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NEUE REVIDIERTEu. VERMEHRTE AUFLAGE*
,S3M
VORWORT.
In die Zeit zwischen der ersten und zweiten Auflage des vorliegenden Büchleins fällt der sehr
dankenswerte Neudruck von Ph. Em. Bachs „Versuch über die wahre Art das Klavier zu spielen". Leipzig
(bei Kahnt Nachfolger) 1906. Schade nur, daß der sonst verdienstvolle Herausgeher, Dr. Walter Niemann, im
zweiten Teile einige angeblich „technisch oder in theoretischer Hinsicht vom heutigen Standpunkte aus ver-
altete oder für ihre Zeit nichts neues sagende Kapitel" zu kürzen für gut fand. Ich meine, wenn schon so
viel des Inhaltes für würdig befunden wurde, vor die gegenwärtige Generation wieder gebracht zu werden, so
möchte es mindestens nicht geschadet haben, auch noch die wenigen Seiten ihr zu vermitteln. Und nicht bloß
etwa aus leerer Pietät hätte dies geschehen sollen ! Hat doch ein Beethoven gerade aus den bloß auszugs-
weise mitgeteilten Kapiteln Anweisungen und Belehrungen sich geholt und zwar nicht nur in seiner Jugend-
zeit, sondern selbst um die Zeit der IX. Symphonie und der Messe, was wohl als Beweis gelten könnte, daß
es in der Hauptsache nicht auf den „veralteten" Standpunkt, sondern auf den Lernenden selbst ankommt.
Ich denke, daß auch noch heutzutage so mancher daraus nützliche Anregung zu schöpfen vermöchte. Doch
würde ich selbst, auch abgesehen vom sachlichen Inhalt, schon um der wundersam treffenden Sprache willen,
diese Kapitel dem Leser nicht vorenthalten haben. Denn gerade Bachs Art, ein schier unausdrückbarcs, kaum
vorstellbares musikalisches Problem in der Sprache zu fassen und zu bewältigen, ist an sich allein eine
so hohe, exceptionelle künstlerische Leistung, daß sein Versuch schon aus diesem Grunde den Ehrentitel einer
ersten Monographie in unserer ja nicht übermäßig reichen Literatur verdient. Immerhin aber begrüße ich dank-
bar den Neudruck und wünsche, daß Bachs alterprobte Kraft auch an unserer Generation zum neuen Segen werde.
Und das wäre wahrhaftig von Nöten, schon um die Köpfe derer zu erleuchten, die gerade in unserer
Zeit sich vermessen, die Verdienste Bachs (auch die Scarlattis und Haydns) herabzusetzen, nur um einige
bescheidenere Talente desto mehr ehren zu können. Zwar ist hier nicht der Ort, solche Ungebühr ausführlich
zurückzuweisen — an anderer Stelle wird wohl die Abwehr schon erfolgen — gleichwohl kann ich mir nicht
versagen, hier mindestens einige Worte zu dieser Frage zu sagen.
Wenn Haydn und Mozart in des Wortes bester Bedeutung sich als Schüler von Em. Bach bezeichnet
haben — später ist auch Beethovens, in letzter Zeit auch Brahma1 Schwärmerei für ihn bekannt geworden —
dann sollte man denken, daß so autoritative Äußerungen der Meister als bindende zu betrachten seien. Vor
Allem wäre es Aufgabe der Musikhistoriker, mit künstlerischen Organen der Frage nachzugehen, weshalb
sich denn Haydn und Mozart just dem Em. Bach, nicht aber irgend einem Komponisten der sogenannten
Mannheimer oder Wiener Schule, einem Stamitz, Filz oder Holzbauer e tutti quanti zu so großem Dank ver-
pflichtet gefühlt haben. Was war es denn eigentlich, das die Klassiker doch nur wohl von Bach, nicht aber
auch von den genannten angeblichen „Vorläufern" zu lernen Gelegenheit hatten?
Kommt dazu noch das zweite Moment, daß all die Stamitz, Cannabich, Christian Bach u. s. w. mit
ihrem leiblichen Tod zugleich auch den geistigen erlitten haben, während Emanuel Bach noch bis auf den
heutigen Tag seine Meisterwürde bewahrt hat, so hat man sich billig zu verwundern, weshalb denn nicht auch
dieses Moment dem Musikhistoriker zu denken gegeben hat: es muß doch bei nur wenig ähnlichem offenbar
desto mehr Unterschiede geben zwischen einem Stamitz und Em. Bach, zwischen einem Holzbauer und
Scarlatti, wenn das Urteil so vieler Generationen sich zu Gunsten von Bach und Scarlatti erklärt hat.
Statt sich nun in aller Bescheidenheit solche künstlerische Fragen zu Gemüte zu führen, beliebt
man heutzutage auf Kosten Em. Bachs just die Stamitze zu angeblich verkannten und noch nicht genug
gewürdigten Haupthelden der Kunstentwicklung zu machen. Der Herr Musikhistoriker weiß eben alles besser
als die Meister selbst!
Freilich, sieht man eben, was der Musikhistoriker z. B. über einen Stamitz sagt, so begreift man
wohl, warum er andererseits über Em. Bach oder Haydn so wenig auszusagen versteht und dann Bndet man
es doch nur in der Ordnung,daß es den „Historiker" zu Stamitz,Haydn aber zu Bach zieht.Wer für die tausend
und abertausend entscheidenderen Punkte, die Stamitz von Bach oder Haydn trennen, kein Organ hat, dem
freilich muß aus dem Einerlei seines eigenen unkünstlerischen Kopfes heraus auch die künstlerische Welt
der Genies, der Talente und der Halbtalente, als ebensolches Einerlei erscheinen, — als eine Welt, in der
Dittersdorf, Graupner und Christian Bach u. s. w. angeblich mit Unrecht vergessen worden sind und ein
Haydn seine Symphonien in der Hauptsache schließlich nicht viel anders schreibt als Stamitz.
Zum Glück ist die Macht der Kunst und des Genies sicher stärker als die des Herrn Historikers: wen
dieser exhumiert, der braucht deswegen noch immer nicht neu lebendig zu werden. Und so werden auch die
armen „Vorläufer", die übrigens noch bei Lebzeiten für den künstlerischen Blick reiferer Zeitgenossen schon
tot gewesen sein mögen, doch nur wieder in dem papierenen Friedhof der „Denkmäler der Tonkunst in. . . .1
beigesetzt, und nun sind sie zum drittenmal und wohl dreimal tot! Mögen wohl einzelne Geschichts-
professuren durch die Stamitze hindurchgehen, — die wahre Entwicklung der Kunst wird doch nur durch
die Genies besorgt.
Wien, im Juni 1008. Heinrich Schenker. 1
HAROLD B. LEE LIBRARY
BRIGHAM YOUNG UNIVERSITY
PROVO, UTAH
Lr y
Einleitung.
Allgemeines über den Klavierstil Ph. Em. Bachs.
Wie mag man es nur erklären, daß die Klavierwerke eines Ph. Em. Bach heute so abseits
von jeglichem Kunstbetriebe, so abseits von Konzertsaal und Schulen geraten sind, und daß sie
der großen musikalischen Welt so wenig, fast gar nichts bedeuten? Sind es dieselben Werke denn
nicht, die einst einen Haydn, einen Mozart, einen Beethoven zur Bewunderung und Nacheiferung
zwangen? Haben sie allenfalls noch jenen Größten imponieren können, — was hindert sie denn, auch
noch uns zu imponieren, die wir doch sicher die Kleineren ? Oder sind wir etwa fortgeschrittener in der
Beurteilung eines Kunstwerkes? Haben die Vorzüge nur eben hinreichen können, die Werke, in denen
sie enthalten, einer jüngeren Generation als Vorbilder und Wegweiser aufzuzwingen; nach beendeter
Mission aber haben die Werke, wie man wohl meinen mag, absterben und jüngeren Werken Platz
machen müssen?
Können Vorzüge als solche erlöschen, wenn sie es einmal gewesen? Kann ein Werk zu einer
geistigen Mumie werden, wenn es einmal so intensiv schon gelebt?
Oder liegt es vielleicht ainfach bloß an uns? Etwa daran, daß wir die Vorzüge nicht mehr
sehen? Oder mindestens nicht mehr so gut, wie die großen Meister? daß wir sie vielleicht nicht
suchen dort, wo allein sie zu finden sind?
Solche und ähnliche Fragen drängen sich auf, wenn man das Schicksal der Werke Ph. Em. Bachs
übersieht. Wie sie aber entscheiden? Sollen wir der Welt Recht geben, die sie ablehnt, und es auch
weiterhin bewenden lassen bei dem Zustande der Gleichgiltigkeit, wie er nun tatsächlich ist? Oder
müssen wir den Werken Recht geben und uns nach Mitteln umsehen, die geeignet wären, ihnen
wieder den verdienten Eingang in die musikalische Welt zu verschaffen?
Vor die Entscheidung gestellt, neige ich zu Letzterem. Es scheint, als läge es wirklich und
einzig an uns selbst; also daran, daß wir die Vorzüge nicht mehr einzusehen vermögen. Wir wissen
uns dieser nicht mehr zu freuen, und lassen darum die Werke fallen. Kein Wunder indessen, wenn
man bedenkt, wie unzugänglich einer Durchschnittsempfindung und wie tief die Vorzüge liegen. Äußern
sie sich doch hauptsächlich in einer Kunst, in einer Technik, die auch in den offiziellen Lehrbüchern
der Komposition, oder in den Schulen leider nur allzuwenig beschrieben oder besprochen wird; ich
meine, in der Kunst, mit der Bach seine Themen und Motive aufeinander folgen, d. i. in der Art, wann
wie und wo er sie eintreten läßt, wie er sie bindet und trennt u. dgl., kurz in der Kuust der Gedanken-
synthese, die füglich als das letzte und wohl auch das tiefste Geheimnis der musikalischen Komposition
überhaupt bezeichnet werden darf.
Die Genialität gerade dieser Kunst ist bei Bach eine so enorme, daß sie noch immer ihre eigene
and anregende Kraft behält auch neben der eines Haydn, Mozart und Beethoven, so gewiß es ist, daß
diese jüngeren Meister vielfach über ihn hinauszugehen vermochten. Es ist keineswegs zu viel, wenn
ich sage, man könne — vorausgesetzt, daß man in erster Linie wohl die Wunder seiner Gedanken-
synthese im Auge behält — aus seinen Werken ebenso viel Genuß und Nutzen davontragen, als aus
ien Werken der großen Klassiker. So, daß eine programmgemäße und ständige Pflege seiner Werke
n Musikschulen und Konservatorien nur gerecht zu nennen wäre, gerecht nicht nur gegenüber dem Autor
selbst, als vielleicht in weit höherem Maße auch der lernenden Jugend gegenüber.
* *
U.-E. 812.
I.
Ph. Em. Bachs Klaviersatz ist als definitiv anzusehen.
Statt sich dieser Genialität nun in Genuß und mit Erkenntnis hinzugeben, gefällt man sich
heute nur desto lieber darin, den Werken gar Mängel vorzuwerfen. Als solche gelten namentlich der
Mangel an Klangfülle und die überreichen Manieren.
Ein gar zu dürftiger Baß, so wenig Oktaven- und Terzengänge, so wenig rauschender Arpeggien
und sonstiger Füllungen: — wie glaubt man da sicher im Rechte zu sein, wenn man sagt: man könne
doch beim besten Willen eine klanglich so dürftig beschaffene Erscheinung gewiß nicht mehr für
genügend halten in heutiger Zeit — wohlgemerkt: — „in heutiger Zeit"! Im Übrigen aber tut man
bescheiden — freilich, sehr bescheiden — und meint: weit weniger Bach selbst, als vielmehr sein
Lieblingsinstrument, das tonarme Clavichord, wäre Ursache dieser Dürftigkeit geworden — ja, habe es
werden müssen! Gerne geht man, wohlwollend entschuldigend, noch weiter, und behauptet (wie schade,
daß man es nicht bloß vermutet!) Bachs Klavierwerke seien in der uns vorliegenden Fassung ja gar
nicht einmal für fertig anzusehen. Er habe vielmehr, wie dazumal eben üblich gewesen, darinnen noch
Platz gelassen, damit der Vortragende selbst durch allerhand Zutaten akkordlicher und figuraler Art
die definitive klangliche Fülle den Werken verleihe. Diese Vollendung ihnen zu geben, sei daher auch
heute Pflicht eines jeden Spielers.
Hans von Bülow — im Vorwort seiner Ausgabe1) einiger Sonaten von Ph. Em. Bach —
drückt diesen Standpunkt wie folgt aus : „Nicht minder als von der Notwendigkeit einer Auslese wurde
der Herausgeber von der einer ,Bearbeitung' überzeugt, welches Wort man nicht anspruchsvoller noch
anspruchsloser aufzufassen hat, als etwa in dem Sinne einer Uebersetzung aus der Ciaviersprache des X VHIten
in die des XlXten Jahrhundert, aus dem Clavichordischen in das Pianofortische, wenn mir diese bar-
barische Wendung gestattet werden kann." Dem entsprechend betrachtet Bülow als des Herausgebers
Aufgabe: „Ausfüllung der häufig gar zu mageren Begleitung durch passende Mittelstimmen, Verkittung
mancher bedenklich aphoristischen Pausenlücke, belebende Colorirung einzelner flüchtig skizzenhafter
Umrisse, endlich sorgfältig detaillirte Vortragsbezeichnung."
Zur Erwiderung möchte ich zunächst Bach selbst den Vortritt lassen, damit er sich Recht
schaffe in eigener Sache. In einer Vorrede zu sechs Sonaten aus dem Jahre 1760 schreibt er: „Bei
Verfertigung dieser Sonaten habe ich vornehmlich an Anfänger und solche Liebhaber gedacht, die wegen
gewisser Jahre oder anderer Verrichtungen nicht mehr Geduld und Zeit Genug haben, sich besonders
stark zu üben. Ich habe Ihnen bei der Leichtigkeit zugleich auf eine bequeme Weise das Vergnügen
verschaffen wollen, sich mit Veränderungen hören zu lassen, ohne dass sie nöthig haben, solche ent-
weder selbst zu erfinden, oder sich von anderen vorschreiben zu lassen und sie mit vieler Mühe aus-
wendig zu lernen. Endlich habe ich Alles, was zum guten Vortrag gehörte, ausdrücklich angedeutet,
damit man diese Stücke, allenfalls auch bei einer nicht gar zu guten Disposition, mit aller Freiheit
spielen könne.
Ich freue mich, meines Wissens der erste zu sein, der auf diese Art für den Nutzen und das
Vergnügen seiner Gönner und Freunde gearbeitet hat. Wie glücklich bin ich, wenn man die besondere
Lebhaftigkeit meiner Dienstbeflissenheit hieraus erkennt."
Daraus folgt nun, daß Bach schon im Jahre 1760 es vorgezogen hat, lieber selbst die nötigen
Veränderungen, wie sonst auch das Übrige (Manieren, dynamische Zeichen etc.) ausdrücklich zu schreiben,
als es dem Spieler zu überlassen. Nichts natürlicher indessen als dieses, wenn man erwägt, wie ver-
schieden von der Auffassung eines gewöhnlichen Liebhabers der Musik hierin diejenige von Bach gewesen
ist. Schrieb er doch in dem berühmt gewordenen „Versuch über die wahre Art das Klavier zu spielen"
schon im Jahre 1753: „Heute zu Tage pflegt man die Allegros mit zwei Reprisen das andere mahl
wohl zu verändern. So löblich diese Erfindung ist, so sehr wird sie gemissbrauchet. Meine Gedancken
hiervon sind diese: Man muss nicht alles verändern, weil es sonst ein neu Stück sein würde. Viele,
besonders die affectuösen und sprechenden Stellen eines Stückes lassen sich nicht wohl verändern. Hierher
l) Sechs Sonaten für Klavier allein von C. Ph. Em. Bach bearbeitet und mit einem Vorwort herausgegeben von
Hans von Bülow. Leipzig, Peters (1862).
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gehöret auch diejenige Schreib-Art in galanten Stücken, welche so beschaffen ist, dass man sie wegen
gewisser neuen Ausdrücke und Wendungen selten das erste mahl vollkommen einsieht. Alle Verände-
rungen müssen dem Affect des Stückes gemäss seyn" u. s. w.
Als weitere Belege unter vielen anderen führe ich an (IL Hauptstück, 1. Abteilung, § 3):
„Deswegen haben diejenigen allezeit sicherer gehandelt, welche ihren Stücken die ihnen zu-
kommenden Manieren deutlich beygefügt haben, als wenn sie ihre Sachen der Discretion ungeschickter
Ausüber hätten überlassen sollen". War er doch, wie wir daselbst § 5 erfahren, sogar auch der
Meinung, „daß man lernen müsse, die guten Manieren von den schlechten zu unterscheiden, die guten
recht vorzutragen und sie an ihrem bestimmten Orte in gehöriger Anzahl anzubringen". Ja, er hielt
die gute Komposition und Ausführung der Manieren für so schwierig, daß er eine gründliche Kenntnis
der Harmonie hiezu für nötig erachtete, indem er ausdrücklich (§ 13) schreibt: „Wir haben aus der
Erfahrung, daß derjenige, welcher nichts Gründliches von der Harmonie versteht, allezeit bey Anbringung
der Manieren, im finsteren tappet, und den guten Ablauf niemals seiner Einsicht, sondern dem .blossen
Glücke zuzuschreiben hat"
Hat ihn nun schon damals, im Jahre 1753, die Angst vor der Ungeschicklichkeit und der
künstlerischen Unreife des Dilettanten somit zunächst zu einem schriftlichen Protest und dann im Jahre 1760
dazu betrieben, daß er Alles zum Stück Gehörige aufs genaueste fixierte, — wie soll man da glauben,
daß er in der Folge diesen seinen Standpunkt aus den Jahren 1753 und 1760 habe fallen lassen,
gerade seine Hauptwerke der Gefähr unzulänglicher Vortragsweise ausliefernd?
Indessen gibt es, darüber mit mehrerer Sicherheit zu entscheiden, ja auch noch andere, deut-
lichere Anhaltspunkte, und zwar in den Werken selbst. Vor allem ist die Stimmführung des Satzes
überall eine so glückliche, daß sie über die aus ihr resultierende Harmonie nicht nur keinerlei Zweifel
aufkommen läßt, — auch nicht einmal dort, wo der Satz nur etwa zweistimmig verläuft, — sondern
auch eine durchaus genügende Fülle der Harmonie schafft. Und ^vas den Rest anbelangt, so überlege
man doch nur einmal: Manieren sind zu finden, — allerhand und soviel davon, daß es gewiß
Niemandem beifallen könnte, zu glauben, noch mehrere wären anzubringen nötig; dynamische
Zeichen finden sich ebenfalls vor — und zwar wieder so sorgfältig notiert, daß deren mehr oder
bessere zu wünschen man auch nicht einmal vom heutigeu Standpunkte wirklich Ursache hat; auch
„Veränderungen" sind vorhanden, — freilich in den Grenzen, die er selbst .sich zu stecken für gut
fand; Akkorde sind nicht minder da, — oft genug mehrstimmig ^nnd Brechungen spielen eben-
falls eine bedeutsame Rolle. Nun frage man sich: Sollte er, der dieses Alles — also das Meiste des
Vortrages! — selbst ausdrücklich andeutet und ausführt, dem Dilettanten just die wenigen anderen
Veränderungen noch, die wenigen übrigen Vollgriffigkeiten überlassen haben? Sollte er an einer Stelle
den Akkord z. B. selbst mehrstimmig geschrieben, bald darauf dagegen, an einer benachbarten Stelle,
es zur Abwechslung wieder dem Spieler überlassen haben, ob und wie er mehrstimmig zu begleiten
habe? Eine derartige Halbheit — die überdies auch für den Komponisten fast unüberwindliche technische
Schwierigkeiten bereitet — werden wir doch dem Meister kaum zutrauen wollen.
Somit wären authentische wie stilistische Gründe gegeben, Bachs Kompositionen für klang-
lieh definitiv anzusehen, womit die angeblich historisch begründete Ansicht Bülows beseitigt
erscheint. Indessen gibt es noch viele — allzuviele, die sich um die Frage, ob mau diese Werke als
vom Autor bloß skizziert oder als vollständig ausgearbeitet zu betrachten habe, gar nicht kümmern;
ihnen ist dieses historische Problem — Hecuba, sie beurteilen nur, was sie hören und meinen, die
Werke klängen nun einmal dürftig. Dieser Standpunkt ist nun gewiß ein vollständig anderer, als der
Bülows: er heuchelt nicht Historie, bezieht nicht Ausreden von armseligen Klavichord, argumentiert
nicht gelehrt mit alten Sitten — kurz, in seiner künstlerischen Anspruchslosigkeit hört er fast auf,
noch ein künstlerischer zu sein. Dann ist darüber eben als über eine Frage des bloßen Geschmackes
im Grunde kein Wort mehr zu verlieren notwendig.
Da kann man höchstens nur raten, es vielleicht mit einem anderen Vortrage der Stücke zu
versuchen : das Tempo zu verlangsamen, das non legato prinzipiell dem legato vorzuziehen, die Manieren
genauestens im Sinne des Autors auszuführen, — lauter Mittel, die sicher den Vortrag glänzender und
kräftiger machen werden. Dieser Punkt wird übrigens noch weiter unten etwas ausführlicher be-
handelt werden.
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Oder aber man würde sagen dürfen: Was kann gegenüber dem Vorzug einer so genialen
Inhal tskunst der Mangel einer Klangfülle noch ernstlich bedeuten, wollte man selbst zugeben, eine
Dürftigkeit des Klanges sei wirklich vorhanden? Wie darf man bei soviel Genialität ein paar Tönchen,
ein paar griffigere Akkorde vermissen, die bestenfalls nur die Hand — im mechanischesten Sinne des
Wortes verstanden — füllen? Ist etwa, wenn die Hand mit Akkorden und Figurationen besser gefüllt,
darum allein auch schon der Inhalt ein besserer? Was gewinnt denn dabei der Gedanke und was gar
erst die Folge der Gedanken, auf die allein es doch wohl ankommt, wenn das Stück einen bleibenden
Wert haben soll? Man greife nur ein bescheidenes Beispiel meiner Sammlung heraus: die Sonate Nr. 3.
Was will man hier an Klang, an Ausfüllungen und Akkorden vermissen, angesichts so vieler genialer
Tatsachen, die das Stück aufweist? Man beachte z.B. das originelle Verhältnis, in dem die Taktgruppen
1 bis 4 und 5 bis 8 zueinander stehen; die Harmonienfolge in den Takten 1 bis 3 — bewundernswert
sowohl in Bezug auf den Dienst, den sie der ersten Gruppe im besonderen und dem Ganzen im all-
gemeinen leistet; ferner die eigentümliche Wirkung der beim zweiten 4tel des Taktes 6 aufeinander
klingenden es und e; das Verhältnis der Taktgruppen 11 bis 12 und 13 bis 14 zur Gruppe 9 bis 10;
auch die improvisatorische Art des Schlusses u. s. w. Und nun frage ich: verliert, zumal bei so ver-
blüffender Bündigkeit, — bei der sich übrigens ja auch der Satz in Stufe und Harmonie gleichsam
selbst vorträgt, — die Genialität einer solchen inneren Haltung wirklich dadurch, daß die wenigen Baßtöne
nicht griffiger daherkommen oder ein paar Füllungen zu fehlen scheinen, die anzubringen noch allenfalls
Platz wäre ? Muß es denn griffiger sein — Mozart, Beethoven oder Liszt zuliebe ? Muß es denn gefüllt
werden — einfach bloß, weil noch Platz ist? Verliert denn, wenn dies nicht geschieht, das Original dann
darüber wirklich soviel, daß man sich lieber zu entschließen habe das Stück gar nicht zu spielen, nur
um sich den Verdruß einer solchen klanglichen Dürftigkeit zu ersparen ? Nichts einfacher doch, um sich
darüber ein Urteil zu bilden, als nun mit dem Originale selbst die Bearbeitung Bülows zu vergleichen:
haben seine Zutaten und Ketouchen die Gedankenfolge des Stückes denn wirklich verbessert? Wie gering-
fügig, wie geradezu kleinlich erscheinen doch meistenteils diese nachbessernden Füllungen, gemessen
an der Größe des Inhalts!
Zu erwarten etwa, — dieses sei nun aber zum Beschluß gesagt — daß Bach als erster
Begründer des neuen Stils auch in Bezug auf das Klangwesen sofort so schreibe, wie später nach ihm
— eben dem Naturgesetze der Entwicklung zufolge — ein Mozart oder ein Beethoven, ist das nicht
mindestens unlogisch? In Konsequenz dessen müßte man dann nicht ebenso auch z. B. den Werken
Mozarts nachhelfen, sie griffiger und reicher gestalten, nur um sie auf den Standpunkt der noch
späteren Beethovenschen Schreibart zu bringen?! u. s. w. Man sieht wohl, der Irrtum liegt auf
der Hand.
* *
♦
IL
Der wahre künstlerische Grund von Bachs Manieren und die Ökonomie in
ihrer Anzahl.
Überladung mit Manieren ist der andere Vorwurf, den man gegen Bachs Werke erhebt: sie
könnten daher, meint man, in einer Zeit wie die heutige, die das Musikdrama genießt, ja gar nicht
mehr wirken; hier tiefste Empfindung und letzte. Wahrheit des Ausdruckes in Wort und Musik, dort
Schnörkel, rein instrumentale Effekte, ohne Wahrheit und Empfindung; höchstens nur, daß man solche
Schnörkel aus der Tonarmut der damaligen Klavichorde begreifen und zugleich auch damit entschul-
digen möchte. Also, wieder ein historischer Standpunkt und wieder verquickt mit Wohlwollen und
Bedauern u. s. w. Sehen wir nun, welche Bewandtnis es damit hat.
In der Tat ist der Standpunkt, das gesamte System der Manieren lediglich mit der Tonarmut
des Instrumentes in ursächlichen Zusammenhang zu bringen, seit jeher der beliebteste und verbreitetste,
wozu nicht unwesentlich eine scheinbar authentische Veranlassung mitgeholfen haben mochte, nämlich
daß unsere Vorfahren selbst so gedacht und ihre dahingehende Meinung auch schriftlich uns überliefert
haben. Sie, die die Manieren ersannen und pflegten, würden doch am besten gewußt haben, warum sie
es taten, beliebt man zu denken und setzt dann nur umso lieber mit der ihrigen Anschauung die
eigene in Übereinstimmung.
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Es schreibt daher Dr. Baumgart im Vorwort seiner Ausgabe S. 5:1) „Sie (die Manieren)
wurden für unerlässlich gehalten, um bei der Klangarmut der Instrumente die Töne inniger zu
verbinden, lang gehaltene Noten nicht zu trocken erscheinen zu lassen, dem Vortrage Zierlichkeit,
Glanz und Leben zu verleihen. Die meisten sind auch heute noch im Gebrauche, nur die Zeichen
nicht ... So viel wird man erkennen müssen, daß die Manieren zu dem eigentümlichen Charakter
der älteren Musik gehören und bei der Reproduktion nicht wegfallen können."
Interessanter, jedoch noch immer unzweifelhaft unter dem Drucke der allgemeinen Meinung
schreibt Bülow in seinem Vorwort: „Betreffs eines dritten Punktes befand ich mich längere Zeit im
Schwanken: ich meine das Kapitel der Verzierungen, der .Manieren', wie der technische Ausdruck der
Zeit lautet. Gestützt auf die zudem offen von den Klavierkomponisten des vorigen Jahrhunderts ein-
gestandene Tatsache, daß das Un vermögen.gesanglicher Festhaltung und Verbindung auszu-
haltender Töne bei den damaligen Klavichorden die Notwendigkeit der Überhandnähme jener ,Manieren4
hervorgerufen, war das bei einer ersten Kenntnisnahme sehr natürliche Vorurteil des Widerwillens gegen
das Schnörkelwesen anfangs auch das meinige und ich glaubte durch eine fast schlechthinnige Aus-
merzung der mitunter ziemlich unangenehmen ,agremens' die Schwierigkeit zu einer bequemen und
populären Erledigung zu bringen. Nach vertraulicherem Einleben in diesen Verziernngsstil jedoch über-
zeugte ich mich, daß eine solche Radikalmethode sehr wesentliche und selbst reizvolle charakteristische
Momente zerstören würde und nur an solchen Stellen eintreten dürfe, wo Überladung mit ,Manieren*
eine nach heutigen Begriffen handgreifliche Geschmacklosigkeit ergäbe. Ich habe mich daher entschlossen,
die meisten jener ,Manieren' beizubehalten u. s. w." \2
Bachs Standpunkt in dieser Frage ist aber folgender : Die Manieren gehören zum Klavier,
I nicht weil dessen Ton etwa zu kurz, zu dürftig, sondern nur, weil das Klavier eben ein Klavier, nicht
etwa eine Singstimme oder Orgel. Es fordert das Instrument als solches, respektive
dessen Beweglichkeit eine gewisse Brillanz des Inhaltes von Haus aus, die sich nun in
allerhand Figuren, Passagen, Manieren zu äußern hat, Tnirz in all dem, was man füglich im weiteren
Sinne Ornamentik nennen darf.
Wiederholt versucht denn auch Bach, den Klavierspielern die Ausrede des angeblich zu kurzen
Tones aus der Hand zu winden, um unter mehr oder minder heftigen Vorwürfen nur destomehr sie
umgekehrt auf ihre eigene geistige und technische Unzulänglichkeit in der künstlerischen Behandlung
des Klaviers aufmerksam zu machen, die sie eben zu jener Ausrede zwingt. So schreibt er gleich im
§ 2 der Einleitung des zitierten Werkes:; „Indem alle andern Instrumente haben singen gelernet; so Lf
ist bloß das Ciavier hierinnen zurück geblieben, und hat, an statt weniger unterhaltenen Noten, mit
vielen bunten Figuren sich abgeben müssen, dergestalt, daß man schon angefangen hat zu glauben,
es würde einem angst, wenn man etwas langsames oder sangbares aut dem Ciavier spielen
soll; man könne weder einen Ton an der andern ziehen, noch einen Ton von dem andern durch
einen Stoß absondern; man müsse dieses Instrument bloß als ein nöthiges Übel zur Begleitung
dulden. So ungegründet und widersprechend diese Beschuldigungen sind, so gewisse Zeichen sind sie
doch der schlechten Art, das Ciavier zu spielen." pergleiche auch z. B. IL, 5. § 8, wo er, aus
Anlaß einer Länge der Note, bei der selbst „ein langer Mordent zum Ausfüllen nicht hinreichen wollte",
davor warnt, sie allezeit nur dadurch zu verkürzen, „indem man sie noch einmahl anschlägt" „Diese
■Freyheit muß man nicht anders als aus Noth und Vorsicht brauchen. Man muß den Absichten des
■Verfassers eines Stückes dadurch nicht Tort thun. Mau wird diesem Fehler dadurch leicht entgehen
können, wenn man durch den gehörigen Druck und durch die Unterhaltung einer Note gewahr wird,
Idaß unser Instrument den Ton länger aushält, als viele glauben mögen." Ähnlich spricht er sich IL,
3. § 20 aus: „Die meisten Fehler kommen bey langsamen und gezogenen Noten vor. Man will sie der
Vergessenheit durch Triller entreissen. Das verwöhnte Ohr will beständig in einer gleichen Empfindung
erhalten seyn. Es empfindet nicht anders als durch ein Geräusche. Man siehet hieraus, daß diejenigen,
ivelche diesen Fehler begehen, weder singend denken können, noch jeder Note ihren Druck und ihre
Jnterhaltung zu geben wissen . . . Gesetzt, die Zeit-Maaß wäre zu langsam und das Instrument zum
gehörigen Nachsingen zu schlecht, so ist es doch allezeit schlimmer, einen Gedanken, der gezogen und
l) C. Ph. Em. Bach's Klaviersouaten, Eondos und freie Phantasien ftti Kenner und Liebhaber. Neue Ausgabe von
!. F. Baumgart. Vollständig in sechs Sammlungen. Erste Sammlung. Breslau, Leuckart 1868.
TJ.-E. 812.
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matt vorgetragen werden soll, durch Triller zu verstellen, als etwas weniges an dem deutlichen Nach-
klänge einer Note zu verliehren, welches man durch den guten Vortrag wieder reichlich gewinut. Es
kommen überhaupt bei der Musik viele Dinge vor, welche man sich einbilden muß, ohne daß man sie
würklich höret Verständige Zuhörer ersetzen diesen Verlust durch ihre Vorstellungs-Kraft.
Diese Zuhörer sind es, denen wir hauptsächlich zu gefallen suchen müssen."
Überdies sagt er in IL, 1. § 7 von den Manieren ausdrücklich, daß sie „mehrentheils schon
von langen Zeiten her gleichsam zum Wesen des Clavier-Spieles gehört haben und ohne Zweifel
allezeit Mode bleiben werden," und daselbst in § 8 fährt er fort: „Diesem ohngeachtet stehet es
jedem, wer die Geschicklichkeit besitzet, frey, ausser unsern Manieren weitläufigere einzumischen.
Nur brauche man hierbey die Vorsicht, dass dieses selten, an dem rechten Orte und ohne dem
Affecte des Stückes Gewalt zuthun, geschehe Wer hierinnen das nöthige in Obacht nimmt,
den kan man für vollkommen passiren lassen, weil er mit der singenden Art, sein Instrument zu
spielen, das ueberraschende und feurige, welches die Instrumente vor der Singe-Stimme voraus haben,
auf eine geschickte Art verknüpfet und folglich die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer durch eine beständige
Veränderung vorzüglich aufzumuntern und zu unterhalten weiss. In diesem Puncto behalte man ohne
Bedenken den Unterschied zwischen der Singe-Stimme und dem Instrumente bey. Wer nur sonst
die nöthige Behutsamkeit wegen dieser Manieren anwendet, der sey übrigens unbekümmert, ob das, was
er spielet, eben gesungen werden könne oder nicht." Man sieht, wie er zwischen der Singstimme und
dem Instrumente durchaus zu unterscheiden bittet und wie er besonders auf das Überraschende und
Feurige des Klaviers Nachdruck legt !
Als Konsequenz der Bachschen Auffassung ergibt sich aber, daß alle Ornamentik nunmehr als
melodisches Element im besten Sinne des Wortes zu gelten habe. Sie sind alle, so die „weitläufigeren"
und unbenannten, wie die kürzeren „wesentlichen" und benannten Manieren (z. B. Doppelschlag, Triller,
Schleifer, u.s.w.), wirkliche Melodie und wirkliche Schönheit. Sie haben, wie alle Melodie, Seele und Ausdruck.
Daher ihnen auch eine Wahrheit zugestanden werden muß, eine künstlerische Wahrheit, die über aller
Zeit steht und noch in der spätesten Zukunft noch wirken wird (vergl. oben das Zitat II., 1, § 7),
sofern man sich nur hütet, die Manieren zu einem rein mechanischen Fingerfertigkeitsbestandteil
des Inhaltes zu degradieren. Mit beredtesten, nur freilich der Subtilität des Inhaltes halber leider
nicht immer so ohneweiters leicht zu verstehenden Worten drückt Bach diese Anschauung im § 1 der
ersten Abteilung des zweiten Hauptstückes so aus:
„Es hat wohl niemand an der Notwendigkeit der Manieren gezweifelt. Man kann es daher
mercken, weil man sie überall in reichlicher Menge antrifft. Indessen sind sie allerdings unentbehrlich,
wenn man ihren Nutzen betrachtet. Sie hängen die Noten zusammen; sie beleben sie; sie geben ihnen,
wenn es nöthig ist, einen besondern Nachdruck und Gewicht; sie machen sie gefällig, und erwecken
folglich eine besondere Aufmercksamkeit ; sie helfen ihren Inhalt erklären; es mag dieser traurig oder
frölich oder sonst beschaffen seyn wie er will, so tragen sie allezeit das ihrige dazu bey; sie geben einen
ansehnlichen Theil der Gelegenheit und Materie zum wahren Vortrage ; einer mäßigen Composition kan ||
durch sie aufgeholfen werden, da hingegen der beste Gesang ohne sie leer und einfältig, und der
kleinste Inhalt davon allezeit undeutlich erscheinen muß." Daselbst § 20: „indem der Endzweck aller
Manieren hauptsächlich dahin gerichtet seyn muß, die Noten zusammen zu hängen" und schließlich
§ 24; „Vermöge dieser Regel werden also statt der folgenden Haupt-Note diese kleinen Nötgen zum
Basse oder andern Stimmen zugleich angeschlagen. Man schleift durch sie in die folgende Note hinein;
hierwider wird gar sehr oft gefehlet, indem man auf eine rauhe Art in die Haupt-Note hinein plumpt,
nachdem noch wohl gar darzu die mit den kleinen Noten vergesellschaftete Manieren ungeschickt an-
und heraus gebracht worden sind." Und in der Tat bemüht er sich auch, wie wir sehen werden, später im
Verlauf der speziellen Darstellung der Manieren jede einzelne nun wirklich auf ihren eigenen Ausdruck
zu prüfen und zu erläutern.
Wie sehr Bach damit recht hat gegenüber der allgemeinen, oberflächlichen Auffassung der
Manieren, kann übrigens auch noch anders bewiesen werden. Man denke z. B. an den Klavierstil
Schumanns oder Chopins und vergegenwärtige sich die reiche Brillanz und Ornamentik, besonders de*
Letzteren. Und nun, worauf wollte man diese Brillanz beziehen, weiß man, daß Chopin vor einem
Pianoforte saß, dessen Ton doch gewiß ein kräftigerer als der des Clavichords, -- worauf denn anders
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als auf das eigentümliche Bedürfnis des Instrumentes selbst? Ist es Dicht so, daß man förmlich von
einem Egoismus, ja von einer Animalität des Klaviers zu sprechen das Kecht hätte?
Oder man betrachte z. B. die folgenden kleinen Ornamente:
Chopin, Nocturne, Op.37. N? 1.
. a) b)
feg ß _r-fl ß m - II ß J^Jd^
;.JJ'LLflf
0
lf "'^"Efl
Wer könnte ernstlich behaupten, die Figur c, die im Grunde ja nur eine Steigerung der Figur b
ist, die ihrerseits wieder bloß eine Steigerung des gewöhnlichen Doppelschlages zwischen zwei Noten
darstellt, sei so und nicht anders bloß wegen der leidigen Tonarmut des Pianoforte komponiert? Hält
etwa der Klang des letzteren nicht ein I lang an? Und ist es daher nicht weitaus künstlerischer,
Figuren, wie b und c, für melodisch erregtere und bewegtere Steigeningen, für Melodie kurzweg zu
halten und sie auch in diesem Sinne zu spielen?
Oder man vergleiche einmal die Orgelwerke Johann Sebastian Bachs mit dessen Klavierwerken.
Wie sind doch die letzteren verzierter und beweglicher als die ersteren! Woher das kommt? Einfach
daher, weil das minder bewegliche Instrument der Orgel eben nur weniger Figuren und Ornamente
gestattet, wogegen das beweglichere Klavier deren mehr fordert. Darum gibt Bach der Orgel, was der
Orgel, dem Klaviere aber, was des Klavieres ist, und sehr wohl kann man daher bei ihm einen Orgel-
stil von einem Klavierstil unterscheiden, — immer unbeschadet dessen, daß die beiden Stile freilich
innerhalb des allgemeinen polyphonen Stiles liegen.
Oder endlich lese man nach, was Ph. Em. Bach im dritten Hauptstück, § 18, schreibt: „Wenn
Schleiffungen über gebrochene Harmonien vorkommen, so kan man zugleich mit der ganzen Harmonie
liegen bleiben, z. B.:
In dem Probe-Stück aus dem 2?-dur kommt dieser Fall oft vor, man erhält hierdurch außer der
besonders guten Würckung eine leichtere und besser zu übersehende Schreib-Art. In dem Probe-Stück
aus dem As ist dieser Fall in besonderen Stimmen ausgeschrieben, damit man diese Schreib-Art, welche
die Franzosen besonders starck brauchen, kennen lerne." So hat man denn auch in dieser Anweisung
vor Allem doch nur wieder eine ganz besondere Feinheit seines Klavierspieles und die genaue Kenntnis
der Wirkungen des Klavieres zu bewundern, statt, wie man leicht irregehen könnte, eine solche Spiel-
weise vielleicht gar nur von der Tonarmut des Instrumentes herleiten zu wollen! Es ist im Gegenteil
eher zu bedauern, daß diese Art des legato — eben des echtesten legato — den Virtuosen und Klavier-
spielern von heute im Grunde ja noch immer so wenig vertraut ist und daß sie nur dann zu ihr
greifen, wenn sie vom Autor ausdrücklich (vergl. z. B. Chopin, Nocturne op. 62, Nr. 1) gewünscht
wird, während sie in der Tat — man beachte oben Bachs Worte: „außer der besonders guten Würkung"
zu den schönsten Wirkungen schon des Anschlages allein, um von der Harmoniefülle nicht zu sprechen,
auch dort führt, wo sie nicht erst ausdrücklich vorgeschrieben ist. So. ist es z. B. ohneweiters zu spielen
möglich, ^ Beethoven, Quintett Op. 16.
statt:
i
k=a
&
fc"
£
so:
S
Ä
&
Jr
^P«.
