unergründeter  Dauer  vorüber, 
an  Quellen,  die  nie  versiegen,  an  Ge- 
setzen, die  nie  fehlen:  sind  w^  dem 
Geheimnisse  der  Entstehung  —  dieser 


Liieblingsfiage  des  eitlen  Geistes  —  darum 
näher  ? 

„Ijafst  uns  das  Alter  derErde  um  Äo- 
nen hinaus  setzen ;  lafst  uns  das  —  was 
wir  in  der  Nähe  zu  finden  verzweifeln  — 
am  Rande  eines  selbsterdachten  Zieles, 
im  täuschenden  Nebel  der  ungemessen- 
sten  Entfernung  zu  sehen  glauben :  ist 
die  Auflösung  einer  Frage  entfernen 
—  sie  beantworten?  —  Lafst  uns  alle 
Ursachen  ihrer  gegenwärtigen  Gestalt 
enträthseln,  aus  tausend  Zeichen  auf 
vergangene  Ereignisse  schliefsen:  haben 
wir  mehr  gesehen,  als  Umstürze,  die  die 
Oberfläche  erlitt?  —  Ist  Erscheinungen 
des  Daseyns  erkennen,  ist  die  Meine 
Wissenschaft  vorhergegangener  Zufälle 
die  verborgene  Tiefe  des  Ursprungs? 
Was  sind  unsre  Schöpfungsgeschichten, 
als  der  Traum  der  Neugierde,  die  mit  der 
Gröfse  unbegrilfener  Entdeckungen  spie- 
let!  ?  — 

,,Als  der  menschliche  Geist  aus  der 
Erfahrung  des  Gegenwärtigen,  aus  der 


310 


Verbindung  zweyer  Wahrheiten  ,  aus  der 
Ähnlichkeit  der  Wirkungen  .  .  .  nahe 
liegende,  in  der  Deutlichkeit  ihrer  Fol- 
gen fortdauernde  Ursaclien  zu  enthüllen 
versuchte,  rifs  der  Stolz  seiner  Kräfte  ihn 
über  ihren  Umfang  hinaus  ;  er  fand  in  der 
Möglichkeit  gewagter  Schlüsse  — 
Wirklichkeit.  Was  nie  seinem  Auge 
unterworfen  war  -  -  Wirkungen  im  tau- 
sendfachsten Gliede,  an  denen,  wie  bey 
Kindern  eines  alten  Geschlechts,  die  Ähn- 
lichkeit des  ersten  Vaters  unter  hundert 
Zufälligkeiten  sich  verwischte  —  wie  will 
er  sie  erkennen?  Aber  gerade  diese  Nacht 
ohne  Urkunde  ,  in  der  sein  Scharfsinn 
mit  leeren  Vermuthungen  irrt  —  die  Nacht 
des  Unfafsliclien  allein  schien  ihm 
das  würdige  Geheimnifs  seines  Forschens, 
und  von  Volk  zu  Volke  wurden  Träume 
verewigt.  Ein  kühner  Wahn ,  ,,der  mit 
dem  Ausspruche  des  Verborgenen  schmei- 
chelt, "  herrscht  über  Jahrhunderte  mit 
eisernem  Zepter.  Die  bescheidene  Wahr- 
heit, ,,die  das  Unergründliche  .  .  .  uner- 


gründet  nennt,"  dünkte  dem  Viel^ordern- 
den  Beschimpfung.  So  wurden  Mei- 
nungen —  Gesetze:  die  Zeit  gab 
ihnen  ein  geheiligtes  Siegel.  —  Erhabne 
Dichtungen  wurden  ein  göttliches  Ge- 
heimnifs.  Wir  glauben,  was  andre 
wähnten,  und  Glauben  ist  so  süfs! 
Wunderkräfte,  die  den  Schleyer  des  Ge- 
heimnisses lüpfen ,  sind  der  geweihte 
Stolz  des  zagenden  Verstandes.  Grofs 
zu  seyn  in  dem,  was  andre  wufsten  .  .  . 
krönen  wir  die  Schöpfer  unsrer  Meinung 
mit  himmlischen  Strahlen,  die  bis  auf  uns 
ihren  Schimmer  verlängern.  So  wird  un- 
term listigen  Mifsbrauch  des  geschmei- 
chelten Wahnes  .  .  .  die  bescheidne  Ver- 
muthung  des  edelsten  Entdeckers  —  ein 
Götze  erniedrigender  Verehrung  und  der 
Fluch  ferner  Zeiten.  So  sucht  die  lächer- 
liche Eitelkeit  des  Menschen,  wie  Schling- 
kräuter im  kräftigen  Wachsthum  der 
edelsten  Bäume,  seine  Nahrung;  so  wird 
Unterwerfung  —  unser  Stolz,  und  ,,die 
Begierde    des    Verborgenen   neben  der 


312 


Tjrägheit  zu  denken"  die  Sklavenlxette 
im  Reiche  des  Geistes ;  so  wandelt  er 
überall  zwischen  Widersprüchen  .  .  .  Er 
glaubt  das  Unglaubliche,  um  das  Un- 
erklärte zu  erkläre  n.  Er  will  überall 
wissen,  und  —  fürchtet  das  Licht, 
das  seine  Dämmerung  stört.  Er  w'ill 
frey  seyn,  und  bindet  sich  selbst.  Er 
will  glänzen,  und  sucht  im  Zauber 
fremder  Strahlen  seinen  Schimmer.  Ihn 
beherrscht,  wer  ihn  täuscht;  das 
Unwahrscheinlichste  ist  das  Sicherste  im 
Erfolg  i.  und  gern  vergifst  er,  dafs  selbst 
der  Mann,  der  am  Morgenthore  dier 
Schöpfung  gesessen  hätte,  kaum  sagen 
könnte  I  —  Sie  entstand  —  umso  viel  we- 
niger, wie  sie  entstand. 

„Schmeichelnd  ists  freylich,  in  den 
Tiefen  dieses  Dunkels ,  am  Rande  unsers 
Wissens  mit  gerührter  Seele  über  Daseyn 
und  Bestimmung  Träume  zu  sammeln, 
deren  erhabener  Sinn  ,o  wie  ein  Schleyer 
geheiligter  Würde,  den  Anblick  dieser 
Erde    uns    noch    dreymal  schauernder 


313 


macht.  — T  Aber  gut  ist  dann  auch,  an 
diesen  Fernen  sich  bescheiden ,  ehe  ein 
irriees  Begehren  uns  weiter  führet ,  als 
der  stille  Umfang  unsrer  gegenwärtigen 
Kräfte  erlaubt.  Sehen,  wie  alles  im 
gleichzeitigen  Begegnen  unendlicher  Kräf- 
te entsteht,  wie  Tod  und  Leben  in  schö- 
ner Erhaltung  sich  die  Hand  bieten,  und 
zwischen  beiden  die  Natur  in  lächelnder 
Blüthe,  unterm  Wechsel  ihrer  Formen  .  .  . 
im  Innern  dieselbe  ,  ihr  Ganzes  nach 
gleichen  Gesetzen  immer  eins,  uns  um- 
giebt;  des  Verborgenen  Unergründlich- 
keit vom  Erklärbaren  scheiden ;  des  Un- 
endlichen Unübersehbarkeit  erkennen  — 
ists  nicht  Gränzweite  genug  für  einsterb- 
liches Auge  ?  Erkennt  euch  in  der  Würde 
des  Gegebenen ,  um  richtiger  an  Ver- 
ständnifs,  weiser  im  Gebrauche,  den 
Ubersinn  des  alles  erläuternden  Stolzes 
zu  meiden,  der,  zu  eng  für  das,  was  ihn 
umgiebt,  das  Universum  nach  seinen 
Mifs  Verständnissen  richtet.  Nur  das 
Sichtbare  in  reiner  Beziehung  erkannt 


— ■  welcher  Umfang  von  Gröfse!  so  er- 
reichbar, so  sehr  dem  allgemeinen  An- 
blick ofFen  es  scheint,  dennoch  keine 
Bahn  des  gemeinen  Verstandes ,  kein  Ei- 
gienthum  des  enipfindelnden  Thoren ,  der 
seine  matten  Sinne  am  Spiele  ihres  Zau- 
bers wiegt,  der  nach  Farben  jagt,  und 
das  stolze  Gemälde  ihrer  täglichen  Reitze 
zum  Taumel  seines  Müfsiggangs  macht. 
Nicht  er,  dei;  so  sehr  den  Schein  trägt 
zu  empfinden,  empfindet,  was  Natur  sey. 
Zu  verbreitet  für  ein  ungebildetes  Auge, 
zu  verwickelt  für  mühlos  üppigen  Ge- 
nufs  ...  ist  sie  nur  das  Vorrecht  für 
Tugend  und  Fleifs,  nur  dem  Manne  des 
anspruchlosesten  Herzens  und  dem  Wei- 
sen offen ,  der  gleichstim  mig  in  sei- 
nem Wesen  dem  Wechsel  ihrer  Eindrücke 
folgt.  Bedenkt  das  und  trachtet  nach 
Thätigkeit.  Nur  durch  sie  entwickelt 
der  Geist  sich  in  edlem  Vermögen.  Trach- 
tet zu  wissen.  Wissenschaft  allein  giebt 
erhabnes  Verständnifs ,  Klarheit  ferne 
von  müfsigen    Klagen  und  edlen  Stolz 


3x5 


gegen  die  schwache  Verachtung  des  Da- 
seyns.  -f.'  • 

„So  willig  tritt  man  dann  hervor  in 
die  Kampfe  des  Lobens.  So  gerne  kehrt 
man  zurück  ins  Verborgene ,  wo  jede 
Empfindung  sich  entwickelt,  und  jede 
Tugend  sich  befestigt.  Wenn  Fülle  des 
Wissens  uns  begleitet,  wenn  ein  Herz 
voll  Kräfte  weit  umfassender  Erkennt- 
nifs  uns  in  der  Einsamkeit  nicht  das  Tod- 
tengerippe der  Langenweile,  sondern  den 
lächelnden  Genius  der  Selbstberuhigung 
zeigt;  wenn  eine  Einbildungskraft  hoher 
Erinnerungen  sich  überall  belebt;  wenn 
kein  üppiges  Spiel  unsrer  Laune,  kein 
armseliges  Ungefähr,  zwischen  Leere  und 
und  Zwecklosigkeit  entstanden ,  uns  be- 
herrscht; wenn  die  Jugend  kein  ekler 
Traum,  wenn  die  Zeit  keine  Last,  die- 
ses Daseyn  kein  Fluch  unser  selbst, 
und  das  Alter  keine  Hölle  für  uns ,  keine 
Qual  für  andre  wird;  wem  danken  wir 
den  schönen  Erfolg  unsers  Lebens  ?  — 
Dem  gebildeten  Verstände ,  dem  Segen 


5i6  

dessen,  was  Menschen  da'chten,  erfan- 
den und  hervorbrachten  für  uns ,  und 
wir  für  sie.  Dann  kommen  keine  Jahre, 
gegen  die  vergangenen  zu  klagen ,  keine 
Jahre  des  Zweifels  und  der  unmuthver- 
sunkehen  Starrsucht ,  die  die  Freude  läug- 
net ,  und  unsre  Fehler  :  zu  j  Vorwürfen 
des  Schicksals  macht:  dann  werden  wir 
nie,  von  Verzweiflung  im  Innern  gepei- 
nigt, vom  Hohngelächter  der  Mifsach- 
tung  verfolgt  —  den  Tod  fürchten,  ohne 
das  Leben  zu  lieben,  und  gequält  bis  ans 
Grab  von  unächten  Vorstellungen  des 
einen  und  einem  verkehrten  Gebrauche 
des  andern  —  muthlos  dahin  siechen. 
•  ,>Nie  geht  der  Mensch  seinem  ungewis- 
sen Schicksale  sicherer  entgegen,  als 
wenn  er,  auch  verkannt  und  gekränkt, 
fern  von  Menschen  .  .  .  Wissen,  Erken- 
nen,  Erforschen  —  diese  treuen  Gefähr- 
ten einsamer  Stunden,  in  seinem  Herzen 
trägt.  Die  Drohungen  des  Glücks  zu 
verlachen,  den  Spott  seiner  Zeitgenossen 
zu  erdulden ,  schwankt  er  nie  am  Hauche 


fremder  Meinung.  Er  ist  stark,  weil 
er  Wahrheit  der  Dinge  ,  muthig,  weil 
er  Zuversicht,  Wohlthat  und  Liebe  findet, 
wo  andre  Schrecken ,  Grausamkeit  und 
die  Verfolgungen  eines  unerbittlichen 
Weltgeistes:  frey,  weil  der  Mensch 
ihm  minder  unentbehrlich  ist,  lebt  er 
seiner  Pflicht,  weil  ein  furchtloses  Be- 
wufstseyn  nicht  den  Beyfall  fremder 
Laune  zu  haschen  bedarf.  —  Ehrt  jede 
Kunst :  an  einer  veredelten  Einbildungs- 
kraft haften  keine  Ketten.  Ehrt  die  Ge- 
schichte :  sie  allein  macht  euch  unabhän- 
gig. Einsam  ohne  einsamen  Stolz,  dem 
Haufen  entzogen,  ohne  ihn  zu  hassen, 
umgiebt  euch  das  Daseyn  in  Zeiten,  Sit- 
ten, Meinungen  und  Thaten ,  und  jede 
Handlung  wird  ein  Gewinn  neuer  Kräfte." 


Wolken  hatten  sich  zu  unsern  Füfsen 
gesammelt;  Blitze  schlugen  unter  uns 
hin;  das  erhabne  Schauspiel  streitender 
Massen,  unter  den  Stürmen  des  Werdens 


3i8 


schien  erneut;    wie  auf  neu  erhobener 

Erde  standen  wir  allein  in  der  Hülle  des 

Regens  ,  alles  verborgen  ,  alles  grau  ,  nur 

im  Wiederhalle  des  Donners  ein  Mafs 

der"  Entfernunor. 

ö 

Es  w^ar  das  erstemal,  dafs  ich  in  Ruhe 
über  Wettern  die  Nacht  ihrer  Schrek- 
ken  unter  mir  sah.  O  Tibar,  wie  herz- 
lich dankte  ich  deinem  Muthe  mein  Ver- 
weilen !  Wie  herzlich  umarmte  ich  dich, 
den  Helden  der  Zukunft,  auf  der  Spitze 
deiner  Felsen ,  düstre  Schwärze  hinter 
dir  im  Nachhall  der  Donner  aus  den  Ber- 
gen von  Tntra !  Die  Siegerin  Sonne  trat 
hervor  in  ihrer  Herrlichkeit.  Flammende 
Gewölke  und  eine  leuchtende  Erde  dir 
gegenüber  von  Westen,  bis  zur  Spitze 
unsrer  Höhen  —  lichthell  wie  ein  Gott 
standst  du  vor  mir.  Der  Himmel  schien 
dir  nahe  in  seinem  Wetterblau,  die  Erde 
schw^and  im  Farbenhauch  des  Abends. 

O  so  ganz  in  deinem  Sinne  fühlte  ich 
jetzt,  wie  alles  Erhabene  sich  verwandt 
sey,  und  alles  Grafse  uns  hinneige  an 


  519 

HoiFen  und  Wollen ,  und  eine  Welt  des 
Unendlichen  in  fortwirkenden  Kräften. 

Erithrama  hatte  sich  zwischen  uns  ge- 
lehnt. Dya  mit  den  übrigen  bildete  eine 
ei2;ene  Gruppe.  —   Eine  hohe  feierliche 

Stunde  Mittheilung  ohne  Worte  — 

fafste  jeder  den  andern  im  Sinne  einer 
unsterblichen  Zukunft,  und  schweigend 
stiegen  w*ir  abwärts  in  die  Dämmerung 
unsers  Pfades,  unterm  Niederhangen  trop- 
fenschwerer Aste,  unterm  Säuseln  ihrer 
triefenden  Blätter,  augeweht  vom  süfsen 
Dufte. 

Wasser  rollten  laut  nach  allen  Tiefen. 
Der  Mond  trat  herauf;  die  Luft  war  ein 
zitternder  Schleyer;  die  Gegend  dampfte 
in  der  neu  erhöhten  Fülle.  Die  Kraft  des 
Unendlichen  wandelte  in  leisem  Wehen 
alles  Lebenden  vorüber. 

Zwischen  die  Schatten  tausendjähri- 
ger Stämme  fiel  ein  unoewisses  Licht: 
alles  Grofsen  und  Vergangenen  Erinne- 
rung in  schönem  Sinne  erkannt  umgab 
mich,  und  wahr  und  innig,    wie  noch 


32ü 


jetzt  bey  jeder  Ähnlichkeit,  kehrten  Eri- 
thramas  Worte  zurück. 

,,Nur  dein  edlen,  klaren  Sinne  erkann- 
,,ter  Bedeutung,  der  in  jeder  Bewegung 
,, eines  höhern  Gesetzes  sicher  .  .  .  vom 
„Einzelnen  zum  Ganzen  die  Reihen  der 
„Veränderungen  aus  Jahrtausenden  in 
„einen  Blick  versammelt;  der  Nazionen 
„vor  sich  ruft,  und  däs  Entfernte  um 
„sich  weckt:  ihm  nur  erscheint  diefs 
„lebende  Daseyn  in  der  Fülle  des  rein- 
„sten  Empfanges.  Sein  Geist  erstarkt; 
„seine  Einbildungskraft  schöpft  hellere 
„Strahlen;  das  Edelste  umgiebt  ihn.  Er 
„ist  nie  einsam,  denn  überall  begegnet 
„ihm  ein  grofser  Gedanke.  Im  Dunkel 
„des  Hains  überrascht  ihn  das  Andenken 
„seiner  Ahnen;  er  fühlt  ihre  Thaten, 
„und  vergifst  bey  ihren  Tugenden  der 
„Zweifel  seiner  Tage.  Am  grauen  Fels 
„schwebt;  ihr  Bild.  Im  Lichtkleid  des 
„Nebels,  beym  Strahle  des  Mondes  wallt 
„ihre  Gestalt  am  Hügel  der  Heide.  Er 
besucht  ihre  Gräber.    Er  sieht  im  Traum 


,, ihres  Dnseyns  auf  seine  Zeiten  zurück, 
„sit^ht  ein  entartetes  ofler  besseres'  Ge- 
schlecht,  und  strebt,  auch  sich  einst 
„sagen  zu  können:  ,,Tch  habe  nicht 
,,vergebens  gelebt.  Ich  strebte, 
„ich  erkannte  den  i>'f  (;  n  s  c  h  e  n  im 
„Menschen,  und  handelte  wie 
„ich  erkannte.  Ich  steuerte  dem 
„V  e  r  d  e  r  b  e  n  ,  und  r'i  (  s  G  e  s  c  h  1  e  c  h- 
„ter  aus  dem  Wahn  empor,  der 
„ihre  Seelen  vergiftete.  Einst 
„blüht  mein  Grab  in  stillem  G e- 
5,filde,  einst  geht  die  Nacht  des 
„D aseyns  an  mir  vorüber;  aber 
„in  deinem  Schoofse  werde  ich 
„ruhen,  ewige  Zeit,  dauernd  wie 
„du,  in  meinen  W  irkungen  nie 
„erloschen,  nie  unterdrückt,  ein 
„  W  esen  der  Zukunft,  ein  Genius 
„d er  Tugend. " 

„So  wird  alles  Reichthum  für  ihn.  So 
„lebt  er  in  der  Bestimmtheit  seiner  Gefühle ; 
,,selbststiindig  im  Liebte  der  reinsten  Er- 
„kenntnifs,  treu  dem  Vorbilde  der  edelsten 
Dya-Na-Sore  i.  Th.  21 


322 


„Menscbiielt,  schöpft  er  aus  seinem  Gedaclit- 
„nis^e,  wie  aus  einer  nie  versiegenfleii 
„Quelle.  In  dem ,  was  er  weiis  ,  umgieLt 
„ihn  die  gereinigte  Kraft  eines  unverführ- 
„haren  Willens;  die  Denkmahle  einer 
„schönern  Welt  sind  seine  Begleiter ;  die 
„Gewifsheit  der  Jugend  ist  seine  Ruhe, 
„und  der  Glauhe  an  die  Würde  des  Da- 
,,seyns  steht  fest  in  der  Erkenntnifs  seiner 
„selbst.  " 

Meine  Hand  lag  in  Erithramas  Hand, 
da  wir  den  Hügel  hinab  stiegen.  „War- 
„um  —  fragte  ich  ihn  mit  einem  weichen 
Drucke  —  warum  können  Taoe  wie  diese 
„nicht  den  Bedürfnissen  der  Menschheit 
zureichen  ?  —  Warum  wird  diese  Rein- 
„heit  stiller  Gefühle  nicht  die  Ubereinstim- 
„mung  aller?  Warum  bleibt  der  schöne 
„Bund  ihrer  Kräfte  immer  zerrissen? 
„Warum  nahen  selbst  die  Besten  sich  so 
„selten?  — " 

Erithrama.  Weil  der  Gelegenheiten 
sich  zu  erkennen  zu  wenige  sind  im  Loose 


  52,5 

der  IviiasllicLen  Alltäglichkeit,  zu  der  sich 
Menschen  Iiinah  stimmten 

Wer  darf  Kind  seyn  ?  Fremde  Laune  ist 
sein  erstes  Gesetz,  ihre  Befriedioung  sein 
erster  Stolz.  xVlles  wird  ilim  aufgedrun- 
gen; wie  sollten  Gedanken  und  Empfin- 
dungen sein  werden,  dem  nichts  eignet 
als  eine  angenommene  Form,  deren  müh- 
same Behauptung  seine  KraCte  verzehrt, 
statt  sie  zu  üben?  Dankt  eurem  hessern 
Schicksale  diesen  wie  jeden  ahnlichen  Tag. 
Tausende  würden  ihn  nur  eine  drückende 
Ijast  genannt  haben.  Freyseyd  ihr  erwach- 
sen :  keine  Unfehlbarkeit  des  Schönen  und 
Nichtschönen,  kein  fremdes  Empfinden 
ward  die  zw^angende  Regel  eures  Gefal- 
lens. Frey  leht  ihr  auch  hier,  hey  der 
Uberzeugung,  dafs  nichts  so  bis  ins  Inner- 
ste des  Geistes  Fähigkeit  für  das  Edlere 
zerrütte,  Selbstheit  und  Herrschsucht  so 
einzig  nur  bt^fruchte,  als  dieser  gewöhn- 
liche Trrstolz  älterer  Menschen  .  .  .  ,,sich 
allein  der  Regeln  alles  Schönen,  der 
Wahrheit  alles  Gefühls  für  die  tausend- 


artige  EmpFangliclikelt  unsers  Wesens  an« 
zuinaisen.  " 

D  y  a.  Und  warum  müssen  Männer 
so  selten  seyn  ?  warum  müssen  Jüno- 
linge  so  selten  Männern  hecre^nen,  um 
unter  ihren  Händen  zu  werden ,  was  sie 
seyn  sollten  ? 

