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Full text of "2e, erweiterte Aufl. Neukantianismus, Schopenhauerianismus und Hegelianismus in ihrer Stellung ..."

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SctiopeiiliauenaiiisMS id Hegeüanisius 

in ihrer Stellung zn den 

philosophischen Aufgaben der Gegenwart 



Zweite erwetterte Auflage 

der 

„ErlSntenmgen zar Metaphysik des rnbewusston." 

Von 




Berlin. 

Carl Duncker's Verla 
(C. Heymoos.) 
1877. 



• 2(,S 



'. * 



Vorwort. 



Dieses Buch schliesst sich unmittelbar an den Abschnitt D der 
„Gesammelten Studien und Aufsätze" an. Wenn dort der Ent- 
wickelungsgang der deutschen Philosophie von Kant bis zu Schelling's 
letztem System in kurzem Abriss vorgeführt und insbesondere meinfe 
Beziehungen zu Schopenhauer, Hegel und Schelling dargelegt wur- 
den, so beschäftigt sich die nachstehende Fortsetzung mit den wich- 
tigsten philosophischen Richtungen der Gegenwart, wie sich dieselben 
namentlich aus den Schulen Schopenhauer's und Hegers entwickelt 
haben. Wenn es dort mein Bestreben gewesen war, die philosophi- 
schen Aufgaben der Gegenwart durch einen kritischen Rückblick 
auf die letzte und höchste Entwickelungsphase der Geschichte der 
Philosophie festzustellen, so handelt es sich hier darum, die Stellung- 
nahme der lebendigen philosophischen Strömungen zu diesen Auf- 
gaben unserer Zeit zu beleuchten, und die Differenzen zu untersuchen, 
in welche die Vertreter derselben sich zu meinen Lösungsversuchen 
gesetzt haben. Das vorliegende Buch liefert also einerseits eine 
Reihe philo8#phischer Charakteristiken von zeitgenössischen Denkern, 
und bietet andrerseits Erläuterungen und Vertiefungen meiner, eige- 
nen Philosophie, welche durch die Selbstvertheidigung gegen kritische 
Angriffe angeregt wurden. 

Die fünfte Abhandlung (über Volkelt's Panlogismus des Unbe- 
wussten) war vor drei Jahren unter dem Titel „Erläuterungen zur 
Metaphysik des Unbewussten" als selbstständige Broschüre erschienen. 
Die Mehrzahl der übrigen Aufsätze sind als geschlossene Essays 
für Journale geschrieben und in solchen zuerst veröffentlicht (Unsere 
Zeit, Gegenwart, Wiener Abendpost, Philosophische Monatshefte, 
Revue philosophique), worin eine gewisse Gewähr für eine leicht- 
fassliche Darstellung im Verhältniss zu den behandelten, zum Theil 
recht schwierigen Fragen liegen dürfte. Da der gesammte Inhalt 
des Buches sich dem Begriff „Erläuterungen zur Metaphysik des 
ünbewussten" unterordnet, so glaubte ich diese Bezeichnung für das 
Buch, wenn auch nur als Nebentitel, festhalten zu sollen. 



IV 

Ich fllrchte nicht, zu viel zu behaupten, wenn ich darauf hin- 
weise, dass noch kein Philosoph vor mir in gleich eingehender und 
vielseitiger Weise die ausdrückliche Vertheidigung seines Standpunkts 
gegen die beachtenswerthesten Angriffe seiner verschiedenen Gegner 
geführt hat. Das vorliegende Buch allein würde genügen, diese 
Bemerkung zu erhärten, insofern es die wichtigsten Erscheinungen 
der von rein philosophischer Seite gegen mich gerichteten Polemik 
berücksichtigt; es ist aber wohl zu beachten, erstens, dass dasselbe 
nach naturphilosophischer Seite hin durch die Erweiterungen der 
binnen Kurzem erscheinenden zweiten Auflage meiner Schrift: 
„Pas ünbewusste vom Ständpunkt der Physiologie und Descendenz- 
theorie" und durch das Schlusscapitel der Schrift „Wahrheit und 
Irrthum im Darwinismus" ergänzt wird, und zweitens, dass es eine 
ganze Reihe von minder bedeutenden Kritiken als bereits durch die 
apologetischen Erläuterungsschriften von M. Venetianer *), Freiherrn 
du Prel**) und A. Taubert t) erledigt betrachten durfte. Das voraus- 
gehende Erscheinen dieser Schriften machte es mir möglich, unbe- 
schadet der Vollständigkeit mich auf die hervorragendsten Gegner 
zu beschränken, deren Standpunkte wirklich eine principielle philo- 
sophische Bedeutung beanspruchen dürfen. Nur die Auseinander- 
setzung mit solchen konnte eine wahrhaft fruchtbare Polemik zu 
Tage fördern, indem sie die streitigen Standpunkte und ihre Diffe- 
renzen klarer stellte und durchsichtiger machte, die Scheingründe 
der Gegner entkräftete, und die eigenen Lehren vertiefte und fester 
begründete. Möge es mir gelungen sein, der Verlockung zu un- 
fruchtbarer Polemik überall zu widerstehen und den Grundsätzen 
treu ztf bleibln, welche ich in meinem Aufsatz „üeber wissenschaft- 
lich^ Polemik'' (Ges. Stud. u. Aufs. A. II.) mir selbst vorgezeichnet 
habe. 



*) Der Allgeist. Grundzüge des Panpsychismus im Anschluss an die Philo- 
sophie des Unbewussten. Berlin 1874. ^' 

**) Der gesunde Menschenverstand vor den Problemen der Wissenschaft. 
In Sachen J. C. Fischer contra E. v. Hartmann. Berlin 1871. 

t) Der Pessimismus und seine Gegner. Berlin 1873. — Philosophie gegen 
naturwissenschaftUche Ueberhebung. Berlin 1870. 



Inhalt. 

Seit« 

I. Einleitung 1 

1. Friedrich Albert Lange 1 

2. Hans Vaihinger 5 

d^ Julius Frauenstädt 7 

4. JTulius Bahnsen 11 

5. Johannes Volkelt und Johan^^s Rehmke 14 

6. Lange's philosophischer Standpunkt 17 

7. Yaihinger's philosophischer Standpunkt 22 

8. Frauenstädt's philosophischer Standpunkt 29 

9. Bahnsen's philosophischer Standpunkt 31 

10. Yolkelt's und Rehmke's philosophischer Standpunkt , . , 39 

A. Neuküntianismutj -43 

II. I^ange- Yailtf nger's snbJeetiTlstiscIler Skeptieisnins 45 

A. Die Philosophie als Wissenschaft 45 

1. Der Eriticismus 45 

2. Die Aufgabe der Phiosophie als Erklärung der Wirklichkeit 50 

3. Der subjective Idealismus und seine Ueberwin^ung durch 

den transcendentalen Realismus ' 53 

4. Der Skepticismus und seine Ueberwindung durch den Kri- 
ticismuB 57 

5. Die Naturwissenschaft als ^a];iscen4entale|r {leaU^musi . . 60 

6. Die Versöhnung zvnjschen Philosophie un^ Ns^turwissenschaft 62 

7. Der EriticismuB als Identitäts^IjdJojspphle 65 

8. Der Eriticismus als Philpspphi^ dpjs Ui^^wussten und 
PsychiunuB 71 



VI 

Seite 

9. Die Bealit&t der Gattung 73 

10. Die Wechselwirkung zwischen geistigen Individuen ... 77 

B. Die Philosophie als Dichtung 82 

11. Der illusorische objective Idealismus 82 

12. Die geschichtlichen Anlehnungspunkte 85 

13. Die blosse Subjectivität der Ideen 89 

14. Der üebergang zu Fichte 92 

15. Die transcendentale Wahrheit der Ideen 96 

16. Die relative Wahrheit der metaphysischen Systeme . . . 101 

17. Optimismus und Pessimismus 104 

18. Vischer's und Volkelfs Ansichten über die Illusion ... 110 

19. Ein Platonisches Gespräch 116 



B^ 8cliopenhaue?lanl8iiiu8 119 

m. Franenstüflt's llmbildnng der Schopenhaner'- 

selieii Plillosopliie 121 

1. Der subjective Idealismus 121 

2. Die Sph&re der Individuation 128 

3. Die Causalität 130 

4. Die Motivation 132 

5. Die Generalisirung des Bewusstwerdens 135 

6. Die Teleologie 137 

' ♦ .. "7. Die Idee 145 

8. Die historische Weltanschauung 150 

9. Physik und Metaphysik 155 

Vk Der Wille und sein Inhalt 157 

11. Die Willensverneinung und der Pessimismus 161 

12. Der Materialismus • . ^ Iß*^ 

13. Die ethischen Probleme 168 

14. ßchlusswort 172 

IV. Bahnsen'» dtarakterologiselier IndlTldualismus 175 

A. Die Charakterologie 175 

1. Aufgabe und Standpunkt des Werks 175 

2. Empirischer und intelligibler Charakter 181 

3. Charakter und Organisation . ->. 187 

4. Wille und Motiv * 194 



vn 

' Seite 

B. Die Kritik des monistischen Evolutionismus . . . . 2li 

5. Die Stützen des Individualismus 212 

6. Die Widerstände der Entwickelung 217 

7. Die Nebenherläufer der Entwickelung 224 

8. Individualismus und Monismus 227 

9. Partielle und universelle Entwickelung 282 

10. Die Realdialectik 235 

11. Das Logische 244 

12. Wille und Idee 250 



C. Hegeliauismus 259 

Y. Yolkelt's Panlogismns des llnbewussten .... 261 

A. Principienfragen 261 

1. Die Dialectik 261 

2. Die Stellung des Unlogischen zum Logischen 265 

3. Idealprincip und Realprincip 268 

4. Die substantielle Identität und attributive Gegensätzlichkeit 
beider Principien 273 

5. Denknothwendigkeit und Seinsnothwendigkeit 279 

6. Das Idealprincip als logisches Formalprincip 281 

7. Die absolute Zwecksetzung • . 283 

8. DerWiUe V . 286 



B. Secundäre Probleme 290 

9. Die teleologische Begründung des Be¥russtsein8 . • • . 291 

10. Die Erklärung der Bewusstseinsentstehung 294 

11. Die Bedingungen der Bewusstseinseinheit 298 

12. Die panlogistische Unbegreiflichkeit der Individuation . . 300 

13. Das Individuationsproblem in der Philosophie des Unbe- 
wussten 305 

14. Wesen und Erscheinung 306 

15. Einheit und Vielheit in der Erscheinungswelt 312 

16. Die unmittelbare Immanenz des Wesens in der Erscheinung 315 

17. Baum und Zeit 317 

18. Der teleologii^lie Optimismus und der eudämonologische 
Pessimismus 321 



fTu 

Seite 

Tl. Relunk^ likJiiMWnti üi^ ^ä^^AÜkA^^ tkeikiem . 329 

1. Die Attribute : 329 

2. Die ünendlichiyii M Atisoliiieil ......:... 335 

3. Wesen und Ädüs ...:.... 346 

4. Die Obj^ctivation&iiifÜfgÜ lü üMn Vöth&Itliiäs üü einander 350 



I. 



Einleitung. 



1. Friedrich Albert Lange. 

Friedrich Albert Lange (geb. 1828, gest 1875) ist bekannt 
durch seine ,,Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeu- 
tung in der Gegenwart" (1. Aufl. Iserlohn bei Bädeker 1866; 2. Aufl. 
in 2 Bänden ebendas. 1873-1875; 3. Aufl. Bd. I. 1876) und durch 
seine Schrift über „die Arbeiterfrage" (3. Aufl, Winterthur 1875). 
Ferner veröflfentlichte derselbe: „Die Grundlegung der mathemati- 
schen Psychologie. Ein Versuch zur Nachweisung des fundamentalen 
Fehlers bei Herbart und Drobiseh" (Duisburg 1865); „Mills Ansichten 
über die sociale Frage und die angebliche Umwälzung der Volks- 
wirthschaft durch Carey" (Duisburg 1866), und verschiedene zer- 
streute Abhandlungen, unter denen hervorzuheben der Artikel 
„Seelenlehre" in der Schmidt'schen „Encyclopädie der Pädagogik" 
(Gotha 1870, Bd. VIII, S. 573-667). 

Für die Feststellung seiner philosophischen Weltanschauung 
fällt wesentlich nur sein erstgenanntes Hauptwerk in's Gewicht. 
Dasselbe ist weder ein geschichtliches noch ein systematisches Werk, 
sondern eine durch geschichtliche Sbidien angeschwollene Tendenz- 
schrift. Selbst Vaihinger gesteht ein, dass das Werk „nicht streng 
harmonisch, ja sogar eigentlich eiu Torso" sei. Die Tendenz der 
Arbeit geht dahin, zu zeigen, dass von allen dogmatischen Systemen 
der Materialismus das natürlichste und dem menschlichen Verstände 
angemessenste sei, dass aber auch der Materialismus ebenso wie 
aller andre Dogmatismus durch den erkenntnisstheoretischen Idealis- 
mus Kant's überwunden sei. So tritt Lange einerseits als Verthei- 
diger des Materialismus gegen die andern metaphysischen Systeme, 

£,T. Uartmann, Erläuterungen. 2. Aufl. 1 



2 Einleitung. 

andrerseits als Vertheidiger des subjectiven Idealismus gegen allen 
Realismus auf. Die geschichtliche Darstellung gilt ihm nicht als 
Zweck, sondern als Mittel, um die seiner Tendenz entsprechenden 
Beflexionen anzuknüpfen; die Auseinandersetzungen am Schluss über 
seinen eigenen Standpunkt lassen an Vollständigkeit, Präcision und 
Klarheit der Begründung viel zu wünschen übrig und gehen nicht 
über aphoristische Andeutungen hinaus. Schon sein Verehrer Cohen 
hat es als einen Mangel des Wöi'kes heryorgehj^ben, dass nur filr 
den modernen Materialismus, aber nicht fUr d&D erkenntnisstheore- 
tischen Idealismufii die nistdrischeh Antfccedetilien berücksichtigt 
sind, wobei er namentlich auf Plato hinweist. Schwerer als dieser 
geschichtliche Mangel scheint mir der Umstand, den selbst Vaihinger 
einräumt, in's Gewicht zu fällen, dass notän eine philosophische Welt- 
toäcbäüung ton Lange gar nicht er warteil aiid verlangen darf; 
i^ein Standpunkt besteht eben in der Behauptung, ddss es 6rne 
objectiv gültige philosophische Weltansehauuög ttberhatüpt nicht 
geben könne, und* in det Erlaubniss fUr Jedermann, sich fUr seine 
Isubjectiven Bedürfnisse eide Weltanschauung nach i^einem Geschmack 
znrechüudichten. Seine Philosophie alei Wissenschaft geht nur bis 
zürn Bekenntniss des Nichtwissens, und die J)0sitiTCl Ergänzung Idt 
die Verweisung auf die Dichtung nach persönlicher Neigung ohne 
Anspruch auf objectiye Gültigkeit. Statt yermutheter Baarzahlung 
Wird der wiäsensdnrstige Leser mit eidem Wechsel auf „dad Reich 
der ßohatten'^ abgefunden (wie Schiller einst die Welt der Ideiäle 
he^eidUnete). 

Dass eine solche schriftstellerische Eriäc^einung ftir Beobachter 
ans gei^issen Gesichtspunkten als „ein glänzend aufleuchtendes 
Mettor'' ei^cheinen konnte, ist Vaihingen zuzugeben, nicht aber, 
däss „deidsen Spuren unverKjßchlich sind''. Eine Philosophie, die 
sich auf Poesie und Erkenntnidirtheorie redttoirt, und eine ErkeiAitniss- 
theorie, die zur Ignoranztheorie, d. h. ^i einem rein nelatiyen 
System ans „tgnoranzbegriffbnf' zusammenschrumpft, kann jederzeit 
ntii: als die Verlegenheitsphilosophie einer Uebergängsperiode auf- 
iireten, die delbdt ntii* ein „Nothbehelf ' ist, wie de ihre Fundamental- 
begriffe ftir i^ölche atidgiebt. Ihre geschichtliche Berechtigung reicht 
nibUt heiter alä die des Skepticisthus, der hier zütn ersten Mal sieh 
in ein subjectividtisches GeWand hbUt Die allgemeine geschichtliche 
Aufgabe desselbeti iitt, überwundene Staadpünkte in zersetzen, uüi 



fiinldtmtg. 3 

dadureV lebensfihJgei^eii Neübildüngcü den Boden zu bereiten ; ^^- 
richtfet ist er durch die Unfähigkeit, über die zerstörende Segatioö 
hinaus zU eitier {)ositiyen Weltanschauung zu gelangen, atf die er 
selbst zu glauben vermöchte, — ufld ohnie solche hat die prajktiöche 
Philosophie keiüen Boden. 

Lange besitzt einen philologisch geschulten, klare», ruhigen 
und scharfen Verstand, der liich mit einem #afmen und edlen 
Hei^ze^ paart, üBA')Bur da die Nächtertiheit und Gesundheit «reines 
ürtbeilSf verliert, wo er von letzterem dominirt Wirdj aber ein 
eigentlich philosophische^ Kopf, ein mit der Kraft speculativer SyA- 
th^se ausgerüsteter Denker ist er nicht, und versteht nicht einmal 
die congeniale Reproduktion der speculativen Gedankengänge An- 
derer. Er ist zu ehrlich, um die anscheinend torgeftindenen Wider- 
sprüche zu vertuschen», und doch unßjhig, sie durcb^ philosophische 
Synthesen zu übertvinden; deshalb bleibt er tiberall vor Aütinomien 
als vor der letzten f ormuliröng der philosopMscheri fifobleme stehen, 
und Schwingt skh auf dem' Fltigelross der Dichtung m eine Sphä^ 
des Ideals hintlber, wo ein erträitetes harmoni^hes Weltbild ftir 
die rauhe Wirkliebkeit enteichädigt. Mit deth solidem Fleissf des 
geduldigen Sammlers vereinigt er eitfö sorgfältige Verarbeitung* des 
zttsammengeschicliteteti Matevidls sii einer coneis^nf Darstetl&ng von 
umdeutender schriftstelleris(bher Gewandtbeit. Seilne Werke leseb 
sich so angißilebm, weil nit^fats Gesuchtes dariti ist, und der Ausdruck 
bei aller Natärlichkeit und Schliclltbeit doch nüeistJens äreffieüd ist. 
DkzQ kommt, dasd Llin^e mit den modernen NatarwiSbenscbaftehi 
bekannter als die meiätei^ Philosophen ist und die dort geiteoAe 
mechanistische Weltani^hiiuung ak' bleibende Wahrheit des Mate- 
rialismus festzuhalten sucht, äowre däss er den zeitbewegdnden 
socialen Fragen einen offnen Blick und warme Theilnahme ent- 
gegenbringt Beehnet man endlich hinzu, dass sein Standpunkt mit 
dem in Frankreich und England dominirenden Positivismurs sieh 
näher als derjenige irgend eines anderen deirtschen Philosophen 
der Gegenwart berührt, und erwägt many wie ehrfurchtsvoll der 
Deutsche eine in der Freinde geprägte deutsche Berühmtheit an- 
blickt, so darf man sich fast nur darüber wundern, dads Lange's 
Hauptwerk nicht schon eine weit grössere Zahl von Auflagen 
etlebt hat^ und kann trotz alledem die Meinung festhalten, däss 
Lainge kein eigeBtlicher Philosoph^ sondern nur ein imvoli- 

1* 



4 Einleitung. 

kommener Historiograph und nebenbei philosophischer Populär- 
schriftsteller war. 

Sein Mangel an Verständniss flir wirkliche Philosophen macht 
ihm dieselben antipathisch, und weil ihm alle Metaphysik und 
Speculation antipathisch ist, behandelt er deren berufene Vertreter 
aller Zeitalter in einer geringschätzigen und verächtlichen Weise, 
welche grell absticht gegen die Nachsicht, Sympathie und Hoch- 
achtung, mit welcher er um die historische „Rettung'^ der gedanken- 
ärmsten Gattung Yon Metaphysik, des Materialismus und seiner 
Vertreter bemüht ist. Diese zur Schau getragene Verachtung gegen 
alle speculatiee Philosophie im Verein mit der Eeverenz gegen die 
Naturwissenschaften und der Hätschelung des Materialismus ist es, 
was Lange die Sympathien der Positivisten und philosophisch an- 
gehauchten Naturforscher in England und zum Theil auch in Frank- 
reich erworben hat; es sind also gerade sein Mangel an philoso- 
phischer Begabung und dessen psychologische Consequenzen, denen 
er seinen ausländischen Ruf verdankt, und Deutschland hat wahrlich 
in diesem Falle am wenigsten Grund, sich von dem so erlangten 
europäischen Renomm6 imponiren zu lassen und auf einen solchen 
„deutschen Philosophen" stolz zu sein. 

Die erste Auflage seiner „Gesch. d. Mat." sieht einer geschicht- 
lichen Monographie noch ähnlicher als die zweite, deren bedeutende 
Erweiterungen wesentlich nur der vorwaltenden „didaktischen und 
aufklärenden Tendenz" zu gut kommen. Aber nicht nur einen 
breiteren Raum nehmen in der neuen Gestalt die tendenziösen Re- 
flexionen ein, sondern sie sind auch schärfer poiutirt, und drängen 
sich anspruchsvoller hervor, ohne dass doch andererseits eine aus- 
reichende Klarheit und Vollständigkeit in der Darstellung des 
eigenen Standpunktes erreicht wäre. So macht die zweite Auflage 
im Ganzen einen noch unruhigeren und :^erfahrenern Eindruck als 
die erste, zumal die Behandlung der Zeitfragen denn doch schon 
die Grenze der Wissenschaftlichkeit nach der Seite der Populär- 
schriftstellerei berührt, wo nicht überschreitet. Der feste Boden der 
Kant'schen Erkenntnisstheorie ist von Lange durch Aufgeben ihrer 
realistischen Bestandtheile definitiv verlassen, obwohl das Bewusst- 
sein von diesem Bruch mit dem Eantianismus fehlt; andrerseits 
Bind doch wesentliche Voraussetzungen des verlassenen Standpunkts 
beibehalten, und dadurch geräth die Darstellung in eine Unsicher- 



Einlmtung. 5 

heit, ein Schwanken der Behauptungen und ein zweideutiges Schillern 
der Gedanken, dass man den Standpunkt nur noch als Confnsio- 
nismus bezeichnen kann. Den Nachweis hierfür im Einzelnen zu 
liefern, hiesse der philosophischen Bedeutung Lange's schon zu viel 
Ehre anthun; übrigens ist derselbe in ausreichender Weise von 
Professor Gideon Spicker geführt worden.*) 

2. Hans Yailiingrer. 

Vielleicht wäre es Lange gelungen, wieder ein Jahrzehnt später 
sich aus diesem Gonfusionismus heraus und zu einem präcisen 
Standpunkt hindurchzuarbeiten, wenn es ihm vergönnt gewesen 
wäre, sein Werk dann nochmals zu überarbeiten. Noch besser aber 
hätte er bei längerem Leben gethan, die verfehlte Form seines 
Hauptwerks nicht noch weiter zu verunstalten, sondern den Stand- 
punkt, zu dem er kommen musste, in einer besonderen neuen Schrift 
allseitig klar und scharf im Zusammenhange auseinanderzusetzen. 
Was Lange nicht vergönnt war, hat Hans Vaihinger vollbracht,**) 
der, obwohl nicht in persönlichen Beziehungen zu Lange stehend, 
doch so in dessen Fusstapfen getreten ist, dass er als sein Schüler 
zu bezeichnen ist. Vaihinger giebt nicht nur ein Resum6 des phi- 
losophischen Standpunktes seines Meisters, sondern er vermeidet 
auch in den Hauptpunkten dessen Gonfusionismus und führt die 
Anläufe und Velleitäten Lange's dem Ziele entgegen, das ihnen 
durch den ganzen Gedankengang des Verstorbenen als das einzig 
mögliche vorgezeichnet war. Er entfernt sich dabei nicht weiter 
von den Aussprüchen seines Meisters, als dass er seine eigenen 
Aufstellungen noch füi* blosse Interpretationen der wahren Absichten 



*) üeber das Verhältniss der Naturwissenschaft zur Philosophie. Mit beson- 
derer Berücksichtigung der Eantischen Kritik der reinen Vernuuft und der Gesch. 
d. Mat von A. Lange. Berlin bei C. Duncker, 1874. Gegen einige Punkte der 
Ansichten Lange's habe ich mich bereits gelegentlich geäussert; vgl. Phil. d. Unb. 
7. Aufl. Bd. I S. 441-444, Bd. II S. 475—477; Krit. Grundl. des transc. ReaUs- 
mus 8. 91—95; Wahrh. u. Irrth. im Darwinismus S 167—168. 

*♦) In seiner Schrift: „Hartmann, Dühring und Lange. Zur Geschichte der 
deutschen Philosophie im XIX. Jahrhundert" (Iserlohn bei Bädeker 1876). Ausser- 
dem hat derselbe Verfasser noch eine Festrede: „Goethe als Ideal universeller 
Bildung"' (Stuttgart bei Meyer und Zeller 1875) und einige Abhandlungen in den 
PhiL Monatsheften Teröffentlicht. 



^i|i4 Me^iUB^e^i;! 4«sselb,en ^sehei^ upd auisgebeo kann, und sucht 
eii^lei(^ äu^rck 4ie Zusammenstjellupg dieser Lehren mit modernen 
Pßisp^ejcn i4eali8ti^cjjßr und flaatierialistischer Philosophie die Ueber- 
legßnheit der ersteren d^zijithun. Weil ^ber Yaihipger bescheiden 
genug ist, auf Gßljendpiaehung eines eigenen Standpunktes zu ver- 
ziehten, und nur eine Interpretation ^er Lange'scben Lehre ^u geb^ii 
beansprucht, haftet er noch in vielen Stücken zu enge an derselben, 
um das von ihm richtig erkannte Ziel dieser Tendenzen (nämlich 
den subjectivistischen Skepttcfeinras) frei von allen dogmatischen 
ßchliMjken zu ^greifen. Vielleicht gelingt es d«m jungen Autor, 
das in seiner Ers^tlingsarbeit noch nicht ganz erreichte Ziel seines 
Weges in spät^j^n reiferen Arbeiten in voller Reinheit und Schärfe 
zu erfassen, una damit erst den Besti^bungen Lange's einen Platz 
m der Geschichte der Philosophie zu sichern, auf welchen dessen 
G:edanken in der confusen und unreifen Gestalt, wie er sie iii der 
y/ä^^esch. d. Hat/' vorgetragen, keinen Anspruch haben. 

Vaihinger bestrebt sich mit Glück, xiie übersichtliche Stoffeinthei- 
Inng, die concise Verarbeitung und die gemeinverständliche Diktion 
Lange's nachzuahmen. Aber auch die Fehler desselben kehren bei 
ihm wieder : die Bevorzugung der Popularität auf Kosten erschöpfen- 
der Gründlichkeit, die Hätschelung des Materialismus und seiner 
Vertrete, und die AntipatJiie gegen Idealismus, Metaphysik und 
Specjulation. Wenn in er^rer Hinsicht die Entstehung seines oben- 
geii0,nnten Buches aus mündlichen Vorträgen es verbietet, aus der 
^ieir gelieferten Probe auf die Leistuugsfäbigkeit des Autors über- 
bjaupt zu schliessen, so ist in letzterer Hinsicht anzuerkennen, dass 
»r aieb jedenfalls immer noch einer grösseren Objectivität und Ge- 
feei>tigkeit gegen die speeulativen Philosophen befleissigt, als Lange, 
der z. B. Aristoteles, Hegel und mich geradezu verächtlich behandelt. 
Vaihinger lässt sich seinerseits die Mühe nicht verdriessen, das 
„System^* des von ihm gewählten Vertreters des naiven Realismus 
jQipd vulgären modernen Materialismus aus vielfach unklaren und 
unsulänglichen Andeutungen zusammenzustellen, und etwaige Lücken 
ücfbevöli zu ergänzen, während ihm für die Reproduktion meiner 
speeulativen Gedankengänge öfters das rechte Verständniss fehlt, 
J9Q dass er weder n^ei^en Standpunkt im Ganzen zutreffend erfasst, 
«I0(di auch im Einzelnen sich vor irrigen Darstellungen meiner An- 
sichten zu wahren weiss. Den sichersten Beweis von seiner 



sympathischen Ueberschälteaiig des MftteriaKsmas and seiner anU^ 
IMithisehen Geringschätzung gegen wirkliche Metaphysik gie)^t im 
49roh die Thatsache, dass er mich mit einem Dphring — wßnp 
ajach nar antithetisch — zosanunenkoppelt, also gewissernuwssen anf 
gjl/eicher Stufe behandelt *) 



Z. Julius FraujBustädt« 

Julius FrauenstSdt hat es sich zur Hauptlebensaufgabe gemac^ 
fiir die Verbreitung, Erläuterung und yerthei4igun^ der Schopen- 
hauerschen Philosophie zu wirken; daneben hat er selbstständige 
Arbeiten vop weniger metaphysischem und speculativem als popular- 
philoßophischem Inhalt veröffentlicht. Zu der erAteren Reihe von 
Arbeiten gehört die Herausgabe neuer Auflagen der Schopenhi^ner- 
schen Schriften^ sowie der Gesammtausgabe seiner Werke, ferner: 
1. Briefe ttber die Schopenhauer'sche Philosophie; 2. Arthpr Schopen- 
hauer, Lichtstrahlen aus seinen Tferken f*) 3. Arthur Schopephan.er^ 
von ihm, fib.er ihn, ein Wprt der Vertheidigung vpn Ernst Otto 



*) Louis Büchner hat als Materialist und naiver Realist dnea tausendmal 
|[r<^S8erea Ei^uss auf das geiatige Leben in Deutschland geübt al« Dühring; 
dasselbe gilt von üeberweg als naiven Realisten uQ,d Materlaliatjen, und von Marx 
und La^salle als sodalistischen Optimisten. Jeder von diesen hat seinen Stand- 
punkt weit klarer erfasst und wirksamer vertreten als Dühring, in dessen seichter 
Trivia^[ihilo8ophie man nergebeuM nach irgend welcher Originalität des Gedankens 
pder Jff^ einem Funken von Geist suchen würde. Ms Socialist ist er bei den 
M&nnem 4er "Wissenschaft wie bei den Arbeitern gleich einflusslos Die einzigjB 
seiner philosophischen Schriften, welche wissenschaftlich in Betracht kommen 
kann (die ,,nat&rlicfae Dialektik*')» ^<^ vielleicht am wenigsten bekannt, und die 
{Erwartungen, welche man an dieselbe knüpfen durftß, wd unerfüllt geblieben, 
^ne „Kritische Geschichte der Philosophie** (vgl. meine Recension in den Bl. f. 
Ht Unt. 1870 Nr. 1) erfreut sich einer gewissen Beliebtheit in solchen studen- 
tischen Kreisen, wo dn hochfahrendes Absprechen über Alles ohne eigentliche 
Sachkenntoiss als bewunderungswürdigjBs und nachahmenswerthes Vorbild gilt 
In gewundenen und affectirten Phrasen redet er nicht sowohl über seinen Gegen- 
stand, als um denselben herum, und verhüllt so mit geschickter Unklarheit dje 
klägliche Dürftigkeit seines geistigen Besitzes. — Vaihinger kam auf Dühring 
offenbar durch den Wunsch, die oben genannten verschiedenen Richtungen in 
einem einzigen Vertreter voneuführen, und liess sich dann nachträglich verleiten, 
einen obscuren Namen zum Träger von Culturströmungen emporzuschrauben, die 
aus ganz anderen (Quellen fliessen. 

^) Die hioran sich anschliessenden lichtutrahlen aua Kant ialUyi ausser- 
halb beider Serien. 



g Einleitimgt 

Lindner, nod MemorabilieD, Briefe und Nacblassstticke von Julius 
Frauenstädt (Berlin bei Hayn) ; 4. SchopenhauerlexikoD in 2 Bänden, 
und endlich 5. Neue Briefe über die Scbop. Phil. (1866). Die zweite 
der genannten Reihen besteht aus folgenden Schriften: 1. Die 
Naturwissenschaft in ihrem Einfluss auf Poesie, Religion, Moral und 
Philosophie; 2. der Materialismus, seine Wahrheit und sein Irrthum, 
eine Erwiderung auf Büchners „Kraft und StoflP' ; 3. Briefe über die 
natürliche Religion ; 4. das sittliche Leben, ethische Studien ; 5. Blicke 
in die intellectuelle, physische und moralische Welt. *) Hierzu treten 
noch zahllose Journalartikel (hauptsächlich in der „Vossischen Zei- 
tung" und den „Blättern ftlr literarische Unterhaltung"), welche 
bald der einen, bald der andern Richtung dienen, meist aber beide 
zu vereinigen suchen. In seiner journalistischen Thätigkeit hat 
Frauenstädt unermüdlich die Aufgabe verfolgt, die neu erscheinende 
philosophische und verwandte Literatur aus Schopenhauer'schem 
Gesichtspunkt zu beleuchten, und damit dem Journalpublikum die 
reale Existenz dieses Gesichtspunktes immer neu zum Bewusstsein 
zu bringen und mit seiner Eigenthümlichkeit vertraut zu machen. 
Auch diejenigen Anhänger Schopenhauers, welche mit Frauenstädts 
Auffassung desselben nicht einverstanden sind, müssen doch seine 
Verdienste um die Schopenhauer'sche Philosophie anerkennen, und 
diese Verdienste sind um so grösöfer, als er der Einzige war, der 
seine volle Kraft dauernd dieser Aufgabe gewidmet hat. Wenn es 
viele thätige Kantianer, Hegelianer und Herbartianer gegeben hat 
und noch giebt, so giebt es doch nur einen eigentlichen Schopen- 
hauerianer in diesem Sinne. Da ihm kein akademischer Lehrstuhl 
zu Gebote stand, so musste er seinen Zweck mit andern Mitteln 
verfolgen, aber sein Zweck ist ein analoger wie der jener ander- 
weitigen — aner auf dem Katheder, und auch das Niveau dieses 
— anerthnms ist in beiden Fällen ungefähr das gleiche. 

Hiermit ist schon gesagt, dass Fr^menstädt kein origineller 
Denker ist; ein solcher hält es gar nicht aus, Jahrzehnte lang in 
der Lehre eines Dritten die Wahrheit (unbeschadet gewisser Vor- 
behalte) zu sehen und im Dienste fremder Gedanken sein philoso- 
phisches Tagewerk zu verrichten. Er schöpft nicht aus eigenen 



*) Wo der Verlag nicht anders angegeben, ist es der Yon Brockhaus in 
Leipzig. 



•i » 



Einleitaiig. 9 f * 



V * 



Mitteln, sondern wirthschaftet als treuer und sorgsamer Haushalter 
mit dem Erbe seines Meisters, in dessen Gedankensystem er sieh 
ganz hineingelebt hat. Das Ergänznngsmaterial etitlehnt er nieht 
sowohl der eigenen Anschauung und Beobachtung, als andern 
Büchern, aus denen er mit gesundem Blick das Gute wählt. Sein 
Denken ist schlicht, klar, wohlgeordnet, nüchtern und sachlich, also 
ganz geeignet, die Aufgabe der Popularisirung eines Meisters bis 
zur Durchsichtigkeit ilir das Yerständniss zu lösen. Dass es dabei 
ohne Verflachung abginge, kann man freilich nicht behaupten; alle 
Popularisirung ist ihrer Natur nach mehr oder minder Trivialisirung, 
denn sie installirt den gemeinen Menschenverstand als den Dauphin, 
zu dessen Gebrauch das Originelle hergerichtet wird. Frauenstädt 
selbst repräsentirt den common sense auf Basis der Pittät vor der 
Schopenhauer'schen Autorität. Er entbehrt ebenso sehr der specu- 
lativen Befähigung wie der Phantasie, der Tiefe wie des Schwunges, 
Eigenschaften, welche allerdings seinem Lebenszweck mehr hinder- 
lich als förderlich gewesen wären. Von seinen selbstständigen Arbei- 
ten verdienen wohl die ethischen Studien die meiste Beachtung. 
Aber auch hier ist ein Ton der Popularphilosophie angeschlagen, 
der wohl viele schätzenswerthe Einzelheiten zur Geltung gelangen 
lässt, jedoch jede principielle Förderung der Moral, jede Ver- 
tiefung der ethischen Grundprobleme ausschliesst. 

Die früheren Veröffentlichungen Frauenstädts Hessen seine Vor- 
behalte gegen die Lehren des Meisters nur in vereinzelten Andeu- 
tungen erkennen, aus denen er weit entfernt war, die Consequenz 
deH^ Nothwendigkeit einer vollständigen Umbildung des Schopen- 
hauer'schen Systems von Grund aus zu ziehen. Ziemlich spät erst 
gelangt er dazu, einem „seit längerer Zeit fttr sich selbst gefühlten 
Bedürfnisse' Genüge zu thun, nämlich sich „Rechenschaft abzulegen 
über die Einheits- und Differenzpunkte zwischen ihm und Schopen- 
hauer" (Neue Briefe S. 2). Als „ehrlicher Wahrheitsforscher*' ver- 
hehlt er nicht, dass er Jetzt (187&) als ein Anderer zur Schopen- 
hauer'schen Philosophie zurückkehre, als er 1854 bei der Herausgabe 
seiner ersten Briefe über dieselbe war" (ebd.), da „die Zeit auf 
Keinen ohne Einfluss bleibt", und inzwischen „in der philosophischen 
Literatur Manches vorgegangen" ist. „Hierher gehören nicht bloss 
die ausdrücklich auf die Schopenhauer'sche Philosophie, sei es im 
Ganzen oder auf einzelne Theile derselben sich beziehenden SchrifteUi 



'.« 



10 TSifddimi' 

sondern weh neue Systeme, die eine Fortbildung und Verbeaserang 
derselben aein wollen, wie die Hartmann'sche Phil. d. Unbew., oder 
Systeme, die wie die Darwin'sche Entwickelungstheorie, Grundlehren 
der Schopenhauer'sehen Philosophie umzustossen scheinen^' (ebd.). 
Der Darwinismus berührt sich nur in dem einzigen Probl^n der 
teleologischen Naturentwickelung mit dem Schopenbauerianismus ; 
der Standpunkt der Phil. d. U^b. dagegen berührt sich mit demselben 
fast auf alle^ Punkten und in noch höberem Grade mit dem 
Frauenstädt'schen Umbildungsstandpunkt. Als je enger die Ver- 
wandtschaft zwischen den beiden letzteren sich bei näherer Be- 
trachtung herausstellt, desto mehr muss man bedauern, dass Frauen- 
gtädt mit seinem Umbildungsversuch nicht um sieben Jahre früher 
bervorgetrejten ist, wo derselbe unstreitig einen noch grösseren 
geschichtlichen Werth gehabt hätte. 

Immerhin ist auch jetzt die Bedeutung dieser Kundgebung nicht 
zu unterschätzen. Wenn der treueste Anhänger und langjährige 
Vertheidiger eines bestimmten Systems sich endlich zu dem unum- 
wundenen Geständniss genöthigt sieht, dass dieses System, um ferner 
lebensfähig zu bleiben, einer vollständigen Umbildung bedürfe, so 
darf man überzeugt sein, dass dies ein mit schwerem Herren der 
Pietät abgerungenes Opfer auf dem Altar der Wahrheit ist. Jede 
einzelne Goncession, dass eine bestimmte Seite des Systems mit 
anderen im Widerspruch stehe und vor dicr Kritik unhaltbar sei, 
hat in dem Munde eines so genauen Sachkenners und. eines so 
warmen Fürsprechers ein ganz anderes Gewicht, als 4ie Kritik 
^nes Drauasenstebenden, und man wird es der Vergangenbeft oteeB 
aolchen Jüngers zu Gute halten dürfen, wenn er durch künstliche 
und gewaltsame Interpretationen des Meisters seinen eigenen Um- 
bildAugSBtandpunkt als einen mit der eigentlicben und ionecsten 
Meinung des Meisters möglichst übereinstimmenden darzustellen 
bemüht ist. Einer von Pietät und Impietät gleich unbeirrten histo- 
rischen Kritik wird sich freilich das Bild der ursprünglichen und 
wahren Schopenhauer'sehen Lehre anders darstellen müssen, als es 
idurch die Brille der Frauenstädt'achen Pietät erscheint, und es wird 
nicht .wmfitjs sein, durch einen entschiedenen Hinweis auf diese 
Di&crepanz den Missständnissen vorzubeugen, zu welchen jüngere 
Studirende /durch dieselbe verleitet werden könnten. Mögie aber 
das Hervortret^in Frauenstädts mit seinen „^eiH^ Briefen'^ nirenigstonB 



das Gute isitifleQ; dass es einen Merkstein bezeichnet, mit welchem 
ebenso die einseitige Verherrlichung wie die einseitige Verketzerung 
Schopenhauers aufhört, und eine Zeit der objectiven historischen 
Würdigung sine ira et studio beginnt, bei welcher die reichen Ge- 
dankenkeime des grossen Denkers erst ihre rechten und echten 
Früchte zeitigen werden. 



4. Julius Bahnsen. 

Julius Bahnsen ist eine der eben besprochenen ganz entgegen- 
gesetzte Persönlichkeit. Er ist ein durchaus origineller 
Philosoph, und die Originalität ist bei ihm so scharf ausgeprägt, 
dass sie hart an die Grenze des Bizarren streift, nicht selten sogar 
dieselbe überschreitet. Ein speculatives Talent, das sich mit Vor- 
liebe gerade in die dunkelsten Untiefen (Jer Probleme des Kopfes 
und des Herzens versenkt, und eine üppig wuchernde Phantasie, 
welche die dialectischen Speculationen unter einem tropischen Bilder- 
reichthum fast zu verschütten droht, vereinigen sich, um eine ganz 
ungewöhnliche Erscheinung hervorzubringen Fügt man hinzu, dass 
Bahnsens Dichten und Trachten mit dem edelsten Herzblut des 
deutschen Idealismus getränkt ist, so ergiebt sich eine Mischung von 
Eigenschaften, die zur Lösung der höchsten Aufgaben berufen 
schiene, wenn ein klarer, logischer Verstand hinzukäme, 
um der dialectischen Entwickelung Ziel und Wege zu weisen, ßegei 
und Ordnung in die trübe Gährung der Probleme zu bringep^ 
uad den Antheil der Phantasie auf das ihr- in der Wissenschaft 
jgebtihrende Maass zurückzuführen. Es ist mit einem Wort die 
Nüchternheit, die diesem Denken fehlt, und deshalb vermag ea 
nicht gradlinig und unentwegt auf ein in's Auge gefasstes Ziel 
loszugehen, sondern taumelt wie trunken nach rechts und links und 
bleibt zuletzt wohl auf halbem Wege stecken. 

Bahnsen selbst sagt*): „Es mag sich nämlich ein Leser, der 
mich bis hierher geleitet hat, gesagt sein lassen, dass nicht weniger 
als ihm dem Schreibenden selber in diesem Abschnitt oft zu Muthe 
gewesen ist, als müssten wir uns auf einem sumpfigen Terraip 



•*) Beiträge zur Charakterologie. M|t besonderer Bwücksichtigung pädago- 
gischer Fragen. Leipzig bei Brockhaus. 2 Bcl,e. 1867. S. 271—272. 



12 Einleitung. 

bewegen, wo jeder Schritt vorwärts die Gefahr mit sich führt, tiefer 
in's Bodenlose zu gerathen. Da entsteht von selber eine Zick- 
zackbewegung, die in ziellosen Kreuz- und Quer- 
gängen eigene wie fremde Kraft vergebens ab- 
zumartern scheint, und mit der Geradlinigkeit des 
Fortschreitens scheint jede feste Disposition aus der Erwä- 
gung zu verschwinden — so sehr, dass selbst die Ueberschriften 
dieser letzten Capitel zum Theil hinter Unbestimmtheiten sich 
flüchten mussten. Dennoch glaube ich, im Hin und Her dialectischer 
Thesen und Antithesen dem intelligenti i, e, inter lineas legenti 
auch die Synthesen nicht vorenthalten zu haben." Dies Geständniss 
fttr einen speciellen Abschnitt ist charakteristisch flir Alles was 
Bahnsen schreibt: die Hauptsache muss man zwischen den Zeilen 
lesen. Er kann keine noch so einfache Behauptung hinschreiben, 
ohne sie gewissenhaft durch entgegengesetzte einzuschränken und 
diese wieder einzuschränken u. s. f. Was nun bei diesem Hin und 
Her seine eigentliche Meinung ist, lässt er absichtlich möglichst 
unklar in der Schwebe, um nur nicht in dogmatische Einseitigkeit 
zu verfallen. Nimmt man hinzu, dass dieses Gedankenzickzack 
meist nicht in deutlicher Begriffssprache, sondern in vieldeutiger 
bildlicher Redeweise ausgedrückt, und in bandwuimartige Perioden 
gepfropft ist, die durch zahllose (oft nur mit Gedankenstrichen an- 
gedeutete) Parenthesen zerhackt sind, so wird es begreiflich, dass 
Bahnsens Stil und Darstellung trotz aller Anschaulichkeit und alles 
Gedankenreichthums geradezu abschreckend wirken, und das Haupt- 
hinderniss für eine Beachtung seiner Schriften in weiteren Kreisen bilden. 
Dabei ist trotz aller Gespreiztheit des Gebahrens in Ernst und 
Humor, trotz aller Forcirtheit des Effects nichts künstlich Gemachtes 
in diesem Stil; Bahnsen kann wirklich nicht anders schreiben, weil 
er genau so denkt wie er schreibt — und deshalb ist das Uebel 
hoffnungslos. Der Mangel an Klarheit, Nüchternheit und logischer 
Gradlinigkeit des Denkens, der jede Präcisirung bestimmter Resul- 
tate verhindert, verurtheilt sein Philosophiren in formeller Hinsicht 
ganz ebenso zu einer fragmentarischen Beschaffenheit, wie der von 
ihm ergriffene principielle Standpunkt des pluralistischen Individua- 
lismus in sachlicher Beziehung thut, und es ist nur zu bedauern, 
dass Bahnsen nicht Müsse findet, seine Gedankenarbeit fortzufahren, 
da grade dann dieser ihr zwiefach innewohnende fragmentarische 



Einleitung. 18 

Charakter erst recht zweifellos sich offenbaren würde. Bei alledem 
sind die vorangestellten Vorzüge Bahnsens so hervorragend, dass er 
das einzige Talent der Schopenhauer'schen Schale genannt 
werden muss. Die wirklich philosophischen Köpfe sind eben auch 
im Lande der Denker eine solche Rarität, dass der Freund der 
Wissenschaft aufrichtig erfreut sein muss, einem solchen unter den 
Mitlebenden zu begegnen und nur mit tiefem Bedauern sehen kann, 
dass man eine solche Kraft im hintersten Theile von Hinterpommern 
verkümmern lässt. 

Wer es noch über sich gewinnt, Jean Paul zu lesen, der wird 
auch an Bahnsen, welcher von ersterem stark beeinflusst ist, nicht 
scheitern, und wird von seinen Schriften nicht ohne tiefere Beleh- 
rung, vielseitige Anregung und reichen Genuss scheiden. Seine 
Stärke liegt wie diejenige Schopenhauers im Apergü, in der geist- 
vollen Auffassung und anschaulichen Wiedergabe des Wirklichen, 
namentlich in der Beobachtung und Analyse der feineren psycholo- 
gischen Verschlingungen der Gefühle und Begehrungen. Er ist 
hierbei ebenso geschickt in der Distinction der feinsten Nuancen, 
wie er es versteht, den Leser mit der Kraft gewaltiger, fast poeti- 
scher Imagination in die tiefsten Abgründe des menschlichen Herzens, 
seines Jammers wie seiner Zerknirschung hinabzuführen. 

Hier aber kommen wir an einen zweiten wunden Punkt, der 
nicht mehr bloss die Form, sondern den Inhalt betrifft. Wir werden 
sehen, dass Bahnsen eigentlich nur einen unlogischen Zweck der 
Erscheinungswelt gelten lässt, nämlich denjenigen, der Selbst- 
entzweiung und Selbstzerfleischung des Willens einen möglichst 
günstigen Tummelplatz zu gewähren. Die Selbstquälerei wird 
zum Selbstzweck, der eben in seiner logischen Widersinnig- 
keit die Bestätigung ftlr seine realdialectische Wahrheit und Wirk- 
lichkeit finden soll. Das Elend des Daseins ist hoffnungslos ; weder 
das Individuum noch das All-Eine kann je einen Ausgang aus der 
Hölle der Selbstzerfleischung finden. Aus der bei Schopenhauer nur 
ftlr einen gelegentlichen Einfall zu nehmenden Bemerkung, dass die 
Welt die schlechteste von allen möglichen sei, macht Bahnsen bittem 
Ernst (Zur Phil. d. Gesch. S 52—53); der Pessimismus hört bei 
ihm auf, tragisch erhebend zu wirken, und sinkt zur deprimirenden 
Desperation herab. Mit der vorgefassten Meinung, dass überall 
nicht das Logische, sondern das Dialectische bestimmend sei für die 



14 mokfiähg. 

Wirklichkeit, kann ei* gat mcht ümhia, tiberall nach der empirischen 
Bestätigung dafür zu suchen, dass das Wesen der Welt die Selbig t- 
(juälerei sei; nichts darf hiervon unberührt bleiben, und kein 
Otr|ecl! ist zu winzig, um nicht ^Is Belag fffr diese Grundansieht zu 
dienen. 

Hieraus entsteht nun ein Zwiefaches: erstens eiü „kfeinmeistcr- 
liches Herumkritteln" und -Mäkeln an allem Wirklichen*), das mir 
tu leiöht in grillige, grollende tind grämliche Nörgelei ausartet^ 
und zweitens eine Tendenz, die Selbstquälerei, welöhe durcbftHö in 
Allem gefunden werden soll, durch dieses grämliche und nörgelnde 
Suöheß erst heraufzubeschwören; In ersterer Hinsieht verdient der 
desperäi;e Pessimismus die zu andern Zwecken erfundene Bezeich- 
nung „Miserabilismus", in letzterer Hinsicht entartet er zu einer 
hypochondrischen, um nicht zu sagen hysterischen WeltbetrachtttUg. 
Dieser hypochondrische Miserabilismas nun drückt der ganzen Phy- 
siognomie deiÄ Bahnsen'schen Philosophirens einen unzweideutig 
pathologischen Zug auf, der das Gewicht seiner Anschauungen 
und die Wirksamkeit seiner Argumeöte durch Verdächtigung ihrer 
Unbefangenheit zu beeinträchtigen geeignet ist, ja sogar den Humor 
mit Galle tränkt and seiner befreienden Kraft beraubt. Bahnsen 
selbst verräth durch einen tiberall hervorbrechenden Groll g'cgen die 
„Gesunden", dass er sich dieses pathologischen Zuges bewusst ist, 
durch den er auf dem Gebiete der Philosophie in eine ähnliche 
Stellung gerückt wird, wie Heinri^ch Heine auf dem Gebiete d«r 
Poesie and Bobert Schumann auf demjenigen der Musik. 

5. Johannes Yolkelt und Johannes Behmke. 

Johannes Volkelt ist der jüngste der hier besprochenen Autoren, 
und der glücklichen Mischung seiner Anlagen nach derjenige, dm- 
die grössten HofiBiungen für die Zukunft erweckt. Seine speculative 
Befähigung kommt derjenigen Bahnsens, die Klarheit und Nüchtern- 
heit seines Verstandes derjenigen Frauenstädts mindestens gleich, 
an philosophischer Schulung, an Objcctivität des Urtheils, an Weite 



*) Zur Philosophie der Geschichte. Eine kritische Besprechung des Hegel- 
Hartmann'schen Eyolutiomsmus aus Schopenhauer'schen Principien. Berlin bei 
Cor) Duncker, 1872. (8. 58.) 



E^«Httii|i[. 15 

des 3e«iebii9kreisei» und an ^^{»(^ber Schärfe ist er beiden ttberlegen ; 
in d^i' Feinheit der Beoba^irbiung und in geisttotten Aper9Hs kanm 
er 0ieb freilieh mit Bahnsen ebetnso weinig mesi^en wie in der Origi- 
nalität der Attffasi^Bg. Gleiehwofai febh es ihm> keiiieswegs an 
Frische und Unibittdbarkeit der Ansebauungy und die Summe seiner 
Eigeüdchafteni erseu^ nicht nur eine grosse Leichtigkeit der Irisseo- 
sdhaftMclten Behandlung, sondern auch eine bedeutende schriftstel- 
Idrisebe Gewandtheit, wie sie befsonders in seinen jfournaHstiscbeli 
EgSÄys*) hervortritt. Ein solcher Schriftsteller e*)/^eckt die Erwäi»- 
timg, däbB i!T in jedem Sattel gerecht sein werde, und es bleibt 
nur %n wilusebeu, dass er die rege gemachten Erwartungen nicht 
nnerfällt lassen me§e. Denti allerdings dind die bisher verOffefit- 
Hebten historisch-kritischen Studien**), Monographien***) und Vor- 
träge t) weniger ais positive Leistungen wie als Proben der Leistungs- 
fähigkeit zu betrachten, wenn sie auch die Leistungen manches 
wohlbestallten Professors an Umfang und Inhalt weit ttberragen« 

Es ist kaum anzunehmen, dass Volkelt in seineta Vaterlande 
Oestreich von dem dort herrschenden Herbartianismns zu 6iner 
akademischen Verwerthung seiner Kraft zugelassen werden sollte; 
im deutschen Reich dagegen dürften bei ihm selbst diejenigen Be- 
denken dahinfallen, tt) welche einer akademischem Verwendung 
Bahnsens etwa im Wege stehen könnten. Gerade Volkelt dürfte der 
berufene Vertreter eines zeitgemäss umgebildeten Hegelianismus för 
die nächste Generation werden, wenn die bisherigen älteren Vertreter 
des ursprünglichen Hegelianismus vom Schauplatz abgetreten sein 
werden. Der Hegelianismus ist als Schule des speculativen Denkens 
und als nothwendiger Durchgangspunkt fWr die Entwickelnng d^r 



*) Die Entwicklung des modernen Pessimismus („Im neuen Beich*^ 1872, 
Kr. 25). Zur Geschichte der Philosophie der Liebe (ebd. 1873, Nr. 27). Der 
Ideehgehalt in fiainerlings Dichtungen (ebd 1874, Nr. 24 u. 26). 

**) Das Unbewusste und der Pessimismus. Studien zur modernen Geistes- 
bewegung (Berlin bei Henschel, 1873). — Ferner: Kants Stellung zum unbewusst 
Logischen (Philos. Monatshefte Bd. IX, Heft 2 und 3). Fantheismus und IndiW- 
doalisifaus im Systeme Spinozas. Ein Beitrag zum Verständnisse des Geistes im 
Spinozismus. (Leipzig bei Fritzsche, 1872). 

♦*♦) Die Traumphantasie. Stuttgart bei Meyer und Zeller, 1876. 

t) Kants kategorischer Imperativ und die Gegenwärt. Vortrag, gehalten im 
Leseverdih det deutschen Studenten Wiens. Wien bei Czermak, 1675. 

tt) Derselbe hat sich im Herbst 1876 in Jena als Frivatdocent habilitirt. 



16 Eiiileitaiig. 

deutschen Pfailosophie viel zu wichtig, und seine Ueberlieferung 
durch das gesprochene Wort zur Gewinnung neuer Schüler zu 
unentbehrlich, um nicht mit Bedauern den ftir das nächste Jahrzehnt 
in Aussicht stehenden Verfall der Hegerschen Schule in's Auge zu 
fassen, und der jüngere Nachwuchs in dieser Richtung ist so spär- 
lich, dass ein Talent wie Volkelt als ein wirklicher Gewinn fQr die 
Zukunft des philosophischen Studiums begrtlsst werden muss. Der 
Schopenhauerianismus ist in einer weit günstigeren Lage, weil die 
Originalwerke des Meisters fortfahren, fUr sich selber Propaganda 
zu machen, was von denen Hegels wohl Niemand behaupten wird. 
Bei Bahnsen handelt es sich in erster Reihe darum, dem Talent 
die materielle Möglichkeit und Müsse zu schriftstellerischer Entfaltung 
zu gewähren, was durch eine Beurlaubung mit Pension noch wirk- 
samer als durch ein akademisches Lehramt zu erreichen wäre; bei 
Volkelt hingegen handelt es sich in erster Reihe um eine Verwer- 
thung als Apostel im Dienste eines mit der Zeit fortgeschrittenen 
Hegelianismus vom Katheder herab und erst in zweiter Reihe um 
BeförderuDg seiner schriftstellerischen Thätigkeit. — 

Johannes Rehmke ist ebenso wie Volkelt noch ein junger Mann, 
der Geburt nach gleich Bahnsen ein Holsteiner, der in Zürich unter 
Biedermann Theologie und Philosophie studirte, und gegenwärtig 
als Professor am Gymnasium zu St. Gallen wirkt. Es sind mir 
bisher nur zwei Publicationen desselben bekannt geworden, deren 
erstere zu meiner Metaphysik, deren letztere zu meiner praktischen 
Philosophie, insbesondere meinem Pessimismus, Stellung nimmt. "^^ 
Beide Arbeiten zeichnen sich durch maassvolle Objectivität, .concise 
Prägnanz und Erfassen der wichtigen Probleme in ihrer fundamen- 
talen BedeutuDg vor der Menge der gegen mich gerichteten Streit- 
schriften vortheilhaft aus, und erwecken die besten Hofinungen für 
des Verfassers weitere Leistungen. Zugleich beanspruchen dieselben 
ein besonderes Interesse dadurch, dass sie wesentlich aus dem An- 
schauungskreise Biedermanns herausgewachsen sind, der, ohne an 
der Form der Hegerschen Methode zu haften, einer der treuesten 
Bewahrer des Hegerschen Geistes und zugleich einer der specula- 



♦) „Hartmann*8 ünbewusstes, auf die Logik hin kritisch beleuchtet." Zürich 
bei Orell, Füssli u. Comp. 1873. — „Die Philosophie des Weltschmerzes." St. 
Gallen 1^76. 



Einldtimg. 17 

tivsten Denker der Gegenwart genannt werden muss. So wird 
man auch Rehmke im weiteren Sinne noch als Hegelianer bezeichnen 
dürfen, obwohl seine Arbeiten denen der HegeVschen Schule im 
engeren Sinne gar nicht ähnlich sehen, und er sich offenbar auch 
schon wiederum weiter als Biedermann vom strengen Hegelianismus 
entfernt hat. 



6. Lange's philosophischer Standpunkt. 

Lange hatte sich, wie erwähnt, die Aufgabe gestellt, den Ma- 
terialismus mit Hülfe des erkenntnisstheoretischen Idealismus aus 
der metaphysischen Sphäre in diejenige der subjectiven Erscheinung 
zu versetzen, ihn dadurch aus einem dogmatischen Irrthum zu einer 
kritisch begründeten Wahrheit zu erheben, und ihn so als bleibenden 
Bestandtheil in die Philosophie aufzunehmen. Indem er diese Um- 
wandlung mit Hülfe der Kant'schen Erkenntnisstheorie vornahm, 
stützte er sich allerdings auf Kant; aber da er zugleich eine ge* 
schichtliche Behandlung anstrebte, so wäre es doch seine dringendste 
Pflicht als Geschichtsschreiber gewesen, seine Entwickelung in der 
Darstellung desjenigen Philosophen gipfeln zu lassen, der vor ihm 
dieselbe Aufgabe mit denselben Mitteln und in dem gleichen 
Sinne zu lösen versucht hatte, nämlich Schopenhauer. Indem er 
diesen schlechtweg ignorirte, glich er einem Koch, welcher ein 
Diner mit reichlich bedachten Vorspeisen und Nachtisch servirt, und 
nur die Hauptsache, den Braten, vergisst. 

Auch Schopenhauer betrachtet die idealistischen Grundsätze der 
Eanfschen Erkenntnisstheorie als das unerschütterliche Fundament 
aller künftigen Philosophie ; auch er sucht, was Kant noch gar nicht 
eingefallen ist, den naturwissenschaftlichen Materialismus voll und 
ganz in sein System aufzunehmen. Durch seine Synthese des sub- 
jectiven Idealismus mit dem Materialismus ist Lange's ganzes Den- 
ken unweigerlich als ein unmittelbarer Ausfluss des Schopenhauer'- 
schen Systems gekennzeichnet; es bedürfte dazu gar nicht der 
weiteren Bemerkung, dass er auch den objectiven Idealismus 
Schopenhauers mit einer durch Schiller'sche und Fichte'sohe Einflüsse 
bedingten Modification festhält und umbildet, und dass er auch dem 
Pessimismus Schopenhauers für die Welt der empirischen Wirklich- 
keit Recht giebt Von den fünf Elementen des Schopenhauer'Bchen 

£. T. Hartmann, Erläaterungeu. 2« Aufl. 2 



18 Einleitung. 

Systems sind hiernach zwei in unveränderter, zwei in abweichender 
Gestalt festgehalten, und nur das fünfte, der metaphysische Bealismus 
und Monismus des Willens ist, als in's Gebiet des Unerkennbaren 
gehörig, ausgeschieden worden. Lange's ganzer Gedankenkreis 
bildet somit nur eine einseitige Fortsetzung und Ausgestaltung des 
Schopenhauerianismus, und es ist für diese Thatsache ganz gleich- 
gültig, in welchem Grade Lange selbst sich dieses Zusammenhanges 
bewusst gewesen sein mag. Man kann Lange'als die subjectivistische 
Seite der Schopenhäuer'schen Schule charakterisiren, welcher Frauen- 
städt, Bahnsen und ich gemeinsam als Vertreter eines transcenden- 
talen Realismus gegenüberstehen. 

Vaihinger selbst sagt (S. 210): „Es wäre doch merkwürdig, 
wenn Lange, dessen geistige Entwickelung in die Zeit fiel, in 
welcher Schopenhauer Mode war, nicht dadurch irgendwie influirt 
worden wäre; und wenn er (Gesch. d. Mat. II, 2) davon spricht, 
^^dass die Schopenhauer'sche Philosophie für viele gründlicheren 
Köpfe einen üebergang zu Kant gebildet habe", so dürfen wir ver- 
muthen, dass dies auch für Lange selbst der Fall gewesen sei.'' 
Da hiernach wenigstens die Bekanntschaft Lange's mit Schopen- 
hauers Werken als zweifellos gelten muss, und da bei einem so 
sorgsamen Historiographen wie Lange nur noch ein absichtliches 
Ignoriren eines so wichtigen Vorgängers angenommen werden kann, 
so wird letzteres geradezu zu einem psychologischen Problem, das 
zu Vermuthungen über die Motive einer so unbegreiflichen Zurück- 
setzung und eines so starken Verstosses gegen die Pflicht des Ge- 
schichtsschreibers herausfordert. Es muss nun zunächst dieses 
Ignoriren als ein starkes Symptom für die Antipathie und Gering- 
schätzung aufgefasst werden, mit welcher Lange auf Schopenhauer 
als auf einen speculativen Philosophen herabblicken musste; aber 
dies aUein kann nichts erklären, da er z. B. Aristoteles und mich 
mindestens mit demselben Widerwillen und der nämlichen Verach- 
tung betrachtet und doch eingehend berücksichtigt, obwohl seine 
Polemik gegen mich mit dem Inhalt des Buches kaum etwas zu 
schaffen hat. Ich kann nicht umhin, aus der Antipathie Lange's 
gegen Schopenhauer den Schluss zu ziehen, dass ihm der Gedanke 
höchst widerwärtig und peinlich sein musste, dass Andere ihn als 
einen blossen Ausläufer des Schopenhauerianismus betrachten könn- 
ten, tand dass er deshalb bemüht sein musste, den Einfluss, den 



Einleitung. 19 

das Schopenhauer'sche System, gleichviel ob direot oder indirect^ 

£inf ihn gehabt hatte, möglichst zu verheimlichen. Er schämte 

sich seiner Abkunft, dachte nach Schopenhauers Anweisung: 

joereant, qui nostra ante nos dixenmt, und vermied deshalb jede 

Darstellung des Schopenhauer'schen Standpunktes^ aus welcher 

jedem Leser sofort die intime Verwandtschaft mit dem seinigen 

entgegeugeleuchtet hätte. Ist dieses hypothetische Motiv die einzig 

denkbare Lösung für jenes psychologische Räthsel, so muss diese 

liösung rückwärts den Verdacht verstärken, dass der Einfluss 

Schopenhauers auf Lange ein directer und bedeutender gewesen sei; 

er hat also mit seinem auffälligen historiographischen Mangel das 

Geheimniss, das er dadurch verhüllen wollte, gerade erst reeht 

Terrathen. 

Wie Schopenhauer Schelling verleugnet, so Lange vnederum 
Schopenhauer; wie jener direct atif Plato zurückging, so dieser auf 
Kant. Für Kant hat Lange eine ganz besondere Vorliebe, einerseits 
weil Kant fär Schopenhauer und ihn selbst die Grundsätze des trans- 
cendentalen Idealismus geliefert hat, andererseits weil derselbe 
keinen Anspruch darauf macht, Metaphysiker zu sein. Dass Kant 
den Idealismus Berkeley's und Fichte's auf das Entschiedenste per- 
horresoirte und jederzeit auf einen transcendentalen Realismus als 
sein eigentliches Ziel hinarbeitete, ist dabei in ersterer Bipsiebt 
ebenso übersehen, wie in letzterer Beziehuug der Umstand, dasß 
Kant seinen idealistischen Grundsätzen zum Trotz durch und dureb 
unbewusater Metaphysiker war. Aber die metaphysischen Anläufe 
Kants werden theils als nebensächliche Auswüchse ignorirt^ i3mU 
als senile Abirrungen mit fireupdlicber Nachsicht entschuldigt. So 
bleibt Kant für Lange trotz aller Ausstellungen im Einzelnen der 
Mustßrphilosoph, auf dessep Boden man sich zu ßt^Uep hat, und 
„um dep nicht berun) zu kommepi'' ist Lange gerirt aiph selbst 
durchaus als Kantianer, undVaihinger feiert ihn als das Haupt und 
den Führer des im letzten Jahrzehnt entstandenen Neukantianismus, 
und nicht mit Unrecht, wenn man bei solcher Schätzung nicht 
die principielle Klarheit und historische Treue als ma^sagebend er- 
achtet. Die Kant'sche Philosophie ist nämlich ein Gemenge von 
subjectivem Idealismus und transcendentalem Realismus ; die Elemente 
beider Richtungen laufen wunderlich verschlungen durch einander. 
Gteicbyie^ ob die ^wisiphen beiden b^tßbenden Widersprüchi^ wie 



20 Einleitung. 

ich behaupte, Fehler Kants, oder, wie Vaihinger (S. 35) behauptet, 
nothwendige fundamentale Widersprüche in unserer geistigen Orga- 
nisation anzeigen, — soviel steht fest, dass nur die Verbindung beider 
Seiten den Anspruch auf eine historisch treue Wiedergabe der 
Eant'schen Lehre machen kann. 

Schon Schopenhauer hatte Kant's Ableitung des Dinges an sich 
yermittelst der Kategorie der Gausalität als unvereinbar mit den 
idealistischen Grundsätzen Kants verworfen, und Lange folgt ihm 
hierin in seiner ersten Auflage, indem er in diesem Punkte eine 
Correctur Kants für nöthig erachtet. Der Unterschied beider ist 
nur der, dass Schopenhauer mit Hülfe eines metaphysischen Willens- 
realismus einen transcendentalen Realismus unter Umgehung der 
transcendenten Gausalität zu errichten sucht, während Lange diese 
Metaphysik wie jede andere als blosse Begriflfsdichtung verwirft. 
Schopenhauer lehnt sich dabei ah Kants Lehre vom intelligiblen 
Charakter an ; Lange hingegen lehrt, dass man ebenso wenig durch 
das Subject als durch das Object zum Ding an sieh durchdringen 
könne (Vaihinger S. 56), und dass der Glaube an eine transcenden- 
tale Freiheit ganz ebenso eine nothwendige Illusion sei wie der an 
ein „Ding an sich" hinter dem Object (Vaihinger S. 185). Hiermit 
entfernt er sich von Kant viel weiter als Schopenhauer, welcher 
wenigstens dieser wichtigsten unter den Kant'schen Vernunftideen 
noch objective Wahrheit zuschrieb, während Lange in ihnen nur 
ein praktisch werthvoUes Spiel der Phantasie ohne alle objective 
Gültigkeit sehen will (ebd. 109). Ferner hält Schopenhauer noch 
daran fest, dass Kant durch seinen transcendentalen Idealismus die 
von ihm aufgesuchten und dargestellten Paralogismen und Anti- 
nomien gelöst und wirklich überwunden habe; Lange aber, der 
sich natürlich mit seinem einseitigen Idealismus in die schlimmsten 
Widersprüche verrennt, muss den Kantischen Anspruch einer voll- 
brachten Lösung der Antinomien ignoriren, und statt dessen ihre 
blosse Aufstellung betonen, — als ob es demselben jemals ein- 
gefallen wäre, seinen Schlüssel für die Lösung der Kategorien (den 
Begrifl* des Noumenon) als eine blosse logische Fiction zu betrachten 
(Vaihinger S. 35). Schwindet sonach der haltbare Theil des um- 
fassenden Kant'schen Systems schon in der Kritik Schopenhauers 
auf einzelne Fundamentallehren zusanunen, so reducirt sich bei 
Lange d^ bestehen bleibende Best auf ein solches Minimum, dass 



y 



Einleitung. gl 

sein An£^ruch, moderner Vertreter des Eantianismus zu sein, kaum 
noch im Ernste haltbar erscheint, auch ganz abgesehen davon, dass 
er entschieden unkantische Gedankenelemente hereinnimmt. 

Was von Kants Lehren bei Lange bestehen bleibt, ist lediglich 
die Apriorität der Anschanungs- und Denkformen, und der hieraus 
gezogene falsche Schluss, dass dieselben „bloss'' subjectiv seien und 
keine transcendente Bedeutung hätten. Da Lange somit insbesondere 
die transcendente Gausalität leugnet, so leugnet er, dass unsere 
Wahrnehmungen durch Affection der Sinnlichkeit von Seiten trans- 
cendenter „Dinge an sich^' zu Stande kommen, und giebt nur zu, 
dass unsere geistige Organisation eine solche sei, dass uns dies so 
zu sein scheine. Hiernach muss er annehmen, dass die Materie 
der Anschauung ganz in demselben Sinne a priori gesetzt sei, wie 
ihre Form; damit verliert aber jeder Unterschied von a priori und 
a posteriori und die ganze von Kant auf diese Unterscheidung ge- 
baute Gonsequenzenreihe ihre Bedeutung, und Lange steht auch in 
dieser Hinsicht vielmehr auf dem Standpunkt Fichte's, bei dem das 
Ich Alles ohne Unterschied selbstthätig aus sich producirt. 

Das nämliche gilt von der Auffassung des Dinges an sich. 
Obzwar Kant dessen Beschaffenheit als unerkennbar bezeichnet, 
so hält er doch dessen positiveExistenz für ebenso zweifellos 
wie die Affection unserer Sinnlichkeit durch das Ding an sich, 
(d. h. die transcendente Gausalität), und urgirt eben dies als den 
Unterschied seines kritischen Standpunkts von allem blossen Idealis- 
mus, und speciell dem Berkeley's. Lange dagegen leugnet nicht 
nur die positive Existenz des Dinges an sich und erklärt dasselbe 
für einen rein negativen Grenzbegriff unseres Denkens, sondern er 
versteigt sich in der zweiten Auflage sogar zu der Behauptung, dass 
dies Kaufs wahre Meinung gewesen sei, und stützt diese Behauptung 
auf die einseitige Darstellung Gohen's, in welcher eben die zahl- 
reichen realistischen Stellen der Kantischen Schriften einfach ignorift 
sind. So aber ist das „Ding an sich" zu einer „erkenntnisstheore- 
tischen Kategorie" herabgesetzt, und der Glaube an die transcen- 
dentale Bedeutung dieser Kategorie für eine blosse Illusion erklärt; 
welche aus unserer gegebenen geistigen Organisation mit Nothwen- 
digkeit folgt. Dieser Punkt aber ist der Rubicon, der zwischen 
Kant und Fichte liegt. Ist dieser Schritt einmal gethan, ist das 
Ding an sich (oder Nicht-Ich) zu einer blossen Vorstellung (d. h. 



22 Einleitang. 

ZU einem Produkt des Ich) herabgesetzt^ dann kann eine solche 
Erkenntnisstheorie sich nicht mehr Neukantianismus, sondern muss 
sich Neufichteanismus nennen. Lange thut dies nur deshalb nicht, 
weil er die Schopenhauer'sche Synthese von subjectivem Idealismus 
und Materialismus festhalten will, und wie Schopenhauer die Füh- 
lung mit der Naturwissenschaft nicht verlieren mag. Er bleibt 
deshalb in einem Gonfusionismus stecken, über den Fichte weit 
hinaus ist; und dies allein ist der Grund, dass er aich Kantianer 
zu nennen versucht, da er sich Schopenhauerianer einmal nicht 
nennen will. 



7. Taihinigper's philosophiseher Standpunkt. 

Während Lange sich so zwischen zwei Stühle setzt (Schopen- 
hauer und Fichte), die er beide nicht zu bemerken scheinen will, 
bildet Vaihinger diesen subjectiven Idealismus zu dem einzigen 
Ziele fort, zu dem er führen kann, wenn er nicht wieder in eine 
der geschichtlich bereits durchmessenen Bahnen einlenken will, zum 
Skepticismus. Er zeigt, dass die „physisch-psychische Organisation" 
Lange^s, d. h. das der physischen Organisation und ihren psychischen 
Functionen zu Grunde liegende Unbekannte, ein ebenso negativer 
Grenzbegriff nach der subjectiven Seite sei, wie das Ding an sich 
nach der objectiven (S. 57), — dass alle solche Kategorien blosse 
ilothbehelfe des DenkeiQS, blosse Verlegenheitsbezeichnungen unsrer 
Unwissenheit, eigentlich also „Begriffe der Ignoranz" seien (62), 
dass mit 6inem Wort unser Erkennen ausschliesslich auf die Sphäre 
der subjectiven Erscheinung beschränkt sei. Hiernach sei das 
Besultat des Kriticismus ein rein negatives, und es komme 
darauf an, es als solches rein festzuhalten und nicht wieder aus 
menschlicher Schwäche der Null eine Zahl unterzuschieben (66). 
JDer Kriticismus könne nur zerstören, nicht aufbauen, er sei die 
„Belbstzersetzung der Speculation'' , und Philosophie nur insoweit 
möglich, als das Geständniss, nichts zu wissen — eben auch Philo- 
sophie ist (67). Der Standpunkt des Kriticismus entspreche in 
theoretischer Beziehung dem Standpunkt der Resignation in prakti- 
scher Hinsicht (219). Selbst das kann der Kriticismus nicht mehr 
behaupten, dasd unsere Welt Erscheinung sei; denn „Erschei- 
nung^' hat ja nur als Gegensatz zu „t)ing an sich'' einen Sinn, ist 



Einleitung. 2$ 

also selbst nur eine erkenntnisstheoretische Kategorie, so gut wie 
jenes (65—66). 

Innerhalb der Welt der subjectiven Erscheinung treffen wir auf 
lauter Antinomien (z. B. Kraft und Stoff, Causalität und Teleologie, 
Wirklichkeit und Ideal, Freiheit und Nothwendigkeit, Optimismus 
und Pessimismus), die deshalb unlösbar sind, weil es kein Mittel 
giebt, um uns einen transsubjectiven Standpunkt der Betrachtung 
derselben zu erobern. Nun sind aber beide Seiten der Antinomien 
gleichmässig als nothwendige Folgen unsrer Organisation zu be- 
trachten, also führen alle solche Antinomien auf fundamentale 
Widersprüche in unserer Organisation zurück^ und die Einsicht in 
diese Fundamentalwidersprüche und die aus ihr folgende wider- 
spruchsvolle Beschaffenheit der ganzen Wirklichkeit und all' unsres 
Denkens ist das Letzte und Höchste, wozu die menschliche Erkennt- 
nias gelangen kann. Mit Widersprüchen beginnt unser Denken, in 
Widersprüche läuft es aus (6); das ist der „ewige Cirkel", in dem 
es sich bewegt (54). „Unser Denken giebt uns keine Wahrheit, 
nicht einmal Wahrscheinlichkeit, nur Widersprüche, Antinomien und 
antithetische Probleme, die unlösbar sind" (68). „Der kritische 
Skepticismus ist das eigentliche Resultat der Kantischen Erkenntniss- 
theorie, und Lange, wenn er es auch nicht recht Wort 
haben will, hebt den Widersprach auf den Thron, d. h. er weist 
nach, dass alle unsere Erkenntnisse zuletzt in Widersprüche aus- 
laufen" (72). So lange dieser kritische Skepticismus nicht sich selbst 
vergisst und in dogmatische Aufstellungen verfällt, kann er nach 
Vaihinger jedem Einwand entschlüpfen (67); es ist ihm eben des- 
halb mit den gewöhnlichen Mitteln der Kritik gar nicht beizukommen 
(35), weil diese auf der redudio cid dbsurdvm fassen, und ein Stand- 
punkt, der sich zum Widerspruch als letzter Wahrheit offen bekennt, 
nicht mehr ad absurdum zu führen ist. 

In dieser Umbildung des Lange'schen Standpunktes durch 
Vaihinger vermag ich nur die heute mögliche Gestalt des nach 
allen grossen speculativen Perioden sein Haupt erhebenden Skepti- 
cismus zu sehen. Weder der antike, gegen die Zuverlässigkeit der 
sinnlichen Wahrnehmung gerichtete, noch der Hume'sche, gegen den 
Rationalismus gekehrte Skepticismus konnte heute erneuert werden ; 
denn beide gehörten wesentlich der erkenntnisstheoretischen Phase 
des naiven Realismus an. Wohl aber konnte auf Grund einer 



24 Einleitung. 

consequenten Durchbildung des subjectiven Idealismus ein gegen 
alle transsubjectiven Positionen gericcteter Skepticismus erstehen, 
und sich als den Abschluss aller Metaphysik überhaupt, als Gipfel 
und Grab der Philosophie zugleich betrachten. Schon in der ersten 
Auflage der Phil. d. Unb. habe ich am Schluss darauf hingewiesen, 
dass eigentlich ein solcher Skepticismus hinter Hegel, Schopenhauer 
und Schelling hätte kommen müssen, und ich kann Lange nur die 
einzige geschichtliche Bedeutung zuerkennen, dass er diesen Skep- 
ticismus vorbereitet hat, der in Vaihingers Schrift eine immerhin 
noch aphoristische und nicht völlig consequente Vertretung gefunden 
hat. Aphoristisch ist letztere, weil sie in einer halbpopulären Studie 
über mehrere neuere Philosophen in mehr andeutungsweiser Kürze 
dargestellt, statt in einer systematischen Arbeit entwickelt ist; die 
volle Consequenz aber lässt Vaihinger wiederum in zwiefacher 
Hinsicht vermissen. Erstens fällt er, ebenso wie Lange, bei seiner 
Polemik gegen einen positiven Dogmatismus in Hauptpunkten in 
das entgegengesetzte Extrem eines negativen Dogmatismus, der nicht 
minder dogmatisch und unkritisch ist wie jener ; und zweitens haftet 
er noch immer an gewissen Resten des positiven Dogmatismus, die 
auch bei ihm noch der kritischen Zersetzung und Zerstörung sich 
entzogen haben. 

Sehen wir von diesen Unzulänglichkeiten ab, oder nehmen wir 
an, dass Vaihinger in seiner weiteren Entwickelung dieselben besei- 
tigen werde, so haben wir einen subjectivistischen Skepticismus vor 
uns, der alle bisher versuchten Lösungen des Erkenntnissproblems 
verwirft, weder Idealismus noch Bealismus sein will, und den abso- 
luten Illusionismus als ebenso dogmatisch perhorrescirt wie den 
Glauben an transcendente Wahrheit. Dieser Skepticismus ist eine 
völlig berechtigte Beaction gegen jeden Dogmatismus, der wie der 
Hegersche Idealismus oder der moderne Materialismus sich für 
absolutes Wissen hält; aber er ist ein in sich unmöglicher Stand- 
punkt, der in keiner Weise haltbar ist, und deshalb nur den Ueber- 
gang zu einer zugleich kritischen und positiven Philosophie bilden 
kann. So lange der Skepticismus skeptisch bleiben will, ist es eine 
Verkennung des Möglichen, wenn er eine Idealwelt als Grundlage 
des religiösen und ethischen Lebens festhalten zu können wähnt; 
denn die als solche erkannte Unwahrheit festhalten wollen, ist Lüge, 
und Beligion und Sittlichkeit auf die Lüge bauen wollen, ist 



Umleitung. 25 

Wahnwitz. Sobald hingegen der Skepticismus seinen aus dem 
Realismus stammenden Wahrheitsbegrifif im immanenten Sinne um- 
bildet, tritt Idee und Erfahrung wieder in ein gleiches Yerhältniss 
zur Wahrheit und hört der Skepticismus auf, skeptisch zu sein, 
indem er vollständig in Fichte'schen Idealismus umschlägt. Im 
ersteren Falle führt der theoretische Skepticismus zum praktischen 
Nihilismus, im letzteren Fall mündet die antiphilosophische Strömung 
wieder in den Hauptstrom der deutschen Speculation ein und muss 
nothwendig ebenso von Fichte zu Hegel gelangen, wie er von Kant 
zu Fichte gelangt ist. Drittens aber muss die Aufräumung mit 
allem Dogmatismus Platz machen für neue positive Aufstellungen 
des synthetischen . Denkens, die nicht mehr den Anspruch auf 
apodictische Gewissheit, sondern nur auf hypothetische Gültigkeit 
Ton grösserer oder geringerer Wahrscheinlichkeit machen; es muss 
eben zwischen den verschiedenen Philosophien ein Unterschied im 
Werthe gemacht werden, der auf der relativen Grösse ihrer Wahr- 
scheinlichkeit beruht. In diesem Sinne macht der Skepticismus 
Vaihingers reinen Tisch mit allen Systemen eines vorgeblichen ab- 
soluten Wissens und arbeitet dadurch direct meiner Philosophie des 
Wahrscheinlichen *) in die Hände, welche mit der inductiven Natur- 
wissenschaft in der Methode wie im Resultat (dem transcendentalen 
Bealismus) übereinstimmt. 

Den geschichtlichen Werth eines blossen Uebergangsstandpunkts 
kann man nur nach dem Werth der Standpunkte beurtheilen, zu 
denen er hinüberleitet. Da müssen denn die beiden letzteren Per- 
spectiven die erstere wieder gut machen, die in der That bedenklich 
genug, und um so bedenklicher ist, als der Fortgang zur Unphilo- 
sophie eines skeptischen Nihilismus der am leichtesten zu vollziehende 
und namentlich für junge Leute ohne speculative Anlagen der ver- 
lockendste ist. Man kommt damit zu einem unphilosophischen 
vulgären Skepticismus und praktischen Materialismus, in welchem 
der Geist in der Leugnung und Verhöhnung seiner selbst seine 
Triumphe feiert,**) zu einem philosophischen marasmus senilis, mit 
jener fades hippocratica, wie sie uns aus dem Standpunkte des 



•) Vergl. Phü. d. Unb. Bd. I. S. 438—441. 

**) Yergl. Ernst Zitelmann: „Der Materialismus in der Geschichtsschreibung** 
(Preuss. Jahrbücher 1876 Heft 2 u. 3). 



36 Einleitang. 

gebildeten Japanesenthums oder der Socialdemokratie anstarrt.*) 
So gewendet erscheint dieser Skepticismus als ein modernes Lotter- 
bett der faulen Vernunft, von dem herab jeder Student nach einem 
Semester die armen Teufel von Philosophen vornehm und spöttisch 
belächeln kann, in dem behaglichen Glauben, in dieser so leicht zu 
begreifenden Skepsis der Weisheit letzten Schluss und namentlich 
i^e Quintessenz des hochgepriesenen Kant in sich aufgenommen zu 
haben, der doch nun einmal heutzutage Mode ist. 

Der im Schwange gehenden Kantomanie huldigt auch Vaihinger, 
obschon er den Kriticismus Kants, der die höhere speculative Syn- 
these von Dogmatismus (Wolf) und Skepticismus (Hume) sein will, 
wiederum zu dem einen dieser Extreme entstellt und verzerrt. Diese 
Kantvergötterung unserer Zeit neben der bedauerlichsten Verkennung 
der ungleich grösseren Leistungen seiner Nachfolger muss demjenigen 
ganz unbegreiflich scheinen, der die historische Bedeutung dieser Repri- 
stination nicht versteht. Kant's Ethik, Religionsphilosophie und Aesthetik 
war genügend vom deutscheu Volksgeist verdaut und assimilirt 
worden, nicht so aber seine Erkenntnisstheorie, die ebenso wie die 
rein theoretischen Leistungen Fichte's, Schelling's und Hegers der 
Nation als solchen (selbst in ihren gebildeten Schichten) fast un- 
bekannt und mindestens unverstanden geblieben waren. Schopenhauer 
war der einzige, der die Erkenntnisstheorie als solche weiter 
feearbeitet hatte, und darum war es vorzugsweise das Bekanntwerden 
seiner Werke, welches uns auf Kant zurückführte. Die grossartige 
Ent Wickelung der deutschen Philosophie war eben der nationalen 
Bildung um zwei bis drei Menschenalter vorausgeeilt, und als die 
deutsche Nation anfing, sich auf ihre grossen Denker zu besinneUi 



*) George Bousquet charakterisirt die erstere (in der „Revue des deux 
mondes^O mit den Worten: „Das Weltall ist ihm ein Traum, das Resultat einer 
Katastrophe, das Leben ein bedauerlicher Zufall, ohne Zweck, wie ohne yer- 
nünftige Ursache... Alles ist eitel und das Thun und Treiben des Menschen 
nichts als das stupide Umhertappen des Affen im Eäfig.^^ — Dietzgen verräth 
die letztere im „Volksstaat'* 1873 Nr. 25 (in einem Artikel: „Die Wissenschaft 
und die Socialdemokratie), indem er sagt: „Der Fundamentalsatz der socialistischen 
Induction lautet: kein ideales Princip, keine Offenbarung, keine nationale 
Begeisterung, keine Schwärmerei, weder die Idee des Göttlichen, noch des Ge- 
rechten, noch die des Freien, sondern materielles Interesse regiert die 
Menschenwelt. — Weit entfernt, dieses Factum zu bejammern, erkennen wir es 
vielmehr als absolut vernünftig und nothwendig an.'' 



Einleitiing:. 37 

mn8ste sie di6 Assimilation ihrer Geistesthaten nothwendig bei dem 
Ausgangspunkt der Bewegung, bei Kant, beginnen, mit dessen 
Verdauung sie jetzt seit einem Jahrzehnt beschäftigt ist. Diese 
Arbeit wird nur dann intensiv genug vollzogen, wenn sie sich auf 
ihr Object concentrirt, also ihre Augen vorläufig bis zur vollbrachten 
Verdauung Kaufs gegen die Leistungen seiner Nachfolger verschliesst. 
Daraus erklärt sich der bornirte Hochmuth der Neukantianer gegen 
Fichte, Schelling und Hegel. 

Es ist geschichtlich ganz folgerichtig, dass der Neukantianismus 
im Ganzen um eben so viel skeptischer als Kant ist, wie die ge- 
nannten Nachfolger dogmatischer als Kant waren; in Lange und 
Yaihinger aber wird es schon heute klar, dass derselbe damit nichts 
erreicht als die Beschleunigung des Fortgangs von Kant zu Fichte 
und seinen Nachfolgern. Der Neukantianismus muss vom Neu- 
fichteanismus und dieser vom Neuhegelianismus abgelöst werden, 
damit die Gedankenkreise aller dieser Denker der deutschen Bildung 
in derselben Weise zu eigen werden, wie der Schopenhauer'sche es 
Dank seiner klaren und anziehenden Darstellung bereits ist Dabei 
handelt es sich wohlverstanden nur um eine Wiederbelebung des 
wahren und werth vollen Kerns ihrer Gedanken, nicht der ver- 
gänglichen und zum Theil abschreckenden Schale, in welche sie 
denselben verhüllt haben. Wie die zahlreichen neukantischen Schrif- 
ten, die heute den Büchermarkt überschwemmen, sich ganz anders 
lesen als die Kritik der reinen Vernunft nodt ihrer pedantisch-zopfigen 
Scholastik, so werden auch die neufichteschen Schrifken dereinst 
sich anders lesen als die „Wissenschaftslehre'', und die neuhegelschen 
anders als HegeFs Logik. Die Wiedererweckung betriffl; nur den 
Geist, nicht den Buchstaben, denn nur der Geist ist es, der lebendig; 
macht Auch werden der Neufichteanismus und der Neuhegelianis- 
mus in weit geringerem Grade Dogmatismus sein müssen, als ihre 
Urbilder; dafür sorgt schon die skeptische Gestalt unseres Neu- 
kantianismus und auch dieses Verdienst soll ihm nicht vergessen sein» 

Ein solcher Skepticismus verkennt nun aber vollständig seine 
geschichtliche Stellung und seine philosophische Bedeutung, wenn 
er sich an die Autgabe macht, sich als das Höhere einer Philosophie 
zu erweisen, die Dogmatismus und Skepticismus in gleicher Weise 
durch systematische Ausbildung des Kriticismus überwunden, und 
eben darum Fichte und Schopenhauer, Lange und Vaihinger in 



28 Einleitung. 

gleichem Sinne wie Kant selbst hinter sich hat. Nur die Kritik 
ist negativ zerstörend und führt zum Skepticismus ; der Kriticis- 
mus aber ist ein auf Erfahrung begründetes, durch synthetisches 
Denken errichtetes, aber durch Kritik in allen Punkten geprüftes 
und corrigirtes positives System der Philosophie. Nichts anderes hat 
Kant mit seinem Kriticismus beabsichtigt, und wenn Lange sich 
gescheut hat, in die Vaihinger'sche Gonsequenz des Skepticismus 
hineinzusegeln, so war es gewiss hauptsächlich deshalb, weil er 
damit den Kant'schen BegriflF des Kriticismus verlassen hätte, und 
in das eine der Extremö zurückgefallen wäre, deren höhere Synthese 
eben der Kriticismus bilden soll. 

Vaihinger's vergebliches Bemühen wird dadurch um nichts ge- 
bessert, dass er der „Philosophie des Unbewussten" eine ungeschickt 
gewählte Antithese beigesellt, und seinen Skepticismus als die Syn- 
these beider zu erweisen sucht. Der Skepticismus kann überhaupt 
niemals eine positive, sondern nur eine negative Synthese liefern; 
er kann seiner Natur nach niemals zeigen, inwiefern beide Gegen- 
sätze im Recht, sondern nur inwiefern beide im Unrecht sind. 
Eine negative Synthese ist aber so wenig eine Synthese oder Ver- 
söhnung der Gegensätze, wie es eine Versöhnung streitender Parteien 
wäre, wenn der Bichter beide hinauswerfen liesse. Die Synthese 
hätte also Vaihinger auch dann noch misslingen müssen, wenn ihm 
die Antithese geglückt wäre. Letzteres wäre etwa der Fall ge- 
wesen, wenn er Hegel und Büchner einander gegenübergestellt hätte, 
als den Dogmatismus der Idee und der Materie. Mich konnte er 
schon deshalb nicht nehmen, weil meine Philosophie gar kein Dog- 
matismus ist, sondern Kriticismus oder Philosophie des Wahrschein- 
lichen, deren Unmöglichkeit er nur ein einziges Mal behauptet^ 
ohne irgend einen Grund dafür anzugeben. Er setzt meine Philo- 
sophie als Idealismus einem Realismus gegenüber, während mein 
Standpunkt in der Erkenntnisstheorie selbst reiner Refilismus (ob- 
schon kein naiver), in der Metaphysik aber weder Idealismus noch 
Realismus, sondern die höhere Synthese beider, nämlich Idealrealis- 
mus oder Realidealismus ist. Er setzt ferner meine Philosophie als 
einseitigen Spiritualismus (oder gar Spiritismus) einem einseitigen 
Materialismus gegenüber, während nach meiner Ansicht der absolute 
oder unbewusste Geist gar nicht actuell sein kann, ohne sich zu 
materialisiren, und selbst das unbekannte Dritte oder die gemeinsame 



Einleitung. 29 

metaphysische Wurzel von bewusstem Geist und Materie, von innerer 
und äusserer Erscheinung bildet. Wie mein Standpunkt in metho- 
dologischer Hinsicht als Eriticismus die Synthese von Dogmatismus 
und Skepticismus darstellt, so bildet er in metaphysischer Hinsicht 
als „Philosophie des ünbewussten" die Synthese von blindem Natu- 
ralismus und dem bisherigen anthropomorphischem Spiritualismus. 
So ist Vaihinger's principielle Stellungnahme zu mir in jeder Hin- 
sicht eine verkehrte, und es würde nicht lohnen, eine auf dieselbe 
gestützte Kritik im Einzelnen zu verfolgen^ wenn nicht zu hoffen 
wäre, dass gerade bei der heutigen Verbreitung des Neukantianismus 
namentlich unter der akademischen Jugend eine weitere Erörterung 
des Lange- VaihiBger'richen Standpunkts für manch' Einen lehrreich 
und nützlich werden könnte. Denn bei der schillernden Haltung 
des Vaihinger'schen Skepticismus werden mannigfache Seitenblicke 
unumgänglich sein, so dass meine ganze Erörterung nicht bloss die 
persönliche Ansicht Vaihinger's, sondeni den Typus des Neukantia- 
nismus (wenigstens die in ihm überwiegende subjectivistische Rich- 
tung) erschöpfend behandeln wird, in demselben Sinne, wie die 
Vaihinger'sche Kritik meines Standpunkts als typisch für die Stellung- 
nahme des ganzen Neukantianismus zu mir gelten kann. 



8. Frauenstädt's philosophiselier Standpunkt. 

Frauenstädt bezeichnet in seiner Kritik der ersten Auflage der 
Phil. d. Unbew.*) die Lehren Fichte's, Schelling's und HegeVs in 
Schopenhauer'scher Manier ohne Weiteres als eine falsche Philoso- 
phie, die mit Recht in Verfall sei, und stellt derselben die Schopen- 
hauer'sche Philosophie als die wahre gegenüber. Er erklärt eben- 
daselbst, mir keinen Vorwurf daraus machen zu können, dass ich 
mich durch den scheinbaren Widerspruch des Begriffes „unbewusste 
Vorstellung", nicht habe abhalten lassen, jenen Begriff aufzunehmen 
und dessen Bedeutung nachzuweisen. Er zeigt, dass die Verallge- 
meinerung der Vorstellungsfähigkeit und die Anerkennung einer 
hellsehenden, über Raum und Zeit erhabenen unbewussten Natur- 
weisheit nicht von der Hand zu weisende Consequenzen des 



*) Vossische Zeitung, 1870 Sonntagsbeilage Nr. 8 u 9. 



30 £;inl6itung. 

Schopenhauer'schen Systems seien *) und verwahrt sich nur dagegen, 
dass ich mit Schelling die Stellung der Principien Wille und Vor- 
stellung als eine coordinirte, anstatt mit Schopenhauer als eine 
subordinirte auffasse. 

Es scheint, als ob Frauenstädt sich durch weiteres Nachdenken 
tiberzeugt habe, dass die Stellung einer vor aller Organisation vor- 
hergehenden, unbewussten, tiberbewussten und höchst weisen Intuition 
doch nicht lUglich als eine dem blinden Naturwillen subordinirte 
festzuhalten sei, und dass er aus diesem Grunde in seinen „Neuen 
Briefen" diese unbewusste Weisheit des Naturwillens, wie er selbst 
sie als bei Schopenhauer gefordert nachgewiesen hatte, ignorirt, 
den angeblichen inneren Widerspruch einer absolut unbewussten 
Vorstellung nun seinerseits betont und steh mit der Generalisirung 
des Bewusstwerdens oder Empfindens für alle Stufen der Willens- 
objectivation begnügt, — eine Form der Vorstellung, für welche 
selbstverständlich die Subordination unter den Naturwillen nicht 
zweifelhaft sein kann. Frauenstädt hat mithin vor seinem eigenen 
Zugeständniss an mich Angst bekommen und dasselbe, wenn auch 
nicht ausdrücklich, so doch stillschweigend zurückzunehmen versucht 

Dieser Versuch musste aber so lange ein vergeblicher bleibeu, 
als er die metaphysischen Grundlagen des Schopenhauer'schen 
Systems bestehen liess, aus welchen die unbewusste, tiberbewusste 
Intuition als nothwendige Consequenz hervorging, und als er an der 
Erklärung der Entstehung der zweckmässigen Organismen aus einer 
„Idee" festhielt. Dadurch wird der Standpunkt, den er in seiner 
letzten Schrift einzunehmen bemüht ist, ein in sich haltloser und 
zerfahrener, der nur durch Wiederaufnahme seines früheren Zuge- 
ständnisses Geschlossenheit und Consequenz erhalten kann. Eine 
unabweisliche Folgerung aus der Einräumung der unbewussten 
intuitiven Weisheit des Naturwillens ist aber wiederum der Verzicht 
auf die Behauptung der Subordination dieser Idee unter den blinden 
Willen und die Anerkennung ihrer Coordination, d.h. aber der 
vollständige Uebertritt auf den Standpunkt der Phil. d. Unbewussten. 
Mit dieser Anerkennung der „Idee" als der „absolut unbewussten 
Vorstellung" im Schopenhauer'schen System, und mit der Anerkennung, 



*) Vgl. auch Frauenstädt's Abhandlung „Schopenhauer und seine Gegner" 
(„Unsere Zeit" 1869 Heft 21 S. 705). 



Einleitung. 81 

dass das Subordinationsyerhältniss desbewnssten discursiven 
Gehirnintellects zu dem concreten (d. h. ideeerftlllten) Natur- 
willen nicht auf das Verhältniss der absoluten Idee zum Allwillen 
tibertragen werden darf, werden aber die beiden Hauptvorwtirfe, die 
Frauenstädt in seiner neuesten Schrift (S. 38) gegen mich erhebt, 
hinfällig, und damit schwindet auch der Grund, weshalb er meinen 
Fortbildungsversuch der Schopenhauer'schen Philosophie im Vergleich 
mit dem seinigen als eine „Verschlechterung" derselben verwerfen 
zu sollen glaubt (ebenda im Vorwort S. 6). Den Nachweis im 
Einzelnen darüber beizubringen, dass Frauenstädt bei dem von ihm 
principiell eingeschlagenen Wege sich nur durch logische Inconse- 
quenzen vor dem Aufgehen in den Standpunkt der Phil. d. Unb. zu 
retten weiss, würde hier zu weit führen. Es würde sich dabei sogar 
zeigen, dass er durch Verwerfen des negativen Endzwecks Schopen- 
liauers und Annahme eines Weltenplans für die Weltentwickelung 
im positiven Sinne dem Hegelianismus, ohne es zu wissen, nocb 
näher gerückt ist als ich. 



9. Bahnsen'8 pMlosophlscher Standpunkt. 

Bahnsen gelangt in der letzten voi^ ihm veröffentlichten Schrift 
(„Zur Philosophie der Geschichte") zu folgendem Endurtheil: „Wer 
also auf der Seite Schopenhauers steht und stehen bleiben will, der 
wird dem System Hartmanns auch nur so weit folgen, als er mit 
der inductiven Klarheit des Urhebers der Willensmetaphysik der 
eigenen, in der That imposanten, weil von keinerlei irgendwie 
subjectivistischen Anwandlungen beirrten, Nüchternheit getreu bleibt, 
und als Prophet des fassbarsten und gesundesten Verstandes jedes 
unbefangene Denken mit sich fortreisst; während alsobald seine 
Sprache eine andere wird, sowie sein Fuss den Boden betritt, auf 
welchem er zur speculativen Abrundung seines Baues die Botunde 
seines Schlusscapitels errichtet — ein auch architektonisch durch 
und durch trockenes Gampanile neben den Prachtkuppeln seines 
Marcusdoms" (S. 84). Und auf der Seite vorher wirft er mir vor, 
„Schopenhauers Manen gekränkt'^ zu haben, indem ich „bei Hegel 
eine Bettelanleihe zu Flickmaterial aufnahm, um in einem consequen- 
teren Ausbau zu Ende zu führen, was mit gutem Fug als ein 
Lückenhaftes vom Meister uns hinterlassen worden.^ Bahnsen 



32 Einleitung. 

verzichtet allerdings auf systematischen Ausbau und behält „mit 
gutem Fug*' jene Lückenhaftigkeit bei, welche keineswegs dem 
Schopenhauer'schen System, wie es vom Meister hinterlassen worden, 
vorzuwerfen ist, sondern welche erst durch jene kritischen Amputa- 
tionen und Eliminationen herbeigeführt worden, in deren Unabweis- 
lichkeit Bahnsen mit Frauenstädt und mir grossentheils übereinstimmt. 
Nichtsdestoweniger aber fühlt Bahnsen sich trotz seines Verzichts 
auf consequenten Ausbau doch auch noch veranlasst, die Manen 
seines Meisters durch eine Bettelanleihe bei Hegel zu kränken. Er 
sagt selbst darüber Folgendes: „Vielleicht könnte ein kritischer 
Betrachter meiner Gedanken in Mit- oder Nachwelt geneigt sein, 
mir die Ehre einer historischen Einreihung in der Weise anzuthun, 
dass er mich als die dialectisch correlativ geforderte Ergänzung 
E, V. Hartmanns bezeichnete. — Immer wieder aber wird sich dies 
an unsere beiderseitige Position je zu Schopenhauer und Hegel an- 
zulehnen haben und kaum vermieden werden können, unser Ver- 
halten zu den mit diesen Namen gekennzeichneten Weltanschauungen 
ein in wesentlichen Beziehungen diametral entgegengesetztes zu 
nennen; indem ich nämlich einerseits an dem festhalte, was fUr 
Hartmann das an Beiden zu Ueberwindende ist, und andrerseits 
eben das perhorrescire, was er jedem von diesen beiden Heroen 
am wärmsten nachrühmt, um so den von ihm angestrebten Syn- 
kretismus zu vermitteln. Gewissermassen habe ja auch ich es auf 
eine Concrescenz dieser beiden feindlichen Lehr- 
systeme abgesehen und angelegt — nur eben in gerade umgekehr- 
ter Richtung wie Hartmann („Zur Phil. d. Gesch." S. 1). „Hartmann 
perhorrescirt an Hegel das Dialectische, ich das Logische, und zwar 
dergestalt, dass mir der reale Weltprocess durch und durch dialec- 
tischer Natur zu sein scheint, während das Logische seinen Bereich 
nur innerhalb des (psychologisch-) subjectiven Denkens behält, 
wogegen Hartmann dem Weltprocess einen von Grund aus logischen 
Charakter vindiciren möchte, und die dialectische „Bewegung" 
höchstens für die völlig objectivitätslosen, eigentlich ficberphantasie- 
artigen Spielereien einer gänzlich uncontrolirten, von der intuitiven 
Grundlage der Anschauungswelt radical losgerissenen Abstraction 
discursiven Denkens gelten lassen will." (S. 2.) 

Bahnsen perhorrescirt also die HegeFsche Begriffsdialectik, 
und bekämpft Hegels Behauptung, durch dialectische Denkprocesse 



Einleitung. 33 

die Wirklichkeit nachconstruiren zu können; in dieser Hinsicht 
billigt er meine Kritik der Hegel'schen Dialectik. Aber er geht 
nicht mit mir zn dem Schiasse weiter, dass die logischen Glesetze 
in ihrer Integrität wiederhergestellt und ihre Gültigkeit nicht 
bloss für das Denken, sondern auch für das Sein behauptet 
werden müsse. Vielmehr hält er die Wirklichkeit, nicht bloss der 
Form ihrer Existenz nach, sondern auch ihrem Inhalt nach, fiir 
unlogisch, und sieht demnach gerade in der Aufhebung der logischen 
Gesetze für das Sein die Grossthat Hegels. Nicht im Denken, son- 
dern in der Realität findet er dialectische Processe, und spricht 
deshalb auch nur von „B e a 1 dialectik'^. „So gipfelt die Realdialectik 
in dem Aufdrängen des Satzes, dass das logisch Unmögliche 
zugleich das dialectisch factisch Mögliche, und das logisch nicht 
bloss Mögliche, sondern Nothwendige (das vom Zwange des 
logischen Denkens postulirte Widerspruchslose) für den factischen 
Bestand des dialectisch Wirklichen ein Unmögliches ist, d. h. 
dass die (ideal abstrahirte) Idee sich ewig nicht realisiren kann^ 
(ebenda S. 53—54). 

Dass dies in der Consequenz des einseitigen Schopenhauer'schen 
WiUensprincips gedacht ist, ist nicht zu leugnen. Denn ist der 
Wille, der blinde, vemunftlose Trieb, das Alles Seiende, so muss 
auch alles Wirkliche vemunftlos sein. Nur entsteht die Schwierig- 
keit, dass doch das Logische nicht ganz wegzuleugnen ist, zunächst 
als Subjectives, wo es doch auch erklärt sein will, und dann auch 
in der überall trotz Bahnsens Verwahrung hervortretenden Harmonie 
des wahrgenommenen Wirklichen mit dem subjectiy Logischen. 
Dieses Logische, diese auch von Bahnsen nicht bestrittene „partielle 
Weltvemunft" (S. 44), muss, wenn der Wille das einzige Princip 
sein soll, aus diesem Willen, d. h. aus dem Unlogischen abgeleitet 
werden (S. 38). Hiermit tritt Bahnsen in eine Antithese — nicht 
mehr zu mir — sondern zu Volkelt; dieser nämlich ist sich der 
Consequenz bewusst geworden, dass wenn nach Hegel das Logische 
das einzige Princip ist, dann auch das unleugbar vorhandene Un- 
logische aus dem Logischen selbst müsse hervorgegangen sein. 

Ich halte Beides für gleich unmöglich. Wenn das Logische in 
den Objectivationen des Willens zu finden ist, so muss es als Logi- 
sches schon in dem Willen dringesteckt haben, d. h. dann muss 
eben der Weltwille nicht bloss das Unlogische, sondern auch das 

E. T. H»rtm»uii, Erliatemngeiu 2. Aufl. 3 



34 Umleitung. 

Logische in sich schliessen, und da die Form des WoUens ganz 
unlogisch ist, so kann er das Logische nicht in s i c h (als Function 
des WoUens); sondern nur in dem Inhalt seiner selbst (d. h. in 
der Idee) getragen haben. Umgekehrt : wenn das Resultat des logi- 
schen Processes in der Idee das ist, dass ihre logische Idealität in 
den unlogischen Trieb der Selbstentäusserung und Selbstverwirk- 
lichung umschlägt, dann muss dieser unlogische Trieb schon immer 
neben der unlogischen Idee bestanden haben, und das SoUicitirende 
schon für den ersten Anfang jenes angeblichen idealen Processes 
gewesen sein, der in ein so unlogisches ßesultat ausmündet. Des- 
halb stehe ich zwischen Schopenhauer und Hegel, zwischen Bahnsen 
und Volkelt in der Mitte, und vermeide beider Ungeheuerlich- 
keiten, wenn ich das Logische und das Unlogische, die Idee und 
den Trieb ihrer Realisirung, die Weisheit und die Macht, den 
Weltenplan und die Weltkraft, den Willensinhalt und den Willen 
als zwei gleich ursprüngliche Seiten des Absoluten ansehe, 
von denen keine sein könnte ohne die andere, von denen aber 
noch weniger eine aus der andern abgeleitet oder erzeugt wer- 
den kann. 

Insofern Bahnsen und Volkelt beide die Nothwendigkeit beider 
Seiten anerkennen, unterscheide ich mich von beiden nur dadurch, 
dass ich auf die Anmaassung einer scheinbaren Ableitung der einen 
Seite aus der andern bescheiden verzichte, und mich nicht vermesse, 
eine als gegeben hinzunehmende Zweiheit entgegengesetzter, aber 
von einander untrennbarer Pole durch eine Herabdrückung des 
einen denselben zu einem Appendix des andern erklären zu 
wollen. Ich erkenne an, dass das All-Eine gar nicht zu einem 
Process gelangen könnte, wenn es nicht in sich zwiespältig wäre! 
aber ich hüte mich vor dem Fehler, die eine Seite dieses innem 
Zwiespalts auf den Thron des Einen Ganzen zu erheben, und her- 
nach die andere Seite als etwas Subordinirtes aus ihr ableiten zu 
wollen. 

Der letzte Grund dieses Fehlers ist wohl darin zu suchen, dass 
der Schopenhauerianer wie der Hegelianer gewöhnt sind, ein 
blosses Attribut als Substanz zu betrachten; da es nun selbst- 
verständlich zwei Substanzen nicht geben kann, so erscheint jedem 
von ihnen der Gegenpol als blosses Accidenz an seiner vermeint- 
lichen Substanz. Nun kann aber weder die Idee oder Vorstellung, 



Einldhmg. 3^ 

Äoch^er Wille elnö SubdtänÄ sein; sowohl Vörötellen wieWöllett 
sind blosse Function es, die ein Snbject als substantiellen 
Tfäger voraussetzen. Ist diese von Schopenhauer wie von 
Hegel yerabsäümte Wahrheit erst wieder in ihr Becht gesetzt, so 
ergiebt es sich ton selbst, dass Wille und Vorstellung nur zwei 
Functionen oder zwei Attribute des All-Einen Seielideti, der 
absoluten Substanz sind. Dann aber rerschwindet auch jeder Grund, 
dem einen von beiden einen Vorzug vor dem andern zuzugeititehen ; 
veteinzelt gedacht sind sie gleich nichtig, aber in ihrer Vö^ 
einigung sind sie einander gleichwerthig, trotz oder gfade wegra 
ihrer attributiven Gegensätzlichkeit. 

Neben diesem Gegensatz in der Stellung des Logischen zum 
Unlogischen läuft ein zweiter, fast noch wichtigerer Gegensatz bei 
Bahnsen einher, dieser aber ist ein solcher, der ihn mit Schopen- 
hauer, Hegel und mir in gleicher Weise in Opposition versetzt, und 
ihn Her hart annähett. Bahnsen ist nämlich in erster Beihe In- 
dividuallst, und da er klar genug denkt, um die Unvereinbät- 
k(äit substantiell-selbstständiger Individuen mit einem Absoluten zu 
erkennen, so opfert er in diesem Dilemma lieber das Sein des Ab- 
soluten als die substantielle Selbstständigkeit des Individuums. Das 
All-Eine zerfällt ihm in ein Aggregat von Individuen, in „eine — 
allerdings in sich zusammenhangende und zusammengehörige, ge- 
schlossene und in dieser ihrer Geschlossenheit mit constanten Kräf- 
ten sich in sich selber wechselseitig bedingende — Summe von 
Individuallebensfactoren" (S. 64). Dabei aber verhält er sich durch- 
aus antipathisch gegen das Herbarf sehe Philosophiren und unter- 
scheidet sich von Herbart wie von Leibniz in gleicher Weise nicht 
blos durch seine antilogische Bealdlälectik , sondern auch durch 
seinen schroflFen Atheismus, der jedes, gleichviel wie bestimmte, ein- 
heitliche Absolute negirt. Eine solche unbeirrte Gonsequenz ver- 
dient jedenfalls mehr Achtung als die durchweg unhaltbaren Ver- 
mittelungsversuche zwischen der Annahme einer wirklich absoluten 
Substanz und vieler von dieser geschaffener quasi-absoluter Sttb- 
stänzchen, mit welchen die christliche Theologie sich von jeher 
quält; die reinliche Entscheidung, auch wenn sie nach der ver- 
kehrten Seite fällt, lehrt wenigstens das Problem präcis erkennen 
Und schärft das Denken für die nachmalige Erfassung der richtigen 
Lösung, während die Unklarheit schiefer Vermitteluflgen den Ver- 

3* 



36 Einleitung. 

stand für die wahre Erkenntniss untüchtig macht, indem sie ihn 
mit Scheinlösungen benebelt and einlullt. 

Ausserdem aber hat der Individualismus als zeitweilige Keaction 
überall da einen geschichtlichen Werth, wo der Monismus den Bogen 
allzu straff gespannt hat. Dies nun war in der Schelling-Hegerschen 
Philosophie ohne Zweifel der Fall; bei Schopenhauer war zwar der 
Bedeutung des Individuums ein grösserer Spielraum eingeräumti 
aber dieses Zugeständniss war mit dem principiellen Monismus 
nicht organisch vermittelt, sondern stand als eine widerspruchsvolle 
Inconsequenz im System. Unter solchen Umständen erschien 
eine Reaction von Seiten einer consequenten Umbildung des Schopen- 
hauer'schen Systems aus individualistischem Gesichtspunkte als 
nicht unberechtigt, wie Bahnsen sie in seiner Charakterologie zu 
geben beabsichtigte. Als dann bald nachher die „Philosophie des 
Unbewussten" erschien, konnte der von mir festgehaltene principielle 
Monismus natürlich dem einmal gewählten Standpunkte Bahnsens 
nicht Genüge thun, wenngleich hier zum ersten Mal versucht war, 
dem Individuum trotz seiner Phänomenalität eine würdigere Stellung 
als bisher in monistischen Systemen gegenüber dem absoluten oder 
AU-Einen zu wahren, ohne doch dadurch einer Inconsequenz in das 
System Eingang zu gewähren. Bahnsen steUt mir das Zeugniss 
aus : „Mag ihm das All-Eine noch so souverän das Universum durch- 
walten: er behält doch das Auge zugleich offen für die Unersetz- 
lichkeit und Unentbehrlichkeit des — auch in seiner Herrlichkeit 
— nur sich selber gleichen Individuellen" (S. 3). Wenn die indi- 
vidualistische Reaction die monistische Philosophie vor einer Unter- 
schätzung und Ignorirung des Individuellen warnt und zu einer 
würdigen Einordnung desselben in das System zurückführt, so hat 
sie meines Erachtens ihre geschichtliche Aufgabe erfüllt. Ein indi- 
vidualistischer Pluralismus als solcher kann aber gar nicht da- 
nach streben, ein consequentes philosophisches System auszubauen; 
er wird sich „mit gutem Fug" darauf beschränken, den Nachkommen 
„ein Lückenhaftes zu hinterlassen" (S. 83). Erst wenn der Indivi- 
dualismus sich selbst untreu wird, und sein Gewölbe durch 
einen monistischen Schlussstein zu vollenden unternimmt, wie 
Leibniz und Herbart gethan haben, erst dann kann er aus der Form 
des fragmentarischen Philosophirens heraustreten und sich zu einem 
System abrunden. 



Einleitung. 37 

Ein Willensindiyidualismus, dar ein zweites Princip neben dem 
Willen leugnen möchte, daftlr aber die Asel'tät und Ewigkeit des 
Individualwillens behauptet, wird seinen Schwerpunkt in der Be- 
trachtung des Individualcharakters finden müssen, daher Bahnsens 
Hinwendung zur Charakterologie ganz natürlich ist. Zugleich wird 
er bemüht sein müssen, den Motivationsprocess auf eine Weise zu 
deuten, welche das Fehlen des zweiten Princips möglichst wenig 
vermissen lässt, und diesem Zwecke dient Bahnsens erste, zur Aus- 
einandersetzung mit der Philosophie des Unbewussten bestimmte 
Broschüre.*) Endlich wird er mit Schopenhauer eine universelle Ent- 
wickelung der Welt leugnen müssen, aus dem doppelten Grunde, 
weil er ein einheitliches Weltwesen als Träger, und weil er die 
Herrschaft des Logischen als Formalprincip einer solchen Entwicke- 
lung leugnet. Er kann von seinem Standpunkte nur eine Indivi- 
dualentwickelung zugeben, aber auch nicht in dem Sinne, als ob 
das Wesen des Individuums von derselben berührt und verändert 
würde, sondern nur als eine der vielen Einzelphasen seines sich 
Auslebens von der phänomenalen Geburt bis zum phänomenalen 
Tode. Fragt man aber, was diese Entwickelungswellen des ewigen 
Individuums für Bahnsen eigentlich bedeuten, so ergiebt sich, dass 
sie nichts anderes sind, als die vom Willen gesuchten Gelegenheiten, 
seine ewige Selbstentzweiung und Selbstzerfleischung zu actualisiren 
und zum potenzirten Ausdruck zu bringen. Man kann diese raffinirte 
und doch blinde Selbstquälerei des Willens das Surrogat des Welt- 
zwecks bei Bahnsen nennen, nur dass derselbe sich in einer zusam- 
menhangslosen Vielheit von Einzelprocessen realisirt. Dieser Welt- 
zweck wäre der Gegensatz aller logischen Zwecke, ein positiv 
unlogischer Zweck, und der Widerspruch, der in dieser Wort- 
verbindung liegt, muss Bahnsen selbst als der real-dialectische 
Stempel der Wahrheit gelten. Dieser positiv unlogische Zweck 
Bahnsens tritt dem positiv logischen Weltzweck Hegels ent- 
gegen (der auch von Volkelt und Frauenstädt acceptirt wird), wäh- 
rend ich den ersteren wegen seiner Widersinnigkeit und seines 
inneren Widerspruchs, den letzteren wegen seiner Unangebbarkeit 
und Unmöglichkeit verwerfen, und für den Weltzweck ebenso 
sehr auf der reinen Logicität der Form wie auf der allein 

*) Zum Yerhältniss zwischen Wille und'Motiy. Eine metaphysische Vor- 
untersuchung zur Charakterologie. Stolp u. Lauenburg i/P. bei Eschenhagen, 1870. 



38 lÜnleitung. 

mögUcli|SQ Negatiyität des Inhalts (als Negfiiiiou des Uplogi- 
soheq) bestehen mnss. Ich nehme also auch in dieser Frage eine 
mittlere Stellung zwischen Bahnsen und Volkelt ein, die sich als 
unmittelbare Gonsequop^ aus meiner Mittelstellung in Betreff des 
Verhältnisses des Logischen und Unlogischen zu einander ergiebt, 
^nd — wei^ man Schelling ausser Acht lässt — in vieler Hinsicht 
Schopenhauer am nächsten steht. 

Ueberhaupt kann man s^gen, dass dem Standpunkt Sohopen- 
}^ai^^ri^ derjenige der Philosophie des Unbewussten näher steht, als 
der des B^hpsen'schen Indiyidualismus ; ich habe nämlich die syste- 
matischen Principien der Schopenhauer'schen Metaphysik weit^ar 
ausgebaut, Bahnsen hingegen dieinconsequenzen dieses System«. 
Alle Wunderlichkeiten des Bahnsen'schen Standpunkts entsf riAgeu 
daraus, dass er ip einer dem Theismus wie dem Materialisuius 
gleich feindlichen Weise, zum ersten Mal in der Geschichte der 
PhUosophie, mit dem individualistischen Fluralismus Ernst macht 
Padurc^ begiebt er sich aber auch gleichzeitig in eine gan^ iso- 
Urte Stellung, der gegenüber Hegel, Schopenhauer und ich eine 
geschlossene Phalanx bilden. In dieser Hinsicht ist er für mich 
entschieden d^r ungefährlichste der drei hier behandelten Gregner. 
— Nur in e in e m Hauptpunkte stimmt seine Umbildung der Schopen- 
bauer'scben fhilpsophie mit den Tendenzen von Frauenstädt und 
mir Uberein, nHmUch in der Verwerfung des subjectiven Idealismna. 
{2r hat dieser wichtigen Opposition gegen die Grundlagen dea 
Sphopei^hs^uer'schen Systems nicht nur gelegentliph in seinen ange- 
f^hrteu Sobriften, sondern auch in einem besondem, diesem Gegei^- 
st^.nd^ gewidmeten Aufsatz*) Ausdruck gegeben, der zwar an ^t- 
l^chiedenheit in der Darlegung seines Standpunktes nichts zu 
wUnspheUi desto mehr aber eine Begründung desselben vermis- 
Qen lässt. 

10. Yolkelt^s und Behmke's philosophiseher Standpunkt. 
Volkelt hat seinen Standpunkt mir gegenüber in seinem Haupt- 
werk so klar bezeichnet, dass ich am besten thue, ihm selbst das 
Wort zu lassen. Er sagt : („Das Unbewusste und der Pessimismus'^ 
S. 237 — 288) : „Wenn wir also zeigten, dass das Hartmann'sche 



*) Zur Kritik des KriüciBmus. (,^liilQsophische Monatshefte'% 1871, 
Februarheft.) 



System durch seine inneren Widersprüche zersetzt werde^ so ist 
dies kein Beweis gegen den Fortschritt, den wir im Hartmäpn'schen 
Systeme — und zwar nach dieser seiner mit Schopenhauer zusam^ 
menhängendeu Seite — fanden. Zwischen Schopenhauer und Hegel 
war eine klaffende Lücke; zwar kann man die positive Philosophie 
Schellings als eine Ausfüllung dieses Vacuum bezeich)}en, allein als 
keine rationelle; denn sie verräth überall ihre Gefangenschaft in 
den Ketten des christlichen Dogmas. Jene Lücke musste rein phi- 
losophisch ausgefüllt werden. Ehe die Wahrheit sich in den 
HegeTschen Principien, welche Hegel selbst in jenem Wett- 
kampfe der Geister, in jenem Sturmlaufe des philosophischen Zeit- 
geistes, in kühner, noch allzu mystischer, und darum vielfach un- 
vollkommener, den Keim zu Inconsequenzen in sich tragender Weise 
antecipirte, ein gesichertes festes Bestehen erkämpfen kann, muss sie 
sich ijx allen möglichen Vermittlungen der einseitigen Standpunkte 
mit den Hegerschen Principien ausleben und gleichsam erschöpfen. 
Es müssen Annäherungen an Hegel, Verbindungsglieder geschaffen 
werden, um so das Hinübertreten der Geister in den Hegerschen 
Gedankenkreis zu ermöglichen. Ein solches Verbindungsglied ist 
nun, wie wir zur Genüge dargethan haben, das Hartmann'sche 
System. Seine Widersprüche stammen daher, dass Hartmann dem 
specifisch Schopenhauer'schen Princip, dem alogischen Willen, gleich- 
sam die Hälfte der Welt einräumt, ihm neben der unbewussten 
logischen. Idee eine selbstständige Stellung zuerkennt. Und 
das Product, das aus der Zersetzung und inneren Nichtigkeit dieser 
Widersprüche hervorgeht, das Resultat also der bewussten Erfassung 
der Widersprüche, ist — wie wir an vielen Punkten gezeigt haben 
— die dialectische unbewusste Idee Hegels. — Wir können diesen 
Fortschritt Hartmanns einen relativen nennen, zum Unterschiede 
von dem absoluten, welchen er, wie der erste Theil gezeigt, in 
der Klarstellung und Präcisirung des Begriffes des unbewusst Logi- 
schen und in dem inductiven Nachweise der bedeutungsvollen Bolle, 
die er auf allen Gebieten der Natur und des Geistes spielt, voll- 
zogen hat.^^ 

Volkelt declarirt sich mithin als einen Hegelianer, der in der 
Lehre Hegels zwar einerseits die Wahrheit enthalten findet, andrer- 
seits aber auch die Nothwendigkeit eines Hinausgehens über den 
Hegelianismus in seiner geschichtlich gegebenen Form einsieht^ und 



40 Einlelta&g^. 

in der Ptiflosopliie des Unbewussten einen wirklichen Fortschritt in 
der geforderten Richtung als vollzogen anerkennt. In ersterer Hin- 
sicht sieht er in dem Gegenpol des Hegelianismus, in der Philo- 
sophie Schopenhauers durchaus nur eine wahrheitslose Verirrungy 
und findet die angeblichen Widersprüche meines Standpunktes durch 
die Au&ahme Schopenhauer'scher Gedankenelemente bedingt. In 
letzterer Hinsicht dagegen erscheint der Standpunkt Volkelts als 
der Versuch einer zeitgemässen Fortbildung des Hegelianismus ver- 
mittelst einer Synthese zwischen Hegelianismus und Philosophie des 
Unbewussten. In ersterer Hinsicht verhält er sich ungeschichtlich 
und reactionär, weil der Schopenhauerianismus heute nicht mehr 
als eine blosse wahrheitslose Verirrung bei Seite geschoben werden 
kann und darf; in letzterer Hinsicht aber nimmt er kräftig Theil 
an der Lösung der philosophischen Aufgaben der Gegenwart, indem 
er unbewusster Weise so viel SchopenhauerianismuS; wie dazu un- 
erlässlich ist, aus der Philosophie des Unbewussten mit einsaugt, 
grade so wie Frauenstädt gegen seinen Willen die unentbehrliche 
Zuthat von Hegelianismus in sich aufgenommen hat. Von besonde- 
rem Werth sifid Volkelts Beiträge zur Geschichte des BegriflGs 
des Unbewusst-Logischen (D. Unb. u. d. Pess. S. 1 — 101), insbe- 
sondere seine Darlegungen über Kant (in den Phil. Monatsheften), 
und über Hegels unbewusstes System des unbewusst Logischen 
(S. 62—78), so wie auch über des Letzeren Stellung zum Pessimis- 
mus (S. 246 — 255). Dagegen beruhen seine vermeintlichen Nach- 
weise von Widersprüchen in der Phil. d. Unb. theils auf Missver- 
ständniss, theils auf mitgebrachten Hegelianischen Vorurtheilen und 
irrthümlichen Voraussetzungen seiner Kritik, wie wir dies unten 
sehen werden. Volkelt wie Bahnsen haben jeder darin Recht, dass 
er ftlr sein Princip eine dem entgegengesetzten subordinirte Stellung 
zurückweist, Unrecht aber darin, dass er das Princip der ent- 
gegengesetzten Partei auf eine subordinirte Stellung her ab- 
zudrücken unternimmt. Ist keines der beiden Principien ent- 
behrlich, darf aber auch keines dem andern subordinirt werden, so 
folgt daraus, dass sie coordinirt gedacht werden müssen. 

