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Full text of "Ein Beitrag zur Ornamentik : als Einführung zu Ph. Em. Bachs Klavierwerken : mitumfassend auch die Ornamentik Haydns, Mozarts, Beethovens etc."

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Brigham  Young  University 


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NEUE  REVIDIERTEu. VERMEHRTE  AUFLAGE* 

,S3M 


VORWORT. 

In  die  Zeit  zwischen  der  ersten  und  zweiten  Auflage  des  vorliegenden  Büchleins  fällt  der  sehr 
dankenswerte  Neudruck  von  Ph.  Em.  Bachs  „Versuch  über  die  wahre  Art  das  Klavier  zu  spielen".  Leipzig 
(bei  Kahnt  Nachfolger)  1906.  Schade  nur,  daß  der  sonst  verdienstvolle  Herausgeher,  Dr.  Walter  Niemann,  im 
zweiten  Teile  einige  angeblich  „technisch  oder  in  theoretischer  Hinsicht  vom  heutigen  Standpunkte  aus  ver- 
altete oder  für  ihre  Zeit  nichts  neues  sagende  Kapitel"  zu  kürzen  für  gut  fand.  Ich  meine,  wenn  schon  so 
viel  des  Inhaltes  für  würdig  befunden  wurde,  vor  die  gegenwärtige  Generation  wieder  gebracht  zu  werden,  so 
möchte  es  mindestens  nicht  geschadet  haben,  auch  noch  die  wenigen  Seiten  ihr  zu  vermitteln.  Und  nicht  bloß 
etwa  aus  leerer  Pietät  hätte  dies  geschehen  sollen !  Hat  doch  ein  Beethoven  gerade  aus  den  bloß  auszugs- 
weise mitgeteilten  Kapiteln  Anweisungen  und  Belehrungen  sich  geholt  und  zwar  nicht  nur  in  seiner  Jugend- 
zeit, sondern  selbst  um  die  Zeit  der  IX.  Symphonie  und  der  Messe,  was  wohl  als  Beweis  gelten  könnte,  daß 
es  in  der  Hauptsache  nicht  auf  den  „veralteten"  Standpunkt,  sondern  auf  den  Lernenden  selbst  ankommt. 
Ich  denke,  daß  auch  noch  heutzutage  so  mancher  daraus  nützliche  Anregung  zu  schöpfen  vermöchte.  Doch 
würde  ich  selbst,  auch  abgesehen  vom  sachlichen  Inhalt,  schon  um  der  wundersam  treffenden  Sprache  willen, 
diese  Kapitel  dem  Leser  nicht  vorenthalten  haben.  Denn  gerade  Bachs  Art,  ein  schier  unausdrückbarcs,  kaum 
vorstellbares  musikalisches  Problem  in  der  Sprache  zu  fassen  und  zu  bewältigen,  ist  an  sich  allein  eine 
so  hohe,  exceptionelle  künstlerische  Leistung,  daß  sein  Versuch  schon  aus  diesem  Grunde  den  Ehrentitel  einer 
ersten  Monographie  in  unserer  ja  nicht  übermäßig  reichen  Literatur  verdient.  Immerhin  aber  begrüße  ich  dank- 
bar den  Neudruck  und  wünsche,  daß  Bachs  alterprobte  Kraft  auch  an  unserer  Generation  zum  neuen  Segen  werde. 

Und  das  wäre  wahrhaftig  von  Nöten,  schon  um  die  Köpfe  derer  zu  erleuchten,  die  gerade  in  unserer 
Zeit  sich  vermessen,  die  Verdienste  Bachs  (auch  die  Scarlattis  und  Haydns)  herabzusetzen,  nur  um  einige 
bescheidenere  Talente  desto  mehr  ehren  zu  können.  Zwar  ist  hier  nicht  der  Ort,  solche  Ungebühr  ausführlich 
zurückzuweisen  —  an  anderer  Stelle  wird  wohl  die  Abwehr  schon  erfolgen  —  gleichwohl  kann  ich  mir  nicht 
versagen,  hier  mindestens  einige  Worte  zu  dieser  Frage  zu  sagen. 

Wenn  Haydn  und  Mozart  in  des  Wortes  bester  Bedeutung  sich  als  Schüler  von  Em.  Bach  bezeichnet 
haben  —  später  ist  auch  Beethovens,  in  letzter  Zeit  auch  Brahma1  Schwärmerei  für  ihn  bekannt  geworden  — 
dann  sollte  man  denken,  daß  so  autoritative  Äußerungen  der  Meister  als  bindende  zu  betrachten  seien.  Vor 
Allem  wäre  es  Aufgabe  der  Musikhistoriker,  mit  künstlerischen  Organen  der  Frage  nachzugehen,  weshalb 
sich  denn  Haydn  und  Mozart  just  dem  Em.  Bach,  nicht  aber  irgend  einem  Komponisten  der  sogenannten 
Mannheimer  oder  Wiener  Schule,  einem  Stamitz,  Filz  oder  Holzbauer  e  tutti  quanti  zu  so  großem  Dank  ver- 
pflichtet gefühlt  haben.  Was  war  es  denn  eigentlich,  das  die  Klassiker  doch  nur  wohl  von  Bach,  nicht  aber 
auch  von  den  genannten  angeblichen  „Vorläufern"  zu  lernen  Gelegenheit  hatten? 

Kommt  dazu  noch  das  zweite  Moment,  daß  all  die  Stamitz,  Cannabich,  Christian  Bach  u.  s.  w.  mit 
ihrem  leiblichen  Tod  zugleich  auch  den  geistigen  erlitten  haben,  während  Emanuel  Bach  noch  bis  auf  den 
heutigen  Tag  seine  Meisterwürde  bewahrt  hat,  so  hat  man  sich  billig  zu  verwundern, weshalb  denn  nicht  auch 
dieses  Moment  dem  Musikhistoriker  zu  denken  gegeben  hat:  es  muß  doch  bei  nur  wenig  ähnlichem  offenbar 
desto  mehr  Unterschiede  geben  zwischen  einem  Stamitz  und  Em.  Bach,  zwischen  einem  Holzbauer  und 
Scarlatti,  wenn  das  Urteil  so  vieler  Generationen  sich  zu  Gunsten  von  Bach  und  Scarlatti  erklärt  hat. 

Statt  sich  nun  in  aller  Bescheidenheit  solche  künstlerische  Fragen  zu  Gemüte  zu  führen,  beliebt 
man  heutzutage  auf  Kosten  Em.  Bachs  just  die  Stamitze  zu  angeblich  verkannten  und  noch  nicht  genug 
gewürdigten  Haupthelden  der  Kunstentwicklung  zu  machen.  Der  Herr  Musikhistoriker  weiß  eben  alles  besser 
als  die  Meister  selbst! 

Freilich,  sieht  man  eben,  was  der  Musikhistoriker  z.  B.  über  einen  Stamitz  sagt,  so  begreift  man 
wohl,  warum  er  andererseits  über  Em.  Bach  oder  Haydn  so  wenig  auszusagen  versteht  und  dann  Bndet  man 
es  doch  nur  in  der  Ordnung,daß  es  den  „Historiker"  zu  Stamitz,Haydn  aber  zu  Bach  zieht.Wer  für  die  tausend 
und  abertausend  entscheidenderen  Punkte,  die  Stamitz  von  Bach  oder  Haydn  trennen,  kein  Organ  hat,  dem 
freilich  muß  aus  dem  Einerlei  seines  eigenen  unkünstlerischen  Kopfes  heraus  auch  die  künstlerische  Welt 
der  Genies,  der  Talente  und  der  Halbtalente,  als  ebensolches  Einerlei  erscheinen,  —  als  eine  Welt,  in  der 
Dittersdorf,  Graupner  und  Christian  Bach  u.  s.  w.  angeblich  mit  Unrecht  vergessen  worden  sind  und  ein 
Haydn  seine  Symphonien  in  der  Hauptsache  schließlich  nicht  viel  anders  schreibt  als  Stamitz. 

Zum  Glück  ist  die  Macht  der  Kunst  und  des  Genies  sicher  stärker  als  die  des  Herrn  Historikers:  wen 
dieser  exhumiert,  der  braucht  deswegen  noch  immer  nicht  neu  lebendig  zu  werden.  Und  so  werden  auch  die 
armen  „Vorläufer",  die  übrigens  noch  bei  Lebzeiten  für  den  künstlerischen  Blick  reiferer  Zeitgenossen  schon 
tot  gewesen  sein  mögen,  doch  nur  wieder  in  dem  papierenen  Friedhof  der  „Denkmäler  der  Tonkunst  in. . .  .1 
beigesetzt,  und  nun  sind  sie  zum  drittenmal  und  wohl  dreimal  tot!  Mögen  wohl  einzelne  Geschichts- 
professuren durch  die  Stamitze  hindurchgehen,  —  die  wahre  Entwicklung  der  Kunst  wird  doch  nur  durch 
die  Genies  besorgt. 

Wien,  im  Juni  1008.  Heinrich  Schenker.        1 

HAROLD  B.  LEE  LIBRARY 

BRIGHAM  YOUNG  UNIVERSITY 

PROVO,  UTAH 


Lr  y 


Einleitung. 


Allgemeines  über  den  Klavierstil  Ph.  Em.  Bachs. 

Wie  mag  man  es  nur  erklären,  daß  die  Klavierwerke  eines  Ph.  Em.  Bach  heute  so  abseits 
von  jeglichem  Kunstbetriebe,  so  abseits  von  Konzertsaal  und  Schulen  geraten  sind,  und  daß  sie 
der  großen  musikalischen  Welt  so  wenig,  fast  gar  nichts  bedeuten?  Sind  es  dieselben  Werke  denn 
nicht,  die  einst  einen  Haydn,  einen  Mozart,  einen  Beethoven  zur  Bewunderung  und  Nacheiferung 
zwangen?  Haben  sie  allenfalls  noch  jenen  Größten  imponieren  können,  —  was  hindert  sie  denn,  auch 
noch  uns  zu  imponieren,  die  wir  doch  sicher  die  Kleineren  ?  Oder  sind  wir  etwa  fortgeschrittener  in  der 
Beurteilung  eines  Kunstwerkes?  Haben  die  Vorzüge  nur  eben  hinreichen  können,  die  Werke,  in  denen 
sie  enthalten,  einer  jüngeren  Generation  als  Vorbilder  und  Wegweiser  aufzuzwingen;  nach  beendeter 
Mission  aber  haben  die  Werke,  wie  man  wohl  meinen  mag,  absterben  und  jüngeren  Werken  Platz 
machen  müssen? 

Können  Vorzüge  als  solche  erlöschen,  wenn  sie  es  einmal  gewesen?  Kann  ein  Werk  zu  einer 
geistigen  Mumie  werden,  wenn  es  einmal  so  intensiv  schon  gelebt? 

Oder  liegt  es  vielleicht  ainfach  bloß  an  uns?  Etwa  daran,  daß  wir  die  Vorzüge  nicht  mehr 
sehen?  Oder  mindestens  nicht  mehr  so  gut,  wie  die  großen  Meister?  daß  wir  sie  vielleicht  nicht 
suchen  dort,  wo  allein  sie  zu  finden  sind? 

Solche  und  ähnliche  Fragen  drängen  sich  auf,  wenn  man  das  Schicksal  der  Werke  Ph.  Em.  Bachs 
übersieht.  Wie  sie  aber  entscheiden?  Sollen  wir  der  Welt  Recht  geben,  die  sie  ablehnt,  und  es  auch 
weiterhin  bewenden  lassen  bei  dem  Zustande  der  Gleichgiltigkeit,  wie  er  nun  tatsächlich  ist?  Oder 
müssen  wir  den  Werken  Recht  geben  und  uns  nach  Mitteln  umsehen,  die  geeignet  wären,  ihnen 
wieder  den  verdienten  Eingang  in  die  musikalische  Welt  zu  verschaffen? 

Vor  die  Entscheidung  gestellt,  neige  ich  zu  Letzterem.  Es  scheint,  als  läge  es  wirklich  und 
einzig  an  uns  selbst;  also  daran,  daß  wir  die  Vorzüge  nicht  mehr  einzusehen  vermögen.  Wir  wissen 
uns  dieser  nicht  mehr  zu  freuen,  und  lassen  darum  die  Werke  fallen.  Kein  Wunder  indessen,  wenn 
man  bedenkt,  wie  unzugänglich  einer  Durchschnittsempfindung  und  wie  tief  die  Vorzüge  liegen.  Äußern 
sie  sich  doch  hauptsächlich  in  einer  Kunst,  in  einer  Technik,  die  auch  in  den  offiziellen  Lehrbüchern 
der  Komposition,  oder  in  den  Schulen  leider  nur  allzuwenig  beschrieben  oder  besprochen  wird;  ich 
meine,  in  der  Kunst,  mit  der  Bach  seine  Themen  und  Motive  aufeinander  folgen,  d.  i.  in  der  Art,  wann 
wie  und  wo  er  sie  eintreten  läßt,  wie  er  sie  bindet  und  trennt  u.  dgl.,  kurz  in  der  Kuust  der  Gedanken- 
synthese, die  füglich  als  das  letzte  und  wohl  auch  das  tiefste  Geheimnis  der  musikalischen  Komposition 
überhaupt  bezeichnet  werden  darf. 

Die  Genialität  gerade  dieser  Kunst  ist  bei  Bach  eine  so  enorme,  daß  sie  noch  immer  ihre  eigene 
and  anregende  Kraft  behält  auch  neben  der  eines  Haydn,  Mozart  und  Beethoven,  so  gewiß  es  ist,  daß 
diese  jüngeren  Meister  vielfach  über  ihn  hinauszugehen  vermochten.  Es  ist  keineswegs  zu  viel,  wenn 
ich  sage,  man  könne  —  vorausgesetzt,  daß  man  in  erster  Linie  wohl  die  Wunder  seiner  Gedanken- 
synthese im  Auge  behält  —  aus  seinen  Werken  ebenso  viel  Genuß  und  Nutzen  davontragen,  als  aus 
ien  Werken  der  großen  Klassiker.  So,  daß  eine  programmgemäße  und  ständige  Pflege  seiner  Werke 
n  Musikschulen  und  Konservatorien  nur  gerecht  zu  nennen  wäre,  gerecht  nicht  nur  gegenüber  dem  Autor 
selbst,  als  vielleicht  in  weit  höherem  Maße  auch  der  lernenden  Jugend  gegenüber. 

*  * 

U.-E.  812. 


I. 

Ph.  Em.  Bachs  Klaviersatz  ist  als  definitiv  anzusehen. 

Statt  sich  dieser  Genialität  nun  in  Genuß  und  mit  Erkenntnis  hinzugeben,  gefällt  man  sich 
heute  nur  desto  lieber  darin,  den  Werken  gar  Mängel  vorzuwerfen.  Als  solche  gelten  namentlich  der 
Mangel  an  Klangfülle  und  die  überreichen  Manieren. 

Ein  gar  zu  dürftiger  Baß,  so  wenig  Oktaven-  und  Terzengänge,  so  wenig  rauschender  Arpeggien 
und  sonstiger  Füllungen:  —  wie  glaubt  man  da  sicher  im  Rechte  zu  sein,  wenn  man  sagt:  man  könne 
doch  beim  besten  Willen  eine  klanglich  so  dürftig  beschaffene  Erscheinung  gewiß  nicht  mehr  für 
genügend  halten  in  heutiger  Zeit  —  wohlgemerkt:  —  „in  heutiger  Zeit"!  Im  Übrigen  aber  tut  man 
bescheiden  —  freilich,  sehr  bescheiden  —  und  meint:  weit  weniger  Bach  selbst,  als  vielmehr  sein 
Lieblingsinstrument,  das  tonarme  Clavichord,  wäre  Ursache  dieser  Dürftigkeit  geworden  —  ja,  habe  es 
werden  müssen!  Gerne  geht  man,  wohlwollend  entschuldigend,  noch  weiter,  und  behauptet  (wie  schade, 
daß  man  es  nicht  bloß  vermutet!)  Bachs  Klavierwerke  seien  in  der  uns  vorliegenden  Fassung  ja  gar 
nicht  einmal  für  fertig  anzusehen.  Er  habe  vielmehr,  wie  dazumal  eben  üblich  gewesen,  darinnen  noch 
Platz  gelassen,  damit  der  Vortragende  selbst  durch  allerhand  Zutaten  akkordlicher  und  figuraler  Art 
die  definitive  klangliche  Fülle  den  Werken  verleihe.  Diese  Vollendung  ihnen  zu  geben,  sei  daher  auch 
heute  Pflicht  eines  jeden  Spielers. 

Hans  von  Bülow  —  im  Vorwort  seiner  Ausgabe1)  einiger  Sonaten  von  Ph.  Em.  Bach  — 
drückt  diesen  Standpunkt  wie  folgt  aus :  „Nicht  minder  als  von  der  Notwendigkeit  einer  Auslese  wurde 
der  Herausgeber  von  der  einer  ,Bearbeitung'  überzeugt,  welches  Wort  man  nicht  anspruchsvoller  noch 
anspruchsloser  aufzufassen  hat,  als  etwa  in  dem  Sinne  einer  Uebersetzung  aus  der  Ciaviersprache  des  X VHIten 
in  die  des  XlXten  Jahrhundert,  aus  dem  Clavichordischen  in  das  Pianofortische,  wenn  mir  diese  bar- 
barische Wendung  gestattet  werden  kann."  Dem  entsprechend  betrachtet  Bülow  als  des  Herausgebers 
Aufgabe:  „Ausfüllung  der  häufig  gar  zu  mageren  Begleitung  durch  passende  Mittelstimmen,  Verkittung 
mancher  bedenklich  aphoristischen  Pausenlücke,  belebende  Colorirung  einzelner  flüchtig  skizzenhafter 
Umrisse,  endlich  sorgfältig  detaillirte  Vortragsbezeichnung." 

Zur  Erwiderung  möchte  ich  zunächst  Bach  selbst  den  Vortritt  lassen,  damit  er  sich  Recht 
schaffe  in  eigener  Sache.  In  einer  Vorrede  zu  sechs  Sonaten  aus  dem  Jahre  1760  schreibt  er:  „Bei 
Verfertigung  dieser  Sonaten  habe  ich  vornehmlich  an  Anfänger  und  solche  Liebhaber  gedacht,  die  wegen 
gewisser  Jahre  oder  anderer  Verrichtungen  nicht  mehr  Geduld  und  Zeit  Genug  haben,  sich  besonders 
stark  zu  üben.  Ich  habe  Ihnen  bei  der  Leichtigkeit  zugleich  auf  eine  bequeme  Weise  das  Vergnügen 
verschaffen  wollen,  sich  mit  Veränderungen  hören  zu  lassen,  ohne  dass  sie  nöthig  haben,  solche  ent- 
weder selbst  zu  erfinden,  oder  sich  von  anderen  vorschreiben  zu  lassen  und  sie  mit  vieler  Mühe  aus- 
wendig zu  lernen.  Endlich  habe  ich  Alles,  was  zum  guten  Vortrag  gehörte,  ausdrücklich  angedeutet, 
damit  man  diese  Stücke,  allenfalls  auch  bei  einer  nicht  gar  zu  guten  Disposition,  mit  aller  Freiheit 
spielen  könne. 

Ich  freue  mich,  meines  Wissens  der  erste  zu  sein,  der  auf  diese  Art  für  den  Nutzen  und  das 
Vergnügen  seiner  Gönner  und  Freunde  gearbeitet  hat.  Wie  glücklich  bin  ich,  wenn  man  die  besondere 
Lebhaftigkeit  meiner  Dienstbeflissenheit  hieraus  erkennt." 

Daraus  folgt  nun,  daß  Bach  schon  im  Jahre  1760  es  vorgezogen  hat,  lieber  selbst  die  nötigen 
Veränderungen,  wie  sonst  auch  das  Übrige  (Manieren,  dynamische  Zeichen  etc.)  ausdrücklich  zu  schreiben, 
als  es  dem  Spieler  zu  überlassen.  Nichts  natürlicher  indessen  als  dieses,  wenn  man  erwägt,  wie  ver- 
schieden von  der  Auffassung  eines  gewöhnlichen  Liebhabers  der  Musik  hierin  diejenige  von  Bach  gewesen 
ist.  Schrieb  er  doch  in  dem  berühmt  gewordenen  „Versuch  über  die  wahre  Art  das  Klavier  zu  spielen" 
schon  im  Jahre  1753:  „Heute  zu  Tage  pflegt  man  die  Allegros  mit  zwei  Reprisen  das  andere  mahl 
wohl  zu  verändern.  So  löblich  diese  Erfindung  ist,  so  sehr  wird  sie  gemissbrauchet.  Meine  Gedancken 
hiervon  sind  diese:  Man  muss  nicht  alles  verändern,  weil  es  sonst  ein  neu  Stück  sein  würde.  Viele, 
besonders  die  affectuösen  und  sprechenden  Stellen  eines  Stückes  lassen  sich  nicht  wohl  verändern.  Hierher 


l)  Sechs  Sonaten  für  Klavier  allein  von  C.  Ph.  Em.  Bach  bearbeitet  und  mit  einem  Vorwort  herausgegeben  von 
Hans  von  Bülow.  Leipzig,  Peters  (1862). 

U.-E.  812. 


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gehöret  auch  diejenige  Schreib-Art  in  galanten  Stücken,  welche  so  beschaffen  ist,  dass  man  sie  wegen 
gewisser  neuen  Ausdrücke  und  Wendungen  selten  das  erste  mahl  vollkommen  einsieht.  Alle  Verände- 
rungen müssen  dem  Affect  des  Stückes  gemäss  seyn"  u.  s.  w. 

Als  weitere  Belege  unter  vielen  anderen  führe  ich  an     (IL  Hauptstück,  1.  Abteilung,  §  3): 

„Deswegen  haben  diejenigen  allezeit  sicherer  gehandelt,  welche  ihren  Stücken  die  ihnen  zu- 
kommenden Manieren  deutlich  beygefügt  haben,  als  wenn  sie  ihre  Sachen  der  Discretion  ungeschickter 
Ausüber  hätten  überlassen  sollen".  War  er  doch,  wie  wir  daselbst  §  5  erfahren,  sogar  auch  der 
Meinung,  „daß  man  lernen  müsse,  die  guten  Manieren  von  den  schlechten  zu  unterscheiden,  die  guten 
recht  vorzutragen  und  sie  an  ihrem  bestimmten  Orte  in  gehöriger  Anzahl  anzubringen".  Ja,  er  hielt 
die  gute  Komposition  und  Ausführung  der  Manieren  für  so  schwierig,  daß  er  eine  gründliche  Kenntnis 
der  Harmonie  hiezu  für  nötig  erachtete,  indem  er  ausdrücklich  (§  13)  schreibt:  „Wir  haben  aus  der 
Erfahrung,  daß  derjenige,  welcher  nichts  Gründliches  von  der  Harmonie  versteht,  allezeit  bey  Anbringung 
der  Manieren,  im  finsteren  tappet,  und  den  guten  Ablauf  niemals  seiner  Einsicht,  sondern  dem  .blossen 
Glücke  zuzuschreiben  hat" 

Hat  ihn  nun  schon  damals,  im  Jahre  1753,  die  Angst  vor  der  Ungeschicklichkeit  und  der 
künstlerischen  Unreife  des  Dilettanten  somit  zunächst  zu  einem  schriftlichen  Protest  und  dann  im  Jahre  1760 
dazu  betrieben,  daß  er  Alles  zum  Stück  Gehörige  aufs  genaueste  fixierte,  —  wie  soll  man  da  glauben, 
daß  er  in  der  Folge  diesen  seinen  Standpunkt  aus  den  Jahren  1753  und  1760  habe  fallen  lassen, 
gerade  seine  Hauptwerke  der  Gefähr  unzulänglicher  Vortragsweise  ausliefernd? 

Indessen  gibt  es,  darüber  mit  mehrerer  Sicherheit  zu  entscheiden,  ja  auch  noch  andere,  deut- 
lichere Anhaltspunkte,  und  zwar  in  den  Werken  selbst.  Vor  allem  ist  die  Stimmführung  des  Satzes 
überall  eine  so  glückliche,  daß  sie  über  die  aus  ihr  resultierende  Harmonie  nicht  nur  keinerlei  Zweifel 
aufkommen  läßt,  —  auch  nicht  einmal  dort,  wo  der  Satz  nur  etwa  zweistimmig  verläuft,  —  sondern 
auch  eine  durchaus  genügende  Fülle  der  Harmonie  schafft.  Und  ^vas  den  Rest  anbelangt,  so  überlege 
man  doch  nur  einmal:  Manieren  sind  zu  finden,  —  allerhand  und  soviel  davon,  daß  es  gewiß 
Niemandem  beifallen  könnte,  zu  glauben,  noch  mehrere  wären  anzubringen  nötig;  dynamische 
Zeichen  finden  sich  ebenfalls  vor  —  und  zwar  wieder  so  sorgfältig  notiert,  daß  deren  mehr  oder 
bessere  zu  wünschen  man  auch  nicht  einmal  vom  heutigeu  Standpunkte  wirklich  Ursache  hat;  auch 
„Veränderungen"  sind  vorhanden,  —  freilich  in  den  Grenzen,  die  er  selbst  .sich  zu  stecken  für  gut 
fand;  Akkorde  sind  nicht  minder  da,  —  oft  genug  mehrstimmig  ^nnd  Brechungen  spielen  eben- 
falls eine  bedeutsame  Rolle.  Nun  frage  man  sich:  Sollte  er,  der  dieses  Alles  —  also  das  Meiste  des 
Vortrages!  —  selbst  ausdrücklich  andeutet  und  ausführt,  dem  Dilettanten  just  die  wenigen  anderen 
Veränderungen  noch,  die  wenigen  übrigen  Vollgriffigkeiten  überlassen  haben?  Sollte  er  an  einer  Stelle 
den  Akkord  z.  B.  selbst  mehrstimmig  geschrieben,  bald  darauf  dagegen,  an  einer  benachbarten  Stelle, 
es  zur  Abwechslung  wieder  dem  Spieler  überlassen  haben,  ob  und  wie  er  mehrstimmig  zu  begleiten 
habe?  Eine  derartige  Halbheit  —  die  überdies  auch  für  den  Komponisten  fast  unüberwindliche  technische 
Schwierigkeiten  bereitet  —  werden  wir  doch  dem  Meister  kaum  zutrauen  wollen. 

Somit  wären  authentische  wie  stilistische  Gründe  gegeben,  Bachs  Kompositionen  für  klang- 
lieh definitiv  anzusehen,  womit  die  angeblich  historisch  begründete  Ansicht  Bülows  beseitigt 
erscheint.  Indessen  gibt  es  noch  viele  —  allzuviele,  die  sich  um  die  Frage,  ob  mau  diese  Werke  als 
vom  Autor  bloß  skizziert  oder  als  vollständig  ausgearbeitet  zu  betrachten  habe,  gar  nicht  kümmern; 
ihnen  ist  dieses  historische  Problem  —  Hecuba,  sie  beurteilen  nur,  was  sie  hören  und  meinen,  die 
Werke  klängen  nun  einmal  dürftig.  Dieser  Standpunkt  ist  nun  gewiß  ein  vollständig  anderer,  als  der 
Bülows:  er  heuchelt  nicht  Historie,  bezieht  nicht  Ausreden  von  armseligen  Klavichord,  argumentiert 
nicht  gelehrt  mit  alten  Sitten  —  kurz,  in  seiner  künstlerischen  Anspruchslosigkeit  hört  er  fast  auf, 
noch  ein  künstlerischer  zu  sein.  Dann  ist  darüber  eben  als  über  eine  Frage  des  bloßen  Geschmackes 
im  Grunde  kein  Wort  mehr  zu  verlieren  notwendig. 

Da  kann  man  höchstens  nur  raten,  es  vielleicht  mit  einem  anderen  Vortrage  der  Stücke  zu 
versuchen :  das  Tempo  zu  verlangsamen,  das  non  legato  prinzipiell  dem  legato  vorzuziehen,  die  Manieren 
genauestens  im  Sinne  des  Autors  auszuführen,  —  lauter  Mittel,  die  sicher  den  Vortrag  glänzender  und 
kräftiger  machen  werden.  Dieser  Punkt  wird  übrigens  noch  weiter  unten  etwas  ausführlicher  be- 
handelt werden. 

U.-E.  812. 


; 


6 


Oder  aber  man  würde  sagen  dürfen:  Was  kann  gegenüber  dem  Vorzug  einer  so  genialen 
Inhal tskunst  der  Mangel  einer  Klangfülle  noch  ernstlich  bedeuten,  wollte  man  selbst  zugeben,  eine 
Dürftigkeit  des  Klanges  sei  wirklich  vorhanden?  Wie  darf  man  bei  soviel  Genialität  ein  paar  Tönchen, 
ein  paar  griffigere  Akkorde  vermissen,  die  bestenfalls  nur  die  Hand  —  im  mechanischesten  Sinne  des 
Wortes  verstanden  —  füllen?  Ist  etwa,  wenn  die  Hand  mit  Akkorden  und  Figurationen  besser  gefüllt, 
darum  allein  auch  schon  der  Inhalt  ein  besserer?  Was  gewinnt  denn  dabei  der  Gedanke  und  was  gar 
erst  die  Folge  der  Gedanken,  auf  die  allein  es  doch  wohl  ankommt,  wenn  das  Stück  einen  bleibenden 
Wert  haben  soll?  Man  greife  nur  ein  bescheidenes  Beispiel  meiner  Sammlung  heraus:  die  Sonate  Nr.  3. 
Was  will  man  hier  an  Klang,  an  Ausfüllungen  und  Akkorden  vermissen,  angesichts  so  vieler  genialer 
Tatsachen,  die  das  Stück  aufweist?  Man  beachte  z.B.  das  originelle  Verhältnis,  in  dem  die  Taktgruppen 
1  bis  4  und  5  bis  8  zueinander  stehen;  die  Harmonienfolge  in  den  Takten  1  bis  3  —  bewundernswert 
sowohl  in  Bezug  auf  den  Dienst,  den  sie  der  ersten  Gruppe  im  besonderen  und  dem  Ganzen  im  all- 
gemeinen leistet;  ferner  die  eigentümliche  Wirkung  der  beim  zweiten  4tel  des  Taktes  6  aufeinander 
klingenden  es  und  e;  das  Verhältnis  der  Taktgruppen  11  bis  12  und  13  bis  14  zur  Gruppe  9  bis  10; 
auch  die  improvisatorische  Art  des  Schlusses  u.  s.  w.  Und  nun  frage  ich:  verliert,  zumal  bei  so  ver- 
blüffender Bündigkeit,  —  bei  der  sich  übrigens  ja  auch  der  Satz  in  Stufe  und  Harmonie  gleichsam 
selbst  vorträgt,  —  die  Genialität  einer  solchen  inneren  Haltung  wirklich  dadurch,  daß  die  wenigen  Baßtöne 
nicht  griffiger  daherkommen  oder  ein  paar  Füllungen  zu  fehlen  scheinen,  die  anzubringen  noch  allenfalls 
Platz  wäre  ?  Muß  es  denn  griffiger  sein  —  Mozart,  Beethoven  oder  Liszt  zuliebe  ?  Muß  es  denn  gefüllt 
werden  —  einfach  bloß,  weil  noch  Platz  ist?  Verliert  denn,  wenn  dies  nicht  geschieht,  das  Original  dann 
darüber  wirklich  soviel,  daß  man  sich  lieber  zu  entschließen  habe  das  Stück  gar  nicht  zu  spielen,  nur 
um  sich  den  Verdruß  einer  solchen  klanglichen  Dürftigkeit  zu  ersparen  ?  Nichts  einfacher  doch,  um  sich 
darüber  ein  Urteil  zu  bilden,  als  nun  mit  dem  Originale  selbst  die  Bearbeitung  Bülows  zu  vergleichen: 
haben  seine  Zutaten  und  Ketouchen  die  Gedankenfolge  des  Stückes  denn  wirklich  verbessert?  Wie  gering- 
fügig, wie  geradezu  kleinlich  erscheinen  doch  meistenteils  diese  nachbessernden  Füllungen,  gemessen 
an    der  Größe  des  Inhalts! 

Zu    erwarten    etwa,  —  dieses   sei    nun    aber    zum  Beschluß    gesagt  —  daß   Bach   als    erster 

Begründer  des  neuen  Stils  auch  in  Bezug  auf  das  Klangwesen  sofort  so  schreibe,    wie   später  nach  ihm 

—  eben    dem  Naturgesetze    der  Entwicklung    zufolge  —  ein  Mozart    oder  ein  Beethoven,  ist  das  nicht 

mindestens    unlogisch?     In  Konsequenz   dessen    müßte    man    dann  nicht  ebenso  auch  z.  B.  den  Werken 

Mozarts    nachhelfen,    sie    griffiger    und    reicher   gestalten,    nur    um    sie    auf   den  Standpunkt  der  noch 

späteren    Beethovenschen    Schreibart    zu    bringen?!    u.  s.  w.     Man    sieht    wohl,    der    Irrtum    liegt    auf 

der  Hand. 

*  * 

♦ 

IL 
Der  wahre  künstlerische  Grund  von  Bachs  Manieren  und  die  Ökonomie  in 

ihrer  Anzahl. 

Überladung  mit  Manieren  ist  der  andere  Vorwurf,  den  man  gegen  Bachs  Werke  erhebt:  sie 
könnten  daher,  meint  man,  in  einer  Zeit  wie  die  heutige,  die  das  Musikdrama  genießt,  ja  gar  nicht 
mehr  wirken;  hier  tiefste  Empfindung  und  letzte. Wahrheit  des  Ausdruckes  in  Wort  und  Musik,  dort 
Schnörkel,  rein  instrumentale  Effekte,  ohne  Wahrheit  und  Empfindung;  höchstens  nur,  daß  man  solche 
Schnörkel  aus  der  Tonarmut  der  damaligen  Klavichorde  begreifen  und  zugleich  auch  damit  entschul- 
digen möchte.  Also,  wieder  ein  historischer  Standpunkt  und  wieder  verquickt  mit  Wohlwollen  und 
Bedauern  u.  s.  w.    Sehen  wir  nun,  welche  Bewandtnis  es  damit  hat. 

In  der  Tat  ist  der  Standpunkt,  das  gesamte  System  der  Manieren  lediglich  mit  der  Tonarmut 
des  Instrumentes  in  ursächlichen  Zusammenhang  zu  bringen,  seit  jeher  der  beliebteste  und  verbreitetste, 
wozu  nicht  unwesentlich  eine  scheinbar  authentische  Veranlassung  mitgeholfen  haben  mochte,  nämlich 
daß  unsere  Vorfahren  selbst  so  gedacht  und  ihre  dahingehende  Meinung  auch  schriftlich  uns  überliefert 
haben.  Sie,  die  die  Manieren  ersannen  und  pflegten,  würden  doch  am  besten  gewußt  haben,  warum  sie 
es  taten,  beliebt  man  zu  denken  und  setzt  dann  nur  umso  lieber  mit  der  ihrigen  Anschauung  die 
eigene  in  Übereinstimmung. 

ü.-E.  812. 


Es  schreibt  daher  Dr.  Baumgart  im  Vorwort  seiner  Ausgabe  S.  5:1)  „Sie  (die  Manieren) 
wurden  für  unerlässlich  gehalten,  um  bei  der  Klangarmut  der  Instrumente  die  Töne  inniger  zu 
verbinden,  lang  gehaltene  Noten  nicht  zu  trocken  erscheinen  zu  lassen,  dem  Vortrage  Zierlichkeit, 
Glanz  und  Leben  zu  verleihen.  Die  meisten  sind  auch  heute  noch  im  Gebrauche,  nur  die  Zeichen 
nicht  ...  So  viel  wird  man  erkennen  müssen,  daß  die  Manieren  zu  dem  eigentümlichen  Charakter 
der  älteren  Musik  gehören  und  bei  der  Reproduktion  nicht  wegfallen  können." 

Interessanter,  jedoch  noch  immer  unzweifelhaft  unter  dem  Drucke  der  allgemeinen  Meinung 
schreibt  Bülow  in  seinem  Vorwort:  „Betreffs  eines  dritten  Punktes  befand  ich  mich  längere  Zeit  im 
Schwanken:  ich  meine  das  Kapitel  der  Verzierungen,  der  .Manieren',  wie  der  technische  Ausdruck  der 
Zeit  lautet.  Gestützt  auf  die  zudem  offen  von  den  Klavierkomponisten  des  vorigen  Jahrhunderts  ein- 
gestandene Tatsache,  daß  das  Un  vermögen.gesanglicher  Festhaltung  und  Verbindung  auszu- 
haltender Töne  bei  den  damaligen  Klavichorden  die  Notwendigkeit  der  Überhandnähme  jener  ,Manieren4 
hervorgerufen,  war  das  bei  einer  ersten  Kenntnisnahme  sehr  natürliche  Vorurteil  des  Widerwillens  gegen 
das  Schnörkelwesen  anfangs  auch  das  meinige  und  ich  glaubte  durch  eine  fast  schlechthinnige  Aus- 
merzung der  mitunter  ziemlich  unangenehmen  ,agremens'  die  Schwierigkeit  zu  einer  bequemen  und 
populären  Erledigung  zu  bringen.  Nach  vertraulicherem  Einleben  in  diesen  Verziernngsstil  jedoch  über- 
zeugte ich  mich,  daß  eine  solche  Radikalmethode  sehr  wesentliche  und  selbst  reizvolle  charakteristische 
Momente  zerstören  würde  und  nur  an  solchen  Stellen  eintreten  dürfe,  wo  Überladung  mit  ,Manieren* 
eine  nach  heutigen  Begriffen  handgreifliche  Geschmacklosigkeit  ergäbe.  Ich  habe  mich  daher  entschlossen, 
die  meisten  jener  ,Manieren'  beizubehalten  u.  s.  w."  \2 

Bachs  Standpunkt   in    dieser  Frage   ist   aber    folgender :    Die  Manieren   gehören   zum  Klavier, 

I  nicht  weil  dessen  Ton  etwa  zu  kurz,  zu  dürftig,  sondern  nur,  weil  das  Klavier  eben  ein  Klavier,  nicht 
etwa  eine  Singstimme  oder  Orgel.  Es  fordert  das  Instrument  als  solches,  respektive 
dessen  Beweglichkeit  eine  gewisse  Brillanz  des  Inhaltes  von  Haus  aus,  die  sich  nun  in 
allerhand  Figuren,  Passagen,  Manieren  zu  äußern  hat,  Tnirz  in  all  dem,  was  man  füglich  im  weiteren 
Sinne  Ornamentik  nennen  darf. 

Wiederholt  versucht  denn  auch  Bach,  den  Klavierspielern  die  Ausrede  des  angeblich  zu  kurzen 
Tones  aus  der  Hand  zu  winden,  um  unter  mehr  oder  minder  heftigen  Vorwürfen  nur  destomehr  sie 
umgekehrt  auf  ihre  eigene  geistige  und  technische  Unzulänglichkeit  in  der  künstlerischen  Behandlung 
des  Klaviers  aufmerksam  zu  machen,  die  sie  eben  zu  jener  Ausrede  zwingt.  So  schreibt  er  gleich  im 
§  2  der  Einleitung  des  zitierten  Werkes:;  „Indem  alle  andern  Instrumente  haben  singen  gelernet;  so  Lf 
ist  bloß  das  Ciavier  hierinnen  zurück  geblieben,  und  hat,  an  statt  weniger  unterhaltenen  Noten,  mit 
vielen  bunten  Figuren  sich  abgeben  müssen,  dergestalt,  daß  man  schon  angefangen  hat  zu  glauben, 
es  würde  einem  angst,  wenn  man  etwas  langsames  oder  sangbares  aut  dem  Ciavier  spielen 
soll;  man  könne  weder  einen  Ton  an  der  andern  ziehen,  noch  einen  Ton  von  dem  andern  durch 
einen  Stoß  absondern;  man  müsse  dieses  Instrument  bloß  als  ein  nöthiges  Übel  zur  Begleitung 
dulden.  So  ungegründet  und  widersprechend  diese  Beschuldigungen  sind,  so  gewisse  Zeichen  sind  sie 
doch  der  schlechten  Art,  das  Ciavier  zu  spielen."  pergleiche  auch  z.  B.  IL,  5.  §  8,  wo  er,  aus 
Anlaß  einer  Länge  der  Note,  bei  der  selbst  „ein  langer  Mordent  zum  Ausfüllen  nicht  hinreichen  wollte", 
davor  warnt,  sie  allezeit  nur  dadurch  zu  verkürzen,  „indem  man  sie  noch  einmahl  anschlägt" „Diese 

■Freyheit  muß    man    nicht  anders    als    aus  Noth  und  Vorsicht    brauchen.     Man  muß  den  Absichten  des 

■Verfassers  eines  Stückes  dadurch  nicht  Tort  thun.  Mau  wird  diesem  Fehler  dadurch  leicht  entgehen 
können,    wenn    man    durch    den    gehörigen  Druck  und  durch  die  Unterhaltung  einer  Note  gewahr  wird, 

Idaß  unser  Instrument  den  Ton  länger  aushält,  als  viele  glauben  mögen."  Ähnlich  spricht  er  sich  IL, 
3.  §  20  aus:  „Die  meisten  Fehler  kommen  bey  langsamen  und  gezogenen  Noten  vor.  Man  will  sie  der 
Vergessenheit  durch  Triller  entreissen.  Das  verwöhnte  Ohr  will  beständig  in  einer  gleichen  Empfindung 
erhalten  seyn.  Es  empfindet  nicht  anders  als  durch  ein  Geräusche.  Man  siehet  hieraus,  daß  diejenigen, 
ivelche  diesen  Fehler  begehen,  weder  singend  denken  können,  noch  jeder  Note  ihren  Druck  und  ihre 
Jnterhaltung  zu  geben  wissen  .  .  .  Gesetzt,  die  Zeit-Maaß  wäre  zu  langsam  und  das  Instrument  zum 
gehörigen  Nachsingen  zu  schlecht,    so  ist  es  doch  allezeit  schlimmer,    einen  Gedanken,   der  gezogen  und 


l)  C.  Ph.  Em.  Bach's  Klaviersouaten,  Eondos  und  freie  Phantasien  ftti  Kenner  und  Liebhaber.  Neue  Ausgabe  von 
!.  F.  Baumgart.  Vollständig  in  sechs  Sammlungen.  Erste  Sammlung.   Breslau,  Leuckart  1868. 

TJ.-E.  812. 


8 

matt  vorgetragen  werden  soll,  durch  Triller  zu  verstellen,  als  etwas  weniges  an  dem  deutlichen  Nach- 
klänge einer  Note  zu  verliehren,  welches  man  durch  den  guten  Vortrag  wieder  reichlich  gewinut.  Es 
kommen  überhaupt  bei  der  Musik  viele  Dinge  vor,    welche  man  sich  einbilden  muß,    ohne  daß  man  sie 

würklich    höret Verständige    Zuhörer    ersetzen    diesen  Verlust    durch    ihre   Vorstellungs-Kraft. 

Diese  Zuhörer  sind  es,  denen  wir  hauptsächlich  zu  gefallen  suchen  müssen." 

Überdies  sagt  er  in  IL,  1.  §  7  von  den  Manieren  ausdrücklich,  daß  sie  „mehrentheils  schon 
von  langen  Zeiten  her  gleichsam  zum  Wesen  des  Clavier-Spieles  gehört  haben  und  ohne  Zweifel 
allezeit  Mode  bleiben  werden,"  und  daselbst  in  §  8  fährt  er  fort:  „Diesem  ohngeachtet  stehet  es 
jedem,  wer  die  Geschicklichkeit  besitzet,  frey,  ausser  unsern  Manieren  weitläufigere  einzumischen. 
Nur   brauche    man    hierbey    die   Vorsicht,    dass   dieses    selten,    an    dem    rechten    Orte    und   ohne    dem 

Affecte   des  Stückes   Gewalt   zuthun,    geschehe Wer   hierinnen   das   nöthige  in  Obacht  nimmt, 

den  kan  man  für  vollkommen  passiren  lassen,  weil  er  mit  der  singenden  Art,  sein  Instrument  zu 
spielen,  das  ueberraschende  und  feurige,  welches  die  Instrumente  vor  der  Singe-Stimme  voraus  haben, 
auf  eine  geschickte  Art  verknüpfet  und  folglich  die  Aufmerksamkeit  seiner  Zuhörer  durch  eine  beständige 
Veränderung  vorzüglich  aufzumuntern  und  zu  unterhalten  weiss.  In  diesem  Puncto  behalte  man  ohne 
Bedenken  den  Unterschied  zwischen  der  Singe-Stimme  und  dem  Instrumente  bey.  Wer  nur  sonst 
die  nöthige  Behutsamkeit  wegen  dieser  Manieren  anwendet,  der  sey  übrigens  unbekümmert,  ob  das,  was 
er  spielet,  eben  gesungen  werden  könne  oder  nicht."  Man  sieht,  wie  er  zwischen  der  Singstimme  und 
dem  Instrumente  durchaus  zu  unterscheiden  bittet  und  wie  er  besonders  auf  das  Überraschende  und 
Feurige  des  Klaviers  Nachdruck  legt ! 

Als  Konsequenz  der  Bachschen  Auffassung  ergibt  sich  aber,  daß  alle  Ornamentik  nunmehr  als 
melodisches  Element  im  besten  Sinne  des  Wortes  zu  gelten  habe.  Sie  sind  alle,  so  die  „weitläufigeren" 
und  unbenannten,  wie  die  kürzeren  „wesentlichen"  und  benannten  Manieren  (z.  B.  Doppelschlag,  Triller, 
Schleifer,  u.s.w.),  wirkliche  Melodie  und  wirkliche  Schönheit.  Sie  haben,  wie  alle  Melodie,  Seele  und  Ausdruck. 
Daher  ihnen  auch  eine  Wahrheit  zugestanden  werden  muß,  eine  künstlerische  Wahrheit,  die  über  aller 
Zeit  steht  und  noch  in  der  spätesten  Zukunft  noch  wirken  wird  (vergl.  oben  das  Zitat  II.,  1,  §  7), 
sofern  man  sich  nur  hütet,  die  Manieren  zu  einem  rein  mechanischen  Fingerfertigkeitsbestandteil 
des  Inhaltes  zu  degradieren.  Mit  beredtesten,  nur  freilich  der  Subtilität  des  Inhaltes  halber  leider 
nicht  immer  so  ohneweiters  leicht  zu  verstehenden  Worten  drückt  Bach  diese  Anschauung  im  §  1  der 
ersten  Abteilung  des  zweiten  Hauptstückes  so  aus: 

„Es  hat  wohl  niemand  an  der  Notwendigkeit  der  Manieren  gezweifelt.  Man  kann  es  daher 
mercken,  weil  man  sie  überall  in  reichlicher  Menge  antrifft.  Indessen  sind  sie  allerdings  unentbehrlich, 
wenn  man  ihren  Nutzen  betrachtet.  Sie  hängen  die  Noten  zusammen;  sie  beleben  sie;  sie  geben  ihnen, 
wenn  es  nöthig  ist,  einen  besondern  Nachdruck  und  Gewicht;  sie  machen  sie  gefällig,  und  erwecken 
folglich  eine  besondere  Aufmercksamkeit ;  sie  helfen  ihren  Inhalt  erklären;  es  mag  dieser  traurig  oder 
frölich  oder  sonst  beschaffen  seyn  wie  er  will,  so  tragen  sie  allezeit  das  ihrige  dazu  bey;  sie  geben  einen 
ansehnlichen  Theil  der  Gelegenheit  und  Materie  zum  wahren  Vortrage ;  einer  mäßigen  Composition  kan  || 
durch  sie  aufgeholfen  werden,  da  hingegen  der  beste  Gesang  ohne  sie  leer  und  einfältig,  und  der 
kleinste  Inhalt  davon  allezeit  undeutlich  erscheinen  muß."  Daselbst  §  20:  „indem  der  Endzweck  aller 
Manieren  hauptsächlich  dahin  gerichtet  seyn  muß,  die  Noten  zusammen  zu  hängen"  und  schließlich 
§  24;  „Vermöge  dieser  Regel  werden  also  statt  der  folgenden  Haupt-Note  diese  kleinen  Nötgen  zum 
Basse  oder  andern  Stimmen  zugleich  angeschlagen.  Man  schleift  durch  sie  in  die  folgende  Note  hinein; 
hierwider  wird  gar  sehr  oft  gefehlet,  indem  man  auf  eine  rauhe  Art  in  die  Haupt-Note  hinein  plumpt, 
nachdem  noch  wohl  gar  darzu  die  mit  den  kleinen  Noten  vergesellschaftete  Manieren  ungeschickt  an- 
und  heraus  gebracht  worden  sind."  Und  in  der  Tat  bemüht  er  sich  auch,  wie  wir  sehen  werden,  später  im 
Verlauf  der  speziellen  Darstellung  der  Manieren  jede  einzelne  nun  wirklich  auf  ihren  eigenen  Ausdruck 
zu  prüfen  und  zu  erläutern. 

Wie  sehr  Bach  damit  recht  hat  gegenüber  der  allgemeinen,  oberflächlichen  Auffassung  der 
Manieren,  kann  übrigens  auch  noch  anders  bewiesen  werden.  Man  denke  z.  B.  an  den  Klavierstil 
Schumanns  oder  Chopins  und  vergegenwärtige  sich  die  reiche  Brillanz  und  Ornamentik,  besonders  de* 
Letzteren.  Und  nun,  worauf  wollte  man  diese  Brillanz  beziehen,  weiß  man,  daß  Chopin  vor  einem 
Pianoforte   saß,   dessen  Ton  doch  gewiß  ein  kräftigerer  als  der  des  Clavichords,  --  worauf  denn  anders 

U.-E.  812. 


als    auf   das    eigentümliche  Bedürfnis  des  Instrumentes  selbst?    Ist  es  Dicht  so,  daß  man  förmlich  von 
einem  Egoismus,  ja  von  einer  Animalität  des  Klaviers  zu  sprechen  das  Kecht  hätte? 
Oder  man  betrachte  z.  B.  die  folgenden  kleinen  Ornamente: 


Chopin,  Nocturne,  Op.37.  N?  1. 
.         a)  b)       

feg    ß        _r-fl  ß    m    -    II    ß       J^Jd^ 


;.JJ'LLflf 


0 


lf  "'^"Efl 


Wer  könnte  ernstlich  behaupten,  die  Figur  c,  die  im  Grunde  ja  nur  eine  Steigerung  der  Figur  b 
ist,  die  ihrerseits  wieder  bloß  eine  Steigerung  des  gewöhnlichen  Doppelschlages  zwischen  zwei  Noten 
darstellt,  sei  so  und  nicht  anders  bloß  wegen  der  leidigen  Tonarmut  des  Pianoforte  komponiert?  Hält 
etwa  der  Klang  des  letzteren  nicht  ein  I  lang  an?  Und  ist  es  daher  nicht  weitaus  künstlerischer, 
Figuren,  wie  b  und  c,  für  melodisch  erregtere  und  bewegtere  Steigeningen,  für  Melodie  kurzweg  zu 
halten  und  sie  auch  in  diesem  Sinne  zu  spielen? 

Oder  man  vergleiche  einmal  die  Orgelwerke  Johann  Sebastian  Bachs  mit  dessen  Klavierwerken. 
Wie  sind  doch  die  letzteren  verzierter  und  beweglicher  als  die  ersteren!  Woher  das  kommt?  Einfach 
daher,  weil  das  minder  bewegliche  Instrument  der  Orgel  eben  nur  weniger  Figuren  und  Ornamente 
gestattet,  wogegen  das  beweglichere  Klavier  deren  mehr  fordert.  Darum  gibt  Bach  der  Orgel,  was  der 
Orgel,  dem  Klaviere  aber,  was  des  Klavieres  ist,  und  sehr  wohl  kann  man  daher  bei  ihm  einen  Orgel- 
stil von  einem  Klavierstil  unterscheiden,  —  immer  unbeschadet  dessen,  daß  die  beiden  Stile  freilich 
innerhalb  des  allgemeinen  polyphonen  Stiles  liegen. 