S. IC,.
wie denn überhaupt solches Liegenlassen der Stimmen (wodurch gleichsam continuo-Stimmen entstehen,)
auch auf Situationen Anwendung finden darf, die gebrochenen Harmonien u. dgl. sicher sehr unähnlich sehen.
Faßt man aber alle diese Ausführungen zusammen, so möchte man sagen, nicht nur, daß es
sich hiernach verbiete, Bach den Gebrauch der Manieren vorzuwerfen, sondern daß umgekehrt gerade
im Gebrauche derselben sich sein ganz spezifisches Talent für Klavier offenbare. In. der Tat ist Bach
just wegen seiner originellen Ornamente und Passagen als der echteste Klavierpoet aufzufassen. Ich
persönlich wage sogar soweit zu gehen, ihn als spezifischen Klavierkomponisten höher zu stellen, als selbst
U.-E. 812.
10
einen Haydn oder Mozart, denen vielfach orchestral-symphonische Gesichtspunkte das Reinklaviermäßige
offenbar bereits zu unterbinden beginnen, und in eine Beihe fast mit Schumann und Chopin, nur daß er
den letzteren durch seine urgesunde natürliche Anlage überlegen ist, wie dadurch, daß er aus solcher
Gesundheit heraus zu der gewiß bedeutsameren zyklischen Sonatenform- gedrängt, eben die bedeutendere
Kraft hatte, einen Haydn, Mozart und Beethoven zu zeugen.
Somit bleibt nur noch übrig zu erklären, wie es möglich war, daß trotz der eigenen Darstellung eines
Bach eine falsche Auffassung der Manieren die musikalische Welt so lange beherrschen konnte. Im § 9
der ersten Abteilung des zweiten Hauptstückes meint Bach: „Indessen muss man dennoch vor allen
Dingen sich hüten, daß man auch mit unserer Art von Manieren nicht zu verschwenderisch umgehe.
Man betrachte sie als Zierrathen, womit man das beste Gebäude überhäufen und als das Gewürtze,
womit man die besten Speisen verderben kan Widrigenfalls würde ich denselben Fehler begehen,
in den ein Redner fällt, welcher auf jedes Wort einen nachdrücklichen Accent legen wollte; alles würde
einerley und folglich undeutlich werden."1) Außerdem heißt es daselbst § 2: „So viel Nutzen die Manieren
also stiften können, so groß ist auch der Schade, wenn man theils schlechte Manieren wählet, theils
die guten auf eine ungeschickte Art ausser ihrem bestimmten Orte und ausser der gehörigen Anzahl
anbringet" und daselbst § 7: „Ich werde zuletzt meine Leser auf die Probe-Stücke verweisen, und
hoffe durch alles dieses das hier und da eingewurzelte falsche Vorurtheil, von der Notwendigkeit der
überhäuften bunten Noten bey dem Klavier-Spielen, ziemlich aus dem Wege zu räumen."
Damit will Bach sagen, die Manier sei zwar eine Spezialtugend des Klaviers, könne nichts-
destoweniger aber leicht zu einer Untugend werden, wenn sie im Übermaß gebraucht wird. Hier aber
mag die Erklärung des Irrtums liegen, da in der Tat bescheidenere Talente ihre Kompositionen mit
Manieren zu überladen begannen, die melodische Funktion der Manieren mißverstehend und außerstande,
ein wahres Gleichgewicht zwischen der Idee und der Forderung des Instrumentes herzustellen. Die
Manieren wurden zur Mode voll Unvernunft und Mißbrauches. Es liegt in der Natur, daß sich dagegen
ein allgemeiner Widerwille erhoben und nun geschah es, daß man über der krankhaften Mode auch
den gesunden Keim übersah. Man schämte sich hinterdrein aller Ornamentik überhaupt und wälzte,
um mindestens die künstlerische Vernunft zu rechtfertigen, alle Schuld auf das Clavichord, als hätte
wirklich bloß dessen Tonarmut allein der Vernunft den argen Streich gespielt.
Wer weiß indessen, ob nicht vielleicht auch die Schwierigkeit der Ausführung den Widerwillen
gegen die Manieren gesteigert hat? Wie oft mag man sich, ohne daß man sichs gestand, wider sie
aufgelehnt haben, einfach bloß, weil man nicht genau wußte, wie sie zu spielen. Was so unbequem
war, zu einem Fehler des Werkes selbst zu machen, — nichts ist menschlicher als das. Ob nicht nun
auch umgekehrt die richtige Ausführung der Manieren dazu geführt hätte, sie mindestens bei Bach zu
billigen und sicher auch schön zu finden, — wer mag das heute sagen?
III.
Über die Form bei Bach.
Durfte ich mir nicht ersparen, die Vorwürfe nach Möglichkeit zu entkräften, so möchte ich
mir umsoweniger noch versagen, andererseits auch die Vorzüge der Bachschen Werke hier positiv
darzustellen. Gelingt es mir, sie dem freundlichen Leser so zu vermitteln, daß deren große Bedeutung
ihn überzeugt, so werden gewiß auch sie ihrerseits das meiste dazu beitragen, jene Vorwürfe im klein-
lichsten Lichte erscheinen zu lassen.
a) Was an Bachs Kompositionstechnik zunächst auffällt, ist die Abwesenheit einen jeglichen
Schemas. Nirgends eine Vorgefaßtheit; nirgends ein Vorsatz, sei es in Bezug auf Form, Gedanken oder
Harmonien. Gedanken im vorhinein, einzeln und abseits von Zusammenhängen zu erfinden, nur um
l) Es empfiehlt sich übrigens, diesen Gedanken, der ja so einfach und vernünftig-wahr ist, in analoger Weise
nicht minder auch auf die heutige Art der instrumentalen Komposition im warnenden Sinn anzuwenden. Muü denn nicht
dadurch, daß jede einzelne Stelle in einer modernen Komposition durch ein offenbar doch vom Musikdrama entlehntes
Pathos gleichsam ihren eigenen „nachdrücklichen Accent" erhält, die Summe sämtlicher so belasteter Stellen sodann zo
der Gesamtwirkung führen, die Bach mit den Worten beschreibt: „Alles würde einerley und folglich undeutlich werden"?
U. E. 812.
li
sie dann gelegentlich an einer Stelle gewaltsam einzuflicken, ist nicht seine Art. Vielmehr ist alles,
erste Erfindung wie fortlaufende Entwicklung, einzig auf die Gnade einer sozusagen improvisierenden
Phantasie gestellt. Diese ist aber willig genug, ihm nicht nur einen ersten Gedanken zu schenken,
sondern auch die weitere Folge, ohne daß der Beschenkte im Grunde mehr Mühe dafür aufzubringen
hätte, als bloß in glücklichster Stimmung den Gedanken einfach niederzuschreiben. Er braucht nicht,
wie andere, besonders wir Epigonen von heute — ärgerlich auszuspähen, was jenseits des ersten Ge-
dankens werde zu geschehen haben; es bekümmert ihn keinerlei Zukunft von Form, keinerlei Zukunft
von Inhalt; nichts stört ihn im Genuß des gegenwärtigen Augenblickes und so darf er sich mit unbe-
dingtestem Gegenwartsgefühl einem jeglichen Gedanken schaffend hingeben. Ist der erste Gedanke
vorbei, so ist im selben Augenblick auch schon ein zweiter da, — ungerufen, unbeabsichtigt, ungewollt.
Man darf daher in diesem Sinne seine Phantasie eine völlig absichtslose und unangestrengte nennen.
b) Eine solche Willigkeit der Phantasie bedeutet immer zugleich Reichtum und Vielheit von
Gedanken. Diese aber drängen ihn zu einer neuen und eigenartigen Technik, nämlich zu der der
Gruppenbildung.1) Man gestatte, daß ich hier etwas ausführlicher die Mittel untersuche, deren
sich diese Technik bedient.
1. Als erstes der Mittel sei die Tonalität genannt. Ein einfaches Beispiel für dieses Mittel
gehe voran — ein allereinfachstes, wie es im ersten Satze der Sonate II, pag. 9, enthalten ist. Hier
läuft, vom Takt 8 angefangen, beziehungsweise von dessen drittem Achtel an, eine Mehrzahl von Sätz-
chen und Motiven ununterbrochen bis zum Takt 22, beziehungsweise bis zu dessen drittem Achtel. Was
diese Vielheit hier zu einer Gruppe bindet, ist die Tonalität D-dur. Gleichwohl sind aber die einzelnen
Bestandteile der Gruppe als solche zu erkennen, da im Takt 12 der Schluß auf der Tonika, im Takt
15 und 16 der Aufstieg zur Dominante, in den Takten 16 bis 18 die Rückbewegung zur Tonika, in den
Takten 20 bis 22 die Kadenz deren selbständigen Charakter deutlich hervortreten lassen. Aus diesem
Beispiele kann man leicht ersehen, welchen Dienst die Tonalität leistet: sie bindet die Vielheit
tonal zu einer Gruppe, ohne indessen die Selbständigkeit der einzelnen Teile
zu o pfern.
Es mögen hier aber noch einige kompliziertere Gruppen der Beachtung empfohlen werden;
z. B. pag. 13, Takt 6 bis 17; pag. 16, Takt 1 bis 8; pag. 26, Takt 9 bis 21; pag. 42, Takt 17 bis
Ende des ersten Teiles; pag. 55, Takt 9 bis Ende des ersten Teiles u. s. w. Es ist hier oft das
Problem, die Gruppenbildung durch die Tonalität zu kennzeichnen, in so kühner und genialer Weise
gelöst, daß wir uns schon diesem Teile der Bachschen Kunst allein gegenüber gewiß noch als rück-
ständig bezeichnen dürften. Insbesondere ist im einzelnen zu beachten : welche Harmonien den jeweiligen
einzelnen Teil beginnen und welche ihn beenden; nicht minder aber, in welchem Verhältnisse
sodann die Summen der den einzelnen Teilen zugehörigen Harmonien zur gesamten Tonalität
stehen. Z. B. sehe man, wie pag. 16 die Tonart c-moll beginnt bei sonst intendierter /-dur Tonalität;
ferner, wie pag. 13 sich die einzelnen Tonarten zu g-äm, später d-dur stellen; oder, wie pag. 26 die
Unterdominante, pag. 42 die Dominante beginnt u. s. w., u. s. w. So ist nun einmal die Tonika,
einmal die Dominante, ein andermal die Unterdominante oder eine andere Stufe der Diatonie, die den
Teil einleiten oder beschließen ; bald ist die Tonalität strenger und einheitlicher, bald aber um entferntere
Tonarten vermehrt. Welche unendliche Mannigfaltigkeit ergibt sich aber erst aus der Kombination aller
dieser Punkte!
Wie steif dagegen sind wir heute geworden — wir, die scheinbar Reicheren und doch in Wahr-
heit um so viel Ärmeren! Was nützen uns denn die geräumigeren Konzertsäle, die größeren Piano-
fortes, die breiteren Formen, die stärkeren Schallwirkungen — da wir so kleinlich, so wenig unabsichtlich,
so schematisch sind! Unsere Kühnheit ist eine Augenblicksgrimasse — und sieht man genauer hin, so
ist im Grunde die Absicht auf Inhalt und Form nicht zu verkennen, die den Komponisten in der Regel vor
sich selber so klein macht, daß er — gleichsam nur um sich zu betäuben — zum wilden Bramarbasieren
greifen muß. Dort bei Bach Reichtum und was daraus an Segen folgt, hier Armut und wilde, leider
aber vergebliche Auflehnung gegen den Fluch der Armut!
*) Vergl. hierzu mein anonym erschienenes Buch „Neue musikalische Theorien und Phantasien von einem Künstler.
I. Band Harmonielehre." Stuttgart und Berlin (Cotta) 1906, § 129 u. ff.
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12
2. Ein anderes Mittel möchte man das rhythmische nennen. Es besteht darin, daß die einzelnen
Teile der Gruppe bald in den starken, bald in den schwachen, also in verschiedenen Taktteilen ein-
setzen. Betrachten wir das zuerst angeführte Beispiel aus der Sonate II, pag. 9, so sehen wir dort den
ersten wie den zweiten Teil mit dem dritten Achtel, dagegen den dritten und vierten mit dem zweiten
Achtel beginnen. So sind bei Bach — diese Technik hängt organisch wohl mit der Kunstübung noch
älterer Epochen zusammen — alle Taktteile in Hinsicht des Einsatzes gleich, ohne daß er dadurch
den Unterschied zwischen einem starken und schwachen Taktteil aufheben möchte. Es ängstigt ihn
keinerlei theoretischer Kespekt vor dem, was der starke Taktteil ist, er müht sich daher auch nicht,
seine Gedanken allemal just mit dem starken Taktteil zu beginnen, vielmehr liebte er, auch bei einem
schwachen Taktteil einzusetzen, wenn die Gelegenheit zufällig eine günstige, so z. B. wenn der voraus-
gehende Gedanke gerade mit dem starken Takteil geschlossen hat. Er kommt daher nie in Verlegen-
heit, erst Pausen erlügen zu müssen, weil vielleicht der nächste Gedanke nur um zwei oder drei Achtel
später beginnen kann. — Können wir das auch von uns sagen?
Welche innere Bedeutung aber ein solcher Einsatz hat, gleichviel in welchem Taktteil er sich
ereignet, gehört wohl zu den geheimnisvollsten und stillsten Wundern der Musik. Als wäre er gar ein
organisches, mit einem Selbsterhaltungstrieb begabtes Wesen, strebt ein jeder Einsatz danach, seine Art,
so lange es nur geht, zu erhalten. Erfolgt der Einsatz z. B. beim zweiten Achtel, so wollen nun ganz
von selbst alle folgenden Gedanken und Motive immer beim zweiten Achtel beginnen, d. h. es streben
die Bildungen sich zwischen einem zweiten und wieder einem zweiten Achtel zu bewegen. Als besonders
eindringliche Beispiele dieser so wundersamen Natur des Einsatzes wolle man Beethovens Sonaten
op. 90 und op. 106 einsehen. Dort die Fortpflanzung des Einsatzes im dritten Viertel, hier des Einsatzes
im letzten Achtel. Ginge es nun nach dem Selbsterhaltungstrieb eines solchen Einsatzes, so gäbe es, wie
leicht begreiflich, dieser Art Einsatzes kein Ende: es läge, je nach der Art des Einsatzes eben, alles vom
Anfang bis zum Ende der Komposition nur immer so fort zwischen dem ersten und ersten, zweiten und
zweiten Viertel oder Achtel u. s. w. In mäßigen Kompositionen kann man in der Tat auch wahr-
nehmen, wie die Autoren diesem Impuls des Einsatzes meistens erliegen, wie wenig sie seinen Bann,
d. h. die Monotonie des Rhythmus zu durchbrechen vermögen. Indessen ist ein solches Unvermögen sicherlich
das Kennzeichen einer armen Phantasie oder eines zu geringen Kunstinstinktes. Denn eine reiche Phantasie
ist eben noch stärker als der Einsatz; ihre Kraft durchbricht den Bann des Einsatzes. Die Phantasie
will Mannigfaltigkeit in allem und jedem, nicht minder daher auch im Einsatz. Nichts ist nun so interessant,
als zu sehen, wo und wie der Komponist den einen Einsatz bricht, um einen andern zu bringen.
In der oben zitierten Sonate von Beethoven, op. 90, sind es die Takte 43 bis 45, in der Sonate
op. 10G die Takte 16 bis 17, in denen der eine Einsatz zu Gunsten eines nächsten andern niederge-
rungen wird; oder in meiner Emanuel Bach-Ausgabe pag. 43, Takt 14 bis 16; pag. 55, Takt 16 und
Takt 22 u. s. w.
3. Ein drittes Mittel ist dynamischer Natur und sorgt für Licht und Schatten in der Gruppe
[n unserem Beispiel aus der Sonate II, pag. 9 sehen wir: / beim ersten Teil im Takt 8, p beim zweiten
Teil im Takt 12, beim dritten Teil im Takt 16 wieder p (allerdings nach einem / im Takt 14),
wohlgemerkt hier beim zweiten Achtel, dagegen / im Takt 18 beim vierten Teil u. zw wieder beim
zweiten Achtel. Daß durch solchen Wechsel der Dynamik zugleich auch der Wechsel der einzelnen
Gruppenglieder wie nicht minder auch des Rhythmus nur noch besser zum Ausdruck kommt, muß ohne
weiteres einleuchten. Ebenso klar aber ist es, daß je selbständiger die einzelnen Teile heraus-
gearbeitet sind, — wie hier eben auch mit Zuhilfenahme eines dynamischen Effektes — desto mehr an
Intensität und Schönheit die Gruppe als Ganzes gewinnen muß. Kommt denn nicht dem Ganzen als
Gewinn zu, was zunächst nur dem einzelnen Teile zu Gute kommen sollte ? Ist nicht um so viel
plastischer und eindrucksvoller vielleicht auch das Ganze, je plastischer und eindrucksvoller seine Teile?
Man gestatte, daß ich diese Gelegenheit dazu benütze, um über den' weiteren Gebrauch der
dynamischen Zeichen bei Bach das Nötige auseinandersetzen. Betrachten wir z. B. die Takte 22 bis 28
derselben Sonate II, pag. 9, so sehen wir, wie auch hier, als in einem einzelnen Gedanken bloß, die
dynamischen Zeichen den Organismus des Gedankens förmlich bloßlegen, wie sie wechselnd und kontra-
stierend, zugleich die einzelnen Elemente anzeigen, aus denen der Gedanke zusammengesetzt ist. So
korrespondiert das p im Takt 22 mit pp im Takt 26, dagegen das /im Takt 24 mit dem/ im Takt 27,
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wobei zu beachten ist, daß die beiden / beim zweiten Achtel angebracht sind. — Eine Anwendung
ganz anderer Natur zeigt sich, wenn wir z. ß. im Adagio maestoso der Sonate III, pag. 18 im Takt 6
ein p beim zweiten Achtel, im Takt 13 ein / beim zweiten Sechzehntel, im Takt 14 ein p gar beim
sechsten d. i. letzten Sechzehntel u. s. w. antreffen. Hier, wo es sich nicht mehr darum handelt, eine
Gliederung des Ganzen oder auch eines einzelnen Gedankens zu kennzeichnen, ist es nun gerade wunderbar
zu sehen, wie der Meister selbst in den kleinsten Grübchen und Winkelchen des Taktes, in den schwachen
und schwächsten Taktteilen, noch immer Raum genug findet, durch Wechsel der Dynamik den
Wechsel des Ausdrucks zu offenbaren. Welche Sensibilität, welche Zartheit! — Aus der übrigen
Fülle von Verwendungsarten der Dynamik bei Bach mögen hier nur noch zwei besonders bemerkens-
werte hervorgehoben werden. Die eine dürfte der Schluß des soeben zitierten Adagios pag. 13 (besonders
die letzten acht Takte) wohl am deutlichsten illustrieren. / und p wollen beim Wort genommen werden
und stellen einen wirklichen Kontrast vor, nämlich / will als eine Art physischer Erhebung oder
plötzlicher Exaltation herausragen (oft z. B. unserem rfz ähnlich), p hingegen die ruhige Norm des Gefühles
bedeuten. Besonders in den langsameren Sätzen ist dieser Gebrauch von / und p Bach eigentümlich.
Anders wieder, u. zw. in einem krassen Abstand voneinnander stehend, finden wir / und p z. B. im
Adagio maestoso der Sonate III pag. 18 Takt 1, 2; Takt 11 und 12 u. s. w. In Fällen, wie diese, vertritt
offenbar das B a c hsche / und p unser crescendo und decrescendo, oder, was dasselbe, die Zeichen :
— =C und :r==— ; / steht am Anfang, p am Ausgang der Figur, wenn ein decrescendo, und um-
gekehrt, wenn ein crescendo beabsichtigt ist. Ein untrügliches Merkmal für diese Verwendungsart ist,
daß die beiden dynamischen Grade sehr nahe aneinander gerückt sind. Man muß gestehen, daß in
gewissem Sinne diese drastische Art, bloß die Endpunkte zu bezeichnen, noch zwingender ist, als die
Bezeichnung unseres crescendo.
Und erblickt man nun die so vielen und mannigfachen Anwendungen der dynamischen Zeichen
so möchte man doch zum Schluß kommen, daß man den gegebenen Inhalt wahrhaftig nicht besser
bezeichnen kann, als es schon von Bach selbst geschehen — immer im Dienste des Inhalts, immer mit
tiefem Grund; so daß das Studium seiner dynamischen Bezeichnungen schon allein eine Quelle an-
regendsten Genusses für „Kenner und Liebhaber" wohl zu bilden vermag. Wenn ich gleichwohl in
meiner Sammlung diesen genial notierten Zeichen in Klammern noch eigene hinzuzufügen mich entschlossen
habe, so geschah es sicher nicht aus dem Grunde, als würde ich einen Mangel an Bezeichnung empfunden
haben. Vielmehr mußte ich befürchten, daß der Spieler, vielleicht selbst nicht in der angenehmen
Lage, die Organisation des Inhaltes zu erfassen und von hier aus sich mit den Zeichen Bachs zu be-
gnügen, nach mehreren Bezeichnungen verlangen, insbesondere aber diejenigen vermissen möchte, die
man ihm so oft heutzutage in leidlicher Bevormundung serviert. Es wird daher nur desto ehrenvoller sein
für den Spieler, — wie nicht minder doch auch für Ph. Em. Bach — wenn er meine wenigen dynami-
schen Notizen für überflüssig finden wird. Niemanden wird solche Empfindung mehr erfreuen, als mich
selbst, der ich so gerne zur Zerstörung der Schauerlegende beitragen möchte, wornach die älteren Werke
gar nicht oder nur viel zu wenig bezeichnet wären. Haben doch auch Haydn, Mozart und Beethoven
diese Art, den Vortrag zu bezeichnen, von Bach rezipiert, und ist sie doch bei ihnen nicht minder genial
wie bei ihm, — wenn man eben nur den Inhalt versteht ! 0, hörten wir doch endlich auf, immer wieder
über die mangelhafte Bezeichnung ihrer Werke zu jammern, und uns einzubilden, daß wir sie für
unseren Gebrauch erst zu redigieren haben!1)
Habe ich in meiner Ausgabe ein von Bach bereits notiertes Zeichen wiederholt, wie z. B. pag. 7,
System 6, Takt 3 und 4 und ähnlich an vielen, vielen anderen Stellen, wo eine solche Wiederholung im
Grunde überflüssig erscheinen muß, so tat ich es weniger zur Befriedigung einer Herausgebereitelkeit
als nur zur Vermehrung der Sicherheit des Spielers. Auch wird mir, hoffe ich, der Spieler verzeihen,
x) Das Auge des Spielers reagiert von selbst leicht auf alle Zeichen, auf die es im Laufe der Lektüre bei den
Noten stößt. Ein vom Herausgeber unnötigerweise hinzugefügtes Zeichen birgt daher die Gefahr in sich, daß es, eben
auf dem Umwege über das Auge, die Hand zu einem Mehr veranlaßt, als sie wohl von selbst, ohne die Anweisung des
Herausgebers, unternehmen würde. Es ist eben etwas ganz anderes, ob man aus Eigenem zu irgend einer undefinierbaren
dynamischen oder rhythmischen Nuancierung im Drange des Vortrags sich entschließt, oder ob man, blos infolge eines
rein optischen Antriebes, einem deutlich festgelegten Zeichen des Herausgebers folgt, dessen hauptsächlichen Fehler ja
schon die Deutlichkeit selbst — des Zuviel der Existenz an sich — bildet, wobei überdies unter Umständen das Fehler-
hafte der Anweisung noch in manch anderen Momenten liegen kann.
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wenn ich hie und da ein offenbares Vergessen des Autors oder des Kopisten ins Richtige brachte: wie
leicht vergißt ein Autor das dynamische Zeichen zu notieren und wie leicht mag ein Kopist ein notiertes
Zeichen übersehen. Man wolle daher eine Zutat dieser Art nur daraufhin prüfen, ob ich im Grunde Recht
hatte, einen solchen Lapsus hier oder dort anzunehmen.
c) Prüfen wir Taktgruppen wie z. B. pag. 6, Takt 8 bis 12, pag. 12, Takt 6 bis 10, pag. 26,
Takt 5 bis 8, pag. 42, Takt 8 bis 16, pag. 57, Takt 9 bis 13 u. s. w., so erkennen wir, daß selbst
solche Teile der Komposition, die man gewöhnlich Modulation steile nennt, bei Bach niemals bloß
mechanisch vor sich gehen. Ist in solchen Fällen die Tendenz der Harmonien — einseitig betrachtet
— allerdings die, eine neue Tonalität zu erobern (vergl. pag. 6 g-dur, pag. 12 a-dur u. s. w.), so ist diese
Tendenz gleichwohl bei ihm niemals Selbstzweck. Diesen Willen der Harmonien weiß er vielmehr dem
Gedanken unterzuordnen, u. zw. ist es immer ein neuer Gedanke, ein neues Motiv (vergl.
rechte Hand pag. 6, 12 u. s. w.), die wohl in erster Linie unsere Empfindung anzuziehen berufen sind.
Der neue Gedanke ist sodann sozusagen Pate der Modulation. Weshalb man denn auch der schönen
Gedankengegenwart froh, niemals bemerkt, daß man inzwischen nun auch harmonisch zugleich den
Weg zu einem nächsten Gedanken zurücklegt. So ist die Modulation niemals bloß ein Weg, niemals bloß
Zukunft, Versprechung und Verheißung eines nächsten Gedankens erst — kurz, niemals bloß ein Weg-
mechanismus — vielmehr immer eine Gegenwart, immer ein gegenwärtiger Gedanke und obendrein
ein neuer Gedanke. Wer wollte leugnen, daß auch diese Technik wieder offenbar nur mit dem Reich-
tum der Erfindung zusammenhängt?!
IV.
Über das Mißverständnis dieser Form Bachs bei Gegnern und Pseudoklas-
sizisten.
Fasse ich das bisher Vorgebrachte zusammen, so heißt es: Am Anfang ist der Reichtum der
Gedanken bei Bach! Nur Reichtum allein ist es, der ihm die Absichtslosigkeit, das Ewig-Improvisierte
der Gedanken spendet, ihm die Vielheit und Mannigfaltigkeit bringt ; er ist's, der ihn zum Prinzip der
Gruppenbildung drängt, der ihm die dazu gehörigen Mittel der Tonalität und des Rhythmus an die
Hand gibt; er ist's, der ihm das Mechanische der Modulation vergeistigt und ihn im übrigen aller
Sorgen der „Form" enthebt: kurz, alle Technik kommt ihm vom Reichtum, alles ist ihm Gedanke,
überall Wechsel und Beweglichkeit der Mittel, überall Freiheit, nirgends Schema, nirgends bloßer
Mechanismus !
Nun ist diese Technik eben ganz dieselbe, die — wie bereits erwähnt — unsere großen
Klassiker rezipiert haben. Voran Haydn, diesem nach Mozart und Beethoven — der Letztere indessen
vielleicht gerade am unfreiesten, am forziertesten noch. Auch sie nehmen das Prinzip der Gruppenbildung
an als ein hauptsächliches, setzen Vielerlei und Verschiedenes zusammen, um eine Gruppe oder einen
„Satz" zu bilden, ebenso auch Mannigfaltiges und Kontrastierendes, um auch nur den kleinsten Teil,
den kleinsten Gedanken zu konstruieren; auch sie bedienen sich der Tonalität, um Gedankenvielheiten
zu binden, zugleich aber, um deren Teile zu sondern ; auch sie lieben die wechselnde Mannigfaltigkeit
der Einsätze, die den Gruppen eine Mannigfaltigkeit des Rhythmus zuführen sollen; auch ihnen ist alle
Modulation mehr Gedanke als Mechanik der Harmonien. Daher nehmen wir auch bei diesen Meistern
wahr, daß ein jegliches Schema ihrem Genie fremd und eine natürliche Absichtslosigkeit ihr Schaffens-
prinzip ist. Sie schreiben Sonaten sonder Zahl, und keine ist der andern gleich; sie dichten unzählige
Symphonien, Quartette u. dgl., nicht eines aber ist dem andern gleich: in allen Werken neu die Form
und neu die Mannigfaltigkeit. Ein ewiges Kommen und Gehen der Gedanken, eine unendliche Bered-
samkeit, eine unendliche Melodie. Nicht Symmetrie ist ihr Prinzip, nicht der Periodenbau: nicht eine
gerade Taktzahl, nicht „Stark und Schwach", nicht Bildung sogenannter „Themen" — nichts von all
dem bindet ihre Freiheit! Nirgends die Lüge eines Mechanismus, überall dagegen freudigste Über-
raschung neuer Gedankenzeugung. Wer wüßte den I^auf einer Haydnschen oder Mozartschen Gruppe
vorauszusagen, wer hat den Reichtum der Phantasie, so parallel mit ihnen zu erfinden, daß er sich nicht
gestehen müßte, ein über das andere Mal von ihnen überrascht worden zu sein? Welche Form erwartet
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man denn von ihnen, da sie doch keine vorgefaßte nahen? Muß denn nicht alle Erwartung fehl gehen,
da man im Bann einer eigenen Armut und Unzulänglichkeit, auch bei so begnadeten Geistern Grenzen
voraussetzt, wie sie einem Genie immer doch fremd bleiben müssen ? Ihr$ Musik redet wie mit Worten.
Wie des Menschen Kede ungebunden, und nur eine vorwaltende Sachlichkeit darin Maß, Ziel und
Tonart regelt, so ungebunden ist die Musik jener Genies, nur sanft an ewige, ihnen unbewußte Gesetze
der Natur gekettet, denen kein Lebewesen zu entrinnen vermag. Eine solche Ungebundenheit aber in
der Kunst zu erreichen — bleibt es nicht deren höchster, nicht mehr zu überbietender Triumph, zumal
doch alle Kunst im Grunde immer eine Gebundenheit gegenüber der Natur und dem Leben vorstellt?
Wie es nun aber kam, daß man im Laufe des vergangenen Jahrhunderts diese Freiheit, die
höchste, die zu erzielen überhaupt möglich, übersehen konnte, daß man sie nicht mehr zu empfinden
wußte, und nun gar glaubte, erst nach neuen Mitteln greifen zu müssen, um endlich der Tonkunst ihre
Freiheit — eine ihrer wirklich würdige — zu geben, das alles wird wohl für immerzu den dunkelsten
Eätseln der Künstentwicklung beigezählt werden müssen. Man sah auf einmal in allen Quartetten,
Symphonien und Sonaten nichts mehr als nur eben die „Sonate", eine angeblich starre Form, ein Unab-
änderliches und Gegebenes, kurzweg ein Schema. Man hörte auf einmal aus dem ganzen Inhalt nichts
als bloß die Kadenzen heraus, Halb- und Ganzschlüsse; — man bildete sich ein, alle Form derartiger
Werke beschränke sich meistens und hauptsächlich auf die Verbindung von sogenannten : Haupt-, Seiten-
und Schlußsatz, Durchführung und Reprise. Welche Insinuation! Man bewegte sich offenbar in einem
Circulus vitiosus: Opfer vorgefaßter Meinungen, wagte man dann als kompromittierend für die Kunst
der großen Meister auszuschreien, was im Grunde niemals objektive Wahrheit, sondern nur eigene
Einbildung gewesen, — die freilich daher kam, daß man jene Kunst nicht in ihrer vollen Freiheit
und wahren Größe zu erkennen und zu würdigen vermochte. Was war die Folge davon? Man begann auf
„Programme" zu sinnen, die, der Musik injiziert, ihr die vielersehnte „neue Freiheit" zu geben hatten:
so entstand die Programmusik — die offizielle. Oder man nahm an, es sei das Wort berufen, was
es an eigener Freiheit und Beweglichkeit besitzt, der Musik mitzuteilen und zu assimilieren, in ähnlicher
Verbindung, wie dies vor langen Jahrhunderten noch im Zustande der musikalischen Indifferenziertheit
schon einmal gewesen: so entstand das Musikdrama. Beide aber, Programmusik wie Musikdrama,
maßten sich an, der Tonkunst eine Freiheit zu schaffen, wie sie diese bis dahin angeblich nicht zu
erzielen wußte, und zwar eben wegen der starren, sogenannten klassischen Form der Sonate. Weg von
dieser Form hieß es daher, fort und fort.
Die Verdunkelung und Verwirrung der Anschauungen erreichten ihren Gipfel aber, als nun
auch selbst diejenigen, die sonst so gerne die „Form" der Klassiker aus Liebe zur Tradition oder
Überzeugung hätten hochhalten mögen, deren große Freiheit nicht minder übersahen, als die Programm-
musiker und Musikdramatiker. In der Not einer mangelnden Einsicht bildeten nun auch sie sich ein,
der „Sonate" wäre meist eine ständige Form eigen, und schrieben in diesem Sinne Sonaten um Sonaten,
Quartette um Quartette, mit ewigen Haupt-, Seiten- und Schlußsätzen, Durchführungen und Reprisen.
War nun die Feststellung einer solchen Form an sich schon die erste Unwahrheit, die an den klassischen
Meistern begangen wurde, so war sodann die vorgefaßte Ausübung der Komposition innerhalb dieser
Formlüge zu einer zweiten, und zwar weit verhängaisvolleren Lüge geworden. Denn nun hatten die Vertreter
der neuen Freiheitsrichtungen ein Leichtes, in den neuentstandenen Werken mit Entsetzen auf das
Mechanische der Sonatenform hinzudeuten und an dem widrigen Formgeruch zu beweisen, um wieviel
besser doch ihre eigenen Bestrebungen sich dazu eignen, die Tonkunst zu fördern und von der leidigen
Sonatenform zu erlösen.
Ein Genie, wie Richard Wagner, konnte in seinem berühmten Aufsatz „Beethoven" aus dem
Jahre 1870, z. B. folgende Sätze schreiben:
„Eine weite Kluft trennte den wunderbaren Meister der Fuge von den Pflegern der Sonate. Die
Kunst der Fuge ward von diesen als ein Mittel der Befestigung des Studiums der Musik erlernt, für
die Sonate aber nur als Künstlichkeit verwendet: die rauhen Consequenzen der reinen Contrapunktik
wichen dem Behagen an einer stabilen Eurythmie, deren fertiges Schema im Sinne italieni-
scher Euphonie auszufüllen einzig den Forderungen an die Musik zu entsprechen
gchien. In der Haydn'schen Instrumentalmusik glauben wir den gefesselten Dämon der Musik mit der
Kindlichkeit eines geborenen Greises vor uns spielen zu sehen." Oder an anderer Stelle: „der , Vernunft'
U.-E. 812.
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seiner Kunst begegnete er nur in dem Geiste, welcher den formellen Aufbau ihres äusseren Gerüstes
ausgebildet hatte. Das war denn eine gar dürftige Vernunft, die aus diesem architektoni-
schen Periodengerüste zu ihm sprach, wenn er vernahm, wie selbst die großen Meister seiner
Jugendzeit darin mit banaler Wiederholung von Phrasen und Floskeln, mit den genau
eingeteilten Gegensätzen von Stark und Sanft, mit den vorschriftlich recipirten gravitätischen
Einleitungen von so und so vielen Takten, durch die unerlässliche Pforte von so und so
vielen Halbschlüssen zu der seligmachenden lärmenden Schlußkadenz sich be-
wegten". Oder etwas später: „Verlangte Haydn's Fürst stets bereite neue Unterhaltung, so musste
Mozart nicht minder von Tag zu Tag für etwas Neues sorgen, um das Publicum anzuziehen ; Flüchtig-
keit in der Conception und in der Ausführung nach angeeigneter Routine, wird ein Haupterklärungs-
grund für den Charakter ihrer Werke."
So hatte selbst eines Wagners Auge nichts von alldem gesehen, was an herrlichster, seitdem
nie wieder erreichter Freiheit in den Werken jener Meister lag, nichts von alldem, was gesehen werden
sollte und auch gesehen werden konnte; er sah nicht, , daß das Genie eines Haydn oder eines Mozart
nur bis zu einem minimalen Grade dem Schicksal seinen Tribut entrichten mußte, jedenfalls aber
darüber hinaus noch so viel Kraft entwickelte, daß es noch lange nicht das Beste der Musik, nämlich
die Freiheit des Ausdruckes zu opfern genötigt war; daß, einmal an der Arbeit, das Genie in ihnen
selbst schon dafür sorgte, daß alles aufs Beste gerate. Darin offenbarte sich eben ihr Genie: Wie
das Werk wurde, siehe, es ward gut. Wollte auch das Schicksal sie knechten und niederringen, so gab
sie das Genie immer wieder frei — vor „Fürsten", wie vor „Publikum" — in allen ihren Schöpfungen.
Selbst in dem kleinsten ihrer Werke sind fürwahr der stolzen Züge noch genug, wie sie seither Keinem
nach ihnen zu offenbaren gegeben war — nicht bei größter Gunst, geschweige denn bei Mißgunst der
äußeren Lebensschicksale.
Und so glaube ich denn, daß es des laufenden Jahrhunderts vornehmste Aufgabe sein wird,
gut zu machen, was der Irrtum des verflossenen entstellt hat; insonderheit aber hoffe ich, daß man
bald auch die Bedeutung der technischen Mittel im oben angedeuteten Sinne einsehen wird, — welche
Einsicht dann sicherlich zur nächsten führen muß, wonach Programm und Musikdrama eher als
Hindernisse der musikalischen Freiheit, denn als deren Sporn und Segen sich erweisen. Dann wird man
wohl auch begreifen, daß der Atem der Musik nur ein künstlicher ist, wenn ihr ein Programm von
Vorstellungen oder Worten eingeblasen wird ; daß alle Lebendigkeit in solchen Fällen nur eine geborgte,
künstliche und unnatürliche, und daß die Vorgefaßtheit — der Tod aller Kunst — wie Schweißperlen
namentlich auf die Stirne der musikalischen tritt. Man wird sich dann fragen, warum denn die
wiedergespiegelte Freiheit einer fremden Kunst vorziehen der eigenen, wenn diese schon einmal so
herrlich geblüht und noch bis zur Stunde ihre Lebensfähigkeit nicht eingebüßt hat!?
V,
Einige Anmerkungen zu den spezielleren Vorzügen in den Bach'schen Klavier-
werken.
Im Anschluß an die Analyse der Vorzüge der Bachschen Klavierwerke im Allgemeinen sei
mir nun gestattet, auch im Speziellen auf einige besonders hervorragende Züge in meiner Ausgabe
kurz hinzuweisen. Darf ich mich nun nach der vorausgegangenen theoretischen Ausführlichkeit der
Hoffnung hingeben, daß keinem fachkundigen Leser mehr die Herrlichkeiten dieser Werke noch ver-
borgen bleiben könnten, so möchte ich mich dennoch nicht der gewiß nicht sehr verlockenden Pflicht
entschlagen, zu Gunsten fachlich etwas weniger vorgebildeten Leser einen Cicerone zu machen, wofür
ich aber die Nachsicht der Kundigeren mir erbitten muß.
Andante der Sonate I, pag. 6. Im Takt 8 beachte man den Eintritt des neuen Gedankens
bei beginnender Modulation; dann sehe man, wie derselbe Gedanke noch in den Takten 20 bis 21,
33 bis 35 und den beiden letzten Takten, u. zw. allemal mit je einer anderen psychologischen Funktion,
wiederkehrt. — In den Takten 29 bis 31 genieße man den Ausdruck des Motivs, wie er besonders,
durch den Wechsel von / und p gesteigert wird.
U.-E. 812.
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Allegretto. derselben Sonate pag. 7. Welche Wirkung des neuen und so seelenvollen
Motivs in der „Kadenz" der letzten vier Takte des ersten Teiles: ist dies wirklieb nichts mehr, als bloß
das, was man gemeinhin Kadenz nennt?
Allegro der Sonate II, pag. 13. Außer der bereits zitierten Gruppe (Takte 6 bis 17) sei
hier die Wiederkehr des ersten Gedankens (Takte 1 bis 3) als eines Schlußgedankens — in d-dur
hervorgehoben. Dieser bei Bach öfter anzutreffende Zug hat offenbar auch die spätere Praxis der
Klassiker beeinflußt.
Allegretto der Sonate III, pag. 19. In den Takten 7 bis 8 eine eruptive Modulation —
sicher weit mehr Gedanke, als bloß mechanische Modulation. — Über Anregung des Taktes 8 sodann,
welche Fortsetzung in den Takten 9 bis 10 (im p), und wie voll humoristischer — motivischer wie
dynamischer — Kontraste der Schlußgedanke!