Erithrania.  Immer  darum,  weil  die 
Verhält nisse  eures  gewöhnlichen  Lebens 
ein  viel  zu  geringer  Schauplatz  sind ,  um 
höhere  Kräfte  zu  entwickeln.  Nicht  alle 
verstehen,  w^enigere  noch  erfüllen 
das  Ziel  ihres  Wesens  -  -  Der  Mann ,  wie 
die  Natur  ihn  verlangte,  in  der  vollen  Be- 
deutung des  Worts,  ist  die  Krone  der 
Schöpfung,  und  ein  Lehen  für  diesen  Na- 
men hingegeben,  ein  viel  zu  geringer  Preis 
für  eine  grofse  Sache.  Geboren  in  der  Fülle 
seiner  Kraft,  um  die  Gesetze  des  Daseyns 
in  seinem  veredelten  V\  illen  zu  finden,  und 
durch  einen  Blick  auf  das  höhere  Ziel  un- 
sers Lebens  Trrgänge,  in  denen  der  Ge- 
wöhnliche sich  so  selbstzufrieden  verwirrt, 
zu  meiden ,  kennt  er  nur  Eine  Wahr- 


3^5 


iieit-  -  Bestimmung  desMensclien. 
Werkzeug  eines  huiiern  Endzwecks  — - 
Iiennt  er  sein  Ich  nur  als  eine  thäli£;e 
Kraft  für  andere,  und  ist  beruhigt  bey 
jeder  Ilanrllung,  auch  wenn  sie  foigenjos 
scheint,  weil  die  Überzeugung  .  .  „keine 
That  werde  vernichtet,  jede  in  der  leben- 
digen Kraft  des  Universums,  in  der  Ilribe 
des  unendlichen  Fortschritts  durch  Ver- 
knüpfung mit  andern  zur  foitdauernden 
Wirksamkeit"  ihn  leitet.  Vertraut  mit 
der  Natur,  rastlos  an  Fleifs,  scharf  au 
Blick,  für  jedes  Daseyn,  für  jeden  Stand 
des  Lebens  sich  selbst  genug,  ist  er  der 
Genius,  der  zwischen  Welt  und  Nach- 
welt unter  Sturm  und  Kämpfen,  ein 
Schreckbild  schwächerer,  und  unerklärbar 
wie  das  Schicksal,  Wahrheit  rettet, 
und  die  Hand  verbirgt,  die  es  that. 
Zerrüttung  ist  sein  Spiel.  Hindernisse 
sein  Erwachen.  Des  Lebens  stille  Freu- 
den sind  ihm  ein  unbekanntes  Gut,  Er 
verachtet  das  gemeine  Vergnügen,  das,  zu 
schwach  für  seine  Reitzbarkeit ,  zu  arm 


326 


für  seine  Befriedigung  nur  f\a&  Wahre 
verhüllt;  trotzt  der  Last  eines  freudelosen 
Daseyns,  mit  dem  Gleichsinne  eines  Her- 
zens, das  dem  Gelispel  weichlicher  Empfin- 
dungen sich  verschli(  fset.  Der  Donner 
nur  kann  ihn  wecken  ;  der  Blitz  nur 
erw;irmt  sein  Herz;  das  Grofse  nur  ist  sein 
Reitz.  Das  Getümmel  des  Todes  raachts 
licl^t  um  ihn  her:  hohe  Empfindung, 
Genufs  seiner  sell)st  ühereilt  ihn  erst  da, 
wo  Entsetzen  und  zerrifsne  Einpfindlich- 
!keit  andre  ergreift.  Er  ist  unolücklich  — 
denn  er  kennt  den  ^'lenschen  wie  er  seyn 
sollte,  und  findet  ihn  nicht:  aher  er  ists 
minder  als  ers  scheint;  denn  seine  Krän- 
kungen liegen  in  seiner  Gröfse.  Die  Stimme 
der  Alltäglichkeit  und  ihre  Leiden  —  sind 
Wehen  der  Kinder  für  ihn.  Er  geht  seine 
Bahn,  unbekümmert  um  ihre  einzelnen  Kla- 
gen. Sein  Gang  ist  der  Gang  der  Sonne  — 
Wohlthat,  aber  nicht  gleiche  Wohlthat 
für  alle.  Menschen  können  nie  ihn  beur- 
th'  ilen.  Ein  Gott  nur  kann  sein  Richter 
werden. 


5^7 


3Jya.    Dein  Gem.'ikle  ist  sehr  grofs. 

E  r  i  t  Ii  r  a  in  a.  Um  desto  mehr  zu  wir- 
l.eii.  Oder  glaubst  du,  der  Maler  zeiclme 
rur  dem  Auge  zu  gefallen?  Es  wird  eine 
Zeit  kommen!  Du  \vir.>t  Männer  bandeln 
sehen,  nnt\  die  Geschichte  lernen,  die  ihre 
Thaten  verewigt.  In  dir  selbst,  in  der 
Entwiclvlung  deines  eignen  Charakters, 
wenn  er  fähig  ist  zu  halten,  was  er  ver- 
spricht, wirst  du  ihre  Gröfse  erkennen; 
aber  auch  Tausende  neben  dir,  auf  deren 
Gesinnungen  kein  Schauspiel  der  Gröfse 
wirkt.  IMan  niufs  mehr  als  das  Gewöhn- 
liche wahrnehmen  können,  um  durch  Gc> 
ringachtung  des  Alltäglichen  zum  BegriH: 
und  Wunsch  eines  veränderten  ^Vandels 
aufgeklärt  zu  werden.  Man  mufs  stark 
seyn,  um  der  Ruhe  zu  entsagen,  empfind- 
licli,  um  den  Vorzug  jeder  Handlung  ab- 
zuwiegen, das  Kleine  mufs  keinen  Reitz, 
Wohlleben  keine  Kraft,  und  die  Meinung 
gewöhnlicher  Menschen  keinen  Werth  für 
lins  haben.  Dann  —  und  nur  dann  wird 
die  S'^ele  zu  groisen  Ideen  geübt,  n  u  r  u- 


328 


hig  im  Müfsiggange ,  stolz  durch  Thä- 
tigkeit  -  -  -  jenseit  ihrer  selbst  das  nie 
erreichte  Ziel  des  üaseyns  suchen. 

D  y  a.  Und  wer  nun  des  allen  man- 
gelt?  — 

E  r  i  t  h  r  a  m  a.  Der  sey  und  bleibe ,  was 
so  viele  sind  —  ein  Mensch ,  dessen  kranke 
Seele  ohne  Erschütterung,  wie  eine  dürf- 
tigr  Lampe,  durch  ihr  eigenes  Daseyn  sich 
aufzehrt.  Die  Geburt  verdarb  an  ihm, 
was  Erziehung  nie  bessert,  und  keine 
Lehre  ist  im  Stande,  den  Widerwillen 
des  engen  Geistes  zum  Trieb  der  Grölse  zu 
erweitern.  Der  ärgste  Spötter  greiser  Men- 
schen ist  der  m  i  tt  el  m  äf  s  ig  e,  den  die 
Vorliebe  seiner  Lehrer  zur  Empfindung 
eines  höhern  Daseyns  zu  bilden  suchte. 
Wollet  nicht  lauter  Helden,  sondern  prüft, 
ehe  ihr  das  Höhere  mittheilet.  Es  giebt 
eine  Verschwendung  des  Guten,  eine  Vor- 
eiligkeit des  Willens  im  Bessern,  die,  wie 
ein  übermüthig  schwacher  Reicher,  durch 
Schenken  allein  schon  Glückliche  zu 
machen  glaubt.   Achtel  das  Gute  mit  wahr- 


hafterer  Einsicht  -  -  -  als  eine  Sache,  die, 
strenger  als  alle,  nur  durch  Gesetze 
des  Verhältnisses  besteht;  und  ihr  werdet 
jrerechter  in  eurem  Eifer  —  Tuf^enden  des 
Mannes  nicht  von  Kindern  foitlern,  nicht 
zerstören,  nicht  herrschen,  nicht  einseitig 
vorschreiben  w^ollen,  wo  ihr  das  Vielsei- 
tige aufsuchen,  und  selbst  das  achten 
lernen  solltet ,  w^as  gemeine  ?/Iensch- 
heit  sättiget  und  ergötzt.  Es  ist  diels  eine 
Warnung ,  die  man  euch  jugendlich  flam- 
menden Geistern  nicht  oft  genug  vorlegen 
kann,  die  ihr  so  gern  .  .  .  eure  Tugend 
zum  Königsrecht  fremder  Beherrschung 
macht.  Kennt  ihr  denn  euer  eicjnes  Herz, 
um  fremde  zu  leiten?  Lasset  sie  sich  be- 
graben mit  der  iXIeinung  einer  wichtigen 
Angelegenheit  in  den  Armen  der  Liebe : 
auch  dort  keimt  das  Edlere.  Lafst  sie  sich 
nähren  und  gerecht  seyn  durch  die  klein- 
liche Pünktlichkeit  ihres  VVandels  ,  wenn 
sie  die  alltäglichen  Pflichten  des  Lebens 
erfüllen.  ,,Froh  zu  seyn"  —  bleibe  ihr 
Wahlspruch:  nur  das  Elend  macht  bitter. 


530 


Die  Iduge  Erhaltung   ihres  Eigenthums, 

r(?f]licher  Fleifs  hleihe  die  Ehre,  die  sie 

suchen  ;  Furcht  der  Gesetze  —  deij^chranke 

Vtirev  sich  seihst  nicht  inac]iti£en  Seele,  und 

tri  ' 

HolFiinng  seli^ier  Zukunft  —  ihre  Stütze 
hey  den  Aufopferungen  des  Eebens.  Ihr 
Auge  fatst  nur  diese  Gegenstände  mit 
Klarheit;  warum  wollt  ihr  sie  auf  Fernen 
leiten,  wo  der  schwächere  Blick  nur  an 
Täuschungen  irrt?  Lafst  sie  Leidenschaf- 
ten fürchten,  die  sie  doch  nie  zu  heherr- 
schen  vermögen.  Lafst  ihnen  Regeln ,  da 
sie  das  Gute  nie  in  freyer  Wahrheit  seihst 
zu  finden  —  stark  genug  sind. 

Würden  sie  es» fassen,  wenn  ihr  ihnen 
sagtet,  wie  ich  euch:  ,,Seyd  unglück- 
lich, aber  grofs.  Denket  der  Würde 
des  Mannes;  fürchtet  keine  Leiden- 
schaft, seyd  ihr  Herr  durcli  feste  Er- 
kenntnifs,  und  macht  sie  zur  wohlthätigen 
Kraft,  wie  B.osse ,  die  eure  Hand  lenkt. 
Wandelt  in  den  Znuherpalusten  der  Liehe, 
Meister  euer  selbst  in  edlerem  Bewufst- 
seyn  —  auch  ihre  Ma^ie  ist  oft  Wohithat, 


und  nöthig  zu  kennen,  als  Probe  selbst" 
ständiger  oder  schwankender  Triebe. 
Aber  höheres  Streben  ist  dahin,  so- 
bald ihr  Befriedigung  nur  in  den  tägli- 
chen Kleinigkeiten  des  häuslichen  Tre- 
bens sucliet.  Der  einzelne  iMensch  ist 
nichts  für  euch.  Das  Ganze  ist  euer 
Augenmerk.  Euer  grofses  Bewufstseyn 
bleibe,  „dafs  in  dem  Augenblicke,  da 
euer  Leben  aufhört,  ehrenvoll  oder  nütz- 
lich für  das  Ganze  durch  eure  Thätigkeit 
zu  seyn,  es  auch  ganz  aufhören  müsse.'* 
Leidende  Nutzbarkeit,  Duldung  und  stille 
Ijebensergebenheit  sind  nur  für  schwache 
Seelen.  Den  Tod  müfst  ihr  nie  fürchten. 
Diefs  Daseyn  ist  nur  Werkzeug  der  Zu- 
kunft, sein  Preis  zu  theuer  für  jeden,  der 
das  richtige  Mafs  seiner  Anwendbarkeit 
verkennt. " 

„Menschenliebe  ist  so  oft  der  falsche 
Name  für  Schwäche.  Man  mufs  lächeln 
über  die  Menschen,  sie  warnen,  wie  Kin- 
der, und  sichern  auf  ihren  Pfaden.  Aber 
wer  kann  einen  sinnlosen  Haufen  lieben, 


532 


ol'.ne  sich  selbst  eine  Lüfi^e  zu  sagen? 
einen  Iliuifen,  den  man  nur  einzeln  zu 
l^ennen  braucht,  um  alle  Neigung  für  ihn 
7A1  verlieren.  jMan  muls  ihnen  Gutes 
thun,  weil  es  den  Adel  unsrer  Seele 
inid  den  Werth  des  Daseyns  ausmacht: 
man  mufs  sie  zum  Tode  führen  kön- 
nen, wenn  das  Wohl  der  Nachwelt  das 
02)fer  der  jetzigen  fordert. 

„Man  m.ufs  der  Menschheit  wohlwol- 
len, aber  der  Weg  dazu  hann  nicht  ohne 
Unglückliche  gefunden  werden.  Mit- 
leid ?  —  zweydeutige  Tugend!  wie  sel- 
ten Tugend,  wie  oft  nur  armseliger  Er- 
satz für  liöbere  Kräfte  !  Stille  Gröfse  ?  — 
der  heimliche  Neid  erhob  diese  zum 
Gegensatze  gegen  blendend:  ich  ehre 
beide ,  wo  ich  sie  finde ,  und  beide  gehö- 
ren zum  Ganzen. 

„Gott  ist  grofs  und  gut.  Aber  führet 
euren  Wandel,  ohne  merken  zu  lassen, 
dafs  ihr  mit  jedem  Schritt  ihm  Ehre  zu 
erzeigen  glaubt.  Reiner  Wille  ist  sein 
Gefallen ,  nicht  Höflingsunterwürfigkeit. 


355 


Er.hafst  den  Scbmelcliler,  der  mit  jedem 
Wort  in  seine  Gunst  sich  einzusclileiclicn 
sucht.  Nach  seinem  Willen  ist  der 
Mensch  nur  gnt,  nicht  fromm:  Bild 
und  Glaube  sind  traurige  Nothwendig- 
keit  der  Schwäche.  Handelt,  als  oh  der 
Tod  euer  Ende  wäre,  gut,  ohne  Blick 
auf  ewigen  Lohn.  Edle  Achtung  euer 
seihst  sey  euer  Begleiter.  Der  niedrigste 
Mann  im  Volke  kann  ein  Bösewicht,  der 
elendeste  kann  ein  Schwelger,  aber  edel 
seyn  kann  nur  der,  der  eine  ewige 
Wahrheit,  und  sich  selbst  —  als  Theil 
eines  höhern  Ganzen  erkennt.  Denkt, 
dafs  die  Natur  euch  erkohr,  die  lebens- 
frohe, nimmer  satte  Herde  zur  Weide  zu 
führen.    Die  Natur  gab  ihn  e  n  Freuden, 

euch  Thaten.  Sie  sind  vielleicht  olück- 

o 

lieber;  aber  ist  Eine  eurer  vollgliiben- 
den  Minuten  nicht  tausend  ihrer  schläf- 
rigen Tage  Werth  ?  " 

Nicht  ohne  Grund  spreche  ich  euch 
jetzt  davon.  Die  Blenschen,  die  diese 
Nacht  euch  beherbergen,  verdienen  Uber- 


534  ~" 

dachtheit  der  Nachsicht.  Es  sind  Un- 
glückliche:   das   Gefühl   des  Verlornen, 

der  unvollkommene   Ersatz   der  Gesen- 

o 

wart  nf^gt  an  ihrem  Herzen.  Zu 
schwach,  um  fremder  Gewalt  unter  edler 
Hoffnung  zu  hegegncn ,  zu  leidenschaft- 
lich, gehlendet  vom  Wahn  eines  vor- 
lihergehenden  Enthusiasmus  —  glauhten 
sie  sich  grofs ,  tugendhaft,  und  ihren 
Vätern  gleich  -  -  -  wenn  sie  dem  ange- 
wöhnten Unenthehrlichen  ihrer  Städte, 
den  leeren  Bedürfnissen  ihres  verzärtel- 
ten Sinnes  entflöhen  —  —  für  ein 
Glück,  das  sie  zu  träumen,  aber  nicht 
zu  besitzen  vermögen:  hier,  sich  selbst 
heuchelnd,  fliefsen  Thranen,  die  sie 
dem  Unglück  ihres  Vaterlandes  zueig- 
nen —  nur  jenen  verlassenen  Freuden. 

Es  wird  Mühe  kosten  diese  verwöhn- 
ten, ihrer  selbst  nie  gewissen  Menschen 
zu  irgend  einer  Bestimmtheit  zurück  zu 
führen. 

Seyd  mild  und  achtend  gegen  sie :  nur 
indem  ihr  die  Eitelkeit ,  die  sie  hierher 


335 


täuschte,  wie  Tugend  behandelt,  hann 
vielleicht  die  Wirklicuheit  entstehen. 
Die  Kiaft  freyer  Herzen,  die  Quellen, 
an  denen  ihr  die  Wahrheit  einer  schö- 
nen Beruhigung  sucht,  sind  ihnen  fremd. 
Euer  gleichheitrer  Sinn  mufs  sie  auf- 
merksam machen  für  das,  was  ihr 
seyd ,  und  begierig  nach  der  Bahn  ,  auf 
der  ihr  es  werden  konntet.  Viel  sol- 
cher Kranken  wohnen  in  diesen  Thälern. 
Der  Stolz,  ,,zu  thun,  was  andre  thaten, 
und  das  Bild  eines  Götterlebens  das 
den  Wenigstfähigen  immer  am  meisten 
vorschwebt ,  hat  Tausende  hierher  ge- 
bracht. Versucht  euer  erstes  Probestück  — 
verwöhnte,  verbildete,  begehrende  Men- 
schen zum  offnen  Sinn  des  Wahren,  und 
ihr  bestimmungsloses  Seyn  zum  festen 
Gang  erkannter  Würde  zurück  zu  leiten. 

Dya.  Und  haben  sie  nicht  was  man 
bedarf  -  -  -  eine  Natur  hoher  Gegen- 
stände ,  ein  Daseyn  ohne  liränkung, 
euch  zum  Vorbilde? 


33Ö   

E  r  1 1  b  r  a  m  a.  Völker  Laben  Natur, 
Gescbirhte,  die  Fortschritte  des  \  erstan* 
des,  und  das  Vorbild  edler  Zeiten:  sind 
sie  darum  fest  in  ihrer  Güte?  Wer  das 
edlere  Gebeimnifs  der  Sprache  selbst  verlo- 
ren bat,  was  sollen  ihm  ihre  Zeichen? 
Versucbts.  Diese  Leute  hatten  Witz, 
gefällige  Bildung  und  Reicbthum  für  alle 
Ansprüche  vergänglicher  Launen,  um. 
neben  andern  zu  glänzen:  sie  hatten 
alles,  nur  keine  Wahrheit  und  keinen 
eignen  Charakter.  Aus  fremder  Mei- 
nung ...  wollten  sie:  der  falsche 
Mafsstab  fremder  Bewunderung  war 
ihr  Gesetz  für  das  Schone  und  Grofse. 
Sie  müssen  hier  Fremdlinge  bleiben;' 
denn  w^er  ist  hier,  der  sie  bewunderte  ? 
Wer  dient  hier  im  Wetteifer  kleiner 
Vorzüge  ihrer  Seelenlast  zum  erwecken- 
den Reitze  ?  Das  Grofse  geht  seinen 
einfachen  Gang,  in  der  Bestimmtheit 
gleichstäter  Ziele;  nur  einem  selbst- 
ständigen Geist  eignet  der  entsagende 
Muth,  der  Ehre  nach  Entfernungen  mifst. 


Wir  betraten  die  Wohnung  dieser 
Menschen.  Unsre  Ankunft  war  vorbe- 
reitet.   Man  erwartete  uns. 

Welch  eine  Unruhe,  welch  ein  ver- 
worrenes Haschen!  W^elch  ein  Abstand 
vom  frohen  Empfang  des  Wohlwollens, 
das  im  Begegnen  des  Fremdlings  nur 
einen  Gegenstand  mehr  für  seine  Er- 
giefsungen  findet!  Welch  ein  Abstand 
von  der  Würde  anspruchloser  Herzen, 
die  eine  fremde  Gegenwart  nicht  be- 
drückt ,  denen  die  Freude  zu  wahr  ist 
um  auf  ihre  Zeichen  zu  denken!  Uber- 
all sah  ich  nur  ängstiges ,  angelerntes 
Streben,  das  niif  herzlichem  Sinne  nie 
auf  Einem  Boden  keimen  kann,  ein 
Mittelding  von  Dienstbarkeit  und  Hotfart. 
Man  glaubte  uns  zu  befriedigen  durch 
Schimmer,  durch  zudringendes  Gefallen, 
durch  falsche  Erhöhung.  Wufsten  sie 
denn  nicht,  dafs  der  reine  Willkommen 
des  frohen  Gemüthes ,  das  mehr  ge- 
währt als  anbietet,  der  einzig  befriedi- 
gende ist.  ? 
Dya-Na-Sore  x.  Tb.  22 


Man  sah,  wie  sie,  aus  iluei  Liebens- 
weise  gerissen  —  halb  froh  in  eitler 
Selbstgenügsamkeit,  halb  gepeinigt  in  ge- 
störter Ruhe,  überall  wählend  und  nir- 
gend ein  Ganzes,  uns  eine  Last,  sich 
selbst  eine  Qual  wurden. 

Noch  schwand  der  erste  Abend  min- 
der drückend  unter  dem  fortwirkenden 
Pulse  eines  solchen  Tages.  Hingerissen 
an  die  Fülle,  die  uns  beseelte,  beweg- 
ten selbst  diese  Wesen  sich  freyer  und 
unbefangener  und  näher  an  uns.  Das 
Angelernte  verschwand  ,  das  Bessere 
siegte ,  der  Mensch  wagte  furchtsam 
sich  im  Menschen  zu  'zeigen. 

Wir  fanden  sie  zu  unserm  Empfange 
unter  einigen  hohen  Bäumen  vor  dem 
Hause.  Lichter  brannten  in  Menge  :  die 
stille  Heile  des  Mondes  hätte  ja  ihre 
Freude  nicht  gezeigt  .  .  .  . ! 

„O  ihr  Glücklichen,  die  ihr  der  schö- 
,,nen  Natur  dieser  Thäler  in  Friede  ge- 
„niefset!"  —  riefen  wir,  ihren  wortrei- 
chen Willkommen  zu  unterbrechen.  Ihre 


halte  Bejahung  könnte  uns   sagen,  dafs 
sie*s  nicht  zu  seyn  wufsten. 

Wir  sollten  ins  Haus  :  dort  war  alles 
festlich  zugerichtet;  und  wir?  wir  woll- 
ten nur  im  Freyen  seyn.  Ihre  Anstal- 
ten waren  verrückt,  alles  ward  Ver- 
wirrung. Dya  durchkreuzte  mit  aller 
Lebhaftigkeit  kleiner  Launen,  jeden  Ver- 
such uns  zu  führen.  Hoffnungslos  war- 
fen sie  sich  endlich  in  den  Strom ,  der 
sie  forttrieb.  Erithrama  lächelte  in  stum- 
mer Billigung  :  zuweilen  fielen  seine 
Blicke  bedeutender  auf  einen  Alten ,  der 
schweigend  edlere  Verschiedenheit  zeigte. 

