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Full text of "Eckardt Studien Zur Deutschen Buehnengeschichte"

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THEATERGESCHICHTLICHE 
FORSCHUNGEN 


GEGRÜNDET VON BERTHOLD LITZMANN 


HERAUSGEGEBEN 
VON 


JULIUS PETERSEN 


41 
DR. EBERHARD JOHS. ECKARDT 


STUDIEN 
ZUR DEUTSCHEN BÜHNENGESCHICHTE 
DER RENAISSANCE 


MIT EINEM ANHANG: DAS PASSIONSTHEATER 
VON SCHWÄBISCH-GMÜND 


1 9 3 1 


LEIPZIG / VERLAG VON LEOPOLD VOSS 


I 


STUDIEN ZUR DEUTSCHEN 
BÜHNENGESCHICHTE 
DER RENAISSANCE 


MIT EINEM ANHANG _ 
DAS PASSIONSTHEATER VON SCHWÄBISCH - GMÜND 


voN 


DR. EBERHARD JOHN. ECKARDT 


MIT 4 ABBILDUNGEN IM TEXT 


LEIPZIG / VERLAG VON LEOPOLD VOSS 


vier 


411634 


Diese Arbeit ist zu gleicher Zeit unter dem Titel 
„Der Übergang von der Simultanbühne zur Bühne der Neuzeit im deut- 
schen Theaterwesen des 16. Jahrhunderts“ als Dissertation erschienen. 


Prin’eA in Germany 


Inhalt 


Seite 
Einleitung: Funktionund Gestalt........ . 1 
Funktion und Gestalt — Nebeneinander und Nacheinandes 
(simultan und sukzessorisch) — Raum-, Flächen- und Tiefen- 
bühne — Illusions- und Stilbühne 
I. Kapitel: Entstehungund EntwicklungdesNach- 
SINDANGEFEN SER RL ES En Beet 12 
Die Terenzbühne . . . 2. 2 2 2 2 2 nr 2 rn nenne 12 
Schmidt — Stumpfls Einwände — Die Bühnenvorstellung des 
Terenz — Die Gestalt der Terenzbühne 
Übergang zur Standszenenbühne . . . ». 2»: 2200.00 17 
Tobias Stimmers Comedia | 
Die Standszenenbühne . . . 2.» 2222er rennen. 19 
Aals Johannes-Tragoedia — Die Entstehung des Nacheinanders 
— Neutralbühne — Geteilte Bühne (Garts Joseph) — Die Studen- 
tes von Stymmelius — Innenraumszenen auf der Standszenen- 
bühne 
Übergang zum Standszenenwechsel . . . . 2 2 2220000. 26 


Johann Rassers Comoedia — Sein „Spil von kinderzucht‘‘ — 
Funktionen — Gestalt der Rasserbühne 
Die Meistersingerbühne (Standszenenwechsel). . . . 22... 37 
Die Gestalt (die Kontroverse Köster-Herrmann) — Die Funk- 
tionen (Standwechsel der scena) 


Die Shakespearebühne (Auftrittsbühne) . . . .». . 2: 222.2... 51 
Entwertung der scena — Reste des Standwechselprinzips 
Parallelentwicklung im Fastnachtspiel des Hans Sachs . ... . 55 


Die ‚„Revueform‘ bei Sachs — Einheitsszene des Interieurs — 
Einfluß des Spiellokals auf das ältere Fastnachtspiel — Der 
Renaissancestil der Bühnenfunktionen — Das Eindringen sukzes- 


sorischer Technik 
II. Kapitel: Die Rückwirkung der Terenzbühne auf 
das volkstümliche Spiel ...... 2.222200 62 
Die Bühne von Valenciennes . . . . 2.2.22 2 20er. 62 
Die Bühne des Kölner Laurentiusspiels . . . ». 2. 222.20. 63 
Das Schweizer simultane Volkstheater . . . .. 2. 222.20. 66 


Seitz, Spiel vom Abendmahl — Salat, Der Verlorene Sohn — 
Spichtig, Dreikönigsspiel 


VI Inhalt. 
Seite 
III. Kapitel: DasfrüheJesuitentheaterundseineAb- 
logor 2 ou Su. a BE re 75 
Ober- und Hinterbühne . . . . . 2 2 2 2 2 2 0 ren. 75 
Rudimente des mittelalterlichen Theaters? — Die ‚‚erweiterte“ 
scena der Terenzbühne 
Das Jesuitentheater. . . 2: 2 2 0 2 er rn er re nn. 78 
Deszendenz — Deutung — Funktionen 
Spätere Sonderentwicklung der frühen Form. . . . 2.2... 83 
Schwäbisch-Gmünd — Zuckmantel — Böhmenkirch 
BSOHLUBWOTL +4. 3:% 5 2 ee Re 88 
Anhang 
DasPassionstheaterzu@Gmünd (Materialien). . ... . 89 
Einleitung: +..2-% 5: rs Saar ve ar De a ar 90 
Veröffentlichtes Material und Literatur — Unveröffentlichtes 
Material 
Allgemeines +... 0. 0. wen ee ae a er 93 
Räumliche und zeitliche Verhältnisse der Aufführung — Die 
Spieler — Spieldaten und chronikalische Notizen — Bemerkungen 
zur Platzskizze 
Text ana a ne a ee eh 100 
Stilcharakteristik — Eine ältere Fassung? 
Bühne und Spiel... - 5... % u 2 e wa # Sense 104 
Die bildliche Überlieferung — Stil der Darstellung — Kostüme — 
Theater in Gmünd (lokale Quellen?). . . . 2 222 2222.02. 109 


Größe und Bedeutung der Stadt — Englische Komödianten — 
Jerg Wetzl — Voltolini — Literarisches Leben — Meistersinger 
— Schultheater im 18. Jahrhundert — Das humanistische Schul- 
drama — Jesuitentheater — Ungelöste Fragen 


Bibliographische Abkürzungen... .......0x 117 


e an ann u | Zi 


— 


Vorwort 


Dieses Buch hat einen eigenartigen Werdegang: Es ist von 
hinten nach vorn geschrieben worden oder, wo die Feder der 
Ungeduld des Verfassers nicht Schritt halten konnte, doch in 
dieser Richtung ersonnen. 

Ausgangspunkt war der Inhalt des heutigen Anhangs, das 
Passionstheater zu Schwäbisch-Gmünd. Ich lernte diese Bühne 
und ihre Problematik im Winter 1925/26 in München in dem 
Theaterwissenschaftlichen Seminar Hans Heinrich Borcherdts 
kennen. Da das dortige Theatermuseum einiges von Albert 
Köster gesammeltes Material über diesen Gegenstand enthielt, 
war ich bereits eingearbeitet, als ich im August 1927 in Gmünd 
selbst weitere Umschau hielt. Leider war der Aufenthalt in 
dieser wunderalten Stadt trotz der freundschaftlichen Hilfe 
des Herrn Dr. Herrmann Erhard, eines Enkels des verdienst- 
vollen Gmünder Altertümersammlers, in wissenschaftlicher 
Hinsicht für mich eine Enttäuschung. Die Unmöglichkeit, 
über die Geschichte des Passionstheaters aus den Akten Wesent- 
liches zu sagen, führte zu einer Analyse der Bühne und im 
Zusammenhang damit zu einer Hypothese über ihren Ursprung. 
Dabei drang ich sichtend in immer frühere Zeiträume der 
Theatergeschichte vor, bis endlich die Terenzbühne als Kern- 
problem erreicht und nunmehr in den Mittelpunkt der Arbeit 
gestellt wurde. 

Die erste Niederschrift war im September 1927 beendet. 
Leider verhinderte damals der Zwang wirtschaftlicher Ver- 
hältnisse das Abschlußexamen des Verfassers und somit die 
Drucklegung der Arbeit. Neuerscheinungen veranlaßten in der 
Folgezeit oftmals zu Umgestaltungen — ein Wachstum, das 
unbedingt nachteilig wirkt. 


VIII Vorwort. 


Dankbar gedenke ich aller, deren Rat und Hilfsbereitschaft 
an dieser Arbeit Anteil haben. Den Herren aus der schwäbi- 
schen Heimat des Gmünder Spiels, Herrn Dr. H. Erhard und 
Prof. Nägele, Gmünd, Stadtpfarrer Weser, Ulm-Söflingen, 
Studienrat Fischer, Geislingen, dem Leiter des Münchener 
Theatermuseums, Herrn Professor Rapp, und seiner damaligen 
Assistentin, Frau Dr. Rudloff-Hille, Plowdiw, Herrn Geheim- 
' rat Max Förster, München, Herrn Professor Witkowski, Leip- 
zig, Herrn Professor Julius Petersen, Berlin, dem Verlag 
Leopold Voß, Leipzig, und nicht zuletzt Herrn Studienassessor 
Walter Müller, Dresden, der mich beim Lesen der Korrek- 
turen unterstützt hat. 


Dresden, am 6. Mai 1931. 
| Eberhard Joh. Eckardt 


Einleitung 
Funktion und: Gestalt 


Die aufstrebende, junge Theaterwissensehaft Hacke den 
Wandel der Bühnenform erstmalig zum Gegenstande der For- 
schung. Da das 16. Jahrhundert mit klar überlieferten Typen 
kargt, die Leidenschaft eines auf neue Gebiete gerichteten Er- 
kenntnisdranges aber Ergebnisse forderte, begann man: zu. re- 
konstruieren. Im Lichte eines fast allgemeinen Interesses stand. 
die Bühne des Hans Sachs. Jedoch die spannende Kontro- :- 
verse zwischen Max Herrmann und Albert Köster und den 
vielen, die mehr oder weniger eigene Lösungsversuche beige- 
tragen haben, nahm einen unerfreulichen Verlauf: sie brachte 
zwar manche Klärung, eine Entscheidung aber nicht. 

Wie konnte das geschehen ? 

Als Antwort eine grundsätzliche Frage: Läßt sich denn 
überhaupt aus Dramentexten ohne entscheidende Mit- 
hilfe anderer Quellen die Gestalt einer Bühne erfassen ? 

Fraglos nicht. Erschließen lassen sich im besten Falle die 
Funktionen, d. h. das spieltechnische Ausdrucksver- 
mögen der Bühne und ihrer Teile. Wir können feststellen, ob 
sich die Handlung auf offener Bühne von Ort zu Ort bewegt 
(Nebeneinander) oder, in Abständen ins Unsichtbare tau- 
chend, den gewechselten Ort auf die gleiche Spielfläche stellt 
(Nacheinander). Wir können die herrschende Raum- und Orts- 
vorstellung erfahren: Neutral- oder Lokalbühne, Einheits- 
szene oder Szenenwechsel, Interieur oder Außenraum. Wir 
können den Begriff der Zeit untersuchen. Wir können endlich 
Treppen, Versenkungen und Eingänge als notwendige Glieder 
des gesuchten Bühnenorganismus erkennen, soweit sie sich in 
Spielanweisungen oder Handlung widerspiegeln. Ob es sich 


aber um Vorhangschlitze oder Türen, um gerade oder winklig 
Th. F. 41. 1 


2 Einleitung: Funktion und Gestalt. 


gezogene Gardinen handelt, ob das Podium hoch oder niedrig, 
die Eingänge groß oder klein, die Treppen rechts oder links 
angeordnet bzw. gestaltet waren, darüber berichten die Texte 
nur selten etwas. Einzelheiten der Bühnengestaltung wie diese 
können in der Regel nur durch bildliche Überlieferung, durch 
Vergleich mit zeitgenössischen Formen oder die genaue Kennt- 
nis des Spiellokals aufgeklärt werden. Daß besonders das letz- 
tere Hilfsmittel allein nicht. zureichend ist, legt Herrmanns 
scharfsinnige, aber anfechtbare Rekonstruktion der Hans- 
Sachs-Bühne dar. = 

Die ungünstigen Aussichten auf ein gesichertes Wissen von 
den Bühnenverhältnissen des deutschen Renaissancetheaters 
werden durch. einen weiteren Umstand vermehrt. Da nur sel- 
ten a | le Ausdrucksmöglichkeiten des Bühnenkörpers in einem 
einzigen. Drama zur Geltung kommen, seltener noch restlos 
im Text zu erkennen sind, so kann es kaum gelingen, sämt- 
‚liche möglichen Funktionen einer Bühne durch die Unter- 
suchung eines überlieferten Stückes aufzudecken. Günstiger 
ist das Ergebnis natürlich dort, wo wir, wie bei Hans Sachs, 
eine größere Anzahl bühnentechnisch gleichartiger Dramen 
besitzen. 

Aber selbst die nur teilweise Einsicht in die Funktionen ist 
der genauesten Kenntnis der Bühnengestalt in einem wesent- 
lichen Punkte überlegen: Sie leitet den forschenden Blick vom 
Einzelnen auf das Allgemeine. Die äußere Erscheinung einer 
Bühne ist immer durch Zufälle oder andere außerordentliche 
Kräfte mitbestimmt, die nur eben hier wirksam waren. Sie 
ist etwas Einmaliges, und das Typische kann mit genügender 
Sicherheit nur aus mehreren verwandten Wirklichkeiten aus- 
gesondert werden. Anders ist es mit den Funktionen. Sie 
sind der geistige Gehalt der zugrundeliegenden Form. Sie 
sind das Prinzip, das in der zugehörigen Gestalt einen eigen-. 
artigen Ausdruck gefunden hat. So mögen sich z. B. die 
Meistersingerbühnen in der Nürnberger Marthakirche und 
im Remter des Predigerklosters, in Augsburg, Nördlingen oder 
Ulm in Einzelheiten erheblich voneinander unterschieden ha- 
ben, die Funktionen aber, wie sie der Dichter durch Aufbau 
und Technik seiner Dramen bestimmte, waren überall die 
gleichen. Je ungewisser die Absichten und Mittel der Inszenie- 


Funktion und Gestalt. 3 


rung unserer Erkenntnis sind, desto bedeutungsvoller muß 
das bescheidene, aber sichere Wissen von den Funktionen uns 
erscheinen. | 

Die tiefsten Einblicke gewährt es uns dort, wo es die schöpfe- 
rischen Kräfte enthüllt, welche die Wandlungen des Bühnen- 
baus bewirken. Sind die Funktionen das Prinzip, das die ge- 
staltlichen Elemente im Leben der Bühne ihrem Zwecke zu- 
führt, so sind sie eben darum auch der Antrieb des Erfinders. 
Um ihretwillen ersann er Versenkungen, Vorhänge, Gräben 
und die mechanischen Zaubereien der Flugapparate.. Um 
ihretwillen entwarf man gegen Ende des 15. Jahrhunderts auf 
Grund der Dramen des Terenz eine vom mittelalterlichen Ge- 
brauch abweichende Bühne. Doch mit dem strengen Außen- 
raum dieser Rekonstruktion konnte man sich nicht befreunden. 
Im Norden lebt man nicht auf der Straße. So ging man früh- 
zeitig dazu über, auf dem neutralen Proszenium Innenraum- 
szenen darzustellen. Dadurch erweiterte man die Funktionen. 
Allein es dauerte eine geraume Zeit, bis auch die äußere Er- 
scheinung der Bühne diesem Wandel folgte. Eine völlige, 
illusionsgerechte Gestaltung des Innenraumes gelang sogar erst 
dem Bühnenkünstler des Barock. 

Das Verhältnis von Funktionen zu Gestalt läßt sich in 
diesem Beispiel klar überschauen. Der Schluß aus dem Vor- 
handensein einer Interieurszene in einem frühen Schuldrama 
auf die dekorative Andeutung des Innenraumes ist nicht ohne 
weiteres gestattet. Die Funktionen sind — nicht etwa nur 
als Gleichnis verstanden — die Entelechien der Bühne. Ihre 
Selbstverwirklichung erfordert Zeit. Solange uns darum durch 
Vergleich mit bekannten Parallelerscheinungen der bereits zu- 
rückgelegte Weg dieser Entwicklung nicht gegenwärtig ist, 
ist es besser, sich eines Urteils über die Gestalt zu enthalten. 

Natürlich kennt die Praxis des Theaters auch Fälle, wo nicht 
das Streben nach der Bemeisterung innerer Gesichte, sondern 
ein beliebiger Zufall Anlaß zu Neuerungen wird. Ein Nagel, 
Balken oder Brett, die eben noch überflüssig angebracht waren, 
können plötzlich einen köstlichen Regieeinfall ins Leben rufen. 
Immer aber nur kraft der funktionellen Fähigkeiten, die in der 
zufälligen Erscheinung schlummern. Also stellt uns auch hier der 
Einblick in die Funktionen etwas Wesenhaftes vor Augen. 

1* 


4 Einleitung: Funktion und Gestalt. 


Der strenge Dualismus Funktion — Gestalt wird vielleicht 
auf Widerspruch stoßen. Das Lob der Funktionen mag über- 
trieben sein. Gewiß ist jedenfalls, daß die Unsicherheit der 
bühnengeschichtlichen Ergebnisse im deutschen 16. Jahrhun- 
dert in einem allzu hastigen Forschen und Drängen nach der 
Gestalt der gesuchten Bühnen ihren Ursprung hat. Die Ge- 
setze theatralischer Entfaltung und im Zusammenhang da- 
mit die Entstehung der neuartigen Technik des modernen 
Dramas wurden vernachlässigt. Es kann kein besserer Talis- 
man gegen diese verständliche, aber doch fruchtlose Neigung 
gefunden werden als die Einsicht in die Möglichkeit eigen- 
artiger und sicherer Erkenntnisse aus der gesonderten Betrach- 
tung der Funktionen und in die Tatsache, wie aussichtslos ein 
unmittelbares Hinüberschließen auf die äußere Erscheinung 
der Bühne zu sein pflegt. 

Soviel hier über die Scheidung von Funktion und Gestalt. 
Eine Gliederung des Stoffes nach diesen Gesichtspunkten ist 
nicht beabsichtigt. Die begriffliche Trennung sei Hilfsmittel 
einer historischen Untersuchung. 

Wir treten jetzt in die Erörterung der essnthehaten funk- 
tionellen bzw. gestaltlichen Grundbegriffe ein. 

Das mittelalterliche Drama ist dem Schoß der Kirche ent- 
wachsen. Episch wie seine Quelle, die Heilige Schrift, ist es 
selbst. Nicht die dramatischen Motive der biblischen 
Erzählung spornen von vornherein zur Darstellung an, son- 
dern Szenen von dekorativer Breite, die, wenn auch zunächst 
noch sparsam behandelt, durch das Anschwellen realistisch- 
grotesker oder lyrischer Elemente mit der Zeit zu gewaltiger 
Ausdehnung kommen. Der ‚Weg‘, den das klassisch-franzö- 
sische Theater gemäß den modernen, an der Antike geschulten 
Anschauungen über das Drama völlig von den Brettern ver- 
bannte, ist in gewissem Sinne geradezu der Ausgangspunkt 
des mittelalterlichen Schauspiels. Der Weg zum Grabe stellt 
die Handlungsmitte der ursprünglichen Keimszenen dar. Trotz 
des späteren Überwucherns der Stoffmassen hat ein feierliches 
Schreiten, haben Auf- und Umzüge immer zu den wesentlich- 
sten Mitteln der gotischen Theaterkunst gehört. 

Die Darstellung des Weges, d. h. die Bewegung der Schau- 
spieler von einem Orte zum andern, läßt der Bühne die eigen- 


Das Nebeneinander. 5 


artige Aufgabe zufallen, gleichzeitig (simultan) zwei oder meh- 
rere Orte vorzustellen. Bei bescheidenem Aufwand war der 
äußeren Erscheinung des Theaters diese Eigentümlichkeit nicht 
anzusehen. Das Nebeneinander, wie der Begriff des Simul- 
tanen verdeutscht werden mag, war nur funktionell, nicht auch 
gestaltlich vorhanden. Anders wurde es, sobald man für an- 
spruchsvollere Inszenierungen zu Dekorationen griff. Die ver- 
schiedenen Bühnenstände standen dann Seite an Seite. Das 
Spiel bewegte sich von Ort zu Ort, fand also zeitlich trotz der 
räumlichen Nebenordnung nacheinander statt. Durch stumme 
Parallelszenen indes konnte dieses Prinzip auch durchbrochen 
werden. 

Die simultane Technik entspricht dem Fassungsvermögen 
einer naiven, ungeübten Zuschauerschaft. Vor ihren Augen 
entfaltete sich die Handlung lückenlos, in epischem Fluß. 
Nichts wird verheimlicht, alles dargestellt. Nicht realistische 
oder auch nur illusionistische Dekorationen wären bei der 
Verkörperung weit entfernter Orte am Platze: die Dekoration 
wird symbolisch sein, wenn sie ihre Aufgabe bewältigen 
will, d. h. sie stellt sich nicht selbst, ihre eigene Größe und 
Gestalt dar, sondern sie ‚bedeutet‘. Ganz wie in der gleich- 
zeitigen bildenden Kunst sind vier Pfähle mit einem Dach 
oder ein Stück Mauer genug, um vor dem Betrachter eine 
ansehnliche Stadt zu erbauen. Auch die Zeit des abrollen- 
den Geschehens ist symbolisch. Ihr wechselnder Maßstab ist 
an der Bedeutung der Dekorationen und Standorte abzulesen 
oder wird durch das Wort mitgeteilt. Wäre auch die Entfer- 
nung zwischen dem Standorte der drei Weisen im Morgenlande 
und dem Schlosse des Herodes nur die gleiche wie jene, welche 
die Dekorationen Jerusalems von denen Bethlehems trennt: 
der Zuschauer würde doch die Kraft des Glaubens verspüren, 
der die Heiligen Drei Könige zu der ne und beschwerlichen 
Reise bewegt. 

Das Nacheinander setzt die Fähigkeit de: Zusammendenkens 
künstlich getrennter Geschehnisetappen voraus. Die alte, 
fließende Struktur der Zeit ist zerstört. Ein äußerster Realis- 
mus nähert den vorgestellten dem absoluten Verlauf an, ein 
Vorgang, dem die maßstäbliche Gleichsetzung von vorgestell- 
tem und wirklichem oder nur vorgetäuschtem Raum entspricht. 


6 Einleitung: Funktion und Gestalt. 


Aber diese wirklichkeitstreue und unsymbolische Wertung 
der Zeit wird nicht durchgeführt: Sekunden, die zwischen Ab- 
gang und Auftritt ungestaltet verstreichen, können Jahre ver- 
treten. 

Ebenso gewiß, wie es im mittelalterlichen Drama Ansätze 
zu dieser Zeitbehandlung gab, sind auch die räumlichen Funk- 
tionen der sukzessorischen Technik bereits wirksam gewesen. 
Es liegt nahe, hier an die sog. Wagenbühne zu denken. M. Lyle 
Spencer!) hat jedoch den Nachweis geführt, daß der einzelne 
Wagen eine kleine Simultanbühne mit mehreren Sedes?) oder 
dekorationslosen Standorten?) darstellt. 

Eine wirkliche und vermutungsweise frühe Erscheinungs- 
form des Nacheinanders hingegen ist der Besitzwechsel der 
Standorte und Höfe, d.h. die Neubesetzung derjenigen Bühnen- 
stände, deren Inhaber im Verlaufe des Stückes nicht mehr 
aufzutreten haben. Der Mangel an Raum oder an dekora- 
tiven Mitteln,, nicht etwa ein geistiges Bedürfnis nach einer 
neuartigen Technik, ist offensichtlich genug die erfinderische 
Ursache. Creizenachs Behauptung (I?2, S. 165), daß die großen 
Mysterien der späteren Zeit, die mit weniger beschränkten 
Verhältnissen zu rechnen brauchten, darum auf dieses Aus- 
kunftsmittel verzichtet hätten, ist nicht gerechtfertigt. Sein 
Zitat aus dem Passionsspiel von Semur ‚„Jhesus vadat in 
montem Sinay‘“ könnte ebensogut im Luzerner Osterspiel 
stehen. Der Berg vor dem Hause zur Sunnen spielt die Rolle 
aller Berg-, Wald- und Wiesenlandschaften, die von der Er- 
schaffung Adams an bis zur Austeilung des Heiligen Geistes 
benötigt werden. Auch der Besitzwechsel der verlassenen 
Höfe?) kommt in Luzern vor. 


1) Corpus Christi Pageants in England, New York 1911. S. 132ff. Vgl. 
auch Sumpfl, S. 56. 

) „here Christ enteryth into pe hous with his disciplis and ete p Paschal 
lomb and in pe mene tyme pe cownsel-hous befornseyd xal sodeynly onclose 
schewyng pe buschopys prestys and jewgys syttyng in here Astat lyche as 
it were a convocacyone.‘“ (S. K. Block, Ludus Coventriae or The Plaie called 
Corpus Christi . . .., London 1922, S. 245.) 

2) Bei einfacher Aufmachung. Vgl. A.W. Pollard, Engl. Miracle Plays, 
Moralities and Interludes, Oxford 1905, S. XXVI. 

“) 1597: Putiphar vnd Sother bhelffend sich bis das Abraham ab sinem 
Ort kompt alsdann nemmend sy dasselbig ort yn (Germania XXXTI, 263). 


Der „mittlere Ort‘‘ oder „Kreis“. | 


Ebensowenig wie dieser läßt sich der ‚mittlere Ort‘“ oder 
„Kreis“, ein neutraler Raum im Zentrum der Spielfläche, 
bis auf seine Anfänge zurückverfolgen. Durch peripherische 
Anordnung der Standorte und Höfe!) ist ein freies mittleres 
Feld entstanden, das zunächst keine örtliche Bedeutung be- 
sitzt und sich darum für Szenen ohne lokale Färbung be- 
währt. Hier eröffnet der Proklamator das Spiel?); Maria 
Magdalena läßt circumeundo circulum ihre Selbstanklage 
hören; Moyses annunctiat populo navitatem suam; Judas be- 
gegnet dem Teufel, und ein Bote verkündet dem Volke des 
Kaisers Befehl. Aber auch ortsbestimmte Szenen werden von 
den Bühnenständen gern auf das Zentrum übertragen?). Da- 
mit dehnt sich die örtliche Sphäre des betreffenden Standes 
über einen Teil des an sich neutralen Kreises aus: die freie 
Mitte stellt nacheinander den Platz vor der Höhle des Jo- 
hannes, vor dem Palast des Pilatus oder dem Tempel dar. 
Auch durch die häufigen Wanderungen erhält sie einen kurz- 
fristig wechselnden, lokalen Sinn. Requisiten und leicht 
transportable Versatzstücke helfen der Anschauung nach. 
In Luzernt) z. B. wurden die Tische für die Opfer des Kain, 
Abel, Abraham, die ‚„Studpöschen‘ (Busch) mit dem Widder, 
der an Isaaks Stelle geopfert wird, die Zisterne des Joseph, 
Säule, Grube und Altar für das Goldene Kalb, der Wasserfels 
in der Wüste°), der Baum des Judas, die Kreuze von Golgatha 
usw. in den Kreis getragen und am Szenenende wieder ent- 
fernt, so daß hier auch im gestaltlichen Sinne die sukzessorische 
Technik in Erscheinung trat. 

Vgl. auch Heinzel, S. 31 (Alsfelder Passion) und das Kapitel „Changement 
d’affectation d’un decors‘‘ bei Cohen Mons., S. LXXXVII. 

ı) Es empfiehlt sich, die termini technici mit Brandstetter u. a. ein- 
deutiger zu verwenden, als es in den Quellen geschieht: ‚Hof‘ = Aufenthalts- 
ort der Agenten (Stand), Ort = Spielort, „Standort“ = „Stand“ + „Ort“ 
(Hof und Ort zugleich). 

») Die Beispiele nach Heinzel, S. 32 f. 

s) Vgl. Creizenach I®, S. 166. 

“) R. Brandstätter, Die Luzerner Bühnenrodel, Germania XXX, S. 205 ff. 
und S. 325 ff., XXXI, S. 249 ff.; ders., Die Aufführung eines Luzerner Oster- 
spiels usw., der Geschichtsfreund 48, S. 279 ff.; ders., Die Regenz bei den 
Luzerner Osterspielen, Leipzig 1886. 


$) Er stand seines Gewichts wegen schon vor Beginn des Spieles da, 
wurde aber nach der betreffenden Szene sofort weggeschafft. 


8 Einleitung: Funktion und Gestalt. 


:: Am ausgesprochensten war dies auf der ‚„Brunnenbrügi‘ 
des Luzerner Osterspieles der Fall. Sie ist nicht wie der Kreis 
im Ruhezustande ein neutraler Raum, sondern wird jeweils 
durch Standorte von meist kurzer Dauer beherrscht. Im 
Hintergrunde befinden sich einige Höfe, d. h. Aufenthalts- 
plätze der nicht spielenden Schauspieler. Sie haben, abgesehen 
von dem Stand des Pilatus, der zugleich Spielort ist, für die 
Lokalbestimmtheit der Szene keinerlei Bedeutung. Auf der 
vorderen Bühne spielt sich der Wechsel von Dekorationen 
und Versatzstücken und damit die Sukzession örtlich charak- 
terisierter Szenen ab. Höchstens das gemeinsame Begräbnis, 
ein in der linken Ecke befindliches Loch, behauptet sich den 
größten Teil des zweitägigen Spiels hindurch. Aber die Ver- 
tiefung dient nicht nur für die Beerdigung der zahlreichen 
Toten und für die Auferstehung beim Tode des Herrn, sondern 
auch für die Erschaffung Adams, die gewiß nicht auf einem 
Friedhof dargestellt werden sollte. Nach jedem Begräbnis 
wurde das Loch wieder überdeckt, um die Bewegungen, 
welche von anderen Ständen der Bühne ausgingen, nicht zu 
gefährden oder um selbst Boden einer neuen Szene zu werden. 
So spielt der Vorgang in Emmaus an einem Tisch über dem 
verdeckten Grab. An gleicher Stelle mag auch Jakobs kurz- 
fristiger Hof und Ort gewesen sein. Rechts davon stand die 
„Gutschen‘ (Lagerstatt) des Isaak, die, ebenso wie das da- 
hinter befindliche Weihnachtshüttlein, sobald sie entbehrlich 
war, weggeräumt wurde. Später nahm diesen Platz der Stock 
der Schächer ein. Auch die Wüste des Johannes, die Pilatus- 
und Grabszenen und die Szene des ungläubigen Thomas fan- 
den auf der Brüge Platz. 

Es wäre allerdings zu erwägen, ob die nicht unbedeutende, 
wenn auch noch immer untergeordnete Rolle der sukzesso- 
rischen Technik im Luzerner Osterspiel von 1583 wirklich für 
das geistliche Spiel des Mittelalters bezeichnend ist. Auf der 
Brunnenbühne des Frankfurter Passionsspieles (14. Jahrhun- 
dert) wenigstens findet nach der Rekonstruktion Julius Peter- 
sens!) ein Nacheinander von Szenen verschiedener Ortsbestim- 
mung nicht statt. Die in der Donaueschinger Passion 
(15. Jahrhundert) vorgesehene ‚gemeine burg, dar in man 

ı) Ztschr. f. deutsches Altert., 1922, S. 83ff. Vgl. bes. S. 110 ff. 


Reste der Simultantechnik. 9 


kront, geislet, das nachtmahl und ander Ding volbringt‘“!), 
wird von dem etwas späteren wahrscheinlich Villinger Grund- 
riß wieder aufgehoben?). 

Jedenfalls hat sich das Nacheinander im Laufe des 16. Jahr- 
hunderts zu einer selbständigen, Bühne und Drama beherr- 
schenden Stellung entwickelt und könnte sehr wohl auf die 
späteren Passionsspiele zurückgewirkt haben. Nur noch in 
kulturell abgeschlossenen Gegenden kann sich die Simultan- 
bühne über die Wende des 16. Jahrhunderts hinaus erhalten?). 
Oberammergau bewahrt sie, wenn auch durch Renaissance- 
und Barockeinflüsse stark verändert, wurzelecht?) bis auf den 
heutigen Tag. Abgesehen von Otto Devrients historisierender 
Faustinszenierung auf der ‚Mysterienbühne‘, von neuroman- 
tischen Belebungsversuchen mittelalterlicher Dramen und 
manchen heutigen Laienspielen, die mit dem alten Stück die 
alte Technik übernehmen, ist das Nebeneinander auch sonst 
in der Praxis des Guckkastentheaters nicht ganz vergessen. 
Volksstücke (z. B. Nestroys ‚Zu ebener Erde und im ersten 
Stock“) und — wenn auch seltener — das ernste Drama wen- 
den es immer wieder einmal an’). 

Aber gerade die Vereinzelung dieser späten Erscheinungen 
ebenso wie die untergeordnete Bedeutung der sukzessorischen 
Technik für das große geistliche Drama lehrt, daß das Neben- 
einander dem Mittelalter, das Nacheinander hingegen neueren 
Zeiten angehört. Der Unterschied zwischen mittelalterlichem 
und modernem Schauspiel bzw. Bühne wird in stärkstem Maße 
durch diesen Wandel der Technik bestimmt. Seinen Weg auf 
dem Gebiete des deutschen Dramas zu verfolgen, ist die 
Aufgabe der vorliegenden Arbeit. 

Da die Kenntnis der Bühnengestalt hierbei natürlich nicht 
zu entbehren ist, wird es vorteilhaft sein, zuvor auch Grund- 


ı) Mone, Schausp. d. Mittelalters II, Karlsruhe 1848, S. 184. 

2) Vgl. Glock, S. 7. Stumpfl (S. 75f£.) erblickt in dieser Tatsache einen 
Beleg dafür, daß das Nacheinander im mittelalterlichen Theater nur auf 
Raumnot zurückzuführen ist. 

®) In Frankreich ist das Simultanprinzip allerdings noch für die Anfänge 
der Barockbühne bestimmend (Mahelot). Vgl. Cohen Bauer, S. 72. 

*)S. u. 8.79 und 87. | 

5) Um einige Beispiele zu nennen: Toller, Hoppla, wir leben; Bruckner, 
Verbrecher, Elisabeth von England. 


10 | Einleitung: Funktion und Gestalt. 


sätzliches aus dem Gebiete der Bühnenarchitektur und -aus- 
stattung kurz zu berühren. 

HansHeinrich Borcherdthatinseinem ‚‚prinzipiellen Versuch“ 
zum ersten Mal die Tatsache ausgeführt, daß die Bühne der Re- 
naissancesich vonderdesBarock durchgehend inder Ausdehnung 
der Tiefenachse unterscheidet. Ihrrechteckiger Grundriß wendet 
dem Zuschauer im 16. Jahrhundert seine Breitseite, im 17. Jahr- 
hundertundspäterseine Schmalseitezu : Relief-und Tiefenbühne. 

Das Mittelalter kennt neben der in Italien und im 15. Jahr- 
hundert auch in Frankreich!) verbreiteten flächigen Anordnung 
der Bühnenstände noch eine zweite, besonders bei uns heimische 
Form, die als Raumbühne bezeichnet worden ist?). Sie ist 
kein einheitliches Gebilde. Ihre Dekorationen und Einzel- 
bühnen verteilen sich in freier Ordnung auf dem Raume des 
Spielplatzes. Die Zuschauer befinden sich der Bühne nicht 
gegenüber, sondern passen sich den räumlichen Verhältnissen 
an und umdrängen gegebenenfalls das Spiel von allen Seiten. 

Für weniger geeignet als das dreiteilige Schema Raum-, 
Flächen- und Tiefenbühne möchte ich das zweiteilige Illusions- 
und Stilbühne halten, d. h. die Einteilung der Bühnentypen 
je nachdem, ob sie mit oder ohne Dekorationen arbeiten. Ein 
relativer Unterschied in diesem Sinne besteht zwischen dem 
‚Elisabethanischen Theater und der Kulissenbühne unbedingt, 
eine völlige Dekorationslosigkeit aber ist für das Theater Shake- 
speares mit Recht ebenso bestritten worden wie für die Bühne 
der Meistersinger. Man könnte bereits darüber in Streit ge- 
raten, ob die verzierten Pfeiler zwischen den Zellen auf den 
Abbildungen zum Lyoner Terenz?) die Illusion einer Haus- 
wand. oder eines Palastes erzeugen sollen oder rein ästhetischen 
Zwecken dienen. Selbst auf den ‚Rasserbildern‘“) werden 
gelegentlich mehr oder weniger deutlich Gegenstände erkenn- 
bar, die als Illusionsanreger in Frage kommen. Für die ‚Co- 
moedia‘‘ des gleichen Autors gar scheinen Dekorationen un- 
entbehrlich zu sein’). In Dortmund ist Rasser mit allem Pomp 


ı) Vgl. Creizenach I, S. 167. 

2) Borcherdt, S. 13. Stumpfl, S. 47 ff. 
3) S. Herrmann, S. 305 ff. 

“) S. Lachmann, Anhang. 

s) S. u. S. 26, Anm. 3. 


Ilusions- und Stilbühne? 11 


der mittelalterlichen Richtung aufgeführt worden!). Kurz, 
die Dekorationsverhältnisse der deutschen Bühne sind im 
16. Jahrhundert derart fließend und verworren, und unsere 
Kenntnis von ihnen ist auf derartig ungenügendes Material 
angewiesen, daß ein grundsätzliches Scheiden nach Verwen- 
dung oder Nichtverwendung von Dekorationen im Augenblick 
unfruchtbar wäre. Der Nutzen einer solchen Untersuchung 
zur Kennzeichnung des Unterschiedes zwischen nordischer 
und italienischer Inszenierungskunst der Renaissance ist nicht 
zu verkennen. Die ‚gesprochene Dekoration“ als sichtbarer 
Einfluß der dekorativen Enthaltsamkeit der Bühne auf die 
Dichtung wird unten natürlich behandelt werden. Tritt aber 
im übrigen die Frage nach der Ausstattung in dieser Arbeit in 
den Hintergrund, so möge der Leser sich erinnern, daß es mit 
Absicht und guten Gründen geschieht. 

Die wichtigsten Vorbegriffe?) sind nun Bene Gehen wir 
also an den Stoff heran. 


ı) (1582) A. Döring, Joh. Lambach u. d. Gymn. in Dortmund. Berlin 
1875, S. 116. 

s) Stumpfls wertvoller Aufsatz ist erst erschienen, nachdem die vor- 
liegende Arbeit im großen und ganzen abgeschlossen war. In vielen Punkten, 
wo ich selbständig zu gleichen Ergebnissen gekommen bin, habe ich nach- 
träglich gekürzt und mich auf Stumpfl berufen. Nicht gescheut habe ich 
eine Wiederholung in der Regel dann, wenn ich neue Argumente hinzu- 
zufügen wußte. In der Einleitung ist Stumpfls Arbeit absichtlich nicht mehr 
berücksichtigt worden. Der Gegensatz Neben- und Nacheinander einerseits, 
Raum-, Flächen- und Tiefenbühne anderseits als Kategorien einer Theater- 
geschichte ist faßlicher als die durch Kombination dieser und verwandter 
Begriffe erzeugten acht Bühnentypen Stumpfls, die dazu noch zum Teil iden- 
tisch sind. Jede Festlegung auf eine erschöpfende Anzahl von Typen unter- 
bindet überhaupt — Stumpfls eigenen Bestrebungen entgegen — das Ver- 
ständnis der eigentümlichen Kompromißhaftigkeit des gesamten Theater- 
wesens dieser Zeit. Es wäre kein Gewinn für die Bühnengeschichte, wenn 
sich die Forschung fortan der Typen Al bis B4 als termini technici be- 
diente. Nicht an Bühnentypen fehlt es uns im 16. Jahrhundert, sondern 
an exakter Einzelkenntnis und einer sie auswertenden Deutung der gene- 
tischen Zusammenhänge. Darin unser Wissen bereichert zu haben, ist der 
vornehmste Wert der bisherigen Veröffentlichungen Robert Stumpfls. 


I. Kapitel 
Entstehung und Entwicklung des Nacheinanders 


Man wird nach dem bisher Gesagten versucht sein, die 
Technik einer Sukzession von Szenen verschiedener ÖOrts- 
vorstellung auf dem gleichen Spielfeld, wie sie z. B. bei Hans 
Sachs zur Regel geworden ist, aus den beschränkten mittel- 
alterlichen Erscheinungsformen des Nacheinanders abzuleiten. 
Eine zu diesem Zwecke vorgenommene Untersuchung der 
Schweizer und südwestdeutschen volkstümlichen Dramatik 
ist ergebnislos geblieben. Zwar weist die Brunnenbrügi in 
Luzern nicht allein auf die neue Technik hin. Bei Hans Salat, 
Seitz, Montanus und ungewisser auch bei Boltz, Birk, Sunnen- 
tag u. a. läßt sich z. B. auf eine Gegenüberstellung von Publi- 
kum und Bühne schließen!), die in Luzern und Villingen 
nicht üblich war. Immer aber bleibt der Eindruck bestehen, 
daß hier nicht selbständig neue Formen hervorgetrieben sind, 
sondern daß umgekehrt Einflüsse der jüngeren Richtung in 
den altertümlichen Stil eingedrungen sind. Der Literatur- 
historiker wird ohnehin den Bühnenforscher auf die liters- 
rische Quelle der humanistisch-dramatischen Bestrebungen 
hinweisen, auf Terenz. 

Expeditus Schmidt hat in seiner Preisschrift über die Bühnen- 
verhältnisse des deutschen Schuldramas die literarische Ab- 
hängigkeit dieser Gattung von dem römischen Dramatiker 
auch auf die Bühne auszudehnen versucht. In der Tat liegt 
nichts näher. Nur fehlt diesem Unternehmen von vornherein 
eine sichere Grundlage. Wir kennen zwar durch gute Illu- 
strationen die Ansicht einiger gelehrter Terenzeditoren über 
die Natur der Bühne ihres Autors, besitzen aber keine einzige 
Abbildung eines Theaters, auf dem nachweislich zu dieser 


1) Vgl. u. 8. 66ff. 


- Die Terenzbühne. 13 


Zeit Terenz gespielt worden ist. Allerdings hat Schmidt die 
Benutzung einer den Holzschnitten entsprechenden Bühne 
wahrscheinlich gemacht — die Einfachheit und Eignung dieses 
Typus für das Schuldrama ist überraschend — und in der 
Hecyra-Aufführung des Leipziger Rektors Muschler (1530) 
eine Terenzinszenierung nachgewiesen!), die sich jedenfalls auf 
eine ähnliche Bühne bezieht. 