Sonate IV, pag. 21. Im Takte 5 der Knotenpunkt zu beachten. — Im Takte 8 ein neuer
Gedanke über der Dominante der neuen Tonart. — Im Takte 14 Einsatz des Gedankens beim dritten
Viertel. — Im Takte 16 eine bescheidene Rückerinnerung an Takt 6.
Andante drs. Sonate, pag. 24. Hier besonders zu beachten die Rückmodulation von
c- nach /-dur: namentlich das Cantable der Takte 20 bis 21 — welches Singen auf dem Klaviere und
doch wie rein klaviermäßig nur!
Allegro di molto drs. Sonate, pag. 26. In den Takten 5 bis 8 jede harmonische Station
zugleich ein neues gedankliches Ereignis, voll Geist und Witz. Außerdem bemerkenswert die Wieder-
kehr des ersten Motivs am Schluß des Teiles.
S o n a t e V, p a g. 30. Der mensurierte und scharf rhythmisierte Mordent des Taktes 1 (linke Hand)
wird zu einem Motiv, das den ganzen Satz geistig bindet: vergl. Takte 5, 8, 12, 13, 27 und 39.
Poco Adagio drs. Sonate, pag. 38. Das Motiv des dritten Viertels vom Takt 2 tritt führend
im ersten Viertel de3 Taktes 6 auf; es diminuiert sich zu 32teln in den Takten 8, 9, 11, 13 u. zw.
in allen diesen Takten wieder verschieden individualisiert durch Unterschiede im legato, non legato
sowie im Umfang des Legato-Bogens. — In der Gruppe Takte 6 bis 14 ist die stete Bereitschaft der
ausdruckvollen und singenden Wendungen zu bewundern, die schöne Mischung von a-dur und a-moll
(in den Takten 11 bis 12) und der Beginn der Dominante zur Eröffnung des a-moll.
Allegro drs. Sonate, pag. 42. Man bemerke die Situationen der Takte 8, 25,29, 36. Sehr
überraschend und originell ist die Lage der Takte 36 bis 38, zwischen den parallelen Gruppen 29 bis 36
und 39 bis 46. Ist das auch nichts als bloß die übliche Form?!
Sonate VI, pag. 48. Zusehen: Der Effekt des jfp in dem Takte 23 u. f., die Mannigfaltig-
keit und Gegensätzlichkeit der Bestandteile, aus denen der /-dur-Gedanke (Takte 17 bis 24) zusammen-
gesetzt ist, die tiefsinnige, rezitativische Sprache der Durchführung und, als besonders interessant, in den
Takten 45 bis 52 die Transposition des Schlußgedankens noch in die Durchführung vor der Reprise.
Cantabileemesto (drs. Sonate), pag. 53. Dieses Stück wäre man geneigt, als einen der
höchsten Gipfel der B achschen Kunst zu bezeichnen. Keinerlei Wort ist beredt genug, die Tiefe der
Empfindung auszudrücken, die einen solchen Inhalt aufzurollen vermag, so ohne Hemmung und Stillstand,
nur immerzu strebend, der nächsten Vision, dem nächsten Augenblick entgegen, und doch wieder zugleich
eine jede Gegenwart aufs Tiefste und Innigste erfüllend. Im besonderen sehe man die Taktgruppe,
12 bis 35 — welches Ganze und welche Teile! — und in ihr die Mischung von 6-dur und 6-moll (in
den Takten 16 bis 23). — Ferner bewundere man die freien Gedanken-Permutationen in der Reprise
die ab Takt 37 läuft: zunächst werden Engführungen — wahrlich eine kleine, große Welt für sich! —
eingeschaltet, besonders genial in den Takten 43 bis 46; die Situation des Taktes 52 ist nun die gleiche,
wie die des Taktes''ll, und entgegen aller Erwartung folgt nicht etwa der Inhalt der Takte 12 u. s. w.,
sondern ein neuer Gedanke in den Takten 53 bis 60; erst in dm Takten 61 bis 62 lenkt die Reprise
wieder ein, indem sie den Inhalt der Takte 26 bis 27 aufnimmt; gleichwohl wird dann urplötzlich mit
seltsamster Freiheit noch der Inhalt des Taktes 8 bis 9 eingeschaltet, bis endlich 11 Takte vor Schluß
die Reprise wieder an Takt 28 anknüpft und von hier aus mit freier Kadenz sich vollständig abrollt. —
In thematischer Hinsicht wäre zu beachten, wie sich das Grundmotiv des Taktes 1 verkleinert wieder-
findet. Es wäre nicht unmöglich, daß gerade von diesem Grundmotive auch die Umkdirung in den
U.-E. 812. q
18
Takten 12 bis 14, wie die gerade Bewegung im Takt 15 (vergl. hiezu auch Takt 24) herrühren. Andere
Funktionen desselben Motivs sind zu finden in den Takten 6, 22, 37 u. s. w.
Sonate VII, pag. 57. Parallelismus der Takte 14 bis 15 zu 1 bis 2 — ein Vorbild für die
späteren Klassiker! Das Pathos in der Durchführung, die entzückenden Ornamente in der Reprise!
Larghetto drs. Sonate, pag 60. Feinste dynamische Nuancierung. Die Situationen der
Takte 9 bis 13. Die Harmonien in den Takten 29 bis 32. Am Schlüsse noch das hohe Pathos, wie es
später nur Beethoven allein eigentümlich gewesen.
Allegro assai drs. Sonate pag. 62. Das Überstürzen immer neuer Gedanken, voll jenes
kuriosen Humors, wie ihn dann Haydn so einzig wieder zu treffen gewußt hat: wie sehr erinnert doch
an ihn die kleine Fermate in den Takten 27 bis. 28, noch mehr das überhängende eis in Takt
38 bis 39.
Sonate VIII, pag. 66. Herrlichstes Pathos der Stimmung. Die Wucht der Takte 21 bis 22,
denen man durchaus aber die Takte 31 bis 32 gegenüberstellen wolle. In der Durchführung wird
offenbar das erste Motiv, beziehungsweise dessen Anfang verarbeitet, wie auch die gebrochenen Triolen
in den Takten 45, 47 und 55 wohl darauf zurückzuführen sein mögen.
Andante drs. Sonate, pag. 70, In den Takten 6 bis 10 fällt die Verschiedehartigkeit der
Elemente, die die Modulation bedeuten, auf; in den Takten 12 bis 13 die absonderlich originelle
Dynamik: parallel verlaufend zwei entgegengesetzte dynamische Skalen, nämlich / — piü / — ff und
p pp — p, so daß, während sich in der einen Skala / bis zum piü / steigert, gleichzeitig
in der zweiten p zum pp heruntersinkt. Die Takte 19 bis 21 enthalten zwar nur eine Kadenz (nach i-moll),
jedoch welche Seele ist dieser Kadenz eingewoben, und wie klingt es nur voller Worte dieses mysteriöse,
tiefsinnige Rezitativ ! — Welche Kühnheit, ein Motiv, wie das des Basses vom Takt 1 in die Sopranlage
zu versetzen, siehe Takt 24! Und nun gar erst das Ereignis des Taktes 27, das in dieser Art wohl
einzig in der Gesamtliteratur dasteht, ein Beispiel genialster Romantik ! (Vielleicht könnte man höchstens
als nahe verwandt die Stelle in Haydns Klaviersonate cismoU1), 1. Satz und als ferner verwandt die
berühmte Hornstelle aus der Eroica-Symphonie Beethovens2) knapp vor der Reprise ansehen.)
Der Inhalt des Ereignisses ist: im Takte 26 bis 27 eine kleine Kadenz nach c-moll; hierauf
folgen Pausen von 3 Vierteln, wo dann mit Beginn des Taktes 28 die Reprise in /-dur einsetzt, u. zw.
indem die Tonika selbst die Harmonien eröffnet. Sieht man von den Pausen ab, so ist es, harmonisch
betrachtet, eine Folge von c es g und / a c, beider Akkorde aber mit Tonika-Bedeutung. Bülow bespricht
diese Stelle ausdrücklich im Vorwort seiner Ausgabe und nennt sie „eine ziemlich wundersame Ellipse
oder Aposiopese, die mir zu kantig erschien, als daß sie nicht hätte vermittelt werden sollen", und kurz
zuvor „eine grammatikalische Kühnheit von großer Seltenheit, der gegenüber ich mich reaktionär ver-
halten zu müssen geglaubt habe". So sehen wir also, wie einen der freiesten Söhne des XIX. Jahr-
hunderts Kobolde einer naiven Grammatik — weiß der liebe Himmel, an welche er daefete — necken,
wo ein Genie des XVIII. Jahrhunderts ein Machtwort gesprochen. Fast kindisch mutet einem die heiße
Bemühung an, hier zwischen c-moll und /-dur zu vermitteln, um so, mit gutem Erfolge, den Meister
— um eine seiner genialsten Ideen zu bringen. Auch Bach wird doch wohl gewußt haben, daß c e g
nach /-dur besser führt als c es g; auch davon wird er wohl gewußt haben, daß jeder musikalische
Pf P
gÜ
iü
rnttttf?
n
£
£=m
U.S. IC.
moll
Die Kühnheit dieser Stelle beruht darauf, daß auf gis $ \ = V in eis T^ii ) gar gis t] \ als = I in gis — - ) folgt.
Beide Harmoniefolgen aber, sowohl die oben zitierte bei Ph. Em. Bach als die von Haydn, wirken sicher über-
raschender und hinreißender, alp die heute so stark ge- bezw. mißbrauchten Polgen von Terzschritten mit Chroma
( vergl. Bd. I, § 141, 176).
■) Vergl. Theorien und Phantasien, Bd. I, § 88.
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19
Mensch dasselbe harmonische Gefühl, denselben Instinkt zur Diatonie hat: wenn er gleichwohl unter-
lassen hat, selbst fürsorglich c es g in c e g zu chromatisieren, — sollte man nicht gerade darum
annehmen, er habe viel eher auf den Instinkt des Zuhörers gerechnet, als daß er ibn hätte gar ver-
letzeu und zurückweisen wollen? Hat er doch offenbar für diesen noch eigens die Pausen geschaffen
damit er durch die Erwartung des Kommenden zu einer eigenen Mittätigkeit aufgestachelt werde.
Kommt nun der /-dur-Dreiklang, wie leicht hat es der Zuhörer zu merken, was der Autor von ihm
verlangt: daß er nämlich selbst, aus dem eigenen Instinkt heraus, die hier nötige Chromatisierung des
c es g nach c e g vollziehe. Es verschlägt nichts, daß ihm erst mit dem Eintritt des /-dur- Akkordes
die Tendenz des Autors, hezw. der Pausen offenbar wird: ist doch alle Musik — wie bekannt von
Haus aus auf ein ähnliches a posteriori gestellt. — Indessen scheint der Meister mit alledem sich noch
lange nicht erschöpft zu haben in diesem Satze. Wie muß man nur staunen, wenn er den Inhalt des
Taktes 19 bis 21 (die oben bereits zitierte „Kadenz") — das ohnehin Originellste und Differenzierteste,
das von Hause aus schon jede weitere Veränderung auszuschließen scheint — kurz vor Schluß dennoch
zu variieren noch die Kraft und Lust aufweist.
Andantino grazioso drs. Sonate, pag. 73. Hier beachte man dringend die Situationen
in den Takten 14 und 16; die Vielheit der Ideen von Takt 17 bis Ende des Teiles, und nicht zuletzt
die originellen Harmonien der Durchführung.
Sonate IX, pag. 76. Voll grandiosester Phantasie. Durch einen Halbschluß in Takt 7 wird
die Gruppenbildung der Takte 1 bis 11 ermöglicht: welches Vielerlei aber von Elementen und Kontrasten
setzen den Inhalt dieser Gruppe zusammen! Da in den Takten 11 bis 14 und 20 bis 22 die Bässe
der Takte 1 bis 2 (g fis e d c) wieder aufgenommen werden, muß man nicht daraus auf eine pro-
grammatische Absicht des Meisters schließen? Und erinnert das nicht einigermaßen an die Vorliebe
Beethovens für derlei programmatische Bässe, wie z. B. im ersten Satze des Streichquartetts, op. 132:
T. 1-2.
Vcll.
T. 7-8.
'ff f
Auffallend ist ferner in Takt 22 bis 23 der Parallelismus zu Takt 10; ist Derartiges etwa
schematisch zu nennen? Es wird auch, hoffe ich, den Spielern nicht entgehen, wie genau in den
Brechangen des Taktes 24 Vierundsechzigstel von Hundertachtundzwanzigsteln unterschieden werden —
eine Genauigkeit, welche später vielfach für Haydn und Beethoven vorbildlich geworden.
Andante drs. Sonate, pag. 80. Eine Improvisation, eine Eloquenz sondergleichen! Daß die
Harmonien nach 6-dur, /-möll, <7-moll u. s. w. modulieren, ist ja sicherlich nicht unwahr — aber wie
nüchtern und prosaisch wäre es, es besonders zu betonen. Was wären denn hier alle Modulationen ohne
jenes herrliche -kolztx per der Ideen, die unseren Geist in jene erhabenen Höhen entführen, wo alles
Materielle der Diatonien aufhört?! Stellt man Takte 9 bis 10 den Takten 25 bis 26 gegenüber, ebenso
Takte 11 bis 12 den Takten 30 bis 31, so findet man, daß die Takte 27 bis 29 — weil den Takten
7 bis 8 ähnlich — eigentlich vor den Takten 25 bis 26 hingehört hätten, während sie de facto erst
nach diesen zu stehen kommen: also wieder einmal eine Gedanken-Permutation, die mit einem Schema
wahrhaftig nichts gemein hat.
AUegro di molto drs. Sonate, pag. 82. Besonders beachtenswert: Die Gruppenbildungen,
die reizende Mischung von cü-dur und d-moll in den Takten 26 bis 37; nicht genug anzustaunen jedoch
die Kühnheit der Folge von es auf e g ä, pag. 84, Takt 23: wer macht heute dergleichen mit ähnlicher
Motivierung? Welches Improrisieren nun aber erst hinter es !
Nr. 10, pag. 86. Besonders lehrreich die über ais komponierte Kadenz, pag. 87, Takt 21 bis 24
von dem Sentiment des Stückes gar nicht zu reden.
Nr. 11, pag. 88. Delikateste Vorhalte in den Takten 4 und 5, denen man pag. 89, Takt 11,
12 und 13 gegenüberstellen möge.
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Nr. 12, pag. 92. Welche phantastische Romantik, welche Chromatik und Enharmonik, und
welche Virtuosität — vergleicht man Takte 16 bis 17 und 34 bis 35 mit Takt 1 und 2 — in den
Variationen !
Nr. 13, pag. 94. In den Takten 5 bis 13, welche Vielheit und Mannigfaltigkeit in so kleinem
Räume; wie so lieblich drängen hier die Teilchen, und wie löst das eine das andere so rasch ab, als
gelte es ihm das Wort vom Munde zu nehmen.
Nr. 14, pag. 96. Ein seither kaum wohl wieder erreichtes Beispiel eines Rondo, dem sich eine
herrlichste Variationenkunst zugesellt. Haben darüber nicht schon die vorausgegangenen Werke genügend
belehrt, so wolle der Spieler hier endlich einsehen, was alles als Veränderungen vor Bach bestenfalls
zu gelten das Recht habe, was alles mehr nämlich, als bloß die so unbeholfenen und linkischen
Wendungen, mit denen Bülow den Inhalt zu beglücken sich herausnahm. Angesichts eines solchen Werkes
sollte es doch endlich jedermann begreiflich werden, wie mindestens unwahrscheinlich es sein muß, an-
zunehmen, Bach hätte gerne das Recht auf Variationen dem Spieler eingeräumt, trotzdem er wohl sicher
wissen mußte, daß keiner ihm an Phantasie gleichkomme. — Zwischen den Repetitionen des Themas
selbst, welcher Wechsel, welche Mannigfaltigkeit, so z. B. pag. 97, Takt 3 bis 9; pag. 97, Takt 18 bis
Takt 10 der nächsten Seite; pag. 98, Takt 23 bis Ende der Seite 99 u. s. w. — Um die Disposition
des Stückes zu verstehen, ist es nicht unwesentlich, das Senken des Inhaltes von #-dur, pag. 98, Takt 11,
zu/-dur, pag. 100, Takt 1, und von hier wieder zu e-dur, pag. 101, Takt 1, zu beachten.
VI.
Vom Vortrag der Bachschen Werke.
Nun noch einige Worte über den Vortrag der Stücke, hauptsächlich über das Tempo und die
Taktfreiheit.
Im allgemeinen hat man das Tempo in den Kompositionen Bachs — wie überhaupt in denen
der alten Meister — um ein bedeutendes langsamer zu nehmen, als dies ein modernes Ohr fürs erste
vielleicht zugeben möchte. Insbesondere hüte man sich zu glauben, die Bewegungsmaße, wie z. B.
Adagio, Andante, Moderato, Allegro, Presto u. dergl., seien absolute und etwa von vornherein fest-
stehende Maße und daher vom Abstrakten auf das konkrete Stück nur so ohne weiteres anzuwenden.
Vielmehr prüfe man in jedem einzelnen Falle, in welchem Zusammenhange mit dem Ausdruck des
Inhaltes die Notierung des %, %, % etc. stehe, und lasse sodann den konkreten Inhalt selbst —
aber nur diesen allein ■ — darüber entscheiden, welcher Grad von Bewegung ihm nottue, damit er eben
„langsam" (adagio) oder „heiter" (allegro) u. s. w. erscheine und dadurch der ursprüngliche und — in
den klassischen Werken wohl einzig richtige — natürliche Sinn jener Kunstwörter zum Ausdruck
komme. Wir können uns auch in dieser Hinsicht auf den Meister selbst berufen; denn in § 10 des
III. Hauptstückes schreibt Bach: „Der Grad der Bewegung läßt sich so wohl nach dem Inhalte des
Stückes überhaupt, den man durch gewisse, bekannte italiänische Kunst- Wörter anzuzeigen pflegt, als
besonders aus den geschwindesten Noten und Figuren darinnen beurtheilen. Bey dieser Untersuchung
wird man sich in den Stand setzen, weder im Allegro übereilend, noch im Adagio zu schläfrig
zu werden." — Es erweist sich der musikalische Inhalt z. B. der ältereD Allegrostücke daher oft auch
schon bei verhältnismäßig geringerer Schnelligkeit „heiter" genug, und es ist sicherlich ein Mißgriff,
wenn wir ihnen lediglich einer vorgefaßten, abstrakten Allegrovorstellung zuliebe jene intensive
Schnelligkeit geben, die man ihnen heutzutage — ob nicht auch die moderne Nervosität mit Ursache
davon sein mag? — gar oft zu ihrem Schaden zuzumuten liebt. So wäre z. B. eine mäßigere
Schnelligkeit zu wünschen u. a. im Allegretto pag. 7, in der Sonate IL, pag. 9, im Allegro drs. Sonate,
pag. 12, in der Sonate III, pag. 16 u. s. w. Man hat eben niemals zu vergessen, daß, wie Bach
(a. a. 0.) sagt, die bekannten italienischen Kunstwörter doch nur „den Inhalt des Stückes anzuzeigen
pflegen", nicht aber den Grad der Bewegung — wie man irrtümlich glaubt — andeuten. Das Ver-
fahren nun, welches darin besteht, den Grad der Bewegung durch den Charakter des Inhaltes statt
umgekehrt bestimmen zu lassen, führt des weiteren auch zur Erkenntnis, daß in vielen, ja in den
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21
meisten Fällen das vom Autor gewünschte Tempo sich selbst bei vornotiertem 2/4 oder 3/4 u. s. w. eher
gerade noch in den kleineren Zeiteinheiten, wie z. B. 8teln und 16teln als in den größeren, nämlich 4tela
und Halben entscheidet.
Hat man das Tempo im allgemeinen gefunden, so hat man nichtsdestoweniger noch die Pflicht,
nach Bedarf etwaige Modifikationen daran im Laufe des Stückes anzubringen. Bach fordert sie aus-
drücklich, z. B. im § 8 des III. Hauptstückes: „Wiewohl man," — sagt er — ■ „um nicht undeutlich
zu werden, alle Pausen so wohl als Noten nach der Stränge der erwehlten Bewegung halten rhuss, aus-
genommen in Fermaten und Cadentzen: So kau man doch öfters die schönsten Fehler wider den
Tackt mit Fleiss begehen doch mit diesem Unterscheid, dass, wenn man alleine oder mit wenigen und
zwar verständigen Personen spielt, solches dergestalt geschehen kan, daß man der gantzen Bewegung
zuweilen einige Gewalt anthut; die Begleitenden werden darüber, anstatt sich irren zu lassen, vielmehr
aufmercksam werden, und in unsere Absichten einschlagen ; daß aber, wenn man mit starcker Begleitung,
und zwar wenn selbige aus vermischten Personen in ungleicher Stärke besteht, man bloß in seiner
Stimme allein wider die Eintheilung des Tacktes eine Aenderung vornehmen kan, indem die Haupt-
bewegung desselben genau gehalten werden muß." Ferner heißt es daselbst § 28: daß „man aus Affect
bisweilen so wohl die Noten als Pausen länger gelten läßt, als die Schreib-Art erfordert". Endlich er-
klärt er H., 9, § 3: „Zuweilen fermirt man aus Affect, ohne dass etwas angedeutet ist." u. s. w.
Es ist bekannt, daß man solche Tempoänderungen seit geraumer Zeit gerne auch Tempo
rubato nennt. Anders aber Bach, der das letztere von den Modifikationen im allge-
meinen sehr deutlich unterschied, u. zw. nur Stellen wie z. B. pag. 38, Takt 5 (vergl. daselbst
Anmerkung 2), pag. 76, Takt 15, pag. 77, Takt 9 oder pag. 17, Takt 17—19 u. dgl. kurz nur solche
Stellen, wo die Zahl der naturgemäß gebotenen Einheiten entweder überschritten oder nicht voll erscheint.
Zum Beweis dessen, was er in § 28 des III. Hauptstückes sagt: „Hierher gehört ferner das Tempo
rubato. In der Andeutung desselben haben die Figuren bald mehrere, bald wenigere Noten als die
Eintheilung des Taktes erlaubt. Man kann einen Theil des Taktes, einen ganzen, auch mehrere Takte,
sozusagen verziehen. Das Schwerste und Hauptsächlichste hierbei ist, dass alle Noten von gleicher Geltung
auch aufs strengste gleich vorgetragen werden müssen. Wenn die Ausführung so ist, dass man mit der
einen Hand wider den Takt zu spielen scheint, während die andere aufs pünktlichste alle Takttheile
anschlägt, so hat man gethan, was man thun sollen. Nur sehr selten kommen alsdann die Stimmen
zugleich in Anschlagen." Es war daher offenbar ein Mißverständnis, wenn selbst ein Mann wie Bülow
ganz entgegen der Absicht des Autors solche Rubatostellen in normale Einteilung zu bringen suchte.
Die hier gewünschte prinzipielle Verlangsamung des Tempo dürfte indessen dem Spieler nicht
sonderlich schwer durchzuführen sein, wenn er sich im allgemeinen der non legat o-Technik befleißigen
und im übrigen bemühen wird, die Manieren im Sinne Bachs so sorgfältig als möglich auszuführen.
Hierher gehören folgende Bemerkungen Ph. Em. Bachs:
IH., § 6. Einige Personen spielen klebericht, als wenn sie Leim zwischen den Fingern hätten.
Ihr Anschlag ist zu lang, indem sie die Noten über die Zeit liegen lassen. Andere haben es verbessern
wollen, und spielen zu kurtz ; als wenn die Tasten glühend wären. Es thut aber auch schlecht. Die Mittel-
strasse ist die beste; ich rede hievon überhaupt; alle Arten des Anschlags sind zur rechten Zeit gut";
und daselbst § 7: „Es müssen aber alle diese Manieren rund und dergestalt vorgetragen werden, daß
man glauben sollte man höre blosse simple Noten. Es gehört hiezu eine Freybeit, die alles sclavische
und maschinenmäßige ausschliesset. Au3 der Seele muß man spielen, und nicht wie ein abgerichteter Vogel."
Es ist klar, daß, wo eine jede Note, und sei es auch ein Zweiunddreißigstel, in ziemlich
geschwindem Zeitmaße durch einen eigenen Druck ausgezeichnet werden soll, (der zugleich aber von
der Taste infolge ihrer Elastizität erwiedert werden muß,) immerhin der Spieler mehr Zeit darauf ver-
wenden muß, als bei einer anderen Technik, wie dem legato, das solchen Druck nicht verlangt. Das Er-
fordernis aber des non legato wäre im übrigen mit folgendem zu begründen.
Auf dem Klaviere ist die Anschlagsart des non legato sicher eine natürlichere als die des legato
Oder anders: non legato, das die Elastizität der Taste ganz besonders in Anspruch nimmt, ist der primäre,
U.-E. 8l&.
22
legato dagegen nur ein sekundärer Zustand. Daraus folgt nun unzweifelhaft, daß, wo der Autor ein
legato haben möchte, er es eigens und besonders anzudeuten habe, u. zw. mit dem bekannten Zeichen
des sogenannten Legato-Bogens.
Mindestens für Bach scheint dieser Standpunkt der einzig richtige. Schreibt er doch selbst im
§ 18 des III. Hauptstückes: „Die Noten, welche geschleift werden sollen, müssen ausgehalten werden,
man deutet sie mit darüber gesetzten Bogen an. Dieses Ziehen dauret so lange als der Bogen ist." und
macht er doch von dieser Pflicht des AndeiHens des legato eigentlich nur zwei Ausnahmen: die eine
führt Bach im selben Paragraph an: „Man pflegt zuweilen der Bequemlichkeit wegen bey Stücken, wo
viele gestossene oder gezogene Noten hinter einander vorkommen, nur im Anfange die ersternzu
bezeichnen, und es versteht sich, daß diese Zeichen so lange gelten, bis sie aufgehoben werden." Die
zweite Ausnahme betrifft einige Manieren wie z. B. die des Trillers, Vorschlags, Schleifers u. s. w., bei
denen er „das Ziehen an die nächste Note" schon theoretisch ein für allemal fordert und daher auch
sich nicht mehr veranlaßt sieht, den Legato-Bogen ausdrücklich noch darüber zu setzen.
Es wird daher ratsam sein, von selbst ein non legato überall dort anzunehmen, wo er nicht
eben eigens den Legato-Bogen vermerkt hat. Keinesfalls aber — und das scheint mir die Hauptsache —
darf man sich biebei irreführen lassen dureh die verworrene und unklare Art, wie etwa heutzutage der
Legato-Bogen gebraucht wird, d. i. bald wirklich als solcher, bald aber als Phrasierungsbogen und bald
mit irgend einem gemischten Charakter. Indessen darf das non legato beileibe nicht mit einem staccatft
verwechselt werden. Denn die Note behält im non legato ihren vollen Wert, nur daß sie außerdem
(ähnlich wie beim non legato der Geiger) einen eigenen Druck bekommt.
Überdies mag man das non legato auch aus einem historischen Grunde als die naturgemäßeste
Art die ältere Klaviermusik zu spielen betrachten, insofern als die letztere dem noch älteren Vokalsatz
(dem a-cappella-Styl) immerhin näher steht, als die spätere Klaviermusik, und somit zwischen dem
ersten durchaus nur auf selbständigen Dreiklängen basierten Stil des Vokalsatzes und dem selbst-
ständigen Druck der einzelnen Töne im Vortrage auch der Instrumentalsätze immerhin eine eigen-
tümliche Analogie obwaltet. Freilich enthält auch der Satz Bachs Elemente des echten legato, d. i.
des legatissimo, nur sind sie bei ihm noch nicht so vorherrschend wie in der späteren Klaviermusik.
Wie bereits kurz angedeutet wurde, fordert die bequemere Ausführung der Manieren von selbst
das langsamere Tempo. Diese kausale Wechselwirkung von Manieren und Zeitmaß drückt der § 19 des
II. Hauptstückes (erste Abteilung) — freilich in einem anderen Zusammenhange (Bach will an dieser
Stelle nämlich zunächst nur einen theoretischen, kompositioneilen Rat erteilen, wie man „am gemäßesten
die Manieren anzubringen habe!) — folgendermaßen aus: „Alle Manieren erfordern eine proportionirte
Verhältnis mit der Geltung der Note, mit der Zeit-Masse und mit dem Inhalte des Stückes. Man
merke besonders bei denen Fällen, wo unterschiedene Arten von Manieren statt haben, und wo man
wegen des Affects nicht zu sehr eingeschränckt ist, dass, je mehr Noten^ eine Manier enthältj
desto langsamer die Note sein muss, wohey sie angebracht werden soll, ei
entstehe übrigens diese Langsamkeit aus der Geltung der Note oder aus dei
Zeit-Masse des Stückes. Das brillante, welches die Manier hervorbringen soll, muss also nichl
dadurch gehindert werden, wenn zu viel Zeit-Raum von der Note übrig bleibt; im Gegentheil mUsi
man auch durch ein allzuhurtiges Ausüben gewisser Manieren keine Undeutlich
keit verursachen; dieses geschiehet hauptsächlich, wenn man Manieren von vielei
Noten oder viele Manieren über geschwinde Noten anbringet." Und an anderer Stelle
im § 21 desselben Hauptstückes heißt es: „Wir sehen also, dass die Manieren mehr bey langsamer un(
massiger als geschwinder Zeit-Mass, mehr bey langen als kurzen Noten gebraucht werden u. s. w.'
Man merke gut, wie Bach die „lange Note4' definiert. Unter einer solchen versteht er nicht bloJ
die lang dauernde Note in einem langsamen Stück, wo es eben schon die langsamere Bewegung über
haupt macht, daß die Note länger dauert, sondern auch eine Note, die durch ihre eigene, d h. absolut
Geltung von längerer Dauer i*t, mag sie auch sonst in einem Stück von geschwinderer Beweguni
stehen. Wegen der letzteren Art langsamer Noten vergleiche man folgende Stellen: pag. 3, Takt $
U.-E. 812.
im Prestissimo der Sonate I; pag. 5, Takt 3 und 13 daselbst; pag. 7, Takt 10 im Allegretto derselben
Sonate u. s. w. Es ist freilich klar, daß in einem langsamen Stück eben wegen des langsameren Zeit-
maßes des ganzen schon ein J\ auch ein J (vergl. z. B. pag. 19, Takt 6), ja selbst ein i (vergl z B
pag. 54. Takt 27) noch immer die „lange Note" bedeuten kann, während in einem geschwinderen Stück
wegen des rascheren Tempos erst ein } oder J auf diese Wertbezeichnung Anspruch erheben kann
Als wichtigste Konsequenz des soeben Gesagten ergibt sich aber, daß der Spieler aus der Quantität
wie auch aus der Art der Manieren immer einen Rückschluß auf das Tempo des betreffenden Stückes
wird machen dürfen, u. zw. kommen in einem gegebenen Satz notenreichere Manieren vor wie z B
der „prallende Doppelschlag" (~) oder der gewöhnliche Doppelschlag ü b e r einer Note, so wird immerhin
ein mäßigeres Tempo - als offenbar vom Autor gewünscht - aus diesem Grunde anzunehmen sein
Mit desto mehr Recht, je öfter sie in demselben Stücke erscheinen. Man vergleiche hierzu:
Larghetto . . .
Andante ....
Allegro di molto
Allegro ....
Allegro moderato
pag. 12 wegen der Takte 2, 4, 7, 10, 13 u. s. f.
» 24 « n t, 8, 9, 10, 18, 20
n 2Q r, » „ 4, 6, 7,
n 42 n „ „ 6, 7, 34, 45"
n ^ t> n n 10, 11, 15, 19
n
Zum Schlüsse mögen noch ein paar Worte über Fermaten (vergl. II, 9) hier Platz finden
Die ausdrücklich „durch das gewöhnliche Zeichen eines Bogens mit einem Punkte darunter (/*)« ange-
deuteten Fermaten (§ 2) müssen verziert werden, besonders diejenigen (§ 4) „in langsamen und affectuösen
Stücken". Vergl. z. B. pag. 41, letzter Takt, pag. 73, "System 4, Takt 3, pag. 103, System 5, Takt 4
u. s. w. Vom Verzierungszwange ausgenommen werden nur Fermaten über Pausen, die (§ 4) „mehren-
theils im Allegro vorkommen und ganz simple vorgetragen werden". Die Verzierungen haben „weit-
läuft ig", jedenfalls weitläufiger als alle übrigen sowohl in Zeichen als auch in großen Noten dar-
gestellten Manieren zu sein. (Vergl. § 4 des Kapitels über Fermaten.) Damit stellt freilich Bach an
den Vortragenden durchaus keine geringen Anforderungen, denen wohl nicht besonders viele gewachsen
sind. Dieses Übel erscheint indes schon zu seiner Zeit bestanden zu haben, weshalb der Meister sich
veranlaßt sah, im letzten Paragraph des zitierten Kapitels noch hinzuzufügen: „Wer die Geschicklich-
keit nicht hat, weitlaüftige Manieren hierbey anzubringen, der kan sich zur Noth dadurch helfen, dass
er über einem vorkommenden Vorschlage von oben vor der letzten Note im Discante einen langen Triller
von unten anbringet. Findet sich aber in diesem Falle ein Vorschlag von unten, so trägt man ihn simpel
vor, und macht über der Hauptnote den erwehnten langen Triller. Bey Fermaten ohne Vorschlag hat
dieser Triller über der letzten Note im Discante ebenfalls statt." Ich fürchte fast, das dieser Passus
noch mehr für uns zu gelten haben wird, da die Stegreif-Phantasie wohl kaum seither reicher geworden
ist, eher aber noch abgenommen hat.
ü.-E. 812.
24
Die Manieren.
Allgemeines.
Unter Manier versteht Bach prinzipiell alle ausschmückenden Noten und Figuren, seien sie nun
mit großer Schrift geschrieben, daher in den Takt eingeteilt, oder auch nur in kleinen Nötchen aus-
gedrückt'). Als Manieren galten ihm also z. B. Figuren, wie Fig. 1, a, b, c, d, e, ebenso als ihm
Figuren wie f, g, h, i, als solche gegolten hätten, wenn er sie gekannt hätte:
Fig. 1.
a)Em. Bach.Son.VII 1. Satz
%b)
c) Son.V. Fat
d) Son. VIII. Pag. 74.
.3
e) J.S.Bach. Engl. Suite II.
im
TrrrFffirrrrii,fffff^^
. g) Beethoven. Son. Op. 111.
f) Mozart. Sonate. .*. — 7ö ^
Köchel N° 310.
et*-
h) Schumann. Op. 9.
2^
rITIT'T ir p pj^fggrffM rrrwp"**
i) Chopin, Mazurka, Op. 17. N° 4.
Diese große und tiefe Auffassung hat nun ihre eigenen Konsequenzen. So sieht er in jeder Manier einen
eigenen und eigenartigen Ausdruck, als wäre sie fast ein Lebewesen, das mit einem anderen ja durchaus
nicht zu verwechseln ist ; des weiteren unterscheidet er die Manieren auch dort, wo sie noch so verwandt,
ja bis zur Identität verwandt erscheinen ; auch ist ihm jede Änderung einer Manier außerordentlich
wichtig, weil er die sensibelste Empfindung eben dafür hat, wie sehr auch nur die leiseste Änderung
auch schon sofort den inneren Ausdruck verändert. Kurz, alles, was Manier heißt, ist ihm
nicht bloß Ornament, sondern wirklicher und selbständiger Ausdruck zugleich.
Leider erwies sich diese seine Auffassung der musikalischen Welt als zu unbequem groß: man
begnügte sich seither lieber damit, Bach falsche und kleinere eigene Auffassungen zu imputieren, um
dann dennoch über ihn zu urteilen, als hätte man ihn gar mehr, als er verdient, verstanden.
*) Vergl. bei Bach IT, 1, § 6: „Die Manieren lassen sich sehr wohl in zwei Classc.n abtheilen. In der ersten rechne
ich diejenigen, welche man theils durch gewisse angenommene Kennzeichen, theils durch wenige kleine Nötchen anzudeuten
pflegt; zu der andern können die übrigen gehören, welche keine Zeichen haben, und aus vielen kurzen Noten bestehen."
Und dazu daselbst § 7 : „Da die letztere Art von Manieren von dem Geschmacke in der Musik besonders abhänget und folglich
der Veränderung gar zu sehr unterworfen ist; da man sie bey den Clavier-Sachen mehrenteils angedeutet antrifft, und
da man sie allenfalls bey der hinlänglichen Anzahl der übrigen missen kan : so werde ich nur etwas weniges am Ende,
bei Gelegenheit der Fermaten davon anführen, im übrigen aber blos mit denen aus der ersten Classe zu thun haben,. . . . " u. s. w.,
2) Alle hier aus Em. Bachs Werken entnommenen Stellen beziehen sich auf die von mir herausgegebene
Sammlung von Bachs Klavierwerken. (lT. E. Nr. 548.)
IT.-E. 812.
25
Kaum sah man, wie Bach in seinem Buche eigens und in eigenen Kapiteln bloß den Vorschlag,
Triller, Doppelschlag, Mordent, Schleifer und Anschlag behandelt hat, flugs stürzte man, zumal bei
stetig wachsender Ausbreitung des Dilletantismus, Bachs grundlegende Auffassung um und nannte fortan
als Manieren nur die soeben aufgezählten Arten. Einfach deshalb, weil es der Oberflächlichkeit
nicht gelungen ist, davon Kenntnis zu nehmen, was Bach ausdrücklich schrieb: daß er nämlich die
letzten Arten eigen3 herausgreife, nur, weil sie sich durch ihren inneren Charakter einer Theorie
eben zugänglicher erweisen, als die unzähligen anderen Arten, die in jeder Hinsicht zu mannig-
faltig und zu wechselnd seien, um noch begrifflich und systematisch festgelegt werden zu können.1)
Nun, wäre dieses alles eine leidige Nomenklaturfrage geblieben, just das Schlimmste wäre es
gewiß nicht geworden. Leider aber brachte diese eine Oberflächlichkeit sofort eine zweite mit sich. Man
gewöhnte sich nämlich an, unter Manier dann lediglich nur ein Ornament zu verstehen, wo dann schließlich
von dieser zweiten Oberflächlichkeit zu der dritten nur mehr ein kleiner Schritt war zu behaupten,
Bach sei, wegen der Manieren, eben ein Manierist und daher im Grunde zu wenig ausdrucksvoll!
Bei dieser schreienden Ungerechtigkeit langte man also an, nachdem man die Manier ruißzu-
verstehen sich erlaubt hat. Nur ist diese Ungerechtigkeit — was sehr zu empfehlen ist — durchaus
nicht tragisch zu nehmen, wenn man bedenkt, daß die liebe, gute Welt gewiß nicht minder auch z. B.
das Adagio aus Beethovens Sonate op. 101 für ein manieriertes und ausdruckloses Stück zu halten fähig
wäre, wenn es durch Zufall nicht so ausgeschrieben wäre, als es tatsächlich ist, und nur mit Bachschen
Zeichen notiert erschiene.
Ob man je allgemein einsehen wird, daß sich eine echte Instrumentalkunst immer in
spielenden, nichtsdestoweniger aber auch ausdrucksvollen Figuren und Manieren vergnügen muß, wer
wüßte das heute zu sagen ? Sicher ist nur soviel, daß es eine allzu verwegene Utopie wäre, eine solche
Einsicht nun gerade von unserer Zeit zu erwarten, von einer Zeit, die ja einen offenbaren, wenn freilich
unter taubem Lärm angeblichen „Fortschritts" so krampfhaft negierten Bückgang aufweist und
unter dem Einfluß sowohl einerseits des Musikdramas als auch anderseits der in monoton-schwulstigem,
falschem Pathos verharrenden „symphonischen Dichtungen" jede echte Instrumentalkunst doch schon
längst eingebüßt hat.
I. Der Vorschlag:,
A. Der sogenannte lange Vorschlag,
a) bei Ph. Em. Bach.
§1-
Dem Vorschlag ist eine doppelte Funktion zu eigen: Die eine tritt im Harmonischen zutage, PtyehoioQie
wo der Vorschlag mit dem Vorhalt identisch erscheint und daher zugleich auch alle Eigentümlichkeiten Vor,c0h''oe8
und Wirkungen eines solchen offenbart; gleichzeitig aber dient die andere Funktion dem Melodischen:
indem nämlich der Vorschlag den durch die große Schrift veranschaulichten Wert der Hauptnote verkürzt,
schiebt er solchermaßen diese selbst um ein weniges hinaus, wodurch unsere Erwartung derselben um
einen schönen Spannungsreiz vermehrt wird. 2) (Ahnliche Zwecke wie die letztere Funktion des Vorschlages,
d. i. ein spannendes Hinausschieben des zu erwartenden Melodietones, verfolgen mit anderen und eigenen
Mitteln übrigens auch z. B. das arpeggio, das Nachschlagen u. dgl.).