Stimmen  stiller  Zvi  ischenräume  spra- 
chen zuweilen  aus  der  Ferne. 

Mifsachtend  nannte  man  zwey  Mad- 
chen,  ,,die,  immer  absondernd,  selbst\ 
,,unserm  Empfange  sich  entzogen  hätten, 
„denen  alles  Urtheil  gleichgültig,  alles 
„Wesen  der  andern  einsam  verhafst  sey. 
„Niemand  befreunde  sich  ihrem  abster- 
„benden  Gemüthe." 


Mein  Blick  fiel  auf  jenen  Alten.  In 
mühsam  verhaltenem  Unwillen,  mit  unter- 
drückter Rede ,  mit  schneller  Bewegung 
stand  er  auf. 

„Es  sind  die  Kinder  meiner  Seele," 
sagte  er,  da  ich  ihm  später  mit  Dya 
begegnete  :  „aber  diese  Menschen  n  e  n- 
„nen  nur  das  Selbstähnliche  —  gut. 
,,Ihr  werdet  beide  kennen  lernen.  Schön 
^„ist  die  Stärke  ihres  Geistes,  aber  Jugend 
„und  Unglück  machen  sie  unbeugsamer, 
„als  sie  sollten.  Noch  sind  sie  nicht  ver- 
„altet  genug,  um  eigennützig  trag  —  des 
„Tbörichten  zu  schonen.  Ihr  seyd  Fremd- 
„linge  im  , Gefolge  mächtig  geachteter 
„Menschen:  euch  erlaubt  man  allen- 
falls  Abweichungen ,  unter  dem  Namen 
„  .  .  .  Gewohnheit;  aber  dem  Verlas- 
„s  e  n  e  n  nicht.  D  o  ch  wagt  es  nie,  was 
,,euch  unterscheidet  —  besserer  Einsicht 
„laut  zuzuschreiben.  Die  Menschen  ver- 
„zeihen  eine  Unthat  und  eine  Thorheit; 
„aber  der  mindeste  Argwohn  gegen  die 
„Unfehlbarkeit  ihres  Geistes  —  ist  ein 


„Verbrechen  ohne  Nachlafs,  und  alles 
„Gute,  das  ihr  vielleicht  wirken  könnt, 
„wäre  zum  Voraus  vernichtot." 

Dya.  Aher  wer  sind  die,  wie  einsame 
Geister  dort  an  den  Gebüschen  ? 

Anir.  Wesen,  denen  edler  Sinn  aus 
der  Vernichtung  alles  Bessern  um  sie  her 
erwuchs  :  die  Menschen  stiefsen  sie  aus  ; 
die  Schlechtheit  ihrer  Zeit  brauste  flutend 
gegen  sie. 

„Eine  hohe  Leidenschaft  gab  ihnen 
den  Sieg.  Die  schöne  Kraft  des  weibli- 
chen Geistes,  der  unter  Stürmen  zum 
Selbstgefühl  reifte,  zeigt  sich  an  ihnen 
.  .  .  der  Muth  zarter  Gefühle  und  der, 
empfänglich  stille  Sinn  alles  Edlen.  *) 
Wenn  keine  dieser  seltnen  Erscheinun- 
gen, wenn  kein  Weib  ,,in  der  erhabenen 
Vergangenheit  besiegter  Leiden"  euch 

*)  Es  ist  sonderbar,  dafs  der  anenscliliche 
Stolz,  dem  alles  Grofse  und  Gute  iinsrer  Natur 
als  ein  gemeinsamer  Vorzug  werth  dünken 
sollte,  gerade  im  Eirathen  des  Guten  am  we- 
nigsten Scharfsinn  äiilsert. 


noch  begegnete ;  so  ist  rler  halbe  AVerth 
der  menschlichen  Natur  euch  noch  ein 
Geheimnifs. 

„Ach  wie  leicht  und  unnachahmlich 
gebildet  erscheinen  uns  die  Bewegungen 
unsrer  Natur  in  solchen  Gemüthern!  In 
tiefer  Stille,  wie  ein  schöner  Bach,  gehen 
sie  vorüber,  und  alles  ist  Bewegung; 
das  Umgebende  spiegelt  sich  in  ihrer 
Klarheit;  die  Spuren  des  Sturmes  verlö- 
schen mit  seinem  Daseyn.  So  wallen  sie 
zum  Meere  der  Zeit,  und  ilir  sanfter 
Lauf  schmückt  sich  in  den  Blüthen  seiner 
Ufer. 

,,Tch  bin  ein  alter  IVIann  ,  aber  meine 
Seele  wird  nie  ungerührt  an  der  hohen 
Schönheit  solcher  Wesen  stehen. 

,,Wir  sind  festerer  Stoff,  darum  blei- 
ben uns  die  Eindrücke  des  Widrigen. 
Sie  —  dais  ich  dem  Bilde  treu  bleibe  — 
wirbeln,  wie  ein  Bach,  schneller,  wo  sie 
Widerstand  finden ;  aber  ihr  Spiegel,  in 
der  Ruhe ,  wird  dann  wieder  so  glatt  als 
zuvor. 


>  I  ) 

„O  ihr  Tage  meiner  Jugencl,  schön 
wart  ihr,  da  ich  auf  den  Hügeln  von  Tali, 
unter  den  Gefährten  meines  Namens  auf- 
blühte, da  ich  ein  Vaterland  hatte  und 
eine  Geliebte,  und  in  der  hohen  Wärme 
meines  Herzens  für  beide  zu  siegen  oder 
zu  sterben  wufste !  stark  genug,  sie  aus 
den  Händen  der  Feinde  zu  retten  ;  glück- 
lich —  da  sie  mir  wieder  begegnete  in 
den  Hallen  meiner  Väter.    Wenn  sie  mit 
hoher  Seele  meiner  Gegenwart  entsagte 
für  die  Erfüllung  meiner  Pflichten;  wenn 
sie  mich  thränenlos  der  Gefahr  entgegen 
ziehen  sah,  um  nur  einsam  an  den  Ahnun- 
gen meines  Verlustes  zu  weinen;  wenn 
sie   sanft  lächelnd  mir  mit  tiefem  Her- 
zensblicke in  meiner  schiinmcrndsten  That 
nur  —  männlichen  Eitelmuth  zciGIte,  und 
stolze  Kleinlichkeit  —  im  Pochen  meines 
Trotzes  —  Werkann  dem  sanften  Worte 
der  Liebe  widerstehen,    wenn  sie  uns 
gröfser  erscheint  als  unser  Herz,  und  ge- 
rechter als  unser  Urtheil  ?  Wer  fühlt  sich 
nicht  hingerissen  in  die  zarte  Sorge  eines 


Wesens,  das  nur  in  tmsrer  äcliten  Gröfse 
sich  befriedigt,  das  nur  in  unsrer  Erha- 
benheit uns  liebt,  dem  wir  alles  sind 
durch  Wahrheit  und  Güte?" 

,, Schön  war  sie,  schön  im  Ausdruck 
des  TreiFlichsten  unsrer  Natur:  alles 
Schöne  ward  mir  ihr  Abbild  ;  ibr  Hauch 
umgab  mich  in  jedem  leisen  Wehen  der 
Luft,  ihre  Stimme  tönte  mir  in  jedem 
Gesänge,  ihr  süfser  Laut  folgte  mir  bis 
ins  Getöse  einer  Schlacht,  Erinnerungen 
umschwebten  mich  .  .  .  des  -Menschen 
glücklichste  Stärke  unter  Gefahren. 

„Zweymal  begegnete  ich»  ihr  in  der 
Gewifsheit  meines  Todes  ,  ein  lächelnder 
Stern  auf  meinem  dunkeln  Wege. 

„Ich  stritt  für  die  alten  Gesetze  mei- 
nes Vaterlandes  gegen  die  Neuerer  sei- 
nes Untergangs :  Verfolgung  war  mein 
Loos.  Mifsgekannt  und  falsch  gerichtet 
schien  ich  ein  Feind  alles  Bessern ,  und 
die  Verzweiflung  fruchtlosen  Kampfes 
nagte  —  nein  ,  hätte  an  meinem  Herzen 
genagt ;  aber  unter  ihrer  weichen  Hand  — 


 3-h5 

verwandelte  der  Fluch  gegen  meine  Zeit- 
rrenossen  sich  in  eine  Thräne  über  ihre 
Verblendung.  Menschenba fs  findet  nicht 
Platz,  wo  ein  Mensch  unverletzter  Rein- 
heit unserm  Herzen  naht. 

„Ich  bin  alt;  meine  Freunde  sind  gefal- 
len; mein  Ruhm,  meine  Reichthiimer  sind 
hinweg  gesunken;  ich  bin  verlassen!  Des 
Mannes  bitterster  Gedanke  —  >?ein  Volk 
mit  Schande  vernichtet,**  macht  in  furcht- 
])arer  Stille  die  Erde  öde  um  mich  her. 
Aber  ich  bin  nicht  allein :    ihre  Erinne- 
rung knüpft   mich  an  alles  Bessere  und 
Gute;    ihr  Bild  suche  ich  in  jeder  Ähn- 
lichkeit trefflicher  Menschen.    O  ich  bin 
nicht  allein,  nicht  verlassen,   nicht  öde: 
wo  ein  edles  Herz  mir  naht,    blüht  mir 
ein  Vaterland   kommender  Geschlechter; 
in  jeder  schönen  Thräne,  in  jedem  zarten 
Laute  des  reinen  Gefühls  seh'  ich  die  Rück- 
kehr meiner  Jugend.    Ein  Blick  in  das 
bessere  Vergangene  ist  unsers  Herzens  treu- 
ster Gefährte  .  .  dafs  der  Glaube  an  Tu- 
gend selbst  im  Unglück  und  Alter  uns  nicht 


Sfö   ■ 

verlasse.  So  tniipft  das  Verflossene  micli 
an  das  Gegenwärtige,  und  so  kann  ich 
euch  nicht  sagen,  mit  welcher  zarten  Sorge 
ich  an  diesen  beiden  Wesen  hänge.  Auch 
sie  reiften  unter  der  Unait  ihrer  Zeiten 
für  frühen  Gram,  und  wie  mich,  kann 
nur  die  Zuversicht  reinerer  Herzen  — 
den  IVIuth  des  Daseyns  in  ihnen  retten. 
Ich  suche  ihnen  zu  seyn,  was  andre 
mir  waren. 


So  gerne  hätte  ich  diese  Kinder  seiner 
Seele  gesehen;  aber  sie  waren  hinweg  in 
ihre  Gebüsche:  der  stille  Pfad  der  Ein- 
samkeit ist  jeder  feinern  Seele  unverletz- 
lich. Wie  ein  zarter  Nebel  schwebte  der 
übrige  Abend  in  trauernden  Bildern  mir 
über  der  Freude,  und  meine  Seele  war 
voll  an  allem  Guten  des  Daseyns,  rein 
gestimmt  in  allumfassender  Warme. 

Neben  meinem  Lager,  im  Mondlicht  des 
Fensters,  spann  eine  Spinne  ibr  Gewebe. 
Auch    für    sie    hatte    in    der  Harmonie 


347 


meines  Innern  jeder  tief  gewohnte  Abscheu 
seine  Macht  verloren.  Wohlwollend  und 
freudig-  sah  ich  jedes  Geschöpfes  Bemü- 
hung um  sein,Daseyn;  mit  der  zarten 
Achtung  alles  liebenden  entschlief  ich,  und 
freudig  sah  ich  im  Erwachen  ,  ungestört 
wie  ich  selbst,  ein  Thier  neben  mir,  das 
mich  sonst  empörte. 


Vier  Tage  lebten  wir  nun  hier.  Ach 
wie  viel  dringender  erwachte  mit  jedem, 
am  Abstände  zu  Erithramas  stillen  Hallen, 
am  Gefühle  unsers  bessern  Schicksals,  der 
Wunsch  ...  diese  und  alle  ihnen  ähn- 
liche Menschen  aus  der  Tiefe  eines  ver- 
kannten, vergeudeten  Daseyns  zu  ziehen  I 
Wie  fern  von  allem  Guten  mufs  der  gewe- 
sen seyn ,  der  hassend  oder  gleichgültig 
an  den  Verderbnissen  seiner  Zeit  ohneEnt- 
schlufs  der  ^Verbesserung  steht,  und  nie  das 
ewige  Gelübde  der  Menschheit  -  -  Men- 
schen zu  veredeln  —  wie  einen  hei- 
ligen Eid  sich  abfordert! 




Wir  sahen  die  Töchter  unsers  freundli- 
chen Alten,  wie  er  sie  nannte:  einfach  in 
ihrem  Zurückweichen,  welche  Haltung 
unter  den  übrigen,  welch  ein  rein  bestimm- 
ter Geist!  schön  und  im  Ausdrucke  des 
Edlen  —  zwey  hohe  Gestalten  stiller  Be- 
wegung, sanft  schwebend  ,  tief  ergreifend 
aller  Augen  unwillkührlich  auf  sie  gerich- 
tet, und  doch  alles  abgewandt  und  zurück 
gewichen  aus  ihrem  magischen  Kreise; 
bebend,  wie  aus  geheimer  Schuld,  suchte 
niemand  ihre  INähe.  So  wandelten  sie 
allein,  wie  alles  Grofse  unter  Menschen, 
die  es  läugnen  möchten,  wenn  nicht 
der  Stachel  seines  Daseyns  unter  Schmer- 
zen sie  überzeugte.  Welch  ein  Schauspiel 
für  uns ,  wie  belustigend  und  wie  beleidi- 
gend —  diese  Schutzwehre  von  Höflich- 
keit, mit  der  man  sich  gegen  sie  umzog ! 
dieses  auffallende  Entfernen,  um  ihnen 
nicht  ähnlich  zu  scheinen !  dieses  Lauern 
und  Begegnen  der  Blicke  bey  allem  fremd- 
artigen ihres  unbegriffenen  Betragens!  die- 
ser stundenlange  Spott,    wenn  sie  abwe- 


send  waren !  War  denn  diesen  armen  Men- 
schen kein  anderer  Reitz  ihres  Witzes, 
ihrer  Froheit,  ihrer  Mittheiluna  mehr 
übrig,  als  das  peinigende  Gegenhild  ihrer 
seihst?  o  so  beklage  ich  eine  Menschheit, 
wo  Millionen  nur  das  nämliche  bleibt ! 

Drängend  beschäftigte  man  sich  um  uns; 
die  Eitelkeit  wollte  uns  fühlen  lassen ,  dafs 
sie  W"erth  zu  fassen  vermöge :  wir  fanden 
kein  Mittel ,  jenen  gleichsam  Geächteten 
zu  nahen.  Sie  selbst  —  zu  anspruchlos 
und  zu  selbstfühlend,  um  den  Kreis  zu 
durchbrechen,  der  uns  beschlofs  —  harrte 
ich  unsers  freundlichen  Alten  :  aber  er 
selbst  schien  so  ferne;  er  selbst  sprach 
nur  so  vorübergehend  mit  ihnen ;  er  selbst 
schien  so  wenig  gesucht  von  den  übrigen, 
so  fremd  und  so  einzeln  und  so  anders, 
dafs  jede  Stunde  unter  Wollen  und  Hof- 
fen mit  all  ihren  ^Vidersp^üchen  uns  im- 
mer tiefer  verwickelte  in  die  Neugierde 
eines  unerklärbaren  Räthsels. 

Endlich  trennte  ein  glücklicher  Augen- 
blick mich  aus  diesem  Ge wirre,  und  wie 


durch  Verabredung  folgte  mir  Anir  unter 
des  Himmels  stille  Freyheit. 

Ich.  Wie  soll  ich  dich  verstehen?  Du 
verläugnest,  die  du  liebst,  und  opferst, 
was  ihnen  am  willkommensten  seyn 
mufs  -  -  die  Zeichen  deiner  Achtung,  der 
Gefälligkeit  auf  gegen  die,  die  du  nicht 
achtest  -7-    Wie  soll  ich  dich  verstehen  ? 

A  n  i  r.  Wie  ein  gerechter  Mann  ,  der 
die  Macht  der  Verhältnisse  und  den  Geist 
der  Menschen  kennt,  das  heilst,  „nicht 
eher  urtheilen  als  einsehen.'*  Wenn  dein 
Auge  dir  treu  ist,  so  mufs  meine  Lage 

unter   diesen  Leuten  dir  klar  seyn  

dafs  ich  selbst  fremd,  ich  selbst  nur  durch 
Kunst  eines  angepafsten  Betragens  ihnen 
genug  bin;  dafs  nur  meine  anspruchlose 
Gemeinmüthiokeit,  meine  scheinbare  Ent- 
fernung aller  W^ünsche ,  mein  Umhüllen 
alles  Höhern,  mein  Gleichstellen  ohne  Un- 
terwerfung, meine  Alltäglichkeit  neben 
gerade  so  viel  ünerklärbarem  als  Noth  ist 
ihre  Neugierde  zu  reitzen ,  meine  Eigen- 
heiten unter  Launen  versteckt  —  mir  eine 


Stellt?  veiscliaiTten ,  atif  der  ich  geachtet 
senucr  —  um  nicht.  Sklave,  unbedeutend 
genug  —  um  nicht  gefürchtet,  beneidet 
oder  verfolgt  zu  seyn,  des  Guten  so  viel 
thue  als  ich  unbemerkt  kann. 

Aus  Stolz  sucht  man  mich  auf,  aus  Stolz 
und  aus  Unschlüssigkeit  fr;jgt  man  mich 
um  Rath,  weil,  ich  weifs  nicht  welche 
Meinung  ...  es  zur  Ehre  machte, 
mein  Gutachten  zur  Stimme  zu  haben, 
weil  diese  Leute  fremdes  Ansehen  so  gerne 
zum  Mantel  ihrer  Fehler  aufbewahren.  *) 

Der  Zufall ,  der  ihre  Wünsche  mit  den 
meinisen  vereinigt,  macht  mich  zum  Wei- 
sen ;  ein  Gutachten ,  das  ihnen  wider- 
spricht, zum  eigensinnigen  Alten,  den 
seine  Jahre  beschränken  ,  den  sein  Stumpf- 

*)  Mittelmäfsiger  Menschen  liebster  Selbst- 
genufs  ist  der  Tadel  fremden  Ratlies,  von  des- 
sen Fruchten  sie  doch  leben :  alles  Späterrei- 
fende wird  der  Spott  ihrer  kenntnifslosen 
Ungeduld  ;  alles  Unbegriffene  ein  Beweis  ihres 
eigenen  Scharfsinns.  —  Man  klagt,  indem 
man  folgt,    um  beym  Mifsrathen  sich  pro- 


352 


sinn  zum  kurzsichtigen  Klügler  macht. 
Gepriesen  oder  verlacht,  je  nachdem  der 
Augenblick  will,  schwachinüthig  beglau- 
bigt in  der  Noth,  kühnstolz  übersehen  in 
der  Ruhe  —  was  würde  mein  Wirkungs- 
kreis seyn,  wenn  ich  an  diese  Wesen  ohne 
Bestimmtheit  mich  knüpfen,  wenn  ich 
entscheidend,  gebietend,  im  offnen  Gange 
meiner  Uberzeugung  den  Wahnsinn  be- 
kämpfen wollte,  der  mich  belehrt?  wenn 
ich  statt  Fehler,  die  man  entschuldiget, 
Tugenden  zeigte,  die  man  nicht  erträgt? 
Wahrheit  verschenken,  heifst  sie  entwei- 
hen. Seyd  wahr  in  euch  selbst,  in  eurem 
Willen  aufrichtig,  und  aufrichtig 
in  der  Absicht  —  Menschen  zur  Fähigkeit 
alles  Wahren  zu  leiten:    diefs  ist  die 

phetiscli  zu  rühmen.  Man  überläfst  dem  Ratli- 
»eber  eine  Ausführung,  die  inan  fürchtet, 
um  später  ihn  zu  verlachen.  Man  fragt  Tau- 
sende um  ihre  Meinungen,  um  dann  desto 
stolzer  sich  selbst  zu  folgen.  Wie  viele 
Fälle  der  kleinen  Eitelkeit  iiefsen  sich  noch 
anführen  ! 


355 


einzige  Pflicht.  Aber  nehmt  die  Gestalt, 
die  sie  fassen.  Werden  sie  das  Edle, 
das  Grofse,  das  Ächtnienscliliche  erken- 
nen, so  lange  ihr  Auge  unter  Täuschun- 
gen kränkelt?  — 

Gelähmt  und  vereinzelt,  sobald  der 
Verdacht  eures  Besserseyns  in  Yorur- 
theilen  erwacht,  die  euch  und  euren 
"Wahrheiten  den  Zutritt  der  Menschen 
verschliefsen ,  liegt  im  Geheimnisse 
der  Tugend  eine  Kraft,  die  niemand 
bestreitet,  gegen  die  niemand  sich  ver- 
wahrt. Drum  Täuschung  für  Täuschung, 
und  eure  Güte  um  so  strenger  verbor- 
gen, je  näher  sie  den  Gefahren  der 
Mifsdeutung  steht.  —  Nur  dem,  der 
weder  beschämt,  noch  gebietet,  der  der 
allgemeinen  Empfänglichkeit  verwandt 
nur  nützlich  scheint,  und  nicht  grofs, 
nur  klug,  und  nicht  selbstständig,  geste- 
hen die  Herrscherinnen  der  Menschheit 
.  .  .  Eitelkeit  und  Eigennutz  —  eine 
unkennbare  Macht  zu,  die  Dienst- 
Dya-Na-Sore  1.  Th.  2^ 


barkeit  scheint,  aber  in  unmeixilicLen 
Fortschritten  ihr  Reich  untergräbt. 

Im  Trotz  eigner  Wahrheit  entstand 
jene  Selbstgefälligkeit  unbiegsamer  Stren- 
ge, jene  Raufbolde  der  Geradheit,  die 
wie  ein  Fels  in  seiner  Schwere  nur  ste- 
hen oder  zermalmen. 

Sie  opfern  die  Sache  der  Form,  und 
glauben  sich  entehrt,  wenn  sie  Men- 
schen wie  Kranke  langsam  in  ihren  eig- 
nen Wahnbildern  heilen. 

Nur  die  Unbeugsamkeit  eines  störri- 
schen Eitelsinns  kann  die  Behauptung 
einer  angenommenen  Gestalt  —  ein  Bild 
unsrer  Fassung  —  für  wichtiger  hal- 
ten ,  als  das  pfiichtmäfsige  Verfolgen 
und  Erwägen  der  Umstände.  Ist  eine 
aufgedrungene  Tugend,  die  das  ewige 
Gesetz  des  stufenweisen  Fortschritts  über- 
springt, und  den  Fluch  über  jede  Ver- 
schiedenheit ausspricht,  etwas  andres  — 


ala  Tyranney  unter  dem  Majestatsreclit 
eines  göttlichen  Namens?  ein  Zwang, 
der  anbetende  Sklaven,  nicht  den  freyen 
Sinn  eigner  Güte  hervorbringt? 