So ist es also berechtigt, solange nicht wesentliche Bedenken 
gegen die Verbreitung dieses Typus vorliegen, an ihm fest- 
zuhalten. Er hat im allgemeinen auch, Anerkennung ge- 
funden?). Stumpfls jüngst gegen Schmidt vorgebrachte Be- 
denken?) können nicht uneingeschränkt geteilt werden. Hatte 
Schmidt in seiner Entdeckerfreude die mittelalterlichen Ele- 
mente, die den ‚strengen Typus des ‚Schultheaters‘“*) auf- 
lockern, stellenweise verkannt, so schießt nun Stumpfl seiner- 
seits über das Ziel hinaus, wenn er der Terenzbühne den Boden 
ganz entziehen möchte. Zwar gibt er für Rom 1513 die Ver- 
wendung einer Bühne vom Schema des Lyoner Terenz zu, 
ebensowenig kann er der Deutung, die Schmidt der Hecyra- 
Inszenierung des Leipziger Rektors Muschler gibt, etwas ent- 
gegenhalten. Für Gretsers Comoedia de Nicolao Myrensi und 
Brechts Euripus regt Stumpfl selbst an, als zugrundeliegende 
Bühnenform die des Lyoner Terenz zu erblicken. Trotzdem 
befehdet er Schmidts Rekonstruktion, wo er nur dazu Ge- 
legenheit findet. Seine ablehnende Haltung versperrt ihm von 
vornherein den Blick für die Reichweite und die Auswirkungen 
dieses Typus. Hier wird. die vorliegende Arbeit manches zu 
ergänzen haben. 

Bei der überragenden Bedeutung, die Terenz (Plautus wurde 
viel seltener gespielt) im Repertoire der Schulmeister des 
. 16. Jahrhunderts gehabt hat’), muß die Bühnenvoraussetzung 
seiner Dramen wirksam gewesen sein. Dies kann um so we- 
1,8. 124 ff. 

s) Vgl. Creizenach II®, S. 5f. u. 94f.; Herrmann, S. 300 ff.; Petersen, 
S. 23, und Fr. Michael in Rob. F. Arnold, Das deutsche Drama, München 
1925, S. 59, Schweckendick, Verl. Sohn, S. 46 ff., u. a. m. 

s) S. 66f., Anm. 91. 

4) Es ist Stumpfl (S. 44, Anm. 3) zuzustimmen, wenn er den Begriff 
„Schultheater‘ zur Bezeichnung eines einheitlichen Bühnentypus ablehnt. 

5) Vgl. Rud. Wolkan in Arnold, a. a. O., S. 124. 


14 I. Entstehung und Entwicklung des Nacheinanders. 


niger bezweifelt werden, als dem: Literarhistoriker die Ab- 
hängigkeit eines großen Teils der dramatischen Produktion von 
Terenz in dieser Zeit auf Schritt und Tritt begegnet. Ebenso 
ist anzunehmen, daß die neue Bühnenvorstellung einen ihr 
adäquaten gestaltlichen Ausdruck zu finden versucht. 
Eine Aufführung, wie sie Scaliger beschreibt!), kann, da sie 
den Bühnenfunktionen des Terenz widerstrebt, nicht das letzte 
Wort gesprochen haben, keinesfalls in einer Epoche, die auf 
dem Gebiete des Theaters so unternehmungslustig war. 

Die Bühnenvorstellung des Terenz begründet sich auf die 
ortsbestimmte Einheitsszene. Der sichtbare 
Teil des Theaters stellt eine Gasse vor benachbarten Häusern 
(scense) vor. Der verdeckte Teil des Theaters bedeutet das 
Innere der drei oder mehr Häuser, die durch die entsprechende 
Anzahl Eingänge mit dem ‚Proszenium‘‘ verbunden sind. 
Außerdem ist ein von den Hauseingängen abweichender Zu- 
gang erforderlich, den die ‚ex postremo‘‘?) auftretenden Per- 
sonen benutzen. 

Dieser Bühnengedanke ist neu. Das neutrale Spielfeld 
wurde von den Fastnachtsspielen bevorzugt; das Nebenein- 
ander, ja bis zu einem gewissen Grade auch das Nacheinander, 
war dem mittelalterlichen Theater eigen. Die ortsbestimmte 
Einheitsszene aber ist eine Erfindung der römischen Komödie 
und tritt durch humanistische Bestrebungen in die verwirrende 
Vielfalt der theatralischen Ereignisse der Renaissance ein. 
Ebenso ein Geschenk der Antike ist der regelmäßige Abgang 
der Personen nach dem unsichtbaren Teil des Theaters, die 
dadurch eintretende Unterbrechung der epischen Kontinuität 
und der Handlungsbezug auf das, was sich ‚‚hinter der Szene“ 
ereignet. Neu sind ferner eine Reihe durch die Natur der 
Bühne bedingter dramatischer Tricks wie der ‚lupus in fabula“ 
(das unmotivierte Auftreten des eben im Gespräch Erwähnten) 
oder das Klopfmotiv (Herausklopfen der auf der Bühne be- 
nötigten Person). | 

All dies wurde, wie gesagt, durch die Auferstehung des 


ı) Nunc in Gallia ita agunt fabulas, ut omnia in conspectu sint; ... qui 
silent, pro absentibus habentur. Stumpfl, S. 52, Anm. 27. 

%) Über diesen von Schmidt aufgestellten und verteidigten terminus vgl. 
Stumpfl, S. 67, Anm. 91. 


Die Terenzbühne. | 15 | 


Terenz in das Theaterwesen um 1500 hineingestellt. Daran 
ist nicht zu rütteln. Inwieweit die neue Bühnenvorstellung 
umbildende Kraft an dem traditionellen Theater erweist, 
werde ich im Laufe dieser Arbeit auszuführen ver- 
suchen. 

Eine ganz andere Frage ist es, wie die Phantasie des huma- 
nistischen Regisseurs den Funktionen der terenzianischen 
Bühne gestaltlich zum Ausdruck verholfen hat. Gab 
es eine allgemein anerkannte und bei Aufführungen bevorzugte 
Rekonstruktion der antiken Bühne ? Haben wir diesen Typus 
in den Holzschnitten zum Lyoner Terenz zu erblicken? Eine 
endgültige Antwort kann heute noch nicht gegeben werden. 
Die römische Bühne von 1513 und die Leipziger von 1530 
beweisen zwar — was in dieser theaterfröhlichen Zeit kaum 
des Beweises bedarf —, daß Versuche mit der humanistischen 
Rekonstruktion unternommen worden sind, — mehr aber will 
das Material unmittelbar nicht verraten. 

Sobald die Bühne des Lyoner Terenz auf die notwendigen 
Maße eines für die darzustellenden Stücke ausreichend geräu- 
migen Schauplatzes gebracht wird oder sich gar zur Schau- 
stellung größerer Massen ins Repräsentative erweitert, müssen 
die scenae entweder sehr breit werden oder die Abstände 
zwischen den Eingängen sich vergrößern (Rom 1513). Im 
zweiten Falle erhalten wir bei einfachster Aufmachung mit 
Vorhängen die Bühne des Hans Sachs, wie Herbert Engler 
sie rekonstruiert, oder — von der Winkelung einmal abgesehen 
— das uns durch Holzschnitte überlieferte Theater Rassers. 
Stattet man die Szenenwand architektonisch reicher aus, als 
die Lyoner Bilder es zeigen, so ergibt sich — immer noch den 
größeren Abstand der scenae vorausgesetzt und natürlich nur 
im gestaltmäßigen Sinne betrachtet — ein Bauelement des 
im übrigen komplizierteren Theaters der Rederijker. Geht 
man endlich der Szenenwand mit dem Pinsel zu Leibe, so ist 
es nicht schwer, den Rückabschluß der Passion von Valen- 
ciennes oder des Kölner Laurentiusspiels entstehen zu lassen. 
Überall begegnen wir im 16. Jahrhundert Bühnen, deren Ge- 
stalt zu einer nicht engherzig abgewandelten Form nach der 
Art des Lyoner Schemas Verwandtschaft zeigt. Gerade weil 
es sich hier um einen beliebten internationalen und auch zu 


16 I. Entstehung und Entwicklung des Nacheinanders. 


anderen Zeiten nachweisbaren Typus!), um eine der Grund- 
möglichkeiten der Bühne schlechthin handelt, gerade weil die 
Lyoner Rekonstruktion mit dem älteren (nach Herrmann: 
flandrischen — nach Stumpfl: internationalen?)) Theaterwesen 
im Zusammenhang steht, gerade weil endlich dieser Typus 
(nach Borcherdt) dem Raumempfinden der Renaissance ent- 
spricht, steht zu erwarten, daß er als ein wesentlicher Faktor 
der Bühnengeschichte des 16. Jahrhunderts in Betracht ge- 
zogen werden muß.. Das Auge des Forschers wird, wenn es 
auch bei Durchsicht der spärlichen bildlichen Überlieferung 
diesen Typus in Reinform nicht erblicken kann, auf die Aus- 
wirkungen einer aller Voraussicht nach so zentralen Erschei- 
nung gespannt sein müssen. 
. Die Rekonstruktion Schmidts besteht aus einem flachen 
Podium, das für die Augen der Zuschauer durch eine bade- 
zellenartige Rückwand abgeschlossen wird. Hinter dieser ist 
Raum für die Schauspieler und Requisiten. Neben den Auf- 
trittsmöglichkeiten aus den drei oder mehr Zellen (Türen, 
scenae) vermutet Schmidt zwei weitere „aus der Ferne‘, die 
zu beiden Seiten der Abschlußwand, welche also nicht ganz 
‚bis an den Rand des Podiums reichen durfte, vorgesehen waren. 
Da diese Anordnung nicht durchweg zu belegen ist, ein seit- 
licher Auftritt aber unentbehrlich war, so wird als Auskunfts- 
mittel die Verwendung seitlicher Treppen in Frage gekommen 
sein. Dieser Typus, der eine gewisse Popularität erlangt hat, 
mag ruhig unsere Vorstellung von der Terenzbühne beherr- 
schen, als gesichert aber können nur Podium, der rückwärtige 
Abschluß mit mehreren Eingängen und eine andersartige Auf- 
trittsmöglichkeit gelten. | 
Immerhin hat es keinen Zweck, angesichts unserer Un- 
kenntnis vom Werden und Vergehen der Terenzbühne im all- 
gemeinen und besonders in den einzelnen Städten und Land- 
schaften eine chronologische Darstellung ihrer Entwicklung 
zu versuchen. Solange Terenz und humanistische Stücke der 
strengeren Richtung noch gegeben wurden und das mittel- 


ı) Vgl. Stumpfl, S. 76, Anm. 130. | 

*s) Stumpfl betont S. 63 mit Recht, daß die unrealistisch aneinanderge- 
drängten Häuser der Terenzbühne ihre simultane Vergangenheit erkennen 
lassen. | 


Tobias Stimmer: Comedia. 17 


alterliche Drama lebendig war, also etwa das ganze 16. Jahr- 
hundert hindurch, konnten jederzeit selbständig jene Misch- 
formen entstehen, die für das Theater dieser Epoche bezeich- 
nend sind. Nur selten ist die Konstellation aus Regieanwei- 
sungen, Dialog und Handlung einer bühnengeschichtlichen 
Analyse günstig. Die Ei gnung der Beispiele war der 
oberste Gesichtspunkt ihrer Wahl. Ihre chronologisch be- 
dingte Reihenfolge wurde immer dann übersehen, wenn die 
Überzeugung gerechtfertigt schien, daß das betreffende Para- 
digma als Spätling einer Erscheinung angesehen werden darf, 
die — an unbekannter Stelle oder bei mangelhafter Überliefe- 
rung — bereits früher ins Leben getreten ist. 

Der Schaffhausener Maler Tobias Stimmer hat seine ‚Come- 
dia‘‘t) (1580) für eine Bühne geschrieben, die funktionell der 
Terenzbühne nahesteht, gestaltlich völlig ihrem Typus ent- 
spricht. Die literarische Abhängigkeit des Autors von Terenz, 
die bedürfnislose, dialogische Handlung, die auf offener Szene 
vor benachbarten Häusern spielt?), der regelmäßige Abgang 
und Auftritt der Personen und eine feste Zuordnung der 
Eingänge an die Spieler?) lassen darüber keinen Zweifel 
walten. 

Äußerlichkeiten wie der Mangel an Akteinteilung und 
Szenenzählung und die unvollständige Durchführung der Per- 
sonenregister am Szenenkopf erregen schon Zweifel an der 
strengen Wahrung aller Funktionen der humanistischen Bühne. 
Das Stück selbst erinnert trotz terenzianischer Schulung viel- 
fach und besonders deutlich im Ton an das Fastnachtsspiel. 

1) ed. J. Oeri, Frauenfeld 1891. 

*) Michaels Behauptung a. a. O., S. 86, daß das Stück auf neutraler Bühne 
spiele, ist nicht aufrechtzuerhalten — (S. 45 ff.) Der Hospes kommt von der 
Reise zurück. Er steht gerade vor seinem Hause (,Eb dz ich aber zu hauss 
ge jnn‘“), als er den Bauern vor der scena des Pfarrers bemerkt: „Sich dort 
der Baur ist mir bekant, Er will (mich duncktz) zu dem pfaffen.“ Er tritt 
zurück und belauscht das Gespräch zwischen Pfarrer und Bauern, das von 
den ehebrecherischen Absichten seiner Frau handelt. Eben als er in sein 
Haus eintreten will, läuft die Frau ihm „entgegen, thut ein fussfal“. — Die- 
ser Vorgang genügt der Terenzbühne sogar bis in die dramatischen Tricks 
:(Lauschszene). 

®) „Sy ziehen samptlich auff, get Jeder person in sin scena“ (S. 2). Von 
Heinzel (S. 48), der diese Regiebemerkung unter dem Gesichtspunkt der alten 
Bühne mit Standorten und offenen Häusern zitiert, mißverstanden. 

Th. F. 41. 2 


18 I. Entstehung und Entwicklung des Nacheinanders. 


Wirkt sich die kompromißhafte Natur des Werkes auch in 
der Handhabe der Bühne aus? 

Mit einer zweimaligen Verletzung der Einheitsszene bricht 
das Volkstümliche durch.. Für den einen Fall liegen die Gründe 
auf der Hand: Der Autor nahm Anstoß, eine Ehebruchsszene 
auf der Straße spielen zu lassen. Das mittelalterliche Theater 
arbeitete, wo Innenräume nötig waren, mit allseitig geöff- 
neten Häusern. Man ist also Interieurszenen gewöhnt und 
kann oder will nicht auf sie verzichten. So wagt man es, die 
Straße zum Zimmer zu machen. 

Der betreffende Vorgang verläuft wie folgt: !) Ancilla ver- 
läßt, nachdem sie den Bauern zu ihrer Herrin Amorrosa ge- 
führt hat, die Bühne mit folgenden einen Innenraum andeu- 
tenden Worten: ‚ich wil gen, der haussthür warten.‘ Was 
nun gesprochen wird, kann sich allerdings nicht gut auf der 
Straße zutragen. Amorrosa lokalisiert die Szene noch näher: 
„Wil wir jetz da alein sind, Nemen da mit euch ein Hamer 
Vnd gen mit mir in die kamer, Schlagt mir ein nagel in die 
wandt!‘‘ Diele oder Stube also, wo wir uns befinden, behagen 
der Hausfrau für ihre Absichten nicht. Aber auf einen Szenen- 
wechsel lassen sich weder Bauer noch Autor ein. Die Örtlich- 
keit wird fernerhin nicht mehr berührt. 

Unbegründeter, schlechthin ein Rudiment der alten Freiheit 
in der szenischen Bewegung, scheint die zweite Unterbrechung 
der Einheitsszene zu sein?). Amorrosa schickt die Magd ‚auff 
den Marcktblatz‘‘ nach einem Bauern, der ihr ‚tauglich wer“. 
Ancilla aber hält den Pfarrer für geeigneter und rät ihm, sich 
als Bauer verkleidet auf dem ‚Blatz‘“‘, an ‚„gemelten orth‘“ 
einzufinden. Dadurch ist die folgende Szene von der Straße 
vor dem Hause des Hospes an einen zweiten Ort verlegt?). 

Gewisse Inkongruenzen in der Lokalbehandlung also be- 
wirken hier auf einer meines Erachtens ausgesprochenen Te- 
renzbühne zaghafte Ansätze eines Nacheinanders örtlich ver- 


1) S. 37 ff. 

s) S. 27 ff. 

®) Die Spielanweisung lautet: Pfarrher kompt verkleidt, tritt auf den 
blatz. Daß unter Platz nicht einfach die Bühne verstanden ist, ergibt sich 
aus der zuvor verwendeten vollständigeren or ae und über- 
dies aus der Situation. 


‘ Johannes Aal: Johannes-Tragoedia. - 19 


schiedener Szenen. ‘Wenige Worte nur, „gesprochene Deko- 
rationen‘, deuten die gewandelte Örtlichkeit: unauffällig an. 

Dem Geiste des antikisierenden Theaters ferner steht die 
Bühne der Johannes-Tragoedia!) des Solothurner Propstes 
Aal. Zahlreiche Regiebemerkungen über Abgänge und Auf- 
tritte und der Mangel an Interieur sprechen für ein Proszenium?). 
Die erkennbare Zuordnung der Auftrittsgelegenheiten an be- 
stimmte Personen?) setzt das ‚‚Türensystem‘‘ als Hintergrund 
voraus. Eine Oberbühne, die sich am Anfang bemerkbar 
macht‘), möglicherweise die plastische Dekoration eines Ker- 
kers — ich erinnere an die bekannte Abbildung zum Kölner 
Laurentiusspiel — deuten an, daß mittelalterlicher Theater- 
geist die Terenzbühne weitgehend umgestaltet hat. 

Das Neue besteht darin, daß die ‚Türen‘ nicht als Ein- 
gänge benachbarter Häuser, die eine örtliche Einheitsszene 
abschließen, sondern als simultane Stände im Hinter- 
grunde einer Neutralbühne gedacht sind). Wenn die neben- 
einander angebrachten scenae die Höhle des Johannes in der 
Wüste, die ‚„wonung‘ Christi in der Stadt, den ‚‚saal‘“ ‘des 
Herodes, das ‚frowezimr‘‘ und den Turm des Johannes im 
Schloß (plastisch ?) bedeuten®), so muß das Proszenium im 
Zustande der Spielruhe neutral sein. Erst der : Auftritt 


ı) Ausführliche Inhaltsangabe bei Weller, S. 219 ff. Vgl. Creizenach III®, 
S. 231, und L. Gombert, Johann Aals Spiel von Johannes dem Täufer, Mar- 
burg Diss. 1908. 

ı) Z. B. folgende Situation: Annas möchte zu Herodes eingelassen werden: 
„Sin küngliche Gnad wirt eins wegs kummen, desshalb so warttend wenig 
nummen.‘ — „der köng Herodes gadt herfür“ (G 2b). Vgl. auch: Herodias 
redt mitt jr sels vff der brügi spacierend (N 6a): „Wol vff so wendt wir 
gan hin in“ (N 8a). 

®) 2. B. Herodes gadt wider insinsaal(K 1b). Als Johannes schon 
im Gefängnis liegt, heißt es noch: die Junger gandt in Joannis hülj (P 6b). 
Jesus furt sy (die Jünger) inn sin wonung (F 2a). Man blest ab disch 
gat jedermann heim(S2b). Die Zahl der scenae läßt sich nicht feststellen, 
da das Neutralprinzip (s. u. S. 21) und wahrscheinlich auch die Kurzfristig- 
keit der Stände (s. u. S. 28) ein klares Bild nicht zulassen. 

“) Vgl. u. 8. 75, Anm.|1. 

5) Der mißverstandene Terenz selbst gab den ersten Anlaß zu dieser Ent- 
wicklung. Auf den Illustrationen zu den Adelphi ist die scena des auf dem 
Lande lebenden Demea (die auf der Einheitsszene fehlen muß) mitten unter 
den andern Häusern. Vgl. Schmidt, S. 132, und Bühnenbild, 12, 8. 

°) Vgl. die Kritik des Crocus, Creizenach II®, S. 96, Anm., ferner S. 95£. 

2% 


20 I. Entstehung und Entwicklung des Nacheinanders. 


des Schauspielers aus einer dem Zuschauer allmählich in ihrer 
Bedeutung vertrauten Tür, eine gesprochene Szenenangabe 
oder „gesprochene Dekorationen‘‘!) bestimmen die Örtlichkeit 
der Bühne. Das Volk versammle sich vor der Höhle des Jo- 
hannes: die Szene spielt in der Wüste?). Herodes trete aus 
seinem Saal: die Szene spielt im Schloß. Das Nacheinander 
ist am Werke. 

Für seine Entstehung ergibt sich folgende Deutung: Die 
Einheitsszene des Terenz wird durch die traditionelle Standort- 
technik des Mittelalters gestört. In die terenzianischen sce- 
nae ziehen simultane Stände ein, die die grundsätzliche 
Straßenbedeutung des Proszeniums dadurch aufheben und in 
buntem Wechsel über die Bühne herrschen. 

So entsteht auf der Szenenbühne des Terenz, indem 
sie zur Standszenenbühne wird, die Sukzession?). 

Bewußt braucht dieser Vorgang dem Dichter nicht gewesen 
zu sein. Er stellt mit dem gewohnten, mittelalterlichen und 
deutschen Bewegungsbedürfnis in seiner epischen Art den dra- 
matisch oft unergiebigen biblischen Stoff auf die neue, da- 
mals ‚moderne‘ Bühne. Das Ergebnis mußte sein, daß die 
gelehrten Bestrebungen um den antiken Komödiendichter 
volkstümlich wurden. Der Grad der Annäherung an das Vorbild 
schwankt zwischen einer funktionell mißverstandenen, aber ge- 


ı) Vgl. Bolte, S. LXXVI. 

ı) Spielanweisung: Dry bilger gand in dwuste (A 8a). 

®) Vgl. Michael, a. a. O., S. 59, und Schweckendiek, V.S., S. 68, der von 
einer „erweiterten Terenzbühne‘“ spricht. Stumpfl, S. 46, geht wohl wegen 
seiner Abneigung gegen die Terenzbühne an dieser Lösung vorüber. Er leitet 
die Sukzession von der Neutralbühne des Fastnachtsspiels ab, indem er den 
nacheinander auf demselben Podium ablaufenden neutralen Szenen ein wech- 
selndes Lokalkolorit verleiht. Die Möglichkeit dieses Vorganges sei nicht ab- 
gestritten, ihr soll unten sogar nachgegangen werden. Auch ist die Unbe- 
fangenheit, mit der man die terenzianische Einheitsszene verläßt, wohl auf 
Vertrautheit mit der durch den ‚Kreis‘ des geistlichen Schauspiels und durch 
die Revueform des Fastnachtsspiels bekannten neutralen Bühne zurückzu- 
führen. Die Neutralität der Standszenenbühne selbst aber, die übrigens nur 
in den Pausen unbedingt vorhanden ist, steht inkeiner unmittelbaren Beziehung 
zu einer dieser älteren Erscheinungsformen des Neutralprinzips, sie ist viel- 
mehr die notwendige Folge des Einzugs der mittelalterlichen Standorte in die 
scense der Terenzbühne — nicht also die Voraussetzung, sondern 
die Begleiterscheinung der Sukzession. 


Die „geteilte Bühne“. 21 


staltlich gewahrten Terenzbühne und einer mit altertümlichen 
Standortdekorationen arbeitenden flächigen Bühne mit ver- 
kümmerter terenzianischer Szenenwand. | 

Zwei Folgeerscheinungen dürfen nicht übersehen werden. 
Zum ersten breitet die Neutralität, welche der Bühne im 
Ruhezustande eigen ist, sich auch während des Spieles gerne 
aus. Die Lokalisierung der Szene ist oft schwach oder mangelt 
völlig. Zum zweiten kann die Örtlichkeit auch von zwei oder 
mehreren Ständen des Hintergrundes aus bestimmt werden. 
Die Szene teilt sich dann in verschiedene Spielorte wie im 
mittelalterlichen Theater. Beide Erscheinungen verlieren sich 
erst im 17. Jahrhundert. 

Es lohnt sich, die ‚geteilte Bühne‘ näher zu betrachten. Er- 
giebiger als die beiden behandelten Dramen ist in dieser Be- 
ziehung das Josephsdrama des Thiebold Gart!) (1540). Auch 
hier scheint es sich um eine Standszenenbühne mit ihren be- 
stimmt zugeordneten scenae zu handeln?). 

Allerdings ist es denkbar, daß aktweise brachliegende Häuser 
aktweise auch anders besetzt wurden?). Im übrigen steht die 
Bühne noch auf der geschilderten Stufe. Eine lebhafte Suk- 
zession bewegt besonders den IV. und V. Akt, deren Szenen 
mehrmals zwischen Kanaan und Ägypten wechseln. Das Neu- 
tralprinzip wirkt sich im III. Akt am stärksten aus. Immer 
wieder erscheint die geteilte Bühne. Ein Beispiel (III, 2): 
Joseph legt im Kerker — hier wohl eine geöffnete scenae‘) — 
dem königlichen Beck und Schenken ihre Träume aus (Ort ]). 
Pharao gibt Befehl, die Gefangenen vorzuführen (Ort II). 
Sissa und Nath, die Schergen, machen sich mit langen Reden 
auf den Weg (von Ort II nach Ort I). Der Rückweg braucht 
geradesoviel Zeit, als nötig ist, um vier Verse zu sprechen. 


ı) Neudruck in den Elsäss. Literaturdenkm. II. Bd. Straßburg 1880. 

s) Nach Vers 857: Nun sollen alle personen in ihrgemach gehn. 2176: 
Sich dort, diss ist meins Herren hoff. Nach 907: Potiphar ... vnd Hof- 
fora . . . kommen zusammen vor des Künigs hoff. Schon Akt- und 
Szeneneinteilung und Personenverzeichnis am Szenenkopfe zeigen den Ein- 
fluß des Terenz. 

®) Vgl. die verwandte Vermutung Schmidts, S. 144, f. d. VI. Akt von 
Greffs „Abraham“. 

4) Sy lügen aus dem kercker raus. Wie in der vallen thüt ein maus (Vers 
192 f.), vgl. auch Schmidt, S. 152 (Krüginger u. Dedekind). 


22 I. Entstehung und Entwicklung des Nacheinanders. 


Nun tritt der Ort II wieder in Aktion: Pharao verkündet 
das Urteil. Wir haben, isoliert herausgehoben auf ein Podium, 
getreu das Leben des Simultantheaters. 

Solange die scense die bestimmte: Bedeutung von Ständen 

haben, schließt sich die Teilung der Bühne wohl in den meisten 
Fällen ihnen an. Wie die Standorte in den Passionsspielen 
über den Kreis, so breiten die scenae ihre Herrschaft über das 
Podium aus. Nur diese Herrschaft ist von kurzer Dauer, 
nicht die Standscena selbst. Von anderer Natur hingegen sind 
z. B. die Bühnenorte Bersaba und Gosen, die Stationen des 
Jacob auf der Reise nach Ägypten (V, 6). Ihnen entsprechen 
keine Stände hinter der Bühne; im mittelalterlichen Sinne 
sind sie ‚reine‘ Orte. Um die Erscheinung mit einem Worte zu 
umfassen, tut man am besten, nur das Leben auf der Bühne 
zu betrachten und im Sinne der übergeordneten Bedeutung 
des Begriffes ‚Ort‘ von einer Teilung derBühne in 
kurzfristige Orte!) zu sprechen, gleichgültig, ob zu- 
gehörige Stände hinter der Szene zu denken wären oder ob 
sie selbst kurzfristige Standorte bzw. reine Orte sind. 
Es ist an der Zeit, eine Bühnenrekonstruktion zu berühren, 
die mit den bisherigen Ergebnissen unvereinbar ist. Die ‚Stu- 
dentes‘‘ des Stymmelius sind nach Lachmann nicht für das 
„von -Expeditus Schmidt erdachte Bühnenungetüm‘‘?), die 
Terenzbühne, geschrieben, sondern für eine Bühnenform, die er 
als .Spielart der Neutralbühne bezeichnet. 

Dieser Begriff verlangt eine Klärung. Er beginnt sich all- 
mählich zu einer Gefahr. für die Theatergeschichte auszu- 
wachsen. Man sollte von Neutralbühne nur dann sprechen, wenn 
eine Ortsbestimmung auf dem: Bühnenkörper, sei es. durch 
illusionistische oder symbolische Dekorationen, durch Auf- 
schriften oder die sog. gesprochene Dekoration und gesprochene 
Szenenangabe nicht stattfindet. In jedem anderen Fall 
ist die Bühne während der Szene nicht neutral. Die Neu- 
traelität in der Pause kommt ja nicht in Betracht — wem fiele 
es ein, die Kulissenbühne und ihre Nachkommenschaft als 
Neutralbühne zu bezeichnen ? Ein Unterschied in dieser Hin- 
sicht sollte zwischen wirklichen und gesprochenen Dekora- 


ı) Zahlreiche. m bei Schmit, S. > ff. 
) S. 24. ie RER, 


Die „Studentes‘‘ des Stymmelius. 23 


tionen keinesfalls gemacht werden. Auch ist unsere Un- 
kenntnis der Verwendung von lokalandeutenden Requisiten, 
Versatzstücken und Dekorationen in dieser Zeit so groß, daß 
man besser äußerste Vorsicht walten läßt. Anderseits greift 
das Neutralprinzip, ein Urelement des Theatralischen — denn 
nicht jede. Handlung ist notwendigerweise an einen bestimmten 
Ort gebunden —, auch oft in ein Drama ein, das im allgemeinen 
den Ort der Handlung angibt!). 

Wie steht es nun mit den Studentes des Stymmelius? Das 
Stück spielt, abgesehen von zwei Interieurszenen (II, 4 und 
III, 3), immer auf einer Straße vor benachbarten Häusern. 
Nur kann der Zuschauer darüber im Zweifel sein, ob er die 
elterlichen Häuser der Heimatstadt oder die Straße vor der 
Wohnung des Acolastus in der Universitätsstadt vor sich 
sieht. Durch den Abgang der Studenten zur alma mater im 
1. Akt und die Ansage des Inhalts wurde das Publikum indessen 
geleitet, und je kontinuierlicher die Szenen am gleichen Orte 
spielten (II, 1 bis IV, 4 und den ganzen V. Akt), desto klarer 
wird die Ortsvorstellung des Zuschauers geworden sein. 

. Formal, inhaltlich und bühnenmäßig tragen die „Studen- 
tes“, „die elegantissima comoedia‘, wie Melanchthon sie 
nannte, deutlich den Stempel terenzianischer Schulung. 
Lachmann ist sich darüber nicht im unklaren: ‚Wie alle Ko- 
mödiendichter des 16. Jahrhunderts ist natürlich auch Stym- 
melius an die dramatische Technik des Terenz und an die Fi- 
guren, die er daher kennt, gebunden“ (8.54). Und was ergibt 
sich daraus für die Bühne? „Zunächst läßt sich mit Sicherheit 
eines sagen: von den im 16. Jahrhundert in Frage kommen- 
den Bühnentypen scheidet von vornherein eine aus: die Te- 
renzbühne.‘‘ Mit dieser eigenartigen Überzeugung versucht 
Lachmann die Notwendigkeit eines gewissen Typus zu er- 
schließen, .erhärtet ihn an einer Rekonstruktion der Rasser- 
bühne, die mit dem bekannten Modell Albert Kösters überein- 
stimmt, und weist auf die Ähnlichkeit mit der Meistersinger- 
bühne hin. Das Verfahren Lachmanns ist von Stumpfl?) mit 
genügender Deutlichkeit abgelehnt worden. Lachmann geht 
in der Tat von der Kösterschen Rekonstruktion der Rasser- 


1) Über neutrale Störungen s. u. $. 49. 
?) Euphorion 29, 1928, S. 257 ff. 


24 I. Entstehung und Entwicklung des Nacheinanders. 


bühne aus und inszeniert auf ihr die ‚‚Studentes‘‘. Bestimmend 
für Lachmanns Ablehnung der Terenzbühne sind die beiden 
Interieurszenen, die Stumpfl seinerseits bewegen, eine Hinter- 
bühne — möglicherweise eine geöffnete scena der Terenzbühne 
— anzunehmen. Ich halte diesen Vorschlag durchaus für 
möglich, bemerke aber, daß auch eine einfache Teilung der 
Bühne in kurzfristige Orte in Frage kommen könnte. 

In Stimmers ‚Comedia‘‘, die der Terenzbühne viel näher 
steht als die ‚‚Studentes‘‘, sehen wir eine Innenraumszene sich 
eindrängen. Gart bevorzugt das Exterieur dermaßen, daß er 
die Verführungsversuche der Sophora (II, 5) auf offener Straße 
spielen läßt, obwohl der beigegebene Holzschnitt die Szene 
im Schlafzimmer darstellt. Und doch findet die Bewirtung 
der Brüder durch Joseph im Hause statt. Die Brüder sitzen 
am Tisch; Speisen werden aufgetragen.. Joseph sendet seinen 
Diener hinaus, um.die Säcke der Brüder auffüllen zu lassen: 
„Weil wir sitzen an dem tisch, So lauff bald auss, 
still wie ein fisch“ (V, 1740 ff.). Die Situation ist eine ganz 
ähnliche wie in der Kneipszene des Stymmelius. Und nun 
kommt das Überraschende: die Esel werden hereingeführt und 
die Szene ist plötzlich ein Außenraum: ‚Secht euwer Esel 
kommen her, Nach notdurft wol geladen schwer, Nempt so fur 
gut vnd faren hin, Volg Tachpen (d. i. der Diener) du mir 
nach hierin (1752f.).“ Aber Joseph bleibt vor der scena 
stehen und beobachtet die Einholung der Brüder, bei denen 
der goldene Becher gefunden wird. Judas schlägt vor: ‚Mein 


bruder, laßt vns eilen seer, Es steht noch vor dem hauss 


der Herr, Er hat vns wol zuhören muss .. .“ (V, 1812ff.). 
— Technisch gesprochen, liegt bei der Verwandlung des Innen- 
raumes zum Außenraum ein Ortswechsel ohne Abgang der 
Personen vor. | 

In der verwandten Kneipszene der ‚„Studentes“ tritt zur 
Auflösung des Interieurs für einen Augenblick die Teilung der 
Bühne in kurzfristige Orte ein. Myspolus und Philostosius 
entfernen sich einige Schritte von den übrigen. Ihr Dialog 
zeigt an, daß sie sich auf der Straße befinden. Die Handwerker 
kommen ihnen entgegen. Stillschweigend ziehen sich Acola- 
stus und die andern, die sich mit ihm eigentlich in der Stube 
befinden, hinter den Vorhang zurück. Ihr ‚Ort‘ ist damit 


Innenraumszenen auf der Standszenenbühne. 25 


aufgegeben. Das ganze Proszenium ist nun Straße, Dabei ist 
durchaus nicht nötig, daß das Verlassen des Zimmers durch 
ein Verlassen des Podiums angedeutet wird. Das Vorhanden- 
sein von Treppen läßt sich dadurch also nicht beweisen, denn 
eigentlich erfüllt erst die Teilung des Podiums in zwei Orte, 
deren einer dann verschwindet, den Zweck der ganzen Be- 
mühung, den Abgang der Personen aus dem Innenraum zu 
ermöglichen. Wohin schließlich sollte Acolastus, in dessen 
Hause die Zecherei stattfindet, wenn seine Gäste ihn verlassen, 
abgehen, da der Eingang zu seiner Wohnung im Augenblick 
die Bedeutung eines Ausganges hat? Einer plötzlichen Sinn- 
gebung der scena durch ein Abgangsmotiv, wie es Sachs ge- 
läufig ist (z.B. ich will nun in mein Schlafzimmer gehn), waren 
diese terenzianischen Dramatiker nicht fähig. Dazu ist für 
sie die scena zu stabil. Oder wohin sollte Joseph in der oben 
skizzierten Szene sich entfernen, nachdem er eben die scena 
zum Ausgang ins Freie gemacht hatte? Eine sparsame Ver- 
wendung von Innenraumszenen, die am Ende eine Auflösung 
in den Außenraum erfahren, kann geradezu als Symptom einer 
terenznahen Bühne angesehen werden. 

Das überzeugendste Beispiel einer Interieurszene auf der 
Standszenenbühne findet sich in Greffs Osterspiel, dessen 
Vorrede die oft erwähnte Entschuldigung des ausschließlichen 
Gebrauchs des Außenraums enthält (Schmidt, S. 151). Daß 
es sich übrigens der Gestalt nach umeine Terenzbühne handelt, 
geht aus dem Widmungsschreiben hervor, das die bescheidene, 
auf das Wort gestellte moderne Spielweise dem altertümlichen 
Pomp entgegensetzt und schließlich zu den Worten kommt: . 


„Zum beschluss bin ich der zuversicht ob es ein wenig muhe 
vnd Arbeit gestehen / auch villeicht ein gulden zwei drey / 
mehr kosten wolde das man erstliche kleidung / pallast und 
Scenas sonderlich die person Christi . . . recht artig zu- 
richte dis (verseh ich mich) werde niemandt rewen.‘‘ — Der 
Wahrung des Außenraum:s fällt u. a. die Szene in Emmaus zum 
Opfer. Die Erscheinung des Herrn vor den versammelten 
Jüngern, während die Türen aus Furcht vor den Juden ver- 
schlossen waren (Joh. 20, 19), ist in auffällige räumliche Neu- 
tralität gehüllt. Allerdings bemüht sich Jakobus, dem Zu- 
schauer und Thomas die Situation nachträglich zu erklären: 


26 I. Entstehung und Entwicklung des Nacheinanders. 


„durch verschlossn thür ehr zu vns kam Welches vns alle 
wunder nam. — — An vnserm tisch hat ehr gsessen dar zu fur 
vns allen gessen!).‘“ Aber als sich der Herr in Gegenwart des 
ungläubigen Thomas den Jüngern ein zweites Mal zeigt, lautet 
die Spielbemerkung: ‚„Jhesus Christus kumpt durch verschlos- 
sen thür zu den iungern / da nun Thomas verhanden“ (F7b). 
Die Notwendigkeit des Interieurs für diese Szene also hat die 
übliche Technik durchbrochen?). 

Ich stelle als Ergebnis fest, daß auf der Standszenenbühne 
zwar in der Regel eine Sukzession von Außenräumen statt- 
fand, Innenraumszenen (möglicherweise unter Verwendung 
einer geöffneten scena) aber nicht völlig ausgeschlossen waren. 

Nicht ganz zu einer selbständigen Stufe durchgedrungen ist 
das Theater Johann Rassers. Das inhaltlich und bühnen- 
technisch kompliziertere seiner beiden auf uns gekommenen 
Dramen, die ‚Comoedia Vom König der seinem Sohn Hoch- 
zeit machte... Welche in der Oesterreichischen Statt Ensis- 
heim /in Obern Elsass im Herbstmonat / des 1574. Jahrs / 
durch junge Knaben sehr lustig gehalten... .‘, sei voraus- 
gestellt. Aber nicht die gelegentliche Teilung des Proszeniums 
in kurzfristige Orte, die Verwendung von Versatzstücken 
oder vielleicht sogar Dekorationen?) soll uns hier beschäftigen, 
sondern die Funktionen der scenae. 

Eine gewisse Neigung zu dem terenzianischen Prinzip der 
benachbarten Häuser läßt sich erkennen). Anderseits aber 
bringt der ungeheuerliche Inhalt, der die farblose Residenz 
des Königs, aber auch Rom und Jerusalem als Schauplatz 
braucht, eine simultane Sinngebung der Zellen mit sich. Die 
Anzahl der benötigten Häuser ist so groß, daß Besitzwechsel 
unerläßlich scheint. Nicht alle mehr als 162 Personen können 


ı) (F 4 b) Über die mittelalterliche Wurzel dieses Vorgangs vgl. Heinzel, 
Beschreibung des Geistlichen Schauspiels, Hamburg u. Leipzig 1898, 8. 291. 
3) Schmidt nennt eine Anzahl weiterer Interieurszenen S. 152 ff. 

3) Josaphat stund under die Jerosolimischen Porten ruffet laut vnd 
sprach ... (H 1a). Petrus ruffet zur Statt porten hinein... (K 8b). Jo- 
hann der redlein furer einer gab ab der Statt Mauren trotzige antwort... 
L 3b). = 
| “ A B. die scenae des Königs und seines Sohnes, der Jungfrauen und der 
Nachbarin. 


: Die. Rasserbühne. 27 


ständig beschäftigt werden. Kurz, wie die meisten Rollen der 
Spieler, sind auch die Rollen der scense. Ob es Bühnen- 
eingänge ohne jede örtliche Bedeutung gab, bleibt unklar. 
Umgekehrt geht die vorübergehende oder längere Zuordnung 
der Häuser an bestimmte Personen aus Klopfszenen!), Dialog?) 
und Spielanweisungen?®) deutlich hervor. | 

‚Als Bild ergibt sich etwa folgendes. Die Bühneneingänge 
werden ungleichmäßig behandelt. Von der Tür des Königs, 
die das ganze Stück hindurch ihre Bedeutung bewahrt haben 
könnte, zu anderen mansiones, die ihren Besitzer häufig wech- 
seln oder gar neutral sind, gibt es mannigfaltige Übergänge. 
Das funktionelle Vermögen, den Eingängen simultane Rollen 
anzuweisen und dadurch ein Nacheinander von Außenszenen 
zu gewinnen, welche ein Interieur (Ratszene) nicht auszu- 
schließen brauchen, erinnert an die Standszenenbühne. 

Ich würde nicht wagen, von einem so unentschlossenen und 
auf Übergänge deutenden Ergebnis zur Vergegenwärtigung 
der Bühnengestalt vorzudringen, wenn ich nicht durch Illu- 
strationen aus Rassers anderem Drama, dem ein Jahr zuvor 
am gleichen Ort aufgeführten ‚„Spil von.kinderzucht‘‘ (Straß- 
burg 1574), unterstützt würde. Die funktionelle Basis ist quan- 
titativ um terenzianische Elemente bereichert, sonst aber die 
gleiche. Albert Köster sagt darüber in handschriftlichen No- 
tizen zur Rekonstruktion dieser Bühne®):. ‚Hier... . bedeutet 
das Bühnenfeld bald eine freie Gegend, die Straße, den Richt- 
platz; bald einen geschlossenen Raum, den Saal des Rathauses 
oder des Schlosses’). Und es ist unmöglich, jedem Ausgang 


1) Z. B. vor den Türen des Mundus, der Nachbarin, des Pfarrers. 
3) „...sich wer ist der So dort steht vor des . thuer.“ 
3) „In dem giengen sie inn des Konigs Losament .. .“ (G6 b). 