*) Vergl. oben Anm. 1, Zitat II, 1, § 7.
•) Unvergleichlich schön beleuchtet Bach die Psychologie des Vorschlages mit folgenden Worten in H, 2, % 1 :
„Die Vorschläge sind eine der nötigsten Manieren. Sie verbessern sowohl die Melodie als auch die Harmonie. Im ersten
Falle erregen sie eine Gefälligkeit, indem sie die Noten gut zusammenhängen, indem sie die Noten, welche wegen ihrer
Länge oft verdrießlich fallen könnten, verkürtzen, und zugleich auch das Gehör fällen, und indem sie zuweilen den vorher-
gehenden Ton wiederholen; man weiß aber aus der Erfahrung, daß überhaupt in der Musik das vernünftige Wiederholen
gefällig macht Im anderen Falle verändern sie die Harmonie, welche ohne diese Vorschläge zu simple würde gewesen
seyn. Man kan alle Bindungen und Dissonantien auf diese Vorschläge zurück führen; was ist aber eine Harmonie ohne
diese beyden Stücke?"
U.-E. 812.
26
Notierung
des langen
Vorschlages.
§ 2.
Aus der Schreibart J. S. Bachs, wie sie z. B. folgende Stellen1) aufweisen:
rlg. 6. ^ Wm , a„rfri T fv„Myi+0 x cj daselbst Courante II.
a) Engl. Suite II. Courante. ^ j
#) Engl. Suite I. Courante I.
i
wr i w?wm^&
j -4%
y üd 41 i^iiJiftid ij ,j? jj/ ^-^^
f
?
f
rt
d.i. *Jv >J
/) Engl. Suite DI.
äO Engl. Suite H. Sarabande, c) Engl. Suite DL Gavotte. Sarabande, g) daselbst
jfyif^.i'frr-rrrii^ »■■■^■'|,itja5p
p
darf wohl geschlossen werden, daß offenbar auch schon er die langen Vorschläge oft genug mit dein
Wert notierte, in dem er sie wirklich ausgeführt haben wollte, also: in der wahren Geltung des
besonderen Falles. Bestätigt wird übrigens diese Vermutung auch dadurch, daß er im Gegensatz dazu
die kurzen Vorschläge gern bloß mit den Zeichen £• oder — s notierte2), z. B.
Fig. 3.
Engl. Suite I. Courante I.
j,yritrrrfy-irifPJ^ai
so daß es mindestens nicht immer besonders schwer fallen könnte, zu entscheiden, ob im gegebenen
Falle der Vorschlag lang oder kurz sei.
Und so scheint es nun, daß vom Vater der Sohn Emanuel diese Schreibweise der langen Vor-
schläge übernommen hat. Mindestens setzt letzterer die neue Kegel, den langen, sogenannten
veränderlichen Vorschlag seinem wahren Werte nach darzustellen, in seinem Buche
ein für allemal ausdrücklich fest8), woraus wieder hervorzugehen hat, daß gewiß doch auch seine eigene
Schreibart damit übereinstimmt.
Er notiert somit den langen Vorschlag stets nur in der gewünschten Dauer, gleichviel ob der Vorschlag
a) vor einer geradeteiligen oder h) vor einer nicht geradeteiligen Note steht. Es können sich dann
aber dadurch folgende Quantitätsverhältnisse zwischen Vorschlag und Hauptnote ergeben:
Flg. 4.
ad a) 3: 1,
*.i^m
fa=#
U.S. IC.
Beispiel :
ausgeführt:
Bach Tab. IV. Fig. XII. (a)
u.s.w.
2:2,
d i.
Jo 11 Jp flJl
U. S. VD.
*) Vergl. die hier zitierten englischen Suiten im „Urtext klassischer Musikwerke", J. S. Bach, Breitkopf & Härtel.
2) Doch kann nur aus der Situation selbst beurteilt werden, ob nicht anderseits dieselben Zeichen bei J. S. Bach
zuweilen auch noch Töne andeuten wollen, die auf Kosten der vorausgehenden (vergl. später Anhang, S. 71) — statt der
folgenden, wie es beim Vorschlag der Fall ist — ausgeführt werden sollen.
8) Vergl. II, 2, § 5: „Vermöge des ersten Umstandes hat man seit nicht gar langer Zeit angefangen, diese
Vorschläge nach ihrer wahren Geltung anzudeuten : Anstatt daß man vor diesem alle Vorschläge durch Acht-Theile zu be-
zeichnen pflegte. Damals waren die Vorschläge von so verschiedener Geltung noch nicht eingeführt ; bey unserem heutigen
Geschmacke hingegen können wir um so viel weniger ohne die genaue Andeutung derselben fortkommen, je weniger alle
Regeln über ihre Geltung hinlänglich sind, weil allerley Arten bey allerley Arten vorkommen können." Und daselbst § 17:
„Folglich ist am besten, man deutet alle Vorschläge sammt ihrer wahren Geltung an "
U.-E. 812.
Beispiele :
Son. V. Pag. 31.
5e5j II FRF::
Son.Il.Faü.lsi.
ausgeführt
Son.1V. Pag.s>4.
^f]yyl u.s.*.
U.ft. W.
27
oder 1 : 3,
* l t J-° |fe l*r l~.
Soa.VITI. Pag. 67.
Beispiele: j^gg^fe
iU^lbSU i)
ausgeführt::
Son. IX. Pag. HO. Son. VI. Pag. 53
9B5
s*
Son. I. Pag. 6.
Tyiij'il,jimri.jj,i^^g
ausgeführt:
1P
ad b) 2:1,
1. i. J
-€^
ÖEEÖ
U.S. w.
Beispiel : 319
Bach Tab. III., Fig. 1.
-7iJr n
oder 1 : 2,
Beispiele:
U.S. 10.
ausgeführt:
rr=T
t. i. I 'L°- iH-f fe~.
Son. VII. Pag. 61.
^'rrrfüL
sgeführt:EJfc^=-f | j j|
Son. VII. Pag.
W.A-.
Die Genauigkeit einer solchen Schreibart läßt absolut Dichts mehr zu wünschen übrig. Min-
destens nicht, so lange der lange Vorschlag mit der kleinen Schrift, d. h. als Manier dargestellt wird.
Was über jenen Grad von Genauigkeit noch hinausgehen könnte, war einzig nur mehr das, was schließ-
lich Haydn getan hat, indem er nämlich den langen Vorschlag, — bis auf den im allereinfachsten Ver-
hältnis 2 : 2 stehenden — zumeist mit in die große Schrift übernommen hat, wodurch aber, wie selbst-
verständlich, der Vorschlag in den meisten übrigen komplizierteren Zeitverhältnissen als Manier im
engeren Sinne einfach zu existieren aufgehört hat.2)
J) Falsch daher bei Bülow (Ausgabe S. 7), der den Vorschlag mit einem 16tel, statt einem 81«1, ausdeutet.
2) Bei der Auffassung Ph. Em. Bachs von den Manieren überhaupt und von den Vorschlägen im speziellen, ist es
indessen nur selbstverständlich, daß lange vor Haydn auch schon er den letzteren unter Umständen ohneweiters die große
Schreibart zuzubilligen für gut fand. Vergl. II, 2, § 2 : „Die Vorschläge werden teils andern Noten gleich geschrieben und
in den Tackt mit eingetheilt, teils werden sie durch kleine Nötgen besonders angedeutet, indem die größern ihre Geltung
den Augen nach behalten, oh sie schon bey der Ausübung von derselben allezeit etwas verlieren. " Oder daselbst § 21 :
„Dem ohngeacht pflegt man die Vorschläge oft deswegen in den Tackt mit einzutheilen, damit weder sie noch die folgende
Note ausgezieret werden" u. s. w.
U.-E. 812.
28
§ 3.
vom Vortrag j)er Akzent, das ist der Nachdruck, liegt auf dem Vorschlage selbst, sei er welcher
des langen . °
vorschiaaee. Geltung immer.
Das entspricht am besten der inneren Vorhaltsnatur des Vorschlages und nur die Intensität
des Akzentes ist es, die mit dem Maß der Vorhaltsquantität wächst und fällt.
Außerdem wird der Vorschlag an die nachfolgende Hauptnote stets nur im strengsten legato
angeschlossen. *)
b) bei Haydn, Mozart und Beethoven.
§ 4.
DieBaonsche Die Werke aller Meister nach Ph. Em. Bach belehren uns zur Genüge, daß sie in Bezug auf die
Schreibart Notierung langer Vorschläge durchaus zu Bachs Begel hielten, indem sie die letzteren entweder ganz
Regel be- ausschrieben oder als Manieren im engeren Sinne stets nur in ihrer wahren Geltung notierten, u. zw.
treffs der w^e Dereits oben gesagt wurde, meist in dem einfachsten Verhältnis 2:2.
Dauer der ° ° '
langen vor- Doch haben weder diese Tatsache in der Praxis der späteren Meister, noch auch die volle
schlage and- Deutlichkeit in der Lösung des Notierungsproblems, wie wir sie Bach selbst, u. zw. in Wort und
Praxis zuerst zu verdanken haben, durchaus ausreichen können, einen Irrtum zu beseitigen, der, an eine
noch weit ältere, vorbachsche Kegel sich klammernd, in der Frage der Ausführung langer Vorschläge
sich gar bis auf den heutigen Tag als sehr verhängnisvoll erwiesen hat.
Eiöstmals hatte diese Begel eine wirklich große, u. zw. eine doppelte Bedeutung. Das
war vor Bach.
Einerseits wandte sie sich an die Komponisten selbst, in dem Sinne nämlich, als sie diese
lehrte, unter den möglichen langen Vorschlägen vor allem als die normalsten und einfachsten die-
jenigen zu empfinden und zu schreiben, die die Verhältnisse 1:1 (beziehungsweise 2:2) oder 2:1 zum
Ausdruck bringen. Von welcher Norm aber zur Freiheit anderer komplizierter Vorschläge (z. B. 3:1,
1 : 3 oder 1 : 2 u. dergl.) fortzuschreiten es durchaus nicht verboten war, da vielmehr andere Regeln
wieder andere Situationen zum Ausgangspunkt nahmen, die eben der komplizierteren Vorschläge als der
geeigneteren bedurften. So haben sich Norm und Freiheit, beide in richtigem Sinne verstanden, nicht
nur nicht widersprochen und gegenseitig aufgehoben, sondern weit mehr ergänzt: die einfache Situation
forderte den einfachen Vorschlag in den Verhältnissen 2:2 oder 2:1, die verwickeitere den minder ein-
fachen2) in den Verhältnissen 3 :1, 1:3 oder 1:2 u. s. w.
*) Vergl. Anra. 2, S. 27, Zitat IL, 2, § 2; deutlich aber in § 7: „Ferner lernen wir aus dieser Abbildung zugleich
ihren Vortrag, indem alle Vorschläge stärker, als die folgende Note samt ihren Zierathen, angeschlagen und an diese
gezogen werden, es mag nun der Bogen darbey stehen oder nicht. Diese beyden Vorschriften sind dem Endzwecke
der Vorschläge gemäß, als wodurch die Noten zusammen gehänget werden sollen; man muß sie also so lange, bis sie von
der folgenden Note abgelöset werden, aushalten, damit sie gut binden. Der Ausdruck, wenn eine simple leise Note nach
einem Vorschlag folgt, wird der Abzug genannt." (Vergl. auch § 24 und § 25.)
a) Die Anweisung dieser Regel fließt übrigens genau auch mit der bekannten Regel des Kontrapunktes in der
vierten Gattung der Synkope zusammen, wonach nämlich im strengen Satz die Synkope u. zw. trotz verschiedenen anderen
Möglichkeiten, ebenfalls doch nur vor allem an den Verhältnissen 2 : 2 oder 2 : 1 festzuhalten und die übrigen Verhältnisse
zurückzuweisen hat. Was indessen durchaus nicht Wunder nehmen darf, da ja, wie schon im § 1 des Textes gesagt wurde,
Vorschlag und Vorhalt (also eben auch die Synkope des strengen Satzes) identische Begriffe sind. Und so ist es denn eben
nur in einem solchen rein kompositionellen Sinne zu verstehen (d. h. um auch einen angehenden Komponisten o. dgl. im
Gebrauch der langen Vorschläge für eventuelle Zwecke der Komposition zu unterweisen), wenn Bach im DL, 2, §11
mitteilt: „Nach der gewöhnlichen Regel wegen der Geltung dieser Vorschläge finden wir, daß sie die Hälfte von einer
folgenden Note, welche gleiche Theile hat, und bei ungleichen Theilen zwey Drittheile bekommen," und dazu aber auch
daselbst § 16 : „Außerdem, was bishero von der Geltung der Vorschläge angeführt worden ist, kommen zuweilen Fälle vor,
wo der Vorschlag wegen des Affects länger, als gewöhnlich gehalten wird, und folglich mehr als die Hälfte von der
folgenden Note bekommt (hier folgt das bereits oben in § 2 cit. Ex. Tab. TV, Fig. XII (o). Dann und wann muß man
aus der Harmonie die Geltung der Vorschläge bestimmen; wenn bey
Fig. 5. Tab.iy,Fig.XII.(b)
— JU=
die Vorschläge ein ganzes Viertheil ausmachen sollten" — zu dieser Lösung müßte die Regel des hier soeben cit. § 11
TJ.-E. 832. I
29
Anderseits hatte dieselbe Regel, freilich in einem anderen Sinne, statt dem Komponisten um
gekehrt auch dem Spieler zu dienen, u. zw. für den Fall, als der Komponist einen Vorschlag' wohl
notiert hatte, es aber unterließ, dessen gewünschte Dauer anzugeben, und statt einer solchen Genauig-
keit bloß einen Achtel Vorschlag aufs Papier setzte.
Pflegten doch, wie Bach selbst erzählt, die Komponisten alle Vorschläge, somit die langen wie
die kurzen, immer bloß mit Achteln zu notieren. ») Zu erraten nun, welcher Vorschlag lang und welcher
kurz sei, diente um jene Zeit eine Menge Regeln, die 2) eine Art künstlerisch-theoretisches Übereinkommen
bildeten zwischen Autor und Spieler. Wohl waren alle diese Regeln überaus feinsinnig — man kann
sogar sagen, daß sie namentlich durch die Art, wie sie mit allerdelikatesten Worten musikalische
Momente und Situationen zu beschreiben vermochten, unzweifelhaft eine sehr hohe Stufe musikalischer
Psychologie (eine höhere sogar als die von heute) vorstellten, — nichtsdestoweniger mag es dennoch
überaus lästig und auch schwierig gewesen sein, an der Hand dieser Regeln allemal sich für die Kürze
oder Länge des Vorschlages selbst entscheiden zu müssen. Doch, als wären diese Schwierigkeiten nicht
allein schon genug, hatte der Spieler überdies, wenn er nun endlich auf Grund der gegebenen Situation
und der ihr entsprechenden Regeln auf einen langen Vorschlag riet, noch des weiteren zu entscheiden
welcher Länge (ob z. B. im Verhältnis 2:2 oder 3:1, 1:3 u. s. w.) dieser Vorschlag im gegebenen
Falle zu sein habe. Und nun — einen kleinen Teil dieser neuerlichen Schwierigkeit zu beheben, war
vor Allem jene Regel berufen, indem sie mindestens für die normalsten Fälle das Maß der Länge eben nur
in den Verhältnissen 2 : 2 und 2 : 1 anwies.
Man sieht zunächst, daß diese Regel niemals im Sinne hatte, selbst zu definieren, wann der
Vorschlag als ein langer anzunehmen sei. Vielmehr durfte sie einsetzen, bis sich der Spieler aus
Gründen, die eben in den anderen Regeln lagen, bereits für einen langen Vorschlag entschieden
hatte. Und für diesen Fall selbst noch blieb sie im großen und ganzen ungenügend, da sie über andere
Längen als die Hälfte und zwei Drittel des Wertes, d. h. über ein mehr oder weniger, als diese Längen
eben sind, nicht mehr zu entscheiden vermochte, so oft genug auch solche Fälle vorgekommen sein mögen. 3)
Nun ist aber klar, daß die Regel gegenstandslos werden mußte, als Bach seine neue Schreibart
Zu gebrauchen begann. Denn was könnte sie noch sagen, wenn nunmehr der lange Vorschlag ohnehin
in seinen Verschiedensten und variabelsten Quantitäten ausdrücklich ausgeschrieben wurde? Und stand
die Wertquantität fest, die von der Hauptnote abzuziehen war, wozu galt ihre Anweisung? War also
die ausschreibende Art Bachs das Ende dieser Regel, so war an ihre Geltung nach Bach
doch gewiß umsoweniger zu glauben, als ja schon Haydn, wie gesagt, den langen Vorschlag als Manier
bis auf einen kleinen Rest fast ganz aufgehoben hat.
§ 5.
Daran aber festzuhalten, daß diese Regel seit Bach nicht mehr existiert, halte ich für sehr Das Endr*
wichtig. Insbesondere möchte hier die Logik der obigen Beweisführung nicht verkannt werden, widrigen- 8u,tat 'ür dia
fall» man leicht zu falschen Ausführungen in so manchen Beispielen den nachbachschen Literatur "pradftaT
gedrängt werden könnte. vortrage«.
ja von selbst führen, während Bach aber ausdrücklich ein R notiert und wünscht! — „so würden die zur letzten
Baß-Note anschlagenden Quinten eckelhaft klingen, und bey
Fia 6 Tab.IV,Fig.XILfc)
"mm
würden offenbare Quinten zum Gehör kommen, wenn der Vorschlag länger, als da steht, gehalten würde". Aus diesen beiden
Paragraphen aber ist wohlgeraerkt nicht mehr und nicht weniger als die Tatsache zu folgern, daß Bach bei der Komposition
(nicht der Ausführung!) der langen Vorschläge alle diese Möglichkeiten in der Phantasie wohl gegenwärtig hatte, was
aber durchaus nicht die andere Tatsache aufhebt, daß, sobald er die Wahl einer Dauer des langen Vorschlages aus diesen
oder jenen kompositionellen Gründen nun einmal getroffen hat, er nun für den Zweck der Ausführung diese gewählte
Dauer in ebenso deutlicher Geltung als Manier zum Ausdruck brachte.
1) Vergl. oben Zitat § 5 in Anm. 3, S. 26.
2) Vergl. z. B. in Ph. Em. Bachs Versuch oben II., 2, § 6 bis § 24.
8) Vergl. oben Zitat § 16 in Anm 2, S. 28.
U.-E. 812.
.30
Man denke z. B. an folgende Stellen:
Fl& 7- ,. d) Phantasie 4.
a) Mozart. Streichquartett D dur. o) Son.fur Ciavier. , Köchel N° 476
. ^ ^ \h K , Kochet N° 332. tfjKochel N? 811.. ^cn
Vhriii ifQii iIjj m h yir A r?
als kurzer Vor-
schlag ungefähr sos
P-*
1
ungelahr:i
Wollte man nun darauf jene alte vorbachsche Eegel anwenden, die man ja, wie oben ge-
zeigt wurde, nur durch Mißverständnis leider noch immer so allgemein glaubt und als bestehend annimmt,
so müßte doch die Ausführung gar wie folgt lauten:
c) d)
b)
g^m
m
Nun steht aber einer solchen Auslegung und Ausführung die ganze übrige Praxis Mozarts
gegenüber, aus der hervorgeht, daß, so oft Mozart den langen Vorschlag gebrauchte, u. zw. als Manier
in den Verhältnissen 2 : 2 oder 2 : 1, er ihn im Sinne der neuen Regel Bachs stets nur in seiner wahren
Geltung ausschrieb, d. h. daß er in den obigen Fällen also sicher geschrieben hätte:
^*-
h=k
^Mf
m
o)
£
lüü^
ggÜ
wenn er eben einen langen Vorschlag von der Dauer einer Hälfte (u. s. w.) hier gewünscht hätte.
Das Resultat ist also kurz gefaßt dieses: Seit Ph. Em. Bach (wenn nicht seit J. S. Bach schon)
werden die langen Vorschläge'als Manieren im engeren Sinne nur in ihrer wahren
Geltung (meistens in den Verhältnissen 2:2 und 2:1) notiert, und zwar ausschließlich so.
Angesichts einer so deutlich ausschreibenden Schreibart aber bleibt es weiters ein logisches Unding,
außerdem noch an eine Regel zu glauben, die von Haus aus zur wesentlichen Voraussetzung hat, daß
die Schreibart eben noch keine die wahre Geltung deutlich ausschreibende sei, wie es eben die
vorbachsche gewesen und so — infolge einer Konkurrenz zweier angeblich zu gleichem Recht bestehenden
Regeln — nur Verwirrung in den Vortrag zu bringen, mag es sich dabei um den Vortrag eines Klavier-
oder Violinspielers, eines Dirigenten oder auch die Anweisung zum Vortrag seitens eines Herausgebers
oder Lehrers handeln. *)
*) Gedankenlos genug, und offenbar nur um überhaupt etwas zu ändern, pflegen Herausgeber leider auch noch
diese wenigen, eben als Manieren fortkultivi^rten Vorschläge unserer späteren Meister, also gleichsam den letzten Kest der
langen Vorschläge ebenfalls in den ausgeschriebenen Zustand hinüberzuführen. Dieses halte ich einfach für ein Verbrechen
am guten Geschmack. Denn es liegt — man glaube es endlich — sicher auch Methode darin, wenn die Meister den langen
Vorschlag bald selbst voll ausschreiben, bald aber doch wieder mit kleiner Manierenschrift darstellen. In letzterem Falle
ist es dann entweder ein unabweisbarer thematischer Grund, oder — was durchaus nicht zu unterschätzen ist — einfach
nur Schonung des optischen Eindruckes der großen Schreibart, als deren vornehmstes Ziel es ja betrachtet werden darf, so-
zusagen die Hauptfabel der Töne ohne allzustarke Belastung durch unwesentliche Ornamente u. dgl. vor die Augen zu
führen. Es ist doch etwas anderes — u. zw. sowohl für Auge als Hand, — ob eine Stelle notiert erscheint, wie z. B. bei a)
oder wie bei b) der folgenden Figur:
Fi fr- 10. Haydn,
Br. Sc H., Volksausgabe N° 121.
In der Originalnotierung genießt das Auge mindestens den Anblick der kontrapunktisch in erster Linie entscheidenden Intervalle
der ersten Melodienoten der Figuren zu den Baßtönen (5, 3, 6, 8, 3), und dazu die kleinen Vorschläge deutlich nur als
Ornamente mitsamt ihrer zarten Dosis an Vorhaltsdissonanz (6, 8, 7, 9, 4,) — alle Werte gelangen so je nach ihrer Rolle
U.-E. 812.
81
B. Der kurze Vorschlag.
a) bei Ph. Em. Bach.
§ 1-
Der kurze Vorschlag teilt mit dem langen die beiden dem Vorschlag überhaupt eigentümlichen Psychologie
Funktionen (siehe oben A, § 1), nur daß diese nunmehr in einem Mindestmaß an Zeit zum Ausdruck
kommen.
§ 2.
Vorschlages.
kurzen Vor-
schlages
Ph. Em. Bach notiert den kurzen Vorschlag „ein, zwey, dreymahl oder noch öfter geschwänzt".1) Notierung des
Er begib!: siel.» dadurch allerdings des Vorteiles einer einheitlichen und in allen Situationen sich gleich
bleibenden Schreibart, doch teilt er im Buche ausdrücklich noch einige Kegeln2) als geltend mit,
wonach sowohl einerseits der Komponist für seine Zwecke der Komposition, als anderseits auch der
Ausführende für den Zweck des Vortrages über die Kürze des Vorschlages entscheiden können.
§ 3.
Davon gilt zunächst ganz dasselbe, was oben sub A, § 3, vom Vortrag des langen Vorschlages Vortrag des
gesagt worden ist! k"™9,'"-
Der Akzent liegt wieder beim Vorschlage. Und wenn es auch zuweilen wegen der allzu
geringen Vorhaltsquantität im kurzen Vorschlag scheinen könnte, als würde der Akzent auf die Haupt-
note selbst übersiedeln, so bleibt es darum immer noch richtiger zu sagen, der Akzent sei Privileg
nur des Vorschlages, was durchaus auch Richtschnur für den Vortrag zu sein hat.
Auch das Gebot des Legato in der Verbindung von Vorschlag und Hauptnote wiederholt Bach
beim kurzen Vorschlag noch einmal ausdrücklich. 3)
Was aber das eigentlichste Charakteristikum des kurzen Vorschlages, nämlich das Ausmaß der
Kürze betrifft, so nennt Ph. Em. Bach4) den kurzen Vorschlag zwar „unveränderlich" und wünscht
ihn „so kurtz abgefertigt, dass man kaum merekt, dass die folgende Note an ihrer Geltung etwas ver-
liehret", gleichwohl sind auch dem kurzen Vorschlag immerhin soviel verschiedene Dauer- und Nuancen-
möglichkeiten einzuräumen, so daß er, theoretisch „unveränderlich" kurz, in Wirklichkeit aber auf
das mannigfaltigste am Ausdruck teilnehmen kann.
Hat man doch zu bedenken, daß im Grunde ein jeder Vorschlag, so der kurze wie der lange,
nichts als einen Vorhalt vorstellt (der allerdings zugleich auch ins melodisch-motivische gerückt ist),
und daß eine solche Vorhalts quantität auf die Apothekerwage zu legen nur desto mißlicher sei, je
freier über jegliche metronomische Zeitgewichte hinaus sich die Melodie in Wirklichkeit ausleben will.
Und vielleicht auch gerade deshalb, weil Bach, wie wir oben sahen, die langen Vorschläge in
ihrer wahren Geltung bemaß, um sie, wenngleich noch als Manier, so dennoch aufs genaueste im Wert
fixiert, den übrigen mit großer Schrift fixierten Werten beizugesellen, mochte er das Bedürfnis haben,
in allen anderen Fällen sich die Freiheit im Ausmaß der Vorhaltsquantität zu bewahren. So hinderte
ihn das künstlerische Gewissen daran, den kurzen Vorschlag in eine pedantisch feste Regel und zugleich
pedantisch feste Schreibart zu bannen.
zur entsprechendsten Fassung — während bei b) sich alle diese Vorteile verlieren und nur eine indifferenziert-monotone
Masse kleinster Werte vor die Augen tritt, so daß, wer feineren Sinn hat, doch wieder erst in der Fantasie sich selbst
das Bild von a) zu rekonstruieren genötigt wird. Auch drückt die Hand des Vortragenden das Ornament des Vor-
Schlages unwillkürlich feiner aus, als das ausgeschriebene b bei 6)!
*) Vergl. IL, 2, § 13.
2) Vergl. II., 2, § 13 bis 15, auch § 23.
s) Vergl. Lt., 2, § 15, worin Bach sogar so weit geht zu sagen: „Da gestossene Noten überhaupt simpler vor-
getragen werden müssen 'als geschleifte, und da die Vorschläge insgesamt an die folgende Note gezogen werden: so ver-
steht ts sich von selbsten, daß bey diesem Falle ebenfalls geschleifte Noten voraus gesetzt werden."
<) Vergl. § 13.
ü.-JBl 812.
32
Ober die
Möglichkeit
von Kolli-
sionen In der
Notierung
des kurzen
und langen
Vorschlages
§4.
Es kann aber nicht entgehen, daß diese Notierung des kurzen Vorschlages, da sie eben eine wech-
selnde, nicht selten zu einer wahren Kollision mit dem langen Vorschlage fuhren muß der
ja zur Darstellung seiner variablen Längen sich doch ebenfalls der 16tel- oder 32tel- Werte bedient.
So z. B. steht ein J^ vor einem J oder ein J* vor eimen j, wofür ist der Vorschlag zu halten, für
kurz oder lang — da er doch in diesen Fällen beides sein kann?
Indessen bereitet die Lösung auch solcher Konflikte weniger Schwierigkeiten, als man befürchten
könnte *). Denn was vor allem hier ins Gewicht fällt, ist, daß, selbst eine Länge des Vorschlages angenommen
z. B. im zweiten und schwierigeren jener Fälle, der Vorschlag niemals mehr als bloß ein ^, d. h.
bestenfalls eben wirklich nur als ein J^ zu gelten habe, da, wie wir wissen, Bach den
Vorschlag von Haus aus mit P notiert hätte, wenn er ihn von der Dauer eines Achtels hätte haben
wollen. Dieses aber vorausgesetzt, bleibt nur mehr der Einfluß des Tempo zu erwägen. Ist das Tempo
nun rasch, so wird jener h-Vorschlag von selbst kurz wirken müssen, ob man ihn nun auch dem vollen
Werte nach, d. h. als lang, spielt. Mit anderen Worten : das rasche T e m p o verwischt leicht den Unter-
schied zwischen kurzem und langem Vorschlag, sofern dieser letztere etwa weniger als die
Hälfte des Wertes beträgt. Ist das Tempo aber mäßig, so daß es selbst im "j- Werte einen
inneren Charakterunterschied bereits begründet und daher es- zugleich Bedeutung für den Ausdruck
hat, ob hier der lange oder kurze Vorschlag, dann empfiehlt sich — meiner Ansicht nach — immer
zunächst den Vorschlag für lang anzusehen. Dem Gefühle wird sodann die musikalische
Situation von selbst, auch wenn man die Begeln Bachs über den kurzen Vorschlag nicht mehr im
Kopfe hat, unzweifelhaft Auskunft darüber geben, ob man ihr mit der Annahme des langen Vorschlages
gerade entsprochen hat. Sagt das Gefühl nein, so hat man den kurzen Vorschlag dann zu spielen, wobei
als kurz — und das ist eben die große, tiefe Bedeutung der künstlerischen Freiheit Bachs — alle Maße
unterhalb jenes langen Vorschlages (nicht also bloß das allerkürzeste Maß!), zu gelten haben.
Bedenkt man, wie unendlich viel solcher Maße es unterhalb e i n e s #N-, geschweige denn eines
J^- Vorschlages gibt, wenn sie beide nicht etwa für lange Vorschläge genommen werden, begreift man
den ungeheuren Inhalt jener Freiheit.
Hier einige Konfliktsfalle:
F&& Pag. 61.
a) PaS- 9- h) PaS- 18' c) Pa&- 30- h _Ä d) Pag. 49. £ jb , 'k , *>
y 5P,
e) Pag. 57.. Pag. 60
1 r "pvrr
U.S.W.
x) Gleichwohl muß den Herren Herausgebern das Eecht dringend abgesprochen werden, solche Konfliktsfälle heim-
lich (d. h. ohne daß der Spieler vom wahren Sachverhalt eines hier überhaupt vorhanden gewesenen Konfliktsfalles etwas
erfährt) und gar so unbedingt zu Gunsten eines langen oder kurzen Vorschlages zu entscheiden. Vielleicht irrt der Heraus-
geber und vielleicht würde gar der Spieler selbst die richtigere Lösung gefunden haben, sofern er nur den Originaltext
überhaupt zu Gesicht gekriegt hätte? Man sieht, es gibt immer wieder Ursachen und Ursachen, die Herren Herausgeber
daran zu mahnen, daß es ihre erste, ja allererste Pflicht sei, den musikalischen Originaltext so stehen zu lassen, wie sie ihn
vorgefunden haben!
a) Während Bülow des Unterschiedes in den Vorschlägen dieser beiden Beispiele (die nämlich das eine Mal 16*81 ,
das andere Mal aber 32tel sind), ganz und gar nicht achtet, und statt dessen beide Stellen ohne jede Feinfühligkeit in
gleichmäßiger Weise so redigiert (S. 55 u. 56):
Fig. 12.
$
fe
m
kommt dagegen der feinfühligere Baumgart (s. Vorwort, S. 9) über den Unterschied in der Schreibart dieser beiden Stellen
umso weniger hinweg, und er meint: „aber der Wechsel der Schreibart erweckt doch die Vermuthnng, daß ein Unterschied der
ersten . . . Stelle von der zweiten angedeutet sein soll, der Art, daß die 16-Theile betont u. an die folgende Note gebunden,
U.-E. 812.
33
§ 5.
Somit läßt sich als endgiltige Anweisung zur Ausführung des kurzen Vorschlages etwa folgende
Formel feststellen:
Das End-
resultat In
Als die letzte ohere Grenze des kurzen Vorschlages ist nur der lange Vorschlag selbst zu betrachten, tariommg
so daß das weite Reich des ersteren gerade aufhört, wo das des letzteren beginnt.
Im kurzen Vorschlage ist daher dem Spieler volle Freiheit gegeben, der er sich auch hingeben
darf, ohne zu befürchten, daß er gegen den Autor verstoße.
des kurzen
Vorschlages.
b) bei Haydn, Mozart und Beethoven.
§ 6.
In Bezug auf den kurzen Vorschlag blieb es genau so auch bei Haydn, Mozart und selbst Beethoven.
Auch diese letzteren Meister gebrauchen ihn mit verschiedener Notierung, als #% js, sogar auch, wie wir bei
Fig. 7a sahen, als JV Zieht man indes alle jene Fälle ab (die nicht allzu zahlreich sind), wo
der langeVorschlag als Manier in seinerwahren Geltung ausgeschrieben ist, — u. zw. immer
nur als ein J vor J oder J , als ein J^ vor einem J oder ^ vor einem ^ —so bleiben dann
von selbst alle übrigen Vorschläge eben nur als kurze zurück.
Es kommt auf dasselbe hinaus, wenn ich sage, daß Haydn, Mozart und Beethoven nur
eigentlich mehr kurze Vorschläge als Manieren schrieben, ausgenommen die wenigen Fälle
der in ihrer wahren Geltung (der Verhältnisse 2 : 2 oder 2 : 1) ausgeschriebenen langen Vorschläge, die
nur allzu leicht zu erkennen sind.
Nur bleibt es damit zugleich auch bei der alten Freiheit Bachs, diesen kurzen Vorschlag
mit Ausdruck zu behandeln, — wobei am Begriff des kurzen Vorschlages so lange nichts geändert
wird, bis der lange erreicht wird, d. h. wobei es nichts ausmacht, ob man des Ausdrucks halber ein
Atom Zeit mehr verliert, wenn nur nicht durch ein solches Mehr an, Zeit der Vorschlag schon als
lang herauskommt.
Hier einige Beispiele (vergl. dazu übrigens Fig. 7):
Fig. 13.
a) Mozart, Cl.-Son. Köchel N?810. ^Mozart^Strqu^dur. c)Beeth. Cl.-Son. Op.2. Nr.l.
fJE
-fem.
Zrv j Cr
üöS
^M
W N '™ls
fcfe
£
s
sf PP
PPW
K.SJ».
Es ist bekannt, daß wir seither den kurzen Vorschlag unabänderlich in folgender Notierung j
festgelegt haben. Niemals hätte diese Tatsache an sich allein schon einen Schaden bedeuten können, wenn sich
nicht unerklärlicherweise damit leider zugleich eine frevelhaft unkünstlerische Regel verbunden hätte, nämlich
also im Vortrage wie lange Vorschläge behandelt werden, während die 32-Theile ohne Accent, ganz nach der heutigen Art
kurzer Vorschläge zu spielen sind. Die erste Stelle hieße demnach etwa so:
Fig. 14.
| jyi^AiQ^i
u. es will uns scheinen, als ob der mildere Charakter, den sie dadurch bekäme, nicht schlecht zu dem sich allmählich
beruhigenden Schlüsse des ersten Theils u. des ganzen Satzes paßte, so wie der härtere Ausdruck der ganz kurzen Vor-
schläge in der Mitte des zweiten Theils dem erwartungsvollen Piano u. dem plötzlichen Porte, mit dem in das energische
erste Thema hineingeleitet wird, eine sinngemäße Färbung verliehe . . . ■ u. s. w. Wie denn eben Baumgart auch mit folgenden
Sätzen : „Ueberhaupt möchten wir in der Behandlung der Vorschläge, auch in solchen, wo bestimmte Kegeln gegeben sind,
der Freiheit des Spielers keine Ketten angelegt wissen. Es läßt sich aus Ph. Em. Bach selbst nachweisen, daß er die
Regeln als noimirende, nicht als uniformirende Vorschriften betrachtete." wohl eine starke Ahnung der echt künstlerischen
Lösung des Vorschlagsproblems verräth, ohne noch indessen ganz festen Boden dafür gefunden zu haben. Ich selbst aber
habe, gemäß den im Texte gebotenen Ausführungen, für die erste Stelle (S. 49 meiner Ausgabe) in Anmerkung 2) einen
„ausdruckvollen kurzen Vorschlag" gewünscht, „sich einem langen sehr nähernd, jedoch nicht völlig diesem gleich!"
für die zweite Stelle aber (S. 51, Anm. 1) einfach „kurze Vorschläge".
Fortsetzung
d. Bachschen
Prinzipien
d. Notierung
u. Ausführung
des kurzen-
Vorschlages
auch bei den
späteren
Meistern.
U.-E. 812.
34
die, den so notierten kurzen Vorschlag allemal wirklich aufs allerkürzeste zu spielen. Es ist nicht zu
sagen, wie viel durch eine solche Regel das künstlerische Zartgefühl^ Einbuße erleiden muß. Jedenfalls
ist gegen diesen Schaden der Gewinn nur minimal, der anderseits darin besteht, daß die Schreibart
des kurzen Vorschlages endlich eine fixe geworden ist. x) —
Als nicht ganz unwichtig möchte ich endlich noch folgende Bemerkung hinzunehmen bitten. Es
ist in der Natur der Sache gelegen, daß hier, bei den Vorschlägen, ein Lapsus des Autors nur allzu
leicht sich einschleichen kann, in dem Sinne, daß er z. B. ein #^ für ein #N, oder ein #^ für ein #n und
umgekehrt schreibt. So ist es denn geraten, solche menschliche Irrtümer bei Erledigung der Vor-
schläge immerhin als Möglichkeiten zu betrachten und sie mit in Rechnung zu bringen, wodurch gar oft
vielleicht dem Gefühle so manche Unannehmlichkeit erspart werden kann.
II. Triller.
Psychologie
des Tn.lers.
Notierung des
Trillers.
über den
Trilleranfang.
Der
„ordentliche" Triller samt seinen Abarten,
a) bei Ph. Em. Bach.
§i-
Der Triller bedeutet eine eigentümliche Verlebendigung eines Tones: Durch mehrfache Wieder-
holung eines und desselben Tones samt seinem oberen Hilfstone wird gleichsam die stete klangvolle
Gegenwart des Haupttones erzielt und dadurch dessen Dauer so recht ausgefüllt.
Indessen ist die Ausfüllung der Dauer nicht der einzige Zweck, sie geht vielmehr Hand in
Hand mit einem höheren Reiz, der von selbst schon durch die sinnliche Erscheinung der sich schnell
wiederholenden Tonpaare hervorgerufen wird. 2)
§ 2.
Als Zeichen des Trillers ist ~ ~, oder tr oder endlich ein einfaches -f- gebräuchlich.
§ 3.
Ein uraltes Trillergesetz, auch von Ph. Em. Bach in seinem Buch angezogen, 8) lautet: daß der
Triller „allezeit mit der Secunde über dem Ton" anzufangen habe.
Nun scheint mir dieses Gesetz weniger das wirklich zu verlangen, was es sagt, daß nämlich
wirklich allemal der Triller mit dem Oberton angefangen werde, als vielmehr bloß auf den kaum
merklichen nnd auch wenig beachteten Vorhalt von oben im Triller hinzuweisen, der sich durch
die wiederholte Abwechslung von Ober- und Hauptnote dann gleichsam von selbst vervielfältigt.
In der Tat ist es jene Vorhaltsnatur im Triller ganz allein, die entscheidet, ob z. B.
Fig. 15.
ein wirklicher Triller über c (mit der Hauptnote beginnend) oder nur etwa eine mordentähnliche Er-
scheinung über d ist, etwa wie:
a) Beethoven. Op.ölN? 2. b) Hayrin. Streichquartett. Op. 54. N9 3.
Fig. 16.
jg r^r>ejvPfPfPPPfPpg^
ihm nTgrn*TTn~p~
die eventuell auch als Triller von unten (mit einem Vorhalt von unten) aufgefaßt werden könnten.
x) Auch mahnt gerade diese Unabänderlichkeit unserer Notierung desto stärker einen Heraasgeber zur Vorsicht
in der Ausführung der Vorschläge! War es gegebenenfalls ein Fehler von ihm, irgend einmal einen langen Vorschlag
für einen kurzen auszugeben (vergl. S. 32 § 4), so wächst ja der Nachteil des begangenen Fehlers sicher nur damit, daß
der kurze Vorschlag dann eben wegen der neuen Schreibart wirklich beim Wort genommen und nur aufs allerkürzeste
gespielt wird. So verschlingt leider schon die Schreibart den letzten Best von Freiheit im Ausdruck des kurzen Vorschlages.