Wo  entspringen  alle  Verschiedenheiten 
der  Meinung  über  Tugend  und  Laster, 
die  man  so  arglistig  zum  Zweifel  gegen 
alles  Festgesetzte  eiweitern  möchte,  als 
in  Verschiedenheiten  der  Einsicht?  Ver- 
breitet die  Triebe  reiner  Erkenntnifs, 
und  ihr  habt  die  Alleinherrschaft  der 
wahren  Tugend  gegründet:  ob  als  Dich- 
ter, oder  als  donnernde  Redner,  ob  als 
leichte  Gesellschafter,  oder  als  strenge 
Gesetzgeber,  als  Spötter,  oder  als  Be- 
geisterte -  -  -  ist  in  der  Sache  dasselbe; 
die  Mannigfaltigkeit  der  Darstellung  war 
nur  eine  Kunst  des  wählenden  Verstan- 
des;  die  augenblicklich  wirksamste 
ist  die  augenblicklich  beste.  Zu  sel- 
ten sind  Menschen  eigner  Beweglich- 
keit. Die  Wissenschaft,  ihnen  entge- 
gen zu   gehen,    bleibt   die    erste  im 


55Ö 


Geselzbuche  des  Verbesseiers  —  A  ii- 
muth       seine  erste  Bedingung. 

üafs  ich  öiientlich  —  jenen  seltenen, 
mir  so  theuern  Wesen  fremd  schien, 
werdet  ihr  nun  bald  wohlwollender  zu 
berechnen  wissen.  Lafst  mich  zeigen, 
wie  viel  sie  mir  sind  —  und  ihre 
schöne  Selbstständigkeit  ist  gefährdet. 
Ich  ihr  an  erkannter  Freund  und 
alle  höhere  Bedeutsamkeit,  der  ich  hier 
nicht  ganz  entweichen  darf,  erweitert 
sich  auf  sie.  Wer  wird  forthin  durch 
ein  unbewachtes  Uhheil  mir  den  Blick  in 
die  Leerheit  seines  Gemüthes  ölFnen  ?  — 
Sie  würden  Schmeichler  finden  und  Be- 
wunderer, man  würde  ihnen  feiner  be- 
gegnen ;  und  was  wäre  gewonnen  ?  — 
Dafs  ich  im  Gehalte  der  übrigen  mich 
um  so  öfter  täuschte ,  je  lässiger 
man  gegen  die,  ,,die  zu  achten  scheinen, 
was  wir  lieben,"  an  strengerer  Beobach- 
tung wird;    dafs   sie  —  statt  duldsam 

*)  Scheinbare  Ahidichkeit  mit  den  heiter- 
sten Gestalten  ihres  Daseyns. 


557 


aus  reiner  Überzeugung  gegen  scliwä- 
cbere  zu  werden  —  nun  unter  falschem 
Beyfall  und  in  stufenweiser  Auflösung 
—  Mittelweseii  unverträglicher  Arten 
würden. 

Nicht,  „was  andre  für  sie  zu  thun 
scheinen/'  nicht  der  süfse  einschläfernde 
Wahn  des  Selbstlobes  .  .  .  „in  einem 
veränderten  Betragen  —  veränderte  Her- 
zen und  den  Sieg  des  anerkannten  Ver- 
dienstes" zu  lesen,  nicht  die  kleinliche 
Wechselseitigkeit  des  Gefälligen  werde 
das  Gesetz  ihres  Lebens ;  sondern  das, 
was  jedem  Einzelnen  für  alle  obliegt  — 
auch  ohne  Erwiederung,  auch  verkannt 
und  verfolgt  und  gelästert  -  -  -  streng  zu 
seyn  an  eigner  Wahrheit,  aber  mild  in 
jeder  Pflicht  für  unähnliche  Gefährten. 

,,Wir  kennen  bessere  Menschen  in  die-, 
,,sen  Thälern  —  werdet  ihr  mir  sagen: 
,,es  war  ja  leicht  sie  dorthin  zu  führen, 
„in  die  Ruhestätte  unbedrohter  Tugend, 
,,wo  der  Geist  reich  wird ;  **  —  aber 
auch  zu  mühlqs  reich  an  zarten,  ungc- 


35Ö 


trübten  Gefühlen,  um  nicht  —  Schwei- 
ger im  Guten,  Träumer  im  Wirklichen, 
ein  stolzes  Kind  eigner  Unfehlbarkeit 
zu  werden,  und  zu  eilig  beglückt,  um 
nicht  —  am  Ende  vielleicht  gleichgültig 
zu  schlummern.  Schwache,  wenig  be- 
gehrende Herzen,  denen  der  leichteste 
Erwerb  schon  Mühe  ist,  würde  ich  dort- 
hin retten;  aber  Seelen  wie  die  ihrigen, 
können  nur  im  Kampfe  ungleichartiger 
Bedrängung  zur  reinen  Eigenheit  gedei- 
hen. Sie  müssen  wagen  um  zu  werden, 
und  an  Gegenbildern  fremder  Art  den 
Willen  ihrer  Trelflichkeit  bestärken. 

Euch,  wie  ihnen,  ist  dieser  Aufenthalt 
nöthig.  Nicht  umsonst  führte  man  euch 
hierher.  Der  Widerwille  des  erkannten 
Schlechten  ist  der  wärmste  Lehrer  des 
Guten,  um  so  wärmer,  je  scheinbarer 
die  Larve  der  Enthüllung  widersprach. 

Lernt  hier  jene  Schaaren  kennen,  die 
man  gut  nennt.  Ein  wenig  Eigennutz, 
von  Furcht  gebändigt ;  ein  wenig  Wis- 
sen,   von   Selbstgenügsamkeit  überpin- 


seit;  viel  Glauben  bey  wenig  Prüfung; 
viel  rioffart  bey  wenig  Regsamkeit;  be- 
wegbar oline  eignes  Leben;  wcicli  obnc 
Bilclsamkeit ;  Formen  ihre  Stütze,  Mei- 
nungen ihr  Gesetz  ;  eigner  Verstand  bald 
ihr  Wahn,  bald  ihre  Qual  ■ —  wanken 
sie  unter  der  Hand  ihrer  Führer,  suchen 
oder  fürchten  das  Urthcil  jeder  Hand- 
lung;, ehe  sie  noch  handeln.  Ihre  Sitten 
ein  Zwangbild  fremder  Vorschrift;  ihr 
Zorn  ohne  Gefahr;  ihr  Muth  eine  Wal- 
lung; ihr  Wille  ein  Wechsel  widerspre- 
chender Wünsche,  gehegt  ohne  Stärke, 
durch  Zufall  erreicht,  und  wie  ein  Raub 
in  der  Ungewifsheit  zagender  Herzen 
genossen:  so  gehen  sie  in  jeder  Aus- 
führung —  zwischen  fremdem  Ijobe  und 
eignem  Trotze  eine  Bahn  der  Unentschie- 
dcnheit,  die,  zum  Bösen  zu  beschrankt, 
zum  Guten  zu  selbstisch  —  Laster  aus 
falscher  Schonung  nicht  zerstört;  das 
Edle  in  träger  Furcht  nicht  vollendet; 
Tugenden  wünscht,  und  glücklichen  Ver- 
brechen gehorcht. 


36o   

So  ernten  sie ,  wie  ihnen  gebührt, 
unreifen  Weitzen  —  jammernd  unter 
Disteln,  die  sie  nie  auszurotten  wagen, 
und  verlieren  ein  Daseyn ,  für  dessen 
Umfang  sie  keinen  Blick  haben.  ' 

INützt  diese  Tage  durch  Beobachtung. 
Das  Alltäglichste  ist  oft  das  Bedeutendste. 
In  den  heiligen  Hallen  Erithramas,  un- 
ter hohen  Lehren,  Denkmahlen  und  ähn- 
lichen Gefährten,  sammeltet  ihr  nur  Sa- 
men: hier  zeigt  sich  die  Erde,  die  ihr 
befruchten  sollt,  und  die  ihr  kennen 
niüfst.  Naht  diesen  Menschen:  Klein- 
heiten sind  der  Inhalt  ihres  Lebens;  aber 
nur  indem  ihr  dieser  Kleinheiten  schont, 
öffnet  ihr  euch  Herzen ;  nur  indem  ihr 
allen  Verwicklungen  ihres  engen  Geistes 
folgt,  lernt  ihr  die  Bahn,  auf  der  das 
Übel  kam,  und  das  Gute  ihm  begegnen 
nmfs.  Wacht  gegen  jene  Launen  der 
selbstischen  Abgeschlossenheit,  die  „nur 
trefi'liche  Menschen  ihrer  JNähe  werth 
findet,^'  die  „nur  unter  gleichartigen  We- 
sen eines  höhern  Sinnes  Genufs  sucht." 


Das  Herz  biadet  uns  an  Bessere;  aber 
unsre  Pflicht  an  die  Mittelmäfsigkeit, 
die  in  tiefer  Erwartung  der  Hand  eines 
Helfers  bedürfe. 

Zum  Beweise,  wie  sehr  dieser  Haufe, 
bey  allem  Stolze  selbst  zu  urtheilen, 
von  fremdem  Vorgange  und  eigner  Un- 
gewifsheit  abhänge  —  habt  auf  ihr  ver- 
ändertes Betragen  bey  Erithramas  merk- 
barerer Traulichkeit  gegen  mich  Acht. 
Doppelt  werdet  ihr  mir  dann  Gerechtig- 
keit leisten,  warum  ich  meine  Lieblinge 
dem  Wetterwenden  dieser  Menschen  ent- 
ziehe. —  Ich  bin  alt  und  fest:  mich 
machen  sie  nur  lächeln:  allein  dem  wei- 
chen Sinne  der  Jugend  und  des  Weibes, 
reicher  an  Vertrauen  als  an  Erfahrung, 
steht  der  Mensch  näher  —  als  die  Wahr- 
heit, und  er  täuscht  —  wie  ich  schon 
sagte,  sich  gern  in  andern,  um  sich  selbst  zu 
erhöhen.  Euch  aber  ist  nöthig,  als  stille 
Zuschauer  zu  beobachten,  was  vorgeht. 

Und  wir  sahen,  wie  er  gesagt  hatte, 
aus    Erithramas  Eächeln    einen  Strah- 


502 


lenglanz  über  ihn  aufgehe-n.  Ein  plötz- 
licher Eifer  drlingte  ihm  alle' zu.  „Je- 
de Stunde '  mit  ihm  ^Verlebt  — "  stieg 
zum  Goldgehalt  des  nie  ermüdenden  An- 
denkens. Was  er  vergessen  —  gesagt, 
und  ungepriescn  —  gethan  hatte,  war 
nun  der  Inhalt  des  Gesprächs.  Jeder  hatte 
,,den  grofsen  Mann  in  ihm  errathen." 
Jeder  rühmte  sich,  ,,der  Wolthaten  von 
ihm  empfangen,  der  Weisheit  aus  seinem 
Umgange  gezogen,  des  Glücks  unter  den 
Augen  eines  solchen  Mannes  zu  wan- 
deln." Erithrama  war  von  Rednern  be- 
lagert, die  in  Anirs  I^ob  ihre  Wichtig- 
keit suchten. 

Ach  wahrhaftig,  neben  der  ungeheu- 
ren Masse  von  Glauben  aller  Art  in 
dieser  Welt,  ist  nur  der  einzige  selten  — 
Glaube  au  fremde  Vernunft.  Würden 
Menschen  sonst  wagen,  in  ihren  durch- 
sichtigen Larven  sich  selbst  zu  beschim- 
pfen? !  — 

Immer  klarer  ward  uns  nun  die  Armuth 
dieser  Leute.      Sie  hatten,    was  ein 


gebildetes  Volk  zur  Verschönerung  des 

Lebens  hervorbringt  Beschäftigung, 

Bedürfen  und  Wissen;  das  Andenken 
eines  unglücklichen  Vaterlandes,  ihre 
Gefühle  zu  erhöhen;  eine  weit  ;uisgc])rei- 
tete  Bahn  stand  ihnen  olFen ;  mit  schim- 
mernden Erwartungen  hatten  sie  sich 
hierher  geflüchtet  —  um  was  waren  sit? 
besser?  —  Sie  hatten  das  Entfernte  ge- 
wollt, weil  das  Nahe  sie  bedrückte;  sie 
hatten  aus  Vorstellungen  anderer  ge- 
schöpft, was  sie  sich  selbst  in  täusclien- 
den  Hoffnungen  vormalten,  imd  nicht 
erreichten  —  das  war  ihre  Tugend. 

Armer  Mensch!  dem  im  Reichthume 
der  Schöpfung  mangelt,  wodurch  allein 

er  erreicht  und  besitzt  der  einfach 

hohe  Geist  einer  reinen  Bestimmtheit,  die 
auf  immer  wählt,  weil  sie  mit  Erkennt- 
nifs  wählt;  die  gleichartig  fortschreitet, 
weil  das  Grofse ,  Wahre  und  Schöne  ihr 
nicht  beschränkt  unter  einzelnen  Wün- 
schen, sondern  frey  nach  den  Beziehun- 
gen eines  Ganzen  erscheint. 


304   

Gequält  in  ihrer  fortdauernden  Abhän- 
gigkeit von  fremden  Urtheilen ,  die  sie 
nicht  verstanden ,  indem  sie  sie  befolg- 
ten,  die  sie  verlachten,  indem  sie  sie 
forderten ,  die  sie  hafsten ,  indem  sie  aus 
selbstgeschafFenem  Zwange  sich  unter- 
warfen —  was  war  zu  hoffen  von  diesen 
Wesen!?  Und  welche  Aussicht,  auf  sie 
und  ihnen  ähnliche  einst  wirken  zu  müs- 
sen —  deren  Beyfall  so  unbedacht  ist  als 
ihr  Tadel ! 

Verstellung  ist  die  Schutzwehr,  hinter 
der  ihr  kleinliches  Ich  allein  noch  einen 
Schein  von  Selbstständigkeit  findet,  und 
jede  Verstellung  —  ist  Pein:  wen  oder 
was  sollen  sie  noch  lieben,  da  alles  mit 
Überlegenheit  sie  beherrscht,  alles  Grofse 
ihnen  nur  in  seiner  Obermacht  drückend, 
alles  Wahre  nur  erniedrigend,  alles  Edle 
nur  ein  Vorwurf  ihrer  Minderheit  scheint? 
Was  bleibt  ihnen  zur  Liebe  ...  als  ihr 
Selbst  und  ein  Weltall  .  .  .  für  ihre 
Furcht ,  für  ihren  Hafs  oder  ihren 
Spott  ? 


Du,  der  du  die  Bahn  einer  grofsen 
\yirksamkeit  betreten  willst,  richte  dei- 
nen Blick  auf  dieses  Gemälde,  und  wenn 
dann  dein  Muth  sich  noch  gleich  bleibt, 
so  handle,  o  Gesalbter  der  Menschheit, 
den  die  Vorsehung  sich  zum  Helden 
erwählte ! 


Mit  früher  Rothe,  an  einem  Tage  der 
zweyten  Woche ,  führte  Anir  mich  auf 
unmerkbaren  Pfaden  in  ein  höheres  Berg- 
thal; verschlossen  hinter  die  steilen  Ein- 
risse alter  Fluten ;  Klippen  und  ver- 
schlungene Sträuche  sein  Eingang.  Tie- 
ferhin erweiterte  es  sich ,  frisch  und 
grün  in  ungleichen  Höhen  :  bald  Teich, 
bald  kleiner  Fall,  bald  jäh  schäumend 
über  Abhänge  ist  ein  Bach  das  Licht  sei- 
ner Dämmerung,  und  der  Morgen  nur 
noch  ein  heller  Kreis  hinter  den  farblosen 
Schatten  seines  Umfangs. 

Im  Licht  ihrer  höhern  Lage  klart  eine 
Wohnung  sich  vor  dunkeln  Gebüschen 


366   

auf;  der  Kühe  einzelnes  Geläute  tönt  in 
die  Stille.  Der  Morgenstern  schwindet 
am  Hügel  hin ,  Träume  der  reinsten  Ge- 
fühle sind  meine  Gefährten.  Ein  kleines 
Gehüsch  windet  sich  aufwärts.;  der  Laut 
freundlicher  Stimmen  —  die  Stimmen  de- 
/  rer,  die  ich  suchte,  erreicht  mein  Ohr  .  .  . 
Anirs  Töchter!  Nie  hörte  ich  holdere 
Töne  deines  Löhes,  Dya;  nie  dein 
Bild  reiner  gefafst ,  o  du  unvergefsli- 
cher  meines  Herzens ,  der  du  einst  warst 
und  vorübergingst,  dafs  ich  nun  allein 
stehe  in  den  Erinnerungen  jener  Zeit! 
Welch  ein  köstlicher  Augenblick,  in  den 
auflebenden  Neigungen  eines  zart  ver- 
wandten Geistes,  in  der  einsam  hohen 
Offenheit  zwey  edler  Gemüther  deinem 
Bilde  zu  begegnen! 

Wydarna  gab  sich  schnell  eine  abge- 
wandte Beschäftigung ,  da  wir  erschie- 
nen. Schön  war  die  Rückkehr  ihrer  Ge- 
stalt. Wie  schön  zagt  das  Auge  im  uner- 
warteten Verrathe  unsrer  Gefühle !  Sie 
konnte  v  e  r  m  u  t  h  e  n  ,    wir   hätten  sie 


f;eliürt.  Mit  uns  zugleich  trat  ein  junger 
Vlanu  aus  dem  Gebüsche  oben  am  Hügel 
hervor.  Seine  Eile,  Divis  unstäter  in 
unendlicher  Froheit  dorthin  gezogener 
Blick  zeigte  mir  den  geliebten  Erw^arteten. 

Wohl  mir,  dafs  auch  ich  es  lernte,  was 
solch  ein  Augenblick  gilt;  dafs  nie  ein 
unreiner  Hauch  meine  frohen  Gefühle 
entstellte ;  dafs  ich  es  ganz  weifs  ,  was 
es  ist  .  .  .  sich  erwarten  und  wieder- 
sehen, wenn  ein  leiser  Ton  die  geliebte 
Nähe  verkündet  !  wenn  wir  kommen, 
wenn  wir  sehen ,  wenn  alle  Strahlen  des 
Daseyns  sich  sammeln  in  die  Freude  eines 
Blicks  1  Was  wir  gethan,  was  wir  ge- 
dacht, was  uns  begegnet,  kehrt  wie  ein 
schöner  Traum  in  unsre  Erzählungen  zu- 
rück —  eine  Welt  von  Erinnerungen 
liegt  in  einer  Abwesenheit  von  wenig 
Tagen.  „Menschen  haben  uns  belei- 
digt;" aber  an  einem  Herzen,  das  uns 
versteht,  sind  ihre  Gebrechen  vergessen. 
Das  Gute  erfüllt  uns  mit  Zuversicht,  das 
Böse  nur  mit  dem  Bewufstseyn  unsrer 


36ö   

Kräfte.  Man  wagt  den  Kampf  gegen  eine 
Welt;  denn  der  Wert]i  des  Daseyns  ist 
uns  erkannt,  in  holder  Gewifsheit  er- 
scheint das  Leben,  und  der  Glaube  an 
Menschheit  steht  fest  in  den  Gefühlen 
des  Schönen ,  das  wie  ein  Unterpfand 
himmlischer  Abkunft  an  das  Unendliche 
zieht. 

Jerma  nahte:  nur  Ein  zögernder  Blick 
fiel  auf  mich,  und  Dank  dir,  Natur,  dafs 
nie  ein  guter  Mensch  seine  Empfindun- 
gen in  meiner  Gegenwart  länger  unter- 
brach. 

Anirs  Augen  leuchteten  in  der  Freude 
.  .  .  vier  sich  entsprechender  glücklicher 
Menschen:  keine  innere  Beschämung 
schuf  Foltern  der  ängstigen  Behutsam- 
keit, kein  erniedrigendes  Selbstbewufst- 
seyn  machte  Larven  und  Verhüllungen 
nöthig.  Ach  nur  um  unserer  Thorheit 
und  Laster  willen  bleiben  wir  uns  fremd: 
in  der  Wahrheit  rein  offner  Seelen  ist 
der  Mensch  des  Menschen  sicherer  Be- 
kannter.   Was  ist  aller  Zwang,  als  das 


ziiistüientle  Bekenntnifs  unsrer  Entar- 
tung ? 

Ein  schöner  Morgen  ging  uns  vor- 
über unter  einsam  stiller  Vertraulicii- 
heit,  unterm  wechselseitigen  Nalien  unse- 
rer Ilerr.en.  Gleichheit  an  (iesinnungcu 
Mar  unser  Band:     aber    wie   viel  ach- 

tunüswerther    wurden    mir  noch  diese 
o 

Menschen,  da  Anir  auf  einem  entfernten 
Gange  mir  ihre  Geschichte ,  ihre  Ver- 
hältnisse ,  die  innere  Sicherheit  ihrer 
Herzen  aufschlofs ! 

Hier,  wo  Anir,  nur  wenigen  bekannt, 
eine  Wohnung  hesafs,  um  einsam  und 
unabhängig  sich  verbergen  zu  können, 
wenn  seine  Seele  Nachlafs  brauchte  vom 
widrig  Alltäglichen,  hier  hatte  er  auch 
Jerma  eine  Freystätte  angewiesen  ;  dem 
Flüchtling  zerstörter  Hoffnungen,  an  des- 
sen Seele  et  Freude  fand;  dessen  Schick- 
sale, dessen  Muth  und  Lebensgang  er 
kannte,  in  dessen  frühe  Kindheit  Er  den 
bestimmten  Samen  alles  Guten  gestreuet 
hatte.  Die  Ereignisse  der  Zeit  hatten  sie 
Dya-Na-Sorc  i.  Tu.  2^ 


370 


von  elaander  gerissen  —  aber  ihre  Ver- 
bindung dauerte  fort  durch  innere  Unvef- 
gefsliclikeit  und  einen  Namen,  den  das 
allgemeine  Unglück  nur  noch  gröfset 
machte. 

Anir  war  mir  kein  Fremdlin":  unter 
feinem  wahren  Namen  .  .  .  Hav^ird, 
als  einer  der  Wenigen  unsers  sinkenden 
Volkes,  die,  frey  von  der  Ansteckung  des 
Tages,  ohne  Eigennutz,  ohne  Partey- 
geist  —  aber  auch  gerade  defs wegen 
in  all  ihrem  Muthe,  in  all  ihrer  Einsicht, 
in  all  ihrem  Eifer  und  Selbstaufopfe- 
rung fruchtlos  und  allein  gekämpft 
hatten,  weil  sie  allein  standen  an  lu- 
gend, und  niemand  an  ihren  Absichten 
fest  hielt,  sobald  sie  das  Eigne  fiir  das 
Allgemeine  aufzugeben  forderten. 