4) Im Theatermuseum München. | 

5) Die Interieurszenen beider Rasserdramen arbeiten — was wir oben für 

die Standszenenbühne als typisch erwiesen — mit geteiltem Proszenium. Zur 
Ratsszene in der „Comoedia‘“‘ heißt eine Spielanweisung: „Marschalck kam 
für Raht. Als er mit dem Botten kam, hieß er sie draussen warten vnd 
sprach“ (F 6b). Ähnlich i im „Spil von kinderzucht‘“: Rat zu Tobias: „Kom- 
met zum König flux herein“. Spielanweisung: Thobias gieng hinein 
vnd fiel auff knie. Vgl. auch die Ratsszene am 2. Tag. Köster bemerkt dazu 
mit Recht: „Es scheint... sich doch .nur um ein Innerhalb oder Außerhalb 
des um den König gebildeten Kreises der Räte zu hande | 


28 I. Entstehung und Entwicklung des Nacheinanders. 


(Vorhang oder Tür) nur eine einzige Bedeutung beizumessen. 
Denn dann mußten, abgesehen von dem neutralen Zugang für 
den Herold, Argumentator, Orator, die Bauern usw. vorhanden 
gewesen sein: Der Eingang zum Rathaussaal, zum Schloß und 
Schulhaus, zur Wohnung des Tobias, der Jezabel, des Boten, 
Juden und Wechslers, zum Gefängnis, zum Haus der Schmiede, 
der Ausgang in die Ferne und vieles mehr. So viele Ausgänge 
anzunehmen, ist unmöglich. Es muß die Mitteltür ebenso wie 
die Seitentüren ihre Bedeutung gewechselt haben.‘ Zu er- 
gänzen wäre nur, daß die beiden ersten Akte, ähnlich wie der 
Anfang der ‚Comoedia‘‘, ganz nach Terenz auf offener Straße 
vor den benachbart gedachten Häusern des Tobias, der Je- 
zabel, des Schulmeisters und der Schmiede spielen. Noch in 
den III. Akt hinein reicht diese Technik, doch treten hier 
schon neue scenae hinzu. Mit der Gerichtsszene endlich, und 
von nun an wiederholt, tritt der von Köster bezeichnete Orts- 
wechsel ein. 

Vielleicht ist es nötig, an dieser Stelle einen Vergleich zur 
Bühne der ‚Studentes‘ zu ziehen. Beide, Rasser wie Stym- 
melius, kommen von Terenz. Beide pflegen — höchst un- 
terenzianisch ! — den Besitzwechsel der scenae!). Aber wäh- 
rend der gelehrt humanistische Dichter, das Prinzip der be- 
nachbarten Häuser streng wahrend, einen Ortswechsel dadurch 
zustande bringt, daß er die Einheitsszene der Heimatstadt 
durch Neuverteilung sämtlicher scenae in die Einheits- 
szene der Universitätsstadt überführt, drängt der vor dem 
Volke spielende Schulmann die auseinandergelegenen Schau- 
plätze seiner Szenen, Straße vor Bürgerhäusern, Schloß, Ge- 
richt oder Rom und Jerusalem durch entsprechende Zuord- 
nung der Bühneneingäng simultan auf einem Pro- 
szenium zusammen. Wechselnd greifen die Bedeutungen 
der scenae ganz oder teilweise auf die Bühne über. Die Funk- 
tionen der Standszenenbühne werden erfüllt, mit der einen 
Unterscheidung, daß die in die Häuser verlegten Stände 
kurzfristig geworden sind. 

Und nun zu den Bildern?), zur Gestalt! Schmidt, der nur 


ı) Stumpfl (Euphorion 29, 1928, S. 260) bestreitet dies für Stymmelius 
entgegen Lachmann, ohne zu überzeugen. 
s) Vgl. Schmidt, S. 61f.; Bolte, S. LXXXIff.; Ernst Schwabe in den 


Grundsätzliche Einstellung zu den Rasserbildern. 29 


den Holzschnitt vom Herold kennt, und Bolte, der zum 
ersten Male und ohne jede methodische Vorerwägung eine 
Ausdeutung versuchte, setzen das als Bühnenwirklichkeit, was 
sich dem Auge bietet. Später ist man darin skeptischer ge- 
worden. Nießen findet, daß die Abbildungen zu unklar sind, 
„um eine Förderung unserer Kenntnisse zu bedeuten‘. Spenle 
meint, daß ‚trotz einer genauen Vergleichung der Bilder‘, 
„keine genaue Beschreibung der Bühne im einzelnen‘ gegeben 
werden kann. ‚Die zahlreichen Unklarheiten lassen sich 
nur dadurch erklären, daß die Bühne des zweiten Tages ver- 
schieden war von der des ersten!).‘‘ Albert Köster sagt in 
den erwähnten handschriftlichen Notizen: ‚Manche Bilder 
sind sicher für das besondere Werk neu hergestellt worden. 
Andere aber sind so allgemein gültig, daß sie wohl aus anderen 
Büchern desselben Verlages stammen, z. B. H1 der Herold, 
H 4 der Argumentator, L 1 die beiden Bauern mit dem selt- 
samen, sonst gar nicht wieder vorkommenden Spalier als 
Hintergrund, G 1 hinter dem betenden Hans der Engel, der 
im Text gar nicht erwähnt wird und hinter anderen Betenden 
(Kk1 und Kk 2b) nicht erscheint.‘‘ Lachmann, der die Bilder 
endlich einer eingehenden Untersuchung unterwirft, glaubt 
mit folgender Grundeinstellung der Widersprüche Herr zu wer- 
den (S. 28): Wenn der Künstler ‚eine Gruppe, die direkt vor 
einer Vorhangwand in der Mitte der Bühne stand, aus großer 
Nähe abbildete, so war der Hintergrund vollständig durch 
den Vorhang ausgefüllt. Man sah weder Bäume noch Zu- 
schauer noch freien Himmel, so daß man nicht die Illusion 
hatte, einen auf der Bühne spielenden Vorgang zu sehen. Um 
aber diese unter allen Umständen herauszubringende Illusion 
doch hervorzurufen, tat der Künstler etwas sehr Einfaches: 
er ließ ein Stück aus dem Vorhang weg und zeichnete in die 
so entstandene Lücke Zuschauer, Häuser oder nur freien Him- 
mel‘. Oder umgekehrt: ‚Wollte er eine Szene von rückwärts 
zeichnen, wobei er als Hintergrund nur Publikum gehabt hätte, 
so fügt er „zum Zeichen, daß die Szene auf einer Bühne spielt, 


neuen Jahrb. f. d. klass. Altert., 1912, Bd. 30, S. 196 ff.; Nießen, Anm. zu 
8. 35; Spenle, S. 32; Lachmann, S. 25ff. u.a. 

ı) Die Bilder eines Tages unter sich betrachtet, widersprechen sich nicht 
weniger. 


30 I. Entstehung und Entwicklung des Nacheinanders. 


an irgendeiner Stelle ein Stück Vorhang‘ hinzu. ‚So wird es 
methodisch zulässig sein, wenn sich aus der überwiegenden 
Mehrzahl der Holzschnitte zwanglos ein Bühnensystem er- 
kennen läßt, einige wenige, die in der Realität men 
undenkbar sind, geringer einzuschätzen.“ 


Ich gehe zunächst der Beweisführung im einzelnen nach. 
Das Ergebnis darf als bekannt vorausgesetzt werden: ein recht- 
eckiges Podium, durch das fünfteilige Vorhangsystem der 
Kösterschen Meistersingerbühne in einen den Zuschauern sicht- 
baren und einen ihnen unsichtbaren Bühnenteil getrennt. 


Es ist schwer, sich Lachmanns Darstellung zu entziehen. 
Geschickt ausdeutend, belegt er Podium, Eingänge, Ecken und 
Winkel des Vorhangsystems mit Bildern, welche die betref- 
fenden Teile darstellen sollen. Widerspenstige bezähmt er 
dadurch, daß er die „absolute Unzuverlässigkeit der Zeich- 
nung“ betont.... Ein geringer Rest wird von den Absichten 
des Künstlers aus entschuldigt. 


Man wird zunächst an Einzelheiten Anstoß nehmen. Ver- 
folgt man z. B., wie Lachmann den Bühneneingang der beiden 
vorderen Vorhangflächen erschließt, so entdeckt man erstaunt, 
daß auf den zehn Bildern, welche diese Seitenflügel stützen 
sollen, nur dreimal ein Vorhangschlitz aufgedeckt werden 
kann (Bild 18, 29, 30), während es zweimal ganz deutlich 
nicht der Fall ist!) und zwei weitere Bilder eine feste, ein- 
gangslose Wand?), einmal sogar (Bild 21) mit einem Fenster, 
zeigen. Die drei übrigen Holzschnitte (12, 33 und 36) kommen 
wegen Unklarheit für eine Ausdeutung nach dieser Richtung 
nicht in Betracht. — Lachmanns Auffassung der bühnentech- 
nischen Aussagen der Illustrationen überzeugt auch sonst 
nicht immer. Nr. 12, 33, 36, 43 und eigentlich auch 19 scheinen 
viel eher vertikal geteilte Vorhänge in einer Ebene als Ecken 
vorzustellen. Der Holzschnitt 4 zeigt wahrhaftig nicht ‚‚den 
richtigen Abstand der Seitenwand vom vorderen Podiumrand‘“. 
Auch begreift man nicht, warum Lachmann die auf vielen 


ı) Die Vorderfläche „mit einem großen Stück der Seitenwand sehen wir 
Stark verkürzt auf Bild 17“ (Lachmann, S. 31). — Der scheinbare Schlitz 
ist also eine Öffnung am Eckpfosten. . | 


2) Bild 8 und 21. 


Kritik der Lachmannschen Ausdeutung der Rasserbilder. 3 


Bildern sichtbaren Torbögen!) für eine „kleine Notlüge des 
Dlustrators‘ erklärt oder warum er die bereits erwähnten sehr 
auffälligen festen Wände und die Teppichmuster, die sich so- 
gar dem Bildhaften nähern (Nr. 11 und 16), verschweigt, wenn 
er in anderen Fällen so weit geht, auf Bild 1 den neben dem 
Podium stehenden Galgen, auf Bild 3 und 12 (!) Stützen des 
Vorhanggerüstes zu erblicken. Das Haus des Tobias endlich 
läßt sich in seiner Mittellage bestenfalls aus der Lage der 
übrigen Häuser, nicht aber, wie Lachmann es versucht, aus 
den Bildern selbst erschließen. Nach Nr. 27 scheint man es 
rechts von der Mitte, nach Nr. 29 auf der äußersten Bühnen- 
rechten, nach 14 und 37 umgekehrt links von der Mitte an- 
nehmen zu müssen. 

Aber das sind nur Einzelheiten. Wichtiger ist es, wenn Bild 
1, 2, 3, 4, 5, 6 zwar zu dem Beweis herangezogen werden, daß 
das Podium an den Seiten nicht vollständig mit Vorhängen 
umkleidet war, der sehr erhebliche Widerspruch dieser Holz- 
schnitte zu der Lachmannschen Rekonstruktion aber einfach 
übergangen wird. Auch unter den 16 Bildern, die ‚bei ober- 
flächlicher Betrachtung . . . dem gefundenen Ergebnis‘. wider- 
sprechen, sind sie nicht genannt. Ebenso fehlen dort alle die- 
jenigen, die schon vorher unter dem Kennwort ‚verzeichnet‘ 
abgetan worden waren. Hier hat die Kritik einzusetzen. 

Lachmann sagt auf S. 30: ‚Das Vorhangsystem läßt sich 
aus den Holzschnitten unschwer erkennen. Die lange Rück- 
wand mit den in Richtung nach den Zuschauern rechtwinklig 
abgebogenen Seitenwänden zeigen eindeutig die Bilder Nr. 14, 
16, 27, 38, 44.‘ Es sind das übrigens die einzigen Abbildungen 
der ganzen Serie, die vollständig einen größeren Teil (etwa 
drei Viertel) der sichtbaren Bühne wiedergeben. Nach einem 
nochmaligen Hinweis auf die Unzuverlässigkeit der Illustra- 
tionen fährt er fort: ‚So erklärt sich auch die merkwürdige 
Tatsache, daß auf einigen Bildern die Seitenwände bis zu dem 
vorderen Rand des Podiums gehen (vgl. Nr. 14, 16, 34, 37, 
38, 44). Das kann nicht stimmen, denn, wie noch zu erweisen 
sein wird, ging von den Seitenwänden rechtwinklig nach außen 
nochmals eine Wand ab, vor der noch Platz zum Spielen sein 


1) Bild 5,6, 13, 15, 27, 34. 


32 I. Entstehung und Entwicklung des Nacheinanders. 


mußte.‘“ Man beachte, daß ‚die merkwürdige Tatsache‘ ge- 
rade an den Bildern in Erscheinung tritt, die noch eben, weil 
sie angenähert eine Gesamtansicht des Theaters geben, zum 
Erweis des Vorhangsystems herangezogen werden mußten. 
Man sieht den vier Hauptansichten, wie wir die Bilder 14, 16, 
38 und 44 hinfort nennen wollen, ihre Fehlerhaftigkeit nicht 
an. Sie haben verhältnismäßig gesunde Perspektiven, feste 
Umrisse und sind klar. Welche der Holzschnitte nun, die sein 
Vorhangsystem im ganzen veranschaulichen, hat Lachmann 
ihnen entgegenzustellen * (Denn nur eine Mehrzahl gleich- 
wertiger Abbildungen kann offenbar die ‚eindeutige‘ Aus- 
sage der anderen Gruppe zunichte machen.) Die Antwort gibt 
zu bedenken: Lachmanns Vorhangsystem wird von keinem 
der 44 Holzschnitte in größerer, den Hauptansichten ent- 
sprechender Übersicht dargestellt. 

Von den 10 Abbildungen, welche die fraglichen Vorhang- 
flächen belegen sollten, konnten wir nur sieben anerkennen 
(Nr. 8, 17, 18, 21, 29, 30). Dazu kommen noch einige, die 
denselben Gegenstand völlig verzeichnet wiedergeben sollen 
(Nr. 9, 11, 13, 15). Ihnen entgegen stehen 8 Holzschnitte 
(Nr..10, 14, 16, 24, 34, 37, 38, 44), die den Seitenvorhang 
übereinstimmend und in völliger Klarheit bis an den vorderen 
Podiumrand ausdehnen. Zwei weitere. (Nr. 4 und 36) nähern 
sich dem an. Hinzu treten Nr. 1, 2, 3, 5, 31, 43, die den Vor- 
hang am Rande des Podiums laufen lassen und damit einer 
rechtwinklig nach außen abgehenden Vorderfläche den Boden 
entziehen. Man wird zur Begründung dafür, daß sie nicht im 
Sinne der Hauptansichten den Vorhang ganz nach vorne 
führen, auf Grund. der bildkünstlerischen Voraussetzungen 
Lachmanns annehmen dürfen, daß der Meister Publikum, 
Häuser und Bäume durch Verkürzung des Vorhangs zu Worte 
kommen lassen wollte. Zu ihnen gesellen sich noch etwa 7 Bil- 
der (Nr. 6, 12, [19], 20, 33, 40, 41), die mehr oder weniger un- 
klar denselben Fall vertreten. Es stehen also rund 1 Dutzend 
Bilder, die für das Lachmannsche Vorhangsystem zeugen, 
gegen die doppelte Anzahl, die das dreiseitige System der Haupt- 
‚ansichten unterstützen. Noch ungünstiger wird das Zahlen- 
verhältnis, wenn man allein die einwandfrei klaren Bilder be- 
rücksichtigt. Nur 4 Holzschnitte stellen deutlich die Vorder- 


Präzisierung der grundsätzl. Einstellung Lachmanns zu d. Rasserbildern. 33 


fläche dar!). Ca. 15 Abbildungen stimmen mit den Haupt- 
ansichten in der Gestalt des Seitenvorhangs überein oder 
führen die verkürzte Seitenwand direkt am Rande des Podiums. 
Also ungefähr 1 : 4. Diese Zahlen sprechen genug. Das Vor- 
hangsystem Lachmanns ist auf der Rasserbühne unhaltbar 
geworden. 

Noch etwas anderes aber läßt sich den Zahlen entnehmen. 
Der umgekehrte Versuch, das dreiseitige Vorhangsystem der 
Hauptansichten zum Typus der Rasserbühne zu erheben, 
müßte rund ein Dutzend Bilder mit der Verdächtigung ‚,‚ver- 
zeichnet‘ zu entwaffnen versuchen. Die neue Hypothese wäre 
der älteren kaum überlegen. 

Wenn zwei einander ausschließende Ansichten sich auf Grund 
des gleichen Materials behaupten können, so ist der Zweifel 
berechtigt, ob der Wahrheit durch eine Entscheidung zwischen 
beiden genug getan werden kann. Liegt der Fehler nicht 
vielmehr an den Voraussetzungen, mit denen an das Material 
beiderseits herangegangen wird ? 

Lachmanns fruchtbare Grundanschauung von den Absichten 
des Künstlers ist ohne Zweifel richtig. Hätte er sie konsequent 
durchgeführt, so wäre er dem Fehler entgangen, die vier 
Hauptansichten geringschätzig zu behandeln, da sie ja nirgends 
einen unvermittelten Vorhangsausschnitt, einen gewaltsam her- 
angerückten Hintergrund oder unglaubhaft aufgestelltes Publi- 
kum bezeugen. Sein ganzes Mißtrauen hätte solchen Bildern 
gegolten, die nur Stücke eines Vorhangs verwenden oder 
die Zuschauer von der Seite und von rückwärts an dem dar- 
gestellten Vorgange teilnehmen lassen. 

Die Ursache für die mangelhafte Durchführung der grund- 
legenden Absichten liegt fraglos in deren ungenügend scharfer 
Formulierung. Es kommt dem Künstler allerdings auf die 
„unter allen Umständen herauszubringende Illusion der Bühne“ 
an, aber nur insofern, als er einen Vorgang darstellen will, der 
nicht im Garten oder auf der Straße, sondern auf einer Bühne 
spielt. Die Bühne selbst aber interessiert ihn nicht. Ihre 
Gestalt soll nicht festgehalten, ihr Typus nicht verewigt wer- 
den. Nichts soll geschehen, als die schlichte Mitteilung: dies 
ist kein wirkliches, sondern ein theatralisches Ereignis. Die 


ı) Nr. 8, 21, 29, 30. Nr. 18 könnte auch die Seitenwand bedeuten. 
Th. F. 41. g 


34 I. Entstehung und Entwicklung des Nacheinanders. 


Elemente, die ein solches Verständnis zu assoziieren geeignet 
sind, dienen dem Künstler als Mittel: Podium, Vorhang, 
Publikum und, da das repräsentative Theater seiner Zeit auf 
offenen Plätzen wohnte, Himmel, Schranken, Bäume, Häuser. 

Die jeweilige Verwendung der Abbreviaturen für Marktplatz, 
Bühne und Zuschauerschaft aber geschieht ganz nach kompo- 
sitionellen Gesichtspunkten des Zeichners. Hier braucht uns 
die Frage nicht zu beschäftigen, wieviele Hände an der Ent- 
stehung der Holzschnitte beteiligt seien. Zwei sehr verschie- 
dene technische Noten verraten sich auf den ersten Blick!). 
Wichtiger wäre es zu erfahren, ob auch die Vorlagen mehrere 
Künstler voraussetzen. Aber die durchaus einheitliche Tendenz 
der Bilder entbindet uns der Pflicht einer eindringenden Stil- 
untersuchung. Der Künstler — und ich meine damit den Stil- 
willen, den ich hinter allen Bildern zu erkennen glaube, gleich- 
gültig, ob er von einer Persönlichkeit getragen wird oder 
nicht — erstrebt als wesentlichsten Gesichtspunkt seiner Kom- 
position die volle Ausnützung der Bildfläche. Abb. 2, 4, 5, 
6, 11, 12, 14 usf. sprechen diesen Grundsatz überdeutlich aus. 
Einmal sogar (Bild 22) läßt sich der Meister an der Füllung 
des Rahmens durch Personen genügen. In anderen Fällen, die 
einen ähnlichen Figurenreichtum bieten (Nr. 20, 26, 28, 32, 
33, 35, 36), macht es ihm sichtbare Mühe, für die Andeutung 
der Bühne Raum zu gewinnen. Bild 32 ist nach Lachmann 
„gar nicht als Bühnenbild anzusehen‘. Wie gewaltsam ist in 
Nr. 35 die Gruppe in die Ecken gedrängt, nur um dem Vorhang- 
zipfel Platz zu schaffen! Angesichts eines so überzeugenden 
Beispiels darf vermutet werden, daß der Auftrag dem Triebe 
des Künstlers entgegen auf die Darstellung und Andeu- 
tung der Bühne ging. In figurenärmeren Bildern, wo der Mei- 
ster zur Füllung der Fläche notwendigerweise Landschaft her- 


ı) Man vergleiche Bild 13 und 14. Der Meister des einen füllt gleichmäßig 
gezogene, gleich starke Umrißlinien mit sauber abgesetzter, meist gerad- 
liniger Schraffierung. Er beachtet die Zeichnung und modelliert. Plastizität 
ist seine Eigenart. Der Holzschneider der Abb. 14 zieht ungleichmäßig 
klecksige, auch untereinander verschieden starke Umrißlinien. Die Verti- 
kalen der Falten usw. werden von den Schraffen überschnitten. Der Strich 
der Schraffierung ist oft gekrümmt und ungleich. Das Bild wirkt zitterig, 
.die Körper flach. Man glaubt eine Tuschezeichnung vor sich zu haben. Nicht 
alle Bilder lassen sich den beiden Händen unterordnen. 


Absichten des Künstlers der Rasserbilder. 35 


anziehen muß, kommt er dem Wunsche des Bestellers williger 
nach. Ganz selten, wenn er nur eine oder zwei Personen dar- 
zustellen hat, die ihn weniger fesseln, ist er auch. bereit, die 
Gestalt der Bühne, wie ihm vielleicht geheißen war, auf sein 
Bild zu bannen. So können wir uns die vier Hauptansichten 
und die mit ihnen verwandten Holzschnitte entstanden denken. 
Lieber aber baut der Künstler den Hintergrund reich und 
bewegt zusammen oder nützt ihn phantastisch frei, um das 
Spiel der Figuren zu begleiten. Man beachte Bild 1, wo An- 
ordnung und Größe der Personen von Vorhang und Land- 
schaft umschrieben werden, Bild 4, dessen aufgeregte Hand- 
lung in dem Muster des Teppichs widerhallt — die Narren- 
schellen klingen und wippen dort weiter —, in Bild 6 die 
Raffung der Gardine über dem zerrenden Buben, in Bild 8 
das ausgesprochene Hell und Dunkel des Grundes, das den 
Charakteren der Knaben entspricht, in Bild 9 die auffallende 
Schräge des Vorhangs, welche die Bewegung der Jezabel be- 
gleitet, und, um nur noch eines zu nennen, das in dieser Be- 
ziehung köstlichste Bild von allen: der merkwürdig nach hinten 
ausladenden Figur der bösen Frau auf Nr. 11 entspricht ein 
Rücksprung in der Abschlußwand, und die ragende Bewegung 
ihrer drohenden Linken wird von der unendlichen Länge des 
Vorhangs unterstrichen; lustige Figuren glossieren die Szene 
auf der Gardine. Betrachtet man einmal die Illustrationen 
von dieser Seite, und als Kinder der Kunst haben sie ein 
Anrecht darauf, so wird es unverständlich, wie man sich be- 
mühen konnte, in diese Bilder eine bestimmte Ansicht einer 
zu rekonstruierenden Bühne hineinzudenken. Lachmann sagt 
von dem zuletzt besprochenen Holzschnitt: ‚Vor ihrem Hause 
steht sie (Jezabel) allein in Bild 11, das, perspektivisch völlig 
verzeichnet, das Stück Rückwand mit dem Vorhangschlitz, die 
übermäßig verkürzte Seitenwand und die übermäßig ver- 
größerte Vorderfläche zeigt.‘ Wer will beweisen, daß der 
Künstler auch nur die entfernteste Absicht hatte, die ge- 
nannten Gegenstände darzustellen? Wie willman uns glauben 
machen, daß derselbe Meister, der auf Bild 14, 16, 23, 27 u.a. 
die Perspektive nicht übel beherrscht, sich auf anderen Bil- 
dern in gröblichster Weise verzeichnet hat, wenn er es nicht 
wollte ? 
Zr 


36 I. Entstehung und Entwicklung des Nacheinanders. 


Noch einmal: die Rasserbilder wollen keine Bühne dar- 
stellen, sondern eine Szene, die auf dem Theater spielt. Zu die- 
sem Zweck lassen die Figurengruppen Raum für die Abbre- 
visturen von Marktplatz, Bühne und Zuschauermenge. Ge- 
legentlich, mag den Künstler nun sein Auftrag gedrängt haben 
oder eine Bühnenerinnerung an die Aufführung in ihm wach 
geworden sein, tritt aus den Bildern eine greifbare Bühnen- 
gestalt hervor: die 4 Hauptansichten scheinen eine Art Ge- 
samtdarstellung des Theaters zu bieten. Eine Ausdeutung aller 
oder auch nur eines größeren Teiles der Holzschnitte auf ihre 
Bühnenrealität hin ist unmöglich und wäre verfehlt. 

Sollte dem Leser auch der Wahrheitsgehalt der hier begün- 
stigten Bilder fraglich erscheinen — und methodisch ist dieser 
Zweifel berechtigt — so gibt es noch ein anderes Mittel, die 
Gestalt der Rasserbühne annähernd zu erschließen: den Ver- 
gleich mit den funktionellen Forderungen der Dramen. Es 
muß dafür allerdings vorausgesetzt werden, daß Bühnen- 
eindrücke in den Holzschnitten überhaupt zu Worte kommen. 

Beide Dramen Rassers verlangen einen Ausgang in die 
Ferne. Expeditus Schmidt nimmt zur Erfüllung des gleichen 
Zwecks auf der Terenzbühne ein Zurückweichen der äußersten 
scenae und ein seitliches Herausragen des Podiums über die 
Szenenwand an. Kann auf der Rasserbühne die gleiche Lösung 
übernommen worden sein ? Spricht sich eine der Illustrationen 
in diesem Sinne aus? Offenbar nicht. Ebensowenig ist das 
Vorhandensein seitlicher Treppen, die zweite Lösung, einen 
seitlichen Abgang zu ermöglichen, aus den Bildern erweisbar. 
Der dritte und letzte Weg aber findet reichliche Belege: der 
Seitenvorhang. Wie weit er sich nach vorn erstreckte, ist, 
wenn man einzelne Bilder nicht höher als andere einschätzen 
will, nicht festzustellen. Da die Dramen aber eine Trennung 
in Vorder- und Hinterbühne nicht verlangen, kann man die 
Aussagen der Hauptansichten kaum von sich weisen. 

Auch auf diesem Wege also kommt man auf das dreiseitige 
Vorhangsystem zurück. Die Abb. 14, 16, 37, 38 und 44 sind, 
was den von ihnen vertretenen Typus anbelangt, als Über- 
lieferungen einer bühnischen Wirklichkeit erkannt und können 
hinfort ohne den Zusatz ‚völlig verzeichnet‘ neben den Terenz- 
illustrationen, den Grundrissen der Passionsspiele und der 


Die Meistersingerbühne. 37 


Skizze zum Kölner Laurentiusspiel als gesichertes Bildmaterial 
der deutschen Bühnengeschichte des 16. Jahrhunderts ihren 
Platz finden. Es wird gut tun, sich schon hier darüber klar zu 
werden, daß die Seitenvorhänge nicht irgendeinen geheimnis- 
vollen Zweck erfüllen, etwa für die Darstellung des Interieurs 
unentbehrlich sind, sondern lediglich dem Abgang in die Ferne 
dienen, der auf anderen Bühnen über seitliche Treppen erfolgt. 

Unklar bleibt, wie die Bühne hinter den Vorhängen be- 
schaffen war. Ragte das Podium weit über die seitlichen Ab- 
schlüsse hinaus, so daß der Schauspieler, der vielleicht auf 
einer hinteren Treppe auf den Bühnenkörper gelangt war, von 
dort aus seinen seitlichen Auftritt erreichen konnte, oder waren 
seitliche Treppen hinter den Vorhangschlitzen dennoch un- 
entbehrlich * Die Anhänger des fünfteiligen Vorhangsystems 
werden einwenden, daß die seitlich stehenden Zuschauer hinter 
einen der Seitenabschlüsse blicken konnten, und werden daher 
links und rechts an der Rampe nach außen laufende Vorhänge 
verlangen, welche die Bühne der Kösterschen Rekonstruktion 
wieder näher bringen. Vorderabschlüsse dieser Art liegen 
durchaus im Bereich der Möglichkeit, doch lassen sie sich aus 
den Bildern nicht erweisen. Vielleicht genügte eine über- 
spannte Vorhangstütze vor dem seitlichen Auftrittschlitz ? 
Vielleicht aber vergönnte man auch schon damals den Out- 
sidern einen Blick hinter die ‚Kulissen‘? — Das Material 
versagt uns eine Antwort. 

Auf der zweiten Stufe der Entfernung von der Terenzbühne 
— wenn wir die Standszenenbühne der Johannestragödie Aals 
als erste und die Bühnen Stimmers und Rassers als die je- 
weiligen Übergänge betrachten — steht das Theater des Hans 
Sachs. Die bekannte Auseinandersetzung!) zwischen Max 
Herrmann und Albert Köster ist zu einer letzten Entscheidung 
nicht gekommen, so daß es nötig ist, selbst zu den berührten 
Fragen Stellung zu nehmen. 

Beide Forscher kennzeichnen ihre Wege und Ziele klar?). 


ı) Hermann; Köster 1921; Herrmann 1923; Köster Bespr.; Köster 1923; 
Hermann 1924; Drescher Bespr.; Holl Bespr.; Herbert Engler, Die Bühne 
des Hans Sachs (ungedr. Diss.), Auszug Breslau 1926; Engler Bespr.; 
Schweckendiek. 

*) Köster 1923, S. 560 ff. u. Bespr.; Herrmann 1924, S. 13 f. 


38 I. Entstehung und Entwicklung des Nacheinanders. 


Herrmann will induktiv die Bühne erschließen, auf der ein 
bestimmtes Stück an einem bestimmten Orte gespielt worden 
ist. Eine ‚Sewfried-Bühne‘ nur, wie Köster meint, ist sie 
darum doch nicht geworden, aber als Marthakirchenchor- 
Bühne — man verzeihe diese Analogiebildung — darf man 
sie bezeichnen. Sie ist ein individueller Gegenstand und 
kann für das Typische nur durch Abstraktion ausgewertet 
werden. Beruht diese auf vielen richtigen Einzelrekonstruktio- 
nen von Bühnen der gleichen Gattung, so hat das Ergebnis 
höchste Geltung. Diesen Weg schlägt Herrmann vor. 
Kösters Darstellung!) — gleichgültig, wie er zur Schau seiner 
Bühne gekommen ist — ist deduktiv. ‚Ich wiederhole nicht 
den ganzen Gang meiner Untersuchung, sondern schicke in 
Gestalt eines Grundrisses das Ergebnis voraus und beweise, 
Brett für Brett, daß so die Bühne der Meistersinger aus- 
gesehen hat.‘‘ Aber anstatt nun Brett für Brett, nachdem 
der Grundriß einmal erläutert worden war, heranzuschaffen, 
geht er, von der Zweckmäßigkeit des Ganzen erfüllt, daran, 
die Zweckmäßigkeit des Einzelnen zu preisen?). Induzierende 
Elemente, bei Herrmann die lokalen Verhältnisse, kennt Köster 
neben dem überlieferten Texte kaum. Schon seine starke Aus- 
wertung des Dialogs deduziert von einer vorgefaßten und 
nicht bewiesenen Vorstellung von der Phantasie des damaligen 
Publikums. Wenn wir seiner Darstellung nichts als wissen- 


ı) 1921, S. 35 ff. 

») Einige bezeichnende Wendungen, ohne sie im einzelnen prüfen zu wollen, 
stelle ich zusammen: ‚Nur so konnten wirkungsvollfür das Auge und 
das Verständnis befriedigend...“ (S. 68). „Wenn nun gleich darauf 
der Geist ... . naht, so wäre es ungeschickt, ihn dort erscheinen zu 
lassen, wo eben die Halunken verschwunden sind“ (S. 69). „AlleSchwie- 
rigkeit ist dagegen aufgehoben, wenn .. .“ (S.73£.). „Vieleinfacher 
und wirkungsvollerwares...“(8S.74f.).„...kaumeinbesserer 
Platz des Auftretens .. .‘‘ (S. 75). „In der „Circe‘‘ muß die Verzauberung ... 
allnsichtbar sein; dieser Eingang muß also in der Mitte liegen“ (S. 79). 
„Ungemein klar und übersichtlich entwickelt sich danach das Auf- 
treten und Abgehen der Personen“ (S. 80) u. a. m. Die Skepsis der Wissen- 
schaft dagegen fragt: Warum muß es wirkungsvoll, befriedigend, geschickt, 
ohne Schwierigkeiten, einfach, allen sichtbar, klar und übersichtlich gewesen 
sein? Es ist deutlich: die Köstersche Rekonstruktion ist eine Idealbühne des 
20. Jahrhunderts für Hans-Sachs-Stücke. Soll ihre einstmalige Existenz glaub- 
haft gemacht werden, so sind zwingende Gründe dafür ins Feld zu führen. 


Kritik der Rekonstruktion Albert Kösters. 39 


schaftliche Skepsis gegenüberstellen, die nur durch Beweise 
zu überwinden ist, so wird das bestrickende Gebäude seiner 
Bühne wanken. 

Fassen wir gleich das wichtigste ins Auge. Wie kommt 
Köster zu seinem fünfteiligen Vorhangsystem, das oben!) 
schon kurz gekennzeichnet worden ist? Hören wir ihn selbst: 
„Daß aber tatsächlich die Handwerkerbühne auch Seiten- 
wände hatte, beweist — wenn wir uns wieder den Hinüber- 
blick zu der Bühne des Johann von Leiden versagen — am 
klarsten der ‚Daniel‘ des Hans Sachs. — Er (Belsacer) sieht 
die Geisterhand, wie sie Zeichen an die Mauer schreibt. Diese 
Wand kann nicht die Hinterwand der Bühne gewesen sein, 
weil es unmöglich war, daß während der ganzen Szene der 
tafelnde Monarch den Zuschauern den Rücken zukehrte?)“. 
Der Sperrdruck verrät meine Absicht. Ich frage nach dem 
Warum. Das Inszenierungsproblem des Sängerkrieges im 
Tannhäuser ist auf unseren Bühnen schlechterdings nicht ein- 
wandfrei lösbar. Weshalb sollte das Belsacer-Problem auf der 
Meistersingerbühne keine Schwierigkeiten bereitet haben ? 
Nahm man am königlichen Rücken Anstoß, so wird der Mon- 
arch im Profil zu den Zuschauern getafelt haben. Oder auf 
andere Weise; niemand weiß es. 

Aber auch Kösters zweites Argument, ‚durch die Zahl und 
Lage der Ausgänge auf dem Gerüst‘“ die Notwendigkeit der 
Seitenabschlüsse zu begründen, entbehrt jeden Ansatzes einer 
exakten Beweisführung. Die beiden erschlossenen Eingänge 
werden ‚aus Gründen der Symmetrie links und rechts‘ in den 
zu beweisenden Seitenvorhängen angenommen. Einem dritten 
Auftritt, den Herrmann?) bestreitet, verlegt Köster in die 
Mitte, weil gerade dieser allen sichtbar sein ‚muß‘. Kein Wort 
darüber, daß diese drei Eingänge sich ähnlich wie bei seinem 
eigenen Modell der Rasserbühne®) im Hintervorhang befunden 
haben könnten. Das ästhetisch Gewinnende dieses Vorschlages 
steht hoch über seiner Beweiskraft. 

Den Hinüberblick auf die Bühne des Rederijkers Jan Brok- 


1) 8. 30 ff. 

s) Köster 1920, S. 77. 
®) 1923, S. 75 ff. 

‘) Kat. Nr. 521. 


40 I. Entstehung und Entwicklung des Nacheinanders. 


kelsohn im Dom zu Münster, von der man aus einer dürren 
Bemerkung nur eine vage Vorstellung gewinnt!), darf man sich 
im Sinne Kösters versagen. Aber auch die Rasserbühne, welche 
Holl?2) und Schweckendiek®) zur günstigen Beurteilung des 
Vorhangsystems bewegt, kann nicht herangezogen werden. Die 
Seitenvorhänge versehen dort den Dienst der Seitentreppen. 
Beides zusammen ist eines zuviel). Zum mindesten müßte 
die doppelte Vertretung einer Bühnenfunktion mit doppelter 
Beweiskraft notwendig gemacht werden. Übrigens ist es wohl 
kein Zufall, daß Köster ebenso wie Herrmann die Bühne Ras- 
sers unberücksichtigt läßt. 

So bleibt nur noch ein Argument zu erwägen, welches 
zwar an dieser Stelle nicht verwendet wurde, das aber gewiß 
den Forscher in der Gültigkeit seiner Vision bestärkte. Wer 
je Köster selbst über seine Bühne sprechen hörte, besonders 
aus Anlaß ihrer denkwürdigen Verwirklichung in der Aula der 
Leipziger Universität, weiß, mit welch hinreißender Begeiste- 
rung er besonders eines schildert: das ‚‚Ort‘“5). Es ist das für 
gewöhnlich nur ein vom augenblicklichen Spiel abseits gelege- 
ner Fleck auf der Bühne‘). Nach Köster soll es aber auch 
manchmal ‚ein Platz gewesen sein, wo jemand, den Zuschauern 
sichtbar, aber von den Mitspielenden nicht gesehen, sich auf- 
halten konnte. Und diesem Bedürfnis dienen die beiden Stellen, 
die durch das Einschneiden der Treppen entstehen‘. Ist wirk- 
lich dieses Bedürfnis bewiesen, wenn Köster Fall an Fall reiht, 
bei dem ein Mörder oder Lauscher dem Mitspieler verborgen 
sein mußte? Hat die Bühne jemals, außer im Naturalismus 


ı) Köster 1921, S. 31£. | 

s) S. 97 und 101 der Bespr. Der Schluß von einem vermuteten Vorder- 
vorhang der Rasserbühne (Holl. im Kat., S. 56) zu einem Vordervorhang der 
Meistersingerbühne widerspricht, ohne sich um Beweise zu bemühen, allem 
bisher Erörterten. 

®) Schweckendiek, S. 48. 

4) „In zweifelhaften Fällen steht die Präsumption bei bühnentechnischen 
Fragen im 16. Jahrhundert immer für die möglichste Einfachheit‘ (Schmidt, 
S. 137). 

5) Köster 1920, S. 90 ff. 

°) Das ist, wie ich vermute, auch der Sinn des unbestimmten Artikels 
(vgl. Köster 1920, S. 91 Anm.). Es gibt nicht zwei Orte, sondern beliebig 
viele. 


Kritik der Rekonstruktion Albert Kösters. 41 


ihrer Spätzeit, so weitgehende Realität von sich gefordert ? 
Was sagen die Beispiele schließlich anderes aus, als daß ein 
Schauspieler gelegentlich von Mitspielenden nicht bemerkt 
werden durfte? Spieltechnisch war das höchst einfach: 
er wurde eben nicht bemerkt. Man denke an die unzähligen 
Lauschszenen bei Terenz!), die auf der engen Bühne — falls 
wir die aus den Holzschnitten sich ergebenden Maße zugrunde 
legen — zuwege gebracht wurden. Mußten Lauscher und Be- 
lauschte sich nicht fast berühren? Auch Rasser kennt das 
„Ort“ und, was er darunter versteht, sagt er deutlich. In der 
„Comoedia‘ spricht der König zu den Trabanten seines Sohnes: 
„TIrabanten tretten auf ein ort...‘, und die Spielanweisung 
lautet: ‚‚Trabanten neigten sich vnd giengen zu des Königs 
Trabanten die etwas auff der seiten stunden...“ 
(B2b). Beweiskraft geht auch diesen Ausführungen Kösters 
gänzlich ab. Sie sind im besten Fall, die Richtigkeit seiner 
Rekonstruktion vorausgesetzt, ein glücklicher Vorschlag. 
Damit ist das komplizierte Vorhangsystem als geistvolle und 
ästhetisch gewinnende Phantasie entschleiert. Obwohl es nach 
dem Stand unserer Kenntnisse in der Entwicklung des da- 
maligen Theaters ohne seinesgleichen wäre, um so mehr also 
zureichender Beweise bedürfte, stützt es sich auf nichts als 
seine vielseitige Verwendbarkeit und Eignung. Nur der Hinter- 
vorhang vermag sich zu behaupten?), an dem allerdings nach 
Glocks verantwortungsvoller Darlegung (S. 19ff.) „nie ein 
Forscher gezweifelt‘“ hat. Die Zahl der Eingänge sei nicht im 
einzelnen geprüft, weil sie bei den verschiedenen Bühnen und 
ı) Daß Lachmann, S. 21f., sich bemüht, für eine völlig terenzianische 
Lauschszene der ‚„Studentes‘‘ nach dem Muster Kösters die Notwendigkeit 
des ‚‚Orts‘‘ zu erweisen, ist unbegreiflich. Lachmann sagt: ‚Besonders cha- 
rakteristisch ist da die Szene III, 2, wo Acolastus, von Deleastica nicht ge- 
sehen, deren Liebesergüssen lauscht, um später erst aus seinem Versteck 
hervorzutreten und sie anzureden.‘‘ Wo steht etwas von einem Versteck? 
Was unterscheidet diesen Vorgang von den ähnlichen Situationen, z. B. der 
Andria in den Szenen I, 2 u. 5, II, 2 u. 5, III, 1u. 5, IV, 1u.4,V, 2 u. 5? 
2) Die Anlehnung der Vorhänge an die vier Kirchenpfeiler — wohl einer 
der Hauptfaktoren für die Entstehung der Kösterschen Bühnenvorstellung — 
hat Köster selbst 1923, 564, zurückgezogen. — Vgl. zur Ablehnung der von 
Köster angeführten ‚Beweise“ für die Winkelung der Vorhänge auch 


Schweckendiek, Sachs S. 45, dessen eigene Argumentation ich unten noch 
berühren werde. 


42 I. Entstehung und Entwicklung des Nacheinanders. 


Stücken vermutlich wechselte. Die Versenkung schließlich — 
auch Herrmann braucht sie — ist methodisch am glücklich- 
sten erörtert worden und steht für viele Dramen fest. 

Zu gleichem Ergebnis kommt in seiner Dissertation Herbert 
Engler. Wäre seine Beweisführung zwingend!), so hätte ich 
mich selbst kürzer fassen können. So aber ist ihm in Adolf 
Schweckendiek ein Beurteiler erstanden, der auf das fünf- 
teilige Vorhangsystem wieder zurückkommt. Gegen Schwecken- 
diek ist grundsätzlich dasselbe einzuwenden wie gegen Köster 
und teilweise auch gegen Herrmann. Man rekonstruiert die 
Bühne des Hans Sachs aus der Blickrichtung des Publikums 
unserer Tage. Weil ein Flankenangriff auf ein feindliches 
Heer sich in der Vorstellung des Rekonstrukteurs nicht so 
wirksam zu entfalten vermag wie ein Rückenangriff, kann der 
Überfall nicht von dem mittleren Eingang aus geführt worden 
sein. „Nachdem jemand hinter den Vorgang, wenn auch auf 
der einen Seite, abgegangen und damit für die Zuschauer ‚in den 
innern sal‘ getreten ist, bedeutet der ganze Vorhang für die 
Phantasie den Palast, und wer nun im gleichen Augenblick am 
andern Endzipfel hervorkommt, der kommt eben auch aus 
dem Palast und nicht von der Wanderschaft?2).“ Woher nimmt 
der Autor diese Überzeugung? Sind nicht gerade auf der 
Standszenenbühne eines Aal, auf dem Theater Rassers mehrere 
Auftrittschlitze von verschiedener Sinngebung in einer Ab- 
schlußwand ® Es muß noch einmal betont werden: die bloße 


Zweckmäßigkeit einer Einrichtung ist niemals ein Beweis für 


ihre einstmalige Existenz. Der innere Stil einer Zeit hat noch 
immer Unzweckmäßigkeiten mit in Kauf genommen, wenn 
er nicht wie der unsrige die Zweckmäßigkeit selbst zu seinem 
Prinzip erhoben hat. Gegenüber dem technischen Pomp des 
geistlichen Spiels ist die Einfachkeit und der Verzicht der 
Meistersingerbühne überraschend. Wer will sagen, wie weit er 
gegangen ist? 