Oder  endlich  lese  man  nach,  was  Ph.  Em.  Bach  im  dritten  Hauptstück,  §  18,  schreibt:  „Wenn 
Schleiffungen  über  gebrochene  Harmonien  vorkommen,  so  kan  man  zugleich  mit  der  ganzen  Harmonie 
liegen  bleiben,  z.  B.: 


In  dem  Probe-Stück  aus  dem  2?-dur  kommt  dieser  Fall  oft  vor,  man  erhält  hierdurch  außer  der 
besonders  guten  Würckung  eine  leichtere  und  besser  zu  übersehende  Schreib-Art.  In  dem  Probe-Stück 
aus  dem  As  ist  dieser  Fall  in  besonderen  Stimmen  ausgeschrieben,  damit  man  diese  Schreib-Art,  welche 
die  Franzosen  besonders  starck  brauchen,  kennen  lerne."  So  hat  man  denn  auch  in  dieser  Anweisung 
vor  Allem  doch  nur  wieder  eine  ganz  besondere  Feinheit  seines  Klavierspieles  und  die  genaue  Kenntnis 
der  Wirkungen  des  Klavieres  zu  bewundern,  statt,  wie  man  leicht  irregehen  könnte,  eine  solche  Spiel- 
weise vielleicht  gar  nur  von  der  Tonarmut  des  Instrumentes  herleiten  zu  wollen!  Es  ist  im  Gegenteil 
eher  zu  bedauern,  daß  diese  Art  des  legato  —  eben  des  echtesten  legato  —  den  Virtuosen  und  Klavier- 
spielern von  heute  im  Grunde  ja  noch  immer  so  wenig  vertraut  ist  und  daß  sie  nur  dann  zu  ihr 
greifen,  wenn  sie  vom  Autor  ausdrücklich  (vergl.  z.  B.  Chopin,  Nocturne  op.  62,  Nr.  1)  gewünscht 
wird,  während  sie  in  der  Tat  —  man  beachte  oben  Bachs  Worte:  „außer  der  besonders  guten  Würkung" 
zu  den  schönsten  Wirkungen  schon  des  Anschlages  allein,  um  von  der  Harmoniefülle  nicht  zu  sprechen, 
auch  dort  führt,  wo  sie  nicht  erst  ausdrücklich  vorgeschrieben  ist.  So.  ist  es  z.  B.  ohneweiters  zu  spielen 

möglich,  ^  Beethoven,  Quintett  Op.  16. 


statt: 


i 


k=a 


& 


fc" 


£ 


so: 


S 


Ä 


& 


Jr 


^P«. 


S.  IC,. 


wie  denn  überhaupt  solches  Liegenlassen  der  Stimmen  (wodurch  gleichsam  continuo-Stimmen  entstehen,) 
auch  auf  Situationen  Anwendung  finden  darf,  die  gebrochenen  Harmonien  u.  dgl.  sicher  sehr  unähnlich  sehen. 
Faßt  man  aber  alle  diese  Ausführungen  zusammen,  so  möchte  man  sagen,  nicht  nur,  daß  es 
sich  hiernach  verbiete,  Bach  den  Gebrauch  der  Manieren  vorzuwerfen,  sondern  daß  umgekehrt  gerade 
im  Gebrauche  derselben  sich  sein  ganz  spezifisches  Talent  für  Klavier  offenbare.  In. der  Tat  ist  Bach 
just  wegen  seiner  originellen  Ornamente  und  Passagen  als  der  echteste  Klavierpoet  aufzufassen.  Ich 
persönlich  wage  sogar  soweit  zu  gehen,  ihn  als  spezifischen  Klavierkomponisten  höher  zu  stellen,  als  selbst 


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einen  Haydn  oder  Mozart,  denen  vielfach  orchestral-symphonische  Gesichtspunkte  das  Reinklaviermäßige 
offenbar  bereits  zu  unterbinden  beginnen,  und  in  eine  Beihe  fast  mit  Schumann  und  Chopin,  nur  daß  er 
den  letzteren  durch  seine  urgesunde  natürliche  Anlage  überlegen  ist,  wie  dadurch,  daß  er  aus  solcher 
Gesundheit  heraus  zu  der  gewiß  bedeutsameren  zyklischen  Sonatenform-  gedrängt,  eben  die  bedeutendere 
Kraft  hatte,  einen  Haydn,  Mozart  und  Beethoven  zu  zeugen. 

Somit  bleibt  nur  noch  übrig  zu  erklären,  wie  es  möglich  war,  daß  trotz  der  eigenen  Darstellung  eines 
Bach  eine  falsche  Auffassung  der  Manieren  die  musikalische  Welt  so  lange  beherrschen  konnte.  Im  §  9 
der  ersten  Abteilung  des  zweiten  Hauptstückes  meint  Bach:  „Indessen  muss  man  dennoch  vor  allen 
Dingen  sich  hüten,  daß  man  auch  mit  unserer  Art  von  Manieren  nicht  zu  verschwenderisch  umgehe. 
Man    betrachte    sie    als    Zierrathen,  womit    man  das  beste  Gebäude  überhäufen  und  als  das  Gewürtze, 

womit  man  die  besten  Speisen  verderben  kan Widrigenfalls  würde  ich  denselben  Fehler  begehen, 

in  den  ein  Redner  fällt,  welcher  auf  jedes  Wort  einen  nachdrücklichen  Accent  legen  wollte;  alles  würde 
einerley  und  folglich  undeutlich  werden."1)  Außerdem  heißt  es  daselbst  §  2:  „So  viel  Nutzen  die  Manieren 
also  stiften  können,  so  groß  ist  auch  der  Schade,  wenn  man  theils  schlechte  Manieren  wählet,  theils 
die  guten  auf  eine  ungeschickte  Art  ausser  ihrem  bestimmten  Orte  und  ausser  der  gehörigen  Anzahl 
anbringet"  und  daselbst  §  7:  „Ich  werde  zuletzt  meine  Leser  auf  die  Probe-Stücke  verweisen,  und 
hoffe  durch  alles  dieses  das  hier  und  da  eingewurzelte  falsche  Vorurtheil,  von  der  Notwendigkeit  der 
überhäuften  bunten  Noten  bey  dem  Klavier-Spielen,  ziemlich  aus  dem  Wege  zu  räumen." 

Damit  will  Bach  sagen,  die  Manier  sei  zwar  eine  Spezialtugend  des  Klaviers,  könne  nichts- 
destoweniger aber  leicht  zu  einer  Untugend  werden,  wenn  sie  im  Übermaß  gebraucht  wird.  Hier  aber 
mag  die  Erklärung  des  Irrtums  liegen,  da  in  der  Tat  bescheidenere  Talente  ihre  Kompositionen  mit 
Manieren  zu  überladen  begannen,  die  melodische  Funktion  der  Manieren  mißverstehend  und  außerstande, 
ein  wahres  Gleichgewicht  zwischen  der  Idee  und  der  Forderung  des  Instrumentes  herzustellen.  Die 
Manieren  wurden  zur  Mode  voll  Unvernunft  und  Mißbrauches.  Es  liegt  in  der  Natur,  daß  sich  dagegen 
ein  allgemeiner  Widerwille  erhoben  und  nun  geschah  es,  daß  man  über  der  krankhaften  Mode  auch 
den  gesunden  Keim  übersah.  Man  schämte  sich  hinterdrein  aller  Ornamentik  überhaupt  und  wälzte, 
um  mindestens  die  künstlerische  Vernunft  zu  rechtfertigen,  alle  Schuld  auf  das  Clavichord,  als  hätte 
wirklich  bloß  dessen  Tonarmut  allein  der  Vernunft  den  argen  Streich  gespielt. 

Wer  weiß  indessen,  ob  nicht  vielleicht  auch  die  Schwierigkeit  der  Ausführung  den  Widerwillen 
gegen  die  Manieren  gesteigert  hat?  Wie  oft  mag  man  sich,  ohne  daß  man  sichs  gestand,  wider  sie 
aufgelehnt  haben,  einfach  bloß,  weil  man  nicht  genau  wußte,  wie  sie  zu  spielen.  Was  so  unbequem 
war,  zu  einem  Fehler  des  Werkes  selbst  zu  machen,  —  nichts  ist  menschlicher  als  das.  Ob  nicht  nun 
auch  umgekehrt  die  richtige  Ausführung  der  Manieren  dazu  geführt  hätte,  sie  mindestens  bei  Bach  zu 
billigen  und  sicher  auch  schön  zu  finden,  —  wer  mag  das  heute  sagen? 


III. 

Über  die  Form  bei  Bach. 

Durfte  ich  mir  nicht  ersparen,  die  Vorwürfe  nach  Möglichkeit  zu  entkräften,  so  möchte  ich 
mir  umsoweniger  noch  versagen,  andererseits  auch  die  Vorzüge  der  Bachschen  Werke  hier  positiv 
darzustellen.  Gelingt  es  mir,  sie  dem  freundlichen  Leser  so  zu  vermitteln,  daß  deren  große  Bedeutung 
ihn  überzeugt,  so  werden  gewiß  auch  sie  ihrerseits  das  meiste  dazu  beitragen,  jene  Vorwürfe  im  klein- 
lichsten Lichte  erscheinen  zu  lassen. 

a)  Was  an  Bachs  Kompositionstechnik  zunächst  auffällt,  ist  die  Abwesenheit  einen  jeglichen 
Schemas.  Nirgends  eine  Vorgefaßtheit;  nirgends  ein  Vorsatz,  sei  es  in  Bezug  auf  Form,  Gedanken  oder 
Harmonien.     Gedanken    im  vorhinein,    einzeln    und  abseits  von  Zusammenhängen   zu  erfinden,  nur  um 

l)  Es  empfiehlt  sich  übrigens,  diesen  Gedanken,  der  ja  so  einfach  und  vernünftig-wahr  ist,  in  analoger  Weise 
nicht  minder  auch  auf  die  heutige  Art  der  instrumentalen  Komposition  im  warnenden  Sinn  anzuwenden.  Muü  denn  nicht 
dadurch,  daß  jede  einzelne  Stelle  in  einer  modernen  Komposition  durch  ein  offenbar  doch  vom  Musikdrama  entlehntes 
Pathos  gleichsam  ihren  eigenen  „nachdrücklichen  Accent"  erhält,  die  Summe  sämtlicher  so  belasteter  Stellen  sodann  zo 
der  Gesamtwirkung  führen,  die  Bach  mit  den  Worten  beschreibt:  „Alles  würde  einerley  und  folglich  undeutlich  werden"? 

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li 

sie  dann  gelegentlich  an  einer  Stelle  gewaltsam  einzuflicken,  ist  nicht  seine  Art.  Vielmehr  ist  alles, 
erste  Erfindung  wie  fortlaufende  Entwicklung,  einzig  auf  die  Gnade  einer  sozusagen  improvisierenden 
Phantasie  gestellt.  Diese  ist  aber  willig  genug,  ihm  nicht  nur  einen  ersten  Gedanken  zu  schenken, 
sondern  auch  die  weitere  Folge,  ohne  daß  der  Beschenkte  im  Grunde  mehr  Mühe  dafür  aufzubringen 
hätte,  als  bloß  in  glücklichster  Stimmung  den  Gedanken  einfach  niederzuschreiben.  Er  braucht  nicht, 
wie  andere,  besonders  wir  Epigonen  von  heute  —  ärgerlich  auszuspähen,  was  jenseits  des  ersten  Ge- 
dankens werde  zu  geschehen  haben;  es  bekümmert  ihn  keinerlei  Zukunft  von  Form,  keinerlei  Zukunft 
von  Inhalt;  nichts  stört  ihn  im  Genuß  des  gegenwärtigen  Augenblickes  und  so  darf  er  sich  mit  unbe- 
dingtestem Gegenwartsgefühl  einem  jeglichen  Gedanken  schaffend  hingeben.  Ist  der  erste  Gedanke 
vorbei,  so  ist  im  selben  Augenblick  auch  schon  ein  zweiter  da,  —  ungerufen,  unbeabsichtigt,  ungewollt. 
Man  darf  daher  in  diesem  Sinne  seine  Phantasie  eine  völlig  absichtslose  und  unangestrengte  nennen. 
b)  Eine  solche  Willigkeit  der  Phantasie  bedeutet  immer  zugleich  Reichtum  und  Vielheit  von 
Gedanken.  Diese  aber  drängen  ihn  zu  einer  neuen  und  eigenartigen  Technik,  nämlich  zu  der  der 
Gruppenbildung.1)  Man  gestatte,  daß  ich  hier  etwas  ausführlicher  die  Mittel  untersuche,  deren 
sich  diese  Technik  bedient. 

1.  Als  erstes  der  Mittel  sei  die  Tonalität  genannt.  Ein  einfaches  Beispiel  für  dieses  Mittel 
gehe  voran  —  ein  allereinfachstes,  wie  es  im  ersten  Satze  der  Sonate  II,  pag.  9,  enthalten  ist.  Hier 
läuft,  vom  Takt  8  angefangen,  beziehungsweise  von  dessen  drittem  Achtel  an,  eine  Mehrzahl  von  Sätz- 
chen und  Motiven  ununterbrochen  bis  zum  Takt  22,  beziehungsweise  bis  zu  dessen  drittem  Achtel.  Was 
diese  Vielheit  hier  zu  einer  Gruppe  bindet,  ist  die  Tonalität  D-dur.  Gleichwohl  sind  aber  die  einzelnen 
Bestandteile  der  Gruppe  als  solche  zu  erkennen,  da  im  Takt  12  der  Schluß  auf  der  Tonika,  im  Takt 
15  und  16  der  Aufstieg  zur  Dominante,  in  den  Takten  16  bis  18  die  Rückbewegung  zur  Tonika,  in  den 
Takten  20  bis  22  die  Kadenz  deren  selbständigen  Charakter  deutlich  hervortreten  lassen.  Aus  diesem 
Beispiele  kann  man  leicht  ersehen,  welchen  Dienst  die  Tonalität  leistet:  sie  bindet  die  Vielheit 
tonal  zu  einer  Gruppe,  ohne  indessen  die  Selbständigkeit  der  einzelnen  Teile 
zu  o  pfern. 

Es  mögen  hier  aber  noch  einige  kompliziertere  Gruppen  der  Beachtung  empfohlen  werden; 
z.  B.  pag.  13,  Takt  6  bis  17;  pag.  16,  Takt  1  bis  8;  pag.  26,  Takt  9  bis  21;  pag.  42,  Takt  17  bis 
Ende  des  ersten  Teiles;  pag.  55,  Takt  9  bis  Ende  des  ersten  Teiles  u.  s.  w.  Es  ist  hier  oft  das 
Problem,  die  Gruppenbildung  durch  die  Tonalität  zu  kennzeichnen,  in  so  kühner  und  genialer  Weise 
gelöst,  daß  wir  uns  schon  diesem  Teile  der  Bachschen  Kunst  allein  gegenüber  gewiß  noch  als  rück- 
ständig bezeichnen  dürften.  Insbesondere  ist  im  einzelnen  zu  beachten :  welche  Harmonien  den  jeweiligen 
einzelnen  Teil  beginnen  und  welche  ihn  beenden;  nicht  minder  aber,  in  welchem  Verhältnisse 
sodann  die  Summen  der  den  einzelnen  Teilen  zugehörigen  Harmonien  zur  gesamten  Tonalität 
stehen.  Z.  B.  sehe  man,  wie  pag.  16  die  Tonart  c-moll  beginnt  bei  sonst  intendierter  /-dur  Tonalität; 
ferner,  wie  pag.  13  sich  die  einzelnen  Tonarten  zu  g-äm,  später  d-dur  stellen;  oder,  wie  pag.  26  die 
Unterdominante,  pag.  42  die  Dominante  beginnt  u.  s.  w.,  u.  s.  w.  So  ist  nun  einmal  die  Tonika, 
einmal  die  Dominante,  ein  andermal  die  Unterdominante  oder  eine  andere  Stufe  der  Diatonie,  die  den 
Teil  einleiten  oder  beschließen ;  bald  ist  die  Tonalität  strenger  und  einheitlicher,  bald  aber  um  entferntere 
Tonarten  vermehrt.  Welche  unendliche  Mannigfaltigkeit  ergibt  sich  aber  erst  aus  der  Kombination  aller 
dieser  Punkte! 

Wie  steif  dagegen  sind  wir  heute  geworden  —  wir,  die  scheinbar  Reicheren  und  doch  in  Wahr- 
heit um  so  viel  Ärmeren!  Was  nützen  uns  denn  die  geräumigeren  Konzertsäle,  die  größeren  Piano- 
fortes,  die  breiteren  Formen,  die  stärkeren  Schallwirkungen  —  da  wir  so  kleinlich,  so  wenig  unabsichtlich, 
so  schematisch  sind!  Unsere  Kühnheit  ist  eine  Augenblicksgrimasse  —  und  sieht  man  genauer  hin,  so 
ist  im  Grunde  die  Absicht  auf  Inhalt  und  Form  nicht  zu  verkennen,  die  den  Komponisten  in  der  Regel  vor 
sich  selber  so  klein  macht,  daß  er  —  gleichsam  nur  um  sich  zu  betäuben  —  zum  wilden  Bramarbasieren 
greifen  muß.  Dort  bei  Bach  Reichtum  und  was  daraus  an  Segen  folgt,  hier  Armut  und  wilde,  leider 
aber  vergebliche  Auflehnung  gegen  den  Fluch  der  Armut! 


*)  Vergl.  hierzu  mein  anonym  erschienenes  Buch  „Neue  musikalische  Theorien  und  Phantasien  von  einem  Künstler. 
I.  Band  Harmonielehre."  Stuttgart  und  Berlin  (Cotta)  1906,  §  129  u.  ff. 


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2.  Ein  anderes  Mittel  möchte  man  das  rhythmische  nennen.  Es  besteht  darin,  daß  die  einzelnen 
Teile  der  Gruppe  bald  in  den  starken,  bald  in  den  schwachen,  also  in  verschiedenen  Taktteilen  ein- 
setzen. Betrachten  wir  das  zuerst  angeführte  Beispiel  aus  der  Sonate  II,  pag.  9,  so  sehen  wir  dort  den 
ersten  wie  den  zweiten  Teil  mit  dem  dritten  Achtel,  dagegen  den  dritten  und  vierten  mit  dem  zweiten 
Achtel  beginnen.  So  sind  bei  Bach  —  diese  Technik  hängt  organisch  wohl  mit  der  Kunstübung  noch 
älterer  Epochen  zusammen  —  alle  Taktteile  in  Hinsicht  des  Einsatzes  gleich,  ohne  daß  er  dadurch 
den  Unterschied  zwischen  einem  starken  und  schwachen  Taktteil  aufheben  möchte.  Es  ängstigt  ihn 
keinerlei  theoretischer  Kespekt  vor  dem,  was  der  starke  Taktteil  ist,  er  müht  sich  daher  auch  nicht, 
seine  Gedanken  allemal  just  mit  dem  starken  Taktteil  zu  beginnen,  vielmehr  liebte  er,  auch  bei  einem 
schwachen  Taktteil  einzusetzen,  wenn  die  Gelegenheit  zufällig  eine  günstige,  so  z.  B.  wenn  der  voraus- 
gehende Gedanke  gerade  mit  dem  starken  Takteil  geschlossen  hat.  Er  kommt  daher  nie  in  Verlegen- 
heit, erst  Pausen  erlügen  zu  müssen,  weil  vielleicht  der  nächste  Gedanke  nur  um  zwei  oder  drei  Achtel 
später  beginnen  kann.  —  Können  wir  das  auch  von  uns  sagen? 

Welche  innere  Bedeutung  aber  ein  solcher  Einsatz  hat,  gleichviel  in  welchem  Taktteil  er  sich 
ereignet,  gehört  wohl  zu  den  geheimnisvollsten  und  stillsten  Wundern  der  Musik.  Als  wäre  er  gar  ein 
organisches,  mit  einem  Selbsterhaltungstrieb  begabtes  Wesen,  strebt  ein  jeder  Einsatz  danach,  seine  Art, 
so  lange  es  nur  geht,  zu  erhalten.  Erfolgt  der  Einsatz  z.  B.  beim  zweiten  Achtel,  so  wollen  nun  ganz 
von  selbst  alle  folgenden  Gedanken  und  Motive  immer  beim  zweiten  Achtel  beginnen,  d.  h.  es  streben 
die  Bildungen  sich  zwischen  einem  zweiten  und  wieder  einem  zweiten  Achtel  zu  bewegen.  Als  besonders 
eindringliche  Beispiele  dieser  so  wundersamen  Natur  des  Einsatzes  wolle  man  Beethovens  Sonaten 
op.  90  und  op.  106  einsehen.  Dort  die  Fortpflanzung  des  Einsatzes  im  dritten  Viertel,  hier  des  Einsatzes 
im  letzten  Achtel.  Ginge  es  nun  nach  dem  Selbsterhaltungstrieb  eines  solchen  Einsatzes,  so  gäbe  es,  wie 
leicht  begreiflich,  dieser  Art  Einsatzes  kein  Ende:  es  läge,  je  nach  der  Art  des  Einsatzes  eben,  alles  vom 
Anfang  bis  zum  Ende  der  Komposition  nur  immer  so  fort  zwischen  dem  ersten  und  ersten,  zweiten  und 
zweiten  Viertel  oder  Achtel  u.  s.  w.  In  mäßigen  Kompositionen  kann  man  in  der  Tat  auch  wahr- 
nehmen, wie  die  Autoren  diesem  Impuls  des  Einsatzes  meistens  erliegen,  wie  wenig  sie  seinen  Bann, 
d.  h.  die  Monotonie  des  Rhythmus  zu  durchbrechen  vermögen.  Indessen  ist  ein  solches  Unvermögen  sicherlich 
das  Kennzeichen  einer  armen  Phantasie  oder  eines  zu  geringen  Kunstinstinktes.  Denn  eine  reiche  Phantasie 
ist  eben  noch  stärker  als  der  Einsatz;  ihre  Kraft  durchbricht  den  Bann  des  Einsatzes.  Die  Phantasie 
will  Mannigfaltigkeit  in  allem  und  jedem,  nicht  minder  daher  auch  im  Einsatz.  Nichts  ist  nun  so  interessant, 
als  zu  sehen,  wo  und  wie  der  Komponist  den  einen  Einsatz  bricht,  um  einen  andern  zu  bringen. 
In  der  oben  zitierten  Sonate  von  Beethoven,  op.  90,  sind  es  die  Takte  43  bis  45,  in  der  Sonate 
op.  10G  die  Takte  16  bis  17,  in  denen  der  eine  Einsatz  zu  Gunsten  eines  nächsten  andern  niederge- 
rungen wird;  oder  in  meiner  Emanuel  Bach-Ausgabe  pag.  43,  Takt  14  bis  16;  pag.  55,  Takt  16  und 
Takt  22  u.  s.  w. 

3.  Ein  drittes  Mittel  ist  dynamischer  Natur  und  sorgt  für  Licht  und  Schatten  in  der  Gruppe 
[n  unserem  Beispiel  aus  der  Sonate  II,  pag.  9  sehen  wir:  /  beim  ersten  Teil  im  Takt  8,  p  beim  zweiten 
Teil  im  Takt  12,  beim  dritten  Teil  im  Takt  16  wieder  p  (allerdings  nach  einem  /  im  Takt  14), 
wohlgemerkt  hier  beim  zweiten  Achtel,  dagegen  /  im  Takt  18  beim  vierten  Teil  u.  zw  wieder  beim 
zweiten  Achtel.  Daß  durch  solchen  Wechsel  der  Dynamik  zugleich  auch  der  Wechsel  der  einzelnen 
Gruppenglieder  wie  nicht  minder  auch  des  Rhythmus  nur  noch  besser  zum  Ausdruck  kommt,  muß  ohne 
weiteres  einleuchten.  Ebenso  klar  aber  ist  es,  daß  je  selbständiger  die  einzelnen  Teile  heraus- 
gearbeitet sind,  —  wie  hier  eben  auch  mit  Zuhilfenahme  eines  dynamischen  Effektes  —  desto  mehr  an 
Intensität  und  Schönheit  die  Gruppe  als  Ganzes  gewinnen  muß.  Kommt  denn  nicht  dem  Ganzen  als 
Gewinn  zu,  was  zunächst  nur  dem  einzelnen  Teile  zu  Gute  kommen  sollte  ?  Ist  nicht  um  so  viel 
plastischer  und  eindrucksvoller  vielleicht  auch  das  Ganze,  je  plastischer  und  eindrucksvoller  seine  Teile? 

Man  gestatte,  daß  ich  diese  Gelegenheit  dazu  benütze,  um  über  den' weiteren  Gebrauch  der 
dynamischen  Zeichen  bei  Bach  das  Nötige  auseinandersetzen.  Betrachten  wir  z.  B.  die  Takte  22  bis  28 
derselben  Sonate  II,  pag.  9,  so  sehen  wir,  wie  auch  hier,  als  in  einem  einzelnen  Gedanken  bloß,  die 
dynamischen  Zeichen  den  Organismus  des  Gedankens  förmlich  bloßlegen,  wie  sie  wechselnd  und  kontra- 
stierend, zugleich  die  einzelnen  Elemente  anzeigen,  aus  denen  der  Gedanke  zusammengesetzt  ist.  So 
korrespondiert  das  p  im  Takt  22  mit  pp  im  Takt  26,  dagegen  das /im  Takt  24  mit  dem/ im  Takt  27, 

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13 

wobei  zu  beachten  ist,  daß  die  beiden  /  beim  zweiten  Achtel  angebracht  sind.  —  Eine  Anwendung 
ganz  anderer  Natur  zeigt  sich,  wenn  wir  z.  ß.  im  Adagio  maestoso  der  Sonate  III,  pag.  18  im  Takt  6 
ein  p  beim  zweiten  Achtel,  im  Takt  13  ein  /  beim  zweiten  Sechzehntel,  im  Takt  14  ein  p  gar  beim 
sechsten  d.  i.  letzten  Sechzehntel  u.  s.  w.  antreffen.  Hier,  wo  es  sich  nicht  mehr  darum  handelt,  eine 
Gliederung  des  Ganzen  oder  auch  eines  einzelnen  Gedankens  zu  kennzeichnen,  ist  es  nun  gerade  wunderbar 
zu  sehen,  wie  der  Meister  selbst  in  den  kleinsten  Grübchen  und  Winkelchen  des  Taktes,  in  den  schwachen 
und  schwächsten  Taktteilen,  noch  immer  Raum  genug  findet,  durch  Wechsel  der  Dynamik  den 
Wechsel  des  Ausdrucks  zu  offenbaren.  Welche  Sensibilität,  welche  Zartheit!  —  Aus  der  übrigen 
Fülle  von  Verwendungsarten  der  Dynamik  bei  Bach  mögen  hier  nur  noch  zwei  besonders  bemerkens- 
werte hervorgehoben  werden.  Die  eine  dürfte  der  Schluß  des  soeben  zitierten  Adagios  pag.  13  (besonders 
die  letzten  acht  Takte)  wohl  am  deutlichsten  illustrieren.  /  und  p  wollen  beim  Wort  genommen  werden 
und  stellen  einen  wirklichen  Kontrast  vor,  nämlich  /  will  als  eine  Art  physischer  Erhebung  oder 
plötzlicher  Exaltation  herausragen  (oft  z.  B.  unserem  rfz  ähnlich),  p  hingegen  die  ruhige  Norm  des  Gefühles 
bedeuten.  Besonders  in  den  langsameren  Sätzen  ist  dieser  Gebrauch  von  /  und  p  Bach  eigentümlich. 
Anders  wieder,  u.  zw.  in  einem  krassen  Abstand  voneinnander  stehend,  finden  wir  /  und  p  z.  B.  im 
Adagio  maestoso  der  Sonate  III  pag.  18  Takt  1,  2;  Takt  11  und  12  u.  s.  w.  In  Fällen,  wie  diese,  vertritt 
offenbar  das  B a c hsche / und  p  unser  crescendo  und  decrescendo,  oder,  was  dasselbe,  die  Zeichen : 
— =C  und  :r==— ;  /  steht  am  Anfang,  p  am  Ausgang  der  Figur,  wenn  ein  decrescendo,  und  um- 
gekehrt, wenn  ein  crescendo  beabsichtigt  ist.  Ein  untrügliches  Merkmal  für  diese  Verwendungsart  ist, 
daß  die  beiden  dynamischen  Grade  sehr  nahe  aneinander  gerückt  sind.  Man  muß  gestehen,  daß  in 
gewissem  Sinne  diese  drastische  Art,  bloß  die  Endpunkte  zu  bezeichnen,  noch  zwingender  ist,  als  die 
Bezeichnung  unseres  crescendo. 

Und  erblickt  man  nun  die  so  vielen  und  mannigfachen  Anwendungen  der  dynamischen  Zeichen 
so  möchte  man  doch  zum  Schluß  kommen,  daß  man  den  gegebenen  Inhalt  wahrhaftig  nicht  besser 
bezeichnen  kann,  als  es  schon  von  Bach  selbst  geschehen  —  immer  im  Dienste  des  Inhalts,  immer  mit 
tiefem  Grund;  so  daß  das  Studium  seiner  dynamischen  Bezeichnungen  schon  allein  eine  Quelle  an- 
regendsten Genusses  für  „Kenner  und  Liebhaber"  wohl  zu  bilden  vermag.  Wenn  ich  gleichwohl  in 
meiner  Sammlung  diesen  genial  notierten  Zeichen  in  Klammern  noch  eigene  hinzuzufügen  mich  entschlossen 
habe,  so  geschah  es  sicher  nicht  aus  dem  Grunde,  als  würde  ich  einen  Mangel  an  Bezeichnung  empfunden 
haben.  Vielmehr  mußte  ich  befürchten,  daß  der  Spieler,  vielleicht  selbst  nicht  in  der  angenehmen 
Lage,  die  Organisation  des  Inhaltes  zu  erfassen  und  von  hier  aus  sich  mit  den  Zeichen  Bachs  zu  be- 
gnügen, nach  mehreren  Bezeichnungen  verlangen,  insbesondere  aber  diejenigen  vermissen  möchte,  die 
man  ihm  so  oft  heutzutage  in  leidlicher  Bevormundung  serviert.  Es  wird  daher  nur  desto  ehrenvoller  sein 
für  den  Spieler,  —  wie  nicht  minder  doch  auch  für  Ph.  Em.  Bach  —  wenn  er  meine  wenigen  dynami- 
schen Notizen  für  überflüssig  finden  wird.  Niemanden  wird  solche  Empfindung  mehr  erfreuen,  als  mich 
selbst,  der  ich  so  gerne  zur  Zerstörung  der  Schauerlegende  beitragen  möchte,  wornach  die  älteren  Werke 
gar  nicht  oder  nur  viel  zu  wenig  bezeichnet  wären.  Haben  doch  auch  Haydn,  Mozart  und  Beethoven 
diese  Art,  den  Vortrag  zu  bezeichnen,  von  Bach  rezipiert,  und  ist  sie  doch  bei  ihnen  nicht  minder  genial 
wie  bei  ihm,  —  wenn  man  eben  nur  den  Inhalt  versteht !  0,  hörten  wir  doch  endlich  auf,  immer  wieder 
über  die  mangelhafte  Bezeichnung  ihrer  Werke  zu  jammern,  und  uns  einzubilden,  daß  wir  sie  für 
unseren  Gebrauch  erst  zu  redigieren  haben!1) 

Habe  ich  in  meiner  Ausgabe  ein  von  Bach  bereits  notiertes  Zeichen  wiederholt,  wie  z.  B.  pag.  7, 
System  6,  Takt  3  und  4  und  ähnlich  an  vielen,  vielen  anderen  Stellen,  wo  eine  solche  Wiederholung  im 
Grunde  überflüssig  erscheinen  muß,  so  tat  ich  es  weniger  zur  Befriedigung  einer  Herausgebereitelkeit 
als  nur  zur  Vermehrung   der  Sicherheit  des    Spielers.   Auch  wird  mir,   hoffe  ich,   der   Spieler  verzeihen, 

x)  Das  Auge  des  Spielers  reagiert  von  selbst  leicht  auf  alle  Zeichen,  auf  die  es  im  Laufe  der  Lektüre  bei  den 
Noten  stößt.  Ein  vom  Herausgeber  unnötigerweise  hinzugefügtes  Zeichen  birgt  daher  die  Gefahr  in  sich,  daß  es,  eben 
auf  dem  Umwege  über  das  Auge,  die  Hand  zu  einem  Mehr  veranlaßt,  als  sie  wohl  von  selbst,  ohne  die  Anweisung  des 
Herausgebers,  unternehmen  würde.  Es  ist  eben  etwas  ganz  anderes,  ob  man  aus  Eigenem  zu  irgend  einer  undefinierbaren 
dynamischen  oder  rhythmischen  Nuancierung  im  Drange  des  Vortrags  sich  entschließt,  oder  ob  man,  blos  infolge  eines 
rein  optischen  Antriebes,  einem  deutlich  festgelegten  Zeichen  des  Herausgebers  folgt,  dessen  hauptsächlichen  Fehler  ja 
schon  die  Deutlichkeit  selbst  —  des  Zuviel  der  Existenz  an  sich  —  bildet,  wobei  überdies  unter  Umständen  das  Fehler- 
hafte der  Anweisung  noch  in  manch  anderen  Momenten  liegen  kann. 

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wenn  ich  hie  und  da  ein  offenbares  Vergessen  des  Autors  oder  des  Kopisten  ins  Richtige  brachte:  wie 
leicht  vergißt  ein  Autor  das  dynamische  Zeichen  zu  notieren  und  wie  leicht  mag  ein  Kopist  ein  notiertes 
Zeichen  übersehen.  Man  wolle  daher  eine  Zutat  dieser  Art  nur  daraufhin  prüfen,  ob  ich  im  Grunde  Recht 
hatte,  einen  solchen  Lapsus  hier  oder  dort  anzunehmen. 

c)  Prüfen  wir  Taktgruppen  wie  z.  B.  pag.  6,  Takt  8  bis  12,  pag.  12,  Takt  6  bis  10,  pag.  26, 
Takt  5  bis  8,  pag.  42,  Takt  8  bis  16,  pag.  57,  Takt  9  bis  13  u.  s.  w.,  so  erkennen  wir,  daß  selbst 
solche  Teile  der  Komposition,  die  man  gewöhnlich  Modulation  steile  nennt,  bei  Bach  niemals  bloß 
mechanisch  vor  sich  gehen.  Ist  in  solchen  Fällen  die  Tendenz  der  Harmonien  —  einseitig  betrachtet 
—  allerdings  die,  eine  neue  Tonalität  zu  erobern  (vergl.  pag.  6  g-dur,  pag.  12  a-dur  u.  s.  w.),  so  ist  diese 
Tendenz  gleichwohl  bei  ihm  niemals  Selbstzweck.  Diesen  Willen  der  Harmonien  weiß  er  vielmehr  dem 
Gedanken  unterzuordnen,  u.  zw.  ist  es  immer  ein  neuer  Gedanke,  ein  neues  Motiv  (vergl. 
rechte  Hand  pag.  6,  12  u.  s.  w.),  die  wohl  in  erster  Linie  unsere  Empfindung  anzuziehen  berufen  sind. 
Der  neue  Gedanke  ist  sodann  sozusagen  Pate  der  Modulation.  Weshalb  man  denn  auch  der  schönen 
Gedankengegenwart  froh,  niemals  bemerkt,  daß  man  inzwischen  nun  auch  harmonisch  zugleich  den 
Weg  zu  einem  nächsten  Gedanken  zurücklegt.  So  ist  die  Modulation  niemals  bloß  ein  Weg,  niemals  bloß 
Zukunft,  Versprechung  und  Verheißung  eines  nächsten  Gedankens  erst  —  kurz,  niemals  bloß  ein  Weg- 
mechanismus —  vielmehr  immer  eine  Gegenwart,  immer  ein  gegenwärtiger  Gedanke  und  obendrein 
ein  neuer  Gedanke.  Wer  wollte  leugnen,  daß  auch  diese  Technik  wieder  offenbar  nur  mit  dem  Reich- 
tum der  Erfindung  zusammenhängt?! 


IV. 

Über  das  Mißverständnis  dieser  Form  Bachs  bei  Gegnern  und  Pseudoklas- 

sizisten. 

Fasse  ich  das  bisher  Vorgebrachte  zusammen,  so  heißt  es:  Am  Anfang  ist  der  Reichtum  der 
Gedanken  bei  Bach!  Nur  Reichtum  allein  ist  es,  der  ihm  die  Absichtslosigkeit,  das  Ewig-Improvisierte 
der  Gedanken  spendet,  ihm  die  Vielheit  und  Mannigfaltigkeit  bringt ;  er  ist's,  der  ihn  zum  Prinzip  der 
Gruppenbildung  drängt,  der  ihm  die  dazu  gehörigen  Mittel  der  Tonalität  und  des  Rhythmus  an  die 
Hand  gibt;  er  ist's,  der  ihm  das  Mechanische  der  Modulation  vergeistigt  und  ihn  im  übrigen  aller 
Sorgen  der  „Form"  enthebt:  kurz,  alle  Technik  kommt  ihm  vom  Reichtum,  alles  ist  ihm  Gedanke, 
überall  Wechsel  und  Beweglichkeit  der  Mittel,  überall  Freiheit,  nirgends  Schema,  nirgends  bloßer 
Mechanismus ! 

Nun  ist  diese  Technik  eben  ganz  dieselbe,  die  —  wie  bereits  erwähnt  —  unsere  großen 
Klassiker  rezipiert  haben.  Voran  Haydn,  diesem  nach  Mozart  und  Beethoven  —  der  Letztere  indessen 
vielleicht  gerade  am  unfreiesten,  am  forziertesten  noch.  Auch  sie  nehmen  das  Prinzip  der  Gruppenbildung 
an  als  ein  hauptsächliches,  setzen  Vielerlei  und  Verschiedenes  zusammen,  um  eine  Gruppe  oder  einen 
„Satz"  zu  bilden,  ebenso  auch  Mannigfaltiges  und  Kontrastierendes,  um  auch  nur  den  kleinsten  Teil, 
den  kleinsten  Gedanken  zu  konstruieren;  auch  sie  bedienen  sich  der  Tonalität,  um  Gedankenvielheiten 
zu  binden,  zugleich  aber,  um  deren  Teile  zu  sondern ;  auch  sie  lieben  die  wechselnde  Mannigfaltigkeit 
der  Einsätze,  die  den  Gruppen  eine  Mannigfaltigkeit  des  Rhythmus  zuführen  sollen;  auch  ihnen  ist  alle 
Modulation  mehr  Gedanke  als  Mechanik  der  Harmonien.  Daher  nehmen  wir  auch  bei  diesen  Meistern 
wahr,  daß  ein  jegliches  Schema  ihrem  Genie  fremd  und  eine  natürliche  Absichtslosigkeit  ihr  Schaffens- 
prinzip  ist.  Sie  schreiben  Sonaten  sonder  Zahl,  und  keine  ist  der  andern  gleich;  sie  dichten  unzählige 
Symphonien,  Quartette  u.  dgl.,  nicht  eines  aber  ist  dem  andern  gleich:  in  allen  Werken  neu  die  Form 
und  neu  die  Mannigfaltigkeit.  Ein  ewiges  Kommen  und  Gehen  der  Gedanken,  eine  unendliche  Bered- 
samkeit, eine  unendliche  Melodie.  Nicht  Symmetrie  ist  ihr  Prinzip,  nicht  der  Periodenbau:  nicht  eine 
gerade  Taktzahl,  nicht  „Stark  und  Schwach",  nicht  Bildung  sogenannter  „Themen"  —  nichts  von  all 
dem  bindet  ihre  Freiheit!  Nirgends  die  Lüge  eines  Mechanismus,  überall  dagegen  freudigste  Über- 
raschung neuer  Gedankenzeugung.  Wer  wüßte  den  I^auf  einer  Haydnschen  oder  Mozartschen  Gruppe 
vorauszusagen,  wer  hat  den  Reichtum  der  Phantasie,  so  parallel  mit  ihnen  zu  erfinden,  daß  er  sich  nicht 
gestehen  müßte,    ein  über  das   andere  Mal  von  ihnen  überrascht  worden  zu  sein?  Welche  Form  erwartet 

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15 

man  denn  von  ihnen,  da  sie  doch  keine  vorgefaßte  nahen?   Muß  denn  nicht  alle  Erwartung  fehl  gehen, 
da  man  im  Bann  einer  eigenen  Armut  und  Unzulänglichkeit,   auch  bei  so   begnadeten  Geistern  Grenzen 
voraussetzt,  wie  sie  einem  Genie  immer  doch  fremd  bleiben  müssen  ?  Ihr$  Musik  redet  wie  mit  Worten. 
Wie   des   Menschen   Kede   ungebunden,    und   nur   eine   vorwaltende    Sachlichkeit   darin   Maß,    Ziel    und 
Tonart  regelt,  so  ungebunden  ist  die  Musik  jener  Genies,  nur  sanft  an  ewige,  ihnen  unbewußte  Gesetze 
der  Natur  gekettet,   denen   kein  Lebewesen   zu   entrinnen  vermag.    Eine  solche  Ungebundenheit   aber  in 
der  Kunst  zu  erreichen  —  bleibt  es  nicht  deren  höchster,  nicht  mehr  zu  überbietender  Triumph,  zumal 
doch  alle  Kunst  im  Grunde  immer  eine  Gebundenheit  gegenüber  der  Natur  und  dem  Leben   vorstellt? 
Wie  es   nun  aber  kam,    daß   man  im  Laufe  des  vergangenen   Jahrhunderts  diese   Freiheit,    die 
höchste,   die  zu  erzielen   überhaupt  möglich,   übersehen  konnte,   daß  man   sie  nicht  mehr   zu   empfinden 
wußte,  und  nun  gar  glaubte,  erst  nach  neuen  Mitteln  greifen  zu  müssen,  um  endlich  der  Tonkunst  ihre 
Freiheit  —  eine  ihrer  wirklich  würdige  —  zu  geben,   das  alles  wird  wohl  für  immerzu  den  dunkelsten 
Eätseln   der   Künstentwicklung   beigezählt  werden   müssen.    Man   sah   auf  einmal   in   allen   Quartetten, 
Symphonien  und  Sonaten  nichts  mehr  als  nur  eben  die  „Sonate",  eine  angeblich  starre  Form,  ein  Unab- 
änderliches und  Gegebenes,   kurzweg  ein  Schema.  Man  hörte   auf  einmal  aus  dem  ganzen  Inhalt   nichts 
als  bloß  die  Kadenzen  heraus,  Halb-  und  Ganzschlüsse;  —  man  bildete   sich  ein,   alle   Form  derartiger 
Werke  beschränke  sich  meistens  und  hauptsächlich  auf  die  Verbindung  von  sogenannten :  Haupt-,  Seiten- 
und  Schlußsatz,   Durchführung  und  Reprise.   Welche  Insinuation!   Man   bewegte  sich  offenbar  in    einem 
Circulus  vitiosus:   Opfer  vorgefaßter  Meinungen,   wagte   man  dann   als  kompromittierend   für  die  Kunst 
der   großen   Meister   auszuschreien,    was   im   Grunde    niemals   objektive  Wahrheit,    sondern    nur   eigene 
Einbildung  gewesen,   —   die   freilich  daher  kam,   daß  man  jene   Kunst   nicht  in   ihrer  vollen   Freiheit 
und  wahren  Größe  zu  erkennen  und  zu  würdigen  vermochte.  Was  war  die  Folge  davon?  Man  begann  auf 
„Programme"  zu  sinnen,  die,  der  Musik  injiziert,  ihr  die  vielersehnte  „neue  Freiheit"  zu  geben  hatten: 
so  entstand  die  Programmusik    —  die    offizielle.   Oder   man   nahm    an,   es    sei  das  Wort  berufen,   was 
es  an  eigener  Freiheit  und  Beweglichkeit  besitzt,  der  Musik  mitzuteilen  und  zu  assimilieren,  in  ähnlicher 
Verbindung,   wie  dies  vor   langen  Jahrhunderten  noch  im  Zustande  der  musikalischen  Indifferenziertheit 
schon    einmal   gewesen:    so    entstand   das    Musikdrama.   Beide    aber,     Programmusik  wie    Musikdrama, 
maßten   sich   an,   der  Tonkunst   eine  Freiheit   zu   schaffen,   wie   sie  diese    bis  dahin   angeblich   nicht  zu 
erzielen  wußte,  und  zwar  eben  wegen  der  starren,   sogenannten  klassischen  Form  der  Sonate.  Weg  von 
dieser  Form  hieß  es  daher,  fort  und  fort. 

Die  Verdunkelung  und  Verwirrung  der  Anschauungen  erreichten  ihren  Gipfel  aber,  als  nun 
auch  selbst  diejenigen,  die  sonst  so  gerne  die  „Form"  der  Klassiker  aus  Liebe  zur  Tradition  oder 
Überzeugung  hätten  hochhalten  mögen,  deren  große  Freiheit  nicht  minder  übersahen,  als  die  Programm- 
musiker und  Musikdramatiker.  In  der  Not  einer  mangelnden  Einsicht  bildeten  nun  auch  sie  sich  ein, 
der  „Sonate"  wäre  meist  eine  ständige  Form  eigen,  und  schrieben  in  diesem  Sinne  Sonaten  um  Sonaten, 
Quartette  um  Quartette,  mit  ewigen  Haupt-,  Seiten-  und  Schlußsätzen,  Durchführungen  und  Reprisen. 
War  nun  die  Feststellung  einer  solchen  Form  an  sich  schon  die  erste  Unwahrheit,  die  an  den  klassischen 
Meistern  begangen  wurde,  so  war  sodann  die  vorgefaßte  Ausübung  der  Komposition  innerhalb  dieser 
Formlüge  zu  einer  zweiten,  und  zwar  weit  verhängaisvolleren  Lüge  geworden.  Denn  nun  hatten  die  Vertreter 
der  neuen  Freiheitsrichtungen  ein  Leichtes,  in  den  neuentstandenen  Werken  mit  Entsetzen  auf  das 
Mechanische  der  Sonatenform  hinzudeuten  und  an  dem  widrigen  Formgeruch  zu  beweisen,  um  wieviel 
besser  doch  ihre  eigenen  Bestrebungen  sich  dazu  eignen,  die  Tonkunst  zu  fördern  und  von  der  leidigen 
Sonatenform  zu  erlösen. 

Ein  Genie,  wie  Richard  Wagner,  konnte  in  seinem  berühmten  Aufsatz  „Beethoven"  aus  dem 
Jahre  1870,  z.  B.  folgende  Sätze  schreiben: 

„Eine  weite  Kluft  trennte  den  wunderbaren  Meister  der  Fuge  von  den  Pflegern  der  Sonate.  Die 
Kunst  der  Fuge  ward  von  diesen  als  ein  Mittel  der  Befestigung  des  Studiums  der  Musik  erlernt,  für 
die  Sonate  aber  nur  als  Künstlichkeit  verwendet:  die  rauhen  Consequenzen  der  reinen  Contrapunktik 
wichen  dem  Behagen  an  einer  stabilen  Eurythmie,  deren  fertiges  Schema  im  Sinne  italieni- 
scher Euphonie  auszufüllen  einzig  den  Forderungen  an  die  Musik  zu  entsprechen 
gchien.  In  der  Haydn'schen  Instrumentalmusik  glauben  wir  den  gefesselten  Dämon  der  Musik  mit  der 
Kindlichkeit  eines  geborenen  Greises  vor  uns  spielen  zu  sehen."  Oder  an  anderer  Stelle:    „der  ,  Vernunft' 

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36 

seiner  Kunst  begegnete  er  nur  in  dem  Geiste,  welcher  den  formellen  Aufbau  ihres  äusseren  Gerüstes 
ausgebildet  hatte.  Das  war  denn  eine  gar  dürftige  Vernunft,  die  aus  diesem  architektoni- 
schen Periodengerüste  zu  ihm  sprach,  wenn  er  vernahm,  wie  selbst  die  großen  Meister  seiner 
Jugendzeit  darin  mit  banaler  Wiederholung  von  Phrasen  und  Floskeln,  mit  den  genau 
eingeteilten  Gegensätzen  von  Stark  und  Sanft,  mit  den  vorschriftlich  recipirten  gravitätischen 
Einleitungen  von  so  und  so  vielen  Takten,  durch  die  unerlässliche  Pforte  von  so  und  so 
vielen  Halbschlüssen  zu  der  seligmachenden  lärmenden  Schlußkadenz  sich  be- 
wegten". Oder  etwas  später:  „Verlangte  Haydn's  Fürst  stets  bereite  neue  Unterhaltung,  so  musste 
Mozart  nicht  minder  von  Tag  zu  Tag  für  etwas  Neues  sorgen,  um  das  Publicum  anzuziehen ;  Flüchtig- 
keit in  der  Conception  und  in  der  Ausführung  nach  angeeigneter  Routine,  wird  ein  Haupterklärungs- 
grund für  den  Charakter  ihrer  Werke." 

So  hatte  selbst  eines  Wagners  Auge  nichts  von  alldem  gesehen,  was  an  herrlichster,  seitdem 
nie  wieder  erreichter  Freiheit  in  den  Werken  jener  Meister  lag,  nichts  von  alldem,  was  gesehen  werden 
sollte  und  auch  gesehen  werden  konnte;  er  sah  nicht, ,  daß  das  Genie  eines  Haydn  oder  eines  Mozart 
nur  bis  zu  einem  minimalen  Grade  dem  Schicksal  seinen  Tribut  entrichten  mußte,  jedenfalls  aber 
darüber  hinaus  noch  so  viel  Kraft  entwickelte,  daß  es  noch  lange  nicht  das  Beste  der  Musik,  nämlich 
die  Freiheit  des  Ausdruckes  zu  opfern  genötigt  war;  daß,  einmal  an  der  Arbeit,  das  Genie  in  ihnen 
selbst  schon  dafür  sorgte,  daß  alles  aufs  Beste  gerate.  Darin  offenbarte  sich  eben  ihr  Genie:  Wie 
das  Werk  wurde,  siehe,  es  ward  gut.  Wollte  auch  das  Schicksal  sie  knechten  und  niederringen,  so  gab 
sie  das  Genie  immer  wieder  frei  —  vor  „Fürsten",  wie  vor  „Publikum"  —  in  allen  ihren  Schöpfungen. 
Selbst  in  dem  kleinsten  ihrer  Werke  sind  fürwahr  der  stolzen  Züge  noch  genug,  wie  sie  seither  Keinem 
nach  ihnen  zu  offenbaren  gegeben  war  —  nicht  bei  größter  Gunst,  geschweige  denn  bei  Mißgunst  der 
äußeren  Lebensschicksale. 

Und  so  glaube  ich  denn,  daß  es  des  laufenden  Jahrhunderts  vornehmste  Aufgabe  sein  wird, 
gut  zu  machen,  was  der  Irrtum  des  verflossenen  entstellt  hat;  insonderheit  aber  hoffe  ich,  daß  man 
bald  auch  die  Bedeutung  der  technischen  Mittel  im  oben  angedeuteten  Sinne  einsehen  wird,  —  welche 
Einsicht  dann  sicherlich  zur  nächsten  führen  muß,  wonach  Programm  und  Musikdrama  eher  als 
Hindernisse  der  musikalischen  Freiheit,  denn  als  deren  Sporn  und  Segen  sich  erweisen.  Dann  wird  man 
wohl  auch  begreifen,  daß  der  Atem  der  Musik  nur  ein  künstlicher  ist,  wenn  ihr  ein  Programm  von 
Vorstellungen  oder  Worten  eingeblasen  wird ;  daß  alle  Lebendigkeit  in  solchen  Fällen  nur  eine  geborgte, 
künstliche  und  unnatürliche,  und  daß  die  Vorgefaßtheit  —  der  Tod  aller  Kunst  —  wie  Schweißperlen 
namentlich  auf  die  Stirne  der  musikalischen  tritt.  Man  wird  sich  dann  fragen,  warum  denn  die 
wiedergespiegelte  Freiheit  einer  fremden  Kunst  vorziehen  der  eigenen,  wenn  diese  schon  einmal  so 
herrlich  geblüht  und  noch  bis  zur  Stunde  ihre  Lebensfähigkeit  nicht  eingebüßt  hat!? 


V, 

Einige  Anmerkungen  zu  den  spezielleren  Vorzügen  in  den  Bach'schen  Klavier- 
werken. 

Im  Anschluß  an  die  Analyse  der  Vorzüge  der  Bachschen  Klavierwerke  im  Allgemeinen  sei 
mir  nun  gestattet,  auch  im  Speziellen  auf  einige  besonders  hervorragende  Züge  in  meiner  Ausgabe 
kurz  hinzuweisen.  Darf  ich  mich  nun  nach  der  vorausgegangenen  theoretischen  Ausführlichkeit  der 
Hoffnung  hingeben,  daß  keinem  fachkundigen  Leser  mehr  die  Herrlichkeiten  dieser  Werke  noch  ver- 
borgen bleiben  könnten,  so  möchte  ich  mich  dennoch  nicht  der  gewiß  nicht  sehr  verlockenden  Pflicht 
entschlagen,  zu  Gunsten  fachlich  etwas  weniger  vorgebildeten  Leser  einen  Cicerone  zu  machen,  wofür 
ich  aber  die  Nachsicht  der  Kundigeren  mir  erbitten  muß. 

Andante  der  Sonate  I,  pag.  6.  Im  Takt  8  beachte  man  den  Eintritt  des  neuen  Gedankens 
bei  beginnender  Modulation;  dann  sehe  man,  wie  derselbe  Gedanke  noch  in  den  Takten  20  bis  21, 
33  bis  35  und  den  beiden  letzten  Takten,  u.  zw.  allemal  mit  je  einer  anderen  psychologischen  Funktion, 
wiederkehrt.  —  In  den  Takten  29  bis  31  genieße  man  den  Ausdruck  des  Motivs,  wie  er  besonders, 
durch  den  Wechsel  von  /  und  p  gesteigert  wird. 

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17 

Allegretto.  derselben  Sonate  pag.  7.  Welche  Wirkung  des  neuen  und  so  seelenvollen 
Motivs  in  der  „Kadenz"  der  letzten  vier  Takte  des  ersten  Teiles:  ist  dies  wirklieb  nichts  mehr,  als  bloß 
das,  was  man  gemeinhin  Kadenz  nennt? 