Jerma  empfing  seine  ersten  Eindrücke 
aas  Anirs  Munde.  Erwacht,  wie  ein  Jüng- 
ling, den  die  Trauer  besserer  Zeiten 
absondert  von  allem,  was  sich  ihm  dar- 
bietet, dc7i  kein  Wunsch,  kein  Genufs, 
kein  Lol^ ,    keine  Tauschung  seiner 


Zeit  irre  führt,  biklete.  er  sich  fest  in 
innerer  tief  gefafster  Gewifsheit  .  •  eine 
j^n^r  starken  Seelen,,  die  aus  wenigen 
Zügen  sich  selbst  ein  bleibenrles  Ganzes 
zu  schaffen  vermögen.  Kühn  nnd  unwan- 
delbar hatte  sein  Geist  sich  auf  eine  Tu- 
gend gerichtet,  die,  wenn  gleich  von  nie- 
mand belohnt,  von  wenigen  erkannt, 
darum  nicht  minder  wahr  und  des  mensch- 
lichen Geistes  allein  würdig  ist  .  .  .  auf 
Liebe  für  ein  unglückliches,  leidendes 
Land,  und  die  Hoffnung  seiner  mögli- 
chen Rettung. 

Aber  er  vermied  sorgfältig,  sich  in 
seiner  Absonderung  andern  zu  bezeich- 
nen —  in  Gefühlen,  die  sie  nicht  fafs- 
ten.  Still  und  einsam,  wenigen  erkannt, 
glaubte  man  ihn  traurig  in  unglücklicher 
Liebe;  denn  ein  anderes  Unglück  besse- 
rer Jugend  wollte  sein  Jahrzehend  nicht 
kennen.  Und  freylich  Liebe  war  es  ; 
aber  Liebe  höherer  Art,  Liebe  für  den. 
höchsten  Gegenstand  menschlicher  Nei- 
gung- 


372 


Giebt  es  ein  gröfseres  Übel,  als  ein 
edles  .Herz ,  das  sich  beigen  inufs  .  .  . 
weil  die  Abart  der  Zeiten ,  se,inen  An- 
blick nicht  erträgt!?  —  , 

Man  bot  ihm  Ehrenstellen  an ,  ;  denn 
seine  Fähigkeiten  waren  erkannt.  Jeder 
Mächtige  wollte  in  ihm  sich  einen  An- 
hängling  erwerben  ;  die  Partey  der  .Herr- 
schenden brauchte  viel  yerspi^echende 
iMenschen.  Er  hüllte  sich  in  die  Zweifel 
eines  an  sich  selbst  zagenden  Geistes ; 
er  schlug  jede  Stelle  aus,  denn  in  jeder 
erkannte  er  nur  ein  Gelübde  gegen  sein 
eigenes  Volk. 

Ernsthafte  Männer  nannten  ihn  einen 
Müfsiggänger,  der  seine  Jugend  in  nichts 
verschleudere.  Wufsten  sie  denn  nicht, 
dafs  der  Sinn  eines  Geistes,  der  in  freyem 
Muthe  der  Zukunft  entgegen  arbeitet, 
der  Veibindlichkeiten  meidet  —  um  nicht 
den  Zwang  einer  Handlung  gegen  seine 
bessere  Uberzeugung  —  zu  befahren, 
beschäftigter  ist,  als  der  Knabe  am 
.Amtstisch,   der  sich  anwendbar  glaubt, 


573 


weil  er  fremden  Willen  fragelos  voll- 
streckt, und  verdienstlich,  weil  eino 
verdorbene  Meinung  den  Sold  der  Un- 
ter WLiriigkeit  zum  Ziel  des  allgemeinen 
Elirgeit/.es  adelt? 

Bald  hielt  man  ihn  für  einen  Träu- 
mer, der  aus  Stolz  oder  Trägheit  die 
Wege  andrer  zu  verlassen  sich  erkühne; 
für  einen  Unfähigen,  dessen  übertünch- 
ter  Verstand  an  Schulweisheit  kränkle; 
für  einen  Eigennützigen,  der  sich 
nur  noch  theurer  zu  verkaufen  suche. 

Seine  Jugendgenossen  stiegen  empor, 
und  drückten  ihn  hohnlächelnd  mit  der 
Last  ihrer  neuen  Gröfse  —  wie  sie 
glaubten :  aber  in  seinem  Innern  war  es 
nur  der  Gram,  dafs  Menschen,  unbedacht 
oder  meineidig,  für  schamlosen  Uberüuls 
sich  an  den  Unterdrücker  verkauften. 

Seine  Freunde  schalten  ihn  unheilbar; 
achtlos  stiefsen  sie  ihn  von  sich:  die 
Welt  verlachte  ihn.  Aber  unerschüttert 
folgte  er  seinem  innern  Bewnfstseyn,  und 


574   

wandelte  über  Mifsachtung  so  vuliig,  als 
einst  über  ihre  eigennützige  Achtung. 

Im  Stillen  forschte  und  erhielt  er  Wahr- 
heiten, die  man  öffentlich  verbannte.  Im 
Schoofse  der  Wenigen,  denen  er  erkannt 
war,  sammelte  er  Schätze  der  Zukunft. 
Er  konnte  nicht  laut  handeln;  aher  in  un- 
hedeutend  scheinenden  Aufserungen  warf 
er  Strahlen  eines  prophetischen  Lichts 
über  so  manche  tief  schleichende  verderb- 
liche Absicht.  Oft  vereitelte  er  so  im  Wi- 
derstande des  erweckten ,  unterrichteten 
Eigennutzes  die  Alleingewalt  herrschen- 
der Menschen. 

Tn  sich  und  seinen  wenigen  Genossen 
erhielt  er  die  Fortdauer  alter  Kriegskunst, 
die,  allen  Jünglingen  seines  Volkes  entzo- 
gen, in  ihrer  völligen  Unwissenheit  die 
Macht  der  Sieger  auf  immer  befestigen 
sollte. 

Aus  dem  Munde  derer,  die  gegen  den 
Untergang  seines  Vaterlandes  gestritten, 
die  in  Worten  oder  Waffen  dem  allgemei- 
nen Verderben  zu  steuern  gesucht  hatten, 


verfafste  er  seine  Gescliiclite :  unter  den 
Wenigen,  die  sie  kennen ,  und  für  kom- 
mende Zelt  —  ein  unvergänglicher  Same 
der  Vralirheit,  der  Belehrung  und  der 
Enthüllung  tief  liegender  Ursachen  und 
vielfach  wirkender  Veibrechen. 

Keine  schimmernde  That  stellt  sein  Le- 
hen in  den  Tempel  des  Rufs  ;  aber  ein  fort- 
gesetztes Handeln  der  edelsten  Selbststän- 
digkeit ist  sein  unvergänglicher  Schmucli. 
Fühlt  iiir  den  Mutli  ihm  ähnlich  zu  wirken  ? 

Wydarna,  Divis  Verwandte  und  durch 
Unglück  ihre  Gespielin,  lebte  seit  Jahren 
in  der  letzten  väterlichem  Hause.  Ihren 
eignen  Vater  hatte  sie  früh  verloren. 
An  seiner  einsamen  Trauer  gelangte  ihr 
biegsamer  Sinn  zur  Entwicklung.  In 
stillen  dunkeln  Jahren  war  sie  seine  ein- 
zige Gefährtin.  Tief  aus  ihrer  Kindheit 
loljiten  ihr  die  Bilder,  verschlossen  und 
ilüchtlg  und  in  Wäldern  gelebt  zu  haben. 
Ihre  Mutter  kannte  sie  nicht.  Allein  wan- 
delte sie  an  seiner  Seite.  An  seiner  Unruhe 
lernte  sie  fremdes  Schicksal  zu  ihrem  eignen 


37Ö 


machen,  und  noch  jung  in  früher  Stärke 
die  selbst  veiläugnende  Kunst  .  .  .  für  das 
Lächeln  eines  geliebten  Unglücklichen 
sich  eine  heitre  Laune  abzuzwingen.  So 
w^ud  sie  ihres  Vaters  Vertraute,  und  seine 
Gesinnungen  gingen  in  früher  Mittheilung 
an  sie  über,  warm  und  unvergänglich  auf- 
genommen in  ein  jugendliches  Herz,  das 
die  Gröfse  eines  Vaters  in  den  Quellen 
seines  Unglücks  fand. 

Klagende  Lieder  waren  ihre  Spiele, 
Bilder  des  Untergangs  und  der  Zerrüttunp^ 
ihre  erste  Aussicht  ins  Leben.  Thränen 
]>cy  eines  Vaters  Erzählungen,  gruben 
mit  ewiger  Dauer  sich  in  ihr  Inneres;  ihr 
lleiligthum  und  ihr  einziges  Gedächtnils 
die  Geschichte  des  sinkenden  Volks ,  an 
dessen  Grab  ihre  Geburt,  an  dessen  Lei- 
den sie  jede  kindliche  Erinnerung  knüpfte. 
Muthlos  wäre  sie  vielleicht  vergangen  in 
der  Trauer  ihrer  ersten  täglichen  Eindrük- 
ke ,  hätten  nicht  Gesänge  der  Vorzeit  — 
edlere  Jahrhunderte  ihr  eine  bessere  Ge- 
\vifsheit  erölinet. 


577 


So  grünclete  sich  auf  den  Stolz  des  Ver- 
gangenen ihre  Verachtung  des  Jetzigen: 
Hoffnung  der  Zukunft,  schwärmerische 
Ijiebe  gegen  den,  mit  dem  sie  lebte,  und 
tiefer  Ilafs  gegen  alles,  was  seine  Leiden 
hervorbrachte,  wurden  ihres  Charakters 
erste,  unwandelbare  Umrisse. 

Was  Zeit  oder  Umstände  vielleicht  gemil- 
dert hätten,  ward  durch  den  Gewalttod 
ihres  Vaters  ein  einziges  unwandelbares 
Ganzes.  Auf  ihr  Volk,  den  einzig  übrigen 
Gegenstand ,  drängten  sich  nun  alle 
h.mphndungen  der  Verlassenen,  und  zer- 
störend nagten  sie  an  ihrem  Leben. 

So  kam  sie  in  Divis  Haus;  unähnlich 
allen,  die  ihr  begegneten.  Schnell  erken- 
nend, dafs  ihres  Vaters  Andenken  hier 
nur  ein  beschämendes  ,  verhafstes  Gegen- 
bild sey ,  dafs  seine  Gesinnungen  hier  nur 
ein  verschlossenes  Heiligthum  ihres  In- 
nern seyn  müfsten.  Einzehi  in  ihrer 
Trauer,  aber  herrschend  und  frey  in  der 
Würde  eines  Geistes,  der  den  Sinn  grolser 
Dinge  verschliefst ;  unglücklich  und  doch 


378 


nie  klagend  —  erregte  sie  bald  Divis  Be- 
wunderung des  Ungewöhnliclien  und  ihre 
zarteste  Tlieilnahme.  Im  freundlichen 
Picgegnen  ihrer  Gemüther  entspann  sich 
frühes  Vertrauen,  Innigkeit  und  IVIitthei- 
lung. 

Bald  durchdrang  auch  Divis  jugend- 
licher Sinn  sich  mit  den  ewig  sciiöncu 
Bildern  eines  Vaterlands.  Einzig  an  der 
nun  hängend,  die  in  neuen,  nie  gekann- 
ten Gefühlen  der  Menschheit  ihr  erschien 
—  wurden  beide  sich  unentbehrlich.  Dafs 
Divi,  durch  eine  Kindheit  ruhigerer  Schick- 
sale erheitert,  sich  überall  eine  Dichtung 
froherer  HoiFnungen  schuf —  machte  sie 
zum  leitenden  Genius  ihrer  Freundin  in 
hellere  Welten;  so  wie  ihr  selbst  — 
"Wydarnas  feste  Seele  ein  Vorbild  reiner 
Bestimmtheit  und  selbstständigerer  Ge- 
fühle ward. 

So  stiegen  beide  in  der  Wechselseitig- 
keit alles  Edlen  und  Guten ,  in  der  Kraft 
gleich  gestimmter  Seelen,  in  der  Verbor- 
genheit ihrer  Wünsche,  zur  Begeisterung 


  .379 

des  unübertrefflichsten  Bundes^  weit  über 
die  Roheit  derer  empor,  die  sie  umgaben: 
einzeln  an  Stolz  und  Gröfse  der  Empfin- 
dung, durch  vSchönheit  bezeichnet  —  ein 
Paar,  das  aller  Augen  auf  sich  zog,  das 
man  bewunderte  ohne  es  zu  kennen, 
pries  ohne  es  zu  fassen. 

Ein  Zufall  führte  ihnen  Jermas  Ge- 
schichte in  die  Hand.  In  neuen  Gefühlefi 
entglühte  Divi,  in  tieferm  Andenken  Wy- 
darna  an  den  Bildern  des  Jammers,  an 
den  trauernden  Schilderungen  einer  un- 
glücklichen Zeit.  Ein  neuer  Denkkreis 
that  sich  ihnen  auf.  Begriffe  hellerer  Be- 
stimmtheit gingen  von  seinen  Entwicklun- 
gen aus.  In  höherer  Beziehung  erwachte 
ihnen  Tugend  und  Laster,  und  der  Werth 
jedes  einzelnen  Daseyns  an  den  Straftö- 
nen des  klagenden,  ernst  warmen  Redners, 
der  aus  Gebrechen  und  weit  entwichenen 
Erinnerungen  voriger  Jahrhunderte ,  aus 
stufenweise  unmerklicher  Abirrung  alles 
Wahren   und  Guten  —  den  Untertan": 


380 


seines  Volkes  eiithüilte.  Aber  mit  stolzer 
J'^reufle  schöpften  sie  auch  Muth  in  den 
Aussichten  einer  kräftigen  Seele,  die  aus 
(iem  Adel  der  Vorzeit  Hoffnungen  gab, 
und  aus  dem,  was  PvTenschen  einst  w  a  r  e  n, 
die  Zuversicht,  dafs  sie  es  wieder  seyn 
könnten. 

Jerma  ward  ihnen  das  Ideal  der  trelf- 
lichsten  Menschheit.  Nur  vorübergehend 
hatten  sie  ihn  gesehen.  Oft  wünschten 
sie  ihn  in  ihre  Mitte.  Aus  zwey  Herzen, 
die  ihn  verstanden,  sollte  er  den  Dank 
empfangen,  der  seinem  Genius  gebührte. 

Ihr  Wunsch  wurdV  erfüllt.  Jerma  er- 
kämpfte in  den  Spielen  ,  die  man  öffent- 
lich feierte,  den  ersten  Preis :  ein  kühn 
gewagter  Schritt  in  seinen  Verhältnissen. 
Schon  nahte  er,  aus  Divis  Händen  den 
Kranz  zu  empfangen,  schon  nahm  er  den 
Hehn  ab:  da  entstand  der  Widerspruch, 
,,dafs  nur  im  Heere  der  Ürayas  Aufge- 
„nommene  kämpfen  und  Preise  eni- 
„pfangen  dürften  -  > ein  Ausspruch  der, 

( 


 •  5ai- 

im  inn^rn  Sinne,  gegen  alle  Waßenfdhig- 
keit  der  Besiegten  gerichteten  Gesetze.  • 

Divis  Hand  war  schon  ausgestreckt  ihn 
zu  krönen  ;  mit  wallender  Freude  sah 
sie  den  Liehling  ihrer  einsamen  Träume, 
den  Mann  ihrer  Dichtung  ■ —  grofs  und 
heldenähnlich  und  in  der  kühnen  Stel- 
lung des  ungebeugten  Muthes  .  .  .  der 
in  entfernten  Zeiten  Gewifsheit  gegen 
die  jetzigen  fand,  vor  sich.  Ihr  Arm 
zitterte  im  Entzücken  des  Preises,  den 
sie  darreichte ;  Jermas  Blick  war  auf 
sie  gerichtet,  die  Ubereinstimmung  ihrer 
Seelen  erkannt  ,  der  Augenblick  der 
schönsten  Hoffnungen  erreicht  —  da 
ertönten  die  Worte :  „Zurück!"  -  -  -  und 
im  Schnaerz  ihrer  vernichteten  Freude 
zerrifs  sie  den  Kranz ,  den  ein  Oraya 
mit  höhnender  Stimme  forderte.  Verach- 
tend warf  sie  ihn  über  ihn  hin  in  den 
Kampfplatz.,  Dumpf  schweigend  gab  das 
erschütterte  Volk  seine  Billigung;  aber 
mit  tiefem  Ilafs  schwollen  die  Gemüther 


58^ 


der  Orayas ,  mit  dem  tiefsteu  ihres  Va- 
ters Busen.  ■ 

Man  erwartete  Elvarazims  schnelle 
Rache.  Aher  nicht  unlieb  war  dem  Kö- 
nige die  Kränkung  derer,  die  mit  'ihm 
herrschen  wollten,  weil  sie  mit  ihm  ero- 
berten. Lächelnd,  wie  über  eine  jugend- 
liche Unbesonnenheit,  schwieg  er;  und 
zwischen  der  Erwartung  dessen,- was  er 
thun  würde,"  und  der  verfehlten  Minute 
-  -  -  ,,laut  schreyende  Genugthuung  in  der 
ersten  Aufwallung  «u  fordern/'  legte  sich 
der  erste  brausende  Groll  der  Beleidigten, 
Beyfall  rufend  begleitete  das  Volk  seine 
■Rückkehr  zum  Palast.  Was  er  aus  Klug- 
heit gethan  hatte,  galt  seiner  Mäfsi- 
gung,  und  zehnfacher  Gewinn  bhihte 
ihm ,  wo  ein  minder  klarer  Sinn  nur 
Verlust  gefürchtet  hätte. 

Er  rief  Jerma  an  seine  Seile ;  er 
führte  Jerma  an  der  Hand.  ,,Tch  kann 
Gesetze  nicht  brechen ,  abisr  ich  weifs 
Verdienste  zu  ehren,"  sagte  er  ihm  trö- 
stend und  mit  Wahrheit. 


Einige  Slinimen  wagten  Jernias  I.oL, 
und  Elvaiazim  nickte  fieundlich.  Jerma 
ward  der  Held  des  Tages.  Ich  sah  ihn 
in  seinem  Triumph.  Eben  war  ich  un- 
erkannt zurück  gekommen.  Welch  eine 
lUihe  in  seinem  Auoe!  Nachdenkend 
haftete  er  auf  Elvarazim ,  der  ihn  nicht 
täuschte,  dem  Zerstörer  seines^  Volkes 
an  der  Hand,  den  er  hassen  mufste, 
und  dennoch  achten!  —  Wie  wenio;en 
ist  ächte  Bestimmtheit  in  solchen  Fällen 
gegeben  .  .  .  frey  zwischen  entgegen  ge- 
setzten Leidenschaften  das  Betragen  zu 
wählen,  das  unsern  Gesinnungen  nichts 
vergiebt ,  und  den  Augenblick  in  seinen 
Möglichkeiten  fafst!  Nicht  gebeugt  und 
nicht  horh  fahrend  ,  nicht  schmeichelnd 
und  nicht  abstrebend  sah  ich  ihn;  we- 
der eitel  in  anjienommener  Gl  eich  jiültie- 
keit,  noch  schwankend  unter  irrig  auf- 
geregter Hoffnung.  Ich  sah  den  Mann 
wie  ich  ich  wünschte. 

Ach  Je»ma  ,  für  ein  Leben  von  Kum- 
mer gab  solch  ein  Anblick  mir  Ersatz 


384 


in  seinen  Hoffnungen,  und  dem  Schick- 
sale waren  seine  Schulden  erlassen.  In 
festerm  Vertrauen  auf  Menschen  lebe  ich 
seit  diesem  Tage.  Wenn  mitten  im  Unter- 
gang alles  Guten  .  .  Gemüther  solcher 
Art  sich  noch  —  seihst  gebildet 
erheben,  wer  kann  verzweifeln  an 
der  Gotteskraft  in  unserm  Eusen,  und  an 
der  Rückkehr  —  einer  nur  beschränkten, 
nicht  vertilgten  Wahrheit  ? 

Jerma  konnte  den  Festen  nicht  entwei- 
chen, die  man  gab.  Er  sah  Divi,  die 
in  stiller  Verzagtheit  dem  Mann  entwich, 
den  sie  höher  achtete  als  ihr  Leben.  — 
Was  jene  grofse  Stunde  des  vernichteten 
Preises  entschieden  hatte ,  sagten  sie  sich 
endlich  mit  der  Innigkeit  des  glücklichen 
Gefühls;  glücklich  waren  beide  im  Ge- 
heimnifs  ihrer  Liebe  ;  aber  wer  ihre  be- 
geisterten Blicke  sah,  hatte  es  errathen. 

Divis  Vater  war  nicht  der  Letzte.  Hätte 
Elvaraziiu  an  jenem  Tage  seiner  Tochter 


j85 


Tod  verlangt  —  olme  eine  Thräne  hätte 
er  gestimmt:  so  tief  waren  in  des  Un- 
ersättlichen Herzen  alle  Regungen  ver- 
nichtet vom  niedrigen  Ehrgeitz,  der  nichts 
suchte  als  den  Wahn  der  Ge\^'alt.  Er  war 
der  erste,  der  seinem  Volke  entsagte; 
der  erste  Abtrünnige,  der  dem  Eroberer 
schwur.  Grimmig  im  Hasse  des  Verlas-" 
senen ,  wie  jeder  Uberläufer,  und  überall 
nur  besorgt,  durch  gränzenlose  Härte 
jene  neue  Treue  so  viel  sichtbarer  zu 
bewähren ,  hatte  seiner  Tochter  Hand- 
luno-  ihn  wie   eiii    vernichtender  Fhich 

TD 

seiner  Hoffnungen  übereilt;  jetzt  ward 
sie  sein  Triumph,  da  ihr  Jerma  im  Schim- 
mer künftiger  Gröfse  nahte ,  da  Elvara- 
zim  das  verrathene  Gcheimnifs  zweyer 
2;lücklicher  Wesen  mit  seinem  kÖnig-li- 
eben  IVIachtwort  ehrte. 

Jerma  hatte  den  Flecken  seiner  bishe- 
rigen Geschäftsflucht  mit  Einem  Tage 
vertilgt.  Er  war  in  die  lächerliche  Ach- 
tung der  Welt  zurück  getreten  von  der 

Dya-Na-Sore  i.  Th.  2  5 


Stunde  an ,   da  man    ihn  auf  dem  allge- 
meinen   Wege   und  in   gleichen  Gesin« 
nungen  mit  andern   .   .   .   dem  Ehrgeitz 
und  der  Macht  —  nur  mit  künstlicherer 
Schlauheit,  diensthar  glaubte.  Jeder  kluge 
Mann  pries   den   listigen  Jüngling,  der 
sich  verkennen  liefs  —  um  mit  plötzli- 
cher   Überraschung    lür  zehnfachen 
Gewinn  zu  wagen.     jeder  schmeichelte 
seiner  künftigen  Macht.      Jeder  haschte 
den  Unentschiedenen  für   seine  Partey. 
Er  herrschte,  weil  er  allein  stand;  der 
erwartende  Eigennutz  baute  dem  Unab- 
hängigen   Altäre.    ;  Divis    Vater,  vor 
allen ,    bereclmete    den    reinen  Gewinn 
einer  Tochter,      durch   die  man  kühne 
Geister  fesselt,    und    die    Macht  einer 
Leidenschaft.  "      Er  nährte  ihre  Liebe 
jnit    günstigem  Blicke:    lieber  noch 
liätte  er  eine  kalte  Herrschsucht  genährt, 
für  die  ihre  Seele  zu  rein  war  ;  hinge- 
geben, verblendet,  ihr  Gefangenerund 
die  sicherste  Stütze  seiner  fortschrei- 
tenden   Ansprüche    sollte    Jerma  seyn. 