Es wird genügen, der sparsamen Beweisführung Schwecken- 


ı) Völlig vergriffen z. B. scheint mir die Auslegung der Hesterstelle 
(„das schreyt er einmal oder vier und helt allmal still‘, Bespr. S. 199), die 
sowohl Herrmanns wie Kösters Rekonstruktion een soll. Vgl. die 
Widerlegung bei Schweckendiek, S. 44 f. 

») Herrmann, S. 27, von Schweckendiek, S. 45, zitiert. 


Kritik der Rekonstruktion Max Herrmann. 43 


dieks diese allgemeinen Gesichtspunkte entgegenzuhalten!). 
Richtig ist der Hinweis, daß für das Vorhandensein von seit- 
lichen Treppen für die Abgänge in die Ferne kein Anhaltspunkt 
in den Dramen zu finden ist. Die Möglichkeit seitlicher 
Abschlüsse wie bei Rasser sei also zugegeben. Solange aller- 
dings, abgesehen von der zweifelhaften Erwägung, daß auf 
der gewinkelten Bühne Innenraumszenen besser dargestellt 
werden konnten, auch für die Seitenvorhänge nichts ins Feld 
zu führen ist, mag man an den bisher von allen Forschern an- 
erkannten Treppen ruhig festhalten, natürlich in dem Bewußt- 
sein, hier auf hypothetischem Boden zu stehen. 

Mit dem Versagen der Kösterschen Rekonstruktion wenden 
wir uns der Bühne Max Herrmanns zu. Die Angriffe Kösters 
haben zwar die Gewißheit ihrer ersten Verkündigung beschränkt, 
als gut fundierte Hypothese aber steht sie heute noch da. Ihre 
Lage im Chor und die zweite Sakristeitür, beides unerläßliche 
Bedingungen ihres Daseins, sind weder bewiesen noch weg- 
bewiesen worden?). 

Aber selbst wenn man beide anerkennt, hat Herrmann seine 
Bühne nicht mit zwingender Logik aufgebaut. Wie z. B. sähe 
sie aus, wenn Sachs die „Zweckmäßigkeit‘‘ einer doppelten 
Verwendung der Sakristeitür (zum Durchgang in den hinteren 
Chor und zum Auftritt) übersehen haben sollte? Die viel- 

1) Diese allgemeine Kritik trifft auch die zahlreichen ‚Beweise‘ für die 
Winkelung der „Handwerkerbühne“, die Schweckendiek a. m. O. in seinem 
Verl. Sohn anführt. 

») Der gleichen Ansicht sind Drescher und Holl. Holls Vorschlag (Bespr. 
S. 105) für die nördliche Langhaushälfte als Standort der Bühne ist der Be- 
achtung wert. Die Görlitzer Notiz von dem Spiel über den Weiberbänken 
hätte von Köster 1921, S. 33 f., eigentlich schon in diesem Sinne ausgelegt 
werden sollen. Nun hat Herrmann 1923, S. 71ff., dieses Argument zwar 
ziemlich entwertet, allein die Tatsache bleibt unberührt, daß man anderswo 
„auff Brettern, die über den Weiberbencken stunden‘, also doch wohl im 
linken Mittelschiff gespielt hat. Wenn man aus dem Wappenregister des 
Nürnbergischen Zion (Herrmann, S. 18 Anm. 1) schließen darf, daß das 
nördliche Seitenschiff nur ein Fenster hatte — was noch zu untersuchen 
“ wäre —, eine Vermutung übrigens, die durch den dortigen Anbau der zwei- 
stöckigen alten Sakristei unterstützt wird, so waren die Lichtverhältnisse 
im nördlichen Mittel- und Seitenschiff keineswegs, wie Holl behauptet, 
schlecht. Auf eine dort errichtete Bühne, die auf dunklem Hintergrunde 


stand, ströämte das Licht aus dem Chor und aus den 5 Fenstern des südlichen 
Langhauses. 


44 I. Entstehung und Entwicklung des Nacheinanders. 


umstrittene Tür liege also hinter dem Abschlußvorhang. Dann: 
fallen Hölle und Podiumausschnitt hinter dem ‚Chorstuhl“ 
fort und müßten durch ein größeres, rechts vom Zuschauer 
gelegenes Loch ersetzt werden, das Höhle und Grube im Sinne 
der Kösterschen Versenkung vereinigt. Die mangelnde Po- 
diumhöhe fällt nicht ins Gewicht, weil der angrenzende Hinter- 
vorhang von den gebückt Aus- und Eintretenden einfach etwas 
gehoben werden konnte. Aber auch die weit ausladenden vor- 
deren Seitenteile der Herrmannschen Bühne, die sie der Köster- 
schen Rekonstruktion so ähnlich erscheinen lassen!), beruhen 
auf einer beliebigen Annahme. ‚Die Bühne muß rechts bis in 
die Nähe der heutigen Sakristeitür gereicht haben und wird sich 
wohl schon aus Gründen der Symmetrie nach links ebensoweit 
ausgedehnt haben“ (S. 36). Oder: ‚kommende Personen treten 
aus der Sakristei. Die Bühne mußdann allerdings 
bis hart an die... . Tür herangereicht haben.‘‘ Wieder, wie 
so gern bei Köster, fragt man warum? Warum sollen die 
Auftretenden nicht einige Meter auf dem Boden der Kirche 
hingeschritten sein, ehe sie die Treppe erreichten?)? Wozu 
die schwierige und die ganze Bühne in Frage stellende Um- 
zimmerung der Seitenaltäre?)? Unerhärtete Stellen dieser Art 
machen es unwahr, daß wir uns am Ende der Untersuchung 
auf dem ‚Boden der Gewißheit‘“ befänden. 

Wie also sieht die Chorbühne aus, wenn man die nicht be- 
wiesenen Formen der Bühne Max Herrmanns auf ihr geringstes 
Maß beschränkt? Sie war ein rechteckiges Podium, das mit 
dem größeren Teil seiner Nebenachse in das Schiff ragte; ihr 
einziger Abschlußvorhang verbarg die heute vermauerte Türe 
der Sakristei; seitliche Vordertreppen, verdeckte Hinterstufen, 
ein am Vorhang gelegener Podiumausschnitt und der um- 
strittene ‚Chorstuhl‘ waren ihr eigen. 

Gern gebe ich zu, daß auch dieser Bühnenentwurf nur eine 

ı) Vgl. die beiden Grundrisse bei Holl, Bespr. 

2) Der Plural „altarn‘ (S. 21) ist kein Gegenargument, da die Bühne ja 
auch an den Hauptaltar nicht heranreichte. Die Gefahr des Zerbrechens war 
besonders bei der Errichtung des Podiums ohnehin vorhanden. 

3) Vgl. Engler, Bespr. — Das Modell Kat. 535 hatte, um diese Störung zu 
beseitigen, den Einbau des Kösterschen Vorhangsystems in einem manns- 


breiten Abstand von den Wänden vorgenommen. Der Wahrscheinlichkeits- 
grad wird durch die Kombination von Hypothesen nicht erhöht. 


Die Gestalt der Meistersingerbühne. 45 


Hypothese ist, die allerdings gegenüber der Herrmannschen 
den Wegfall der kuriosen Halbtür und der eingebauten Seiten- 
altäre voraus hat. 


Aber um für die vorliegende Untersuchung überhaupt etwas 
in den Händen zu haben, sei die Bühne Max Herrmanns ein- 
mal als historische Tatsache angenommen. Leicht sieht man 
ein, daß die merkwürdige, einseitige Anlage, die enge Hinter- 
bühne und die wie aus einer Quetschung befreit ausspringen- 
den Seitenteile — wie Köster zur Genüge betont hat — den 
lokalen Umständen entwachsen. Um etwas Allgemeines über 
diese Bühne aussagen zu können, wäre es also nötig, von ihren 


besonderen Verhältnissen abzusehen!). 4 


Was bleibt an der Herrmannschen Rekonstruktion, wenn 
sie im Remter des Predigerklosters oder anderswo in freier 
Entfaltung ins Leben treten soll? In erster Linie wird man 
Hintervorhang und Seitentreppen übernehmen müssen. Die 
auf Grund der Sakristeitür erschlossene Höhle vereinigt sich 
mit dem Podiumausschnitt. Der ‚Chorstuhl‘ findet einen Er- 
satz. Mit dem Wegfall der einzwängenden Chorwände weitet 
sich die abgeschnürte Hinterbühne: das Podium wird zum 
Rechteck?). | = u 

Das Ergebnis ist überraschend. Sowohl die Rekonstruk- 
tionen Herrmanns und Kösters, wenn man ihre unbeweis- 
baren Formen abstreift, als auch die Herrmannsche Bühne, 
wenn man ihre einmaligen Besonderheiten übersieht, ergeben 
eine Bühnengestalt von denkbarster Einfachheit. - 


Das Proszenium mit Abschlußwand geht auf die Terenz- 
bühne zurück®). Die Auftritte von vorn setzen nicht notwendig 
auch Seitentreppen voraus, da man einfach die Szenenwand 
seitlich umgangen haben könnte®). Die Versenkungsgrube end- 
lich, schon im geistlichen Schauspiel unentbehrlich, war auch 


1) Auch Holl im Kat. S. 56 meint, man könne aus Herrmanns Rekon- 
struktion den Typus erschließen. Die folgende Beschreibung aber kommt ganz 
und gar auf Kösters Bühne hinaus. 

2) Wie Lachmann (Zeitschr. f. d. Philol., 52, 204) bei der Typisierung der 
Herrmannschen Bühne auf die Formen der Rekonstruktion Albert Kösters 
stoßen will, ist mir unverständlich. 

s) Vgl. Herrmann, bes. S. 15 f. und 519. 

*) Schmidt, S. 127. 


46 I. Entstehung und Entwicklung des Nacheinanders. 


der neuen Bühne nicht fremd. In den zahlreichen Josefs- 
spielen stellte sie die Zisterne, in der ‚Susanne‘ das Brunnen- 
bad vor. 

Nur über den Abschlußvorhang wissen wir wenig. Auf der 
Terenzbühne scheint die klare Verteilung der scenae an be- 
stimmte Personen eine Isolierung der Häuser voneinander im 
Sinne der Holzschnitte zu fordern. Wenn bei der Aufführung 
der Passion in Mons!) der Besitzwechsel der Höfe durch den 
Wechsel der Aufschriften kenntlich gemacht wurde, so möchte 
man die Namensschilder auf den Abbildungen zur Terenzbühne 
nicht nur für Zutaten der Illustratoren halten. Auch die Türen 
auf der Skizze zum Kölner Laurentiusspiel von 1581, das unter 
humanistischem Einfluß steht?), tragen Überschriften, und 
eine realistische Dekoration spricht das Verlangen der scena 
deutlich aus, in ihrem Einzelwert begriffen zu werden. 

Mit der Entfernung von der Terenzbühne aber verliert die 
Selbstbehauptung der scena ihren Sinn. Hat sie auf die Dauer 
des Stückes hin keine feste Bedeutung mehr, so fehlt ihr auch 
der Anlaß, diese zu repräsentieren. Sie ist hinfort kaum etwas 
anderes als eine Auftrittsgelegenheit?). Sechs oder acht scenae, 
die das Schuldrama zu besetzen wußte?), wären hier sinnlos. 
Ihre Zahl schrumpft zusammen. Glock hält einen, Herrmann 
— die Höhle als rudimentäre scena aufgefaßt — zwei und 
Köster drei Eingänge für ausreichend. Der geschlitzte Ab- 
schlußvorhang verdrängt die Szenenwand. Sein Vorhanden- 
sein auf den Rasserschen Holzschnitten ist nicht zufällig, son- 
dern konsequent’). 

1) Cohen, Mons, S. LXXXVII. Andere Beispiele Creizenach I, 166. 

2) Niessen, S. 36. 

3) So auch Schweckendiek, Verl. Sohn, S. 139. 

*) Christian Zyrln z. B. sagt in der Vorrede zu seinem „Joseph“: ‚Diese 
Comedia hat siben szenas und 50 Personen“. (Spenle, S. 33.) 

5) Damit soll nicht behauptet werden, daß die Standszenenbühne niemals 
einen Abschlußvorhang, die Meistersingerbühne nie eine türendurchbrochene 
Holzwand gehabt haben könne. Der Schlitzvorhang als Konsequenz der 
Szenenentwertung ist z. B. der Rederijker- und englischen Sommerbühne un- 
bekannt. Übrigens ist der Rückvorhang als Bühnenabschluß bei allen Natio- 
nen zu finden und in zahlreichen Abbildungen auf uns gekommen. Material 
ist zusammengestellt bei Stumpfl, S. 76, Anm. 130. Ergänzend seien hinzu- 


gefügt einige der Stiche von Callot aus den Balli di Sfessania (Neudr. Karl 
Kloss, Wien 1919) und Vinckebooms Kirmesbild (Kunsthalle Hamburg). 


Die Funktion der scena (Zusammenfassung). 47 


Wenden wir uns nun, die bisherige Entwicklung zusammen- 
fassend, den Funktionen der neuen Bühne zu. 

Die Standscena hatte mit der scena der reinen Terenzbühne 
das Standprinzip in einem weiten Sinne gemein. Beide waren 
Stände, d. h. bestimmt zugeordnete Aufenthaltsplätze der 
Spieler, und unterschieden sich in erster Linie durch ihre Ab- 
geschlossenheit von dem mittelalterlichen Sinne dieses Aus- 
drucks. Und doch gab es eine Veranlassung, gerade die Scena 
der ersten Entfernungsstufe von der Terenzbühne mit dem 
„Stand‘-Begriff besonders in Verbindung zu bringen. Die 
Standscenae, wie wir sie nannten, durchbrachen die Einheits- 
bühne des Terenz, indem sie, der Mysterientradition folgend, 
der Bedeutung nach örtlich getrennte Stände waren. 
Ihre wechselnde Herrschaft über das Proszenium ergab die 
Sukzession, ihre gleichzeitige (simultane) Herrschaft die Tei- 
lung der Bühne in kurzfristige Orte. Die scena also bewahrte 
ihren Sinn während des ganzen Stückes, das Proszenium hin- 
gegen nur während der Szene. | 

Diese Kurzfristigkeit der Proszeniumsbedeutung nun greift 
auf die Standscena selbst zurück, was die mittelalterliche Sitte 
des Besitzwechsels der Höfe und Standorte schon vorbereitet 
haben mag. Vielleicht sind, wie in den Passionsspielen, anfangs 
nur vereinzelte ausgespielte Stände neu vergeben worden, oder 
es erfolgte aktweise eine Neuverteilung, wie von mir für Garts 
„Joseph‘‘ und von Schmidt für Greffs „Abraham“ vermutet 
wurde!). Bei Rasser findet sich möglicherweise als älteres 
Element der Übergangshaltung neben den neutralen Schlitzen 
eine plastische Türe, die ihre Bedeutung noch auf längere 
Strecken hin aufrecht erhält. 

Ganz durchgeführt endlich und bereits überschritten ist der 
Standwechsel der scena auf der Bühne der Meistersinger. Mit 
jedem Auftritt also verändert sich die Bedeutung der Schlitze, 
sofern nicht zwei aufeinanderfolgende Szenen am gleichen Orte 
spielen. Daß in diesem Falle kein Sinnwechsel eintritt, 
auch nicht im Verlaufe einer Szene selbst — eine Annahme, 
die gern ohne Begründung hingenommen wird?) — ist aus 


1) Schmidt, S. 144. 
3) Herrmann untersucht diese Frage, S. 25. Die völlig andersgearteten 
Passionsspiele durften nicht herangezogen werden. Nicht diese Betrachtung 


48 I. Entstehung und Entwicklung des Nacheinanders. 


der analogen Tatsache zu folgern, daß auch die Bedeutung 
des Proszeniums auf die Dauer der Szene konstant ist. 

Die Grenzen der einen Erscheinung aber sind zugleich die 
Grenzen der anderen. Köster (1920, S. 45) geht mit der Be- 
hauptung, daß ‚in allen Auftritten, die sozusagen das feste 
Knochengerüst der Handlung abgeben‘, ‚Sachs vor seinem 
inneren Auge deutlich einen bestimmten Ort der Handlung“ 
sieht, entschieden zu weit. Man muß den raumcharakteri- 
sierenden Wert der Mittel einmal betrachten, die dem. Dichter 
für die Lokalisierung der Szene zur Verfügung stehen. 

Am intensivsten wirkt die gesprochene Dekoration: 
Schaut, schaut, wie köstlich uberauss Von merbelstein steht 
dort ein hauss, Erbaut nach meisterlichen sinnen, Mit gülden 
pforten, kupffer und zinnen. In dieser gar einöden wiltnuss!!). 
Häufiger ist diegesprochene Szenenangabe: Nunfahren 
wir dahin auff der see; Hie wöll wir bleiben in dem wald. 
Schon sehr abgeschwächt an lokalisierender Kraft und die 
Natur der Szene nicht enthüllend wirkt die geographi- 
sche Ortsbestimmung: diese Gegend heißt Irland. Die Szene 
ist hier schon fast neutral. 

Ein anderer Weg ist es, anstatt oder neben der Lokalisierung 
des Proszeniums die Welt hinter den Vorhängen zu be- 
zeichnen. Die Vorhangschlitze werden zu Türen, die in be- 
stimmte Gemächer, oder zu Wegen, die in bestimmte Rich- 
tungen führen. Aber merkwürdig: Selten fühlt der Dichter 
das Bedürfnis zu berichten, woher, d. h. aus welchen 
Räumen ihrer dichterischen Existenz, seine Spieler die Bühne 
betreten. Hier wird es deutlich, daß die Eingänge der Meister- 
singerbühne die Erben der Standscenae sind. Die unzähligen 
Abgangsmotive des Terenz und der Schuldramatiker waren 
vorbildlich. ‚Ich will ins frawn-zimmer gehn“, ‚Ich wil wol 
in dschreibstuben gahn‘ sind Wendungen, die die Standszenen- 
bühne nötig hatte, um dem Publikum begreiflich zu machen, 
warum der Schauspieler gerade in dieser und keiner anderen 
scena verschwand. Hans Sachs hatte diese Technik in den 


ist eine Vorbereitung für das „Eingen“ und „Kumen‘“, sondern das „Eingen“ 
und „Kumen“ ist ein Beweis für die Richtigkeit dieser Betrachtung. 

ı) Die Beispiele sind z. T. der Kösterschen Zusammenstellung (1920, 
S. 45 ff.) entnommen. 


Lokalisierungsmittel bei Sachs. . 49 


40er Jahren kennengelernt!) und griff auf sie — trotz der ver- 
änderten Verhältnisse seiner Bühne — gerne zurück. — Manch- 
mal schließen selbst neutrale Szenen mit Abgängen in be- 
stimmte Räume ab. Dieser Richtungsrationalismus, wie Herr- 
mann ihn bezeichnet, ist ein Stück mittelalterlichen Denkens, 
das Sichtbarmachen des Weges, welches sich über das modern- 
unmoderne Standszenenprinzip bis hierher gerettet hat. 

Als weitere Lokalisierungsmomente kommen noch die Vor- 
ausbestimmung einer späteren Szene mittels gespro- 
chener Dekoration bzw. Szenenangabe, die Enthüllung der 
Szene aus der Natur der Handlung und die andeutende Cha- 
rakterisierung der Örtlichkeit durch Requisiten in Betracht. 
Stand der Stuhl, wie Herrmann vermutet, immer auf der 
Bühne, so genügte es, daß sich die Könige setzten, wollte der 
Dichter seinem Publikum die große Staatsszene, den Saal vor 
Augen stellen. 

Nicht weniger als diese qualitative Untersuchung der Sachsi- 
schen Lokalisierungsmittel ist eine quantitative lehrreich. Es 
gibt Szenen, die mit ortsbestimmenden Momenten geradezu 
übersättigt sind. Gesprochene Dekorationen und Szenen- 
angaben, Charakteristik der Nebenräume und Vorausbestim- 
mung bemühen sich um die Phantasie des Zuschauers. Andere 
Szenen wieder sind völlig neutral. Und zwischen ihnen die 
Fülle der übrigen, die teils genügend, teils ungenügend lokali- 
siert, der neutralen Bühne größere oder kleinere Zugeständ- 
nisse machen, mögen Proszenium und die ideellen Nachbar- 
räume nun neutral gehalten werden oder die verörtlichenden 
Momente erst gegen Ende der Szene auftreten oder gar, wie 
im „hüernen Sewfried“, V. Akt, letzte Szene, sich wider- 
sprechen?). 

Bei der Bestimmung der Bühneneingänge ihrer Rekonstruk- 
tionen übersehen Köster und Schweckendiek diese Umstände. 
Wenn ich oben den Richtungsrationalismus durch die Tat- 
sache zu stützen suchte, daß auch die Bedeutung des Pro- 
szenium auf die Dauer der Szene konstant sei, so ergibt die 
Einschränkung sich nun von selbst. Oft werden ortsbetonte 
Szenen von der Idee der Neutralbühne durchkreuzt, die die 

1) Vgl. Herrmann, Sachs, S. 19£. u. S. 519. 


) Vgl. V. 771 und 798 (ed. Goetze, Halle 1880). 
Th. F. 41. 4 


50 I. Entstehung und Entwicklung des Nacheinanders. 


Zusammenhänge verdeckt oder in seltenen Fällen sogar ver- 
wirrt. Es ist nicht ohne weiteres klar, daß Spieler, die ihrer 
Aussage nach in bestimmten und voneinander unterschiedenen 
Richtungen abgehen, dieser Absicht auch wirklich nachge- 
kommen sind. Das Neutralprinzip konnte den Dichterregisseur 
verhindern, darauf zu achten, besonders wenn es inhaltlich 
ohne Belang war. Standen sich ausgesprochene Gegensätze 
gegenüber, so mag es genauer genommen worden sein. Herr- 
mann hat dies für den Auftritt der Schauspieler durch 
die Entdeckung einer versteckten Terminologie (‚kumen‘“ ex 
postremo und ‚‚eingen‘ aus den scenae) zu erweisen versucht. 
Es wäre höchstens noch zu untersuchen, ob die ‚unerklärbaren“ 
Ausnahmen dieser Auftrittsregel nicht aus der Wirkung der 
Neutralbühne verständlich würden. 


Nun aber gilt es nochmals, den roten Faden der Entwick- 
lung aufzunehmen. Die verkümmerte scena der Hans-Sachs- 


Bühne hatte sich aus der Standscena dadurch gebildet, daB 


deren feste Standbedeutung einem Standwechsel — wie wir 
sagten — gewichen ist. Das ist nicht ohne Einschränkungen 
richtig. Während die Standscena ihre Bedeutung auch dann 
behält, wenn die Aufmerksamkeit des Zuschauers nicht ständig 
durch gesprochene Dekoration und Abgangsmotive auf sie hin- 
gelenkt wurde, vertritt der Vorhangschlitz nur soweit auf die 
Dauer der Szene eine Ortsidee, als diese ausdrücklich durch 
den Dichter geltend gemacht wird. Geschieht dies nicht, — 
wie in der Mehrzahl der Fälle!) — so ist die Bedeutung der 
Bühnenausgänge und die Richtung der abgehenden Schau- 
spieler mehr oder weniger unbestimmt oder neutral. 


Der Mangel an richtunggebenden termini technici für die Ab- 
gangsbezeichnung bei Hans Sachs entzieht die Frage der Be- 
urteilung, ob die hinter dem Vorhang gedachten Räume, zu 
denen der Schlitz Tor oder Weg bedeutet, wirklich immer 
eigentliche Stände sind. Im allgemeinen kann man es an- 
nehmen. In ‚Jacob mit seinem Bruder Esaw‘“‘ stellt der 
Bühneneingang fast das ganze Stück hindurch die Tür zum 
Hause des Isaak, oder, wenn das Proszenium zum Interieur 


1) In einigen Stücken, z. B. im „könig Herodes, wie der sein drey sön und 
sein gmahel umbbracht‘“‘ ist es fast ausnahmslos nicht der Fall. 


Die Shakespearebühne. 51 


wurde, den Ausgang!) zu Nebengemächern dar, im „hüernen 
Sewfried‘ in stetigem Wechsel den Eingang zum ‚‚frawen- 
zimmer‘, zu den Höhlen des Riesen Kuperon und der ge- 
fangenen Crimhilt und zum ‚innern sal‘“. Hier ist die Vor- 
stellung der mittelalterlichen Stände und Höfe noch am Leben. 
Der Weg in den Wald, zum Drachenfels, nach Worms oder 
Pern, zu ‚reinen‘ Orten also, die dann in späteren Szenen 
auch wirkliche Bühnenorte wurden, wird durch den vorderen 
Abgang angedeutet worden sein. 

Nur kurz sei die bekannte Tatsache gestreift, daß auf der 
Meistersingerbühne noch andere mittelalterlich-rudimentäre 
Funktionen ihr Leben fristen. Hier ist vor allem das Sichtbar- 
machen des Weges?) (Umzüge), die Teilung der Bühne in kurz- 
fristige Orte?) und der Szenenwechsel ohne Abgang der Schau- 
spieler?) zu nennen. Im ganzen treten diese Reste der alter- 
tümlichen Technik im Vergleich zum Schultheater stark 
zurück. 

Der Abschluß dieser Entwicklung läßt sich an einer aus- 
ländischen Bühne aufzeigen, die, wie abweichend auch die 
Verhältnisse ihres Wachstums im einzelnen gewesen sind, als 
Ziel einer nationalen Theatergeschichte dort einzutreten ver- 
mag, wo die deutsche Dramen- und Bühnengeschichte nicht 
mehr vorwärts schritt. Ich meine das Theater Shakespeares. 
Mit dem Schwinden der wechselnden Standbedeutung der 
scenae und dem weiteren Zurücktreten der übrigen Anklänge 
an die mittelalterliche Technik tritt hier die Bühne des Nach- 
einanders zum ersten Male frei und zugleich am ausgesprochen- 
sten in Erscheinung. 

Einem merkwürdigen Wandel unterliegt die Ortsvorstellung. 
Der Bedeutungsgehalt der Bühne nimmt zugleich zu und ab. 
Die indirekte Lokalisierung durch Vorausbestimmung und aus 


ı) Die Tatsache, daß die scena — ihrem Sinne nach der Eingang zu einem 
vorgestellten Haus — zum Ausgang wurde, sobald die Bühne einen Innenraum 
vorstellte, habe ich schon bei der „Comedia‘“ Stimmers berührt. Schmidt, 
S. 154, beschreibt einen ähnlichen Fall. Daher kann ich Schweckendieks 
Beweisführung (die Entfengnuß unndt geburdt Johannis und Christi, Sachs, 
S. 42) nicht teilen. 

2) Heinzel, S. 48; Kaulfuß-Diesch, S. 23; Stumpfl, S. 57, Anm. 52. 

3) Heinzel, S. 50; Kaulfuß-Diesch, ebd.; Creizenach III2, S. 348. 

4) Heinzel, S. 40. 

4* 


52 I. Entstehung und Entwicklung des Nacheinanders. 


dem Vorgang der Handlung heraus überwiegt!). Ohne direkten 
Hinweis wird die Vorstellung in uns lebendig — ich nehme 
ein Beispiel —, daß die Szene auf der Straße spielt: Ein reges 
Leben fließt dahin, Personen kommen und gehen, rufen ein- 
ander zurück und weisen sich Wege. Realität erfüllt die Vor- 
gänge auf der Bühne und löst sie gerade darum von der 
Bühne los. 

Das ist der Kernpunkt. Creizenachs Bemerkung (IV, S. 406): 
„Im allgemeinen herrschte aber ... . nicht der Ortswechsel, 
sondern die Ortslosigkeit‘“ ist wenigstens in bezug auf Shake- 
speare nicht ganz richtig. Der Irrtum rührt daher, daß die 
vorangehende Aufzählung der dichterischen Lokalisierungs- 
mittel nur die gesprochene Dekoration und Szenenangabe, 
nicht aber die indirekten Umstände berücksichtigt. Den Shake- 
speare-Editoren des 18. Jahrhunderts ist es nicht schwer ge- 
fallen, im Sinne ihrer Bühnen Szenenangaben einzufügen, und 
sie haben einander auch nicht allzu sehr widersprochen. Die 
Ortsbestimmungen eines beliebigen Shakespeareschen Aktes 
genügen, um uns Aufschluß zu geben: ‚London. A street‘, 
„The same. Another street.“ Barocke Szenenangaben 
für ein terenznahes Schuldrama hätten lauten müssen: Straße 
vor dem Hause der Jünger, Weg nach Emaus usw. Solange 
die scena einen festen Ortsbegriff vertrat, war die Bühne, so- 
bald sie sich unter die Herrschaft der scena begab, genau 
bestimmt. Der Übergang zur wechselnden Standbedeutung 
lockerte die starre Ortsbestimmtheit durch häufige Neutrali- 
tät der scenae und reichere inhaltliche Bewegtheit auf. Und 
nun ist der letzte Schritt getan: die Auftrittsbühne ist erreicht. 

Hinter der Szenenwand liegt die Welt. Durch zwei Türen 
strömt ihr Leben zu uns herein und gibt der Bühne örtliche 
Bedeutung. Allein ‚The stage was still the stage‘: ihre Aus- 
gänge bleiben Brücken zur Welt, sie sind nicht Türen zum 
„frowenzimer‘ und ‚zum sal‘“, nicht Häuser (in den unzäh- 
ligen Straßenszenen), sondern Auftritte; die Personen aus der 
Stadt wohnen irgendwo dahinter. Und weil die 
Türen nichts bedeuten, muß die Bühne auf ihr bestes Bestim- 
mungsmittel, die Lokalisierung durch Nebenräume, verzichten. 


1) Die gesprochene Szenenangabe wurde, wie Sidneys Kritik (Creizenach 
IV, 404 Anm.) zeigt, als ungeschickt empfunden. 


Die Shakespearebühne. 53 


Mag es gegenüber Hans Sachs der Geist einer fortgeschrittenen 
Zeit oder eines anderen Erdstrichs sein oder der Genius des 
Dichters allein: nicht in völlige Neutralität versinken die 
Szenen Shakespeares, sondern eine höhere Wirklichkeit waltet 
in ihnen. Aber das Abheben der Handlung von der dürftigen 
Natur der Bühne wird gefördert durch ein zeitgeschichtliches 
Phänomen: die Entwertung der alten scena zum bedeutungs- 
losen Auftritt. 

Wie sie vor sich ging! Man müßte sie aus der englischen 
Theaterentwicklung begreifen. Blickt man von Sachs hinüber, 
so fällt der Umstand ins Gewicht, daß mit dem Fehlen der 
Seitentreppen auch die Abgänge zu imaginären ‚‚reinen‘‘ Orten 
statt über die Treppen durch die hinteren Türen erfolgen 
mußten, wo bei der Meistersingerbühne fast nur Neutralabgänge 
und der Ausgang zu kurzfristigen Ständen stattfand. Eine 
solche Bühneneinrichtung mußte natürlich das Standwechsel- 
prinzip mit der Zeit überwinden. 

Das Gesagte gilt in erster Linie für jene Szenen, die Creize- 
nach als ortlos empfindet. Unter den bestimmter lokalisierten 
gibt es auch solche, bei denen der Bühneneingang eine feste 
Bedeutung annimmt. Wenn im Kaufmann von Venedig die 
Flucht und Entführung Jessikas dargestellt werden soll, so 
fordert die Handlung natürlich die Andeutung des Hauses 
auf der Bühne: Die Geltung des einen Bühneneingangs als 
Shylocks Haustür muß also nicht auf die Erinnerung des 
Standwechselprinzips zurückgeführt werden. Ein Teil der 
Szenenwand stellt besonders dann gern ein Haus vor, wenn, 
wie auch in diesem Fall!), die Oberbühne benutzt werden soll. 
Hier trennt sich Julia beim Tagesanbruch von dem Geliebten, 
und Romeo ‚‚goeth downe‘“?), d. h. er klettert vor den Augen 
des Publikums von der Mauer des Hauses herab®). Man kann 
wohl sagen, daß die Einrichtung der Oberbühne den völligen 
Schwund des alten Standprinzips der scena und die letzte Un- 
abhängigkeit des Dramas von der Bühne verhindert hat. Zu 
unserem Glück, denn manche herrliche Szene und ein gut Teil 
räumlich-dekorativer Anregungen für unsere Bühnenkünstler 

1) Jessika sieht von der Oberbühne herab. 


2) In der ersten Quarto. 
®) Vgl. Creizenach IV, 429. 


54 I. Entstehung und Entwicklung des Nacheinanders. 


und innerer Plastik der Ortsvorstellung wäre verlorengegangen. 
Wie souverän der Dichterregisseur trotzdem über die Bühne 
herrscht, wie wenig — in diesem Falle — sie Julias Schlaf- 
zimmer, sondern eben nur Bühne ist, zeigt der Fortgang der 
Szene in der ersten Quarto. Nach Romeos Abgang stürzt die 
Amme mit der Nachricht herein, daß die Mutter naht. Julia 
„goeth downe from the window‘, auf die Unterbühne also, 
wo die Szene fortgesetzt wird. Im ganzen aber ist es nicht 
zu bestreiten, daß eine Nachwirkung des Standwechselprinzips 
der scena, wenn auch selten, noch zu bemerken ist. Spiel- 
anweisungen in den ältesten Drucken, wie in Richard III., 
III. Akt, 2. Szene: „Enter a Messenger to the doore of Ha- 
stings‘‘!) verraten den Zusammenhang mit der älteren Technik. 
Die übrigen Altertümlichkeiten bei Shakespeare, die Creizenach, 
IV, S.406ff. beschreibt, sind nur noch ganz vereinzelt zu finden. 

Ein skizzenhaftes Eingehen auf die elisabethanische Bühne 
ohne die Vorkenntnis ihrer nationalen Theatergeschichte war 
allein dadurch möglich, daß ihre Gestalt wie ihre Funktionen 
auf Grund zureichenden Materials im wesentlichen bekannt 
sind. Anders die Bühne der Englischen Komödianten. Man 
ist auf die Rekonstruktion von Kaulfuß-Diesch angewiesen, die 
heute kein Vertrauen mehr erweckt?). Es war ein kaum ver- 
ständlicher Fehler, von den deutschen Passions- und Fastnacht- 
spielen und der Meistersingerbühne auszugehen, da ein gene- 
tischer Zusammenhang natürlich in erster Linie zur alteng- 
lischen Bühne in Frage kommt. Es ist nur folgerichtig, wenn 
diese Arbeit, welche den Zusammenhängen einer nationalen 
Theatergeschichte nachgeht, die Bühne der englischen Komö- 
dianten und des von ihr abhängigen Herzog Julius und Jakob 
Ayrer nicht behandelt. 

Wir übersehen eine Entwicklung, die der Schlüssel zum 
Werden und Wachsen des modernen Dramas genannt werden 
darf®). Sie allein auf deutschem Boden aufzuzeigen, war ein 

ı) Folio. 

2) In diesem Sinne äußerte sich Max Förster in einem leider ungedruckten 
Vortrage im Rahmen der Wissenschaftlichen Woche in Magdeburg 1927. Vgl. 
auch Stumpfl, S. 75, Anm. 123. 

3) Der gewaltige Einfluß der Bühne auf dieäußere, aber auch innere Technik 


des Dramas ist oft betönt, am überzeugendsten von Albert Köster (Euphorion 
1922, 488 ff.) geschildert worden. Vgl. Lachmanns Ergänzungen, S. 18 £. 


Zusammenfassung. — Das Fastnachtspiel. 55 


notwendiger Verzicht. Das italienische Cinquecento hätte ver- 
wandten Studien gewiß Geheimnisse aus der Geschichte des 
Barocktheaters verraten. Die Entfaltung des nationalen Dra- 
mas in England, Frankreich, Holland und Spanien sind locken- 
dere Ziele. Aber die Versenkung in die deutsche Vergangen- 
heit läßt einen größeren Zusammenhang doch ahnen. Das 
Drama des Mittelalters ist nicht lautlos verhallt oder nur in 
matten Erinnerungen in der Gestalt von Umzügen, gelegent- 
lich geteilter Bühne und Teufelsszenen dem jungen modernen 
Drama bekannt geblieben, um bald ganz vergessen zu werden. 
Etwas Dauerndes vielmehr und bis heute Wirkendes ist ihm 
entsprungen: die Technik des neuen Dramas. Mittelalter- 
liche Traditionen schmolzen die Einheitsszene des Terenz zur 
alten Freiheit um, sich selbst verzehrend!). So entstand die 
Bühne des Nacheinanders. 

Ganz anderen Wurzeln als das geistliche und humanistische 
Drama entspringt ein Teil des Fastnachtspiels. Der mimische 
Urtrieb des Menschen ist hier unmittelbar schöpferisch ge- 
worden: tanzende Menschen werden gesprächig; ein einfacher 
Dialog tritt ins Leben. 

Für das 15. Jahrhundert ist diese Stufe bezeichnend. Die 
Revueform, wie Victor Michels?) sie sehr anschaulich nennt, 
verlangt keine Bühne. Die Spielschar tritt gemeinsam in das 
Haus, meist eine Schenke, wo man zu spielen gedenkt. Ein 
Ausschreier hebt an; jeder sagt seinen Spruch. Wird es drama- 
tischer, so beschimpft man einander in ungeheuerlichen Worten. 
Brautwerbungen, Wettprahlereien, Prügel und Schmutz sind 
der dürftige Inhalt?). 

Mit dieser Gattung verwandt, wenn auch zu qualitativer 
Steigerung befähigt, sind die Szenen vom Bauerngericht. 
Auch sie lösen in dem Leser zunächst ebensowenig eine Raum- 
vorstellung aus. Aus dem Tanz allein lassen sie sich nicht 
erklären. Literarische Einflüsse sind maßgebend?). 


1) Zu gleichem Ergebnis kommt Schweckendiek, Verl. Sohn, S. 135. Seine 
Arbeit hat überhaupt mit der vorliegenden vieles gemeinsam. Da sie unab- 
hängig voneinander entstanden sind, werden sie sich gegenseitig stützen. 

2) Studien über d. ältest. deutsch. Fastnachtspiel, Straßburg 1896, S. 84 ff. 

®) Creizenach I2, 411 ff. 

*) Kaulfuß-Diesch, 8.7. 


56 I. Entstehung und Entwicklung des Nacheinanders. 


Bewegt sich die Handlung in anspruchsvolleren Bahnen, 
wird eine Vielheit der Orte erforderlich, so greift das Fast- 
nachtspiel des 15. Jahrhunderts zur Simultantechnik, die dem 
großen Neithartspiel!), dem Kaiser und dem Abt?) oder dem 
„Spil von einem arzt und einem kranken paur‘‘?) zugrunde- 
liegt. Diese Anlehnung kann nicht verwundern, ist ja ein 
ganzer Teil der Fastnachtsdramatik, die Arzt- und Quacksalber- 
szenen?) voran, unmittelbar dem geistlichen Drama entwachsen. 
Der Mangel an Dekorationen nimmt den Standorten ihre Sta- 
bilität°). Mit dem Verlassen eines Ortes gilt dieser als auf- 
gehoben. Besitzwechsel aber und damit eine beginnende Suk- 
zession ist nicht zu erkennen. 

Ungeachtet der verschiedenen Wurzeln, aus denen das Fast- 
nachtspiel sich nährt, ist seine theatralische Technik im 
15. Jahrhundert letzten Endes überall die gleiche. Denn auch 
die Revueform ist simultan. Gleichzeitig und sichtbar sind 
alle Mitwirkenden auf dem Spielfeld versammelt. Auf- und 
Abtritt während des Stückes, die Schrittmacher der neuen 
Technik, sind noch nicht gefunden. Nur der Verzicht auf 
Handlung ist es, der, zugleich ein Verzicht auf die Darstellung 
von Raum und Zeit, die Verteilung der Spielergruppe auf ein- 
zelne Höfe und Standorte zu verhindern weiß. 

In der Revueform schreibt Hans Sachs zur Fastnacht 1517 
und 1518 seine beiden ersten Stücke®). Nach einer längeren 
Pause, 1533, beginnt eine neue Periode seines Fastnachtspiel- 
Schaffens. Über den technischen Fortschritt der hierher ge- 
hörigen Texte ist Creizenach’) zu zitieren: ‚Während in den 
beiden ersten Spielen offenbar zu Anfang alle Mitwirkenden 
zugleich eintraten und ihre Standorte einnahmen, herrscht 
seit dem dritten Spiel, also nach der langen Unterbrechung 
in den zwanziger Jahren, die Regel, daß die Personen, dem 
modernen Brauch entsprechend, kommen und gehen, wie es 

ı) Keller, Fastnachtspiele aus d. 15. Jahrh. (Bibl. d. Stuttg. Lit. Ver. 28), 
j, Stuttgart 1853, Nr. 53. 

3) Keller, a. a. O., Nr. 22. 

2) Keller, a. a. O., S. 6. 

*) Creizenach I®, 417. 

6) Kaulfuß-Diesch, S. 8 ff. 


°) Kaulfuß-Diesch, S. 21. 
°) JII, 204. 