Allegro  der  Sonate  II,  pag.  13.  Außer  der  bereits  zitierten  Gruppe   (Takte  6  bis  17)  sei 

hier  die  Wiederkehr  des  ersten  Gedankens  (Takte  1  bis  3)   als  eines  Schlußgedankens  —  in  d-dur  

hervorgehoben.   Dieser   bei  Bach   öfter    anzutreffende   Zug  hat   offenbar  auch   die  spätere    Praxis  der 
Klassiker  beeinflußt. 

Allegretto  der  Sonate  III,  pag.  19.  In  den  Takten  7  bis  8  eine  eruptive  Modulation  — 
sicher  weit  mehr  Gedanke,  als  bloß  mechanische  Modulation.  —  Über  Anregung  des  Taktes  8  sodann, 
welche  Fortsetzung  in  den  Takten  9  bis  10  (im  p),  und  wie  voll  humoristischer  —  motivischer  wie 
dynamischer  —  Kontraste  der  Schlußgedanke! 

Sonate  IV,  pag.  21.  Im  Takte  5  der  Knotenpunkt  zu  beachten.  —  Im  Takte  8  ein  neuer 
Gedanke  über  der  Dominante  der  neuen  Tonart.  —  Im  Takte  14  Einsatz  des  Gedankens  beim  dritten 
Viertel.  —  Im  Takte  16  eine  bescheidene  Rückerinnerung  an  Takt  6. 

Andante  drs.  Sonate,  pag.  24.  Hier  besonders  zu  beachten  die  Rückmodulation  von 
c-  nach  /-dur:  namentlich  das  Cantable  der  Takte  20  bis  21  —  welches  Singen  auf  dem  Klaviere  und 
doch  wie  rein  klaviermäßig  nur! 

Allegro  di  molto  drs.  Sonate,  pag.  26.  In  den  Takten  5  bis  8  jede  harmonische  Station 
zugleich  ein  neues  gedankliches  Ereignis,  voll  Geist  und  Witz.  Außerdem  bemerkenswert  die  Wieder- 
kehr des  ersten  Motivs  am  Schluß  des  Teiles. 

S  o  n  a  t  e  V,  p  a  g.  30.  Der  mensurierte  und  scharf  rhythmisierte  Mordent  des  Taktes  1  (linke  Hand) 
wird  zu  einem  Motiv,  das  den  ganzen  Satz  geistig  bindet:  vergl.  Takte  5,  8,  12,  13,  27  und  39. 

Poco  Adagio  drs.  Sonate,  pag.  38.  Das  Motiv  des  dritten  Viertels  vom  Takt  2  tritt  führend 
im  ersten  Viertel  de3  Taktes  6  auf;  es  diminuiert  sich  zu  32teln  in  den  Takten  8,  9,  11,  13  u.  zw. 
in  allen  diesen  Takten  wieder  verschieden  individualisiert  durch  Unterschiede  im  legato,  non  legato 
sowie  im  Umfang  des  Legato-Bogens.  —  In  der  Gruppe  Takte  6  bis  14  ist  die  stete  Bereitschaft  der 
ausdruckvollen  und  singenden  Wendungen  zu  bewundern,  die  schöne  Mischung  von  a-dur  und  a-moll 
(in  den  Takten  11  bis  12)  und  der  Beginn  der  Dominante  zur  Eröffnung  des  a-moll. 

Allegro  drs.  Sonate,  pag.  42.  Man  bemerke  die  Situationen  der  Takte  8,  25,29,  36.  Sehr 
überraschend  und  originell  ist  die  Lage  der  Takte  36  bis  38,  zwischen  den  parallelen  Gruppen  29  bis  36 
und  39  bis  46.  Ist  das  auch  nichts  als  bloß  die  übliche  Form?! 

Sonate  VI,  pag.  48.  Zusehen:  Der  Effekt  des  jfp  in  dem  Takte  23  u.  f.,  die  Mannigfaltig- 
keit und  Gegensätzlichkeit  der  Bestandteile,  aus  denen  der  /-dur-Gedanke  (Takte  17  bis  24)  zusammen- 
gesetzt ist,  die  tiefsinnige,  rezitativische  Sprache  der  Durchführung  und,  als  besonders  interessant,  in  den 
Takten  45  bis  52   die  Transposition   des   Schlußgedankens   noch  in  die  Durchführung  vor  der  Reprise. 

Cantabileemesto  (drs.  Sonate),  pag.  53.  Dieses  Stück  wäre  man  geneigt,  als  einen  der 
höchsten  Gipfel  der  B achschen  Kunst  zu  bezeichnen.  Keinerlei  Wort  ist  beredt  genug,  die  Tiefe  der 
Empfindung  auszudrücken,  die  einen  solchen  Inhalt  aufzurollen  vermag,  so  ohne  Hemmung  und  Stillstand, 
nur  immerzu  strebend,  der  nächsten  Vision,  dem  nächsten  Augenblick  entgegen,  und  doch  wieder  zugleich 
eine  jede  Gegenwart  aufs  Tiefste  und  Innigste  erfüllend.  Im  besonderen  sehe  man  die  Taktgruppe, 
12  bis  35  —  welches  Ganze  und  welche  Teile!  —  und  in  ihr  die  Mischung  von  6-dur  und  6-moll  (in 
den  Takten  16  bis  23).  —  Ferner  bewundere  man  die  freien  Gedanken-Permutationen  in  der  Reprise 
die  ab  Takt  37  läuft:  zunächst  werden  Engführungen  —  wahrlich  eine  kleine,  große  Welt  für  sich!  — 
eingeschaltet,  besonders  genial  in  den  Takten  43  bis  46;  die  Situation  des  Taktes  52  ist  nun  die  gleiche, 
wie  die  des  Taktes''ll,  und  entgegen  aller  Erwartung  folgt  nicht  etwa  der  Inhalt  der  Takte  12  u.  s.  w., 
sondern  ein  neuer  Gedanke  in  den  Takten  53  bis  60;  erst  in  dm  Takten  61  bis  62  lenkt  die  Reprise 
wieder  ein,  indem  sie  den  Inhalt  der  Takte  26  bis  27  aufnimmt;  gleichwohl  wird  dann  urplötzlich  mit 
seltsamster  Freiheit  noch  der  Inhalt  des  Taktes  8  bis  9  eingeschaltet,  bis  endlich  11  Takte  vor  Schluß 
die  Reprise  wieder  an  Takt  28  anknüpft  und  von  hier  aus  mit  freier  Kadenz  sich  vollständig  abrollt.  — 
In  thematischer  Hinsicht  wäre  zu  beachten,  wie  sich  das  Grundmotiv  des  Taktes  1  verkleinert  wieder- 
findet.   Es  wäre  nicht  unmöglich,    daß  gerade   von   diesem  Grundmotive   auch   die   Umkdirung   in   den 

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Takten  12  bis  14,  wie  die  gerade  Bewegung  im  Takt  15  (vergl.  hiezu  auch  Takt  24)  herrühren.  Andere 
Funktionen  desselben  Motivs  sind  zu  finden  in  den  Takten  6,  22,  37  u.  s.  w. 

Sonate  VII,  pag.  57.  Parallelismus  der  Takte  14  bis  15  zu  1  bis  2  —  ein  Vorbild  für  die 
späteren  Klassiker!  Das  Pathos  in  der  Durchführung,  die  entzückenden  Ornamente  in  der  Reprise! 

Larghetto  drs.  Sonate,  pag  60.  Feinste  dynamische  Nuancierung.  Die  Situationen  der 
Takte  9  bis  13.  Die  Harmonien  in  den  Takten  29  bis  32.  Am  Schlüsse  noch  das  hohe  Pathos,  wie  es 
später  nur  Beethoven  allein  eigentümlich  gewesen. 

Allegro  assai  drs.  Sonate  pag.  62.  Das  Überstürzen  immer  neuer  Gedanken,  voll  jenes 
kuriosen  Humors,  wie  ihn  dann  Haydn  so  einzig  wieder  zu  treffen  gewußt  hat:  wie  sehr  erinnert  doch 
an    ihn    die   kleine    Fermate    in    den    Takten    27  bis.  28,    noch    mehr   das   überhängende   eis    in   Takt 

38  bis  39. 

Sonate  VIII,  pag.  66.  Herrlichstes  Pathos  der  Stimmung.  Die  Wucht  der  Takte  21  bis  22, 
denen  man  durchaus  aber  die  Takte  31  bis  32  gegenüberstellen  wolle.  In  der  Durchführung  wird 
offenbar  das  erste  Motiv,  beziehungsweise  dessen  Anfang  verarbeitet,  wie  auch  die  gebrochenen  Triolen 
in  den  Takten  45,  47  und  55  wohl  darauf  zurückzuführen  sein  mögen. 

Andante  drs.  Sonate,  pag.  70,  In  den  Takten  6  bis  10  fällt  die  Verschiedehartigkeit  der 
Elemente,  die  die  Modulation  bedeuten,  auf;  in  den  Takten  12  bis  13  die  absonderlich  originelle 
Dynamik:   parallel  verlaufend   zwei  entgegengesetzte  dynamische  Skalen,  nämlich  /  —  piü  /  —  ff  und 

p  pp  —  p,    so    daß,    während    sich   in    der    einen   Skala  /  bis    zum    piü  /  steigert,    gleichzeitig 

in  der  zweiten  p  zum  pp  heruntersinkt.  Die  Takte  19  bis  21  enthalten  zwar  nur  eine  Kadenz  (nach  i-moll), 
jedoch  welche  Seele  ist  dieser  Kadenz  eingewoben,  und  wie  klingt  es  nur  voller  Worte  dieses  mysteriöse, 
tiefsinnige  Rezitativ !  —  Welche  Kühnheit,  ein  Motiv,  wie  das  des  Basses  vom  Takt  1  in  die  Sopranlage 
zu  versetzen,  siehe  Takt  24!  Und  nun  gar  erst  das  Ereignis  des  Taktes  27,  das  in  dieser  Art  wohl 
einzig  in  der  Gesamtliteratur  dasteht,  ein  Beispiel  genialster  Romantik !  (Vielleicht  könnte  man  höchstens 
als  nahe  verwandt  die  Stelle  in  Haydns  Klaviersonate  cismoU1),  1.  Satz  und  als  ferner  verwandt  die 
berühmte  Hornstelle  aus  der  Eroica-Symphonie  Beethovens2)  knapp  vor  der  Reprise  ansehen.) 

Der  Inhalt  des  Ereignisses  ist:  im  Takte  26  bis  27  eine  kleine  Kadenz  nach  c-moll;  hierauf 
folgen  Pausen  von  3  Vierteln,  wo  dann  mit  Beginn  des  Taktes  28  die  Reprise  in  /-dur  einsetzt,  u.  zw. 
indem  die  Tonika  selbst  die  Harmonien  eröffnet.  Sieht  man  von  den  Pausen  ab,  so  ist  es,  harmonisch 
betrachtet,  eine  Folge  von  c  es  g  und  /  a  c,  beider  Akkorde  aber  mit  Tonika-Bedeutung.  Bülow  bespricht 
diese  Stelle  ausdrücklich  im  Vorwort  seiner  Ausgabe  und  nennt  sie  „eine  ziemlich  wundersame  Ellipse 
oder  Aposiopese,  die  mir  zu  kantig  erschien,  als  daß  sie  nicht  hätte  vermittelt  werden  sollen",  und  kurz 
zuvor  „eine  grammatikalische  Kühnheit  von  großer  Seltenheit,  der  gegenüber  ich  mich  reaktionär  ver- 
halten zu  müssen  geglaubt  habe".  So  sehen  wir  also,  wie  einen  der  freiesten  Söhne  des  XIX.  Jahr- 
hunderts Kobolde  einer  naiven  Grammatik  —  weiß  der  liebe  Himmel,  an  welche  er  daefete  —  necken, 
wo  ein  Genie  des  XVIII.  Jahrhunderts  ein  Machtwort  gesprochen.  Fast  kindisch  mutet  einem  die  heiße 
Bemühung  an,  hier  zwischen  c-moll  und  /-dur  zu  vermitteln,  um  so,  mit  gutem  Erfolge,  den  Meister 
—  um  eine  seiner  genialsten  Ideen  zu  bringen.  Auch  Bach  wird  doch  wohl  gewußt  haben,  daß  c  e  g 
nach  /-dur  besser  führt  als  c  es  g;   auch   davon   wird  er  wohl   gewußt   haben,   daß  jeder  musikalische 


Pf  P 


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U.S.  IC. 


moll 


Die  Kühnheit  dieser  Stelle  beruht  darauf,  daß  auf  gis  $  \  =  V  in  eis  T^ii  )  gar  gis  t]  \  als  =  I  in  gis  —  -  )  folgt. 
Beide  Harmoniefolgen  aber,  sowohl  die  oben  zitierte  bei  Ph.  Em.  Bach  als  die  von  Haydn,  wirken  sicher  über- 
raschender und  hinreißender,  alp  die  heute  so  stark  ge-  bezw.  mißbrauchten  Polgen  von  Terzschritten  mit  Chroma 
( vergl.  Bd.  I,  §  141,  176). 

■)  Vergl.  Theorien  und  Phantasien,  Bd.  I,  §  88. 


U.-E.  812. 


19 

Mensch  dasselbe  harmonische  Gefühl,  denselben  Instinkt  zur  Diatonie  hat:  wenn  er  gleichwohl  unter- 
lassen hat,  selbst  fürsorglich  c  es  g  in  c  e  g  zu  chromatisieren,  —  sollte  man  nicht  gerade  darum 
annehmen,  er  habe  viel  eher  auf  den  Instinkt  des  Zuhörers  gerechnet,  als  daß  er  ibn  hätte  gar  ver- 
letzeu  und  zurückweisen  wollen?  Hat  er  doch  offenbar  für  diesen  noch  eigens  die  Pausen  geschaffen 
damit  er  durch  die  Erwartung  des  Kommenden  zu  einer  eigenen  Mittätigkeit  aufgestachelt  werde. 
Kommt  nun  der  /-dur-Dreiklang,  wie  leicht  hat  es  der  Zuhörer  zu  merken,  was  der  Autor  von  ihm 
verlangt:  daß  er  nämlich  selbst,  aus  dem  eigenen  Instinkt  heraus,  die  hier  nötige  Chromatisierung  des 
c  es  g  nach  c  e  g  vollziehe.    Es  verschlägt   nichts,   daß  ihm   erst   mit   dem  Eintritt  des  /-dur- Akkordes 

die  Tendenz  des  Autors,  hezw.  der  Pausen  offenbar  wird:    ist  doch   alle  Musik  —  wie  bekannt  von 

Haus  aus  auf  ein  ähnliches  a  posteriori  gestellt.  —  Indessen  scheint  der  Meister  mit  alledem  sich  noch 
lange  nicht  erschöpft  zu  haben  in  diesem  Satze.  Wie  muß  man  nur  staunen,  wenn  er  den  Inhalt  des 
Taktes  19  bis  21  (die  oben  bereits  zitierte  „Kadenz")  —  das  ohnehin  Originellste  und  Differenzierteste, 
das  von  Hause  aus  schon  jede  weitere  Veränderung  auszuschließen  scheint  —  kurz  vor  Schluß  dennoch 
zu  variieren  noch  die  Kraft  und  Lust  aufweist. 

Andantino  grazioso  drs.  Sonate,  pag.  73.  Hier  beachte  man  dringend  die  Situationen 
in  den  Takten  14  und  16;  die  Vielheit  der  Ideen  von  Takt  17  bis  Ende  des  Teiles,  und  nicht  zuletzt 
die  originellen  Harmonien  der  Durchführung. 

Sonate  IX,  pag.  76.  Voll  grandiosester  Phantasie.  Durch  einen  Halbschluß  in  Takt  7  wird 
die  Gruppenbildung  der  Takte  1  bis  11  ermöglicht:  welches  Vielerlei  aber  von  Elementen  und  Kontrasten 
setzen  den  Inhalt  dieser  Gruppe  zusammen!  Da  in  den  Takten  11  bis  14  und  20  bis  22  die  Bässe 
der  Takte  1  bis  2  (g  fis  e  d  c)  wieder  aufgenommen  werden,  muß  man  nicht  daraus  auf  eine  pro- 
grammatische Absicht  des  Meisters  schließen?  Und  erinnert  das  nicht  einigermaßen  an  die  Vorliebe 
Beethovens  für  derlei  programmatische  Bässe,    wie  z.  B.  im  ersten  Satze  des  Streichquartetts,  op.  132: 


T.  1-2. 
Vcll. 


T.  7-8. 


'ff    f 


Auffallend  ist  ferner  in  Takt  22  bis  23  der  Parallelismus  zu  Takt  10;  ist  Derartiges  etwa 
schematisch  zu  nennen?  Es  wird  auch,  hoffe  ich,  den  Spielern  nicht  entgehen,  wie  genau  in  den 
Brechangen  des  Taktes  24  Vierundsechzigstel  von  Hundertachtundzwanzigsteln  unterschieden  werden  — 
eine  Genauigkeit,  welche  später  vielfach  für  Haydn  und  Beethoven  vorbildlich  geworden. 

Andante  drs.  Sonate,  pag.  80.  Eine  Improvisation,  eine  Eloquenz  sondergleichen!  Daß  die 
Harmonien  nach  6-dur,  /-möll,  <7-moll  u.  s.  w.  modulieren,  ist  ja  sicherlich  nicht  unwahr  —  aber  wie 
nüchtern  und  prosaisch  wäre  es,  es  besonders  zu  betonen.  Was  wären  denn  hier  alle  Modulationen  ohne 
jenes  herrliche  -kolztx  per  der  Ideen,  die  unseren  Geist  in  jene  erhabenen  Höhen  entführen,  wo  alles 
Materielle  der  Diatonien  aufhört?!  Stellt  man  Takte  9  bis  10  den  Takten  25  bis  26  gegenüber,  ebenso 
Takte  11  bis  12  den  Takten  30  bis  31,  so  findet  man,  daß  die  Takte  27  bis  29  —  weil  den  Takten 
7  bis  8  ähnlich  —  eigentlich  vor  den  Takten  25  bis  26  hingehört  hätten,  während  sie  de  facto  erst 
nach  diesen  zu  stehen  kommen:  also  wieder  einmal  eine  Gedanken-Permutation,  die  mit  einem  Schema 
wahrhaftig  nichts  gemein  hat. 

AUegro  di  molto  drs.  Sonate,  pag.  82.  Besonders  beachtenswert:  Die  Gruppenbildungen, 
die  reizende  Mischung  von  cü-dur  und  d-moll  in  den  Takten  26  bis  37;  nicht  genug  anzustaunen  jedoch 
die  Kühnheit  der  Folge  von  es  auf  e  g  ä,  pag.  84,  Takt  23:  wer  macht  heute  dergleichen  mit  ähnlicher 
Motivierung?  Welches  Improrisieren  nun  aber  erst  hinter  es ! 

Nr.  10,  pag.  86.  Besonders  lehrreich  die  über  ais  komponierte  Kadenz,  pag.  87,  Takt  21  bis  24 
von  dem  Sentiment  des  Stückes  gar  nicht  zu  reden. 

Nr.  11,  pag.  88.  Delikateste  Vorhalte  in  den  Takten  4  und  5,  denen  man  pag.  89,  Takt  11, 
12  und  13  gegenüberstellen  möge. 

U.-E.  812. 


20 

Nr.  12,  pag.  92.  Welche  phantastische  Romantik,  welche  Chromatik  und  Enharmonik,  und 
welche  Virtuosität  —  vergleicht  man  Takte  16  bis  17   und   34  bis  35  mit  Takt  1  und  2    —  in  den 

Variationen ! 

Nr.  13,  pag.  94.  In  den  Takten  5  bis  13,  welche  Vielheit  und  Mannigfaltigkeit  in  so  kleinem 
Räume;  wie  so  lieblich  drängen  hier  die  Teilchen,  und  wie  löst  das  eine  das  andere  so  rasch  ab,  als 
gelte  es  ihm  das  Wort  vom  Munde  zu  nehmen. 

Nr.  14,  pag.  96.  Ein  seither  kaum  wohl  wieder  erreichtes  Beispiel  eines  Rondo,  dem  sich  eine 
herrlichste  Variationenkunst  zugesellt.  Haben  darüber  nicht  schon  die  vorausgegangenen  Werke  genügend 
belehrt,  so  wolle  der  Spieler  hier  endlich  einsehen,  was  alles  als  Veränderungen  vor  Bach  bestenfalls 
zu  gelten  das  Recht  habe,  was  alles  mehr  nämlich,  als  bloß  die  so  unbeholfenen  und  linkischen 
Wendungen,  mit  denen  Bülow  den  Inhalt  zu  beglücken  sich  herausnahm.  Angesichts  eines  solchen  Werkes 
sollte  es  doch  endlich  jedermann  begreiflich  werden,  wie  mindestens  unwahrscheinlich  es  sein  muß,  an- 
zunehmen, Bach  hätte  gerne  das  Recht  auf  Variationen  dem  Spieler  eingeräumt,  trotzdem  er  wohl  sicher 
wissen  mußte,  daß  keiner  ihm  an  Phantasie  gleichkomme.  —  Zwischen  den  Repetitionen  des  Themas 
selbst,  welcher  Wechsel,  welche  Mannigfaltigkeit,  so  z.  B.  pag.  97,  Takt  3  bis  9;  pag.  97,  Takt  18  bis 
Takt  10  der  nächsten  Seite;  pag.  98,  Takt  23  bis  Ende  der  Seite  99  u.  s.  w.  —  Um  die  Disposition 
des  Stückes  zu  verstehen,  ist  es  nicht  unwesentlich,  das  Senken  des  Inhaltes  von  #-dur,  pag.  98,  Takt  11, 
zu/-dur,  pag.  100,  Takt  1,  und  von  hier  wieder  zu  e-dur,  pag.  101,  Takt  1,  zu  beachten. 


VI. 
Vom  Vortrag  der  Bachschen  Werke. 

Nun  noch  einige  Worte  über  den  Vortrag  der  Stücke,  hauptsächlich  über  das  Tempo  und  die 
Taktfreiheit. 

Im  allgemeinen  hat  man  das  Tempo  in  den  Kompositionen  Bachs  —  wie  überhaupt  in  denen 
der  alten  Meister  —  um  ein  bedeutendes  langsamer  zu  nehmen,  als  dies  ein  modernes  Ohr  fürs  erste 
vielleicht  zugeben  möchte.  Insbesondere  hüte  man  sich  zu  glauben,  die  Bewegungsmaße,  wie  z.  B. 
Adagio,  Andante,  Moderato,  Allegro,  Presto  u.  dergl.,  seien  absolute  und  etwa  von  vornherein  fest- 
stehende Maße  und  daher  vom  Abstrakten  auf  das  konkrete  Stück  nur  so  ohne  weiteres  anzuwenden. 
Vielmehr  prüfe  man  in  jedem  einzelnen  Falle,  in  welchem  Zusammenhange  mit  dem  Ausdruck  des 
Inhaltes  die  Notierung  des  %,  %,  %  etc.  stehe,  und  lasse  sodann  den  konkreten  Inhalt  selbst  — 
aber  nur  diesen  allein  ■ —  darüber  entscheiden,  welcher  Grad  von  Bewegung  ihm  nottue,  damit  er  eben 
„langsam"  (adagio)  oder  „heiter"  (allegro)  u.  s.  w.  erscheine  und  dadurch  der  ursprüngliche  und  —  in 
den  klassischen  Werken  wohl  einzig  richtige  —  natürliche  Sinn  jener  Kunstwörter  zum  Ausdruck 
komme.  Wir  können  uns  auch  in  dieser  Hinsicht  auf  den  Meister  selbst  berufen;  denn  in  §  10  des 
III.  Hauptstückes  schreibt  Bach:  „Der  Grad  der  Bewegung  läßt  sich  so  wohl  nach  dem  Inhalte  des 
Stückes  überhaupt,  den  man  durch  gewisse,  bekannte  italiänische  Kunst- Wörter  anzuzeigen  pflegt,  als 
besonders  aus  den  geschwindesten  Noten  und  Figuren  darinnen  beurtheilen.  Bey  dieser  Untersuchung 
wird  man  sich  in  den  Stand  setzen,  weder  im  Allegro  übereilend,  noch  im  Adagio  zu  schläfrig 
zu  werden."  —  Es  erweist  sich  der  musikalische  Inhalt  z.  B.  der  ältereD  Allegrostücke  daher  oft  auch 
schon  bei  verhältnismäßig  geringerer  Schnelligkeit  „heiter"  genug,  und  es  ist  sicherlich  ein  Mißgriff, 
wenn  wir  ihnen  lediglich  einer  vorgefaßten,  abstrakten  Allegrovorstellung  zuliebe  jene  intensive 
Schnelligkeit  geben,  die  man  ihnen  heutzutage  —  ob  nicht  auch  die  moderne  Nervosität  mit  Ursache 
davon  sein  mag?  —  gar  oft  zu  ihrem  Schaden  zuzumuten  liebt.  So  wäre  z.  B.  eine  mäßigere 
Schnelligkeit  zu  wünschen  u.  a.  im  Allegretto  pag.  7,  in  der  Sonate  IL,  pag.  9,  im  Allegro  drs.  Sonate, 
pag.  12,  in  der  Sonate  III,  pag.  16  u.  s.  w.  Man  hat  eben  niemals  zu  vergessen,  daß,  wie  Bach 
(a.  a.  0.)  sagt,  die  bekannten  italienischen  Kunstwörter  doch  nur  „den  Inhalt  des  Stückes  anzuzeigen 
pflegen",  nicht  aber  den  Grad  der  Bewegung  —  wie  man  irrtümlich  glaubt  —  andeuten.  Das  Ver- 
fahren nun,  welches  darin  besteht,  den  Grad  der  Bewegung  durch  den  Charakter  des  Inhaltes  statt 
umgekehrt    bestimmen   zu  lassen,    führt  des  weiteren   auch   zur  Erkenntnis,    daß  in   vielen,   ja   in   den 

U.-E.  812. 


21 

meisten  Fällen  das  vom  Autor  gewünschte  Tempo  sich  selbst  bei  vornotiertem  2/4  oder  3/4  u.  s.  w.  eher 
gerade  noch  in  den  kleineren  Zeiteinheiten,  wie  z.  B.  8teln  und  16teln  als  in  den  größeren,  nämlich  4tela 
und  Halben  entscheidet. 

Hat  man  das  Tempo  im  allgemeinen  gefunden,  so  hat  man  nichtsdestoweniger  noch  die  Pflicht, 
nach  Bedarf  etwaige  Modifikationen  daran  im  Laufe  des  Stückes  anzubringen.  Bach  fordert  sie  aus- 
drücklich, z.  B.  im  §  8  des  III.  Hauptstückes:  „Wiewohl  man,"  —  sagt  er  — ■  „um  nicht  undeutlich 
zu  werden,  alle  Pausen  so  wohl  als  Noten  nach  der  Stränge  der  erwehlten  Bewegung  halten  rhuss,  aus- 
genommen in  Fermaten  und  Cadentzen:  So  kau  man  doch  öfters  die  schönsten  Fehler  wider  den 
Tackt  mit  Fleiss  begehen  doch  mit  diesem  Unterscheid,  dass,  wenn  man  alleine  oder  mit  wenigen  und 
zwar  verständigen  Personen  spielt,  solches  dergestalt  geschehen  kan,  daß  man  der  gantzen  Bewegung 
zuweilen  einige  Gewalt  anthut;  die  Begleitenden  werden  darüber,  anstatt  sich  irren  zu  lassen,  vielmehr 
aufmercksam  werden,  und  in  unsere  Absichten  einschlagen ;  daß  aber,  wenn  man  mit  starcker  Begleitung, 
und  zwar  wenn  selbige  aus  vermischten  Personen  in  ungleicher  Stärke  besteht,  man  bloß  in  seiner 
Stimme  allein  wider  die  Eintheilung  des  Tacktes  eine  Aenderung  vornehmen  kan,  indem  die  Haupt- 
bewegung desselben  genau  gehalten  werden  muß."  Ferner  heißt  es  daselbst  §  28:  daß  „man  aus  Affect 
bisweilen  so  wohl  die  Noten  als  Pausen  länger  gelten  läßt,  als  die  Schreib-Art  erfordert".  Endlich  er- 
klärt er  H.,  9,  §  3:  „Zuweilen  fermirt  man  aus  Affect,  ohne  dass  etwas  angedeutet  ist."  u.  s.  w. 

Es  ist  bekannt,  daß  man  solche  Tempoänderungen  seit  geraumer  Zeit  gerne  auch  Tempo 
rubato  nennt.  Anders  aber  Bach,  der  das  letztere  von  den  Modifikationen  im  allge- 
meinen sehr  deutlich  unterschied,  u.  zw.  nur  Stellen  wie  z.  B.  pag.  38,  Takt  5  (vergl.  daselbst 
Anmerkung  2),  pag.  76,  Takt  15,  pag.  77,  Takt  9  oder  pag.  17,  Takt  17—19  u.  dgl.  kurz  nur  solche 
Stellen,  wo  die  Zahl  der  naturgemäß  gebotenen  Einheiten  entweder  überschritten  oder  nicht  voll  erscheint. 
Zum  Beweis  dessen,  was  er  in  §  28  des  III.  Hauptstückes  sagt:  „Hierher  gehört  ferner  das  Tempo 
rubato.  In  der  Andeutung  desselben  haben  die  Figuren  bald  mehrere,  bald  wenigere  Noten  als  die 
Eintheilung  des  Taktes  erlaubt.  Man  kann  einen  Theil  des  Taktes,  einen  ganzen,  auch  mehrere  Takte, 
sozusagen  verziehen.  Das  Schwerste  und  Hauptsächlichste  hierbei  ist,  dass  alle  Noten  von  gleicher  Geltung 
auch  aufs  strengste  gleich  vorgetragen  werden  müssen.  Wenn  die  Ausführung  so  ist,  dass  man  mit  der 
einen  Hand  wider  den  Takt  zu  spielen  scheint,  während  die  andere  aufs  pünktlichste  alle  Takttheile 
anschlägt,  so  hat  man  gethan,  was  man  thun  sollen.  Nur  sehr  selten  kommen  alsdann  die  Stimmen 
zugleich  in  Anschlagen."  Es  war  daher  offenbar  ein  Mißverständnis,  wenn  selbst  ein  Mann  wie  Bülow 
ganz   entgegen  der  Absicht  des  Autors  solche  Rubatostellen   in  normale   Einteilung   zu   bringen   suchte. 


Die  hier  gewünschte  prinzipielle  Verlangsamung  des  Tempo  dürfte  indessen  dem  Spieler  nicht 
sonderlich  schwer  durchzuführen  sein,  wenn  er  sich  im  allgemeinen  der  non  legat o-Technik  befleißigen 
und  im  übrigen  bemühen  wird,  die  Manieren  im  Sinne  Bachs   so  sorgfältig  als  möglich  auszuführen. 

Hierher  gehören  folgende  Bemerkungen  Ph.  Em.  Bachs: 

IH.,  §  6.  Einige  Personen  spielen  klebericht,  als  wenn  sie  Leim  zwischen  den  Fingern  hätten. 
Ihr  Anschlag  ist  zu  lang,  indem  sie  die  Noten  über  die  Zeit  liegen  lassen.  Andere  haben  es  verbessern 
wollen,  und  spielen  zu  kurtz ;  als  wenn  die  Tasten  glühend  wären.  Es  thut  aber  auch  schlecht.  Die  Mittel- 
strasse ist  die  beste;  ich  rede  hievon  überhaupt;  alle  Arten  des  Anschlags  sind  zur  rechten  Zeit  gut"; 
und  daselbst  §  7:  „Es  müssen  aber  alle  diese  Manieren  rund  und  dergestalt  vorgetragen  werden,  daß 
man  glauben  sollte  man  höre  blosse  simple  Noten.  Es  gehört  hiezu  eine  Freybeit,  die  alles  sclavische 
und  maschinenmäßige  ausschliesset.  Au3  der  Seele  muß  man  spielen,  und  nicht  wie  ein  abgerichteter  Vogel." 

Es  ist  klar,  daß,  wo  eine  jede  Note,  und  sei  es  auch  ein  Zweiunddreißigstel,  in  ziemlich 
geschwindem  Zeitmaße  durch  einen  eigenen  Druck  ausgezeichnet  werden  soll,  (der  zugleich  aber  von 
der  Taste  infolge  ihrer  Elastizität  erwiedert  werden  muß,)  immerhin  der  Spieler  mehr  Zeit  darauf  ver- 
wenden muß,  als  bei  einer  anderen  Technik,  wie  dem  legato,  das  solchen  Druck  nicht  verlangt.  Das  Er- 
fordernis aber  des  non  legato  wäre  im  übrigen  mit  folgendem  zu  begründen. 

Auf  dem  Klaviere  ist  die  Anschlagsart  des  non  legato  sicher  eine  natürlichere  als  die  des  legato 
Oder  anders:  non  legato,  das  die  Elastizität  der  Taste  ganz  besonders  in  Anspruch  nimmt,  ist  der  primäre, 

U.-E.  8l&. 


22 


legato   dagegen   nur   ein   sekundärer  Zustand.   Daraus   folgt   nun   unzweifelhaft,  daß,   wo   der  Autor  ein 
legato  haben  möchte,  er  es  eigens  und  besonders  anzudeuten  habe,  u.  zw.   mit   dem  bekannten  Zeichen 

des  sogenannten  Legato-Bogens. 

Mindestens  für  Bach  scheint  dieser  Standpunkt  der  einzig  richtige.  Schreibt  er  doch  selbst  im 
§  18  des  III.  Hauptstückes:  „Die  Noten,  welche  geschleift  werden  sollen,  müssen  ausgehalten  werden, 
man  deutet  sie  mit  darüber  gesetzten  Bogen  an.  Dieses  Ziehen  dauret  so  lange  als  der  Bogen  ist."  und 
macht  er  doch  von  dieser  Pflicht  des  AndeiHens  des  legato  eigentlich  nur  zwei  Ausnahmen:  die  eine 
führt  Bach  im  selben  Paragraph  an:  „Man  pflegt  zuweilen  der  Bequemlichkeit  wegen  bey  Stücken,  wo 
viele  gestossene  oder  gezogene  Noten  hinter  einander  vorkommen,  nur  im  Anfange  die  ersternzu 
bezeichnen,  und  es  versteht  sich,  daß  diese  Zeichen  so  lange  gelten,  bis  sie  aufgehoben  werden."  Die 
zweite  Ausnahme  betrifft  einige  Manieren  wie  z.  B.  die  des  Trillers,  Vorschlags,  Schleifers  u.  s.  w.,  bei 
denen  er  „das  Ziehen  an  die  nächste  Note"  schon  theoretisch  ein  für  allemal  fordert  und  daher  auch 
sich  nicht  mehr  veranlaßt  sieht,  den  Legato-Bogen  ausdrücklich  noch  darüber  zu  setzen. 

Es  wird  daher  ratsam  sein,  von  selbst  ein  non  legato  überall  dort  anzunehmen,  wo  er  nicht 
eben  eigens  den  Legato-Bogen  vermerkt  hat.  Keinesfalls  aber  —  und  das  scheint  mir  die  Hauptsache  — 
darf  man  sich  biebei  irreführen  lassen  dureh  die  verworrene  und  unklare  Art,  wie  etwa  heutzutage  der 
Legato-Bogen  gebraucht  wird,  d.  i.  bald  wirklich  als  solcher,  bald  aber  als  Phrasierungsbogen  und  bald 
mit  irgend  einem  gemischten  Charakter.  Indessen  darf  das  non  legato  beileibe  nicht  mit  einem  staccatft 
verwechselt  werden.  Denn  die  Note  behält  im  non  legato  ihren  vollen  Wert,  nur  daß  sie  außerdem 
(ähnlich  wie  beim  non  legato  der  Geiger)  einen  eigenen  Druck  bekommt. 

Überdies  mag  man  das  non  legato  auch  aus  einem  historischen  Grunde  als  die  naturgemäßeste 
Art  die  ältere  Klaviermusik  zu  spielen  betrachten,  insofern  als  die  letztere  dem  noch  älteren  Vokalsatz 
(dem  a-cappella-Styl)  immerhin  näher  steht,  als  die  spätere  Klaviermusik,  und  somit  zwischen  dem 
ersten  durchaus  nur  auf  selbständigen  Dreiklängen  basierten  Stil  des  Vokalsatzes  und  dem  selbst- 
ständigen Druck  der  einzelnen  Töne  im  Vortrage  auch  der  Instrumentalsätze  immerhin  eine  eigen- 
tümliche Analogie  obwaltet.  Freilich  enthält  auch  der  Satz  Bachs  Elemente  des  echten  legato,  d.  i. 
des  legatissimo,   nur  sind   sie  bei   ihm  noch  nicht   so  vorherrschend   wie  in   der  späteren  Klaviermusik. 


Wie  bereits  kurz  angedeutet  wurde,  fordert  die  bequemere  Ausführung  der  Manieren  von  selbst 
das  langsamere  Tempo.  Diese  kausale  Wechselwirkung  von  Manieren  und  Zeitmaß  drückt  der  §  19  des 
II.  Hauptstückes  (erste  Abteilung)  —  freilich  in  einem  anderen  Zusammenhange  (Bach  will  an  dieser 
Stelle  nämlich  zunächst  nur  einen  theoretischen,  kompositioneilen  Rat  erteilen,  wie  man  „am  gemäßesten 
die  Manieren  anzubringen  habe!)  —  folgendermaßen  aus:  „Alle  Manieren  erfordern  eine  proportionirte 
Verhältnis  mit  der  Geltung  der  Note,  mit  der  Zeit-Masse  und  mit  dem  Inhalte  des  Stückes.  Man 
merke  besonders  bei  denen  Fällen,  wo  unterschiedene  Arten  von  Manieren  statt  haben,  und  wo  man 
wegen  des  Affects  nicht  zu  sehr  eingeschränckt  ist,  dass,  je  mehr  Noten^  eine  Manier  enthältj 
desto  langsamer  die  Note  sein  muss,  wohey  sie  angebracht  werden  soll,  ei 
entstehe  übrigens  diese  Langsamkeit  aus  der  Geltung  der  Note  oder  aus  dei 
Zeit-Masse  des  Stückes.  Das  brillante,  welches  die  Manier  hervorbringen  soll,  muss  also  nichl 
dadurch  gehindert  werden,  wenn  zu  viel  Zeit-Raum  von  der  Note  übrig  bleibt;  im  Gegentheil  mUsi 
man  auch  durch  ein  allzuhurtiges  Ausüben  gewisser  Manieren  keine  Undeutlich 
keit  verursachen;  dieses  geschiehet  hauptsächlich,  wenn  man  Manieren  von  vielei 
Noten  oder  viele  Manieren  über  geschwinde  Noten  anbringet."  Und  an  anderer  Stelle 
im  §  21  desselben  Hauptstückes  heißt  es:  „Wir  sehen  also,  dass  die  Manieren  mehr  bey  langsamer  un( 
massiger   als   geschwinder   Zeit-Mass,    mehr   bey   langen   als   kurzen    Noten   gebraucht  werden  u.  s.  w.' 

Man  merke  gut,  wie  Bach  die  „lange  Note4'  definiert.  Unter  einer  solchen  versteht  er  nicht  bloJ 
die  lang  dauernde  Note  in  einem  langsamen  Stück,  wo  es  eben  schon  die  langsamere  Bewegung  über 
haupt  macht,  daß  die  Note  länger  dauert,  sondern  auch  eine  Note,  die  durch  ihre  eigene,  d  h.  absolut 
Geltung  von  längerer  Dauer  i*t,  mag  sie  auch  sonst  in  einem  Stück  von  geschwinderer  Beweguni 
stehen.  Wegen  der   letzteren  Art  langsamer  Noten  vergleiche  man  folgende  Stellen:  pag.  3,  Takt  $ 

U.-E.  812. 


im  Prestissimo  der  Sonate  I;  pag.  5,  Takt  3  und  13  daselbst;  pag.  7,  Takt  10  im  Allegretto  derselben 
Sonate  u.  s.  w.  Es  ist  freilich  klar,  daß  in  einem  langsamen  Stück  eben  wegen  des  langsameren  Zeit- 
maßes des  ganzen  schon  ein  J\  auch  ein  J  (vergl.  z.  B.  pag.  19,  Takt  6),  ja  selbst  ein  i  (vergl  z  B 
pag.  54.  Takt  27)  noch  immer  die  „lange  Note"  bedeuten  kann,  während  in  einem  geschwinderen  Stück 
wegen  des  rascheren  Tempos  erst  ein  }  oder  J  auf  diese  Wertbezeichnung  Anspruch  erheben  kann 
Als  wichtigste  Konsequenz  des  soeben  Gesagten  ergibt  sich  aber,  daß  der  Spieler  aus  der  Quantität 
wie  auch  aus  der  Art  der  Manieren  immer  einen  Rückschluß  auf  das  Tempo  des  betreffenden  Stückes 
wird  machen  dürfen,  u.  zw.  kommen  in  einem  gegebenen  Satz  notenreichere  Manieren  vor  wie  z  B 
der  „prallende  Doppelschlag"  (~)  oder  der  gewöhnliche  Doppelschlag  ü  b  e  r  einer  Note,  so  wird  immerhin 
ein  mäßigeres  Tempo  -  als  offenbar  vom  Autor  gewünscht  -  aus  diesem  Grunde  anzunehmen  sein 
Mit  desto  mehr  Recht,  je  öfter  sie  in  demselben  Stücke  erscheinen.  Man  vergleiche  hierzu: 

Larghetto  .  .  . 
Andante  .... 
Allegro  di  molto 
Allegro   .... 


Allegro  moderato 


pag.  12  wegen  der  Takte     2,     4,     7,  10,  13  u.  s.  f. 
»     24       «  n       t,  8,     9,  10,  18,  20 

n     2Q       r,         »        „  4,     6,     7, 


n     42       n  „        „  6,     7,  34,  45" 

n     ^       t>  n       n         10,  11,  15,  19 


n 


Zum  Schlüsse  mögen  noch  ein  paar  Worte  über  Fermaten  (vergl.  II,  9)  hier  Platz  finden 
Die  ausdrücklich  „durch  das  gewöhnliche  Zeichen  eines  Bogens  mit  einem  Punkte  darunter  (/*)«  ange- 
deuteten Fermaten  (§  2)  müssen  verziert  werden,  besonders  diejenigen  (§  4)  „in  langsamen  und  affectuösen 
Stücken".  Vergl.  z.  B.  pag.  41,  letzter  Takt,  pag.  73,  "System  4,  Takt  3,  pag.  103,  System  5,  Takt  4 
u.  s.  w.  Vom  Verzierungszwange  ausgenommen  werden  nur  Fermaten  über  Pausen,  die  (§  4)  „mehren- 
theils  im  Allegro  vorkommen  und  ganz  simple  vorgetragen  werden".  Die  Verzierungen  haben  „weit- 
läuft ig",  jedenfalls  weitläufiger  als  alle  übrigen  sowohl  in  Zeichen  als  auch  in  großen  Noten  dar- 
gestellten Manieren  zu  sein.  (Vergl.  §  4  des  Kapitels  über  Fermaten.)  Damit  stellt  freilich  Bach  an 
den  Vortragenden  durchaus  keine  geringen  Anforderungen,  denen  wohl  nicht  besonders  viele  gewachsen 
sind.  Dieses  Übel  erscheint  indes  schon  zu  seiner  Zeit  bestanden  zu  haben,  weshalb  der  Meister  sich 
veranlaßt  sah,  im  letzten  Paragraph  des  zitierten  Kapitels  noch  hinzuzufügen:  „Wer  die  Geschicklich- 
keit nicht  hat,  weitlaüftige  Manieren  hierbey  anzubringen,  der  kan  sich  zur  Noth  dadurch  helfen,  dass 
er  über  einem  vorkommenden  Vorschlage  von  oben  vor  der  letzten  Note  im  Discante  einen  langen  Triller 
von  unten  anbringet.  Findet  sich  aber  in  diesem  Falle  ein  Vorschlag  von  unten,  so  trägt  man  ihn  simpel 
vor,  und  macht  über  der  Hauptnote  den  erwehnten  langen  Triller.  Bey  Fermaten  ohne  Vorschlag  hat 
dieser  Triller  über  der  letzten  Note  im  Discante  ebenfalls  statt."  Ich  fürchte  fast,  das  dieser  Passus 
noch  mehr  für  uns  zu  gelten  haben  wird,  da  die  Stegreif-Phantasie  wohl  kaum  seither  reicher  geworden 
ist,  eher  aber  noch  abgenommen  hat. 


ü.-E.  812. 


24 


Die  Manieren. 


Allgemeines. 


Unter  Manier  versteht  Bach  prinzipiell  alle  ausschmückenden  Noten  und  Figuren,  seien  sie  nun 
mit  großer  Schrift  geschrieben,  daher  in  den  Takt  eingeteilt,  oder  auch  nur  in  kleinen  Nötchen  aus- 
gedrückt'). Als  Manieren  galten  ihm  also  z.  B.  Figuren,  wie  Fig.  1,  a,  b,  c,  d,  e,  ebenso  als  ihm 
Figuren  wie  f,  g,  h,  i,  als  solche  gegolten  hätten,  wenn  er  sie  gekannt  hätte: 

Fig.  1. 


a)Em.  Bach.Son.VII  1.  Satz 


%b) 


c)  Son.V.  Fat 


d)  Son.  VIII.  Pag.  74. 
.3 


e)  J.S.Bach.  Engl.  Suite  II. 


im 


TrrrFffirrrrii,fffff^^ 


.  g)  Beethoven.  Son.  Op.  111. 

f)  Mozart.  Sonate.  .*. — 7ö ^ 

Köchel   N°  310. 


et*- 


h)  Schumann.  Op.  9. 


2^ 


rITIT'T  ir  p  pj^fggrffM  rrrwp"** 


i)  Chopin,  Mazurka,  Op.  17.  N°  4. 


Diese  große  und  tiefe  Auffassung  hat  nun  ihre  eigenen  Konsequenzen.  So  sieht  er  in  jeder  Manier  einen 
eigenen  und  eigenartigen  Ausdruck,  als  wäre  sie  fast  ein  Lebewesen,  das  mit  einem  anderen  ja  durchaus 
nicht  zu  verwechseln  ist ;  des  weiteren  unterscheidet  er  die  Manieren  auch  dort,  wo  sie  noch  so  verwandt, 
ja  bis  zur  Identität  verwandt  erscheinen ;  auch  ist  ihm  jede  Änderung  einer  Manier  außerordentlich 
wichtig,  weil  er  die  sensibelste  Empfindung  eben  dafür  hat,  wie  sehr  auch  nur  die  leiseste  Änderung 
auch  schon  sofort  den  inneren  Ausdruck  verändert.  Kurz,  alles,  was  Manier  heißt,  ist  ihm 
nicht  bloß  Ornament,  sondern  wirklicher  und  selbständiger  Ausdruck  zugleich. 

Leider  erwies  sich  diese  seine  Auffassung  der  musikalischen  Welt  als  zu  unbequem  groß:  man 
begnügte  sich  seither  lieber  damit,  Bach  falsche  und  kleinere  eigene  Auffassungen  zu  imputieren,  um 
dann  dennoch  über  ihn  zu  urteilen,  als  hätte  man  ihn  gar  mehr,  als  er  verdient,  verstanden. 


*)  Vergl.  bei  Bach  IT,  1,  §  6:  „Die  Manieren  lassen  sich  sehr  wohl  in  zwei  Classc.n  abtheilen.  In  der  ersten  rechne 
ich  diejenigen,  welche  man  theils  durch  gewisse  angenommene  Kennzeichen,  theils  durch  wenige  kleine  Nötchen  anzudeuten 
pflegt;  zu  der  andern  können  die  übrigen  gehören,  welche  keine  Zeichen  haben,  und  aus  vielen  kurzen  Noten  bestehen." 
Und  dazu  daselbst  §  7 :  „Da  die  letztere  Art  von  Manieren  von  dem  Geschmacke  in  der  Musik  besonders  abhänget  und  folglich 
der  Veränderung  gar  zu  sehr  unterworfen  ist;  da  man  sie  bey  den  Clavier-Sachen  mehrenteils  angedeutet  antrifft,  und 
da  man  sie  allenfalls  bey  der  hinlänglichen  Anzahl  der  übrigen  missen  kan :  so  werde  ich  nur  etwas  weniges  am  Ende, 
bei  Gelegenheit  der  Fermaten  davon  anführen,  im  übrigen  aber  blos  mit  denen  aus  der  ersten  Classe  zu  thun  haben,.  .  .  . "  u.  s.  w., 

2)  Alle  hier  aus  Em.  Bachs  Werken  entnommenen  Stellen  beziehen  sich  auf  die  von  mir  herausgegebene 
Sammlung  von  Bachs  Klavierwerken.  (lT.  E.  Nr.  548.) 

IT.-E.  812. 


25 

Kaum  sah  man,  wie  Bach  in  seinem  Buche  eigens  und  in  eigenen  Kapiteln  bloß  den  Vorschlag, 
Triller,  Doppelschlag,  Mordent,  Schleifer  und  Anschlag  behandelt  hat,  flugs  stürzte  man,  zumal  bei 
stetig  wachsender  Ausbreitung  des  Dilletantismus,  Bachs  grundlegende  Auffassung  um  und  nannte  fortan 
als  Manieren  nur  die  soeben  aufgezählten  Arten.  Einfach  deshalb,  weil  es  der  Oberflächlichkeit 
nicht  gelungen  ist,  davon  Kenntnis  zu  nehmen,  was  Bach  ausdrücklich  schrieb:  daß  er  nämlich  die 
letzten  Arten  eigen3  herausgreife,  nur,  weil  sie  sich  durch  ihren  inneren  Charakter  einer  Theorie 
eben  zugänglicher  erweisen,  als  die  unzähligen  anderen  Arten,  die  in  jeder  Hinsicht  zu  mannig- 
faltig und  zu  wechselnd  seien,  um  noch  begrifflich  und  systematisch  festgelegt  werden   zu  können.1) 

Nun,  wäre  dieses  alles  eine  leidige  Nomenklaturfrage  geblieben,  just  das  Schlimmste  wäre  es 
gewiß  nicht  geworden.  Leider  aber  brachte  diese  eine  Oberflächlichkeit  sofort  eine  zweite  mit  sich.  Man 
gewöhnte  sich  nämlich  an,  unter  Manier  dann  lediglich  nur  ein  Ornament  zu  verstehen,  wo  dann  schließlich 
von  dieser  zweiten  Oberflächlichkeit  zu  der  dritten  nur  mehr  ein  kleiner  Schritt  war  zu  behaupten, 
Bach  sei,  wegen  der  Manieren,  eben  ein  Manierist  und  daher  im  Grunde  zu  wenig  ausdrucksvoll! 

Bei  dieser  schreienden  Ungerechtigkeit  langte  man  also  an,  nachdem  man  die  Manier  ruißzu- 
verstehen  sich  erlaubt  hat.  Nur  ist  diese  Ungerechtigkeit  —  was  sehr  zu  empfehlen  ist  —  durchaus 
nicht  tragisch  zu  nehmen,  wenn  man  bedenkt,  daß  die  liebe,  gute  Welt  gewiß  nicht  minder  auch  z.  B. 
das  Adagio  aus  Beethovens  Sonate  op.  101  für  ein  manieriertes  und  ausdruckloses  Stück  zu  halten  fähig 
wäre,  wenn  es  durch  Zufall  nicht  so  ausgeschrieben  wäre,  als  es  tatsächlich  ist,  und  nur  mit  Bachschen 
Zeichen  notiert  erschiene. 

Ob  man  je  allgemein  einsehen  wird,  daß  sich  eine  echte  Instrumentalkunst  immer  in 
spielenden,  nichtsdestoweniger  aber  auch  ausdrucksvollen  Figuren  und  Manieren  vergnügen  muß,  wer 
wüßte  das  heute  zu  sagen  ?  Sicher  ist  nur  soviel,  daß  es  eine  allzu  verwegene  Utopie  wäre,  eine  solche 
Einsicht  nun  gerade  von  unserer  Zeit  zu  erwarten,  von  einer  Zeit,  die  ja  einen  offenbaren,  wenn  freilich 
unter  taubem  Lärm  angeblichen  „Fortschritts"  so  krampfhaft  negierten  Bückgang  aufweist  und 
unter  dem  Einfluß  sowohl  einerseits  des  Musikdramas  als  auch  anderseits  der  in  monoton-schwulstigem, 
falschem  Pathos  verharrenden  „symphonischen  Dichtungen"  jede  echte  Instrumentalkunst  doch  schon 
längst  eingebüßt  hat. 