Vielfach  waren  die  Faden  seines  Gc- 
webes. 

Mit  Jermas  Rückkelir  zur  allgenieine^i 
Wichtigkeit  erwachten  auch  die  man- 
nigfaltigen Leidenschaften  der  Zu- 
schauer: der  Neid  schuf  den  Argwohn, 
der  Argwohn  vielfaches  Forschen.  Noch 
hatte  niemand,  der  nicht  öffentlich  den 
Siegern  durch  Eid  und  Probe  sich  zuge- 
sellt hatte,  sich  erkühnt  wie  er.  Zu 
berechnet  für  die  Folgen  schien  sein 
Eintritt  in  den  Kampfplatz ,  um  ein 
blofses  Wag  stück  des  jugendlichen 
Unbedachts  zu  seyn ;  zu  bestimmt 
für  Uneigennützigkeit  und  edle  Schwär- 
nierey  dünkte  einem  andern  Tlieile  sein 
Charakter,  um  blofS  für  sich  selbst 
gehandelt  zu  haben;  auf  seine  Tugen- 
den gründete  die  Furcht  ihre  Besorg- 
nisse. Das  sinnlose  Eob  gutmüthiger 
Schwärmer,  die  nie  bedenken,  „wie  viel 
argen  Folgerungen  sie  die  Bahn  zei- 
gen," gab  neue  Weisthümer  —  ,,das  ge- 
fährliche Haupt  mächtiger  Verbindungen, 


oder  wenigstens  den  kühnen  Voitreter 
des  wieder  erwachenden  Geistes  in  ihm 
zu  ahnen." 

Man  glaubte,  er  würde  fordern:  er 
forderte  nicht;  um  so  gröfser  schienen 
seine  Ansprüche.  Ihn  zu  versuchen,  ihn 
zu  fesseln ,  trug  man  ihm  eine  Stelle  im 
Heere  an.  Zweydeutig  sollte  er  wer- 
den, oder  ein  Eigenthum  des  Siegers, 
seines  freyen  Fluges  beraubt  durch  ge- 
häufte Dienstbarkeit,  sich  selbst  verra- 
thend,  oder  ein  unw  iederbringlicher  Ver- 
brecher gegen  sein  Volk. 

Schwer  war  die  Lage. 

Divis  Vater,  der  ihn  für  zu  klug  hielt, 
,,um  wirklich  an  der  Thorheit  vertil- 
teter  Meinungen  zu  hangen, benutzte 
wenigstens  die  Schrecken  des  Argwohns  .  . 
um  seinen  Eintritt  in  das  Heer,  „als 
ein  Sühnopfer  für  Divis  vielleicht  nie 
ganz  vergessene  Handlung,"  zu  beschleu- 
nigen. Tiefer  und  von  jeder  Seite  Jer- 
mas  Gemüth  zu  ergreifen,  heuchelte  er 
Reue    für     sein     bisheriges  Betragen, 




zeigte,  „wie  nur  eine  liolie  Stelle  im 
„Heere,  wie  nur  Zutrauen  und  Macht, 
„durch  Nachgeben  und  Verstellen  erreicht, 
„tief  liegende  Möglichkeiten  einst  ver- 
„wirldichen  konnten,"  oder,  ,,  welche 
jjgrofse  Fortschritte  von  ihnen  beiden 
vereint  sich  hoffen  liefsen." 

Immer  einger  zog  er  ihn  in  die  Leiden- 
schaft fiir  Divi,  durch  tausend  Handlun- 
gen der  edelsten  Art,  die  er  sie  thun  liefs  ; 
durch  die  künstlichsten  Veranlassungen 
.  .  .  „ihres  Geistes  innerste  Falten  in  aller 
Macht  des  höchsten  Reitzes  zu  enthüllen," 
suchte  er  seinen  edelnSinn  zu  verstricken. 

Divi  selbst,  in  ihres  Vaters  Meinun- 
gen getäuscht ,  verrieth  sich  und  ihren 
Geliebten  in  manchem  abgelockten  Worte, 
und  knüpfte  neue  Faden  des  Gewebes, 
viele  Ursachen  ihres  nachmaligen  Schick- 
sals. Sie  umgab  Jerma  mit  den  Hoffnun- 
gen ihres  schwärmerischen  Geistes;  die 
Rückkehr  eines  Vaters  zur  Tugend  stand 
in  heller  Gewifsheit  vor  ihr  —  des  weib- 
lichen Herzens  schönster  und  gefährlich- 


&i.er  Wahn  -  -  -  ,,dafs  seinen  Thränen, 
Sfcinen  Bitten  auch  der  veraltete  Böse- 
wicht sich  nicht  versagen  könne."  Die 
Eitelkeit  einer  guten  Seele  ist  der  Glauhe, 
,,dafs  ihre  Macht  unw^iderstehlich  sey 
im  Dienste  der  Tugend." 

O  Jerma ,  vrelch  ein  Geist  war  dir 
noth,  eigner  Wahrheit  treu  zu  hleihen 
unter  solchen  Verhältnissen!  Wie  leicht 
vergifst  man  beym  Zauber  fremder  Tu- 
genden den  ersten  Grund  seiner  eig- 
nen .  .  .  Standhaft  iglieit  für  das 
E  r  k  a  n  n  t  e  !  Welche  HolFnungen  für  das 
Gute  schienen  dir  olFen !  -  -  -  Nähe  des 
Königs  —  Macht  des  Einßusses  —  Ver- 
trauen der  Zukunft,  die  in  tausend  Ge- 
stalten schmeichelte  !  Ein  minder  bestimm- 
ter Geist  hätte  sich  betrogen  :  dein  gera- 
der Sinn,  dein  Widerwille  gegen  jede 
zweydeutige  Handlung,  gegen  alles  Ab- 
rungene,  gegen  alle  aus  liohn  und 
Selbstheit  handelnde  Wesen,  deine  Men- 
schenkenntnifs  sicherten  dich. 


Von  dem  Tage  der  Kampfspiele  an  war 
mein  Auge  unablässig  auf  ihn  gerichtet. 
Zitternd  fürchtete  ich  den  Ausgang.  Ver- 
zeiht es,  Jünglinge,  wenn  das  Alter  oft 
schwach  ist  an  Vertrauen  auf  euch.  Es 
fordert  die  Kraft  eines  glücklichern  Le- 
hens als  das  meine,   „sich  gei^enwärtig 

zu  bleiben  in  den  Erinnerungen  unsers 

o 

eignen  jugendlichen  Muthes." 

Ich  suchte  ihn  auf,  um  ihn  zu  unter- 
stützen :  er  trat  mir  entgegen,  vorberei- 
tet, umfassend  alles,  was  ihn  umgab 
und  bedrohte.  Eine  selige  Stunde  der 
reinsten  Entschlüsse  erneuerte  unsre  vo- 
rige Verbindung.  Seine  Seele  lag  offen 
vor  mir.  Er  sprach  :  Au  nehmen  — 
,,was  der  Schein  mir  bietet,  erfüllen  — 
,,was  man  verlangt  .  .  .  wäre  es  etwas 

anders ,  als  mich  hingeben  in  fremde 
„Gewalt?  Kann  ich  mir  schmeicheln, nur 
,,zu  wirken,  was  ich  will?  kann  ich 
,,mir  schmeicheln ,  einen  König  zu  len- 
,,ken,   oder  dem  liundertäugigen  Eigen- 

nutze  meine  Absichten  zu  verbergen? 


„INichts  habe  ich  mehr  in  mir  zu  bekäm- 
,,pfen  gesucht,  als  jenen  Selbstdiin- 
„h  e  1  unsrer  Kräfte,   ,,cler  das  Unwahr- 
scheinliche  wagt,    weil  er  den  Namen 
„Tugend"  wie  eine  Zauberformel  be- 
trachtet,  die  Geister  unterthan  macht," 
,,oder  sich  selbst  -  -  -   ,,als   den  Günst- 
,,ling  einer  Macht,  die  den  ewigen  Bau 
,,des  Guten  auf  sein  Daseyn  gründete." 

Ich  kann  v  i  e  1 1  e  i  c  h  t  Gutes  wirken; 
,,aber  auch  Meinung  und  Muth  besserer 
,, Menschen  zerstören,  da  ich  nicht 
,, allen  mich  offenbaren  kann  !  ein  gefähr- 
liebes  Eeyspiel  gebrauchloser  oder 
,,zeitkkig  doppelsinniger  Tugend  für 
„Schwache,  wenn  ich  gelähmt,  verstrickt 
,, gehorchend,  ein  Werkzeug  fremder  Un- 
,,gerechtigkeit  —  unnütz  verloren  gehe, 
„sobald  ich  geheimen  Argwohn  durch 
,, Widersetzlichheit  bestätige,  oder,  um 
„meine  eigne  Tugend  vielleicht  einst 
,, betrogen,  als  Bösewicht  fortschreite, 
,,wo  ich  als  Irriger  eintrat?  —  O  Anir, 
„welch  ein  Scheideweg  steht   mir  ollen 


„zwischen  Verwegenheit  oder  Verza- 
„gen?"  — 


Kein  Mittel  schien  uns  übri^.  Ich 
brachte  ihn  hierher.  Er  lebte,  wie  ihr, 
mit  Erithrama ,  sein  geliebter  Schüler: 
er  lebt  mit  uns,  nicht  verloren  für 
eine  thatigere  Zukunft,  der  Gegenwart 
eines  unheilbaren  Volkes  entrissen. 
L)ivi,  die  ich  nicht  genug  kannte,  um 
nicht  ihr  ^^  iderstreben  oder  irgend  eine 
Übereilung  zu  fürchten,  die  Jerma  selbst 
nicht  unbedacht  in  sein  Schicksal  verwik- 
keln  wollte,  schien  ihrem  Vater  mitwis- 
send in  seiner  Entfernung :  er  forderte 
ein  Geheimnils,  das  sie  nicht  bcsais.  In 
zu  kühnem  Vertrauen  hatte  sie  ihre 
Gesinnungen  gezeigt:  die  Besorgnisse 
des  Verdachts,  aus  ihrem  Betrafen  auf 
ihn  selbst  geworfen,  forderten  ein  Opfer, 
Schonungslos  gegen  ein  Kind,  das  seinem 
Emporsteigen  drohte,  konnte  ein  solches 
Verhältnifs  —  nur  durch  Verstofsung 
enden. 


594 


Seine  Berecbnimg  hat  gefruchtet.  Grös- 
ser wird  er  täsiich   durch  Frevel  ^eeen 

O  DO 

sein  Volk.  Die  Bahn ,  die  Elkannar  zur 
Wichtigkeit  nahm ,  ^eht  ins  Unendliche. 
Er  ist  der  kälteste  Doppelzüngler  jeder 
Meinung.  Er  spielt  im  Verborgnen  ,  vor 
den  Ohren  des  leichtgläubigen  Unglücks  — 
die  Rolle  des  Patrioten ,  der  „nicht  sein 
selbst,  sondern  seines  Volkes  Vertreter 
zu  bloiben,  "  das  Gewand  der  Abtrünnig- 
keit nahm;  er  tröstet,  erhofft,  er  klagt 
die  Gebrechen  des  Vergangenen  an:  so 
wird  er,  in  vielem  nicht  unwahr,  und  um 
so  täuschender,  der  Lobredner  der  sie- 
genden Nazion  und  seiner  selbst.  ,,Ihr 
,,Joch,  spricht  er  heuchelnd,  sey  die 
Rache  verletzter  Sitten  ;  ihre  Siege,  das 
einzig  wieder  herstellende,  wenn  gleich 
,,herbe^ Mittel  veralteter  Schäden.  Laster 
hätten  uns  unfähig  gemacht,  uns  selbst 
,,zu  regieren;  der  bessere  Zweig  fremder, 
„kunstloser  Tugend  sey  uns  nöthig  gewe- 
„sen,  den  verdorbenen  Stamm  zu  ver- 
„edeln.    Tn  der  Kraft  ihrer  kriegerischen 


, »Strenge  erwache  die  unsre:  die  Weich- 
,.lichkeit  seufze,  aber  sie  ersterbe  aucli 
„unter  ihrem  männlichen  Drucke.  AVer 
,,also  den  Eroberern  die  Hand  reiche,  führe 
,,das  Gute  der  Vergangenheit  unter  den 
„L/eiden  kurzer  Tage  zurück.  Entbeh- 
„runji;  sey  nur  ein  kleines  Opfer  für  un- 
,, entbehrliche  Belehrung ,  verlorne  Gemäch- 
,,lichkeit  des  Einzelnen  nur  ein  schuldiger 
,,Eeytrag  zur  Glückseligkeit  des  Alls. 

„Wenn  widerstrebender  Eigennutz,  oder 
,,die  gedankenlose  Verehrung  des  Alten  — 

Bedrückung  nenne,  was  nur  nothwendi- 
.,ger  Fortschritt  zur  bessern  Erziehung 
„eines  Zeitalters  sey;  so  müsse  Er  frey- 
,,lich  ungerecht  scheinen,  oft  hart  und 
,,oft  unerbittlich.  Aber  der  ächte  Freund 
„seines  Landes  ertrage  und  verachte  Vor- 
,,wuirfe  beleidigter  iMeinung.  Selbstüber- 

zeugt  und  fest  im  Bewufstseyn  seiner  Ab- 
,, sieht,  mit  leidendem  Herzen  aber  heitrer 

Zukunft,  wandle  er  im  Bunde  der  Sieger, 
„glücklich  —  sie  zu  überzeugen,  dals 
„doch  einige   seines  Volkes  Wahrheit  zu 


59Ö 


„erkeniiCn  vermochten;  glücklich  — 
,,in  dieser  Ergebenheit  auch  wider  Wü- 
llen der  Lebenden  das  Glück  der  INach- 
kommen  zu  gründen.'* 

Welch  eine  glücklich  erfundene  Form 
für  alle,  die  ihm  nachahmen  wollen;  für 
alle  zagende  Gewissen  ,  d/c  am  Raub  des 
Unrechts  so  gerne  selbstberuhigt  zehren; 
oder  für  jene  kühnern  Geister,  denen  gemifs- 
brauchte  ^Vahrheit  die  sicherste  Stütze 
ihrer  Gewalt  clünkt! 

Da  Elkaiuiar  nicht  wufste ,  wie  viel  aus 
Wydarnas  Umgang  sich  Divis  Gesinnun- 
gen entwickelt  hatten ,  bot  er  ihr  Tochter- 
.stelle  an.  Aber  sie  folgte  einer  Freundin, 
und  verachtete  das  Glück  aus  solchen 
Uänden. 

Ich  rettete  beide ,  die  ich  nie  unbeob- 
achtet gelassen,  unter  fremden  Namen  hier- 
her. Seitdem  bewohnt  Jerma ,  wenn  er 
Mufse  hat,  dieses  Haus.  Hier  sehen  sie 
sich ,  wo.  der  zarte  Schleyer  Verborgen- 
heit ihre  Liebe  verschönert.  Hier  lebe  ich, 
wie  ein  Mensch  unter  Menschen ,  die  die 


  Yj- 

i^lainine  innrer  Wahrheit  unverlöscht  ge- 
tragen Laben  ob  den  Stürmen  des  Lebens. 


Und  so  lebte  auch  ich,  mit  Kaiser  Sehn- 
sucht der  Liebe,  die  ich  in  all  ihrer  Würde 
vor  mir  sah  ;  in  der  wohlthätigen  INähe 
von  Wesen,  die  mit  hellem  Gemüthe  Irr- 
thümer  überwunden  hatten.  Jeden  dritten 
Morgen  waren  wir  hier ,  Dya  und  Tibar, 
meine  Gefährten.  Eine  fröhliche  Eile  der 
schönsten  Erwartungen  führte  uns  hin  zur 
Stärke  für  Tage  —  im  Anblick  unbestimm- 
ter Menschen  zugebracht.  Unter  der  Last 
ihrer  eitlen  Demuth ,  ihres  Knechtsstolzes, 
ihrer  zaghaften  Entstellung  alles  Grofsen, 
ihrer  ängstigen  Zerstücklung  alles  Kühnen, 
Freyen  und  W  ahren  in  die  kleinen  Beerilfe 
ihrer  Selbstheit,  hatten  wir  gealtert:  an 
der  Übereinstimmung  alles  Guten  und 
Edeln  verjüngte  uns  dann  wieder  die 
Glückseligkeit  unsers  einsamen  Umgangs, 
wo  Vertrauen  und  Mifs  trauen  unser 
selbst  —  weise  gepflegt  unter  freundlichen 


595 


Händen,  empor  keimte;  wo  manches  Übels 
verringerte,  manches  Heilentwurfs  verän- 
derte Gestalt,  mancher  ernsten  Kümmer- 
nisse lächerliche  Nichtiokeit  —  uns  klar, 
manche  Hoffnungslosigkeit  unter  gemein- 
samer Erwägung  —  in  ihren  Gei^enmit- 
teln  zum  sichern  Entschlufs  ward. 

Zu  kurz  hatten  wir  noch  im  Gewühle 
der  Menschen ,  unter  den  niederheucrenden 
Verhältnissen  unsrer  Zeit  gelebt ;  durch 
lange  hedrücktej ugend theuer erkaufte 
Wahrheit  war  Jermas,  Anirs  und  seiner 
Freundinnen  Vorzug. 

Muthiger  kehrten  wir  dann  zurück  an 
unsre  Beschäftigung  —  Gehülfen  Erithra- 
mas;  .  .  .  um  das  Innere  aller  Ankömm- 
linge dieser  vordem  Thäler  —  die  man 
seit  einigen  Jahren  in  grolser  Menge  ,  zu 
besserer  Prüfung  abgesondert,  hier  aufge- 
nommen hatte,  ihre  Fortschritte,  ihre 
Empfänglichkeit,  Hoifnvingen,  die  sie  ga- 
ben oder  nahmen,  zu  berichtigen.  Mehr 
entwickelte  für  höhere  Verwendung 
/.u  bemerken;    für  eine   zu  gehäufte 


 .^99 

Zahl ,  um  ohne  feste  Verfassung  zu 
leben  —  die  schiclvliciiste  zu  ordnen  .  .  . 
war  Eritlnamas  Sendung;  Bildung  unser 
selbst  für  Itünftige  Geschäfte  —  ein  erige 
verbundener  Zweck. 

Wie  junge  Arzte  zum  erstenmal  berufen, 
standen  wir  am  Siechbette  der  Menschheit, 
voll  Willen,  voll  Mitleid,  aber  in 
desto  gröfserer  Verlegenheit  unsrer  Mit- 
tel, je  mehr  wir  ihrer  kannten. 

Edlere  Ankömmlinge  hatte  man  in  die 
Innern  Thäler  aufgenommen:  nur  Leute, 
durch  keine  Handlung,  keine  höhere  Kraft 
ausgezeichnet ,  bey  Landbau ,  Handel  und 
den  täglichen  Gewerben  der  Nothwendig- 
keit  hier  versammelt.  Einige  Reiche, 
die  der  Stolz  hierher  getrieben  hatte ,  leb- 
ten nach  der  W^eise  viel  begehrender  Men- 
sehen :  nur  in  vielfachen  Erwartungen, 
nur  in  der  Furcht  der  Macht,  die  aus 
dem  Innern  der  Gebirge  geheirnnifsvoll 
drohte ,  gab  man  ihrem  Geiste  eine  leid- 
liche Stimmung.  Aber  die  Ungeduld  eines 
schneW  eriiollten  Glücks  nagte  an  den  Ban- 


den,  die  sie  hielten;  ein  Schwärmer,  im 
Wahnsinn  seiner  Vorbildungen ,  jeder  Arg- 
wollende konnte  sie  zerreifsen:  es  war 
Zeit,  die  Stelle  mangelnder  Tugend  durch 
eine  äufsere  Gewalt  zu  ersetzen.  Welch 
eine  Aufgabe  für  Erithrama ,  welch  eine 
Schule  für  uns  .  .  .  allzu  hohen  Jugend- 
geist in  demüthige  Erfährung  zu  verwan- 
deln ! 


Uns  selbst  überlassen  in  freyer  Vollzie- 
hung, gab  Erithrama  uns  seine  Auftrage. 
Wortkarg  und  ernst,  unser  Richter  mehr 
als  unser  Helfer,  erwartete  er  die  Berichte 
der  Ausführung.  Wie  glücklich  mufsten 
wir  seyn,  im  Schoofse  rathender  Freund. 
Schaft  die  Quellen  unsrer  Sicherheit  und 
seines  Beyfalls  zu  finden! 

W^ir  klafften  jetzt,  und  fanden  in  späte- 
rer Erkenntnifs  sein  Betragen  gerechtferti- 
get. Wären  nicht  seine  Anweisungen 
uns  —  Gebote,  seine  Ausführlichkeit  — 
ängstige  Vorschriften  geworden?  Hätten 


wir  nicht  en^  und  stolz  nur  Buclistaben 
eines   fremden   Willens  zu  seyn  uns  ge- 
v/ölint,  Scbmeicliler  in  wörtlicher  Genau 
keit,  lohnsüchtig  -  ehrgeitzig,  flicnsthar- 
gedankenlos  im  Lächeln  eines  Gehieters? 

So  kannte  er  die  Menschen.  Aber  aus 
eigenem  Denken  hen-orgehend  —  uns 
selbst,  nicht  ihm,  sollten  wir  Dank  wissen 
für  das,  was  wir  leisteten,  und  überall 
auf  eignes  Vermögen  und  dessen  höchste 
Ausbildung,  als  den  einzig  sichern  Fiib- 
rer  in  allen  Fallen  des  thätigen  jLebens, 
sehen  lernen.  Wo  ein  edlerer  Zweifel 
uns  selbstmifstrauisch  machte,  sollte  kein 
Faulpfad  fremder  Vorschrift  uns  jene  zwey- 
deutige  Ausflucht  öffnen,  die  ,, aus  Knechts- 
gehorsam gegen  irrige  Befehle  zur  Beruhi- 
gung eigner  Schuldlosigkeit  führt. " 

Zweifel  an  uns  —  sollten  das  Vertrauen 
auf  andre  wecken;  das  Bedüifnifs  eines 
freundlichen  Rathes  —  uns  an  die  Ver- 
bältnisse Edlerer  knüpfen,  um  in  Wechsel- 
seitiß-keit  und  Liebe,  an  der  Hand  einer 
leitenden,  frey  belehrenden  Freundschaft  — 

Dya-Na-Sore  i.  Tli.  •  26 


^02.   