Das Fastnachtspiel. 57 


die Situation fordert.‘‘ Hierzu kommt, daß eine festgeprägte 
Raumvorstellung von nun an das Stück durchdringt. Die un- 
vermeidliche Begrüßungsklausel, die auch in den Stücken des 
15. Jahrhunderts das Wirtshaus als Aufführungsort hervor- 
treten läßt!), führt dahin, daß häufig die Schenke selbst zum 
vorgestellten Ort der Handlung wird. In Stück 12 z. B. (1539)?) 
begrüßt der Kellner vom ‚‚teutschen hoff‘ das Publikum als 
Gäste im Auftrag seines Herrn, der zwar auf die Jagd geritten 
sei, ihm aber den Bescheid gelassen habe, er solle ‚‚weins ge- 
nueg auf dragen, Pis es auff morgen frw wil tagen“. Die 
Handlung, eigentlich nur ein lebendiger Dialog, entsteht durch 
den Eintritt der Bauern, welche die wundersame Speckseite 
abholen wollen. Auch Stück 4 (1533) spielt im Wirtshaus. 
Der Geselle will 7 Batzen vertrinken, die er von einem Reiter- 
knaben gewonnen hat. Die Magd soll für ihre Herrin Muskateller 
holen. So treffen sich die beiden in der Schenke. Sie weist den 
Antrag des redlichen Burschen hartnäckig zurück, aber es 
verstreicht darüber soviel Zeit, daß ‚‚das bös weib‘‘, ihre Her- 
rin, selbst nach der Magd zu sehen kommt. Sie schlägt den 
für sie bezeichnenden Lärm, der ihren Mann und schließlich 
auch den Nachbarn herbeiruft. Vers 316 ff. regt die schwan- 
kend gewordene Ortsvorstellung wieder an: 


‚Mein lieber Nachbaur, sag mir nur 

Wie das ich dich so zornig find 

Mit allem deynem Haussgesindt 

Inn dem Wirtshaus auff diesen abend!“ 


Em Ende, nachdem die böse Frau alle vertrieben, entschul- 
digt sich der zurückkehrende Geselle: 


‚Mein lieben Herrn, es ist mein bitt, 


Jr wölt vber mich zurnen nit, 

das sich der hader hat angefangen. 
Ich bin ja nit drumb rein gegangen, 
Sondern in fried vnd eytel gut, 

Bey euch zu han ein guten mut‘ usw. 


!) Vgl. Joh. Pelzer, Die Fastnachtspielbühne v. Hans Sachs, Freiburger 
Diss. 1921, S.3 u. 4. 

2) Sämtliche Fastnachtspiele v. Hans Sachs, herausg. v. Edm. Goetze, 
I. Bändchen, Halle 1880. | 


58 I. Entstehung und Entwicklung des Nacheinanders. 


Bis zum letzten Wort also wird die Vorspiegelung der Reali- 
tät des dargestellten dramatischen Geschehens aufrechterhalten. 

Das ältere Fastnachtspiel der Revueform zieht den Raum 
des Wirtshauses nicht in die „Handlung“ hinein. Es bewahrt 
immer seine Natur als komischer Akt, der zufällig in einem 
Wirtshaus aufgeführt wird. Die ‚Handlung‘ selbst ver- 
zichtet auf Lokalisierung. Das dem beschriebenen Stück 4 
des Hans Sachs thematisch verwandte Stück 4 der Kellerschen 
Sammlung, ‚ein paurenspil mit einem posem altem weib etc.“ 
kann als Beispiel dienen. Die Einleitung nimmt wie bei Hans 
Sachs Rücksicht auf das Milieu: 


„Herr wirt, ich kumm herein gegangen 
Und hoff von euch gar schon empfangen, 
Und lasst mich euch gotwilkum sein 
Und auch mein freunt allsampt gemein, 
Die mit mir sein, als ir wol secht.. .“ 


Aber nun versucht der Dichter nicht, die vorgetäuschte Wirk- 
lichkeit einer Handlung zu dem gegebenen Milieu des Gast- 
hauses in eine innere Beziehung zu setzen, sondern mit der 
Geste eines Konferenciers läßt er den prologisierenden Schau- 
spieler fortfahren: 


„Doch schlisst vest zu, das keines entrin, 
So wil ichs vragen von wort zu wort 
Warumb mich oft auf das narrenort 
Mein weib hat gesetzt...“ 


Doch ehe er noch dazu kommt, gerät er ins Fluchen, worauf 
ihm seine bessere Hälfte die entsprechende Antwort nicht 
schuldig bleibt. Die Worte des Schlusses, die bei Hans Sachs 
noch einmal den Zusammenhang von Inhalt und Milieu zu 
knüpfen sich bemühten, lauten ganz anders: 


‚„Alde mit guter nach darvan! 

Hab wir unzucht bei euch getan, 
Das sult ir uns haben vergut, 

Wenn man itzo gern nerrisch tut 

Zu vasnacht mit mangerlei schimpf.‘“ 


Es ist eben nur ein Fastnachtscherz. Kein Vortäuschen 
wirklichen Lebens, kein Drama, sondern Revue. 


Die Renaissanceform der Bühne. 59 


Erscheint der Unterschied von dem älteren zum jüngeren Spiel 
in technischer Beziehung auch nur gering, so ist er doch hoch- 
bedeutend. Die Neutralbühne ist der ortsbetonten Einheits- 
szene des Interieurs gewichen. Das Revuestück als Sonder- 
form des Nebeneinanders hat sich überlebt. Unmittelbar ist 
der Schritt des Übergangs verständlich: In den Groteskakt 
neutraler Ortsgesinnung, der in Anfang und Schluß traditions- 
gemäß auf das Wirtshaus als Spielraum Rücksicht nehmen 
mußte, dringt mit zunehmender Handlung, in deren Natur es 
ja liegt, sich an Raum und Zeit emporzuranken, die Ortsidee 
des Wirtshauses ein!). Es genügte die Stärkung des Hand- 
lungsstammes oder mit anderen Worten die ‚„Vernatürlichung‘“ 
des angelegten Vorganges, und die bei aller Bewegtheit stets 
ihres spielerischen Wesens bewußte Kabarettnummer mußte 
zum Schauspiel werden, das noch immer den Anspruch erhob, 
in einem äußerlicheren oder höheren Sinne Natur zu sein. Ist 
es nicht eine der tiefsten Anlagen des Kunstwollens der Re- 
naissance, die übersteigerte Gestaltung äußerer Wirklichkeit 
zu mäßigen zugunsten einer höheren und wahreren Natur? 
Heißt das nicht — cum grano salis zu verstehen! — die Gro- 
teske zum Schauspiel machen ? 

Wer in der Technik der Fastnachtspiele aus den dreißiger 
Jahren die Auswirkung der Renaissance verspürt, wird nicht 
erstaunen, daß zu gleicher Zeit die Terenzbühne ihre Herr- 
schaft in Deutschland ausbreitet. (Von 1530 datiert die Leip- 
ziger Hecyra-Aufführung Muschlers.) Verblüffend aber ist 
die technische Analogie beider Erscheinungen. Beiden, dem 
Terenzdrama wie dem Fastnachtspiel dieser Zeit, ist funk- 
tionell die ortsbetonte Einheitsszene eingeboren, dem Kind 
des Südens die Straße, dem Gesellen nordischer Februarstürme 
der Innenraum. Aber die übereinstimmenden Eigenschaften 
sind damit nicht erschöpft. Die Einheit der Zeit, die das Schul- 
drama so vorlaut verkündet und ungenügend beachtet hat, ist 
in den Sachsischen Fastnachtspielen der dreißiger Jahre mühe- 


1) Die zum Leben erweckte Ortsvorstellung greift auch über das Milieu 
des Wirtshauses hinaus. In Nr. 6 z. B. muß sich das Publikum als Gast des 
Vaters betrachten, der vor Zeugen sein Testament zu machen wünscht. Viel- 
leicht aber hängt der Umstand der andersartigen Ortsvorstellung nur damit 
zusammen, daß das Stück für eine Privatgesellschaft geschrieben ist. 


60 I. Entstehung und Entwicklung des Nacheinanders. 


los gestaltet worden. Ein Crocus hätte den Nürnberger Schuster 
darum beneiden können. Dennoch wäre es verfehlt, sie allein 
auf humanistische Einflüsse zurückzuführen. Sachs und die 
Schuldramatiker stehen unter dem gleichen geistigen Zwange 
ihrer Zeit. Wurde das Theater des Mittelalters vom Neben- 
einander beherrscht und ist dem späteren 16. Jahrhundert im 
Norden die dekorationslose, dem Barock die dekorativ aus- 
gestattete Sukzessionsbühne eigentümlich, so gliedert sich nun 
als Ausdrucksform des Theaters der Renaissance die örtliche 
und zeitliche Einheitsszene ein. Die örtliche Einheit der Bühne 
hatten wir als den Schmelzofen erkannt, der das Neben- 
einander zum Nacheinander zu formen vermochte. Die zeit- 
liche Einheit normalisiert die mittelalterliche Zeittechnik des 
wechselnden Maßstabes ‘(s. o. S. 5f.) auf das Einheitsmaß 
realistischer Geltung. Der ‚‚Zeitsprung‘‘, das Tüpfelchen zum 
ı der neuen Technik, ist bei dem mit Akten und daher Pausen 
arbeitenden Terenz bereits zu finden. | 

Aber Terenz geht noch in anderer Beziehung über Sachs 
hinaus. Die Vielheit seiner scenae wurde, wie wir sahen, zum 
Quell der neuen Entwicklung. Auch in das Fastnachtspiel 
dringt in der Folgezeit die sukzessorische Technik ein. In 
Stück Nr. 11 vom Narrenschneiden (1536) sind die ersten zag- 
haften Ansätze sichtbar. Der auftretende Arzt wird von sei- 
nem Knecht darauf aufmerksam gemacht, daß er die Wohnung 
des Kranken verfehlt haben müßte, da in der Stube nur frische 
und gesunde Leute säßen. Der Doktor entschuldigt sich: 


„Weil wir haben verfelt das Hauss 
Bitt wir: legt vns zum besten auss! 
Das nemb wir an zu großem dank.“ 


Aber ehe sie noch abgehen, ‚kumpt der grosspauchet kranck 
an zweyen krucken“. Dennoch scheint der Ort gewechselt zu 
haben. Der Kranke kommt zum Arzt ‚herein‘ und, nachdem 
einige Narren aus seinem Magen entfernt worden sind, will er 
„haymhin sappen“. Man könnte also annehmen, nun in der 
Wohnung des Arztes zu sein. Dann wäre mit dem Auftritt 
des Kranken ein Szenenwechsel ohne Abgang der Personen 
verbunden gewesen. Die örtlichen Verhältnisse aber sind zu 
unklar, um den neuen Stil schon hier sicher erfassen zu können. 


Das Eindringen sukzessorischer Technik. 61 


Völlig greifbar liegt er in Nr. 16!) zutage, das nach einer vier- 
jährigen Pause 1544 eine neue Schaffensperiode des Dichters 
einleitet. Der Schauplatz wechselt zwischen Straße und Innen- 
raum. Auch die zeitliche Einheit wird gestört. Nr. 19 bean- 
sprucht inhaltlich einen Zeitraum von 10 Jahren. Die Bedeu- 
tung des Nacheinanders für die späteren Sachsspiele?) ist be- 
kannt. Seine Entwicklung aber läßt sich aus dem Phänomen 
der eintürigen Interieurszene nicht begreifen. Man wird wohl 
Einflüsse der Standszenenbühne anzunehmen haben. 


1) Creizenach III?, 221. 
2) Über den „farendt schueler“ vgl. Pelzer, a. a. O., S. 23. 


I. Kapitel 


Die Rückwirkung der Terenzbühne auf das 
volkstümliche Spiel 


Wo das Mittelalter die Flächenbühne verwendet, sei es im 
Festhalten an der in der Beschränkung erwachsenen Form der 
„Chor- oder Kreuzschiffbühnet)‘‘ oder in der Erfüllung des 
drängenden Geistes von morgen, werden die bisher räumlich 
angeordneten Dekorationen im wörtlichsten Sinne ‚‚nebenein- 
ander‘‘gestellt (Rouen 1474). 

Gleichsam als Ersatz für fehlende klare Illustrationen zu 
Aufführungen früheren Datums wird gern die Miniatur des 
Robert Cailleau?) von der Passionsbühne zu Valenciennes 
(1547) herangezogen?). Aber diese späte Inszenierung eines 
großen geistlichen Dramas wird nicht mehr überwiegend aus 
mittelalterlichen Kräften bestritten. Mit Recht hat Borcherdt 
(S. 20 f.) angeregt, hier Einflüsse der Terenzbühne zu erkennen. 
Denn mit den plastischen Dekorationen des Paradieses, des 
Sales (,‚L’ostel du Monde‘), Tempels, Palastes und der Hölle 
— die Miniatur ist wesentlich vereinfacht — ist die Szenerie 
nicht erschöpft. In einer stadtmauerähnlichen Abschlußwand 
befinden sich die Tore Jerusalems und Nazareths, des ‚Maison 
des Evesques‘‘ und die Porte doree. Nicht mehr das ganze 
Theater gibt sich dem Auge hin. Nicht mehr die ganze Hand- 
lung enthüllt sich lückenlos. Der Spieler geht ab und tritt 
hervor. Standorte haben den sichtbaren Teil des Theaters ver- 
lassen und werden von einer Türe vertreten: die Standszenen- 
bühne ist eingedrungen. | 


ı) Hammitzsch, S. 5f. 

2) Bühnenbild, 14. Eine Replik bei Cohen Mons, Tafel V. 

3) Creizenach I, 167, Literaturang. b. Cohen Mons, S. LXXXVI, Anm. 
Petersens eigenartige Ansicht (S. 10) wird von Borcherdt (S. 20) bestritten. 


Das Kölner Laurentiusspiel. 63 


Eine entfernte Verwandtschaft mit dem Theater von Valen- 
ciennes wird der Bühne des Kölner Laurentiusspiels von 1581!) 
beigemessen. Niessen?), der uns mit Bild und Stück bekannt 
gemacht hat, wird sowohl den mittelalterlichen wie den mo- 
dernen Eigenschaften der Inszenierung vollauf gerecht. Es 
kann sich hier nur darum handeln, den Grad der Terenznähe 
oder, wenn man bei den Pariser Beziehungen des Autors Ste- 
phan Broelmann an eine Entwicklung französischer Sonder- 
formen glauben will®), den Fortschritt im Vergleich zu Valen- 
ciennes festzustellen. Handelt es sich dort um ein ‚Passions- 
spiel‘, das mit der Terenzbühne in Berührung kam, so hier 
umgekehrt um ein Schuldrama jesuitischer Färbung, das die 
Alten nach Herzenslust plündert und nur, um größeres Ge- 
pränge entfalten zu können und auf das Volk zu wirken, zu 
altertümlichen Formen greift. Nur der Inhalt berechtigt, von 
einem geistlichen Drama zu sprechen. Formal an der Antike 
geschult, erstrebt das Stück die Einheitsszene des 
Außenraums (Markt), verlegt einen Teil der Handlung hinter 
die sichtbare Bühne, verteilt die scenae an bestimmte Besitzer 
und erinnert auch sonst lebhaft an Terenz. Wäre keine Ab- 
bildung erhalten, so hätte man bei einer Rekonstruktion nur 
an die Standszenenbühne denken können. Der Opferaltar, die 
statua jovis und der Mons Caelius ist als Rest der geteilten 
Mysterienbühne aufzufassen, dem Schmidt?) für das Schul- 
theater ein besonderes Kapitel gewidmet hat. Simultan übri- 
gens kann man das Nebeneinander dieser Ausstattungsstücke 
kaum nennen, da die gedachte Wirklichkeit nicht allzu sehr 
von den Maßstäben der Bühne abweicht. Simultan aber ist 
das Zusammenlegen in der Natur weit entfernter Häuser auf 
ein Proszenium. Daß der Dichter die Grenzen Roms nicht 
überschreitet, beweist immerhin sein Bestreben, das Gesetz 
der örtlichen Einheit zu wahren. Gewiß war er sich der In- 
kongruenz nicht bewußt, die ein Nebeneinander der scenae 
des Oberpriesters, Kaisers, Prätors, Kerkermeisters, Papstes 
usf. im Grunde bedeutet. 


1) Bühnenbild, 14. 

2)S. 23ff. Vgl. auch Borcherdt, S. 19 f. 
3) Flemming, S. 279 f. 

4) 8. 157 ff. 


64 II. Die Rückwirkung der Terenzbühne auf das volkstümliche Spiel. 


Die Bühne des Kölner Laurentiusspiels ist also als eine der 
terenzianischen Einheit des Ortes zuneigende Standszenen- 
bühne zu bezeichnen. Was durch Festhalten am klassischen 
Vorbild und an der fremden Sprache an Wirkungsmöglich- 
keiten verloren ging, sollte durch Dekorationen, farbige Ko- 
stüme und nie gesehene Geräte zurückgewonnen werden!). 
Da es Ansätze zu einer perspektivischen Theatermalerei in 
Deutschland kaum gab, konnte sich Broelmann nur an das 
mittelalterliche Dekorationswesen halten. Er ging darin aber 
nicht so weit, die Funktionen der Standszenenbühne gänzlich 
zu verwischen. Im wesentlichen bestand die Dekoration in 
einer realistischeren Umrahmung der scenae, als die Holz- 
schnitte der Terenzausgaben es uns lehren. Mittelalterliche 
Elemente sind nur der offene Carcer?) und der Mons. Die 
Ausgänge in die Ferne sind auf die rechte Seite der Bühne 
gelegt. Der Zweck der Seitenwand an Stelle von Treppen, 
den vorderen Abgang zu ermöglichen, wird von der Porta Ca- 
pena verkörpert. Ihr gegenüber haben, da man einen linken 
Ausgang entbehren konnte, weitere Häuser Platz gefunden. 
Das Vorhangsystem ist das gleiche wie auf den Hauptansichten 
zu Rassers ‚Spil von kinderzucht“. 

Ein Unterschied zwischen der Laurentius- und der Stand- 
szenenbühne im bisherigen Sinne besteht allein darin, daß das 
beiden gemeinsame funktionelle Nebeneinander des Stand- 
szenenprinzips auf der Kölner Bühne eine dekorative Aus- 
gestaltung gefunden hat, während unsere Vorstellung der Stand- 
szenenbühne von der Rekonstruktion Schmidts angeregt wird. 
Die Möglichkeit eines plastischen Turmes bei Aal und eines 
Kerkers bei Gart hatte ich selbst erwogen. Aber auch sonst 
trifft man in terenznahen Schuldramen auf Requisiten und 
Dekorationen: auf eine Zisterne?), Baum oder Galgen, Stühle 
und Tische?), Höllenrachen, Altar und Berg5) oder gar ‚ein 

1) Die Laurentianer Burse stand in edlem Theaterwettstreit mit dem Gym- 
nasium Trium Coronarum der Jesuiten. 

») Einen ‚„‚Ansatz zur Umbildung‘ kann ich entgegen Flemming im Kerker 
nicht erkennen, sondern nur ein Rudiment. 

2) Z. B. bei Gart und Jordann (Niessen, S. 51). 

“) Z. B. in Rebhuhns Susanna (Schmidt, S. 158) oder Genneps Homolus 
(Niessen, S. 49). 

5) Schmidt, S. 163 £. 


Das Laurentiusspiel: Standszenenbühne mit Dekorationen. 65 


gartlin ..., mit meyen, gross unnd ein schon rohrbrünn- 
lein!)‘“. Daß die Standszenenbühne, indem sie das mittelalter- 
liche Standprinzip auf die Terenzscena überträgt, zugleich zu 
Dekorationen greift, kann nicht verwundern. Man muß die 
Kölner Laurentiusbühne geradezu als Typus der mit 
Dekorationen arbeitenden Standszenen- 
bühne betrachten, dessen Gegenstück die dekorationslose 
Standszenenbühne ist, die zwischen dem Lyoner und Rasser- 
typ schwankt. Natürlich sind auch hier wieder Mischformen 
denkbar und vielleicht gerade verbreitet gewesen. Stellt man 
sich in der ‚Comoedia‘‘ des Ensisheimer Pfarrers ‚die Jeroso- 
limischen Porten‘‘, wie es unentbehrlich ist, und vielleicht auch 
die Stadtmauer dekorativ angedeutet vor, so wird eine Über- 
gangsform offenbar. Zwischen der Stilbühne und dem älteren 
Dekorationssystem sind die Brücken nicht abgebrochen: des- 
selben Rasser Spiel von den drei evangelischen Parabeln wird 
in Dortmund in mittelalterlicher Weise inszeniert?). | 
Die Bühne des Kölner Laurentiusspieles hätte streng ge- 
nommen im ersten Kapitel dieser Arbeit behandelt werden 
müssen. Sie repräsentiert nicht den Einfluß der Terenzbühne 
auf das ältere Theaterwesen, sondern umgekehrt die umgestal- 
tende Kraft der Tradition. Ihre Behandlung an dieser Stelle 
rechtfertigt sich nur daraus, daß nach der bisherigen Ansicht 
der Forschung ‚‚die Kindschaft der Laurentianer Bühne nach 
der Art Valenciennes‘ (Flemming) feststeht. Meines Erach- 
tens kann diese Deutung nur innerhalb einer systematischen 
Betrachtung der Bühnenformen aufrechterhalten werden: 
beide sind flächige Simultanbühnen°), wobei der Begriff des 
Simultanen beim Kölner Spiel allerdings erheblich einzu- 
schränken ist?). Genetisch ist ein Zusammenhang nicht nach- 
zuweisen. Dort ein Passionsspiel, das neben der unbeschwert 
verwendeten mittelalterlichen Dekorationskunst für die Ge- 
staltung des rückwärtigen Abschlusses Anregungen von der 


1) Bolte, S.LXXX. 

2) (1582) A. Döring, Joh. Lambach und d. Gymnas. in Dortmund, Berl. 
1875, S. 116. 

3) Vgl. Stumpfl, S. 59. 

*) Schweckendiek, Verl. Sohn, prägt für die gemäßigte Simultanität der 
terenznahen Bühne den Ausdruck „natürliche Nachbarschaft“. 
Th. F. 41. 5 


66 II. Die Rückwirkung der Terenzbühne auf das volkstümliche Spiel. 


Terenzbühne empfängt, hier ein terenzianisches Schuldrama 
mit dem ausgesprochenen Streben zur Einheitsszene des Ex- 
terieurs, das zu volkstümlichen Dekorationen greift: Ausgangs- 
punkt und Wege sind verschieden. 

Um die entfernteren Auswirkungen der Terenzbühne zu be- 
obachten, wenden wir unseren Blick dahin, wo sich die mittel- 
alterliche Theaterkunst in herbstlicher Nachblüte entfalten 
konnte: in das Elsaß und die Schweiz. Bei Boltz z.B. — um 
mit einem bekannten Vertreter der Simultantechnik zu be- 
ginnen!) — fällt auf, daß neben offenen auch geschlossene?) 
Häuser verwendet werden, die den Abgang von Personen er- 
möglichen. Allein da auch das Mittelalter in seltenen Fällen 
geschlossene Häuser benutzte, ist hier ein Einfluß der Terenz- 
bühne nicht unbedingt erwiesen. 

Anders ist es in der „Tragedi.... Vom großen abentmal vnd 
den zehn Junckfräwe .. .?)‘‘ des Alexander Seitz. Eine ‚„‚bruck“ 
stellt das Haus des Vaters dar, in dem der größte Teil des 
Stückes spielt. Sie ‚‚sol vnderscheiden sein mit einem thor / 
damit ein vorbruck / daruff etlich sprüch gesprochen werde. 
Item vff der einen seiten der bruck& / sol vff gericht sein ein 
kuchin / vff der ander& ein helde / darunter die hochzeit vnd 
mal gehalten werde.‘ | 

Schmidt beurteilt S. 157 diese Beschreibung dahin, daß 
Seitz „völlig bei der alten Bühne‘ bleibt. Aber schon der Aus- 
druck ‚„vorbruck‘ setzt einen Richtungsbezug voraus, der die 
Gegenüberstellung von Bühne und Publikum wahrschein- 
lich macht. Der gelegentliche Abgang von Personen und die 
Schilderung hinter der Szene geschehener Vorgänge?) spricht 


1) Vgl. Creizenach III?, S. 247. 

2) Sant Pauls bekehrung, 1546, z.B. D4b: „Jetzt klopfft Symeon vor 
dem huss Zachei/vnd spricht: ’Hoho/hoschenho/ist niemans dhaim? . . .‘ 
Zacheus lugt oben zum Fenster vss hin/vnd spricht: ’Myn güter fründt was 
lyt üch an? Wartend, ich will dye thür vff than‘... Zacheus thuth die thür 
vff/vnd spricht.“ 

°) 1540, Straßburg. Vgl. Goedeke, II?, S.390 und Creizenach III2, S. 266 £.; 
der „kurtze bericht‘ abgedr. b. Bolte, S. LXXVII £, 

*) Ganz deutlich B3a. Der Vater: „dabey wollen wirs lassen ston Zü 
vnser preütleut hinin gon/Mit jnen rath weiter haben Was fründ sie doch 
wollen laden.‘“ Die Spielanweisung des Abgangs fehlt. Unmittelbar schließt 
sich — das Stück kennt keine Gliederung — die nächste Szene an. Preütigam: 


Seitz: Tragödie vom großen Abendmall ... 67 


für einen — wenn auch entfernten — Einfluß des Terenz. 
Im übrigen ist die Bühne eine Art Einheitsszene. Man wird 
sich also ein Podium mit Rückabschluß zu denken haben, der 
von einer Türe oder einem Schlitz durchbrochen wird. Links, 
nach vorn oder besser dreiseitig geöffnet, ist die Küche!), rechts 
die offene Laube, davor ein Zaun (?) mit einem Tor, das im 
Stück die Rolle des Eingangs zu den Räumen des Gastgebers?) 
spielt. Außerdem sind Treppen nötig, welche die Geladenen auf 
die Bühne führen. Etwa ein solcher Grundriß kommt in Frage: 


Abschluß- 
wand 


Spielfläche 
(ohne Um- 
risse der 
Küche u. 
Laube) 


Treppe Treppe 


Abb. 1. Entwurf eines Bühnengrundrisses zu Seitz, Trag. v. gr. Abend- 
mahl u. d. zehn Jungfrauen. 


Stellt man sich Küche und Laube in mittelalterlichen In- 
terieurdekorationen vor, so erinnert die Bühne im kleinen an 


„betre/Paule gangen harbey Johannes/vnd wer unser knecht sey.‘““ Sie fol- 
gen dem Rufe. Er erzählt ihnen, daß Jacob die Reichen vergeblich geladen 
habe. ‚Daruff hat mein vatter vnd ich Auch Jacob unser fründ des glich /Mit 
einander rath beschlagen Wen wir wollen weiter laden/...“ 

1) Sie könnte auch geschlossen sein oder hinter der Abschlußwand liegen, 
wenn die Bühnenbeschreibung des ‚„berichts, wie man dise Tragedi ... . ord- 
nen wolle“ dem nicht entgegen wäre. In der Küche selbst wird jedenfalls 
nichts gesprochen: „Vn soll Petrus alleyn in die kuchin lauffen/die anderen 
Apostel sein vff der vorbruck warten. Vnd im wider heraus lauffen/sol er 
zü jnen also sprechen‘ (B4b) oder „Jetz sol Johannes auch lauffen in die 
kuchin/vnd eylends wider herauss/ ... .“ (Böa). 

2) „It& so er (d. i. der Pharisäer, der unter dem geistlichen Kleid’ eine 
kriegerische Rüstung trägt) gestoßen wird für das thor/so ersicht er den 
teüffel dort ston/.....“ (Cla). 


5* 


68 II. Die Rückwirkung der Terenzbühne auf das volkstümliche Spiel. 


Valenciennes. Natürlich kann man hier nur in einem be- 
schränkten Sinne von Simultandekorationen sprechen. Der 
bezeichnende Unterschied aber liegt darin, daß die Brücke in 
der Tragödie vom Abendmahl nur ein Teil des Gesamtspiel- 
raumes ist. 

„Und wan sie kommen zü der brucken / so solle ein jeder 
part zieh an jr verordnete statt / vnd warten / bis sie wider 
durch den trumeter vff der bruck beröüffen wirt / Vnd sollen 
die zwen Keyser jeder zü eim besonderen thor sich zü wend®.“ 
Die Höfe also befinden sich außerhalb der eigentlichen Bühne. 
Erst der Trompeter ruft die Spieler auf die Brücke. Julianus 
und Trajanus haben jeder ihren besonderen Stand. Wer sonst 
noch einen eigenen Hof besaß, geht nicht recht deutlich hervor, 
jedenfalls wohl die beiden Parteien der Jungfrauen. Aber 
nicht nur Stand, sondern auch Spielort war der Platz in 
der Nähe des Podiums. Hier irgendwo steht am Anfang der 
„verkeuffer“. Hier laufen die ‚fünff junkfrauen ... . züm 
kremer ... d’ein krom sol vffgesch(lJagen hon“ (G 5af). 
In den Gassen sammeln die Apostel die begehrten Gäste!). 
Auch eine Hölle muß es gegeben haben, in die der Pharisäer 
hineingezogen wird. Auch die törichten Jungfrauen müssen 
daran glauben: ‚Uff soliche sollent die Teüffel ynher rauschen 
mit einer ketten / vnd sie da mit vmbgeben / vnd hin- 
reissen .. .‘“ (H 1b). 

Höfe, Krämertisch und Hölle haben also irgendwo in der 
Nähe des beherrschenden Podiums Platz gefunden, in flächen- 
hafter oder auch räumlicher Ordnung. Man könnte an den 
Plan zum Luzerner Österspiel von 1583 erinnert werden, allein 
die Brunnenbrücke spielt in dem weiten Komplex der alter- 
tümlichen Brückenanlage nur eine untergeordnete Rolle, wäh- 
rend die ‚„bruck“ bei Seitz Träger der Hauptszenen ist2). 

Hans Salats?) ‚‚parabel oder glichnus. .. von dem Verlorenen, 


ı) „Vff das sollen die Apostel sich zerteylen/in die gassen zülauffen/vnd 
bald wider kommen/vnd die gest bringen“ (B4b). 

2) Deshalb nimmt die Gesamtanlage der Bühne bei Seitz weniger Raum ein. 
Die Aufführung könnte daher — wie es wohl auch wahrscheinlich ist — in 
einem geschlossenen Raume stattgefunden haben. 

s) Vgl. Hans Salat, Sein Leben und seine Schriften, herausg. v. Jak. Baech- 
told, Basel 1876. 


Salat: Der Verlorene Sohn. 69 


oder Güdigen Sunt)‘ (1537) läßt eine verwandte Bühnenordnung 
erkennen. Neben jenem Teil des Theaters, der den Hauptszenen 
gehört, gibt es als zweites Spielfeld den ‚‚platz‘‘. Dort steht ein 
„Örtlizellt‘2), in dem Prodigus sich aufhalten kann, wenn er 
nicht zu spielen hat. Dort sieht er ‚‚den vorigen friheit sitzen‘, 
der ein Stück Brot gern gegen die reichen Kleider des verlorenen 
Sohnes tauscht. Dort wird auch der Bürger wohnen, bei dem 
sich der Herabgekommene als Schweinehirt verdingen möchte. 

Der andere Teil der Bühne — von einem Podium ist nirgends 
die Rede — ist Träger eines zweimaligen Szenenwechsels. Er 
stellt am Anfang und Ende des Stückes die Gegend vor dem 
väterlichen Hause dar, das in terenzianischer Weise geschlossen 
zu sein scheint®). Unweit steht ein Tisch, auf den der Vater 
den Anteil des jüngeren Sohnes schüttet?). Die nächste Szene 
spielt größtenteils im Innern des Wirtshauses, wo Prodigus das 
väterliche Geld verpraßt. Allein das Interieur wird nicht be- 
tont. Der verlorene Sohn kommt nach Beginn der Szene vom 
„platz‘‘ her und geht einfach ‚zum tisch .... und redt“. Die 
Eintrittsklausel holt der Wirt verspätet nach: „Gott will- 
kumm! herin min lieber gast!‘ Als Prodigus ‚‚fröwli, senger 
und seitenspil‘“ herbeiwünscht, ‚‚gat der wirt, da er ein ander 
bübentischli findt‘“, — ein Ort, über dessen Natur wir nichts 
erfahren. Das dort versammelte ‚‚gsödli‘ bringt er „zum tisch‘ 
und stellt dem Junker die Gesellen vor. Sie mögen noch etwas 
ferne stehen, denn Prodigus sagt: ‚das sind recht gest, lass 
inhar gan!‘ Die zwischen Interieur, Außenraum und Neutrali- 
tät schwankende Raumvorstellung erinnert sehr an die auf 
dem neutralen Proszenium gespielten Innenraumszenen der 
Standszenenbühne, ist jedenfalls dort nicht möglich, wo ein 
Interieur eindeutig dargestellt wird. 


1) Neudruck v. J. Baechtold i. Geschichtsfreund, 36, 1881, S. 1 ff. 


2) Nach V. 394: „So er dann wol usshar in platz kumpt .. .“, nach 404: 
‚Gat dann etwann an ein Örtlizellt‘“‘. Oder nach 2008: ‚,. ... so kund unser 
sun uf den platz... ..‘“ und nach 2277: „Gat etwan an ein klein örtli, setzt 
sich“, 


®) Nach 352: ‚Der vater und elter sun gond ins hus hinin.‘“‘ Der Vater 
spricht erst wieder, als er das Haus verläßt: „Der Vater bringt fürher und 
redt darzwischen zum eltern sun.“. 

*) Nach 374: „‚dem nach gat der vater herfür, schütt den Teil etc. uf den 
Tisch und redt.... .‘“ Siehe auch nach 384. 


70 I. Die Rückwirkung der Terenzbühne auf das volkstümliche Spiel. 


Beide Szenen, die in der Heimat wie in der Fremde, werden 
durch eine oft zitierte Spielanweisung verbunden (nach V, 
S. 510): „Nun kompt die rüstung der anderen landschaft etc. 
Da sitzt ein tisch voll gsellen, so faht einer an... .‘‘ Genee, 
Heinzel, Bolte, Mauermann u. &. deuten sie im Sinne eines 
Wechsels der Dekorationen!). Mir scheint sie auszusagen, daß 
die Gruppe der Zecher durch das Öffnen eines Vorhanges ent- 
hüllt wurde. Man kann an eine erweiterte sceha der Terenz- 
bühne oder in diesem Stücke besser an das durch einen Vor- 
hang verschließbare Weihnachtshüttlein des Luzerner Oster- 
spieles denken. Der Tisch, auf dem der Vater zuvor des Sohnes 
Erbe häufte, versammelt nun das ‚„völkli‘‘ der Spielleute und 
„hüerlin“. Seine Aufstellung auf dem Proszenium und das 
offene Interieur des Wirtshauses machen die räumlichen Un- 
klarheiten verständlich. Die Zurüstung der anderen Land- 
schaft besteht also in der Stellung der Trinkergruppe hinter 
dem Vorhang, dem Beschicken des ‚‚bübentischlis“, der — 


ı) Anders Schweckendiek, Verl. Sohn, S. 31. Der Verf. rekonstruiert die 
Bühne ganz nach Art des OÖsterspiels auf dem Weinmarkt in Luzern. Dem 
ist folgendes entgegenzuhalten: 
1. Es ist lediglich eine Vermutung, daß Salat an den Weinmarkt als Spiel- 
ort gedacht hat. (Das Zitat S. 32 könnte sich auch auf jedes andere Lokal 
beziehen, wo zuvor das durch das angeführte Zitat ermittelte Spiel statt- 
gefunden hat, oder auch ganz allgemein auf das Heilige Land.) 
2. Beim Lesen des Stückes gewinnt man nicht den Eindruck, daß der 
Dichter eine sehr großartige Inszenierung im Auge hatte. Raum- oder Geld- 
mangel vielleicht haben Salat veranlaßt, eine — wie sie sich mir darstellt — 
bis zu einem gewissen Grade fortschrittliche Bühne zu wählen. 
3. Die vielgenannte Spielanweisung „von der Rüstung der anderen Land- 
schaft‘, die der Schlüssel zu der Inszenierung zu sein scheint, findet bei 
Schweckendiek eine sehr unwahrscheinliche Deutung. Daß man die „andere 
Landschaft‘ erst während des Spieles zurüstete (indem man einen Tisch auf 
die Brunnenbrücke stellte), nur, damit der Tisch dem Zuschauer auf der Hecht- 
seite nicht vorzeitig den Blick versperre, kann keiner glauben, der die Rolle 
derselben Brücke im Osterspiel kennt (s. o. S. 8f.). Der Tisch kann den 
Blick übrigens gar nicht gehindert haben, wenn das Zuschauergerüst hoch 
genug war. 
4. Schweckendieks Annahme, daß dem Vater, wenn vielleicht auch nur 

andeutungsweise, ein besonderes Haus zukommt, läßt sich weder beweisen 
noch widerlegen. Nur bleibt in diesem Falle die Frage offen, warum die Wirts- 
hausszene dann erst zugerichtet zu werden braucht. Der Vater könnte sehr 
wohl wie Prodigus, wenn er nicht zu spielen hat, einen eigenen Stand be- 
sitzen, der nicht zugleich Spielort ist. 


Spichtig: Das Dreikönigsspiel. 1 


wie gesagt — auf offenem Proszenium steht, und dem Auf- 
ziehen des in der ersten Szene noch geschlossenen Vorhanges 
vor dem Hause des Vaters oder Wirtes. Eine Sukzession der 
Ortsvorstellungen findet statt, ein Nacheinander von 
Dekorationen nurin sehr beschränktem Sinne. 

Wo die Standorte der Hirten, des Landvogtes und seiner 
Räte, des Teufels, des alten und jungen Bruders usw. unter- 
gebracht werden, erfahren wir nicht. Vielleicht erfüllten. sie 
den „platz‘‘, auf dem wir schon ein Örtlizellt, die Wohnung 
des Bürgers und den Ort des Friheit angetroffen hatten!). 
Dieser Teil des Spielfeldes erinnert lebhaft an den mittleren 
Ort oder Kreis des geistlichen Schauspiels, der von Stand- 
plätzen umgeben war. Die andere Teilfläche des Spielraumes 
fordert zum Vergleich mit der Luzerner Brunnenbrücke auf. 
Beiden ist die sukzessorische Technik eigen. Beide kennen 
eine offene Interieurdekoration mit Vorhangverschluß, aber 
bei Salat trägt dieser Abschnitt der „Bühne“ wie bei Seitz 
den größten Teil der Handlung. Die simultane Welt ist nur 
ein Appendix. Der Verlorene Sohn von 1537 ist fortschritt- 
licher als das Osterspiel vom Jahre 1583. 

Ob dem Wald, wo Hans Salat in Alpnach mehr als ein Jahr- 
hundert zuvor die ‚„urstend‘“ gespielt hatte?), schrieb Peter 
Spichtig im Dorfe Lungern 1658 sein Dreikönigsspiel?). Die 
allgemeinen Zusammenhänge des Unterwaldener Volkstheaters 
mit der Luzerner Jesuitenbühne hat Heß) verfolgt. Bühnen- 
geschichtlich liegen diese Beziehungen auf der Hand. Wie der 
Spielraum im Verlorenen Sohn und in geringem Maße im 
Osterspiel setzt sich auch das Theater Spichtigs aus zwei deut- 
lich unterschiedenen Teilen zusammen: dem ‚plahn‘‘ oder 
„platz‘‘®) und der ‚„brüge“®). Auf dem Plan treffen sich die 
drei Könige, die aus verschiedenen Gassen aufziehen, beschlie- 


ı) Vgl. Schweckendiek, Verl. Sohn, S. 39, Abb. 

3) Baechtold, Salat a. a. O., S. 56. 

) Herausgeg. v. Franz Heinemann, Geschichtsfreund 56, 1901, S. 153 ff. 

*) P. Marianus Rot, Basel 1927, S. 44. 

5) Vor V. 125: „König Melchior ziecht mit sei’'m Volk auf den platz.‘ 
Nach V. 335: „König Balthasar .. . zeucht mit seinem mohren auf den plahn.‘“ 

°, Nach V. 676: „All hie werden die H. H. 3 Konig mit Seitenspihl auf 
brüge für den Thron Herodis geführt.“ Nach V. 1416: „Sy ziechen von 
einandren ab der brige.““ 


72 U. Die Rückwirkung der Terenzbühne auf das volkstümliche Spiel. 


ßen die Hirten, ihren „blinden g’spanen“ zu holen, um dem 
Christkind ein Liedlein zu singen, und mahnt der Engel die 
drei Weisen, ‚des Herodis hoff zu meiden‘. Die Brücke ist 
den Herodesszenen vorbehalten (I 3, 5, 6; II 1, 3, 4, 5, 6; 
III 1, 2, 5), die ungefähr die Hälfte des vieraktigen Stückes 
bestreiten. 

Die dramatische Technik des sukzessorischen Stiles ist über- 
all in die Dichtung eingedrungen. Die Handlung wird in Ab- 
schnitte zerlegt, die von komischen Szenen oder Szenen eines 
anderen Handlungsstammes unterbrochen sind. Wenn die 
Heiligen Drei Könige den Palast des Herodes verlassen, also 
‚„&b der brige“ auf den Platz ziehen und der Engel ihnen den 
Weg zur Krippe weist, so schließt sich nun nicht wie im äl- 
teren geistlichen Spiel die Reise nach Bethlehem an. Die Spiel- 
anweisung lautet: ‚Hie ziechen sye fort.‘“ Gott-Vater lenkt 
durch einen religionspolitischen Monolog von der Dreikönigs- 
handlung ab. Dann ‚‚wicklen‘‘ die Teufel in den zwei folgen- 
den Szenen ‚„Herodem wider Christum den herren auf in dem 
Traum“. IV, 1 bringt ein „Gespräch mit ihne selbsten des 
Heiligen Josephs von der armutt Christi‘. Und nun erst (IV, 2) 
laden ‚die H. H. Drey König ihre schötz vor dem Stahl ab“ 
und klopfen an (IV, 3), um das Kindlein anzubeten (IV, 4). 
In mittelalterlicher Weise entwickelt sich als Parallelszene das 
Gespräch der Hirten. Die abziehenden Könige wollen im näch- 
sten Wirtshaus übernachten. In IV, 5 beschließen die Hirten, 
ihren blinden Kameraden zu holen. IV, 6 bringt die Bot- 
schaft des Engels an die schlafenden drei Weisen, von deren 
Unterkunft wir nichts vernommen haben. Und nun erst singen 
die Hirten ‚dem geborenen Heiland ein lied“. So sind die 
Szenen durcheinandergeflochten, als wären sie für die Auf- 
trittsbühne gedacht. Hier aber spielen sie, wie es scheint, 
nebeneinander auf dem geräumigen Plan. Die stumme Par- 
allelszene!) muß als Auskunftsmittel dienen. 

