EINE EXPERIMENTELLE STUDIE
AUF DKM GEBIETE DES
KYP NOTISMUS
NEBST BEMERKUNGEN •
ÜBER SUGGESTION UND SUGGESTIONSTHERAPIE
VON
DR- R. v. KRÄFFT-EBITCG,
O. Ö. PROF. F. PSYCHIATRIE U. NERVENKRANKHEITEN A. D. K. K. UNIVERSITÄT WIEN.
Dritte durchgesehene, verbesserte und vermehrte Auflage.
STUTTGART.
VERLAG VON FERDINAND ENKE.
1893.
SjIjSV.I
5*1},
FROM-THE-FUND-BEQUEATHED-BY
EINE EXPERIMENTELLE STUDIE
AUF DEM GEBIETE DES
HYPNOTISMUS
NEBST BEMERKUNGEN
ÜBER SUGGESTION UND SUGGESTIONSTHERAPIE
VON
DR m ir. KRAFFT-EBING,
O. Ö. PROF. F. PSYCHIATRIE U. NERVENKRANKHEITEN A. D. K. K. UNIVERSITÄT WIEN.
Dritte durchgesehene, verbesserte und vermehrte Auflage.
STUTTGART.
VERLAG VON FERDINAND ENKE.
1893.
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Druck der Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart.
Vorwort zur ersten Auflage.
Ein günstiger Zufall hat Ende October 1887 eine zu hypno-
tischen Studien ausserordentlich geeignete Persönlichkeit auf die
dem Verf. unterstehende k. k. Nervenklinik geführt. Soweit es
Rücksichten der Humanität und therapeutische Gesichtspunkte ver-
statteten, wurde von der in seltenem Masse gebotenen Gelegenheit,
Fragen des Hypnotismus zu studiren, im Interesse wissenschaftlicher
Forschung ausgiebiger Gebrauch gemacht. Eine klinische Demon-
stration der Kranken vor den Hörern der Klinik Hess das hypnotische
„Wunder" in ärztlichen Kreisen von Graz bekannt werden. Auf
Ersuchen des Präsidenten des Vereins der Aerzte in Steiermark
erfolgte die Anstellung von hypnotischen Versuchen in diesem
Verein, wozu sich die Kranke indessen nur ungern und auf Bitten
entschloss.
Ueber die vorgenommenen Experimente enthalten die Proto-
kolle der Versammlungen des Vereins (Oesterr. ärztl. Vereinszeitung
1888, Nr. 1 und 2) das Wissenswertheste.
Die Kritik dieser Versuche war eine verschiedene. Während
die überwiegende Mehrzahl der Mitglieder dieser hochansehnlichen
ärztlichen Gesellschaft sich dem Eindruck nicht verschliessen konnte,
dass hier ächte und hochinteressante Phänomene experimenteller
Naturforschung sich darboten, wurden von anderer Seite sowohl
der Werth der angestellten Experimente als auch die Ehrlichkeit
des Versuchsobjektes angezweifelt und Stimmen laut, dass es sich
hier um gewerbsmässigen Hypnotismus und um Simulation handle.
— 4 —
Die rueritorischen Einwände entsprachen wesentlich den seiner
Zeit im Schosse der Berliner med. Gesellschaft gegen Dr. Moll
erhobenen (Berliner klin. Wochenschrift, December 1887). Neu
war nur die jedem Kenner des Hypnotismus sonderbare Forderung,
der Experimentator solle, nachdem er die Versuchsperson in Hypnose
versetzt, die Ausführung der Experimente einem anderen Experi-
mentator überlassen!
Den Vorwurf, dass die Persönlichkeit, welche nur ungern sich
zu den Versuchen vor dem Verein der Aerzte hergab, eine Schwind-
lerin sei, muss ich unbedingt zurückweisen.
Ich kann die landläufige Annahme, dass alle Hysterische zu
Täuschung und Simulation neigen, nicht acceptiren. Sie wird durch
zahlreiche Ausnahmen widerlegt, fusst vielfach auf oberflächlicher
Beobachtung und mangelhafter Sachkenntniss, indem sie autosuggestive
unbewusste Selbsttäuschung mit absichtlichem Betrug verwechselt.
Die Persönlichkeit, welche Gegenstand der folgenden Beobach-
tungen war, scheute die Experimentation und Demonstration und
war froh, wenn man sie in Ruhe Hess. Ihre Angaben bezüglich
ihrer Vita ante acta erwiesen sich bei eingezogener Erkundigung
bei Behörden und Privaten als wahrheitsgetreu bis auf romanhafte
autosuggestive Ausschmückungen, Erinnerungstäuschungen und
Lücken ihrer Lebensgeschichte, die durch krankhafte Bewusstlosig-
keitszustände ausgefüllt und nicht erinnerlich waren. Die Kranke
wäre die vollendetste Schauspielerin, die je gelebt hat, wenn das
was sie bot, unächt wäre. Ueberdies müsste sie dazu Specialstudien
in der Schule Charcot's oder der von Nancy gemacht haben.
Glücklicherweise bietet überdies der Hypnotismus als eine
biologische Naturerscheinung empirisch klare, wahre und objektive
Symptome, deren Nachweis entscheidend ist. Hoffentlich liefern
die folgenden Blätter dem geneigten Leser die Ueberzeugung, dass
der Verfasser es nicht mit einer Betrügerin zu thun hatte und dass
die folgenden Beobachtungen im Interesse der Physiologie und
Pathologie des Nervensystems, nicht minder der Psychologie, der
moralischen Heilkunde und der gerichtlichen Medicin werth sind,
gelesen zu werden. Unwillkürlich gedenke ich des Mottos, das
Braid, der wissenschaftliche Begründer des Hypnotismus, seinem
berühmten Werk voransetzte: „Unbegrenzter Zweifel ist ebenso
das Kind der Geistesschwäche wie unbedingte Leichtgläubigkeit."
An Zweifeln hat es auch bei mir anfangs nicht gefehlt. Eine
vielmonatliche tägliche Beobachtung hat mir diese Zweifel benom-
men und die Thatsachen haben mich genöthigt, den Hypnotismus
als eine höchst wichtige Quelle für die Bereicherung unserer Kennt-
nisse von der Physiologie des menschlichen Geistes und der Be-
ziehungen zwischen psychischer und körperlicher Welt anzuer-
kennen.
Bedeutsame und praktisch wichtige Thatsachen für die experi-
mentelle Psychologie und für die psychische Therapie werden aus
dieser Erkenntnissquelle nach meiner Ueberzeugung fliessen.
Auf Grund dieser Ueberzeugung glaubte ich im Interesse der
wissenschaftlichen Förderung so mancher praktisch, social und legal
wichtiger Fragen auf dem Gebiet des Hypnotismus das im Verein
mit zahlreichen Collegen Beobachtete und Geprüfte weiteren ärzt-
lichen Kreisen vorlegen zu sollen; hoffend, dass durch vielseitige
und vorurtheilsfreie Kritik der Wissenschaft und Wahrheit damit
gedient werde. Zum nicht geringen Theil bestimmten mich dazu
überdies zwei aus dem Folgenden klar sich ergebende und für die
medicinische und forensische Beurtheilung jedenfalls werthvolle
Thatsachen, nämlich 1. dass die Phänomene des Hypnotis-
mus psychisch-suggestiver Natur sind, 2. dass die post-
hypnotische Suggestion zum Entstehen von Autohypnose
führen kann.
Graz, im Mai 1888.
Vorwort zur dritten Auflage.
Die vorliegende 3. Auflage ist ein sorgfältig revidirter Ab-
druck der 2. und bietet überdies einen Bericht über den Krank-
heitsverlauf bei der Patientin, welche experimenteller Gegenstand
dieser Studie war.
Anhangsweise hat der Verf. seine seitherigen Erfahrungen
über Suggestionstherapie in einem kurzen Resume niedergelegt.
Möge die kleine Schrift auch in ihrer neuen Gestalt sich Freunde
erwerben und zur wissenschaftlichen Klärung einer interessanten
Naturerscheinung sowie einer richtigen Würdigung der Suggestions-
therapie einen Beitrag leisten.
Wien, im December 1892.
Der Verfasser.
Anamnese.
Am 20. 10. 87. Abends wurde von der Sicherheitsbehörde Graz der
Klinik eine Ungarin Ilma S., 29 Jahre, ledig, Kaufmannstochter, zur Beobach-
tung ihres Geisteszustandes übergeben. Der Anlass zu ihrer Verhaftung war
ein Diebstahl. Die S. hatte sich vor zwei Tagen im Hause Keplerstrasse 33
eingemiethet und am 20. 10. einem im Wohnzimmer der Quartiergeberin Siesta
haltenden Bediensteten eine silberne Uhr sammt Kette und Medaillon, der
Quartierfrau überdies zwei Servietten und ein Leintuch entwendet. Die S.
wurde einige Stunden später im Gasthaus zum Schwan von der Polizei ausge-
forscht. Man fand bei ihr die entwendeten Gegenstände vor. Sie erschien
geistesverwirrt, wusste nichts vom Erwerb und Besitz der bei ihr gefundenen
Gegenstände 1).
Man fand bei ihr ein gefälschtes Zeugniss folgenden Inhalts:
„Ich bestätige hiermit, dass J. S. bei mir als Näherin und Stubenmädchen
vom 2. 2. 1882 bis heute war und zu unsrer Zufriedenheit sich betragen hat.
so dass wir sie Jedermann aufs Wärmste empfehlen können.
Budapest, 30. 9. 1887. Frau G. K., königl. Räthin. u
Am 21. 10. bei der Frühvisite fand ich J. S. in einem ganz dämmer-
haften, geistesabwesenden Zustand mit verglastem Blick. Fragen nach ihrer
Vergangenheit und ihrem Befinden beantwortete sie nur theilweise und traum-
haft. Sie wusste augenscheinlich nicht, wo sie sich befinde. In dieser Ver-
fassung2) blieb sie bis zum Morgen des 22.
An diesem Tage traf ich sie bei der Frühvisite mit ganz anderem Ge-
sichtsausdruck, mimisch und psychisch frei. Sie t heilte mit, dass sie aus der
Klinik des Prof. W. in Pest entwichen sei, weil sie das ewige Hypnotisirtwerden
unerträglich gefunden und man ihr gesagt habe, sie werde Aufnahme und
Schutz in einem Kloster in Graz finden. Wie sie aus Pest fort- und nach Graz
gekommen sei, vermöge sie nicht anzugeben. Sie sei heute wieder zu sich ge-
kommen und habe sich mühsam orientirt, dass sie sich in einem Spital befinde.
Von dem vorgestern begangenen Diebstahl erklärt sie mit unbefangener Miene,
*) Die Untersuchung wegen dieses Diebstahls wurde in Folge gerichts-
ärztlicher Constatirung eines bewusstlosen Zustands zur Zeit der That am
30. Dec. 1887 eingestellt.
2) Autohypnose, wie die spätere Beobachtung kennen lehrte.
nicht das Mindeste zu wissen; ebenso bestreitet sie, dass sie auf der Polizei
gewesen sei.
Nach den Angaben der Patientin war ihr Vater Potator und endete
durch Selbstmord, indem er sich von einem Bahnzug überfahren Hess. Ihre
Mutter war kränklich und starb apoplektisch gelähmt. Mutters Vater erschoss
sich in irrsinnigem Zustand.
Ein Bruder und eine Schwester starben durch Selbstmord. Eine Schwester
leidet an Hysteria convulsiva. Patientin äussert die Befürchtung, dass sie,
gleichwie ihre Angehörigen, einmal durch Selbstmord endigen werde. Sie selbst
verabscheue den Selbstmord und suche jeden Gedanken daran zu ersticken, aber
der Antrieb dazu komme ihr oft sturmweise. Oft sei sie schon nahe der That
gewesen, jedoch immer noch rechtzeitig zur Besinnung gelangt. Ob nicht das
traurige Verhängniss ihrer Familie sich auch an ihr erfüllen werde? Patientin
versichert von schweren Krankheiten in ihrer ersten Jugend verschont gewesen
zu sein. Die Menses stellten sich im 18. Jahr ein. Sie waren in der Folge-
sehr unregelmässig und blieben oft viele Monate lang aus.
Ueber ihre ferneren Gesundheitsverhältnisse und Lebensschicksale erfährt
man aus der mir im Deceniber 1887 niedergeschriebenen Autobiographie
Folgendes :
„Ich besuchte die Klosterschule bis zu meinem 14. Jahre. Ich kränkelte
damals, hatte schon Monate am Fieber gelitten und bekam zudem die Bleich-
sucht. Es war an einem Wintermorgen. In der Stadt war Wochenmarkt. Ich
stand am Fenster und schaute dem Treiben der Menschen zu. Unser Kloster
lag am Ufer der Th., gegenüber der berühmte Wallfahrtsort Y. Damals war
noch keine Verbindungsbrücke, man verkehrte auf einem Flosse. So war es
auch an dem erwähnten Morgen. Männer, Weiber, Wagen, Pferde, Alles drängte
sich so schnell wie möglich hinüberzukommen. Da, auf einmal, mitten im
Strom, brach das Floss. Menschen und Thiere sanken in einem Knäuel zu-
sammen zwischen den Eisstössen ins Wasser. Wie mir bei diesem Anblick
wurde, weiss ich nicht. Man sagte mir nachher, ich sei erstarrt wie eine Statue
stundenlang dagestanden, ohne ein Lebenszeichen von mir geben zu können1).
Der mich behandelnde Arzt schläferte mich öfters ein und so wurde ich wieder
gesund. In der Folge schläferten mich die Klosterfrauen ab und zu zum Spass
ein. Ich schlief fest und wusste nicht, was mit mir geschah.
In den folgenden Jahren geschah es nun öfter, dass plötzlich meine
Glieder erstarrten. Ich strengte mich in solchen Krisen, die 10 Minuten, manch-
mal auch 1 Stunde dauerten, unerhört an, nur einen Finger zu rühren oder
einen Ton hervorzubringen, aber es ging nichts Gegen Ende des Anfalls hatte
ich das Gefühl, als wenn alles Blut nach dem Kopf steigen möchte und es in
ihm hämmere.
Nach solchen Anfällen, die meistens bei Nacht kamen, fühlte ich mich
am anderen Tag unsäglich matt.
Im 16. Jahr forderte mich die Oberin des Klosters auf, in den Orden
zu treten. Ich fühlte keinen eigentlichen Beruf für das Ordensleben, aber da
mich Alle liebten, da es mir bangte, diese stillen Räume, in denen ich meine
Kindheit verlebt, verlassen zu sollen und es meines Vaters Freude und Wunsch
') Schreckkatalepsie.
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war. willigte ich ein. Die 3 Jahre meines Noviziats waren vorüber. Ich erhielt
zum letztenmal Erlaubnisfl, die Ferien zu Hause zu verbringen. Da lernte ich
meinen Cousin kennen. Er redete mir aus, ins Kloster zurückzukehren, denn
er liebe mich und könne ohne mich nicht leben. Solche Sprache hatte ich nie
gehört. Was soll ich weiter sagen? Ich wusste, dass ich unglücklich war,
denn ich liebte ihn auch. Mein Vater war ausser sich, als er von dieser ge-
planten Verbindung hörte. Emerich beschwor mich, mit ihm zu gehen, auch
ohne Einwilligung des Vaters, aber das thun konnte ich nicht.
ich ging zurück ins Kloster gebrochenen Herzens. Der Tag meiner Ein-
kleidung nahte heran. Stumpf, gleichgültig verbrachte ich die Nacht in der
Kapelle, aber beten konnte ich nicht. Ich ging zum Altar nicht als Braut
Christi, sondern um ein gebrochenes Herz ins Grab zu tragen. Die Ceremonie
war vorüber; es war mir so, als wenn ich träumte. Die Zeit verstrich, ich
lernte vergessen, wenn auch nicht verschmerzen. Ich war von den Mit-
schwestern geachtet, von unsrer Oberin bevorzugt. Da traf mich ein Schlag
wie ein Blitzstrahl aus heiterem Himmel und seitdem ist mein Leben vernichtet1).
J) Die folgenden Mittheilungen stimmen fast wörtlich überein mit einem
am 8. 11. 87 aufgefangenen und als Abschied und Rechtfertigung au den
ehemaligen Beichtvater der S. gerichteten Brief. Sie plante damals ernstlich
Suicidium. Der Schluss des das Gepräge der Wahrhaftigkeit an sich tragen-
den Schreibens lautet: „Was soll aus mir werden? Man hält mich für eine
Diebin. Alles hat sich von mir gewendet (thatsächlich ihre ganze Familie),
dieses Leben wird mir zu schwer, ich werde es endigen, wie man einen alten
Mantel von sich wirft. Gott wird mir verzeihen!"
Ganz dasselbe hat Patientin vor 5 Jahren ihrem Bruder bekannt. Die
identische Reproduction der Klostererlebnisse zu ganz verschiedenen Zeiten
spricht vorweg gegen Erdichtung. Immerhin bleibt die Möglichkeit, dass es
sich um die Reproduktion hallucinatorisch-deliranter Erlebnisse handelt. That-
sächlich erkrankte Patientin nach der Entweichung aus dem Kloster an hyster.-
halluc. Wahnsinn, aber sie genas vollständig von dieser episodischen Psychose.
Dann hätte sie aber ihre Delirien corrigiren müssen. Patientin hält noch heute
an der Wahrheit ihrer Klostererlebnisse fest. Man gewinnt die volle Ueber-
zeugung, dass sie dieselben für wirklich erlebt hält.
Obwohl ich Patientin niemals auf einer bewussten Lüge betrat, konnte
ich von ihr keine weitere Klärung des Sachverhalts bekommen, da ihre Re-
produktionstreue mangelhaft, das Gedächtniss überhaupt geschwächt ist, Er-
innerungstäuschungen und irrige Lokalisation in der Vergangenheit sich er-
weisen lassen, überdies ihre Phantasie sehr lebhaft ist. Man gewinnt den
Eindruck, dass der Kern der Sache wahr ist, aber phantasievoll dargestellt.
In dieser Weise beurtheilt auch die Verwandtschaft die romanhafte Erzählung
der Kranken. Auf eine vertrauliche Anfrage bei der Oberin des Klosters er-
hielt ich den Bescheid, dass Alles Erfindung sei. Der betr. Brief enthält aber
soviel Unwahres, dass er nicht als authentische Wahrheitsquelle betrachtet
werden kann.
Nicht ohne Werth ist die Angabe der Verwandten, dass Patientin in
ihrem Wahnsinn nach Entweichung aus dem Kloster sich fortwährend gegen
eine hallucinatorische Gestalt wehrte, beständig von einem Attentat, dem sie
— 10 —
Ich habe bis jetzt über diese furchtbare Entdeckung, die ein Zufall mir
enthüllte, geschwiegen, aber ich glaube, der Tod Derjenigen, welcher ich mich
zum Schweigen verpflichtet habe, löst jedes Versprechen; Sie sind der Zweite1),
dem ich dieses schreibe, obwohl mir dies schwer, sehr schwer fällt.
Unter den Klosterschwestern war es Schwester Beatrix, die Sekretärin
der Oberin, die mir mit einer fast strafbaren Neigung zugethan war. Ich hatte
sie für das Muster alles Edlen und Guten gehalten; war sie doch die Lehrerin
und Führerin meiner Jugend gewesen! Ach wie täuschte ich mich!
Eines Abends gingen wir vom Refectorium in unsere Zellen. Ich wollte
mich gerade zur Ruhe begeben, als Schwester Beatrix bei mir eintrat, mit der
Bitte, ihr bei ihren Arbeiten zu helfen. Ich willigte ein. Wir mochten bis
etwa 10 Uhr gearbeitet haben, als ich müde zu wrerden anfing. Da sagte sie,
ich möchte mich einschläfern lassen, dann könnte ich wieder leichter arbeiten.
Ich Hess es mir gefallen. Ich erwachte mit einem Gefühl, als wenn ich von
hinten gepackt würde und nicht weiter könnte. Mit Gewalt riss ich mich los
und die Perlen meines Rosenkranzes rollten mir zu Füssen. Ich hatte nämlich
das Kreuz meines Rosenkranzes irgendwo eingezwängt und konnte nicht weiter.
In der Hand hielt ich einen mir unbekannten Gegenstand. Vor Entsetzen
wollte ich schreien, aber Jemand wehrte es mir und zerrte mich fort. Ich war
so bestürzt, dass ich willenlos folgte. In der Zelle angelangt, erkannte ich,
dass ich die Geldkassette der Schwester Oberin in den Händen hielt, und vor
mir stand bleich, zitternd Schwester Beatrix. Ich fragte, was das Alles zu
bedeuten habe. Sie flehte und versprach Alles zu sagen, wenn ich gelobe, von
den Vorfällen der Nacht zu schweigen. Von Mitleid, Ueberraschung überwältigt,
leistete ich das Gelöbniss.
Sie gestand mir, dass sie seit Jahren den Husaren des Bischofs glühend
liebe und immer gehofft habe, einmal in den Besitz einer grösseren Geldsumme
zu gelangen, um dann mit dem Geliebten ins Ausland zu fliehen. Der Zufall
wollte, dass gerade heute, als sie mit der Oberin Rechnung machte, diese eine
zum Ankauf eines Gutes bestimmte Summe erhielt und in der Kassette ver-
schloss. Dazu hatte Schwester Beatrix gerade die Pforteninspektion über-
nommen und sie beschloss, diese Gelegenheit nicht unbenutzt vorübergehen
zu lassen.
Die That allein vollführen konnte oder wollte sie nicht und so beschloss
sie, mich zur Vollführung ihres Verbrechens zu benützen. Im Schlaf führte
sie mich in einen unbenutzten Corridor, von dessen Vorhandensein ich nicht
die mindeste Kenntniss besass. Von da aus bezeichnete sie mir das Arbeits-
zimmer der Aebtissin und hiess mich von dort die Geldkassette herausholen.
Wenn ich nicht zufällig meinen Rosenkranz eingezwängt hätte, wäre ich nie
zur Kenntniss dieser verruchten That gekommen. Sie redete mir zu, mit ihr
zu fliehen, da ich ja auch nicht fürs Klosterleben tauge.
Als ich diese Schwester, die mir von Kindheit auf Tugend und Sittlich-
keit gepredigt, die ich mir stets zum Vorbild genommen hatte, jetzt vor mir
glücklich entronnen sei, von einem Eid, den sie leisten musste, delirirte und
nach überstandener Krankheit die Angehörigen beschwor, Nichts von dem
verlauten zu lassen, was sie in ihrem Delir ausgeplaudert habe.
*) Recte der Dritte.
- 11 —
knieend solch ein Geständnis? ablegen hörte und ihr leidenschaftlich erregtes
Gesicht sah, da übermannte mich namenlose Bitterkeit. Hatte sie doch das
Vertrauen in die Menschheit und alles Gute und Edle in mir zerstört.
Der Anblick dieses Weibes war mir unendlich peinlich, denn nichts ent-
schuldigte ihre wahnwitzige That. War ich nicht viel jünger als sie? Liebte
ich nicht auch innig [und wahr? Aber seitdem ich das Ordenskleid angelegt,
erschien mir selbst der Gedanke an Ihn eine Sünde.
In dieser bittern Stunde lernte ich ausser der Selbstbeherrschung die
Menschenkenntniss. Ich bin alt geworden in jener Stunde, im Herzen steinalt.
Grüner Rasen deckt jetzt das Grab des Weibes, das so viel Unheil ver-
schuldet, mein und sein eigenes Lebensglück vernichtet hat. Nach dem was
geschehen, wusste ich nicht, wie mir war und was ich anfangen solle.
Die Glocke zur Mette ertönte. Die Schwester ging und sagte: Bis ich
zurückkomme, wirst du überlegt haben, dass ich recht habe.
Aus Furcht verschluss sie die Thüre meiner Zelle.
Ich wusste, dass sie vor einer Stunde nicht zurückkommen könne und
überlegte, was ich jetzt thun solle. Ich hätte das Geld gern zurückgetragen,
aber ich wusste den Weg nicht und mein Rosenkranz war ein stummer Zeuge
wider mich.
Mit der Elenden fortgehen, das wollte ich nicht. Ich weiss nicht, wie
mir der Gedanke kam, aber ich wollte sie, die mich elend gemacht, auch leiden
sehen. Sie sollte die Früchte ihrer That auch nicht gemessen. Das Fenster
meiner im ersten Stock gelegenen Zelle ging auf den Garten. Ich nahm die
Kassette und sprang durchs Fenster. Wie lange ich lag, weiss ich nicht. Als
ich zu mir kam, klang mir das „De profundis" aus der Kapelle herüber. Ich
wusste, dass die Mette bald zu Ende und beeilte mich, meine Kräfte zusammen-
nehmend, fortzukommen. Ich ging in die Küche, vertauschte mein Ordens-
gewand mit einem Mägdeanzug, schlich mich hinter die Kapelle, wartete, bis
diese leer, begab mich in die Sakristei, legte die Kassette zu den Messgewändern,
sicher, dass man sie dort finden werde. Von da gelangte ich ins Freie und
ging schnell weiter. Das Blut rann mir über das Gesicht. Vor Aufregung
und Blutverlust konnte ich mich kaum aufrecht erhalten. Ich erinnere mich
nur, dass mir war, ich sähe lauter Fratzengesichter, höre einen wilden Lauf
hinter mir und bekomme von entsetzlichen Gestalten ein rothes Tuch vor die
Augen gehalten. Ich lief immer schneller, die Gestalten mir nach, bis zum
Hause meines Vaters, wo ich mit letzter Anstrengung an der Glocke riss und
dann bewusstlos zusammenbrach.
Wochenlang schwebte ich zwischen Leben und Tod. „Ueberreizung der
Nerven und Fieber", lautete die Diagnose der Aerzte. Meine starke Natur
siegte endlich über die Krankheit. Nach todesähnlichem Schlaf genas ich lang-
sam körperlich, aber in meinem Geiste war es Nacht volle zwei Jahre. Diese
zwei Jahre sind aus meiner Erinnerung gestrichen. Wie aus einem schweren
Traume erwacht, glaubte ich noch immer im Kloster zu sein und konnte nicht
begreifen, wie ich mich im Vaterhause befinde. Nach und nach erinnerte ich
mich jener entsetzlichen Nacht. Ich meinte, dass es erst gestern gewesen wäre.
Mit aller Schonung theilte man mir meinen gewesenen Zustand mit. Ich er-
kannte mit Entsetzen, dass mein Vater und Alle der Meinung waren, ich hätte
das Geld entwendet und dann, von Reue gepackt, es in der Sakristei nieder-
12
gelegt. Es schnitt mir ins Herz, aber ich liess sie bei ihrem Glauben (!), hatte
ich doch der Elenden Schweigen gelobt! Und Emerich glaubte auch an meine
Schuld! Ich sah es ihm an! Ach, ich war dem Wahnsinn nahe. Er wusste ja
nicht, dass ich das blinde Werkzeug eines teuflischen Weibes gewesen! Aus
dieser Fülle von Schmach, in die ich gestürzt, konnte mich nur ein Meer von
Liebe retten. Diese Liebe zu mir — besass er nicht. Er machte mich fast
wahnsinnig durch sein Mitleid und seine Nähe. Das Leben erschien mir uner-
träglich. Oft wandelte ich an den Ufern der Th., überlegend, was tiefer sei —
mein Kummer oder das glitzernde Wasser drunten, aber die Erinnerung an den
lieben Gott hielt mich von meinem grausen Vorhaben ab. Ich konnte den vor-
wurfsvollen Blick meines Vaters nicht mehr ertragen und beschloss, fortzugehen.
Eines Tags sagte mir der Vater, Emerich habe um meine Hand angehalten.
Ich fühlte, dass es zu spät war, denn Eines stand mir klar vor der Seele, dass
zwischen uns Beiden das Glück unmöglich ist.
Er hat durch seine Bitte um meine Hand zwar die Schmach von mir
genommen, die mich unfehlbar in den Tod getrieben hätte, aber ausgelöscht
hat er jene bitteren Stunden nicht. Seine Zweifel an mir lagen wie ein Fluch
zwischen uns.
Einige Tage später reiste mein Vater in Geschäften fort. Ich hielt die
Zeit für gekommen, meinen Plan auszuführen. Aber ich brauchte Geld! Unter
schicklichen Vorwänden suchte ich mir welches von Verwandten und Freunden
auszuleihen, aber vergebens. Ich konnte mir nicht anders helfen, nahm aus
der Kasse meines Vaters 608 fiL, indem ich in einem Briefe ihn um Verzeihung
bat und ihn zugleich bevollmächtigte, die genommene Summe aus meinem
mütterlichen Vermögen sich zurückzuerstatten. Ich war mir klar bewusst, was
ich verlor, als ich das Vaterhaus heimlich verliess.
Von da an schützte mich Niemand vor schlimmen Erfahrungen, vor dem
Einblick in die Nachtseiten des Lebens. Ich fühlte gleichwohl in mir die Kraft,
wie viele Tausende, mit trübem, müdem Herzen weiter zu leben und die Pflicht
zu thun. So fand ich Entsagung und endlich auch Ruhe. Ich sah ein, dass
nur ein völlig neues und thätiges Leben • mich gesund machen könne. Mein
Plan war, nach A. zu gehen und eine passende Stelle als Erzieherin zu suchen.
Ohne Dokumente, ohne Zeugnisse wurde ich überall abgewiesen. In den Zei-
tungen las ich, dass mein Vater überall nach mir forschen liess. Ausserdem
wurde ich von unverschämten Anträgen belästigt, die mir das Blut in den Kopf
trieben und denen ein alleinstehendes Mädchen nicht auszuweichen vermag.
In dieser Lage schoss mir die Idee durch den Kopf, Männerkleider anzulegen
und dadurch vor jeder Verfolgung mich sicher zu stellen. Gedacht, gethan,
Niemand wäre es eingefallen, in dem blassen Studenten von heute das Mädchen
von gestern zu suchen.
Für diese That verdammte mich später die Lästerzunge! Ich las in der
Zeitung, dass auf einer Puszta ein Erzieher gesucht werde. Ich reiste hin,
fand Beifall und ward Erzieher1) von 2 lieben Mädchen von 7 und 9 Jahren.
1 Aktenmässig constatirt. Patientin fälschte sich Dokumente, auf den
Namen Julius Horväth lautend. Sie gestand auch mir die Fälschung der
Dokumente, erinnerte sich dieser Thatsache, da sie im luciden Zustand ge-
handelt hatte und entschuldigte sie mit damaliger Nothlage.
— 13 —
Ich war schon 2 Jahre in dieser Stellung. Man liebte den stillen Lehrer mit
dem Mädchengesicht. Die Frau des Hauses gab mir deutlich genug zu ver-
stehen, ich möchte ihr mehr als der Lehrer sein. Sie ahnte ja mein wahres
Geschlecht nicht! Aus diesem Grunde verliess ich das Haus und heschloss nach
Pest zu gehen."
Patientin berichtet nun weiter, dass ihre Aussichten auf eine Stellung
sich nicht erfüllten, dass ein Schwindler, unter dem Vorwand, ihr eine Stelle
zu verschaffen und dazu einer Caution zu benöthigen, sie um 200 fl. prellte.
Von Mitteln entblösst, heschloss sie ihre Fertigkeit in Handarbeiten zu ver-
werthen und wieder Frauenkleider anzulegen. Bevor es zur Ausführung dieses
Planes kam, gelang es ihr, einen Posten bei der B. F. Bahn mit einem Monat-
gehalt von 40 fl. zu erlangen (anfangs Herbst 1881). In dieser Stellung blieb
sie V/z Jahre. Um ihr Geschlecht nicht zu verrathen, musste sie mit ihren
Collegen zechen und spielen. Die Situation wurde ihr mit der Zeit widerlich.
Sie legte ihre Stelle nieder, begab sich nach der Hauptstadt, um es in Frauen-
kleidern zu versuchen, ehrlich ihren Lebensunterhalt zu erwerben. Durch Ver-
wendung ihrer Quatierfrau gelang es ihr, eine Stelle als Näherin in einem
vornehmen Hause zu bekommen.
(Autobiographie.) „Ich war schon etliche Wochen dort und zufrieden.
Was nun geschah, kann ich noch heute nicht fassen, aber es ist buchstäblich
wahr, wenn auch unbegreiflich. Eines Tags befand ich mich im Gefängniss
und erfuhr, dass ich das ganze Silberzeug der Herrschaft, welches offen auf
dem Tisch lag, zusammenraffte, es verkaufte und mit dem Erlös zur Stadt-
hauptmannschaft ging und mich als Diebin anklagte."
Patientin wurde auf die Beobachtungsabtheilung des Rochusspitals in
Pest gebracht (22. 5. 85).
Prof. Dr. Laufenauer hat in der ungar. med. Wochenschrift Orvosi hetilap,
1885, Nr. 31 interessante, das Bisherige theilweise richtigstellende Mittheilungen
über Patientin nebst einem Gutachten veröffentlicht.
Ich ergänze diese Mittheilungen durch Thatsachen, welche mir der ehren-
werthe Bruder der Patientin zur Verfügung stellte. Patientin war begabt, von
schwärmerischem, verschlossenem Naturell, phantasievoll, träumerisch, weshalb
sie vom Vater öfters gerügt wurde. Sie besuchte vom 7. Jahre ab die Kloster-
schule als Externe. 1874 redete die Oberin den Eltern und dem Mädchen zu,
sie ganz ins Kloster zu geben, damit sie sich als Lehrerin ausbilde und später
ihr Fortkommen als Gouvernante finde. Patientin trat als Aspirantin für das
Lehrfach (nicht als Novize) ein, blieb einige Jahre im Kloster, fing auf Ferien
zu Hause eine Liebelei mit einem Ingenieur an, liebte ihn überschwänglich,
gab sich ihm geschlechtlich hin. Der Vater sandte, als er die Streiche der
Tochter erfuhr, dieselbe sofort ins Kloster zurück. Sie setzte gleichwohl Brief-
wechsel mit dem Geliebten fort, that im Kloster nicht mehr gut, erhielt
Rügen über Rügen, entfloh am 2. 2. 79 Nachts, indem sie aus dem Fenster
sprang, wobei sie sich am Kopf verletzte. Sie kam blutend, in höchster
Aufregung heim, bekam nun schwere hysteroepileptische Anfälle, erkrankte
an hallucinatorischem Wahnsinn, lag bis Oktober 79 im Delirium, war
oft ganz bewusstlos, genas aber vollständig. Der Zeitpunkt der endlichen Ge-
nesung lässt sich nicht feststellen. Dass man Patientin nach ihrer Krankheit
daheim vorwurfsvoll ansah und für eine Diebin hielt, bestreitet der Bruder.
14
Patientin dürfte also damals noch unter dem Einfluss von Wahnideen ge-
standen haben.
Alles weitere von der Patientin bisher selbst Berichtete dürfte bis auf
Unwesentliches und gewisse Ausschmückungen und zeitlich unrichtige Lokali-
sationen abgerechnet, auf Wahrheit beruhen. Wegen hysteroepileptischer An-
fälle kam Patientin im Sommer 83 und im Januar 85 auf kurze Zeit ins
Rochusspital in Pest. Auch einige autohypnotische Zustände, in welchen sie
sich von der Wohnung der Eltern grundlos entfernte und erst nach Wochen
wieder zum Vorschein kam, ohne über ihren Verbleib etwas zu wissen, sind
durch Mittheilungen des Bruders nachgewiesen.
In einem solchen Ausnahmezustand muss sie sich befunden haben, al&
sie im April 85 wegen des obenerwähnten Diebstahls von Silberzeug verhaftet
wurde. Da sie fortgesetzt davon nichts zu wissen behauptete, Erscheinungen
von conträrer Sexualempfindung bot und massenhaft hysteroepileptische Anfälle
bekam, wurde sie am 22. 5. 85 auf das Beobachtungszimmer des Rochusspitals
gebracht. Aus dem damaligen Stat. praes. ist hervorzuheben:
R. Hemianästhesie mit Einschluss der Sinnesorgane. In den Oberextremi-
täten, besonders der rechten, Tremor; tiefe Reflexe gesteigert, Genitalien normal
entwickelt. Vegetative Organe ohne pathologischen Befund. Aecht hysterischer
Charakter. Psychische Hyperästhesie, grosse Emotivität, auf geringfügige An-
lässe hysteroepileptische Krämpfe (fast täglich). Episodisch schreckhafte Vi-
sionen. Sehr labile Vasomotoriusfunktion. Ethische Defekte, grosse Gemüths-
reizbarkeit. Sehr lästig in der Abtheilung durch Aeusserungen conträrer
Sexualempfindung. Gedächtniss lückenhaft, für einzelne Episoden fehlend 1).