Dass die Widersprüche, welche nach Ansicht beider Gegner 
aus dieser Goordination hervorgehen und dieselbe verbieten sollen, 
falscher Schein sind, werden die nachfolgenden Untersuchungen zu 
zeigen haben. Die Grundprincipien Hegels und Schopenhauers sind 



EHnleitaiig. 4]l 

80 wenig mit einander' unvereinbar^ daBS vielmehr in dem System 
eines jeden der Beiden das Princip des Andern schon unvermerkt 
mit eingeschlossen und als nothwendige Ergänzung des eignen still- 
schweigend vorausgesetzt ist; wie in den neueren Vertretern dieser 
Richtungen mit verdoppelter Deutlichkeit hervortritt Man sieht, 
dass ich mich gleichsam in der günstigen Lage eines Ministers vor 
dem Parlament befinde, der, von der Rechten wie von der Linken 
wegen der nämlichen Massregel angegriffen, sein Verhalten in der 
Hauptsache schon durch den Hinweis auf den sich gegenseitig auf- 
hebenden Einspruch der entgegengesetzten Seiten des Hauses recht- 
fertigen kann, zumal beide etwas Gutes in derselben anerkennen, 
und nur über die darin enthaltenen Concessionen an die Gegenpartei 
sich ereifern. 

lieber Rehmke ist an dieser Stelle am wenigsten zu sagen, 
weil er bisher am wenigsten seinen eigenen Standpunkt selbstständig 
entwickelt hat, sondern denselben bei der Polemik gegen mich mehr 
nur durchscheinen lässt. Im Allgemeinen wird man denselben als 
Monismus des absoluten Geistes bezeichnen dürfen, wobei als der 
Unterschied von dem meinigen hervorzuheben wäre, dass Rehmke 
mit Biedermann Wesen und Actus im Absoluten identificirt und des- 
halb demselben eine actuelle Unendlichkeit zuschreibt. Es ergiebt 
sich hieraus ein Monismus, der weit strenger ist als der meinige, 
und es mir zum hauptsächlichen Vorwurf macht, den endlichen In- 
dividuen eine zu grosse Selbstständigkeit gegenüber dem Absoluten 
eingeräumt zu haben. Rehmke steht also in Bezug auf das Yerhält- 
niss des AU-Einen zu den Individuen in einem ganz analogen Ge- 
gensatz zu Bahnsen wie Volkelt in Bezug auf das Verhältniss der 
Attribute unter einander. Volkelt hält an der Wahrheit, dass das 
Alles seiende Absolute Eines sei, in abstracter Einseitigkeit fest, 
wie Bahnsen an der Wahrheit, dass die Individuen viele seien; 
jeder hat nur darin Unrecht, seine Wahrheit bis zur Negation des 
Gegentheils zu überspannen, wodurch sie unwahr wird. Wie die 
entgegengesetzten Vorwürfe Bahnsens und Volkelts gegen meinen 
Standpunkt einander aufheben, so auch diejenigen Bahnsens und 
Rehmke's; beide Paare von Gegensätzen dienen in gleicher Weise 
zur Bestätigung meiner Auüstellungen. Wie mein Standpunkt die 
Wahrheit der ersteren Gegensätze als höhere Synthese unter Ver- 
meidung ihrer Unwahrheit vereinigt, so auch die der letzteren 



42 ßWeituÄg. 

Antithese, und er erreicht dies im letzteren Falle durch Sonderang 
der Sphäre, in welcher die Einheit gilt, von derjenigen, in welcher 
die Vielheit gilt. Diese Sonderung der Sphären für Einheit und 
Vielheit hat aber wieder die Unterscheidung von Wesen und Actus 
im Absoluten zur unerlässlichen Voraussetzung, und der Mangel 
dieser Voraussetzung ist es gerade, an dem £ehmke gescheitert ist. 
Zwischen Volkelt und Eehmke bestehen ferner erhebliche Unter- 
schiede, in dem Sinne, dass in wichtigen Problemen, wo der eine 
meine Auffassung bekämpft, der andere sich ihr anschliesst, und 
umgekehrt So z. B. ist Volkelt mit mir über die Unbewusstheit 
des Absoluten als solchen einverstanden, während Rehmke (nach 
Biedermanns Vorgang), wenn auch nicht die Persönlichkeit, so doch 
das Bewusstsein des absoluten Geistes zu retten sucht, Ebenso 
stimmt Volkelt meiner evolutionistischen Auslegung des Hegelianismus 
im Sinne einer historischen Weltanschauung bei, während Rehmke 
zu einer Interpretation des HegeFschen Processes im Sinne des Spi- 
nozistisoben ewigen Kreislaufs hinneigt. Auf der andern Seite 
nimmt Rehmke keinen Anstand, meine Goordination des Willens mit 
der Idee zu billigen, gegen welche Volkelt sich so entschieden 
sträubt So finde ich auch in diesen Punkten jedesmal einen Ver- 
theidiger, wo mir ein Angreifer ersteht 

Diese Einleitung wird ihren Zweck erftlllt haben, wenn sie eine 
vorläufige Orientirung geboten und die Gesichtspunkte klar gemacht 
hat, aus welchen der Zusammenhang der nachfolgenden Unter- 
suchungen zu beurtheilen ist. 



A. 



Neukantianismus. 



IL 

Lange-Vaihinger's subjectivistischsr Skepticismus. 



A. Die Philosophie als Wissenschaft. 

1. Der Kritieismas. 

yy Während die aprioristische Methode vertrauensselig 
die subjectiven Begriffsgestaltungen oder ,,mystisehen Eingebungen^' 
für das Wahre hält, während die empiristische Methode die 
gegebene Wirklichkeit ungeprüft annimmt, trennt die kritische 
Methode vorsichtig und misstrauisch zwischen objectiv Gegebenem 
und subjectiven Zusätzen, und sucht sowohl die Tragweite des 
menschlichen Erkennens, als die Geltung des Gegebenen nach ihren 
Grenzen zu bestimmen, und die Widersprüche zu bestimmen, auf 
die zuletzt alle denkende Bearbeitung des Gegebenen führt'' (Vai- 
hinger S. 19). Die kritische Methode ist hiernach wesentlich ana- 
lytisch, und ihr Hauptaugenmerk der Widerspruch, wobei vorläufig 
dahingestellt bleiben muss, ob der Widerspruch als ein überwind- 
barer oder als ein unlösbarer sich herausstellen wird. Auf anschei- 
nende Grenzen der menschlichen Erkenntniss wird früher oder 
später jedes besonnene Philosophiren stossen;*) aber es würde dem 



*) Auch ich habe eine solche Grenze angegeben (vgl. Phil. d. Unbew. am 
Schluss), und nur behauptet, dass die Aufstellung engerer Grenzen diesseits jener 
Yon mir bezeichneten irrthümlich und unbegründet sei. (Hiemach ist Yaihingers 
Bemerkung S. 41 Z. 13—9 Yon unten zu berichtigen.) 



46 A. Neakantianismus. 

Geist des Kriticismus am wenigsten entsprechen, wenn ein Philosoph 
den andern deshalb dogmatisch und unkritisch schelten wollte^ well 
er seine Festsetzungen über die Lage dieser Grenzen nicht ftlr 
richtig hält. Im Uebrigen passt die Definition Vaihingers vom Kü- 
ticismus vollständig auf meine Philosophie, wenigstens was die Ten- 
denzen derselben anbetriflft. Vaihinger selbst erklärt (235), dass der 
Kriticismus nicht sowohl ein System als eine blosse Methode sei, 
und zu dieser Methode bekennen sich fast ohne Ausnahme alle 
besonnenen Philosophen der Gegenwart, wenn sie auch in der Hand- 
habung derselben nicht alle gleich geschickt und glücklich sind. 
Hiernach wäre aus obiger Definition noch nicht verständlich, wie 
Vaihinger dazu kommt, den Standpunkt Lange's als Kriticismus 
aller übrigen Philosophie, die nicht Neukantianismus der subjecti- 
vistischen Richtung ist, gegenüberzustellen. Dies wird erst dadurch 
begreiflich, dass Vaihinger in dem Elriticismus eine ausschliesslich 
destructive, zersetzende Methode sieht, dass er mit andern Worten 
nur dem analytischen, nicht dem synthetischen Denken einen Platz 
in der Wissenschaft (und speciell in der philosophischen Wissen- 
schaft) einräumen will. 

Nun sagt er aber selbst auf S. 19 : ,,Lange weist somit nacb| 
dass die Philosophie^' (hier als positive Speculation verstanden) 
„kein besonderes Organ habe, sondern dass die in ihr wirksame 
Thätigkeit des Geistes derselbe Grundtrieb ist, der sich 
in allen Gebieten des Geisteslebens geltend macht'', 
und bezeichnet als diesen Grundtrieb oder als diese „fundamentale 
Function der Psyche" die Synthesis. Der synthetische Trieb 
Lange's fällt zusanunen mit dem philosophischen Trieb Plato's (218), 
und mit dem, was ich mystische Eingebung nenne. Vaihinger ge- 
steht zu, dass die synthetische Function selbst etwas Mystisches sei 
(15), und uns „als Eingebung erscheine, weil sie in den unbe- 
wussten Tiefen des Seelenlebens gebildet werde" (20). Dass 
ich in diesem unbewusst psychischen Process des Individuums zu- 
gleich Partialfunctionen des AU-Einen Unbewussten sehe, ist eine 
hinzukommende metaphysische Ansicht, welche die erkenntnisstheo- 
retische Seite der Frage gar nicht berührt, und es ist ein blosses 
Missverständniss Vaihingers, wenn er in dieser metaphysischen 
Beziehung des Vorganges auf das Absolute eine Beschränkung oder 
gar Aufhebung des gesetzmässigen Mechanismus des individttdlen 



Lange-Vaihingef^ ftübjecÜVlstiBche^ Skepticismus. 47 

Seelenlebens sieht (11). Ebenso irrthümlich ist es, wenn er behauptet, 
dass Ich mich jemals auf Eingebungen aus dem Unbewussten berufen 
hätte (11), da ich rielmehr die Vorgänger überall namhaft mache, 
und nur das Verdienst congenialer R e production unter einheitlichen 
synthetischen Gesichtspunkten in Anspruch nehme. Ist nun diese 
synthetische Function eine psychische Fundamentalfunction, die sich 
auf allen Gebieten des Geisteslebens geltend macht, so hat auch bei 
mir die Philosophie keinbesonderes Organ, und es zeugt von einer 
geringen Verti'autheit Vaihingers mit meinen Grundgedanken, wenn 
er mir eine so absurde Annahme unterstellt (10). Grade ich habe 
darauf hingewiesen, dass nicht bloss in Kunst und Philosophie, son- 
dern in air und jedem menschlichen Denken kein wirklicher Denk- 
schritt möglich ist, ohne mit dem Bewusstseinsinhalt eine unbewusst 
producirte Zuthat zu verknüpfen, welche dem ßewusstsein als Ein- 
gebung erscheinen muss. 

„Diese schöpferische Gestaltungskraft des Menschen, das sicherst 
erkannte apriorische Element unsres Geistes, ist der in allem wir- 
kende Trieb, das gegebene Mannichfaltige zur Einheit zu bringen 
und Harmonie in die Erscheinungen zu schaffen. Dieser synthetische 
Factor ... ist schon in den Sinneserscheinungen und in 
der Logik wirksam" (106). Alle unsere Empfindungen, Anschauungen, 
Wahrnehmungen und Vorstellungen sind selbst schon unbewusste 
Synthesen, und somit ist nicht nur die Logik, sondern auch die 
Erkenntnisstheorie auf die synthetische Function unsrer Seele ganz 
ebenso wie auf die analytische basirt. Wäre der Schluss Vaihinger's 
(19 — 20) richtig, dass die Philosophie als Speculation keine Wissen- 
schaft sein könne, weil sie sich auf die der Einbildungskraft und 
dem Verstände gemeinsame synthetische Function stütze, so wäre 
es gewiss, dass aus demselben Grunde auch Erkenntnisstheorie und 
Logik nicht Wissenschaft sein können. Dies entspricht nicht Lange's 
Ansicht, aber Vaihinger dürfte als Skepticist diese Consequenz eher 
acceptiren,, da er doch einmal die Wahrheit in jeder Hinsicht ftlr 
unerreichbar erklärt (68j ; nur müsste er dann auch entschieden die 
Prätension Lange's desavouiren, dass der negative Theil der Philo- 
sophie, d. h. Erkenntnisstheorie und Logik, „vollständig auf wissen- 
schaftliche Geltung Anspruch erheben darf" 

Eine einseitige analytische Philosophie ist eben ein Unding. 
Analyse und Synthese gehören zusammen wie Ein- und Ausathmen, 



48 A. Nenkantfanfgmng. 

und wie beim Schluchzen das Einathmen, beim Seufzen das Aus- 
athmeu sich in den Vordergrund drängt^ so ist in der Kritik die 
Analyse, in der positiven Systematik die Synthese das Hervor- 
stechende. Die in empiristischen Vorurtheilen oder in subjectiv 
plausiblen Hypothesen enthaltenen Synthesen „vertrauensselig'^ und 
„ungeprüft'' für wahr zu halten, beweist einen subjectiven Mangel 
analytischen Denkens, und ist ebenso verkehrt als die entgegen- 
gesetzte Tendenz, jede synthetische Behauptung ohne Unterschied 
als wahrheitslose subjective Einbildung zu ächten, bloss weil sie 
von mehr als analytischem Denken zeugt. Das erstere ist die dog- 
matische, das letztere die skeptische Einseitigkeit, und die letztere 
ist unbedingt gefährlicher. 

Ein Dogmatiker ist niemals aus Princip Dogmatiker, sondern 
nur aus Fahrlässigkeit oder Unachtsamkeit; ein Skeptiker aber ist 
Skeptiker meistens aus principieller Verranntheit. Der Dogmatiker 
kann die versäumte Kritik nachholen, aber nicht so der Skeptiker 
die Synthese; denn ersterer erkennt die Berechtigung des analyti- 
schen und kritischen Denkens an und findet die Fähigkeit zu dem- 
selben als gemeinsame Eigenschaft des menschlichen Verstandes 
auch in sich selbst vor, — letzterer dagegen leugnet die Berechti- 
gung der synthetischen Function in objectiver Hinsicht, und entbehrt 
meistens selbst der Fähigkeit zur schöpferischen Gestaltung. Der 
Dogmatiker kann allmählich mehr und mehr zum Kriticismus ge- 
langen, wenn er die nöthige Energie der Besonnenheit besitzt; der 
Skeptiker entfernt sich um so weiter vom Kriticismus, je consequen- 
ter er sein pseudokritisches Dogma, dass die synthetische Function 
kein Product von transsubjectiver Bedeutung liefern könne, durch- 
fahrt, und man muss ihm erst zeigen, dass sein Standpunkt con- 
sequent entwickelt ein ttbergeschnappter ist, um ihn eventuell zur 
principiellen Umkehr zu bewegen. 

Niemand, der meine Schriften kennt, wird Vaihinger glauben, 
dass auf mich seine Signatur des Dogmatismus passe, dass ich es 
für richtig halte, vertrauensselig und ungeprüft Begriffsdichtungen 
oder mystische Eingebungen für das Wahre zu halten.*) Ich habe 



*) Wenn nur der ein kritischer Philosoph heissen dürfte, der niemids in 
der Praxis gegen sein Princip Verstössen hätte, dann w&re es überhaupt nicht 
menschenmöglich, diesen Titel zu yerdienen. Es kann der Standpunkt eines 



Lange-yaihinger*B sabjectlYistiBcher Skepticismus 49 

immer betont, dass die mystische Eingebnng oder synthetische Func- 
tion nur heuristisches Prineip und nichts weiter sein dürfe, 
und dass das so Gewonnene niemals einen Anspruch auf objective 
Gültigkeit erheben dürfe, wenn es nicht, unabhängig von seiner 
Gewinnung, deductiv bewährt oder inductiv begründet sei. 
Die Methode der Demonstration trenne ich also durchaus von 
der Methode der Heuristik, wie dies selbst in der Mathematik 
schon eingesehen werden kann. Es geht niemand etwas an, ob ich 
eine Wahrheit im Traum gefunden, oder ob sie mir vom heiligen 
Geist eingegeben, oder ob ich sie mir erquält und errechnet habe; 
wenn ich sie nur nachträglich beweisen kann, so muss sie Jeder- 
mann als Wahrheit gelten lassen. 

Die Kritik hat eben die Aufgabe, jeden synthetischen Schritt 
zu prüfen, und keinen unbesehen durchschlüpfen zu lassen. Sie 
darf aber auch nicht mit der vorwitzigen Absicht herankommen, 
sich dadurch in ihrer Virtuosität zu zeigen, dass sie nichts unzer- 
zaust und unzerfetzt passiren lässt; denn dann wird sie zur vor- 
lauten Sophistik, die der Wahrheit ebenso wenig dient wie der 
kritiklose Glaube. Die Kritik muss selbstverläugnend und ohne 
Eitelkeit verfahren ; sie muss ihre Beschränkung auf die Negation 
und den überlegenen Werth der positiven Synthese bescheiden an- 
erkennen. Sie gleicht nicht der zeugenden Natur, sondern dem 
Gärtner, der die geilen Schösslinge abschneidet, damit die Bäume 
um so schöner wachsen. Eine von fester Basis ausgehende, stets 
von Kritik begleitete und geschützte synthetische Geistesarbeit ist 
Wissenschaft, und auf philosophischem Gebiet wird sie im Unter- 
schied von Dogmatismus und Skepticismus Kriticismus genannt. 

Was für ein philosophischer Standpunkt bei diesem methodolo- 
gischen Kriticismus endlich herauskommen werde, kann erst die 
Geschichte der Zukunft lehren. Wenn ich mich dahin geäussert 
habe, dass der so durch den Kriticismus zu erringende Inhalt 
schon heute auf die Standpunkte des Naturalismus und des 
spiritualistischen Monismus einzuschränken sei, so ist das natür- 
lich bloss eine subjective Ansicht, die Andersdenkende bekämpfen 



Philosophen nicht darum vom Kriticismus ausgeschlossen werden, weil es etwa 
gelingt, ihm nachzuweisen, dass er einzelne Behauptungen ohnq jg;enügende Be- 
gründung aufgestellt habe. 

£. T. Hartmtnn, Erl&ntemngen. 2* Aufl« ^ 



50 ^ Neukantianismas. 

mögen ; wenn aber Vaihinger dieselbe als „ein Symptom einer voll- 
s^Uidigen Verkennung der Situation und eine geradezu antiqoirte 
Anschauung'' herunterkanzelt, weil dabei der einzig mögliche dritte 
Standpunkt, der Kriticismus, vergessen sei (230), so beweist das 
nichts weiter, als dass er derselben Confusion methodologischer und 
inhaltlicher Standpunktsbezeichnungen verfallen ist, vor welcher er 
an derselben Stelle zu warnen sich gedrungen fühlt 



8. Die Autrabe der PliUosopliie als ErUinuif der WirUieUeit. 

Die Aufgabe der Philosophie präcisirt Vaihinger mit Lange 
dahin, erstens als negative Philosophie „zu zeigen, dass sie selbst 
als Wissenschaft unmöglich sei,'' und zweitens ak positive 
Philosophie, „zwar Speculation zu sein, aber mit dem Bewusstsein, 
nur Dichtung, nicht Wahrheit zu geben" (18). Sehen wir 
von der später zu erörternden zweiten Bestimmung hier ab, da die- 
selbe keinenfalls mehr philosophisch oder wissenschaftlieh genannt 
werden kann, so fällt sofort in die Augen, dass die Unmöglichkeit der 
Philosophie als Wissenschaft sich wohl hintennaeh als Resultat 
missglttckter Versuche zum wissenschafUiehen Philosophiren heraus- 
stellen kann, dass es aber nimmermehr von vornherein als Angabe 
der Philosophie bezeichnet werden kann, ihre Unmöglichkeit zu er- 
weisen. Wer mit der Absicht zu philosophiren anfängt, die Philo- 
sophie als Verirrung darzuthun, der beginnt nicht unbefangen, 
sondern vorortheilsvoU, nicht kritisch, sondern dogmalisch. Es ist 
|a mO^oh, dass alle Philosophie mit ihrer Selbstzers^sung endet, 
wer aber dieses eventuelle Resultat schon in die Aufgabe der 
Philosophie^ wo man doch das Ende noch nicht wissen kann, hinein- 
legt, der zeigt eben damit, dass er sich in einem Dogmatismus 
befindet, der darum nicht weniger dogmatisch ist, weü er znfaUig 
einen negativen Glaubensinhalt hat 

Selbst wean Vaihinger^s Bestimmung der Philosophie im Resultat 
liebtig wire^ so mOsste doch die Bestimmung ihrer Aa%abe anders 
ge£issl werden. Dies liegt auch sogar in seinem Wortlaut Wiit 
die Au%abe der Philosophie nichts weiter als der Nachweis ihrer 
Unmögliehkeit^ so wSre sie )a wirklieh vollendet, also nicht unmög- 
lich; dass sie die Unmöglichkeit der Erfüllung ihrer Angabe zum 
Resultat haben scdl, darin liegt seboo, dass ihre Aul^;abe eine andre 



Lange-Vaihinger^s subjectivi^tischer Skepticismus. 51 

sein mnss als der Nachweis ihrer Unmöglichkeit; den sie ja that- 
sächlich geliefert haben soll. *) Vaihinger's Definition der Philosophie 
als Leistung fordert eine solche Bestimmong ihrer Aufgabe, welche 
zu erfüllen nach seiner Ansicht nicht möglich sein soll. Was abe^ 
nach seiner Ansicht unmöglich ist, d^s ist die Erlangung der Walur- 
heit (68), das Hindurchdringen zur wahren und eigentlichen BeaJütät 
(55), und die Erklärung unserer empirisch gegebenen Wirklichkeit 
aus jener Sphäre einer höheren Bealität. Dies also müsste auch 
Vaihinger als die Aufgabe der Philosophie betra,chten, und damit 
die von mir gegebene Bestimmung über dieselbe sanctioniren. Diese 
Bestimmung ist nur der Ausdruck eines in unsrer Organisation 
thatsächlich gegebenen Bedürfnisses, und sie enthält nichts Dogma- 
tisches in sich,, da sie die Frage, ob die so gestellte Aufgabe unlösr 
bar oder lösbar, beziehungsweise ivl welchem Grade sie lösbar sei, 
völlig offen lässt.**) Eine gebieterische Noth wendigkeit, die a^ 
der Einrichtung unsers Intellects stanmit, zwingt uns unablässig, 
uns um Erklärung der Wirklichkeit zu bemühen. Dieses Erklären 
oder sich k]|ar Machen des Gegebenen hat aber drei Stufen: i^i^ 
der ersten Stufe wird die Masse der uns überstürzenden Erfahrungei;i 
gesichtet und nach den Kategorien der Aehnlichkeit ynd Verschie- 
denheit geordnet ; auf der zweiten werden die causalen, teleologischen 
und sonstigen Beziehungen zwischen den geordneten Erfahrungs- 
objecten aufgesucht; auf der dritten Stufe endlich lyerden die Be- 
ziehungen des gesammten Erfabruugsinhalts zu supponirten trana- 
cendenten Ursachen in Erwägung gezogen. Auf der ersten Stufe 
streben wir nach der Classification, auf der zweiten nach ^em phä- 
nomenalen Zusammenhang der Erscheinung, auf der dritten nach 
ihrem Wesen; die erste Stufe heisst Kunde, die zweite Wissenschaft, 



*) Man kann den Widersinn der Yaihinger'schen Aufgabebestiinmung durch 
ZosammensteUung folgender Definitionen illustriren: 

Wissenschaftlich ist diejenige Philosophie, welche die Ünwissenschaftlichkeit 

der Philosophie behauptet. 
Unwissenschaftlich ist diejenige Philosophie, welche die WissenschaftUchkeit 
der Philosophie behauptet. 
Diese Definitionen geben zugleich einen Anhaltspunkt, um im Sinne des Neu- 
kantianismus zu bestimmen, zu welcher von beiden Arten eine Philosophie ge- 
hören muss, welche auf dem Titel (z. B. eines Buches oder einer Zeitschrift) Yon 
sich behauptet, dass sie wissenschaftlich sei. 

**) Dies verkennt Vaihinger auf S. 10 Z. 9—12. 

4* 



52 A. Neukantianismas. 

die dritte Philosophie. Das Erklären auf der ersten Stufe ist noch 
Information, auf der zweiten wird es Orientirung, auf der dritten 
Verständniss. Wir können der Kunde nicht völlig Herr werden, die 
Classification der Dinge nach einem natürlichen System nicht 
durchführen, ohne die Wissenschaft ihrer causalen und teleologischen 
Beziehungen zu Hülfe zu nehmen ; wir können die Orientirung über 
die phänomenalen Zusammenhänge gar nicht ermöglichen, ohne auf 
die coordinirte transcendente Bedingtheit der Einzelerscheinungen 
zu recurriren. So fordert jede niedere Stufe des Erklärens die 
nächsthöhere, und das Erklären vollendet sich erst in der Philosophie. 

„Begreifen," sagt Vaihinger (63), „heisst zurückführen auf die 
Ursachen," und die Aufgabe der exacten Wissenschaften sei, diese 
Ursachen innerhalb der Erfahrungswelt zu suchen;*) nur das un- 
begründete negative Dogma von der transcendenten Ungültigkeit 
und Bedeutungslosigkeit der Kategorien hindert ihn, anzunehmen, 
dass die Aufgabe der Philosophie sei, die Ursachen ausserhalb 
der Erfahrungswelt zu suchen. Hypothetisch und unwahrnehmbar ist 
auch in den exacten Wissenschaften ein grosser Theil der Ursachen, 
und gerade der wichtigste Theil derselben ist es durchweg; die 
hypothetische Beschaffenheit der transcendenten Erklärungen 
der Philosophie kann also keinenfalls ein Einwand gegen deren 
Wissenschaftlichkeit und Wahrheit sein. 

Ob „die letzten Thatsachen der Wirklichkeit nicht mehr er- 
klärbar sind" (24) öder doch, hängt davon ab, was man unter 
Wirklichkeit versteht ; Vaihinger, der jede Möglichkeit eines Hinaus- 
gehens über die Welt der subjectiven Erscheinung leugnet, kann 
mit Wirklichkeit selbstverständlich nur die unmittelbare empirische 
Bealität des immanenten Bewusstseinsinhalts meinen. Nun ist aber 
eine immanente Causalität der subjectiven Erscheinungen unter 
einander ganz ausser Stande, eine orientirende Erklärung derselben 
zu liefern, die auch nur ftlr die einfachsten praktischen Bedürfhisse 
ausreichte,**) und deshalb ist das Erklärungsbedtlrfniss schlechterdings 



♦) Wenn unter „Erfahrungswelt" hier die Welt der subjectiTen Erscheinung 
Terstanden werden soll, so ist dieser Satz grundfalsch. 

**) Den Beweis hierfür habe ich geliefert in meiner ,,Erit. Grundl. des trans- 
cend.Bealism.": Y. „Transcendente und immanente Causalit&t," speciell S. 78— 95. 
Gegen die dort geführte Argumentation hat die gesammte idealistische Schule 
Kants noch keinen Einspruch zu erheben versucht 



Lange-Vaihinger^B subjectivistischer Skepticismus. 53 

genöthigt, die Succession der subjectiven ErscheinuDgen aus der 
transcendenten Causalität von hypothetischen Dingen an sich zu 
erklären, welche einerseits unsere Sinne afficiren, und deren Ver- 
änderungen andererseits durch transcendente Causalität unter einan- 
der verknüpft sind. Diese für alle Subjecte gemeinsame Welt der 
raumzeitlichen causal verknüpften Dinge an sich ist in der That 
erst das Object der exacten (historischen und Natur-) Wissenschaften ; 
aber die causalen Beziehungen dieser Dinge an sich würden sammt 
ihren sie beherrschenden Gesetzen wiederum als endloöe Kette in 
der Luft schweben, wenn sie nicht auf transcendent-metaphysische 
Ursachen gegründet wären. Versteht man die letzten Hypothesen, 
zu denen so das Erklärungsbedürfniss führt, unter dem Ausdruck: 
„letzte Thatsachen der Wirklichkeit", dann sind dieselben in der 
That für mich ebenso wie für Vaihinger „nicht mehr erklärbar". 

Weil Vaihinger die Sphäre der subjectiven Erscheinung hypo- 
thetisch zu überschreiten sich weigert, darum verschlägt er sich den 
einzigen Weg, sich in der Welt zu orientiren, darum muss er noth- 
wendig bei dem Resultat anlangen, dass die empirisch gegebene 
Welt uns nicht nur schlechthin unerklärlich sei, sondern dass sogar 
die Beschaffenheit dieser Welt, oder unserer Organisation (von der 
jene abhängt), eine solche sei, dass wir bei jedem Versuch, uns in 
derselben zu orientiren, uns nothwendig in unlösbare Antinomien 
und allerwärts (auch in den Fundamentalbegriffen der exacten Wis- 
senschaften) verborgene Widersprüche verfangen. 

3- Der subjecÜTe Idealismus und seine ücberwindung durch den trans- 

eendentalen Bealismus« 

Fragen wir nun nach dem Grund, warum Vaihinger die Er- 
klärung der Erscheinungswelt durch transcendente Ursachen, welche 
die gewünschte Orientirung und Befreiung aus den Widersprüchen 
liefert, so entschieden perhorrescirt, so kommen wir wiederum auf 
ein dogmatisches Vorurtheil von gleichfalls negativem Inhalt. Dieses 
Dogma ist der Glaube an das Kant'sche Verbot eines transcenden- 
talen Gebrauchs der Kategorien, oder anders ausgedrückt: die ein- 
gebildete Unmöglichkeit einer transsubjectiven Gültigkeit, Herrschaft 
und Bedeutung derselben. Wenn dieses Dogma in die Behauptung 
der nur oder bloss subjectiven Bedeutung der Kategorien eingeklei- 
det wird (58), so verliert es nur scheinbar seine Negativität, denn 



54 ^' ^Neukantianismus. 

diese steckt eben in dem Wörtdhen „bloss", auf dem der ganze 
Schwerpunkt der Behauptung rulit. Diese Behauptung ist im nega- 
tiven Sinne ganz ebenso dogmatisch, als der positive Glaube es ist, 
dass die Kategorien und Anschauungsformen eo ipso, unmittelbar und 
selbirtverständlich eine keines Beweises bedürftige transcendentale 
Bedeutung hätten und haben müssten. Der eine negirt, der andere 
ponirt vom Ständpunkt der Bewusstseinsimmanenz aus etwas, was 
jenseits derselben liegt, worüber also von diesem Standpunkt ans 
unmittelbar gar nichts ausgemacht werden kann. 

Sowohl Kant wie die moderne Sinnesphysiologie haben durchaus 
nur für die s u b j e c t i V e Natur und Entstehung unserer Anschauungs- 
und Denkformen argumentirt, aber über die „blosse" Subjectivltät 
derselben haben beide mit den Mitteln, mit denen sie operirten, gar 
nichts ausmachen können. Jede entgegengesetzte Auffassung in- 
volvirt nicht nur ein thatsächliches und historisches Missverständniss, 
sondern documentirt auch eine wissenschaftliche Unklarheit über 
das Problem selbst. Alle Argumentationen der Idealisten ftthren 
nicht weiter als bis zur Zerstörung des oben genannten positiven 
Dogmas als unmittelbarer Wahrheit, und zur Gonstatirung, dass 
demjenigen, der über eine transcendentale Gültigkeit der subjectiven 
Formen eine mittelbar begründete Behauptung aufstellen will, die 
Beweislast obliegt. 

Der Idealismus kann nur sagen: bis zu erbrachtem Be- 
weise ist Niemand berechtigt, die transcendentale Gültigkeit der 
subjectiven Formen zu behaupten, und deshalb müssen wir bis zu 
ertjrächtdm Beweise des Gegentheils eine solche Annahme als un- 
legitimirt bekämpfen; aber niemals kann der Idealismus beweisen, 
dass eine solche transcendentade Gültigkeit überhaupt nicht bewie- 
sen werden könne, oder dass dieselbe begrifflich oder factisch 
unmöglich sei. Dergleichen zu beweisen ist nicht nur niemals 
versucht worden, es wäre auch ein solcher Versuch in sich wider- 
sinnig, weil eben der Standpunkt der reinen Immanenz, auf den 
der Idealismus sich zurückgezogen hat, gleich unfähig zu negativen 
wie zu positiven Behauptungen über die transcendente Sphäre 
sein muss. Wer sich von jedem unkritischen Dogmatismus freihalten 
will, darf nur sagen : die einzige uns unmittelbar gewisse Be- 
deutung der fraglichen Formen ist die subj ective, und wir wissen 
nicht, ob dieselben ausserdem eine transsubjective Bedeutung haben 



Lange-yaihing6t*s subjectivistisch6r Skepticismus. 55 

oder niclit, oder ob wir darüber jemals mittelbar etwas erkennen 
werden oder nicht. Dies allein ist kritisch gedacht, und nur diese 
Stellung durfte Vaihinger einnehmen, anstatt, wie Lange, mit den 
negativen Dogmatikem des subjectiven Idealismus einen Strang zu 
ziehen (vgl. S. 61). 

Nun habe ich aber den verlangten mittelbaren Beweis erbracht. 
Er liegt mit zwei Worten darin, dass eine Orientirung in der Er- 
scheinungswelt vom Standpunkt des subjectiven Idealismus unmög- 
lich, vom Standpunkt des transcendentalen Realismus aber sehr wohl 
möglich ist, dass die innere Widersinnigkeit des ersteren (die Vai- 
hinger vollständig zugiebt) zu einer Hypothese drängt, welche diesen 
Widersinn beseitigt und eine allseitig befriedigende Erklärung liefert. 
Diese bereits von Kant acceptirte Hypothese besteht in der Annahme 
positiver Dinge an sich, die unseren Erscheinungsobjecten correspon- 
diren, und die Beschaffenheit der letzteren dadurch bedingen, dass 
sie unsre Sinnlichkeit mit einer transcendenten CausaMtät afficiren. 
Diese Hypothese findet ihre wissenschaftliche Legitimation darin, 
dass sie alles erklärt, worum es sich in der Erkenntnisstheorie han- 
delt. Sie ist nicht nur von allen sonst denkbaren Hypothesen 
(Malebranche's und Berkeley's unmittelbare Einwirkung Gottes auf 
die Seele, Fichte's Selbstbestimmung des Ich, Leibniz's prästabilirte 
Harmonie im Vorstellungsablauf der Monaden) die relativ brauch- 
barste, sondern sie ist von allen die einzig annehmbare, weil eben 
alle andern das zu Erklärende nicht durch natürliche Ursachen 
begreiflich machen. 

Diese Annahme ist kein Dogmatismus, kein unbegründetes Vor- 
urtheil, kein naiver Glaube, sondern sie ist kritisch vermitteltes und 
wohlbegründetes Kesultat. Sie ist keine apodiktische Behauptung, 
wie der dogmatische naive Realismus sie aufstellt, sondern eine 
hypothetische ; sie leugnet nicht die Möglichkeit, dass es sich anders 
verhalte, sondern nur die Wissenschaftlichkeit und kritische Halt- 
barkeit einer anderweitigen Annahme bei dem gegenwärtigen Stande 
unserer Kenntnisse; sie prätendirt nicht gewisse, sondern nur 
wahrscheinliche Erkenntniss zu sein. Sie hat den Skepticismus 
nicht mehr zu farchted, weil der Skepticismus nur dem Dogmatismus 
gegenüber eine Macht ist, aber nicht dem Kriticismus gegenüber. 
Sie geht eben aus der wissenschaftlichen Ueberwindung des Skepti- 



56 ^ Neakantianismus. 

cismns hervor, und hat diesen ebenso hinter sich wie d( 
Dogmatismus. 

Vaihinger, der da meint, dass der Kriticismus eigentlich Skept^ i— 
cismus heissen sollte, hat natürlich für den von Kant angestrebte 
und von mir ausgefllhrten wahren Kriticismus kein Verständnis 
Wenn ich im Angesicht der dargethanen Möglichkeit einer befrie4.i— 
genden und widerspruchslosen Erklärung der Wirklichkeit 
obige Hypothese es für unkritisch erachte, auf dem Standpun] 
der „theoretischen Resignation", d. h. der Verzweiflung an einej 
Erklärbarkeit und Verständlichmachung der Welt, eigensinnig 
verharren, so sieht Vaihinger in solcher echt kritischen üeberwiu- 
düng des unfruchtbaren Skepticismus verkehrter Weise einen neuen 
Dogmatismus, den er unkritisch schelten zu dürfen glaubt; wenn 
ich dagegen meinen ganzen positiven systematischen Aufbau in kri- 
tischer Besonnenheit für bloss hypothetisch oder problematisch 
erkläre, wenn ich insbesondere betone, dass alle Begründung des 
transcendentalen Realismus nur eine problematische Bedeutung habe, 
so liest Vaihinger darin das ehrenwerthe Geständnisse dass mein 
System nur ein „metaphysischer Roman" (76), und dass meine er- 
kenntnisstheoretische Beweisführung „ungenügend" sei (223). Wenn 
ich überhaupt etwas Positives zu bieten wage, so genügt ihm dies, 
mich als Dogmatiker zu verschreien ; wenn ich aber auf apodiktische 
Gewissheit verzichte, so verdreht er mir dies zu einem Geständniss 
der Unerwiesenheit meiner Positionen. So haut er rechts und links 
bei meiner wahren Stellung vorbei, weil er nichts davon weiss, dass 
der Kriticismus im Sinne seines Begründers wie im Geiste der 
Wissenschaft die höhere Synthese von Dogmatismus und Skepticis- 
mus ist. 

Nirgends habe ich gesagt, was Vaihinger mir (76) in den Mond 
legt, „dass eigentlich für Idealismus und Realismus in der Erkennt- 
nisstheorie gleich viele Gründe sprächen;'' nirgends habe ich 
den transcendentalen Realismus auf den „Glauben" gestützt, dass 
die gütige Natur uns wohl nicht prellen werde, sondern allein auf 
den oben angeführten Gedankengang, wenn schon ich darauf auf- 
merksam gemacht habe, dass es als anderweitige Bestätigung 
und Bewährung des erhaltenen Resultats gelten könne, wenn in 
einer durchweg vernünftig und zweckmässig eingerichteten Natur 
auch unsere Erkcnutuissinstincte sich als vernünftig und zweckmässig 



Lange-Yaihinger^s subjectivistischer Skepticismus. 57 

herausstellen. Da nun der Intellect die Erkenntniss zum Zweck hat; 
so würde es Niemand für vernünftig und zweckmässig halten, wenn 
unsere theoretischen oder intellectuellen Instincte darauf angelegt 
wären, unsern Erkenntnisstrieb durch unentrinnbare Illusionen zu 
prellen, ihm jede Wahrheit unerreichbar zu machen, und ihn statt 
dessen in unlösbare Widersprüche zu verstricken ; in den praktischen 
Trieben dagegen werden alle instinctiven Illusionen als vernünftig 
und zweckmässig zu bezeichnen sein, welche dazu dienen, den 
Egoismus zu prellen und den Eigenwillen mit dem ihm zu Gebote 
stehenden Maass von Energie und Leistungsfähigkeit der universellen 
Vernunft und ihren Zwecken dienstbar zu machen. Vaihinger macht 
also einen sehr oberflächlichen und voreiligen Schluss, wenn er aus 
dem thatsächlichen Bestehen praktischer Illusionen die Wahrschein- 
lichkeit theoretischer oder intellectueller Illusionen folgern will 
(38, 133). 



4. Der Skeptldsmus und seine üeberwindang durch den Eriüeismus. 

Vaihinger gesteht zu, dass auch der nach seiner Meinung echte 
Kriticismus, d. h. der Skepticismus, sich der Thatsache nicht ent- 
ziehen können, dass wir „vermöge unsrer Verstandeseinrichtung uns 
das Verhältniss so denken müssen, als ob es Dinge an sich gäbe^ 
theils Geister, theils unbekannte Ursachen, aus deren Zusammen- 
wirken die Welt der Erscheinung in uns entstehe," nicht aber sage 
er, dass es so sei. 

Hiermit räumt er ein, dass das menschliche Denken, wenn es 
zum Verständniss seiner selbst gelangt ist (also die Gonfusion des 
naiven Eealismus und die Verblendung des subjectiven Idealismus 
überwunden hat), durch seine Organisation darauf angelegt sei, die 
Welt vom Standpunkt des transcendentalen Realismus aus zu be- 
trachten. In dieser Behauptung stimmt er mit mir ganz ebenso 
überein, wie in der einschränkenden Bemerkung, dass wir keines- 
wegs wissen können, ob diese Annahmen, zu denen unser Verstand, 
d. h. unser vernunftgemässes Denken uns nöthigt, auch richtig 
seien, d. h. uns beiden bleibt die Möglichkeit offen, dass unser 
transcendentaler Instinct eine Illusion sei. Es handelt sich mithin 
bei der Frage nach der objectiven Wahrheit oder Unwahrheit unseres 
intellectuellen Instincts schlechterdings um eine einfache Alternative: 



5B ^' Neukantianismus. 

entweder transcendentaler Realismus oder absoluter Illusionismus, — 
entweder ist unsere Erscheinungswelt subjeetives Abbild einer trans- 
eendenten Welt, oder sie ist schlechthin blosse Illusion, da sie uns 
eine solche doch vorspiegelt. Die Entscheidung kann eine dreifache 
sein: entweder der Realismus oder der Illusionismus wird als abso- 
lute Gewissheit in Anspruch genommen, oder es wird jeder von 
beiden als möglich zugestanden. Die ersteren beiden Fälle wären 
bei der Unbegrtindbarkeit einer solchen absoluten Gewissheit Rück- 
fall in den Dogmatismus, die letztere Entscheidung ist der üeber- 
gang zum Kriticismus. Vaihinger tritt mit mir der Entscheidung im 
letzteren Sinne bei, aber er fällt in den Skepticismus zurück, indem 
er bei der blossen abstracten Möglichkeit beider Seiten der Alterna- 
tive stehen bleibt und auf eine Entscheidung über die grössere oder 
geringere Wahrscheinlichkeit derselben durch eigensinnige Wahl- 
enthaltung verzichtet. Er geht aber noch weiter: er tadelt jeden^^ 
der seinen Standpunkt willkürlicher Verzichtleistung auf weitere 
Untersuchung nicht theilen mag, und verfällt in negativen Dogma — 
tismus, wenn er jede Ermittelung über die grössere oder geringer^- 
Wahrscheinlichkeit der beiden Seiten der Alternative a priori füi— 
unmöglich erklärt. 

Nun ist aber seine Ablehnung einer Wahl selbst ein ganz un — 
Tialtbarer Standpunkt; auf Orientirung in der empirisch gegebenem- 
Welt freiwillig verzichten, heisst aufhören, Mensch zu sein. Ob der-' 
Mensch unter Umständen fähig ist, auf das Handeln zu verzichten^, 
mag hier dahingestellt bleiben, dass er aber auf das Denken ga 
nicht verzichten kann, so lange er lebt, das kann keinem Zweife 
unterliegen. Auf die nähere Untersuchung der Alternative verzieh — 
tien, deren Entscheidung uns erst die Grundlage bieten kann 
einer Orientirung in der Welt, heisst aber: auf das Denken selbe 
verzichten. Darum ist der Skepticismus in seiner Reinheit nur ein^ 
künstliche Fiction, die auf der unstatthaften Voraussetzung ruht^ 
dass es dem Menschen möglich sei, vom Denken selber willkürliclft. 
zu abstrahiren; der Gedanke im Stadium des Denkver— 
zichts ist eine abstracte Fiction ohne allen thatsächlichen Boden, 
und ohne philosophischen Werth. Es hat noch keinen Skeptiker 
gegeben, der diesem abstracten Ideal des Skepticismus entsprochen 
hätte, und wird auch nie einen geben, weil es keinen geben kann. 
Auch Vaihinger ist ebenso wie Lange thatsächlich transcendentaler 





tiange-Yaihinger's subjectivistiächier Skepticismus. 5d 

Eealist, hat also seine Entscheidung trotz seiner proclamirten Wahl- 
enthaltung ebenso wie ich getroffen, was loh bald näher darthun 
'werde. Dass ausserdem alle Skeptiker und subjeetiven Idealisten 
ihr praktisches Verhalten so einrichten, als ob die Hypothese 
des transcendentalen Realismus objective Wahrheit wäre, braucht 
ebenso wenig besonders erwähnt zu werden, als dass sie bei den 
Tolgen dieses Verhaltens die Voraussetzung, auf welche dasselbe 
gebaut war, noch niemals desavouirt gesehen haben. 

Ist die Vaihinger'sche Wahlenthaltung ebenso unausführbar wie 
unwissenschaftlich, so haben wir festzuhalten, dass die Alternative 
lautet: transcendentaler Realismus oder absoluter Illusionismus. Da 
Vaihinger diese Alternative einräumt, so giebt er damit eo ipso zu, 

dass wenn die Wahrscheinlichkeit der einen Seite derselben = — 

X 

gesetzt wird, die der andern = 1 sei, oder mit andern Wor- 

ten, dass die Wahrscheinlichkeit 1 auf beide Seiten zu repartiren 
sei; — denn das ist der logische Sinn des Ausdrucks Alternative. 
Je geringer die Wahrscheinlichkeit der einen Seite wird, desto 
grösser wird die der andern. Gesetzt also, die Wahrscheinlichkeit, 
dass die subjective Erscheinungswelt ein Schein ohne Wesen, eine 
absolute Illusion sei, wäre der Null sehr nahe, so würde die Wahr- 
scheinlichkeit des transcendentalen Realismus der Eins (oder Gewiss- 
heit) sehr nahe sein. Dies ist der Sinn der Vaihinger'schen Bemer- 
kung, dass ich den absoluten Illusionismus „den philosophischen 
Kindern als Popanz vorzuhalten pflege" (38). Thatsächlich hat noch 
Niemand gewagt, den absoluten Illusionismus zu vertheidigen, 
ebenso wenig wie Jemand versucht hat, meine Behauptung zu wider- 
legen, dass der transcendentale Realismus die gegebene Welt der 
subjeetiven Erscheinung erkläre, d. h. verständlich mache und von 
Widersprüchen befreie, — eine Behauptung, die Vaihinger „höchstens 
— ein Lächeln abgewinnen kann" (224). Ist die Aufgabe der Phi- 
losophie Erklärung des Gegebenen, so ist der Illusionismus ebenso 
wie der Skepticismus Unphilosophie, und nur Kjiticismus ist 
wirklich Philosophie, insofern er als transcendentaler Realismus die 
Aufgabe der Philosophie für das Gebiet der Erkenntnisstheorie löst 
und erfüllt, und dadurch wenigstens den Boden bereitet, auf dem 
die weiteren Aufgaben der Wissenschaft, und speciell der Philosophie, 



gO A.. Neukantianismns. 

in Angriff genommen werden können. Wenn dieses Resultat noch 
einer Bestätigung bedarf, so ist die Betrachtung der exacten Wissen- 
schaften in ihren Beziehungen zur Philosophie geeignet, dieselbe 
zu liefern. 



5. Die Naturwissenschaft als transcendentaler Beallsmus* 

Die ganze moderne Naturwissenschaft — ja überhaupt die 
ganze moderne Wissenschaft — ist Wissenschaft nur unter der 
Bedingung, dass der transcendentale Realismus, unter dessen 
Schablone die Naturforscher die Welt denken, Wahrheit sei; 
dass dieselben zwar genöthigt seien, sie auf diese Weise zu 
denken, dass aber dies gar nichts damit zu thun habe, ob 
dem wirklich so sei, dieser Gedanke würde vermuthlich den 
Naturforschem höchstens — ein Lächeln abgewinnen. Die gesamm- 
ten historischen und Natur-Wissenschaften fassen auf der Wahrheit 
des transcendentalen Realismus, und hören mit der objectiven Gül- 
tigkeit desselben auf, Wissenschaften zu sein, indem sie zu subjec- 
tiven Begriffsdichtungen ohne alle objective Bedeutung herabsinken, 
an denen nur unphilosophische Kinder sich ergötzen können. Des- 
halb muss ich mit voller Schärfe aufrecht erhalten, was ich ander- 
wärts gesagt habe,*) dass überhaupt nur die transcendentalen Rea- 
listen unter den Philosophen mit der Naturwissenschaft im Einklang 
sein können, aber niemals subjective Idealisten wie Lange, oder 
subjectivis tische Skeptiker, wie Vaihinger einer sein will. Der 
transcendentale Realismus ist der unerlässliche gemeinsame 
Boden, um überhaupt von irgendwelcher Uebereinstimmung mit 
der Naturwissenschaft reden zu können, mag dieselbe nun eine 
grössere oder geringere sein. Ohne diesen gemeinsamen Boden 
können alle sonstigen wörtlichen Uebereinstimmungen nur den fal- 
schen Schein einer sachlichen Uebereinstimmung erwecken, insofern 
dieselben Worte von den Philosophen idealistisch, von den Natur- 
forschem realistisch verstanden werden. Darum beruht Lange's 



•) Krit. Grundl. d. transc. Real. S. 90—95; Phil. d. Unb. 7. Aufl. Bd. L 
S. 462—465 u. 449—451. Wenn Vaihinger die erstere Stelle „logisch das Schwächste 
in dem sonst so ungemein scharfsinnigen Buche*' nennt, so finde ich darin ebenso 
wenig eine Widerlegung, als wenn er meine berechtigte und gebotene Abwehr 
g^n Lange's mehr als „bissige*' Angriffe zu einer ,,yergeltung'' erniedrigt. 



Lange-Vaihinger's subjectiyistischer SkeptidsmuB. 61 

ganze Prätension einer üebereinstimmung mit der Naturwissenschaft 
anf reiner Erschleichung, durch die leider auch viele Natur- 
forscher sich haben täuschen lassen. 

So gewiss die moderne Naturwissenschaft Lange's und meine 
Ansicht unterstützt, dass die Anschauungs- (und Denk-) Formen 
subjectiven Ursprungs seien, so gewiss perhorrescirt sie mit mir die 
Annahme Lange's, dass durch den subjectiven Ursprung dieser 
Formen ihre Gültigkeit und Bedeutung auf die „bloss" subjective 
Sphäre des Bewusstäeinsinhalts eingeschränkt würden, weil dieses 
negative Dogma jeder Begründung entbehrt und dem kritischen oder 
transcendentalen Bealismus widerspricht.*) Die Naturwissenschaft 
giebt also eine „Rechtfertigung des Kantianismus" (56) gerade nur 
insoweit, als auch ich Kantianer bin, d. h. als die Wahrheit des 
subjectiven Idealismus zum aufgehobenen Moment im transcendenta- 
len Bealismus herabgesetzt ist, aber keineswegs der einseitig idea- 
listischen Schule des Kantianismus, die sich völlig von der Natur- 
wissenschaft, überhaupt von den Eealwissenschaften und dem ganzen 
realistischen modernen Bewusstsein entfernt. 

Die Naturwissenschaft ist nur deshalb Wissenschaft, weil sie 
das Wirkliche, die gegebenen Erscheinungen erklärt; ihre Erklä- 
rungen aber betreffen auschliesslich transcendente Ursachen, deren 
Beziehungen unter einander und auf unsere Sinne. Wer der Natur- 
wissenschaft die transcendente Gausalität abschneidet, macht ihr das 
Erklären der gegebenen Wirklichkeit unmöglich; wer das Erklären 
der Wirklichkeit flir unmöglich erklärt, hebt damit nicht nur die 
Möglichkeit der Philosophie, sondern auch der Naturwissenschaft 
als Wissenschaft auf. Wer dem menschlichen Erkennen nicht bloss 
die Fähigkeit abspricht, zur Wahrheit, sondern auch diejenige, zur 
Wahrscheinlichkeit zu gelangen (68), der negirt damit nicht bloss 
die Philosophie, sondern die Wissenschaft schlechthin. Ursachen 
innerhalb der subjectiven Erscheinungswelt, d. h. iunerhalb des 
Bewusstseinsinhalts aufzusuchen (63), ist lediglich Aufgabe der 
Psychologie, nicht der Physik; da aber ohne vorherige Orientirung 
in der objectiven Welt auch keine Psychologie möglich ist, so ist 
auch hier jeder Faden abgeschnitten. Es ist nicht mehr ersichtlich, 



*) Vaihinger befindet sich bei der Behandlung dieser Frage mitten in der 
ConluBion der Idealisten zwischen „Subjectivität'^ und ,,b 1 o s s e r Subjectiyität'* (216), 



62 A. Neukantianismus. 

inwiefern Ursachen, die innerhalb der Erfahrung liegen, einen Vor- 
zug haben sollen vor solchen ausserhalb derselben (63), wenn doch 
die ganze Erfahrung nur ein phaenomenon ist, das man keineswegs 
mit Leibniz hene furtdatwm nennen kann (59), wenn die ganze Welt 
der Erfahrung nur ein Product der subjectiven Geistesthätigkeit, des 
Geistes ureigne Schöpfung ist, und nur durch Illusion für ein von 
aussen gegebenes Resultat gehalten wird (59). 

Als intellectueller Instinct ist die Causalität durchaus nur in 
ihrer transcendenten Bedeutung unsrer Organisation eingepflanzt, 
und Vaihinger selbst giebt dies zu (67 oben). Zu bejiaupten, dass 
wir einen Instinct hätten, unsere immanenten Vorstellungen causal 
auf einander zu beziehen, ist eine idealistische Verdrehung der 
Thatsachen, welche sich durch den Unsinn, der bei jedem Versuch 
einer Durchfuhrung dieser immanenten Causalität zu Tage kommt, 
bestraft; nur die instinctiv supponirten Dinge an sich, welche uns 
durch unsere Vorstellungsobjecte für das Bewusstsein repräsentirt 
werden, sind wir durch unsre Organisation instinctiv genöthigt, in 
ihren Veränderungen causal auf einander zu beziehen. Wenn aber 
dieser Instinct uns keine Wahrheit bietet, wenn die Causalität die 
transcendentale Bedeutung, die sie uns instinctiv vorspiegelt, nicht 
besitzt, wenn sie mit andern Worten eine Illusion ist, dann ist auch 
der ganze vermeintlich wahre WisscBSchaftsbau, das ganze Weltbild, 
das die Naturwissenschaft auf dem Fundament dieses trügerischen 
Instincts aufführt, ein wahrheitsloses Phantasiegebilde, eine Begriffs- 
dichtung ohne objective Bedeutung, genau in demselben Sinne, wie 
die Philosophie nach Lange eine solche ist, — dann hat es aber 
auch keinen Sinn mehr, die Naturwissenschaft als exacte Wissen- 
schaft der Philosophie gegenüberzustellen, und aus dem Vorzug der 
Exactheit der Erfahrungswissenschaft Rückschlüsse auf den Vorzug 
der innerhalb der Erfahrung aufgesuchten Ursachen zu machen (63). 



6. Die TersShnangr zwischen Philosopliie und Naturwissenschaft. 

Vom Standpunkt des subjectiven Idealismus verschwindet jeder 
Vorzug der Wissenschafl;lichkeit, den Lange und Vaihinger ganz 
mit Unrecht der Causalität vor der Teleologie zuschreiben. Ist 
ihnen gleich die Teleologie „eine rein subjective Kategorie" (115), 
so gilt doch genau dasselbe auch für die Causalität; entbehrt die 



Lange-Vaihmger's subjectivistkcher Skepticismas. 63 

ZweckYorstellung der transcendentalen Bedentnng^ so ist das bei der 
Vorstellung der realen Ursache nicht minder der Fall; duldet die 
Kategorie der Gausalität nichts anderes neben sich, und will sie 
Alleinherrscherin sein (64), so lässt sich dasselbe von der Teleologie 
mit gleichem Recht behaupten. Vaihinger kann daraus nur das 
folgern, dass Causalität und Teleologie eine der ursprünglichen, un- 
lösbaren Antinomien unsrer Organisation bilden, deren beide Seiten 
gleiches Becht an uns haben, und deren keine gegen die andere 
zurückgesetzt werden darf, die uns aber beide mit der Vorspiegelung, 
uns Wahrheit zu vermitteln, in gleicher Weise täuschen. Eine causale 
Erklärung lässt die teleologische Beziehung unbegriffen, und eine 
teleologische Erklärung lässt die causale Vermittlung unverstanden; 
eine causale Erklärung ist keine teleologische Erklärung und eine 
teleologische Erklärung ist keine causale Erklärung, aber beide sind 
Erklärungen, insofern sie uns über Beziehungen orientiren, welche 
anzuerkennen wir durch unsre Organisation genöthigt sind. 

Beschränkt sich nun eine Specialwissenschaft, wie z. B. die 
Naturwissenschaft, auf die Untersuchung causaler Beziehungen, so 
muss sie natürlich über eine teleologische Erklärung das Urtheil 
abgeben, dass das keine naturwissenschaftliche Erklärung 
sei; mit demselben Recht wird aber eine andre Wissenschaft, z. B. 
die Philosophie, welche sich die Aufgabe stellt, die Welt nach allen 
Richtungen zu verstehen, über eine causale Erklärung der Natur- 
wissenschaft das Urtheil abgeben, dass damit ftlr das philoso- 
phische Verständniss der fraglichen Erscheinung noch wenig oder 
gar nichts gewonnen sei. Wenn es eine Philosophie gäbe, welche 
jede causale Erklärung als wissenschaftlich völlig werthlos, also als 
keine Erklärung, zurückwiese, dann würde nach Lange's Principien 
das Recht zwischen einer solchen Philosophie und der antiteleologi- 
schen Naturwissenschaft gleich vertheilt sein ; sie wtlrden als wissen- 
schaftliche Disciplinen die angebliche Antinomie unsrer geistigen 
Organisation getreu wiederspiegeln. 

Eine solche Philosophie giebt es aber nicht. Nur die Natur- 
wissenschaft hat sich in einem Theil ihrer Vertreter zu der unbe- 
sonnenen Einseitigkeit hinreissen lassen, der teleologischen Erklärung 
jedes Recht abzusprechen; die Philosophie dagegen hat sich stets 
soviel kritische Besonnenheit bewahrt, die relative Bedeutung, ja 
sogar die Unentbehrlichkeit der causalen Erklärung zuzugeben, wenn 



64 A. Neukantianismas. 

sie auch meist ihre Unzulänglichkeit und Ergänzungsbedtlrftigkeit 
betonte. Wenn Lange und Vaihinger sich zu Schleppenträgem 
jenes unbesonnenen Theils der Vertreter der Naturwissenschaft her- 
geben, so schlagen sie damit nicht nur, wie gezeigt, ihren eigenen 
Principien in's Gesicht, sondern sie fördern auch nicht einmal die 
Versöhnung von Naturwissenschaft und Philosophie, wie ihre Absicht 
ist. Wenn die Philosophie zum Selbstmord schreitet, um ihren 
Thron ftlr die Naturwissenschaft vacant zu machen, so ist das eben 
keine Versöhnung zweier Streitenden mehr; wenn aber die Natur- 
wissenschaft eine Philosophie belobigt, die sich freiwillig beerdigt, 
so triumphirt sie zu früh, da die Principien dieser Philosophie, wie 
gezeigt, gleich vernichtend ftlr die Naturwissenschaft wie ftir die 
Philosophie sind. Vielleicht aber findet Vaihinger seinen classischen 
Begriff der „negativen Versöhnung" gerade an diesem Beispiel in 
idealer Weise realislrt : die negative Versöhnung zwischen Philosophie 
und Naturwissenschaft bestände danach darin, beide ftir gleich un- 
möglich zu erklären. Ich bezweifle nur, dass die Naturwissenschaft 
sich ftir eine solche Versöhnung mit der Philosophie dankbar er- 
weisen wird. 

Die positive Versöhnung hingegen müsste darin bestehen, dass 
man erstens die Naturwissenschaft in ihrer Beschränkung auf cau- 
sale Zusammenhänge als berechtigtes und unentbehrliches Glied der 
gesammten Erkenntniss anerkennt, und zweitens die ft*agliche Aüti- 
nonaie zwischen Causalität und Teleologie, durch welche die Natur^ 
Wissenschaft ihrerseits sich von der Anerkennung der Philosophie 
abhalten liess, als eine bloss scheinbare darthut, indem man 
sie durch die Aufstellung ihrer höheren Synthese (der logischen 
Noth wendigkeit) löst. Diesen Weg habe ich eingeschlagen und an 
verschiedenen Orten zu begründen versucht. 

Vaihinger hat von diesen Bestrebungen in seiner Schrift keine 
Notiz genonmien; vielmehr behauptet er, ohne jede Begründung, 
was ich anderwärts*) bereits ausführlich widerlegt habe, dass die 
transcendente Gültigkeit der Zweckvorstellung eine Durchbrechung 
des (von mir ausdrücklich anerkannten) Gesetzes der Erhaltung der 
Kraft involviren würde (103, 115), und decretirt lediglich auf diese 



*) „Wahrheit und Irrthum im Darwinismus" Cap. VIL S. 166—174, und 
Phil. d. Unb. 7. Aufl., Bd. I. S. 393-396. 



Lange- Vaihinger'8 subjectiviBtischer Skepticismas. 65 

unbegründete nnd unzutreffende Behauptung gestützt; dass meine 
Teleologie „der Naturwissenschaft in's Gesicht schlage" (71). Er 
behauptet femer, dass ich das Princip der Lebenskraft in optima 
forma wieder einführe (82), während ich ausdrücklich erkläre, dass 
,,Lebens kraft" füi* die organisirende Thätigkeit des Unbewussten 
eine ganz unpassende Bezeichnung sei, weil keine Kraft im Sinne 
der Mechanik dabei ausgeübt, also auch keine nach mechanischen 
Aequivalenten messbare Arbeit dabei geleistet werde (115). Er ver- 
kennt eben, dass alle mechanische Arbeit bei mir rein von 
den Atomen geleistet wird, während die organisirenden Functionen 
des unbewussten nur flir die Art und Weise, fttr die P o r m , in der 
die mechanischen Atomkräfte cooperiren, mitbestinmiend wirken ; nur 
weil er gar nicht versteht, dass alle höheren Functionen des Unbe- 
wussten nichts weniger als mechanische Kraftgrössen repräsentiren, 
kann er sich darüber wundern, dass diese „unbewussten psychischen 
Actionen ohne entsprechenden Eraftverbrauch vor sich gehen sollen 
ohne den Aufwand einer äquivalenten mechanischen Arbeit" (85). 
Grade diese Verwunderung hätte es ihm nahe legen sollen, seinen 
unzutreffenden Vorwurf einer Durchbrechung des Gesetzes der Er- 
haltung der Kraft nochmals zu überdenken. Zwischen einer sich 
ihrer Grenzen bewussten Naturwissenschaft und meiner Philosophie 
besteht keinerlei principielle Differenz mehr ; eine Naturwissenschaft 
aber, die sich als Specialität und mit ihren specialistischen Schran- 
ken an die Stelle der Wissenschaft schlechthin setzen will, eine 
solche sich überhebende Naturwissenschaft, kann es nicht mehr die 
Au%abe der Philosophie sein, zu versöhnen, sondern zur Raison 
zu bringen. 

7. Der Kriticismus als Idcnütätsphilosophie. 

Nach diesen Erörterungen ist die Frage nicht schwer zu be- 
«itworten, ob Lange seine Absicht einer Verschmelzung des Ma- 
terialismus und subjectiven Idealismus erreicht habe. Materialismus 
und subjectiver Idealismus sind eben Gegensätze, die sich schlechter- 
dings ausschliessen und keine Versöhnung zulassen. Alles, was 
gegen den Gonfusionismus dieser Vereinigung bei Schopenhauer 
geltend gemacht ist (am nachdrücklichsten von Moritz Venetianer 
in seinem Werk: „Schopenhauer als Scholastiker'^; bleibt auch 

£. T. Hartmann, Erl&ntenuigen« 2. Aufl. 5 



66 ^ Neukantianismiui. 

gegen Lange gültig. Der Materialismns setzt die Materie als Frin- 
cip; und ist deshalb nur unter der Voraussetzung einer realistischen 
Erkenntnisstheorie möglich; welche die Annahme einer unabhängig 
vom Bewusstsein real seienden Materie zulässig macht ; die idealistische 
Erkenntnisstheorie dagegen führt nothwendig zum Spiritualismus, da 
sie die Materie zur subjectiven Erscheinung für das Bewusstsein 
und damit zu einem Product des Geistes herabsetzt. Dem Ma- 
terialismus gilt der Geist als eine aus dem Mechanismus der ma- 
teriellen Elemente resultirende Erscheinung; dem subjectiven Idea- 
lismus dagegen ist die Materie nichts als eine aus dem psycho- 
logischen Process resultirende Erscheinung. Wer beides festhalten 
will, setzt die Materie wie den Geist als die Wirkung einer Ur- 
sache, deren Ursache sie zugleich sein soll. Es giebt aus diesem 
Gonfasionismus nur drei Auswege: entweder man hält den Ma- 
terialismus fest und lässt den subjectiven Idealismus fallen, oder 
man hält den subjectiven Idealismus fest und lässt den Materialis- 
mus fallen, oder man setzt beide zu aufgehobenen Momenten im 
transcendentalen Realismus herab. 

Vaihinger schreibt auf S. 58 : „Lange behauptet, dass alle, auch 
die höchsten psychischen Functionen auf einem physischen 
Mechanismus beruhen. Dies klingt materialistisch. Allein gewöhn- 
lich vergisst man den Nachsatz, dass ja auch dieser ganze physische 
Mechanismus nur unsere Vorstellung ist, gebildet auf Grund 
unbekannter Ursachen. Hier schlägt also der Materialismus in 
Idealismus um.^ Auf derselben Seite oben sagt er femer, dasd jener 
mechanische Vorgang nur zunächst als etwas Aeüsserliches gelte, 
„bei tieferer Betrachtung aber selbst auch nur als subjee- 
tiv erkannt werde/' Hier steht der Lange'sche GonAisionismus 
noch in voller Blüthe. Ist der mechanische Vorgang, auf dem mein 
Vorstellen beruhen soll, nur etwas Subjectives, nur meine Vorstel- 
lung, so soll das Product meiner Geistesthätigkeit zugleich deren 
Grundlage, Bedingung oder Voraussetzung sein. Dieser Gonfiision 
wird erst dann abgeholfen, wenn unzweideutig anerkannt wird, date 
es grundfalsch ist, zu sagen, die subjective Erscheinung des mecha- 
nischen Vorgangs habe mit der psychischen Function irgend eine 
directe Beziehung, und wenn eingestanden wird, dass eine solche 
Beziehung höchstens zwischen den unbekannten transcendenten Ur- 
sachen einerseits unserer subjectiven Erscheinung und andererseits 



Lange-Yailiinger^ subjäctiyistischißr Skepticismus. 67 

nnsrer bewussten psychischen Function angenommen werden könne. 
Die letztere Annahme ist aber der üebergang vom subjectiven 
Idealismus zum transcendentalen Realismus, und Vaihinger selbst 
sieht sich zu diesem Schritt unabwendlich hingedrängt, indem er 
sich bemüht, den Lange'schen Confusionismus zu berichtigen. Er 
erkentit ausdrücklich an, dass die mechanische Causalreihe und die 
pisychologische Eeihe ganz getrennt von einander zu halten sind, 
dass dieselben für uns gar nichts mit einander zu schaffen haben, 
und däss keinerlei Üebergang oder Causalzusammenhang zwischen 
denselben stattfindet (118 — 119). Damit ist die Lange'sche Auffas- 
sutig, dass die psychologischen Functionen im materialistischen Sinne 
auf mechanischen Vorgängen im Gehirn beruhen , allerdings in 
btrüigenter Form widerrufen, zugleich aber auch der Dualismus 
von Materialismus und Spiritualismus (mechanischer und psychologischer 
Reihe) wiederhergestellt. Will Vaihinger als Skeptiker bei der 
Behauptung, dass „das Verhältniss beider Reihen uns unerklärlich 
sei'' (HB), als bei einem Letzten stehen bleiben, so erklärt er damit 
anöh den Dualismus von Materialismus und Spiritualismus für 
unüberwindlich, für eine nothwendige und unlösbare Antinomie; 
will er aber über diesen von ihm verpönten Dualismus hinaus, so 
kann er dies nur durch die von ihm noch mehr verpönte (67) 
Identitätsphilosophie. 

Die Identitätsphilosophie kann in doppelter Weise verstanden 
werden, je nachdem man die Identität von Denken und Sein im Sinne 
des subjectiven Idealismus oder im Sinne des transcendentalen Realis- 
mus fasst. Ist nämlich Vaihinger's subjectivistisches Dogma richtig, 
,,dass es unserm Denken gar nicht möglich ist, zur Realität zu 
gelangen'' (55), oder „das eigentlich seiende, supponirte Object 
faetuuszuschälen'' (56), dann giebt es keine andere Realität mehr 
ftlr uns als die empirische, kein anderes Sein mehr als das der 
sabjectiven Erscheinung, dann ist „Sein = Vorgestelltwerden'' oder 
Sein und Denken sind unmittelbar identisch. Ist dagegen 
das subjectivistische Dogma unhaltbar, sind „Erscheinung und We- 
sen", j/Vorstellungsobject und Ding an sich", nicht bloss subjective 
Kategorien, sondern Begriffe von objectiver Gültigkeit und trans- 
eendenter Wahrheit, dann und nur unter dieser transcendental-reali- 
stischen Voraussetzung — „sind diese beiden parallelen Reihen in 
der Welt der Dinge an sich identisch" (118). Die erstere 

5* 



gg A. Neukantianismus. 

Auffassung würde den absoluten Illusionismns inauguriren^ wie die 
letztere den transcendentalen Sealismus installirt; indem Vaihinger 
die letztere flir „höchstwahrscheinlicli" erklärt, erkennt er mittelbar 
zugleich den transcendentalen Realismus als höchstwahrscheinlich 
an, widerruft also seinen negativ-dogmatischen Subjectivismus ebenso 
wie seinen Skepticismus, und tritt auf den von mir vertretenen und 
von ihm so hartnäckig bekämpften Standpunkt hinüber. £r be- 
hauptet nun weder mit dem Materialismus, dass der mechanische 
Process der Materie den Geistesftinctionen zu Grunde liege, noch 
mit dem subjectiven Idealismus, dass die subjective Geistesfunction 
der Erscheinung der Materie zu Grunde liege, sondern er statuirt 
mit dem transcendentalen Realismus „ein unbekanntes Drittes, das 
eben sowohl den materiellen wie den geistigen Erscheinungen zugleich 
zu Grunde liegt" (22). 

Indem er diese Anschauungsweise ausdrücklich als diejenige 
des Kriticismus hervorhebt (22), erkennt er an, dass mein Stand- 
punkt Eriticismus sei, und sein Skepticismus es nicht sei; indem 
er „Geistiges und Materielles als verschiedene Erscheinungsweisen 
eines und desselben Dritten fasst" (124), giebt er zu, dass 
beide nur der Erscheinung nach verschieden, dem Wesen nach aber 
identisch seien (vgl, S. 118 Z. 13 — 5 von unten) und dass Schelling 
mit seiner zu Spinoza zurückkehrenden und „Kant mit Spinoza 
verbindenden" Identitätsphilosophie auf dem richtigen Wege war, — 
nur dass er „Lange" statt „Schelling" sagt (124). Ist es aber 
„höchstwahrscheinlich", dass wir mit diesem identischen Wesen der 
äussern und Innern Erscheinung, des Daseins und Bewusstseins, das 
wahrhaft Seiende ergriffen haben, welches die transcendente Ursache 
nach der subjectiven wie nach der objectiven Seite auch ftlr die 
Entstehung unserer Wahrnehmungen bildet, so sind wir ja mitten 
drin in der positiven Speculation, welche selbst als bloss, „wahr- 
scheinliche" von Vaihinger perhorrescirt wurde. Ist dies Kriticis- 
mus, so ist eben auch der Skepticismus kein Kriticismus, und es 
fragt sich nur, ob wir beim ersten Schritte stehen bleiben dürfen. 

Soll das „unbekannte Dritte" den materiellen mechanischen 
Vorgängen wie den psychischen Functionen, und zwar den ersteren 
als transcendente Ursache im objectiven Sinne, den letzteren als 
transcendente Ursache im subjectiven Sinne, „zu Grunde liegen", so 
muss es nothwendig von derjenigen Beschaffenheit sein, dass. es so 



Lange- Vaihingers^s subjecttvistische]^ SkepticismuS. 6d 

verschiedenartige Wirkungen erzielen kann, dass es z. B. dem mein 
Gehirn secirenden Anatomen als mechanischer Nervenprocess, mir 
aber als Empfindung erscheinen kann. Nun erscheint es aber mir u n- 
mittelbar, dem Anatomen dagegen nur mittelbar, nämlich vermittelt 
durch die Vorstellungen, welche sein Gehirnwesen auf Grund der von 
dem meinigen empfangenen Affection producirt. Dies lässt schon ver- 
muthen, dass die innere Erscheinung der Empfindung dem Wesen näher 
steht als diejenige subjective Erscheinung, welche wir äussere nennen ; 
die Empfindung berührt so zu sagen unmittelbar das empfindende 
Wesen, die Wahrnehmung aber steht nur in mittelbarem Gonnex 
mit dem wahrgenonmienen Wesen. Hieraus lässt sich zweierlei 
entnehmen : erstens dass das Wesen mit der psychischen Erscheinung 
enger verwandt sein wird, als mit dem „mechanischen Vorgang^', 
und zweitens, dass wir auch das Mittelglied nicht vernachlässigen 
dürfen, durch welches z. B. mein Gehirnwesen mit der Vorstellung 
des Anatomen von meinem Gehirn verbunden wird, nämlich die 
transcendente Gausalität, mit welcher mein Gehirnwesen auf das 
Gehimwesen des dasselbe secirenden Anatomen afficirend einwirkt. 
Dieses Mittelglied wird von der idealistischen Schule ebenso ver- 
nachlässigt, wie es übersehen wird, dass das „unbekannte Dritte" 
mit der psychischen Function in einer engeren Verwandtschaft steht 
als mit dem mechanischen Vorgang. 

Die Summe der Mittelglieder nun, durch welche mein Gehim- 
wesen mit dem Bewusstsein aller möglichen Beobachter in Beziehung 
tritt, die Summe aller transcendent-causalen Einwirkungen, welche 
es sowohl auf die Sinne der Beobachter als auf alle übrigen Wesen 
im Universum übt, nenne ich seine objective Erscheinung. Erschei- 
nung nenne ich sie, weil in ihr erst das Wesen aus seinem An- 
sichsein heraustritt, also sich manifestirt; objective Erscheinung 
aber nenne ich sie im Gegensatz zu den subjectiven Erscheinungen, 
welche die Gehimwesen anderer Beobachter produciren, wenn sie 
Ton diesen Einwirkungen afficirt werden. Was also durch die sub- 
jective Erscheinung im Bewusstsein nachgebildet oder repräsentirt 
^rd, ist nicht sowohl das Wesen als solches, welches ja unräumlich 
und unzeitlich in Ruhe verharrt, sondern die Summe seiner Mani- 
festationen, oder wie ich es nenne, die objective Erscheinung. Darum 
ist die objective Erscheinung das transcendente Correlat des Wahr- 
nehmungsobjectes, oder das Ding an sich; nicht aber gilt dies vom 



70 A- ^eukantianisiQi^ 

Wesen selbst, welches in ruhender Einheit ^Is Substmiz verbarrty 
während es in einer Vielheit von objectiven Erscheinungen skok 
manifestirt. *) 

Die objeetive Erscheinung ist Erscheinung dei^ Wesens, aiiich 
wenn kein wahrnehmendes Subject vorhanden ist, welches durch 
sie afficirt und zur Production einer subjcctiven Erscheinung angeregt 
wird;. sie ist ^chon dadurch Erscheinung des Wesens, dass sie aujT 
andere objeetive Erscheinungen einwirkt, auch w^nn dieselben ein^r 
Subjectivität entbehren sollten. Wesen und objeetive Erscheinung 
verhalten sich genau wie Kraft und Kraftäusserung; die ü^raft 
äussert sich, oder gelangt zur Erscheinung, sobald andere ]^räfle 
da sind, mit deren Aeusserungen sie coUidiren kann, gleichviel ol^ 
Jemand da ist, der dieses objeetive Spiel der an einander zur Er- 
scheinung kommenden Kräfte subjectiv wahrnimmt oder nicht. AI3 
eines, absolutes Subject genommen, erschieint das Wesen dadurch, 
dass seine Totalfunction sich in sich in eine Sumpie von Partial- 
functionen gliedert, welche mit einander in GoUision sind. Es er- 
scheinen also die. Partialfunctionen des absoluten Wesens im objec- 
tiven Sinne aiii einander, ohne dass sie deshalb auch schon dew 
Wesen als solchen im subjcctiven Sinne erschienen.. 

Dies alles h^t Vaihinger gar nicht verbanden (37) ; er verdreht 
meinen Ausdruck „objeetive Erscheinung^' hartnäckig in den yöUi^ 
widersUinigen Ausdruck : „objectiver Schein", und wundert sich ^sum 
über den Widerann, den er mir aufgebtlrdet (225). Schein i^t ein^. 
Erscheinung, welche Erscheinung eines Wesens nur zu sein scheint, 
ohne es wirklich zu sein ; der Schein kann also seinem Begriff nach 
niemals objectiv sein, sondern nur aus dem Subject stammei). Er- 
ßcljieinung dagegen ist das Heraustreten des Wesens aus der reiben 
Wesenheit in'a Werden, aus dem Uebersein ip. das wirkliche Sein, 
oder a^s dem metaphysischen Sein in's Daj^eiQ, also ein völlig objec- 
tiver Vorgang. Jepseits der olyectiven Erscheinung ist kein reales 
Dasein mehr (wie Vaihinger mir ixi:thümlich unterstellt [40]), sondern 
nur Uebersein oder Wesen; die Wirklichkeit liegt nur im Wirken, 
df b. im objectiven Erscheinen. Bealität und Phänomenalität im. 



*) Es ist also ein Irrthum Yaüunger^s, wenn er mir hinter der subjectiven 
und objectiven Erscheinungsreihe noch eine dritte Beihe, „eine wahre Wesens- 
reihe im metaphyjsischen $ein" zuschreibt (36). 



Lange- Vaihinger^i sabjecüvtstischer Skepticismas. 71 

ob)ectiven Sinne sind daher stricte Wechselbegriffe, und Vaihinger's 
Düftehi und Deuteln an der Realität meines transcendentalen Realis- 
mus (33, 39—40) ist ebenso verkehrt wie sein mir octroyirter Muster- 
begriff des ,,objectiYen Scheins^'. 



8* Ber Kritielsmus als Philosophie des Unhewussten und Psyehismus. 

Sagt nun Vaihinger wirklich gar nichts ans über das Wesen? 
Ist es ihm ein völlig unbekanntes? Doch wohl nicht, denn er nennt 
es ja das „unbekannte D ritte''. Ein Drittes wäre es aber nicht, 
wenn es mit dem Ersten oder Zweiten identisch wäre. Der Kriti- 
cismus fiele in Materialismus zurttck, wenn er das Dritte selbst als 
materiell setzte; er fiele in anthropomorpbischen Spiritualismus 
zurück, wenn er es als bewnsst setzte. Wenn Materie und Bewusst- 
sein Erscheinungen des Dritten sein sollen, so muss das Dritte, 
sofern es noch nicht als Erscheinung, sondern als Wesen genommen 
wird, ein immaterielles Unbewusstes sein, oder der Kriticis- 
mus mnss einerseits Immaterialismus, andrerseits Philosophie des 
Unbewussten sein. Dieses Resultat liegt in Vaihinger's Worten, ich 
Ißge es nicht hinein. Vaihinger kommt also genau auf meinen 
Standpunkt heraus, den er aus baarem Missverständniss bekämpft. 
Die Philosophie des Unbewussten ist die höhere Synthese des Ma- 
terialismus und anthropomorphischen Spiritualismus. 

Dass mir das Unbewusste als Wesen immateriell ist, giebt 
Vaihinger keinen Grund, meinen Staudpunkt als Spiritismus zu ver- 
höhnen (85), da er mit dem seinigen in dieser Hinsicht identisch ist 
Weit mehr Grund hätte ich, ihn als Spiritisten zu denunciren ; denn 
er leugnet ja die reale Materie und lässt nur einen subjectiven 
Schein derselben gelten, behauptet also, dass der geistige Process 
ohne das Correlat eines realen materiellen Processes vor sich gehe. 
Nach meiner Ansicht kann das Unbewusste gar nicht actuell sein, 
ohne sich eo ipso reell zu materialisiren und kann das individuelle 
Bewusstsein nur resultiren aus einem realen materiellen Organismus 
und dessen mechanischen Processen ; nach Vaihinger dagegen besteht 
die Welt aus einer Anzahl von individuellen Bewusstseinen mit 
unbewusst psychischen Hintergründen, aus denen unter anderm für 
jedes der Bewusstseine auch der Schein eines materiellen Processes 
ausstrahlt Nach mir verkehren die verschiedenen Bewusstseine 



72 A. Keukantianisinaö. 

durch die Yermittelnng der transcendenten Causalität einer einzigen, 
flir alle gemeinsamen, objectiv-realen, materiellen Welt; nach Vai- 
hinger sind alle Vorstellungen der Bewusstseine über solche trans- 
cendente Vermittelang untereinander nur snbjectiver Schein ohne 
objective Wahrheit, und es kann demnach unter den verschiedenen 
Bewusstseinen nur entweder gar keine, oder eine mystisch-magische 
directe Beziehung bestehen. Ich dächte doch, das wäre Spiritismus 
von der klobigsten Sorte, während mein Standpunkt dem SpiritismuSi 
d. h. dem Glauben an die Existenz reiner Geister, oder körperloser 
Bewusstseinsindiyiduen, so fem wie möglich steht. Es ist dabei 
ganz einflusslos, wenn Vaihinger sich zu einer „Psychologie ohne 
Seele^' bekennt (119); denn mag man über den substantiellen Träger 
der psychischen Functionen denken wie man wolle, so kann doch 
kein Mensch bestreiten, dass das Leben eines individuellen Bewnsst- 
seins ein bewusster Individualgeist genannt werden darf und muss. 
So wenig es der Frage, was ein geistiges Individuum seinem 
Wesen nach sei, präjudicirt, wenn wir die Summe der bewussten 
psychischen Functionen, die zu einem Bewusstsein gehören, anter 
dem GoUectivnamen Geist zusammenfassen, so wenig greift es der 
metaphysischen Untersuchung des Problems, was die Seele sei, vor, 
wenn wir die Summe der unbewussten psychischen Functionen, 
welche den Hintergrund eines Bewusstseins bilden, unter dem Gol- 
lectivnamen der unbewussten Psyche vereinigen. Vaihinger erkennt 
an, dass unser Bewusstseinsinhalt durchweg aus unbewussten psy- 
chischen Processen resultirt, die sich nach bestimmten Gesetzen voll- 
ziehen (so z. B. ftir den Raum S. 59 — 60); er erkennt damit an, 
dass die Summe dieser unbevmssten psychischen Processe einerseits 
den bewussten psychischen Functionen und andrerseits der äusseren 
materiellen Erscheinungsreihe zu Grunde liegt. Das beiden Reihen 
„zu Grunde Liegende" aber ist ja das gesuchte „unbekannte Dritte", 
und es passen beide für letzteres ermittelten Merkmale : die Lnmate- 
rialität und die Unbewusstheit, vollkommen auf diese unbewussten 
psychischen Processe. Vaihinger wird also nicht umhin können, die 
Identität der unbevmssten Pi^che mit dem „unbekannten Dritten" 
einzuräumen, d. h. zuzugestehen, dass der Eriticismus eo ipso Psy- 
ch i s m u s ist, was ich immer behauptet habe, und was er bei mir 
so hartnäckig bekämpft. 



Lange-Vaihmger^s subjectivistisclier Skepticismas. 73 

Die nnbewassten psychischen Functionen müssen, nm sowohl 
die äussere als die innere Erscheinung hervorbringen zu können, 
dasjenige sein oder besitzen, was in beiden sich offenbart, nämlich 
einerseits Activität, Energie, Kraft oder Wille und andrerseits reprä- 
sentative Anticipation eines noch nicht Seienden, oder ideelle Prä- 
determiuation des Werdenden, oder Vorstellung. Mit diesen beiden 
Attributen ausgerüstet, sind sie mit allem versehen, um hier die 
gesetzmässige Veränderung der Ortsbeziehung von Atomen, dort die 
höchsten Leistungen des Heroen oder des Genies hervorzubringen. 
Der Umstand, dass diese unbewussten psychischen Functionen den 
bewussten psychischen Functionen näher verwandt zu sein scheinen 
als den materiellen Vorgängen, muss uns als Bestätigung ihrer 
Identificirung mit dem „unbekannten Dritten^^ dienen, da wir oben 
sehen, dass wir dieses Merkmal von dem letzteren erwarten mussten« 

Allerdings bleibt vorläufig der Unterschied zwischen Vaihinger 
und mir bestehen, dass sein Psychismus individualistisch und sub- 
jectivistisch, der meinige universalistisch und absolut ist; dieser 
Unterschied entspringt daraus, dass nach Vaihinger die Materie als 
snbjectiver Schein für jedes Bewusstsein besonders von seiner un- 
bewussten Psyche producirt wird, während nach mir die Materie 
als objective Erscheinung für alle Bewusstseine gemeinsam von der 
Panpsyche producirt wird. Wenn Vaihinger aber consequenterweise 
gezwungen sein sollte, vom subjectiven Idealismus zum transcen- 
dentalen Realismus, und damit von der Auffassung der Materie als 
subjectivem Schein zu derjenigen als objectiver Erscheinung fort- 
zuschreiten, so ergiebt sich der Fortgang vom individualistischen 
Psychismus zum Panpsychismus von selbst 



9. Die Realität der Oattung. 

Dass Vaihinger wirklich zu diesem Fortgang gezwungen ist, 
ist schon durch die ganze Erörterung über das „höchstwahrschein- 
liche^^ unbekannte Dritte erwiesen; denn diese ganze Annahme ist, 
wie gezeigt, nur unter der Voraussetzung des transcendentalen 
Realismus zulässig, beim Festhalten am subjectiven Idealismus oder 
am Skepticismus dagegen unmöglich. Aber der Nachweis, dass 
Vaihinger im Grunde seines Herzens ebenso gut wie ich transcen- 
dentaler Realist ist, ruht nicht etwa bloss auf diesem einen Argument, 



74 •^« KeokantianisxnuB. 

dass das unbekannte Dritte etwas Transcendentes und doch kein 
negativer Grenzbegriflf ist, sondern eine ganz positive Hypothese zur 
„Erkläiung" der gesammten Wirklichkeit (inneren uijd äusseren Er- 
scheinung). Noch viel weiter im transcendentalen Realismus geht, 
sein Zugeständniss, dass der Philosophirende doch nur ein einzelnem 
Exemplar der Gattung Mensch sei, von der es neben und ausser 
ihm (also nicht bloss in seinem Bewusstsein) noch viele andere 
Exemplare gebe. Dieses Zugeständniss ist enthalten erstens in der 
Erklärung, dass die sogenannte Wirklichkeit, d. h. die äussere Welt 
der Erscheinung, zwar nur subjectiver Schein, aber doch nicht bloss 
ein individueller, sondern ein genereller Schein, eine Erscheinung 
für die Gattung, ein idoltcm tribus sei (25), und zweitens in der 
geschichtsphilosophischen Behauptung, „dass ein Bückschritt der 
Gultur immer dann vorhanden ist, wenn der Egoismus und der 
atomistische Individualismus über den Gemeinsinn siegt,^^ dass 
also der eigentliche Strom des Fortschrittes, auch für die Gegenwart,, 
„allein in der Richtung des Gemeinsinnes liege" (188). 

Soll Gemeinsinn möglich sein, so muss er sich auf andere Indi- 
viduen derselben Gattung beziehen, und Wechselwirkung zwischen 
denselben möglich sein; soll die subjective Erscheinungswelt nieht , 
bloss ein individueller, sondern ein genereller Schein für die 
ganze Gattung Mensch sein, so muss die Gattung mehr Individuen 
als das eine umfassen, welches grade philosophirt. Diese Individuen 
sollen zwar als materielle Erscheinungen blosser Schein (obscbon 
genereller Schein) sein, aber als geistige Individuen sollen sie eine 
Existenz an und für sich haben, die nicht bedingt ist davon, ob sie 
von einem andern Individuum ihrer Gattung vorgestellt werden, und 
doch soll diese Existenz von mir vorgestellt werden können, denn 
sonst könnte ich ja nicht behaupten, Exemplar einer Gattung zu 
sein. Mit anderen Worten: die übrigen Individuen meiner Gattung 
sind etwas ausserhalb der Sphäre meines Bewusstseins Belegenes, 
nicht meinem Bewusstsein Immanentes, also für mich erkenntniss- 
theoretisch Transcendentes oder Transsubjectives, d. h. Dinge an 
sich. Gleichwohl wird ihre Erkennbarkeit behauptet; es wird von 
denselben erstens die Existenz, zweitens die Vielheit und drittens 
ihre positive Beschaffenheit als Exemplare der Gattung Menseh 
ausgesagt, und dies alles in transcendentaler Bedeutung, d. h. mit 
dem Anspruch auf transcendente Gültigkeit und Wahrheit. 



Lange-Yaihiiigei:*s subjectivistls^her Skeptidsmus. 7^ 

Das ganze geistige Individuum meines Freundes in seiner To- 
talität ist ftir mich das Ding an sich oder positive X. Ich unter- 
achelde aber an demselben nach Analogie meiner selbst drei Sphären : 
erstens die. Sphäre seines Bewusstseins^ welche sowohl die bewusst- 
psychiscben Functionen als seine subjective Erscheinungswelt umfasst^ 
2;weiteiis die Sphäre seiner unbewussten psychischen Functionen, und 
drittens den Träger aller dieser bewussten und unbewussten Functionen, 
dai^enigC; was Vaihinger in sich selbst als das dem X des Dinges 
an sich subjectiv correspondirende Y, oder mit Lange als die phy- 
sisch-psychische Organisation bezeichnet (57). So wird das, was 
mir an mir Y ist, meinem Freunde zum X ; wenn aber dem letzteren 
dieses X etwas Positives ist, so kann mir das Y auch nicht mehr 
bloss ein negativer Grenzbegriflf sein. Wenn meine Vorstellung von 
der geistigen Persönlichkeit meines Freundes eine transsubjective 
BedeiMiung, eine transcendente Wahrheit hat, so ist eben die Behaup- 
tung Yaihinger'S; dass wir unseren Vorstellungen unter keiner 
Bedingung eine transsubjective Bedeutung beimessen dürfen, 
weil wir ja aus der Sphäre der Subjectivität auf keine Weise 
lubpL^usköimen, thatsächlich aufgegeben und desavouirt (56), und ftlr 
das gesiammte Gebiet der Erkenntniss menschlicher geistiger 
Persönlichkeiten der transcendentale Bealismus in optima forma 
iostallu^ 

Will er dies nicht, so darf er auch nicht von generellem Schein 
reden, sondern muss dabei stehen bleiben, dass die Welt ein rein 
individueller Schein ist, in welchem ja inunerhin neben so vielen 
anderen Illusionen auch die Illusion ihren Platz finden mag, dass es 
andeiie Menschen neben uns gebe, welche den gleichen Gesetzen 
der Ypi:stellungsproduction unterworfen sind. Es bleibt ja dem 
Skepticismus auch in meiner Philosophie eingeräumt, dass dieser 
SJ;andpunkt des Solipsismus, den selbst Schopenhauer, der subjective 
Idealist, in's ToUhaus verwies, möglich sei ; ich verlange nur von 
Vaihinger das Zugeständniss, dass er höchstunwahrscheinlich sei; 
und dass dagegen die reale Existenz anderer Menschen nicht bloss 
eine, schätzbare und praktisch werthvoUe Dichtung meiner Phantasie, 
sondern aus dem Gesichtspunkt des Kriticismus höchst- 
wskhrscheinlich sei 

Gißbt er das zu, so giebt er den transcendentalen Bealismus 
in seinem ganzen Umfang zu, wie ich sogleich zeigen werde; 



76 A. Neukantianismus. 

giebt er das nicht zu, so zerreisst er den letzten dttnnen Faden, 
der seinen Skepticismus mit der Vernunft verbindet. 

Da die Zahl der Menschen auf der Erde auf 1300 Millionen 
geschätzt wird, so haben wir mit der Anerkennung der Existenz 
der lebenden Mitmenschen schon eine so erkleckliche Anzahl posi- 
tiver Dinge an sich, dass wir die Zahl der Gestorbenen nicht erst 
heranzuziehen brauchen. Ob 1300 Millionen oder Quadrillionen 
„Dinge an sich" zugestanden werden, ist am Ende für die Wahrheit 
des transcendentalen Realismus gleichgtlltig ; die transcendentale 
Gültigkeit der Kategorien der Realität und Vielheit sind daniit 
ohnehin schon anerkannt. 

Aber es scheint logisch unzulässig, den Buschmann als positives 
Ding an sich anzuerkennen, und dem Gorilla diese Ehre zu ver- 
weigern, — das neugeborne Kind als etwas Ansichseiendes zu 
achten, und den Fötus als blossen negativen GrenzbegriflF für die 
Vorstellungen eines Fötus gelten zu lassen, welche die Schwangere 
oder ihr Hausarzt von demselben haben. Freilich der materielle 
Organismus des Gorilla kann keine höheren Ansprüche erheben als 
der des Buschmann; beide sollen also vorläufig nur als subjectiver 
Schein in Bewusstseinen existiren. Aber wenn der Buschmann als 
geistiges Individuum und als individuelle unbewusste Psyche eine 
von jedem Vorgestelltwerden unabhängige Existenz hat, wie sollte 
dasselbe nicht auch von dem Goiilla behauptet werden müssen? 
Und wenn der Säugling trotz seiner geringen Entfaltung bewusster 
psychischer Functionen doch schon wegen seiner unbewussten Psyche 
als Persönlichkeit anerkannt wird, wie dürfte man dem Fötus, bei 
dem die bewussten psychischen Functionen auf ein Minimum zu- 
sammenschrumpfen, die gleiche Anerkennung versagen? Wenn der 
blinde Bettler seinen letzten treuen Freund und Helfer, seinen Hand, 
nicht mehr als positives Ding an sich achten soll, wie soll er es 
dann gegenüber dem Fremden, der als subjective Erscheinung bei 
ihm vorbei geht, ohne sich seiner Noth zu erbarmen? 

Soll es nur eine real existirende Gattung in der Welt geben, 
den Menschen, und alle andern Gattungen mit allen den von ihnen 
umfassten Individuen nur subjectiver Schein für jene erstere sein? 
Vaihinger steht hier vor der Entscheidung über die transcendentale 
Realität des Thierreichs: verneint er dieselbe, so behauptet er zwi- 
schen Mensch und Thier eine vollständige Heterogenität, wie sie 



Lange-Yaihinger's subjectivistiBcher Skepticismas. 77 

zwischen Sein nnd Schein besteht, and schlaf allen Anschauungen 
der modernen Naturwissenschaft, der Descendenztheorie und der 
yergleichenden Psychologie in's Gesicht; bejaht er dieselbe, so voll- 
zieht er damit den grossen Schritt von Fichte's Wissenschaftslehre 
zu Schelling's Naturphilosophie, und erkennt die Wahrheit des 
transcendentalen Bealismus ftlr die gesammte beseelte und belebte 
Natur an. Denn wenn die höheren Thiere positive Dinge an sich 
sind, so sind es auch die niederen; eine feste Grenze ist in der 
Natur nicht zu ziehen, und die Protisten und Pflanzen fallen mit 
unter den Gesichtspunkt einer unbewussten Psyche, die (wie beim 
Fötus) in höherem oder geringerem Maasse bewusster psychischer 
Actionen fähig ist. 



10. Die Wechselwirkung zwischen geistigen IndiTiduen« 

Mit alledem wäre aber nichts weniger als dem Kriticismus 
Genüge geschehen; ein transcendentaler Bealismus, zu dem man 
sich nur deshalb bekennte, um sich nicht ftir übergeschnappt halten 
za müssen, wäre doch ein blosser Dogmatismus. Der Ejriticismus 
verlangt zu wissen, wie ich dazu komme, zu den verschiedenen 
Yorstellungsobjecten von Menschen, Affen, Hunden u. s. w., welche 
sich in der von mir producirten subjectiven Erscheinungswelt vor- 
finden, transcendente Correlate zu supponiren, welche als real exi- 
stirende Menschen, Affen, Hunde u. s. w. wirklich die Summe 
geistiger und psychischer Eigenschaften besitzen, welche ich ihnen 
transcendental zuschreibe. 

Diese Uebereinstimmung zwischen meinen Vorstellungen und 
den transcendenten Correlaten ist nun entweder eine von innen oder 
eine von aussen bestimmte und hervorgebrachte. Im ersteren Fall 
gehört die Wechselwirkung zwischen verschiedenen Individuen zum 
subjectiven Schein, dem keine transcendente Bealität entspricht, 
während sie im letzteren Falle subjective Erscheinung einer trans- 
cendenten Wechselwirkung der realen Individuen ist. Im ersteren 
Fall würde also die Uebereinstimmung zwischen meiner Vorstellung 
von der geistigen Persönlichkeit meines Freundes und dieser selbst, 
sowie die Uebereinstimmung zwischen den Veränderungen in den 
subjectiven Erscheinungswelten mehrerer Zeugen desselben realen 
Vorgangs nur Folgen einer prästabilirten Harmonie sein, im letzteren 



78 A. Neukantianismciö. 

Falle dagegen Folgen einer tränscendenten Gansalität. G^gen die 
prästabilirte Harmonie'^) habe ich hier nur das eine zu bemerken, 
dass, wenn dieselbe bestände, die Existenz der von mir Torge- 
stellten Individuen auf mich und meinen Vorstellungsablanf ohne 
jeden Einfluss wäre, und mich nicht anders dastehen Hesse als im 
Solipsismus. Wäre selbst die prästabilirte Harmonie wahr, so wäre sie 
uns doch unerkennbar, und wir müssten auch dann beim Solipsismus, 
als der strengeren Form des subjectiven Idealismus stehen bleiben. 
Deshalb giebt es nur in dem einzigen Falle eine Möglichkeit zur 
üeberwindung des reinen Subjectivismus, das ist, wenn unsi'e Vor- 
stellung von der Wechselwirkung der Individuen ein subjectives 
Abbild einer realen transcendenten Wechselwirkung zwischen den- 
selben ist 

Wenn z ß. Vaihinger meine Schriften liest und ich die seinigen, 
so sind wir durch unsre Organisation genöthigt, anzunehmen, dass 
sich dabei eine Wechselwirkung zwischen unseren Geistern vollzieht 
Wäre aber diese Vorstellung bloss subjectiver Schein, so rnttssfe 
meine Vorstellung von der philosophischen Leistung Väihingert 
ohne jede directe oder indirecte Relation zwischen uns zu Staude 
gekommen sein, etwa wie ich mir im Traume einbilde, einen philo- 
sophischen Einwurf von ihm zu hören. Dann ist es aber iür mich völlig 
indiflferent, ob eine Persönlichkeit „Vaihinger" wirklich existirt oder 
nicht, und ob dieselbe auf gleiche Weise meiüe Gedanken produoirt, 
ohne von mir thatsächlich beeinflusst zu sein. Wir gehen datm 
jeder unsern Weg, ohne des andern zu bedürfen, da jeder selbst- 
ständig die Gedanken des Andern in sich und aus sich prodncirt; 
wir sind also ein Jeder genau so gestellt, als ob Jeder von ans nur 
allein existirte, und sind deshalb auch ausser Stande, aus unseren 
Vorstellungen über einander darauf zu schliessen, ob der andre nun 
wirklich existirt oder nicht Das Gleiche würde aber für den Fall 
gelten, dass wir zwar eine transcendente Einwirkung auf einander 
üben, aber eine directe magisch-mystische Einwirkung von Seele zu 
Seele, welche sich unserm Bewusstsein gänzlich entzöge, tind mit 
der Art von Vermittelung, die unsre subjective Erscheinungswelt 



*) Dieser Begriff umfasst hier sowohl eine von Ewigkeit her prästabilirte 
Ordnung (Leibniz), als auch eine in jedem Augenblick erst von Gott heigeätellte 
(Malebranche und Berkeley). 



Lange-Vaihiiiger'B BubjectiTistischer Skepticismus. 79 

uns vorspiegelt (Schreiben und Lesen von Schriften), weder Aehn- 
lichkeit noch Beziehnng hätte. Auch in diesem Falle würde die 
vorgestellte Viörmittelung der Wechselwirkung ein wahrheitsloser 
subjectiver Schein sein, und da die reale transcendente Vermittelung 
uns völlig unbewusst bliebe, so würde auch in diesem Falle uns 
jede kritische Berechtigung fehlen, auf die Existenz des Andern zu 
Bchliessen. 

Es giebt also nur einen Fall, in welchem es nicht unkritisch 
ist, die Existenz anderer Personen zu behaupten, das ist der, wenn 
es kritisch gerechtfertigt ist, unsre Vorstellung von der zwischen 
den Personen bestehenden Wechselwirkung als subjectives AbbUd 
der zwischen ihnen wirklich bestehenden transcendenten Vermittelung 
anzusehen. Nun sind wir aber durch unsre geistige Organisation 
genöthigt, alle Wechselwirkung zwischen Personen als eine durch 
materielle mechanische Vorgänge vermittelte zu denken; wenn es 
also unkritisch ist, zu diesen materiellen Bindegliedern in unsrer 
snbjectiven Erscheinungswelt transcendente Correlate zu supponiren, 
so ist es auch unkritisch, die Existenz anderer Personen anzunehmen. 
Der Geist übt alle seine Wirkungen auf andere Geister durch den 
Körper; ist es nun unkritisch, zu meiner Vorstellung von Vaihinger's 
Körper ein entsprechendes positives Ding an sich und eine trans- 
cendente Causalität dieses Dinges an sich auf das Ding an sich 
meines Körpers zu supponiren, so ist es erst recht unkritisch, 
zu meiner Vorstellung von Vaihinger's geistiger Persönlichkeit ein 
entsprechendes positives Ding an sich und eine Einwirkung des- 
selben auf meine Gedanken anzunehmen. Diesen Fehler begeht 
aber Vaihinger; er will zwar an's andre Ufer gelangen, aber er 
bricht die einzige Brücke ab, die dahin führt, und sein transcenden- 
taler Bealismus ist deshalb ein dogmatischer, ein Bückfall in 
positives Dogma. 

Nun hindert ihn aber gar nichts daran, denselben mit einem 
Schlage zu einem kritisch-befestigten Besitz zu machen, als das 
Missverständniss meines Begriffs der objectiven Erscheinung, und 
die Einsicht, dass die absolut getrennten subjectiven Erscheinungs- 
welten verschiedener Bewusstseine nur durch die reale Existenz der 
einen, objectiven Erscheinungswelt mit einander correspondiren 
können, welche zugleich die Welt der Dinge an sich für alle unsere 
Verstellungsobjecte materieller Art ist. Metaphysisch gesprochen 



30 A. Neukantianismas. 

haben wir von den Protistenseelen nnd den Zellenseelen, die in den 
Pflanzen schon gruppenweise ein äusseres Individuum constituiren, 
zu jener einfachsten Gestalt hinabzusteigen^ in welcher die anbe- 
wusste Psyche im constituirenden Element der Materie, im Atom, 
sich darstellt. Das Ding an sich der subjectiven Erscheinung eines 
materiellen Dinges ist also eine Gruppe von Atomseelen, welche 
gesetzmässige räumliche Kraftäusserungen von sich giebt, und da- 
durch auch die unsem Organismus, speciell unsere Sinnesorgane 
constituirenden Gruppen von Atomseelen mit transcendenter Causa- 
lität afficirt. 

Ist meine subjective Erscheinung von dem Buche Yaihinger^s, 
dessen Leetüre mich zu dieser Auseinandersetzung veranlasst, blosser 
subjectiver Schein ohne ein mich afficirendes Ding an sich dahinter, 
dann ist auch meine ganze Vorstellung von Yaihinger ein blosser 
subjectiver Schein ohne ein Ding an sich dahinter. Verlangt Vai- 
hinger, dass ich ihm seine eigne Existenz zugestehe, so muss er mir 
vorher die transcendente Realität des von mir gelesenen Exemplars 
seines Buches einräumen. .Der transcendentale Realismus in Bezug 
auf geistige Persönlichkeiten wird erst dadurch dem Dogmatismus 
entrückt, dass seine Wahrheit auch für materielle Dinge anerkannt 
wird. An dieser letzteren Anerkennung aber wird derjenige durch 
nichts mehr gehindert, der mit dem unbegründeten negativen Dogma 
von der „bloss" subjectiven Gültigkeit der Anschauungs- und 
Denkformen doch einmal gebrochen hat, indem er die Kategorien 
auf transcendente Individuen seiner Gattung anwendet 

Auf halbem Wege stehen zu bleiben, nachdem man mit den 
Principien gebrochen hat, ist unmöglich; man muss entweder wieder 
umkehren (d. h. zum Solipsismus zurückgehen) oder vorwärts 
schreiten (zur allgemeinen Gültigkeit des transcendentalen Realismus, 
die erst dadurch eine kritisch begründete wird). Der subjective 
Idealismus wie der Skepticismus haben sich somit in jeder Hinsicht 
als erkenntnisstheoretisehe Durchgangsstufen erwiesen, bei 
denen sich zu beruhigen nur der Inconsequenz oder dem energie- 
losen Denken möglich ist; die consequente logische Penetration 
führt überall über diese Halbheiten und schiefen Einseitigkeiten hinaus 
und findet ihren endgültigen Abschluss allein im transcendentalen 
Realismus, der eben damit als das erkenntnisstheoretische Resultat 



Lange-Yaihinger's subjectivistischer Skepticismos. 81 

des Kriticismus sich enthüllt. Nicht unsre Organisation ist eine 
widerspruchsvolle, sondern die Standpunkte des subjectiven Idealis- 
mas und Skepticismus beruhen auf verkehrten, in sich widerspruchs- 
vollen Voraussetzungen, und nur darum verstrickt sich eine aus 
diesen Gesichtspunkten construirte Weltanschauung in lauter Wider- 
sprüche, die im transcendentalen Bealismus und seinem widerspruchs- 
losen Weltbilde verschwinden. 

Die Hinneigung Fichte's, Schelling's und HegeFs zur dialectischen 
Methode, d. h. zu dem Versuch, die Widersprüche zwar anzuerken- 
nen, aber logisch zu überwinden, war vielleicht mitbedingt durch 
ihre erkenntnisstheoretische Unklarheit (ihr nominelles Festhängen 
am erkenntnisstheoretischen Idealismus, den sie thatsächlich durch 
ihre Metaphysik längst überwunden hatten); es spricht wenigstens 
das dafür, dass Schelling in seiner letzten Periode, als er sich offen 
und entschieden vom transcendentalen Idealismus lossagte, auch der 
dialectischen Methode den Bücken kehrte. Sollte es Vaihinger's 
Skepticismus gelingen, für seine Lehre von der durchweg wider- 
spruchsvollen Beschaffenheit unsrer Organisation und des aus ihr 
her^^orgehenden Weltbildes Anhänger zu gewinnen, so würde dies 
geschichtlich nichts weiter als eine Vorbereitung für einen neuen 
Aufischwung der Hegerschen Dialectik darstellen; denn auch das 
ist eine Nothwendigkeit, die aus unsrer geistigen Organisation ent- 
springt, dass es uns unmöglich ist, uns beim Widerspruch zu be- 
ruhigen und dass wir nicht aufhören können, nach seiner Ueber- 
windung zu trachten. Sträubt sich der Eigensinn oder das Vorurtheil 
gegen die wahrhafte Beseitigung der vermeintlichen Widersprüche 
durch die Correctur der ihnen zu Grunde liegenden irrthümlichen 
erkenntnisstheoretischen Voraussetzungen, so klammert er sich an 
eine illusorische üeberwindung durch logische Synthesen, wie Hegers 
Dialectik sie lehrt. 



E. ▼. Uartmann, Erl&atenmgen. 2. Aufl 



82 A. NeukantianismuB. 



B. Die Philosophie als Dichtung. 

11. Per illusorisehe objeetife Idealismus« 

Es war einmal eine gastrosophische Gesellschaft, welche yon 
ihren Mitgliedern der Beihe nach mit auserlesenen Gastmählern 
bewirthet wurde. Eines Tages, als die Gesellschaft zur Tafel ver- 
sammelt war und der erwarteten Genüsse harrte, erhob sich der 
Gastgeber und sprach: „Meine Herren! Ich habe die Ehre, Dmen 
hiermit eine Auswahl der köstlichsten Speisezettel vorzulegen, aus 
denen jeder nach seinem Geschmack sich einen wählen möge.^ 
Die Gesellschaft war über eine solche ixoch nicht dagewesene Libe- 
ralität nicht wenig erstaunt, und Jeder wählte dasjenige Menn, 
welches seinem Geschmack am meisten zusagte. Darauf begann 
der Gastgeber von Neuem : „Nun, meine Herren, versenken Sie sich 
mit allen Kräften Ihrer Seele in die herrlichen gastrosophischen 
Menüs, welche Sie sich gewählt haben ! Durchkosten Sie die Lieb- 
lichkeit der angeftlhrten Speisen und Weine mit der ganzen Gluth 
Ihrer Phantasie, und schmecken Sie mit dem intensivsten Bewnsst- 
sein die ktlnstlerische Wahrheit in der ZusammensteUung Ihrer 
Menu's! So werden Sie allen den Fehlem entgehen, durch welche 
mangelhafte Bohstoffe oder ungeschickte Köche bisher stets unsere 
äcientifischen Intentionen durchkreuzt und verdorben haben, und 
werden zu einem völlig reinen, idealen Genuss gelangen. Nur davor 
möchte ich Sie schliesslich warnen, dass Sie nicht Ihre idealen 
Phantasieproducte mit gemeiner Wirklichkeit verwechseln^ and sich 
etwa einbilden, von denselben satt werden zu können. Das ist j 
der grosse Irrthum unseres bisherigen Strebens gewesen, dass wi: 
meinten, die Gastrosophie solle unsem Magen füllen; nein, mein^ 
Herren, ihre Aufgabe ist eine rein künstlerische und ideale, nn 
indem ich Ihnen heute diese grosse Wahrheit enthüllt habe, 
ich mich als den ersten wahren Gastrosophen und zugleich als d 
Gastrosophen der Zukunft bezeichnen zu dürfen!^ — Die Ansich 
der enttäuschten Gesellschaft waren beim Auseinandergehen getheilt 
nur über einen Punkt waren alle einig, dass diese Art, seiner 
geberpflicht zu genügen, eine sehr wohlfeile sei. 




Lange-Yailung^*s subjectivisÜBcher Skepticismus. g3 

Seit einigen tausend Jahren besteht ohne Statuten eine Gesell- 
schaft von q)iX6aoq)oi, d. h. solchen, die da hungern und dürsten 
nach der Erkenntniss der Wahrheit. Jeder setzt sich bei den An- 
dern zu Gaste; aber wem seine Mittel keine Bewirthung Anderer 
erlauben, dem erlässt mau sie gerne. Lange ist der erste, der 
deshalb als Philosoph gerühmt wird, weil er diejenigen, die an 
seinem Tische Sättigung ihres Wahrheitsdurstes suchen, auf die 
Quellen ihrer eignen dichterischen Phantasie verweist. In derThat 
ist diese Art, sich als Philosoph zu geriren, mindestens sehr wohl- 
feil, wenn man dem Hungernden statt des Brodes der Wahrheit 
den „Schatten" der Dichtung bietet. 

Hatte die Philosophie als Wissenschaft nach Lange die Aufgabe, 
die Unm^^glichkeit der Erkenntniss zu zeigen, so liess sie doch 
zugleich die aus unsrer geistigen Organisation entspringende ün- 
entbehrlichkeit der Philosophie als Speculation unangetastet 
(Vaihinger S. 105, 106). Wir sind also gezwungen, eine meta- 
physische Weltanschauung (ebenso gut wie eine Religion) wohl zu 
haben, trotzdem es uns kritisch unmöglich geworden ist, an dieselben 
zu glauben (23, 107, 193). Wir sollen zwar aus der Erkenntniss- 
theorie gelernt haben, dass alle speculative Philosophie nur Begriffs- 
diebtung, also als Philosophie genommen blosse Illusion sei; aber 
wir sollen uns der so bewusstge wordenen Illusion bei Leibe nicht 
entscblagen, sondern dieselbe als bewusste Illusion weiter conser- 
vireoi und cultiviren. Wir sollen uns stets gegenwärtig halten, dass 
es vergebliche Mühe ist, nach Wahrheit zu forschen (die uns selbst 
als Wahrscheinlichkeit unerreichbar bleibt) ; aber wir sollen trotzdem 
nicht aufhören, Systeme zu dichten, als ob sie Wahrheit wären. 
Ja sogar auf der bewussten Selbsttäuschung dieser Fictionen soU^i 
(wie bisher auf der vorausgesetzten Wahrheit der Metaphysik) die 
höchsten Güter der Menschheit, Beligion und Sittlichkeit, ruhen und 
sidi gründen. IXe bisher unbewusste Illusion sollen wir als „be- 
wusste Illusion" (18) als „eine Art bewusster Selbsttäuschung," 
wisseiilich d. h. als Lüge festhalten; diese Lüge sollen wir 
Mtseheln, und die edelsten Kräfte unseres Geistes auf ihre Aos- 
1)tiduDg und Ausscbmüekung verwenden; auf dem Fundament der 
so gehätschelten Lüge endlich sollen wir das Gebäude der Religion 
und Sittlichkeit errichten, das unser Verhalten zum Absoluten und 
zu den Mitmenschen bestimmt, die Lüge soll die Basis unseres ge- 



g4 A. NeukantianisinnB. 

sammten praktischen Yerbaltens, unsres höheren Trieb-^ Geftlhls- 
und Vorstellungs-Lebens bilden. 

Diese Zumuthungen sind nicht nur aberwitzig und absurdf 
sie sind auch tief unsittlich und verwerflich. — Als ich 
zum ersten Male diese Theorie in Lange's Gesch. d. Mat. entwickelt 
fand, brach ich unwillkürlich in ein helles herzliches Lachen aus 
über die objective Komik, welche in den hier zusammengehänften 
Absurditäten liegt. Die Harmlosigkeit dieses Lachens wurde durch 
keinen Gedanken an die Möglichkeit gestört, dass ein solcher Aber- 
witz Bewunderer, ja sogar Nachbeter und Nachtreter finden könne. 
Ich hielt eben diese toUhäuslerische Verlegenheitsausflucht eines 
edlen, an der Philosophie als Wissenschaft verzweifelnden Menschen 
ftlr ein curioses Unicum, das als solches völlig unschädlich sei. 
Aber ich hatte die Ansteckungskraft des Wahnsinns unter- 
schätzt, die ja unter begünstigenden Umständen sogar einen epi- 
demischen Charakter annehmen kann. Diese begünstigenden 
Umstände waren aber in dem Umsichgreifen des Neukantianismus 
einerseits und einer blasirten skeptischen Grundstimmung tinsrer 
studirenden Jugend andrerseits gegeben. 

Die Lange'sche Ausflucht bietet nämlich eine scheinbare Rücken- 
deckung gegen den Vorwurf, durch den theoretischen Skepticismns 
den praktischen Idealismus mit zu untergraben, und deshalb wird 
sie nicht nur von solchen acceptirt, die selbst noch ideale Bedür&isse 
haben, sondern auch von solchen, die sich nur dem Verdacht zu 
entziehen wünschen, als ob sie den praktischen Idealismus in Andern 
nicht mehr achteten. Durch diese Ansteckung aber wirkt der 
Lange'sche Aberwitz in dreifacher Hinsicht gemeinschädlich: erstei 
verdirbt er die Köpfe der Studirenden durch die autoritative Zu- 
muthung, eine Ausgeburt des an sich selbst verzweifelnden Denkens^^s 
als Kriticismus zu ehren; zweitens vergiftet er das religiö8€^^« 
und sittliche Bewusstsein durch die Gewöhnung an den Gedanken.. -*) 
Religion und Sittlichkeit auf die Lüge, d. h. auf bewussten Selbst — ^> 
betrug zu basiren, und drittens bereitet er den praktischen Materia — '— ^ 
lismus und blasirten Nihilismus vor, da die gesunde Vernunft sicl 
auf die Dauer doch nicht zum Narren haben lässt, sondern 
dem einmal befestigten Skepticismns über kurz oder lang doch dii 
unabweisliche Gonsequenz der Nichtigkeit der illusorische] 
Ideale zieht und praktisch zur Geltung bringt. 



Lange-Vaihinger^s subjectivistisclier Skepticismas. g5 

Diese Gemeinschädlichkeit allein ist es, welche mich 
bestimmt, eine Lehre ernsthaft zu kritisiren, die man füglich ihrer 
eigenen Absurdität sollte überlassen können. 



12« Die gesehiehtliehen Anlehnungspunkte. 

Lange schliesst sich auch in seinem objectiven Idealismus auf 
das Engste an Schopenhauer an. Er erkennt wie dieser in dem 
„metaphysischen Bedürfniss" des Menschen die unausrottbare Wurzel 
der philosophischen Speculation, setzt wie dieser Metaphysik, Reli- 
gion und Poesie in nahe Beziehung zu einander, und schwärmt wie 
dieser für einen platonischen Idealismus als die tiefsinnigste, schönste, 
edelste und praktisch werthvoUste Gestalt der Metaphysik (Vaihinger 
122). Aber während Schopenhauer sich in dem Irrthum befindet, 
als ob die Vereinigung des erkenntnisstheoretischen subjectiven 
Idealismus mit dem metaphysischen objectiven Idealismus möglich 
sei, hat Lange diesen Irrthum überwunden. Da er den subjectiven 
(Kant'schen) Idealismus als Wahrheit festhält, muss er den objectiven 
(Platonischen) Idealismus als Irrthum bezeichnen. Sein Verstand 
„erblickt in dieser Welt der Ideen nichts weiter als subjective Ge- 
staltungen ohne jeden Erkenntnisswerth'^ (104), aber sein Herz 
lässt es sich nicht nehmen, mit aller Begeisterung an diesen Träu- 
men der Phantasie, trotz ihrer „objectiven Werthlosigkeit" (106) zu 
hangen. Sein Herz spottet seines Verstandes und der von demselben 
vertretenen verschrobenen Schulmeinungen, und es hat Recht, das 
zu thun; sein Verstand spottet der „Privatweltanschauung" (122) 
seines Herzens, und er hat Unrecht, das zu thun, da er ein abstrac- 
ter und einseitiger Geselle ist, der sich in grosse Dummheiten ver- 
rannt hat 

Bei diesem Widerspruch zwischen Herz und Verstand sind nur 
zwei Fälle möglich : Entweder der Verstand hat Recht, dann ist der 
Einspruch des Herzens Resultat von Gefühlsdispositionen, die aus 
früheren Culturperioden rückständig sind, — dann ist auch deren 
^nzliche Beseitigung und Vernichtung durch die zersetzende Lauge 
des Verstandes nur eine Frage der Zeit. Oder aber das Herz 
hat Recht, dann hat 3S nur darum Recht, weil es mit der unbe- 
wnssten Vernunfi; des Instincts eine höhere Gestalt der Wahrheit 
ergriffen hat als der Verstand mit seiner abstracten discursiven 



86 A. Neukantiamsmus« 

Reflexion; — dann wird das Herz aber auch Hecht b^haltea nnd 
seine Ideale schliesslich auch vom Verstände als Wahrheit an- 
erkannt sehen. In beiden Fällen ist der Widerspruch zwischen 
Herz und Verstand nicht eine ewige Antinomie, die mit Nothwendig- 
keit aus unsrer geistigen Organisation folgt, sondern gährende Con- 
flicte eines Uebergangsstadiums, sei es, dass der Verstand 
von einer geschlossenen Weltanschauung zur andern durch eioseitige 
Zerrbilder hindurchgeht (wie dies bei Lange der Fall ist), sei eB, 
dass das Herz von den Idealen eines Culturzustandes zu den^ 
eines andern tibergeht, und der ihm um einen Posttag vorausgeeilte 
Verstand nun seine zersetzende Logik gegen die alten rückständigen 
Ideale richtet, ohne von den neu sich bildenden etwas zu wissen. 

Die Schüler Lange's, die wie Vaihinger an die Richtigkeit 
seiner negativen Erkenntnisstheorie glauben, haben die Wahl: ent- 
weder müssen sie anerkennen, dass das Herz mit seinen wiasei;!- 
schaftlich als Irrthümer verurtheilten Idealen Unrecht hat, und diQ 
Ausrottung der Dispositionen zu diesen wahrheitswidrigen Dichtungei^ 
durch die zersetzende Arbeit des Verstandes so sehr ajis möglich 
beschleunigt werden muss; oder sie müssen, wenn sie die Ideale 
des Herzens gelten lassen wollen, zugeben, dass ihr VerstaQd sich 
dann nothwendig auf dem Holzwege befindet, und dass der Verdacht 
gegen die Richtigkeit der Verstandesansicht zu doppelt sorgfaltigef 
Prüfung aller ihrer Voraussetzungen und Schlussfolgerungen auf- 
fordert. 

Die studirende Jugend schenkt leider dem discursiven Verstand 
ein viel zu grosses Vertrauen im Verhältniss zur unbewussten Ver- 
nunft, und wird deshalb ein abstracter Rationalismus, der einipal 
dazu gelangt ist, die Lange'sche Erkenntnisstheorie ftir richtig ^x\ 
halten, unzweifelhaft bei der völligen Zerstörung der Dispositionen 
zu den Oemüthsidealen enden. Ob der Beharrungswiderstand dieser 
Dispositionen dabei gross genug ist, um die zersetzenden Verstandes- 
einflüsse eines Menschenlebens zu überdauern, kommt dabei nicht 
in Betracht, denn culturgeschichtlich genommen ist es gleichgültig, 
ob die Lange'sche Lehre schon die erste, oder erst die zweite oder 
dritte Generation zum Nihilismus führt. Lange bekennt ganz offeq, 
welches der Grund sein könne, der einen Mann „von schs^iem 
Verstand und gediegener Bildung'^ dazu bringen könne, für seina 
Person z. B. an einer Religion festzuhalten, in welcher „des Unsinns 



Lange-Yaihinger^ sulyectivij9tijBchQr Skepticismus. gj 

kein Ende'' ist. Der Grand kann nur der sein, dass er ^^von Kind 
auf ein reiches Gemüthsleben geführt hat und mit tausend Wurzeln 
der Phantasie, des Herzens und der Erinnerung an geweihte 
schöne Stunden sich an den alten vertrauten Boden anklammert'' 
(Gesch. d. Mat. II. 555). Diese Erinnerung und Gewohnheit hat 
doch aber nur deshalb Macht über ihn, weil jene Stunden geweiht 
waren durch den noch unerschütterten Glauben an die Wahrheit 
jener Illusionen, und weil jene Weihe im kindlichen Gemüth erzeugt 
war durch die ehrliche üeberzeugungstreue der Eltern und Lehrer, 
welche diese Illusionen als heilige Wahrheit überlieferten. Eine 
Generation, deren Eltern und Lehrer die religiösen Illusionen um 
geweihter Eindheitserinnerungen willen nur durch absichtliche Selbst- 
täuschung festhalten, wird dereinst vergebens in ihrem Innern nach 
solchen Reminiscenzen an geweihte schöne Stunden suchen, denn 
die Kinder haben ein sehr feines Gefühl für die subjective Wahr- 
haftigkeit ihrer Erzieher. 

Wenn Lange selbst sich diese Consequenz seiner Lehre nicht 
klar gemacht hat, so ist das bei der Stärke seines Enthusiasmus 
für die Ideale allenfalls verständlich; dass aber Vaihinger, der an 
die Lehre Lange's als an etwas objectiv Gegebenes herantritt, dieser 
Consequenz seine Augen sollte verschliessen können, scheint mir 
kaum glaublich. Hierin wird man bestärkt, wenn man bei Vaihinger 
mit Bezug auf Lange's Hinneigung zum Platonischen Idealismus 
den Vorwurf ausgesprochen findet (123), dass auch Lange nicht 
immer die Klippe vermieden habe, an der Kant's System gescheitert 
seiy an der Gefahr, den Begriff des Dinges an sich oder des Trans- 
cendenten „zweideutig und schwankend zu bestimmen und ihn zur 
Stutze unserer subjectiven Ideen zu missbrauchen. Auch bei Lange 
ist der Sieg des Geistes" (d. h. des skeptischen Verstandes) „über 
alles Heterokosmische und Mystische noch nicht vollständig gewon- 
nen; auch er hat noch nicht ganz mit dem gefährlichen "Princip 
des Tiefsinns'*, wie man es neuerdings genannt hat, gebrochen, und 
volle Klarheit hat auch er nicht erreicht." Diese Andeutungen lassen 
keinen Zweifel darüber, dass in der Lange^schen Schule die Bewe- 
gung zunächst nur in der Richtung auf völligen Nihilismus weiter- 
gehen dürfte, während Lange noch der Ansicht huldigt, dass es bei 
einem solchen Conflict „im Ganzen besser sei, einstweilen d i e A u f- 
klärung zu opfern als die Kraft" (Gesch. d. Mat. IL 559). 



gg A. Neukantianismus. 

Wenn Lange's enthusiastischer Idealismas sich anf Schiller und 
insbesondere auf dessen Gedicht ,,das Keich der Schatten^' oder 
„das Ideal und das Leben" stützt (Vaihinger 182, 184), so ist das 
sehr charakteristisch für ihn und bestätigend fUr meine Behauptung. 
Der „ewige Widerspruch" zwischen Ideal und Leben besteht nur 
flir denjenigen, der die Idealität aus der Wirklichkeit (als eine ver- 
meintlich „bloss" subjective Zuthat) hinausgeworfen und in ein ab- 
stractes „Reich der Schatten" verbannt hat. Diesem so erzeugten 
abstracten Idealismus müssen Leben und Wirklichkeit allerdings 
widersprechen, aber nicht etwa deshalb, weil sie der Idealität ent- 
behrten, sondern weil jener Idealismus eine unwahre Abstrac- 
t i n ist. Ich habe anderwärts *) gezeigt, dass Schiller selbst gleich 
nach der Gomposition dieses Gedichtes die Unwahrheit dieses ab- 
stracten Idealismus einsah und in dem Gedicht „die Ideale'^ ein- 
gestand. 

Plato ist der Erste, der die Schuld auf sich lud, dem Idealismus 
diesen von der Realität losgelösten Charakter zu geben, und durch 
ihn sind zahlreiche Nachfolger zu dem gleichen Fehler verftlhrt 
worden. Der Platonische Idealismus ist deshalb weit entfernt, die 
denkbar höchste Form der Metaphysik zu sein, und vielmehr nur 
eine sehr unvollkommene und relativ unwahre Stufe ihrer Entwicke- 
lung. Dies gilt nicht bloss ftlr die Metaphysik, sondern auch für 
die Aesthetik, wie besonders Schasler hervorgehoben hat, durch 
dessen „kritische Geschichte der Aesthetik" sich der Kampf gegen 
den unwahren, abstracten. Platonischen Idealismus wie ein rother 
Faden hindurchzieht, um einem immanenten, echten, concreten Idea- 
lismus oder Realidealismus Raum zu schaffen. Selbst Hegel, der die 
Wendung nahm, die Idee als das allein Seiende und den Inhalt 
aller Wirklichkeit zu erweisen, bleibt noch in gewissem Sinne in 
dem einseitigen Idealismus stecken, und erst Schelling war es vor- 
behalten, die Wirklichkeit als Verwirklichung der Idee zu erkennen, 
ohne ihr dabei den Charakter der Wirklichkeit zu beeinträchtigen. 
Schillers Lebensarbeit bestand darin, sich auf dieselbe Weise, wie 
es von Kant bis Schelling in der Philosophie geschah, in der Poesie 
vom abstracten Idealismus los zu reissen und zu einem ideednrch- 
tränkten Realismus hindurchzuringen. Davon hat Lange keine 



*) yyGesammelte Studien und Aufsätze'* B. VIL 



Lange-Vaihinger^s snbjectivistischer Skepticismus. 89 

Ahnung; er kennt Schiller nur als den abstracten Idealisten, als der 
er z. B. in dem Gedicht ,;das Ideal und das Leben'^ erscheint; und 
an diesen Puppenzustand unsers grossen Dichters klammert er sich 
an, der wesentlich nur den fehlerhaften Ausgangspunkt seiner Ent- 
wicklung repräsentirt. 