I.  Der  Vorschlag:, 

A.  Der  sogenannte  lange  Vorschlag, 
a)  bei  Ph.  Em.  Bach. 

§1- 

Dem  Vorschlag  ist  eine  doppelte  Funktion  zu  eigen:  Die  eine  tritt  im  Harmonischen  zutage,  PtyehoioQie 
wo  der  Vorschlag  mit  dem  Vorhalt  identisch  erscheint  und  daher  zugleich  auch  alle  Eigentümlichkeiten  Vor,c0h''oe8 
und  Wirkungen  eines  solchen  offenbart;  gleichzeitig  aber  dient  die  andere  Funktion  dem  Melodischen: 
indem  nämlich  der  Vorschlag  den  durch  die  große  Schrift  veranschaulichten  Wert  der  Hauptnote  verkürzt, 
schiebt  er  solchermaßen  diese  selbst  um  ein  weniges  hinaus,  wodurch  unsere  Erwartung  derselben  um 
einen  schönen  Spannungsreiz  vermehrt  wird. 2)  (Ahnliche  Zwecke  wie  die  letztere  Funktion  des  Vorschlages, 
d.  i.  ein  spannendes  Hinausschieben  des  zu  erwartenden  Melodietones,  verfolgen  mit  anderen  und  eigenen 
Mitteln  übrigens  auch  z.  B.  das  arpeggio,  das  Nachschlagen  u.  dgl.). 

*)  Vergl.  oben  Anm.  1,  Zitat  II,  1,  §  7. 

•)  Unvergleichlich  schön  beleuchtet  Bach  die  Psychologie  des  Vorschlages  mit  folgenden  Worten  in  H,  2,  %  1 : 
„Die  Vorschläge  sind  eine  der  nötigsten  Manieren.  Sie  verbessern  sowohl  die  Melodie  als  auch  die  Harmonie.  Im  ersten 
Falle  erregen  sie  eine  Gefälligkeit,  indem  sie  die  Noten  gut  zusammenhängen,  indem  sie  die  Noten,  welche  wegen  ihrer 
Länge  oft  verdrießlich  fallen  könnten,  verkürtzen,  und  zugleich  auch  das  Gehör  fällen,  und  indem  sie  zuweilen  den  vorher- 
gehenden Ton  wiederholen;  man  weiß  aber  aus  der  Erfahrung,  daß  überhaupt  in  der  Musik  das  vernünftige  Wiederholen 
gefällig  macht  Im  anderen  Falle  verändern  sie  die  Harmonie,  welche  ohne  diese  Vorschläge  zu  simple  würde  gewesen 
seyn.  Man  kan  alle  Bindungen  und  Dissonantien  auf  diese  Vorschläge  zurück  führen;  was  ist  aber  eine  Harmonie  ohne 
diese  beyden  Stücke?" 

U.-E.  812. 


26 


Notierung 

des  langen 

Vorschlages. 


§  2. 

Aus  der  Schreibart  J.  S.  Bachs,  wie  sie  z.  B.  folgende  Stellen1)  aufweisen: 

rlg.  6.  ^  Wm  ,   a„rfri  T  fv„Myi+0  x  cj  daselbst  Courante  II. 


a)  Engl.  Suite  II.  Courante.   ^  j 


#)  Engl.  Suite  I.  Courante  I. 


i 


wr  i  w?wm^& 


j -4% 


y  üd  41  i^iiJiftid  ij  ,j?  jj/  ^-^^ 


f 


? 


f 


rt 


d.i.     *Jv    >J 


/)  Engl.  Suite  DI. 
äO  Engl.  Suite  H.  Sarabande,  c)  Engl.  Suite  DL  Gavotte.       Sarabande,  g) daselbst 


jfyif^.i'frr-rrrii^  »■■■^■'|,itja5p 


p 


darf  wohl  geschlossen  werden,  daß  offenbar  auch  schon  er  die  langen  Vorschläge  oft  genug  mit  dein 
Wert  notierte,  in  dem  er  sie  wirklich  ausgeführt  haben  wollte,  also:  in  der  wahren  Geltung  des 
besonderen  Falles.  Bestätigt  wird  übrigens  diese  Vermutung  auch  dadurch,  daß  er  im  Gegensatz  dazu 
die   kurzen  Vorschläge  gern  bloß  mit  den  Zeichen  £•  oder  — s  notierte2),  z.  B. 


Fig.  3. 


Engl.  Suite  I.  Courante  I. 


j,yritrrrfy-irifPJ^ai 


so  daß  es  mindestens  nicht  immer  besonders  schwer  fallen  könnte,  zu  entscheiden,  ob  im  gegebenen 
Falle  der  Vorschlag  lang  oder  kurz  sei. 

Und  so  scheint  es  nun,  daß  vom  Vater  der  Sohn  Emanuel  diese  Schreibweise  der  langen  Vor- 
schläge übernommen  hat.  Mindestens  setzt  letzterer  die  neue  Kegel,  den  langen,  sogenannten 
veränderlichen  Vorschlag  seinem  wahren  Werte  nach  darzustellen,  in  seinem  Buche 
ein  für  allemal  ausdrücklich  fest8),  woraus  wieder  hervorzugehen  hat,  daß  gewiß  doch  auch  seine  eigene 
Schreibart  damit  übereinstimmt. 

Er  notiert  somit  den  langen  Vorschlag  stets  nur  in  der  gewünschten  Dauer,  gleichviel  ob  der  Vorschlag 
a)  vor  einer  geradeteiligen  oder  h)  vor  einer  nicht  geradeteiligen  Note  steht.  Es  können  sich  dann 
aber  dadurch  folgende  Quantitätsverhältnisse  zwischen  Vorschlag  und  Hauptnote  ergeben: 

Flg.  4. 
ad  a)      3: 1, 


*.i^m 


fa=# 


U.S.  IC. 


Beispiel : 


ausgeführt: 


Bach   Tab.  IV.  Fig.  XII. (a) 


u.s.w. 


2:2, 


d    i. 


Jo     11  Jp     flJl 


U.  S.  VD. 


*)  Vergl.  die  hier  zitierten  englischen  Suiten  im  „Urtext  klassischer  Musikwerke",  J.  S.  Bach,  Breitkopf  &  Härtel. 

2)  Doch  kann  nur  aus  der  Situation  selbst  beurteilt  werden,  ob  nicht  anderseits  dieselben  Zeichen  bei  J.  S.  Bach 
zuweilen  auch  noch  Töne  andeuten  wollen,  die  auf  Kosten  der  vorausgehenden  (vergl.  später  Anhang,  S.  71)  —  statt  der 
folgenden,  wie  es  beim  Vorschlag  der  Fall  ist  —  ausgeführt  werden  sollen. 

8)  Vergl.  II,  2,  §  5:  „Vermöge  des  ersten  Umstandes  hat  man  seit  nicht  gar  langer  Zeit  angefangen,  diese 
Vorschläge  nach  ihrer  wahren  Geltung  anzudeuten :  Anstatt  daß  man  vor  diesem  alle  Vorschläge  durch  Acht-Theile  zu  be- 
zeichnen pflegte.  Damals  waren  die  Vorschläge  von  so  verschiedener  Geltung  noch  nicht  eingeführt ;  bey  unserem  heutigen 
Geschmacke  hingegen  können  wir  um  so  viel  weniger  ohne  die  genaue  Andeutung  derselben  fortkommen,  je  weniger  alle 
Regeln  über  ihre  Geltung  hinlänglich  sind,  weil  allerley  Arten  bey  allerley  Arten  vorkommen  können."  Und  daselbst  §  17: 
„Folglich  ist  am  besten,  man  deutet  alle  Vorschläge  sammt  ihrer  wahren  Geltung  an  " 


U.-E.  812. 


Beispiele : 


Son.  V.  Pag.  31. 
5e5j      II  FRF:: 


Son.Il.Faü.lsi. 


ausgeführt 


Son.1V.  Pag.s>4. 


^f]yyl  u.s.*. 


U.ft.  W. 


27 


oder  1 : 3, 


*  l  t  J-°  |fe  l*r  l~. 


Soa.VITI.  Pag.  67. 


Beispiele:    j^gg^fe 


iU^lbSU  i) 


ausgeführt:: 


Son.  IX.  Pag.  HO.  Son.  VI.  Pag.  53 


9B5 


s* 


Son.  I.  Pag.  6. 


Tyiij'il,jimri.jj,i^^g 


ausgeführt: 


1P 


ad  b)      2:1, 


1.  i.  J 


-€^ 


ÖEEÖ 


U.S.  w. 


Beispiel :    319 


Bach  Tab.  III., Fig.  1. 

-7iJr n 


oder  1 : 2, 


Beispiele: 


U.S. 10. 


ausgeführt: 


rr=T 


t.  i.  I  'L°-  iH-f  fe~. 


Son.  VII.  Pag.  61. 


^'rrrfüL 


sgeführt:EJfc^=-f    |    j  j| 


Son.  VII.  Pag. 


W.A-. 


Die  Genauigkeit  einer  solchen  Schreibart  läßt  absolut  Dichts  mehr  zu  wünschen  übrig.  Min- 
destens nicht,  so  lange  der  lange  Vorschlag  mit  der  kleinen  Schrift,  d.  h.  als  Manier  dargestellt  wird. 
Was  über  jenen  Grad  von  Genauigkeit  noch  hinausgehen  könnte,  war  einzig  nur  mehr  das,  was  schließ- 
lich Haydn  getan  hat,  indem  er  nämlich  den  langen  Vorschlag,  —  bis  auf  den  im  allereinfachsten  Ver- 
hältnis 2 : 2  stehenden  —  zumeist  mit  in  die  große  Schrift  übernommen  hat,  wodurch  aber,  wie  selbst- 
verständlich, der  Vorschlag  in  den  meisten  übrigen  komplizierteren  Zeitverhältnissen  als  Manier  im 
engeren    Sinne    einfach    zu  existieren  aufgehört  hat.2) 

J)  Falsch  daher  bei  Bülow  (Ausgabe  S.  7),  der  den  Vorschlag  mit  einem  16tel,  statt  einem  81«1,  ausdeutet. 

2)  Bei  der  Auffassung  Ph.  Em.  Bachs  von  den  Manieren  überhaupt  und  von  den  Vorschlägen  im  speziellen,  ist  es 
indessen  nur  selbstverständlich,  daß  lange  vor  Haydn  auch  schon  er  den  letzteren  unter  Umständen  ohneweiters  die  große 
Schreibart  zuzubilligen  für  gut  fand.  Vergl.  II,  2,  §  2 :  „Die  Vorschläge  werden  teils  andern  Noten  gleich  geschrieben  und 
in  den  Tackt  mit  eingetheilt,  teils  werden  sie  durch  kleine  Nötgen  besonders  angedeutet,  indem  die  größern  ihre  Geltung 
den  Augen  nach  behalten,  oh  sie  schon  bey  der  Ausübung  von  derselben  allezeit  etwas  verlieren. "  Oder  daselbst  §  21 : 
„Dem  ohngeacht  pflegt  man  die  Vorschläge  oft  deswegen  in  den  Tackt  mit  einzutheilen,  damit  weder  sie  noch  die  folgende 
Note  ausgezieret  werden"  u.  s.  w. 


U.-E.  812. 


28 

§  3. 

vom  Vortrag  j)er    Akzent,    das    ist    der    Nachdruck,     liegt    auf    dem    Vorschlage    selbst,     sei    er    welcher 

des  langen  .  ° 

vorschiaaee.  Geltung  immer. 

Das  entspricht  am  besten  der  inneren  Vorhaltsnatur  des  Vorschlages  und  nur  die  Intensität 
des  Akzentes  ist  es,  die  mit  dem  Maß  der  Vorhaltsquantität  wächst  und  fällt. 

Außerdem  wird  der  Vorschlag  an  die  nachfolgende  Hauptnote  stets  nur  im  strengsten  legato 
angeschlossen. *) 

b)  bei  Haydn,  Mozart  und  Beethoven. 

§  4. 

DieBaonsche  Die  Werke  aller  Meister  nach  Ph.  Em.  Bach  belehren  uns  zur  Genüge,  daß  sie  in  Bezug  auf  die 

Schreibart  Notierung  langer  Vorschläge  durchaus  zu  Bachs  Begel  hielten,  indem  sie  die  letzteren  entweder  ganz 
Regel  be-  ausschrieben  oder  als  Manieren  im  engeren  Sinne  stets  nur  in  ihrer  wahren  Geltung  notierten,  u.  zw. 
treffs  der    w^e  Dereits  oben  gesagt  wurde,  meist  in  dem  einfachsten  Verhältnis  2:2. 

Dauer  der  °       °  ' 

langen  vor-  Doch   haben    weder   diese  Tatsache     in    der  Praxis   der  späteren  Meister,    noch  auch  die  volle 

schlage  and-  Deutlichkeit  in   der  Lösung  des   Notierungsproblems,    wie    wir    sie  Bach    selbst,    u.    zw.   in   Wort  und 

Praxis  zuerst  zu  verdanken  haben,  durchaus  ausreichen  können,  einen  Irrtum  zu  beseitigen,  der,  an  eine 

noch    weit    ältere,    vorbachsche  Kegel  sich  klammernd,  in  der  Frage   der  Ausführung  langer  Vorschläge 

sich  gar  bis  auf  den  heutigen  Tag  als  sehr  verhängnisvoll  erwiesen  hat. 

Eiöstmals  hatte  diese  Begel  eine  wirklich  große,  u.  zw.  eine  doppelte  Bedeutung.  Das 
war  vor  Bach. 

Einerseits  wandte  sie  sich  an  die  Komponisten  selbst,  in  dem  Sinne  nämlich,  als  sie  diese 
lehrte,  unter  den  möglichen  langen  Vorschlägen  vor  allem  als  die  normalsten  und  einfachsten  die- 
jenigen zu  empfinden  und  zu  schreiben,  die  die  Verhältnisse  1:1  (beziehungsweise  2:2)  oder  2:1  zum 
Ausdruck  bringen.  Von  welcher  Norm  aber  zur  Freiheit  anderer  komplizierter  Vorschläge  (z.  B.  3:1, 
1 : 3  oder  1 : 2  u.  dergl.)  fortzuschreiten  es  durchaus  nicht  verboten  war,  da  vielmehr  andere  Regeln 
wieder  andere  Situationen  zum  Ausgangspunkt  nahmen,  die  eben  der  komplizierteren  Vorschläge  als  der 
geeigneteren  bedurften.  So  haben  sich  Norm  und  Freiheit,  beide  in  richtigem  Sinne  verstanden,  nicht 
nur  nicht  widersprochen  und  gegenseitig  aufgehoben,  sondern  weit  mehr  ergänzt:  die  einfache  Situation 
forderte  den  einfachen  Vorschlag  in  den  Verhältnissen  2:2  oder  2:1,  die  verwickeitere  den  minder  ein- 
fachen2) in  den  Verhältnissen  3  :1,  1:3  oder  1:2  u.  s.  w. 

*)  Vergl.  Anra.  2,  S.  27,  Zitat  IL,  2,  §  2;  deutlich  aber  in  §  7:  „Ferner  lernen  wir  aus  dieser  Abbildung  zugleich 
ihren  Vortrag,  indem  alle  Vorschläge  stärker,  als  die  folgende  Note  samt  ihren  Zierathen,  angeschlagen  und  an  diese 
gezogen  werden,  es  mag  nun  der  Bogen  darbey  stehen  oder  nicht.  Diese  beyden  Vorschriften  sind  dem  Endzwecke 
der  Vorschläge  gemäß,  als  wodurch  die  Noten  zusammen  gehänget  werden  sollen;  man  muß  sie  also  so  lange,  bis  sie  von 
der  folgenden  Note  abgelöset  werden,  aushalten,  damit  sie  gut  binden.  Der  Ausdruck,  wenn  eine  simple  leise  Note  nach 
einem  Vorschlag  folgt,  wird  der  Abzug  genannt."     (Vergl.  auch  §  24  und  §  25.) 

a)  Die  Anweisung  dieser  Regel  fließt  übrigens  genau  auch  mit  der  bekannten  Regel  des  Kontrapunktes  in  der 
vierten  Gattung  der  Synkope  zusammen,  wonach  nämlich  im  strengen  Satz  die  Synkope  u.  zw.  trotz  verschiedenen  anderen 
Möglichkeiten,  ebenfalls  doch  nur  vor  allem  an  den  Verhältnissen  2 : 2  oder  2 : 1  festzuhalten  und  die  übrigen  Verhältnisse 
zurückzuweisen  hat.  Was  indessen  durchaus  nicht  Wunder  nehmen  darf,  da  ja,  wie  schon  im  §  1  des  Textes  gesagt  wurde, 
Vorschlag  und  Vorhalt  (also  eben  auch  die  Synkope  des  strengen  Satzes)  identische  Begriffe  sind.  Und  so  ist  es  denn  eben 
nur  in  einem  solchen  rein  kompositionellen  Sinne  zu  verstehen  (d.  h.  um  auch  einen  angehenden  Komponisten  o.  dgl.  im 
Gebrauch  der  langen  Vorschläge  für  eventuelle  Zwecke  der  Komposition  zu  unterweisen),  wenn  Bach  im  DL,  2,  §11 
mitteilt:  „Nach  der  gewöhnlichen  Regel  wegen  der  Geltung  dieser  Vorschläge  finden  wir,  daß  sie  die  Hälfte  von  einer 
folgenden  Note,  welche  gleiche  Theile  hat,  und  bei  ungleichen  Theilen  zwey  Drittheile  bekommen,"  und  dazu  aber  auch 
daselbst  §  16 :  „Außerdem,  was  bishero  von  der  Geltung  der  Vorschläge  angeführt  worden  ist,  kommen  zuweilen  Fälle  vor, 
wo  der  Vorschlag  wegen  des  Affects  länger,  als  gewöhnlich  gehalten  wird,  und  folglich  mehr  als  die  Hälfte  von  der 
folgenden  Note  bekommt  (hier  folgt  das  bereits  oben  in  §  2  cit.  Ex.  Tab.  TV,  Fig.  XII  (o).  Dann  und  wann  muß  man 
aus  der  Harmonie  die  Geltung  der  Vorschläge  bestimmen;  wenn  bey 

Fig.   5.     Tab.iy,Fig.XII.(b) 

— JU= 


die  Vorschläge   ein   ganzes  Viertheil   ausmachen   sollten"   —   zu  dieser  Lösung  müßte  die  Regel  des  hier  soeben  cit.  §  11 

TJ.-E.  832.  I 


29 

Anderseits  hatte   dieselbe  Regel,   freilich  in  einem  anderen  Sinne,  statt  dem  Komponisten   um 
gekehrt    auch    dem  Spieler    zu    dienen,    u.  zw.  für  den  Fall,    als  der  Komponist  einen  Vorschlag'  wohl 
notiert  hatte,    es  aber  unterließ,    dessen  gewünschte  Dauer  anzugeben,  und  statt  einer  solchen  Genauig- 
keit bloß  einen  Achtel  Vorschlag  aufs  Papier  setzte. 

Pflegten  doch,  wie  Bach  selbst  erzählt,  die  Komponisten  alle  Vorschläge,  somit  die  langen  wie 
die  kurzen,  immer  bloß  mit  Achteln  zu  notieren. »)  Zu  erraten  nun,  welcher  Vorschlag  lang  und  welcher 
kurz  sei,  diente  um  jene  Zeit  eine  Menge  Regeln,  die 2)  eine  Art  künstlerisch-theoretisches  Übereinkommen 
bildeten  zwischen  Autor  und  Spieler.  Wohl  waren  alle  diese  Regeln  überaus  feinsinnig  —  man  kann 
sogar  sagen,  daß  sie  namentlich  durch  die  Art,  wie  sie  mit  allerdelikatesten  Worten  musikalische 
Momente  und  Situationen  zu  beschreiben  vermochten,  unzweifelhaft  eine  sehr  hohe  Stufe  musikalischer 
Psychologie  (eine  höhere  sogar  als  die  von  heute)  vorstellten,  —  nichtsdestoweniger  mag  es  dennoch 
überaus  lästig  und  auch  schwierig  gewesen  sein,  an  der  Hand  dieser  Regeln  allemal  sich  für  die  Kürze 
oder  Länge  des  Vorschlages  selbst  entscheiden  zu  müssen.  Doch,  als  wären  diese  Schwierigkeiten  nicht 
allein  schon  genug,  hatte  der  Spieler  überdies,  wenn  er  nun  endlich  auf  Grund  der  gegebenen  Situation 
und  der  ihr  entsprechenden  Regeln  auf  einen  langen  Vorschlag  riet,  noch  des  weiteren  zu  entscheiden 
welcher  Länge  (ob  z.  B.  im  Verhältnis  2:2  oder  3:1,  1:3  u.  s.  w.)  dieser  Vorschlag  im  gegebenen 
Falle  zu  sein  habe.  Und  nun  —  einen  kleinen  Teil  dieser  neuerlichen  Schwierigkeit  zu  beheben,  war 
vor  Allem  jene  Regel  berufen,  indem  sie  mindestens  für  die  normalsten  Fälle  das  Maß  der  Länge  eben  nur 
in  den  Verhältnissen  2 : 2  und  2 : 1  anwies. 

Man  sieht  zunächst,  daß  diese  Regel  niemals  im  Sinne  hatte,  selbst  zu  definieren,  wann  der 
Vorschlag  als  ein  langer  anzunehmen  sei.  Vielmehr  durfte  sie  einsetzen,  bis  sich  der  Spieler  aus 
Gründen,  die  eben  in  den  anderen  Regeln  lagen,  bereits  für  einen  langen  Vorschlag  entschieden 
hatte.  Und  für  diesen  Fall  selbst  noch  blieb  sie  im  großen  und  ganzen  ungenügend,  da  sie  über  andere 
Längen  als  die  Hälfte  und  zwei  Drittel  des  Wertes,  d.  h.  über  ein  mehr  oder  weniger,  als  diese  Längen 
eben  sind,  nicht  mehr  zu  entscheiden  vermochte,  so  oft  genug  auch  solche  Fälle  vorgekommen  sein  mögen. 3) 

Nun  ist  aber  klar,  daß  die  Regel  gegenstandslos  werden  mußte,  als  Bach  seine  neue  Schreibart 
Zu  gebrauchen  begann.  Denn  was  könnte  sie  noch  sagen,  wenn  nunmehr  der  lange  Vorschlag  ohnehin 
in  seinen  Verschiedensten  und  variabelsten  Quantitäten  ausdrücklich  ausgeschrieben  wurde?  Und  stand 
die  Wertquantität  fest,  die  von  der  Hauptnote  abzuziehen  war,  wozu  galt  ihre  Anweisung?  War  also 
die  ausschreibende  Art  Bachs  das  Ende  dieser  Regel,  so  war  an  ihre  Geltung  nach  Bach 
doch  gewiß  umsoweniger  zu  glauben,  als  ja  schon  Haydn,  wie  gesagt,  den  langen  Vorschlag  als  Manier 
bis  auf  einen  kleinen  Rest  fast  ganz  aufgehoben  hat. 

§  5. 

Daran    aber    festzuhalten,    daß    diese  Regel    seit  Bach  nicht  mehr  existiert,    halte  ich  für  sehr  Das  Endr* 

wichtig.  Insbesondere  möchte  hier  die  Logik  der  obigen  Beweisführung  nicht  verkannt  werden,  widrigen-  8u,tat  'ür  dia 

fall»    man    leicht    zu    falschen  Ausführungen    in    so    manchen  Beispielen    den  nachbachschen  Literatur  "pradftaT 

gedrängt  werden  könnte.  vortrage«. 

ja  von  selbst  führen,  während  Bach  aber  ausdrücklich  ein  R  notiert  und  wünscht!  —  „so  würden  die  zur  letzten 
Baß-Note   anschlagenden  Quinten  eckelhaft  klingen,  und  bey 

Fia    6  Tab.IV,Fig.XILfc) 

"mm 

würden  offenbare  Quinten  zum  Gehör  kommen,  wenn  der  Vorschlag  länger,  als  da  steht,  gehalten  würde".  Aus  diesen  beiden 
Paragraphen  aber  ist  wohlgeraerkt  nicht  mehr  und  nicht  weniger  als  die  Tatsache  zu  folgern,  daß  Bach  bei  der  Komposition 
(nicht  der  Ausführung!)  der  langen  Vorschläge  alle  diese  Möglichkeiten  in  der  Phantasie  wohl  gegenwärtig  hatte,  was 
aber  durchaus  nicht  die  andere  Tatsache  aufhebt,  daß,  sobald  er  die  Wahl  einer  Dauer  des  langen  Vorschlages  aus  diesen 
oder  jenen  kompositionellen  Gründen  nun  einmal  getroffen  hat,  er  nun  für  den  Zweck  der  Ausführung  diese  gewählte 
Dauer  in  ebenso  deutlicher  Geltung  als  Manier  zum  Ausdruck  brachte. 

1)  Vergl.  oben  Zitat  §  5  in  Anm.  3,  S.  26. 

2)  Vergl.  z.  B.  in  Ph.  Em.  Bachs  Versuch  oben  II.,  2,  §  6  bis  §  24. 
8)  Vergl.  oben  Zitat  §  16  in  Anm  2,  S.  28. 

U.-E.  812. 


.30 


Man  denke  z.  B.  an  folgende  Stellen: 

Fl&    7-  ,.  d)  Phantasie   4. 

a)  Mozart.  Streichquartett  D  dur.  o)  Son.fur  Ciavier.  ,                                  Köchel  N°  476 

.        ^ ^  \h           K       ,  Kochet  N°  332.  tfjKochel  N?  811..     ^cn 


Vhriii  ifQii  iIjj  m  h  yir  A  r? 


als  kurzer  Vor- 
schlag ungefähr  sos 


P-* 


1 


ungelahr:i 


Wollte  man  nun  darauf  jene  alte  vorbachsche  Eegel  anwenden,  die  man  ja,  wie  oben  ge- 
zeigt wurde,  nur  durch  Mißverständnis  leider  noch  immer  so  allgemein  glaubt  und  als  bestehend  annimmt, 
so  müßte  doch  die  Ausführung  gar  wie  folgt  lauten: 

c)  d) 


b) 


g^m 


m 


Nun  steht  aber  einer  solchen  Auslegung  und  Ausführung  die  ganze  übrige  Praxis  Mozarts 
gegenüber,  aus  der  hervorgeht,  daß,  so  oft  Mozart  den  langen  Vorschlag  gebrauchte,  u.  zw.  als  Manier 
in  den  Verhältnissen  2  :  2  oder  2  : 1,  er  ihn  im  Sinne  der  neuen  Regel  Bachs  stets  nur  in  seiner  wahren 
Geltung  ausschrieb,  d.  h.  daß  er  in  den  obigen  Fällen  also  sicher  geschrieben  hätte: 


^*- 


h=k 


^Mf 


m 


o) 


£ 


lüü^ 


ggÜ 


wenn  er  eben  einen  langen  Vorschlag  von  der  Dauer  einer  Hälfte  (u.  s.  w.)  hier  gewünscht  hätte. 

Das  Resultat  ist  also  kurz  gefaßt  dieses:  Seit  Ph.  Em.  Bach  (wenn  nicht  seit  J.  S.  Bach  schon) 
werden  die  langen  Vorschläge'als  Manieren  im  engeren  Sinne  nur  in  ihrer  wahren 
Geltung  (meistens  in  den  Verhältnissen  2:2  und  2:1)  notiert,  und  zwar  ausschließlich  so. 
Angesichts  einer  so  deutlich  ausschreibenden  Schreibart  aber  bleibt  es  weiters  ein  logisches  Unding, 
außerdem  noch  an  eine  Regel  zu  glauben,  die  von  Haus  aus  zur  wesentlichen  Voraussetzung  hat,  daß 
die  Schreibart  eben  noch  keine  die  wahre  Geltung  deutlich  ausschreibende  sei,  wie  es  eben  die 
vorbachsche  gewesen  und  so  —  infolge  einer  Konkurrenz  zweier  angeblich  zu  gleichem  Recht  bestehenden 
Regeln  —  nur  Verwirrung  in  den  Vortrag  zu  bringen,  mag  es  sich  dabei  um  den  Vortrag  eines  Klavier- 
oder Violinspielers,  eines  Dirigenten  oder  auch  die  Anweisung  zum  Vortrag  seitens  eines  Herausgebers 
oder  Lehrers  handeln. *) 

*)  Gedankenlos  genug,  und  offenbar  nur  um  überhaupt  etwas  zu  ändern,  pflegen  Herausgeber  leider  auch  noch 
diese  wenigen,  eben  als  Manieren  fortkultivi^rten  Vorschläge  unserer  späteren  Meister,  also  gleichsam  den  letzten  Kest  der 
langen  Vorschläge  ebenfalls  in  den  ausgeschriebenen  Zustand  hinüberzuführen.  Dieses  halte  ich  einfach  für  ein  Verbrechen 
am  guten  Geschmack.  Denn  es  liegt  —  man  glaube  es  endlich  —  sicher  auch  Methode  darin,  wenn  die  Meister  den  langen 
Vorschlag  bald  selbst  voll  ausschreiben,  bald  aber  doch  wieder  mit  kleiner  Manierenschrift  darstellen.  In  letzterem  Falle 
ist  es  dann  entweder  ein  unabweisbarer  thematischer  Grund,  oder  —  was  durchaus  nicht  zu  unterschätzen  ist  —  einfach 
nur  Schonung  des  optischen  Eindruckes  der  großen  Schreibart,  als  deren  vornehmstes  Ziel  es  ja  betrachtet  werden  darf,  so- 
zusagen die  Hauptfabel  der  Töne  ohne  allzustarke  Belastung  durch  unwesentliche  Ornamente  u.  dgl.  vor  die  Augen  zu 
führen.  Es  ist  doch  etwas  anderes  —  u.  zw.  sowohl  für  Auge  als  Hand,  —  ob  eine  Stelle  notiert  erscheint,  wie  z.  B.  bei  a) 
oder  wie  bei  b)  der  folgenden  Figur: 

Fi  fr- 10.  Haydn, 


Br.  Sc  H.,  Volksausgabe  N°  121. 


In  der  Originalnotierung  genießt  das  Auge  mindestens  den  Anblick  der  kontrapunktisch  in  erster  Linie  entscheidenden  Intervalle 
der  ersten  Melodienoten  der  Figuren  zu  den  Baßtönen  (5,  3,  6,  8,  3),  und  dazu  die  kleinen  Vorschläge  deutlich  nur  als 
Ornamente  mitsamt  ihrer  zarten  Dosis  an  Vorhaltsdissonanz  (6,  8,  7,  9,  4,)  —  alle  Werte  gelangen  so  je  nach  ihrer  Rolle 


U.-E.  812. 


81 

B.  Der  kurze  Vorschlag. 
a)  bei  Ph.  Em.  Bach. 

§  1- 

Der  kurze  Vorschlag  teilt  mit  dem  langen  die  beiden  dem  Vorschlag  überhaupt  eigentümlichen    Psychologie 
Funktionen   (siehe  oben  A,  §  1),  nur   daß  diese   nunmehr   in  einem  Mindestmaß  an  Zeit  zum  Ausdruck 
kommen. 

§  2. 


Vorschlages. 


kurzen  Vor- 
schlages 


Ph.  Em.  Bach  notiert  den  kurzen  Vorschlag  „ein,  zwey,  dreymahl  oder  noch  öfter  geschwänzt".1)   Notierung  des 
Er  begib!:  siel.»    dadurch  allerdings  des  Vorteiles   einer  einheitlichen  und  in  allen  Situationen  sich  gleich 
bleibenden   Schreibart,    doch    teilt   er   im   Buche    ausdrücklich    noch   einige    Kegeln2)    als    geltend    mit, 
wonach  sowohl  einerseits    der  Komponist    für    seine  Zwecke    der   Komposition,   als   anderseits   auch  der 
Ausführende  für  den  Zweck  des  Vortrages  über  die  Kürze  des  Vorschlages  entscheiden  können. 

§  3. 

Davon  gilt  zunächst  ganz  dasselbe,  was  oben  sub  A,  §  3,  vom  Vortrag  des  langen  Vorschlages   Vortrag  des 
gesagt  worden  ist!  k"™9,'"- 

Der  Akzent  liegt  wieder  beim  Vorschlage.  Und  wenn  es  auch  zuweilen  wegen  der  allzu 
geringen  Vorhaltsquantität  im  kurzen  Vorschlag  scheinen  könnte,  als  würde  der  Akzent  auf  die  Haupt- 
note selbst  übersiedeln,  so  bleibt  es  darum  immer  noch  richtiger  zu  sagen,  der  Akzent  sei  Privileg 
nur  des  Vorschlages,  was  durchaus  auch  Richtschnur  für  den  Vortrag  zu  sein  hat. 

Auch  das  Gebot  des  Legato  in  der  Verbindung  von  Vorschlag  und  Hauptnote  wiederholt  Bach 
beim  kurzen  Vorschlag  noch  einmal  ausdrücklich. 3) 

Was  aber  das  eigentlichste  Charakteristikum  des  kurzen  Vorschlages,  nämlich  das  Ausmaß  der 
Kürze  betrifft,  so  nennt  Ph.  Em.  Bach4)  den  kurzen  Vorschlag  zwar  „unveränderlich"  und  wünscht 
ihn  „so  kurtz  abgefertigt,  dass  man  kaum  merekt,  dass  die  folgende  Note  an  ihrer  Geltung  etwas  ver- 
liehret",  gleichwohl  sind  auch  dem  kurzen  Vorschlag  immerhin  soviel  verschiedene  Dauer-  und  Nuancen- 
möglichkeiten einzuräumen,  so  daß  er,  theoretisch  „unveränderlich"  kurz,  in  Wirklichkeit  aber  auf 
das  mannigfaltigste  am  Ausdruck  teilnehmen  kann. 

Hat  man  doch  zu  bedenken,  daß  im  Grunde  ein  jeder  Vorschlag,  so  der  kurze  wie  der  lange, 
nichts  als  einen  Vorhalt  vorstellt  (der  allerdings  zugleich  auch  ins  melodisch-motivische  gerückt  ist), 
und  daß  eine  solche  Vorhalts quantität  auf  die  Apothekerwage  zu  legen  nur  desto  mißlicher  sei,  je 
freier    über  jegliche  metronomische  Zeitgewichte  hinaus  sich  die  Melodie  in  Wirklichkeit  ausleben  will. 

Und  vielleicht  auch  gerade  deshalb,  weil  Bach,  wie  wir  oben  sahen,  die  langen  Vorschläge  in 
ihrer  wahren  Geltung  bemaß,  um  sie,  wenngleich  noch  als  Manier,  so  dennoch  aufs  genaueste  im  Wert 
fixiert,  den  übrigen  mit  großer  Schrift  fixierten  Werten  beizugesellen,  mochte  er  das  Bedürfnis  haben, 
in  allen  anderen  Fällen  sich  die  Freiheit  im  Ausmaß  der  Vorhaltsquantität  zu  bewahren.  So  hinderte 
ihn  das  künstlerische  Gewissen  daran,  den  kurzen  Vorschlag  in  eine  pedantisch  feste  Regel  und  zugleich 
pedantisch  feste  Schreibart  zu  bannen. 


zur  entsprechendsten  Fassung  —  während  bei  b)  sich  alle  diese  Vorteile  verlieren  und  nur  eine  indifferenziert-monotone 
Masse  kleinster  Werte  vor  die  Augen  tritt,  so  daß,  wer  feineren  Sinn  hat,  doch  wieder  erst  in  der  Fantasie  sich  selbst 
das   Bild  von   a)   zu   rekonstruieren   genötigt  wird.    Auch    drückt    die    Hand    des   Vortragenden    das    Ornament    des   Vor- 

Schlages  unwillkürlich  feiner  aus,  als  das  ausgeschriebene    b  bei  6)! 

*)  Vergl.  IL,  2,  §  13. 

2)  Vergl.  II.,  2,  §  13  bis  15,  auch  §  23. 

s)  Vergl.  Lt.,  2,  §  15,  worin  Bach  sogar  so  weit  geht  zu  sagen:  „Da  gestossene  Noten  überhaupt  simpler  vor- 
getragen werden  müssen  'als  geschleifte,  und  da  die  Vorschläge  insgesamt  an  die  folgende  Note  gezogen  werden:  so  ver- 
steht ts  sich  von  selbsten,  daß  bey  diesem  Falle  ebenfalls  geschleifte  Noten  voraus  gesetzt  werden." 

<)  Vergl.  §  13. 

ü.-JBl  812. 


32 


Ober  die 
Möglichkeit 
von  Kolli- 
sionen In  der 
Notierung 
des  kurzen 
und  langen 
Vorschlages 


§4. 

Es  kann  aber  nicht  entgehen,  daß  diese  Notierung  des  kurzen  Vorschlages,  da  sie  eben  eine  wech- 
selnde, nicht  selten  zu  einer  wahren  Kollision  mit  dem  langen  Vorschlage  fuhren  muß  der 
ja  zur  Darstellung  seiner  variablen  Längen  sich  doch  ebenfalls  der  16tel-  oder  32tel- Werte  bedient. 
So  z.  B.  steht  ein  J^  vor  einem  J  oder  ein  J*  vor  eimen  j,  wofür  ist  der  Vorschlag  zu  halten,  für 
kurz  oder  lang  —  da  er  doch  in  diesen  Fällen  beides  sein  kann? 

Indessen  bereitet  die  Lösung  auch  solcher  Konflikte  weniger  Schwierigkeiten,  als  man  befürchten 
könnte *).  Denn  was  vor  allem  hier  ins  Gewicht  fällt,  ist,  daß,  selbst  eine  Länge  des  Vorschlages  angenommen 
z.  B.  im  zweiten  und  schwierigeren  jener  Fälle,  der  Vorschlag  niemals  mehr  als  bloß  ein  ^,  d.  h. 
bestenfalls   eben  wirklich  nur  als   ein  J^  zu  gelten  habe,   da,   wie  wir  wissen,  Bach  den 

Vorschlag  von  Haus  aus  mit  P  notiert  hätte,  wenn  er  ihn  von  der  Dauer  eines  Achtels  hätte  haben 
wollen.  Dieses  aber  vorausgesetzt,  bleibt  nur  mehr  der  Einfluß  des  Tempo  zu  erwägen.  Ist  das  Tempo 
nun  rasch,  so  wird  jener  h-Vorschlag  von  selbst  kurz  wirken  müssen,  ob  man  ihn  nun  auch  dem  vollen 
Werte  nach,  d.  h.  als  lang,  spielt.  Mit  anderen  Worten :  das  rasche  T e m p o  verwischt  leicht  den  Unter- 
schied zwischen  kurzem  und  langem  Vorschlag,  sofern  dieser  letztere  etwa  weniger  als  die 
Hälfte  des  Wertes  beträgt.  Ist  das  Tempo  aber  mäßig,  so  daß  es  selbst  im  "j- Werte  einen 
inneren  Charakterunterschied  bereits  begründet  und  daher  es-  zugleich  Bedeutung  für  den  Ausdruck 
hat,  ob  hier  der  lange  oder  kurze  Vorschlag,  dann  empfiehlt  sich  —  meiner  Ansicht  nach  —  immer 
zunächst  den  Vorschlag  für  lang  anzusehen.  Dem  Gefühle  wird  sodann  die  musikalische 
Situation  von  selbst,  auch  wenn  man  die  Begeln  Bachs  über  den  kurzen  Vorschlag  nicht  mehr  im 
Kopfe  hat,  unzweifelhaft  Auskunft  darüber  geben,  ob  man  ihr  mit  der  Annahme  des  langen  Vorschlages 
gerade  entsprochen  hat.  Sagt  das  Gefühl  nein,  so  hat  man  den  kurzen  Vorschlag  dann  zu  spielen,  wobei 
als  kurz  —  und  das  ist  eben  die  große,  tiefe  Bedeutung  der  künstlerischen  Freiheit  Bachs  —  alle  Maße 
unterhalb  jenes  langen  Vorschlages  (nicht  also  bloß  das  allerkürzeste  Maß!),  zu  gelten  haben. 
Bedenkt  man,  wie  unendlich  viel  solcher  Maße  es  unterhalb  e  i  n  e  s  #N-,  geschweige  denn  eines 
J^- Vorschlages  gibt,  wenn  sie  beide  nicht  etwa  für  lange  Vorschläge  genommen  werden,  begreift  man 
den  ungeheuren  Inhalt  jener  Freiheit. 
Hier  einige  Konfliktsfalle: 

F&&  Pag.  61. 

a)  PaS-  9-  h)  PaS-  18'  c)  Pa&-  30-  h         _Ä       d)  Pag.  49. £  jb     ,  'k ,       *> 


y  5P, 

e)  Pag.  57..  Pag.  60 


1    r  "pvrr 


U.S.W. 


x)  Gleichwohl  muß  den  Herren  Herausgebern  das  Eecht  dringend  abgesprochen  werden,  solche  Konfliktsfälle  heim- 
lich (d.  h.  ohne  daß  der  Spieler  vom  wahren  Sachverhalt  eines  hier  überhaupt  vorhanden  gewesenen  Konfliktsfalles  etwas 
erfährt)  und  gar  so  unbedingt  zu  Gunsten  eines  langen  oder  kurzen  Vorschlages  zu  entscheiden.  Vielleicht  irrt  der  Heraus- 
geber und  vielleicht  würde  gar  der  Spieler  selbst  die  richtigere  Lösung  gefunden  haben,  sofern  er  nur  den  Originaltext 
überhaupt  zu  Gesicht  gekriegt  hätte?  Man  sieht,  es  gibt  immer  wieder  Ursachen  und  Ursachen,  die  Herren  Herausgeber 
daran  zu  mahnen,  daß  es  ihre  erste,  ja  allererste  Pflicht  sei,  den  musikalischen  Originaltext  so  stehen  zu  lassen,  wie  sie  ihn 
vorgefunden  haben! 

a)  Während  Bülow  des  Unterschiedes  in  den  Vorschlägen  dieser  beiden  Beispiele  (die  nämlich  das  eine  Mal  16*81 , 
das  andere  Mal  aber  32tel  sind),  ganz  und  gar  nicht  achtet,  und  statt  dessen  beide  Stellen  ohne  jede  Feinfühligkeit  in 
gleichmäßiger  Weise  so  redigiert  (S.  55  u.  56): 

Fig.  12. 


$ 


fe 


m 


kommt  dagegen  der  feinfühligere  Baumgart  (s.  Vorwort,  S.  9)  über  den  Unterschied  in  der  Schreibart  dieser  beiden  Stellen 
umso  weniger  hinweg,  und  er  meint:  „aber  der  Wechsel  der  Schreibart  erweckt  doch  die  Vermuthnng,  daß  ein  Unterschied  der 
ersten . . .  Stelle  von  der  zweiten  angedeutet  sein  soll,  der  Art,  daß  die  16-Theile  betont  u.  an  die  folgende  Note  gebunden, 

U.-E.  812. 


33 


§  5. 

Somit  läßt  sich  als  endgiltige  Anweisung  zur  Ausführung  des  kurzen  Vorschlages  etwa  folgende 
Formel  feststellen: 


Das  End- 
resultat In 


Als  die  letzte  ohere  Grenze  des  kurzen  Vorschlages  ist  nur  der  lange  Vorschlag  selbst  zu  betrachten,    tariommg 


so  daß  das  weite  Reich  des  ersteren  gerade  aufhört,  wo  das  des  letzteren  beginnt. 

Im  kurzen  Vorschlage  ist  daher  dem  Spieler  volle  Freiheit  gegeben,  der  er  sich  auch  hingeben 
darf,  ohne  zu  befürchten,  daß  er  gegen  den  Autor  verstoße. 


des  kurzen 
Vorschlages. 


b)  bei  Haydn,  Mozart  und  Beethoven. 

§  6. 

In  Bezug  auf  den  kurzen  Vorschlag  blieb  es  genau  so  auch  bei  Haydn,  Mozart  und  selbst  Beethoven. 

Auch  diese  letzteren  Meister  gebrauchen  ihn  mit  verschiedener  Notierung,  als  #%  js,  sogar  auch,  wie  wir  bei 
Fig.  7a  sahen,  als  JV  Zieht  man  indes  alle  jene  Fälle  ab  (die  nicht  allzu  zahlreich  sind),  wo 
der  langeVorschlag  als  Manier  in  seinerwahren  Geltung  ausgeschrieben  ist,  —  u.  zw.  immer 
nur  als  ein  J  vor  J  oder  J  ,  als  ein  J^  vor  einem  J  oder  ^  vor  einem  ^  —so  bleiben  dann 
von  selbst  alle  übrigen  Vorschläge  eben  nur  als  kurze  zurück. 

Es  kommt  auf  dasselbe  hinaus,  wenn  ich  sage,  daß  Haydn,  Mozart  und  Beethoven  nur 
eigentlich  mehr  kurze  Vorschläge  als  Manieren  schrieben,  ausgenommen  die  wenigen  Fälle 
der  in  ihrer  wahren  Geltung  (der  Verhältnisse  2 : 2  oder  2 : 1)  ausgeschriebenen  langen  Vorschläge,  die 
nur  allzu  leicht  zu  erkennen  sind. 

Nur  bleibt  es  damit  zugleich  auch  bei  der  alten  Freiheit  Bachs,  diesen  kurzen  Vorschlag 
mit  Ausdruck  zu  behandeln,  —  wobei  am  Begriff  des  kurzen  Vorschlages  so  lange  nichts  geändert 
wird,  bis  der  lange  erreicht  wird,  d.  h.  wobei  es  nichts  ausmacht,  ob  man  des  Ausdrucks  halber  ein 
Atom  Zeit  mehr  verliert,  wenn  nur  nicht  durch  ein  solches  Mehr  an,  Zeit  der  Vorschlag  schon  als 
lang  herauskommt. 

Hier  einige  Beispiele  (vergl.  dazu  übrigens  Fig.  7): 

Fig.  13. 

a)  Mozart,  Cl.-Son.  Köchel  N?810.  ^Mozart^Strqu^dur.  c)Beeth.  Cl.-Son.  Op.2.  Nr.l. 


fJE 


-fem. 


Zrv  j  Cr 


üöS 


^M 


W  N  '™ls 


fcfe 


£ 


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sf        PP 


PPW 


K.SJ». 


Es  ist  bekannt,  daß  wir  seither  den  kurzen  Vorschlag  unabänderlich  in    folgender  Notierung  j 
festgelegt  haben.  Niemals  hätte  diese  Tatsache  an  sich  allein  schon  einen  Schaden  bedeuten  können,  wenn  sich 
nicht  unerklärlicherweise  damit  leider  zugleich  eine  frevelhaft  unkünstlerische  Regel  verbunden  hätte,  nämlich 

also  im  Vortrage  wie  lange  Vorschläge  behandelt  werden,  während  die  32-Theile  ohne  Accent,  ganz  nach  der  heutigen  Art 
kurzer  Vorschläge  zu  spielen  sind.  Die  erste  Stelle  hieße  demnach  etwa  so: 

Fig.  14. 


|  jyi^AiQ^i 


u.  es  will  uns  scheinen,  als  ob  der  mildere  Charakter,  den  sie  dadurch  bekäme,  nicht  schlecht  zu  dem  sich  allmählich 
beruhigenden  Schlüsse  des  ersten  Theils  u.  des  ganzen  Satzes  paßte,  so  wie  der  härtere  Ausdruck  der  ganz  kurzen  Vor- 
schläge in  der  Mitte  des  zweiten  Theils  dem  erwartungsvollen  Piano  u.  dem  plötzlichen  Porte,  mit  dem  in  das  energische 
erste  Thema  hineingeleitet  wird,  eine  sinngemäße  Färbung  verliehe .  .  .  ■  u.  s.  w.  Wie  denn  eben  Baumgart  auch  mit  folgenden 
Sätzen :  „Ueberhaupt  möchten  wir  in  der  Behandlung  der  Vorschläge,  auch  in  solchen,  wo  bestimmte  Kegeln  gegeben  sind, 
der  Freiheit  des  Spielers  keine  Ketten  angelegt  wissen.  Es  läßt  sich  aus  Ph.  Em.  Bach  selbst  nachweisen,  daß  er  die 
Regeln  als  noimirende,  nicht  als  uniformirende  Vorschriften  betrachtete."  wohl  eine  starke  Ahnung  der  echt  künstlerischen 
Lösung  des  Vorschlagsproblems  verräth,  ohne  noch  indessen  ganz  festen  Boden  dafür  gefunden  zu  haben.  Ich  selbst  aber 
habe,  gemäß  den  im  Texte  gebotenen  Ausführungen,  für  die  erste  Stelle  (S.  49  meiner  Ausgabe)  in  Anmerkung  2)  einen 
„ausdruckvollen  kurzen  Vorschlag"  gewünscht,  „sich  einem  langen  sehr  nähernd,  jedoch  nicht  völlig  diesem  gleich!" 
für  die  zweite  Stelle  aber  (S.  51,  Anm.  1)  einfach  „kurze  Vorschläge". 


Fortsetzung 
d.  Bachschen 

Prinzipien 
d.  Notierung 
u. Ausführung 
des  kurzen- 
Vorschlages 
auch  bei  den 
späteren 
Meistern. 


U.-E.  812. 


34 

die,  den  so  notierten  kurzen  Vorschlag  allemal  wirklich  aufs  allerkürzeste  zu  spielen.  Es  ist  nicht  zu 
sagen,  wie  viel  durch  eine  solche  Regel  das  künstlerische  Zartgefühl^  Einbuße  erleiden  muß.  Jedenfalls 
ist  gegen  diesen  Schaden  der  Gewinn  nur  minimal,  der  anderseits  darin  besteht,  daß  die  Schreibart 
des  kurzen  Vorschlages  endlich  eine  fixe  geworden  ist. x)  — 

Als  nicht  ganz  unwichtig  möchte  ich  endlich  noch  folgende  Bemerkung  hinzunehmen  bitten.   Es 
ist  in  der  Natur  der  Sache   gelegen,    daß  hier,   bei  den  Vorschlägen,    ein  Lapsus  des  Autors   nur   allzu 

leicht  sich  einschleichen  kann,  in  dem  Sinne,  daß  er  z.  B.  ein  #^  für  ein  #N,  oder  ein  #^  für  ein  #n  und 
umgekehrt  schreibt.  So  ist  es  denn  geraten,  solche  menschliche  Irrtümer  bei  Erledigung  der  Vor- 
schläge immerhin  als  Möglichkeiten  zu  betrachten  und  sie  mit  in  Rechnung  zu  bringen,  wodurch  gar  oft 
vielleicht  dem  Gefühle  so  manche  Unannehmlichkeit  erspart  werden  kann. 


II.  Triller. 


Psychologie 
des  Tn.lers. 


Notierung  des 
Trillers. 


über  den 
Trilleranfang. 


Der 


„ordentliche"  Triller  samt  seinen  Abarten, 
a)  bei  Ph.  Em.  Bach. 

§i- 

Der  Triller  bedeutet  eine  eigentümliche  Verlebendigung  eines  Tones:  Durch  mehrfache  Wieder- 
holung eines  und  desselben  Tones  samt  seinem  oberen  Hilfstone  wird  gleichsam  die  stete  klangvolle 
Gegenwart  des  Haupttones  erzielt  und  dadurch  dessen  Dauer  so  recht  ausgefüllt. 

Indessen  ist  die  Ausfüllung  der  Dauer  nicht  der  einzige  Zweck,  sie  geht  vielmehr  Hand  in 
Hand  mit  einem  höheren  Reiz,  der  von  selbst  schon  durch  die  sinnliche  Erscheinung  der  sich  schnell 
wiederholenden  Tonpaare  hervorgerufen  wird.  2) 

§  2. 

Als  Zeichen  des  Trillers  ist  ~ ~,  oder  tr  oder  endlich  ein  einfaches  -f-  gebräuchlich. 

§  3. 

Ein  uraltes  Trillergesetz,  auch  von  Ph.  Em.  Bach  in  seinem  Buch  angezogen, 8)  lautet:  daß  der 
Triller  „allezeit  mit  der  Secunde  über  dem  Ton"  anzufangen  habe. 

Nun  scheint  mir  dieses  Gesetz  weniger  das  wirklich  zu  verlangen,  was  es  sagt,  daß  nämlich 
wirklich  allemal  der  Triller  mit  dem  Oberton  angefangen  werde,  als  vielmehr  bloß  auf  den  kaum 
merklichen  nnd  auch  wenig  beachteten  Vorhalt  von  oben  im  Triller  hinzuweisen,  der  sich  durch 
die  wiederholte  Abwechslung  von  Ober-  und  Hauptnote  dann  gleichsam  von  selbst  vervielfältigt. 

In  der  Tat  ist  es  jene  Vorhaltsnatur   im  Triller  ganz  allein,   die   entscheidet,   ob  z.  B. 

Fig.  15. 


ein  wirklicher  Triller   über  c   (mit  der  Hauptnote   beginnend)   oder  nur  etwa  eine   mordentähnliche  Er- 
scheinung über  d  ist,  etwa  wie: 

a)    Beethoven. Op.ölN?  2.  b)  Hayrin.  Streichquartett.  Op.  54.  N9 3. 


Fig.    16. 


jg  r^r>ejvPfPfPPPfPpg^ 


ihm  nTgrn*TTn~p~ 


die  eventuell  auch  als  Triller  von  unten  (mit  einem  Vorhalt  von  unten)  aufgefaßt  werden  könnten. 

x)  Auch  mahnt  gerade  diese  Unabänderlichkeit  unserer  Notierung  desto  stärker  einen  Heraasgeber  zur  Vorsicht 
in  der  Ausführung  der  Vorschläge!  War  es  gegebenenfalls  ein  Fehler  von  ihm,  irgend  einmal  einen  langen  Vorschlag 
für  einen  kurzen  auszugeben  (vergl.  S.  32  §  4),  so  wächst  ja  der  Nachteil  des  begangenen  Fehlers  sicher  nur  damit,  daß 
der  kurze  Vorschlag  dann  eben  wegen  der  neuen  Schreibart  wirklich  beim  Wort  genommen  und  nur  aufs  allerkürzeste 
gespielt  wird.  So  verschlingt  leider  schon  die  Schreibart  den  letzten  Best  von  Freiheit  im  Ausdruck  des  kurzen  Vorschlages. 