Gewllshelt,  in  der  Mktheilung  — 
besclieidene  Gröfse,  und  jenes  schön- 
ste Geschenk  iinsers  Daseyns  zu  linden  -  -  - 
Selbstachtung  auf  Achtung  für  andre 
gegründet.  So  führte  er  uns  zum  richti- 
i^en  Verstand  jenes  immer  geraifsdeuteten 
Spruches:  „Man  müsse  zu  gehorchen  wis- 
sen, Hin  zu  gebieten;"   das  heifst :  man 

üsse  in  s  e  1  b  s  t  ü  b  e  r  1  a  s  s  e  n  e  r  Ausfüh- 
iiinfT  fremder  Auftran^e  lernen,  wie  we- 
II  ig  im  Gange  der  Ereignisse  sich  vor- 
aus bestimmen  lasse,  wie  viel  vom 
Werllie  des  Augenblicks  und  dem  selbst- 
denkenden  Geiste,  des  Einzelnen  abhänge, 
lun  einst  den  I'ehler  gewöhnlicher  Befehls- 
haber zu  meiden,  die  nichts  ordnen, 
weil  sie  zu  viel  ordnen. 

„Warum  sind"  —  sagte  er  mir  in  einem 
spätem  Gespräche  —  „derer,  die  gebieten 
,, können,  so  wenige?  so  wenige  derer, 
„die  in  der  Erkenntnifs  des  menschlichen 
,,, Geistes  —  Vertrauen,  im  Vertrauen  — 
„das  genaue  Mafs  jeder  Vorschrift,  im 
„Wlannigfaltigen         das  Vereinende,  in 


403 


, ^tausend  fieyen  ILmdlungen  ihrer  ünter- 
,,gebenen  —  den  ^Veg  zum  Ziele  zu  fin- 
„den  wissen?  die  beseelen,  statt  zu  zvv  än- 
,,iyen,  die  in  sell)Stgcdac}iter  Ubereinstim- 
„mung  gemeinsam  handeln  machen,  statt 
,,in  die  Einröimigkeit  einer  \vi]]»fnlosen 
,,Eewegung  ihreGröfse  zusetzen?  Warum 
„sind  die  meisten  A''orschriftler  und  keine 
„Gesetzgeber,  Ubungsmeister  uva\  keine 
Heerführer  ?  warum  behandeln  sie  Blen- 
„schen  als  Kinder,  und  sich  allein  als 
„Wortführer  jeder  Einsicht?  warum  krau- 
„kein  die  meisten  an  der  Eitelkeit,  „auch 
j^das  Kleinste  vorzeichnen  zu  wollen,  wo 
„ilir  Stolz  sich  zum  Gröfsten  erheben  sollte 
„.  .  .  zu  entwerfen  und  zu  vollenden?^*' 
„warum  wollen  sie  den  Schmid  seinen 
„IIa Himer,  den  Tischler  seine  Säge  führen 
„lehren;,  da  doch  jedes  Handwerks  A  n- 
jjWendung,  nicht  das  Handwerk 
„selbst,  und  dafs  jeder  leiste,  was  er 
„soll,  —  nicht  wie,  des  Baumeisters 
„Wissenschaft  ist?  —  Auf  tausend  ähn- 
„liche  „Warum"  kenne  ich  nur  eine  einzige 


„Antwort;  Weil  die  meisten,  «iclit  diircli 
„die  Natur,  sondern  durch  Zufall  und  Ver- 
„Laltnisse  zu  Befehligern  erhohen,  aus  sich 
,,selh&t  und  ihren  eigenen  Gebrecheii ,  wie 
„aus  einem  unreinen  Spiegel,  die  verach- 
„tenden  Vorhildungen  der  Menschheit 
„schöpfen.  Schwach  und  eng  —  sieht  ihr 
„dürftiger  Geist  nur  das  vorübergehende 
„Einzelne;  wie  sollten  sie  hohe  Umfassung 
„in  andern  vermuthen?  Schwach  und 
„unfähig  scheinen  ihnen  alle,  denen  sie 
„gehieten,  und  die  sich  von  ihnen  ge- 
„hieten  lassen  ;    aher  eine  geheime  Ahnung 

zeigt  ihnen  dennoch  in  jeder  Handlung, 
„die  nicht  aus  ihrem  Gutachten  ent- 
5, springt,     eine   aufstrebende   Kraft,  die 

einst  sie  heurtheilt.  „Ein  dunkles  Gefühl 
„lehrt  sie,  durch  vervielfacht  kleinelnde 
„Vorschriften  den  Blick  über  ihre  innere 
„Leerheit  hinweg  ziehen,  wie  ein  schlech- 
„ter  Zeichner  lieber  unbestimmt  schattirt, 
„als  in  einfachen  Umrissen  seine  Unwissen- 
„heit  darstellt.  Scheinbare  Genauigkeit  — 
,,\vird  ihr  Prachtkleid;    die  Kunst,  das 


„Unberleutendste  aufzufassen  ,  und  unter 
„des  Unbedeutenden  Anhäufuno;  zu  betäu- 
„ben  —  ihre  niederdrückende  Stiiike :  und 
„da  in  der  Verworrenheit  kleiner  Gewebe 
,,jede  edlere  Kraft  sich  am  leichtesten  bis 
,,zur  Muthlosigkeit  der  duiupfsten  Abspan- 
„nung  hinab  ängstet ;  so  siegen  und  lierr- 
„schen  sie  im  Spott  aller  kvüf ligern  Natu- 
,,ren,  als  Vorbilder  und  Gesetzgeber  zuni 
dauernden  Übel  der  Menschheit;  weil 
,,nun  selbst  reicher  begabte  Jünglinge  nur 
„im  Gedächtnisse,  nie  im  eignen  Nach- 
„denken  gebildet,  aller  reinen  Schätzung 
„der  Menschen ,  allem  freyen  Gebrauch 
), ihres  Vermögens  entzogen ,  entweder 
jjwerden,  was  andre  ihnen  waren  .  .  . 
„Tyrannen  der  Meinung  ,  oder  beym 
„Drang  ihres  bessern  Bewufstseyns  käm- 
„pfend  gegen  das  allumstrickende  Verge- 
„hen.  Und  so  konmit  es  denn  wirklich 
„dahin,  dats  ganze  Zeitalter  sich  aller 
„eignen  Thätigkeit  unfähig  wähnen;  dals 
„aller  freye  IMuth  der  Ausführung,  alle 
„eigne  Bildung  erliegt  zwischen  der  Furcht, 


4oö   

,,die  überall  Kriiclcen  ihrer  unw isseiiden 
,, Trägheit  begehrt,  und  dem  Stolze,  der 
,,sie  p^lobt. 

„Und  so  lernt  denn   in  diesem  Chaos 
einer  halb  fähioen  Menge,  wie  man  gehie- 
vten,  wie  man  in  selbstüberlassener  Aus- 
„fülirung  —  stufenweise  Mündigkeit  Iier- 
„hey  führen  miisse.    Freylich  würde  man- 
„ches  durch  engere  Vorschriften  sclineller 
vollendet;    aber  nur  Selbstheit,  die  im 
Glanz    ihres    Werkes   triumphiren  will, 
„strebt  nacli  s  c  Ii  n  e  1  1  e  r  m  Gehorsam 
„mehr,   als  nach   reifer  Bildung  künf- 
„tiger  Meister,    denen  auch  unsre  Fehler 
,,zu    höherer    Vollkoinmcnheit  werden. 

W^ie  wenig  oder  wie  viel  für  diesen 
Augenblick  gewonnen  wurde,  kann  Kri- 
thramas  Bericht  an  die ,  die  ihn  sendeten, 
euch  zei.2,en.  Wenn  Nachsicht  und  unei- 
gennütziger Wille,  wenn  Menschenkennt- 
nifs  und  ein  Geist  voll  edleren  Vertrauens 
s  o  sprechen  nuifste  ;  wie  w  idrig  mufste  auf 
unsern  jugendlichen  Geist,  der  nach  ersten 
Findi  ücken  rasch  empiindend  urtlieilte,  der 


Anblick  dieser  LiPiite,  die  rTiirrprluld  so 
mancher  verlornen  Mühe,  die  tnusenclfa- 
chen  Hindernisse  ihrer  unbildsamen  Ver- 
schobenheit  wirken  !    Hört,  was  er  schrielj. 

„Teil  habe  ihren  AV^alleniibungfni  beyge- 
W'ohnt  —  ein  ärgerliches  Flickwork  der 
ungefühltesteu  Grölsel  Ihre  Seelen  träu- 
men von  Ehre,  ihr  Wahn  schul'  sich  ein 
Bild  des  Krieges :  was  ihn  zum  erhabe- 
nen Gedanken  der  edelsten  Selbstl>ildung, 
zur  Ausdauer  in  Beschwerden,  zum  Sinn 
der  Aufopferung  für  Wahrheit  und  Rechte 
macht,  kennen  sie  nicht;  ihr  Muth  und 
ihre  Fertigkeit  sind  Münzen  ohne  Werth, 
denen  nur  die  lloirnunoen  des  Fioennulzcs 
einen  veränderliciien  Ujnlauf  geben. 

„Ich  besah  ihre  Felder ,  ihre  Gewerbe, 
die  Ordnung  ihrer  toglichen  Arbeiten. 
Uberall,  wo  Gemächlichkeit,  wo  Schim- 
mer oder  schnell  eForilfener  Genufs  .  .  . 
Versprechungen  geben,  seh'  ich  IVegsnm- 
keit  des  Geistes:  wo  das  Grofse  in  freyer 
Bewunderung  nur  seine  ^igne  Wahrheit 
zeigt,  in  den  stol/.en  Gefiihlen  der  Kunsit 


4^8 


und  des  Scliönen ,  schuf  die  Eitelkeit 
sich  ein  erzwungenes  Staunen  ;  viel 
wissen  —  —  die  hindische  Aufzählung 
des  Mühsamen,  die  ängstliche  Beohach- 
tuug  kleinlich  gewählter  Hindernisse, 
scheint  richtige  Empfindung. 

„In  ihrem  häuslichen  Leben  liegt  Uber- 
druis  unter  den  Lasten  eines  mühsamen 
Ansfandes  schlecht  verborgen;  innerer 
Widerwille,  der  Entzückungen  preist, 
die  der  Hörende  verlacht. 

„Der  Zufall,  eine  Laune,  eine  Ab- 
sicht hat  sie  vereinigt  :  die  Laune 
schwindet,  die  Absicht  ist  erfüllt  — 
Ungleichartigkeit  führt  nun  zur  Abnei- 
gung, die  Nähe  zum  Ilafs ;  jede  Ver- 
hindung  wird  Qual,  denn  nirgend  bringt 
ein  edler  Zweck  .  .  .  edlere  Ubereins tim- 
niung  und  Achtung  lierA  or. 

,,Mit  ihren  Meinungen  treibt  ihre 
eigne  Eitelkeit  ein  heuchlerisches  Spiel ; 
sie  wollen  das  Wahre  nur  des  Schim- 
meis w  egen.  Ihre  Prahl  sucht  ringt  nach 
Tugend;    das  Urtheil    und  die  Stimme 


fies  Tages  ist  das  Gesetzbuch  ihrer  Hand- 
lungen, und  wer  das  Lächerliche  in  sei- 
ner Macht  hat,  ihr  Tyrann. 

,,Uns  achten  sie  in  unsrer  Macht; 
mich,  weil  ich  in  eurem  Namen  ge- 
biete. tfOh  Gutes  an  meinem  Vorschrif- 
ten,'* wird  nur  nach  der  Leichtheit  oder 
Ijast  ihrer  Erfüllung  berechnet;  eine 
dumpfe  Furcht  hindert  ihr  offenes  Ur- 
theil;  der  freye  Muth  der  erfüllt,  weil 
er  einsieht  —  ist  hier  nur  berechnende 
Folgsamkeit,  die  gehorcht,  weil  sie  hofft 
oder  fürchtet. 

„Noch  sind  sie  um  nichts  über  den 
grofsen  Haufen  ihres  Volks,  den  sie 
verliefsen ,  vorgerückt,  als  in  der  mil* 
dem  Gestalt  ihrer  Fehler,  in  der  Kunst 
sich  selbst  zu  betrügen,  in  der  Abson- 
derung ihrer  vor  neuen  Verderbnissen 
sicherern  Lage;  aber  ihr  Geist  ist  noch 
derselbe.  Zur  Kraft  edler  Entschlüsse 
fehlt  ihnen  alle  innere  Erkenntnifs :  sie 
suchen  in  der  Tugend  nur  e;ine  Glücks- 
göttin.   Der  Stolz  ,  „hierher  geilüchtet 


/j  1  o  

zu  haben/'  ist  das  Einzige,  was  ilmcn 
einige  Selbstwiirdigung  giebt;  vielleicht 
werden  sie  aber  auch  unheilbarer 
durch  den  Stolz,  den  ihr  Hierseyn  ihnen 
giebt  .  .  .  Ein  Wagstück  der  beleidigten 
Geinächlichheit  scheint  ihnen  ein  mora- 
lischer Sieg,  nach  dessen  Anstand  mehr 
als  dessen  AVesenheit  sie  gcitzen.  Sie 
seufzen  statt  zu  wollen,  und  möchten 
jedes  Unrecht  geniefsen  ,  aber  unter 
scheinbarem  Rechte. 

,,Ich  sehe  hein  Mittel  zur  Besserung, 
als  sie  sich  selbst,  ihren  ohne  Scheu 
los  gelassenen  Leidenschaften,  der  Ge- 
walt ihrer  eigenen  Herrschsucht  eine 
Zeit  lang  zu  üljerlassen.  Ich  habe  ihnen 
unser  Gesetzbuch  und  selbsterwählte 
Obrigkeiten  gegeben. 

„Der  Betrug,  der  Wahn,  die  schänd- 
lichste Verschleuderung  der  edelsten 
Hechte,  Gedankenlosigkeit,  läppischer 
Ehrgeitz,  die  heimlichen  Verträge  künf- 
tiger Begünstigung  haben  diese  W^ahlen 
C,eleitet.     Ich    habe    erklärt  ,    dafs  sie 


o-anz  ßicli  selbst  überlassen  —  Wohl 
oder  Übel  ihr  eigenes  Werk  seyn  wiirdc, 
und  habe  Wort  gehalten.  Sie  haben 
Schlangen  zu  OberhäuTitern  und  Wolfe 
zu  llechtspflegern  genommen,  die  für 
die  liurze  Zurüclilialtuiie;  der  schleichen- 
den  Gesuchzeit  durch  Hohn  undT  rotz 
und  kühne  Verkäuflichkcit  sich  zu  ent- 
schädigen rechnen.  Desto  besser!  So 
lernen  sie  um  so  früher,  dafs  ohne 
persönliche  Tugend  —  das  beste  Gesetz- 
buch nicht  gegen  Verdrehungen  schütze; 
dafs  freye  Wahl  und  eine  eigene  Stimme 
im  Wucher  des  Eigennutzes  —  nur  oif- 
nere  Schändlichkeit  und  zunehmendes 
Verderbnifs  gewinnen. 

„Foltern  müssen  sie  belehren ,  die 
J^'olgen  ihrer  eigenen  Gebrechen  sie  de- 
müthigen  bis  zur  Erkenntnifs :  „dafs 
eine  einzelne  Handlung  lücht  genug  sey 
zur  Tujiend ;  dafs  man  nur  durch  strenp^e 
Selbstbeobachtune;  zur  Fähiokeit  edlerer 
Kechte  gelange."  Dann  mag  ein  glückliche- 
rer als  ich  sie  für  das  Bessere  voibei  eitet 


finden.  !Nocli  sind  sie  unli  eilbar  im 
AVahn  ihrer  Güte,  und  zu  selbstzufrie- 
den im  Stolz  ihrer  Flucht." 


Eine  schnelle  Botschaft  an  Erithrama 
änderte  unsern  Aufenthalt.  Jcrma, wurde 
als  Anführer  der  Jünglinge  berufen,  die 
zum  jährlichen  Schutz  der  Reisenden 
von  Delhi  nach  Davard  sich  versammel- 
ten. Er  machte  Tibarn,  seinen  Geliebten 
in  der  Ähnlichkeit  ihrer  Gemüther,  zum 
Gehülfen  seines  Amtes.  Dya  und  ich 
wurden  die  Gefährten  der  Unzertrenn- 
lichen. 

Der  letzte  Abend  in  der  stillen  Woh- 
nung Anirs  erschien,  seit  dem  Abschiede 
meines  Vaters  der  ernsteste,  tiefgefühlte, 
schönste.  Jerma,  Anir,  Divi  und  Wy- 
darna,  Erithrama,  Tibar,  ich  und  die 
angekommenen  Boten  waren  beysarn- 
men.  Dya  hatte  alle  Geschiiite  unsrer 
Abreise  übernommen:  er  fand  zu  viele 
.  .  .    um    hier    seyn    zu    können.  Es 


4^3 


schien  ein  bnideiliches  Opfer  fiir  unsre 
freyere  Zeit:  aber  gerade  dieses  ängstige 
Entweichen  ,  diese  ungewöhnlich  lär- 
mende Geschäftigkeit  wurden  mir  Ver- 
räther seines  Innern.  Er  wollte  den 
Abend  vermeiden,  er  fürchtete  für  seine 
Kräfte ;  er  scheute  den  Blick ,  der  ihn 
errathen  konnte  ,  und  längst  erratheri 
hatte ;  er  zitterte  vor  der  entscheidenden 
Gewalt  des  Abschieds. 

Dya  und  Wydaina  bey  so  viel  innrer 
Übereinkunft,  durch  so  manche  Erzäh- 
lung vorbereitet  —  sich  zu  bewundern 
ehe  sie  sich  sahen ,  waren  dennoch  in 
einem  entfernten  V^erhältnisse  geblieben. 
Seine  stolze  Seele  sah  sich  hingezogen 
durch  Achtung  und  Staunen  ,  sein  Herz 
drängte  ihn  näher;  seine  Meinung  hielt 
ihn  zurück.  Unabliängigkeit  schien 
ihm  Gröfse  des  Mannes,  Unabhängigkeit 
von  allem,  aufser  den  Geboten  des  Ver- 
standes, der  für  Wahrheit  und  Bestim- 
mung entscheidet,  alles  Hingeben  an 
eine  vereinzelnde   I^eidenschaft  —  das 


4i4  

gefährliche  ^Vagstdck  dos  Unhosonneilen, 
Er  selbst  wollte  er  seyn,  frey  in  jedem 
Wollen  und  nie  war  er  frey.  Alles 
ergrlE-  ihn  mit  lieldenschart ;  seine  Tu- 
gend, seine  Yateilandslicbc  waren  nur 
eine  Geliebte  unter  verändertem  Namen  ; 
ein  herrschendes  Etwas  lenkte  jedes 
Streben  seines  Geistes.  In  glühenden 
Gefühlen  ergriff  ihn  das  Daseyn.  Ein 
kühnes  Bild,  seiner  zaubernden  Einbil- 
dung war  seine  Kraft. 

Lange  mir  unerkliirljar ,  sali  ich  wie 
Anir  und  Erithrania  ein  leises  Spiel  mit 
seinen  Empfindungen  triei)en :  im  un- 
merklichen Enthüllen  jeder  Treiflichkeit 
zogen  sie  ihn  immer  näher  an  Wy- 
darna ;  in  kühn  entworfenen  Bildern  der 
Männlichkeit  entfernten  sie  ihn  durch 
den  Selbstkampf  seines  Stolr.es. 

Wvdarna  ging  mit  stillem  Blicke  an 
ihm  voriiber,  in  schöner  Zurückhältung, 
und  unerrathen  ihm,  der  mm  selbst  nicht 
errathcu  seyn  wollte.  Edelsinn  und 
Selbstachtung   hielten    zwcy  Genu'ither 


  4^5 

ejitfernt.  Selten  begegneten  sie  sicli  im 
Gespräche :  nur  in  verstohlncr  aber  desto 
tieferer  xlchtsamkeit  sammelten  sie  neue 
y^üge  zum  Bilde  ihres  Innern.  Ein  Leben 
geräuschloser  Ereignisse  reichte  keine 
jener  schnellen  Veranlassungen  dar,  wo, 
wie  bey  Jernia  und  Divi  am  Tage  der 
Wettspiele  ,  alle  Künste  des  Geheimnis- 
ses unter  überraschenden  Stürmen  dahin 
sinken ,  wo  Menschen  vor  Menschen 
unverborgen  stehen,  weil  ein  himmli- 
scher innerer  Strahl  alle  Hüllen  zerreifst. 

Ein  fragender  Blick  Wydarnas ,  ihr 
Ilinstarren  nach  jedem  äufsern  Laute, 
schien  Dya  an  diesem  letzten  Abende  zu 
erwarten.  Scheinbar  unabsichtlich  er- 
zählte Anir,  ,,dafs  Beschäftigung  für 
seine  Brüder  und  Freunde  ihn  dieses 
Abends  freywillig  beraube. Eine  Thrä- 
ne  ihres  Auges,  ihre  Entfernung,  da 
der  Augenblick  unsers  Weggehens  nahte, 
zeigte  den  Gram  der  Leidenden,  die 
errieth  und  bewunderte  und  sich  selbst 
verschliefsea  mufste. 


4i6   

D)M  fuiii-  in  sclineller  Freude  auf,  da 
Anir  ihm  Wydarnas  Betragen  erzählte, 
und  sank  zurück  in  seinen  Ernst,  und 
trieb  sich  nun  noch  ungestümer  in  das 
Gewühl  unsrer  Abreise. 

Härter  als  je  und  unerklärbar  schien 
mir  Anirs  Betragen,  bis  ich  in  anhalten- 
der Beobachtung  seine  Gründe,  von  ihm 
selbst  bejaht,  errieth. 

„Tn  zu  kühner  Einbildungskraft  flog 
üya  über  das  Leben,  an  Erwartungen  rei- 
cher in  jeder  Sache  als  an  Erreichen:  bis, 
Dichtunji  durch  Dichtunji  verdrängt  —  der 

O  DO 

Gram  des  Nieerlangten  den  unbefriedigten 
Geist  in  die  Stürme  des  ewig  begehrenden, 
immer  v/erhsclnden  Unbestands,  oder  zur 
dumpfen  Unthätigkeit  der  lebensmüden, 
holTnunr/slosen  Entsac-uns;  geführt  hätte. 
An  der  Verzweiflung  des  betäubenden 
Genusses,  an  finstrer  Härte,  an  Wunder- 
glauben, oder  an  der  Verachtung  alles 
Daseyns  ,  hätte  vielleicht  sein  Schicksal 
zerstörend  geendet.  Ein  Etwas  im  In- 
nern, ,,das,  w  ie  des  Wahren  und  Schönen 


ewige  Regel,  gegen  alle  Zweifel  fest 
stand,"  vvarnoth,  bis  bestimmtere j\Iann- 
lichheit  ihn  dem  Zeiträume  des  wanken- 
den Ungestüms  enthob.  Nur  Menscheit 
seltner  Art  —  durch  ihre  Vergangenheit 
grofs ,  der  Einbildungskraft  nalie,  aber 
wie  Geister  d^  allzu  nahen  Wirklichkeit 
entschwindend,  können  unter  dauernden 
Beziehungen  —  Einheit,  Haltung  und 
Gewifsheit  in  solche  Seelen  bringen. 
Wydarna  war  eines  dieser  gUicklich  be- 
gabten Wesen:  reich  und  fest  bezeichnet 
in  jeder  Fülle  des  edelsten  Bewufstseyns  ; 
von  unveränderlichem  Geiste;  kühn  ge- 
gen die  Menschen  ihrer  Tage;  behut- 
sam und  schwer  glaubend  und  täuschurigs- 
los  aus  früher  Erfahrung,  aber  der  Ver- 
gangenheit edlerer  Thaten  treu  aus  zar- 
tem ,  innigem  Glauben  an  die  Trefflich- 
keit der  menschlichen  Natur  ;  allem  Scho- 
nen und  Guten  in  stiller  Begeisterung 
offen,  und  aus  hellem  Verstände,  auch 
unter  den  Zweifeln  des  Daseyns,  einer 
bessern  Ferne  gewifs ;    aber  neben  aller 

D>a-Na  -  £üre  x.  Tlu  *  27 


4ia   

Achtung  der  Menschlieit,  voll  Zuiiu-k- 
haltung  gegen  den  Einzelnen,  bis  an  des 
Guten  sicherem  Vertrauen  ihre  Seele 
sich  aufsclilofs. 