Und nun zum Leben auf der Brücke! In V, 303 wird der 
König vom Narren herausgerufen?); in V, 528 läßt Herodes 
seine Ratgeber zu sich kommen?°); am Ende der Szene heißt 


ı) Vgl. Heinzel, S. 49 ff. 
2) „Herr küng! e kley stoss usen d‘nasen !“ 
s) „Lauf‘, rüeff meine Rhatgeber gschwind, .. .“ 


Spichtig: Das Dreikönigsspiel. 73 


er alles zum Empfang der Weisen bereiten und entfernt sich 
unter der sonderlichen Motivierung: „Entzwüschen wil ich gen 
raht schlagen, Was ich zu ihnen guts kön sagen.“ Nach der 
Begrüßung II, 1 werden die Gäste und die beiden Räte durch 
den Vorschlag des Königs entfernt, dessen Schätze zu besich- 
tigen. Der Narr geht in die Küche, nach dem Mahl zu sehen, 
der Bote soll den neugeborenen Judenkönig in den Straßen 
erfragen. Erst nachdem die Bühne geleert ist, kann Herodes 
den kräftigen Monolog halten, der seine Verstellung völlig ent- 
hüllt. Eine Teufelsszene schiebt sich ein. Dann wird unter 
allerhand Späßen der Tisch gedeckt. Als es geschehen, heißt 
der Hofmeister die Gäste kommen. Nach dreihundert Versen 
Scherz und Schmaus wird ‚‚die mahlzeit beschlossen vndt von 
Tisch aufgestanden‘. In III, 1 eröffnet Herodes den Heiligen 
Drei Königen, daß er mit ihnen im geheimen zu reden habe: 
„Kompt mit mihr an ein andres ort!“ ‚Sey gehen hinweg 
vnd legt die Jüdin ihre Kaufmanschafft aus vnd spricht,“ an- 
'scheinend also auf der Brücke. Es geht toll her. Schließlich 
verjagt sie „den mohren mit der ofengablen, nimpt ihren 
grimpel vnd geht; der Mohr kompt wider ... .“‘, sagt eine 
Bosheit über die Weiber und macht sich rasch davon. In III, 2 
trennen die Weisen sich von Herodes und ‚‚ziechen ab der 
brige‘‘, wodurch der Plan als Spielfeld wieder in Erscheinung 
tritt. 

Die ausführliche Darlegung der Vorgänge auf dem Podium 
unterrichtet über dessen Charakter. Ein Rückabschluß, welcher 
Abgänge und Auftritte ermöglichte, war vorhanden. Gegen- 
überstellung von Publikum und Bühne ist die notwendige 
Folge. Da die auf der Brücke spielenden Szenen, abgesehen 
von dem Kaufmannsstand der Jüdin, ein ausgesprochenes In- 
terieur vertreten, wird es auf dem Boden der Luzerner Tra- 
dition an einer dekorativen Andeutung nicht gefehlt haben. 
Sukzessorisch stellt die Bühne den Thronsaal des Herodes, 
den Speisesaal, einen Markt oder Laden, ein geheimes Zimmer 
und das Schlafzimmer des Königs dar, ohne auf den Wandel 
der Örtlichkeit wahrscheinlich anders als durch Requisiten 
(Thron, Tische, Gerümpel der Jüdin, Bett [?]) Rücksicht zu 
nehmen. 

Die Gesamtanordnung des Spielraumes erinnert an Seitz: 


74 II. Die Rückwirkung der Terenzbühne auf das volkstümliche Spiel. 


auf dem Plan ein simultanes Leben, auf der Brücke dort eine 
Einheitsszene, hier Sukzession!). Aber im Unterschied zu Seitz 
und Salat sind auch die simultanen Szenen Spichtigs mit mo- 
derner Technik durchsetzt. Sie tanzen durcheinander, als 
wären sie Kinder der sukzessorischen Bühne. 

Ich will die bühnentechnische Analyse altertümlich gerich- 
teter Stücke nicht fortsetzen. Das Ergebnis ist notwendiger- 
weise gering. Es sind zwar allenthalben gewisse Angleichungen 
an das fortschrittlichere zeitgenössische Theater wahrzunehmen 
— auf die Gegenüberstellung von Bühne und Publikum z. B. 
läßt sich bei Montanus, Birk, Sunnentag, Heros u. a. schließen — 
einen Beweis aber dafür, daß hier nicht eine Entwicklung aus 
eigener Wurzel vorliege, sondern fremde Einflüsse wirksam ge- 
wesen seien, habe ich nicht gefunden. 

ı) Wo das Weihnachtshüttlein gestanden hat, läßt sich nicht mit Gewiß- 
heit sagen, doch kann man an die im IV. Akt unbenutzte Brücke denken. 


Der Himmel hatte seinen Platz der Krippe gegenüber. Zwischen beiden 
schwebte an einem Draht der Stern. 


III. Kapitel 
Das frühe Jesuitentheater und seine Ableger 


Hinter- und Oberbühne, gestaltlich und funktionell, wo sie 
in Erscheinung treten, von höchster Bedeutung, sind still- 
schweigend bisher übergangen worden. Die für diese Studien 
zentrale Entwicklungsreihe Terenzbühne — Standszenenbühne 
— Meistersingerbühne hatte auf eine durchgehende Ausbildung 
jener beiden Faktoren verzichtet. Dennoch wäre es falsch, 
ihren Wert für das Theaterwesen des 16. Jahrhunderts zu unter- 
schätzen. Von allen Erfolgen der theatralischen Experimente 
dieser Zeit weist die Ausbildung eine Hinterbühne am meisten 
in die Zukunft. 

Daß die Oberbühne auch dort, wo sie sich mit humanistischen 
Formen vereinigt, ein Kind des mittelalterlichen Theaters ist, 
steht außer Zweifel. Die Bühne der Rederijker hat u. a. Peter- 
sen (S. 26 ff.) in diesem Sinne gedeutet. Stumpfl (S. 68 ff.) 
hat für das Mittelalter und 16. Jahrhundert die Fälle der Ver- 
wendung einer Oberbühne zusammengestellt. Wenn im Solo- 
thurner Johannesspiel, dessen Bühnenvorstellung humanistische 
Einflüsse zeigt, der Himmel!) sich öffnet, so ist eine Einwir- 
kung des Schweizer theatralischen Stiles unverkennbar. 

Auch die Hinterbühne hat eine mittelalterliche Wurzel?). 
Ihre Verwendung für die „Vertooningen‘‘ der Rederijker er- 
innert genugsam an die spätmittelalterlichen lebenden Bilder?°), 
die den Vordervorhang bereits kannten. Scheinbar kraft dieser 


1) „Gott vatter vss dem Himmel .. .. der Himmel thüt sich wider zu“ 
(A 8a). „Christus battet nach dem touff/der himmel thüt sich vff/der heilig 
geist kumpt vber in/in gestalt der tuben“ (E2a).... Vgl. d. Vorschrift f. 
Luzern: ‚,. .. ouch sol Himmel grüst sin mitt einem Oberdeckel vnd Vmb- 
hengen, die man könne für zühen‘‘ (Brandstetter, Germania XXX, 325). 

2) Derselben Ansicht ist Stumpfl, S. 72. 

3) Herrmann, S. 364 ff. 


76 III. Das frühe Jesuitentheater und seine Ableger. 


Vorläuferschaft ist sie in den Niederlanden sehr verbreitet. 
Da auch für das frühe Jesuitentheater die Hinterbühne be- 
zeichnend ist, glaubt Flemming (S. 290 ff.) holländische Ein- 


flüsse feststellen zu müssen. 


Aber die Personagia sind nicht die einzigen älteren Bühnen- 


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Abb. 2. Titelblatt zu Aals ‚‚Iragoedia Joan- 
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formen, die im- 
stande waren, die 
neue Hinterbühne 
zu entwickeln. Ein 
Dekorationsstück 
wie dasWeihnachts- 
hüttlein auf der Lu- 
zerner Brunnen- 
brücke konnte, so- 
bald es auf einer 
Flächenbühne dem 
Publikum gegen- 
über aufgebaut wur- 
de, auf seine allsei- 
tige Öffnung ver- 
zichten und im Bilde 
der Gesamtszene die 
Rolle einer Hinter- 
bühnespielen. Seitz’ 
Spiel vom Abend- 
mahl, Salats Verlo- 
renem Sohn und 
Spichtigs Dreikö- 
nigsdrama lag je- 
denfalls eine ver- 
wandte Bühnenge- 
staltung zugrunde. 
DerTitelholzschnitt 


zu Aals Johannes-Tragödie soll unsere Phantasie unterstützen 
(Abb. 2). Zwar ist es nicht wahrscheinlich, daß Eindrücke 
der Solothurner Aufführung von 1549 hier zu Worte kommen, 
da Bühne und Situation!) dem Drama nicht entsprechen. 


ı) Noch unpassender ist die Wiedergabe desselben Bildes in Rassers spä- 
terer Comoedia, vgl. L. Gombert, Joh. Aals Spiel von Joh. dem, Täufer etc., 
Marburger Diss. 1908, S. 37. 


Die Hinterbühne. 77 


Bühnenverhältnisse im allgemeinen aber haben wir 
sicher vor uns. Die flache vordere Spielzone wird parallel 
zum unteren Bildrahmen von einer dreiseitig geschlossenen 
Interieurdekoration abgegrenzt, die als Hinterbühne zurück- 
springt. Da Reste einer neutralen Szenenwand fehlen, er- 
innert nichts an das humanistische Theater. Die realistische 
Ausgestaltung spricht für den volkstümlichen Geist. 

Die theatralischen Elemente der Darstellung ganz allgemein, 
nicht die fragwürdige Ansichtstreue einer bestimmten Bühne 
der Vergangenheit geben der Abbildung ihren Wert. Es genüge, 
hier eine Stütze für unsere Anschauung von der Interieur- 
dekoration im Hintergrunde einer volkstümlichen Flächen- 
anlage gefunden zu haben. 

Aber noch eine andere Wurzel kann für die Hinterbühne 
aufgezeigt werden: die ‚„Badezellenbühne‘“ Schmidts. Trotz 
des grundsätzlichen Gassencharakters des terenzianischen Pro- 
szeniums ist das Innere der Häuser doch auf mannigfaltige 
Weise in Handlung und Spiel einbezogen. Dort werden Hoch- 
zeiten gefeiert, dort kommen Mütter nieder, Rufe ertönen von 
innen, und Heraustretende sprechen in das Haus zurück. Bei 
aller Stilisierung, mit welcher die humanistischen Illustratoren 
die scenae behandeln, geht die den Dramen immanente Natur- 
haftigkeit doch nicht gänzlich verloren. Gelegentlich ist ein 
Blick hinter den Vorhang und in einem Falle sogar in einen 
dekorativ gestalteten Innenraum gestattet!). Wenn der Künst- 
ler dieses Holzschnittes, wie Herrmann nachgewiesen hat, frei 
vom Eindrucke eines theatralischen Vorbildes ans Werk ge- 
gangen ist, wieviel mehr läßt sich dann die Bereicherung der 
Szene durch Enthüllung der Innenräume von den Theater- 
praktikern erwarten. War der gelehrte Badius bereit, seiner 
epochemachenden Terenzausgabe dieses Bild beizufügen, so 
brauchten sich die zahlreichen Schuldramatiker, die mit der 
funktionell halb mittelalterlichen Standszenenbühne arbeiteten, 
um die gestaltliche Wahrung des Außenraums noch weniger 
zu kümmern: Man darf hier ohne Frage viel weiter gehen, 
als es das in Bühnenfragen so unberedte Material erlaubt?). 


1) Andria I, 1, Lyoner Terenz, Herrmann, S. 306. 
2) Auch Stumpfl (Euphorion 29, 1928, S.262) hältdie Einbeziehungdeshinter 
den „Türen“ befindlichen Raumes in das Spiel auf derTerenzbühne für möglich. 


18 III. Das frühe Jesuitentheater und seine Ableger. 


In Garts Josephdrama hatte als Kerker wahrscheinlich eine 
geöffnete scena gedient!).- Ebenso in den Johannestragödien 
Aals und Krügingers und in Dedekinds ‚Papista conversus‘‘?). 
Aber auch andere Innenräume wurden enthüllt. Aal läßt eine 
„Hoffjungfraw im frowözimer‘‘ sprechen®). Dann fordert die 
Seügamm Herodias auf, sich in den Saal zu begeben, und die 
Regiebemerkung lautet: „Die Künigin vnnd all jr frowen- 
zimmer gangend heruss“ (P 8a). Ein Einblick in das Innere 
war für diese kurze Szene wahrscheinlich. Die Bühne 
des Wiener Dramatikers Schmeltzl stellt sich Gregor?) als 
„einfache Türenbühne mit einzelner Öffnung‘ vor. In Frisch- 
lins ‚„Priscianus vapulans‘ soll eine Schulstube dargestellt 
worden sein’). Gadenstedt, der Übersetzer des neulateinischen 
„Lobaeus‘‘ des Schonaeus, verhüllt und enthüllt des Tobias 
Gäste®). Für Brunner hat Stumpfl?) die Verwendung von 
Hinterbühnen nachgewiesen. Im ‚Josephus‘ des Voidius heißt 
eine Spielanweisung am Anfang der dritten Szene des dritten 
Aktes: ‚Sie (d. i. die sich krank stellende Medea) sitzet in einem 
Stuel mit Küssen beiderseits bestopfft“ (G 8b). Sieht man 
nicht deutlich das bei geschlossener Gardine gestellte Bild’? 
In V, 11 spricht Joseph ‚hinter dem Fürhang, mit welchem 
das palatium an einem Ort als mit eim besondern Gemach ab- 
gewirkt ist‘‘®). 

Weitere Beispiele lassen sich leicht finden. Die Hinterbühne 
in Verbindung mit ‚‚Türen‘‘ (scenae) oder einem andersartigen 
Bühnenabschluß ist also schon vor und auch neben dem Je- 

1) 8. 0.8.24. 

3) Schmidt, S. 152. 

3) „Dört eben gandt daher dry man. Es ist mein Herr der Kammerling.“ 

“) Wiener szen. Kunst, Wien 1924, S. 37. Vgl. dagegen Stumpfl, Süd- 
deutsche Bühnenformen vor Einführung der italienischen Verwandlungs- 
bühne, Ztschr. f. dtsche. Philologie, 53, 1928, S. 60. 

5) Flemming, S. 295. 

°) Bolte, 8. XC. 

?) Hallische Neudrucke Nr. 258/260, S. XXIX ff. 

8) (R1b). Die dritte Verführungsszene spielt bei halb geöffnetem Vorhang, 
V, 3 (Wirtshausinterieur) völlig auf der Hinterbühne, wobei eine benachbarte 
scena die Rolle des verschließbaren Hauseingangs übernimmt. Für die Inte- 
rieurszenen des Banketts und der Wohnung des Schlafes hingegen wurde das 


Proszenium benutzt, dessen Bedeutung als Außenraum im übrigen aufrecht- 
erhalten wird. | 


Das Jesuitentheater der ‚‚ersten Generation“. 79 


suitentheater üblich gewesen. Die systematische Anwendung 
- dieses Prinzips und seine Durchbildung zum Typus ist das Ver- 
dienst der Jesuiten. Über das deutsche Jesuitenthester sind 
wir durch Flemmings wertvolle Arbeit aufs beste unterrichtet. 
Die Ergebnisse, soweit sie die Gestalt der Bühne betreffen, 
können sich zum Teil auf ungemein klar sprechende Spiel- 
anweisungen stützen und werden durch das überlebende Thea- 
ter Oberammergaus gesichert, das schon von Trautmann), 
Köster?) u. a. zu der Ordensbühne in Beziehung gesetzt wor- 
den war. Nur in Einzelheiten ist die Darstellung nicht restlos 
überzeugend. Die Dramatiker der beiden ersten Generationen 
lassen jene eindeutigen szenischen Bemerkungen, wie Joseph 
Simon sie kennt, stark vermissen. Bei Gretser muß das Öffnen 
und Verschließen der Hinterbühnen aus Handlung und Si- 
tuation erschlossen werden. Kein ‚‚aperitur‘ „‚elauditur‘‘, ‚si- 
pario reducto‘, „valvis diductis“, ‚scena aperta‘ kommt dem 
Forscher entgegen. Sollte das den Gedanken nicht nahe legen, 
daß der spätere Typus noch nicht zur vollen Ausprägung ge- 
langt ist? Eine Dialogstelle wie diese: „Warum ich euch ge- 
ruft herein‘ kann nach dem Zeugnis des Schul- und Meister- 
singerdramas niemals als genügender Beweis für die Ent- 
hüllung eines Innenraums betrachtet werden. Die Münchener 
Hester-Inszenierung würde ein völlig anderes Bild ergeben, 
wenn man von der Teilung der Bühne in kurzfristige Orte Ge- 
brauch machen wollte, übrigens angesichts der mittelalter- 
lichen Rudimente Berg und Markt gewiß kein Anachronismus. 
Daß Gretser®) mit primitiven Interieurdekorationen sich be- 
müht haben sollte, auf der Hinterbühne eine Landschaft aus- 
zudrücken, scheint mir ganz unglaublich. War eine dekora- 
tive Andeutung wirklich vorhanden, was noch zu beweisen 
wäre, so mochte sie nach der Art des Mons auf der Bühne der 
Münchener Hester auf dem Proszenium Platz gefunden haben. 
Ähnlich ist es mit dem Wald bei Bidermann‘). Das Öffnen 
und Schließen des Höllenrachens ist z. B. ein mittelalterlicher 
Effekt. Warum soll der gleiche Vorgang auf einmal durch das 


1) Oberammergau u. s. Passionsspiel, Bamberg 1890, S. 90 ff. 
2) Euphorion 24. Bd., 1922, S. 497. 

3) Flemming, S. 19. 

*) Flemming, S. 41 f. 


80 III. Das frühe Jesuitentheater und seine Ableger. 


Enthüllen und Verschließen der Hinterbühne dargestellt wor- 
den sein? Flemming gibt keine nähere Begründung. Viel 
wahrscheinlicher für Gretsers ‚Lazarus‘ und Bidermanns 
„Cenodoxus‘‘!) ist die Aufstellung einer plastischen Höllen- 
dekoration seitwärts auf der Vorderbühne, wie sie das Passions- 
theater zu Gmünd noch gegen Ende des 18. Jahrhunderts 
verwendete (Abb. 4). Meiner Meinung nach verlangt die ‚‚Co- 
moedia de Lazaro resuscitato‘‘ keineswegs ‚eine bislang noch 
nicht bekannte Bühnenform‘‘. Die Terenzbühne mit einer er- 
weiterten und enthüllbaren scena und einem plastischen Höllen- 
rachen zur Seite genügt allen Anforderungen dieses Stückes. 
Gretsers Bühne unterscheidet sich nur funktionell durch un- 
bedenkliche Ausnutzung des gewonnenen Innenraums. In 
. diesem Punkte ist die Münchener Hester durch die Entfaltung 
von Nebenbühnen noch weitergegangen und hat damit einen 
neuen Typus erschlossen. 

Schränkt man die Ergebnisse Flemmings für die erste Gene- 
ration in dem angedeuteten Sinne ein, so tritt eine Entwicklung 
zur Jesuitenbühne zutage, die sonst völlig verlorengeht. 
Dann erübrigt sich es auch, die Anfänge der Jesuitenkunst in 
Holland zu suchen, wenngleich Anregungen von dorther nicht 
ausgeschlossen sind. Und endlich, man wird zu einer anderen 
Deutung gelangen. 

Flemming bezeichnet das frühe Jesuitentheater als kubische 
Simultanbühne und teilt ihm in der Entwicklung der simul- 
tanen Formen die dritte und fortgeschrittenste Stufe zu. Ob 
der Ausdruck ‚plastische Simultanbühne‘“ für das räumliche 
Theater des Mittelalters geeignet ist, „da die Häuser wie 
Baldachine über gotischen Heiligen über den Raum verteilt 
stehen‘‘2), lasse ich dahingestellt. ‚‚Kubische Simultanbühne“ 
jedenfalls ist reichlich weitschweifig. Auch die Bühne eines 
Montanus, wo sie mit Zelten arbeitet, ‚da die Flügel zu beiden 
seiten uffgeschlagen seyen‘‘, eines Heros, Salat und Spichtig 
kann diese Bezeichnung beanspruchen. Was unterscheidet sie 
von dem Theater Gretsers oder Bidermanns? Nicht der ‚Ku- 
bus“ d. h., die Verwendung eines plastischen Innenraumes, 
nicht die Simultanität, die bei jenen gestaltlich noch ausge- 


!) Flemming, S. 39. 
2) Flemming, S. 279. 


Deutung der Jesuitenbühne. 8 


prägter ist, sondern die Tatsache allein, daß die Jesuiten eine 
Terenzbühne benutzen, die sie volkstümlich abgewandelt haben, 
während jene die Bühne des Mittelalters modernisieren. 
Aber es liegt nicht allein am Wort. Nirgends stellt Flemming 
den Zusammenhang des Ordenstheaters mit der Terenzbühne 
dar. Im Gegenteil, er meint, daß die Jesuiten die ‚Anlehnung 
an die Terenzbühne‘, welche er in Valenciennes zu erkennen 
glaubt, ‚überwinden‘ (S. 29). Doch schon seine Deutung des 
Passionstheaters von Valenciennes ist anfechtbar. Es ist hier 
nicht ‚‚alles in die Fläche gedrängt, gleichsam zu einem für 
alle Szenen benutzbaren Prospekt‘. Die ‚plastischen‘ In- 
terieurdekorationen des Saales, Tempels und Palastes erstrecken 
sich nach vorn, und die Hölle gar dehnt sich bis zum Rande 
des Podiums aus. Nur die Türen, das einzig Terenzianische 
dieser Inszenierung, ordnen sich in eine Ebene ein, und gerade 
diese Türen sind den Jesuitenregisseuren gang und gäbe. Vier 
Türen benötigt nach Flemmings Rekonstruktion Gretsers 
„Lazarus‘‘t!) (neben drei Hinterbühnen), zwei Türen und ein 
Palasttor Bidermanns ‚Cenodoxus“ (S. 191), zwei Türen die 
unter der Nachwirkung des frühen Jesuitentheaters stehende 
Dekoration des Pariser Kollegs Louis le Grand von 1732?), 
zwei Türen und zwei Tore die Einheitsszenerie von Rennes?), die 
gleiche Anzahl Oberammergau in seiner älteren Gestalt. Völlig 
in seiner Fläche aber — um an die Flemmingsche Deutung von 
Valenciennes wieder anzuknüpfen — befinden sich die Vorder- 
abschlüsse der Hinter- und Nebenbühnen auf dem Theater der 
Jesuiten. Bei geschlossenen Vorhängen besteht der einzige Unter- 
schied zur Terenzbühne in der Breite der scenae. Die Simulta- 
nität der auf den Hinterbühnen angenommenen Orte wird dem 
Betrachter erst im Verlauf des Spieles klar; die Gestalt der 
Bühne, die Gmünd (Abb. 4) reiner als Oberammergau überliefert, 
offenbart dem ersten Blick ihre terenzianische Vergangenheit. 
Ist die humanistische Bühne als Ausgangspunkt, der volks- 
tümliche Einfluß, der in Flemmings Deutung einseitig zu 
Worte kommt, als umschaffende Kraft gekennzeichnet, sind 
endlich einzelne Schuldramen genannt worden, welche die Ent- 


ı)8. XV. 
2) Bühnenbild 37, 7. 
s) Bühnenbild, 37 6; Flemming, S. 292. 
Th. F. 41. 6 


82 III. Das frühe Jesuitentheater und seine Ableger. 


wicklung der frühen Jesuitenbühne vorbereiten, so gilt es nur 
‚noch, einen Blick auf die funktionellen Verhältnisse zu werfen. 
Für die weitere Entwicklung dieses ersten Bühnentypus der 
Societas, für die Bestimmung seiner Varianten und seiner Topo- 
graphie läßt sich der Darstellung Flemmings nichts hinzufügen. 

Die Hinterbühnen der Münchener Hester!) stellen Hamans 
Gemach, das cubiculum regis, den Thron- und Tafelsaal, das 
Palasttor und Frauengemach vor. Man könnte den simul- 
'tanen Charakter dieser Nebenordnung leugnen, könnte etwa 
an einen Flur im königlichen Schlosse denken, wenn Mons und 
Marktstände uns nicht anders belehrten und das Proszenium 
nicht häufig als ‚„hortus‘‘ bezeichnet würde. Von einer teren- 
zianischen Straße vor benachbarten Häusern ist jedenfalls 
keine Rede. Wir haben es vielmehr mit einer Art Standszenen- 
bühne zu tun. Waren aber dort durch Verlegung der Stand- 
orte hinter die Bühne bei der Wahrung des terenzianischen 
Exterieurs die scenae nur zu Höfen (Ständen) geworden, so 
hat der mittelalterliche Einfluß sie hier zu Standorten, 
d. h. Ständen mit eigenem Spielfeld weiterentwickelt. War 
dort alles Spiel auf das Proszenium gedrängt, das sich wechselnd 
von den Höfen des Hintergrundes beherrschen ließ und da- 
durch einen stark sukzessorischen Charakter annahm, so zieht 
es sich hier in überwiegendem Maße in die geöffneten Häuser 
zurück. Die Vorderbühne wird dadurch entwertet. Was die 
Standszenenbühne, wenn sie einen Kerker darzustellen hatte, 
gelegentlich einmal der humanistischen Tradition entgegen 
wagte, ist hier Regel geworden. Die Standszenenbühne hat 
sich zur Stand o r t szenenbühne gewandelt?). 

Die Bewegung auf dem Theater ist dem mittelalterlichen 
Rhythmus näher gekommen. Prozessionsartig schreitet das 
Spiel zwischen den scenae hin. Die Repräsentation des Weges, 
‘die auch die Standszenenbühne pflegte, tritt in den Vorder- 
grund. Das Proszenium, noch immer sukzessorisch, ‚‚viel- 
deutig‘‘, wie Flemming es nennt, erinnert an den ‚Kreis‘ der 
Passionsspiele. Anderseits sind die terenzianischen Elemente 
der dramatischen Form nicht zu verkennen. 

ı) Vgl. die ausführliche Analyse bei Rud. Schwartz, Esther im deutschen 


und neulateinischen Drama der Reformationszeit, 1898*, S. 141 ff. 
2) Über „Ort“ vgl. 0.8.7, Anm. |]. 


Die Passionsbühne von Schwäbisch-Gmünd. 83 


Ein Besitzwechsel der Türen und Nebenbühnen scheint zu- 
nächst nicht Brauch zu sein. Die Mittelbühne aber verändert 
schon in der Münchener Hester ihre Bedeutung. Anfangs ge- 
nügt ein Wechsel des Mobiliars. Bei Bidermann (1578—1639) 
denkt Flemming bereits an veränderliche Wanddekorationen, 
bei Joseph Simon (1594—1671) an Telari. Die Sukzession, bei 
Sachs auf das Proszenium beschränkt, wird von den Jesuiten 
auf die Mittelbühne verwiesen, und es ist zuzugeben, daß darin 
ein Weg zur selbständigen Ausbildung der barocken Bühne be- 
schritten wurde. Die märchenhafte Entwicklung desitalienischen 
Profantheaters aber kam den erfindungsreichen Patres zuvor. 
‘ Geringe funktionelle Abweichungen zeigt das Passionsspiel 
von Schwäbisch-Gmünd. Ich habe seine Bühne (Abb. 4), ob- 
wohl sie erst in den zwanziger Jahren des 18. Jahrhunderts 
nachzuweisen ist!), schon herangezogen. Irgendein unmittel- 
barer Zusammenhang mit dem Orden scheint nicht zu be- 
stehen, da sich die Societas Jesu in Gmünd nicht niedergelassen 
hat. Die notwendigen Beziehungen werden ähnliche wie in 
Oberammergau sein?). 

Daß die Passionsbühne von Gmünd den Typus des frühen 
Jesuitentheaters verkörpert, braucht nach allem bisher Ge- 
sagten nicht in extenso ausgeführt zu werden. Ein Blick auf 
die der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstammende 
Skizze (Abb. 4) genügt. Die terenzianisch-jesuitische Szenen- 
wand als Abschluß des breiten Proszeniums nähert sich dem 
Typus, den Flemming für Bidermann nachgewiesen hat: zwei 
breite Hinterbühnen und zwei schmälere Öffnungen als Ein- 
gänge. Die Reste simultaner Dekorationen zur Linken erinnern 
an den Mons der Münchener Hester. Die Kulissendekorationen 
der Hinterbühnen schließlich entsprechen der Entwicklung, 
die das Jesuitentheater mit Joseph Simon und über ihn hin- 
aus genommen hat. 

Nur in einer Hinsicht kann die Gmünder Bühne nicht un- 
bedingt als typisch gelten: ihre bescheidene Anlage verheim- 
licht die Pracht und Größe, die das Ordenstheater anderenorts 
zu entfalten wußte. Es mag der Mangel an einer dekorativen 
Andeutung gewesen sein, welcher die schmalen scenae ihre 

1) 8. u. 8.95. 

2) Flemming, S. 55. 

6*r 


84 III. Das frühe Jesuitentheater und seine Ableger. 


Rolle als Palasttor vergessen ließ. Unter der Bezeichnung 
Portal dienen sie dem Auftritt und Abgang schlechthin. Zu 
Beginn des Spieles geht Christus ‚mit denen 3 Jüngern bey 
mittlern portale heraus‘‘!) und entfernt sich, nachdem er der 
Mutter seinen Tod verkündet hat, ebendahin. In der ähn- 
lichen Marienszene am zweiten Tag ‚‚prodeunt‘‘ die Frauen ‚,‚per 
Portale laterale minus, .... Joannes autem per mediam portam“ 
und ‚abeunt per Portale medium‘. II, 5 ‚„prodit Judas per 
Portale laterale minus cum fune ad cingulum“. ‚Judaei 
abeunt‘ (am Ende der Herodesszene) ‚‚et reducunt Christum ad 
Pilatum zuvor in das kleine Portal bis Herodes ausgesprochen“. 

Aus diesen beliebig herausgegriffenen Beispielen wird die 
Bedeutung der beiden Portale klar. Sie sind nicht mehr Stand- 
scenae, wie die Türen der frühen Jesuitenbühne, sondern — 
wie bei Sachs und Shakespeare — schlichte Auftrittsgelegen- 
heiten. Über Sachs hinausgehend, ist der Unterschied zwischen 
dem hinteren und dem seitlichen Auftritt über die Treppen 
geschwunden. ‚Ex altera parte (späterer Zusatz: „unten‘) 
prodit Maria cum comitibus‘, wie sie zu anderer Gelegenheit 
„per portale laterale minus‘ die Bühne betritt. Der Zutritt 
zu den Palästen scheint regelmäßig durch die geschlossenen 
oder offenen Vorhänge der Hinterbühne selbst zu erfolgen?). 

Die Hinterbühnen pflegen wie schon bei der Münchener 
Hester und bei Bidermann eine bescheidene Sukzession. Der 
Saal des Abendmahles, des Pilatus und der Geißelung wurde 
von dem linken, die Häuser des Kaiphas, Annas und Herodes 
von dem rechten Kulissenraum dargestellt. Ob mit dem Besitz- 
wechsel dieser ‚scenae‘‘ ein Wechsel der Dekoration Hand in 
Hand ging, ist nicht festzustellen. Die einzige dahin deutende 


ı) Die Spielanweisungen entnehmen wir der Hs. v. 1769 (s. u. S. 91). 

s) Als Beispiel die Bewegung der zweiten und dritten Station des ersten 
Tages: „Aperitur locus consilii Judaici.‘‘ Beratung. „Hio clauditur et prodit 
Judas ex altera parte.‘‘ Monolog. ‚Pulsat Judas fores et prodit Levi servus.“ 
Judas willeingelassen werden. „Intrat iterum Levi“, um zu fragen. Er kommt 
zurück, fordert Judas auf, mitzugehen. „Abit Levi et aperitur locus consilii.‘ 
Verhandlung. ‚Clauditur.‘“ Kurzer Monolog des Judas. „Abit Judas (bey 
neben portal).‘‘ — Das Palastportal der Jesuitenbühne hat den Zweck, jene 
terenzianischen Klopf- und Eintrittszenen auch bei geöffnetem Hause zu er- 
möglichen. Ein ständiges Verschließen und Enthüllen des Interieurs wie hier 
in Gmünd führt zum gleichen Ziel. 


Das Zuckmantler Passionsspiel. 85 


Bemerkung ist zu unklar!). In der vierten und zehnten Station 
des zweiten Tages sind beide Säle gleichzeitig geöffnet?), ein 
Zeichen dafür, daß die simultane Bühnenidee nicht völlig ge- 
schwunden ist. 

Im allgemeinen aber zielt die Tendenz des Gmünder Pas- 
sionsspieles auf die Überwindung der mittelalterlichen Tradition. 
Die Sukzession der Ortsvorstellungen auf Hinterbühnen und 
Proszenium, die Preisgabe?) des Standszenenprinzipes für die 
beiden Portale sind unübersehbare Anzeichen dieses Vorganges. 
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde, wie Chronik und 
Bild bezeugen, der Höllenrachen in den Ölberg verlegt und da- 
mit das Nebeneinander dieser beiden Dekorationsstücke in 
ein Nacheinander abgewandelt. Schließlich wird auch der 
Baum des Judas, der zunächst seitwärts in der Nähe des Öl- 
bergs stand, der Hinterbühne anvertraut®). 

Dem Passionsspiel von Schwäbisch-Gmünd liegt eine Bühne 
zugrunde, die gestaltlich dem Typus der frühen Jesuitenbühne 
entspricht, funktionell aber durch weitgehende Überwindung 
des Standszenenprinzips eine möglicherweise nicht untypische 
Nachreife verkörpert. 

Überraschend verwandt jedenfalls sind die Bühnenverhält- 
nisse des von A. Peter?) veröffentlichten Zuckmantler Pas- 
sionsspieles, das bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts 
hinein und wie in Gmünd seit ‚urdenklichen Zeiten“ gegeben 
worden sein soll. Ein Proszenium mit seitlichen Treppen (Auf- 
tritt und Abgang ‚unterseits‘‘) und simultanem Aufbau des 
Ölbergs und Höllenrachens (?), eine verschließbare Hinter- 
bühne, welche Paradies, Tempel, die Häuser des Kaiphas, 
Hausvaters, Annas, Herodes und Pilatus vorstellt, und ein 
oder zwei ihr benachbarte schmale Eingänge ‚oberseits‘‘: das 


1) 1,6. „Hic clauditur domus Caiphae . . . der obere saal wird aufgezogen 
und gleich wieder zugerichtet‘“. InI,9stellter das Haus des Annas dar. 

) „Beyde saal bleiben offen bis die Scribae zurückkommen.“ ‚Pilatus und 
Herodes umfassen sich. Beyde Saal aufgezogen.“ 

3) In diesem Sinne rudimentär ist die Verwendung des Mittelportals als 
Kerker (Vorspiel). 

4) So wenigstens nur läßt sich der Widerspruch Holzwarths (s. u. S. 90) 
mit der schriftlichen und bildlichen Überlieferung erklären. 

5) Programm des k. k. Obergymn. zu Troppau, 1868, S. 1ff. und 1869, 
Ss. 1Lff. 


86 III. Das frühe Jesuitentheater und seine Ableger. 


ist die Bühnenform, die sich aus den vorbildlich beredten 
Spielanweisungen ungezwungen ergibt. Aber auch funktionell 
steht das Spiel mit Gmünd auf einer Stufe. Abgesehen von 
den Resten einer Simultandekoration, ist das Nacheinander 
überall durchgedrungen. Die ehemaligen scenae neben der 
Hinterbühne sind einfache Eingänge geworden. Nur vorüber- 
gehend wird dort noch wie in Gmünd der Kerker loka- 
lisiert!). Der Bedeutungsunterschied zu dem Auftritt über 
die Treppen ist geschwunden. Nach Vers 808 geht Maria 
„unterseits hinein‘, nach 1434 ‚oberseits heraus‘‘, nach 848 
kommt ‚‚oberseits .... Maria, unterseits kömmt Jesus mit 
den Jüngern‘“, nach 838 ‚gehet einer mit einem Wasserkrug 
vorbei von unterseits bis oberseits‘‘. Diese Beispiele zeigen, 
daß der Ort des Auftritts eine Frage der Bewegungsregie ge- 
worden ist. Der Eintritt in den Saal wird ohne ein Palasttor 
zur Darstellung gebracht?). 

Durch geringe wörtliche Übereinstimmung und die Verlegung 
der Kreuzigung vom Theater auf einen benachbarten Berg 
mit Zuckmantel verbunden ist das Passionsspiel von Böhmen- 
kirch?). Obwohl es in der Nachbarschaft Gmünds erwuchs, 
sind unmittelbare Beziehungen dahin nicht festzustellen. 
Pfarrer Ostertag hat den Text 1739 wahrscheinlich aus Eige- 
nem, Zeitgenössischem und Mittelalterlichem unter starker 
Benutzung des Wildschen Passionsspieles zusammengesetzt?). 
Die erweiterte Fassung der Handschriften stammt aus dem 
Jahre 1742. Gmünder Einflüsse machen sich nur selten, außer 
in der Führung einzelner Szenen in den Themen der Zwischen- 
spiele, den Spielzeiten und vielleicht in den Verhältnissen der 
Bühne geltend, die indessen auch von anderer Seite angeregt 


1) Nach V. 1424: „Christus wird in’n Kerker geworfen ... NB. Dieser 
wird im obern Eingang vorgestellet.““ 

») Nach V. 1792: „Halb aufgezogen“. Annas gegen die Diener: ‚O Jüng- 
ling zart, ich bitt dich hoch, Bei deinem Herrn anmeld mich doch .. .“. Es 
geschieht. Herodes will ihn empfangen. Diener zu Annas: ‚.. . der Herr 
belieb nur einzugeh’n‘“. Spielanweisung: „Hier wird gar aufgezogen.“ 

°) Herr Stud.-Ass. Fischer in Geislingen, der die Güte hatte, mir im Ein- 
verständnis mit Herrn Pfarrer Himpel in Böhmenkirch eine Abschrift der 
Handschriften zur Verfügung zu stellen, bereitet eine Textausgabe vor. 

4) Vgl. Is. Fischer, Aus dem Inhalt d. Bähmenkircher Passionsspieles von 
1742, Remszeitung Gmünd, 1926, Nr. 72, 73 u. 75. 


Das Böhmenkircher Passionsspiel. 87 


sein könnten. Leider verhindert der terminus ‚„Herauskom- 
men‘, der in gleicher Weise für den Eintritt von vorn ‚ober- 
seits‘ und von hinten in den geöffneten Saal verwendet wird, 
und die mangelhafte Bezeichnung des Vorhangöffnens die letzte 
Klarheit. Fraglos aber steht die Bühne dem Zuckmantler 
Typus nahe: Proszenium!), Hinterbühne?) und Eingänge waren 
vorhanden. Der-Ölberg wurde auf der Hinterbühne dargestellt?) ; 
wo die Hölle gestanden hat, ist nicht festzustellen. War ihr 
Ort an der gleichen Stelle, so sind die letzten Reste des Neben- 
einander überwunden. Die Sukzession auf Vorder- und Hinter- 
bühne und der Schwund der Standszenenbedeutung für die 
Eingänge stellen eine Bühne vor, die sich bei aller funktionellen 
Verwandtschaft zu Gmünd von dem Theater eines Gretser oder 
Bidermann ziemlich entfernt. Wenn ich sie richtig erkenne, 
ist die Erinnerung aan die Augsburger Tapetenbühne?) am Platze. 

Das bildliche Material Gmünds ist als Paradigma für die 
Gestalt des frühen Jesuitentheaters von Bedeutung. Die Be- 
trachtung der Funktionen wies andere Wege; Zuckmantel 
und Böhmenkirch bestätigen das Ergebnis: Oberammergau 
verkörpert — von palladesken Einflüssen sei hier abge- 
sehen — nur die eine Möglichkeit der Nachkommenschaft 
des frühjesuitischen Bühnentyps. Mit der feststehenden Be- 
deutung seiner Häuser und der dekorativen Bestimmtheit 
seiner Tore steht es auf einer älteren Stufe, die es z. T. wohl 
erst nachträglich eingenommen hat). Es unterscheidet sich 


ı) Die Anlage geht am besten aus der Szene des Judenrates hervor. Niko- 
demus braust auf (V. 950 ff.): „Ich hab jetzt genugsam vernommen in euren 
Rat willnit mehr kommen, ... und geh auf dem Theatrum naus, .. .‘“ Spiel- 
anweisung: „Nicodemus geht auf die Bruck hinaus und spricht.“ Er hält 
eine Ansprache an das Publikum. Darnach debattieren die Juden auf der 
Hinterbühne weiter. 

s) Am Ende der Abendmahlsszene. Nach V. 444: „Der Fürhang wird 
zugezogen, Genius 2 kommt heraus, ..“. Abraham nach V. 1974: „... Drum 
will ich in den Tempel gehen, will meinem Gott ein Opfer geben.‘ ‚Der Für- 
hang wird geöffnet.‘ Vgl. ferner die Spielanweisungen nach V. 1092 und 2557. 

®) Nach V. 1076: ‚Auf dieses lasset sich ein Engel auf dem Ölberg sehen . .“ 
Nach V. 1092: „Der Engel wird mit dem Fürhang verdecket .. .“ 

4) Flemming, S. 85 ff. 

5) „Im Gegensatz zum heutigen Bestande wird 1662 noch das Haus des 
Herodes und Kaiphas als Nebenbühnen gebraucht neben denen des 
Pilatus und Annas.“ (Flemming, S. 56.) Ist Trautmanns Ansicht (Ober- 


88 III. Das frühe Jesuitentheater und seine Ableger. — Schlußwort. 


in diesem Zustande von Gmünd wie die Standszenenbühne eines 
Johannes Aal von dem Theater der Meistersinger. 

Die einzelnen Stufen dieser Entwicklung aufzufinden, dürfte 
nicht gelingen. Sie ist nicht autochthon, sondern von Ein- 
flüssen bestimmt. Die Bühnen eines Sachs und Wild, die 
Wandertheater der Englischen Komödianten predigten die 
freie Verwendung der scena an allen Orten. Ansätze einer 
Entwicklung lassen sich bei der Münchener Hester!) und den 
Bühnen Gretsers oder Bidermanns erkennen. 

Die literargeschichtliche Forschung hat den Übergang vom 
mittelalterlichen zum modernen Drama von jeher mit Interesse 
begleitet. Aber antikische Themen und Motive stehen nicht 
im Vordergrunde, und die Lehre von der zeitlichen und ört- 
lichen Einheit wurde nur selten eingehalten. Die literarischen 
Novitäten des Renaissancedramas also sind nicht von Dauer. 
Und dennoch gibt es ein modernes Drama, eine moderne Tech- 
nik, dennoch steht Shakespeare am Ende des Jahrhunderts. 

Wie war das möglich? 

Nicht alle Nerven und Adern dieses großen organischen 
Wachstums, sondern sein Herz suchte diese Arbeit zu erkennen: 
Keimen und Entfalten desNacheinanders. Passions- 
und Fastnachtspiele, Volks- und Jesuitenbühne verrieten An- 
sätze oder Einflüsse der neuen Technik. Die Standszenen- 
bühne, die Terenzbühne mit Volkstümlich-Mittelalterlichem 
sättigend, war Schoß ihrer Entwicklung. 

Der Mangel an wegbereitenden Voruntersuchungen, die un- 
erhörte Vielheit der Erscheinungen, die Unsicherheit der wis- 
senschaftlichen Ergebnisse für diese Epoche und die notwendige 
Beschränkung auf das deutsche Drama und Theater nehmen 
diesen Blättern von vornherein jede Möglichkeit, eine er- 
schöpfende oder abgerundete Darstellung zu geben. Nicht 
mehr als eine bescheidene Anregung wollen sie sein. 
ammergau u. s. Passionsspiel, Bamberg 1890, S. 94) richtig, daß 1750 die 
Szenen bei Pilatus und Annas noch auf der Mittelbühne spiel- 
ten, so käme das ältere Oberammergau dem Zuckmantler Typus erheblich 
näher. 