2)  Vergl.  II.,  3,  §  1:  „Die  Triller  beleben  den  Gesang  u.  sind  also  unentbehrlich."  Und  daselbst  §  7:  „Ein 
geschwinder  Triller  ist  allezeit  einem  langsamen  vorzuziehen;  bey  traurigen  Stücken  könnte  ein  Triller  allenfalls  etwas 
langsamer  geschlagen  werden,  außerdem  aber  erhebt  der  Triller,  wenn  er  geschwind  ist,  einen  Gedanken  sehr." 

•)  IL,  3,  §  5. 


U.-E.  812. 


35 

Damit  sich  die  entscheidende  Vorhaltsnatur  ausdrücke,  scheint  es  aber  durchaus  nicht  nötig  zu 
sein,  daß  darum  der  Triller  wirklich  allemal  mit  dem  ersten  Vorhalte  selbst  einsetze.  Denn  folgen,  wie  ge- 
sagt, so  viel  noch  der  Vorhalte  raschestens  aufeinander,  die  sich  als  Vorhalte  ja  unzweifelhaft  dokumen- 
tieren auf  Grund  der  gesamten  übrigen  harmonischen  wie  melodischen  Situation, 
so  darf  man  wohl  unbedenklich  den  allerersten  Vorhalt  zuweilen  der  melodischen  Rücksicht  opfern,  ohne 
befürchten  zu  müssen,  daß  deswegen  allein  der  Triller  als  ein  Triller  von  oben  noch  könnte  mißverstanden 
oder  verwechselt  werden. 

Und  so  wird  es  immer  am  Ende  darauf  anzukommen  haben,  was  im  gegebenen  Falle  dringender 
sei:  etwa  einer  melodischen  Rücksicht  zuliebe  der  sofortige  Anschluß  der  Hauptnote  als  Melodienote, 
oder  die  Würze  des  ersten  Vorhaltes.  Darüber  zu  entscheiden,  wird  wohl  immer  Sache  des  Geschmackes 
bleiben  müssen. 

§4. 

„Der  höchste  Ton  bey  den  Trillern",  sagt  Bach  (IL,  3,  §  8),  „wenn  er  zum  letzten  mahl  vor-  über  tas 
kommt,  wird  geschnellet,  d.i.  daß  man  nach  diesem  Anschlage  die  Spitze  des  auf  das  geschwindeste 
gantz  krumm  eingebogenen  Fingers  auf  das  hurtigste  von  der  Taste  zurücke  ziehen  und  abgleiten 
läßt."  *)  Unter  „Schnellen"  verstand  also  Bach  einfach  das,  was  das  Wort  selbst  sagt:  eben  eine  wirkliche 
Beschleunigung,  und  insbesondere  hier,  im  Zusammenhang  mit  dem  Triller,  wohl  die  Beschleunigung 
des  letzten  Trillerpaares,  um  den  Schluß  des  Trillers  als  solchen  zu  verdeutlichen. 
Sieht  man  ihn  außerdem  noch  beschreiben,  was  alles  zu  machen  sei,  damit  solches  „Schnellen"  fein  und 
glatt  herauskomme,  wie  namentlich  Hand  und  Finger  eine  eigene  Stellung  anzunehmen  haben,  um  nach 
der  letzten  Note  des  Trillers  von  der  Taste  rasch  herabgleiten  zu  können,  und  wie  das  Herabgleiten 
endlich  den  gewünschten  Effekt  des  Schlusses  gleichsam  hinter  sich  läßt,  so  muß  es  billigerweise  ver- 
wundern, daß  so  viel  Unverständnis  den  ohnehin  so  geschickt  malenden  Worten  Bachs  entgegengebracht 
wurde,  und  man  statt  jener  einfachen  Beschleunigung  Gott  weiß  was  für  Akzente,  Geheimnisse  und  Rätsel 
der  alten  Klavierkunst2),  die  angeblich  verschollen,  hinter  dem  „Schnellen"  vermutete.  Und  desto  mehr 
darf  man  sich  über  das  Unverständnis  wundern,  als  man  ja  wirklich  alle  Tage  dieselbe  Trillerausführuug 
sehen  und  hören  kann,  auch  schon  bei  nur  halbwegs  virtuosen  Klavierspielern. 

Nicht  immer  zwar  gestattet  der  Fortgang  des  Stückes,  d.  i.  das,  was  auf  den  Triller  folgt,  ein 
solches  Herabgleiten  der  Hand,  aber  man  ist  daran  noch  lange  nicht  gehindert  selbst  in  Fällen,  wie  z.  B. : 

*%"•#■  ,.  w  c)   Em.  Bach. 

a)  J.  S.  Bach,  engl.  Suite  IH.  Sarabande.  0)  tlavierkonzert     D   dur.  pae  49 

U.S.W. 

Wie  ja  im  Heruntergleiten  der  Hand  weniger  eine  Unterbrechung  des  Tonstromes,  denn  ein  mechanischer 
Prozeß  zu  erblicken  ist,  eine  Art  Mechanik  des  Unterarmes  und  der  Finger,  die  sich  bestrebt,  eine 
jegliche  physische  Forciertheit  der  Hand  (in  Bezug  auf  die  Ausführung  des  Trillers,  besonders  des  Triller- 
endes) wo  nicht  von  vornherein  auszuschließen,  so  doch  mindestens  im  nachhinein  sofort  wieder  gutzu- 
machen und  auszugleichen. 

§  5. 

Der  Nachschlag  des  Trillers  besteht  in  der  Verbindung  der  Untersekunde  mit  der  Hauptnote,     über  den 
Dabei  ist  es  ganz  irrelevant,  was  mit  der  letzteren  nachträglich  noch  geschieht:  ob  nämlich     ac  !cWaa 
die   Hauptnote,   wie   bei  a,  wegen   eines   Punktes   oder   einer    Fermate   überhaupt   anhalten,    oder,   wie 


J)  Vergl.  überdies  den  unten  S.  41  beim  Pralltriller  angezogenen  §  36. 

2)  So  schreibt  Dr.  Baumgart  im  Vorwort  seiner  Ausgabe  S.  10:  „Erwähnenswerth  scheint  nur,  daß  damals  der 
höchste  Ton  (Hilfston)  bei  den  Trillern,  wenn  er  zum  letzten  Male  vorkam,  geschnellt  wurde,  d.  h.  nach  Bach's  Erklärung 
so  gespielt,  .  .  .  (hier  folgt  das  oben  im  Text  gegebene  Zitat)  .  .  .  Diese  Vortragsweise  bezieht  sich  aber  auf  die  alten 
Klaviere;  auf  dem  Fortepiano  war  alles  „Schnellen"  schon  damals  schwierig  .  .  .  (hier  wird  §  36  angezogen),  wenigstens 
wo  es  leise  gemacht  werden  sollte.  Wir  werden  heut  davon  absehen  oder  uns  mit  einem  leichten  Akzent  begnügen  müssen.« 


U.-E.  812.  5* 


36 


bei  b,  Halt  machen  muß  vor  einer  Pause,  oder  ob  sie,  wie  bei  c,  sofort  Anschluß  findet  zur  nächsten 
Note,  oder  wie  bei  d,  eine  Synkope  begründet,  oder  endlich,  wie  bei  e,  gar  ein  neues  Motiv  selbst  an- 
zufangen hat: 


P,n     1»  Haydn.Son.  NQ  3t 

"  (U   E    N°4) 

(t)  Mozart.  Son.  Köchel.  N?  331.  '  ^  b)  Mozart.  Son.  Köchel  N9  284 . 


c)  Haydn.  Son.  N?5.(Ü.  E.l.) 


Beethoven,  Rondo  G-dur. 


f    P 


ör)Beeth.Son.Op.UO.e)H^dnN9^ 


J.S.  Bach,  engl.  Suite  I.    Haydn  No  31 


Darüber,  wann  der  Nachschlag  zu  gebrauchen  sei,  entscheiden  freilich  am  besten  die  Situation 
der  Stelle,  wie  der  Geschmack  des  Spielers.  Auch  Bach  gibt  das  ausdrücklich  zu 2)  —  und  desto  stärker 
ist  der  Eindruck  dieser  seiner  künstlerischen  Liberalität,  je  tiefsinniger  die  Kasuistik3)  ist,  die  er  dem 
Nachschlage  widmet.4) 

Daß  sonst  der  Nachschlag,  oder  was  auf  Grund  verwandten  Charakters  diesen  vertritt,  in  der 
Ausführung  an  den  Triller  unmittelbar  angeschlossen  wird,  versteht  sich  von  selbst.6) 

Über  die  Schreibart  des  Nachschlages,  wenn  dieser  dem  Triller  ausdrücklich  vom  Komponisten 
beigefügt  ist,  siehe  den  nächsten  Paragraphen. 

§  6.  S~~ 

Der  Triller  Daß  der  Triller  so    lange  geschlagen  werden  müsse,    als  es  der  Wert  der  Note,    über  der  das 

bei  einer     Zeichen  des  Trillers  steht,  verlangt,  ist  selbstverständlich  und  bekannt.  Weniger  bekannt  dürfte  es  aber 
Note<        sein,  daß  Bach  dasselbe  auch  bei  einer  punktierten  Note  verlangte. 


*)  Mit  diesem  Beispiel  Beethovens  vergleiche  man  übrigens   auch  das   folgende  von  Bach  selbst,   das  dieser   in 
§  24  unter  „merkwürdigen"  Exempeln  anführt: 

Tab.  IV,  Fig.  XXXV. 

Fi9-  I9'  £raüggfcEa^gg.gg| 


und  das  er  mit  den  Worten  begleitet:    „Bey   a)   sehen  wir,   wie   der  Nachschlag  nach   einer  Haltung   angebracht  wird." 
3)  Vergl.  II.,  3,  §  17:  „Ein  mittelmäßig  Ohr  wird  allezeit  empfinden,  wo  der  Nachschlag  gemacht  werden  kau  oder 
nicht.  Ich  habe  dieses  wenige  blos  Anfängern  zu  gefallen,  u.  weil  es  hieber  gehört,  anführen  müssen." 

8)  Vielleicht  läßt  sich  aber  immerhin  als  eine  Art  Ergebnis  feststellen,   was  Bach  im  §  13  mit  den  Worten  aus- 
drückt: „So  sieht  man  hieraus,  daß  blos  eine  fallende  Secunde  diesem  Nachschlage  am  meisten  zuwider  ist." 

*)  Verschieden  vom  einfachen  Nachschlag  beim  Triller   ist  aber  z.  B.  folgende  Wendung  in   der  VI.  englischen 
Suite  von  J.  S.  Bach: 


Fig..  20.     gg 


^Bb 


erenjwra  seil 
cnsthlaff  bezei 


die,  indem  sie  eine  Antizipation  beimischt  (s.  die  eingeklammerte  Tonfolge  a— /),  einen  anderenjnrar  selbständigen  Aus- 
druck ergibt.  Man  darf  daher  einen  solchen  Abschluß  des  Trillers  durchaus  nicht  mehr  blos  als  Nacnsthlag  bezeichnen,  und  eben 
dieses,  und  nichts  anderes  meint  auch  Ph.  Em.  Bach,  wenn  er  §  21  sagt :  „Wenn  man  dem  letztern  noch  ein  Nötgen  beyfügt 

Tab.IV,Fig.XXXlII. 
Fig.  21.    


Wsm 


(vergl.  eben  auch  J.  S.  Bachs  Beispiel),   welches  man  mit  Recht  unter  die  verwerflichen  Nachschläge  rechnen  kan. . ."  u.  s.  w. 
s)  Übrigens  ausdrücklich  zu  lesen  in  §  21 :  „Wenn  man  dem  Triller  einen  lahmen  Nachschlag  anhängt... 

Fig.  22.  -l"b-lv'f'«x™1- 


w 


^s§ 


so  begehet  man  eben  so  heßliche  als  gewöhnliche  Fehler".  Vergl.  außerdem  den  unten  zitierten  §  14. 


U.-E.  812. 


37 

In  II,  3,  §  14  erklärt  Bach:  „An  statt,  daß  sonst  die  letzte  Note  von  dem  Nachschlage  alle 
zeit  in  der  größten    Geschwindigkeit  mit  der   folgenden    verbunden  wird   (/):   so  geschiehet   dieses    bev 
punktirten   Noten  nicht,  weil  ein  gantz  kleiner  Baum  zwischen  der  letzten  Note  des  Nachschlags  u    der 
folgenden   bleiben   muß  g).   Dieser   Kaum   muß    nur    soviel   betragen,    daß   man    kaum   hören  kan  "  daß 
der  Nachschlag   u.  die    folgende   Note  zwey   abgesonderte   Dinge  sind.    Da   dieser  Raum  mit    der' Zeit 
Maasse  ein  Verhältnis  hat,  so  ist  die  bey  (g)  befindliche  Ausführung,  allwo  die  Schwäntzung   der  letzten 
Note   des  Nachschlags   diesen  Raum  andeutet,   nur  so    ohngefehr  abgebildet.    Es  rührt    dieses   von    dem 
Vortrage  der  punktirten  Noten,  wovon  in  dem  letzten  Haupt-Stücke  gehandelt  werden  wird  her   vermöge 
dessen   die   auf  Punkte   folgenden   kurtzen    allezeit  kürtzer,    als    tfie    Schreibart    erfordert'    abgefertigt 
werden.    Die  bei  Ä)  befindliche  Verbindungen   des  Nachschlags   mit  der   folgenden   Note  ist  also  falsch 
Es  muß   ein  Componist,  wenn   er  diese  Art  von  Ausführung  verlangt,  solches  ausdrücklich  andeuten  «  *) 


Fig.  23. 


f) 

i 


^ 


IS^i^ 


h)      Tab.IV,  Fig.XXVIi 


Darnach  gestaltet  sich  die  Ausführung  eines  lebendigen  Beispieles  aber  wie  folgt: 


Fig.  24. 


ä)  Pag.  49 


Beim  Triller  Ph.  Em.  Bachs  (vermutlich  auch  bei  dem  J.  S.  Bachs?)  wird  also,  wenn  die  Note 
punktiert  ist,  nicht  schon  dort  angehalten,  wo  der  Punkt  beginnt  —  welche  Art  des  Trillerns  nämlich 
die  unsere  von  heute  ist  (vergl.  Fig.  |4,  b)  —  sondern  man  hat  vielmehr  etwas  über  den  Beginn 
hinaus,  oder  besser:  in  den  Punkt  hinein  zu  trillern,  so  daß  das  Trillerende  knapp  etwa  vor  Ende  des 
Punktes  abgesetzt  wird  (vergl.  c). 

Einmal  aber  so  weit  gelangt,  darf  man  die  nächste  Note  nur  mehr  verkürzt  in  ihrem  Werte 
bringen  (hier  beiläufig  ein  J§  statt  des  J\\  wie  bei  c)  zu  sehen  ist. 

Der  Grund  der  Verkürzung  ist  der,  daß  die  Hauptnote  (am  Ende  des  Trillers  hinter  dem  Punkt) 
in  Verbindung  mit  der  nunmehr  verkürzten  Note  doch  wieder  nur  eine  Art  rhythmisch- 
motivischer Diminution  der  ursprünglichen  Tonfolge  (vergl.  die  Klammern  bei  a  und  c)  vorstellt. 

Um  Bach  nicht  noch  länger  dem  Mißverständnisse  ausgesetzt  zu  lassen,  dem  er  leider  schon 
lange  genug  ausgesetzt  geblieben,  gestatte  man  mir,  dasselbe  auch  noch  graphisch-optisch  zu  versinnlichen. 
Nehmen  wir  an,  dem  8tel  /  entspreche  die  Strecke  m  n,  dem  um  die  Hälfce  verlängernden  Punkte  die 
Strecke  np  und  der  folgenden  Note  a  die  Strecke  pq  als  wieder  einem  16tel:  so  pflegen  wir  heutzutage 
für  den  Triller  bloß  die  Teilstrecke  m  n  zu  verwenden,  während  np  ganz  der  einfach  ohne  Triller 
fortklingenden  Hauptnote  gewidmet  ist,  worauf  dann  natürlich  die  folgende  Note  a  ihre  ursprüngliche, 
durch  p  q  versinnbildlichte  Dauer  behält.  Anders  Bach :  Am  liebsten  möchte  nämlich  der  Meister,  wie 
eben  geboten,  dem  vollen  Werte  nach,  also  von  m  bis  p,  d.  i.  volle  drei  16tel  lang,  trillern:  dieses 
müßte  jedoch  dazu  führen,  daß  die  nächste  Note  et  sich  ohne  jeden  Zwischenraum  direkt  an  den  Triller 
anschließe,  dabei  allerdings  ihren  vollen  Wert  pq  unvermindert  beibehaltend.  Nun  fordert  aber  der 
motivischrrhythmische  Sinn  der  Tonfolge,  —  welcher  klar  zutage  tritt,  sobald  man  sich  nur  den  Triller 
einfach  hinwegdenkt!  —  daß  zwischen  dem  Ende  des  Trillers  und  der  zweiten  Note  ein  gewisses,  wenn 
auch  minimales  Spatium  sich  ergebe.  Dieses  Spatium  hat  offenbar  doch  nur  p!ie  einzige  Aufgabe,  zu 
versinnlichen,  was  die  ursprüngliche  Tonfolge  eigentlich  gewollt  hat,  bevor  ihr  noch  der  Schmuck  des 
Trillers  zugedacht  worden  ist.  So  trillert  nun  Bach  bis  knapp  vor  p,  etwa  bis  x;  und  nun  —  soll  das 
eben  erwähnte  und  begründete  Spatium  eintreten,  so  muß  der  zweite  Ton  a  zu  Gunsten  des  Spatiums 
ein  klein  wenig  von  seinem  ursprünglichen  Werte  p  q,  etwa  den  Teil  p  y,  abgeben.  Auf  diese  Weise 
entsteht  eben  die  Verkürzung  des  letzten  Wertes;  Kurz,  diese  Ausführung  ist  die  Lösung  eines  Konfliktes 

*)  Vergl.  überdies  §  13  und  21,  worin  er  wiederholt  einschärft,  daß  „die  Triller  .  .  so  lange  geschlagen  werden 
müssen,  als  die  Geltung  der  Note,  worüber  er  steht,  dauert". 

U.-E.  812. 


38 


und  das  denkbar  glücklichste  Kompromiß  zwischen  der  Forderung  des  Motivischen  und  dem  natürlichen 
Grundsatze,    daß  der  Triller  so  lauge  geschlagen  werde,    als  eben  die  Note    über  der  er  steht,    dauert 


y 


4- 


m 


n 


P 


9 


Warum  sich  hier  aber  die  Schreibart  von  der  Ausführung  getrennt  hat,  ist,  wie  folgt,-  zu  erklären. 
Teilt  die  Schreibart  ihre  Werte  nach  jenen  Noten  ein,  die  sie  mittels  ihrer  großen  Schritt  darzu- 
stellen hat,  so  darf  sie  nicht  zugleich,  wenn  sie  anders  nicht  das  Auge  verwirren  und  ihr  Prinzip  einem 
Mißverständnisse  aussetzen  will,  einen  zweiten  nud  ebenbürtigen  Einteilungsgrund  in  den  sogenannten 
Zeichen  suchen,  die  ja  eben  erst  nur  Zeichen  sind,  d.  h.  noch  lange  nicht  die  Noten  selbst,  für  die  sie 
stehen.  Solange  daher  Töne  bloß  erst  in  Zeichen  niedergelegt  sind,  darf  man  diesen  letzteren  noch  keinerlei 
Einfluß  auf  die  große  Schrift  und  deren  Einteilung  einräumen.  Die  große  Schrift  bleibt,  wenn  ich  so 
sagen  darf,  allemal  nur  mit  sich  selbst  allein  und  kümmert  sich  weder  um  Zeichen  noch  deren  Inhalt1). 
Daher  ist  es  unstatthaft  und  unlogisch  zu  schreiben,  wie  bei  d.  Hat  aber  die  Ausführung  nun  einmal  die 
Zeichen  in  wirkliche,  lebendige  Klänge  umgesetzt,  dann  freilich  erwächst  die  Pflicht  einer  neuen  Stellung 
nähme  gegenüber  dem  wirklichen  Plus  an  Tönen,  von  dem  ja  die  große  Schrift  nichts  weiß. 
Die  neue  Stellungnahme  aber  beruht,  wie  gesagt,  in  jener  rhythmisch- motivischen  Diminution,  mit  einem 
Wort  in  der  Verkürzung  der  nächsten  Note. 

Aus  demselben  Grunde  notierte  man  auch  die  Nachschläge  der  Triller,  wenn  man  sie  mit  in 
die  große  Schrift  aufnahm  (was  sehr  oft  geschah),  nicht  nach  ihrem  wirklichen  Ausführungswert,  sondern 
nach  dem  Prinzipe  der  Schreibart  der  großen  Schrift: 


Fig.  25. 


Em 


Ü 


Bach.  Pag.31. 


m 


Pag. 


12. 


cy\v 


Mozart.  Son.  Kö'chel  N°4fi7. 
k 


J^t 


fr 
a 


» 


»    ■ 


Der  Triller  a) 
von  unten  und 
W  von  oben. 


§7. 

Vom  ordentlichen  Triller  unterscheidet  Bach  aber  a)  den  Triller  von  unten  und  b)  den  von  oben 
Im  IL,  3,  §  22  sehen  wir  die  Ausführung  des  „Trillers  von  unten": 


Tab.  IV,  Fig.  XXXIV. 


Fig.  26. 


u.  dazu  die  Worte:    „Weil  dieses  Zeichen  außer  dem   Klaviere   nicht  sonderlich   bekannt  ist,   so  pfleg 
dieser  Triller  auch  meist  so  bezeichnet  zu  werden  (*),   oder  man  setzt   das   gewöhnliche   Zeichen    eine 
tr.  und  überläßt  dem  Gutbefinden  des  Spielers  oder  Sängers,  was  für  eine  Art  von  Triller  er  da  anbringen  will 
Der  „Triller  von  oben"  aber  muß  von  vornherein,  wenn  ersieh  überhaupt  vom  ordentlichen  Triller  mi 
beginnender  Obersekunde  unterscheiden  soll,  durchaus  folgende  Gestalt  gewinnen  (vergl.  §  28): 


Fig.  27. 


Tab.  IV,  Fig.  XU. 

ftU    Hfl 


rirrrrrrrrrrrri;  ifjg^ 


:)  Man  vergleiche  die  bereits  ob*:n  im  Abschnitt  über  die  Vorschläge  S.  27  zitierte  Stelle  II,  2,  §  2  und  erinnere  sie 
der  naiv  schönen  Wendung:  „indem  die  grüßein  ihre  Geltung  den  Augen  nach  behalten",  der  man  nunmehr  das  richtig 
Gewicht  zu  geben  in  der  Lage  ist.  Somit  hat,  eben  aus  Anlaß  der  Manieren,  die  große  Schrift  die  Geltung  der  Note 
„den  Augen  nach"  ganz  andeis  darzustellen,  als  sie,  nach  Abzug  der  auf  ihre  Kosten  fallenden  Manieren,  in  Wirklicr 
keit  zum  Ausdruck  kommt! 

Ähnlich  drückt  sich  Bach  auch  bei  der  Gelegenheit  aus  (in  II,  7,  §  5),  wo  ei  ein  neues  Zeichen  für  den  Schleif« 
vorschlägt:  „Das  Auge  kan  unsere  Bezeichnungsart  leichter  übersehen  und  die  Noten  bleiben  in  der  Nähe  beysamnien." 

U.-E.  812. 


39 

„Außer  dem  Klaviere  pflegt  er  auch  dann  und  wann  so  angedeutet  zu  werden,   wie  wir  bey  (*)  sehen" 
heißt  es  bei  Bach  in  §  27.  Mit  anderen  Worten:  Der  Triller  von  oben  muß  zugleich  auch  den  von  unten' 
durchlaufen,  wenn  er  mehr  als  der  einfache  ordentliche  Triller  sein  will. 

§  8. 

Doch  möchte  ich  noch  durchaus  bezweifeln,  ob  die  obigen  Ausführungen  Ph.  Em.  Bachs  auch  auf 
den  Triller  J.  S.  Bachs  volle  Anwendung  zu  finden  haben.  Vielmehr  halte  ich  es  für  wahrscheinlicher 
daß  bei  J.  S.  Bach  das  Zeichen  des  Trillers  ~*f  u.  zw.  selbst  bei  punktierten  Noten,  (vgl.  besonders  die' 
Couranten  in  den  Suiten)  oft  kaum  wenig  mehr  als  vielleicht  nur  gerade  den  kürzesten  oder  gar  den  PralltriUer 
nicht  aber  noch  jederzeit  den  Triller  Ph.  Em.  Bachs  in  dessen  vollem  umfange  bedeutete,  der  ja,  wie  wir  wissen' 
stets  die  volle  Dauer  der  Note  in  Anspruch  nimmt.  J.  S.  Bachs  ~~  scheint  somit  in  Wirklichkeit  oft  etwa 
bloß  die  Mitte  zwischen  dem  Pralltriller  und  dem  ordentlichen  Triller  zu  halten. 

Auch  scheint  mir  bei  J.  S.  Bach  dasselbe  Zeichen  ~~  oft  zugleich  nur  andeuten  zu  wollen  daß 
der  Triller  mit  der  Hauptnote  selbst,  nicht   aber  mit  der  oberen  Sekunde  anzufangen  habe.  Und  gerade 

das  Zeichen  > ,  das  Ph.  Em.  Bach  nur  für  den  wirklichen  Triller  von  oben   (also  für  den  potenzierten 

eben  um  den  Triller  von  unten  vermehrten  ordentlichen  Triller!)  verwendet,  scheint  bei  J.  S.  Bach  viel- 
mehr wieder  nur  den  gewöhnlichen  ordentlichen  Triller  selbst  zu  bedeuten,  der  aber  mit  der  oberen 
Sekunde  anzufangen  hat. 

Diese  letztere  Vermutung  betreffs  der  anderen  Bedeutung  des  ^~~  bei  J.  S.  Bach  möchte  vor 
allem  darauf  zu  gründen  sein,  daß  ja  J.  S.  Bach  einen  solchen  Triller  nur  zu  oft  auch  bei  Tönen  notiert, 
deren  Dauer  doch  offenbar  zu  kurz  scheinen  muß,  um  den  im  Sinne  Ph.  Em.  Bachs  so  umfangreichen 
Inhalt  des  Trillers  von  oben  in  sich  ganz  aufnehmen  zu  können,  u.  zw.  selbst  auch  dann  noch  zu  kurz, 
wenn  das  Tempo  um  vieles,  sehr  vieles  langsamer  genommen  würde,  als  man  es  sonst  heutzutage  über- 
haupt zu  hören  bekommt.  Kaum  wird  aber  die  Vermutung  schon  dadurch  entkräftet,  daß  Ph.  Em.  Bach  in 
§  28  mitteilt:  „Vor  diesem  wurde  er  öfter  gebraucht,  wie  heute  zu  Tage",  denn  unter  allen  Umständen 
wird  eben  auch  „vor  diesem"  es  allezeit  wahr  gewesen  sein,  was  in  demselben  Paragraphen  über  den  wirklichen 
Triller  von  oben  gesagt  wird:  „Da  er  unter  allen  Trillern  die  meisten  Noten  enthält,  so  erfordert  er 
auch  die  längste  Note". 

Außerdem  scheinen   für  meine   Ansicht,   das   ist  dafür,   daß   >_ in   den   meisten   Fällen   bei 

J.  S.  Bach  eben  nur  den  ordentlichen  Triller  mit  beginnender  Obersekunde  andeutet,  noch  folgende  Um- 
stände dringend  zu  sprechen: 

Erstens  stellt  z.  B.  das  Zeichen  ^.^  (vergl.  insbesondere  die  engl.  Suiten  in  der  „Urtext" -Ausgabe) 
sicher  nur  den  allerkürzesten  Triller  vor,  der  gar  nicht  in  der  Lage  ist,  erst  den  geforderten  Umweg 
über  den  Triller  von  unten  zu  machen,  wie  z.  B  : 

engl.  Suite  I. 


Fig.  28. 


engl.  &uite  l.  ^  . 


nicht  etwa: 


u.  s.  w. 


Zweitens  will  dasselbe  Zeichen  z.  B.  in  einem  anderen  Falle,  wie  etwa  der  folgende: 

Fiq.  29.         engl.  Suite,  I.  allemande. 


I 


Die  Auf- 
fassung   Ph. 
Em.  Bachs 
und   der 
Triller  bei 
S.  Baeh. 


doch  offenbar  wieder  ebensowenig  den  vollen  Inhalt  eine3  wirklichen  Trillers  von  unten  andeuten 
es  will  wieder  nicht  heißen: 

oder  gar: 

Fl9'3°'   jü  JJP^JftJjJJ^J^JJJi 


—  d.h. 


da  für  die  Beherbergung  auch  des  Trillers   von   unten   nebst  dem   doch,  deutlich  ausgeschriebenen  und 

ü.-E.  812. 


40 


gewünschten  Nachschlag  der  Raum  in  dem  einzigen  hiefür  zur  Verfügung  gestellten  J  zu  eng  ist,  sondern 

einfach  nur:  oder-. 

Fig.  31. 


|  J3iJ"JJj|J3^Ja 


was  aber  der  Inhalt  doch  nur  des  ordentlichen  Trillers  samt  Obersekunde  und  Nachschlag  ist. 

Halten  wir  nun  mit  diesem  letzteren  Ergebnis  im  besonderen  den  Inhalt  des  IL,  3,  §  18  bei 
Ph  Em.  Bach  zusammen :  „In  sehr  geschwinder  Zeit-Maaße  kan  man  zuweilen  durch  Vorschläge  die  Aus- 
nahme eines  Trillers  bequem  bewerkstelligen: 

Tab  ..VI,  Fig.  XXIX. 
Fig.  32. 


jjJTj^j^na 


Die  letzten  zwey  kurtze  Noten  drücken  alsdenn  den  Nachschlag  nicht  übel  aus.",  so  begegnen  wir 
in  der  Tat  zu  unserer  Überraschung  selbst  noch  bei  Ph.  Em.  Bach,  also  um  so  viel  später  als  bei 
J.  S.  Bach,  einem  unsere  Frage  deutlich  aufhellenden  Winker  daß  es  nämlich  öfter  gar  nur  darauf  an- 
kommt, die  Wirkung  eines  einfachen  Trillers  überhaupt  hervorzubringen,  ohne  Bücksicht  auf  die  Schreib- 
art die  streng  genommen,  um  vieles  mehr  zu  wünschen  scheint!  Der  Konflikt  zwischen  Schreibart 
und  Ausführung  aber,  wie  wir  ihn  ja  ohne  Zweifel  in  beiden  Fällen,  also  sowohl  bei  Fig.  29  als  auch  bei 
Fig  32  vorfinden,  wird  dadurch  ohneweiters  leicht  gelöst,  daß  man  in  den  vom  Komponisten  an- 
gesetzten Zeichen  s ,  beziehungsweise  «~  schon  die  sozusagen  pro  futuro- Andeutung  der  vollen  Summe 

der  gewünschten  Ausführung  erblickt,  einer  Summe  nämlich,  in  der  bereits  auch  die  Töne  mitinbe- 
griffen  werden  müssen,  die  die  große  Schrift  anführt.  Man  hat  also  in  solchen  Fällen  nicht  erst  zunächst, 

wie  dies  schon  für  sich  selbst  allein  (gemäß  der  Theorie)   das  Zeichen  > oder  nur  ~~  zu  wünschen 

scheint,  auf  die  vollinhaltliche  Ausführung  des  Trillers  zu  dringen,  um  ihr  dann  außerdem  erst  recht 
das  nachzuschicken,  was  die  große  Schrift  beifügt,  -  alles  dieses  wäre  eben  zu  viel  -,  vielmehr  fügt 
man  zu  den  vorhandenen  und  durch  die  große  Schrift  dargestellten  Elementen  des  Trillers  nur  einfach 
den  Best  hinzu,  so  daß  man  in  der  vollen  Summe  der  Ausführung  und  erst  nur  in  ihr,  zum  End- 
resultat eben  jenes  Trillers  gelangt,  den  der  Komponist  gewünscht  und  im  Zeichen  verkörpert 
hat.  Man  kann  daher,  wenn  man  will,  solche  Erscheinungen  etwa  für  zum  Teil  ausgeschriebene  Triller 
betrachten;  doch  wäre  es  freilich  besser  gewesen,  wenn  J.  S.  Bach,  statt  mit  dem  Zeichen  mehr  anzudeuten, 
als  er  gewollt  hat,  wie  dies  oben  bei  Fig.  29  zu  sehen  ist,  stets  nur  so  korrekt  geschrieben  hätte,  wie  z.  B. : 


Fig.  33. 


Englische  Suite  I.Gigue. 
b)    tr      &' 


^^ 


Denn  bei  diesem  Beispiel  o)  braucht  bloß  das  nötige  Tempo  hinzugefügt  werden,  um  einzusehen,  daß  in 
Wirklichkeit  gleichsam  ein  Triller  (wie  bei  b)  gemeint  ist,  und  zwar  der  allerkürzeste  und  mit  Nach- 
schlag, der  aber  des  besseren  Eindrucks  halber  fast  ausgeschrieben  ist.  (Vergl.  hiezu  auch  z.  B. 
engl.  Suite  V.,  „Urtext" -Ausgabe  S.  43,  48  u.  s.  w.) 


§  9. 


Der  Prall* 

triller. 


* 


Den  Pralltriller(~)leitet  Bach  begrifflich  vom  ordentlichenTriller  ab,  als  dessen  Hälfte  er  ihn  bezeichne 
Es  heißt  bei  ihm:  IL,  3,  §  30:  „Der  halbe  oder  Prall  triller,  welcher  durch  seine  Schärfe 
und  Kürtze  sich  von  den  übrigen  Trillern  unterscheidet,  wird  von  Clavier-Spielern  der  bey 

Tab.  IV,  Fig.  XV. 


Fig.  34. 


befindlichen  Abbildung  gemäß  bezeichnet.  Wir  finden  allda  auch  seine  Ausnahme  vorgestellt.  Ohngeachte 
sich  bey  dieser  der  oberste  Bogen  vom  Anfange  bis  zu  Ende  streckt,  so  werden  doch  alle  Noten  bis  au  | 

Ü.-E.  812. 


41 

das  zweyte  g  und  letzte  /  angeschlagen,  welche  durch  einen  neuen  Bogen  so  gebunden  sind,  daß  sie 
ohne  Anschlag  liegen  bleiben  müssen.  Dieser  große  Bogen  bedeutet  also  blos  die  uöthige  Schleifung." 
Und  daselbst  §  31:  „Durch  diesen  Triller  wird  die  vorhergehende  Note  an  die  folgende  gezogen,  also 
kömmt  er  niemals  bey  gestossenen  Noten  vor.  Er  stellet  in  der  Kürtze  einen  durch  einen  Vorschlag 
oder  durch  eine  Haupt-Note  an  die  folgende  angeschlossenen  Triller  ohne  Nachschlag  vor." 

Mit  andern  Worten :  Ins  Praktische  der  Ausführung  wird  die  theoretisch  ursprüngliche  Formel 
des  *v  hinübergeführt,  indem  deren  erste  Bindung  einfach  abgestreift  wird,  die  ja  eben  nur  als  theoretisches 
Symbol  für  den  ersten  Vorhalt  im  Triller  anzusehen  ist.  Nach  Wegfall  der  ersten  Bindung  aber  bleibt 
als  Inhalt  der  Formel  sodann  übrig  dasselbe,  was  man  eben  auch  sonst  allgemein  in  Wirklichkeit  als 
Pralltriller  versteht  und  spielt. 

In  einer  einzigen  Hinsicht  nur,  u.  zw.  trotz,  seiner  theoretischen  Herkunft,  blieb  bei  Bach  aller- 
dings der  erste  Vorhalt  immer  auch  noch  praktisch  maßgebend,  nämlich  in  Hinsicht  der  Anwendung 
des  ~*  überhaupt.  Denn  nur  wegen  des  ersten  Vorhaltes  wendet  Ph.  Em.  Bach  den  Pralltriller  aus- 
schließlich bei  einer  „fallenden  Sekunde"1)  an,  als  der  einzigen  Gelegenheit  nämlich,  die  den 
Vorhalt  von  oben  zuläßt.  (Nebenbei  bemerkt,  ist  hierin  kein  Widerspruch  gegen  die  Anwendung  des 
ordentlichen  Trillers  enthalten,  da  ja  zur  Klärung  der  Manier  bei  letzterem  noch  viel  derselben  Vorhalte 
folgen,  während  beim  Pralltriller  nur  ein  einziger  noch  folgt,  so  daß  auf  diesen  allein  die  Manier  zu 
stützen,  zu  Mißverständnissen  dieser  Manier  überhaupt  führen  könnte). 

„Dieses  Schnellen  allein  macht  ihn  würcklich",  sagt  Bach2),  und  meint  damit,  die  Figur  sei 
eben  sehr  schnell  zu  spielen,  niemals  etwa  breit.  — 

Wenn  der  Pralltriller  sich  mit  einer  nächsten  Note  verbindet,  so  hüte  man  sich  dabei  — 
aus  Lässigkeit  etwa  —  eine  Triolenbildung  aufkommen  zu  lassen,  so  gerne  die  Situation  auch  dazu 
drängen  möchte.3) 


*)  Vergl.  §  34  :„  Dieser  Pralltriller  kan  nicht  anders  als  vor  einer  fallenden  Secunde  vorkommen."  Späterhin 
d.  i.  nach  Bach  gewöhnte  man  sich  allerdings  an,  den  Pralltriller  auch  hei  anderen  Gelegenheiten,  als  bloß  der  einer 
fallenden  Sekunde  zu  gebrauchen.  Darüber  ging  aber  leider  der  reine  Typus  des  -~  verloren. 

2)  In  DI.,  3,  §  32,  wo  es  in  Fortsetzung  heißt:  „und  geschiehet mit  einer  außerordentlichen  Ge- 
schwindigkeit, so  daß  man  Mühe  hat,  alle  Noten  in  diesem  Triller  zu  hören.  Hieraus  entstehet  eine  gar  besondere  Schärfe, 
gegen  welche  auch  der  schärfste  Triller  von  anderer  Art  in  keinen  Vergleich  kommt."  .  .  .  „daß  dieser  Triller  deswegen 
doch  so  hurtig  gemacht  werden  muss,  daß  man  glauben  sollte,  die  Note,  worüber  er  angebracht  wird,  verlöhre  nicht  das 
geringste  hierdurch  an  ihrer  Geltung,  sondern  träfe  auf  einen  Punkt  zur  rechten  Zeit  ein.  Dahero  muß  er  nicht  so 
fürchterlich  klingen,  als  er  aussehen  würde,  wenn  man  alle  Nötgen  von  ihm  allezeit  ausschreiben  wollte.  Er  macht  den 
Vortrag  besonders  lebhaft  und  gläntzend". 

Vergl.  dazu  auch  daselbst  §  36,  worin  Ph.  Em.  Bach  seinem  Zweifel  Ausdruck  gibt,  ob  man.  „wenn  diese  Manier 
leise  gemacht  werden  soll",  eben  wegen  des  „Schnellens  auch  durch  die  größte  Uebung  die  Stärcke  des  Anschlages  bey 
diesem  Triller  auf  benanntem  Instrumente  (d.  i.  auf  dem  forte  piano)  allezeit  in  seiner  Gewalt  wird  haben  können."  Ich 
glaube,  er  hat  mit  seinem  Zweifel  Recht  behalten. 

8)  Aus  der  Bemerkung  Baumgarts  (s.  Vorwort,  S.  10) :  „Im  raschern  Tempo  wird  gewöhnlich,  wie  man  leicht 
beobachten  kann,  aus  dem  Prall-Triller  u.  der  Hauptnote  zusammen  eine  Triole,  wie  bei" : 


Fig.  3, 


.). 


geht  aber  hervor,  daß  er  selbst  offenbar  geglaubt  hat,  der  üblen  Spielweise  der  Dilettanten  doch  immerhin  Rechnung 
tragen  zu  müssen,  die,  indem  sie  weder  das  allgemeine  tempo  des  Stückes,  noch  auch  die  Tempomodifikation  an  der  be- 
sonderen Stelle  zu  finden  wissen,  sich  aus  eigener  Schuld  aller  Möglichkeiten  berauben,  den  hier  in  Frage  kommenden 
Pralltriller  auch  in  dessen  Verbindung  mit  einer  folgenden  Note  durchaus  seinem  eigenen  Charakter  gemäß  zu  spielen. 
Hätte  aber  Baumgart  nur  einmal  z.  B.  im  großen  Trio  op.  97  von  Beethoven,  bei  den  mit  *~  gezierten  Klavierfigurationen 
in  den  T.  33  und  ff,  den  Pralltriller  in  der  von  ihm  gedulteten  Triolenform  zur  Ausführung  zu  bringen  versucht,  er  würde 
sofort  das  Abgeschmackte  einer  solchen  Ausführung  selbst  erkannt  und  sicher  gar  dem  völlig  gegenteiligen  Grundsatz  zu- 
gestimmt haben,  daß,  um  beim  Pralltriller  die  Wirkung  des  raschesten  Nacheinander  der  Töne  (vergl.  den  nächsten  Para- 
graphen) möglichst  täuschend  zu  erreichen,  es  im  Notfall  die  Töne  gar  gleichzeitig  anzuschlagen  und  den  Finger  von  der 
höheren  Sekunde  sofort  abzuziehen  eher  zu  empfehlen  sei,  als  eine  Triole  zu  spielen. 

U.-E.  812. 


42 


Forlbestand 

des  Trillers 

auch  in  neuen 

Formen. 


b)  in  der  nachbachschen  Zeit. 

§  10. 

Seit  Bach  hat  sich  imWesen  des  Trillers  selbst  nichts  geändert.  Er  blieb  immer  derselbe  vom 
kleinsten  bis  zum  größten,  —  ja  ungeheuerlichsten  der  Literatur  —  in  Beethovens  op.  109,  dessen 
anormal  weiten  Verlauf  wir  nur  mit  Staunen  verfolgen,  von  seiner  Geburt  an  aus  dem  Schöße  des 
Tones  h  durch  alle  Phasen  des  Wachstums.  Mit  einiger  poetischer  Lizenz  erlaube  ich  mir  diesen  Triller 
hier  im  Auszug  darzustellen. 

Fig.  36. 

Var.VI. 


pi  rTr  i'ü-  i  u  i  in  üu  Lir^m 


fp^ffi 


Mag  sich  die  äußere  Erscheinung  noch  so  verschieden  geben,  der  Triller  wird  allezeit  dasselbe 
Grundgesetz  offenbaren.  Man  denke  nur  an  die  vielfältigen  pianistischen  Formen,  die  z.  B.  Chopin, 
Liszt  oder  Brahms  (Klavierkonzert  i?-dur)  oft  den  Trillern  zu  geben  wußten,  ohne  daß  aber  das  Wesen 
des  Trillers  selbst  durch  sie  irgend  eine  Änderung  erfahren  hätte. 

Oder  man  denke  des  weiteren,  um  auch  ein  jüngstes  Trillerereignis  zu  nennen,  z.  B.  bei  K.  Strauß 
in  „Till  Eulenspiegel"  an  die  Trompetenstelle  (kl.  Part.  S.  14  u.  15) 


Fig.  37 


P&\&\ 


in  der  ich  weit  weniger  irgend  ein  an  der  Harmonie  mit  Absicht  begangenes  Unrecht  als  vielmehr  wieder 
nur  einen  —  allerdings  gleichsam  starr  gewordenen  —  Triller  erblicke,  der  einfach  Hauptnote  und 
obere  Sekunde  aufeinander  erklingen  läßt,  woraus  sich  durch  leichte  Täuschung  der  Eindruck  eines 
wirklichen  Trillers  umso  eher  ergibt. 

Um  die  letzte  gewiß  geistvolle  Art  der  Formung  eines  Trillers  noch  besser  zu  erklären, 
vergegenwärtige  man  sich  nur  die  Situation  aufs  genaueste,  und  man  wird  finden,  daß  der  Klang 
der  Fig.  37  sich  auf  zwei  merkliche  Triller  zurückführen  läßt: 

Tromp.  2. 
Fig.  38. 


Tromp.  3. 

die  allerdings  nicht  bei  derselben  Trompete,  sondern  nur  zwischen  der  2.  und  der  3.  als :  a-b-a-b  u.  s.  w. 
und  umgekehrt:  b-a-b-a  u.  s.  w.  zu  gleicher  Zeit  verlaufen,  also  —  nur  mit  dem  stark  ins  Gewicht 
fallenden  Unterschied  der  Oktaven entfernung  —  etwa  wie  in  Beethovens  Rondo  aus  der  Sonate  op.  90: 


Fig.  39. 


#1 


JBUfflL 


fgffrfr 


und  daß  die  Gleichzeitigkeit  beider  verschieden  laufenden  Trillerwellen,  weit  davon  entfernt  den  Eindruck 
eines  Trillers  zu  zerstören,  vielmehr  einen  solchen  drastisch  steigern! 

Man  vergleiche  dazu  übrigens,  was  ich  in  meinen  „Theorieh  und  Phantasien"  §  56,  Fußnote1) 
über  eine  verwandte  Erscheinung  in  J.  S.  Bachs  Partita  A-moll  und  des  weiteren,  was  ich  über  den  auf 
demselben  Prinzip  beruhenden  Mordenten  in  meiner  Ph.  Em.  Bach  Ausgabe  S.  86  gesagt  habe,  von  welch 

Ü.-E.  812. 


43 


letzterem  Ph.  Em.  Bach   in  IL,  5,  §  3  schreibt:    „Man  hat   noch   eine   besondere  Art,   den  Mordenten, 
wenn  er  ganz  kurz  seyn  soll  zu  machen. 


Fig.  40. 


P 


I      Tab.  V,  Fig.  LXXin. 


Von  diesen  beyden  zugleich  angeschlagenen  Noten  wird  allein  die  oberste  gehalten,  die  unterste  hebt 
man  gleich  wieder  auf.  Dieser  Ausdruck  ist  nicht  zu  verwerfen,  so  lange  als  man  ihn  seltner  als  die 
andern  Mordenten  anbringt.  Er   kommt  blos  ex  abrupto,  d.  i.  ohne  Verbindung  vor." 

In  allen  diesen  Fällen,  bei  J.  S.  Bach  und  Ph.  Em.  Bach,  sodann  aber  auch  bei  Beethoven  und 
Strauss  wird  also  eine  Gleichzeitigkeit,  wie  man  sieht,  täuschend  für  eine  rascheste  Nachfolge  gebraucht! 

So  beruht  denn  wieder  auf  derselben  Wirkung,  um  endlich  auch  davon  zu  sprechen,  die  vielfach 
(doch  freilich  nur  von  den  größten  Virtuosen)  geübte  Ausführung  des  Trillers,  die  darin  besteht,  daß 
man  den  Triller  zuerst  regelrecht  schlägt,  nach  einer  gewissen  Zeit  aber  nur  dem  Pedal  überantwortet, 
der  ihn  fortträgt  und  vermischt,  während  man  selbst  die  Trillermasse  nur  hie  und  da  mit  den  Fingern 
gleichsam   neu  anregt. 

§  n. 

Wohl  aber  hat  sich,  wie  bereits  oben  S.  37 — 38  gesagt  wurde,  die  Ausführung  des  Trillers    Die  »aische 
bei  punktierten  Noten  seither  verändert.  Wir  setzen  das  Trillerende  dort  ab,  wo  der  Punkt  beginnt  £"irrtSi 
—  ganz  nach  der  Art  der  Doppelschläge,   wie  wir  später  sehen  werden  —  und  schließen  den  nächsten  bei  punktier- 
Ton  ohne  Verkürzung  an.  Wir  nehmen  somit  in  Bezug  auf  den  letzteren  die  Schreibart  leider  ganz  und 
gar  beim  Wort. 

Wann  sich  diese  Ausführung  zur  Gewohnheit,  zum  Gesetz  erhoben  hat,  ist  freilich  schwer  an- 
zugeben, jedoch  ist  so  viel  mindestens  sicher,  daß  es  falsch  ist,  sie  auf  Bachs  Triller  anzuwenden,  der 
sie  gewiß  nur  um  eines  höchst  eigentümlichen  Ausdrucks  ausnahmsweise,  und  nur  selten  gestattet 
hätte.  Wie  auch  dieses  klar  ist,  daß  durch  die  Ausführung  von  heute  das  Wesen  der  Schreibart  selbst 
(wie  ich  es  S.  38  dargelegt  habe)  an  Konsequenz  und  Einheitlichkeit  verloren  hat,  und  daß  man  daraus 
wieder  nur  auf  einen  tief  bedauerlichen  Kückschritt  unserer  musikalischen  Instinkte  sowohl  als  der 
naiven  Tiefe  unserer  Auffassung  schließen  darf.  Abgesehen  vom  Schlimmsten  noch,  daß  nämlich  just  in- 
folge dieser  Ausführung  die  auf  den  Triller  folgenden  Noten  erbärmlich  steif  oft  und  ungelenk  klingen. 

Man  braucht  nur  im  folgenden  Beispiel  Fig.  41  mit  der  Originalnotierung  Haydns  bei  a)  die 
Ausführungsbilder  bei  b)  und  c)  zu  vergleichen: 

Fig.  41. 


Haydns   Originalnotierung 

falsche  Ausführung  in  Br.  &  H. 
VA.  Nr.  121 

richtige  Ausführung 


">3p 


Haydn,  And.  con  Var.  F-moll. 
trtr     fr      fl_     fr  fr 


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5 


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fr. 


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um  zu  verstehen,  daß  der  Originalschreibart  Haydns  bei  a)  nur  die  Ausführung  bei  c)  vollkommen 
entspricht.  Die  Originalnotierung  weist  gleichsam  eine  doppelte  Buchführung  auf:  Einerseits  stellt  Haydn 
die  Hauptmelodie  mit  der  großen  Schrift  selbständig  dar,  —  wie  sie  sonst,  eben  vom  Triller  noch  völlig 
unabhängig,  vernünftigerweise  ja  gar  nicht  anders,  also  z.  B.  niemals  so: 


Fig.  42. 


B 


m 


U.S.W. 


äargestellt    werden    dürfte,    —   anderseits  führt   er,   u.    zw.    wieder  nicht   minder    selbständig,   Triller 
samt  Nachschlag  in  einem  separaten  Konto,  d.  i.  in  Zeichen  und  kleiner  Schrift;  gilt  es  nun,  die  große 

U.-E.  812.  6* 


44 

Sehreibart  gar  für  den  ganzen  Inhalt,  d.  i.  für  Hauptmelodie  samt  neu  hinzukommender  Trillermam 
einheitlich  zu  gewinnen,  solchermaßen  also  auch  das  in  die  große  Schrift  hineinzutragen,  was  Haydn 
noch  im  ti  -Zeichen  und  in  kleiner  Schrift  niedergelegt  hat,  so  weiß  die  Ausführung  bei  c)  dieser  neuen 
Forderung  dadurch  Kechnung  zu  tragen,  daß  sie  notwendigerweise  die  16tel  der  Melodie  zu  32teln  ver- 
kürzt; dagegen  hält  die  Ausführung  bei  b)  leider  noch  an  der  Schreibart  der  großen  Schrift  auch  nach 
Einverleibung  des  Trillerinhaltes  fest,  d.  i.  sie  bringt  die  Verkürzung  des  letzten  #S  gar  nicht  zum  Aus- 
druck, wodurch  dieses  16tel  aber,  das  ja  von  Haus  aus  nur  durch  die  mit  Triller  eben  noch  nicht  be- 
lastete Melodie  als  16tel  vorausgesetzt  erscheint,  nunmehr  in  eine  durchaus  schiefe,  weil  zu  der  durch 
den  Triller  inzwischen  neu  vermehrten  Tonmenge  nicht  leider  ebenso  neu  proportionierte  Stellung  gerät, 
und  daher  unbedingt  eine  steife  Wirkung  äußern  muß.  Es  ist  aber  bedauerlich,  daß  Herausgeber,  die  weder 
Geschmack  noch  genügende  Instinkte  besitzen,  um  die  künstlerische  Schreibart  samt  ihren  Gründen  zu 
verstehen,  sich  berufen  fühlen,  ihre  eigene  Ausführung  an  Stelle  des  Originalbildes  so  ohneweiters  zu 
setzen:  muß  es  denn  sein,  frage  ich,  daß  Spieler,  die  das  Stück  in  der  Volksausgabe  Breitkopf  &  Härtel 
sich  verschaffen,  statt  eines  richtigen  Haydnoriginales  einen  geschmacklosen  und  unkünstlerischen 
Herausgeberunsinn    einhandeln,   um   sich  durch  den   letzteren   obendrein   um  ein  richtiges  Bild   einfach 

betrügen  zu  lassen? 