13. Die blosse SubJeetiTität der Idee. 

Wenn die Physik nur wahrheitslose Begriflfsdicbtung von bloss 
snbjectivem Werth ist, so steht sie ganz im Privatbelieben 
des Einzelnen und lassen sich über diese subjectiven Gestal- 
tungen keinerlei allgemein gültige Vorschriften geben (Vaihinger 111). 
Hat objectiv genommen alle Metaphysik gleich Unrecht, so 
hat dafür auch subjectiv genommen jede Metaphysik gleich Recht. 
Keiner kann sich in die Subjectivit'ät des Andern hineinversetzen, 
Tim zu beurtheilen, ob dessen Metaphysik dessen Subjectivität besser 
oder weniger gut entspreche, als seine Metaphysik seiner eigenen 
Subjectivität entspricht; es fehlt jeder Maassstab für den Vergleich 
des subjectiven Werths verschiedener metaphysischer Weltanschauun- 
gen, die objectiv genommen gleich werthlos sind. Da nicht der 
Verstand, sondern die Phantasie der Erzeuger der Metaphysik sein 
soUy und der Verstand nur negativ gegen dieselbe reagirt, so hört 
jede Möglichkeit einer vergleichenden Werthschätzung verschiedener 
metaphysischer Systeme auf, und die Warnung, nicht in's Phan- 
tastische zu gerathen (109), entspricht der Warnung, beim Waschen 
ja den Pelz nicht nass zu machen. Jedes ist gut für den, der es 
hat, wenn es seiner Subjectivität entspricht, gleichviel ob er selbst 
daran glaubt oder nicht. Dem Andern seine Metaphysik aufdrängen 
wollen kann nur derjenige, welcher an den überlegenen Werth der 
seinigen glaubt; mit der Möglichkeit der Werthvergleichung hört 
auch die Möglichkeit der Propaganda auf. Man muss eben Jeden 
mit seiner Metaphysik laufen lassen; wenn sie mir noch unsinniger 
scheint als die meinige, so ist das falscher Schein, da in Wahrheit 
beide gleich unsinnig sind. 

Nun ist Lange's „Privatmetaphysik" der Platonische Idealismus; 
folglich hat auch dieser bloss einen subjectiven Werth für Lange; 
ob er noch für andere Individuen ausser Lange einen subjectiven 
Werth haben könne, oder haben mttsse^ darüber ist a priori gar 



90 ^ Nenkantiamsmiis. 

nichts ansznmachen, das kann jeder nur ftlr sich ennittela Lange 
schlägt also seinen eigenen Principien in's Gesicht, wenn' er doch 
wieder behauptet, dass der Platonische Idealismus die schönste, 
edelste u. s. w. Form der Metaphysik sei; er hätte hinznsetz^i 
müssen: ,,das ist er nach meinem Geschmack — aber Aber den 
Geschmack ist nicht zu streiten/' Lange muss für andere Individuen 
principiell die gleiche Berechtigung jeder beliebigen andern Form 
der Metaphysik zugestehen, welche seinem Idealismus schnurstracks 
entgegengesetzt ist. Er muss auch einräumen, dass es Individuen 
genug giebt, die in sinnlichem Wohlleben aufgehen, und deren Phan- 
tasie sich auf ganz andere Dinge richtet, als auf die Gewinnung 
eines „harmonischen Weltbildes." Da bei diesen Leuten der Wider- 
spruch zwischen Verstand und Herz, Wahrheit und Dichtung, Leben 
und Ideal, Erkenntnisstheorie und Metaphysik wegfällt, an dem er 
sich abwürgt, so müsste er eigentlich diese Menschen beneiden. 
Keine Metaphysik ist für denjenigen, dessen Subjeotivität dieser 
Zustand entspricht, ebenso gut eine Metaphysik, wie die Ignoranz- 
theorie fUr Lange eine Erkenntnisstheorie ist, und Lange muss aaeh 
der reinen Negation aller Begriffsdichtnng mindestens das gleiche 
subjective Recht mit seinen positiven Dichtungen zugestehen. Lange 
stellt also die Metaphysik schlechterdings auf die Willkür der sub- 
jectiven Phantasie, nnd somit ist bei ihm die Willkür der subjectiLven 
Phantasie, des grundlosen und vernunftlosen Meinen» 
nndTräumens, das letzte Fundament von Sittlichkeit und Religion. 
Es ist selbstverständlich, dass auf diesem Wege Sittlichkeit und 
Religion überhaupt nicht zu Stande kommen können, und dass sie, 
wenn sie doch so zu Stande kämen, ebenso wie ihre Quelle einen 
nur subjectiven, niemals einen objectiven Werth beanspruchen könn- 
ten. Denn was ist der Pflichtbegriff als der Glaube an die objec- 
tive Gültigkeit und allgemeine Verbindlichkeit eines 
moralischen Gesetzes, und wie soll eine Idee ohne objective Gültig- 
keit einen objectiv gültigen Pflichtbegriff hervorbringen, oder wie 
soll eine Illusion, die aus dem subjectiven Belieben der Phantasie 
entspringt, zu einem allgemein verbindlichen Gesetze werden? Nun 
findet aber Lange die Annahme eines objectiven Werthes von 
Sittlichkeit und Religion als allgemein anerkannt vor, und anstatt 
daraus zu schliessen, dass ihre Genesis nicht aus subjectiven Be* 
grifisdichtungen ohne objectiven Werth herstammen könne, sucht er 



Lange-Yalhinger*« sabjeetinstischer Skepticismns. 91 

umgekehrt «us der dogmatischen Annahme des objectivon Werthes 
Yon Beligion und Sittlichkeit fUr die von ihm irrthttmlich prä- 
somirten Quellen derselben einen objectiven Werth in praktischer 
Hiwichi; abzuleiten (20, 192). 

Die Erinperung, dass man den objectiven Werth der Sittlichkeit 
imd Beligion nicht dogmatisch postuliren darf, möchte fttr Lange 
und Vaihing^r genügen, uu^ sich aojf die einzige ftir sie mögliche 
Position zurückzuziehen, nämlich die, dass Sittlichkeit und Beligion 
selbst nur Ideale in ihrer Welt der Ideen sind, und dass sie 
vom Standpunkt einer wissenschaftlichen Philosophie ebenso sehr 
jeder objectiven Wahrheit entbehren, wie die übrigen Ideale. Wir 
soll^ uns sittlich verhalten gegen Mitmenschen und religiös ver- 
halten gegen Gott; aber die Erkenntnisstheorie Lange's lehrt uns, 
dass wir schlechterdings in unsre Subjectivität gebannt sind, und 
die reale Existenz von Mitmenschen und Gott uns völlig unerkennbar 
ist Somit ist ein angemessenes Verhalten gegen Wesen, die bloss 
Erdichtungen unsrer Phantasie sind, selbst ein bloss fingirtes Postulat^ 
ein subjectives Ideal ohne objective Gültigkeit. 

Und das ist „der Fels der Pflicht* ' (20)^ der aus dem Meer des 
Zweifels und der Verzweiflung hervorragt ? Und auf diesen Felsen 
sollen wir die Kirche der Ideenwelt, die Summe „alles Hohen und 
Heiligen^' bauen (109)? Aus der Lüge dieser bewussten Selbst- 
täuschung mit wissenschaftlich unhaltbaren Fictionen sollen wir 
„ethische Erhebung schöpfen" (107)? Auf diesen hohlen Trug soll 
der Adel unserer Handlujagen sich gründen und mit der objectiven 
^isteoz der Ideen erbleichen (109)? Die letztere Behauptung be- 
zeichnet den Galminationspunkt des Lange'schen Aberwitzes. 

Sipd Sittlichkeit und Beligion nur subjecüve Ideale, gehören 
1^ zjqi Laqge's Platonischem Idealismus, so sind sie Bestandtheile 
einer objectiv berechtigungslosen Metaphysik, der mit dem glei- 
chen subjectiven Becht das Gegentheil substituirt werden kann, 
Dass aber b,w solchen entgegengesetzten Auffassungen ein realer 
Nachtheil für die menschliche Gesellschaft entstehen würde, wäre 
ein Einwurf der erstens die Moral und Beligion auf socialen Eudä- 
Qi^pismns zurückführen würde, und der zweitens gar nicht im Ernste 
erhoben werden kann von einem Subjectivismus, dem jede Bealität 
ai^serhalb des eignen Bewusstseins, also auch die Bealität einer 
spuensqhlicl^n QeseUschafiti völlig probl^unatisch ist. 



92 ^- Neukantianismus. 

Es ist hieraach erwiesen, dass es keinen deutlich ansgesproehe- 
nen Bestandtheil in der Lange'scben Philosophie giebt, welcher es 
verhindern könnte, dass die von ihm auf den Thron der praktischen 
Philosophie erhobene sabjeetive Willkür der sich selbst beltlgenden 
Phantasie in yöUige Zügellosigkeit und in Nihilismus übergehe, 
wohin sie von dem negativen Einfluss des verstandesmässigen Skepti- 
cismus mit nnerbittlicher Nothwendigkeit gedrängt wird. 

14« Per üeberg'ang' zu Flehte. 

Ist nun aber der ganze Gewinn, den wir ans der Betrachtung von 
Lange's praktischem Idealismus ziehen können, ein rein negativer? 
Müssen wir uns damit begnügen, seinen „Standpunkt des Ideals^ 
als eine VeruTung aufgezeigt zu haben, die beim Festhalten des 
theoretischen Skepticismus nothwendig zum ethischen Nihilismus 
und praktischen Materialismus führt? In der Erkenntnisstheorie 
Lange's sahen wir deutlich die Anknüpfungspunkte, welche unter 
Vermeidung des leeren Skepticismus einerseits zu Fichte und Hegel 
und andrerseits zum transcendentalen Realismus führen konnten; 
sollte sich das Bild der Lange'schen Philosophie nicht erst dann 
geschichtlich abrunden, wenn wir die Ansätze zu einem positiven 
Fortgang auch in seinem Standpunkt des Ideals nachweisen können ? 

In der That sind diese Ansätze auch hier gegeben. Lange und 
Vaihinger haben nur die Wahl, entweder der Unphilosophie des 
Nihilismus zu verfallen, oder zu dem Wiederaufbau einer wissen- 
schaftlichen Metaphysik fortzuschreiten; diese letztere aber kann 
entweder der Standpunkt Fichte's oder der meinige sein. Was sie 
sind, können sie nicht bleiben, wollen sie nicht aufhören, Philo- 
sophen zu sein, so müssen sie entweder den Schritt vom Neu- 
kantianismus zum Neufichteanismus auch auf metaphysischem nn( 
ethischem Gebiet ebenso wie auf erkenntnisstheoretischem Gebiel 
vollziehen, also den Gang, den die geschichtliche Entwickelung 
nommen hat, treu copiren ; oder sie müssen diese Entwickelungsstufc 
überspringen, und direct zu meinem Standpunkt herübertreten. 

Der Grundirrthum Lange's in seiner Erkenntnisstheorie war der_ 

dass er die in ein Product der geistigen Organisation aufgelöste^ 
Erfahrungswelt noch immer als eine objective Welt, die Erfahrung' 
als eine Sache von objectiver Gültigkeit, die als blossen Scheii^ 
enthüllte Erscheinung noch immer als Erscheinung eines WirklicheiB. 



Lange-Yaihinger's sobjoctiyistischer Skepticismos. 93 

festhalten zu können glaubte. Gleichviel ob der Schein der Er- 
fahrung ein bloss subjectiver, oder ob er (was Lange eigentlich gar 
nicht zugeben darf) seinen Formen nach ein genereller Schein ist, 
so bleibt er doch immer Schein, d. h. ein phaenomenon, von dem 
man nicht sagen kann, dass es hene fundatvm sei, ein blosses Pro- 
dnct der Sinnlichkeit, des Verstandes und des synthetischen Factors 
der Phanthasie. Die Anschauungs- und Denkformen gelten ihm in 
demselben Sinne wie die Ideen ftir bloss subjectiy, und haben 
ebenso wenig wie diese eine transsubjective Gültigkeit oder Bedeu- 
tung (64). Der synthetische Factor der Phantasie, welcher die 
Metaphysik angeblich so verdächtig macht, ist ebenso gut „schon 
in den Sinneserscheinungen und in der Logik wirksam" (106), und 
andrerseits wird man nicht behaupten, dass bei der Production von 
Vemunftideen und metaphysischen Begriffsdichtungen durch die 
Phantasie die Mitwirkung von Vernunft und Verstand gänzlich aus- 
geschlossen sei (111). 

Es ist mithin gar nicht abzusehen, warum die Welt der Ideen 
mit anderem Maasse gemessen werden soll als die der sinnlichen 
Erfahrung oder deren logischer Verarbeitung; denn die letztere führt 
uns ebenso wenig wie die erstere über die Sphäre der Subjectivität 
hinaus. Es ist nach Lange's eigenen Worten „dieselbe Noth wendig- 
keit, dieselbe transcendente Wurzel unsres Menschen- 
wesens, welche uns durch die Sinne die Welt der Wirklichkeit 
giebt, und welche uns dazu führt, in der höchsten Function dichten- 
der und schaffender Synthesis eine Welt des Ideals zu erzeugen, in 
die wir aus den Schranken der Sinne flüchten können, und in der 
wir die wahre Heimath unsres Geistes wiederfinden" (Gesch. d. 
Hat. IL Vorwort S. VI). 

Sind nun Sinnenwelt und Ideenwelt Producte aus einer Wurzel 
und beide gleichmässig Gestaltungen ohne Anspruch auf transsubjec- 
tive Gültigkeit und Bedeutung, so ist es auch ungerecht, nur die 
eine der beiden Seiten als wahrheitslose Dichtung zu brandmarken 
und der andern den falschen Nimbus einer Wahrheit zu gönnen, 
der aus der unvermerkten Beibehaltung eines realistischen Begriffs 
der Erfahrung entströmt. Die Stellung der Sinnenwelt und Ideenwelt 
zum Prädicat der Wahrheit muss auf dem Standpunkt Lange's 
nothwendig eine und dieselbe sein; entweder die Wahrheit wird 
beiden gleichmässig abgesprochen, oder beiden gleichmässig 2u- 



94 A. NenkantaaiilsmaB. 

gesprochen. Im ersteren Falle kann sieh Lange dem abeolnten 
Nihilismus folgerechterweise gar nicht entziehen, im letztem Falle 
mnss er anfhören, von uns zn verlangen, dass wir unsere metaphysi- 
schen Begriffsdichtungen deshalb als wabrheitslose Illusionen be- 
trachten sollen, weil sie subjectiyen Ursprungs sind und der ^^syn- 
thetische Factor" bei ihrer Entstehung mitgewirkt hat. 

Nun besteht der fundamentale Fehler Lange's darin, dass er 
einen realistischen, materialen oder transcendenten Wahrheitsb^riff 
festhielt und als Maassstab an seine Metaphysik anlegte, obwohl er 
nach seiner Erkenntnisstheorie nur einen idealistischen, formalen und 
immanenten Wahrheitsbegriff haben und gelten lassen durfte. An 
dem ersteren gemessen mnssten ihm beide Welten als wahrheitslos 
sich herausstellen (was ihm fttr die Sinnenwelt nur entging); an dem 
letzteren gemessen dagegen erweisen sich beide Welten als wahr. 

Es wäre jar auch zu widersinnig, wenn die Ideenwelt, die „wahre 
Heimath des Geistes'', die Unwahrheit repräsentiren sollte, die Sinnen- 
weit aber trotz ihres objectiv unbegründeten Scheins die Wahrheit 
für sich allein beanspruchen wollte. Bedeutet Wahrheit die Ueber- 
einstimmung des Bewusstseinsinhalts mit der transcendenten Realität, 
so kann von Wahrheit in einer Erkenntnisstheorie, welche alle 
transcendente Realität in Frage stellt und mindestens flir unerreich- 
bar ftlr uns erklärt, überhaupt nicht mehr die Bede sein. Dieser 
Umstand zwingt aber gerade zu einer Revision des Wahrheitsbegrifi 
im Sinne der blossen Subjectivität oder Immanenz. Hätten Lange 
und Vaihinger nicht diese Revision des Wahrheitsbegriffes nach 
Maassgabe ihrer Erkenntnisstheorie versäumt, so hätten sie nie in 
den Irrthum verfallen können, die Metaphysik, Religion und Ethik 
ftlr wahrheitslose Illusionen zu erklären. 

Wenn die Sphäre meiner Subjectivität flir mich schlechterdings 
unüberschreitbar ist, so kann unter Wahrheit nichts anderes mehr 
verstanden werden, als die Uebereinstimmung meiner VorstellimgeQ 
unter einander und mit den Bedingungen meiner geistigen 
Organisation. AUes ist wahr, was aus den Anlagen meines 
Geistes consequent entwickelt ist, fälsch, was aus inconsequenten 
Vorstellungsabläufen resultirt; das Symptom für die Ueberein- 
stimmung der Vorstellungen mit den gegebenen Grundbedingung^^ 
der geistigen Organisation kann aber für uns wiederum mir die 
BanpcKiie der aus diesen Vorstellungsabläiifen hervorgehenden Vor- 



Lange-Vailiiiiger's subjectivistischer Skepticismas. 95 

stellnngsresnltate unter einander sein, die innere Harmonie des er- 
rangenen Weltbildes. Diese Sätze sind selbstverständlich, und unter 
andern von J. Bergmann in seinen ^^Grundlinien einer Theorie des 
BewuBstseins^' als eine nothwendige Gonsequenz der Grundsätze des 
transcendentalen Idealismus vertreten worden. Würde nun Vaihinger 
diese Revision des Wahrheitsbegriffs als nothwendige Folge seiner 
Erkenntnisstheorie anerkennen, so würde er damit vollständig zu 
dem Fichte'schen Standpunkt, nicht bloss in erkenntnisstheoretischer, 
sondern principiell auch in metaphysischer Beziehung fortschreiten, 
und der Geist würde dann erst in Wahrheit seine „Heimath^^ finden 
in der Ideenwelt, zu der die Sinnenwelt nur eine selbstproducirte 
Vorhalle oder Treppe ist. Es ist oft genug ausgesprochen worden, 
dass Fichte's Philosophie in erster Reihe ethisher Idealis- 
mus ist, und subjectiver Idealismus nur, um desto ungestörter 
ethischer Idealismus sein zu können. Lange hat ersichtlich die 
Tendenz, es auch in dieser Hinsicht Fichte gleichzuthun; aber er 
macht seine Tendenz seihst zum Gespött, indem er dem ethischen 
Idealismus die Wahrheit abspricht, und ihn für Dichtung erklärt. 
Wie soll man sich begeistern für diesen Idealismus, wenn man 
ihn nicht für ernste, heilige Wahrheit ansieht, wie Fichte es that? 

Würde durch die angezeigte Revision des Wahrheitsbegriffes 
den sämmtlichen folgerichtigen Producten der „einen transcendenten 
Wurzel des Menschenwesens" das Prädicat der Wahrheit zurück- 
gegeben, so würde selbstverständlich den höheren Producten dieser 
gemeinsamen Wurzel der höhere Rang über die niederen wieder 
zuerkannt, der ihnen durch die einseitige Aberkennung der Wahr- 
heit durch Lange in Frage gestellt war. Der Vorwurf der „Dichtung", 
den Lange gegen die Metaphysik gerichtet hat, würde dann auf- 
hören, und der so in's rechte Fahrwasser zurückgeleitete Nachen 
der Philosophie würde lustig mit dem noch eben perhorrescirten ge- 
schichtlichen Strome der Speculation weiter treiben. Nur die in- 
consequente Beibehaltung eines seiner Erkenntnisstheorie wider- 
sprechenden Wahrheitsbegriffs ist es demnach, welche Lange zu seiner 
Opposition gegen die idealistische Metaphysik treibt, und Vaihinger 
hat von diesem Fehler seines Meisters auch nichts gemerkt. 

Eine andere Frage ist freilich, ob der auf dem Lange'schen 
Standpunkt geforderte Wahrheitsbegriff sich auf die Dauer behaupten 
kdUBe. Diese Frage hat die Geschichte der Philosophie schon ein- 



96 A. KenkantiairiiiBmi 

mal Ternemend entscliieden, indem sie Ton flehte's sobjeetiTem 
Idealismus zu Hegel's absolutem Idealismus und von diesem zu 
Sehelling s Idealrealismus fortschritt Die innere Triebfeder dieser 
Bewegung war das Bestreben, zu einem in sich harmonischen 
Weltbilde zu gelangen , dessen TheUrorstellungen einander nicht 
widersprächen, und das Besaltat dieses Bestrebens war die Einsicht^ 
dass eine formale Uebereinstimmung unserer Vorstellungen unter 
einander nur möglich sei unter der Voraussetzung ihrer materialen 
Uebereinstimmung mit der transcendent-realen Welt Mit anderen 
Worten : der immanente Wahrheitsbegriff hob sich selbst auf, 
indem er den ihn überflüssig machenden transcendenten Wahrheits- 
begriff als nnerlässliche Voraussetzung seiner selbst forderte. Das- 
selbe Besultat erhalten wir aber auch unmittelbar durch die Elr- 
wägung, dass der immanente Wahrheitsbegriff doch am Ende weiter 
nichts ist, als die Conseqnenz einer unwahren ErkenntnisstheoriCi 
also selbst unwahr sein muss. Hiemach wird der Durchgang durch 
den Fichteanismns für die Fortbildung des Lange*schen Standpunktes 
überflüssig, wenn dieselbe mit der Berision der Erkenntnisstheorie 
und der Ersetzung des subjectiTen Idealismus durch den transcen- 
dentalen Bealismus begonnen wird. Dann fährt diese Fortbildung 
sogleich zu dem letzten tou der geschichtlichen Entwickelung er- 
reichten Standpunkt, zu dem transeendentalen Bealismus der PhiL 
d. Unb. hierüber. Auch hierzu sind unyerkennbare Ansätze bei 
Lange und Vaihinger zu finden. 

15. Die transeeadeatale Wahrlieit der Ideea. 

Ich habe schon mehrfach auf die Unrichtigkeit der Schluss — 
folgerung aufmerksam gemacht, dass die Metaphysik deshalb un — 
wahr sein müsse, weil das schöpferische Element bei ihrer Hervor — 
bringung der synthetetische Factor der Phantasie sei. Will ma 
alles Dichtung nennen, was auf diesem Factor beruht, so giebt es nichi 
mehr, was nicht unsere Dichtung wäre. Der Irrthum liegt nur 
dass etwas darum, weil es Dichtung sei, nicht Wahrheit sein könn< 
Hat doch schon Aristoteles gesagt, dass die Poesie philosophischer 
als die Geschichte, in dem Sinne, dass sie einen grösseren und ti< 
feren Wahrheitsgehalt in sich berge, als diese. Vaihinger sagt : 
Schöne widerspricht der Wirklichkeit direct, es besteht nur in 
Dicbtnng^' (180). Dass das Schöne nur in der Dichtung bestehe^ 



Lange-Vaihinger^s subjectivistischer Skepticismos. 97 

kann er nnr behanpten, wenn er die ganze Sinnenwelt nnd ilire 
Katorscliönheit ebenso wie die Ideenwelt als Dichtung betrachtet; 
dann aber widerspricht wiederum dieses Schöne nicht der Wirklich- 
keity da wir ausser ihr dann gar keine Wirklichkeit haben und 
kennen. Nur zwischen poetischer und prosaischer Wirklicheit giebt 
es einen Gegensatz ; die Dichtung darf nicht die prosaische Wirk- 
lichkeit copiren^ aber sie darf noch weniger etwas bieten, was der 
Wirklichkeit widerspricht, was nicht als eine Wirklichkeit vor- 
kommen könnte, die man alsdann auch als Wirklichkeit poetisch 
finden würde. 

Die Dichtung ist so wenig ein Gegensatz der Wahrheit, dass 
alle abstract idealistische Kunst verwerflich, und nur eine realistische 
Kunst als wahre Kunst anzuerkennen ist, welche uns eine ideale 
oder poetische Wirklichkeit vorführt. Das Werk der Phantasie wird 
zum Kunstwerk erst da, wo es Wahrheit giebt, freilich nicht Wahr- 
heit im Sinne einer gedankenlosen Empirie, welche fragt, ob Othello 
und Desdemona denn auch wirklich gelebt haben, sondern Wahr- 
heit im Sinne der inductiven Bealwissenschaften, welche die Einzel- 
erscheinungen nur als Material zur Ermittelung der in ihnen herr- 
schenden Gesetze brauchen. Der Unterschied bleibt bestehen, dass 
die Wahrheit des typischen Gesetzes von der Kunst durch typische 
Anschauungen, von der Wissenschaft durch abstracte Begriffe wieder- 
gegeben wird; da aber Lange die Metaphysik als Dichtung in 
Begriffen bezeichnet, so unterliegt es keinem Zweifel, dass auch 
er die Metaphysik hinsichtlich der Darstellungsmittel der Wahrheit 
zur Wissenschaft und nicht zur Kunst stellen muss. 

Diese Darstellungsmittel als solche sind nun auf beiden Seiten 
gleich unwahr; auf Seiten der Kunst bestehen sie in dem 
ästhetischen Schein, auf Seiten der Wissenschaft in Abstrac- 
tionen und discursiven Beflexionen auf demBoden 
der Sprache. Es ist unwahr, das Ding von seinen Eigenschaften, 
oder die Beziehungen von dem Bezogenen zu trennen, und doch 
operirt die Wissenschaft nur mit diesen Trennstücken ; das in vieler 
Hinsicht so zufällige Gewand der Sprache ist nicht nur ihr alleiniges 
Medium, es ist eben damit auch ihre Fessel und Schranke, welche 
alle ihre Anstrengungen, zum adäquaten Ausdruck der Wirklich- 
keit zu gelangen, nothwendig vereiteln muss. Dies mag bei den 
letzten metaphysischen Speculationen sich etwas lebhafter als sonst 

E. V. Hartmaun, Erl&aterongen. 2 Anfl. * 



9!g A. NeukantianismuB. 

dietn Bewadstdein des Forschers aufdrängen; abef die Tbattaefae 
bleibt ganz dieselbe für die einfachsten Elemente der empirischen 
Realwissenschaften. Darum ist alle nnsere Erkenntniss AätvL rer- 
nrtheilty inadäquate Erkenntniss^ oder relative Unwahrheit zu bld^ben, 
was äb6r doch nicht hindern darf, auch die Seite der relativen 
Wahrheit in ihr anzuerkennen. Unsere wissenschaftliche Erkenntniss 
ist nicht Wahrheit im Sinne einer Identität der Vorstellung mit dcir 
tränscendent^n Realität, sondern nur im Sinne einer Analogie, Corte- 
lation oder Correspondenz ; mit anderen Worten : die in das Gewand 
der menschlichen Sprache gehüllte Erkenntniss kann nur din 
Bild oder Symbol der adäquaten Wahrheit sein, welche das 
Ideal unseres Forschens bildet. 

Das Gleiche gilt vom ästhetischen Schein. Er ist nicht Trag, 
oder Illusion, denn er will uns ja gar nicht glauben machen, dass 
er gemeine Wirklichkeit, dass z. B. die gemalte Weintraube eine 
v^rkliche essbare Weintraube sei ; er ist auch nicht als Erscheinung 
für uns wichtig, denn die Farbenklexe und die Leinwand, deren 
subjeetive Erscheinung unser Vorstellungsobject des Bildes ist, gehen 
uns gar nichts an; er ist eben ästhetischer Schein, d. h. künst- 
lerisches Ausdrucksmittel einer idealen Wahrheit, wie die Sprache 
wissenschaftliches Ausdrucksmittel einer idealen Wahrheit ist. In 
der Poesie ist die inadäquate Vermittelung sogar eine doppelte, in- 
dem zunächst die Sprache als Mittel verwandt wird, um unsre Phan- 
tasie zur selbstthätigen Production des ästhetischen Scheins anzu- 
regen, der nur erst Ausdrucksmittel jener idealen Wahrheit is 
welche die Substansi der Dichtung bildet. 

Lange und Vaihinger haben nun zwar eingesehen, dass 
Kunstwerk, wenn überhaupt bei demselben von einer Wahrheit 



sprechen werden könne, nur von einer bildlichen oder symbolisdheiL-Ä=* 
Wahrheit gesprochen werden könne, aber sie haben erstens ver- - — '^' 
kanht, dass dasselbe auch von der wissenschaftlichen Erkenntniss 
g^lte, insofern sie sich des Mediums der Sprache bedient, über dds 
selbst das Bewusstsein des Empfangenden nicht hinaus kann und 
haben zweitens verkannt, dass in Bezug auf die Darstellungstnittcil 
der idealen Wahrheit die Metaphysik nicht zu den Künsten, dondem 
zu den Wissenschaften gehört^ da sie nicht mit ästhetischem Sbhelü, 
nicht mit sinnlichen Afaschauungen und concreten Typen, sondern, 
mit abstracten Begriffen und diseur^ven Reflexionen opdrii^ tind 



Langs-Yaihinger's subjectivistischer SkepticismuB. 99 

methodologisch Eritioismus sein soll. Sie sprechen ron dem Gegen- 
satz zwischen Kunst und Wissenschaft so, als ob gegenüber der 
bildlichen oder symbolischen Wahrheit der Kunst und Religion die 
Wissenschaft eine absolut adäquate Wahrheit zu bieten habe, wäh- 
rend nach ihren eigenen Auslassungen die Sache doch ganz anders 
liegt Lehrt uns die Erkenntnisstheorie, dass eine adäquate Wahrheit, 
d. h. eine Wahrheit im gewöhnlichen, unkritischen Sinne, uns über- 
liaupt unerreichbar sei, so werden wir zufrieden sein dürfen, wenn 
vrir an Stelle eines absoluten Mangels an Wahrheit uns wenigstens 
des Besitzes einer bildliehen oder symbolischen Wahrheit rühmen 
dürfen. Dieselbe würde dann jedenfalls den Werth der einzigen 
uns zu Gebote stehenden Wahrheit haben, obzwar sie nur als eine 
relative Wahrheit bezeichnet werden kann, und die in diesem 
Sinne von der Metaphysik zu erwartende Wahrheit würde die Meta- 
physik auf den Thron einer relativen und zugleich höchstmöglichen 
Erkenntniss selbst dann wieder einsetzen, wenn dieselbe den Aus- 
drucksmitteln der Kunst so nahe stände, wie Lange und Vaihinger 
es irrthümlich annehmen. 

« 

Wenn also Vaihinger von einer „doppelten Wahrheit" spricht 
(192), von einer im gewöhnlichen und im ungewöhnlichen, bildlichen 
oder symbolischen Sinne (108), so ist diese Unterscheidung ja nicht 
au verwechseln mit der von mir oben gemachten des transcendenten 
und immanenten Wahrheitsbegriflfs, da sich die Wahrheit im gewöhn- 
lichen (adäquaten), wie die im symbolischen Sinne beide auf dem Boden 
des transcendenten WahrheitsbegriflEs bewegen* Es ist ferner zu 
bemerken, dass der Besitz einer adäquaten Wahrheit durch den 
Kriticismus als Illusion erwiesen ist, und dass es sich bei der 
menschlichen Erkenntniss überhaupt nicht um absolute, sondern um 
relative Wahrheit in dem bisher „ungewöhnlichen" Sinne handeln 
kann, dass also dieser ganze Skepticismus zu nichts weiter führt, 
als zur Glorification und dem Triumph der speculativen Philosophie, 
zu deren Vernichtung er in's Feld gerückt war. 

Allerdings ist die Anerkennung einer wenn auch nur relativen 
Wahrheit in der menschlichen Ideologie, welche Kunst, Keligion 
und Metaphysik unter sich befassen soll, eine schreiende Inconsequenz 
gegen Lange's „Standpunkt des Ideals", auf welchem alle Ideen für 
blosse bewusste Illusionen ohne alle objective Bedeutung erklärt 
worden sind. Aber diese Inconsequenz, dieser implicite Widerruf 

7* 



100 A. Neokantianismas. 

des ganzen Standpunktes, ist doch gewissermaassen der einzige Zoll, 
den Lange und Vaihinger der gesunden Vernunft entrichtet haben, 
um sich vor dem Vorwurf des absoluten Aberwitzes zu schtltzen. 

Es wird nämlich einerseits der ewige Widerspruch zvnschen 
Sinnenwelt und Ideenwelt als unlösbare Antinomie proclamirt (108), 
und andrerseits wird verlangt, dass die metaphysische Welt- 
anschauung als subjectiy unentbehrliches „Ergänzungssttlck'^ der 
gegebenen Wirklichkeit (d. h. der Sinnenwelt) „nicht total wider- 
spreche" (109 unten). Es sollen beide Welten wahr sein, aber 
gerade, darum im ewigen Widerspruch stehen, und doch soll aus 
dem Vorhandensein zweier angeblich sich widersprechender, also 
doch wohl möglichst heterogener Sorten von Wahrheit, und der 
Forderung, beide als Wahrheit festzuhalten, nicht auf die Zumuthung 
einer „doppelten Buchführung'^ im Geiste des Menschen geschlossen 
werden dürfen (108). Die Wirklichkeit soll unerkennbar, und die 
Metaphysik blosse subjective Dichtung sein, und doch wird verlangt, 
dass die Metaphysik sich „an die Wirklichkeit anschliesse^', also 
mindestens „ein unruhiges Oscilliren zwischen Wirklichkeit und 
Idealwelt" repräsentire (106). Alle solche Widersprüche sind m 
der Ausdruck des Lange'schen Gonfusionismus, der 
Aberwitz des illusorischen objectiven Idealismus entfliehen möchte 
es aber nicht kann, ohne seinen ganzen Standpunkt zu wider 
rufen. 

Es wäre wohl denkbar, dass Vaihinger, auf die Inconsequen: 
des Zugeständnisses einer relativen Wahrheit der Metaphysik auf-^ 
merksam gemacht, dieser Inconsequenz dadurch die Spitze abzu- 
brechen suchte, dass er die „Wahrheit im ungewöhnlichen Sinne^^ 
nach meinen obigen Andeutungen zu einer Wahrheit im rein imma— 
nenten Sinne umzudeuten suchte, und damit sich definitiv für* 
Standpunkt Fichte's entschiede. Abgesehen davon, dass dieunit di 
unzweifelhaft transcendentale Bedeutung der symbolischen Wahrhei 
bei Lange und der allgemein anerkannte Sinn des Ausdrucks 
„Wahrheit eines Kunstwerks"*) preisgegeben würde, so würde 




t 



*) Die Tragödie „Othello" ist nicht deshalb wahr, weü ihre TheUvorstd.^ 
langen in meinem Bewusstsein harmoniren, sondern weil sie mit meisterhaftetr 
realistischer Treue den Typus jener Leidenschaft der Eifersucht anschaulich 
TorfQhrt, welcher als das psychologische Gesetz dieser Leidenschaft in der trans- 
cendenten Bealität der menschlichen Gattung thatsächlich herrscht. 



Lange-Vaihinger!s BübjecttYi&tidcher Skepticismos. IQI 

solche UmdentuDg schon deshalb zu keinem befriedigenden und 
haltbaren Besnltate führen, weil der Subjectivismus auf praktischem 
Gebiet ebenso unzulänglich ist wie auf theoretischem, weil z. B. 
die Idee der Sittlichkeit mit noch weit zwingenderer Noth wendigkeit 
Als etwa die Anschauungsfoim des Baumes oder die Kategorie der 
Causaiität als idolvm tribus oder als Schein für die Gattung an- 
erkannt werden muss. Die Idee der Sittlichkeit, d. h. des sittlichen 
Verhaltens gegen Mitmenschen ist widersinnig ohne die Voraus- 
setzungen, dass erstens Mitmenschen real existiren, dass ich zweitens 
gegen dieselben handeln, d. h. durch transcendente Causaiität auf 
dieselben reale Einwirkungen hervorbringen kann, und dass dieselben 
drittens von der nämlichen Idee der Sittlichkeit beherrscht sind wie 
ich. Mit andern Woi*ten : nur wenn die Idee des sittlichen Handelns 
Wahrheit im transcendenten Sinne besitzt, kann sie eine objective 
Gültigkeit und subjective Verbindlichkeit beanspruchen ; die Wahrheit 
dieser Idee auf eine bewusstseins-immanente Bedeutung einschränken, 
heisst sie vernichten. Dies ist der wichtigste Grund, dass der Fort- 
schritt zum Fichteanismus, wenn er vom Neukantianismus vollzogen 
würde, auch wieder nur die Bedeutung eines Uebergangsstadiums 
haben könnte, und dass ein relativer Buhepunkt der Bewegung erst 
in dem transcendentalen Bealismus gewonnen werden kann. 



16. Die relatlfe Wahrheit der metaphysischen Systeme. 

Halten wir an dem Gedanken Lange's fest, dass die von den 
verschiedenen metaphysischen Systemen der Ethik gelieferte Stütze 
und Förderung ein gutes Merkmal fUr die Abschätzung ihres Werthes 
sei, und fügen wir hinzu, dass die Idee der Sittlichkeit noth wendig 
eine über die subjective Bedeutung hinausgehende objective Gültig- 
keit und generelle Verbindlichkeit beanspruchen und mehr und mehr 
erobern müsse, so erkennen wir sofort, dass dieser Werthmesser 
nicht bloss einen subjectiven, sondern einen objectiven Werth der 
metaphysischen Systeme misst. Hieraus folgt erstens, dass dieselben 
wirklich einen objectiven Werth haben, der mit dem Werth der 
subjectiven Befriedigung, welche sie gewähren, nichts zu thun hat; 
zweitens, dass dieser objective Werth ihnen nur insoweit zukommen 
kann, als ihnen eine relative Wahrheit beiwohnt, nicht aber insofern 
sie bewusste Illusionen sind; drittens, dass es unsre Aufgabe sein 



102 A. Keidointianismiifi. . 

musBy die Anerkennung und Verbreitung der relatir wahreren meta- 
phyinschen Systeme zu fördern, schon aus dem Orunde^ ^ibm der 
Idee der Sittlichkeit in den Menschengeistem bessei*e Stütz^i zu 
gewähren. Hiermit sind die Behauptungen umgestossen, dass meta- 
physische Systeme einen bloss subjectiyen Werth haben, und als 
<3^estaltungen des subjectiven Beliebens objectiv genommen gleich 
werthlos seien. 

Wie sollen wir nun aber über den grösseren oder geringeren 
Wahrheitsgehalt der verschiedenen Systeme ein dii-ectes Urtkeil 
gewinnen, auch abgesehen von ihrer Rückwirkung auf die 
Ethik? Auch hierfür finden wir Andeutungen. Von zwei Welt- 
anschauungen, deren eine der Wirklichkeit total wider- 
spricht, die andre nicht, wird offenbar die letztere den Vorzug 
verdienen (109) ; von zweien, die in verschiedenem Grade der Wirk- 
lichkeit widersprechen, wird diejenige den grösseren objectiven 
Werth beanspruchen dürfen, welche der Wirklichkeit im geringeren 
Maasse widerspricht. Von zwei Systemen, deren eines „bloss nach 
Andeutung der Sinne'^, das andre mit Vernunft „gedichtet^ ist, wird 
das letztere den Preis gewinnen (111 oben); von zwei Systemen, 
von denen das eine durch ungezügelte Phantasie entstanden, 
und daher „in's Phantastische gerathen^' ist, das andre aber durch 
eine von der Vernunft und Erfahrung kritisch gezti gelte Phantasie 
producirt ist, wird man nicht anstehen, das letztere für das bessere 
zu halten (109 unten). Mit andern Worten: eine schöpferische Pro- 
duetionskraft muss mit besopnenem Kriticismus Hand in Hand gehen, 
und von allen Producten des synthetischen Factors darf die kritische 
Analyse keinen gelten lassen, den sie nicht geprüft und ausreichend 
legitimirt befunden hat; diese Arbeit zu leisten ist Sache der 
Menschheit in der geschichtlichen Entwickelung der Philosop^e, 
an ihr mitzuwirken Aufgabe eines Jeden, der sich zu philoso- 
phischer Bethätigung und philosophischen Kundgebungen berufen 
glaubt. 

Das Ende schliesst sich also mit dem Anfang unsrer Befrach- 
tung zusammen: die Metaphysik muss Kriticismus sein, um ein 
Maximum relativer Wahrheit beanspruchen zu können, und indem 
ich gezeigt zu haben glaube, dass meine Metaphysik dieser Anfor- 
derung entspricht, während der Lange- Vaihinger'sche Standpunkt 
ihr nicht entspricht, glaube ich dem letzteren gegenüber den 



Lange-Vathinger^B i^iüij^vi^kifK^er Skepticismufi. 1|Q^ 

AfisprH^Jjt' ^^ fAß Muimam relativer Wahrheit für meine M^tapjfyai^ 
gereohtli^gt zu h^ben. Eine absolut wahre MetaphysU^ auf- 
stellen wollen, Messe in Dogmatismus zurückfallen; die relativ- 
wahrste für alle Zeiten geben wollen, hiesse das Wesen der 
geschichtlichen Entwickelung im fieiche der Wissenschaft verkennen. 
4her Ipdem ich so (neben der luadäquatheit des sprachlichen Aus- 
^ackfl) die doppelte Belativität meiner Wahrheit anerkenne, 
proplamire ich nicht deren Unzulänglichkeit, sondern erachte mich 
berechtigt zu der Behauptung, dass meine Metaphysik die höchste 
im Entwickelungsprocess der Wahrheit bisher erreichte Stufe reprä- 
sentire, und in diesem Sinne die philosophisdie Wahrheit unsrer 
Zeit sei, was dann erst rechte Anerkennung finden wird, wenn 
Neukantianismus, Neufichteanismus und womöglich auch noch Neu- 
hegelianismus ihre oben bezeichnete Aufgabe erfiült und dapiit sich 
afogevrirthschaftet haben werden. 

Die Kritik des Lange- Vaihinger'schen Standpunktes kann hier- 
mit als erledigt angesehen weorden, und damit zugleich der Anspruch 
diesem Standpunktes, sicji dem meinigen als den höheren gegenübeir- 
stellen zu wollen. Nach der erschöpfe^den principiellen Widerlegung 
mtjUiste es überflüssig scheinen, noch auf Besprechung zahlreicher 
Eiiizelirrthflmer Vaihinger's über meine Ansicht^ einzugehep^ '^) 



*) So behauptet er z. B., dass ich eine Erkenntniss nicht durch Sinne und 
Verstand, sondern durch Ideen und Vernunft vertrete (54), dass ich zwei Ketten 
der Gausalität annehme (70), dass ich ein ausserweltliches Wesen (77) und ein 
e:i:tramun4&iv^ Bewusstsein im unendlichen Raum (41) statuire, dass ich die 
Materie dem ünbewussten als etwas Anderes und Fremdes dualistisch 
gegenüberstelle (80, 82), dass ich die Attribute der Substanz hypostasire, d. h. 
zu Substanzen, ja sogar zu getrennten Personen verselbstständige (74, 78), 
4iM30 das All-Eine Unbewussliß oder absolute metaphysische Subject (welches doch 
das schlechthin Allgemeine und als solches Charakterlose ist) nur eine mo- 
dejS Auflage des „intelligiblen Charakters'* sei (85) und die Qual des Weltpro 
cesses in seinem Bewusstsein vereinige (100), dass ich einen Zufall — das 
Wort isß Qegensi^tz zur menschlich berechnenden Intelligenz genommen 
(113) — leugne (83), dass meine Ethik eud&monistisch und heteronom sei 
(174), dass ich einen Massenselbstmord der Menschheit lehre (136), nach welchem 
die vernichtete Menschheit gleichwohl noch ein Gefühl der Befriedigung 
und Erlösung habe (176), dass nach mir Philosophie und Religion sich jgleich 
gteh^n <12), Philosophie die Beligion ganz ersetzen könne (27), und das 
mystische Gefühl ein „doppelseitiger Affe et** sei (16). Alle diese irrthüm- 
lichen Unterstellungen gestatten um so weniger eine Discussion, als ihnen nicht 
nur j0der Versuch einer Begründung, sondern selbst die Angabe der Stdlen fehlt, 
ir^ciie Ton Valhinger missverstanden sind. 



104 A. NenkantiamBmus. 

und ich will mich damit begnflgen, noch einige Bemerkungen ttber 
seine Stellnng zu der Frage des Pessimismus und Optimismus an- 
zufügen. 

17. Optimismus und Pessimismus. 

Vaihinger behauptet (179), dass Optimismus und Pessimismos 
zwei Anschauungsweisen des Seins darstellen, ,ydie in ihrer Art 
gleichberechtigt sind, ohne dass der 'Menschengeist b^ide jemals 
yersöhnen kann''; der Pessimismus sei die Anschauungsweise des 
Werktags, während die Seele am Sonntag mit dem Optimismus 
Staat mache (181). Hieraus wäre nun zu schliessen, dass von einer 
Polemik gegen eine der beiden Seiten bei Vaihinger nicht mehr die 
Rede sein könne, da beide gleich wahr und gleich falsch sein sollen. 
Gleich wahr sind sie als „gleichberechtigte'' Anschauungsweisen, 
die aus der widerspruchsvollen Organisation unsres Geistes mit 
Nothwendigkeit abfliessen, — gleich falsch, weil beide „als Erzeug- 
nisse menschlicher Ideologie" gleichnjässig jeder transcendentalen 
Wahrheit entbehren, weil „die Welt der Wirklichkeit an sich weder 
schlecht noch gut ist" (178). Damit ist zugleich die beliebte „nega- 
tive Versöhnung" vollzogen, während eine positive Vermittlung 
wegen der widerspruchsvollen Natur unsres Geistes ftir unmöglich 
erklärt wird. Die beiden gleichberechtigten Anschauungsweisen 
werden ohne positive Vermittelung als ewige Antinomie neben ein- 
ander fortbestehen. „Wie in der Metaphysik unser Urtheil schwankt, 
so wechselt hier unser Gefühl ab, und wo dies nicht der Fall ist, 
da sind wir schon einseitig" (172), sind wir nicht mehr normale 
Menschen. 

Diesen Standpunkt aber hält Vaihinger nicht fest, neben ihm 
her läuft eine zweite, mit ihm unvereinbare Ansicht, nach welcher 
nicht der Pessimismus, sondern nur der Optimismus der 
menschlichen Ideologie angehört, während der Pessimismus als 
treues Abbild der empirischen Wirklichkeit anerkannt wird. „Genau 
wie Lange dem Materialismus im Empirischen und Einzelnen Recht 
giebt gegenüber dem dogmatischen Idealismus, so giebt er auch 
dem Pessimismus gegenüber einem dogmatischen Optimismus im 
Einzelnen und Empirischen Recht . . . Hätte uns Lange etwa mit 
einer „Geschichte des Pessimismus und Kritik seiner Bedeutung in 
der Gegenwart" beschenkt, so hätte er den Pessimismus ganz genau 



Lange-Vaihinger^s subjectiviBtischer Skepticismos. 105 

ebenso behandelt wie den Materialismus, und nachgewiesen, wie 
auch der Pessimismus am entscheidenden Funkte in idea- 
len Optimismus umschlage" (178—179). Der entscheidende Punkt 
ist wiederum die Idee des Sittlichen, welche eines idealen Optimismus 
bedarf (was für deren höhere Formen zuzugeben ist). „Der Pessimismus 
hat, wie der Materialismus, ein ungemein hohes Verdienst, nämlieh 
den ihm entgegengesetzten Dogmatismus vernichtet zu haben" (179). 
„Also: wir müssen den Optimismus festhalten, aber nur als Ideal, 
und mit dem Bewusstsein, dass er nur eine Art bewusster Selbst- 
täuschung, wissentlich yerfälschender Einbildung ist, und nur ein 
Gedicht, dem keine Wirklichkeit entspricht" (181). 

Offenbar ist die zweite Ansicht die relativ richtigere 
und zugleich diejenige, auf welche Lange ursprünglich gekom- 
men ist. Denn wenn der Pessimismus ebenso wie der Optimismus 
nur ein Product menschlicher Ideologie wäre, so fehlte ihm ja jede 
Kraft, um den letzteren zu bekämpfen oder gar zu widerlegen (172 
Z. 22 — 24); nur indem er sich auf die Beweiskraft der empirischen 
Wirklichkeit stützt, gelingt es ihm, die vermeintliche Wahrheit des 
Optimismus über den Haufen zu werfen. Hat aber der Pessimismus 
Recht für die Welt der Erfahrung und gegebenen Wirklichkeit, so 
ist er auch keine Illusion mehr, sondern empirische Wahrheit, 
also etwas specifisch Anderes als der illusorische Optimismus. Wie 
der Optimismus durch eine blosse Illusion nicht kritisch widerlegt 
werden kann, so kann er auch durch eine blosse Illusion nicht ge- 
stützt werden; mag er noch so unentbehrlich für die „Idee" der 
Sittlichkeit sein, er verfällt doch der obigen Kritik über Lange's 
illusorischen Idealismus, und der Pessimismus in seiner empirischen 
Begründung bleibt als alleinige Wahrheit bestehen. Aber das 
gerade fürchten Lange und Vaihinger, und um den Schein einer 
Erhabenheit ihres Standpunktes über beide Extreme zu retten, lassen 
sie die empirische Wahrheit des Pessimismus, von der sie ausgingen, 
unvermerkt unter den Tisch fallen, und erklären Optimismus und 
Pessimismus in gleicher Weise für unbegründete, wahrheitslose 
Illusionen. 

Erst eine Consequenz hiervon ist die Behauptung, dass „die 
Welt der Wirklichkeit an sich weder schlecht noch gut sei." Aber 
welche Wirklichkeit? Die empirische? Von ihr ist ja zugegeben, 
dass der Pessimismus für sie im Bechte seil Oder die an sich 



106 A. HeukantUaiflinitt. 

seiende? Aber diese soll ja für uns schlechthin unerreiphbar wd 
unzugänglich sein; wie können da auch nur negatiyQ Ppgmßii 
(„weder schlecht, noch gut'^) über sie aui^esteUt werden? Pi§s^ 
falsche Consequenz führt die Behauptung ad abs^rdim, 9f¥4 weloji^r 
sie abfliesst (dass Optimii^nus und Pessimismus wahrheUslpse J^r 
sionen seien), jene Behauptung, welche nur durch eine lS4iiß!ßiotSjg^ 
aus Lange's und Valhinger's eigentlichem Standpunkt hervorgeg^ngien 
ist und diesem direct widerspricht. 

Wir haben dabei stehen zu bleiben, dass fUr die eppirisQ^ig 
Wirklichkeit ,4er Pessimismus der erfahrungsmänsigen Beflexiop^^' 
(182) im Bechte ist, und dass der illusorieche Optimismus ißt ßür 
gemeinen Kritik des illusorischen Idealismus verJtUllt. Dp« ,^rmo- 
nische Weltbild,'^ das dieser Optimismus uns vorgaukelt, ist Lttg^i 
wenn es das Bild einer realen Welt vorstellen will, und nichti- 
ger Schaum, wenn es bloss als wahrheitsloses Luftschlos^ 
aufgefasst wird. Ob solche Einbildungs weiten g^t oder sch}ßkO}it 
seien, ist eine Frage, die mit dem axiologischen *) Problem, mit der 
Frage, ob die real existirnde Welt gut oder schlecht sei, gar 
nichts zu schaffen hat. Mögen jene Phantasmagorien so lieJ^iich 
sein, wie die Welt des Eeichthums und der Herrschermacht, die der 
Wahnsinnige hinter seinen Gittern sich erdichtet, da^ lindert gar 
nichts 4UI der traurigen Beschaffenheit der wirkücheji Welt, so wenig 
wie das illusorische Glück des Yerrücktei^ an der traurigen Thßir 
Sache seines Wahnsinns etwas ändert. (Vaihinger's Weltideal \Y'&r^ 
dass wir alle des Sonntags in's Irrenhaus oder in die Haschischkaei|^ 
gingen.) Für die wirkliche Welt kommen solche Dichtungen nur sow(Mt 
in Betracht, als sie im Stande sind, durch ihre Verwirklichung derep rea)e 
Beschaffenheit zu verbessern; das können sie aber höchstens in 
dem Grade, als die reale Yerbesserungsfähigkeit der Weit es 
zulässt, und wenn, wie ich behaupte, der Pessimismus in Betreff 



*) Ich gebe dejn Terminus ,,Axiologie*' (oder Lehre you dem Werth dqr 
Welt) den Vorzug vor dem von Vaihinger vorgeschlagenen „Metamoral,'< weil 
letzterer auf der irrthümlichen Voraussetzung beruht, dass die Frage nacä dem 
Pessimismus sich genau so zur Moral verhalte wie die Metaphysik zur Physik 
(230). Die Axiologie beschäftigt sich aber nur mit der Bemessung von Lust 
und Unlust, die als psychologische Facta der Welt der subjectiven Erscheinung 
angehören, und keineswegs wie die Metaphysik hinter jene in die Welt der 
Dinge an sich oder gar in das Wesen derselben zurückweisen. 



Lange- Vaihinger% foliieotnistiBchtf Skepticismas. lOT 

der letaleren Beckt behält, so behält er es an letzter Instanz 
übfirbrapt. 

So wenig man einen illusorischen metaphysischen Idealismus 
gelten lassen kann, so wenig einen illusorischen Optimismus; der 
ülnsorische Optimismus Lange's muss sich ebenso wie sein illusori- 
scher Idealismus überhaupt in ein bis zwei Generationen in Nihilis- 
mus zersetzen, und den nackten einseitigen Pessimismus als Sieger 
auf der Wahlstatt lassen. Nur wenn der Optimismus ebenso wie 
der Pessimismus eine Wahrheit in Bezug auf die wirkliche Welt 
beanspruchen kann, nur dann hat er eine Berechtigung. Ist die 
Cnlturgeschichte das rigentliche Feld des Optimismus und der 
Fortschritt oder die Entwickelung in ihr in allen Beziehungen un- 
yerkennbar (176), so ist dem culturgeschichtlichen Optimismus, d. h. 
dem von mir vertretenen evolutionistischen Optimismus eben damit 
aueh eine transcendentale Wahrheit zugestanden. Dann sind 
PessimismuB und Optimismus Anschauungsweisen, welche nicht bloss 
ans unsr^r Subjectivität entspringen, sondern einer transcendenten 
Realität entsprechen; dann ist aber auch die Möglichkeit einer 
negativen Versöhnung beider (durch Unwahrerklärung beider) 
beseitigt, und eine positive Vermittelung ^ur unabweisbaren For- 
derung geworden, wie sie von mir und von Yolkelt in verschiedener 
Weioe versucht ist.*) 

Vaihinger befindet sich bei der ganzen Fragestellung in Betreff 
des Optimismus und Pessimismus in einer ziemlichen Unklarheit, da 
er glaubt, dass das über diese Frage entscheidende Werthurtheil 
,^9 ästhetischem oder ethischem oder eudämonologischem Gesichts- 
punkte aus gefällt werden kann^' (l^?)- Ob in der Welt das Schöne 



♦) Die von Vaihinger beliebte antithetische Gegenüberstellung Dührings er- 
weisst sich nirgends so unpassend als bei seinem, mit dem Flittergold socialisti- 
scher Zukunftsutopien verbrämten und mit dem wüsten Gebelfer eines „ethischen 
EntrüstungspesBimismus^^ gepfefferten vulgären Optimismus, dessen völlig un- 
pliilosophische Banalität jeden Versuch einer Antithese mit meinen Ansichten 
ohne Entstellung und Verzerrung der letzteren unmöglich macht. Eine 
Bichtigstellung im Einzelnen würde im Vergleich zu deren Nutzen einen 
unverhältnissmässigen Baum einnehmen; ich bemerke nur, dass Vaihinger meine 
ganze Synthese von eudämonologischem Pessimismus und evolutionistischem Opti- 
mismus gar nicht verstanden hat (142, 173) und keine Ahnung hat von der sub- 
jecliven Gemftthsstimmung, welche diesem meinen Standpunkt consequenter Weise 
entspricht. 



log A. Neukantianismas. 

oder das Hässlichey das Sittliche oder das Unsittliche im lieber* 
gewicht sei, das sind Fragen, deren Entscheidung direct genommen 
für das Problem des Pessiniismns völlig indifferent ist. Es kann 
sich nur und ausschliesslich um die Frage handeln, ob Lust oder 
Schmerz überwiege ; denn nur dieses Urtheil kann darüber entschei- 
den, ob das Sein oder das Nichtsein der Welt den Vorzug verdiene. 
Vaihinger verkennt dies deshalb, weil er als Maassstab der Be- 
urtheilung des Seienden nicht den reinen Begriff des (per impossibüe) 
supponirten Nichtseins desselben nimmt, sondern den völlig illu- 
sorischen Maassstab eines eingebildeten Seinso 11 enden (179), 
wozu er dann natürlich die sämmtlichen ästhetischen, ethischen und 
sonstigen Ideale rechnet.*) 

Der ästhetische und ethische Werth der Welt sind für das 
Pessimismusproblem nur insoweit von Bedeutung, als sie die 
Summe der Lust oder Unlust in der Welt alteriren; insoweit 
sind sie allerdings zu berücksichtigen, aber nur als integrirende 
Bestandtheile des eudämonologischen Werthurtheils. Wenn Vaihinger 
letzteres mit dem „sinnlichen" Werthurtheil identificirt (126) oder 
behauptet, dass es die „gemeine" Lustempfindung sei, an der ich 
das Leben messe (134), so sind dergleichen banale Einwürfe bereits 
mehrfach erledigt.**) Vaihinger setzt Schopenhauer, der in Allem 
die „ewige Qual" sehe, Goethe entgegen, der in Allem die y^ewige 
Zier" sehe (199); er nimmt also an, dass Schopenhauer ästhetischer 
Pessimist sei (169), während derselbe, ebenso wie ich, der entschiedenste 
ästhetische Optimist ist, und auf diesen ästhetischen* Optimismus, 
auf die Thatsache der höchstmöglichen Schönheit in der Natar, ^e 
Wahrheit seines metaphysischen Idealismus stützt. Den Confusionis- 
mus zvnschen ästhetischem und eudämonologischem Werthurtheil 
hat also Vaihinger erst in Schopenhauer hineingetragen; aber den 



*) Dieser Irrthum giebt vielleicht auch die psychologiche Erklärang dazu, 
wie er zu dem Glauben kam, den Pessimismus ebenso wie den Optimismus zu 
einer Illusion herabsetzen zu können. Er dachte so : der Optimismus ist Illusion ; 
der Pessimismus ist nur der Gontrast der Wirklichkeit gegen diese Illusion, ftlso 
ist er auch Illusion (178 unten). Das ist aber eine arge Sophistik. Die Kealit&t 
des Schmerzes ist von keiner vorgängigen optimistischen Illusion abh&ngig; 
nur die Reflexion über die Summe der Schmerzen hat ihre Wahrheit zu 
erobern im kritischen Kampfe gegen instinctive (unbewusste) optimistische Illu- 
sionen, ohne dass diese Gegnerschaft ihre siegreiche Wahrheit illusorisch macht 

♦♦) Z. B. Ton A. Taubert: „Der Pessimismus und seine Gegner** S, 21 — ^22. 



Lange-Yaihinger'B subjectivistischer Skepticismus. 109 

ConfdBionismus zwischen ethischem und eudämonologischem Werth- 
nrtheil hat er allerdings in demselben vorgefunden. Ich rechne es 
mir zum Verdienst an^ diesen Gonfusionismus Schopenhauer's gründ- 
lich beseitigt, und den Pessimismus ausschliesslich auf das 
eadämonologische Werthurtheil gestützt zu haben. 

Glaubt Vaihinger etwa, dass ich um höchst wirkungsvolle De- 
clamationen gegen die moralische Schlechtigkeit der Welt in Ver- 
legenheit gewesen wäre? Glaubt er nicht, dass es mich Ueber- 
windung gekostet hat, auf dieses scheinbar so plausible Fundament 
des Pessimismus zu verzichten, das dem glücklichen Besitzer seinen 
Pessimismus obenein noch mit einer „ethischen Atmosphäre'^ umhüllt? 
Aber wenn die Welt noch zehnmal unsittlicher wäre als sie ist, 
und sich dabei wohl befände, so könnte man nicht mehr sagen, 
dass ihr Nichtsein ihrem Sein vorzuziehen wäre, d. h. dass der 
Pessimismus im ßechte sei. Seine „Gesinnungs-Tüchtigkeit'' durch 
einen krass aufgetragenen „ethischen Entrüstungspessimismus'' zu 
docamentiren, ist ein wohlfeiler Kunstgriff, den die Philister der 
Bierbank von jeher geübt haben, und der jederzeit am kräftigsten 
von behäbigen Pfaffen und gesinnungslosen Agitatoren ausgebeutet 
ist; die Philosophie hat mit dergleichen Schaugerichten nichts zu 
schaffen, — sie hat nicht die Aufgabe, sich über die Dinge zu e n t- 
rüsten, sondern sie zu verstehen und sine ira et studio zu 
beurtheilen, und zwar nicht am Maassstab subjectiver Ideale, sondern 
reiner Begriffe. Ethische Kategorien sind nur aus der Beziehung 
von Individuen unter einander abstrahirt; sie von Partialindividuen 
auf die Welt als Ganzes oder gar auf das ihr zu Grunde liegende 
Wesen übertragen, heisst sie ihrem Sinn zuwider gebrauchen, 
und deshalb ist jedes ethische Werthurtheil über die Welt als 
Ganzes oder über das ihr zu Grunde liegende Wesen widersinnig, 
während ein eudämonologisches Werthurtheil über das Weltganze 
als Totalität empfindender Erscheinungsindividuen nicht nur berech- 
tigt, sondern geradezu gefordert ist. *) Es scheint mir nach alledem, 
dass Vaihinger keinen Grund hat, sich dessen zu rühmen, dass er 
gegenüber meiner Reinigung des axiologischen . Problems von un- 
gehörigen ethischen Beimischungen auf den Schopenhauer'schen 



♦) Vgl. auch Taubert a. a. 0. S. 11—15. 



HO A. Keakantiämsmiu. 

ConfasioniBintis zurückgegriffen und mir die Vermeidung desselben 
als Fehler angerechnet hat. 

Das rein eudämonologische Werthurtheil sucht Vaihinger nun 
wieder dadurch zu rerwirren, dass er an Stelle des theoretischen 
Pessimismus den Stimmungspessimismus, an Stelle der wissenschaft- 
lichen, durch erfahrungsmässige ßeflexion gewonnenen Ueberzengung 
von der Beschaffenheit der wirklichen Welt das wechselnde subjec- 
tive Gefühl unterschiebt. ,,Die pessimistische Ermüdung hat ihre 
Zeit und ihr Recht; und die optimistische Energie hat auch ihre 
Zeit und ihr Becht; und beide wechseln ab, und dieser Wechsel 
selbst kann wieder als angenehm oder unangenehm betrachtet 
werden. Hier so wenig wie in der Metaphysik giebt es etwas 
Sicheres und Beständiges'^ 0-"^^)- Entweder giebt Vaihinger zw 
dass dieser Wechsel der Stimmungen die unerschütterliche Bestän- 
digkeit der aus allen diesen Vorgängen ein für allemal zu gewin- 
nenden wissenschaftlichen Ansicht ganz unberührt lässt, oder er 
giebt damit die Erklärung ab, dass er die bewunderungswtlrdige 
Versatilität besitzt, seine metaphysischen und axiologischen Theorieü 
an einem Tage zehnmal mit seinen Stimmungen zu ändern, wie ein 
Weib seine Ansichten mit seinen Launen wechselt 



18. Tischer's und Tolkelt's Ansichten über die Illusion. 

Friedrich Vischer hat in seinem Werk über Goethe's Faust*) 
S. 291 — 303 den Pessimismus dadurch zu entkräften gesucht, dass 
er die Conservirung der beglückenden Illusionen aus eudämonologi- 
sehen Gründen ftir empfehlenswerth und möglich hält, und Johannes 
Volkelt hat diese Theorie sich angeeignet und vertreten in einem 
kleinen Aufsatz: „Glück und Werth der Illusion."**) Da diede 
Theorie mit Lange's illusorischem Idealismus auf gleichem Boden 
steht, so scheint mir hier der geeignete Ort, um etwas über dieselbe 
zu sagen. 

Vischer erklärt den Bechnungsansatz in meiner Behandlung des 
axiologischen Problems deshalb für falsch, weil ich mit zwei 



*) Goethe*s Faust. Neue Beiträge zur Kritik des Gedichts. Stuttgart, bei 
Meyer und Zeller, 1873. 

♦♦) „Im neuen Reich'*, Jahrgang 1876 Bd. U. S. 175-185. 



Lange-YaUungM*» sabjedinstischer Skepticismas. 111 

ColoBiien dp^rirä (?), einer der wahren Lnst nnd einer der Illasian; 
und nimmt an, dass ich durch den Nachweis der illusorischen 
Beschaffenheit der Vorstellungsgrundlagen eines Gefühls zugleich 
den Beweis geführt zu haben glaube, dass dies Gefühl keine Lust 
sei (a. a. 0. S. 298). Diese Unterstellung beweist nichts als die 
Oberflä(;blichkeit der Lectttre, deren Vischer mein Pessimismuscapitel 
gewürdigt hat. *) Ich habe (Phil. d. Unbew. II. 290) nachdrücklich 
erklärt^ dass der illusorische Charakter der Vorstellungsgrundlagen 
für die Realität des Gefühls ganz einflusslos sei, und dass und 
Weshalb l^otzdem der Nachweis solcher Gefühle stark zu Gunsten 
des Pessimismus in die Waagschale fUUt (ebd. 293—294). Der 
Grund ist ein doppelter: erstens, individuell genommen, weil der 
Täuschung in den meisten concreten Fällen die Enttäuschung folgt, 
und die Enttäuschung meistens bitterer ist als die Täuschung süss 
war, und zweitens, universell genommen, weil die Illusionen von 
der Kritik des Verstandes mehr und mehr zerfressen werden, und 
die Lust^ deren Vorstellungsgrundlagen als Illusionen durchschaut sind, 
vergiftet ist, selbst dann, wenn die Illusionen und das auf ihr 
ruhende Gefühl vorläufig dem Verstände zum Trotz fortdauern. 

Beides hat Vischer einfach ignorirt. Wenn er z. B. (S. 300) sagt, 
dass die wichtigste praktische Illusion in der Täuschung bestehe, als 
ob wir mit unserm Wirken mehr erreichten, als wirklich der Fall ist, 
und dass wir uns dieser Täuschung wissentlich hingeben sollen, so ver- 
gisst er, dass die unausbleibliche Enttäuschung leicht das Gemüth ver- 
bittern und die Arbeitslust und Arbeitskraft gänzlich lähmen kann, 
Während die wahrheitsgemässe Einsicht, dass der Einfluss des Ein- 
zelnen ein sehr geringer ist, dasä aber trotzdem (wie Leibniz sagt) 
y^eitie Kraft sich verliert* ', praktisch ausreichend ist und vor den 
Bitterkeiten getäuschter Erwartungen bewahrt. Dass das ethische 
Verdienst ein grösseres ist, wenn die Leistung nicht durch die 
Treibbauswärme solcher künstlich genährten Illusionen gezeitigt 



♦) Dass Vischer im üebrigen meine Schriften gar nicht gelesen haben kann, 
gebt ktis S. 255 deines Buches hervor, wo er meinen historischen und teleblogi- 
äehto Evolutionismus mit Schopenhauer's ungeschichtlicher Weltanschauung und 
blindem Kreislauf confundirt, und über mich den Stab zu brechen glaubt, indem 
er die letztere verdammt. Ich bedaure bei der Verehrung, die ich für Vischer's 
Yerdienste hege, aufrichtig, ihm don Vorwurf leichtfertigen Absprechens nicht 
erspafen zu können. 



112 A. NeukAntianismas. 

wird, sondern aus der nüchternen and ehrlichen Auflfassong der 
Wirklichkeit entspringt, will ich hier gar nicht betonen 

Yolkelt unterscheidet sehr richtig zwischen den blossen orna- 
mentalen Zuthaten der Phantasie und der principiellen Ulnsion. 
Was die ersteren betrifft, so urgirt er nur die Thatsache, dass die 
Lust; welche auf der Verschönerung der Wirklichkeit durch die 
Phantasie beruht, darum nicht minder reale Lust ist (was ganz 
meine Ansicht ist), und geht an der Frage vorbei, ob die Zuthaten 
der Phantasie zu der Auffassung der Wirklichkeit im Grossen und 
Ganzen genonunen mehr erfreuender oder betrübender, erhebender 
oder deprimirender Natur sind (a. a. 0. S. 177). Da er selbst am 
wenigsten das Uebergewicht einer unlusterzeugenden Phantasie- 
thätigkeit bestreiten wird, so kann die Begründung des Pessimismus 
durch die nähere Untersuchung der auf Phantasiethätigkeit beruhen- 
den Lust und Unlust nur eine neue Stütze erhalten, aber in keiner 
Weise erschüttert werden. Wenn Vischer glaubt, dass die Vernunft 
die sorgenbringende Thätigkeit der Phantasie einschränken könne, 
ohne in mindestens gleichem Maasse auch ihre freudenschaffende 
Kraft zu lähmen, so erweist er sich damit als ein schlechter 
Psychologe. 

Was dagegen die principiellen Illusionen, d. h. diejenigen Ge- 
fühle anbetrifft, welche in ihrem innersten Kern und Wesen auf 
illusorischen Vorstellungsgrundlagen beruhen, so muss ich erstens 
das Bestreben, dieselben um ihrer selbst willen, um der Ton 
ihnen gebotenen Lust willen, zu eonserviren, nur für verkehrt 
halten, weil bei demselben eben übersehen wird, dass der *durch 
dieselben gelieferten Lust eine Unlust der Enttäuschung gegenüber- 
steht, welche durchschnittlich bei weitem schwerer in's Gewicht 
fällt, weil also der eudämonologische Calcul der Optimisten, welche 
die Illusion auch als Illusion retten zu können vermeinen, schon 
im Bechnungsansatz verfehlt ist. Zweitens aber ist das Bestreben, 
die lustbringenden Illusionen auch nach Durchschauung ihrer illu- 
sorischen Beschaffenheit aus gleichviel welchen Gründen eonserviren 
zu wollen, ein erfolgloses, weil an innerem Widerspruch 
krankendes Bestreben. Die Instincte besteben fort, weil sie vor- 
läufig stärker sind als der Verstand, aber sie bestehen fort mit dem 
Bewusstsein der inneren Unwahrheit und Verkehrtheit und das aus 
ihnen entspringende Gefühl ist ein in sich gebrochenes, ist 



Lange-Yaihiiiger^s subjeclivifittBcher SkepticismuB. 113 

wie eiÄe Blttthe, in Weichet der giftige Wurm nagt, und welche 
Keinen mehr erfreut, der den Wurm nagen siebt. Auf die Dauer 
der Generationen aber ist der unermüdlich nagende und zersetzende 
Verstand stärker als die überkommenen Dispositionen der Instincte 
imd zerstört deren Kraft in ihrer Wurzel. 

Vischer selbst sagt in demselben Buche (S. 151) von der dich- 
terlsohen und philosophischen Kraft, dass es ihre Vereinigung „nicht 
giebt/' „Beide Kräfte, jede als ganz und ungetheilt gedacht, 
sehliessensich aus. Die Menschen-Natur kann das nicht in 
sich vereinigen, dass Ein Mann wahrer Dichter und Philosoph sei, 
denn die Philosophie zersetzt den Schein, der Dichter braucht 
den ganzen Schein und lebt in ihm.'' Wenn es der Philosophie 
eigenthümlieh ist, den Schein zu zersetzen, und Vischer mich tadelt, 
dasB ich den optimistischen Schein zersetze, so tadelt er mich doch 
HUT darum, dass ich Philosophie treibe. Wenn er ausruft (S. 295): 
„Die Illttsion ist das Gut der Güter. Ein Narr, wer sie sich zer- 
stört," — so muss Vischer entweder selbst solcher Narr sein, oder 
nach seinen eigenen Definitionen auf den Namen eines Philosophen 
Yendchten. Wenn er fordert, das« man den Schein der instinctiven 
nitlsionen der zersets^.enden Philosophie zum Trotz bewahren solle, 
so verlangt er nichts andres, als dass die Menschheit sich der Phi- 
losophie entschlagen solle, und er würde gut thun, das Verbot der 
Philosophie den Staatslenkern an's Herz zu legen. Aber Vischer 
kennt genug Geschichte, um zu wissen, dass die Menschheit trotz 
des mit Folter und Scheiterhaufen Jahrhunderte lang durchgeführten 
Verbots der Philosophie dennoch sich mit Philosophie beschäftigt, 
und zu einem Zustande durchgerungen hat, wo Philosophiren erlaubt 
ist. Denn die Philosophie ist die grösste Macht unter allen Mächten 
des Geistes, und auch der Schrecken eines alternden Aesthetikers 
vor ihrer neuesten, ihm unverständlich gebliebenen Phase wird ihren 
ruhigen Gang nicht hemmen. 

Auch der Gedanke gehorcht einem kategorischen imperativ, 
und aueh der Verstand hat ein Gewissen, und deshalb thun die 
anflösenden Kräfte nur ihre Schuldigkeit, wenn sie den Schein der 
Illusionen zersetzen. *) Konnte selbst Goethe den Philosophen und 



*) Dies erkennt auch Lange mif fast 4en gleichen Worten an : Gesch. d. Mat. 
H. 8. ÖOO Z. 8—6 Yon unten. 

K T. Hart man n, Erläuterungen, 2. Aufl. 8 



114 A. NeukantianiBmai. 

Dichter nicht in sich vereinigen, um wie viel weniger wird es der 
gewöhnliche Mensch können, wenn er den Schein festhalten 8oll| 
welchen fortbestehen zu lassen, sein Verstand vor seinem Gewissen 
gar nicht verantworten kann. Musste Vischer schon den ästheti- 
schen Schein der Dichtung für unvereinbar mit der Philosophie 
erklären, um wie viel weniger wird der trügerische und Itignerische 
Schein der praktischen Illusionen mit dem Grewissen des Verstandes 
vereinbar sein. 

Hier kommen wir auf einen Punkt, in welchem die Theorie 
Vischer's und Volkelt's eine weitere schlimme Blosse bietet Beide 
stützen nämlich ihre Annahme, dass die Conservirung der doroh- 
schauten praktischen Illusionen möglich sei, auf die Analogie, dass 
die Conservirung des ästhetischen Scheins, trotz seiner Durch- 
schauung als Schein, möglich sei. Nun sagt aber Volkelt selbst 
(a. a. 0. S. 178): „Illusion ist nur da, wo der Schein für volle 
Wirklichkeit genommen wird, wo das Wissen davon, dass wir blosse 
Phantasiebilder vor uns haben, gänzlich fehlt.'' Wie kann Volkelt 
nach dieser Definition im Ernst behaupten, dass alle Schönheit auf 
Illusion beruhe (S. 179 u. 180) ? Hat er jemals einen gemalten 
oder gemeisselten Löwen „flir vollwirkliche Gegenwart gehalten,^ 
so dass er sich vor demselben gefürchtet hätte und davon gelaufen 
wäre? Ist er jemals bei der Betrachtung eines Kunstwerks darüber 
in Zweifel gerathen, ob das Bild aus Leinwand und Farben, und 
die Statue aus Stein besteht? Will er mir im Ernste vorreden, er 
habe die Heiterkeit oder Betrübtheit des Himmels jemals ftir mehr 
als eine von ihm vollzogene symbolische Hineintragung, hahe sie 
jemals ftlr eine reale Thatsache gehalten? 

Volkelt täuscht sich selbst durch zweideutige Worte, weil er 
sich durch den Ausdruck „Schein^' irreleiten lässt. Volkelt ist kein 
Aesthetiker, aber Vischer ist einer, und noch dazu ein berühmter; 
er wenigstens sollte es wissen, dass der ästhetische Schein so wenig 
wie die Sprache eine Illusion ist, noch sein will, dass er in dem 
Augenblick, wo er zur lUussion würde, aufhören würde, ästhetischer 
Schein zu sein, und dass dies ebenso gültig ist ftlr den ersten Höhlen- 
bewohner, welcher Figuren in einen Knochen ritzte, als ftlr den eine 
raphaelische Madonna bewundernden modernen Kunstkenner. Deshalb 
besteht aber auch zwischen dem ästhetischen Schein und der prakti- 
schen Illusion keine Analogie, welche von dem einen auf die andere 



Lange-Vaihinger^B BubjectiTistiseher Skepticismus. 115 

ZU schliessen erlaabte^ sondern ein schroffer begrifflicher Gegen- 
satz. Indem ich den ästhetischen Schein als Schein aufnehme^ 
ohne ihm rorzuwerfen, dass er keine reale Wirklichkeit sei, mache 
ich mich erst fähig, den Tempel der Kunst zu betreten; eine Ent- 
täuschung kann hier nie Platz greifen, einfach deshalb, weil niemals 
eine Täuschung dabei stattgefunden hat. Wenn dagegen ein junges 
Mädchen nach Vischer's Becept die Illusion festhält, dass ein schöner 
aber leichtsinniger junger Mann „der vollkommene Mann" sei, und 
ihm Leib und Vermögen anvertraut, so kann sie die unangenehme 
Erfahrung machen, dass diese Illusion bei Schlägen und Hunger 
und liederlicher Verschwendung von Seiten des Mannes doch nicht 
ganz leicht aufrecht zu erhalten ist Ein solches Beispiel ist wohl 
geeignet, den Unterschied zwischen ästhetischem Schein und realem 
Leben zu zeigen; auf ersterem Gebiet ist der Schein conditio sine 
qua non, aber Täuschung und Enttäuschung gleich unmöglich, — 
auf letzterem Gebiet ist Aufrichtung oder Zulassung eines Scheines 
gleissnerischer Selbstbetrug, dem die bittere Strafe auf dem Fusse folgt. 
Es ergiebt sich aus alledem, dass es ebenso verkehrt, wie auf 
die Dauer unmöglich ist, praktische Illusionen^ welche der Verstand 
einmal entlarvt hat, aus irgend welchen Gründen conservireu zu 
wollen, und selbst die edelsten Motive können den in sich wider- 
sinnigen Selbstbetrug nicht rechtfertigen. Von dieser Seite den 
Pessimismus angreifen zu wollen, ist ein vergebliches Unterfangen. 
Die Versöhnung kann nur und ausschliesslich in der ßichtang ge- 
sucht werden, in welcher ich sie vollzogen habe, nämlich in der 
Einsicht, dass die fraglichen Instincte nur in Bezug auf den glück- 
snchenden Eigen willen Illusionen sind, dass aber in der Unwahr- 
heit eben dieses Gesichtspunktes ihre Wahrheit, und in ihrer 
Förderung der unbewussten Naturzwecke ihre teleologische E e c h t- 
fertigung liegt. Wer dies einmal eingesehen, der hält diese für 
deilEgoismus illusorischen Instincte nunmehr als objectiv werthvolle 
Wahrheiten fest; aber er kann dies nur unter Eesignation auf seinen 
Egoismus und sein individuelles Glück. Das Besultat meiner Kritik 
ist also nicht die Zerstörung der Instincte, welche nur dem 
Egoismus sich als illusorisch erweisen, sondern die Zerstörung des 
egoistischen Trachtens nach individuellem Glück, 
d. h. die Negation jedes eudämonologischen Optimismus 

und die Installirung des Pessimismus der ethischen Eesignation. 

8* 



116 A. Neukantiaiiismas. 

Von diesem ganzen Gedankengang und der ethischen Ueberlegenheit 
desselben über seinen fadenscheinigen Rest von illusorischem Optimis- 
mus hat Yischer gar nichts gemerkt, und Yolkelt hat sich ron der 
Aatorität Yischer s mit auf den Holzweg locken lassen. 



19. Ein Platonisches Gesprfteh« 

Ehe wir nun ron Yaihinger Abschied nehmen, möchte es sie 
empfehlen, seinen Standpunkt an einem concreten Beispiel 
illustriren und zugleich zu resumiren. 

Setzen wir den Fall, Herr Yaihinger stände im Begriff, um di( 
Hand einer Dame anzuhalten, so könnte sich etwa folgende Unte 
haltung entspinnen: 

Hr. Yaihinger: „Mein Fräulein, ich liebe Sie! Bevor Sl« 
Sich«aber entschliessen, Sich meiner Führung durch's Leben anzn^ 
vertrauen, fahle ich mich als redlicher Mann verpflichtet, Sie nicht 
darüber in Zweifel zu lassen, in welchem Lichte Sie mir erscheinen. 
So schön Sie auch sind, so ist nämlich Ihre Schönheit doch nur die 
ureigenste Schöpfung meines Geistes, und Ihr holder jungfräulicher 
Leib ein reines Product meines Yorstellungsvermögens." 

Die Dame: „Herr Doctor, ich bin Ihnen zwar sehr verpflichtet, 
dass Sie die Güte gehabt haben, mich zu produciren, indessen anter 
diesen Umständen . . .^ 

Hr. Yaihinger: „Entschuldigen Sie, mein Fräulein, auch von 
Anderen werden Sie auf dieselbe Weise wie von mir producirt, 
aber keiner von Ihren Bewunderern trägt dem lieblichen Schein, 
den er sich geschaffen, die gleiche Yerehrung und Anbetung ent- 
gegen wie ich." 

Die Dame: „Aber, Herr Doctor, Sie werden doch nicht leug- 
nen wollen, dass dieser Ihrer Erscheinung von mir eine Wirklichkeit 
entspricht." 

Hr. Yaihinger: „So leid es mir thut, so muss ich doch, um 
ganz ehrlich gegen meine eventuelle Zukünftige zu sein, Ihnen 
gestehen, dass ich kein Mittel ftir möglich halte, um über die blosse 
Subjectivität dieses Scheines hinauszukommen, oder denselben als 
einen durch eine entsprechende Wirklichkeit „wohl begründeten^ 
anzuerkennen." 



Laiige-Vailiiiiger*9 f^lilj^visti^cher Skeptlcismas. Hl 

Die Dame: ^^Aber mein Herr, Sie sprechen mir ja damit 
geradezu meine selbstständige Existenz abl'^ 

Hr. Vaihinger: i^Um Vergebung, liebes Fräolein, in eine 
solche dogmatische Negation werde ich mich wohl hüten zn ver- 
faUen." 

Die Dame: ^^Eurz and gut, Herr Doctor, halten Sie nach, 
^gesehen von Ihrer so schmeichelhaften Vorstellung Ton mir, ftlr 
existirend oder nicht ?'^ 

Hr. Vaihinger: «,Ich bedaurCi die Entscheidung^ zu der Sie 
mich drängen wollen, als kritischer Denker ablehnen zu müssen. 
Selbst am Tage unsrer goldnen Hochzeit würde ich so wenig wie 
heut in der Lage sein, Ihnen diese Frage zu beantworten/' 

Die Dame: „Sie geben vor, mich zu lieben, und glauben 
nicht einmal an meine Existenz ?'' 

Hr. Vaihinger: „0 theuerstes Fräulein, gewiss glaube ich an 
Ihre Existenz, so fest wie an die höchsten und heiligsten Träume 
des Menschenherzens, an das Gute und Schöne, — nur Ihre Existenz 
zu wissen musste ich ablehnen. Sie sind mir mehr als Wirklich- 
keit, Sie sind mein Ideal!'' 

Die Dame: „Herr Doctor, ich verstehe Sie nicht; wie können 
Sie an etwas glauben, von dessen Existenz Sie nichts wissen zu 
können behaupten?" 

Hr. Vaihinger: „Ich glaube an Sie wie an die ewige Wahr- 
heit der Poesie; ich bete Sie an als mein Gedicht, als das schönste 
und herrlichste, das mir je gelungen 1" 

Die Dame: „Sehr verbunden 1 Dann hätte ich also nicht bloss 
die Ehre, ein Product Ihrer Sinnlichkeit, sondern auch eine Schöpfung 
Ihrer dichterischen Phantasie zu sein!" 

Hr. Vaihinger: „Allerdings, mein Fräulein, und ich werde 
Sie ehren mein Lebelang, wie ich die Ideale meiner Jugend ehren 
werde." 

Die Dame: „Aber würden Sie mich dann nicht eines Tages 
als eine „bewusste Illusion" betrachten?" 

Hr. Vaihinger: „Sein Sie unbesorgt, Sie werden mir mit der 
Zeit zur „habituellen Illusion" werden, wie meine Liebe selbst." 

Die Dame: „Gleichviel, einmal durchschaute Illusionen pflegt 
man sich nur noch so lange gefallen zu lassen, als sie süss, ein- 
schmeichelnd und angenehm sind, und ich habe keine Garantie, das 



11g A. NeokantianiBmaB. 

wirklich za sein, geschweige denn, es immer zu bleiben. Wenn 
also Ihr Glaube an meine Existenz Ihnen bis jetzt nur als eine 
poetische Illusion Ihrer genialen Phantasie gilt, so habe ich von 
Ihrer interessanten Lection doch soviel kritische Vorsicht gelernt, 
um auf die Wahlentscheidung über Ihre Frage, ob ich Ihre Frau 
werden wolle, mindestens für so lange zu verzichten, als Sie auf 
die theoretische Entscheidung meiner Frage, ob ich existire oder 
nicht, verzichten zu müssen behaupten.^' 

Hr. Vaihinger : „0 mein Fräulein, wenn Sie nur ein Semester 
meine CoUegien mit anhören würden ..." 

Die Dame: „Gott schütze mich!" (Sie entflieht.) 



B. 

Schopenhauerianismus. 



. ' V 



m. 



Frauenstädt's Umbildung der Sobop^nhaMer'sohen 

Philosophie. 



1. Der snliJeetiYe Idealismas« 

Bei der Besprechung dea Fraaei^ßjtädf scben Umbil4ungayer9|i6he8 
)iemt es mir zweckmässig, mich io der l^^henfolge mehr der 
^penl^aner'schen Darstellung als der &itik Fraueiusitädt'3 in 
inen ,,Neaen Briefen'' anzuschliessen, weil der ari^tiQ^toqisohe 
ifbau des Schopenhauer'schen Systems im Ganzep ein wqUbegrün- 
^ter ist Das erste und zweite Buch seines Hauptwerkes eQ|;l)^ten 
in theoretischen, das dritte den ästhetischen, das vierte 4en et- 
ilen Theil seines Systems, und 4er theoretische Theil ist fo ger 
ledert, dass im ersten Buche die Er^enntniBstheorie als die Qrqpd- 
ge und 4er Eckstein aller Philosophie durchgearbeitet ^i^di un4 
st im zweiten Buche auf dies^pa Fundament dier T})^^I>^n s^er 
genAttnilichen Metaphysik errichtet wird. Die £lrkeimtnisstheorie 
m, y^elchß im ersten Buch entwickelt wird, ist — das ^k^uif 
ic^ Frauenstädt an — der liubjective Idealismus, d. h. 4ie Lehre, 
uss alle empirische Bealität der wahri^ommev^ Dinge lß4[ig^oh 
1 ]ptewwstseinsinhalt, in der Welt der sulgec^ven Ersoheinimg zu 
iip^en sei Dieselbe stützt sich auf K^nf s ^anf cendi^ntn^le Ae^^H 
}ä ^jÄ^ytika d. h. auf di« Lehre, #p» die Ansphftunngft- Ufl4 ^c^- 



122 B. Schopenhaaerianismos. 

fonnen spontane Producte der Seele und keines ttber das Gtebiet 
der subjeetiven Erscheinung binausreichenden Gebraucbes fähig 
seien. 

Bei Kant läuft neben diesem transeendentalen Idealismus der 
Vorstellungsformen ein transcendentaler Bealismus des Vorstellungs- 
inhalts her, insofern derselbe die Materie der Anschauung durch 
eine transcendente Causalität des Dinges an sich auf den äussern 
Sinn gegeben sein lässt. Diesen transeendentalen Realismus Kant's 
verwirft Schopenhauer unbedingt, weil derselbe eben auf dem trans- 
eendentalen Gebrauch des CausalitätsbegriJOTes beruht, welchen die 
Grundsätze seines transeendentalen Idealismus verbieten (vgl. ^^Die 
Welt als Wille und Vorstellung", 3. Aufl. L, 516—517), und weil 
er in letzteren Grundsätzen die unsterbliche und ewig unvergäng- 
liche, zugleich aber auch die einzig haltbare philosophische Leistung 
Kaufs erblickt, deren Evidenz ihm als über allen Zweifel erhaben 
gilt (ebd. 518). Zu keiner Zeit seines Lebens hat er aufgehört von 
Kant und seinem transeendentalen Idealismus mit der grössten Be- 
wunderung zu sprechen; niemals hat er den Versuch gemacht, die 
Thatsache des unversöhnlichen Widerspruchs zwischen dieser Lehre 
und der Annahme einer transcendenten Causalität des Dinges an 
sich auf das Wahrnehmungsvermögen vertuschen zu wollen, und am 
wenigsten ist es ihm je in den Sinn gekommen, dass die wahre 
Entscheidung zwischen den unverträglichen Elementen in der E^ant^- 
sehen Erkenntnisstheorie die umgekehrte sein müsse, als er sie in 
seinem Hauptwerk getroffen. Zu keiner Zeit hat er von seinem 
erkenntnisstheoretischen Idealismus irgend ein Düttelchen widerrufeni 
und nichts berechtigt Frauenstädt, seine eigene entgegengesetzte 
Entscheidung in jener Alternative Schopenhauer unterzuschieben 
und diesen so zu behandeln, als ob sein Idealismus bloss eine 
Jugendverirrung gewesen wäre, die man ihm nicht anrechnen könne. 
Vielmehr ist der subjective Idealismus der Grundpfeiler des historisch 
gegebenen Schopenhauer'schen Systems; er verhält sich wie ein 
Farbstoff, der einem Organismus in's Blut gespritzt wird, d. h. er 
durchdringt ihn in seinen feinsten Geweben und ist in jedem klein- 
sten Punkte bestimmend für seine eigenthümliche Färbung. 

Allerdings ist Schopenhauer, ausserdem dass er erkenntniss- 
theoretischer Idealist ist, auch noch metaphysischer Realist. Der 
subjective Idealismus, consequent durchgeführt, mündet , wie ich 



Fraaeiist&dt*B Umbfldang der Schopenhaaer'schen Philosophie. 123 

anderwärts gezeigt habe*), in absoluten Illasionismns ans, in welchem 
sowohl das Ding an sich als auch das Ich an sich zur Illusion wird 
und die Welt zu einem einzigen Bewusstseinstraum ohne Träumer 
herabsinkt. Vor diesen Gonsequenzen glaubte Schopenhauer dadurch 
geschützt zu sein, dass er das Ding an sich durch einen geheimen 
Gang von innen als Willen constatiren zu können wähnte, und gerade 
dieser Glaube gab ihm den Muth, die Eantische Grundlage eines 
transcendentalen Realismus (die transcendente Gausalität) scrupellos 
über Bord zu werfen. 

Nun ist erstens die Schopenhauer'sche vermeintlich unmittelbare 
Ableitung des Dinges an sich keine; zweitens, wenn sie eine wäre, 
würde sie nur das Ich an sich sicherstellen, aber niemals irgend- 
etwas über ein Ding an sieh neben dem Ich ausmachen können; 
und drittens widerspricht sie dem subjectiven Idealismus^ ganz ebenso 
wie die Eantische Ableitung des Ding an sich aus der transcenden- 
ten Causalität. Von dem ersten und dritten Punkte scheint Schopen- 
hauer niemals eine Ahnung aufgegangen zu sein, wohl aber Ton 
dem zweiten. Das Erfassen des eignen Wesens als Wille konnte 
nämlich nur über das transcendente Gorrelat des Vorstellungssubjects, 
niemals über dasjenige des Vorstellungsobjects Aufschluss geben. 
Wenn auf irgendwelchem Wege ein transcendentes Gorrelat des 
Vorstellungsobjects abgeleitet ist, dann kann allerdings der Verstand 
durch Analogieschlüsse dasselbe als ein Ich, und somit als einen 
Willen eonstruiren ; aber ob dem VorsteUungsobject irgend ein trans- 
cendentes Gorrelat entspreche oder nicht, dafür kann die Selbst- 
er£B8sung des Ich als Wille nicht den geringsten Anhalt gewähren. 
Schopenhauer erkennt dies an, wenn er die Unwiderleglichkeit des 
„theoretischen Egoismus^' eingesteht; er hUft sich mit einem blinden 
Glauben an das, was er nicht beweisen zu können einräumt, weil 
der theoretische Egoismus seinem Geftlhle nicht acceptabel erscheint 

In seiner spätem Zeit aber scheint eine Ahnung bei ihm auf- 
zudämmern, dass der theoretische Egoismus nur dadurch positiv zu 
Hberwinden ist, wenn zwischen dem VorsteUungsobject und seinem 
transcendentalen Gorrelat eine inhaltliche Gorrespondenz stattfindet 
(Vgl Frauenstädt's „Neue Briefe'^ S. 104.) Dass aber, wenn man 



*) Vgl. yJSjitische Grundlegung des transcendentalen Realismus'' (2. Aufl. 
Berlin 1875). 



ISA Bcfaopenhaaerianisiitii. 

die prästabilirte Harmonie aaaschliesst, eine solche specielle Oorridir 
tion beider nur durch transcendente Caasalität möglich ist, das« 
also eine Aasfühnmg dieses Gedankens ihn zu der ron ihm pcor- 
horrescirten Eantischen Grundlage des transcendentalen BealiBOiiKi 
(als unentbehrlicher Ergänzung der seinigen) und zu dem au^edect:- 
tra Eantischen Selbstwiderspruch zurückführt, das scheint ihiii in 
keiner Weise zum Bewusstsein gekommen zu sein. Denn die Con- 
Sequenz davon wäre der völlige Widerruf' der Grundlagen geweaeoi 
auf denen er sein System als auf einem unerschütterlichen Fo^die 
ment errichtet zu haben fest überzeugt war. Schopenhauer war am 
wenigsten dazu veranlagt, sein einmal fixirtes System einer Beviflion 
oder gar einem solchen Neubau von Grund aus zu unter^iebea, Wß 
er es nothwendig hätte thun müssen, wenn er jene Consequensfiii 
in seinem Bewusstsein hätte platzgreifen lassen. Wenn ja eine 
Ahnung von klaffenden Bissen in seinem manumenti/mi etere perenmw 
in ihm aufgestiegen ist, so hat ihm doch der Gedanke, ganze Haup^ 
pfeiler desselben abtragen zu müssen, gewiss völlig fem gelegw, 
und er ist sicher gewesen, diese Bisse mit kleinen auj^eklebkopi 
neuen Flicken schliessen zu können, ohne die UnverträgUebfc^ 
dieser Flicken mit dem Bestehenden auch nur zu bemerken. 

Ein grosser Theil der Anhänger Schopenhauer's siebt hdUte 
nodi in seinem subjectiven Idealismus und in dessen Beimgong von 
dem bei Kant nebenherlaufenden transcendentalen Bealismua sieht 
nur das unerschütterliche Fundament, sondern auch das grösste and 
bleibendste Verdienst seiner Lehre, und erachtet die damit ufiver- 
träglichen, später aufgeklebten Flicken für blosse lapstM calamif diis 
dem alternden Denker zu verzeihen sind;"*") diese Auffassung bat 
jedenfalls mehr historische Berechtigung als diejenige FrauenstfidfSi 
wenngleich die letztere die sachliche Berechtigung f)ir sich hat 

Ich selbst habe mit dem subjectiven Idealismus Kaufs voll- 
ständig gebrochen und ausführlich nachgewiesen, dass und wesHalb 
es eine immanente Gausaiität (zwischen Vorstellungsobjecten) gar 
nicht geben kanp, sondern nur eine transcendente (zwischen Dingoi 
und sich), und dasa demnach die Entscheidung zwischen den aiek 



*) So z. B. den von Frauenstädt (S. 108) citirten Satz aus der Schrift „üeber 
das Sehen «id die Farben'*: ,^er Körper ist roth, bedeutet, dass er im Auge 
die rothe Farbe bewirkt" 



Fraaenst&dt's Umbildmig der Schope&hauer*8chen Philosophie. 1^ 

widersprechenden ideallBÜscIien and realistischen Lehren Kanfs 
im nmgekehrten Sinne zu treffen sei, als dies von Schopenhauer 
geschehen ist. Ich habe aber auch gezeigt, dass damit ein dem Scho- 
penbauer'schen diametral entgegengesetzter Ausgangspunkt für eine 
neue Systembildung gewonnen ist, dessen umkehrender Emfluss sich 
bis in die feinsten Verzweigungen des Organismus ftlhlbar machen 
muss. Wenn Bahnsen und Frauenstädt denselben Weg gehen zu 
mttssen erkennen, so kann mich diese Uebereinstimmung nur freuen, 
aber ich mnss darum doch gegen die historische Unterstellung pro- 
testiren, als ob das Schopenhauer'sche System als solches jemals 
einem erkenntnisstheoretischen Realismus Eingang gewährt hätte 
oder gewähren könnte, und sei es nur in demselben Sinne wie 
das Eantische (d. h. in Bezug auf die Materie der Anschauung im 
Unterschied von ihrer Form). 

80 lange die transcendente Causalität als im Widerspruch mit 
den unumstösslichen Grundsätzen der transcendentalen Aesthetik 
und Analytik ausdrücklich perhorrescirt wird, so lange kann alle 
Anerkennung oder vielmehr aller Glaube an eine Correspondenz 
oder Correlation zwischen Vorstellungsobject und Ding an sich nur 
auf etwas Unerklärliches gerichtet sein, das sich unserm nähern 
Yerständniss entzieht, und nur ganz unbestimmt in der (bei Schopeur 
baner) unmittelbar hinter der subjectiven Erscheinung beginnenden 
metaphysischen Wesenseinheit gesucht werden kann. In Wahrheit 
ist Form und Inhalt der Anschauung in gleicher Weise spontan 
und unbewusst von der Seele producirt, aber in der concreten Be- 
schaffenheit des Producirens in gleicher Weise durch die concrete 
Beschaffenheit des Dinges an sich und seine transcendente Causalität 
bestimmt, also die Eant'sche Unterscheidung zwischen Form und 
Inhalt in jeder Beziehung hinfällig und in der Scfaopenhauer'schen 
Absehwächung erst recht werthlos. Gestalt, Grösse, Geschwindigkeit 
der Bewegung und andere raumzeitlicbe Bestimmungen informiren 
uns gerade ebenso gut über die reale Beschaffenheit der Dinge an 
sich wie Farbe, Ton u. s. w. Frauenstädt wird dies von seinem 
Standpunkt aus gewiss nicht in Abrede stellen wollen; auch Helm- 
hoitz, den er heranzieht, muss als Naturforscher voraussetzen, dass 
die von der Seele spontan erzeugten Formen des Baumes und der 
Zeit in ihrer concreten Beschaffenheit ebenso gut wie die sinnlichen 
Empfindungsqualitäten durch die bestimmt^ Einwirl^ung der Sinne 



126 B. Schopenhauerianiimas. 

bedingt sind. Dann aber unterscheidet sich in diesem Punkte 
Schopenhauer's Lehre auch nach Frauenstädt's Darstellung immer 
noch wesentlich von dem durch Helmholtz repräsentirten naturwissen- 
schaftlichen Realismus, auch wenn wir ron dem noch weit tieferen 
Unterschiede absehen, dass in Wirklichkeit Schopenhauer nur immar 
nente, der naturwissenschaftliche Realismus nur transcendente Causa- 
lität anerkennt und gelten lässt. 

Frauenstädt sagt zur Yertheidigung seiner Interpretation Schopen- 
hauer's Folgendes: ,,Wo ein Philosoph einander widersprechende 
Behauptungen aufstellt, können nicht beide ftir seine eigentliche und 
wahre Meinung gelten, sondern nur eine von beiden ; und die andere 
muss dann als durch seine wahre Meinung aufgegeben betrachtet 
werden" (S. 177). Dieser Satz ist falsch. Die Widersprüche im 
Kopfe eines originellen Selbstdenkers entstehen dadurch, dass er 
von verschiedenen Gesichtspunkten oder von verschiedenen Erfah- 
rungsgebieten aus zu Conclusionen gelangt, die einander ausschliessen, 
'^ind deren Widerspruch durch Synthese zu überwinden er nicht die 
speculative Kraft besitzt. Den höhern Gesichtspunkt zu finden, aas 
welchem die relative Wahrheit der Gegensätze erkennbar wird, 
bleibt seinen Nachfolgern überlassen. Scheidet man aber vorzeitig 
durch negative Kritik eine der beiden Seiten des Gegensatzes aus, 
so macht man die Systeme dadurch zwar widerspruchsfreier, aber 
auch leerer und dürftiger. Daher ist auch von dem subjectiven 
Idealismus etwas festzuhalten, und derselbe nicht als ganz und gar 
aufgegeben zu betrachten: das ist die errungene Einsicht in die 
Heterogenität von Ding (an sich) und (Vorstellungs-) Object, und 
die Erkenntniss, dass sowohl der Inhalt wie die Form der An- 
schauung lediglich vom Subject vorbewusst und selbstthätig (aber 
allerdings nach Maassgabe der vom Dinge erhaltenen causalen Ein- 
wirkung) producirt wird. Dies ist die Wahrheit, durch welche der 
subjective Idealismus über dem naiven Realismus steht, der die 
Dinge und Objecte identificirt und Inhalt wie Form der Anschauung 
vom Dinge aus in die Seele hineinströmen lässt. Mit obiger Wahr- 
heit wird der subjective Idealismus zum aufgehobenen Moment im 
transcendentalen Realismus herabgesetzt, verliert aber eben damit 
seine selbstständige Bedeutung und wird als subjectiver Idealismus 
(im Gegensatz zum Realismus) vernichtet. Diese Art der Elimination 
durch Aufhebung in eipep höhere Stapdptmkt ist allerdings nicht 



FrauenBt&dt's ümbfldnng der Schopenhaner^schen Philosophie. 127 

mehr als eine blosse ,,AasIegung^^ desselben za bezeichnen (105); 
nicht darum kann es sich handeln, den sabjectiven Idealismus der 
systematischen Schopenhauer'schen Schriften nach späteren vereinzel- 
ten realistischen Anwandlungen auszulegen, sondern darum, ihn 
durch Aufhebung in einen hohem Standpunkt als das, was er ist 
und sein will, zu yemichten. 

Thut man dies aber, wie Frauenstädt und Bahnsen es gethan 
haben, so darf man sich auch nicht darüber unklar sein, dass man 
mit einem solchen Schritt allein schon aus dem Rahmen des histo- 
risch gegebenen Systems herausgetreten ist und dasselbe positiv 
überwunden hat. Das geschichtlich treue Bild der Schopenhauer'- 
sehen Lehre darf nur das bieten, was er in systematischem Zu- 
sammenhange ausgeführt hat, muss Widersprüche, die sich darin 
vorfinden, als historische Thatsache respectiren, und darf nur die 
Bemerkung hinzufügen, dass Schopenhauer in späteren Jahren spo- 
radisch realistische Velleitäten zeigte, die aber niemals feste Gestalt 
gewannen und noch weniger ihm mit ihren unausbleiblichen Conse- 
quenzen für das System zum Bewusstsein gelangten. Auch bei Kant 
wird es dem Geschichtsforscher nicht einfallen, nur die erste oder 
nur die zweite Auflage seiner „Vernunftkritik^' als authentisch gelten 
zu lassen (105), sondern er wird das volle Bild der Eantischen 
Lehre sammt deren nicht wegzuleugnenden Widersprüchen aus 
sämmtlichen Schriften des Philosophen zusammengenommen zu recon- 
strniren bemüht sein. Am allerwenigsten kann die Thatsache, dass 
der subjective Idealismus auch schon im Rahmen der ersten Auflage 
des Schopenhauer'schen Hauptwerks den übrigen Stücken des 
Systems (dem metaphysischen Willensrealismus, dem objectiven 
Idealismus und dessen realistischer Teleologie, dem Materialismus 
und dem Mitleid gegen andere Individuen) widerspricht, einen Vor- 
wand abgeben, den ersteren als nicht der eigentlichen und wahren 
Meinung des Philosophen entsprechend ^ eliminiren, wie Frauenstädt 
dies in der schon oben citirten Stelle (177) verlangt. Insbesondere 
kann eine Apologetik, die sich auf ein so eingreifend verändertes 
System bezieht, nicht mehr als eine wirkliche Vertheidigung Schopen- 
hauer's gegen die ihm von seinen Gegnern mit Recht vorgeworfenen 
Widersprüche und Inconsequenzen gelten, wenngleich eine solche 
Umbildung sich rein sachlich betrachtet auf dem rechten Wege 
befindet 



128 B. SchopenhauerianismiiB. 

S. Die Sphftre der Indiyidiiation. 

Der sabjective Idealismas hat f)ir Schopenhaaer zunächst die 
doppelte Bedeutang, ihm einerseits den Monismus des Weltwesens 
zn yerbürgen and andrerseits das Bäthsel der Indiyidaation zh 
lösen. Indem er mit Recht Raum and Zeit als das prindpium indi- 
viduationis hinstellt, ergiebt sich ihm die strenge Folgerang ans der 
transcendentalen Aesthetik Eanf s, dass die Vielheit nar in der Welt 
der subjectiven Erscheinung, aber nicht im Ding an sich möglich 
sei, da eben Raum und Zeit jenseit der Sphäre der sabjectiTen 
Erscheinung keine Gültigkeit haben sollen. Hiermit ist der Monis- 
mus ftlr das erkenntnisstheoretische Ding an sich streng erwiesen, 
und das Indiyiduationsproblem dadurch gelöst, dass es ans dem 
realistischen Gebiet des Daseins in dasjenige der subjectiven Er- 
scheinung verlegt ist. Streicht man nun mit Frauenstädt and Bahnsen 
den snbjectiven Idealismus aus dem System Schopenhauer'», so ent- 
hüllt sich die vermeintliche idealistische Lösung des Individnations- 
problems als trügerischer Schein und der Monismus sinkt zu einer 
unbegründeten persönlichen Ansicht herab. Es ist daher eine folge- 
richtige Consequenz der Beseitigung des subjectiven Idealismos^ 
dass Frauenstädt eine wirkliche, d. h. realistische Lösung des 
Individuationsproblems bei Schopenhauer vermisst, und dass Bahnsen 
freie Hand zu haben glaubte, den Monismus seines Meisters gänzlich 
zu verwerfen und die Vielheit der Individuen realistisch als eine 
substantielle und ewige zu behaupten. Bei Frauenstädt vermisse 
ich die Einsicht, dass er ftlr den Monismus, den er festhalten will, 
neue Stützen zu suchen verbunden ist, und dass die Scbopenhaner'sehe 
Lösung des Individuationsproblems nur dann keine ist, wenn man, 
wie er thut, den subjectiven Idealismus verwirft. Frauenstädt hat 
weder eine neue Begründung des Monismus, noch eine eigene 
Lösung des Individuationsproblems aufzustellen versucht, lässt also 
die grössten Lücken in seiner „Umbildung'^ offen, während ich die- 
selben im Sinne des Schopenhauer'schen metaphysischen Realismmi 
zu schliessen versucht habe (Phil. d. ünb. Cap. C VII u. IX). 

Darin stimmt Frauenstädt mit mir überein, dass die reell vor- 
handene Vielheit von Individuen weder in der Sphäre des absoluten 
und einen Allwillens, noch in der subjectiven Erscheinnngswelt eines 
individuellen Bewu^stseins , sondern nur in einer mittlem Sphäre 



Frauen8t&dt*s ümbildang der Schopenltau^r'schen Philosophie. 129 

gesacbt werden könne, welche recht eigentlich als Sphäre der Indi- 
viduation zu bezeichnen ist und sich zum einen Allwillen wie eine 
Manifestation, Objectivation oder objective Erscheinung zu ihrem 
Wesen, zu dem Vorstellungsobject des Bewusstseins aber wie das 
Ding an sich zur subjectiven Erscheinung yerhält (111). Desgleichen 
sind wir darin einig, dass Raum und Zeit als prindpitim individua' 
twnis festzuhalten seien und deshalb ebensowohl Formen des realen 
Daseins in dieser Sphäre der Individuation oder objectiven Ersohei- 
nimg wie Formen der Anschauung in der Sphäre des Bewusstseins 
sein müssen (110, 113, 115 u. a. m.). Beide Punkte sind aber 
Interpolationen in das System Schopenhauer's, welche dasselbe völlig 
aus den Fugen rücken, und von Seiten Schopenhauer's ebenso wenig 
Billigung gefunden haben würden, als sie ihnen jetzt von Seiten der 
Mehrzahl jener Schopenhauerianer zu Theil wird, die dem Stand- 
punkt des Meisters in der Hauptsache treu bleiben wollen. 

Schopenhauer hat das Wort „Erscheinung^' ebenso wie Kant 
niemals in einem andern Sinne als dem des Erscheinens ftlr ein 
wahrnehmendes Subject verstanden, und würde eine Erscheinung 
ohne einen, dem sie erscheint, für Unsinn erklärt haben. Alle 
Stellen, die Frauenstädt anfahrt, um sie in unserm Sinne zu deuten, 
lassen sich ebensowohl und noch besser im Sinne der subjectiven 
Ersdieinung auslegen, und selbst die Manifestation oder Objectivation 
des Willens, von der Schopenhauer spricht, ist nicht als ein Zweites 
neben und über der subjectiven Erscheinung zu verstehen, sondern 
als die subjective Erscheinung selbst, insofern dieselbe in ihrer 
Beziehung zu ihrem transcendenten Gorrelat eines concreten Willens 
au%efasst wird. Das „Eingehen'^ des Willens in die * Formen d6r 
Erscheinung (114 Z. 25) bedeutet bei Schopenhauer nichts anderes 
als das Hineintreten in ein Bewusstsein, d. h. als Vorgestelltwerden, 
und selbst der Ausdruck „Natur'' (115 Z. 25) ist nur als Inbegriff 
der subjectiven Erscheinungen in ihrem immanent- causalen Zusammen- 
hange auszulegen. Das mindeste, was selbst Frauenstädt zugestehen 
muss, ist, dass alle diese Ausdrücke zweideutig, und demnach seine 
Auslegungen im realistischen Sinne zweifelhaft, also keinenfalls 
geeignet sind, rückwärts zur Begründung seiner Behauptung beizu- 
tragen, dass Schopenhauer's eigentliche und wahre Meinung der 
Widerruf seines subjectiven Idealismus gewesen sei. 

£. T. Hart mann, ErUtaterongen« 2. Aufl. 9 



130 S* Schopenhaaerianismos. 

3. Die Causalitftt. 

Die zwischen der All-Einheit des Weltwesens und der subjee- 
tiven Erscheinungswelt in der Mitte liegende, Schopenhauer unbekannte 
Sphäre der realen Individuation ist nicht nur die Sphäre des wirk- 
lichen Raums und der wirklichen Zeit, sondern auch diejenige der 
wirklichen Causalität, während Raum, Zeit und Gausalität als sub- 
jective Anschauungs- und Denkformen nur ideelle Nachbilder jener 
realen Daseinsformen repräsentiren. Diese Auffassung muss natür- 
lich von Schopenhauer und den echten Schopenhauerianem als 
höchst ketzerisch perhorrescirt werden, und die Bemühungen Frauen- 
städt's im 23. und 24. Briefe, seinem Meister eine reale, d. h. be- 
wusstseinS'transcendente Gausalität zu imputiren, beweisen das 
Gegentheil von dem, was sie beabsichtigen. Schopenhauer statnirt 
durchaus nur eine immanente Gausalität der Vorstellungsobjecte 
untereinander, und die Aengstlichkeit, mit welcher er diese Grenze 
der Geltung der Gausalität hütet, zeigt sich auch darin, dass er 
jeden influxus, der jenseit dieser Grenze fällt, mit hartnäckigem 
Eigensinn unter den Begriff der Gausalität zu subsumiren sich weigert. 
Dies gilt insbesondere für den Einfluss des Willens auf die Erschei- 
nungswelt, beziehungsweise der Naturkräfte auf die Naturerschei- 
nungen, sowie auch auf den gegenseitigen Einfluss, den Ding and 
Ich auf einander ausüben. 

Schopenhauer erkennt an, dass jede Veränderung das Product 
zweier Factoren, eines innern constanten und eines äussern variablen, 
ist (123); aber in ersterm erkennt er das constante Princip oder 
Wesen der Erscheinungen, und nur letztern lässt er als Ursache 
gelten, der freilich durch ersteres erst „die Möglichkeit zu wirken" 
(122) ertheilt wird. Er warnt vor Verwechselung von Kraft und 
Ursache, bestreitet, dass der Wille jemals Ursache sei, und beschränkt 
alle Ursachen auf Gelegenheitsursachen (124).*) Dies ist auf dem 
Standpunkte der immanenten Gausalität ganz folgerichtig, da die 



*) Hegel yerfäUt, um Ursache und Wirkung fOr identisch ausgeben zu kön* 
nen, in die entgegengesetzte Einseitigkeit, nur das sich in beiden gleichbleibende 
Kraftquantum als die wahre Ursache gelten zu lassen, und die Form, in welcher 
diese Kraft sich darstellt, sowie die concreten Bedingungen, Yon denen die Art 
und Weise ihrer Umsetzung abhängt, als nebensächlich und unwesentlich aussa- 
Bcheiden. (Vgl. meine Schrift: „Ueber die dialectische Methode*' S. 86.) 



FrauenBtädt's Umbildung der Schopenhaaer*schen Fhflosoplue. 131 

Kraft oder der Wille, wenn sie als Ursache anerkannt werden, 
eben damit aach als transcendente Ursachen anerkannt sind, was 
Schopenhauer nicht will noch kann. Hieraas ergiebt sich, wie an- 
stichhaltig Fraaenstädt's Versuch ist, daraus, dass die Natarkräfte 
reale Ursachen seien, die Realität der Caasalität im transcendenten 
Sinne za begründen, and auf diese Weise den Realismas Schopen- 
hauer's and dadarch mittelbar dessen Abstandnahme von seinem 
sabjectiven Idealismas za erweisen (113). 

Das Gleiche gilt von seinen Bemühungen, das Bestehen einer 
realen Caasalität zwischen Object und Subject in Schopenhaaer's 
System zu erweisen, wobei noch hinzukommt, dass er Ding (an sich) 
und Object einerseits und reales Subject der Vorstellungsfanction 
and ideales Vorstellungssubject andrerseits beständig confandirt. 
Sabject and Object sind bei Schopenhaaer beide in gleichem Maasse 
nur Erzeugnisse der sabjectiven Erscheinung, gleichsam die beiden 
antrennbaren Pole der bewnssten JVorstellang, and können so ver- 
standen gar keinen in fluxfis aufeinander üben, weder einen cansalen 
im Sinne Schopenhaaer's, noch sonst irgendwelchen andern ; sie sind 
Gorrelatbegriffe wie rechts and links, oben and unten, Ursache and 
Wirkang n. s. w., deren jeder mit dem andern eo ipso mitgesetzt 
ist Ganz anders, wenn man Subject und Object nicht mehr in 
ihrer sabjectiv-idealen Bedeutung als Pole der bewassten Vorstellung 
nimmt, sondern als Repräsentanten der ihnen correspondirenden 
transcendenten Correlate, des „Ich an sicb^' und des „Ding an sich^ 
Da erscheint uns natürlich das Vorstellungsobject als beeinflusst 
durch die prodacirende Thätigkeit des Ich an sich und durch die 
den äussern Sinn afficirende transcendente Causalität des Ding an 
sich, welche zugleich ein Afficirtwerden des Ich selber ist Aber 
wir wissen, dass dies Schopenhauer nicht so erscheint, wenigstens 
nicht in der eigentlichen Beleuchtung seines Systems. Hier bleibt 
die geahnte und geglaubte Correspondenz zwischen Vorstellungs- 
object und Ding an sich als ein unerklärliches und keinenfalls durch 
Causalität zu erklärendes Problem stehen, und die producirende 
Thätigkeit des Ich an sich fällt unter den Begriff der Kraftäusserung, 
die gleichfalls der Verwechselung mit Causalität entrückt ist Fassen 
wir aber den subjectiven Idealismus noch strenger im Sinne des 
jugendlichen Schopenhauer, so ist zu bemerken, dass die anscheinende 
Zweibeit von Ding an sich nnd Ich an sich überhaupt keine reale 

9* 



132 B. SchopenhauerianismuB. 

sein kanby Bondern nur eine aus dem transcendentalen Gebrauch 
immanenter Kategorien (Vielheit n. s. w.) entspringende falsche 
Einbildung, dass also von einem Einflnss beider auf einander schon 
deshalb nicht die Bede sein kann, weil in Wahrheit beide nur Eins 
sind. Hier reducirt sich also das ganze Problem darauf, dass die 
Production der bestimmten Vorstellung (mit ihren beiden Polen Sub- 
ject und Object) eine concreto Kraftäusserang des einheitlichen Ich- 
ansich-Dingansich ist, welche als Eraftäusserung dem Begriff 'der 
Causalität entrückt ist. 



4* Die MotiTation* 

Immerhin bleibt es auch ans diesem Gesichtspunkt richtig, daiss 
kein Geschehen, also auch keine Causalität möglich ist ohne Wille 
(36); denn da zwei Factoren zum Geschehen zusammenwirken 
müssen, kann keiner von beideiL actiy wirksam werden ohne den 
andern, d. h. eine Veränderung kann nicht Ursache werden, ohne 
dass ein Wille als die dem Vorgang zu Grunde liegende Kraft 
fnnctionirt, und ein Wille kann nicht als concretes Wollen sieh 
äussern, wenn es an der Gelegenheitsursache, d. h. dem Motiv fehlt 
Keineswegs jedoch würde Schopenhauer Frauenstädt's und Babnsen's 
Auffassung seiner Lehre gebilligt haben, als ob die Causalität des 
Motivs sich auf den Willen erstreckt, als ob das Motiv für den 
Willen Ursache des Functionirens sei (45 — 47). Dies muss aber 
Frauenstädt's Meinung sein, wenn er aus der Causalität des Motivs 
und der Identität der Causalität auf allen Stufen der Natur die 
Realität der Causalität im transcendenten Sinne demonstriren zu 
können glaubt (35—36). Vielmehr ist Schopenhauer*s wahre Meinbng 
die, dass das concreto Wollen als zeitliche Function bereits auf die 
Seite der Erscheinung, d. h. der subjectiven Erscheinung falle, dass 
also die Causalität des Motivs ganz und gar in der imraanenten 
Sphäre verharre, insofern sie nicht das Wollen als solches, sondern 
nur den Inhalt des bestimmten Willensactes als zeitliche subjective 
Erscheinung mitbestimmen helfe. Nach ihm hat nur jeder einzelne 
Willensact ein Motiv, der Wille überhaupt aber hat zu tieinem 
Wollen (als Willensbejahüng oder allgemeinen Willen zuM lieben) 
keins (44); ebenso hat nach ihm jeder einzelne Act einfen Zweck, 
das gesammte Wotleti keineü (94)^ und der Zweck des Wolienfi ült 



tSraaenst&dt^B ÜmtHlduDg der äckopenhauer^schen l?titlosophie. m 

ans dem Zasammenhange der Stelle als da» bewusste Ziel oder der 
bewusste Inhalt des Wollens zu verstehen. '*^) 

Franenstädt bekämpft (94—96) Schopenhauer's richtige und 
tiefsinnige metaphysische Lehre, dass das Wollen überhaupt keinen 
Zweck and kein Motiv habe, ebenso wie Bahnsen; aber letzterer 
ist dabei von seinem Standpunkt aus im guten Recht, Frauenstädt 
von dem seinigen im Unrecht. Bahnsen nämlich leugnet einen 
absoluten all-einen Willen und schreibt daftlr dem Individualwillen 
ewige Substantialität und Aseität zu ; Frauenstädt dagegen acceptirt 
den einen Allwillen und leugnet die Substantialität und Aseität der 
Individualwillen. Bahnsen stützt sich mithin auf den intelligiblen 
Charakter, und würde nicht bestreiten, dass, wenn es einen absolu- 
ten Willen gäbe, derselbe nicht als Charakter (also auch nicht als 
Wille mit einem concreten Inhalt oder Zweck) gedacht werden 
könne; Frauenstädt hingegen, der nur dem all-einen Willen Aseität 
zuschreibt und mit Becht alle Individualcharaktere zur Sphäre der 
Erscheinung (d. h. der objectiven) rechnet, muss zugeben, dass der 
letzte innere Grund jeder einzelnen Handlung in jener metaphysi- 
schen Sphäre des AU-Einen liegt, d. h. jenseit aller Individual- 
charaktere und ihrer Individiialzwecke (238, 242). Spricht man 
von dem Willen im Sinne des Individual willens mit bestimmtem 
Individualcharakter, so unterliegt es keinem Zweifel, dass es der 
Wille ist, der die auftauchenden Vorstellungen zu Motiven stempelt, 
d. h. ihnen die Macht zu wirken verleiht (und auch ich habe es nie 
anders aufgefasst und dargestellt); spricht man aber vom Willen 
im Sinne des über der Sphäre der Erscheinung stehenden und diese 
bestimmenden Princips, so kann von einem Charakter, d. h. einer 
Präformation des eventuellen Willensinhalts durch die Beschaffenheit 
des Willens als solchen nicht mehr die Bede sein (47). 

Hier enthüllt sich dann eben der tiefste Sinn der Motivation 
als einer Bestimmung von Vorstellung durch Vorstellung (nicht vxm 
Wille durch Vorstellung), d. h. absolut genommen wird nur der 
Vorstellungsinhalt des Allwillens, nicht dieser selbst, von Moti\?en 



*) Ich habe letztem auch „Object des WoUens** genannt, ohne ihn darum 
jemals, wie Bahnsen und Frauenstädt (46) annehmen, mit dem „Object des Yor- 
stellens" oder gar mit dem diesem Vorstellungsobject oorrespondirenden Ding an 
sich zu yerwechseln. 



134 ^* Schopenhauerianismaft. 

berührt^ and nar weil die Individuen Erscheinangen sind^ die selbst 
schon durch Specification des absoluten Willensinbalts (d. h. der 
Idee) gesetzt werden, entsteht bei ihnen der Schein, als ob durch die 
Motive auf den Willen selbst eine Causalität ausgeübt würde. Indem 
Franenstädt diesen Schein fflr eine metaphysische Wahrheit nimmt, 
verwirft er die betreffende tiefere Wahrheit, die sein Meister schon 
besessen hatte (die Zweck- und Motivlosigkeit des Allwillens), and 
bekämpft mich, weil ich an dieser bedeutenden metaphysischen Ein- 
sicht Schopenhaner's festhalte. 

Wie im Allgemeinen der bleibende Werth des subjectiven 
Idealismus in dem Ergreifen der Wahrheit besteht, dass nur durch 
eine idealistische Supposition überhaupt das Erkenntnissproblem 
lösbar werde*), so besteht im Besondern der Werth des subjectiven 
Idealismus für das Problem der Motivation in der Erkenntniss, dass 
auch dieses Problem nur lösbar sei unter der Voraussetzung, dass 
bei dem Motivationsprocess nicht der dem Vorstellen völlig heterogene 
Wille als solcher, sondern nur ein idealer Inhalt desselben alterirt 
und modificirt werde. Der Fehler liegt beidemal nur darin, dass 
die unentbehrliche idealistische Supposition im subjectivistischen 
Sinne genommen wird, so dass doch nur eine Scheinlösung der 
Probleme dabei herauskommt, die auf die Dauer nicht befriedigt 
and mit andern Seiten des Gegebenen in Widersprüche verwickelt 
So geräth z. B. Schopenhaner's subjectivistische Theorie der Moti- 
vation in den Widerspruch, dass nach ihr das Handeln der Natur- 
kräfte auf äussere Ursachen nur in der Bedeutung der Natur als 
meiner subjectiven Erscheinungswelt, also eigentlich nur als Function 
meines Willens zu verstehen wäre, was die Naturkräfte als selbst- 
ständige Willensactionen zu falschem Schein degradiren würde. 
Deshalb erfordert Schopenhaner's subjectiv-idealistische Theorie der 
Motivation allerdings eine Correctur, aber nicht eine solche, die ihren 
idealistischen Charakter beseitigt, sondern nur eine solche, die sie 
aus der Sphäre des subjectiven in die des objectiven Idealismus 
erhebt; da die metaphysische Grundlage des Willensrealismus erst 
durch diese Correctur zur widerspruchslosen Geltung gelangt, so 
bedeutet diese Correctur zugleich den Uebergang von einem ein- 



*) Vgl. meine ,,Erit. Grundlegung des transcendentalen Realismus*' (2. Aufl.) 
S. 104-108. 



Franenstädt^s Umbildung der Schopenhauer^schen Philosophie. 135 

seitigen Illasionismas za einem harmonisch in sich versöhnten Ideal- 
realismnSy nach welchem gerade unsere Zeit ersichtlich auf allen 
Oebieten strebt. Dass Fraaenstädt diesen Schritt, den er ftlr den 
sabjectiven Idealismus Schopenhauer's im Allgemeinen gleich mir 
vornimmt, in diesem besondem Falle nnterlässt, ist um so mehr zu 
verwundern; als er ja den objectiven Idealismus Schopenhauer's in 
seiner metaphysischen Bedeutung aufrecht erhält (was Bahnsen 
nicht thnt). 



5* Die Oeneralisirung des Bewusstwerdens« 

Soll mit der Identität des Willens auf allen Stufen der Natur 
und demzufolge auch mit der Identität des Processes der Entäusse- 
rung der Kraft auf Anlass von Motiven, Reizen oder Ursachen Ernst 
gemacht werden, so muss die Auffassung der Gelegenheitsursache 
von Seiten der Kraft, oder die Perception des Reizes, oder das Be- 
wnsstwerden des Motivs gleichfalls auf allen Stufen der Natur als 
dem Wesen nach identisch gesetzt werden. Diese Empfänglichkeit 
oder Perceptionsfäbigkeit der Kraft oder des Willens für die Ge- 
legenheitsursache (Anlass, Reiz oder Motiv) ihrer Aeusserung ist 
aber ein „Insichfinden" oder „Innewerden", d. h. ein „Empfinden" 
oder „Bewusstwerden" des Motivs, oder mit andern Worten : Schopen- 
hauer's Generalisirung des Willens und der Motivation hat als noth- 
wendige Gonsequenz die Generalisirung der Empfindung oder des 
Bewosstwerdens für alle Stufen der Willensobjectivation im Gefolge, 
und Frauenstädt hat ganz recht, die Unausweichlichkeit dieser bei 
Schopenhauer nur zaghaft angedeuteten Gonsequenz scharf hervor- 
zuheben (35—38). 