Mangelhafte Reproduktionstreue, Erinnerungsschwäche, zügellose Phantasie.
Die Beobachtimg wurde am 30. 6. 85 abgeschlossen, die Unzurechnungs-
fähigkeit der Patientin für die incriminirten Handlungen erwiesen. Nach Ein-
stellung des Untersuchungsverfahrens wurde sie entlassen, ihr der Bruder als
Curator bestellt und ihr in der Familie des Schwagers Unterkunft gewährt.
Patientin war es peinlich, von den Angehörigen immer beobachtet und wie eine
Unzurechnungsfähige betrachtet zu werden. Sie entfloh nach Pest, wurde von
Neuem Näherin.
Aus den Gerichtsakten geht hervor, dass Patientin am 19. 8. 86 von
einem Nähmaschinendepot durch die Vorspiegelung, sie werde den Kaufpreis
von 65 fl. in monatlichen Raten ä 4 fl. bezahlen, eine Nähmaschine erhalten
hatte. Nach deren Erhalt entfernte sie sich heimlich Nachts aus ihrer Woh-
nung, verkaufte die Maschine an einen Hausirer um 10 fl. und vergeudete den
Erlös. Wo sich die S. bis zum Oktober herumgetrieben hatte, war nicht zu
eruiren. Sie selbst hatte von der ganzen Episode von Mitte August bis Anfang
Oktober 86 nur die vage Erinnerung , sich ziellos herumgetrieben zu haben.
Aktenmässig ist constatirt, dass sie am 6. 10. 86 als Stubenmädchen bei
Wittwe G. in Pest um 11 Uhr eintrat, dieser schon um V/i das ganze Silber-
zeug und 2 Mitdienstboten die Ausweisbücher stahl, auf Grund des einen als
Marie Küffner am 12. 10. beim Buchdrucker R. als Dienstmädchen einstand,
schon nach wenig Stunden mit dem Silberzeug und den ihr zum Putzen über-
gebenen Kleidern durchging. Sie wurde bald verhaftet, erschien ganz un-
') Autohypnotische Zustände.
i:.
befangen und gab in den Verhören an, sie wisse von nichts. Sie habe An-
fälle, in welchen sie des Bewusstseins und der Erinnerung für die in solchem
Zustand begangenen Handlungen beraubt sei.
Die S. kam auf das Beobachtnngszimmer (13. — 28. 10. 86). Das Gut-
achten der Aerzte ging dahin, dass die S. an zeitweisen Krampfanfallen leide,
solche auch gelegentlich simulire, dass jedoch kein Einfluss auf ihre Zurech-
nungsfähigkeit durch diese Anfälle an constatiren sei. Darauf erhob die
Staatsanwaltschaft die Anklage.
In der Hauptverhandlung am 2. 12. 86 wies Gerichtsarzt Prof. Ajtay
nach, dass die Angeklagte hypnotisch ') sei, zeigte, dass sie durch blosses Vor-
halten eines Bleistiftes in „magnetischen Schlummer" gerathe, in welchem sie
nicht nur spontan, sondern auch durch Suggestion zu jeder That fähig sei, ja
auch posthypnotisch durch Suggestion solche Handlungen ohne Bewusstsein
ihrer Bedeutung und Folgen verüben könne.
Das Gutachten lautete: „Das Leiden der S. ist keine Epilepsie, sondern
eine verwandte schwerere Erkrankung (Kataleptico-Hysterie), vermöge welcher
die S. nicht bloss temporär, sondern dauernd unzurechnungsfähig ist, denn ihr
Bewusstsein ist nie ganz frei, schwankt zwischen gänzlicher und theilweiser
Bewusstlosigkeit. " In Folge dieses Gutachtens wurde die S. wegen Bewusst-
losigkeit zur Zeit der Begehung ihrer incriminirten Handlungen (§ 76 ungar.
Stgsb.) freigesprochen. Später machte man mit der S. hypnotische Experimente,
die Aufsehen erregten und Inhalt umfangreicher Feuilletons in den haupt-
städtischen Blättern wurden.
Ajtay deponirte anlässlich der Begutachtung der S. überdies, dass sie mit
angeborener conträrer Sexualempfindung behaftet sei.
Diese Annahme scheint auf Grund von Mittheilungen, welche die S.
später in Graz machte, im Sinn einer gezüchteten2) weiblichen, krankhaften
Liebe einer Correktur bedürftig.
„Man beurtheilt mich unrichtig, wenn man glaubt, dass ich mich dem
weiblichen Geschlecht gegenüber als Mann fühle. Ich verhalte mich vielmehr
in meinem ganzen Denken und Fühlen als Weib. Habe ich doch meinen Cousin
so geliebt, wie nur ein Weib einen Mann lieben kann.
Die Aenderung meiner Gefühle entstand dadurch, dass ich in Pest, als
Mann verkleidet, Gelegenheit hatte, meinen Cousin zu beobachten. Ich sah,
dass ich mich in ihm arg getäuscht hatte. Das bereitete mir furchtbare Seelen-
qualen. Ich wusste, dass ich nie im Stande sein werde, einen Mann zu lieben,
dass ich zu jenen gehöre, die nur einmal lieben. Dazu kam, dass ich in der
Gesellschaft meiner Collegen von der Bahn die anstössigsten Gespräche an-
hören, die verrufensten Häuser besuchen musste. Durch die so gewonnenen
Einblicke in das Treiben der Männerwelt bekam ich einen unüberwindlichen
Widerwillen gegen die Männer. Da ich aber von Natur sehr leidenschaftlich
bin und das Bedürfniss habe, mich einer geliebten Person anzuschliessen und
mich derselben ganz hinzugeben, fühlte ich mich immer mehr zu mir sympa-
*) Patientin behauptet, dass sie von 1879 ab, wo sie das Kloster verliess,
bis zum Zusammentreffen mit Prof. A. von Niemand mehr hypnotisirt worden sei.
-) Vgl. des Verfassers Monographie „Psvchopathia sexualis". 7. Autf.
p. 123 ff.
— 16 —
tbischen Frauen und Mädchen, besonders durch Intelligenz hervorragenden,
mächtig hingezogen."
Patientin wurde Ende Decernber 1886 der I. med. Klinik in Pest zu
fernerer Behandlung übergeben.
Herr Docent Dr. Jendrässik, dem ich für seine werthvollen Mittheilungen
über die S. zum grössten Dank vei-pflichtet bin, constatirte bei der Aufnahme
das typische Bild einer schweren Hysterie mit ziemlich grossen Attaquen, rechts
Hemianästhesie mit Einschluss der Sinnesorgane. Die S. hatte anfangs 1 — 2
Anfälle täglich und so heftig, dass sie in einem Separatzimmer verpflegt wer-
den musste. Nach einem Monat wurden die Anfälle seltener, kehrten nur mehr
alle 2—3 Wochen, schliesslich nur gelegentlich nach Monaten wieder. Nach
heftiger Gemüthsbewegung im August 1887 kamen sie gehäuft zurück.
Im luciden Zustand war Patientin immer sehr ordentlich und bescheiden,
jedoch sehr gemüthserregbar. Sie erwies sich als fleissig, geschickt und intel-
ligent. Mit der Zeit verliebte sie sich in eine barmherzige Schwester. Die
Leidenschaft war eine sinnliche und Patientin dadurch oft recht störend. Die
S. wurde während ihres Aufenthalts auf der Klinik oft hypnotisirt, nicht bloss
von den dazu berechtigten Aerzten, sondern auch von nicht dazu autorisirten
und sogar von Laien, wozu Impuls durch hypnotische Versuche an der S., die
Futter für Feuilletons der Journale wurden, gegeben war. Die S. wusste im
luciden Zustande nie das Geringste von dem, was man mit ihr im hypnotischen
Zustande vorgenommen hatte, aber die Schwester, in welche sie sich verliebt
hatte, theilte ihr alles mit und eines Tages las die Kranke sogar ein Feuilleton
über die an ihr gemachten Experimente. Da gerieth sie in grosse Erregung
und bekam ihre Anfälle, die seit Monaten cessirt hatten, wieder. Jene Schwester
rieth ihr zu fliehen, sich nicht mehr gefallen zu lassen, dass man ihr die 5
Wundmale Christi (durch Suggestion am linken Fuss) beibringe, ihr Brand-
wunden ansuggerire. Sie solle nach Graz in ein Kloster fliehen, man werde
ihr dazu behilflich sein. Eines Tages wurde die S. wieder hypnotisirt und am
andern Tag sah sie den Buchstaben J an ihrem rechten Arme eingebrannt. Da
wurde ihr Entschluss, zu fliehen, fest.
Es besteht gegründeter Verdacht, dass eine von unberechtigter Seite
unternommene Hypnose mit posthypnotischer Suggestion den Entschluss, nach
Graz in ein Kloster zu fliehen, zur That werden Hess. Thatsache ist nur, dass
die S. sich 12 fl. von Mitkranken verschaffte, sowie Kleider aneignete und am
4. 10. 87 aus der Klinik entfloh.
Status praesens.
Patientin ist über mittelgross, gut genährt, etwas anämisch, von intelli-
gentem Gesichtsausdruck. Der Schädelumfang beträgt 55,5 cm. Auf dem
rechten Parietalbein findet sich eine oberflächliche Narbe ohne Knochenver-
änderung, angeblich herrührend von einem vor 7 Jahren erlittenen Sturz. Das
Auge hat einen neuropathischen Ausdruck. Die Pupillen sind mittelweit, gleich
und reagiren prompt. Patientin behauptet, seit 7 Jahren, im Anschluss an
heftige Gemüthsbewegungen, an hysteroepileptischen Anfällen zu leiden. Als
Aura empfinde sie Kälte im ganzen Körper, ascendirendes warmes Gefühl vom
Epigastrium aus, dann empfinde sie Globus. Das Bewusstsein schwinde nun.
indem sie einen gellenden Schrei ausstosse. Sie könne im Fallen sich noch
stützen. Nach der Schilderung der Umgebung handle es sich um tonische und
clonische coordinirto Krämpfe, untermischt mit deliranten Zuständen, in welchen
sie sich oft in den Arm beisse. Die Dauer der Anfälle betrage eine Viertei-
bis halbe Stunde. Nach heftigen Anfällen sei sie tagelang schwer besinnlich,
sehe Alles in gelblichrothem Schein, habe heftiges Sausen und Rauschen im
Kopf, schreckhafte Phantasmen, Kopfschmerz, Temperaturen bis zu 40 ° C. Die
Anfälle hätten Wochen bis Monate cessirt, seien im September 1887 bis zu
13 an einem Tage wiedergekehrt. Gemüthsbewegungen seien von grossem
Einfluss auf deren Wiederkehr. Bei ihrer grossen Gemüthsreizbarkeit und
Emotivifät traten jene sehr leicht ein.
Patientin bietet rechts Hemianästhesie mit Einschluss der Sinnesorgane.
Die grobe Muskelkraft ist auf der rechten Seite etwas herabgesetzt. Die rechte
Oberextremität befindet sich in beständigem Tremor. Es besteht epigastrische
Myodynie, die Ovarialgegend ist nicht druckempfindlich. Von hier aus, sowie
vom Epigastrium sind keine Anfälle zu provociren. Patientin ist fieberlos.
Von Seiten der vegetativen Organe bestehen keine Funktionsstörungen. Eine
Genitalexploration wird verweigert.
Patientin hat 1. auf der rechten Thoraxhälfte gegen das Schultergelenk
zu eine wulstige, bläulichrothe Narbe (Keloid), eine mittelgrosse Damenscheere
darstellend.
2. Mitten auf dem rechten Oberarm findet sich eine ähnliche ovale Narbe,
1,5 cm breit, 1 cm lang.
3. Auf der rechten Schulter eine wulstige, 2 cm lange, 1 cm breite Haut-
narbe, der Hälfte eines K ähnlich.
4. Auf dem rechten Schulterblatt eine pigmentirte Linie, welche an die
Contouren eines Messcy linders erinnert, wenigstens läuft dieselbe in eine
Schneppe aus.
5. Auf der Mitte des rechten Vorderarms eine J-förmige pigmentirte
Linie, deren oberes und unteres Drittel zwar flach, aber narbig sind.
Patientin behauptet, man habe ihr diese Narben in Hypnose gemacht,
wenigstens habe ihr dies die Wärterin (Schwester) berichtet. Sie selbst wisse
nichts davon. 1 sei mit einer Scheere, 2 mit einem Schlüssel, 3 mit einem
Monogramm, 4 mit einem Glascylinder, 5 mit einem Buchstaben, sämmtlich für
glühend heiss ausgegeben, entstanden.
Die betr. Stellen seien nach der Experimentation jeweils mit einem Ver-
band bedeckt und dieser sei versiegelt worden.
Ihre rechtsseitige Hemianästhesie bestehe seit etwa 2 Jahren. Sie habe
dieselbe zufällig entdeckt, indem sie bemerkte, dass sie nichts in der rechten
Hand halten konnte, wenn sie die Augen abwandte. Die genaue Prüfung der
Sensibilität mit dem Tasterzirkel ergibt als kleinste Spitzeudistanz, bei welcher
zwei Eindrücke wahrgenommen werden, an der linken Körperoberfläche : Stirne
23 mm, Wange 15, Nase 10, Ober- und Unterlippe 4, Hals 16, Nacken 17,
Brust (Infraclaviculargrube) 31, Epigastrium 32, Rücken 28, Oberarm Streck-
seite 27, Beugeseite 19, Vorderarm Streckseite 25, Beugeseite 22, Dorsum der
Grundphalanx des Mittelfingers 22, des Zeigefingers 10, Fingerbeere des Zeige-
fingers 4, des Mittelfingers 4, Oberschenkel Streckseite 39, Unterschenkel Streck -
v. Erafft-Ebing, Hypnotismus. ö. Aufl. 2
— 18 —
seite 44, Fussrücken 25, grosse Zehe Volarseite 20 mm. Diese Masse ergeben
beim Vergleich mit den Weber 'sehen, dass die Empfindungskreise auf der linken
Körperhälfte annähernd normale sind, und dass jedenfalls keine Hyperästhesie
besteht. Die Untersuchung der Augen (Doc. Dr. Birnbacher) ergab Folgendes:
Patientin gibt an, sie sei auf dem rechten Auge vollkommen amaurotisch
und habe nicht einmal quantitative Lichtempfindung.
Versucht man jedoch das Stereoskop, so zeigt sich klar, dass Patientin
auch mit dem rechten angeblich amaurotischen Auge ziemlich kleine Buch-
staben liest.
Vom linken Auge wird mit -j- V10 eme Sehschärfe von 5/io erreicht.
In der Nähe liest Patientin Jäger Nr. 2 fliessend in 30 cm. Die oph-
thalmoskopische Untersuchung ergab auf beiden Seiten Hypermetropie , sonst
ganz normalen Augengrund und reine brechende Medien. Vom linken Auge
werden Farben richtig erkannt, jedoch ist das Gesichtsfeld für Weiss und für
Farben nach aussen oben und innen bis nahezu an den Fixationspunkt ein-
geschränkt.
Krankheitsverlauf.
Patientin bot während ihres über 7 Monate dauernden Aufenthaltes in
der Grazer Nervenklinik das gewöhnliche und ziemlich stationäre Bild einer
Hysteroepileptischen .
Grosse gemüthliche Reizbarkeit, labile Stimmung mit Vorwalten depres-
siver Stimmungszustände bis zu oft recht bedenklichem Taed. vitae, häufig ganz
unmotivirt umschlagend in Zustände von übermüthiger Laune mit Neigung zu
Scherzen und selbst Bosheiten, waren bemerkenswerthe Erscheinungen in der
affektiven Sphäre.
Die Intelligenz der Patientin erschien von Anlage eine die Norm überragende,
und zahlreiche Gedichte und Aufsätze bewiesen, dass, neben ungewöhnlicher
Bildung, Phantasie, Gemüth und Verstand keine erkennbare Einbusse erfahren
haben. In bemerkenswerthem Contraste damit standen aber die Schwäche der
Reproduktionstreue, massenhafte Erinnerungstäuschungen und unrichtige Lokali-
sationen in der Vergangenheit. Dadurch, sowie durch viele Lücken der Er-
innerung, hervorgerufen durch autohypnotische und sonstige Bewusstlosigkeits-
zustände, war eine zusammenhängende Aufrollung der Vita anteaeta nicht
möglich.
Eine fatale Eigenschaft bildete die conträre Sexualempfindung der
Patientin, die zu beständiger Abwehr und Aufmerksamkeit nöthigte. Bemer-
kenswerth und gegen die Annahme einer angeborenen Perversion sprechend
war immerhin die Schamhaftigkeit der Patientin im Verkehr mit den Aerzten.
Die Hemianästhesie blieb unverändert. Hysteroepileptische Insulte wur-
den am 22. 24. 10., 20. 11., 2. 12., 31. 12., 7. 1., 10. 3., 6. 5. beobachtet. Nur
ganz gelegentlich und meist im Zusammenhang mit Insulten, kamen flüchtige
Hallucinationen und Delirien vor.
Der Schlaf war meist schlecht, unruhig, unerquicklich. Häufig klagte
Patientin über Anorexie, Cardialgie, Erbrechen, Intercostalneuralgie, Kopfschmerz.
Die Eigenwärme war selten eine normale. Anlässlich Gemüthsbewegungen,
— 19 —
neurotischer Beschwerden , besonders aber hysteroepileptischer Insulte wurden
Temperaturen bis 41,5 beobachtet, aber ohne die begleitenden sonstigen objek-
tiven und subjektiven Symptome des Fiebers.
Häufig schwankte die Eigenwärme binnen 24 Stunden zwischen 36,5 bis
39,5. Durchschnittlich war sie übernormal. Gleichwohl hat das Gewicht der
Patientin während der Zeit ihres hiesigen Aufenthalts um mehrere Kilo zu-
genommen.
Die Menses, welche bis zum März niemals constatirt werden konnten,
stellten sich am 10. 3. ein und kehrten am 10. 4. und 5. 5. spärlich wieder.
Inwiefern eine grosse Zahl der Krankheitssymptorae experimentell und
therapeutisch beeinflusst wurde, lehrt das folgende Tagebuch der hypnotischen
Versuche. Bei dem Umstand, dass Patientin abnorm gemüthsreizbar ist, mit
Taed. vitae behaftet, zu hysteroepileptischen Anlallen und autohypnotischen
Zuständen geneigt, in welchen sie sich und Anderen Schaden zufügen kann,
überdies leicht hypnotisirbar und in diesem Zustand, sowie durch posthypnotische
Suggestion zu verbrecherischen Handlungen veriührbar, ferner mit conträrer
Sexualempfindung behaftet und unfähig, ihre krankhaften Triebe zu benieisterm
erscheint es Pflicht, nach geschlossener Beobachtung Patientin einer Humanitäts-
anstalt ihres Heimathlandes zuzuführen. Die bisherige Erfahrung lässt es mög-
lich erscheinen, dass die bedauernswerthe Kranke auf dem Wege fortgesetzter
therapeutischer hypnotisch-suggestiver Beeinflussung einer besseren Zukunft ent-
gegengefahrt werde.
Hypnotische Versuche.
Herrn Docent Dr, Jendrässik's Experimente1).
Herr Dr. J. theilte mir am 20. 11. 1887 gütigst mit, dass
die Hypnotisation durch Vorhalten eines Bleistifts, durch Wischen
an der Stirn, leichten Schrei („hopp"), durch imperative Suggestion
„schlaf ein" oder einfache Erklärung „Sie schlafen" jeweils leicht
gelang.
Patientin war im hypnotischen Zustand kataleptiform, abulisch,
aber durch Suggestion äusserst leicht beeinflussbar.
Das Aufwachen erfolgte durch Anblasen oder durch die Auf-
forderung zu erwachen.
In letzter Zeit hat der Experimentator beobachtet, dass die
Experimente nicht mehr so gut gelingen, auch scheine der Schlaf
nicht mehr so tief und rein wie früher. Auch habe Patientin Zeiten
spontaner Verwirrtheit und Bewusstseinsstörung und zeige neuer-
dings Neigung zum Simuliren. Das Resume der Experimente des
Herrn Dr. J. ist folgendes:
1. Vornahme kataleptischer Körperstellungen.
2. Hervorrufung von Contrakturen durch Drücken oder Frot-
tiren eines Körpertheils. Jene schwinden durch stärkeres Frottiren
oder durch verbale Suggestion.
3. Suggestion eines Vogels in der Hand. Patientin liebkost
ihn. Sugg. es sei eine Schlange — Entsetzen. S. eines Bades —
Patientin wäscht sich behaglich. S. es sei sehr kalt — Frösteln,
Zittern, Zähneklappern. S. gereichtes Wasser sei Wein — Pa-
tientin trinkt das Wasser für Wein. S. berauscht zu sein — Singen,
Taumeln. S. drohenden Erbrechens — Patientin übergibt sich.
*) Verein der Aerzte in Budapest 5. 3. 87. Ausführl. Mittheilungen von
Dr. Jendrässik im neurolog. Centralblatt 1888, Nr. 10 und 11.
— 21 —
4. S. sie werde, erwacht, ein Hund sein, der nur bellen könne.
Erweckt geht Patientin auf allen Vieren und bellt. Patientin wird
neuerlich hypnotisirt und die S. behoben.
5. S. Dr. X. posthypnotisch zu ermorden. Man gibt Patientin
ein gerolltes Papier und suggerirt es als Dolch. Erwacht schleicht
sie sich hinter Dr. X. und sticht mit der Holle wüthend nach ihm.
Ein drohender Anfall wird im Entstehen dadurch verhindert, dass
Dr. X. sie mit „hopp" anschreit. Patientin wird sofort kataleptisch.
6. S. von Lähmung einer Extremität. Patientin behält sie
so lange (selbst tagelang), bis man die Lähmung durch erneute
Hypnose und Suggestion aufhebt. In dieser sugg. Lähmung sind
die tiefen Reflexe gesteigert.
7. Man kann Patientin Hemianästhesie auf die andere Seite
suggeriren oder auf beiden Seiten entstehen lassen oder ganz auf-
heben, aber nicht auf die Dauer.
8. S. von Taubheit. Lässt man diese nach der Enthypnotisi-
rung unbehoben, so reagirt Patientin nicht auf die stärksten acu-
stischen Reize , nicht einmal auf ein Gong von 1 m Durchmesser.
In neuer Hypnose kann man Patientin wieder hörend machen.
Man kann sie auch partiell taub machen, z. B. für eine bestimmte
Stimme, einen bestimmten Klang.
9. Man kann Blindheit suggeriren. Suggerirt man ihr dazu
eine gute Stimmung, so macht sie sich nichts daraus.
Man kann ihr auch suggestiv temporär ihren Farbensinn
wieder herstellen.
Man kann ihr einzelne Personen oder auch die ganze Gesell-
schaft absuggeriren. Im ersten Fall z. B. ist sie höchst erstaunt,
dass eine Uhr, ein Hut u. s. w. durch die Luft sich bewegen, da
sie nur die Gegenstände, nicht den (absuggerirten) Träger der-
selben sieht.
Suggerirt man ihr, sie solle sich von X. oder Y. nicht hypno-
tisiren lassen , so kann dieser machen was er will , es gelingt
ihm nicht.
10. Man kann ihr auf weissem Blatt eine Photographie sug-
geriren. Sie kennt dann das betreffende Blatt aus den übrigen
weissen Blättern heraus.
Zeichnet man ihr auf Papier ein (1 mit dem Finger hin , so
sieht sie das suggerirte d. Kehrt man nun das Papier um, so sieht
sie p und im Spiegelbild q.
Noch besser gelingt der Versuch mit t> — q — p.
— 22 —
11. Ein Blatt Schreibpapier an den linken Unterschenkel ge-
bunden und als Senfpapier suggerirt, erzeugt am anderen Morgen
Röthung und kleine Blasen.
Wenn man Patientin Morgens den Rand einer Zündholz-
schachtel ( ) an den rechten Unterarm drückte, ein andermal
interscapular den Rand eines Messcylinders f \ , oder eine
Dose (f j) am Oberarm und diese Gegenstände als glühend sug-
gerirte, so war jeweils am Nachmittag eine Brandblase in Form
des betreffenden Objekts zu sehen und eine Brandwunde, deren
Narben noch vorhanden sein müssen. Wenn man ihr auf die linke
Seite etwas drückte und als glühend suggerirte, so entstand die
Brandwunde auf der rechten Seite symmetrisch und im Spiegelbild,
z. B. eine Wäschemarke a wurde auf die linke Schulter gedrückt.
Es entstand das Bild b auf der homologen rechten Seite mit ganz
scharfen Rändern. Das richtige Bild wäre gewesen c.
V
Wer die Scheere x) ihr angedrückt und als glühend suggerirt
hat, war nicht herauszubringen. Es muss einer der Praktikanten
gewesen sein. Es ist ein bedauerliches Beispiel von der grossen
Wirkung der Suggestion. Fieber zu suggeriren gelang nicht.
Patientin wurde zwar unwohl, aber der Thermometer blieb bei
37,4 stehen.
Ebenso wenig gelang es, Blutungen zu suggeriren. Es ent-
standen bloss rothe Flecke (Hyperämie) an den betreffenden Stellen.
12. Grosse Wirkung hat der Magnet. Hat man mit ihm mani-
pulirt, so kann man mit Allem, was man dann in die Hand nimmt,
die gleiche Wirkung erzielen, aber früher nicht. Ein Handtuch
z. B. , das den Magnet bedeckte und das man Patientin zum Ab-
:) Nach Mittheilung der barmherzigen Schwester war daselbst eine
eiternde Wunde, die sehr schmerzte und 2 Monate zur Heilung bedurfte. Die
Wunde wurde mit Carbolspülungen und Carbolcharpie behandelt.
23
wischen in die Hand gibt, macht sofort die heftigste und schwer zu
lösende Contractur in beiden Händen. Ein gewöhnliches Handtuch
macht diese Wirkung nicht.
Auch Transfert gelingt leicht mit dem Magnet, ebenso Be-
seitigung suggerirter Taubheit.
Dr. Jendrässik schliesst seine interessanten Mittheilungen mit
folgenden Bemerkungen:
„Ich habe kaum nöthig zu sagen, dass die Experimente mit
der grössten Vorsicht gemacht wurden, und dass z. B. bei den Brand-
suggestionen eine Täuschung ganz ausgeschlossen ist.
Am vorletzten Tage vor ihrer Flucht suggerirte ich ein J auf
ihren linken Unterarm als heiss. Der Buchstabe war auf ein Papier
gezeichnet und ich berührte sie nur auf einen Augenblick mit einer
Falte des Blatts.
Ist das nichts? Die suggerirte Brandwirkung bleibt nach meiner
Erfahrung nur dann aus, wenn inzwischen (d. h. bis zur suggestiven
Wirkung) ein hysteroepileptischer Anfall eintritt.''
Tagebuch der hypnotischen Versuche in Graz.
Vorbemerkungen.
Patientin gibt sich nur widerwillig zu solchen Versuchen her
und erst nachdem man sie auf Ehrenwort versichert hat, dass alle
Brandsuggestionen unterbleiben werden. Mit der Zeit gelingt es,,
ihr Vertrauen zu gewinnen und sie fügt sich willig bezüglichen
Bitten. Angenehm sind der Patientin aber niemals derartige Experi-
mente. Sie duldet ihre Anstellung aus Gefälligkeit gegen die Aerzte,
denen gegenüber sie sich mit der Zeit zu Dank verpflichtet fühlt.
Die hypnotischen Studien werden immer nur in Gegenwart einer
Anzahl von Aerzten portis clausis vorgenommen und die Zeugen
verpflichtet, der Patientin von den Vorgängen in der Hypnose nichts
zu berichten.
Prof. v. Krafft behält sich das Recht vor, Patientin zu hypno-
tisiren. Im Nothfall und ausnahmsweise tritt für ihn der Assistent
Dr. Kornfeld, einmal auch Dr. Werner und die barmh. Schwester
ein. Einmal erfolgt unbeabsichtigte Hypnose durch Dr. Gugl, der
Patientin die Augen zuhält, während Krafft Sensibilitätsprüfungen an
Patientin anstellt. Das Gleiche ereignet sich einmal, indem eine
Mitpatientin der J. die Hand auf die Stirne legt.
Die Hypnose gelingt binnen 20 — 30 Sekunden durch Anblicken,
Befehl, leichten Druck auf die Bulbi oder durch Wischen auf der
Stirne mittelst der Hand des Hypnotisirenden. Diese Methode ist
Patientin die zusagendste.
Im Moment des Eintritts der Hypnose schaut Patientin jeweils
noch einmal den Experimentator an, wie um sich sein Bild einzu-
prägen. Dann schliessen sich die Augen halb und erscheinen nach
rechts aussen und unten eingestellt. Patientin verharrt in der Po-
sition, die sie im Moment des Einschlafens inne hatte. Sie gleicht
— 25 —
einer Statue. Nur gelegentlicher Tremor der Augenlider und der
oberen Extremitäten und ruhige, langsame Athmung verrathen, dass
die Statue belebt ist.
Der Puls ist 80 — 90, solange Patientin sich selbst überlassen
bleibt. Das Bild des hypnotischen Zustandes ist unveränderlich in
allen Hypnosen das gleiche, was die Experimentation sehr erleichtert.
Die Dauer der Sitzungen wurde auf 3 Stunden ausgedehnt.
Die Sinnesthätigkeit ist aufgehoben bis auf acustische Ein-
drücke auf dem linken Ohr und Schmerzeindrücke auf der linken
Körperhälfte. Patientin reagirt auf starke Schalleindrücke durch
leichtes Zusammenschrecken, auf Nadelstiche (links) mit Runzelung
der Stirne und Contraction des Corrugator supercilii. Die übrigen
Sinne sind unerregbar, selbst für die stärksten Reize.
Die Muskulatur ist in kataleptiformem Zustand, jedoch ohne
die Erscheinungen der Flexibilitas cerea.
Sich selbst überlassen bleibt Patientin Statue. Bei noch so
langer Beobachtung zeigen sich weder mimisch noch sonst motorisch
irgend welche Spuren psychischer spontaner Vorgänge.
Durch Suggestion wird bei Patientin jede Bahn ihres Central-
organes erschliessbar und jegliche psychische Leistung möglich, aber
diese ist eine rein maschinelle , automatische. Die Maschine steht
still, sobald der suggestive Auftrag vollzogen ist. Die automatische
Leistung ist eine äusserst präcise , vollkommene. Zu ihrer Aus-
führung bedarf Patientin der betreifenden, durch Suggestion auf-
geschlossenen Sinnesapparate. Suggestionswege sind der auditive
und der sensitive, einschliesslich der muskulären Bahnen. Sug-
gestiver Beeinflussung ist aber nur Derjenige, welcher die Hypnose
bewirkte, fähig. Die tiefen Reflexe sind in der Hypnose nicht ge-
steigert. Für die Vorgänge in diesem Zustand besteht ausserhalb
desselben absolute Amnesie. Derselbe lässt sich im Sinne Charcot's
und Bernheim's als somnambuler experimenteller Schlafzustand be-
zeichnen.
Die Ueberführung aus dem hypnotischen Zustand (= II) in
den normalen luciden (= I) gelingt leicht durch Anblasen oder durch
blossen Auftrag zu erwachen.
Patientin geht in I durch einen Zwischenzustand der Schlaf-
trunkenheit über, in welchem sie sich die Augen reibt, die Glie-
der reckt.
Dauerte die Hypnose lange, wurde in derselben viel mit Patientin
experimentirt, so klagt sie in I Kopfweh, Müdigkeit, Unbehaglich-
— 26 —
keit, ebenso wenn ein anderer als der gewöhnliche Experimentator
die Hypnose vornahm. Diese Beschwerden können aber der Patientin
durch die Erklärung, sie werde sich nach dem Erwachen wohl fühlen,
absuggerirt werden. Eine schädliche Wirkung der unter obigen
Oautelen unternommenen Hypnosen auf den Krankheitszustand wurde
nie beobachtet.
Das Ergebniss der Experimente wurde jeweils in der Sitzung
selbst protokollirt.
Tagebuch.
24. 10. 87. Hypnose (Zustand II) durch Anblicken. Sofortiges
Gelingen. Erweckung durch Anblasen.
26. 10. II durch leichten Druck auf die Augen.
30. 10. II durch Stirnstreichen. Da Patientin schlaflos ist und
Amylenhydrat wenig leistet, Suggestion von nun ab von 8 Uhr
Abends bis 6 Uhr früh, gut zu schlafen. Präciser prompter Erfolg.
31. 10. II nur mehr durch Stirnstreichen. Drohender hystero-
epileptischer Insult dadurch verhindert.
1. 11. Patientin fällt der barmherzigen Schwester (Wärterin)
durch Küssen u. s. w. lästig. In II Suggestion derlei künftig zu
unterlassen. Das Küssen unterbleibt fortan.
Durch centrifugales Streichen der Haut werden beliebige Ex-
tremitäten in Contruction versetzt, durch centripetales Streichen die
Contracturen gelöst. Durch Aufdrängung plastischer Stellungen wird
die Mimik entsprechend beeinflusst.
Man suggerirt Patientin, sie sei ein Kind, lässt sie mit einer
Puppe spielen, gibt ihr Salz als Zucker zu essen.
Sie wird in ein 7jähriges Schulmädchen verwandelt, muss
Prüfung ablegen. Sie schreibt dictando ihren Namen:
44J4/MJL'
schülerhaft, mühsam, langsam, unorthographisch.
Man suggerirt ihr , sie sei jetzt erwachsen , solle zu Grünsten
ihres früheren Arztes in Pest testiren. Sie schreibt dictando ein
— 27 —
legales Testament. Man diktirt ihr neuerlich ihren Namen. Sie
schreibt nun:
^» yC^vm^ c/osh tf/rut/t^s
Sie schreibt leicht und fliessend was man will, u. A. einen
Schuldschein über 500 fl.
Sie bekommt den Auftrag, erweckt Dr. H. aufzusuchen, ihm
die Hand zu reichen und „danke" zu sagen. Diese posthypnotische
Suggestion wird prompt erfüllt.
4. 11. Das Hypnotisiren ist Patientin lästig. Sie bereitet
sich zur Flucht vor. In II wird ihr suggerirt, nicht zu entweichen.
Dieser Gedanke kehrt in I nicht wieder.
Patientin wird aufgetragen, in II den Dr. K. zu ermorden und
ihr zu diesem Zweck ein Zahnbürstchen in die Hand gegeben. Sie
leistet anfangs Widerstand , entschliesst sich nicht ohne seelischen
Kampf zur That, schleicht sich aber dann wie ein Bravo an das
Opfer und sticht wüthend nach demselben, so dass man ihr Einhalt
gebieten muss.
Bisher bemühte sich der Experimentator , vor Patientin in II
leise oder in lateinischer Sprache mit der Umgebung zu sprechen.
Da sich constant zeigt, dass nur dann von ihr appercipirt wird, wenn
man an sie direkt das Wort richtet, so entfällt künftig meist diese
Vorsichtsmassregel.
5. 11. Versuch der Einwirkung medicamentöser Substanzen
in II, wie sie Prof. Luys beobachtet hat. Es werden der Patientin
nacheinander 1 — -5,0 Pilocarpin , Atropin , Apomorphin , Alkohol in
versiegelten Fläschchen umgehängt und der eventuelle Erfolg von
Prof. Dr. v. Schroff beobachtet. Es wird keine Reaktion wahr-
genommen.
9. 11. Der Versuch wird heute mit Tinct. Thymiani 5,0 in
versiegeltem Fläschchen wiederholt in II. Während der 10 Minuten
dauernden Application wird das Gesicht roth und turgescent, der
linke Bulbus etwas prominent und der Halsumfang steigt von 30
auf 33,5 cm. Vermehrte Pulsation der Gefässe tritt nicht ein. Der
Puls steigt von 90 auf 120.