Dieses  alles  nun  führt  mich  zur  Behauptung,  daß  die  Lehre  Bachs  von  der  Verkürzung,  als 
einer  Folge  des  Trillers  bei  einer  punktierten  Note,  neuerdings  als  Hauptregel  aufzustellen,  der  gegen- 
über eine  Ausführung,  wie  die  unsere,  als  Ausnahme  zu  gelten  hätte,  immer  noch  besser  wäre,  als  diese 
letztere  zur  Hauptregel  zu  machen  mit  Ignorierung  des  so  künstlerisch  logischen  Bachschen  Grundsatzes. 


Psychologie 
des  „Doppel- 
schlages 
Über  einer 
Note". 


III.  Der  Doppelschlag. 

A.  Vom  Doppelschlag  bei  Em.  Bach, 
a)  Der  „Doppelschlag  über  einer  Note"  samt  seinen  Abarten. 

§1- 

Auch  im  „Doppelschlag  über  einer  Note"  birgt  sich,  wie  im  Vorschlag  und  Triller,  ein  Vorhalts- 
charakter, u.  zw.  ist  es  hier  der  den  ^>  beginnende  obere  Hilfston,  der  ihn  heimlich,  ja  bis  zur 
Unkenntlichkeit  heimlich,  ausspricht. 

Indem  sich  aber  auf  diesen  Vorhalt  (d.  i.  obere  Sekunde  samt  Hauptton)  noch  weiters  die  untere 
Sekunde  samt  Hauptton  anschließen,  gewinnt  der  Doppelschlag  in  der  ganzen  Summe  seiner  vier 
Töne  einen  dem  Triller  zunächst  wohl  ähnlichen  Charakter,  wobei  jndessen  der  Triller  nur  als  der 
allerkürzeste,  d.  i.  mit  beginnender  Obersekunde  und  Nachschlag  angenommen  wird.1) 

Begründet  somit  nur  allein  die  Quantität  von  vier  Tönen  in  der  Ordnung:  obere  Sekunde,  Haupt- 
ton, untere  Sekunde  und  endlich  wieder  Hauptton  die  Identität,  beziehungsweise  die  Nachbarschaft  von 
Doppelschlag  und  Triller,  so  rücken  dann  aber  beide  Manieren  umso  stärker  auseinander,  je  mehr  eben 
der  Triller  von  seinem  Kecbt  auf  mehr  Tonpaare  als  bloß  zwei  Gebrauch  macht;  d.  h.  der  längere 
Triller  unterscheidet  sich  bereits  wesentlich  vom  Doppelschlag,  welcher  Unterschied  insbesondere  darin 
seinen  Ausdruck  findet,  daß  der  Triller  mit  seinen  mehreren  Noten  die  Dauer  einer  Note  besser  aus- 
füllt,  als  der  stets  nur  in  der  Vierzahl  seiner  Töne  verharrende  Doppelschlag.2)  — 

Es  versteht  sich,  daß  der  Doppelschlag  mit  seinen  vier  Tönen  den  Hauptton  zwar  verkürzt, 
aber   dafür  denn  auch  belebt  und  ausstattet.3) 

i)  ^  n.,  k,  §  9  heißt  es;  „Aus  der  Betrachtung,  daß  diese  Manier  in  der  Kürtze  die  Stelle  eines  ordentlichen 
Trillers  mit  dem  Nachschlage  vertritt,  kan  man  schon  eine  nähere  Eiasicht  in  den  rechten  Gehrauch  dieses  Doppelschlages 

kriegen."  (Vergl.  auch  §  12,  17,  20).  ' 

*)  Vergl.  II.,  4,  §  10:  „Da  dieser  Doppelschlag  die  allermeiste  Zeit  geschwinde  gemacht  u.  die  oberste  Note 
nach  der  schon  angeführten  Art  geschnellt  wird,  so  begehet  man  einen  Fehler,  wenn  man  bey  einer  langen  Note  statt  des 
ordentlichen  Trillers   den  Doppelschlag   gebraucht,    weil   diese  Note,   welche   durch   den  Triller   ausgefüllt  werden  sollte, 

hierdurch  zu  lerr  bleibt." 

8)  II.,  4,  §  1  sagt  aus:  „Der  Doppelschlag  ist  eine  leichte  Manier,  welche  den  Gesang  zugleich  angenehm  u. 
gläntzend  macht."' Dazu  daselbst  §  8:  „Da  diese  Manier  in  den  mebresteu  Fällen  gebraucht  wird,  um  die  Noten  gläntzend 
zu  machen  .  ."  u.  s.  w. 

U.-E.  812. 


45 

§  2. 

Die  Ausfuhrung  des  regelmäßigen  Doppelschlages  von  oben  notiertBach  wie  folgt:  w»  *»»• 

fahrung    des 

TT'      AH                       a)            b)           1)°)  °°W*1' 

rxg.  43.             ^     Adagio.  Modprato.  Presto  »ehla»e«  »on 

JLi —   ^"~n       r  i  ■          r  i    ■  oben. 


Daraus  folgt,  daß  die  Ausführung  durchaus  nur  auf  Kosten  der  eben  zu  verzierenden  Note,  d.  i.  des 
Haupttones  zu  geschehen  hat,  wodurch  aber  anderseits  die  Hauptnote  dort,  wo  sie  als  die  letzte  (d.  i 
vierte)  Note  des  Doppelschlages  erscheint,  also  am  Ende  der  Manier,  selbst  nur  mehr  den  übrig- 
bleibenden Rest  des  Wertes:  drei  Viertel  (a),  oder  die  Hälfte  (b),  oder  endlich  noch  weniger,  nämlich 
nur  ein  Viertel  (c)  behält. 

Diese  verschiedenen  Möglichkeiten  richten  sich  nach  der  Dauer  der  Note,2)  über  der  das  ~ 
steht,  wobei  die  Daner  aber  absolut  verstanden  wird.3)  Auf  eine  solche  absolute  Dauer  der 
Note  beziehen  sich  denn  auch  die  eigenen  Bezeichnungen  Bachs:  adagio,  moderato,  presto,  u.  zw.  nur 
auf  diese  Note  einzeln  und  für  sich  genommen,  nicht  aber,  wie  man  irrtümlich  meinte,  durchaus  nur 
etwa  auf  den  Adagio-,  Moderato-,  oder  Prestocharakter  eines  ganzen  Stückes  überhaupt.  So  daß  beispiels- 
weise auch  in  einem  Allegrostücke  eine  Note  von  absolut  langer  Dauer  stehen  kann,  und  aus  diesem 
Grunde  die  Ausführung  wie  bei  Fig.  43,  a)  zu  erhalten  hat. 

Somit  sagen  die  Ausführungsbilder  Bachs  folgendes: 

Ist  die  Note  lang  (adagio)  in  dem  absoluten  Sinne  verstanden,  so  gilt  die  Ausführung  bei  a); 
ist  sie  minder  lang  (moderato),  so  daß  eine  Ausführung  bei  a)  nicht  ganz  gut  mehr  möglich,  so  gilt 
die  Ausführung  bei  b);  wo  endlich  aber  die  Note  von  so  kurzer  Dauer  (presto),  daß  weder  die  Adagio-  noch 
Moderatoformel  ausgeführt  werden  kann,  hat  (allerdings  mit  einer  noch  näher  zu  besprechenden  Ein- 
schränkung) die  Ausführung  bei  c)  zu  gelten. 

I  §  3. 

Da  indessen  mit  obigen   drei  Ausfuhrungsformeln   allerorten  und  allerzeiten  ein  selbständiger  Ober  die 

Ausdruck  verbunden  ist,   so   ergibt   sich   dadurch  von   selbst  der  Zwang  der  Vorsicht,   die  Formeln  ja  fujI^L*"' 

durchaus  nicht  beliebig  durcheinander  anzuwenden,   vielmehr  vorerst   die    absolute  Länge   der    zu  ver-  »ormei. 
zierenden  Note  im  Gefühl  sich  vorzustellen  und  die  Zuständigkeit  jeder  einzelnen  mit  Einsicht  zu  prüfen. 

Dieses  drückt  am  besten  eine  ungemein  feine  Begel  aus,  die  sich  allerdings  ausschließlich 
auf  die  Adagionoten  bezieht,  und  lautet:  Wo  die  Adagioausführung  möglich  ist,  dort  müsse  sie 
auch  angewendet  werden.  Das  will  heißen :  es  ist  nicht  ohneweite rs  gestattet,  die  Moderato- 
formel schon  dort  anzuwenden,  wo  die  Länge  der  Note  (adagio)  die  Adagioformel 
sehr  gut  noch  zuläßt. 

Der  Grund  dieses  Verbotes  liegt  aber  darin,  daß  die  Moderatoformel,  dort  angewendet,  wo  Platz 
für  eine  Adagioformel  ist,  einen  ganz  anderen  Ausdruck  ergibt,  als  wenn  an  derselben  Stelle  eben 
die  Adagioformel  —  wie  es  die  Regel  gebietet  —  zur  Ausführung  käme.  Diesen  anderen  Ausdruck 
betrachtet  schon  Bach  selbst  als  wirkliche  Ausnahme  in  dem  Sinne,  als  er  bei  adagiolangen  Noten  doch 


x)  So  im  Original,  doch  möchte  ich  gerue  mit  Baiimgart  (b.  dessen  Vorwort  S.  11)  annehmen,  daß  die  Moderato- 
Formel  eher: 

Fig.  44. 

lautet,  aus  Gründen,  die  später  in  §  6  des  Textes  zu  erörtern  sein  werden. 

2)  Vergl.  11.,  4,  §  2:   „Weil  er  die  allermeiste  Zeit  hurtig  ausgeföhret  wird,   so  habe  ich  die  Geltung  seiner 
Nötgen,  welche  er  enthält,  so  wohl  bey  langsamer  als  auch  geschwinder  Zeit-Maaß  entwerfen  müssen". 

8)  Vergl.  den  auf  S.  22  zitierten  IL,  1,  §  19. 

U.-E.  812. 


46 


nur   anstatt  der  Adagioformel  steht,   u.   zw.   lediglich  wegen  des   an   der  betreffenden   Stelle   eben   nur 
ausnahmsweise,  zu  erzielenden   „matten"  Ausdruckes.1) 

Wegen  des  Charakters  der  Ausnahme  sowohl,  als  auch  um  sich  den  Ausdruck  vorsichtiger- 
weise unter  allen  Umständen  zu  sichern,  liebt  es  daher  Bach,  die  Moderatoformel  bei  Adagionoten  mit 
großer  Schrift  selbst  auszuschreiben,  wie  z.  B. :  _ 


Fig.  45.       pag.s4.. 


^~  r     r—r     r 


Pag.  67. 

2 


Pag.  68 


Ptf 


i8.   ^= 


u.  s.  w. 


woraus    aber   folgt,    daß   man    sonst  bei   allen   übrigen  A^agionoten,   sofern   nicht   Bach  selbst  die 
Moderatoformel  ausgeschrieben  hat,  umgekehrt  durchaus  nur  die  Adagioformel  anzuwenden  hat. 


x)  So  heißt  es  in  II.,  4,  §  20  ausdrücklich:  „Ohngeachtet  der  Aehnlichkeit  des  Doppelschlages  mit  dem  Triller 
unterscheidet  sich  der  erstere  von  dem  letzteren  der  zwey  Stücke :  erstlich  .  .  .  .  (u.  s.  w.) ;  zweytens  dadurch,  daß  er  zu- 
weilen seinen  Schimmer  ablegt,  und  bey  langsamen  Stücken  voller  Affekt  mit  Fleiß  matt  gemacht  wird: 

Tab.V,  Fig.  LX. 
a)   k 


Fi9-46-  |  m  Ijp^jg 


dieser  Ausdruck  pflegt  auch  so  angedeutet  zu  werden,  wie  wir  bey  o)  sehen." 

Hinter  dem  Wort  „Schimmer"  (vergl.  dazu  die  in  Anm.  2,  S.  44  und  in  Anm.  2,  S.  45  zitierten  §§  10  und  2) 
erkennt  man  deutlich  die  Grundregel  über  die  wohl  in  erster  Linie  zu  treffende  Wahl  der  Adagioformel,  wie  nun  aber 
auch  umgekehrt  in  den  Worten  „zuweilen"  und  „mit  Fleiß  matt  gemacht  wird"  zugleich  der  Charakter  der  Moderäto- 
ausnahme  als  eben  nur  einer  Ausnahme  doch  sicher  genügend   angedeutet  erscheint. 

Noch  möchte  aber  auch  der  Inhalt  des  §  11  zur  Klarstellung  der  Eegel,  wie  ihrer  Ausnahme  beitragen:  „Ich 
muß  bey  dieser  Gelegenheit  einer  Ausnahme  gedenken,  welche  sich  ereignet,  wenn  man  in  langsamen  Tempo  wegen  des 

Affekts  sowohl  bey  dem  Schlüsse 

Tab.V,  Fig.  LH. 


Fig.  47. 


als  auch  ausser  dem  nach  einem  Vorschlage  von  unten  (a)  statt  des  Trillers  einen  leisen  Doppelschlag  macht,  indem 
man  die  letzte  Note  davon  so  lange  unterhält,  bis  die  folgende  eintritt".  Bedeutet  auch  in  dieser  Eegel  —  schade  daß 
z.  B.  die  Oratoriensänger  so  wenig  von  ihr  wissen !  —  die  verwandte  Bezeichnung  „eines  leisen  Doppelschlags"  ohne  Zweifel 
die  Moderatoausnahme,  bei  der  die  Hauptnote  bloß  die  Hälfte  ihres  Wertes  zurückbehält,  so  ist  darnach  e  contrario  sehr 
wohl  die  Kegel  der  Adagioformel,  die  der  Hauptnote  eben  mehr  als  die  Hälfte,  nämlich  drei  Viertel  ihres  Wertes  zurück- 
läßt, ebenso  zweifellos  festzustellen. 

Und  so  mag  endlich  als  letzter  Gewinn  der  in  diesem  Paragraphen  gebotenen  Auseinandersetzung  die  Einsicht 
zu  betrachten  sein,  daß,  wie  ich  schon  im  Eingangskapitel  zu  den  Manieren  sagte,  bei  diesen  jede  Änderung  zugleich 
auch  Änderung  ihres  Ausdruckes  bedeutet!    — 

Bedauerlicherweise  hat  Baumgart  die  sowohl  theoretische  als  auch  praktische  Bedeutung  des  hier  zitierten  §  20 
vollständig  verkannt.  Sogar  jede  Erinnerung  an  die  eigene  Notierung  Bachs  sowie  an  deren  beabsichtigten  „matten"  Aus- 
druck (vgl.  oben  Fig.  46),  scheint  ihm  offenbar  gefehlt  zu  haben,  als  er  im  Vorwort  S.  7  schrieb :  ,,o)  Überall,  wo  der 
Vorschlag  vor  einer  kürzern  Note  steht,  als  seine  eigene  rhythmische  Geltung  betragen  würde,  ist  er  selbstverständlich 
kurz,  wie  z.  B. 

Fig.  48. 


eine  Bezeichnungsweise,  die  nur  selten  vorkommt;  öfter  ist  der  Vorschlag  hiervon  derselben  Geltung,  wie  die  Hauptnote." 
Oder  sollte  er  am  Ende  den  Sachverhalt  —  etwa  aus  Mangel  an  künstlerischer  Nachempfindung,  die  ja  Voraussetzung  des 
Verständnisses  bei  so  minutiösen  psychischen  Werten  ist  —  gar  nicht  begreifen  haben  können?  —  Daß  Bülow  (s.  S.  60 
seiner  Ausgabe)  einfach  den  kurzen  Vorschlag  hier  annimmt,  muß  schon  beinahe  als  selbstverständlich  bezeichnet  werden. 
Ist  das  nicht  aber  mindestens  seltsam,  wenn  nicht  wirklich  traurig  zu  nennen,  daß  soviel  Deutlichkeit  in  Wort 
und  Beispiel,  wie  wir  sie  bei  Bach  antreffen,  gleichwohl  eine  verlorene  Energie  bleiben  kann?!* 

U.-E.  812. 


4? 


§  4. 

Wenn  wir  auf  Grund   der  in   §  2   dargestellten  Ausführungsformeln   des  Doppelschlages   uns  über  die  Un 
nunmehr  ein  Bild  des  Anschlusses  der  Manier  an  die  folgende  Note  vergegenwärtigen: 


Fig.  49. 


erlößlichkeii 

eines 
Zwischen- 
raumes nach 
Schluß  des 
Qoppelschla- 
pes. 


so  sehen  wir,  wie  bei  a)  und  b)  schon  einfach  dadurch,  daß  die  Hauptnote  stehen  bleibt,  eine  Art 
Zwischenraum,  von  eben  der  Dauer  des  Liegenbleibens  des  Haupttones,  d.  h.  bei  a)  ein  Zwischen- 
raum von  drei,  bei  b)  ein  solcher  von  zwei  Sechzehnteln  sich  ganz  von  selbst  ergibt,  während  dagegen 
bei  c)  die  als  viertes  Sechzehntel  wiederkehrende  Hauptnote  ohne  Aufenthalt,  also  sofort  zur  nächsten 
Note  hinüberführt,  und  sich  solchermaßen  die  Manier  —  wenigstens  unserem  Bilde  nach  —  glattweg  an 
die  letztere  anschließt. 

Den  nun  aber  gerade  bei  der  Adagio-  wie  der  Moderatoformel  sich  naturgemäß  ergebenden 
Zwischenraum  erhebt  Bach  zum  allerwesentlichsten  Begriffs-  und  Ausführungs- 
merkmal des  Doppelschlages  überhaupt. 

Ohne  Zwischenraum  kein  „im  über  einer  Note!"  So  daß  dieser  auch  nicht  einmal  bei 
der  Prestoformel  fehlen  darf! 

Die  Forderung  nach  dem  Zwischenräume  auch  im  Falle  c)  —  so  bewußt  sich  Bach  auch  dessen 
ist,  daß  er  eben  diese  Forderung  nicht  schon  im  Ausführungsbilde  (vergl.  Fig.  43,  c  und  49,  c) 
versinnlicht  hat  —  motiviert  er  nämlich  damit,  daß  ja  sonst  die  Prestoformel  ganz  identisch  wäre  mit 
jenem  kurzen  Triller,  der  —  Zeitmangels  halber  —  bloß  aus  Hilfs-,  Haupt-  und  Nachschlagsnote  be- 
steht, z.  B  : 


Fig.  50. 


tr 


iffl 


Um  daher  die  beiden  Charaktere,  den  des  <v  und  den  des  Trillers  völlig  bis  zum  äußersten 
abzugrenzen,  besteht  Bach  darauf,  auch  im  Falle  c  den  Zwischenraum  einzuhalten.1) 


*)  Man  findet  die  ausdrückliche  Vorschrift  eines  Zwischenraumes  in  dem  bereits  oben  (s.  Anmerkung  1,  S.  46) 
wenigstens  zum  Teil  zitierten  §  20,  der  die  Unterschiede  zwischen  Doppelschlag  und  Triller  überhaupt  behandelt.  Und 
zwar  eben  als  den  ersten  Unterschied  beider  setzt  Bach  dort  fest,  daß  der  Doppelschlag  im  Gegensatz  zum  Triller  „seine 
letzten  Noten  nicht  geschwinde  mit  der  folgenden  verbindet,  weil  die  ersten  geschwinder  sind  als  die  letzten,  u.  also  vor 
der  folgenden  Note  allezeit  ein  kleiner  Zeit-Kaum  überbleiben  muß "  (Man  beachte  dringend  das  Wörtchen  „allezeit" !) 

Auch  bietet  §  12  eine  Bestätigung  für  die  Forderung  nach  einem  Zwischenraum:  „Aus  der  Aehnlichkeit  dieses 
Doppelschlags  mit  einem  Triller  mit  dem  Nachschlage  folgt,  daß  der  erstere  sich  ebenfalls  mehr  nach  hinauf  als  nach  her- 
un  t  erwärt  s  neiget.  Man  trillert  also  bey  geschwinden  Noten  gantze  Octaven  u.  weiter  bequem  durch  diese  Manier  hinauf, 
aber  nicht  herunter.  Dieser  oft  vorkommende  Fall  wird  gemeiniglich  ausser  dem  Claviere  so  angedeutet,  wie  wir  bey  Fig.  LDH 


pre. 


sehen."  Auch  hier  ist  nämlich  schon  aus  den  eigenen  AusfÖhtungsbildern  Bachs  deutlich  zu  ersehen,  wie  sehr  er  den 
Zwischenraum  selbst  beim  presto  eingehalten  wünscht.  (Und  nebstbei  wieder  ein  Wink  an  Oratorieusiinger,  zu  bedenken, 
was  alles  Andere  als  bloß  einen  Triller  die  Bezeichnung  „//*"  unter  Umständen  auch  besagen  könne  u.  s.  w. !).  — 

Außerdem  endlich  sehen  wir  Bach  in  allen  weiteren  Exempeln,  die  den  Doppelschlag  und  seine  Abarten  betreffen, 
aufs  deutlichste  den  Zwischenraum  notieren;  vergl.  die  §§  11,  21,  24,  27,  29,  36  und  37. 

Was  alles  aber  durchaus  nicht  Wunder  zu  nehmen  braucht,  wenn  man  bedenkt,  daß  der  Zwischenraum  keines- 
wegs ein  Element  ist,  das  in  den  Doppelschlag  erst  künstlich  hineingetragen  werden  mußte,  da  er  vielmehr  umgekehrt, 
weit  davon  entfernt  ein  Fremdkörper  in  der  Manier  zu  sein,  mit  dieser  in  den  weitaus  zahlreichsten  Fällen  gleichsam  mit- 
ijeboren  wird:  werden  doch  die  Adagio-  und  Moderatoformeln  viel  öfter  gesetzt  und  gebraucht,  und  verhältnismäßig  nur 
äelten  dagegen  möchte  man  davor  stehen,  die  Prestoformel  anzuwenden! 

U.-E.  812. 


48 


Allerdings  schreibt  Bach  keinen  <v  über  einer  Note,  wenn  diese  so  kurz1)  ist,  daß  sie  jenen 
Zwischenraum  nur  schwer  möglich  macht.  Mit  anderen  Worten:  er  selbst  läßt  es  fast  nie  auf  die 
Prestoformel  ankommen,  woraus  e  contrario  folgt,  daß  alle  seine  Doppelschläge  über 
einer  Note  nur  entweder  nach  der  Adagio-  oder  nach  der  Moderatoformel  auszuführen 
sind  •  oder  endlich  noch  anders :  mindestens  wir  selbst  haben  jeder  Note,  über  der  Bach  das  Zeichen  <%j 
setzt,  unter  allen  Umständen  eine  Dauer  zu  verleihen,  die  die  Ausfuhrung  mit  Zwischenraum  möglich 
macht.  Woraus  in  der  Folge  auch  ein  Rückschluß  sowohl  auf  das  Tempo  des  ganzen  Stückes  (vergl. 
z.  B.  Sonate,  pag.  48),  als  auch  eventuell  nur  auf  dessen  Modifikation  an  der  betreffenden  Stelle  allein 
m  empfehlen  ist.  Beispiele:  *f2£L  £g.48. 

Ausführung:  J^l*  Allegro  moderato. 

Fig.   52.      rt)Pag.7.  |JS  == 


<*)  Pag.  7. 
Andan 


3 


9— P- 


c£tl^Jji 


In  so  manchem  Falle  aber,  wie  z.  B.  in  dem  folgenden: 

a)  Pag.  28. 
Fig.  53. 


scheint,  da  der  Zwischenraum  hier  fehlt,  allerdings  zunächst  ein  Widerspruch  hiergegen 
vorhanden  zu  sein.  Indessen  löst  sich  der  scheinbare  Widerspruch,  wenn  man  umgekehrt  gerade  daraus, 
daß  er  zuweilen,  aber  sicher  selten  genug,  ähnliche  Figuren  auch  ohoe  Zwischenraum  ausschreibt,  bei 
den  nicht  ausgeschriebenen  Doppelschlägen  just  auf  den  Zwischenraum  schließt, 
und  wenn  man  annimmt,  daß  hier  offenbar  die  Figur  ohne  Zwischenraum  beiläufig  nur  für  eine 
Modevatoformel  des  oo  steht.  Denn:  würde  in  dem  obigen  Fall  Bach  jene  Figur  nicht  ausge- 
schrieben haben,  so  hätte  man,  wenn  statt  ihrer  einfach  bloß  das  po-Zeichen  über  der  Note  n  gestanden 
hätte,  wegen  der  genügenden  absoluten  Dauer  durchaus  doch  mindestens  die  Moderatoformel  (also  mit 
Zwischenraum!)  anwenden  müssen;  wenn  nun  statt  dieser  hier  ursprünglich  möglich  gewesenen  Moderato- 
formel eine  noch  breitere,, Formel  ohne  Zwischenraum,  wie  eben  die  ausgeschriebene  Figur 
es  ist,  vorgeschrieben  ist,  so  scheint  das  etwa  bloß  den  „matten"  Ausdruck  jener  umgangenen 
Moderatoformel  zu  bedeuten,  sofern  man  überhaupt  das  Bedürfnis  hat,  Fig.  53  noch  begrifflich  zu  den 
Doppelschlägen  zu  zählen,  da  sie  ja  auch  einen  tnr.  ausdrücken  kann. 

Unter  allen  Umständen  aber,  wie  man  auch  jene  wenigen  Fälle  ansehen  mag,  ist  es  verboten, 
daraus  den  Schluß2)  zu  ziehen,  als  wäre  je  bei  Bach  eine  Doppelschlagsau-führung  in  der  triller- 


*)  „Eine  ganz  kurtze  Note  verträgt  sie  nicht  wohl,  weil  hierdurch  wegen  der  vielen  Noten,  welche  sie  enthält 
u.  welche  doch  eine  gewisse  Zeit  erfordern,  der  Gesang  leicht  undeutlich  werden  kann"  vermerkt  Bach  ausdrücklich  im 
IL,  4,  §  3.  Jedenfalls  ist  schon  daraus  allein  ein  Bückschluß  auf  die  Dauer  der  Note,  über  der  Bach  einen  Doppelschlag 
gebraucht,  allemal  nicht  nur  gestattet,  sondern  auch  geboten,  d.  h.  „eine  ganz  kurtze  Note"  ist  diese  Note  dann  sicher 
nicht,  und  somit  ist  aber  auch  schon  zugleich  die  Anwendung  mindestens  der  Moderatoformel  samt  dem  zu  ihr  gehörigen 
Zwischenraum  entschieden. 

2)  Es  ist  zu  bedauern,  daß  Bülow  in  seiner  Ausgabe  aus  der  Fülle  der  Überhebung  eines  Fortepianisten  des 
XIX.  Jahrhunderts  gegenüber  einem  Klavichordmeister  des  XVDI.  Jahrhunderts  und  hauptsächlich  aus  dem  Grunde  des 
Mißverständnisses  sowohl  des  Tempo  und  des  Manierenausdrucks  einerseits,  als  auch  anderseits  ihrer  wechselseitigen 
Beziehung  bei  Ph.  Em.  Bach  so  oft  gerade  nun  dessen  „Doppelschlag  über  einer  Note",  also  just  jene  Manier,  die,  wie  wir 
später  sehen  werden,  in  ihrer  Beinheit  verloren  gegangen  ist,  zu  einem  „Doppelschlag  nach  einer  Note"  willkürlich  umge- 
staltet. Mußte  er  also  auch  sonst  so  vielen  anderen  Manieren,  wegen  zu  schnellen  Tempos  und  um  gewissen  Schwierigkeiten 
des  Vortrags  zu  entrinnen,  Unrecht  tun,  d.  i.  sie  ändern,  so  ist  es  leider  ganz  besonders,  die  Doppelschlagsmanier  (samt 
allen  ihren  Abarten),  die  unter  seiner  Willkür  leidet;  er  verkennt  ganz  ihre  Art  anzufangen,  das  Gebot,  die  Manier  durch 
aus  von  der  Hauptnote  eelbst  abzuziehen,  sowie  die  Notwendigkeit  des  Zwischenraumes  u.  s.  w. 

Das  alles  konnte  einem  Bülow  passieren,  bloß  weil  er  offenbar  versäumt  hat,  vor  allem  das  zu  denken,  was  ii 
solchen  Fällen  allemal  das  einzig  Bichtige  ist,  daß  nämlich  Ph.  Em.  Bach  mit  der  Musik  doch  immerhin  auf  ungleich  ver- 
trauterem Fuße  dürfte  gestanden  haben,  als  er  selbst,  und  daß,  wo  Noten  und  Buch  sich  so  deutlich  decken,  wie  bei  Bach,  ei 

Ü.-E.  812. 


V 


49 

laften  Form,  ohne  Zwischenraum,  wie  sie  besonders  uns  heute  nahe  liegt,  gestattet.  Somit  ist  —  trotz 
ener  Schreibart,  die  eben  auf  einen  besonderen  Ausdruck  gerichtet  ist,  —  den  <v  Bachs  über  eine 
^ote  anders  als  mit  dem  Zwischenräume  auszuführen  fehlerhaft,  u.  zw.  sowohl  aus  historischen  als 
ity  listischen  Gründen. *) 


licht  angeht,  nur  durch  Mißverständnis  beider  gleichsam  eine  neue  Anschauung  sich  selbst  einzubilden,   und  sie  der  Welt 
rar  als  die  bessere,  denn  die  originale  vorzutragen. 

Ist  es  denn  in  einem  solchen  Falle  nicht  weit  künstlerischer  und  einfacher,  mit  Unterdrückung  aller  persönlichen 
Eitelkeit,  und  nur  unter  Hervorkehrung  eines  ehrlich  empfundenen  Dankes  den  stärkeren  Künstler  unter  allen  Umstäuden, 
dso  auch  dort,  wo  man  ihn  nicht  ganz  erfaßt  hat,  vor  sich  selbst  gelten  zu  lassen  und  dem  alten  Meister  wohl  aufs  Wort 
;u  glauben,  was  er  in  Noten  ausdrückt  und  sonst  darüber  im  Buch  uds  eigens  mitteilt? 

Doch  auch  davon  abgesehen  —  wie  nahe  ist  man  ja  daran,'  die  Wahrheit  des  Vortrags  zu  erreichen,  wenn  man 
lur  den  Schlüssel  zur  Bewegung  des  Stückes  ehrlich  sucht!  Und  man  sollte  denken,  daß  mindestens  doch  hier,  in  der  Frag«; 
les  Tempo,  durchaus  kein  so  unübersteigliches  Hindernis  vorliegt?  Und  gerade  ihm,  einem  Bülow,  sollte  es  so  schwer  ge- 
allen  sein,  das  kleine  Hindernis  zu  nehmen,  d.  i.  das  ursprüngliche  langsamere  Zeitmaß  wiederzufinden?  Ja,  sage  ich 
iffen.  Denn  schon  Bülow  repräsentiert,  trotz  so  viel  Geist  und  nicht  wegzuleugnender  Meisterschaft  im  Klavierspiel,  den 
)edenklichen  Typus  eines  Virtuosen  des  XTX.  Jahrhunderts,  dem  die  ersten  und  tiefen  künstlerischen  Instinkte  inmitten 
illgemeinsten  Niederganges  abhanden  gekommen  sind,  und  dem,  vor  lauter  einseitig  und  akademisch  betriebener  Be- 
ichleunigung  der  Finger,  endlich  auch  die  Mittel  des  Vortrags  fehlen  mußten,  um  die  Töne,  wie  Ph.  Em.  Bach  sagt, 
nit  Anstand  und  Geist  „unterhalten"  zu  können.  Ist  doch  den  meisten  Virtuosen  des  XTX.  und  gegenwärtigen  Jahrhunderts 
>rdentlich  bange,  wenn  sie  bei  einzelnen  Tönen  aus  diesem  oder  jenem  Grunde  verweilen  sollen ;  und  muß  es  einmal  schon 
tein,  weil  es  nicht  zu  vermeiden  ist,  so  stehen  sie,  um  mit  Mozart  zu  sprechen,  „bei  dem  Ton,  wie  ein  Kind  beim  Dreck" ! 
Ihre  Anschlagsarten,  ihre  Tempogebung  im  großen  und  die  Tempomodifikationen  im  einzelnen  sind  zu  monoton  und  zu 
venig  von  wahrem  künstlerischen  Instinkt  erfüllt,  um  für  solche  Situationen  auszureichen ;  vielmehr  treibt  es  sie  zu  anormaler 
äeschleunigung,  die  ihnen  über  alle  Verlegenheiten  eines  der  Komposition  entsprechenden  wahren  und  künstlerischen  Vor- 
tages nun  wirklich  gar  so  leicht  hinweghilft  —  ganz  abgesehen  davon,  daß  auch  die  Konkurrenz  des  gemeinen  Konzert- 
ebens  nach  derselben  verderblichen  Richtung  hindrängt.  So  kam  es,  daß  man  das  alte  Tempo  allmählich  verlor,  damit 
iber  die  Möglichkeit,  die  Kompositionen  eines  alten  Meister9  nach  seinem  wahren  Gehalt  zu  erfassen  und  vorzutragen,  und 
laß  man  statt  dessen  den  musikalischen  Vortrag  bis  zu  einem  allzu  gekünstelt-schematischen  und  bloß  philisterhaft- 
ikademischen  Schnellspiel  herabsetzte,  womit  endlich  die  meisten  genialen  künstlerischen  Physiognomien  nicht  nur  ver- 
iorben  und  verwischt,  sondern  zugleich  auch  derart  vermischt  wurden,  daß  sie  fast  nicht  mehr  voneinander  zu  unterscheiden 
waren.  Das  ist  auch  der  letzte  Grund,  weshalb  Bülow  und  Praktiker  derselben  Art  bona  fide  sich  genötigt  fühlen,  die 
Sanieren  bei  Ph.  Em.  Bach,  aber  nicht  minder  auch  den  übrigen  Inhalt  eines  Haydn,  Mozart,  Beethoven  u.  s.  w.  anders 
aufzufassen,  herauszugeben  und  zu  spielen  —  anders,  als  diese  Meister  es  selbst  auffaßten,  vortrugen  und  lehrten. 

Offenbar  ist  es  aber  auch  bei  Baumgart  dasselbe  Unvermögen,  die  Voraussetzung  eines  richtigen  Tempos  und 
äventueller  Modifikationen  desselben  zu  gewinnen,  sowie  der  damit  verbundene  Mangel  an  Anschlagsnuancen,  wenn  er  (s.  das 
Vorwort  S,  11)  zwar  deutlich  beweist,  wie  ernst  es  Bach  um  den  Zwischenraum  beim  Doppelschlag  zu  tun  ist.  und  dieses 
Postulat  auch  bis  zu  einem  gewissen  Grade  künstlerisch  nachempfindet,  dennoch  aber  meint:  „Die  Vorschrift  (des  Zwischen- 
raumes) wird  gewiß  am  ehesten  eine  weniger  gewissenhafte  Beobachtung  vertragen,  wie  wir  Aehnliches  beim  Prall-Triller 
>emerkten;  indes  ist  nicht  zu  leugnen,  daß  sie  nicht  immer  ohne  Einfluß  auf  die  Eigenthümlicbkeit  des  Ausdrucks  ist." 
tVürde  es  Baumgart,  der  doch  schon  so  nahe  an  alle  diese  Dinge  gerückt  war,  einmal  versucht  haben,  das  Tempo  so  zu 
'estalten,  daß  alle  Erfordernisse  der  Manier  glatt  und  schön  erfüllt  werden  könnten,  er  würde  dann  ohne  Zweifel  bemerkt 
iahen,  wie  ordentlich  wohl  es  den  Tönen  behagt,  sich  in  ihren  Manieren  ruhig  auszuleben  und  auszuatmen,  und  wie  über- 
lüsssig  es  ist,  dem  Klavierspieler  von  heute  die  hiezu  erforderliche  Liebe  und  Wärme  ersparen  zu  wollen,  zumal  darin  der 
chönste  Teil  des  Vortrags  gegründet  ist.  Was  bleibt  vom  Kunstwerk  denn  noch  übrig,  wenn  man  über  alle  Töne  so 
ikademisch-gleichgiltig,   so  lieb-  und  ratlos  hinweggeht  oder  gar  im  Sturm  über  sie  hinwegrast? 

Sollte  nicht,  nach  so  lange  anhaltender  Verirrung  der  Virtuosen  des  Schnellspiels,  ähnlich  doch  wie  in  den  übrigen 

Künsten,  endlich  einmal  auch   für  die  Musik  der  glücklich  befreiende  Wendepunkt   gekommen  sein,    der  da  heißt:   Zurück 

ur  Natur !  ?  Zur  Natur  in  der  Musik  will  aber  heißen :  Nicht  leere  Fingerfertigkeit  als  Ziel,  sondern  die  Seele  des  Menschen, 

\h..  i.  Ausdruck  der  Seele  eines  Künstlers,  zumal  eben  einer  hochgespannten,  genialen  Seele!   Nur  diese  allein   ist  Natur  in 

'ller  Musik!  Und  lehrt  doch  alle  Geschichte,  daß  eine  starke  Natur  sich  niemals  in  bloß  akademischer  Technik   der   Finger 

'  teäußert  hat,  so  lautet  der  Euf :   Weg  von  der  schablonenhaften  Fingerfertigkeit,    die  —  in  einem  anderen  Verstände  des 

Portes  —  mit  sich  und  dem  Kunstwerk  nur  gar  zu  rasch  fertig  und  immer  fertiger  wird,  und  zurück  zur  Natur  auch  in  der 

usik,  zum  starken  Ausdruck  einer  starken  künstlerischen  Seele! 

x)  Vielleicht  ist  es  dann  aber  nicht  minder  fehlerhaft,   wenn  man  auch  die  wenigen  Doppelschläge  J.  S.  Bachs 
ber  einer  Note   ohne  Zwischenraum  ausführt? 

Und  noch  eine  zweite  Frage :  Sollte  denn  J.  S.  Bach  wirklich  nur  so  wenig  solcher  Doppelschläge  gewollt  haben 
man  sehe  z.  B.  die  englischen  Suiten  in  der  „Urtext"-Ausgabe  an,  und  man  wird  sich  davon  selbst  überzeugen  — 
der  ist  statt  dessen  etwa  seine  Trillerbezeichnung  tr  desto  öfter  gar  für  das  Zeichen  eines  Doppelschlages  anzusehen? 
dan  vergleiche  doch  zur  letzteren  Frage  den  bereits  oben  (S.  47)  zitierten  §  12,  sowie  insbesondere  §  17:  „Da  man  außer 

U.-E.  812.  7 


50 


über  den 
Akzent. 


Über  das 
..Schnellen". 


§  5. 

Den  Akzent  im  <v  trägt  ausnahmslos  die  erste  Hilfsnote.  Niemals  die  Hauptnote  (am  Ende 
der  Manier)  selbst,  die  vielmehr  in  der  längeren  zeitlichen  Ausbreitung  allein  Ersatz  zu  finden  hat  für 
den  Mangel  an  Akzent. 

Übrigens  bestätigt  das  Akzentuieren  der  Hilfsnote  die  Yorhaltsnatur,  die  eben  durch  sie  aus- 
gedrückt wird. 

§  6. 

Das  in  der  Adagio-  wie  in  der  Moderatoformel  für  den  Beginn  des  Doppelschlages  vorgeschriebene 
„Schnellen"  gehört  zur  wirklichen  und  praktischen  Ausführung. 

Mindestens  so  bei  Ph.  Em.  Bach,  und  vermutlich  daher  auch  bei  J.  S.  Bach.  Vergl.  darübei 
den  in  Anm.  2,  S.  44  zitierten  §  10,  wo  das  „Schnellen"  ausdrücklich  gefordert  wird. 

Gerade  dieses  Schnellen  aber  machte  die  Korrektur  in  der  Moderatoformel  des  Originals 
(siehe  oben  §  2)  notwendig,  die  offenbar  doch  nur  infolge  Versehens  Bachs  oder  dessen  Kopisten  das 
Schnellen  nicht  zum  Ausdruck  bringt. 


Ausführung 
u.  Notierung 
d.  prallenden 
Doppel- 
schlages. 


Der  prallende  Doppelschlag. 
§  7. 

Der  prallende  Doppelschlag  hat  das  Zeichen  ~  und  lautet  in  der  Ausführung: 


Fig   54. 


"'V 


Diese  Manier  stellt  somit,  wie  es  schon  das  Zeichen  anzeigt,  eine  Kombination  zweier  Manieren,  nämlich 


von  „~l 


und 


,(N)' 


vor,  wobei  zugleich  alle  Erfordernisse  jeder  einzelnen  derselben  sich  auch  in  de* 
Verbindung  beider  ganz  ungescbwächt  geltend  machen.  Es  gilt  also  auch  vom  ~  alles  das,  was  bereits 
schon  früher  in  Bezug  auf  Psychologie,  Ausführung  u.  dergl.  sowohl  vom  *%-,  als  auch  vom 
im  einzelnen  gesagt  wurde.1) 


dem  Claviere  (auch  davon  wissen  z.  B.  die  Oratoriensänger  so  gut,  wie  nichts!  — )  das  Zeichen  des  Doppelschlages  ehen 
wenig  kennt,  als   nöthig  diese  Manier  in   der  Musik  ist,   so  deutet  man  sie  durch  das   gewöhnliche  Zeichen  des  Trillers] 
oder  wohl  gar  durch  das  Zeichen  der  Mordenten,  welches  manchmal  einen  Triller  vorstellen  soll,   an,  u.  s.  w."  (Es  folge: 
zahlreiche  Beispiele,  wobei  der  tr  zwar  notiert,   ein   rv>   aber  ausgeführt  werden  durfte,  auch  sollte.) 

Doch  kann  ich  mir  hier  bei  dieser  Gelegenheit  nicht  versagen,  mindestens  auf  die  so  entzückende  und  eigenartig 
Kombination  eines  arpeggio  und  eines  Doppelschlages  über  einer  Note  hinzuweisen,  die  J.  S.  Bach  —  wie  es  scheint,  ga: 
vereinzelt  —  in  der  englischen  Suite  G-moll,  Courante,  („Urtext"-Ausgabe  S.  36)  schreibt: 


Fig.  55. 


die  aber  ebenso  regelmäßig  in  den  meisten  anderen  Ausgaben  (aus  Gründen,  die  leicht  zu  erraten  sind),  entweder  einfacl 
ignoriert  oder  zumindest  falsch   ausgedeutet  wird. 

*)  IL,  4,  §  27  konstatiert  diesen  Sachverhalt  ausdrücklich,  wie  folgt: 

„Wenn  bey  dem  Doppelschlage  die  zwey  ersten  Noten  durch  ein  scharfes  Schnellen  in  der  größten  G 
scbwindigkeit  wiederholt  werden,  so  ist  er  mit  dem  Prall-Triller  verbunden.  Man  kann  sich  diese  zusammengesetzte 
Manier  am  deutlichsten  vorstellen,  wenn  man  sich  einen  Prall-Triller  mit  dem  Nachschlage  einbildet"  .  .  .  „Sie  stellt  in 
der  Kürtze  und  in  einer  größeren  Lebhaftigkeit  einen  angeschlossenen  Triller  mit  dem  Nachschlage  vor.  Man  muß  sie  also 
mit  diesem  nicht  verwechseln,  indem  sie  sich  so  weit  davon  unterscheidet,  als  der  Prall-Triller  und  der  Doppelschlag  vor 
dem  ordentlichen  Triller.  Diese  Manier  ist  sonst  noch  nicht  angemerkt  worden."  Später  ist  auch  sie  freilich  von  der 
meisten  Meistern  angenommen  worden. 

U.-E.  812. 


51 

Wegen  des  Pralltrillers  gebraucht  sie  Bach  daher  bloß  bei  „fallender  Sekunde"1)  d.  h. 
wieder  nur  mit  Vorhaltscharakter,  wie  hier  schon  ebenfalls  durch  den  Pralltriller  auch  das  „Schnellen"2) 
gefordert  wird. 

Dagegen  macht  der  dem  Pralltriller  beigesellte  Doppelschlag,  wie  es  eben  in  der  Natur  des 
Doppelschlages  liegt,  für  seinen  Teil  wieder  den  Zwischenraum3)  nötig. 

»)  Vergl.  §  28. 

a)  Siehe  oben  §  27  und  dazu  in  §  29  folgendes:  „Dieses  leichte  zu  verhüten,  macht  man  den  prallenden 
Doppelschlag  nach  der  Regel  so  scharf  als  möglich,  damit  das  c  (es  handelt  sich  nämlich  um  folgendes  Exempel:) 

Tab.V,  Fig.  LXVI. 
Fig.  56. 


-wie  ein  simples  Sechzehntheil  zu  klingen  scheine ;  hierdurch  wird  der  folgende  Vorschlag  hinlänglich  von  dieser  Manier 
abgesondert.  Ohngeachtet  die  abgebildete  Ausführung  dieser  Passagie  ziemlich  bunt  aussieht  und  noch  fürchterlicher 
scheinen  könnte,  wenn  sie  so,  wie  sie  simpel  bey  dem  Adagio  oft  vorzukommen  pflegt,  nehmlich  mit  noch  einmahl  so 
geschwinden  Noten  ausgeschrieben  würde;  so  beruht  doch  die  ganze  Kunst  der  geschickten  Ausführung  auf  die  Fertigkeit 
einen  rechten  scharfen  Prall-Triller  zu  machen,  und  die  Ausnahme  muß  alsdenn  gantz  natürlich  und  leichte  ausfallen." 
Und  ich  möchte  meinen,  daß  man,  vorausgesetzt  nur,  daß  man  weiß,  was  man  soll,  selbst  auf  unseren  Klavieren  —  bei 
einiger  leichten  Art,  zu  spielen  —  dazu  kommen  kann,  den  gesamten  Inhalt  des  ^  so  hervorzubringen,  als  wäre  das 
verzierte  c  (siehe  oben  Bach    Beispiel)  nur  „ein  simples"  (d.  h.  fast  unverziertes)  Sechzehntel. 

8)  Auch  über  dieses  Element,  das  ja  das  wichtigste  in  der  ganzen  Erscheinung  des  <xj  überhaupt  ist,  schreibt 
Bach  nochmals  ausdrücklich  in  §  29 :  „ .  . ,  weil  nach  der  gegebenen  Erklärung  von  den  Doppelschlägen,  die  letzte  Note 
derselben  niemahls  mit  der  folgenden  sogleich  verbunden  werden  darf,  und  allezeit  ein  kleiner  Zeit-Raum  übrig  bleiben 
muß,  damit  widrigenfalls  kein  Triller  mit  der  dritten  veiwerflichen  nachfolgenden  Note  daraus  entstehe;  um  die  pro- 
portionirte  Geltung  der  letzten  Note  beyzubehalten."  (Vergl.  dazu  auch  den  in  Anm.  1,  S.  50  bereits  zitierten  §  27,  wo 
ja  doch  Bach  vor  der  V  rwechslung  dieser  Manier  mit  dem  Triller  schon  einmal  gewarnt  hat.) 

Angesichts  einer  solchen  Deutlichkeit  Bachs  aber  in  Wort  und  Exempel  nun  auch  in  dieser  Frage  berührt  es 
desto  befremdender,  wenn  Bülow  in  seiner  Ausgabe  den  Zwischenraum  noch  immer  hartnäckig  ignoriert,  und  bei  fast  allen 
prallenden  Doppelschlägen,  -  -  und  gerade  diese  Manier  ist  die  am  häufigsten  angewendete,  —  ähnlich  wie  beim  einfachen 
„o»>  über  einer  Note",   nur  den  eben  verbotenen  trillerhaften  Ab-  und  Anschluß  in  Anwendung  bringt,  d.  h. 


Fig.  57. 


S.  49.  meiner  Ausgabe. 
00      d?i. 


statt: 


Bülow,  S.  55. 
tr 


lieber: 


schreibt  und  spielt.  Ich  sagte  schon  (vergl.  Anm.  2,  S.  48),  daß  er  so  bona  fide  verfuhr:  er  wußte  es  eben  nicht  besser 
und  empfand  den  Unterschied  im  Ausdruck  beider  Ausführungsarten  offenbar  noch  weniger.  Man  wende  aber  nicht  ein: 
Am  Ende  war  bei  B  ow  d  an  durchaus  nicht  die  Beschleunigung  des  Tempo  allein  schuld  gewesen,  denn  möglicher- 
weise hat  er  all  da  was  Bach  über  den  Zwischenraum  schrieb,  für  ein  nur  eben  Geschriebenes  gehalten,  das  selbst  nach 
Bachs  eigener  Meinung  von  Haus  mit  dem  Praktikablen  nicht  verwechselt  weiden  wollte.  Denn  darauf  ist  mit  Be- 
stimmtheit zu  erwidern:  wo  Bach  bloß  Theoretisches  vorträgt,  d.  i.  etwas,  was  die  Ausführung  wenig  oder  gar  nicht  zum 
Ausdruck  bringen  soll,  merkt  er  es  als  ein  bloß  Theoretisches  bereits  selbst  an.  Das  ist  doch  z.  B.  gleich  der  Fall  mit 
der  ersten  Note  des  Pralltrillers  (somit  auch  der  des  prallenden  Doppelschlages),  die,  so  sehr  sie  den  Vorhalt  bei  der 
fallenden  Sekunde  vorzustellen  berufen  ist,  nach  Bachs  eigener  Anweisung  u.  Ausführung  gleichwohl  aber  noch  keine 
Realität  der  Finger,  d.  i.  der  Ausführung  zu  sein  hat,  da  Bach  ja  wiederholt  das  allerschnellste  Erledigen  eben  des 
Pralltrillers  und  selbst  der  ganzen  Manier  des  2i  verlangt,  womit  die  wirkliche  Ausführung  der  Synkope  selbstverständlich 
durchaus  unvereinbar  ist.  Somit  ist  der  Zwischenraum,  auf  den  Bach  so  nachdrücklich  dringt,  im  Gegensatz  dazu  nun  eine 
wirkliche  und  ganz  unentbehrliche  Realität  in  der  Ausführung  des  Doppelschlages,  und  hätte  Bülow  6ich  nur  Zeit  zum 
Zwischenraum  genommen,  er  wäre  sicher  auf  den  Geschmack  dieses  schönen  Manierabschlusses  gekommen.  Aber  freilich, 
in  einem  schon  äußerlich  so  bewegten  Leben,  wie  es  das  Bülows  war,  und  das  übrigens  zwischen  so  verschiedenen  Zielen 
schwankte,  wo  wollte  er  auch  nur  dieses  Atom  Zeit  hernehmen,  um  noch  an  die  Zwischenräume  bei  Bachs  Doppelschlägen 
zu  denken? 

Man  nehme  es  mir  nicht  übel,  wenn  ich  Bülows  Arbeit  und  Andenken  hier  so  oft  und  so  energisch  nahetrete. 
Bedenkt  man  indessen,  wie  die  Welt  prinzipiell  —  und  mit  Recht  —  nur  auf  den  Wink  eines  führenden  Virtuosen  und 
Musikers  vom  Range  Bülows  aufzuhorchen  gewohnt  ist,  und  am  liebsten  daher  auch  nur  von  jenen  Meistern  überhaupt 
Notiz  nimmt,  die  ein  solcher  Künstler  durch  Wort  oder  Vortrag  empfiehlt,  60  ist  dadurch  zwar  einerseits  zur  Genüge 
das  Verdienst  Bülows  abgeschätzt,  der  den  Klavierspielern  des  XTX.  Jahrhunderts  die  Werke  Ph.  Em.  Bachs  neuerdings 
empfohlen  und  vermittelt  hat,  aber  zugleich  auch  anderseits  der  Schade  zu  verstehen,  den  eine  Verunstaltung  Bachs 
nicht  nur  diesem  Meister    selbst,    sondern   auch   jedem  Spieler    zufügen  mußte.     Ph.  Em.  Bach  war  ein  durchaiis  anderer, 


U  -E.  812. 


52 


Bedenkt  man,  daß  diose  zusammengesetzte  Manier  mehr  Noten  enthält,  als  einzeln  *%  oder  <v, 
so  läßt  sich  begreifen,  daß  sie  seltener  in  der  Adagioforraol,  dagegen  fast  regelmäßig  nur  in  der 
Moderatoformel  ausgeführt  werden  kaon.  In  der  Tat  sehreibt  Bach  selbst  —  allerdings  offenbar  nur 
als  matten"  Ausdruck  u.  zwar  sowohl  in  seinen  Kompositionen,  als  auch  in  den  Exempeln  seines 
Buches  die  Moderatoformel  des  prallenden  Doppelschlages  am  häufigsten  so  aus: 


Pag.  18. 


Fig.  58. 


Pag.  68. 


:   *^g~~ii=B 


m 


welch  eigene  Schreibart  Bachs1)  ich  selbst  nun  in  meiner  Sammlung  der  Ph.  Em.  Bachschen  Klarier- 
werke  ständig  benützt  habe,  um  den  w- Fällen  ihre  Ausführung  beizugeben. 

Vor  allem  bestätigt  die  Originalschreibart  auf  den  ersten  Blick,  daß  der  Legatobogen  (s.  oben 
§  9  des  Abschnittes  über  den  Triller)  hier  ebensowenig  praktische2)  Bedeutung  hat,  wie  beim  ~ 
überhaupt ;  ferner  zeigt  sie  sinnfällig  jenen  früher  erwähnten  Zuwachs  an  Noten  (man  hat  dazu  aller- 
dings noch  die  Noten  zu  addieren,  die  durch  das  Zeichen  des  -~  vorgestellt  werden),  so  daß  durch 
den  Beweis  der  Anschauung  der  Schluß  an  Kraft  gewinnt,  der  dahin  geht,  daß,  wo  die  Manier  ^  vor 
geschrieben  ist,  eo  ipso  eine  mäßigere  Bewegung  an  der  betreffenden  Stelle,  oder  doch  mindestens 
eine  längere  Dauer3)  der  verzierten  Note  selbst  vorausgesetzt  werden  müsse.  Man  kann  noch  weiter 
gehen,  und  aus  der  häufigeren  Anwendung  dieser  zusammengesetzten  Manier  sogar  auf  eine  mäßigere 
Bewegung4)  des  ganzen  Stückes  überhaupt  schließen. 

als  derjenige,  den  Bülow  uns  näher  zu  bringen  versucht  hat!  Er  war  in  jedem  Ton  ein  anderer,  und  man  muß  sagen 
daß  unter  der  Entstellung  Bachs  durch  Bülow  sicher  auch  der  musikalische  Horizont  der  Spielenden  zu  leiden  hatte  u.  noch  hat. 
Wenn  man  auf  Schritt  und  Tritt  statt  Geschmackes  nur  Geschmacklosigkeit,  statt  der  Zuge  eines  Genies  bloß  Beduktionen 
auf  Talent  und  Plattheit  in  Kauf  nehmen  muß,  wozu  war  die  Arbeit,  und  wo  bleibt  das  Verdienst,  das  vom  Schaden  so 
stark  überragt  wird? 

*)  Offenbar  ist  denn  auch  mit  der  Notierung  J.  S.  Bachs  z.  B.  in  der  Partita  I: 

Fig.  59. 

kaum  was  anderes,  als  doch  nur  wieder  der  spätere  „prallende  Doppelschlag"  gemeint,  worüber  nämlich  (wie  ähnliches  schon 
beim  Triller  J.  S.  Bachs  gesagt  wurde)  das  Zeichen  des  ~**  zunächst  ja  irreführen  könnte.  Denkt  man  sich  aber  statt  des 
letzteren  Zeichens  bloß  den  Pralltriller : 


Fig.  60. 


^B 


M^ 


so    verstehen    wir    sofort   besser   den  wahren   Sinn    der  Verzierung.    Also  Vorsicht  vor   dem 
Übrigens  schreibt  ja  J.  S.  Bach  in  der  Allemunde  der  V.  engl.  Suite  ausdrücklich  auch  so: 


-Zeichen  bei  J.  S.  Bach 


Fig.  61. 


M 


also  ganz  so,    wie  später  aus  Gründen  eines  prinzipiellen  Systems  Ph.  Em.  Bach. 

Indessen  besteht  zwischen  den  beiden  hier  angezogenen  Beispielen  J.  S.  Bachs  bei  Fig.  59  u.  Fig.  61  immerhin 
ein  wesentlicher  Unterschied,  nämlich  der,  daß  nur  beim  letzten  Beispiel  der  „prallende  Doppelschlag"  auch  nach  einer 
fallenden  Sekunde  gebraucht  wurde. 

2)  So  heißt  es  also  auch  bei  Ph.  Em.  Bach  (II.,  4,  §  27)  wieder  einmal  ganz  ausdrücklich :  „Wegen  des  langen 
Bogens  über  der  letzten  Figur  beziehe  ich  mich  auf  das,  was  bey  dem  Prall-Triller  angeführt  ist." 

8)  Vergl.  §  28:  „Da  diese  zusammen  gesetzte  Manier  mehr  Noten  enthält,  als  die  einfachen  Manieren,  woraus 
sie  besteht,  so  füllt  sie  auch  die  Geltung  einer  etwas  langen  Note  besser  aus;  folglich  wird  sie  auch  in  diesem  Falle 
lieber  gebraucht  als  der  Prall-Triller  allein." 

*)  Daselbst  (§  28):  „Hingegen  thut  der  Prall-Triller  allein,  bei  dem  Exempel 


Fig.  62. 


■h.J^flj-fl 


fr  wj 


in  Allegretto  und  in  einer  noch  hurtigern  Zeit-Maaße  besser  als  zusammen  gesetzt."  Der  Schluß  aus  diesen  Worten  auf 
das  Tempo  im  Geiste  Bachs  selbst  ist  doch  sicher  leicht  zu  ziehen,  und  es  ist  erfreulich,  daß  auch  Baumgart  (Seite  12) 
ihn  in  derselben  Art  zieht.  Hätte  nur  auch  Bülow  was  davon  gewußt! 


U.-E.  812. 


53 


führung : 


Der  geschnellte  Doppelschlag. 

§  8. 

Der   geschnellte   Doppelsuhlag   hat   das   Zeichen    „8  oj«    und    lautet    in    der   Aus-     ««««i-ung 

unrl       Ana. 


jpfy.  63. 


Diese  Mauier  ist  eine  Verbindung  einer  einzeln  stehenden  Note  (des  ersten  g  des  Beispieles)  mit  dem 
Doppelschlag  (dem  Rest  der  Noten).1)  . 

Nach  Bachs  Regel  hat  die  erste  Note  keinerlei  gebundenen  Charakter  in  sich,  so  daß  sich 
diese  Manier  eben  durch  den  Mangel  an  Vorhaltscharakter  wesentlich  vom  „^"  und  sogar  vom  fl(v" 
selbst  unterscheidet. 

Wie  die  erste  Note  nun  gleichsam  harmonisch  ungebunden  einsetzt,  so  hat  sie  —  und  das 
ist  die  Eigentümlichkeit  dieser  Manier  überhaupt  —  auch  zugleich  mechanisch  frei  einzusetzen. 
Hiefür  empfiehlt  Bach  einen  „steifen  Finger".  Damit  will  er  folgendes  sagen:  Man  hat  das  erste  g 
mit  förmlich  aufrecht  stehendem  Finger  so  elastisch  anzuschlagen,  daß,  wie  naturgemäß,  der  Finger 
gerne  wieder  von  der  Taste  abspringen  möchte;  und  während  nun  eo  der  Finger  im  Begriffe  ist  dem 
Gegendruck  nachzugeben,  haben  die  übrigen  Finger  so  schnell  als  möglich  noch  die  weiteren  Noten 
des  Doppelschlages  gleichsam  zusammenzuraffen.  Im  ganzen  hat  das  Steifmachen  des  Fingers  und  das 
Zusammenraffen  des  Doppelschlages  bei  noch  „steifem  Finger"  ein  Werk  des  Augenblickes  nur  zu  sein, 
und  weil  nun  ..der  steife  Finger"  gleichsam  die  mechanische  Pointe  der  Manier  ist  oder  besser  den 
mechanischen  Schlüssel  zu  ihr  vorstellt,  daher  erlaubte  sich  Bach  einzig  mit  jenen  zwei  Worten,  die 
allerdings  sohr  malend  sind,  die  Mechanik  der  Manier  darzustellen. 

Um  den  Spieler  der  Bachschen  Werke  an  die  Notwendigkeit  eines  solchen  Anschlages  zu 
erinnern,  habe  ich  mir  in  meiner  Ausgabe  erlaubt,  ihm  aus  eigenem,  daher  in  einer  Klammer,  mit 
einem  Stakkatostrich  zu  Hilfe  zu  kommen,  wie  folgt: 


Fig.  64. 


i 


Ca 


Die  Wirkung  des  oben  geschilderten  Anschlages  ist,  wenn  er  gelingt,  die,  daß  das  erste  g 
r>fenbar  infolge  des  eigentümlichen  Angriffes,  zunächst  als  Eines  besonders  gehört  wird,  dem  als  Zweites 
der  sofort  sich  anschließende  Doppelschlag  gegenübertritt,  so  daß  in  gewissem  Sinne  30gar  von  einer 
merkwürdigen  Isoliertheit  der  beiden  Elemente  gesprochen  werden  kann. 

Daß  auch  hier  der  ~  den  Zwischenraum  —  wie  überall  —  bedingt,  ist  selbstverständlich. 
Zumal  Bach,  indem  er  diese  Manier  schreibt,  zugleich  von  Haus  aus  die  Möglichkeit  des  Zwischen- 
raumes mitberechnet,  d.  h.  sie  nur  über  Noten  gebraucht,  deren  Länge  es  gestattet,  diese  Manier  in 
ier  angewandten  Moderatoformel  des  <v  auszuführen;  woraus  wieder  folgt,  daß  auch  hier,  wie  beim 
I,  ein  Rückschluß  von  der  Anwendung  dieser  Manier  auf  ein  mäßigeres  Tempo  durchaus  logisch 
jeboten  ist. 


*)  IL,  4,  §  33,  erklärt:  „Wenn  ein  Doppelschlag  über  gestossenen  Noten  angebracht  werden  soll,  so  erhält  er 
tne  besondere  Schärfe  durch  eben  dieselbe  im  Anfange  hinzugefügte  Note,  worüber  er  stehet.  Diese  noch  nicht  anders 
»o  bemerckte  Manier  habe  ich  durch  ein  kleines  Zweyunddreyßigtheil  vor  der  mit  dem  Doppelschlage  versehenen  Note 
ingedeutet.  Diese  dreyfache  Schwäntzung  bleibt  bey  allerley  Geltung  der  folgenden  Note  und  bey  allerley  Zeit-Maaße 
inverändert,  weil  dieses  Nötgen  allezeit  durch  den  geschwindesten  Anschlag  mit  einem  steifen  Finger  heraus  gebracht  und 
«gleich  mit  der  geschnellten  Anfangs-Note  des  Doppelschlages  verbunden  wird." 

Aus  Baumgarts  Anmerkung  auf  Seite  12  ist  leider  zu  entnehmen,  daß  er  die  technische  Pointe  des  „steifen 
Fingers"  überhaupt  gar    nicht   verstanden  hat. 

Auch  mag  es  nicht  unwichtig  sein,  auf  die  eigene  zur  Vorsicht  mahnende  Bemerkung  Ph.  Em.  Bachs  am 
Ichlusse  des  §  34  hinzuweisen:  „Man  kan  hierbey  mit  anmercken,  daß  bey  diesen  Exempeln  außer  dem  Klaviere  das 
leichen  des  Tril  ers  und  bey  den  Clavier-Sachen  das  einfache  Zeichen  des  Doppelschlags  zu  stehen  pflegt." 

U.-E.  812. 


und  Aus- 
führung   des 
geschnellten 
Doppel- 
schlages. 


54 

Das  „Schnellen"  geht  hier  meistens  in  der  Heftigkeit  des  ersten  Anschlages  und  der  Kaschheit 
des  Anschlusses  des  po  verloren. 

Der  Akzent  entladet  sich  naturgemäß  im  ersten  Angriff.  Die  Hauptnote  wirkt 
daher,  wie  beim  <xj  überhaupt,  nur  durch  ihre  zeitliche  Länge. 

Über  den  Unterschied  dieser  Manier  aber  von  dem  einfachen  Doppelschlage,  wenn  dieser  nach 
einer  Note  vorkommt,  siehe  unten,  S.  56. *) 


Der  Doppelschlag  von  unten. 
§  9. 

Abgrenzung  Ist  es  so,   daß  wegen  seiner  Vorhaltsuatur  der  <v  allemal  mit  der  oberen  Sekunde  anzufangen 

des  Begriffes  w    s0  kat  gacn  RecM   wenn  er  auch  im    „Doppelschlage   von   unten"    zunächst   einen  latenten 

U.Ausführung  * 

des  Doppel-    „Doppelschlag  von   oben"    annimmt,   der  bloß  um   zwei  von   unten   kommende  und    dem  Hilfstone  sich 
schiages  von  anschließende  Noten  vermehrt  erscheint. 

„Diese  Nötgen"  sagt  er  in  II.,  4,  §  37,  „werden  so  geschwind  als  möglich  an  den  Doppelschlag 

gehängt   und   mit   ihm    verbunden.     Die   dreifache    Schwäntzung   bleibt    ebenfalls   allezeit   unverändert. 

Diese  noch  zeithero   von  niemanden   angemerckte  Manier   stellt  in  der  Kürtze  einen  Triller   von   unten 

vor,   und  wird  also  auch  an  dessen  Stelle  über  einer  kurtzen  Note  gebraucht.    Man  kann  diese  Manier 

den  Doppelschlag  von  unten  nennen." 


unten. 


Fig.  65. 


B    |     BT 

55 


Dagegen  zählt  er  noch  durchaus  nicht  zu  den  Doppelschlägen  jene  Figur,  die  gerade  wir  den 
Doppelschlag  von  unten  nennen,  was  nur  als  weitere  Konsequenz  derselben  Auffassung  bei  Bach  an- 
zusehen ist. 

So  heißt  es  in  IL,  7  (von  den  Schleifern),  §  5. 

Fig.   66.        a)  Tab^Vl/F^.LXXXIX. 


sehen  wir  die  Ausführung  dieses  Schleifers  van  dreyen  Nötgen  .  .  .  Da  man  von  diesem 
Schleifer  noch  kein  gewöhnliches  Zeichen  hat,  und  seine  Ausführung  einem  Doppelschlage  in  dei 
Gegen-Bewegung  vollkommen  gleich  ist;  so  habe  ich  ihn  viel  bequemer  durch  das  bey  (b)  befindlich« 
Zeichen  angedeutet,  als  wenn  ich  statt  dessen  drey  kleine  Nötgen  hätte  setzen  wollen,  wie  mai 
zuweilen  antrift." 

Darnach  kann  man  nun  gewiß  nicht  mehr  sagen,  daß  Bach  die  Verwandtschaft  seines  „Schleifer 
von  dreyen  Nötgen"  mit  dem  Doppelschlage2)  etwa  nicht  genau  genug  erwogen  hätte,  als  dessen  „Gegen 


J)  In  argem  Irrtum  betreffs  dieser  Manier  befindet  sich  konstant  Bülow,  indem  er  z.  B. 

pag.70.  m. Ausgabe,  a)  b) . 


Bülow, 
S.  10. 


Fig.  67. 


nicht   wie    bei    a),    sondern  wie  bei  b)  interpretiert  oder,    statt  die  Manier  vom  Wert  der  Hauptnote  selbst  abzuziehen,  si 
gar  vom  Wert  der  vorausgehenden  Note  abzieht: 

S.26. 


Bülow,  S.  22. 


für: 


m.Ausgabe. 


Fig.  68. 


2)  Ebensowenig  war  ihm  auch  die  Abgrenzung  des  „Schleifers  von  3  Nötgen"  gegenüber  seinem  eigenen  „Doppe 
schlag  von  unten"  (vgl.  Fig.  65)  fremd,  da  er  im  II.,  7,  §  9,  selbst  davon  spricht:  „indem  man  sonst  statt  dieses  Schleife: 
den  Doppelschlag  von  unten  brauchen  könnte,    welcher   einige  Ähnlichkeit  in  Noten  mit  ihm  hat." 

U.-E.  812. 


81 


55 

bewegung"  er  ihn  ja  ausdrücklich  bezeichnet;  vielmehr,  wie  deutlich  zu  sehen  ist,  liegt  hier  nur 
Konsequenz  im  Erfühlen  einer  Manier:  Sein  Instinkt  saß  eben  tiefer  und  reiner  als  der  unsere. 

Doch  gleichviel,  ob  wir  nun  mit  ihm  bei  Figur  66  gar  von  einem  Schleifer  oder  aber  doch 
noch  von  einem  Doppelschlage  sprechen  wollen,  haben  wir  jedenfalls  noch  immer  —  zumal  für  seine 
eigenen  Werke  —  seine  Anweisungen,  wie  jene  Figur  vorzutragen  ist,  als  geltend  zu  betrachten. 

Und  so  meint  er  in  IL,  7,  §  6:  „Diese  Manier  liebt  das  sehr  geschwinde  und  das  sehr  lang- 
same, das  gleichgültige,  und  das  aller  affectuöseste,  und  wird  also  auf  zweyerley  sehr  verschiedene 
Art  gebraucht.  (1)  Bey  geschwinden  Sachen  zur  Ausfüllung  und  zum  Schimmer;  hier  stellt  sie  bequem 
einen  Triller  von  unten  ohne  Nachschlag  vor,  wenn  die  Kürlze  der  Note  zu  diesem  Triller  nicht 
hinreichen  will  und  wird   allezeit   geschwinde  gemacht." 

Und  ergänzend  in  §  7:  „Im  andern  Falle  wird  dieser  Schleifer  als  eine  traurige  Manier,  bey 
matten  Stellen,  besonders  im  Adagio,  mit  Nutzen  gebraucht.  Er  wird  alsdann  matt  und  piano  gespielt, 
und  mit  vielem  Affecte  und  mit  einer  Freyheit,  welche  sich  an  die  Geltung  der  Noten  nicht  zu 
sclavisch  bindet,  vorgetragen." 

b)  Der  Doppelschlag  nach  einer  Note. 

§  10. 

Im  Gegensatz  zum  „Doppelschlag  über  einer  Note"  steht  nach  Bach  „der  Doppelschlag  nach    P«»cJol°9,e 
einer  Note."  (Oder  was  dasselbe  ist,  zwischen  zwei  Noten.)  sehiages 

Der  mit  dem  Doppelschlag  (wie  überhaupt  mit  jeder  Manier)  verbundene  Zweck,  die  Dauer  "•?  einer 
einer  Note  besser  auszufüllen,  wird  hier  also  auf  eine  andere  Weise,  als  bei  dem  „Doppelschlag  über 
einer  Note"  und  dessen  Abarten  zu  erreichen  gesucht.  Denn,  wenn  bei  dem  letzteren  mit  der  Ausfüllung 
sofort,  d.  i.  schon  im  ersten  Teil  des  Notenwertes,  begonnen  werden  muß,  so  wird  dagegen  bei  dem 
„Doppelschlag  nach  einer  Note"  mit  der  Ausfüllung  ein  wenig  gewartet,  und  erst  im  späteren  Teil  des 
Notenwertes  die  Manier  in  Szene  gesetzt. 

Dieses  Verschieben  des  oo-Anfanges  beim  Doppelschlag  nach  einer  Note  aber,  d.  i.  das  Ablaufen- 
lassen eines  gewissen  Zeitraumes,  während  dessen  der  Hauptton  vorläufig  eben  noch  unverziert  klingt, 
und  der  übrigens  je  nach  der  Situation  auch  verschieden  sein  darf  —  hat  notwendigerweise  zur  Folge, 
daß  dadurch  die  im  Doppelschlag  sonst  immerhin  enthaltene  Vorhaltswirkung  auf  das  minimalste  ver- 
ringert wird:  trifft  doch  hier  die  obere  Sekunde  nicht  mehr  mit  dem  Baßton  sofort  zur  Dissonanzwirkung 
zusammen,  und  bringt  doch  der  Hauptton  selbst  einen  eventuellen  späteren  Vorhalt  dadurch  um  seine 
Wirkung,  daß  er,  eben  identisch  mit  „dem  Auflösungston"  des  Vorhaltes,  noch  vor  dem  Vorhalt,  d.  i. 
Vor  der  oberen  Sekunde  auf  dem  Platze  erscheint. 

§  n. 

Was  die  Ausführung  des  Doppelschlages  nach  einer  Note  anbelangt,  so  ergeben  sich  folgende  yjJrrudn'eAdus" 
Möglichkeiten :  Doppel- 

et) Die  Note,  auf  die  der  Doppelschlag  folgt,  hat  geraden  Wert:  'eine^No"*0 

In  einem  solchen  Falle  gestaltet  sich  die  Ausführung  nach  Bachs  Regel  (vergl.  IL,  4,  §§  21 
und  22),  wie  folgt:  Tab.V,  Fig.  LXI.(a) 


Fig.  69.       ja    |  J    lUÜJjS 


d.  h.  genau  in  der  Hälfte  des  Wertes  (keineswegs  also  später!)  wird  mit  dem  Doppelschlag  begonnen, 
iund  überdies  am  anderen  Ende  der  Manier  noch  ein  Zwischenraum  im  Werte  eines  vierten  Teiles 
übriggelassen. 

U.-E.  812. 


56 


Damit  ist  aber  auch  schon  von  vornherein  der  unterschied  dieses  Doppelschlages  gegeben  Veab: 
gegenüber  dem  geschnellten  Doppelschlag  —  Bach  schildert  ihn  in  IL,  4,  §  36,  mit  den  Worten:  „Man 
verwirre  diese  unsere  Manier  (den  geschnellten  Doppelschlag)  ja  nicht  mit  dem  einfachen  Doppelschlage, 
welcher   nach    einer  Note    vorkommt.     Sie   sind   gar   sehr  unterschieden,   indem  der   letzte  eine  gantze 


Weile  nach  der  Note  eintritt  und  bei  geschleiften  und  ausgehaltenen  Noten  zu  finden  ist." 
über  Wendungen,  wie  z.  B.  folgenden: 


i  teils  . 


gegen- 


(l)  Pag.  55. 


Fig.  70. 


frrfittTfrccr 


b)  Pag.  81. 
fe 


¥ 


§E 


E? 


lüHpülIp 


bei  denen  es,  wie  man  sieht,  am  Zwischenraum  überhaupt  fehlt,  uud  außerdem  wie  bei  b)  zugleich, 
doch  auch  am  charakteristischen  Beginn  der  Manier  gerade  in  der  Mitte  des  Wertes;  und  endlich  3tens: 
gegenüber  einer  Kombination,    wie  z.  B.  der  Beethovens  im  Adagio  seiner  Klaviersonate,  op.  2,  Nr.  1: 


Fig.  71. 


i 


d.i. 


±d 


^m 


bei  der  zum  Doppelschlag  überdies  noch  ein  sogenannter  Anschlag  (s.  die  eingeklammerte  Tonfolge  a 
und  c  vor  b)  am  Ende  der  Manier  addiert  wird. 

b)  Die  Note,   auf  die  der  ~  folgt,   wird  gebunden: 

Davon  gilt,  was  Bach  in  §  23  sagt:  „Im  zweyten  Falle  entstehet  nach  der  bindenden  Note 
ein  Punckt  und  die  letzte  Note  des  Doppelschlags  macht  mit  der  gebundenen  eine  Note  aus:  ist  die 
Zeit-Maaß  aber  hurtig,    so  fällt  der  Punckt  weg;u 


oc 


mod. 


Tab.V,  Fig. LXl.(b) 
all. 


Fig.  72. 


W 


trrnr^nrjp^ 


und  endlich: 

c)  Die  Note,    die    nach    sich  den  <v  hat,   ist  eine  punktierte: 

Da  gilt  die  Vorschrift  des  §  24:  „Im  dritten  Falle  entstehen  zwey  Punckte,  zwischen  welchen 
der  Doppelschlag  gemacht  wird  (c). 

Tab.V,  Fig.  LXI.fe) 
Fig. 


73. 


iüP 


Die  Eiutheilung  ...  ist  allezeit  dieselbe." 

Die  Verkürzung  der  auf  den  ~  folgenden  Note  bei  diesem  letzteren  Beispiel  beruht  auf  dem- 
selben Prinzipe  wie  die  Verkürzung  beim  Triller.  (Vergl.  Fig.  23  u.  41.)  In  beiden  Fällen  ist  es  nämlich  die 
rhythmische  Verjüngung  des  Haupttones  (d.  h.  dessen  Wiederkehr  an  einer  anderen  rhythmischen  Stelle), 
die,  um  die  ursprünglich  geplante  Proportion  nachzubilden,  einer  entsprechenden  Verkürzung  der  nächsten 
Note  dringend  bedarf.  So  will  im  Beispiel  Bachs  sich  das  a  durchaus  im  Verhältnis  eines  ^  zu  g  als  J> 
verhalten:  tritt  nun  der  <^>  ein,  der  mit  seinen  vielen  Noten  die  Verkürzung  des  Haupttones  selbst 
herbeiführt,   so  mag   das  a  gleichwohl  in  der  ihm   nun   einmal  vorausbestimmten   Proportion  verharren 

und  reduziert  sich  daher  naturgemäß  von  einem  J^  auf  ein    5.  gegenüber  dem    &  des  Haupttones. 

Nach  einer  punktierten  Note  macht  daher  Bach  eine  solche  Verkürzung  in  der  Regel 
zur  Pflicht,  so  daß  nur  etwa  einem  bedeutenderen  Ausdruck  zu  Liebe  davon  abgegangen,  d.  h.  die 
Schreibart  beim  Wort  genommen  werden  kann. 


Ü.-E.  812. 


57 


§  12. 

Was  uns  indessen  an  allen  diesen  Ausführungsvorschriften  Bachs  sub  o),  b)  und  c)  des  vorigen 
Paragraphen  sofort  auffällt,  ist,  daß  zwar  die  Ausführung  bei  einer  punktierten  Note  (sub  c)  mit  der 
unseren  übereinstimmt,  vergl.  z.  B. 


Fig.  74. 


Mozart.  Streich- 
quartett  G  dur.  für: 


p=^^rw^T^ 


über  die  Un- 
erläßlrchkeit 
eines  Zwischen- 
raumes auch 
beim  „Doppel- 
schlag nach 
einer   Note". 


dagegen  aber  in  eigentümlicher  Weise  die  bei  einer  Note  geraden  Wertes  (sub  a)  sich  von  der  unseren 
unterscheidet. 

Und  wieder  ist  es  im  letzteren  Falle,  also  bei  a,  der  Z  w  i  s  c  h  e  n  r  a  u  m,  der  den  Unterschied  ausmacht ! 

Auf  diesen  Zwischenraum  aber  dringt  hier  Bach  unter  allen  Umständen,  so  daß 
ich  in  meiner  Ausgabe  mir  zur  Pflicht  gemacht  habe,  an  dieser  Eigentümlichkeit  Bachs  festzuhalten, 
besonders  eingedenk  dessen,  daß  diese  Eigentümlichkeit  nur  eine  für  uns  ist,  keineswegs  aber  eine  für 
ihn  selbst  gewesen,  z.  B.  Pag.  6. 

Fig.  75. 

Nenne  ich  es  aber  —  meinetwegen  in  einem  etwas  ferneren  Sinne  —  auch  bei  den  Fällen 
sub  b)  und  sub  c)  wieder  nur  einen  Zwischenraum,  wenn  die  Hauptnote  an  die  Stelle  der  Bindung  oder 
des  Punktes  tritt,  um  sich  die  Dauer  dieses  Punktes  eben  zu  eigen  zu  machen,  so  kann  ich  zusammen- 
fassend sagen,  der  Zwischenraum  kehrt  bei  allen  Doppelschlagsarten  Bachs  wieder:  beim 
„Doppelschlag  über  einer  Note"  und  dessen  Abarten,  wie  sogar  auch  bei  allen  Doppelschlägen  zwischen 
zwei  Noten  d.  i.  nach  einer  unpunktierten  ( ! )  oder  punktierten. 

c)  Der  Doppelschlag  „über  der  zweiten  Note". 

§  13. 

Und   schließlich  gibt  es   noch  eine  Art  des  r*;,   die  Bach   unter  dem  Namen  eines  „Doppel-    Wesen  und 
Schlages   über   der   zweiten   Note"    anführt.  Ausführung 

des     Doppel- 

Allerdings  spricht  er  davon  nur  ganz  beiläufig  in  IL,  4,  §  24,  wo  er  folgende  Ausführung  lehrt:  8Chla9"  ü". 

der    zweiten 


Tab.V,  Fig.  LXI.  (4) 


Fig.  76. 


—  beiläu6g  nämlich  in  dem  Sinne,  als  er  diese-  Doppelschlagsart  noch  durchaus  nicht  in  seine  Haupt- 
einteilung der  Doppelschläge  selbst  einbezieht,  die  nach  wie  vor  nur  solche  „über"  und  solche  „nach 
einer  Note"  unterscheidet  —  indessen  scheint  nun  gerade  dieser  Doppelschlag,  wie  wir  gleich  sehen 
werden,  der  Vorfahre  der  eigentümlichen  Doppelschlagsbildungen  Haydns  zu  sein,  weshalb  uns  denn 
auch   die  Pflicht  erwächst,  die  neue  Erscheinung  einer  genaueren  Betrachtung  zu  unterziehen. 

Ohne  Zweifel  hat  der  Bachsche  Doppelschlag  „über  der  zweiten  Note",  da  er  ein  anderer  ist 
als  die  bisher  angeführten  Doppelschlagsarten,  schon  eben  aus  diesem  Grunde,  zugleich  auch  wieder 
einen  anderen  und  eigenen  Ausdruck,  u.  zw.  läßt  sich  diese  Verschiedenheit  des  Ausdruckes  am  leichtesten 
durch  Vergleiche  mit  jenen  feststellen  und  erfassen. 

Gehen  wir  vor  allem  der  Spur  des  Wörtchens  „über"  nach,  wie  es  in  der  Bachschen  Bezeichnung 
unserer  neuen  Erscheinung  enthalten  ist,  so  möchte  man,  —  freilich  unbeschadet  dessen,  daß  der  eine 
Doppelschlag  nur  einfach  „der  Doppelschlag  über  einer  Note",  während  der  andere  ausdrücklich  (doch 
darum  zunächst  nicht  eben  klarer)  „der  Doppelschlag  über  einer  zweiten  Note"  heißt  —  immerhin  den 
letzteren  weniger  als  eine  selbständige  Doppelschlagsart,  denn  vielleicht  nur  als  eine  Abart  des  ersteren 
sich  vorzustellen  geneigt  sein.  In  der  Tat  haben  die  beiden  hier  verglichenen  Doppelschlagsarten  die 
obligate  Vierzahl  von  Tönen  gemein,  wobei  auch  deren  bekannte  charakteristische  Ordnung  eingehalten 
wird:  Obere  Sekunde,  Hauptnote,  untere  Sekunde  und  endlich  wieder  die  Hauptnote.  Doch  mehr,  als  diese 

U.-E.  812.  8 


Note. 


Allgemeines 

über  die 
Doppelschlags- 

arlen  bei 
Haydn. 


58 

GemeiDsamkeit  sie  bindet,  trennt  sie  umgekehrt  der  hochwichtige  Umstand,  daß  bei  dem  ordentlichen 
oo  über  einer  Note"  die  gesamte  Vierzahl  der  Töne  vom  Wert  der  eben  zu  verzierenden  Hauptnote 
selbst  in  Abzug  gebracht  wird,  während  beim  „<^>  über  der  zweiten  Note"  die  Ausführung  der  ersten 
drei  Noten  desselben  gar  auf  Kosten  der  vorhergehenden  Note  geschieht.  In  der  überraschenden  Tat- 
sache nun,  daß  die  Ausführung  einer  Verzierung  nicht  zur  Last  derjenigen  Note,  die  verziert  werden 
soll,  sondern  nur  zur  Last  einer  anderen,  u.  zw.  einer  Note,  deren  Verzierung  (d.  i.  Ausfüllung)  von 
vornherein  ja  gar  nicht  beabsichtigt  wird,  hat  man  ohne  Zweifel  aber  einen  doppelten  Widerspruch  i 
zu  erblicken:  Erstens  einen  solchen  gegenüber  dem  Grundgesetz  aller  Manierenausführung  überhaupt, 
in  dem  Sinne  nämlich,  als  die  Manieren  gemäß  ihrem  Hauptzwecke,  die  Dauer  einej-  gegebenen  Note 
besser  zu  füllen,  vernünftigerweise  doch  nur  eben  von  dieser  selbst  abgezogen  werden  müssen,  und 
zweitens  einen  solchen  gegenüber  der  Bezeichnung  „über  einer  zweiten  Note",  die  weit  davon  entfernt 
die  gegebene  merkwürdige  Situation  auszudrücken,  mit  der  Präposition  „über"  sie  weit  eher  zu  ver- 
schleiern droht. 

Diese  beiden  sehr  bedenklichen  Widersprüche  zu  bannen,  könnte  man  —  immer  auf  der  Suche 
nach  dem  Ausdruck  unserer  neuen  Manier  —  sich  daher  versucht  fühlen,  nun  um  so  lieber  den  „o*>  nach 
einer  Note"  zum  Vergleich  mit  dem  „oo  über  der  zweiten  Note?  heranzuziehen.  Hiebei  finden  wir  fürs 
erste  mit  Befriedigung,  daß  die  beiden  Doppelschläge  zwar  allerdings  in  einer  Tatsache  übereinstimmen, 
nämlich  in  der  normalen,  daß  die  Manier  von  der  Dauer  der  Note  selbst  abgezogen  wird,  doch  werden  wir 
dann  desto  stärker  anderseits  von  dem  fundamentalen  Unterschied  betroffen,  daß  im  Falle  des  „c^>  über 
einer  zweiten  Note"  die  drei  von  der  vorausgehenden  Note  abzuziehenden  Töne  des  Doppelschlages  gar 
andere  sind,  als  sie  es  sonst  sein  dürften,  wenn  der  Doppelschlag  ein  wirklicher ,„{%j  nach  einer  Note" 
wäre,  was  nämlich  daraus  hervorgeht,  daß  beim  letzteren  es  ja  durchaus  nur  seine  eigene  Ober-  und 
Untersekunde,  nicht  aber  die  eines  fremden  Tones  sein  dürfen,  die  eben  von  diesem  bezogen,  ja  ohne- 
weiters  doch  auch  ganz  verschieden  ausfallen  könnten.  Somit  ist  denn  auch  der  zweite  Vergleich,  d.  i. 
der  zwischen  einem  „<v  nach  einer  Note"  und  dem  „<^  über  einer  zweiten  Note"  leider  noch 
nicht  im  Stande,  die  Eigenart  des  letzteren  widerspruchslos  zu  erklären. 

Es  bleibt  uns  daher  nichts  anderes  übrig,  als  den  „oj  über  einer  zweiten  Note"  nun  gerade  in 
dieser  widerspruchsvollen  Eigenart  zu  belassen  und  wir  tun  daher  am  besten,  ihn  solchermaßen  immerhin 
wohl  als  einen  Biv  über  einer  Note"  anzuerkennen,  der  aber  seltsamerweise  seine  Ausführung  auf 
Kosten  eines  fremden,  d.  i.  des  vorangehenden  Tones  gleichsam  als  dessen  Parasit  fordert.  So  mag 
*denn  nun  in  diesem  Sinne  der  Scharfsinn  in  der  Formulierung  Ph.  Em.  Bachs  nicht  hoch  s:enug  anzustaunen 
sein,  der,  indem  er  mit  den  Worten  „über  der  zweiten  Note"  uns  zunächst  nötigt,  von  selbst  an  irgend 
eine  erste  Note  zu  denken,  und  an  eine  geheimnisvolle  Ausführung,  die  offenbar  zwischen  einer  ersten 
und  zweiten  Note  ausgetragen  werden  soll,  zugleich  aber  unserer  Vorstellung  mit  dem  Wörtchen 
„über"  einen  bestimmten  Weg  zu  weisen  sucht. 

Trotz  solcher  Treffsicherheit  seiner  Worte  aber  möchte  ich  gleichwohl  vorschlagen,  das  unheilbar 
Widerspruchsvolle  der  sozusagen  illegitimen  Situation  beim  Bachschen  „r^  über  einer  zweiten  Note" 
endlich  ehrlicher  und  offener  anzuerkennen  und  ihn  —  je  vorbehaltloser,  desto  einfacher!  —  einen 
Doppelschlag  „vor  einer  Note"  zu  nennen,  obgleich,  wie  schon  gesagt  wurde,  durch  die  Sanktion  einer 
solchen  Bezeichnung  das  Hauptgesetz  über  die  Ausführung  der  Manieren  ohne  Zweifel  eine  Erschütterung 
erleiden  muß.  — 

Daß  aber  die  Vorhaltswirkung  beim  Doppelschlag  über  der  zweiten  Note  sich  verlieren  mußte, 
ist  selbstverständlich. 

B.  Der  Doppelschlag  bei  den  späteren  Meistern.  I 

«)   Der  Doppelschlag:  bei  Haydn, 

§L  1 

Haydn  scheint  der  erste  gewesen  zu  sein,  der  nach  Bach  die  Zeichen  in  den  mehr  oder  weniger 

ausgeschriebenen  Zustand  hinüberzufahren  trachtete. 

Jedoch  schaltet  er,  um  es  gleich  zu  sagen,  den  „  <v>  über  einer  Note",  also  den  wirklichen 
Doppelschlag  im  Sinne  Bachs,  ganz  aus  seiner  Praxis  aus. 

U.-E.  812. 


59 

Und  zwar  ist  es  damit  völlig  so,  als  hätte  Haydn  diesen  gar  nach  rückwärts  verschoben.  Der 
dadurch  entstandene  Doppelschlag  ist  nun  aber  ohne  Zweifel  kein  wirklicher  Doppelschlag  über  einer 
Note  mehr,  sondern  eher  als  ein  Doppelschlag  „vor  einer  Note"  zu  begreifen,  u.  zw.  genau  in  dem 
Sinne,  wie  ich  es  soeben  beim  Bachschen  „Doppelschlag  über  der  zweiten  Note"  ausgeführt  habe. 

Man  darf  aber  außerdem  noch  diesen  Doppelschlag  vor  einer  Note  bei  Haydn  sogar  „den 
spezifisch  Haydn'schen  Doppelschlag  vor  einer  Note"  zu  nennen  anfangen.  Nicht  allein  wegen 
der  Bach  noch  unbekannt  gebliebenen  Notierung,  die  ja  Eigentum  und  Schöpfung  Haydns  ist,  sondern 
weit  mehr  wegen  des  originellen  Ausdrucks,  den  Haydn  in  den  weitaus  überwiegenden  Fällen  damit 
verbindet,.  Da  aber  unbeschadet  dieser  Originalität  der  Doppelschlag  Haydns  dennoch  vielfach  an  den 
„Doppelschlag  nach  einer  Note"  oder  an  den  „Doppelschlag  über  der  zweiten  Note"  Bachs  erinnert, 
so  werden  wir  demnach  auch  beim  Haydnschen  „Doppelschlag  vor  einer  Note"  wohl  noch  immer  genau 
auseinanderzuhalten  und  gesondert  zu  betrachten  haben,  inwiefern  sein  Ausdruck: 

1.  mit  dem  des  Bachschen  „Doppelschlages  nach  einer  Note"  oder 

2.  mit  dem  des  Bachschen  „Doppelschlages  über  der  zweiten  Note"  irgendwie  verwandt  oder 
gar  identisch  erscheint. 

Im  Zusamenhang  damit  steht  es  des  weiteren,  daß  auch  die  kombinierten  Doppelschlagsarten 
im  obigen  Sinne  eher  vor,  als  über  einer  Note  anzunehmen  und  auszuführen  sind. 

Somit  hat  nur  der  Doppelschlag  nach  einer  punktierten  Note  allein  seine  alte  Ausführung  un- 
verändert auch  bei  Haydn  behalten. 

§  2. 

p 

Die  Schreibarten  des  Doppelschlages  bei  Haydn  lassen  sich  einteilen:  über  d.  mehr- 

I.  in  ganz  und  voll  mit  großor  Schrift  allein  ausgeschriebene  und  aPten  des 

II.  in  verschiedene  Kompromißverbindungen  von  großer  Schrift  und  anderen  Hilfsmitteln.  Doppeischiages 
Die  erstere  Schreibart  löst,  wie  wir  später  sehen  werden,  den  Doppelschlagsinhalt  ganz  in  großer    allgemeinen1 

Schrift   auf. 

Die  letzteren  Schreibarten  aber  geben  nur  einen  Teil,  u.  zw.  den  vierten  und  kleinsten  des 
Doppelschlages,  der  großen  Schrift  selbst  frei,  behalten  aber  die  Hauptsache,  nämlich  die  ersten  3  Töne, 
noch  immer  in  der  herkömmlichen  Schrift  der  Manieren  zurück.  Da  diese  aber  entweder  aus  kleinen 
Noten  oder  aus  Zeichen  besteht,  so  ergibt  sich  als  Unterteilung  der  Kompromißnotierungen  von  selbst: 

1.  Die  Verbindung  von  3  kleinen  Noten  und  großer  Schrift, 


Fig.  77. 


z.B. 


tm 


oder 


2.  die  der  Notierung  sub  1)  völlig  äquivalente  Verbindung  von  Zeichen  „  <x>  u  und  großer  Schrift, 
Fig.  78. 


.B. 


fo)  r    f~z  ;  doch  läßt  wieder 


3.  die  Notierung  sub  2.  für  sich  allein,  noch  eine  weitere  Variante  zu,  u.  zw.  insofern  als 
Haydn  das  Zeichen  statt  zwischen  die  Töne  der  großen  Schrift,  noch  öfter  gar  über  der  zweiten  Note 
selbst  anbringt: 


F!g.79.       ^p 


Das  wäre  also  die  3te  Kompromißschreibart. 

In  Summa  also  lassen  sich  bei  Haydn  4-erlei  Schreibarten  nachweisen,  wobei  aber  noch  zu  beachten 
ist,  daß  er  oft  genug  unbedachter-  und  ungenauerweise  einfach  nur  z.  B.  das  Trillerzeichen  setzt  und 
darunter  doch  wieder  nur  den  Doppelschlag  versteht. 


U.-E.  812. 


60 


§  3. 


D«r  „spe-  Gemäß  den  im  §  1  dieses  Abschnittes  gebotenen  Auseinandersetzungen   soll  hier  zunächst  nur 

'whe  Dwjiei-  von  EaydDS  „Doppelschlag  vor  einer  Note"  die  Rede  sein,    dessen  Ausdruck   sich  mit  dem   ehemaligen 

schlag  vor    r  Doppelschlag  nach  einer  Note"  bei  Bach  mehr  oder  weniger  deckt. 
ihM-iB  sinne  Betrachten  wir  nämlich  die  Kompromißschreibarten  Haydns  in  folgenden  Beispielen,   wobei  diese 

des  Bachschen  nRCfo    fteü  ^  vorigen  Paragraphen   unterschiedenen  drei  Kategorien  der  Schreibart  gruppiert  erscheinen 
und  außerdem  ihre  Parallele  mit  der  Bachschen  Notierung  erhalten: 
Fig.  80,  9 

1  "■*"  daselbst 

,/)Klavierson.U.E.N93./>)  daselbst        c)  daselbst     </)Sonate,U.E.N?4.ß)       daselbst  /)  Son.Ü.E.N?a  8)     ,co      .. 

kr* 


„Doppelschlages 
nach  einer 
Note". 


. 


so  erkennen  wir  sicher  unschwer,  worin  der  Zusammenhang  des  Haydnschen  „Doppelschlags  vor  der 
Note"  mit  dem  Bachschen  „Doppelschlag  nach  einer  Note"  besteht,  wie  anderseits  auch  die  Momente,  die 
sie  mehr  oder  weniger  voneinander  scheiden. 

Vor  allem  sehen  wir,  wie  auch  Haydn  die  trillerhafte  Ausführung  durchaus  meidet,  und  strenge 
am  Prinzip  des  Zwischenraumes  festhält,  indem  er  der  letzten  Note  des  Doppelschlags  einen  bestimmten 
Platz  mit  bestimmtem  Wert  (nämlich  dem  4ten  Teil  des  Gesamtwertes)  anweist.  Somit  hat  uns  gerade 
dieser  Punkt  der  Ausführung  — ■  zugleich  ihr  wichtigster !  —  als  derjenige  zu  gelten,  der  den  Zusammen 
hang  des  Haydnschen  Doppelschlages  mit  dem  Bachschen  „^>  nach  einer  Note"  herstellt. 

Dagegen  vermissen  wir  bei  Haydn  den  Zwang,  mit  der  Ausführung  des  Doppelschlages  just  in 
der  Mitte  des  Notenwertes  zu  beginnen  (oder  sollte  gar  Bach,  entgegen  den  eigenen  strengen  Anweisungen 
in  Wort  und  Exempel,  —  siehe  oben  Fig.  69  —  zuweilen  auch  selbst  je  in  diesem  Punkte  liberaler 
gewesen  sein?),  so  daß  es  nichts  auf  sich  hat,  wenn  man  bei  Haydn  die  Ausführung  des  rv>  auf  irgend 
einen  Zeitpunkt  auch  nach  der  Mitte  hinausschiebt,  wenn  nur  —  und  das  allein  ist  die  Hauptsache!  — 
darunter  die  Ausführung  der  letzten,  eben  mit  großer  Schrift  dargestellten  Note  des  Doppelschlags  nicht 
leidet,  d.  i.  wenn  diese  Note  ihren  Platz  und  Wert  behält,  so  daß  der  nötige  Zwischenraum  dadurch 
deutlich  zum  Ausdruck  kommt! 

Darnach  kann  es  aber  auch  nicht  mehr  schwer  fallen,  einzusehen,  daß  in  allen  obigen  Beispielen 
der  Haydnsche  „Doppelschlag  vor  einer  Note"  dem  Bachschen  „Doppelschlag  nach  einer  Note"  im  Grunde 
ähnlicher  ist,  als  er  von  ihm  verschieden  ist. 

Ist  dem  aber  wirklich  nun  so,  so  hat  man  nach  dieser  Richtung  hin  in  der  Schreibart  Haydns 
nur  einen  Gewinn  zu  erblicken.  Und  zWar  besteht  der  Gewinn  der  neuen  Schreibarten  Haydns  darin, 
daß  die  wiederkehrende  Hauptnote  (am  Ende  des  <x>)  allemal  bei  a,  5,  c,  d,  e,/u.  g  mit  großer 
Schrift  dargestellt  ist,  oder,  was  dasselbe  ist,  man  kann  sagen,  hier  erscheint  der  Bachsche 
Zwischenraum  in  die  große  Schrift  aufgenommen  und  streng  mensuriert.  Worin  allein, 
wenn  es  überhaupt  hier  eine  gibt,  der  Fortgang  der  Tradition  zu  erkennen  ist! 


§  4. 


Über  die  Miß- 

<m£S£  Doch  ist  dieser  Gewinn  von  Haydn  bei  den  einzelnen  Schreibarten  mit  vielen  Nachteilen  erkauft 

Schreibarten  worden,  die  sich  nur  allzusehr  leider  dazu  eigneten,  Mißverständnisse  zu  erzeugen. 

des  Haydn-  ~      .       ,     ,                                                          °            "                                                            o 

sehen  „Doppel-  öo  ist  bei  der  ersten  Schreibart  —  siehe  die  Beispiele  a,  b  und  c  im  vorigen  Paragraphen  — 

SderaflNo8te*°r  ohneweiters  auch  deren  Nachteil  ersichtlich  und  zwar  bezieht  sich  dieser  auf  die  Regel  der  kleinen  Noten. 

Ü.-E.  812. 


\  ^ 


eil 


Bekannthch  geh    d.ese'; i  dahin,  daß  alle  kleinen  Noten,  sofern  sie  eine  Manier  bedeuten    durchaus  nnr 
v  n  der  naehstfolgenden  Hanptnote,  zu  der  sie  gehören,  abgezogen  werden  müssen.  Der  B  geT  teo    e  " 
glaubte  man  daher  nun  auch  be,  den  kleinen  Noten  des  Havdnschen  Doppelschlags  durchaus  an    hr  n  et 

sagen,  ohne  weitere  Beihilfe,  die  Manier  nicht  nnr  andeuten,  sondern    „  h  f  ^tts    e,le      kV 

der  nächsten   (wohlgemerkt  aber  in  großer  Schrift  dargestellten)  Note  vereint    „L^7  .  .    "  mit 

ünzertrennlichkeit  die  volle  Manier  bedeuten  und  erschöp  cn   D  s  he  ßt    So  L      1     TT    "v*""' 

■    Baydns   Schre.bart  m*   Berechtigung  anzuwenden.    Oder   noch    anders:   den   letzteren  Traue    du 
Charakter  einer  Ausnahme  zuzubilligen  setzt  voraus,  daß  man  eben  weiß    wie  sie  -  n  cht  12  J 
sondern  nur   eben   in  Verbindung  mit  der  nachfo.genden  Note  der  großeu     c     ft!   1  "T. Li    2 
ausgeschr.ebenen^  vorstellen,  und  wie  sie  dadurch  von  selbst  aus  jener  Kegel  herSaHen. 

Der  Nachteil  der  zweiten  Schreibart  bei  d  und  e  ist  ebenfalls  allzu  ersichtlich  Denn  wollte 
•man  d.ese  Falle  genau  nach  der  Regel  erledigen,  die  für  die  Ausführung  eines  JEÄÄÄ 
nach  emer  punkferten  Note  (vergl.  Fig.  73)  gilt  -  und  diese  ist  bei  Havdn  dieselbe  wie  b  ÄS 
gebheben  -  so  müßte  ja  die  Hauptnote  dort  wieder  erscheinen,  wo  der  Punkt  beg  nnt  wo  ch  et 
dann  gar  zwei  Hauptnoten  gäbe:  «egiimu,   woauren   es 


Flg.  81. 


Die  Fälle  bei  d  und  e  jedoch  gegen  die  Regel  zu  spielen,    setzt   voraus,   daß  man  mit  Havdn 
anormaWweise   das  Zeichen   des   Doppelschlags   zwischen   den   beiden    Noten,   ännlich  we   dt ktoe 
Noten  bei  der  vorigen  Schreibart,  wieder  eben  weniger  selbst  für  einen  fertigen  und  wirkliln    D    pel 
seh lag  zwischen  zwei  Noten"  (nach  einer  punktierten)  annimmt,  als  vielmehr  für  einen  Teil    es    Dopp  L 
Schlags   nach   einer  Note",    dem   erst  die   nachfolgende   Note   der  großen   Schrift   den   unenbSchen 
Endpunkt  verleiht  und  damit  auch  den  postulierten  Zwischenraum !  ™entDennicnen 

Wohl  aber  die  ärgste  Unvorsichtigkeit  begeht  Haydn  mit  der  dritten  Schreibart  bei  /  und  a 

NMt  nur'  Iß" LT  ""l  T"  ^  ""  *"  ^  W°  W  ***  ™  *****  -  einen  solchen  denkt 
Nicht  nur    daß  er  in  solchem  Falle  gar  nicht   wünscht,   daß  der  ~  dort   beginne,   wo  die  Note   steht 

oder  gar  eine  trillerhafte  Ausführung   eben   aus   diesem  Grunde  angewendet  ferde    meint   efvLmehr 

der  ~  habe,  wie  wir  wissen,  bereits  aufzuhören  dort,   wo  die  Note  steht   und  diese  sei  eben  der  End- 

ü  ;J\ZU§  i    HM    /er  ZwiSCheDraUm  des   -   »er  Doppelschlag  über  einer  Note  steht  hier  also 
für  einen  Doppelschlag,   der  gar   vorausgeht   und   dessen  Ausdruck,    wie  wir  bereits  festgestellt  haben 
mindestens   m  den  oben  angeführten  Beispielen,   eher  für  den   eines   „Doppelschlags   nach   einer  Note- 
oder was  dasselbe,  „zwischen  zwei  Noten«  im  Sinne  Bachs  zu  halten  ist. 

?  Ierg1'  °"  *'  §  f :  "AIIe  durch  kleine  NötSen  angedeutete  Manieren  gehören  zur  folgenden  Note-  folglich 
darf  jemals  der  vorhergehenden  etwas  von  ihrer  Geltung  ahgehrochen  werden,  indem  blos  die  folgende  so  vie  'veS  t 
*  die  kleinen  Nö  gen  betragen,  Diese  Annierckung  ist  um  so  viel  nöthiger,  je  mehr  gemeinigLh  hierwid er  S£ 
w.rd  u.  s.  w.«  und  daselbst  §  24,  den  ich  in  der  Einleitung  S.  5  bereits  citiert  habe  g 


U.-E.  812. 


132 


überd.  zweiten 


§  5. 

Betrachten  wir  aber  die  Anwendung  des  Doppelschlages  vor  einer  Note  in  folgenden  Beispielen 

c)  Streichquartett.  Op.  76.  N9  4. 


Der  „spezifisch 

Haydnsche  ^      , 

Doppelschlag       Mayüns : 

vor  einer  Note". 

2'-"»:  im  Sinne  Fig.  82.                            b)  Son.  N9  2 

des  Bachschen  x  ^  N9  2ö.(U.  E.  N9  8.)  «3»-, 

-Doppelschlages  *      ,                   sä    -—  r-'rTI 


JS^iiSLj!i  jj  SonT! 


e)  Streichquartett  Op.  B4^N94./j  Son  No  20.       g)  Streichquart.  0p.7ß.N96.yy  öp.71.N9  1 


P  tr^rr^f,#  p 


Streichquartett 
Op.öö.  N?l. 


p^¥ 


WtfW 


Streichquartett  Op.64.N9  6.        So"-  N°  & 


0  Son.  N9J6; 

i I        COT»- 


Son.N9  25. 


ggg  gp  r  * 


/)  Streichquartett 
0p.64.N9  8. 