Ich habe in der „Philosophie des Unbewussten" im Anschluss 
an Leibniz diese Gonsequenz vor Frauenstädt und Drossbach geltend 
gemacht, z. B. in Gap. A. I für die Thiere und für die niederen 
Gentralorgane des menschlichen und thierischen Nervensystems, in 
Gap. G. IV, 2 fUr die niedrigsten Thiere, Protisten und Pflanzen, 
und habe in Gap. G. III, 1 u. 2 (7. Aufl. II, 35 fg. und 468 fg.) 
die allgemeinen Bedingungen und die Genesis der Empfindung und 
des Bewnsstwerdens erörtert. Ueberall habe ich nachdrücklich 
betont, dass jedes subjective Aufnehmen eines Impulses, Percipiren 
eines Reizes oder Empfinden eines Eindrucks eo ipso ein bewusstes 



136 B. Behopenhauerianiflmtts. 

s^in musa, weil es, wenn es nicht als bewusstes zn Stande kopunt, 
eben überhaupt nicht zu Stande kommt; ebenso habe ich die an- 
gefahrten Betrachtungen von denen des Unbewussten schon auf 
äusserlich erkennbare Weise gesondert *) und vor Verwechselung der 
unbewussten Vorstellnng mit der dunklen Empfindung selbst für den 
Fall nachdrücklich gewarnt, dass letztere als Perception niederer 
Nervencentra einen relatiy unbewussten, d. h. für das Hauptcentrum 
des Bewusstseins im Organismus unbewussten Charakter erhält.^) 
Selbstverständlich greifen in der Wirklichkeit die dunkle Per- 
ception und die unbewusste Vorstellung überall ineinander, aber im 
Begriff müssen sie streng auseinander gehaUen werden. Denn die 
Empfindung i^uf ihren niedern Stufen oder die dunkle, unklare, 
düritige Perception gehört eben unter den Begriff des Bewusstwerdens 
oder Bewusstseins, steht also im contradietorischen Gegensatz zur 
Vorstellungsseite (oder Idee) des Unbewussten. Wenn Fraui&nstädt 
gleichwohl beides (das generalisirte Bewusstwerden und die unber 
wusste Idee) bei seiner Umbildung der Schopenhauer'schen Teleologie 
miteinander confundirt, so thut er es im Gegensatz zu meiner Auf- 
fassung. Wie er aber dazu kommt, mir seine irrthttmliche Ver- 
ifechselung in die Schuhe zu schieben, ist mir gänzlich un/erfiodlich. 
Und doch thut er dies dadurch, dass er als den Hauptgrund, warum 
mein System nicht eine Verbesserung, sondern eine Verschlechterung 
des Schopenhauer'schen sei, den anführt (44 u. 41), dass ich an 
Stelle der Schopenhauer'schen Subordination der Vorstellung unter 
den Willen eine Coordination und Gleichberechtigung beider setze, 
wobei er aber unter Vorstellung ausdrücklich die Generalisatio9 des 
Bewusstwerdens versteht (38). Nun habe ich mich jedoch immer 
zu Schopenhauer's Lehre vom Primat des Willens im Selbstbewusst- 
sein bekanQjt und dieselbe vertheidigt, d. h. die Subordination der 
bewussten Vorstellung unter den Willen und die secundäre abgeleitete 
Bescjbaffenheit derselben vertreten;!) diese Subordination gilt aogar 
für die höchste Stufe des menschlichen Intellects, um wie viel ooehr 
für das dumpfe Empfinden auf niedern Naturstufen ! Eine Coordination 



*) Z. B. das Gap, G. lY, eingetheilt in 1. „die unbewusste Seelei^th&tig- 
keit der Pflanze*' und 2. „das Bewusstsein in der Pflanze." 
*•) I. 67, ygl. auch S. 16 und 28-32. 
t) Vgl. „Phil. i. ünbew." Gap. C. IJI, 1. 



Fraaen8t&dt*s Umbildang der SchopenluMer^hea Philosophie., 1^37 

mit ddm WiUen habe ich nur für die echte nnbewusste Vorstellang 
behauptet, niemalB für das generalisirte BewnsBtwerden. Qass ich 
neben jener dunkeln Perception; die Frauenstädt als richtig anerkennt, 
noch eine absolut unbewnsste Vorstellung annehme, bezeichnet er 
(38) als den zweiten Fehler meines Systems im Vergleich mit dem 
Scbopeuhauer'schen (natürlich in der von ihm umgeformten Gestalt) ; 
es wird sich aber zeigen, erstens, dass auch sein Umbildungsstand- 
pnnkt diese absolut unbewusste Vorstellung besitzt und sich ihrer 
Anerkennung noch weniger als Schopenhauer '^) entziehen kann, und 
zweitens^ dass auch er dies^ unbewussten Vorstellung (sobald er 
nur aufhört, sie mit dem generalisirten Bewusstwerden za. ver- 
wechseln) eine dem Willen coordinirte Stellung im System gar 
nickt versagen kann. 



6. Die Teleologie, 

In der „Philosophie des Uijbewussteij'' habe ich die Hypothese 
üßr unbewussten Vorstellung in erster Reihe aus teleologischen Er- 
YT^gungsgründen ^u erweisen gesucht, und wird es daher unsere 
nächste Aufgabe sein, zu betrachten, welche Stellqing der Frauen- 
städtische Umhildungsstandpunkt zur T^Jeologie einnimmt. Bei 
Schopenhauer schiUert die Ansicht ttber die Teleologie zwischen 
einer subjectiy-idealistiscl^p und einer objectiy-idealistischen (oder 
realistisohen) Auffassung. In seinem Elauptwerk Qj>erwiegt unter 
Anlehnung s^n Eant'^ „Kritik d^r Urtheilskrs^ft'^ die erstere, in seinen 
sputen) Schriften, s;. B. in derjenigei) „Ueber den. Willen in der 
Ifojta^^', wachst ^ Hinneigung zu der realistischen Auffassung, ohne 
4ft§^ doch mit der erstern gebrochen w^rde, oder auch nur die 
Yerfi^iedenb/eit beider Be^achtungsweinei» und ihre Unvereinbarkeit 
ihm zum Bewusstsein käme. 

Die subjectivistische Lehre Kant's besteht darin, dass die reale 
Katur als solche keine Zweckmässigkeit enthält, sondern dass die 
letztere erst von dem urtheilenden Verstände durch einen unab- 
weislichen Zwang seiner Veranlagung hineingetragen wird. Die 



*) Für diesen habe ich es bereits in meinen „GesAmmelten phiksophischen 
Abhandlungen'* (wieder abgedruckt in den „Gesammelten Studien und Auäfttzen'*, 
D. lY, Nr. 5 u. 6) dargethan, worauf ich hier vi^rweisen muss. 



138 ^- Schopenhauerianismttd. 

teleologische Betrachtungsweise hat demnach nur insoweit eine Be- 
deutung, als die Natur Product unserer Vorstellung, d. h. subjective 
Erscheinung ist ; sie entbehrt dagegen jeder transcendentalen Bedeu- 
tung, d. h. jeder Anwendbarkeit auf die Natur, insofern unter ihr 
eine Welt der Dinge an sich verstanden wird; sie ist, ebenso wie 
die Causalität, eine Wahrheit für die subjective Erscheinungswelt, 
aber auch ebenso wie die Causalität eine trügerische Illusion in 
Bezug auf eine unabhängig von unserm Bewusstsein bestehende 
Welt.*) Was man in dieser Lehre vermisst, ist der Versuch, zu 
erklären, wie der Intellect dazu komme, eine teleologische Betrach- 
tungsweise in die Dinge hineinzulegen, denen doch jede Zweck- 
bestimmung fern sein soll. Diese Lücke hat Schopenhauer in geist- 
reicher Weise auszufüllen versucht, ohne damit aus dem Rahmen 
der subjecti vis tischen Auffassung der Teleologie herauszutreten. Er 
stützt sich dabei darauf, dass die Vielheit des Nacheinander und 
Nebeneinander gleichfalls erst durch die subjectiven Anschauungs- 
formen der Zeit und des Raumes erzeugt werde, während *der ein- 
heitliche Willensact oder die objective Idee, welche der subjectiven 
Wahrnehmung als Ding an sich correspondirt, zeit- und raumlos seu 
Soll nun eine gewisse inhaltliche Correlation zwischen den Vor- 
stellungsobjecten und dem Ding an sich gewahrt bleiben, so muss 
die Einheit des Dinges an sich in die Vielheit der Vorstellungen 
als irgend eine Art einheitlicher Beziehung derselben auf einen 
ideellen Mittelpunkt hineinschimmern, und dieses ist der Zweck. 

Gegen diese Erklärung ist dreierlei zu bemerken. Erstens fehlt 
der Nachweis, dass die in die Vielheit der Vorstellungen hinein- 
schinunernde einheitliche Beziehungsform auch wirklich der Zweck- 
begriff und kein anderer Beziehungsbegriff sei ; man würde vielmehr 
von vornherein eher zu yermuthen geneigt sein, dass die so gefor- 



*) Diese GleichsteUung von Causalität und Teleologie in Bezug auf den 
Wahrheitsgehalt und die Gültigkeitssphäre beider Betrachtungsweisen übersehen 
diejenigen vollständig, weiche ihre Gegnerschaft gegen die Teleologie auf die 
Autorität Eant's stützen zu können vermeinen, während sie gleichzeitig der Cau- 
salität eine unbeschränkte Gültigkeit zuschreiben. Mit ungefähr gleichem Rechte 
könnte sich Jemand auf Kant berufen, dem es etwa beliebte, die Causalität als 
eine illusorische Verstandesfunction ohne jede Bedeutung ftlr die wirkliche (d. h. 
unabhängig vom Bewusstsein bestehende) Welt zu bekämpfen und die Teleologie 
als die allein gültige Betrachtungsweise geltend zu machen. (Vgl. oben S. 62—63.) 



Fraaenstädfs Umbildung der Schopenhauer'schen Philosophie. 139 

derte Hannonie sich in sehr verschiedener nnd mannigfaltiger Weise 
offenbaren könne : zunächst als ideelle Einheit in der Mannichfaltig- 
keit, d. h. als Schönheit, speciell als Maass, Symmetrie n. s. w., 
sodann als Gausalität, Wechselwirkung und in vielen andern Ge- 
stalten, anter denen möglicherweise auch die Zweckbeziehang sei. 
Zweitens wird der ganze Erklärnngsversuch hinfällig, wenn man 
Schopenhaaer's Lehre als anhaltbar erkennt, dass der inhaltlich 
bestimmte concrete Willensact, oder die objective Idee, räum- and 
zeitlos sei and jenseit der Sphire der Individaation and Vielheit 
liege. Drittens endlich wird er dadarch hinfällig, wenn man die 
Unrichtigkeit der Schopenhauer'schen Annahme erkennt, dass aller- 
erst durch die sabjectiven Anschaaangsformen im Bewusstsein die 
metaphysische Einheit zar Vielheit entfaltet werde. Da Fraaenstädt 
sowohl die Lehre von der Zeit- and Baumlosigkeit der Idee, wie 
sie bei dieser Erklärang voraasgesetzt ist, bekämpft, als aach den 
sabjectiven Idealismus als falsch aufgegeben hat, so hat Schopen- 
hauer's Erklärangsversach für ihn jede positive Bedeutung verloren, 
and es ist mir anverständlich, wie er (173 — 174) die einschlägigen 
Stellen Schopenhauer's als Belege für eine realistische Auffassung 
der Teleologie durch letztern anführen kann. Denn wenn die Be- 
wunderung der Uebereinstimmung der Theile in der Vorstellung 
erst durch eine falsche Auslegung dieser Uebereinstimmung von 
Seiten des Intellects entstanden ist, so heisst das doch nichts anderes, 
als dass die teleologische Betrachtungsweise auf einer trügerischen 
Ulusion und auf einem Verkennen der wahren Quelle dieser Ueber- 
einstimmung (durch welche jeder Zweckbegriff eliminirt wird) beruht 
Streichen wir die falsche Auslegung des Verstandes, d. h. die Art, 
wie wir uns die Zweckmässigkeit denken, so bleibt nicht, wie 
Fraaenstädt (177) meint, „die Zweckmässigkeit an sich'' übrig, son- 

f 

dem die metaphysische Einheit des Willenswesens, die ebenso gut 
jenseit aller Teleologie, wie jenseit aller Gausalität liegt Von dieser 
Lehre Schopenhauer's ist also gar nichts aufrecht zu erhalten, sie 
muss nothwendig dem gleichen Schicksal wie sein subjectiver 
Idealismus überhaupt verfallen. 

Unvermittelt nebenher läuft aber eine zweite, realistische Auf- 
fassung der Teleologie bei Schopenhauer, welche besonders bei der Be- 
trachtung deslnstincts und der organischen Bildungsthätigkeit mit ihren 
zweckvollcn Besultaten zum Ausdruck gelangt. Diese letztere wird von 



140 ^* SckopenhaaeriAniBmadi 

Fraaenstädt mit Recht beibehalten nnd in seinem 31. Briefe weiter 
zu entwickeln yersucht. Er erinnert hierbei, ebenfalls mit Reeht^ 
an die früher von ihm dargethane Npthwendigkeit einer Generalir 
sirung des Bewusstwerdens und des Empfindens , und weist airf 
diese als auf eine unentbehrliche Ergänzung zum Verständniss des 
instinctiven Trieblebens der Thiere und Pflanzen hin. Leider be- 
findet er sich in dem Irrthum, durch dieses unklare Empfinden, 
welches zur Uebermittelung der Motive und Beize gewiss nicht ver^ 
misst werden kann, einen Ersatz bieten zu können fär die Schöpfer 
rische unbewusste Vorstellung und ihre Anticipation des Zukünftigen. 
Dagegen sagt er selbst in seiner Kritik der ersten Auflage meiner 
„Philosophie des Unbewussten" *) : „Schopenhauer stellt sogar die 
unbewusste Naturweisheit, die sich in der zweckmässigen Bildung 
der Organismen, in den Instincten und Kunsttrieben und in d^ 
geschlechtlichen Auswahl äussert, hoch über alle menschliche be- 
wußste Weisheit. Das unbewusste Wissen des Naturwillens ist ihm 
ein über alles bewusste Wissen individueller Menschengeister an- 
endlich erhabenes. Das grosse Gewicht, daB Schopenhauer anf die 
Intuition, die Divination, das Hellsehen aJa ein die Schranken des 
Baumes und der Zeit durchbrechendes Wissen legt (man vergleiche 
die Abhandlungen „lieber die anscheinende Absichtlichkeit im Schick- 
sale dos Einzelnen'' und „lieber das Geistersehen und was damit 
zusammenhängt, im ersten Band der „Parerga''), kann allein schon 
dazu dienen, zu zeigen, dass Schopenhauer die unbewusste Vorstel- 
lung nicht bloss gekannt, sondern dass er sogar mehr als irgend 
ein anderer Philosoph vor ihm die grosse Bedeutung derselben 
erkannt und hervorgehoben hat ....'' Und in seiner Abhandlung 
„Arthur Schopenhauer und seine Gegner"**) sagt er: „Wenn 
Schopenhauer dem Naturwillen, obgleich er seinem Wirken Gesetz- 
nnd Zweckmässigkeit beilegt, Erkenntniss abspricht, so muss man, 
um dies richtig zu verstehen, auf die Motive sehen, weshalb er es 
thut. Schopenhauer versteht unter Erkenntniss jene dem individuel- 
len Willen eines animalischen Wesens die Anschauung der Gegen- 
stände, welche Motive für seinen Willen sind, vermittelnde Gehim- 
function, welche das Wort Erkenntniss bezeichnet. Diese an die 



♦) SonntagsbeUage Nr. 8 der „Vossischen Zeitung" 1870. 
♦♦•1 Vgl. „unsere Zeit", 1869, 1. NoYemberheft. 



FraaenstädCs ümblMting der Schopenliauet''schen Philosophie. 141 

Sdhraüketi des Raumes und der Zeit gebundene Funfction; die ärst 
^uf einer bestimmten Stufe der Natur eintritt, hält Schopenhauer 
för feine viel zu beschränkte, viel zu untergeordnete, um sie dem 
Naturwillen beizulegen. Die Werke der Natur sind nach Schopen- 
hauer so erhaben über die verstandesmässigen Werke des Menschet^ 
letztere sind gegen erstere so stüknperhaft (W. a. W. u. V. II 397 fg.), 
dass^ wenn der Natur Erkenntniss beigelegt werden sollte, es jeden- 
falls eine ganz anderartige, höhere, weisere, durchdringendere Er- 
kenntniss sein mtlsste als die uns allein bekannte des animalischen 
Intellects (Gehirns). Schopenhauer, der tiefer als irgend einer in 
die innere Zweckmässigkeit der Natur einzudringen und die Weisheit 
der Natur zu bewundern vei-stand, würde gewiss nichts dagegen 
gehabt haben, dem Naturwillen Erkenntniss beizulegen, wenn man 
ihm nur zugegeben hätte, dass das die Schranken des Baumes und 
der Zeit durchbrechende Erkennen des Naturwillens, dieses Hellsehen, 
welches noch in das somnambule Hellsehen und den Instinct herein- 
fielt, ein anderartiges und weit erhabeneres ist als dais beschränkte 
Erkennen des animalischen Individuums.'' 

Wenn jene „unbewusste Naturweisheiti' nach Schopenhauer's 
eigener Lehre ein „hoch über alle menschliche bewusste Weisheit'' 
und „über alles bewusste Wissen individueller Menschengeister un- 
endlich erhabenes", „die Schranken des Raumes und der Zeit durch- 
brechendes Wissen" ist, und Frauenstädt seinerseits diese Consequenz 
der Schopenhauer'schen Philosophie nicht ablehnt, so muss er doch 
zugestehen, dass jene „ganz anderartige, höhere, weisere, durch- 
dringendere Erkenntniss" über die dunkle Empfindung niederer 
Organismen oder untergeordneter Nervencentra in noch weit eminen- 
term Grade erhaben sein muss als über die höchsten Formen b'e- 
wusöter menschlicher Klugheit und Einsicht. Wenn schon das 
Menschenhim dem aus ihm entspringenden Erkennen Schranken 
auferlegt, welche dasselbe zur Leitung des Naturwillens untähig 
machen, um wie viel mehr muss dies von niedern Ganglienknoten 
oder gar von pflanzlichem Protoplasma gelten! Die dunkle Per- 
ception kann immer nur gegenwärtige Zustände (der äussern Um- 
gebung oder des eigenen Organismus) zur Kenntniss des Bewusst- 
seins bringen, aber schwerlich jene „Anticipation des Zukünftigen" 
vollbringen, die im Instinct wie im organischen Bilden den hervor- 
stechendsten Charakterzug der teleologischen Wirksamkeit der 



142 B. Schopenhauerianismus. 

nnbewnssten Vorstellung bildet (181). Die Zwecktbätigkeit der 
nnbewussten Vorstellung im Instinct ist nur eine Fortsetzung der- 
jenigen im organischen Bilden; die letztere aber ist das Prius der 
Entstehung des Organs, durch dessen Functioniren erst die dunkle 
Empfindung oder Perception zu Stande kommt. Somit ist die an- 
bewusste Vorstellung das zweifache Prius der dunkeln Perception, 
und letztere kann weder mit der erstem identificirt werden, von der 
sie durch das Zwischenglied der Organbildung getrennt ist, noch 
kann sie als Ursache für die Entstehung des Organismus gelten, zu 
dem sie sich als Wirkung verhält. Nur ein hochentwickelter Intellect 
von ungetrübter Bewusstseinsschärfe kann innerhalb des Bereichs 
seiner Erfahrungen aus der percipirten Gegenwart Schlussfolgerungen 
ziehen, welche die Zukunft anticipiren; ein Intellect mit dunkeln 
„Empfindungen^^ und ärmlichem, trübem Bewusstseinsinhalt wird 
dazu schwerlich fähig sein. Der erstere erschliesst die Zukunft mit 
Hülfe seiner discursiven Reflexion; der letztere wird selten eine so 
entwickelte Fähigkeit zur discursiven Reflexion besitzen, um ver- 
mittelst derselben etwas Zukünftiges erschliessen zu können. Aber 
auch wenn er diese Fähigkeit besässe, würde sie doch nicht die- 
jenige Art von Anticipation des Zukünftigen liefern, welche allein 
der unbewussten Weisheit des Naturwillens zugeschrieben werden 
kann, nämlich die reflexionslose (177), intuitive (186), divinatorische 
(vgl. die obigen Citate). 

Aus allen diesen Gründen muss Frauenstädfs Bestreben, die 
teleologische Intelligenz des Naturwillens in dem generalisirten Be- 
wusstwerden zu suchen, als verfehlt bezeichnet werden, und als eine 
Verwechselung zwischen dunkler Perception und unbewusster Vor- 
stellung, vor welcher man ihn durch die Kenntniss der Philosophie 
des Unbewussten hätte geschützt glauben sollen. Frauenstädt hat 
nur die Alternative, entweder jedes teleologische Princip aufzugeben 
und auf den Standpunkt des Darwinismus hintiberzutreten, welchen 
er (in seinem 29. Briefe) in der Person des anonymen Kritikers der 
„Philosophie des Unbewussten^' mit richtigen Gründen bekämpft, 
oder aber Schopenhauer's Andeutungen über eine unbewusste Weis- 
heit des Naturwillens weiter auszubauen, d. h. in dem Willen eine 
reflexionslose, intuitive, von den Schranken alles Hirnbewusstseins 
freie (d. h. unbewusste) und über dasselbe erhabene (überbewusste) 
Intelligenz anzuerkennen, d. h. den Standpunkt der Philosophie des 



*7 



Frauenstädt's Umbildung der Schopenhauer'schen Philosophie 143 

Unbewussten zu dem seinigen zu machen. Den letztern Weg hat 
er in den angeführten Steilen aus den Jahren 1869 and 1870 im 
Prineip bereits eingeschlagen, und in seinen „Neuen Briefen" wird 
er durch seine Stellungnahme zu der Lebenskraft, sowie zur Ideen- 
lehre Schopenhauer's unaufhaltsam zu der gleichen Entscheidung 
gedrängt 

„Die Zweckursache ist so gut eine gesetzmässig wirkende Ur- 
sache, eine Kraft, wie die sogenannten wirkenden Ursachen. Jene 
ist bloss eine höher wirkende Ursache, eine dominirende, die mecha- 
nischen und chemischen in ihren Dienst nehmende Ursache'^ (169). 
„In dem Gegensatz der bildenden Kraft zu dem bildsamen Stoff 
steht folglich nur eine Kraft der andern Kraft gegenüber, nämlich 
organisirende Kraft den unorganischen Kräften. Jene ist nicht 
minder natüilich als diese, und wirkt nicht minder gesetzmässig 
als diese. Jene unterscheidet sich von diesen nur wie eine höhere 
Naturkraft von den niedem, und ihre Gesetze sind bloss andere als 
die dieser^' (168). Zu beachten ist, „dass sie nicht wie die Kräfte 
der unorganischen Natur an dem blossen Stoff, sondern zunächst an 
der Form haftet. Ihre Thätigkeit besteht ja eben in der Herror- 
bringung und Erhaltung dieser Form" (170). 

Es kommt hier nicht darauf an, die Bezeichnung „Lebenskraft", 
welche Schopenhauer den naturwissenschaftlichen Ansichten seiner 
Zeit gemäss ftir das organisirende oder formirende Prineip wählt, 
zu kritisiren; es genügt darauf hinzuweisen, dass dieser Ausdruck 
gegenwärtig von der Naturwissenschaft verworfen wird, weil er den 
falschen Schein erweckt, als ob das organisirende Prineip eine 
materielle oder mechanische Kraft von gleicher Ordnung mit den 
übrigen Naturkräften sein könne. *) Thatsächlich meint auch Schopen- 
hauer und Frauenstädt, ebenso wie ich, ein immaterielles metaphy- 
sisches Prineip, welches weder an eine bestimmte Art von Stoff 
(Nervengeist), noch an bestimmte Centralatome der Organismen ge- 
bunden ist, und dessen Wirkungen nicht wie diejenigen aller übrigen 
Naturkräft;e die Eigenschaft haben, centrifugal oder centripetal auf 
einen bestimmten Raumpunkt als imaginären Sitz der Kraft bezogen 
zu sein. Diesen Unterschied des organisirenden Princips von den 



*) Vgl. meinen Aufsatz „Ueber die Lebenskraft" in den „Gesammelten Ab- 
handlungen" (S. 106—110) („Gesammelte Studien und Aufsätze" C. Nr. IV). 



144 B. S^hopenifaaeriaiilMnas. 

materiellen Kätarkr&ften sich klar sa machen^ hatte äehopenbaaet 
um so weniger Anlass^ als ihm auch in Bezog auf letztere der 
Begriff der mechanischen, d. h. räumlich präcisirten Kraftwirknng 
noch fehlte, und dieselben ihm in einem unklaren Begriff dynamischer 
Action yerschwammen. 

Für Frauenstädt hätte es nahe gelegen, an diesem Punkte eine 
dem gegenwärtigen Stande der Naturwissenschaften mehr entspre- 
chende Präcisirung vorzunehmen. Wir haben uns daran zu halten, 
dass auch er anerkennt, dass das organisirende Ptincip, welches 
vorzugsweise berufen ist, die Teleologie in der Natur zu verwirk- 
lichen, eine Idee im Schopenhauer'schen Sinne des Wortes ist (169). 
Er verwahrt sich nur dagegen, als ob es eine blosse Idee, oder 
blosse Vorstellung ohne das Vermögen der Selbstverwirklichung, 
d. h. ohne Willensenei-gie oder schöpferische Kraft wäre (167); in 
der Tbat ist mir aber keine Philosophie bekannt, welche die Natür- 
ideen als blosse Ideen ohne Trieb und Kraft zur Verwirklichung 
verstände. Als blosse „Idee des Lebens^' (169) kann das organisi- 
rende Princip nur in abstracter Redeweise bezeichnet werden, wäh- 
rend in Wirklichkeit das organisirende Princip immer nur die 
Realisirung einer ganz bestimmten concreten Form anstreben kann, 
also auch selbst ganz bestimmte und eoncrete Formidee sein muss. 
So wie man die „Lebenskraft^' als Idee versteht, muss man in ihr 
das Gollectivum erkennen, welches alle concreten Organisationsideen 
unter sich befasst, oder mit andern Worten die Totalidee deir orga- 
nisirteu Natur, welche alle einzelnen Naturideen als ihre idealen 
Theile in sich schliesst. 

So spitzt sich Schopenhauer's realistische Teleologie zu seiner 
Lehre von der Lebenskraft zu, diese aber erhält ihre eoncrete Aus- 
führung wiederum in seiner Ideenlehre. Darum konnte ich oben 
die realistische und die objectiv-idealistische Aulfassung Schopen- 
hauer's von der Teleologie als Wechsel begriffe brauchen, und anderer- 
seits enthüllt sich die (von Frauenstädt irrtbümlich in dem dunkeln 
Empfinden gesuchte) unbewusste Vorstellung des zwecktfaätigen 
Naturwillens als die objeißtive Idee Schopenhauer's , von welcher 
auch Frauenstädt anerkennt, dass sie, „weit entfernt, bloss sub- 
jective Vorstellung im (subjectiv-) idealistischen Sinne zu sein, 
vielmehr die erste, unmittelbarste, allgemeinste und adäquateste 



Frauenstftdt's UmbilcUmg der SqhopenJbauer'schen Philosophie. ^45 

OiSttAmnao^ des UrwillenS; al»» das Friiia der esst BiittdJi>«r 
und secoiuUUr mit ihrer Hülfe zu Stande kommenden Dinge und 
IttdiyiduQii. iat. 

7. Die Idee. 

Si^bopenhauer's Ideenlehre iat nach aeiuer eigenen Angabe als 
eine Verknüpfung Kantischer und Platonischer G«dankenelemente 
ZM betracäiten. Wie ihm aus dem Kantischeu Gegensatz jom Ex- 
schdnung und Ding an sich der Gegensatz der Vorstellung und des 
Willens erwuchs, so gestaltete er den Kanti&chen Gegensatz des 
mundus phaenamenon und des mundus tummenon zu seinem Gegen- 
satz, der subjectiven Vorstellung und der objectiven Idee um. Dass 
er le^btere mit der Platonischen Ideenlehre in Zusammenhang brachte; 
wßx insofeim historisch berechtigt; als Kant selbst zu seiner Confuaion 
lUs Aursich-seienden und des Intclligiblen durch Benoniscenzen aus 
der Lett^mv'schen firkenutnisstheorie verleitet war, welche ihrerseits 
wieder sieh an den Platonischen Idealiwus anlehnte. Dass dag^gcm 
die angebU^ih treue Wiederhdlebung des letztere durch Schopenl^auer 
ala ^Dß treue Beconstruction der griechischen Ideenlehre za betraek- 
tm seil jmd kein Kenner Plato's behaupten; vielmehr scheint es 
mir, 9i^ ob Schopenhauer den hellenischen Philosoph^ wesentlich 
durc^ di^ Brille Schelling's gesehen hätte,, welcher in seiner Natur- 
philosophie, den ästhetischen Theilen seines transoendentalen Idealis- 
mos und sogar formell in seinem Gespräch ^^Bruno^' eine Wieder- 
belebung des Platoni^mus anderthalb bis zwei Decennien vor Schopen- 
hauer mit Erfolg angestrebt hatte. 

Indem letzterer einerseits mit Plata die Idee als das Prius der 
realen Individuen festhielt^ und andererseits die Grundsätze des 
Kantischen transcendentalen Idealismus zum unerschütterlichen Aus- 
gangspunkt seineei Philosophirens nahm, musste er nothwendig der 
objectlvem ](deenwelt jene Anschauungs- uud Denkformen absprechen, 
welche nach Kant ausschliesslich in der Sphäre der subjectiven 
Krseheinung ihre Gültigkeit haben. Er musste deshalb nothwendig 
düe Idee für erhaben über Baum und Z^it erkläreui und es war 
ihm vQllig Ernst damit, diese wuqderliche Behauptung trotz des 
Widerspruchs unserer ästhetischen Anschauung auirecht zu erhalten, 
welche gerade in den räumlichen Verhältnissen der Gestalt und in 
den zeitlichen Verhältnissen des Bhythmus und der poetischen 

E, T. Uartmmiii, Erläniarangeiu 2, Aufl., 10 



146 ^- Schopenhauerianismus. 

Handlung das Medium der idealen Schönheit erkennt (vgl. Brief 31, 
S. 190 — 194), Er machte hiergegen geltend, dass nicht die uns 
vorschwebende räumliche Gestalt, sondern ihr innerstes Wesen 
eigentlich die Idee sei (190), obschon dieses „innerste Wesen" 
ersichtlich ein ganz unklarer und unfassbarer Begriff ist. Erst 
durch Aufgeben des subjectiven Idealismus hätte Schopenhauer sich 
zu dem Zugeständniss emporschwingen können, dass die Idee als 
solche (nicht bloss die Reproduction derselben durch unsere ästhetisclie 
Anschauung) Raum und Zeit im idealen Sinne in sich habe, wenn- 
gleich auch dann noch der Satz wahr bleibt, dass sie nicht in' dem 
(erst durch ihre Realisirung entstehenden, für Schopenhauer überhaupt 
nicht existirenden) realen Raum und Zeit sei. Hätten diejenigen 
recht, welche Schopenhauer's objectiven Idealismus als eine nur im 
ästhetischen Interesse aufgestellte Hypothese betrachten, so wäre 
Schopenhauer's Sträuben gegen die auf der Hand liegende That- 
Sache, dass die künstlerische Intuition sich in den Formen Ton 
Raum und Zeit bewegt, psychologisch ganz unerklärlich; daraus 
aber, dass er erst in dem unräumlichen „innersten Wesen" jener 
Intuition die eigentliche Idee sucht, erhellt, dass es ein eminent 
metaphysisches Interesse war, was ihn zur Verschmelzung des 
Eantischen mundus noumenon mit der Platonischen Ideenwelt drängte, 
und dass er nur nebenher diese metaphysische Hypothese fttr die 
Zwecke der Aesthetik verwerthete. 

Die Idee soll nach Schopenhauer unter den Gattungsbegriff 
Vorstellung fallen. Da sie aber andererseits das Prius der materiellen 
Organisation ist, aus welcher die bewusste Vorstellung erst ent- 
springen kann, so ist der Schluss aus den Schopenhauer'schen Prä- 
missen unabweislich, dass sie eine Vorstellung ohne die Eigenschaft 
des Bewusstseins, d. h. eine unbewusste, und zwar absolut unbewusste 
Vorstellung sein muss. Schopenhauer beschreibt die Idee als ewiges 
Object eines ewigen Subjects, und zwar des absoluten Subjects, das 
in allen die Idee reproducirenden Individuen eins und dasselbe und 
mit sich identisch ist. Er beschreibt sie ferner als die Intuition, 
in welcher der Gegensatz von Subject und Object wieder unter- 
gegangen, beziehungsweise noch gar nicht aufgegangen ist, d. h. er 
erklärt die Idee für die absolute Identität, beziehungsweise Indifferenz 
von Subject und Object, und es ist auch a priori begreiflich, dass 
in einer solche» VorstßUung yom Bewusstsein, welches ja gerade 



FraueDst&dt's Umbildung der Schopenhauer'schen Philosophie. 147 

auf dem Gegensätze von Subject nnd Object beruht, keine Bede 
sein kann. "*") 

In der Idee besitzt also in der Tbat das Schopenhauer'sehe 
System, wenngleich uubewussterweise, jene absolut unbewusste Vor- 
stellung, deren willkürliche HinzufUgung zu demselben mir Frauen- 
städt als meinen zweiten Hauptfehler anrechnet (38). Wenn Frauen- 
städt darin Recht hätte, dass eine „absolut unbewusste Vorstellung^^ 
eine unlogische (40), gar nicht denkbare, widersinnige contradictio 
in ctdjedo wäre (39), so müsste er diesen Vorwurf ebenso gut gegen 
den objectiven Idealismus seines Meisters wie gegen mich kehren, 
da ich nur die von Schopenhauer bereits in derselben Weise com- 
binirten Begriffe beim rechten Namen genannt habe; ja sogar er 
müsste ihn gegen sich selbst kehren, da er sachlich dieselben Be- 
grifiscombinationen festhält, und sich nur gegen meine nominelle 
Bezeichnung sträubt. 

Frauenstädt kann sich den hier von mir gezogenen Consequenzen 
gar nicht entziehen, so lange er sich nicht entschliesst, den objecti- 
ven Idealismus Schopenhauer's aus seiner „Umbildung^' des Systems 
ebenso wie den subjectiven Idealismus, den Materialismus, den 
Pessimismus, den Quietismus, die Ascese und die Lehre von der 
Freiheit zu streichen. Wie er für seine Stellung zur Teleologie 
nur die Wahl hat zwischen dem antiteleologischen Darwinismus 
und der Philosophie des Unbewussten, so hat er fUr seine Stellung 
zum objectiven Idealismus nur die Wahl zwischen dem Standpunkte 
Bahnsen's und dem meinigen. Entweder muss er mit mir die objective 
Idee als den unbewussten Vorstellungsinhalt der concreten Willens- 
acte des AU-Einen anerkennen, oder er muss mit Bahnsen die 
Bedeutung der Idee auf die subjective Sphäre der ästhetischen 
Anschauung beschränken, jede metaphysische Bedeutung derselben 
leugnen, und bestreiten, dass für den wahren Willensinhalt (welcher 
der ästhetischen Idee als ihr zeit- und raumloses „innerstes Wesen^' 
entsprechen soll), die Bezeichnung „Idee" noch irgendwie zulässig 
sei. Dass er mit letzterem Schritt eine in sich haltbare Position 
erreicht haben würde, könnte ich freilich selbst dann noch nicht 
einräumen, wenn er von der Elimination des objectiven Idealismus 
auch noch die unvermeidliche Consequenz zöge, die Teleologie im 



Vgl. „Ges. philoB. Abhdlg." S. 63- 6ö ; „Ges. Studien u. Aufs&tze« S. 642-644. 

10* 



148 ^ Schopenhauerianisinua. 

realistischen Sinne ebenso wie im subjectiv-idealistischeiii fallen zu 
lassen; denn so lange der Wille noch metaphysisch als das durch 
seinen Inhalt das zukünftige Geschehen anticipirende Princip auf- 
recht erhalten wird, ist es ein ganz vergebliches Sträuben, dieser 
zwar nicht realen, aber doch vorhandenen Auticipation des Zukünf- 
tigen das Prädicat einer idealen vorenthalten, d. h. den Willensinhalt 
von der Idee unterscheiden zu wollen. Bahnsen kann sich als 
Pluralist eher gegen diesen einfachen Sachverhalt verblenden; 
Frauenstädt als ein Monist, der in der Natur eine ideell vorgezeioh- 
nete Entwickelnng, in der Geschichte eine Entfaltung der Vernunft 
und in dem Erkenntnissdrange die höchste Form des Willens sieht 
(65), ja d^r nicht bloss den Willen, sondern im Erkenntnisswillen 
auch den Intellect für unsterblich hält (69 — 70), kann dies unmög- 
lich. Er kann, ohne die Totalität seiner Weltanschauung unheilbar 
zu zerrütten, die objective Idee Schopenhauer's nicht fallen lasaen, 
und deshalb bleibt ihm in der That keine Wahl, als die Gonsequen- 
zen aus dieser metaphysischen Hypothese für die unbewusste Vo^ 
Stellung und die Teleologie streng anzuerkennen, welche ich in der 
„Philosophie des Unbewussten'' entwickelt habe, und in den oben 
angefahrten Stellen aus den Jahren 1869 und 1870 hat er >a dies 
auch eigentlich schon in aller Form gethan. 

Frauenstädt erachtet Schopenhauer's Lehre von der Ewigkeit 
der Ideen ftlr widerlegt durch die von Darwin neu begründete Ent- 
wickelungstheorie und ist der Meinung, dass auch „die Aesthetik 
jener Annahme der Ewigkeit der Ideen oder Typen der Dinge gar 
nicht bedarf' (193). Letzteres ist unzweifelhaft richtig, und, wie 
ich schon oben bemerkte, hat auch Schopenhauer die Ewigkeit der 
Ideen keineswegs aus ästhetischen Gründen behauptet. Metaphysisch 
genommen hat diese Lehre auch nach Aufhebung des subjectiven 
Idealismua noch ihre volle Berechtigung, wenn man nur von dem 
Gedanken ablässt, dass das ewige Sein der Ideen nothwendig als 
ein explicirtes und actuelles zu verstehen sei, woran Schopenhauer 
allerdings nicht gezweifelt hat, da er die unendliche Dauer der 
Arten als dsus empirische Gorrelat der Ewigkeit der Ideen hinsteUta 
Die Unveränderlichkeit und unendliche Dauer der Arten ist allerdings 
eine Hypothese, welche vor der neuern inductiven Forschung Hiebt 
bestehen kann und deshalb zu Gunsten einer evolutionistischen Na- 
turauffassung fallen gelassen werden muss. Aber mit dem allmäbHchen 



^nenstädt's Ümbildtt&g Act SckopeniiAue^^chen Philosophie. 149 

Werden und Wandeln der Arten verträgt sich doch sehr vrohl die 
Antiabme einer ewigen idealen Präformatian dieser Typen, insofern 
dieselbe nur nicht als ein beständig actueller Willensinhalt, sondern 
als implicite gegebene ideale Prädestination eventueller Entwickdung 
verstanden wird. 

Selbst Schopenhauer's Auffassung der Idee gewährt dieser 
Interpretation einige Anknüpfungspunkte, nämlich seine Bemerkung, 
dass die Idee nicht wie der Begriff einem todten Behältniss, sonderii 
„entern lebendigen, sich entwickelnden, mit Zeugungskraft begabten 
Organismus gleicht'^ Nimmt man hierzu die Thatsache, dass er 
ängstlich bemüht ist, von der Ideenwelt jede Vielheit auszuschliessen^ 
also dasjenige, was unserer bruchstückweisen Anschauung als eine 
Vielheit idealer Typen erscheint, doch jedenfalls nur als innere 
Gliederung und ideale Mannichfaltigkeit in der schlechthin einheit- 
lichem Totolidee der Natur verstanden wissen will, so liegt es auf 
der Hand, dass der wahre Sinn der Schopenhauer'scben Ideenlehre 
der ist, die Totalität aller actuellen Ideen als einen lebendigen, sich 
beständig fortentwickelnden idealen Organismus zu betrachten^ det 
jederzeit den Prototyp der realen Natur bildet, dessen sämmtliche 
Entwid^elungsmögliohkeiten aber zugleich in der Beschafienheit dieses 
Organismus und seiner Zeugungsfähigkeit als ewig prädeterminirte 
gelten müssen. 

Das Aufgeben des subjeetiven Idealismus führt, wie oben be- 
merkt, die i^umlichen und zeitlichen Verhältnisse in den idealen 
Inhalt der unbewussten Intuition des Absoluten (als Urbild der 
realen räumlichen und zeitlichen Verhältnisse) ein, und diese Ein- 
führung der zeitlichen Verhältnisse drückt sich eben als Ent Wickelung 
aas. Dass Schopenhauer's Naturphilosophie „doch im wesentlichen 
Entwickelungstheorie sei" (193), wird man Frauenstädt nicht zugeben 
kIHmen, sondern nur, dass Schopenhauer bei seinen realistischen 
VelleHäten auf naturphilosophiscbem Gebiet gelegentlich auch den 
Boden der E^wickelungstkeorie berührt. Systematisch genommen 
ist vielmehr festzuhalten, dass Schopenhauer die Ewigkeit der Ideen 
als nnendliche Dauer unveränderlicher Arten verstanden, und das' 
beobachtete Erlöschen mancher Arten auf unserm Planeten dufroh 
den Hinweis auf die Möglichkeit ihres Fortbestebens auf anderen 
Weltkörpem zu parajysiren gesucht hat. Schopenhauer war also 
eiA prineipieller Leugner der Entwickelung, er nah in allem Seien-« 



150 ^- Schopenliauieiiaiusmud. 

den nur ein ewiges Zugleichsein, in allem Process nur einen sub- 
jectiven Schein, und in der scheinbaren Entwickelung nur den ewigen 
Kreislauf der subjectiven Erscheinung. Verfehlt ist darum Frauen- 
städf s Versuch; aus der Identität der Ideen mit den Naturkrätten 
nachzuweisen, dass bereits Schopenhauer selbst auf diesem Funkte 
seinen subjectiven Idealismus aufgegeben (112); anerkennenswerth 
hingegen ist Frauenstädt's Einsicht, dass mindestens auf dem Gebiete 
der Naturphilosophie eine Entwickelungstheorie im realistischen 
Sinne, d. h. aber der Ersatz des Spinozistischen ewigen Kreislaufs 
durch ein wahrhaft historisches, kosmogonisches Philosophiren das 
allein Richtige sei (193—194). 



8. Die historische Weltanseliaaungr. 

Denselben Uebergang von der spinozistisch-schopenhauerischen 
ungeschichtlichen Weltanschauung zu der geschichtlichen (d. h. zu 
Hegel und Schelling) erkennt Frauenstädt auch in der Auffassung 
der Kunst und der Geschichte für nothwendig. Er bezeichnet im 
36. Briefe die Lindner'sche Auffassung der Aesthetik als eine noth- 
wendige Ergänzung der Schopenhauer'schen, insofern sie das ge- 
schichtliche Werden des ästhetischen Ideals in seinem causalen Zu- 
sammenhange mit Culturgeschichte und Beligionsentwickelung als 
diejenige Betrachtungsweise aufzeigt, in welcher die ästhetische Idee 
erst zu ihrer correcten Erfüllung, d. h. zu ihrer Wahrheit gelangt, 
und es ist nur zu verwundern, dass er sich dabei nicht des Um- 
standes erinnert hat, dass dieselbe Erkenntniss bereits durch Hegel 
und seine Schule eine weit umfassendere Darstellung und eioen tie- 
feren Ausdruck erhalten hat, als durch Ernst Otto Lindner. 

In Betreff der Geschichte zeigt Frauenstädt im 34. Briefe, dass 
sie in den Jugendmanuscripten Schopenhauer's ihre gedrückte Stel- 
lung mit der Wissenschaft habe theilen müssen, und dass erst später 
derselbe sich entschlossen habe, die Wissenschaft mit Kunst und 
Philosophie auf annähernd gleiche Stufe zu stellen, so dass nun die 
Geschichte allein das Aschenbrödel blieb. Weil Schopenhauer die 
Zeit ftlr eine bloss subjective x^nschauungsform hält, gilt ihm alles 
Werden und Geschehen als ein rein subjectiver Schein, dem keine 
Wahrheit in Bezug auf das ewig unveränderliche Sein zukommt 
Darum kann ihm die Geschichte nur als der „lange, schwere und 



Frauenst&dt*8 Umbildung der Schopenhaaer'schen Philosophie. l^i 

Verworrene Traum der Menschheit^' erscheinen^ in dem kein ver- 
nünftiger Zusammenhang, kein Plan, kein Fortschritt ist, in dem 
nichts Neues geschieht, sondern stets nur dasselbe in aller Ver- 
schiedenheit des Gostüms sich wiederholt. Die Rückerinnerung an 
diesen langen, verworrenen und beängstigenden Traum kann der 
Menschheit nur darum werthvoU sein, weil sie durch dieselbe es 
sich zum Bewusstsein bringt, dass sie bisher geträumt habe, und 
weil dieses Bewusstsein die Bedingung zum Erwachen (d. h. der 
Willensverneinung) ist (211). Nur in diesem Sinne ist die Geschichte 
nach Schopenhauer anzusehen „als die Vernunft oder das besonnene 
Bewusstsein des menschlichen Geschlechts'^ (210). Dass Schopen- 
hauer sich zu keiner Zeit seines Lebens von dieser Verachtung der 
Geschichte zu emancipiren vermochte, ist der beste Beweis dafür, 
dass er niemals mit dem subjectiven Idealismus gebrochen hat. Für 
Frauenstädt, der diesen Bruch definitiv vollzogen hat, war es freilich 
leicht, den Schopenhauer'schen Standpunkt auch an dieser Stelle zu 
corrigiren, und gehört der betreffende 35. Brief zu den ansprechendsten 
Stellen seines Buches. 

Er sagt : „Die Schopenhauer'sche Entgegensetzung der Geschichte 
gegen die Wissenschaft, Kunst und Philosophie scheint mir nach 
allem diesem nicht gerechtfeitigt Die Geschichtschreibung braucht 
sich nur mit Wissenschaft, Kunst und Philosophie zu verbinden, 
braucht ihren Stoff nur mit wissentchaftlichen, künstlerischen und 
philosophischen Augen anzusehen, um demselben Werth zu ver- 
leihen, um ihn der Verachtung zu entreissen, um ihn ftlr die Er- 
kenntniss des Wesens der Menschheit lehrreich zu machen. Wenn 
Schopenhauer den Biographien, vornehmlich den Autobiographien, 
in Hinsicht auf die Erkenntniss des Wesens der Menschheit einen 
grossem Werth beilegt als der Geschichte, so muss ich hierzu be- 
merken, dass doch auch die Biogr. phien, um lehrreich zu sein, das 
Individuum nicht losgerissen von seinem geschichtlichen Boden, 
sondern in stetem Zusammenhange mit der Geschichte seiner Zeit 
darstellen müssen.... Folglich wäre eine Biographie, die diesen 
Zusammenhang nicht abspiegelte, mangelhaft, und die Biographie 
kann also nicht im Gegensatze zur Geschichte, sondern nur im 
Vereine mit derselben den Werth erhalten, den ihr Schopenhauer 
beilegt. Ja nicht bloss Biographien, sondern auch epische und dra- 
matische Dichtungen sind um so werthvoUer^ je mehr sie sich auf 



162 B. 'SoiiopenkftaerianisnriMU 

geschiehiliclMiil Boden bewegen'' (207 — 208). „Nnr aater derVown- 
»et^iing, dass in der Geschichte ein Zweck, ein Pkn waltet, denr «die 
ganze Eaitwickelung bestimmt nnd beherrscht, ikan^n m von Werft 
sein, die Vergangenheit zu kennen, um aus ihr die ßegenwürt ra 
denten nnd ans beidea die Zukunft zu anttoipiren. Eia langen; 
schwerer und verworrener Traum ist der Kückerimierting iwolit 
werth und l&sst keine Deutung zu" (210 — 211), 

fVanenstödt tritt hier noch deutlicher als in der Natorpkito)9ophre 
Ton Soho{>enhauer-s ungesohichtlichem Philosophiren txl dem Inste* 
risehen Philosophiren tiber. Wer in dem Wel^rocess eine oa^urg^ 
schiofatliche mmI menscbheitsgeschicbtücke Entwickelung anerkennt, der 
verzichtet eben damit 'darauf, die Welt als eine fertige zu betrachAeB) 
und gesteht zu, diass der Kosmos bis heute geworden und noch }etzt im 
Wetden iät. Das historische Philosophiren ist daher, sobald es tllier die 
Menschheitsgeschichte übergreift und die planvolle Entwickelteg auch 
im Reiche der Natur anerkennt, eo^so ein.kosmogonisohesPhilosophiren. 
Dass Schopenhauer vom Standpunkte seines subjectiven Idealismi» 
sich auf das schärfste gegen ein solches aussprechen musste, ist ebenso 
selbstverständlich (IS), als dass er selbst unwiltkiirlich täberall da 
in dasselbe verfallen musste, wo er unvermerkt dek Boden des 
subjectiven Idealisiims verliess und sich in einer realistisohen Denk^ 
weise bewegte. Unverständlich ist nur dies, dass Frauenstädt naeh 
seinem Au%eben des subjectiven Idealismus und trotz seiner Ant- 
erkennung der historischen Weltanschauung für Natuirph£lo80|lhie 
und Geschichte doch noch theoretisch )ene Consequenz des Sob- 
jeotivismus festhalten will, und Schopenhauer wegen seines theil- 
weisen Bttck&Ues in das historisch-koemogoniscfae Philosophiren 
tadelt (119), anstatt gerade diese Stellen als werthvoUe Anknttpfiings- 
punkte für seine realistische Umbildung des Systems zu benutzen. 

So ist z. B. nach Schopenhauer „die Welt Folge eines Willen»- 
aetes, und besteht nur so lange, als dieser Willensaot bejaht wird, 
vecgeht hingegen, sobald die Verneinung desselben eintritt^' i(I24). 
Dies ist ein offenbaFer Widerspruch zu der entgegengesezten Lehse 
Sohopenhauer^s, dass die Welt nnentdtanden sei (16), woran iFnatten- 
städt mit Reebt die UBvergänglicli&eit ansahliesst. £s ist dieser 
Widempruoh die Aiinahme beider entgegengesetzten fEhesea der 
Eantisehen Anitinomien, und Schopenhauer's Kritik von Kant's 



Frauenstädt's Ümbikhmg 4ler 6chopenli«aer*8ciien Philosophie. 153 

tischer EntscheiduBg des kofirnologisehen Streites*) giebl den nn- 
zwdxleutigsten Aufscbhiss darifber, dass die Annahme der Uoendlich- 
fceot die nothwendige Gonaeqnenz d-es transcendefitalen Idealismus^ 
die Aimalime der fiodliobkeit des Kosmos in Raum und Zeit die 
ebenso dnausweisliche Conseqoen« -des transo^adentalen Realisimis 
ist Sobopenhamer «rklärt miit Reebt die Unendiiobkeit als gegebene 
Existens Itlr einen Selbstwidersprueh, und tebrt mit Aristoteles, dass 
dieselbe (our potentiell in der grenzenlosen Möglichkeit des Pro- 
gressus oder Begressus zia suchen sei (W. a. W. u, V. I 593). Wären 
also ilanm «nd Zeit reale Daseinsformen, so müsste die Welt ein 
an sioli lesiistirendes Ganzes sein: ^^ein an sieb existirendes Oanzes 
kann aber durchaus nicht unendlicb sein'' (eibd. 594). Umgekehrt 
schliesst Schopenhauer aus der ihm fei^stebeiiden Unendiiebkeit von 
BoNun und Zeit, dass letztere und die in dieselben gefasste Er- 
scheinungswelt bloss subjectiv sein kOanra. Hier a/ber liegt eben 
die ÜUTioUst&ndigkeit der Ai^meaitation. Wjüs wir constatiren 
kttunen, Teicbt nämlich onicbt weiter, ab dass der ideale Begressus 
unserer Vet^steUnngen in Baum und Zeit nirgends auf eine Grenze 
sIsSsst; hleormit ist aber nichts censtaldFt über die Begrenztheit oder 
UnbegDenztdieiit der realen Zeit und des real<m Baumes, für den 
Fall, dass es solche ausser xinserm jBewussdisein gäbe. Der angeblich 
indkeete Beweis des 4;caxiscendentakn IdesJismus aus den Antinomien 
ist also bei Schopeidiauer ganz ebenso verunglückt wae bei Eant; 
daglQ^n hat -ersterer «das zweifellos kkir gestellt, dass die fintschei* 
duog iflir (die Thesis .oder Antithesis lediglich von der fintscbeidm^ 
fik den tranfloendentalen Realismus oder Idealismus 4ibhäiigt. 

Da Frauenälädt sich für ersteran ibestimmt entschieden, so ^muss 
0r nnthwendig auch für die Endlichkeit der Welt in Baum «und Zeit 
eiAlraten, wenn er nicht ebenso mit sich selbst <wie sBit den begrün- 
deten iLdsbien seines Heisters in Widecsppucb geiratben will. J)a er 
die 'Zeit ftir eine r^ale Daseinsform erkläyt and x)benein iden 'W^i^tt- 
pioeess als planvolle (teleologische Esrtwiekeluiig 'anerkennt, 490 muse 
er nothwendig zugestehen, dass die Zeit, und der Weltprocess mit 
ihr, einen Anfang gehabt habe, da sonst der Widerspruch einer 
Yollendeten Unendlichkeit hinter uns läge. Dieser Anfang kann 
T<nn 'Standpunkt der Scbopenhauer^scben Wiltensmetaphysik aus 



♦) Vgl. „Die Welt als Wille und Vorstellung*». (3. Aufl-) I; 592-^^94. 



154 &* Schopeniiaüeriänismüä. 

selbstverständlich tiur die Erhebung des Willens zum Wollen s<siil. 
Da nicht ich erst, sondern schon Schopenhauer dieselbe gelehrt 
hat, "*") so richtet Frauenstädt seine gegen mich gekehrte Bemerkung, 
dass dies ,,ein Ungedanke'^, ,,eine Absurdität^' sei (118), an die un- 
rechte Adresse. Denn vom realistischen Standpunkte des Schopen- 
hauer'schen Willensmonismus, den ja auch Frauenstädt fbr den 
allein maassgebenden erachtet, ist nur die einzige Lehre möglich: 
das Wesen der Welt oder ihre Substanz, d. h. der Wille als Träger 
oder Subject der Function des WoUens, ist unentstanden und un- 
vergänglich; die Welt, d. h. die Manifestation der Function des 
Wollens, ist entstanden (hätte auch unentstanden sein können) und 
vergänglich (womit aber nur gesagt ist, dass sie vergehen kann, 
nicht dass sie vergehen muss).**) 

Wer das Weltwesen von einem woUen-Eönnenden zu ein^n 
woUen-Müssenden herabsetzt, der degradirt es zu einer blinden 
Naturkraft und erklärt den von Schopenhauer gewählten Namen 
des Willens für einen irreleitenden anthropomorphischen Missgriff; 
denn nur das wollen- und nichtwollen-Könnende kann Wille heissen, 
ninunermehr das blindlings woUen-Müssende und nicht nichtwollen- 
Könnende. Wem aber diese Uebertragung des Willens auf das 
All-Eine schon zu anthropomorphisch ist, dem sollte doch die ent- 
sprechende Uebertragung der Idee und des Zweckbegriffes erst recht 
zu anthropomorphisch sein, d. h. er sollte die Metaphysik au%eben 
und sich mit einem mehr oder minder materialistisch gefärbten 
Naturalismus begnügen, und so jeden Connex mit Schopenhauer's 
Metaphysik abbrechen. Denn Schopenhauer hat gerade von allen 
Philosophen das klarste Bewusstsein darüber gehabt, dass es nur 
Einen Weg giebt, zu einem wirklichen Verständniss der Dinge zu 
gelangen, nämlich die analoge Uebertragung unserer psychischen 
Grundfunctionen auf dieselben; und dieser Weg hat deshalb eine 
objective Berechtigung, weil die Welt ein einheitliches Ganzes ist 
und ihre elementaren Functionen in allen ihren Theilen die gleichen 



♦) Vgl. »,Parerga" Bd. H. § 162. 

**) Frauenstädt hätte nach seinen auf S. 177 und 105 ausgesprochenen 
Grundsätze^ schon deshalb Schopenhauer's realistische Ansicht auch über diesen 
Punkt als seine alleinige wahre und eigentliche Meinung ansehen müssen, weil 
sie die später entwickelte ist. 



k 



SVauenstäclfs ümbilduug der ächopea kauer^'schen ^!hilosophie. 155 

sindy ähnlich wie die chemischen Elemente der verschiedenen 
Weltkörper die gleichen sind. Alle Menschen suchen^ ohne es zu 
wissen, auf diese Weise das Verständniss der Welt; der Philosoph 
that es nur mit Bewusßtsein. 



9. Physik und Metaphysik. 

In diesem Sinne hat auch Schopenhauer ganz Recht, dass die 
philosophische oder metaphysische Betrachtungsweise etwas Neues 
ist, das zu der empirischen oder specialwissenschaftlichen Betrach- 
tungsweise hinzutritt, wie die dritte, oder Tiefendimension zur Fläche. 
Denn letztere bewegt sich an der Oberfläche der Erscheinung in 
die Breite und Weite, erstere aber sucht in das psychische Innere 
zu dringen und im Zusammenhange der Innern und äussern Er- 
scheinung das Wesen zu ergreifen. Frauenstädt bekämpft diese 
Unterscheidung Schopenhauer's mit Unrecht. Seine eigene Erklärung, 
dass die Philosophie sich zu den Specialwissenschaften wie die all- 
gemeinste zu den besonderen Wissenschaften verhalte (21), sagt 
nichts Unrichtiges, trifft aber nicht das Wesen der Sache. Auch 
hier ist es wiederum der subjective Idealismus Schopenhauer's, der 
Frauenstädt irregeleitet hat. Derselbe nöthigt nämlich Schopenhauer 
ebenso wie Kant, den erkenntnisstheoretischen Gegensatz von Ding 
an sich und (subjectiver) Erscheinung mit dem metaphysischen 
Gegensatz von Wesen und objectiver Erscheinung zu confundiren 
und zu identificiren und dem Erkennen feste Grenzen zu ziehen, 
die nur durch ein Taschenspielerkunststück hinwegescamotirt wer- 
den. Gegen diesen Dualismus des Erkennbaren (Immanenten) und 
eigentlich Unerkennbaren (Transcendenten) wendet Frauenstädt sich 
mit vollem Kechte, da derselbe mit dem Aufgeben des subjectiven 
Idealismus hinfällig wird; aber er versäumt, Schopenhauer's falsche 
Identification beider Gegensätze wieder aufzulösen, verkennt, dass 
der metaphysische Gegensatz des Wesens und der (objectiven) Er- 
scheinung durch die Elimination des subjectiven Idealismus nicht 
nur nicht beeinträchtigt, sondern sogar erst in sein vorher geschmä- 
lertes volles Recht eingesetzt wird, beachtet nicht, dass Schopen- 
hauer's Unterscheidung zwischen Metaphysik und Physik sich in 
Wahrheit auf diesen Gegensatz (nicht auf den von Ding an sich und 
Erscheinung) stützte, und schüttet darum das Kind mit dem Bade aus. 



ih6 fi- Seilopenhauenantsnnlii. 

Die Einsicht des transcendentalen Realismus, dass nur dlejenig^fi 
ürtheile Erkenntnissurtheile sind, welche sich anf die Welt der Dmgt 
an sich und deren Beschaflfenheit beziehen, vernichtet in der Thal 
jenen eitlen negativen Dogmatismus, der a priori dem Erkennen untike^ 
schreitbare Schranken setzen zu können wähnte, und eine Grenze 
zwischen Erkennbarem und Unerkennbarem ziehen wollte; aber die 
andere Einsicht desselben, dass die Welt der Dinge an sich doch 
nur wieder eine Welt der objectiven Erscheinung des ihr zu Grunde 
liegenden metaphysifichen Wesens ist, lässt den Gegensatz einer 
auf die Beziehungen der Erscheinungen untereinander, und einer 
auf die Beziehungen der Erscheinungen zu ihrem Wesen geriehtetra 
Erkenntniss, d. h. zwischen Physik und Metaphysik in voller &aft 
bestehen. 

Der Umstand, dass Frauenstädt die Geltung der realen Daseinlh 
formen, Raum, Zeit und Causalität, ausdrücklich auf das Gebiet der 
objectiven Erscheinung beschränkt und streng vom Wesen fem hält^ 
hätte ihm die Consequenz in Bezug auf den Unterschied von Physik 
und Metaphysik nahe legen sollen ; aber der (übrigens von Schop«^ 
hauer bekämpfte) Irrthum steht ihm im Wege, dass die Physik es 
mit dem Wesen der Erscheinungen (wenn auch nur gewisser Klassen 
derselben) zu thun habe. In Wahrheit beschäftigt sich aber ^e 
Physik nur mit den causalen Beziehungen der Erscheinungen (dei 
Gesetzen der Umwandlung der Kraft), nicht mit dem in den Er- 
scheinungen sich oflFenbarenden Wesen (der Kraft selbst). Der 
sicherste Beweis hierflir liegt darin, dass die Naturforscher, sofern 
sie jede Metaphysik leugnen, auch danach streben, die Kraft zu 
leugnen, was ihnen darum flir die Aufgaben der Naturwissenschaft 
so leicht wird, weil diese es nur mit Bewegung, Geschwindigkeit 
nnd Beschleunigung, sowie mit der üebertragung dieser Erschei- 
nungsformen der Kraft von einer Masse oder einem Atom auf das 
andere zu thun hat. Der letzte Begriff der Physik ist die Besehleu- 
nigung nadi bestimmten Gesetzen; woher diese BeschleHnigung 
stammt, danach hat sie als Physik gar nichts zu fragen. 

Darum behält Schopenhauer Frauenstädt gegenüber ^rchaus 
Recht, dass mit der Voltendnng der Physik üind der Durchwanderung 
aller Planeten und Fixsterne noch nicht der kleinste Schritt zur 
Metaphysik gethan sei (17—18). Für den Schritt in die Tiefe ist 
an jedem Punkte des Universums das „hie Ehodus, hie saUa" ; wer 



Frauenstädt's ümbUdong der Schopenhaaer*schen Philosophie. 157 

üiB an einer Stelle mit yoUem Bewusstsein vollzogen hat, hat es fbr 
daa gante Weltall gethan; wer ihn nicht an Einem Fankte znm 
eiBten Male macht, wird nie mit ihm txi Stande kommen Dass die 
Breite des Wissens auch fttr das Forsehen in die Tiefe von höchster 
Wichtigkcdt ist, erkennen Schopenhaaer wie Frauenstädt an (18—19); 
weil aber ersterer nicht zu sagen weiss, wie sich dies mit dem 
Vorhergesagten zusammenreimt, so glaubt letzterer, beide Ansichten 
ftr unvereinbar erklären und die erstere streichen zu müssen (91). 
Die Sache ist aber die: an jedem Funkte muss man erkennen 
können, dass das der objectiven Erscheinungswelt zu Grunde liegende 
Wesen formell genommen ein wollendes und vorstellendes ist; um 
aber zu erkennen, was der Inhalt dieses unbewussten Yorstellens 
sei, dazu muss man die ganze Breite der Erscheinung durchwandern 
und überall die Erscheinung in ihrer Beziehung auf das Wesen 
betrachten. Die Fhysik, welche die Beziehungen der Erscheinungen 
zu elnaaader betrachtet, ist die Wissenschaft der wirkenden Ursachen ; 
die Philosophie, welche die Beziehungen der Erscheinungen zu ihrem 
Wesen betrachtet, hat es nicht sowohl mit der Gausalität als solcher 
wie mit dem Zusammenhange zwischen GausaUtät^ Motivation, Ter 
leologie und logischer Nothwendigkeit zu thun. 



10. Per Wme und sein Inhalt. 

Wir sahen oben, dass der Wille zwar in seinen bestimmten 
Acten Zwecke verfolgt, dass er aber, abgesehen von einem solchen 
concreto idealen Inhalt, zwecklos ist. Das Wollen an sieh ist die 
rein formelle Seite der realen Function des All-Einen, welehe darin 
besteht, das unbewusst Vorgestellte als Realität zu setzen; das, was 
gesetzt wird, ist nieht mehr im Willen als solchen präfornrirt, 
sondern in dem Inhalt des Willens, den wir als idkale Anticipation 
des Zukünftigen, d. h. als Idee, kennen gelernt haben. Wie in den 
einzelnen Willensaeten einzelne Ideen den Inhalt bilden, so im 
Weltwollen als Ganzen die Totalität der Ideen, oder die absolut^ 
allumfassende Idee; in ihr findet der Allwille allerdings einen 6e- 
sammtinhalt und damit auch einen Gesammtzweck seiner Bethätigung 
(94^ 96), aber dieser Weltzweek liegt doch eben nicht im Wollen 
als solcben, oder gar in der Beschaffenheit des potentielkn Willens^ 
mndearn in der Idee, welche den Willen als sein Inhah erfüllt Wi^ 



158 B. SchopenhnuerianiBmns. 

die Vielheit der Ideen nnr innere Mannigfaltigkeit der einen abso- 
luten Idee ist, so ist auch die gleichzeitige Vielheit der Willensaote 
nnr die gleichzeitige Realisimng der vielen von der einen Idee 
befassten Partialideen (91); es ist nicht ein anderer Wille, der hier, 
als der, welcher dort wirkt, sondern es sind nnr verschiedene Seiten 
desselben einen Willens, nnd abgesehen von den Unterschieden des 
Was oder des idealen Inhalts, die den Willen als solchen nicht 
berühren, finden sich nnr Unterschiede der Intensität vor. Der Inten- 
sität des Wirkens nach ist der Allwille freilich nicht in jeder Er- 
scheinung ganz, wohl aber seinem Wesen oder seiner Substanz nach, 
weil dieselbe in ihrer schlechthin untheilbaren Einheit das in allem 
Dasein Seiende ist. Auch hierin behält also Schopenhauer gegen 
Frauenstädt (91) Recht; dagegen hat letzterer die Berichtigung eines 
anderen, sehr correcturbedttrftigen Punktes versäumt, der abstrusen 
Ideenwelt Plato's vor und über der Realität. 

Schopenhauer schiebt nämlich die Ideenwelt als ein Mittelglied 
zwischen den Willen als Weltwesen und die Erscheinungswelt ein, 
und will sie ebenso vom Willen ableiten wie die Erscheinungswelt 
von ihr; Frauenstädt aber scheint geneigt (111), dieser Dreihelt 
seine ganz anderartige Dreiheit von Wesen (Wille plus Idee), objec- 
tiver Erscheinunf^swelt oder Sphäre der realen Individuation nnd 
subjectiver Erscheinungswelt des Bewusstseins unterzuschieben, als 
ob beides sich ganz oder doch ungefähr deckte. Dann müsste er 
aber, genauer zu sprechen, vier Sphären der Reihe nach von ein- 
ander ableiten; 1) den Willen, 2) die Ideenwelt, 3) die objective 
Erscheinungswelt der realen Dinge oder Individuen, und 4) die 
subjectiven Erscheinungswelten der vielen IndividualBewusstseine. 
Ferner muss er zweierlei von seinem Standpunkte zugeben: eratens 
dass das Ding als objective Erscheinung nicht aus der Idee allein, 
d. h. aus der blossen Vorstellung hervorgehen kann, sondern nur 
aus der Idee plus Kraft oder Wille (167), d. h. dass die Sphäre 
der realen Individuen doch nur aus dem Zusammenwirken der ersten 
beiden Sphären (des Willens und der Ideenwelt) entspringen kann, 
und zweitens, dass das Wollen rein als solches, d. h. ohne einen 
idealen Inhalt oder eine absolute Idee, gar nicht im Stande wäre, 
sich in concreten Willensacten mit idealem Inhalt, d. h. in Partial- 
ideen zu manifestiren, oder mit andern Worten, dass die Verbindung 
der Individualwillen mit Singulärzwecken ohne die Verbindung des 



Frauenst&dt's Umbildung der Schopenliaaer'schen Philosophie. 159 

Allwillens mit einem Universalzweck gar nicht denkbar nnd somit 
die von Schopenhauer behauptete Objectivirung des zwecklosen und 
inhaltlosen Urwillens zu Ideen unmöglich sei (96). 

Hiermit ist aber der Ideenwelt die ihr bei Schopenhauer zu- 
kommende Stellung als selbstständiges Mittelglied zwischen Wille 
und Erscheinungswelt bereits geraubt, und sind die Partialideen als 
nur ans der Totalidee, wie die Individualwillen als nur aus dem 
Allwillen ableitbar erkannt, und die objective Erscheinung als un- 
mittelbares Product aus beiden Factoren begriflfen. Von einem 
Dualismus, von einer selbstständigen Existenz beider Factoren ist 
dabei gar nicht die Rede, nur von einer nothwendigen Unterschei- 
dung zweier verschiedener Seiten am All-Einen. Es wird nur con- 
statirt, dass die gegebene Welt ebenso wenig aus einer kraftlosen 
Idee (167) wie aus einem ideenlosen Willen (66) zu erklären sei, 
dass also an dem metaphysischen Wesen der Welt beide Seiten 
(die Kraft oder der Wille, und die Idee oder die [absolut] unbewusste 
Vorstellung) als gleich unentbehrlich und gleich ursprünglich (nicht 
von einander ableitbar) anerkannt werden müssen. Indem Frauen- 
städt dies in der angezeigten Weise thut, acceptirt er damit that- 
sächlich meine Coordination des Willens und der unbewussten 
Vorstellung, welche er nominell verwirft und als den Hauptfehler 
der Philosophie des Unbewussten im Vergleich zum Schopenhauer'- 
schen System tadelt (38, 44). 

Ich habe demnach gezeigt, dass die angeblichen beiden Haupt- 
fehler, welche meinen Fortbildungsversuch des Schopenhauer'schen 
Systems zu einer Verschlechterung, anstatt zu einer Verbesserung 
desselben machen sollen, nämlich die Annahme einer absolut unbe- 
wussten Vorstellung und die Coordination derselben mit dem Willen, 
beide von dem Frauenstädt'schen Umbildungsstandpunkt getheilt 
werden, so dass die hieraus gegen mich erhobenen Anklagen ent- 
weder hinfällig sind, oder aber Frauenstädt's Umbildung gerade 
ebenso gut treffen wie die meinige. Es fehlt nur bei Frauenstädt 
der klare Ausdruck über die letzten Principien seines Standpunktes, 
was auf eine Unklarheit des Bewusstseins von denselben schliessen 
lässt; er sieht wohl die Nothwendigkeit ein, das Schopenhauer'sche 
System von Grund aus zu reformiren, aber nicht, dass er damit 
unfehlbar bei dem Standpunkt der Philosophie des Unbewussten 
anlangen muss, so lange er nach Elimination des subjectiven 



160 B. S<^iiopeEihaiieinainuai.iM. 

IdealismuB den eAgectiren festhält^ kmgegen bdr dem SteoitpaüLt 
des antiteteolt^gischen Naiairaliaiims (Materialismus odec Bdmsen'sdfm 
Willenspluralismus), sobald er aueb nocb den objeetiven tdealianiiB 
aosseheidet Thatsäcblich stebt Frauenstädt dem leteteren Standpunkte 
nocb weit femear ate Scbopenbauer und uaiftersdaieidiet sich mim 
Umbildung in diesen letzten Prineipienfragen ran der meinigen mr 
durcb dne gewisse Zagbaftigkeü; und Unaieheffbei^ dest AusdiuekA, 
die sich scheut, den Problemen offen in^s Gesicht an sehen und die 
Sache nach Aufstellung der viehtigen Lösungen aneh beim, ireehten 
Namen zu nennen. 

Zur weiterem Erhärtung dea Gesagten weise itk noeb einmal 
darauf hin, dass nach Frauenstädt der Inhalt oder das- Ziel des 
Allwillens wirklich Idee, d. h. ideale Antieipation des Zukünftigen 
ist. Ausschliesslich in detr absoluten Idee, welche den absolateii 
Willen begleitet, kann jene unbewusste Weisheit geaucht wesden, 
die über alle Weisheit bewusstei InteUigenflea^ so hoch erkahan ist, 
und durch ihre unbewussten Intuitionen den planvollen GMtg der 
Entwickelung leitet. Sie ist es, die dem Weltproeesa seinen Miär 
yersalzweek setzt, £^le einzelnen im Ves^lauf des Welt^roeeesea in 
Natur und Geschichte vorkommenden Sonderzwecke nach diesi^m 
Uniyersalzweck bemisst und bestimmt,, und in allen Kräfte«» d^r 
Natur und des Geistes das Was und Wie ihrer Wirksamkeit teleo- 
logisch und logisch ordnet. Bei einer solchen Auffassung hiört 
natürlich der über die Befriedigunig des gierigen Willens snim. Leben 
hinausgehende Intellect auf, als ein Parasit am Naturorganismas. zu 
gelten, und wird zur Blüthe und Fi-ucht des WeItenbaumeS| auf 
welche hin der gans^e Organismus desselben planvoll und zweck- 
mässig veranlagt war. Ja sogar dasjenige, worauf es bei der Welt- 
entwickelung in letzter Instanz ankomml,^ was also das eigentliche 
Kriterium des Fortschritts in der Entwickelung von den niedrigsten 
Anfängen des Lebens bis zu seinem Gipfelpunkt bildet, bestimmt 
Frauenstädt in Uebereinstimmung mit mir, nämlich die Emancipatiun 
der Vorstellung vom WUlen, oder in Schopenhauer'scher Redeweise : 
die fortschreitende „Ablösung des Inteliects vom Willen", die er 
ganz richtig als eine nur relativ zu verstehende erklärt (64—65). 
Darin wiederum berichtigt er Schopenhauer, dass diese Ablösung 
und Steigerung des Inteliects bis zum Genie unmöglich etwas acci- 
dentiell sich Einstellendes sein könne, sondern dass sie selbst ^ine 



Frauenst&dt's ümblldaiig der Sobopenhauei^Bchen Philosophie. 161 

ursprünglich gewollte und bezweckte, dass das höchste Wollen das 
Erkenntnisswollen, die Sehnsucht nach der Selbsterkenntnis« der 
Idee sei (65), ein Ziel, das in der fbrtschreitenden Bildung und 
Wissenschaft der Menschheit sichtlich seiner Erfüllung immer näher 
rttekt. Ist dies nun der letzte Inhalt aller planrollen Entwickelung, 
wie sollte «das Zwecksetzende am Anfang, das sich das Selbst- 
bewusstsein zum Ziel setzt, etwas anderes sein können als die Vor- 
stellung oder Idee im Stande des nooh-unbewusst-Seins ? 



11. Pie WUlensTemeinung und der Pessimismus. 

Nur den Endzweck dieses Mittelzwecks hat Frauenstädt nicht 
er£GUisen können, weil sein unrichtiges Stehenbleiben bei Schopen- 
hauör's subjectivistischer Auffassung des Willens ihn die Möglichkeit 
der Willensverneinung als Endziel leugnen Hess. Mag Frauenstädt 
von meiner Hypothese der universalen Willensvemeinung denken, 
wie er will, so wird er doch nicht leugnen können, dass ich auoh 
in diesem Punkte den Lehren Schopenhauer's treuer geblieben bin 
als er, während er mit der Aui^tellung der BeWusstseinssteigertmg 
als Selbstzwecks oder als letzten positiven Weltzwecks fast ganz 
auf deü Boden des Hegelianismus hinttbertritt. Meine ganfce Modi- 
ficatibn an Schopenhauer's Lehre von der Willensvemeinung besteht 
dariU) dass ich die unabweisbare Gonsequenz seines Monismus ge- 
zogen habe, dass die Willensvemeinung nicht individuell, sondern 
nur universell als möglich zu denken sei. Nach Analogie seiner 
Modification der Schopenhauer'schen Lehre von der Willensfreiheit 
würde Frauenstädt ohne Zweifel diese meine Gonsequenz aus dem 
Monismus billigen müssen, sobald er durch Anerkennung der End- 
lichkeit des Weltprocesses die Möglichkeit der einstigen Büekkehr 
des WoUens in den Zustand der Buhe zugestehen würde. Gegdü 
diese wesentliche Umgestaltung (der individuellen Willensvemeinung 
in die universelle) erscheint die von Frauenstädt (295) hervorgeho- 
bene Modification, dass ich Quietismus und Ascese nicht für den 
zur Willensverneinung führenden Weg halten kann, um so mehr 
als untergeordnet, als Frauenstädt selbst (206) eine Stelle Schopen- 
hauer's*) anführt, worin derselbe im Widerspruch mit seiner asoeti^ 



♦) Vgl. ,^ie Welt als Wille und Vorstellung** I. 473 sg. 

B. T. flartraann, Erl&ntanmgeiu 2. Aufl. XI 



\QI2 B. SchopenhaaerianismuB. 

tischen Theorie erklärt, dass ,,die Zwecke der Natur auf alle Weise 
zu fördern'^ seien; denn ,;die Natur itlhrt eben den Willen zum 
Liebte, weil er nur am Liebte seine Erlösung finden kann/' • 

Die ^^Enttäuschung'' des Menschengeschlechts habe ich niemals, 
wie Frauenstädt (294) behauptet, als Zweck, sondern nur als Mittel 
für den Zweck der Universalwillensverneinung hingestellt, jind darum 
lehre ich auch nicht „die absolute Werthlosigkeit dös Weltfort- 
schritts" (293), für den ich kräftige Betheiligung fordere, sondern 
nur dessen Werthlosigkeit im Sinne eines positiven Weltzwecks, die 
einen unendlich hohen Werth als Mittel fttr das negative Weltziel 
(die Befreiung von der Qual des Daseins) nicht ausscbliesst. Dieser 
Zweck ist also auch nicht, wie Frauenstädt (294) meint, ein pessi- 
mistischer, sondern ein optimistischer, da er ja den bestmöglichen 
Gesammtzustand anstrebt, und ich kann nichts dafür, dass dieser 
bestmögliche Zustand das Nichtsein ist. Der Vorwurf, dass ich den 
Sprachgebrauch des Wortes Optimismus „gefälscht" hätte (295), be- 
raht mithin auf Irrthum ; den Begriff des Optimismus aber für die 
eüdämonologische Betrachtung des Lebens als solchen zu verneinen 
und nur für die teleologische und evolutionistische zu begaben, dazu 
wäre ich selbst dann berechtigt gewesen, wenn damit eine Modifi- 
cation der Bedeutung des Wortes im Vergleich zum bisherigen 
Sprachgebrauch verknüpft; gewesen wäre. Dasselbe gilt für das 
Wort Pessimismus, welches Frauenstädt durchaus nur in einem 
superlativischen Sinne gelten lassen will, und einer Weltanschauung 
verweigert, die eine Möglichkeit der Verneinung des WoUens und 
seiner Qual zulässt (287). Diese terminologischen Meinungsverschie- 
denheiten berühren unsere sachlichen Ansichten gar nicht Thatsacbe 
ist, dass Frauenstädt ebenso wie ich im Weltprocess einen durch 
die Idee bedingten teleologischen Evolutionismus und einen vom 
blinden Willen herrührenden Ueberschuss des Leides und der üebel 
über die Freuden des Lebens anerkennt und zugesteht, dass m 
meiner Verbindung meines Optimismus mit meinem Pessimismus ein 
logischer Widerspruch nicht liege (294). 

Auch in diesen Fragen entfernt sich daher Frauenstädt weiter 
als ich von Schopenhauer und ist die Differenz seines Standpunktes 
von dem meinigen weit geringer als die von dem Schopenhauer'schen; 
der Hauptunterschied liegt in seiner schon besprochenen Negation 
einer Möglichkeit der Willensvemeinung als negativen Endzwecks 



Frauenstädt's Umbildung der Schopenhauer'schen Philosophie. 163 

des Weltprocesses und dann in einem gewissen IndifFerentismns 
Frauenstädt's gegen das Problem des Pessimismus^ insofern er die 
Gegensätze lieber abschwächt und verflaut, anstatt sich zur specula- 
tiven üeberwindung derselben durch eine ktlhne Synthese aufzuraffen. 
Gerade diese thatsächliche Abschwächung in Verbindung mit seiner 
nominellen Vedeugnung des Pessimismus entfernt aber aus der 
Physiognomie des Schopenhaaer'schen Systems jenen charakteristi- 
schen ^ugy welcher auch dem Laien sich sofort aufdrängt und in 
seinem Gedächtniss haftet; sie beraubt die ganze Weltanschauung 
seines Meisters jenes eigenthümlichen^ unvergesslichen Parfüms, der 
sie bis in ihre kleinsten Theile durchzieht. Die Schopenhauer'sche 
Philosophie mit ihrem indischen Pessimismus, Quietismus, Ascetismus 
und träumerischen Idealismus verhält sich zu Frauenstädt's Umbildung 
wie ein farbengltthender, narkotisch duftender Urwald zu einer grau- 
bestaubten Berliner Baumallee. Mag man den Quietismus und sub- 
jectiven Idealismus der Wahrheit zum Opfer bringen, so bleibt doch 
der charakteristische Grundzug der Schopenhauer'schen W^ 
anschauung gewahrt, so lange der Pessimismus festgehalten und 
zum Ersatz des Gestrichenen um so consequenter durchgebildet 
wird; sobald man auch diesen fallen lässt, kann von einer „Umbil- 
dung'^ der Schopenhauer'schen Philosophie als solchen doch nur 
noch bei einer ziemlich weiten Deutung dieses Ausdruckes die 
Bede sein. 



12. Per Materialismus.' 

Wenn Frauenstädt in Bezug auf den Pessimismus und die 
Willensvemeinung in der Veränderung der Lehren Schopenhauer's 
zu weit geht, so zeigt er in seiner Beleuchtung der Stellung Schopen- 
hauer's zum Materialismus, ähnlich wie in derjenigen des objectiven 
Idealismus, eine Unentschiedenheit und Zaghaftigkeit, welche ersicht- 
lich aus dem Bestreben entspringt, die Lehren des Meisters möglichst 
treu und pietätvoll zu conserviren. Dass er aber in Bezug auf 
Schopenhauer's widerspruchsvolle Stellung zum Materialismus noch 
an die Möglichkeit einer solchen Conservirung glaubt, hat darin 
seinen Grund, dass er sich (ebenso wie in Betreff des historischen 
und kosmogonischen Philosophirens) nicht zur vollen Klarheit ge- 
bracht hat, welche Elemente des Systems Consequenzen des subjeo- 

11* 



\Q4: B* Bchopenhauerianismüs. 

titen Idealismus sind, und welche Aenderungen aus def Ersetzung 
des transcen dentalen Idealismus durch den transcendentalen Bealis- 
nius löit Nothwendigkeit folgen. 

Frauenstädt fasst die Ergehnisse seiner hetreflfenden Erörterungen 
folgendetmaassen zusammen : ^^Die reine Materie ... ist ein blosser 
Gedanke, eine Abstraction. In der realen Körperwelt treffen wir 
sie nirgeüds an, sondern hier finden wir überall schon dpcicifisch 
Wirkende Stoffe, also Materie mit bestimmter Form und bestimmter 
Qualität. Demnach lassen sich die Dinge nicht aus einer Materie 
ableiten; denn das hiesse sie aus einem blossen Begriff, aus einer 
äbstracten Vorstellung ableiten. Wohl aber lassen sich die Dinge 
aus der „empirisch" gegebeüön Materie, d. h. aus den specifisch 
wirkenden Kräften ableiten" (160). In dieser Auffasstitig findet 
Frauenstädt „Einheit und Ganzheit" (159), weil in derselben der 
Dualismus von Spiritualismus und Materialismus überwunden sei, 
ohne dass doch der Materialismus zur Alleinherrschaft gelangte 
(146—147), da der Idealismus als das Gegengewicht geltend gemacht 
sei (146). 

Nun ist aber der Idealismus, in welchem Schopenhauer das 
wahre Gegengewicht des Materialismus sucht, nicht der objective, 
sondern der subjective, und letzterer beschränkt die Alleinherrsohaft 
des Materialismus nur dadurch, dass er jede vom Wahrnehmenden 
Subjecte unabhängige Existenz der Materie leugnet (145), und 
den aus den Kategorien der Substanz und der Ursache bestehenden 
Begriff der Materie zu einer „formalen, apriorischen, subjectiyen 
Zuthat" zum empirischen concreten Wahmehmungsinhalt ohne jede 
transcendentale Bedeutung (143), d. h. zu einer wahrheitsloseti sub- 
jectivistischen Fiction und Illusion verflüchtigt. Da Frauetistädt 
diesen Idealismus principiell verwirft, so hat er damit dasjenige aus 
dem System Schopenhauer's eliminirt, worin dieser das wahre Ge- 
gengewicht des Materialismus sah, und musste demnach die Allein- 
herrschaft des Materialismus anerkennen, wenn Schopenhaaer'd 
Anspruch, den Spiritualismus kritisch beseitigt zu haben, begrün- 
det wäre. 

Dass Frauenstädt dies nicht ausspricht, ist der ei'ste Fehter 
seiner Behandlung dieses Gegenstandes; der zweite Fehler aber idt 
der, dass er jenen letztern Anspruch gelten lässt, anstatt ihn als 
eiüen Widerd|)ruch mit der ganzen Schop^Uhauer'schen Metaphysik 



^anenstädt^s tJmbüduBg der Schopenhauer^schen Philosophie. 1^ 

(und zwar sowohl mit seinem Willensrealismns als auch mit seinem 
objectiven Idealismus) nachzuweisen, welche reiner Spiritualismus 
and der unversöhnliche Gegensatz zu allem Materialismus ist. Sein 
dritter Fehler endlich ist der, dass er Schopenhauer's Begriff der 
reinen Materie, der doch nur ein Product des subjectiven Idealismus 
ist, trotz der Aufhebung des letztem bestehen lässt, anstatt mit den 
falschen Prämissen auch deren logische Gonsequenz als beseitigt zu 
betrachten. 

l^ach Schopenhauer's realistischer Metaphysik giebt es nur eine 
Substanz: den Willen (85), der ihm zugleich die psychische Grund- 
fonction, also eine spiritualistische und immaterielle Substanz ist. 
Sein Materialismus hingegen besteht eben in der Leugnung der 
Möglichkeit einer Substanz ausser der Materie (139—141), und sein 
subjectiver Idealismus besteht in der Leugnung jeder transcendentar 
len Gültigkeit der Vorstellungsformen , also auch derjenigen des 
Snbstanzbegriffes, welche er in seiner Metaphysik für die absolute 
Substanz des Willens voraussetzt. Schopenhauer hat darin Recht, 
dass unser Verstand hinter der concreten Erscheinung einen sub- 
stantiellen Träger derselben voraussetzen muss ; er hat ebenso darin 
Becht, dass diese Substanz der Erscheinung Wille oder Kraft sei; 
aber dann hat er Unrecht, dass diese Substanz gleichzeitig auch 
wieder etwas ganz anderes als Wille, nämlich die scholastische 
Fiction einer reinen Materie sein solle. Er hat Becht, dass diese 
reine Materie in der Erfahrung gar nicht vorkommt, und dass wir 
hinter die empirisch gegebene Erscheinung nur durch das Denken 
gelangen können; hätte er aber auch darin Kecht, dass unser Ver- 
stand durch seine Einrichtung gezwungen wäre, die Substanz der 
Erscheinung als reine Materie oder abstracten Stoff zu denken, so 
müsste er seine ganze Willensmetaphysik nicht bloss als falsch, 
sondern als für unsern Verstand undenkbar verwerfen, und doch 
wiederum den Begriff der Materie als eine, wenngleich unzerstörbare, 
Illusion verurtheilen, da sie uns den Widersinn zumuthet, ein kraft- 
loses Substrat neben der Kraft als causa efficiens der Natur- 
processe, eine formalistische Zutbat unsers subjectiven Denkens zu 
dem Währgenommenen als letzten Grund der objectiven Erscheinung, 
und eine blosse Abstraction der Ausdehnung und Beweglichkeit ^Is 
Substanz der IJrscheinungen, d. h. als etwas über Baum und Zeit 
Erhabenes anzusehen. 



Igg B. SchopenhauerianismoB. 

In der That ist Schopenhauer's „reine Materie" aber nichts 
weniger als eine nothwendige Illusion unserer Verstandeseinrichtung, 
sondern bloss eine plumpe Hypostase der abstracten Sinnenfälligkeit, 
ein krasses sinnliches Vorurtheil, das unter der rationellen Kritik in 
Nichts zerrinnt. Sie ist genau dasselbe, was ich unter der Bezeich- 
nung des „Stoffes"*) kritisch beleuchtet habe, jener UnbegriflF, der 
angeblich übrig bleiben soll, wenn man von der concreten bestimm- 
ten Materie alles das abgezogen hat, was Kräfte, d. h. Willens- 
äusserungen sind. Auch für Schopenhauer ist die „reine Materie" 
eine nichts erklärende Supposition, da alle Erklärung nur aus 
Kräften geschöpft wird; d. h. auch für ihn schon ist es eine über- 
flüssige Hypothese, deren Existenz durch nichts zu rechtfertigen ist. 
Auch ihm ist die wahre und alleinige Substanz der concreten Ma- 
terie die Kraft und nicht der kraftlose Stoff oder die „reine Materie"; 
nur wusste er mit dieser principiell richtigen Ansicht nichts anzu- 
fangen, weil ihm die Kräfte als ein räumlich verschwommenes, 
unklares Fluidum vorschwebten, und er sich mit hartnäckigem 
Eigensinn gegen die Einsicht versperrte, dass dynamische Factoren 
nur durch individuelle Concrescenz, d. h. durch Beziehung auf 
imaginäre Raumpunkte oder Kraftcentra, mechanisch verwendbar 
werden. 

Schopenhauer's ganze Polemik gegen die Atomistik kehrt sich 
ausschliesslich gegen die Materialität oder Stofflichkeit der Atome, 
während eine Construction der concreten Materie aus immateriellen 
individualisirten Kräften (Kraftmonaden oder dynamischen Atomen) 
gar nicht von ihr betroffen wird. Ist also einmal Schopenhauer's 
Begriff der neben und hinter den Kräften spukenden „reinen Materie" 
als ein in jeder Beziehung unhaltbarer ünbegriff eliminirt, so schwin- 
det die Voraussetzung, auf welcher allein die Polemik gegen die 
Atomistik beruhte. Hätte Frauenstädt die Nothwendigkeit, mit dem 
subjectiven Idealismus auch den Begriff der „reinen Materie" zu 
streichen, deutlich eingesehen und unumwunden anerkannt, so wüi-de 
er wohl auch die Eeproduction der nachgerade veralteteten Polemik 



*) Der Materialismus unterscheidet in der Materie „Kraft" und j^Stoff**; 
darum schien mir der Ausdruck ^^Stoff" passender für das angebliche GegentheU 
der Kraft in der Materie, während Schopenhauer gerade mit „Stoff** die concrete 
Materie einschliesslich der Kräfte bezeichnet. 



Frauenst&dt's tJmbtldimg der Schopenhauer^Bchen Philosophie. Ig*^ 

Schopenhauer's gegen die Atomistik (149 fg.) beiseite gelassen haben, 
da die mathematische Natarwissenschaft längst den Atomen jede 
Ausdehnung absolut abgesprochen und mit dem etwaigen ^^StofiF^' 
der Atome nichts zu schaffen hat, also auch von dem philosophischen 
Streit nm die Stofflichkeit oder Unstofflichkeit der Atome gar nicht 
berührt wird. 

Schopenhauer'a Materialismus ist in jeder Hinsicht eine verfehlte 
Beigabe zum System: nicht nur muss seine Behauptung, dass es 
keine Substanz gebe als die reine (d. h. kraftlose) Materie, ersetzt 
werden durch die entgegengesetzte, dass es keine Substanz gebe als 
die (immaterielle) Kraft (d. h. den Willen), sondern auch die andere Be- 
hauptung desselben, dass die Seele, der Intellect oder der Geist ein 
blosses Product der Materie (156) sei, muss durch die entgegen- 
gesetzte Behauptung ersetzt werden, dass die Materie nur ein Pro- 
duct des Allgeistes oder der Allseele, d. h. der immateriellen abso- 
luten Substanz (Allwille mit der Weltidee als Inhalt) sei. Existirt 
eine unbewusste teleologische Weisheit des Naturwillens, die über 
alle Weisheit menschlicher Intellecte hoch erhaben ist, so liegt es 
doch näher, die Geistigkeit und Vernünftigkeit des menschlichen 
Intellects von dieser absoluten Intelligenz abzuleiten, als sie als 
einen Ausfluss einer vernunftlosen und vorstellungslosen Materie zu 
betrachten, welcher der blinden Willenssubstanz auf eine unerklär- 
liche Weise als ein ihr fremdes und eigentlich gar nicht zukommen- 
des Accidens angeflogen sei. 

Frauenstädt erkennt selbst die Nothwendigkeit dieser Correctur 
der Schopenhauer'schen Lehre, denn er sieht in dem Erkenntniss- 
willen die höchste und stärkste Form des Willens, also in der Her- 
stellung des menschlichen Intellects nicht ein accidentielles Aussen- 
werk, sondern die Befriedigung des Willens in seinem tiefinnersten 
Wesen, und erklärt sogar in dem Erkenntnisswillen den Intellect 
für unsterblich (69 — 70). Dann aber ist für ihn auch diese Seite 
des Schopenhauer'schen Materialismus, die Entstehung des Intellects 
durch die materielle Organisation, bereits ein überwundener Stand- 
punkt, und muss von ihm di&. Wahrheit dieses Gedankens (ebenso 
wie yon mir in der „Philosophie des Unbewussten") auf die Ent- 
stehung der Form des Bewusstseins für das bis dahin unbewusste 
Vorstellen und dessen immanente Vemünftigkeit reducirt werden. 
So lange er diesen Schritt nicht unzweideutig zu dem seinigen 



168 -B* Schopenhaüeriamflmiui. 

maohty bleibt er in dem oben gezeigten Widerspruch zwificheii d^ 
Materialismus Schopenhauer's und dessen Metaphysik (Willens- 
monismus und objectivem Idealismus) stecken. Um aber in diesem 
Widerspruch der realistisch interpretirten Scbopenhauer'schen Lehre 
stecken zu bleiben, dazu lohnte es sich kaum der Mühe, den von 
den idealistischen Interpreten Schopenhauer's herausgefundenen 
Widerspruch zwischen Materialismus und sul\jectivem Ideftlismus zu 
bekämpfen (161 — 162), der freilich verschwindet, wenn man A&a 
subjectiven Idealismus streicht. 



13. Pie ethlsehen Probleme. 

Werfen wii* zum Sohluss einen Blick auf Frauenstädt's Stellung 
zu den ethischen Lehren Schopenhauer's, wo sein Gegensatz zu 
demselben so entschieden hervortritt, dass er selbst den Versuch 
aufi^ebt, denselben wie anderwärts durch künstliche oder gewaltsame 
Interpretation der Lehren seines Meisters abzuschwächen und zu 
verschleiern. Frauenstädt stellt folgende Ansichten auf: 

* 

Die individuelle Willensverneinung muss als ein Widerspruch 
gegen den Monismus aufgegeben werden ; daraus folgt die Verkehrt- 
heit des diesem Zwecke zustrebenden Mittels der Ascese sowie einer 
ascetischen Moral neben oder gar über der gewöhnlichen. Der 
M^sch als Individuum hat keine Wahl zwischen WilIensbc)jahuQg 
und Willensverneinung, und sein Handeln, also auch sein sittliches 
Handeln kann sich demnach nur auf dem Boden der erstern be- 
wegen. Die absolute Determination alles Handelns ist festzuhalten, 
aber die Schopenhauer'sche Annahme einer Freiheit des Individuums 
in seinem Sein als dem Monismus widersprechend aufzugeben und 
durch die absolute Determination auch des Seins zu ersetzen (242). 
Der intelligible Charakter „fällt mit der Idee oder noch eigentlicher 
mit dem ursprünglichen Willensact, der sich in ihr offenbart, zi- 
sammen^' (240), der nicht mehr ein Act des erst durch ihn gesetzte 
Individuums, sondern des All-Einen ist, und als Willensact selbst 
innerhalb der Zeit iUUt wie jede« andere Act (241). Ein Unter- 
schied zwischen dem Inhalt des intßUigibeln und empirisch^Ei Cha- 
rakters besteht nicht (241), und der Charakter macht so gut wie 
dar Intelleet eine EqtwidLelung durch, bei welcher Constsuis d6r 
Grundanlagen mit einer gewissen Modificabilität ihres Verhältnissefl 



Frauenstädt^s Ümbildong der Sciiopenliauer^schen Philosophie. 169 

zneuiaiider upd damit ihres Gesammteffects sieb vereinigt (73). 
Selbst dem Allwillen kommt keine Freiheit in Bezug auf die Be- 
schaffenheit seiner Essenz zu, die keinenfalls anders sein könnte 
als sie ist (242 — 243); die Freiheit des Allwillens bedeutet nur 
Unabhängigkeit seines Seins nach aussen, oder AseMt. 

In allen diesen Punkten befindet sieb Frauenstädt im Gegensatz 
zu Schopenhauer und in Uebereinstimmung mit der Philosophie des 
Unbewnssten ; der Unterschied, dass ich die transcendentale Freiheit 
im Sehopenhauer'schen Sinne, d. b. die Freiheit des potentiellen 
Willens, im Zustande des Nichtwollens zu verbleiben, oder sich zum 
Wollen zu erheben, fllr den Allwillen festhalte, und damit zugleich 
dem Begriff der Asel'tät eine positive Bedeutung verleihe, hängt mit 
Frauenstädt's Lengnung des Willens als eines woUen-Könnenden 
snsammen und rückt mich dem Schopenhauer'schen Standpunkt näher 
als ihn. Nun fragt es sich aber, wie Frauenstädt bei dieser Aen- 
derung der metaphysischen Grundlagen der Schopenhauer'schen 
Ethik mit dem praktischen Grundproblem der Verantwortlichkeit 
zurechtgekommen ist, und da zeigt sich, dass er an diesem gänzlich 
gescheitert ist, weil er es unterlassen hat, sich von einer falschen 
Schopenhauer'schen ]Lehre loszusagen, die mit der von ihm verwor- 
fenen untrennbar zusammenhängt, und deshalb von ihm mit verworfen 
werden musste. Es ist dies die Behauptung, dass die innere sitt- 
liche Verantwc^Uchkeit (nicht zu verwechseln mit der äussern vor 
dem Staatsgesetz und dem Richterstnhl der öffentlicben Meinung) 
auf der indeterministisohen Willensfreiheit beruhe und mit dieser 
stehe und falle. 

Dieser Täuschung konnte Schopenhauer sich hingeben, der an 
die indeterministische transcendentale Freiheit des Individuums (im 
Widerspruch mit seinem Monismus) glaubte ; aber Frauenstädt musste 
erkennen, dass die innere sittliche Verantwortlichkeit eine nicht ab- 
zuleugnende Thatsache des sittlichen Bewusstseins sei, und dass 
deshalb ihre Fundamentirung auf die transcendentale Freiheit noth- 
wendig sich als Irrthum enthtUle, sobald einmal die transcendentale 
Freiheit des Individuums sich als Irrthum herausgestellt habe. Statt 
dessen hält er an diesem metaphysischem Irrthum fest und zieht 
aus demselben die Consequenz, dass die innere sittliche Verantwort- 
lichkeit des Individuums eine grundlose Illusion sei. Hiermit 
untergräbt er die Wurzeln der Iforal, d^nn wenn auch die Besserungs- 



170 B. Schopenhauerianismas. 

fähigkeit des Charakters bestehen bleibt (Brief 40), so schwindet 
doch jede Möglichkeit, aas inneren sittlichen Impulsen an diese 
Besserung des Charakters in ernster sittlicher Selbstzucht Hand an- 
zulegen. Das ethische Werthurtheil bleibt zwar bestehen (246), aber 
es verliert jede praktische Bedeutung, jeden realen Einfluss, sobald 
mit Aufhebung des Verantwortlichkeitsgeflihls der Selbstvorwurf 
schwindet, dass man nicht besser gehandelt habe, und der Trieb 
aufhört, dem ethischen Sollen Genüge zu thun. Frauenstädt hat 
mit allen Yorurtheilen des Indeterminismus glücklich gebrochen, 
aber das eine, welches als letzter Rest seinem Denken anhaftet, hat 
genügt, die Lösung des ethischen Problems für ihn unmöglich zu 
machen. Und doch hätte es ihm so nahegelegen, kritisch zu unter- 
suchen, ob es denn wirklich nur die indeterministische Freiheit ist, 
auf der die Verantwortlichkeit ruht, eine Freiheit, welche AseMt 
zur Voraussetzung hat (243). Er würde dann wahrscheinlich gleich 
mir gefunden haben, dass die auf dem Boden des Determinismus 
vorkommenden Formen der Innern Freiheit in ihrer Vereinigung 
vollständig genügen, um als zureichende psychologische Basis des 
VerantwortlichkeitsgefUhls zu dienen*), und dass die Zuschiebung 
der Verantwortlichkeit fttr alles Geschehende auf den all-einen Willen 
als alleiniges Subject der Zurechnung (238) ein transcendenter 
Missbrauch von Begriffen ist, die nur in der Sphäre der Individua- 
tion, d. h. der objectiven Erscheinung, ihre Gültigkeit und einen ver- 
ständlichen Sinn haben. 

Endlich ist zu bemerken, dass Frauenstädt bei seiner unbedingten 
Vertheidigung des Mitleids als des alleinigen Fundaments der Moral 
(im 41. Briefe) eine unbefangene geschichtliche Würdigung der 
Schopenhauer'schen Leistungen auf dem Gebiete der Moral vermissen 
lässt, und sich noch allzu sehr in dem Horizont seines Meisters be- 
fangen zeigt. Schopenhauer's Verdienst in dieser Richtung ist dahin 
zu präcisiren, dass er gegen den einseitigen Rationalismus der ge- 
fühlsfeindlichen Kantischen Ethik durch Wiederbelebung der Ge- 
fühlsmoral der schottischen Moralphilosophie auf deutschem Boden 
ein kräftiges und nützliches Gegengewicht bot, ebenso wie es Herbart 



♦) Vgl. meine Abhandlung „Die sittliche Freiheit" in Reich's „Athen&um'' 
(1876), Heft 1 fg. Die „Philosophie des Unbewussten'* konnte ihrem Inhalt nach 
für diese ethischen Fragen keine ausreichenden Fingerzeige bieten. 






Frauenst&dt*B ümbildang der Schopenhauer'schen Philosophie 171 

dnrch Geltendmachung der Geschmacksmoral von einer andern Seite 
her versuchte. Aber wie eine berechtigte Reaction so oft über ihr 
Ziel hinausschiesst, so ging es auch Schopenhauer; er begnügte sich 
nicht mit einer Vertheidigung der Rechte der Geftthlsmoral gegen- 
über dem exclussiven Rigorismus der Kantischen Vernunftmoral, 
sondern wollte nun seinerseits die Geftihlsmoral als die allein be- 
rechtigte, und die Vernunftmoral Kaufs als eine Verirrung hinstellen. 
In Wahrheit liegt das Verhältniss so, dass erst die Einheit von 
Vernunftmoral, Geftihlsmoral und Geschmacksmoral den ganzen 
Umfang der subjectiven Moralprincipien erschöpft, dass aber die 
Vemunftmoral unter diesen dreien die höchste und sicherste, wie die 
Geftihlsmoral die stärkste und tiefste und die Geschmacksmoral die 
feinste und zarteste ist Die aus der Vernunftmoral entspringenden 
„Grundsätze^' hat Schopenhauer als nothwendige Ergänzung in seine 
Geftihlsmoral eingeschmuggelt, ohne die Selbstständigkeit und Hetero- 
genität ihrer Quelle und die Unmöglichkeit, dieselben aus dem Ge- 
ftihl abzuleiten, einzugestehen, und Frauenstädt bemtiht sich ver- 
gebens, den von Zange hierauf gegrtindeten Vorwurf der Inconse- 
quenz von Schopenhauer abzuwehren (258 — 259). Zu der falschen 
Einseitigkeit der Hervorkehrung der Geftihlsmoral kommt aber bei 
Schopenhauer noch der zweite Fehler hinzu, dass er wiederum das 
weite Gebiet der Geftihlsmoral auf den einzigen Punkt des Mitleids 
einschränkt, dessen relative Wichtigkeit man nicht zu verkennen 
braucht, wenn man ihm gleichwohl selbst innerhalb der Geftihls- 
moral eine ziemlich untergeordnete Stellung anweist In beiden 
Punkten hat Frauensüldt sich nicht zu einer objectiven Beurtheilung 
seines Meisters zu erheben vermocht; auch scheint er mir nicht ge- 
ntigend betont zu haben, dass der tiefste und unvergängliche Werth 
der Schopenhauer'schen Ethik darin zu suchen ist, dass die- 
selbe entschiedener als irgend eine frtihere Lehre die Moral auf die 
Methaphysik grtindete und die substantielle Einheit aller Individuen 
als das eigentliche und alleinige (metaphysische) Princip der Moral 
proclamirte, während das Mitgeftihl nur Einer unter den vielen 
Strahlen ist, in welche gebrochen diese metaphysische Wahrheit in 
die vom Schleier der Maja umhtillte Sphäre des Bewusstseins 
hineinleuchtet 



172 B. ScbopenhauerianiamuB. 



14. Sehlusswort« 

Blicken wir auf die angestellten Betrachtungen zurück, so er- 
giebt sich, dass Frauenstädt die einschneidendsten principiallen Aea- 
4erungen im System seines Meisters als nöthig erachtet bat, vm 
dasselbe vor der Kritik haltbar zu machen. Insbesondere kaan er 
sich der Anerkennung der von Schopenhauer's Gegnern hervorge- 
hobenen Widersprüche zwischen dem subjectiven Idealismus und 
d3n anderen Theilen des Systems nicht entziehen ; er schliesst daraoB 
mit Kecht, dass der erstere durch sein Gegentheil ersetzt werden 
müsse (z. Bf, 178, 263 u. a. m.), aber er sucht mit Unrecht darzn- 
thun, dass Schopenhauer selbst schon eine solche Umgestaltung mit 
dem in seinem Hauptwerk niedergelegten System vorgenommen 
habe. Diese Umgestaltung muss alle Bestandtheile des Systems, di^ 
vom subjectiven Idealismus bestimmt sind, in ihr Gegentheil ver- 
kehren, und kann nur diejenigen möglicherweise unberührt lassen, 
welche ohnehin schon dem subjectiven Idealismus widerspreche^. 
Selbst Frauenstädt ist es noch keineswegs gelungen, die falsches 
Consequenzen des subjectiven Idealismus überall auszumerzeD 
(z. B. beim Materialismus) und die unabweisslichen Consequenzen 
des transcendentalen Bealismus überall mit Ernst und NachdradL 
bis zu Ende zu führen, selbst da nicht, wo Schopenhauer schon die 
realistische Auffassung angedeutet hatte (z. B. in Betreff der zeit- 
nahen Begrenzung des realen Weltprocesses und des WoU^is). 

Andererseits kann doch die Unvereinbarkeit des subjectiven 
Idealismus mit den übrigen Haupttheilen des Schopenhauer'schen 
Systems noch zticht für einen Beweis der Unhaltbarkeit des erstem 
gelten ; es wäre ja möglich, dass nur dieser Ausgangspunkt des 
Schopenhauer'schen Philosophirens richtig, und alle im Widerspmeh 
mit (demselben gethanen Schritte falsch wären. Diese Ansicht wird 
von Neukantianern, wie Cohen und F A. Lange, wirklich vertreten, 
und wer der entgegengesetzten Meinung huldigt, darf nicht ver- 
gessen, dass er dadurch mckt bloss dem systematischen Standpunkt 
Schopeabauer's, sondern auch der Autorität Kant's Opposition mafiht 
Hiernach dürfte man eine sachliche Begründung für die Yerwerfong 
des transcendentalen Idealismus Kant's und Schopenhauer's von 
einem realistischen Nachfolger der letztern nicht mit Unrecht er- 



Frauenstädt's Umbildung dei* Scliot)etihauet'8chen Philosophie. l73 

warten *) ; indessen wttrde man bei Franetistädt wie bei Bahnsen 
Vei'geblich auch nur nach dem Anlauf zu einer solchen änchen, und 
ebenso wenig halten beide es flir nöthig, Ihre Leser wenigstens auf 
andere Schriften, welche sich der Lösung dieser Aufgabe widmen, 
hinzuweisen, obwohl sie sich doch bewusst sein müssen, mit ihrer 
Ansicht gegen die im philosophischen Publikum gegenwärtig domi- 
nirende Eantische Strömung zu schwimmen. 

Der Gesammteindrnck der Frauenstädt'schen UmbilduDg ist der, 
dass dieselbe sich von der geschichtlich gegebenen Gestalt des 
Schopenhauer'schen Systems sehr bedeutend entfernt (weiter z. B. 
als Schelling's transcendentaler Idealismus von Fichte's Wissen- 
schaftslehre, oder als HegeFs Panlogismus ron Schelling's Identitäts^ 
Philosophie), daftlr aber der Philosophie des Unbewussten desto 
näher steht. Ueberall, wo Frauenstädt sich der Schopenhauer'schen 
Lehre enger anschliesst als ich, handelt es sich, wie ich gezeigt zu 
haben glaube, um Inconsequenzen innerhalb seiner Umbildung infolge 
unzulänglicher Durchftlhrung seiner principiellen Abweichungen, um 
Eierschalen, die dem ausgekrochenen Hühnchen am Bücken kleben 
geblieben sind, aber dem Leben ausserhalb des Eis widersprechen. 
Ueberall hingegen, wo er sich von Schopenhauer weiter entfernt als 
ich, ist die über die Philosophie des Unbewussten hinausgehende 
Abstreifung Schopenhauer'scher Ansichten weder eine Consequenz 
der von Frauenstädt adoptirten Principien (manchmal sogar im Wi- 
derspruch gegen dieselben), noch auch anderweitig durch zureichende 
Gründe gestützt. In den principiellen Grundanschauungen acceptirt 
Frauenstädt die Nothwendigkeit derselben Modificationen, welche ich 
in der „Philosophie des Unbewussten" bereits im Zusammenhange 
entwickelt habe; in der Durchführung dieser gemeinsamen princi- 
piellen Modificationen glaube ich nicht nur die Consequenz besser 
gewahrt zu haben als Frauenstädt, sondern auch unraotivirte Ab- 
weichungen von Schopenhauer sorgfältiger vermieden zu haben. Ich 
kann deshalb nicht umhin, meine Fortbildung der Schopenhauer'schen 
Philosophie, welche in den metaphysischen Grundansichten mit 



*) Ich habe eine solche in meiner „Kritischen Grundlegung des transcen- 
dentalen Realismus^' (2. Aufl. Berlin 1875) zu geben versucht, und zur Ergänzung 
eine Studie über „J. H. Ton Earchmann's erkenntnisstheoretischen Realismus^* 
nachfolgen lassen. 



174 B. Schopenhauerianismus. 

derjenigen Frauenstädt's znsammenfällt, in der Dnrchftahrang dieser 
gemeinsamen Principien nicht nur als die consequentere, sondern 
auch als die dem Geiste der Schopenhaner'schen Philosophie treuere 
von beiden anzusehen, und glaube diesen Anspruch in dem Vorher- 
gehenden ausreichend begründet zu haben. In diesem Sinne habe 
ich alle Ursache, dem verdienstvollen Vorkämpfer der Schopenhauer'- 
schen Philosophie für die VeröflFentlichung seiner „Neuen Briefe'* 
dankbar zu sein, weil dieselben theils direct, theils indirect eine 
werthvolle Bestätigung dafür gewähren, dass der für die Fortbildung 
der Schopenhauer'schen Philosophie von mir in der ,,Philosophie 
des ünbewussten" eingeschlagene Weg in allen wesentlichen Punkten 
der richtige sei. 



IV. 

Bahnsen's charakterologischer Individualismus. 

^Viellaiclit hat ja der Weltwille mit all dem Weltelend 

recht eigentlich seinen Willen geVriegt nnd es ist Ton nns 

erh&rmlichen Erdcnwftnnem eine entsetzliche üeberhehnng, 

wenn wir nnsheransnehmen, darüber raisonniren zn wollen*** 

J, Bahnsen. (Znr Phil. d. Gesch, S. 61.) 



A. Die Charakterologie. 

1. Aufierabe und Standpunkt des Werkes. 

Es scheint an dieser Stelle ttberflttssig, auf die Wichtigkeit 
einer wissenschaftlichen Behandlung der bisher nur belletristisch 
betriebenen Charakterstudien aufiuerksam zu machen. Der Fülle 
der Individualitäten gerecht zu werden, und deren Eigenthümlich- 
keiten dennoch begrifflich zu subsumiren und zu analysiren, ist eine 
wohl des Philosophen würdige Aufgabe. „Somit gewissermaassen 
zugleich morphologischer und ätiologischer Natur ist die Charakte- 
rologie sehr wohl geeignet, ein Bindeglied zwischen rein psycho- 
logischer und ethischer Betrachtungsweise herzustellen. Wie der 
Pädagogik, so hat sie auch der Criminalistik und Psychiatrie die 
Prologomena zu liefern." (Char. I. 3.) *) Was man Menschenkennt- 



*) Ich citire die Charakterologie in der Abkürzung .,Char/S die metaphysische 
Voruntersuchung zum Verhältniss zwischen Wille und Motiv als „M. V.", endlich 
die kritische Besprechung des Evolutionismus (Zur Philosophie der Geschichte) 
als „Kr. d. Ev." 



176 B. Schopenhauerianismus. 

niss nennt, sind die tastenden intuitiven Rudimente der Charakterologie, 
und auf ihrem Besitz beruht alle Kunst, „die Mensehen zu nehmend 
Die intellectuellen Anlagen vom höchsten Genie herunter bis zum 
verschmitzten Gretin sind ebenso wenig unabhängig von den eha- 
rakterologischen Bestimmungen des Willens wie der ethische Werth 
des Menschen, wenn auch nach beiden Richtungen bei gleicher 
charakterologischer Individualität immer noch ein ziemlicher Spiel- 
raum offen bleibt. Alle diese Beziehungen zu untersuchen ist von 
der höchsten Bedeutung. In den bisherigen Psychologien spielt 
meistens die Temperamentslehre eine sehr unglückliche Rolle, und 
doch ist dies fast das einzige, was bisher in der formalen Seite 
der Charakterologie gethan ist. Hinsichtlich der materialen Seite 
derselben sehen wir uns aber fast ausschliesslich auf die ganz un- 
wissenschaftliche Phrenologie angewiesen, welche nicht nur die 
formale Seite des Charakters ganz ignorirt, sondern auch eine der 
Erfahrung widersprechende starre Sonderung ihrer der Zahl nach 
willkürlich beschränkten „Grundvermögen^^ festhält, um von der im 
Einzelnen unhaltbaren Verquickung mit Cranioskopie ganz abzu- 
sehen. So muss denn ein Werk von allen Philosophen freudig 
bewillkommnet werden, welches unter Vermeidung dieser Einseitig- 
keiten die Charakterologie so erheblieh gefördert hat, dass sie jetzt 
mit Recht eine Pflege als eine (immerhin der Psychologie im wei- 
tern Sinne untergeordnete besondere Disciplin in Anspruch nehmen 
darf. Welcher Schule oder Richtung innerhalb der Philosophie man 
angehören möge, die Charakterologie hat ftlr jeden die gleiche 
Wichtigkeit und das gleiche Interesse, da es keine Schule geben 
kann, welche sich der erfahrungsmässigen Thatsache der individuel- 
len Existenzen und dem Gebot ihrer Würdigung entziehen kann. 
Bahnsen braucht also nicht zu besorgen, dass der metaphysische 
Monismus das Interesse an seiner Arbeit vermindern könne 
(M. V. 2). 

Was die Oeconomie des Werkes betrifft, so könnte man es zu- 
nächst in die eigentliche Charakterologie, welche gleichsam die 
Anatomie und Physiologie des Charakters behandelt, und in Proben 
der angewandten Charakterologie trennen, welche letzteren das letzte 
Dritttheil des zweiten Bandes anfüllen und theils Aphorismen zur 
Völkerpsychologie (Nationalcharaktere wie John Bull und der Yankee 
sind gut getroffene Porträts), theils solche über das weiblichd 



Bahnsen's oharakterologischer Individualismus. 177 

Geschlecht; theils charakterologiscbe Typen aus der Gesellachafl 
enthalten, zwei Abschnitte, in denen Bs^hnsen oft an Bogumil Goltz 
erinnert, dem er übrigens an philosophischer Sicherheit weit tiber- 
legen ist. Die eigentliche Charakterologie kann man wiederum in 
einen allgemeinen oder formalen und einen besondern oder materia- 
len Theil trennen, wenn man unter ersterem die Grundformen des 
Charakters befasst, welche sein Verhalten zu jeder Classe von Mo- 
tiven ohne Unterschied oder im Allgemeinen bestimmen, während 
unter dem letztern das verschiedene Verhalten des Willens zu ver- 
schiedenen Bethätigungsgebieten innerhalb, der gemeinsamen Cha- 
raktergrundform behandelt werden würde, worunter also auch alle 
besonderen Anlagen, Specialneigungen und Leidenschaften sammt 
idiosynkratischen Sympathien und Antipathien, Liebhabereien oder 
Gelüsten und Aversionen fallen würden. Als Zusammenschluss 
dieser beiden Theile würde dann eben die angewandte Charaktero- 
logie zeigen, wie und in welchen Mischungen die formalen und 
materiellen Elemente zu einer Individualität zusammentreten. Bahnsen 
stellt dies Programm zwar I. 3 auf (vgl. II. 74), doch ohne sich 
besonders streng daran zu binden; denn wenn auch der erste Band 
vorwiegend formale Charakterologie behandelt, so ist doch schon 
manches Materiale eingestreut, und muss die Behandlung des mate- 
rialen Theils mit Ausnahme des Selbstgefühls als eine dem grossen 
Reichtbum in der Verschiedenheit materialer Charakteranlagen nicht 
entsprechende erachtet werden. Indessen nennt ja Bahnsen selbst 
sein Werk nur „Beiträge", und wollen wir deshalb für das gebotene 
wahrhaft Gute dankbar sein, anstatt uns über Ungleichheit der 
Behandlung zu beklagen. Das Buch will und soll ja kein Lehr- 
buch sein, und doch lernt man mehr daraus, als aus irgend einepi 
Lehrbuch, weil es so ungemein anregend wirkt. Als vop ganz 
besonderer Schönheit bezeichne ich den Abschnitt: „Die Antinon^ien 
des Gemüths." Aus der formalen Charakterologie will ich noch 
hervorheben, dass Bahnsen zuerst die Eukolie und Dyskolie 
und alsdann den Energiegrad des Willens, d. h. die nach begonne- 
nem Handeln dem Individuum zu Gebote stehende summarische 
Kraftentfaltung (L21), von den Temperamenten ausscheidet, wodurch 
die Temperamentsformen, deren jede sich mit jeder der ausgeschie- 
denen Formen (wenn auch nicht gleich gut) vereint finden kann, 
weit klarer und durchsichtiger werden. Namentlich wird die alte 

K Y. Hartmanii, Erläuterungen. 2. Aufl. X2 



178 S Schopenliauerianismus. 

Verwirrung von Eukolos und Sanguiniker, sowie von Dyskolos und 
Melancholiker hierdurch beseitigt. Zur Vermeidung jedes Doppel- 
sinnes setzt Bahnsen für das melancholische Temperament als 
anderes Wort: „das anämatische." Auch innerhalb der so verein- 
fachten Temperamentsformen setzt Bahnsen seine anatomische Arbeit 
fort, und trennt die Irritabilität in Spontaneität und ßeagibilität, 
sowie die Sensibilität in ßeceptivität und Impressionabilität. Unter 
Spontaneität versteht er die grössere oder geringere Neigung zur 
Initiative, unter ßeceptivität die Schnelligkeit, mit der die Willens- 
reaction auf das Motiv folgt, unter Impressionabilität die Ein- 
dringungstiefe der Motive in s Gemtith, unter ßeagibilität die grös- 
sere oder geringere Nachhaltigkeit in der Wirkung eines Motivs 
auf den Willen. Hierdurch ergeben sich 16 Teraperamentsformen 
statt der bisher üblichen 8 (4 reinen und 4 gemischten), wozu dann 
noch die zahlreichen Unterschiede durch verschiedene Combination 
dieser 16 Formen mit Eukolie und Dyskolie und mit grösserem 
oder geringerem Energiegrad kommen. Hieraus ist ersichtlich, dass 
sich Bahnsen's Temperamentslehre in vortheilhafter Weise von der 
Knappheit der alten Schablone zu der Mannigfaltigkeit des wirk- 
lichen Lebens hin nähert. 

Auf der ersten Seite der Einleitung erklärt Bahnsen mit Recht, 
dass ein Ausweiss über die metaphysischen Voraussetzun- 
gen, auf welche seine Charakterologie sich zu stützen gedenke, 
unerlässlich sei, und glaubt dieser Forderung durch Hinweis 
auf das Schopenhauer'sche System zu genügen. Nicht gering muss 
daher die Verwunderung des Lesers sein, wenn er gelegentlich im 
Laufe des Werkes erfährt, was er hätte im Anfang erfahren sollen, 
dass derselbe in den wichtigsten Principienfragen die entgegen- 
gesetzte AuflFassung wie Schopenhauer vertritt. So meint man 
doch nach der Erklärung der Einleitung, es jedenfalls mit einem 
subjectiven Idealisten zu thun zu haben, und erfährt erst Bd. II. 
S. 288 — 289, dass Bahnsen mit Trendelenburg und Anderen der 
Ansicht ist, dass jenes famose „bloss" vor der Bezeichnung der 
Anschauungsformen als „subjectiver'' gestrichen werden muss. Mit 
dieser Erklärung ist aber durch das erste Buch von Schopenhauer's 
„Welt als Wille und Vorstellung" ein grosser Strich gemacht. — 
Demnächst erwartet man nach der Erklärung der Einleitung, das 
metaphysische Fundament Babnsen's als Monismus des Willens 



Bahnsen^s charakterologischer IndiTidualismos. 179 

bezeichnen zn dürfen, wird aber schon durch die höchst entschiedene 
Betonung der A s eYtä t der als ewig gedachten inteliigibeln Individual- 
charaktere irre, welche den Ursprung aus dem All-Einen ausschliesst. 
Die M. V. aber belehrt den Leser S. 17, in der Anm., dass die 
Einheit der Welt eine Kraft ist, Eins zu sein, oder vielmehr ein 
Wollen, Eins zu werden; es giebt hiernach also nicht ein (in den 
Vielen) wollendes Eines, sondern nur eine gewollte Ein- 
heit, d.h. die einzige Einheit der Vielen besteht in der Tendenz 
nach Ver-Einheit-lichung, mit andern Worten, sie ist eine 
bloss erstrebte, mithin nicht reell, sondern nur ideell vor- 
handene. Hiermit ist durch das zweite Buch des Schopenhauer'- 
schen Hauptwerks ebenfalls ein Strich gemacht, welches darin 
cnlminirt, das Wesen der Welt als reell und substantiell 
Eines zu setzen, da ihm eine bloss ideale Einheit mit Becht keine 
ist. — Weiterhin desavouirt Bahnsen auch das dritte Buch; denn 
erstens raubt er der Platonischen Idee ihre metaphysische Be- 
deutung und schränkt sie auf die ästhetische ein, indem er die 
Idee ebenso wie den BegriflF als Product eines materiellen Intellect- 
organs (Char. II. 288) statt als Vorstellung* des ewig Einen und 
unwandelbaren Weltauges oder reinen Erkenntnisssubjectes auffasst 
und ein unbewusstes Vorstellen fltr eine simple contradidio in adjedo 
erklärt (M. V. 27), während für Schopenhauer die Idee eine intuitive 
Vorstellung und doch der Entstehung der Exemplare und Indi- 
viduen vorhergehend ist, durch welche mit dem Gehirn das 
Bewusstsein erst möglich wird (vgl. Phil. Monatshhefte Bd. 11. 
S. 461—465). Zweitens aber bestreitet Bahnsen mit Recht Schopen- 
hauer's ästhetische Theorie vom willensfreien Erkennen im 
Anschauen der Ideen, indem er zeigt, dass ein willensfreies Betrachten 
der Idee nicht nur höchst langweilig sein würde (Char. I. 329), 
sondern das sogar das nad-oq qnXoaocpov des Erkenntnissdranges 
höchste Lebensbejahung ist, weil die bewusste Erkenntniss 
höchstes und letztes Willensziel ist (I. 345 u. 347). 

Wie Bahnsen unter so bewandten Verhältnissen dem Leser das 
Schopenhaoer'sche System als Fundament seiner Charakterologie 
ohne alle Einschränkung hinstellen kann, ist nicht ersichtlich, viel- 
mehr hätte er eine Darlegung vorausschicken sollen, in welchen 
Stücken er von den Schopenhauer'schen Ansichten abweicht, und 
in welchen (Primat des Willens, Intellect blosse Efüorescenz des 

12» 



IgO B. Schopenhauerianismos. 

WillenS; Pessimisrnns, ethische Bedeutnrg des Mitleids u. a. m.) er 
mit denselben übereinstimmt; namentlich aber hätte er sich den 
Nachweis nicht ersparen dürfen, inwiefern ein Festhalten an solchen 
Stücken des Systems noch zulässig und gerechtfertigt sei, 
welche durch Streichung ihrer systematischen Grundlagen nunmehr 
des Halts zu entbehren scheinen. 

Zu den wichtigsten Punkten dieser Art gehört die von Bahnsen 
beibehaltene Unterscheidung von intelligiblem und empirischem Cha- 
rakter, die bei Kant und Schopenhauer allein auf dem exclusiv- 
subjectiven Idealismus begründet ist, und nach Aufhebung dieses Fun- 
daments einer speciellen neuen Begründung bedurfte, welche man jet4 
vermisst. Ebenso wird der Satz, dass der Organismus die blosse 
Objectität des Individualwillens sei, durch Aufhebung des exelusiv- 
subjectiven Idealismus und durch Anerkennung der Selbstständigkeit 
der materiellen Atomkräfte (Char. I. 163; M. V. 7) unmöglich, und 
die von Schopenhauer geleugnete Causalität zwischen dem Individnal- 
willen und den Atomkräften seines Leibes nicht nur zu Gunsten des 
einen, sondern beider Theile restituirt. Dann aber lässt sieh die 
Bedingtheit des Charakters durch die Constitution 
nicht mehr dadurch von der Hand weisen, dass man die Constitution 
einseitig als durch das intelligible Wesen des Individuums bedingt 
betrachtet, und muss den äussern Einflüssen, welche auf Störung, 
Förderung oder Modification der Entwickelung des Organismus 
hinwirken, ihre Bedeutung für Modification des Charakters selbst 
gewahrt werden, welche Bahnsen allzu kurz von der Hand weist 
Ganz unverständlich erscheint endlich sein zähes Festhalten- 
wollen der Schopenhauer'schen Behauptung der ünveränderlichkeit 
des Charakters, welche durch das ganze Buch hindurch und selbst 
noch durch die M. V. (16 — 17) wie ein Gespenst herumspukt, 
welches nicht Ruhe finden kann, obwohl es doch nach dem gründ- 
lichen Nachweis seiner Lebensunfähigkeit (Char. I. 163 — 166, 222 
bis 223 u. a.) ein ehrliches Begräbniss bekommen hat (I. 259 — 261), 
also eigentlich gegen Bahnsen's bessere Ueberzeugung 
immer wieder den Kopf erhebt. Mit der Anerkennung, dass im 
Willen selber Veränderungen vorgehen können (wodurch erst eine 
wirkliche sittliche Besserung in ganz anderm Sinne als bei Schopen- 
hauer möglich wird), und dass diese Veränderung nicht in einem 
^lome^ta^e^ der Causalitätskette entrückten Wunderact^ sondern 



fialbisens charakterologischer tndividualismuä. Igt 

nur in einem stufenweise und allmälig fortschreitenden Processe 
gesacht werden könne (I. 203), ist denn glücklich auch das 
vierte Buch Schopenhauer's durchstrichen. Ja, es bleibt sogar 
zweifelhaft, ob Bahnsen die Möglichkeit einer Willensverneinung 
überhaupt zugiebt. Wozu nun, frage ich, die den Leser irre füh- 
rende Bescheidenheit, sich blossen Schüler zu nennen, wo der 
angebliche Meister längst überwundener Standpunkt ist? Wo mit 
den fundamentalen Grundsätzen gebrochen ist, wozu da noch eine 
allzu zarte Berücksichtigung untergeordneter Nebensachen, die (wie 
z. B. die Vererbung des Willens vom Vater und des Intellects von 
der Mutter) auch beim Meister nur als Schrullen zu betrachten 
sind? 