Diese Erscheinungen werden bei späteren Versuchen nicht mehr
— 28 —
constatirt. Es ist anzunehmen, dass die beobachteten Thymianreak-
tionen einfach durch Druck des engen Kleides auf die Halsvenen zu
Stande kamen , da Patientin mit vorgestrecktem Kopf (das Fläsch-
chen wurde ihr an den Nacken gebunden, durch die Manipulationen
daselbst der Hals nach vorne an das enganschliessende Kleid ge-
drängt und durch die kataleptische Muskulatur daselbst fixirt) wäh-
rend der Dauer des Versuchs verharrte.
Eine erhebliche Pulsbeschleunigung kam auch sonst gelegent-
lich in II vor.
13. 11. In II wird Patientin suggerirt, ihr linker Arm sei
gelähmt. Derselbe bietet sofort das Bild einer schlaffen Lähmung,
ist anästhetisch, mit Transfert der Sensibilität auf die rechte Ober-
extremität; die tiefen Reflexe sind gesteigert, die vasomotorischen
Nerven gelähmt (Hautreize erzeugen sofort eine Hyperämie, die sich
erst nach langer Zeit ausgleicht).
Durch Suggestion der Arm sei wieder heil, stellt sich sofort
der Status quo ante her.
14. 11. 87. Demonstration im Verein der Aerzte in Steier-
mark 1).
Anwesend: 68 Mitglieder und 17 Gäste.
Lokal: Nervenklinik im allgemeinen Krankenhause.
„Nachdem die Sensibilität bei verhaltenen Augen geprüft und
die rechtsseitige Hemianästhesie constatirt worden ist, ersucht Prof.
Kr äfft Patientin, ihn ein wenig scharf anzusehen. Ein paar Secunden
darauf ist sie hypnotisch; bei halb gesenkten Augenlidern gleicht
ihr Gesichtsausdruck dem einer Maske , eine classisch starre Miene
ohne jede Reaktion, die Augen stier, starr, amaurotisch. Sie reagirt
nun nur mehr auf die Anreden des Experimentators und folgt nur
seinen Befehlen und Eingebungen; alle anderen Anwesenden sind
für sie Luft. Aus dem Auditorium an sie gestellte Fragen beant-
wortet sie nicht, an sie ergehende Aufforderungen befolgt sie nicht;
hingegen thut sie alles , was der Experimentator von ihr verlangt.
Prof. Kr äfft entblösst ihr den linken Arm und streicht auf
der Haut desselben in centrifugaler Richtung; eine totale Starrheit,
Coutraktur ist die Folge; durch Streichen in centripetaler Rich-
tung ist dieser Zustand sofort wieder beseitigt. — Reize, welche
in lucidem Stadium (I) nicht die geringste Reaktion ergaben, lösen
*) Aus dem Protokoll der XI. Monatsversarnmlung in: Oesterr. ärztl.
Vereinszeituncj.
— 29
nun die auffallendsten Reflexeontraktionen aus: so verursacht Streichen
des M. zygomaticus mit dem Stiel des Percussionshammers eine
deutliche Contraktion dieses Muskels, ebenso am Levator labii
u. dgl. ; ein in einiger Entfernung von der betreffenden Körperstelle
gehaltener Hufeisenmagnet macht die Gesichtsmuskeln deutlich
zucken, erregt, vor den Lippen gehalten, einen süffisanten Gesichts-
ausdruck u. s. w. ; an der hervorgestreckten Zunge bewirkt er
sichtlich starke Contraktionen der Zungenmuskeln und bewegt die
Zungenspitze nach jener Seite, wo er gehalten wird.
In plastische Attitüden gebracht, verharrt Patientin in den-
selben und nimmt den entsprechenden Gesichtsausdruck an. In die
Attitüde des Zornes gebracht, wird auch die Miene zornig, kehrt
aber sofort zur klassischen Maskenruhe zurück, sowie die Stellung
gelöst wird. In die Position einer Betenden mit erhobenen, gefalteten
Händen gebracht, heben sich die Augenlider und die Bulbi sind
auch nach oben gedreht; bei Lösung der Stellung wird die Miene
wieder traumhaft dement. Die Geberde der Abwehr erzeugt die
Miene des Schreckens; die vor die Nase gehaltenen gespreizten
Finger jene der Geringschätzung, die Bewegungen der Arme, als
würfe die Patientin Kusshändchen, geben ihrem Antlitz einen freund-
lichen Ausdruck.
Auf die Anrede des Experimentators: „Fräulein S., Ihr linker
Arm ist ja ganz lahm, versuchen Sie doch einmal, Ihren linken
Arm zu heben", bemüht sich dieselbe vergebens, dem Befehle Folge
zu leisten; der kurz vorher noch in kataleptischer Starre gewesene
Arm fällt, passiv erhoben, schlaff herunter und es ist eine vollständige
„schlaffe Lähmung" vorhanden, der Muskeltonus gleich Null, der
früher hyperästhetisch gewesene Arm vollständig gefühllos. Während
früher, im Zustande der kataleptischen Contraktur, Nadelstiche
empfunden wurden und um so heftigeres Stirnrunzeln zur Folge
hatten, je proximaler sie erfolgten , kann man jetzt beliebig am
Arme herumstechen; keine Reaktions- oder Schmerzäusserung gibt
sich in der mimischen Gesichtsmuskulatur zu erkennen, ja selbst
die stärksten elektrischen Pinselströme, die kein Simulant aushalten
würde, werden spurlos ertragen. Hingegen erweist sich jetzt die
Gegen-Extremität , welche früher anästhetisch war, als ästhetisch;
es ist ein vollkommener Transfert eingetreten, ein Transfert, der
sich auf die beiden oberen Extremitäten beschränkt, aber nur für
den Experimentator existirt; im Gesichte ist die Hemianästhesie
nach wie vor die gleiche geblieben. Es handelt sich nun darum.
— 30 —
die Lähmung wieder auszugleichen. Auf die Anrede des Experi-
mentators, er habe durch das Andrücken eines Siegelstöckels den
Arm wieder beweglich gemacht und die Lähmung sei geschwunden
(„Fräulein S. ! Ich kann Ihnen sagen, dass die Cur vollkommen
gelungen ist!"), bewegt die Patientin ihren Arm wieder, drückt ihm
über Aufforderung kräftig die Hand, und auch der Transfert, dieses
grösste Räthsel des psychisch-hysterischen Experimentes, ist wieder
geschwunden, die linke Extremität ist wieder empfindlich, die rechte
anästhetisch.
Nun führt Prof. Krafft eine Reihe von Suggestions-Experi-
menten vor, welche Transmutationen der Persönlichkeit der Kranken
zur Folge haben. Auf die Anrede: „Guten Tag, kleines Ilmchen,
was bist Du doch für ein putziges Mädchen, schon 2x/s Jahre alt,
wir wollen ein bischen spielen, komm!" benimmt sich die Patientin
als wäre sie noch ein ganz kleines Mädchen, setzt sich auf den
Boden hin, spielt mit der Puppe (einem Stück Brennholz), legt sie
in die Wiege (auf einen Sessel), gibt ihr Zucker (in Wirklichkeit
Salz) , isst selbst davon und sagt, er sei süss, lässt sich hierauf in
den Garten führen (im Kreise herum) , zupft von einem der an-
wesenden Herren, von dem der Experimentator behauptet, er sei
ein Ribiselstrauch, die Ribisel ab und führt die Hand zum Munde,
als ob sie dieselben essen wollte, schüttelt einen andern als Pflaumen-
baum, bückt sich und liest die Pflaumen auf u. s. w.
Wie mit einem Schlage ändert die Anrede : „Potztausend! wie
aber das Ilmchen rasch gewachsen ist; jetzt ist sie schon 8 Jahre
alt und ein Schulmädchen ! " die Situation. Patientin entgegnet auf
die Frage: wie alt bist du? „8 Jahre", setzt sich auf die Schul-
bank und nun entwickelt sich folgendes Frage- und Antwortspiel :
Prof.: Hast Du auch was gelernt?
Pat.: „Ja."
Prof.: Sag' mir einmal, woraus hat Gott die Welt erschaffen?
Pat. mit mädchenhafter Stimme: „Der liebe Gott hat die Welt
aus nichts erschaffen."
Prof. : Was hat der liebe Gott dann gemacht ?
Pat. denkt nach und sägt dann in derselben staccatirten Be-
tonung wie vorhin: „Der liebe Gott heiligte den siebenten Tag."
Prof.: Was war das für ein Tag?
Pat.: „Und das war ein Sonntag."
Prof. : Was weisst Du aus der Naturgeschichte ? Was ist der
Wolf für ein Thier?
— 31 —
Fat.: „Der Wolf gehört zu die Raubthiere."
Prof.: Und der Elephant?
Pat. schweigt.
Prof. : Kannst Du mir die Hauptstädte von Ungarn nennen ?
Pat. schweigt.
Prof.: Kannst Du mir die Hauptflüsse von Ungarn nennen ?
Pat.: .Die Donau, die Theiss " weiter bringt die Pa-
tientin trotz augenscheinlichen Nachdenkens nichts hervor.
Prof. : Kannst Du auch schreiben ? Schreib einmal Deinen
Namen auf!
Pat. nimmt Papier und Feder und schreibt mit kindlichen
Zügen und kindlichen Fehlern (g statt k u. s. w.) ihren Namen auf.
Weiter verlangt Prof. Krafft von ihr, sie möge mit ihm über
die Stiege heraufkommen, aber Acht geben, es seien zehn Stufen.
Er führt sie dabei an der Hand im Kreise herum. Patientin hebt
vorsichtig die Beine, als würde sie eine Stiege emporsteigen, genau
beim 11. Schritte schlägt sie ein gewöhnliches Tempo ein, als ginge
sie auf ebenem Boden.
Nun suggerirt ihr der Vortragende, sie sei gar kein Mädchen,
sondern ein Mann, sei zu den Soldaten gekommen und müsse exer-
ciren. Patientin richtet und streckt sich wie ein Soldat, bedient
sich eines dargereichten Regenschirmes als Gewehr, markirt Wache
stehen, präsentirt auf den Ruf: „Ein Offizier", schlägt an und schiesst
auf den Ruf: „Der Feind, der Feind!" trinkt ein Glas Wasser in
langen Zügen bis auf den Grund als Ungarwein aus , raucht ein
Zahnbürstel als Cigarre, fängt auf die Anrede: .,Du bist ja ganz
betrunken" zu schwanken an und wackelt fürchterlich, kaum zum
Erhalten , thut dann , als ob sie sich übergeben würde , trinkt ein
Glas Rothwein als Wasser, und steht auf die Versicherung, jetzt
sei Alles wieder gut, allein und gerade da wie zuvor.
Auf die weitere Suggestion, sie sei verheirathet und habe
schon ein kleines Kind , nimmt sie ein ihr gereichtes Kopfkissen
als Kind in die Arme, wiegt es in den Schlaf, singt ein ungarisches
Lied dazu, gibt dem Kleinen über Aufforderung scheinbar Brei zu
essen und wischt nach jedem Löffel voll am Kissen so herum, als
würde sie zur Seite geflossenen Brei zum Mäulchen des Kleinen
hineinwischen.
Als Beweis, wie eine Hypnotisirte zu einem Verbrechen miss-
braucht werden könne , dictirt ihr später Prof. Krafft einen Brief
in die Feder, der eine Verleumdung enthält, ferner eine Quittung
— 32 —
über tausend Gulden. Patientin schreibt alles flink und fehlerlos,
mit regelmässigen weiblichen Schriftzügen, wartet nach jedem nieder-
geschriebenen Dictate, das letzte Wort wiederholend, auf das
weitere, die reine Schreibmaschine, und weiss doch von Allem
nichts. Ihren Namen unterschreibt sie jetzt richtig, füessend und
deutlich.
Sodann gibt der Vortragende noch das Beispiel einer post-
hypnotischen Suggestion. Er redet der Patientin ein, sie solle beim
Verlassen dieses Zimmers einen an der Thüre lehnenden Regen-
schirm aufspannen und jenem Herrn geben, der am Kasten bei der
Marienstatue steht. Hierauf erweckt er die Patientin durch die An-
rede: „Fräulein S.! werden Sie doch wieder wach!"
Sie schlägt die Augen auf, hüstelt ein wenig und ihre bisher
maskenartig starren Züge gewinnen zugleich wieder Leben und Be-
wegung. „Ich bin müde."
Prof. Krafft streicht jetzt mit dem Griffe des Percussions-
hammers über dem Zygomaticus, er contrahirt sich nicht; der Mag-
net erzeugt jetzt keine Muskelcontrakturen, alle Erscheinungen der
Hypnose sind wieder geschwunden. Ueber Aufforderung des Vor-
tragenden, auf ihr Zimmer zu gehen, verlässt die Patientin das
Versammlungslokal; an der Thüre hält sie plötzlich inne, nimmt
den dort lehnenden geschlossenen Regenschirm, haftelt ihn auf,
spannt ihn, windet sich mitten durch die Anwesenden mit geöff-
netem, über dem Haupte gehaltenem Schirme durch und überreicht
den Schirm dem am bezeichneten Kasten lehnenden Dr. H. — "
16. 11. Versetzung in IL Anwesend Prof. Dr. Lipp. Suggestion
eines kalten Bades. Sofort allgemeiner Tremor, fibrilläre Zuckungen
der Oberextremitäten und Querfaltung der Haut in der Handwurzel-
gegend (Cutis anserina). Bei Suggestion warmen Bades schwinden
sofort diese Erscheinungen. Patientin wäscht und streicht sich mit
Wohlbehagen. Suggerirte Lähmung der linken Oberextremität,
gleich 14. 11.
17. 11. Patientin hat links Intercostalneuralgie. Dieselbe
wird in II mit Erfolg absuggerirt.
Bei Berührung der Bulbi treten keine Reflexe auf. Pupillen
wie immer in Hypnose , gleich , mittelweit. Patientin erklärt auf
Befragen, sie sehe den Experimentator. Die Augenstellung nach
unten und aussen ändert sich aber nicht. Bei verschlossenen Augen
behauptet sie nichts zu sehen.
Die Augen werden freigegeben. Auf die Frage, wie viel
— 38 —
Personen im Zimmer seien, zählt Patientin richtig 7. Nun wird
ihr mitgetheilt, die barmherzige Schwester sei soeben fortgegangen
(unwahr) und kehre erst in einer Stunde zurück. Gefragt, wie viel
Personen jetzt im Zimmer, zählt sie 6. Sie wird in I versetzt.
Die Schwester bleibt bei ihr, redet sie wiederholt an , ist aber für
sie Luft. Genau nach einer Stunde begrüsst sie die Schwester mit
den Worten: „Guten Morgen, Schwester, wo stecken Sie heute den
ganzen Tag?" Patientin beklagt sich heute über das häufige H)rp-
notisirtwerden. Sie fühle sich davon matt und angegriffen.
20. 11. Heute Versetzung in II behufs genauerer Prüfung
der Wirkung des Magnets. Der Magnet erzeugt kräftige Contraktur
in linker Oberextremität nach vorausgehendem Erzittern der Mus-
keln ; auf rechter (hemianästhetischer) Oberextremität entsteht nur
Tremor. Die linke Oberextremität wird nun durch Suggestion in
schlaffe Lähmung versetzt (s. 14. 11.). Es entsteht Transfert der
Sensibilität nach der rechten Oberextremität. Nun bewirkt der
Magnet rechts starke Contraktur, links bloss Tremor.
Die Lähmung wird durch Suggestion behoben. Sofort schwindet
der Transfert und sind die Reaktionen auf den Magnet wieder gleich
denen vor der suggerirten Lähmung.
Der Tremor, welchen der Magnet auslöst, lässt sich durch auf-
gelegte Kupfer- oder Silbermünzen sofort beheben, die Contraktur
durch centripetales Streichen.
Versuch einer Prüfung, ob eine differente Wirkung zwischen
Nord- und Südpol besteht.
Am rechten (hemianästhetischen) Arm bewirkt Nordpol nur
schwachen Tremor, Südpol schwache Contraktur. Am linken (sen-
siblen) Arm ruft Nordpol schwache, Südpol energische Contraktur
hervor. Dieser Versuch wird bei verbundenen Augen mehrmals
und jeweils mit dem gleichen Resultat wiederholt.
Nach Application des Magnets (2 — 5 cm entfernt) erzielt man
analoge Wirkung mit einem beliebigen Schlüssel. Auch die Grösse
und Stärke der Magnete erweist sich irrelevant.
Am 20. Abends hystero-epileptischer Anfall nach Aerger über
die Nachtwärterin. Damit sind die bisherigen erfolgreichen Sugge-
stionen (Pat. solle der Schwester mit Zärtlichkeiten nicht mehr lästig
fallen, von 8 — 6 Uhr Nachts schlafen) vernichtet.
24. 11. Versetzung in IL Suggestion von Taubheit. Voller
Erfolg. Magnet stellt Hörvermögen nicht her, wohl aber die Worte:
„■Sie hören", auf die Streckseite des linken Vorderarmes geschrieben.
v. Krafft-Ebing, Hypnotismus. 3. Aufl. 3
— 34 -
Erfolgreiche Suggestion quoad Schwester und Schlaf.
Suggestion linksseitiger Facialislähmung. Es entsteht rechts-
seitige Lähmung und linksseitige Anästhesie. Minimale faradische
Erregbarkeit: Kathode For. stylomastoideum rechts 7,8, Rollenabstand
links 9,4.
Weder der Nord- noch der Südpol des Magnets, noch andere
Hautreize erzeugen nun im Suggestionsgebiet Contraktur (weder
rechts noch links). Die Lähmung wird wegsuggerirt. Sofort ist
links die Sensibilität wieder hergestellt und rechts Anästhesie vor-
handen. Minimale faradische Reaktion nun rechts bei 8,3, links
9,4 Rollenabstand. Der Magnet erzeugt nun rechts blosse Spur,
links kräftige Contraktur. Ein Schlüssel ist links = Magnet, rechts
wirkungslos. Posthypnotische Suggestion, ein Heiligenbild von der
Wand abzuhängen und in ein anderes Zimmer zu tragen , wird
prompt besorgt. Gleich darauf über den Verbleib des Bildes be-
fragt, weiss Patientin nichts davon. Sofort in II versetzt, berichtet
sie, dass sie es in das Altarzimmer getragen habe. Warum? Das
weiss sie nicht. TJeberhaupt weiss Patientin nie etwas in I von
posthypnotischer Suggestion, wohl aber in II.
2. 12. Hystero-epileptischer Insult. Sofort wieder zudringlich
gegen die Schwester und schlechter Schlaf. Neue Suggestionen.
Bald darauf schreibt Patientin an die Schwester: „Mir ist so wehe,
es ist mir, als hätte ich etwas verloren, es ist mir so, als ob ich
Sie nicht mehr ansehen sollte, darum thut mir das Herz so wehe."
3. 12. In IL Suggestion 1 Stunde später Stuhl zu bekommen
(nach mehrtägiger Obstipation). Der Stuhl tritt präcis nach 1 Stunde
ein. (Temperatur 1. 12. Abends 39,3, 2. 12. Mittags 38,4, Nach-
mittags 39, Abends 39,2), Suggestion am 3. Abends 38, am 4. früh
37 zu messen. Die Temperaturen entsprechen dem suggestiven
Auftrag.
7. 12. In IL Suggestion Abends 9 Uhr 38,5 zu messen, am
8. früh 37. (Temperatur (3. 12. Mittags 36,4, Abends 37,1.) Die
Temperatur wurde am 7. Abends 8 ^2 Uhr gemessen. Patientin
wollte es nicht zulassen. Das Thermometer blieb liegen, zeigte um
83/4 Uhr 37,1 in axilla. Gegen 9 Uhr fügte sich Patientin willig.
Präcis 9 Uhr 38,5. Am 8. früh 37. Auf neue Suggestion in II
misst Pat. am 8. Abends 36.
8. 12. Constatirt wird die Wirkungslosigkeit des Magneten
in I, ferner, dass Patientin Worte, die man ihr auf die Volar-
oder Streckseite des linken Vorderarms, der linken Thoraxhälfte,
— 35 -
des linken Epigastriums, der Vorderseite des linken Schenkels und
der linken Wade schreibt, appercipirt.
Patientin wird nun in II versetzt. Sofort wirkt der Magnet,
aber nur im Bereich der der Empfindung nicht verlustigen Stellen.
Nach suggerirter linker Anästhesie (mit Transfert) tritt die Wirkung
rechts ein und bleibt links aus.
Ein Handtuch, das den Magnet bedeckte, Wasser, das in der
Nähe des Magnets stand und zum Händewaschen gereicht wird,
rufen sehr starke Contraktur hervor, aber nur dann, wenn sie
vom Experimentator gereicht werden. In fremder Hand
sind sie, gleichwie der Magnet, absolut wirkungslos. Diese
Versuche werden bei verbundenen Augen mehrmals mit gleichem
Erfolg wiederholt.
Schleicht sich der Experimentator mit dem Magnet von hinten
an die Patientin, so tritt jeweils sofort die Contraktur ein.
Nachdem sich Jener die Hände gewaschen und mit einem frisch
aus dem Kasten geholten Handtuch die Hände getrocknet hat,
reicht er der Patientin ein ebensolches. Nun bleibt die Contrak-
tur aus.
Der Experimentator schlägt nun ein Gong. Patientin , die
mit verbundenen Augen dasitzt, erklärt auf Befragen, einen Schall
zu hören. Das Gong wird von Dr. X in derselben Weise weiter-
geschlagen. Patientin hört auch diese Schläge, aber sie empfindet
die von fremder Hand ausgeführten unangenehm. Es wird ihr
Taubheit suggerirt. Sie erscheint taub, reagirt nicht mehr auf
gewaltige Gongschläge. Der Magnet stellt die Hörfähigkeit nicht her,
wohl aber das auf den Vorderarm geschriebene Wort „Höre".
9. 12. Versetzung in II durch Assistent Dr. Kornfeld. Die
Hypnose gelingt mühsam und nur unter Zureden des Professors,
Patientin möge sich hypnotisiren lassen. Dr. K. beherrscht nun
ganz die Kranke, der Professor vermag nicht mit ihr in Rapport
zu treten, auch nicht sie durch verbale Suggestion zu erwecken,
was Dr. K. mühelos gelingt.
Auffallender weise zeigt sich aber in den Händen des neuen
Experimentators der Magnet absolut wirkungslos. In sofortiger
neuer Hypnose durch Prof. Krafft wirkt der Magnet, sogar durch
die Kleider hindurch.
Von den anwesenden sechs Aerzten werden vier absuggerirt.
Erwacht, behandelt Patientin die vier Herren wie Luft. Einer der
Herren (Ungar) spricht Patientin ungarisch an. Sie erschrickt heftig
— 36 —
und bekommt einen hystero-epileptischen Insult, der durch II aber
sofort sich beseitigen lässt. Merkwürdig war nur, dass Patientin
die drei anderen deutsch sprechenden Herren nicht appercipirte.
12. 12. XIII. Monatsversammlung des Vereins der Aerzte.
Anwesend 104 Mitglieder und Gäste.
Nachdem dieselbe Patientin, wie in der Versammlung vom
14. v. Monats, vorgerufen war, wurden an ihr neuerdings Sensibilität,
Reflexe u. dgl. im nicht hypnotischen Zustand geprüft. Es erwies
sich wieder die linke Seite empfindlich , die rechte anästhetisch.
Tiefe Reflexe sind minimal oder doch sehr massig , das Anhalten
eines Hufeisenmagneten erregt nirgends Muskelcontraktionen, Körper-
temperatur in der Axilla gemessen 37° C.
Nach kurzem Reiben der Stirne der Patientin zeigt deren
Gesicht den charakteristischen maskenartigen Ausdruck der einge-
tretenen Hypnose; Patientin ist jetzt nur mehr auf zweierlei Reize
empfänglich : einerseits akustisch, andererseits sensibel auf der ästhe-
tischen linken Körperseite , beides aber nur für die Persönlichkeit
des Experimentators.
Prof. Krafft suggerirt ihr nun zunächst, sie werde heute Abend
nach 8 Uhr bloss 35,5° C. Temperatur messen1).
Sodann redete ihr der Vortragende ein, sie sei im Bade , das
Wasser sei aber zu kalt, sie werde sich erkälten (Patientin fängt
zu zittern an), sie werde einen Schnupfen bekommen von dem all-
zukalten Bade (Patientin niest einige Male heftig und natürlich, ein
gewiss unwillkürlicher Reflex), man habe aber nun heisses Wasser
gebracht und nunmehr sei es recht behaglich im Bade (Patientin
reibt sich wohlgefällig mit den Händen an den Schenkeln), da sei
plötzlich das warme Wasser wieder abgeflossen (Patientin zittert
heftig und zeigt Gänsehaut am Arme).
Patientin wird vom Vortragenden in die Position einer Betenden
versetzt. Sofort nimmt die bisher ausdruckslose Miene den ent-
sprechenden mimischen Ausdruck an, die Augen wenden sich nach
oben und die oberen Lider werden aufgeschlagen. Dieser Ver-
J) Die unmittelbar nach aufgehobener Sitzung gemessene Temperatur
war (um 8 Uhr) 37,1°, um 729 Uhr 36°, am folgenden Morgen 35,9°, Mittags
35,7° und erhielt sich dieselbe bis zum nächsten hystero-epileptischen Anfalle
auf subnormaler Höhe.
37 —
such gelingt nur dem Experimentator. Andere Herren
bemühen sich vergebens.
Nun legt ihr der Vortragende eine Anzahl weisser Blätter vor,
wie sie zu Receptnotirungen verwendet werden , und suggerirt ihr
auf einem derselben seine Photographie. Das betreffende Blatt nimmt
der Vortragende unter dem Vorwande, eine Dedication darauf zu
schreiben , wieder an sich, markirt es auf der Rückseite, mischt es
wieder unter die anderen Blätter und fordert die Patientin abermals
auf, die (suggerirte) Photographie sich herauszunehmen. Patientin
sieht sich die Blätter aufmerksam an , geräth in heftige Erregung
und schwitzt; schliesslich nimmt sie ein Blatt heraus, aber nicht das
richtige. Prof. Krafft muss durch Reiben an der Stirne ihre Hyp-
nose vertiefen, um einem hystero-epileptischen Anfalle vorzubeugen.
Nun suggerirt ihr der Vortragende Gefühllosigkeit im linken
Arme , und sofort ist der früher hyperästhetische linke Arm voll-
kommen anästhetisch geworden. Selbst der stärkste farado-elek-
trische Pinselstrom, den kein Simulant aushalten würde, wird ohne
jede Reaktion ertragen, hingegen ist der andere, vorhin anästhetische
Arm empfindlich geworden, was durch Proben erhärtet wird. Dieser
Transfert existirt aber nur für den Experimentator,
für andere Herren (aus dem Auditorium), welche mit der Nadel
sich davon überzeugten, existirte er nicht.
Ein auf der ästhetischen (nun rechten) Körperseite vom Ex-
perimentator in einiger Entfernung von der Plica cubiti angehaltener
Hufeisenmagnet erzeugt sofort heftige Muskelcontrakturen, ebenso
ein Magneteisenstab (rascher und kräftiger bei angehaltenem Süd-
pole) , endlich auch ein hölzerner Kinderspielwaarenmagnet.
Auf dem für ihn anästhetischen linken Arm vermag der Vor-
tragende keine Contrakturen zu erzielen. Hieraus geht hervor,
dass nicht die physikalischen Kräfte des wirklichen Magneten, son-
dern wesentlich die Hände des Experimentators das Erregende sind.
Immerhin erweist sich auch heute der Südpol wirksamer als der
Nordpol. Einige centripetal ausgeführte Handstriche des Experi-
mentators beseitigen die heftigste Contraktur sofort wieder, indess
andere Anwesende vergebens sich bemühen, durch
Streichen die Contraktur zum Schwinden zu bringen.
Das Streichen ist wirkungslos , sowie der Experimentator einen
fremden Handschuh anzieht, es wirkt, sowie er ihn wieder ab-
gezogen hat. Auf den ästhetischen Arm aufgeschriebene Zahlen
oder einfache Worte werden gelesen; vom anästhetischen Arme be-
— 38 —
müht die dazu aufgeforderte Patientin sich vergebens , gleichfalls
abzulesen.
Auf die weitere Suggestion, dass ihr selber linke Arm nun
auch gelähmt sei, tritt zur Anästhesie sofort auch motorische Läh-
mung; auf die Mittheilung, dass Alles wieder heil sei, sind Lähmung,
Gefühllosigkeit und Transfert wieder geschwunden. Patientin hebt
den Arm wieder auf Greheiss, wäscht sich die Hände und trocknet
sich dieselben mit einem Handtuch ab, welches über einem Magnet
gelegen war. Während des Abtrocknens werden die Hände steif
und hält sie das Handtuch in den contrahirten Fäusten, bis ihr
Prof. Krafft durch centripetales Streichen der Arme die Contraktur
wieder löst.
Auf die Suggestion hin, sie sei taub, geberdet sich die Pa-
tientin vollständig rindentaub, die stärksten Schläge auf einem Tam-
Tam berühren sie schlechterdings nicht; sie zuckt mit keiner Fiber.
Würde der Experimentator sie jetzt anblasen und dadurch aus der
Hypnose erwecken, so würde sie zusammenschrecken und vollständig
taub bleiben, zumal der Experimentator vergessen hatte, ihr vor-
her einzureden, sie werde binnen der und der Zeit wieder hörend
sein. Charcot hat angegeben, dass, wenn man den Patienten unter
solchen Umständen einen starken Magneten auf der ästhetischen
Seite eine Zeit lang ans Ohr hält, diese wieder hörend werden.
Prof. Krafft thut dies, so lange er den mehrere Kilo schweren
grossen Hufeisenmagneten emporgehoben zu halten im Stande ist;
nach einigen Minuten muss er, weil ihn die Kräfte verlassen, davon
abstehen und hat nichts erzielt, als eine Contraktur des Sternocleido-
mastoideus derselben Seite. Doch, wenn auch die Brücke der audi-
tiven Suggestion zwischen ihm und der Patientin vollständig ab-
gebrochen ist, der Hautgefühis-Suggestion bleibt die Patientin doch
noch unterworfen. Er schreibt auf ihren ästhetischen Arm lang-
sam und deutlich „Höre!" und siehe da, die Taubheit ist ver-
schwunden. Die Patientin beantwortet die Anrede: „Das ist schön,
dass Sie jetzt wieder hören" mit „Ja".
Zum Schlüsse noch eine posthypnotische Suggestion: Prof.
Krafft sagt der noch hypnotisirten Patientin, die fremden Herren
seien alle schon weggegangen, nur er, die beiden Herren Assistenten
und die barmherzige Schwester seien noch da. Hierauf erweckt er
sie aus der Hypnose. Patientin schlägt die Augen auf, weiss sich
an nichts zu erinnern , zählt über Aufforderung die anwesenden
Personen, sich selbst als die fünfte und geht auf ihr Zimmer, ohne
— 39 —
die mindeste Notiz von den Anwesenden zu nehmen, welche ihr
zwar den Weg zur Thüre frei lassen, aber ungenirt untereinander
sprechen, der Patientin „gute Nacht" zurufen und ab und zu an sie
anstreifen. Patientin wischt sich ganz unbefangen an den Berüh-
rungsstellen, wie wenn sie sich angestossen hätte.
16. 12. Patientin war in letzter Zeit wiederholt in einem
traumhaften unbewussten Zustand mit ganz verglasten Augen von
dem Wartpersonal gefunden worden (Autohypnose?), aus welchem
sie nach Minuten bis Viertelstunden, wie aus tiefem Schlafe, zu
sich kam.
Heute wurde sie Nachmittags 2 Uhr von 2 Mitpatientinnen
auf dem Schlossberg aufgefunden. Sie taumelte, sah verstört aus,
erbrach mehrmals Rothwein, schlug dann um sich, begann zu schreien
und wurde mühsam nach dem nahen Spital zurückgebracht. Sie
erklärte sterben zu wollen, sie könne nicht länger so leben. Ins
Bett gebracht, klagt sie heftiges Brennen in der Magengegend und
im Schlund, wirft sich vor Schmerzen herum, schreiend, um sich
schlagend. Sie behauptet Datura Strammonium gepflückt und sich
damit vergiftet zu haben. Dort, wo sie war, wächst keine Datura,
überdies entspricht der Zustand nicht dem einer Strammonium Ver-
giftung. Gleichwohl collabirt Patientin zusehends (Puls 120, matte
Herztöne, tief blasses collabirtes Gesicht, kalte Extremitäten).
Die Vermuthung geht auf Autosuggestion bevorstehen-
den Todes durch vermeintlichen Genuss vom Strammonium, in
Autohypnose.
Der Collaps dauert trotz Reizmittel fort. Patientin macht
Aeusserungen: „Ist es wirklich so schwer zu sterben?" schreibt auf
einen Streifen Papier: „Ilma stirbt, bete für sie." Man versucht sie
durch Hypnotisirung aus diesem Zustand zu befreien und dann in I
überzuführen. Es gelingt mühsam, sie in II zu bringen. Man sug-
gerirt ihre baldige Genesung, Schlaf bis 7 Uhr, dann Abendessen
und neuerdings Einschlafen und gesundes Erwachen am 17. früh.
Sofort schwindet der Collaps , alle Suggestionen erfüllen sich , nur
schläft die Patientin bis 73/-i, nimmt dann ihr Abendessen und schläft
dann wieder.
17. 12. Heute früh erwacht Patientin ganz erstaunt dar-
über , dass sie im Bett sei. Sie weiss nur , dass sie am Vortag
Nachmittags eine Pflanze fand, die sie für Datura hielt, von der sie
einige Tage vorher gelesen, einen Theil des Stengels kaute, um zu
sterben.
40
18. 12. Vor 3 Tagen war der Patientin Assistent Dr. Hellwig
als auf 3 Tage verreist in II absuggerirt worden.
Dr. Hellwig macht nach wie vor seine Visiten bei der Patientin.
Sie sieht und hört ihn nicht, ist aber ganz verstört und entsetzt,
weil sie unsichtbar die Thüre gehen sieht, Schritte hört, in ihrer
Gegenwart von unsichtbarer Hand die Blätter eines Buchs um-
geblättert werden.
Einmal erscheint Dr. Hellwig absichtlich bei Patientin mit
Cigarre. Sie sieht die brennende Cigarre und Rauchwolken, ist über
die Phänomene ganz verblüfft und meint, wenn diese Geistereien
fortdauern, werde sie noch verrückt. Sonst bietet ihr psychischer
Zustand während dieser 3 Tage nichts Auffälliges.
Nach Ablauf der suggerirten Zeit, nämlich heute bei der
Frühvisite, sieht sie sofort Dr. Hellwig und begrüsst ihn als zu-
rückgekehrt.
18. 12. Anwesend Prof. v. Jaksch, v. Helly, Klemensiewicz,
Rembold, Rollet, v. Schroff, Dr. Anca, Birnbacher, die Assistenzärzte.
Prof. v. Krafft versetzt Patientin in IL Dr. Birnbacher con-
statirt: Pupillen gleichweit, 3 mm, Reaktion auf Licht sowohl direkt
als consensuell prompt vorhanden. Der intraoculäre Druck scheint im
Moment der Untersuchung gesteigert. Wenn man mit einem Gegen-
stand direkt auf das Auge losfährt, entsteht keine Bewegung der Lider.
Schlagen des Gong macht keine Reaktion. Um zu beurtheilen,
ob Patientin den Experimentator hört, erzählt er Details fatalster
Art aus ihrem Leben. Keine mimische Reaktion. Prof. Rollet ver-
sucht Hervorrufung mimischer Reaktionen durch plastische Attitüden
ohne Erfolg, ebenso erfolglos Contrakturen durch Streichen der
Haut. Nun tritt der Experimentator in Aktion gegenüber der bis-
her ganz reaktionslosen Patientin. Mimische Reaktionen und Streich-
contrakturen gelingen sofort. Experimentator suggerirt Prof. Rol-
lets Hände als die seinigen — kein Erfolg. Contrakturen vermag
nur der Experimentator zu lösen. *
Prof. Rollett producirt 5 ganz gleich aussehende, gleich grosse
und schwere Holzcylinder, die er gezeichnet hat.
A. Versuch an linker (sensibler) Oberextremität.
Cylinder 0 = 0
3 = starke Contraktur durch Streichen gelöst
4 = o „ ., „ „ n
1 = 0
2 = 0.
— 41 —
B. Versuch an linker, durch suggestiven Transfert anästhetisch
gemachter Oberextremität.