!t) Ich erinnere an die seitlichen Tore, die Flemming allerdings im Unge- 


wissen läßt, und besonders an die Sukzession auf der Mittelbühne, welche die 
Überwindung des Prinzips der Standortscena für diesen Bühnenteil bedeutet. 


Anhang 


Das Passionstheater von Schwäbisch-Gmünd 


(Materialien) 


Einleitung 
Veröffentlichtes Material und Literatur 


J. Holzwarth!) veröffentlichte 1856 den Text eines Pas- 
sionsspieles aus Schwäbisch-Gmünd, das dort am 7. und 8. April 
1803 zum letzten Male dargestellt worden ist. Seine einleiten- 
den Bemerkungen, welche die damals noch lebendigen Erinne- 
rungen an das Spiel sammeln, sind die Fundgrube für zahl- 
reiche nicht nennenswerte Artikel in Lokalzeitungen geworden. 

Auch die Behandlung des Passionsspiels bei Grimm?) und 
in der Oberamtsbeschreibung?) schließt sich an Holzwarth an 
oder verweist auf ihn, ebenso Johannes Scherr*) in seiner Ju- 
genderinnerung, die ohne Recht Anspruch auf Originalität 
erhebt. 

Neues Material publizierte nur R. Weser?) in seinem Artikel 
über Gmünder Musiker, der die zum Passionsspiel gehörigen 
Sing- und Zwischenspiele anführt, und Marquart®) durch die 
Entdeckung einer die Aufführung betreffenden Eingabe des 
Bücherfiskals Cooperator Vogt, endlich der Verfasser selbst 
in wenigen Zeilen?), die den damaligen Stand unserer Kenntnis 
darlegen. 

Aus der Lebenszeit des Passionsspieles sind nur zwei unseren 
heutigen Programmheften vergleichbare Druckschriften erhal- 
ten®): „Jesus der Leidende, mit dem Vorspiel: Joseph, von sei- 


ı) Kathol. Trösteinsamkeit, 1856, S. 117 ff. (Exempl. Stadt-Bibl., Köln). 

s) Gesch. d. ehem. Reichsstadt Gmünd, Gmünd 1866. 

®) Beschreibung des Oberamts Gmünd, herausgeg. v. d. königl. stat.- 
topogr. Bureau, Stuttgart 1870. 

*) Das Passionsspiel von Gmünd. Eine Jugenderinnerung. In Nord und 
Süd, April 1883, S. 88 ff. 

5) Alte Gmünder VII, Remszeitung 1910, Nr. 140/141. 

°) Das Gmünder Passionsspiel, Remszeitung 1910, Nr. 151. 

?) Ein Ruf an die Bevölkerung, Rems- und Gmünder Zeitung, 7. Aug. 1926. 

°) Im Besitze des Herrn Stadtpfarrers Weser in Söflingen bei Ulm. 


Unveröffentlichtes Material. 91 


nen Brüdern erkannt. Betrachtet und vorgestellt von einer 
Bürger-Gesellschaft der kaiserl. freien Reichsstadt Schwäbis- 
gmünd. Allda gedruckt mit Ritterschen Schriften. 1779.‘ und 
„Die Geschichte der Leiden Jesu. Mit obrigkeitlicher Geneh- 
migung vorgestellt von einer bürgerlichen Gesellschaft in 
Schwäb. Gmünd. 1803.“ Das erste Schriftchen enthält eine 
Platzordnung, eine Erläuterung des Zusammenhangs zwi- 
schen Josephdrama und Passion und den Text zahlreicher 
Arien und Chöre, das zweite eine Bitte an die ‚lieben Mit- 
bürger‘‘ um Nachsicht und den Text der Eingangskantate. 


Unveröffentlichtes Material 


Die Gestalt der Bühne unseres Passionsspieles ist in zwei Ab- 
bildungen, einer kolorierten Zeichnung!) und einem Ölbild?), 
überliefert. Beide stammen aus der zweiten Hälfte des 18. Jahr- 
hunderts. Die Einteilung des für die Zuschauer bestimmten 
Platzes kennen wir aus einer Grundrißskizze?). Wir werden 
die Bilder später genauer betrachten. 

Der Text des Spieles, den Holzwarth nach der etwa 1812 
verfertigten Kopie einer Originalhandschrift ohne Verände- 
rungen abgedruckt haben will, ist mir außerdem in drei Hand- 
schriften bekannt geworden. Die älteste von 1769%) ist im 
Besitz des Herrn Stadtpfarrers Weser in Söflingen bei Ulm. 
Sie trägt die Titel: ‚‚Traur-Spiel oder Geschicht dess Leydenten 
und Sterbenten Heylands Jesus Christus In 24 zerschiedene 
Auftritt abgetheilt Und offentlich ausgeführt in der hochl dess 
Hl. Römischen Reichs Kayserl. Freyen Statt Schwäbisch-Ge- 
münd Also das die erste 12 Abänderungen am Grünen Doners- 
Tag, die übrige aber am hl. Charfreytag Vorgestellt werden 
Pars 1”* pro die Coenae Dmni“ und ‚Traur-Spiel oder Fort- 
setzung der Geschicht Unseres leydent- und sterbenden Hey- 

1) Abb.4. Chronik des Dominikus Debler. Bd. IX, Pars XVIII, (im Rats- 
archiv zu Gmünd). 

3) Befindlich in der Erhardschen Altertümersammlung zu Gmünd. Eine 
Kopie besitzt das Münchener Theatermuseum und das Institut f. Theater- 
wissenschaft in Köln. 

®) Deblersche Chronik, Bd. IX, Pars XVIII. 


‘4, Eine Kollation dieses Textes mit dem von Holzwarth veröffentlichten 
von der Hand Kösters befindet sich im Münchener Theatermuseum. 


92 Anhang: Das Passionstheater von Schwäbisch-Gmünd. 


lands Jesus Christus In 12 anderen zerschiedenen Auftritten 
offentlich vorgestellet in der Hochl dess Hl. Römischen Reichs 
Kaisserl Freyen Reichsstatt Schwäbisch Gemündt 1769. Ihr 
Text ist stärker dialektisch gefärbt als der gedruckte und ver- 
meidet dessen unerträgliche rhythmische Fehler. Er ist be- 
sonders wegen der ausführlichen lateinischen Regiebemerkun- 
gen und stellenweisen Parallelfassungen aus späterer Zeit 
interessant. Eine Neuausgabe müßte ihn zugrunde legen. 

Die zweite Handschrift von 1783 ist ‚als ein Beytrag zu der 
Beschreibung der Stadt Schw-Gmündt Von Dom. Debler!) ge- 
schrieben“. Sie enthält ein Personenverzeichnis und einlei- 
tende Notizen zu dem Spiel. Die dritte Handschrift im Be- 
sitze der Kirchpflege Gmünd scheint aus dem Jahre 1798 zu 
sein?). Sie hat ein Personenverzeichnis im ersten und zweiten 
und ein Requisitenverzeichnis im ersten Teil, hat deutsche 
Regiebemerkungen und unterstrichene Stichwörter. Sie wird 
als Regiebuch gedient haben. Die Beschreibung der Prozession 
fehlt. Sprachlich steht sie dem Holzwarthschen Text nahe. 

Die Handschriften und der Druck stimmen im allgemeinen 
überein. Größere Abweichungen entstehen dadurch, daß Nach-, 
Vor- und Zwischenspiele und Gesänge an verschiedenen Stellen 
eingeschoben sind oder hier und da auch fehlen. Die Reue 
Petri z. B., bei Holzwarth das Nachspiel zum ersten Teil, ist 
in der Handschrift von 1769 ein späterer Zusatz, steht bei 
Debler nach der 8. Station des zweiten Tages und in der jüngsten 
Handschrift als ‚‚statio tertia“ am Karfreitag. Die sprachlichen 
Unterschiede sind für unsere Zwecke ohne Belang. 

Außer dem Passionsspiel enthält die Deblersche Chronik 
noch die folgenden Vor- und Singspiele®): Jephte, Joseph 
und seine Brüder, die Sieben Todsünden, der Unschuldige Adam, 
Jesus, von 7 Todsünden umgeben, und Samson und die 11 Phi- 
listäer. Ferner befinden sich im chronikalischen Teil dieses poly- 
historischen Werkes interessante Notizen über die Aufführun- 
gen am Ausgang des 18. Jahrhunderts und über die endgültige 
Einstellung des Spiels. 


1) Chronik, Bd. IX, Pars XVIII. 

2) Das Datum läßt sich aus Randbemerkungen erschließen. 

s) Herr Prof. Nägele aus Gmünd hatte die Güte, mir eine Abschrift des 
schwer lesbaren Originals zur Verfügung zu stellen. 


Allgemeines. 93 


Allgemeines 


Lassen wir zuerst die äußeren Umstände des Spiels, Raum, 
Zeit und Menschen, an uns vorübergehen!). 

Die jährliche Aufführung der Passion war ein großes Er- 
eignis für die Stadt. 15 000 Schaulustige — Gmünd hatte im 
18. Jahrhundert etwa 6000 Einwohner! — sollen sich auf dem 
Platz an der Nordseite der Heiligkreuzkirche versammelt haben. 
Dieser Platz, heute noch fast unverändert, ragt über die volle 
Länge des Gotteshauses hinaus (s. Abb. 3). Eine Schranke?) 
trennte ihn in zwei ungleiche Teile. Der kleinere, an dessen 
Westende die Bühne gelegen war, gehörte dem zahlenden 
Publikum und begrenzte durch eine besondere Verschrankung 
einen Raum für das Orchester (m) und die vornehmeren Gäste 
(e). Hier standen Stühle und Sessel. Ein Eingang, der sich der 
Bühne gegenüber befand, öffnete den Honoratorien den Zutritt 
von Westen, während das gemeine Volk aus der entgegengesetz- 
ten Richtung kam. Für die Leute des ‚‚Parterre‘‘, das hinter 
Orchester- und Ehrenloge und vor der Schranke lag, gab es 
außer zwei östlichen Zugängen noch einen südlichen durch den 
Friedhof, der den Platz im Anschluß an die Kirche begrenzte. 
An den Eingängen standen Tod und Teufel und erhoben ein 
geringes Geld. Später mußte auch den Zuschauern aus den 
Fenstern der benachbarten Häuser ‚‚wegen den kostspieligen 
Auslagen die gewöhnliche Einlage abgerechnet werden‘‘?). Die 
Zaungäste hinter der Schranke konnten die Worte der Spielen- 
den nicht mehr verstehen. 

Das Werk mit etwas über 3500 Versen wurde auf zwei Tage 
verteilt. Am Grünen Donnerstag abends 7 Uhr begann die 
Aufführung bei Fackel- und Laternenschein mit dem Abschied 
Christi von seiner Mutter. Die Vorstellung dauerte 21, Stun- 
den. Am Karfreitag zog die Passion vom zweiten Verhör 
Christi vor Kaiphas bis zur Kreuztragung vorüber und endete 
mit einer pompösen Prozession. Die Kreuzigung selbst wagte 
man nicht darzustellen. Das Spiel begann mittags 12 Uhr. 
An beiden Tagen wurde die Aufführung mit einem getragenen 


ı) Wo keine Quelle angegeben, schließe ich mich an Holzwarth an. 
2) Platzskizze, s. o. S. 91, Anm. 3. 
3) Jesus der Leidende, S. 1 (s. o. S. 90£.). 


94 Anhang: Das Passionstheater von Schwäbisch-Gmünd. 


Musikstück eröffnet. Dann betete einer unter den Mitspielen-. 
den das Paternoster und Credo und der Dekan beschloß die 
Andacht mit den Worten: „Im Namen Jesu fanget an.“ 

Diese Zeremonien zeigen den starken Zusammenhang von 
Spiel und Kirche. Die Leitung lag in den Händen der Kano- 
niker; Joseph Betz und Anton Reiß, die Verfasser der erhal- 
tenen ‚„Programmhefte‘, waren die letzten Direktoren!). 

Bald nach Fastnacht begannen die Proben?). 102 Personen 

mußten aufgeboten werden. Beim Nahen des Festes schafften 
die Bauern der Umgebung aus eigenen Stücken und unentgelt- 
lich Holz zum Bühnenbau herbei. War an den Spieltagen 
schlechtes Wetter, so wurde die Vorstellung abgesagt und alle 
Mühe war umsonst. 
Die Spieler behielten ihre Rollen, solange es ihre Rüstigkeit 
erlaubte, und vererbten sie oft den ihrigen: Wie in Oberammer- 
gau konnten Rollennamen zu Familiennamen werden. Reiche 
wurden von ihresgleichen dargestellt, weil sie allein in der 
Lage waren, sich prächtige Kostüme zu leisten®). Den Ärmeren 
gab man zu ihrer Ausstattung einen Zuschuß, und die Ärmsten 
bekamen noch eine Gabe obendrein, während die anderen 
ohne ‚‚Interesse‘“ spielten. Immerhin gab es nach Ostern eine 
gemeinsame Mahlzeit, wo man sich schadlos halten durfte. Es 
war eine Art Spielgemeinschaft entstanden. ‚‚Wenn einer starb, 
so gingen alle, auch der Direktor, mit brennender Kerze mit 
der Leiche?).‘“ 

Am Karsamstag klang die Veranstaltung aus. Josephs Brü- 
der, die Juden, Christus mit dem Kreuz, die Mutter, das von 
Jungfrauen getragene Lamm, Kreuzschleifer, Ausspanner und 
Geißler nahmen an der Prozession noch einmal teil. 

Ergänzend und um das Spiel in seine Zeit zu projizieren, lasse 
ich nun die wenigen geschichtlichen Notizen folgen, die mir 
bekannt geworden sind‘). 


1) 1799 beide gleichzeitig; 1803 nur Reiß. 

s) Deblersche Chron. IX, Pars XVIII. 

8) Entgegen Holzwarth erzählt Debler, daß die Einnahmen zur Kröksung 
des Kostüm- und Dekorationsfonds verwendet wurden. 

4) Rechtschreibung und Interpunktion gleiche ich der heutigeri an, da ein 
buchstäbliches Erfassen der flüchtigen Handschrift Deblers oft ausgeschlos- 
sen ist. 


Chronikalische Notizen. 05 


1727 starb am 30. Juni ‚der Beförderer der Karfreitagsvor- 
stellungen Johannes Gfrereis, Meßner zu St. Johann da- 
hier‘“!). Mit dieser Nachricht ist der terminus ante quem 
für den Beginn des Spieles gegeben. 

1741 Zum März bemerkt Guardian Weidmann im Minoriten- 
protokoll?): ‚Hoc anno Dominicae Passionis Exhibitio 
omissa fuit.‘“ 

1769 Älteste Handschrift, s. o. S. 91f. 

1783 Schreiben des Generalvikariats in Augsburg, welches die 
Geistlichen allgemein, ohne auf Gmünd Bezug zu neh- 
men, zur Unterdrückung der Passionsdarstellungen auf- 
fordert?). — Es sei daran erinnert, daß man gegen Einde 
des 18. Jahrhunderts überall im katholischen Deutsch- 
land die späten Nachkommen des geistlichen Schauspiels 
auszurotten versuchte‘). 

Debler erzählt5): ‚1783 wurde das Kreuzschleifen, Gei- 
ßBeln, Ausspannen verbot(en).. Die Bußkleider waren 
schon länger abgetan und (hatten) auf Karsamstag weder 
bei den Gräbern noch sonst herumgehen dürfen. Bei der 
Prozession im Karfreitag durfte auch weder Judas noch 
Tod mitgehen. Auch durfte man mit dem Passionsspiel 
am Karfreitag nicht gehen, sondern man trug das Grab 
Christi allein herum. 

1791 „Dies Jahr haben die Actores in Karfreitag kein Bestes 
(fertig) bekommen. Siewaren schon baß darüber. Directores 
waren D. Thomas Kratzer et Jos. Beetz, Canonici®).‘ 


1) Kurze Chronik der Stadt Gmünd. Manuskript aus dem Nachlaß des 
M. Ils. Auszugsweise veröffentlicht in Gmünder Chronik, Gmünd 1908—09, 
2. Jahrg., S. 7; auch bei Grimm, s. o. S. 90, Anm. 2. Herrn Dekan Ummen- 
hofer in Gmünd verdanke ich die Mitteilung, daß Johannes Gfrereis in den 
dortigen Kirchenbüchern nicht nachzuweisen ist. 

s) Zur Gesch. d. ehem. Minoritengymn. z. Schw.-Gmünd, D v S. 1906, 
S. 106, Anm. Der anonyme Verf. d. Art. ist sich unklar über die Bedeutung 
des obigen Zitates. 

2) B. Klaus, Zur Gesch. d. kirchl. Verh. d. ehem. Reichsst. Schw.-Gmünd 
etc. W. Vjhsh. 1904, S. 184. 

*) Vgl. K. Trautmann, Oberammergau u. s. Passionsspiel, Bamberg 1890, 
S. 68 ff.; Ad. Pichler, Über d. Drama d. Mittelalters in Tirol, Innsbruck 1850, 
S. 72 ft. 

5) Chr. Bd. V, Pars IX, S. 218. 

6, Deblersche Chr., Bd. V, Pars IX, S. 241. 


96 


Anhang: Das Passionstheater von Schwäbisch-Gmünd. 


1792 ‚Im Grünen Donnerstag, Karfreitag und Karsamstag hat 


1793 


1797 
1798 
1799 


1800 
1801 


es beständig geschneien und geregnet. Die Prozession 
wurde nicht gehalten!).‘ 

„Dies Jahr spielte man wieder das Passionsspiel. Auch 
die Prozession wurde gehalten. Der Stiftsdekan (war) 
auch bei andern geistlichen Spiel nicht mitgegangen, wohl 
aber Magistratspersonen. Man sagt davon ganz laut, 
daß die geistlichen Herren wohl mit der Eselsprozes- 
sion (im Palmsonntag?)) gehen können, mit der Passions- 
prozession aber sich schonen wollen, weil solche ihnen 
nichts zutragen?).‘ 

Singspiel: Der Weinberg des Hausvaters®). 

Vorspiel: Abraham‘). 

Vorspiel: Joseph, von seinen Brüdern erkannt. — In 
ihrem Schriftchen ‚‚Jesus der Leidende‘“ verteidigen sich 
die beiden Directores gegen die Vorwürfe der Spielfeind- 
lichen. Wegen der Mißbräuche bei einer guten Sache 
brauche man die Sache selbst nicht zu verwerfen. ‚‚Wir 
empfehlen also wiederholt jedem guten Mitbürger mit 
dieser Erinnerung die Vorstellung: selbe ja nicht als ein 
Spiel der Unterhaltung, sondern als eine diesen Tagen 
angemessene erbauende Betrachtung anzusehen.“ In 
diesem Sinne wird die Platzordnung erlassen: ‚Eltern 
werden freundschaftlichst gebeten, ihre Kinder zu beob- 
achten oder zu Hause zu lassen; weil der Lärmen zucht- 
loser Kinder lange her schon dies Trauerstück zum Ärger 
Gutgesitteter geschändet hat.“ 

Vorspiel: Der verlorene Sohn?). 

fiel die Prozession am Palmsonntag ‚wegen angesagter 
französischer Besatzung aus“. Debler®) schreibt dazu: 


. „So wird wohl das Passionsspiel samt der Prozession 


auch zurückbleiben, wiewohl schon alles gerichtet und 
gewöhnlicher Aufwand gemacht worden.‘ Einige Tage 


1) Deblersche Chr., Bd. V, Pars IX, S. 247. 
s) Klammer im Original. 

s) Deblersche Chr., Bd. V, Pars IX, S. 278. 
4) Deblersche Chr., Bd. IX, Pars XVII. 

5) Deblersche Chr., Bd. IX, Pars XVIII. 

6) Chr., Bd. V, Pars X, S. 133 f. 


1802 


1803 


Chronikalische Notizen. 97 


später: ‚Man hat der Direktion des Passionsspiels melden 
lassen, man sollte das Theatrum nicht so geschwind auf- 
machen. — Die Actores von dem Passionsspiel ließen sich 
aber nicht hindern, gingen zum französischen Komman- 
danten, der ihnen ans Ordnung (Anordnung?) und auch 
Tun (?) versprochen. Man spielt also ungeachtet der 
Gefahr, so daraus entstehen könnte, das Passionsspiel. 
Man glaubte anfangs die Leute zu weisen, es half aber 
nichts. Die Franzosen gingen nicht und die Bürger woll- 
ten absolute das Passionsspiel aufführen. Am Grünen 
Donnerstag wurde das Passionsspiel aufgeführt und das 
mit der schönsten Ordnung. Die Franzosen stellten sich 
auf einen Platz und betragen sich ganz ruhig und still. 
Man kann sagen, daß (es) nicht bald so eifrig her ging. 
Am Karfreitag marschierten diese in der Frühe ab. Es 
kamen aber über 2000 Franzosen an, ca. 1000 Mann blie- 
ben in der Stadt. Man hat auch mit dem Spiel gewartet 
und hat erst angefangen um 153 Uhr wegen der franzö- 
sischen Offiziers. Es wurde auch die gewöhnliche Pro- 
zession gehalten. Alles war ruhig und still abgelaufen.‘“ 
Mangel an Betriebsamkeit ist nicht der Grund, wie 
diese Worte überzeugend lehren, daß zwei Jahre später 
das liebgewordene Spiel zum letzten Male die Stadt er- 
götzte. Auch die Eintragungen vom folgenden Jahr zeu- 
gen dafür: 
„Dies Jahr war es an Karfreitag und Donnerstag sehr 
schlecht Wetter. Es schneite und regnete beständig. Herr 
Direktor Jos. Nep. Reis kam mit den Actores überein, 
das Passionsspiel auf der Schmalzgrube!) zu spielen. Es 
war schon mehrmals der Fall, daß man nicht spielen 
konnte. Herr Direktor getraute sich aber, diese (= die 
Passion) mit so viel Personen auf der Schmalzgrube auf- 
zuführen. Allein dieshalb ist es geschehen und hat sich 
getan.‘ 
Mit der Energie der Theaterfreudigen wächst auch die 
gegnerische Bewegung. 1802 war Gmünd an Württem- 
berg gekommen. Die unkirchlichen Kreise mußten sich 


1) In der Schmalzgrube, dem Gebäude d. Minoritengymnasiums, befand 
sich ein einfaches Kulissentheater, 3. u. S. 113 £. 


Th. F. 


41. 7 


98 


1804. 


Anhang: Das Passionstheater von Schwäbisch-Gmünd. 


gestärkt fühlen. Den Protestanten standen die Tore nun 
offen. Auch den Lebendigsten mochte die politische De- 
mütigung, die Preisgabe aller Rechte der freien Stadt 
bedrücken und der alten Schaulust entfremden. Wie apo- 
logetisch muß sich das Programmheft dieses Jahres ein- 
stellen: ‚Wir bitten also um bescheidene Nachsicht und 
erklären: daß wir keine Schauspieler sind und unsere 
gesellschaftliche Freude nur für bürgerlichen Sinn und 
sittliche Anwandlung gelte; in dieser Rücksicht bitten 
wir, uns und unsere Vaterstadt mit schiefer unbrüder- 
licher Beurteilung mittelst öffentlicher Zeitungen zu 
verschonen, ungestört uns das Unsrige, so wie wir 
jedem das Seinige gern gönnen!), zu las- 
sen und uns die christliche Duldung, die sich über alles 
liebevoll ergießt, zu schenken.“ 

Tiefe Resignation verraten Deblers Eintragungen von 
Am Grünen Donnerstag: ‚Das Passionsspiel blieb unter- 
weg, weil solches absolute von dem Oberamt?) verboten 
worden ist. Es soll aber von der Regierung gekommen 
sein, daß man das Passionsspiel halten dürfte. Es war 
aber zu spät. Man wird wohl zu spät noch einsehen, daß 
dem Bürger alle Nahrungszweig abgehauen worden — 
— aber es wird zu spät sein. Die 12 Jünger?) gingen in 
der Stadt herum nach alter Sitte*).‘“‘ — ‚Am Karsamstag 
blieb. die Prozession hinweg.‘‘ — ‚Es war nicht, als wenn 
die Karwoche gewesen wäre. Es war ein Zwangs ... .°). 
Man nehmt uns nicht nur die politische, auch die geistlich 
Freiheit nehmt man uns. Wenn nur nicht alles so schnell 
und Schlag auf Schlag folgen täte! Der Katholizismus 
ist den Lutheranern ein Dorn, den sie ausrotten wollen. 
Das ist des Höchsten Wille nicht.“ 


Später, als Gewohnheit die Gmünder mit dem neuen Regime 
ausgesöhnt hatte, urteilte der Chronist anders: ‚1804 wurde 

ı) Im Original gesperrt gedruckt! 

s) Der neuen württemb. Regierung. 

°) „Am Gründonnerstag bettelten die ‚12 Apostel‘ durch die Stadt und 
empfingen dann ein gestiftetes Mittagsmahl‘‘ (Oberamtsbeschreibung, S. 272 
— 8.0.8. 90, Anm. 3). 

“) Deblersche Chr., Bd. VI, Pars XI, S. 195. 

6) Unleserlich. 


Bemerkungen zur Platzskizze. 099 


das Passionsspiel zum erstenmal unterlassen, und das mehr aus 
Anstiftung der Geistlichen!). — Den geistlichen Herren ist 
Kommodität lieber als Bürgernahrung, sie leben von ihren 
sicheren Einkünften und lassen den lieben Gott walten, es 
gehe bald dem Bürger, wie ihm wolle.‘ 

Trotzdem gehörte der Spott der Protestanten und Auf- 
geklärten auch zu den Widerständen, die der alten Tradition 
ein Ende setzten. Das Programmheft von 1803 schlug sich 
mit Gegnern aus diesem Lager. Lassen wir ihrer einen?) zu 
Worte kommen: ‚Die Volksaufklärung (in Gmünd) ist noch 
in der Wiege und erwartet erst von der neuen Regierung ihre 
glückliche Wendung. Denn noch nicht gar lange wurden Je - 
suitischeReligionskomödien auf offenem Platz 
gespielt.‘“ 

Endgültig wurde der Kampf entschieden, als im Jahre 1812 
die letzten Bestrebungen scheiterten, das Spiel, ‚weil es der 
Stadt etwas zu verdienen gebe‘, neu zu beleben?). 

Mehr habe ich quellenmäßig über die Geschichte des Pas- 
sionsspiels von Gmünd nicht aufgefunden. Wenn ich die zu- 
sammenhängende Veröffentlichung dieser chronikalischen Nach- 
richten einer Zerklitterung unter Gesichtspunkte vorzog, so 
geschah es aus Ehrfurcht vor der rührenden Redlichkeit dieser 
Dokumente, deren Anteil an der Geschichte des Spieles nicht 
übersehen werden darf. 


Bemerkungen zur Platzskizze (Abb. 3) 


Das Theater (T) stand ‚vor des Magisters Haus“ (A). ‚‚die 
Persohnen gingen durch die Fenster aus und ein und kleideten 
sich um in der Schulen.“ ‚Der Kreyes vor dem Theater“ 
ging bis zur „unteren Kirchtür‘ (P,) und „zum Gäßlein‘“. Er 
ist nach einer schematischen Skizze der Deblerschen Chronik 
(Bd. IX, Pars XVIII) eingezeichnet, welche die vier Parallelen 
von der untersten Schranke bis zum Podiumsrand in ungefähr 
gleichen Abständen gibt. Eine abweichende Anordnung wurde 
getroffen, um dem seitlichen Eingang, den die Skizze nennt, 

ı) Deblersche Chr., Bd. IX, Pars XVIII. 
2) Röder, Geogr. u. Stat. Württembergs, 2. Th., Ulm 1804, S. 86. 
3) Marquardt, a. a. O. (s. o. S. 90, Anm. 6). Sollte damit die Abfassung 
der Holzwarthschen Kopie zusammenhängen? 
7 ” 


100 Anhang: Das Passionstheater von Schwäbisch-Gmünd. 


Raum zu schaffen; er hält dem zahlenden Publikum den Zu- 
gang offen, wenn auf dem östlichen Teil des Platzes, wo sich 
die Zaungäste drängten, nicht mehr durchzukommen war. Die 
Kirchhofmauer ist nach alten Plänen eingefügt. Sie wurde 


Südlicher 
Kirch plalz 


Nördlicher Kirchplatz zuGmünd 
mit dem Fassionsihealer 


Abb. 3. Grundriß des Nördl. Kirchplatzes zu 
Gmünd mit der Passionsbühne. 


1815abgebrochen. Die 
Länge der Straßen- 
front der ehemaligen 
Lateinschule (A) be- 
trägt 15,47 m, des 
Hauses B 10,89 m, des 
Hauses C 20,91 m. 
Der westliche Teil 
des nördlichen Kirch- 
platzes vom Haus A 
bis zum Sonnengäßle 
umfaßt ca. 500 qm, 
der östliche vom Son- 
nengäßle bis Haus D 
1050 qm. 

= Theater, 

= Ölberg, 

= Portale, 

= Eingänge der 
Schranken, 
Ehrenloge, 

= Musikanten. 


emo, 


B ® 


Der Text 


Das Gmünder Pas- 
sionsspiel ist textlich 
kaum von Interesse. 
Abgesehen von seinem 
unbegreiflich geringen 


Wert, der allein schon eine literargeschichtliche Betrachtung 
von sich weist, ist es auch historisch ohne Reiz. 

Die Erfahrungen der Oberammergauer Textforschung ma- 
chen ohne weiteres verständlich, daß es trotz eifrigen Suchens 
nicht gelang, auf die Quellen des Gmünder Spieles zu stoßen. 


Der. Text. 101 


Solange die Alexandrinerdichtuäg, des Pater Rosner von 1750, 
die nahezu eine Neugestaltung genannt werden muß, der älteste 
bekannte Text des Oberammergauer Passionsspiels war, ließen 
sich die Quellen nicht ermitteln. Erst’ das Bekanntwerden einer 
früheren Fassung von 1662 eröffnete Jen: interessanten Zu- 
sammenhang mit den beiden Augsburger Dramen. 

Die Lage in Gmünd ist insofern eine verwandte; als der Text 
von 1769, wenn er nicht selbst das Original ist, fraglos auf eine 
Neudichtung um die Jahrhundertmitte zurückgeht. Vergiichen 
mit dem Text des Pater Rosner, ist er überaus moderr. Der 
schwülstig überzierte Stil des Ettaler Priesters war zu seiner. 
Zeit bereits ziemlich antiquiert. Gegen das 1739 erstandene 
Passionsspiel von Böhmenkirch, das neben meistersingerlichen!) 
und barocken Tönen und der neuen Einfachheit ein beschwing- 
tes Rokoko in den Schäferliedern erklingen läßt, sticht der 
Gmünder Text mit seiner nüchternen Farblosigkeit ungefällig 
ab. Der bewußte Verzicht der rationalistischen Dichtung auf 
die Stilblüten des Literaturbarocks ist hier zu einer seichten, 
schmucklosen Geschwätzigkeit und einer kindlichen Umständ- 
lichkeit entartet. Bezeichnend ist allein, daß das Stück mit 
seinen 3542 Versen weder die Kreuzigung, noch die Magdalenen- 
episode behandelt, Szenen, die viele älteren und neueren Pas- 
sionsspiele mit der gleichen oder einer geringeren Verszahl 
noch bewältigen. Dabei werden die Angaben der Evangelien 
keineswegs selbständig erweitert; Charaktere werden nicht 
schattiert, Motive nicht ersonnen. Der Mangel an Komik, den 
Wilken?) als typischen Zug des schwäbischen Dramas erkennt, 
ist auffällig. Eine Textprobe sei wegen der Seltenheit des 
Holzwarthschen Drucks herausgegriffen (V, 550 ff.): 


„Nun liebste Jünger hört mich an, 
Hört, was euch vor ich trage. 

Ihr wisset, was ich erst gethan; 
Jetzt hört auch, was ich sage; 

Ihr nennet euren Meister mich 
Zugleich auch euren Herren; 

Zu thun auch, was gethan hab ich, 
Soll euch mein Beispiel lehren, 


1) Vgl. 0. 8. 86f. 
2) Gesch. d. geistl. Spiele in Deutschland, Göttingen 1872, S. 300. 


102 Anhang: Das Passionstheater von Schwäbisch-Gmünd. 


Ich neigte mich erst kurz vorher 
Gar bis zu euren. Füßen, 
Ihr sahet selber (euch zur Lehr) 
Mit Wasser mich begiessen. 
Doch! üund das bringt mir großen PrDER 
Ihr seid nit all gereinigt; 
Und dies durchschneidet mir das Herz, 
- „Dies ist, was mich sehr peinigt. 
»"* Aus euch wird Einer heut noch mich, 
O unerhörte Thaten! 
Aus euch: (das wahrlich sag euch ich) 
Wird einer mich verraten.‘ 


In der Ausdehnung der Marienklagen!), die allein vier Szenen 
erfüllen, wird man, wie gering ihr literarischer Wert auch ist, 
eine Bereitschaft des Publikums zu gefühlsbetonter, lyrischer 
Dichtung erkennen. Ältere Elemente durchschimmern nur 
ganz selten in Arien oder Gebeten den gleichmacherischen neuen 
Stil. Eine Wendung wie „die Rosen aller Üppigkeit‘ ent- 
stammt wie die folgenden Verse gewiß der barocken Vorlage: 


„Nun jag’ jetzt fort aus deinem Schoß 
Betrügliche Ergötzlichkeit! 

Die Demuth sei dein Ziel allzeit, 

Der Dorn der Buß’ dein Wollusts-Ros’2).“ 


Von dieser Vorlage verschafft die ältere Fassung?) (A) eines 
Singspiels einen Begriff, die neben ihrer rationalistischen Be- 
arbeitung®) (B) in der Deblerschen Chronik überliefert ist. 


ı) Hier gelingt dem Dichter sein Bestes. Maria klagt: 
„Es ist noch fruh! Doch nit zu fruh! 
Mein Lieb ja allzeit wachet! (zu Johannes): 
So führe ach führ uns dort hin! 
Wo Jesum sie verwahren! 
Die Lieb ist wie der Tod so kühn, 
Sie fürchtet kein G’fahren. (V, 2143 ff.) 
») V, 2983 £f., zit. nach der Handschrift von 1769. 
3) Deblersche Chr., Bd. IX, Pars XVIII, ‚die Sieben Tod Sünden“, 
S. 133—135. 
4) Deblersche Chr., ebd., S. 140—143, „Jesus von sieben Todsünden um- 
geben.“ 


Der Text 


103 


Die Sieben Todsünden schildern ihren Anteil an der Kreuzigung 
des Herrn. Wir drucken eine Parallele ab: 


A 
Zorn: 


Der Zorn zuletzt und größten 
Schmerz 


wird öffnen das entseelte Herz. 


Trägheit: 

Ob zwar nicht gern bemühe 
mich, | 
Wird dennoch triumphieren 

ich, 
Wenn das geneigte Haupt 
kein Ruhstatt wird mehr fin- 
den. 


B!) 

Zorn: 

Wenn schon erschöpft wird 
sein all Schmerz, 

Glaub doch d(aß) ich nicht 
schlafe, 

Ich werd durchbohren dir 
das Herz 

Zu deiner letzten Strafe. 


Trägheit: 

Die Trägheit sich nur Ruh er- 
laubt, | 

Doch wird sie dich so binden, 

daß dein geneigtes Königs- 
haupt 

Kein Ruh am Kreuz wird fin- 
den. 


Die Fassung B hat ganz die Sprache des Passionsspieles. 
Die Schönheit der Vorlage läßt der eingeebnete Text nicht 
mehr ahnen. Wie gewaltig klingen die letzten Worte der Fas- 
sung A in ihrer barocken Wucht: 


Alle: „Dich Höllen, ungeheurer Schlund, 
Dich öffne Abgrund ohne Grund, 
Laß aus schoßgeschwängertem Rachen 
Quallende Donner, Blitz und Hagel erkrachen, 
Bis daß zersplittert Berg und Kluft 
Und Gott das Consummatum ruft.“ 


Die Handschrift fügt die Bemerkung hinzu: „Diese Sprüche 
sind in neuerer Zeit alle ganz neu componiert worden, folglich 


diese ausgelassen worden.‘ 


Der rationalistische Bearbeiter 


konnte sie wohl nicht übersetzen. 
Darf man von diesem Singspiel auf das Passionsspiel selbst 
einen Analogieschluß tun, so geht der Passionstext von 1769 


ı) Zorn und Trägheit sprechen in umgekehrter Reihenfolge. 


104 Anhang: Das Passionsthester von Schwäbisch-Gmünd. 


auf eine barocke Fassung zurück, die jedenfalls zum Teil in der 
zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts entstanden ist. Über die 
Anfänge des Spieles auf G münder Boden ist damit natür- 
lich nichts ermittelt. 


Bühne und Spiel 


Die Gestalt der Bühne ist oben behandelt worden. Der 
Grundriß — in Übereinstimmung mit einer Grundrißskizze 
Albert Kösters!) — kann aus Abb. 3 entnommen werden. 
Hier gilt es nur, die Art der Überlieferung ins Auge zu fassen. 


Abb. 4. Die Passionsbühne von Schwäbisch-Gmünd. 
Nach einer kolorierten Handzeichnung aus der Deblerschen Chronik. 


Weder die Farbskizze (A)?) noch das Ölgemälde (B) sind da- 
tiert. Anhaltspunkte indessen lassen sich finden. A, ein Blatt 
der Deblerschen Chronik, wird nur durch wenige Seiten von 
der Handschrift des Passionsspieles von 1783 getrennt. Man 
wird sie also auch zeitlich nicht auseinanderzurücken haben. 
Ferner besagt eine Notiz?) (wahrscheinlich ein späterer Zu- 
satz): „In neuerer Zeit war die Höll im Oehlberg, er hat sich 
gespaltet und zugethan. Davor wurde aber der Ölberg ver- 
größert bis an das Theater.‘‘ Dies ist nun der Fall auf dem 
Ölbild, dessen jüngeres Datum damit feststeht. Da das Spiel 
nur bis 1803 währte, ist kein allzu großer Spielraum vorhanden. 

1) Theatermuseum München. 


2) Abb. 4. 
8) Deblersche Chr., Bd. IX, Pars XVIII, unter der kolorierten Zeichnung. 


Bühne und Spiel. 105 


Der wesentlichste Unterschied der beiden Bilder ist in der 
Tat die verschiedenartige Gestaltung der simultanen Deko- 
rationen. Auf A: ein altertümliches Nebeneinander dürftig 
ausgestatteter Teile (Ölberg, Baum des Judas und Höllen- 
rachen). Der Ölberg ist kein realistisches Gebilde, sondern 
ein Symbol: ein senkrecht aufgereckter Busch, gekrönt von 
dem Emblem des Kelches. Vielleicht deutet die steigende, 
leider sehr unklar gezeichnete Stufe darauf hin, daß auf dem 
verlängerten Podium doch eine kleine Erhöhung geschaffen war. 
Auf dem Ölgemälde ist aus dem vielheitlichen Nebeneinander 
eine einheitliche Landschaft geworden. Der Geist einer an- 
deren Zeit hat sich endlich erfüllt. Der Höllenrachen, nunmehr 
unsichtbar, hat im Berge Platz gefunden, der sich dadurch zu 
plastischer Gestalt umbilden mußte. Er hat sich der Natur 
genähert; Gras und Steine glaubt man zu erkennen. Auch 
der Baum des Judas scheint verwandelt. Aber gehen wir nicht 
zu weit! Das dramatische Dunkel, die Bewegtheit der Figuren, 
der Fluß der Landschaft zeigen an, daß der Künstler dem Fluge 
seiner Phantasie zu folgen verstand. 

Bild B ist insofern weniger lehrreich, als es die beiden 
Kulissenräume geschlossen hält und nur den mittleren Durch- 
gang öffnet. Ein weitmaschiges Gitter, hinter dem Christus 
kniet, schließt ihn nach vorn hin ab. Den Einblick hindert 
nächtliches Dunkel. 

Am Maßstab der Personen lassen sich annähernd die Aus- 
maße der Bühne bestimmen. Das wenig über 1 m erhöhte 
Proszenium, von der rechten Treppe bis zum Beginn der Öl- 
bergszenerie gemessen, wird eine Länge von 10 m und eine Breite 
von 3m haben. Die Öffnungsweite der Hinterbühnen geht 
aus dem Ölbild mit etwa 2Y, m, die mittlere Höhe mit 3%, m, 
die Breite der Durchgänge mit 1 m hervor. Behält man die 
Höhe der Abschlußwand oder des Podiums als Maßstab bei, 
so führt Bild A zu ganz anderen Resultaten: Gesamtlänge des 
Proszeniums 18—20 m, Länge der Abschlußwand 15—16 m, 
Rahmenweite der Hinterbühne 414, m, der Durchgänge 11%, m. 
In Abb. 3 ist der Grundriß der Bühne diesen Größen ange- 
nähert, weil allein sie den Dimensionen des nördlichen Kirch- 
platzes entsprechen. | 

Geringer zu bewerten ist der Unterschied der beiden Bilder 


106 Anhang: Das Passionstheater von Schwäbisch-Gmünd. 


in den Ornamenten der Abschlußwand. A läßt die hellen 
Kreisflächen nur eben umrahmen, während sie auf B zu Mittel- 
gliedern eines aufgelösten Giebelfeldes geworden sind. B ver- 
wendet als seitlichen Abschluß über den äußersten Pilastern 
je einen kleinen Obelisken. Auf beiden Bildern, besonders aber 
auf A, sind die Ornamente flüchtig und unzuverlässig behan- 
delt. Sie für eine genauere Datierung auszuwerten, geht nicht 
an. Übrigens zeigen die Bilder in anderen Einzelheiten viel 
Übereinstimmendes: die Gliederung der unteren Abschluß- 
wand, die blaugelbe Streifung der Vorhänge, die Anzahl und 
Anordnung der Laternen und brennenden Schalen sind beiden 
gemeinsam. | 

Zu Abb. 4 (A) sei noch bemerkt, daß die geöffnete Hinter- 
bühne vier Kulissenpaare, und zwar abwechselnd ein rotes (in 
der Reproduktion hell) und gelbes zeigt. Der Boden ist rot 
und blau kariert. Pilaster und Ornament bewegen sich in 
rot und gelb. 

Den allgemeinen Ausführungen über Auftritte und Abgänge 
_ und die Verwendung der Hinterbühne in Gmünd (. o. S. 83 ff.) 
hier eine Beschreibung des Bewegungsverlaufs im einzelnen 
folgen zu lassen, dürfte sich kaum verlohnen. Bei der Unvoll- 
ständigkeit der Spielanweisungen wäre man zum Teil nur auf 
Vermutungen angewiesen. 