2. Empirischer und inteliigibler Charakter. 

Wir haben gesehen, dass Bahnsen mit dem subjectiven Idealis- 
mus das bisherige Fundament für die Unterscheidung des intelligiblen 
und empirischen Charakters verliert; da aber die Klarheit über 
diese Frage die unerlässliche Vorbedingung einer Charakterologie 
ist, so wollen wir derselben nunmehr etwas näher treten. — Wenn 
sonst wohl das Empirische und Intelligible als das Sichtbare und 
Unsichtbare, d. h. das Wahrnehmbare und Unwahrnehmbare unter- 
schieden wird, so passt diese Unterscheidung schon nicht auf den 
Charakter. Denn auch der empirische Charakter ist unsichtbar, 
und nur erst aus seinen Aeusserungen und den von ihm bedingten 
Phänomenen können wir auf ihn Bückschltlsse machen, die an 
grosser Unsicherheit leiden. Wären solche Bückschlüsse auf den 
intelligibehi Charakter nicht ebenfalls möglich, so könnte von ihm 
überhaupt in keiner Weise die Rede sein. Sehen wir von jener 
Scheinmodificabilität ab, welche theils durch Stimmungen, theils 
durch wirklich veränderte Verhältnisse^ theils nur durch veränderte 
intellectuelle Auffassung der äussern Verhältnisse entsteht, und hüten 
wir uns zugleich vor jener oberflächlichen und kurzsichtigen empi- 
rischen Beurtheilungsweise, welche irgend ein beobachtetes Streben 
sofort als charakterologische Eigenthümlichkeit ansieht, ohne zu 
berücksichtigen, ob dasselbe dem Handelnden nur als Mittel zur 
Befriedigung ganz anderartiger charakteristischer Bestrebungen dient 
(M. V. 24), so zeigt auch der empirische Charakter im 



iS2 ^* Schopeniiauertanismafi. 

Wesentlichen eine schwer zu überwindende Constanz^ und ist 
eine thatsächliche Aenderung desselben nur durch lange fort- 
gesetzte Wirkung starker Einflüsse möglich, ohne dass 
dabei die Aenderung innerhalb eines Menschenlebens massige Gren- 
zen jemals zu überschreiten vermag. Ganz dieselbe Veränderlichkeit 
unter denselben Bedingungen kommt aber auch dem intelligibeln 
Charakter nach Bahnsen zu^ da sie sowohl metaphysisch nicht 
abzulehnen ist, als auch ethisch vorausgesetzt werden muss, wenn 
nicht durch die Unmöglichkeit sittlicher Verschlechterung und Besse- 
rung, d. h. durch das unentrinnbare Schicksal, sich doch so ver- 
brauchen zu müssen, wie man einmal ist, jedes ethische Interesse 
als eine unklare Illusion schlechthin ertödtet werden soll. Man 
denke sich ein Kind aus vornehmer Familie, gut erzogen, vom Glück 
begünstigt zum Wohlthäter fQr die umgebenden Kreise werden, und 
dasselbe Kind von Zigeunern gestohlen, zum Verbrechen erzogen, 
vom Erwachen seines Bewusstseins an in Conflict mit der Gesell- 
schaft, von Stufe zu Stufe tiefer sinken, bis es wie eine giftgeschwol- 
lene Kröte an jedem ihm nahe Kommenden seinen verbossten 
Grimm auslässt. Sollte es im ersteren Falle nicht wirklich em 
anderer Kern der Individualität sein, dem die Liebe der Seinen die 
Augen zudrückt, als der im letzteren Falle am Rade endigt? Sollte 
nicht ein von ersterem kurz vor seinem Tode gezeugtes Kind 
wesentlich andere charakterologische Elemente ererben, als ein von 
letzterem abstammendes? Die Bosheit des letzteren ist keineswegs 
als fremdes Element in ihn neu hineingekommen, sondern sie ist 
nur eine gross genährte Anlage, welche in ersterem ebenfalls vor- 
handen war (wie in jedem Menschen), und bloss nicht Gelegenheit 
fand, sich zu entwickeln, sondern im Gegentheil durch Nichtgebrauch 
verkümmerte. Nein, die Modificabilität macht sicherlich keinen 
Unterschied zwischen dem intelligibeln und empirischen Charak- 
ter aus. 

Aber vielleicht thut es die Freiheit! Denn während Bahnsen 
den Schopenhauer'schen Determinismus in Bezug auf das Handehi 
mit ganz vorzüglicher Consequenz durchführt, und in sehr beachtens- 
werther Weise verschiedene kleine Inconsequenzen jenes aufdeckt, 
scheint er im Ganzen bei der Behauptung stehen zu bleiben, dass 
die Freiheit im intelligibeln Esse liege. Als ob der Widersinn eines 
liberum arbitritMn indifferentide dadurch überwunden würde, dass 



fiahnsen*8 charaktärölogischer Individualismus. l^ä 

tnan ihn in die nebelhafte Region des Intelligibeln entrückt! Das 
intelligible Individuum stammt entweder aus einem gemeinschaft- 
lichen Urgrund, dann ist es durch diesen gesetzt und bedingt, also 
nicht frei, — oder es wird ihm Asel'tät zugeschrieben. Die AseMt 
ist entweder bloss negativ, als Ausschliessung aller Bedingtheit von 
Aussen, oder auch positiv als Selbstsetzung zu verstehen. Im erstem 
Falle ist das Sein ein unentstandenes, grundloses, von Ewigkeit her 
vorgeftmdenes, an dem mithin das Individuum keinen Theil und 
keine Verantwortung haben kann, — von Freiheit kann nicht die 
Rede sein. Im letzteren Falle haben wir die Alternative : entweder 
hat das intelligible Individuum vor seiner Existenz seine künftige 
Essenz frei bestimmt, oder aber es hat zuerst essenzlos existirt, und 
in diesem absolut bestimmungslosen Zustande seine Essenz frei 
gewählt. Eins ist so unmöglich wie das andere, d. h. die Aseütät 
kann nur in dem ersteren negativen Sinne verstanden werden, und 
eine individuelle Freiheit im JEsse ist jedenfalls undenkbar. Kant 
und Schopenhauer haben auch die Freiheit im JEsse nicht aus 
metaphysischen, sondern aus ethischen Gründen zu retten gesucht, 
um auf sie die Verantwortlichkeit zu stützen. Dies ist aber bloss 
ein Rest von dem alten Zopf der vorkantischen Ethik; gesetzt, es 
gäbe eine solche Freiheit, so wäre auf sie nimmermehr eine Ver- 
antwortung zu basiren, da Verdienst und Schuld Begri£Fe sind, die 
nur auf solche Thaten, die beim vollen Lichte des Bewusstseins 
vollbracht sind, angewendet werden können (vgl. Char. I. 246), 
also nicht auf die imaginäre Selbstbestimmung des intelligibeln 
Seins, die sich als bewusstloses Moment in der Geschichte des Indi- 
viduums unbedingt dem ethischen Forum entziehen müsste, und dem 
bewussten Leben des Individuums immer nur als unabwendbares, 
dunkles, unvordenkliches, unverantwortliches Verhängniss des blinden 
Geschicks gegenüberstehen würde. Eine präexistentielle 
Schuld (welche Bahnsen in den Individuationsact selbst zu setzen 
scheint — Char. I. 318 Z. 22— 24) ist ebenso wie ein prä existen- 
tielles Verdienst ein Widersinn; von ihnen kann unmöglich 
Schuld und Verdienst in diesem Leben hergeleitet werden; 
giebt es keine immanente Begründung für Schuld, Verdienst und 
Verantwortlichkeit, so giebt es überhaupt keine; die intelligible 
Freiheit ist mithin ethisch genommen ebenso werthlos, wie 
sie metaphysisch genommen unmöglich ist, und kann folglich 



Ig4 B. Schopenhaüenamsmus. 

keinen Unterschied zwischen dem intelligibeln und empirischen 
Charakter begründen. 

Hieraus lässt sich schon entnehmen, dass ich auch nicht zu- 
geben kann, dass der ethische Werth des Individuums im intelli- 
gibeln Charakter und nicht im empirischen liegen solle. Das We- 
sen des Menschen kann an und für sich ebenso wenig sittlich oder 
unsittlich genannt werden wie die rein äusserliche von der Ge- 
sinnung abgelöste That; das Wesen wird erst im Hinblick auf 
seine eventuellen Aeusserungen unter gewissen Umständen ethisch 
diflferent. Da aber diese Aeusserungen nur dann, wenn sie beim 
Lichte des Bewusstseins erfolgen, ethische Bedeutung haben, so 
kann auch das Wesen nur im Hinblick auf seine möglichen 
Aeusserungen im Lichte des Bewusstseins Gegenstand eines 
sittlichen Urtheils sein; in diesem Sinne aber kann es der empi^ 
rische Charakter gerade so gut wie der intelligible. Bahnsen 
räumt dies implicite ein, wenn er dem erworbenen Charakter, der 
doch gewiss nur zum empirischen gehört, einen bedeutenden sitt- 
lichen Werth zugesteht (Char. I. 230), welcher sich zu dem des 
angeborenen etwa wie Tugend zur Unschuld verhält. Freilich setzt 
der erworbene Charakter die Fähigkeit oder Anlage voraus, sich 
einen Charakter zu erwerben, aber nicht an dieser Fähigkeit, son- 
dern an dem Gebrauch derselben ist etwas gelegen (vgl. Char. IL 
44-45). Femer ftthrt Bahnsen auf I. 298 einen Fall an, wo 
die erweiterte Selbstsucht selbst neue Formen echter Sittlichkeit 
schaflft (die er freilich nicht als solche anerkennen will), während 
er auf II. 109 zugeben muss, dass die schönste sittliche Anlage beim 
Mangel weiser Führung durch den Intellect oft zu tadelnswürdigem 
Handeln gelangt, was alles darauf hinweisst, dass das Ethische nur 
ein von einem bestimmten Gesichtspunkt des Bewusstseins aus ge- 
fälltes und nur von diesem aus berechtigtes Urtheil ist, welches dem 
Wesen nur gleichsam wie fremde Marken angeheftet wird, ohne 
dieses selbst zu berühren.*) Wenn also in ersterer Reihe die 



*) Nach dieser Auffassung würde alle Gewissensangst auf einem Irrthum 
beruhen wie die I. 228 angefahrte, und nur die Reue begrifflich möglich bleiben. 
Denn beide unterscheiden sich nach Schopenhauer so, dass erstere sich auf du 
unabänderliche (?) Wesen, letztere auf dessen Aeusserungen bezieht, erstere an 
die Unmöglichkeit, letztere an die Möglichkeit des Bessermachens beim nächsten 
Haie glaubt. 



fialbisen^s charakterologischer Individualismas. I8ö 

Handlang, und erst in zweiter Reihe der Mensch nach Maass- 
gabe der von ihm zn erwartenden Handlungen, dem ethischen 
Urtheil unterliegt, so ist offenbar der empirische Charakter wichtiger 
als der intelligible für die Bestimmung des ethischen Werths, da 
erste rer es ist und nicht der letztere, nach welchem die Präsumtion 
der in einem bestimmten Lebensalter und Zeitpunkt zu erwartenden 
Handlungen sich richtet, oder vielmehr : Der intelligible spukt 
nutzlos hinter dem allein zur Sprache kommenden 
empirischen Charakter herum. 

Als der letzte Grund, der Bahnsen an der Identificirung 
des intelligibeln und empirischen Charakters zu hindern scheint, stellt 
sich die Ase!ftät des ersteren dar, während letzterer zur phäno- 
menalen Welt gehört. Nun ist aber die AseYtät ein ftir das Indi- 
viduum schlechterdings unhaltbarer Begriff. Die grundlos-ewige 
Existenz, die auch als Absolutheit der Existenz bezeichnet werden 
kann, lässt sich schlechterdings nicht mit einer beschränkten Indi- 
vidualität, mit einer so wunderlich und kleinlich verschnörkelten 
Essenz zusammenreimen, wie der menschliche Charakter ist. Nur 
mit einem unbeschränkten Wesen, also nur mit dem Einen Ab- 
soluten lässt sich der Begriff der AseMt verknüpfen. Schon für 
dieses Eine bleibt die AseMt ein Wunder, — das ewige uner- 
grttndliche Wunder des Nichtnichtseins, über das kein Denken hinaus- 
kommt; aber wenn wir gar die beschränkte Essenz mit der AseYtät 
der Existenz zusammenleimen wollten, so würden wir dies Wunder 
der AseYtät für die zahllosen absoluten Existenzen zahllose Mal 
statuiren, und wir haben wahrlich an dem Einen (dem Urwunder 
oder ürproblem) gerade genug. 

Wenn die Individuen wirklich AseYtät besitzen, so ist ferner 
die ihnen von Bahnsen zugestandene ideelle Einheit in dem ge- 
meinsamen Streben nach Vereinheitlichung nur durch eine grund'^ 
lose prästabilirte Harmonie, d. h. ein noch wunderbareres Wunder, 
möglich. Aber öfters zeigen sich Spuren, nach denen es mit der 
AseYtät kaum ernst gemeint sein kann, und nach denen das Ver** 
einheitlichungsstrebeB als Reminisoenz einer früher besessenen und 
eingebüssten realen Einheit gefasst werden muss, und die in- 
telligibeln Individuen gleichsam als die Trümmer (disjecta menibra) 
eines zerschlagenen ci-ä^an^Gottes erscheinen, da sie als blosse 
Wirkungen des Urgrundes (und nicht Bruchstücke des Absoluten) 



136 fi. SchopenhaueriaDismuft. 

doch wieder keine Sabstantialität haben, sondern vielmehr phäno- 
menal sein würden. Das Icbsein^ die individuelle Existenz, 
der Wille als eigner wird für das Böse, für die Sünde im 
Menschen erklärt (I, 318), also muss doch wohl die verlorene und 
wiedererstrebte reale Einheit das Gute sein; dieses aber kann nur 
dann vermöge einer mystischen Durchbrechung dieser Individualitäts- 
schranke sich im Mitgefühl verwirklichen (II, 119), wenn die reale 
Einheit eine nur scheinbar, nur für das Individualitäts- 
bewusstsein aufgehobene ist. Nursokann „das Sichwieder- 
erkennen in allem Seienden, das Tat twam asi des Brahmanen^' 
II, 177) über das Niveau einer illusorischen und belächelnswerthen 
Schwärmerei erhoben werden, nur so kann Bahnsen mit Becht sagen : 
„Denn das Gemtith ist der Prediger des Pantheismus in uns — 
in ihm zittert klarer oder dunkler bewusst, das: in allen Räumen 
Eines nur." (IL 177.) Der Weltprocess braucht dann nicht mehr 
die Herstellung der substantiellen Einheit zu erstreben (wie er bei 
Bahnsen ohne Hoflftiung auf Gelingen thut), sondern nur noch die 
Aufhebung der phänomenalen Vielheit durch Verzichtleistung auf 
alle Realität, d. h. auf alles Wollen. Wenn endlich Bahnsen einen 
„gemeinsamen Urgrund", ohne den kein Individuum wäre, direct 
anerkennt (I. 320), so hat er damit, wenn es mehr als eine leere 
Phrase sein soll, seiner Behauptung der AseMt selbst das Urtheil 
gesprochen. Was aus dem „gemeinsamen Urgrund" ist, ist aber 
damit nicht a se. Wer so bestimmt wie Bahnsen erklärt, dass die 
absolute Selbstlosigkeit eines jeden „Geschöpfes" qita solchen logisch 
unaus weichbar anerkannt werden müsse (I. 314), der wird nicht 
umhin können, auch die Nicht-Asel'tät der vom gemeinsamen 
Urgrund gesetzten Individuen anzuerkennen, welche „ohne jenen 
nicht wären." Der Urgrund ist doch auch nur ein Grund und 
seine Folge bereits phänomenaler Natur, da spätestens mit dem 
Setzungsact der Individuen aus dem Urgründe der Weltprocess 
anfing. Die Individuen, die aus gemeinsamem Urgrund stammen, 
sind aber auch sicherlich nicht ewig, da spätestens mit ihrem 
Setzungsact die Zeit begann, sie also von ihrem Anfang an, sobald 
sie waren, in der Zeit waren. 



ßahnsen^B charakterologischer tndiYidualismus. 187 



3. Ckarokter und Organisation« 

Fassen wir diese Resultate zusammen, so haben wir gefunden, 
dass weder die Unsichtbarkeit, noch die Unveränderlichkeit, noch 
die Freiheit, noch die Verantwortlichkeit, noch die AseMt, noch 
die Ewigkeit sich als stichhaltig erwiesen haben, um eine Zerschnei- 
dang des Charakters in einen intelligibeln und einen empirischen 
Charakter zu rechtfertigen, dass also alle bisher betrachteten Grtlnde 
nicht zutreffen, welche für die Annahme angefahrt werden könnten, 
dass „die Wurzeln der Individualität'^ bis jenseits; und hinter das 
phänomenale Individuum zurückreichen. Nach dem Grundsatze: 
,,pnncipia praeter necessitatem non sunt multiplicanda" würden wir 
nur in dem Falle auf jene Annahme recurriren dürfen, wenn 
die uns zugänglichen phänomenalen Bedingungen 
sich nach gründlicherUntersuchung als unzureichend 
erweisen sollten, um die charakterologische Eigenthümlichkeit 
der Individualität zu erklären. Einer solchen Untersuchung hat sich 
aber Bahnsen völlig entschlagen, obwohl eine Menge einzelner 
Bemerkungen in seinem Buche hätten hinreichen sollen, ihn von 
verschiedenen Seiten her auf die Unerlässlichkeit und 
Fruchtbarkeit derselben für die metaphysische Grundlegung der 
Charakterologie hinzuweisen, nachdem er die Eant-Schopenhauer'sche 
Basis des intelligibeln Charakters durch Aufgeben des subjectiven 
Idealismus verlassen hatte. 

Wir kennen keine geistigen Individuen als aufGrund der 
materiellen Individuation der Organismen, und haben 
bis jetzt keinen Grund, an der Allgemeingültigkeit dieser Erfahrung 
zu zweifeln; warum sollten wir nicht ebenso die individuelle 
Essenz durch die Qualität des Organismus bedingt erachten, 
wie die individuelle Existenz es durch das Dasein desselben 
ist? Wenn jene, Individuation genannte, Detachirung gleichsam 
eines Strahlenbündels von Willensacten von Seiten des All-Einen 
Willens nur dadurch möglich wird, dass dieser einen aus materiellen 
Atomkräften bestehenden Organismus (wenn auch nur im befruchte- 
ten Ei) oder doch als Ersatz desselben einen Complex von zur 
Urzeugung geeigneten Stoffen vorfindet, auf welchen jene Willens* 
strahlen sich richten können, so liegt es nahe, dass eine bestimmte 
Art und Beschaffenheit dieses Willensstrahlenbündels ebenfalls nur 



l8§ B Schopenhaueriamsmud. 

dadurch möglich wird, weil der Organismas, auf welchen sie sich 
beziehen, diese Art von Individualwillen fordert, provocirt, oder 
doch wenigstens begünstigt. Sowohl die Ansicht des subjectiven 
Idealismus, welche die Selbstständigkeit des Leibes als einer blossen 
Objectivität des Individualwillens beseitigt (I. 222), als auch die 
Ansicht eines „metaphysiklosen Materialismus" (Char. I. 212), welche 
den Individualwillen nur aus der Focaleinheit vieler materieller 
Kraftfäden (Atomkräfte) resultiren lässt (I. 204), ist falsch; nur die 
dritte Aufifassung entspricht der Wirklichkeit, nach welcher der 
Individualwille aus dem Born des allgemeinen (unbewussten) Geistes 
geschöpft, dem Organismus als der ihm eigenthümlich zukommenden 
Domäne gegenübergestellt wird, und in seiner individuellen Existenz 
und Essenz ebenso abhängig und bedingt durch Dasein und Be- 
schaffenheit des Organismus ist, als die Erhaltung und Entwickelung 
der Beschaffenheit des letzteren abhängig und bedingt durch ihn 
ist. Wie der Individualwille, welcher sich auf diesen bestimmten 
Organismus richtet, im Allgemeinen durch den Gattungstypus 
desselben bedingt ist, so im Besondem durch dessen Constitution 
(vgl. II. 272). Die Psychiatrie, welche mit Eecht alle Geistes- 
krankheiten auf physische Gründe zurückführt, widerlegt keineswegs 
sich selber durch die Aufnahme psychischer Momente in ihre Me- 
thode (L 137), denn die psychische Action ist ja im Stande, im 
Organismus vorübergehend und dauernd physische Molecularverän- 
derungen herbeizuführen, welche rückwärts wieder die Seele 
von dem Druck, der auf ihr lastete, befreien können. Ebenso kann 
der unbewusste Geist, wenn z. B. die historische Entwickelung das 
Auftreten einer gewissen Art von Individuum fordert, einen in der 
Bildung begriffenen Organismus derartig modificiren, dass er das 
geeignete Organ wird, welches der Detachirung des historisch ge- 
forderten Individualwillens entspricht. Da der (vom Begattungsact 
t)ft um viele Tage getrennte) Befruchtungsact ein ausschliesslich 
materieller (und zwar physikalisch - chemischer) Vorgang 
zwischen sperma und ovum (Zellencopulation) ist, so wäre eine 
Vererbung von geistigen Charakteranlagen schlechthin unbegreif- 
lich, wenn nicht der Charakter durch die vererbte Constitution 
des Organismus bedingt wäre (vgl. Phil. d. Unbew. Cap. C. IX). 
Auf der andern Seite wäre es eine materialistische Verkennung der 
Natur des Lebens im Unterschiede von dem relativ-todten Spiel 



Bahnsen^B charakterologischer IndividuaUsmus. 189 

der unorganischen GtBetze, woon wui den gewöhnlichen Verlauf 
der Sache auf einen blossen materiellen Mechanismus reduciren 
wollte, vermittelst dessen der Organismus sich allein fortentwickelte, 
und nur in jedem Moment den auf ihn bezüglichen Individualwillen 
einseitig bedingte; es ist mir unverständlich, wie Bahnsen, der 
bei anderer Gelegenheit gerade mir ein^ mechanische Ansicht vor- 
wirft, trotzdem dass er die Realität der Finalität anerkennt (M. V. 
28), mir hier einen Vorwurf daraus machen kann, dass ich nicht 
mechanisch genug verfahre, sondern mit der Realität der causa 
finalis in jedem Moment der organischen Entwickelung Ernst mache, 
d. h. eine unaufhörlich- zweckthätige Cooperation des Unbewussten 
in jedem Moment behaupte (M. V. 12). 

Es kann Bahnsen nicht zugestanden werden, dass die unmerk- 
lichen üebergänge vom Gesunden zum Krankhaften in der Constitu- 
tion ihn von der Verpflichtung entbinden können, die Bedingtheit 
des Charakters durch jene zu untersuchen (Char. I. 43); denn mit 
demselben Rechte könnte der Psychologe die Hände in den Schooss 
legen, weil er die unmerklichen üebergänge vom Gesunden zum 
Krankhaften im geistigen Leben nicht wegleugnen kann. Freilich 
ist das aus älterer Zeit überkommene allgemeine Gerede von lym- 
phatischer u. s. w. Constitution völlig werthlos; wir wissen jetzt 
ganz genau, dass es sich bei charakterologischen und psychologischen 
Fragen ganz allein um die Constitution der Nervencentra und 
speciell des Gehirns handelt, und dass alle übrigen Elemente 
der somatischen Constitution, z. B. ein mehr oder minder reizbares 
Nervensystem, ein mehr oder minder erregtes Blutleben, nur indirect 
zur Sprache kommen können, insofern sie auf das Gehirn influiren. 
Da Irritantia und Narkotika die Spontaneität des Willens zeitweise 
erhöhen, resp. deprimiren, da eine lebhafte ümspülung des Gehirns 
mit stark sauerstoffhaltigem Blut, resp. eine schwache ümspülung 
mit sauerstoffarmem Blut denselben Effect für die Dauer hervorruft, 
und sehr wohl die durch diese Einflüsse im Gehirn hervorgerufenen 
Veränderungen auch^ ohne diese Ursachen im Gehirn selbst als 
dauernde Verschiedenheiten der Constitution auftreten können, so 
haben wir keinen Grund zu der Annahme, dass starke oder schwache 
Spontaneität des Willens auch noch durch etwas Anderes, als die 
Beschaffenheit des Hirns bedingt sein müsse. Will man wie Bahnsen 
(L 161) sich sträuben, derartige Eigenthümlichkeiten der ConstitutioA 



190 B. Schopenhauerianismas. 

oder „namenlos gebliebene Dyskrasien" als wirkliche Temperamente 
anzuerkennen, so beschränkt man die Charakterologie in ganz will- 
kürlicher und nicht zu rechtfertigender Weise genau auf dasjenige 
Gebiet, welches für die physiologische Erkenntniss gerade immer 
noch in Dunkel gehüllt ist. Dasselbe lässt sich Air die übrigen 
Temperamentsfactoren zeigen : wenn die vorübergehende Beschaffen- 
heit des Hirns augenscheinlich die Stimmung verursacht, so mnss 
eine entsprechende dauernde Beschaffenheit des Hirns eine betreffende 
Temperamentsform verursachen. Wenn wir die Laster aus gewissen 
inveterirten Anomalien auf dem Boden der Constitution erwachsen 
sehen (I. 40 u. 52), wenn wir unzweifelhaft die Vererbung von 
Lastern constatiren können, so liegt auf der Hand, dass die Ver- 
erbung der vom Vater erworbenen Constitution im Sohne die Ursache 
des angebomen Lasters ist. Wenn also der Individualwille und die 
Constitution als Correlate erscheinen, so ist doch das „ursprüngliche 
Causalitätsmomenf ' in diesem Falle auf Seiten der Constitution zu 
suchen (vgl. L 79). Bahnsen erklärt ganz richtig, dass die Gewohn- 
heit „auf dem Beharren in einmal eingeleiteten Zuständen und 
Functionen beruhf' (L 211), und da dies doch nur fttr die moleculare 
Accommodation und Prädisposition des Gehirns ftlr gewisse Arten 
von Schwingungsformen einen Sinn hat, so kann auch die zugestan- 
dene Gewöhnung des Willens (L 212) nur auf Grundlage der Hirn- 
constitution begriffen werden, da andernfalls eine völlig unbegreifliche 
Form der Modificabilität vorläge, welche Bahnsen am wenigsten 
zugeben dürfte. Da auch Bahnsen Ähnlich wie die Phrenologie 
ein Vertheiltsein der verschiedenen Functionen (z. B. abstractes 
Gedächtniss, Geftthlserinnerung, ürtheil, Rechenfähigkeit, Schliess- 
vermögen) an verschiedene bestimmte Organe (Hirntheile) wahr- 
scheinlich findet (L 135 — 136), so erhellt hieraus die Möglichkeit 
einer quantitativenSteigerung gewisser charakterologischen 
Anlagen und Eigenschaften durch üebung, sowie eine Verkümmerung 
oder quantitative Depression anderer durch Nichtgebrauch. Es ist 
eine leere Ausflucht, wenn Bahnsen (I. 173—174) behauptet, dass 
durch solche Aenderungen nur die Existentia, nicht die Essentia des 
Charakters verändert werde ; denn worin anders besteht die Essentia 
des Individualcharakters als in der Grösse jeder einzelnen mensch- 
lichen Charaktereigenschaft? Wollte man diese Quantitäten unbe- 
rücksichtigt lassen, so behielte man als Essentia nur den typischen 



Bahnsep's charakierologischer IndividuaUsmus. 191 

Charakter des Menschen ttbrig, oder eine Zusammenfassung 
aller menschlichen Anlagen ohne Bücksicht auf die Grösse jeder 
einzelnen. Denn jeder Mensch hat die Anlage zu jeder einzelnen 
menschenmöglichen Charaktereigenschaft qualitativ in sich, und nur 
die Quantität oder Intensität der einzelnen Anlagen kann bisweilen 
sehr gering sein, so dass sie ftlr den flüchtigen Beobachter zu fehlen 
scheinen, während doch durch die richtigen Mittel ihr Vorhandensein 
immer an's Licht zu stellen ist, wenngleich manche besondere Eigen- 
schaft bei manchem Menschen in Folge der Verhältnisse sein ganzes 
Leben latent bleiben kann. Darum glaubt man oft einen Menschen 
ganz intim zu kennen, und plötzlich nach langem Umgang tritt bei 
Gelegenheit eine ganz unerwartete Charaktereigenschaft hervor. 
Das ist ja das scheinbar Widerspruchsvolle an jedem Charakter, 
dass jeder alle im Menschen denkbaren Gegensätze (Mitleid und 
Grausamkeitswollust — vgl. L 105, 117, 171—172 — , Güte und 
Bosheit, Stolz und Demuth u. s. w.) in sich vereinigt, und nur die 
Prädisposition zur Bethätigung der einen oder der andern je nach 
der Himconstitution eine verschiedene ist. Desshalb kann die Essenz 
des Individualcharakters keineswegs bloss qualitativ bestimmt wer- 
den, sondern nur mit Hülfe der Angabe, bis zu welchem Grade 
quantitativer Entfaltung jedes einzelne der bei allen Menschen 
gleichen qualitativen Momente gekommen sei. Qualitativ und quan- 
titativ sind ja überhaupt relative Begriffe, und jede Steigerung der 
Quantität einer Eigenschaft über ein gewisses Maass hinaus ändert 
zugleich deren qualitative Erscheinungsform (man denke an den 
Wechsel der Aggregatzustände bei Steigerung der Wärme). Dann 
ändert sich aber auch wirklich die Essenz des Charakters, wenn 
seine einzelnen Anlagen oder Eigenschaften durch Uebung oder 
Nichtgebrauch eine quantitative Steigerung oder Depression erfahren, 
und wenn solche Charakteränderungen auch während eines Menschen- 
lebens durch das Beharrungsvermögen und die relative Constanz 
des Charakters in ziemlich eng bemessene Grenzen eingeschränkt 
werden, so können sie doch zu colossaler Abweichung (sei es De- 
generation oder Höherbildung) führen, wo sie sich durch die 
Zeugungskette perpetuiren und unter Fortwirkung der nämlichen 
äusseren Ursachen summiren (L 174). Nun steht aber jedes Indi- 
viduum, jeder Mensch als vorläufiges Endglied einer solchen Zeu- 
gongskette da, in welcher jeder seiner Vorfahren gewisse menacblicbe 



192 ^- SchopenhAueriaziisnms. 

Gharakteranlagen besonders ausgebildet hat: es ist daher kein 
Wunder, dass die Gegensätze im einzelnen Charakter sich mit dem 
Fortschritt der Geschichte immer mehr bereichern und verschärfen, 
während bei den Naturvölkern nur erst wenige menschliche Anlagen 
zu einer quantitativ hohen Ausbildung gelangt sind, also die Gegen- 
sätze einfacher erscheinen. Indem aber jeder Mensch mit seiner 
ererbten Leibes- und Gehirnconstitution auch bereits eine Fülle von 
quantitativ reich entwickelten Anlagen ererbt, erscheint er als das 
Gegentheil einer tabula rasa, nämlich als angeborener Charakter, 
und dieses gewissermaassen fertig mit auf die Welt Bringen eines 
Individualcharakters scheint es zu sein, was im Gegensatz zu dem 
erworbenen Charakter, oder den mit dem angeborenen im Laufe 
eines Menschenlebens vorgehenden Modificationen, zunächst zu der 
irrthümlichen Annahme eines intelligiblen Charakters Veranlassung 
gegeben haben mag. Weil man übersah, dass der Charakter Prodaot 
der Constitution, und die Constitution durch lange Zeugungskette 
reich differenzirt ererbt ist, glaubte man den angeborenen Charakter 
mit seinem starken Beharrungsvermögen gegen jede Modifioation 
nur durch das Hereinragen einer übersinnlichen Individualität erklft- 
ren zu können, obwohl auch hierbei das Denken noch unwillkürliche 
Sprünge beging. Das Beharrungsvermögen des Individualcharakters 
(d. h. der ererbten Constitution) entspricht aber vollständig und ist 
die Voraussetzung zu dem Beharrungsvermögen des Gattungscharak- 
ters (Arttypus) ; keiner von beiden ist unveränderlich, und setzt doch 
der Veränderung einen so grossen Widerstand entgegen, dass selbst 
dauernde Einflüsse innerhalb eines engeren Zeitraums nur relativ 
kleine Veränderungen hervorzubringen vermögen. Fügen wir der 
Vollständigkeit wegen hinzu, dass der charakterologische Typus des 
Menschen keineswegs für alle Perioden der Entwickelungsgeschichte 
des Menschen derselbe, sondern in beständiger Bereicherung (wenn 
auch nicht in gleichem Maasse wie der Intellect) begriflfen ist, und 
dass seine niedrigste und ärmste Form beim ersten Menschen eben- 
falls bereits als Product ererbter Constitution gegeben war, so 
wird man erkennen, dass nirgends in der grossen Entwickelungsreihe 
der Organisation auf Erden Platz für eine charakterologische tabula 
rasa ist, selbst nicht im einfachsten protoplasmatischen Urthier, 
welches bei genügender Abkühlung der Erde durch Urzeugung ent- 
stand; denn selbst dieses hatte schon in Folge der Beschaffenheit 



Bahnsen*B charakterologischer Individualismus. 193 

der es constituirenden Elemente einen wenn auch noch so ärmlichen 
Gattungs- und Individualcharakter (rgl. Phil. d. ünbew. Cap. C. XI. 
yydie Individuation''). Wenn sich nach meiner Auffassung nirgends 
eine tabula rasa findet, so erhält nach derselben der Wille auch 
keineswegs alle seine Bestimmungen von aussen (M. V. 39). Viel- 
mehr erhält er gerade die wichtigsten, nämlich diejenigen, welche 
die Bildung und Entwickelung des Organismus betreffen, wesentlich 
von innen auf teleologischem Wege, und lenkt er vermittelst solcher 
(mit Erfüllung ihrer Bestimmung aufhörender) Willensakte die orga- 
nische Entwickelung derart, dass sie möglichst günstige Handhaben 
fUr das Auflreten nothwendiger Instincthandlungen bietet und so 
rückwärts wieder diese provocirt. 

Wollte nun Bahnsen etwa einwenden, dass ja doch auch nach 
meiner Ansicht die Himconstitution nicht der Charakter selbst, 
sondern nur eine dauernde äussere Veranlassung für Detachirung 
gerade solcher Art von Willensacten von Seiten des All-Einen 
Willens sei, also in den detachirten Willensstrahlenbündeln doch 
immer noch etwas bestehen bleibe, was in's intelligible Gebiet 
hineinragt, so müsste ich darauf erwidern, dass die WiUensacte als 
Acte, welche sich auf diesen Organismus beziehen, bereits im 
Phänomenalen liegen, dass aber ihr intelligibler Hintergrund, aus 
welchem auf die Gelegenheitsursache dieser Himconstitution hin 
ihre Beschaffenheit bestimmt wird, das AU-Eine, also nicht mehr 
individuell ist. Es giebt mithin nur Einen Individualcharakter 
und dieser ist phänomenal, oder nach Eantischem Ausdruck: empi- 
rischer Charakter. 

Von diesem Standpunkt aus fällt auch ein anderes Licht auf 
das Verhältniss der Altersstufen zum Charakter. Es ist eine starke 
Zumuthung, dass man dem Augenschein zuwider glauben soll, ein 
Charakter habe sich nicht verändert, wenn die einzelnen Anlagen 
desselben in den verschiedenen Lebensaltern ganz verschieden grosse 
Intensität zeigen, also z. B. in der Jugend der Geschlechtstrieb 
heftig, die Genäschigkeit gering, im Alter hingegen der (nie ganz 
verschwindende) Geschlechtstrieb schwach, die Genäschigkeit gross 
ist. Ich möchte die Definition von Charakter sehen, bei welcher 
man in solchem Falle die Unverändertheit ohne handgreiflichen 
Widerspruch demonstriren wollte, oder die Definition müsste denn 
vom Charakter alles Charakteristische abstreifen. Der 

£. T. Hartmaun, Erläaterangen, 2 Aufl. 13 



194 9- Schopenhauerianismas. 

Chs),ra|kter hat sich thatsächlich verändert; aber der Hang, diese 
Veränderung wegsophistisiren zu wollen, rührt daher, dass diese Vei;- 
änderung eine gesetzmässige, constant wiederkehrende 
und die Vererbung nach unsern jetzigen Kenntnissen nicht ^)ei[nflus- 
sende ist ; sie lässt sich also, was man bei allen andern Verände- 
rungen nicht kann, im Voraus in Rechnung stellen, und 
deshalb erscheint sie gleich als ob sie keine wäre, weil sie er- 
wartet ist, und niemand überrascht, oder Wunder ninunt. 



4. WUle und Moüy. 

Die Brochüre, welche über das Verhältniss zwischen Wille und 
Motiv handelt, hat nach ihrer eignen Angabe (S. 1 — 3) den nächsten 
Impuls ihrer Abfassung durch die Phil. d. Unb. erhalten und durch 
den Wunsch Bahnsens, seinen Standpunkt des pluralistischen Indi- 
vidualismus mit dem Monismus dieser auseinanderzusetzen. Dass sie 
von vornherein auf ausführliche Beweisführungen verzichtet und 
sich darauf beschränkt, in mehr oder weniger ausgeführter Thesen- 
form seine Verwahrungen einzulegen" (M. V., 5 — 6), kann nur dazu 
beitragen, die Lage des Kritikers zu erschweren. Im Wesentlichen 
beschränkt sich der Inhalt auf die durch den Titel bezeichnete Auf- 
gabe, und schliesst sich damit der Charakterologie auf das Engste 
an, während wir zu einer umfassenderen Präcisirung des metaphy- 
sischen Standpunkts des Verfassers erst bei Besprechung der dritten 
Schrift gelangen werden. 

„Grade das logische Postulat einer Trennung von Subject und 
Prädicat lässt sich nicht abweisen und zur Ruhe bringen" (M. V., 9). 
Da ich (Phil. d. ünb., Cap. C. XV Nr. 5) diesem logischen Postulat 
dadurch gerecht geworden bin, dass ich das Eine Individuum, wel: 
ches Alles (also auch die Atomkräfte) ist, als den upbewussten 
Denker und. Thäter von allen Gedanken und Thaten zur Krönung 
des Gebäudes, zum Schlussstein der Pyramide gemacht habe, 
so kann mich der Vorwurf nicht treffen, gar nichts, weiter als die 
Abstractionen eines Thuns ohne Thäter übrig gelassen zu haben 
(M. V., 9 unten). Wohl aber trifft Bahnen selbst der Vorwurf, die- 
sem logischen Postulat nicht genügt zu haben, wenn er für dasselbe 
eine — wenn auch nur Eine — Ausnahme statuirt, nämlich im 
Willen, für welchen er die logische Nothwendigkeit der Trei^nung 



Bahnsen's cbArakterologisoher IndiTidualisiniiB. 195 

Yon Thnn und ThäteF, von Function nnd Functionirendem nicht nur 
leugnet, sondern als ,,muthwillige Denkzerfaserung'' verwirft. Also 
was ganz allgemein gesprochen ^^ogisches Postulat'' ist, ist in einem 
von Bahnsen willkürlich näher bestimmten Falle ,^uthwillige Denk- 
zerfaserung" (M. V., 10). „Der Wille selber ist das Wollende und ist 
nur qua wollender" (ebend.). Das ist einfach falsch ; der Wille ist Wille 
grade so gut als nicht wollender wie als wollender und bleibt jeden- 
falls Wille, mag er wollen oder nicht. Der nichtwoUende oder ruhende 
Wille hat als lautere Potenz oder Null des WoUens gar keinen In- 
halt, und ist nicht zu verwechseln mit dem negativen Weltvemeinungs- 
willen, der sehr ernstlich will, nämlich das Nichtwollen will, das er 
nur darum wollen kann, weil er es noch nicht hat, d. h. weil er 
nicht nichtwoUender ist. Wille heisst Wollen-K ö n n e n (sciL auch 
NiehtwoUen-Können) aber nicht Wollen- Müssen. Die Anwendung 
des. ,,logischen Postulats" schafft hier keineswegs einen regressus m 
infinitum, sondern einen Abschluss, den Bahnsen willkürlich 
diesseits des letzten Gliedes „abhackt". Den regressus in infinüum 
(M. y., 8) bringt nur Bahnsen selbst hinein durch eine anderweitige 
neue Distinction, welcher ich mich nach seiner eigenen Angabe 
(M. V., 6) V e r s h 1 s s e n habe, und, welche ich einfach ftlr f a 1 s c h 
erklären muss. Er sagt nämlich (ebend.) : „Jede Kraft ist zunächst 
nnd zuerst eine Kraft zu sein (oder Kraft zum Sein, vis existendi 
eademque essendi) überhaupt" und erst in zweiter Beihe eine Kraft 
zum. operariy zum Wirken oder Thun. Hier ist zunächst zu fragen: 
was versteht Bahnsen hier unter Sein? Das phänomenale, em- 
pirische Sein (Dasein), d. h. die wahrgenommene Wirksamkeit der 
Kraft, oder . das eigentliche dem Wirken vorhergehende und im 
Wirken beharrende Sein (üebersein)? Den Heraklitischen Fluss der 
Dinge oder das Eleatische Sein, das bewegende Unbewegte? Ln; 
ersteren Falle fällt das, was er unter Sein versteht, mit dem Wirken 
oder der Kraftäusserung z u s a m me n , und die Distinction ist geg e n- 
standslos. Im letzteren Falle involvirt sie eine falsche Behaup- 
tung, nämlich die, dass das wahrhafte Sein ebenso wie das phäno- 
menale, die wahrgenommene Wirksamkeit, als Product einer Kraft, 
gedacht werden müsse. Weil wir dem logischen Postulat genug- 
thun müssen, schliessen wir von dem Operari auf das Usse, von der 
Thätigkeit auf die Kraft, von der Function auf das Functionirende. 
Aber es zwingt uns nicht nur kein logisches Postulat, sondern es. 

13* 



196 B. Schopenhauerianisrnns. 

verbietet uns sogar die Logik, beim Functionirenden ange- 
kommen, dasselbe abermals als Function zu behandeln. Dies 
thut Bahnsen, indem er die aus der Thätigkeit erschlossene Kraft 
mit Hülfe des Umstandes, dass sie seiende Kraft sein muss, wenn 
sie wirkungskräftig und nicht bloss Begriff von Kraft oder ein- 
gebildete Kraft sein soll, abermals zur Function herabsetzt, und 
ihr als Functionirendes eine neue Kraft zu sein (genauer: eine 
Kraft, Kraft zu sein) voraussetzt. Kann man sich nicht darein fin- 
den, das Sein der Kraft als ein letztes stehen zu lassen, sondern 
sucht man dieses Sein selbst erst wieder als durch eine Kraft be- 
dingt oder ermöglicht hinzustellen, so muss natürlich diese Kraft^ 
da ex nihilo nihil fit, ebenfalls eine seiende Kraft sein; folglicb 
muss ihr consequenter Weise nun abermals für dieses Sein eine 
Kraft vorausgesetzt werden u. s. f. in infinittmt. Kraft ist durchaus 
nur ein Correlat zu Thätigkeit oder Krafliäusserung ; eine 
Kraft, die Correlat zu keiner Thätigkeit wäre, ist keine Kraft, son- 
dern ein Unbegriff; da nun das Sein (sofern es nicht als phäno- 
monales mit der Thätigkeit identisch genommen wird) keine 
Thätigkeit ist, so ist „Kraft zu sein'* ein Unbegriff, und viel- 
mehr das „Sein" der Kraft ein untiberschreitbarer Grenzbegriff. Da 
übrigens Bahnsen anerkennt, dass ich mich dieser seiner „Wahrheit", 
die er ganz mit Unrecht dem Platonischen Sophista in die Schuhe 
schiebt, verschliesse, so ginge mich eigentlich diese ganze Frage 
mit ihren Aporien nichts an, wenn er nur nicht die Sache doch 
wieder so darstellte, als ob das Verhältniss von Wille und Wollen 
mit dieser Distinction identisch wäre. 

Treten wir nun der eigentlichen Aufgabe der Broschüre, der 
Betrachtung der Motivation näher, so muss zunächst als über 
jeden Zweifel erhaben betrachtet werden, dass die Motivation, vom 
objectiven Standpunkt des philosophirenden Zuschauers betrachtet, 
eine Form der Causalität ist; sie ist es grade so gut wie jeder an- 
dere zeitliche Vorgang, in welchem das Vorhergehende das Nachfol- 
gende bedingt, also grade so gut wie z. B. ein discursiver Denkprocess, 
mag derselbe im Uebrigen in Induction, Deduction, Analogie oder 
phantastischer Ideenassociation bestehen, mag also in ihm zufällig 
ratiodnatio vorkommen oder nicht. Da von Motivation nur ge- 
sprochen wird, wo sowohl das Motiv als auch der Inhalt des Willens 
zu handeln in Form bewusster Vorstellungen vorliegen, so habeo 



Bahnsen^s charakt^rologischer Individualismus. 197 

wir hiermit unzweifelhaft bei jeder Motivation einen zeitlichen dis- 
cursiven Process vor uns, gleichviel welche unbewussten Zwischen- 
glieder sich zeitlos zwischen Anfangsglied (Motiv) und Endglied 
(Wille zu handeln) des Processes einschieben mögen. Eben durch 
diese Zeitlichkeit des Processes ist aber der Charakter der causa 
effidens fQr das Motiv sichergestellt. Wollte man dies antasten, so 
risse man eine unausftlllbare Kluft zwischen der bewusst-geistigen 
und der natürlichen Welt wieder auf, welche sich selbst für die 
Auffassung der modernen naturwissenschaftlichen Denkweise ebenso 
wie für die der neueren Philosophie längst geschlossen hat. Diese 
Wahrheit bleibt unangetastet, welche Ansicht man auch über das 
Wesen der Causalität haben möge. Wie es für die C au sali tat 
der Vorgänge beim discursiven Denken als gleichgültig und zufällig 
erscheint, ob ratiocinatio in denselben eine Rolle spielt oder nicht, 
so erscheint es für die Causalität der Vorgänge im Motivations- 
process als gleichgültig und zufällig, ob und inwieweit bewusste 
Zweckvorstellungen und bewusste Finalität darin eine Rolle spielen 
oder nicht, und es hat gar nichts hiermit zu thun, ob man nachher 
und letzten Endes das Wesen der Causalität selbst wieder in un- 
bewusster Teleologie sucht oder nicht. 

Betrachten wir einen möglichst einfachen Fall der Motivation. 
Ein Naschhafter findet etwas Leckeres; die sinnliche Anschauung 
des Leckeren ruft nach dem Mechanismus der Ideenassociation die 
Vorstellung der bei dem Genuss von etwas Leckerem entstehenden 
Lust gleichfalls mit einer gewissen sinnlichen Lebendigkeit in ihm 
hervor; die sinnliche Vorstellung dieser Lust erregt das Be- 
gehren nach der wirklichen Lust; der teleologische Verstand 
sagt ihm, dass er diesen Zweck durch das Mittel des Aufspeisens 
des Leckeren erreichen kann, und so resultirt als Endglied aus 
diesem Process (falls keine negativen Instanzen hinzutreten) der 
Wille, das Leckere zu ergreifen, nach dem Munde zu führen und 
zu verzehren. Das Anfangsglied, das erblickte Leckere, ist das 
Motiv; in dem zweiten Moment, der Vorstellung einer eventuell 
zu erhoffenden Lust resp. zu befürchtenden Unlust und deren In- 
tensität, Lebhaftigkeit, Färbung und Verhältniss zu anderweitigen 
Instanzen, äussert sich der Charakter*), in der teleologischen 

*) Hiermit ist Einfluss und J3edeutang des Charakters voUständig gewahrt, 
und man wird nicht mehr miss verstehen können, dass jede einzebie Tliat gleich- 



198 B. Schopenhaaeriaoismiis. 

Vermittelnng der Verwirklichung jener Lust der Verstand, und 
erst zu allerletzt tritt der Wille ein, und zwar ein so bestimmter 
Wille^ dass sein Ziel oder Inhalt zur Erlangung der Lust, resp. 
Abwehr der Unlust führt. Man sieht selbst an diesem so 
einfachen Beispiel, in welchem Motiv und Bethätigung mögiichst 
nahe zusammengerückt sind, wie gross der Abstand zwischen 
Motir und Willensinhalt ist Das Motiv ist die sinnliche 
Nähe des Leckeren, der Willensinhalt das zum MundefÜhren und 
Verspeisen des Leckeren. Das Motiv ist allemal eine Thatsache, 
durch deren Gewahrwerden die Möglichkeit oder Gelegenheit einer 
Willensbethätigung in ganz bestimmter Richtung als offenstehend 
erkannt wird; der Willensinhalt hingegen ist die Benutzung dieser 
Gelegenheit"^), oder die offenstehende Art und Weise der Bethäti- 
gung selbst. Je mehr Zwischenglieder sich zwischen Anfangs- 
und Endglied des Motivationsprocesses einschieben, desto hetero- 



zeitig als das Product zweier Factoren gefasst werden muss, des Motivs und des 
Charakters. Balinsen*s Behauptung (M. Y. 39), dass ich jemals von der That 
als von der ausschliesslichen Wirkung eines dieser beiden Factoren gesprochen 
habe, ist nicht zutreffend. 

*) Wenn ich bei diesem einfachen Beispiel von benutzter Gelegenheit 
spreche, so ist damit nicht gesagt, dass die Gelegenheit immer so handgreiflich 
und hindemisslos wie hier sein müsse ; vielmehr giebt es Gelegenheiten, denen recht 
viele und recht schwer zu überwindende Hindernisse im Wege stehen, und bei 
denen die Wahrscheinlichkeit des Erfolges daher sehr gering sein kann. Dennoch 
darf sie niemals =» sein, wenn von einem Motiv überhaupt noch soll gesprochen 
werden können, und ein bestimmter Wille soll motivirt werden können; es muss 
immer ein, wenn auch irrthümlicher, Glaube an die abstracto Möglichkeit des 
Erfolges vorhanden sein, wie z. B. wenn der Wille stark genug sich vordrängt, 
um den InteUect in den Irrthum, der so erwünscht ist, zu stürzen. Kor wem 
durch anscheinende Gelegenheit (z. B. Eennenlem^i eines Mädchens) ein be- 
stimmter Wille (Wille sie zu besitzen) einmal erregt ist, so kann derselbe auch 
dann noch mehr oder minder lange ausklingend fortdauern, wenn sich inzwischen 
herausgestellt hat, dass die BeMedigung unmöglich sei. Andererseits braucht £e 
Thatsache, welche bewusstgeworden als Motiv wirkt, durchaus nicht etwa das 
Vorhandensein eines äusseren sinnlich wahrnehmbaren Gegenstandes zu sein, 
sondern kann eine Thatsache von durchaus geistiger und unsinnlicher Beschaffen- 
heit sein, z. B. irgend eine Aenderung in den Meinungen und Ueberzeugungen 
des Intellects, oder eine selbstvollbrachte Handlung, oder auch nur die Actualit&t 
eines Affects, d. h. selbst schon eine bestimmte Willenserregung, insofern sie vom 
Bewusstsein aufgefasst wird (vgl. Char. II. 269—271). Immer aber wird die 
thatsächliche Existenz desjenigen geistigen Zustandes, dessen Bewusstseinspercep- 
tioa als Moüv wirkt, nothwendig etwas anderes sein müssen, als der Inhalt des 
durch dieses Motiv erregten WoUens. 



j j . . . ! . . I . • ) . t ) ■ ,v" 

ßahnsen^s ckarakterologischer IndiYidualismad. 19^ 

gener müssen Motiv and Willensinhalt erscheinen. — Eine derartige 
Betrachtung sollte man vor allen Dingen in einer Schrift erwarten, 
welche den Titel führt: „Zum Verhältniss zwischen Wille und 
Motiv." Bahnsen jedoch begnügt sich damit, vor einer Verwechse- 
lung zwischen Beweggrund und Triebfeder zu warnen, und in einer 
mir nicht verständlich gewordenen Weise Motiv im freieren und 
strengeren Sinne und Motiv und äussere Bedingung auseinander zu 
halten. Im Uebrigen ist er so weit von der Durchschauung dieses 
Moiivationsprocesses entfernt, dass er — unglaublich zu sagen — 
Anfangs- und Endglied desselben, Motiv und Willensinhalt, nicht 
nur verwechselt, sondern identificirt (indem ihm das Motiv nur der 
Willensinhalt selbst als vorgestellter ist — M. V. 29), 
und ihre Identität als etwas so Selbstverstähdliehes betrachtet, dass 
sie ihm keiner Begründung zu bedürfen scheint. Er hält es sogar 
für so selbstverständlich, dass er selbst anderen Leuten, die, wie er 
ausdrücklich anerkennt (M. V. 37), beides scharf sondern, trotz- 
dem und nichtsdestoweniger diese Identification als Grundlage 
ihres Systems imputirt (S. 27), als ob diese scliarfe Öoiiderung 
nur ein gelegentliches und unerklärliches Versehen wäre, dessen 
wegen man die Leute nicht beim Worte halten dürfe. Als ich die 
Philosophie des Unbewüssten schrieb, glaubte ich allerdings, äas 
ohnehin schon umfangreiche Werk nicht mit derartigen elementaren 
Vorbetrachtungen aus der Psyctologie belasten zu sollen, und war 
einer solchen Verwechselung nicht gewärtig. Es liegt auf der Hand, 
dass alle polemischen Streiche, welche von dieser irrthümlichen 
Voraussetzung aus gegen die Philosophie des Unbewüssten geführt 
sind, in die Luft gehen müssen, ebenso wie dass die auf einer so 
verwirrten Grundlage ruhenden positiven Darlegungen riott wendig 
unklar sein müssen, weshalb es überflüssig scheint, dieselben in's 
Detail zu verfolgen. 

Während Bahnsen Motiv und Willensinhalt confundirt, tadelt er 
mich, dass ic& Gewolltes oder Erstrebtes, Ziel, Gegenstand, Object 
und Inhalt des Willens synonym brauche. Wenn er namentlicn 
Lihalt und Object des l?^ollens streng gesondert wissen will (M. V. 
35), so kann ich mir dies nur dadurch erklären, dass er entweder 
den Inhalt des Wollens mit der materialen Bestimmtheit 
des Charakters, oder aber das Object des Wollens (worunter 
ich die vom t^illen behufs der Realisation ergriffene ideelle Anti- 



200 B. Schopenhauerianismiis. 

cipation verstehe) mit dem in den äasseren Raam hinansprojicirten 
Objeet der Vorst*ellung verwechselt, auf dessen reales Correlat 
in der Aussenwelt sich die Bethätigung des bestimmten Wollens 
(Wollen sammt Inhalt) bezieht. Dass Bahnsen bei Willensinhalt 
irrthümlicher Weise an die materiale Bestimmtheit des Charakters 
(d. h. an eine im Gehirn liegende Prädisposition, das Wirken dieser 
Art von Motiven zu begünstigen, das jener Art von Motiven abzu- 
schwächen) denkt, scheint auch daraus hervorzugehen, dass er erstens 
nicht dem Willen an sich einen bestimmten Inhalt zuzuschrei- 
ben beabsichtigt, sondern nur dem bereits im Charakter indi- 
vidualisirten Willen *), dass er zweitens annimmt, durch Aende- 
rung der Motive könne im Willensinhalt (soll heissen Charakter) 
nichts geändert werden, da sich doch der Willensinhalt unaufhörlich 
mit den Motiven ändert, und dass er drittens von einem Inhalt des 
Willens spricht, ohne Unterschied, ob der Wille ruhend oder activ, 
nichtwoUend oder wollend ist, während doch offenbar nur der actuelle 
Wille oder das bestimmte Wollen einen Inhalt haben kann. Denn 
bei dem ruhenden Willen könnte doch entsprechend dem bloss mög- 
lichen Wollen auch höchstens von einem möglichen Inhalt des 
eventuellen zukünftigen Wollens die Rede sein; dieser mögliche 
Inhalt umfasst aber fflr den ruhenden Weltwillen das ganze Beich 
der Idee oder unbewussten Vorstellung, und für den Individualwillen 
das Gebiet der Entfaltung der typischen Idee der betreffenden Ob- 
jectivationsstufe, singulär modificirt durch die Hirnconstitution. Dieser 
mögliche Inhalt des ruhenden Willens in Bezug auf seine eventuelle 
Actualität ist also immer ein sehr weit begrenztes (wo nicht unbe- 
grenztes) Gebiet möglicher Vorstellungen, darf keinesfallB 
mit dem präsenten Inhalt des actuellen Wollens verwechselt werden, 
und ist in seiner Auffassung selbst erst durch die Auffassung des 
letzteren bedingt. 

Indem wir Bahnsen's Verwechselung einerseits zwischen Motiv 
und Willensinhalt und andrerseits zwischen Willensinhalt und der 
materialen (durch den Organismus vermittelten) Bestimmtheit des 
Charakters von uns fern halten, kehren wir zu der Frage zurück, 



*) Hieraus würde hervorgehen, dass auch Bahnsen einem absoluten Willen 
oder Allwilien, wenn er einen solchen überhaupt gelten liesse, Charakter, Inhalt, 
Ziel und Zweck (ganz ebenso wie Schopenhauer und ich) absprechen müsste. 



BahnBen*s cliarakterologischer Individuaüsmas. 201 

was denn nun dieser fraglicbe Inhalt des actaellen WoUens eigent- 
lich sei (M. V. 20). Da er nicht ftlglich wiederum Wille sein kann, 
so sollte man meinen, er müsste Vorstellung sein ; aber hier opponirt 
Bahnsen, so weit ich ersehe, aus zwei Grtlnden: erstens weil er die 
unbewusste Vorstellung für eine contradictio in adjedo erklärt (S. 27), 
und zweitens weil er dies für eine Losreissung des eigenthümlichen 
Willensinhalts vom Willen hält (34 -35). Da erstere Behauptung 
in keiner Weise begdindet ist, sondern bloss als ein Machtspruch 
Bahnsen's dasteht, so kann ich ihr nichts entgegnen; was aber die 
zweite Behauptung betriffl;, dass ich auf eine relative Ablösbarkeit 
der Vorstellung vom Willen hinauswolle (27 — 28 Anm.), so ist dieses 
nur in Bezug auf den bewussten Intellect richtig, ftlr welchen 
es aber auch Bahnsen in Bezug auf die Willensvemeinung und 
schon in Bezug auf seine treffliche Theorie von der Besserung 
durch Selbstzucht vermittelst eines durch den Intellect angesetzten 
vnofiSxlcov (vergl. Char. L 206 — 217) ganz in demselben Sinne 
wie ich behauptet. In Bezug auf die unbewusste Vorstellung 
jedoch habe ich mit der grössten Entschiedenheit wiederholentlich 
(Phil. d. ünbew. Cap. A. IV und Cap. C. L 7) die absolute ün- 
trennbarkeit der Einheit von Wille und Vorstellung, Wille und 
Inhalt, namentlich aber die Unmöglichkeit eines wirklichen Wollens 
ohne eine Vorstellung als Inhalt betont, und sogar aus dieser Un- 
trennbarkeit erst die Nothwendigkeit des Bewusstseins teleologisch 
abgeleitet. Der Dualismus der Attribute Wille und Vorstellung im 
Unbewussten ist mithin nur eine begriffliche Diremtion verschiedener 
Seiten desselben Dinges, aber kein Dualismus getrennter Bealen« 
Die Besorgniss Bahnsen^s ist also völlig unbegründet. 

Aber wenn nicht Wille und nicht Vorstellung, was soll der 
Willensinhalt denn sein ? Jedenfalls etwas, das, in's Bewusstsein 
eintretend, als „Idee", d. h. als eine Species des Genus „Vorstellung" 
erscheint (M. V. 42), woraus sich doch fast veimuthen Hesse, dass 
es auch an sich schon Vorstellung ist, denn sonst wäre ja die Idee 
im Bewusstsein nicht adäquater Ausdruck seines Wesens, sondern 
eine fremde inadäquate Form mit entweder gar keinem oder doch 
inadäquatem Inhalt. Aber vielleicht ist der Inhalt Gefühl; wenig- 
stens glaubt Bahnsen seine auf keine Weise begründbare Behauptung, 
dass das WolUen, welches Wollust will, selber ein anderes sei, 
als welches Wohlthun will; durch den Hinweis auf den Unterschied 



202 ^* Schopenhauerianismas. 

ies dabei Gefühlten (M. V. 14), wenh auch nicht erliärten, so 
doch annähernd beschreiben oder illustriren zu können. Niln definirt 
aber Bahnsen das Geflihl als „den Willen, der wohl ein innesein 
seiner selbst, aber noch keine nach aussen versetzende „Vor- 
stellung" seines eigenen Inhalts hat" (Char. II. 135). Das streift 
doch haarscharf an eine Complication mit unbewussten Vorstellungea 
Ich glaube (Phil. d. Unbew. Cap. B. III) zur Gentige dargethan zu 
habeti, dass alle bisher unlösbaren Schwierigkeiten jener Zwischen- 
region des Gefühls sich durch die Verquickung von Wille, Lust und 
Unlust mit bewussten und unbewussten Vorstellungen vollstän- 
dig lösen lassen, und dass andere Elemente als diese nicht im GeMl 
vorhanden sind. Hiemach würde sich auch in diesem Falle der 
Willensinhalt wesentlich auf Vorstellungen reduciren. Obenein aber 
behauptet ja auch Bahnsen nur, dass Geitihle ihn begleiten. 
Kdnenfalls aber dürfte die Verschiedenheit der bloss begleiten- 
den Geftlhle als Beweis für die Verschiedenheit des Willens selber 
(d. h. abgesehen von seinem eigenthtimlichen Inhalt) verwendbar 
sein. Vielmehr bleibt die logische Forderung bestehen, dass die 
Verschiedenheit des WoUens nicht in der gemeinsamen f^orm des 
WoUens, sondern in dem eigenthtimlichen Inhalt liegt, und wir 
haben dadurch um so mehr Grund, weiter zu forschen, worin dieser 
Inhalt bestehe. 

„Die Unterschiede nach Sonderung des Hier und Dort oder 
nach der Reihenfolge, sei es der Zeit oder des Ranges" (M. V. 
14), welche Bahnsen anführt, sind doch offenbar nur Unterschiede 
der Vorstellung und nicht des Willens an sich, abgesehen von jedem 
möglichen Vorstellungsinhalt. Es ist gewiss nicht „einerlei, was 
begehrt und was verabscheut wird: ob der Tod oder die Stinde, 
das Böse oder die Strafe, die Wahrheit oder die Ltige, eigener oder 
fremder Schmerz" (M. V. 15), aber ein Unterschied in dem, was 
begehrt wird, ist doch nur ein Unterschied im Inhalt oder Ziel 
des Begehrens und nicht im Begehren an sich; insofern aber 
dies oder jenes erst noch begehrt wird, ist es nicht wirklich — 
sonst brauchte es ja nicht mehr begehrt zu werden — sondern 
teird nur als ein zu verwirklichendes vorgestellt oder ideell 
anticipirt. Also beweisen diese Beispiele sämmtlich das Gegentheil 
von dem, was sie beweisen sollen; sie zeigen nämlich, dass alle 
Unterschiede des Willens nur im Inhalt liegen, und dass dieser 



Babnsen's öhituraktelrologisdiier Indi^daalismos. 303 

Voreltelliiiig ist Bahnsen sagt ja selbst, dass es keine Gapriöie um 
ihrer selbst willen, keinen Eigensinn ohne irgend ein selbstständiges 
Ziel gebe (M. V. 23—24) ; wie kann er da auf der andern Seite 
darauf beharren, dass der Wille einen eigenthümlichen Inhalt an 
sich selbst vermöge seines eigenen Wesens haben müsse (S. 20)? 
Wenn Wollen ohne Inhalt d. h. ohne Vorstellung nicht wirklich 
sein kann, so ist ja der Inhalt oder die Vorstellung dem Wollen 
immanent nothwendig, also haben zwei Individuen mit verschiedenen 
Vorstellungen als Inhalt ihres WoUens in der That ein grund- 
verschiedenes Wollen (M. V. 16); wäre jedoch der Wille äü 
sich (nicht bloss durch den Inhalt) verschieden, so wttrde er in- 
commensurabel, was er thatsächlich nicht ist. „Ein Pfund Pflaumen 
und eine Elle Kattun" (S. 19) würden incommensurabel sein, wenn 
nicht der Wille, sie zu besitzen, Conmiensurabel wäre, und dadurch 
auch sie als Besitzobjecte. commensurabel (durch Geld) machte. Die 
Erfahrung lehrt unwidersprechlich, dass alle Lust und aller 
Schmerz in demselben Sinne commensurabel sind, was nach 
Babnsen's Auflfassung (M. V. 16 u. 18) unmöglich sein mtisste, 
und nur durch die meinige erklärlich wird, wonach aller Unterschied 
in Lust und Schmerz nur durch ihren Inhalt, d. h. die (bewussten 
und unbewussten) Vorstellungen und durch begleitende Gefühle 
hineinkommt, welche sich ebenfalls mit Hülfe der unbewussten Vor- 
stellungen analysiren lassen. 

Bahnsen's Renitenz gegen die einfachste aller philosophischen 
Grundwahrheiten, dass der Willensinhalt Vorstellung ist, verwickelt 
ihn in absonderliche Schwierigkeiten. Er bezeichnet als höchstes 
und letztes Willensziel die Erkenntniss *) (€har. I. 335), als Zweck 
aller Erkenntniss die Wahrheit (I. 325). Was ist aber Erkenntniss 
als logische Durchdringung des empirischesf Materials, was ist 
Wahrheit im Gegensatz zur Lüge, wenn mcht die Vemunftgemässrheit 
der Identität im Gegensatz zur Vernunft Widrigkeit des Widerspruehs ? 
Erkenntnisstrieb und Wahrbeitsdrang ist Streben', die Vernunft th eo> 
retisch zur Geltung zu bringen, und doch sind sie nur vorläufig 



*) Wunderbarer Weise lässt er die bewusste Erkenntniss teleolOgisciL in 
der Lui't schweben, anstatt die WiUensvemeinung als ihren Zweck anzuerkennen, 
duffck' den die ganze teleologische Kette des Weltplans erst ihren' unentbehrlichen 
Abschluss erhält (Ghar. I. 340). 



204 B. Schopenhauerianismus. 

ein letztes, und das endgültig Letzte ist das Streben der Vernunft, 
die errungene Wahrheit auch praktisch zur Geltung zu bringen, 
— und sei ihre Consequenz die Selbstvernichtung und Weltvemich- 
tung. Höchstes Willensziel ist also das zur Geltung 
Bringen der Vernunft in jeder Beziehung. Wie kommt 
nun der vernunftlose Wille zu grade diesem Inhalt? Hören wir 
Bahnsen's Antwort (M. V. 20, Anm.): „Der Wille als solcher 
hat mit Vernunft und Verstand gar nichts zu thnn, 
aber er kann . . . vernünftig werden, d. h. Gesetze, wie Verstand 
oder Vernunft sie vorschreiben, in autonomer Anerkennung 
zu Normen seiner Thätigkeit erheben." Da möehf ich doch 
wissen, wie der unvernünftige Wille, der als solcher blind zutappt, 
von den Vernunftgesetzen so viel erkennen soll, um sie vermittdst 
des liberwm arbitrium indifferentiae mit seiner Anerkennung zu 
beehren, und sich durch eigene Machtvollkommenheit ihnen als 
Normen seiner Handlungsweise ein für allemal so unbedingt 
zu unterwerfen, dass er sich am Ende gar durch sie in's Gegen- 
theil seines Ziels, in's Nichts zurückschleudern lässt! Oder durch 
welchen absonderlichen Zufall der unvernünftige blinde Wille dazu 
kommen soll, sich ein Werkzeug im Gehirn zu schaffen, dessen 
Function sich „hinterher*' als vernünftig herausstellt. Es giebt nicht, 
wie Bahnsen (M. V. 20) behauptet, irgendwo einen vernunftwidrigen 
Willens Inhalt (ausser im Irrthum des Bewusstseins) ; aller 
Willensinhalt ist absolut vernünftig, und nur die Form 
des WoUens ist unvernünftig. Folglich kann der Wille nicht vor 
seinem „Vemünftigwerden" (I) schon einen Inhalt gehabt haben. 
Wenn aber der im Moment seiner Erhebung zum Wollen noch leere 
und blind zutappende Wille das einzige, was ausser ihm existirt, 
die Vernunft, als Inhalt erfasst (wie der Wahnsinnige den ersten 
besten Gegenstand umklammert und an sich reisst), dann und nnr 
dann wird es verständlich, wie der Wille etwas wollen kann, was 
doch zu seiner Vernichtung*) führt, also seiner Natur wider- 



*) Diese Vernichtung - Nirwana — habe ich nirgends, wie Bahnsen (M. 
V. 19—20) meint, auf die positive Seite einer wirklichen WillensbeMedigung 
verlegt, sondern habe diese „Schmerzlosigkeit" immer nur als eine „relative 
Glückseligkeit'' im Vergleich mit der immanenten Qual des Daseins und Lebens 
hingestellt. Nur die Vernichtung ist ein Genuss durch den Gontrast mit dem 
noch fühlbaren Sein, aber nicht das darauf folgende Nichtsein. 



Bahnsen's charakterologischer Individualismus. 205 

8p richte was mit Hülfe der „autonomen Anerkennung*' ewig wider- 
sinnig bleibt. 

Nur aus diesem Gesichtspunkt eröffnet sich uns eine Perspective 
von höchster Wichtigkeit auf das Verständniss, wie das Motiv, das 
doch Vorstellung ist, auf den Willen überhaupt influiren könne. 
Bahnsen citirt (M. V. 36) meinen Ausspruch: „es giebt keine Er- 
scheinung des Willens ohne Erregungsgrund;" aber er interpretirt 
denselben falsch: „d. h. doch wohl so viel wie: es giebt kein Wollen 
etc." Die Erhebung des Weltwillens zum Wollen geschah ohne 
Erregungsgrund, aber sie war auch noch keine Erscheinung des 
Willens. Sogar die Erfüllung des erhobenen Wollens mit Inhalt 
durch den Reichthum der Idee, d. h. also die ersteVertheilung 
der absoluten Idee an das erhobene Wollen, wodurch dieses selbst 
in seine verschiedenen Richtungen gespalten wurde (das was man 
gemeinhin den Weltschöpfungsact nennt), geschah noch ohne äusse- 
ren Erregungsgrund nach blosser i n n e r e r Zweckmässigkeit. Aber 
dieser Fall ist keine Ausnahme obigen Satzes, weil jene erste Er- 
füllung der Zeit nach mit dem Erhebungsmoment des Willens in 
Einen Act zusammenfiel: er lehrt uns jedoch, dass der Satz nur 
innerhalb der bereits bestehendenWelt Geltung habe, 
wo der Wille ein für allemal im Zustande des Wollens ist, also a n 
sich gar keiner Erregung mehr bedarf. Was an einem bestimm- 
ten Punkte jetzt als Erregung eines latenten Willens erscheint, 
ist nichts weiter als Hinlenkung des Wollens nach einem be- 
stimmten Punkt, wo es Gelegenheit zur Bethätigung findet. Kein 
Statistiker wird bezweifeln, dass in jedem Augenblick des Tages 
die Menschheit auf Erden eine gleiche Totalsumme von Willens- 
impulsen verausgabt, weil sich bei den vielen Tausenden von Mil- 
lionen Individuen nach dem Gesetz der grossen Zahlen die schein- 
bare Regellosigkeit vollständig compensirt, welche Compensation, 
falls sie nicht hinreichend erscheinen sollte, man sich durch andere 
psychische Individuen auf anderen Weltkörpern noch vervollständigt 
denken kann. Es handelt sich hier um nichts Geringeres, als um 
die Uebertragung in's geistige Gebiet und die allgemeine philoso- 
phische Formulirung in Bezug auf ein Gesetz, in dessen genauerer 
Feststellung für die physische Welt unstreitig die Errungenschaften 
der modernen Naturwissenschaft culminiren, das Gesetz der 
Erhaltung der Kraft, — ein Gegenstand, dessen nähere Aus- 



200 ^' Sjohop^johauenamsmns. 

ftUiruBg ich mir hier versagen musa, da bei demselben das leere 
(noch nicht activ gewordene, aber doch darauf lauernde) Wollen 
als unendliches Beservoir für die Summe des gleichzeitig wirksamen 
Wollen» berücksichtigt werden müsste, woraus auch wieder die 
Differenz der allgemeinen Formulirung von der beschränkten mecha- 
nischen Fassung sich ergeben würde. 

Also : am Wollen selbst wird durch die Motivation gar nichts 
verändert, sondern nur die Vertheilung seiner Thätigkeits- 
richtungen; diese aber bilden seinen Inhalt, welcher nur in 
Vorstellungen besteht; also: das Motiv influirt nur auf die Vor- 
stellungen, welche den Inhalt des Weltwillens bilden. Das ist 
begreiflich: hier wirkt Vorstellung auf Vorstellung; imbegreiflich 
hingegen wäre die Wirkung von, Vorstellung auf Willen im eigenlr 
liehen Sinne, so dass durch sie in ihm direct eine Veränderung des 
Zustands hervorgerufen würde. Bei der Wirkung von Vorstellung 
auf Vorstellung begreift man den Vorgang als logische Vermittelung; 
unbegreiflich hingegen bliebe es, wie die vis logica, die doch nmi 
innerhalb ihrer Sphäre eine vis ist, auf den ausserhalb ihrer Sphäre 
belegenen Willen einen Einfiuss sollte üben können, an dessen 
Ueberlegenheit sie so machtlos abpra.llen muss, wie das Bild einer 
Zauberlaterne an der kräftigen Wirklichkeit. Der Weltwille ist 
immer in erhobenem Zustande, niemals im Zustand der reinen Po- 
tenzialität; aber wie überhaupt das noch unerfüllte Wollen oder 
Wollenwollen (das ja auch Bahnsen kennt: Char. I. 119, unten) sich 
zu dem mit bestimmtem Inhalt erflillten oder wirklichen Wollen 
wie etwas Potentielles zu etwas Actuellem verhält (obwohl er 
sich zu dem ruhenden, noch nicht erhobenen Willen als etwas 
Actuelles zu etwas Potentiellem verhält), so erscheint auch an 
einer bestimmten Stelle des Universums in einem be- 
stimmten Moment der Wille als latenter oder potentieller, 
während er doch in Wahrheit nur gerade nicht hier und nicht jetzt 
sich thätig erweist, wohl aber an zahllosen anderen Stellen in dem- 
selben Augenblick seine Actualität bethätigt. So bewirken die Mö-r 
tive nichts als eine Veränderung der Thätigkeitsrichtungen des 
actuellen Weltwillens; wie eine Spinne sitzt dieser in dem Univer- 
sum, als in dem Netz, das er sich zubereitet, wie eine Spinne, die 
nur zu schlafen scheint, in Wahrheit aber auf das Gespannteste auf 
ßesqhäftigung nach allen Richtungen lauert. Sowie eine Fliege ihr; 



Bahnsen's chari^kterologischer Individualismus. 207 

in's Netz summt, stürzt sie auf dieselbe los und bemächtigt sich 
ihrer. Die Fliegen sind die Motive, sie bestimmen nichts als die 
Richtung, nach welcher die Spinne von ihrem Centrum aus hinstürzt, 
denn Fliegen fangen ist ja ihr einziges Geschäft. Das Bild stimmt 
nur inspfem nicht, als einerseits die Spinne immer nur eine Fliege 
auf einmal fangen kann, aber nicht unzählige an verschiedenen 
Pnnktien des Netzes gleichzeitig, und andererseits die Motive eben- 
falls mit zu dem selbstgewebten Netz des Universums gehören. 

Gönnen wir uns noch einen Augenblick der Umschau von der 
bis hierher erklommenen Höhe, auf der wir erkannt haben, dass 
Motivation Bestimmung von Vorstellung (Willensinhalt) durch Vor- 
stellung (Motiv) ist. Wir dürften nämlich überall, wo eine Vorstel- 
lung eine andere bestimmt, welche zugleich Willensinhalt ist, von 
Motivation sprechen, wenn nicht die nähere Bedingung für die An- 
wendung des Begriffs der Motivation die wäre, dass (mindestens) 
diese beidepi Vorstellungen bewusste sind, eine Bedingung, durch 
welche die Motivation zu einem discursiven Process erklärt wird. 
Gleichwohl werden wir die innere Aehnlichkeit mit der Motivation 
nicht verkennen, wo diese eine Bedingung unerfüllt bleibt. Nuiji 
wissen wir aber, dass alles Geschehen in der Welt Willensäusserung, 
oder eine Summe bestimmter Willensacte ist, oder anders ausgedrückt, 
das alles in einem bestimmten Moment in der Welt Geschehende 
der Gesammtinhalt des erhobenen Weltwillens in diesem Augenblick 
ist. Wodurch wird nun die Beschaffenheit dieses Gesamratinhalts in 
diesem Augenblick bestimmt? Offenbar durch zwei Momente oder 
Factoren: nämlich den Gesammtinhalt des Weltwillens im unmittel- 
bar vorhergehenden Augenblick einerseits und durch Welt- 
zwe.ck andrerseits. Der Weltzweck bestimmt den Gesammtinhalt 
des Weltprocesses im Allgemeinen, die im vorhergehenden Augen- 
blick gegebene Weltlage (die sich im Gesiammtinhalt des Weltwillens 
in dem betreffenden Augenblick ausdrückt) entscheidet darüber, was 
gerade in diesem Augenblick zu thun sei, um möglichst zweckmässig 
auf die ErfftUung des Weltzweckes hinzuwirken; der erste Factor 
ist der allgemeine, constante, der zweite der besondere variable. (Auch 
bei der bewussten Zweckthätigkeit im Kleinen ist ein Analogon beider 
Factoren nothwendig, wo denn der allgemeine gewöhnlich durch das 
grösstmögliche Gesammtglück des Lebens fttr das Individuum oder durch 
ähnliche Maximen repräsentirt wird.) Da nun der Gesammtinhalt des 



208 B. Schopenhauerianismius. 

Weltwilleng im unmittelbar vorhergehenden Augenblicke doch eben auch 
nur Vorstellung ist, so haben wir als das Schema alles Geschehens 
im Weltprocess allerdings die Bedingung von Vorstellung durch 
Vorstellung, wobei die bedingte Vorstellung Willensinhalt ist (dass 
die bedingende es auch ist, ist irrelevant). So erscheint allerdings 
alles Geschehen als ein Analogen dessen, was im Bewusstsein sich 
abspielend uns als Motivation bekannt ist. Der wesentliche Unter- 
schied, der die Erweiterung des Begriffes der Motivation auf das 
unbewusste Gebiet verbietet, ist aber der, dass bei der Motivation 
die bedingende Vorstellung ein bewusstes Gewahrwerden, d. h. ein 
Innewerden der thatsächlichen Situation a posteriori (durch re- 
flectirendo Umbiegung der Thätigkeitsrichtungen des Unbewussten 
gegeneinander) ist, während beim Geschehen des allgemeinen Welt- 
processes die bedingende Vorstellung die in der apriorischen 
Entwickelung der unbewussten Idee zuletzt erreichte 
Stufe ist, so dass hier die bedingte Vorstellung nur als das nun- 
mehr folgende Moment des apriorischen Entwickelungsprocesses 
erscheint, nur dass alle diese Momente von dem sie realisirenden 
Willen umklammert sind, mit dessen Erlöschen auch der Zweck der 
Entwickelung als erreichter fortfallen und damit die Entwickelung 
der Idee selbst aufhören würde. So werden wir jetzt die gesammte 
in einem Augenblick vor sich gehende Motivation definiren 
können als denjenigen Theil des allgemeinen Geschehens im 
Weltprocesse in demselben Augenblick, welcher aus der Summe der 
bewussten Vorstellungen in der Welt in demselben Augenblicke 
resultirt. Diese Erklärung involvirt keineswegs die Behauptung, 
dass jede bewusste Vorstellung Motiv sei (obwohl sich dies in ge- 
wissem Sinne sogar verfechten Hesse) ; denn es könnte ja ein Theil 
der Summe der bewussten Vorstellungen irrelevant sein flir die Ent- 
wickelung des Weltinhalts fUr den nächsten Augenblick, und dieser 
würde alsdann zu dem weiteren realen Geschehen des nächsten 
Augenblicks nichts beitragen, also an dem Motivationsprocess des 
betreffenden Augenblicks keinen Theil haben. 

Jeder Moment des Geschehens ist als Glied in der Kette der 
Causalität vollständig bestimmt; jeder Moment des Geschehens ist 
aber auch als Glied in der Kette der Finalität vollständig bestimmt. 
Die Bedingtheit von der einen und von der andern Seite kann wohl 
durch Zufall einmal ein übereinstimmendes Resultat geben; die 



Bskhnsen's charakterologischer Individnalismus. 209 

beständige UebereiDstimmuDg ist nnr entweder durch das Wander 
einer prästabilirten Harmonie beider Reihen, oder durch die höhere 
Einheit beider in .einem dritten ohne Widerspruch denkbar. Ich 
habe anderwärts (PhiI.d.Unb. 7. Aufl. Bd. IL S. 448-451; vgl. auch 
,^. H. Vt Kirchmann's erkenntnisstheoretischer Realismus" S. 41 — 53 u. 
„Wahrheit und Irrthum im Darwinismus" S. 153 — 161) darauf hin- 
gewiesen, dass diese höhere Einheit in der logischen Nothwendig- 
keit der immanenten Entwickelung der absoluten Idee als Willens- 
inhalt besteht, d. h. in der logischen Noth wendigkeit, mit welcher 
der Weltwillensinhalt jedes Augenblicks aus dem des unmittelbar 
vorhergehenden in Verbindung mit dem ein ftir allemal fest- 
stehenden Endzweck des Weltprocesses folgt. Hatte sich dort 
die innere Verwandtschaft und höhere Einheit von Causalität und 
Finalität enthüllt, so hat sich hier als Ergänzung gezeigt, vrie die 
Motivation den beiden andern in der That so nahe verwandt ist, 
um als drittes der Geschwister in derselben höheren Einheit aufzu- 
gehen, aber auch zugleich, wie sie ihren Geschwistern nicht eben- 
bürtig, sondern unterlegen ist, insofern sie in ihrem eigentlichen 
Sinne nicht wie jene das ganze Geschehen jedes Augenblicks, son- 
dern nur einen Bruchtheil desselben umspannt. 

Ich komme zu einem ferneren Missverständniss Bahnsen's. — 
Die graphische Methode der Versinnbildlichung hat in dem letzten 
Jahrzehnt eine so allgemeine Verwendung gefunden und sich so 
unerwartet fruchtbar, ja sogar, in vielen Fällen der mathematischen 
Analyse überlegen erwiesen, dass ihre Benutzung für die Versinn- 
bildlichung des Widerstreits der Begehrungen keinem andern als 
einem entschiedenen Indeterministen Anstoss geben kann Eine 
singulare Willensstrebung oder eine Begehrung kann nicht anders 
als durch eine gradlinige Kraft dargestellt werden, wobei die 
Länge der verzeichneten Linie die Intensität des Begehrens 
im Verhältniss zu der willkürlich angenommenen Einheit, und die 
Richtung der Linie gegen das angenommene Coordinatensystem 
den Inhalt des Begehrens repräsentirt. Eine gekrümmte Willens- 
richtung ist undenkbar, eine gebrochene nur unter der Voraus- 
setzung des Hinzutritts neuer Motive an den Wendepunkten, oder 
unter Voraussetzung mehrfach veränderter Auffassung der Ver- 
hältnisse während des Handelns (irrlichtelirender Wille). Wo zwei 
gradlinige Begehrungen zusammentreffen, ergiebt sich als Resultante 

E, y. Hartmtmn, Erläntenmgen. 2. Anfl. 14 



210 ^- Sehol>enhaaeriaiiltiäa8. 

die Diagonale nach defn FaraHelogramm der Kräfte, wobei wiederum 
die Lauge der Besultante die Intensität, die Richtung den Willens- 
inhalt darstellt. Der Coincidenzpankt repräsentirt das individuelle 
Subject im Moment des Entschlusses, welches nach der Bichtnng 
der Besultante getrieben wird. Der Nullpunkt des GoorOinateii- 
Systems stellt den tndifferen^punkt oder Nullpunkt des Handelns 
dar; also repräsentirt die Lage des Coineidenzpunktes der Gompo- 
nenten im Verhältniss zum Nullpunkt der Goordinaten das Niveau 
der Handlung, auf welchem sich das Subject bei der Beschlussfassimg 
bereits befindet. Treten mehr als zwei Componenten in demselben 
Punkt zusammen, so gewinnt man die Besultante nach den mathe- 
matischen Gesetzen der Statik und Dynamik des Atoms. Nur wenn 
die Bichtung des eventuellen Willens im Voraus unabänder- 
lich bestimmt ist, und es sich nur um die Alternative der 
Handlung oder Unterlassung handelt, nur dann reducirt sich das 
Problem auf Strebungen, die sich innerhalb der Einen vorgezeieh- 
üeten Bichtung als einfache positive und negative Intensitäten be- 
kämpfen, und zwar sind diese positiven und negativen Intensitäten 
innerhalb der vorgezeichneten Bichtung der Besultante durch die 
Projectionen der Componenten auf diese Bichtung gegeben, 
indem der andere Theil der Componenten (die Lothe der Projectio- 
nen) ftir diesen Fall unbenutzt verloren geht. Hiemach ist das 
Missverständniss Bahnsen's zu berichtigen, als ob ich den Mechanis- 
mus der Begehrungen überhaupt nur als innerhalb einer geraden 
Linie vor sich gehend betrachtete (M. V. 10 — 11 und 18). Dass 
das Bild aus der Mechanik des Atoms anwendbar ist, und die psy 
chischen Strebungen niemals so heterogen sind, wie etwa ein mecha- 
nischer und ein chemischer Process, das erhellt eben aus der 
einfachen Thatsache der ausnahmslosen Commensurabilität 
und Componibilität aller Begehrungen^ ohne welche das Ausmünden 
des psychischen Processes in einen einheitlichen Entschluss unmög- 
lich wäre. Alle Unterschiede der Begehrungen reduciren sich, wie 
wir wissen, auf Unterschiede der Intensität und des Inhalts, 
und beide finden in dem Bilde ihren vollgültigen Ausdruck. Auch 
in der Mechanik bleiben die Componenten, wenn sie der Zeit nach 
dauernde Kräfte sind, trotz und neben der Besultante bestehen (z.B. 
Wind und Strom trotz des diagonalen Laufs der Fähre), nur wenn 
sie sich nicht stetig aus ihrem Grunde regeneriren, gehöi sie in 



Bahnsen's eharakterologisdier Individualismus. 211 

der fiesnltante auf (wie z. B. Hunger und Durst im Genuas von 
nährender Suppe). — 

Die Selbstentzweiung des Wollens (durch seinen getheilten In- 
halt) ist die Bedingung seiner Selbstverwirklichung und seiner 
Selbstbespiegelung im Bewusstsein, und ,,alles Wollen realisirt sich 
nur in Individuen^' (M. V. 30); diese Sätze Bahnsen's unterschreibe 
ich rollständig, und gebe zu, dass damit ein gewisser Pluralismus 
gesetzt ist; — aber wohlverstanden ein Pluralismus der Phäno- 
mena, in keiner Weise ein Pluralismus des All-Einen Willens, als 
des Wesens, das der Erscheinung zu Grunde liegt (vgl. Frauenstädt's 
Darlegungen in den „Phil. Monatsheften" Bd. I. S. 125 — 127). In- 
sofern nun in den Phänomenen allein das liegt, was wir Realität 
nennen, insofern ist der Pluralismus und die Individualität unbedingt 
real, 'unbeschadet dessen, dass sie nicht essentiell sind. Diesen 
Pluralismus hat noch kein Monist verleugnet, und in der (allerdings 
meist nicht genügend hervorgehobenen) Anerkennung, dass alle 
Realität ausschliesslich im Gebiete der Phänomena- 
lität und folglich dieses Pluralismus ihren Boden 
habe, wird dem Princip des Pluralismus das Recht, das ihm 
gebührt Unberechtigt und überfliegend aber wird er, wo er sich 
anmaasst, das Reich des jenseits der Erscheinung liegenden Wesens 
mit seiner phänomenalen Zersplitterung inficiren zu wollen, dessen 
urewige und unentäusserliche Einheit in unnahbarer Hoheit thront. 



B. Die Kritik des monistischen Evolutionismus. 

Wir sahen bereits in der Einleitung, dass Bahnsen aus zwei 
Gründen eine üniversalentwickelung leugnen muss: erstens weil er 
ein all-eines Weltwesen als Träger derselben leugnet, und zweitens 
weil er ein logisches Princip als Leiter derselben bestreitet, und 
an Stelle dessen das ewige sich Austoben der Selbstzerfleischung 
des Willens als unlogischen realdialectischen Weltzweck annimmt. 
Die Schrift „Zur Philosophie der Geschichte" stellt sich die Aufgabe, 
die evolutionistische Weltanschauung der Philosophie des ünbewuss- 
ten (und in und mit dieser diejenige HegeVs) kritisch zu zersetzen 
und von allen Seiten her als unhaltbar darzuthun. Wir haben nun die 

U* 



212 B. Schopenhauerianismas. 

Voraussetzungen, von denen aus Bahnsen eine Universalentwickelung 
negiren muss, näher in's Auge zu fassen, und werden nebenher die 
Stichhaltigkeit seiner Einwendungen gegen die universelle Entwicke- 
lung, wie sie sich bei mir gestaltet, prüfen. 

Dass Bahnsen zur Leugnung des AU-Einen dadurch 
gelangt ist, dass er die substantielle Selbstständigkeit des Individuums 
als Dogma ergriff, und aus diesem Dogma zum ersten Mal mit Ernst 
die letzten Consequenzen zog, das habe ich schon angedeutet; die 
nächste Frage würde also die sein: wodurch gelangte er zu 
seinem Individualismus, d. h. zu dem Glauben an die sub- 
stantielle Selbstständigkeit des Individuums, die er übrigens ver- 
ständiger Weise nicht wie die Herbartianer für eine absolute, sondern 
nur flir eine relative und beschränkte ausgiebt. *) Der Grund scheint 
mir ein zwiefacher : in erster Reihe eine Ueberschätzung un(f Miss- 
deutung des unmittelbaren Zeugnisses des sittlichen Bewusstseins, 
in zweiter Reihe eine Verkennung der ausnahmslosen Gesetz- 
mässigkeit des Weltprocesses, welche durch die gesetzmässige 
Constanz der Wirkungsweise jedes Individuums den Schein einer 
relativen Selbstständigkeit desselben vorspiegelt. Nachdem wir die 
Stichhaltigkeit beider Gründe der Reihe nach geprüft haben werden, 
wird uns als weiterer Gegenstand der Untersuchung die Frage be- 
schäftigen, ob Bahnsen im Stande sei, seine antilogische Realdialectik 
zu begründen und die Ausschliessung des Logischen aus der Sphäre 
des realen Seins aufrecht zu erhalten, beziehungsweise welches bei 
ihm die Stellung des Logischen zum Unlogischen sei, und ob die 
einmal eingeräumte Zulassung des Logischen in den essentiellen 
Willensinhalt nicht mit unaufhaltsamer Nothwendigkeit dazu drängt 
das Verhältniss beider Principien zu einander in anderweitiger 
Gestalt zu präcisiren. 

5. Die Stützen des Indiyidnallsmns. 

Was zunächst die ethische Begründung des Individualismus be- 
trijBft, so haben wir schon im Abschnitt A dieser Abhandlung gesehen, 
„dass weder die Unsichtbarkeit, noch die Unveränderlichkeit, noch 
die Freiheit, noch die Verantwortlichkeit, noch die Aseltät, noch die 



*) „Zur Phil, der Gesch.** S. 71 unten. Die Seitenzahlen ohne nähere An- 
gabe beziehen sich von jetzt an auf dieselbe Schrift. 



iBaliusen^B chairakiejfologischer Indivldualismad. 2l3 

Ewigkeit sich als stichhaltig erwiesen haben, um eine Zerschneidung 
des Charakters in einen intelligiblen und einen empirischen Cha- 
rakter zu rechtfertigen," und auf diesem Unterschied eine über die 
phänomenale Sphäre hinausgreifende Bedeutung des Individuams 
stützen zu wollen. In seiner letzten Schrift hebt Bahnsen von allen 
ethischen Argumenten für seinen Standpunkt nur eines hervor, näm- 
lich das sittliche Bewusstsein der Hingebung und des Opfers. Er 
sagt: „Nur wenn das Einzelwesen und Einzelleben an sich für was 
Besseres als ein werthloses (?) Phänomen gilt, kann der Hingebung 
desselben eine wahrhaft sittliche Weihe verliehen sein" (Vorwor- 
S. U). Dagegen sagt er selbst auf S. 34: „Die aus dem Schleier 
der Maja gewirkte Binde : von den Augen kann er sie sich tausend- 
mal gerissen haben — aber Hand und Haupt und Glieder bleiben 
ihm davon umstrickt." Und auf S. 83 findet er der Einseitigket 
Kant's gegenüber meine Erinnerung ganz am Platze, dass „die 
Selbstsucht selber ein Vernünftiges ist" — nämlich als Mittel zum 
Weltzweck, nicht als Selbstzweck, darum auch nur etwas relativ 
Vernünftiges, durch anderweitige Vernunftgesetze Eingeschränktes. 
Die Selbstsucht ist nur darum ein relativ- Vernünftiges, weil sie 
nicht-egoistischen, ja sogar anti-egoistischen Zielen dienstbar 
(S. 83) und zur Erreichung derselben unentbehrlich ist. Darum 
ist dafür gesorgt, dass^die abstracte Durchschaaung des Schleiers 
der Maja den egoistischen Naturinstinct niemals völlig aufheben 
könne; diese Unauf hebbarkeit des logisch Unentbehrlichen ist also 
auch selbst logisch, und keineswegs ein Beweis ftlr Bahnsen's 
Bealdialectik , wie derselbe sich einbildet (S. 33, 63). Dann 
aber bleibt es trotz aller abstracten Durchschauung des Schleiers 
der Maja doch unbestreitbar ein ethisches Verdienst, wenn die 
sittliche Kraft ausreicht, um die concrete Unauf hebbar keit der Ichheit 
des Bewusstseins so weit praktisch zu überwinden, dass daraus 
Hingebung und Opfer resultiren, und wir brauchen keineswegs zu 
einer substantiellen Selbstständigkeit des Individuums unsre Zuflucht 
zu nehmen, um dem sittlichen Bewusstsein die ethische Weihe 
der Hingebung intact zu erhalten. 

Eine ethische Begründung des Individualismus ist hiernach auf 
alle Fälle unmöglich; weit eher könnte dieselbe aus dem Egoismus 
möglich scheinen, denn der Egoismus ist nicht bloss Selbstthätigkeit, 
sondern sogar teleologisch auf sich Selbst bezogene Selbstthätigkeit^ 



214 B. Schopenhaaerianisinns. 

die also ein Selbst sowohl als Sabject wie als Object voraussetzt. 
Dieses Argument lässt Bahnsen sich entgehen ; er spricht nur davon, 
dass ,,bIosse Acte als solche jeder wahrhaften Selbstständigkeit für 
ewig baar bleiben^' nnd dass bei ihnen nicht einmal von ^^Sdbst- 
bethätigung" gesprochen werden könne, weil „kein snbsistenter 
K^m der Kraft" vorhanden sei (72). Beide Formen des ArguniÄnts 
sind nnstichhaltig. Wo der Individualwille als ein Bündel von 
Willensacten des Allwillens betrachtet wird, fehlt der Kraft keines- 
wegs der subsistente Kern; das Subsistirende in der Willens- 
fünction ist eben auf alle Fälle die Substanz, gleichviel wie 
die Frage nach der Einheit oder Vielheit der Substanz entschieden 
werden möge. Eine Selbst-Ständigkeit im eigentlichen Sinne, d. h. 
in demjenigen des „Auf sich selber Stehens" können freilich „blosse 
Acte" niemals besitzen, welche eben auf einem Andern, nämlich 
auf der all-einen Substanz stehen und bestehen; aber Bahnsen hat 
keinen Versuch gemacht, zu zeigen, dass die substantielle Selbst- 
ständigkeit eine unerlässliche Voraussetzung für den Begriff der 
Selbstheit und der Selbstthätigkeit sei. 

Wenn der Monist sagt, dass das „Selbst" in allen Individuen 
das AU-Eine sei, so ist das allerdings eine ungenaue Redeweise; 
denn das AU-Eine als solches hat keine Selbstheit, Bondem 
gewinnt sie erst in dem concreten Individuum. Der Honist müsste 
also genauer sagen, dass in allen Individuen das AU-Eine die sub- 
stantielle Wurzel oder der subsistente Kern ihrer Selbstheit sei, 
während dasjenige am Begriff der Selbstheit, was die Schranken 
der endlichen Individualität an ihm constituirt, eben nicht auf die 
Seite des Absoluten, sondern auf diejenige der endlichen, partieUen 
Erscheinung desselben fällt. So ist die Selbstheit ein Product aas 
der absoluten Substantialität und concreten Fhänomenalität, dsna sich 
im Process beständig aus beiden Factoren erzeugt und wieder ver- 
schwindet; die Constanz der Selbstheit im Ich ist ein falscher 
subjectiver Schein, dem in Wirklichkeit nur die Identität des Abso- 
luten und die relative (phänomenale) Constanz des Charakters ent- 
spricht. Aus dem sich Gleichbleiben der Factoren resultirt natürUch 
die Gleichheit des in jeder Bethätigung neu sich bildenden Products;*) 



*) Hiermit ist zugleich Bahnsen's Bemerkung erledigt, dagg bei mir das 
Yeriiftltoiss der Individualwillen zu ihren Handlungen ein mehr oder minder 



fiaiinsen's chainkterologisdier individualismaä. ^Ig 

weil aber bei jeder Action des All-Einep innerbalb der Sphäre diesQß 
conereten Individuams dieses Froduet der Selbstheit sich bii4et, 
darum ist jede solche Action Selbstbethätigung des betreffenden 
Individuums, oder genauer des AU-Einen, insofern es' sich in diesen^ 
£r8cheinungsindiyiduum manifestirt. 

Selbstheit und Selbstthätigkeit der Individuen sind deiomach 
auch vom monistischen Standpunkt sehr wohl erklärbar; sie sind 
auch von diesem betrachtet keineswegs blosse natttriiche Illusionen 
(yrie die Constanz des Ich als solcher), sondern sie sind reale Pro- 
ducte aus beständig wirksamen dauernden Factoren. *) Die Illusion 
beginnt erst damit, dass das beständig neuerzeugte Prodnct selbst 
als das Dauernde im Wechsel der Actionen angesehen, 
d. h. dass das Ich hypostasirt und als vermeintliche psychische 
Individualsubstanz an die Stelle der im Individuum sich offenbaren- 
den absoluten Substanz gerückt wird ; hiermit erst wird ein stäi^diges 
Object geschaffen, auf welches die Selbst-Sucht sich bezieht, wenn 
sie die Selbstthätigkeit auf das Ich anstatt auf das AU-Eine richtet, 
und diese Illusion der Selbstständigkeit des Ich ist es, welche die 
Inder und Schopenhauer durch den Schleier der Maj^ ^deuten,**) 
der auch Bahnsen's Augen mit unheilbarer Verblendung umstrickt 
zu haben scheint Wäre wirklich Bahnsen's Individualismus der 



zufälliges sei, weil ja hinter ihnen als der eigentliche Begulator das AU-Eine 
stehe (S. 67—68). Da das All-Eine, wie Bahnsen selbst sagt, das Handeln des 
Individuums nur durch „Pr&determination einer praedispositio specialis*^ determi- 
niren kann, so ist dies eben nicht eine Modiflcation des Handelns, die dieNoth- 
wendigkeit seines Hervorgehens aus dem Charakter zur Zufälligkeit entstellte, 
sondern eine Modification des Charakters oder der Individualessenz selbst, aus 
der dann das Handeln gesetzmässig folgt. 

*) Auch sind diese Factoren keineswegs bloss ideelle (wie Bahnsen 
S. 71 meint), sondern ganz reelle: einerseits die realen Willensactionen der den 
Organismus constituirenden Atome, andrerseits die Summe von realen Willens- 
actionen, welche der Allwille auf diesen Organismus, auf seine ijobens- und 
Geifitesfunctionen richtet. Die Einheit und Individualität der auf den Organismus 
gerichteten Functionen des All-Einen haftet an der Einheit und Individualität 
des Organismus; letztere aber ist durch mannichfache Einheitsformen bedingt, 
unter denen die Einheit des Zweckes nur Eine, wenngleich die wichtigste ist. 
**) Die vorhergehende Betrachtung zeigt, dass zur Aufdeckung dieser Illusion 
keineswegs — wie noch Schopenhauer glaubte — die Wahrheit des subjectiven 
Idealismus erforderlich sei, sondern dass der Monismus mit der in ihm einge- 
schlossenen objectiven Phänomenalität der Individuen ganz dieselben Dienste 
leistet 



216 B. Schopenhaaerianismus. 

wahre metaphysische Standpunkt^ so wäre die Gonsequenz gam^ 
unabweisbar, dass auch einzig and allein der klug berechnen^^ 
Egoismus die wahre praktische Doctrin sein könne; dass Bahnsei? 
diese Gonsequenz bestreitet, ist ebenso edel wie unlogisch, und eixie 
genaue Revision seiner Metaphysik von ihrem ethischen Ausgangs- 
punkte aus müsste ^ihn nothwendig zu Resultaten führen, die seinen 
bisherigen schnurstracks entgegengesetzt sind. 

Der Einwand des Individualismus gegen den Monismus, dass 
„die Entwickelung sichtbar genug auf eine immer grössere Ver- 
selbstständigung des Individuellen hinstrebe/' ist, wie Bahnsen selbst 
(S. 3—4) bemerkt, bei mir im Voraus dadurch entwaffnet, dass die 
Individuation mir das Mittel zur Steigerung des Bewusstseins, und 
diese wieder das Mittel zur Ueberwindung des Unlogischen durch 
das Logische ist. In der That passt die allmählich fortschrei- 
tende Verselbstständigung des Individuellen (von der Monere durch 
den Affen und den Buschmann bis zu Goethe) nicht sowohl in ein 
individualistisches als in ein monistisches System, denn sie zeigt, 
dass die immer höheren und höheren Individualitätsstufen Ergebnisse 
eines einheitlichen Processes sind, also nicht als ursprünglicher 
Bestand der Welt von Anfang an, sondern nur als resultirende 
Phänomene gelten können. Hieran wird auch dann nichts ge- 
ändert, wenn Bahnsen den Zweck, den ich für den Weltprocess 
annehme, leugnet, oder wenn er bestreitet, dass diese Verselbststän- 
digung des Individuallebens ein geeignetes Mittel zu diesem Zweck 
sei ; denn wir haben es hier nur mit der Deutung einei* Erfahrungs- 
thatsache zu thun, die von allen Ansichten über den Zweck des 
Weltprocesses unabhängig ist. 

Nebenbei bemerkt ist aber auch Bahnsen's Einwurf gegen die 
Zweckmässigkeit der Individuation als Mittel zu dem von mir an- 
gegebenen Endzweck unbegründet. Er behauptet nämlich, „dass, je 
schärfer das Licht des Bewusstseins auf der Mittagshöhe seines 
BStlrersalhistorischen Sonnentages die Gontouren der Lebensblüthen 
umschreibe, auch desto sicherer und rascher an diesem grellen 
Schein die fernere Keimkraft derselben hinwelkend ersterbe, 
' während die Kühle des mondlichtartigen Halbbewusstseins die auf 
die Zukunft versparten Völker conservire" (S. 4). Die behauptete 
Thatsache muss entschieden bestritten werden. Wir wissen, dass 
Culturperioden und dass Nationalitäten sich aus- und überleben, 



Bahnsen's charakterologischer Individualismus. 217 

aber nicht wissen wir, ob die zu geschichtlicher Gultur gelangten 
Baeen nnd Stämme sich vor dem Ende der Menschheit überleben 
werden. Im Gegentheil ist anzunehmen, dass die Nationen, welche 
die Culturträger der Zukunft sein werden, aus der indogermanischen 
Race, also aus jetzt vorhandenen Nationen sich herausbilden werden. 
Es ist wahr, dass die Keimkraft nicht nur des Individuums, sondern 
auch der Famlie oder des Geschlechts durch tiberwiegende An- 
strengung des Gehirns, d. h. durch eine die Äusbildungsstufe des 
Organs übersteigende Bethätigung desselben geschwächt wird, und 
dass in den Gulturvölkern die als Culturförderer wirksamen Minori- 
täten absterben und durch frischen Nachwuchs ersetzt werden müssen. 
Aber es ist nicht wahr, dass die Keimkraft der Völker im um- 
gekehrten Verhältniss zu ihrer geistigen Culturarbeit stehe, da im 
Gegentheil beide ebenso Hand in Hand zu gehen scheinen, wie 
beim Individuum die geistige und geschlechtliche Productivität in 
ihrem Entwickelungsgange gleichen Schritt zu halten pflegen. In 
ganzen Völkern ist eben hinlänglicher Nachwuchs vorhanden, um 
die sich abstossenden Gulturschichten zu ersetzen ; diese sich opfern- 
den Minoritäten aber erhöhen nicht nur den Bildungsschatz als 
solchen, sondern durch Hebung des Gulturniveaus im Ganzen zugleich 
die durchschnittliche Gehimorganisation des Volkes. 

Nachdem wir somit gesehen, dass aus rein ethischen und psy- 
chologischen Erwägungen die substantielle Selbstständigkeit des 
Individuums nicht zu begründen ist, und dass schon das geschicht- 
liche Werden und die fortschreitende Verselbstständigung des Indi- 
viduellen auf die Phänomenalität desselben hinweist, gehen wir zu 
den Argumenten über, welche Bahnsen aus der scheinbaren Selbst- 
ständigkeit der Individuen im geschichtlichen Process schöpft^ indem 
er die Gonstanz der Naturgesetze und die aus ihr folgende relative 
Gonstanz der individuellen Bestrebungen für die Lebensdauer des 
Individuums übersieht. 



6. Die Widerstände der Entwickelungr. 

Bahnsen argumentirt so : Im geschichtlichen Process sind retar- 
dirende Kräfte vorhanden, ideell überwundene Stufen, welche der 
weiteren logischen Entwickelung noch reellen Widerstand entgegen- 
setzen (19, 79); die Analogie pädagogischer AUmäblichkeit passt 



218 ^- Schopenhauerianismas. 

nicht auf den Process des Absoluten (20); aus dem Willen als sol- 
chen kann der Widerstand nicht stammen, so lange der Wille als 
Einer angesehen wird, und er seinen einzigen Inhalt in der Idee 
findet; aus der Idee kann er aber auch nicht stammen, weil in 
dem Logischen kein Biaum ist für unlogische Kesidua, weil diese 
vom AU-Einen sofort resorbirt werden müssten, sobald sie anfangen 
unlogisch zu werden (19 — 20). Also, schliesst Bahnsen weiter, ist 
der Monismus ausser Stande, die Thatsache der Widerstände in der 
Entwickelung zu erklären, also muss er falsch sein und durch eine 
Theorie ersetzt werden, welche dem Individuum die Selbstständigkeit 
zugesteht, sich gegen den Fortschritt des Weltprocesses aufzulehnen, 
was nur bei substantiell gesondertem Eigenwillen möglich ist. 

Dem ist Folgendes zu entgegnen. Wenn das AU- Eine als Abso- 
lutes den Process durchmachte (was übrigens in sich schon ein 
Widerspruch ist), so wäre die pädagogische Analogie unbrauchbar; 
nicht so, wenn es den Process als ein seiner Absolutheit Entäus8e^ 
tes, d. h. als Totalität von Individualexistenzen oder Selbstheiten 
durchmacht. Da der Fortschritt des Weltprocesses in der Steigerung 
des Bewusstseins liegt, und diese nur durch Ausbildung von Indivi- 
duen (Thieren, Menschen, Völkern, Staaten u. s. w.) erreichbar ist, 
so ist in der That der Weltprocess ein durch und durch pädagogi- 
scher Process. Allerdings setzt dies voraus, was zu beweisen ist, 
die Erklärbarkeit der relativen Selbstständigkeit der Individual- 
entwickelung gegenüber den Zwecken des Absoluten. Aber diese 
Thatsache ist sehr wohl mit dem Monismus zu vereinbaren. Der 
Widerstand der retardirenden Kräfte ist nämlich weder bloss aus 
dem Willen (der ja an sich leer und ungetheilt), noch bloss aus der 
Idee (die ja an sich kraftlos und unreell), sondern wie alles reale 
Geschehen nur aus der Einheit beider untrennbaren Seiten des 
AU-Einen zu erklären. Die Idee muss das concrete Ziel, also auch 
seine Besonderung und particuläre Einzelheit aufstellen, und der 
Wille muss die Kraft hergeben, mit der dieses ideelle Ziel sich in 
der Realität behauptet, d. h. gegen Angriffe dauernd neu realisirt 
Wenn nun Bahnsen meint, dass die logische Idee alle logisch über- 
wundenen Stufen sofort in sich resorbiren müsse, so setzt das eine 
ganz falsche Auffassung der Teleologie voraus, nämlich die Vor- 
stellung, als ob Zweckmässigkeit in Natur und Geschichte nur durch 



ßahnsen*8 charakterologischer Individualismus. 219 

eine unmittelbare Realisining des logisch geforderten Zieles 
gegeben werden könne. 

Dies ist aber noch diejenige Auffassung der Teleologie, welche 
ans dem einseitigen Vorsehungsglauben resnltirt, und die Nothwen- 
ffigkeit einer pir^xav^ zu dem zilogy eines Mechanismus zur Ver- 
wirklichung des Zwecks, einer gesetzmässigen Gausalität als logisch 
geforderter Grundlage der Teleologie verkennt. Bahnsen scheint 
keine andere als eine anticausale Teleologie zu kennen, die in 
der nnmittelbaifen Verwirklichung des Zweckes aller Gesetze und 
Ursachen spottet; er vergisst, dass selbst die christliche Teleologie 
des Mittelalters der causalen Gesetzmässigkeit doch ein gewisses, 
wenn auch untergeordnetes Gebiet einräumte, dass aber heute eine 
anticausale Teleologie überhaupt nicht mehr bekämpft zu werden 
braucht. Gäbe es nur die Alternative zwischen dieser Teleologie 
und gar keiner, so könnte die Wahl nicht zweifelhaft sein. Da 
Bahnsen an die Möglichkeit einer Teleologie, welche die Gausalität 
als Mittel logisch in sich einschliesst, gar nicht gedacht zu haben 
scheint, so musste er allerdings dazu gelangen, die reale Gültigkeit 
der Teleologie zu leugnen Da er nun aber doch wieder zu sehr 
Philosoph war, um mit den Materialisten alle Teleologie für Schwindel 
und Unsinn zu erklären, so ergab sich das merkwürdige Resultat, 
dass er ftir das teleologische Problem in seiner Isolirung den sub- 
jectiv-idealistischen Standpunkt festzuhalten bemüht ist (62, 
M. V. 28), den er imUebrigen principiell verworfen und als grund- 
sätzlichen Irrthum durchschaut hat. Diese Inconsequenz hätte allein 
genUgen sollen, ihn darauf aufmerksam zu machen, dass in seiner 
Anffiussung der Teleologie etwas nicht richtig sein müsse. 

Bei seiner Ansicht ist es freilich ganz consequent, zu fragen, 
warum uns das AU-Eine nicht mit einem Sehlage so geschaffen habe, 
dass wir ohne alle Qualen des Forschens und Bingens sofort „üno 
öbMu in unfehlbarer Intuition den Weitzusammenhang und seine 
Selbstvemichtungszweeke durchschauen'^ (79). Nur ist das noch 
nicht consequent genug. Denn wenn er doch einmal die natur- 
gesetzliche materielle Organisation als Bedingung des Bewusstseins 
und den Widerspruch eines unfehlbaren Bewusstseins ausser Acht 
lässt, so hätte er die fragliche unfehlbare Intuition lieber gleich im 
AU-Einen selber suchen sollen, wie er denn auch meint, dass die 
Piremtion desselben zur blossen Zweiheit (anstatt des Luxus der 



220 ^* Schopenhaaerianisxnas. 

Vielheit) hätte genügen müssen (69). Auf diese Weise käme man 
auf die ewige Zweiheit der Attribute zurück, und der Weltprocess 
erschiene als tibei'fltissig für den Weltzweck; genauer besehen hört 
aber bei geleugneter Zweckmässigkeit der Individuation und des Pro- 
cesses auch der Zweck auf, Zweck zu sein, weil dieser BegriflF erst 
in der Correlation zu dem hier wegfallenden Mittel (der Individuation 
und dem Process) besteht, und es wäre nicht zu sagen, was dann 
überhaupt ausser der absoluten Substanz mit ihren zwei Attributen 
noch für den Gedanken übrig bliebe. Erkennt man dagegen an, 
dass für einen Zweck auch ein Mittel logisch gefordert ist, dass 
dieses Mittel hier die Entwickelung eines hohen Bewusstseinsgrades 
ist, dass die Voraussetzung zu diesem aber eine materielle Organi- 
sation von Constanten Functionen und Beactionsweisen, die Bedingung 
hierzu aber vor Allem dieConstanz der unorganischen Naturgesetze 
sei, dann ist die ausnahmslose Gesetzmässigkeit als logisch ge- 
forderter fundamentaler Mechanismus für die Teleologie erwiesen, 
dessen Integrität unter allen Umständen respectirt werden muss, 
wenn überhaupt ein teleologischer Process möglich «ein soll. 

Nicht das kann in Frage gestellt werden, ob ein logischer 
Complex von Naturgesetzen dem teleologischen Process zur Basis 
dienen müsse, sondern nur darum handelt es sich, welcher Art 
dieser Gesetzescompiex sein müsse, erstens um überhaupt den End- 
zweck nicht zu verfehlen, und zweitens, um denselben in möglichst 
zweckmässiger Weise zu erreichen. Es ist klar, dass, wenn der 
teleologische Process einmal an die Bedingung einer naturgesetz- 
lichen Basis geknüpft ist, ein scheinbarer Mangel an Zweckmässig- 
keit im Einzelnen nicht mehr als negative Instanz geltend gemacht 
werden kann, sobald nur einerseits die scheinbare Unzweckmädsig- 
keit erweislich eine nothwendige Folge der fundamentalen Natur- 
gesetze ist, und zweitens durch dieselbe der teleologische Process 
im Ganzen nicht zwecklos gemacht, d. h nicht an der Erfüllung 
seines Zweckes gehindert wird. Beide Merkmale sind an den 
scheinbaren Unzweckmässigkeiten der Natur und Geschichte erfüllt, 
wir wissen, dass sie nothwendige Folgen der Naturgesetze sind, 
und wir sehen täglich, dass sie nicht im Stande sind, den Entwicke- 
lungsgang des Grossen und Ganzen auch nur zu stören. Dies gilt 
beispielsweise auch für die in anthropologischer Hinsicht zurück- 
gebliebenen Stämme, welche ruhig als unschädliche (keineswegs 



Bahnsen^s charakterologischer Individualismus. 221 

„lästige" — S. 20) Residuen fortvegetiren, bis ihnen die Stunde der 
Ausrottung schlägt, wo höhere Racen ihr Gebiet für die Cultur 
occupiren (45); sie haben ihre geschichtliche Aufgabe erfüllt, als 
sie vor Jahrtausenden den mit ihnen damals auf gleicher Culturstufe 
stehenden, aber günstiger veranlagten Culturracen als Stimulans in 
jenem Kampf um's Dasein dienten, vermittelst dessen letztere ihre 
Anlagen zur Entfaltung gebracht haben (45 Anm.). Ferner gilt es 
fttr lange Zeit hinträumende, stagnirende Culturnationen (Chinesen, 
Inder), die vielleicht nicht einer blossen Ausrottung, sondern zu 
positiven Culturimpulsen aufbewahrt blieben, welche sie durch ihre 
geretteten Culturdenkmäler den fortgeschrittensten Racen zu ertheilen 
im Stande sind. 

Hiermit ist erwiesen, dass der bestehende Complex von Natur- 
gesetzen ein solcher ist, welcher unzweifelhaft geeignet ist, den 
Zweck der Steigerung des Bewusstseins zu fördern, und dies muss 
nns zur Anerkennung des teleologischen Charakters der Naturgesetze 
genügen; denn ob dieselben wirklich die diesem Zweck am besten 
dienenden sind, können wir niemals direct constatiren, sondern 
höchstens indirect durch Rückschlüsse wahrscheinlich machen. 

Wenn nun Bahnsen mir zugestehen muss, dass für meinen 
Weltzweck ein hochentwickeltes Bewusstsein als Mittel unentbehrlich, 
dieses aber einen Organismus mit hochentfaltetem Gehirn, und dieser 
wiederum eine nach constanten Naturgesetzen sich bewegende reale 
Materie voraussetzt, so kann er gar nicht umhin, einzugestehen, dass 
die absolute Constanz der Naturgesetze eine unmittelbare Re- 
sorption derjenigen Individuen höherer und niederer Ordnung, 
welche dem Entwickelungszweck des Ganzen nicht mehr dienen, 
oder gar widerstreben, gar nicht zulässt. Zur Constanz der 
Naturgesetze gehört unter anderm die Constanz der materiellen 
Atome für die Dauer des Weltprocesses, und aus der absoluten Con- 
stanz der Atome, welche einen Organismus constituiren, und der ab- 
soluten Constanz der Gesetze, nach welchen sie functioniren, folgt 
eine relative Constanz der formellen Constitution des Organis- 
mus und seines Gehirns während einer längeren Periode seines Le- 
bens (von der vollen Reife bis zum Eintritt der Greisenhaftigkeit). 
Diese Lebensperiode aber ist es gerade, innerhalb welcher das In- 
dividuum berufen ist, in den Process einzugreifen; ist nun sein 
Charakter, seine Grundsätze und Anschauungen einmal unter Ein- 



223 B. S€lK>penhaueriaiiismii& 

ilüssen gebildet^ welche zn seiner Jugendzeit vernünftig waren, s^^ 
functionirt sein Gehirn wesentlich in Gemässheit der einmal e:^\ 
langten Constitution in der zweiten Hälfte seines Lebens weiter, ^^ci 
vielleicht die Tendenzen, welchen das Individuum seine Dienste ge- 
widmet bat, bereits überwundener Standpunkt geworden sind. Gleicü- 
wobl ist auch hier die Wirkung nicht eine rein vemunftlose, sondern eine 
negativ-vernünftige, stimulirende, ftlr diejenigen Individuen, welehc 
das positiv Vernünftige der Periode vertreten. So giebt die Bedingt- 
heit des Geistes und Charakters durch das Gehirn und die relative 
Constanz des Gehirns (namentlich in der zweiten Hälfte des Indi- 
viduallebens) eine ausreichende Erklärung daftlr, dass das Individnam 
dem Process gegenüber eine gewisse Selbstständigkeit behauptet. 

Dazu kommt, dass die reale Vemünftigkeit jeder Geschichts- 
periode ja nicht eine ruhend seiende, sondern eine im Process (z. B. 
im Kampf um's Dasein) sich erzeugende oder realisirende ist. Dies 
hat zum Theil eine pädagogische Begründung, indem nur durch den 
. Zwang zum Kampf und zum eigenen Erringen des Vernünftigen die 
Individuen ihre bewusste Vernunftthätigkeit schärfen und dadurch 
ihre Gehimorganisation und Geistescapaeität erhöhen können; z\m 
andern Theil liegt es aber auch darin begründet, dass die Be- 
schränktheit der Individuen jedem einzelnen nur eine mehr oder 
minder einseitige Ausprägung des Vernünftigen gestattet, so dass die 
Totalität der Vernünftigkeit der Epoche erst in der Zusammen- 
fassung der vielen Individualvernünftigkeiten sich darstellt, welche 
nicht als Summe, sondern als wechselseitige Durchdringung, d. h. 
als Ergänzung im geistigen Kampf zu verstehen ist. Die unmittel- 
bare Verwachsung von Geist und Charakter im Gehirn bringt es 
mit sich, dass der Kampf der Ideen, so wie er durch Individuen 
geführt wird, zugleich ein Kampf der Strebungen, d. h. ein realer 
Conflict wird, was für die Zwecke des Processes nicht nur nicht 
hemmend, sondern sogar fördernd wirkt. Ich für mein Theil kann 
mir eine Verwirklichung der Vernunft im Process durch viele reale 
Individuen gar nicht anders vorstellen, als dass die reale Ver- 
nünftigkeit sich aus dem realen Conflict des mehr und minder Ver- 
nünftigen inmier neu erzeugt, um durch immer neue VernichtungSr 
kämpfe auf immer höhere geschichtliche Stufen zu gelangen. Jede 
andere Vorstellungsweise lässt die Bealität und Beschränktheit der 
Individuen ausser Acht, welche einerseits zwar als reelle Vertreter 



Bahnsen's charakt^ologlscher Tndividualismus. 223 

yon Yernimfi in die Schranken treten, andererseits jedoch nur eine 
partielle Vernunft zu fassen und zu repräsentiren vermögen. 

Allerdings gehört zu dieser Auffassung die Voraussetzung, dass 
der Begriff des concret Vemtlnftigen selbst, in seiner geschichtlichen 
Erscheinung gefasst, e&an^ Stufenganges fähig sei, eine Voraus- 
setzung, die von Bahnsen gleichfalls bekämpft wird (74—75 u. 78.) 
Nach meiner Ansicht ist das Logische ein Formalprincip, das be- 
stimmend wird fUr den intuitiven Inhalt der Idee, sobald dieselbe 
actuell wird; dies wird sie aber erst, wenn ihre logische Energie 
durch die Erhebung des Unlogischen soUicitirt wird zur Selbst- 
bethätigung im negativen Sinne. So findet das logische Formal- 
princip seine erste Anwendung am Unlogischen, und sie besteht in 
der Aufteilung der Negation desselben als logischen Postulats. 
Dieses Postulat wird „Zweck", insofern das Logische es durch die 
Idee eines Mittels zu seiner Verwirklichung ergänzt. Die Teleologie 
ist also die auf das Unlogische angewandte Logik. Nun ist zwar 
das logische Formalprincip ewig mit sich identisch, ebenso ist der 
absolute Zweck immer nur Einer, und während des ganzen Pro- 
cessus derselbe ; dagegen zerfällt „das absolute Mittel" in eine grosse 
Kette von Mittelzwecken und Zweckmitteln, welche zwar in der ab- 
soluten Idee gar nicht explicirt werden, sondern bloss implicite in 
der Intuition jedes Moments enthalten sind, aber doch in der realen 
Zeitreihe des Weltprocesses nacheinander zur Entfaltung ge- 
langen. Abgesehen von aller realen Zeit würde freilich gar keine 
Bealisirung des Zweckes möglich sein; aber diese Unmöglich- 
keit als möglich ^set^, gäbe es dann nur logische, keine historische 
Kategorien. Sowie wir jedoch in die reale Zeitreihe des Processes, 
d. h. in die Geschleifte eintreten, muss, dem Begriff der Entwickelaug 
gemäss, unbeschadet der Constanz des Logischen als Formalprincips 
und unbeschadet der Constanz des absoluten Zwecks, doch in jedem 
Augenblick ein anderer Weltinhalt das absolut vernünftige Mittel 
zum absoluten Zweck sein, d. h. das concret Vernünftige in 
der Geschichte ändert sich beständig, während das abstract 
Vernünftige, oder das Logische unter Abstraction vom geschichtlichen 
Process, sich gleich bleibt. 

Bahnsen hat sich speoiell an den Ausdruck „historische 
Kategorie" gestossen, den ich von Arnold Rüge übernommen 
habe, um mir die Verweisung auf dessen Kritik der HegeFscheu 



•v 



224 B. Schopenhauerianismas. 

Staatslehre bequemer zu machen. Der Ausdruck ist anstössig, 
wenn man „Kategorie" streng auf das Gebiet der Schullogik be- 
schränken will; ganz unbedenklich^ wenn man den Sprachgebraucli 
erwägt, der von Kategorien von Büchern, Dienstboten u. dergl. 
spricht. Ich verstehe unter „historischen Kategorien" abstracte For- 
men des geschichtlichen Lebens, wie z. B. Stadtrepublik; constitu- 
tioncUe Monarchie, Papstthum, Presbyterialkirche, Zunftwesen, Ge- 
werbefreiheit u. dgl, welche vernünftig sind nur unter gewissen ge- 
schichtlichen Zuständen und Voraussetzungen, aber unvernünftig 
werden, wo man sie bei Ermangelung dieser Voraussetzungen ein- 
fahren will. Mit Land und Leuten, Racentypus und Bildungsstufe 
ändern sich die Zwecke, denen die geschichtliche Partialentwickelung 
zustrebt, wie sich der Zweck für die Individualentwickelung einer 
Pflanze mit der Versetzung in andern Boden ändert (69) ; aber diese 
Modification der partiellen Mittelzwecke alterirt so wenig die Con- 
stanz des absoluten Zwecks und der zu ihm hinleitenden Gesetze, 
dass sie vielmehr grade durch letztere bedingt ist, insofern der 
constante Zweck andere Mittel bei geschichtlicher Wandelung der 
Verhältnisse logisch postulirt. 



7* Die Nebenherläofer der Entwickelungr. 