Cylinder 0 = 0
4 =0
3= 0
2 = 0
1 = 0.
C. Versuch an durch suggestiven Transfert empfindlich ge-
machter rechter Oberextremität.
Cylinder 0 = 0
4 = 0
3 = leichte Contraktur
2 = 0
1 = 0.
D. Versuch an wieder empfindlich gemachter linker Ober-
extremität.
Cylinder 0 = 0
4 := 0
3 = starke Contraktur
1 = ..
Nach den Versuchen gibt Prof. Rollett bekannt, dass 0 und 4
einen Harzkuchen, der mit Bleiglätte dem Gewicht der anderen
Cylinder egalisirt war, 1 ein mit Bleischroten gefülltes Glasrohr,
2 einen Messingstab und 3 einen starken Magnet enthielten.
Patientin wurde durch Suggestion taub gemacht. Prof. v. Jaksch
schrieb ihr auf den Arm: Höre! Hierauf reagirte die Patientin eben-
sowenig, wie auf das Streichen des in Muskelcontraktur befindlichen
Armes durch einen Fremden. Nun schrieb ihr Prof. Krafft auf den
Vorderarm: Höre! Es fruchtete auch nichts; dasselbe noch einmal
gethan half wieder nichts. Jetzt war Prof. Krafft in grosser Ver-
legenheit; er untersuchte die Sensibilität, sie war vorhanden. Nun
schrieb er auf den Oberarm : Höre ! und sofort kehrte das Gehör
wieder. Wahrscheinlich war die Stelle des Vorderarmes durch das
Herumhantiren in ihrer Sensibilität schon abgebraucht und ermüdet.
Zum Schluss klebt der Experimentator der Patientin zwei
Stückchen englisches Pflaster auf den Rücken und suggerirt sie als
Vesicantia1). Ausserdem zeichnet er mit dem Percussionshammer
') Diese Suggestion blieb erfolglos.
42
ein Kreuz 7 cm lang auf die Haut über dem Biceps des linken Arms
und suggerirt Patientin, dass am folgenden Tage daselbst um 12 Uhr
ein rothes Kreuz erscheinen solle. Versetzung in I.
19. 12. Die Möglichkeit, dass diese Suggestion sich erfülle,
wird bezweifelt. Um 11 Uhr heute wundert sich Patientin, dass
sie am rechten Oberarm eine juckende, excoriirte Stelle habe. Sie
könne sich doch nicht erinnern, sich daselbst verletzt zu haben. Sie
will Morgens beim Waschen schon etwas bemerkt haben. Die Unter-
suchung ergibt, dass am rechten Arm an ganz homologer Stelle, wie
es am Vortag links markirt war, ein rothes, 7 cm langes Kreuz mit
theilweise durch Kratzen excoriirter Fläche zu sehen ist. Der Quer-
balken ist weniger ausgebildet und verblasst bis 5 Uhr Abends bis auf
ein 1 cm breites, excoriirtes Stück des linken Kreuzarms. Um 5x/2Uhr
wird Patientin in II versetzt und ihr suggerirt, punkt 7 Uhr Abends
Sackstrasse Nr. 14 im 1. Stock (Lokal des Vereins der Aerzte) zu
erscheinen. Dort werde sie den Professor treffen, ein Fenster öffnen
und dann ein ungarisches Lied singen. Wieder in I versetzt, arbeitet
Patientin unbefangen und heiter fort. Mit dem Glockenschlag 7
wird sie unruhig, setzt sich den Hut auf und verlangt tief aufathmend
und mit auffällig veränderter Miene von der Schwester, ihr die Thür
zu öffnen. Befragt, wohin sie wolle, antwortet Patientin, sie müsse
fort. Sie wird immer ungeduldiger, und jede Verspätung im Oeffnen
der Thüre scheint ihre Erregung zu steigern. Raschen Schrittes eilt
Patientin ihrem Ziele zu, ohne mit dem sie begleitenden Arzt ein
Wort zu wechseln oder sich über dessen Begleitung zu wundern.
Auf wiederholte Fragen gibt sie nur unwillig Antwort und fragt
beim Cafe Polarstern, wo ein Dienstmann sei, bei dem sie die Sack-
strasse erfragen könne.
Auf die Weisung des Arztes , sie möge geradeaus auf den
Hauptplatz gehen und dort in die Strasse rechts einbiegen , geht
Patientin sehr rasch vorwärts, vom Arzte streng im Auge behalten.
Ecke der Sack- und Sporgasse sucht Patientin die Orientirungstafel
und eilt, die Hausnummern lesend, bis zum bestimmten Haus, die
Stiege hinauf bis ins Vorzimmer; hier überlegt Patientin, welcher
der richtige Eingang wäre und trifft genau den in das Versamm-
lungslokal.
Patientin schreitet unbekümmert um die dort versammelte
Menge auf ein Fenster zu, zieht den Vorhang auf, öffnet das Fenster
und singt ein magyarisches Liedchen. Professor nimmt nun Pa-
tientin beim Arm, sie den Anwesenden vorstellend. Patientin sieht
— 43 —
ganz verdutzt, ängstlich um sich, wird durch das Erblicken eines
ihr bekannten Arztes etwas ruhiger, entfernt sich wieder, nachdem
Professor sie entlassen, in Begleitung des Assistenten, der ihr hier-
her gefolgt war. Kaum ist Patientin aus dem Lokal hinausgetreten,
so weiss sie die Stiege, auf der sie früher heraufgekommen, nicht
mehr zu finden. Fragt: „Wo bin ich denn und wie bin ich her-
gekommen?" Wird sehr ängstlich und aufgeregt.
Patientin weiss den Namen der Strasse und die Hausnummer
nicht mehr, weiss nicht, welche Richtung sie einzuschlagen habe,
erinnert sich auch auf die Vorgänge im Versammlungslokal nicht.
Hoch oben in der Sporgasse weiss Patientin erst, wo sie ist,
und zeigt auf den Schlossbergdurchgang.
Patientin verlangt nun Aufklärung darüber, wo sie gewesen,
und meint zur Antwort des Arztes, dass sie beim Professor war,
„der Herr Professor wird recht böse werden."
Auf die Begleitung des Arztes und die Angabe der Strasse
kann sich Patientin auch nicht mehr erinnern und der sie be-
fragenden Schwester über ihre Entfernung keinerlei Auskunft geben.
22. 12. Versetzung in II. Patientin weiss alles im posthyp-
notischen Zustand Geschehene, aber nicht das Mindeste davon in I.
Eine Mitpatientin hat heute in der Zeitung von den Vorgängen im
ärztlichen Verein gelesen und die Indiscretion gehabt, es Patientin
mitzutheilen. Patientin ist dadurch sehr erregt, bestürzt und wankend
in ihrem Vertrauen zum Professor geworden.
Die suggerirte rothe Stelle in Kreuzesform, welche an homo-
loger Steile im hemianästhetischen Bezirk auftrat, macht trophoneu-
rotische Veränderungen durch im Sinne einer oberflächlichen Necrose
der Haut. Auf dem scharf abgeschnittenen Schorf und seiner Um-
gebung besteht Schmerz- und Tastempfindung im Bereich von 2 cm,
während am ganzen übrigen Arm die Sensibilität fehlt. Es handelt
sich um Transfert, denn auf der gleichnamigen Stelle links fehlt
die Sensibilität in Kreuzesform (anästhetischer Längsstreif 9 cm
lang und 5 cm breit, Querstreif 7 cm lang und 2 cm breit).
24. 12. Die Excoriation verheilt mit ganz leichter Narben-
bildung. Der bisher constant gefundene Transfert ist geschwunden,
die Sensibilität in Statu quo ante.
25. 12. Patientin hat (offenbar in autohypnotischem Zustand)
ein Leintuch escamotirt. In Zustand II versetzt, weiss sie nichts
von dessen Verbleib.
Posthypnotische Suggestion, der Schwester mitzutheilen, vro
— 44 —
das Leintuch sich befinde. Die Suggestion wird wirksam, bewirkt
aber neuerliche Autohypnose. In dieser weiss Patientin, was sie
in früheren autohypnotischen Zuständen gemacht. Sie gesteht der
Schwester unter Thränen , dass sie , ohne zu wissen warum , das
Leintuch ins Feuer geworfen habe.
Vermuthung, dass Autohypnose ein III. besonderer
Zustand sei und zwar mit zwei Modificationen, je nach-
dem er spontan oder durch posthypnotische Suggestion
entstanden ist.
26. 12. Heftige Diarrhöe mit Colik. Versetzung in IL Sug-
gestion: Diarrhöe höre auf und Bestellung von geformtem Stuhl
Abends 8 Uhr. Patientin wird scharf überwacht. Keine Colik mehr,
keine Stühle. Abends 8 Uhr fester Stuhl, von 5 Aerzten controlirt.
30. 12. In II Suggestion, Abends 8 Uhr genau 37,0 zu
messen; pünktliche Erfüllung.
31. 12. In II Suggestion, heute Abend 38,5, Morgens früh
37,0 zu messen.
Ein gegen Abend aufgetretener hystero-epileptischer Insult
durchkreuzt die Suggestion und macht sie unwirksam.
1. 1. 88. Patientin mass gestern Abend 36,9, heute früh 38.
4. 1. In II erfolgreiche Absuggerirung von Kopfweh. Sug-
gestion, Abends 8 Uhr 36,0 zu messen.
5. 1. Temperatur gestern Abend 36,6, heute früh 36,0.
Patientin geräth neuerlich öfters in Zustände von Autohyp-
nose, wahrscheinlich durch Pixiren von Gegenständen , besonders
glänzenden.
7. 1. Um den psychischen Zustand in posthypnotischer Sug-
gestion genauer zu studiren, erhält Patientin heute in II den post-
hypnotischen Auftrag, Abends Q3I± Uhr in der Wohnung des Pro-
fessors mit der Wärterin zu erscheinen, um dort für sie bereit
liegende Lektüre abzuholen.
Abends 6^2 Uhr hystero-epileptischer Insult aus Kummer
über die bevorstehende Entfernung der geliebten barmherzigen
Schwester.
Es gelingt, durch Versetzung in Hypnose den Anfall zum
Schwinden zu bringen. Patientin erwacht spontan aus II um 63/4Uhr.
Nach gemachter Toilette wird sie nachdenklich, unruhig, fängt an
zu weinen, weil sie etwas vergessen habe. Sie ringt nach Erinnerung,
wird aufgeregt, stampft unwillig den Boden. Zur barmherzigen
Schwester sagt sie: „!So theile mir doch mit, was ich thun soll —
— 45 —
gehen wir — ich weiss ja nicht wohin? Du weisst doch, dass ich
vergessen habe, was ich thun soll.'" Allmählig geräth Patientin in
einen eigenthümlichen, der Aussenwelt entrückten Zustand (Auto-
hypnose ?) , in weichein sie vor sich hinstarrt. Nach etwa einer
halben Stunde kommt Patientin zu sich, reagirt wieder auf Anreden,
sagt zur Schwester: „Gehen wir, ich fühle, dass du es weisst, was
ich thun soll; so sage doch, wohin ich gehen soll. Du weisst es,
ich aber habe es vergessen."
Patientin wird wieder unruhig, müht sich ab, die Erinnerungs-
spur aufzufrischen. Um 81/* Uhr wird sie von Dr. K. in II ver-
setzt und ihr suggerirt, der Professor lasse sie grüssen, untersage
ihr ferneres Grübeln und befehle ihr, die Nacht über gut zu schlafen.
Um 8]/-2 Uhr geht Patientin zu Bett und schläft die ganze Nacht
ohne Unterbrechung.
8. 1. Die gestrige posthypnotische Suggestion wird heute in
II wiederholt und zwar auf präcis 6 Uhr Abends.
Patientin ist bis kurz vor der bestimmten Zeit auf der Ab-
theilung beschäftigt, unterhält sich mit den Mitpatienten. Plötzlich
verlässt sie diese, eilt in ihr Zimmer, um den Hut aufzusetzen, und
geht mit ernster Miene auf die Schwester zu mit den Worten :
„Also gehen wir, liebe Schwester!"
Auf die Frage wohin, antwortet sie: „Sie wissen schon, kommen
Sie nur mit."
Mit deutlicher Ungeduld verharrt Patientin an der Thüre, um
dann eiligen Schrittes ihrem Ziele zuzugehen. Unterwegs spricht
Patientin ab und zu mit der Schwester, ohne aber auch nur ein
.Wort über die Suggestion zu verlieren; nur in der H Strasse
erkundigt sie sich nach der G Strasse, der Wohnung des Pro-
fessors. Die Hausnummern der G Strasse links ablesend, geht
Patientin am Hause vorüber, wird sichtlich verlegen, kehrt wieder
um und bleibt am bestimmten Hause stehen, nach einer Ordinations-
tafel suchend. Patientin überlegt eine Weile, merkt die an ihr vor-
übergehenden Assistenten nicht, spricht nichts zur Schwester und
zieht kräftig am Glockenzug.
Im Hausflur angelangt, eilt sie die gerade gegenüberliegende
Stiege hinauf.
Patientin erscheint mit verglastem Auge, wie schlaftrunken,
in ganz hypnotischer Verfassung im Zimmer, theilt mit, sie möchte
Bücher abholen. Zum Sitzen veranlasst, kennt sie zwar die an-
wesenden Aerzte (Dr. Hellwig, Kornfeld, Anca, Professor), ant-
— 46 —
wortet auf ihre Fragen, nimmt aber von ihnen weiter keine Notiz,
schaut traumhaft, verwundert um sich. Als man ihr Wein servirt,
wird sie unruhig, will fort: sie sei ja bloss zum Bücherholen hier,
nicht zum Weintrinken. Im Salon zeigt man ihr Bilderwerke ; sie
macht ganz läppische Bemerkungen über die einzelnen Bilder,
blättert mechanisch in den Büchern herum, scheint nur zu per-
cipiren , nicht aber zu appercipiren. Als man im Nebenzimmer
Musik macht, begleitet sie den Rhythmus mit taktmässigem Wiegen
des Kopfes.
Patientin spricht, wenn man sie anredet, aber spontan fast gar
nicht. Einer fortlaufenden Gedankenreihe ist sie nicht fähig. Sie
verliert sich im Schauen; nach einer Weile sagt sie zur Schwester:
„Gehen wir fort."
Aufgefordert zu bleiben und noch andere Bücher anzusehen,
verliert sie sich wieder in Anstarren von Büchern , in denen sie
automatisch Blatt um Blatt umwendet.
Episodisch vertieft sich die Autohypnose so, dass sie von
Allem, was um sie vorgeht, keine Notiz nimmt. Man kann ihr bei-
spielsweise ins Gesicht schauen, sie gewahrt es nicht. Was man
ihr sagt, führt sie wie ein Automat aus.
Man constatirt, dass Patientin von einem vor mehreren Wochen
ausserhypnotisch stattgefundenen Abholen von Büchern im Hause
des Professors keine Kenntniss hat. In der Vermuthung, dass sie
in autohypnotischem Zustand seiner Zeit von Pest fort sei, wird sie
bezüglich der Umstände ihrer Reise von Pest nach Graz gefragt.
Bisher wusste sie darüber weder im luciden noch im experimentell
hypnotischen Zustand etwas.
Heute weiss sie Bescheid. Sie berichtet, dass sie die bezüg-
liche Suggestion, nach Graz zu gehen, von der Schwester Silvestra
(in der Hypnose?) erhielt. Sie sei bis Kis-Czell zu Fuss gegangen,
habe dazu etwa 11 Tage gebraucht. Von da sei sie mit der Bahn
nach Graz gefahren, sei dort im goldenen Engel abgestiegen und
habe 3 Tage dort logirt.
Alle Details ihres Grazer, Aufenthalts bis zur Arretirung weiss
sie nicht, offenbar, weil Episoden des luciden Zustandes, für welche
im Autohypnotismus die Erinnerung fehlt, unterliefen.
So weiss sie, dass sie im Mutterhaus der barmherzigen Schwestern
sich vorstellte (thatsächlich). (Man erfährt, dass sie dort auffällig
war, traumhaft verloren.) Da sie dort nicht Aufnahme fand, sei sie
zu den Ursulinerinnen gegangen.
47 —
Die weitere Prüfung des Bewußtseins ergibt, dass Patientin
von Allem, was sie im luciden und im experimentell hypnotischen
Zustand erlebt hat, jetzt nichts weiss. Wohl aber erinnert sie sich
der Vorgänge der neulichen posthypnotischen suggestiven Situation
im Verein der Aerzte bis zum Rückweg in die Sporgasse, wo offenbar
Patientin nach vollzogenem Suggestionsauftrag wieder in die lucide
Phase überging. Patientin singt auf Ersuchen eine Strophe des
neulich im Vereinslokale gesungenen ungarischen Liedes. Sie er-
innert sich überhaupt aller bisherigen posthypnotischen Suggestionen.
Sie weiss, dass sie neulich (in Autohypnose) ein Päckchen Schriften
aus dem Spital trug und am Schlossberg versteckte. Sie erinnert
sich der „Daturavergiftung" mit allen Details. Sie habe es aus
Taedium vitae gethan. Sie erinnert sich nicht des damaligen Rück-
transports in das Spital. Patientin erinnert sich nicht, des Professors
Uhr (mit der sie gestern hypnotisirt wurde) schon einmal gesehen
zu haben. Sie greift in diesem posthypnotischen Suggestiv-
zustand nicht nach derselben. Patientin ist in heutiger Situa-
tion, wie in experimenteller Hypnose, ohne Initiative und Willen.
Sie reagirt nur , wenn das Wort an sie gerichtet wird. Sie hat
aber Erinnerung für die Thatsachen, die in diesem Zustand erlebt
wurden. So weiss sie z. B. , dass sie jetzt das dritte Glas Wein
vor sich stehen hat. Patientin wird verabschiedet um 73/<t Uhr und
erhält den Auftrag, morgen früh bei der Visite die erste Strophe
des ungarischen Liedes den Aerzten zu singen.
Patientin verlässt mit der Schwester des Professors Haus ; vor
dem Thore angelangt, sucht sich Patientin zu orientiren, weiss
nicht, nach welcher Seite sie sich wenden soll, blickt die Schwester
erschreckt an und fragt, wo sie sei. Die Aufklärungen der Schwester
und der Aerzte beruhigen Patientin nicht; sie wird immer unruhiger,
ängstlicher, macht der Schwester Vorwürfe, packt sie fest am Arm,
sie beschuldigend , irgend etwas gegen sie (Patientin) im Schilde
zu führen. Patientin erinnert sich nicht, beim Professor gewesen
zu sein , wundert sich , in ganz unbekannter Gegend zu sein , will
sich von der Schwester losmachen, weil diese sie auf den Bahnhof
führen wolle.
Auf vieles Zureden der Assistenten scheint Patientin etwas
ruhiger zu werden, schliesst sich ihnen an, aber erst im Stadtpark
weiss sie, wo sie sich befindet, indem sie aufs Paulusthor zeigt.
Patientin ist es äusserst unbehaglich und drückend , nicht zu
wissen, wie sie plötzlich auf die Strasse gekommen. Zu Hause an-
— 48 —
gelangt, schlägt sie zornig die Thüren zu, ist über die Schwester
äusserst ungehalten, spricht mit ihr kein Wort.
Genaue Ueberwachung der Patientin erscheint nothwendig, da
sie aus Verzweiflung über die unaufgeklärte Situation auf der
Strasse sich ein Leid zufügen könnte. Dies geht auch aus ihren
Aeusserungen dem Dr. H. gegenüber hervor, dem sie erklärt, nicht
länger so leben zu können; denn entweder sei sie verrückt oder
nicht wie andere normale Menschen angelegt.
Mit vieler Mühe wird Patientin endlich beruhigt und ihr ver-
sprochen, morgen darüber Aufklärung zu geben.
9. 1. Patientin bekommt heute Aufklärung über die gestrigen
Vorkommnisse und beruhigt sich. Sie weiss in I nichts von den-
selben und schildert ihre Verlegenheit, wie sie sich gestern Abend
(in I) auf der Strasse befand, ohne zu wissen, wie sie aus dem Spital
dahin kam.
Patientin weiss aber auch in II heute nichts von den gestrigen
Erlebnissen in posthypnotischer Suggestion.
Wahrscheinlich besteht für die Zeitdauer einer solchen ein
III. Zustand , der eintritt , sobald die posthypnotische Suggestion
aktuell wird und der schwindet, sobald die posthypnotische Sug-
gestion erfüllt ist.
Dieser III. Zustand wäre als ein auto hypnotisch er
aufzufassen, und das Be wusstwerden der bis zur Zeit der
Ausführung latenten posthypnotischen Suggestion würde
neuerdings (auto)hypnoti sirend wirken.
In III gegebene Suggestionen scheinen unwirksam, wenigstens
kam die für heute in I zu leistende Suggestion der Absingung des
2mal in III gesungenen ungarischen Liedes nicht zur Ausführung.
Da heute die geliebte barmherzige Schwester das Spital ver-
lässt und dies nicht ohne heftige Gemüthsbewegungen und Gefahr
von Anfällen abgehen kann, bekommt Patientin in II die Suggestion,
um 12 Uhr Mittags einzuschlafen und ununterbrochen bis 10 Uhr
früh des andern Tages zu schlafen. Beim Erwachen hat sie 38,0
zu messen. Patientin weigert sich, nimmt aber die als Befehl wieder-
holt gegebene Suggestion schliesslich an.
Präcis 12 Uhr schläft Patientin auf dem Stuhl ein. Sie wird
später entkleidet und zu Bett gebracht. (Man hatte vergessen, ihr
„Schlaf, ausgekleidet, im Bett" zu suggeriren. — Die hypnotischen
Suggestionen werden immer buchstäblich befolgt.) — Patientin schläft
22 Stunden in continuo.
- 49 —
10. 1. Schlag 10 Uhr erwacht Patientin. Ihr erstes Wort
ist: „Schwester, bringen Sie den Thermometer.'' Die Messung er-
gibt 37 statt 38. Patientin klagt Kopfweh, ihr Verhalten ist
sonderbar, traumhaft, unwirsch. Patientin ist nicht orientirt. Das
Ganze macht den Eindruck, als ob sie noch in durch posthypnotische
Suggestion erzeugtem III sich befinde. Sie wird in II versetzt und
ihr das Kopfweh absuggerirt. Nach Ueberführung in I ist sie so-
fort wohl, mimisch frei, wundert sich aber höchlich, im Bett zu
sein , sie sei doch vorhin noch auf dem Stuhl gesessen. Ihr ange-
botenes Frühstück weist sie zurück mit dem Bemerken, sie habe ja
erst zu Mittag gegessen. Es zeigt sich, dass Patientin glaubt, es
sei Montag (0. 1.) Mittag.
Nur mit Mühe überzeugt man sie, dass sie 22 Stunden ge-
schlafen hat.
11. 1. Drohender Anfall. Versetzung in IL Suggestion, keine
Anfälle mehr zu bekommen. Erfolgreiche Absuggerirung von Car-
dialgie, Dyspepsie.
12. 1. Autohypnose mehrere Minuten lang durch Anstarren
der Gasflamme.
14. 1. Gestern in II erfolgreiche Suggestion, am 13. Abends
38,5, heute früh 37 zu messen.
18. 1. In II Absuggerirung von bedenklichem Taedium vitae.
21. 1. Patientin vermisst eine auf ihre Bitte ihr geschenkte
Photographie des Professors. Sie glaubt sie entwendet, was nicht
denkbar ist. In II weiss sie auch nichts über deren Verbleib. Mos-
lichkeit, dass Patientin sie in III irgendwohin gesteckt hat. Heute
in II Auftrag, um 51/* Uhr die Photographie zu suchen und an
ihren alten Platz zu stellen. Präcis 51/* Uhr kommt Patientin aus
ihrem Zimmer und meldet, die Photographie sei wieder am alten
Platz. Patientin ist in I. Wenn sie, wie es wahrscheinlich, in III
war, so war sie es nur sehr kurze Zeit.
27. 1. Patientin wurde heute Nacht in autosomnambulem
Zustand vorgefunden. Sie hatte die Füsse durchs Fenstergitter ge-
steckt. Heute bei Morgen visite wird Patientin im Fauteuil gefunden,
das Gesicht in die Hände gestützt. Sie reagirt auf keine Anrede
und sieht die eingetretenen Aerzte nicht. Verglaster Blick, katalepti-
former Zustand der Muskulatur.
Der Professor sitzt ihr gegenüber und beobachtet sie. Plötzlich
nimmt das bisher maskenartige Gesicht einen leuchtenden Ausdruck
an. Patientin hat das Tiktak der Uhr des Gegenübersitzenden per-
v. Krafft-Ebing, Hypnotismus. 3. Aufl. 4
— 50 -
cipirt. Sie fährt ganz traumhaft nach der Uhr, hakt sie aus und
versteckt sie in einer Spalte ihres Lehnsessels.
Dr. A. setzt sich nun der Patientin gegenüber. Sie stösst ihn
aber mit dem Fusse weg.
Dr. M. hebt nun seine Uhr an das linke Ohr der Patientin ;
nun folgt sie der Spur, macht geschickt die Uhr los und versteckt
sie im Sack ihrer Kleider. Dasselbe passirt dem Dr. K. mit der
Uhr. Sie hat nun beide Uhren im Sack, geht an die geschlossene
Zimmerthüre und klopft an, bis man sie öffnet; draussen auf dem
Corridor klopft sie an die zweite verschlossene Thüre ; diese wird
geöffnet und Patientin geht ganz planmässig vor bis zu den dort
in Kübeln stehenden Oleanderbäumen, gräbt mit den Fingern die
Erde auf und verscharrt in derselben die Uhren.
Patientin kehrt, ohne ihre Begleitung wahrzunehmen, in ihr
Zimmer zurück, erwacht dann hier aus ihrem Traumzustand so weit,
dass sie die früher begonnene Strickerei und das Lesen eines Buches
fortsetzt.
Dass Patientin im Zustande III ist, ergibt sich daraus, dass sie
die Visite gar nicht wahrnimmt.
Auf wiederholte Fragen nimmt Patientin keine Notiz. Der
Professor macht der Patientin das aufgeschlagene Buch auf ihrem
Schosse zu ; sie wird verdriesslich , sucht wieder die betreffende
Seite. Nun singt der Professor ein paar Takte eines Liedes — so-
fort Katalepsie durch Schreck.
Dr. A. hebt ihr die Uhr ans linke Ohr. Patientin fährt gierig
auf die Uhr los und steckt sie in die Tasche.
Dr. M. spielt mit zwei Silbergulden; der metallische Klang
erregt sofort die Aufmerksamkeit der traumhaften Person, die Züge
verklären sich, sie greift sofort nach dem Gelde und fährt damit in
die Tasche.
Der Professor foppt sie mit dem Klang von Schlüsseln; sie lauscht,
geht auf die Tasche des Professors los ; sie begeht einen förmlichen
Raub, stösst, drückt, kämpft mit dem Besitzer derselben, bis sie
dieselben hat, und gibt sie auch in die Tasche.
Patientin versucht nun, die Schlüssel fortzutragen; sie pocht
an der Thüre, und als man sie nicht hinauslässt, versteckt sie die
Schlüssel schliesslich hinter dem Ofen.
Im autohypnotischen Zustand ist Patientin in Bezug auf Sen-
sibilität gleich Status I und IL
— 51 —
Sie hört das Tiktak der Uhr auch auf dem rechten Ohr.
Patientin hört nicht, sieht nicht, was sonst um sie vorgeht.
Patientin wird nun durch Streichen der Stirne in den Zu-
stand II versetzt; sofort ist der Rapport mit dem Professor her-
gestellt und Zustand III in II verwandelt.
Patientin erklärt, sie sei traurig, sie könne aber den Grund
nicht anführen, weil mehrere Herren im Zimmer seien. Sie sehe
fünf Personen, sie mögen hinausgehen.
Patientin führt nun Familienverhältnisse an, die sie zu Thränen
rühren. Der Professor erinnert Patientin an seinen Auftrag, keine
Gemüthsaufregung zu haben: „Sie dürfen sich nicht aufregen!"
Patientin antwortet: „Ja, weil ich muss, ich muss."
Patientin wird durch Befehl, zu erwachen, in I versetzt, ist
verwundert, die Visite bei sich zu sehen, und fragt, wann die Herren
eingetreten seien.
Neue Hypnose. Suggestion: „Ich verbiete Ihnen, das Bett zu
verlassen, ausser zu Leibesbedürfnissen." (Gemeint war: Nachts.)
28. 1. In Zustand I zurückversetzt, verstand Patientin die
Suggestion , das Bett nicht zu verlassen , falsch , legte sich gleich
nachher zu Bett, befand sich demnach in posthypnotischer Sug-
gestion den gestrigen Tag über. So erklärt sich , dass Patientin
von den Vorgängen des gestrigen Tages nichts weiss und glaubt,
dass heute Freitag (27.) sei.
Durch das Fixiren der Stricknadeln war Patientin gestern in
Autohypnose verfallen. Patientin erzählt heute, dass sie erst um
3 Uhr Nachmittags zu sich kam und zu essen verlangte.
Patientin weiss von allem bis 3 Uhr Nachmittags Vorge-
fallenen nichts.
Patientin wird während der Morgenvisite durch Anrufen:
„Schlafen Sie!" in Hypnose versetzt und ihr suggerirt, keine An-
fälle mehr zu bekommen; sie dürfe auch ferner nicht mehr sich
selbst einschläfern durch Anblicken von glänzenden Gegenständen.
In Zustand I zurückversetzt, wird Patientin aufgefordert, eine
glänzende Uhr an der Wand anzublicken ; es zeigt sich , dass die
Suggestion, unempfindlich zu sein gegen glänzende Gegenstände, nicht
eintrifft. Patientin geräth im Gegentheil durch Anblicken der Uhr
in Autohypnose.
Patientin ist entschieden im Zustand III, denn sie reagirt
nicht auf den Experimentator. Sie sucht in den Taschen herum
nach den Uhren, die sie gestern escamotirt hat, und befindet sich
— 52 —
wieder genau in der Situation, in welcher sie am Vortag aus III
nach II übergeführt wurde.
Patientin geht, nachdem die Tasche leer ist, zu den Oleander-
bäumen, gräbt die Uhren aus, ist sehr bestürzt, als sie nichts findet.
Augen offen, Blick wenig verglast.
Patientin bemerkt nur, was mit ihren Ideen in Beziehung steht.
Patientin zieht sich bestürzt zurück , sucht in den Taschen,
findet nichts, geht auf ihr Zimmer zurück, sucht vergebens die drei
Uhren im Polster des Lehnstuhles, geräth in bedenkliche Erregung,
zittert vor Aufregung.
Patientin wird durch Streichen in Zustand II übergeführt. So-
fort schwindet ihre Aufregung; die ganze Bewusstseinswelt von III
ist latent geworden. Sie weiss nichts vom Uhrenraub im Zustand III.
Im Zustand II ist ihr das Ticken einer vorgehaltenen Uhr peinlich,
sie greift darnach, aber mehr als Abwehrbewegung.
Hypnotische Suggestion: „Sie dürfen und werden nicht mehr
von selbst in Schlaf gerathen durch Anblicken glänzender Gegen-
stände; bemühen Sie sich, diese nicht anzublicken. Sie werden in
diesen künstlichen Schlaf nicht mehr kommen und überhaupt von
nun an von 9 Uhr Abends bis 6 Uhr früh schlafen!"
1. 2. Von nun an fast täglich II zur Ausführung folgender
therapeutischer Suggestionen :
1. „Sie können und dürfen keine Anfälle mehr bekommen."
(Diese sind seit 7. 1. ausgeblieben.)
2. „Sie können und dürfen beim Anblick glänzender Gegen-
stände nicht mehr einschlafen."
3. „Sie können und dürfen sich nicht selbst umbringen."
4. „Sie haben von 9 Uhr Abends bis 6 Uhr früh zu schlafen."
Patientin wird genöthigt, jeweils diese Suggestionen herzusagen.
Sie thut es rein automatisch; nur bei Suggestion 3 findet jeweils
ein seelischer Kampf und ein lebhaftes Mienenspiel statt. Auch sagt
sie 3 nicht in geschäftsmässigem Tone wie die anderen Suggestionen,
sondern mit vor Erregung zitternder Stimme her. Anfälle bleiben
fortan aus, vorsichtige Versuche mit Anblickenlassen glänzender
Gegenstände führen keine Aütohypnose herbei, von Taedium vitae
wird nichts mehr bemerkt, Patientin schläft von 9 bis 6 Uhr.
11. 2. In II Versuch einer „Suggestion mentale". Der Professor
concentrirt seine Gedanken darauf, dass Patientin seine Uhr weg-
nehmen soll. Patientin, aufgefordert, den Gedanken zu errathen,
geräth in Unruhe, mäht sich ab, so dass man den erfolglosen Ver-
such abbricht mit der Erklärung, Experimentator denke an nichts
weiter.
12. 2. Heftige Gemüthsbewegung. Patientin wundert sich,
dass sie diesmal keinen Anfall bekam. Der bezüglichen Suggestion
ist sie sich nicht bewusst.
14. 2. 2mal Abends erfolgreich Temperatur 36,0 suggerirt.
Gestern wegen Verstopfung Stuhl erfolgreich auf 11 Uhr bestellt.
Auf heute Abend 6 Uhr Diarrhöe mit Colik suggerirt. Präcis
Abends 6 Uhr profuser wässeriger Stuhl (Transsudaten?) mit ge-
formtem Darminhalt. Da Patientin kurz vorher Blase entleerte und
chemische Untersuchung der Flüssigkeit nur sehr wenig Urate er-
gab, kann die Flüssigkeit nur als Darmsekret gedeutet werden.
Patientin kommt vom Leibstuhl, über Kollern und Leibschneiden
klagend und sich den Leib mit den Händen drückend.
15. 2. In heutiger Hypnose wird Patientin wegen Uhren-
escamotirung (die sie in III ausgeführt hatte) zur Rede gestellt.
Sie weiss nichts davon. Da Patientin aber thatsächlich ihrem Bruder
einmal die Uhr in eine Matratze versteckt hat, wird direkt darauf
inquirirt. Patientin weiss davon und erzählt, ihr Bruder habe sie
damals in Hypnose (II) versetzt gehabt. Von den Uhren, die sie
in III an sich genommen hat, weiss sie nach wie vor nichts.
16. 2. In I wird constatirt, dass Patientin aufrechtem Nasen-
loch nicht, links normal Gerüche empfindet. In II versetzt, reagirt
Patientin auf gar keine Gerüche. Durch Suggestion werden links
üble Gerüche (z. B. Asa foetida) als Rosenöl, Balsam, vitae Hoff-
manni als Menschenkoth empfunden. Patientin wird suggerirt, sie
werde auf rechter Nase nun ebensogut wie links riechen. Patientin
riecht nun rechts und bezeichnet richtig üble und gute Gerüche,
aber die Suggestion ist nicht erfüllt, insofern Transfert des Riech-
vermögens und zugleich der Sensibilität von links nach rechts auf-
getreten ist (linke Nase bietet Anästhesie und Anosmie). Während
der Dauer des Transferts sind beliebige Geruchssuggestionen rechts
möglich. Nach Versetzung in I geschwundener Transfert und
Status quo ante. In II wurden heute zwei Esslöffel Ricinusöl als
Champagner gegeben und suggerirt, dass genau nach 48 h. am 18.
ein geformter Stuhl eintreten müsse und inzwischen kein Stuhl er-
folgen dürfe.
18. 2. Präcis 9 Uhr früh erstmaliger und geformter Stuhl.
Heute in II Suggestion, dass künftig die rechte Oberextremität
wieder sensibel sein müsse. Sofortige Wiederkehr der Sensibilität.
— 54 —
Sie erhält sich qua Schmerzempfindlichkeit; die tactile und Tem-
peraturempfindung bleibt auf die Vola nianus beschränkt.
19. 2. In II dauernde Wiederherstellung der Sensibilität auf
rechter Gesichtshälfte. Sie erhält sich objektiv, d. h. auch für andere
Personen als den Experimentator.
21. 2. Heute kurze Autohypnose durch Anblick glänzender
Kugel trotz aufrechtem suggestiven Verbot. Patientin weiss von
Autohypnose in II, entschuldigt sich, darüber zur Rede gestellt, sie
könne nichts dafür.