Eine Untersuchung des darstellerischen Stiles kann nur 
Umrisse erfassen. Eingelegte Rezitative, Arien und Duette 
geben der Gesamteinrichtung bisweilen ein opernhaftes Ge- 
präge. Zu der größtenteils als stumme Szene dargestellten 
Geißelung sagt der Regisseur offenbar selbst in der Hand- 
schrift von 1769: „Exhibitio prima. Weil Christus entblösset 
und an die Saul gebunden, machen der Engel und die Seele 
die erste Sonata. NB. Secundum meum tenue iudicium, angelus 
et anıma hanc Christi denudationem taciti, sed affectuose con- 
sideranto, qua (sc. denudatione) perfecta mox potest claudi, 
et incipi Sonata, propter commodiorem deinceps exhibitionis 
Sub Sonata faciendae mutationem.‘‘ Auch die große Sorgfalt, 
mit der die erhabenen Gesten und Bewegungen der biblischen 
Erzählung zum Ausdruck gebracht werden, spricht für eine 
feierliche Getragenheit des darstellerischen Stiles. Die Regie- 
bemerkungen zur Ölbergszene lauten: ‚ad patrem orat“, „hic 


Bühne und Spiel. 107 


Christus oraturus genuflectit, et discipuli dormire incipiunt‘‘, 
„hic surgit et vadit ad discipulos‘‘, ‚‚redit ad locum orationis“, 
„Iterum orat ad Patrem‘“, „hie iterum surgit et vertitur ad 
discipulos“, ‚„Redit iterum ad locum orationis. Tertio orat ad 
patrem‘, „hic labitur Christus primo in faciem, et venit an- 
gelus confortans‘“, „Sub (vel post secundam strophulam semel 
cantatam si repetenda sit) labitur Jesus secundo in faciem, et 
ad initium Strophae tertiae ab Angelo item elevetur, vel se 
ipsum erigat‘, ‚„Surgit et tertio convertitur ad discipulos‘, ‚‚hic 
evigilent sed statim iterum obdormiant‘“, ‚„Redit tertio ad lo- 
cum orationis, et tertio procidit in faciem‘‘. Kein repräsenta- 
tiver Zug der biblischen Darstellung wurde übergangen, von 
der einen Ausnahme des Blutschwitzens abgesehen, das nur mit 
plumpen Mitteln naturalistisch vorgestellt werden konnte. 
Selbst die gewöhnlich ins Derb-Allzunaturalistische aus- 
artenden Szenen der Geißelung und Verspottung Christi, wie 
wenig sie auch mit Worten sparen, weisen kaum eine Spiel- 
anweisung auf, die über die biblische Erzählung hinausginge!). 
Die nicht sehr zahlreichen selbständigen Bemerkungen, soweit 
sie sich auf die Darstellung beziehen, zeigen durchweg Sinn für 
große Gesten, Pausen und gesteigerte Betonung?), ohne sich 
von dem Boden der Natur zu entfernen. 

Ein Schauspielstil dieser Art wurde nicht von Komödianten 
erlernt und Wandertruppen. Oper, Andacht und Natürlich- 


1) Der Anschluß an die Bibel ist überhaupt sehr stark. In diesem Sinne 
interessiert besonders eine Spielanweisung aus der „Gefangennahme‘“: ‚„NB 
Joannes vel Petrus (fugiente Jacobo) Jesum captum possunt sequi, sed NB 
per intervalla, etalonge, ne Evangelistis contra dicatur.“ 

2) Einige Beispiele: „‚Benedicat (Christus) matrem genuflectentem.‘“ ‚„Col- 
labascit Maria, cui sucurrent Magdalena et Martha.‘ „‚Recolligit se Maria et 
surgit inter sublevantium bracchia.‘‘ — (Gefangennahme.) Text: „Seht mich 
an ob ihr mich nicht kennt, Denn selbsten ich bin jener.‘ Spielanweisung: 
„hoc mich debet emphatice pronuntiari vel deberet aliter poni, e.g. sic: Seht 
an mich.‘ — „Hic (Joannes) dolens suspiret.... hic pauset paulisper, quasi 
dolor vocem intereluderet (sic!).‘“ ‚(Maria) jacet vel pendet quasi ex illarum 
bracchiis.‘‘ „,NB hic affectus et actiones textus bene conformentur.‘‘ — ,„Viso 
Jesu, dum per theatrum ducitur. (Maria) voce submissa.‘“ — ‚hic pausat 
Pilatus, quasi responsum expectans.‘“ „Pilatus voce elevatiore et commota.“ 
„Pilatus intrat perturbatus.“ ‚...in ira‘. — „(Maria) suspirat, paulisper 
pausans.“ „(Christus) amplectitur crucem, osculatur crucem.‘‘ „hie Maria cruci 
propinquet, quasi eam a filii humeris in suos translatura.“ 


108 Anhang: Das Passionstheater von Schwäbisch-Gmünd. 


. keit paarten sich im Spiel der Jesuiten. Man wird sich vor 
allzu kühnen Schlüssen hüten müssen, da der darstellerische 
Stil sich rasch wandelt. Gewiß bestimmten die wechselnden 
Persönlichkeiten der Regisseure stärker als die Tradition das 
Spiel. Dem Verfasser unserer Regiebemerkungen immerhin 
mag die 1727 erschienene ‚‚Dissertatio de actione scenica‘‘ des 
Jesuiten Franciscus Lang bekannt gewesen sein. 


“ Über die Kostüme sind wir bestens unterrichtet. Holz- 
warth, der aufbewahrte Reste in seiner Jugend gesehen haben 
will, meint, daß sie ein Gemisch aus altjüdischer und bürger- 
licher Tracht des 18. Jahrhunderts gewesen seien. Die An- 
gaben Deblers!) bestätigen und differenzieren diese Behaup- 
tung. Christus trug einen ‚„Himmelfeil blauen langen Rock, 
roten Mantel über die Schultern geschlagen‘, Petrus einen 
hellblauen Rock und roten Mantel, Johannes einen roten Rock 
und blauen Mantel, Jacobus einen grünen Rock und blauen 
Mantel, Maria ein rotes langes Kleid, ‚„Schleiher auf dem 
Haubt, unten weiß und blau‘, Judas ein gelbes Kleid mit rotem 
Mantel, rotes Haar und Bart; der Hohe Priester war altjüdisch 
gekleidet, ‚alles von Seidenzeug‘; Pilatus und sein Notarius 
trugen türkische Gewänder. Ausgesprochene Farben, Bunt- 
heit war das Ziel, keineswegs Tönungen und Harmonien. Die 
Träger der Hauptrollen werden durch die Farbe des Gewandes 
herausgehoben. So haben Christus, Petrus und Judas einen 
roten, die übrigen Jünger einen blauen Mantel. ‚Joseph hatte 
ein feilblauen Talar an, grün Hut mit roth Bänder, weiße 
Schue, ein Schäfertasch und Stab. Die Brüder waren alle 
ganz weiß von Fuß bis auf den Kopf mit roth Bänder ein- 
gefaßt, ... Auf dem Haubt ein grün Hut mit roth Bänder 
und Strick hielt den Joseph an rot Taftbänder gefangen.“ 


Die Gmünder Passionskostüme sind in keiner Weise über- 
raschend. Historische Treue, wie sie Stephan Broelmann 
1581 in Köln erstrebte, ist höchstens für vereinzelte Leistungen 
des Schultheaters bezeichnend. Wie auf dem Gebiete der Oper 
und der gleichzeitigen bildenden Kunst begnügte man sich, 
den Eindruck des Historischen durch Exotik zu erwecken. 
Debler verweist bei seiner Kostümbeschreibung ausdrücklich 


1) Chr. Bd. IX, Pars XVIII. 


Theater in Gmünd. 109 


auf die ‚Original auf St. Salvator‘, dem mit Plastik des 
17. Jahrhunderts ausgestatteten Gmünder Kalvarienberg. Viel- 
fach, z.B. für Maria und Christus, stimmen die Angaben Deblers 
tatsächlich mit den ‚Originalen‘ überein. Altjüdische, römi- 
sche und türkische Tracht wird bunt verwechselt, und wo man 
verlegen ist, springt die Moderne willig ein: ‚Samson ware ge- 
harnischt mit geschlossem Helm, ein Esels Kihnbacken in 
der Hand. Die Philister hatten grünes Röcklein mit einem 
Harnisch ein Bickelhauben schwarze Beinkleider und Stiefel, 
ein Seitengewähr.‘‘ Auch die Pharisäer trugen ‚Harnisch samt 
Buckelhauben“, wie die ‚Notata Was bey denen Stationen 
. muß zugegen . . . seyn‘ aussagt. 


Weder unmittelbar die Quellen, noch mittelbar die Unter- 
suchung der textlichen, szenischen und darstellerischen Ver- 
hältnisse hat über die ältere Geschichte des Gmünder Passions- 
spieles greifbaren Aufschluß gegeben. Die Bühne ist jesuitischen 
Ursprungs. Wann und in welchem Entwicklungsstadium sie 
in die kleine Reichsstadt gekommen sein kann, ist unbekannt. 
Durch den Text schimmert eine ältere Fassung aus dem 
17. Jahrhundert hindurch. Ob bereits sie in Gmünd ge- 
spielt worden ist, liegt im Dunkeln. 


Als denkbarer Weg einer Lösung kommt nur noch die all- 
gemeine Betrachtung der Gmünder Theaterzustände in Frage. 


Theater in Gmünd 


Durch die Hindernisse, die sich mir beim Erfassen der 
Gmünder Chroniken!) und Urkunden auch bei längerem Auf- 
enthalt am Ort in den Weg stellten, wurde ich gezwungen, auf 
eine theatergeschichtliche Materialpublikation für Gmünd, wie 
sie Karl Trautmann für Nördlingen geleistet hat, zu verzichten. 
Allein die theatergeschichtliche Ausbeute des Gmünder Mate- 
rials würde kaum erheblich genug sein, um die folgende, aus 
der Bedeutung der Stadt und der schwäbischen Theaterzustände 
rückschließende Betrachtung überflüssig erscheinen zu lassen, 
hat doch keiner der zahlreichen und gewissenhaften Gmünder 


1) Zusammengestellt bei W. Heyd, Bibliogr. d. Württemb. Gesch. II; 
Stuttgart 1896, S. 92 ff. und F. Wagner, W. Vjhsh. 1881, S. 81 u. 1886, S. 1- 


110 Anhang: Das Passionstheater von Schwäbisch-Gmünd. 


Lokalhistoriker!) bisher eine Notiz über dramatische Auffüh- 
rungen vor dem 18. Jahrhundert bekanntgegeben. 

Die Stadt entfaltete sich unter der Gunst der Hohenstaufen 
und gelangte in den folgenden Jahrhunderten zu rascher Blüte. 
Ihre einstige Größe wird durch die Tatsache beleuchtet, daß 
sie im Jahre 1241 die doppelte Reichssteuer wie Ulm bezahlte?). 
Im 13. Jahrhundert wird sie Reichsstadt. Am Ende des fol- 
genden und Anfang des 15. Jahrhunderts sind die zahlreichsten 
Meßstiftungen zu verzeichnen?). Aber ihre Entwicklung hält 
mit anderen Städten nicht Schritt. 1427 ist Ulm mit schät- 
zungsweise 20 000 Einwohnern?) schon weit über Gmünd hin- 
ausgewachsen. 1499 wird eine Fastenerleichterung erlassen, 
weil ‚die Stadt in einer waldigen Gegend gelegen sei und wenig 
von durchziehenden Handelsleuten besucht werde®)‘‘, so daß 
bei der Beobachtung des Fastengebotes Verpflegungsschwierig- 
keiten entstehen. Der Schmalkaldische Krieg bringt der über- 
wiegend katholischen Stadt große Verluste. Im 17. Jahrhun- 
dert ist sie unabsehbar verschuldet®) und erhält nach der im 
Westfälischen Frieden erfolgten Regelung den 13. Platz auf 
der schwäbischen Städtebank, hinter Rottweil, Überlingen und 
Heilbronn. 

Zu der Zeit also, die für die Geschichte unserer Bühne in 
Frage kommt, war Gmünd eine abseits gelegene Stadt von mitt- 
lerer Größe. Nach außen unterhielten die Handelsbedürfnisse 
seiner Bürger eine nur einseitige Verbindung. Wandernde 
Schauspielertruppen haben die Stadt gewiß nur selten besucht. 


1) Das Wichtigste über die Geschichte Gmünds sei übersichtshalber schon 
hier genannt: 

Chroniken und Geschichten: Epples Chr., im Gmünder Intelligenzblatt 
1833—35; M. Grimm s. S. 90, Anm. 2; M. Ds, s. S. 95, Anm. 1. 

Ortsbeschreibungen: J. A. Rink, Kurzgef. Gesch. u. Beschr. d. Reichs- 
stadt Schw.-Gmünd, Gmünd 1802; Oberamtsbeschr. s. S. 99, Anm. 3; G. Stütz, 
Gmünd in Wort und Bild, Gmünd 1920. 

Einzelne Arbeiten v. E. Wagner u. B. Klaus (W. Vjhsh.), R. Weser (Schw. 
Arch. u. Remsztg.), A. Nägele, I. N. Denkinger, G. Stütz, W. Klein. 

2) W. Klein, Gesch. d. Gmünder Goldschmiedegew. Stuttgart 1920, S. 1. 

3) B. Klaus, W. Vjhsh. 1902, S. 274. 

4) K. Kretschmer, Hist. Geogr. v. Mitteleurop. München u. Berl. 1904, 
S. 494. 

6) B. Klaus, a. a. O., S. 284. 

6) Oberamtsbeschr., S. 250 (siehe S. 90, Anm. 3). 


Theater in Gmünd. | 11 


In der Tat ist ein Aufenthalt der Englischen Komödianten, die 
nachweislich in über 50!) deutschen Städten ihre Kunst sehen 
ließen, in Gmünd mit Sicherheit nicht festzustellen. Möglicher- 
weise haben sie die Stadt auf einer Tour gestreift, die sie im 
Jahre 1604 von Nördlingen aus über Heilbronn, Hall und 
Dinkelsbühl zurück nach Nördlingen führte. Sie wollen ‚Inn 
diser gegenndt‘ an ‚„Mehrern Orthen mit sonnderm wolgefallen 
der Zuehörer agiert haben?)‘“. 

Die einzige sichere Nachricht von durchziehendem Theater- 
volk vor dem 18. Jahrhundert gibt die Nördlinger Suppli- 
kation des ‚Marionettenspielers Jerg Wetzl mit 3 Mitconsorten“ 
von 1583°). Wir erfahren durch sie, daß der Unternehmer, von 
Gmünd kommend, ‚‚das gantze passion seithero jnn allen für- 
nemenn reichstötten des ganntzen Schwebischen chraisß, zu 
Memingen, Kempten, Kauffbeyren, Wannga, Waltza, Biberach, 
Rauenspurg, Pfullendorff, Iberlingen, anjetzo aber zu Schwe- 
bischen-Hall vnnd Schwebischen-Gminndt .. .‘“ gehalten habe. 
Auffällig ist das Fehlen der größeren Städte Schwabens. Die 
Ausbeute der ‚Provinz‘‘ mußte verlohnender sein als die der 
Großstädte. Gewiß war hier die Konkurrenz geringer, da 
die großen Gesellschaften ihrer hohen Unkosten wegen die 
kleineren Städte nicht besuchen konnten. 

Die Truppe des Joseph Voltolini, meines Wissens die ein- 

zige®), die im 18. Jahrhundert nach Gmünd kam, spielte dort 
1791 nach Ablauf ihrer Ulmer®) und vor Beginn ihrer Augs- 
burger®) Spielzeit. Debler erzählt im V. Band, Pars IX, S. 244: 
„23. Aug. sind hier angekommen Comödianten, 36 Personen 
stark. Direktor hiervon war Voltolini ; sie haben in der Schmalz- 
grube gespielt mit viel Beyfall. Hielt sich lange hier auf.“ 


1) S. Flemmings Zusammenstellung im Reallex. d. deutsch. Lit. Gesch. I, 
Berlin 1925/26, S. 272. 

°) K. Trautmann im Arch. f. Lit. 11, 626. 

3) K. Trautmann im Arch. f. Lit. 13, 68 f. 

“) Die Fallerische Schauspielgesellschaft wird laut Ratsprotokoll v. 1. Aug. 
1789 abgewiesen (f 278b). Die nächste Truppe ist erst 1802 anzutreffen. Sie 
führt am 8. Juni eine Oper auf und provoziert einen Skandal (Deblersche Chr., 
Bd. V, Pars X, S. 195). 

5) DvS. 1898, 39. 

°, F. A. Witz, Vers. einer Gesch. d. theatr. Vorst. in Augsburg, Augsburg 
1876, S. 54. 


112 Anhang: Das Passionstheater von Schwäbisch-Gmünd. 


Das Repertoire!) dieser Truppe war modern, neben Kotzebue 
und den Klassikern umfaßte es Oper und Ballet. Obwohl in 
den folgenden Jahren ähnliche Freizeiten zwischen der Ulmer 
und Augsburger Saison entstanden, kam Voltolini nicht wieder 
nach Gmünd. Man kann nur annehmen, daß sein pekuniärer 
Erfolg dem Beifall nicht entsprochen haben wird. 

Wenn der kleinen Reichsstadt die Kenntnis der von Berufs- 
schauspielern gepflegten Gattungen des zeitgenössischen The- 
aters in der Hauptsache versagt blieb, so könnte man erwarten, 
daß sie für das Laienspiel (dieses Wort im weitesten Sinne ver- 
standen) ein um so fruchtbarerer Boden gewesen sei. Man 
zählt auf das Theaterblut des süddeutschen Menschen und er- 
innert sich kleinerer Orte wie Kaufbeuren?) und Biberach?), 
die seit 1570 bzw. 1686 bis hinein ins 19. Jahrhundert eine 
ständige Komödiantengesellschaft unterhielten. 

"Allein die Rechnung wäre verfehlt. Ein reges literarisches 
Leben hat das alte Gmünd niemals bewegt. Seine glänzenden 
Namen sind die der Parler und eines Hans Baldung, Namen 
von Baumeistern, Bildhauern, Malern®). Im benachbarten 
Eßlingen ging es anders zu°). Nicolaus v. Wyle, Heinrich Stein- 
höwel, Peter Niger, Moritz Stifel, Joh. Lonicerus, Lukas 
Ösiander u. a. haben dort gewirkt. In Gmünd ist es still: Kein 
Buchdrucker®) verkörpert die geistige Strahlkraft der Stadt, 
kein großer Humanist hat die Lateinschule gefördert, kein 
Reformator vermochte hier Fuß zu fassen. 

So kann es auch nicht wundernehmen, wenn die zeitgenössi- 
sche Literatur?) über die Namen und Taten von Gmünder 


ı) DvS. 1899, 38 f. u. Witz ebd. Für Gmünd ist nur der „Graf v. Gleichen, 
Gatte zweyer Weiber von Julius, Reichsgrafen von Soden‘ belegt (Theater- 
zettel i. d. Erhardschen Altertümersammlung). 

s) Witz, a.a.O.,S. 21. 

2) L. F. Ofterdinger, Gesch. d. Theat. in Biberach usw., W. Vjhsh. 1883, 
36 ff. 

4) Vgl. B. Klaus, Gmünder Künstler, W. Vjhsh. 1895/96. 

5) Vgl. O. Mayer, Geistiges Leben i. d. Reichsstadt Eßlingen usw., W. 
Vjhsh. 1900, 311 ££f. 

6) Vgl. R. Weser, Gmünder Buchdrucker, Remsztg. 1911, Nr. 187 u. 189. 

?) Quellen und Literatur über die Heimatorte d. Meistersinger: Uhland, 
Schriften, Bd. II, Stuttgart 1866, S. 295; Schröer in Germanist. Stud., Bd. II, 
S. 222ff.; Ad. Puschmann bei Büsching, Samml. f. Altdeut. Lit. u. Kunst, 


Theater in Gmünd. 113 


Meistersingern schweigt. Mag es immerhin einzelne Hand- 
werkerdichter im stillen Kämmerlein gegeben haben, die Lei- 
stungen einer organisierten Singschule hätten literarische 
Spuren hinterlassen müssen. Damit fehlt der Stadt die eigent- 
liche Thesterzunft, die zu Zeiten das Komödiantenwesen allein 
bestreitet — wie die Augsburger Meistersinger durch ein De- 
kret von 1650!) — oder wenigstens kraft eines Privilegs den 
Spiellustigen vorangeht. 


Ob man darum um so mehr an Fastnachtspielen und Zunft- 
komödien?) seine Schaulust befriedigte? Wir wissen es nicht. 
Im 18. Jahrhundert aber, das uns reichlicher Theaternachrich- 
ten zuwendet, ist von Laienaufführungen neben Schultheater 
und Passionsspiel nur selten die Rede?). 


Das Schuldrama ist von den Studenten des Gmünder Mino- 
ritengymnasiums eifrig gepflegt worden‘). In der Schmalz- 
grube, ihrem Schulgebäude, das ehedem anderen Zwecken 
diente, war eine eigene Bühne errichtet. Ihre Abbildung in 


Bd. I, Stück 1, Breslau 1812, S. 166; Königsdorfer, Gesch. d. Klosters z. Hl. 
Kreutz i. Donauwörth, 1819, Bd. I, S. 326; Michels, z. Gesch. d. Nürnbg. 
Theat., Vjhsschr. f. Lit. Gesch. 3, S. 33, Anm. 6. 

1) Witz, (s. o. S. 111, Anm. 6) S. 18£. 

) In Nördlingen spielen Handwerker, die nicht den Meistersingern an- 
gehören, selten (Arch. f. Lit. 13, 48 ff.), in Frankfurt dagegen oft (E. Menzel, 
Gesch. d. Schauspielkunst in Frankfurt a. M. usw., Frankfurt 1882). 

®) Folgende Aufführungen lassen sich nachweisen: 

1788. „Am 16. u. 19. Weinmonat spielen Bürgersöhne in der Schmalzgrube 
eine Komödie: Die Römer in Deutschland‘ (Deblersche Chr., Bd. V, 
Pars IX, S. 226; Ratsprotokoll v. 8. Okt., f. 346). Am 29. Nov. wird 
dem „geistl. H. Kratzer mit seiner Jugend ein kleines Spiel aufzuführen 
gestattet‘ (Ratsprot. f. 390b). 

1789. „Am 11. u. 15. Okt. haben etliche ledige Bürgersähne eine Comödie 
gespielt‘‘ (Deblersche Chr., Bd. V, Pars IX, S. 228). Xaver Ott und 
Konsorten (Ratsprot. v. 22. Sept. f. 66). 

1792. „Den 16. u. 18. Sept. haben die kaiserl. Kanoniere eine Comödie in der 
Schmalzgrube gespielt: der Räuber Moor. Es war diese auffallend.“ 
Den Studenten wurde ihre jährliche Endskomödie abgeschlagen, auch 
den Bürgersöhnen, die darum mit den Kanonieren in Raufereien ge- 
rieten (Deblersche Chr., Bd. V, Pars IX, S. 256). 

1795. „Im Jenner haben die Kanoniere eine Komödie aufgeführt: die Rekru- 
tierung‘‘ (Deblersche Chr., Bd. V, Pars X, S. 10). 

*) Zur Gesch. d. ehemal. Minoritengymn. zu Schw.-Gmünd, DvS. 1906. 
106 ff. 

Th. F. 4l. 8 


114 Anhang: Das Passionstheater von Schwäbisch-Gmünd. 


der Deblerschen Chronik (Bd. VI, Pars XII, S. 243) ist nicht 
sehr gesprächig, da der herabgelassene Vorhang, der das breite 
Proszenium abschließt, das eigentliche Geheimnis des Theaters 
verbirgt. Dennoch erfaßt der erste Blick, daß eine Kulissen- 
bühne vor uns steht. Die Maße bestätigen es!). 

Auffällig ist, daß Vorhang und Proszeniumswände die gleiche 
blaugelbe Streifung wie die Vorhänge des Passionstheaters 
zeigen. Könnte dieser äußere Zusammenhang nicht Symptom 
eines inneren sein? Könnte hier vielleicht eine lokale Wurzel 
der Passionsbühne aufgedeckt werden ? 

Ich glaube kaum. Da das Barocktheater sich um: die Mitte 
des 17. Jahrhunderts durchzusetzen begann, 1665 das Theater 
im Lusthaus zu Stuttgart?), 1641 die Telaribühne Furtten- 
bachs im nahen Ulm?) erbaut wurde, ist nicht einzusehen, 
warum sich das Gmünder Passionsspiel am Anfang des 18. Jahr- 
hunderts noch nicht der Kulissenbühne bedient haben sollte. 
Das Schultheater der Minoriten aber kann erst nach 1737 er- 
richtet worden sein, da die Studenten, die in diesem Jahre 
zum ersten Male spielen, zunächst den Rathaussaal benutzen. 
Wahrscheinlich wurde es erst 1754) erbaut, zu der Zeit, als 
man die Schmalzgrube zum Gymnasium einrichtete. Eine Ab- 
hängigkeit der Franziskanerbühne vom Passionstheater ist eher 
denkbar. Die merkwürdig selbständige Vorderbühne fände 
auf diese Weise eine einfache Erklärung. 

Aber hat es im Gmünd des 16. und 17. Jahrhunderts nicht 
bereits ein Schultheater gegeben, das für die Bühnenform des 
Passionsspiels vorbildlich gewesen ist? Die Franziskaner- 
schule zählt erst von 1729 an ihre zaghaften Anfänge. Vor- 
her kommt für die Pflege dramatischer Aufführungen nur die 
städtische Lateinschule in Betracht. Nachrichten darüber 
sind uns nicht erhalten. Dennoch, sollte das siegreiche Schul- 
drama des Humanismus nicht auch in die Mauern Gmünds 
eingedrungen sein? 


1) 30 Schuh Breite, etliche 60 Schuh Tiefe, 13 Schuh Höhe. Das Theater 
„hatte viele Veränderung. Man konnte alle Vorstellung füglich machen“. 

2) J. Sittard, Zur Gesch. d. Musik u. d. Theaters am württemb. Hofe, 
I. Bd., Stuttgart 1890, S. 229. 

®) Th. Schön, Gesch. d. Theaters in Ulm, DvS. 1899, 70 £. 

4) Zur Gesch. d. Minoritengymnas,., a. a. O., S. 51. 


Theater in Gmünd. 115 


Der katholische Süden hat die Überzeugung des Nordens vom 
erzieherischen Wert des Komödienspielens keineswegs restlos 
geteilt!). Erst später, nachdem die Jesuiten das Theater ge- 
heiligt hatten und andererseits die Orthodoxie dem humanisti- 
schen Protestantismus der Renaissance ein Ende bereitete, 
kehrte sich das Verhältnis der. Konfessionen zum Theater um. 
Auch übersehe man bei der großen Zahl von Schulordnungen, 
welche Darstellungen lateinischer Komödien in ihren Lehr- 
plan aufnehmen, die Ausnahmen nicht. Das Eßlinger Pro- 
gramm?) von 1548 z. B. läßt sich an der Lektüre teren- 
zianischer Lustspiele genügen. Erst in seiner Umgestaltung 
durch Lukas Osiander, den Freund Luthers, nimmt es den 
Komödienparagraphen auf. Allein schon zwei Jahre später ist 
das Auswendiglernen des Terenz nurmehr fakultativ. Auch 
die Schulordnung des katholischen Ravensburg?) sagt nichts 
über dramatische Aufführungen. So muß die Pflege des 
frühen Schuldramas in Gmünd zum mindesten zweifelhaft 
erscheinen. 

Die prächtigen Aufführungen der Jesuiten endlich — und 
damit haben wir alle Gattungen des nachmittelalterlichen 
Theaters durchschritten — hat die Stadt wohl niemals ge- 
. sehen. Mitglieder dieses Ordens sind nur selten, anläßlich von 
Missionen nach Gmünd gekommen‘). Ein Versuch der Societas, 
hier eine Niederlassung zu begründen, schlug fehl. 

Gmünd war, wie wir sehen, keine theatergesegnete Stadt. 
Eine Gauklerbande auf dem Markte, Marionetten im Rathaus, 
ein geistliches Spiel vor dem Münster, das ist das Gesicht 
seines theatralischen Lebens im 16. und 17. Jahrhundert. Die 
Fröhlichkeit seiner Bürger — eine volkstümliche Etymologie 
leitet den Namen der Stadt von gaudia mundi her — mag sich 
in Fastnachtsschwänken, Mummereien und Tanz ausgelebt 
haben. Pest, Armut und Krieg aber brachten solche Triebe 
nach Pausen der Erweckung wieder zum Schweigen. 


ı) Vgl. P. Dittrich, Plautus u. Terenz in Pädagog. u. Schulwesen d. deut- 
schen Humanisten, Leipz. Diss. 1915, S. 61 ff. 
2) K. Pfaff, Vers. einer Gesch. d. gelehrten Unterrichtswesens in Württem- 
berg usw., Ulm 1842, S. 54 f. 
3) K. Pfaff, a. a. O., S. 58£. 
4) E. Wagner, W. Vjhsh. 1901, 174 ff. u. 196. 
8*r 


116 Anhang: Das Passionstheater von Schwäbisch-Gmünd. 


Für die Bühne des Passionsspiels ist das zeitgenössische 
Theater in Gmünd, soviel man heute davon weiß, ohne Belang. 
Das Phänomen des Passionstheaters selbst war im Rahmen 
einer deutschen Bühnengeschichte leicht zu deuten. Die Um- 
stände aufzuweisen, die es auf den Boden seiner späteren 
Heimat verschlugen, bleibt einem glücklicheren Finder vor- 
behalten. 


Ce 


Bibliographische Abkürzungen 
(Seltener zitierte Werke werden unter dem Text genannt.) 


Arch. f. Lit. = Archiv für Literaturgeschichte. 

Bolte, Joh., Georg Wickrams Werke, 6. Bd. (236. Publ, d. Liter. Vereins 
in Stuttgart), Tübingen 1905. 

Borcherdt, Hans Heinr., Der Renaissancestil des Theaters, Halle 1926. 

Bühnenbild = Carl Niessen, Das B. Ein kulturgeschichtlicher Atlas. 
Bonn u. Lpz. 1924. Bonn 1927. 

Cohen-Bauer = Gustave Cohen, Gesch. d. Inszenierung im Geist). 
Drama d. Mittelalters in Frankreich. Deutsch von C. Bauer. Lpz. 1907. 
(Die Übersetzung ist durch Zusätze Cohens erweitert.) 

Cohen, Mons = ders., Le livre de oonduite du rögisseur et le compte 
des d&penses pour le Mystere de la Passion jou6 & Mons en 1501, Stras- 
bourg 1925. (Publ. de la facult6 des lettres de l’universit6 de Strasbourg, 
Fasc. 23.) 

Creizenach, Wilh., Geschichte d. neueren Dramas. I*, Halle 1911; II®, 
1918; III®, 1923 (bearbeitet von A. Hämel); IV, 1909; V, 1916. 

Drescher Bespr. = Karl Drescher, Bespr. von Herrmanns u. Kösters 
Streit, Deutsche Literaturzeitg., 1925, Heft 7, Sp. 307—318. 

DvS. = Diözesanarchiv von Schwaben, Organ für Geschichte usw. der Diö- 
zese Rottenburg. 

EnglerBespr. = Herbert Engler, Die Bühne des Hans Sachs. Zeitschr. 
f. deutsche Philol. 52, 196 ff. 

Flemming, Willi, Geschichte des Jesuitentheaters in den Landen deut- 
scher Zunge (Schriften d. Ges. f. Theatergesch., Bd. 32); Berlin 1923. 
Glock, Anton, Die Bühne des Hans Sachs. Münchner Diss. Passau 1903. 
Hammitzsch, Martin, Der moderne Theaterbau. I. Teil: Der höfische 

Theaterbau. Dresdner Diss. Berlin 1906. 

Heinzel,Rich., Abhandl. z. altdeutschen Drama. (Sitzungsber. d. Wiener 
Ak.d. Wiss. Philos.-hist. Klasse, 134. Bd., 1895, X.) 

Herrmann, Max, Forschungen z. deutschen Theatergesch. d. Mittelalters 
u. d. Renaissance, Berlin 1914. | 

Herrmann 1923 = ders., Die Bühne des Hans Sachs. Ein offener Brief 
an Albert Köster. Berlin 1923. 

Herrmann 1924 = ders, Noch einmal die Bühne des Hans Sachs. Ber- 
lin 1924. 


118 Bibliographische Abkürzungen. 


Kat. = Amtl. Katalog der deutschen Theaterausstellung Magdeburg 1927. 
Die Nummern beziehen sich auf die hist. Abt., die von Holl bearbeitet 
wurde. 

Kaulfuß-Diesch,CarlH., Die Inszenierung des deutschen Dramas an 
der Wende des 16. u. 17. Jahrh. (Probefahrten, 7. Bd.), Leipzig 1905. 
Köster 1921 = Albert Köster, Die Meistersingerbühne des 16. Jahrh. Ein 

Versuch des Wiederaufbaus. Halle 1921. 

Köster Bespr. = ders,, Besprechung von Herrmann 1923. Deutsche 
Literaturztg., Heft 1/2, Sp. 18—20. 

Köster 1923 = ders, Die Bühne des Hans Sachs. Ein letztes Wort. 
Deutsche Vierteljahrsschr. f. Lit.-Wiss. u. Geistesgesch. 1923, 1. Bd., 4. Heft. 

Lachmann ,Fritz R., Die ‚„Studentes‘ des Christophorus Stymmelius und 
ihre Bühne (Theatergesch. Forsch., Bd. 34), Leipzig 1926. 

Mauermann, Siegfried, Die Bühnenanweisungen im deutschen Drama 
bis 1700 (Palaestra 102), Berlin 1911. 

Niessen, Carl, Dramatische Darstellungen in Köln von 1526 bis 1700 
(Veröffentl. des Köln. Gesch. Vereins, 3.), Köln 1917. 

Petersen, Jul, Das deutsche Nationaltheater, Leipzig und Berlin 1919. 

Schmidt, Exped., Die Bühnenverhältnisse des deutschen Schuldramas 
und seiner volkstümlichen Ableger im 16. Jahrh. (Forsch. z. neueren 
Literaturgesch. XXIV.), Berlin 1903. 

Schweckendiek, Adolf, Die Rekonstruktion der Nürnberger Hans- 
Sachs-Bühne. Zeitschr. f. Deutschkunde, 1929, Heft 1, S. 31 ff. 

Schweckendiek, Verl. Sohn = ders, Bühnengeschichte des Ver- 
lorenen Sohnes in Deutschland. I. Teil (1527—1627). (Theatergesch. 
Forschungen, Bd. 40.) Leipzig 1930. 

Stumpfl, Rob., Die Bühnenmöglichkeiten im XVI. Jahrh. Zeitschr. f. 
deutsche Philologie, 54, 1929, S. 42 ff. 

Weller, Emil, Das alte Volkstheater der Schweiz, Frauenfeld 1863. 

W.Vjsh. = Württemb. Vierteljahrshefte f. Landesgesch. 


Fürstlich priv. Hofbuchdruckerei (F. Mitzlaff) Rudolstadt 


THEATERGESCHICHTLICHE 
FORSCHUNGEN 


Herausgegeben von 


JULIUS PETERSEN 


Bisher sind 41 Bände erschienen. Nadıstehend ausführlidı die letzten 
Bände. Verzeichnis über die vollständige Sammlung kostenlos. 


36. BAMBERG, Eduard von: Drei Schauspieler der 
Goethezeit, Karl Friedridı Leo, Karl. Wolfgan 
Unzelmann, Marianne Schönberger - Marconi. 
VI. 59 Seiten. 1927. gr. 8. Rm. 3.60, geb. Rm. 5.60 


Frankfurter Nachrichten : Die Schilderung vertieft sich liebevoll in Einzel- 
heiten, malt persönliche Züge geschickt aus und verschmäht das Anekdotische nicht, wo- 
durch Zeit und Persönlidikeiten Plastik und Leben gewinnen. Freunde des Theaters, 
Laien wie Kulturhistoriker werden darum aus dem Bändchen neben mancherlei Wissen 
anregende Unterhaltung schöpfen. 


37. LASKUS, Dr. Irmgard: Friederike Bethmann- 
Unzelmann. Versud einer Rekonstruktion ihrer Schau- 
spielkunst auf Grund ihrer Hauptrollen. VI. 101 Seiten 
mit 10 Tafeln. 1927. gr. 8°. Rm. 10.—, geb. Rm. 12.— 


Die vorliegende Arbeit will nicht die Anzahl der bereits vorhandenen Schau- 
spleic1n10 een vergrößern. Die Verfn. unternimmt vielmehr den Versud, die Kunst 
einer Friederike Bethmann-Unzelmann, der geniaien Partnerin Iffliands, der „Schauspielerin 
der Romantik“, neu erstehen zu lassen, sie will einen Begriff von dem künstlerischen 
Schaffen dieser Frau vermitteln. 


38. FELLMANN, Hans Georg: Die Böhmsdıe Theater- 
truppe und ihre Zeit. Ein Beitrag zur deutschen 
Theatergeschidhte des 18. Jahrhunderts. XII, 86 Seiten. 
1928. gr. 8°. Rm. 5.25, geb. Rm. 7.25 


Essener Aupenein Zeitung: Die auf mühsamer Kleinarbeit beruhende 
Veröffentlichung, die alle Einzelheiten Dosen und liebevoll gesammelt wiedergibt, ge- 
währt einen anschaulichen Einblick in die Theaterverhältnisse des damaligen Deutschland 
und zeigt die Schwierigkeiten, mit denen ein Wandertheater zu kämpfen hatte. Alles 
in u a saterges ichtlich und kulturgeschichtlich gleich aufschlußreiches und inter- 
essantes Buch. 


39. WEICHBERGER, Alexander: Goethe und das Ko- 
mödienhaus in Weimar 1779—1825. Ein Beitrag 
zur Theaterbaugesdicte. VIII, 134 Seiten mit 13 Ab- 
bildungen. 1928. gr. 8°. Rm. 8.—, geb. Rm. 10.— 


Berliner Börsen-Zeitung: ... So ersteht in seinem Bude zum ersten 
Male ein abgerundetes Bild vom Werden, Bestehen und Vergehen der geweihten Stätte 
und zugleich von diesem Standpunkte aus ein wertvoller Beitrag zur weimarischen und 
deutschen Theatergesciidıte überhaupt. 


40. SCHWECKENDIERK, Adolf: Bühnengesdidite des 

Verlorenen Sohnes in Deutschland. I. Teil (1527 

bis 1627). XVI, 163 Seiten mit 11 Abb. im Text. 1930. 

gr. 8°. Rm. 10.—, geb. Rm. 12.50 

Das AUPIgEWIN seiner Darstellung legte der Verfasser auf die Einzeiunter- 

suchung im Sinne Max Herrmanns, der fordert, daß zunächst die Individuen, die einzelnen 
Gestalten der Vergangenheit, wieder lebendig werden sollten. 


Das Ergebnis ist eine ausgezeichnete Darstellung der Verschiedenheit der Bühnen- 
formen im 16. und an der Wende des 17. Jahrhunderts und ihrer Entwicklung. 


LEOPOLD VOSS / VERLAG / LEIPZIG 


Ästhetik. Psychologie des Schönen und der Kunst 


Von THEODOR LIPPS. 


Erster Teil: Grundlegung der Ästhetik. 3., unveränderte 
Auflage. XIII, 601 Seiten. 1923. V 
Rm. 10.—, geb. Rm. 12.50 


Zweiter Teil: Die ästhetishe Betraditung und die 
bildende Kunst. 2. Auflage. VII, 646 S. 1921. V 
Rm. 10,—, geb. Rm. 12.50 


Zeitschrift für Asthetik: Die hohen Erwartungen von der Lippsscen 
Asthetik werden durchaus erfüllt. Mit der an dem Verfasser bekannten umsichtigen, 
eindringlidhen und treffenden Weise führt er den Leser in die Tiefen des Gegenstandes. 
Die Methode der Selbstbeobactung und Analyse der ästhetischen Wirkungen ist 
meisterhaft gehandhabt. 


Die ethischen Grundfragen 


Zehn Vorträge, teilweise gehalten im Volkshocdhscul- 
verein zu Münden. Von THEODOR LIPPS. 5., mit 
der 4. übereinstimmende Auflage. IV, 327 Seiten. 
1927. V Geb. Rm. 7.20 


Hamburger Fremdenblatt: Es ist eine Freude, ein Bud zur Belehrun 
über die für das praktische Leben so überaus wichtigen ethischen Probleme in die Hand 
zu bekommen, das mit gründlicıter, systematischer Behandlung des Stoffes Klarheit, 
Aligemeinverständlichkeit und Bezugnahme auf alle aktuelle Fragen verbindet. Es ist 
diesem Buche wohl. zustatten gekommen, daß es aus Volkshochsculvorträgen hervor- 
gewadhsen ist. Es eignet sich daher nicht nur für Lehrer und Gelehrte, denen es gleidcı- 
wohl mit bestem Gewissen emprorlen werden kann, sondern wird audı In der breiteren 
Masse der Gebildeten, ja des Volkes, dankbare Leser finden. 


„Minnesinger‘“ 


Deutsche Liederdichter des 12., 13. und 14, Jahrhunderts aus 
allen bekannten Handschriften und früheren Drucken gesammelt 
und berichtigt, mit den Lesarten derselben, Geschichte des Lebens 
der Dichter und ihrer Werke, Sangweisen der Lieder, Reimver- 
zeichnis der Anfänge und Abbildungen sämtlicher Handschriften. 


Von FRIEDRICH HEINRICH VON DER HAGEN. 
4 Teile in 3 Halbpergamentbänden. LXIV, 2556 Seiten 
mit Handschriftproben und Musikbeilagen. In vor- 
züglihem Neudruc auf blütenweißem Papier mit Gold- 
oberschnitt. 1838. 4°. Rm. 180.— 
Inhalt: 1. und 2, Teil: Manessische Sammlung aus der Pariser 
Urschrift, nacı G. W. Hassmanns Vergleichung ergänzt und hergestellt. 
3. Teil: Aus den Jenaer, Heidelberger und Weingarter Sammlungen und 
den übrigen Handschriften und früheren Drucken ergänzt und hergestellt. 
4. Teil: Geschichte der Dichter und ihrer Werke, Abbildungen der Hand- 
schriften, Sangweisen, Abhandlung über die Musik der Minnesinger, 
Zeugnisse, Handschriften und Bearbeitungen, Übersidıt der Dichter nadı 
der Zeitfolge, Verzeichnisse der Personen und Ortsnamen, Sangweisen 
der Meistersänger nach den Minnesingern. 


Die mit V bezeichneten Werke ersciienen in der Verlags- 
abteilung Leopold Voss. 


JOHANN AMBROSIUS BARTH /VERLAG / LEIPZIG 


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