2) Vergl. II., 3, § 1: „Die Triller beleben den Gesang u. sind also unentbehrlich." Und daselbst § 7: „Ein
geschwinder Triller ist allezeit einem langsamen vorzuziehen; bey traurigen Stücken könnte ein Triller allenfalls etwas
langsamer geschlagen werden, außerdem aber erhebt der Triller, wenn er geschwind ist, einen Gedanken sehr."
•) IL, 3, § 5.
U.-E. 812.
35
Damit sich die entscheidende Vorhaltsnatur ausdrücke, scheint es aber durchaus nicht nötig zu
sein, daß darum der Triller wirklich allemal mit dem ersten Vorhalte selbst einsetze. Denn folgen, wie ge-
sagt, so viel noch der Vorhalte raschestens aufeinander, die sich als Vorhalte ja unzweifelhaft dokumen-
tieren auf Grund der gesamten übrigen harmonischen wie melodischen Situation,
so darf man wohl unbedenklich den allerersten Vorhalt zuweilen der melodischen Rücksicht opfern, ohne
befürchten zu müssen, daß deswegen allein der Triller als ein Triller von oben noch könnte mißverstanden
oder verwechselt werden.
Und so wird es immer am Ende darauf anzukommen haben, was im gegebenen Falle dringender
sei: etwa einer melodischen Rücksicht zuliebe der sofortige Anschluß der Hauptnote als Melodienote,
oder die Würze des ersten Vorhaltes. Darüber zu entscheiden, wird wohl immer Sache des Geschmackes
bleiben müssen.
§4.
„Der höchste Ton bey den Trillern", sagt Bach (IL, 3, § 8), „wenn er zum letzten mahl vor- über tas
kommt, wird geschnellet, d.i. daß man nach diesem Anschlage die Spitze des auf das geschwindeste
gantz krumm eingebogenen Fingers auf das hurtigste von der Taste zurücke ziehen und abgleiten
läßt." *) Unter „Schnellen" verstand also Bach einfach das, was das Wort selbst sagt: eben eine wirkliche
Beschleunigung, und insbesondere hier, im Zusammenhang mit dem Triller, wohl die Beschleunigung
des letzten Trillerpaares, um den Schluß des Trillers als solchen zu verdeutlichen.
Sieht man ihn außerdem noch beschreiben, was alles zu machen sei, damit solches „Schnellen" fein und
glatt herauskomme, wie namentlich Hand und Finger eine eigene Stellung anzunehmen haben, um nach
der letzten Note des Trillers von der Taste rasch herabgleiten zu können, und wie das Herabgleiten
endlich den gewünschten Effekt des Schlusses gleichsam hinter sich läßt, so muß es billigerweise ver-
wundern, daß so viel Unverständnis den ohnehin so geschickt malenden Worten Bachs entgegengebracht
wurde, und man statt jener einfachen Beschleunigung Gott weiß was für Akzente, Geheimnisse und Rätsel
der alten Klavierkunst2), die angeblich verschollen, hinter dem „Schnellen" vermutete. Und desto mehr
darf man sich über das Unverständnis wundern, als man ja wirklich alle Tage dieselbe Trillerausführuug
sehen und hören kann, auch schon bei nur halbwegs virtuosen Klavierspielern.
Nicht immer zwar gestattet der Fortgang des Stückes, d. i. das, was auf den Triller folgt, ein
solches Herabgleiten der Hand, aber man ist daran noch lange nicht gehindert selbst in Fällen, wie z. B. :
*%"•#■ ,. w c) Em. Bach.
a) J. S. Bach, engl. Suite IH. Sarabande. 0) tlavierkonzert D dur. pae 49
U.S.W.
Wie ja im Heruntergleiten der Hand weniger eine Unterbrechung des Tonstromes, denn ein mechanischer
Prozeß zu erblicken ist, eine Art Mechanik des Unterarmes und der Finger, die sich bestrebt, eine
jegliche physische Forciertheit der Hand (in Bezug auf die Ausführung des Trillers, besonders des Triller-
endes) wo nicht von vornherein auszuschließen, so doch mindestens im nachhinein sofort wieder gutzu-
machen und auszugleichen.
§ 5.
Der Nachschlag des Trillers besteht in der Verbindung der Untersekunde mit der Hauptnote, über den
Dabei ist es ganz irrelevant, was mit der letzteren nachträglich noch geschieht: ob nämlich ac !cWaa
die Hauptnote, wie bei a, wegen eines Punktes oder einer Fermate überhaupt anhalten, oder, wie
J) Vergl. überdies den unten S. 41 beim Pralltriller angezogenen § 36.
2) So schreibt Dr. Baumgart im Vorwort seiner Ausgabe S. 10: „Erwähnenswerth scheint nur, daß damals der
höchste Ton (Hilfston) bei den Trillern, wenn er zum letzten Male vorkam, geschnellt wurde, d. h. nach Bach's Erklärung
so gespielt, . . . (hier folgt das oben im Text gegebene Zitat) . . . Diese Vortragsweise bezieht sich aber auf die alten
Klaviere; auf dem Fortepiano war alles „Schnellen" schon damals schwierig . . . (hier wird § 36 angezogen), wenigstens
wo es leise gemacht werden sollte. Wir werden heut davon absehen oder uns mit einem leichten Akzent begnügen müssen.«
U.-E. 812. 5*
36
bei b, Halt machen muß vor einer Pause, oder ob sie, wie bei c, sofort Anschluß findet zur nächsten
Note, oder wie bei d, eine Synkope begründet, oder endlich, wie bei e, gar ein neues Motiv selbst an-
zufangen hat:
P,n 1» Haydn.Son. NQ 3t
" (U E N°4)
(t) Mozart. Son. Köchel. N? 331. ' ^ b) Mozart. Son. Köchel N9 284 .
c) Haydn. Son. N?5.(Ü. E.l.)
Beethoven, Rondo G-dur.
f P
ör)Beeth.Son.Op.UO.e)H^dnN9^
J.S. Bach, engl. Suite I. Haydn No 31
Darüber, wann der Nachschlag zu gebrauchen sei, entscheiden freilich am besten die Situation
der Stelle, wie der Geschmack des Spielers. Auch Bach gibt das ausdrücklich zu 2) — und desto stärker
ist der Eindruck dieser seiner künstlerischen Liberalität, je tiefsinniger die Kasuistik3) ist, die er dem
Nachschlage widmet.4)
Daß sonst der Nachschlag, oder was auf Grund verwandten Charakters diesen vertritt, in der
Ausführung an den Triller unmittelbar angeschlossen wird, versteht sich von selbst.6)
Über die Schreibart des Nachschlages, wenn dieser dem Triller ausdrücklich vom Komponisten
beigefügt ist, siehe den nächsten Paragraphen.
§ 6. S~~
Der Triller Daß der Triller so lange geschlagen werden müsse, als es der Wert der Note, über der das
bei einer Zeichen des Trillers steht, verlangt, ist selbstverständlich und bekannt. Weniger bekannt dürfte es aber
Note< sein, daß Bach dasselbe auch bei einer punktierten Note verlangte.
*) Mit diesem Beispiel Beethovens vergleiche man übrigens auch das folgende von Bach selbst, das dieser in
§ 24 unter „merkwürdigen" Exempeln anführt:
Tab. IV, Fig. XXXV.
Fi9- I9' £raüggfcEa^gg.gg|
und das er mit den Worten begleitet: „Bey a) sehen wir, wie der Nachschlag nach einer Haltung angebracht wird."
3) Vergl. II., 3, § 17: „Ein mittelmäßig Ohr wird allezeit empfinden, wo der Nachschlag gemacht werden kau oder
nicht. Ich habe dieses wenige blos Anfängern zu gefallen, u. weil es hieber gehört, anführen müssen."
8) Vielleicht läßt sich aber immerhin als eine Art Ergebnis feststellen, was Bach im § 13 mit den Worten aus-
drückt: „So sieht man hieraus, daß blos eine fallende Secunde diesem Nachschlage am meisten zuwider ist."
*) Verschieden vom einfachen Nachschlag beim Triller ist aber z. B. folgende Wendung in der VI. englischen
Suite von J. S. Bach:
Fig.. 20. gg
^Bb
erenjwra seil
cnsthlaff bezei
die, indem sie eine Antizipation beimischt (s. die eingeklammerte Tonfolge a— /), einen anderenjnrar selbständigen Aus-
druck ergibt. Man darf daher einen solchen Abschluß des Trillers durchaus nicht mehr blos als Nacnsthlag bezeichnen, und eben
dieses, und nichts anderes meint auch Ph. Em. Bach, wenn er § 21 sagt : „Wenn man dem letztern noch ein Nötgen beyfügt
Tab.IV,Fig.XXXlII.
Fig. 21.
Wsm
(vergl. eben auch J. S. Bachs Beispiel), welches man mit Recht unter die verwerflichen Nachschläge rechnen kan. . ." u. s. w.
s) Übrigens ausdrücklich zu lesen in § 21 : „Wenn man dem Triller einen lahmen Nachschlag anhängt...
Fig. 22. -l"b-lv'f'«x™1-
w
^s§
so begehet man eben so heßliche als gewöhnliche Fehler". Vergl. außerdem den unten zitierten § 14.
U.-E. 812.
37
In II, 3, § 14 erklärt Bach: „An statt, daß sonst die letzte Note von dem Nachschlage alle
zeit in der größten Geschwindigkeit mit der folgenden verbunden wird (/): so geschiehet dieses bev
punktirten Noten nicht, weil ein gantz kleiner Baum zwischen der letzten Note des Nachschlags u der
folgenden bleiben muß g). Dieser Kaum muß nur soviel betragen, daß man kaum hören kan " daß
der Nachschlag u. die folgende Note zwey abgesonderte Dinge sind. Da dieser Raum mit der' Zeit
Maasse ein Verhältnis hat, so ist die bey (g) befindliche Ausführung, allwo die Schwäntzung der letzten
Note des Nachschlags diesen Raum andeutet, nur so ohngefehr abgebildet. Es rührt dieses von dem
Vortrage der punktirten Noten, wovon in dem letzten Haupt-Stücke gehandelt werden wird her vermöge
dessen die auf Punkte folgenden kurtzen allezeit kürtzer, als tfie Schreibart erfordert' abgefertigt
werden. Die bei Ä) befindliche Verbindungen des Nachschlags mit der folgenden Note ist also falsch
Es muß ein Componist, wenn er diese Art von Ausführung verlangt, solches ausdrücklich andeuten « *)
Fig. 23.
f)
i
^
IS^i^
h) Tab.IV, Fig.XXVIi
Darnach gestaltet sich die Ausführung eines lebendigen Beispieles aber wie folgt:
Fig. 24.
ä) Pag. 49
Beim Triller Ph. Em. Bachs (vermutlich auch bei dem J. S. Bachs?) wird also, wenn die Note
punktiert ist, nicht schon dort angehalten, wo der Punkt beginnt — welche Art des Trillerns nämlich
die unsere von heute ist (vergl. Fig. |4, b) — sondern man hat vielmehr etwas über den Beginn
hinaus, oder besser: in den Punkt hinein zu trillern, so daß das Trillerende knapp etwa vor Ende des
Punktes abgesetzt wird (vergl. c).
Einmal aber so weit gelangt, darf man die nächste Note nur mehr verkürzt in ihrem Werte
bringen (hier beiläufig ein J§ statt des J\\ wie bei c) zu sehen ist.
Der Grund der Verkürzung ist der, daß die Hauptnote (am Ende des Trillers hinter dem Punkt)
in Verbindung mit der nunmehr verkürzten Note doch wieder nur eine Art rhythmisch-
motivischer Diminution der ursprünglichen Tonfolge (vergl. die Klammern bei a und c) vorstellt.
Um Bach nicht noch länger dem Mißverständnisse ausgesetzt zu lassen, dem er leider schon
lange genug ausgesetzt geblieben, gestatte man mir, dasselbe auch noch graphisch-optisch zu versinnlichen.
Nehmen wir an, dem 8tel / entspreche die Strecke m n, dem um die Hälfce verlängernden Punkte die
Strecke np und der folgenden Note a die Strecke pq als wieder einem 16tel: so pflegen wir heutzutage
für den Triller bloß die Teilstrecke m n zu verwenden, während np ganz der einfach ohne Triller
fortklingenden Hauptnote gewidmet ist, worauf dann natürlich die folgende Note a ihre ursprüngliche,
durch p q versinnbildlichte Dauer behält. Anders Bach : Am liebsten möchte nämlich der Meister, wie
eben geboten, dem vollen Werte nach, also von m bis p, d. i. volle drei 16tel lang, trillern: dieses
müßte jedoch dazu führen, daß die nächste Note et sich ohne jeden Zwischenraum direkt an den Triller
anschließe, dabei allerdings ihren vollen Wert pq unvermindert beibehaltend. Nun fordert aber der
motivischrrhythmische Sinn der Tonfolge, — welcher klar zutage tritt, sobald man sich nur den Triller
einfach hinwegdenkt! — daß zwischen dem Ende des Trillers und der zweiten Note ein gewisses, wenn
auch minimales Spatium sich ergebe. Dieses Spatium hat offenbar doch nur p!ie einzige Aufgabe, zu
versinnlichen, was die ursprüngliche Tonfolge eigentlich gewollt hat, bevor ihr noch der Schmuck des
Trillers zugedacht worden ist. So trillert nun Bach bis knapp vor p, etwa bis x; und nun — soll das
eben erwähnte und begründete Spatium eintreten, so muß der zweite Ton a zu Gunsten des Spatiums
ein klein wenig von seinem ursprünglichen Werte p q, etwa den Teil p y, abgeben. Auf diese Weise
entsteht eben die Verkürzung des letzten Wertes; Kurz, diese Ausführung ist die Lösung eines Konfliktes
*) Vergl. überdies § 13 und 21, worin er wiederholt einschärft, daß „die Triller . . so lange geschlagen werden
müssen, als die Geltung der Note, worüber er steht, dauert".
U.-E. 812.
38
und das denkbar glücklichste Kompromiß zwischen der Forderung des Motivischen und dem natürlichen
Grundsatze, daß der Triller so lauge geschlagen werde, als eben die Note über der er steht, dauert
y
4-
m
n
P
9
Warum sich hier aber die Schreibart von der Ausführung getrennt hat, ist, wie folgt,- zu erklären.
Teilt die Schreibart ihre Werte nach jenen Noten ein, die sie mittels ihrer großen Schritt darzu-
stellen hat, so darf sie nicht zugleich, wenn sie anders nicht das Auge verwirren und ihr Prinzip einem
Mißverständnisse aussetzen will, einen zweiten nud ebenbürtigen Einteilungsgrund in den sogenannten
Zeichen suchen, die ja eben erst nur Zeichen sind, d. h. noch lange nicht die Noten selbst, für die sie
stehen. Solange daher Töne bloß erst in Zeichen niedergelegt sind, darf man diesen letzteren noch keinerlei
Einfluß auf die große Schrift und deren Einteilung einräumen. Die große Schrift bleibt, wenn ich so
sagen darf, allemal nur mit sich selbst allein und kümmert sich weder um Zeichen noch deren Inhalt1).
Daher ist es unstatthaft und unlogisch zu schreiben, wie bei d. Hat aber die Ausführung nun einmal die
Zeichen in wirkliche, lebendige Klänge umgesetzt, dann freilich erwächst die Pflicht einer neuen Stellung
nähme gegenüber dem wirklichen Plus an Tönen, von dem ja die große Schrift nichts weiß.
Die neue Stellungnahme aber beruht, wie gesagt, in jener rhythmisch- motivischen Diminution, mit einem
Wort in der Verkürzung der nächsten Note.
Aus demselben Grunde notierte man auch die Nachschläge der Triller, wenn man sie mit in
die große Schrift aufnahm (was sehr oft geschah), nicht nach ihrem wirklichen Ausführungswert, sondern
nach dem Prinzipe der Schreibart der großen Schrift:
Fig. 25.
Em
Ü
Bach. Pag.31.
m
Pag.
12.
cy\v
Mozart. Son. Kö'chel N°4fi7.
k
J^t
fr
a
»
» ■
Der Triller a)
von unten und
W von oben.
§7.
Vom ordentlichen Triller unterscheidet Bach aber a) den Triller von unten und b) den von oben
Im IL, 3, § 22 sehen wir die Ausführung des „Trillers von unten":
Tab. IV, Fig. XXXIV.
Fig. 26.
u. dazu die Worte: „Weil dieses Zeichen außer dem Klaviere nicht sonderlich bekannt ist, so pfleg
dieser Triller auch meist so bezeichnet zu werden (*), oder man setzt das gewöhnliche Zeichen eine
tr. und überläßt dem Gutbefinden des Spielers oder Sängers, was für eine Art von Triller er da anbringen will
Der „Triller von oben" aber muß von vornherein, wenn ersieh überhaupt vom ordentlichen Triller mi
beginnender Obersekunde unterscheiden soll, durchaus folgende Gestalt gewinnen (vergl. § 28):
Fig. 27.
Tab. IV, Fig. XU.
ftU Hfl
rirrrrrrrrrrrri; ifjg^
:) Man vergleiche die bereits ob*:n im Abschnitt über die Vorschläge S. 27 zitierte Stelle II, 2, § 2 und erinnere sie
der naiv schönen Wendung: „indem die grüßein ihre Geltung den Augen nach behalten", der man nunmehr das richtig
Gewicht zu geben in der Lage ist. Somit hat, eben aus Anlaß der Manieren, die große Schrift die Geltung der Note
„den Augen nach" ganz andeis darzustellen, als sie, nach Abzug der auf ihre Kosten fallenden Manieren, in Wirklicr
keit zum Ausdruck kommt!
Ähnlich drückt sich Bach auch bei der Gelegenheit aus (in II, 7, § 5), wo ei ein neues Zeichen für den Schleif«
vorschlägt: „Das Auge kan unsere Bezeichnungsart leichter übersehen und die Noten bleiben in der Nähe beysamnien."
U.-E. 812.
39
„Außer dem Klaviere pflegt er auch dann und wann so angedeutet zu werden, wie wir bey (*) sehen"
heißt es bei Bach in § 27. Mit anderen Worten: Der Triller von oben muß zugleich auch den von unten'
durchlaufen, wenn er mehr als der einfache ordentliche Triller sein will.
§ 8.
Doch möchte ich noch durchaus bezweifeln, ob die obigen Ausführungen Ph. Em. Bachs auch auf
den Triller J. S. Bachs volle Anwendung zu finden haben. Vielmehr halte ich es für wahrscheinlicher
daß bei J. S. Bach das Zeichen des Trillers ~*f u. zw. selbst bei punktierten Noten, (vgl. besonders die'
Couranten in den Suiten) oft kaum wenig mehr als vielleicht nur gerade den kürzesten oder gar den PralltriUer
nicht aber noch jederzeit den Triller Ph. Em. Bachs in dessen vollem umfange bedeutete, der ja, wie wir wissen'
stets die volle Dauer der Note in Anspruch nimmt. J. S. Bachs ~~ scheint somit in Wirklichkeit oft etwa
bloß die Mitte zwischen dem Pralltriller und dem ordentlichen Triller zu halten.
Auch scheint mir bei J. S. Bach dasselbe Zeichen ~~ oft zugleich nur andeuten zu wollen daß
der Triller mit der Hauptnote selbst, nicht aber mit der oberen Sekunde anzufangen habe. Und gerade
das Zeichen > , das Ph. Em. Bach nur für den wirklichen Triller von oben (also für den potenzierten
eben um den Triller von unten vermehrten ordentlichen Triller!) verwendet, scheint bei J. S. Bach viel-
mehr wieder nur den gewöhnlichen ordentlichen Triller selbst zu bedeuten, der aber mit der oberen
Sekunde anzufangen hat.
Diese letztere Vermutung betreffs der anderen Bedeutung des ^~~ bei J. S. Bach möchte vor
allem darauf zu gründen sein, daß ja J. S. Bach einen solchen Triller nur zu oft auch bei Tönen notiert,
deren Dauer doch offenbar zu kurz scheinen muß, um den im Sinne Ph. Em. Bachs so umfangreichen
Inhalt des Trillers von oben in sich ganz aufnehmen zu können, u. zw. selbst auch dann noch zu kurz,
wenn das Tempo um vieles, sehr vieles langsamer genommen würde, als man es sonst heutzutage über-
haupt zu hören bekommt. Kaum wird aber die Vermutung schon dadurch entkräftet, daß Ph. Em. Bach in
§ 28 mitteilt: „Vor diesem wurde er öfter gebraucht, wie heute zu Tage", denn unter allen Umständen
wird eben auch „vor diesem" es allezeit wahr gewesen sein, was in demselben Paragraphen über den wirklichen
Triller von oben gesagt wird: „Da er unter allen Trillern die meisten Noten enthält, so erfordert er
auch die längste Note".
Außerdem scheinen für meine Ansicht, das ist dafür, daß >_ in den meisten Fällen bei
J. S. Bach eben nur den ordentlichen Triller mit beginnender Obersekunde andeutet, noch folgende Um-
stände dringend zu sprechen:
Erstens stellt z. B. das Zeichen ^.^ (vergl. insbesondere die engl. Suiten in der „Urtext" -Ausgabe)
sicher nur den allerkürzesten Triller vor, der gar nicht in der Lage ist, erst den geforderten Umweg
über den Triller von unten zu machen, wie z. B :
engl. Suite I.
Fig. 28.
engl. &uite l. ^ .
nicht etwa:
u. s. w.
Zweitens will dasselbe Zeichen z. B. in einem anderen Falle, wie etwa der folgende:
Fiq. 29. engl. Suite, I. allemande.
I
Die Auf-
fassung Ph.
Em. Bachs
und der
Triller bei
S. Baeh.
doch offenbar wieder ebensowenig den vollen Inhalt eine3 wirklichen Trillers von unten andeuten
es will wieder nicht heißen:
oder gar:
Fl9'3°' jü JJP^JftJjJJ^J^JJJi
— d.h.
da für die Beherbergung auch des Trillers von unten nebst dem doch, deutlich ausgeschriebenen und
ü.-E. 812.
40
gewünschten Nachschlag der Raum in dem einzigen hiefür zur Verfügung gestellten J zu eng ist, sondern
einfach nur: oder-.
Fig. 31.
| J3iJ"JJj|J3^Ja
was aber der Inhalt doch nur des ordentlichen Trillers samt Obersekunde und Nachschlag ist.
Halten wir nun mit diesem letzteren Ergebnis im besonderen den Inhalt des IL, 3, § 18 bei
Ph Em. Bach zusammen : „In sehr geschwinder Zeit-Maaße kan man zuweilen durch Vorschläge die Aus-
nahme eines Trillers bequem bewerkstelligen:
Tab ..VI, Fig. XXIX.
Fig. 32.
jjJTj^j^na
Die letzten zwey kurtze Noten drücken alsdenn den Nachschlag nicht übel aus.", so begegnen wir
in der Tat zu unserer Überraschung selbst noch bei Ph. Em. Bach, also um so viel später als bei
J. S. Bach, einem unsere Frage deutlich aufhellenden Winker daß es nämlich öfter gar nur darauf an-
kommt, die Wirkung eines einfachen Trillers überhaupt hervorzubringen, ohne Bücksicht auf die Schreib-
art die streng genommen, um vieles mehr zu wünschen scheint! Der Konflikt zwischen Schreibart
und Ausführung aber, wie wir ihn ja ohne Zweifel in beiden Fällen, also sowohl bei Fig. 29 als auch bei
Fig 32 vorfinden, wird dadurch ohneweiters leicht gelöst, daß man in den vom Komponisten an-
gesetzten Zeichen s , beziehungsweise «~ schon die sozusagen pro futuro- Andeutung der vollen Summe
der gewünschten Ausführung erblickt, einer Summe nämlich, in der bereits auch die Töne mitinbe-
griffen werden müssen, die die große Schrift anführt. Man hat also in solchen Fällen nicht erst zunächst,
wie dies schon für sich selbst allein (gemäß der Theorie) das Zeichen > oder nur ~~ zu wünschen
scheint, auf die vollinhaltliche Ausführung des Trillers zu dringen, um ihr dann außerdem erst recht
das nachzuschicken, was die große Schrift beifügt, - alles dieses wäre eben zu viel -, vielmehr fügt
man zu den vorhandenen und durch die große Schrift dargestellten Elementen des Trillers nur einfach
den Best hinzu, so daß man in der vollen Summe der Ausführung und erst nur in ihr, zum End-
resultat eben jenes Trillers gelangt, den der Komponist gewünscht und im Zeichen verkörpert
hat. Man kann daher, wenn man will, solche Erscheinungen etwa für zum Teil ausgeschriebene Triller
betrachten; doch wäre es freilich besser gewesen, wenn J. S. Bach, statt mit dem Zeichen mehr anzudeuten,
als er gewollt hat, wie dies oben bei Fig. 29 zu sehen ist, stets nur so korrekt geschrieben hätte, wie z. B. :
Fig. 33.
Englische Suite I.Gigue.
b) tr &'
^^
Denn bei diesem Beispiel o) braucht bloß das nötige Tempo hinzugefügt werden, um einzusehen, daß in
Wirklichkeit gleichsam ein Triller (wie bei b) gemeint ist, und zwar der allerkürzeste und mit Nach-
schlag, der aber des besseren Eindrucks halber fast ausgeschrieben ist. (Vergl. hiezu auch z. B.
engl. Suite V., „Urtext" -Ausgabe S. 43, 48 u. s. w.)
§ 9.
Der Prall*
triller.
*
Den Pralltriller(~)leitet Bach begrifflich vom ordentlichenTriller ab, als dessen Hälfte er ihn bezeichne
Es heißt bei ihm: IL, 3, § 30: „Der halbe oder Prall triller, welcher durch seine Schärfe
und Kürtze sich von den übrigen Trillern unterscheidet, wird von Clavier-Spielern der bey
Tab. IV, Fig. XV.
Fig. 34.
befindlichen Abbildung gemäß bezeichnet. Wir finden allda auch seine Ausnahme vorgestellt. Ohngeachte
sich bey dieser der oberste Bogen vom Anfange bis zu Ende streckt, so werden doch alle Noten bis au |
Ü.-E. 812.
41
das zweyte g und letzte / angeschlagen, welche durch einen neuen Bogen so gebunden sind, daß sie
ohne Anschlag liegen bleiben müssen. Dieser große Bogen bedeutet also blos die uöthige Schleifung."
Und daselbst § 31: „Durch diesen Triller wird die vorhergehende Note an die folgende gezogen, also
kömmt er niemals bey gestossenen Noten vor. Er stellet in der Kürtze einen durch einen Vorschlag
oder durch eine Haupt-Note an die folgende angeschlossenen Triller ohne Nachschlag vor."
Mit andern Worten : Ins Praktische der Ausführung wird die theoretisch ursprüngliche Formel
des *v hinübergeführt, indem deren erste Bindung einfach abgestreift wird, die ja eben nur als theoretisches
Symbol für den ersten Vorhalt im Triller anzusehen ist. Nach Wegfall der ersten Bindung aber bleibt
als Inhalt der Formel sodann übrig dasselbe, was man eben auch sonst allgemein in Wirklichkeit als
Pralltriller versteht und spielt.
In einer einzigen Hinsicht nur, u. zw. trotz, seiner theoretischen Herkunft, blieb bei Bach aller-
dings der erste Vorhalt immer auch noch praktisch maßgebend, nämlich in Hinsicht der Anwendung
des ~* überhaupt. Denn nur wegen des ersten Vorhaltes wendet Ph. Em. Bach den Pralltriller aus-
schließlich bei einer „fallenden Sekunde"1) an, als der einzigen Gelegenheit nämlich, die den
Vorhalt von oben zuläßt. (Nebenbei bemerkt, ist hierin kein Widerspruch gegen die Anwendung des
ordentlichen Trillers enthalten, da ja zur Klärung der Manier bei letzterem noch viel derselben Vorhalte
folgen, während beim Pralltriller nur ein einziger noch folgt, so daß auf diesen allein die Manier zu
stützen, zu Mißverständnissen dieser Manier überhaupt führen könnte).
„Dieses Schnellen allein macht ihn würcklich", sagt Bach2), und meint damit, die Figur sei
eben sehr schnell zu spielen, niemals etwa breit. —
Wenn der Pralltriller sich mit einer nächsten Note verbindet, so hüte man sich dabei —
aus Lässigkeit etwa — eine Triolenbildung aufkommen zu lassen, so gerne die Situation auch dazu
drängen möchte.3)
*) Vergl. § 34 :„ Dieser Pralltriller kan nicht anders als vor einer fallenden Secunde vorkommen." Späterhin
d. i. nach Bach gewöhnte man sich allerdings an, den Pralltriller auch hei anderen Gelegenheiten, als bloß der einer
fallenden Sekunde zu gebrauchen. Darüber ging aber leider der reine Typus des -~ verloren.
2) In DI., 3, § 32, wo es in Fortsetzung heißt: „und geschiehet mit einer außerordentlichen Ge-
schwindigkeit, so daß man Mühe hat, alle Noten in diesem Triller zu hören. Hieraus entstehet eine gar besondere Schärfe,
gegen welche auch der schärfste Triller von anderer Art in keinen Vergleich kommt." . . . „daß dieser Triller deswegen
doch so hurtig gemacht werden muss, daß man glauben sollte, die Note, worüber er angebracht wird, verlöhre nicht das
geringste hierdurch an ihrer Geltung, sondern träfe auf einen Punkt zur rechten Zeit ein. Dahero muß er nicht so
fürchterlich klingen, als er aussehen würde, wenn man alle Nötgen von ihm allezeit ausschreiben wollte. Er macht den
Vortrag besonders lebhaft und gläntzend".
Vergl. dazu auch daselbst § 36, worin Ph. Em. Bach seinem Zweifel Ausdruck gibt, ob man. „wenn diese Manier
leise gemacht werden soll", eben wegen des „Schnellens auch durch die größte Uebung die Stärcke des Anschlages bey
diesem Triller auf benanntem Instrumente (d. i. auf dem forte piano) allezeit in seiner Gewalt wird haben können." Ich
glaube, er hat mit seinem Zweifel Recht behalten.
8) Aus der Bemerkung Baumgarts (s. Vorwort, S. 10) : „Im raschern Tempo wird gewöhnlich, wie man leicht
beobachten kann, aus dem Prall-Triller u. der Hauptnote zusammen eine Triole, wie bei" :
Fig. 3,
.).
geht aber hervor, daß er selbst offenbar geglaubt hat, der üblen Spielweise der Dilettanten doch immerhin Rechnung
tragen zu müssen, die, indem sie weder das allgemeine tempo des Stückes, noch auch die Tempomodifikation an der be-
sonderen Stelle zu finden wissen, sich aus eigener Schuld aller Möglichkeiten berauben, den hier in Frage kommenden
Pralltriller auch in dessen Verbindung mit einer folgenden Note durchaus seinem eigenen Charakter gemäß zu spielen.
Hätte aber Baumgart nur einmal z. B. im großen Trio op. 97 von Beethoven, bei den mit *~ gezierten Klavierfigurationen
in den T. 33 und ff, den Pralltriller in der von ihm gedulteten Triolenform zur Ausführung zu bringen versucht, er würde
sofort das Abgeschmackte einer solchen Ausführung selbst erkannt und sicher gar dem völlig gegenteiligen Grundsatz zu-
gestimmt haben, daß, um beim Pralltriller die Wirkung des raschesten Nacheinander der Töne (vergl. den nächsten Para-
graphen) möglichst täuschend zu erreichen, es im Notfall die Töne gar gleichzeitig anzuschlagen und den Finger von der
höheren Sekunde sofort abzuziehen eher zu empfehlen sei, als eine Triole zu spielen.
U.-E. 812.
42
Forlbestand
des Trillers
auch in neuen
Formen.
b) in der nachbachschen Zeit.
§ 10.
Seit Bach hat sich imWesen des Trillers selbst nichts geändert. Er blieb immer derselbe vom
kleinsten bis zum größten, — ja ungeheuerlichsten der Literatur — in Beethovens op. 109, dessen
anormal weiten Verlauf wir nur mit Staunen verfolgen, von seiner Geburt an aus dem Schöße des
Tones h durch alle Phasen des Wachstums. Mit einiger poetischer Lizenz erlaube ich mir diesen Triller
hier im Auszug darzustellen.
Fig. 36.
Var.VI.
pi rTr i'ü- i u i in üu Lir^m
fp^ffi
Mag sich die äußere Erscheinung noch so verschieden geben, der Triller wird allezeit dasselbe
Grundgesetz offenbaren. Man denke nur an die vielfältigen pianistischen Formen, die z. B. Chopin,
Liszt oder Brahms (Klavierkonzert i?-dur) oft den Trillern zu geben wußten, ohne daß aber das Wesen
des Trillers selbst durch sie irgend eine Änderung erfahren hätte.
Oder man denke des weiteren, um auch ein jüngstes Trillerereignis zu nennen, z. B. bei K. Strauß
in „Till Eulenspiegel" an die Trompetenstelle (kl. Part. S. 14 u. 15)
Fig. 37
P&\&\
in der ich weit weniger irgend ein an der Harmonie mit Absicht begangenes Unrecht als vielmehr wieder
nur einen — allerdings gleichsam starr gewordenen — Triller erblicke, der einfach Hauptnote und
obere Sekunde aufeinander erklingen läßt, woraus sich durch leichte Täuschung der Eindruck eines
wirklichen Trillers umso eher ergibt.
Um die letzte gewiß geistvolle Art der Formung eines Trillers noch besser zu erklären,
vergegenwärtige man sich nur die Situation aufs genaueste, und man wird finden, daß der Klang
der Fig. 37 sich auf zwei merkliche Triller zurückführen läßt:
Tromp. 2.
Fig. 38.
Tromp. 3.
die allerdings nicht bei derselben Trompete, sondern nur zwischen der 2. und der 3. als : a-b-a-b u. s. w.
und umgekehrt: b-a-b-a u. s. w. zu gleicher Zeit verlaufen, also — nur mit dem stark ins Gewicht
fallenden Unterschied der Oktaven entfernung — etwa wie in Beethovens Rondo aus der Sonate op. 90:
Fig. 39.
#1
JBUfflL
fgffrfr
und daß die Gleichzeitigkeit beider verschieden laufenden Trillerwellen, weit davon entfernt den Eindruck
eines Trillers zu zerstören, vielmehr einen solchen drastisch steigern!
Man vergleiche dazu übrigens, was ich in meinen „Theorieh und Phantasien" § 56, Fußnote1)
über eine verwandte Erscheinung in J. S. Bachs Partita A-moll und des weiteren, was ich über den auf
demselben Prinzip beruhenden Mordenten in meiner Ph. Em. Bach Ausgabe S. 86 gesagt habe, von welch
Ü.-E. 812.
43
letzterem Ph. Em. Bach in IL, 5, § 3 schreibt: „Man hat noch eine besondere Art, den Mordenten,
wenn er ganz kurz seyn soll zu machen.
Fig. 40.
P
I Tab. V, Fig. LXXin.
Von diesen beyden zugleich angeschlagenen Noten wird allein die oberste gehalten, die unterste hebt
man gleich wieder auf. Dieser Ausdruck ist nicht zu verwerfen, so lange als man ihn seltner als die
andern Mordenten anbringt. Er kommt blos ex abrupto, d. i. ohne Verbindung vor."
In allen diesen Fällen, bei J. S. Bach und Ph. Em. Bach, sodann aber auch bei Beethoven und
Strauss wird also eine Gleichzeitigkeit, wie man sieht, täuschend für eine rascheste Nachfolge gebraucht!
So beruht denn wieder auf derselben Wirkung, um endlich auch davon zu sprechen, die vielfach
(doch freilich nur von den größten Virtuosen) geübte Ausführung des Trillers, die darin besteht, daß
man den Triller zuerst regelrecht schlägt, nach einer gewissen Zeit aber nur dem Pedal überantwortet,
der ihn fortträgt und vermischt, während man selbst die Trillermasse nur hie und da mit den Fingern
gleichsam neu anregt.
§ n.
Wohl aber hat sich, wie bereits oben S. 37 — 38 gesagt wurde, die Ausführung des Trillers Die »aische
bei punktierten Noten seither verändert. Wir setzen das Trillerende dort ab, wo der Punkt beginnt £"irrtSi
— ganz nach der Art der Doppelschläge, wie wir später sehen werden — und schließen den nächsten bei punktier-
Ton ohne Verkürzung an. Wir nehmen somit in Bezug auf den letzteren die Schreibart leider ganz und
gar beim Wort.
Wann sich diese Ausführung zur Gewohnheit, zum Gesetz erhoben hat, ist freilich schwer an-
zugeben, jedoch ist so viel mindestens sicher, daß es falsch ist, sie auf Bachs Triller anzuwenden, der
sie gewiß nur um eines höchst eigentümlichen Ausdrucks ausnahmsweise, und nur selten gestattet
hätte. Wie auch dieses klar ist, daß durch die Ausführung von heute das Wesen der Schreibart selbst
(wie ich es S. 38 dargelegt habe) an Konsequenz und Einheitlichkeit verloren hat, und daß man daraus
wieder nur auf einen tief bedauerlichen Kückschritt unserer musikalischen Instinkte sowohl als der
naiven Tiefe unserer Auffassung schließen darf. Abgesehen vom Schlimmsten noch, daß nämlich just in-
folge dieser Ausführung die auf den Triller folgenden Noten erbärmlich steif oft und ungelenk klingen.
Man braucht nur im folgenden Beispiel Fig. 41 mit der Originalnotierung Haydns bei a) die
Ausführungsbilder bei b) und c) zu vergleichen:
Fig. 41.
Haydns Originalnotierung
falsche Ausführung in Br. & H.
VA. Nr. 121
richtige Ausführung
">3p
Haydn, And. con Var. F-moll.
trtr fr fl_ fr fr
!e=&
ff
5
W
Ü
0»
sJig
*^mi
*
c>Ö
m&L
fr.
''irrttfEj^gfljf
um zu verstehen, daß der Originalschreibart Haydns bei a) nur die Ausführung bei c) vollkommen
entspricht. Die Originalnotierung weist gleichsam eine doppelte Buchführung auf: Einerseits stellt Haydn
die Hauptmelodie mit der großen Schrift selbständig dar, — wie sie sonst, eben vom Triller noch völlig
unabhängig, vernünftigerweise ja gar nicht anders, also z. B. niemals so:
Fig. 42.
B
m
U.S.W.
äargestellt werden dürfte, — anderseits führt er, u. zw. wieder nicht minder selbständig, Triller
samt Nachschlag in einem separaten Konto, d. i. in Zeichen und kleiner Schrift; gilt es nun, die große
U.-E. 812. 6*
44
Sehreibart gar für den ganzen Inhalt, d. i. für Hauptmelodie samt neu hinzukommender Trillermam
einheitlich zu gewinnen, solchermaßen also auch das in die große Schrift hineinzutragen, was Haydn
noch im ti -Zeichen und in kleiner Schrift niedergelegt hat, so weiß die Ausführung bei c) dieser neuen
Forderung dadurch Kechnung zu tragen, daß sie notwendigerweise die 16tel der Melodie zu 32teln ver-
kürzt; dagegen hält die Ausführung bei b) leider noch an der Schreibart der großen Schrift auch nach
Einverleibung des Trillerinhaltes fest, d. i. sie bringt die Verkürzung des letzten #S gar nicht zum Aus-
druck, wodurch dieses 16tel aber, das ja von Haus aus nur durch die mit Triller eben noch nicht be-
lastete Melodie als 16tel vorausgesetzt erscheint, nunmehr in eine durchaus schiefe, weil zu der durch
den Triller inzwischen neu vermehrten Tonmenge nicht leider ebenso neu proportionierte Stellung gerät,
und daher unbedingt eine steife Wirkung äußern muß. Es ist aber bedauerlich, daß Herausgeber, die weder
Geschmack noch genügende Instinkte besitzen, um die künstlerische Schreibart samt ihren Gründen zu
verstehen, sich berufen fühlen, ihre eigene Ausführung an Stelle des Originalbildes so ohneweiters zu
setzen: muß es denn sein, frage ich, daß Spieler, die das Stück in der Volksausgabe Breitkopf & Härtel
sich verschaffen, statt eines richtigen Haydnoriginales einen geschmacklosen und unkünstlerischen
Herausgeberunsinn einhandeln, um sich durch den letzteren obendrein um ein richtiges Bild einfach
betrügen zu lassen?
Dieses alles nun führt mich zur Behauptung, daß die Lehre Bachs von der Verkürzung, als
einer Folge des Trillers bei einer punktierten Note, neuerdings als Hauptregel aufzustellen, der gegen-
über eine Ausführung, wie die unsere, als Ausnahme zu gelten hätte, immer noch besser wäre, als diese
letztere zur Hauptregel zu machen mit Ignorierung des so künstlerisch logischen Bachschen Grundsatzes.