In II wird von Patientin verlangt, dass sie am folgenden
Morgen einen an der linken Scapula auf den Kleidern mit einer
Bleifeder gezogenen Kreis als rothen Streifen auf der Haut er-
scheinen zu lassen habe. Heute Suggestion in II, vom 22. früh an
drei Tage lang 37,0 zu messen.
(Am 21. M. 36,8, M. 37, A. 37,4.) Am 22. M. 37,1, M. 37,
A. 37; 23. M. 37, M. 37, A. 37; 24. M. 37 (wegen Occlusivverband
in Axilla nicht weiter messbar).
22. 2. Der Kreis ist nicht zu sehen. Patientin in II darüber
zur Rede gestellt, antwortet: „Sie haben das nicht gut gemacht,
Sie haben es auf die Jacke statt auf die Haut gemacht." Die Sug-
gestion wird wiederholt und diesmal der Kreis direkt auf der Haut
gezogen.
23. 2. Heute ist der Kreis da, aber an homologer Stelle an
der rechten Scapula, genau 4 cm im Durchmesser, wie der am Vor-
tag links gezeichnete. Er wird gebildet durch eine rothe, 2 — 5 mm
breite Rinne , innerhalb welcher die obersten Hautschichten fehlen
und ein gelbgrauer Schorf besteht. Patientin hat im Gebiet des
Kreises Jucken. Schmerz-, Berührungs- und Temperaturempfindlich-
keit sind hier vorhanden, aber sie sind nicht transferirt, denn die
homologe Stelle links ist nicht anästhetisch. Prof. Lipp gibt sein
Gutachten dahin ab, dass dieser suggerirte Kreis weder mit Nadeln
noch durch sonstige mechanische oder chemische Mittel erzeugt sein
kann. Spuren entzündlicher Reaktion fehlen durchaus.
24. 2. In Gegenwart yon Prof. Lipp bekommt Patientin heute
in II einen aus Zinkblech geschnittenen Metallbuchstaben K nach
innen vom linken Schulterblatt auf die Haut gedrückt, und wird
ihr befohlen, dass morgen Nachmittag genau im Umfang der Platte
eine blutrothe Hautfläche zu finden sein muss. Zugleich wird, um
Reizeffekte zu vermeiden , suggerirt , an dieser Stelle dürfe kein
Jucken entstehen. Darauf wird Thorax und Rücken von Prof. Lipp
— 55 —
mittelst Gazebinde und Watte so gedeckt, dass die Suggestionsstelle
absolut unzugänglich ist, der Verband 4mal versiegelt, ein Deck-
verband gemacht, dieser noch 2mal versiegelt und das benutzte
Siegel von Prof. Lipp mitgenommen. Patientin weiss offenbar nichts
von den Vorgängen der Hypnose , nachdem sie in I versetzt ist.
25. 2., Nachmittags. Versetzung in IL Prof. Lipp nebst zahl-
reichen Aerzten untersuchen den Verband, finden ihn, sowie die
Siegel unverletzt.
An der suggerirten Stelle eine 5,5 cm lange, 4 cm breite un-
regelmässig gestaltete Platte, an welcher die Hornschicht der Haut
losgelöst und noch durch am Rande der blossgelegten Fläche hän-
gende Fetzen erkennbar ist. An den Rändern ist diese Platte feucht,
während der mittlere Theil noch von dem Rest der Hornschicht
bedeckt ist, die sich sehr trocken anfühlt und gelblich aussieht.
Die unmittelbare Nachbarschaft der Platte ist geröthet. Von dem
rechten Rand derselben geht ein 4 cm langer, 2 cm breiter Schenkel
schief nach rechts unten, ein 3 cm langer nach rechts oben. Auch
auf diesen Schenkeln ist die Oberhaut gelockert, leicht abziehbar
und nässt die unterliegende Hautschicht. Die Umgebung der
Schenkel ist geröthet, jedoch ohne alle Spur von Entzündung.
Damit der Verlauf dieses suggestiv erzeugten trophoneuroti-
schen nekrobiotischen Processes ungestört verfolgt werden kann,
wird Schmerzlosigkeit suggerirt und das Verbot, den Rücken von
jemand Anderem als den Aerzten ansehen zu lassen.
26. 2. Der kürzlich suggerirte Kreis stellt, ähnlich wie das im
December suggerirte Kreuz beschaffen war, einen gelblichen Schorf
dar mit hyperämischen Rändern , aber ohne alle entzündliche Re-
aktion. Die Platte von gestern stellt eine pergamentartige trockene
Fläche dar. Die beiden Schenkel sind epidermislos und hyper-
ämisch.
29. 2. Der Kreis stösst sich als Schorf ab. Darunter eine
geröthete Hautfläche mit nachwachsender Epidermis. Die Platte
ist wie Pergament. Der obere Schenkel blasst ab, am unteren
Schenkel Schorf- und spurweise Eiterbildung. Heute Suggestion,
Abends und die folgenden zwei Tage 36,0 zu messen. Temperatur
heute früh 38,3, Mittags 38,6, Abends 40,0 (intercurrente heftige
G emüthsbe wegung).
Am 1. 3. M. 36, M. 36, A. 36,1; 2. 3. M. 36,1, M. 39,2,
A. 37,2 (Mittags intercurrente heftige Gemüthsbewegung).
2. 3. Die pergamentartige Platte und der rechte untere
— 56 —
Schenkel stossen sieh ab. An den Abstossungsstellen Hyperämie
und reichliche Epidermisbildung.
5. 3. Jucken an der Snggestionsstelle. Patientin weiss nicht,
was sie Juckendes auf dem Rücken hat. In II neue Suggestion,
kein Jucken zu verspüren.
6. 3. Kein Jucken mehr. Beginnende Ueberhäutung von Kreis
und Platte.
8. 3. In II Suggestion, Herz schlage zu schnell, es dürfe in I
tagsüber nur 80 Schläge machen. Negativer Erfolg (tagsüber
90—108—96 Pulse).
9. 3. Die stabilen Suggestionen (vgl. 1. 2) werden in II fast
täglich mit gutem Erfolg wiederholt. Auch die suggestiv wieder-
hergestellte Hautsensibilität auf rechter Oberextremität und Gesicht
erhält sich.
Da Patientin sich viel mit Erinnerungen an Suicidium der An-
gehörigen beschäftigt und darüber verstimmt ist, wird ihr sug-
gerirt: „Ich nehme aus Ihrem Gedächtniss den Tod Ihrer An-
gehörigen." Patientin, sofort gefragt über Todesart ihrer Ver-
wandten, antwortet: „Ich weiss es nicht."
10. 3. Anlässlich heftiger Gemüthsbewegung nach Menses
starker hystero-epileptischer Insult Nachmittags. Im Anschluss daran
tiefer spontan hypnotischer Zustand im Sinn eines Lethargus —
keine Reaktion auf Sinnesreize, Glieder völlig resolvirt, nicht kata-
leptiform, tiefe Reflexe gesteigert.
Man versucht, Patientin in II zu versetzen und so mit ihr in
Rapport zu treten. II gelingt. Patientin gibt nun Antwort, ist
wieder kataleptiform.
Es zeigt sich, dass der letzte Insult alle Suggestionen zerstört
hat. Es besteht wieder rechts Hemianästhesie. Auf die Frage,
wodurch Angehörige gestorben, antwortet sie: „Durch Selbstmord".
Durch Suggestion werden andere Aerzte befähigt, mit Patientin
in Rapport zu treten. Prof. sagt zur Patientin: „Herr Dr. X wird
an Sie eine Frage richten." Patientin antwortet auf diese eine Frage,
hört aber die folgenden des Dr. X nicht.
Als man einen anderen Herrn auf drei Fragen accreditirt,
werden ihm drei beantwortet, aber keine weitere.
Die früheren Suggestionen vom 1. 2. werden wiederholt, ferner
versichert, dass die Angehörigen eines natürlichen Todes gestorben
sind. Nun wird Patientin in I übergeführt.
12. 3. In II Auftrag, an die ausgetretene Schwester einen Brief
— 57 -
mit Erklärung ihrer Zuneigung und Liebe zu schreiben. Patientin
schreibt denselben fliessend. Als man zwischen Augen und Papier
einen Carton hält, erklärt sie, nicht weiter schreiben zu können,
und hält inne. Nachdem der suggestive Auftrag erfüllt ist, ver-
sinkt Patientin wieder in tiefe Apathie. Heute früh Suggestion,
heute, morgen und übermorgen constant 36,0 zu messen.
Phonographischer Versuch: Patientin spricht Alles nach, ganz
automatisch, mit derselben Betonung wie der Experimentator, so-
bald dieser einen Finger der Patientin an Stirn oder rechte oder
linke Schläfe auflegt und etwas spricht. Das Sprechen braucht
nicht gegen Patientin gerichtet zu sein. Von anderen Körperstellen
aus kein Erfolg, auch dann nicht, wenn an den wirksamen Stellen
der Experimentator Patientin mit Stab oder behandschuhtem Finger
berührt. Andere Personen vermögen keine phonographische Leistung
zu erzielen.
Für den Experimentator ist es gleichgültig , ob er die rechte
oder die linke Stirnschläfenseite berührt. Patientin ist sowohl in II
als in I unfähig, irgend welche sensible Reize selbst bei Willens-
intention rechts zu percipiren.
13. 3. In II phonographischer Versuch gleich gestern.
15. 3. Temperatur am 12. 3. Mittags 36,1, Abends 36,0;
am 13. 3. M. 36,2, M. 36,0, A. 36,0; 14. 3. M. 36,0, M. 36,0,
A. 36,6 (11. 3. M. 38,2, M. 39,4, A. 38,8; 12. 3. M. 38,1; 15. 3.
M. 37,3, M. 37, A. 37,6).
Heute in I Prüfung der Sensibilitätsverhältnisse der Stirnhaut
durch Professor K. Dr. Gugl hält dabei Patientin die Augen zu.
Plötzlich hört Patientin auf, K. zu antworten. Es zeigt sich, dass
sie durch Dr. G. in II gerathen ist. Sie reagirt auf G., nicht aber
auf den gewohnten Experimentator.
G. macht die phonographischen Experimente. Professor K. bittet
ihn, Patientin sagen zu wollen: „Professor K. ist ein Schwindler",
und ihn dann für eine Frage bei Patientin zu accreditiren. Patientin
sagt automatisch ihr Sprüchlein. Der Professor fragt in gereiztem
Ton: „Warum konnten Sie mich einen Schwindler nennen?'' Nun
wird Patientin bestürzt und stösst in grosser Erregung die Worte
hervor: „Weil es mir gesagt wurde".
Nach Ueberführung in I durch den ungewohnten Experimen-
tator klagt Patientin Kopfweh und fühlt sich sehr unbehaglich.
Professor K. versetzt sie mühsam und mit ungewöhnlichem Zeit-
aufwand neuerlich in II.
— 58 —
Es zeigt sich nun , class Dr. G. noch immer plionographisch
Patientin beeinflussen kann ; sonst hat er aber keine Macht mehr
über Patientin, existirt nicht für sie.
Durch Professor K. in I übergeführt , fühlt sich Patientin
ganz wob].
18. 3. In II heute Injektion von 0,02 Pilocarpin, muriat. mit
der Suggestion, es geschehe zu Heilzwecken, es dürfe aber kein
Speicheln und Schwitzen eintreten. Patientin bietet bald darnach
zorniges Mienenspiel, und befragt, stösst sie gereizt die Worte her-
vor: „Ich kann Ihnen nicht alle Tage folgen!"
Salivation und Schwitzen treten schwach, aber deutlich ein,
die anderen Pilocarpinwirkungen sehr intensiv, bis zu Cyanose und
leichtem Collaps. Der Erfolg muss als negativ bezeichnet werden.
22. 3. Patientin wird, statt wie gewöhnlich mit der Hand,
heute scherzweise durch Stirnstreichen mit einer zarten Bürste leicht
hypnotisirt. Sie scheint in Zustand II, reagirt auf den Experi-
mentator. Dieser will die stabilen therapeutischen Suggestionen
aufgesagt haben. Patientin müht sich ab, weiss keine.
„An was ist Ihr Grossvater gestorben?" — „Er hat sich er-
hängt." Professor vermuthet einen unbemerkt gebliebenen Anfall,
der die Suggestion zerstörte, oder die Möglichkeit, dass durch einen
ungewohnten (physischen) Reiz statt des gewohnten (psychischen ?)
eine vorläufig undefinirbare Modification von II entstanden sei.
Patientin wird durch Aufforderung, zu erwachen, enthypnoti-
sirt, gleich darauf durch Stirnstreichen mit der Hand wieder in II
versetzt. Nun weiss sie alle Suggestionen und leiert sie ab.
Neuer Versuch mit Tr. Thymian. Das Fläschchen wird am
Nacken angelegt, aber der Nacken weiter nicht berührt und der
Hals frei gelassen. Keine Reaktion auf Thymian.
Nun wird das Fläschchen entfernt, das Kleid oben zugeheftet,
der Kopf durch Auflegen der Hand im Nacken vorgeschoben und
das Kinn etwas gehoben. (Die Position wie bei den früheren
Thymianversuchen, vgl. pag. 27.)
Durch so provocirte Contraktur der Nackenmuskeln, Andrängen
des Halses gegen den engen Rand des Kleides tritt sofort Cyanose
und Turgescenz des Gesichts auf und Aufschwellen des Halsumfangs
von 34 auf 37 cm. All dies verliert sich , als man Patientin auf-
fordert, den Kopf zu senken, und damit der Druck auf die Hals-
venen wegfällt.
23. 3. Nach heftiger Gemüthsbewegung Abends 8 Uhr hystero-
— 59 —
epileptischer Anfall. Mittelst II gelingt es, denselben zu coupiren.
Der posthypnotischen Suggestion, zu schlafen, folgt Patientin. Aber
der Schlaf wird wiederholt durch schreckhafte Traumbilder (Er-
scheinung des Vaters, der Suicidium befiehlt) gestört. In dieser
Nacht schreibt sie, aus dem Schlaf aufgestört, auf ein Blatt: „Lug-
bild : Traum ; die ganze Welt eine Lüge. Es ist nur eine Phan-
tasie, dass wir existiren." Den Rest der Nacht bringt Patientin
ruhig schlafend zu.
28. 3. Patientin wurde inzwischen nicht in II versetzt. Heute
geschieht dies, um sich über die Permanenz der therapeutischen
Suggestionen (vgl. 1. 2.) zu vergewissern. Es zeigt sich, dass die
längere Pause der Reproduktion jener abträglich war. Patientin
bringt sie mühsam, stockend, mit peinlicher Anstrengung zuwege.
Ueber ihre Zerstreutheit zur Rede gestellt und zur Folgsamkeit
ermahnt, äussert Patientin: ..Ich will, was Sie wollen."
Sie weiss in II nichts von ihren Erlebnissen in III und I.
Frage: „Ist es Ihnen unangenehm, wenn ich Sie das Alles
frage?" Antwort: „Ich muss, wenn Sie fragen; mir ist es nicht
angenehm."
Auf eine Reihe von Fragen bezüglich der Erlebnisse in I und III
müht sich nun Patientin ab, zu antworten, und erwidert stereotyp:
„Ich weiss es nicht."
Man befiehlt ihr, auf 3 zu zählen und dann zu erwachen, statt
dass wie sonst der Experimentator bis 3 zählte. Patientin zählt
auf 3, schlägt dann die Augen auf, befindet sich aber nach dieser
ungewohnten Procedur des Erwecktwerdens nicht in I, sondern
in III.
Nun weiss sie Alles bezüglich ihrer in III unternommenen Reise
von Pest nach Graz, sowie bezüglich der Erlebnisse des Grazer
Aufenthalts bis zur Aufnahme im Spital.
Den Uhrdiebstahl am 20. 10. 87 erklärt sie damit, dass die
an der Wand aufgehängte Taschenuhr ihr durch ihr Ticken un-
angenehm gewesen sei. Dass sie auch Weisszeug mitgenommen, ist
ihr nicht bewusst.
Patientin wird mühsam und unter Widerstreben von ihrer Seite
durch das gewöhnliche Stirnstreichen in II übergeführt. Sofort
nehmen Haltung, Gesichtsausdruck das diesem Zustand entsprechende
Gepräge an. Die vorigen in III gestellten und auf in III Erlebtes
bezüglichen Fragen werden wiederholt, aber Patientin weiss sich
an nichts zu erinnern.
— 60 -
Es zeigt sich , dass auch die gewöhnlichen therapeutischen
Suggestionen verwischt sind, so dass sie neuerdings gegeben werden
müssen.
Offenbar hat der spontane oder provocirte III. Zu-
stand die gleiche destruirende Wirkung auf post-
hypnotische Suggestionen wie der hystero-epileptische
Anfall.
Die Ueberführung in I gelingt nun leicht durch Befehl, bei 3
(vom Experimentator gezählt) aufzuwachen.
31. 3. Heute II mit Hersagen der Heilsuggestionen. Auf
Befehl , selbst auf 3 zu zählen und dann aufzuwachen, kommt Pa-
tientin neuerlich in III. Sie weiss alles früher in III Passirte, be-
antwortet alle bezüglichen Fragen wie am Vortag, steckt eine ihr
ans linke Ohr gehaltene Uhr unwillig in die Tasche , weiss , in II
übergeführt, nichts von III, auch nichts von der soeben ausgeführten
Escamotirung der Uhr, auch nichts von den therapeutischen Sug-
gestionen, die nochmals gegeben werden, und erwacht auf 3, vom
Experimentator gezählt, in I, lächelnd und zufrieden, nachdem ihr
noch suggerirt war, heiter und angenehm zu erwachen.
6. 4. Seit dem 3. 4, an welchem Tage Professor eine Reise
angetreten hatte, wurde nicht hypnotisirt. Heute hystero- epileptischer
Anfall. Darauf heftiges Taed. vitae. In II durch Dr. Kornfeld
versetzt, weiss Patientin die therapeutischen Suggestionen nicht mehr
(destruirende Wirkung des Anfalls). Sie werden neuerlich gegeben.
Darauf in I befriedigender Status quo ante.
10. 4. Menses bis 11. 4.
11. 4. Heftige Cardialgie und blutiges Erbrechen. In II
Mittags 12 Uhr Suggestion, bis 5 Uhr Nachmittags zu schlafen und
schmerzlos zu erwachen. Um 3 Uhr Erwachen in III. Patientin
erhält nun einen Brief des Professors, sie habe am 12. 4. bei der
Morgenvisite einzuschlafen in Gegenwart der Assistenten, die Heil-
aufträge aufzusagen und sich dann von Dr. K. erwecken zu lassen.
Patientin legt den Brief uneröffnet bei Seite.
Um 5 Uhr (Aufhören , der posthypnotischen Schlafsuggestion
kommt Patientin in I, liest sofort den Brief, findet ihn unverständ-
lich, bittet um Aufklärung, wird auf den 12. früh vertröstet.
12. 4. Patientin schreibt heute früh in I an Professor u. A.:
„Aber ich verstehe Ihren Brief nicht ganz. Ew. Gnaden schreiben,
ich solle dem Herrn Dr. K. was aufsagen und dann von ihm ge-
weckt werden. Vermuthlich hatten Sie vergessen zu schreiben,
— 61 —
was ich ihm aufsagen solle, denn soviel ich mir den Kopf zer-
breche, kann ich den Sinn dieses Satzes nicht verstehen."
Bei der Morgenvisite wird Patientin in I gefunden. Auf den
daliegenden Brief aufmerksam gemacht, geräth sie sofort in III. Sie
weiss vom Brief, erklärt auf die Frage, wie viel Personen im Zimmer
seien: „Es sind drei (ich, Sie und der Assistent)." Thatsächlich
sind aber noch zwei Aerzte und die barmherzige Schwester anwesend.
Es stellt sich heraus, dass Patientin im Briefe des Professors
selesen hatte: mit dem Assistenten statt mit den Assistenten. Sie
reagirt in diesem Zustand nur auf Dr. K. mit dem anderen Assi-
stenten, nicht auf die anderen anwesenden Personen. Sie escamotirt
den beiden Assistenten ihre ihr vorgehaltenen Uhren und reagirt
auf die der Anderen nicht. Den anderen Assistenten (Dr. Hellwig)
weiss sie nicht mit Namen zu benennen und bezeichnet ihn kurzweg
als „der Herr Assistent".
Nachdem Dr. K. wiederholt vergeblich Patientin gefragt hat:
„Was hat Ihnen der Professor aufgegeben?" wird sie von ihm durch
Stirnstreichen in II versetzt.
Kaum ist sie in* II, so sagt sie unaufgefordert die vier thera-
peutischen Suggestionen auf. Dr. K. will dazu noch die Magen-
schmerzen absuggeriren; Patientin nimmt diese Suggestion aber
nicht an und äussert unwillig: „Sie sollen mich jetzt erwecken."
Durch einfachen Befehl geschieht die Ueberführung in I.
18. 4. Patientin fiel in letzter Zeit durch sexuelle Zudring-
lichkeit der Nachtwärterin lästig. Auch wird, besonders prä-
menstrual, Masturbation constatirt.
Der von seiner Reise zurückgekehrte Professor suggerirt Pa-
tientin in II die Nachtwärterin ab und verbietet Patientin Unkeusch-
heit in Gedanken, Worten und Werken. Mühsam gelingt die An-
nahme dieser Suggestion.
20. 4. Patientin ist ganz verstört, weil sie Gespenster fühle,
von unsichtbarer Hand Sessel bewegen, Thüren öffnen sehe u. s. w.
(Handlungen der absuggerirten Nachtwärterin).
Um Patientin zu beruhigen, wird ihr in II die Rückkehr der
Nachtwärterin verkündet, zugleich aber die Keuschheitssuggestion
mit den übrigen Suggestionen eingeschärft.
Nun wird Patientin suggerirt, 3 zu zählen und zu erwachen.
Sie geräth in III. Ueberführung in II gelingt mühsam. Nun weiss
wieder Patientin nichts von den fünf Suggestionen. Diese und die
Rückkehr der Nachtwärterin müssen wiederholt werden.
— 62 —
Der Professor befiehlt angenehmes Erwachen, wenn er 3 ge-
zählt habe. Bei 3 tritt I ein.
24. 4. Seitdem II seltener vorgenommen und Suggestionen
damit seltener abgehört werden, hat Patientin grösste Mühe, sie
zu reproduciren ; jedoch zeigt ihr Verhalten, dass sie wirken. Nach
jeweiliger Auffrischung der Suggestionen werden sie äusserst prompt,
ohne Besinnen hergesagt! II mit Suggestionen von nun an min-
destens jeden zweiten Tag! Vermeiden von III. Zustand!
3. 5. In I heute bei 1,6 Milli- Ampere (12 Leclanche-Elemente)
minimale Zuckung im linken Ulnarisgebiet bei extramuskulärer
galvanischer Reizung mit KaS. Nach eine Weile geschlossener
Kette minimale (secundäre) Erregbarkeit bei 1,4 MA (10 Elemente).
Patientin wird in II versetzt und links Lähmung der Oberextremität
suggerirt. Sofort schlaffe Lähmung, Transfert der Sensibilität auf
rechte Oberextremität, minimale tiefe Reflexe, vasomotorische Pa-
rese. Minimale primäre Erregbarkeit (= oben) bei 0,9 MA
(6 Elemente), secundäre bei gleicher Stromstärke. Im Zustand der
suggerirten Lähmung ist somit die galvanische Erregbarkeit vom
. Nerven aus erheblich gesteigert.
Die Besichtigung des Rückens ergibt heute, dass der am 22. 2.
saggerirte Kreis als hyperämischer Streif nach wie vor sichtbar ist.
Die am 24. 2. suggerirte Platte erscheint in ihrer ganzen Aus-
dehnung livid roth durch Hyperämie, beziehungsweise Erweiterung
der Hautgefässe. Der rechte untere Schenkel des K ist noch deutlich
sichtbar. Auf der ganzen Fläche sind die oberen Hautschichten
verdickt.
Patientin wird in II aufgetragen, dictando zu schreiben und
bei vorkommendem r ein h zu setzen. Sie schreibt: „Hosen heifen
heichlich hückwähts im Grahten."
5. 5. Heute Menses ohne Beschwerden. Da menstrual Anfälle
zu fürchten sind, erhält Patientin in II 5,0 Brom als Ungarwein
zum Trinken. In I wundert sich Patientin, dass sie einen so sal-
zigen Geschmack empfinde.
6. 5. Patientin heute verstört. Sie klagt der Schwester über
heftigen Schmerz unter der linken Mamma, vermuthet, dass der
Professor sie Nachts gebrannt, und bittet, die Schwester möge ihr
ein Asyl im Kloster verschaffen, wo sie vor derlei Eingriffen sicher
sei. Die Weigerung der Schwester führt eine nhystero-epileptischen
Insult herbei. Der herbeigerufene Assistenzarzt Dr. Hellwig ver-
sucht II durch Stirnstreichen. Patientin geräth aber in III, fragt
- 63 —
die Schwester, ob sie ihr das vor drei Monaten in der Sackstrasse
gesungene Lied singen dürfe, singt es, dämmert dann herum, klagt
Schmerz, bitterlich weinend, schläft dann zwei Stunden, erwacht
über Schmerzen, weist die angebotene Hypnose durch Dr. Korn-
feld ab, verlangt sie stürmisch von der Schwester, die endlich sich
dazu herbeilässt und durch Stirnstreichen eine Art von II erzielt,
Nun gibt Patientin folgende Aufschlüsse über die Entstehung des
Schmerzes: „In letzter Nacht kam ein alter Mann zu mir; er sah
aus wie ein Priester, kam in Begleitung einer barmherzigen Schwester,
auf deren Collet ein grosses goldenes B war. Vor dieser fürchtete
ich mich. Der alte Mann war lieb und freundlich. Er tauchte in
die Tasche der Schwester eine Feder, schrieb mir mit dieser auf
die Haut unter der linken Brust ein W und ein B. Einmal tauchte
er schlecht ein und machte mitten in die Figuren einen Klex.
Dieser Punkt und das B schmerzen mich ungemein, nicht aber das
W. Schon vor vier Tagen erschien mir der Mann mit einem rothen
Kissen in den Händen. Auf diesem Kissen war ein W zu sehen.
Der Mann deutete dieses W dahin, ich sollte in die M. -Kirche zum
Beichtstuhl W beichten gehen. Er verbot mir, von seinem Besuch
etwas zu sagen, und trug mir auf, ich solle beten, dass ich nicht
schlecht werde; ich könne mir nicht das Leben nehmen, sonst werde
ich nicht in den Himmel kommen. Er erweckte mich, indem er
mir die Hand auf die Stirne legte, und ging fort."
Nach dieser Mittheilung schrie Patientin laut auf und sagte:
„Da steht der Mann wieder, jetzt hat er Ketten an den Händen."
Nachdem Patientin durch die Schwester mit Stirnstreichen be-
handelt worden, wird sie ruhig, dämmert eine Weile herum und
schläft dann auf der Fensterbank ein. Die Nacht verläuft ruhig,
theilweise in Schlaf, möglicherweise im Zustand III.
7. 5. Eine eingehende Prüfung der Situation lässt die An-
nahme, dass von unbefugter Hand heimlich eine Hypnose ver-
sucht wurde, unmöglich erscheinen und nur die Möglichkeit zu,
dass JPatientin die Affaire mit dem Priester delirirt und hallu-
cinirt hat.
Patientin erwachte heute früh in I, klagte heftigen Schmerz
unter der linken Mamma. Nachmittags empfängt sie den Professor
unwirsch, gereizt und wirft ihm vor, er habe ihr Nachts die Schmerzen
zugefügt. Es bedarf der Abgabe des Ehrenworts, dass dem nicht
so sei, um Patientin zu versöhnen. Nun steht sie selbst aber be-
züglich ihrer Schmerzen und Wunden vor einem Räthsel.
— 64 —
Die Untersuchung ergibt als Stelle der Schmerzen eine herz-
förmige Figur unter der linken Mamma. Innerhalb derselben sind
oberflächliche, aber bis auf das Corium dringende Substanz Verluste,
die einige Aehnlichkeit mit einem umgekehrten W und B haben.
Zwischen beiden findet sich eine hyperämische hervorragende Haut-
stelle von 1J2 cm mit einigen ebensolchen Punkten.
Die B-Figur und die Hervorragung sind sehr schmerzhaft. Die
Figuren sind speckig weiss, an einzelnen Stellen durch oberfläch-
liche Vertrocknung hornartig. Die figuralen Ränder stellen einen
hyperämischen Saum dar. Nirgends Spuren von Entzündung inner-
halb dieser sonderbaren neurotrophischen, der früheren experimentell
bewirkten identischen Hautveränderung.
Damit gewinnt die Annahme, dass diese Verletzung die Folge
einer Suggestion auf hallucinatorisch delirantem Wege
sein mag, Berechtigung. Patientin wird vom Professor nun in II
versetzt und über die Entstehung jener Verletzung befragt. Sie
erzählt verbotenus wie am 6. 5. der Schwester. Als der Professor
seine therapeutischen Suggestionen abhören will, sagt Patientin die
von der hallucinatorischen Persönlichkeit gegebenen (s. o.) auf und
weiss nichts von jenen.
Die therapeutischen Suggestionen werden neuerlich gegeben,
Schmerzen und Erinnerung für die hallucinatorische Episode ab-
suggerirt.
In I versetzt, befindet sich Patientin wohl und ist heiter.
11. 5. Bisher unter täglicher Hypnose mit Heilsuggestionen
ganz wohl. Patientin weiss in II nichts von den absuggerirten
hallucinatorischen Vorkommnissen. Gleichwohl erfüllt sich heute die
posthypnotische hallucinatorische Suggestion bezüglich der Beichte
am Beichtstuhl W.
Patientin erhielt vom Professor auf ihre Bitte die Erlaubniss,
in die Kirche zu gehen.
Um 4 Uhr Nachmittags geräth sie mit eintretender Erfüllung
der hallucinatorischen posthypnotischen Suggestion in III, geht, be-
gleitet von einer Wärterin, in die M. -Kirche, sucht den Beicht-
stuhl W, kniet ihm gegenüber bis 6^2 Uhr, zuckt zusammen, als
der Geistliche W. kommt und seinen Stuhl betritt. Sie legt nun
ihre Beichte ab, kehrt heiter ins Spital zurück und meint, sie hätte
durchgehen müssen, wenn sie keine Erlaubniss zum Kirchgang be-
kommen hätte.
Es sei sonderbar in der Kirche gewesen. Sie habe gleich
- 65
den Priester W. erkannt und er sie; jedoch
würde sie ihn jetzt nicht mehr erkennen.
Heute in II posthypnotischer Auftrag, am
folgenden Tag um 4 1/-* Uhr ins „Altarzimmer'- zu
gehen und dort ein Gebet zu verrichten. Diese
Suggestion geschieht, um Patientin ohne Emotion
den Hörern der Klinik demonstriren zu können.
12. 5. Patientin erscheint pünktlich zur
Leistung der posthypnotischen Suggestion in III,
wird nach Erfüllung derselben unruhig, ängst-
lich, und rasch in II übergeführt. Alle mög-
lichen sensiblen und auditiven suggerirten Ex-
perimente gelingen in befriedigender Weise.
Patientin schreibt (vgl. S. 26), in ein
"jähriges Schulmädchen verwandelt, ihren Namen
wie nebenstehend.
Episodisch wird sie, durch inadäquate Er-
weckung mittelst Selbstzählen auf 3 in III ver-
setzt, zur Uhrendiebin; durch Stirnstreichen
wieder in II gebracht, weiss sie nichts von den
soeben in III stattgefundenen Vorgängen. Nach
3stündiger Hypnose wird Patientin befohlen, auf
ihr Zimmer zu gehen. Dort befiehlt ihr der Experi-
mentator nach Wiederertheilung der durch III
vernichteten Heilsuggestionen, sobald er auf 3
gezählt, angenehm zu erwachen.
Patientin erwacht in I, weiss von allem
seit drei Stunden Vorgefallenen nichts, ist aber
aufgeregt, gereizt. Nochmalige II und Ein-
schärfung der Heilsuggestionen schafft endlich
Ruhe, aber die Nacht ist fast schlaflos.
14. 5. Die neurotrophischen Veränderungen
machen unter einfachem Verband ihre von frühe-
ren Experimenten her bekannten Veränderungen
zur Heilung durch.
Heute in II Frage: „Woher haben Sie diesen
hässlichen rothen Fleck links auf dem Rücken?"
Antwort: „Sie haben mir ihn befohlen, indem
Sie eine Platte andrückten."
Suggestion: „Ich befehle, dass dieser häss-
v. Krafft-Ebing, Hypnotismus. 3. Aufl.
66
liehe rotlie Fleck sobald als möglich wieder verschwinde und die
Haut daselbst so weiss werde wie früher." Patientin verspricht
diese Suggestion zu erfüllen.
17. 5. Unter täglicher Wiederholung dieser Suggestion in II,
wobei mit dem Finger auf dem Fleck gestrichen wird, erscheint
die Farbe heute durch Verengerung der Gefässe nur mehr rosa-
roth. Die Infiltration der Haut im suggestiven Gebiet schwindet,
so dass diese nicht mehr prall gespannt erscheint, sondern sich
faltet. Die Figur unter der linken Mamma ist andauernd ohne
entzündliche Reaktionserscheinungen. Die erodirten, bis in die tie-
feren Schichten des Corium dringenden Stellen werden schmäler und
beginnen sich durch reichliche Epidermisbildung von den Rändern
her zu überhäuten. Fernere Geisterbesuche werden suggestiv
verboten.
21. 5. Patientin wird heute in II in verschiedene frühere
Altersstufen versetzt und zum Schreiben ihres Namens angehalten.
Sie schreibt als 5jähriges Mädchen:
als Öjähriges:
als 7 jähriges:
^i^Jh^ /C±aAaAA/
/L-Oisl/&lL
als 8jähriges:
yp^
67
als lOjähriges:
als 15jähriges:
M sfafe*/ ^
tsy^
als 20j ähriges:
cy^C^^^t^L^^--"
24. 5. Bei heutiger zur Abhörimg der Heilsnggestionen unter-
nommener II fällt es auf, dass Patientin, bevor sie in II geräth.
nicht die Augen zum Arzt aufschlägt. Die Untersuchung ergibt,
dass Patientin zwar in II ist, jedoch nur unvollkommen, insofern
sie früherer Erlebnisse in II und in posthypnotischer Suggestion
sich nicht erinnert, die Heilsuggestionen nicht aufzusagen weiss
und auf bezüglichen i\.uftrag erklärt: „Ich habe sie vergessen."
Patientin ist entschieden nicht recht in Rapport mit dem Arzt
und folgt nicht prompt seinen Aufträgen. Sie Hess sich in letzter
Zeit nur ungern zu II herbei, da sie von der therapeutischen Be-
deutung dieser Eingriffe wie überhaupt von den Vorgängen in II
im I. Zustand nichts weiss. (Beweis dafür folgende Beobachtung:
Es wird constatirt, dass Patientin sich Papierstückchen vor der
Visite morgens zwischen Ober- und Unterkleid steckt. Sie hat
nämlich aus ihrer oft derangirten Toilette nach der ärztlichen
Visite geschlossen, dass ihr in II die Jacke geöffnet wird [that-
sächlich um nach den rothen Flecken und Wunden am Thorax zu
sehen]. Um nun sicher zu gehen, dass dies geschah, versah sie
sich mit Papierstückchen, deren unbemerktes Herausfallen beim
Oeffnen der Jacke in II sie dann in I darüber aufklärte, dass man
ihr dieselbe wirklich geöffnet habe.)
- 68 —
Es wird Patientin nun nochmals die Stirne gestrichen und
ihr eindringlich befohlen, den Arzt anzublicken. Patientin kommt
diesem Auftrag nach, und jetzt um die Heilsuggestionen befragt,
sagt sie dieselben fliessend her bis auf die Schlafsuggestion, bei
welcher sie sich an die Stunden nicht zu erinnern weiss.
Bezüglich des zum genügenden Rapport in II erforderlichen
vorherigen Anblickens des Experimentators theilt Dr. Kornfeld mit,
dass, als er am 15. 4. wegen heftiger Cardialgie zu hypnotisiren
sich veranlasst sah, es ihm nicht gelang, Patientin suggestiv zu be-
einflussen und von ihr die Heilsuggestionen hergesagt zu bekom-
men. Patientin darüber in II zur Rede gestellt, sagte: „Ich kann
Ihnen nicht folgen, weil ich Sie nicht angeschaut habe."