Wenn sich Bahnsen gegen diese doch fast trivial zu nennende 
Unterscheidung zwischen logisch und historisch, abstract vernünftig 
und concret vernünftig, nicht so hartnäckig verschlossen hätte, so 
würde ihm auch das Verständniss für die Mögliohfeeit geschichtlicher 
Widerstände in einer vernünftigen realen EiÄwickelung nicht so 
schwer gefallen sein, und würde er sich^ nebenbei bemerkt, auch 
seine Bemängelung (S. 9) meines RechtsbegriflFcs erspart haben, bei 
dem die gleiche Unterscheidung seine Bedenken erledigt (vgl 39—40). 
Wenn er andrerseits sich der Einsicht eröflfhet hätte, dass die Aus- 
bildung verschiedener Seiten der logischen Idee in der Wirklich- 
keit auf verschiedene Menschen, Nationen, Bacen und Geschichts- 
perioden vertheilt sein müsse, ohne doch in ihren Besultaten den 
lezten Erben der ganzen Menschheitsentwickelung verloren zu gehen, 
so würde er es auch unterlassen haben, die Geschichte der Kunst 
als ein in die Entwickelung der Idee nicht passendes Moment, als 
eine den Evolutionismus widerlegende Instanz anzuführen (43 — 44). 



Bahnsen's charakterologischer IndiYidualismus. 225 

Die Frage, ob die künstlerische Production schon jetzt einer abso* 
laten Erschöpfnng entgegengehe, oder ob diese Erschöpfung eine 
nur relative in Bezog auf die Ideen unserer Gulturepoche sei, mag 
ganz dahingestellt bleiben; es verräth auf alle Fälle ein geringes 
Verstän(hiiss von dem universellen und unersetzlichen Bildungswerth 
der Kunst ftlr den Menschengeist, wenn man die Geschichte der 
Kunst als einen „Nebenherläufer'' (44) aus der gradlinigen Stei- 
gerung des Bewusstseins hinauswerfen zu können meint Die ästhe- 
tische Bildung ist ein gs^z wesentlicher Factor ftlr die Bildung des 
Intellects überhaupt und ftlr die Erhöhung seines Niveaus, dient also 
in ganz unverkennbarer Weise dem Zweck des Weltprocesses, auch 
dann noch, wenn eine Periode künstlerisch unproductiv geworden 
ist und sich nur noch an den Kunstschätzen der Vergangenheit er- 
hebt und veredelt. Je reicher und vielseitiger diese Vergangenheit 
wird, um so bedeutender muss ihr Einflnss werden; ein Hellene, 
der bloss Phidias und Sophokles kannte, war offenbar in einer weit 
einseitigeren ästhetischen Bildung befangen, als wir, die wir Raphael 
und die Niederländer, Shakespeare, Schiller und Goethe, Bach, 
Mozart und Beethoven zu jenen noch dazu besitzen. 

Schon diese Erwägung allein würde genügen, um Bahnsen's 
Lieblingsspruch: „Alles schon dagewesen^' zu Schanden zu machen, 
und die Ungerechtigkeit seiner Behauptung darzuthun, dass „die 
postulirte Bildungshöhe gewisser Orten schon vor Jahrtausenden in 
einem Umfang erreicht war, dass damit verglichen der vielgeprie- 
seue Durchschnittaatondpunkt der Menschheit unsrer Gegenwart als 
ein Bückschritt e^li^en kann'' (81). Wenn einer von uns jetzt 
in die Blüthenzeit von Hellas zurückversetzt werden könnte, er 
würde es unter diesQi b<%enlosen Architektur, dieser harmonielosen 
Musik, diesen undramatischen Musikdramen, dieser ausschliesslich 
plastischen Kunstanschauung, in dieser frauenlosen Gesellschaft, in 
diesem auf dem Fundament der Sclaverei errichteten Gemeinwesen 
mit seiner widerlichen Demagogenwirthschaft nicht drei Tage aus- 
halten, ohne sich in unser weit reicheres, humaneres und geordne- 
teres Leben schmerzlich zurückzusehnen. Harmonischer war damals 
allerdings das Leben der freien Bürger männlichen Geschlechts, 
aber die Harmonie ward eben nur dadurch so viel leichter errungen, 
weil die zu versöhnenden Elemente so viel wenigere waren, weil das 
Leben als Ganzes so viel ärmer war. 

£• T. Haritmann, Erl&atenuigeiu 2. Aufl. 15 



226 B. Schopenhauerianismas. 

Ausserdem dass die Kunst direct an der Bildung des Geistes 
und dadurch an der Steigerung des intellectuellen Niveaus mit- 
arbeitet, hat sie aber auch noch den zweiten indirecten Nutzen für 
den Process, dass sie die reinsten und edelsten Freuden auf den 
Pfad der Kämpfenden ausstreut, ihre Erholungspausen wtlrzt und sie 
mit frischer Kraft zu fernerem Ringen versieht. So hat die Kunst 
nicht bloss eine eudämonologische Bedeutung, insofern den Stampfern 
Genüsse gewährt werden, die den Zweck des Processes nicht schä- 
digen, sondern sie ist auch eine sollicitirende Macht, welche die 
Bingenden stärkt, wie der Becher Wein oder der Trunk Quellwasser 
den ermattenden Krieger auf dem Schlachtfeld, und dieser Nutzen 
ist wahrlich nicht gering zu veranschlagen. Sie ftlr einen Nebenher- 
läufer ohne logischen Zweck und Sinn zu halten, wie Bahnsen thnt, 
zeigt also in doppelter Hinsicht einen Mangel an Ueberlegung. Man 
kann die zuletzt erwähnte Bedeutung der Kunst sogar noch flir 
solche anscheinende „Nebenherläufer'' des Processes gelten lassen, 
von denen nicht, wie von der Kunst, ein unmittelbarer Nutzen für 
den Process zu erkennen ist, ftlr die sogenannten „Steckenpferde'' 
der Menschen, die ftlr die Erwachsenen etwa dasselbe bedeuten, wie 
ftlr die Kinder das Spielen. Was kann ein rührenderes Zeugniss 
für die Vorsorge der Weisheit geben, als dass sie auch dem Geistes- 
ärmeren ohne tiefere künstlerische und wissenschaftliche Bedttrfiiisse 
in seinem „Steckenpferde" ein Surrogat jener gönnt, in dessen Ver- 
folgung sein Wille eine Befriedigung, eine behagliche Ausfüllung 
seiner Müsse findet, und dessen beraubt er sich unglücklich und 
deprimirt auch fdr die Erfüllung seiner Berufspflichten f&hlen 
würde. 

Völlig werthlose „Nebenherläufer" der Entwickelung erkenne 
ich nur insofern an, als aus dem unentbehrlichen Fundament der 
Teleologie, den zweckmässigen Naturgesetzen, unvermeidlicher Weise 
ausser den dem Fortschritt unmittelbar dienenden Gebilden auch 
andere hervorgehen, welche dem Naturzweck nicht dienen, denselben 
aber auch nicht hemmen können, weil sie resorbirt werden, sobald 
die von ihnen occupirten Lebensbedingungen für andere dem Prooess 
dienende Factoren in Anspruch genommen werden. Diese ,^eben- 
herläufer" sind aber gleichfalls nicht „unlogisch" zu nennen (S. 44), 
denn sie sind, obwohl selbst nicht Mittel zum Zweck, doch lo- 
gische Gon Sequenzen des logisch geforderten Ur- and 



Bahnsen's charakterologischer Individualismus. 227 

Grandmittels. Sie schliessen also keineswegs ein Zugeständniss 
des Unlogischen im Inhalt des Weltprocesses in sich, wie Bahnsen 
S. 44 meint^ und können nicht in Analogie gestellt werden nut 
seiner inconsequenten Einräumung einer ^^partiellen Weltvernunft'^^ 
(44) die sich ebenso wenig mit seiner Realdialectik wie mit seiner 
Restriction des Logischen auf die subjectiv-psychologische Sphäre 
(S. 2) vereinigen lässt. 

Hiemach können die ,,NebenherIäufer'' der Entwickelung ebenso 
wenig wie die „Widerstände" derselben einen Einwurf gegen den 
monistischen Evolutionismus bilden, und noch weniger als die ethi- 
sehen Gesichtspunkte eine individualistische Metaphysik begründen. 

8. Indiyidaallsmas und Monismus« 

Aller Individualismus muss unerbittlich an der Relativität des 
IndividuaEtätsbegriffes seheitern, wie solche von Haeckel und mir nach- 
gewiesen worden ist. Gegen diese Erkenntniss steckt Bahnsen den 
Kopf unter den Flügel, wie der Strauss vor der Todesgefahr, d. h. 
er erwähnt dieselbe mit keiner Sylbe. Der Materialismus, der als 
ewige Monaden nur die materiellen Atome kennt, und die Indi- 
viduen bloss aus Atomen materieller Art constituirt sein lässt, hat 
mit der Ewigkeit der Monaden keine Noth ; aber eine metaphysische 
Monadologie, die von der substantiellen Selbstständigkeit des mensch- 
lichen Individualwesens ihren Ausgang nimmt (mag sie dasselbe 
nun, wie Bahnsen, als charakterologisch bestimmten Willen, oder, 
wie Herbart, als Vorstellungsvermögen denken), wird immer in die 
Schwierigkeit gerathen, was sie mit den ewigen Monaden vor und 
nach ihrem empirisch gegebenen Individualleben anfangen solle. 
Das Wesen, das sich einmal einen ihm adäquaten Leib geschaffen, 
wird es auch öfter thun, und so ist die Seelen Wanderung eine 

von dem Individualismus unabtrepnbare Doctrin."^) Ein charaktero- 

* 

logischer Individualismus findet freilich an der Unterbrechung der 
Continuität keine Schwierigkeit, aber die ewige Gonstanz des Cha- 



*) Mit achtungswerthem Muth ist dies eingestanden in einem kürzlich er- 
schienenen Buche: ,JBine Philosophie des gesunden Menschenverstandes. Gedan- 
ken über das Wesen der menschlichen Erscheinung^^ von Lazar B. Hellenbach, 
welcher, ohne von Bahnsen zu wissen, gleichfalls auf Schopenhauer'scher Grund- 
lage einen realistischen Individualismus zu errichten versucht 

15» 



228 ^* SchopenhftaeiiaaiiBmHS. 

ri^ters nöthigt üua die fernere Annalime auf, dass die TenK^iedenen 
Leiber und empirisefaen Charaktere, welche eine und dieselbe Monade 
iü ihren yerschied^en Erscbeinungsphasen annimmt, einander yöUig 
identisoh sein müssen, mit Ausnahme der durch die yerschiedene 
Erscheiiiinngszeit ausgeschlossene numerischen Identität. Dies mm 
erschwert sehr die Unterbringung der menschlichen Monaden vor 
der Zeit der Entstehung des Menschen auf der Erde; denn die 
Seelenwanderung durch tfaierische Organismen ist durch die Censtanz 
des Charakters und die Gongruenz von Wesen und Erseheinimg 
zweifellos ausgeschlossen. Die weiteren Schwierigkeiten, welche 
durch die Erblichkeit der Charaktereigenschaften entspringen, will 
ich nur andeuten ; sie führen zur Wiederkehr gleicher Reihenfolgen 
oder Serien der Y^leibliefaung ewig verwaadter Monaden, die nach 
ihrer Wesens- und Charakterverwandtschaft sich seit Ewigkeit her 
so zusammengefunden haben, und die Comödie ihrer gegenseitigen 
Scheinzeugung von Ewigkeit zu Ewigkeit auf den verschiedensten 
Weltkörpern in ermüdender Gleichförmigkeit wiederholen. Man 
sieht: je weiter man sich in die Consequenzen des metaphysische 
Individualismus vertieft, in desto abstrusere Hypothesen wird man 
unausweichlich verstrickt, und desto weiter entfernt man sich von 
derjenigen Auffassung der Individualität, welche durch den gegen- 
wärtigen Stand der Naturwissenschaft und Naturphilosophie als die 
einzig haltbare gegeben scheint. 

Da Bahnsen die Lehre von der Relativität der Individualittt 
völlig ignorirt, so weiss ich nicht, wie er sich zu den bei Lengniuig 
derselben unlösbaren Fragen nach der Individualität zusanunen- 
gesetzter Organismen stellt, und ob er z. B. die Individualität eines 
Bandwurmgliedes, eines Baumsprosses oder einer Zelle anerkennt 
Gewiss aber ist es, dass er die monadologische Selbstständigkeit 
der materiellen Atome anerkennt, und diese gentigt, um das durch 
die Ineinanderschachtelung der Ibdividuen entspringende Problem 
klar zu machen. Indem beispielsweise der menschliche Individnal- 
wille sich verleiblicht, bildet er sich einen aus materiellen Atomen, 
also Individuen niederer Ordnung bestehenden Organismus an; er 
ninmit also die Stelle eines Herrschers unter diesen Individuen, oder 
die einer Centralmonade unter den vielen Monaden seines Leibes 
ein, und hat die letzteren so im Sinne eines organisirenden Prindps 
zu leiten, dass die Constitution des OrganismnB genau sdnen 



BalmBen^B ohAFakterologiseker tadividaalismud. 2^ 

Charakter widerspiegelt. Wober soll aber ein Individanm die Fällig- 
keit nehmen^ die Vorsehang einer Menge anderer zu spielen, oder 
ihre natnrgesetzmässigen Functionen im Sinne einer organisirenden 
Lebenskraft za dirigiren und zu verwerthen? Schon das Auf- 
einanderwirken überhaupt ist zwischen getrennten Substanzen ohne 
ein absolutes Einigungsband unbegreiflich genug, aber eine solche 
Herrsehaik von Centralmonaden würde dem Glauben allzuviel zu- 
muthen. Anders wenn die Atome nur individualisirte Acte des All- 
Eioen sind, und die organisirende Function vom AU-Einen selbst 
aoflgeht ; dann ist der Zusammenhang sofort verständlich und natur- 
gemäss. 

Herbart und Bahnsen, die beide die Relativität des Individuali- 
tät8begri& ignoriren zu können glaubten, müssen darum beide auf 
Leibniz zurückgehen, der dieselbe anerkannte — nicht bloss nach 
unten, sondern auch nach oben, — und der trotz seiner Aufstellung 
einer absoluten Centraknonade (als Schöpfer der übrigen) doch phi- 
losophische Selbstverleugnung genug besass, um das Wirken der 
Monaden anf dnander als unmöglich zuzugestehen und die prästa- 
bilirte Harmonie an ihre Stelle zu setzen (welche doch auch wieder 
ia anderer Art die vom Individualismus geträumte Selbstständigkeit 
des Seins und Handelns aufhebt). Sobald das Leibniz'sche System 
mit der Absolntheit der Gentralmonade Ernst macht, verwandelt sich 
die prästabilirte Harmonie in eine dauernde logische Determination 
alleä Daseins aus seiner centralen Wurzel, und die einmalige 
Schöpfung in eine stetige. Setzung, d. h. die abgeleiteten Substanzen 
in Positionen oder Acte des Absoluten, und die Monadologie wandelt 
sieh wieder in einen Monismus um, in welchem alle Stufen von 
lAcmaden oder Individuen gleich wenig Snbstantialität und Selbst- 
ständigkeit haben. 

Derselbe Process würde dem Individualismus Bahnsen's nicht 
erspart bleiben, wenn sein Urheber sich nicht vor dem mahnenden 
Weckruf der dringendsten metaphysischen Probleme einfach die 
Ohren zuhielte. 

Bahnsen behauptet mir gegenüber, das Wunder der AseXtät 
oder der Ursprünglichkeit des Seins werde dadurch um nichts 
wanderbarer, wenn es unzählige Male, als wenn es einmal 
vor uns steht. Dem kann ich '^entschieden nicht beipflichten. Das 
Unglaubliche, Unerhörte, Unvermuthete und schlechthin Unwidur- 



230 ^* Schopenhaaerianismus. 

scheinliche wilrd um so toller, nnd dreht unser Gehirn in um so 
schwindelnderen Kreisen, je öfter es sich vor unserm erstaunten 
Blicke zeigt Aber sei dem, wie ihm wolle, so bleibt doch Ein 
Punkt übrig, der bei der blossen Zurückweisung einer zahllosen 
Vervielfältigung des Wunders noch gar nicht zur Sprache gebracht 
ist, das ist die Homogenität der Essenz in den vielen ursprüng- 
lichen, und in ihrer ewigen AseMt von einander ganz unabhängigen 
Substanzen. Diese Homogenität aller Monaden erkennt Bahnsen 
ausdrücklich an; da sein Pluralismus nur aus der Zersplittemng 
des Schopenhauer'schen Monismus hervorgegangen ist, so sind aucli 
seine Individuen sämmtlich Bruchstücke des Schopenhaner'scben 
Willens, und er erkennt an (S. 67), dass diese Gleichartigkeit Be- 
dingung fUr ein lebendiges Verhältniss, ftlr eine Wechselwirkung 
der Individuen unter einander sei (obschon es ein Irrthum von ihm 
ist, sie fUr deren zureichenden Grund zu halten). 

Nun ist aber nur zweierlei möglich: entweder die Monaden 
haben wirklich AseYtät im strengsten Sinne, oder aber sie sind reelle 
Bruchstücke einer ursprünglich einig und ganz gewesenen, und in 
unvordenklichen Zeiten in die Brüche gegangenen absoluten Substanz. 
Im ersteren Fall ist die Willensnatur in jeder der vielen Substanzen 
ebenso grundlos wie ihre Existenz; es würde sich also damit, dass 
alle die zahllosen Substanzen die nämliche homogene BeschaiSenheit 
zeigen, ein Fall von so ausserordentlich kleiner apriorischer Wahr- 
scheinlichkeit verwirklicht finden, dass die fast absolute Unwahr- 
scheinlichkeit desselben, zu der rein numerischen Multiplication des 
Wunders der grundlosen Existenz addirt, diese Hypothese als eine 
wissenschaftlich unbrauchbare und verfehlte charakterisirt. Im an- 
dern Falle wäre zwar die Homogenität erklärt, aber doch nur auf 
Kosten derAsel'tät, auf welche der metaphysische Individualis- 
mus einen so hohen Werth legt, und auf Kosten des Zugeständnisses, 
dass ohne Monismus als Basis keinerlei metaphysi- 
sches System zu errichten sei. 

Ich lasse die Schwierigkeit bei Seite, wodurch ein ursprünglich 
Eines dazu gebracht werden könne, sich zur Vielheit zu zersplittern, 
und ob eine solche metaphysische Selbstsprengung in getrennte 
Substanzen überhaupt als möglich gedacht werden könne. Ich 
weise nur darauf hin, dass, sobald das Eine sich in viele substantiell 
getrennte Theile zerspalten hätte, auch jede Beziehung , jedes 



ßahnsen^s charaktefologischer tndiyiduftlismas. 231 

Verhältniss zwischen diesen disjedis membris dei aufhören müsste, 
wogegen die Gleichartigkeit der Theile keinen Einwand begründen 
kann. Besteht eine lebendige Wechselwirkung, welche sogar, wie 
Bahnsen zugesteht, in einer Tendenz zur Vereinigung oder 
ZOT Restitution der reinen Einheit gipfelt, so ist das ein sicherer 
Beweis, dass das Eine als solches wirklich noch fortbesteht, und 
die Vielheit nur seine eine, und zwar äussere Seite ist. Nur die 
Fortdauer des Einen als solchen in einer ttber die Sphäre der 
Individnation erhabenen Sphäre kann das vereinigende Band ab- 
geben, welches die Individuen mit einander verknüpft und ihr 
Wirken auf einander ermöglicht. Absolut getrennte Viele können 
ebenso wenig zur Einheit gelangen oder auch nur tendiren, 
wie ein Eines sich zur substantiellen Vielheit zersprengen kann. 
Haben nach Bahnsen die Individuen die Einheitstendenz wie eine 
Art Reminiscenz aus der Zeit ihres realen Einsseins übrig behalten, 
so hätte eben diese Tendenz genügen müssen, um jede Velleität 
zum Uebergang aus dem Zustande der Einheit in den der Vielheit 
im Keime zu esrsticken. Besteht aber die Einheit der Substanz 
noch fort, dann ist die exacte Alternative zwischen Pluralismus und 
Monismus thatsächlich nach der entgegengesetzten Seite entschieden, 
als Bahnsen will; dann ist das Prädicat der Substantialität fflr das 
Individuum nicht mehr disponibel, d. h. der Individualismus ist in 
sein Gegentheil, den Monismus umgeschlagen. 

Sobald dieser Schritt im Princip vollzogen ist, verschwinden 
alle Schwierigkeiten, welche dem Standpunkt des Individualismus 
anhaften. Dass auch im Monismus die Atome ihre stetige Dauer 
während des ganzen Weltprocesses behalten müssen, ist schon oben 
bemerkt; es ist dies nur eine besondere Anwendung des logischen 
Postulats, dass für den Zweck des bewussten Intellects und der 
Organisation die anorganische Natur mit ausnahmloser Gonstanz der 
Gesetze als Basis unentbehrlich sei. Ohne Continuität der Existenz 
der Atome könnte nämlich von Gonstanz der Naturgesetze gar keine 
Rede sein; in dem Augenblick, wo ein Atom verschwände und ein 
anderes wo anders auftauchte, wäre die Naturgesetzlichkeit und die 
apriorische Berechenbarkeit ihres Mechanismus durchbrochen. Ganz 
anders liegt die Sache bei den verschiedenen Ordnungen und Stufen 
organischer Individualitäten; das Feste an diesen sind allein die 
unorganischen Individuen (Atome), aus denen sie sich erbauen, sie 



232 B. SchopenhaaerianiBmtif. 

selbst aber stellen sich schon empirisch als etwas Entstehendes und 
Vergehendes dar. So müssen wir denn auch annehmen^ dass die 
nnbewnssten psychischen Functionen, welche das All-Eine aaf diese 
organischen Individuen richtet, ebenso einen Anfang und ein Ende 
in der Zeit haben, wie ihr Gegenstand, dass mithin die psychischen 
Individualitäten, welche sich als ein Amalgam aus den Innerlich- 
keiten der den Organismus constituirenden Atome ovd den auf die 
verschiedenen organischen Individualitäten-Gruppen des gesammten 
Organismus gerichteten psychischen Functionen des AU^Einen dar- 
stellen, selbst zeitlich begrenzte, zwischen Entstehen und Vergehen 
des Organismus fallende, objective Phänomene sind, denen eme 
continuirliche Dauer nach Analogie der unorganischen Ür-Individuen 
nicht zugeschrieben werden kann Dieses aus naturphilosophischer 
Betrachtung hervorgehende Eesultat dient demjenigen zur Bestätigung, 
welches wir aus der Kritik der Unterscheidung zwischen intelli- 
giblem und empirischem Charakter, aus der Einsicht in die Unhaltbar- 
keit dieser Trennung und aus der Erkenntniss von der Bedingtheit 
des Charakters durch die ererbte und erworbene Constitution des 
Organismus und insbesondere des Gehirns gewonnen hatten. 

9. Fartielle und universelle Entwiekelung. 

So stellt sich nach allen Seiten heraus, dass. der metaphysische 
Individualismus Bahnsen's nicht nur jeder stichhaltigen Begrtlndung 
entbehrt, sondern dass er sogar die unaufhaltsame Tendenz hat, m 
Monismus umzuschlagen, dass er also in keiner Weise ftlr geeignet 
gelten kann, einen Einspruch gegen den monistischen EvolutionismuB 
zu erheben. Man kann dessenungeachtet seine Bemerkung ganz 
richtig finden, dass unsre Erfahrung über die Kenntnissnahme von 
Individualentwickelungen (z. B. der Menschheit oder unseres PUir 
netensystems) nicht hinausreicht, und dass die „reine'' oder absolute 
Enfwickelung des Universums als solchen nirgends als ein empirisch 
Wirkliches beobachtbar sein kann (58 — 59). Aber man wird darum 
den Begriff der Universalentwickelung ebenso wenig verwerfen 
wollen, wie man denjenigen des Universums deshalb verwirft, weil 
dasselbe uns gar nicht empirisch erkennbar ist, sondern ewig blosses 
Verstandespostulat bleibt 

Was uns mit hinlänglicher inductiver Sicherheit zu der Con- 
ception einer Universalentwickelung ftthrt, ist wiederum die Bdati- 



Bahnsen^s charakterologlscher IndividuftUsmas. 233 

yifät des Indmdaalitätobegriffes, und die allgemeine Wahrheit, das» 
jede Entwickelung eines Individuums niederer Stufe als aufgehobenes 
Moment eingegliedert wird in die höhere und umfassendere Ent-< 
wiekehmg eines Individuums nächst höherer Ordnung. So ist der 
Lebenslauf der Zelle ein GHed in der Entwickelung eines Organs, 
und diese eine partielle Entwickelungsreihe (vielleicht auch nur 
eine zeitlicl^ begrenzte Phase) im Lebenslauf eines Organismus, das 
Leben des Menschen Baustein zum Leben der Nation, dieses zum 
Leben der Bace, dieses zur Gulturentwickelung der Menschheit So 
bilden ferner die niederen Arten und Varietäten Glieder in der 
Stammesgeschichte der höheren, das Leben des Pflanzenreichs und 
das des Thierreichs einander ergänzende und bedingende Bestand- 
theile flir die fortschreitende Organisation der Erde im Ganzen, und 
die Entwickelung der unorganischen und die der organischen Natur 
ineinandergreifende Kader jener natürlichen Totalentwickelung, die 
wiederum zum aufgehobenen Moment in der Universalentwickelung 
herabgesetzt wird, sobald sie als Bedingung und Mittel zur Ent- 
wickelung des Geistes erkannt wird. 

Muss nun diese Betrachtungsweise mit der Individualentwicke- 
lung unseres Planeten abschliessen ? Ist es denn so unmöglich, dase 
auch unser irdisches Geistesleben als befruchtendes Element in eine 
anderartige Entwickelung einer höheren kosmischen Individualität 
eingehe u. s. f. ? Können nicht Bruchstücke unserer vor Kälte zer- 
bröckelten Erde künftigen Bewohnern anderer Planeten die Kunde 
unsrer eigenartigen Kultur zutragen, wie uns die ausgegrabenen 
Thontäfelchen mit unbekannten Schriftzügen unbekannter Sprachen 
jetzt die Poesie und Geschichte längst untergegangener Gulturstaatea 
erschliessen ? Könnte nicht gar die Sonne bestimmt sein, die 
G^istescultur aller ihrer Planetenentwickelungen ebenso in dem Ent- 
wickelungsgange ihrer künftigen Bewohner aufisusaugen und zu 
verwerthen, wie sie bestimmt ist, physisch die Massen ihrer Planeten 
in sich zu absorbiren? Und könnten nicht unsere irdischen oder 
solarischen Nachkommen mit ihren Brüdern auf den Fixsternen 
dereinst eine spektroskopische Telegraphie arrangiren, die zum 
Austausch der Geistesschätze der verschiedenen Planetensysteme 
fährt? Gewiss sind das vorläufig phantastische Träumereien ohne 
alle solide Basis, aber sie bleiben doch wenigstens auf dem Boden 
der natürlichen Wirklichkeit, und verirren sich nicht wie die Conr 



•^ 

^ ' 



234 B. Schopenhanerianisinnft. 

Sequenzen des Bahnsen'schen Individualismus in yöllig mystische 
Gebiete. Sie sollen nur zeigen, dass der Möglichkeiten, die tella- 
rische Entwickelung auch in geistiger Hinsicht in eine kosmische 
einzugliedern, noch gar viele offen stehen, und uns die sichere 
Aussicht nicht zu schrecken braucht, dass auch die Erde einmal 
erstarren wird, wenn der Weltprocess nicht vorher sein Ende 
erreicht. 

Diese Möglichkeit bleibt nämlich auch noch offen, dass der 
Menschengeist allein schon ausreiche, um das Weltziel zu erreichen. 
Meine Weltanschauung ist durchaus nur n o o centrisch, und wird 
nur dadurch anthropocentrisch, weil wir keine Basis ftir die 
positive Annahme haben, dass der Geist gegenwärtig noch wo 
anders als in der Menschheit seine Stätte habe. Es ist nicht nöthig, 
von der Anthropocentricität einer Weltanschauung auf ihre Geo- 
centricität weiter zu schliessen, thut man dies aber, so kann es doch 
nur im Sinne einer moralischen, nicht einer physischen Geocentricität 
sein. '^) Aber selbst anthropocentrisch ist meine Weltanschauung 
keineswegs principiell, sondern nur provisorisch bis zur Erkenntniss 
einer andern Stätte des Geistes ausser oder über der Menschheit; 
die Anthropocentricität ist nichts weiter als eine praktische Ver- 
legenheitsauskunft, die das Ding am nächsten Ende anpackt, wäh- 
rend die principielle Bedeutung meiner Weltanschauung nur als 
noocentrisch bezeichnet werden kann (vgl. Bahnsen S. 46). 

Dass die Entwickelung in realen Verhältnissen, d. h. auf der 
unentbehrlichen Basis constanter Naturgesetze und Atome, keine 
grade Linie sein könne, sondern eine Spirale sein müsse, deren 
Windungen dem minder scharfen Blick leicht als Kreislauf bewegungen 
erscheinen können, das wusste bereits Leibniz. Dass diese Erwei- 
terung des Umfangs oder diese Vergrösserung des Radius nicht in 
infinüum fortgehen kann, darin stinmit Bahnsen (S. 64 — 65) mit 



*) Dies verkennt die anonyme Schrift „Das ünbew. vom Standp. der Phys. 
und Descendenztheorie*' vollständig (S. 46 — 48). Einem Centrum oder Mittel- 
Punkt die Kleinheit zum Vorwurf zu machen, scheint wenig gerechtfertigt, 
und die planetarische Beschaffenheit der Erde mit ] ihrer moralischen Bedeutung 
als geistiges Centrum für unvereinbar erklären zu hören, muthet uns ähnlich an, 
wie etwa die Belehrung thun würde, dass London nicht das politische, wirth- 
Bchaftliche und geistige Centrum der Grossbritannischen Inseln sein könne, da es 
ja in deren südöstlicher Ecke liege. 



Bahnsen's charakterologischer Individaalisinas. 235 

mir überein; nur giebt er den Grund unrichtig an, wenn er ihn in 
der Endlichkeit der Kraft anstatt in dem Widerspruch mit dem 
Begriff der EntwickeluDg und des Zweckes sucht. Denn die Potenz 
des Willens, also auch die Steigerungsfähigkeit der Intensität 
des WoUens ist unendlich, und ebenso die Entfaltungsmöglichkeit 
der Idee; andrerseits aber ist es ein Irrthum von Bahnsen, eine 
Steigerung der absoluten Intensität der Weltkraft bei einer Aus- 
dehnung des Entwickelungsradius ftlr nothwendig zu halten, da nur 
die Stufe der idealen Ausbildung des Weltinhalts sich erhöht, was 
sich sowohl in einer Erhöhuog der Individualtypen, als auch in 
einer gesteigerten Ineinsfassung von Indiyidualent Wickelungen höherer 
Ordnung zu höheren Gesammteotwickelungen ausdrückt. 

Es ist sehr anerkennenswerth, dass Bahnsen es unumwunden 
ausspricht, dass es „nicht mehr lediglich eine Abweichung im Credo 
ist, sondern auf Unterschieden der metaphysischen Grund- 
anschauungen (der individualistischen oder einzelwesent- 
lichen und der monistischen oder all-einheitlichen) ruht, ob man 
eine Erlösungsmöglichkeit annimmt oder nicht'' (65). 
Je mehr es mithin in dem Vorhergehenden gelungen sein sollte, die 
Unverträglichkeit der individualistischen Metaphysik mit der Rela- 
tivität des Individualitätsbegriffes und anderweitigen metaphysischen 
Erwägungen darzuthun, je mehr die monistische Weltanschauung 
sich befestigen und als die allein haltbare erweisen würde, desto 
mehr müsste auch der Gedanke sich zur Gewissheit erheben, dass 
alle Entwickelungen untergeordneter Individuen nur Glieder in der 
Entwickelung des absoluten Individuums sein können, und dass diese 
den absoluten Zweck erfüllen muss. Der Gegner selbst stellt mir 
hiermit das Zeugniss aus, dass einer der am stärksten angefochtenen 
Punkte meines Systems die folgerichtige Gonsequenz meines monisti- 
schen Standpunkts sei. 

Wir kommen nunmehr zu der andern Seite, von der aus Bahnsen 
die Entwickelung bekämpft, nämlich zu seiner Kritik des Logischen 
und dessen Verdrängung durch die Realdialectik. 



10. Die Bealdialeetik* 

Bahnsen verspricht eine nähere Begründung seiner „Real- 
dialectik'' in einem Gyclus realdialectischer Vorträge (57, 18)^ auf deren 



236 B. Schopenhaaerianisinns. 

Yeröffenilichung ich inzwischen fünf Jahre lang vergeblich gewartet 
habe. Vielleicht hat Bahnsen selbst sich inzwischen ttberzeugt, dass 
seine ^^Belege'^ doch nicht reif seien, am y^der wissenschaftlichen 
Prüfung unterbreitet zu werden/^ Wenn man nach dem schliessen 
darf, was er S. 24 — 36 zur vorläufigen Begründung seiner Doctrin 
anführt, so sieht es allerdings mit derselben so schwach bestellt 
aus, dass er klüger gethan hat, seinen Cyclus realdialectischer Vor 
träge in seinem Pult zu verwahren. In der That machen seine 
Beispiele flir den antilogischen Charakter der Wirklichkeit den 
Eindruck, als ob sie aus einem Manuscript früherer Jahrhunderte 
entlehnt seien, und können eine ernsthafte Widerlegung nicht wohl 
beanspruchen. Insoweit aber seine Betrachtungen einigermaassen 
festen Boden unter den Füssen haben, beweisen sie wiederum nichts 
für einen antilogischen oder auch nur alogischen Charakter der 
Wirklichkeit, sondern bestätigen nur die auch von mir aufgestellte 
Behauptung, dass alle Wirklichkeit nur in der Wirksamkeit, die 
Wirksamkeit aber nur im Wirken auf ein Anderes, also im G«gen- 
einanderwirken oder Conflict oder Widerstreit von ganz oder theil- 
weise entgegengesetzten Kräften zu finden sei. Ist nun der Wider- 
streit der Kräfte oder Willensrichtungen Bedingung der Wirklichkeit, 
die Wirklichkeit aber Bedingung der Organisation und damit des 
bewussten Intellects, so ist eben jener Widerstreit der Willens- 
richtungen logisch postulirtes Mittel zum Weltzweck und 
nichts weniger als unlogisch. 

Will man diesen Antagonismus der Kräfte bereits realdialeetisch 
nennen (28), so ist damit eben dem Ausdruck „dialectisch^ ein ganz 
anderer Begriff substituirt, als dies bei Hegers und Bahosen's anti- 
logischer Dialectik der Fall ist, und es scheint mir aus äusseren 
Grilnden der allzu leicht sich einschleichenden Begriffsverschiebung 
nicht empfehlenswerth, einen einmal im antilogischen Sinne ge- 
münzten und gqsrägten Ausdruck nachträglich mit einer den anti- 
logischen Sinn ausschliessenden Bedeutung acceptiren zu wollen, wie 
dies Moritz Venetianer ihut.'*') Widerstreit und Widerspruch ist 



*) „Der Allgeist'' (Berlin, G. Duncker, 1874) S. 214 fg. Yenetianer h&lt 
daran fest, „dass Widersprach sowohl unter mehreren wie in einem Wesen die 
Unmöglichkeit der Realisation zweier Willensrichtungen bedeutet, w&hrend 
ßegel ihn als Bealit&t ausgeben wollte'' (216), und erkl&rt sich gegen Bahnsen's 



Bahnsen's chankterokgiBcher Individaalismos. 237 

tben zweierlei Widerstreit besagt^ dass zwei Sabjecte za gleicher 
Zeit nach Herbeiführung entgegengesetzter Zustände streben ; Wider- 
sprach besagt^ dass ein Subject zu gleicher Zeit entgegengesetzte 
Zustände in derselben Beziehung und an demselben Punkte wirk- 
lich besitzt. Im Widerstreit bekommen die wider einander 
Streitenden beide nicht ihren Willen, und zwar deshalb nicht, 
weil sonst der Widerspruch entstände ; wäre der Widerspruch nichts 
Unmögliches, so hörte die Möglichkeit eines Widerstreits auf, indem 
beide Streitenden ihren Willen bekämen. Wäre also die Realdialectik 
antilogisch, so hörte die Möglichkeit einer Realdialectik auf, weil 
der Widerstand der entgegengesetzten Strebungen gegeneinander 
einzig und allein aus der Unmöglichkeit des Widerspruchs ent- 
springt Die wirkliche Welt als Antagonismus der Kräfte ist mit- 
hin nur auf dem logischen Fundament (der Unmöglicheit des Zu- 
gleichseins des sich Widersprechenden in Einem) möglich, und wenn 
Bahnsen dieses Fundament „durch und durch realdialectisch^ findet 
(28), so hat er damit logisch und [realdialectisch identificirt, muss 
also auf seine antilogischen Velleitäten verzichten. 

Wollte endlich Bahnsen den Einwand erheben, dass bei dem 
Widerstreit von Begehrungen in einer Seele nur ein Subject der 
Träger der entgegengesetzten Bestimmungen sei, so hätte ich darauf 
zu bemerken, dass der Ausdruck „Subject'' so eben nicht in der 
metaphysischen, sondern in der grammatikalischen Bedeutung von 
mir gebraucht worden sei (wo also in der That die Begehrungen 
die Subjecte sind, von denen die entgegengesetzten Bestimmungen 
ausgesagt werden), dass aber auch eine abweichende Auffassung an 



Verwechselung von realdialectisch und antilogisch (217). Er hebt hervor, dass 
sein Panpsychismns Wille und Idee, also Alogisches nnd Logisches unter sich 
begreife, also auch der panpsychologische Process beide Seiten des All-Einen zur 
Geltung bringe (218). In diesem Sinne ist nicht zu bestreiten, dass wenn man 
den absoluten Process als realdialectisch bezeichnet, auch die Seite des Unlogi- 
schen in demselben mitbefasst sei (216). Wenn aber Venetianer weiter folgert, 
dass alles Logische und Unlogische des Processes in logischen und unlogischen 
Ideen ausgedrückt sein müsse, so verwechselt er das absolut Unlogische der 
Form des Processes nach Seiten seiner Existenz mit dem durch dieses absolut 
Unlogische bedingten relativ Unlogischen des Inhalts, d. h. er h&lt ebenso wenig 
wie Bahnsen das abstract und concret Vernünftige, das Logische nnd Historische 
auseinander, nur dass er die Verwirrung auf der entgegengesetzten Seite wie 
Bahnsen begeht, an demjenigen, was überhaupt nicht logisch, und an denjenigen, 
was es zu einer gewissen Zeit und an einem gewissen Ort nicht mehr ist 



238 B. SchopenliaaerianismaB. 

dem Eesultat nichts äsdem würde. Setzt man nämlich die Seele 
oder das psychische Individuum oder auch das All-Eine als Subject 
der entgegengesetzten Bestimmungen, so entsteht darum doch noch 
kein Widerspruch aus dem Widerstreit, weil die Bedingung der 
Definition des Widerspruchs nicht erfüllt ist, dass das Entgegen- 
gesetzte einem und demselben Subject gleichzeitig in derselben 
Beziehung zukomme. So wenig es ein Widerspruch ist, dass der 
Zeigefinger meiner rechten Hand einen Tintenfleck hat, an derselben 
Stelle, wo der der linken Hand keinen hat, so wenig ist es ein 
Widerspruch, dass die eine meiner charakterologischen Triebfedern 
die Befriedigung durch eine Handlung erstrebt, welche von einem 
andern meiner Triebe verabscheut wird. 

Diese Erörterungen dürften ausreichen, zu zeigen, warum das 
Unternehmen aussichtslos ist, eine grundsätzliche Discrepanz zwischen 
den Gesetzen unsres Denkens und den Urgesetzen des realen Ge- 
schehens nachzuweisen (78). Bestände wirklich eine solche Dis- 
crepanz, so wäre die Entstehung der logischen Gesetze des Denkens 
unerklärlich. Das völlig Unvernünftige ist zugleich das völlig Ge- 
setzlose und bietdt allem Unsinn, ja sogar dem zufällig Sinnvollen 
Spielraum (38); selbst eine gewisse prästabilirte Harmonie zwischen 
äusserem Weltlauf und innerem Denkzwang wäre vom Standpunkt 
der Herrschaft des Unsinns nicht ausgeschlossen, könnte aber selbst- 
verständlich für diesen Standpunkt „nur die Bedeutung einer zu- 
fälligen Uebereinstimmung haben'' (38). Dass aber die Beal- 
dialectik Ursache habe, sich dieser weitherzigen Toleranz des 
Unsinns zu rühmen, und sich deshalb über die Logik, die gegen 
das Unlogische so intolerant ist, zu überheben, das wird man grade 
nicht behaupten können ; denn diese Toleranz ist doch mit dem ab- 
soluten Verzicht auf Erklärung, Begründung, Ratiocination und Be- 
rechnung etwas theuer erkauft, und kann nur als die Selbstcastra- 
tion der Vernunft als solcher bezeichnet werden. Wäre es Bahnsen 
Ernst damit, dass die Vernunft bloss noch ein zufällig mit hinein- 
gerathener Lumpen in dem grossen Kehrichthaufen des realdia- 
lectischen Weltunsinns sei, so wäre dies zugleich eine Bankerott- 
erklärung der Philosophie, mit welcher er das Recht verwirkt hätte, 
als Philosoph seine Stimme zu erheben. 

Wir wollen daher zu seinen Gunsten annehmen, dass diese Auf- 
fassung der Realdialectik nur eine einseitige Ueberspannung eines 



Balm8en*s charakterologischer IndividualismuB. 239 

ursprünglich anders gemeinten und enger begrenzten Gedankens sei^ 
dass ihm die Vemunft, seiner ausdrücklichen Erklärung (S. 2) zu- 
wider^ nicht bloss in der subjectiven Sphäre, sondern auch in der 
obiectiven Welt eine bestimmte Geltang habe (44), dass femer die 
Uebereinstimmung zwischen dieser objectiven Weltvernunft und der 
subjectiven Vernunft keine bloss zufällige sei, sondern auf einer 
ebenso wesentlichen und substantiellen Homogenität beruhe, wie die 
Uebereinstimmung aller Individuen in der Willensnatur, und dass 
endlich die Wurzel dieser Uebereinstimmung von objectiver und 
subjectiver Vernunft in der logischen Beschaffenheit des Willens- 
inhalts selber zu suchen sei (38) Auf diese Weise ist Bahnsens 
Fuhrwerk wieder in ein vernünftiges Geleise eingelenkt; aber es ist 
festzuhalten, dass die strengen Gonsequenzen der Bahnsen'schen 
Bealdialectik ebenso tollhäuslerisch sind, als ihre Begrilndung unzu- 
länglich und unhaltbar ist. 

Die von Bahnsen eingeräumte partielle Weltvernunft wird ein 
zwiefaches Gebiet beanspruchen müssen : erstens den Geltungsbereich 
der allgemeinen Naturgesetze und zweitens denjenigen der teleolo- 
gischen Leistungen des Instincts und der organischen Bildungs- 
thätigkeit Was zuerst den letzteren betrifft, so wird Bahnsen seine 
Ansicht von der rein subjectiven Bedeutung der Teleologie ebenso 
corrigiren müssen, wie er diejenige von dem rein subjectiven 
Geltungsbereich des Logischen schon corrigirt hat. In der That 
bleibt ihm gar nichts anders übrig, so lange er an der individua- 
listischen Fundamentaldoctrin fest hält, dass der Individualwille den 
Organismus seinem Charakter adäquat erbaue; denn damit ist ja 
schon eine teleologische Wirksamkeit der Gentralmonade auf die 
übrigen den Organismen constituirenden Monaden behauptet, welche 
in den Aeusserungen des thierischen und geistigen Instincts gewisser- 
maassen nur ihre Fortsetzung nach Beendigung des organischen 
Aufbaues findet. — Hinsichtlich der Naturgesetze ist daran zu er- 
innern, dass die ganze Naturwissenschaft dahin strebt, auf Mechanik 
des Atoms zurückzugehen, diese aber nur Mathematik in ihrer An- 
wendung auf Zeit, Raum und Bewegung, d. h. specielle angewandte 
Logik ist. Die Naturgesetze sind also unzweifelhaft logische Ge- 
setze, und da sie den ganzen Naturprocess determiniren , so 
muss auch der ganze Naturprocess als logisch determinirt 
gelten. 



240 B. 

In der That wird Bahnsen diese Folgerung kaum bestreiten; 
er wird sich nur bemüheU; das Herrschaftsgebiet der Teleologie 
und der Naturgesetze und damit das Herrschaftsgebiet des Logischen 
auf den interindividuellen Process, auf das Geschehen^ soweit 
es aus dem Zusammenwirken und Gegeneinanderwirken der Indiriduen 
hervorgeht, einzuschränken, und das intraindividuelle Ge- 
schehen, d. h. die psychischen Vorgänge innerhalb der Individual- 
seelen, von ihrer Herrschaft auszuschliessen. Bei dem intraindlvi- 
duellen Geschehen ist aber wiederum das Gebiet der subjectiven 
Logik von der Willenssphäre zu sondern; nur für die Kämpfe der 
Begehrungen innerhalb der letzteren würde Bahnsen die realdia- 
lectische Doctrin aufrecht zu erhalten suchen können.''*) Alle inter- 
individuellen Beziehungen würden der objectiven, alles willensfreie 
Denken der subjectiven Logik unterstehen; aber nichtsdestoweniger 
würde innerhalb aller Monaden der psychische Kampf der Sdbst- 
entzweiung und Selbstzerfleischung des Willens dem Logischen zum 
Hohn und sich selbst zur ewigen Qual fortwüthen. 

Aber auch mit dieser Einschränkung wtlrde der Kampf der 
Begehrungen innerhalb der einzelnen Seele nichts Bealdialectisches 
im Sinne eines Antilogischen haben können, weil die obigen all- 
gemeinen Erörterungen auch fllr diesen Fall gültig bleiben. Es 
lässt sich aber ferner auch leicht einsehen, dass eine scharfe Grenze 
zwischen dem interindividuellen und intraindividuellen Geschehen gar 
nicht existirt, dass alles intraindividuelle Geschehen selbst wieder durch 
interindividuelles Geschehen bedingt ist, und deshalb selbst mit unter 
das Herrschaftsgebiet der Logik fällt. Der Widerstreit der Begehrnngen 
entsteht nach dem Motivationsgesetz; dieses ist aber ebenso gut ein 
logisches Naturgesetz wie dasjenige der Gausalität oder des Paral- 
lelogramms der Kräfte. Die Motive sind theils Wahrnehmungen, 
theils Erinnerungsvorstellungen (d. h. gesetzmässige Besiduen früherer 
Wahrnehmungen), theils endlich Besultate logischer Denkprocesse 
auf Grund von Wahrnehmung und Gedächtniss ; in allen drei Fällen 
aber ist ihr Auftreten und ihre Beschaffenheit durch objective und 
subjective Logik bedingt. Naturphilosophisch betrachtet sind alle 
psychischen Vorgänge bedingt durch materielle Processe zwischen 



*) Zu diesem Aasweg neigt eine noch nicht veröffentlichte Abhandlung hiii) 
in welche der Herr Verfasser mir privatim den Einblick gestattet hat 



Bahnsen*« cliarakterologUcher IndiTidualismas. 241 

den Zellen and Moleculen des Gehirns^ d. h. 4arch Vorgänge 
zwischen den Individuen niederer Ordnung^ welche den Organismas 
constituiren, und diese stehen ja auch wieder unter logischen Natur- 
geipetzen. Wie man also auch die Sache betrachten möge, imni^r 
muss der Versuch vergeblich erscheinen, irgend ein Gebiet des 
Makrokosmos oder Mikrokosmos a^ dem Herrschaftsbereich der 
Vernunft und ihrer Gesetze ausschliessen zu wollen. 

Uebrigens vermehrt dieser Ausweg auch noch die Schwierig- 
keiten de9 Individualismus. So lange aller Antagonismus von 
Willens^richtungeU; gleichviel ob diese einem oder mehreren Indi- 
viduen angehören, ftlr realdialectisch gilt, so lange kommt der 
Unterschied zwischen Makrokosmos und Mikrokosmos nicht zur 
Sprache; sobald aber der Antagonismus der Kräfte verschiedener 
Individuen und Atome dem Herrschaftsgebiet der logischen Natur- 
gesetze eingeräumt wird, wird zugleich eine makrokosmische ßeal- 
dialectik preisgegeben, und wird nur noch eine mikrokosmische auf- 
recht zu erhalten versucht. Und doch liegt es auf der P^nd, dass der 
makrokosmische Widerstreit der Kräfte das Vorbild des mikroko9- 
miachen ist, o4er dass mit anderen Worten diß gegen ein%9der 
ringenden Strebungen im Mikrokosmos sich genau in demBclben 
Sinne als constituirende Elemente des Mikrokosmos erweisep, wie 
die mit einander ringenden Mikrokosmen ebe^ durch diesem Kampf 
die Realität des Makrokosmos constituiren. 

Die Einsicht in die Relativität des Individualitätsbegrififes er- 
hebt diese vage Analogie zu einer sichern Erkenntniss, und auch 
die Bs^hnsen'sche Weltanschauung i^t ursprtinglich auf die Fest- 
haltung dieser Analogie angelegt, und auf ihrem Fundament ^i^bf^ut. 
Wäre es wahr, dass die jetzigen Individuen die Producte einer 
Selbstentzweiung des ursprünglich Einen Willens waren, dann mtlsste 
die Fortdauer der nämlichen Selbstentz^eiung in den Individuen auch 
fortgesetzt die gleiche Wirkung haben, d. h. die Substanz in un- 
endlich kleine Theile der unendlichsten Ordnung zersplittern. Kann 
aber die tielbstentzweiung des Willens im Mikrokosmos keine Zer- 
s|)rengung der substantiellen Einheit bewirken, so hat sie es auch 
im Makrokosmos nicht vermocht, d. h. die Einheit der Substanz be- 
steht trotz ihrer Selbstentzweiung heute noch, d. \k, die ganze 
S^lbseutzweiung und Individuation ist nur phänomenal. 

£• V. Uaitmann, Brl&n^runi^eii. 2. Aufl. ^g 



•^42 B SchopenhanerianismiiB. 

So ergiebt sich, dass die angebliche Realdialectik auf alle 
Fälle gänzlich unbrauchbar ist zur Erklärung der Indiyiduatiou^ 
welche Bahnsen durch dieselbe leisten zu können glaubt; wenn er 
wirklich Recht hätte, dass die Vielheit der Individuen eine substan- 
tielle sei und von einer Selbstzersplitterung oder ewigen Selbstent- 
zweiung des AU-Einen herrühre (49), so müsste doch diese in der 
Essenz des Willens selber liegende ewige Selbstentzweiung (51) 
etwas toto genere Verschiedenes von jener realdialectischen Selb8^ 
entzweiung des In dividual willens sein, welche bei aller Selbst- 
quälerei doch die Einheit der Substanz unberührt lässt, und diese 
fnnctionelle Selbstentzweiung darf niemals mit einer substantiellen 
Selbstzersplitterung verwechselt oder durcheinandergeworfen werden, 
wie Bahnsen es beständig thut. 

Ist aber die Realdialectik unbeweisbar und ihre Voraussetzungen 
unhaltbar, sind übre strengen Gonsequenzen vemunftmörderisch, und 
ist ihr Werth für die Erklärung der Individuation im Sinne Bahnsens 
ein illusorischer, so ist sie ein Messer ohne Klinge, Hefk und Griff. 
Denn die Conflicte verschiedener Willensrichtungen und Kräfte 
sind zugestandener Maassen auch innerhalb des Herrschafts- 
gebietes der Vernunft unvermeidlich und sogar logisch gefordert; 
damit aber ist auch ihre Consequenz unausweichlich gesetzt, nämlich 
der Schmerz der unterdrückten Strebungen. Däss innerhalb der 
Seele der Schmerz des Kampfes nur zu oft als ein mehrfacher 
(insofern mehrere Strebungen sich gegenseitig reprimiren) und zu- 
gleich als ein sich selbst zugefügter empfunden wird, das ist 
die ausreichende Erklärung daftir, warum die intraindividuelle Selbst- 
entzweiung des Willens so viel schmerzlicher quält als alle inter- 
individuellen Conflicte. Indem Bahnsen diesem Gebiet eine beson- 
dere Aufmerksamkeit widmet, bemüht er sich mit Recht, eine Lücke 
unserer bisherigen Psychologie zu fallen; aber er befindet sich im 
Irrthum, wenn er diesen Unterschied durch eine Trennung der Ge- 
biete oder gar durch eine Entrückung aus dem Herrschaftsgebiet 
der allgemeinen logischen Gesetze bekräftigen zu müssen glaubt 

Wer aber nach diesen Bemerkungen glauben sollte, dass die 
antilogische Realdialectik Bahnsen's einer so ausführlichen ErörteruDg 
und Widerlegung nicht bedurft hätte, der wäre daran zu erinnern, 
dass diese Lehre denn doch die geschichtliche Bedeutung einer un- 
vermeidlichen Consequenz der Schopenhauer^schen Willensmetaphysik 



Bahnsen's charakterologiBcher Individaalismns. 243 

zu beanspruchen hat. Bei Schopenhauer stehen Willensrealismns und 
objectiver Idealismus schlechterdings unvermittelt nebeneinander, und 
zwar so, dass ersterer sich auf den Thron gesetzt hat, auf dessen 
Stufen letzterer nur lagern darf. Dieses unhaltbare Verhältniss ist 
auf zwei entgegengesetzte Arten zu beseitigen : entweder man macht 
mit dem objectiven oder metaphysischen Idealismus Ernst, rückt 
denselben in gleiche Höhe mit dem Willensrealismus und verbindet 
ihn organisch mit demselben ; oder man verflüchtigt ihn in eine sub- 
jective Phantasmagorie und scheidet ihn dadurch völlig aus dem 
metaphysichen Gebiet aus. Den ersteren Weg, der nothwendig zur 
Wiedervereinigung der Schopenhauer'schen Philosophie mit dem 
einseitigen metaphysischen Idealismus HegeFs führen muss, habe ich 
eingeschlagen; er bedeutet den Bruch mit Schopenhauer's Präten- 
sion, die allein wahre Philosophie im Gegensatz zu der idealistischen 
Richtung der deutschen Philosophie zu besitzen. J)gt zweite Weg 
ist der einzige, der die Exclusivität des specifischen Schopenhaueria- 
nismus zu bewahren verspricht, und das eigenthümliche Princip des- 
selben in vollendeter Reinheit zu verwirklichen verheisst, befreit von 
den Trübungen durch anderartige Gesichtspunkte, die ihm bei dem 
Urheber der Willensmetaphysik noch anhaften. 

Letzteres Ziel ist es offenbar, das Bahnsen sich gesteckt hat, 
und es ist klar, dass der reine Willensrealismus, in welchem die 
Idee für die blosse Form erklärt wird, in der die Willensessenz 
sich im Bewusstsein wiederspiegelt, gar kein Mittel mehr besitzt, 
um das Wesen mit der Erscheinung in verständliche Beziehung zu 
setzen, wenn es nicht gelingt, eine innerhalb des Willens liegende 
Bewegung zu entdecken, durch welche die ewige Constanz der 
Willensessenz in den Fluss eines Processes gesetzt wird. Eine solche, 
von allem Ideellen abstrahirende, rein innerhalb der Willenssphäre 
liegende Bewegungsform scheint nun in der That nur noch die 
Selbstentzweiung des blinden, unlogischen Willens sein zu können, 
und darum ist der unlogische realdialectische Process des sich selbst 
zerfleischenden Willens wesens die folgerichtige Consequenz eines 
Willensrealismus, der sich der Schopenhauer'schen versteckten Nach- 
hilfe der Idee entschlagen will. Bahnsen gebührt darum das ge 
schichtliche Verdienst, gezeigt zu haben, was aus dem Schopen- 
hauerianismus consequenter Weise werden muss, wenn er 
in voller Exclusivität ausgebildet wird; die nebenherlaufende Diffe- 

16* 



^44 B. äcbopeiiliaueiRiau«9iH8. 

rennz von Monismus and Pluralismus ist für di^e F£9ge irrelevaiit 
Indern wir Bahnsen's Bealdialeotik als unhaltbar erkannt haben, 
haben wir uns zugleich überzeugt, dass dieser Weg der Fortbildang 
Schopenhf^uer's in den Sumpf des schlechthin Unlogischen, d. h. 
des reinen Unsinns lockt, und haben dadurch indirect den Beweis 
geführt, dass der entgegengesetzte Weg der richtige sein muss, ja 
ßogar, daas Schopenhauer seine systematischen Inconsequenzen als 
ein besonderes Verdienst im Interesse der Wahrheit anzu- 
r^nen sind. 

11. Bas Logisehe. 

Wir gelangen nunmehr zu der Stellung, die Bahnsen zu dem 
Logischen als solchen einnimmt, zu den Argumenten, mit denen er 
^en logischen Charakter der Entwickelung bekämpft. Hier ist nan 
zunächst zu beachten, dass er die Thatsache einer Entwickelung 
nicht sehlechthin zu leugnen gesonnen ist, sondern nur die Annahme, 
dass dieselbe etwas Logisches sei. Er sagt: „Wie sehr der noch 
in sich verharrende Wille den noch im Keim verschlossenen Kräf- 
ten gleiche, das ist ja eines der Hauptthemata unserer Specialunter- 
suchungen über das Wesen des Motivs — wie sollte uns dann wohl 
der Begriff der Selbstentfaltung an sich ein abzulehnender sein? 
Nicht gegen die Annahme einer „Evolution'' als solcher sträuben 
wir uns — ebenso wenig gegen die Darstellung, dass ein zunächst 
nur „implicite'' Vorhandenes sich zur Wirklichkeit explicire, ein bis 
dahin punktuell Goncentrirtes sich zeitlich wie räumlich auseinander- 
breite und -spreite. Aber was wir bestreiten, ist, dass wir daran 
iifi Selbstexppsition einer rein logisch gearteten Idee besitzen soll- 
ten — eine Exposition, deren logische Natur es mit sich bringe, 
dass ihre Selbstdarlegung allemal zugleich in der Gliederung eineir 
logischen Disposition, oder deutsch gesprochen, die „Auseinander- 
setzung'' des Wirklichen als solche bereits, so zu sagen, die „Inein- 
smdersetzung" eines logisch subsumirenden Subordinationsschema's 
mit enthalte (37—38), 

So lange Bahnsen an der absoluten Unveränderlichkeit der mo- 
nadologischen Induvidualsubstanz festhält, setzt er eben damit jede 
Entwickelung, selbst im Individuum, zum blossen Schein herab; 
so lange er an der Realdialectik festhält, entrückt er d93 sich Aus- 
lebe^ dei^^ ][a4iy^dualw^sens in da^ Qebiet des ^iftilpgii^chen. Sieht 



Bahnsen^s diarakteh4x»gibdher ibdiVldaalisinuB. 2^ 

man aber von diee^ beiden Pankten ab) welche sebon Tt)rher er- 
ledigt sind; und fragt, ob die empirisch gegebene Thatsache der 
individuellen Entwickelnng einen logischen Charakter habe, so kann 
dies nni* dann bestritten werden, wenn man an die Beantwortung 
mit dem Vorurthdl Bahnsens herantritt, dass das Logische gar nicht 
anders gedacht werden könne als in Gestalt einer schematischen 
Disposition, als „leeres Schema logischer Stufenfolge'' (11), als ein 
Fachwerk gezwungener Gedankenconstructionen (40), mit einem 
Wort als ein Aggregat oder eine Ineinanderschachtelung discursiver 
Abstractionen. Diess ist nun aber grade das Gegentheil von 
jener intuitiven, zeitlosen, immanenten Logicität der Idee, wie ich 
sie annehme. 

Bahnsen gelangte zu seinem Missverständniss nur dadurch, dass 
er von dem Gesichtspunkt aus^g, das Logische überhaupt nur in 
der subjectiven Sphäre gelten zu lassen, wo es allerdings über- 
wiegend in discursiver und abstracter Form sich darstellt; da er 
aber diese einseitige Ansicht selbst erweitem musste durch das Za- 
geständniss einer objectiven Weltvemunft, die sich in interindivi- 
duellen logischen Gesetzen äussert, so muss er auch die falsche Con- 
sequenz der ersteren fallen lassen. Das Wirkliche ist das absolut- 
Goncrete, und insofern im Wirklichen überhaupt Vernunft ist^ 
muss sie in concreter Gestalt darin sein; das abstract Logische 
entsteht erst dadurch, dass das discursive Denken die vielen Gon- 
creten gemeinsamen Seinsformen von den individuellen Resten los- 
löst und ihre Gleichheit in der Vielheit des Concreten constatirt 
Die logischen Kategorien stecken also zwar wirklich drin in den 
Dingen, aber bei Leibe nicht als abstracte, sondern als schlechthin 
zur Individualität concrescirte, d. h. nach Seiten der Idealität des 
Inhalts des Wirklichen betrachtet: in intuitiver Weise. Steckten 
die Kategorien oder logischen Formen nicht wirklich in dem Seien- 
den drin, so könnte das Denken sie auch nicht durch Abstraction 
ans demselben gewinnen; gäbe es logische Formen überhaupt nur 
für die Abstraction, für das discursive Denken (47 — 48), so wäre es 
damit bewiesen, dass sie bloss subjective Zuthaten des Denkens 
zu den Dingen wären, dass also Kant mit der behaupteten Exclusi- 
vität des subjectiven Ursprungs Recht hätte. Wäre diess aber ftlr 
die Denkformen zugegeben, so müsste es in noch höherem Grade 
für die Anschauungsformen gelten, d. h. Bahnsen würde mit seinem 



246 ^> SchspentiauerianismuB. 

Widerstand gegen die Realität der logisehen Formen gänzlicli in 
den von ihm zurückgewiesenen subjectiven Idealismas zurückfallen. 

Soll die unbewusste Intuition concret sein, so muss sie durcli 
und durch bestimmt sein, und doch in jedem Augenblick des Ent- 
wickelungsprocesses anders bestimmt sein. Das Bestimmende aber 
kann nur das Logische sein, welches, obwohl an und für sich bloss 
Formalprincip, doch inhaltlich bestimmend ftlr die Idee wird, weil 
es auf das Unlogische angewandt wird. *) Die Stufen der Entwicke- 
lung (z. B. Kind, Knabe, Jüngling, Mann, Greis) müssen durch das 
die unbewusste Intuition in jedem Augenblick bestimmende Princip 
vorgezeichnet sein; sie müssen also im logischen Formalprincip 
präformirt liegen. Dass diese prädestinirende Präformation der 
Stufen nur im Sinne eventueller Möglichkeiten, nicht im Sinne actueller 
Ideen zu verstehen ist, habe ich anderwärts näher ausgeführt.**) 
Ohne ein logisches Princip als Leiter der Entwickelung wäre eine 
Entwickelung auch nicht im bescheidensten Sinne des Wortes mög- 
lich ; ja nicht einmal ein Kreislauf (Samenkorn, Baum, Blüthe, 
Frucht u. s. w.) wäre möglich, da auch dieser schon logische Ord- 
nung und Auseinanderhalten der verschiedenen Phasen erfordert 
Wären diese Phasen oder Stufen nicht in dem bestimmenden Logi- 
schen enthalten, so könnte dieses sie nicht im Process entfalten und 
realisiren; die empirisch gegebene Vielheit der Stufen muss in der 
Einheit des sie bestimmenden Princips implicirt oder implicite ent- 
halten sein, doch ohne dass darum dieses Princip (als unbewusstes) 
von ihnen zu wissen brauchte (47). 

Das in der Entwickelung seinen idealen Inhalt Entfaltende ist 
selbst ein Unbewegtes, aber der Inhalt oder zu realisirende 
Gegenstand seiner unbewussten idealen Intuition muss ein im Laufe 
der Entwickelung beständig, obschon allmählich, wechselnder sein, 



*) Niemand als ein stricter Hegelianer wird ßahnsen*s Satz bestreiten, ,,dftss 
Zwecke und Motive, , bewusste wie unbewusste, nichts sind, was ausserhalb des 
Willens auch nur als ein "Mögliches" könnte gedacht werden*' ^66); nur li^ 
seine Einseitigkeit darin, dass er nicht anerkennt, dass sie ebenso wenig ausser- 
halb der logischen Idee als ein Mögliches gedacht werden können. Der Zweck 
ist eine logische Kategorie, die im Logischen präformirt ist mit Beziehung auf 
die Eventualität des Auftretens des Unlogischen. Eine bloss „mögliche*' bleibt 
sie so lange, als diese Eventualität eine bloss mögliche bleibt; „unmöglich'^ wäre 
sie nur dann, wenn diese Eventualität sich als unmöglich herausstellte. 

*♦) Phü. d. Unb. 7. Aufl. H. 440—445; und unten die V. Abhandlung 
(„Yolkelt's Panlogismus des Unbewussten'') Nr. 6. 



ßatinsen^B charaktei^ologisch^tiidiyidualismas. 24? 

wie die Thatsache beweist, dass die durch ihn bestimmte Realität 
eine beständig wechsehide ist. Bahnsen's Protest hiergegen (48) wäre 
ganz unbegreiflich, wenn nicht seine Verwechselung zwischen den 
Methoden discursiver abstracter Gedankengänge und der Wan- 
delung der die reale Entwickelung determinirenden, unbewussten, 
absolut concreten Intuition (47) den Schlüssel zur Erklärung böte. 
Wäre wirklich, wie Bahnsen mir unterschieben will, der actuelle 
Inhalt einer concreten Idee etwas Unwandelbares, stufenlos Eines 
(48), dann wäre eine solche Idee ganz unbrauchbar zur Erklärung 
dessen, was sie erklären soll, nämlich der Entwickelung, so wäre 
sie eine ganz werthlose also auch berechtigungslose Hypothese. 
Weil Bahnsen kein Verständniss hat für das Entspringen des realen 
Processes aus einer concreten Wandelung der concreten unbewuss- 
ten Intuition, darum begreift er auch nicht, dass ein bestimmendes 
Princip flir das Wie dieser Wandlung, d. h, ein logisches Formal- 
princip als formales Moment der Idee unabweislich ist, das zugleich 
dadurch maassgebend wird für den gesammten Inhalt der Wirklich- 
keit (47). Ebenso wie die Veränderlichkeit muss der unbewussten 
Idee das Ineinander jener logischen Formen zugeschrieben werden, 
welche das subjective discursive Denken als im Wirklichen enthal- 
ten dadurch constatirt, dass es dieselben aus ihm abstrahirt; da in 
jedem concreten Wirklichen solcher logischer Formen viele sind, 
und doch die bestimmende Idee in jedem Äugenblick eine einige 
und ganze ist, so muss die Vielheit in ihrer Einheit aufgehoben, 
oder in ihr eingefaltet sein, wenn die Hypothese dieser Idee .irgend 
welchen Werth zur Erklärung des Wirklichen beanspruchen will. 
Wie Bahnsen in dieser Annahme gar einen Widerspruch entdecken 
will (48) ist mir unverständlich. — Das logische Formalprincip be- 
stimmt die concreto Wandelung des Inhalts der Idee in jedem Augen- 
blick nach Maassgabe des gegebenen Inhalts; das Formalprincip 
ist das bleibende, der jeweilig gegebene Inhalt das aufzuhebende 
Moment der Entwickelung, und letzterer wird zum aufgehobenen 
Moment in dem Inhalt aller späteren Intuitionen, in denen er als 
überwundener zugleich conservirt wird, ohne dass hierbei irgend 
wie von einer Abstractionsthätigkeit oder einem discursiven Denken 
die Bede wäre, wie Bahnsen irrthümlich annimmt (47). 

Ein Wille ohne ein für seinen Inhalt bestimmendes logisches 
Princip würde sich in einer Weise äussern, welche sich zu der em- 



348 B. SdMpenhaaerianiiEmitis. 

piriseh gegebenen organischen nnd geistigen Entwickelnkig yerhalten 
müssCe; wie das thierische Blöken oder Kreischen eines Blödsinnigen 
sich zur menschlichen Sprache verhält Alle Phasen^ die vom Lo- 
gischen geordnet auseinandergehalten werden, würden schrankenlos 
und chaotisch dnrch einander wogen, da ein absolut unveränder- 
licher Individualwille ohne logische Disposition des Lebenslaufes 
gar keinen Grund hätte, mit der Art und Weise seiner Lefo^s- 
äusserung cyklisch zu wechseln. Dass ,,das absolut Sinnlose g» 
nicht würde existiren können^', erkennt Bahnsen zwar selbst an (54), 
vergisst aber leider dabei, dass das Princip des Willens wirklich ein 
blindes, vernunftloses und ideeloses Absolutes statuirt, und dass 
seine Lehre von der Bealdialectik diesem blinden Princip eine völlig 
sinnlose und unsinnige Art und Weise der Selbstoffenbarung zu- 
schrdbt Die Einsicht von der Existenzunfähigkeit des absolut 
Sinnlosen ist der entscheidende Wendepunkt ftir Bahnse^'s Bruch 
ndt der Tendenz, die Schopenhauer'sche Metaphyirik durch völlige 
Ausscheidung des objectiven Idealismus fortzubilden, und zur Bttck- 
kehr in die Bahnen des nachkantischen Idealismus. 

Noch toller als beim Einzelwesen würden die Consequenzen 
einer Beseitigung des Logischen sich für die Entwickelung von In- 
dividuengruppen (e. B. Völkern und Staaten) gestalten. Bahnsen 
will Schopenhauer's „antihistorische Capricen" preisgeben (Vorwort 
S. II), „historische und ausserhalb der geschichtlichen Wandelung 
verbleibende Völker^' unterscheiden und keineswegs allen und jeden 
geschichtlichen Fortschritt ableugnen (37). Mag immeiiiin dieses 
Zugeständniss dadurch nachträglich wieder abgeschwächt werden, 
dass die scheinbare Entwickelung nur ftir einen Umschwung des 
ewigen Kreislaufes erklärt wird, so bleibt doch auch hier dieThat- 
sache einer objectiven logischen Disposition bestehen, die aus dem 
Chaos antilogischer Bealdialectik nimmermehr resultiren könnte. 
Hier aber hat Bahnsen nicht mehr die Ausflucht, dass es ja doeh 
nur Eine Individualsubstanz sei, welche in diesem Process ihr ein- 
heitiiches Wesen entfalte, sondern es ist von seinem pluralistischen 
Gesichtspunkt aus eine zusammenhanglose Summe getrennter Sub- 
stanzen, welche als Träger der Entwickelung auftritt. Wie da eil 
einheitliches Besultat ohne die Immanenz eines Logischen sollte zu 
Stande kommen können, das möchte Bahnsen vergeblich zu demon- 
striren unternehmen ; bloss um ein^ Versuch hierzu zu wagei), dazi 



Bahnsen's charakterologiBchenr tndividaaUsinas. 249 

iMrde «ehon die ganze philoBophische Beschränktheit eiti^to Materia- 
listen gehören, von der denn doch Bahnsen weit entfernt ist. 

Ist somit die immanente Logik für die geschichtliche Entwicke- 
Inng ttnumgänglich nothwendig, so kann man rückwärts daraus die 
Bestätigang zielben, dass sie auch für die Individaalentwickelung 
onerläftälich ist, da das organische Individuum grade so aus Indivi- 
duen niederer Ordnung zusammengesetzt ist, wie das Volk oder der 
Staat aus höheren Individuen, und für jene ebenso eine leitende Ver- 
nunft erforderlich ist wie ftir diese. Nichts zeigt deutlicher als die 
Relativität des Individualitätsbegriffes, dass die objective Weltverounft 
nicht, wie Bahnsen glaubt, etwas Partielles sein kann, sondern etwas 
schlechthin Allgemeines sein muss, das nicht bloss regelnd und ordnend 
über den Beziehungen der Individuen zueinander schwebt, sondern 
zu dem Wesen jedes Individuums selbst gehört. 

Zu dieser Folgerung gelangt sogar Bahnsen selbst. Er sagt: 
„Findet sich am Weltgang etwas dem logischen Grundschema Ent- 
sprechendes, so kann das nur sein, weil und soweit der Wille selber 
schon als solcher und im strengsten Sinne in seinem Ansich 
ein Logisches in sich schliesst'' (38). Das hier nur be- 
dingungsweise gemachte Zugeständniss wird zum bedingungslosen, 
da Bahnst selbst die gestellte Bedingung als erfüllt anerkennt (44). 
Räumt somit Bahnsen ein, dass thatsächlich der Wille in seinem 
Ansich ein Logisches in sich schliesst, so ist auch die Consequenz 
selbstverständlich, dass die Entwickelung als Explication dieses „An- 
sicht' eben nichts anderes als die Explication des Logischen sei, und 
dies ist von ihm so ausgedrückt, dass der Wille sein eigenes Wesen 
SU Mitteln, Zwischen- und Endzwecken auseinanderlege (12). Bahn- 
sen i^eht sich nach alledem indirect genöthigt, grade das als 
richtig anzuerkennen, zu dessen Bekämpfung er seine 
Schrift verfasst hat, nämlich den logischen Charakter des 
Willensinbaltes und der Entwickelung. Der zwischen uns in diesem 
Punkte noch verbleibende Unterschied reducirt sich nach Bahnsen's 
eigner Angabe darauf, dass dieses logische Ansich, oder die logische 
Essenz oder natura des Willens nicht ein von aussen in ihn 
Hineingebrachtes sei (38), sondern seinen eignen Inhalt bilde. 
Aber diese Differenz ist eine eingebildete, denn ich kann das voU- 
stilndig nirtersehreiben ; ich kann sogar hinzuftlgen, dass dieses Lo- 
gische so sehr der ^geüste und untrennbare Inhalt des Wül^ts 



250 B. Schopenhaaerianismofi. 

ist, dass derselbe gar keinen andern Inhalt hat als diesen, nnd 
ohne diesen inhaltslos wäre. In dieser meiner Verstärkung 
seiner eigenen Behauptung wird Bahnsen unsre Differenz suchen 
müssen, so lange er sich nicht begnügt, das Unlogische des Willens 
in dessen Form zu sehen, sondern auch noch an einen unlogischen 
(realdialectischen) Inhalt des Willens (neben dem zugestandenen 
logischen) glaubt. 

Hiermit wären wir denn wieder bei dem letzten Grundunter- 
schied, der Frage nach der Unterordnung oder Nebenordnung des 
Logischen und Unlogischen, der Idee und des Willens, angelangt, 
die wir schon in der Einleitung präcisirt haben; wir werden jetzt 
die Formulirung genauer betrachten müssen, welche Bahnsen der 
Beziehung beider Principien zu einander zu Theil werden lässt. 



12. Wille und Idee. 

Wenn Bahnsen auf S. 14 erklärt, dass er eine Zweiheit von 
Wille und Vorstellung überhaupt nicht anerkenne, so ist damit zwar 
die schärfste und eigentlichste Tendenz seines Princips ausgesprochen, 
aber er selber kann es, wie wir schon sahen, in dieser schroffen 
Einseitigkeit nicht aufrecht erhalten. Ebenso wie er trotz seiner 
principiellen Beschränkung des Logischen auf die subjective Sphäre 
demselben nachher doch einen Platz in der realen Welt, und dem- 
zufolge auch in ihrer Wurzel, dem Willensinhalt, einräumen musste, 
ebeno kann er nicht umhin, die eigentlich zurückgewiesene Idee 
doch in gewissem Sinne zuzulassen (wie wir dies schon oben unter 
Nr. 4 sahen). Bahnsen erkennt ebenso wie ich in der Idee „den 
dem Willen immanenten Inhalt", welcher dem realen Entwickelungs- 
process „die Lineamente der Bewegungsrichtungen oder der in der 
Bewegung zurückgelegten Strecke vorzeichnet" (47). Wodurch 
er sie von meiner Auffassung unterscheiden will, ist erstens die 
Fernhaltung jeder Hypostasirung von der Idee als solchen, 
zweitens die Reinhaltung derselben von allem, was nur dem ab- 
stracten und discursiven Denken zukommt (47), und drittens die 
Verneinung der Annahme, dass die Idee als solche der ^^acher^' 
der realen Bewegung (47), die treibende Kraft der Entwickelung 
sei (12). Alle drei Punkte aber begründen nur eine Unterschei- 
dung zwischen der Bahnsen und mir gemeinsamen Auffassung 



ßahnsen*s charakterologisciier tndividaalismud. 251 

und derjenigen des Hegelianismus, und es ist baares Missver- 
ständnisSy wenn Bahnsen an meiner Anerkennung dieser Punkte 
zweifelt. 

Auch mir hat nämlich die Idee ihr Sein nur in einem anderen, 
nicht in sich selbst, auch mir ist sie der intuitiy-concrete Gegensatz 
alles abstract-discursiven Denkens, auch mir gilt sie als ein Kraft- 
loses, das alle Kraft zur Verwirklichung des Erschauten von dem 
Willen empfängt. Auch mir ist der Wille die einzige Triebfeder 
des realen Processes, während die Idee nur den Inhalt jeder Ent- 
Wickelungsphase bestimmt.*) Auch bei mir ist Idee und Wille un- 
trennbar in dem doppelten Sinne, erstens dass eine actuelle Idee 
nur als Inhalt eines actuellen Wollens und ein actuelles Wollen nur 
als Form der Verwirklichung einer actuellen Idee möglich ist, und 
zweitens, dass auch abgesehen von aller Actualität sie zu einer sub- 
stantiellen Einheit verbunden sind, welche es verbietet, unter irgend 
welchen Umständen von einer „Beziehungslosigkeit^^ derselben oder 
von dem Bedürfniss einer „Brücke" zwischen denselben (76) zu 
reden. So schwinden die Hauptunterschiede, die Bahnsen aufzu- 
stellen sucht, in Nichts zusammen, und wir haben sein schliessliches 
Geständniss zu verzeichnen, dass auch er an der Idee, d. h. dem 
idealen Inhalt, der dem Willen immanent ist, etwas besitze, das dem 
formal-logischen Moment vor seiner Bethätigung sich vergleichen, 
wenn nicht gleichstellen lasse (73). 

Dass Bahnsen die so acceptirte Idee in eine allzu enge Be- 
ziehung zum Motiv setzt, ist schon besprochen und hier ohne Er- 
heblichkeit; dass er aber „mit Nachdruck" hinzuftlgt, dass die Idee 
das nur an dem Willen (als dem ihr Subsistirenden) sich Ent- 
wickelnde sei (73), das ftlhrt auf die wahre Differenz zwischen ihm 
und mir zurück. Dieselbe besteht darin, dass er sich für den 
Willen erlaubt, was er sich und allen Andern ftlr die Idee ver- 
bietet, nämlich die Hypostasirung, und dass durch diese ein- 
seitige Hypostasirung des Willens die Idee in eine untergeordnete 



*) Das logische Formalprincip ist das Bestiininende nur für die ideale 
Wandlung der unbewussten Intuition (47), während alle Realität, also auch die 
des zeitlichen Processes, vom Willen kommt; der Wille aber braucht nicht ,^auf 
eine höhere Stufe gehoben zu werden," wenn die Idee eine neue Entwickelungs- 
phase erreicht hat, denn er realisirt jeden Inhalt der Idee und bleibt dabei 
immer sich selbst gleich (12). 



252 B- SehopenhatterfanSsttiiur. 

Stellung als Accidenz des Willens herabgedtttckt wird^ während 
bei mir Wille nnd Idee in gleicher Weise nnr an dem ihnen snb- 
sistirenden, wahrhaft seienden, substantiellen absoluten Snbject irind. 
Wie käme das Unlogische dazu, das Vorrecht der Hypostasirung zu 
geniessen, wenn sie dem Logischen gegenüber unerlaubt ist? Wie 
käme das Logische dazu, Zubehör seines Gegentheils zu sein ? Diese 
Einseitigkeit ist ebenso unmotivirt, wie die entgegengesetzte Volkelf s; 
der vorsichtige Philosoph wird sich vor der Hypostasirung beider 
Seiten gleich sorgsam hüten müssen, der vorurtheilslose und un- 
parteiische Denker wird beide mit gleichem Maasse messen, nnd 
nicht dem einen gewähren, was er dem andern versagt 

Sehen wir von dieser Fundamentaldifferenz ab, so ist Bahnsen 
im Piincip schon ganz auf meinen Standpunkt herübergetreten, 
indem er (wovor er früher noch zurtickscheute) dio Essenz oder den 
Inhalt des Weltwillens oder erftlllten ÄUwillens als Idee anerkennt, 
und die logische Beschaffenheit dieser Idee als Wurzel der objecti- 
ven Vernunft in der realen Welt zugesteht. Die nunmehr noch 
zurückbleibende Differenz — dass er neben der logischen Idee 
noch einen unlogischen und antilogischen (realdialectischen) Inhalt 
des Willens behauptet, während ich allen Inhalt des Willens als 
ideal und logisch und nur seine Form als unlogisch betrachte — 
kann angesichts der gemachten Zugeständnisse nur noch als ein 
inconsequenter Weise stehen gebliebener Best seines ursprtlnglichmi 
Standpunkts angesehen werden, der bei schärferer Durcharbeitung 
der neu eingefügten Elemente nothwendig verschwinden müsste. 
Wir haben bereits oben gesehen, dass Bahnsen's Bealdialectik, so 
weit sie antilogisch sein will, eine völlig unhaltbare Fiction ist, und 
dass die einmal in die reale Welt eingelassene objectii^e Vernunft 
unaufhaltsam die Alleinherrschaft in derselben an sich reisst Wir 
haben hier nur noch hinzuzufügen, erstens, dass es kein actuelles 
Wollen ohne eine Vorstellung oder Idee als Inhalt und keine Idee 
ohne Logicität (am wenigsten eine antilogische Idee) geben könne, 
und zweitens, dass die unlogische Form des WoUens (auch ohne 
die Annahme irgend welchen unlogischen Willensinhalts) vollständig 
genügt, um das empirisch gegebene Unlogische der Welt zu erklä- 
ren. In Betreff des letzteren Punktes habe ich einestheils auf die 
obigen Darlegungen zurückverwiesen, nach welchen Bahnsen's Be- 
merkungen über die Widerstände und Nebenherläufer der Entwickelung 



Bahnsen's charakterolc^gi9€lier In^vidaaliBmus. 253 

keinen Einwand gegen deren logischen Charakter begründen ; andrer- 
seits bleiben hier noch einige metaphysische Fragen zu erörtern. 

Bahnsen weist mit Becht darauf bin (17 oben), dass auch mir das 
NichtseinsoUende (was doch nur ein anderer Ausdruck ftlr das Anti- 
logische ist) die Triebfeder des Processes sei, aber er zieht mit Un- 
recht daraus realdialectische Gonsequenzen. Denn dass das Nicht- 
seinsollende oder Antilogische negirt wird, ist nichts weniger als 
ein Widerspruch, es ist vielmehr die Negation des Widerspruchs, 
der im Antilogischen steckt. Der Widerstreit der Attribute des Ab- 
soluten (d. h. des Logischen und Unlogischen) fällt also nicht, wie 
Bahnsen glaubt, unter den Begriff seiner antilogischen Bealdialectik, 
sondern vielmehr unter den des logischen Processes. Der Wider- 
spruch steckt allein und ausschliesslich im Willen, der als Potenz 
bloss alogisch ist, als erhobener aber antilogisch wird '^). Bahnsen hat 
ganz Recht (17 unten), dass das sich Widersprechende ein sich Wider- 
sprechendes ist, ehe das Logische es so nennt; aber er vergisst; 
dass erst das Logische dazu gelangen kann, das sich Widersprechende 
als seinen Gegeasatz,"^*) also als Antilogisches zu defini- 
ren. Indem der Wille als Potenz ein Alogisches ist und die Mög- 
lichkeit, durch Erhebung antilogisch zu werden, von Ewigkeit zu 
Ewigkeit in sich enthält, so kann man auch mit Recht behaupten, 
dass die Selbstentzweiuung des AU Einen in entgegengesetzte Attri- 
bute eine ewige sei. Bahnsen hat also darin ganz Recht, wenn 
er die Möglichkeit eines auftretenden Zwiespalts bestreitet, ausser 
wenn das Absolute ein ewig in sich zwiespältiges ist (49) oder wenn 
er an einer andern Stelle darauf hinweist, dass alle Finalität (also 
auch ein teleologisch gesetzter Process) „an der Coexistenz einer 
Vielheit ihre Voraussetzung habe" (66;, und zwar einer ewigen, 
überzeitlichen t) Vielheit (ebenda). Gleichfalls hat er darin Recht, 



♦) Phü. d. ünb. 7. Aufl. II. 396—397 u. 443-444. 

**) Die Bezeichnung als „Widerspruch (nÄmlich gegen sich das Logische)", 
wie sie Ph. d. U. 7. Aufl. II. 444 Z. 1 — 2 steht, ist ungenau und hiernach zu 
berichtigen. Da die Entgegengesetzten nicht in einer und derselben Beziehung 
der absoluten Substanz zukommen, so wird eben durch diesen Gegensatz auch 
kein Widerspruch statuirt, sondern nur ein Widerstreit im logischen Sinne inaugurirt. 

t) Hierdurch erledigen sich zugleich die von Bahnsen wegen meiner angeb- 
lichen „üebersch&tzimg des Zeitlichen'* erhobenen Beschwerden (48); er verwechselt 
die secundäre Vielheit innerhalb des Weltprocesses mit der primätren, ewigen (der 
Zweihpit der Attribute). 



254 B. Schopenhaucrianisrnns. 

dass die zum Zustandekommen eines Proeesses erforderliche innere 
Vielheit des Einen zunächst nicht mehr als Zweiheit zu sein braucht 
(69). Nur darin hat er Unrecht, dass er die ursprüngliche ewige 
Zwiespältigkeit des Absoluten, aus der alle weitere Individuation 
folgen muss, bereits in einer inneren Theilung des Willens als 
solchen sucht, anstatt in der Gegensätzlichkeit der zwei Attribute 
der Einen Substanz; dieser Irrthum entspringt aber als einfache 
Consequenz aus seiner einseitigen und fehlerhaften Hypostasirung 
des Willens, welche ihn die attributive Stellung desselben ver- 
kennen lässt. 

Der Selbstwiderspruch des Willens besteht, abstract oder formell 
ausgedrückt, darin, dass A (die Potenz) nicht A bleiben, sondern B 
(Actus) werden soll; materiell ausgedrückt darin, dass das Wollen 
Befriedigung sucht und doch durch seine eigene Natur dazu ver- 
urtheilt ist, (trotz aller Partialbefriedigungen) als Ganzes ewig un- 
befriedigt zu bleiben. Der Empfindungsausdruck dieses Widerspruchs 
ist die ünseligkeit des WoUens, die schon dem leeren Wollen als 
solchen anhaftet, und keineswegs erst aus der Entgegensetzung 
verschiedener Strebungen entspringt, wie Bahnsen glaubt. Er meint, 
dass einem in sich einigen Willen kein Baum geblieben wäre f&r 
irgend ein Weh (53), dass er „einem Krokodil hätte gleichen müssen, 
das nichts ausser sich vorgefunden haben würde, was es hätte ver- 
schlingen können" (52), wohingegen sein in sich selbst entzweiter 
Wille stets in seinen inneren Gegensätzen die Speise fand, die gleich- 
zeitig seinen Appetit schärfte und seinen Hunger stillte (53). Ab- 
gesehen nun davon, dass man eigentlich mit einem ewigen Wesen, 
das verspeist wird, so wenig Mitleid haben kann, wie mit einem 
Gott, der hingerichtet wird, muss es doch zweifellos sein, dass eine 
Schlinggier, die um Stillung ihres Heisshungers niemals in Verlegen- 
heit ist, bei Weitem nicht so Übel daran ist, als eine Schlinggier, 
die gar nichts zu verschlingen hat, dass also der Wille in dem 
Zustand seiner sich bekämpfenden Strebungen sich nicht mehr in 
einem so furchtbaren Zustand absoluter Qual befindet, wie der Wille 
als leere Sucht. Deshalb geht ja auch bei mir das erhobene leere 
Wollen sofort in den Zustand der sich bekämpfenden Partial- 
strebungen über, als in einen relativ erträglicheren Zustand, der 
ihm durch die Betheiligung der Idee und die von ihr aus ermög- 
lichte Individuation dargeboten wird. Gelingt es mir also, die 



6a1insen*s charäkterologischer Individualisinns. 255 

Individaation, d. h. die Zersplitterung des einigen WoUens in viel- 
seitige Strebungen, aus dem Gegensatz und der BeschaflFenheit beider 
Attribute begreiflich zu machen, so ist der von Bahnsen als voraus- 
setzungslos und keiner Erklärung fähig hingestellte Zustand der 
Vielheit wirklich als Consequenz. der ewigen Zwiespältigkeit der 
Einen Substanz verständlich gemacht. Jedenfalls müsste Bahnsen 
seine Behauptung, dass die Unlust des leeren Wollens „ein ün- 
gedanke" sei (15), doch ganz anders als durch ein das Gegentheil 
beweisende Gleichniss vom Krokodil erhärten, ehe diesem Protest 
irgend welches Gewicht beigelegt werden könnte. Ganz unhaltbar 
ist der dem Willen in den Mund gelegte Vorwurf gegen die Idee, 
dass er ohne diese Gouvernante wenigstens von seinem ganzen 
Elend nichts gemerkt hätte (14); denn nichts erzeugt unwidersteh- 
licher die Empfindung, d. h. das Bewusstsein, als die Nichtbefriedi- 
gung des Willens. 

Da Bahnsen ganz wohl weiss, dass jede auf den Willen ge- 
gründete Existenz „an einer Unseligkeit ihr unausbleibliches Correlat 
hat," so beziehen sich alle seine Bemerkungen über einen eventuel- 
len glücklichen Inhalt dieser Existenz (23) auf hypothetische Fälle, 
die ausserhalb des Bereichs der Möglichkeit liegen, und berühren 
nicht meine Behauptung, dass bei der gegebenen BeschaflFenheit des 
Absoluten in jeder möglichen Welt die Existenz als solche (nicht 
„die kahle nackte Existenz", sondern eine gleichviel wie er- 
fttUte Existenz) ein Unglück sein müsse. Er widerspricht seiner 
eigenen besseren ilinsicht, wenn er meint, dass das Absolute in 
seiner Allweisheit und Allmacht bei gutem Willen wohl hätte Wege 
ausfindig machen mögen, auf denen sich die Qualen der Individua- 
tion hätten vermeiden lassen (63); wie sollte ein inhaltliches vor- 
stellendes Bewusstsein ohne Individuation möglich werden, wie eine 
Erlösung von der Qual des Wollens ohne vorstellendes Bewusstsein, 
und wie sollte eine Welt bewusster Individuen möglich sein, ohne 
dass diese an der Unseligkeit alles Wollens ihren Antheil trugen? 

Weil der Selbstwiderspruch des unlogischen Princips ein die 
ganze Wirklichkeit durchziehender ist, darum erkennen wir auch 
empirisch das Unlogische des Daseins an jedem kleinsten Punkte 
wieder (27), und trotzdem lehrt uns die apriorische Erwägung, dass 
jede gleichviel wie erfüllte Existenz als Willensäusserung unlogisch 
sein muss, dass wir gar nicht nöthig haben^ das empirisch sich 



256 B. acbopenltA^^rii|499W. 

aufdrängende Unlogische der Ei^istenz ausser in ihr^ Form 
auch. Docb in ihrem (diese Thatsacbe gar nicht bertthrenden) Inbalt 
zu suchen. Dass das Existirende ausser in der auch von mir ^- 
genommenen Unvernunft der Existenz ab solchen noch ^twSiS Un- 
logisches in seinem Inhalt zeige, dafür ist eben Bahnsen den yer- 
sprochenen Beweis bisher schuldig geblieben; er wird sich dah^ 
nicht wundern können, wenn ich bis zur Erbringung desselben an 
meiner von ihm (23) bemängelten Distinction festhalte, nach welcher 
das „Was^^ der Welt untadelig und nur ihr „Dass^^ &ji Nichtsein- 
sollendes ist. 

Dann kann aber auch der ,,Zw6ck'' kein positiver mebir sein 
(der doqix immer nur auf Herstellung eines gewissen Weltinhalts 
ginge), siondern muss ein negativer, auf Negation der Existenz ak 
solchen gerichteter sein. Dass ein solcher Zweck werthlos ist, wenn 
er an dem Maassstab positiven Wohlseins, dass er zwecklos i&t, 
weuQ er an dem Maassstab positiver Zweckmässigkeit gemessen 
wird (16), sind nur tautologische Bemerkungen, aus denen num 
nichts lernt, die aber noch weniger etwas gegen die Zweckmässig- 
keit dieses Zwecks im negativen Sinne, oder gar fär dei^ real- 
dialectischen (antilogischen) Charakter eines rein negativen End- 
zwecks beweisen. Ist ein positiver Zweck durch die gegebenen 
Voraussetzungen aller möglichen Welten^ d. h. durch die Be- 
schaffenheit des Absoluten, unmöglich gemacht, so ist doch 
ein negativer Zweck immer noch von höchstem relativem (wenngldch 
nicht positivem) Werthe; Erlösung vom Uebel ist doch besser 
als Verharren in demselben. Ein positiver Zweck kann für die 
Willensmetaphysik Bahnsen's ebenso wenig wie flir die meinige in 
Frage kommen; ob aber ein negativer zugelassen wird, das hängt, 
wie Bahnsen selbst eingesteht, zuletzt davon ab, ob man die Willens- 
metaphysik monistisch oder pluralistisch durchbildet (65). 

Ausser diesem Hauptbestimmupgsgrund finden sich aber noch 
zwei Nebengründe, welche schliesslich eine kuyze Beachtung erfor- 
dern, als Nebenhindernisse für Bahnsen's Zustimpiung zu der Entwicke- 
lung in meinem Sinne (mit negativem Endzweck). Der erste ist 
sein Stimmungspessimismus, der ihn in die Desperation seines Stand- 
punkts so verliebt macht^^ dass er sich von der Eröffnung emes 
tröstlichen Ausweges in seiner absoluten Verbitterung gestört fühlt 
Der ;&weite ist sein Glaube an die ireale Unendlichkeit d^ex Zeit) 



Bahnsen^B charakterologischer Individualismas. 257 

welche nach vorwärts ebenso jeden Abschlnss des Processes unmög- 
lich macht (84), wie er nach rückwärts dem Process den Charakter 
der Entwickelung ranbt, dnrch die ganz richtige Erwägang, dass 
alle möglichen Entwickeiungsziele in einer unendlichen Vergangen- 
heit längst erreicht sein müssten (82). Die Unendlichkeit der Zeit 
will Bahnsen als eine Consequenz aus meinen Prämissen schon 
dadurch dargethan haben, dass er sie als das „Kind ewiger Eltern^' 
(Wille und Idee) verzeichnet (73—74); er vergisst dabei nur, dass 
dieses Kind von den ewigen Eltern doch erst dadurch gezeugt und 
geboren werden kann, dass diese aus ihrer ewigen Ruhe und Stille 
heraustreten und actuell werden, womit eben der Anfang der Zeit 
gegeben ist. Der Process kann gerade nur deshalb Entwickelung 
sein, weil er Anfang und Ende hat, d. h. weil die Zeit Anfang und 
Ende hat (was eine Wiederholung des Processes aus der Wurzel der 
Ewigkeit heraus nicht ausschliesst) *, die Zeit aber kann nur endlich 
gedacht werden, sobald sie als reale Daseinsform gedacht wird, wie 
ich dies schon in der ersten Abhandlung über Frauenstädt gezeigt 
habe. 



S. V. H»rtm»aa, firl&Qithuigeiu d. Atil 17 



c. 

Hegelianismus. 



17* 



V. 
Yolkelt'8 Panlogismus des Unbewussten. 



Leicht l>ei einander wohnen die Gedanken, 
Boeh hart im Baume stossen eich die Sachen. 

Schiller. 



A. Principienf ragen. 

1. Die Bialeetik. 

Vo&elt giebt aich wie wir schon in der Einleitung sahen, zwar 
als entschiedenen Hegelianer, will aber doch nicht als Hegelianer 
Yon altem Schrot nnd Korn angesehen werden, der auf die Worte 
des Meisters schwört, sondern ein so zu sagen modemisirter, von 
der realistischen Gnltur beleckter Hegelianer sein. So sucht er vor 
allen Dingen Fühlung mit der Empirie nnd der inductiven Methode 
zu gewinnen und behauptet, dass, wennHegel dies auch nicht 
eingesehen habe, die gesammten philosophischen Disciplinen 
mit Ausnahme der Logik (welche nach Hegel zugleich Ontolo^iiS 
ist), d. h. der Inhalt der ganzen Natur- und Geistesphilosophie nicht 
a priori, sondern nur induotiv aus dem Beichthum des empirisch 
angenommen Sto£Ees gewonnen werden könne (Das Unb. u. d. Pess. S. 96). 
Dem entsprechend sucht Volkelt die sinnlich wahrnehmbare Natur, als 
die objectiv-verständige Seite der Welt, von der Geltung des 
dialectiscben Gesetzes der Einheit des Widerspruchs anszuschliessen 
und in dem ganzen praktisch-verständigen Leben die formal logischen 
Gesetze als die allein gültigen zuzugestehen (S. 209 — 210). 

Ich mvm >diesen Compromissversuch zwischen IMalectik und 
Jiwpiiie na^ :b»ideft Bjchtmngw lals giescbeiterl; bej|:apht|9n. lifTaeh 



262 ^' Hegelianismus. 

den Principien der Hegerschen Dialectik gebiert die Selbstbewegnng 
des Begriffs, der das Bewusstsein nur passiv zusebaut; allen Inhalt 
ohne Ausnahme aus sieb selbst; unerreichbar ist ihr nur einerseits 
das einzelne Dieses, und andrerseits die handgreifliche Bealität, 
welche beide in gleichem Maasse aller Wissenschaft, auch den 
empirischen Realwissenschaften, transcendent bleiben, da die Wissen- 
schaft nur bis zu den artbildenden Unterschieden und zu den all- 
gemeinen Gründen der Individualunterschiede geht, nicht die 
Bealität selbst, sondern nur ein subjectives Abbild der Realität pro- 
duciren will. In diesem Sinne aber soll die Dialectik nach Hegel- 
sehen Principien unbedingt allen Inhalt der Wissenschaft aus sich, 
aus der reinen Selbstbewegung des Begriffs, produciren, und darf 
sich wohl der Bewährung durch die Empirie freuen, soll aber 
nicht den Stoff aus derselben entlehnen. Es ist ganz unthunlich, 
die Sphären ftir die Geltung der formalen Verstandeslogik und 
der dialectischen Vemunftlogik zu trennen; denn es giebt nach 
Hegel nichts, was nicht durch und durch Product der objectiven 
Begriffsdialectik wäre, und wo etwa die Widersprüche bloss neben 
einander, nicht auch in einander und in ihrer höheren Einheit auf- 
gehoben wären. Durchdringt aber 'die Dialectik alle Sphären der 
Existenz, so muss auch die diabetische Selbstbewegung des Begriffs 
im Kopfe des Philosophen dieselben reproduciren können, und smd 
die an die Empirie und Induction gemachten Zugeständnisse nicht 
bloss nach Hegel's Worten, sondern auch nach seinen Principien 
unstatthaft. Wird im Gegentheil dem inductiven Aufsteigen von 
der Erfahrung durch begriffliche Bearbeitung derselben nach den 
formal logischen Gesetzen das Gebiet der Natur- und Geistesphilo- 
sophie eingeräumt, so ist damit auch zugestanden, dass es zum be- 
grifflichen Verstehen und wissenschaftlichen Erklären der Wirklich- 
keit durch Rückschliessen auf ihre näheren und ferneren Ursachen 
keiner über die formale Logik hinausgehenden Dialectik bedarf, 
und wird alsdann die Logik selbst unter den durch „innere Erfah- 
rung" gewonnenen Inhalt der Geistesphilosophie fallen (S. 100). So 
zeigt sich der Compromiss zwischen Induction und Hegerscher 
Dialectik nach jeder Richtung als unhaltbar : entweder die Dialectik 
ist productive Selbstbewegung des Begriffs, dann kann sie ihren 
autonomen Gedankengang durch keinen mit der Zufälligkeit des 
Wirklichen behafteten empirischen Inhalt stören lassen; oder die 



Yolkelt's PanlogismiiB des ünbewossten. 263 

Natur- und Geistesphilosophie ist inductiv zn entwickeln, dann ist 
die Thätigkeit der begrifiOichen Bearbeitung in die indnctive Methode 
bereits hereingenommen, und es bleibt weder methodologisch noch 
stofflich irgend ein Plätzchen übrig, welches die Dialectik nicht 
schon von Rechts wegen occupirt fände. 

Yolkelt würde sich über die Unmöglichkeit dieses Compromiss- 
Versuches nicht haben täuschen können, wenn er sich nicht über 
den von mir (in meiner Schrift „lieber die dialectische Methode^' 
B. n. 3: „Die Hegersche Vernunft und der gemeine Verstand") 
hervorgehobenen Antagonismus getäuscht hätte ; letzteres aber wurde 
ihm wiederum dadurch möglich, dass er den absoluten Gegensatz 
der Hegel'schen Verstands- und Vernunft-Gesetze mit dem rela- 
tiven Gegensatz der HegeFschen Verstands- und Vernunft-Begriffe 
verwechselte (vgl. S. 211—212). Ein Begriff ist nach Hegel in 
einer Hinsicht fixer Verstandsbegriff (indem er sein Gegentheil von 
sich ausschliesst), in einer andern Hinsicht synthetischer Vemunft- 
begri£^ indem er untergeordnete Gegensätze zur Einheit in sich 
aufgehoben enthält; ein Verstandsgesetz aber ist niemals Vemunft- 
gesetz, ein Vemunftgesetz niemals Verstandsgesetz ; denn das erstere 
erklärt den Widerspruch ftir unmöglich, das letztere erklärt ihn 
flir nothwendig. Hier ist also der Gegensatz nicht mehr relativ, 
sondern absolut und unversöhnlich. Ich weiss sehr wohl, dass der 
richtige Dialectiker darauf antworten muss: „Ganz recht, eben die 
Identität der logischen Unmöglichkeit und logischen Nothwendigkeit 
ist das wahre Vernunftgesetz, welches das einseitige Verstands- und 
einseitige Vemunftgesetz zur höheren Einheit verschmilzt." Hier ist 
einer der Punkte, wo die Discussion mit dem Dialectiker aufhört, 
weil das Absurde, zu dem man ihn ftihren wollte, von ihm als 
Lebenselement bekannt wird. Es fragt sich nur, ob Volkelt diesen 
Schritt mitmachen will oder nicht: thut er es, so gehört er zu jenen 
Hegelianern, die man laufen lässt, weil nach Menschenart nicht mit 
ihnen zu streiten ist; thut er es nicht, so muss er den von mir 
behaupteten unversöhnlichen Antagonismus zwischen Verstand 
und Vernunft zugeben und sich von der Dialectik ganz zur inducti- 
ven Methode bekehren, weil die von ihm vorausgesetzte Belativität 
des Gegensatzes zwischen beiden Gebieten und sein auf dieselbe 
gegründeter Versuch zur Abgrenzung der Geltungssphären beider 
unhaltbar geworden ist 



264 C. ni^Uaiiinii». 

Wenn Volkelt die dialeotische Methode in dem Simie aufrecht 
erhalten wollte, dass er mit ihren Voranssetzuigen ab Benrtheiliings- 
maassstab an die Kritik meiner Philosophie herantrat, so durfte er 
ein näheres Eingehen auf die Hauptpunkte meiner Einwendungen 
gegen die Dialectik sich nicht ersparen. Als diese Hauptpunkte 
hatte ich in meiner Erwiderung auf Michelet's Kritik in den philo». 
Monatsheften Bd. I Hft. 6 die beiden Abschnitte Bd. ü. 6 und 7 
bezeichnet (,,Die Flüssigkeit der Begriffe^' und ,,Der dialectisehe 
Fortschritt^'), gegen deren Argumentation noch nirgends auch ntr 
der leiseste Versuch einer Entkräftung untemommoi ist Weshalb 
dies die Hauptpunkte sind, geht aus Abschnitt in meiner Schrift 
8. 117—118 deutlich genüg hervor: weil nämlich die Aufhebung 
der Identität des Begriffs mit sich selbst und die (Gewinnung eines 
neuen Inhalts aus der fortschreitenden Selbstbewegung des Begriffii 
die nothwendigen Gonsequenzen des panlögistischen Frindps sind, 
in welchen die Dialectik sich in ihrer rollen Beinheit und frei von 
allen trübenden Concessionen an das praktische Denkbedtlrfioiss des 
Menschen darstellt. Werden aber die unmittelbaren nothwendigen 
Gonsequenzen eines Princips ad cAsurdum geftihrt, so ist damit die 
Unhaltbarkeit des Princips in seiner gegebenen Gestalt indirect 
dargethan ; wer also das panlogistische Princi|)i, wie Volkelt, aufrecht 
erhalten will, muss die von mir geleistete reductio ad äbmtdum 
der genannten Gonsequenzen entkräften, welche zugleich die Be- 
dingungen seiner Brauchbarkeit und Haltbarkeit sind. Kann der 
Begriff durch seine dialectisehe Selbstbewegung zu keinem inhalt- 
lichen Fortschritt gelangen, so kann er auch nicht aus der absoluten 
Leere seines Ansichseins ohne äusseren Impuls allen Inhalt, alle 
Momente der Idee herausspinnen, so kann er nicht von sich selbst 
aus zu einem Zweck gelangen, so kann sein Zweck kein positiver 
Vemunftzweck sein, sondern kann sich nur negativ gegen das 
von aussen herantretende Unlogische wenden. Kann die Idee (ab 
bereits inhaltlich erfüllte, unbewusst-intuitive^ Vorstellung ver- 
standen) das Gesetz der Identität nicht umstürzen und sich selbst 
in Fluss setzen, so kann sie auch nicht mehr selber als Subject des 
objectiven Gedankenprocesses behauptet werden, so wird die An- 
nahme eines die Idee denkenden Subjects, das nicht selbst Idee, 
d. h. Denkinhalt ist, unausweichlich. Die Unmö^ichkeit des dialeoti- 
schen Fortschritts macht die Ergänzung der logischen Idee diliib 



VoIkelt*8 PaiüoginBtti to ünbewiusteii. 266 

ein Bweites ooordinirtes Prinoip notbwendig, welches die Bewegung 
in den Process bringt und dem mit sich identischen Logischen erst 
den Impuls znr Bethätigang^ inr negativen Zwecksetsnng verleiht; 
die Unmöglichkeit der flttssigen S e 1 b s t bewegüng der Idee macht 
hinter der Idee ein Snbject erforderlich^ das nun an und fiir sich 
nicht mehr Idee^ also etwas anderes als Idee (nämlich dtsa Attributen 
snbsistirende Substanz) ist Durch meine Kritik der dialectischen 
Methode war also nicht nur die Unhaltbarkeit des panlogistischen 
Princips in seiner Isolirung dargethan, sondern auch zugleich die 
Richtungen angedeutet, in welchen dasselbe ergänzt werden musste, 
nm zum wahren Moment eines höheren Prindps (des vorstellenden 
imd wollenden Unbewussten) zu werden. 



2. Die Stellung des Unlogiselien zum Logisehen. 

Man kann Sehr wohl sagen, dass auch bei Hegel die absolute 
Substanz oder das absolute Subject (was bei ihm der Begriff ist), 
das Unlogische und das Logische zu seinen beiden Attributen habe, 
wenn man unter dem Unlogischen die immanente Negativität des 
Widerspruchs und unter dem Logischen die überwindende Aufhebung 
des Widerspruchs versteht Das Logische und das Unlogische zu 
vereinigen ist die Aufgabe jeder Philosophie, da beide sich em- 
pirisch aufdrängen, da das Weltwesen sich thatsächlich sowohl in 
Weisheit wie in Widersinnigkeit offenbart; Yolkelt hat daher Un- 
recht, das Problem einer substantiellen Vereinigung beider mir als 
vemunftmOrderisch vorzuwerfen (3. 160), da es Problem aller 
Philosophen ist Nun ist aber der Lösungsversueh dieser Aufgabe 
zunächst auf dreierlei Weise zu unternehmen möglich: entweder 
man betrachtet das Unlogische als Moment des Logischen wie Hegel, 
oder man betrachtet das Logische als Moment des Unlogischen me 
Bahnsen auf Schopenhauer'scher Grundlage, oder man betrachtet 
beide ibüb coordinirte Momente der absoluten Substanz, oder des 
absoluten Subjects, wie ich es thue. Im ersten Falle erhält man 
als Bignatur des Weltprocesses die objective Begrifbdialeotik HegeFs, 
im zweiten Falle die Realdialectik des ewig in sich selbst ent- 
Bweiten Willens, im dritten Falle die logische Entwickelung der 
Realität zum negativen Endzweck der Ueberwindung des Unlogischen. 
Ist der Widerspruch ewige Denknothwendigkeit, so hat 



266 C. HegelianlsmoB. 

Hegel Reeht, dass das Unlogische immanentes Moment des Logischen 
ist; ist der Widersprach ewige Seinsnothwendigkeit, obzwar 
Denknnmöglichkeit, so hat Bahnsen Kecht, dass das Logische irgend- 
wie in nnbegreiflicher Weise aas dem Unlogischen entstehen and 
daher als ewiges Moment in demselben enthalten sein müsse; ist 
aber der Widersprach sowohl denkanmöglich als aach 
seinsanmöglich in Bezag aaf den Inhalt des Daseins, wie dies 
die meisten Leser zageben dürften; so werden Hegel and Bahnsen 
Unrecht haben, and ich werde darin Recht behalten, dass das ,,Wa8^ 
der Welt als rein logisch bestimmt anzusehen and das Unlogische 
nur in der Widersinnigkeit des ,,Dass'' der Existenz za suchen sei 
Auch darüber besteht zwischen den drei Standpunkten keine 
Meinungsverschiedenheit, dass das Unlogische allein der bewegende 
Factor im Processe sei, dass im Unlogischen die Tendenz zom 
Fortgange enthalten sei, während das Logische ohne das Unlogische 
keinen Impuls zum Herausgehen aus der Identität in sich findet, 
mit anderen Worten, dass nur das Moment des Unlogischen das 
Streben, den Trieb, den Willen herzubringt, was alles dem bloss 
Logischen als solchen nicht innewohnt. Auch nicht den kleinsten 
Fortschritt kann die logische Idee bei Hegel machen ohne das Fer- 
ment des Unlogischen, das ihre Entwickelang von der absoluten 
Leere des yoraussetzungslosen Anfangs bis zur höchsten Fülle nicht 
sowohl begleitet als erzeugt. Auch hier ist das Unlogische das 
männliche Element, von welchem das Logische concipiren muss, 
bevor es eine neue Gestalt der Idee gebären kann. Jede Kategorie 
bei Hegel hat sich an dem Unlogischen entzündet und trägt das 
Unlogische als Merkzeichen ihrer Geburt an sich, ist also in meinem 
Sinne schon ein angewandt logisches Gebilde, ein Gebilde der auf 
das Unlogische angewandten Logik. Von keiner gilt dies in höhe- 
rem Grade als von der des absoluten Zweckes, welche man wohl 
als die höchste Kategorie Hegel's bezeichnen kann; hier geht das 
Versteckenspielen mit dem Unlogischen zu Ende, die Prätension 
eines p o s i t i v - vernünftigen Zweckes erweist sich als Chimäre 
und das Unlogische als negatives, d. h. als aufzuhebendes End- 
ziel, setzt sich bei näherer Betrachtung als selbstständiges Moment 
heraus (vgl. meine Ges. Studien a. Aufsätze S. 629 — 634), und 
erweist sich als die wahre und alleinige Triebfeder des ganzen 
Prooesses. 



Yolkelt's FanlogismuB des ünbewussten. 267 

Auch Volkelt erkennt die Hegersche Negativität (das negativ- 
Vernünftige, d. h. das Widervernünftige, die Selbsterhebung des 
Widerspruchs im Logischen) als das „Bewegungsprincip" an (S. 154), 
und der Zweck seiner ganzen Kritik lässt sich dahin zusammen- 
fassen, das von mir dem Logischen coordinirte Unlogische, d. h. 
den Willen, dem Logischen wieder wie bei Hegel zu subordini- 
ren, genaner: es wieder zum immanenten Moment des Logischen 
selbst herabzusetzen (S. 151). Dies heisst aber: den Widerspruch 
zur Denknothwendigkeit erklären (S. 141), d. h. das Princip der 
dialectischen Methode auf den metaphysischen Thron erheben. Man 
sieht jetzt, wie eng meine Kritik der dialectischen Methode mit 
meinen metaphysischen Principien zusammenhängt, wie sie geradezu 
die negative Rechtfertigung derselben gegen den Standpunkt des 
Hegelianismus bildet. Hätte Volkelt dieses Verhältniss schärfer 
erfasst, so würde er eingesehen haben, dass die Widerlegung dieser 
Kritik, insbesondere der oben genannten Hauptabschnitte, allein im 
Stande gewesen wäre, seiner kritischen Arbeit die unerlässliche 
principielle Basis zu geben, ohne welche dieselbe in der Luft schwebt, 
mit welcher ausgerüstet sie sich hingegen der Detailkritik ftiglich 
hätte überhoben erachten können. Das aber ist festzuhalten, dass 
nur die der Logik suppeditirte Dialectik, das überall in das Logische 
selbst eingeschmuggelte Unlogische, die beständige Zumuthung der 
Denkmöglichkeit und Denknothwendigkeit des Widerspruchs, die 
Täuschung zu erzeugen im Stande ist, als ob das Logische aus sich 
selber inhaltliche Gestalten der Idee gebären, als ob es sich selbst 
einen Zweck und zwar einen positiven Zweck setzen, als ob es 
überhaupt mehr als ein Formalprincip sein könnte, welches zwar 
seinen Inhalt formell bestimmt, aber erst durch Impuls von aussen 
einen solchen empfängt. Es ist festzuhalten, sage ich, dass die 
irrthümliche entgegengesetzte Annahme, von welcher aus durchweg 
Volkelt seine Kritik übt, nur einen Sinn hat unter Voraussetzung 
der Wahrheit der Hegerschen Dialectik, welche ich entschieden 
zurückweisen muss, und dass Volkelt's Kritik schon deshalb durch- 
weg als Anlegen eines mir fremden und von mir ausdrücklich ver- 
worfenen Maassstabes an meine Philosophie bezeichnet werden 
muss. 



269 0- Higtüaidttiiiig. 

8. Uealpriiieip uid Bealprbielp. 

IndeBsen sind die Gründe für die Unsulängliehkeit des Paa- 
log^smuB in seiner principiellen bolimng mit den Btt<A:8ohlfi88en 
aus der Unhaltbarkeit der dialectisohen Methode HegeFs keineswegs 
erschöpft; auch dann^ wenn die dialectiscke Methode Wahrhdt wäre, 
wäre der Panlogismns doch anhaltbar. Die Grftnde hierfilr habe 
ich anseinandergesetzt^: Phil. d. Unb. 7. Aufl. Bd. II. S. 419—424 
(vgl. auch 1. 106—107 u. 154); SoheUing's pos. Phil, in den keiden 
Abschnitten ^^Unzulän^chkeit des Panlogismus^' und ^^Negi^tive und 
positire Riilosophie" ; Ges.Stud. u.Aufs. S.663— 679 a. 627— 629.- 
Auch diesen Ausführungen gegenllber vennisse ich die Sjritik Volkelffl^ 
während doch die Auseinandersetzung mit diesen Stellen an die 
Spitze seiner kritischen Prüfung hätte treten mttssm, da in ihnen 
die Motive dargelegt waren, welche Schelling und mich zur anbe- 
friedigten Abkehr vom Panlogismns und zum Suchen nach einer 
metaphysischen Ergänzung und V^eAmg dieses Standpunktes ge- 
trieben hatten. Gelang es ihm, cUe Unstichhaltigkeit dieser Beden- 
ken, sowie derjenigen gegen die dialectische Methode naobKUweiseu, 
so hatte er von vornherein gewonnen Spiel. Dieses Centmm seiner 
kritischen Aufgabe hat Yolkelt jedoch nicht erkannt, and damit hat 
er von vornherein sein Spiel verloren ; denn er tfaut am Ende weiter 
nichts, als unter Ignorirung der gegen seinen Standpunkt erhobenen 
gegründeten Bedenken zeigen, dass meine Gedanken an seinen 
panlogistisch-dialeGtischen Voraussetzungen gemessen widerspruchs- 
voll erscheinen, nicht jedoch, dass sie es auf dem Boden meiner 
metaphysischen Voraussetzung sind. Das erstere aber hfttte ihm 
jeder Leser auch ohne lange Auseioandarsetzungen geglaubt; nur 
um letzteres handelte es sich für die Beurtheilnng, wenn der aUein 
fruchtbare Standpunkt einer immanenten Kritik gewahrt bleiben 
sollte. 

Das specifische Vorurtheil des Panlogismus, das Ttgakov npBvdog, 
aus dem alle seine übrigen Irrthümer folgen, ist der Glaube, dass 
das Idealprinoip als solches auch Bealprincip oder Existeatialprinctp 
sei, dass es keines Bealprincips neben und ausser dem Idealprinoip 
zur Erklärung der Existenz bedürfe. Der Panlogismns begreift 
nicht, dass zwischen Gedanke und Wirklichkeit eine Kluft gähnt, 
dass die Bealität noch etwas anderes ist als Idee, das zum idealen 



Yolkelt'B Fftnbgismiii te Unbewossten. g$9 

InWt lioch ein imsac^oi Etwas Uraiikommeii mmOf damit BeaUtät 
damos wird. Der Fanlogismui bdutaptet^ dass daa ol^eetiye Den- 
ken als solches durch seine Position die Bealititt schafft, durch 
si^e Negation sie rer nicht et, er bildet sieh ein, dMs das 
Denken das Sein erdenken nnd z er denken kOnne, nnd y^kenat 
die absolute Transcendenz des Seins gtgca das Denken, welche 
diesem jenes unerreichbar maehi Nicht als Denkende erfahren wir 
<He Existenz, sondern als Existirende; nicht durch Denken a priori 
oder dialecÜBche Selbatbewegnng des Begriffb ist das Sein uns 
mreichbar, sondern nur durch CoUision unseres Willens mit einem 
fi^emden wird es uns empfindlich nnd wahrnehmbar. Der Pank^- 
MUB will u» vorreden, die Existenz ids soldie (nicht ihr labalt), 
die Thatsaohe, dass irgend etwas existirt, sei vernünftig; in Wahr- 
heit aber ist sie das sinnlos Unvernünftigste, das eigentlich Un- 
logisohe, was uns in jedem AugenUick von Neuem daran erinnert, 
dass der ganze logische Weltinhalt auf einem unlogischen Grunde 
ruht und erst dureh diesen BealUilt empffingt. — JSa gehört in der 
Timt der Vorsatz, seinen Verstandizum Schweigen zu 
bringen, zu dem Entschlüsse, sekh' ein Prineip als Urgrund der 
Wdt anzunehmen'' (Volkelt S. 187). Es gehört im Qegentheil die 
ganze Ueberhebung des BatJonaHsmufl dazu, jedes Jenseits der Ver- 
nunft und des Denkens von tomherein zu perhonrescken; nicht 
ohne Notfi aus purer Bescheidenheit soll der Verotand eine Grenze 
at^er selbst anerkenuMi, sondern er soU nur nicht der Iiehre zum 
Trotz, die ihm jeder Stoss an emer Ecke ertheilty darauf beharren, 
dass die Wirklichkeit nichts ist als blosses Denken, die Bealität 
nidits als lautere Idee. Nur in einem ao ¥on des Gedankens Blässe 
angekrBnkelten Volke, wie dem deutschen, konnte der Abeiglaube 
sieh breit machen, dass der Begriff die Substanz der Dinge, und 
dass das grimmige Aufeinanderplatzen der Bealit&ten nur eine 
Gegensätzli^keit verschiedener Momente des Begriffs «eL Nein, 
aueh der hftrteste Wideispmeh im Beiche der Gedanken bleibt ein 
fiiedlidier idealer Proceas, der ianerhalb der Idee znm Austrsg 
faunrnt, und der an und fiir sich niemals Schmerz verursachen, 
En^findmig hervorrufen, Bewnsstsein wecken kann. Erst wenn die 
gegensätzlichen Momente der Idee zum Inhalt von Willensiacten 
werden, tritt der Gonflict aus der ideaLm Sphüre heraus in die 
reak^ erst dann prallen wirkungsfähigCi d. h. wirksame <)der 



270 0. Hegeliamsmos. 

wirkliche Momente gegeneinander, erst dann wird der Gegensatz 
der Begrifbmomente in der Idee zum Widerstreit der Dingei Indi- 
viduen, oder Affecte und Leidenschaften innerhalb eines Individuums, 
erst dann wird das am Widerstand des fremden Willens sich bre- 
chende Streben zum Schmerz, zur Empfindung und hieraus erst kann 
das Bewusstsein hervorgehen. 

Gesetzt also, die dialectische Methode HegeFs wäre Wahr- 
heit, und die immanente Negativität der Idee wäre selbst schon 
Bewegungsprincip, Entwickelungstrieb derselben, so würde doch dies 
immer nur filr das Gebiet der Idee als Idee, der Idee in ihrem 
Ansichsein gelten; es würde der Widerspruch zwar die Idee bis 
dahin führen können, dass sie den ganzen Beichthum der in ihr 
beschlossenen Gestaltungen als ideales Urbild der Bealität entfaltet, 
d. h. den Kreis der Hegerschen Logik beschreibt, aber niemals 
würde der der logischen Idee immanente Widerspruch das Heraus- 
gehen der Idee aus der idealen Sphäre in die der Bealität erklären 
können. So gewiss der Eigenwille eines starken Charakters etwas 
anderes ist, als die Vorstellungen, welche derselbe mit seinen Hand- 
lungen verknüpft, so gewiss ist der Weltwüle in seiner übersprudeln- 
den unbändigen Gier noch etwas anderes als die Summe der idealen 
Urbilder, in deren Abbildern er sich manifestirt. Das Unlogischei 
das innerhalb der Hegel'schen Logik sein Wesen treibt, ist doch 
noch etwas ganz anderes als das Unlogische, dessen Eintritt das 
Hegel'sche System selbst beim Umschlag der Idee in ihr Anderssein 
fordert; das erstere ist sozusagen nur ein relativ Unlogisches, 
indem es sich nur gegen die fixirten Momente der logischen Idee 
in ihrer Vereinzelung wendet und durch Zerstörung dieser Isolirung 
dem Logischen dient, — das letztere aber ist ein absolut Un- 
logisches, indem es sich gegen die logische Idee in ihrer Totali- 
tät wendet, und zwar gerade das an ihr zerstört, dass sie bisher 
bloss „noch legi sc h^' war, d. h. sich dadurch bethätigt, dass es 
sie mit Haut und Haar verschlingt, oder sie in sich, das Unlogische, 
hineinstürzt. So lange der „Trieb'' der Idee nur dahin ging, sich 
logisch zu entfalten, so lange konnte die Immanenz dieses (relativ) 
Unlogischen mit einer gewissen Scheinbarkeit behauptet werden, 
sobald aber der „Trieb'' dazu auftaucht, die Idee ihrer rein logischen 
Idealität zu entäussern, da kann von einer Lnmanenz dieses 
absolut Unlogischen im Logischen nicht mehr die Bede B&n^ da 



Volkelt*s Panlogismus des ünbewossten. 271 

kann die Idee nicht mehr als Snbject dieses unlogischen Strebens 
untergeschoben werden. Und wohlgemerkt| dies alles gilt, gleich- 
viel ob die spätere Bückkehr der Idee zu sich selbst als eine 
Bereicherung derselben angesehen werden möge oder nicht; denn 
wäre es auch wirklich eine Bereicherung, so könnte es doch keine 
logische Bereicherung mehr sein, da alle dem Liogischen mögliche 
Entfaltung vor der Entlassung schon ; erledigt sein soll, — also 
könnte auch diese Bereicherung nur eine Bereicherung des Logischen 
durch's Unlogische sein, und zwar durch ein anderes Unlogische, 
als was sie schon in sich hat, da es sonst wieder keine Bereiche- 
rung wäre. 

Dies alles bestätigt nur die längst bekannte Bemerkung, dass 
die Entäusserung der Idee an die Realität der wunde Punkt des 
Hegel'schen Systems ist, insofern der dort thatsächlich gemachte 
Schritt ein mit den Mitteln des Systems nicht zu be- 
streitender scdto mortale ist. Hier erst tritt das eigentliche 
Unlogische ein, von dem bei mir allein die Rede ist; denn eine 
Ehitfaltung der logischen Idee im Aether der reinen Idealität ist eine 
Chimäre (vgl. Ges. Stud. u. Aufs. S. 606—610), und deshalb (ebenso wie 
wegen der Unwahrheit der dialectischen Methode) ist das von Hegel 
behauptete relativ Unlogische als ein dem Logischen immanentes 
Moment blauer Dunst 

In der That genügt das Zugeständniss, dass die Hegersche 
Logik nur discursive Klarstellung des ewigen Verhältnisses der 
Hauptmomente der logischen Idee zu einander und keineswegs Re- 
production einer ausserhalb des discursiven Verstandes jemals vor- 
gegangenen Entwickelung sei, auch ganz abgesehen von der Wahrheit 
oder Unwahrheit der Dialectik, allein schon, um meine Auffiussung 
des Unlogischen zu rechtfertigen. Ist nämlich die Logik nur Elar- 
legung eines ewigen Verhältnisses, so kann von einem Bewegungs- 
princip, einem „Trieb'' innerhalb derselben nicht mehr die Rede sein. 
Vollzieht sich alle Entwickelung nur auf dem Boden der Realität, 
so genügt auch fiir diese allein übrigbleibende reale Entwicke- 
lung das absolut Unlogische als Impuls, Trieb oder Bewegungs- 
prmcip, so giebt es keinen andern Trieb oder Willen, als der von 
diesem sich ableitet, mag nun die fragliche Entwickelung in der 
Natur oder im realen Geiste vor sich gehen. Der angebliche Trieb 
des Hegel'schen immanenten Unlogischen ist nur von dem allgemeinen 



278 C« HegeüaniBmiii. 

Willen zum Leben enttiehen, der sieh im Kopfe des PUlosopheii 
in seiqer oonoentrirtesten Gtestalt als Wille zum Erkeimeii offenbart, 
and als solcher von der onznlängliehen Erkenntpiss onbeMedigt 
Bur vollkemmenerenr fortstrebt In der ewigen reinen Idee in ihrem 
Ansichsein giebt es keinen Trieb, weil keine Entwiekelnng, im 
Kopfe des Philosophen aber ist der Trieb des Oenkfortganges von 
dem allgemeinen Willen zum Leben, vom Weltwillen oder dem 
absolut Unlogischen entliehen; so verschwindet der Trieb des 
immanent Unlogischen HegeFs anf jede Weise, und selbst die Wahr- 
heit der dialeotischen Methode vermöchte nicht, ihn zu rettea. Aller 
Trieb, aller Wille erweist sich vielmehr als Ausfloss jenes aÜMolnt 
Unlogischen, das an der Markscheide der Idee und der Realität 
steht and mit welchem erst der Unterschied des Idealen und Realen 
aidMhi — Mass der Panlogismas zagestehen, dass ^e Idee in der 
Realität der Welt in ihrem Anderssein ist, d.h. dass dieRealitftt 
noch etwaa anderes ist als die Idee an sieh, mnss er ferner dn- 
räamen, dass dieser Umsehlag darch Einsetzen eines gegen das 
Logische in seiner Totalität feindlichen Gegensatzes (vg^. 
Yolkelt S. 226 Z. 16—18), darch den Gegenstoss eines der ku- 
schen Idee schlechthin Inadäquaten, Incongmenten (vgl. IGohelet's 
,^edanke<< Bd. VIIL S. 179 Z. 12—9 von nnten), d. h. abeir eines 
absolut Unlogischen erfolgt, kann er endlich nicht levgnMi, dass 
dieses Unlogische, welches die Idee realisirt, der Trieb, d. h. 
dass die positive Bestimmung dieses negativ nach seinem Gegensatz 
zum Loschen als unlogisch bezeichneten Moments der Wille sei, 
so beduirfte es nur noch des soeben gelieferten Nachweises, dass 
ein anderweitiger Trieb innerhalb des Logisch» nicht zu inden 
BÜj um das absolut Unlogische unter seiner positiven Bestimmung 
als Wille zum alieinigen Realprinoip, d. h. zu einem dem Logi- 
schen als Idealprinoip eoordinirten Princip zu erheben. — So 
lange die dialeotische Methode uns vorspiegeln konnte, dass die Ne- 
gativitit, also em immanentes Moment des Logischen, der Trieb sei, 
konnte diese Vorspiegelung auch dahin ausgedehnt werden, dass 
d^ Eintritt des absolut Unlogischen nur deshalb triebartig wirke, 
weil er uidogisch sei; mt der Beseitigung jener Vorspiegelung aber, 
mit dem Nachweis, dass das ideale Bewegungsprineip der Dialeotik, 
aeUMEit wann es «xistirte, etwas toto genere VerseMedmes von dem 
Baalfrindp des die Uee in ihr Anderssein stürzenden und dadursh 



Yolkelt's Fanlog^smus des ünbewussten. 273 

weltschöpferischen Willens wäre, mit diesem Nachweis sinkt jede 
Hofihnng fttr das Gaukelspiel der Dialectik dahin, uns über die 
starrende Kluft zwischen Idee und Wirklichkeit hinwegtäuschen zu 
können. Wäre das Unlogische nur darum Trieb, weil es unlogisch 
ist, 80 wäre ein solcher ewig unfähig, mehr als ideales Bewegungs- 
princip innerhalb der Sphäre der Idealität zu sein, er könnte nur 
Processe des reinen Denkens herbeiführen, aber nie den Schritt 
vom Gedanken zur Wirklichkeit zu Stande bringen, also niemals 
Realprincip sein; der Wille im Gegentheil ist nur deshalb unlogisch, 
weil er Wille, d. h. Realprincip ist, weil er die Idee nicht zufrieden 
lässt, sondern herausreisst aus ihrer Idealität in die Unruhe und den 
Schmerz des Weltprocesses. Wäre das absolut Unlogische nur 
deshalb Trieb, weil es unlogisch ist, so wäre seine maassgebende 
Bestinmiung eine bloss negative, also von der Position des Logischen 
schlechthin abhängige und durch sie mitgesetzte; so widersiimig die 
spontane Selbstyemeinung des Logischen in seiner Totalität und 
seiner logischen Natur auch erscheinen müsste, so wäre doch so 
lange, als das Unlogische als Essentialbestimmung des Willens fest- 
gehalten würde, eine positive Selbstständigkeit des letzteren vom 
Logischen schwer begreiflich zu machen. Ist aber der Wille die 
Essentialbestimmung des Realprincips, und drückt das Prädicat des 
Unlogischen nur sein Verhältniss zum Idealprincip aus, dann ist die 
Selbstständigkeit des Realprincips vom Idealprincip ausser allem 
Zweifel. Letzteres aber stimmt mit der Erfahrung tiberein, welche 
lehrt, dass der immer nur von einem Willen geleistete Widerstand 
oder Eingriff das alleinige und wahrhafte Symptom der Realität ist 



4. !Die substantielle Identität und attributive Oegrensätzlichkeit beider 

Principien. 

Was ich bei meiner Correctur des panlogistischen Princips 
gethan habe, ist also zunächst weiter nichts, als dass ich das wahre 
(absolut) Unlogische, das bei Hegel zwar vorhanden ist und die 
bedeutsamste Rolle spielt, aber sich hinter den Goulissen versteckt 
hält, auf die offene Bühne hervorgezogen und ihm dort dem ihm 
gebührenden Platz angewiesen habe, womit zugleich die durch die 
falsche Dialectik erschlichene Bedeutung des Hegerschen immanen- 
ten (relativ) Unlogischen in ihr Nichts zurückgeschleudert wird. Die 

S, y. Uartmann, £rl&atcriuig«n. 2. Aufl. 13 



274 G' HegelianiBmui. 

zweite Correctar aber, welche ich yorgenommen habe, besteht darin, 
dass ich den reinen Begriff HegeFs und den blinden Willen Schopen- 
hauer's zn Momenten oder Attributen eines absoluten Subjects herab- 
gesetzt habe^ während sie im Panlogismus und Willensmonismus 
hypostasirte Abstractionen waren, welche fttr sich selbst subsistben 
sollten, ohne doch dazu fähig zu sein, und deshalb als mythische 
Hirngespinnste haltlos in der Luft herumflatterten. — Die eminente 
Tragweite und dringende Nothwendigkeit dieser zweiten Correetur 
hat Volkelt ebenso wenig begriffen als die der erstgenannten. Er 
hält daran fest, dass das Unbewusste seinen Vorstellungsinhalt nicht 
habe, sondern dass es derselbe sei, und nichts sei als dieser; in 
ihm allein habe es sein Sein und Bestehen, und stehe keines- 
wegs als ein anschauendes Subject hinter demselben; was das 
Unbewusste in seiner concreten Intuition als Inhalt habe, dahinein 
sei es eo ipso mit seinem Sein übergegangen (S. 177 — 178). Ifit 
andern Worten: Volkelt hält an dem HegeFschen Widersinn fest, 
dass der Begriff sich selbst denke, oder dass das Vorgestellte Sub- 
ject der Function des Vorstellens sei, eine Verkrempelung des Vor- 
stellungsprocesses, die wohl nur aus der verdrehten Fichte'schen 
Lehre von der Identität des Subjects und Objects im Act des Selbst 
bewusstseins geschichtlich zu erklären, obzwar nicht zu entschuldigen 
ist. — Von einem solchen in sich widersinnigen Vorurtheil ans 
kritisirt dann Volkelt den ganz anderartigen Gedankengang meines 
Standpunkts. Während ich überall, wo ich von den Attributen 
spreche, das Attribut als Attribut einer absoluten Substanz oder 
eines subsistirenden Subjects stillschweigend voraussetze, während 
meine ganze Entwickelung auf dieses letzte einheitliche Endziel 
angelegt ist (vgl. Volkelt S. 158 unten), und ich nur deshalb zn 
diesem puncto eilen Gipfel der Erkenntnisspyramide zuletzt komme, 
weil dies vom Wesen der inductiven Methode gebieterisch so ge- 
fordert wird, versteht Volkelt die Sache so, als ob ich die einheit- 
liche Substanz bis ganz zum Schluss „ignorirte^^ (S. 126), um sie 
dann „ganz äusserlich und ohne Berechtigung der grossartigen 
Weltpyramide als Gipfel aufzusetzen^' (S. 162), und glaubt sich 
dadurch berechtigt, dieselbe bei der Kritik der Attribute „bei Seite 
zu lassen^' (S. 126). Ja sogar er versteigt sich bis zu der ebenso 
kühnen als grundverkehrten Behauptung, dass auch bei mir, ganz 
wie W Hegel, ^,da9 ypm logische» Inhalt verscbiecle»e dankende 



Yolkelt's PaalQgiBmiii des ünbewassten. 375 

Sabject fehle^ (202)^ nnd dass demnach auch bei mir der In- 
halt der unbewusst logischen Idee selbst das hellsehende Sabject 
sein mttsse (210). 

Nnn kritisirt er mit der Yoranssetzong der substantiellen Selbst- 
ständigkeit, der isolirten Hypostasirung der Attribute darauf los, 
während ich dieselben nur unter Voraussetzung der einheitlichen 
Substanz beider meine und verstehe und ausschliesslich in diesem 
Sinne von ihnen rede. Da ist es denn freilich kein Wunder, dass 
er sich über die Zusammenhangslosigkeit der beiden Sprossen wun- 
dem muss, die er doch erst von ihrer gemeinsamen Wurzel los- 
gerissen, in deren Wesen ihr inniges Yerwachsensein begründet war 
(S. 133). Weil er mit dem Vorurtheil an die Sache herankommt, 
dass ein einziges Princip ohne weiteres die Existenz mit aller ihrer 
Bealität und Idealität aus sich erzeugen mttsse, darum glaubt er 
etwas erreicht zu haben, wenn er zeigt, dass keines meiner beiden 
Principien fiir sich allein dieser Aufgabe gewachsen sei (S. 128). 
Aber eben deshalb, weil kein Princip der Welt einer solchen in 
sich widersinnigen Aufgabe gewachsen ist, darum habe ich ja ge- 
rade zwei, welche, obschon in gleicher Weise existenzunfähig, wenn 
von einander isolirt gedacht, doch in ihrer Vereinigung die Existenz 
produciren. — Der Materialist oder der Skeptiker kann es ablehnen, 
mit seinen Erklärungsversuchen hinter die empirisch gegebene 
Existenz zurückzugehen, und ttber die Entstehung der Existenz zu 
speculiren; der Hegelianer wird sich schwerlich dem entziehen 
können. Lässt er sich aber einmal durch die Stärke seines meta- 
physischen Bedürfnisses dahin bringen, auf Erklärungsversuche ttber 
die Entstehung der Existenz einzugehen, so muss er sich auch klar 
machen, dass er damit die Grenze des Existir enden überschreitet, 
dass das die Existenz erst Setzende als solches ein noch nicht 
Existirendes sein muss, dass jede Speculation über die Ent- 
stehung des empirisch gegebenen Seins zum „Ueberseienden^^ führt. 
Dann aber darf er auch mir keinen Vorwurf daraus machen, dass 
das Existenzsetzende als solches bei mir ein nicht Existirendes ist 
(S. 128). Das Existenzsetzende in seiner Totalität (als die 
wollende und vorstellende Substanz oder das Unbewusste) ist auch 
bei mir existenzfähig; denn nichts anderes als es selbst ist das 
allem Existirenden Subsistirende , das Wesen aller Erscheinung. 
Jedes einzelne Homeot des gesammten Unbewussten in seiner 

18« 



276 ^- HegelianismuB. 

IsoUrnng mnss aber selbstredend existenzanfähig sein^ wenn nicht 
die übrigen Momente überflüssig sein sollen. 

Man kann sich also wohl so aasdrücken, dass jedes Moment den 
andern erst die Existenz verleiht ; aber damit ist nicht gesagt, dass 
das so Hervorgehobene allein die Existenz hervorbringt (S. 132), 
denn von jedem der andern gilt ja dasselbe. Die Substanz bringt 
die Subsistenz, die Vorstellung den idealen Inhalt, der Wille die 
Form der Realität herzu; so erst aus allen Dreien kommt als Pro- 
duct die Existenz zu Stande. In ihrer abstracten IsoUrnng, wie 
Volkelt sie fasst, sind die Momente sämmtlich Nichts, in ihrer 
einheitlichen Zusammengehörigkeit sind sie Alles, nämlich Alles, 
was da ist. Nicht als ob aus drei Nichtsen Etwas würde, sondern 
so wie aus drei zusammentreffenden Bedingungen, die vereinzelt 
wirkungslos bleiben, vereint eine zureichende Ursache wird, aus der 
die Wirkung entspringt. Geht man vom Panlogismus aus, wo also 
die Idee vorausgesetzt wird, so muss man sagen, dass der die Form 
der Realität herzubringende Wille das Existenzsetzende sei ; aber 
keineswegs darf Volkelt daraus folgern, „dass er von sich aus 
zur Realität zu gelangen im Stande sei'' und dies in seiner eigensten 
Entwickelung gelegen sei (S. 128). Analog müsste Volkelt folgern, 
dass der Vater von sich aus zum Sohne gelangen müsse und der 
Sohn in seiner eigensten Entwickelung liege, weil man doch (bei 
Voraussetzung der Mutter) sagen kann, dass der Vater das den 
Sohn Setzende oder das zur Entstehung des Sohnes die Initiative 
Gebende sei. Somit findet Volkelt Widersprüche nur dadurch, dass 
er auseinander reisst, was nach meiner Erklärung untrennbar zu- 
sammengehört. 

Wenn Volkelt behauptet, dass ich nur zwangsweise die 
substantielle Identität beider Principien zugestehe, und dass sich 
dies Zugeständniss mit meinen sonstigen Sätzen nur schlecht vertrage 
(S. 134), so beweist dies nur ein totales Verkennen des in meiner 
Philosophie herrschenden Geistes, für welche der absolute Monismus 
in seiner strengsten Gestalt unverrückter Augpunkt aller Gedanken- 
gänge bleibt. Volkelt kann sich nur durch eine einzige Stelle 
haben irreleiten lassen, in welcher ich die Attribute einander „un- 
zugänglich" nenne (Phil. d. Unb. Ster.-Ausg. S. 755). Ich gebe zu, 
dass dieser Ausdruck nicht glücklich ist, da er solchem Missverständ- 
niss eine, wenn auch nur scheinbare Rechtfertigung bieten konnte. 



Yolkelt*B PanlogiEonufi des Unbewussten. 277 

und habe ich denselben auch in der 7. Auflage beseitigt, und durch 
^^widerstrebend'' ersetzt. Was ich mit dem angefochtenen Ausdruck 
habe sagen wollen, ist nur, dass keines der Principien seine Natur 
wechseln, d. h. die des andern annehmen kann, dass das Logische 
nicht unlogisch, das Unlogische nicht logisch werden kann, dass 
also die Natur eines jeden Princips nicht in die des andern hinein- 
und ttbergreifen kann, sondern demselben immer widerstrebend, 
antipathisch bleiben muss, so dass gerade aus dieser untlberwind- 
licben Antipathie das Vernichtungsstreben des Logischen gegen das 
Unlogische erwächst. Aus dem Zusammenhang geht also eclatant 
hervor, dass von einer Unzu^nglichkeit im Sinne der Berührungs- 
losigkeit hier nicht die Rede sein konnte, da aus ihr gerade die 
Reaction des einen Elements auf die Natur des andern gefol- 
gert wird. 

Berrtlhrungslose Heterogenität bestände nur dann zwischen den 
Attributen als solchen, wenn ihre Bestimmungen wie die der 
Spinozistischen Attribute ausser aller Beziehung zu einander ständen ; 
dann wäre ihre Einheit nur durch die Wurzel der gemeinsamen 
Substanz gewährleistet, und es könnte aus einer solchen Anordnung 
so wenig etwas herauskommen, wie aus einem galvanischen Element, 
dessen Pole keine peripherische Schliessung haben. Indem sie sich 
aber bei mir in jeder Hinsicht als auf einander bezogene polare 
Gegensätze darstellen, ist eben hierdurch ihre gemeinsame Beziehung 
und Berührung gegeben. Der polare Gegensatz ist hier zugleich 
wie öfters die natürlich geforderte Ergänzung (vgl. Phil. d. Unbew. 
Ster.-Ausg. S. 813—815), und ein solcher ist der festeste Kitt der 
Einheit (wie z. B. in der Geschlechtsliebe). So kann man allerdings 
sagen, dass sie auf einander angelegt sind (Volk. S. 133), wenn 
man dies nur nicht im teleologischen Sinne versteht. — Die Idee 
ist die absolut reiche, aber dieser Reichthum kommt, wie beim 
Säckel des Fortunat, erst zu Tage, wenn man hineingreift, und das 
thut erst der an sich arme, und nach Beseitigung seines Mangels 
verlangende Wille. Der Wille ist unlogisch und stellt sich in seiner 
Erhebung als antilogisch heraus, wogegen das Logische sich als 
Gegensatz erheben muss. Will man auf einer Analogie der Ge- 
mttthsbeziehungen der Liebe und des Hasses als Bedingung inniger 
Vereinigung bestehen, wie Volkelt S. 134 dies thut, so kann man 
wohl bildlich sagen, dass der Wille das Analogen eines wahllosen 



278 C* BegeliamBmaft. 

titanischen Liebesdranges bildet, der in seiner blindgierigen Bück- 
sichtslosigkeit gegen das Mittel seiner Erfttllnng dem Hass nicht 
allzufern steht, dass hingegen die Idee in ihrem logisch folgerichtigen 
Vernichtungsstreben gegen das Unlogische einen Hass eniültety der 
in seinem Endzweck und seiner selbstaufopfemden Hingebmig der 
Liebe täuschend ähnlich sieht (vgl. Phil. d. Unb. Ster.-Aosg. S. 815 
bis 817). So wenig ich diesen Bildern einen Werth beilege^ so 
wenig scheint Yolkelt berechtigt, zu rttgen, dass solche Beziehungen 
zwischen meinen Principien nicht zu finden seien (S. 134), während 
er selbst sie ziemlich deutlich ausspricht, indem er den Unterschied 
des Verhältnisses zwischen meinen Attributen und denen Spinoza's 
angiebt (S. 160). 

So ist also der Zusammenhang sowohl peripherisch wie central 
hergestellt; die innige Beziehung des Gegensatzes in der Function 
muss nothwendiger Weise zur Reaction der Principien auf einander 
führen, weil die substantielle Identität die Kette nach rückwärts 
schliesst; das Logische braucht gar keine ,,Ahnung^^ von der Er- 
hebung des Unlogischen zu bekommen (wie Volkelt S. 162 meint), 
denn die Substanz qtta Logisches kann gar nicht umhin, auf sich, 
die Substanz qua Unlogisches, zu reagiren, — ein „Vorbeischiessen^ 
(S. 153) des Einen beim Andern ist ganz unmöglich, weil sie beide 
ewig Eins sind. Ueber diese substantielle Identität und functionelle 
oder attributive Gegensätzlichkeit hinauszugehen und ihnen, wie 
Volkelt S. Iö9 fordert, „ein wesentliches Verlangen nach einander 
einzupflanzen", dazu war mithin durchaus keine Veranlassung ge* 
geben; hätte ich diesem Ansinnen Volkelt's entsprochen, so hätte 
ich nicht nur etwas Ueberflüssiges, durch kein Erklärungsbedttrfniss 
Gefordertes angenommen, sondern wäre auch in denselben Schelling'- 
sehen Fehler der Vermischung und Verwirrung der eigenthttmlichen 
Bestimmungen beider Principien gerathen, welchen vermieden zu 
haben Volkelt selbt S. 150 an mir lobt; denn ich hätte dann der 
Idee ein Verlangen nach dem Willen, d. h. selbst schon einen 
Willen zugeschrieben, und dem Willen ein Verlangen nach der Idee, 
d. h. ein inhaltliches Wollen, dessen Inhalt selbst schon ideale 
Anticipation der Idee wäre. 



Volkeit^B PanlogifliuaB des Ubfaewussieii. ^79 



5. Denknothwendigkeit und Seinsnothwendigkeit. 

Wenn die bisher erörterten angeblichen Widersprüche in meinen 
Principien daraas entsprangen, dass Volkelt mit dem panlogistischen 
Yomrtheil der substantiellen isolirten Selbstständigkeit und Sabjeot- 
losigkeit der Attribute als unverrüekbarem Maassstabe an die Prü- 
fung jedes derselben herantrat, so kommen wir nun zu einer ande- 
ren Beihe in meinem Idealprincip angeblich enthaltener Widersprüche, 
welche daraus resultiren, dass Yolkelt das andere panlogistische 
Yornrtheil nicht los werden kann, als ob das Idealprincip eo ipso 
Bealprincip sein müsste, als ob das Logische das Unlogische als 
sein immanentes Moment in sich enthielte, und sich vermittelst 
dieses einen positiven Zweck und den Inhalt seiner Intuitionen rein 
aus sich selbst erzeugte (S. 129). An solchem Maassstab gemessen, 
müssen natürlich meine Darlegungen unsinnig erscheinen, welche 
durchweg auf den von mir an den oben bezeichneten Stellen be- 
gründeten entgegengesetzten Voraussetzungen beruhen, dass nämlich 
das Idealprincip nicht für sich allein zugleich Realprincip sein kann, 
dass das Unlogische nicht in, sondern nur neben dem Logischen 
seine Stellung haben kann, dass das Logische aus sich allein gar 
keinen Inhalt hervorbringen kann, sondern blosses Formalprincip 
ist, und dass es den rein negativen Zweck, und mit diesem indirect 
seinen ganzen dem Zweck als Mittel dienenden Inhalt, erst durch 
Anwendung seiner selbst auf das (attributiv genommen ausser ihm 
stehende) Unlogische gewinnt. 

Die Verwechselung des Idealen und Realen im scholastischen 
Begriffsrealismus hatte als seinen classischen Ausdruck den ontolo- 
gischen Beweis producirt; die bewusste Identification des Idealprin- 
cips und Bealprincips durch Hegel hatte sich durch feierliche 
Restitution des ontologischen Beweises officiell als Neoscholastik 
installirt. Dass das logisch Nothwendige „doch irgendwo zu finden 
und anzutreffen sein müsse,'' dass das durch das Denken für das 
Denken als^ nothwendig Bewiesene auch nothwendig Existenz haben 
müsse (S. 130), das sind Behauptungen, die ihre Ansprüche ganz 
allein auf die Voraussetzung gründen, dass das Idealprincip eo ipso 
Bealprincip sei, und die mit diesem Vorurtheil stehen und fallen. 
Die Existenz als solche, d. h. die Existenz von irgend etwas, einmal 
zugegeben — und diese ist doch nur empirisch zu constatiren — 



280 ^* Hegelianismus. 

wird ja niemand; der überhaupt ein metaphysisches Idealprincip 
einräumt; bestreiten wollen^ dass letzteres eine ^^Herrschaft'^ über 
das Sein, d. h. einen bestimmenden Einfluss auf das Was und Wie 
des Existirenden ausübe; wenn die Realität nur die realisirte Idee 
ist; wenn der Wille blind realisiren musS; was immer die Idee an 
Inhalt ihm darbietet, so unterliegt es keinem Zweifel, dass das in 
der Idee Nothwendige auch nothwendig vom Willen realisirt werden 
muss. So ist für die Existenz in der Welt, die unter Mitwirkung 
eines blinden Realprincips entstanden; allerdings das Denknothwen- 
dige zugleich das Seinsnothwendige, und Unrecht haben alle, welche 
diese Wahrheit bestreiten; aber es ist dies keineswegs eine aprio- 
rische ErkenntnisS; sondern eine empirische Induction, welche wir 
aus unzähligen Fällen ohne Einspruch anderer als scheinbarer nega- 
tiver Instanzen gezogen haben, welche also eine so grosse Wahr- 
scheinlichkeit hat, als eine inductive Erkenntniss nur haben kann 
(vgl. „Das Ding an sich" S. 116 -1] 9). Keinenfalls darf jedoch 
solche empirische Induction über die Grenzen hinaus erweitert wer- 
den, innerhalb deren die Wahrnehmungen liegen; aus denen sie 
gewonnen ist ; es darf ihr also nicht eine Gültigkeit über die Gren- 
zen des innerweltlichen empirischen Seins hinaus zugeschrieben 
werden; am wenigsten nachdem wir den Grund dieser Conformität 
in der Blindheit und Wahllosigkeit des die Idee realisirenden Prin- 
cips erkannt haben. Abstrahirt man entweder ganz von dem Willen, 
als einem der Idee coordinirten Bealprincip, oder philosophirt man 
über das Wesen der Idee an sich, d. h. abgesehen von ihrer Er- 
greifung durch den Willen, über das Absolute vor Erhebung des 
Willens und Entstehung der Welt, so ist die formale logische Noth- 
wendigkeit eine Sphäre für sich; welche mit der Frage der Existenz 
oder Nichtexistenz nicht das Geringste zu schaffen hat. Für die 
Idee als solche; für die logische Gesetzmässigkeit als den Ausdruck 
ihres Formalprincips ist es aUerdings ganz gleichgültig; ob das 
Bealprincip neben ihr überhaupt zur Erhebung kommt oder nicht, 
ja sogar; ob ein solches auch nur neben ihr vorhanden sei, sie ist 
in der That in sich beschlossen, von jeder Frage nach künftiger 
Verwirklichung unberührt, und ihre formale Nothwendigkeit anab- 
hängig davon, ob es jemals zur Existenz kommt oder nicht. Freilich 
bleibt sie vor der Erhebung des Realprincips inhaltsloses 
Formalprincip; oder bleibt ihr Inhalt reine Möglichkeit; und darum 



Yolkelt's Panlogismas des Unbewussten. 281 

ist entschieden daran festzuhalten ^ dass es ein inhaltliches 
Denken überhaupt erst giebt, weil und insofern es ein Sein giebt, 
nicht umgekehrt (131). 



6. Das Idealprincip als logrisches Formalprincip« 

Dass das Logische oder Idealprincip bei mir zunächst ein an 
und für sich inhaltsloses Formalprincip ist, hat Volkelt durchaus 
nicht verstanden ; er glaubt statt dessen, dass es sich um ein ewiges 
ideales Nebeneinander und Ineinanderbestehen aller möglichen Ideen 
handle. Dass dieser platonische Standpunkt verlassen werden muss, 
habe ich in einem Zusatz zur 5. Auflage der Ph. d. U. S. 800—805 
(7. Aufl. II. 440 — 445) dargethan, auf den ich hier verweisen muss. 
Hätte dieser Zusatz Volkelt bei seiner Arbeit vorgelegen, so würde 
dieselbe gewiss anders ausgefallen sein; indess gab auch die Fassung 
der 3. Auflage (z. B. auf S. 788 oben) den nöthigen Anhalt für 
Vermeidung dieses Missverständnisses und in den Ges. Stud. u. Aufs. 
S. 607 hatte ich ausdrücklich erklärt, dass der bei einer eventuell 
eintretenden Entwickelung aus dem Mutterschooss des logischen 
Formalprincips heraustretende Inhalt vor Eintritt einer solchen von 
aussen angeregten Entfaltung keineswegs als eine anderweitige Art 
von (selbstverständlich immer nur idealem) Sein zu verstehen sei 
(wie Volkelt annimmt), sondern dass diese Sphäre der reinen Mög- 
lichkeit nichts anderes bedeute, als die formale Prädestination für 
den Fall der Entwickelung. Das Idealprincip kann nicht aus sich 
allein einen Inhalt erzeugen; wenn es aber einen Inhalt gewinnt, 
80 muss er eine logisch gesetzmässige Form annehmen, welche ihn 
bis in seine kleinsten Beziehungen durchdringt, und eben diese 
logisch gesetzmässige Bestimmtheit ist in dem logischen Formal- 
princip vorher bestimmt durch seine logische Natur. Ein fingirter 
Philosoph, der vor der Weltschöpfung die Natur dieses Formal- 
princips untersuchte, würde aus ihr vorhersagen können, welcher 
Art der von diesen logischen Gesetzen formell bestimmte Inhalt sein 
müsste, wenn es einmal durch Anregung des Unlogischen zur Ent- 
stehung eines Inhalts käme; er würde die gesammten eventuell an 
ihm hervortretenden logischen Beziehungen als reine Möglichkeiten 
in der formell logischen Natur des Idealprincips enthalten finden, 
nnd anzugeben im Stande sein, welcher Art diese ewig unwandel- 



282 (^- Heg^ianigintis. 

baren logischen Beziehungen zwischen den Hanptmomenten eiiieik 
eventuellen Inhalts sich gestalten mttssten (Hegers Logik). — So 
sehr diese Ansicht dazu berechtigt, yon einem ewigen Verhältniss 
der prädestinirten Momente der logischen Idee zu reden, so wenig 
ermächtigt sie zu der Verwechselung dieser formalen Yorherbestimmt- 
heit fUr den Fall eines eintretenden Inhalts mit einem ewigen Ne- 
beneinanderbestehen aller Momente als actueller inhaltlicher Intuitio- 
nen. Das hiesse in der That das Ideenchaos zum Princip erheben, 
und der Wille, der allen actuellen Ideengehalt jederzeit wahllos 
und blind realisirt, mttsste dann natttrlich das ewig gleiche Chaos 
realisiren (S. 179—180). Dies wäre die Folge von Volkelf s Unter- 
stellung (S« 151), als ob bei mir die Idee von jeher fertig und 
unveränderlich, ein ewiges Resultat wäre (wie ich es S. 783 der 
3. Auflage von Hegel behaupte). Insofern in dem logischen Formal- 
princip alle logischen Beziehungen vorherbestimmt sind, in welche 
der Inhalt der Idee jemals gerathen kann, alle Verhältnisse von 
logischen Momenten, in die er sich jemals gliedern kann, so konnte 
ich sagen (Ges. Stud. u. Aufs. S. 609), dass das Reich der reinen 
Möglichkeit alle möglichen Welten in sich befasse (aber bei mir 
nur als mögliche und nur bei Hegel als concrete Intuitionen); ähn- 
lich sprach ich im Leibnizischen Sinne von einem Ruhen aller 
möglichen Vorstellungen, also auch derer von allen möglichen 
Welten und Weltzwecken, im Unbewussten (3. Aufl. S. 620), aber 
nur als möglicher, und nicht actueller, sondern ruhender, 
latenter Vorstellungen. — Inhaltlich entfalten kann sich nur das 
absolut Vernünftige; ein minder Vernünffciges als das schlechthin 
Vernünftige müsste ein mit Unvernünftigem gemischter Vorstellongs- 
Inhalt sein, den aber das Formalprincip des Logischen gar nicht 
zulässt. Kann aber nur das absolut Vernünftige Inhalt der unbe- 
wussten Idee werden, während das „minder Vernünftige'' ewig dazu 
verurtheilt ist, „unmögliche Möglichkeit'' zu bleiben, so ist auch von 
einem Prüfen, Vergleichen, Sichten und Wählen unter den Vorstel- 
lungen keine Rede, insofern damit eine discursive Reflexion über 
verschiedene inhaltlich entfaltete Vorstellungen gemeint wäre, welche 
ohnehin durch die Natur der unbewussten Vorstellung schlechthin 
ausgeschlossen ist. Wenn ich (3. Aufl. 621) gesagt habe, das Un- 
bewusste überschaue gleichsam mit einem Blicke die möglichen 
Welten und realisire die vernünftigste, so hat Volkelt das „gleichsam" 



Volkelt*8 Pai^bglsiiiit dM ünbewussten. 283 

fiberseheiiy indem er das Bild wörtlich nimflit (S. 202)} ich kann 
damit natürlich nicfats anderes haben sagen wollen, als dass die bei 
der bewossten Beflexion discnrsly vorgehende Sichtung und Elimi- 
nation des minder Vernünftigen hier onbewnsst mit einem Schlage 
dadvch zu Stande kommt, dass das absolut Logische nur das 
absolut Yemttnftige in den Inhalt der ünbewussten Intuition ab 
aetuelle Idee eintreten Bisst Das anschauende Subject, obwohl es 
als unentbehrliche Grundlage dieses Prooesses vorhanden ist, spielt 
bei demselben doch ebenso wenig eine Bolle wie im Bewusstsein; 
hier wie dort ist das Subject nur substantieller Träger dw Function 
des Ansehauens, während die formelle Bestimmung des Anschauungs- 
inhalts ausschliesslich von der formaMogisohen Gesetsonässigkeit 
(des Intellects) ausgeht (vgl Volkelt S. 201—2). 

Hätte Volkelt verstanden, dass das Idealprincip bei mir reines, 
an und fttr sich inhaltsleeres Formalprincip ist, so würde er auch 
begriffMi haben, warum ich dasselbe interesselos gegen sein Sein 
oder Nichtsein (nämlich als inhaltliche Idee) erklären musste; hätte 
er nicht immer sein Logisches mit dem immanwten Unlogischen im 
Sinne gehabt, so hätte er meine Erklärung, dass die Idee gleich- 
gültig gegen ihr So-sein oder Anders-sein sei, nicht dahin missdeuten 
können (S. 129), als ob sie auch gleichgültig gegen das Eindringen 
des Unlogischen in ihren ünbewussten Anschauungsinhalt, d. h. gegen 
das mehr oder minder Vernünftige desselben sein könnte. Wäre 
bei Erftlllung der formalen Bedingung absoluter Vemünftigkeit 
mehrerlei Inhalt möglich, so würde sie gegen diese Unterschiede 
allwdifigs gleichgültig sein ; da der absolut vernünftige Inhalt jedoch 
inaner nur Ein^ sein kann, so konnte auch die Gleichgültigkeit der 
Idee gegen ihr So-sein oder Anders-sein selbstredend nur auf den 
Unterschied ihres Seins als reiner an sich seiender Idee und ihres 
Seins als Inhalt eines sie realisirenden Willens (Idee in ihrem An- 
ders-sein) bezogen werden. Was Volkelt also aus seinem Miss- 
verständniss folgert, ist hinfällig. 



?• Die absolute Zweeksetzunf. 

Worin der positive Zweck des Logischen, den es rein aus 
sich selbst erzeugen soll, bestehe, bleibt bei Volkelt so unklar wie 
\m Befel^ was uiebi zu verwundern ist, da ein positiver Zweck im 



284 ^- Hegelianismus. 

absoluten Sinne ein sich selbst aufhebender Begriff ist. Volkelt sagt 
einmal, das Logische sei „d^s sich selbst Bezweckende^' (S. 130); 
aber da es sich hat, so kann es offenbar erst dann dazu kommen, 
sich selbst zu bezwecken, nachdem es in Frage gestellt worden. 
Stellte es selber sich in Frage, so wäre dies ein Widerspruch gegen 
die Angabe, dass es sich selbst bezwecke; wird es aber von einem 
Andern in Frage gestellt, so kann der Zweck nur Beseitigung dieses 
in Frage Stellens, redudio in statwm quo ante, d. h. Negation der 
Störung und des Störenden sein, d. h. der Zweck ist dann bloss 
negativ, und ein positives, den Ausgangspunkt der Bewegung 
ttberschreitendes Resultat wird durch ihn gar nicht erzielt oder be- 
zweckt. Dieser negative Zweck ist aber nun thatsächlich der be- 
grifflich erste Inhalt des Idealprincips, welcher seine Reaction auf 
die Erhebung des Unlogischen darstellt. Es gestaltet diesen Inhalt 
formell aus sich selbst, indem es dessen logischen Charakter (der 
Opposition gegen das Unlogische) aus seiner eigensten Natur, aas 
sich als logischem Formalprincip , hergiebt; es konmit aber zur 
Reaction erst durch die vorhergehende Action des Unlogischen. 
Dass das Idealprincip einen Inhalt erhält, kommt also ausschliess- 
lich von der Initiative des unlogischen Realprincips her, und nur 
die Beschaffenheit dieses Inhalts, das Was und Wie desselben 
hängt vom Logischen ab. So lange das Unlogische als solches be- 
steht, verleiht es dem Zweck seiner Negation Bestand; mit voll- 
zogener Negation des Unlogischen würde der Zweck erftült sein, 
d. h. aufhören, Zweck zu sein, und die Inhaltslosigkeit des Ideal- 
princips träte wieder ein. Nicht das Unlogische setzt den Zweck, 
und nicht das Logische bequemt sich ihm an, wie Volkelt glaubt 
(S. 152); das Logische selbst entfaltet sein eigenstes Wesen, indem 
es Negation des Unlogischen bezweckt, kommt aber zu solchem 
Bezwecken nur durch das (von ihm unabhängige) Hervortreten des 
Unlogischen. 

Ist nun so der Zweck gesetzt, so ist durch denselben mit ebenso 
formal logischer Nothwendigkeit (ohne alle dialectische Selbst- 
bewegung) das Mittel gefordert. Das Mittel^ ist in seiner Totalität 
gefasst Eines, wie der Zwecl^ Einer ist, das vorstellende Subject 
Eines ist, das logische Formalprincip Eines ist und die Idee als 
unbewusster Vorstellungsinhalt Eine ist. Ob und inwieweit das 
Mittel eine innere Vielheit von Momenten erfordert^ ob und inwie- 



Yolkelt's Panlogismus des Unbewussten. 285 

weit daher der Eine nnbewnsste Yorstellungsinhalt eine ideale Yiel- 
einigkeit darstellt, eine innere Mannichfaltigkeit in seine Einheit 
befasst, das hängt wiederum nieht von dialectischen Selbst-Differen- 
ziningen; sondern davon ab, wie beschaffen das Mittel sein 
mnss, am vernünftiges (d. h. absolut vernünftiges, nicht etwa mehr 
oder minder vernünftigeis) Mittel zu diesem Endzweck zu sein, d. h. 
um diesen Zweck zu erreichen. Sollte sich eine solche innere Viel- 
heit als logisch nothwendig herausstellen, so wäre es der Zweck, 
welcher sie nothwendig macht, also indirect das Unlogische 
Grund der Vielheit in der Idee (dies wusste auch Piaton 
und Schelling, vgl. „Schell, pos. Phil." S. 57). Da femer der Zweck 
ein solcher ist, dass er bei der gegebenen Sachlage nicht mit einem 
Schlage zu erreichen, so ist eine Reihenfolge von Mitteln logisch 
nothwendig, welche, vom Ausgangspunkt gesehen, zugleich als Reihe 
von Zwecken erscheint. Der Zweck setzt hierdurch einen Process; 
jede Stufe des Processes ist logisch bedingt einerseits durch den 
(während des ganzen Bestehens des Unlogischen) constanten End- 
zweck und andererseits durch die Stellung, welche sie innerhalb 
des Processes, innerhalb der Stufenfolge der Mittelzwecke einnimmt, 
und welche hinreichend markirt ist durch die unmittelbar vorher- 
gehende Stufe des Processes. Lässt man den constanten Endzweck 
als selbstverständlich bei Seite, so kann man demnach sagen, der 
Inhalt jeder Stufe des Processes sei logisch bedingt durch die un- 
mittelbar vorhergehende, und diese formal logische Nothwendigkeit 
des Aufeinanderfolgens der (unendlich klein zu nehmenden) Stufen 
des Processes nennt man Gausalität, welche sich sofort als 
Finalität erweist, sowie man sich erinnert, dass diese logische Noth- 
wendigkeit erst complet wird durch den constanten Endzweck. 
Dieser Process, insofern er dem Zweck immer näher rückt und ihn 
zuletzt erreicht, heisst Entwickelung; die Entwickelung ist also 
ebenfalls durchaus formal-logischer Natur und hat nichts mit Dia- 
lectik zu thun. Das Unlogische wirkt nur auf das Entstehen des 
Endzweckes als idealen Ausgangspunkt der Entwickelung ein; der 
ganze von diesem Endzweck abhängige und mit ihm gesezte Inhalt 
der Idee auf allen Stufen ihrer Entwickelung geht aus reiner Selbst- 
bestimmung des Idealprincips hervor, denn er ergiebt sich aus der 
eigensten Gesetzmässigkeit des logischen Formalprincips, welche jede 
Stufe des Inhalts bis in ihre kleinsten Details durchdringt und 



966 & HegeUMOmiu. 

regelt Die Tendenz zu diesem Fortschreiten der Entwickelnng giebt 
nichts anderes als der Zweck^ oder genauer der in dieser gemischten 
Kategorie dem Unlogischen zur Last fallende Antheil ; das Ziel und 
das Bezwecken des Ziels ist die Triebfeder jedes Entwickelungs- 
proeesseSy unhewusster Weise auch des dialectischen im Kopfe des 
Philosophen, insoweit dieser Process wirklich darauf Ansprach 
machen kann, Entwiokelung zu sein. Der Endzweck als Triebfeder 
der Entwickelnng ist in der Tbat implicite in jedem kleinsten 
Tbeile jeder Stufe des idealen Inhalts gegenwärtig und formal lo- 
gisch wirksam ; es ist also nicht yerstttndlich, wie Volkelt (S. 204) 
solche Triebfeda* bei mir vermissen kann. 



8. Der Wille. 

Werfen wir nach dieser Erläuterung des Idealprincips audi 
noch einen Blick auf den Willen als Realprindp, so missversteht 
Volkelt zunächst den Sinn des Willens als Potenz des WoUens. 
Er könnte sonst nicht sagen, dass es der reinen Potenz an jedem, 
wenn auch noch so unbestimm^m Wesen gebreche (S, 138), dass 
sie mit den beiden Möglichkeiten der Entscheidung niqhts 8U sohaffi^n 
habe (ebenda) und ein Unwesen sei, welches sich bald dieses, bald 
jenes Wesen gebe (S. 139). Das Wesen der Potenz ist eip gans 
bestimmtes, wohl definirtes, es ist das Wollen-Können. So lange 
sie Potenz bleibt, bleibt sie bei sich selbst, oder in sich selbst 
als in ihrem reinen Wesen ; sobald sie Actus wird, so hört sie zwar 
auf reines (d. h. nicht actnelles, nicht functionirendes, nicht wollen- 
des) Wesen zu sein, aber sie ändert auch nicht ihr Wesen, nimmt 
kein anderes Wesen an, sondern b e t[h ä t i g t ihr allereigenstes Wesen 
(das Wollenkönnen) in dem Sein, zu dem sie siph entfalti^ hat (dem 
Wollen). Sei es als ruhende, sei es als erhobene, bleibt also die 
Potenz ihrem Wesen treu, bleibt ihr Wesen ewig bei sich selbst^ sei 
es als reinem oder entfaltetem ; nur die Entscheidung als solche hat 
mit der Potenz nichts zu schaffen, wohl aber das Resultat derselben. 
— Die Entscheidung ist nicht als Wahl zwischen zwei coordinirten 
activen Möglichkeiten, wie zwischen conträren Gegensätzen, zn ver- 
stehen, sondern wenn keine Entscheidung getroffen wird, ao ver- 
bleibt es bei der Buhe der reinen Potenz oder dem Nichtwollen; 
wenn aber ^ine Entscheidung getroffen ivird, so kann (^ nur die 



Volkelt's Puiloigismas des XJnbewassten. 287 

zur Actualitäty zum Wollen sein. Das Verharren im Nichtwollen 
ist gar keine Thätigkeit, sondern die Negation der Thätigkeit; der 
Wille ist nur zu einer einzigen Thätigkeit fähig; zum 
Wollen, aber anfähig zu jeder andern Thätigkeit, also auch 
zu der, sein einmal erhobenes Wollen yon sich selber wieder auf- 
zuheben. Das Wesen des Willens ist das Wollenkönnen; in dieser 
Definition liegt zwar die Möglichkeit eingeschlossen, dass er sich 
auch im nichtwoUenden Zustande müsse befinden können, aber 
keineswegs die, dass er sich auch in denselben müsse versetzen 
können. Die einzige actiye Möglichkeit des Willens, das einzige 
Vermögen desselben geht auf das Wollen; es wäre dieses Ver- 
mögen kein Vermögen mehr, wenn ihm nicht die passive Möglich- 
keit eines in Ruhe verharrenden Zustandes zu Grunde läge, aber 
der Wille wäre mehr als bloss das Vermögen zu wollen, wenn 
ausser diesem noch das zweite active Vermögen der Aufhebung des 
bestehenden Wollens aus eigener Initiative zu seinem Wesen ge- 
hörte. Wir haben kein Hecht, ihm dieses zweite Vermögen anzu- 
dichten (wie Volkelt S. 139 thut) und müssen daher mit Schelling 
annehmen, dass der einmal zum Wollen erhobene Wille das „blind 
Sei ende'' sei, das als der unersättliche blinde Weltwille Scho- 
penhauer's von sich selbst aus zu keiner Umkehr kommen kann, 
sondern nur vermittelst des Logischen oder vernünftigen Ideal- 
princips. *) 

Hat sich nun der Wille erhoben, so kann er nicht zum er- 
füllten Dasein, zum wirklichen Actus kommen, ohne die Idee als 
den seine Leere erfüllenden Inhalt zu ergreifen, was selbstredend 
im Moment seiner Erhebung sofort geschieht, da die Idee sich ihm 
nicht entziehen kann. Betrachten wir aber den Willen in diesem 
Moment der Erhebung, der doch wenigstens als das begriffliche 
Prius des Ergreifens der Idee gedacht werden muss, so ist er die 
unbestimmte Spannung, welche von der Spannungslosigkeit der Buhe 
zum concreten Oespanntsein der Actualität hinüberführt; das Wohin 
oder die Bichtung dieses absolut unbestimmten aus sich Heraus- 
drängens, nach welchem Volkelt fragt (S. 127), liegt eben in der 
Richtung a potentia ad actum, wobei der Actus nur als Form, aber 
als wirkliche Form, d. h. als Form eines Wirklichen oder als Form 



•) Vergleiche hierzu auch die Zusätze der 5. Auflage 8. 78?— 789 und 791, 



288 G' Hegelianismos. 

der Wirklichkeit verstanden ist. Der dem Willen als solchen fremde 
Inhalt (die Idee) kann freilich nicht als fehlender Inhalt gefühlt 
werden (vgl. S. 144), wohl aber die fehlende Bealisirung der Form 
des WoUens als solchen, und dies genügt, um das Streben möglich 
zu machen, das erst durch Ergreifung eines Inhalts zu sich als 
wirklicher Form kommt (vgl. Ph. d. ü. Ster.-Ausg. S. 793-794). 
— Wäre das Wollen nur ein Streben nach dem, was ihm in sich zu 
Gebote steht, und die Thatsache, dass es das Erstrebte in sich 
hat, zugleich die Erfüllung seines Strebens, wie Volkelt behauptet 
(S. 127), so wäre jedes Wollen als Streben unmöglich, weil ja 
sein Streben immer schon zugleich erreicht wäre. Dieses Argument 
muss also falsch sein, weil es zu viel beweist und den Begriff des 
WoUens überhaupt aufhebt.*) 

Allen diesen leicht genug wiegenden Einwürfen gegenüber hat 
die offene Erklärung Volkelt's umsomehr Bedeutung und Nachdruck, 
dass mit meiner grundlosen Freiheit des reinen Willens „die letzte 
Consequenz aller jener philosophischen und theologischen Rich- 
tungen, die das Logische, das vernünftig Noth wendige nicht 
zum alleinigen Grund und Kerne der Welt erheben wollen, 
schmucklos und unverhüllt ausgesprochen erscheint" (S. 140). Mit 
diesem Zeugniss kann ich mich wohl zufrieden geben, so lange ich 
an der Ueberzeugung festhalten darf, dass mit dem Logischen als 
alleinigen Weltprincip schlechterdings nicht auszukommen, weil 
zu keiner Realität zu gelangen ist, und so lange diese Ueberzeugung 
von der Mehrzahl der Philosophirenden getheilt wird. Es weist 
dieses Zugeständniss nur von Neuem darauf hin, wie dringende 
Aufforderung Volkelt gehabt hätte, meine Einwendungen gegen die 
Zulänglichkeit des reinen Panlogismus zum ersten, wo nicht aus- 
schliesslichen Gegenstand seiner Prüfung zu machen, anstatt mit 
dem unerschütterten Vorurtheil von der alleinseligmachenden Kraft 
des Hegerschen Princips in die Kritik der untergeordneten Diffe- 
renzen zwischen meinen und seinen Ansichten einzugehen. 



*) Wenn Volkelt (S. 158) das Verhältniss von Wille und Vorstellmig mit 
dem von Kraft und Stoff parallelisirt und dort den Willen wie hier den Stoff 
«liminirt wünscht, so ist ihm nur entgangen, dass der Wille jedenfalls der Kraft 
und nicht dem Stoff homolog ist, also seine Forderung vielmehr auf Elimination 
der Vorstellung lauten müsste. 



Volkelt's PaologismiiB dts XJnbewassten. 3g9 

Wozu kann z. B. die ganze Discussion Aber den Willen führen, 
so lange es für Volkelt Axiom ist (vgl. S. 232), dass der Wille 
nichts weiter ist als der Begriff des Willens, und dass dem Willen 
nicht das Geringste übrig bleibt, was nicht in seinem Begriff aacb 
enthalten wäre? (Vgl. dagegen meine Ges. Stud. u. Aufs. S. 637 — 638). 
Es bleibt dabei nur das Eine für mich unbegreiflich, wie Volkelt es 
mit solcher Leugnung des über den blossen Begriff der Sache hinaus- 
gehenden Existenzialcharakters vereinbaren konnte, mein Hinaus- 
gehen über Schopenhauer's erkenntoisstheoretischen Idealismus zu 
loben, welches übrigens, wie er aus Euno Fischer's und Michelet's 
reactionärer Stellungnahme zu den erkenntnisstheoretischen Fragen 
der Gegenwart entnehmen konnte, ganz ebenso gut ein Hinausgehen 
über den erkenntnisstheoretischen Standpunkt HegeFs war. Wenn 
mein Begriff von Cäsar den existirenden Cäsar nicht erschöpft, son- 
dern als transcendentes Ding an sich stehen lässt, so kann auch 
mein Begriff des WoUens das existirende Wollen nicht erschöpfen, 
sondern lässt es als transcendentes Ding an sich meines Er- 
kennens stehen. Und nicht etwa deshalb bleibt in beiden Fällen 
der unerschöpfliche Rest, weil der Begriff anvollkommen wäre, denn 
er mag als vollkommen gelten, auch nicht deshalb, weil es nur mein 
Begriff wäre, denn das ist ja gleichgültig, da doch der Inhalt des 
Begriffs als vollkommen angenommen wird; sondern es bleibt ein 
Rest, weil der Begriff nur ideal, Cäsar aber und mein Wollen 
real ist. Die Realität und das unlogische Realprincip bleibt das 
Jenseits des logischen Denkens; aber es ist kein Jenseits im Sinne 
der absoluten Fremdheit oder Berührungslosigkeit (wie Volkelt S. 233 
annimmt), denn die polare Gegensätzlichkeit koppelt beide zusammen 
und stellt den galvanischen Contact zwischen ihnen her. Durch 
blosse abstracte Begriffe ist der Wille freilich Niemandem vorzu- 
demonstriren (S. 233), der seine Kenntnis» nicht schon aus der 
inneren Erfahrung mitbringt; diese Unverständlichkeit ohne mit- 
gebrachte Anschauung theilt aber der Begriff des Willens mit allen 
anderen abstracten Begriffen. Was ihn der Erfahrung vermittelt, 
ist das Gefühl, d. b. die theil weise bewusstwerdenden Befrie- 
digungen und Nichtbefriedigungen des WoUens, in erster Reihe die 
durch die Opposition eines fremden Willens in's Bewusstsein ge- 
rufene Unlustempfindung; aus der Gefühlssphäre, in die der Wille 
zwar eingegangen, aber, soweit dieselbe bewnsst ist^ doch nur mit 

£• T. Hartmann, Erl&uteraiigeiu 2. Anfl. X9 



290 C- Hegelianisinüg. 

seinen Accidenzen (Befriedigung und Nichtbefriedignng) eingegangen 
ist, wird der Wille rückwärts instinetiv, d. h. unter unbewusst 
Bleiben der vermittelnden Schlüsse, erschlossen, ebenso wie das Ding 
an sich aus seiner Wahrnehmungsvorstellung (die auf realer Em- 
pfindung beruht) instinctiy erschlossen wird. So wenig aber die 
Unmöglichkeit, das Ding an sich jemals direct mit der Erkenntniss 
zu erfassen, etwas gegen die Existenz des Dinges an sich beweist, 
ebenso wenig beweist die Unmöglichkeit, das eigene Wollen jemals 
direct, d. h. ohne instinctive Schlussfolgerungen aus dessen Geftthls- 
accidenzen zu erkennen, etwas gegen die Existenz meines Wollens 
jenseits meiner Vorstellung oder meinem Begriff von meinem Wollen 
(vgl. Volkelt S. 232—234). 



B. Secundäre Probleme, 

Nachdem ich in dem Vorhergehenden gezeigt, wie das Vor- 
urtheil der absoluten Wahrheit des panlogistischen Princips Volkeltfs 
Kritik meiner metaphysischen Principien auf die tautologische Gon- 
statirung ihrer Unverträglichkeit mit dem von aussen herzugebrachten 
fremden Maassstabe reducirt hatte, gehe ich nunmehr zu dem Nach^ 
weis über, dass das nämliche Vorurtheil auch die Kritik meiner 
Aufstellungen über die Bewusstseinsentstehung und Individnation 
beherrscht und für jeden andern als einen Panlogisten entwerthet. 
Indem Volkelt den bloss idealen Gonflict des dialectischen Wider- 
spruchs mit dem realen Gonflict wirklicher Willensacte identificui; 
(was nur eine nothwendige unmittelbare Gonsequenz der Erhebung 
des Idealprincips selbst zum Realprincip ist), muss er den dialec- 
tischen Widerspruch idealer Gegensätze als ausreichend zur Er- 
zeugung des Bewusstseins erachten und verliert dadurch jeden 
Grund, in den realen Individuen noch etwas anderes als auf die 
Spitze getriebene Besonderungen des dialectischen Begriffs zu sehen. 
Hierdurch verliert er das Verständniss für das, was mich zu meinen 
von Hegel abweichenden Erklärungsversuchen zwingt, und damit 
zugleich für diese meine Erklärungen selbst Während mir der 
SchmerZ; die Empfindung, das Bewnsstsein aus dem realen Gonflict 



Yolkelt'B PanlogismuB des ünbewnssien. 291 

individuaÜBirter Willensacte hervorgeht, glaubt er, dass ich dieselbe 
in einem Gonflict beider Attribute suche, den als unmöglich aus 
meinen Voraussetzungen nachzuweisen er sich die vergebliche Mühe 
macht; während ich die Immanenz von Wesen und Erscheinung 
überall dem Theismus gegenttber auf das Schärfste betone, fabelt 
er von einer bei mir stattfindenden Abtrennung der Erscheinung vom 
Wesen und einer Ausscheidung des Wesens aus der Erscheinung; 
desgleichen verkennt er aus dem angefahrten Grunde gänzlich die 
teleologische Bedeutung der Individuation als des unentbehrlichen 
Mittels der Bewusstseinsentstehung, auf der mein System ruht. Die 
Ueberschätzung und blinde Anbetung der Vernunft als solchen raubt 
ihm endlich das unbefangene Urtheil tlber den endämonologischen 
Werth dessen, was die Vernunft glücklichsten Falls für das Leben 
und den Weltprocess zu erzielen im Stande ist, d. h. über das 
Verhältniss des teleologischen Optimismus zum endämonologischen 
Pessimismus. Wir haben die genannten Punkte nunmehr näher zu 
betrachten. 



9. Die teleologrisehe Begrfindungr des Bewusstseins« 

Alles, was innerhalb der panlogistischen Weltanschauung vor- 
geht, muss nach seiner logischen Nothwendigkeit begriffen, muss 
in seinem teleologischen Zusammenhange demonstrirt werden. Diese 
Aufgabe vermag der Panlogismus aber weder der Bewusstseins- 
entstehung, noch der Individuation gegenüber zu lösen, er vermag 
aus seinen Voraussetzungen fQr keine von beiden die teleologische 
Nothwendigkeit darzuthun. 

In dem Bewusstsein kommt die zuvor unbewusste logische Idee 
zu sich selber, zur Selbsterfassung, erfasst sich oder wird sich offen- 
bar als das, was sie ist, als Wissen (S. 193). Was in aller Welt 
hat aber die Idee davon, sich in sich zu reflectiren, sich im Spiegel 
zu besehen? Für das Individuum ist Selbstbewusstsein , Selbster- 
kenntniss doch nur deshalb das höchste, weil es sich bereits als 
bewusstes Individuum gegeben ist und als solches in eine Welt von 
concurrirenden Individuen hineingestellt findet, in der es sich ver- 
mittelst seines selbstbewussten Intellects praktisch zu behaupten 
und geltend zu machen hat. Den praktisch-menschlichen Werth 
des Selbstbewusstseins darf man nicht auf das Absolute übertragen. 

19* 



292 C. Hegelianismiu. 

Die logische Idee ist kein eitler Judengott, der um jeden Preis ein 
Publikum braucht, um sich bewundern und seinen Namen preisen 
zu lassen; je absoluter sie gefasst wird, je selbstgenttgsamer muss 
sie gedacht werden. Ist es denn nicht genug, dass sie alles ist 
und alles weiss, muss sie denn durchaus auch wissen, dass sie alles 
ist und alles weiss? Auf alle Fälle wäre diese Selbstbespiegelungs- 
sucht eitel, d. h. in ihrem innersten Kerne nichtig ; diese Nichtig- 
keit aber durchsetzen zu wollen selbst um den Preis des unend- 
lichen Schmerzes, den sich die Idee durch das Bewusstwerden aller 
in ihrem Ansichsein unbewussten, also unempfundenen, dialectischen 
Widersprüche auferlegt, würde geradezu verwerfliche Eitel- 
keit genannt werden müssen, und wäre unentschuldbar bei einem 
rein und ausschliesslich logischen Absoluten. So gewiss die Weis- 
heit der Natur um nichts weniger weise und vernünftig ist, wenn 
auch gerade kein Mensch vorüber geht, der sich dieser Weisheit 
und Vernünftigkeit bewusst wird, so gewiss die Tugend einer Frau 
nichts dadurch gewinnt, dass sie besprochen und gerühmt wird, so 
gewiss wäre die in sich beschlossene, alle ihre dialectischen Mo- 
mente in sich enthaltende Idee um nichts weniger vernünftig, wenn 
sie als Veilchen in der Verborgenheit ihres Ansichseins weiterblühte, 
anstatt durch die ganz nutzlose, zwecklose und eitle Selbstauferlegung 
des Schmerzes, ihre inneren Widersprüche zu empfinden, sich 
in einer Weise zu benehmen, die man bei einem Menschen unver- 
nünftig nennen würde. Nur die Verblendung im eudämonologischen 
Optimismus eines Leibniz kann vor dieser Gonclusion schützen ; wer 
aber, wie Volkelt mit Recht thut, aus dem an der Oberfläche lie- 
genden HegeFschen Optimismus den in der Tiefe allerdings keim- 
artig vorhandenen eudämonologischen Pessimismus herausholt und 
an's Licht setzt, der kann nicht umhin, den Widersprach zwischen 
der empirisch gegebenen Thatsache des Bewusstseins und der Un- 
lUhigkeit des Panlogismus zur Erklärung dieser Thatsache aus 
seinem Princip einzuräumen. 

Ganz anders, wenn wir das Unlogische als coordinirtes Princip 
anerkennen und den negativen Zweck an Stelle des chimärischen 
positiven setzen. Dann ist es ganz begreiflich, dass das Logische 
zu sich selbst zu kommen sucht, um vom Standpunkt des bewossten 
Fürsichseins aus seinen negativen Zweck zu erreichen. Unmittelbar 
blosser Willensinhalt, Inhalt des Willens zur Realität, giebt sich die 



Yolkelfs Paülögismus des Ünbewussten. 2d3 

Idee eine gleichsam selbstständige Form, indem sie einen Theil des, 
Willens zum Leben als Willen zum Erkennen hinstellt, indem sie 
sich von ihm so zu sagen in zweiter Potenz realisiren lässt (das 
erste Mal als inhaltlich-ideale Realität, das zweite Mal als im Ge- 
hirn des Individuums realisirte Bewusstseinsidee). Nachdem sie so 
innerhalb des Willens als Erkenntnisswille Posten gefasst und sich 
durch diesen Willen in immer höheren Gestalten als Bewusstseins- 
idee hat realisiren lassen, gelangt sie zur bewussten Kritik des Ab- 
soluten, das auch sie ist, in seinem Gesammtwesen ; der Erkenntniss- 
wille wird in dritter Potenz praktisch als Negation des blinden 
Lebenswillens und nach Analogie der Ueberwindung des letzteren 
durch den ersteren in einzelnen Individuen eröffnet sich die Per- 
spective auf eine üniversalverneinnng des blinden Lebenswillens 
durch den seine Tollheit bekämpfenden Erkenntniss willen. Hier 
versteht man, was das Zusichselbstkommen der Idee ftlr einen Zweck 
hat; es soll sie, die zunächst unfrei gegen den Willen und unfähig 
ist, sich dessen Erhebung zum Sein zu entziehen, zum Herrn des 
Willens machen und ihr so schliesslich die vom Willen geraubte 
Herrschaft über sich selbst, d. h. die Beschlossenheit in sich selbst 
zurückerwerben. Wohl kann der Wille von Anfang an nichts 
wollen, als was die Idee ihm zum Inhalt leiht und vorzeichnet 
(S. 156), aber die Idee hat keine Wahl, ob sie sich ihm leihen 
will, und was auch immer ftlr einen Inhalt sie ihm bieten möge, 
immer wird dieser ideale Inhalt in die Bealität geworfen. Frei, 
welchen Inhalt sie der Realität zu verleihen gedenke, steht sie 
doch jedenfalls im Dienste des Realprincips und seines Reali- 
sirungsstrebens, ist sie doch schlechthin Sclave des Seins als 
solchen; zusammengekoppelt mit dem Realprincip muss sie mit 
diesem unfreiwillig durchgehen und sich auf die Hoffnung be- 
schränken, den blinden Gefährten in seinem tollen Jagen wenigstens 
zu lenken, da sie ihn von seinen kollerigen Gelüsten nicht abhalten 
kann. Von dieser Rolle als Sclave des Seins erhebt sie sich nun 
aber im Laufe des Processes zu der als Herr des Seins, indem 
sie dem blinden Lebenswillen einen solchen Inhalt giebt, dass aus 
demselben als Spitze und Krone alles Wollens der Erkenntnisswille 
hervorbricht, welcher, die zu sich selbst gekommene Idee umspan- 
nend, höher und höher sich aufrichtet, bis er zuletzt den in der 
Blindheit des WoUen-WoUens verharrenden Zweig des Ailwillens 



294 C. Hegelianismus. 

überragt und als ein das Nichtmehrwollen wollender Wille über- 
windet. 

Schon bei Schopenhauer ist der Wille und die Vernunft, oder 
wie dieser sagt, der Intellect in wesentlich demselben Yerhältniss 
gedacht, nur dass dasselbe sammt seiner Umkehrung im Laufe des 
Processes auf den Boden der Individualität beschränkt bleibt. Der 
Wille ist auch hier das Primäre, das Moment der Initiative (in- 
telligible Willensentscheidung des Individualcharakters als Urschuld 
und Abfall von der seligen Ruhe des Nirwana zum activen Wollen), 
er ist dasjenige Element im empirisch gegebenen Individuum, dem 
ursprünglich und von Natur der Primat zukommt. Aber er 
soll dies nicht bleiben, sondern seine Rolle mit dem Intellect 
tauschen; dies zu bewirken ist die Aufgabe des Menschenlebens. 
Wenn im Genie sich ein monströses üebergewicht des Intellects 
entfaltet, das sich zunächst als reiner Erkenntnisswille gleichgül- 
tig gegen den blinden Lebenswillen verhält, so entwickelt sich in 
dem (bewusst oder unbewusst) philosophirenden Intellect das 
sogenannte Quietiv des blinden Lebenswillens, d. h. der Ei:^enntniss- 
wille enthüllt die überwiegenden Motive zum Willen der Willens- 
vemeinung, bis letzterer den natürlichen Lebenswillen tiberwiegt 
Mir blieb nur die Reinigung dieser Gedanken von unhaltbaren 
mystischen Nebenbegriflfen und die Erhebung des klargestellten Pro- 
cesses in die Sphäre der Universalität übrig. Volkelt aber hat 
meinen Gedankengang über dieses Problem ebenso sehr missverstan- 
den als den Schopenhauer's (S. 155). 



10. Die Erklärung der Bewusstseinsentstehnngr* 

Volkelt erkennt an, dass das Bewusstsein aus dem Confiict 
gegensätzlicher Momente entspringt (S. 220, 225), aber er confundirt 
einerseits den überall Platz greifenden „Gegensatz'' mit dem im 
unbewussten Denken und deshalb auch im Was und Wie der Reali- 
tät unmöglichen, nur im Irrthum des Bewusstseins als unvollziehbare 
Denkaufgabe vorkommenden „Widerspruch", und zweitens den 
„idealen Gegensatz" von Momenten der (bewussten oder unbewussten) 
Vorstellung mit dem „realen Widerstreit" auf einander prallender 
harter Realitäten, sich kreuzender Willensacte. Im dialectischen 
Widerspruch der sich selbst entzweienden und versöhnenden Idee 



7olkelt*8 Panlogismus des ünbewossteu. 295 

sind beide angegebene Gonfnsionen confundirt, und deshalb glaubt 
Yolkelt in ihr alle zur Bewusstseinsentstebung erforderlichen Requi- 
siten vereinigt (S. 222). ~ Hier tritt nun aber sofort die Frage ein, 
warum denn die Idee in ihrem Ansichsein durch ihren nach Hegel 
auch dort schon bestehen sollenden dialectischen Process das Be- 
wusstsein nicht schon findet, warum nicht jeder dialectische Schritt 
der HegeFschen Logik von Bewusstseinsentstebung begleitet ist 
Yolkelt sagt uns, dass die Y ermittelung dort noch erst objectiv 
(d. h. doch: noch nicht im Sinne einer bewussten Subjectivität), 
dass sie noch nicht für sich selbst da (d. h. bewusst) sei (226). 
Aber diese Begründung ist rein tautologisch, denn gerade danach 
wird ja gefragt, warum sie noch nicht bewusst ist, warum diese 
dialectischen Gegensätze und ihre Yersöhnung noch unterhalb der 
Schwelle des Bewusstseins liegen, wenn doch die Bewusstseins- 
entstebung nichts weiter als diese Requisiten verlangt. Die 
Wendung, dass dort „objective Innerlichkeit und räum- und zeitlose 
Allgemeinheit noch nicht ihren Gegensatz gefunden^^ haben, ist doch 
nur das Geständniss, dass die dialectische Selbstentzweiung und 
Selbstversöhnung so abstract hingestellt eine zu allgemein gehaltene 
Bedingungsangabe war, dass es sich um bestimmte Formen 
der Gegensätzlichkeit handelt, welche innerhalb der die rein ideale 
und rein logische Sphäre der möglichen Gegensätze erschöpfenden 
Idee in ihrem Ansichsein nicht vorkommen, oder mit anderen 
Worten, dass der das Bewusstsein erzeugende Gonflict kein rein 
idealer, kein rein logischer sein kann, sondern von einer sol- 
chen Beschaffenheit ist, dass er erst dann zu Stande kommen kann, 
wenn die logische Idee sich in ihr Gegentheil hinaus- 
geschaut hat (S. 226). Das Gegentheil von „logisch'' ist „unlogisch'', 
das Gegentheil von „Idee" ist „Realität" ; es ist also damit anerkannt, 
dass der Bewusstsein erzeugende Gonflict nur auf dem Boden der 
„unlogischen Realität" zu Stande kommen kann, und zwar 
zwischen mehreren in dieser Form des Aussersichseins befindlichen 
Momenten der Idee, nicht etwa zwischen der Idee in ihrem Ansichsein 
und in ihrem Anderssein (S. 226). Hiermit ist aber gerade das einge- 
räumt, was ich behaupte, dass das Bewusstsein nicht aus einem idealen, 
sondern nur aus einem realen Gonfiict entspringen kann, nicht aus einem 
dialectischen Widerspruch von Momenten der ansichseienden 
Idee^ sondern aus einem praktischen Widerstreit von mehreren 



296 0. Hegeliaaismiui. 

realisirten (in ihr Gegentheil^ das Un-logische entänsserten) Momen- 
ten der Idee, d. h. aus einem Zusammentreffen sich krenzender 
Willens acte. Dieses Zugeständniss aber ist bei Volkelt principiell 
ganz unmotiyirt ; er musste umgekehrt aus seinen Principien folgern, 
dass die an sich seiende Idee^ oder das Absolute als solches, wirk- 
lich alle Schritte ihres urbildlichen dialectischen Processes (falls er 
solchen nach Hegel festhält) mit Bewusstsein vollziehe. Der 
wahre Grund für die Annahme des richtigen Resultats durch 
Volkelt liegt gar nicht in seinen Principien oder Schlussfolgerungen 
AUS denselben, sondern in der bei ihm nur nicht zum klaren Be- 
wusstsein durchgebrochenen richtigen Ahnung, dass ein bloss idealer 
Process einen schlechthin friedlichen Verlauf haben muss, dass ein 
Gegensatz gleich vernünftiger Ideen sich auch auf rein vernünftigem, 
also friedlichem und schmerzlosem Wege beilegen und versöhnen 
muss, dass vielmehr der Schmerz erst da entstehen kann, wo Un- 
vernunft gegen Unvernunft prallt, wo es Ernst wird mit der Realität 
des Conflicts, indem Wille gegen Wille drängt und stenunt, da selbst 
der logisch nothwendige Gompromiss dem Willen nur als ein wider- 
willig aberungener, aufgezwungener empfindlich 
wird, anstatt wie unter bloss und rein vernünftigen Elementen 
widerstandslos als selbstverständlich acceptirt zu wer- 
den. Weil aus einem bloss und rein vernünftigen Weltprincip 
schlechterdings kein Schmerz abzuleiten ist, darum ist auch aus 
ihm kein Bewusstsein zu erklären, und deshalb drängt es auch 
Volkelt unwiderstehlich in's Gegentheil der logischen Idee (vgl 
oben S. 19 — 21), um den Boden zu gewinnen, auf dem allein Be- 
wusstsein wachsen kann. An einer Wand kann man sich den 
Kopf stossen, aber noch kein Mensch hat sich an einer Idee weh 
gethan, es sei denn, dass er einen Widerstand von einem diese Idee 
zum Inhalt nehmenden Willen (gleichviel ob fremden oder eigenen) 
erfahren hätte. 

Volkelt hat nun, wie schon oben bemerkt, diesen Kernpunkt 
meiner Theorie der Bewusstseinsentstehung gar nicht verstanden 
und glaubt anstatt dessen meine Ansicht über dieselbe in einer un- 
mittelbaren Opposition der gegen einander isolirt gedachten Attribute 
EU erkennen (S.217 — 218 u. 230), indem er meinen öfters gebrauch- 
ten und nach den oben gegebenen Erläuterungen wohl hinreichend 
deutlichen Ausdruck „Emancipation der Vorstellung vom Willen'^ 



Yolkelt's Panlogismuft des tJnbewussten. , 297 

in diesem Sinne missdentet. *) Dieses Missverständniss wäre er- 
klärlicher/ wenn das Gap. G. III der Phil. d. U. mit dem Abschnitt 1 
„Bewnsstwerden der Vorstellung'^ abgeschlossen wäre; die weiteren 
Abschnitte über das Bewusstwerden von psychischen Elementen^ die 
nicht Vorstellang sind^ bewies hinlänglich^ dass bloss die Opposi- 
tion gegen den Willen and nicht die Emancipation der Vorstel- 
lung (welche nur für die Seite der Vorstellung aus ersterer r e s u 1- 
t i r t) das ist, worauf es ankommt. Die Berücksichtigung der Zusätze 
der 5. Aufl. S. 393 Anm. und 395—400 (auch 814 u. 816) würde 
das beregte Missverständniss unmöglich gemacht haben.**) Wille 
und Vorstellung sind im Bewusstsein ebenso untrennbar wie im 
Unbewussten verbunden , insofern es auch im Bewusstsein kein 
Wollen ohne Vorstellungsinhalt giebt und keine Vorstellung ohne 
directe oder indirecte Betheiligung des Willens an derselben (sei es 
als Verwirklichungsstreben im höchsten oder geringsten Maasse, sei 
es als Erkenntnisswille, sei es als Interesse, Gefühl oder sonst eine 
accidentielle Betheiligung des Willens, sei es endlich nur als die 
auf die entsprechende Bewegung der Hirnmolecüle gerichtete Willens- 
energie). Die relative Verselbstständigung oder Emancipation der 
Vorstellung gegenüber dem Willen besteht im Bewusstein nur darin, 
da«s die Vorstellung keineswegs mehr nothwendig Inhalt eines 
sie unmittelbar und sofort realisirenden Willens ist wie in der un- 
bewussten Intuition, sondern dass bewusste Vorstellungen im Bewusst- 
sein möglich sind ohne einen Willen, dieselben in der äusseren 
Wirklichkeit zu realisiren. Diese Emancipation ist eine ganz be- 
kannte empirische Thatsache, welche der untrennbaren Einheit von 
Wille und Vorstellung als Principien eben deshalb nicht widerspricht, 
weil die bewusste Vorstellung im Mechanismus der Gehirnmolecüle 
schon eine gewisse Art correspondirender äusserer Bealität besitzt, 
weil sie nicht unmittelbar aus der unbewussten Intuition der 
absoluten Idee hervorgegangen, sondern aus sinnlichen Wahrneh- 
mungen erbaut ist, die selbst wieder Synthesen elementarer Empfin* 
düngen, d. h. qualitativ gefärbter Nichtbefriedigungen oder Befrie- 



*) Selbstverständlich sind alle aus diesem Missverständniss hier sowohl wie 
an anderer Stelle (S. 147) abgeleiteten Einwendungen hinfällig. 

**) Die betreffende Lieferung der 5. Auflage gelangte Anfang Mai 1873 zur 
Ausgabe. 



298 f ^' Hegelianismus. 

digungen von Begehmngen sind. Für die Herrschaft der emand- 
pirten bewnssten Vorstellnng über den Willen ist also genetisch 
dadurch Vorsorge getroffen, dass sie sich auf lauter Willensaccidenzen 
(mit Hülfe der synthetisch mitwirkenden unbewussten Intuition) 
erhebt, dass sie ein Gebäude aus lauter Backsteinen ist, die der 
Wille hat liefern müssen, und zu der die (unbewusste) Vorstellung 
nur den Mörtel beigesteuert hat. 



11. Die Bedingungren der Bewusstseinselnlieit. 

Das innerweltliche Bewusstsein ist also niemals Resultat bloss 
eines der beiden Attribute ; insoweit es sich um mehr als Bewusst- 
werden von blossen Willensaccidenzen, insoweit es sich um Bewussl^ 
werden oder doch Mitbewusstwerden von Vorstellungen handelt, ist 
dies ohne Weiteres klar, aber auch in den ersteren Fällen weist 
der qualitativ gefärbte Charakter der Empfindung auf den Ein- 
fluss der in den opponirenden Willensacten enthaltenen und sie 
begleitenden unbewussten Vorstellungen hin, und macht gerade letz- 
terer Umstand es begreiflich, dass das ganze Reich der bewnssten 
Vorstellung sich aus solchen Empfindungs bausteinen zusam- 
mensetzen kann. Da nun aber doch das Bewusstsein ungeachtet 
der Betheiligung beider Attribute an demselben ein einheitlicher 
Act ist, so geht daraus hervor, dass das Bewusstsein überhaupt 
nicht als Modus eines oder beider Attribute betrachtet werden 
kann, sondern als Modus der identischen, in ihren Attributen sich 
auswirkenden und sich selbst afßcirenden Substanz oder des Einen 
absoluten Subjects bezeichnet werden muss. Also nicht der Wille 
und nicht die Vorstellung hat das Bewusstsein, sondern nur das 
absolute Subject hat es, oder das absolute Subject ist der alleinige 
„Ort^^ alles Bewusstseins (dies gilt auch fQr das ausserweltliche 
Bewusstsein, an dessen Entstehung die Vorstellung noch nicht theil- 
nimmt; vgl Volkelt S. 153). 

Wenn das Unbewusste als identische Substanz der Attribute 
und als absoluter Träger alles Daseins auch der alleinige und ge- 
meinsame Ort alles Bewusstseins ist, so repräsentirt dasselbe ebenso 
den „gemeinsamen Sammelplatz'' für diejenigen bewnssten Vorstel- 
lungen, welche zur Einheit des Bewusstseins verschmolzen werden 
(S. 171). Da nun aber thatsächlich nicht alle bewusste Vor- 



Volkelt's Panlogismus des Unbewussten. i 299 

stellangen in der Welt zu einem einheitlichen Bewusstsein ver- 
schmelzen, so muss ausser der genannten unerlässlichen inneren 
Bedingung noch eine zweite äussere Bedingung gesucht werden, 
von welcher es abhängt, ob die bewussten Vorstellungen im absolu- 
ten Subject gleichgültig und beziehungslos neben einander liegen 
bleiben, oder ob sie in einer solchen Beschaffenheit zu Stande 
kommen, dass sie im absoluten Subject in jene Wechselbeziehung 
zu einander treten, als deren Resultat die Einheit des Bewusstseins 
erscheint (vgl. S. 172). Als diese zweite äussere Bedingung habe 
ich die Güte der Leitung in den Nervenbahnen für die physiologi- 
schen, den psychischen Functionen correspondirenden Nerven- 
schwingungen nachgewiesen (vgl. auch hierzu Ph. d. ü. Ster.-Ausg. 
S. 398—400). Hiermit sind die inneren und äusseren Bedingungen 
der Verschmelzung mehrerer bewusster Vorstellungen zu einem ein- 
heitlichen Bewusstsein erschöpft. 

Die Annahme einer Individualseele, die doch als solche zunächst 
ebenfalls unbewusst zu denken wäre, würde die bei meiner Auf- 
fassung etwa noch verbleibenden Detailschwierigkeiten keineswegs 
erleichtem, da letztere genau in derselben Gestalt auch bei dieser 
Annahme wiederkehren müssten. Auch hier würden nämlich einige 
der bewussten Vorstellungen (die im Grosshirn erzeugten) ver- 
schmelzen, andere aber nicht, und das Problem der apathisch und 
unverschmolzen in einem und demselben Vorstellungssubject neben- 
einander liegenden Vorstellungen würde nur dann vermieden werden, 
wenn man Einem Individuum viele substantiell getrennte Seelen 
(entsprechend den verschiedenen Nervencentris) zuschriebe. Dann 
müsste man aber auch die Consequenz ziehen, den beiden Grosshirn- 
hemisphären wegen ihrer in pathologischen Fällen öfters beobachte- 
ten Getrenntheit der Vorstellungen (vgl. Jessen's Psychologie) zwei 
substantiell getrennte Seelen zuzuschreiben. Auf alle Fälle entstände 
dann das neue weit schwierigere Problem, wie zwischen normal 
getrennten Bewusstseinen (z. B. des Hirns und des sympathischen 
Nervensystems) doch bisweilen Verschmelzung von Vorstellungen 
stattfinden kann; wenn zwischen den Seelen beider einmal die Kluft 
einer substantiellen Trennung errichtet ist, so müsste solche Aus- 
nahme rein unmöglich sein. Wenn wir uns demnach auf alle Fälle 
dabei bescheiden müssen, dass bewusste Vorstellungen, die innerhalb 
desselben Organismus entstehen, doch nur bei Erfüllung der 



300 ^' Hegelianismas. 

äusseren Bedingung genügender Nervenleitung zur Versctmelzung 
kommen, andernfalls aber in dem nämlichen Vorstellungssubject oder 
in der identischen unbewussten Individualseele getrennt und ohne 
Wechselbeziehung zu einander liegen bleiben, dann schwindet in 
der That jeder Grund, an der Geltung des nämlichen Gesetzes auch 
fttr das absolute Vorstellungssubject der Welt zu zweifeln (Zusammen- 
nähen von zwei Hälften zweier verschiedener Stisswasserpolypen). 
Dann aber zerrinnt uns auch jede Berechtigung unter den Händen, 
um aus der Thatsache, dass die Vorstellungen der nicht durch Ner- 
venleitung verbundenen Individuen zu keiner Bewusstseiusverschmel- 
zung gelangen, einen Rtickschluss auf die Vielheit der Vorstellungs- 
subjecte oder substantiellen Seelen jener Individuen zu wagen. Es 
bleibt uns dann kein Grund, über die nächstliegende und durch 
ihre Einfachheit sich empfehlende Annahme hinauszugehen, dass das 
Vorstellungssubject oder die psychische Substanz aller bewussten 
(und natürlich auch unbewussten) Vorstellungen in der Welt Eine sei 



12. Die panlogisüsche Unbegreiflielikeit der Indiyidnation. 

Volkelt räumt einerseits ein, dass Hegel das Problem der In- 
dividuation nirgends scharf in's. Auge gefasst habe, sondern über 
dasselbe überall hinweggleite, als ob seine Lösung sich von selbst 
verstände (S. 191) ; auf der andern Seite aber giebt er auch zu, 
dass bei Hegel das sinnliche „Dieses'^ als etwas dem Begriffe 
Fremdes, Alogisches dargestellt sei (197). Er selbst begreift, dass 
letzteres einräumen die Unfähigkeit des Panlogismus zur Lösung des 
Individuationsproblems constatiren hiesse, und sucht deshalb Hegel 
dahin zu verbessern, dass auch das sinnliche Dieses, das Unsagbare, 
nur noch zu Zeigende, als reiner Ausfluss des Begriffes behauptet 
wird. „Die Negativität aber, selbstständig geworden, zur einfachen 
Position gemacht, ist der fixe, starre, in seiner Einzigkeit unvergleich- 
lich dastehende Punkt, das sinnliche Dieses" (197). In der That 
aber ist die an sich fixirte Negation nach Hegel gar nichts weiter 
als die abstracte Endlichkeit, wie Volkelt selbst an anderer Stelle 
ganz richtig bemerkt (S. 247), nicht das Endliche als dieses Einzige, 
Unsagbare, sondern bloss der allgemeine Begriff des Endlichen 
überhaupt. — Wie schon Schopenhauer gezeigt hat, ist es nicht die 
Natur der Vorstellung, was dem Begriff das „Dieses" unerreichbar 



yolkelt*s PanlogismoB des ünbewussten. 301 

macht (da es ja doch der Anschauung erreichbar ist), sondern es 
ist die abstracte Natur des Begriffs, welche es ihm unmöglich 
macht, das Gebiet der Allgemeinheit zu verlassen, wie sehr er 
auch in die Besonderung des Allgemeinen als Allgemeinen sich 
versenken mag. Das sinnliche Dieses, sofern es reale Vereinzelung 
ist, ist für Hegel nicht nur zu uninteressant, um sich um seine Ent- 
stehung zu bekümmern, er spricht ihm sogar die Wahrheit ab und 
behauptet, dass die Wahrheit des „Dieses'^ nur das Allgemeine 
in demselben sei, worauf uns schon die Sprache hinweise (vgl. Heg. 
W, n. S. 76). Will man Hegel dahin corrigiren, dass die Idee das 
„Dieses" in sich zu schliessen vermag, was allerdings für die Lö- 
sung des Individuationsproblems die erste Vorbedingung ist, so darf 
man nicht HegeFs einseitige Stellungnahme durch Hineinpfropfen 
eines neuen Fehlers noch mehr verballhornisiren (wie Volkelt durch 
Bekämpfung der Ausserbegrifflichkeit des „Dieses'^ thut), sondern man 
muss eingestehen, dass die Idee oder das Idealprincip oder die un- 
bewusste Vorstellung nicht Begriff sein kann, sondern Anschauung 
sein muss (natürlich Anschauung, welche die Begriffe nicht aus- 
schliesst, sondern implicite in sich enthält. Dass Volkelt, trotzdem 
er die Nothwendigkeit, das Individuationsproblem zu lösen und die 
dieser Lösung bei Hegel im Wege stehende Schwierigkeit erkannte, 
diese auf der Hand liegende Auskunft, welche er bei mir vor- 
gezeichnet fand, nicht nur nicht ergriff, sondern ebenso krampfhaft 
ignorirte, wie Hegel das ganze Individuationsproblem, das hat in 
der sehr motivirten geheimen Angst seinen Grund, mit solchem Zu- 
geständniss das liebgewordene Gaukelspiel der Dialectik preiszu- 
geben, das natürlich nur mit abstracten Begriffen möglich ist, wo 
die Einseitigkeit der Abstraction den Erkenntnissdrang des Philo- 
sophen zur Ergänzung durch neue Begriffsmomente anspornt, wäh- 
rend die Anschauung stets satt und ganz und voll ist, auch wo sie 
das Kleinste zum Gegenstande hat. 

So wie die Idee als Anschauung verstanden wird, ergreift sie 
selbstverständlich das „Dieses", das dem Begriff ewig unzugänglich 
bleibt, mit völliger Leichtigkeit und Sicherheit; das einzelne „Dieses", 
wie es sich uns empirisch aufdrängt, geht aber nicht bloss über 
den Begriff hinaus, insofern es concrete Anschauung ist, sondern 
geht auch übar die Idealität hinaus, insofern es real ist, d. h. das 
reale Dieses ist nicht bloss ausserbegrifilich, sondern auch un- 



302 C. Hegelianismus. 

logisch. Für diesen Punkt ist nun die zweite Correctur HegeFs 
erforderlich, welche natürlich über die Grenzen des Panlogismus 
hinausfährt ; von der Nothwendigkeit dieser zweiten Correctur merkt 
aber Volkelt wieder nichts, weil er in seinem panlogistischen Vor- 
urtheil das vorgestellte oder ideale „Dieses" ohne Weiteres mit dem 
realen Individuum identificirt. Wollte man wirklich HegeFs nie die 
Sphäre der Allgemeinheit verlassenden Begriff als concrete An- 
schauung interpretiren, so wäre er doch auch dann noch unfähig, 
das existirende „Dieses" in seiner energischen Realität und kraft- 
vollen Widerstandsfähigkeit abzuleiten, was erst dann gelingt, wenn 
man die unbewusste concrete Intuition des Dieses durch den Willen 
realisiren lässt. 

Die Idee, nachdem sie ihre Momente im Ineinander durch- 
laufen hat, soll dieselbe in's absolute Aussereinander zerfallen lassen 
(193). Da würden also die vorher ineinander geschachtelten Ele- 
mente nunmehr getrennt auf eigene Faust umherspazieren; wir 
müssten hier das Sein, dort das Nichts, hier das Etwas, dort das 
Andere als Individuen in Raum und Zeit zerstreut finden. Genan 
genommen könnte die Idee gerade nur in so viele Indviduen ans- 
einanderfallen, als sie in der rein logischen Entwickelung Momente 
durchlaufen hat. In der That aber zeigt uns die Beobachtung, dass 
auch im sogenannten Aussereinander alle diese Momente der lo- 
gischen Idee ineinander verbleiben, dass wir sie von Anfang bis 
zu Ende in jedem einzigen organischen Individuum gerade so wie 
in der an sich seienden Idee in absoluter Durchdringung vereinigt 
finden. Die Phrase vom Auseinanderfallen der logischen Momente 
ist also nicht nur nichts erklärend, sondern so falsch, dass ihr 
Gegentheil, das ineinander Verbleiben derselben, wahr ist Die 
einzelnen platonischen Naturtypen des Stein-, Pflanzen- und Thier- 
reichs kommen aber wieder in der HegeFschen Logik gar nicht 
vor, sondern nur die Begriffe des Mechanismus, Organismus u. s. w., 
und es wäre schwer anzugeben, aus welchem Grunde gerade nur 
solche platonische Naturideen auseinanderfallen sollen, die eigentlich 
logischen Momente der Hegerschen Idee aber nicht, oder welches 
das Merkmal sei, durch welches für das Auseinanderfallen oder 
Ineinanderbleiben der idealen Momente die Grenzen markirt werden. 
Aber sehen wir von alledem ab, so würde doch auch das Auseinander- 
fallen der in der reinen Idee etwa als Entwickelungstotalität ge- 



Yolkelt's Panlogismus des ünbewussten. 03 

scbauten platonischen Naturtypen immer noch nicht die empirisch 
gegebene Welt erklären, insofern in dieser jeder dieser Typen 
nicht bloss Ein Mal (oder höchstens in zwei Individuen verschie- 
denen Geschlechts), sondern unzählige Mal als sinnliches Dieses 
herumläuft. Volkelt behauptet, die Besonderung müsse über die 
Besonderung des Gattungstypus zum Arttypus (und Varietätstypus) 
hinausgehen zu einer Schranke, der alle Flüssigkeit des Begriffs 
(d. h. doch wohl die Natur des dialectischen Begriffs selbst) fehlen 
moss, die nicht weiter analysirbar (für den Begriflf) sein muss, son- 
dern absolute Fixheit und Starrheit an sich tragen muss (195). 
Dieses „Müssen" bleibt aber blosse Behauptung und vom Standpunkt 
der Begriffsdialectik unlösbare Aufgabe ; es trägt allzu deutlich seine 
empirische Herkunft an der Stirn. Wenn wirklich noch diese 
Schranke begrifflich analysirbar wäre, so würde damit doch nur 
der allgemeine Charakter des individuirenden Unterschiedes be- 
griffen, aber nie die Einzigkeit des einzelnen „Dieses" erreicht. In 
der That ist auch gar nicht abzusehen, was die Haeccelftas ftlr die 
rein logische Idee, die durch den blossen dialectischen Widerspruch 
schon zu sich selbst kommt, für einen Werth haben kann. Alles 
was Hinz oder Kunz ihr leisten kann, würde Adam Kadmon auch 
leisten, wenn er Gattungstypus, Arttypus und Individualität in sich 
vereinigte, und unverständlich bleibt bei diesen panlogistischen Voraus- 
setzungen, warum 1300 Millionen Menschen statt eines oder zwei 
herumlaufen, da es doch die Menge nicht machen kann (wogegen 
es bei mir allerdings auf das quantitative Verhältniss des be- 
wusstseinerleuchteten Willens zum blinden Lebenswillen ankommt). 
— Unverständlich bleibt ferner bei Volkelt, wo keine unlogische 
Macht durch List zu überwinden ist, warum überhaupt erst eine all- 
mähliche Entwickelung zum Selbstbewusstsein der Idee führen muss 
und warum in dieser Felsblöcke und Eisklumpen, Bestien und Un- 
geziefer sich als rein logische Momente aus der rein logischen Idee 
entfalten müssen, da doch kein blinder Weltwille die Idee zu all- 
seitigem Leben, zu möglichst weit ausgreifender Entfaltung drängt, 
und keine unorganische Zufälligkeit (im teleologischen Sinne) die 
Entwickelung beeinflussen kann, welche allein schon bei mir ftlr 
die individuirenden Differenzen der Qualität nach sorgt. — Ganz 
rathlos endlich steht der Panlogismus vor jener Vielheit, bei welcher 
der individuirende Unterschied in der Qualität absolut verschwindet 



8Q4 0. HegelianiBmoB. 

und die numerische Mnltiplication des begrifflich identischen bloss 
auf die intuitiven Unterschiede des zeitlich veränderlichen Orts sich 
gründet (wie bei den Uratomen). Hier steht im recht eigentlichen 
Sinne der Verstand des Dialectikers still vor der sinnlosen Menge 
der unterschiedslosen Vervielfältigungen des begrifflich Identischen 
und muss schon deshalb den Atomismus leugnen. 

Auf alle Weise ist also der einseitige Panlogismus ausser Stande, 
die Möglichkeit der empirisch gegebenen Individuation aus seinen 
Principien zu begreifen, und Hegel verfuhr daher ganz consequent, 
sie als der begrifflichen Betrachtung unwürdig zu ignoriren. Ebenso 
wenig wie die Möglichkeit zu begreifen, vermag der Panlogismus 
die teleologische Nothwendigkeit der Individuation nachzuweisen. 
Eine „gesteigerte Wesensentfaltung" des Logischen (wie Volkelt 
S. 186 behauptet) kann die Individuation schon deshalb nicht bil- 
den, weil in sämmtlichen Individuen nichts zu Tage treten kann, 
als Wiederholungen der in der ansichseienden Idee schon ganz 
ebensoweit, ja sogar wegen des Fehlens der entstellenden Zufällig- 
keiten besser entfalteten logischen Natur. Alles, was die Idee durch 
Entfaltung erreichen kann, z. B. das Bewusstsein, hängt nach pan- 
logistischen Principien gar nicht an der Individuation, der Vielheit, 
der Menge der Exemplare, sondern ausschliesslich an der begriff- 
lichen Form des begrifflichen dialectischen Widerspruchs, der sich 
in Einer typischen Darstellung für jede Stufe schlechterdings er- 
schöpfen muss. Aber selbst zu dieser Entfaltung aller in der 
Idee schlummernden Möglichkeiten in je Einer typischen Repräsen- 
tation ist nach panlogistischen Principien nicht die geringste teleo- 
logische Veranlassung. Denn was hat das Logische davon, sich zu 
entfalten? Wir Menschen suchen unsere Anlagen zu entfalten, um 
uns zu behaupten und in der Concurrenz zu siegen, in die wir ge- 
stellt sind, ohne die Zweckmässigkeit unseres Daseins zu kritisiren; 
dieser Grund fällt für das Absolute weg, das von Niemand in Frage 
gestellt wird. Wir Menschen suchen ferner unsere vernünftigen 
Ideen auch deshalb auf alle Weise zu entfalten und möglichst 
mannigfaltig zu exemplificiren , um ihre Richtigkeit an möglichst 
concreten Consequenzen empirisch zu bewähren; aber die absolut 
vernünftige Idee wird wohl nicht nöthig haben und kein Bedürfhiss 
fahlen, sich in der Individuation zu b e w ä h r e n , da sie selbst alle 
Wahrheit ist und Alles nur an ihr selbst zu bewähren ist. Hat das 



Yolkelt's Panlogismus des ünbewussten. 305 

Logische wirklich das Unlogische, so weit ein solches möglich ist, 
schon als Moment in sich, so kann bei aller äusseren Ent- 
faltung der Idee gar nichts herauskommen, was nicht in der an 
sich seienden Idee schon urbildlich vorweg genommen wäre, — 
nicht einmal das Bewustsein. Aber selbst zu der rein innerlichen 
Entfaltung der Idee ist gar keine teleologische Veranlassung im 
Panlogismus enthalten, da ja das Idealprincip sich dabei beruhigen 
könnte, alle seine Momente potentiä in sich zu tragen, ohne sie actu 
auch nur in der Idee zu entfalten. Der Panlogismus kann keinen 
Zweck für die Entfaltung der Idee angeben, weil er, wie wir oben 
im Abschn. 11 sahen, keinen Zweck fUr das Zusichselbstkommen 
der Idee anzugeben vermag ; da dennoch die Thatsache der sowohl 
ideell wie reell stattgehabten Entfaltung sich empirisch aufdrängt, so 
muss es bei der Unnachweisslichkeit des positiven Zwecks] der- 
selben der blinde Trieb gewesen sein, der, im immanenten Un- 
logischen der Idee steckend, dieselbe zu der logisch zwecklosen 
Entfaltung zwang, welche sich hintennach in dem Elend des Welt- 
processes sogar als widervernttnftig herausstellt. Wenn aber doch 
der blinde Trieb des Unlogischen allein die Erklärung für die Ent- 
faltung der Idee abgeben kann und diese Erklärung an Stelle 
jeder teleologischen Bechtfertigung treten muss, dann wird doch auch 
aus diesem Gesichtspunkt die Immanenz des Unlogischen im 
Logischen eine mehr als wunderliche Behauptung, da sie die logische 
Rechtfertigung des logisch nicht zu Rechtfertigenden unternimmt; — 
dann werden wir auch von dieser Seite zu der einzig stichhaltigen 
Auskunft gedrängt, das Logische und Unlogische als coordinirte Mo- 
mente anzusehen, die durch Immanenz in einem dritten verbunden 
sind, welches sie beide ist. 



13. Das IndiTiduationsproMem in der Philosophie des Unl^ewassten« ^ 

Wir haben oben im Abschnitt 9 gesehen, dass der absolute 
Zweck nur ein negativer, nämlich die Negation des Unlogischen 
sein kann, und haben im Abschnitt 11 das Zusichselbstkommen der 
Idee als das Mittel kennen gelernt, um diesen Zweck zu erreichen. 
Wir haben ferner schon im Abschnitt 9 (S. 34) in Erwägung gezo- 
gen, dass es lediglich von der formallogisch geforderten Beschaffen- 

E. T. Hartmann', Erl&ntemngtn« 2. Aufl. 20 



306 0. Hegelianismus. 

heit des Mittels zu dem gesetzten Zweck abhängt, ob der dorcli 
diesen Process im logischen Normalprincip entfaltete ideale Inhalt 
ein einfacher oder ein vieleiniger (d. h. innere Mannichfaltigkeit in 
sich schliessender) sein werde; die im Abschnitt 12 auseinanderge- 
setzten Bedingungen für die Entstehung des Bewusstseins erfordern 
nun aber als Mittel flir den genannten Mittelzweck eine Spaltung 
des erftUlten Willens in verschiedene Willensacte, d. h. eine Dar- 
bietung von innerlich mannichfaltigem Ideengehalt als vielfachem 
Willensinhalt an den Einen Weltwillen. Dazu wissen wir aus Ab- 
schnitt 11 noch, dass es darauf ankommt, einen möglichst grossen 
Theil des erfüllten Weltwillens vom unbewussten Drang nach Realität 
in bewusstes Streben nach Selbstverneinung überzufahren und er- 
scheint deshalb die Entstehung und Entwickelung des Bewusstseins 
an möglichst vielen Punkten zugleich, d. h. eine mög- 
lichst starke numerische Vervielfältigung des typischen Bewusstseins- 
individuums logisch nothwendig für den absoluten Zweck. Die vielen 
Bewusstseins-Individuen müssen aber wieder zu einem bewussten 
Gemeinschaftsleben gelangen können und deshalb durch ein gemein- 
sames Medium mit einander verkehren ; als dieses Medium nun und 
zugleich als Vorbereitung für die Entstehung der Bewusstseinsindi- 
viduen fungirt die zuerst anorganische, dann zur Organisation sich 
erhebende Natur, welche einerseits die allen Individuen gemeinsame 
Eine objective Erscheinungswelt bildet, und andrerseits diejenigen ans- 
nahmslos gesetzmässig erfolgenden Willensäusserungen liefert, welche 
mit den unbewussten psychischen Willensfunctionen coUidiren und 
dadurch die bewusstseinserzeugenden Impressionen in ihnen hervor- 
bringen. So ist die Negation des Unlogischen der Endzweck, die 
Bewusstseinsentstehung der höchste Mittelzweck zur Erreichung des 
ersteren, die Individuation, und zwar als reale, das Mittel zum 
Zusichselbstkommen oder Bewusstwerden der Idee, die ideale Zer- 
spaltung der Idee in eine innere Mannichfaltigkeit des bei alledem 
als Totalität einheitlich bleibenden Inhalts endlich das Mittel zur 
Herbeiführung der realen Individuation durch Darbietung eines viel- 
einigen Inhalts an den Willen, der ihn als vieleinige Well^ als ein- 
heitliche kosmische Totalität mit einer inneren Mannichfaltigkeit 
von Individuen der verschiedensten Ordnung realisirt. Hiermit ist 
die teleologische Nothwendigkeit der Individuation dargethan. Ueber- 
all in der Phil. d. Unbew. tritt dieser Zusammrahang evident zu 



Yolkelt's Panlogismos if» ünbewossten. ^7 

Tage*); wenn Yolkelt bei mir das Bewusstsein über einen solcben 
yennisst (S. 173 — 176), so liegt dies nur an dem Mangel seines Ver- 
ständnisses, welches yielleicht durch seine Missdeutung meiner Theorie 
der Bewusstseinsentstehung beeinträchtigt worden ist Da er näm- 
lich dort nicht verstanden, dass ich die Gollision sich kreuzender 
ideenerfOllter Willensacte als Grundbedingung des Erwachens der 
Empfindung betrachte, sondern mir statt dessen als solche eine yor- 
gebliche Opposition der Attribute gegen einander unterschiebt, so 
musste ihm damit der Zusammenhang zwischen der realen Indiyi- 
duation und Bewusstseinsentstehung entgehen. 

Gehen wir nun zu der anderen Frage über, wie die Indiyi- 
duation, die Vielheit im AU-Einen ohne Widerspruch möglich sei, 
so bleibt hier nach den Bemerkungen des yorigen Abschnitts wenig 
mehr zu sagen übrig. Da Volkelt zugiebt, dass ein einmal gege- 
bener yieleiniger Ideengehalt auch nothwendig durch den Willen 
als objectiye Erscheinung realisirt werden müsse (174 und 175 unten 
bis 176 oben), so beschränkt sich die ganze Frage darauf, ob das 
Idealprincip ohne Widerspruch mit seiner Einheit einen mannich- 
faltigen unbewussten Anschauungsinhalt in Eins fassen könne, wenn 
diese innere Vielheit durch den Endzweck teleologisch, d. h. mit 
formal logischer Nothwendigkeit gefordert wird. So zugespitzt ist 
nun die Antwort sehr leicht. Wenn ich eine menschliche Gestalt 
anschaue, so habe ich erstens eine einheitliche Totalanschauung 
der Gestalt, zweitens aber i n dieser Gesammtanschauung eine innere 
Mannichfaltigkeit yon Anschauungen (Kopf, Bump^ Gliedmaassen 
11. s. w.), in welcher sogar alle in Wirklichkeit aussereinander befind- 
lichen Gegensätze (wie rechts und links, oben und unten) zur wider- 
spruchslosen Einheit befasst sind (ygl. Volkelt S. 205 Z. 12 — 19). 
So wenig nun in meiner bewussten Anschauung yon einer Unyer- 
träglichkeit der inneren Mannichfaltigkeit des Anschauungsinhaltß 



*) S. 616 Z. 16—17 der Ster.-Ausg. unterscheidet das „Wozu" der Indivi- 
duation (ihren Zweck) von dem „Wie^ derselben (ihrer widerspruchslosen 
Möglichkeit); 8. 752 Z. 10 von unten nennt die Bewusstseinsentstehung als die 
4Jifg^be, der die Individuation dient; desgleichen S. 520 unten, wo auf den 
Zusammenhang mit Cap. C. III. verwiesen wird (vgl. dort besonders 397—398). 
Der ganze erste Theil des vorletzten Gapitels (G. XIV) behandelt die Frage im 
Zusammenhang, und der Schluss desselben giebt ein übersichtliches kurzes Ee- 
9um^ (770 unten bis 771 oben). 

20* 



308 ^* H^lianismuB. 

mit der Einheit der Totalanschanang die Bede sein kann^ eben so 
wenig in der nnbewnssten Intuition des AII-Einen ; wird aber sehon 
die Einheit der Anschauung als solcher durch die Vielheit des An- 
schauungsinhalts nicht gestört, so doch gewiss noch viel weniger 
das einheitliche, sich selbst identische Sein des anschauenden Sub- 
jects oder Wesens. Diese auf der Hand liegende AuflFassung der 
Sache habe ich überall (z. B. Ph. d. ü. S. 809 Z. 7—17) als selbst- 
verständlich vorausgesetzt und in derThat konnte dieselbe nur für 
solche Leser einer besonderen Darlegung bedürfen, welche, wie 
Volkelt, so tief im panlogistischen Vorurtheil befangen sind, dass 
sie das Sein des vorstellenden Subjects allen Abmahnungen zuwider 
(vgl. Ph. d. ü. S. 812) hartnäckig mit seinem Vorstellungsinhalt 
identificiren (S. 177 unten), und dann natürlich die innere Mannich- 
faltigkeit des Inhalts, in welchen sie zugleich das Sein des Ideal- 
princips setzen, als mit der Einheit dieses unverträglich, die Bäum- 
lichkeit und Zeitlichkeit jenes als der Baumlosigkeit und Zeitlosig- 
keit dieses widersprechend finden (S. 177 Mitte). So wird das Ver- 
ständniss für die Möglichkeit der Individuation durch dasselbe Vor- 
urtheil zerstört, welches schon zum Anfang der Kritik Volkelf s die 
substantielle Identität der Principien der Begreiflichkeit zu entrücken 
schien (vgl. oben Abschn. 6). 



14. Wesen und Erseheinungr« 

Die vieleinige Idee wird beständig durch den Willen realisirt 
und wird so zur vieleinigen Welt. Ist das ganze Dasein des Pro- 
cesses ein Uebel, so ist auch die Individuation ein Uebel, in welcher 
er sich abspielt; ist aber der Process nothwendig als Mittel zum 
Zweck, so ist es auch die Individuation oder die Vielheit in der 
Einheit der Welt (vgl. 165 unten). Der Anschauungsinhalt der un- 
bewussten Idee wird so, wie er sich eben darbietet, vom Willen 
ergriffen und realisirt, geht also unmittelbar (nicht etwa bloss als 
Abbild des Urbilds oder als Copie des Originals, wie Volkelt zu 
glauben scheint, vgl. S. 174) in die Wirklichkeit ein und bildet 
deren „Was und Wie" {essentia)y während das Bealprincip ebenfalls 
unmittelbar in die Wirklichkeit mit eingeht und deren „Das^^ 
{existentia) ausmacht. Nennt man nun die Summe der beiden Attri- 
bute das Wesen oder die Natur des Absoluten, so muss man* sagen. 



Volkelt'B Panlogismus des tJnbewussten. 309 

dass das Absolute mit seinem Wesen oder seiner Natur in die Wirk- 
lichkeit eingeht, indem es durch die zusammenwirkende Function 
seiner Attribute die reale Erscheinungswelt constituirt; und insofern 
die Beschaffenheit der Attribute von Ewigkeit her eine solche ist; 
dass sie für den Fall einer Erhebung (des einen) und Entfaltung 
(des andern) nothwendig zur Constitution einer solchen Erscheinungs- 
welt der Individuation und Vielheit fuhrt, kann man sagen, dass 
die Individuation oder Vielheit der Erscheinungswelt zum ewigen 
Wesen oder zur ewigen Natur des Absoluten gehöre, nämlich in der 
Beschaffenheit seiner Natur prädestinirt sei (für den keineswegs 
nothwendigen Fall eines Processes). Versteht man hingegen unter 
Wesen weder bloss die Essenz, das Wie und Was der Erscheinung 
im Gegensatz zu ihrer Existenz, noch auch bloss die Natur des 
Absoluten als die Summe der Beschaffenheit seiner Attribute im 
Gegensatz zu der Subsistenz des diese Natur an sich tragenden 
oder habenden absoluten Subjects, sondern versteht man unter Wesen 
das dem Sein (im Sinne von empirischem Dasein) zu Grunde lie- 
gende, das Ueberseiende in der Totalität seiner Momente als Fro- 
ducenten der Erscheinung, die metaphysische Wurzel der physischen 
Existenzen, das einheitliche Absolute im Gegensatz zu seinen Func- 
tionen, dann muss man sagen, dass das Wesen von der Vielheit der 
Erscheinung nicht berührt wird, dass es wechsellos im unendlichen 
Wechsel beharrt, weil es Substanz ist, und dass die Natur seiner 
Attribute unverändert sich selbst gleichbleibt, mögen dieselben nun 
in dieser Phase des Processes diese, oder in jener Phase jene 
Leistungen vollbringen, mögen sie vor dem Processe in Buhe, oder 
in dem Processe in Thätigkeit sein. 

Diese Beziehungen zwischen dem AU-Einen und der Erschei- 
nungswelt der Vielheit glaubte ich deutlich genug dargethan zu 
haben, um vor so vollständigen Missdeutungen gesichert zu sein, 
wie Volkelt sie auf S. 166—169 zu Tage fördert. Es scheint, dass 
Volkelt sich verleiten liess, das in seiner Dissertationsschrift über 
Spinoza*) verwert hete kritische Schema des Gegensatzes zwischen 
Immanenz und Isolirung (oder wie er sagt Identität) auch auf mich 
zu übertragen, so wie er die berührungslose Zusammenhangslosig- 



*) Pantheismus und Individualismus im Systeme Spinoza's. Leipzig, 
H. Fritzsche 1872« 



3l0 0. Hegelianismiui. 

keit der Spinozischen Attribute auf die meitieii Übertrag (8. 14B), 
obwohl ihm deren abweichendes Verhältniss nicht anbekannt war 
(160). Nan ist aber die Sitttation der Kritik in beiden Fällen eine 
gan2 verschiedene. Spinoza will ebenso wie Hegel Panlogismos 
geben (denn aach in der Sphäre der Ansdehnung ist der Zusammen- 
hang ein mathematisch, d. h. formal-logisch nothwendiger)^ ohne ein 
Bealprincip neben dem Idealprincip zu besitzen (in welches auch 
die kraftlose Ausdehnung mit hineinfällt)^ und kann damit nattirlieh 
nicht ztt Stande kommen; Volkelt als Hegelianer merkt aber nicht, 
dass es am Mangel eines Realprincips liegt, meint, es läge an 
dem formal logischen Charakter seines Realprincips und glaubt 
durch Umwandlung desselben in ein dialectisches alle Schwie- 
rigkeiten heben zu können, weil dadurch erst in den einseitig lo- 
gischen Formalismus Spinoza's das unentbehrliche Unlogische ein- 
gefttgt werde. Und insofern das Unlogische in irgend welcher Gestalt 
wirklich jedem philosophischen System unentbehrlich ist, kann man 
nicht umhin, den Panlögismus HegeVs, welcher diesen nothwendigen 
Bestandtheil sich einzuverleiben versucht hat, als einen entschieden 
höheren philosophischen Standpunkt zu bezeichnen als den Sinno- 
zismus, welchem das Unlogische gänzlich fehlt. Nun habe ich aber 
gezeigt, dass und weshalb das Unlogische als immanentes Moment 
des Logischen nicht Bealprincip sein kann, und es vielmehr dem 
Logischen nebengeordnet werden muss, um den formalen Logismns 
Spinoza's auf befriedigende Weise zu ergänzen ; durch dieses Hin- 
zufügen eines unlogischen Willens als Bealprincip verschwindet aber 
weiter die Kothwendigkeit, an der formalen Logik Spinoza's eine 
Aenderung im Sinne der Hegerschen Dialeetik vortunehmen. So 
sehr also die relative Berechtigung der ven Volkelt an Spinoza 
geflbten Kritik anzuerkennen ist, so länge ein Hinausgehen über den 
Panlögismus als solchen ausser Betracht blieb, so wenig kann die 
absolute Gültigkeit dieser Kritik zugestanden werden, und am aller- 
wenigsten kann die Norm dieser Kritik auf dei\)enigen Standpunkt 
Übertragbar scheinen, welcher den Panlögismus sowohl in der for- 
malen Gestalt Spinoza's wie in der diabetischen Hegel's endgültig 
Überwunden und vim aufgehobenen Moment herabgesetzt hat. 

Bei Spinoza bleibt nun in der That der Zusammenhang zwischen 
Modus und Substanz, das Hervorgehen des ersterea aus der letzteren, 
eine blosse Behauptung, weil die Art des Zusammenhanges oder des 



Yolkelt's Panlogismas des Ünbewussten. 311 

Hervorgehens nicht aufzeigbar ist; denn die Attribute, welchen die 
Vermittelung zwischen Substanz und Modus zufällt, erweisen sich 
dazu unfähig, weil das logische Denken für sich allein (ohne unlo- 
gischen Willen) nicht zur Wirklichkeit kommt, die Ausdehnung aber 
je nachdem man sie betrachtet, entweder auf die Seite des blossen 
Denkens oder auf die der schon als vorhanden vorausge- 
setzten Wirklichkeit fällt Was die Vermittelung wirklich her- 
stellt, indem es die vom Attribut der Vorstellung ideell vorbe- 
reitete Individuation realisirt, ist der unlogische Wille, und des- 
halb ist es Leibniz, der durch sein zur Geltungbringen des 
activen Eraftbegriffs (an Stelle der passiven Ausdehnung) als Merk- 
mals des realen Modus die Vermittelung zwischen Substanz und 
Modus vorbereitet, Schopenhauer, der diese Vermittelung 
im Begriff der Objectivation des Willens vollzogen, und die 
gegenseitige Stellung von Wesen und (objectiver) Erscheinung end- 
gültig festgestellt hat. Bei Hegel hingegen ist wohl das Bedürf- 
nis s erkennbar, den bei Spinoza ungelösten Gegensatz der Immanenz 
und Isolirung zu lösen, es wird aber die Lösung nicht als concreto 
Klarstellung des gegenseitigen Verhältnisses und des Her vergebens 
des einen aus dem andern vollzogen, sondern an Stelle dessen eine 
vollständige Verwirrung durch dialectisches Ineinanderumsehlagen 
und Durcheinanderfliessen beider Seiten angerichtet; d. h. es bleibt 
hier die Aufhebung und Verflüssigung des starren Gegensatzes 
ebenso blosses Postulat wie bei Spinoza die Nothwendigkeit der 
Anfrechterhaltung jeder der beiden Seiten des Gegensatzes als 
solchen. 

Die von Schopenhauer principiell gefundene Lösung des Problems 
war nun aber bei diesem Denker blosse Andeutung geblieben, und 
war in der That bei seinen Voraussetzungen einer klaren Ausführung 
und Durchbildung nicht fähig, theils weil ihm das hinreichende 
Bewusstsein der historischen Gontinuität seiner eigenen Stellung 
fehlte, theils weil er die Stellung der Idee zum Willen nicht richtig 
bestimmt hatte, theils weil sein Monismus ein durch die Lehre vom 
intelligibeln Individualcbarakter und der individuellen 
Willensverneinung getrübter war, theils weil sein subjectiver Idealis- 
mus ihn verhinderte, den Begriff der Willensobjectivation als ob- 
jective Erscheinung zu präcisiren. Indem ich alle diese 
Hindemisse beseitigt, habe ich gezeigt, dass und wie das von Spinoza 



3l2 C. Begelianismas. 

und Hegel im entgegengesetzten Sinne mit gleicber Berechtignng 
empfundene Bedürfhiss zu befriedigen ist. Das ünbewusste als 
identische Substanz mit den Attributen des logischen Idealprincips 
und des unlogischen Willensprincips entfaltet sich als woUend-vor- 
stellend oder als vorstellend-woUend in der Welt der objectiven 
Erscheinung. Dieses All-Eine Ünbewusste ist das Wesen, welches 
erscheint, also in der Erscheinung sich als absolut gegenwärtig 
manifestirt; es erscheint in der kleinsten objectiven Erscheinung 
durchaus nichts anders als das allgegenwärtige All-Eine Wesen. 
Die Erscheinung ist also nicht vom Wesen abzutrennen (S. 166), so 
wenig wie Lichtstrahlen auf Flaschen zu ziehen sind; die Erschei- 
nung ist nicht (wie Volkelt S. 167 meint) blosser Schein (dem 
kein Wesen zu Grunde läge), sondern sie ist Erscheinung des 
Wesens (d. h. der Substanz plus Attribute) selbst, das in ihr sich 
nach seinem Wesen (d. h. Natur oder Beschaffenheit der Attribute 
plus Substantialität) offenbart. So muss auch rückwärts das Wesen 
in seiner Offenbarung zu finden, aus ihr zu erschliessen sein; auch 
aus der winzigsten Erscheinung kann man sehr viel tlber die Natur 
des sich in ihr offenbarenden Wesens lernen (ex ungue leonem), nur 
darf man nicht vergessen, dass die Bethätigung des Wesens 
sich nicht in dem herausgegriffenen Stttckchen der Erscheinungswelt 
erschöpft (der Löwe ist mehr als bloss Kralle). Die Wurzel 
jeder Erscheinung liegt unmittelbar im All-Einen Wesen, denn 
die Wurzel der woUend-vorstellenden Function liegt im woUend- 
vorstellenden Subject, das für die ganze Erscheinungswelt nur Eines 
ist; die Vielheit der Erscheinungen ist nur innerhalb der einheit- 
lichen Totalität der Erscheinungswelt möglich, deren Einheit wiederum 
von der Einheit der Totalität der wollend-vorstellenden Function 
des Unbewussten und der Einheit der Substanz oder des fonctioni- 
renden Subjects bedingt ist Die Vielheit der Erscheinungen beweist 
nur die Vieleinigkeit der absoluten Function, spricht aber nicht 
gegen deren Einheit und noch weit weniger gegen die Einheit der 
fnnctionirenden Substanz. 



15. Einheit und Vielheit in der Erseheinungswelt. 

Die Erscheinungswelt ist eigentlich in doppeltem Sinne geeint: 
einerseits durch die sie zusammenhaltende Einheit des Wesens 



Volkelt^B Panlogismus des Ünbe?nissten. 313 

(durch die Einheit des Sabjects sowohl als durch die aus dieser 
folgende Einheit der unbewussten Gesammtintuition); und andererseits 
durch das innige Aufeinanderbezogensein aller ihrer Bestandtbeile 
und Seiten^ welche daher rührt, dass alle innere Mannichfaltigkeit 
der Idee formal-logisch nach einheitlichen Gesichtspunkten bestimmt 
ist; welche also letzten Endes von der Einheit des Zweckes ab- 
stammt. Die innere Mannichfaltigkeit der yieleinigen Idee gliedert 
sich nun weiter in organischer Stufenfolge; d. h. sie zerfällt nicht 
ohne Weiteres in ein unorganisches Aggregat vieler elementarer 
Einzelheiten; sondern gliedert sich in Gruppen, welche in demselben 
Sinne wie die Gesammtidee vieleinige Intuitionen sind; und deren 
Momente wiederum vieleinige Anschauungen darstellen u. s. w. 
Dieser inneren Gliederung der Idee gemäss gliedert sich auch ihre 
Realisation; die objective Erscheinungswelt; der EosmoS; zunächst 
in umfassende Gruppen, die WeltlinseU; deren jede in eine Masse 
von Fixstern- oder Sonnensystemen zerfällt; während jedes Sonnen- 
system aus einem oder mehreren Gentralkörpern und Planeten (mit 
oder ohne Ringe und Monde) zerfällt ; der einzelne Planet; wie z. B, 
die ErdC; ist aber bekanntlich auch noch eine vieleinige Erscheinung 
von grosser Mannichfaltigkeit des in ihm befassten Inhalts. Jede 
solche Gruppe zeigt nun wiederum; in demselben Sinne wie die 
Erscheinungswelt als Ganzes, eine doppelte Einheit centraler und 
peripherischer Natur: einerseits die Einheit des in ihr erscheinenden 
Wesens und andererseits die Einheit der Zusammengehörigkeit und 
Wechselbeziehung der von ihr befassten Bestandtbeile. Nur durch 
letztere Art der Einheit unterscheidet sich die individuelle 
Gruppe (von Functionen des AU-Einen) von unzusammengehörigen 
(d. h. zu verschiedenen Gruppen gehörenden) Einzelfunctionen ; denn 
die Identität des functionirenden Wesens oder die centrale Einheit 
liegt ja bei letzteren auch vor und nur die peripherische fehlt ihnen. 
Wenn also nach den Merkmalen gefragt wird; welche den Begriff 
der Individualität constituireU; so wird die Einheit des Wesens als 
selbstverständliche Grundlage vorausgesetzt; ohne welche alle 
peripherischen Beziehungen (analog wie bei der Bewusstseinseinheit 
die Leitung) doch zu keiner Einheit fuhren könnten; und die Unter- 
suchung dreht sich allein um die constitnirenden Factoren der peri- 
pherischen Einheit (Phil. d. Unb. Ster.-Ausg. S. 484—486), unter 
denen direct der Zweck die wichtigste Rolle spielt; während indirect 



314 C. Heg^anitmiu. 

auch die anderen Arten peripherischer Einheit als nothwendige 
Mittel des absoluten Zwecks, d. h. teleologisch bestimmt sind. 

Ist auf diese Weise durch die von mir ausgeführten peripheri- 
schen Einheitsformen eine ohnehin central geeinte Gruppe von Func- 
tionen sowohl nach aussen genügend abgegrenzt als auch innerlich 
auf sich selber enger als auf alles Uebrige bezogen, so bildet eine 
solche Gruppe ein objectiy-reales Erscheinungsindividuum (z. B. einen 
Menschen). In den peripherischen Gollisionen seiner Functionen mit 
den zu anderen Individualgruppen gehörigen Functionen bethätigt 
sich, ebenso wie in den peripherischen Gollisionen seiner Functionen 
untereinander, seine Realität (das Wollen in der Function), durch 
welche es anderen Individuen und sich selbst empfindlich wird (vgl. 
Phil. d. ünb. S. 532—533). In der centralen Herkunft der es 
constituirenden Functionen aus dem AIl-Einen Wesen liegt die un- 
mittelbare Zusammengehörigkeit des Erscheinungsindividuums mit 
dem Absoluten, das in ihm erscheint. Fasst man die peripherischen 
Gollisionen der Functionengruppe in's Auge, so betrachtet man das 
Individuum von der Seite der Erscheinung, fasst man den centralen 
Ursprung dieser Functionengruppe in's Auge, so betrachtet man das 
Individuum nach der Seite seines Wesens, welches das AU-Eine 
Wesen selbst ist, insofern es sich in dieser Functionengruppe 
bethätigt. Als Erscheinung ist dieses Individuum schlechthin ver- 
schieden von jenem; betrachtet man aber beide Individuen nach 
der Seite ihres Wesens, so zeigt sich, dass sie nur functionell, nicht 
substantionell, verschieden, und dass das in beiden functionirende 
Subject identisch ist. Dieses Individuum ist nichts anderes als 
diese Functionengruppe (oder dieses Strahlenbündel) des AU-Einen; 
wenn aber in der Zusammensetzung dieser Functionengruppe Gründe 
für die annähernd unveränderte Fortdauer der hauptsächlichsten 
dieser Functionen für die gesanunte Lebensdauer dieser Gruppimng 
vorhanden sind (wie dies beim Menschen mit den charakterologischen 
Trieben der Fall ist), dann werden wir diese unmittelbar im Abso- 
luten selber wurzelnde Gruppe unbewusster (Willens- und Vorstel- 
lungs-) Functionen mit Recht den tiefinnersten nnbewussten Kern, 
die Wesenswurzel des Individuums nennen können, ohne damit im 
Geringsten den unmittelbaren Zusanunenhang aller Erscheinun- 
gen mit dem All-Einen anzutasten, oder ein Recht zu der Yermu- 
tibiung zu gebeUi dass damit eine punctuelle Concentrirung des All« 



Volkelt*B PanloglBmad des Unbewossten. gl5 

Einen Unbewnssten selbst zn einem quasi substantiellen Individnal- 
kern gemeint sei (Volkelt S. 168; vgl. Ph. d. ünb. S. 565 Anm. 
und 523—525). 



16« Die unmittelbare Immanenz des Wesens in der Erscbeinnngr. 

Unmittelbar mass der Znsammenhang der Ersebeinnngswelt 
mit dem All-Einen Wesen auf alle Fälle gedacht werden; d. h. es 
darf nach keiner Richtung eine Vermittelung statuirt werden, welche 
die individuelle Erscheinung von der Wurzel alles Seins auch nur 
um eine einzige Stufe entfernte. Mit solchen Einschaltungen würden 
wir den ganzen Gewinn der philosophischen Entwickelungsgeschichte 
sofort vernichten und entweder in die Emanationssysteme oder in 
die Creationssysteme zurückfallen. Es darf weder eine individuelle 
Concentration des absoluten Wesens zu einer abgeleiteten Substanz, 
noch eine äusserliche Gesetzgebung fiir eine so geschaffene Welt 
abgeleiteter Substanzen, nach der dieselben sich automatisch-mecha- 
nisch bewegen müssten, zugelassen werden (wie Volkelt S. 181 
geneigt zu sein scheint), wenn nicht die grosse philosophische 
Errungenschaft; der unmittelbaren Einheit von Wesen und Erschei- 
nung, der ünabtrennbarkeit der Erscheinung vom Wesen und der 
Unauslösbarkeit des Wesens aus der Erscheinung preisgegeben 
werden soll Gewiss ist es nicht Willkür und Laune, welche das 
Walten des Wesens in der Erscheinung bestimmt (vgl S. 182), son- 
dern es ist das Mittel, welches den absoluten Zweck erreichen soll ; 
d. h. die absolute Teleologie ist nothw^dig ein absoluter Mechanis- 
mus, nur kein äusserlicher Mechanismus von einem Jenseits her 
dictirter Gesetze, sondern der innere Mechanismus der ab- 
soluten formal-logischenNothwendigkeit, der Mechanis- 
mus der sich selbstbestimmenden Entfaltung der logischen Idee ans 
dem logischen Formalprincip vermittelst des absoluten Zweckes. 
Dieser immanente Mechanismus der Logik ist die innere Gesetz- 
mässigkeit der Erscheinungswelt, d. h. des Wesens als Erschei- 
nenden; so wenig von einer Trennung zwischen Wesen und 
Erscheinung die Hede sein kann, ebenso wenig von einem y,fort- 
w&hre&den Abspringen von der Erscheinungswelt auf den 
Ausserhalb (!) derselben liegenden immer gleichen Mittelpunkt der 
Welt^ (l!^)» oder von einem „fortwährenden Beonrriren auf das 



316 C. Hegelianismus. 

vom J e n s e i t s (!) aus wirkende Unbewusste" (ebenda). Da das 
menschliche Denken eben kein absolutes dialectischeS; sondern ein 
höchst beschränktes inductives ist; so können wir auch nicht 
a priori ausklügeln, welcher Art diese logische Gesetzmässigkeit 
der Erscheinungswelt sein müsse, sondern wir müssen uns damit 
begnügen, a posteriori aus der Erfahrung auf die Beschaflfenheit 
derselben zu schliessen, und werden unsere Schlüsse nothwendig 
überall lückenhaft bleiben und Zweifel und verschiedene Möglich- 
keiten übrig lassen, wo die iuductiven Wissenschaften selbst solche 
Lücken in ihren Erklärungen der Natur und Geschichte aufweisen. 
Der Ai-t ist z. B. die Frage, ob der Zweck in der Natur sich aus- 
schliesslich mit Hülfe der schon in der unorganischen Natur wal- 
tenden logischen Gesetzmässigkeit realisirt, oder ob der innere 
logische Gesammtmechanismus ein über diese unorganische Gesetz- 
mässigkeit übergreifender ist, wodurch er vom einseitigen Stand- 
punkt der bloss unorganischen Gesetzmässigkeit aus betrachtet als 
ein in die von diesem determinirten iProcesse eingreifender 
erscheinen würde, obwohl er sie in Wahrheit doch nur unter sich 
begriffe als die unterste Stufe seiner selbst. Bei den in den 
inductiven Wissenschaften unbestritten vorhandenen, und wohl schwer- 
lich ganz auszufallenden beträchtlichen Erklärungslücken lassen sich 
fllr beide hier oflfen stehende Möglichkeiten nur Wahrscheinlichkeits- 
gründe ohne hinlängliche objective Basis anfahren, und wird je 
nach der speculativen oder naturwissenschaftlichen Stimmung des 
Zeitalters die eine oder die andere Meinung den subjectiven Stun- 
mungen und Neigungen mehr zusagen, ohne dass beide Parteien 
deshalb nöthig hätten, sich zu verketzern, da beide nur für Hypo- 
thesen eintreten, für welche die nächsten Zeiten wohl schwerlich 
schon Entscheidungsgründe bringen dürften. So viel aber steht fest, 
dass, wie auch die Entscheidung ausfallen möge, an den metaphysi- 
schen Grundlagen dadurch nichts geändert wird: auch dann, wenn 
der logische Mechanismus über die schon in der unorganischen 
Natur sich entfaltenden Gesetze hinausreicht, auch dann wird er 
stets erstens logischer Mechanismus und zweitens immanente 
logische Gesetzmässigkeit des erscheinenden Wesens sein (vgl. Vol- 
kelt S. 190 Z. 3—7) ; — auch dann, wenn der logische Mechanismus 
der unorganischen Gesetzmässigkeit den logischen Gesanmitmecha- 
nismus des erscheinenden Wesens nach der Seite des Mittels zum 



Volkelt's Panlogismus des Unbewussten. 317 

Endzweck erschöpft, auch dann wird diese Gesetzmässigkeit 
logische Gesetzmässigkeit and dieser immanente logische 
Mechanismus doch nichts weiter als die absolute firjxavq^ d. h. das 
Mittel zur Realisirung des absoluten Zwecks, also absolute Te- 
leologie sein (vgl. Phil. d. Unbew. Ster.-Ausg. S. 808—811 und 
S. 602 oben = 1. Aufl. S. 497). 