Psychologie
des „Doppel-
schlages
Über einer
Note".
III. Der Doppelschlag.
A. Vom Doppelschlag bei Em. Bach,
a) Der „Doppelschlag über einer Note" samt seinen Abarten.
§1-
Auch im „Doppelschlag über einer Note" birgt sich, wie im Vorschlag und Triller, ein Vorhalts-
charakter, u. zw. ist es hier der den ^> beginnende obere Hilfston, der ihn heimlich, ja bis zur
Unkenntlichkeit heimlich, ausspricht.
Indem sich aber auf diesen Vorhalt (d. i. obere Sekunde samt Hauptton) noch weiters die untere
Sekunde samt Hauptton anschließen, gewinnt der Doppelschlag in der ganzen Summe seiner vier
Töne einen dem Triller zunächst wohl ähnlichen Charakter, wobei jndessen der Triller nur als der
allerkürzeste, d. i. mit beginnender Obersekunde und Nachschlag angenommen wird.1)
Begründet somit nur allein die Quantität von vier Tönen in der Ordnung: obere Sekunde, Haupt-
ton, untere Sekunde und endlich wieder Hauptton die Identität, beziehungsweise die Nachbarschaft von
Doppelschlag und Triller, so rücken dann aber beide Manieren umso stärker auseinander, je mehr eben
der Triller von seinem Kecbt auf mehr Tonpaare als bloß zwei Gebrauch macht; d. h. der längere
Triller unterscheidet sich bereits wesentlich vom Doppelschlag, welcher Unterschied insbesondere darin
seinen Ausdruck findet, daß der Triller mit seinen mehreren Noten die Dauer einer Note besser aus-
füllt, als der stets nur in der Vierzahl seiner Töne verharrende Doppelschlag.2) —
Es versteht sich, daß der Doppelschlag mit seinen vier Tönen den Hauptton zwar verkürzt,
aber dafür denn auch belebt und ausstattet.3)
i) ^ n., k, § 9 heißt es; „Aus der Betrachtung, daß diese Manier in der Kürtze die Stelle eines ordentlichen
Trillers mit dem Nachschlage vertritt, kan man schon eine nähere Eiasicht in den rechten Gehrauch dieses Doppelschlages
kriegen." (Vergl. auch § 12, 17, 20). '
*) Vergl. II., 4, § 10: „Da dieser Doppelschlag die allermeiste Zeit geschwinde gemacht u. die oberste Note
nach der schon angeführten Art geschnellt wird, so begehet man einen Fehler, wenn man bey einer langen Note statt des
ordentlichen Trillers den Doppelschlag gebraucht, weil diese Note, welche durch den Triller ausgefüllt werden sollte,
hierdurch zu lerr bleibt."
8) II., 4, § 1 sagt aus: „Der Doppelschlag ist eine leichte Manier, welche den Gesang zugleich angenehm u.
gläntzend macht."' Dazu daselbst § 8: „Da diese Manier in den mebresteu Fällen gebraucht wird, um die Noten gläntzend
zu machen . ." u. s. w.
U.-E. 812.
45
§ 2.
Die Ausfuhrung des regelmäßigen Doppelschlages von oben notiertBach wie folgt: w» *»»•
fahrung des
TT' AH a) b) 1)°) °°W*1'
rxg. 43. ^ Adagio. Modprato. Presto »ehla»e« »on
JLi — ^"~n r i ■ r i ■ oben.
Daraus folgt, daß die Ausführung durchaus nur auf Kosten der eben zu verzierenden Note, d. i. des
Haupttones zu geschehen hat, wodurch aber anderseits die Hauptnote dort, wo sie als die letzte (d. i
vierte) Note des Doppelschlages erscheint, also am Ende der Manier, selbst nur mehr den übrig-
bleibenden Rest des Wertes: drei Viertel (a), oder die Hälfte (b), oder endlich noch weniger, nämlich
nur ein Viertel (c) behält.
Diese verschiedenen Möglichkeiten richten sich nach der Dauer der Note,2) über der das ~
steht, wobei die Daner aber absolut verstanden wird.3) Auf eine solche absolute Dauer der
Note beziehen sich denn auch die eigenen Bezeichnungen Bachs: adagio, moderato, presto, u. zw. nur
auf diese Note einzeln und für sich genommen, nicht aber, wie man irrtümlich meinte, durchaus nur
etwa auf den Adagio-, Moderato-, oder Prestocharakter eines ganzen Stückes überhaupt. So daß beispiels-
weise auch in einem Allegrostücke eine Note von absolut langer Dauer stehen kann, und aus diesem
Grunde die Ausführung wie bei Fig. 43, a) zu erhalten hat.
Somit sagen die Ausführungsbilder Bachs folgendes:
Ist die Note lang (adagio) in dem absoluten Sinne verstanden, so gilt die Ausführung bei a);
ist sie minder lang (moderato), so daß eine Ausführung bei a) nicht ganz gut mehr möglich, so gilt
die Ausführung bei b); wo endlich aber die Note von so kurzer Dauer (presto), daß weder die Adagio- noch
Moderatoformel ausgeführt werden kann, hat (allerdings mit einer noch näher zu besprechenden Ein-
schränkung) die Ausführung bei c) zu gelten.
I § 3.
Da indessen mit obigen drei Ausfuhrungsformeln allerorten und allerzeiten ein selbständiger Ober die
Ausdruck verbunden ist, so ergibt sich dadurch von selbst der Zwang der Vorsicht, die Formeln ja fujI^L*"'
durchaus nicht beliebig durcheinander anzuwenden, vielmehr vorerst die absolute Länge der zu ver- »ormei.
zierenden Note im Gefühl sich vorzustellen und die Zuständigkeit jeder einzelnen mit Einsicht zu prüfen.
Dieses drückt am besten eine ungemein feine Begel aus, die sich allerdings ausschließlich
auf die Adagionoten bezieht, und lautet: Wo die Adagioausführung möglich ist, dort müsse sie
auch angewendet werden. Das will heißen : es ist nicht ohneweite rs gestattet, die Moderato-
formel schon dort anzuwenden, wo die Länge der Note (adagio) die Adagioformel
sehr gut noch zuläßt.
Der Grund dieses Verbotes liegt aber darin, daß die Moderatoformel, dort angewendet, wo Platz
für eine Adagioformel ist, einen ganz anderen Ausdruck ergibt, als wenn an derselben Stelle eben
die Adagioformel — wie es die Regel gebietet — zur Ausführung käme. Diesen anderen Ausdruck
betrachtet schon Bach selbst als wirkliche Ausnahme in dem Sinne, als er bei adagiolangen Noten doch
x) So im Original, doch möchte ich gerue mit Baiimgart (b. dessen Vorwort S. 11) annehmen, daß die Moderato-
Formel eher:
Fig. 44.
lautet, aus Gründen, die später in § 6 des Textes zu erörtern sein werden.
2) Vergl. 11., 4, § 2: „Weil er die allermeiste Zeit hurtig ausgeföhret wird, so habe ich die Geltung seiner
Nötgen, welche er enthält, so wohl bey langsamer als auch geschwinder Zeit-Maaß entwerfen müssen".
8) Vergl. den auf S. 22 zitierten IL, 1, § 19.
U.-E. 812.
46
nur anstatt der Adagioformel steht, u. zw. lediglich wegen des an der betreffenden Stelle eben nur
ausnahmsweise, zu erzielenden „matten" Ausdruckes.1)
Wegen des Charakters der Ausnahme sowohl, als auch um sich den Ausdruck vorsichtiger-
weise unter allen Umständen zu sichern, liebt es daher Bach, die Moderatoformel bei Adagionoten mit
großer Schrift selbst auszuschreiben, wie z. B. : _
Fig. 45. pag.s4..
^~ r r—r r
Pag. 67.
2
Pag. 68
Ptf
i8. ^=
u. s. w.
woraus aber folgt, daß man sonst bei allen übrigen A^agionoten, sofern nicht Bach selbst die
Moderatoformel ausgeschrieben hat, umgekehrt durchaus nur die Adagioformel anzuwenden hat.
x) So heißt es in II., 4, § 20 ausdrücklich: „Ohngeachtet der Aehnlichkeit des Doppelschlages mit dem Triller
unterscheidet sich der erstere von dem letzteren der zwey Stücke : erstlich . . . . (u. s. w.) ; zweytens dadurch, daß er zu-
weilen seinen Schimmer ablegt, und bey langsamen Stücken voller Affekt mit Fleiß matt gemacht wird:
Tab.V, Fig. LX.
a) k
Fi9-46- | m Ijp^jg
dieser Ausdruck pflegt auch so angedeutet zu werden, wie wir bey o) sehen."
Hinter dem Wort „Schimmer" (vergl. dazu die in Anm. 2, S. 44 und in Anm. 2, S. 45 zitierten §§ 10 und 2)
erkennt man deutlich die Grundregel über die wohl in erster Linie zu treffende Wahl der Adagioformel, wie nun aber
auch umgekehrt in den Worten „zuweilen" und „mit Fleiß matt gemacht wird" zugleich der Charakter der Moderäto-
ausnahme als eben nur einer Ausnahme doch sicher genügend angedeutet erscheint.
Noch möchte aber auch der Inhalt des § 11 zur Klarstellung der Eegel, wie ihrer Ausnahme beitragen: „Ich
muß bey dieser Gelegenheit einer Ausnahme gedenken, welche sich ereignet, wenn man in langsamen Tempo wegen des
Affekts sowohl bey dem Schlüsse
Tab.V, Fig. LH.
Fig. 47.
als auch ausser dem nach einem Vorschlage von unten (a) statt des Trillers einen leisen Doppelschlag macht, indem
man die letzte Note davon so lange unterhält, bis die folgende eintritt". Bedeutet auch in dieser Eegel — schade daß
z. B. die Oratoriensänger so wenig von ihr wissen ! — die verwandte Bezeichnung „eines leisen Doppelschlags" ohne Zweifel
die Moderatoausnahme, bei der die Hauptnote bloß die Hälfte ihres Wertes zurückbehält, so ist darnach e contrario sehr
wohl die Kegel der Adagioformel, die der Hauptnote eben mehr als die Hälfte, nämlich drei Viertel ihres Wertes zurück-
läßt, ebenso zweifellos festzustellen.
Und so mag endlich als letzter Gewinn der in diesem Paragraphen gebotenen Auseinandersetzung die Einsicht
zu betrachten sein, daß, wie ich schon im Eingangskapitel zu den Manieren sagte, bei diesen jede Änderung zugleich
auch Änderung ihres Ausdruckes bedeutet! —
Bedauerlicherweise hat Baumgart die sowohl theoretische als auch praktische Bedeutung des hier zitierten § 20
vollständig verkannt. Sogar jede Erinnerung an die eigene Notierung Bachs sowie an deren beabsichtigten „matten" Aus-
druck (vgl. oben Fig. 46), scheint ihm offenbar gefehlt zu haben, als er im Vorwort S. 7 schrieb : ,,o) Überall, wo der
Vorschlag vor einer kürzern Note steht, als seine eigene rhythmische Geltung betragen würde, ist er selbstverständlich
kurz, wie z. B.
Fig. 48.
eine Bezeichnungsweise, die nur selten vorkommt; öfter ist der Vorschlag hiervon derselben Geltung, wie die Hauptnote."
Oder sollte er am Ende den Sachverhalt — etwa aus Mangel an künstlerischer Nachempfindung, die ja Voraussetzung des
Verständnisses bei so minutiösen psychischen Werten ist — gar nicht begreifen haben können? — Daß Bülow (s. S. 60
seiner Ausgabe) einfach den kurzen Vorschlag hier annimmt, muß schon beinahe als selbstverständlich bezeichnet werden.
Ist das nicht aber mindestens seltsam, wenn nicht wirklich traurig zu nennen, daß soviel Deutlichkeit in Wort
und Beispiel, wie wir sie bei Bach antreffen, gleichwohl eine verlorene Energie bleiben kann?!*
U.-E. 812.
4?
§ 4.
Wenn wir auf Grund der in § 2 dargestellten Ausführungsformeln des Doppelschlages uns über die Un
nunmehr ein Bild des Anschlusses der Manier an die folgende Note vergegenwärtigen:
Fig. 49.
erlößlichkeii
eines
Zwischen-
raumes nach
Schluß des
Qoppelschla-
pes.
so sehen wir, wie bei a) und b) schon einfach dadurch, daß die Hauptnote stehen bleibt, eine Art
Zwischenraum, von eben der Dauer des Liegenbleibens des Haupttones, d. h. bei a) ein Zwischen-
raum von drei, bei b) ein solcher von zwei Sechzehnteln sich ganz von selbst ergibt, während dagegen
bei c) die als viertes Sechzehntel wiederkehrende Hauptnote ohne Aufenthalt, also sofort zur nächsten
Note hinüberführt, und sich solchermaßen die Manier — wenigstens unserem Bilde nach — glattweg an
die letztere anschließt.
Den nun aber gerade bei der Adagio- wie der Moderatoformel sich naturgemäß ergebenden
Zwischenraum erhebt Bach zum allerwesentlichsten Begriffs- und Ausführungs-
merkmal des Doppelschlages überhaupt.
Ohne Zwischenraum kein „im über einer Note!" So daß dieser auch nicht einmal bei
der Prestoformel fehlen darf!
Die Forderung nach dem Zwischenräume auch im Falle c) — so bewußt sich Bach auch dessen
ist, daß er eben diese Forderung nicht schon im Ausführungsbilde (vergl. Fig. 43, c und 49, c)
versinnlicht hat — motiviert er nämlich damit, daß ja sonst die Prestoformel ganz identisch wäre mit
jenem kurzen Triller, der — Zeitmangels halber — bloß aus Hilfs-, Haupt- und Nachschlagsnote be-
steht, z. B :
Fig. 50.
tr
iffl
Um daher die beiden Charaktere, den des <v und den des Trillers völlig bis zum äußersten
abzugrenzen, besteht Bach darauf, auch im Falle c den Zwischenraum einzuhalten.1)
*) Man findet die ausdrückliche Vorschrift eines Zwischenraumes in dem bereits oben (s. Anmerkung 1, S. 46)
wenigstens zum Teil zitierten § 20, der die Unterschiede zwischen Doppelschlag und Triller überhaupt behandelt. Und
zwar eben als den ersten Unterschied beider setzt Bach dort fest, daß der Doppelschlag im Gegensatz zum Triller „seine
letzten Noten nicht geschwinde mit der folgenden verbindet, weil die ersten geschwinder sind als die letzten, u. also vor
der folgenden Note allezeit ein kleiner Zeit-Kaum überbleiben muß " (Man beachte dringend das Wörtchen „allezeit" !)
Auch bietet § 12 eine Bestätigung für die Forderung nach einem Zwischenraum: „Aus der Aehnlichkeit dieses
Doppelschlags mit einem Triller mit dem Nachschlage folgt, daß der erstere sich ebenfalls mehr nach hinauf als nach her-
un t erwärt s neiget. Man trillert also bey geschwinden Noten gantze Octaven u. weiter bequem durch diese Manier hinauf,
aber nicht herunter. Dieser oft vorkommende Fall wird gemeiniglich ausser dem Claviere so angedeutet, wie wir bey Fig. LDH
pre.
sehen." Auch hier ist nämlich schon aus den eigenen AusfÖhtungsbildern Bachs deutlich zu ersehen, wie sehr er den
Zwischenraum selbst beim presto eingehalten wünscht. (Und nebstbei wieder ein Wink an Oratorieusiinger, zu bedenken,
was alles Andere als bloß einen Triller die Bezeichnung „//*" unter Umständen auch besagen könne u. s. w. !). —
Außerdem endlich sehen wir Bach in allen weiteren Exempeln, die den Doppelschlag und seine Abarten betreffen,
aufs deutlichste den Zwischenraum notieren; vergl. die §§ 11, 21, 24, 27, 29, 36 und 37.
Was alles aber durchaus nicht Wunder zu nehmen braucht, wenn man bedenkt, daß der Zwischenraum keines-
wegs ein Element ist, das in den Doppelschlag erst künstlich hineingetragen werden mußte, da er vielmehr umgekehrt,
weit davon entfernt ein Fremdkörper in der Manier zu sein, mit dieser in den weitaus zahlreichsten Fällen gleichsam mit-
ijeboren wird: werden doch die Adagio- und Moderatoformeln viel öfter gesetzt und gebraucht, und verhältnismäßig nur
äelten dagegen möchte man davor stehen, die Prestoformel anzuwenden!
U.-E. 812.
48
Allerdings schreibt Bach keinen <v über einer Note, wenn diese so kurz1) ist, daß sie jenen
Zwischenraum nur schwer möglich macht. Mit anderen Worten: er selbst läßt es fast nie auf die
Prestoformel ankommen, woraus e contrario folgt, daß alle seine Doppelschläge über
einer Note nur entweder nach der Adagio- oder nach der Moderatoformel auszuführen
sind • oder endlich noch anders : mindestens wir selbst haben jeder Note, über der Bach das Zeichen <%j
setzt, unter allen Umständen eine Dauer zu verleihen, die die Ausfuhrung mit Zwischenraum möglich
macht. Woraus in der Folge auch ein Rückschluß sowohl auf das Tempo des ganzen Stückes (vergl.
z. B. Sonate, pag. 48), als auch eventuell nur auf dessen Modifikation an der betreffenden Stelle allein
m empfehlen ist. Beispiele: *f2£L £g.48.
Ausführung: J^l* Allegro moderato.
Fig. 52. rt)Pag.7. |JS ==
<*) Pag. 7.
Andan
3
9— P-
c£tl^Jji
In so manchem Falle aber, wie z. B. in dem folgenden:
a) Pag. 28.
Fig. 53.
scheint, da der Zwischenraum hier fehlt, allerdings zunächst ein Widerspruch hiergegen
vorhanden zu sein. Indessen löst sich der scheinbare Widerspruch, wenn man umgekehrt gerade daraus,
daß er zuweilen, aber sicher selten genug, ähnliche Figuren auch ohoe Zwischenraum ausschreibt, bei
den nicht ausgeschriebenen Doppelschlägen just auf den Zwischenraum schließt,
und wenn man annimmt, daß hier offenbar die Figur ohne Zwischenraum beiläufig nur für eine
Modevatoformel des oo steht. Denn: würde in dem obigen Fall Bach jene Figur nicht ausge-
schrieben haben, so hätte man, wenn statt ihrer einfach bloß das po-Zeichen über der Note n gestanden
hätte, wegen der genügenden absoluten Dauer durchaus doch mindestens die Moderatoformel (also mit
Zwischenraum!) anwenden müssen; wenn nun statt dieser hier ursprünglich möglich gewesenen Moderato-
formel eine noch breitere,, Formel ohne Zwischenraum, wie eben die ausgeschriebene Figur
es ist, vorgeschrieben ist, so scheint das etwa bloß den „matten" Ausdruck jener umgangenen
Moderatoformel zu bedeuten, sofern man überhaupt das Bedürfnis hat, Fig. 53 noch begrifflich zu den
Doppelschlägen zu zählen, da sie ja auch einen tnr. ausdrücken kann.
Unter allen Umständen aber, wie man auch jene wenigen Fälle ansehen mag, ist es verboten,
daraus den Schluß2) zu ziehen, als wäre je bei Bach eine Doppelschlagsau-führung in der triller-
*) „Eine ganz kurtze Note verträgt sie nicht wohl, weil hierdurch wegen der vielen Noten, welche sie enthält
u. welche doch eine gewisse Zeit erfordern, der Gesang leicht undeutlich werden kann" vermerkt Bach ausdrücklich im
IL, 4, § 3. Jedenfalls ist schon daraus allein ein Bückschluß auf die Dauer der Note, über der Bach einen Doppelschlag
gebraucht, allemal nicht nur gestattet, sondern auch geboten, d. h. „eine ganz kurtze Note" ist diese Note dann sicher
nicht, und somit ist aber auch schon zugleich die Anwendung mindestens der Moderatoformel samt dem zu ihr gehörigen
Zwischenraum entschieden.
2) Es ist zu bedauern, daß Bülow in seiner Ausgabe aus der Fülle der Überhebung eines Fortepianisten des
XIX. Jahrhunderts gegenüber einem Klavichordmeister des XVDI. Jahrhunderts und hauptsächlich aus dem Grunde des
Mißverständnisses sowohl des Tempo und des Manierenausdrucks einerseits, als auch anderseits ihrer wechselseitigen
Beziehung bei Ph. Em. Bach so oft gerade nun dessen „Doppelschlag über einer Note", also just jene Manier, die, wie wir
später sehen werden, in ihrer Beinheit verloren gegangen ist, zu einem „Doppelschlag nach einer Note" willkürlich umge-
staltet. Mußte er also auch sonst so vielen anderen Manieren, wegen zu schnellen Tempos und um gewissen Schwierigkeiten
des Vortrags zu entrinnen, Unrecht tun, d. i. sie ändern, so ist es leider ganz besonders, die Doppelschlagsmanier (samt
allen ihren Abarten), die unter seiner Willkür leidet; er verkennt ganz ihre Art anzufangen, das Gebot, die Manier durch
aus von der Hauptnote eelbst abzuziehen, sowie die Notwendigkeit des Zwischenraumes u. s. w.
Das alles konnte einem Bülow passieren, bloß weil er offenbar versäumt hat, vor allem das zu denken, was ii
solchen Fällen allemal das einzig Bichtige ist, daß nämlich Ph. Em. Bach mit der Musik doch immerhin auf ungleich ver-
trauterem Fuße dürfte gestanden haben, als er selbst, und daß, wo Noten und Buch sich so deutlich decken, wie bei Bach, ei
Ü.-E. 812.
V
49
laften Form, ohne Zwischenraum, wie sie besonders uns heute nahe liegt, gestattet. Somit ist — trotz
ener Schreibart, die eben auf einen besonderen Ausdruck gerichtet ist, — den <v Bachs über eine
^ote anders als mit dem Zwischenräume auszuführen fehlerhaft, u. zw. sowohl aus historischen als
ity listischen Gründen. *)
licht angeht, nur durch Mißverständnis beider gleichsam eine neue Anschauung sich selbst einzubilden, und sie der Welt
rar als die bessere, denn die originale vorzutragen.
Ist es denn in einem solchen Falle nicht weit künstlerischer und einfacher, mit Unterdrückung aller persönlichen
Eitelkeit, und nur unter Hervorkehrung eines ehrlich empfundenen Dankes den stärkeren Künstler unter allen Umstäuden,
dso auch dort, wo man ihn nicht ganz erfaßt hat, vor sich selbst gelten zu lassen und dem alten Meister wohl aufs Wort
;u glauben, was er in Noten ausdrückt und sonst darüber im Buch uds eigens mitteilt?
Doch auch davon abgesehen — wie nahe ist man ja daran,' die Wahrheit des Vortrags zu erreichen, wenn man
lur den Schlüssel zur Bewegung des Stückes ehrlich sucht! Und man sollte denken, daß mindestens doch hier, in der Frag«;
les Tempo, durchaus kein so unübersteigliches Hindernis vorliegt? Und gerade ihm, einem Bülow, sollte es so schwer ge-
allen sein, das kleine Hindernis zu nehmen, d. i. das ursprüngliche langsamere Zeitmaß wiederzufinden? Ja, sage ich
iffen. Denn schon Bülow repräsentiert, trotz so viel Geist und nicht wegzuleugnender Meisterschaft im Klavierspiel, den
)edenklichen Typus eines Virtuosen des XTX. Jahrhunderts, dem die ersten und tiefen künstlerischen Instinkte inmitten
illgemeinsten Niederganges abhanden gekommen sind, und dem, vor lauter einseitig und akademisch betriebener Be-
ichleunigung der Finger, endlich auch die Mittel des Vortrags fehlen mußten, um die Töne, wie Ph. Em. Bach sagt,
nit Anstand und Geist „unterhalten" zu können. Ist doch den meisten Virtuosen des XTX. und gegenwärtigen Jahrhunderts
>rdentlich bange, wenn sie bei einzelnen Tönen aus diesem oder jenem Grunde verweilen sollen ; und muß es einmal schon
tein, weil es nicht zu vermeiden ist, so stehen sie, um mit Mozart zu sprechen, „bei dem Ton, wie ein Kind beim Dreck" !
Ihre Anschlagsarten, ihre Tempogebung im großen und die Tempomodifikationen im einzelnen sind zu monoton und zu
venig von wahrem künstlerischen Instinkt erfüllt, um für solche Situationen auszureichen ; vielmehr treibt es sie zu anormaler
äeschleunigung, die ihnen über alle Verlegenheiten eines der Komposition entsprechenden wahren und künstlerischen Vor-
tages nun wirklich gar so leicht hinweghilft — ganz abgesehen davon, daß auch die Konkurrenz des gemeinen Konzert-
ebens nach derselben verderblichen Richtung hindrängt. So kam es, daß man das alte Tempo allmählich verlor, damit
iber die Möglichkeit, die Kompositionen eines alten Meister9 nach seinem wahren Gehalt zu erfassen und vorzutragen, und
laß man statt dessen den musikalischen Vortrag bis zu einem allzu gekünstelt-schematischen und bloß philisterhaft-
ikademischen Schnellspiel herabsetzte, womit endlich die meisten genialen künstlerischen Physiognomien nicht nur ver-
iorben und verwischt, sondern zugleich auch derart vermischt wurden, daß sie fast nicht mehr voneinander zu unterscheiden
waren. Das ist auch der letzte Grund, weshalb Bülow und Praktiker derselben Art bona fide sich genötigt fühlen, die
Sanieren bei Ph. Em. Bach, aber nicht minder auch den übrigen Inhalt eines Haydn, Mozart, Beethoven u. s. w. anders
aufzufassen, herauszugeben und zu spielen — anders, als diese Meister es selbst auffaßten, vortrugen und lehrten.
Offenbar ist es aber auch bei Baumgart dasselbe Unvermögen, die Voraussetzung eines richtigen Tempos und
äventueller Modifikationen desselben zu gewinnen, sowie der damit verbundene Mangel an Anschlagsnuancen, wenn er (s. das
Vorwort S, 11) zwar deutlich beweist, wie ernst es Bach um den Zwischenraum beim Doppelschlag zu tun ist. und dieses
Postulat auch bis zu einem gewissen Grade künstlerisch nachempfindet, dennoch aber meint: „Die Vorschrift (des Zwischen-
raumes) wird gewiß am ehesten eine weniger gewissenhafte Beobachtung vertragen, wie wir Aehnliches beim Prall-Triller
>emerkten; indes ist nicht zu leugnen, daß sie nicht immer ohne Einfluß auf die Eigenthümlicbkeit des Ausdrucks ist."
tVürde es Baumgart, der doch schon so nahe an alle diese Dinge gerückt war, einmal versucht haben, das Tempo so zu
'estalten, daß alle Erfordernisse der Manier glatt und schön erfüllt werden könnten, er würde dann ohne Zweifel bemerkt
iahen, wie ordentlich wohl es den Tönen behagt, sich in ihren Manieren ruhig auszuleben und auszuatmen, und wie über-
lüsssig es ist, dem Klavierspieler von heute die hiezu erforderliche Liebe und Wärme ersparen zu wollen, zumal darin der
chönste Teil des Vortrags gegründet ist. Was bleibt vom Kunstwerk denn noch übrig, wenn man über alle Töne so
ikademisch-gleichgiltig, so lieb- und ratlos hinweggeht oder gar im Sturm über sie hinwegrast?
Sollte nicht, nach so lange anhaltender Verirrung der Virtuosen des Schnellspiels, ähnlich doch wie in den übrigen
Künsten, endlich einmal auch für die Musik der glücklich befreiende Wendepunkt gekommen sein, der da heißt: Zurück
ur Natur ! ? Zur Natur in der Musik will aber heißen : Nicht leere Fingerfertigkeit als Ziel, sondern die Seele des Menschen,
\h.. i. Ausdruck der Seele eines Künstlers, zumal eben einer hochgespannten, genialen Seele! Nur diese allein ist Natur in
'ller Musik! Und lehrt doch alle Geschichte, daß eine starke Natur sich niemals in bloß akademischer Technik der Finger
' teäußert hat, so lautet der Euf : Weg von der schablonenhaften Fingerfertigkeit, die — in einem anderen Verstände des
Portes — mit sich und dem Kunstwerk nur gar zu rasch fertig und immer fertiger wird, und zurück zur Natur auch in der
usik, zum starken Ausdruck einer starken künstlerischen Seele!
x) Vielleicht ist es dann aber nicht minder fehlerhaft, wenn man auch die wenigen Doppelschläge J. S. Bachs
ber einer Note ohne Zwischenraum ausführt?
Und noch eine zweite Frage : Sollte denn J. S. Bach wirklich nur so wenig solcher Doppelschläge gewollt haben
man sehe z. B. die englischen Suiten in der „Urtext"-Ausgabe an, und man wird sich davon selbst überzeugen —
der ist statt dessen etwa seine Trillerbezeichnung tr desto öfter gar für das Zeichen eines Doppelschlages anzusehen?
dan vergleiche doch zur letzteren Frage den bereits oben (S. 47) zitierten § 12, sowie insbesondere § 17: „Da man außer
U.-E. 812. 7
50
über den
Akzent.
Über das
..Schnellen".
§ 5.
Den Akzent im <v trägt ausnahmslos die erste Hilfsnote. Niemals die Hauptnote (am Ende
der Manier) selbst, die vielmehr in der längeren zeitlichen Ausbreitung allein Ersatz zu finden hat für
den Mangel an Akzent.
Übrigens bestätigt das Akzentuieren der Hilfsnote die Yorhaltsnatur, die eben durch sie aus-
gedrückt wird.
§ 6.
Das in der Adagio- wie in der Moderatoformel für den Beginn des Doppelschlages vorgeschriebene
„Schnellen" gehört zur wirklichen und praktischen Ausführung.
Mindestens so bei Ph. Em. Bach, und vermutlich daher auch bei J. S. Bach. Vergl. darübei
den in Anm. 2, S. 44 zitierten § 10, wo das „Schnellen" ausdrücklich gefordert wird.
Gerade dieses Schnellen aber machte die Korrektur in der Moderatoformel des Originals
(siehe oben § 2) notwendig, die offenbar doch nur infolge Versehens Bachs oder dessen Kopisten das
Schnellen nicht zum Ausdruck bringt.
Ausführung
u. Notierung
d. prallenden
Doppel-
schlages.
Der prallende Doppelschlag.
§ 7.
Der prallende Doppelschlag hat das Zeichen ~ und lautet in der Ausführung:
Fig 54.
"'V
Diese Manier stellt somit, wie es schon das Zeichen anzeigt, eine Kombination zweier Manieren, nämlich
von „~l
und
,(N)'
vor, wobei zugleich alle Erfordernisse jeder einzelnen derselben sich auch in de*
Verbindung beider ganz ungescbwächt geltend machen. Es gilt also auch vom ~ alles das, was bereits
schon früher in Bezug auf Psychologie, Ausführung u. dergl. sowohl vom *%-, als auch vom
im einzelnen gesagt wurde.1)
dem Claviere (auch davon wissen z. B. die Oratoriensänger so gut, wie nichts! — ) das Zeichen des Doppelschlages ehen
wenig kennt, als nöthig diese Manier in der Musik ist, so deutet man sie durch das gewöhnliche Zeichen des Trillers]
oder wohl gar durch das Zeichen der Mordenten, welches manchmal einen Triller vorstellen soll, an, u. s. w." (Es folge:
zahlreiche Beispiele, wobei der tr zwar notiert, ein rv> aber ausgeführt werden durfte, auch sollte.)
Doch kann ich mir hier bei dieser Gelegenheit nicht versagen, mindestens auf die so entzückende und eigenartig
Kombination eines arpeggio und eines Doppelschlages über einer Note hinzuweisen, die J. S. Bach — wie es scheint, ga:
vereinzelt — in der englischen Suite G-moll, Courante, („Urtext"-Ausgabe S. 36) schreibt:
Fig. 55.
die aber ebenso regelmäßig in den meisten anderen Ausgaben (aus Gründen, die leicht zu erraten sind), entweder einfacl
ignoriert oder zumindest falsch ausgedeutet wird.
*) IL, 4, § 27 konstatiert diesen Sachverhalt ausdrücklich, wie folgt:
„Wenn bey dem Doppelschlage die zwey ersten Noten durch ein scharfes Schnellen in der größten G
scbwindigkeit wiederholt werden, so ist er mit dem Prall-Triller verbunden. Man kann sich diese zusammengesetzte
Manier am deutlichsten vorstellen, wenn man sich einen Prall-Triller mit dem Nachschlage einbildet" . . . „Sie stellt in
der Kürtze und in einer größeren Lebhaftigkeit einen angeschlossenen Triller mit dem Nachschlage vor. Man muß sie also
mit diesem nicht verwechseln, indem sie sich so weit davon unterscheidet, als der Prall-Triller und der Doppelschlag vor
dem ordentlichen Triller. Diese Manier ist sonst noch nicht angemerkt worden." Später ist auch sie freilich von der
meisten Meistern angenommen worden.
U.-E. 812.
51
Wegen des Pralltrillers gebraucht sie Bach daher bloß bei „fallender Sekunde"1) d. h.
wieder nur mit Vorhaltscharakter, wie hier schon ebenfalls durch den Pralltriller auch das „Schnellen"2)
gefordert wird.
Dagegen macht der dem Pralltriller beigesellte Doppelschlag, wie es eben in der Natur des
Doppelschlages liegt, für seinen Teil wieder den Zwischenraum3) nötig.
») Vergl. § 28.
a) Siehe oben § 27 und dazu in § 29 folgendes: „Dieses leichte zu verhüten, macht man den prallenden
Doppelschlag nach der Regel so scharf als möglich, damit das c (es handelt sich nämlich um folgendes Exempel:)
Tab.V, Fig. LXVI.
Fig. 56.
-wie ein simples Sechzehntheil zu klingen scheine ; hierdurch wird der folgende Vorschlag hinlänglich von dieser Manier
abgesondert. Ohngeachtet die abgebildete Ausführung dieser Passagie ziemlich bunt aussieht und noch fürchterlicher
scheinen könnte, wenn sie so, wie sie simpel bey dem Adagio oft vorzukommen pflegt, nehmlich mit noch einmahl so
geschwinden Noten ausgeschrieben würde; so beruht doch die ganze Kunst der geschickten Ausführung auf die Fertigkeit
einen rechten scharfen Prall-Triller zu machen, und die Ausnahme muß alsdenn gantz natürlich und leichte ausfallen."
Und ich möchte meinen, daß man, vorausgesetzt nur, daß man weiß, was man soll, selbst auf unseren Klavieren — bei
einiger leichten Art, zu spielen — dazu kommen kann, den gesamten Inhalt des ^ so hervorzubringen, als wäre das
verzierte c (siehe oben Bach Beispiel) nur „ein simples" (d. h. fast unverziertes) Sechzehntel.
8) Auch über dieses Element, das ja das wichtigste in der ganzen Erscheinung des <xj überhaupt ist, schreibt
Bach nochmals ausdrücklich in § 29 : „ . . , weil nach der gegebenen Erklärung von den Doppelschlägen, die letzte Note
derselben niemahls mit der folgenden sogleich verbunden werden darf, und allezeit ein kleiner Zeit-Raum übrig bleiben
muß, damit widrigenfalls kein Triller mit der dritten veiwerflichen nachfolgenden Note daraus entstehe; um die pro-
portionirte Geltung der letzten Note beyzubehalten." (Vergl. dazu auch den in Anm. 1, S. 50 bereits zitierten § 27, wo
ja doch Bach vor der V rwechslung dieser Manier mit dem Triller schon einmal gewarnt hat.)
Angesichts einer solchen Deutlichkeit Bachs aber in Wort und Exempel nun auch in dieser Frage berührt es
desto befremdender, wenn Bülow in seiner Ausgabe den Zwischenraum noch immer hartnäckig ignoriert, und bei fast allen
prallenden Doppelschlägen, - - und gerade diese Manier ist die am häufigsten angewendete, — ähnlich wie beim einfachen
„o»> über einer Note", nur den eben verbotenen trillerhaften Ab- und Anschluß in Anwendung bringt, d. h.
Fig. 57.
S. 49. meiner Ausgabe.
00 d?i.
statt:
Bülow, S. 55.
tr
lieber:
schreibt und spielt. Ich sagte schon (vergl. Anm. 2, S. 48), daß er so bona fide verfuhr: er wußte es eben nicht besser
und empfand den Unterschied im Ausdruck beider Ausführungsarten offenbar noch weniger. Man wende aber nicht ein:
Am Ende war bei B ow d an durchaus nicht die Beschleunigung des Tempo allein schuld gewesen, denn möglicher-
weise hat er all da was Bach über den Zwischenraum schrieb, für ein nur eben Geschriebenes gehalten, das selbst nach
Bachs eigener Meinung von Haus mit dem Praktikablen nicht verwechselt weiden wollte. Denn darauf ist mit Be-
stimmtheit zu erwidern: wo Bach bloß Theoretisches vorträgt, d. i. etwas, was die Ausführung wenig oder gar nicht zum
Ausdruck bringen soll, merkt er es als ein bloß Theoretisches bereits selbst an. Das ist doch z. B. gleich der Fall mit
der ersten Note des Pralltrillers (somit auch der des prallenden Doppelschlages), die, so sehr sie den Vorhalt bei der
fallenden Sekunde vorzustellen berufen ist, nach Bachs eigener Anweisung u. Ausführung gleichwohl aber noch keine
Realität der Finger, d. i. der Ausführung zu sein hat, da Bach ja wiederholt das allerschnellste Erledigen eben des
Pralltrillers und selbst der ganzen Manier des 2i verlangt, womit die wirkliche Ausführung der Synkope selbstverständlich
durchaus unvereinbar ist. Somit ist der Zwischenraum, auf den Bach so nachdrücklich dringt, im Gegensatz dazu nun eine
wirkliche und ganz unentbehrliche Realität in der Ausführung des Doppelschlages, und hätte Bülow 6ich nur Zeit zum
Zwischenraum genommen, er wäre sicher auf den Geschmack dieses schönen Manierabschlusses gekommen. Aber freilich,
in einem schon äußerlich so bewegten Leben, wie es das Bülows war, und das übrigens zwischen so verschiedenen Zielen
schwankte, wo wollte er auch nur dieses Atom Zeit hernehmen, um noch an die Zwischenräume bei Bachs Doppelschlägen
zu denken?
Man nehme es mir nicht übel, wenn ich Bülows Arbeit und Andenken hier so oft und so energisch nahetrete.
Bedenkt man indessen, wie die Welt prinzipiell — und mit Recht — nur auf den Wink eines führenden Virtuosen und
Musikers vom Range Bülows aufzuhorchen gewohnt ist, und am liebsten daher auch nur von jenen Meistern überhaupt
Notiz nimmt, die ein solcher Künstler durch Wort oder Vortrag empfiehlt, 60 ist dadurch zwar einerseits zur Genüge
das Verdienst Bülows abgeschätzt, der den Klavierspielern des XTX. Jahrhunderts die Werke Ph. Em. Bachs neuerdings
empfohlen und vermittelt hat, aber zugleich auch anderseits der Schade zu verstehen, den eine Verunstaltung Bachs
nicht nur diesem Meister selbst, sondern auch jedem Spieler zufügen mußte. Ph. Em. Bach war ein durchaiis anderer,
U -E. 812.
52
Bedenkt man, daß diose zusammengesetzte Manier mehr Noten enthält, als einzeln *% oder <v,
so läßt sich begreifen, daß sie seltener in der Adagioforraol, dagegen fast regelmäßig nur in der
Moderatoformel ausgeführt werden kaon. In der Tat sehreibt Bach selbst — allerdings offenbar nur
als matten" Ausdruck u. zwar sowohl in seinen Kompositionen, als auch in den Exempeln seines
Buches die Moderatoformel des prallenden Doppelschlages am häufigsten so aus:
Pag. 18.
Fig. 58.
Pag. 68.
: *^g~~ii=B
m
welch eigene Schreibart Bachs1) ich selbst nun in meiner Sammlung der Ph. Em. Bachschen Klarier-
werke ständig benützt habe, um den w- Fällen ihre Ausführung beizugeben.
Vor allem bestätigt die Originalschreibart auf den ersten Blick, daß der Legatobogen (s. oben
§ 9 des Abschnittes über den Triller) hier ebensowenig praktische2) Bedeutung hat, wie beim ~
überhaupt ; ferner zeigt sie sinnfällig jenen früher erwähnten Zuwachs an Noten (man hat dazu aller-
dings noch die Noten zu addieren, die durch das Zeichen des -~ vorgestellt werden), so daß durch
den Beweis der Anschauung der Schluß an Kraft gewinnt, der dahin geht, daß, wo die Manier ^ vor
geschrieben ist, eo ipso eine mäßigere Bewegung an der betreffenden Stelle, oder doch mindestens
eine längere Dauer3) der verzierten Note selbst vorausgesetzt werden müsse. Man kann noch weiter
gehen, und aus der häufigeren Anwendung dieser zusammengesetzten Manier sogar auf eine mäßigere
Bewegung4) des ganzen Stückes überhaupt schließen.
als derjenige, den Bülow uns näher zu bringen versucht hat! Er war in jedem Ton ein anderer, und man muß sagen
daß unter der Entstellung Bachs durch Bülow sicher auch der musikalische Horizont der Spielenden zu leiden hatte u. noch hat.