Sie erhielt, von Dr. Kornfeld nun den Auftrag, zu erwachen,
ihn anzuschauen und dann sofort wieder einzuschlafen. Patientin
folgte, gerieth neuerlich in II, leierte auf Geheiss nun anstandslos
die üblichen Heilsuggestionen ab, bekam noch den Auftrag, bis
7 Uhr Abends zu schlafen und ohne Magenschmerz zu erwachen.
Sie versprach alles pünktlich zu befolgen und hielt ihr Wort.
30. 5. Patientin fühlt sich in letzter Zeit so wohl wie noch
nie seit ihrem Aufenthalt in Graz. Unter Portsetzung der Heil-
suggestionen in II jeden zweiten oder dritten Tag bleiben die An-
fälle trotz mehrfacher kürzlicher heftiger Gernüthsbewegungen,
veranlasst durch eine andere hysteroepileptische Kranke, aus, nicht
minder die autohypnotischen Anfälle. Patientin weist darauf hin,
dass sie am 28. 5. ein grell von der Sonne beschienenes Blechdach
lange Zeit anblicken konnte, ohne einzuschlafen. Sie freut sich
dieser Thatsache, weiss aber nicht den Grund dafür und hält jene
für ein Zeichen spontaner erfreulicher Besserung ihrer Krankheit.
Auch die Keuschheitssuggestion haftet befriedigend.
Patientin gibt in der Abtheilung nicht zu den geringsten
Klagen mehr bezüglich ihrer conträren Sexualempfindung Anlass.
Auch die Geistererscheinungen kehrten unter dem Banne der Sug-
gestion nicht wieder. Von Taedium vitae keine Spur, so dass ge-
rade bezüglich der lästigsten und wichtigsten Symptome der Krank-
heit der therapeutische Einfluss der Saggestion ein unleugbarer ist.
Seltsamerweise ist dies neuerlich aber nicht mehr der Fall
mit der Schlafsuggestion. Diese allein ist aus der Reihe der Heil-
suggestionen ausgefallen, erscheint vergessen und nicht reproducirbar.
Wenn man Patientin in II die Suggestionen abfragt, haftet die
Schlafsuggestion nicht oder nur lückenhaft, wenn man sie erneuert,
69 —
und gelangt auch nicht zur Wirkung. Patientin war in den letzten
Nächten schlaflos, klagte sehr darüber und acceptirte dankbar
Amylenhydrat, das zu 4,0 günstig wirkte.
Der suggestive, jeweils in II beeinflusste, ursprünglich livid
rothe Fleck ist seit 17. 5. nur mehr rosaroth; sonst ist er unver-
ändert und seine völlige Beseitigung auf suggestivem Wege bleibt
fraglich.
Da Patientin, „um vollends gesund zu werden", weitere Hyp-
nose ablehnt, wird das Beobachtungsjournal geschlossen und et-
waige neuerliche Hypnose eventuellen dringenden therapeutischen
Bedürfnissen (Bekämpfung drohender Anfälle u. s. w.) vorbehalten.
Das in der 1. Auflage hier abschliessende Tagebuch erhielt
wider Erwarten baldige Fortsetzung. Die im Folgenden berich-
teten weiteren Beobachtungen dürften das wissenschaftliche In-
teresse in hohem Mass beanspruchen, insofern sie weitere Aufschlüsse
über die Entstehungsbedingungen von II und III geben, das neuer-
liche Nichthaften der Schlafsuggestion erklären und einen weiteren
bei Patientin erzielbaren hypnotischen Zustand (Fascination) aufzeigen.
2. 6. Patientin, die bisher sich ruhig und geordnet verhalten
und nichts Besonderes geboten hatte, wird heute bei der Morgen-
visite in III vorgefunden. Sie sitzt im Hemd am Tisch, den Kopf
in die Hand gestützt, hält ein Heiligenbild umklammert. Sie re-
agirt nicht auf die Umgebung, wiegt den Kopf. Die Miene ist
ausdruckslos, wie schlafend, die Augen sind halb geöffnet, nach
rechts unten eingestellt, verglast, wie amaurotisch. Patientin ist
kataleptiform, die linke Körperhälfte ästhetisch. Ab und zu werden
leichte Zuckungen in der linken Oberextremität wahrgenommen.
Es handelt sich offenbar um einen Zustand besonders tiefer
Autohypnose (III b).
Allmälig gelingt es Patientin durch eine an das linke Ohr
gehaltene Taschenuhr in der bekannten Weise reagiren zu machen.
Durch wiederholtes Ansprechen, Anrufen, Anfassen stellt sich ein
Rapport mit Professor her, während Assistent und Wärterin un-
appercipirt bleiben.
Auf Vorhalt sagt Patientin weinerlich: „Ich habe die Gebote
nicht halten können." Es zeigt sich, dass durch den Anfall von
Autohypnose die therapeutischen Suggestionen vergessen sind, je-
doch besteht laut vorstehender Aeusserung eine Erinnerungsspur.
- 70 —
Um Patientin aus dieser Situation zu befreien, wird II versucht.
Patientin leistet aber Widerstand, und trotz erzwungenem An-
blicken und kräftigem Stirnstreichen gelingt es nicht, Patientin in
II überzuführen. Sie folgt zwar dem Befehl, sich ins Bett zu be-
geben, liegt dann aber — offenbar in vertieftem III. Zustand, ganz
so wie sie beim Eintritt der Visite vorgefunden wurde, da; sie
reagirt Anfangs nicht auf den Professor, auch nicht auf die vor-
gehaltene Uhr. Erst nach längerer Beschäftigung mit der Patientin
vermindert sich die Intensität von III und wird ein Rapport wieder
möglich.
Um die Situation zu klären, wird Patientin befohlen auf 3 zu
zählen und dann zu erwachen. Wie zu erwarten war, erwacht
sie in dem posthypnotischen Suggestionszustand entsprechender, wenig
intensiver III c Verfassung. Sie weiss nun alles in autohypnoti-
schem und posthypnotischem Zustand ihr früher Begegnete, nichts
aber von den therapeutischen Suggestionen.
Ein gewisser Grad von Willen steht Patientin zu Gebote.
Sie widersetzt sich dem Versuch, sie durch Stirnstreichen in
II zu bringen und als sie das Streichen nicht verhindern kann,
vermeidet sie es wenigstens den Professor anzublicken. Sie geräth
in eine niedere Stufe von II und unter die Botmässigkeit des
Experimentators, antwortet auf die Frage, wie es ihr gehe, „mir
geht es nicht gut, mir thut der Kopf weh" und auf die weitere,
„warum haben Sie mich nicht angeblickt": „Ich habe keine Zeit
dazu gehabt".
Dass II aber unvollkommen ist und der psychische Apparat
der Patientin nur unvollkommen beherrscht wird, ergibt sich klar
daraus, dass die Hervorrufung von Contracturen unmöglich ist,
und dass auch phonographische Experimente misslingen.
Es wird nun gesagt: „Frl. Ilma, ich werde Sie einschläfern,
damit Sie Ihr Kopfweh verlieren. Ich werde zu diesem Zweck Ihre
Stirne streichen, Sie werden mich fest anblicken und sich mein
Bild einprägen." Nun fügt sich Patientin dem Gebot. Alles ge-
schieht wie befohlen und Patientin befindet sich im gewöhnlichen
II Zustand. Sofort gelingen Contracturen, Lösung derselben durch
centripetales Streichen und phonographische Versuche.
Die therapeutischen Suggestionen werden neuerdings gegeben.
Patientin wiederholt sie, wobei aber das Verbot des Selbstmords
mit grosser Unlust acceptirt wird. Darauf wird Patientin in I
übergeführt.
Nachmittags wird gemeldet, dass Patientin in Autohypnose
gerathen sei. Dr. Werner findet Patientin in III b und versucht
sie durch Stirnstreichen in II überzuführen. Dadurch wird III ab-
geschwächt und Rapport erzielt. Patientin blickt auf und erklärt
W. spontan: „Ilma kann dem W. nicht folgen, bevor die Seh.
(eine Patientin) sie nicht aufgeweckt hat." Es stellt sich heraus,
dass Patientin Seh. der über Kopfschmerz klagenden Ilma im
Verlauf des Nachmittags wiederholt mitleidig die Hand auf die
Stirne gelegt hatte und sie dadurch offenbar hypnotisch beein-
flusst hat.
Die herbeigerufene Patientin Seh. wird beauftragt, der Ilma
zu suggeriren: „Ilma wachen Sie auf, lassen Sie sich jedoch sogleich
von W. wieder einschläfern." Diesem Auftrag der Seh. gehorcht
Ilma sofort und nun gelingt II leicht dem Arzte. Patientin er-
hält die Suggestion bis Abends 6 Uhr zu schlafen, dann zu essen
und ruhig weiter zu schlafen. Patientin erwacht um 6 Uhr, isst,
schläft jedoch nicht mehr ein.
4. 6. Patientin wird heute im Garten bei der Morgen visite
angetroffen und ganz en passant in II versetzt, wobei sie den Arzt
nicht recht anblickte. Sie schien aber vollkommen in II und da
Menses eingetreten und Spuren sexueller Regung bemerklich sind,,
wird bei Ertheilung der Suggestionen besonderer Accent auf Keusch-
heitssuggestion gelegt. Patientin geräth darüber in auffallende,
weil sonst nicht beobachtete zornige Erregung. Da Professor
eilig ist, wird rasch auf 3 gezählt. Patientin kommt nicht in I,
sondern in eine Art III. Dr. Kornfeld vermuthet, dass zu schnell
gezählt wurde. Auf neuerliches langsames feierliches Zählen ge-
räth Patientin in I. Sie ist nicht wie sonst freundlich, son-
dern. unwirsch, gereizt und schreibt einige Stunden später folgen-
des Billet:
„ Als Sie mich heute früh im Garten einschläferten,
war es mir als ob ich sprechen sollte, aber ich konnte doch nicht
Dasjenige sagen, was ich im Sinne hatte. Ich hörte und sah Alles,
was um mich war, allein ich war meiner Bewegung nicht mächtig.
Ich hörte, als Sie jemand von den Aerzten sagten: „,das ist wieder
etwas Neues, notiren Sie, „,bei Suggestion „,ein keusches Beneh-
men zu haben'", wurde Patientin unwillig und erwachte beim
Zählen nicht wie sonst'", worauf Dr. K. dem Umstand die Schuld
gab, Sie hätten rascher als sonst gezählt. Darauf weckten Sie
mich noch einmal und erst darauf bekam ich den völligen Gebrauch
— 72 —
der Glieder und des Willens. Ich beschreibe Ihnen dies darum
so ausführlich, damit Sie mir glauben und es nicht für Halluzina-
tion halten. Es wurde mir durch diesen Umstand Vieles erklär-
lich, was ich früher nicht verstehen konnte."
Patientin verwahrt sich wieder in bitteren Worten gegen den
Vorwurf der Unkeuschheit. Bei mündlicher Rücksprache bestätigt
Patientin, sie sei bloss willenlos, nicht aber der Aussenwelt
entrückt gewesen, habe Alles gehört was um sie gesprochen
wurde, sich aber gar nicht ausgekannt, was das Alles zu be-
deuten hatte.
5. 6. Da Patientin schlaflos ist und darunter sehr leidet, wird
heute II hervorgerufen und besonderes Gewicht auf die Schlaf-
suggestion gelegt. Patientin nimmt diese Suggestion durchaus nicht
an und motivirt ihre Weigerung auf Eindringen in folgender interes-
santer Weise : Sie sei, wenn sie die bezügliche Suggestion bekomme,
nicht im natürlichen sondern im künstlichen (posthypnotisch sug-
gestiven) Schlaf. In diesem künstlichen Schlaf könne sie eine
frühere Suggestion, nämlich sich nichts auf die Haut machen zu
lassen, nicht erfüllen. Wenn sie auf des Arztes Gebot schlafe, sei
sie nicht Herrin der Situation und könne es nicht hindern, dass
der alte Mann (Hallucination im posthypnotischen III Zustand) ihr
wieder auf die Haut schreibe, was doch verboten sei. Da diese
zwei Suggestionen miteinander in Collision stehen, könne sie die
Schlafsuggestion nicht annehmen.
Auf die Frage, was man denn thun müsse, um ihr zu gutem
Schlafe zu verhelfen? bekommt man die Antwort:
„Da müssen Sie es machen wie Professor Jendrässik."
Wie hat er es gemacht?
„Das kann ich nicht sagen. Da müssen Sie mich einschläfern
wie Professor J. es that."
Wie that er es?
„Das kann ich nur sagen, wenn Sie es mir befehlen."
Ich befehle es Ihnen.
Patientin mit vor Erregung zitternder und erhobener Stimme:
„Er that es durch Anblicken, indem er den Magnet mir auf den
Kopf, und darüber seine Hand gelegt hatte, aber das thut mir
sehr weh."
Patientin nimmt nun die 3 ersten Heilsuggestionen an und
sagt sie auf. Darauf wird sie, nach vorheriger Suggestion guten
Erwachens, in I versetzt.
— 73 —
7. 6. Patientin hat trotz Morphiochloral, ein anderes Mal trotz
4,0 Ainylenhydrat schlaflose Nächte zugebracht. Sie bedauert tief
das Verschwinden des früheren (suggestiven) guten Schlafs und
weiss sich ihre Schlaflosigkeit nicht zu erklären.
Um ihr zum Schlaf zu verhelfen, wird heute II nach dem
Recept der Patientin zu erzielen versucht. Sie sträubt sich an-
fangs dagegen. Da kein Magnet gerade zur Hand ist, benutzt
man eine Magnetatrappe aus Pappendeckel.
Kaum ist Patientin durch festes Anblicken und Aufforderung
einzuschlafen (während die Atrappe und die Hand des Experimen-
tators auf ihrem Kopfe ruhen) beeinflusst worden, so entsteht ein
neuer, bisher bei Patientin nicht beobachteter Zustand, der sich als
Fascination bezeichnen lässt.
Patientin hängt nämlich, die Augen offen, mit ihrem Blick
förmlich an denen des Experimentators, blickt ihn unverwandt an
und imitirt zwangsmässig und getreu jede Geberde und Bewegung,
die der Experimentator vornimmt.
Auf die Frage: „Warum schlafen Sie nicht?" antwortet Pa-
tientin: „Weil der Herr Professor der Ilma die Gebote nicht so
geben, dass sie gesund werden kann."
Wie soll ich die Gebote geben?
„Professor K. soll der Ilma befehlen, dass sie ein für alle-
mal keine Selbstmordgedanken haben darf; Professor K. soll ferner
der Ilma befehlen, dass sie ein für allemal in keinen unzu-
rechnungsfähigen Zustand gerathen darf, denn sie ist nicht nur
dann unzurechnungsfähig, wenn sie beim Anblicke glänzender Gegen-
stände einschläft, sondern auch dann, wenn sie leidenschaftlich und
zornig ist. Ferner soll Professor K. der Ilma sagen, dass sie ein
für allemal keinen Anfall bekommen darf. Das soll der Professor
der Ilma befehlen, dann wird sie von selbst schlafen. Das müssen
Sie nicht mir, sondern der Ilma sagen."
Wo ist Ilma?
„Ilma ist in Ihrem Auge."
Wie soll es Professor machen, dass Ilma die Gebote hält?
„Professor soll sie Ilma geben, indem er ihr quer über die
Stirne streicht und sich dabei umwendet."
Hört Ilma oder hören Sie?
„Ich höre Sie, Ilma ist im Auge des Professors."
Wie heissen Sie?
„Ich bin jetzt nichts, ich bin das Bild."
— 74 —
Wollen Sie wieder Ilma werden?
„Ja, denn ich fühle grosse Schmerzen in den Augen und auf
dem Kopf."
Kann Professor K. der Ilma nicht direct befehlen, dass sie
gut schläft?
„Das kann Professor nicht mehr, weil er das schon
verdorben hat, weil Ilma keinen natürlichen Schlaf
schläft, wenn sie vom Professor seinem Befehl schläft."
Während Patientin zwangsmässig jede Geste, Grimasse, Hand-
lung des Experimentators imitirt, erklärt sie bei einer beliebigen
aufgetragenen Handlung dazu unfähig zu sein, „ich bin nichts, ich
bin das Bild in Ihrem Auge, ich kann es nicht thun, weil mein
Bild in Ihrem Auge ist. Ich kann jetzt keine Befehle annehmen,
das kann Ilma thun, die Befehle kann nur Ilma annehmen. Mir
thut das Auge sehr weh."
(Professor bedeckt seine Augen mit der Hand.) „Professor
K. verdeckt das Bild," (Patientin wird unruhig, ängstlich.) Auf
die Frage, wie sie von Pest nach Graz gekommen sei, antwortet
Patientin :
„Das kann Ihnen Ilma sagen."
Haben Sie eine Uhr weggenommen?
„Das hat Ilma gethan."
Wie lang war Ilma im Kloster?
„Das wird Ihnen Ilma sagen, wenn Sie ihr befehlen."
Wünschen Sie in Ilma verwandelt zu werden?
„Ja.
Professor K. streicht nun Patientin quer über die Stirne und
theilt ihr mit, dass er sie in Ilma verwandelt. Sofort entsteht I.
Patientin erinnert sich bloss, dass ihr Professor etwas auf den
Kopf gelegt habe. Für die ganze Zeit der Fascination besteht
Amnesie. Patientin wird nun auf gewöhnliche Weise und ohne
sich zu sträuben in II versetzt. Sie erinnert sich der früheren
Gebote nicht.
Es werden ihr nun wörtlich die von ihr bezeichne-
ten Suggestionen in der von ihr gewünschten Weise er-
theilt. Sie nimmt sie an und wird in I gebracht.
Patientin fühlt sich auffallend wohl und spricht in den fol-
genden Tagen wiederholt ihre Ueberzeugung aus, dass sie nun end-
lich genesen werde.
12. 6. Heute nochmals Menses (profus). Patientin hat in-
— 75 -
zwischen sich wohl befunden und gut geschlafen. Patientin soll
morgen über Auftrag des königl. ungar. Ministeriums nach einer
heimathlichen Versorgungsanstalt abgeholt werden.
Patientin möchte hier bleiben, hofft hier gesund zu werden,
äusserte wiederholt, sie könne sich nicht in den Gedanken finden,
von hier fortgebracht zu werden.
Eine Berathung ergibt, dass man Patientin nicht in I nach
Pest verbringen kann, ohne heftige hysteroepileptische Anfälle mit
deren weiteren Consequenzen zu riskiren.
Sie in II zu transportiren geht nicht, da sonst der hypnoti-
sirende Arzt mitmü'sste, um die „Statue" bewegungs fähig zu machen.
Ueberdies wäre plötzliches Erwachen auf der 13 Stunden langen
Eisenbahnreise möglich. Bei dieser Sachlage erschien es am hu-
mansten und praktisch, die Kranke in III und zwar im Zustand
posthypnotischer Suggestion, demselben, in welchem sie wohl die
Herreise gemacht hatte, heimreisen zu lassen. Patientin wird
ahnungslos zu diesem Zweck in II versetzt, es werden zum letzten-
mal die neuerlich nach ihrer eigenen Redaction aufgestellten Heil-
suggestionen gegeben und abgehört und vor der Ueberführung in I
wird folgende posthypnotische Suggestion ertheilt:
„Sie werden morgen früh 6^2 Uhr sich reisefertig machen
und mit einem Landsmann um lvi2 Uhr früh ruhig und angenehm
nach Pest reisen. Sobald Sie zu Bett gebracht sind, werden Sie
angenehm erwachen."
Patientin nimmt diese Suggestion ohne irgendwelche psychische
Bewegung an (Morgens 9 Uhr) und ist bis Nachmittags sehr guter
Laune. Da wird sie gedrückt, spricht von trüben Ahnungen, es
stehe ihr ein Unglück bevor, sie vermuthe, dass sie morgen schon
abreisen werde. (Sie folgert dies aus einem Gerücht, dass sie be-
treffende Aktenstücke aus Pest gekommen seien und aus einer Be-
merkung eines der Aerzte, „diese Handarbeit bringen Sie heute
wohl nicht mehr fertig".)
Patientin klagt Nachmittags Dr. K. gegenüber, wie tief un-
glücklich sie sei — es stehe ihr Zuchthaus, Irrenhaus oder Selbst-
mord bevor. Sie werde sich gegen letzteren wehren, solange sie
religiösen Halt besitze. Wenn sie ihre Vergangenheit überschaue
und an die Zukunft denke, komme sie sich als das unglücklichste
aller Geschöpfe vor. Vor dem morgigen Tag graue ihr, schon
weil er der Todestag ihres Vaters sei. Komme sie in eine Irren-
anstalt, so werde sie ihren Schwur (Selbstmord?) halten.
— 76 -
Es gelingt Patientin zu trösten, abzulenken. Sie bittet um
Amylenhydrat (4,0) und schläft um 11 Uhr ein.
13. 6. Patientin schlief gut bis 5 Uhr früh, erwachte gut ge-
launt, machte sich um Ö1^ Uhr reisefertig, nahm ohne besondere
Gemüthsbewegung Abschied, für alles Genossene dankend, für ihre
Fehler und Streiche um Verzeihung bittend. Sie wird dann dem
Begleiter vorgestellt und verlässt mit ihm programmmässig um
7^2 Uhr das Spital, um nach dem Bahnhof zu fahren.
Dass Patientin sich nicht in I seit dem Aktivwerden der post-
hypnotischen Suggestion befand, geht daraus hervor, dass sie rein
geschäftsmässig, ohne jegliche Gemüthsbewegung, ohne nach dem
Ziel der Reise zu fragen, ohne ein Wort des Abschieds für den
Professor, der seit dem Montag sie nicht mehr gesehen hatte, sich
auf den Weg machte.
Sie stand dabei offenbar unter „fremdem Willen" und führte
das ihr Aufgetragene ohne alle Kritik und Reflexion aus. Bemer-
kenswerth ist, dass sie der Schwester vor der Abreise sagte, sie
fühle es wohl, dass sie jetzt nicht im normalen Zustande sei. Allen
Beobachtern fiel der „hypnotische" Ausdruck der jedenfalls tief
veränderten Miene auf.
Auf dem Bahnhof beobachtete sie noch Dr. Hellwig. Als sie
seiner ansichtig wurde, entschuldigte sie sich, nicht zu Hause sich
von ihm verabschiedet zu haben, that dies in aller Form, ihm für
seine Bemühungen dankend und bestieg dann in heiterer Laune
den Zug.
Dem Beobachter war Patientin auf dem Bahnhof nicht weiter
auffällig, ausser durch einen traumhaften Gesichtsausdruck und den
stieren, wie amaurotischen Blick.
Jedenfalls war sie nicht in I, sondern in einem den früheren
hypnotischen Suggestionszuständen analogen psychischen Ausnahms-
zustand (III c), jedoch in durch den posthypnotischen Auftrag offen-
bar ziemlich grossen Spielraum gewährender psychischer Verfassung.
Sie folgte unter fremdem Willen mit gebundener Marschroute einem
ihr bezeichneten Ziel ohne Fähigkeit, Reflexion und Kritik an der
ihr suggerirten Leistung zu' üben, jedoch innerhalb dieser Leistung
vollkommen befähigt zu spontaner aktiver und überlegter Einzel-
handlung.
Aus dem Reisebericht des Begleiters (Irrenanstaltsoberwärter)
ist hervorzuheben, dass Patientin sich gar nicht erkundigte, wohin
man sie bringe, gar nichts dabei fand, dass sie mit dem Bediensteten
einer Irrenanstalt reise, in dieser angekommen (obwohl sie sonsl
ein Ort des Schreckens für sie in I war), gar nicht fragte wo sie
sei, sich über den neuen Aufenthaltsort nicht wunderte, Alles ganz
natürlich fand, sich ganz behaglich fühlte. In dieser Verfassung
befand sich die Patientin auch noch die folgenden Tage, so dass
die Vermuthung gerechtfertigt erscheint, mit der Erfüllung der post-
hypnotischen Suggestion sei sie noch nicht in I zurückgekehrt, son-
dern habe sich noch bis auf Weiteres in einem III-Zustand, unter
dem fortdauernden psychischen Einfluss (Willen) des Experimentators
befunden.
Dass Patientin während der Reise nicht in I sich befand, lässt
sich auch daraus vermuthen, dass sie selbst im eigenen Lande und
mit den Landsleuten deutsch und nicht ungarisch sprach, sehr
gesprächig war, von verschiedenen Erlebnissen in 111-Zuständen
erzählte, gegen ihre I-Art und Weise anstössige Gespräche führte.
u. A. die Untreue so mancher Weiber gegen ihre Männer für ganz
berechtigt hielt und zehn Cigarren hintereinander rauchte !
Unter Anderem äusserte Patientin ihre Verwunderung, dass
sie erst am Morgen gewusst habe, dass und wohin sie reise!
Am 29. Juli hatte Herr Primararzt Dr. Bolyo in Pest,
in dessen Beobachtung und Behandlung Patientin sich seither be-
findet, die Güte, mir folgende Notizen über sie zukommen zu
lassen :
„Das Benehmen unserer Patientin ist bisher tadellos. Ausser
der noch bestehenden Hemianästhesie zeigt sie absolut nichts Patho-
logisches. Sie hatte, seitdem sie hier ist, keinen Anfall; ihr Be-
wusstsein war nie gestört; Appetit und Stuhlgang in Ordnung. Ihr
Schlaf war immer gut. Psychisch zeigt sie gar keine Abnormitäten.
Die Menstruation stellte sich bisher ganz regelmässig schon zwei-
mal ein.
Seitdem sie hier ist, wurde aber auch mit der Hypnose gar
kein Versuch gemacht. Wir ignoriren vollständig die Aeusserungen.
welche Patientin über die hypnotischen Experimente macht, deren
Gegenstand sie in Graz war. Wir Avolleu abwarten , bis bei der
Kranken derartige pathologische Zustände auftreten werden, welche
eine nur zu Heilzwecken erwünschte Hypnose für nothwendig er-
scheinen lassen werden."
Am 20. 11. 88 theilte der Arzt der Patientin freundlichst mit,
dass der psychische Zustand andauernd ein günstiger ist und, ab-
gesehen von zeitweise hervortretendem perversem Sexualtrieb,
— 78 —
Patientin zu keiner Klage Anlass gebe. Sie sei fleissig, folgsam,
frei von hysterischen Krampfanfällen, schlafe gut, menstruire regel-
mässig, fühle sich psychisch gesund und sei es auch körperlich bi&
auf einen hartnäckigen chronischen Magencatarrh.
Zu hypnotischen Einwirkungen fand sich bisher keine Veran-
lassung.
Ob diese günstige Wendung des Zustands auf einer Intermission
der Neurose oder auf dem Aufhören der hypnotischen Experimente
beruht, oder das Resultat der autosuggestiven Richtig-
stellung der in der Hypnose vom 7. 6. ertheilten Befehle
ist, muss vorläufig dahingestellt bleiben.
Auffallend ist immerhin, dass Alles in der Folge so zutrifft,
wie es suggerirt wurde, mit Ausnahme des perversen Sexual-
triebs, der suggestiv unberücksichtigt blieb.
Wäre diese Deutung richtig, so würde dadurch der thera-
peutische Werth redactionell richtiger Suggestionen eine-
weitere Bestätigung erfahren.
Dann böte aber die Wiederholung der am 7. 6. der Patientin
nach ihrer eigenen Redaktion gegebenen suggestiven Befehle, bei
neuerlicher Störung ihres guten Befindens , Handhaben für eine
endliche mögliche Genesung und würde ärztlich als eine Pflicht er-
scheinen.
Aus einem mir unterm 3. 11. 92 von der Direction der kgl.
ungarischen Irrenanstalt freundlichst zugesendeten Bericht über meine
frühere Kranke erfuhr ich, dass sie den Winter 1888/89 über durch
Aeusserungen ihres perversen Sexualtriebs recht lästig war, jedoch trotz
aller nöthigen Repressivmassregeln keine hystero-epileptischen Anfälle
bekam. Vorn April 89 ab wurde sie ruhiger, arbeitete fleissig und
vermochte sich zu beherrschen. Am 10. 9. 89 nach einer heftigen
Gemüthsbewegung erster hystero- epileptischer Insult, dem am 23. 10.,.
23. 11., 12. 12. 89 weitere folgten. Pat. bekam nun Bromkali und
wegen Schlaflosigkeit Morphium, wurde dauernd ruhig, anständig,
arbeitsam , hatte einen letzten Krampfanfall am 27. 3. 90. Da
Patientin in der Folge immer ruhig, ernst, folgsam war, nicht mehr
intriguirte, ihre Lage richtig und vernünftig auffasste, keine Anfälle
mehr bot, auch, trotz scharfer Ueberwachung, keine sexuelle perverse
— 79 —
Triebe mehr kund gab, wurde sie am 28. 8. 91 genesen aus der
Anstalt entlassen.
Während ihres Aufenthalts in derselben wurde Patientin kein
einziges Mal hypnotisirt, sogar der Versuch dazu war strenge unter-
sagt und wurde nur „solange Patientin sich unruhig und wider-
spenstig benahm, strenge Disciplin angewendet".
Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass der günstige Aus-
gang in diesem Falle dem traitement moral, wie es eine gut ge-
leitete Heilanstalt zu bieten vermag, zuzuschreiben ist. Interessant
im Sinne posthypnotischer Suggestionswirkung bleibt immerhin die
Thatsache, dass Patientin vom 7. 6. 88 bis zum 10. 9. 89 sich der
suggestiven Directive entsprechend verhielt und , trotz genügender
äusserer Anlässe, von Krampfanfällen verschont geblieben war.
Epikrise.
Die zu vorstehenden hypnotischen Experimenten benutzte Per-
sönlichkeit ist vermöge ihrer Neurose (Hysteria gravis) und beson-
derer Veranlagung in hohem Grad zur Versetzung in hypnotische
Zustände befähigt. Als solche sind jederzeit experimentell herstell-
bar ein Zustand von Kataleptiko-Somnambulismus (II) und ein
solcher von Autohypnose (III).
Im relativ normalen und luciden Zustand (I) bietet die Ver-
suchsperson das Erscheinungs- und Zustandsbild einer Hysteria
gravis mit den gewöhnlichen neurotischen und psychisch-elementaren
Funktionsstörungen einer solchen.
Durch gewisse Proceduren gelingt es leicht, Patientin in den
Zustand II zu versetzen. Diese Proceduren (Stirnstreichen, Augen-
compression, Anblicken, einfacher Befehl u. s. w.) dürften auf Sug-
gestion (sensible , auditive) beruhen und sich in letzter Linie auf
eine rein psychische Beeinflussung zurückführen lassen.
Diese gelingt nur dann, wenn Patientin dem Willen des Ex-
perimentators gefügig ist.
Bemerkenswerth ist, dass sie jeweils im Moment der eintre-
tenden hypnotischen Beeinflussung die Augen zu dem Experimen-
tator aufschlägt, so zu sagen sein Bild in die Nacht des unbe-
wussten hypnotischen Zustands mit hinübernimmt. Zeigt sich schon
dadurch die rein psychische und suggestive Entstehungsweise von
II, so wird dies noch deutlicher, wenn man berücksichtigt, dass die
Intensität von II und der Grad der Beherrschbarkeit der Versuchs-
person durch den Experimentator ganz von der Innigkeit des Rap-
ports abhängt, in welchem sie zu ihm sich befindet. Damit erklärt
sich der theilweise Misserfolg bei inadäquaten Einschläferungsver-
suchen (z. B. Streichen mit einer Bürste statt mit der Hand), bei
— 81 —
zufälligem oder absichtlichem Nichtanblicken des Experimentators
während der Hypnotisirung, die Schwierigkeit für Andere, II zu
erzielen, die Unvnllkommenheit des Einflusses Dieser im Gegensatz zu
dem des gewohnten Experimentators u. s. w. (man vergleiche be-
sonders die Beobachtungen vom 4. (5.). In II befindet sich die Hirn-
rinde der Patientin in einem tiefen Hemmungszustand, der spontane
Apperceptionen ausschliesst. Perceptionen sind aber im Bereich des
Acusticus und der cutanen Empfindung auf der linken Körperhälfte
möglich. Für ihre Ueberführung in Apperceptionen liegen keine
Beweise vor. Sie ist bei der tiefen Hemmung der sensorischen
Gebiete der Hirnrinde auch nicht annehmbar.
Die Perception beschränkt sich auf Gehörs- und Schmerzein-
drücke und dadurch ausgelöste einfache Reflexe. Diese Hemmung
vermag nun der Experimentator jeweils durch Suggestion zu be-
seitigen. Dieser merkwürdige Einfluss ist nur diesem möglich.
Suggestive Wege sind der sensible und der auditive. Durch solche
Suggestion kann der Experimentator jederzeit beliebige Hirngebiete
erschliessen , d. h. von der Hemmung befreien. Der virtuell zu
Gebot stehende Hirnmechanismus arbeitet dann höchst exakt, aber
nur so lange und so weit, als er suggestiv beeinflusst ist. Bemerkens-
werth ist die Präcision und Logik, mit welcher die psychische Seite
dieses Mechanismus arbeitet. Eine unklare zweideutige, unlogische
Suggestion setzt Verwirrung und Unsicherheit. Nur ganz präcis
gegebene Suggestionen kommen tadellos zur Ausführung.
Sich selbst überlassen, erscheint die Versuchsperson auf Grund
der tiefen Hemmung aller Spontaneität verlustig. Sie gleicht einer
Statue und nichts in ihrer Miene verräth, dass geistige Vorgänge,
wenn auch nur in Form von Traumbildern, in ihr ablaufen.
Auch wenn diese Statue durch Suggestionen belebt wird, ist
der Mangel jeglicher höherer geistiger Funktion (Urtheil, Kritik,
Wille u. s. w.) auffallend. Sie gleicht dem „l'homme machine"
La Mettrie's, sie ist ein reiner Automat. Damit ist sie ein willen-
loses Werkzeug in der Hand des Experimentators, höchstens dass
oberflächliche und suggestiv leicht zu beseitigende Gemüthsbewe-
gungen auftreten. Dies gilt aber nur für den vollentwickelten II.
Zustand. Ist derselbe ein unvollkommen entwickelter, so ist die
Hemmung keine vollständige und Wille, Apperception u. s. w. nicht
gänzlich gebunden , ebensowenig Amnesie in I für das in II Er-
lebte vorhanden (vgl. 4. 6.). In diesen unvollkommen entwickelten
II-Zuständen ist aber auch der gewohnte Experimentator nicht un-
v. Krafft-Ebing, Hypnotismus. 3. Aufl. 6
— 82 —
beschränkter Beherrscher des psychischen Mechanismus der Ver-
suchsperson, vermag z. B. nicht Contrakturen, phonographische Ex-
perimente u. s. w. an ihr zu bewirken.
Befindet sich Patientin in vollständiger Hypnose (II), so ist
die Macht des Experimentators über die Versuchsperson eine
schrankenlose. Die von ihm suggestiv geschaffenen Zustände
und Veränderungen (z. B. Transferfc) bestehen aber nur
für ihn, sie sind psychisch, subjektiv, nicht objektiv.
Die suggestiv erschlossenen Hirngebiete sind sehr anspruchs-
fähig. Da die Leitungsbahnen und Sinnesapparate sich nicht hyper-
ästhetisch erweisen , kann die gesteigerte Anspruchsfähigkeit nur
als eine centrale (psychische) gedacht werden.
Die rein psychische Bedeutung dieser Veränderung ergibt sich
daraus, dass nur vom Experimentator ausgehende Reize und erst
nachdem die Aufmerksamkeit der Versuchsperson suggestiv wach-
gerufen ist, zur Wahrnehmung gelangen. Dies ergibt sich u. A.
aus der Thatsache, dass nur dem Experimentator die Hervorrufung
und Lösung von Contrakturen auf der Bahn cutaner, sensibler Re-
flexe, nur ihm, offenbar durch muskuläre sensible Bahnen vermittelt,
die Hervorrufung mimischer Ausdrucksweisen durch der Person
gegebene plastische Attitüden gelingt. Auch der Magnet, unbe-
schadet seiner zuzugebenden spasmogenen Wirkung in II
und des Ueberwiegens der Wirkung des Südpols über die
des Nordpols, wirkt nur in der Hand des Experimentators.