Schönheit  war  ihr  eigen,  eine  hohe 
Gestalt,  Formen  der  reinsten  Bedeutung. 
Ihr  Blick  entschied:  Begeisterung  ging 
von  ihm  aus.  Frey  und  grofs  in  jeder 
Bewegung,  heiter  in  anspruchloser  Stille, 
und  hinreilsend,  wenn  ihre  reine  Stimme 
sich  an  Gefülile  des  Herzens  drängte  — - 
war  sie  werth,  Dyas  herrschender  Genius 
zu  werden.  Aber  nur  in  der  Ferne ,  nur 
als  Wesen  der  Einbildungskraft  durfte  sie 
ihm  erscheinen,  um  dauernd  und  zufalllos 
das  strahlende  Bild  in  der  Nacht  seiner 
Irrungen  zu  bleiben.  Wenn  das  Leben 
in  seine  Leere  ihn  hinab  rifs ,  sollte  ihr 
Andenken  ihn  umgeben  mit  der  Zuver- 
sicht des  Erhabensten.  Die  Ruhe,  die 
Beharrlichkeit  eines  weiblichen  Vorbildes 
sollte  den  Wetteifer  der  seinigen  wecken. 
In  der  festen  Hinneigung  seiner  Thaten 
nach  den  ihrigen  sollte  er  sich  treu  und 


foli^ereclit  bleiben  lernen.  Darum  mufste 
Erwartung  zwischen  beiden  stehen  ,  aljeu 
kein  Erreichen;  Wünsclie,  aber  kein  Be- 
sitz ;  die  Zukunft  eine  Aussicht,  die  Ge- 
genwart ein  dorthin  gerichteter  Pfad. 


Weit  lagen  schon  die  Spitzen  um  Anirs 
Thal  zurück;  unsrer  Blicke  Sehnsucht 
mit  jedem  erstiegenen  Gipfel.  Ach  so 
langsam  und  schmerzend  scheint 
jeder  Weg,  wenn  das  Verlassene  aus  der 
Ferne  winht,  wenn  die  Stunde  kommt, 
und  das  Gewohnte  nicht!  Warum  malt 
die  Erinnerung  schöner  als  die  Gegen- 
wart? warum  ist  ein  entbehrtes  Lächeln 
uns  werther  als  ein  wirkliches  '?  -  -  Man 
sagt,  der  Mensch  sey  thoricht;  aber  -  - - 
unser  Ge  dächt  niTs  sind  wir  selbst, 
und  seine  Bilder  ein  Ganzes;  was  uns 
u  m  g  i  e  b  t ,  ist  nur  eine  Erscheinung,  die 
punktenweise  zwischen  Augenblicke  ze;- 
fäUt. 


420 


Fester  als  icli  glauLte,  fühlte  ich  melr.e 
Seele  an  das  Vergangene  der  letzten  Zcii 
geheftet.  Nicht  die  Menschen  allein  — 
ich  hatte  ja  Jerma  und  meine  Erüder  — 
au  ch  jene  Verhältnisse  des  Orts  und  der 
Art,  die  uns  vereinigten,  werden  ein 
Ganzes ,  dessen  Gewohnheit  nur  unter 
Schmerzen  zerreifst. 

AVas  uns  am  meisten  hedriichte,  war 
Erithramas  Ah\'\^esenheit.  Aus  langer 
Übung  der  BerührungspLiiikt.  unsrer  Ge- 
müther —  hätten  in  seiner  Gegenwart 
unsre  Empfrndungen  sich  minder  verein- 
zelt. 

Welch  ein  Iläthsel  ist  der  Mensch!  — 
Er  klagt,  ersucht  fremde  Theilnahme,  und 
verbirgt  doch  nichts  sorgsamer  als  die 
Quelle  seiner  Klagen ;  der  Zutraulich- 
ste wird  verschlossen  ,  der  Jüngling  ver- 
läugnet  sich  seinen  Gefährten  ;  des  Kum- 
mers erster  Begleiter  —  ist  Furcht. 
Nur  einem  lange  in  freywilliger  Unter- 
ordnung verehrten  Geiste  höherer  Würde 
enthüllt  sich  das  Herz,  das  allenthalben 


Alifsdeutunn;,  und  nur  In  reiner  Vernunft 
<]ia  Fähinkeit  erwartet  .  .  .  ficrecht  iiher 
den  Ursprung  fremder  Schmerzen  zu  rirli- 
ten ,  zu  trösti^n ,  oder  zu  Iressern. 
Nur  in  der  gemeinscIiaftHclien  IN  älie  eines 
solchen  Wesens  aufgebh'ihtes  A  ertrauen 
lianii  Jünglinge  in  männlichen  Jaliren 
einst  zü  wechselseitiger  OlTenheit  binden, 
wie  auch  uns  einst  Erithramas  Andenken, 
lind  der  gerechte  Werth,  in  dem  er  uns 
betrachtet  hatte,  ward.  Noch  aber  waren 
wir  zu  neu,  ohne  seine  Gegenwart 
uns  ganz  zu  erkennen;  noch  schien  im 
kerlntnifslosen  Wahn  der  .]u<Tend  „jedem 
sein  Kummer  zu  grois  ,  fremde  3.''assung 
zu  ungleichartig;'*  nur  Spott  oder  Wi- 
derspruch erwartete  er  von  andern.  Der 
Stolz,  durch  el.'ine  Kräfte  scark  zu  schci- 
nen,  hielt  uns  verschlossen. 

Schön  war  der  Tag,  so  reicli  und  so 
wechselnd!    ein  zaubernder  Gebirfrwe«;! 

*)  Selbst  der  Gloube,  dafs  vor  ciiiem  Lbircli« 
diingeuden  Auge  --  ZiiriickiiaUcn  mmüir.  scy 
und  beleidigend  ,  sciiUefset  nuf. 


422   

Aussicliten  hoher  Ferne!  alles  was  in 
Bewunderung  ergreift,  selbst  der  Zweck 
imsrer  Reise,  alles  konnte  uns  nähern; 
aber  einzeln  und  in  persönlicher  Ein- 
schränkung auf  das  Vergangene,  blieb 
jeder  auf  seinem  abgesonderten  Pfade. 
Ein  mühsam  angeknüpftes  Gespräch,  zur 
Entschuldigung  eignen  Stillschweigens 
inehr  versucht  als  gewünscht,  endete 
am  ersten  l.leinen  Hindernisse.  Jeder 
enge  Weg,  für  Einzelne  nur  gangbar,  war 
uns  innerlich  willkommen. 

Jermas  Auge  starrte  hin  in  die  Besorgt- 
heit um  eine  trauernde  Entfernte ,  in  das 
Ungewisse  seiner  Rückkehr,  in  die  Ge- 
fahren seiner  Stelle,  die  er  kannte.  — ■ 
Eine  nur  für  den  Augenblick  vereinigte, 
vielartige  Menge  über  ein  Räuberland 
tausendfacher  Schlupfwinkel  zuführen  -  - 
welche  Verwicklung  von  Zufällen  und 
Sorgen,  welch  ein  Feld  der  unvorgese- 
hensten Hindernisse!  Er  verschlofs  sich, 
um  uns  nicht  zu  Theilnehmern  seiner 
Unruhe    zu   machen.     Hätte  er  nicht, 


4^3 


v»/ohlthätiger  für  uns,  iinserm  fluiiipfcn 
Grame  in  der  Mittheilung  seiner  Bjesorg- 
nisse  eine  hellere  Wendung  gegeben? 
Liegt  nicht  jeder  Schonung  die  Idee  Ireni" 
der  Scliwüclic  zum  Grunde?  , 

Er  las  in  Dyas  Gesicht  die  Bctai^hung 
einer  sich  selbst  hatim  klaren  Ijciden: 
Schaft:  wäre  nicht  Aussicht  auf  Gefahren 
einer  bedrückten  Seele  neue  Spannkraft 
geworden?  In  der  Reue  des  Vergange- 
nen grollte  Dya :  in  so  mancher  Erinne- 
rung erschien  ihm  jetzt  Wydarna,  jede 
unergrilfene  Annäherung,  jede  Stunde, 
da  durch  die  blindeste  Unentschlossenheit 
sein  Geist  dem  ihrigen  sich  verlang. 
Jetzt  hätte  er  —  entscheidender 
gesprochen,  und  jetzt  war  alles  —  entflo- 
hen. Im  Wechsel,  im  Widerspruch  sei- 
ner selbst  und  seiner  Bilder,  bald  untheil- 
nehmend  verschlossen,  bald  auffahrend 
in  derGluth  drängender  Gedanken,  verlor 
ejr  sich  oft  weit  in  trägem  Gange  hinter 
uns,  dafs  man  ihn  aufsuchen  muiste ;  oft 


trieb  er  uns  alle  im  ungestümen  Fluge 
vorwärts  nach  dem  Ziele  unsrer  Reise. 

Til)ar  allein,  am  Vergangenen  w  e  n  i  g*e  r 
als  am  liünft.ieen  hangend  —  Lliel)  sich 
glei'ch:  aber  hingezogen  in  den  Umfang 
der  Gemälde,  die  er  sicii  zusammensetzte, 
aus  allem  Einzelnen  unsrer  Aufenthalte 
in  der  Stadt,  bey  Erithrama,  bey  Anir, 
lind  'den  Wahrscheinlichkeiten  unsrer 
jetzigi3n  und  weitern  Bestimmung,  ging 
auch  -,er  'einsam"  seine  Bahn;  aber  reich 
für  die  Folge  und  glücklich,  dafs  ehe  das 
Verflosseile  in  unabsehbarer  Weite ,  ehe 
Kenntnisse  allzu  gehäuft  die  Erinnerung 
verwirrten  —  sein  Geist  unter  bestimm- 
ten Beziehungen  einem  Augenblicke  zuge- 
drängt wurde,  „der  das  Gesehene  in  Ent- 
schlüsse und  Gesetze,  das  Erfahrne  in 
die  reinen  Resultate  seiner  Anwendbar- 
keit verwandelte/'-  Nur  nach  solchen 
Zusammenfassungen  zum  Ganzen  können 
wir  zu  reinen  Verhältnissen  mit  uns  selbst 
und  dem  Daseyn  gelangen.  Wie  ein  Feld- 
messer späterer  Gesichtslinien  durch  eine 


dfste  gemessene'  sich  veisiclic?t  ^  so  wird 
auch  uns  dann  alles  Ilinzakoirimcnvle  nur 
Erweiterung ,  nichfs  vöifel^iizche  Neulielt. 

Wönige  fuhrt' ihr  heohachtender  Geist 
dahin,  aus  sich  st?lbst  ein  Ganzes  zu 
machen  .'.  .  durch  eiVi'  klares  Aneinan- 
derreihen:- ihres  '  jetzigfen^  und  '  vorigen 
Zustandes.  ' '  'A4l«n-^tritt  nur ,  was  Eitel- 
keit oder  hcrrscheaide  Neigung  ihnen 
darreicht«  schimiaaQpnd  und  al^gerissen 
aus  ihrem  Lehen  hervor.  Wenige  ent- 
gehn  im  ^  Umgänge  tief  -Verehrter  Men- 
schen (ditrch  Glück  oder  eigne  Haltung) 
der  einzi'Ten  Gefahr  dieses  Umoanjis  — 
—  d  u  r  c  h  allzu  langes  Verharren 
unter  d  e  r  .  G  c  w  a  1 1  fremden  Gei- 
stes die  M  ü  n  d  i  g  w  er  d  u  n-g  ihres 
eignen  zu  verlieren.  Darum  sind 
der  wahrhaft  thätigen  Menschen  so  we- 
nige :  allen  schweht  eine  dunkle  Rück- 
kehr des  Einzelnen  vor  Augen,  und 
ehen  so  einzeln ,  so  folgelos  und  so  un- 
bestimmbar erscheinen  auch  ihre  Thaten; 


gleich  Meteoren  ,  bald  hell  und  bald  in 
Grau  verwölkt. 

Darum  ist  reine  Selbstständigkeit  *) 
so  selten  und  Selbstdiinkel  **)  ihr  Ersatz. 

Selbstständigkeit  —  jene  innre  Gewifs- 
heit  dessen  was  wir  vermögen;  *  *  *  j 
Selbstdünkel  —  d^s  ewig  Irrenden  Wolke 
über  den  wahren  Gehalt  seines  Innern, 
die  bald  aus  fremdem  Liebte  leuchtet, 

*)  Das  reine  Verliältnifs  unsers  Selbstmifs- 
trauens  und  Selbstvertrauens  zu  unsr«:  Schwä- 
che und  Stärke. 

**)  Dieses  sonderbare  Zwittergefühl  ewig 
an  sich  irrer  Menschen  .  .  .  alle  eigne  Gewifs- 
heit  aus  fremtlen  Stimmen  zu  ziehen,  und  den- 
noch bey  jedem  Tadel  eigne  Einsicht  über 
fremde  zu  setzen  ,  das  in  kleiner  Nachahmimg 
sich  grofs  scheint,  und  den  Glanz  seines  Vor- 
bildes für  eignen  hält. 

***)  Wenn  der  unparteyischa  V  e  r  g  l  e i  c  h 
.  .  .  unsrer  Kräfte  mit  nnserm  Zwecke  —  aus 
vorigen  Handlungen  gezogen uns  das  reine 
Bild  unser  selbst,  ein  strenges  Urtheil  über 
das  Innre  unsrer  Triebfedern  und  ein  bestimm- 
tes Gesetz  „für  alles,  was  wir  wagen  oder  nicht 
wagen  dürfen/*  g  i  e  b  t. 


 =   427 

bald  fremdes  Licht  in  ihre  eignen  Ne- 
bel verdunkelt. 

Tibar  hatte  im  einsamen  Fortschritt 
unsrer  Reise  den  Raum  eines  langen 
Tages  und  einer  Nacht  für  seine  Uber- 
legung.  Entschieden  für  Schicksal  und 
Zukunft,  der  Wahrheit  seines  Willens  ge- 
wifs,  öiTnete  sein  Herz  sich  der  Ruhe,  die 
heller  Selbstkenntnifs  nie  mangelt.  JMit 
festem  Sinne  ergriff  er,  was  ihn  umgab. 

Als  Dichter  und  Krieger  beschäftigte 
ihn  die  Gegend,  die  wir  durchzogen. 
An  hoher  Schönheit  erweiterte  sich  sein 
Geist.  Prophetisch  sah  er  die  Zeit,  da 
in  Thälern  voll  edler  Bewohner  —  Berge 
wie  aus  dunkler  Vergangenheit  empor  stie- 
gen zum  Glanz  unsterblicher  Thaten  ,  Fel- 
sen sich  krönten  mit  ihren  Denkmahlen, 
und  Gröfse  des  Menschen  in  schöner  Blü- 
the  hervor  träte  aus  der  grofsen  Natur. 

In  der  Verwicklung  der  Berggänge 
zeigten  sich  ihm  dann  w^iederum  die 
Gemälde  des  Kampfes,  der  Gebrauch  und 
die  kriegerische  Wichtigkeit  jeder  JLage.  — - 


423 


Uimieiklich  zog  er  uns  rliirch  Fiiio^eu 
und  Bemerkungen  an  äufsere  Beobach- 
tungen,  unmerklich  ward  er  der  Berüh- 
rungspunkt," an  dem  unsere  kranken 
Seelen  sich  samniel'ten. 

''■©ya  erwachte  zu  Kriegsruhin"  und' 
Heldenträümerl.  Wydar  h in Andenken- 
verwandelte  sich  in  lloihiiuntiGn  de>r  Zii- 
Itutift.  Aller  Wünsche  Heftigkeit  erhob 
sich  im  Stolz- ihres  Beyfalls.  Ferne  ZeU 
ten  wurdeii  nun  sein  Liichtkreis  und 
der  unsere;  >  - 

Erinnerungen  des  V'ergängenen  nur 
Hinweiser  auf  unsre  Pflichten,  und  das 
Andenken  geliebter  Abwesenden  stand 
in  der  Verherrlichung  des  Daseyns,  wie 
ein  llegenbogen  widerkehrenden  Lichtes 
über  hinab  ziehenden  Gewittern. 

•Wie  "wenige  verstehen  wohlthätig  zwi- 
schen den  Bekümmernissen  anderer  zu 
wandeln? 

Wie  wenig  ist  überlianpt  die  Kunst,  Kla- 
genden Trost  und  Beystand  zu  geben  und  aus 
ihrem  Trübsinn^  sie  zu  ziehen,  iiocli  bekannt 


Niclit  Fröhlichkeit,  ahcr  eine  tief  aufge- 
legte Leljhaftigkeit  machte  Dya  wieder  zu 
dem,  was  er  uns  immer  war  . . .  zuui  gliickli- 
cheÄ  Triebrad  unsrer  Gespräche.  Leicht 

and  geübt!  Vielleicbt  giebt  es  nur  zwey  Wege, 
auf  denen  man  einen  jeden  einholen  ,  und  nach 
seiner  eigenen  VYoise  mit  ihm  fortsciireiien 
iniifs. 

.  I.  Den  Aufschhifs  nnsrer  eignen  Leiden  .  .  » 
Wir  selbst,  als  ein  Rild  fnilien  Kummers  und 
unter  der  Wiederkehr  innrer,  unvergänglicher 
Schmerzen  erscheinend,  theilen  die  Aufmerk- 
samkeit. So  tiilTt  dann  jenes  bekannte:  Sola- 
men uiijeiis  Jo.ios  hahuissc  nialoniin  —  nicht 
aus  innerer  Bösartigkeit  unsrer  Natur,  soniierii 
aus  dem  einfachen  Grunde  ein,  „dafs  ein  ge- 
theikes  Interesse  der  Stärke  jedes  einzelnen 
etwas  nimmt;"  dafs  der  aus  dem  Mitleid 
erwaclfende  Wille,  andern  zu  helfen,  zur  Be- 
schäftigung wirdj  und  nach  und  nach  auch 
auf  die  Möglichkeit  führt,  sich  selbst  zu  hel- 
fen; dafs,  so  wie  man  aus  Eigenliebe  sich  selbst 
für  leidend  hält,  weil  man  gut  ist,  nun 
auch  andre  für  gut  hält,  weil  sie  leiden, 
und  so  theils  ähnlicher  Menschen  und  eines 
gröfsern  Zirkels  von  .Vertrauen  und  Mittliei- 
lung   sich   erfreut,    theils    aus  Allgemeinheit 


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empfanglich  war  sein  Geist,  her  ueni  eine 
groise  Empfindung  oft  nur  wie  heitrer 
Scharfsinn  klang,  der  im  Spott  feiner  Lau- 
ne, nehen  aller  Neigung  zum  schwärmeri- 

des  Elends  als  Loos  der  Menschheit,  besonders 
der  Bessern ,  sein  eignes  minder  schmerzend, 
oder  soi^ar  mit  Stoii  als  Adels brief  innrer 
Trefflichkeit  betrachtet. 

II.  Der  zweyte  Weg  ist  die  Einbildungs- 
kraft des  andern  für  ihre  gewohnten  Aufflüge 
iinmerklich  zu  reitzen,  und  dadurch  neben  der 
Mannigfaltigkeit  der  Ideen,  i\eben  dem  wieder- 
belebten Willen ,  auch  hier  vorzüglich  den 
Stolz  .  .  .  diesen  Zwillingsbruder  der  Ein- 
bildungskraft,  zum  Mitspieler  zu  machen. 
Will  einmal  durch  hohe  Kraft  £eaen  un- 
verdiente  Leiden  der  Leidende  glänze  n,  sich 
rechtfertigen,  oder  das  Unerreichte  durch 
kühne  Ermannung  erkämpfen;  so  bekommt 
in  jedem  Falle  der  Wille,  dieser  erste  Gegner 
aller  bedrückei^den  Leidenschaften,  Mitstreiter, 
und  der  Mensch  wird  w  ieder  ein  Ganzes  — 
durch  die  Vereinigung  aller  Kräfte  zu  einem 
frey  erwählten  Ziele. 

Überiia\ipt.  was  ist  eigentlich  das  Schädliche 
des  Grams?  Die  holTärtige  Ungerechtigkeit 
jedes  Lciiicnden,  sicii ,  weil  er  allein  seine 


srlien  — ■  gläd^lichen  Sinne,  meKrlaclite  als 
trauerte,  Unarten  der  Menschen  mit  Gut- 
sinn überdeckte,  und  trotz  der  tausend 
Übel  die  er  sah —  doch  immer  lieben  und 
Welt  mit  dem  Blick  edler  Würdigung  und 
dem  Vertrauen  eigner  Kidi'te  betrachtete. 

JLeiden  ganz  ffdilt,  auch  zum  alleinigen 
Richter  des  Universums  zu  machen;  die  Welt 
zu  verlästern,  weil  seine  Gehebte  ilini  heute 
nicht  hichelt;  oder  die  Menschen  für  fühllos, 
ungereclu  und  kitin  zu  erklären,  weil  sie  in 
seinen  Thaten  nicht  das  sehen,  was  er  selbst 
sieht. 

Dieses  zur  fortdauernden  Norm  seines  Be- 
tragens dann  angenommene  Uftheil  ...macht, 
dafs  er  ewig  einseitig,  ewig  ungerecht,  Men- 
schen ewig  mifsverstehend  und  von  andern 
nüfsverstandin  —  alle  Möglichkeit  zur  Wie- 
derkehr verliert,  aus  allem  Zusammenhane;e 
gerissen,  imuier  mehr  vereinzeh,  unter  Wi- 
dersprüchen verliegt,  und  wahre  Tliatigkeit  nie 
mehr  findet. 

Diese  Verewigtmg,  diese  Verwandlung  jedes 
einzelnen  Grams  in  eine  mifsvcrstandeue  Ge- 
ringschätzung der  Mensche»  überhaupt  — 
ist  das  Übel,  dem  man  vorbeuo:en  muj's. 


432   — 

Und  gerade  durch  den  lappischen  Worttrost 
nichts  sagender  Zudiinglicakeit  bringen  die 
meisten,  die  sich  Freunde  nennen,  dieses  Übel 
erst  hervor ;  „denn  sich  nie  verstanden  sehen, 
nie  mit  Menschen  in  wahrhaft  menschlichen 
Aufserungen  zusammen  treffen,**  iat  doch  wohl 
des  GtAmes  bitterste  Vervielfältigung,  und  nie- 
mand ist  hoffditiger  ...  als  der  Leidende.