Wenn man auf Schritt und Tritt statt Geschmackes nur Geschmacklosigkeit, statt der Zuge eines Genies bloß Beduktionen
auf Talent und Plattheit in Kauf nehmen muß, wozu war die Arbeit, und wo bleibt das Verdienst, das vom Schaden so
stark überragt wird?
*) Offenbar ist denn auch mit der Notierung J. S. Bachs z. B. in der Partita I:
Fig. 59.
kaum was anderes, als doch nur wieder der spätere „prallende Doppelschlag" gemeint, worüber nämlich (wie ähnliches schon
beim Triller J. S. Bachs gesagt wurde) das Zeichen des ~** zunächst ja irreführen könnte. Denkt man sich aber statt des
letzteren Zeichens bloß den Pralltriller :
Fig. 60.
^B
M^
so verstehen wir sofort besser den wahren Sinn der Verzierung. Also Vorsicht vor dem
Übrigens schreibt ja J. S. Bach in der Allemunde der V. engl. Suite ausdrücklich auch so:
-Zeichen bei J. S. Bach
Fig. 61.
M
also ganz so, wie später aus Gründen eines prinzipiellen Systems Ph. Em. Bach.
Indessen besteht zwischen den beiden hier angezogenen Beispielen J. S. Bachs bei Fig. 59 u. Fig. 61 immerhin
ein wesentlicher Unterschied, nämlich der, daß nur beim letzten Beispiel der „prallende Doppelschlag" auch nach einer
fallenden Sekunde gebraucht wurde.
2) So heißt es also auch bei Ph. Em. Bach (II., 4, § 27) wieder einmal ganz ausdrücklich : „Wegen des langen
Bogens über der letzten Figur beziehe ich mich auf das, was bey dem Prall-Triller angeführt ist."
8) Vergl. § 28: „Da diese zusammen gesetzte Manier mehr Noten enthält, als die einfachen Manieren, woraus
sie besteht, so füllt sie auch die Geltung einer etwas langen Note besser aus; folglich wird sie auch in diesem Falle
lieber gebraucht als der Prall-Triller allein."
*) Daselbst (§ 28): „Hingegen thut der Prall-Triller allein, bei dem Exempel
Fig. 62.
■h.J^flj-fl
fr wj
in Allegretto und in einer noch hurtigern Zeit-Maaße besser als zusammen gesetzt." Der Schluß aus diesen Worten auf
das Tempo im Geiste Bachs selbst ist doch sicher leicht zu ziehen, und es ist erfreulich, daß auch Baumgart (Seite 12)
ihn in derselben Art zieht. Hätte nur auch Bülow was davon gewußt!
U.-E. 812.
53
führung :
Der geschnellte Doppelschlag.
§ 8.
Der geschnellte Doppelsuhlag hat das Zeichen „8 oj« und lautet in der Aus- ««««i-ung
unrl Ana.
jpfy. 63.
Diese Mauier ist eine Verbindung einer einzeln stehenden Note (des ersten g des Beispieles) mit dem
Doppelschlag (dem Rest der Noten).1) .
Nach Bachs Regel hat die erste Note keinerlei gebundenen Charakter in sich, so daß sich
diese Manier eben durch den Mangel an Vorhaltscharakter wesentlich vom „^" und sogar vom fl(v"
selbst unterscheidet.
Wie die erste Note nun gleichsam harmonisch ungebunden einsetzt, so hat sie — und das
ist die Eigentümlichkeit dieser Manier überhaupt — auch zugleich mechanisch frei einzusetzen.
Hiefür empfiehlt Bach einen „steifen Finger". Damit will er folgendes sagen: Man hat das erste g
mit förmlich aufrecht stehendem Finger so elastisch anzuschlagen, daß, wie naturgemäß, der Finger
gerne wieder von der Taste abspringen möchte; und während nun eo der Finger im Begriffe ist dem
Gegendruck nachzugeben, haben die übrigen Finger so schnell als möglich noch die weiteren Noten
des Doppelschlages gleichsam zusammenzuraffen. Im ganzen hat das Steifmachen des Fingers und das
Zusammenraffen des Doppelschlages bei noch „steifem Finger" ein Werk des Augenblickes nur zu sein,
und weil nun ..der steife Finger" gleichsam die mechanische Pointe der Manier ist oder besser den
mechanischen Schlüssel zu ihr vorstellt, daher erlaubte sich Bach einzig mit jenen zwei Worten, die
allerdings sohr malend sind, die Mechanik der Manier darzustellen.
Um den Spieler der Bachschen Werke an die Notwendigkeit eines solchen Anschlages zu
erinnern, habe ich mir in meiner Ausgabe erlaubt, ihm aus eigenem, daher in einer Klammer, mit
einem Stakkatostrich zu Hilfe zu kommen, wie folgt:
Fig. 64.
i
Ca
Die Wirkung des oben geschilderten Anschlages ist, wenn er gelingt, die, daß das erste g
r>fenbar infolge des eigentümlichen Angriffes, zunächst als Eines besonders gehört wird, dem als Zweites
der sofort sich anschließende Doppelschlag gegenübertritt, so daß in gewissem Sinne 30gar von einer
merkwürdigen Isoliertheit der beiden Elemente gesprochen werden kann.
Daß auch hier der ~ den Zwischenraum — wie überall — bedingt, ist selbstverständlich.
Zumal Bach, indem er diese Manier schreibt, zugleich von Haus aus die Möglichkeit des Zwischen-
raumes mitberechnet, d. h. sie nur über Noten gebraucht, deren Länge es gestattet, diese Manier in
ier angewandten Moderatoformel des <v auszuführen; woraus wieder folgt, daß auch hier, wie beim
I, ein Rückschluß von der Anwendung dieser Manier auf ein mäßigeres Tempo durchaus logisch
jeboten ist.
*) IL, 4, § 33, erklärt: „Wenn ein Doppelschlag über gestossenen Noten angebracht werden soll, so erhält er
tne besondere Schärfe durch eben dieselbe im Anfange hinzugefügte Note, worüber er stehet. Diese noch nicht anders
»o bemerckte Manier habe ich durch ein kleines Zweyunddreyßigtheil vor der mit dem Doppelschlage versehenen Note
ingedeutet. Diese dreyfache Schwäntzung bleibt bey allerley Geltung der folgenden Note und bey allerley Zeit-Maaße
inverändert, weil dieses Nötgen allezeit durch den geschwindesten Anschlag mit einem steifen Finger heraus gebracht und
«gleich mit der geschnellten Anfangs-Note des Doppelschlages verbunden wird."
Aus Baumgarts Anmerkung auf Seite 12 ist leider zu entnehmen, daß er die technische Pointe des „steifen
Fingers" überhaupt gar nicht verstanden hat.
Auch mag es nicht unwichtig sein, auf die eigene zur Vorsicht mahnende Bemerkung Ph. Em. Bachs am
Ichlusse des § 34 hinzuweisen: „Man kan hierbey mit anmercken, daß bey diesen Exempeln außer dem Klaviere das
leichen des Tril ers und bey den Clavier-Sachen das einfache Zeichen des Doppelschlags zu stehen pflegt."
U.-E. 812.
und Aus-
führung des
geschnellten
Doppel-
schlages.
54
Das „Schnellen" geht hier meistens in der Heftigkeit des ersten Anschlages und der Kaschheit
des Anschlusses des po verloren.
Der Akzent entladet sich naturgemäß im ersten Angriff. Die Hauptnote wirkt
daher, wie beim <xj überhaupt, nur durch ihre zeitliche Länge.
Über den Unterschied dieser Manier aber von dem einfachen Doppelschlage, wenn dieser nach
einer Note vorkommt, siehe unten, S. 56. *)
Der Doppelschlag von unten.
§ 9.
Abgrenzung Ist es so, daß wegen seiner Vorhaltsuatur der <v allemal mit der oberen Sekunde anzufangen
des Begriffes w s0 kat gacn RecM wenn er auch im „Doppelschlage von unten" zunächst einen latenten
U.Ausführung *
des Doppel- „Doppelschlag von oben" annimmt, der bloß um zwei von unten kommende und dem Hilfstone sich
schiages von anschließende Noten vermehrt erscheint.
„Diese Nötgen" sagt er in II., 4, § 37, „werden so geschwind als möglich an den Doppelschlag
gehängt und mit ihm verbunden. Die dreifache Schwäntzung bleibt ebenfalls allezeit unverändert.
Diese noch zeithero von niemanden angemerckte Manier stellt in der Kürtze einen Triller von unten
vor, und wird also auch an dessen Stelle über einer kurtzen Note gebraucht. Man kann diese Manier
den Doppelschlag von unten nennen."
unten.
Fig. 65.
B | BT
55
Dagegen zählt er noch durchaus nicht zu den Doppelschlägen jene Figur, die gerade wir den
Doppelschlag von unten nennen, was nur als weitere Konsequenz derselben Auffassung bei Bach an-
zusehen ist.
So heißt es in IL, 7 (von den Schleifern), § 5.
Fig. 66. a) Tab^Vl/F^.LXXXIX.
sehen wir die Ausführung dieses Schleifers van dreyen Nötgen . . . Da man von diesem
Schleifer noch kein gewöhnliches Zeichen hat, und seine Ausführung einem Doppelschlage in dei
Gegen-Bewegung vollkommen gleich ist; so habe ich ihn viel bequemer durch das bey (b) befindlich«
Zeichen angedeutet, als wenn ich statt dessen drey kleine Nötgen hätte setzen wollen, wie mai
zuweilen antrift."
Darnach kann man nun gewiß nicht mehr sagen, daß Bach die Verwandtschaft seines „Schleifer
von dreyen Nötgen" mit dem Doppelschlage2) etwa nicht genau genug erwogen hätte, als dessen „Gegen
J) In argem Irrtum betreffs dieser Manier befindet sich konstant Bülow, indem er z. B.
pag.70. m. Ausgabe, a) b) .
Bülow,
S. 10.
Fig. 67.
nicht wie bei a), sondern wie bei b) interpretiert oder, statt die Manier vom Wert der Hauptnote selbst abzuziehen, si
gar vom Wert der vorausgehenden Note abzieht:
S.26.
Bülow, S. 22.
für:
m.Ausgabe.
Fig. 68.
2) Ebensowenig war ihm auch die Abgrenzung des „Schleifers von 3 Nötgen" gegenüber seinem eigenen „Doppe
schlag von unten" (vgl. Fig. 65) fremd, da er im II., 7, § 9, selbst davon spricht: „indem man sonst statt dieses Schleife:
den Doppelschlag von unten brauchen könnte, welcher einige Ähnlichkeit in Noten mit ihm hat."
U.-E. 812.
81
55
bewegung" er ihn ja ausdrücklich bezeichnet; vielmehr, wie deutlich zu sehen ist, liegt hier nur
Konsequenz im Erfühlen einer Manier: Sein Instinkt saß eben tiefer und reiner als der unsere.
Doch gleichviel, ob wir nun mit ihm bei Figur 66 gar von einem Schleifer oder aber doch
noch von einem Doppelschlage sprechen wollen, haben wir jedenfalls noch immer — zumal für seine
eigenen Werke — seine Anweisungen, wie jene Figur vorzutragen ist, als geltend zu betrachten.
Und so meint er in IL, 7, § 6: „Diese Manier liebt das sehr geschwinde und das sehr lang-
same, das gleichgültige, und das aller affectuöseste, und wird also auf zweyerley sehr verschiedene
Art gebraucht. (1) Bey geschwinden Sachen zur Ausfüllung und zum Schimmer; hier stellt sie bequem
einen Triller von unten ohne Nachschlag vor, wenn die Kürlze der Note zu diesem Triller nicht
hinreichen will und wird allezeit geschwinde gemacht."
Und ergänzend in § 7: „Im andern Falle wird dieser Schleifer als eine traurige Manier, bey
matten Stellen, besonders im Adagio, mit Nutzen gebraucht. Er wird alsdann matt und piano gespielt,
und mit vielem Affecte und mit einer Freyheit, welche sich an die Geltung der Noten nicht zu
sclavisch bindet, vorgetragen."
b) Der Doppelschlag nach einer Note.
§ 10.
Im Gegensatz zum „Doppelschlag über einer Note" steht nach Bach „der Doppelschlag nach P«»cJol°9,e
einer Note." (Oder was dasselbe ist, zwischen zwei Noten.) sehiages
Der mit dem Doppelschlag (wie überhaupt mit jeder Manier) verbundene Zweck, die Dauer "•? einer
einer Note besser auszufüllen, wird hier also auf eine andere Weise, als bei dem „Doppelschlag über
einer Note" und dessen Abarten zu erreichen gesucht. Denn, wenn bei dem letzteren mit der Ausfüllung
sofort, d. i. schon im ersten Teil des Notenwertes, begonnen werden muß, so wird dagegen bei dem
„Doppelschlag nach einer Note" mit der Ausfüllung ein wenig gewartet, und erst im späteren Teil des
Notenwertes die Manier in Szene gesetzt.
Dieses Verschieben des oo-Anfanges beim Doppelschlag nach einer Note aber, d. i. das Ablaufen-
lassen eines gewissen Zeitraumes, während dessen der Hauptton vorläufig eben noch unverziert klingt,
und der übrigens je nach der Situation auch verschieden sein darf — hat notwendigerweise zur Folge,
daß dadurch die im Doppelschlag sonst immerhin enthaltene Vorhaltswirkung auf das minimalste ver-
ringert wird: trifft doch hier die obere Sekunde nicht mehr mit dem Baßton sofort zur Dissonanzwirkung
zusammen, und bringt doch der Hauptton selbst einen eventuellen späteren Vorhalt dadurch um seine
Wirkung, daß er, eben identisch mit „dem Auflösungston" des Vorhaltes, noch vor dem Vorhalt, d. i.
Vor der oberen Sekunde auf dem Platze erscheint.
§ n.
Was die Ausführung des Doppelschlages nach einer Note anbelangt, so ergeben sich folgende yjJrrudn'eAdus"
Möglichkeiten : Doppel-
et) Die Note, auf die der Doppelschlag folgt, hat geraden Wert: 'eine^No"*0
In einem solchen Falle gestaltet sich die Ausführung nach Bachs Regel (vergl. IL, 4, §§ 21
und 22), wie folgt: Tab.V, Fig. LXI.(a)
Fig. 69. ja | J lUÜJjS
d. h. genau in der Hälfte des Wertes (keineswegs also später!) wird mit dem Doppelschlag begonnen,
iund überdies am anderen Ende der Manier noch ein Zwischenraum im Werte eines vierten Teiles
übriggelassen.
U.-E. 812.
56
Damit ist aber auch schon von vornherein der unterschied dieses Doppelschlages gegeben Veab:
gegenüber dem geschnellten Doppelschlag — Bach schildert ihn in IL, 4, § 36, mit den Worten: „Man
verwirre diese unsere Manier (den geschnellten Doppelschlag) ja nicht mit dem einfachen Doppelschlage,
welcher nach einer Note vorkommt. Sie sind gar sehr unterschieden, indem der letzte eine gantze
Weile nach der Note eintritt und bei geschleiften und ausgehaltenen Noten zu finden ist."
über Wendungen, wie z. B. folgenden:
i teils .
gegen-
(l) Pag. 55.
Fig. 70.
frrfittTfrccr
b) Pag. 81.
fe
¥
§E
E?
lüHpülIp
bei denen es, wie man sieht, am Zwischenraum überhaupt fehlt, uud außerdem wie bei b) zugleich,
doch auch am charakteristischen Beginn der Manier gerade in der Mitte des Wertes; und endlich 3tens:
gegenüber einer Kombination, wie z. B. der Beethovens im Adagio seiner Klaviersonate, op. 2, Nr. 1:
Fig. 71.
i
d.i.
±d
^m
bei der zum Doppelschlag überdies noch ein sogenannter Anschlag (s. die eingeklammerte Tonfolge a
und c vor b) am Ende der Manier addiert wird.
b) Die Note, auf die der ~ folgt, wird gebunden:
Davon gilt, was Bach in § 23 sagt: „Im zweyten Falle entstehet nach der bindenden Note
ein Punckt und die letzte Note des Doppelschlags macht mit der gebundenen eine Note aus: ist die
Zeit-Maaß aber hurtig, so fällt der Punckt weg;u
oc
mod.
Tab.V, Fig. LXl.(b)
all.
Fig. 72.
W
trrnr^nrjp^
und endlich:
c) Die Note, die nach sich den <v hat, ist eine punktierte:
Da gilt die Vorschrift des § 24: „Im dritten Falle entstehen zwey Punckte, zwischen welchen
der Doppelschlag gemacht wird (c).
Tab.V, Fig. LXI.fe)
Fig.
73.
iüP
Die Eiutheilung ... ist allezeit dieselbe."
Die Verkürzung der auf den ~ folgenden Note bei diesem letzteren Beispiel beruht auf dem-
selben Prinzipe wie die Verkürzung beim Triller. (Vergl. Fig. 23 u. 41.) In beiden Fällen ist es nämlich die
rhythmische Verjüngung des Haupttones (d. h. dessen Wiederkehr an einer anderen rhythmischen Stelle),
die, um die ursprünglich geplante Proportion nachzubilden, einer entsprechenden Verkürzung der nächsten
Note dringend bedarf. So will im Beispiel Bachs sich das a durchaus im Verhältnis eines ^ zu g als J>
verhalten: tritt nun der <^> ein, der mit seinen vielen Noten die Verkürzung des Haupttones selbst
herbeiführt, so mag das a gleichwohl in der ihm nun einmal vorausbestimmten Proportion verharren
und reduziert sich daher naturgemäß von einem J^ auf ein 5. gegenüber dem & des Haupttones.
Nach einer punktierten Note macht daher Bach eine solche Verkürzung in der Regel
zur Pflicht, so daß nur etwa einem bedeutenderen Ausdruck zu Liebe davon abgegangen, d. h. die
Schreibart beim Wort genommen werden kann.
Ü.-E. 812.
57
§ 12.
Was uns indessen an allen diesen Ausführungsvorschriften Bachs sub o), b) und c) des vorigen
Paragraphen sofort auffällt, ist, daß zwar die Ausführung bei einer punktierten Note (sub c) mit der
unseren übereinstimmt, vergl. z. B.
Fig. 74.
Mozart. Streich-
quartett G dur. für:
p=^^rw^T^
über die Un-
erläßlrchkeit
eines Zwischen-
raumes auch
beim „Doppel-
schlag nach
einer Note".
dagegen aber in eigentümlicher Weise die bei einer Note geraden Wertes (sub a) sich von der unseren
unterscheidet.
Und wieder ist es im letzteren Falle, also bei a, der Z w i s c h e n r a u m, der den Unterschied ausmacht !
Auf diesen Zwischenraum aber dringt hier Bach unter allen Umständen, so daß
ich in meiner Ausgabe mir zur Pflicht gemacht habe, an dieser Eigentümlichkeit Bachs festzuhalten,
besonders eingedenk dessen, daß diese Eigentümlichkeit nur eine für uns ist, keineswegs aber eine für
ihn selbst gewesen, z. B. Pag. 6.
Fig. 75.
Nenne ich es aber — meinetwegen in einem etwas ferneren Sinne — auch bei den Fällen
sub b) und sub c) wieder nur einen Zwischenraum, wenn die Hauptnote an die Stelle der Bindung oder
des Punktes tritt, um sich die Dauer dieses Punktes eben zu eigen zu machen, so kann ich zusammen-
fassend sagen, der Zwischenraum kehrt bei allen Doppelschlagsarten Bachs wieder: beim
„Doppelschlag über einer Note" und dessen Abarten, wie sogar auch bei allen Doppelschlägen zwischen
zwei Noten d. i. nach einer unpunktierten ( ! ) oder punktierten.
c) Der Doppelschlag „über der zweiten Note".
§ 13.
Und schließlich gibt es noch eine Art des r*;, die Bach unter dem Namen eines „Doppel- Wesen und
Schlages über der zweiten Note" anführt. Ausführung
des Doppel-
Allerdings spricht er davon nur ganz beiläufig in IL, 4, § 24, wo er folgende Ausführung lehrt: 8Chla9" ü".
der zweiten
Tab.V, Fig. LXI. (4)
Fig. 76.
— beiläu6g nämlich in dem Sinne, als er diese- Doppelschlagsart noch durchaus nicht in seine Haupt-
einteilung der Doppelschläge selbst einbezieht, die nach wie vor nur solche „über" und solche „nach
einer Note" unterscheidet — indessen scheint nun gerade dieser Doppelschlag, wie wir gleich sehen
werden, der Vorfahre der eigentümlichen Doppelschlagsbildungen Haydns zu sein, weshalb uns denn
auch die Pflicht erwächst, die neue Erscheinung einer genaueren Betrachtung zu unterziehen.
Ohne Zweifel hat der Bachsche Doppelschlag „über der zweiten Note", da er ein anderer ist
als die bisher angeführten Doppelschlagsarten, schon eben aus diesem Grunde, zugleich auch wieder
einen anderen und eigenen Ausdruck, u. zw. läßt sich diese Verschiedenheit des Ausdruckes am leichtesten
durch Vergleiche mit jenen feststellen und erfassen.
Gehen wir vor allem der Spur des Wörtchens „über" nach, wie es in der Bachschen Bezeichnung
unserer neuen Erscheinung enthalten ist, so möchte man, — freilich unbeschadet dessen, daß der eine
Doppelschlag nur einfach „der Doppelschlag über einer Note", während der andere ausdrücklich (doch
darum zunächst nicht eben klarer) „der Doppelschlag über einer zweiten Note" heißt — immerhin den
letzteren weniger als eine selbständige Doppelschlagsart, denn vielleicht nur als eine Abart des ersteren
sich vorzustellen geneigt sein. In der Tat haben die beiden hier verglichenen Doppelschlagsarten die
obligate Vierzahl von Tönen gemein, wobei auch deren bekannte charakteristische Ordnung eingehalten
wird: Obere Sekunde, Hauptnote, untere Sekunde und endlich wieder die Hauptnote. Doch mehr, als diese
U.-E. 812. 8
Note.
Allgemeines
über die
Doppelschlags-
arlen bei
Haydn.
58
GemeiDsamkeit sie bindet, trennt sie umgekehrt der hochwichtige Umstand, daß bei dem ordentlichen
oo über einer Note" die gesamte Vierzahl der Töne vom Wert der eben zu verzierenden Hauptnote
selbst in Abzug gebracht wird, während beim „<^> über der zweiten Note" die Ausführung der ersten
drei Noten desselben gar auf Kosten der vorhergehenden Note geschieht. In der überraschenden Tat-
sache nun, daß die Ausführung einer Verzierung nicht zur Last derjenigen Note, die verziert werden
soll, sondern nur zur Last einer anderen, u. zw. einer Note, deren Verzierung (d. i. Ausfüllung) von
vornherein ja gar nicht beabsichtigt wird, hat man ohne Zweifel aber einen doppelten Widerspruch i
zu erblicken: Erstens einen solchen gegenüber dem Grundgesetz aller Manierenausführung überhaupt,
in dem Sinne nämlich, als die Manieren gemäß ihrem Hauptzwecke, die Dauer einej- gegebenen Note
besser zu füllen, vernünftigerweise doch nur eben von dieser selbst abgezogen werden müssen, und
zweitens einen solchen gegenüber der Bezeichnung „über einer zweiten Note", die weit davon entfernt
die gegebene merkwürdige Situation auszudrücken, mit der Präposition „über" sie weit eher zu ver-
schleiern droht.
Diese beiden sehr bedenklichen Widersprüche zu bannen, könnte man — immer auf der Suche
nach dem Ausdruck unserer neuen Manier — sich daher versucht fühlen, nun um so lieber den „o*> nach
einer Note" zum Vergleich mit dem „oo über der zweiten Note? heranzuziehen. Hiebei finden wir fürs
erste mit Befriedigung, daß die beiden Doppelschläge zwar allerdings in einer Tatsache übereinstimmen,
nämlich in der normalen, daß die Manier von der Dauer der Note selbst abgezogen wird, doch werden wir
dann desto stärker anderseits von dem fundamentalen Unterschied betroffen, daß im Falle des „c^> über
einer zweiten Note" die drei von der vorausgehenden Note abzuziehenden Töne des Doppelschlages gar
andere sind, als sie es sonst sein dürften, wenn der Doppelschlag ein wirklicher ,„{%j nach einer Note"
wäre, was nämlich daraus hervorgeht, daß beim letzteren es ja durchaus nur seine eigene Ober- und
Untersekunde, nicht aber die eines fremden Tones sein dürfen, die eben von diesem bezogen, ja ohne-
weiters doch auch ganz verschieden ausfallen könnten. Somit ist denn auch der zweite Vergleich, d. i.
der zwischen einem „<v nach einer Note" und dem „<^ über einer zweiten Note" leider noch
nicht im Stande, die Eigenart des letzteren widerspruchslos zu erklären.
Es bleibt uns daher nichts anderes übrig, als den „oj über einer zweiten Note" nun gerade in
dieser widerspruchsvollen Eigenart zu belassen und wir tun daher am besten, ihn solchermaßen immerhin
wohl als einen Biv über einer Note" anzuerkennen, der aber seltsamerweise seine Ausführung auf
Kosten eines fremden, d. i. des vorangehenden Tones gleichsam als dessen Parasit fordert. So mag
*denn nun in diesem Sinne der Scharfsinn in der Formulierung Ph. Em. Bachs nicht hoch s:enug anzustaunen
sein, der, indem er mit den Worten „über der zweiten Note" uns zunächst nötigt, von selbst an irgend
eine erste Note zu denken, und an eine geheimnisvolle Ausführung, die offenbar zwischen einer ersten
und zweiten Note ausgetragen werden soll, zugleich aber unserer Vorstellung mit dem Wörtchen
„über" einen bestimmten Weg zu weisen sucht.
Trotz solcher Treffsicherheit seiner Worte aber möchte ich gleichwohl vorschlagen, das unheilbar
Widerspruchsvolle der sozusagen illegitimen Situation beim Bachschen „r^ über einer zweiten Note"
endlich ehrlicher und offener anzuerkennen und ihn — je vorbehaltloser, desto einfacher! — einen
Doppelschlag „vor einer Note" zu nennen, obgleich, wie schon gesagt wurde, durch die Sanktion einer
solchen Bezeichnung das Hauptgesetz über die Ausführung der Manieren ohne Zweifel eine Erschütterung
erleiden muß. —
Daß aber die Vorhaltswirkung beim Doppelschlag über der zweiten Note sich verlieren mußte,
ist selbstverständlich.
B. Der Doppelschlag bei den späteren Meistern. I
«) Der Doppelschlag: bei Haydn,
§L 1
Haydn scheint der erste gewesen zu sein, der nach Bach die Zeichen in den mehr oder weniger
ausgeschriebenen Zustand hinüberzufahren trachtete.
Jedoch schaltet er, um es gleich zu sagen, den „ <v> über einer Note", also den wirklichen
Doppelschlag im Sinne Bachs, ganz aus seiner Praxis aus.
U.-E. 812.
59
Und zwar ist es damit völlig so, als hätte Haydn diesen gar nach rückwärts verschoben. Der
dadurch entstandene Doppelschlag ist nun aber ohne Zweifel kein wirklicher Doppelschlag über einer
Note mehr, sondern eher als ein Doppelschlag „vor einer Note" zu begreifen, u. zw. genau in dem
Sinne, wie ich es soeben beim Bachschen „Doppelschlag über der zweiten Note" ausgeführt habe.
Man darf aber außerdem noch diesen Doppelschlag vor einer Note bei Haydn sogar „den
spezifisch Haydn'schen Doppelschlag vor einer Note" zu nennen anfangen. Nicht allein wegen
der Bach noch unbekannt gebliebenen Notierung, die ja Eigentum und Schöpfung Haydns ist, sondern
weit mehr wegen des originellen Ausdrucks, den Haydn in den weitaus überwiegenden Fällen damit
verbindet,. Da aber unbeschadet dieser Originalität der Doppelschlag Haydns dennoch vielfach an den
„Doppelschlag nach einer Note" oder an den „Doppelschlag über der zweiten Note" Bachs erinnert,
so werden wir demnach auch beim Haydnschen „Doppelschlag vor einer Note" wohl noch immer genau
auseinanderzuhalten und gesondert zu betrachten haben, inwiefern sein Ausdruck:
1. mit dem des Bachschen „Doppelschlages nach einer Note" oder
2. mit dem des Bachschen „Doppelschlages über der zweiten Note" irgendwie verwandt oder
gar identisch erscheint.
Im Zusamenhang damit steht es des weiteren, daß auch die kombinierten Doppelschlagsarten
im obigen Sinne eher vor, als über einer Note anzunehmen und auszuführen sind.
Somit hat nur der Doppelschlag nach einer punktierten Note allein seine alte Ausführung un-
verändert auch bei Haydn behalten.
§ 2.
p
Die Schreibarten des Doppelschlages bei Haydn lassen sich einteilen: über d. mehr-
I. in ganz und voll mit großor Schrift allein ausgeschriebene und aPten des
II. in verschiedene Kompromißverbindungen von großer Schrift und anderen Hilfsmitteln. Doppeischiages
Die erstere Schreibart löst, wie wir später sehen werden, den Doppelschlagsinhalt ganz in großer allgemeinen1
Schrift auf.
Die letzteren Schreibarten aber geben nur einen Teil, u. zw. den vierten und kleinsten des
Doppelschlages, der großen Schrift selbst frei, behalten aber die Hauptsache, nämlich die ersten 3 Töne,
noch immer in der herkömmlichen Schrift der Manieren zurück. Da diese aber entweder aus kleinen
Noten oder aus Zeichen besteht, so ergibt sich als Unterteilung der Kompromißnotierungen von selbst:
1. Die Verbindung von 3 kleinen Noten und großer Schrift,
Fig. 77.
z.B.
tm
oder
2. die der Notierung sub 1) völlig äquivalente Verbindung von Zeichen „ <x> u und großer Schrift,
Fig. 78.
.B.
fo) r f~z ; doch läßt wieder
3. die Notierung sub 2. für sich allein, noch eine weitere Variante zu, u. zw. insofern als
Haydn das Zeichen statt zwischen die Töne der großen Schrift, noch öfter gar über der zweiten Note
selbst anbringt:
F!g.79. ^p
Das wäre also die 3te Kompromißschreibart.
In Summa also lassen sich bei Haydn 4-erlei Schreibarten nachweisen, wobei aber noch zu beachten
ist, daß er oft genug unbedachter- und ungenauerweise einfach nur z. B. das Trillerzeichen setzt und
darunter doch wieder nur den Doppelschlag versteht.
U.-E. 812.
60
§ 3.
D«r „spe- Gemäß den im § 1 dieses Abschnittes gebotenen Auseinandersetzungen soll hier zunächst nur
'whe Dwjiei- von EaydDS „Doppelschlag vor einer Note" die Rede sein, dessen Ausdruck sich mit dem ehemaligen
schlag vor r Doppelschlag nach einer Note" bei Bach mehr oder weniger deckt.
ihM-iB sinne Betrachten wir nämlich die Kompromißschreibarten Haydns in folgenden Beispielen, wobei diese
des Bachschen nRCfo fteü ^ vorigen Paragraphen unterschiedenen drei Kategorien der Schreibart gruppiert erscheinen
und außerdem ihre Parallele mit der Bachschen Notierung erhalten:
Fig. 80, 9
1 "■*" daselbst
,/)Klavierson.U.E.N93./>) daselbst c) daselbst </)Sonate,U.E.N?4.ß) daselbst /) Son.Ü.E.N?a 8) ,co ..
kr*
„Doppelschlages
nach einer
Note".
.
so erkennen wir sicher unschwer, worin der Zusammenhang des Haydnschen „Doppelschlags vor der
Note" mit dem Bachschen „Doppelschlag nach einer Note" besteht, wie anderseits auch die Momente, die
sie mehr oder weniger voneinander scheiden.
Vor allem sehen wir, wie auch Haydn die trillerhafte Ausführung durchaus meidet, und strenge
am Prinzip des Zwischenraumes festhält, indem er der letzten Note des Doppelschlags einen bestimmten
Platz mit bestimmtem Wert (nämlich dem 4ten Teil des Gesamtwertes) anweist. Somit hat uns gerade
dieser Punkt der Ausführung — ■ zugleich ihr wichtigster ! — als derjenige zu gelten, der den Zusammen
hang des Haydnschen Doppelschlages mit dem Bachschen „^> nach einer Note" herstellt.
Dagegen vermissen wir bei Haydn den Zwang, mit der Ausführung des Doppelschlages just in
der Mitte des Notenwertes zu beginnen (oder sollte gar Bach, entgegen den eigenen strengen Anweisungen
in Wort und Exempel, — siehe oben Fig. 69 — zuweilen auch selbst je in diesem Punkte liberaler
gewesen sein?), so daß es nichts auf sich hat, wenn man bei Haydn die Ausführung des rv> auf irgend
einen Zeitpunkt auch nach der Mitte hinausschiebt, wenn nur — und das allein ist die Hauptsache! —
darunter die Ausführung der letzten, eben mit großer Schrift dargestellten Note des Doppelschlags nicht
leidet, d. i. wenn diese Note ihren Platz und Wert behält, so daß der nötige Zwischenraum dadurch
deutlich zum Ausdruck kommt!
Darnach kann es aber auch nicht mehr schwer fallen, einzusehen, daß in allen obigen Beispielen
der Haydnsche „Doppelschlag vor einer Note" dem Bachschen „Doppelschlag nach einer Note" im Grunde
ähnlicher ist, als er von ihm verschieden ist.
Ist dem aber wirklich nun so, so hat man nach dieser Richtung hin in der Schreibart Haydns
nur einen Gewinn zu erblicken. Und zWar besteht der Gewinn der neuen Schreibarten Haydns darin,
daß die wiederkehrende Hauptnote (am Ende des <x>) allemal bei a, 5, c, d, e,/u. g mit großer
Schrift dargestellt ist, oder, was dasselbe ist, man kann sagen, hier erscheint der Bachsche
Zwischenraum in die große Schrift aufgenommen und streng mensuriert. Worin allein,
wenn es überhaupt hier eine gibt, der Fortgang der Tradition zu erkennen ist!
§ 4.
Über die Miß-
<m£S£ Doch ist dieser Gewinn von Haydn bei den einzelnen Schreibarten mit vielen Nachteilen erkauft
Schreibarten worden, die sich nur allzusehr leider dazu eigneten, Mißverständnisse zu erzeugen.
des Haydn- ~ . , , ° " o
sehen „Doppel- öo ist bei der ersten Schreibart — siehe die Beispiele a, b und c im vorigen Paragraphen —
SderaflNo8te*°r ohneweiters auch deren Nachteil ersichtlich und zwar bezieht sich dieser auf die Regel der kleinen Noten.
Ü.-E. 812.
\ ^
eil
Bekannthch geh d.ese'; i dahin, daß alle kleinen Noten, sofern sie eine Manier bedeuten durchaus nnr
v n der naehstfolgenden Hanptnote, zu der sie gehören, abgezogen werden müssen. Der B geT teo e "
glaubte man daher nun auch be, den kleinen Noten des Havdnschen Doppelschlags durchaus an hr n et
sagen, ohne weitere Beihilfe, die Manier nicht nnr andeuten, sondern „ h f ^tts e,le kV
der nächsten (wohlgemerkt aber in großer Schrift dargestellten) Note vereint „L^7 . . " mit
ünzertrennlichkeit die volle Manier bedeuten und erschöp cn D s he ßt So L 1 TT "v*""'
■ Baydns Schre.bart m* Berechtigung anzuwenden. Oder noch anders: den letzteren Traue du
Charakter einer Ausnahme zuzubilligen setzt voraus, daß man eben weiß wie sie - n cht 12 J
sondern nur eben in Verbindung mit der nachfo.genden Note der großeu c ft! 1 "T. Li 2
ausgeschr.ebenen^ vorstellen, und wie sie dadurch von selbst aus jener Kegel herSaHen.
Der Nachteil der zweiten Schreibart bei d und e ist ebenfalls allzu ersichtlich Denn wollte
•man d.ese Falle genau nach der Regel erledigen, die für die Ausführung eines JEÄÄÄ
nach emer punkferten Note (vergl. Fig. 73) gilt - und diese ist bei Havdn dieselbe wie b ÄS
gebheben - so müßte ja die Hauptnote dort wieder erscheinen, wo der Punkt beg nnt wo ch et
dann gar zwei Hauptnoten gäbe: «egiimu, woauren es
Flg. 81.
Die Fälle bei d und e jedoch gegen die Regel zu spielen, setzt voraus, daß man mit Havdn
anormaWweise das Zeichen des Doppelschlags zwischen den beiden Noten, ännlich we dt ktoe
Noten bei der vorigen Schreibart, wieder eben weniger selbst für einen fertigen und wirkliln D pel
seh lag zwischen zwei Noten" (nach einer punktierten) annimmt, als vielmehr für einen Teil es Dopp L
Schlags nach einer Note", dem erst die nachfolgende Note der großen Schrift den unenbSchen
Endpunkt verleiht und damit auch den postulierten Zwischenraum ! ™entDennicnen
Wohl aber die ärgste Unvorsichtigkeit begeht Haydn mit der dritten Schreibart bei / und a
NMt nur' Iß" LT ""l T" ^ "" *" ^ W° W *** ™ ***** - einen solchen denkt
Nicht nur daß er in solchem Falle gar nicht wünscht, daß der ~ dort beginne, wo die Note steht
oder gar eine trillerhafte Ausführung eben aus diesem Grunde angewendet ferde meint efvLmehr
der ~ habe, wie wir wissen, bereits aufzuhören dort, wo die Note steht und diese sei eben der End-
ü ;J\ZU§ i HM /er ZwiSCheDraUm des - »er Doppelschlag über einer Note steht hier also
für einen Doppelschlag, der gar vorausgeht und dessen Ausdruck, wie wir bereits festgestellt haben
mindestens m den oben angeführten Beispielen, eher für den eines „Doppelschlags nach einer Note-
oder was dasselbe, „zwischen zwei Noten« im Sinne Bachs zu halten ist.
? Ierg1' °" *' § f : "AIIe durch kleine NötSen angedeutete Manieren gehören zur folgenden Note- folglich
darf jemals der vorhergehenden etwas von ihrer Geltung ahgehrochen werden, indem blos die folgende so vie 'veS t
* die kleinen Nö gen betragen, Diese Annierckung ist um so viel nöthiger, je mehr gemeinigLh hierwid er S£
w.rd u. s. w.« und daselbst § 24, den ich in der Einleitung S. 5 bereits citiert habe g
U.-E. 812.
132
überd. zweiten
§ 5.
Betrachten wir aber die Anwendung des Doppelschlages vor einer Note in folgenden Beispielen
c) Streichquartett. Op. 76. N9 4.
Der „spezifisch
Haydnsche ^ ,
Doppelschlag Mayüns :
vor einer Note".
2'-"»: im Sinne Fig. 82. b) Son. N9 2
des Bachschen x ^ N9 2ö.(U. E. N9 8.) «3»-,
-Doppelschlages * , sä -— r-'rTI
JS^iiSLj!i jj SonT!
e) Streichquartett Op. B4^N94./j Son No 20. g) Streichquart. 0p.7ß.N96.yy öp.71.N9 1
P tr^rr^f,# p
Streichquartett
Op.öö. N?l.
p^¥
WtfW
Streichquartett Op.64.N9 6. So"- N° &
0 Son. N9J6;
i I COT»-
Son.N9 25.
ggg gp r *
/) Streichquartett
0p.64.N9 8.
Oft
k) Son. N9 83
daselbst
l) Son. N9 13
t na
so finden wir, im Gegensatz zum Ausdruck des oj bei den Beispielen des § 3, den Ausdruck des Doppel-
schlages hier nicht unähnlich gar dem des Bachschen „Doppelschlages über der zweiten Note", haben
aber dabei (d. i. beim Haydnschen Doppelschlag) zugleich wohl die Empfindung auch noch durchaus
neuartiger Wendungen, die nur eben dadurch möglich wurden, daß Haydn den Doppelschlag vor einer
Note durchaus nicht, wie Bach, bloß auf einige wenige Situationen beschränkte — vergl. das eigene Beispiel
Bachs zum „Doppclschlage über der zweiten Note" in § 13 des vorhergehenden Abschnittes — sondern
auch noch für unzählige andere und verschiedene Situationen fruchtbar macht.
Die Psychologie des neuen Haydnschen Ausdruckes wird aber am besten klar werden, wenn
wir die Ausführung seines rw z. B. in Fig. 82 b) durch Kontraste beleuchten:
Fiy. 83.
Auch hier erscheint wieder die Tatsache, daß bei Haydn — siehe a und b — die Hauptnote am Ende
der Manier stehen bleibt, und dadurch den Zwischenraum ermöglicht, als jenes Moment, das uns die
verschiedenen Ausdrücke gegeneinander abgrenzen und voneinander unterscheiden läßt. Das Kesultat
aber ist folgendes:
Ein voller Gegensatz tritt hervor im Vergleich des Haydnschen <*sj zur trillerhaften Ausführung
bei d. bei der der Zwischenraum verloren geht und der gewünschte Wert einer Achtelnote auf bloß
ein 32tel reduziert erscheint.
U.-E. 812.
63
Schon viel näher aber (siehe c) rückt an den Hay dnschen Düppelschlag der Bachsche „Doppel-
schlag über einer Note" (der spezifische Doppelschlag Bachs), heran, denn: weisen beide, miteinander
verglichen, nun wohl den Zwischenraum als gemeinsames Merkmal auf, so unterscheiden sie sich
dagegen im übrigen nur dadurch, daß bei Bach die Hauptnote die Hälfte, d. i. ein 16tel, dagegen bei Haydn
ihren vollen Wert, d. i. ein 8,el behält. Der letztere Unterschied wurde indessen nur dadurch möglich,
daß ja bei Bachs „Doppelschlag über einer Note" die Manier wirklich von der Hauptnote abgezogen,'
während bei Haydns „Doppelschlag vor einer Note" die Ausführung durchaus nicht; auf Kosten der° Haupt-
note geschieht. Was des weiteren nun aber zur letzten Erkenntnis führt, daß der Haydnsche „Doppel-
schlag vor der Note" in den obigen Beispielen somit in der Tat noch weitaus am nächsten doch nur eben dem
Bachschen „Doppelschlag über der zweiten Note" steht, mit dem jener lteus: die Ausführung der ersten
drei Noten des <^ unbedingt nur auf Kosten der vorausgehenden Note, 2te,ls: das Stehenbleiben der
Hauptnote auf dem ihm durch die große Schrift zugewiesenen Ort, 3tcns: das Einhalten des Zwischen-
raumes und 4tens: die Vermeidung der trillerhaften Ausführung gemein hat.
In allen diesen Fällen hätte sich Ph. Em. Bach, wenn er das erreichen wollte, was Haydn intendiert,
vielleicht nur helfen können, wenn er die Wendungen mit großer Schrift dargestellt und sie genau in
den Takt eingeteilt hätte.
§ 6.
Mit der Verwandlung des echten Bachschen „Doppelschlags über einer Note" in einen „Doppel- überdiekom-
blnierten
schlag vor einer Note" scheint sich bei Haydn aber auch der wahre ursprüngliche Bachsche Charakter ££ t.
der kombinierten Arten des Doppelschlags, des „~" und des ?J ^« von selbst verwischt zu haben. D*s*
Zwar schreibt er noch gelegentlich, wie bei Fig. 84, a) : °8S*
Fig. 84.
(l)Son. N9 26. w , c) Son.Nqi. . d) daselbst
ü MiLHi^i.rrr1
aber das Zutrauen zur Schreibart schwindet, wenn man sieht, wie er dasselbe auch so schreibt, wie bei h).
Angesichts solcher Unbestimmtheit darf man die Vermutung wagen, er habe vielleicht dann auch bei
c und d eher einen ~ gemeint, als bloß den einfachen r%>.
Schwierig ist es aber auch zu entscheiden, ob nicht der ™i wie der ehemalige <x> über einer
Note, nach rückwärts verschoben werden solle. Vielleicht tue ich HTydn daher nicht Unrecht, wenn ich
z. B. bei:
Fig. 85.
Son.N«? 28.
4L
i
einen verschobenen ~ (statt .-»), wie bei &, vermute, so daß die Hauptnote mit Zwischenraumwirkung
nun auch wirklich dort zu stehen hat, wo sie die Schreibart hinstellt (?).
Die Kückwärtsschiebung des „#§ ™u vollzog sich etwas weniger zweideutig:
Fi9- 86' Son. m 9.
Son. W 26.
rf3* £±*
U.S.W.
sofern man diesen Ausdruck für überhaupt verwandt halten darf dem Bachschen „ R
<"NJ
J
«4
§ 7.
Für den Doppelschlag nach einer punktierten Note benützt Haydn entweder lteus die große Schrift,
wenn er es
rv.
Der „Doppel-
"ne'0 punk- oder 2tens seine neuen Kompromißschreibarten, nur daß er bei den letzteren das Zeichen
Herten Note1-. statt der drei kleinen Noten anwendet, durchaus über der Note, nicht also auch zwischen den Noten setzt
Betrachten wir Beispiele einer voll ausschreibenden Schreibart bei ihm:
Fig. 87.
a) Son.l4.(Ü.E.N?2.)
¥
m
^fflS^ni
für:
womit auch weitere Beispiele verglichen werden können:
h) Mozart. Streichquartett, Es dur. c) BeethovejuOpJOl.
Fig. 88. ^J
m
so finden wir in dieser Ausführung durchaus die Tradition Bachs aufrecht erhalten, unbeschadet dessen,
daß dabe' weder von der Verkürzung der auf den Punkt folgenden Noten Gebrauch gemacht, noch auch
sonst immer — vom Schnellen abgesehen. — der Zeitpunkt des Doppelschlagsanfanges (siehe die Beispiele
Fig. 72 u. 73) etwa ganz so gewählt wurde, wie es Bach vorschreibt.
Als Beispiele seiner Kompromißschreibarten seien aber folgende angeführt:
Fig. 89.
Son.N? 25.
0^
Son. N9 25
Streichquartett op. 77 N? 2. ~
Son.N9 2.
Wie man sieht, wird auch hier wieder die Hauptnote am Ausgang der Manier mit großer
Schrift ausgeschrieben und an den Platz gestellt, der ihr in Wirklichkeit (auch der Lehre
Bachs nach) zukommt. Der Zwischenraum erscheint fixiert, wodurch dem Spieler das Problem der
Verkürzung vom Halse geschafft wird. Indessen kehren, von diesen Vorteilen abgesehen, die im § 4 er-
wähnten Nachteile der Schreibart wieder, so daß nicht selten unüberlegte oder ununterrichtete Spieler
eben wegen der Schreibart entweder die Regel von den kleinen Noten anzuwenden oder gar den rJ
über der Note nun wirklich als einen solchen auszuführen plötzlich Lust finden, statt gerade umgekehrt
— bei etwas genauerer Überlegung — aus der Art, wie Haydn im Dienste des hier doch sicher nicht
mißzuverstehenden „Doppelschlags nach einer punktierten Note" das Zeichen rv> gar über einer Note
setzt, Rückschlüsse selbst auf die übrigen Fälle zu ziehen, bei denen er das Zeichen (v leider ebenfalls über
einer Note anbringt, und somit zum gleichartigen Resultat zu gelangen, daß nun alle Doppelschläge
bei Haydn nur vor der mit großer Schrift fixierten Hauptnote auszuführen sind!
Das Endre-
sultat in Be-
zug auf die
Doppelschlags-
arten bei
Haydn.
§ 8.
Zusammengefaßt lautet das Ergebnis wie folgt:
Ein wirklicher „rx> über einer Note" im Sinne Bachs dürfte bei Haydn kaum
mehr anzutreffen sein. Wo immer ein oj über einer Note steht, wird der Fall den bisher er-
örterten Fällen mit Leichtigkeit einzureihen sein. Allemal behält die große Schrift Recht und
unbeirrt durch das ^-Zeichen hat man — nach Ausführung der drei durch das Zeichen geforderten
Noten des Doppelschlags auf Kosten der vorausgehenden Note — die verzierte Note wirklich
dort zu spielen, wohin die Schreibart der großen Schrift sie stellt.
Dasselbe versteht sich auch von dem Fall, wo Haydn statt des ^-Zeichens mit kleiner Schrift
drei kleine Noten ausschreibt.
U.-E. 812.
65
Wahrend somit noch bei Bach die Hauptnote gern unbetont blieb und die drei kleinen Nötchen
die ihr vorausgingen, zugleich ihr den Akzent vorwegnahmen, indem sie auf dem rhythmisch
stärkeren Taktglied einsetzten, so behält dagegen die Hauptnote bei Haydn ihre gute Beton uns
am liebsten für sich selbst, was nur dadurch möglich wird, daß jene kleine Tongruppe ihr
rhythmisch schwach vorausgeht. ■'"
Im Grunde ist der Haydnsche Doppelschlag daher ein „Doppelschlag vor einer Note« und ähnelt
eher dem Zwischendoppelschlag oder dem „Doppelschlag über der zweiten Note" bei Bach Wohl aber
hat sich der Doppelschlag nach einer punktierten Note ganz so erhalten, wie ihn Bach lehrte
Doch über all das hinaus bleibt es das Wichtigste zu erkennen, daß, wie immer man Haydns
Schreibart auch auffassen möge, niemals noch bei ihm unsere trillerhafte Ausführung d es ~
stattfinden dürfe. Ich möchte sagen, einfach aus Mangel an Gelegenheit, wenn mir schon
der Beweis nicht geglaubt würde. Dieser aber besteht darin, daß die meisten Doppelschläge Haydns
entweder ausschreibender Natur sind, wie Fig. 80 (nach einer Note) und Fig. 89, oder den nach rückwärts
verschobenen ~ samt all den neuen Anwendungen davon vorstellen (Fig. 82), welche Fälle eben von
Haus aus das Stehenbleiben der Hauptnote am Ende der Verzierung fordern so daß
einfach schon dadurch allein unsere Art, ohne Aufenthalt der Hauptnote zur nächsten Note hinüberzu-
führen (das, was Bach trillerhaft fand) ganz und gar unmöglich wird.
Der trillerhaften Ausführung auszuweichen würde ich daher aber auch in Fällen empfehlen,
deren Lösung trotz all den obigen Klarstellungen mindestens noch zweifelhaft sein darf:
Fig. 90.
a) Son.N?9.
b) Son. N9 31.
C)
Son. N? 30.
Son. N? 31.
m
iiiitift^i1"
N? 20.
Ich will damit sagen: wem es etwa hier nicht passen möchte, den ™ zu verschieben und wer
lieber hier einen wirklichen ™ über einer Note annimmt, tut immer noch besser, unter allen Umständen
den Zwischenraum anzubringen, als glattweg an die nächste Note anzuschließen. Das folgt für mich
wenigstens aus dem oben gegebenen Beweise.
Somit wäre nuu, wohl in dem größeren Teil der Fragen, zu denen die Werke Haydns Anlaß
geben könnten, eine unbedingte Sicherheit und erfreuliche Klarheit gewonnen. Was wahrlich nicht wenig
ist, auch wenn ein anderer Teil der Fragen noch in Zweifeln steckt, Haben wir aber soeben gesehen,
wie auch der Zweifel von nun an mindestens Metode haben darf, und er schließlich nur mehr zu
einer Wahl führt, bei der der Geschmack das letzte Wort zu reden hat, - was ja nicht das Schlimmste
ist, — so darf man auch dieses Resultat nicht ein ungünstiges schelten.
Es bleibt noch zu bemerken übrig, daß Haydn, wie schon übrigens in § 2 dieses Abschnittes
gesagt wurde, in lässigen Stunden auch einen Triller für einen <v schreiben konnte und sich eine
Schreibart entwischen ließ, wie bei Fig. 91, b), die ganz unzweifelhaft nach der Parallelstell e bei a) eine
Verwechslung von Triller und „rv> vor einer Note" erweist.
Fi?. 91.
a) Streichquartett Op.Öö. NT? S.
hm
£
fr
3£
ä
So daß man sich versucht fühlt auch in Fällen wie
Fig. 92. Streichquartett op.ö&
0p.64N?2.
anzunehmen, hier stünde Triller für „<^> vor einer Note".
U.-fi. 812.
66
ß) Der Doppelschlag bei Mozart.
§ 9.
Fortsetzung Über Jen Doppelschlag bei Mozart sei in Kürze folgendes bemerkt:
Schreibarten *n einem Beispiele aus der D-dur-Sonate (Köchel 311) sieht man ihn förmlich mit dem Problem
Haydns bei der Schreibart ringen:
a) _ e=S b) v^_ 1) e),
Fig. 93.
Mozart.
schließlich bekennt er sich zur Form bei c, die eben die Haydnsche ist.
In der Tat setzt Mozart im großen und ganzen Haydns Auffassung und Schreibart fort. Es
kehren bei ihm wieder z. B. die folgenden Ausdrücke und Notierungen des Haydn'schen „Doppelschlages
vor einer Note":
Fig. 94.
a) Phantasie. Köchel N? 476. c) CJ Sq^ ^^ m 4?ö ^ stpeichquartett F dur.c)
-p-r 1*1 e i
Son. Köchel N? 831.
%*# rßmri&
§ 10.
Eine andere, Worin Mozart aber von Haydn abweicht, ist der stete Gebrauch der ausgeschriebenen vier
von Mozart J '
bevorzugte kleinen Noten für den Doppelschlag zwischen zwei Noten, gleichviel ob nach einer unpunktierten oder
Schreibart. punktierten Note
Es ist sehr zu bedauern, daß diese Schreibart, die Haydn in Instrumentalwerken nur sehr selten
gebraucht hat, wie z. B.:
Fig. 95.
Haydn. Streichquartett
Op. 05. N? 1.
bei Mozart einen so breiten Platz einnimmt, denn unter allen Schreibarten des <^> ist diese wohl die
allerschlechteste. Man fragt sich mit Recht, wozu die Mühe des Ausschreibens, wenn ohnehin hinter dem
Zeichen: csj gewiß niemand andere Töne vermutet? Über den Zwischenraum aber gibt diese noch
weniger Aufschluß als jede andere Schreibart. Und hat man noch bei Haydn den Vorteil eines durch
die große Schrift fixierten Zwischenraumes (besonders nach punktierten Noten) genossen, so entfällt hier
dieser Vorteil ganz, so daß so manches Mal ein Zweifel entsteht, wo denn die Hauptnote ihren Platz
zu erhalten habe, z. B.:
Flg. 96. i„ Haydn's
JJSon. Köchel. N9 831 ^tieJ?u)ng'
2) Streichquartett D dur
Eigentlich wäre hier so, wie bei a oder b Zu spielen, der Regel (vgl. § 7, S. 64) entsprechender,
jedoch raten sowohl der Paralleltakt (d) als auch die Begleitung der linken Hand eher zur Form bei c
(vgl. § 13, S. 57 und § 5, S. 62) als jener Form, die Mozart im Auge gehabt haben dürfte.
*) Diese originelle Notierung (siehe die aUrtext"-Ausgabe) würde sich meiner Ansicht nach sehr gut eignen, in in-
struktiven Ausgaben der klassischen Werke die verschiedenartigen Schreibmetoden Haydns, die ja auch auf Mozart und
Beethoven übergiengen, eventuell zu vertreten.
U.-E. 812.
67
§ IL
Besonders aber ist es die Frage nach dem Zwischenräume, die im selben Maße schwieriger und
drohender wird, je nichtssagender die Schreibart ist. Man weiß nicht recht: wünscht Mozart den Zwischen-
raum oder nicht? Aus der ausschreibenden Art, wie z. B. :
Fig. 97.
Son. Köchel N9 576.
Streichquartett D dar.
iL
Streichquartett A dur.
wäre man versucht, zu schließen, er habe nur in solchen Fällen, in denen er es ausdrücklich ausschrieb,
glatten Anschluß an die nächste Note verlangt, so daß alle anderen Fälle e contrario mit Zwischen-
raum auszuführen seien.
Dadurch aber, daß an Stelleu, wo Haydn, geschweige denn Bach, gerne noch den <v> gebrauchten,
Mozart statt des letzteren einen Triller schreibt, u. zw. einen gar nicht mißzuverstehenden
Triller (da meistens auch der Nachschlag hinter dem Triller ausgeschrieben ist), könnte man anderseits
auf den Gedanken gebracht werden, daß bei Mozart im großen und ganzen der Doppelschlag an
künstlerischem Gebrauchswert viel verloren hat. Bedenkt man dann, daß dieser Gebrauchswert m e i s t e n s
eben durch den Triller ersetzt wird, so daß der Triller sozusagen die gebrauchteste Manier Mozarts
geworden ist, wäre es da zu verwegen, zu folgern, daß bei Mozart den Doppelschlag in der ehemaligen
Prestoformel Bachs, also trillerhaft auszuführen, vielleicht kein Unding mehr sei?
In der Tat ist bei Mozart die Bevorzugung des Trillers vor dem <x> ein so sprechendes Symptom,
daß man — was sich bei Haydn noch kraft der Situation von selbst immer verbot — hier bei Mozart
bereits anzunehmen wagen darf, daß nämlich ein glatter Anschluß des ~ an die nächste Note ohne
Zwischenraum möglich sei.
Wer weiß, ob nicht gerade auf Mozart die Ausführung des <^, wie sie bei uns heutzutage
gang und gäbe ist, am prägnantesten zurückzuführen ist?
Somit sei zugegeben, daß Stellen, wie z. B.:
Fi&- 98- Strqu. F dur.
rOST' ^^ *;K5dyjo338. strqiu Es dur_
• a) Köchel N? 311. ftjKfrhel N9£3Q. ^ Koc
VnPfFl
eventuell auch ohne Bach-Haydnschen Zwischenraum ausgeführt werden dürfen.
Die Situation ist jedenfalls schwierig und unklar, die Schreibart aber so, daß sie nicht den
geringsten Aufschluß über das Problem geben kann. Beide Meinungen, die für den Zwischenraum, und
die gegen denselben, sind genügend fundiert, und zwischen ihnen mit Sicherheit zu entscheiden, wird
vielleicht nie gelingen wollen. Es bleibt daher nur eine unmaßgebliche Geschmacksäußerung von mir,
wenn ich sage, auch bei Mozart sei am Prinzip des Zwischenraumes — trotz allem — festzuhalten
immer noch besser, als sofort dem Prinzip der trillerhaften Ausführung nachzugeben. Ich für meinen
Teil wenigstens habe das Bedürfnis, den <v in seiner wahren Natur aufrechtzuerhalten,
so lange als es nur geht, und gebe diese Tendenz auf, erst wenn stärkere Umstände dazu zwingen, wie
z. B. bei Fig. 98, e.
§ 12.
Die Abarten des Doppelschlages, „~" und „ ^ <%>« haben sich bei Mozart noch mehr als bei
über das
Problem des
Zwischen-
raumes bei
Mozart.
Haydn verloren. Die Stelle aber
I
Allegro und Andante Köchel N? 533.
Die Abarten
des Doppel-
schlages.
Fig. 99.
würde ich wie bei b auszuführen vorschlagen, wenn man nicht schon von vornherein Lust hat, den
diesem Falle nach rückwärts (im Haydnschen Sinne), wie bei c, zu schieben.
U.-E. 812. . 9*
in
68
Y) Der Doppelschlag bei Beethoven.
§ 13.
Beethoven bedient sich der Schreibart Haydns und Mozarts, — besonders in den Werken der
eriode, — verdrängt aber den <v noch mehr als Mozart.
In diesem Sinne verringert sich die Zahl der Probleme von selbst. Soviel im allgemeinen. x)
Prinzipieller
"rB8e!novaenCsh ersten Periode, verdrängt aber den no noch mehr als Mozart.
an Haydns
Schreibart.
§14.
über einige Hervorgehoben seien hier indessen noch einige besonders umstrittene Fälle, von denen jeder zu
umstrittene wichtigen Betrachtungen herausfordert.
Der erste Fall betrifft den iv in der Klaviersonate op. 3 :
Einzelfälle.
Fig. 100.
a) Beethovens Originalnotierung:
fljjAJJjJiJp^PlPi
Jj) falsche Ausführung:
c) falsche Ausführung:
i*
U.S w.
<X'1' ^^s«t"* »der.-
IjlJSJUl«-*»-
d) richtige Ausführung^ ^Vnach Em. Bach d. h: (ohne Verkürzung) oder -.(mit Verkürzung)
/)Haydn
: oder: 0der:
CO OO CO CO
W
ijSSJ
U.S.W.
\
Diesen oj (vergl. Fig. 100, a) wie bei b) auszuführen, wie wir es eben nach unserer falschen Art
der trillerhaften Ausführung des rv> ohne Zwischenraum tun, verbietet am heftigsten der Charakter
der Stelle selbst. Besonders ist es das Hineinzerren des Tones h, das hier aus einem später zu erörternden
Grunde absolut nicht hineinpassen will. 2)
Am selben Übel leidet auch die Ausführung bei c) im Sinne des spezifisch Haydnschen „Doppel-
schlages vor einer Note", den ja Beethoven sonst ziemlich oft gebrauchte.
Die natürlichste Lösung dieser merkwürdigen Stelle aber scheint mir eine bis nun noch nicht ver-
suchte, nämlich die bei d). 3) Scheinbar ganz und gar unregelmäßig, gewinnt sie bei näherer Betrachtung
just an Gründen der Gesetzmäßigkeit. Mir wenigstens sagt die Empfindung, die Schreibart Beethovens
verrate an dieser Stelle schon durch die Art allein, wie die Achtel aufeinander folgen, — also gleichsam
an sich, d. i. ohne selbst den iv noch mit in Rechnung zu bringen ! — die offenbar zugrunde liegende
latente Struktur gar eines Doppelschlages nach einer punktierten Note, und stehe hier,
zumal dann mit ^o versehen, erst recht daher nur für einen solchen, also z. B. annähernd für die
Schreibart Ph. Em. Bachs (vergl. e) oder, was dasselbe, für die Haydns bei /. Vergleicht man nun aber
J) Es ist daher falsch, wenn Herausgeber oder Lehrer den „r%j über einer Note" bei Beethoven, statt ihn im
Sinne Haydns vor der betreffenden Note auszuführen, gar im Sinne Bachs von ihr selbst in Abzug bringen.
2) Just diese Ausführung aber, die ja doppelt unstatthaft ist, u. zw. erstens an sich wegen der trütahafien Art
und zweitens an dieser Stelle selbst wegen der psychologischen Bedeutung derselben empfiehlt z. B. die „Ornamentik" von
Ludwig Klee (Leipzig, Breitkopf & Härtel), ein Werkchen, vor dem — bei dieser Gelegenheit — leider dringendst
gewarnt werden muß, da es die Abhandlung der Materie nirgends auf eine solide historische und künstlerisch-psychologische
Basis stellt, und daher nur allzu oft zu ebenso willkürlichen, als möglichst verfehlten Resultaten gelangt.
3) Erfreulicherweise finde ich in d'Alberts neuer Beethoven-Ausgabe (bei Otto Forberg, Leipzig) die Ausfühjtuug
fast in demselben Sinne
Fig. 101.
mit:
^5
ftj-ijjjri
u.s.w. angegeben.
U.-E. 812.
69
des weiteren die Ausführung bei d mit denen bei . „nd /, so fällt gleichwohl als der hauptsächlichste
unterschied sofort, auf, daß dort bei d außer der letzten Note des L _ die doch auch ,ZZ 7 l
(Ha,d„s Notierung) in die große Schrift aufgenommen und fixiert ist, 1 J^Z^^d
etzten Note vorausgehende Note eis, also die vorletzte Note des Doppelschlage m ,Tn
die große Sehr./ übernommen wurde. Wenn somit zugegebenermaßen weder Bach „ochX
bei der Ausfuhrung des Doppelschlages nach einer punktierten Note eine solche Fizierung auch der vor
etzten Note verlangten, was ja zwei Zwischenräume bedeutet hätte, so scheint Beethoven, mi teTeben
hier aus eigenem einen solchen neuen Ausdruck gewünscht zu haben. Es ist nur zu bedau „aß er
hiefur eine so unvorsichtige Schreibart gebraucht hat. "euauern, aau er
M" anderen Worten: es scheint mir der Charakter des a schon von Haus aus mehr nach den
Ausfuhrungen be, d e „nd f zu gehen, als nach denen bei i und c. Und immerhin näher noch a
b und c dem a stehen, scheint mir d dem . und / zu stehen. Und so könnte man . kurzweg leinen
Doppelschlag bezeichnen, der zwar, äußerlich betrachtet, scheinbar nur einen „-über (d i '.£ „« Z
vor) einer Note- vorstellt, im Grunde aber, _ den Inhalt der ganzen mit großer Schrift darge"
Notengruppe ins Auge gefaßt und miteinbegriffen - gar einen „~ nach einer punktierten Note« and 1t
Ü T Tf mSWr TO» di^ St»dP™" -s gesehen - und das ist die Pointe der Beet ho • an-
sehen Schreibar ,m obigen Beispiel! - noch ausgeschriebener erscheint als selbst der Doppel-
schlag Haydns (vgl. bei /), nämlich nm den vorletzten Ton des ~ mehr
Es gehört somit dieses Beispiel bei Beethoven eher in die Kategorie jener Fälle (vergl. Fig 29
32, 59 u. s. w.) be, denen der Autor, da er das Zeichen der Manier setzt, weniger eben damit etwa
den Wunsch ausdrucken will, diese selbst au Ort und Stelle vollinhaltlich ausgeführt zu sehen, als viel-
VmJI i l v f "erf"e A"WeiSU"g giM' diC geSamte PigUr - ™"'^rkt also auch in
Verbindung mit den Noten der großen Schrift - auf den Stand des Ausdruckes zu bringen, den das
Zeichen andeute, wozu aber nämlich in unserem Beispiele, bei den doch bereits vorhandenen und gut
filierten vier Achteln, eben nur mehr jene zwei kleine Noten (s. bei d) zu addieren nötig ist
«i „ • ™ ! „ IOn n°Ch deutIicher zu machen, führe ich an einerseits als Fall der Identität die
Stelle in Mozarts Eondo A-molI:
-e^a H"''JL
Fig. 102. £z*
anderseits aber als Beispiel eines lehrreichen Unterschiedes eine nicht minder umstrittene Stelle in
Beethovens Sonate A-dur, op. 2,:
m'103- pr$fir$
Liegt nämlich auch hier, bei dem letzten Beispiel Beethovens, die Situation zwar genau so,
wie bei den beiden vorigen anderen Beispielen, so möchte ich gleichwohl dabei den Einfluß des Tempo'
durchaus nicht unberücksichtigt lassen, das sicher auch den ursprünglichen Wunsch des Komponisten
mitbestimmt
So meine ich, daß obige Stelle (Fig. 103):
Fig. 104.
wie bei a) (also genau so wie Fig. 100 d und Fig. 102) auszuführen, wegen des langsameren Tempo, das
uns den Inhalt wohl zu mager erscheinen ließe, weniger anzuraten wäre, daß sodann die Lösung bei b)
wohl schon zu einer füllenderen Wirkung führt, wobei obendrein die Kegel der Ausführung im Sinne
des „spezifisch Haydnschen ~ vor einer Note" genau beobachtet wird, daß schließlich aber, wegen noch
U.-E. 812.
70
\
weiteren Zuwachses an Toninhalt, die Gesamtfigur vielleicht um etwas zu viel belastet erschiene durch die
Ausführung bei c), die vom Gedanken des „oo nach der Note" ausgeht. Und so möchte ich daher am
ehesten eben die. Lösung bei b) empfehlen. l)
Ein anderer Fall betrifft folgende Stelle aus der Klaviersonate op. 109. 2)
* «* PÜlfi
Diese ist ganz vereinzelt bei Beethoven und vielleicht auch in der gesamten Literatur. Das
Seltsame an ihr ist hier das „Schnellen" gar am Ende der Manier, die ja unzweifelhaft ein prallender
Doppelschlag (£>) ist, während Bach, wie wir wissen, den letzteren mit dem Schnellen
anfangen läßt?" Jedenfalls eignet sich dieses Beispiel ganz vortrefflich dazu, zu beweisen, daß in einer
solchen Beschleunigung ein eigener Ausdruck immerhin enthalten sei. Und daß es gerade Beethoven ist,
der trotz seiner Richtung auf das allergrößte und allerhauptsächlichste den Ausdruck in so armseligen
zwei Zweiunddreißigsteln sucht, will hier viel sagen. Vielleicht bekehrt just dieses Beispiel so manchen
Ungläubigen zum Glauben, daß in den vielen Forderungen Ph. Em. Bachs, die äußerlich so kleinlich und
im Grunde unwichtig scheinen mögen, immer eine Richtung auf den Ausdruck (ganz wie
bei Beethoven) unzweifelhaft enthalten ist, und daß es, eben um des Ausdrucks willen,
nicht einerlei sein kann, wie man Ph. Em. Bach zu lesen und zu spielen versteht3)
Im übrigen schließt sich, wie gesagt, Beethoven dort, wo er den <x> gebraucht, eher Haydn
und Mozart als Bach an. Und so möchte ich z. B.:
** «*■ Uu<&l\-hm*m
den ausgeschriebenen „™u aus op. 81a, eher im Sinne Haydns nach rückwärts verschieben, als ihn
vom nächsten fis abziehen.
*) Wieder ist es Klee, der in seiner Ornamentik S. 14 aus Anlaß dieses Beispieles auf die ungeeignetste Lösung verfallt :
2) Vergl. dazu Nottebohms „Beethoveniana" 1872, S. 35—36, wo die erste Skizzierung dieser Stelle angegeben,
und auf Grund derselben verlangt wird, daß die Verzierung (ganz gemäß der Regel Ph. Em. Bachs) von der verzierten
Hauptnote a selbst abgezogen werde. Ich meine dagegen, daß es schon bei Haydn zweifelhaft geworden ist, ob der ^ nicht
auch, wie der einfache rv>, vor der Note auszuführen wäre.
8) Ein sachkundiger Rezensent der ersten Auflage (s. Wiener Abendpost vom 5. Jänner 1904) schrieb: „Der
geistreiche Verteidiger dei Ornamentik hätte auch auf Richard Wagner weisen können, der Gesang und Orchester, also
die kräftigsten Mittel für Stärkung und Aushalten des Tones zur Verfügung hat und trotzdem von den .Manieren', zumal
vom Doppelschlag, des Ausdruckes wegen, so häufigen Gebrauch macht, daß man ihm die »Manieren' ganz wie den alten
Klavierkomponisten als Manier zum Vorwurf machte." Es freut mich, dem Rezensenten hierin beistimmen und Wagner
in dieser Frage endlich zu seinem Recht verhelfen zu können. Und so sei denn bei dieser Gelegenheit noch darauf hin-
gewiesen, daß nicht minder auch Brahms in den ersten Werken (s. z. B. das Klavierquartet G-moll) gerne den „iv
nach einer Note" benätzte.
Ü.-E. 812.
71
Anhang.
§1-
■ über die übrigen, von Bach in eigenen Kapiteln abgehandelten Manieren, wie den Mordent, «J^«
.schlag und Schleifer ist nichts. zu sagen, was nicht ohnehin bekannt wäre, weshalb ich von ihrer „„„,
^^^*fwi^ ™ über die sogenannten Manieren Bachs und ihr späteres Schicksal
sagen war, gesagt. Und es erübrigt mir gleichsam zur letzten Klarstellung der Gegensätze nur noch
erwähnen,' daß z. B. folgende Bildungen:
Fif: 108.
Beeth. Cl.-Son. Op. 109. ^=^ Beeth^Strqu. Op. Ö9JJ9J,
^mfei
etwa für:
Chopin. Nocturne N° 11.
Schumann, Strqu. Op. 41. N9 3. <& E. WM^l
m
Brahras Quintett Op.lll.
S.Bach, engl. Suite ü-moll.
etwa für
etwa für:
keineswegs schon mit dem Doppelschlag Bachs, Haydns und Mozarts identisch sind weshalb es auch
rieht statthaft ist, sie in ähnlicher oder derselben Form bei den genannten Meistern für den ~ anzu-
r enden, wie dies leider so viele Herausgeber und Spieler tun.
Endlich sei aber noch der Schreibart gedacht, wie sie z. B. folgende Stellen aufweisen:
Fig. 109.
Haydn.Son.N0. 84
Mozart. Köchel N? 284.
^^Wb
„.. , Schumann. Ciavier- Chopin. Nocturne N? 4.
Schubert. Sonate zu vier HanaeD. sonate. G moll. q — j \ ,~^~~^ , Chopin. Polonaise.
^^^^^^^^^^^^^^^
»In allen diesen Fällen sieht man die kleine Schrift zwar angewendet, hat aber dabei von vorn-
herein das sicherste Gefühl, daß alle diese kleinen Noten nicht nach dem Gesetz der Manieren vom
Wert der nachfolgenden nächsten, sondern vielmehr von dem der vorausgehenden abzuziehen seien.
Stellt doch diese Schreibart in Wirklichkeit Manieren nur im weiteren Sinne vor, also jene
zweiter Klasse, wie sie Bach in dem auf S. 24 bereits zitierten IL, 1, § 6 nennt; und liegt doch dann
eben der Grund, weshalb die Regel von den kleinen Noten auf sie ebensowenig angewendet werden
darf, als auf die kleinen Noten bei der Schreibart Haydns für den Doppelschlag (vergl. oben S. 61).
Darnach ist es aber auch möglich geworden, den Umfang der alten Regel über die kleinen Noten endlich
genau festzustellen, wie folgt:
Die alte Regel hatte in der Tat Sinn, so lange es sich — generell gesagt — um den Vorhalt
handelte, wie er in den Manieren Bachs (besonders in den Vorschlägen und „Doppelschlägen über einer
Note") zutage trat: denn was ein Vorhalt ist, muß von der nächsten Note abgezogen werden. Hat
U.-E. 812.
72
sich nun aber, wie wir gesehen haben, der Vorhaltscharakter aus dem <x> verflüchtigt so blieb™ ,
und allein die Vorschläge als Hauptbezirk jener Regel, zumal in diesen letzteren ihr Sinn
eigentlich am klarsten aasdrückte.
emz
§ 2.
über den Zum Schlüsse noch ein Wort über die sogenannte Bebune wie sie 7 R in <w q„w„ m
a.te„ K.avichord- pag. 57, vorkommt: g' ^ m der Sonate V1
effekt der ^
„Bebung'.
^no- ^^zjli
Öse
, w *?■? kon,>te der Effekt der Bebung des Tones auf dem sei»- sensiblen Clavichord dnrc
ein Wiegen des Fingers anf der Taste hervorgebraeht werden. Wenn nun nicht ganz so, so kann de,
se.be Effekt immerbin , ähnlich sogar sehr ahnlich auch auf unserem derberen Pian 2* Jm werd
wenn nämlich das Pedal (bei liegendem Ton) oft uud oft nachgetreten wird
Sonate o^UO™* *"'' ** ™" ^"^ "* dieSem Mekt aUCh die Stelle in Bee">»™>s As-dur
Fig. 111.
glUü
in eine mehr oder weniger nahe Verwandtschaft bringen.
U.-E. 812.
INHALT.
Seite
. 3
Einleitung
Allgemeines über den Klavierstil Ph. Em.
Bachs 3
I. Ph. Em. Bachs Klaviersatz ist als definitiv
anzusehen 4
II. Der wahre künstlerische Grund von Bachs
Manieren und die Ökonomie in ihrer
Anzahl 6
III. Über die Form bei Bach 10
IV. Über das Mißverständnis dieser Form
Bachs bei Gegnern und Pseudoklassizisten 14
V. Einige Anmerkungen zu den speziellen
Vorzügen in den Bachschen Klavierwerken 16
VE. Vom Vortrag der Bachschen Werke ... 20
Die Manieren 24
Allgemeines 24
I. Der Vorschlag > 25
A. Der sogenannte lange Vorschlag.
a) Bei Ph. Em. Bach 25
§ 1. Psychologie des Vorschlages 25
§ 2. Notierung des langen Vorschlages .... 26
§ 3. Vom Vortrag des langes Vorschlages ... 28
b) Bei Haydn, Mozart und Beethoven.
§ 4. Die Bachsche Schreibart hebt die alte Begel
betreffs der Dauer der langen Vorschläge
endgültig auf 28
§ 5. Das Endresultat für die gegenwärtige Praxis
des Vortrages 29
B. Der kurze Vorschlag.
a) Bei Ph. Em. Bach 31
§ 1. Psychologie des kurzen Vorschlages ... 31
§ 2. Notierung des kurzen Vorschlages .... 31
§ 3. Y0I"trag des kurzen Vorschlages 31
§ 4. Über die Möglichkeit von Kollisionen in der
Notierung des kurzen und langen Vorschlages 32
§ 5. Das Endresultat in Bezug auf die Aus-
führung des kurzen Vorschlages 33
b) Bei Haydn, Mozart und Beethoven . .33
§ 6. Fortsetzung der Bachschen Prinzipien der
Notierung und Ausführung des kurzen Vor-
schlages auch bei den späteren Meistern . 33
II. Triller 34
Der „ordentliche" Triller samt seinen Abarten.
a) Bei Ph. Em. Bach 34
§ 1. Psychologie des Trillers 34
§ 2. Notierung des Trillers 34
§ 3. Über den Trilleranfang 34
§ 4. Über das „Schnellen" 35
§ 5. Über den Nachschlag 35
§ 6. Der Triller bei einer punktierten Note . . 36
§ 7. Der Triller a) von unten und b) von oben 38
§ 8. Die Auffassung Ph. Em. Bachs und der
Triller bei S. Bach 39
. § 9. Der Pralltriller 40
b) In der nachbachschen Zeit 42
§ 10. Fortbestand des Trillers auch in neuen
Formen 42
§ 11. Die falsche Ausführung des Trillers bei
punktierten Noten 43
III. Der Doppelschlag 44
A. Vom Doppelschlag bei Em. Bach .... 44
a) Der „Doppelschlag über einer Note"
samt seinen Abarten 44
§ 1. Psychologie des „Doppelschlaffes über einer
Note" 44
Seite
§ 2. Die Ausfuhrung des Doppclschlages von
oben 45
§ 3. Über die Wahl der Ausführungsformel . . 45
§ 4. Über die Unerläßlichkeit eines Zwischen-
raumes nach Schluß des Doppelschlages . 47
§ 5. Über den Akzent 50
§ 6. Über das „Schnellen" 50
Der prallende Doppelschlag 50
§ 7. Ausführung und Notierung des prallenden
Doppelschlages 50
Der geschnellte Doppelschlag 53
§ 8. Notierung und Ausführung des geschnellten
Doppelschlages .53
Der Doppelschlag von unten 54
§ 9. Abgrenzung des Begriffes und Ausführung
des Doppelschlages von unten 54
b) Der Doppelschlag nach einer Note . . 55
§ 10. Psychologie des Doppelschlages nach einer
Note 55
§ 11. Über die Ausführung des Doppelschlages
nach einer Note 55
§ 12. Über die Unerläßlichkeit eines Zwischen-
raumes auch beim „Doppelschlag nach
einer Note" .57
c) Der Doppelschlag „über der zweiten
Note" 57
§ 13. Wesen und Ausführung des Doppelschlages
über der zweiten Note 57
B. Der Doppelschlag bei den späteren
Meistern 58
«) Der Doppelschlag bei Haydn 58
§ 1. Allgemeines über die Doppelschlagarten bei
Haydn 58
§ 2. Über die mehrfachen Schreibarten des
Doppelschlages bei Haydn im Allgemeinen 59
§ 3. Der „spezifisch Haydnsche Doppelschlag
vor einer Note". ltenB im Sinne des Bachschen
Doppelschlages nach einer Note 60
§ 4. Über die Mißverständnisse bei den neuen
Schreibarten des Hay dnschen „Doppel-
schlagcs vor der Note" 60
§ 5. Der „spezifisch Haydnsche Doppelschlag
vor einer Note." 2tens im Sinne des Bachschen
„Doppelschlages über der zweiten Note" . 62
§ 6. Über die kombinierten Arten des Doppel-
schlages 63
§ 7. Der „Doppelschlag nach einer punktierten
Note" 64
§ 8. Das Endresultat in Bezug auf die Doppel-
schlagsarten bei Haydn 64
ß) Der Doppelschlag bei Mozart . . . .6.6
§ 9. Fortsetzung der neuen Schreibarten Haydns
bei Mozart 66
§ 10. Eine andere, von Mozart bevorzugte
Schreibart 66
§ 11. Über das Problem des Zwischenraumes bei
Mozart 67
§ 12. Die Abarten des Doppelschlages ... 67
Y) Der Doppelschlag bei Beethoven ... 68
§ 13. Prinzipieller Anschluß auch Beethovens
an Haydns Schreibart 68
§ 14. Über einige umstrittene Einzelfälle ... 68
Anhang . 71
§ 1. Manieren im weiteren Sinne 71
§ 2. Über den alten Klavichordeffekt der
„Bebung" ' 72
U.-E. 812.
OATE DÜE