Diese Wirkung ist jedenfalls eine reflektorische via sensibler
Hautnerven, denn an anästhetischen Stellen ist sie Null. Die diese
Wirkung vermittelnden Centralorgane erscheinen durch lange Inan-
spruchnahme erschöpfbar. Die Auffrischung ihrer Leistung z. B.
durch Transfert wirkt erregbarkeitssteigernd. Aus Allem geht her-
vor, dass das Ausschlaggebende bei den Versuchen ein psychischer
Faktor zwischen Versuchsperson und Experimentator ist. Mit an-
deren Worten: Alles geschieht durch Suggestion und die
Wege, auf denen sie möglich wird, sind die acustische
und die sensible (cutane und muskuläre) Leitungsbahn.
Die enorme Erhöhung der Anspruchsfähigkeit der Centren
ergibt sich u. A. aus dem Umstand, dass auch nach dem Magnet
gehandhabte nicht magnetische Körper in der Hand des Experi-
mentators spasmogene Wirkung haben, sowie dass Patientin das
Schlagen des Gong durch einen Anderen nicht bloss percipirt, son-
dern auch unangenehm davon berührt wird.
- 83 —
Noch merkwürdiger erscheint die Thatsache der Möglichkeit
der erfolgreichen Suggestion in Centren und Bahnen, welche für
den bewussten Willen in normaler psychischer Verfassung jeden-
falls nicht erreichbar sind. Es werden dadurch Möglichkeiten
der Beeinflussung körperlicher Funktionen durch unbe-
wusste psychische Vorgänge aufgezeigt, die für das
krankhafteNervenlebenvonhöchstemlnteresseundgrosser
Bedeutung sind.
Manche dieser Suggestionen, wie z. B. die Hervorrufung von
Gänsehaut durch die suggestive Vorstellung von Kälte, die Suggestion
von Schlaf, Eintritt der Stuhlentleerung u. s. w. kommen noch in
physiologischer Breite vor oder finden wenigstens darin ihre Ana-
loga ; manche andere sind Alltagserscheinungen bei Nervenkranken,
namentlich Hysterischen, die Lähmung von Extremitäten, Blindheit,
Taubheit u. dgl. durch Autosuggestion bekommen und von den
verschiedensten funktionellen Leiden durch Suggestion im nicht
hypnotischen Zustande Seitens des Arztes, oft unter Zuhilfenahme
von Scheinarzneien u. dgl., befreit werden.
Für die gegenwärtige Wissenschaft unerklärbar stehen die
Suggestionen im Gebiet vasomotorischer und trophischer Nerven
und wärmeregulirender Centren da. Dass derlei Wirkungen nicht
bloss durch psychischen Einfluss (Befehl) des Experimentators, son-
dern sogar durch hallucinatorische Suggestion möglich sind, lehren
die Erfahrungen vom 6. 5. Sie bilden eine Brücke zu dem Gebiet
der autosuggestiven Wirkungen auf leibliche Vorgänge, deren Vor-
kommen (bei Hysterischen z. B. in Form von Blutschwitzen, Auf-
treten von Wundmalen u. s. w.) auf dem Gebiet der Neuropatho-
logie nicht anzuzweifeln, aber noch viel zu wenig gewürdigt ist.
Wir haben jene suggestiven Wirkungen an Patientin oft ge-
nug experimentirt und mit allen Cautelen, um für ihre Richtigkeit
einstehen zu können. Manches Andere, wie z. B. die Suggestion
ins Herznervengebiet, die suggestive Paralysirung der Wirkung von
Medicamenten ist misslungen. Ich getraue mich nicht zu behaupten,
dass derlei nicht bei einer anderen Versuchsperson gelingen könnte.
Die Fernwirkung von Medikamenten (Luys) hat sich als ein Irrthum
herausgestellt.
Mit Versuchen einer möglichen Transposition der Sinne haben
wir uns nicht weiter beschäftigt, da sie bisher sich als Betrug und
Selbsttäuschung herausgestellt hat und mit den elementaren Gesetzen
der Physiologie im Widerspruch steht.
— 84 —
Auch die Clairvoyance haben wir bei Seite gelassen, da sie
gegen einen der ersten Sätze der empirischen Psychologie verstösst
und eine Steigerung der geistigen Funktionen bei der Versuchs-
person in keiner Weise zu Tage trat. Der einzige Versuch einer
.Suggestion mentale" des Errathens der Gedanken des Experimen-
tators durch die Patientin machte Fiasko, resp. musste aufgegeben
werden, da Patientin sich peinlich abmühte und Gefahr lief, einen
lrystero-epileptischen Anfall zu bekommen. Die Vermuthung, dass
in allen Fällen, wo Suggestion mentale gelungen sein soll, eine
Selbsttäuschung durch unbeabsichtigte Suggestionen von Seite des
Experimentators im Spiele war, scheint mir berechtigt.
Die Suggestionen bezüglich der Transformation der Persön-
lichkeit, die Schaffung hallucinatorischer Situationen und gefälschter
Wahrnehmungen, so verblüffend sie für den Laien und so interes-
sant sie als experimentelle Leistungen für die psychiatrische Wissen-
schaft sein mögen, beanspruchen am wenigsten allgemeines wissen-
schaftliches Interesse, da sie als Autosuggestionen des Traums und
des Irrsinns massenhaft Analogien bieten. Bemerkenswerth bleibt
immerhin der Einfluss dieser psychischen suggestiven Einwirkungen
in therapeutischer Hinsicht. Von diesem therapeutischen Faktor
wurde ausgiebiger und für die uns beschäftigende Patientin nicht
unwichtiger Gebrauch gemacht.
Ihre im concreten Fall bald versagende Wirkung, ihre Zer-
störung durch beliebige III-Zustände oder hystero-epileptische An-
fälle würde zur grössten Skepsis bezüglich ihres therapeutischen
Werthes nöthigen, wenn nicht zahlreiche Fälle aus fremder und aus
eigener Erfahrung ihn erwiesen. Ich halte die hypnotische Sug-
gestion für eine werth volle Bereicherung der Therapie der func-
tionellen Nervenkrankheiten.
Eine Erscheinung im Gebiet der Suggestion geänderter Per-
sönlichkeit scheint mir noch der Erwähnung werth. Patientin schreibt
in ein Schulmädchen verwandelt, ganz anders als in der Gegenwart.
Schriftproben aus der Schulzeit der Patientin stehen mir leider nicht
zu Gebot, aber es liegt nahe zu vermuthen, dass die Schrift des
suggestiven Schulmädchens der wirklichen aus der Schulzeit ent-
spricht und dass die neuerlich gemachte Behauptung, dass das Ge-
dächtniss längst historisch gewordener geistig-körperlicher Lebens-
phasen unter günstigen Umständen reaktivirt werden kann, Berech-
tigung hat.
An der Versuchsperson konnte noch eine weitere III. Modi-
— 85 —
fication ihrer psychischen Leistung experimentell erzielt werden und
zwar dadurch, dass man sie durch ungewöhnliche (inadäquate) Pro-
ceduren aus II (experimentelle Hypnose) in I oder auch aus I in
II überführen wollte.
In diesem Zustand (lila) ist die Hemmung des Seelenorgans
keine so vollständige , wie in der experimentellen Hypnose (II).
Patientin vermag Perceptionen zu machen (speciell acustische und
optische) und hört und sieht auch andere Personen als den Experi-
mentator, aber Alles vollzieht sich auf traumhafter Bewusstseins-
stufe in diesem Zustand. Jedenfalls fehlen auch hier Spontaneität,
Wille und klare Apperception. Verhängnissvoll werden der Patien-
tin in diesem Zustand optische und acustische Reize, indem sie der sie
auslösenden Gegenstände (Silberzeug, Uhren u. dgl.) ganz automa-
tisch sich bemächtigt und damit zur unbewussten Diebin wird.
Dieser III. Zustand kann aber auch spontan entstehen (Auto-
hypnose) aus I durch Anblicken von glänzenden Gegenständen, so
z. B. durch Schauen auf die Stricknadeln bei der Strickarbeit.
Dieser Zustand von Autohypnose stellt eine Modifikation b des
vorigen experimentell erzeugten (III a) dar, insofern die Hemmung
sich in ihrer Tiefe der von II nähert. Auch hier sind von Er-
regungswegen nur der acustische und, insofern glänzende Gegen-
stände Vermittler der Äutohypnose waren, auch der optische offen.
So sind „ Diebstähle" möglich. Nur in dieser Richtung ist eine
automatische, bewusstlose, aber gleichwohl complicirte und präcise
Leistung möglich.
Von höchstem, namentlich forensischem Interesse ist die bei
Patientin gefundene empirische Thatsache, dass sie, sobald eine ihr
in II aufgetragene posthypnotische Leistung, sofern sie einen Zu-
stand oder eine complicirte Handlung involvirt, zur Ausführung ge-
langt, in Autohypnose geräth, d. h. die Suggestion wirkt, so-
bald sie actuell wird, hypnotisirend.
Aus dieser Thatsache , die ich auch in anderen Fällen con-
statiren konnte, erklärt sich die hemmungslose, blinde und wider-
standslose Ausführung der Befehle des Experimentators. Patientin
gleicht in diesem Zustand der posthypnotisch suggestiven Auto-
hypnose , einem von bestimmten Ideen getriebenen Schlafwandler.
In der Ausführung suggerirter Leistungen besteht auch hier die
grösste Präcision.
Ausserhalb des suggestiv erschlossenen Ideenkreises besteht Nacht
oder ist die psychische Leistung auf blosse Perception eingeschränkt.
- 86 —
In diesem Zustand der posthypnotischen Autohypnose ist die
Hemmung jedoch geringer als in III a und III b, so dass jener als
eine Modification c des III. Zustands unterschieden zu werden ver-
dient. Dass diese drei Modiiicationen aber zusammengehörige
Phasen ein und desselben Grundzustandes sind, ergibt sich daraus,
dass für das in den verschiedenen Modification en Erlebte Erinne-
rung besteht.
Mit geleisteter posthypnotischer Suggestion kehrt I allmählig
zurück. Dieser Uebergang ist höchst peinlich bis zum Gefühl, den
Verstand zu verlieren, insofern III die Continuität des I-Daseins
episodisch unterbrach und Patientin, unbewusst für in III geschaffene
Situationen, sich keine Rechenschaft und Erklärung dafür zu geben
vermag, wenn sie in I zurückgekehrt ist.
Dieser peinliche Zustand kann vermieden werden, indem man
Patientin in die frühere Situation, in welcher sie in III kam, wäh-
rend künstlich hergestellter II zurückversetzt und den Status quo
ante durch Ueberführung in I herstellt.
Die Ueberführung in II gelingt aus allen IHZuständen mit
denselben Mitteln wie die aus I in II und ist ein werthvolles Hilfs-
mittel, um spontan entstandene III-Zustände rasch zu beseitigen.
Die rein psychische Entstehung und Bedeutung von II wird auch
dadurch in ein helles Licht gesetzt; dass die Ueberführung in I
auf rein psychischem Wege (Suggestion) zwar leicht, aber nur dem
Experimentator gelingt, dass es jedoch einer direkten Suggestion
desselben bedarf (z. B. Selbstzählen auf 3, nicht Zählen der Ver-
suchsperson), wenn nicht statt I III entstehen soll.
Bemerkenswerth ist noch, dass in III posthypnotische Sug-
gestionen nicht erzielbar sind.
Eine oft wiederholte Experimentation lehrte zur Evidenz, dass
die drei verschiedenen Bewusstseinszustände, welche an Patientin zu
beobachten und herzustellen sind, typisch congruent und offenbar
gesetzmässig unter identischen Bedingungen sich vorfinden. Darin
liegt jedenfalls einer der wichtigsten Beweise für die Aechtheit
dieser Zustände und gegen Simulation.
Es zeigt sich aber weiters, dass diese drei verschiedenen Be-
wusstseinszustände absolut nichts mit einander gemein haben als
dieselbe Person, bei der sie beobachtet werden.
Diese drei verschiedenen Bewusstseinskreise schneiden sich
niemals — jeder hat sein eigenes Gedächtniss, bis auf den III c-
Zustand , dessen Erlebnisse qua in II bestellter posthypnotischer
— 87 —
Suggestion in II wieder erinnerlich sind. Damit ist ein Tripelbe-
wusstsein erwiesen, jedes auf Grundlage einer eigenartigen Nerven-
mechanik.
Die Kranke stellt somit drei psychische Existenzen dar. In
I eine gewöhnliche Hystero-epileptische bei voller Helligkeit des
Bewusstseins, in II eine in tiefem Hemmungs- oder Schlafzustand
Befindliche, aber partiell erweckbar und zu maschineller, automa-
tischer, höchst präciser Leistung durch Suggestion beliebig ver-
wendbar. In III gleicht sie einer Nachtwandlerin, in beschränktem
seelischen Gebiet spontan leistungsfähig auf Grund autosuggestiver
oder posthypnotischer, von dritter Person suggerirter Ideen, aber
auf der Stufe eines traumhaft vertieften Bewusstseins.
In dieser Verfassung wird sie gelegentlich zur schuldlosen
Diebin. Sie steht aber auch in Gefahr, jederzeit das willenlose
Werkzeug des intellectuellen Urhebers eines Verbrechens zu werden.
Dass mit der Namhaftmachung des II und der verschiedenen
III-Zustände die hypnotischen Reaktionsmöglichkeiten dieser merk-
würdigen Kranken nicht erschöpft sind , lehren die Erfahrungen
vom 7. 6. 88. Patientin gerieth damals durch einen von den bis-
herigen abweichenden psychischen Eingriff in einen bisher an ihr
nicht beobachteten Zustand der sog. Fascination (Donato, Bre-
maud). Bei dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaft dürfte es
geboten sein, die beobachtete Thatsache einfach zu registriren, zu-
mal da die Umstände neuerliche Hervorrufung behufs genaueren
Studiums nicht gestatteten. Es lässt sich nicht einmal genau fest-
stellen, ob diese „Fascination" ein unvollständiger IL oder ein III.
Zustand war. Von hohem Interesse bleibt das Schwinden des Per-
sönlichkeitsbewusstseins in diesem Zustand, in welchem Patientin
sich als reiner Automat fühlt und verkörpert nur noch als „Bild"
im Äuge des Experimentators weiss.
An eine Gaukelei hier zu denken, wird auch der grösste
Skeptiker im Gebiet des Hypnotismus nicht veranlasst sein. Für
die vorurtheilsfreie wissenschaftliche Forschung wird das vorstehend
Beobachtete und Berichtete hoffentlich Werth besitzen und An-
regung gewähren.
ScMnsswort.
Jedermann weiss heutzutage, dass der Hypnotismus nicht auf
einem sogenannten thierisch-magnetischen Einflüsse beruht, sondern
auf einem psychischen (moralischen) , den der Experimentator oder
Arzt auf den zu Hypnotisirenclen ausübt. Die vorstehende Studie
lieferte erschöpfende Beweise für die Richtigkeit dieser Annahme.
Diesen gegenwärtigen Standpunkt der Wissenschaft den Phä-
nomenen des Hypnotismus gegenüber hat übrigens schon 1784 die
französische Akademie der Wissenschaften mit ihrem Berichterstatter
Bailly vertreten. Ich kann es mir nicht versagen, aus Arago's Ge-
dächtnissrede auf Bailly, gehalten in der französischen Akademie der
Wissenschaften am 26. Februar 1844, folgende bezeichnende Stelle
im Bericht l) des berühmten Naturforschers hier abzudrucken. „In-
dem man der eingebildeten Ursache des thierischen Magnetismus
nachspürte, hat man die wirkliche Macht kennen gelernt, welche der
Mensch auf seine Mitmenschen ohne unmittelbares , nachweisbares
Dazwischentreten eines physischen Agens ausüben kann. Bailly hat
nachgewiesen , dass die einfachsten Handbewegungen und Zeichen
mitunter sehr mächtige Wirkungen zur Folge haben , ja dass die
Einwirkung des Menschen auf die Einbildungskraft zu einer Kunst
ausgebildet werden kann, wenigstens solchen Personen gegenüber,
welche an die Möglichkeit solcher Einwirkung glauben."
Zu diesem Citat aus Bailly's Bericht macht Arago die feine
Bemerkung: „endlich hat diese Arbeit gezeigt, in welcher Weise
unsere Fähigkeiten durch Experimente untersucht werden müssen,
auf welchem Wege es der Psychologie eines Tages gelingen wird,
in die Reihe der exakten Wissenschaften einzutreten."
*) Franz Arago's sämmtl. Werke, herausgegeben von Hankel, Leipzig
1854, Band II, S. 242.
89
Man sollte glauben, dass durch diese Aussprüche so hervor-
ragender Männer der Wissenschaft die Bahn für die Ausbildung des
sogenannten Hypnotismus zu einem wichtigen Zweig der moralischen
Heilkunde geebnet und die Psychologie bestrebt gewesen wäre, sich
dieses werthvollen empirischen Mittels zu ihrem Fortschritt zu
bedienen.
Für den Kenner der neueren Geschichte der Medicin und der
Psychologie ist es schmerzlich, zu constatiren, dass dieses Wissens-
gebiet in den Händen von Charlatans und Dilettanten blieb, bis 1841
Braid in bescheidenen Anfängen , dann Charcot sowie die Forscher
in Nancy mit wissenschaftlicher Exaktheit in den siebziger Jahren
den Grund zur heutigen Lehre vom Hypnotismus legten. So ge-
schah es, dass die exakt sein wollende medicinische und die psycho-
logische Wissenschaft fast ein Jahrhundert achtlos an psychischen
Thatsachen vorüberging, die berufen sind, theoretisch und praktisch
künftig eine bedeutende Tragweite zu gewinnen und schon gegen-
wärtig das Interesse von Laien wie Vertretern der Wissenschaft in
hervorragender Weise in Anspruch nehmen.
Denjenigen, welche noch in der Gegenwart sich ablehnend den
Thatsachen des Hypnotismus gegenüber verhalten , möge Arago's
Ausspruch l) nicht vorenthalten bleiben :
.,Ich kann dem Geheimniss vollen nicht beistimmen, in das sich
diejenigen wirklichen Gelehrten hüllen, welche gegenwärtig Ver-
suchen über Somnambulismus beiwohnen. Zweifel zeugt von Be-
scheidenheit und hat nur selten den Fortschritten der Wissenschaft
geschadet, während man von der Ungläubigkeit nicht dasselbe be-
haupten könnte. Denn wer, ausser im Bereiche der reinen Mathe-
mathik, das Wort unmöglich anwendet, ist mindestens unvorsichtig.
Sobald es sich um die Organisation lebender Wesen handelt, wird
ein vorsichtiges Zurückhalten zur Pflicht."
So urtheilte Arago — im Jahre 1844.
J) Op. cit. S. 254.
Anhang: über Suggestion und Suggestionstherapie.
Seit dem erstmaligen Erscheinen vorstehender Brochure hat
der Hypnotismus als Naturerscheinung und Heilmethode eine Be-
deutung bei Laien wie auch Vertretern der Wissenschaft erlangt, die
von Jahr zu Jahr noch zuzunehmen scheint. Da dieser bescheidenen
experimentellen Studie ein unerwarteter literarischer Erfolg be-
schieden war und sie offenbar eine weite Verbreitung findet, halte
ich es für opportun, einem Wunsche der Verlagsbuchhandlung Folge
leistend, ein Resume meiner Erfahrungen auf dem Gebiet der Sug-
gestion und ihrer Anwendung in der Heilkunst im Anschluss an
meine „experimentelle Studie" zu geben.
Angesichts der vortrefflichen Darstellungen, welche die Lehre
vom Hypnotismus seitens hervorragender Aerzte, wie z. B. Moll,
Forel, Wetterstrand gefunden hat, kann ich mich kurz über das
muthmassliche Wesen , die Erscheinungsformen , Technik u. s. w.
des sogen. Hypnotismus fassen.
Phänomenal nähert sich der Zustand des Hypnotischen dem
des Schlafenden. Irrig wäre es aber, Identität der Erscheinungen
behaupten zu wollen. Der hypnotische Schlaf ist nur ein schlaf-
ähnlicher, künstlich geschaffener, nicht natürlicher und in verschie-
denen seiner Aeusserungsweisen gewissen spontan entstandenen, ent-
schieden krankhaften Schlafzuständen (Lethargus, Somnambulismus),
wie wir sie bei Neurosen (Hysterie) kennen, durchaus analoger.
Jenen hypnotischen Zustand mit diesen zu identificiren, etwa
im Sinne einer „künstlich erzeugten Neurose" oder einer „acuten
Geistesstörung" geht nicht an, denn der Hypnotismus beschränkt
sich nicht auf solche Bilder, sondern hat eine viel umfassendere
Phänomenologie. Ueberdies sind die Zustände von hypnotisch provo-
cirtem „Lethargus" oder „Somnambulismus" nicht identisch den
spontan bei Hysterischen sich darbietenden. Auch die Annahme,
— 91 —
dass die erwähnten Erscheinungsformen hypnotischer Beeinflussung
nichts Anderes als Zustünde von künstlich provocirtem bis dahin
latentem Hysterismus seien, ist der eigenen und fremden Erfahrung
gegenüber nicht stichhaltig, welche das Vorkommen jener durch hyp-
notische Einwirkung bei völlig gesunden, vorher und nachher niemals
hysterisch gewesenen Personen erweist.
Für eine übersichtliche Betrachtung und namentlich für prak-
tische Zwecke verlohnt es sich nicht, die mannigfachen Abstufungen
der Bewusstseinsverdunkelung, welche im hypnotischen Zustand zur
Beobachtung gelangen, zu berücksichtigen.
Es genügt zwei Zustände oder richtiger Gradstufen der Hyp-
nose festzuhalten: den der Schlaftrunkenheit und des Schlafes.
Der entscheidende Unterschied zwischen beiden ist damit ge-
geben, dass der Hypnotisirte im ersteren Zustand der Apperception
der Vorgänge in der Aussenwelt nicht verlustig ist, sich alles mit
ihm in diesem Zustand Vorgegangenen hinterher erinnert, da ja
sein Selbstbewusstsein keinen Augenblick verloren gegangen war.
Im Zustand des hypnotischen Schlafs dagegen, der ein schein-
bar natürlicher tiefer Schlaf oder ein comaartiger (Lethargus) oder
ein somnambulismusartiger sein kann , fehlt während seiner Dauer
das Bewusstsein der Aussenwelt und die Fähigkeit der Beein-
flussung durch Reize derselben. Das in dem Zeitraum dieses Zu-
stands mit dem Schläfer Vorgefallene wird nach dem Erwachen
nicht erinnert, der Zustand der (tiefen) Hypnose bildet eine eben-
solche Lücke in der Continuität seines bewussten Daseins, wie es
der natürliche tiefe traumlose Schlaf unterbricht.
Für eine besondere Art des tiefen hypnotischen Schlaf zustands
besteht noch die Eigenthümlichkeit , dass Derjenige, welcher die
Hypnose herbeigeführt hat, mit dem Schlafenden sich in geistigen
Verkehr (Rapport) zu setzen vermag, und dessen centrale Sinnes-
thätigkeit und geistige Funktion erschliessen und lenken kann.
Für das in solchen Zuständen von hypnotischem Somnambulis-
mus Erlebte hat die betreffende Person nach dem Erwachen kein
Bewusstsein, aber die Erinnerung für das intrahypnotisch Erlebte
kehrt in neuer bis zu Somnambulismus sich erstreckender Hypnose
wieder (doppeltes Bewusstsein).
Die Zahl Derer, welche durch hypnotischen Einfluss in mehr
minder ausgesprochene Schlaftrunkenheit (engourdissement) versetzt
werden können, ist unbegränzt und unter günstigen seelischen und
Aussenbedingungen dürfte wohl Jedermann, um so leichter, je willens-
92
und denkkräftiger er ist, in diesen Zustand zu gelangen vermögen.
Anders ist es mit dem des tiefen hypnotischen Schlafs. Er tritt
nur bei etwa 15 °/o der Versuchsindividuen ein und setzt entschieden
eine besondere hypnotische Disposition des centralen Nervensystems
voraus, die sich allerdings häufig bei Hysteropathischen, aber auch
bei ganz Gesunden findet.
Interessant ist die Thatsache, dass man bei dergestalt dispo-
nirten Individuen zuweilen auf Hautstellen (fast ausschliesslich am
Kopf) stösst, von denen aus leichtes Streichen genügt, um tiefen
hypnotischen Schlaf herbeizuführen (hypnogene Zonen — Pitres).
Während in den Zuständen der Schlaftrunkenheit Bewusstsein, Auto-
wille und Kritik nur ganz geringfügig beeinflusst sind, erscheint der
in tiefem Schlaf Befindliche bewusstlos, reaktionslos und hilflos der
Aussenwelt gegenüber und, soweit ein Rapport mit ihm hergestellt
werden kann, ein nahezu willenloses Werkzeug in der Hand des
Experimentators, der nur von diesem ausgehende Sinnesreize wahr-
nimmt (Rapport); in seinem Denken ganz von ihm geleitet werden
kann , und bei der schrankenlosen Suggestibilität , welche dieser
willen- und bewusstlose Zustand mit sich bringt, alle möglichen
psychischen Situationen suggerirt bekommen und, rein automatisch,
zu den verschiedensten Handlungen gebracht werden kann.
Diese Thatsache hat Bestürzung bei der Gesellschaft und in
foro erregt, weil sie die Möglichkeit von Delicten an oder durch
solche „bewusstlose" Personen nahe legt.
Diese Möglichkeit ist thatsächlich vorhanden und leider finden
sich in der wissenschaftlichen Literatur bereits zahlreiche Fälle, wo
in tiefem hypnot. Schlaf, besonders Lethargus befindliche, also be-
wusst- und hilflose Frauenspersonen Opfer schändlicher, unsittlicher
Attentate wurden, oder, im Somnambulismus befindlich, durch listige
Suggestion das gleiche Schicksal erfuhren. Minimal ist dagegen die
Gefahr, dass verbrecherische Naturen in Somnambulismus versetzte
Medien aktiv als Werkzeug zu strafbaren Handlungen benutzten.
Die bezüglichen Darstellungen von Schauerromanen („Jean
Mornas", „Alphonsine", „unter fremdem Willen") entsprechen glück-
licherweise nicht der Wirklichkeit.
Das „hypnotische Verbrechen" existirt bisher nur in der Ein-
bildung der Romanciers, die sich auf Laboratoriumexperimente
stützen, nicht auf Erfahrungen des öffentlichen Lebens und des
Forums. Diese pikanten und Gruseln erregenden Romane beun-
ruhigen und verwirren ganz unnöthis- die Gemüther und flössen den
— 93 -
Leuten Scheu vor der möglicherweise einmal nöthigen ärztlichen
Suggestivbehandlung ein, gleichwie Mancher, der elektrisch behandelt
weiden soll, den Schreck vor dem elektrischen Schlag, den er in
der physikalischen Schulstunde einmal bekommen hat, zeitlebens
nicht überwindet.
Eine Gefahr droht aber scheinbar dem freien Willen der sich
zu Hypnose Hergebenden, insofern den Schlafzustand überdauernde,
in diesem gegebene, nach einer bestimmten, eventuell ziemlich langen
Frist befohlene (-posthypnotische") Suggestionen zum Vollzug ge-
langen können und sobald sie aktuell werden, einen neuen („auto-
hypnotischen") Auto willen und Selbstbestimmungsfähigkeit aus-
schliessenden Zustand während ihrer Dauer herbeiführen.
Aber auch diese posthypnotische Suggestion ist keine Gefahr,
mit der die Gesellschaft und die Justiz zu rechnen haben. Sie ist
nicht praktisch, weil sie nur höchst selten gelingen und verhältniss-
mässig leicht den intellektuellen Urheber des Verbrechens eruiren
lassen wird.
Ueberdies sind Hypnotisirte keineswegs so willenlos und bestim-
mungsunfähig da wo es sich um die Ausführung eines Verbrechens
handelt. L'homme machine, der Automatismus des Handelns ist bei
solchen Individuen cum grano salis zu nehmen.
Wenn es solche in tiefste Hypnose versenkte und schranken-
los suggestible Persönlichkeiten gibt, so sind sie enorm selten. Sie
laufen nicht so gleich in zahlreichen Exemplaren herum, wie in
Samarow-Meding's Roman -Unter fremdem Willen" , dessen natur-
wissenschaftliche Voraussetzung sein müsste, dass seine hypnotischen
Opfer in einem Laboratorium vorher abgerichtet worden wären.
So erklärt sich die Thatsache, dass die Verbrecher bisher vor
der Verwerthung des Hypnotismus zu criminellen Handlungen
zurückschreckten und vom Standpunkt des Fachmanns wäre auch
Keinem zu rathen, sich eines solchen teuflischen Mittels zu bedienen.
da ihm die Entdeckung fast verbürgt werden könnte. Wenn in
neueren Criniinalprocessen (auch in den Delirien Geisteskranker
kommt das Gespenst der Suggestion neuerlich vor), z. B. in dem
berühmten Process Bompard - Gouffe die Vertheidigung zum Aus-
kunftsmittel der Behauptung hypnotischen Zwangs zur Entlastung
griff, so machte sie regelmässig Fiasko, indem jener Zwang sich als
Autosuggestion oder Wachsuggestion seitens eines Dritten auswies.
Gleichwohl gebietet die Vorsicht daran zu denken, dass der
Versuch oder selbst das Gelingen eines hypnotisch-suggestiven Ver-
__ 94 —
brechens nicht ausser dem Bereich der Möglichkeit steht, ganz zu
geschweigen des thatsächlichen Vorkommens der Schändung von
durch hypnotischen Schlaf willenlosen und bewusstlosen Frauens-
personen.
Schon diese Gefahr lässt fordern, dass der Staat polizeilich
Hypnotisirung anders als zu Heilzwecken, nicht dulde und solchen
groben Unfug, falls er trotzdem vorkommt, bestrafe.
Aber auch jeder anständige Arzt wird, schon in seinem eigenen
Interesse und um vor jeglicher übler Nachrede geschützt zu sein,
niemals ohne Zeugen Personen in tiefe Hypnose versetzen.
Abgesehen von polizeilichen Verordnungen, die sich auch gegen
den Unfug öffentlicher hypnotischer Vorstellungen zu richten haben,
dürfte der Staat kein Interesse am Hypnotismus haben, denn in
§ 51 Deutsch. Strafgesetzb. eventuell § 52 (unwiderstehliche Gewalt)
und Oesterr. § 2 lit. c eventuell auch lit. g (unwiderstehlicher
Zwang) sind gesetzliche Grundlagen gegeben, um das Werkzeug
bezw. Opfer des mit Hypnotismus arbeitenden Verbrechers gericht-
lich zu beurtheilen.
Jedenfalls muss der Zustand des in tieferen Graden hypnoti-
scher oder posthypnotischer Beeinflussung befindlichen Individuums
als ein wehr- — willenloser, im Sinne des Gesetzes — als Zustand
von krankhafter Bewusstlosigkeit bezeichnet werden.
Der Verantwortliche für alle suggerirten intra- und posthypno-
tisch etwa zu Stande gekommenen Verbrechen könnte natürlich nur
der suggerirt Habende, als der intellektuelle Urheber sein.
Auch hier hat das Strafgesetz Handhaben genug, z. B. das
deutsche in § 48. 52. 111. 159. 160. 179. 182. 240.
Wenn ich auch das hypnotische Verbrechen im Allgemeinen
für keine gesellschaftliche Gefahr halten kann, so muss ich doch, in
Uebereinstimmung mit Moll, das Gelingen der posthypnotischen Sug-
gestion des Selbstmords für möglich halten , ebenso die suggestive
Bewirkung eines Abortus (vgl. mt Lehrb. d. gerichtl. Psychopathol.
3. Aufl. S. 346).
Eine wichtige, das Publikum und das Forum interessirende
Frage geht schliesslich noch dahin, ob eine Person gegen ihren
Willen hypnotisirt werden könne und ob dies auf Distanz mög-
lich ist.
Diese Frage muss bejaht werden, aber nur hinsichtlich Per-
sonen, die durch sehr häufige Hypnotisirung oder gar Fascination
ganz unter der Botmässigkeit ihres Hypnotiseurs sich befinden und mit
— 95 —
ihrem eigenen Willen nicht dagegen aufkommen können. An solchen
Personen ist sogar die Möglichkeit einer Hypnose par distance,
eventuell sogar durch Telephon, brieflichen Auftrag möglich, unter
allen Umständen durch List oder durch physikalischen Shok (plötz-
licher greller Lichtschein oder Schall) oder auch im Schlaf und even-
tuell vermittelst der Reizung hypnogener Zonen (s. o.).
Im Allgemeinen ist aber daran festzuhalten, dass eine ge-
sunde, noch nicht Hypnose unterworfen Gewesene nur
mit ihrer Zustimmung und mit Unterstützung ihres
eigenen Willens in hvpnotischen Zustand versetzt
werden kann, und zwar nur in Gegenwart des ihr Ver-
trauen einflössenden und sympathischen Hypnotiseurs.
Mit der Geltendmachung dieser Thatsachen und Erfahrungen
dürfte das Interesse, welche das gesunde Laienpublikum und das
Forum an Fragen des Hypnotismus nehmen können, befriedigt sein.
Anders ist es mit der Verwerthung desselben im Dienste der
wissenschaftlichen Forschung und der praktischen Heil-
kunde.
Hier stehen wir an den Anfängen unseres Wissens, ganz ab-
gesehen von der Frage nach dem Wesen der hypnotischen Er-
scheinungen und den Wirkungen hypnotischer Eingriffe auf die
Dynamik des Centralnervensystems, Fragen, die vielleicht nie, wenn
aber jemals, nur durch unermüdliche Forschungen zu beantworten
sein werden.
Mit echt deutscher Gründlichkeit hat man sich früher mit Er-
klärungsversuchen beschäftigt, als die phänomenale Seite der Sache
klargestellt war.
Wissenschaftlich erscheint mir die Hypnose von grossem
Werth für die Forschung auf wichtigen Gebieten der empirischen
Psychologie, insofern jene ein Mittel bietet, um experimentell eine
Dissociation der complicirten Phänomene des Seelenlebens hervor-
zurufen und damit ihr Studium zu erleichtern. Dies gilt besonders
hinsichtlich der Energien und Modificationen des Bewusstseins und
des Studiums psychischer Wirkung auf körperliche Zustände und
Vorgänge.
Klinisch kann die Hypnose Nützliches leisten als Hilfsmittel
zur differentiellen Diagnose von organisch oder bloss funktioneller
bedingter Erkrankung.
Therapeutisch scheint die Hypnose berufen psychische und
körperliche krankhafte Erscheinungen günstig zu beeinflussen , in-
— 96 —
sofern sie eine zielbewusste willkürliche Hervorrufung von Stimmungen,
Strebungen, Gedankenrichtungen und körperlichen Zuständen anstrebt
oder wenigstens die ungünstige Wirkung solcher zu eliminiren
trachtet.
Dieser Erfolg lässt sich erhoffen in allen Fällen, wo es sich
um blosse funktionelle nicht organische Veränderungen handelt und
erwarten da, wo eine Vertiefung der Hypnose bis zu wirklichen
Schlafzuständen und eine grosse Suggestibilität erzielbar sind.
Der Arzt ist meines Erachtens nicht nur berechtigt, sondern
auch verpflichtet bei funktionellen Erkrankungen des Nervensystems
zur hypnotischen Behandlung zu greifen, sobald das Leiden durch
anderweitige Mittel und durch Wachsuggestion nicht behebbar er-
scheint.
Die Wirkung der Hypnose geschieht auf psychischem
Wege, durch sogen. Suggestion. Jene ist nur ein Mittel zum Zweck
dieser, unbeschadet der Fälle, wo sie an und für sich Zweck er-
scheint, d. h. durch Hervorrufung eines empnndungs- und bewusst-
losen Zustands wirkt und damit , einer Narkose gleich , dem er-
krankten Nervensystem Schlaf, Ruhe, damit Ausgleichung von Er-
regungszuständen und Ernährungstörungen vermittelt.
Diese Seite hypnotischer Behandlung ist noch wenig ver-
werthet. Sie könnte als eine Ergänzung der Weir-Mitchell'schen
Behandlungsmethode , als Schlaf- und Beruhigungsmittel nach ge-
fahrvollen Gemüthsbewegungen, anlässlich periodisch wiederkehren-
der psychisch-körperlicher Erregungszustände (Menses) , drohender
Krampfanfälle , endlich auch zur Vornahme kleinerer Operationen,
schmerzlosen Durchführung von Geburten verwendet werden.