17. Baum und Zeit« 

Baum und Zeit sind das medivm individuationis und gehören 
deshalb als logisch nothwendiges Mittel ftir die Individuation ebenso 
gut zum Inhalt der absoluten Idee wie die Individuation selbst (was 
Volkelt nicht verstanden hat, vgl. S. 177 Z. 2—4), ohne jedoch 
durch die Aufnahme dieser Formen in den Inhalt der unbewussten 
Intuition die Function des unbewussten Vorstellens selbst zu einer 
räumlichen, örtlich verhafteten, oder gar das vorstellende Subject 
zu einem in diesen Formen seienden herabzusetzen. Nur die Form 
der Bäumlichkeit oder das Nebeneinander macht die innere Man- 
nichfaltigkeit in der Einen Gesammtidee, das Zugleichsein eines 
vieleinigen Inhalts in derselben möglich; nur die Form der Zeit- 
lichkeit oder das Nacheinander in der wechselnden Beschaffenheit 
dieses Inhalts macht die Stufenfolge der Entwickelungsphasen und 
durch dieselbe die Erreichung des Endzwecks möglich. Beide For- 
men sind aber der Begriffsdialectik Hegers schlechterdings unerreich- 
bar, weil sie ganz und gar der Unmittelbarkeit der Anschauung 
angehören, von welcher allein Worte wie „aussereinander, neben- 
einander, nacheinander^^ einen Inhalt empfangen. Schon aus diesem 
Grunde bleibt dem sich selbst bewegenden Begriff HegeFs das 
„Auseinanderfallen in das äusserliche Nebeneinander'^ ein unver- 
ständliches Postulat, dem er einfach darum schon nicht nach- 
kommen könnte, weil es über ihn selbst, d. h. über seine Begriffe, 
hinaus geht 

Dass Baum und Zeit durchaus nicht über einen Eamm zu 
scheeren sind, darauf habe ich schon früher hingewiesen (Phil. d. 
Unb. 298—300). Die Bäumlichkeit kann nur als Inhalt einer (be- 
vnissten oder unbewussten) Anschauungs function gesetzt werden, 
die Zeitlichkeit haftet hingegen jeder Function, jeder Thätigkeit, 
Bethätigung oder Action als solcher schon an, gleichviel, worin sie 



318 0. HegeliMusnmB. 

bestehe. HieraUB geht hervor^ dass auch das Wollen allein schon 
Zeit setzen würde (Volkelt S. 180 unten), wenn es ohne die Vor- 
stellung als actuelle Function möglich wäre, und dass jedenfalls in 
dem erfüllten Wollen nicht bloss der Vorstellungsinhalt, sondern 
auch die aus Wollen und Vorstellen combinirte Function des Un- 
bewussten selbst einen zeitlichen Charakter hat, ohne jedoch hier- 
durch das AU-Eine Wesen als solches, d. h. das functionirende 
ewige Subject mit der Form der Zeitlichkeit zu behaften. Da 
übrigens dem Willen in Gestalt des noch unerfüllten WoUens jeden- 
falls die Initiative im Functioniren zufällt, so kann und muss man 
Yon Bechtswegen sagen, dass ihm auch die Initiative in der Setzung 
der Zeit zuzuschreiben ist. Aber die so anhebende Zeit ist behaftet 
mit der Inhaltlosigkeit, d. h. absoluten Unbestimmtheit (also auch 
Maasslosigkeit) des sie setzenden leeren Wollens; ihre innere Be- 
stimmtheit in Bezug auf die relativen Maassverhältnisse der in ihr 
nach einander folgenden Functionen verschiedenen Inhalts kann die 
Zeit erst durch die Idee bekommen, welche teleologisch das Maass- 
verhältniss der Dauer der verschiedenen Entwickelungsphasen des 
als Mittel dienenden Frocesses bestimmt. Deshalb konnte ich sagen, 
dass das leere Wollen die unbestimmte Zeit setze, die Idee die- 
selbe zur bestimmten mache, der Anfangspunkt fUr beide Einflüsse 
aber zusammenfalle (Phil d. Unb. Ster.-Ausg, S. 795 unten bis 796 
oben; 8, Aufl. S, 777). Diese eingestreute Bemerkung ist von Vol- 
kelt unbeachtet geblieben (vgl. S. 180—181 und 184 unten bis 186). 
Dass die Welt, d. h. die Erscheinung des Weseps zeitlich ist, 
ist mithin eine durch den Charakter des Wollens als {eo ipso mit 
der Zeit behafteter) Function gegebene Tbatsache, welche die wach- 
gerüttelte Idee hinterdrein vorfindet, ohne an ihr etwas ändern zu 
können. Ja sogar auch die Idee, insofern es nicht in ihrem Be- 
lieben steht, gar nicht mit zu spielen, da sie vielmehr nicht umhin 
kann, gegen den Willen zu reagiren, hat gar keine Wahl, sie mus8 
functioniren, d. h. sich an der Zeitsetzung, die einmal durch die 
Initiative des Willens eingeleitet ist, beth eiligen. Es steht nicht 
in ihrer Macht, zu wählen, ob sie functioniren soll oder nicht, und 
ob, wenn sie functionirt, sie zeitlich oder unzeitlich funetioniren 
. solle ; sie kann ihrer logischen Natur nach dem erhobenen Unbgi- 
sehen gegenüber nicht anders als functioniren, und dies ist nicht 
anders als zeitlich möglich. Was in ihrer Macht steht, kann also 



Yolkelt'B PanlogiBmoB des ünbewossten. 319 

nur die Bestimmung des Maassverhältnisses der Zeitdauer der ver- 
schiedenen aufeinanderfolgenden Entwickelungsphasen des Welt- 
processes sein; nur in diesem Maassverhältniss kann sie ihre Weis- 
heit entfalten, und in ihm thut sie es wirklich, und zwar von den 
Schwingungsphasen der kleinsten Schwingung eines Aetheratoms 
bis zu den Ealpas entstehender und untergehender Weltlinsen. 
Wollte man nun etwa ausser der Form der Zeitlichkeit an sich und 
ausser diesem relativen Maassverhältniss der verschiedenen Phasen 
des idealen Inhalts des Weltprocesses noch nach der absoluten 
Geschwindigkeit des zeitlichen Ablaufs des Weltprocesses und 
nach dem für diesen dritten Factor bestimmenden Momente fragen 
(Volkelt S. 185—186), so würde eine solche Frage nur beweisen, 
dass der Fragende die reine Relativität der Zeit noch nicht 
begriflfen hat. Von einem „schneller^* oder „langsamer*' kann immer 
nur die Bede sein im Vergleich zu einem zeitlichen Maassstab, 
z. B. der uns bekannten Zeit zwischen zwei Nachtruhen oder 
unserer Lebensdauer oder unserer mittleren Geschwindigkeit des 
Gedankenwechsels, oder der Dauer des Erdumlaufs um die 
Sonne. Dies alles aber sind blosse Relationen, welche ganz unver* 
ändert bleiben würden, wenn die (hier einen Augenblick als möglich 
vorausgesetzte) absolute Geschwindigkeit des Zeitablaufs sich belie- 
big änderte. Wenn auf einmal der Weltprocess bei Constanz aller 
Zeitverhältnisse unendlich mal schneller oder unendlich mal lang- 
samer ginge, so würden wir davon nicht das Geringste spüren, d. h, 
die absolute Geschwindigkeit des Weltprocesses ist absolut 
gleichgültig. Sie ist aber nicht nur ein werthloser, sondern 
auch ein unmöglicher Gedanke ebenso gut wie der absolut bestimmte 
Ort im leeren Räume oder die absolute Bewegung. Die Zeit- 
beziehungen sind ihrem Begriff nach ebenso relativ, wie die Orts- 
beziehungen und wie die aus beiden combinirten Bewegungsbeziehun- 
gen; wer von einer absoluten Geschwindigkeit des Weltprocesses 
spricht, der denkt sich selbst als draussen stehender Beobachter 
mit den an ihm gewohnten relativen Maassstäben, welche doch 
nur eine relative Bedeutung fUr die Maassverhältnisse des Processes 
unter einander haben ; abstrahirt man von jedem solchen un- 
brauchbaren zeitlichen Maassstab, so behält man nur das zeitlose 
nunc stcms, die ausserzeitliche Ewigkeit übrig, von der aus erst 
recht nicht eine absolute Geschwindigkeit bestimmt werde» kapo, 



$20 C. Hegelianismus. 

Die absolute Geschwindigkeit ist daher nicht nur indifferent für alle 
zur Sprache kommenden Fragen, sie ist auch ein undenkbarer Ge- 
danke, ein Begriff ohne angebbaren Sinn, der aus einer nach- 
weislichen Gonfnsion unserer relativen Zeitmaassstäbe mit absoluten 
entspringt. 

Volkelt wendet sich endlich auf S. 141—143 gegen die von 
mir behauptete Endlichkeit der Zeit. Er giebt den Widerspruch 
einer vollendeten Unendlichkeit der Zeit, sei es auch nur der 
Vergangenheit, bereitwillig zu, erklärt aber diesen Widerspruch echt 
dialectisch für einen denknothwendigen (141). Hier ist einer 
der Punkte, wo fttr mich die Discussion aufhört, weil gegen ver- 
nunfkmörderische Sophistik eben nicht mehr zu streiten ist. — Die 
Zeit ist eine blosse Abstraction von der Thätigkeit, die eo ipso zeit- 
lich ist; träte auf einmal absolute Buhe ein, so wäre auch die Zeit 
zu Ende, nnd die angebliche Hinweisung jedes Zeitpunkts auf seinen 
Nachfolger könnte daran nicht das Geringste ändern. Diese Hm- 
weisung und Bückweisung (142) besteht aber auch nur im Kopfe 
des Philosophen, dessen zeitliche Denkfunction ihre Zeitlichkeit 
nicht abzustreifen und ihre Ausschau über die willkürlich sich selbst 
gesteckte Denkgrenze nicht zu hemmen vermag. Nur die Thätig- 
keit, sei es im Kopfe des reflectirenden Philosophen, sei es im 
absoluten Process, setzt nach dem einen Zeitdifferential das andere; 
nar unter stillschweigender Voraussetzung der Fortdauer der Thä- 
tigkeit enthält jeder Zeitmoment eine Hindeutung auf seinen Nach- 
folger. In dem Weltprocess sind wir an das unablässige Fliessen 
der Zeit gewöhnt und denken so wenig daran, an der Fortdauer 
der Function des Absoluten für den nächsten Moment zu zweifeln, 
dass wir uns dieser nothwendigen Voraussetzung, unter welcher 
allein die Zeit weiter fliesst, gar nicht bewusst werden; für die 
streng philosophische Betrachtung entspringt aber daraus eine un- 
gerechtfertigte Erweiterung eines Inductionsschlusses über seine 
empirische Grenze hinaus. So lange Zeit (d. h. Thätigkeit) ist 
ist es ohne Frage ihre Natur schlechthin zu fliessen; aber dies 
beweist doch nicht, dass sie auch dann noch fliessen muss, 
wenn sie (d. h. der Träger dieser Abstraction) aufgehört hat, 
zu sein. 

Die nämliche Betrachtung gilt natürlich auch fUr den Anfang 
der Thätigkeit und der Zeit. Der erste und der letzte Zeitmoment 



Volkelt'B PanlogiBmiia doi ünbewussten. 32](' 

gt&eaeik nicht aa eisen aaadern Zeitmoment) sondern^ sie begrenzen; 
siek selbst; and jenseits beider ist nicht mehr Zq% sondern reine 
Ewigkeit; diC; nebenbei bemerkt; ja aach die Zeit durchdringt; wie 
der Lichtäther die physikalischen Körper. Denken wir uns ein 
bloss mit Lichtäther erfülltes Yacanm; so werden die änssersten 
Flächen der körperlichen Wände des Yacanms auch nicht mehr 
dnrch Körper anderer Art begrenzt; aber auch nicht durch Aether;^ 
denn den Aether haben sie ja ebenso gut in sich ; sie werden eben 
dureh nichts begrenzt als durch sich selbst. 

Yolkelt bemüht sich also vergebens; eine Antinomie herzustellen 
nnd den Widerspruch auf Seiten der Annahme der Endlichkeit der 
Zeit als ebenso unausweislich vorzuspiegeln; wie auf Seiten der 
Unendlichkeit derselben. Die erstere Seite der Alternative ist ent- 
schieden widerspruchsfrei; wenn auch nicht ohne Schwierigkeiten; 
xmd deshalb verschwindet jeder aus der angeblichen Antinomie ge- 
schöpfte Grund; den Widerspruch in der Annahme der Unendlichkeit 
der Zeit als denknothwendig in den Kauf nehmen zu sollen. Dass 
ich die Gonsequenz der analogen Annahme der sich selbst begren- 
zenden Endlichkeit des realen Baumes nicht scheue (S. 143); hätte 
Volkelt aus S. 114 meiner Schrift über ;;Das Ding an sich'' entnehr 
men können. 

18« Der teleologische Optimismus und der eudämonologiselie Pessimismus. 

Wir haben oben in den Abschnitten 12 und 14 gesehen; wie 
der Panlogismus aus dem dialectischen Widerspruch oder aus der 
angeblichen logischen Selbstentzweiung der Idee die Entstehung des 
Bewnsstseins und die Individuation ableiten zu können wähnt; und 
wie aus beiden missglückten Lösungsversuchen die Nothwendigkeit 
eines unlogischen Bealprincips hervorgeht. Es liegt nahC; dass nach 
Analogie der doi-t gemachten Versuche der Panlogismus sich bestre^ 
ben musstC; auch den in dem modernen Zeitgeist eine hervorragende 
Stelle einnehmenden Pessimismus in den Kreis seiner Erklärungen 
zu ziehen. Volkelt hat in anerkennenswerther Weise die nach dieser 
Hinsicht in Hegel zu findenden Keime gesammelt; geordnet und 
dadurch in eine gewiss manehen Hegelianer überraschende Beleuch 
tung gerüdit. In einem System; wo die Vernunft Alles ist; musa 
auch das Leiden der Welt und der Sehmerz des Lebens in der 
Vernmft selbst seinen Ursprung haben (S. 255); d. h. in dem 

£. V. Hartmaun, Erl&uterangen, 2 Aufl. 21 



322 C!. HegelianismuB. 

immanenten Unlogisehen derselben, in dem dialeetisehen Widersprach. 
,,Die Lust, das Glück, die Befriedigung ist der Empfindangsreflex 
des ausgesöhnten objectiven Widerspruchs, des harmonisch oder 
positiv Vernflnftigen. Die Unlust, der Schmerz ist der Empfin- 
dungsreflex des nochnichtversöhnten objectiven Widerspruchs, 
des objectiven Zwiespalts, des n e g a t i v Vernflnftigen oder relativ 
Unvernünftigen" (S. 277). Hier wird also geschwind noch der 
Empfindungsreflex eingeschoben, welcher, wie Volkelt (S. 286) 
ganz richtig bemerkt, keineswegs dem objectiven Bestand von 
unversöhnten und versöhnten Widersprüchen entspricht. Wenn in- 
dessen der objective Widerspruch der zureichende Erklärungsgrund 
ftlr den Schmerz und in seiner Versöhnung für die Lust sein soll, 
so ist nicht einzusehen, wie es objective Widersprüche und Versöh- 
nungen geben soll, die sich nicht als Unlust und Lust empfindlich 
werden. Erst wenn wir an Stelle des empfindungslosen dialeetisehen 
Widerspruchs der Begriffe den empfindlichen realen Widerstreit 
coUidirender Willensacte setzen, erst dann wird diese Thatsache 
der Nichtcorrespondenz verständlich, und zugleich die Unzulänglichkeit 
der panlogistischen Erklärung enthüllt (vgl. oben S. 46 — 48. Ans dem 
Idealprincip allein, aus dem blossen Vorstellen ist niemals der Schmerz 
und die Lust, niemals die in das Wesen ganz anders als die gleich- 
gültige Vorstellung einschneidende Empfindung zu erklären, welche 
nothwendig ein wollendes Wesen voraussetzt, als dessen Affection 
in Bezug auf ein bestimmtes Begehren sie gedacht wird. 

In dem objectiven Zwiespalt als solchen, so lange er ein bloss 
idealer ist, steckt gar nichts Unlogisches, weder ein relativ noch 
ein absolut Unlogisches; denn er ist eben nicht Widerspruch, wie 
die Dialectik glauben machen will, um im Trüben fischen zu können, 
sondern nur Gegensatz, idealer Conflict. In dem realen Zwiespalt 
oder der wirklichen GoUision sich kreuzender Willensacte steckt 
das Unlogische auch nur in der Realität des Conflictes, und nicht 
in seinem idealen Inhalt; in der Realität des WoUens aber steckt 
es in der That als absolut Unlogisches, nicht bloss als ein relativ 
Unvernünftiges. . Lust und Unlust sind daher auf keine Weise ans 
dem relativ Unlogischen der Dialectik abzuleiten, sie weisen nicht 
nur auf ein objectives Prlncip zurück, sondern auch auf ein 
reales. Dies ist der Wille, und nichts als der WillOi dessen 
Accidenzen sie als Befriedigung und NichtbeMedigung bilden. — 



Volkelt's FanlogismuB des ünbewassten. 323 

Das Weltwesen als erscheinendes^ d. h. als bestimmt (indivi- 
duell) wollendes^ ist das empfindende Sabject^ welches in den seine 
Erscheinung bildenden Individuen Lust und Unlust an sich erfährt. 
Die reine Subjectivität von Lust und Unlust^ d. h. ihr ausschliess- 
liches Vorkommen im Bewusstsein bestimmter Individuen^ ist dem- 
nach kein Einwand gegen ihre objective Realität^ da ja diese Em- 
pfindungen reale Affectionen des absoluten Subjects, wirkliche Modi 
der absoluten Substanz sind und als solche zu objectiv realen Indi- 
vidualgruppen von Functionen des AU-Einen Wesens gehörig^ 
integrirende Bestandtheile der gesammten objectiv-realen Erschei- 
nungswelt bilden (vgl. S. 257 oben und 276). Dass die Lust und 
Unlust als blosse abstracte Befriedigung und Nicbtbefriedigung 
eines Wollens^ bei dem vom Inhalt gänzlich abstrahirt wird, 
leere Formen sind, die erst durch einen (theils bewussten, theils 
unbewussten) Vorstellungsinhalt erfüllt werden müssen, beweist doch 
gewiss nichts dagegen (S. 276), dass die wirkliche, d. h. concrete 
Empfindung ganz und gar Inhalt des Bewusstwerdens sein kann 
und sein muss, welches letztere sich ihr gegenüber von Neuem als 
Form verhält. — Weil die Lust- und Unlust-Empfindung als objec- 
tive Bealitäten in dem Bealprincip wurzeln, darum ist die eudämo- 
nologische Betrachtung der Welt die allein dem Bealprincip conforme, 
also die ausschliesslich und recht eigentlich realistische Betrach- 
tungsweise, welche dem einseitigen Idealismus des Panlogismus 
gegenüber die reale Seite der Welt zur Geltung zu bringen berufen 
ist, und eben deshalb so natürlich in die übrigen realistischen Be- 
strebungen der Gegenwart sich einreiht. Diesen Standpunkt aber 
kann der Panlogismus gar nicht begreifen; er hält das Leiden nur 
deshalb für schlecht, weil und insoweit es widerspruchsvoll, d. h. 
unlogisch ist; der Realismus hingegen hält die Unvernunft gerade 
nur insoweit für schlecht, als sie sich schmerzlich fühlbar macht, 
und nur deshalb, weil das Leiden schmerzhaft ist, und das Welt- 
wesen, welches sich das Uebel des Leidens zufügt, als vernünftig 
vorausgesetzt wird, nur deshalb erscheint es hintennach als vernunft- 
widrig. Weil dem Panlogismus das Leiden nur insofern für ein 
Uebel gilt, als es ihm aus einem Unlogischen zu entspringen 
scheint, deshalb glaubt er ihm auch nur eine relative Bedeutung 
beilegen zu dürfen, da ihm ja der unlogische Ursprung nur als ein 
relativ unlogischer gilt; deshalb glaubt er auch das Leiden als 

21» 



324 C. Hegelianismus. 

solches durch positiv yernünftige Versöhnung des "Widerspruchs 
überwunden und aufgehoben^ nicht als ob die Lust aus der Ver- 
söhnung eine solche wäre^ dass sie nach Intensität^ Daner und 
Beschaffenheit für das ausgestandene Leid vollauf entschädigte und 
dasselbe überwöge, sondern nur in dem Sinne, dass es allein auf 
die Erfüllung der Vernunft ankommt, und der dabei zu Tage tretende 
GefUhlsreflex das Maul zu halten und in Bewunderung der Vernunft 
demüthigst zu ersterben hat. Das fällt aber dem Gefühl gar nicht 
ein, das sich in der unbewussten Gewissheit seines realistischen 
Grundes anf sich selbst stellt. Nur das denaturirte Gefühl eines 
panlogistischen Hegelianers fällt anbetend auf die Stirn, sobald das 
Wort „Vernunft" ausgesprochen wird, wie der Katholik vor dem 
heiligen Herzen Jesu oder der Tibetaner vor dem Roth des Dalai- 
Lama; das natürliche Gefühl ordnet die Vernunft sich unter 
und rebellirt gegen dieselbe, wo sie ihm das ihm Widerstrebende 
zumuthet. Wäre wirklich das unermessliche Elend des Daseins, 
welches die empfundene Lust tausendmal überwiegt, reiner Ansfluss 
der Vernunft, wie der Panlogismus behauptet, so würde die Vernunft 
durch ihren logischen Charakter keineswegs davor geschützt werden, 
dass das Gefühl sich von Bechtswegen gegen sie empörte, nnd sie 
sammt aller ihrer negativen und positiven Vemünftigkeit zum Teufel 
wünschte. Eine solche Vernunft, welche in stierköpfiger Pedanterie 
immer nur sich und immer nur sich durchsetzen wollte, bloss um 
dem logischen Princip Geltung zu verschaffen, unbekümmert darum, 
ob rechts und links dabei die Splitter fliegen, und namenloses, 
durch keine Ueberzeugung von seiner Vemünfdgkeit zu vergütendes 
Elend ihr Gefolge ist, — eine solche Vernunft wäre ein zehnmal 
ärgeres Scheusal, als Schopenhauer's blinder Wille, der doch wenig- 
stens die Entschuldigung seiner Blindheit und Unvernunft für sich 
hat. So lange der Panlogismus ohne Bewusstein von der Wahrheit 
des Pessimismus ftlr sich hinlebte, so lange war er wenigstens in 
seinem naiven optimistischen Dusel nicht verletzend für das Gefühl; 
sobald er aber mit Bewusstsein das überwiegende Leid des Lebens 
anerkennt, wird er zum abergläubischen Vemunflgötzendienst, der 
das realistische Gefühl höhnend mit Füssen tritt, indem er es zum 
blossen dialectischen Moment seinesi abstract idealistischen Vernunft- 
gesetzes degradirt. In der Welt des Panlogismus hätten Vernunft 
ühd Geftihl die Rollen getauscht; die Vernunft in iktet Gier, tick 



Volkelt's Paplogi^im 4es ünbewassten. ^5 

ä taut prix auf Kosten 4es Oeftthls durchzusetzen, wäre toll und 
veiTttckt, und das dagegen protestirende Gef&hl wäre in seinem 
vernünftigen ßecht. Dass dieses gegen die Vernunft protestirende 
Grefiihl im Panlogismus eine unerklärliche Thatsache bliebe, 
braucht kaum besonders bemerkt zu werden. Nur wenn die Ver- 
nunft gezwungen einem Stärkeren dient, als sie selbst ist, dessen 
unverntlnftige Brutalität die Verantwortung ftir die Welt und ihren 
Jammer trägt, nur wenn ihre Entfaltung dahin zielt, die Welt sammt 
ihrem Jammer aufzuheben, nicht, wie der Panlogismus meint, ihn 
zu perpetuiren, nur dann hat das Geftlhl Unrecht, die Vernunft an- 
zuklagen, deren Ziele und Wege es im Einzelnen so oft nicht 
begreift. 

„Da der Weltgeist, je mehr er sich in sich vertieft und zur 
Freiheit emporringt, desto gewaltigere, schärfere Widersprüche in 
sich erzeugt, so müssen auch die Schmerzen mit dem Fortschritt 
des Weltgeistes tiefer, schneidiger werden und Herz und Geist immer 
mehr zerklüften und aufwühlen'^ (254). Zwar folgt den Wider- 
sprüchen die Versöhnung, aber die dialectische Entfaltung und Hin- 
itlhrung zur Selbstaufhebung der Widersprüche dauert viel längere 
Zeit als die Versöhnung, in der sich ja doch schon wieder neue 
härtere Widersprüche herausbilden, und ausserdem ist der Empfin- 
idungsreflex auf die Entzweiung und Zerrissenheit viel stärker als 
.der auf die Bückkehr der Harmonie (S. 256). Diese beiden Zu- 
geständnisse genügen für sich allein schon, um jedem Trost durch 
die der Entzweiung folgende Versöhnung sein Gewicht zu beneh- 
men. Welche trostreiche Zukunftsperspective Volkelt uns auch ent- 
rollen möge (z. B. den socialistischen Zukunftsstaat, in dem die 
Unlust der Arbeit und der Liebe verschwinden soll — vgl. S. 291 
und 309), er kann doch sicher sein, dass diese Versöhnung erstens 
die vor ihrer Erringung ausgestandenen Menschheitsleiden nur zum 
ganz geringen Theile vergütet, zweitens aber in ihrem Schoosse 
unvermeidlich den Keim zu weit schrecklicheren Entzweiungen und 
Leiden birgt, als die durch sie zum Abschluss gebrachte Periode. 
Diese Auffassung ist völlig trostlos; sie macht die Vernunft zum 
schauderhaften Moloch, der seinen stets gefrässigen Bachen um so 
weiter aufreisst, je grössere Opfer an Menschheitsglück bereits in 
ihn hineingeschleudert worden sind. Es bleibt in der That nur 
noch das formale Verstandesinteresse an dem Bythmus der dialecti- 



326 C. Hegelianismus. 

sehen Methode übrig, was diese Anffassnng im Gegensatz gegen 
Bahnsen's Eealdialeetik des nnlogisehen Willens zu vertheidigen 
Veranlassung geben kann, da sie sonst mit ihr ganz auf dasselbe 
hinausläuft, und sich nur darauf eapricionirt, das yemttnftig zn 
nennen, worin Bahnsen mit Recht nur Unvernunft erkennt. 

Ohne auf die theils missverständlichen, theils irrthflmlichen Ein- 
wendungen Volkelt's gegen meine empirische Begründung des 
Pessimismus näher einzugehen,*) glaube ich schon durch die hier 
gegebenen principiellen Darlegungen hinlänglich gezeigt zu haben, 
dass der Panlogismus entweder mit Leibniz die Wahrheit des 
Pessimismus gänzlich leugnen, oder aber, wenn er ihn anerkennt, 
seine principielle Unzulänglichkeit zur Erklärung des überwiegenden 
Leides der Welt bekennen muss, und dass jedenfalls der Versuch, 
den Pessimismus mit Hülfe des immanent Unlogischen der dialecti- 
schen Idee HegeFs zum aufgehobenen Moment des teleologischen 
Optimismus herabzusetzen (S. 256), als gescheitert zu betrachten ist. 
Der teleologische^ Optimismus ist ein Ausfluss des Tdealprincips und 
deshalb ist er idealer Natur ; der eudämonologische Pessimismus ist 
ein Ausfluss des Bealprincips und als solcher realer Natur. Beide 
laufen auf ihren verschiedenen Gebieten nebeneinander her, zwar 
nicht ohne beständige innige Berührung, aber ohne ineinander über- 
zugreifen; sie stehen zwar in einem Gegensatz zu einander, aber 
durchaus nicht wie Volkelt dialectisch vorspiegeln möchte (S. 262), 
im Widerspruch. Welcher Art ihre letzten Beziehungen sind, das 
hängt, wie Volkelt ganz richtig einsieht, von der Natur der letzten 
Principien ab, und die ganze Differenz entspringt wesentlich aus 
der entgegengesetzten Ansicht über den absoluten Zweck, d. h. 
über seinen positiven oder negativen Sinn. 

Die blosse abstracte Vernunft ist schlechterdings nicht im Stande, 
das Gefühl auf die Dauer mundtodt zu machen; will der Panlogis- 
mus nach Anerkennung des eudämonologischen Pessimismus dennoch 
dem Bealprincip des unlogischen Willens seine Anerkennung ver- 
weigern, so muss er sich nach einem andern positiven Zweck 



*) Ein grosser Theil dieser Einwendungen dürfte bereits in der gleichzeitig 
mit Yolkelt's Buch erschienenen Schrift von A. Taubert: „Der Pessimismus 
und seine Gegner*' (Berlin, Carl Duncker's Verlag) seine Erledigung gefunden 
haben. 



Volkelt*8 Panloglsmiis des tJnbewassten. 327 

umsehen als der kahlen Selbstbejahung der Vernunft, und es ist 
kaum abzusehen, wie er zu einem solchen anders gelangen sollte, 
als durch einen Bückfall in den Fichte'schen Stupor vor dem Wort 
„MoraUtät^* und dessen Anbetung der moralischen Weltordnung. In 
der That zeigt Volkelt auf S. 188 — 189 hierzu eine gewisse, wenn 
auch noch schflchteme Hinneigung, welche jedenfalls mit seinem 
Urtheil über die Stellung der Sittlichkeit bei Hegel in seiner Dis- 
sertationsschrift (S. 72) nicht völlig übereinstimmt. Bei mir wie bei 
Hegel ist die Sittlichkeit in ganz gleicher Weise Mittel zu einem 
höheren tt b e r sittlichen Zweck, und es ist kein sachlicher, son- 
dern nur ein formell dialectischer Unterschied, wenn Hegel jede 
Stufe der teleologischen Entwickelung ausserdem, dass sie Mittel 
ist, auch zugleich Selbstzweck sein lässt. Wie sehr auch bei ihm 
dies angebliche Selbstzwecksein vor dem Mittelsein für den über- 
sittlichen Zweck des logischen Evolutionismus zurücktreten muss, 
hat er oft genug in weit härteren Ausdrücken als ich kundgegeben. 
Wollte Volkelt mit solchem Bückschritt von HegeFs unbewusster 
Weltvemunft zu Fichte's moralischer Weltordnung Ernst machen, 
um den unentbehrlichen positiven Zweck zu retten, so würde da- 
durch der Bankerott des Panlogismus nur um so schlagender sich 
enthüllen. 

Wir haben in den vorhergehenden Betrachtungen das panlogisti- 
sche Princip nach den hauptsächlichsten Bichtungen beleuchtet und über- 
all gleichmässig seine Unfähigkeit und Unzulänglichkeit zur Lösung 
der wichtigsten metaphysischen Probleme eingesehen, haben überall 
das Logische als auf ein es in seiner Totalität negirendes Unlogische, 
das Idealprincip als auf ein Bealprincip hinweisend erkannt und 
haben gefiinden, dass nur das Festhalten Volkelf s an den pan- 
logistischen Vorurtheilen und das Anlegen derselben als äusserlicher 
Beurtheilungsmaassstäbe ihn dazu geftlhrt hat, in den von mir ver- 
suchten Lösungen der ftlr den Panlogismus unlösbaren Probleme 
Widersprüche zu finden. Es hängen alle hier erörterten Differenzen, 
wie auch Volkelt ganz richtig erkannt hat, schliesslich an der fiin- 
damentalen Principienfrage : wie verhält sich das Unlogische zum 
Logischen, welches ist die Stellung des Unlogischen innerhalb des 
metaphysischen Systems? Sobald das relativ Unlogische, als das 
dem Logischen immanente negativ Vernünftige, einerseits als haltloses 



928 ^' HegelianlsiniiB. 

dialectlsohesSleiidwerk und gegenstandsloses Schattenspiel, anderer- 
Beits als anzulänglich für die Erklärung der Realität und ihres 
Hervorgehens ans der Idee erkannt ist, sobald in Folge dieser Er- 
kenatodss die auf alle Fälle unentbehrliche Nothwendigkeit eines 
'absolut Unlogischen als Glegensatz der logischen Idee in ihrer 
Totalität und damit zugleich als Realprineip >anerkannt ist, ergeben 
Bich alle übrigen Folgerungen von selbst. Die Erkenntniss Ton der 
chimärischen Beschafifenheit des relativen immanenten Unlogischen 
ist aber nur aus der Kritik der dialectischen Methode, die Erkennt- 
itiss von der Unaulänglichkeit desselben für die Erklärung der 
Realität theils indirect aus der oben gcEeigten Unfähigkeit des 
Panlogismus zur Lösung aller die Realität voraussetzenden Probleme, 
theils direct aus der Kritik des Ueberganges der Idee von ihrem 
Ansichsein zum Anderssein der Realität zu gewinnen. Die beiden 
wichtigsten Punkte für die Selbsterkenntniss des Panlogismus bleiben 
daher, wie schon oben angegeben, ^die Kritik der dialectischen Me- 
thode und die Kritik der Sdlbstentäusserung der Idee zur BeaUlät; 
'hier sind die Punkte im verlängerten Mark, wo ein einziger Stich 
das ganze System tödtet. Hier also musste vor allen Dingen die 
panlogistische Apologetik Volkelf s snr Entkräflung der von mir an 
den oben genannten Orten gelieferten Kritik ihre Hebel einsetaen, 
und keine Kritik meines Versuches, den Panlogismus zu überwinden, 
konnte dieses Yersäunmiss wieder gut machen, auch dann nicht, 
wenn sie iftir meine positive Leistung in dem Maasse vernichtend 
gewesen wäre, als sie in der That dieselbe unberührt gelassen hat 



VI. 

Rehmke's Monismus des unfindlichen Geistes. 



1. Bie Altritote« 

Rehmke sag-t („Hartmann's Unbewusstes^' S. 11): ,,^Gegen diese 
Ausddhniingy ich möchte sagen, gegen diesie extensive Mächtigkeit 
•des Begriffs Willen wird man «viel weniger wie bei Sohop^hauer, 
ja im Grunde nichts bei BEaxtmann ^u erinnern haben, da wir uns 
immer daran erinnern, dass dieser WiUe nicht ein in ider Luft 'halt- 
los schwebendes metaphysisches Frincip, sondern ein Attribut an 
1 einem geistigen Subject ist — Der Wille des Uabewussten ist 
reine Activität. Dieses ^ist aber überhaupt das einzige Pf Hdicat, 
welches 4^a Attribut Willen zukommen kann. — Der Hartmaim'- 
sdhen Darlegung des Willens am Unbewussten mttssen wir FoUkom- 
men beistinunen, da dieses Attribut oder Moment dem Absoluten 
als Cloist nothwendig zukommen muss/' Ebenso ist Sehmke damit 
einverBtanden, dass ,,der Wille als solcher in keiner Verbindung mit 
diom Bewusstsein steht'' (15). Es ist unerheblich^ diass er die Be- 
legung des Willens nut dem Pdrädicat y^unbewussf' Air ebenso un- 
üngemessen erachtet, wie wenn man von einem lyunbewaldeten 
Meer'' spräche. Ein negatives Prädioat bedeutet zunächst nur das 
Verbot, dem Subject das entsprechende positive Prädicat beizulegen; 
ob dieses Verbot im besondem Falle ttberfltlssig oder gar ,^ht 
.gl9SQheit'' erscheint^ wird nur davon abhäage^| ob .es Vißßh (ieote 



330 ^- Hegelianismus. 

giebty die auf die Unzulässigkeit einer solchen positiven Prädicirung 
besonders aufmerksam gemacht werden müssen. Man hat f&r ge- 
wöhnlich nicht nöthig, die Unbewaldetheit des Meeres in Erinnerung 
zu bringen, wohl aber ist es vorläufig noch sehr nöthig, die Unbe- 
wusstheit des Willens nachdrücklich hervorzuheben. 

Im Grunde steht die Idee als solche mit dem Bewusstsein 
ganz ebenso in keiner Verbindung wie der Wille. Der Inhalt 
einer Idee kann sich in Wahrnehmung, Erinnerung, Phantasievorstel- 
lung oder begrifflicher Abstraction mehr oder minder adäquat wieder- 
spiegeln, aber die Idee als solche, d. h. als Totalität von Inhalt und 
Form bleibt dem Bewusstsein ganz ebenso unzugänglich wie der Wille 
als solcher. Eben deshalb sagte ich (Gap. G. VIII Schluss), dass der ganze 
Name „das Unbewusste" nur einen provisorischen didactischen Werth 
beanspruchen könne, bis die Unbewusstheit von Wille und die Idee, 
d. h. die Unbewusstheit des absoluten Geistes in seiner Totalität 
etwas so Selbstverständliches geworden sei, dass es komisch wirken 
würde, daran auch nur zu erinnern. Behmke aber hat dies dahin 
missverstanden (S. 8), als ob ich meinte, die F o r m der Unbewuss^ 
heit sollte späterhin vom Absoluten wieder abgestreift werden, was 
natürlich den ganzen Inhalt der Metaphysik umstürzen würde. 

Behmke polemisirt gegen den von mir adoptirten Ausdruck 
„unbewusste Vorstellung^', und glaubt hierin eine unglückliche 
Anlehnung an Schopenhauer zu erkennen, bei dem „Vorstellung^ 
etwas ganz anderes bedeute (S. 12). In Wahrheit aber bin ich 
durch die Uebersetzung der Leibniz'schen representation dazu gelangt, 
für das allgemeinste Genus den Ausdruck „Vorstellung'' zu wählen. 
Behmke bemerkt (S. 50) ganz richtig, dass representation zunächst 
nur „Darstellung" bedeute, dass ihm also das Merkmal der Subjeo- 
tivität abgehe, wie wir es im Deutschen mit „Vorstellung" meist zu 
verknüpfen pflegen. Etymologisch betrachtet ist aber die Subjecti- 
vität in der „Vorstellung" ebenso wenig ein nothwendiges Bequisit 
wie in der r^presentcUian, und grade dieser Umstand, der den Aus- 
druck nach Behmke ungeeignet machen würde, bestimmte mich, 
denselben jedem anderen vorzuziehen. Denn in der Idee liegt ja 
in der That keine Subjectivität, d. h. die Bepräsentation in der un- 
bewnssten Vorstellung ist eine ganz objective, dingliche. Das Genus 
„Vorstellung" umfasst also die unbewusste objective oder absolute 
Idee und die bewusste subjective Vorstellung als seine beiden 



Rehmke's Monismus des unendlichen Geistes. 331 

Hauptspecien unter sich, deren letztere wieder in viele Subspecien 
und Varietäten zerfällt. Also nicht, wie Behmke glaubt (S. 13), 
weil die Vorstellung zwischen Wahrnehmung und Begriff die Mitte 
bilde, sondern weil sie das schlechthin Allgemeine f&r alle 
Arten des bewussten und unbewussten Vorstellens bildet, habe ich 
diese Bezeichnung gewählt. 

Wie das Attribut des Willens, so konnte auch das der Vorstel- 
lung nur durch Analogie aus dem eigenen Geiste erschlossen werden, 
unter kritischer Abstreifung des Anthropopathischen; das Allgemeine 
der theoretischen Geistesfunction ist das Vorstellen, und das Anthro- 
popathische, was abgestreift werden musste, um es zum Attribut 
des Absoluten zu erheben, ist das Bewusstsein. Alles Positive, was 
wir von der unbewussten Idee auszusagen wissen (z. B. die Logici- 
tät) muss auch schon irgendwie im bewussten Vorstellen sein Ana- 
logen finden, weil wir sonst gar nicht darauf kommen könnten. 
Ganz verkehrt ist es also, wenn Behmke (S. 14) sagt: „Von der 
Vorstellung wusste er nichts Positives auszusagen, die Idee bringt' 
ihm genug.« 

Hierbei ist aber noch ein Punkt nicht erwähnt, der dem Aus- 
druck „Vorstellung" einen sehr bedeutenden Vorzug vor demjenigen 
„represefUation^^ giebt. Die Bepräsentation kann nämlich eine con- 
ventionelle sein, d. h. eine solche, wo eine ideelle Bedeutung nicht 
in dem Bepräsentirenden als solchen liegt, sondern erst von einem 
es wahrnehmenden Geiste hineingelegt wird; so repräsentirt z. B. 
ein Buchstabe einen sprachlichen Laut, ein gesprochenes Wort einen 
bestinmiten Begriff, oder ein vom Bildhauer bemeisselter Stein einen 
Göttertypus. Der Ausdruck „Vorstelluug** schliesst dagegen in sich, 
dass das ideale Moment schon in der Bepräsentation enthalten ist, 
und nicht erst von einem Dritten in dieselbe hineingelegt wird. 
Vorstellung ist representßtion ideale, und dürfte nur so übersetzt 
werden, wenn nicht idee im Französischen eine ziemlich ebenso 
allgemeine und umfassende Bedeutung hätte, wie bei uns Vor- 
stellung. 

Das Verhältniss der Attribute zu einander fasst Behmke in 
mehr als einer Hinsicht unrichtig auf. Die Attribute als solche 
„subsistiren" nicht wie gesonderte, nebeneinander bestehende Sub- 
stanzen (wie Behmke mir S. 55 unterschiebt), sondern sie inhäriren 
nur als Wesensbestimmungen der Einen Substanz. Sie werden aber 



B8$i <^- Hegeliamsmus 

aach nicht; wie Rehmke (S. 27) meinte bloss logisch von uns miter- 
schieden, sondern sie sind essentiell yerschiedene^ ja sogar einander 
entgegengesetzte Momente des Absoluten. Wenn wir beispielsweise 
am Atom die Kraft als solche, und den concreten idealen 
Inhalt dieser Kraft; (die Anziehung von diesem Baumponkt ans 
nach den und den Gesetzen) unterscheiden, so ist doch das keine 
willkürlich angestellte logische Haarspalterei, sondern die Distinction 
unseres Denkens ist hier eine von der Sache geforderte, die aaf 
real yerschiedene Seiten an dem wirklichen Atom hinweist Wie- 
derholt sich nun eine solche Nöthigung auf allen Punkten der zur 
Erklärung gegebenen Welt, so müssen wir finnehmen, dass jene real 
verschiedenen Seiten in den wirklichen Dingen (die Kraft und ihr 
idealer Inhalt) von essentiell verschiedenen Principien res- 
sortiren, unbeschadet dessen, dass diese Principien substantiell 
geeint sind. Wären die beiden Principien in einer Selbstständig- 
keit gegen einander, welche ohne Weiteres einen realen Kampf im 
Unbewussten ermöglicht, so bedürfte es nicht erst der Schaffung 
des Bewusstseins, um ihren principiellen Antagonismus zum Austrag 
zu bringen; wäre andrerseits kein principieller Antagonismus zwi- 
schen ihnen vorhanden, so bedürfte es keines realen Kampfes, um 
den Frieden im Absoluten wiederherzustellen, da derselbe alsdann 
gar nicht gestört wäre. Weil aber ein solcher Antagonismus wirk- 
lich besteht, weil die essentielle Verschiedenheit beider Attribute 
einen logischen Gegensatz bildet, und weil „ohne Bewusstsein das 
reale Auseinandertreten beider nicht möglich ist'' (S. 33), darum 
muss eben das Bewusstsein in's Leben gerufen werden, damit in 
den bewussten Geistern das Schlachtfeld fOr den Austrag dieses 
realen ELampfes gewonnen werde. Im Bewusstsein erst findet die 
(relative) Emancipation der Vorstellung vom Willen statt, welche ihr 
eine relative Selbstständigkeit gegen denselben verschafft. 

Es ist irrthümlich, wenn Behmke behauptet, dass Wille und 
Vorstellung bei mir schon vorher zu selbstständigen Mächten ge- 
stempelt würden, der Wille, indem er über die Bealisirung des 
Logischen hinaus „noch seine eigenen Wege habe: die Erhaltung 
der Weltexistenz" (S. 33), — die Vorstellung, indem sie zu einem 
unabhängig vom Willen sich bewegenden, strebenden Ganzen gemacht 
werde, dajs die Blindheit des Willens benutze und ihm einen Inhalt 
gebe (S. 29). Der Wille hat keinen andern Weg, den er gehen 



Rehmke^s Monismus ddtf imendUchen Geistes. 3^33 

könnte^ als die Realisation der logischen Idee ; dieses^^ Bealisii^ ii^t 
aber selbst der stetige Schöpfiingsaet oder die dauernde Erhaltung 
der Weltexistenz, und es ist falsch, zu sagen, dass er hiermit eigne 
Wege einschlage, die irgendwie eine Selbstständigkeit gegenüber 
dem seinen Inhalt bestimmenden Logischen begründen könnten. Die 
Idee hat ihrerseits allerdings eine eigene Bewegung, nämlich die 
Entfaltung ihres Inhalts nach logischem Gesetz, und es ist richtig, 
dass erst durch diese logische Bewegung des Vorstellungsinhalts 
eine Zwecksetzung zu Stande kommt; aber diese Bewegung würde 
eine rein ideale und darum ''dem] Willen gegenüber schlechthin ohn- 
mächtige bleiben, wenn nicht der Wille als realisirendes Moment 
hinzukäme, so dass auch hier von einer Selbstständigkeit nicht 
gesprochen werden kann, um so weniger, als selbst der Beginn 
dieser idealen Bewegung seinen äusseren Impuls erst dem Willen 
und seine Fortdauer der Fortdauer des Wollens verdankt. 

Am weitesten entfernt sich Rehmke von einem richtigen Ver- 
ständniss des Verhältnisses beider Attribute, indem er dieselben so 
verselbstständigt, dass jedes von ihnen die beiden essentiell ver* 
schiedenen Momente in sich vereinigt, zu deren principieller Son- 
demng eben die Attribute dienen sollen. Er sagt (S. 27): „Der 
Wille musste Wollen werden, um actuell zu sein, um etwas setzen 
zu können. Es folgt also, dass der Wille, wenn er das „D»ss'' dev 
Welt schuf, dieses „Dass'' als ideale Bestimmung zum Inhalt haben 
musste.'' Hieraus schliesst Rehmke (S. 29—30), dass im Unbe- 
wussten eigentlich nicht ein, sondern zwei Willen nebeneinander 
herlaufen, von denen jeder einen bestimmten Inhalt habe, nämlich 
der eine das antilogische „Dass", der andre das logische „Was und 
Wie" der Welt. Dieses Argument stellt sich schon dadurch als un- 
stichhaltig heraus, dass es zu viel beweisen wtlrde, wenn es irgend 
etwas bewiese ; denn wenn es überhaupt zutreffend wäre, so müsste 
es die von ihm erzeugte Spaltung an jedem der beiden Spahstüeke 
bis in's Unendliche wiederholen. Offenbar müsste nämlich an dem 
erstcren der zwei Willen von Neuem unterschieden werden erstei» 
sein idealer Inhalt, d. h. das antilogische „Dass" der Welt, und 
zweitens seine Realisirung dieses vorerst noch ideellen Inhalts. Das 
„Dass" der Welt als ideelles wäre ja erst das „Was" dieses 
Wollens, und das reelle „Dass" an ihm wäre sorgfältig davon zu 
nnterscheiden ; indem nun das Wollen zu diesem seinem näher be- 



334 Cl. Hegelianismus. 

Stimmten Inhalt (der hier zufällig das ideelle y,Dass'' der Welt ist) 
die Realität oder das reelle ^^Dass^' hinzafügt^ mflssten wir die obige 
Erwägnng Behmke's in Bezug auf dieses letztere reelle ^^Dass^^ von 
Neuem anstellen, d. h. wir mflssten uns sagen, dass der Wille, um 
dieses letztere ,,Dass'' setzen zu können, es schon als ideale Be- 
stimmung zu seinem Inhalt haben müsse. — Umgekehrt würde 
der andere der beiden Eehmke'shen Willen, welcher das logische 
„Was und Wie" der Welt zum Inhalt hat, gar kein Wille mehr 
sein, nachdem dasjenige ihm entzogen (und als besonderer Wille 
verselbstständigt) ist, was den Begriff des Willens ausmacht, nämlich 
die Realisirung dieses Inhalts, oder die Thätigkeit, welche macht, 
dass das blosse „Was" zugleich ein solches wird, von dem man 
sagen kann, dass es sei. Soll der Begriff des Willens erhalten 
bleiben, so muss man ihm diese Bestimmung zurtlckgeben. Bliebe 
dann die Behmke'sche Spaltung noch zutreffend, so fände sie auch 
an diesem zweiten Willen ein Object, an dem sie sich, ebenso wie 
an dem ersten, bis in's Unendliche wiederholt anwenden mtisste; 
der Umstand indess, dass diesser zweite, des „Dass" beraubte Wille 
gar kein Wille mehr ist, beweist am besten die Unzulässigkeit 
dieser ganzen Spaltung. Ist es die Form des Wollens als solchen, 
das „Was" in's „Dass" zu erheben, so ist es eben falsch, dieses 
durch die Form des Wollens hinzugebrachte Moment der Reali- 
sirung noch einmal im Inhalt derselben suchen zu wollen; ein 
solcher falscher Schritt muss nothwendig zu verkehrten Consequenzen 
führen. Um etwas setzen zu können, muss der Wille allerdings 
actuell, d. h. Wollen, werden; aber er wird nicht etwa zuerst 
Wollen und setzt dann hinterher als Wollen das, was er zu setzen 
hat, sondern er wird actuelles Wollen eben nur durch das Setzen 
selbst eines Inhalts, durch Bethätigung seiner Realisirungsform an 
einem vorgefundenen concreten Idealen, das er als seinen Inhalt 
ergreift. Das „Dass" als solches, oder das durch die Form des 
Wollens zur Idee Hinzugebrachte, kann seiner Natur nach 
niemals in der Idee als solchen gesucht werden (da ja erst das 
Wollen es zu ihr hinzubringt), d. h. das „Dass" kann nun und 
ninmiermehr ideeller Inhalt werden. (Für die Idee ist es nur 
das Negative ihrer selbst). 



Belimke*s MonismuB des unendlichen Geistes. 33Ö 



2. IHe Unendliehkeit des Absoluten* 

Ich habe von jeher*) ernste Bedenken dagegen gehabt, ftir das 
AU-Eine Wesen den Ausdruck ^^das Absolute^' zu acceptiren. Dem 
Wortlaut nach, wenn man „absolut^' mit y,unabhängig'' übersetzt, 
Hesse sich kaum etwas gegen den Ausdruck einwenden. Das ,,Ab- 
solute'' würde dann einerseits mit dem ,,Unbedingten^ zusammen- 
£allen, wie Trendelenburg es erläutert; andrerseits Hesse sich sagen, 
dass dasjenige, was von allem Andern unabhängig ist, etwas sein 
muss, guod in se est et per se subsistit, d. h. gleich Spinoza's Sub- 
stanz Freiheit und ÄseXtät beanspruchen muss. 

Weiterhin könnte man „das Absolute'^ durch „das Allumfassende^' 
wieder geben, oder durch „dasjenige, ausser dem nichts ist''; denn 
wäre noch etwas ausser ihm, so würde es entweder von diesem 
Andern abhängig und bedingt sein, ebenso wie es seinerseits dasselbe 
bedingen würde, oder aber das Andre bestände beziehungslos neben 
ihm als ein zweites Absolutes. Im ersteren Falle wUrde das Ab- 
solute aufhören, absolut zu sein, im letzteren wUrde es aufhören, 
das Absolute zu sein und zu einem Absoluten neben anderen 
herabsinken. Nun können wir aber durchaus nur mit Einem Ab- 
soluten in Relation stehen ; denn gesetzt, wir wären es mit mehreren, 
so wären diese es mittelbar (nämlich durch uns vermittelt) mit 
einander, wären also nicht mehr beziehungslos und unabMngig von 
einander, d. h. nicht mehr absolut. Ebenso kann alles, was zu uns 
in Beziehung steht, also alles uns Erkennbare, nur zu einer einzigen 
Belations- und Abhängigkeits-Sphäre gehören, also auch in den Bereich 
nur eines Absoluten fallen. Gesetzt also, es gäbe noch mehrere 
Absolute, so würden diese doch zu uns und unsrer Welt ebenso 
ausser aller Beziehung stehen wie zu dem Absoluten, in welchem 
wir und unsre Welt befasst und befangen sind, sie würden für uns 
ewig unerkennbar sein, für uns und unser Absolutes so gut wie 
nicht sein. Es wäre für uns und unser Absolutes kein Unterschied, 
ob es neben ihm noch mehrere andere beziehungslose Absolute (mit 
entsprechenden Welten) gäbe oder nicht; das Problem ist ein 
müssiges, das uns und unsre Welt nicht berühren kann, dessen Lö- 



*) Vgl. meine Schrift „Ueber die dialectische Methode*' (Berlin bei C. Duncker 
1868) Ö. 76—77. 



33^ C. HegeSttiiBitttis. 

sang aber zugleich nach den gemachten Voranssetzungen nicht nnr 
f&r nns, sondern sogdf flDr die absolute Intelligenz onsres Absoluten 
nnmöglich ist 

Hiemaoh sind wir nicht nur yollsHUidig berechtigt^ sondern so- 
gar verpflichtet, dieses Problem au ignoriren, undf xm» bei unsrem 
Philosophiren auf die Welt, ara der wir gehören) zu besehränken. 
Von dies^ aber mttssen wir nach dem Obigen behaupten, dass dSe^ 
selbe nnr in Einem Absoluten befasst sein kanu', dass es fto sie 
und flHr uns nur Ein Absolutes giebt, welches wir mithin das Ab- 
solute schlechtweg nennen können, und w«lch€M9 &kr alles zu* uns v^ 
directer oder indirecter Beziehung stehende Sein zugleich d^ Alt 
umfassende oder Alles-Seiende sein mass« Diese schlechthin^ unab- 
hängige, alles seiende Substanz ist also diurch die Bezeichnung „da» 
Absolute^ ganz wohl ausgedruckt, i^d wer imt dem Absoluta' 
keinen andern Begriff verbindet als diesen, der kann< das Wort iw- 
beanstandet gebrauchen. 

Leider haben sieh aber aus der scholastischen Theologie zwei 
Nebenbedeutungen in den Begriff des Absoluten eingescbllehen, die 
denselben völlig verunstalten, nämlich die der Vollkoift menheit 
und der Unendlichkeit. Oott sollte der Inbegriff aHe» niög- 
liehen Vollkommenheiten, und sowohl in sdnem Seift wie^ in seiner 
Aktualität in allen Beziehungen unendlich seltti' Jede uns vortfaeil^ 
haft oder nützlich dtlnkende Eigenschaft emies Oasehöpfes soll auch 
Gott zukommen^ aber in verabsohitirter Gkstalty d. hi so in^s Ufi- 
endfiche gesteigert, dass sie die Vollkommenheit errdcbt. Das Ab- 
solute aber wurde nunmehr zur Totalität aller so verabsohitirieAi 
Qualitäten. Diese monströse Bedeutung i^kt noch heute ixt den 
Köpfen der Theologen und theologisirenden Philosophen, und site* ist 
es, die den Gebrauch des Ausdrucks, „das Absolute^' so beidenklich 
macht, weil dieselbe in den Gedanken der Leser unvermerkt auch 
da sich entsteUend einmischt,, wo sie durch ausdrtlckHche Definitionen 
des Autors abgekehrt ist. Dies ist der Grund, warum i6k in der 
Phil. d. Unb. jene Bezeichnung sorgfältig vermieden habe. 

Wenn ein Mensch witz^ ist und sein Witz ihm als eine be- 
wunderungswürdige Eigenschaft erscheint, so wird er nicht undun 
können, den letzten Grund seines Witzes in dem All-Einen Welt- 
wesen . zu suchen ; aber es wäre sehr kurzsichtig, wenn er diesen 
letzten centralen Grund mit seiner peripherischen Folge nur g 1 e i o h- 



Rehmke's Monismus des unendlichen Geistes. 337 

artig denken zu können vermeinte, also einen göttlichen Witz als 
die Ursache seines Witzes statuirte. Diese Hypothese wird dadurch 
um nichts gebessert, wenn die menschliche oder creatttrliche Qua- 
lität als iu's Unendliche gesteigert gedacht wird, also der Grund in 
dem unendlichen, oder vollkommenen, oder absoluten Witz Gottes 
gesucht wird. Es wird hierbei dem ersten Fehler nur der zweite 
hinzugefügt, dass man das Prädicat der Unendlichkeit auf Quali- 
täten anwendet, auf die es gar nicht anwendbar ist. Die meisten 
creatürlichen Qualitäten haben ihre Bestimmtheit in gewissen Be- 
ziehungen zu anderen endlichen Dingen und Eigenschaften; rückt 
man eine solche Qualität über die Sphäre der Endlichkeit und deren 
Beziehungen hinaus, so vernichtet man eben die Bestimmtheit, in 
der sie besteht. Deshalb ist die Verabsolutirung solcher Bestim- 
mungen zugleich ihre Aufhebung, und das Absolute wird so nur die 
Nacht, in der alle Katzen schwarz sind, der Abgrund der Ver- 
nichtung, in dem alle Qualitäten verschwinden, das alles absorbirende 
Nichts, aber nicht der erstrebte Inbegriff positiver Vollkommen- 
heiten. 

Der Grundfehler dieses Verfahrens liegt in der Einbildung, dass 
der absolute Grund einer creatürlichen Qualität dieser letzteren un- 
mittelbar gleichartig sein müsse, während doch die meisten dieser 
Qualitäten concrete Endresultate aus verwickelten Combinationen 
einfacherer Elementaifanctionen sind. Nur für die fundamentalen 
Elementarfunctionen der objectiven Erscheinungswelt, die eine weitere 
Zerlegung in einfachere Componenten nicht zulassen, ist die An- 
nahme statthaft, dass es Attribute des Absoluten selbst seien, wäh- 
rend alle übrigen Qualitäten erst aus einer Combination endlicher 
und bestimmter Partialfunctionen von jener Art resultiren. Solche Fun- 
damentalfunctionen kennen wir aber nur zwei, Wille und Vorstellung, 
und deshalb dürfen wir auch nur diese als Attribute des Absoluten 
ansehen, während wir alle endlichen Combinationsresultate aus 
Wille und Vorstellung (z. B. alle Gemüthseigenschaften) an dem 
Absoluten ausschliessen müssen, und den Versuch für zwiefach 
verkehrt erklären müssen, dieselbe durch Verabsolutiren zu Attri- 
buten des Absoluten tauglich zu machen. 

So lange man die reale Welt, oder was dasselbe besagt: die 
objective Erscheinungswelt, für unendlich in räumlicher und zeit- 
licher Hinsicht hält, so lange wird es keinem Zweifel unterliegen, 

£. V. Uartmann, Erläuteroiigen. 2. Aufl. 22 



338 ^' Hegelianismas. 

dass zu einem extensiv unendlichen Dasein auch eine intensiv un- 
endliche Actualität des Wesens gehöre. Nun ist aber die Unend- 
lichkeit der Welt weder a posteriori noch a priori zu beweisen; 
ersteres nicht, weil sich nur Endliches erfahren lässt und bisher 
keine empirischen Daten bekannt geworden sind, welche auf eine 
Unendlichkeit der materiellen Welt auch nur indirect hindeuteten, — 
letzteres nicht, weil weder die Unendlichkeit der Welt durch die 
Unendlichkeit der realen Zeit und des realen Raums, noch auch die 
letztere durch die Unendlichkeit unserer Anschauungsformen mit- 
gesetzt und gegeben ist (vgl. oben S. 152—153). Andererseits ist a priori 
zu constatiren, dass die Annahme einer real seienden, fertig gegebe- 
nen oder vollendeten Unendlichkeit einen Widerspruch enthält; d. h. 
es ist so lange die Endlichkeit der Welt zu behaupten, als man an- 
nimmt, dass das in sich Widersprechende aus dem Inhalt der realen 
Existenz ausgeschlossen sei. Ist nun aber die Welt für endlich zn 
halten, so bietet der blosse Rückschluss von der Grösse der Welt 
keinen Anhaltspunkt mehr, um den Grund dieser Welt für mehr 
als endlich anzusehen. Soll letzteres dennoch geschehen^ 80 
müssen andere Gründe dafür geltend gemacht werden. 

Als solche bieten sich nur kaum andere dar als das Vorurtheil 
der Vollkommenheit und der unendlichen Ueberlegenheit des abso- 
luten Geistes über den menschlichen. 

Dass die Vollkommenheit ein ziemlich unklarer Begriff und 
seine Anwendung auf die Welt, um wie viel mehr also auf das Ab- 
solute, eine missbräuchliche ist, habe ich schon anderwärts '*') be- 
merkt. Wenn ich das Vollkommene dort als das bestmögliche seiner 
Gattung definirte, so ist ersichtlich, dass das Absolute^ da es kein 
Specialfall einer Gattung ist, unter diese Definition nicht befasst 
werden kann. Da Gattungen überhaupt keine Realität haben, ausser 
in den Einzelexemplaren, durch welche sie repräsentirt werden, so 
kann man auch die Vollkommenheit des Einzelnen an der Gattung 
nur dadurch messen, dass man den Begriff der bestimmten Gat- 
tung als Maassstab mitbringt. Abgesehen davon, dass wir gar 
keinen Begriff vom Absoluten besitzen, mit dem wir das seiende 
Absolute meistern und messen könnten, setzt auch diese Definitkm 
voraus, dass der Begriff oder Typus der Gattung das ideelle Prins 



*) PhÜ. d. ünbew. 7. Aufl. Bd. IL S. 27a-279. 



Eehmke's Monismus des unendlichen Geistes. 339 

des wirklichen Einzeldinges ist; denn nur so kann die Frage ent- 
stehen^ ob letzteres dem ersteren vollkommen entspricht^ oder ob 
sich bei der Realisirung des ideellen Typas störende Elemente ein- 
gedrängt haben. Man sieht hieraus, dass der Begriff der Vollkom- 
menheit nur anwendbar ist auf Theile der objectiy-phäuomenalen 
Welt, nicht auf das derselben zu Grunde liegende und in ihr sich 
offenbarende Wesen. 

In noch höherem Grade ist dies der Fall, wenn wir von einer 
höheren oder geringeren OrganisationsvoUkommenheit der Gattungs- 
typen als solchen reden; denn hier wird der Gattungsbegriff des 
Organismus^ d. h. die Idee der in ihm sich offenbarenden concreten 
Zweckmässigkeit; als Maassstab benutzt Von einer höheren oder 
niederen Stufe der Zweckmässigkeit kann aber wieder nur dann die 
Bede sein, wenn das concrete Dasein als auf einen Zweck gerichtet 
gedacht und seine Beschaffenheit nach dem Grade der Dienlichkeit 
zu diesem Zweck beurtheilt wird. £in solcher Zweckbegriff und 
eine solche Beurtheilungsweise setzt mithin eine Stellung innerhalb 
eines teleologischen Processes voraus, kann also auf das Absolute, 
das nur der ruhende Grund eines solchen Processes ist, in keiner 
Weise anwendbar sein. Ist aber die Anwendung des Begriffs der 
Vollkommenheit auf das Absolute in jeder Hinsicht ein begriffs- 
widriger Missbrauch^ so kann auch dieses einmal durchschaute 
theologische Vorurtheil von dem Inbegriff aller Vollkommenheiten 
kein Motiv mehr sein zur Erhebung des Absoluten über die Sphäre 
der Endlichkeit. 

Von der Vollkommenheit Gottes zu sprechen, hat einen an- 
scheinenden Sinn überhaupt nur in einem Theismus, in welchem 
Gott unter den Gattungsbegriff einer sittlichen, gemüthlichen und 
geistigen Persönlichkeit fällt Hier tritt dann das oben er- 
wähnte Verabsolutiren der menschlichen Eigenschaften hinzu, um 
die Täuschung vollständig zu machen. Im pantheistischen Monismus 
hingegen steht Gott uns Menschen nicht mehr als eine Persönlichkeit 
der andern gegenüber, kann also auch nicht mehr als unmittelbares 
Subject sittlicher Beziehungen und gemüthlicher Eigenschaften gelten. 
Auch dem Pantheismus ist Gott der Urquell aller irdischen Voll- 
kommenheit, Wahrheit, Gerechtigkeit, Liebe und Güte, a^er derselbe 
sucht den Grund der fraglichen Qualitäten nicht mehr in einer 
göttlichen Vollkommenheit, beziehungsweise Wahrheit, Gerechtigkeit, 

22« 



340 C. Hegelianigmos. 

Liebe und Güte, sondern in ganz anderen Eigenschaften des Abso- 
luten. '*^) Er schreibt Gott keine Gemüthseigenschaften und keine 
Persönlichkeit mehr zu^ hebt also auch die Möglichkeit ethischer 
Beziehungen Gottes zu menschlichen Persönlichkeiten und damit 
den sittlichen Charakter des Absoluten auf. Auf diese Weise ver- 
schwindet der ganze Gattungsbegriff; an welchem die Vollkommen- 
heit Gottes im Vergleich zum Menschen gemessen wurde. Was 
übrig bleibt; ist bloss der unpersönliche Begriff des absoluten Geistes 
ohne Gemüthseigenschaften und sittliche Beziehungen ; der Gattungs- 
begriff; an welchem die Vollkommenheit Gottes gemessen werden 
müsste; wäre also der der wirkungsfähigen Intelligenz oder der 
vernünftigen Kraft. Auf diese Eigenschaften muss das Geftlhl der 
Ehrfurcht mit seinem Postulat; ein unendlich überlegenes Absolutes 
als Urgrund des eignen Daseins und Bestehens zu verehren; sich 
beschränken; wenn es ihm auch schwer genug 'fallen mag, den 
scholastischen Inbegriff aller Vollkommenheiten auf die unendliche 
Ueberlegenheit zweier Attribute zusammenschrumpfen zu sehen, ftir 
welche das Prädicat der Vollkommenheit selbst dann wenig passend 
erscheinen dürfte; wenn man die vorher gegen die Anwendbarkeit 
dieses Prädicats auf das Absolute angefahrten Gründe unbeachtet 
lässt 

Die Untersuchung reducirt sich nunmehr auf die Frage, ob die 
Attribute des Absoluten, Wille und Vorstellung, welche wir erfah- 
rungsmässig nur in endlicher Gestalt kennen, für unendlich oder 
ftir endlich zu erachten seien, oder ob sie in einem gewissen Sinne 
unendlich; in einem andern endlich seien, und ob und in welchem 
Sinne denmach das Absolute überhaupt unendlich zu nennen sei 

Wir haben zunächst festzustellen, dass endlich und unendlich 
Prädicate sind, welche innerhalb der Kategorie der Quantität 
fallen, und dass sie deshalb nur auf Subjecte anwendbar sind, 
welche Grössen repräsentiren, und insoweit sie solche repräsen- 
tiren. Von einer Eigenschaft, welche rein qualitativ ist und dem 
Grössenbegriff keine Anwendung gestattet; die Endlichkeit oder 



*) Die Qaelle der menschlichen Liebe und Güte in einer göttUchen Allliebe 
und AUgüte zu suchen, ist um nichts philosophischer, als wenn man die Qaelle 
des menschlichen Hasses und der menschlichen Bosheit in einem „Allhass" be- 
ziehungsweise einer ,,AUbo8heit** Grottes suchen wollte. 



Behmke^s Monismus des anendlichen Geistes 341 

Unendlichkeit zu prädiciren, ist eine völlig sinnlose Verbindung von 
Worten. Die Grösse kann extensiv sein, wie die Zeit- und Raum- 
grössen, oder intensiv wie die Ejaftgrössen, oder sie kann reine 
Grösse (algebraische oder Zahl-Grösse) sein, durch welche sowohl 
die extensiven als die intensiven Grössen mit Hülfe einer quantitativ 
und qualitativ bestimmten Einheit (Maase) ausgedrückt werden 
können. 

Prüfen wir hierauf die Attribute des Absoluten, so zeigt sich 
zunächst, dass die Vorstellung als unbewusste Function keine 
Grösse ist,*) dass aber wohl der von der Vorstellungsfunction 
umspannte Inhalt eines Mehr oder Minder, d. h. einer extensiven 
Quantitätsbestimmung fähig ist. Da die Vorstellung als Einheit 
von Anschauungsfunction und angeschautem Inhalt den Inhalt des 
WiUens bildet, so muss man vom Willensinhalt sagen, dass er keine 
Grösse sei; wohl aber ist die Form des WoUens eines Mehr oder 
Minder fähig, d. h. sie ist eine intensive Grösse, Das Wollen lässt 
nur in formeller, das Vorstellen nur in inhaltlicher Beziehung eine 
Quantitätsbestimmung zu; die Form des WoUens ist eine intensive, 
der Inhalt des Vorstellens eine extensive Grösse. Alle intensiven 
Grössen der Welt Ähren auf die formelle Intensität des Wollens, 
alle extensiven Grössen der Welt auf den Inhalt der unbewussten 
Vorstellung des Absoluten zurück. 

Die Frage stellt sich jetzt so: dürfen wir erstens annehmen, 
dass das actuelle Wollen des Absoluten in formeller Hinsicht eine 
unendlich grosse Intensität besitzt, — dürfen wir zweitens annehmen, 
dass die actuelle Entfaltung des idealen Inhalts der unbewussten 
Vorstellung des Absoluten eine unendlich grosse Extensität besitzt? 

Die Stellungnahme zu dieser Frage wird sich modificiren, je 
nachdem man über das Verhältniss des Absoluten zur Welt denkt. 
Entweder nämlich kann das Absolute nur mit seinem Wesen oder 
seiner Substanz der Welt transcendent sein, oder es kann auch mit 
einem Theil seiner Function oder Activität der Welt entrückt sein. 
Im ersteren Fall gilt sein ganzes Functioniren eo ipso als Idee- 
verwirklichender, d. h. Welt-setzender Process und all sein Wollen 



*) Von einem Grade der Lebhaftigkeit, Deutlichkeit oder Schärfe des Vor- 
BteUens kann nur bei Bethätigung der Sinnlichkeit im Bewusstsein die Bede sein, 
wo dieselbe von der Intensität der molecularen Gehimschwingungen abhängig ist. 



343 C- Hegeliantsmnfi. 

unmittelbar als Schaffen; im letzteren Falle wird dem Absoluten 
eine eigene Sphäre eines der Welt transcendenten Sonderlebens 
zugeschrieben. Im ersteren Falle fällt die Entscheidung über die 
Endlichkeit oder Unendlichkeit des Woliens und des Vorsteliungs- 
inhalts unmittelbar mit derjenigen ttber die Endlichkeit oder Un- 
endlichkeit der Welt zusammen; im letzteren Fall bleibt die Mög- 
lichkeit offen, dass auch bei Voraussetzung einer endlichen Welt 
das transcendente Eigenleben des Absoluten unendlichem Wollen 
und Vorstellungsinhalt Baum gebe. 

Nun lässt sich aber eine solche Sphäre transcendenter Activiföt 
im Absoluten weder a posteriori noch a priori begründen ; vielmehr 
müssen Wille und Vorstellung, wenn anders durch sie die Welt 
der objectiyen Erscheinung erklärt werden soll, in einer solchen 
Weise supponirt werden, dass ihre Actualität eo ipso ideerealisirend 
ist, d. b. dass sie im Absoluten nicht actuell werden k($nnen, ohne 
genau so weit, als sie actuell sind, auch schöpferisch zu sein. 
Ihre Schöpfung ist aber eben die Erscheinung des absoluten Wesens, 
d. h. die Welt. Hiemach können wir eine Transcendenz des Abso- 
luten über die Welt nur in Bezug auf dessen Wesen zugestehen, 
müssen es aber in Bezug auf seine Function odet Activität 
leugnen. *) 

Endlich ist dasselbe apriorische Argument, welches uns für die 
Endlichkeit der Welt ausschlaggebend war, auch durchschlagend 
für die Frage nach der Möglichkeit einer actuellen Unendlichkeit 
in den Attributen des Absoluten, nämlich die Erwägung, dass der 
Begriff einer actuellen Unendlichkeit einen Widerspruch in sich 
trägt, dass der Unendlicbkeitsbegriff ein in sich widerspruchsloser 
nur als Negation aller Schranken für Vergrösserung oder Verkleine- 
rung ist, aber niemals den Begriff einer gegebenen unendlichen 
Grösse im strengen Sinne zulässt oder fordert. Eben weil es kerne 
Grösse geben kann, die man nicht noch vergrösseil; denken könnte, 
ist ein Ende dieses möglichen Vergrösserungsprocesses, d. h. eine 
unendliche Grösse, undenkbar ; die mathematisch unendlichen Grössen 
verschiedener Ordnung bedeuten bekanntlich nichts weiter, als ein 
so grosses endliches Verhältniss, dass die Grössen niederer Ordnung 



^) Vgl. Adolf äteudel, Philosophie im Umriss, Bd. L Abtheü. 2, S. 944 
bis 858. 



Belimke*8 Monisinns des anendlichen Geistes. 343 

als Summanden neben ein^ höheren Ordnung vemachlässigt werden 
dürfen. 

Hiemach würde selbst dann, wenn man eine actnelle Transcen- 
denz des Absoluten zugeben wollte, doch die Unendlichkeit dieser 
seiner transcendenten Actualität a priori zu verneinen sein. Da- 
gegen bleibt die unbegrenzte Möglichkeit der Vergrösserung und 
Verringerung der intensiven und extensiven Elemente in den Attri- 
buten des Absoluten auch dann unbeeinträchtigt, wenn die Endlich- 
keit der jeweiligen Activität zugestanden wird. Es giebt keine 
formelle Intensität des WoUens im Absoluten, die nicht der Steige- 
rung fähig wäre, und es giebt keine inhaltliche Extension der 
unbewussten Intuition des Absoluten, die nicht der Ausdehnung 
durch weitere Explication der Idee fähig wäre. Das Attribut des 
Willens ist also unendlich in Bezug auf die Potenz oder das Ver- 
mögen des WoUens ; das Attribut der Vorstellung unendlich in Bezug 
auf die Möglichkeit weiterer inhaltlicher Entfaltung der Idee. Dass 
die potentielle Unendlichkeit beim Willen eine active, bei der Vor- 
stellung eine passive ist, folgt aus der entgegengesetzten (activen 
und passiven) Natur beider Attribute; was hier als blosse latente 
Möglichkeit erscheint, wird dort zum Vermögen, das selbstthätig 
aus der Latenz heraus zur Manifestation drängen kann. Fasst man 
aber diese beiden Arten unter die Bezeichnung einer potentiellen 
Unendlichkeit zusammen, so kommt beiden Attributen ebenso 
wohl potentielle Unendlichkeit wie actuelle End- 
lichkeit zu. Das Absolute als Substanz, abgesehen von deren 
Attributen, fällt überhaupt nicht unter die Kategorie der Quantität, 
kann also weder endlich noch unendlich genannt werden; das 
Absolute als Einheit der Substanz mit ihren Attributen muss 
ebenso wie die letzteren* zugleich actuell endlich und potentiell 
unendlich genannt werden. 

Mit dieser Lösung kann sich auch das religiöse Gemttth mit 
seinem Ehrfurchtsbedürfiiiss vollständig zufrieden geben. Die Acti- 
vität des Absoluten ist zwar jederzeit eine endliche, aber sie ist 
der Activität des menschlichen Individuums sowohl an Intensität 
der Willensenergie als auch an Umfang des ideell umspannten In- 
halts so ausserordentlich überlegen, dass nur der Begriff, aber nicht 
die bewusste menschliche Anschauung den Unterschied dieser Ueber- 
legenheit v<m einer unendlichen erfassen kann. Diese actuelle Macht 



344 ^' Hegellaniflinns. 

ist zugleich die Allmacht, diese Weisheit zugleich die A 1 1 Weisheit, 
d. h. es giebt keine Macht und keine Weisheit neben ihr, höchstens 
in ihr. Von einer Concurrenz mit der Activität des Absoluten 
kann also ebenso wenig die Rede sein, wie von einem Ueberbieten 
derselben. Es kommt dazu, dass die Activität das Wesen des 
Absoluten in keinem Moment erschöpft, dass also hinter der über- 
gewaltigen Allmacht und Allweisheit immer noch die potentielle 
Unendlichkeit der Attribute Wille und Vorstellung steht, dass es 
keine noch so grosse Kraftentfaltung und Ideeentfaltung giebt, die 
das Absolute selbst nicht zu überbieten vermöchte (ohne dass damit 
die Activität je aufhörte, eine endliche zu sein). Die übergewaltige 
Activität und die hinter dieser im Grunde ruhende potenzielle Un- 
endlichkeit im Verein machen das Absolute zu einer so erhabenen 
Vorstellung, als eine solche ohne Widerspruch überhaupt möglich 
ist, und müssen deshalb auch dem anspruchsvollsten religiösen 6e- 
filhl genugthun. 

Diese zusammenhängende Darlegung stimmt genau überein mit 
den von mir in der Phil. d. Unb. gegebenen Andeutungen. Behmke 
hat dieselben theils missverstanden, theils mit unrichtigen Gründen 
bekämpft. 

Miss verstau den hat er mich, wenn er annimmt (S. 23), 
dass ich dem Attribut des Wollens das Prädicat der Unendlichkeit, 
dem der Vorstellung hingegen dasjenige der Endlichkeit zuschreibe. 
Er kann hierzu veranlasst worden sein durch Verwechselung (S. 30 
bis 31) des actuellen Wollens mit dem leeren Wollen oder der 
Potenz in der Initiative, und durch meine Bemerkung, dass neben 
dem actuellen Wollen ein unendlicher Ueberschuss des leeren Wol- 
lens oder der unersättlich zur Activität drängenden und doch sie 
nur partiell erreichenden Potenz bestehen bleibe. Aber da ich das 
leere Wollen ausdrücklich als einen Zustand der blossen Initiative 
bezeichne, der sich zum erfüllten Wollen wie Potenz zum Actus 
verhalte, also an sich unwirklich sei, so ist klar, dass mit der Un- 
endlichkeit des leeren Wollens von mir keineswegs eine actuelle, 
sondern nur eine potentielle Unendlichkeit behauptet ist. Von 
der potentiellen Unendlichkeit des ruhenden Willens als Potenz 
unterscheidet sich dieselbe nur so, dass das unendliche Vermögen 
in der reinen ruhenden Potenz latent, in der zum Actus erhobenen 
Potenz patent oder manifest ist Die potentielle Unendlichkeit des 



Behmke'B Monismus des unendlichen Geistes. 345 

leeren WoUens ist als actives Vermögen, die der Vorstellung als 
passire Möglichkeit, die der ruhenden Potenz als ein Mittelzustand 
zwischen beiden zu bezeichnen, als ein Vermögen, das weder activ 
noch passiv, weder spontan noch auf SoUicitation wartend ist, als 
eine Möglichkeit, in der das Vermögen latent ist, oder als ein 
Vermögen, das bis zur Erhebung blosse Möglichkeit bleibt. Deshalb 
ist der Actus, um dessen eschatologische Umwendung es sich 
handelt, in der That ein endlicher, und das Bedenken Rehmke's 
(S. 56), dass eine endliche Summe endlicher Willen gegen den All- 
Einigen Act als unendlichen nichts auszurichten vermöge, trifft 
nicht zu. 

Irrthttmliche Argumente macht Rehmke ferner gegen die 
actnelle Endlichkeit des Absoluten geltend, indem er einerseits das 
Erhabensein des Absoluten über Baum und Zeit unmittelbar als 
eine Unendlichkeit desselben aufgefasst haben will (S. 17, 25), und 
andrerseits das Wesen des Absoluten und seinen Actus als identisch 
behauptet (S. 39). 

Auf S. 24 bemerkt er ganz richtig, dass dem Logischen in 
keiner Weise die Prädicate endlich und unendlich zukommen können, 
da dasselbe ganz ausserhalb der Kategorie der Endlichkeit (soll 
heissen der Quantität) stehe; trotzdem spricht er auf S. 17 von der 
Unendlichkeit des Logischen, und glaubt durch dieselbe meine Be- 
hauptung der Endlichkeit des Vorstellungsinhalts entkräften zu 
können, während er meine Anerkennung der unendlichen Entfaltungs- 
möglichkeit der Idee ganz übersieht Wenn das Absolute in seinem 
Wesen über Baum und Zeit steht, so ist es zwar frei von den 
Schranken des Baumes oder der Zeit, aber eben darum in räumlich- 
zeitlicher Beziehung ebenso wenig unendlich wie endlich. Die 
potentielle Unendlichkeit des Absoluten hat mit seiner Erhabenheit 
über Baum und Zeit gar nichts zu thun. Das Prädicat der Ewigkeit 
im Sinne der Ausserzeitlichkeit darf daher keineswegs, wie es von 
Behmke S. 17 für das Denken, S. 19 und 25 für den Willen ge- 
schieht, dazu gemissbraucht werden, mit schielendem Hinblick auf 
die durch dasselbe negirte zeitige Endlichkeit eine zeitliche Un- 
endlichkeit des Absoluten zu erschleichen. 



346 C. Hegelianismns. 



3« Wesen und Actos« 

Die Identification von Wesen und Actus des Absoluten ist ganz 
unhaltbar. Wenn man unter „Geist** Geistesbethätigung ver- 
steht, so ist ae tu eil es Nichtsein des Geistes allerdings identisch 
mit dem reinen Nichtsein desselben (S. 35); aber in dieser Wort- 
bedeutung liegt eine petitio prindpii, welche vermieden wird, wenn 
man auch schon den geistigen Grund der Geistesbethätigung unter 
der Bezeichnung Geist befasst. Dann ist Nichtactuellsein des Geistes 
keineswegs mehr identisch mit reinem Nichtsein desselben. 
Abstrahiren wir von dem Actuellsein des Willens und der Vorstel- 
lung, so abstrahiren wir keineswegs (8. 35) von dem Sein des 
Willens und der Vorstellung als latenter Attribute des geistigen 
Subjects, sondern nur von ihrer Aeusserung, Manifestation, ihrem 
Herausgesetztsein, D a sein oder E x istenz. Das ewige Sein schliesst 
keineswegs eine ewige Existenz in sich, wie ßehmke (S. 37) 
annimmt; die Ewigkeit der Potenz verträgt sich auf das Beste mit 
der Zeitlichkeit des Actus, da die Potenz des Willens auch im zeit- 
lich anhebenden und zeitlich aufhörenden Actus des Wollens nicht 
aufhört, der ewige Quell zu sein, 'aus dessen unversiegbarem Ver- 
mögen der Actus entströmt (vgl. Rehmke S. 19 unten). 

Auch Rehmke will gleich mir eine objectiv gesetzte reale Er- 
scheinungswelt (S. 38 unten) ; aber er vergisst, dass die Erscheinungen 
nur dann reale oder wirklichje sein können, wenn die Formen 
ihres Daseins zugleich Formen ihres W i r k[e n s , d. h. der concreten 
Thätigkeiten oder Functionen des Absoluten sind. Wenn Rehmke 
dies leugnet, und behauptet, dass Raum und Zeit nur Formen des 
Inhalts der absoluten Thätigkeit seien, ohne dadurch zugleich 
zu Formen dieser Thätigkeit selbst zu werden (S. 39), so behauptet 
er damit, dass das Absolute alles, was jemals in der Welt geschieht, 
ewig zumal setze, oder dass es mit seiner Thätigkeit ,, Alles in 
Eins*' thue (S. 18). Hiermit nimmt er aber mit der einen Hand, 
was er mit der andern gegeben ; denn wenn es keine reale zeitliche 
Succession in den concreten Actionen des Absoluten giebt, so giebt 
es auch in der ganzen Erscheinungswelt, als dem Inhalt des Einen 
ewigen Actus, kein reales Geschehen, keine Geschichte und keine 
Entwickelung, so muss der Schein solcher realen Entwickelung, den 
der Weltinhalt uns erweckt , doch wieder aus der Subjectivität 



Behmke*8 Monismus des unendlichen Geistes. 347 

Ttnsres Bewnsstseins erklärt werden, d. h. die angebliche objeetive 
Erscheinnngswelt sinkt doch wiedernm znm subjectiven Schein 
herab. 

An und fttr sich unzeitlieh, weil schlechthin bewegungslos, 
ruhend und bei sich verharrend ist die Idee, so lange ihr Inhalt 
unverändert bleibt; der Schelling'sche Ausdruck des rein (d. h. 
potenzlos) Seienden deutet wesentlich auf diese zeitlose Buhe des 
Beisichseins hin, die selbst die Bezeichnung als Actus als unstatthaft 
erscheinen lässt, weil dieselbe auf ein zeitliches Hervorgehen aus 
der Potenz hindeutet. In die Idee kommt die Zeit nur von Seiten 
des Inhalts hinein, insofern dieser ein wechselnder ist, welche Ver- 
änderung nicht anders als in zeitlicher Form eintreten kann. Die 
Form des unbewussten Yorstellens als solche hat mit der Zeit direct 
nichts zu thun; indem aber der Inhalt in bestimmten Zeitverhältnis- 
sen bestimmte Wandlungen durchmacht, wird indirect auch die 
Vorstellung als formale Function der unbewussten Intuition des 
Absoluten mit der Zeitlichkeit behaftet, oder anders ausgedrückt 
die unbewusste Vorstellung als Ganzes zu einer zeitlichen Function 
gestempelt. Indem die Idee das Formalprincip ihrer Entfattung 
und damit auch das fQr ihren Veränderungsprocess Maass-Gtebende 
im Logischen als ihr eigenes Gesetz in sich trägt, wird sie das 
Bestimmende für die concreten zeitlichen Maassverhältnisse 
des realen Weltproccsses, während der WiJle durch seine Activität 
nur unmittelbar die Zeitlichkeit des Weltproccsses in unbestimm- 
ter Weise begründet. Das Wollen als echter, d. h. aus einer Potenz 
hervorgehender Actus, ist schon nach seiner reinen Form der Actua- 
lität oder Activität zeitlich; ein Thun oder Thätigsein ohne die 
Form der Zeit ist ein hölzernes Eisen, — ein zeitloser Actus ein sich 
widersprechender Begriff. Hätte Rehmke mit seiner Behauptung der 
Identität von Wesen und Actus im Absoluten Recht, so könnte es 
gar keinem Zweifel unterliegen, dass alsdann das Wesen des Abso- 
luten zeitlich gedacht werden müsste, nicht aber der Actus unzeitlich 
gedacht werden könnte. Indessen ist eines so verkehrt wie das 
andere, und dies ist der sicherste Beweis, dass jene Behauptung 
falsch sein muss. Hiermit enteilt aber auch die allgemeinere Fol- 
gerung Rehmke's aus jener Behauptung, dass die (potentielle) Un- 
endlichkeit des Wesens identisch sei mit der (aetiielien) Unendlichkeit 



348 ^* Hegelianismns. 

der Tbätigkeit des Absoluten, oder mit anderen Worten, dass der 
Actus unendlicb sein müsse, weil das Wesen es sei. 

Wenn die Form der Zeitlichkeit unmittelbar dem Actus, also 
dem Einen der Attribute in seiner Actualität anhaftet, so kann man 
dies von der Räumlichkeit nicht sagen. Sie ist in gleicher Weise 
wie die bestimmte Zeit im Inhalt der absoluten Idee gesetzt, aber 
sie ist nicht wie die unbestimmte Zeitlichkeit unmittelbare Form 
der Activität als solcher. Wie aber die Zeit als Succession der 
inhaltlichen Veränderungen der absoluten Idee rückwärts die Form 
des unbewussten Vorstellens mit berührt, indem sie die Vorstellung 
als einheitliche Totalität von Form und Inhalt angeht, und so m 
zweiter Beihe auch die unbestimmte Zeitlichkeit des WoUens za 
einer bestimmten erhebt, so wird auch die Räumlichkeit des Inhalts 
der Idee rückwirkend bestimmende Form für die innere concreto 
Gliederung der absoluten Activität als einheitlicher Totalität von 
Wollen und Vorstellen. Als Beispiel weise ich auf das Spiel der 
Atome hin. Allerdings sind die Ortsbestimmungen und räumlichen 
Beziehungen der Atome zu einander zunächst nur integrirende Be- 
standtheile des Inhalts der Einen absoluten Idee; indem aber das 
Wollen die verschiedenen Momente dieses Einen idealen Inhalts 
realisirt, zersplittert es sich in viele concrete Willensacte, die nur 
durch ihr Oegeneinanderwirken reale Phänomenalität erzeugen, und 
nur dadurch zu einem Gegeneinanderwirken gelangen, dass sie 
durch die räumlichen Unterschiede ihres Inhalts selber mit indivi- 
dualisirt, d. h. zu einer relftiven Selbstständigkeit (gegen einander, 
nicht gegen das Absolute) erhoben werden. Wie ich oben zeigte, 
dass die Realität und Objectivität der Erscheinangswelt 
davon abhängig ist, dass Raum und Zeit nicht bloss Formen des 
Inhalts der Idee, sondern auch Formen der Thätigkeit des 
Absoluten als solchen seien, so ergiebt sich hier, dass die Mög- 
lichkeit der Individuation davon abhängt, dass die ver- 
schiedenen Seiten, oder Momente, oder Bestandtheile der inneren 
Vielheit des Einen ideeerfUUten Weltwillens durch Emtauchen in 
die Form der Räumlichkeit (die^Zeitlichkeit ist dabei schon voraus- 
gesetzt) ein pHncipium individmUionis erlangen, durch das ihnen zu 
einer die Opposition und den realen Widerstreit ermöglichenden 
Selbstständigkeit gegen einander verholfen wird. 



Behmke's Monismas des unendlichen Geistes. 349 

Während die erstere Gonsequenz Behmke verborgen geblieben 
ist, ist die letztere ihm zum Bewusstsein gekommen. Er erkennt 
nämlich ganz richtig, dass die von mir statairte Vielheit von Einzel- 
acten im Unbewnssten sich einerseits auf die Scheidung von 
Actus und Wesen im Absoluten, andrerseits auf die Endlich- 
keit des absoluten Actus (Behmke erwähnt hier irrthümlich wieder 
nur das eine Actusmoment, die Vorstellung, als endlich) gründe 
(S. 46). Er behauptet seinerseits, dass die „Einheit des Uube- 
wussten verhindert, eine Vielheit von Willensacten in demselben 
anzunehmen; denn mit ihr zugleich mttsste sich die Einheit des 
ünbewussten in viele Unbewusste scheiden" (S. 38). Er hält daran 
fest, dass es im Ünbewussten „in Folge des Mangels zeit- 
licher Unterschiede in keiner Weise unterschiedene Willens- 
acte, sondern nur Actus, nur Wollen geben kann" (ebd.). Da Behmke 
selbst die Negation der vielen Willensacte als eine Folge des 
Mangels zeitlicher Unterschiede bezeichnet, und sein Absolutes diesen 
Mangel theilt, so ergiebt sich, dass ihm diese Negation nicht etwa 
als polemische rediActio ad ahsurdwm für mein Unbewusstes dienen 
soll, sondern als bleibende Bestimmung fär seinen Begri£f des Abso- 
luten Geltung haben soll. Diese Gonsequenz aus der Identität von 
Wesen und Actus ist in der That unabweislich ; da sie aber selbst 
unhaltbar ist, so ist sie eben eine redudio ad absurdum für die 
Behauptung jener Identität. 

Von der Vielheit der realen Individuen geht unser philosophisches 
Denken aus; sie ist die ErfahrungsLasis, die von keiner über sie 
hinausschreitenden Induction verleugnet werden darf. Wir müssen zum 
Monismus fortschreiten, weil der Pluralismus als solcher nicht phi- 
losophisch haltbar ist; aber jede Ueberspaunung des Einheitsgedan- 
kens zu einer Missachtung der realen Vielheit muss nothwendig 
eine berechtigte Beaction des Pluralismus gegen den Monismus 
heraufbeschwören. Die Möglichkeit einer Vielheit innerhalb der 
Einheit wird auch Behmke nicht leugnen, so lange es sich um den 
Inhalt der Idee handelt; hier sind die vielen Ideen als innere Glie- 
derung der Mannichfaltigkeit in der Einheit der absoluten Idee 
aufgehoben. Indem nun das Wollen die Idee zum Inhalt nimmt 
und realisirt, gewinnt der in formeller Hinsicht in sich unterschieds- 
lose Actus des WoUens zugleich den ganzen Beichthum inhaltlicher 
Mannichfaltigkeit und interner Gliederung, den die Idee besitzt; 



350 C. Hegelianiamas. 

die Vielheit dieser durch Ziel and Intensität sich gegen einander 
innerhalb der Einheit des absoluten Wollens besondernden Seiten 
oder Momente des Wollens nennen wir in demselben Sinne die 
vielen Willensacte, wie wir die Momente der absoluten Idee un- 
bedenklich als die vielen Ideen bezeichnen. Man könnte auch von 
concreten Partialwillensrichtungen und von concreten Partialideen 
reden ; doch ist dies schon darum nicht angezeigt, weil wir empirisch 
und inductiv es immer nur mit solchen Bruchstücken der Thätigkeit 
des Absoluten zu thun haben, und erst künstlich darauf reflectiren 
müssen, dass sie Momente einer absoluten Einheit sind. So wenig 
die Einheit des menschlichen Individuums dadurch alterirt wird, 
dass dasselbe eine Vielheit von psychischen Acten verrichtet, so 
wenig wird die Einheit des absoluten Wesens davon alterirt, dass 
es eine Vielheit von concreten Willensacten umspannt, oder dass 
seine jederzeit einheitliche Thätigkeit sich in eine innere Vielheit 
sich kreuzender Willensrichtungen gliedert, in deren Widerstreit 
eben die reale Erscheinungswelt besteht. Dies alles hat keine 
Schwierigkeiten, sobald das falsche Vomrtheil der Identität von 
Wesen und Actus im Absoluten beseitigt wird; so lange hingegen 
dieses besteht, ist allerdings der Schluss unvermeidlich, dass eine 
reale Vielheit in der Thätigkeit zugleich eine reale Vielheit im 
Wesen des Absoluten setze, also die strenge Einheit seines Wesens 
aufbebe. 



4. Die ObJeetiTationsstufen in ihrem Yerhftltniss zu einander. 

Da Rehmke die innere Vielheit in der einen Thätigkeit des 
Absoluten bekämpft, so schneidet er sich nothwendig auch jedes 
Verständniss ab für die Verschiedenheit der Objectivationsstufen, 
welche der Idee als das Stufengerüst dienen, auf dem sie sich zum 
Selbstbewusstsein erhebt. Die erste dieser Stufen ist das breite 
und feste Fundament des Kosmos, das Eeich der Materie mit ihren 
unorganischen Bewegungsgesetzen; die zweite ist die Vegetation, 
die aus diesem Boden hervorsprosst, das Reich des organischen 
Lebens mit seinen organischen Bildungs- und Entwickelungsgesetzen ; 
die dritte Stufe ist gleichsam der ungreifbare Blüthenduft dieser 
Vegetation, das Reich des bewussten Geistes vom Empfinden der 
Monere bis zu dem reichen Geistesleben des gebildeten Gefühls- 



Behmke^B Monismus des unendlichen Geistes. 351 

menschen; die vierte Stufe ist endlieh die speculative Besinnung 
der Idee auf sich selbst, wie sie im philosophischen Menschen zu 
Stande kommt, indem der ursprünglich nur den praktischen Lebens- 
zielen dienende Intellect zunächst rein theoretische Interessen ge- 
winnt, und schliesslich von der Erscheinung auf das Wesen zurück- 
zudringen versucht. Jede dieser Stufen beruht auf der vorgehenden, 
also ist die vierte und oberste nur möglich auf dem Unterbau der 
drei andern, d. h. diese sind durch jene teleologisch bedingt. 

Jede der unteren Stufen wäre eine sinnlose Thatsache, wenn 
sie nicht der nächstfolgenden diente, und wäre eine zusammenhangs- 
lose und unvollständige Idee, wenn sie nicht die ihr vorhergehenden 
als ihre ideale Voraussetzung in sich schlösse. Die vier Stufen 
stehen also causal wie teleologisch, reell wie ideell in einem so 
innigen Zusammenhange, dass die Idee einer jeden nur möglich ist 
durch die ideelle Beziehung auf alle übrigen ; indem der Wirklichkeit 
einer jeden Stufe ihre specielle Idee immanent ist, ist ihr also 
mittelbar die Idee in ihrer Totalität immanent. Die Einheit der 
Idee ist eben eine zwiefach verbürgte : formell durch die substantielle 
Einheit des Absoluten und seines logischen Attributs, inhaltlich 
durch die organische Wechselbeziehung und gegenseitige Voraus- 
setzung aller Momente der Idee. Um so unbedenklicher ist die 
Anerkennung der inneren Vielheit in der absoluten Idee und der 
relativen Selbstständigkeit derjenigen durch den Willen realisirten 
ideellen Momente gegeneinander, welche durch ihren Inhalt einen 
Gegensatz mit einander bilden, also als Willensinhalte einen realen 
Conflict darstellen (wie beispielsweise zwei sich abstossende Atom- 
kräfte). Wie die realen Individuen dadurch zu Stande kemmen, 
dass gewisse Gruppen von concreten Einzelacten des Absoluten 
durch die die Individualität constituirenden Einheitsformen für eine 
gewisse Zeit zu einem stetigen Complex verbunden werden, so 
setzen die realen Sphären der verschiedenen Objectivationsstufen 
der Idee sich aus Gruppen realer Individuen zusammen, welche 
durch den ideellen Inhalt der sie constituirenden Willensacte ihre 
ideelle Zugehörigkeit zu einer jener ideellen Stufen documentiren. 

Die verschiedenen Gesetze, denen die verschiedenen Sphären 
unterworfen sind (die anorganischen Naturgesetze, die organischen 
Bildungs- und Entwickelungsgesetze , die psychologischen Gesetze 
der Motivation und der Erkenntnissthätigkeit), sind nicht, wie Behmke 



352 C. HegeliftnismuB. 

es missversteht (S. 40 n. 48), eigene Gesetze, die zum Theil nicht 
nnter das logische Gesetz fielen, sondern sie sind nur die speciellen 
Besonderungen des einen absoluten Gesetzes, welches als das Logische 
den Inhalt und die Veränderung der Idee bestimmt; sie sind nur 
die Arten, wie die logische Entfaltung des ideellen Inhalts und 
seine Veränderung sich in den verschiedenen Sphären der Idee, 
also auch in den ihr correspondirenden Sphären der Wirklichkeit 
und des realen Geschehens darstellt. Wollte man statt des in allen 
diesen Gattungen von Gesetzen gewahrten logischen Grund- 
charakters eine gesetzliche Uniformität verlangen, so hiesse 
das die Unterschiede jener Objectivationsstufen ignoriren oder miss- 
achten. So wenig für einen Bandwurm und für einen Papagei, für 
einen Papua oder einen europäischen Prinzen das gleiche Verhalten 
angemessen wäre, so wenig könnte es logisch sein, wenn identische 
Gesetze ftlr das Bewegungsspiel der Atome und für das Gedanken- 
ipiel eines Dichtergeistes gelten sollten. 

Die Besonderung des Logischen zu generellen Gesetzen für die 
verschiedenen Sphären ist ebenso unvermeidlich, wie die Besonde- 
rung der absoluten Idee in solche ideelle Stufen und Momente, wenn 
überhaupt ein organisch gegliederter, durch Mannichfaltigkeit be- 
lebter und einem idealen Zweck dienender Kosmos zu Stande kom- 
men soll; aber wie alle Stufen und (Momente der Idee einander 
voraussetzen und sich auf einander und ihre Totaleinheit beziehen, 
so müssen auch die Besonderungen des logischen Gesetzes derart 
sein, dass sie in absoluter Harmonie zu einander stehen und die 
realen Objectivationsstufen der Idee in eine absolute Harmonie des 
Processes zu einander versetzen, damit die inhaltliche Einheit der 
Idee und der Welt ebenso in ihrer Veränderung wie in ihrem 
Dasein gewahrt bleibe. Da die Specialgesetze eben nur Besonde- 
rungen des Einen logischen Gesetzes je nach der inhaltlichen Be- 
schaffenheit der besonderen Objectivationsstufen sind, so ist das 
Herauskommen dieser Harmonie etwas Selbstverständliches, da ja 
die Einheit der Quelle als immanentes Formalprindp unveräusser- 
lich zu Grunde liegt, und der logische Inhalt jedes noch so speciel- 
len Specialgesetzes in jedem Moment und an jeder Stelle aus dem 
immanenten logischen Grunde neu erzeugt und gesetzt wird. *) 

♦) Von der „Möglichkeit einer Abweichung des Absoluten von den logi- 
schen Naturgesetzen" (S. 46) kann hiemach bei mir gar nicht die Bede sein. Ich 



Behmke's Monismiu des unendlichen Geistes. 353 

Die Einheit und die Immanenz der absoluten Idee im 
Weltprocess kann mithin gar nicht strenger gewahrt werden, ala 
sie von mir gewahrt ist, wenn man nicht die erfahrungsmässige 
Mannichfaltigkeit des Daseins und Geschehens und die thatsächlich 
gegebene reale Vielheit leugnen will Ein Monismus, wie Behmke 
ihn fordert, ist so überspannt, dass er nicht nur jede Vielheit und 
Mannichfaltigkeit leugnen, sondern auch jede Analyse der Erfah- 
rung Yerbieten muss. So ist es eine richtige Consequenz seines 
Standpunkts, wenn Rehmke mir wehren will, die zweckmässigen 
Mechanismen in einem Organismus und ihre Entstehung zu analy- 
lysiren, indem er jede Specialuntersuchung mit der Erklärung ab- 
schneidet : „Dieser Mechanismus mit der Materie in Eins genom- 
men ist Wirkungsweise des Unbewussten^' (46). Da nun aber 
unsere Kenntniss der physikalischen und chemischen Gesetze keinen 
Schlüssel zum Verständniss der Entstehung solcher Mechanismen in 
die Hand giebt, so bedürfen sie eben einer gesonderten Untersuchung 
ihrer Entstehung und der Annahme besonderer organischer Bildunga- 
gesetze. Auf solche Weise die Analyse abschneiden und stets auf 
die letzte Einheit der Natur verweisen, heisst den Menschen auf 
den Standpunkt der stupiden Anbetung des All-Einen beschränken 
und ihm jeden Versuch des Verständnisses der Erfahrung unter- 
sagen. Alles Verstehen fängt mit der Analyse an, unbeschadet der 
Möglichkeit und Nothwendigkeit, das so Unterschiedene und Ge- 
trennte später von Neuem synthetisch zu verknüpfen. Nur wer die 
ebenbürtige Berechtigung der beiden von Kant als das der Homo- 
genität und der Specification bezeichneten Gesetze verkennt, kann 
wie Behmke behaupten: „die Einheit'' (seil, des Absoluten) „ist 
zerstört, weil eine Zweiheit von Thätigkeiten des Unbewussten, 
ja sogar eine Zweierleiheit zum Vorschein kommt'' (46). 

Unter solchen Umständen muss bei Behmke natürlich ein Ver- 
ständniss für die relativ selbstständige Stellung, welche die die 
Materie constituirenden Functionen des Unbewussten im Verhältniss 
zu allen übrigen Functionen desselben einnehmen, vermisst werden. 
Er betont auf S. 47 die Phänomenalität der Materie, als ob er nicht 



spreche an der fraglichen SteUe nur von einer Abweichung Ton „nützlichen aU- 
gemeinen Regeln^*, und schliesse daselbst die Abweichung von wirklichen Natur- 
gesetzen eben als unmöglich, weil unlogisch, aus. 

£• T. Hart mann, Erl&atomngeiu 2* Aufl. 23 



354 ^' HegelianiBmuB. 

selbst den Begriff der objeetiven ErscheinuDg (S. 38—39) und da- 
mit die Realität der Phänomenalität (S. 37) anerkannt hätte*). 
Und auf S. 45 bekämpft er meine Behauptung^ dass jeder Organis- 
mus todt hinstürzen würde, sobald das Unbewusste ihm die Seele 
entzöge, d. b. aufhörte, seine Thätigkeit als Empfindung, Vorstel- 
lung, Wille, organisches Bilden, Reflexwirkung u. s. w. auf den- 
selben zu richten. Rehmke verkennt hierbei, dass es sich um eine 
Annahme per impossibüe zu lehrhaften Zwecken handelt, und dass 
die „ZerreissuDg der Einheit der Naturgesetze^' nicht erst in der 
Conclusion, sondern bereits in der unmöglichen Voraussetzung liegt 
Er verkennt ferner, dass ich nicht von einem gVnz liehen Auf- 
hören der Thätigkeit des Unbewussten spreche, sondern nur von 
dem Aufhören der auf diesen Organismus gerichteten Summe von 
Functionen, die obenein appositioneil näher bestimmt werden; er 
übersieht mithio, dass diese Annahme per impossibüe eben das 
Fortbestehen derjenigen Functionen zur Voraussetzung hat, 
welche die den Organismus constituirenden materiellen Atome aus- 
machen. Die Annahme per impossibüe ergiebt, dass in solcher Lage 
der Organismus todt, d. h. als ein entseeltes Aggregat von Materie 
in der im Augenblick des Todes noch bestehenden organischen 
Form, hinstürzen würde, dass .aber sofort mit der organischen Bil- 
dungsthätigkeit auch die Erhaltung der organischen Form auf- 
hören und dieselbe von den entfesselten unorganischen Gesetzen 
schon im nächsten Augenblick zerstört werden würde. Dieser ein- 
fache Gedanke konnte wohl nur von einem so eigenthttmlichen 
Standpunkt aus, wie der Rehmke's ist, die auf S. 45 zusanmien- 
gehäuften Missdeutungen erfahren. 

Rehmke sagt S. 47—48: „Da sie** (die Materie) „letzteres" 
(Wille und Vorstellung) „ist, so wäre es von Hartmann consequent 
gewesen, wenn er die organische Bildung (die ja auch Wille und 
Vorstellung) aus dem Wesensverwandten, der Materie, sich organisch, 
d. h. von innen heraus, ohne an ein von Aussen her kommendes 
Princip sich anlehnen zu müssen, sich hätte entwickeln lassen.^ 



*) Das ,Jch^* ist übrigens keine objective Erscheinung, sondern ein blosses 
Product des Selbstbewusstseins, d. h. eine subjective Erscheinung; also ist 
auch das Ich nichts „unmittelbar Reales*' im Sinne einer objeetiven Erscheinung, 
wie es z. B. das organisch-geistige Individuum ist (Rehmke S. 37—38). 



Behmke*8 Monismas des anendlichen (Geistes. 355 

Hier zeigt sich, dass Behmke durch seine geitigte Ueberspannnng 
des Monismus von der idealistischen Seite he^ sm der nämlichen 
Forderung gelangt, wie die entgegengesetzte Partei von der Seite 
des Materialismus und Mechanismus her. Die Frage ist eine sehr 
ernste Principienfrage für solche, die entweder Gegner aller Teleo- 
logie und Leugner jeder andern logischen Gesetzmässigkeit ausser 
der mechaniiohen Causalität oder aber Pluralisten sind. Im ersteren 
Falle wird jede Action ausser der Mechanik der Atome als mysti- 
sches Phantasiespiel ohne wissenschaftliche Berechtigung ausgeschlos- 
sen; im letzteren Falle entsteht die Frage, ob die anderweitigen, 
über die unorganischen Naturgesetze hinaus bestehenden organischen 
Bildungs- und Eatwickelungsgesetze und die Gesetze der psychischen 
Functionen ebenso wie die ersteren den Atomen als solchen 
innewohnen, oder ob ihre Träger von den Atomen (als Trägem der 
unorganischen Naturgesetze) substantiell verschieden seien. Die 
Entscheidung der Frage im letzteren Sinne wttrde auf die Leibniz'- 
sehen Gentralmonaden, dL h. auf substantiell gesonderte Seelenweseft . 
zurttckftlhren, die sich unter Umständen einen Körper anbilden, 
indem sie als Archon für eine Menge wechselnder unorganischer 
Atome fungiren. 

Es handelt sich hier nicht um die Schwierigkeiten, die mit der 
Annahme solcher organischer oder psychischer Atome (im Gegensatze 
zu den materiellen Atomen) verknüpft sind, sondern nur um die 
Bemerkung, dass eine solche Auffassung in der That eine total 
anderartige Weltanschauung ergiebt als die entgegengesetzte An- 
nahme, nach welcher die materiellen Atome gleichzeitig die Träger 
der unorganischen Bewegungsgesetze, der organischen Bildungs- und 
Entwickelungsgesetze und der Gesetze des bewussten Geisteslebens 
sein sollen. Der Unterschied erscheint so gross, dass gegen ihn die 
andere Differenz fast verschwindet, ob die organischen und psychi- 
schen Gesetze als selbstständige, den unorganischen Gesetzen 
coordinirte Besolderungen des Liogischen, oder als secundäre Pro- 
ducte aus speciellen Combinationen und Complicationen der anorga- 
nischen Naturgesetze betrachtet werden. Denn in den beiden letz- 
teren Fällen wären die materiellen Atome des Organismus in gleicher 
Weise die alieinigen Träger aller an ihm sich abspielenden 
organischen und psychischen Processe, und die Organisation wie 
der Individualgeist die reinen Producte aus den Atomfunctionen des 

23» 



356 C. Hegelianismus. 

Körpers; bei d^r ^^rstgenannteD Annabme dagegen ständen Leib 
nnd Seele sich iii. Sinne der rationalen Psychologie der Leibniz'- 
schen Sehnle als gesonderte Träger verschiedener Functionen gegen- 
über. 

Ein ganz anderes Gesicht gewinnt jene Unterseheidnng, wenn 
wir auf den Boden des Monismus hinflbertreten. Hier giebt es über 
haupt nur Einen substantiellen Träger allef\^ooh so ver 
schiedenen Functionen und Gesetze^ das Absolute^ und alle phäno- 
'^" menalen Individuen sind nur Gruppen von Partialftmetionen des 
'*'". jfVbsoluten, die durch die bekannten Einheitsformen zu einheitlichen 
' '^^jectiyen Erscheinungen verknüpft sind. Von diesem Standpunkt 
ist es völlig zweifellos, dass die Gesetze des organiseben Bildens 
und des bewusst-geistigen Lebens denselbei^ Träger haben wie 
die Gesetze der mechanisehen Bewegung der Atome. So lange 
man jeden heimlichen nnd unvermerkten Rückfall in den substan- 
tiellen Pluralismus des naiven Realismus streng vermeidet^ darf man 
%lso eigentlich gar nicht von den Atomen als Trägern gewisser 
Gesetze reden, da hiermit die irrthümliehe Nebenbedeutung ihrer 
Snbstantialität in den Gedankengang eingeschmuggelt werden 
könnte; vielmehr muss man sich gegenwärtig halten, dass die 
Atome ja selbst nur stetige Willensfunctionen des Absoluten sind, 
die dadurch als Atome charakterisirt und von anderen Willens- 
äusserungen unterschieden werden, dass sie bestimmten Gesetzen 
der Anziehung und Abstossung unterworfen sind. Bei einer soleben 
monistischen Weltansicht muss die obige Differenz auf folgende 
Alternative einschrumpfen: Ist die Idee des materiellen Atoms so 
zu fassen, dass sie die organischen und pSTchJAchea Functionen 
höherer Ordnungen von Individuen mit unter sich begreift, oder ist 
die Idee eines organisch-psychischen Individuums auch ein« Idee 
von höherer Ordnung als die des Atoms? Oder mit anderen Wor- 
ten: Ist der Inhalt der absoluten Idee so zu gliedern, dass zunächst 
die Ideen höherer Ordnung als besondere PartMJ^ruppen heraus- 
zuheben, und die Atomideen auf ihren einfachsten Inhalt als unterste 
Voraussetzungen jener zu beschränken sind, oder ist er so zu ord- 
nen, dass die Atomideen allein als Partiateuomente festzuhalten und 
alle höheren Entfaltungsformen der Idee als ExpUeationen des in 
die Atomidee bereits hineingelegten Inhalts an^useke» sind? 



Rehmke's Monismns des unendlicben (Geistes. 357 

Diese Alternatiye könnte auf den ersten^'filii^ so bedeutungs- 
los erscheinen, dass sie mit einem Streit um detKaisers Bart gleich- 
zustellen wäre; denn wenn die absolute Idee doch nur Eine, und 
alle Vielheit nur innere Mannichfaltigkeit innerhalb ihrer Einheit 
ist, so könnte alle Gliederung und Gruppirung ihrer Partialmomente 
für eine völlig gleichgültige Spielerei des subjectiven Denkens ge- 
balten werden, welche die Sache gar nicht berührt. Indess würde 
eine solche Auffassung beinahe ebenso weit bei der Wahrheit vorbei- 
zielen, wie die entgegengesetzte Meinung, als ob diese Frage inner-, 
halb des Monismus noch eine mehr als secundäre Bedeutung b% 
anspruchen könne. Denn so wenig es gleichgültig ist, dass die 
Ideen der Atome A und B sich innerhalb der absoluten Idee streM 
von einander sondern, so wenig seheint es mir gleichgültig, dass 
man die Ideen der einen Organismus constitnirenden Atome von 
der Idee dieses Organismus als solchen sondert. Wie die erstere 
Sonderung es erst möglich maoht^ dass eine objective Erscheinung 
durch das reale Widerspiel individualisirter Kräfte zu Stande kommt, 
so macht die letztere Sonderung es erst möglich, dass eine Unter- 
ordnung vieler Atome unter einen Zweck zu Stande kommt, der 
jedem dieser Atome als solchen fremd ist, da er nur für ein Indi- 
viduum höherer Ordnung Selbstzweck oder Individualzweck ist. 
Wie durch die erstere Sonderung die erst unorganische, so wird durch 
die letztere erst die organische Natur möglieh; denn die erstere 
besteht im Conflict der Individualzweeke der Atome untereinander, 
die letztere im Conflict der Individualzweeke der Atome einerseits 
»nd der Individualzweeke T(m Individuen höherer Ordnung andrer- 
seits. 

Die Idee des Atoms ist durch Wille und Vorstellung in ihrer primi- 
tivsten Aeusserung, als gesetzmässiger Bewegungsenergie und eventu^ 
auch Empfindung, erschöpft. In die Idee des Atoms als solche den 
gesammten Inhalt aller höheren Ide^isphären der Schöpfung hinein- 
pfropfen wollen, ^äre ungefähr so, als wenn man einer mikrosko- 
pischen Monere zumuthen wollte, sie sollte einen ganzen Elephanten 
zum Frühstück verspeisen. Dass die Atomideen auch bei allen 
höheren Ideen als Voraussetzungen mitgedacht sind, ist selbst* 
verständlich, und daraus folgt, dass bei der Realisirung der höheren 
Ideen die vorherige Realisirung der Atomideen Bedingung bleibt. 
Aber man darf ersten» nicht ,^Bedingung'' mit ^zureichende Ursache'^ 



358 ^- H^felianismos. 

verwechseln, und zweitens nicht vergessen, dass die teleologische 
Bedingtheit die nttigekehrte ist wie die cansale'*'). Mag immerhin 
die realisirte niedere Objectivationsstufe der Idee wirkende Ursache 
ftir die Bealisimng der höheren sein, so bleibt doch diese der ideelle 
teleologische Grund für die inhaltliche Bestinmitheit jener, und in 
diesem Sinne kann man wohl sagen, dass die niedere Objectivations- 
stufe der Idee in der höheren mit inbegriffen und von ihr um- 
fasst ist, aber nicht umgekehrt. Vom Standpunkt des idealistischen 
Monismus wäre es also weit richtiger zu sagen, dass die unorgani- 
schen Functionen und Gesetze in den organischen mit inbegriffen 
sind als umgekehrt, wenn durchaus an die selbstverständliche Ein- 
heit des substantiellen Trägers der Functionen und Gesetze im 
Gebiete der objectiven Erscheinung durch eine derartige specielle 
Bedewendung in einer doch inmaerhin inadäquaten Weise erinnert 
werden soll. 

Mir scheint es für das Festhalten des Einheitsgedankens in der 
Vielheit der Erscheinung völlig zu genügen, wenn man (abgesehen 
von der Bückbeziehung auf die substantielle Einheit des Absoluten) 
immer eingedenk bleibt erstens der aus der gemeinsamen logischen 
Quelle stammenden Harmonie der verschiedenen Gesetze der 
verschiedenen Objectivationsstufen und zweitens der causalen 
Bedingtheit jeder realen Stufe durch die niedrigeren. Wer wie 
Schopenhauer behauptet, dass der Leib die unmittelbare Objec- 
tität des Willens sei, d. h. dass die Ätomfunctionen des Organismus 
nur integrirende Momente und Ausflüsse seines Individualwillens 
seien, der verkennt, dass das, was ideell mit inbegriffene Voraus- 
setzung ist, doch reell auch explicite für sich gesetzt werden muss, 
um wirksam zu werden; wer andrerseits behauptet, dass die Func- 
tionen des organisch-geistigen Individuums höherer Ordnung nur 
Producte der Functionen der Atome seines Organismus seien, der 
verkennt die relative Selbstständigkeit der höheren Individualität 



*) Die erste Erinnerung passt nur für die Ansicht, nach welcher unorgani- 
sche und organische Gesetze zwar verschiedenartig und coordinirt sind, aber 
beiderseit ausschliesslich an den Atomen haften als an den Individuen, um nicht 
zu sagen: Trägem, welehe beide Gattungen zugleich zur Ausführung bringen; 
die zweite passt sowohl für diese Ansicht, als auch für die andre, wonach die 
organischen und psychischen Gesetze und Functionen nur complicirte Combina- 
tionsresultate der unorganischen Gesetze und Functionen sind. 



Rehmke*8 Monismus des unendlichen Geistes. 359 

gegen die Atomisdividuen und die Unmögliehli^t, dass sieh das 
Niedere durch blosse Addition zu einem Höheren erhebe ohne 
Hinzutritt eines dasselbe gleichsam potenzirenden Exponenten. Dass 
aber dieses zu den Atomfnnctionen Hinzutretende nicht von Aussen 
hinzukommt (wie Behmke S. 48 meint), sondern unmittelbar aus 
dem Innern der höheren Individualidee selbst ausfliesst und letzten 
Endes gleich den Atomfnnctionen aus der Einheit des Absoluten 
herstammt, das braucht wohl nach dem Vorhergehenden nicht noch- 
mals betont zu werden. Für einen Monisten, wie Rehmke, der die 
Vielheit der Objectiyationsstufen innerhalb der Einen Idee bestreitet, 
entfällt zugleich auch die Möglichkeit, eine Vielheit der Atome zu*- 
zulassen, so dass sein Bemühen, die Entwickelung der Welt auf die 
Atome als ihre alleinigen Träger anzuweisen, schon aus dem näm- 
lichen Grunde scheitern muss, aus welchem er meine Auffassung 
bekämpft. 

Die gerügte Ueberspannung des Monismus verhindert Behmke 
fernerhin, meinen Aufstellungen über die Entstehung des Be- 
wusstseins gerecht zu werden. Während erS. 35 — 36 Bedenken 
gegen meine Bezeichnung des Absoluten als des Individuums 
xaTi^oxtjv geltend macht (obschon dieselben nicht näher substanziirt 
sind), so hält er doch selbst an der Untheilbarkeit oder Individua- 
lität des Absoluten so sehr fest, dass er meint (S. 53), das Unbe- 
wusste könne, wenn es einmal zum Bewusstsein gelange, „doch 
nicht nur an einem Theile bewusst werden.'' Es scheint für 
Rehmke aus diesem Argument hervorzugehen erstens, dass meine 
Ansicht über die Entstehung des Bewusstseins in den Partialindivi- 
duen unrichtig sei, und zweitens, dass ein einheitliches Bewusstsein 
des Absoluten als solchen den beschränkten Individualbewusstseinen 
vorhergehen müsse. Da Rehmke bei seiner Arbeit die Zusätze der 
5. Auflage (speciell S. 395—400 u. 535—561 ; 7. Aufl. Bd. II S. 35 
bis 40 u. 175—201) noch nicht gekannt hat, so beschränke ich 
mich hier auf wenige Bemerkungen. 

Wenn wir das unbewusste Vorstellen mit dem von einem Gen- 
trum (dem absoluten Subject) sphärisch ausstrahlenden Licht ver- 
gleichen, so muss in diesem Gleichniss das Bewusstsein dem Zu- 
sammentreffen der an einer spiegelnden Fläche reflectirten Strahlen 
in einem Brennpunkt (dem Ich) entsprechen. Sollte nun das Absolute 
ein einheitliches absolutes Bewusstsein gewinnen, so müsste man 





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AlM olU heil leislört: tob 
begrcsicBde contiiiUTliche HoUkagd 
SetzcB TOB fatea Sdinaka ear darch Kicszn^ 
iftniklesdcr AetioiieB gesehekn kaia and diuvM mkt a« 
ciaCT Yiellieit locaüisirter EaxekxMCde iM^gbk 
kSmca die eoMehenitm BfCfl]i|Nmkle immer mmr fie 
ildko der Beflexe einzelner Strahleabfiadel seia 
kaaa das AharJate gar aielil aadcia ab aar aa eiacK Tkeil 
(oder aadi aa einer grö w er cn ZaU tob TheOea sagleick ^ 



Wie eine Alomfanction aa der Aetion des Ki 
Bi watiiiiiii konmen kamiy so kann aadi das SbakkaikABiel im 
organisehen and psyefaiseben Faactioiiea sidi aa deaüeaigia Sizik- 
lenbfindel, wdcbes die Atomfanetioaen eines Orgsnii— t aH^aa^ 
reflectiren and mdir oder minder zam BewnsstaeiB geta^pca. St 
fremd wie eine AtomfanGtion der andern bei all» Wi 
isty so fremd allemnndesftens ist nach die Sunmie der 
des Organismus dem anf sie gerichteten ofganisck-ps; 
Strahlaubfindel; ne sind sieh eben dämm fremd, weil jede Fi 
nnbeirrt ihrem dgenen Gesetz folgt, das demjenigen der ^ 
fanction zwar abstraet homogen sein kann, aber doch ooocres i>aa 
ihm Terschieden sein mnss (z. B. in den Atomen A nnd B darck 
Bfickbeziehang der Bew^ongsriehtongen anf die beweglichea Paakie 
A nnd B). In jeder Einzelfimction folgt das Absolute nar seiaem 
eignen logisehen Gesetz; aber dieseslGesetz ist eben zagkidi eine 
innere Nothwendigkeit, nnd deshslt^ToUzieht sich jede €oa> 
oete Fnnetion dnreh ihre eonerete Besonderong des logischen Ge- 
setzes gezwungen. Dieser (selbstverstandlieh nur innere) Zwa^ 
ist esy der dnerseits den Ccmflict selbst zn einem gesetzmaasigea. 
and bd der Bealisimng der ideellen Confitete dorch den Willen die 



Rehmkc^s Monismus des unendlichen Geistes. 361 

Summe der Gonflicte za einer realen Erscheinang, zu einer behar- 
renden und gesetzmässig sich verändernden Welt macht; dieser 
Zwang ist es andrerseits, der die verschiedenen Functionen einander 
empfindlich macht, und so als Innenseite der realen objectiven Er- 
scheinungen die Vielheit der subjectiven Erscheinungen in's Lebea 
ruft. Denn das, was ich ,,Stutzen'' nannte, ist ja nur das Innewerden 
dieses Zwanges als eines fremden, von aussen kommenden. Darum 
ist die Anerkennung des Zwanges, den das innere Gesetz einer 
Function auferlegt, und der ihm durch den Widerstand einer andern 
Function auferlegt wird, keineswegs die Führung „eines Vertilgungs* 
krieges gegen das Unbewusste als Absolutes", wie Eehmke (S. 53) 
meint; diese Ansicht kann nur daraus entspringen, dass jede Viel- 
heit der Function und jede relative Selbstständigkeit der aus con- 
creten Strahlenbündeln resultirenden Individuen perhorrescirt und 
als Zerstörung der Einheit des Absoluten verworfen wird; dieser 
Irrthum findet wieder seine Quelle in dem Eehmke'schen Fundamen- 
tal- Vorurtheil der Identität von Actus und Wesen im AbfiÄuten, 
welches nach der andern Seite auch die Lösung der Frage nach 
der Unendlichkeit des Absoluten in Verwirrung bringt. 

Im Ganzen kann man sagen, dass Rehmke im Irrthum war, 
wenn er seine Prüfung der Metaphysik des ünbewussten auf den 
logischen Zusammenhang meiner Aufstellungen untereinander zu 
beschränken glaubte. Anstatt seinem Programm gemäss als einzigen 
Maassstab die Logik zu benutzen, beruht seine Kritik auf von 
aussen herzugebrachten metaphysischen Grundanschaungen, die ihm 
für zweifellose Wahrheiten, mir für Vorurtheile und aus demselben 
fliessende Irrthümer gelten. Seine Kritik hat den Charakter einer 
Deduction aus allgemeinsten Sätzen und schon diese formale Seite 
seiner Arbeit verhindert ihn öfters, meinen Intentionen gerecht zu 
werden, die sich in inductiver Form bewegen. So z. B. fühlt er 
sich S. 47 gedrungen, seinem „Staunen über die Vermensch- 
lichung des Absoluten, das nicht erkrankt, nicht ermüdet, 
nicht irrt, Ausdruck zu geben." Ohne Zweifel wären diese Prä- 
dicate sehr unangemessen, wenn es an der Stelle, an der ich sie 
brauche (Cap. C. I), si6h überhaupt schon um das Absolute als 
solches handelte. Ich habe es aber in jenem ersten' Capitel der 
„Metaphysik des Ünbewussten" noch nicht mit etwas anderem zu 
thun als mit dem Begriff des Ünbewussten, wie er sich in den 



v 




362 

AimrbnitUni A and B ■traben iisL Dieser Begriff aril eoEüt aümiiir 
IvHli dareb -v^eitere iie^sadre ZäneeiirSaicDii^ oai. nafaene 
fltfamong zu dem iiesnff iet .^-SSnea. dea AbaeifotaaL 
wterden. -•^elehem Zweck eben ^ietae Anfis^kliesBiuLgeii antim- 
popathifi^her itegtimmnngen not öieacn doUen. Die iiMlHrtive £flfi- 
wiekeinn^ iftt zn^^eieh eine (iidaetiBebrjHMljigo^idbB^ bei der Vieäfs. 
seinenttii^fa :m Amaae: nur einen propädeatiaeiien. Süm IiaL Ikir 
Natssen dieser Behau cilnTigsw^ae bsc äcii b«m groHB^i PnhnfcnB 
wobl r>ewährt: aber «üe jjhüoaophiiehen Kritüoer haben, nnr tsu <si 
Ae Con^equenzen dieses indamven V^niurens übeanehen^ wem. äe 
BetfimmnogeD ^'on iinr propadentisciiem W^rdie äbr riHfiniüv4* a- 
sahexi. and die norbwendlir zwischen dai ärähereo. nnd apüem 
Tbeilen der Rntwiekeinn^ '>e8i;ehenden Untasehiede inSpracfagdnaflck 
und Gedankenbestimmamren rcrkanmen 



M. IIILIN«, NAUMUmO. 



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