Oft 


k)  Son.  N9  83 


daselbst 


l)  Son.  N9  13 


t  na 


so  finden  wir,  im  Gegensatz  zum  Ausdruck  des  oj  bei  den  Beispielen  des  §  3,  den  Ausdruck  des  Doppel- 
schlages hier  nicht  unähnlich  gar  dem  des  Bachschen  „Doppelschlages  über  der  zweiten  Note",  haben 
aber  dabei  (d.  i.  beim  Haydnschen  Doppelschlag)  zugleich  wohl  die  Empfindung  auch  noch  durchaus 
neuartiger  Wendungen,  die  nur  eben  dadurch  möglich  wurden,  daß  Haydn  den  Doppelschlag  vor  einer 
Note  durchaus  nicht,  wie  Bach,  bloß  auf  einige  wenige  Situationen  beschränkte  —  vergl.  das  eigene  Beispiel 
Bachs  zum  „Doppclschlage  über  der  zweiten  Note"  in  §  13  des  vorhergehenden  Abschnittes  —  sondern 
auch  noch  für  unzählige  andere  und  verschiedene  Situationen  fruchtbar  macht. 

Die   Psychologie   des   neuen  Haydnschen  Ausdruckes  wird   aber  am   besten   klar  werden,   wenn 
wir  die  Ausführung  seines  rw  z.  B.  in  Fig.  82  b)  durch  Kontraste   beleuchten: 

Fiy.  83. 


Auch  hier  erscheint  wieder  die  Tatsache,  daß  bei  Haydn  —  siehe  a  und  b  —  die  Hauptnote  am  Ende 
der  Manier  stehen  bleibt,  und  dadurch  den  Zwischenraum  ermöglicht,  als  jenes  Moment,  das  uns  die 
verschiedenen  Ausdrücke  gegeneinander  abgrenzen  und  voneinander  unterscheiden  läßt.  Das  Kesultat 
aber  ist  folgendes: 

Ein  voller  Gegensatz  tritt  hervor  im  Vergleich  des  Haydnschen  <*sj  zur  trillerhaften  Ausführung 
bei  d.  bei  der  der  Zwischenraum  verloren  geht  und  der  gewünschte  Wert  einer  Achtelnote  auf  bloß 
ein  32tel  reduziert  erscheint. 

U.-E.  812. 


63 

Schon  viel  näher  aber  (siehe  c)  rückt  an  den  Hay dnschen  Düppelschlag  der  Bachsche  „Doppel- 
schlag über  einer  Note"  (der  spezifische  Doppelschlag  Bachs),  heran,  denn:  weisen  beide,  miteinander 
verglichen,  nun  wohl  den  Zwischenraum  als  gemeinsames  Merkmal  auf,  so  unterscheiden  sie  sich 
dagegen  im  übrigen  nur  dadurch,  daß  bei  Bach  die  Hauptnote  die  Hälfte,  d.  i.  ein  16tel,  dagegen  bei  Haydn 
ihren  vollen  Wert,  d.  i.  ein  8,el  behält.  Der  letztere  Unterschied  wurde  indessen  nur  dadurch  möglich, 
daß  ja  bei  Bachs  „Doppelschlag  über  einer  Note"  die  Manier  wirklich  von  der  Hauptnote  abgezogen,' 
während  bei  Haydns  „Doppelschlag  vor  einer  Note"  die  Ausführung  durchaus  nicht;  auf  Kosten  der° Haupt- 
note geschieht.  Was  des  weiteren  nun  aber  zur  letzten  Erkenntnis  führt,  daß  der  Haydnsche  „Doppel- 
schlag vor  der  Note"  in  den  obigen  Beispielen  somit  in  der  Tat  noch  weitaus  am  nächsten  doch  nur  eben  dem 
Bachschen  „Doppelschlag  über  der  zweiten  Note"  steht,  mit  dem  jener  lteus:  die  Ausführung  der  ersten 
drei  Noten  des  <^  unbedingt  nur  auf  Kosten  der  vorausgehenden  Note,  2te,ls:  das  Stehenbleiben  der 
Hauptnote  auf  dem  ihm  durch  die  große  Schrift  zugewiesenen  Ort,  3tcns:  das  Einhalten  des  Zwischen- 
raumes und  4tens:  die  Vermeidung  der  trillerhaften  Ausführung  gemein  hat. 

In  allen  diesen  Fällen  hätte  sich  Ph.  Em.  Bach,  wenn  er  das  erreichen  wollte,  was  Haydn  intendiert, 
vielleicht  nur  helfen  können,  wenn  er  die  Wendungen  mit  großer  Schrift  dargestellt  und  sie  genau  in 
den  Takt  eingeteilt  hätte. 


§  6. 

Mit  der  Verwandlung  des  echten  Bachschen  „Doppelschlags  über  einer  Note"  in  einen  „Doppel-   überdiekom- 

blnierten 


schlag  vor  einer  Note"  scheint  sich  bei  Haydn   aber  auch  der  wahre  ursprüngliche  Bachsche  Charakter  ££  t. 

der  kombinierten  Arten  des  Doppelschlags,  des  „~"   und  des  ?J  ^«    von   selbst   verwischt   zu    haben.  D*s* 
Zwar  schreibt  er  noch  gelegentlich,  wie  bei  Fig.  84,  a) :  °8S* 

Fig.  84. 

(l)Son.  N9  26.  w  ,  c)  Son.Nqi.  .  d)   daselbst 


ü  MiLHi^i.rrr1 


aber  das  Zutrauen  zur  Schreibart  schwindet,  wenn  man  sieht,  wie  er  dasselbe  auch  so  schreibt,  wie  bei  h). 
Angesichts  solcher  Unbestimmtheit  darf  man  die  Vermutung  wagen,  er  habe  vielleicht  dann  auch  bei 
c   und   d  eher  einen  ~  gemeint,  als    bloß    den  einfachen  r%>. 

Schwierig  ist  es  aber  auch  zu  entscheiden,  ob  nicht  der  ™i  wie  der  ehemalige  <x>  über  einer 
Note,  nach  rückwärts  verschoben  werden  solle.  Vielleicht  tue  ich  HTydn  daher  nicht  Unrecht,  wenn  ich 
z.  B.  bei: 


Fig.  85. 


Son.N«?  28. 


4L 


i 


einen    verschobenen  ~  (statt  .-»),  wie  bei  &,  vermute,   so  daß  die  Hauptnote  mit  Zwischenraumwirkung 
nun  auch  wirklich  dort  zu  stehen  hat,  wo  sie  die  Schreibart  hinstellt  (?). 

Die   Kückwärtsschiebung   des    „#§  ™u  vollzog  sich  etwas  weniger  zweideutig: 


Fi9-   86'         Son.  m  9. 


Son.  W  26. 


rf3*  £±* 


U.S.W. 


sofern  man  diesen  Ausdruck  für  überhaupt  verwandt  halten  darf  dem  Bachschen  „  R 


<"NJ 


J 


«4 


§  7. 


Für  den  Doppelschlag  nach  einer  punktierten  Note  benützt  Haydn  entweder  lteus  die  große  Schrift, 

wenn  er  es 


rv. 


Der  „Doppel- 

"ne'0 punk-    oder  2tens  seine  neuen  Kompromißschreibarten,  nur  daß  er  bei  den  letzteren  das  Zeichen 
Herten  Note1-.  statt  der  drei  kleinen  Noten  anwendet,  durchaus  über  der  Note,  nicht  also  auch  zwischen  den  Noten  setzt 

Betrachten  wir  Beispiele  einer  voll  ausschreibenden  Schreibart  bei  ihm: 


Fig.  87. 


a)  Son.l4.(Ü.E.N?2.) 


¥ 


m 


^fflS^ni 


für: 


womit  auch  weitere  Beispiele  verglichen  werden  können: 

h)  Mozart.  Streichquartett,  Es  dur.  c)  BeethovejuOpJOl. 

Fig.  88.    ^J 


m 


so  finden  wir  in  dieser  Ausführung  durchaus  die  Tradition  Bachs  aufrecht  erhalten,  unbeschadet  dessen, 
daß  dabe'  weder  von  der  Verkürzung  der  auf  den  Punkt  folgenden  Noten  Gebrauch  gemacht,  noch  auch 
sonst  immer  —  vom  Schnellen  abgesehen. —  der  Zeitpunkt  des  Doppelschlagsanfanges  (siehe  die  Beispiele 
Fig.  72  u.  73)  etwa  ganz  so  gewählt  wurde,  wie  es  Bach  vorschreibt. 

Als  Beispiele  seiner  Kompromißschreibarten  seien  aber  folgende  angeführt: 


Fig.  89. 

Son.N?  25. 

0^ 


Son.  N9  25 
Streichquartett  op.  77  N?  2.  ~ 


Son.N9  2. 


Wie  man  sieht,  wird  auch  hier  wieder  die  Hauptnote  am  Ausgang  der  Manier  mit  großer 
Schrift  ausgeschrieben  und  an  den  Platz  gestellt,  der  ihr  in  Wirklichkeit  (auch  der  Lehre 
Bachs  nach)  zukommt.  Der  Zwischenraum  erscheint  fixiert,  wodurch  dem  Spieler  das  Problem  der 
Verkürzung  vom  Halse  geschafft  wird.  Indessen  kehren,  von  diesen  Vorteilen  abgesehen,  die  im  §  4  er- 
wähnten Nachteile  der  Schreibart  wieder,  so  daß  nicht  selten  unüberlegte  oder  ununterrichtete  Spieler 
eben  wegen  der  Schreibart  entweder  die  Regel  von  den  kleinen  Noten  anzuwenden  oder  gar  den  rJ 
über  der  Note  nun  wirklich  als  einen  solchen  auszuführen  plötzlich  Lust  finden,  statt  gerade  umgekehrt 
—  bei  etwas  genauerer  Überlegung  —  aus  der  Art,  wie  Haydn  im  Dienste  des  hier  doch  sicher  nicht 
mißzuverstehenden  „Doppelschlags  nach  einer  punktierten  Note"  das  Zeichen  rv>  gar  über  einer  Note 
setzt,  Rückschlüsse  selbst  auf  die  übrigen  Fälle  zu  ziehen,  bei  denen  er  das  Zeichen  (v  leider  ebenfalls  über 
einer  Note  anbringt,  und  somit  zum  gleichartigen  Resultat  zu  gelangen,  daß  nun  alle  Doppelschläge 
bei  Haydn  nur  vor  der  mit  großer  Schrift   fixierten  Hauptnote   auszuführen   sind! 


Das  Endre- 
sultat in  Be- 
zug auf  die 
Doppelschlags- 
arten bei 
Haydn. 


§  8. 

Zusammengefaßt  lautet  das  Ergebnis  wie  folgt: 

Ein  wirklicher  „rx>  über  einer  Note"  im  Sinne  Bachs  dürfte  bei  Haydn  kaum 
mehr  anzutreffen  sein.  Wo  immer  ein  oj  über  einer  Note  steht,  wird  der  Fall  den  bisher  er- 
örterten Fällen  mit  Leichtigkeit  einzureihen  sein.  Allemal  behält  die  große  Schrift  Recht  und 
unbeirrt  durch  das  ^-Zeichen  hat  man  —  nach  Ausführung  der  drei  durch  das  Zeichen  geforderten 
Noten  des  Doppelschlags  auf  Kosten  der  vorausgehenden  Note  —  die  verzierte  Note  wirklich 
dort  zu  spielen,  wohin  die  Schreibart  der  großen  Schrift  sie  stellt. 

Dasselbe  versteht  sich  auch  von  dem  Fall,  wo  Haydn  statt  des  ^-Zeichens  mit  kleiner  Schrift 
drei  kleine  Noten  ausschreibt. 

U.-E.  812. 


65 


Wahrend  somit  noch  bei  Bach  die  Hauptnote  gern  unbetont  blieb  und  die  drei  kleinen  Nötchen 
die  ihr  vorausgingen,  zugleich  ihr  den  Akzent  vorwegnahmen,  indem  sie  auf  dem  rhythmisch 
stärkeren  Taktglied  einsetzten,  so  behält  dagegen  die  Hauptnote  bei  Haydn  ihre  gute  Beton  uns 
am  liebsten  für  sich  selbst,  was  nur  dadurch  möglich  wird,  daß  jene  kleine  Tongruppe  ihr 
rhythmisch  schwach  vorausgeht.  ■'" 

Im  Grunde  ist  der  Haydnsche  Doppelschlag  daher  ein  „Doppelschlag  vor  einer  Note«  und  ähnelt 
eher  dem  Zwischendoppelschlag  oder  dem  „Doppelschlag  über  der  zweiten  Note"  bei  Bach  Wohl  aber 
hat  sich  der  Doppelschlag  nach  einer  punktierten  Note  ganz  so  erhalten,  wie  ihn  Bach  lehrte 

Doch  über  all  das  hinaus  bleibt  es  das  Wichtigste  zu  erkennen,  daß,  wie  immer  man  Haydns 
Schreibart  auch  auffassen  möge,  niemals  noch  bei  ihm  unsere  trillerhafte  Ausführung  d  es  ~ 
stattfinden  dürfe.  Ich  möchte  sagen,  einfach  aus  Mangel  an  Gelegenheit,  wenn  mir  schon 
der  Beweis  nicht  geglaubt  würde.  Dieser  aber  besteht  darin,  daß  die  meisten  Doppelschläge  Haydns 
entweder  ausschreibender  Natur  sind,  wie  Fig.  80  (nach  einer  Note)  und  Fig.  89,  oder  den  nach  rückwärts 
verschobenen  ~  samt  all  den  neuen  Anwendungen  davon  vorstellen  (Fig.  82),  welche  Fälle  eben  von 
Haus  aus  das  Stehenbleiben  der  Hauptnote  am  Ende  der  Verzierung  fordern  so  daß 
einfach  schon  dadurch  allein  unsere  Art,  ohne  Aufenthalt  der  Hauptnote  zur  nächsten  Note  hinüberzu- 
führen  (das,   was  Bach  trillerhaft  fand)  ganz  und  gar  unmöglich  wird. 

Der  trillerhaften  Ausführung  auszuweichen  würde  ich  daher  aber  auch  in  Fällen  empfehlen, 
deren  Lösung  trotz  all  den  obigen  Klarstellungen  mindestens  noch  zweifelhaft  sein  darf: 


Fig.  90. 
a)  Son.N?9. 


b)  Son.  N9  31. 


C) 

Son.  N?  30. 


Son.  N?  31. 


m 


iiiitift^i1" 


N?  20. 


Ich  will  damit  sagen:  wem  es  etwa  hier  nicht  passen  möchte,  den  ™  zu  verschieben  und  wer 
lieber  hier  einen  wirklichen  ™  über  einer  Note  annimmt,  tut  immer  noch  besser,  unter  allen  Umständen 
den  Zwischenraum  anzubringen,  als  glattweg  an  die  nächste  Note  anzuschließen.  Das  folgt  für  mich 
wenigstens  aus  dem  oben  gegebenen  Beweise. 

Somit  wäre  nuu,  wohl  in  dem  größeren  Teil  der  Fragen,  zu  denen  die  Werke  Haydns  Anlaß 
geben  könnten,  eine  unbedingte  Sicherheit  und  erfreuliche  Klarheit  gewonnen.  Was  wahrlich  nicht  wenig 
ist,  auch  wenn  ein  anderer  Teil  der  Fragen  noch  in  Zweifeln  steckt,  Haben  wir  aber  soeben  gesehen, 
wie  auch  der  Zweifel  von  nun  an  mindestens  Metode  haben  darf,  und  er  schließlich  nur  mehr  zu 
einer  Wahl  führt,  bei  der  der  Geschmack  das  letzte  Wort  zu  reden  hat,  -  was  ja  nicht  das  Schlimmste 
ist,  —  so  darf  man  auch  dieses  Resultat  nicht  ein  ungünstiges  schelten. 

Es  bleibt  noch  zu  bemerken  übrig,  daß  Haydn,  wie  schon  übrigens  in  §  2  dieses  Abschnittes 
gesagt  wurde,  in  lässigen  Stunden  auch  einen  Triller  für  einen  <v  schreiben  konnte  und  sich  eine 
Schreibart  entwischen  ließ,  wie  bei  Fig.  91,  b),  die  ganz  unzweifelhaft  nach  der  Parallelstell e  bei  a)  eine 
Verwechslung  von  Triller  und  „rv>  vor  einer  Note"  erweist. 

Fi?.  91. 

a)  Streichquartett  Op.Öö.  NT?  S. 

hm 


£ 


fr 


3£ 


ä 


So  daß  man  sich  versucht  fühlt  auch  in  Fällen  wie 


Fig.   92.        Streichquartett  op.ö& 

0p.64N?2. 


anzunehmen,  hier  stünde  Triller  für  „<^>  vor  einer  Note". 

U.-fi.  812. 


66 


ß)  Der  Doppelschlag  bei  Mozart. 

§  9. 

Fortsetzung  Über  Jen  Doppelschlag  bei  Mozart  sei  in  Kürze  folgendes  bemerkt: 

Schreibarten  *n  einem  Beispiele  aus  der  D-dur-Sonate  (Köchel  311)  sieht  man  ihn  förmlich  mit  dem  Problem 

Haydns  bei    der  Schreibart  ringen: 

a)         _    e=S  b)    v^_       1)    e), 

Fig.  93. 


Mozart. 


schließlich  bekennt  er  sich  zur  Form  bei  c,  die  eben  die  Haydnsche  ist. 

In  der  Tat   setzt   Mozart  im  großen   und  ganzen  Haydns  Auffassung   und  Schreibart  fort.    Es 
kehren  bei  ihm  wieder  z.  B.  die  folgenden  Ausdrücke  und  Notierungen  des  Haydn'schen  „Doppelschlages 
vor  einer  Note": 
Fig.  94. 

a)  Phantasie. Köchel  N?  476.  c)  CJ  Sq^  ^^  m  4?ö  ^  stpeichquartett  F  dur.c) 

-p-r  1*1  e  i 


Son.  Köchel  N? 831. 


%*#  rßmri& 


§  10. 

Eine  andere,  Worin  Mozart  aber  von  Haydn  abweicht,  ist  der  stete  Gebrauch  der   ausgeschriebenen  vier 

von  Mozart  J  ' 

bevorzugte    kleinen  Noten  für  den  Doppelschlag  zwischen  zwei  Noten,  gleichviel  ob  nach  einer  unpunktierten  oder 

Schreibart.     punktierten   Note 

Es  ist  sehr  zu  bedauern,  daß  diese  Schreibart,  die  Haydn  in  Instrumentalwerken  nur  sehr  selten 


gebraucht  hat,  wie  z.  B.: 


Fig.  95. 


Haydn.  Streichquartett 
Op.  05.  N?  1. 


bei  Mozart  einen  so  breiten  Platz  einnimmt,  denn  unter  allen  Schreibarten  des  <^>  ist  diese  wohl  die 
allerschlechteste.  Man  fragt  sich  mit  Recht,  wozu  die  Mühe  des  Ausschreibens,  wenn  ohnehin  hinter  dem 
Zeichen:  csj  gewiß  niemand  andere  Töne  vermutet?  Über  den  Zwischenraum  aber  gibt  diese  noch 
weniger  Aufschluß  als  jede  andere  Schreibart.  Und  hat  man  noch  bei  Haydn  den  Vorteil  eines  durch 
die  große  Schrift  fixierten  Zwischenraumes  (besonders  nach  punktierten  Noten)  genossen,  so  entfällt  hier 
dieser  Vorteil  ganz,  so  daß  so  manches  Mal  ein  Zweifel  entsteht,  wo  denn  die  Hauptnote  ihren  Platz 
zu  erhalten  habe,  z.  B.: 

Flg.  96.  i„  Haydn's 

JJSon.  Köchel.  N9 831  ^tieJ?u)ng' 


2)  Streichquartett  D  dur 


Eigentlich  wäre  hier  so,  wie  bei  a  oder  b  Zu  spielen,  der  Regel  (vgl.  §  7,  S.  64)  entsprechender, 
jedoch  raten  sowohl  der  Paralleltakt  (d)  als  auch  die  Begleitung  der  linken  Hand  eher  zur  Form  bei  c 
(vgl.  §  13,  S.  57  und  §  5,  S.  62)  als  jener  Form,  die  Mozart  im  Auge  gehabt  haben  dürfte. 

*)  Diese  originelle  Notierung  (siehe  die  aUrtext"-Ausgabe)  würde  sich  meiner  Ansicht  nach  sehr  gut  eignen,  in  in- 
struktiven Ausgaben  der  klassischen  Werke  die  verschiedenartigen  Schreibmetoden  Haydns,  die  ja  auch  auf  Mozart  und 
Beethoven  übergiengen,  eventuell  zu  vertreten. 

U.-E.  812. 


67 


§  IL 

Besonders  aber  ist  es  die  Frage  nach  dem  Zwischenräume,  die  im  selben  Maße  schwieriger  und 
drohender  wird,  je  nichtssagender  die  Schreibart  ist.  Man  weiß  nicht  recht:  wünscht  Mozart  den  Zwischen- 
raum oder  nicht?  Aus  der  ausschreibenden  Art,  wie  z.  B. : 
Fig.  97. 

Son.  Köchel  N9  576. 


Streichquartett  D  dar. 
iL 


Streichquartett  A  dur. 


wäre  man  versucht,  zu  schließen,  er  habe  nur  in  solchen  Fällen,  in  denen  er  es  ausdrücklich  ausschrieb, 
glatten  Anschluß  an  die  nächste  Note  verlangt,  so  daß  alle  anderen  Fälle  e  contrario  mit  Zwischen- 
raum auszuführen  seien. 

Dadurch  aber,  daß  an  Stelleu,  wo  Haydn,  geschweige  denn  Bach,  gerne  noch  den  <v>  gebrauchten, 
Mozart  statt  des  letzteren  einen  Triller  schreibt,  u.  zw.  einen  gar  nicht  mißzuverstehenden 
Triller  (da  meistens  auch  der  Nachschlag  hinter  dem  Triller  ausgeschrieben  ist),  könnte  man  anderseits 
auf  den  Gedanken  gebracht  werden,  daß  bei  Mozart  im  großen  und  ganzen  der  Doppelschlag  an 
künstlerischem  Gebrauchswert  viel  verloren  hat.  Bedenkt  man  dann,  daß  dieser  Gebrauchswert  m  e  i  s  t  e  n  s 
eben  durch  den  Triller  ersetzt  wird,  so  daß  der  Triller  sozusagen  die  gebrauchteste  Manier  Mozarts 
geworden  ist,  wäre  es  da  zu  verwegen,  zu  folgern,  daß  bei  Mozart  den  Doppelschlag  in  der  ehemaligen 
Prestoformel  Bachs,  also  trillerhaft  auszuführen,  vielleicht  kein  Unding  mehr  sei? 

In  der  Tat  ist  bei  Mozart  die  Bevorzugung  des  Trillers  vor  dem  <x>  ein  so  sprechendes  Symptom, 
daß  man  —  was  sich  bei  Haydn  noch  kraft  der  Situation  von  selbst  immer  verbot  —  hier  bei  Mozart 
bereits  anzunehmen  wagen  darf,  daß  nämlich  ein  glatter  Anschluß  des  ~  an  die  nächste  Note  ohne 
Zwischenraum  möglich  sei. 

Wer  weiß,    ob  nicht  gerade  auf  Mozart   die  Ausführung   des  <^,    wie   sie   bei   uns   heutzutage 
gang  und  gäbe  ist,  am  prägnantesten  zurückzuführen  ist? 
Somit  sei  zugegeben,  daß  Stellen,  wie  z.  B.: 

Fi&-  98-  Strqu.  F  dur. 

rOST'  ^^  *;K5dyjo338.  strqiu  Es  dur_ 


•  a)  Köchel  N?  311. ftjKfrhel  N9£3Q.  ^ Koc 


VnPfFl 


eventuell  auch  ohne  Bach-Haydnschen  Zwischenraum  ausgeführt  werden  dürfen. 

Die  Situation  ist  jedenfalls  schwierig  und  unklar,  die  Schreibart  aber  so,  daß  sie  nicht  den 
geringsten  Aufschluß  über  das  Problem  geben  kann.  Beide  Meinungen,  die  für  den  Zwischenraum,  und 
die  gegen  denselben,  sind  genügend  fundiert,  und  zwischen  ihnen  mit  Sicherheit  zu  entscheiden,  wird 
vielleicht  nie  gelingen  wollen.  Es  bleibt  daher  nur  eine  unmaßgebliche  Geschmacksäußerung  von  mir, 
wenn  ich  sage,  auch  bei  Mozart  sei  am  Prinzip  des  Zwischenraumes  —  trotz  allem  —  festzuhalten 
immer  noch  besser,  als  sofort  dem  Prinzip  der  trillerhaften  Ausführung  nachzugeben.  Ich  für  meinen 
Teil  wenigstens  habe  das  Bedürfnis,  den  <v  in  seiner  wahren  Natur  aufrechtzuerhalten, 
so  lange  als  es  nur  geht,  und  gebe  diese  Tendenz  auf,  erst  wenn  stärkere  Umstände  dazu  zwingen,  wie 
z.  B.  bei  Fig.  98,  e. 

§  12. 

Die  Abarten  des  Doppelschlages,  „~"  und  „  ^  <%>«  haben   sich  bei  Mozart  noch  mehr  als  bei 


über  das 
Problem  des 
Zwischen- 
raumes bei 

Mozart. 


Haydn  verloren.  Die  Stelle  aber 

I 


Allegro  und  Andante  Köchel  N?  533. 


Die   Abarten 
des  Doppel- 
schlages. 


Fig.  99. 


würde  ich  wie  bei  b  auszuführen  vorschlagen,  wenn  man  nicht  schon  von  vornherein  Lust  hat,  den 
diesem  Falle  nach  rückwärts  (im  Haydnschen  Sinne),  wie  bei  c,  zu  schieben. 

U.-E.  812.  .  9* 


in 


68 


Y)   Der  Doppelschlag  bei  Beethoven. 

§  13. 


Beethoven  bedient  sich  der  Schreibart  Haydns  und  Mozarts,   —  besonders  in  den  Werken  der 

eriode,   —  verdrängt    aber  den  <v  noch  mehr  als  Mozart. 

In  diesem  Sinne  verringert   sich  die  Zahl  der  Probleme  von  selbst.  Soviel  im  allgemeinen. x) 


Prinzipieller 

"rB8e!novaenCsh   ersten  Periode,         verdrängt   aber  den  no  noch  mehr  als  Mozart. 

an  Haydns 
Schreibart. 


§14. 


über  einige  Hervorgehoben  seien  hier  indessen  noch  einige  besonders  umstrittene  Fälle,  von  denen  jeder  zu 

umstrittene    wichtigen  Betrachtungen  herausfordert. 

Der  erste  Fall  betrifft  den  iv  in  der  Klaviersonate  op.  3 : 


Einzelfälle. 


Fig.  100. 

a)    Beethovens  Originalnotierung: 


fljjAJJjJiJp^PlPi 


Jj)  falsche  Ausführung: 


c)  falsche  Ausführung: 


i* 


U.S  w. 


<X'1'         ^^s«t"*    »der.- 


IjlJSJUl«-*»- 


d)  richtige  Ausführung^    ^Vnach  Em.  Bach  d.  h:  (ohne  Verkürzung)  oder -.(mit  Verkürzung) 


/)Haydn 


:  oder:  0der: 

CO OO  CO  CO 


W 


ijSSJ 


U.S.W. 


\ 


Diesen  oj  (vergl.  Fig.  100,  a)  wie  bei  b)  auszuführen,  wie  wir  es  eben  nach  unserer  falschen  Art 
der  trillerhaften  Ausführung  des  rv>  ohne  Zwischenraum  tun,  verbietet  am  heftigsten  der  Charakter 
der  Stelle  selbst.  Besonders  ist  es  das  Hineinzerren  des  Tones  h,  das  hier  aus  einem  später  zu  erörternden 
Grunde  absolut  nicht  hineinpassen  will. 2) 

Am  selben  Übel  leidet  auch  die  Ausführung  bei  c)  im  Sinne  des  spezifisch  Haydnschen  „Doppel- 
schlages vor  einer  Note",  den  ja  Beethoven  sonst  ziemlich  oft  gebrauchte. 

Die  natürlichste  Lösung  dieser  merkwürdigen  Stelle  aber  scheint  mir  eine  bis  nun  noch  nicht  ver- 
suchte, nämlich  die  bei  d).  3)  Scheinbar  ganz  und  gar  unregelmäßig,  gewinnt  sie  bei  näherer  Betrachtung 
just  an  Gründen  der  Gesetzmäßigkeit.  Mir  wenigstens  sagt  die  Empfindung,  die  Schreibart  Beethovens 
verrate  an  dieser  Stelle  schon  durch  die  Art  allein,  wie  die  Achtel  aufeinander  folgen,  —  also  gleichsam 
an  sich,  d.  i.  ohne  selbst  den  iv  noch  mit  in  Rechnung  zu  bringen !  —  die  offenbar  zugrunde  liegende 
latente  Struktur  gar  eines  Doppelschlages  nach  einer  punktierten  Note,  und  stehe  hier, 
zumal  dann  mit  ^o  versehen,  erst  recht  daher  nur  für  einen  solchen,  also  z.  B.  annähernd  für  die 
Schreibart  Ph.  Em.  Bachs  (vergl.  e)  oder,  was  dasselbe,  für  die  Haydns  bei  /.  Vergleicht  man  nun  aber 


J)  Es  ist  daher  falsch,  wenn  Herausgeber  oder  Lehrer  den  „r%j  über  einer  Note"  bei  Beethoven,  statt  ihn  im 
Sinne  Haydns  vor  der  betreffenden  Note  auszuführen,  gar  im  Sinne  Bachs  von  ihr  selbst  in  Abzug  bringen. 

2)  Just  diese  Ausführung  aber,  die  ja  doppelt  unstatthaft  ist,  u.  zw.  erstens  an  sich  wegen  der  trütahafien  Art 
und  zweitens  an  dieser  Stelle  selbst  wegen  der  psychologischen  Bedeutung  derselben  empfiehlt  z.  B.  die  „Ornamentik"  von 
Ludwig  Klee  (Leipzig,  Breitkopf  &  Härtel),  ein  Werkchen,  vor  dem  —  bei  dieser  Gelegenheit  —  leider  dringendst 
gewarnt  werden  muß,  da  es  die  Abhandlung  der  Materie  nirgends  auf  eine  solide  historische  und  künstlerisch-psychologische 
Basis   stellt,  und  daher  nur  allzu  oft  zu  ebenso  willkürlichen,   als  möglichst  verfehlten  Resultaten  gelangt. 

3)  Erfreulicherweise  finde  ich  in  d'Alberts  neuer  Beethoven-Ausgabe  (bei  Otto  Forberg,  Leipzig)  die  Ausfühjtuug 
fast  in  demselben  Sinne 


Fig.  101. 


mit: 


^5 


ftj-ijjjri 


u.s.w.    angegeben. 


U.-E.  812. 


69 

des  weiteren  die  Ausführung  bei  d  mit  denen  bei  .  „nd  /,  so  fällt  gleichwohl  als  der  hauptsächlichste 
unterschied  sofort,  auf,  daß  dort  bei  d  außer  der  letzten  Note  des  L  _  die  doch  auch  ,ZZ  7  l 
(Ha,d„s  Notierung)  in  die  große  Schrift  aufgenommen  und  fixiert  ist,  1  J^Z^^d 

etzten   Note   vorausgehende   Note  eis,   also  die   vorletzte   Note   des   Doppelschlage     m  ,Tn 
die  große  Sehr./    übernommen  wurde.  Wenn  somit  zugegebenermaßen  weder  Bach  „ochX 
bei  der  Ausfuhrung  des  Doppelschlages  nach  einer  punktierten  Note  eine  solche  Fizierung  auch  der  vor 

etzten  Note  verlangten,  was  ja  zwei  Zwischenräume  bedeutet  hätte,  so  scheint  Beethoven,  mi  teTeben 
hier  aus  eigenem  einen  solchen  neuen  Ausdruck  gewünscht  zu  haben.  Es  ist  nur  zu  bedau  „aß  er 
hiefur  eine  so  unvorsichtige  Schreibart  gebraucht  hat.  "euauern,  aau  er 

M"  anderen  Worten:  es  scheint  mir  der  Charakter  des  a  schon  von  Haus  aus  mehr  nach  den 
Ausfuhrungen  be,  d  e  „nd  f  zu  gehen,  als  nach  denen  bei  i  und  c.  Und  immerhin  näher  noch  a 
b  und  c  dem  a  stehen,  scheint  mir  d  dem  .  und  /  zu  stehen.  Und  so  könnte  man  .  kurzweg  leinen 
Doppelschlag  bezeichnen,  der  zwar,  äußerlich  betrachtet,  scheinbar  nur  einen  „-über  (d  i  '.£  „« Z 
vor)  einer  Note-  vorstellt,  im  Grunde  aber,  _  den  Inhalt  der  ganzen  mit  großer  Schrift  darge" 
Notengruppe  ins  Auge  gefaßt  und  miteinbegriffen  -  gar  einen  „~  nach  einer  punktierten  Note«  and  1t 
Ü  T  Tf  mSWr  TO»  di^  St»dP™"  -s  gesehen  -  und  das  ist  die  Pointe  der  Beet ho  •  an- 
sehen Schreibar  ,m  obigen  Beispiel!  -  noch  ausgeschriebener  erscheint  als  selbst  der  Doppel- 
schlag  Haydns  (vgl.  bei  /),  nämlich  nm  den  vorletzten  Ton  des  ~  mehr 

Es  gehört  somit  dieses  Beispiel  bei  Beethoven  eher  in  die  Kategorie  jener  Fälle  (vergl.  Fig  29 
32,  59  u.  s.  w.)  be,  denen  der  Autor,  da  er  das  Zeichen  der  Manier  setzt,  weniger  eben  damit  etwa 
den  Wunsch   ausdrucken  will,  diese  selbst  au  Ort  und  Stelle  vollinhaltlich  ausgeführt  zu  sehen,  als  viel- 

VmJI        i   l      v  f "erf"e  A"WeiSU"g  giM'    diC  geSamte   PigUr  -  ™"'^rkt    also   auch  in 
Verbindung  mit  den  Noten   der  großen    Schrift  -  auf  den  Stand  des  Ausdruckes  zu  bringen,  den  das 

Zeichen  andeute,  wozu  aber  nämlich  in  unserem  Beispiele,  bei  den  doch   bereits  vorhandenen  und  gut 
filierten  vier  Achteln,  eben  nur  mehr  jene  zwei  kleine  Noten  (s.  bei  d)  zu  addieren  nötig  ist 

«i  „     •     ™       !    „      IOn  n°Ch  deutIicher  zu  machen,  führe  ich  an  einerseits  als  Fall  der  Identität  die 
Stelle  in  Mozarts  Eondo  A-molI: 

-e^a  H"''JL 

Fig.  102.     £z* 


anderseits  aber  als  Beispiel  eines  lehrreichen   Unterschiedes  eine  nicht   minder  umstrittene  Stelle  in 
Beethovens  Sonate  A-dur,  op.  2,: 


m'103-  pr$fir$ 


Liegt  nämlich  auch  hier,  bei  dem  letzten  Beispiel  Beethovens,  die  Situation  zwar  genau  so, 
wie  bei  den  beiden  vorigen  anderen  Beispielen,  so  möchte  ich  gleichwohl  dabei  den  Einfluß  des  Tempo' 
durchaus  nicht  unberücksichtigt  lassen,  das  sicher  auch  den  ursprünglichen  Wunsch  des  Komponisten 
mitbestimmt 

So  meine  ich,  daß  obige  Stelle  (Fig.  103): 


Fig.  104. 


wie  bei  a)  (also  genau  so  wie  Fig.  100  d  und  Fig.  102)  auszuführen,  wegen  des  langsameren  Tempo,  das 
uns  den  Inhalt  wohl  zu  mager  erscheinen  ließe,  weniger  anzuraten  wäre,  daß  sodann  die  Lösung  bei  b) 
wohl  schon  zu  einer  füllenderen  Wirkung  führt,  wobei  obendrein  die  Kegel  der  Ausführung  im  Sinne 
des  „spezifisch  Haydnschen  ~  vor  einer  Note"  genau  beobachtet  wird,  daß  schließlich  aber,  wegen  noch 


U.-E.  812. 


70 


\ 


weiteren  Zuwachses  an  Toninhalt,  die  Gesamtfigur  vielleicht  um  etwas  zu  viel  belastet  erschiene  durch  die 
Ausführung  bei  c),  die  vom  Gedanken  des  „oo  nach  der  Note"  ausgeht.  Und  so  möchte  ich  daher  am 
ehesten   eben   die.  Lösung  bei  b)  empfehlen. l) 

Ein  anderer  Fall  betrifft  folgende  Stelle  aus  der  Klaviersonate  op.  109. 2) 


*  «*       PÜlfi 


Diese  ist  ganz  vereinzelt  bei  Beethoven  und  vielleicht  auch  in  der  gesamten  Literatur.  Das 
Seltsame  an  ihr  ist  hier  das  „Schnellen"  gar  am  Ende  der  Manier,  die  ja  unzweifelhaft  ein  prallender 
Doppelschlag  (£>)  ist,  während  Bach,  wie  wir  wissen,  den  letzteren  mit  dem  Schnellen 
anfangen  läßt?" Jedenfalls  eignet  sich  dieses  Beispiel  ganz  vortrefflich  dazu,  zu  beweisen,  daß  in  einer 
solchen  Beschleunigung  ein  eigener  Ausdruck  immerhin  enthalten  sei.  Und  daß  es  gerade  Beethoven  ist, 
der  trotz  seiner  Richtung  auf  das  allergrößte  und  allerhauptsächlichste  den  Ausdruck  in  so  armseligen 
zwei  Zweiunddreißigsteln  sucht,  will  hier  viel  sagen.  Vielleicht  bekehrt  just  dieses  Beispiel  so  manchen 
Ungläubigen  zum  Glauben,  daß  in  den  vielen  Forderungen  Ph.  Em.  Bachs,  die  äußerlich  so  kleinlich  und 
im  Grunde  unwichtig  scheinen  mögen,  immer  eine  Richtung  auf  den  Ausdruck  (ganz  wie 
bei  Beethoven)  unzweifelhaft  enthalten  ist,  und  daß  es,  eben  um  des  Ausdrucks  willen, 
nicht  einerlei  sein  kann,  wie  man  Ph.  Em.  Bach  zu  lesen  und  zu  spielen  versteht3) 

Im  übrigen  schließt  sich,  wie  gesagt,  Beethoven  dort,  wo  er  den  <x>  gebraucht,  eher  Haydn 
und  Mozart  als  Bach  an.  Und  so  möchte  ich  z.  B.: 


**  «*■     Uu<&l\-hm*m 


den  ausgeschriebenen    „™u    aus  op.  81a,   eher   im  Sinne   Haydns   nach   rückwärts  verschieben,   als   ihn 
vom  nächsten  fis  abziehen. 


*)  Wieder  ist  es  Klee,  der  in  seiner  Ornamentik  S.  14  aus  Anlaß  dieses  Beispieles  auf  die  ungeeignetste  Lösung  verfallt : 


2)  Vergl.  dazu  Nottebohms  „Beethoveniana"  1872,  S.  35—36,  wo  die  erste  Skizzierung  dieser  Stelle  angegeben, 
und  auf  Grund  derselben  verlangt  wird,  daß  die  Verzierung  (ganz  gemäß  der  Regel  Ph.  Em.  Bachs)  von  der  verzierten 
Hauptnote  a  selbst  abgezogen  werde.  Ich  meine  dagegen,  daß  es  schon  bei  Haydn  zweifelhaft  geworden  ist,  ob  der  ^  nicht 
auch,  wie  der  einfache  rv>,  vor  der  Note  auszuführen  wäre. 

8)  Ein  sachkundiger  Rezensent  der  ersten  Auflage  (s.  Wiener  Abendpost  vom  5.  Jänner  1904)  schrieb:  „Der 
geistreiche  Verteidiger  dei  Ornamentik  hätte  auch  auf  Richard  Wagner  weisen  können,  der  Gesang  und  Orchester,  also 
die  kräftigsten  Mittel  für  Stärkung  und  Aushalten  des  Tones  zur  Verfügung  hat  und  trotzdem  von  den  .Manieren',  zumal 
vom  Doppelschlag,  des  Ausdruckes  wegen,  so  häufigen  Gebrauch  macht,  daß  man  ihm  die  »Manieren'  ganz  wie  den  alten 
Klavierkomponisten  als  Manier  zum  Vorwurf  machte."  Es  freut  mich,  dem  Rezensenten  hierin  beistimmen  und  Wagner 
in  dieser  Frage  endlich  zu  seinem  Recht  verhelfen  zu  können.  Und  so  sei  denn  bei  dieser  Gelegenheit  noch  darauf  hin- 
gewiesen, daß  nicht  minder  auch  Brahms  in  den  ersten  Werken  (s.  z.  B.  das  Klavierquartet  G-moll)  gerne  den  „iv 
nach  einer  Note"  benätzte. 

Ü.-E.  812. 


71 

Anhang. 

§1- 

■  über  die  übrigen,  von  Bach  in   eigenen  Kapiteln   abgehandelten  Manieren,   wie   den  Mordent,  «J^« 

.schlag  und  Schleifer  ist  nichts. zu   sagen,  was   nicht  ohnehin  bekannt  wäre,   weshalb   ich  von   ihrer       „„„, 

^^^*fwi^  ™  über  die  sogenannten  Manieren  Bachs  und  ihr  späteres  Schicksal 
sagen  war,  gesagt.  Und  es  erübrigt  mir  gleichsam  zur  letzten  Klarstellung  der  Gegensätze  nur  noch 
erwähnen,' daß  z.  B.  folgende  Bildungen: 
Fif:  108. 

Beeth.  Cl.-Son.  Op.  109.  ^=^  Beeth^Strqu.  Op.  Ö9JJ9J, 


^mfei 


etwa  für: 


Chopin.  Nocturne  N°  11. 
Schumann,  Strqu.  Op.  41.  N9  3.  <&  E.  WM^l 


m 


Brahras  Quintett  Op.lll. 


S.Bach,  engl.  Suite  ü-moll. 


etwa  für 


etwa  für: 


keineswegs  schon   mit  dem  Doppelschlag  Bachs,   Haydns  und  Mozarts  identisch   sind    weshalb  es  auch 
rieht  statthaft  ist,  sie  in  ähnlicher  oder  derselben  Form  bei  den  genannten  Meistern  für  den  ~  anzu- 

r enden,  wie  dies  leider  so  viele  Herausgeber  und  Spieler  tun. 
Endlich  sei  aber  noch  der  Schreibart  gedacht,  wie  sie  z.  B.  folgende  Stellen  aufweisen: 


Fig.  109. 

Haydn.Son.N0.  84 


Mozart.  Köchel  N?  284. 


^^Wb 


„..   ,  Schumann.  Ciavier-   Chopin.  Nocturne  N?  4. 

Schubert.  Sonate  zu  vier  HanaeD.  sonate.  G  moll.  q — j     \  ,~^~~^  ,      Chopin.  Polonaise. 


^^^^^^^^^^^^^^^ 


»In  allen  diesen  Fällen  sieht  man  die  kleine  Schrift  zwar  angewendet,  hat  aber  dabei  von  vorn- 
herein das  sicherste  Gefühl,  daß  alle  diese  kleinen  Noten  nicht  nach  dem  Gesetz  der  Manieren  vom 
Wert  der  nachfolgenden  nächsten,  sondern  vielmehr  von  dem  der  vorausgehenden  abzuziehen  seien. 

Stellt  doch  diese  Schreibart  in  Wirklichkeit  Manieren  nur  im  weiteren  Sinne  vor,  also  jene 
zweiter  Klasse,  wie  sie  Bach  in  dem  auf  S.  24  bereits  zitierten  IL,  1,  §  6  nennt;  und  liegt  doch  dann 
eben  der  Grund,  weshalb  die  Regel  von  den  kleinen  Noten  auf  sie  ebensowenig  angewendet  werden 
darf,  als  auf  die  kleinen  Noten  bei  der  Schreibart  Haydns  für  den  Doppelschlag  (vergl.  oben  S.  61). 
Darnach  ist  es  aber  auch  möglich  geworden,  den  Umfang  der  alten  Regel  über  die  kleinen  Noten  endlich 
genau  festzustellen,  wie  folgt: 

Die  alte  Regel  hatte  in  der  Tat  Sinn,  so  lange  es  sich  —  generell  gesagt  —  um  den  Vorhalt 
handelte,  wie  er  in  den  Manieren  Bachs  (besonders  in  den  Vorschlägen  und  „Doppelschlägen  über  einer 
Note")  zutage  trat:  denn   was   ein  Vorhalt  ist,  muß  von  der  nächsten  Note   abgezogen   werden.   Hat 

U.-E.  812. 


72 


sich  nun  aber,  wie  wir  gesehen  haben,  der  Vorhaltscharakter  aus  dem  <x>  verflüchtigt  so  blieb™  , 
und  allein  die  Vorschläge  als  Hauptbezirk  jener  Regel,  zumal  in  diesen  letzteren  ihr  Sinn 
eigentlich  am  klarsten  aasdrückte. 


emz 


§   2. 


über  den  Zum  Schlüsse  noch  ein  Wort  über  die  sogenannte   Bebune    wie  sie  7   R   in  <w  q„w„  m 

a.te„ K.avichord-  pag.  57,  vorkommt:  g'  ^  m  der  Sonate  V1 

effekt   der  ^  


„Bebung'. 


^no-   ^^zjli 


Öse 


,     w    *?■?  kon,>te  der  Effekt  der  Bebung  des  Tones  auf  dem  sei»-  sensiblen  Clavichord  dnrc 
ein  Wiegen  des  Fingers  anf  der  Taste   hervorgebraeht  werden.   Wenn  nun  nicht  ganz  so,   so  kann  de, 
se.be  Effekt  immerbin ,  ähnlich   sogar  sehr  ahnlich  auch  auf  unserem  derberen  Pian 2*  Jm  werd 
wenn  nämlich  das  Pedal  (bei  liegendem  Ton)  oft  uud  oft  nachgetreten  wird 

Sonate  o^UO™*  *"''  **  ™"  ^"^  "*  dieSem  Mekt  aUCh  die  Stelle  in   Bee">»™>s  As-dur 


Fig.  111. 


glUü 


in  eine  mehr  oder  weniger  nahe  Verwandtschaft  bringen. 


U.-E.  812. 


INHALT. 


Seite 

.    3 


Einleitung 

Allgemeines    über    den    Klavierstil    Ph.    Em. 
Bachs 3 

I.  Ph.  Em.  Bachs  Klaviersatz  ist  als  definitiv 
anzusehen      4 

II.  Der  wahre  künstlerische  Grund  von  Bachs 
Manieren  und  die  Ökonomie  in  ihrer 
Anzahl     6 

III.  Über   die  Form   bei   Bach 10 

IV.  Über     das     Mißverständnis      dieser     Form 
Bachs  bei  Gegnern  und  Pseudoklassizisten  14 

V.  Einige     Anmerkungen     zu    den    speziellen 

Vorzügen  in  den  Bachschen  Klavierwerken  16 
VE.  Vom   Vortrag    der   Bachschen   Werke     ...  20 

Die  Manieren 24 

Allgemeines 24 

I.  Der    Vorschlag > 25 

A.  Der   sogenannte   lange   Vorschlag. 

a)  Bei  Ph.    Em.   Bach 25 

§  1.  Psychologie  des  Vorschlages 25 

§  2.  Notierung  des  langen  Vorschlages    ....  26 
§  3.  Vom  Vortrag  des  langes  Vorschlages  ...  28 

b)  Bei   Haydn,   Mozart   und   Beethoven. 

§  4.  Die  Bachsche  Schreibart  hebt  die  alte  Begel 
betreffs  der  Dauer  der  langen  Vorschläge 
endgültig  auf 28 

§  5.  Das  Endresultat  für  die  gegenwärtige  Praxis 
des  Vortrages 29 

B.  Der  kurze   Vorschlag. 

a)  Bei   Ph.   Em.   Bach 31 

§  1.  Psychologie  des  kurzen  Vorschlages     ...  31 
§  2.  Notierung  des  kurzen  Vorschlages    ....  31 

§  3.  Y0I"trag  des  kurzen  Vorschlages 31 

§  4.  Über  die  Möglichkeit  von  Kollisionen  in  der 

Notierung  des  kurzen  und  langen  Vorschlages  32 
§  5.  Das    Endresultat    in    Bezug    auf   die   Aus- 
führung des  kurzen  Vorschlages 33 

b)  Bei    Haydn,   Mozart   und    Beethoven  .    .33 

§  6.  Fortsetzung  der  Bachschen  Prinzipien  der 
Notierung  und  Ausführung  des  kurzen  Vor- 
schlages  auch  bei   den   späteren  Meistern  .  33 

II.  Triller 34 

Der  „ordentliche"  Triller  samt  seinen  Abarten. 

a)  Bei  Ph.   Em.   Bach 34 

§  1.  Psychologie  des  Trillers 34 

§  2.  Notierung  des  Trillers 34 

§  3.  Über  den  Trilleranfang 34 

§  4.  Über  das  „Schnellen" 35 

§  5.  Über  den  Nachschlag 35 

§  6.  Der  Triller  bei  einer  punktierten  Note    .    .  36 
§  7.  Der  Triller  a)  von  unten  und  b)  von  oben   38 
§  8.  Die   Auffassung    Ph.   Em.    Bachs    und    der 
Triller  bei  S.  Bach 39 

.  §  9.  Der  Pralltriller 40 

b)  In    der    nachbachschen   Zeit 42 

§  10.  Fortbestand    des    Trillers    auch    in    neuen 

Formen 42 

§  11.  Die   falsche    Ausführung   des   Trillers    bei 

punktierten  Noten      43 

III.  Der  Doppelschlag 44 

A.  Vom   Doppelschlag  bei   Em.  Bach  ....  44 
a)  Der    „Doppelschlag    über    einer    Note" 
samt   seinen   Abarten 44 

§  1.  Psychologie  des  „Doppelschlaffes  über  einer 
Note" 44 


Seite 


§  2.  Die    Ausfuhrung    des    Doppclschlages    von 

oben 45 

§  3.  Über   die   Wahl   der  Ausführungsformel  .    .  45 
§  4.  Über    die    Unerläßlichkeit    eines   Zwischen- 
raumes   nach   Schluß    des   Doppelschlages  .  47 

§  5.  Über  den  Akzent 50 

§  6.  Über  das  „Schnellen"      50 

Der   prallende   Doppelschlag 50 

§  7.  Ausführung  und  Notierung  des  prallenden 
Doppelschlages 50 

Der  geschnellte   Doppelschlag 53 

§  8.  Notierung  und  Ausführung  des  geschnellten 

Doppelschlages      .53 

Der   Doppelschlag  von  unten 54 

§  9.  Abgrenzung  des  Begriffes  und  Ausführung 
des  Doppelschlages  von  unten 54 

b)  Der   Doppelschlag  nach   einer  Note  .    .  55 

§  10.  Psychologie  des  Doppelschlages  nach  einer 

Note 55 

§  11.  Über   die   Ausführung  des  Doppelschlages 

nach  einer  Note 55 

§  12.  Über  die  Unerläßlichkeit  eines  Zwischen- 
raumes auch  beim  „Doppelschlag  nach 
einer  Note" .57 

c)  Der    Doppelschlag    „über    der    zweiten 
Note" 57 

§  13.  Wesen  und  Ausführung  des  Doppelschlages 

über  der  zweiten  Note 57 

B.  Der     Doppelschlag     bei     den     späteren 
Meistern 58 

«)  Der   Doppelschlag  bei    Haydn 58 

§  1.  Allgemeines  über  die  Doppelschlagarten  bei 
Haydn 58 

§  2.  Über  die  mehrfachen  Schreibarten  des 
Doppelschlages  bei  Haydn  im  Allgemeinen  59 

§  3.  Der  „spezifisch  Haydnsche  Doppelschlag 
vor  einer  Note".  ltenB  im  Sinne  des  Bachschen 
Doppelschlages  nach  einer  Note 60 

§  4.  Über  die  Mißverständnisse  bei  den  neuen 
Schreibarten  des  Hay  dnschen  „Doppel- 
schlagcs  vor  der  Note" 60 

§  5.  Der  „spezifisch  Haydnsche  Doppelschlag 
vor  einer  Note."  2tens  im  Sinne  des  Bachschen 
„Doppelschlages    über   der  zweiten  Note"  .  62 

§  6.  Über  die  kombinierten  Arten  des  Doppel- 
schlages      63 

§  7.  Der  „Doppelschlag  nach  einer  punktierten 
Note" 64 

§  8.  Das  Endresultat  in  Bezug  auf  die  Doppel- 
schlagsarten bei  Haydn 64 

ß)  Der  Doppelschlag  bei   Mozart     .    .    .    .6.6 

§     9.  Fortsetzung  der  neuen  Schreibarten  Haydns 

bei  Mozart 66 

§  10.  Eine      andere,     von      Mozart     bevorzugte 

Schreibart 66 

§  11.  Über  das  Problem  des  Zwischenraumes  bei 

Mozart 67 

§  12.  Die  Abarten  des  Doppelschlages     ...      67 
Y)  Der  Doppelschlag  bei   Beethoven  ...  68 

§  13.  Prinzipieller    Anschluß     auch    Beethovens 

an  Haydns  Schreibart 68 

§  14.  Über  einige  umstrittene  Einzelfälle    ...  68 

Anhang  . 71 

§  1.  Manieren  im  weiteren  Sinne 71 

§  2.  Über  den  alten  Klavichordeffekt  der 
„Bebung" ' 72 


U.-E.  812. 


OATE  DÜE