Das Wesentliche und Wichtigste ist aber die Hypnose als
Mittel zum Zweck der — Suggestion. Die Beurtheilung der
Schlafsuggestion muss von der Thatsache ausgehen, dass die Sug-
gestion eine der gewöhnlichsten Erscheinungen des wachen
Lebens ist und sei es als Fremd- oder als Autosuggestion, jeden-
falls existirt hat, seit Menschen mit einander in geistigem Verkehr
standen.
Im guten wie im bösen Sinne, theils bewusst, theils unbewusst,
übt diese psychische Macht beständig ihren Einfluss und zum grössten
Theil beruht die Wirkung des Erziehers auf das Kind, und der
moralische Einfluss des Arztes auf seinen Kranken, auf der Macht
seiner das Denken, Handeln und Fühlen seines Clienten zielbewusst
beeinflussenden (Ein)reden.
— 97 -
Es gibt unzählige Fälle, in welchen die Wachsuggestion
nicht oder nicht genügend wirkt, weil ihr die Autosuggestion des
Kranken Widerstand leistet und sich mächtiger erweist, indem
sie in fehlerhafter Erziehung, Beschränktheit, Aberglauben, Cha-
rakteranomalien , zur zweiten Natur gewordenen Gewohnheiten,
Leidenschaften , veranlagten oder gezüchteten krankhaften Bedürf-
nissen (z. B. Alkohol, Morphium), krankhaften Stimmungen, Gefühlen
u. s. w. eine gewaltige Stütze findet. Eine Menge von funktionellen
Störungen im Nervenapparat, wirkliche Krankheitszustände dar-
stellend, sind geradezu die Wirkung autosuggestiver Einflüsse. Es
sei hier nur erinnert an viele Lähmungen bei Hysterischen, ganz
zu geschweigen von dem Einfluss der Einbildungskraft, welcher bei
Neurasthenie, traumatischer Neurose, Hypochondrie u. s. w. zu
Tage tritt.
Bei all diesen psychisch vermittelten Krankheitssymptomen und
Symptomencomplexen ist ein psychischer Faktor im Spiel , dessen
Eliminirung bezw. Unschädlichmachung Hauptziel der Therapie sein
muss. Hier hilft nicht die Arznei, ausser es wäre durch Suggestion.
Ist aber die Wachsuggestion, wie leider so oft, unvermögend den
autosuggestiven Einfluss zu bannen, so muss man der Wissenschaft
grossen Dank wissen, wenn sie die Mittel an die Hand gibt, den
Einfluss der Fremdsuggestion zu stärken und die Macht der Auto-
suggestion zu mindern. Dieses empirische Mittel ist eben die Hyp-
nose, indem sie den Autowillen und die Kritik des Kranken herab-
setzt bis zur Aufhebung und gleichzeitig die Suggestibilität für den
fremden Einfluss gewaltig erhöht.
Es handelt sich hier aber nicht um einfaches Ausreden von
Einbildungen, wie der Laie meint, nicht um Leistungen der
Logik, Dialektik, sondern um complicirte psycho-physiologische Vor-
gänge, die nur der psychiatrisch und neurologisch gebildete Arzt ver-
stehen und mit Aussicht auf Erfolg beeinflussen kann. Der Schwer-
punkt des Erfolges liegt in der richtigen Redaktion der Suggestionen,
denn da wo sie überhaupt haften, werden sie mit peinlicher Ge-
nauigkeit von dem beeinflussten Individuum befolgt.
Die richtige Redaktion setzt demnach nicht bloss einen be-
trächtlichen Grad von Menschenkenntniss überhaupt, sondern volle
Klarheit über die Entstehungsbedingungen des Krankheitszustands
und eine detaillirte Kenntniss des Falles in allen seinen körperlichen
und seelischen Beziehungen voraus.
Nur in der Hand des erfahrenen Arztes erscheint mir die
v. Kvafft-Ebing, Hypnotismus. 3. Aufl. 7
— 98 —
Suggestivbehandhmg ein werthvolles Heilmittel, dessen Bedeutung
immer allseitiger zur Geltung gelangen wird. In ihrer praktischen
Verwerthung steht die Hypnose als eine Art psychischer Operation
nicht hinter den Anforderungen zurück, welche hinsichtlich einer
leiblichen an den Chirurgen gestellt werden müssen.
Ein Universalheilmittel kann die Hypnose aber ebensowenig
sein als das Wasser , die Elektricität und die Massage , schon des-
halb nicht, weil sie nur in dem allerdings grossen Gebiet der funk-
tionellen Nervenkrankheiten verwerthbar ist und in ihrem Erfolg
abhängig erscheint, nicht bloss von dem Wissen und Können des
Arztes, sondern auch von dem guten Willen und gewissen seelischen
und körperlichen Dispositionen (Afficirbarkeit und Suggestibilität)
des Kranken.
Es ist sehr zu bedauern , dass es heutzutage noch hervor-
ragende Aerzte gibt, welche aus Unwissenheit oder aus Vorurtheil die
Thatsachen der hypnot. Suggestion ignoriren und damit auf eine Heil-
potenz von grosser Bedeutung zu ihrem Schaden und Derer, welche
bei ihnen Hilfe suchen, verzichten. Sie verweisen dabei auf die Macht
der Wachsuggestion, die allerdings in der Hand des grossen und
berühmten Arztes eine Potenz von nicht geringer Bedeutung ist,
nie aber einen direkten Einfluss auf leibliche Vorgänge durch Ver-
mittlung der Psyche gewinnen kann.
Derlei ist nur in den tieferen Schlafzuständen (Hypnose) mit-
telst Suggestion möglich. Diese bisher nicht besprochene Seite der
hypnotischen Suggestivtherapie ist aber praktisch eine sehr wichtige.
Die Beobachtung zahlloser Nervenkranken zeigt den interessanten
Einfluss psychischer Einwirkungen (Vorstellungen) auf leibliche Vor-
gänge auf. Ein häufiges und zutreffendes Beispiel sind durch rein
psychischen Einfluss (Autosuggestion) hervorgerufene (psychische)
Lähmungen, d. h. durch die hemmende Wirkung einer bezüglichen
(Lähmungs) Vorstellung aufgehobene Möglichkeit der Geltendmachung
früherer Bewegungsanschauungen bis zu förmlicher Seelenlähmung,
wobei das funktionell veränderte Centrum überdies der Innervations-
gefühle verlustig sein und die „psychische" Lähmung noch von
Störungen der Circulation (Anämie), gesunkenem Mukseltonus,
Steigerung der tiefen Reflexe und cutaner Anästhesie im Lähmungs-
gebiete begleitet sein kann.
Nur ganz ausnahmsweise wird es der, wenn auch noch so au-
toritativen (ärztlichen) Fremdsuggestion möglich sein, diese auto-
suggestive Lähmung ohne Weiteres zu beheben, ebensowenig ihr
- 99 —
gelingen, gestörte Funktionen des .Schlafs, der Menstruation, der
Cireulation u. s. w. zu belieben.
Dies vermag aber — wenigstens in tieferer Hypnose, die
Schlafsuggestion, indem hier Nervengebiete durch seelischen Einfluss
beherrschbar werden, die im wachen Zustand solchem Einfluss nicht
oder nur indirekt und unvollkommen erreichbar sind. Diese direkte
Beeinflussung der Leiblichkeit, von welcher die vorausgehende ex-
perimentelle Studie schöne und unanfechtbare Beispiele aufweist, ist
aber von grosser Bedeutung, denn nur sie sichert der Fremdsug-
gestion jenen Einfluss , den im wachen Leben höchstens die Auto-
suggestion, und zwar nur bei ganz vereinzelten Individuen (z. B.
blutschwitzenden hysterischen Jungfrauen) erreicht.
Ist die Psychotherapie auf Wachsuggestion beschränkt oder
ist nur in leichteren Graden hypnotische Beeinflussung ausführbar,
so vermag jene nur indirekt Einfluss auf die leiblichen Vorgänge
(Cireulation , Verdauung , Schlaf u. s. w.) zu gewinnen , indem sie
geeignete Stimmungen, Gefühle, Vorstellungen, Strebungen hervor-
ruft und damit auf jene einwirkt.
Im Allgemeinen kommt es therapeutisch darauf an, dauernd
krankhafte Funktionen zur Norm zurückzuführen, also auf post-
hypnotische Suggestion, wie der technische Ausdruck lautet.
Praktisch wichtig ist also die Dauerwirkung der Suggestion.
Diese ist individuell höchst verschieden und, abgesehen von der ge-
nügenden Hypnotisirbarkeit und Suggestibilität (unbeständige, halt-
lose, oberflächliche, bornirte, verschrobene Menschen sind schwer
suggestibel) des Kranken, sowie von der Persönlichkeit des Arztes
(autoritative Stellung, richtige Redaktion der betreffenden Suggestion),
vielfach abhängig von äusseren störenden , weil das Gernüth er-
regenden , eine Fortdauer von Schädlichkeiten und Krankheits-
ursachen bedeutenden oder auch direkt contrasuggestiven Momenten.
Dazu kommen innere Umstände , z. B. Krampfanfälle , welche die
Suggestion im Gedächtniss der unbewussten geistigen Persönlichkeit
u. s. w. auslöschen. So geschieht es , dass die Dauerwirkung der
Suggestion bei demselben Individuum und bei verschiedenen eine
äusserst variable ist, nach Umständen blos Stunden, unter besonders
günstigen aber selbst Jahre anhält.
Auffrischung der Suggestion vermag die ursprüngliche Wir-
kung jederzeit wiederherzustellen.
Es geschieht häufig, dass von verschiedenen gleichzeitig einem
Individuum gegebenen Suggestionen nur einzelne realisirt, andere
— 100 —
aber nicht erfüllt werden. Das kann abhängen von zu grosser
Cumulirung der Suggestionen (was im Allgemeinen zu vermeiden
ist), von unrichtiger Redaktion derselben, von psychischer oder
körperlicher Unerfüllbarkeit oder auch von Widerstreben der Psyche
des Kranken. Es wäre unrichtig zu glauben, dass dieser schranken-
los dem Willen des Arztes ausgeliefert ist. Nicht blos bei crimi-
nellen Suggestionen (s. o.) , sondern auch bei indifferenten zeigt
sich ein Rest von Autowillen, von electivem Vermögen des Kran-
ken, der z. B. zur zweiten Natur gewordene schädliche Gewohn-
heiten (Alkohol-, Tabak-, Morphiummissbrauch, Onanie u. s. w.)
nicht ohne Weiteres aufgeben mag oder aufzugeben vermag und
erst allmählig zur Annahme der Contrasuggestion fähig wird. Wieder-
holt erlebte ich, dass Alkoholisten und auch Masturbanten bei spä-
teren Sitzungen nicht in Hypnose (Engourdissement) zu bringen
waren, weil sie psychischen Widerstand leisteten. Sie gestanden
hinterher, dass sie es thaten, weil sie fühlten, dass sie dadurch zur
Fortsetzung ihrer Gewohnheit, die sie nicht missen wollten, unfähig
wurden! Der Kampf der Fremdsuggestion gegen den autosuggestiven
Widerstand kann ein langer und mühsamer sein.
Der Mittel, durch welche wir Jemand in hypnotischen Zustand
versetzen können, sind verschiedene. Sie lassen sich in psychische,
physikalische und chemische eintheilen, aber in letzter Linie
wirken sie alle doch nur psychisch, d. h. durch Suggestion, indem
sie die Vorstellung des Schlafes erwecken, wobei unter günstigen
Bedingungen das Vorgestellte wirklich eintritt.
Physikalische Hilfsmittel (gleichmässiges einschläferndes, d. h.
ermüdendes, langweilendes Geräusch, z. B. durch Gongschläge oder
Taschenuhr, Stimmgabel u. dgl. oder Anstarren eines glänzenden
Gegenstandes) haben nur eine die Suggestion unterstützende, weil
die Vorstellung des Schlafes begünstigende Wirkung. Dasselbe gilt
für das gleichförmige Streichen des Körpers (Passes), das man irr-
thümlich in seiner Wirkung aus einem „magnetischen Fluidum" er-
klärte, sowie für die Zuhilfenahme von Chloroform (Wetterstrand), mit
Hilfe dessen körperlich und psychisch Ruhe geschaffen und Schläfrig-
keit erzeugt wird.
In letzter Linie ist die Hypnose des Kranken eigentlich Auto-
hypnose, die Rolle des Arztes nur eine unterstützende, Hindernisse
künstlich wegräumende.
Den Vorzug verdient vor allen anderen Methoden jedenfalls die
ausschliesslich psychische Mittel verwerthende (Nancyer Methode).
— 101 —
Man hat vielfach von Gefahren der hypnotischen Behand-
lnngsweise gesprochen.
Für Den, welcher sich auf den ganz ungerechtfertigten Stand-
punkt stellt, dass Hypnose eine künstlich erzeugte Neurose oder gar
eine künstliche Geisteskrankheit sei, ist die Sache natürlich ent-
schieden. Ganz gleichgültig ist der durch Hypnose erzielte Ein-
griff allerdings nicht, aber die erfahrenen Praktiker stimmen darin
überein, dass eine sachverständig und den Umständen des indivi-
duellen Falles angepasste Behandlung niemals Schaden stiftet.
Was man bei hypnotischer Behandlung zuweilen beobachtet,
sind zunächst unmittelbare Folgewirkungen im Sinne von Betäubung,
Eingenommenheit, Kopfweh, lästiger Schlafsucht. Sie treten sammt
und sonders nicht ein, wenn man die Erweckung aus der Hypnose
rein suggestiv auf psychischem Wege vornimmt und nicht unter-
lässt, völliges Wohlsein nach dem Erwachen zu suggeriren.
Eine weitere Möglichkeit ist das Auftreten von (hysterischen)
Krampferscheinungen , namentlich bei erstmaliger Hypnose. Sie
können sogar bei Individuen vorkommen, die bisher im Lauf ihrer
mehr oder weniger latenten oder manifesten Neurose nie convulsive
Erscheinungen geboten hatten und sind dann störend und für den
Arzt unangenehm.
Derlei Erfahrungen konnte man schon zur Zeit Mesmer's ma-
chen. Diese Krampferscheinungen sind die Wirkung psychischer,
besonders emotioneller Erregung, wie sie auch durch alle möglichen
anderen emotionirenden Einflüsse bei Hysterischen jederzeit vorkommen.
In der grossen Mehrzahl der Fälle sind jene Krämpfe aber einfache
Wiederholungen schon längst bestandener und doch recht be-
deutungslos , zumal da sie erfahrungsgemäss cessante causa rasch
wieder schwinden, ja ihr Auftreten in der Hypnose von einem ge-
schickten Arzt im Keime erstickt werden kann. An ein paar
Krämpfen mehr oder weniger liegt im Verlauf einer Hysteria gravis
jedenfalls nichts. Gebraucht man die Vorsicht bei Hysteropathischen
ausschliesslich nach der psychischen (Nancyer) Methode zu hypnoti-
siren und klärt man die Personen über die Harmlosigkeit und Ein-
fachheit hypnotischer Einflussnahme auf, so kann man sich auch
solche Anfälle ersparen , wenigstens bei Individuen, die vernünftig
und einsichtsvoll sind und keine Autosuggestionen aus hypnotischen
Schauerromanen sich gebildet haben. Eine ernstere Gefahr ist die,
dass bei sehr sensitiven Personen und bei zu häufiger und langer
Anwendung der Hypnose autohypnotische Zustände sich einstellen.
— 102 —
Auch diese Folgen schwinden rasch, wenn man die Hypnose
aussetzt oder wenigstens die Methode ändert. Unter allen Um-
ständen hat man in der Suggestion selbst ein einfaches Mittel, um
ihre Wiederkehr hintanzuhalten (abzusnggeriren). Zudem kommen
solche Autohypnosen nur selten und nur bei Hysteria gravis vor.
Dass sachverständige Hypnose irgend eine Neurose jemals er-
zeugt habe, ist durch nichts bewiesen.
Man hat endlich der hypnotischen Suggestionstherapie vor-
geworfen, dass sie nur eine symptomatische sei und der Indicatio
causalis nicht gerecht werde. Difficile est, satiram non scribere !
Bei vielen anderen Krankheiten und Behandlungsmethoden muss der
Arzt häufig froh sein , wenn er nur der Indicatio symptomatica
entsprechen kann. Es geschieht das neuerlich oft mit Mitteln
(Morphium!) und unter Gefahren, die viel weniger bemessen, vor-
hergesehen werden können und viel schwerer wiegen als die psy-
chische Behandlung durch Hypnose.
Auch der Einwand, dass die Suggestion nur ephemeren Werth
habe, ist hinfällig gegenüber der Erfahrung, dass sie oft dabei recht
lange wirkt, intensiver, sicherer und ungefährlicher als unsere
heroischsten Febrifuga und Narcotica, sodass man sich leichter zum
„repetatur dosis" entschliesst als bei diesen.
Die Frage der Leistungsfähigkeit der hypnotischen Be-
handlung muss als eine zur Zeit noch offene betrachtet werden.
Auf manche Erfolge sieht sie schon jetzt zurück, gar manche wird
sie voraussichtlich noch erleben und vor Allem gebührt ihr das
Verdienst, das Interesse und das Verständniss für Psychotherapie
und functionelle Nervenerkrankungen , das mit dem Aufblühen der
pathologischen Anatomie stark geschmälert wurde, wieder erweckt
zu haben.
Den Laien, welche alle möglichen incurablen Uebel, selbst
Blindheit, Taubheit, durch organische Veränderungen gesetzte Läh-
mung und andere Leiden zum Hypnose ausübenden Arzt schleppen,
kann nicht genug gesagt werden, dass die Hypnose keine Panacee
für Krankheit ist und nur einen Theil des Krankheitsgebietes be-
einflussen kann.
Gewisse Heisssporne , die alle möglichen Leiden mit hypnoti-
scher Heilkunst angehen, sollten bedenken, dass sie damit immer
Gefahr laufen, eine an sich berechtigte und nach Umständen recht
nützliche Seite der Therapie in Misskredit und sich selbst in den
Verdacht der Charlatanerie zu bringen. A priori erscheint es an-
— 103 —
gezeigt, sich dieses psychischen Heilmittels bei der Behandlung
psychisch Kranker, bei denen ja die Wachsuggestion nur un-
vollkommene Leistungen aufweist, zu bedienen.
In der That wäre die autoritative Bestimmung der Gefühle,
Gedanken, Strebungen derartiger Kranker, die suggestive Beseitigung
gefährlicher, lästiger Symptome, wie z. B. Hallucinationen, Wahn-
ideen eine grosse Leistung! Für den auf den Gebieten der Psychiatrie
und des Hypnotismus Erfahrenen müssen sich vorweg Zweifel be-
züglich eines Erfolges ergeben und zwar 1. weil psychisch Kranke
nur ausnahmsweise in jener geistigen Verfassung der Aufmerksam-
keit, Unbefangenheit, Gemüthsruhe und Willenkraft sind, die zum Ge-
lingen der Hypnose überhaupt erforderlich ist; 2. weil viele psychische
Erkrankungen auf organischen Veränderungen im Gehirn beruhen und
die Suggestivbehandlung doch nur functionelle Störungen beheben
kann; 3. weil gewisse Symptome, wie z. B. viele Wahnideen und
auch Hallucinationen, wenn auch nicht gerade nachweisbar die Folge
organischer Veränderungen, doch so complicirte, im psychischen
Mechanismus so fest fundirte Phänomene sind , dass sie suggestiv
kaum angreifbar erscheinen und die Redaktion der gegen sie ge-
richteten Suggestionen überaus schwierig wäre.
Theoretisch ergibt sich damit die Vermuthung, dass Erfolg
hypnotisch-suggestiver Behandlung nur bei sogen, functionellen
Psychosen (Psychoneurosen) erwartet werden kann und zwar wesent-
lich bei Kranken, bei welchen Krankheitsbewusstsein vorhanden ist
und die psychologische Eignung zu Hypnose überhaupt bestehe.
Im Allgemeinen würden demnach für diese Behandlung ge-
eignet erscheinen: blosse Störungen im Gemüthsleben, formale Stö-
rungen im Vorstellen, speciell Zwangsvorstellungen, Wahnideen, in-
sofern sie bloss autosuggestiv fundirte falsche Ideen , nicht aber
Primordialdelirien oder erklärende Ideen Melancholischer sind; endlich
erworbene krankhafte Triebrichtungen. Der herrschenden psychiatri-
schen Terminologie entsprechend wären es also die Melancholia sine
delirio , das Heer der Neuropsychosen , speciell Hysterie , Hypo-
chondrie, Neurasthenie, Psychose in Form von Zwangsvorstellungen,
der Alkoholismus, Cocainismus, Chloralismus, Morphinismus, Nicotis-
mus, psychische Impotenz, conträre Sexualempfindung.
Im Allgemeinen entspricht der Erfolg den theoretischen Vor-
aussetzungen und Bedingungen. Als der Behandlung zugänglich er-
scheinen nach eigener und fremder Erfahrung nicht nur krankhafte
Stimmungen, Affekte, Gefühle, Triebe, selbst krankhafte Vorstellungen
— 104 —
und Sinnestäuschungen , sondern auch körperliche Störungen , wie
z. B. Agrypnie, Anorexie, Obstipation, Neuralgie.
Erfolge wurden von den verschiedensten Beobachtern in allen
Ländern erzielt: bei Melancholia sine delirio, Wahnsinn, besonders
alkoholischem und hysterischem, hysterischen Psychosen überhaupt,
chronischen Intoxicationen, namentlich Alkoholismus und Morphinis-
mus; besonders bemerkenswerth sind die Leistungen hypnotischer
Therapie gegenüber Dipsomanie, conträrer Sexualempfindung
(v. Schrenck-Notzing). Auch die Folie du doute lässt sich günstig
beeinflussen. Symptomatisch sind krankhafte Triebrichtungen, be-
sonders sexuelle, alkoholische, Morphium- und Cocainhunger, An-
griffspunkte für eine Suggestivbehandlung.
Ein dankbares Feld für diese bietet das Gebiet der Neurosen
dar. Dies gilt aber nicht für alle und namentlich nicht für die
allgemeinen und constitutionellen Neurosen.
Gerade bei der Neurasthenie, wo an jedem Symptom der
vielgestaltigen Krankheit Autosuggestionen sich entwickeln können
und eine kräftige Contrasuggestion ein grosser Segen für Arzt und
Patient wäre, leistet die hypnotische Behandlung wenig. Zunächst
deshalb, weil Neurastheniker schwer hypnotisirbar sind, da sie nur
ausnahmsweise in ruhige Gemüthsstimmung und zur Fixirung ihrer
Gedanken zu bringen sind. Nachhilfe mit etwas Chloroform erleichtert
nicht selten die Aufgabe. Ueber tiefes Engourdissement kommt man
aber nur selten hinaas. Für leichtere Fälle ist dieses ausreichend.
Die psychische Methode ist jedenfalls die beste. Die physikalische
(Braidismus) verbietet sich meist wegen neurasthenischer Asthenopie
und Steigerung der Kopfbeschwerden.
Zu allen Schwierigkeiten kommt noch die mangelhafte Sug-
gestibilität dieser Kranken, beziehungsweise das Uebergewicht ihrer
Autosuggestionen , unter welchen die , incurabel zu sein , eine der
fatalsten ist. So geschieht es , dass man meist mit der Besserung
von einzelnen Symptomen (Stimmung, Schlaf, Muth, Selbstvertrauen
u. s. w.) sich begnügen muss.
Aber auch die Anregung zu ablenkender Beschäftigung, der Kampf
gegen autosuggestive Ideen organischer Leiden (Herz-, Hirn-, Rücken-
markskrankheit), unterstützt durch Absuggerirung peinlicher Enrpfin-
dungen,diejene au tosuggestivenldeen unterhalten, muss versucht werden.
Daneben kann die Beseitigung ätiologisch wichtiger Mastur-
bation, die Bekämpfung krankhafter Furcht (Agoraphobie u. s. w.)
und lästiger Zwangsvorstellungen, Aufgabe der Therapie sein.
— 105 —
Jedenfalls wird die psychische Behandlung, die bei solchen Pa-
tienten Hauptsache ist, auf hypnotischem Wege meist mächtig ge-
fordert und erzielt man ungleich mehr als mit blosser Wachsuggestion.
Nutzlos erscheint mir die Suggestivbehandlung der Epilepsie.
Diese Neurose wurzelt, selbst wenn sie nicht auf palpabeln ana-
tomischen Veränderungen beruht, doch zu tief in der organischen
Mechanik des Gehirns, um Aussicht auf wirksame Beeinflussung
durch Psychotherapie zu bieten, und in den Fällen, wo gleichwohl
ein günstiger Einfluss durch solche beobachtet worden sein soll,
liegt die Vermuthung nahe, dass ein diagnostischer Irrthum im Sinne
einer Hysteroepilepsie vorlag.
Auch bei Athetose und Paralysis agitans hat die hyp-
notische Behandlung keine Erfolge aufzuweisen. Dagegen erzielt
man solche ab und zu bei Chorea. Ein recht dankbares Feld für
Suggestivtherapie bietet dagegen die hysterische Neurose. Die
ärztlichen Journale wimmeln von der erfolgreichen Behandlung
hysterischer Lähmungen, Neuralgien u. s. w.
Manche Enttäuschungen bezüglich des erwarteten Erfolges und
namentlich seiner Dauer bleiben auch hier nicht erspart. Von nicht
geringer, zuweilen geradezu pädagogischer Wirkung kann die hyp-
notische Suggestion auf Stimmung, Vorstellen, Streben bei dieser so
vielfach von Autosuggestionen abhängigen Neuropsychose sein.
So leicht hypnotisirbar, als man vielfach meinte, sind Hysterische
aber keineswegs. Die eventuell leichte Hypnotisirbarkeit verbürgt
zudem nicht die Suggestibilität. Diese ist abhängig von seelischen
Eigenschaften, die bei Hysterischen gerade oft zu wünschen übrig lassen.
Ich kenne zur Zeit kein besseres Mittel zur Bekämpfung
hysterischer Krampf an fälle, als die Hypnose. Bei individuell richtiger
Methode hört die Geneigtheit derartiger Kranker, anlässlich hyp-
notischer Sitzung Krämpfe zu bekommen, sehr bald auf.
Häufig ist allerdings die Dauer des Erfolgs bei Krampfhysterie
eine recht kurze. Dann sind aber meist ungünstige Aussenverhält-
nisse, die beständige Einwirkung von ursächlichen Momenten daran
schuld. Ein neuer Insult zerstört die Wirkung der Suggestion, so-
dass dieselbe erneuert werden muss.
Gegenüber den bloss gebesserten, auf Zeit günstig beeinflussten
Fällen stehen aber zahlreiche von dauernder Genesung.
Ich beschliesse dieses Resume mit der Skizze eines Falles, der
mindestens beweist, dass die Hypnose nicht eine hysterische Neu-
rose hervorruft.
100 —
Hysteria gravis. Genesung bei hypnotischer Suggestiotherapie.
Am 6. 10. 90 wurde Fräulein P. B. 18 Jahre alt auf meiner psychiatri-
schen Klinik aufgenommen. In der Familie der Erkrankten sind Geistes- und
Nervenkrankheiten bisher nicht vorgekommen.
Pat. wurde im 8. Monat ihres Fötallebens geboren. Ursache der vor-
zeitigen Geburt sei ein Sturz gewesen, den ihre Mutter erfahren hatte. Sie litt nicht
an Convulsionen, auch nicht an Kinderkrankheiten, bot eine normale Entwick-
lang in den ersten Lebensjahren, erlitt mit 4 Jahren eine schwere Gehirn-
erschütterung ohne erkennbare Folgen, zeigte vom 6. — 13. Jahre Anfälle von
nächtlichem Aufschrecken und Nachtwandeln, war nervös, erregbar, zornmüthig,
jedoch geistig geweckt und lernte gut.
Mit 13]/2 Jahren trat die 1. Menstruation ohne Beschwerden ein und ver-
lief in der Folge normal, bis auf ein 4monatliches in keiner Weise motivirtes
Ausbleiben derselben.
1889 erlitt Pat. einen heftigen Schreck durch Explosion einer Lampe,
wobei sie am Halse oberflächliche Brandwunden davontrug. Im Anschluss an
diesen Shok wurde sie schreckhaft, reizbar, ängstlich, vergesslich, schlief un-
ruhig, träumte schwer, sprang öfter aus dem Schlafe auf. Die Menses wurden
schwächer, es stellte sich Meteorismus ein. Im Mai 90 erfuhr Pat. eine heftige
Kränkung. Sie wurde, indem man sie mit einer Anderen verwechselte, be-
schuldigt, ein Rendezvous mit einem Herrn gehabt zu haben. Sie war seitdem
schweigsam, einsilbig, zerstreut und bot einmal nach dem Erwachen einen
2 Stunden währenden Zustand völliger Unorientirtheit über ihre Person und Lage.
Anfang Juli „Ohnmachtsanfall" unter vorausgehender Erythropsie (sah
Alles blutig, dabei Flimmern vor den Augen).
Am 29. Juli gerieth Pat. über geringfügigen Anlass in zornigen Affekt,
wurde ganz verwirrt, sah die Bäume herumfliegen, wälzte sich auf dem Boden,
faselte von „Blut", verlor das Bewusstsein und bot nun durch 3 Stunden das
Bild eines schweren hysteroepileptischen Zustands (Schaum vor dem Munde).
An diesen reihte sich ein 14tägiger deliranter Dämmerzustand (protrahirte
periode du delire?) — in welchem sie frühere Erlebnisse, selbst ihre „tiefsten
Geheimnisse" vor sich hinplauderte, sang und lachte, episodisch aber auch
Schreckhaftes delirirte.
Am 12. 8. kam sie plötzlich zu sich, fühlte sich sehr matt und hatte
völlige Amnesie für den Zeitraum der Krankheit.
Am 26. 8. nach einer neuerlichen Gemüthsbewegung Exacerbation der
hysterischen Neurose — Weinkrämpfe, epigastrische Myodynie, r. Ovarie und
von Anfang September ab 2mal .täglich klassische Anlalle von Hysteroepilepsie.
Als Aura zeigt sich r. Ovarialschmerz, über das Epigastrium nach dem Kopf
irradiirend, dann Einsetzen des Anfalls mit epileptoider Phase, darauf arc de
cercle, grands mouvements (Purzelbäume, Herumklettern auf Möbeln u. s. w.)
und protrahirte periode du delire (sieht den Tod mit Sense vor sich, singt Lieder,
um ihn zu verscheuchen u. s. w.). Da die Anfalle sehr heftig werden und die
delirante Phase bis zu ~°\\ Stunden sich protrahirt. Pat. auch Suicidversuche
macht, wird die Spitalbehandlung nöthig.
— 107 —
Bei der Aufnahme: r. Ovarie, cutane Hyperästhesie im Epigastriuni, ver-
störtes, leidendes Aussehen, schlechte Ernährung. Schädel regelmässig, 55,5 cm
Umfang. Pat. bietet seit der Zeit ihres Eintritts 2mal täglich klassische Anfalle
von Hysteroepilepsie von 20—25 Minuten Dauer, mit völliger Amnesie'.
• Intervallär reizbar, verstimmt, wenig Appetit, Schlaf unruhig, r. Ovarie'.
Von Anfang October ab bleibt der Anfall rudimentär und auf die periode
du delire beschränkt, höchstens dass deren Abschluss einige Klonismen bilden.
Am 15. 10. erster Versuch einer Hypnose. Die Bernheim'sche Methode
gelingt nicht wegen mangelhafter Concentrationsfähigkeit und Fixationsfähig-
keit der Augen. Stirnstreichen und Verbalsuggestion bewirken tiefes Engourdisse-
ment. Suggestion eine Viertelstunde zu schlafen und dann in vollem Wohl-
befinden zu erwachen, erfüllt sich verbotenus. Die sonstige Behandlung be-
schränkte sich auf Halbbäder. Täglich Anfälle (Delir.).
18. 10. Durch Stirnstreichen und Verbalsuggestion einzuschlafen, wenn
das Alphabet bis p vorgesetzt wird, gelingt heute Somnambulismus. Suggestion:
„Der Anfall wird erst übermorgen wiederkommen."
19. 10. Pat., die von dem Inhalt der intrahypnotischen Suggestion nichts
weiss, empfindet heute nur eine leise Mahnung eines drohenden Anfalls. Sie
wundert sich darüber, da sie doch sonst täglich Anfälle hatte.
20. 10. Blosse Aura eines Anfalls. Hypnose (Somnambulismus) durch
Stirn streichen. Suggestion: Sie werden heute, morgen und übermorgen frei
von Ihrer Krankheit sein, am Donnerstag nur eine leichte Mahnung haben.
22. 10. Volles Wohlbefinden.
Da Pat. noch nicht in der Klinik vorgestellt ist und die Suggestionen
augenscheinlich den Krankheitszustand mächtig beeinflussen, entschliessen wir
uns ein experimentum crucis zu machen, um behufs klinischer Demonstration
eventuell einen Anfall zu provociren. Pat. wird in Hypnose versetzt und ihr
folgende Suggestion gegeben: „morgen Nachmittag 10 Minuten vor 5 Uhr kommen
Sie zu mir und den Herrn Aerzten in den Hörsaal. Präcis 5 Uhr werden Sie noch
einen Anfall Ihrer Krankheit haben; derselbe wird aber sehr leicht sein und
es wird mir gelingen, durch das wohlthätige Stirnstreichen und den wohlthätigen
Nervenschlaf Sie von Ihrer Krankheit zu befreien. Dieser Anfall wird der letzte
sein in Ihrer Krankheit. Sie werden von da an keinen Anfall mehr haben und
gesund und fröhlich zu Ihren Angehörigen zurückkehren."
25. 10. Pat. erscheint noch vor der Zeit (s. u.) im Hörsaal und wird klinisch
vorgestellt. Von den Hörern weiss Niemand um die Suggestion. Die Uhr des
Hörsaals zeigt bereits über 5 Uhr — an Pat. ist nichts Auffälliges zu bemerken.
Um 5 Uhr 6 Minuten wird Pat. mimisch verändert, blass, unruhig, verliert plötz-
lich das Bewusstsein und bietet einen leichten hysteroepileptischen Insult.
Darauf Hypnose und Suggestion: „Sie sind nunmehr von Anfällen vollkommen
frei und werden bald genesen heimkehren." Amnesie für die Suggestion. Der
Vergleich der Uhren der Anwesenden mit der Wanduhr zeigt, dass diese um
6 Minuten vorgeht, Pat. somit genau als es in Wien 5 Uhr war, ihren sug-
gerirten Anfall bekommen hatte.
Hätte Pat. bewusst und absichtlich einen Anfall markirt, so wäre offen-
bar, da sie keine Taschenuhr hatte und der falsch zeigenden Wanduhr gerade
gegenüber sass, der Anfall erfolgt, als die um 6 Minuten vorgehende Uhr im
Hörsaal 5 Uhr zeigte.
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4. 11. Bisher frei von Anfällen. Subjektiv volles Wohlbefinden, keine
Ovarie mehr. Genesen entlassen.
4. 3. 91. Die frühere Pat. erscheint auf Wunsch auf der Klinik. Sie
bietet das erfreuliche Bild blühender Gesundheit und versichert seit der Ent-
lassung vollkommen gesund zu sein.
17. 12. 92. Frl. B. berichtet brieflich auf eine bezügliche Anfrage : „ich
kann nur Gutes berichten, denn ich erfreue mich meiner vollsten Gesundheit."
28. 12. 92. Patientin stellte sich heute selbst vor. Sie sieht blühend
aus, versichert niemals mehr seit der Entlassung aus der Klinik Beschwerden
im Sinne ihrer früheren Krankheit gehabt zu haben. Die eingehendste Unter-
suchung nach Stigmata hysteriae fällt ganz negativ aus. Die Genesene ist der
Meinung, die Suggestivtherapie habe ihr Heilung gebracht, denn von da ab
sei ihr ganz anders zu Muth geworden, während sie früher trotz aller Medika-
mente sich täglich schlechter gefühlt und an ihrer Genesung bereits ge-
zweifelt habe.
Verlag von FERDINAND ENKE in Stuttgart.
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Druck der Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart.